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Full text of "Gesammelte Reden und Schriften"

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LASSALLE 

GESAMMELTE 

REDEN  UND 

SCHRIFTEN 


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LmCa-3 


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2.'s.  z,5?> 


FERDINAND  LASSALLE 


GESAMMELTE  REDEN 
UND  SCHRIFTEN 


HERAUSGEGEBEN 

UND  EINGELEITET 

VON 

EDUARD  BERNSTEIN 


VOLLSTÄNDIGE  AUSGABE 
IN  ZWÖLF  BÄNDEN 


VERLEGT  BEI  PAUL   CASSIRER.   BERLIN 
1920 


FERDINAND  LASSALLE 


GESAMMELTE  REDEN 
UND  SCHRIFTEN 


HERAUSGEGEBEN 

UND  EINGELEITET 

VON 

EDUARD  BERNSTEIN 


ZWÖLFTER  BAND. 

DAS  SYSTEM  DER  ERWORBENEN  RECHTE 
11,2 


VERLEGT  BEI  PAUL  CASSIRER.  BERLIN 
1920 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


DRUCK  VON   OSCAR   BRAND  STETTER,   LEIPZIG 


XXVI.  Der  suus  und  der  Grundsatz  nemo  pro 
parte  testatus  usw.  Fortsetzung  der  Erörte- 
rung über  das  Verhältnis  des  Intestaterbrech- 
tes zum  testamentarischen.  —  Die  Dialektik 
des  Begriffes  als  Ursache  der  quantitativen 
Erbteilsunterschiede  bei  Einsetzung  und  Prä- 
terition  des  suus. 

'  Haben  wir  jetzt  die  hohe  spekulative  Konsequenz  dieser 
Bestimmungen  des  alten  Zivilrechtes  nachgewiesen,  die 
bisher  unverstanden  bleiben  mußten,  so  drängt  sich  zugleich 
hier  von  selbst  eine  Betrachtung  hervor,  die  das,  was  wir 
oben  über  das  Verhältnis  des  Intestat-  zum  Testaments- 
rechte nachgewiesen  haben,  auf  das  glänzendste  zu  be- 
stätigen geeignet  ist. 

Wie  kommt  es  nämlich,  daß  das,  was  wir  soeben  aus 
Gajus  mitgeteilt  haben,  zusammenbestehen  kann  mit  jener 
Hauptregel  des  zivilen  Erbrechtes :  Nemo  pro  parte  testa- 
tus, pro  parte  intestatus  decedere  potest  ?  Statt  den  Wider- 
spruch dieser  Regel  und  jenen  Sätzen  des  Gajus  über 
den  präterierten  suus,  der  nicht  filius  ist,  aufzulösen,  ist, 
soviel  wir  uns  mindestens  augenblicklich  erinnern,  dieser 
Widerspruch  nirgends  auch  nur  hervorgehoben  und  kon- 
statiert worden  !  Und  doch  ist  er  offen  zutage  liegend  und 
unleugbar.  Der  Erblasser  wird  als  ein  testatus  beerbt, 
denn  es  erben  die  scripti  heredes.  Er  wird  auch  als  ein 
intestatus  beerbt,  denn  es  erbt  auch  der  suus,  den  er  nicht 
eingesetzt  hat. 

Da  der  Widerspruch  ein  sinnlich  in  die  Augen  fallender 
ist,  so  wird  man  sich  also  in  die  beliebte  und  bequeme 
Ausrede  flüchten,  es  liege  hier  eine  ,,Aus nähme"  von 

1   Laf.aie,  Gc».  ScUriftaa.  Baad  XU.  353 


jener  Regel  vor.  Aber  wenn  irgendwo,  sollten  doch  hier 
die  Worte  einer  schon  früher  bezogenen  Stelle  des  Cicero 
zeigen,  wie  skeptisch  man  sich  bei  jener  Regel  gegen 
das  Zulassen  von  Ausnahmen  verhalten  muß^):  ..Unius 
enim  pecuniae  plures  dissimilibus  de  causis,  heredes  esse 
non  possunt,  nee  iinquam  f actus  est,  ut  ejusdem  pecuniae 
alius  testamento,  alius  lege  heres  esset",  zumal  man  es 
hier  nicht  mit  Verordnungen  der  Kaiserzeit,  nicht  mit  der 
privilegierten  Sphäre  des  Soldaten,  nicht  mit  den  Auf- 
lockerungen und  Abweichungen  zu  tun  hat,  welche  etwa 
die  querela  inofficiosi  durch  ihre  Entstehung  an  der  Strenge 
des  alten  Zivilrechtes  hervorbringen  könnte,  sondern  man 
sich  hierbei  mitten  im  alten  Zivilrecht  selbst  befindet;  so 
daß  jenes  von  Gajus  und  Ulpian  berichtete  Adkreszieren 
zur  Hälfte  geradezu  die  direkte  zivilistische  Verneinung 
des  ebenso  zivilistischen  Grundsatzes  :  Nemo  pro  parte  etc., 
zu  bilden  und  ihn  Lügen  zu  strafen  scheint. 

Allein  der  Widerspruch  ist  überhaupt  nur  ein  schein- 
barer; er  ist  nur  dann  vorhanden,  wenn  man  den  bereits 
von  uns  im  allgemeinen  entwickelten  Begriff  des  Intestat- 
rechtes  (s.  Nr,  XXII)  bloß  nach  seiner  sinnlichen  Er- 
scheinung, d.  h.  falsch  auffaßt,  als  das  Recht,  welches 
eintritt,  wenn  der  Erblasser  ohne  Testament  stirbt,  oder 
mit  anderen  Worten,  wenn  man  das  bereits  mehrfach  von 
uns  erörterte  Verhältnis  des  suus  zum  Intestaterbrecht 
verkennt. 

Das  Intestaterbrecht  ist,  wie  wir  daselbst  zeigten,  kein 
bloßer  Gegensatz  zum  Testamentsrecht,  es  ist  ein  unter- 
geordneter, d.  h.  auch  schon  in  Einheit  mit  dem 
eigenen  Begriffe  des  Testamentsrechtes,  der  Willens- 
perpetuierung,  stehender  Gegensatz  gegen  dasselbe.    Und 


^)  De  inventione,  II,  c.  21. 
354 


diese  Einheit  tritt  eben  sinnfällig  und  als  besondere 
Klasse  heraus  im  suus.  Der  suus  ist,  sagten  wir  daselbst, 
die  indifferente  Mitte  zwischen  Intestat-  und  Testa- 
mentsrecht. Er  ist  die  unmittelbar  vorhandene  Sich- 
selbstfortsetzung  des  subjektiven  Willens.  Als 
unmittelbar  ist  er  Erbe  ohne  besonderes  Setzen,  ohne 
Testament.  Aber  ebenso  ist  er  als  unmittelbar  vor- 
handene P'ortsetzung  und  als  vom  eigenen  subjek- 
tiven Willen  ausgehende  S  e  1  b  s  t  f ortsetzung  desselben, 
ohne  Intestatgesetz,  sine  lege,  vorhanden  und  von 
selbst  gegeben.  Das  Intestatgesetz  kann  ihm  daher,  wie 
vvlr  S.  307  fg.  sahen,  und  wie  Paulus  in  seinen  Worten, 
S.  318fg.,  sehr  wohl  herausfühlt,  das  Erbrecht  gar  nicht 
erst  qua  lex  übertragen,  es  kann  nur  das  Faktum 
konstatieren,  daß  er  die  von  selbst  vorhandene 
Fortexistenz  des  subjektiven  Willens  des  Erblassers,  daß 
er  von  selbst  seiender  Erbe  ist.  Das  wahre  und 
eigentliche  Intestatrecht  im  römischen  Sinne,  das  In- 
testatrecht  in  seinem  Gegensatz  zum  Testament,  tritt 
erst  ein,  wo  weder  ein  selbstgesetzter,  noch  von  selbst  un- 
mittelbar daseiender  Willensperpetuierer  existiert,  sondern 
nur  durch  die  subsidiäre  Intervention  des  Staates  und  nach 
seiner  allgemeinen  Ordnung  Fürsorge  für  die  Perpetuie- 
rung  des  subjektiven  Willens  getroffen  werden  muß.  Da 
also  der  suus  an  und  für  sich  schon  nach  seinem  Begriffe 
die  Einheit  von  Testaments-  und  Intestaterbschaft,  die 
indifferente  Mitte  beider,  bildet,  kann  bei  ihm  jener 
Gegensatz  von  testatus  und  intestatus  auch  nicht 
stattfinden.  Es  kann  daher  nach  jenen  Berichten  des 
Gajus  und  Ulpian  im  alten  Zivilrecht  der  präterierte  suus 
dem  fremden  Testamentserben  adkreszieren  und  so  eine 
Erbschaft  eintreten,  die  halb  Testaments-,  halb  Intestat- 
erbschaft zu  sein  scheint,   ohne  daß   jener   Satz :    Nemo 

1-  355  . 


pro  parte  testatus  etc.,  im  geringsten  verletzt,  ohne  daß 
nur  eine  Ausnahme  von  ihm  gemacht  wird,  denn  der 
suus  ist  eben  gar  kein  solcher  intestatus.  Wenn 
Cicero  also  sagte:  ,,Nec  unqiiatn  factum  est,  ut  ejusdem 
pecuniae  alius  testamento,  alius  lege  heres  esset",  so  wider- 
spricht dem  jenes  zivilrechtliche  zur  Hälfte  Adkreszieren 
des  übergangenen  suus  also  gar  nicht,  denn  der  suus 
ist  ja  eben  gar  nicht  ,,lege'',  sondern  von  selbst  Erbe. 
Es  findet  also  auch  hier  das  gar  nicht  statt,  wovon  Cicero 
mit  Recht  sagt,  daß  es  niemals  stattgefunden  habe.  Oder 
der  Gegensatz  von  testatus  und  intestatus  ist,  wie  die 
Ciceronianische  Stelle  jetzt  zur  Evidenz  deutlich  zeigt, 
der  Gegensatz  von  testamentum  und  lex,  vom  Setzen  durch 
eigenen  Willen  und  dem  Gesetztsein  durch  das  Gesetz, 
dem  allgemeinen  Willen  des  Staates,  zwischen  welchen 
beiden  Dingen  in  der  Tat  natürliche  pugna  ist,  nicht  aber 
der  bloße  Unterschied  des  Setzens  oder  unmittel- 
baren Daseins  des  eigenen  Willens^).  Dieser  Unter- 
schied hat,  als  ein  Unterschied  innerhalb  des  eigenen 
Willens,  an  diesem  seine  Einheit,  vermöge  derer  er,  wie 
jene  Adkreszenz  zeigt,  sehr  wohl  friedlich  nebeneinander 
bestehen  kann. 

Jetzt  ist  nun  aber  auch  die  volle  innere  Übereinstimmung 
ersichtlich,  mit  welcher  der  filius,  der  gegen  den  einen  der 
eingesetzten  Erben  durchgedrungen,  gegen  den  anderen 
unterlegen  ist,  die  teilweise  Reszission  des  Testamentes 
erlangen  kann,  ohne  daß  dem  Grundsatz:  Nemo  pro 
parte  testatus  etc.,  dadurch  widersprochen  wird  (s.  oben 

^)  Der  ja  auch,  ob  der  suus  durch  Zeugung,  Adoption  usw. 
hervorgebracht  ist,  immer  in  seiner  Entstehung  auf  ein  Setzen 
durch  den  eigenen  Willen  zurückläuft  und  eben  deshalb  un- 
mittelbares Dasein  des  eigenen  Willens  ist,  weil  er  bereits  ein 
Gesetztsein  desselben  ist. 

356 


S.  215 fg.)-  Denn  der  suus,  auch  wenn  er  ab  intestato 
durchdringt,  ist  eben  kein  Intestaterbe,  sondern,  wie  wir 
sahen,  die  Einheit  und  indifferente  Mitte  von  beiden. 
Und  so  wird  denn  jetzt  die  hohe  Bestätigung  ersichtlich 
sein,  welche  die  jetzt  erst  verständlichen  Worte  Papinians 
(L.  15,  §  2,  de  inoff.  test.  5,  2)  unserer  Entwickelung 
verleihen.  ,,Nec  absurdum  videtur"  —  sagt  Papinian  in 
bezug  auf  den  in  Rede  stehenden  Fall  —  ,,pro  parte 
intestatum  videri."  Also  der  Erblasser  scheint  nur  teil- 
weise ab  intestato  beerbt  zu  werden.  Daß  er  es  wirk- 
lich wird,  gibt  Papinian  nicht  zu.  Denn  der  filius 
ist  selbst  so  gut  wie  ein  Testament,  ist  vom  Erblasser 
gesetzte  Willensidentität  mit  ihm,  und  andererseits  hatte, 
wie  wir  sahen,  die  querela  die  Bedeutung,  das  faktische 
Gewollthaben  und  AndersgewoUthaben  des  Testators  zu 
leugnen^). 

Wenn  der  präterierte  suus  durch  das  bloße  Faktum 
jener  Adkreszenz  sich  als  die  indifferente  Mitte  von  Testa- 
ments- und  Intestaterben  erweist,  so  tritt  das  nun  auch 
weiter  realiter  in  der  quantitativen  Erbportion  hervor,  die 
er  erhält.  In  der  Tat  erbt  er  nicht  ex  testamento,  denn 
im  Testament  steht  er  nicht,  und  nach  dem  Testament 
müßte  er  gar  nichts  erben.  Er  erbt  aber  auch  nicht  ab 
intestato ;  denn  als  Intestaterbe  müßte  er  den  extraneis 
gegenüber  alles  erben,  während  er  nur  die  Hälfte  bekommt. 
Aber  auch  eingesetzten  suis  gegenüber  erbt  er  nicht 
nach  Intestatrecht.  Es  kann  sich  allerdings  so 
treffen,  daß  der  präterierte  suus  durch  seine  Adicreszenz 
den  eingesetzten  Erben  gegenüber  so  erbt,  wie  er  und  sie 

^)  Siehe  die  bisherigen  gescheiterten  Versuche  hierüber  bei 
Vangerow.  Pandekten  (Marburg  1852).  II.  §  479.  und  die 
dort  angegebene  Literatur,  sowie  unsere  Beilage  zu  Nr.  XL 
über  die  von  Huschke  versuchte  Lösung. 

357 


nach  dem  Intestaterbrecht  geerbt  haben  \vürden,  z.  B.  wenn 
der  Erblasser  seine  zwei  Söhne  im  Testament  zu  Erben 
eingesetzt  und  den  aus  einem  gestorbenen  dritten  Sohne 
herrührenden  einzigen  Enkel  präteriert  hat.  Die  bei  der 
Adkreszenz  des  suus  eintretende  Verteilung  pro  parte  virlli 
trifft  hier  im  Resultat  mit  der  nach  Intestatrecht  in  diesem 
Fall  eintretenden  Erbfolge  in  stirpes  völlig  zusammen. 
Jeder  erhält  ein  Dritteil.  Aber  es  kann  der  innere  Unter- 
schied vom  Intestaterbrecht  ebensogut  auch  äußerlich 
hervortreten,  z.  B.  wenn  der  Testator  einen  Sohn  und 
zwei  aus  einem  zweiten  toten  Soline  stammende  Enkel 
hinterläßt  und  nun  den  lebenden  Sohn  und  den  einen  Enkel 
jeden  zur  Hälfte  einsetzt,  den  Bruder  des  letzteren  aber 
präteriert.  Sollte  hier  nach  Intestatrecht  geerbt  werden, 
so  würde  der  Sohn  die  Hälfte  und  jeder  der  beiden  Enkel - 
brüder  ein  Viertel  erben.  Die  Worte  des  Gajus  und 
Ulpian  dulden  aber  keinen  Zweifel  darüber,  daß  auch 
hier  pro  parte  virili  geerbt  N\ird,  jeder  der  drei  Erben 
also  ein  Dritteil  erbt.  Der  eingesetzte  Enkel  erhält  daher 
ebensoviel,  der  Sohn  weniger  und  der  präterierte  Enkel 
mehr,  als  er  ab  intestato  geerbt  haben  würde.  Dies 
Resultat  kann  zunächst  äußerst  überraschen  und  als  höchst 
anomal  erscheinen.  Wie  kann  der  Sohn,  gerade  weil  er 
auf  die  ihm  ab  intestato  zukommende  Hälfte  auch  noch 
ausdrücklich  eingesetzt  ist,  weniger  erhalten,  als 
ihm  ab  intestato  gebührt  haben  würde  ?  Wie  kann  der  im 
Testament  verschwiegene  suus  gerade  dadurch  größere 
Kraft  gewinnen  und  mehr  bekommen,  als  er  bekommen 
würde,  wenn  gar  kein  Testament  vorläge?  Allein  das 
römische  jus  civile  ist  das  sich  um  solche  Billigkeits- 
reflexion  und  Verstandesverwunderung  durchaus  nicht  küm- 
mernde Recht  des  spekulativen  Begriffes.  Äußerlich  nahe 
kann    man    sich    dieses    anomale    Resultat    etwa    dadurch 

358 


bringen,  daß  man  sich  z.  B.  vorstellt,  der  eingesetzte  Enkel 
habe  durch  die  testamentarische  Erbeinsetzung 
die  Kraft  und  Nähe  eines  filius  zum  Testator  be- 
kommen. Dann  stimmt  jenes  Resultat  mit  dem  Intestat- 
recht  überein.  Denn  dann  ist  durch  das  Dasein  des 
zweiten  filius  der  erste  Sohn  von  selbst  auf  ein  Dritteil 
zusammengedrückt,  da  jetzt  der  präterierte  Enkel  als 
alleiniger  Enkel,  als  alleiniger  Repräsentant  eines  toten 
Sohnes,  ein  Dritteil  erhalten  muß.  —  Allein  diese  Über- 
einstimmung wäre  eine  sich  sehr  widersprechende  Ver- 
standesfiktion !  Denn  die  Übereinstimmung  mit  dem  I  n  - 
testatrecht  wäre  dann  nur  dadurch  da,  daß  —  welche 
contradictio  in  adjecto !  —  testiert  worden  ist!  Der 
wahre  begriffliche  Grund  ist  aber  kein  anderer  als  der 
entwickelte,  daß  das  Intestatrecht  hier  eben  überhaupt 
nicht  eintritt,  vielmehr  das  Testament  ja  bestehen 
bleibt  und  somit  alle  Erben,  auch  der  präterierte,  als 
Testamentserben  erscheinen  müssen,  die  einen  als  ein- 
gesetzte, der  präterierte  als  stillschweigend  und  von 
selbst  im  Testament  vorhandener;  daß  aber  eben 
darum  auch  die  Erbquote  des  präterierten  suus,  da  sie 
im  Testament  nicht  ausdrücklich  bestimmt  ist,  als  ebenso 
von  selbst  und  unmittelbar  gegebene  gelten  muß, 
wie  sein  Erbtum  überhaupt.  Indem  sie  aber,  wo  ihm 
gleichfalls  sui  als  eingesetzte  Erben  gegenüberstehen,  über- 
haupt nicht  als  durch  seinen  spezifischen  Begriff 
gegeben  erscheinen  kann,  weil  hier  eben  kein  Unter- 
schied im  Begriffe  stattfindet,  und  die  Gegenüberstehen- 
den das  Gleiche  sind,  was  er,  oder  mit  anderen  Worten: 
das  Verhältnis  nicht  ein  Verhältnis  von  Eingesetzten  zu 
Unmittelbaren,  sondern  von  einem  zu  mehreren  der- 
selben Art  ist,  so  kann  die  Quote,  wenn  sie  dennoch  als 
eine  unmittelbar  und  stillschweigend  gegebene 

359 


erscheinen  soll,  nur  noch  durch  das  Verhältnis  seiner 
Zahl  zur  Zahl  der  eingesetzten  siii  gegeben  sein, 
und  der  präterierte  muß  also  hier  jedenfalls  den  durch 
die  Kopfzahl  bestimmten  Bruchteil  erben.  Und  so  muß 
er  denn,  weil  die  Quote  hier  eben  nicht  als  die  durch 
seinen  Begriff,  sondern  als  durch  das  das  Zahlen- 
verhältnis,  in  dem  er  zu  dem  ihm  Gleichen  steht,  be- 
stimmte erscheint,  hier  sowohl  mehr  als  weniger 
erben  können,  als  ihm  nach  dem  Intestatverhältnis  unter 
sui  zukommen  würde ^). 


XXVII.     Die    Unterschiede    in    der    Exhereda- 
tionsformel   und  die   Legatshinzufügung. 

Wir  haben  gezeigt,  worin  der  materielle  Unterschied 
bei  der  Präterierung  zwischen  dem  filius  einerseits  und 
der  Tochter  oder  dem  Enkel  andererseits,  trotz  der  allen 
dreien  zukommenden  Suität,  besteht,  und  haben  diesen 
Unterschied  des  Rechtes  als  einen  aus  dem  inneren  Unter- 
schied ihres  eigenen  Begriffes  hervorfließenden  nach- 
gewiesen. Derselbe  Begriffsunterschied  versucht  nun  auch 
in  der  Form  der  Exheredation,  resp.  Präterierung,  sich 
Dasein  zu  geben,  kann  aber  hier  keine  Festigkeit  gewinnen, 
weil  er  mehr  inhaltlicher  Natur  ist,  und  in  formeller 
Hinsicht  die  allen  Kindern  gemeinschaftliche  Eigenschaft 


^)  Weniger  würde  er  z.  B.  in  dem  Falle  erben,  wo  der 
Testator  fünf  Enkel  aus  zwei  gestorbenen  Söhnen  hinterläßt, 
vier  aus  dem  einen,  welche  er  einsetzt,  einen  aus  dem  anderen, 
welchen  er  präteriert.  Nach  Intestatrecht  würde  dieser  Enkel 
die  Hälfte  haben,  nach  testamentarischer  Adkreszenz  hat  er  ein 
Fünftel. 

360 


der  Sultät,  die  Eigenschaft,  Erben  in  der  Form  der  Un- 
mittelbarkeit zu  sein,  durchschlagen  muß.  Der  filius, 
welcher,  wie  wir  sahen  (S.  345,  348),  allein  in  völliger 
Identität  mit  dem  Gewalthaber  dies  darstellt,  zum  Träger 
und  Subjekt  eines  Willenskreises  zu  werden,  dem  er 
bisher  substantiell  angehörte,  muß  daher  jedenfalls  als 
Subjekt,  d.h.  nicht  bloß  ausdrücklich,  sondern  auch 
namentlich  enterbt  werden.  Von  der  Tochter,  die  nicht 
zum  tragenden  Subjekt  eines  Willenskreises,  einer  Willens- 
reihe wird,  sondern  sich  nur  für  sich  in  der  Reihe  der 
Befreiten  befindet;  vom  Enkel,  der  selbst  erst  durch  die 
Kategorie  des  filius  vermittelt  und  somit  immer  ideelles 
Glied  einer  Reihe  ist,  scheint  es  dagegen  auch  hinreichend, 
wenn  sie  nur  als  solche  Glieder  der  von  jenem  Subjekt 
geführten  Reihe,  d.  h.  inter  ceteros  aufgehoben  worden. 
Ulpian^):  ,, Filius  qui  in  potestate  est,  si  non  instituatur 
heres,  nominatim  exheredari  debet;  rellqul  sui  heredes 
utriusque  sexus  aiit  nominatim  aut  inter  ceteros."  Es  bleibt 
also  hier  zwischen  beidem  die  Wahl.  Indem  aber  diese 
anderen  Erben  doch  immer  sui,  unmittelbare  Erben 
sind,  muß  der  Zweifel,  ob  ihre  Unmittelbarkeit  hinreichend 
durch  die  nichtspezielle  Negation,  durch  die  bloße  Ver- 
neinung der  Reihe,  aufgehoben  ist,  besonders  dann  sich 
geltend  machen,  wenn  ihre  Unmittelbarkeit  erst 
später  als  die  Verneinung  eingetreten  ist,  d.  h. 
wenn  sie  postumi  sind^)  und  also  die  Frage  entstehen  muß, 
ob  sie  in  diese  Verneinung  inter  ceteros,  zu  deren  Zeit 
sie  noch  gar  nicht  vorhanden  waren,   als  miteinbegriffen 


1)  Fragm.  XXII.  20. 

^)  Der  filius  postumus  muß  natürlich  als  filius  immer  no- 
minatim exherediert  werden,  und  die  Formel  lautet  daher  bei 
ihm:  ..Quicumque  mihi  filius  genitus  fuerit,  exheres  esto."  Inst., 
§  2  de  exh.  lib.   (2.  13). 

361 


anzusehen  sind.  Dieser  mangelnden  Kraft  und  Bestimmt- 
heit der  nicht  speziellen  Aufhebung  einer  erst  später  ein- 
tretenden Unmittelbarkeit  gegenüber  muß  daher  durch  die 
Hinzufügimg  eines  Legates  für  diese  postumi  nach- 
geholfen werden.  Und  darum  fährt  Ulpian  a.  a.  O.  fort : 
,,Postumus  filius  nominatim  exheredandus  est ;  filia  postuma 
ceteraeque  postumae  feminae  vel  nominatim,  vel  inter 
ceteros  ;  dummodo  inter  ceteros  cxheredatis  aliquld  legetnr. 
Nepotes  et  pronepotes,  ceterique  masculi  postumi  praeter 
filium  vel  nominatim  vel  inter  ceteros  cum  adjectione  legati 
sunt  exheredandl"  Die  Institutionen  geben  als  Grund 
dieser  Legatshinzufügung  an:  ,,Ne  videantur  praetentae 
esse  per  oblivloncni."  Es  ist  dieser  Gmnd  aber  gleich- 
falls nicht  sowohl  psychologisch,  als  vielmehr  logisch 
aufzufassen.  Durch  die  besondere  Legatshinzufügung  für 
sie  ist  erstens  gesetzt,  daß  sie,  obwohl  ihre  Unmittel- 
barkeit erst  nach  der  Verneinung  eintrat,  dennoch  in  die 
Verneinung  der  Reihe  einbegriffen  sind.  Und  zweitens  und 
hauptsächlich  muß  jetzt,  nach  dem,  was  oben  (Nr.  XIVfg.) 
über  den  direkten  Gegensatz  von  Erben  und  Le- 
gatar entwickelt  worden  ist,  klar  sein,  daß  sie  gerade 
dadurch,  daß  sie  zu  Legataren  gemacht  werden,  nun 
gewiß  als  Erben  ausgeschlossen  sind,  da  der  Be- 
griff beider  dieses  gegenseitige  sich  Ausschließen  ist. 

Allein  dieses  Aufheben  ihres  unmittelbaren  Erbcharak- 
ters durch  ihr  Gesetztwerden  als  Legatare  bleibt  immer- 
hin ein  implizites  Aufheben  und  Ausschließen.  Der 
Begriff  aber  der  Exheredation  überhaupt  war  ja  eben  der 
(S.  341),  daß  nicht  implizite,  sondern  formell  und 
ausdrücklich  aufgehoben  werden  müsse.  Es  kann  daher 
wieder  hier  der  schwankende  Zweifel  entstehen,  ob  diese 
Ausschließung,  als  implizite,  eine  dem  Begriff  der  ganzen 
Sphäre  angemessene  und  entsprechende  sei.    Und  so  fährt 

362 


denn  Ulpian,  sehr  deutlich  die  Bewegung  dieser  Momente 
verratend/nach  den  zuletzt  angeführten  Worten  fort:  ,,sed 
tutius^si  tarnen  nominafim  Qos  exheredari,  et  id  observatur 
magis." 


XXVIII.     Der   necessarius    heres    oder   der   als 

ein  anderer  gesetzte  Erbe;  der  Sklave.  —  Der 

Übergang  zum  extraneus  heres  oder  dem  Erben 

überhaupt. 

Ehe  wir  die  Dogmatik  des  suus  durch  die  Betrach- 
tung der  Bedingungen,  deren  Gegenstand  er  sein  kann, 
zu  Ende  führen,  ist  es  hier  am  Ort,  einen  Blick  auf  einen 
anderen  Erben  zu  werfen,  mit  welchem  der  suus  die  eine 
Seite  seines  Wesens  gemein  hat:  auf  den  Sklaven,  der 
bloß  heres  necessarius,  nicht  suus  ist,  während  dieser  im 
Unterschiede  von  ihm  als  suus  et  necessarius  bezeichnet 
wird. 

Auch  der  Sklave  steht  in  der  Gewalt  des  Herrn,  auch 
er  kann  Erbe  werden.  Aber  er  ist,  auch  wenn  er 
Erbe  wird^),  dennoch  niemals  ein  suus.  Denn  er  ist 
nicht  von  selbst  und  unmittelbar  durch  sein  bloßes 
Dasein  Erbe,  sondern  bedarf  hierzu  der  ausdrücklichen 
Einsetzung  des  Testators.  Zwar  steht  er,  als  in  der  Ge- 
walt befindlich,  mit  diesem  in  Willenseinheit,  aber  so 
wie  die  Sache  mit  ihrem  Herrn,  nicht  wie  die  Substanz 
mit  ihrem  von  ihr  durchdrungenen  Subjekt.  Nicht  die  Be- 
stimmung in  sich  tragend,  wie  die  Kinder,  zu  irgendeiner 
Zeit  zur  eigenen  Willenssubjektivität  zu  gelangen,  ist  — 

^)  Selbstredend  kann  nur  dies  eine  kurze  Beleuchtung  zu  er- 
fordern scheinen ;  nicht  der  Fall,  wenn  er  überhaupt  nicht  erbt 
und   Sklave  bleibt.    Vgl.   übrigens  oben  S.  306.   Note   1. 

363 


und  dies  ist  auch  der  Grund,  aus  welchem  er  nicht  von 
selbst  zum  Erben  wird  —  die  im  Erbtum  von  ihm  er- 
langte Willenssubjektivität  nicht  das  von  selbst 
erfolgende  Hervortreten  derselben  als  einer  schon  bisher 
an  sich  in  ihm  vorhandenen,  nicht  das  bloße  un- 
mittelbare Fürsichwerden  dessen,  was  schon  bisher, 
nur  in  substantieller  Gebundenheit,  sein  eigenes  iden- 
tisches Wesen  bildete,  sondern  eine  nur  durch  das 
ausdrückliche  Setzen  eines  anderen  —  durch  die  Erb- 
einsetzung  —  ihm  übertragene  Subjektivität.  Als  eine  ihm 
durch  einen  anderen  übertragene,  ist  sie  eine  seinem 
bisherigen  Wesen  andere,  eine  demselben  fremde  und 
neue  Willenssubjektivität,  somit  aber  auch  gegen  jenen 
selbst,  welcher  das  herrschende  Subjekt  seines  bis- 
herigen Wesens  war,  gegen  den  Herrn,  neue  und  fremde 
Subjektivität^).  Der  zum  Erben  eingesetzte  Sklave  er- 
langt daher,  wie  der  Sohn  bei  der  Emanzipation,  eine  ihm 
selbst  und  seinem  bisherigen  Herrn  neue  und  fremde 
Willenssubjektivität.  Oder  mit  anderen  Worten:  er  ist 
dem  Erblasser  gegenüber  wahrhafter  extraneus  heres") 


^)  Der  Sklave  steht  überhaupt  in  Willenseinheit  mit  seinem 
Herrn  als  ein  ihm  anderer,  nicht  wie  der  Sohn  als  ein 
mit  ihm  identischer.  Nur  aus  diesem  Begriffsunterschiede 
erlangen  eine  Masse  von  Erbrechtssätzen  ihr  Verständnis,  auf 
die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  kann,  z.  B.  daß,  wenn 
ein  fremder  Sklave  eingesetzt  wird  —  in  welchem  Falle  der 
Herr  desselben  Erbe  wird  —  dieser  nach  dem  Testament  oder 
selbst  nach  dem  Tode  des  Testators,  aber  vor  der  Adition 
von  seinem  Herrn  verkauft  worden  ist,  jetzt  der  neue  Herr 
Erbe  wird  (Gajus.  II,  §   189;  Ulpian.  XXII.  §   13). 

^)  Dies  tritt  am  deutlichsten  heraus,  wenn  die  beiden  im 
Text  unterschiedenen  ideellen,  aber  gleichzeitigen  Momente  dazu 
gelangen,  auch  zeitlich  auseinanderzufallen,  wenn  nämlich 
der  vom  Testator  eingesetzte  Sklave  desselben  noch  vor  dem 

364 


Zugleich  aber  ist  er  auch  zum  Erben  gemacht,  d.  h.  es 
ist  ihm  Identität  mit  der  eigenen  Willenssubjek- 
tivität des  Herrn  aufgedrückt  worden.  Er  befindet  sich 
also  in  der  Lage  eines  an  sich  fremden  Willens,  der 
aber  bereits  die  ihm  übertragene  Identität  mit  der 
ihm  fremden  Willenssubjektivität  des  Erblassers  über- 
nommen hat,  d.h.  er  ist  em  extraneus  heres,  der  be- 
reits die  Adition  geleistet  hat. 

Tode  von  ihm  manumittiert  wird.  Hierdurch  wird  der  Sklave 
zum  bloßen  extraneus  heres;  d.  h.  er  kann  nicht  nur  die  Erb- 
schaft ausschlagen,  sondern  er  muß  auch,  um  sie  zu  erwerben, 
zuvor  Adition  leisten;  Gajus,  II,  §  188.  Entscheidender 
aber  noch  darin,  daß,  wenn  der  Testator  den  eigenen  einge- 
setzten Sklaven  nach  dem  Testament  veräußert  hat,  dasselbe 
hierdurch  nicht  rumpiert  wird,  sondern  durch  die  Adition 
des  Sklaven  jetzt  der  neue  Herr  Erbe,  der  Erblasser  also 
durch  eine  ihm  fremde  Subjektivität  fortgesetzt  wird.  Dies 
muß  aber  schon  vor  der  Veräußerung  des  zum  Erben  einge- 
setzten Sklaven  der  Begriff  der  Sache  gewesen  sein,  weil  sonst 
sicherlich  dadurch  das  Testament  rumpiert  werden  würde.  Man 
kann  also  sagen,  daß,  obwohl  der  Sklave  in  Gewalt  und  insofern 
in  Willensidentität  mit  dem  Herrn  steht,  doch  wegen  des  hier- 
bei aufgezeigten  begrifflichen  Unterschiedes  (s.  oben  S.  306 
u.  Note  1  das.)  der  Erblasser  bei  der  Sklavenerbschaft  immer 
durch  eine  ihm  fremde  Willenssubjektivität  fortgesetzt  wird, 
und  es  rein  gleichgültig  und  zufällig  ist,  ob  die  den  Sklaven 
zur  Zeit  der  Erbschaft  beherrschende,  dem  testierenden  Herrn 
fremde  Subjektivität  die  eigene  frei  gewordene  des  Sklaven, 
oder  die  eines  anderen  und  welches  Herrn  ist.  Nur  daß  im 
ersteren  Falle,  da  gleichzeitig  mit  der  Freiheit  auch  die 
durch  das  Erbtum  übergehende  Willenssubjektivität  des  Herrn 
im  Sklaven  schon  vorhanden  und  diese  Freiheit  selbst  schon 
das  Dasein  dieses  testamentarischen  Willens  ist,  das  Einge- 
tretensein der  Freiheit  also  schon  das  Eingetretensein  des 
Erbtums,  und  umgekehrt,  beweist,  und  deshalb  die  Adition  nicht 
denkbar  ist.  Man  kann  also  sagen,  daß  der  Sklave  ein  extra- 
neus heres  invitus  und  ohne  Adition  ist. 

365 


Aus  dem  begrifflichen  Ineinander  dieser  beiden  ideellen 
Momente  folgt  nicht  bloß,  warum  der  Sklave  invitus  heres 
und  ohne  Adition  sein  muß,  sondern  es  ergibt  sich  zugleich 
daraus  die  innere  Berechtigung  der  folgenden  Kontroverse. 

Weil  auf  den  Sklaven  im  Erbtum  die  Willenssubjektivi- 
tät des  Herrn  als  eine  ihm  andere  übertragen  ^vird,  so 
folgt  zunächst  hieraus,  daß  auch  in  der  Erbeinsetzung 
beide  Momente  —  ebenso  wie  das  Erbesein  oder  die 
Identität  mit  dem  Herrn,  so  auch  das  Erben  als  eine 
neue  und  fremde  Willenssubjektivität  gegen  den 
Herrn  —  ausdrücklich  nebeneinander  gesetzt  wer- 
den ;  d.  h.  daß  der  Erbeinsetzung  ausdrücklich  die  libertas 
hinzugefügt  werde.  Dies  ist  die  uns  von  Gajus 
(II,  185)  und  Ulpian  (XXII,  12)  berichtete  Folgerung 
des  alten  Zivilrechtes,  und  die  Formel  lautet  daher  hier : 
..Stichus  servus  meus  liber  heresque  esto."  Ist  die  Libertät 
nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  (institutio  sine  libertate), 
so  wird  es  betrachtet,  als  wolle  sich  der  Herr  mit  dem 
Sklaven  nicht  als  einer  ihm  anderen  Willenssubjek- 
tivität identifizieren.  Als  eine  ihm  nicht  fremde,  würde 
er  aber  noch  sein  Sklave  und  somit  als  solcher  noch 
gar  keine  Willenssubjektivität,  daher  auch  der  Fortsetzung 
einer  solchen  oder  des  Erbtums  nicht  fähig  sein.  Wenn 
er  aber  inzwischen  nach  dem  Testamente  vom  Testator 
freigelassen  oder  veräußert  worden  ist,  so  würde  er  jetzt 
zwar  das  Dasein  einer  Willenssubjektivität,  aber  einer 
dem  Testator  fremden,  und  also  gar  nicht  zum  Erben 
eingesetzt  sein.  Daher  gilt  hier  die  Institution  sine 
libertate  überhaupt  nicht,  auch  nicht  in  den  letztgedachten 
Fällen  der  vor  dem  Tode  des  Testators  erfolgten  Frei- 
lassung oder  Veräußerung  (institutio  omnino  non  consistit, 
s.  Gajus  und  Ulpian,  a.  a.  O.). 

Umgekehrt   aber   wird   dem    Erben   vom   Erblasser   in 

366 


der  Erbeinsetzung  nicht  dies  und  jenes  Besondere,  sondern 
eben  nichts  anderes  als  die  Identität  selbst  mit  der 
Willenssubjektivität  des  Erblassers  verliehen.  Ob 
also  die  Freiheit  ausdrücklich  erwähnt  sei,  oder  nicht, 
so  ist  sie  stillschweigend  und  notwendig  schon  durch  die 
Kraft  dieser  Identifizierung  verliehen,  durch  welche 
der  Erblasser  dem  Erben  jede  Identität  mit  seinem  eigenen 
Willen  verleiht,  die  überhaupt  nur  zu  verleihen  in  seiner 
Macht  steht.  Indem  er  ihn  zum  Fortsetzer  seines  Willens 
erklärt,  hat  er  ihn  stillschweigend  zum  Flerrn  seiner  selbst 
gemacht.  Wegen  des  untrennbaren  Ineinanderseins  der 
obigen  Momente  hat  er  den  Sklaven,  dessen  Freiheit  j  a 
nur  von  seinem  Willen  abhängt,  indem  er  ihn  als 
Erben,  d.  h.  als  Dasein  dieses  seines  Willens 
setzte,  hierdurch  von  selbst  nur  noch  abhängig  von  einem 
Willen,  der  jetzt  der  seinige  ist,  d.  h.  frei  gemacht. 

Dies  ist  die  Seite,  die  Justinian  hervorkehrt,  indem 
er  unter  anderem  dabei  ausruft^)  :  ,,Neque  enim  ferendum 
est  supponere,  quosdam  esse  ita  supinos,  ut  eundem  servum 
et  heredem  instituant  sine  libertate  et  iterum  alii  per  legatum 
eundem  servum  assignent."  Er  verfügt  also,  daß  bei  der 
Erbeinsetzung  (nicht  beim  Legat)  auch  ohne  Hinzufügung 
der  Freiheit  diese  ,, quasi  injuncta"  vorhanden  sein  und 
die  Institution  bestehen  soll.  Und  er  behauptet  ausdrück- 
lich, daß  er  hierin  kein  neues  Recht  mache,  sondern  nur 
einer  alten  Kontroverse  Autorität  verleihe^):  ,,Proprios 
(servos)  autem  olim  quidem  secundum  plurimn  sententias 
non  aliter  quam  cum  libertate  recte  instituere  licebat ;  hodie 
vero  etiam  sine  libertate  ex  nostra  constitutione  heredes 
eos  instituere  permissum  est,  quod  non  per  innovationem 


^)  L.  5  C.  de  necess.  serv. 

^')  Inst.   pr.  de  hered.  iiist.  (2,  14) 


367 


introduximus.  sed  quoniam  et  aequius  erat  et  Atilicino 
placuisse  Paulus  suis  libris  quos  tarn  ad  Massurlum  Sablnum 
quam  ad   Plautium  spripsit   refert." 

So  plausibel  und  richtig  aber  auch  das  Argument  ist, 
daß  niemand  bei  der  Einsetzung  des  Sklaven  ihm  die 
Freiheit  werde  vorenthalten  wollen,  so  hat  sich  doch  be- 
reits gezeigt,  um  wieviel  tiefer  und  spekulativer  jene  Forde- 
rung des  alten  Zivilrechtes  ist,  welche  jene  begrifflich 
entgegengesetzten  Momente,  die  in  dem  Erbtum  des  Sklaven 
vorliegen,  deshalb  auch  in  der  Einsetzung  formell  gesetzt 
verlangt. 

Schon  das  Erbtum  überhaupt  ist  seinem  Begriffe  zu- 
folge der  spekulative  Gegensatz  —  der  in  einem  und  dem- 
selben Satze  auszudrücken  und  nur  durch  die  verschiedene 
Betonung  desselben  deutlich  zu  machen  ist  — ,  daß  die 
eigene  Willenssubjektivität  des  Erblassers  von 
einer  anderen  fortgesetzt  wird,  somit  aber  auch  eben: 
daß  sie  von  einer  anderen  fortgesetzt  wird.  Letzteres 
Moment  tritt  besonders  stark,  wie  wir  sahen,  bei  der 
Erbeinsetzung  des  Sklaven  hervor,  denn  es  bildet  seinen 
ganzen  Unterschied  vom  suus.  Es  ist  aber  auch  viel  stärker 
bei  ihm  vorhanden,  als  bei  jedem  gewöhnlichen  extraneus 
heres,  und  bildet  auch  von  diesem  seinen  Unterschied. 
Dieser  nicht  bloß  quantitative,  sondern  auch  begriffliche 
Unterschied  ist  folgender:  der  extraneus  ist  an  und  für 
sich,  ist  vor  dem  Erbtum  eine  andere  Person  gegen 
den  Erblasser.  Bei  ihm  wird  durch  die  Erbeinsetzung 
gerade  nur  die  Identität  mit  dem  vorher  anderen 
hergestellt,  die  Anderheit  nur  aufgehoben  und  überwunden. 

Umgekehrt  ist  der  Sklave  als  das  bloße  Eigene  des 
Herrn  bis  zum  Erbtum  kein  anderer  gegen  den  Erb- 
lasser. Er  wird  gerade  erst  durch  die  Erbschaft  zu  einem 
solchen,  und  zwar  so  wesentlich,  daß  dies  Moment  (liber) 

368 


ausdrücklich  in  der  Erbeinsetzung  hervorgehoben  werden 
muß,  wenn  sie  gültig  sein  soll.  Man  kann  also  sagen: 
der  Sklave  ist  der  als  ein  anderer  gesetzte  Erbe^). 

Hieraus  begreift  sich  nun  erst  und  wird  erst  wahrhaft 
verständlich  ein  sehr  naiver  und  interessanter  Gebrauch, 
den  die  Römer  von  der  Erbeinsetzung  der  Sklaven  machen. 
Schuldenzerrüttete  Herren  setzen  einen  ihrer  Sklaven  zum 
Erben  ein,  damit,  wenn  nun  die  Gläubiger  die  Güter  ver- 
kaufen lassen,  nicht  die  Güter  des  Gestorbenen,  sondern 
eines  anderen.  Lebenden,  verkauft  zu  werden  scheinen 
und  die  damit  verbundene  Infamie  daher  nur  diesen 
anderen,  den  Erben,  nicht  den  Ruf  des  Erblassers  be- 
flecke. 

Der  Bericht  des  Gajus  (II,  154)  darüber  ist  zu  naiv, 
um  nicht  hierhergesetzt  zu  werden:  ,,Unde  qui  facultates 
suas  suspectas  habet,  solet  servum  primo  aut  secundo  vel 
etiam  ulteriore  gradu  liberum  et  heredem  instituere,  ut 
si  creditoribus  satis  non  fiat,  potliis  hitjiis  heredis  quam 
Ips'ms  testatoris  bona  vendant,  id  est  ut  ignominia  quae 
accidit  ex  venditione  bonorum,  hunc  potius  heredem  quam 
ipsum  testatorem  contingat." 

,,Mehr  dem  Erben  als  dem  Testator  selbst" 
soll  die  Sache  und  ihre  Schande  zu  widerfahren  scheinen. 
Nun  besteht  aber  der  Begriff  der  römischen  Infamie  darin, 
daß  es,  wie  Savigny  richtig  sagt^)  :  ,, immer  eine  eigene 
Handlung  ist,  woran  die  Infamie  als  Folge  geknüpft  wird". 


^)  .Wobei  natürlich  im  .Wort  „Erbe"  auch  wieder  die  Iden- 
tität liegt,  so  daß  dieser  Satz  eigentlich  heißt :  er  ist  der  a  1  s 
ein   anderer  gesetzte   Identische. 

^)  System,  II,  185.  —  Savigny  unterläßt  aber  (vgl.  Note 
mm  das.,  wo  er  bloß  die  Ausnahme  des  Hochverrates  aufführt, 
und  S.  179  das.)  zu  erklären,  wie  sich  damit  die  Infamie  des 
erbenden  Sklaven  verträgt. 

3  Lai.aUc.  G».  Sckriftea.   Baad  XU.  369 


Daß  den  fremden  Erben  die  Infamie  der  Insolvenz  treffen 
würde,  kann  keine  Schwierigkeit  machen,  denn  er  hat  wirk- 
lich durch  die  eigene  freiwillige  Handlung  der  Adition 
die  Insolvenz  selbst  über  sich  gebracht  und  zu  der  sei- 
nigen gemacht.  Wie  aber  der  Sklave,  der  als  necessarius 
heres  nicht  repudiieren,  ja,  sich  nicht  einmal  prätorisch 
enthalten  konnte?  der  gar  nicht  handelte  und  zum  Erb- 
ium gepreßt  war  ?  Es  erhebt  sich  daher,  auf  diesen  Be- 
griff der  Infamie  gestützt,  der  zu  der  Erbmaterie  eine 
rationalistische  Stellung  einnimmt,  der  rationalistische  Ver- 
stand und  rüttelt  an  jener  spekulativen  Schande.  Gajus 
fährt  nämlich  fort :  ..quamquam  apud  Fufidium  Sabino 
placeat  eximendum  eum  esse  ignominia,  quia  non  suo  vitio, 
sed  necessitate  juris  bonorum  venditionem  pateretur".  Aber, 
fügt  Gajus  ganz  einfach  hinzu:  ,,sed  alio  jure  utimur", 
d.  h.  wir  aber  bleiben  beim  spekulativen  Begriff  stehen. 
Der  Begriff  des  Erbtums  ist  der,  daß  die  Identität 
der  beiden  subjektiven  Willen  gesetzt  ist,  aber  nicht 
bloße  Identität,  sondern  Identität  als  unterschiedener 
Willenspersonen.  Die  Willenssubjektivität  des  Gestorbe- 
nen ist  foi"texistierend  als  die  eines  anderen  und 
Lebenden.  Es  ist  daher  im  Begriff  des  Erbrechtes  ganz 
spekulativ  konsequent,  daß  dieser  Lebende  dem  Toten  die 
Schande  ab-  und  auf  sich  genommen  hat.  Dies  Ver- 
hältnis kaim  durch  den  Verstandeseinwurf,  daß  der  erbende 
Sklave  statt  ein  durch  eigenen  Willen  Erbender  und 
daher  die  Insolvenz  auf  sich  Nehmender  zu  sein,  durdi 
die  iniquitates  juris  gezwungen  war,  um  so  weniger  ge- 
schwächt werden,  als  hier  vielmehr  dieser  Charakter  des 
Erben,  ein  anderer  zu  sein  als  der  Erblasser,  ausdrück- 
lich betont  ist.  Weim  dies  Anderssein  im  gewöhnlichen 
Erben  zwar  ebenso  vorhanden  ist  als  die  Einheit  — 
Identität  heißt  ja  für  sich  allein  schon   Identität  Ver- 

370 


schiedener  ,  beide  Momente  aber  unier  der  for- 
mellen Begriffsbestimmung  der  Einheit  gesetzt  sind,  so 
ist  im  Erbtum  des  Sklaven  Identität  wie  Anderssein  der 
Personen  gleichfalls  vorhanden,  beide  Momente  aber  in 
der  vorwiegenden  Form  der  Anderheit  gesetzt.  Der 
erbende  Sklave,  weil  sein  Begriff  gerade  der  ist,  eine 
Willenssubjektivität  als  eine  ihm  andere  fortzusetzen, 
kann  sich  deshalb  für  den  Römer  auch  nicht  beschweren, 
wenn  er  auch  die  Schande  der  Insolvenz  als  eine  ihm 
andere,  d.h.  durch  keine  Willenshandlung  von  ihm 
zur  seinigen  gemachte  tragen  muß.  Und  es  ist  ebenso 
echt  spekulativ  konsequent,  daß  der  insolvente  Erblasser, 
der  selbst  von  der  Schande  getroffen  werden  würde,  wenn 
er  erblos  bleibt  und  seine  Güter  von  den  Gläubigern  ver- 
kauft würden,  der  Schande  ledig  ist,  auch  ohne  daß  ein 
Willenssubjekt  sie  ihm  abnimmt ;  denn  er  hat  sie  jemandem 
aufgedrückt,  der  die  Bestimmung  hat,  ihn  als  ein  ihm 
anderer  fortzusetzen,  und  daher  die  Schande  nicht  als 
diejenige  des  Erblassers,  sondern  als  ein  ihm  anderer 
trägt.  Deshalb  nimmt  selbst  die  prätorische  Billig- 
keit dem  Sklaven  diese  Infamie  nicht  ab.  Aber  — 
und  hier  erst  gelangt  der  erörterte  Begriffsunterschied  des 
Sklaven  und  des  extraneus  zu  vollster  sinnlicher  Deut- 
lichkeit —  ein  anderes  muß  ihm  statt  dessen  gewährt 
werden.  Wenn  der  Erblasser  sich  durch  den  Sklaven  als 
einen  ihm  anderen  fortsetzen  läßt,  wenn  der  Sklave 
die  Schande  der  Insolvenz  ohne  Willensantretung,  d.  h. 
nicht  als  die  seinige,  sondern  als  eine  ihm  andere 
trägt  und  sie  gleichwohl  nicht  als  die  eigene  Schande 
des  Erblassers  trägt,  sondern  als  ein  anderer  gegen 
diesen,  so  muß  der  erbende  Sklave  diesen  seinen  spezi- 
fischen Begriff,  als  Erbe  dennoch  als  ein  anderer 
gegen  den  Erblasser  zu  gelten,  auch  seinerseits  gegen 

2'  371 


den  Erblasser  betätigen  können.  Er  muß  daher 
das  Recht  haben,  was  kein  sonstiger  Erbe  hat  und  haben 
kann,  sich  in  seinem  eigenen  Vermögen,  das  er  nach 
dem  Tode  des  Erblassers,  sei  es  nach,  sei  es  vor  der 
bonorum  venditio,  erwarb,  als  ein  anderer  gegen  den 
Erblasser  zu  behaupten  und  nicht  für  dessen  Schulden 
verhaftet  zu  sein.  Die  Gläubiger  des  insolventen  Erb- 
lassers haben  also  nur  gegen  den  Erbnachlaß  selbst, 
nicht  —  wie  bei  dem  extraneus,  der  diese  Schulden  durch 
die  Antretung  zu  den  s einigen  gemacht  hat,  oder  wie 
bei  dem  suus,  welcher  der  mit  dem  Erblasser  Identische 
ist  —  gegen  das  persönliche  Vermögen  des  erbenden 
Sklaven  ihren  Angriffe),  Gajus,  II,  155:  ,,pro  hoc  tamen 
incommodo  illud  ei  commodum  praestatur,  ut  ea  quae  post 


^)  Selbstredend  kann  die  Erbeinsetzung  des  Sklaven  unter 
Umständen  eine  betrügerische  Benachteiligung  der  Gläubiger 
darstellen.  Aber  aus  den  früheren  Entwickelungen  (S-  243 
bis  251)  muß  von  selbst  hervorgehen,  wie  wenig  das  bloße 
Privatrecht  derselben  gegen  diese  mit  dem  öffentlichen  sub- 
stantiellen Volksgeist  identische  Befugnis  in  Betracht  kommen 
kann.  Die  Freiheit  der  Legate,  da  diese  bloß  einzelne 
Wirkungen  des  Willens  darstellen,  muß  also  durch  das 
Recht  der  Gläubiger  beschränkt  werden  können.  Die  Freiheit 
aber,  der  Willenssubjektivität  überhaupt  nach  dem  Tode  Fort- 
e.xistenz  zu  geben,  muß  als  mit  dem  spezifischen  und  substan- 
tiellen Inhalt  des  römischen  Geistes  zusammenfallend  keine 
solche  rein  privatrechtliche  Beschränkung  dulden,  und  sich  da- 
her hier  wieder  zeigen,  wäe  das  Recht  des  Toten  das  des  Leben- 
den besiegt.  Es  heißt  daher  ganz  offen  und  naiv  in  dem  Reskript 
des  Kaisers  Antoninus,  L.  2  de  necess.  serv.  her.  (6,  27) : 
„Is  qui  solvendo  non  est,  heredem  necessarium  etiam  in  fraudem 
creditorum  relinquere  potest."  Lebend  dagegen  hat  der  Herr 
nicht  das  Recht,  den  Sklaven  in  fraudem  creditorum  zu  manu- 
mittieren;  denn  hier  wehrt  es  ihm  die  lex  Aelia  Sentia;  s. 
Gajus,  Comm.,  I,  §  36  fg. 

372 


mortem  patroni  sibi  adquisierit,  sive  ante  bonorum  vendi- 
tionem  sive  postea,  ipsi  reserventur". 

Es  ist  dies  durchaus  nicht  oberflächlich  als  menschliche 
Billigkeit  zu  fassen,  wie  sich  soeben  bei  der  Infamie  zum 
Nachteil  des  Sklaven  gezeigt  hat,  und  sich  bald  ebenso 
stark  zu  seinem  Vorteil  zeigen  wird.  Auch  genießt  ja 
der  erbende  Sklave  nicht  einmal  die  prätorische  Billig- 
keit der  Abstinenz^),  sondern  es  ist  schlechterdings  nur 
die  notwendige  heraustretende  Folge  seines  entwickelten 
theoretischen  Begriffes,  Erbe  des  Erblassers  als  ein 
ihm  anderer  zu  sein.  Wenn  dieser  in  ihm  geeinte  speku- 
lative Begriff  nicht  erfaßt  wird,  wie  er  denn  bisher  nie- 
mals erfaßt  wurde  ^),  so  bleibt  dieser  Satz,  daß  der  Sklave 
mit  dem  Eigenen  nicht  für  die  Schulden  des  von  ihm 
Beerbten  einsteht  —  ein  Satz,  durch  welchen  die  ganze 
Substanz  des  Erbrechtes,  die  Identität  der  beiden  Willens- 
subjektivitäten, zerstört  scheinen  müßte  — ,  schlechthin 
unbegreiflich;  aber  ebenso  unbegreiflich  bleibt  dann  auch 
die  Infamie,  die  Notwendigkeit  der  hinzugefügten  Libertät 


^)  Ulpian,  XXII,  §  24:  „Necessariis  autem  tantum  heredibus 
abstinendi  potestas  non  datur." 

^)  Gans  (II,  178)  fertigt  daher,  weil  ihm  dieser  begrifflich- 
kategorische  Unterschied  in  der  Erbeinsetzung  des  Sklaven  gänz- 
lich entgeht,  das  testamentarische  Erbrecht  des  Sklaven  in  neun 
Zeilen  ab,  alle  oben  seit  S.  363  entwickelten  konkreteren  Sätze 
desselben,  von  der  Hinzufügung  der  Libertät  usw.,  der  Infamie, 
der  NichtVerhaftung  für  die  Schulden  mit  dem  Eigenen  usw., 
gänzlich  mit  Stillschweigen  übergehend  und  bloß  sagend:  ,,Ihr 
Eingesetztsein  setzt  notwendig  die  Freiheit  voraus  und  gilt 
daher  stillschweigend  für  Emanzipation,"  wobei  er  also  offen- 
bar  nur  an  die  Verordnung  Justinians  denkt  und  die  entgegen- 
stehenden Bestimmungen  des  alten  Zivilrechtes,  weil  diese  nur 
aus  jenem  Begriffsunterschiede  klar  werden,  völlig  zu  Ignorieren 
gezwungen  ist. 

373 


in  der  Erbeinsetzung,  ja  jeder  detaillierte  Satz  des 
Sklavenerbrechtes. 

Natürlich  aber  hat  der  erbende  Sklave  dies  Recht  auf 
Reservierung  des  Eigenen  nur  dann,  wenn  er  selbst  dies 
setzt,  daß  er  sich  obv.ohl  Erbe,  als  einen  anderen 
gegen  den  Erblasser  festhält  und  festgehalten  wissen  will. 
Er  muß  deshalb  zur  Verwirklichung  dieses  Rechtes, 
ehe  er  die  Güter  des  Toten  berührt  hat,  das 
Separationsdekret  vom  Prätor  begehren.  UlpianO-  ..^ta 
sciendum  est,  necessarium  heredem  servum  cum  libertate 
institutum  impetrare  posse  separationem,  scilicet  ut,  si  non 
aftigerit  bona  pafroni,  in  ea  causa  sit,  ut  ei  quidquid  postea 
acquisierit,  separetur,  sed  et  st  quid  ei  a  testatore  debefur." 

Statt  also  sich  einfach  zu  abstinieren,  muß  er  sich 
gerade  als  Erbe  betätigen,  aber  gerade  in  dieser 
Betätigung  durch  die  Separation  setzen,  daß  er  ein 
anderer  gegen  den  Erblasser  ist. 

Wie  die  letzten  hervorgehobenen  Worte  Ulpians  zeigen, 
bleiben  dem  Sklaven  dann  sogar  die  Forderungen,  die 
ihm  gegen  den  Erblasser  etwa  zustehen  sollten,  d.  h.  er 
ist,  obwohl  Erbe,  dennoch  so  sehr  ein  anderer  gegen 
den  Erblasser,  daß  er.  Erbe  bleibend,  sich  gleichwohl 
als  Dritter,  als  Gläubiger  gegen  denselben  behaup- 
ten  kann. 

Indem  jetzt  aber  dem  Sklaven  nur  die  Güter  des 
Herrn,  und  nicht,  wie  bei  dem  gewöhnlichen  Erben, 
der  die  Insolvenz  des  Erblassers  zu  der  sein  igen  ge- 
macht hat,  auch  die  seinigen  verkauft  werden,  ist  es 
jetzt  ja  nicht  bloß  wahr,  sondern  nunmehr  auch  gesetzt, 
daß  er  die  Schande  nicht  als  die  seinige,  sondern  als  die 
eines  anderen  trägt.   Und  jetzt  erst  ist  daher  der  eigent- 


0  L.    1.  §  18,  de  separat.   (42.  6). 
374 


liehe  Sinn  unserer  obigen  Begriffsbestimmung  ganz  evident, 
in  welcher  beides  zu  betonen  ist :  e  r  trägt  sie,  der  Sklave, 
nicht  der  Herr,  und  er  trägt  sie  als  die  eines  ihm  anderen. 

Zugleich  hat  sich  nun  bereits,  und  zwar  ohne  jede 
apriorische  trichotomische  Voreingenommenheit,  durch 
unsere  Erörterung  von  selbst  ergeben,  daß  die  von  den 
römischen  Autoren  uns  überlieferten  drei  Arten  von  Erben, 
der  suus  (suus  et  necessarius),  der  necessarius  und  der 
extraneus,  eine  strenge,  nach  dem  spekulativen  Gesetz  des 
logischen  Begriffes  sich  selbst  vollbringende  Dreiteilung 
bilden.  Das  Erbtum  ist  die  Einheit  der  Willenssubjek- 
tivität des  Erblassers  und  des  Erben.  Der  Erbbegriff  ent- 
hält drei  Momente :  den  Erblasser,  den  Erben  als  ein 
ihm  anderer  subjektiver  Wille,  und  die  Einheit  beider. 
Jeder  Erbe  ist,  als  Erbe,  bereits  diese  Einheit.  Aber 
das  treibende  Prinzip  der  systematischen  Entwickelung  ist 
dies,  daß  diese  Totalität  durch  die  Operation  der  ihr 
immanenten  Begriffsmomente  gesetzt  wird  in  der  ein- 
seitigen Form  des  einen,  dann  des  unmittelbar  ent- 
gegengesetzten Momentes,  und  drittens  in  der  Form 
der   Einheit. 

Der  suus  ist  der  Erbe  als  der  bloß  identische  des 
Erblassers ;  hierzu  bildet,  wie  wir  sahen,  den  unmittel- 
baren und  abstrakten  Gegensatz  der  necessarius  oder  Sklave, 
als  der  als  anderer  gegen  den  Erblasser  gesetzte 
Erbe.  Der  Sklave,  ursprünglich  in  Willensidentität  mit 
dem  Herrn,  wird  gerade  erst  durch  die  E r b einsetzung 
als  ein  ihm  anderer  gesetzt.  Dies  schlägt  wieder  in  den 
direkten  Gegensatz  um,  daß  ein  ursprünglich  anderer 
durch  das  Erbtum  vielmehr  in  Identität  mit  dem  Erb- 
lasser gesetzt  wird.  Dieser  Gegensatz  ist  aber  nicht 
mehr  bloßer  Gegensatz  des  letzten,  er  ist  vielmehr  be- 
reits  die   Einheil   der   beiden  vorigen   Gegensätze:   der 

375 


Erbe,  von  dem  es  durch  den  Akt  der  Identifizie- 
rung selbst  ebenso  gesetzt  ist,  daß  er  ein  dem  Erb- 
lasser anderer,  als  auch  jetzt  identisch  mit  ihm  ist, 
oder  der  als  die  Totalität  beider  Momente,  als  die  Ein- 
heit seiner  und  des  Erblassers  gesetzte  Einheit,  der 
extraneus  her  es. 


XXIX.    Der  bedingte  suus  oder  der   Übergang 
des  suus   in   den  extraneus  heres. 

Es  ist  endlich  noch  von  Interesse,  zu  sehen,  wie  auch 
der  suus  seinerseits  von  selbst  in  den  extraneus  übergeht. 
Der  Erblasser,  da  er  den  suus  sogar  exheredieren  kann, 
kann  ihm  um  so  mehr  auch  Bedingungen  stellen.  Dies 
ändert  natürlich  sein  Wesen  nicht.  Er  ist  nun  ein  be- 
dingter suus.  Macht  daher  der  Erblasser  den  suus  in  der 
Bedingung  irgendwie  von  objektiven  Tatsachen  abhängig, 
so  muß  er  ihn  für  den  Fall  des  Nichteintretens  derselben 
formell  exheredieren,  wenn  das  Testameent  gültig  sein 
soll.  Macht  er  ihn  aber  von  einer  lediglich  in  seiner, 
des  suus,  Willen  gelegenen  Bedingung  abhängig,  so  — 
hat  der  suus  aufgehört,  ein  suus  zu  sein  und  erbt,  auch 
wenn  er  die  Bedingung  erfüllt,  nicht  mehr  als  suus, 
sondern  ist  durch  die  Dialektik  des  Begriffes  in  einen 
extraneus  umgeschlagen. 

Es  muß  dies  aber  bereits  aus  dem  soeben  Entwickelten 
klar  sein  und  dient  seinerseits  wieder  dazu,  die  Wahr- 
heit dieser  Begriffsentwickelung  auf  das  schärfste  zu  kon- 
statieren.   Wir  sagten   soeben,    der  suus   ist   der  als  der 

376 


bloß  identische  gesetzte  Erbe.  Dies  ist  nun  so 
wahr,  daß,  wenn  durch  die  Erbeinsetzung  im  geringsten 
daran  erinnert  wird,  daß  der  suus  doch  auch  —  was  er 
natürhch  als  Persönlichkeit  in  der  Wirklichkeit  immer 
bleibt  —  eine  andere  Willenssubjektivität  als  der  Erb- 
lasser sein  könnte,  hierdurch  die  Suität  sofort  auf- 
gehoben und  in  ihr  Gegenteil,  in  einen  extraneus  heres, 
umgewandelt  ist.  Der  suus,  dessen  Wesen  durch  die  still- 
schweigende Enterbung,  die  Präterierung,  nicht  gebrochen 
werden  kann,  wird  gerade  durch  die  Erbeinsetzung  selbst 
als  suus  negiert,  und  in  seinem  Wesen  zerstört,  wenn 
sie  jene  Erinnerung  enthält.  Begrifflich  muß  das  natür- 
lich so  sein.  Denn  jene  unbedingte  und  unmittelbare 
Identität  des  suus  mit  dem  Erblasser  ist  eben  nur  die 
Rechtsfiktion,  welche  die  Naturwahrheit,  daß  er 
eine  andere  selbstwollende  Willensperson  ist,  zurück- 
drängen kann  und  so  lange  ein  für  allemal  zurückgedrängt 
hat,  bis  sie  durch  ausdrückliche  Enterbung  aufgehoben 
wird.  Aber  wenn  nun  in  das  Testament  selbst  der  Reflex 
auf  jene  der  Rechtsfiktion  entgegenstehende  Wirklich- 
keit gesetzt  wird,  so  ist  durch  dies  positive  Setzen 
ebensogut  wie  durch  die  negative  Enterbung  die  Rechts- 
fiktion der  Identität  zerstört  und  der  suus  als  das  zum 
Vorschein  gekommen,  was  er  in  Wirklichkeit  ist,  als 
eine  andere  Willensperson  als  der  Erblasser,  somit  als 
ein  Nicht-suus,  ein  extraneus. 

Wenn  also  die  begriffliche  Notwendigkeit  dieses  Satzes, 
daß  durch  die  geringste  Erinnerung  an  eine  mögliche 
Willensverschiedenheit  die  Suität  des  eingesetzten  suus 
vernichtet  wird,  einleuchten  muß,  so  läßt  sich  nicht  weniger 
die  empirische  Wirklichkeit  dieses  Satzes  sofort  aus  den 
Rechtsquellen  nachweisen.  Es  zeigt  sich  dies  nämlich  in 
der  Lehre  von  den  Bedingungen.    Beim  extraneus  ist  die 

377 


an  die  Willensbedingung :  si  volet  gebundene  Erbeinsetzung 
eine  unbedingte.  Die  Bedingung  ist  völlig  wirkungs- 
los und  non  scripta.  Sie  muß  dies  sein,  weil  es  ohnehin 
schon  im  Wesen  des  extraneus  lag,  seinen  Willen  frei 
zu  haben  und  ihn  erst  durch  die  Adition  mit  dem  Erb- 
lasser zu  identifizieren.  Beim  suus  aber,  da  dieser  invitus 
heres  ist,  fügt  dieser  Zusatz  .,si  volet"  allerdings  etwas 
Neues  hinzu :  er  gibt  den  Willen  des  suus  frei  und  gilt 
daher  hier  als  wahre  conditio,  so  daß  der  suus  hier- 
durch zunächst  als  ein  sab  conditione  eingesetzter 
suus  erscheint.  Hermogenian^)  :  Verbahaec:  „Publius 
Moevis,  si  volet,  heres  esfo,  in  necessario  conditionem 
faciunt,  ut  si  nolit  heres  non  existat :  nam  in  volunfaria 
heredis  persona  frustra  adduntur,  quum,  etsi  non  fuerint 
addita,  invitus  non  efficitur  heres." 

Allein  wenn  der  suus  unter  dieser  Bedingung  —  oder 
was  auf  dasselbe  hinauskommt,  unter  der  reinen  Pote- 
stativbedingung —  eingesetzt  ist,  so  ist  er,  da  ja 
der  Erblasser  ihn  hierdurch  als  einen  Wollenden  und 
möglicherweise  auch  Anders  wollenden,  somit 
in  jedem  Falle  als  eine  gegen  ihn  andere  selbstän- 
dige Willenssubjektivität  gesetzt  hat,  als  suus  auf- 
gehoben, und  die  erste  Folge  hiervon  zeigt  sich  zu- 
nächst darin,  daß  er  für  den  Fall  seines  Nichtwollens 
nicht,  was  er  als  suus  müßte,  formell  exherediert  zu 
werden  braucht.  Mäcianus-):  ,,Jam  dubitari  non  potest, 
suos  quoque  heredes  sub  hac  conditione  institui  posse,  ut. 
si  voluissent,  heredes  essent ;  si  heredes  non  essent,  alium 
quem  visum  erit,  iis  substituere ;  negatumque,  hoc  casu 
necesse  esse,  sub  contraria   conditione  fUium  exheredare, 


1)  .L.   12  de  conduit.  inst.  (28.  7). 

2)  L.  86  de  hered.  inst.  (28,  5). 


378 


primum,  quia  tiinc  tantum  Id  exigeretur,  quum  in  potesfate 
ejiis  non  esset,  an  heres  patri  existeret,  expectantis  ex- 
trinsecus  positae  conditionis  eventum,  deinde  quod,  etsi 
quacunque  posita  conditione  deberet  filius  sub  contraria 
conditione  exheredari,  in  proposito  ne  possibilis  quidem 
reperiri  posset ;  certe  si  verbis  exprimeretur,  inepta  fieret, 
huic  enim  conditioni :  sl  volet,  heres  esto,  quae  alia  verba 
contraria  concipi  possunt,  quam  haec :  si  nolet,  heres  esse, 
exheres  esto,  quod  quam  sit  ridiculum,  nulli  non  patet." 

Aber'  nicht  die  bloße  Lächerlichkeit  der  Tautologie 
ist  der  wahre  Grund  für  die  Überflüssigkeit  der  Exhere- 
dation,  sondern  vielmehr  jene  Dialektik  des  begnfflichen 
Verhältnisses,  durch  welche  der  suus,  indem  ihn  der  Erb- 
lasser als  einen  anderen  Willen  gelten  läßt,  von  ihm 
als  voluntarius  i.  e.  exfraneiis  heres  gesetzt  worden  ist. 
Und  dies  zeigt  sich  nicht  nur  darin,  daß  doch  nach  Mäcian 
selbst  auch  bei  der  Potestativbedingung,  bei  welcher  die 
Tautologie  der  Worte  nicht  stattfinden  würde,  die  Exhere- 
dation  überflüssig  sein  soll,  sondern  es  tritt  dies  auch  auf 
das  direkteste  in  den  unmittelbar  folgenden  Worten  Mäcians 
hervor:  ,,Non  ab  re  autem  hoc  loco  velut  excessus  hie 
subjungetur,  suis  ita  heredibus  institutis  si  voliierint  heredes 
esse,  non  permittendum  amplius  abstinere  se  hereditate, 
quum  ea  conditione  instituti  jam  non  iit  neeessarii,  sed 
siia  sponte  heredes  extiterunt;  sed  et  ceteris  conditionibus. 
quae  in  ipsorum  sunt  potestate  si  sui  pareant,  jus  abstinendi 
assequi  non  debent."  Die  zweite  reale  Folge  ist  also 
die,  daß  sie  durch  die  Erfüllung  der  Willensbedingung 
das  prätorische  Recht  der  Abstinenz  verlieren,  das  den 
suis  zusteht.  Sie  haben  aber  dadurch  in  jedem  Falle 
aufgehört,  sui  zu  sein.  Denn  erfüllen  sie  nicht,  so  sind 
sie  keine  Erben  und  somit  keine  sui ;  erfüllen  sie  aber,  so 
verlieren  sie  das  Abstinenzrecht  und  hören  somit  gleichfalls 

37Q 


auf,  sui  zu  sein.  Und  die  begriffliche  Einheit  dieser  Ver- 
standesantithese ist  eben  die  sich  Mäcian  deutlich  genug 
aufdrängende,  daß  sie  durch  die  Freilassung  ihres  Willens 
als  andere  gegen  den  Erblasser  gesetzt,  überhaupt  zu 
„sua  sponte  heredes"  i.  e.  extranei  geworden  sind. 

Die  dritte  sehr  reale  und  praktisch  wichtige  Folge 
muß  daher  die  sein,  daß,  wenn  ein  so  bedingter  suus 
und  ein  extraneus,  jeder  zur  Hälfte,  zu  Erben  eingesetzt 
sind,  und  der  suus  die  Willensbedingung  nicht  erfüllt, 
das  Testament  nicht  beseitigt  und  Intestaterbfolge 
herbeigeführt  wird,  sondern  ganz  als  wäre  es  einer  von 
zwei  extranei,  der  ausschlägt,  das  Testament  bestehen  und 
der  andere  extraneus  der  Erbe  bleibt.  So  sagen  Ulpian 
und  Julian  übereinstimmend  vom  filius^):  ,,et  quidem  sub 
ea  conditione  quae  est  in  potestate  ipsius  potest  (institui) 
de  hoc  enim  inter  omnes  constat.  Sed  utrum  ita  demum 
institutio  effectum  habeat,  si  paruerit  conditioni,  an  et  si 
non  paruerit  et  decessit  ?  Julianus  putat,  filium  sub  ejus- 
modi  conditione  institutum,  etiamsi  conditioni  non  paruerit, 
summotum  esse ;  et  ideo  si  coheredem  habeat  ita  institutus, 
non  debere  eum  expectare  donec  conditioni  pareat  filius, 
quum  etsi  patrem  intestatum  faceret  non  parendo  conditioni, 
procul  dubio  exspectare  deberet ;  quae  sententla  probabilis 
mihi  videtur,  ut  sub  ea  conditione  institutus  quae  in  arbitrio 
ejus  sit,  patrem  Intestatum  non  faclat." 

Dies  ist  doch  aber  ohne  Erfüllung  der  testamentarischen 
Bedingung  und  ohne  Exheredation  nur  dann  möglich,  wenn 
der  suus  völlig  aufgehört  hat,  ein  suus  zu  sein,  und  er 
hat  dies  also  aufgehört  ohne  Negation  (Enterbung) 
bloß  dadurch,   daß  er   positiv  als  ein   Se  Ib  st  wollen - 


1)  L.  4  de  hered.  inst.  (28.  5). 
380 


der,  als  ein  anderes  Willenssubjekt  als  der  Erblasser 
gesetzt  worden  ist^). 

Was  den  extraneus  heres  betrifft,  so  hat  sich  der  Be- 
griff desselben  gleichfalls  überall  schon  in  dem  Bisherigen 
im  Gegensatz  zum  suus  und  zum  necessarius  ergeben.  Er 
ist  eine  ursprünglich  andere  Willenssubjektivität,  die  sich 
durch  die  Adition  als  identisch  mit  derjenigen  des  Erb- 
lassers setzt.  Er  muß  diese  Einheit,  die  bei  dem  suus 
von  selbst,  bei  dem  necessarius  durch  das  alleinige  Setzen 
des  Erblassers  schon  vorhanden  ist,  durch  den  Akt  freier 
Willensidentifizierung  erst  vollbringen  (vgl.  oben  sub 
Nr.  VIII).  Er  ist  so,  wie  wir  sahen  (vgl.  S.  375),  die 
Einheit  des  suus  und  necessai"ius  oder  der  Erbe  über- 
haupt. 


XXX.     Die   Erbfähigkeit    und    ihre    Bedingun- 
gen. —  Der  Zeitpunkt  der  Fähigkeit.    Die  lex 
Papia   und  die  apertura   tabularum. 

Gehen  wir  jetzt  zu  der  Frage  nach  der  Erbfähig- 
keit überhaupt  über,  so  muß  die  Unfähigkeit  zu  erben 
wiederum  sich  als  ein  strenger  Ausfluß  des  Erbbegriffes 
selbst  erweisen.  Wenn  Gans  (II,  175)  sagt:  ,,Die 
Gründe,  warum  bestimmte  Personen  nicht  zu  Erben  er- 
nannt werden  dürfen,  fallen  nun  wiederum  nicht  in  eine 
Abhandlung  des  Systems  der  Willkür,  sie  werden  hier 
vielmehr  vorausgesetzt  und  sind  daher  an  dieser  Stelle 
nur   aufzuzählen",    so   ist    dieser   Verzicht   auf   das    be- 

•^)  Vgl.  L.  3  de  institut.  (6,  25),  in  welchem  Reskript  des 
Kaisers  Alexander  es  deshalb  sogar  vom  suus  heißt:  „et  ideo 
adire  hereditatem  non  prohiberis." 

381 


greifende  Erfassen  der  Erbunfähigkeiten  nur  eine  not- 
wendige Folge  des  nicht  erfaßten  Erbbegriffes  über- 
haupt. Freilich,  wenn  es  sich  so  verhiehe,  wie  Gans 
daselbst  gleichfalls  sagt,  daß  die  Ernennung  des  Erben 
nur  ein  , .Setzen  eines  Individuums  für  das  Ver- 
mögen" sei,  so  würde,  da  das  Vermögen  allerdings  ,,ein 
totes  und  widerstandsloses  Objekt"  ist^),  aus  dem  Be- 
griffe des  Testamentes  selbst  niemals  zu  erfassen  sein, 
wie  so  hier  der  Wille  auf  Hindernisse  in  den  einzusetzen- 
den Personen  stoßen  kann.  Man  würde  dann  also  mit 
Gans  ,,die  konkreten  Gestalten  des  Willens,  die  bürger- 
liche Gesellschaft  und  den  Staat"  als  solche  Hinder- 
nisse in  das  Testament  hineinbringen  müssen,  obgleich 
dennoch  niemals  wahrhaft  zu  begreifen  wäre,  warum,  wenn 
einmal,  wie  in  Rom,  die  Familie  der  Testierfreiheit  kein 
Hindernis  in  den  Weg  legt,  Staat  und  Gesellschaft  hindern 
sollten,  solchen  Personen  im  Tode  das  Vermögen  zu  ver- 
abreichen, an  die  man  sich  desselben  während  des  Lebens 
entäußern  kann-). 

^)  Gans,  a.  a.  O. :  ,,Wenn  die  Seite  der  Reflexion  auf  das 
Vermögen  die  auf  ein  totes  und  widerstandsloses  Objekt  ist, 
so  hat  es  hier  dagegen  (in  der  Erbeinsetzung)  der  Wille  mit 
dem  lebendigen  Willen  zu  tun  und  mit  den  konkreten  Gestalten 
desselben,  der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  dem  Staate.  Das 
Setzen  des  Erben  wird  daher  (??  woher?)  nicht  durch  den 
leeren  Willen  bestimmt  oder  wenigstens  nur  innerhalb  des  Krei- 
ses, der  dem  leeren  Willen  vorher  gegönnt  ist  (?  dies  ist  aber 
ja  eben  nicht  der  Fall;  wer  commercium  hat,  kann  deshalb  noch 
nicht  zum  Erben  eingeset2t  werden)  ;  mit  anderen  Worten :  die 
Forderungen  der  substantiellen  Sphäre  schließen  bestimmte  Per- 
sonen aus,  welche  die  Willkür  nicht  zu  Erben  designieren  kann 
(warum?)." 

^)  Wohl  aber  begreift  sich,  daß,  nachdem  das  Testament 
einmal  ist,  was  es  ist,  d.  h.  da  es,  statt  ein  bloßes  Privatrecht 
der  Person  zu  bilden,  für  den  Römer  das  innerste  Herzensge- 

382 


Da  aber  in  dem  Erbbegriff  etwas  ganz  anderes  das 
agens  ist,  als  das  „Setzen  für  das  Vermögen",  so  werden 
auch  die  Erbunfähigkeiten  lediglich  die  Ausflüsse  dieses 
agens,  die  konsequenten  Folgen  des  spekulativen  Erb- 
begriffes selbst  sein.  Dies  ist  in  bezug  auf  die  Erbunfähig- 
keiten des  alten  jus  civile  auf  das  strengste  der  Fall, 
und  selbst  die  leges  einer  späteren  Zeit,  wie  die  lex  Julia, 
lex  Papia,  stellen  sich  in  ihren  betreffenden  Bestimmungen 
nur  als  analogische  Erweiterungen  und  Fortführungen  jenes 
Grundgedankens  dar. 

Philosophischer  daher  als  die  eben  zurückgewiesene 
Auffassung  ist  bereits  die  Definition  Ulpians  von  der 
Erbfähigkeit  insofern,  als  in  sie  bereits  hineinscheint,  wie 
die  Erbfähigkeit  nur  der  Ausfluß  des  Erbbegriffes  und 
seines  immanenten  Inhaltes  selbst  ist^):  ,,Heredes  institui 
possunt  qui  testamenti  factionem  cum  testatore  habent." 
Zwar  meint  Ulpian  den  Satz  ohne  Zweifel  nur  in  dem 
äußerlichen  Sinne,  daß  der  einzusetzende  Erbe  die  Fähig- 
keit haben  muß,  den  formellen  Alvt  des  Manzipations- 
testamentes  mit  dem  Testator  vorzunehmen.  Aber  indem 
diese  Fähigkeit  dieselbe  testamentifactio  ist,  welche  auch 
der  Testator  braucht,  um  testieren  zu  können,  scheint  in 
diesen  Satz  bereits  der  wahre  und  tiefere  Begriff  hinein, 
daß  die  notwendige  Eigenschaft  für  die  Erbfähigkeit  darin 


heimnis  seines  historischen  Wesens,  den  eigensten  Inhalt  des 
spezifischen  römischen  Volksgeistes  in  sich  enthält,  nach  allem, 
was  wir  oben  (Nr.  X  u.  XV)  hierüber  entwickelt  haben,  jede 
Teilnahme  einer  nicht  des  römischen  .Willens  fähigen  Person 
an  diesem  den  spezifischen  Kultus  des  römischen  Geistes  dar- 
stellenden Akte  ausgeschlossen  bleiben  muß,  daß  also  z.  B.  der 
peregrinus  auch  kein  Legat  erhalten  kann,  v.as  ebenso  in  bezug 
auf  den  Latinus  Junianus  durch  die  lex  Junia  prohibiert  wird. 
')  Ulpian,  Fr.  XXII,  §  1. 

3S3 


besteht:  dasselbe  zu  sein  wie  der  Testator,  In 
der  Tat,  da  das  Erbtum  nichts  anderes  als  die  Identi- 
fizierung der  beiden  subjektiven  Willen  und  die  hier- 
durch hervorgebrachte  Perpetuierung  des  erblasse- 
rischen Willens  ist,  so  muß  der  Erbe,  um  ihn  zu  per- 
petuieren,  eine  ebensolche  Willenssubjektivität 
sein  wie  der  Testator.  Er  muß  daher  genau  dieselbe 
Willensfähigkeit  haben,  welche  wir  bei  diesem  als  er- 
forderlich aufgezeigt,  und  als  aus  dem  Begriff  der  Sache 
fließend  entwickelt  haben.  Zwischen  Ungleichen  würde 
nicht  Identität  und  somit  nicht  Erbtum  bewerkstelKgt 
werden  können.  Wir  haben  daher  bereits  oben  (S.  202) 
\orgreifend  den  Begriff  und  die  von  ihm  hervorgetriebenen 
notwendigen  Bedingungen  auch  für  die  Erbfähigkeit, 
zugleich  mit  der  Testierfähigkeit  nachgewiesen,  worauf 
wir  uns  hier  zurückbeziehen,  nur  wenige  Punkte  noch  be- 
sonders hervorhebend. 

So  wird  jetzt  erst  wahrhaft  ersichtlich  sein,  warum 
nach  römischer  Lehre  die  Fähigkeit  des  Honorierten  nicht 
erst  zur  Zeit  des  Todes,  sondern  bereits  zur  Zeit  des 
Testamentes  vorhanden  sein  muß.  Savigny  hat  diese 
,, auf  fallende  Erscheinung",  wie  er  sie  mit  Recht  nennt, 
dadurch  erklärt,  daß  durch  die  Manzipation,  als  der  Grund- 
form des  römischen  Testamentes,  das  Ganze  die  Gestalt 
eines  fingierten  Erbvertrages,  also  eines  Rechtsgeschäftes 
unter  Lebenden  annahm  (s.  oben  Bd.  I,  S.  705 fg.).  Jetzt 
wird  nun  aber  auch  der  innere  Grund,  der  in  dieser 
noch  bloß  formellen  Begründung  tätig  ist,  erhellen.  Das 
Testament  ist  der  Akt  der  Identifizierung  zw^eier  un- 
abhängiger Willenssubjektivitäten ^).    Die  zu  dieser  Wil- 

^)  Das  Manzipationstestament  ist  daher  nur  (s.  Nr.  VIII) 
seine  angemessenste  Form;  mit  anderen  Worten:  das  Te- 
stament ist  nicht  ein  fingiertes  Rechtsgeschäft  unter  Leben- 

384 


ienshandlung  erforderliche  Willensfähigkeit  rnuß 
daher  nicht  bloß  zur  Zeit,  wo  die  Wirkung  dieser 
Identifikation  eintreten  soll  —  also  zur  Zeit  des  Todes  — , 
sondern  notwendig  schon  zur  Zeit  ihrer  Vornahme 
vorhanden  sein,  wenn  sie  überhaupt  später  wirken  können 
soll. 

Hat  das  zivilistische  Testament  noch  seine  streng  an- 
gemessene, begrifflich-reinste  Form  —  d.  h.  in  der  Zeit, 
wo  der  familiae  emptor  noch  selbst  der  Erbe  ist 
(Nr.  VIII),  so  tritt  diese  innere  Notwendigkeit  auch  schon 
in  der  Form  als  etwas  ganz  Selbstredendes  hervor.  Denn 
dies  Testament  kann  gar  nicht  zustande  kommen,  wenn 
nicht  der  Erbe  sich  zu  diesem  Willenserhalter  erklärt 
und  also  die  für  diesen  Akt  erforderliche  Handlungs- 
fähigkeit besitzt  0.  Weil  aber  dieses  Erfordernis  eben 
nicht  in  einer  bloßen  Form  als  solcher,  sondern  zugleich 
mit  dieser  selbst  in  der  Idee  des  Testa.mentes  v/urzelt, 
überlebt  es  dieselbe,  und  kann  und  muß  sich  selbst 
dann  erhalten,  als  bereits  der  Erbe  eine  andere  Person 
als  der  mitagierende  familiae  emptor  ist,  und  also  die 
Notwendigkeit  seiner  Willens-  und  Handlungsfähigkeit  zur 
Zeit  des  Aktes  nicht  mehr  in  dem  formellen  Gerüste 
desselben  in  die  Augen  springt.    Es  kann  und  muß  diese 


den,  und  zwar  aus  dem  bloß  formellen  Grunde,  weil  ihm  die 
Form  eines  Manzipalionsaktes  in  unerklärter  Sonderbarkeit 
verliehen  wurde,  sondern  umgekehrt :  das  Testament  ist  seiner 
innersten  Substanz  nach  ein  Rechtsgeschäft  unter  Leben- 
den, und  deshalb  erhält  es  die  Form  der  Manzipation 
(vgl.  oben  S.  163). 

^)  Der  Erbe  (familiae  emptor)  ist  vom  Momente  der  Te- 
stamentshandlung  an  bereits  Erbe,  und  gilt  als  solcher,  wenn 
dies  auch  erst  zur  Todeszeit  Wirkung  erlangt ;  siehe  Theophilus. 
a.  a.  O. 

3   Lu»»aUe.  G«.  Sctriften.  Band  XU.  385 


und  die  Manzipationsform  überhaupt  deshalb  überleben, 
weil  das  zivilistische  Testament  mit  derselben  nur  das 
strenge  Gesetztsein  seines  Begriffes  innerhalb 
der  äußeren  Form,  aber  noch  nicht  seinen  begriff- 
lichen Inhalt  selbst  verliert,  die  Willensidentifikation 
zweier  hierzu   fähiger   Willen  darzustellen^). 

In  diesem  Zusammenhange  ist  auch  beiläufig  die  Kon- 
sequenz begreiflich,  welche  die  lex  Papia  genau  aus  dem- 
selben Punkt,  wenn  auch  gerade  nach  entgegengesetzter 
Richtung  hin,   zieht. 

Das  zivilistische  Testament,  das  Testament  in  seiner 
ursprünglichen  absoluten  Angemessenheit,  kann,  sagten  wir, 
gar  nicht  zustande  kommen,  wenn  nicht  der  Erbe  sich  zum 
Willenserhalter  erklärt,  was  er  eben  durch  jene  feierliche 


^)  Es  zeigt  sich  also  hier  der  Irrtum  Savignys,  welcher 
meint  (VIII,  461),  ,,daß  es  konsequent  gewesen  wäre,  diese 
Lehre  (von  den  drei  Zeiten)  im  justinlaneischen  Recht  gänz- 
lich aufzugeben,  indem  ja  in  diesem  Recht  der  Gedanke  der 
Manzipation  als  Grundlage  der  Testamente  völlig  verschwim- 
den  war." 

War  der  Gedanke  der  Manzipation  völhg  verschwunden,  so 
war  dagegen  der  Gedanke  des  Erbtums,  aus  welchem  die  Man- 
zipation wie  jene  Lehre  hervorgegangen  war,  noch  nicht 
völlig  verschwunden,  vielmehr,  wie  sehr  auch  immer  verblaßt 
und  durch  das  Vermögen  zurückgedrängt,  noch  immer  mit  seiner 
ursprünghchen  ziviKstischen  Wurzel  innerhch  zusammenhängend, 
wie  wir  dies  gedoppelte  Verhältnis  Justinians  zum  zivilisti- 
schen  Erbrecht  bei  den  konkreten  Instituten  desselben  genau 
darzutun  gesucht  haben.  Solange  aber  noch  irgendein  solcher 
begrifflicher  Zusammenliang  da  war,  war  die  Aufhebung  der 
Lehre  von  den  tria  tempora  nicht  möglich.  Erst  in  dem  Testa- 
römischen  Volkssubstanz  und  durch  den  Einfluß  der  germani- 
mentsrecht,  wie  es  sich  dm"ch  die  gänzliche  Losreißung  von  der 
sehen  Ideen  gestaltet,  wäre  sie  wurzellos  und  inkonsequent. 

386 


Formel  im  Testamentsakt  vollbringt  (Nr.  VIII).  Nachdem 
nun  aber  der  Gebrauch  aufgekommen  ist,  einen  anderen  als 
den  familiae  emptor  in  den  tabulis  zum  Erben  zu  machen, 
und  der  Erbe  also  bei  der  Testamentsanfertigung  gar 
nicht  mehr  zu  konkurrieren  braucht,  fehlt  jetzt  im  Testa- 
mentsakt dies  Moment,  daß  der  Erbe  auch  seinerseits 
dabei  präsent  ist.  Das  Testament  ist  also  jetzt  noch  gar 
nicht  für  den  Erben  vorhanden  und  erscheint  des- 
halb, wenn  auch  fertig,  doch  noch  unvollständig. 
Dieser  Gedanke  ist  es,  den  die  lex  Papia  aufgreift,  welche 
das  Testament  erst  in  dem  Augenblicke,  in  welchem  es 
in  solenneller  Weise  für  den  Erben  geworden  ist, 
d.h.  durch  die  apertura  tabularum,  vollständig  wer- 
den läßt.  Denn  dies  ist  es,  was  offenbar  durch  dies 
Gesetz  vollbracht  wird,  indem  nach  ihm  nicht  nur  der 
Erbe,  auch  wenn  er  auf  anderem  Wege  her  weiß,  daß 
er  der  Erbe  ist,  erst  nach  der  Eröffnung  der  Tafeln 
die  Adition  gültig  vornehmen  kann,  sondern  sogar  auch 
der  Zeitpunkt  des  dies  credit  für  die  Legate, 
d.  h.  also  die  Wirksamkeit  der  einzelnen  Willens- 
bestimmungen erst  von  dieser  Eröffnung  ab,  statt  mit 
dem  Tode  des  Testators,  eintritt.  Justinian  berichtet 
hierüber^),  indem  er  diese  Bestimmungen  aufhebt :  ,,Quum 
igitur  materiam  et  exordium  caducorum  lex  Papia  ab 
aditbnibiis,  quae  circa  defunctorum  hereditates  procedebant, 
sumsit,  et  ideo  non  a  morte  testatoris,  sed  ab  apertura 
tabularum  dies  cedere  legatorum  senatusconsulta  quae  circa 
legem  Papiam  introducta  sunt  concesserunt,  ut  quod  in 
medio  deficiat,  hoc  caducum  fiat,  primum  hoc  corrigentes 
et  antiquum  statum  renovantes  sancimus,  omnes  habere 
licentiam  a  morte  testatoris   adire  hereditatem,   similique 


)  L.    un.    §  1    C.   de   cad.    toll.    (6.  51). 

387 


modo  legalorum   \el    fideiconiinissorum   pure   vel   lii   dlem 
certam  relictorum  diem  a  morte  testatoris  cedere^). 

Wenn  Justinian  sagt,  daß  er  hierbei  nur  das  alte  Recht 
wiederherstelle,  so  ist  das  im  buchstäblichen  Sinne  zwar 
richtig,    aber    auch    nur    in    diesem-).     Im    alten    Recht, 

^)  Wenn  aber  die  apertura  tabularum,  die,  wie  gezeigt,  nur 
die  letzte  Vervollständigung  des  Testamentsaktes 
darstellt,  erforderlich  war  für  die  Adition  des  Erben,  so  war 
sie  es  keineswegs  für  die  Agnition  der  bonorum  possessio  secun- 
dum  tabulas.  Ulpian,  L.  1,  §  2.  de  hon.  poss.  sec.  tab.  (37, 
11).  Der  Grund  liegt  wieder  darin,  daß  diese  als  eine  bloße 
Vermögensverfügung,  die  keine  Identifizierung  zweier  Willen 
hervorbringen  soll,  auch  diese  im  Testament  per  aes  et  libram 
vorhandene  Gegenüberstellung  und  Präsenz  der  beiden  Willen 
nicht  nachzuholen  braucht,  um  in  sich  vollständig  zu  sein.  — 
Der,  um  uns  dieses  Ausdruckes  nochmals  zu  bedienen,  spiri- 
tualistische  Charakter  des  Erbrechtes  tritt  überhaupt  am  deut- 
lichsten und  unterscheidendsten  überall  hervor,  wenn  man  ihn 
mit  der  bonorum  possessio  vergleicht;  nicht  so  im  Vergleich 
mit  dem  Legatenrecht.  Denn  jene  ist  bloße  Vermögensver- 
fügung, während  das  Legat,  unbeschadet  seines  früher  nachge- 
^viesenen  Gegensatzes  zum  Erbtum,  mit  diesem  das  gemein- 
sam hat,  daß  es  eine  einzelne  Wirkung  des  über  den  Tod  hin- 
aus im  Erben  fortexistierenden  Willens  darstellt,  also 
mit  dem  Erbtum  auch  in  einer  inneren  Einheit  steht,  welche 
die  Bestimmungen  des  Legatenrechtes  in  vieler  Hinsicht,  z.B.  in 
bezug  auf  die  Fähigkeit  des  Honorierten,  den  Anforderungen  des 
Erbbegriffes,  als  seines  grundsätzlichen  Bodens,  unterwerfen  muß. 

^)  Vgl.  oben  über  diesen  organischen  Trieb  des  römischen 
Rechtes,  in  seinem  unter  Justinian  abschließenden  totalen  Selbst- 
verlust dem  Äußerlichen  nach  sich  auf  seine  früheste  Gestalt 
zurückzuwenden,  aber  mit  ganz  geändertem  Begriffsinhalt  — 
gerade  wie  eine  Leiche  m.anchmal  die  Gesichtszüge  des  Toten 
in  früheren  Perioden  in  größerer  Ähnlichkeit,  als  es  während 
der  Zeit  seines  späteren,  kämpfenden  und  krankenden  Lebens  der 
Fall  gewesen,  hervortreten  läßt,  aber  immer  ohne  das  Leben, 
welches  dort  die  Ursache  jener  Alteration  gewesen  war. 


solange  der  im  Testaip.entsakt  fungierende  familiae  emptor 
selbst  der  Erbe  war,  war  es  freilich  nicht  einmal  mög- 
lich, erst  mit  der  Eröffnung  der  Tafeln  das  Testament 
vollständig  werden  und  in  Wirksamkeit  treten  zu  lassen. 
Nachdem  es  aber  allgemein  geworden,  einen  anderen  als 
den  familiae  emptor  in  den  tabulis  zum  Erben  zu  machen, 
füllt  die  lex  Papia^),  wie  wir  sahen,  nur  den  hierdurch 
entstandenen  Mangel  aus,  indem  sie  erst  mit  der  Eröffnung 
des  Testamentes  dasselbe  formelle  Wirksamkeit  erlangen 
läßt^).  Indem  Justinian  dies  wieder  aufhebt,  ohne  daß 
aber  zu  dem  ursprünglichen  Gebrauch  des  alten  Rechtes 
zurückgekehrt  wird,  den  familiae  emptor  Erbe  sein  zu 
lassen,  hat  er  sich  von  dem  Gedanken  des  alten  Rechtes 
vielm.ehr  nur   weiter  entfernt,   statt   sich   ihm  wieder 


^)  Denn  daß  jedenfalls  schon  zu  ihrer  Zeil  dieser  Gebrauch 
allgemein  war,  steht  historisch  fest.  Augustus  testiert  per  aes 
et  libram.  Sein  familiae  emptor  ist  Domitlus,  der  Vorfahr 
Neros,  seine  Erben  aber  Tiberius  und  Livia;  s.  Sueton,  Vita 
Aug.  c.  101,  Vita  Neron.  c  4.  Wie  lange  vor  der  lex  Papia 
die  Spaltung  zwischen  Erben  und  familiae  emptor  schon  all- 
gemein gebräuchlich  geworden  war,  dürfte  sich  schwerlich  genau 
feststellen   lassen. 

^)  Aber  die  Adition  des  Erben,  wenn  sie  auch  erst  nach  der 
apertura  geschehen  kann,  muß,  da  das  Erbtum  die  perpetuierende 
Fortsetzung  der  Willenssubjektivität  selbst  ist,  unmittelbar 
an  den  Moment  des  Todes  anknüpfen  und  auf  ihn  zurück- 
schlagend (s.  oben  Nr.  V)  von  da  ab  das  Sein  dieser  Wil- 
lenssubjektivität fortsetzen.  Nur  für  die  Legate  ist  es  mög- 
lich, daß  sie,  weil  sie  nicht  das  allgemeine  Sein  der  Wil- 
lenssubjektivität, sondern  einzelne  Willensäußerungen 
derselben  darstellen,  erst  von  dem  Moment  ab  wirksam  werden, 
wo  diese  Äußerungen  des  im  Erben  fortexistierenden  Willens 
dadurch,  daß  sie  für  den  Erben  werden,  erst  eine  dem  Erb- 
begriff entsprechende  Wirklichkeit  und  somit  verbindliche  Wir- 
kung und  Kraft  erlangen. 

389 


zu  nähern.  Aber  freilich  ist  dies  so  sehr  der  Fall,  daß 
bei  ihm  das  Manzipationstestament  sogar  gänzlich  ver- 
schwunden und  in  das  prätorische  Testament  übergegangen 
ist.  Und  damit  hat  sich  allerdings  das  Erbtum  der  bloßen 
Vermögenszuwendung  so  entscheidend  angenähert  (s.  oben 
S,  131,  Note  1,  u.  a.  a.  O.),  daß  jetzt  kein  Grund 
mehr  ist,  dasselbe  nicht  ebensogut,  wie  es  bei  der  bonorum 
possessio  seit  je  der  Fall  gewesen  war  (Note  1,  S.  388), 
auch  vor  der  apertura  tabularum  antreten  zu  lassen.  Daß 
die  lex  Papia,  die  man  mit  Unrecht  gewöhnlich  als  ein 
bloßes  fiskalisches  Willkürgesetz  auffaßt,  eine  wirkliche, 
im  Testamentsrecht  —  wir  haben  gesehen,  woher  —  ent- 
stemdene  Lücke  ausfüllt  und  so  eine  objektive  Grundlage 
hat,  zeigt  sich  schon  äußerlich  daran,  daß  sie  bestehen 
blieb  solange  und. länger,  als  das  Manzipationstestament 
in  Gebrauch  war. 


XXXI,    Die  Erbfähigkeit   und  ihre   Bedingun- 
gen; die  incerta  persona.    Die  geistige  Indivi- 
dualität. 

Um  inzwischen  wieder  zu  der  uns  jetzt  beschäftigen- 
den Erbfähigkeit  zurückzukehren,  so  haben  wir  oben  ge- 
sehen, warum  der  Erblasser,  um  testieren  zu  können,  certus 
de  statu  suo  sein  muß  (s.  S.  225  fg.).  Es  beruht  nur 
auf  den  daselbst  entwickelten  begrifflichen  Gründen  und 
ist  die  entsprechende  Erscheinung  auf  Seite  des  Erben, 
daß  auch  derjenige,  der  zum  Erben  eingesetzt  werden 
soll,  eine  bestimmte  und  geschlossene  Geistesindividualität 
für  den  Erblasser  sein  muß.  Hierin  liegt  bereits  ein 
Gedoppeltes:  der  Erbe  muß  an  sich  selbst  ein  für- 

390 


sichseiender  Wille  sein;  sonst  ist  er  überhaupt  keine 
Willenssubjektivität  und  kann  sich  daher  auch  mit  keiner 
gleichsetzen  und  sie  perpetuieren.  Es  reicht  aber  noch 
nicht  hin,  daß  er  an  sich  eine  solche  geistige  Indi- 
vidualität ist,  er  muß  dies  auch  für  den  Erblasser 
sein.  Denn  wenn  er  es  auch  an  sich  wäre,  aber  nicht 
für  den  Erblasser  ist,  so  kann  dieser  sich  nicht  mit  ihm 
identifizieren,  da  der  subjektive  Wille,  wenn  er  sich  mit 
einem  ihm  unbekannten  und  somit  für  ihn  un- 
bestimmten identifizieren  wollte,  seine  eigene  Bestimmt- 
heit, die  gerade  das  zu  perpetuierende  Wesen  ist,  hier- 
durch aufheben,  sich  nicht  erhalten  und  fortpflanzen, 
sondern  sich  dem  Zufall  preisgeben  und  sich  somit 
prinzipiell  aufgeben  würde.  Der  Erbe  darf  also  in 
keinem  Sinne  des  Wortes  eine  persona  incerta  für  den 
Erblasser  sein.  Es  darf  also  kein  Erbe  so  eingesetzt 
werden^):  ,,Quisquis  primum  ad  funus  meum  venerit, 
heres  esto",  weil,  wie  Ulpian  sagt,  ,,certum  consilium 
debet  esse  testantis",  oder  weil,  wie  Gajus  angibt,  die- 
jenige Person  eine  incerta  ist,  welche  ,,per  Incertani 
opinionem  animo  süo  testator  subjicit"^).  Es  darf  daher 
auch  keiner  so  honoriert^)  werden:    ,,Wer  meinem  Sohne 


1)  Ulpian,   Fragm.  XXII,  §  4. 

^)  Gajus,   Comm.,  II,  238. 

^)  Es  leuchtet  nämlich  ein,  warum  man  der  incerta  persona 
ebensowenig  legieren,  als  sie  instituieren  kann.  Das  Legat 
ist,  wie  wiederholt  hervorgehoben,  nicht  bloß  Vermögensver- 
fügung schlechthin,  sondern  es  ist  die  (vgl.  Nr.  XIV)  In  der 
Verfügung  über  das  Vermögen  sich  betätigende  Fortexistenz 
des  Willens.  Der  Wille  zeigt  jetzt,  daß  er  es  durch  den 
Erben  dahin  gebracht  hat,  fortzuexistleren.  Indem  er  nun  ein- 
zelne Wirkungen,  Willensakte  setzt  und  als  nach  dem  Tode 
wirkend  hervorbringt.  Das  Legat  ist  somit  Immer  gleichfalls 
Selbst reallslerung  und  Fortsetzung  des  Willens  — 

391 


seine  Tochter  zur  Frau  geben  wird",  oder:  „Wer  nach 
diesem  Testament  zum  Konsul  ernannt  werden  wird^)." 
Denn  in  allen  diesen  Fällen  würde  eine  incerta  persona 
honoriert  sein,  d.  h.  der  Testator  würde  wegen  der  Un- 
bestimmtheit derselben  seinen  Willen,  wie  wir  gesehen, 
nicht  gesetzt,  sondern  aufgegeben  haben,  ganz  wie 
bei  der  Erbeinsetzung  quos  Titius  voluerit  (s.  Nr.  XIII). 
Warum  darf  nun  aber,  was  zuerst  dem  Vorigen  ganz 
zu  widersprechen  scheint,  der  Testator  jemand  so  hono- 
rieren :  ,,Ex  cognatis  meis  qui  nunc  sunt,  qui  primus  ad 
funus  meum  venerit",  wie  Gajus  a.  a.  O.  berichtet?  Hat 
der  Testator  hier  nicht  gleichfalls  das  Selbst  wollen 
aufgegeben  ?  Aber  es  zeigt  sich  hier  nur,  wie  Formeln 
niemals  ausreichen,  den  Begriff  zu  ersetzen.  Der  so 
Honorierte  ist  keine  incerta  persona,  weil  die  Bezeich- 
nung hier  auf  einen  Kreis  von  Personen  beschränkt  ist, 
welche  dem  Erblasser  bekannte,  für  ihn  bestimmte 
sind.  Der  Erblasser  könnte  jeden  derselben  zum  Erben 
einsetzen,  und  wie  er  sich  mit  jedem  von  ihnen  identifi- 
zieren kann,  ohne  seine  eigene  subjektive  Bestimmtheit 
aufzugeben,  da  sie  gleichfalls  lauter  bestimmte  Sub- 
jektivitäten für  ihn  sind,  so  kann  er  auch,  ihnen  allen 
die  A4öglichkeit  des  Erbens  lassend,  jeden  von  ihnen 
unter  der  Bedingung  einsetzen,  zuerst  beim  Begräb- 
nis   zu    erscheinen.     Sie    sind    ihm    dann    alle    als    Erben 


und  dies  ist  die  Seite  seiner  Einheit  mit  dem  Erbtum  (s. 
S.  388.  Note  1)  — ,  aber  an  seinem  Gegenteil,  der  Sache- 
Deshalb  kann  der  incerta  persona  auch  nicht  legiert  werden, 
weil  in  einem  solchen  Legate  der  Wille  sich  nicht  als 
fortexistierend  gesetzt,  sondern  im  Gegenteil  wegen  der 
Unbestimmtheit  der  durch  den  bloßen  Zufall  zu  bestimmenden 
Person  das  Wesen  des  Willens  verleugnet  und  aufgehoben  hätte. 
1)  Gajus,    a.    a.    O. ;   Ulpian.    Fragm.   XXIV,    18. 

392 


gleichrecht,  wenn  sie  nur  die  Bedingung  dieser  Aufgabe 
erfüllen,  und  wer  von  ihnen  auch  der  Erbe  werden  möge  — 
der  Erblasser  hat  sich  immer  nur  an  eine  für  ihn  be- 
stimmte und  bekannte  Willenssubjektivität  hin- 
gegeben und  in  dieser  fortgesetzt.  Der  Zusatz  ,,ex  cognatis 
meis"  verwandelt  also  die  persona  incerta^)  durch 
die  Beschränkung  auf  einen  Kreis  von  lauter  für  den 
Erblasser  bestimmten  Willenspersonen  in  eine  certa  per- 
sona. Und  sehr  zu  beachten  ist  die  diese  Erklärung  auf 
das  evidenteste  bestätigende  Genauigkeit,  mit  der  Gajus 
wie  Ulpian  dem  Zusatz  ex  cognatis  meis  hinzufügen  ,,qui 
nunc  sunt".  Denn  freilich,  die  Kognaten  müssen  schon 
zur  Zeit  des  Testamentes  geboren  sein,  um  be- 
stimmte Willenspersonen  für  den  Erblasser  zu  sein; 
ein  Un geborener.  Zukünftiger  wäre  eine  durchaus  un- 
bestimmte für  den  Erblasser,  weshalb  auch  der  postumus 
alienus  nicht  erbfähig  ist,  und  auch  von  der  eigenen  Deszen- 
denz des  testierenden  Gewalthabers  immer  nur  ein  solcher 
erben  kann,  der  zur  Zeit  seines  Todes  schon  empfangen 

^)  Gajus  wie  Ulpian,  a.  a.  O..  erklären  daher  diesen  Fall 
sehr  irrig  damit:  „Sub  mia  tarnen  demonstrotione  incertae 
personae  recte  legatur."  Denn  diese  Person  ist  gar  keine 
incerta  mehr,  wie  wir  sahen.  Und  umgekehrt  gerade  die  demon- 
stratio bleibt  auch  nach  dem  Zusatz  ex  cognatis  meis  etc. 
ebenso  sehr  eine  incerta,  wie  vor  demselben,  da  sie  noch  immer 
eine  Auswahl  unter  einer  Vielheit  zuläßt.  (Ebenso  wäre  an- 
dererseits die  durch  die  erfüllte  Bedingung  allerdings  gegebene 
Sicherheit  der  Bezeichnung  ebenso  groß,  wenn  der  Zusatz 
ex  cognatis  elc.  nicht  dastünde;  die  demonstratio  wäre  also 
in  diesem  Sinne  auch  dort  eine  certa  zu  nennen.)  Was  also 
vorliegt,  ist  vielmehr  gerade  eine  incerta  demonstratio  einer 
certa  persona,  \venn  auch  die  römischen  Juristen,  deren  prak- 
tische Rechtsvirtuosität  ihr  theoretisches  Selbstverständnis  so 
weit  über'rifft,  die  Sache  umdrehen. 

393 


ist.  Kognaten  also,  die  zwar  zur  Zeit  des  Todes 
vorhanden  wären,  es  aber  nicht  zur  Zeit  des  Testa- 
mentes waren,  würden  somit  immer  solche  bleiben,  die 
im  Augenblick  des  Testierens  incertae  personae  für  den 
Testator  waren,  und  deren  Honorierung  also  inutilis 
bleibt  1). 

Muß  der  einzusetzende  Erbe  aber  sogar  für  den  Erb- 
lasser eine  bestimmte  Geistesindividualität,  ein  für  sich 
seiender  Wille  sein,  so  muß  er  dies,  wie  \vir  schon  voraus- 
geschickt haben  (S.  391),  um  so  mehr  an  sich  selbst 
sein,  um  zum  Erben  gemacht  werden  zu  können.  Nur 
was  selbst  eine  Geistesindividualität,  ein  für  sich  seiender 
Wille  ist,  kann  sich  auch  mit  einer  solchen  gleichsetzen 
und  sie  perpetuieren.  Deshalb  können  die  Götter  nicht 
zu  Erben  eingesetzt  werden  (,,deos  heredes  instituere  non 
possumus  etc.")^),  denn  sie  sind  abstrakte  allgemeine 
Wesenheiten,  nicht  sich  zur  Spitze  des  Fürsichseins  zu- 
sammenfassende Willenssubjektivitäten.  Da  sie  dennoch 
in  der  Religion  die  Form  von  Individualitäten  haben,  so 
liegt  in  diesem  Satze  des  Zivilrechtes  die  tiefe  Ahnung, 
daß  dies  vorgestellte  Individualitäten,  nicht  wirk- 
liche sind,  individualisierte  Allgemeinheiten  und  all- 
gemeine substantielle  Mächte,  nicht  in  sich  geschlossenes 
Fürsichsein.  Sie  sind  also  erbunfähig,  bis  die  Kaiser- 
konstitutionen und  Senatuskonsulte  anfangen,  hierein  Bresche 


^)  Aber  die  bloße  Vermögenszuvvendung  —  und  daher  das 
Fideikommiß  —  an  jede  incerta  persona,  und  darum  auch 
an  den  postumus  alienus,  ist  im  alten  Recht  wieder  zulässig; 
Gajus,  II,  287:  ,,Eadem  aut  simili  ex  causa  autem  olim  in- 
certae personae  vel  postumo  alieno  per  fideicommissum  relin- 
qui  poterat,  quamvis  neque  heres  institui  neque  legari  ei  possit" ; 
bis  Hadrian  dies  ändert. 

2)  Ulpian,  XXII.  §  6. 

394 


zu  schießen  und  in  Form  von  Privilegien  einzelnen  Göttern 
die  Erbfähigkeit  zu  übertragen^). 

Wenn  man,  um  Erbe  sein  zu  können,  geistiges  Für- 
sichsein sein  muß,  weil  eben  nur  die  Perpetuierung  des- 
selben die  Idee  und  der  Zweck  des  Erbtums  ist,  und 
die  geistige  Subjektivität  nur  wieder  von  einer  solchen  fort- 
gesetzt werden  kann,  so  folgt  hieraus  schon  von  selbst, 
daß  Kollegien,  Körperschaften,  municipia,  municipes,  kurz, 
sogenannte  juristische  Personen  nicht  Erbe  sein 
können.  Denn  diese  bleiben  stets  abstrakte  Kollektiva, 
denen,  welche  andere  Rechte  man  ihnen  auch  gebe,  die 
geistige  Einheit,  dies  intensive  In-  und  Fürsichsein 
der  Person,  und  somit  der  Begriff  der  Subjektivität  über- 
haupt fehlt.  Sie  werden  daher  mit  Recht  als  eine  incerta 
persona  behandelt,  d.  h.  diesmal  nicht  bloß  in  dem  Sinne, 
daß  sie  für  den  Erblasser,  sondern  daß  sie  in  sich 
selbst  eine  incerta  persona  sind:  ,,Nec  municipia  nee 
municipes  heredes  institui  possunt,  quoniam  Incertum  corpus 
est,  ut  neque  cernere  universi,  neque  pro  berede  gerere 
possint,  ut  heredes  fiant^)."  Die  Mangelhaftigkeit  dieses 
letzten,  wieder  ganz  äußerlichen  Grundes  —  die  Schwierig- 
keit, den  äußeren  Akt  der  Adition  vorzunehmen  —  liegt 
auf  der  Hand.  Denn  nichts  wäre  leichter,  als  dieser 
Schwierigkeit  abzuhelfen,  die,  wie  wir  gleich  weiter  sehen 
werden,    durchaus    nicht    das    Entscheidende    ist^).     Das 

^)  Ulpian,  a.  a.  O.  —  Vgl-  über  die  vermögensrechtsfähige 
Persönlichkeit  einzelner  Priester-  und  Tempelkollegien  unter 
eigenen  Vorstehern:  Dirksen,  Zivilist.  AbhandL,  II.  50  fg., 
116  fg. 

')  Vgl.  L.  8  C.  de  her.  inst.  (6,  24):  „Collegium  si  nullo 
speciali  privilegio  subnixum  sit,  hereditatem  capere  non  posse 
dubium  non  est." 

'')  So  kann  die  bonorum  possessio,  weil  sie  eine  bloße  Ver- 
mögenszuwendung,   keine   Willensfortsetzung   ist,   und   der   Be- 

395 


Waiire  aber,  w'as  auch  noch  aus  den  Worten  dieser  un- 
geschickten Begründung  erkenntlich  genug  hindurchleuchtet, 
ist  eben  dies,  daß  solchen  Körperschaften  das  innere 
Moment  der  Willenspersoneinheit  und  somit  auch  echter 
Willensentschließung,  daß  ihnen  der  durchdringende  Blitz 
qualitativer  geistiger  Bestimmtheit  und  Einheit,  d.  h.  also 
der  Begriff  des  Subjektiven,  die  Einzelheit,  über- 
haupt abgeht.  Das  römische  Volk  dagegen  darf  aller- 
dings seit  jeO  zum  Erben  eingesetzt  ^verden,  denn  der 
historische  Volksgeist  ist  eben  eine  solche  bestimmte 
Geistesindividualität,  ist  ein  spezifisches  und  aus- 
schließendes Eins,  ist  geistige  Einheit  anderen  Volks- 
geistern gegenüber  und  hat  das  durchdringende  Selbst- 
bewußtsein dieser  seiner  geistigen  Individualität.  Es  be- 
wahrheitet sich  hier  wieder  im  Rechte  der  Satz  der  speku- 
lativen Logik,  daß  die  absolute  Allgemeinheit  und  die 
absolute  Einzelheit  identisch  sind.  Das  ganze  Volk  als 
solches  hat  in  der  absoluten  Allgemeinheit  des  Volks- 

dachte  daher  hier  auch  keine  Willenssubjektivität  zu  sein  braucht, 
allerdings  den  Muniziplen  und  Körperschaften  verliehen  werden, 
und  derselbe  Ulpian  findet  hier  gar  keine  Schwierigkeit  dabei, 
daß  die  Agnition  der  bon.  poss.  für  die  Körperschaft  vorge- 
nommen werden  kann,  obgleich  doch  das  von  ihm  gegen  die 
Adition  angegebene  Argument  ebenso  gut  auf  diese  Agnition 
passen  würde;  s.  Ulpian,  L.  3,  §  4,  de  bon.  poss-  (37,  1): 
,,A  municipibus  et  societatibus  et  decuriis  et  corporibus  bonorum 
possessio  agnosci  potest ;  proinde  sive  actor  eorum  nomine  ad- 
mittat,  sive  quis  alius,  recte  competet  bonorum  possessio.  Sed 
etsi  nemo  petat  vel  agnoverit  bonorum  possessionem  nomine 
municipii,  habebit  municiplum  bonorum  possessionem  Praetons 
Edicto  "  —  Ebenso  können  die  Körperschaften  Fideikommisse 
erhalten;  s.  Ulp.,  Fr.,  a.  a.  O. 

^)  Ja,  aus  Aulus  Gellius,  VI,  Kap.  7,  und  Macrob.  Saturn.. 
I,  Kap.  1,  würde  man  schließen  müssen,  selbst  schon  zu  Ancus 
M&rtius'  und  sogar  zu  Romulus'  Zeit ! 

396 


geistes  auch  das  es  zu  einem  Eins,  zum  Träger  einer 
für  sich  seienden,  es  durchdringenden  geistigen  Bestimmt- 
heit, zur  geistigen  Individualität  machende  Band.  Nur 
die  zwischen  beiden  in  der  Mitte  stehende  Besonder- 
heit der  Körperschaft  mit  ihren  besonderen  Inter- 
essen ist,  wie  der  das  ganze  Volk  umschließenden  All- 
gemeinheit des  Geistes,  so  darum  auch  der  Einheit 
der   Individualität,  der  Einzelheit,   beraubt. 

Nur  in  einem  Verhältnis  kann  man  sagen,  daß  auch 
Körperschaften  sich  wie  eine  Willenssubjektivität  ver- 
halten :  im  Verhältnis  nämlich  zu  der  ihnen  eigentüm- 
lichen Sache.  Denn  Eigentum  ist  Willensherr- 
schaft. Ihrem  eigenen  Eigentume  gegenüber  nimmt 
also  auch  die  Körperschaft  den  Schein  der  Willenssubjek- 
tivität an.  Wenn  ihr  die  bloße  Besonderheit  der 
Interessen,  weil  sie  nicht  die  absolute  Allgemeinheit  des 
Geistes  ist,  auch  die  Einheit  des  Geistes  und  somit 
das  Wesen  der  Einzelheit  nicht  verleihen  kann,  so 
gewinnt  sie  durch  das  Eigentums  Verhältnis,  durch  welches 
die  ihr  eigentümliche  Sache  ihrem  Willen  als  einem 
einigen  unterworfen  ist,  dieser  Sache  gegenüber 
jene  Willenseinheit,  das  Fürsichsein  der  Einzelheit.  Mit 
anderen  Worten :  jedes  Wesen,  das  einmal  Eigentum  be- 
sitzen kann,  ist  dadurch,  was  es  auch  nach  außen  und 
anderen  Wesen  gegenüber  sein  möge,  immer  notwendig 
Subjekt  der  ihm  eigenen  Sache  gegenüber.  Gelangt 
also  diese  Sache  dazu,  testieren  zu  können,  d.  h.  wird 
der  emem  municipium  gehörige  Sklave  von  ihm  frei- 
gelassen, so  muß  die  Erinnerung,  daß  die  Körper- 
schaft diesem  Sklaven  gegenüber  ein  Subjekt 
war  und  es  insoweit  noch  ist,  als  selbst  seine  Freiheit 
das  Dasein  ihres  subjektiven  Willens  in  bezug  auf  ihn 
bekundet,  bewirken,  daß  sie  diesem  ihrem  Freigelassenen 

397 


gegenüber,  weil  als  ein  Subjekt,  somit  auch  als  erb- 
fähig erscheint.  Ulpian,  a.a.O.:  „Senatusconsulto 
tarnen  concessum  est,  ut  (municipia)  a  llbertls  suis  heredes 
inst  Ulli  possin  i. 


XXXII.    Die  Unteilbarkeit  und  Teilbarkeit  des 
Erbtums. 

Allein  wenn  man,  um  Erbe  sein  zu  können,  geistige 
Individualität  und  somit  keine  bloße  Vielheit  von 
Personen,  wie  ein  Kollegium,  sein  muß,  so  wäre  es,  um 
das  in  diesem  Zusammenhange  aufzuführen,  doch  ein  sehr 
falscher  Schluß,  zu  meinen,  daß  der  Erblasser  nicht 
viele  Erben  einsetzen  könne,  wenn  nur  jeder  von 
ihnen  eine  geistige  Individualität  ist.  Denn  wie 
schon  die  Persönlichkeit  bei  ihrer  natürlichen  Fortsetzung, 
der  Zeugung,  nicht  auf  einfache  Reproduktion  beschränkt 
ist,  sondern  sich  vervielfältigen  kann,  so  liegt  es  vollends 
in  dem  rein  geistigen  Wesen  des  Willens,  daß  er  un- 
endlich viele  Willen  bestimmen  und  zu  ihm  gleichen 
Abdrücken  seiner  selbst  machen  kann.  Der  Erblasser  kann 
daher  unendlich  viele  Erben  einsetzen.  (Inst.  §5 
de  her.  inst.  2,  14.  Paulus,  R.  S.,  III,  4.)  Aber  jeder 
von  ihnen  stellt  die  totale  Willenssubjektivität 
des  Erblassers  dar,  jeder  ist  der  ganze  erblasserische  Wille. 
Es  können  daher  den  Erben,  weil  Erbschaft  im  Prinzip 
keine  Vermögenszuwendung  ist,  auch  nicht  Stücke  des 
Vermögens  zugewiesen  werden,  sondern  indem  jedem 
Erben  das  ganze  Vermögen  gehört  und  das  Recht  eines 
jeden  derselben  jedes  einzelne  Stück  durchdringt,  teilen 
sie  sich  in  das  Ganze  des  Vermögens  zunächst  im 
Verhältnis  zu  ihrer   Anzahl.     Indem  sie   so  Quoten - 

398 


erben  sind,  zeigen  sie  hierin  gerade,  daß  ihr  Recht 
nicht  ein  Vermögensrecht  auf  die  einzelnen  Dinge 
als  solche  ist,  die  ihnen  bei  der  Teilung  zukommen, 
sondern  daß  sie,  über  diese  materielle  Einzelheit  hinaus- 
greifend, jeder  das  Ganze  des  erblasserischen  Willens 
sind.  Denn  die  Quote,  wie  dies  bereits  Gans  beim 
Quotenlegatar  richtig  hervorhebt  (II,  209),  ist  eben  der 
auf  das  Ganze  bezogene  Teil,  ein  Teil,  in  dem  das 
Ganze  als  präsent  ist,  während  nur  die  pars  quanta  ein 
beziehungsloser,  in  seiner  materiellen  Dingheit  beruhender 
Teil  ist.  Wird  dies  aber  zugegeben,  so  hätte  man  auch 
einsehen  sollen,  wie  darin,  daß  der  Erbe  vom  Erblasser 
niemals  auf  einzelne,  bestimmte  Stücke  {ccrtariim  rerum 
heredem)  eingesetzt  werden  kann,  sondern  immer  zum 
Erben  einer  Quote  gemacht  werden  muß,  sich  eben  nur 
wieder  eine  Negation  dessen  darstellt,  daß  im  Erb- 
tum  das  Vermögen  als  solches  verliehen  wird,  oder 
ein  Kennzeichen  mehr,  daß  das  Vermögen  und  sein  Über- 
gang im  Erbrecht  überhaupt  nicht  anders  denn  als  bloße 
sekundäre  Folge  des  transszendentalen  Prinzips 
der  Willensfortsetzung  in  Betracht  kommt;  d.h. 
man  hätte  sich  zur  Kritik  und  Erkenntnis  der  ganz  falschen 
Basis  erheben  sollen,  von  der  aus  man  bisher  das  römische 
Erbrecht  zu  begreifen  gesucht  hat.  Besonders  deutlich 
tritt  dies  aber  gerade  v/ieder  darin  hervor,  wenn  nur  ein 
Erbe  eingesetzt  ist.  Das  Vermögen  nämlich  ist  eine  in 
materielle  Einzelheiten  aufgelöste  Menge  von  Dingen. 
Aber  so  soll  es  eben  im  Erbrecht  nicht  in  Betracht 
kommen.  Eine  Vielheit  von  Dingen,  Vermögens- 
gegenstände, sollen  im  Erbrecht  nicht  übertragen 
werden.  Sondern  alle  diese  Dinge  zusammen  stellen  nur, 
als  seiner  Willensherrschaft  unterworfen,  das  unmittel- 
bare materielle  Dasein  der  Willenssubjektivität  des 

399 


Erblassers,  den  realen  Körper  derselben  dar.  Nur 
als  diese  begrif  Hiebe  Einheit,  nur  als  diese  Kör- 
perlichkeit seines  Willens  gehören  sie  der  neuen  Wil- 
lenssubjektivität, welche  durch  ihren  eigenen  Willen 
wie  durch  den  des  Erblassers  sich  als  mit  der  seinigen 
identisch  und  sie  kontinuierend  gesetzt  hat.  Darum  läßt, 
auch  wo  nur  ein  Erbe  vorhanden  ist,  wo  also  gar  kein 
praktischer  Anlaß  dazu  vorliegt,  das  römische  Erb- 
recht die  VWmögensgegenstände  des  Erblassers  nicht  in 
ihrer  aulgelösten  Form  ruhiger  Dingheit  beharren,  sondern 
reißt  sie  aus  dieser  heraus  und  erhebt  sie  zu  der  künst- 
lichen Einheit  des  ,,As".  Das  As  drückt  diese  zu 
einer  begrifflichen  Einheit  aufgehobene  Totalität  des 
Vermögens  aus.  Jeder  alleinige  Erbe  ist  sofort  Erbe  ,,ex 
asse"  ;  dies  heißt  eben  nichts  anderes,  als  daß  er  nicht 
die  Gegenstände  in  ihrer  natürlichen  Vielheit 
erben  soll,  sondern  sie  als  Einheit  gedacht,  d.  h.  als 
das  unmittelbare  Dasein  des  von  ihm  auf  sich  genomme- 
nen Willens  in  der  Sphäre  der  realen  Wirklichkeit. 
Sind  mehrere  Erben  da,  so  teilt  sich  also  das  gegenständ- 
liche Vermögen  in  die  ideellen  Quotenteile  des  As,  die 
Unzien,  und  zwar,  wenn  nichts  anderes  bestimmt  ist,  der 
Zahl  der  Erben  nach.  Weil  aber  der  Erblasser  durch 
Einsetzung  beliebig  vieler  Erben  die  Quote  jedes  ein- 
zelnen beliebig  beschränken  kann,  und  jeder  Erbe,  wie 
klein  auch  seine  Quote  sei,  dennoch  immer  die  ganze 
erblasserische  Willenssubjektivität  fortsetzt,  die  Größe 
der  Vermögensquote  somit  das  für  den  Erbbegriff 
schlechthin  Gleichgültige  und  Äußerliche  ist, 
so  kann  gerade  deshalb  auch  der  Erblasser  selbst  die 
Größe  der  Quote,  aus  welcher  jemand  Erbe  sein  soll, 
beliebig  und  ungleich  für  die  einzelnen  Erben  bestimmten. 
Denn   das    Vermögen    ist   eben    das   dem    Erbtum   selbst 

400 


Äußerliche  und  Sekundäre,  dessen  Teilung  daher  keine 
Teilung  im  Erbbegriffe,  der  Willensidentität,  her- 
vorbringt. Denn  in  diesem  darf  keine  Teilung  statt- 
finden. Der  Erbe  darf  daher  nicht  das  tun,  was  schein- 
bar dasselbe  wäre  wie  die  vom  Testator  vorgenommene 
Teilung;  er  kann  nicht,  wenn  ihm  die  ganze  Erb- 
schaft übertragen  ist,  nur  für  einen  Teil  antreten.  Paulus, 
L.  1  de  acqu.  vel.  om.  her.  (29,  2) :  „Qui  totam  here- 
ditatem  acquirere  potest,  is  pro  parte  eam  scindendo  adire 
non  potest J*  Die  Mathematik  verliert  also  hier  ihre 
Geltung,  indem,  wer  das  Größere  kann,  das  Kleinere 
nicht  kann.  Sie  verliert  aber  ihre  Geltung  nur  des- 
wegen, weil  es  sich  im  Erbrecht  eben  nicht  um  Gegen- 
ständliches, und  also  nicht  um  Größenverhält- 
nisse, sondern  um  rein  ideelle  Faktoren  handelt.  In 
der  Tat  würde  der  Erbe,  der,  zur  ganzen  Erbschaft  be- 
rufen, nur  einen  Teil  antreten  wollte,  etwas  ganz  anderes 
tun,  als  der  Testator  bei  der  Teilung.  Denn  während 
dieser  nur  das  Vermögen,  das  äußerliche  unwesent- 
liche Akzidenz  des  Willens,  unter  die  Erben  teilt,  jedem 
derselben  seine  ganze  Willenssubjektivität  aufdrückend, 
würde  der  Erbe  den  Willen  des  Testators  spalten, 
teilen  (scindendo),  wie  Paulus  trefflich  hervorhebt). 
Der  Willensbegriff  aber  ist  als  Geistiges  ein  Un- 
teilbar-Einiges, in  dem  es  keine  quantitativen  Be- 
stimmungen, kein  Größer  oder  Kleiner,  Mehr  oder  Weniger 
gibt.  Wer  den  Willen  des  Testators  nicht  ganz  akzep- 
tiert, erweist  sich  als  nicht  identisch  mit  ihm  und 
somit  als  Nichterbe.  Darum  darf  der  Erbe  nur  die 
ganze  Erbschaft,  nicht  einen  Teil  derselben  antreten. 
Wohl  aber  wäre  dieser  Satz  der  unlogischste  von  der 
Welt,  wenn  das  Erbtum  im  Prinzip  eine  Vermögens - 
Verfügung,  eine  Übertragung  von  Gegenständlichem 

4    U«aUe,    Ge,    Scbr.ften.    Band    XII.  401 


wäre.  Denn  hier  würde  allerdings,  war  das  Größere 
akzeptieren  kann,  auch  das  Kleinere  akzeptieren  können; 
wie  z.  B.  beim  Verkauf,  wenn  verschiedene  Größen  ge- 
meint worden  sind,  die  kleinere  gilt,  als  für  welche  Über- 
einstimmung in  beiden  Willen  vorhanden  war  (s.  Savigny, 
,, System",  III,  274 fg.)-  Jener  Satz  des  Paulus  ist  viel- 
mehr so  wahr,  daß  er  notwendig  noch  weiter  geht,  und 
auch  der  Erbe,  der  vom  Erblasser  zu  mehreren  Teilen 
eingesetzt  ist,  nur  für  alle,  nicht  für  einige  derselben 
eintreten  kann.  Ulpian,  L.  2  de  acqu.  her.  (29,2):  ,,Sed 
etsi  quis  ex  pluribus  partibus  in  ejusdem  hereditate  insti- 
tutus  sit,  non  potest  quasdam  partes  repudiare,  quasdam 
agnoscere."  Denn  wie  auch  der  Erblasser  das  Akzidenz 
des  Vermögens  verteilt  hat,  sein  Wille  bleibt  ein 
ideelles  Unteilbares,  das  jeder  Erbe  ganz  auf 
sich  nehmen  und  in  sich  darstellen  muß.  Eben  deshalb 
ist  der  Erblasser  seinerseits  gezwungen,  jedem  der  Erben 
stets  eine  Quote  des  Vermögens,  wie  klein  sie  auch 
sei,  zu  übertragen.  Denn  wenn  er  ihm,  ihn  auf  bestimmte 
Sachen  einschränkend,  die  Quote  nähme,  so  würde  er 
ihm  eben  das  nehmen,  das  Ganze  seines  Willenswesens 
in  sich  zu  haben  und  darzustellen,  er  würde  ihm  also 
den  Erbcharakter  selbst  entziehen.  Darum  darf  er  nur 
insofern  den  Erben  zu  einem  Erben  certarum  rerum 
einsetzen,  als  diese  selbst  in  sich  eine  Einheit  und 
Totalität  bilden,  und  nur  die  Ziffer  der  Quote, 
in  welcher  diese  Einfieit  zur  Gesamttotalität  steht,  nicht 
ausgedrückt  ist;  er  darf  ihn  also  einsetzen  für  ,,alle 
Sachen,  die  er  in  der  Provinz  Mauritanien,  oder  auf 
seinem  Landgut,  oder  in  der  Stadt  hinterlassen  hat" 
(s.   die  Stellen  oben   S.  275,   Note    1). 


402 


XXXIII.     Die    Erbunfähigkeiten   der   lex   Julia 

und     Papia     Poppaea.      Der    Unterschied     im 

Zeitpunkt    der    Fähigkeit.     Der    Begriff    der 

Kaduzität. 

Wenn  sich  uns  nun  die  Erbunfähigkeiten  des  alten 
Zivilrechtes  im  Vorhergehenden  als  die  notwendigen  und 
konsequentesten  Ausflüsse  des  Erbbegriffes  selbst  nach- 
gewiesen haben,  so  stellen  die  späteren  Unfähigkeiten  der 
lex  Julia  und  Papia  Poppaea  eine  zwar  losere  und  will- 
kürlichere, aber  immer  noch  analogische  Fortbildung  des- 
selben  Grundgedankens  dar. 

Der  Gedanke  des  Erbtums  ist  die  Willensperpetuie- 
rung,  nicht  also  die  Fortsetzung  des  Willens  über  den 
Tod  hinaus  auf  einen  Augenblick,  auch  nicht  auf  die 
bloße  Lebensdauer  des  Erben,  sondern  Perpetuierung  im 
wirklichen  Sinne,  in  das  Unendliche.  Auch  wird  diese 
Willensunsterblichkeit  wirklich  durch  das  Erb  tum  erreicht. 
Denn  der  Erbe  hinterläßt  wiederum  einen  Erben,  der 
dessen  Willenssubjektivität,  und  somit  ebenso  die  mit  ihr 
identische  seines  Erblassers,  fortsetzt,  und  so  in  un- 
endlicher Reihe.  Sicher  aber  dieser  Willensunsterb- 
lichkeit, sicher,  sie  für  sich  selbst  zu  haben,  und  somit 
auch,  sie  einem  anderen  gewähren  zu  können,  ist  nur  der- 
jenige, der  sich  einen  suiis  erzeugt  hat.  Denn  er  hat  einen 
unmittelbaren  und  einen  notwendigen  Willensfort- 
setzer hinter  sich.  Ein  anderer  kann  ohne  Testament 
sterben,  sein  Testament  kann  hinfällig  werden,  seine  Testa- 
ments- wie  endlich  auch  seine  Intestaterben  können  aus- 
schlagen. Gesichert  gegen  dieses  alles  ist  nur  der  Inhaber 
des  suus.  Er  hat,  er  mag  mit  oder  ohne  Testament  sterben, 
in  ihm  den  unmittelbaren,  er  hat,  dieser  mag  wollen 

4-  403 


oder  nicht,  den  gezwungenen  Willensfortsetzer,  den 
zivilrechtlich  notwendigen  Erben  hinter  sich.  Er  allein  ist 
nicht  mehr  bloßer  wieder  verschwindender  Willenspunkt, 
sondern  er  ist  bereits  unmittelbar  Ausgangspunkt  der  un- 
endlichen   Reihe,    die   sich   hinter   ihm   zeigt. 

Dieser  Gedanke  ist  es,  unter  dessen  innerer  Einwirkung 
die  lex  Julia  die  coelibes  für  erbunfähig  erklärt^).  Und 
daß  dieser  Begriffszusammenhang  hier  nicht  bloß  will- 
kürlich in  die  lex  Julia  hineingetragen  wird,  zeigt  deut- 
lich die  lex  Papia  durch  ihre  Bestimmungen  über  die 
orbi,  d.  h.  Kinderlosen.  Wenn  die  Ehelosigkeit  als  ein 
Willensfaktum  dem  Individuum  zur  Scheinde  imputiert  und 
bestraft  werden  kann,  so  verhält  es  sich  nicht  so  mit  der 
Kinderlosigkeit.  Gleichwohl  wird  auch  diese,  da  der 
Kinderlose,  weil  er  eben  bloß  Willenspunkt,  nicht  Aus- 
gangspunkt der  unendlichen  Reihe  ist  und  den  Erbbegriff 
so  gleichsam  nur  zur  Hälfte  erfüllt,  zur  Ursache,  ihnen 
die  Hälfte  der  Erbschaft  zu  entziehen.  Gajus,  II,  286")  : 
„Item  orbi  qui  per  legem  Papiam  ob  id  quod  liberos  non 
habent,  dinüdias  partes  hereditatum  legatorumque  perdunt. 
olim  solida  fideicommissa  videbantur  capere  posse."  Und 
nicht  minder  deutlich  zeigt  sich  der  Geist  dieser  Be- 
stimmung noch  nachträglich  darin,  daß,  als  dieselbe  durch 
das  SC.  Pegasianum  auch  auf  die  Fideikommisse  aus- 
gedehnt wird^),   diese   Hälften  denjenigen   Personen  an- 


^)  Ulpian.  XXII,  3:  ,,Idem  juris  est  in  persona  coelibis 
propter  legem  Juliam."  Gajus,  II,  §   111. 

•')  Vgl.   Gajus.  II.  §   111.   Ulpian.  XV.  XVI. 

^)  Gajus.  II,  286:  ,,.  .  .  sed  postea  senatusconsulto  Pega- 
siano  perinde  fideicommissa  quoque  ac  legata  hereditates  capere 
posse  prohibiti  sunt."  Wenn  es  zunächst  auffallend  scheinen 
kann,  daß  so  gerade  in  der  späteren  Zeit  strengere  Grundsätze 

404 


heimfallen,   „qui  testamento  Liberos   habent,  aut  si  nullus 
liberos  habebit,  ad  populum  etc." 

Es  ist  noch  hervorzuheben,  daß  nur  bei  diesen  neu 
aufgestellten  Unfähigkeiten  der  lex  Julia  und  Papia,  sowie 
der  durch  die  lex  Junia  gegebenen  Unfähigkeit  des  Latinus 
Junianus,  nicht,  wie  bei  den  Unfähigkeiten  des  alten  Zivil- 
rechtes, darauf  gesehen  wurde,  ob  die  Fähigkeit  zur  Zeit 
des  Testamentes,  ja,  auch  nicht  einmal,  ob  sie  ziu*  Zeit 
des  Todes  des  Testators,  sondern  nur,  ob  sie  zur  Zeit 
des  Erwerbes  der  Erbschaft  (Adition)  da  war.  ,, Diese 
letzte  Vorschrift"  —  erklärt  Savigny^)  diese  scheinbar 
so  befremdliche  Anomalie  —  ,, hatte  den  praktischen 
Zweck,  daß  gerade  die  dargebotene  Erbschaft  ein  Beweg- 
grund sein  sollte,  für  den  Ehelosen,  sogleich  in  eine  Ehe 


in  bezug  auf  das  Fideikommiß  platzgreifen,  so  muß  sich  dies 
nach  der  oben  (Nr.  IX)  über  das  SC  Pegasianum  gegebenen 
Entwickelung  von  selbst  als  notwendig  ergeben;  denn  je  mehr 
der  Erbbegriff  sich  mit  der  Vermögenszuwendung  identifiziert 
und  in  diese  übergeht,  desto  mehr  muß  zwar  das  Erbrecht  von 
seiner  zivilistisch-rechtlichen  Strenge  verlieren,  was  aber  von 
dieser  Strenge  noch  übrigbleibt,  muß  jetzt  mehr  und  mehr 
auch  auf  den  Fideikommissar  übertragen  werden,  gerade  ^veil 
dieser  mehr  und  mehr  sich  dem  wahren  Erben  assimiliert  hat. 
Diese  Bemerkung  erklärt  also  nicht  bloß  die  eben  erwähnte 
Übertragung  des  SC  Pegasianum,  sondern  den  gesamten 
Gang  der  späteren  Rechtsgeschichte  des  Fideikommisses  in 
dieser  Hinsicht.  So  waren  früher,  solange  die  Willensperpe- 
tuferung  im  Gegensatz  zur  bloßen  Vermögenszuwendung  des 
Fideikommisses  noch  als  der  echte  Begriff  des  Erbtumes  leben- 
dig ist,  Fideikommisse  auch  an  die  incerta  persona,  z.  B.  den 
postumus  alienus  erlaubt.  ,,Sed"  —  wie  Gajus  bald  darauf 
(II,  287)  fortfährt  —  „senatusconsulto  quod  auctore  dlvo  Ha- 
driano  factum  est,  idem  in  fidekommissis,  quod  in  legatis 
hereditatibusque   constitutum  est." 

1)  VIII.  459. 

405 


zu  treten,  für  den  Latinus  Junianus,  sich  des  Jus  Quiri- 
tium  schnell  würdig  zu  machen."  Aber  dieser  praktische 
Zweck  —  der  überdies  nicht  auf  die  Bestimmungen  der 
lex  Papia  über  die  Kinderlosen  passen  würde  —  bedarf 
zuvor  noch  einer  tieferen  Rechtfertigung  seiner  inneren 
Konkordanz  mit  dem  Wesen  des  Rechtssystemes,  die  hier 
nur  kurz  angedeutet  werden  soll.  Alle  die  genannten  Un- 
fähigkeiten der  lex  Junia,  Julia  und  Papia  kommen  darin 
überein,  daß  sie  Kaduzitäten  schaffen.  Diesen  Be- 
griff erklärt  Ulpian,  XVII,  §  1,  also:  „Quod  quis  sibi 
testamento  relictum,  ita  ut  jure  civili  capere  possit,  aliqua 
ex  causa  non  ceperit,  caducum  appellatur,  veluti  ceciderit 
ab  eo ;  \erbi  gratia,  si  coelibi  vel  Latino  Juniano  legatum 
fuerit,  nee  intra  dies  centum  vel  coelebs  legi  paruerit  vel 
Latinus  jus  Quiritium  consecutus  sit,  aut  si  ex  parte  heres 
scriptus  vel  legatarius  ante  apertas  tabulas  decesserit  vel 
pereger  f actus  sit.'"  Es  liegt  schon  in  diesen  Worten  offen 
zutage,  daß  der  Begriff  der  Kaduzität  keine  substan- 
tielle Unfähigkeit  in  sich  einschließt.  Im  Gegenteil, 
es  ist  die  ausdrückliche  Voraussetzung,  daß  die  eingesetzte 
Person  an  sich  zum  Erben  ist;  nach  Zivilrecht  muß 
er  Erbe  sein  können  (ita  ut  jure  civili  capere  possit). 
Er  muß  also  ^römische  Willensperson  usw.  sein.  An 
sich  zur  Fortsetzung  einer  Willenssubjektivität  und  somit 
zum  zivilrechtlichen  Erbtum  vollkommen  fähig,  ist  es 
jetzt  vielmehr  nur  ein  ihm  in  der  äußeren  zufälli- 
gen Wirklichkeit  entgegenstehendes  positives  Hinder- 
nis, welches  ihn  in  der  Ausübung  dieser  an  sich  vor- 
handenen Fähigkeit  hindert,  und'zu  dessen  Beseitigung 
er   wiederum    an    sich    vollkommen    befähigt   ist^),    wie 

^)  So  liegt  es  in  der  Hand  des  Latinus  Junianus,  durch 
seine  eigenen  Willenshandlungen  die  römische  Zivität 
7U  erlangen  (Ulpian.   Fra;j.ni.   III.   §§  1 — 6).  und  er  ist  daher. 

106 


dies  in  dem  Ulpianschen  Beispiel  des  vor  der  Eröffnung 
der  Tafeln  abgereisten  heres  ex  parte  sinnfällig  hervor- 
tritt. Darum  ist  dies  Recht,  welches  an  sich  an  ihm 
haftete,  nur  von  ihm  gleichsam  abgefallen  (veluti 
ceciderit  ab  eo).  Es  kann  sich  daher  hier  nicht  so  ver- 
halten, wie  wenn  ein  an  sich  des  Erbtums  Unfähiger, 
ein  peregrinus,  eine  incerta  persona  eingesetzt  worden  ist, 
daß  nämlich  von  Haus  aus  inutiliter  testiert  worden  ist : 
sondern  da  er  seinem  substantiellen  Begriff  nach 
des  Erbtums  vollkommen  fähig,  fragt  es  sich  nur,  ob  er 
bei  der  Ausübung  desselben  diese  Fähigkeit  wird  ver- 
wirklichen können,  oder  ob  ihm  hier  Hindernisse  der 
Wirklichkeit  gegen  die  \virkliche  Ausübung  dessen,  wozu 
er  an  sich  fähig  ist,  entgegentreten  werden.  Darum  kann 
also  bei  dieser  Art  von  Unfähigkeiten,  weil  sie  nur 
Hindernisse  der  Wirklichkeit  gegen  die  Ausübung  der 
an  sich  seienden  Fähigkeit  darstellen,  auch  nur  die 
Fähigkeit  oder  Unfähigkeit  zur  Zeit  der  Ausübung 
des  Erbtums,  d.  h.  der  Adition  in  Betracht  kommen. 
Oder  mit  anderen  Worten:  Wegen  der  an  sich  vor- 
handenen Erbfähigkeit  verwandelt  sich  das  der  Wirk- 
lichkeit dieser  Fähigkeit  entgegenstehende  Hindernis 
realer  Umstände  von  selbst  in  die  Bedingung, 
diese  realen  Umstände  bis  zur  Adition  zu  be- 
seitigen, und  wird  daher,  wie  bei  der  bedingten 
Erbeinsetzung,  nur  auf  die  Fähigkeit  zur  Zeit  des 
Eintretens  der   Bedingung   gesehen.    Und   zugleich 


da  dies  nur  von  seinen  Willenshandlungen  abhängt,  schon  vor- 
her seinem  Wesen  nach  fähig,  sich  Zivität  und  Erbtum  zu 
erwirken.  Vom  coelebs  ist  dies  selbstredend,  aber  auch  der 
orbus  ist  an  sich  als  Mensch  vollkommen  fähig,  Kinder  zu 
erzeugen,  und  wenn  er  dies  nicht  fertig  bringt,  so  ist  die  Un- 
i^i'nigkeit  dazu  keine  aus  seinem  Begriffe  entspringende. 

107 


hat  sich  uns  in  dieser  Begriffserörterung  auch  der  theo- 
retische Grund  für  die  innere  Notwendigkeit  dieses 
Verhältnisses  bei  den  bedingten  Erbeinsetzun- 
gen ergeben. 


XXXIV.     Die     Identifikationshandlung    des 

Erben.    Die  Adition  und  ihre  Bedingungen.   Das 

spekulative  Wissen  und  sein  Umfang. 

Allein  wie  fähig  des  Erbtums  der  Eingesetzte  auch 
sei,  durch  die  Fähigkeit  allein  ist  er  noch  nicht  Erbe. 
Hierzu  gehört  vielmehr,  daß  er,  diese  Fähigkeit  ver- 
wirklichend, sich  nun  auch  durch  sein  Wollen  als 
den  identischen  Willenserhalter  des  Erblassers  setzt 
und  sich  so  selbst  zum  Erben  macht.  Dies  bewirkt  er 
eben,  wie  wir  früher  sahen,  durch  den  Akt  der  Adition. 
Allein  die  Adition  ist  doch  nur  der  äußere  Akt,  in 
welchem  jener  Wille  zutage  treten  soll,  und  be- 
wirkt daher  das,  was  sie  bewirkt,  nicht  durch  die  äußere 
formelle  Handlung  als  solche,  sondern  nur  durch 
den  in  ihr  lebenden  Willen,  den  Erbbegriff  zu 
erfüllen^).  Erbe  sein  zu  wollen.  Erbe  sein  wollen 
heißt  aber  nach  unserer  Entwickelung  nicht:  die  Ver- 
mögenshinterlassenschaft des  Toten  erwerben 
wollen  —  dieser  Wille  freilich  tritt  in  jeder  Adition 
stets  sehr  deutlich  zutage  — ,  sondern,  und  während  dies 


^)  Weshalb  denn  später  auch  jeder  andere  Akt,  in  wel- 
chem dieser  Wille  zutage  tritt,  d.  h.  die  pro  herede  gestio,  die 
solenneile   Cretio  ersetzen   kann. 

408 


nur  das  Akzidentelle  und  Sekundäre,  im  alten  Recht  auch 
wegen  der  Absorbierung  der  ganzen  Hinterlassenschaft 
durch  Legate  in  der  Regel  realiter  gar  nicht  Eintretende 
ist  (s.  Nr.  VII),  heißt  es  vielmehr:  den  Willen  haben, 
geistige  Willensidentität  mit  dem  Erblasser 
und  daher  Kontinuation  seiner  Willenssubjek- 
tivität zu  sein.  Käme  es  also  dazu,  daß  beides  sich 
spaltete,  und  daß  ein  Eingesetzter  zwar  durch  die 
Adition  die  Vermögenshinterlassenschaft  erwerben  will, 
aber  diesen  geistigen  Willen  nicht  hat,  so  würde  — 
ein  neues  und  gewaltiges  Fundament  mehr  für  unsere 
Lehre  —  die  Adition,  weil  sie  den  transszendenten 
Erbtumsbegrif f  nicht  erfüllt,  eine  ganz  und  gar 
wirkungslose  und  nichtige  sein  müssen. 

Es  werden  sich  uns  sofort  die  ebenso  praktisch  wie 
theoretisch  wichtigen  Folgerungen  ergeben,  die  sich  aus 
dem  so  entwickelten  Satze  ableiten  müssen.  Konstatieren 
wir  zuvor,  daß  dies  der  wahre  Sinn  des  römischen  Satzes 
ist,  daß  die  Erbschaft  nicht  durch  irgendeine  äußerliche 
Handlung  als  solche,  sondern  ,, durch  die  Bestimmung 
des  Geistes",  anlml  destinaüone,  erworben  oder  resp. 
ausgeschlagen  werde ^).  Und  wir  haben  früher  schon  ge- 
sehen, daß  diese  destinatio  animi,  Identität  mit  dem  erb- 
lasserischen Willen  zu  sein,  sogar  bei  dem  suus  und  bei 
dem  necessarius  da  ist,  nur  hier  als  eine  nicht  erst 
hervorzubringende  und  darum  auch  nicht  erst  zu 
setzende,  sondern  als  eine  durch  sein  Verhältnis  zum 
Erblasser  unmittelbar  und  notwendig  vor- 
handene.   Allein  bei  dieser  destinatio  animi  muß  sich 


1)  Inst..  §  7  de  her.   quäl.   (2,   19);  L.  6  C.  de  jur.  del. 
(6,    30)    (Diocletianus) ;    vgl.    Papinian,    L.    76    de    reg.    jur. 

(50,  17). 

409 


nun  wieder  zeigen,  daß  der  Wille,  weil  er  nur  der 
praktische  Sich  selbst  Verwirklichungstrieb  des  Geistes 
ist,  seine  Quelle  notwendig  im  Geiste,  d.  h.  im 
Wissen  hat  (vgl.  Bd.  1.  S.  122fg.,  und  §2,  B.  das.). 
weshalb  Papinian  in  der  eben  (Note  1  d.  vor.  Seite) 
angezogenen  Stelle  sehr  richtig  sagt:  ,,In  totum  omnia, 
quae  animi  destinatione  agenda  sunt,  non  nisi  vera  et  certa 
scientia  perfici  possunt."  In  der  Tat,  wenn  der  Begriff 
des  Erbtums  der  ist,  die  Willens  Subjektivität  des  Erb- 
lassers forterhalten  zu  wollen,  und  zwar  als  ein  mit 
ihr  identischer  Wille,  so  ist,  ehe  und  damit  der  Erbe 
diesen  Willen  haben  kann,  zuvor  jedenfalls  erforderlich, 
daß  er  auch  wisse,  daß  der  Wille  des  Erblassers 
ihn  zu  seinem  Erhalter  und  Kontinuator  gewollt  hat. 
Denn  wäre  dies  nicht  der  Fall,  oder  wüßte  es  der 
Erbe  auch  bloß  nicht,  so  würde  er  für  sich  selbst  ja 
bloß  durch  seinen  alleinigen  Willen  den  Erb- 
lasser fortsetzen  wollen ;  dadurch  aber  würde  er  sich  als 
einen  solchen  zeigen  und  eingestehen,  dessen  Willens - 
innerlichkeit  eine  von  dem  —  von  ihm  selbst  als 
verschieden  gedachten  —  Willen  des  Erblassers 
verschiedene  ist.  Er  würde  sich  also  als  einen  ande- 
ren für  sich  seienden  Willen  zeigen,  als  der  Erblasser, 
während  er  ein  mit  ihm  identischer  sein  soll.  Er  würde 
sich  nicht  als  einen  Willensaufrechterhalter,  son- 
dern vielmehr  als  einen  Willensbeiseitesetzer  des 
Erblassers  offenbaren,  nicht  als  eine  übereinstim- 
mende Fortsetzung  der  Willenssubjektivität  des  Erb- 
lassers, sondern  im  Gegenteil  als  eine  dieser  andere 
und  von  ihr  abstrahierende  Negation  derselben.  Er 
würde  also  durchaus  dem  transszendenten  Begriff  des 
Erbtums  ins  Gesicht  schlagen  und  sich  durch  eine  solche 
Adition   nicht   als    Erben,    sondern   als   das   Gegenteil 

410 


eines  solchen  setzen  0.  Darum  muß  also  ohne  dieses 
Wissen,  daß  ihn  der  Erblasser  zum  Erben  gewollt  hat, 
die  Sache  ganz  so  liegen  und  die  Adition  ganz  ebenso 
unwirksam  sein,  als  wenn  ihn  dieser  in  der  Tat  gar 
nicht  eingesetzt  hätte. 

In  der  Transszendenz  des  spekulativen  Erbbegriffes 
wurzelt  also  die  Notwendigkeit  des  Wissens  und  kann 
lediglich  Aon  hier  aus  begriffen  werden.  Wir  sagen,  dieses 
eine  muß  der  Erbe  wissen,  daß  und  inwiefern  der 
Erblasser  ihn  als  Erben  gewollt  hat,  oder  richtiger 
noch  und  begrifflicher  ausgedrückt:  die  geistige  Be- 
ziehung, welche  zwischen  der  Willenssubjektivi- 
tät des  Erblassers  und  seiner  eigenen  besteht, 
muß  er  wissen,  wenn  sie  stattfinden  soll,  da  sie 
sonst  gar  keine  geistige  Beziehung  wäre,  keine  ge- 
wollte und  identische  Willensbeziehung  des  Erben 
auf  den  Willen  des  Erblassers  stattfände,  und  somit 
Erbtum  unmöglich  wäre.  Aus  diesem  Einen  ergibt 
sich,  wie  wir  sehen  werden,  in  der  Tat  alles,  was  der 
Erbe  zu  wissen  braucht.  Denn  alles  das,  was  diesem 
spekulativen  Begriff  des  Erbtums,  der  Willensidentität, 
nicht  immanent  ist,  braucht  der  Erbe,  in  wie  naher  Be- 
rührung es  auch  mit  dem  Erbrecht  stehe,  wie  sich  zeigen 
wird,  nicht  zu  wissen,  ohne  daß  es  ihm  schadet.  Die 
zuvor  belobten  Worte  Papinians  sind  daher,  wie  alle 
allgemeinen  Aussprüche  der  römischen  Juristen,  noch  viel 
zu  vager  und  unbestimmter  Natur,  da  nach  ihnen  die  ,,vera 
et  certa  scientia"  des  Erben  alle  objektiven  Umstände 
der  Erbeinsetzung  umfassen   zu   müssen  scheinen  könnte, 

1)  Vgl.  deshalb  Ulpian,  L.  21  pr.  de  acqu.  her.  (29.  2): 
,,Si  quis  extraneus  rem  hereditariam  quasi  surripiens  vel  ex- 
pilans  tenet,  non  pro  herede  gerit,  nam  admlssum  contrariam 
voluntatein   declarat." 

411 


was  aber  keineswegs  der  Fall  ist.  Vielmehr  erhebt  sich 
hier  wieder  von  neuem  die  feinste  begriffliche  Dialektik, 
in  den  verschlungensten  Windungen  zeigend,  w^as  alles  der 
Erbe  wissen  muß  und  nicht  zu  wissen  braucht,  eine 
Dialektik  der  haarscharfsten  Unterscheidungen,  welche 
einerseits  ebensosehr  der  wunderbaren  praktischen  Sicher- 
heit der  römischen  Juristen  Ehre  macht,  die  in  ihren 
konkreten  Entscheidungen  stets  die  von  dem  unbe\vaißt  in 
ihnen  arbeitenden  spekulativen  Begriff  gebotenen  Folge- 
rungen treffen,  als  sie  andererseits  die  Omnipotenz  des 
spekulativen  Begriffes  zeigt,  der  sich  auch  hier  wieder 
als  die  alleinige  Macht  der  Rechtsbestimmungen  und  als 
der  einzige  Schlüssel  zu  ihrem  Verständnis  erweist ;  ein 
Verständnis,  welches  bisher  vergeblich  erstrebt  \\erden 
mußte,  und  zum  Teil  nicht  einmal  zu  finden  versucht 
werden  konnte. 

Ehe  %\ir  aber  zur  begrifflichen  Entwickelung  dieser 
Unterschiede  im  Wissen  übergehen,  muß  zuvor  hervor- 
gehoben werden,  daß  der  suus  natürlich  überhaupt 
keines  Wissens  benötigt  ist.  Die  Notwendigkeit  hier- 
von ist  einleuchtend.  Das  Wissen  ist,  wie  wir  sahen, 
erforderlich  als  die  innere  für  sich  seiende  Vermitte- 
lung  im  Geiste  des  Erben,  als  die  geistige  Tätig- 
keit, durch  welche  er  sich  zur  Willensidentität  mit 
dem  Erblasser  bestimmt.  Der  suus  aber  ist  eben  dies 
(Nr.  XXI fg.),  keiner  geistigen  Vermittelung,  keiner 
für  sich  seienden  Selbstbestimmung  mehr  zu  bedürfen,  um 
Erbe  zu  sein,  sondern  unmittelbar,  d.h.  mit  Aus- 
schluß aller  Vermittelung,  dies  zu  sein.  Der  suus 
ist  bereits  Erbe  durch  das  seiende  Verhältnis, 
in  welchem  er  zum  Erblasser  steht  und  welches 
ihn  sogar  gegen  seinen  eigenen  Willen  zum  not- 
wendigen Erben  macht.    Bei  ihm  kann  also,  weil  sein  sub- 

412 


jektives  Fürsichsein  überhaupt  nicht  in  Betracht 
kommt  —  denn  als  ein  bereits  unmittelbar  be- 
stimmtes ist  es  als  ein  seiendes,  naturbestimmtes 
gesetzt  und  nicht  mehr  als  Fürsichsein  vorhanden  — , 
auch  das  Wissen  nicht  erforderlich  sein,  denn  Wissen 
ist  eben  Fürsichsein  des  Geistes.  Von  dem  suus  heißt 
es  daher:  sid  autem  heredes  fiunt  etiam  ignomntes\ 
Und  da  sein  Fürsichsein  überhaupt  nicht  in  Betracht 
kommt,  so  ist  es  beim  suus  sogar  notwendig  völlig  in- 
different, ob  er  wahnsinnig  ist.  Denn  auch  der  Wahn- 
sinnige ist  immer  noch  an  sich  subjektiver  Geist,  aber 
ein  solcher,  der  außer  sich  gekommen  ist,  sein 
eigenes  Fürsichsein  verloren  hat.  Der  suus  —  und 
ebenso  der  unter  derselben  Begriffsbestimmung  der  Un- 
mittelbarkeit stehende  necessarius  —  ist  aber  der  Erbe, 
bei  welchem  alle  Selbstvermittelung  und  Selbstbestimmung, 
somit  alles  Fürsichsein  als  ausgeschlossen  und  gleichgültig 
gesetzt  ist.  Der  suus  und  der  necessarius  ist  daher  auch 
als  Wahnsinniger  erbfähig  und  sofort  Erbe.  (Javo- 
lenus,   L.  63  de  acqu.   vel  om.   her.,  29,2)-). 

Es  ist  also  nur  der  extraneus,  weil  nur  dieser  der 
voluntarius  ist,  welcher,  weil  er  sich  selbst  zu  jener  Identi- 
tät erst  machen  und  bestimmen  muß,  auch  die  Vermitte- 
lung  des  Wissens  braucht.    Für  ihn  ist  aber  das  Wissen 

^)  Inst.,  §  3  de  hered.  quae  ab  intest.  (3.  1);  vgl-  L.  9, 
§  1,  de  reb.  dub.  (34,  5);  L.  1,  §  7,  si  qiiis  om.  caus. 
(29,  4).  Von  dem  suus  wird  daher  nicht  einmal  die  mortis 
scientia  gefordert;  L.   8  C.   de  suis  et  legitimis  etc.    (6,  55). 

^) nisi  si   necessarius    patri   aut    domino  heres  existat. 

—  L.  7,  §  2,  C.  de  curat,  furiosi  (5,  70) :  „Si  vero  perpetuo 
furiosus  sui  juris  sit,  tunc  in  paterna  quidem  hereditate,  quae 
quasi  debita  ad  posteritatem  suam  devolvitur,  nulla  est  juris 
veterum  dubitatio,  quum  illico  appareat  •  et  suus  heres  existat 
suis  parentlbus." 

413 


nun  auch  die  Prinzipalbedingung,  um  seinen  Erbschafts- 
antritt wirksam  zu  machen,  gleichviel  ob  er  in  der  solen- 
nellen  Adition,  oder  später  in  anderen  Handlungen  be- 
steht, die  den  Willen,  Erbe  zu  sein,  offenbaren  (,,. . .  diini- 
modo  sciat,  eum,  in  cujus  bonis  pro  berede  gerit,  testatum 
intestatumve  obiisse  et  se  ei  heredem  sse'')'^).  Denn 
wüßte  er  dies  nicht,  so  würde  er  nur  den  Willen 
haben,  das  Vermögen  zu  erwerben,  nicht  aber  den  Willen, 
den  transszendenten  Begriff  des  Erbtums,  die  Willens- 
identität mit  dem   Erblasser,   zu  erfüllen. 

Wie  aber  dieser  spekulative  Begriff  der  einzige  Grund 
ist,  weshalb  das  Wissen  erforderlich,  so  ergibt  sich  auch 
nur  aus  ihm,  und  in  der  strengsten  geschlossensten  Über- 
einstimmung mit  ihm,  der  Umfang  dieses  notwendigen 
Wissens.  Nicht  darauf  ist  also  hier  der  Ton  zu  legen, 
daß  der  Erbe  wissen  muß,  daß  der  Erblasser  tot  ist. 
Zwar  folgt  auch  dies  aus  dem  Erbbegriff.  Denn  der 
Testator  wollte  nicht  früher  durch  eine  andere  Willens- 
subjektivität fortgesetzt  sein,  bis  seine  eigene  in  natür- 
licher Existenz  nicht  mehr  vorhanden  wäre,  und  folglich 
wäre  das  Wollen  dessen,  der  ihn  früher  oder  ohne  Rück- 
sicht auf  diesen  Zeitpunkt  repräsentieren  wollte,  kein  mit 
jenes  Willen  übereinstimmender,  identischer  Wille  ^). 


1)  Inst..   §  7  de  her.   quäl.   (2.    19). 

^)  Es  wird  also  der  Erbe,  auch  wenn  der  Testator  wirk- 
lich tot  ist,  er  aber  dies  nicht  weiß,  nicht  wirksam  an- 
treten können.  Ulpian,  L.  32  de  acqu.  her.  (29,  2) :  „Heres 
institutus  si  pntet  testatorem  vivere,  quamvis  jam  defunctus 
sit,  adire  hereditatem  non  potest."  Und  ebenso  dann  nicht,  wenn 
er  zweifelt;  denn  Wissen  heißt  Gewißheit,  d.  h.  innerste 
subjektive  Überzeugung ;  Ulpian,  L.  13,  §  1  eod.  tit. :  ,,Si 
quis  dubitet,  vivat  testator  nee  ne,  repudiando  nihil  agit."  Es 
ergibt  sich  beiläufig  von  selbst  aus  vinserer  ganzen  Entwickelung, 
wie  irrig  Heise  und  Cropp  (II,  121)  meinen,  es  käme  darauf 

414 


Aber  nicht  hierin  liegt  das  Spezifische  des  Wis- 
sens beim  Erbrecht.  Denn  auch  der  Wille,  die  Güter 
eines  noch  Lebenden  zu  besitzen,  würde  ein  in  sich  un- 
wirksamer, und  dieses  Wissen  (das  des  Todes)  daher 
auch  für  den  bloßen  Vermögenserwerb  der  bonorum 
possessio  erforderlich  sein^).  Das  spezifische  Wissen, 
das  hier  erforderlich  ist,  besteht  vielmehr  darin,  daß  der 
Erbe,  wie  wir  sagten,  die  geistige  Beziehung  wissen 
muß,  die  zwischen  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers 
und  seiner  eigenen  besteht.  Im  Wissen  dieses  begriff- 
lichen Verhältnisses   liegt  alles,   was  er  zu  wissen 


an,  daß  rechtliche  Gewißheit  im  objektiven  Sinne 
über  den  Tod  des  Erblassers  vorhanden  sei. 

Was  die  Repudiation  der  Erbschaft  betrifft,  so  wird  sie 
bekanntlich  ganz  durch  dieselben  Bestimmungen  wie  die  Adl- 
tion  geregelt  (Paulus,  L.  18  de  acqu.  her.:  ,,Is  potest  repw 
diare  qui  et  acquirere  potest").  Die  Notwendigkeit  hiervon 
ist  einleuchtend.  Repudiation  ist  nicht  Nichterbenwollen  in  jenem 
indifferenten  Sinne,  in  welchem  es  zu  jeder  Zeit  von  uns  gilt, 
wenn  wir  überhaupt  keine  Erbschaft  machen  können  und  daher 
auch  keine  zu  machen  vorhaben;  sondern  Repudiation  heißt 
Zurückstoßung,  Negation  der  angebotenen  Willens- 
Identität.  Somit  muß  diese  Identität,  um  negiert  zu  wer- 
den, vorher  vom  Erblasser  seinerseits  gesetzt,  d.  h. 
offeriert  worden  sein.  Früher  kann  sie,  da  sie  vom  Erben 
allein  nicht  erzeugt  werden  kann,  ebensowenig  negiert  als 
bejaht  werden.  Hieraus  folgt  also,  daß  die  Delation  des 
Erbtumes,  und  zwar  unter  Beobachtung  aller  jener  Be- 
stimmungen, die  für  die  Adition  aus  dem  Erbbegriff  hervor- 
fließen, gültig  vorhergehen  muß,  ganz  ebenso  für  die  Negation 
als  für  die  Bejahung  der  Willensidentität,  d.h.  also,  daß 
man  nur  dann  zur  Repudiation  fähig  Ist,  wenn  es  zur  Adition 
wäre,  und  umgekehrt. 

^)  Paulus,  L.  19  de  acqu.  her. :  ,,Qui  hereditatem  adire,  vel 
bonorum  possessionem  petere  volet,  certus  esse  debet,  defunc- 
tum  esse  testatorem." 

415 


und  nicht  zu  wissen  braucht.  Er  muß  also  zunächst  wissen, 
daß  ihn  der  Testator  zum  Erben  gewollt  hat  („et 
se  ei  heredem  esse",  wie  Justinian  soeben  sagte).  Da 
er  aber  dies  nur  wissen  muß,  weil  er  eben  die  qualitative 
geistige  Willensbeziehung  des  Erblassers  auf  ihn,  das  be- 
griffliche Verhältnis,  wissen  muß,  so  liegt  hierin  schon, 
daß  er  jene  Willensbeziehung  in  ihrer  qualitativen 
Bestimmtheit  wissen  muß,  also  wissen  muß,  ob 
sich  der  Erblasser  durch  ausdrückliche  Willens - 
entschließung,  oder  bloß  durch  das  vorausgesetzte 
Wesen  seiner  Willenssubjektivität  auf  ihn  als  Willens- 
identität bezieht^)  (testatum  intestatumve  obiisse).  Ebenso 
aber,  wenn  er  vor  allem  den  Willen  des  Erblassers  als 
einen  auf  ihn  gerichteten  kennen  muß,  so  ist  hierin  be- 
reits gegeben,  daß  er  wissen  muß,  daß  der  Testator 
auch  willensfähig  war.  Denn  wenn  er  dies  nicht 
einmal  wollen  konnte,  hat  er  —  es  ist  dies  sogar 
tautologisch  —  auch  nicht  gewollt,  hat  es  eben  nicht 
wollen  können^).  Der  Erbe  muß  cJso  wissen,  daß 
der  Testator  pater  familias  war,  und  wird  nicht  wirksam 
antreten  können,  wenn  er  ihn  irrtümlich  für  einen  filius 
familias  hält,  da  er  sich  dadurch,  daß  er  den  Testator 
für  willensunfähig  zum  Testieren  hält,  das  Funda- 
ment, auf  welches  er  seine  Willensidentität  mit  ihm 
stützen  muß,  ganz  ebenso  selbst  entzieht,  als  wenn  der 
Testator  es  wirklich  gewesen  wäre.  Ulpian^):  ,,Sed  et 
si  de  conditione  testatoris  incertus  sit,  pater  familias  an 
fihus  familias  sit,  non  potent  adire  hereditatem,  etsi  ejus 


"')  Dies  wird  zur  näheren  Darlegung  und  Entwickelung  kom- 
men bei  der  letzten  Betrachtung  des  Intestaterbrechtes,  Nr.  XL. 

2)  Vgl.  Bd.  1,  S.  670.  über  die  „rechtliche  Natur  des 
Testamentes". 

')  L.   32,  §  2  eod.  tit. 

416 


conditlonis  sit  in  verltate,  ut  testarl  potent"  Allein,  um 
dies  hier  gleich  in  Antithese  zu  bringen,  wenn  der  Erbe 
über  seine  eigene  Kondition  zweifelt,  ob  er  pater- 
oder  filiusfamilias  sei,  so  hindert  dies  ihn  nicht  an  der 
Adition.  Ulpian^):  ,,Sed  et  si  de  sua  conditione  quis 
dubitet,  an  filius  familias  sit,  posse  eam  acquirere  hereditatem 
jam  dictum  est."  Und  es  kann  ihn  nicht  daran  hindern, 
denn  seine  eigene  persönliche  Selbständigkeit  oder  Un- 
selbständigkeit hat  nichts  mit  der  geistigen  Willens- 
beziehung zu  tun,  welche  der  Erblasser  zu  ihm  hat,  und 
ändert  nicht  sein  Verhältnis  zu  demselben.  Er  würde 
in  beiden  Fällen  Erbe  und  der  Adition  fähig  sein, 
wenn  er  auch  das  eine  Mal  das  Erbtum  für  seine  noch 
in  seinem  Gewalthaber  befindliche  Willens- 
subjektivität (s.  oben  Nr.  XXI),  das  andere  Mal  für 
diese  als  eine  nun  selbst  zum  Subjekte  und  Träger  ihrer 
selbst  gewordene  erwirbt.  Ulpian  wirft  daher  selbst  a.  a.  O. 
die  Frage  auf,  woher  es  käme,  daß  das  Nichtwissen 
über  die  Kondition  des  Testators  hindere,  nicht  aber  das 
der  eigenen,  und  beantwortet  diese  Frage,  den  richtigen 
Punkt  hier  sehr  genau  treffend,  wie  folgt :  ,,Cur  autem 
si  ignoret  conditionem,  adire  potest,  si  testatoris,  non 
potest  ?  lila  ratio  est,  quod  qui  conditionem  testatoris 
ignorat,  an  valeatltestamentum,  dubitat,  qui  de  sua,  de 
testamento  certus  'est"  „Dieser  ist  über  das  Testament 
sicher,"  Das  Testament  ist  aber  eben  die  Willens- 
beziehung, die  sich  der  Testator  auf  den  Erben  ge- 
geben hat. 

Aber  wir  haben  früher  gezeigt,  warum  das  Testament 
wesentlich  kein  bloßer  formloser  Wille,  das  Erbtum 
kein  bloßer  Konsens  zweier  Privatwillen  ist.    Denn 


^)  L.   34  pr.  eod.  tit.;  vgl.  Ulpian.  L.  6,  §  4  eod.  tit. 

5  Las.alle.   G«.  Sctriften,   Band  XU.  417 


dieser  erst  in  der  Zeit  nach  dem  Tode  des  vinculum  juris 
empfangende  Wille,  dieser  nach  dem  Tode  wollende 
Wille  ist  keine  natürliche  Fähigkeit  des  Menschen, 
sondern  ein  Produkt  dieses  bestimmten  Volksgeistes, 
d.  h.  des  öffentlichen  Geistes^),  und  daher  nur  her- 
vorzubringen durch  die  Formen  und  die  Bestimmungen 
des  öffentlichen  Rechtes^)  (secundum  hanc  legem  publi- 
cam).  Sind  diese  nicht  beobachtet  worden,  so  ist  also 
dieser  im  öffentlichen  Geiste  wurzelnde  Wille  gar  nicht 
von  seinem  Autor  gesetzt  und  hervorgebracht 
worden.  Ein  von  der  Kraft  jener  Bestimmungen  nicht 
getragenes  Testament  ist  daher,  weil  die  Testamentifactio 
juris  publici  ist,  nicht  nur  unwirksam  in  dem  äußerlichen 
Sinne,  daß  dem  Willen  das  Hindernis  eines  positiven 
Gesetzes  entgegensteht,  sondern  es  ist  hier  überhaupt  kein 
echter  Wille,  kein  Wille  kraft  der  in  jedem  einzelnen 
als  Fähigkeit  vorhandenen  —  und  allein  hierzu  be- 
fähigenden —  Substanz  des  Volksgeistes,  sich  den  Willens- 
perpetuierer  zu  erzeugen,  dargelegt,  oder  auch  nur  inner- 
lich produziert  worden.  So  —  aber  auch  nur  so  — 
begreift  sich,  daß  der  Erbe,  der,  um  dies  sein  zu  können, 
sich  darüber  gewiß  sein  muß,  daß  der  Testator  diesen 
sein  Erbtum  erzeugenden  Willen  hatte,  sich  deshalb  auch 
ebenso  gewiß  darüber  sein  muß,  daß  der  Testator 
alle  jene  formellen  Bestimmungen  beobachtet  hat; 
daß  er  sich  also  ebenso  gewiß  darüber  sein  muß,  daß 
das  Testament  nicht  irritum  oder  injustum  ist,  als  er  sich 
darüber  gewiß  sein  muß,  daß  das  Faktische  des 
erblasserischen  Willens  auf  ihn  gerichtet  war,  d.  h.  also 
z.  B.    daß   das   ihn    einsetzende   Testament    nicht    ge- 


1)  Siehe  oben  Nr.  VIII,  X  und  XV. 

2)  Siehe  oben  Nr.  VIII. 


418 


fälscht  ist.  Darum  heißt  es  also^):  „Si  certus  sum, 
non  esse  falsum  testamentum,  vel  irritum,  vel  ruptum  licet 
(iicatur  esse,  possum  adire  hereditatem."  Hierin  ist  aber 
schon  gegeben,  daß  er,  weil  er  ja  das  Willensverhält- 
nis wissen  muß,  das  zwischen  der  Willenssubjektivität 
des  Testators  und  der  seinigen  besteht,  er  auch  wissen 
muß,  ob  diejenige  des  Testators  nicht  schon  in  einer 
anderen,  von  ihm  nicht  negierten  (exheredierten) 
Willenssubjektivität,  d.  h.  in  einem  suus,  unmittelbar 
vorhanden  und  kontinuiert  ist.  Denn  in  diesem 
Falle  würde  der  Testator,  indem  er  diese  seiende  Willens- 
identität nicht  aufhob  (Nr.  XXIV),  unmittelbar  in 
dieser  und  als  diese  noch  fortexistieren  und  sie  somit 
keineswegs  auf  einen  Fremden  übertragen  haben.  Der 
durch  den  suus  ausgefüllte  und  nicht  von  ihm  gereinigte 
Platz  macht,  solange  ihn  der  Testator  nicht  von  da  aus- 
getrieben hat,  es  diesem  unmöglich,  ihn  anders  besetzen 
zu  wollen.  Denn  solange  er  den  suus  nicht  ausgetrieben 
hat,  ist  sein  Wille:  der  suus,  und  existiert  als  dieser 
weiter  unmittelbar  fort. 

Wenn  also  der  Testator  einen  etwaigen  postumus  nicht 
exherediert  hat,  so  muß  der  Erbe  mehr  wissen,  als  der 
Testator  selbst  gewußt  hat ;  er  muß  wissen,  ob  ein  solcher 
suus  postumus  im  Keime  da  ist  oder  nicht.  Da  es  sich 
hier  nicht  um  Billigkeit  oder  praktische  Rücksichten, 
sondern  schlechterdings  um  nichts  als  die  unerbittliche 
Konsequenz  des  spekulativen  Begriffes  handelt,  so  hilft 
dem  Erben  nichts,  er  muß  wissen,  was  er  eigentlich* 
schlechterdings  gar  nicht  wissen  kann;  er  muß 
besser  als  die  Frau  des  Toten,  die  sich  für  schwanger 
ausgibt  oder  selbst  dafür  hält,  wissen,  ob  sie  schwanger 


1)  Ulpian.   L.  30.  §  8  eod.  tit. ;  vgl.   L.   17  pr.  eod.  tit 

419 


ist  oder  nicht;  er  muß  wissen,  daß  sie  es  nicht  ist, 
um  wirksam  antreten  zu  können :  ,,Quod  dicitur :  «Proxi- 
mus  a  filio  postumo  heres,  dum  mulier  praegnans  est, 
aut  putatur  esse,  adire  hereditatem  non  potest,  sed  si  sät 
non  esse  praegnantern  potest»  accipe :  pro:umus  a  ventre 
qui  suum  heredem  pariturus  est^)."  Ja,  wenn  das  Weib 
selbst  sich  nicht  für  schwanger  hält,  Hebammen  aber  es 
behaupten,  so  muß  er  es  besser  wissen  als  diese ^). 
Wissen  heißt  aber  Gewißheit  des  Wahren,  Ob- 
jektiven^). Es  nützt  ihm  also  auch  nichts,  sie  für 
nicht  schwanger  zu  halten,  wenn  sich  später  herausstellt, 
daß  sie  es  wirklich  gewesen.  Und  auch  aller  äußere 
Erfolg  in  der  bloß  faktischen  Wirklichkeit  hilft  dem 
Erben  nichts.  Denn  wenn  die  Frau  dann  abortiert  und 
der  suus  somit  gar  nicht  geboren  wird,  so  war  die  Adition, 
obgleich  jetzt  kein  äußeres  Hindernis  (in  einer  anderen 
Person)  existiert,  dennoch  unnütz.  Denn  zur  Zeit,  als 
er  in  die  Willenssubjektivität  des  Toten  eintreten  wollte, 
konnte  er  dies  nicht.  Sie  war  durch  jene  embryonische 
Persönlichkeit  damals  okkupiert  und  ausgefüllt  gewesen. 


^)  Ulpian,  L.  30,  §  1  eod.  tit. ;  vgl.  §  2  das. :  „Sive  igitur 
putem,  sive  sit  re  vera  praegnans  .  .  .  adire  hereditatem  non 
possum,  quoniam  in  eo  est  ut  rumpatur  testamentum,  nisi  si 
proponas  ventrem  institutum  vel  exheredatum."  —  Es  bezieht 
sich  dies,  wie  Ulpian  daselbst  auch  weiter  sagt,  auch  auf  den 
Intestaterben.  Und  nach  dem  schon  sub  Nr.  XXII  Gesagten 
wird  dies  von  selbst  klar  sein,  da  das  Intestatgesetz  eben  nur 
den  in  Ermangelung  ausdrücklicher  Darlegung  subsidiarisch-er- 
gänzten  Willen  des  Erblassers  darstellt. 

'^)  Ulpian,   1.   1.,   §  3:   Quid  ergo,   si  ipsa  non  dicat 

sed  neget,  alii  dicant.  praegnantem  esse?  Adhuc  adiri  hereditas 
non  potest,  finge  obstetrices  dicere." 

^)  Ulpian,  1.  1.,  §  4:  ,,Toties  igitur  ei  sua  praesumtio  pro- 
ficit,  quoties  concurrit  cum  veritate." 

420 


Die  Identifikation  des  extraneus  —  diese  Bedeutung  des 
Aditionsaktes  —  hat  also  nicht  stattgefunden,  und  die 
Adition  ist  wie  nicht  gewesen^):  „Quid  ergo,  si  praeg- 
nans  fuit,  quum  putaret  heres,  non  esse  praegnantem,  et 
adiit,  mox  abortam  factum  est?  Procul  dubio  nihil 
egerif^)."  Einen  einzigen  Erben  aber  gibt  es,  der,  so 
befremdlich  dies  zunächst  klingen  muß,  den  suus  als  postu- 
mus  schlägt.  Wenn  nämlich  die  Frau  selbst  zum 
Erben  eingesetzt  ist  und  mit  einem  postumus 
schwanger  ist,  so  kann  sie,  trotzdem  sie  dies  weiß,  an- 
treten und  das  Erb  tum  erwerben^)  :  ,,Sed  et  si  ipsa  mulier 
heres  instituta  sit,  quae  se  praegnantem  fingit,  adeundo 
acquiret  hereditatem."  Also  nicht  einmal  die  juristische 
Regel,  daß  der  präterierte  suus  postumus  den  extraneus 
heres  schlägt  und  das  Testament  bricht,  ist  allgemein  gültig. 
Auch  sie  hat  hier  ihre  Ausnahme.  Allein  diese  ist  eben 
nur  eine  Ausnahme  von  der  juristischen  Regel, 
nicht  vom  Begriff,  der  keine  Ausnahme  erleidet  und 
sich  vielmehr  selbst  sofort  als  die  Tätigkeit  erweist,  welche 
jene  Ausnahme  an  der  Regel  hervorgebracht  hat.  Der 
suus  postumus  ist  zwar  auch  hier  wie  unter  allen  Um- 
ständen unmittelbar  Identität  mit  dem  toten  Vater.  Allein 
solange  er  im  Leibe  der  Mutter  ist,  kann  er  auch  gegen 
diese  nicht  als  eine  andere  Willenspersönlich- 
keit als  sie  ausgegeben  werden,  ist  vielmehr  auch  mit 
ihr  in  ungetrennter  physischer  und  geistiger  Identität. 


^)  Ulpian.  1.  1..  §  4. 

')  Von  hier  aus  leuchtet  nun  ein,  was  Savigny,  VIII,  455, 
nicht  zu  beseitigen  vermag,  und  was  auch  von  uns  Bd.  I,  S.  705, 
Note  1,  noch  nicht  erklärt  werden  konnte,  warum  auch  das 
Testament,  wenn  der  präterierte  suus  oder  postumus  vor  dem 
Testator  gestorben,  nach  Zivilrecht  dennoch  nichtig  bleiben  muß. 

')  Das.,  §  5. 

421 


Da  er  keine  andere  Willensperson  ist  als  sie,  hindert 
er  sie  nicht  an  der  Adition,  kann  auch  nicht  das  Testa- 
ment des  Erblassers  infizieren  und  dessen  Willen 
fehlerhaft  machen.  Denn  freilich  konnte  der  Erblasser, 
da  er  nicht  exheredierte,  keinen  anderen  einsetzen  als 
den  suus.  Allein  solange  dieser  im  Leibe  der 
Mutter  ist,  hat  er  auch  keinen  anderen  eingesetzt, 
indem  er  diese  Mutter  einsetzte;  es  ist,  wegen  jener 
untrennbaren  physisch -geistigen  Identität,  vermöge  welcher 
sie  für  das  Kind  in  ihrem  Leibe  noch  ißt  und  trinkt  und 
will,  ganz  so,  als  habe  er  den  suus  eingesetzt.  Konnte 
auch  der  Testator  wegen  seiner  unmittelbaren  Willens- 
identität mit  dem  suus,  ohne  zu  exheredieren,  sich  mit 
einer  anderen  Willenssubjektivität  als  diesem  nicht  einmal 
identifizieren  wollen,  so  konnte  er  doch  sich  mit 
jemand  identifizieren,  der  mit  dem  suus  ebenso  un- 
mittelbar identisch  ist,  wie  er  es  seinerseits  mit 
ihm  ist ;  er  konnte  doch  die  eigene  Willenssubjek- 
tivität des  suus  einsetzen  —  und  dies  ist  eben  noch 
die  Mutter.  Oder  mit  anderen  Worten :  Solange  sie  den 
suus  noch  in  ihrem  Leibe  trägt,  hat  sie  um  der  Natur- 
wahrheit willen  dieselbe  väterliche  Gewalt  über  ihn 
und  dasselbe  Verhältnis  zu  ihm,  wie  der  römische  Vater  ^). 
Warum  fährt  aber  Ulpian  nach  den  letztbezogenen 
Worten  fort :  ,,per  contrarium  non  acquiret,  si  se  putet 
praegnantem,  quum  non  sit".  Wenn  die  zum  Erben  ein- 
gesetzte Frau  sich  für  schwanger  hält  und  antritt,  und 
hinterher  ihre  Schwangerschaft  sich  als  ein  Irrtum  heraus- 
stellt, soll  ihre  Adition  unwirksam  sein.   Wer  erklärt  das  ? 


^^  Sie  wird  sich  aber  eilen  müssen  mit  der  Adition;  denn 
wenn  sie  erst  nach  ihrer  Niederkunft  antreten  will,  so  wird 
sie  es  nicht  mehr  können,  da  nun  eben  der  suus  ein  anderer 
geworden  ist,  als  sie. 

422 


Wie  kann  gerade  das  Nicht  dasein  des  suus,  der  doch 
jedenfalls  für  ihr  Erbrecht  nur  ein  relatives  Hindernis 
war,  ihre  Adition  vernichten?  Wie  kann  das,  was  ihr 
Recht  vielmehr  zu  einem  einfachen  und  unzweifelhaften 
macht,  die  Erwerbung  hindern?  Wie  kann  also  ihre 
Adition  unwirksam  sein,  wenn  sie  nicht  schwanger  ist, 
da  sie  sogar,  falls  sie  wirklich  schwanger  war,  wirk- 
sam gewesen  wäre,  und  durch  ihre  Nichtschwanger- 
schaft  ihr  Recht  als  eingesetzte  Erbin  doch  jedenfalls 
nur  um  soviel  verstärkt  wird?  Wie  kann  also  gerade 
das  zum  Hindernis  werden,  daß  sich  herausstellt,  ein 
vermutetes  relatives  Hindernis  finde  nicht  statt?  Und 
freilich  wäre  es  ganz  unmöglich,  hierfür  wie  für  so  vieles 
andere  auch  nur  eine  Scheinerklärung  vom  Stand- 
punkt der  bisherigen  Auffassung  des  Erbrechtes  als  eines 
Instituts,  das  in  seinem  Prinzip  eine  Vermögens- 
sukzession sei,  finden  zu  wollen.  Ist  aber  erst  der 
spekulative  Erbtumsbegriff  gegeben,  so  erklärt  sich  auch 
diese  so  paradox  scheinende  Entscheidung  als  eine  ebenso 
selbstredende  wie  notwendige  Folge  seiner  transszendenten 
Innerlichkeit.  Die  Frau  ist  zum  Erben  eingesetzt.  Ihr 
ist  also  vom  Erblasser  die  Identität  mit  seiner  Willens- 
subjektivität übertragen.  Allein  direkt  kann  sie  diese 
nicht  auf  sich  nehmen,  denn  dieselbe  ist  bereits 
okkupiert  durch  die  unmittelbare  Identität  des  Erb- 
lassers mit  dem  präterierten  suus.  Allein  dieser  suus  ist 
noch  in  ihrem  Leibe,  und  daher  ebenso  unmittelbare 
Identität  mit  ihr.  Die  Frau  setzt  sich  daher  in  die  an- 
getragene Willensidentität  mit  dem  Erblasser,  nicht 
direkt,  wie  sonst  bei  der  Adition,  sondern  dadurch,  daß 
sie  unmittelbar  identisch  mit  dem  suus  ist,  der  seiner- 
seits die  unmittelbare  Identität  mit  dem  Testator 
bildet.    Die  Frau  schließt  sich  also  in  der  Weise  eines 

423 


Schlusses  zur  Identität  der  Willenspersönlichkeit  mit 
dem  Testator  zusammen,  und  dieser  Schluß  geht  durch 
den  suus  hindurch,  ist  durch  ihn  vermittelt.  Erweist 
sich  also  hinterher  der  Schluß  als  fehlerhaft,  ist  das  Mittel- 
glied gar  nicht  existent  gewesen,  so  ist  der  Schluß 
eben  auch  nicht  zustande  gekommen,  und  Erblasser 
und  Erbin  sind  also  nicht  zusammengeschlossen,  die 
geistige  Willensidentifizierung,  da  sie  sich  innerlich  durch 
das  Bindeglied  der  Identität  mit  dem  nicht  vorhandenen 
suus  vermitteln  wollte,  ist  gar  nicht  hergestellt.  Die 
Adition  ist  also  wirkungslos,  und  es  muß  resp.  eine  neue 
stattfmden,  bei  welcher  die  Frau,  indem  sie  sich  jetzt 
als  nichtschwanger  weiß,  auch  weiß,  daß  sie  sich  jetzt 
direkt  mit  dem  Testator  identifiziert.  Es  bestätigt  aber 
dieser  Fall  der  in  ihrer  Einbildung  schwangeren,  zur 
Erbin  eingesetzten  Frau  wieder  die  absolute  Richtigkeit 
dessen  auf  das  evidenteste,  was  wir  oben  als  den  be- 
grifflichen Umfang  des  notwendigen  Wissens  aus 
dem  Erbtumsbegriff  selbst  hergeleitet  und  als  das  innere 
Gesetz  der  Sache  aufgestellt  haben,  daß  der  Erbe  die 
Willensbeziehung  wissen  muß,  die  zwischen  der 
Willenssubjektivität  des  Erblassers  und  der  seinigen  besteht. 
Muß  also  der  Erbe,  wie  wir  schon  bisher  an  so  vielen 
Punkten  gesehen  haben,  weil  er  dieses  Willensverhält- 
nis wissen  muß,  das  der  Testator  zu  ihm  hat,  um  es 
als  Willen  des  Testators  zu  seinem  eigenen  Willen 
machen  zu  können,  —  muß  er  deshalb  alles  wissen,  was 
die  qualitative  Willensbestimmtheit  des  Testators  an- 
geht ;  muß  er  deshalb  sogar  wissen,  daß  der  Testator 
die  formellen  Bestimmungen  in  seinem  Testament  be- 
obachtet hat  (testamentum  non  irritum),  weil  diese  Formen 
von  qualitativer  Einwirkung  auf  das  Dasein  des 
testierenden   Willens    sind;    muß   er   deshalb   selbst    ihm 

424 


absolut  fremde  und  fast  nicht  vvißbare  Umstände  der 
objektiven  Außenwelt  wissen,  wenn  sie  auf  jenes  Ver- 
hältnis influenzieren,  wie  z.  B.  daß  die  sich  für 
schwanger  haltende  Frau  es  nicht  ist:  so  hat  er  dagegen 
nicht  nötig,  irgend  etwas  von  dem  zu  wissen,  wie  leicht 
wißbar  es  für  ihn  auch  sei,  was  für  den  spekulativen 
Erbbegriff,  die  Willensidentität,  gleichgültig  ist, 
in  einer  wie  nahen  äußeren  Berührung  es  auch 
mit  ihm  stünde.  Nichts  also  von  alledem,  was  von  keiner 
qualitativen  Einwirkung  auf  den  Willen  des  Erb- 
lassers ist,  sondern  nur  quantitative  Bedeutung  in  dem- 
selben hat.  Er  braucht  also  nicht  zu  wissen,  für  welche 
Quote  ihn  der  Erblasser  zum  Erben  eingesetzt  hat^): 
„Si  quis  partem  ex  qua  institutus  est,  ignoravit,  Julianus 
scribit,  nihil  ei  nocere,  quominus  pro  berede  gereret,  quod 
et  Cassius  probat  etc."  Und  dies  ist  notwendig.  Denn 
diese  quantitative  Vermögensbestimmung,  die  in  der 
Quotenfixierung  stattfindet,  ist,  wie  wir  oben  (Nr.  XXXII) 
gesehen  haben  und  wie  sich  hier  bestätigt,  dem  speku- 
lativen Erbbegriff  selbst  ganz  gleichgültig  und  äußerlich. 
Da  jeder  Erbe,  für  eine  wie  immer  kleine  Quote  er 
auch  eingesetzt  sein  mag,  immer  Identität  mit  der  ganzen 
Willenssubjektivität  des  Erblassers  darstellt,  so  wird  das 
Willensverhältnis,  in  dem  der  Erblasser  zum  Erben 
steht,  durch  die  Größe  der  Quote  nicht  im  geringsten 
berührt,  und  so  braucht  sie  auch  nicht  gewußt  zu  werden. 
In  dieser  Gleichgültigkeit  der  Vermögensquote  für 
das  Wissen  zeigt  sich  von  neuem  das  Vermögen  selbst 
als  das  dem  Erbbegriff  andere  und  ihm  Äußer- 
liche. 

Hieraus  ergibt  sich  nun  sofort   eine  sehr  interessante 


1)  Ulpian.   L.   21.  §  2  eod.   tit. 

425 


Folgerung  in  bezug  auf  den  oben  betrachteten  Fall  des 
schwangeren  Leibes.  Zuerst  diese,  daß  der  suus  postumus 
(wie  der  suus  überhaupt)  nur  auf  irgendeine  Quote 
eingesetzt  zu  werden  braucht,  wie  klein  sie  auch  sei.  Denn 
die  Größe  der  Quote,  als  das  für  den  Erbbegriff 
überhaupt  Gleichgültige  und  Äußerliche,  ist  deswegen  auch 
für  seinen  Erbbegriff  gleichgültig.  Wie  klein  die  Quote 
auch  sei,  er  ist  immerhin  durch  die  Einsetzung  als  un- 
mittelbare Willensidentität  anerkannt  worden  und  brauchte 
also  nicht  exherediert  zu  werden.  Der  Testator  wird 
dalier,  nachdem  er  ihn  zum  Erben  überhaupt  aus  einer 
wie  immer  kleinen  Quote  gemacht  hat^),  neben  ihm  noch 
einen  extraneus  einsetzen  können-),  ganz  so  wie  er  über- 
haupt mehrere  Erben  ernennen  kann.  Wenn  nun  ein 
postumus  mit  einem  extraneus  zusammen  vom  Testator 
eingesetzt  ist,  und  es  zeigt  sich  nach  dessen  Tode,  daß 
keine  Schwangerschaft  vorliegt,  so  akkresziert  jetzt  dem 
extraneus  die  andere,  dem  vermuteten  postumus  über- 
tragene Vermögensquote  im  strikten  Gegensatze  zu  dem 
vorhin  Erörterten,  auch  ohne  daß  er  weiß,  daß 
die  Frau  nicht  schwanger  ist.  Und  unsere  ge- 
samte Entwickelung  muß  die  Notwendigkeit  hiervon  be- 
reits evident  gemacht  haben.  Denn  wenn  der  extraneus 
neben  dem  postumus  eingesetzt  ist,  so  ändert  es  sein 
Verhältnis  zur  Willenssubjektivität  des  Erblassers 


^)  Nur  präteriert  darf  er  nicht  werden,  worin  sich  wieder 
zeigt,  daß  es  ein  begriffliches  Verhältnis  und  nicht  ein 
Verniögensanrecht  ist,  welches  das  Erbrecht  des  suus  bildet. 

')  Wäre  das  Erbrecht  in  seinem  Prinzip  eine  Vermögens- 
sukzession, so  würde  also  hier  wieder  die  unbegreifliche  In- 
konsequenz vorliegen,  daß  das  Recht  des  präterierten  suus  — 
denn  dieser  nimmt  alles  —  größer  ist  als  das  des  einge- 
setzten. 

426 


nicht  im  geringsten,  ob  ein  postumus  da  sei  oder  nicht. 
Er  bleibt  in  dem  einen  wie  in  dem  anderen  Falle  Erbe, 
Willensidentität  mit  dem  Erblasser.  Da  also  in 
diesem  Falle  das  Dasein  oder  Nichtdasein  eines  postumus 
nicht  auf  sein  begriffliches  Verhältnis  zum 
Erblasser  inf luenziert,  so  fällt  es  hier  auch  nicht 
in  den  erforderlichen  Umfang  seines  Wissens 
hinein,  daß  die  Frau  nicht  schwanger  ist,  und  er  muß 
den  Vermögensanteil  des  suus  ohne  dieses  Wissen  er- 
werben. Darum  heißt  es  also^):  ,, Heredi  cum  postumo 
instituto  reliquae  partes  accrescunt,  quae  postumo  datae 
sunt,  si  certum  sit,  non  esse  praegnantem,  licet  heres 
ignoret."  Indem  aber  der  Jurist  so  anerkennt,  daß  der 
Erbe  auch  ohne  Wissen  den  Vermögensanteil 
des  postumus  erwirbt,  bekundet  er  selbst  aufs  positivste, 
daß  das  Wissen  im  Erbrecht  nicht  für  den  erbrecht- 
lichen Vermögenserwerb  erforderlich  ist,  resp.  also 
überhaupt  nicht  erforderlich  wäre,  wenn  das  Erbrecht, 
wie  es  bisher  stets  aufgefaßt  wurde,  eine  Sukzession  in 
das  Vermögensrecht  wäre,  sondern  nur  durch  jenen 
spekulativen  Begriff  des  Erbtums,  durch  jenen 
transszendenten  Begriff  der  Willensidentität  ge- 
fordert wird,  welcher,  in  diesen  wie  in  allen  Teilen  des 
Erbrechtes  stets  übersehen,  dennoch  überall  das  einzige 
reale  Fundament  und  die  alleinige  lebendige  Seele  des- 
selben bildet^). 


1)  Paulus.  L.  31  eod.  tit. 

^}  Ja  noch  mehr,  der  Erbe,  d.h.  der  es  einmal  ist,  also 
die  wirksame  Adition  hinter  sich  hat,  erwirbt  bloße  ihm  bis 
dahin  nich*.  gehörige  Vermögensteile  nicht  nur  ohne  sein 
iWissen,  sondern  sogar  noch  nach  seinem  Tode,  wo  er 
also  gar  kein  Willenssubjekt  mehr  ist.  Wenn  nämlich  jemand 
pro  parte  unbedingt,  und  pro  parte  unter  einer  objektiven  Be- 

427 


Wenn  aber  der  Erbe  nichts  von  der  Größe  seiner 
Quote  als  der  seinem  begrifflichen  Verhältnis  gleich- 
gültigen, nur  quantitativen  Vermögensäußerlichkeit 
zu  wissen  braucht,  so  muß  er  dagegen  wieder  sehr  genau 
wissen,  ob  er  unter  einer  Bedingung  eingesetzt  ist, 
und  unter  welcher.  Denn  die  Bedingung  stellt  wieder 
eine  qualitative  Bestimmtheit  und  Modalität  des 
Willens  des  Erblassers  dar  und  muß  deshalb  gewußt 
werden.  Der  unbedingt  eingesetzte  Erbe  wird  also  nicht 
antreten  können,  wenn  er  ungewiß  darüber  ist,  ob  er  un- 
bedingt oder  bedingt  eingesetzt  sei.  Der  bedingt  Ein- 
gesetzte wird  nicht  antreten  können,  wenn  er  sich  zwar 
als  bedingt  Eingesetzten  überhaupt  weiß,  aber  die  be- 
stimmte  Bedingung   nicht   kennt,   unter   der  er    ein- 


dingung  eingesetzt  ist  und,  nachdem  er  aus  der  unbedingten 
Einsetzung  antrat,  stirbt,  jene  Bedingung  aber  nach  seinem 
Tode  in  Erfüllung  geht,  so  gilt  jetzt  die  bedingte  Quote  als 
ihm  gehörig,  und  geht  auf  seinen  Erben  über.  Es  ist  Gajus, 
der  uns  diesen  sehr  interessanten  Fall  setzt,  L.  53  eod.  tit. : 
,,Qui  ex  duabus  partibus  heres  institutus  fuerit,  ex  alia  pure, 
ex  alia  suh  conditione.  et  ex  pura  institutione  adierit  et  de- 
cesserit,  posteaque  conditio  extiterit,  ea  quoque  pars  ad  heredem 
ejus  pertinet."  Es  ist  genau  zu  betrachten,  was  hierin  enthalten 
ist.  Der  Erbe  des  Erben  ist  es  nicht,  der  den  Teil  erwirbt ; 
denn  der  Erbe  transmittiert  nicht  nach  römischem  Rechte, 
es  gehen  also  nicht-erworbene  Rechte  auf  seinen  Erben 
nicht  über,  oder:  der  Erbe  des  Erben  erbt  nicht.  x\ber 
auch  der  erste  Erbe  kann  jetzt,  als  tot,  keinen  Ve rmögens- 
erwerb  mehr  machen,  ebenso  wie  er  auch  jetzt  nicht  mehr 
eine  Erbschaft  zu  erwerben  fähig  wäre.  Allein  Erbe  ist  er  ein- 
mal aus  der  pura  institutio  von  früher  her.  Und  als  Erbe  ist 
er  im  allgemeinen  und  schlechthin  der  Darsteller  der  erb- 
lasserischen  Willenssubjektivität,  ist  es  also  auch  für  den 
Vermögensteil,  in  bezug  auf  den  er  es  nur  bedingt  sein  soll, 
eo  ipso  wie  die  Bedingung  objektiv  eintrifft.  Allein  hierzu  müßte 

428 


gesetzt  ist;  ja,  wenn  diese  Bedingung  eine  ihm  gestellte 
Willensbedingung  ist  (conditio  in  arbitrium  collocata) 
und  er  dieselbe,  ohne  sie  zu  kennen,  erfüllt  hat, 
muß  seine  Adition  nichtsdestoweniger  wirkungslos  bleiben. 
Denn  die  unwissentliche  Erfüllung  kann  ihm  in 
keiner  Weise  helfen,  da  er  sie  dann  nicht  als  den  erb- 
lasserischen Willen,  sondern  nur  zufällig,  und 
somit  als  ein  diesem  fremder  Wille  erfüllt  hat,  diese 
rein  äußerliche  Erfüllung  daher  nicht  den  Sinn 
und  somit  auch  nicht  die  Kraft  in  sich  trug,  die  von 
dem  Erblasser  an  diese  Aufgabe  geknüpfte  Willensidentität 
mit  ihm  hervorzubringen. 

Und  so  heißt  es  denn  bei  Ulpian,  alle  diese  Folgerungen 
des  Begriffes  bestätigend^):    ,,Sed  et  si  seit,  se  heredem 


er  noch  leben,  denn  wie  kann  er,  selbst  tot,  als  noch  vor- 
handene Fortexistenz  des  erblasserischen  Willens  ausgegeben 
werden  ?  Allein  hier  gerade  zeigt  sich  recht  sinnlich,  wie,  was 
wir  oft  hervorgehoben,  durch  das  Erbtum  nicht  die  Fortdauer 
der  erblasserischen  Willenssubjektivität  um  eine  gewisse  Zeit, 
ein  Menschenleben,  verlängert,  sondern  in  alle  Ewigkeit 
hinein  zur  wahrhaften  Unsterblichkeit  perpetuiert  wird  (vgl. 
Nr.  I  und  II).  Wäre  der  Erbe  nur  unter  einer  Bedingung  ein- 
gesetzt, so  kann  er  die  Erbschaft,  wenn  er  vor  Eintritt  der 
Bedingung  stirbt,  nicht  erwerben.  Aber  als  auch  pure  ein- 
gesetzt, ist  er  nach  seiner  Antretung  einmal  das  Dasein  des 
erblasserischen  Willens,  und  als  Person  ist  er  jetzt  zwar 
tot,  als  Fortexistenz  des  erblasserischen  Willens 
aber  Ist  er  es  nicht.  Denn  er  hat  seinerseits  einen  Erben, 
und  war  er  erst  durch  wirkliche  Antretung  zum  Träger  der 
erblasserischen  Willenssubjektivität  geworden,  so  hat  er  nun 
dieselbe  durch  sich  hindurch  in  seinen  Erben  hineinkontlnuiert, 
so  daß  er,  der  erste  Erbe,  als  Fortdauer  des  ersten 
Erblassers,  noch  Im  zweiten  Erben  vorhanden  ist  und 
in  ihm  erwirbt,  und  so  weiter  in  alle  Ewigkeit. 
1)  L.  32,  §  1,  eod.  tit. 

429 


institutum,  sed  utrum  pure  an  sub  conditlone  ignoret,  non 
poterit  adire  hereditatem,  licet  pure  heres  institutus  sit, 
et  sab  conditlone,   licet  paruerit^)  conditioni." 

Wiederum  aber,  wenn  der  Testator  den  Erben  unter 
einer  nicht  von  dessen  Willen  abhängigen  Bedingung 
der  objektiven  Außenwelt^)  eingesetzt  hat,  so  wird 
er  zwar  nach  dem  Vorigen  n^cht  antreten  können,  so- 
lange er  den  Inhalt  der  Bedingung  nicht  weiß;  er 
wird  natürlich  auch,  diesen  wissend,  nicht  antreten  können, 
solange  die  Bedingung  nicht  objektiv  eingetroffen  ist.  Aber 
falls  er  nur  die  Bedingung  und  ihren  Inhalt  weiß, 
und  diese  eingetroffen  ist,  so  wird,  wenn  der  spekulative 
Begriff  sich  bis  in  seine  strengsten  und  feinsten  Kon- 
sequenzen hinein  als  das  Gesetz  der  Sache  bewähren 
soll,  seine  Adition  auch  dann  wirksam  sein,  wenn 
er  auch  das  objektive  Eingetroffensein  der  Be- 
dingung nicht  weiß.  Denn  das  Eintreffen  der  Be- 
dingung gehört  nicht  zu  dem  Willensinhalt  des 
Testators.  Der  Testator  hat  nicht  gewollt,  daß  die  Be- 
dingung eintreffe.  Hätte  er  dies  gewollt,  so  hätte  er 
eine  von  der  Willensfreiheit  des  Erben  abhängige 
Bedingung  wählen  müssen.  Er  hat  bloß  gewollt,  daß, 
wenn  die  Bedingung  einträfe,  jener  der  Erbe,  und  wenn 
nicht,  es  nicht  sei.  Aber  ob  die  Bedingung  eintreffen 
solle  oder  nicht,  dies  hat  der  Testator,  als  ein  von 
seiner  Willensfreiheit  nicht  abhängiges  Verhältnis,  rein 
in  die  objektive  Außenwelt  gesetzt  und  dieser 
überlassen.  Also  nur  der  Inhalt  der  Bedingung,  nicht 
aber  das  Eintreffen  derselben  gehört  zum  Willens - 

^)  Durch  diesen  Ausdruck  ergibt  sich  also  von  selbst,  daß 
hier  eine  Willensbedingung  gemeint  ist. 

')  Die  Bedingung:  ut  quid  obtingat,   L.   60  pr.   de  condit. 

(35.  1). 
430 


Inhalt  des  Erblassers.  Weil  also  das  Eingetroffensem 
oder  Nicht  der  Bedingung  nicht  in  den  Willensumfang 
des  Erblassers  gehört,  so  gehört  es  nach  dem  von 
uns  entwickelten  Begriff  auch  nicht  in  den  Wissens- 
umfang  des  Erben.  Das  Dasein  und  der  Inhalt 
der  Bedingung  muß  von  diesem  gewußt  werden,  denn 
sie  bilden  den  Willensinhalt  des  Testators.  Aber  das 
Eingetroffensein  der  Bedingung  braucht  nicht  von 
ihm  gewußt  zu  werden,  denn  es  ist  bloße  Tatsäch- 
lichkeit, bloße  Sache  der  dem  Willen  des  Erblassers 
fremden  äußeren  Wirklichkeit  als  solcher,  und 
darum  muß  auch  das  bloß  objektive  Eintreffen  derselben 
genügen.  Und  so  muß  denn  Ulpian  an  einer  schon  oben 
bezogenen  Stelle  fortfahren^)  :,,...  quod  et  Cassius  probat 
(nämlich,  daß  der  Erbe  antreten  könne),  si  conditlonem, 
sub  qua  heres  institutus  est,  noti  Ignorat,  si  tamen  exstitlt 
conditio,  sub  qua  institutus  est.  Quid  tamen  si  ignorat 
conditionem  exstitisse?  Puto,  posse  adire  hereditatem, 
quemadmodum  si  ignoret,  an  coheredis  cui  substitutus  est, 
repudiatione  portio  ei  delata  sit-)."  Der  Vergleich,  der 
in  den  letzten  Worten  liegt,  ist  ein  sehr  richtig  zutreffen- 


1)  L.  21.  §2  eod.  tit.:  siehe  oben  S.  425. 

^)  Die  Repudialion  des  coheres,  dem  ein  anderer  Quoten- 
erbe substituiert  ist,  stellt  gleichfalls  eine  Bedingung  für 
diesen  dar,  aber  nicht  eine  Bedingung  für  die  Erwerbung  des 
Erbcharakters,  den  er  als  heres  ex  parte  bereits  besitzt, 
sondern  nur  eine  für  die  Erwerbung  des  jenem  coheres  über- 
tragenen Vermögensteiles.  Das  Vermögen  also  erwirbt  er, 
ohne  die  dafür  gestellte  Bedingung  zu  wissen.  Dasselbe  zeigt 
sich  In  der  L.  53  (s.  oben  S.  427,  Note  2) ;  denn  da  der 
Erbe  die  bedingte  pars  auch  nach  seinem  Tode  erwirbt,  so 
wird  er  sie  ebenso  erwerben  müssen,  wenn  er  auch  den  Inhalt 
der  Bedingung,  und  daß  er  überhaupt  auch  noch  für  diese  pars 
bedingt  eingesetzt  war,  gar  nicht  gewußt  hat. 

431 


der.  Denn  auch  ob  der  eingesetzte  Miterbe  annehmen 
oder  ausschlagen  wird,  hängt  nicht  vom  Willen  des  Erb- 
lassers noch  des  heres  substitutus  ab,  gehört  diesem 
gegenüber  gleichfalls  nicht  zum  Willensinhalt  des  Erb- 
lassers, sondern  ist  nur  ein  Faktum  der  objektiven  Außen- 
welt, das  deshalb  nicht  in  seinen  notwendigen  Wissens- 
umfang  hineingebort,  um  seine  Adition  wirksam  zu  machen. 

Hieraus  ergibt  sich  nun  aber  eine  sehr  interessante 
spekulative  Konsequenz,  diese  nämlich,  daß  unter  Um- 
ständen, so  paradox  dies  scheint,  zwei  Irrtümer  sich 
werden  aufheben,  der  zweite  den  ersten  unschädlich  machen 
können. 

Wenn  nämlich  der  unbedingt  eingesetzte  Erbe  irrig 
sich  für  einen  bedingten  hält,  und  wenn  er  nun  auch 
noch  zweitens  irrtümlich  glaubt,  daß  diese  vom  Testator 
gar  nicht  hinzugefügte,  an  ein  objektives  Ereignis  ge- 
knüpfte Bedingung  in  Erfüllung  gegangen  sei,  so 
wird  dieser  zweite  Irrtum  den  ersten  aufheben,  und  der 
Erbe  wird  wirksam  antreten  können.  Die  Not- 
wendigkeit hiervon  ergibt  sich  durch  Folgendes. 

Die  Bedingung,  an  die  der  Erbe  glaubt,  war  zunächst 
als  gar  nicht  vom  Erblasser  gestellt,  auch  keine  qualifi- 
zierende Bestimmtheit  in  dem  Willen  desselben.  Allein 
da  der  Erbe  dies  glaubt,  so  ist  sie  für  ihn  eine  solche 
qualitative  Bestimmtheit  des  erblasserischen  Wil- 
lens, und  diese  Ungleichheit,  wie  der  Wille  im  Erb- 
lasser, und  wie  er  für  den  Erben  ist,  hindert  die  geistige 
Identifizierung  und  somit  die  Adition.  Allein  auch  für 
den  Erben  stellte  die  geglaubte  Bedingung  nur  so 
lange  eine  qualifizierende  Bestimmtheit  des  erblasserischen 
Willens  dar,  solange  er  sie  als  nicht  in  Erfüllung  ge- 
gangen annimmt.  Denn  nur  solange  sie  dies  nicht  ist, 
hält  die   Bedingung  den  Willen  in  suspenso  und  macht, 

432 


für  den  Erben,  ihren  Inhalt  zur  entscheidenden  und 
qualitativen  Bestimmtheit  des  erblasserischen  Willens. 
Sowie  aber  der  Erbe  sie  als  eine  in  Erfüllung  gegangene 
annimmt,  ist  sie  auch  f  ü  r  i  h  n  nicht  mehr  eine  bestimmende 
Qualität  des  erblasserischen  Willens.  Denn  gerade  durch 
das  Eingetretensein  der  Bedingung  ist  jener  Wille  auch 
für  den  Erben  jetzt  nicht  länger  ein  bedingter, 
sondern  auch  für  ihn  zu  einem  nunmehr  unbeding- 
ten gevv oralen.  Jetzt,  da  er  die  Bedingung  als  ein- 
getroffen annimmt,  nimmt  auch  der  Erbe  den  Willen  des 
Erblassers,  ihn  zum  Erben  zu  haben,  als  einen  absoluten 
und  entschiedenen  an.  Oder  mit  anderen  Worten :  Indem 
die  Bedingung  nach  der  Unterstellung  des  Erben  ein- 
trat, hat  sie  gerade  dadurch  aufgehört,  eine  spannende 
und  bedingende  Bestimmtheit  des  erblasserischen 
Willens  zu  sein  und  ist  jetzt  nur  als  das  hinter  diesem 
Willen  Liegende  vorhanden,  wodurch  sich  derselbe  ver- 
mittelt hat;  d.h.  sie  ist  zu  einem  gleichgültigen 
Motiv  herabgesunken,  denn  das  Motiv  ist  eben  dies, 
wodurch  sich  der  Wille  vermittelt.  Die  Motive 
des  erblasserischen  Willens  braucht  aber  der  Erbe  nicht 
zu  wissen,  denn  sie  liegen  eben  hinter  dem  Willen 
und  seiner  Entscheidung,  sondern  nur  seine  ent- 
scheidende Bestimmtheit^).    Durch  den  zweiten 

^)  Weshalb  der  Erblasser  den  Erben  zum  Erben  will,  d.  h. 
mit  sich  identisch  setzt,  ist  natürlich  gleichgültig,  wobei  jedoch 
die  begriffliche  Grenze  nicht  zu  übersehen  ist,  die  sub  Nr. 
XXXVf  aufgezeigt  werden  wird.  —  Die  Gleichgültigkeit  dessen, 
wodurch  sich  der  Wille  vermittelt,  für  das  Dasein  des 
Willens,  spricht  sich  auch  in  einer  Stelle  des  Paulus  in  bezog 
auf  das  Wissen  der  Willensfähigkeit  des  Erblassers  aus  L.  33 
eod.  tit. :  ,,Quodsi  dubitet,  apud  hostes  decessit,  an  civis  Ro- 
manus, quonlam  utroque  casii  est  jus  adeundi  et  in  re  est,  ut 
possit    adire.   dicendum  est,    posse   adire."    Da   der    Erblasser 

6  LueaUe.  Ce>.  Schriften.  Band  XH.  433 


Irrtum  gerät  also  die  Sache  in  die  Lage,  daß  sich 
der  Erbe  nicht  mehr  über  die  qualitative  Bestimmtheit 
des  erblasserischen  Willens  irrt,  sondern  nur  falsche 
Motive,  durch  welche  er  sich  vermittelt  habe,  in 
diesen  hineinträgt.  Indem  der  Erbe  jetzt  durch  die  Ver- 
mittlung dieses  zweiten  Irrtums  gleichfalls  davon  inner- 
lich gewiß  und  durchdrungen  ist,  daß  der  Erb- 
lasser ihn  mit  psremtorischer  und  frageloser,  unbedingter 
Bestimmtheit  zum  Erben  will,  ist  hierdurch  jetzt  Gleich- 
heit des  Willens  vorhanden,  wie  er  im  Erblasser, 
und  wie  er  für  den  Erben  ist,  und  die  Willensidenti- 
fikation beider  kann  daher  statthaben. 

Ist  dies  aber  der  Fall,  so  muß  dasselbe  offenbar  auch 
der  Fall  sein,  wenn  die  vom  Erben  irrtümlich  an- 
genommene Bedingung  eine  in  eine  Willenshandlung 
desselben  gestellte  ist,  und  der  Erbe,  indem  er  dieser 
angeblichen  Bedingung  nachkam,  sich  dadurch  gleichfalls 
das  Bewußtsein  erzeugte,  daß  der  Wille  des  Erb- 
lassers jetzt  in  unbedingter  und  absoluter  Weise  auf  die 
Identität  mit  ihm  gerichtet  ist.  Und  so  muß  es  denn  in 
genauester  Bestätigung  alles  Vorigen  heißen^):  ,,Sed  et 
si,  quum  esset  pure  institutus,  piitavit  sub  conditione,  et 
impleta  conditione  quam  injectam  putavit,  adiit,  an  possit 
acquirere  hereditatem  ?  Conscqiiens  est  dicere,  posse  eam 
adire,  maxime  quam  haec  siisplcb  nihil  ei  obfiierit,  nee 
periciilüin  athilerit.  Facilius  quis  admittet,  si  quis  pure 
institutus  ;?«^aw/,  se  sub  conditione  institutum,  conditionem- 


hier  nach  Zivilrecht,  dort  nach  der  lex  Cornelia  willensfähig 
ist,  so  ist  es  gleich,  durch  welche  tatsächliche  Situation  — 
sein  Tod  beim  Feinde,  oder  seine  Rückkehr  —  sich  das  Da- 
sein eines  Erbwillens  beim  Erblasser  für  das  Wissen  des  Erben 
vermittelt. 

1)  Ulplan,   L.34.   §1,  eod.   tlt. 

434 


que  impletam  quam  in  eventum  putabat;  nam  in  nullo 
haec  suspicio  obfuit."  Diese  ungewissen  und  schwanken- 
den Ausdrücke  des  Juristen  maxime  quum  haec  suspicio 
nihil  ei  obfiierit,  nee  periciilum  attulerit,  in  denen  gleich- 
wohl der  spekulative  Begriff  innerlich  erzittert,  ohne  ihm 
zum  theoretischen  Bewußtsein  zu  kommen,  werden  nach 
dem  Vorangeschickten  nun  vollkommen  deutlich  sein.  Denn 
was  ist  das  für  eine  suspicio,  von  der  Ulpian  spricht, 
und  die  ihm  hier  nicht  schaden  soll  ?  Was  ist  das  für 
ein  periculum,  welches  ihm  hier  nicht  daraus  entstehen 
soll?  Es  ist  der  Verdacht  gegen  sich  selbst,  wegen 
der  hinzugedachten  Bedingung  nicht  unbedingt  identisch 
mit  dem  Erblasser  zu  sein ;  es  ist  die  Gefahr  des  Erben, 
durch  dieses  Hinzudenken  die  wahrhafte  Willens- 
beziehung,  die  der  Erblasser  zu  ihm  hat,  und  die 
geistige  Identität  mit  demselben  in  seinem  Bewußt- 
sein zu  verfehlen.  Aber  diese  Gefahr  trifft  hier 
nicht,  und  dieser  Verdacht  an  der  eigenen  inneren  Identität 
beseitigt  sich  durch  die  Annahme  des  Erfülltseins  der 
Bedingung,  resp.  durch  ihre  Erfüllung,  indem  nunmehr 
diese  Identität  auch  für  den  Erben  zur  innersten  Ge- 
wißheit geworden  ist. 

Wenn  aber  der  Erbe,  wie  wir  sagten  und  nun  bereits 
durch  die  Aufrollung  aller  dieser  Unterschiede  als  das 
begriffliche  und  unverletzliche  Gesetz  der  Sache  nach- 
gewiesen haben,  um  die  in  der  Adition  liegende  Willens - 
Identifikation  vornehmen  zu  können,  zuvor  die 
geistige  Willensbeziehung  wissen  muß,  die  zwischen 
dem  Erblasser  und  ihm  besteht,  so  wird  er,  wenn  sich 
der  Begriff  absolut  bewähren  soll,  nicht  nur  das  zum 
Willen  des  Testators  Gehörige,  sondern  auch  das 
seine  eigene  Willenssubjektivität  Betreffende, 
insoweit   dadurch   die   zwischen  ihm  und   dem  Erb- 

6*  435 


lasser  bestehende  Willensbeziehung  beeinflußt  wird, 
notwendig  zu  wissen  haben.  Wir  zeigten  oben,  daß  der 
Erbe  über  seine  eigene  Kondition  ungewiß  sein  kann, 
indem  er  nicht  zu  wissen  braucht,  ob  er  filiuslamilias 
oder  sui  juris  ist.  Aber  dies  ist  eine  Eigenschaft,  die 
ihn  nur  für  sich  allein  betrifft  und  die  zwischen  dem 
Erblasser  und  ihm  bestehende  Willensbeziehung 
nicht  berührt. 

Ob  er  aber  der  eigene  (in  der  Gewalt  stehende) 
Sohn,  oder  der  eigene  Sklave  des  Testators  selbst,  ob 
er  also  necassarius  heres  oder  voluntarius  ist,  das  muß 
er  wissen,  um  antreten  zu  können,  weil  hierdurch  eben 
das  zwischen  dem  Erblasser  und  ihm  bestehende  Willens- 
verhältnis qualifiziert  wird.  Und  so  sagt  uns  Ulpian, 
Schritt  für  Schritt  alle  Folgerungen  des  spekulativen  Be- 
griffes belegend^):  „Is  qui  se  putat  necessarium,  quum 
sit  voluntarius,  non  poterit  repudiare ;  nam  plus  est  in 
opinione,  quam  in  veritate."  Und  unmittelbar  darauf^): 
,,Et  e  contrario  qui  se  putat  necessarium,  voluntarius 
existere  non  potest." 

Und  warum  kann  die  Adition  des  freiwilligen  Erben, 
welcher  sich  für  einen  necessarius  hält,  nicht  wirksam  sein  ? 

Weil  dieser,  indem  er  sich  innerlich  für  einen  not- 
wendigen Erben,  für  bereits  identisch  mit  dem 
Erblasser  hielt,  nicht  den  entscheidenden  inneren  Willens- 
akt vollziehen  konnte,  sich  durch  seinen  freien  Willen 
zur  Identität  mit  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers 
zu  bestimmen.  Diese  Selbstidentifikation  seiner 
mit  jenem  wurzelt  beim  extraneus  nur  in  der  Willens- 
freiheit, ist  lediglich  das  Produkt  seiner  höchsten  eigenen 


1)  L.  15  eod.  tit. 
')  L.  16  eod.  tit. 


436 


Spontaneität,  und  kann  daher  ohne  das  Bewußtsein 
über  das  Freiwillige  dieses  eigenen  Setzens  gar  nicht 
hervorgebracht  werden.  Hält  er  sich  für  gezwungen, 
so  findet  ein  Zwang  statt,  wenn  auch  nur  ein  ge- 
glaubter, i.e.  geistiger,  der  es  aber  eben  darum  zu 
einer  geistigen  Identität  aus  freier  Willens- 
vollbringung  nicht  mehr  kommen  läßt.  Hält  er  sich 
für  bereits  unmittelbar  identisch,  so  kann  er  die  Iden- 
tifikation nicht  mehr  erst  bewerkstelligen  wollen.  Die 
Identität  ist  also  gar  nicht  vollbracht,  nicht  als  un- 
mittelbare; denn  so  ist  sie  objektiv  nicht  vorhanden; 
nicht  als  frei  durch  den  Willen  vollzogene,  denn 
hierzu  fehlt  eben  die  Anstrengung  des  Willens,  sich  frei 
durch  eigene  freie  Entschließung  mit  einer  fremden 
Willenssubjektivität  identisch  zu  setzen.  Die  geistige 
Energie,  diese  Fremdheit  selbständiger  Willen  gegen- 
einander aufheben  zu  wollen,  erzittert  nicht  in  dieser 
Adition,  und  darum  bewirkt  sie  auch  nicht  die  tatsäch- 
liche Aufhebung  dieser  Fremdheit  und  die  Herstellung 
dessen,  was  hergestellt  werden  soll,  sondern  läßt  nach 
wie  vor  Erblasser  und  Erben  als  andere  gegeneinander 
bestehen.  Die  Adition  ist  daher  hier  nur  Schein  oder 
Simulation,  nicht  die  äußere  Darlegung  der  innerlichen 
Vollziehung  der  Identifikation.  Ebenso  natürlich, 
wenn  der  freivv'illige  Erbe  sich  für  einen  notwendigen  hält 
und  nun  dennoch  repudiert.  Wäre  die  Erbschaft  ein  Ver- 
mögensrecht und  eine  Sukzession  in  ein  solches,  so  hätte 
er  dasselbe,  da  er  repudiieren  kann  und  repudiiert  hat, 
und  ebenso  unleugbar  hierin  gezeigt  hat,  daß  er  es  repu- 
diieren will,  gewiß  und  ohne  allen  Zweifel  wirksam 
von  sich  gewiesen,  und  man  hat  sich  die  Sache  sehr  leicht 
gemacht,  wenn  man  bei  der  bisherigen  Auffassung  des 
Erbtums  hierüber  als  ein  ganz  Selbstredendes  fortgeblickt 

437 


hat.  Der  bloße  Rechtsirrtum  über  das  jus  suiim 
würde  den  Akt  nicht  ungültig  machen  0-  Aber  es  handelt 
sich  hier  nicht  um  Vornahme  oder  Ausschlagung  eines 
Vermögenserwerbes,  sondern  um  die  geistige 
Identität  zwischen  Erben  und  Erblasser.  Und  da  diese 
der  Erbe  in  seinem  Geiste  für  eine  schon  unmittel- 
bar und  notwendig  gegebene  hält,  so  hat  für  ihn 
und  in  seinem  Geiste  der  äußerliche  Repudiationsakt  auch 
nicht  die  Kraft,  die  geistige  Identität  aufzuheben. 
Wie  im  vorigen  Fall  die  Adition  nicht  die  Kraft  hatte, 
die  geistige  Identität  herzustellen,  so  hat  hier  die 
Repudiation  nicht  diejenige,  sie  zu  negieren.  Denn  in 
dem  äußeren  Negationsakt  weiß  sie  der  Erbe  nichts- 
destoweniger als  vorhanden.  Ja,  sie  kann  und  soll 
diese  Kraft  nicht  einmal  haben.  Denn  was  genau  ge- 
nommen durch  die  Repudiation  des  voluntarius  negiert 
wird,  ist  nicht  die  Identität  selbst,  sondern  die  Her- 
stellung der  Identität,  die  ja  beim  voluntarius  noch 
nicht  vorhanden.  Die  Herstellung  der  Identität  kann 
aber  verneint  werden,  ohne  die  Identität  selbst  zu 
verneinen,  da  eine  schon  seiende  nicht  mehr  erst  her- 
gestellt zu  werden  braucht,  und  der  Erbe  also  für  sich 
selbst  nichts  tut  als  ein  acta  agere  ausschlagen.  Somit 
hat  also  seine  Repudiation  auch  nicht  die  Kraft,  die 
Identität  zurückzuweisen. 

Wie  kommt  es  aber,  daß  uns  hier  Ulpian  sogar  die 
allgemeine  Maxime  aufstellen  kann  ,,nam  plus  est  in 
opinione,  quam  in  veritate",  während  wir  anderwärts  von 
Paulus,  und  zwar  wo  es  sich  gleichfalls  um  Wissen  und 


1)  Vgl.  oben  Bd.  I,  S.  199.  Note  1.  und  speziell  Im  Erb- 
recht da.s  Reskript  des  Gordianus,  L.  2  C.  de  ignor.  jur.  et 
facti  (1.  18). 

438 


Irrtum  handelte^),  den  direkt  umgekehrten  Satz  gehört 
haben :  plus  est  in  re,  quam  in  existimatione  mentis  ?  Be- 
reits muß  sich  aber  dieser  scheinbare  Widerspruch  in 
völligen  Akkord  aufgelöst  haben.  Denn  da  das  Erbtum, 
wie  wir  von  allen  Seiten  gesehen  haben,  nur  das  rein 
geistige  Verhältnis  der  Willensidentität,  also  ein  im 
Geiste  stattfindendes  Verhältnis  ist,  so  ist  hier 
gerade  die  exlsümatio  mentis  die  objektive  Sache, 
die  res  selbst,  also  die  Wirklichkeit  dieses  Verhält- 
nisses gar  nicht  vorhanden  ohne  die  entsprechende 
existimatio  mentis.  Darum  muß  sich  im  Erbrecht  der 
Satz  des  Paulus  umkehren,  und  Ulpian  hat  also  ebenso 
recht  mit  seinem  Satze  fürs  Erbtum,  als  Paulus  mit 
dem  seinigen  für  Wissen  und  Irrtum  im  allgemeinen  in 
anderen  Gebieten. 

Wir  haben  also  gesehen,  daß  der  Umfang  des  Wis- 
sens, das  zur  wirksamen  Adition  für  den  Erben  er- 
forderlich ist,  kein  anderer  ist  als  der  aus  dem  speku- 
lativen Begriff  mit  Notwendigkeit  fließende:  die  Wil- 
lensbeziehung zu  kennen,  die  zwischen  dem  Erblasser 
und  ihm  besteht,  und  daß  in  der  Tat  dieses  begriffliche 
Prinzip  es  ist,  welches,  durch  die  feinste  Mikrologie  der 
Fälle  und  Unterscheidungen  hindurch  von  den  römischen 
Juristen  überall  festgehalten,  sie  bestimmen  läßt,  was 
vom  Erben  gewußt  werden  muß  und  was  nicht  ^). 

1)  Siehe  oben  Bd.  I,   S.201,   Note  1. 

'')  Für  die  Juristen  mußte  es  wegen  der  Nichterfassung  des 
spekulativen  Erbtumsbegriffes  auch  unmöglich  sein,  eine  rich- 
tige Definition  dessen  zu  geben,  was  für  die  Adition  gewußt 
werden  muß.  So  leidet  schon  die  Definition,  die  Justinian 
für  den  erforderlichen  Inhalt  dieses  Wissens  gibt :  „dummodo 
sciat,  eum  .  .  .  testatum  intestatumve  obiisse  et  se  ei  heredem 
esse"  (Inst.,  §  7  de  her.  quak,  2,  19),  Schiffbruch,  und  zwar 
schon  gleich  an  dem  letzten  Fall  des  voluntarius,  der  sich  für 

439 


XXXV.    Die  exceptio  doli  im  Erbrecht. 

Aber  ebenso  müssen  aus  dem,  was  schon  bisher  über 
die  Notwendigkeit  der  inneren,  geistigen  Willens - 
identität  zur  Wirksamkeit  der  Adltion  gesagt  worden 
ist,  viele  der  wichtigsten,  das  Gebiet  des  Erbrechtes  be- 
treffenden Fragen  und  Institute,  die  bisher  unvermeidlich 
und  gänzlich  mißverstanden  werden  mußten,  ihr  hellstes 
und  durchsichtigstes  Licht  empfangen.  Es  ist  weder  mög- 
lich noch  nötig,  von  hier  aus  auf  alle  sich  daraus  er- 
einen necessarius  hält.  Der  Erbe  weiß  hier  sowohl,  daß  der 
Erblasser  testatus  gestorben,  als  daß  er  sein  Erbe  ist,  und 
doch  reicht  dies  Wissen  nicht  aus.  Wenn  aber  von  den  Römern 
selbst  das  theoretische  Bewußtsein  über  ihren  eigenen  Geistes- 
inhalt nicht  verlangt  werden  kann,  so  konnten  die  späteren 
Autoren  aus  demselben  Grunde  nicht  glücklicher  sein.  Um 
anderer  zu  geschwelgen,  so  definiert  Donellus,  der  noch  bis 
heute  das  Erbrecht  am  scharfsinnigsten  von  allen  Autoren, 
und  auch  den  hier  in  Rede  stehenden  Teil  desselben  relativ 
am  eli.igehendsten  behandelt  hat,  mit  sichtlicher  Bemühung,  eine 
scharfe  und  umfassende  Definition  zu  geben,  diesen  Wissens- 
inhalt also,  Lib.  VII,  c.  V,  p.  295:  „Quapropter  ita  deflni- 
mus:  quibus  rebus  efficitur,  ut  nobis  delata  sit  hereditas,  etsi 
omnes  concurrent,  si  tamen  de  Ins  aiit  de  una  aliqiia  incertus 
sit  aut  dubltet  heres,  parlter  eum  heredltatem  nee  adlre  posse, 
nee  repudiare."  Es  soll  also  erforderlich  sein,  alle  jene  Tat- 
sachen zu  wissen,  durch  welche  die  Delation  bewirkt  wird. 
Diese  Definition  aber  zerschellt  schon  daran,  daß  es  (s.  UI- 
pian,  oben  S.  431)  nicht  nötig  ist,  als  substitutus  zu  wissen, 
ob  der  heres  ausgeschlagen,  während  doch  erst  durch  diese 
Tatsache  die  Delation  an  den  substitutus  bewirkt  wird,  und 
eine  frühere  eventuelle  Aditlon  seinerseits  unwirksam  wäre. 
Auch  daran  zerschellt  sie  \\'ieder,  daß  die  eingesetzte  Frau, 
wenn  sie  antritt,  wissen  muß,  daß  sie  nicht  schwanger  sei 
(s.  oben  S.  422  fg.),  obgleich  nicht  durch  ihr  Nichtschwanger- 
seln  die  Delation  bewirkt  wirkt,  da  sie  auch  als  schwanger 
antreten  kann  usw. 

440 


klärende  Teile  des  Erbrechtes  einzugehen,  da  die  Auf- 
hellung derselben  nach  unseren  gesamten  bisherigen  Er- 
örterungen für  den  Denkenden  nunmehr  von  selbst  gegeben 
sein  muß.  Nur  einige  Exkursionen  auf  solche  Fragen, 
die  noch  Schwierigkeiten  darzubieten  scheinen  könnten, 
mögen  hier  ihre  Stelle  finden. 

So  erklärt  sich  erst  jetzt  die  Stellung  und  Bedeutung 
der  doli  exceptio  im  Erbrecht.  Ulpian  sagt^)  :  ,,Praeterea 
sciendum  est,  si  quis  quid  ex  testamento  contra  voluntatem 
petat,   exceptione   eum  doli   mali   repelli   solere,    et  Ideo 


Savigny  (System,  III,  382)  definitiv  seinerseits:  „Ist  der 
berufene  Erbe  über  die  Art  derDelation  (aus  letztem 
Willen  oder  gesetzlich  usw.)  im  Irrtum,  so  ist  seine  ausdrück- 
liche oder  stillschweigende  Antretung  sowohl  als  seine  Aus- 
schlagung der  Erbschaft  ohne  Wirkung."  Diese  Definition  zer- 
schellt —  was  auch  noch  gegen  Donellus  gilt  —  daran,  daß 
die  ohne  Bedingung  deferierte  Erbschaft  vom  Erben  für  eine 
bedingte  gehalten  werden  kann,  wenn  er  die  Bedingung  für  ein- 
getroffen annimmt  oder  erfüllt  hat  (S.  431  fg.).  während 
er  doch  durch  die  Erfüllung  der  ungewußten  Bedingung 
die  bedingte  Erbschaft  nicht  erwirbt  (S.  428).  (Wollte  man 
also  auch,  was  ohnehin  schwerlich  zulässig,  im  Interesse  der 
Savignyschen  Definition  behaupten,  die  Bedingtheit  oder  Un- 
bedingtheit  der  Einsetzung  ändere,  mindestens  wenn  die  Be- 
dingung einmal  erfüllt  sei,  die  Art  der  Delation 
nicht,  so  würde  die  Definition  doch  wieder  an  dem  zweiten 
Umstände  scheitern,  daß  der  Erbe  bei  der  bedingten  Einsetzung 
trotz,  des  objektiven  Eintreffens  oder  der  zufälligen  Erfül- 
lung der  Bedingung,  ohne  das  Wissen  derselben  nicht  er- 
wirbt, da  er  dann  etwas  nicht  zur  Art  der  Delation  Ge- 
hörendes wissen  müßte,  um  zu  erwerben.)  Sie  zerschellt  ferner 
daran,  daß  bei  der  zur  Erbin  eingesetzten  Frau  ihre  Schwanger- 
schaft oder  NichtSchwangerschaft  die  Art  der  äußerlichen 
juristischen  Delation  nicht  ändert  usw. 

1)  L.  4.  §  10.  de  doli  except.   (44.  4). 

441 


heres  qii'i  non  habet  vohmtatem,  per  exceptionem  doli 
repellitiir.''  Savigny  sagt  hierüber^):  „Erklärt  man  den 
letzten  Satz  von  der  Ausschließung  der  hereditatis 
petitio,  so  ist  unsere  Behauptung  widerlegt;  allein  diese 
Erklärung  muß  verworfen  werden,  weil  die  doli  exceptio 
bei  einem  Dritten,  vielleicht  ganz  unrecht- 
mäßigen Besitzer  völlig  ohne  Grund  sein 
würde.  Die  Stelle  ist  vielmelir  von  einem  einzelnen  An- 
spruch des  wahren  Erben,  z.  B,  gegen  einen  Erbschafts- 
schuldner zu  erklären  usw."  In  den  hervorgehobenen 
Worten  zeigt  sich  aufs  deutlichste  das  tiefe  Mißverständ- 
nis, das  über  die  doli  exceptio  im  Erbrecht  herrscht. 
Savigny  meint  also,  daß,  weil  und  wenn  der  dritte  Be- 
sitzer noch  weniger  im  Recht  wäre  als  der  die  here- 
ditatis petitio  Anstellende,  die  doli  exceptio  gegen  diese 
Klage  seitens  eines  solchen  Besitzers  völlig  grundlos  wäre, 
d.  h.  er  faßt  den  dolus  und  die  doli  exceptio  im  Erb- 
recht als  das  auf,  was  diese  Institute  sonst  sind,  näm- 
lich als  auf  einem  Verhältnis  des  Klägers  zum 
Verklagten  beruhend.  Allein  dies  ist  durchaus 
nicht  der  Fall!  Im  Erbrecht  beruht  der  dolus  ledig- 
lich auf  dem  Verhältnis  des  Erben  zu  seinem  Erb- 
lasser. Wer  die  hereditatis  petitio  anstellt  oder  sich 
sonst  als  Erben  geriert,  behauptet  sich  als  den  Willens - 
darsteiler  des  Erblassers  und  als  Willens- 
identität mit  ihm.  Und  wer  nun,  indem  er  dies  be- 
hauptet^), einen  anderen  als  den  erblasserischen  Willen 


^)  System,   III.  378.  Note  c. 

")  Oder  indem  er  zwar  sich  nicht  selbst  als  Identität  mit 
dem  Erblasser  geltend  macht,  doch  den  Willen  desselben  als 
einen  nach  dem  Tode  wirkenden  mid  noch  fortexistieren- 
den in  Anspruch  nimmt,  d.h.  ein  Legat  fordert  (s. 
Nr.   XIV  fg.). 

442 


zur  Ausübung  bringen  will,  begeht  dadurch  die  Lüge 
und  die  falsche  Vorspiegelung  des  dolus,  daß 
er,  diese  Identität  und  diese  Fortdauer  jener  Willens- 
subjektivität vor  sich  hertragend,  sie  innerlich  vielmehr 
verneint,  sich  als  nicht  willensidentisch  mit  ihr  betätigt, 
und  resp.  jenen  Willen  als  einen  nichtmehrseienden 
behandelt.  Er  will  also  auch  nicht  einmal  —  gleichviel 
selbst,  ob  er  es  nach  anderen  Seiten  hin  ist  oder  nicht  — 
der  identische  Willensfortsetzer  dieser  Willenssubjektivi- 
tät sein,  sondern  statt  dies  zu  wollen,  will  er  sie, 
diese  Behauptung  bloß  zu  einem  Vermögenserwerb  miß- 
brauchend, durch  Abänderung  ihres  Willens  vielmehr 
negieren.  Diese  betätigte  Nichtidentität  bei  der,  somit 
gegen  besseres  Wissen,  behaupteten  Willens- 
identität mit  dem  Erblasser,  dieser  innere  Be- 
trug —  dies  allein  ist  der  erbrechtliche  Dolus.  Der 
begriffliche  Schwerpunkt  der  Stelle  ruht  daher  in  den 
Worten:  heres  qui  non  habet  voluntatem.  Wie  versteht 
Savigny  diese  Worte  ?  Offenbar  so :  qui  non  habet  volun- 
tatem testatoris,  i.  e.  der  Erbe,  der  den  Willen  des 
Testators  nicht  für  sich  hat,  ihm  diesen  oder  jenen 
„einzelnen  Anspruch"  zu  gewähren.  (Während  vielmehr, 
wer  einmal  den  Willen  des  Erblassers  für  sich  hat, 
Darstellung  seines  Willens,  Erbe  zu  sein,  ihn 
zu  der  Berechtigung  für  dies  und  jenes  Einzelne 
als  Titel  für  seine  Forderung  gar  nicht  mehr  braucht, 
da  ihm  dasselbe  vielmehr  nun  auf  Grund  seiner  all- 
gemeinen Qualität,  Willensdarsteller  des  Toten  zu 
sein,  gehört,  wie  die  Akkreszenz  und  so  vieles  andere 
zeigt.)  Die  Worte  heres  qui  non  habet  voluntatem  sind 
vielmehr,  um  wahrhaft  verstanden  zu  werden,  zunächst 
spekulativ  zu  nehmen:  der  Erbe,  der  zuvörderst  selbst 
nicht    den    Willen    hat,    Willenserhalter    des 

443 


Toten,  wahrer  Erbe  zu  sein,  da  er  ja  gegen  dessen 
Willen  angeht.  Und  freilich  hat  er  eben  deshalb  auch 
nicht  den  Willen  des  Testators  für  sich,  sondern 
muß  ihn  sich  gegenüber  haben ;  aber  nicht  im  Sinne  eines 
nicht  gebenden  und  gewährenden,  sondern  eines  nicht  in 
ihm  vorhandenen  Willens  ist  dies  zu  nehmen.  Man 
könnte  zur  größeren  Deutlichkeit  frei  übersetzen:  ,,Der 
Erbe,  insoweit  er  nicht  den  Willen  des  Testators  in 
sich  hat,  wird  durch  die  exe.  doli  mali  zurückgeworfen." 
Die  Stelle  des  Ulpian  geht  daher  allerdings  eben- 
sowohl auf  die  Aktion  der  hereditatis  petitio  seitens 
eines  solchen,  der  sich  ohne  den  Willen  des  Erblassers 
für  den  Erben  ausgibt,  als  gegen  den  einzelnen,  den  erb- 
lasserischen Willen  verletzenden  Anspruch  des  wirklichen 
Erben.  Sie  umfaßt  beides,  und  beidemal  bleibt  das 
Recht  des  dritten  Besitzers  und  das  relative  Ver- 
hältnis beider  zueinander  ganz  aus  dem  Spiel. 
Der  Aktionierende  muß  von  dem  dritten  Besitzer  mit 
der  doli  exceptio  zurückgeworfen  werden  können,  und 
wenn  dieser  letztere,  möchten  wir  sagen,  ut  latro  besäße. 
Denn  einen  erbrechtlichen  dolus  begehrt  dieser  letz- 
tere noch  immer  nicht;  er  braucht  nicht  zu  behaup- 
ten, daß  er  Erbe  sei;  er  wirft  die  Aktion  des  Erbklägers 
durch  den  Nachweis  jenes  erbrechtlichen  Dolus  zurück 
und  schützt  sich  dadurch  vorläufig  im  Faktischen  seines 
Besitzes,  ohne  daß  die  Beschaffenheit  seines  Rechtes 
auch  nur  zur  Sprache  zu  kommen  hat.  Und  wollte  jemand 
dies  noch  bestreiten,  so  ist  Papinian  der  Scharfe  da,  um 
für  uns  zu  zeugen.  Er  erklärt,  daß  die  Legatare,  die 
schon  bei  unförmlichem  Widerruf  des  Legates  durch  die 
doli  exceptio  zurückgeschlagen  werden,  dies  auch  in  dem 
Falle  werden,   wenn  der  Erbe  selbst  unförmlich  — 

444 


und  deshalb  unwirksam  —  widerrufen  Vv^urde^),  und 
also  den  faktischen  Willen  des  Erblassers,  den  er  gerade 
in  jener  Exzeption  gegen  die  Legatare  geltend  macht, 
doch  ebensowenig  in  sich  hat.    Und  hierauf  fährt  Papinian 


^)  Warum  das  Legat  schon  durch  unförmlichen  Wider- 
ruf entkräftet  wird,  die  Erbeinsetzung  aber  nicht,  bedarf 
nach  allen  früheren  Erörterungen  nur  kurzer  Andeutung.  Das 
Legat  ist  (s.  Nr.  XIV)  die  Willensverfügung  über  die  Sache, 
ist  eine  einzelne  bestimmte  Äußerung  des  Willens;  die 
Erbeinsefzung  dagegen,  die  Fortexistenz  der  allgemei- 
nen Willens  Subjektivität  selbst.  Wie  diese  Fortexi- 
stenz nur  durch  die  Kraft  des  öffentlichen  Rechtes  und 
seiner  Formen  hervorgebracht  werden  kann,  weil  der  ein- 
zelne nur  durch  seinen  Anteil  am  öffentlichen  Volks- 
geiste die  Fähigkeit  dieser  Hervorbringung  überhaupt  hat, 
so  kann  die  einmal  hervorgebrachte  auch  nur  einer  von 
derselben  Kraft  getragenen  ausdrücklichen  Auf- 
hebung weichen.  Ist  also  ein  Testament  vorhanden,  so 
muß,  um  die  Erbeinsetzung  zu  entkräften,  ein  zweites 
von  denselben  Formen  des  öffenllichen  Rechtes  getragenes  Te- 
stament vorhanden  sein.  Es  ist  in  dieser  Hinsicht,  wie  bei  dem 
suus,  der,  weil  er  einmal  von  selbst  Erbe  ist,  auch  durch 
ausdrückliche  exheredatio  aufgehoben  sein  muß, 
um  nicht  da  zu  sein  (Nr.  XXIV).  Oder  es  zeigt  sich  hier 
nur  von  neuem,  was  wir  häufig  hervorgehoben  haben  (vgl.  Nr.  X, 
VIII,  XV),  daß  das  Erb  tum  nicht  Produkt  des  bloß  fak- 
tischen Willens  und  seines  Konsenses  ist,  weil  es  eben  nicht 
bloß  Sache  und  Hervorbringung  des  bloßen  privaten  Willens, 
sondern  juris  publici  ist.  Das  Legat  dagegen,  als  die  bloß 
einzelne,  über  eine  Sache  sich  erstreckende  Willensäußerung, 
bedarf,  als  ein  über  den  Tod  hinaus  existieren  sollendes 
und  somit  mit  jener  Willensunsterblichkeit,  die  nur  das 
Produkt  und  die  Substanz  des  Volksgeistes  ist,  verknüpftes 
Dasein  des  Willens,  deshalb  zwar  zu  seiner  Hervorbrin- 
gung der  Kraft  des  öffenthchen  Rechtes  und  der  Solenni- 
täten  des  Testamentes,  nicht  aber  zu  seiner  Beseitigung. 
Denn  da  bei  der  letzteren  die  Willensäußerung  jener  meta- 

445 


ausdrücklich  so  fort :  „Cujus  exceptionis  vires  ex  persona 
petentis  aestimantur  et  alioquin  potior  est  in  re  pari  causa 
possessoris'^)."  Bei  der  bekannten  Kürze  des  Papinian 
ist  in  diese  Worte  alles  zusammengedrängt,  was  wir  soeben 
gesagt  haben.  Ex  persona  petentis  wird  die  Kraft  der 
doli  exe.  beurteilt,  d.  h.  das  Recht  des  Verklagten 
selbst  soll  dabei  gar  nicht  in  Betracht  kommen,  ob- 
gleich er  in  dem  von  Papinian  dort  gesetzten  Falle  als, 
obwohl  unförmlich,  widerrufener  Erbe,  doch  ebensosehr 
gegen  den  faktischen  Willen  des  Erblassers  handelt, 
gegen  den  zu  handeln  er  dem  aktionierenden  Legatar  durch 
die  doli  exe.  gerade  vorwirft.  Potior  est  in  re  pari  causa 
possessoris,   d.  h.    wenn   beide   nicht   den   Willen    des 

physischen  Fortexistenz  über  den  Tod  hinaus  bloß  nicht 
teilhaftig  werden  soll  (die  Legatsverfügung  fällt  bloß  fort, 
ohne  in  eine  andere  überzugehen),  so  ist  auch  der  Grund 
nicht  mehr  vorhanden,  jene  Kraft  des  öffentlichen  Rechtes 
und  seiner  Formen  anzurufen;  zum  Nichtfort wirken  des 
Willens  über  den  Tod  hinaus  wäre  der  öffentliche  Volksgeist, 
sein  Recht  und  seine  Formalitäten  nicht  erforderlich.  Hier 
zeigt  sich  also  der  tiefe,  bisher  niemals  ins  Auge  gefaßte  Un- 
terschied, warum  der  formlose  Wille  zur  Beseitigung  des 
Legates  ausreichen  muß,  zu  seiner  Hervorbringung  nicht 
ausreichen  kann.  Es  kann  daher  der  Gegensatz,  der  zwischen 
Legat  und  Erbtum  hierin  stattfinden  muß,  auch  so  ausgedrückt 
werden:  Bei  dem  formlosen  Widerruf  des  Legates  geht  diese 
Willensverfügung  nicht  In  eine  andere  über,  sondern  fällt 
ganz  fort,  wie  wir  soeben  schon  hervorhoben.  Beim  Wider- 
ruf des  Erben  dagegen  hört  nicht  die  Willensfortexistenz 
des  Erblassers  auf,  sondern  es  tritt  nur  ein  anderer  Erbe  an 
seine  Stelle,  der  Intestaterbe.  Einen  Erben  widerrufen,  heißt 
daher  immer  einen  Erben  hervorbringen  und  einsetzen, 
und  kann  daher  nicht  durch  formlosen  faktischen  Willen  ge- 
schehen, —  Dies  Ist  die  Erklärung,  die  wir  Savigny,  III,  378, 
entgegenzusetzen  haben. 

1)  L.  36,  §  3,  de  test.  mil.  (29,  1). 

446 


Erblassers  für  sich  anführen  können,  so  schlägt  das  Faktum 
des  Besitzes  als  solches  durch.  Wenn  man  dies  aber  gleich- 
wohl noch  weiter  bestritte,  so  ist  die  Entscheidung  des 
Julian  und  Ulpian  über  einen  ebenso  feinen  wie  kompli- 
zierten Fall  da,  die  aber  eben  hierdurch  auf  das  schärfste 
beweist,  daß  nichts  anderes  als  der  von  uns  ent- 
wickelte Begriff  den  erbrechtlichen  dolus  konstituiert. 
Einer  ist  ex  uncia  zum  Erben  eingesetzt,  aus  welcher 
Einsetzung  er  200  erhalten  würde.  Zugleich  hat  ihm 
aber  der  Testator  ein  Legat  von  100  vermacht.  Die  Be- 
schwerden der  Erbschaft  scheuend,  zieht  er  das  Legat 
vor  und  schlägt  aus.  Wird  er  jetzt  das  Legat  fordern 
können,  oder  durch  die  exe.  doli  abgewiesen  werden^)? 
,,Et  ait  Julianus,  non  esse  eum  summovendum" ;  aber, 
fährt  er  fort:  „Quodsi  a  substituto  pretium  accepit,  vel 
quod  pretii  loco  haberi  posset,  ne  adeat  hereditatem,  petens 
legatum,  dolo,  inquit,  facere  intelligetur  ac  per  hoc  doli 
exceptione  repelletur."  Daß  aber  in  dem  ersten  Falle 
Julian  und  Ulpian  sich  auch  nur  die  Frage  aufwerfen 
können,  ob  hier  die  doli  exceptio  begründet  sei,  beweist 
unwidersprechlich,  daß  der  erbrechtliche  dolus  ledig- 
lich in  dem  aufgezeigten  Verhältnis  des  Erben 
zum  Erblasser  besteht.  Denn  wie  würde  dem  sub- 
stituierten Erben  gegenüber  der  ausschlagende 
Erbe  bei  der  Legatforderung  auch  nur  im  geringsten  in 
den  Verdacht  eines  dolus  kommen  können  ?  Offenbar  in 
keiner  Weise.  Denn  diesem  gegenüber  hat  er  nur  von 
seinem  unzweifelhaften  Rechte  Gebrauch  gemacht,  aus- 
zuschlagen, und  macht  von  einem  ebenso  unzweifelhaften 
Rechte  Gebrauch,  indem  er  nun  das  ihm  als  Nichterben 
zustehende  Legat  fordert.   Es  wäre  also  die  bloße  Frage, 

^)  Ulpian.   L.   4,   §    11,  de  dol.   exe.    (44,   4)    „.  .  .   an   si 
legatum  petat,  exceptione  doli  mali   summoveatur  ?" 

447 


ob  hier  ein  dolus  vorliege,  schlechthin  unbegreiflich. 
Besteht  aber  der  erbrechtliche  dolus  in  dem  erörterten 
Verhalten  des  Erben  zum  Erblasser,  so  kann  die  Frage 
allerdings  entstehen.  Denn  indem  der  Erbe  das  deferierte 
Erbtum  ausschlug,  hat  er,  soviel  an  ihm,  die  Fort- 
dauer des  erblasserischen  Willens  ausgeschlagen 
und  verneint.  Wie  kann  er  also  diesen  Willen,  dessen 
allgemeine  Fortexistenz  er  verneint  hat,  im  einzelnen 
als  einen  für  ihn  fortexistierenden  in  Anspruch 
nehmen,  d.h.  ein  Legat  reklamieren?  Hier  also  gerät 
er  allerdings  in  die  Gefahr  jenes  inneren  Widerspruches 
und  jener  geistigen  Lüge,  die  wir  oben  als  den  Begriff 
des  Erbdolus  auseinandergesetzt  haben.  Es  ist  aber  zu 
sagen,  daß  der  ausschlagende  Erbe  dennoch  das  Legat 
begehren  könne.  Denn  indem  ihm  der  Testator  die  Erb- 
schaft übertrug,  ihm  aber  auch  einen  Substituten  gab 
und  ihm  ein  Legat  vermachte,  hat  er  ihm  selbst  zwei 
Eigenschaften  übertragen  —  Erbe  und  Legatar  — ,  die 
sich  nicht  nur  nicht  bedingen,  sondern  sogar  im  Gegen- 
satz zueinander  stehen  (s.  VII  u.  XIVfg.).  Der 
Testator  selbst  hat  ihm  also  für  den  Fall  seines 
Ausschiagens  des  Erbtums  das  Legat  übertragen;  er  hat 
ihm  selbst  die  Willensfreiheit  eingeräumt, 
sich  nach  eigenem  Willen  für  eines  von  beiden  zu 
entscheiden,  und  indem  er  sich  also  nach  seinem 
eigenen  Willen  entscheidet,  handelt  er  jedesmal  in 
Übereinstimmung  mit  dem  Willen  des  Erblassers,  und 
negiert  diesen  nicht.  Er  kann  das  Legat  also  fordern, 
und  nun  wird  aber  auch  klar  sein,  warum  er  es  in  dem 
zweiten  Fall,  wenn  er  sich  von  dem  substituierten  Erben 
zur  Ausschlagung  der  Erbschaft  hat  erkaufen  lassen, 
nicht  kann.  Wo  kommt  hier  der  dolus  her?  Den  sub- 
stituierten Erben  gegenüber  könnte  von  einem  solchen  keine 

448 


Rede  sein.  Denn  nichts  wäre  ein  gröberes  Mißverständ- 
nis, als  zu  glauben,  daß  Ulpian  und  Julian  unterstellen, 
es  sei  in  dem  von  ihnen  vorausgesetzten  Falle  ausdrück- 
liebe oder  auch  nur  stillschweigende  Willensmeinung 
zwischen  dem  substituierten  und  dem  ausschlagenden  Erben 
gewesen,  letzterer  solle  auch  das  Legat  nicht  haben, 
wodurch  dann  ein  gewöhnlicher  Dolus  des  letzteren  gegen 
den  ersteren  entstände.  Kein  Wort  des  Textes  läßt  eine 
solche  Voraussetzung  zu,  und  es  wäre  auch,  wenn  man 
dieselbe  machte,  die  Weise,  in  der  Ulpian,  sich  auf  Julian 
berufend,  den  dann  ganz  trivialen  und  nicht  fraglichen  Fall 
behandelt,  ganz  unmöglich.  Es  ist  vielmehr  scharf  auf- 
zufassen, daß  der  Substitutus  bloß  gewollt  hat,  der  Erbe 
solle  das  Erbtum  ausschlagen.  Er  hat  dann  sogar  selbst 
notwendig  den  Erben  als  Legatar  gewollt,  denn  er  wollte 
diese  Erbschaft  aus  diesem  Testament,  also  auch  mit 
allen  darauf  haftenden  Legaten  erwerben,  und  der  erste 
Erbe  wird  eo  ipso  durch  sein  Ausschlagen  der  Erbqualität 
zum  Legatar.  Dem  Substituten  gegenüber,  dessen  Wille 
sogar  auf  seiner  Seite  steht,  kann  also  von  einem  dolus 
des  das  Erbtum  Ausschlagenden  gar  keine  Rede  sein. 
Aber  der  dolus  ist  hier  zwischen  diesem  ausschlagenden 
Erben  und  dem  Erblasser  nun  wirklich  da.  Denn 
diesmal  hat  der  Erbe  nicht  von  jener  eigenen 
Willensfreiheit  Gebrauch  gemacht,  die  ihm  der 
Testator  selbst  einräumte,  und  durch  deren  Aus- 
übung er  daher  in  jedem  der  beiden  Fälle  in  Über- 
einstimmung ist  mit  dem  Willen  des  Testators.  Son- 
dern indem  er  sich  von  einem  dritten  Willen  er- 
kaufen ließ  —  dem  des  Substituts,  der  in  dem  ge- 
schlossenen Verhältnis  zwischen  ihm  und  seinem  Erblasser 
nichts  zu  tun  hat  und  ein  Fremder  ist  —  und  von 
diesem  bezahlt  die  Willenserhaltung  des  Testators  aus- 

7  LassaUe.  Ge..  Sckriften.  Band  XU.  449 


schlug,  hat  er,  soviel  an  ihm  ist,  die  Willensfortdauer 
desselben  überhaupt  negiert.  Nicht  in  Kongruenz 
mit  dem  Testator  nach  dem  ihm  von  diesem  ein- 
geräumten urselbständigen  eigenen  Wollen  hat  er  sich 
entschieden  und  optiert,  sondern  einen  fremden  Willen 
hat  er  zum  Entscheidenden  gemacht,  ihn  zum  Richter 
darüber,  ob  und  wie  dieser  Wille  überhaupt  fort- 
existieren solle.  Er  hat  also,  soviel  an  ihm  ist,  die  Willens- 
fortdauer des  Erblassers  entschieden  negiert.  Wegen  dieses 
begrifflichen  Verrates  ist  der  dolus  da,  jener  innere 
Widerspruch  gegen  die  Fortdauer  des  erblasserischen 
Willens,  aus  dem  nur  ein  äußerer  Vorteil  gezogen  werden 
soll.  Da  er  die  Fortdauer  dieses  Willens,  soviel  an  ihm 
ist,  negiert  hat,  so  kann  er  nun  auch  diesen  Willen  nicht 
als  einen  für  ihn  fortexistierenden,  d.  h.  ihm 
legierenden,  in  Anspruch  nehmen. 

Nur  aus  dieser  Auffassung  des  bisher  so  gänzlich 
mißverstandenen  erbrechtlichen  dolus  ist  nun  auch  das 
Reskript  des  Kaisers  Antonius  erst  wahrhaft  zu  verstehen, 
dessen  Kenntnis  wir  Gajus,  II,  §  120,  verdanken,  daß 
dem  bonorum  possessor  secundum  tabulas  stets  die  ex- 
ceptio doli  gegen  die  Intestaterben  zustehen 
soll.  Es  ist  nämlich,  wie  wir  dies  bei  der  gesamten 
historischen  Bewegung  überall  nachgewiesen  haben,  jeder 
Schritt  derselben  in  der  späteren  Zeit  nur  zu  verstehen, 
wenn  gleichmäßig  ins  Auge  gefaßt  wird,  wie  durch 
denselben  der  spekulative  Begriff  des  alten  Zivilrechtes 
ebenso  aufgegeben,  als  in  diesem  Aufgeben 
noch  festgehalten  wird.  Der  durch  das  mangel- 
hafte Testament  begründete  bonorum  possessor  secundum 
tabulas  ist,  wie  wir  gesehen  haben  (vgl.  Nr.  V),  über- 
haupt nicht  Willenserbe  —  die  fehlerhafte  Form 
nahm  dem  Willen  die  nur  im  öffentlichen  Recht  liegende 

450 


Kraft  jener  übernatürlichen  Kontinuierung  — ,  sondern 
er  ist  nur  Vermögensnehmer,  und  muß  daher  im 
älteren  Recht  jedem  zivilistischen  Willenserben 
nachstehen,  kann  sich  also  nur  behaupten,  wenn  kein 
Intestaterbe  da  ist  (Gajus,  II,  119  ;  Ulpian.  Fr.  XXIII,  6). 
Je  mehr  aber  jene  oft  geschilderte  Bewegung  sich  voll- 
bringt, daß  das  Erbtum,  seinen  spekulativen  Begriff 
veräußerlichend,  sich  mit  dem  Vermögensempfang 
identifiziert,  desto  mehr  muß  nun  der  bonorum  possessor 
den  zivilistischen  Erben  schlagen.  Allein  diese  Bewegung 
vollzieht  sich  selbst  wieder  immer  unter  Anknüpfung 
und  Festhaltung  des  spekulativen  zivilrechtlichen  Erb- 
begriffes. Denn  der  bonorum  possessor  secundum  tabulas, 
der  selbst  nicht  zivilistischer  Willenserbe  ist  und  dies 
nicht  zu  sein  braucht,  schlägt  jetzt  den  Intestaterben,  indem 
er  ihm  den  Widerspruch  vorwirft,  daß  er  gegen  den 
Willen  angehe,  dessen  Fortsetzung  zu  sein 
er  vorgebe,  d.h.  Erbdolus  begehe.  Dieser  Vor- 
wurf hat  somit  sein  Fundament  und  seine  Möglichkeit 
wieder  nur  durch  Rekurrieren  auf  den  spekulativen  Erb- 
begriff, der  daher  —  und  dies  ist  das  echt  Spekulative 
dieser  historischen  Bewegung  —  ebensosehr  in  ihr  mäh- 
lich aufgegeben,  als  immer  noch  festgehalten  wird.  — 
Zugleich  ist  diese  exe.  doli  gegen  den  Intestaterben  ein 
entscheidender  Beweis  für  unsere  Darstellung  des 
Erbdolus  und  des  spekulativen  Erbbegriffes 
überhaupt.  Denn  ohne  diese  würde  niemals  abzu- 
sehen sein,  und  ist  deshalb  auch  noch  nie  abgesehen  worden, 
warum  denn  ein  gesetzlicher  Erbe  gerade  einen  dolus 
begehe,  wenn  er  bei  dem  Nichtvorhandensein  eines  ge- 
setzlich gültigen  Testamentes  das  ihm  vom  Gesetz  zu- 
gesicherte Vermögen  des  Toten  in  Anspruch  nimmt; 
und  warum  er  jetzt  plötzlich  einen  dolus  begehen  soll, 

?•  451 


nachdem  derselbe  solange  durch  das  Zivilrecht  selbst 
sanktioniert  worden.  Es  ist  also  dieses  bestimmte, 
dem  bonorum  possessor  gegebene  Mittel  ohne  das  Obige 
gar  nicht  zu  begreifen.  —  Zugleich  zeigt  sich  hier  auch 
die  Richtigkeit  unserer  Auslegung  der  Stelle  des  Ulpian 
(oben  S.  442 fg.)  gegen  Sa\igny.  Denn  dieser  Intestat- 
erbe ist  ein  solcher  heres,  qui  non  habet  voluntatem,  und 
dessen  hereditatis  petitio  daher  durch  die  exe.  doli  zurück- 
geworfen \vird. 


XXXVI.    Einzelne  Folgerungen.    Die  heredita- 
tis   petitio.     Die    persönlichen    Rechte.     Die 
Stellung  des  Irrtums  im  Gebiet  des  Erbrechtes 
überhaupt. 

Wir  haben  der  hereditatis  petitio  Erwähnung  getan, 
und  es  mag  hier  bloß  darauf  hingedeutet  werden,  wie 
sich  erst  jetzt  die  Schwierigkeiten,  welche  diese  Aktion 
darbieten  mußte,  beseitigen.  Man  hat  sie  vorwiegend  für 
eine  dingliche  (!!)  Aktion  ausgegeben,  dann  auch 
wieder,  wegen  des  jus  succedendi,  für  eine  persönliche, 
und  endlich  für  eine  gemischte  Aktion.  Es  muß  jetzt 
auf  der  Hand  liegen,  daß  sie  keines  von  allen  dreien  ist. 
Es  ist  eine  rein  übernatürliche  Aktion,  eine  Aktion 
sui  generis.  Der  Richter  soll  feststellen,  daß  in  der 
Willenssubjektivität  des  Klägers  diejenige  des 
Toten  fortexistiert,  daß  der  "Wille  von  A  der  Wille 
von  B  sei.  In  dem  Sinne  ist  also  die  hereditatis  petitio 
eine  vindicatio,  daß  der  Erbe  auf  Grund  der  statt- 
gehabten  Identifizierung  jene   Willenssubjektivität, 

452 


die  aber  nichts  Dingliches  ist,  als  die  seinige 
vindiziert;  nicht  aber  in  dem  Sinne,  wie  man  es 
gerade  gewöhnlich^)  versteht,  daß  er  durch  die  here- 
ditatis  petitio  die  Objekte  der  Erbschalt  vindiziert. 
Denn  die  hereditatis  petitio  geht  nur  auf  die  Anerken- 
nung jenes  geistigen  Identitätsverhältnisses. 
Ist  er  aber  einmal  in  dieser  Identität,  ist  er  als  Erbe 
anerkannt,  so  gehören  ihm  diese  Objekte  jetzt  nicht  als 
Erben,  d.h.  auf  Grund  dessen  als  eines  besonderen 
Erwerbstitels,  sondern  —  dies  muß  durchaus  unterschieden 
werden  —  als  ursprünglichem  Eigentümer -).  Am 
deutlichsten  tritt  dieser  Unterschied  darin  heraus,  daß 
die  res  judicata  über  die  hereditatis  petitio  dem  Kläger 
nicht  bloß  das  Recht  über  die  eingeklagten  Ob- 
jekte, sondern  auch  über  die  nicht  eingeklagten  Objekte 
des  Erblassers  gibt  und  ihn  zu  ihrer  Vindikation  befähigt. 


^)  So  sagt  z.B.  Vangerow,  Pandekten,  I,  190:  Zu  den 
dinglichen  Rechten  gehöre:  1.  Eigentum,  2.  Freiheit, 
3.  Erbrecht,  , .wobei  man  sich  nur  hüten  muß,  an  das  jus 
succedendi  zu  denken,  sondern  es  ist  hier  darunter  das  Recht 
zu  verstehen,  welches  für  jemand  nach  gemachtem  Erb- 
schaftserwerb an  dem  Universum  jus  defuncti  erwächst,  und 
welches  mit  einer  sehr  eigentümlichen  dinglichen  Klage,  der 
hereditatis  petitio,  verknüpft  ist."  Ganz  im  Gegenteil,  gerade 
das  Recht,  jemandem  Erbe  zu  sein,  also  das  jus  succedendi 
und  das  Recht,  diese  Identität  anerkannt  zu  sehen,  wäre 
die  Vindikation,  die  der  hered.  petit.  eigentümlich  ist. 
„Nach  gemachtem  Erbschaftserwerb"  dagegen  liegt  nicht 
mehr  Erbrecht  als  ein  drittes  und  besonderes  dingliches 
Recht,  wie  in  der  Vangerowschen  Aufzählung,  vor,  sondern 
gewöhnliches  Eigentumsrecht,  und  als  solcher  ursprüng- 
hche  Eigentümer  besitzt  und  vindiziert  er  jetzt  alles  zum  jus 
defuncti  Gehörende. 

2)  Inst.  §  7  de  her.  quäl.  (2,  19):  Veteres  enim  heredes 
pro  dominis  appellabant :  vgl.  S.  305  und  Note   1   das. 

453 


So  wenig  stellt  das  Erbrecht  einen  Erwerb  an  den 
Vermögensobjekten  dar,  daß,  während  ein  solcher 
nach  römischem  Recht  nie  ohne  den  Willen  des  Er- 
werbenden möglich  ist,  auch  die  ihm  vom  Erblasser  nicht 
übertragenen  Vermögensteile  dem  Erben  durch  Akkreszenz 
sogar  wider  seinen  Willen  angehören.  Gajus,  L.  53, 
§  1,  eod.  tit.  (29,  2)  :  ,,Qui  semel  aliqua  ex  parte  heres 
extiterit,  deficientium  partes  etiam  invitiis  excipit,  id  est, 
tacite  ei  deficientium  partes  etiam  invito  accrescunt"  Da 
er  eben  der  ursprüngliche  Eigentümer  ist,  so 
kann  er  es  nicht  einmal  durch  seinen  Willen  ändern,  daß 
ihm  sein  Eigentum  gehört,  nur  entäußern  kann  er 
sich,  wie  jeder   Eigentümer,   desselben. 

Wir  sagen  also,  steht  jene  Identität  der  Willenssubjek- 
tivität fest,  so  ergibt  sich  dann  hieraus  als  Folge  — 
aber  nur  als  solche  —  die  angebliche  successio  in  Uni- 
versum jus  defuncti ;  aber  zugleich  ergibt  sich  hier  auch 
der  bestimmte  Umfang  der  Rechte,  die  vererbt  werden 
können,  da,  trotz  des  geläufigen  Ausdruckes :  successio 
in  omne  oder  in  Universum  jus  defuncti  alle  Rechte  doch 
nicht  vererbt  werden  können,  die  persönlichen  Rechte 
nämlich  nicht,  diejenigen,  quibus  personae  conditio  locum 
facit  (s.  Bd.  I,  S.  715.  und  oben  S.  22fg.).  Es  muß 
aber  jetzt  auch  klar  sein,  warum.  Denn  da  nicht  die 
natürliche  Person,  sondern  nur  der  subjektive  Wille 
durch  die  Erbtumsunsterblichkeit  perpetuiert  wird  und 
werden  soll,  so  können  nur  solche  Rechte  auf  den  Erben 
übergehen,  welche  Gegenstand  der  Willensherrschaft 
des  Erblassers  und  ihr  unterworfen  waren,  nicht  aber 
solche  Befugnisse,  welche  nur  aus  Qualitäten  des 
Erblassers  herfließen,  d.  h.  die  rein  persönlichen 
Rechte  und  Fähigkeiten,  die  deshalb  auch  während 
seiner  Lebenszeit  nicht  von  ihm  übertragen  werden  konnten 

454 


und  also,  obgleich  seiner  Person  anklebend,  nicht  Ob- 
jekte seines  subjektiven  Willens  waren.  Weil  aber 
das  Erbtum  selbst  wieder  ein  persönliches  Verhältnis 
des  Erben  zum  Erblasser  darstellt,  so  folgt  beiläufig 
daraus,  daß  es  in  demselben  wieder  Rechte  geben  muß, 
die  nur  der  Person  des  Erben  inhärent,  aber 
nicht  ein  seiner  Willensherrschaft  unterworfenes  Objekt 
sind.  Ein  solches  Recht  ist  z.  B.  das  Recht  des  Erben, 
in  dem  sepulcrum  hereditarium  des  Erblassers  begraben 
zu  werden,  während  er  auf  andere  Personen  dies  Recht 
nicht  übertragen   kann^). 

Ebenso  ergibt  sich  jetzt,  und  hat  sich  von  selbst  lange 
ergeben,  der  wahre  Sinn  der  Persönlichkeit  der  here- 
ditas  jacens  (s.  oben  S.  30fg.);  denn  es  ist  überhaupt 
ja  nicht  das  Vermögen,  welches  der  Inhalt  des  Erbtums 
ist,  sondern  es  ist  die  W  i  1 1  e  n  s  s  u  b  j  e  k  t  i  v  i  t  ä  t  des 
Toten,  welche  durch  es  erhalten,  gegen  jeden  Unter- 
gang gewahrt  sein  soll.  Darum  existiert  sie  unmittelbar 
nach  dem  Tode  weiter  fort  in  dem  erst  später  sich  offen- 
barenden Erben,  manifestiert  sich  eben  nur  später  als 
dieser,  wohnt  ihm  bereits  von  jetzt  an  ein,  schwebt  in 
idealer  Unsichtbarkeit  über  dem  ihrer  Willensherrschaft 
unmittelbar  unterworfenen  Teile  der  Außenwelt,  dem  Ver- 
mögen, und  kann  um  dieser  ihrer  noch  unsichtbaren  Fort- 
existenz willen  Vermögenserwerbungen  und  Willenshand- 
lungen ausüben. 

Aber  nicht  das  ganz  Selbstredende  und  keine  Schwierig- 


^)  Sondern  nur  provisorisch  hineinstellen  kann  er  sie  lassen; 
siehe  L.  6  de  relig.  (11,  7)  und  Gutherius,  De  jure  manium, 
IIb.  III.  c.  10,  p.  434  (ed.  Par.  1615).  —  Das  jus  adeundi 
(s.  Bd.  I,  S.  713  fg.)  würde  hier  nicht  angeführt  werden  können, 
da  der  Eingesetzte,  solange  er  nicht  Aditlon  geleistet,  auch 
noch  nicht  Erbe  ist. 

455 


keiten  mehr  Bietende  hier  weiter  vorzutragen,  ist  der 
Zweck  dieser  Exkursionen,  sondern  die  ausnahmslose  Herr- 
schaft des  Begriffes  in  solchen  Punkten  nachzuweisen, 
wo  noch  scheinbare  Zweifel  entstehen  und  Abweichungen 
vorzuliegen  scheinen  könnten. 

Wir  gehen  daher  jetzt  dazu  über,  mit  Bezug  auf  das, 
was  ^vir  bei  Gelegenheit  der  Adition  über  das  geistige 
Wissen  entwickelt  haben,  die  Stellung  nachzuweisen, 
welche  der  Irrtum  im  Erbrecht  überhaupt  ein- 
nimmt. 

Savigny  sagt  in  seiner  Abhandlung  über  ,, Irrtum  und 
Unwissenheit"-^):  ,, Fassen  wir  alle  diese  Bestimmungen 
zusammen,  so  müssen  wir  allerdings  bei  erbschaft- 
lichen Handlungen  dem  Irrtum  einen  größeren 
Einfluß  zuschreiben,  als  bei  Geschäften  des  gewöhn- 
lichen Verkehrs.  Allein  es  ist  doch  nur  eine  etwas 
größere  Zahl  einzelner  Fälle,  worin  der  Irrtum 
ausnahmsweise  wirkt.  Und  so  erscheint  auch  hier 
das  allgemeine  Prinzip  festgehalten  und  bestätigt,  daß  der 
Irrtum  an  sich  das  Dasein  des  freien  Willens 
nicht  ausschließt,  also  auch  den  Wirkungen  des- 
selben im  allgemeinen  nicht  im  Wege  steht." 

Es  muß  von  selbst  das  Mißliche  ins  Auge  fallen,  eine 
etwas  größere  Zahl  einzelner  und  ausnahmsweiser  Fälle, 
in  welchen  im  Erbrecht  der  Irrtum  wirken  soll,  an- 
zunehmen, ohne  auch  nur  den  Versuch  zu  machen,  irgend- 
ein gemeinschaftliches  Prinzip  aufzustellen,  aus  welchem 
diese  Ausnahmen  im  Erbrechte  in  innerer  Übereinstim- 
mung herflössen.  Allein  teils  war  dies  nicht  möglich,  so- 
lange der  Begriff  des  Erbtums  nicht  erkannt  woirde,  teils 
rächt  sich  darin  an  Savigny  notwendig  die  von  ihm  dem 


1)  System.  Bd.   III.  Beilage  VIII.  S.  384. 
456 


Irrtum  überhaupt  gegebene  und  früher  von  uns  widerlegte 
Behandlung  (s.  Bd.  I,  §  2,  B.).  In  strenger  Überein- 
stimmung mit  dem  dort  von  uns  Nachgewiesenen  haben 
wir  daher  dieser  Ansicht  Savignys  nach  zwei  entgegen- 
gesetzten Seiten  hin  gegenüberzutreten.  Einmal  der  Be- 
hauptung, daß  der  Irrtum  das  Dasein  des  freien  Willens 
nicht  ausschließe,  denn  der  Irrtum  im  Willensinhalt 
schließt  denselben  allerdings  aus.  Zweitens  dem  Schein, 
als  ob  der  Irrtum  im  Erbrecht  von  den  römischen  Juristen 
eine  irgend  andere  und  verschiedene  Behandlung  erfahre, 
als  in  anderen  Rechtsgebieten.  Wir  werden  vielmehr  sehen, 
daß  das  hier  Geltende  nur  die  genaue  und  konsequente 
Folge  der  Anwendung  desselben  in  §2,  B.  des  ersten 
Bandes  von  uns  entwickelten  Prinzips  über  Wille  und 
Irrtum  auf  den  Erbtumsbegriff  ist,  welches  auch  in 
den  anderen  Rechtsgebieten  als  das  herrschende  von  uns 
nachgewiesen  wurde,  und  daß  also  der  Wirkung  des  Irr- 
tums im  Erbrecht  durchaus  kein  ausnahmsweiser  Cha- 
rakter zukommt. 

Wir  haben  aber  bereits  in  dreifacher  Weise  die  Savigny- 
sche  Lehre  über  den  Irrtum  im  Erbrecht  widerlegt  und 
die  wahrhafte  Stellung,  welche  Irrtum  und  Unwissenheit 
auch  in  diesem  Gebiete  einnehmen,  nachgewiesen. 

Der  eine  Nachweis  liegt  in  unseren  gesamten  Aus- 
führungen über  die  doli  exceptio  (Nr.  XXXV),  speziell 
über  den  Schlußsatz  der  L.  4,  §  10  h.  t. :  ,,.  .  .  et  ideo 
heres,  qui  non  habet  voluntatem,  per  exceptionem  doli 
repellitur."  Savigny  selbst  gesteht^)  :  ,, Erklärt  man  diesen 
Satz  von  einer  Ausschließung  der  hereditatis  petitio,  so 
ist  unsere  Behauptung  —  die  Behauptung,  daß  <der 
Erbeinsetzung  in  der  Regel  ein  bloßer  Irrtum  im  Beweg- 


1)  System,  III.  378,  Note  c. 

457 


grund  nicht  schadet'>  —  widerlegt;  allein  diese  Er- 
klärung muß  verworfen  werden,  weil  die  doli  exceptio 
bei  einem  dritten,  vielleicht  ganz  unrechtmäßigen  Besitzer, 
völlig  ohne  Grund  sein  v/ürde." 

Wir  haben  aber  diesen  Einwurf  durch  die  Entwicke- 
lung  des  Wesens  der  exe.  doli  im  Erbrecht  völlig  wider- 
legt und  gezeigt,  wie  jene  Stelle  allerdings  ebensosehr 
und  vorzüglich  auf  die  Ausschließung  der  hereditatis  petitio 
selbst  bezogen  werden  muß,  als  auf  einen  einzelnen  An- 
spruch des  Erben,  und  können  daher  von  dem  Eingeständ- 
nis Savignys  Akt  ergreifen. 

Eine  zweite  fundamentale  Widerlegung  war  folgende: 
Savigny  stützt  (a.  a.  O.)  seine  Behauptung,  daß  der  Erb- 
einsetzung ,,in  der  Regel  ein  bloßer  Irrtum  im  Beweg- 
grund nicht  schadet",  überhaupt  auf  kein  anderes  Funda- 
ment als  darauf,  daß,  abweichend  von  den  Legaten,  die 
Erbeinsetzung  durch  einen  unförmlichen  Widerruf  nicht 
entkräftet  werde,  aus  welchem  Prinzip  nach  Savigny  die 
Gleichgültigkeit  des  Irrtums  im  Beweggrund  bei  der  Erb- 
einsetzung ,,klar  hervorgeht". 

Nun  stellt  aber  weder  beim  Legat  noch  bei  der 
Erbeinsetzung  der  Widerruf  einen  Irrtum  im  Beweg- 
grund des  Willens,  sondern  nur  eine  spätere  Änderung 
des  Willens  dar. 

Weder  in  dem  einen  noch  in  dem  anderen  Fall  ist 
notwendig  oder  durch  den  Widerruf  allein  ersichtlich,  daß 
der  Willensakt  beim  Legat  oder  der  Erbeinsetzung  ur- 
sprünglich durch  einen  irrigen  Beweggrund  vermittelt 
war,  sondern  der  damals  vollkommen  mit  sich  überein- 
stimmende Wille  hat  nur  einem  anderen  Willen  Platz 
gemacht. 

Nun  haben  wir  in  systematischer  Weise  gezeigt  (S.  445, 
Note  1),  warum  vermöge  der  notwendigen  Konsequenz 

458 


des  spekulativen  Begriffes  der  formlose  Widerruf  die 
Erbeinsetzung  nicht  entkräften  kann  und  das  Legat  ent- 
kräften muß.  Denn  einen  eingesetzten  Erben  widerrufen, 
heißt  immer  einen  anderen  Erben,  und  sei  es  auch  nur 
durch  bloßen  Widerruf,  den  Intestaterben  selbst,  ein- 
setzen. Die  Einsetzung  des  Willenserhalters,  die 
Zustandebringung  der  perpetuellen  Willensfortexi- 
stenz, hatte  aber  als  dieser  supranaturalistische  Akt  ihre 
sie  zustande  bringende,  produzierende  Kraft 
durchaus  nicht  in  dem  bloßen  dazu  ganz  unfähigen  Privat- 
willen, sondern  in  dem  Wesen  dieses  historischen  Volks- 
geistes, und  somit  ausschließlich  in  den  Formen  des 
öffentlichen  Rechtes  (s.  Nr.  X,  VIII.  XV).  Das 
römische  Recht,  weil  es  n  i  e  m  a  1  s  gänzlich  den  Zusammen- 
hang mit  dem  spekulativen  Begriff  seines  ursprünglichen 
jus  civile  verliert,  kann  daher  niemals,  und  selbst  nicht 
in  seiner  letzten  justinianeischen  Verkümmerung  dazu  ge- 
langen, durch  den  bloßen  formlosen  Privatwillen  eine 
Erbeinsetzung  bewirken  zu  lassen^).  Um  wieviel  dünner 
und  verblaßter  im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwickelung 
die  Formen  werden,  welche  zur  Erbeinsetzung  erforder- 
lich sind,  wie  sehr  auch  der  Begriff  jedes  lebendige  Dasein 
verliert,  und  sein  schattenhafter  Charakter  sich  ebenso  in 
den  zu  Schatten  ihrer  früheren  Körperlichkeit  herunter- 
gesunkenen Formen,  wie  in  den  von  uns  überall  nach- 
gewiesenen, inhaltlichen  Evolutionen  kundgibt,  —  die 
Form  bleibt  immer  erforderlich,  bleibt,  wie  vermöge 
einer  gewissen  ahnenden  Erinnerung  des  entschwundenen 
ursprünglichen  Begriffes  das  produktive,  den  Privatwillen 
zu    dieser    erstaunlichen     metaphysischen     Leistung    be- 


1)  Vgl.    L.   29  C.   de  testam.  et  quemadm.    (6,   23) ;   Inst, 
de  test.  ord.   (2,  10). 

459 


fähigende  Element.  Und  nie  kann  dämm  der  Widerruf 
des  Erben,  der  selbst  eine  Erbeinsetzung  darstellt,  form- 
los Wirksamkeit  haben. 

Bei  dem  Legat  aber  produziert  der  Widerruf  kein 
neues,  anderes  Legat,  d.h.  keine  neue,  nach  dem 
Tode  wirkende  Äußerung  des  Willens.  Nur  ver- 
zichtet wird  auf  eine  solche.  Um  aber  nach  dem  Tode 
eine  Willensverfügung  nicht  vorzunehmen,  um  einen 
Willensakt  nach  dem  Tode  nicht  stattfinden  zu  lassen, 
dazu  braucht  der  Privatwille  keine  produktive  Kraft  aus 
dem  Wesen  des  öffentlichen  Geistes  zu  schöpfen ;  dies 
ist  vielmehr  das  natürliche  und  an  und  für  sich  vorhandene 
Verhältnis,  und  dazu  ist  idaher  auch  der  Privatwille  — 
und  deshalb  auch  jeder  formlose  Wille  —  voll- 
kommen sich  selbst  genug. 

Bei  dem  Legat  muß  daher  entstehen,  was  vollständigster 
Widerspruch  für  den  Verstand,  vollständigste  Harmonie 
für  den  Begriff  ist,  daß  es  nur  formell  verliehen  und 
formlos   widerrufen   werden   kann. 

Freilich  war  es  nicht  möglich,  diesen  Nachweis  zu 
führen,  ohne  daß  die  produktive  Kraft  der  Form 
und,  was  hierzu  wieder  erforderlich,  der  spekulative  Erb- 
tumsbegriff  überhaupt  erkannt  war.  Aber  nachdem  er  nun 
einmal  geführt  ist,  ist  das  ganze  und  einzige  und  von 
ihm  selbst  als  solches  eingestandene  Fundament  für  die 
Ansicht  Savignys  über  die  Einflußlosigkeit  des  Irrtums 
im  Beweggrund  bei  der  Erbeinsetzung  vollständig  beseitigt. 

Ein  dritter  und  systematischer  Beweis  über  die  Stellung 
des  Irrtums  im  Gebiete  des  Erbrechtes  ist  aber  durch 
alles  das  geliefert,  was  wir^)  über  das  zur  Adition 
erforderliche  Wissen  bereits  nachgewiesen  haben. 


1)  Siehe  Nr.  XXXIV. 
460 


Es  karxn  unsere  Absicht  nicht  sein,  das  dort  Entwickelte 
hier  zu  wiederholen.  Sieht  man  aber  auf  dasselbe  zurück 
und  betrachtet  es  jetzt  unter  dem  Gesichtspunkt,  inwiefern 
der  bloße  Irrtum  im  Beweggrund  die  Adition  nichtig 
macht  oder  nicht,  so  ergibt  sich  als  Resultat,  daß  auch 
jeder  Irrtum  im  Beweggrund  die  Handlung  der  Adition 
dann  wirkungslos  macht,  wenn  der  irrige  Beweggrund 
den  ganzen  Inhalt  des  Willens  deckt  und  erschöpft,  so 
daß  sich  also  auch  hier  genau  die  Theorie  be- 
stätigt, welche  wir  in  Bd.  I,  S.  180—196,  über  die 
Einwirkung  des  irrigen  Beweggrundes  nachgewiesen  haben ; 
und  schon  in  der  Darstellung  der  Aditionsmaterie  haben 
wir  diese  Übereinstimmung  häufig  deutlich  genug  hindurch- 
leuchten lassen. 

Trete  ich  die  Erbschaft  an,  weil  ich  sie  irrigerweise 
für  größer  halte  als  sie  ist,  so  ist  das  ein  bloßer  Irrtum 
im  Beweggrund^).  Ich  hätte  ebensogut  trotz  dessen  und 
aus  vielen  anderen  Gründen  antreten  können.  Es  ist  nur 
eine  causa  remota  des  Willens,  aus  welcher  ich  mich 
zu  dem  Willen  der  Willensidentität  mit  dem  Toten  be- 
stimmt habe;  zu  dieser  habe  ich  mich  bestimmt,  und 
so  ist  jener  hinter  dem  Willen  liegende  Beweggrund 
(vgl.   S.  433  und  Note   1   das.)   gänzlich  einflußlos. 

Trete  ich  aber  die  Erbschaft  an,  weil  ich  sie  für  eine 
mir  testamentarisch  deferierte  halte,  während  sie  eine  mir 


^)  Es  ist  mit  anderen  Worten  ein  gänzlich  außerhalb  des 
Substantiellen.  Begrifflichen  des  Verhältnisses  liegender  Irr- 
tum. Savigny  (System,  III,  383)  sagt:  ,, Insbesondere  kann 
dem  Erben  nicht  zugute  kommen  der  vorzüglich  wichtige 
Irrtum  über  den  reinen  Wert  des  erbschaftlicacn  Vermögens." 
Dieser  für  den  Verstand  , .vorzüglich  wichtige"  Irrtum  ist  für 
den  Begriff  des  römischen  Erbtumes  und  daher  auch  für 
das  römische  Erbrecht  selbst  das  Allergleichgültigste 
und  Unwichtigsie,  was  es  gibt. 

461 


ab  intestato  deferierte  ist,  oder  weil  ich  mich  für  einen 
necessarius  heres  halte,  während  ich  ein  voluntarius  bin 
usw.,  so  kann  dieser  Irrtum,  wie  schon  in  dieser  Form 
der  Sätze  heraustritt,  zwar  ebensogut  als  ein  Irrtum  im 
Beweggrund  dargestellt  werden;  denn  es  waren  Tat- 
sachen, über  die  ich  mich  im  Irrtum  befand  und  die 
auf  meine  Antretung  der  Erbschaft  einwirkten  oder  ein- 
wirken konnten.  Hier  aber  muß  der  Irrtum  im  Beweg- 
grund die  Handlung  unwirksam  machen,  und  zwar  des- 
halb, weil  er  zum  Unterschied  von  den  einzelnen  oder 
verständigen  Motiven  das  erschöpfende  oder  b e - 
.griff  liehe  Motiv  derselben  ist,  Beweggrund  und 
Willensinhalt  hier  also  in  dem  Verhältnis  zueinander  stehen, 
sich  zu  decken.  Der  begriffliche  Inhalt  der  Aditions- 
handlung  ist  dies :  die  Willensidentität  mit  dem  Erblasser 
zu  setzen.  Dies  ist  aber  zugleich  das  determinierende, 
begriffliche  Motiv  der  Erbschaftsantretung.  Ich  trete  an, 
weil  ich  innerlich  meine  Willenssubjektivität  für  eine  mit 
ihm  identische  betrachte.  Irre  ich  mich  hierin,  halte 
ich  mich  für  einen  gezvvomgenen  Willenskontinuator 
(necessarius),  während  ich  ein  freiwilliger  bin,  halte  ich 
mich  für  durch  eine  ausdrücklich  durch  den  ausschließen- 
den Willen  des  Erblassers  übertragene  Willensfortsetzung 
geehrt  (Testamentserbschaft),  während  ich  nur  ein  sub- 
sidiarischer, d.  h.  Intestaterbe  bin^),  so  macht  dieser 
Irrtum  über  Dasein  und  Beschaffenheit  des  zwischen  uns 
stattfindenden  Willensverhältnisses,  obwohl  es  gleichfalls 
ein  Irrtum  im  Beweggrund  ist,  dem  meine  Handlung  ent- 
springt, dieselbe  nichtig. 

Wenn  ich  mich  also  über  die  zwischen  uns  statt- 
findende   Willensbeziehung   irre,     die    mich    zur 

^)  Vgl.    Nr.   XL   über  die   L.    17   de   acqu-   vel.    om.   her. 
(29,  2). 

462 


Antretung  vermocht  hat,  so  ist,  trotzdem  der  Verstand 
diesem  Irrtum  sehr  gut  die  Stellung  eines  Motives  geben 
kann,  die  Handlung  ungültig,  weil  dieser  begriffliche 
Beweggrund  ein  den  Willensinhalt  der  Hand  selbst  er- 
schöpfender ist,  oder  Motiv  und  Inhalt  des  Willens 
hier  zusammenfallen  und  sich  decken. 

Seitens  des  Erben  wäre  also  bereits  die  von  uns  im 
ersten  Bande  entwickelte  Theorie  über  das  quantita- 
tive Verhältnis  des  Beweggrundes  zum  Willensinhalt 
und  über  die  hieraus  folgende,  Willen  und  Handlung  auf- 
hebende Einwirkung  des  irrigen  Beweggrundes,  wenn  er 
ein  den  ganzen  Willen  erschöpfender  war,  durch  den  in 
der  Abhandlung  über  das  ,, spekulative  Wissen"  erörterten 
Stoff  durchaus  bestätigt. 

Alles,  was  daher  hier  noch  übrig  bleibt,  ist,  dasselbe 
auch  seitens   des   Erblassers  nachzuweisen. 

Wir  zeigten  oben^),  daß  es  als  eine  hinter  dem  Willen 
und  seiner  Entscheidung  liegende  Vermittlung  ganz  gleich- 
gültig sei,  warum  der  Erblasser  den  Erben  zum  Erben 
will,  d.h.  ihn  als  Willensidentität  mit  sich  setzt. 
Da  das  Motiv  dazu  gleichgültig,  so  ist  es  natürlich  ebenso- 
sehr der  Irrtum  im  Motiv.  Allein,  wenn  es  gleichgültig 
ist,  wenn  sich  der  Erblasser  in  dem  Beweggrunde  irrt, 
warum  er  den  Erben  als  eine  mit  ihm  identische  Willens- 
subjektivität  annimmt,  so  wird  es  dagegen  durchaus  nicht 
gleichgültig  sein,  wenn  er  sich  darin  irrt,  daß  er  ihn 
für  eine  mit  ihm  identische  Willenssubjektivität  annimmt, 
d.  h.  also :  ihn  fälschlich  für  einen  suus  hält. 

In  der  Tat,  wer  den  suus  einsetzt,  hat  ihm  dadurch 
nicht  erst  die  Willensidentität  mit  sich  übertragen,  ihn 
zu  einer  solchen  gemacht,  sondern  er  hat  ihn  nur  als 


0  S.433.  Anm.l. 

463 


bereits  bestehende  Willensidentität  anerkannt. 
Er  erklärt  ihn  nur  zur  Willensidentität,  weil  er  ihn 
bereits  für  seiende  Willensidentität  mit  sich  hält.  Be- 
weggrund und  Handlung  sind  hier  von  absoluter  Identität 
miteinander,  von  solcher  Identität,  daß  sie  nicht  einmal 
etwas  Neues  gegeneinander  bewirken.  Die  Handlung  der 
Erbeinsetzung  liefert  kein  Produkt,  das  nicht  auch  schon 
nach  dem  bloßen  Beweggrund,  der  vermeintlichen  Suität, 
ohnehin  der  Fall  gewesen  wäre.  Es  ist  also  in  der  Hand- 
lung gar  nichts  vorhanden,  was  nicht  auch  schon  in  dem 
Beweggrund  vorhanden  wäre.  Irrt  sich  der  Erblasser  also 
hier  über  den  Beweggrund,  irrt  er  sich  in  dem  Punkte, 
daß  der  als  identische  Willenssubjektivität  Erklärte 
auch  wirklich  eine  solche  mit  ihm  sei,  irrt  er  sich  — 
um  dies  in  derselben  Form  wie  früher  beim  Irrtum  des 
Erben  auszusprechen  —  in  der  zwischen  seiner  und  des 
Erben  Willenssubjektivität  aufeinander  bestehenden  Be- 
ziehung, indem  er  sie  für  bereits  vorhandene  Iden- 
tität hält,  so  muß  dieser  erschöpfende  Irrtum  im  Motiv 
der  Erbeinsetzung,  der  Irrtum  über  das  begriffliche  Ver- 
hältnis, die  Einsetzung  ungültig  machen.  Und  so  erklären 
denn  die  Pandekten  selbst,  daß,  wenn  einer  ut  filius  zum 
Erben  eingesetzt  sei,  hinterher  aber  für  ein  untergeschobenes 
Kind  erklärt  werde,  die  Einsetzung  ungültig  sei^)  :  ,,Aufer- 
tur  ei  quasi  indigno  successio,  qui,  quum  heres  institutus 
esset  ///  filliis,  post  mortem  ejus,  qui  pater  dicebatur, 
suppositus  declaratus  est^)." 


1)  Hermogen.,   L.   46  de  jur.  fisc   (49.    14). 

2)  Vgl.  L.  4  C.  de  her.  inst.  (6,  24) :  „Si  pater  tuus  cum 
quasi  filiiim  suuni  heredem  instituit,  quem  falsa  opinione  ductus 
suum  esse  credebat,  non  institutiirus,  si  alienum  nosset,  isque 
postea  subditius  esse  ostensus  est,  auferendam  ei  successionem 
Divi  Severi  et  Antonini  placitis  continetur." 

464 


Sofort  aber  zeigt  sich  auch  das  Umgekehrte :  die 
Enterbung  des  suus  muß  ungültig  sein,  wenn  sie  nur 
deshalb  eintrat,  weil  ihn  der  Erblasser  irrig  für  unter- 
geschoben hielt,  oder  wenn  sie  inter  ceteros  eintrat,  weil 
ihn  der  Erblasser  für  tot  hielt.  Der  Grund  ist  ganz  der- 
selbe. Der  Testator  schloß  die  Willensidentität  mit 
dem  suus  nur  aus,  weil  er  sie  für  bereits  tatsächlich 
nicht  bestehend  hielt.  Beweggrund  und  Inhalt  des 
Willens  decken  sich  daher  wieder  genau  und  erschöpfend. 
Das  Motiv  ist  hier  nicht  eine  bloße  hinter  dem  Willen 
liegende,  nur  vor  dem  Entschließen  wirkende  Vermitte- 
lung ;  es  ist  der  i  m  Willen  selbst  vorhandene  und  ihn 
gänzlich  ausfüllende  Inhalt.  Die  Exheredationsformel 
des  Testators,  der  sich  so  über  das  Verhältnis  seiner 
Willenssubjektivität  zu  der  seines  schon  bestehenden 
Erben  irrte  und  ausgesprochenermaßen  ihn  deshalb  exhere- 
dierte,  muß  also  kraftlos  sein.  Vermöge  der  Bd.  I, 
S.  180 — 196,  entwickelten,  zwischen  Irrtum  im  Beweg- 
grund und  Irrtum  im  Objekt  (error  substantialis,  mangeln- 
der Wille)  stattfindenden  Dialektik  läßt  sich  wieder  dieser 
Irrtum  im  Bev/eggrund  auch  ebensogut  als  ein  Irrtum  im 
Objekt,  in  der  Person  (mangelnder  Wille)  aus- 
sprechen. Der  Testator  wollte  den  alienus  ausschließen, 
und  hat  den  suus  ausgeschlossen.  Er  wollte  den  Nicht- 
identischen nicht  identisch  sein  lassen.  Er  hat  den  Iden- 
tischen als  nichtidentisch  gesetzt.  Ebenso  natürlich, 
wenn  er  den  tot  geglaubten  suus  durch  die  Formel  inter 
ceteros  enterbte.  Er  wollte  ihn  nicht  enterben,  und 
hat  ihn  enterbt. 

Beide  Fälle  stehen  auf  einer  Linie.  Denn  .in  beiden 
Fällen  wird  die  ausgeschlossene  Identität  mit  dem  suus 
nur  deshalb  für  ausgeschlossen  erklärt,  weil  sie  für  schon 

8  LaaeaUe.   Gm.  Sckriftea,    Band  XH.  465 


nicht  bestehend  erachtet  wird,  dort  durch  die  ver- 
meintliche   Unterschiebung,    hier   durch   den    Tod. 

In  beiden  Fällen  müssen  uns  daher  die  Pandektenjuristen 
bekunden,  daß  die  Enterbung  machtlos  sei,  und  zwar  nicht 
infolge  irgendeiner  Billigkeit,  sondern  als  strenges 
Rechtsprinzip.  So  zunächst  Africanus,  der  auch  den  Fall 
durchaus  wie  den  eines  Irrtums  im  Beweggrund  be- 
handelt^): „Si  quis  ita  scripserit:  äle,  quem  sdo  ex  me 
natum  non  esse,  exheres  esto,  hanc  exheredationem  ita 
nullius  monienti  esse  ait,  si  probetur  ex  eo  natus ;  non 
enim  videri  quasi  filiuni  exheredatum  esse,  quum  elogium 
pater,  quum  filium  exheredaret,  proposuisset  et  adjecisset, 
propter  eam  cöwsc/TZexheredare,  probaturque  patrem  circa 
causam  exheredationis  errasse."  Ebenso  Ulpian-)  und 
Paulus  3). 

Auf  diese  Fälle  wird  sich  aber  in  Gemäßheit  des 
spekulativen  Begriffes  die  Einwirkung  des  Irrtums  im 
Beweggrund  bei  der  Erbeinsetzung  beschränken 
müssen.  Die  Einwirkung,  sagen  wir,  wird  sich  auf  diese 
Fälle  beschränken  müssen.  Denn  überall,  wo  ein  ex- 
traneus  zum  Erben  eingesetzt  wird,  ist  und  kann  ja 
die  Willensidentität  vor  der  Einsetzung  nicht  vorhanden 
sein,  sondern  soll  erst  durch  diese  hervorgebracht 
werden.  Der  begriffliche  Inhalt  der  Erbeinsetzung 
oder  der  begriffliche  Grund  zu  derselben,  die 
Willensidentität  mit  diesem  Subjekt,  und  der  Grund, 
warum  ich  mich  dazu  entschließe,  dieses  Subjekt  als 
Willensidentität   mit  mir  zu  setzen,   bestimmen   sich  also 


1)  L.  14,  §  2.  de  lib.  et  post.  (28.  2). 

2)  L.  15  cod.  tit. 

2)  L.  25  eod.  tit.  Man  vgl.  die  Erzählung  bei  Valerius 
Maximus,  lib.  VII,  c  7,  p.  87,  ed.  Argent.,  von  dem  für  tot- 
gehaltenen Sohn. 

466 


als  begrifflich  andere  und  getrennte  gegeneinander. 
Oder  der  Grund  wird  hier  zur  hinter  dem  Entschluß 
zur  Willensidentität  mit  diesem  Subjekt  liegenden  Ver- 
mittelung,  und  bleibt  also  so  gleichgültig,  wie  wir  dies 
schon  oben  S.  433,  Note  1,  gezeigt  haben.  Nur  beim 
suus  kann  der  Irrtum  einwirken,  da,  wenn  hier  in  bezug 
auf  die  zu  ihm  bestehende  Willensbeziehung  geirrt  wird, 
im  begrifflichen  Erbtumsverhältnis  selbst  geirrt  wird,  in 
einem  Punkt,  der  sich  für  den  Verstand  zwar  als  Be- 
weggrund für  die  Erbeinsetzung,  resp.  Enterbung  dar- 
stellt, für  den  Begriff  aber  mit  dem  begrifflichen 
Inhalt  des  Willens  schlechtliin  identisch  ist;  ein 
Irrtum,  der  nicht  das  Warum  (causa  remota)  der 
Willensidentität,  dieses  begrifflichen,  allein  er- 
schöpfenden Motives  der  Einsetzung,  sondern  das  D  a  - 
sein,  resp.  Nichtdasein  der  Willenssubjektivität  be- 
trifft. Es  muß  daher  auch  beim  suus  jeder  andere 
irrige  Grund,  weshalb  der  Vater  ihn  enterbt  (z.  B.  ver- 
meintlicher Ungehorsam  usw.),  gleichgültig  bleiben,  ebenso 
gleichgültig,  wie  der  Grund  zur  Einsetzung  des  extraneus ; 
nur  der  Irrtum  über  die  fälschlich  angenommene  oder 
nicht  angenommene  Suität  selbst,  über  das  Dasein 
der  stattfindenden  Willensbeziehung  ist  jenes  erschöpfende, 
mit  dem  Inhalt  des  Willens  selbst  identische,  weil  be- 
griffliche Motiv,  und  darum  von  Einfluß. 

Die  Pandekten  bestätigen  dalier  unsere  Theorie  über 
den  Irrtum  im  Beweggrund  ebensosehr  wie  unsere  Theorie 
über  das  Erbtum,  und  zwar  noch  glänzender  als  durch 
das  Setzen  jener  Einwirkungsfälle,  auch  dadurch,  daß 
sie  in  keinem  anderen  Falle  den  Irrtum  im  Be- 
weggrund auf  die  Erbeinsetzung  von  Einfluß  sein  lassen. 

Ein  Fall  aber  muß  noch  entstehen,  wo  die  Dialektik 
des  Begriffes  in  voller  Gegensätzlichkeit  aufeinanderplatzt 

8-  467 


und  eine  nicht  geringe  Schwierigkeit  der  Entscheidung  er- 
zeugen kann. 

Wie  nämlich,  wenn  die  Erbeinsetzung  eines  extraneus 
ersichtlich  durch  irrige  Annahme  bewirkt  wurde,  daß  ein 
früher  eingesetzter  extraneus  oder  ein  gewöhnlicher 
Intestaterbe  (d.  h.  nicht  suus)  verstorben  sei  ? 
Die  Dialektik,  die  sich  hier  erhebt,  ist  folgende  : 
Ich  bin,  sagt  der  zuletzt  eingesetzte  Erbe,  zum  iden- 
tischen Willenserhalter  eingesetzt.  Das  Warum,  aus 
welchem  sich  der  Erblasser  dazu  entschloß,  Willens - 
identität  gerade  mit  mir  sein  zu  wollen,  ist  sehr  gleich- 
gültig. Es  ist  dies  nur  eine  Vermittelung  dieses 
Willensentschlusses  und  Willensinhaltes,  und  daher  ein 
hinter  dem  Willen  und  seinem  Inhalt  liegender,  ver- 
schwundener Grund,  der  nicht,  wie  bei  der  Exhere- 
dation  des  irrtümlich  für  unecht  gehaltenen  suus,  den 
präsenten  Willensinhalt  der  Handlung  selbst 
bildet.  Das  begriffliche,  erschöpfende  Motiv  der 
erblasserischen  Handlung  und  deren  Willensinhalt  sind 
vollständig  in  Übereinstimmung.  Er  setzte  mich  ein  zum 
Willensfortsetzer  —  und  dies  ist  der  Willensinhalt  seiner 
Handlung  — ,  weil  er  in  mir  eine  ihm  adäquate  Willens- 
identität erblickte  —  und  dies  ist  das  erschöpfende 
oder  begriffliche  Motiv  jener  Handlung  — ,  und 
nur  der  einzelne  Grund  wieder,  warum  er  dieselbe  ge- 
rade in  mir  zu  sehen  sich  entschloß,  war  jenes  irr- 
tümliche Totglauben  des  früheren  Erben.  War  dies  auch, 
was  ich  zugebe,  faktisch  der  einzige  Grund  seines 
neuen  Willens,  so  ist  dies  doch  nur  zufällig  der  Fall : 
es  war  nicht  der  erschöpfende  Beweggrund  dieser 
Kategorie  von  Willenshandlung  (Erbeinsetzung),  denn  die- 
selbe kann  ebensogut,  wie  durch  diesen  Irrtum,  durch 
tausend    andere    mögliche    Gründe    vermittelt    werden. 

468 


Der  Wille  selbst  aber  ist  dieser  Akt,  alle  bloß  zu- 
fälligen Vermittelungen,  aus  denen  er  sich  fak- 
tisch bildet,  aufzuheben  in  den  Inhalt  seines  Ent- 
schlusses und  also  hinter  sich  in  Staub  und  Vergangen- 
heit sinken  zu  lassen. 

Nein,  sagt  der  früher  eingesetzte  Erbe,  es  kommt  hier 
nur  zum  Vorschein,  daß  (s.  oben  Nr.  XIII)  es  in  der 
Natur  des  subjektiven  Willens  selbst  liegt,  immer  durch 
eine  Wirklichkeit,  weil  er  in  ihr  seine  Voraussetzung  hat, 
bedingt  zu  sein,  auch  wenn  er  diese  Bedingung  nicht 
ausdrücklich  setzt.  Mein  Tod  war  nicht  ein  zufälliges 
Motiv,  er  war  die  einzige  Voraussetzung  und  Bedingung, 
unter  welcher  sich  der  Erblasser  zur  Willensidentität  mit 
dir  entschloß,  welche  er  vor  allem  in  mir  zu  haben  wußte. 
Du  bist  und  bleibst  also,  wenn  du  auch  im  Testament 
nicht  so  hingestellt  bist,  der  Sache  nach  immer  nur  ein 
bedingter,  ein  an  die  Bedingung  und  Voraussetzung  meines 
Nichtseins  gebundener  Erbe.  —  Überdies,  da  ich  einmal 
eingesetzter  Erbe  war,  so  muß  ich,  um  nicht  Erbe 
zu  sein,  als  Erbe  aufgehoben  sein,  sonst  bin  ich  es 
noch,  gleichwie  der  suus  exherediert  werden  muß.  In 
diesem  Akt  des  Aufhebens  aber  —  dem  neuen  Testa- 
ment, zu  dem  sich  der  Testator  allerdings  entschloß  — 
fällt  der  Inhalt  des  Willens  mit  dem  Beweggrund 
desselben  ganz  ebenso  identisch  und  sich  deckend  zu- 
sammen, wie  bei  der  Exheredation  des  fälschlich  für  un- 
echt oder  tot  gehaltenen  suus.  Denn  der  Testator  hob 
das  frühere  Testament,  hob  mich  als  Erben  nur 
auf,  weil  er  mich  schon  für  aufgehoben  hielt.  Bei 
diesem  Akt  hat  also,  weil  hier  der  Beweggrund  des 
Willens  den  ganzen  Willensinhalt  der  Handlung  deckte  und 
erschöpfte,  der  Irrtum  in  diesem  erschöpfenden  Beweg- 
grund die  Wirksamkeit  des  Aufhebens  verhindert,  wie 

469 


bei  der  Exheredation  des  suus,  und  folglich  bin  ich 
gar  nicht  wirksam  aufgehobener  Erbe,  und  bin  weiter 
Erbe. 

Behüte !  repliziert  der  zuletzt  Eingesetzte.  Es  ist  wahr, 
daß  Grund  und  Bedingung  viel  miteinander  gemeinsam 
haben,  aber  sie  unterscheiden  sich  dadurch,  daß  der  Grund 
die  bereits  eingetretene  Bedingung  und  die  Be- 
dingung der  in  die  Zukunft  gesetzte  Grund  ist.  Mit 
dem  Eingetretensein  verliert  die  Bedingung  ihre 
Spannung  und  Hemmung  und  sinkt  zur  gleich- 
gültigen Vergangenheit  des  Grundes  zusammen, 
worüber  du  schon  oben  bei  den  kaptatorischen  Einsetzungen 
nachlesen  kannst,  und  weiter  bei  der  Lehre  von  den  Be- 
dingungen (Nr.  XIII)  ^).  Wenn  also  auch  der  Testator 
dich  und  deinen  Tod  in  dem  Testament  ausdrücklich  als 
den  Grund  meiner  Einsetzung  setzte,  so  hat  er  dich 
doch  nicht  als  ein  Spannendes  und  Zukünftiges,  sondern 
gerade  als  ein  solches  zur  Gleichgültigkeit  Zu- 
sammengesunkenes und  Vergangenes  gesetzt, 
und  du  kannst  daher  keinesfalls  mehr  darankommen.  — 
Auch  deine  Parallele  mit  der  Exheredation  des  suus  trifft 
nicht  zu.  Als  der  Erblasser  den  suus  exheredierte,  befand 
er  sich  im  Irrtum  über  das  zwischen  ihnen  beiden 
bestehende  Verhältnis  der  Willenssubjektivität  zueinander. 
Dieser  Irrtum  im  begrifflichen  Verhältnis,  dieser  Irrtum 
in  dem  mit  dem  Willensinhalt  der  Exheredationshandlung 
identischen  und  ihn  erschöpfenden  Beweggrund,  machte 
die  Exheredation  unwirksam.  Blieb  der  suus  aber  nicht 
exherediert,  so  war  als  bloße  Folge  hiervon  der  ein- 
gesetzte Erbe  nicht  gültig  eingesetzt.    Anders  bei  uns.    Als 


1)  Vgl.    auch    z.  B.    L.  17.    §§  2,  3    de    condit.     (35.  1) 
§  31  Inst,  de  legat.  (2.  20). 

470 


der  Erblasser  mich  zum  Erben  einsetzte,  irrte  er  sich 
nicht  in  mir,  nicht  in  dem  zwischen  ihm  und  mir  be- 
stehenden Willensverhältnis,  sondern  nur  über  eine  ganz 
außerhalb  desselben  gelegene  Tatsache,  über  deinen 
Tod.  Da  der  Irrtum  nicht  das  spekulative  Willens- 
verhältnis zwischen  uns  betraf,  welches  der  Erblasser 
vielmehr  als  das  zweier  noch  formell  anderer,  erst  zu 
identifizierender  Willenssubjektivitäten  zueinander  kannte, 
so  ist  der  Irrtum  im  Beweggrund  hier  ein  Irrtum  im 
zufälligen  und  darum  gleichgültigen  Motiv,  nicht 
ein  Irrtum  im  begrifflichen  und  darum  den  Willens- 
inhalt deckenden  Motiv  der  Handlung.  Oder  da  der 
Irrtum  nur  einen  außerhalb  seines  Willensverhältnisses 
zu  mir  liegenden  Beweggrund  betraf,  so  lag  dieser  eben 
überhaupt  —  außerhalb  desselben,  und  kann  also  um 
so  weniger  Anspruch  darauf  erheben,  sogar  der  seinen 
Willensinhalt  erschöpfende  Beweggrund  zu  sein,  der 
vielmehr  einzig  und  allein  in  dem  Verhältnis  der  beiden 
Willenssubjektivitäten  zueinander  liegt.  Meine  Ein- 
setzung an  und  für  sich  ist  also  durch  keinen  solchen 
Irrtum  unwirksam.  Du  aber  könntest  erst  darankommen 
als  Folge  davon,  daß  meine  Einsetzung  ungültig  oder 
wieder  aufgehoben  wäre,  während  umgekehrt  der  gegen 
den  exheredierten  suus  eingesetzte  Erbe  nur  Erbe  sein 
kann  infolge  davon,  daß  der  suus  gültig  exherediert  ist. 
Du  aber  hast  eben  im  Unterschiede  vom  suus  keine  be- 
sondere Exheredation  zu  fordern,  und  bist  daher  mit  meiner 
an  und  für  sich  gültigen  Einsetzung  auch  gültig  aufgehoben. 
Es  kann  nicht  fraglich  sein,  daß  dieses  Plaidoyer 
zwischen  dem  zuletzt  und  dem  früher  eingesetzten  Erben 
vor  dem  Richterstuhle  des  alten  jus  civile  zugunsten  des 
zuletzt  eingesetzten  Erben  entschieden  worden  wäre! 
(Siehe  unten  S.  474 fg.) 

471 


Anders  aber  denken  bereits  die  Kaiser  und  müssen  so 
denken,  da  in  ihnen  die  gegen  die  Strenge  des  spekulativen 
Begriffes  reagierende  Billigkeit  das  weit  Überwiegende 
ist.  Als  daher  ein  Testator,  die  früher  eingesetzten  Erben 
infolge  eines  irrigen  Gerüchtes  für  tot  haltend,  ausdrück- 
lich so  testiert:  ,,Quia  heredes,  quos  volui  habere,  mihi 
continere  non  potui,  Novius  Rufus  heres  esto",  kommt 
der  Kaiser  der  irrtümlich  tot  geglaubten  Erbin  zu  Hilfe, 
sie  an  die  Stelle  des  Novius  Rufus  setzend.  Es  ist  Paulus, 
der  uns  dies  berichtet 0.  Aber  zum  Unterschied  von 
den  früher  betrachteten  Fällen  des  fälschlich  für  echt 
oder  unecht,  resp.  tot  gehaltenen  suus  wissen  die  römischen 
Juristen  sehr  genau,  wie  hier  nicht  von  einer  Rechts - 
regel,  sondern  von  bloßer  Billigkeit  die  Rede  ist,  und 
Paulus  läßt  durch  die  Ausdrucksweise  seines  Berichtes 
deutlich  genug  hervortreten,  daß  nach  seinem  zivilistischen 
Gewissen  die  Entscheidung  eine  andere  gewesen  wäre : 
,,.  .  .  et  cognitione  suscepta,  licet  modus  irisütutbne  con- 
fincretiir,  qaia  falsiis  non  solct  obesse,  tarnen  ex  voluntate 
testantis  piitavit  Imperator  ei  (der  früheren  Erbin)  sub- 
veniendum  etc.^)." 


1)  L.  92  de  her.  instit.  (28,  5). 

")  Genau  dasselbe,  was  der  früher  eingesetzte  testamentari- 
sche Erbe  kann  auch  der  irrtümlich  für  tot  gehaltene  gewöhn- 
liche Intestaterbe  (nicht  suus)  für  sich  geltend  machen.  Dies 
begreift  sich  freilich  erst  nach  dem  von  uns  (s.  Nr.  XXII) 
dem  Intestaterbrecht  zugewiesenen  Begriffe,  wonach  der  Intestat- 
erbe die  Bedeutung  hat,  der  vorausgesetzte  Willensfort- 
setzer des  Toten,  d.  h.  der  aus  dem  eigenen  Willen  des  sich 
nicht  ausdrücklich  äußernden  Erblassers  vorausgesetzte 
Willensfortsetzer  desselben  zu  sein.  Bin  ich  also,  sagt  der 
Intestaterbe,  der  aus  dem  eigenen  Willen  des  Toten  vor- 
ausgesetzte Willensträger  desselben,  so  muß  man  mich  auch 
als  solchen  gelten  lassen,  und  ebenso  sehr,  wie  ich  dann  einem 

472 


Nicht  weniger  deutlich  bestätigt  sich  unsere  Theorie 
vom  Irrtum  in  dem  Beweggrunde  bei  den  Legaten.    Die 

ausdrücklich  gesetzten  Willensträger  (Testamentarerben) 
weiche,  ebensowenig  weiche  ich,  wenn  dieses  Setzen  nur  durch 
die  falsche  Voraussetzung  des  Todes  meiner  als  der  voraus- 
gesetzten Willensidentität  des  Erblassers  vermittelt  ist.  Wollt 
ihr  mich  nach  meinem  präzisen  Begriff  behandeln,  so  müßt  ihr 
vielmehr,  wenn  diese  falsche  Voraussetzung  bei  dem  testamen- 
tarischen Setzen  seiner  Willensidentität  durch  den  Erblasser 
stattfand,  annehmen,  daß  ohne  dieselbe  nichts  herausgekommen 
wäre,  als  der,  welcher  eben  die  vorausgesetzte  Identität 
des  erblasserischen  Willens  ist.  Sonst  leugnet  ihr  den 
Geist  eures  Intestatrechtes.  Folglich  müßt  ihr  annehmen,  da  ja 
der  Testator  setzte,  und  andererseits,  da  ich,  sofern  er  rnjch 
nicht  wissend  umging,  der  als  von  ihm  gesetzte  Voraus- 
gesetzte bin,  daß  ich  der  von  ihm  gesetzte,  d.h.  daß  ich 
jetzt  testamentarischer  Erbe  geworden  bin. 

Die  Lage  dieses  Intestaterben  ist  also  um  nichts  schlechter 
und  nichts  besser  als  die  des  früher  eingesetzten  testamentari- 
schen Erben.  Wieder  ist  es  die  Billigkeit  der  Kaiser,  die  ein- 
greift und  dem  Intestaterben  zu  Hilfe  kommt,  wie  Paulus  be- 
richtet, L.  28  de  inoff.  test.  (28,  5).  Aber  das  ist  höchst  inter- 
essant und  erst  aus  dieser  spekulativen  Begriffsentwickelung 
zu  verstehen,  daß  nicht,  wie  bei  der  querela  inofficiosi  des  In- 
testaterben, das  Testament  fortfällt  und  der  Intestaterbe  ab 
intestato  drankommt,  sondern  daß,  wie  Paulus  berichtet  und  wie 
spekulativ  not\vendig  ist,  der  Intestaterbe  um  jener  unaufgehobe- 
nen Voraussetzung  des  Intestatrechtes  willen  durch  das  nicht 
auf  ihn  lautende  Testament  zum  Testamentserben  wird, 
d.  h.  als  heres  scriptus  angesehen  wird  und  die  Legate  prä- 
stieren muß.  Bei  dem  oben  im  Text  behandelten  Falle  tritt 
dies  gleichfalls  ein  und  ist  hier  freilich  ganz  klar,  da  der  früher 
eingesetzte  Erbe  jedenfalls  heres  scriptus  war  und  nur  als 
solcher  drankommen  kann.  Bei  dem  Intestaterben  aber  wird  nur 
durch  die  Dialektik  seines  Begriffes,  der  beim  Nichtsetzen  des 
Testators  aus  dessen  Willen  Vorausgesetzte  zu  sein,  klar,  wie 
er  durch  ein  auf  einen  anderen  lautendes  Testament  selber 
zum  Testamentserben  umschlagen  kann. 

473 


Beweggründe  haben  zum  Willen  ein  nur  quantitatives 
.Verhältnis.  Ist  also  der  hinzugefügte  Beweggrund  des 
Legates  auch  irrig,  so  bleibt  das  Legat  dennoch  be- 
stehen, denn  der  Testator  kann  ebensogut  auch  noch  andere 
Motive  beim  Testieren  als  das  ausgesprochene  gehabt 
haben,  und  Papinian  sagt  daher  richtig^)  :  ,,Falsam  causam 
legato  non  obesse,  verius  est,  quia  ratio  legandi  legato 
non  cohaeret^)." 

Allein  da  das  Motiv  ein  quantitatives  Verhältnis 
zum  Willen  hat,  so  kann  ihn  jedes  einzelne  Motiv  auch 
erschöpfen,  ganz  wie  wir  dies  Bd.  I,  S.  180fg.,  ge- 
zeigt haben.  Und  ob  ein  bestimmtes  Motiv  das  erschöp- 
fende gewesen  war,  ist  eine  rein  faktische,  nur  aus 
den  Umständen  erhellende  Frage.  Wird  also  nachgewiesen, 
daß  der  irrige  Beweggrund  der  einzige  und  somit  den 
Willen  erschöpfende  war,  so  ist  mit  dem  Irrtum  in 
demselben  auch  das  Dasein  des  Willens  selbst  im 
Legat  aufgehoben  und  dasselbe  unwirksam.  Papinian  fährt 
daher  a.  a.  O.  fort :  ,,sed  plerumque  doli  exceptio  locum 
habebit,  si  probe far,  alias  legatunis  non  fulsse^)." 

Man  sieht,  daß  der  Unterschied  zwischen  der  Ein- 
wirkung des  Irrtums  bei  der  Erbeinsetzung  und  beim  Legat 
nicht  in  einer  verschiedenen  Behandlung  des  Irrtums, 
sondern,  unter  strenger  Festhaltung  seines  Begriffes  und 
seines  Einflusses  auf  den  Willen,  nur  in  der  Verschieden- 
heit des  Begriffes  von  Erbtum  und  Legat  seinen 
Grund  hat. 

Das  Legat  ist  nicht  Fortpflanzung  der  gesamten  idealen 
Willenssubjektivität,  sondern  ein  einzelner  Willens- 


1)  L.  72.  §  6.  de  condit.  (35.  1). 

2)  Vgl.  L.  17.  §§  2.  3  eod.  tit. ;  §  31  Inst,  de  leg.  (2.  20). 

3)  Vgl.  oben  Nr.  XXXV. 


474 


akt  des  fortexistierenden  Willens,  Geben  einer  Sache. 
Der  begriffliche  und  erschöpfende  Beweggrund 
zu  dieser  Willensäußerung  ist  hier  —  jeder  noch  so  zu- 
fällige und  unbedeutende  Umstand,  der  den  Willen  zu 
dieser  Äußerung  sollizitiert  hat,  wenn  nur  bewiesen  wird, 
daß  er  allein  das  Sollizitierende  war.  Wird  dies  be- 
wiesen, so  enthält  jeder  solche  noch  so  zufällige,  allein 
sollizitierende  Beweggrund,  und  wenn  er  in  nichts  anderem 
bestand,  als  daß  der  Legatar  eine  rote  Nase  hat,  den 
ganzen  Willen  des  Erblassers  in  sich  und  absorbiert  diesen 
ganzen  Willen  durch  seinen  Irrtum. 

Die  Erbeinsetzung  dagegen  ist  nicht  Geben  von 
Vermögen,  ist  nicht  einzelner,  verschwindender 
Willensakt,  ist  nicht  Äußerung  eines  einzelnen  be- 
stimmten Willensinhaltes.  Sie  ist  weit  mehr  und 
ein  begrifflich  ganz  anderes.  Sie  ist  metaphysische  Identi- 
fizierung der  gesamten  Willenssubjektivität,  meiner  ge- 
samten Willens  Wesenheit  mit  einer  anderen  Willens- 
subjektivität. Dies  ist  der  wahre  Willensinhalt  dieser 
Handlung.  Dieselbe  hat  daher  zu  ihrem  erschöpfen- 
den Beweggrund  einzig  und  allein  den  begrifflichen: 
die  streng  geschlossene,  zwischen  dem  Wesen  meiner  und 
einer  anderen  Willenssubjektivität  bestehende  Beziehung. 
Ich  setze  eine  andere  Willenssubjektivität  als  identisch 
mit  mir,  weil  ich  sie  als  solche  Willensgleichheit  mit 
mir  anschaue.  Alle  anderen  einzelnen  endlichen  Beweg- 
gründe sind  nicht  mehr  das  Warum  der  Erbeinsetzung, 
sondern  nur  das  Warum  des  Warum,  nicht  die  causae, 
sondern  die  causae  remotae  derselben,  und  dürfen  somit 
niemals  als  der  erschöpfende  Beweggrund  dieser 
idealen  Gleichung  gelten.  Der  einzige  einwirkende 
Irrtum  im  Beweggrund  kcuin  daher  hier  bei  der  Suität 
vorkommen,   wenn   ich   jemand  für  schon  identisch  mit 

475 


mir  halte,  der  es  nicht  ist,  oder  für  nicht  schon  iden- 
tisch halte,  der  es  ist. 

Als  die  Kaiser  in  den  obigen  zwei  Fällen  dem  Irrtum 
im  Beweggrund  Einwirkung  geben,  tut  sie  somit  nichts 
anderes,  als  daß  sie  anfangen,  auch  in  dieser  Hinsicht  die 
Erbeinsetzung  einem  einzelnen  Willensakt,  dem  Legat, 
resp.  einem  Vermögensgeben  zu  assimilieren, 
was,  wie  wir  überall  gezeigt  haben,  der  konstante  Ver- 
lauf der   römischen    Rechtsgeschichte   ist. 

Wenn  also  die  Behandlung  des  Irrtums  in  der  Erb- 
einsetzung  und  im  Legat  eine  innerlich  und  begrifflich 
streng  übereinstimmende  ist,  so  hat  sich  jetzt  eben  solche 
Übereinstimmung  zwischen  der  allgemeinen  Behandlung 
des  Irrtums  im  Beweggrunde  im  Rechtssystem  überhaupt, 
wie  wir  sie  im  ersten  Bande  darstellten,  und  im  Erb- 
recht gezeigt.  Es  verhält  sich  nicht  so,  wie  Savigny 
sagt,  daß  dasselbe  ,, singulare  Ausnahmen"  jener  Irrtums- 
einwirkung darstelle;  es  verhält  sich  nicht  so,  v.ie  er 
gleichfalls  sagt,  daß  daselbst  die  Einwirkung  des  irrigen 
Beweggrundes  eine  weitere  sei.  Nicht  eine  weitere, 
nicht  eine  engere,  sondern  genau  dieselbe  ist  sie,  ja  in 
bezug  auf  die  Erbeinsetzung  müßte  sie  hier  sogar 
scheinen,  eine  engere  zu  sein,  ein  Schein,  den  wir  gleich- 
falls  bereits   aufgelöst   haben. 

Selbstredend  aber  erwächst  aus  dieser  gegenseitigen 
Übereinstimmung  unserer  Theorie  des  Irrtums  mit  der 
des  Erbrechtes  jeder  von  beiden  eine  nicht  geringe  Be- 
stätigung. 


476 


XXXVII.   Die  Identifikation  seitens  des  Erben; 
Fortsetzung.    Der  Wahnsinnige  und  das  Kind. 

Wir  kehren  von  diesen  Exkursionen  nunmehr  zur  Adition 
zurück.  Wir  haben  gezeigt,  daß  und  warum  die  Adition 
ohne  jenes  oben  erörterte  vorhergehende  Wissen  nicht 
stattfinden  kann,  resp.  unwirksam  bleiben  muß.  Deshalb 
nämlich,  weil,  um  dies  nochmals  kurz  zusammenzufassen, 
das,  was  eigentlich  in  der  Adition  vor  sich  geht,  die 
geistige  Identifizierung  der  Willenssubjektivität  des 
Erben  mit  der  des  Erblassers  ist,  und  dieser  Prozeß  natür- 
lich also  gar  nicht  vollbracht  werden  kann,  wenn  nicht 
zuvor  der  Wille  des  Erblassers  und  seine  zu  ihm,  dem 
Erben,  bestehende  Beziehung  für  den  Geist  des  Erben 
vorhanden,  ihm  bekannt  ist.  Wäre  der  Wille  des  Erb- 
lassers nicht  für  den  Erben  vorhanden,  so  würde  Erbe 
wie  Erblasser,  selbst  in  dem  Willensinhalt,  worin  sie 
etwa  zufällig  übereinstimmten,  jeder  bloß  ein  unmittelbar 
für  sich  seiender  und  für  sich  wollender  Wille  sein. 
Der  Erbe  hätte  sein  Fürsichsein  nicht  dazu  bestimmt, 
Identität  mit  dem  Fürsichsein  des  Erblassers  zu  sein, 
hätte  sich  also  nicht  als  das  identische  Dasein  und  die 
Fortexistenz  seiner  Willenssubjektivität  gesetzt. 

Das  Gesagte  läuft  also  darauf  hinaus,  daß,  wer  Erbe 
sein  will,  sich  zuvor  durch  diesen  Prozeß  der  inneren 
Willensidentifizierung  innerlich  zum  Erben 
machen  muß. 

Ist  dem  so,  so  folgt  also  hieraus  mit  Notwendigkeit, 
daß  der  Wahnsinnige,  da  dieser  eben  überhaupt  kein 
geistiges  Fürsichsein  mehr  ist  und  also  diesen  Prozeß 
nicht  \ornehmen  kann,  deshalb  auch  nicht  Erbe  werden 
und  durch  keines  Tutors  Aushilfe  dazu  in  den  Stand  ge- 

477 


setzt  werden  kann.  Marcellus  ^)  :  „Furiosus  acquirere  sibi 
commodum  hereditatis  ex  testamento  non  potest  etc."  Aber 
natürlich  kann  dies  nur  von  dem  Wahnsinnigen  gelten, 
der  nicht  suus  oder  necessarius,  also  Sohn  oder  Sklave 
des  Erblassers  ist").  Denn  der  suus  und  der  necessarius 
braucht  überhaupt  kein  Wollen  und  somit  kein  Wissen. 
Soweit  freilich  leuchtet  dies  ganz  unmittelbar  ein  und  hat 
seit  je  eingeleuchtet.  Was  aber  die  Hauptsache  ist,  ist 
dies  nicht,  wie  stets  geschieht,  so  aufzufassen,  daß  der 
suus  oder  necessarius  vom  Wollen  oder  Wissen  aus- 
genommen, dispensiert  sei.  Dies  wäre  ganz  un- 
möglich. Sondern  es  ist  zu  sagen,  daß  beim  suus  und 
necessarius  Wollen  wie  Wissen  schon  ohne  seine  eigene 
Vermittelung  unmittelbar  vorhanden  ist.  Es  ist  dies 
ja  auch  gar  nicht  anders  möglich.  Denn  der  suus  oder 
necessarius  ist  ja  gar  nicht  selbst  Subjekt  und  Träger 
seiner  Willenssubjektivität,  sondern  hat  dasselbe  außer 
ihm,  im  Vater  oder  Herrn,  der  zugleich  der  Erblasser 
ist.  In  diesem  also  hat  er  sein  Fürsichsein,  in  diesem 
will  und  weiß  er,  und  die  Identität  ist  daher  schon  voll- 
zogen und  bedarf  nur  deshalb  keiner  neuen  vermitteln- 
den Herstellung  mehr,  die  bloß  auf  ein  acta  agere  hinaus- 
liefet).    (Vgl.  oben  Nr.  XXI  fg.) 


1)  L.  63  de  acqu.  vel  om.  her.  (29.  2) ;  vgl.  L.  7.  §  3. 
C.  de  curat,  für.  (5.  70). 

-)  Weshalb  e3  an  der  eben  angezogenen  Stelle  der  Dig. 
sofort  so  weiter  geht :  „nisi  si  necessarius  patri  aut  clomino  heres 
existat." 

^)  Wenn  Justinlan  sagt  (L.  7,  §  2,  C  1.  L) :  ,,Sin  vero 
perpetuo  furiosus  sui  juris  sit,  tunc  in  paterna  quidem  hereditate, 
quae  quasi  debita  ad  posteritatem  suam  devolvitur,  nulla  est 
juris  veterum  dubitatio,  quum  illico  appareat  et  suus  heres 
existat   suis  parentibus,"   so  ist  es  nur   ganz  natürlich,   daß  er 

478 


Man  könnte  also  etwa  sagen  wollen,  daß  der  Wahn- 
sinnige (vom  suus  und  necessarius  nunmehr  abgesehen) 
nicht  fähig  zur  Erbschaft  sei.  Allein  es  liegt  auf  der 
Hand,  wie  ungenau  und  gedankenverwirrend  diese  Be- 
zeichnung hier  wäre.  Denn  was  ihn  hindert,  ist  nicht 
eine  rechtliche  Eigenschaft,  sondern  nur  der  bloß  fak- 
tische Mangel  jener  inneren  Tätigkeit,  wie  er 
ebensosehr  bei  dem  vernünftigen  Erben,  der  aber  zufällig 
nicht  weiß,  hindernd  stattfindet,  wenn  er  auch  bei 
diesem  eben  in  zufälligen,  bei  jenem  in  natürlichen, 
eben  deshalb  aber  für  das  Recht  gleichfalls  nur  zu- 
fälligen Gründen  beruht,  wie  denn  auch  dieser  Mangel 
bei  ihm  auf  eine  ebenso  zufällige  und  rein  faktische  Weise, 
durch  Wiedererlangung  der  Vernunft,  jederzeit  wieder  ver- 
schwinden könnte^).  —  Es  ist  von  Interesse,  dies  hervor- 

sich  dies  in  einer  den  Begriffen  seiner  Zeit  angemessenen  Weise 
als  eine  „hereditas  quasi  debita,"  also  durch  Motive  der  Fa- 
milienliebe usw.,  erklärt.  Allein  wie  falsch  diese  Erklärung 
ist,  ist  am  einfachsten  damit  bewiesen,  daß  ja  auch,  wie  die 
L.  63  zeigt,  der  eingesetzte  Sklave  dasselbe  Vorrecht  hat, 
wie  der  suus,  und  bei  ihm  doch  gewiß  von  keiner  hereditas 
quasi  debita  die  Rede  sein  kann !  Es  zeigt  sich  also  hierin 
wieder  unwiderleghch,  daß  alles  im  zivilen  Erbrecht  Wurzelnde 
lediglich  aus  der  Strenge  des  spekulativen  Begriffes,  wie  er 
sich  hier  durch  seine  Komplikation  mit  dem  Im  Verhältnis  der 
Personengewalt  vorliegenden  Begriff  der  Willensiden- 
tität gestaltet,  herfließt  und  lediglich  aus  Ihm  erklärt  werden 
kann,  während  von  einem  ,, Recht  der  Familienglieder",  welches 
(siehe  z.  B.  Böcking,  Pandekten,  I,  133,  Note  8)  die  eigent- 
liche Substanz  des  römischen  Erbrechtes  sein  soll,  wie  wir 
dies  nun  schon  so  oft  nachgewiesen  haben,  gar  keine  Rede  Ist. 
■^)  Weshalb  denn  also  auch  keine  Rede  davon  sein  kann,  daß 
das  Testament  wegen  Einsetzung  eines  furlosus  nichtig  wäre. 
Vielmehr  wird  es  auch  nach  streng  zivilrechtlichen  Grundsätzen 
wirksam  sein,  wenn  der  furlosus  nur  zur  Zelt  der  Aditlon 
wieder  gehellt  ist. 

479 


zuheben,  weil  sich  von  hier  aus  der  innere  Fortgang  zu 
der  Verordnung  des  Justinian  in  den  §§  7  und  8  der 
L.  7  C.  de  cur.  für.  ergibt.  Nach  derselben  soll  nämlich  der 
Kurator  des  Wahnsinnigen  vorläufig  antreten  und  die  Güter 
verwalten  mit  der  Bestimmung,  daß,  wenn  der  Wahnsinnige 
vernünftig  wird  —  und  also  in  die  faktische  Lage  kommt, 
jene  Tätigkeit  auszuüben,  und  die  Erbschaft  annimmt  — , 
sie  als  eine  ihm  erworbene  gelte,  daß  dagegen,  wenn  er 
im  Wahnsinn  stirbt  oder,  vernünftig  geworden,  sie  aus- 
schlägt, die  Erbschaft  als  ihm  niemals  erworben  betrachtet 
wird  und  an  diejenigen  gelangt,  an  die  sie  gelangt  wäre, 
si  non  in  medio  erat. 

Freilich  ist  auch  hier  wieder  ersichtlich,  wie  sehr  dabei 
die  Anschauung  des  Erbtums  als  eines  Vermögenserwerbes 
den  zivilistischen  Erbtumsbegriff  in  den  Flintergrund  ge- 
drängt hat  und  nur  dadurch  der  von  Justinian  ergriffene 
Weg  möglich  ist.  Denn  bei  strenger  Festhaltung  des  Erb- 
begriffes könnte  der  Kurator  auch  nicht  einmal  vor- 
läufig antreten,  da,  solange  der  Erbe  nicht  weiß,  die 
Erbschaft  ihm  —  wir  \verden  später  sehen,  warum  — 
auch  noch  nicht  einmal  deferiert  ist^). 

Wenn  aber  der  nicht  Wissende,  und  darum  auch  der 
Wahnsinnige,  nicht  antreten  kann,  so  müßte  es  als  eine 
Forderung  der  Konsequenz  erscheinen,  daß  auch  der  Un- 
mündige nicht  antreten  könne.  Denn  sowohl  als  infans 
wie  auch  noch  als  impubes,  der  älter  als  sieben  Jahre, 
fehlt  ihm  gleichfalls  noch  wie  dem  Wahnsinnigen  dies : 
fürsich seiender  Geist  zu  sein.  Es  fehlt  ihm  dies 
Fürsichsein  der  Vernunft  aus  einem  Altersgrunde, 
somit  gleichfalls,  wie  bei  dem  Wahnsinnigen,  aus  einem 

^)  Vgl.  vorläufig  Ulpian,  L.  1,  §  5.  de  succ.  ed.  (38,  10): 
,,Furiosi  curator  nequaquam  potent  repudiare,  quia  necdum 
delata    est."  und  Paulus.  L.  90  pr.   eod.  tit- 

480 


natürlichen  Grunde.  Es  scheint  daher,  daß  beide,  das 
Kind  wie  der  Wahnsinnige,  nur  ganz  gleichmäßig  zu  be- 
handeln sein  müßten.  Gleichwohl  kann  der  Unmündige 
unter  Assistenz  des  Tutors  antreten.  Und  vielleicht  könnte 
man  in  der  Tat  meinen,  daß  hier  der  einzige  Punkt  wäre, 
wo  sich  das  Zivilrecht  eine  Abweichung  von  jener  un- 
erbittlichen Konsequenz  des  spekulativen  Begriffes  aus 
Billigkeitsrücksichten  gestattet  habe.  In  Paulus  wenigstens 
lebt  noch  genug  von  jener  rigorosen  Strenge  des  zivil- 
rechtlichen Geistes,  um  ihm  dies  als  eine  solche  Ab- 
weichung erscheinen  zu  lassen.  Er  sagt,  indem  er  selbst 
auf  diesen  Vergleich  zwischen  dem  Unmündigen  und  dem 
Wahnsinnigen  gerät  ^)  :  ,,Pupillus,  si  fari  possit,  licet  hujus 
aetatis  sit,  ut  causam  acquirendae  hereditatis  non  inteiligat, 
quamvis  non  videtur  scire  hujusmodi  aetatis  puer  —  neque 
enim  scire,  neque  decernere  talis  aetas  potest,  non  magis 
quam  furiosus  —  tamen  cum  tutoris  auctoritate,  here- 
ditatem  acquirere  potest ;  hoc  enim  favorabiliter  Vis  praesta- 
tiir."  Die  letzten  hervorgehobenen  Worte  zeigen  deutlich 
genug,  daß  Paulus  dies  als  eine  nicht  im  Geiste  des  Zivil- 
rechtes liegende  äußerliche  Hilfe  und  beneficium  be- 
trachtet^). 

Es  verhält  sich  dies  jedoch  nicht  ganz  so.  Ein  Unter- 
schied ist  allerdings  zwischen  Kind  und  Wahnsinnigen. 
Das  Kind  wird  eines  Tages  Vernunft  haben,  was  vom 
Wahnsinnigen  nicht  gilt.  Das  Kind  ist  also  in  der  Tat 
geistiges  Fürsich  sein,  aber  nur  erst  noch  im  Keime. 


1)  L.   9  de  acqu.   vel  om.  her.   (29.  2). 

2)  Vgl.  Paulus,  L.  32.  §  2.  de  acqu.  poss.  (41.  2):  „In- 
fans  possidere  recte  potest.  si  tutore  auctore  coepit;  nam  jiidi- 
cium  infantis  suppletur  auctoritate  tutoris;  utüitatis  enim  causa 
hoc  receptum  est,  nam  alioquin  nullus  consensus  est  infantis 
accipienti  possessionem." 

9  LMsaUe.   G«.  Sckrift«n.   Band  XU  481 


Es  ist  das  An  sich  eines  fürsichseienden  Geistes. 
Der  Wahnsinnige  aber,  gerade  weil  er  bereits  ein  Für- 
s ichsein  gewesen  ist  und  dies  verloren  hat,  hat  es  nun- 
mehr überhaupt  verloren  und  erlangt  es  durch  keine  nor- 
male und  notwendige  Entwickelung  mehr  zurück. 
Er  ist  also  nur  noch  ansichseiender  Geist,  Geist  an 
sich,  aber  nicht  mehr  das  An  sich  eines  Fürsich- 
seins. Sehr  gut  trifft  diesen  Unterschied  Alciatus^): 
..Quapropter  ei  infantl  proprie  dicitur  delata  (hereditas) 
qui,  quamvis  ignoret,  tarnen  praesumitur,  quod  f actus  adul- 
tior  seiet;  at  fiirlosiis  nee  seit  nee  seitiinis  praesumitur, 
unde  illi  non  pleno  jure,  sed  miserationis  causa  ratione 
fructuum  providetur."  Deshalb  kann  also  der  Unmündige 
antreten,  aber  es  kann  deshalb  nicht  der  Tutor  für  ihn 
antreten,  sondern  er  muß  es  selbst  unter  Assistenz 
des  Tutors^),  welcher  nur  die  Ergänzung^)  seines 
an  sich  vorhandenen  Fürsichseins  darstellt.  Wie  dies 
überhaupt  die  Bedeutung  des  Tutors  ist,  äußerlich  die 
in  dem  Unmündigen  nur  als  Anlage  immanente,  aber  noch 
nicht  zum  Fürsichsein  gelangte  Vernunft  darzustellen,  so 
bildet  er  zusammen  mit  dem  Tutor  ein  wahrhaftes 
geistiges   Fürsichsein. 


XXXVIII.    Die  Delation  und  das  Wissen. 

Aus  der  bisherigen  Erörterung  über  das  zur  Adition 
erforderliche  Wissen  ergibt  sich  nun  erst  die  innere 
Auflösung  eines  fast  komischen  circulus  vitiosus,  in  welchem 

^)  Comm.  in  ff.  tit.  de  verb.  sign.,  II,   1023  (ed.  Francof. 

1617). 

")  Bis  Theodosius  dies  ändert.  L.  18  C  de  jur.  del-  (6.  30). 
^)  Judicium  infantis  suppletar   auctoritate  (wofür  besser  noch 
gesagt  w'diYQ.  judiäo)  tutoris;   s.  Note  2  auf  S.  481. 

482 


sich  die  Juristen  unbewußt  über  die  Delation  und  Adition 
der  Erbschaft  bewegen. 

Fragt  man  nämlich,  wann  kann  die  Adition  der  Erb- 
schaft erfolgen,  so  geben  die  Juristen  zur  Antwort :  Wenn 
die  Erbschaft  deferiert  ist.  Und  in  der  Tat  kann  keine 
andere  juristische  Antwort  gegeben  werden.  Denn  der  er- 
folgte Tod  des  Testators  reicht  durchaus  noch  nicht 
hin,  um  antreten  zu  können.  Die  Erbeinsetzung  kann  be- 
dingt, kann  substitutarisch  sein;  die  Frau  kann  sich  für 
schwanger  halten  usw.  Kurz,  eine  Reihe  objektiver  Um- 
stände kann  die  Wirkung  haben,  daß  trotz  des  erfolgten 
Todes  die  Delation  noch  nicht  erfolgt  ist,  und  es  be- 
ruht also  auf  guten  Gründen,  daß  auf  die  Frage,  wann 
kann  die  Adition  erfolgen,  geantwortet  werden  muß : 
Dann,  wenn  die  Delation  erfolgt  ist.  Ulpian^):  ,,Sed 
ita  demum  pro  berede  gerendo  acquiret  hereditatem,  sl 
lam  Sit  et  delata!'  Fragt  man  aber  nun  weiter:  Und 
wann  ist  die  Delation  erfolgt,  so  erhält  man  von 
den  Juristen  zur  Antwort:  wenn  die  Adition  erfolgen 
kann^).  ,,Delata  hereditas  intelligitur,  quam  quis  possit 
adeundo  consequU' 

Ein  offenbarerer  circulus  vitiosus,  bei  dem  man  sich 
gleichwohl  harmlos  zufrieden  gibt,  kann  also  wohl  schwer- 
lich in  irgendeiner  Wissenschaft  gefunden  werden. 

Allein  die  Auflösung  und  der  Ursprung  dieses  Zirkels  muß 
sich  jetzt  aus  den  früheren  Erörterungen  von  selbst  ergeben. 

Werfen  wir,  um  dies  ganz  deutlich  hervortreten  zu 
sehen,  zunächst  die  folgende  Frage  auf :  Ohne  das 
Wissen  des  Erben  kann,  wie  wir  sahen,  die  Adition 
nicht  wirksam  stattfinden.  Kann  man  aber  so  weit  gehen, 
zu  sagen,  daß  ohne  jenes  Wissen  auch  die  Delation 

1)  L.  21,  §  2.  de  acq.  her.   (29.  2). 

2)  L.  151  de  verb.  sign.  (50.  16). 

ö*  483 


nicht  einmal  erfolgt  sei,  die  Erbschaft  also  dem  Erben, 
solange  er  nicht  weiß,  auch  noch  nicht  deferiert  ist? 
Alciatus  behauptet  dies  (a.a.O.,  Note  1  zu  S.  482). 
Die  Meinung  dagegen  ist  die  entgegengesetzte,  daß  das 
Wissen  des  Erben  nur  zur  Adition  gehöre,  nicht  aber 
zur  Delation  der  Erbschaft  an  ihn^).  Und  es  läßt 
sich  nicht  verkennen,  welche  unwiderlegliche  Verstandes- 
gründe hierfür  sprechen.  Die  Delation  soll  ja  eben  dem 
Erben  gegenüber  die  objektive  Seite  der  eingetretenen 
Erbschaft  bezeichnen,  das  seitens  des  Erblassers  und 
resp.  der  objektiven  Rechtsnormen  erfolgte  außerhalb 
des  Erben  liegende  Angebot  der  Erbschaft  an  ihn; 
sie  kann  also  die  subjektive  eigene  Tätigkeit  des 
Erben,  sein  Wissen  und  Tun,  nicht  als  Requisit  in 
sich  einschließen.  Ja,  dies  Wissen  selbst  des  Erben 
soll  ja  gerade  darin  bestehen:  die  Delation  der 
Erbschaft  zu  wissen,  z.B.  Donellus^):  ,,Generales 
conditiones  tres  sunt,  quibus  voluntate  acquiri  hereditas 
potest;  prima  .  .  .  secunda,  si  heres  sibl  delatam  sciat"; 
oder  z.  B.  Savigny,  der  das  erforderliche  Wissen  des 
Erben  als  ein  Wissen  „über  die  Art  der  Delation" 
definiert"^).  Das  Wissen  setzt  also  hiemach  die 
Delation  schon  als  seine  eigene  Voraussetzung 
und  seinen   Gegenstand   voraus,   und  es   kann  somit 

•^)  Siehe  Heise  und  Cropp,  Jur.  Abhandlungen,  11,  123  fg. 
2)  Comm..  IIb.  VII,  c.  IV,  p.  293.  und  c.  V.  p.  295: 
,,Non  est  satls  ita  delatam  hereditatem  esse,  ut  acquiri  possit ; 
altera  conditio  est,  ut  sciat  heres  extraneus  sibi  delatam." 
Die  Juristen  beziehen  sich  hierbei  stets,  wie  auch  Donellus  da- 
selbst, auf  die  Inst.,  §  7  de  her.  quäl.  (2,  19).  Dort  ist  aber 
keineswegs  dasselbe  gesagt;  denn  dort  wird  nicht  von  Dela- 
tion gesprochen,  sondern  es  heißt  nur  ,,dummodo  sciat  .  .  . 
se  ei  hcredem  esse". 

^)  Siehe  oben  In  der  Note  zu  S.  440- 


484 


nicht  wieder  die  Delation  jenes  Wissens  voraus- 
setzen, ohne  daß  der  trostloseste  Zirkelgang  vorläge. 

So  unangreifbar  dies  nun  auch  vom  Verstandesstand- 
punkt wäre,  so  irrig  ist  es  gleichwohl,  da  im  Erbrecht 
überall  der  spekulative  Begriff  das  Herrschende  ist,  vor 
welchem  die  abstrakte  Trennung  und  Unterscheidung  jener 
beiden  Momente,  der  Delation  und  des  Wissens,  sich 
nicht  behaupten  kann.  Es  muß  dies  aber  auch  bereits 
durch  die  bisherigen  Entwickelungen  evident  geworden 
sein.  Denn  wir  haben  bereits  oben  (Nr.  XXXIV)  als 
das  Gesamtresultat  jenes  zur  Adition  erforderlichen 
Wissens  eben  dieses  nachgewiesen :  daß  der  zum  Erb- 
tum  Berufene  sich  zuvor  innerlich  zum  Erben,  zur 
Willensidentität  mit  dem  Erblasser,  selbst  machen  muß, 
ehe  er  realiter  antreten  kann.  Der  Erbe  ist  es  also 
selbst,  der  durch  sein  inneres  Fürsichsein  die 
Sache  in  die  Lage  bringt,  daß  er  antreten  kann;  er  ist 
es  selbst,  der  sich  die  Möglichkeit  des  Erwerbes  der 
Erbschaft  erst  selber  bereitet;  er  ist  es  in  letzter 
und  entscheidender  Instanz  somit  selbst,  der 
sich  die  Erbschaft  deferiert. 

Wie  der  Angerufene  nur  dann  ein  wirklich  Angerufener 
ist,  wenn  er  vernommen  hat,  dies  Hören  aber  ein  Akt 
der  inneren  physiologischen  Tätigkeit  des 
Hörenden  selbst  ist,  so  ist  die  Erbschaft  nur  dann 
für  den  Erben  vorhanden,  nur  dann  ihm  deferiert, 
wenn  sie  eben  in  sein  Fürsichsein  eingetreten  ist.  Denn  im 
Erbtum  handelt  es  sich  ja  eben  nicht  um  eine  Sache, 
die  auch  ohne  Wissen  —  z.  B.  ex  lege  oder  durch 
Vindikationslegat  (s.  oben  Nr.  XV)  —  sogar  erworben 
werden  kann^),  sondern  es  ist  nichts  Geringeres,  als  die 

^)  Daß  die  per  vindicationem  legierte  Sache  auch  ohne 
Wissen   des   Legatars   ihm   jedenfalls   schon    angeboten   ist. 

48S 


geistige  Identität  des  Fürsichseins  selbst  mit 
einem  anderen  Fürsichsein,  die  zustande  kommen  soll, 
und  die  eben  deshalb,  weil  der  Gegenstand  der  Offerte 
hier  der  Austausch  und  die  Gleichsetzung  des  Fürsich- 
seins selbst  ist,  erst  dann  dem  Erben  angeboten  ist, 
wenn  dieser  Wille  des  Erblassers  an  das  Fürsichsein  des 
Erben  herangetreten  und  für  dasselbe  geworden  ist. 
Wie  es  in  dem  testamentum  per  aes  et  libram  in  seiner 
alten  Gestalt  —  welches  Testament,  wie  wir  sahen 
(Nr.  VIII),  nichts  anderes  als  das  entwickelte  Gesetzt- 
sein aller  Momente  der  Testaments i d e e  in  der  for- 
mellen Handlung  des  Testaments a k t e s  darstellt  — 
gar  nicht  einmal  möglich  wäre,  zu  testieren,  ohne  das 
Wissen  des  wahren  Erben  (des  familiae  emptor) ;  wie 
dieser  also  als  Mit  fungierender  es  ist,  welcher  dem  Testator 
das  Testieren  erst  ermöglicht :  so  \vird  nun  in  der  späteren 
Gestalt  des  Testamentes  diese  geschlossene  Gleichzeitig- 
keit der  Handlung  in  der  Form  zwar  entzweigerissen, 
aber  von  den  Momenten  der  Idee,  die  in  jener  Form 
vorlagen,  fällt  keins  hinweg,  und  sie  verlangen  daher  jetzt 
als  inhaltliche  Momente  ihre  nunmehr  zeitlich  aus- 
einanderliegen könnende  Erfüllung,  damit  eine  Delation 
des  Erbtums  erfolgt  sei.  Und  darum  ist  jetzt  das  Wissen 
des  Erben,  das  Präsent  werden  des  erblasserischen 
Willens  für  ihn  erforderlich,  damit  Delation  vorhanden  sei. 
Erst  der  Erbe  selbst  ist  es  also,  der  durch  sein 
Wissen  die  Delation  der  Erbschaft  bewirkt  und 
die  Sache  in  die  Lage  bringt,  daß  er  antreten  oder  repu- 
diieren   kann.    Alciatus   hat   daher   ganz   recht,   daß   das 

geben  auch  die  Prokulejaner  zu  (siehe  a.  a.  O.),  und  so  zeigt 
sich  hier  wieder  in  scharfem  Nebeneinander  der  Unterschied 
zwischen  dem  Willens  erbtum  und  dem  Ve  r  m  ö  g  e  n  s  Ver- 
mächtnis. 

486 


Wissen  des  Erben  für  das  Dasein  der  Delation  not- 
wendig ist.  Und  wie  dies  mit  unabweislicher  Evidenz 
aus  dem  spekulativen  Begriffe  folgt,  so  zeigen  es  ebenso 
unumstößlich  die  positiven  Beweisstellen,  vor  allem  die 
bedeutungsvollen,  schon  oben  (S.  480,  Note  1)  angezoge- 
nen Worte  Ulpians,  daß  die  Erbschaft  des  Wahnsinnigen 
nicht  nur  nicht  angetreten  werden  könne,  sondern  ihm 
sogar  noch  nicht  deferiert  sei  (quia  necdiim  delata 
est,  weshalb  sie  auch  nicht  ausgeschlagen  werden  kann). 
Und  ebenso  die  gleichfalls  bereits  bezogene  L.  151,  welche 
die  Delation  erst  dann  für  eingetreten  erklärt,  wenn 
der  äußere  Aditionsakt,  dem,  wie  wir  zeigten,  das  Wissen 
ideell  vorhergehen  muß,  bereits  eintreten  kann. 

Dies  Resultat,  daß  es  erst  der  Erbe  selbst  ist, 
welcher  die  Delation  der  Erbschaft  an  sich  hervorbringt, 
ist  ein  höchst  bedeutsames,  und  mit  dem  Geiste  unserer 
gesamten  Darstellung  in  tiefster  Übereinstimmung  stehen- 
des. Es  zeigt,  wie  im  höchsten  Maße  der  Erbschafts- 
erwerb ein  überall  nur  aus  der  eigenen  Willensaktion 
des  Erben  entspringender  ist,  wie  er  nicht  nur  die  Wirk- 
lichkeit des  Erwerbes  (Adition),  sondern  auch  die 
Möglichkeit  des  Erwerbes  (Delation),  die  ihm  äußer- 
lich nur  vom  Erblasser  dargereicht  zu  sein  scheint,  viel- 
mehr sich  selbst  darreicht  und  seinem  eigenen  Fürsichsein 
verdankt.  Und  dies  kann  nicht  wundern,  daß  bei  einem 
Erwerb,  der  gerade  darauf  gegründet  ist,  daß  er  W  i  1 1  e  n  s  - 
identität  mit  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers 
ist,  sein  Wille  als  Subjekt  der  ganzen  Bewegung  er- 
scheint^). 


^)  Was  auf  den  Erblasser  allein  Icommt,  getrennt  vom 
Erben,  ist  nur  dies,  daß  er  dem  Erben  die  Delation  möglich 
macht.  —  Und  mehr  kann  ja  in  der  Tat  auf  den  toten  Willen, 

487 


Freilich,  wenn  wir  sagen,  der  Erbe  bringe  erst  durch 
sein  Wissen  die  Delation  der  Erbschaft  hervor,  so  scheinen 
wir  immer  rettungslos  in  den  obigen  Kreislauf  zu  ver- 
fallen. Denn  dies  Wissen  scheint  eben  nur  das  Wissen 
davon  zu  sein,  daß  ihm  die  Erbschaft  deferiert  ist,  setzt 
also  immer  die  Delation,  die  es  erst  hervorbringen  soll, 
voraus.  Allein  der  Schein  dieser  Zirkelbcv/egimg  liegt 
jetzt  nur  noch  an  dem  juristischen  Terminus:  Erbschaft, 
und  verschwindet,  sowie  man  diesen  in  die  Sprache  des 
Begriffes  auflöst.  Denn  dann  wird  der  Satz  vielmehr 
heißen:  Der  Erbe  bringt  durch  sein  Wissen  davon,  daß 
der  einseitige  Wille  des  Erblassers  sich  zur  Willens- 
identität mit  ihm  bestimmt  hat,  die  Delation  der 
hereditas  und  alles  von  ihr  Dependierende  sich  hervor : 
er  bringt  erst  durch  sein  Wissen,  daß  der  Erblasser 
geistige  Identität  mit  ihm  sein  will,  die  Mög- 
lichkeit für  seinen  eigenen  Willen  hervor,  geistige 
und  also  bewußte  Identität  mit  jenem  zu  sein.  Und 
so  gefaßt  ist  der  Satz  ebenso  klar  wie  ohne  jeden  Zirkel. 
—  Durch  das  Vorstehende  hat  sich  nun  aber  auch  jener 
zuerst  berührte  Zirkel  bei  der  Frage  nach  der  Delation 
und  Adition  ebenso  aufgelöst,  als  in  seinem  Ursprünge 
erklärt.  Er  entspringt  einfach  daraus,  daß  man  mit  dem 
einfachen  Ausdruck  der  Adition  das  Ganze  der  Willens- 
handlung des  Erben  zu  belegen,  und  dennoch  nur  an  ihren 
äußerlichen  Akt,  die  solenneile  Erklärung,  zu  denken 
pflegt,  i  n  dieser  Adition  selbst  aber,   damit  ihr  äußerer 


der  nach  dem  Tode,  also  zu  einer  Zeit,  wo  er  an  sich  nicht 
mehr  existiert  und  wollen  kann,  fortgesetzt  sein  will,  nicht 
kommen,  als  daß  er  einem  geltenden  Willen  den  Anstoß  zu 
der  Erwägung  gibt,  ob  er  ihn  fortsetzen  will  oder  nicht.  Er  für 
sich  allein  also  ruft  oder  beruft  nur,  aber  deferiert 
noch  nicht. 

488- 


Akt  wirksam  eintreten  kann,  wie  wir  oben  zeigten,  ein 
innerlicher  Prozeß  und  eine  innere  Tätigkeit 
seitens  des  Erben  vorhergeht  und  vorhergehen  muß,  welche 
das  Wissen  und  somit  die  Hervorbringung  der 
Delation  erst  in  sich  enthält.  Delationswirklich- 
keit  und  Aditionswirklichkeit  sind  daher  absolut 
identische  Momente  des  Begriffes,  die  nur  in 
ihrer  juristischen  Verstandestrennung  als  unterschieden, 
als  ein  Vorher  und  Nachher  erscheinen  können.  Auf  die 
Frage,  wann  die  Delation  da  ist,  wie  auf  die  Frage, 
wann  die  Adition  eintreten  kann,  wird  es  daher 
nur  die  eine  begriffliche  Antwort  geben:  wenn  der  Erbe 
die  Wiilensbeziehung  des  Erblassers  auf  ihn  als  eine  zur 
kontinuierenden  Identität  mit  seiner  Willenssubjektivität 
berechtigende,  und  zwar  in  der  genauen  qualitativen 
Bestimmtheit  dieser  Willensbeziehung,  weiß^).  Die 
Frage  nach  dem  einen,  wie  nach  dem  anderen  Zeit- 
punkt wird  daher  auch  in  ihrer  juristischen  Beantwortung 
stets  absolut  zusammenfallen  müssen,  eine  Identität,  die 
aber  erst  dann  begriffliche  Identität  statt  sinnlosen  Zirkels 
ist,  wenn  man  eben  begi-^ift,  wie  es  das  eigene  Fürsich- 
sein des  Erben  ist,  welches  erst  die  Delation  hervorbringt. 


^)  Es  liegt  aber  jetzt  auf  der  Hand,  weshalb  die  von  Savigny 
(siehe  oben  S.  484,  Note  3)  und  anderen  gegebene  Definition 
des  zum  Erbtum  notwendigen  Wissens :  es  bestehe  in  dem 
Wissen  über  die  Art  der  Delation,  gänzlich  unzulässig  Ist, 
da  die  Delation  selbst  erst  durch  das  Wissen  zustande  kommt. 


489 


XXXIX.  Das  jus  adeundi.  Die  Transmission. 
Das  SC,  Silanianum.  Das  karbonianische  Edikt. 
Die   transmissio   theodosiana   und    justinianea. 

Aus  dem,  was  wir  bisher  über  die  Adition  entwickelt 
haben,  ist  jetzt  nun  zugleich  die  innere  Notwendigkeit 
ersichtlich,  weshalb  nach  römischem  Recht  der  Erbe  die 
noch  nicht  angetretene  Erbschaft  (also  das  bloße  jus 
adeundi)  auf  seine  Erben  nicht  transmittiert  und  unmög- 
lich transmittieren  kann^).  Denn  er  ist  noch  gar  nicht 
Erbe,  solange  er  sich  nicht  durch  den  dargelegten  inner- 
lichen, in  der  Adition  vor  sich  gehenden  Willens- 
prozeß zum  Erben  gemacht  hat,  und  es  ist  nur  ein 
uneigentlicher  und  verwirrender  Sprachgebrauch,  vor 
dieser  entscheidenden  Entschließung,  die  ihn  erst  als 
Erben,  als  Willensidentität  mit  dem  Erblasser  hervor- 
bringt, ist  durch  Antizipation  einen  Erben  zu  nennen. 
Was  fehlt,  solange  die  Adition  fehlt,  ist  nicht  ein  äußerer 
Akt,  eine  Erklärung,  die  dann  etwa  durch  den  Sukzessor 
seiner  Rechte  nachgeholt  werden  könnte,  sondern  es  fehlt 
jetzt  das  Substantielle  selbst,  worauf  dies  Recht 
des  äußeren  Antretens  beruht ;  denn  es  fehlt  dies,  daß 
er  sich  zur  inneren  Identität  mit  der  Willens- 
subjektivität des  Erblassers  bestimmt  und  ge- 
macht hat,  es  fehlt  also  das,  ohne  was  der  Erbe  selbst, 
wenn  er  lebte,  nicht  antreten  könnte.  Wäre  das  Erbtum 
in  einem  Wesen  ein  Vermögenserwerb,  so  könnte 
es,   da   die   Vermögensrechte  auf   die   Erben  übergehen. 


1)  L.  un.  C.  §  5  de  cad.  toll.  (6,  51)  „.  .  .  hereditatem 
etenim,  nisi  fuerit  adita,  transmitti,  nee  veteres  concedebant  nee 
nos  patimur." 

490 


logisch  sein,  daß  des  Erben  Erben  antreten  können.  Allein 
da  dies  supranaturalistische  Institut,  weit  entfernt  ein 
solcher  Vermögenserwerb  zu  sein,  vielmehr  nur  die  Perpe- 
tuierung  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers  dadurch, 
daß  sich  der  Erbe  mit  derselben  identisch  und  sie  als 
die  seinige  setzt,  zu  seinem  Wesen  hat,  wovon  dann  der 
Vermögenserwerb  nur  die  notwendige  und  sekundäre  Folge 
ist,  so  kann  hiervon  nicht  die  Rede  sein.  Denn  die  Sache 
steht  nun  so,  daß  der  vom  Erblasser  zur  Willensidenti- 
fikation mit  ihm  Berufene  diese  Identifikation  seiner- 
seits nicht  vollbracht,  sich  nicht  zur  Willensidentität  mit 
ihm  bestimmt  hat,  und  des  Erben  Erben  dies  nicht  können, 
weil  sie  vom  Erblasser  nicht  als  Willensidentität  mit 
ihm  gesetzt  sind.  Die  Sache  liegt  also  für  die  Erben 
des  Erben  wesentlich  und  ganz  so,  wie  sie  auch  für 
jeden  anderen  beliebigen  Nichterben  liegen  würde.  Frei- 
lich war  der  Rechtsvorgänger  jener  zum  Erbtum  berufen, 
und  hätte  sich  also  zur  Willensidentität  mit  dem  Erb- 
lasser machen  können,  wenn  er  nur  gewollt  hätte,  oder 
noch  lebte.  Aber  ebenso  könnten  dies  alle  anderen 
Menschen  auch,  wenn  sich  nur  der  Erblasser  zur  Willens- 
identität mit  ihnen  bestimmt  hätte.  Für  den  Begriff,  und 
darum  auch  für  das  Recht,  wiegen  sich  diese  beiden  bloßen 
Möglichkeiten  vollkommen  auf;  welcher  der  beiden 
Willen  auch  zur  Herstellung  der  Willensidentität  fehlt, 
das  Erbtum  ist  in  beiden  Fällen  gleichmäßig  nicht  zu- 
stande gekommen,  und  das  Verhältnis  des  ersten  Erb- 
lassers zu  des  Erben  Erben  ist  daher  kein  anderes,  als 
das  zu  allen  Menschen  überhaupt. 

Von  hier  aus  ist  nun  beiläufig  auch  erst  in  seiner 
innersten  Tiefe  klar,  warum  (vgl.  B.  I,  S.  705 — 722)  im 
römischen  Recht  bei  der  Erbschaft  von  einem  erworbe- 
nen  Rechte  vor  der  Adition   nicht  die  Rede  sein 

491 


kann^),  und  daher  jeder  vor  derselben  eintretende 
Rechtswechsel  ebenso  wie  die  faktische  Veränderung 
des  Todes  einwirken  muß. 

Das  Prinzip  also,  daß  nach  römischem  Erbrecht  die 
Erben  nicht  transmittieren,  heißt  mit  anderen  Worten  gar 
nichts  anderes,  als  daß  ohne  Adition  kein  Erbtum  ist. 
Und  dieser  Gmndsatz  ist,  wie  wir  gesehen,  so  sehr  das 
innerste  Fundament  alles  römischen  Erbrechtes,  daß  das- 
selbe ohne  ihn  eine  absolute  Unmöglichkeit,  ein  völlig 
um  seinen  Begriff  gekommenes  Institut  wäre.  Er  durch- 
dringt das  gesamte  römische  Erbrecht  und  gleichmäßig, 
weil  zum  Erbtum  überhaupt  erforderlich,  Testaments-  wie 
Intestatrecht,  und  zwar  so  sehr,  daß  er  auch  beim  suus 
nicht  fortfällt.  Denn  auch  bei  ihm  ist  die  Adition,  resp. 
das,  was  durch  sie  gesetzt  wird  (Willensidentifikation), 
nicht  etwa  überhaupt  nicht  erforderlich,  sondern 
sie  ist  es  nur  deshalb  nicht  mehr,  weil  sie  bei  ihm  schon 
vorliegt,  schon  stattgefunden  hat  durch  den  Akt 
des  Eintretens  in  die  Familie,  deren  ungelöstes  Glied  er 
ist,  durch  die  Geburt  (s.  oben  S.  313fg.). 

Dennoch  wird  die  Autorität  der  Juristen  die  Trans- 
mission zuerst  in  gewissen  Fällen,  dann  durch  die  Konsti- 
tutionen der  Kaiser  bei  gewissen  Personen,  endlich  durch 
eine  Verordnung  Justinians  in  gewisser  Weise  bei  allen 
Erben  eingeführt.  Dies  scheint  dem  eben  Gesagten  zu 
widersprechen.  Denn  es  würde  hierdurch  scheinen,  im 
Laufe  der  historischen  Bewegung  dahin  gekommen  zu 
sein,  daß  das  Prinzip  der  Adition  aufgehört  habe,  die 
Grundlage  des  Erbtums  zu  sein.  Dann  aber  würde  das 
römische  Erbrecht  fortan  nur  noch  ein  wirrer  und  sinn- 


••■)  Speziell  über  das  Intestaterbrecht  in  dieser  Hinsicht  siehe 
SUD  Nr.  XL.  .  . 

492 


loser  Widerspruch  gegen  sich  selbst  gewesen  sein.  Eine 
solche  Veränderung  konnte  selbst  zur  Zeit  Justinians 
nicht  möglich  sein.  Wir  haben  vielmehr  bisher  überall  ge- 
zeigt, daß  durch  alle  historische  Entwickelung  und  durch  alle 
allmählich  in  dieser  vor  sich  gehende  Entäußerung  seines 
ursprünglichen  spekulativen  zivilrechtlichen  Begriffes  hin- 
durch, und  selbst  bis  in  die  Umwandlung  hinein,  die  das  Erb- 
recht unter  Justinian  erfährt,  immer  noch  ein,  wenn  auch 
immer  dünnerer  Zusammenhang  mit  dem  speku- 
lativen Begriff  des  zivilen  Erbrechtes  bewahrt  wird: 
daß  derselbe  in  dieser  historischen  Bewegung  ebenso 
Schritt  für  Schritt  aufgehoben,  als  noch  festgehal- 
ten wird.  Das  Prinzip  der  Adition  aufgeben,  im  Sinne 
des  Verstandes,  würde  nichts  anderes  geheißen  haben, 
als  alles  römische  Erbrecht  aufheben.  Es  war  dies  für 
das  römische  Recht  unmöglich,  solange  die  römische  Welt 
auch  nur  den  leisesten  und  entferntesten  Zusammenhang 
mit  ihren  geistigen  Traditionen  bewahrte,  solange  dies 
Recht  nicht  radikal  in  einen  anderen  Volksgeist  überging. 

Es  wird  daher  unsere  letzte  Aufgabe  sein  müssen,  über- 
einstimmend mit  dem,  was  wir  bisher  stets  an  den  ver- 
schiedenen Instituten  und  Sätzen  des  Erbrechtes  in  bezug 
auf  die  historische  Entwickelung  desselben  nachge\viesen 
haben,  auch  hier  wieder  zur  Darstellung  zu  bringen,  wie 
sich  das,  was  sich  uns  als  der  Begriff  der  Adition 
ergeben  hat,  und  was  also  den  Grundsatz  der  Nicht- 
transmission  hervorbringt,  durch  alle  Zulassungen  der 
Transmission  hindurch  und  bis  in  die  justinianeische  Ver- 
ordnung hinein  prinzipiell,  wenn  auch  in  mählich  erblassen- 
der Lebendigkeit  immer  noch  festgehalten  wird. 

In  den  Digestenstellen,  in  welchen  die  Transmission 
zugelassen  wird,  ist  dies  Festhalten  des  begrifflichen  Prin- 
zipes  noch  in  aller  Kraft  vorhanden  und  völlig  evident. 

493 


Der  erste  Fall  Ist  derjenige  des  SC.  Silanlanum. 
Wenn  der  Testator  ermordet  worden,  so  zeigt  sich  die 
innere  und  wahre  Identität  der  Willenssubjektivität  des 
Erben  mit  ihm  gerade  darin,  daß  der  Erbe  vor  allem 
zur  Rache  seines   Mordes  eilt^). 

Das  SC.  Silanianum  bestimmt  daher,  daß  die  Er- 
öffnung der  tabulae  und  die  Antretung  der  Erbschaft 
(s.  Nr.  XXX)  nicht  stattfinden  kann,  bis  an  den  Sklaven, 
die  mit  dem  Ermordeten  unter  einem  Dache  waren,  die 
peinliche  Frage  vollzogen  und  die  Schuldigen  bestraft 
worden^).  Ja,  das  Edikt  sagt  sogar,  daß  der  Erbe  sich 
eines  dolus  malus  schuldig  mache,  der  früher  zur  Er- 
öffnung der  Tafeln  schreitet.  Wie  hier,  wo  man  zunächst 
nur  an  eine  culpa  denken  sollte,  von  einem  dolus  die 
Rede  sein  kann,  würde  schlechthin  unbegreiflich  sein,  wenn 
es  nicht  seine  Erklärung  in  dem  oben  (Nr.  XXXV)  über 
den  Erbdolus  Entwickelten  in  Verbindung  mit  dem  soeben 
Gesagten  fände.  Denn  der  Erbe,  der  an  sich  und  seine 
Antretung  denken  würde,  ehe  jene  pflichtmäßige  Unter- 
suchung und  Strafe  an  den  schuldigen  Sklaven  vollzogen 
ist,  würde  eben  zeigen,  daß  er  sich  durchaus  nicht 
identisch  mit  dem  Erblasser  fühlt.  Er  würde  somit 
zeigen,  daß  er  nur  Vermögensnehmer  des  Toten,  nicht 
aber,  wofür  er  sich  ausgibt,  Willensidentität  mit  ihm  und 
seinem  um  Rache  schreienden  Blute  ist ;  er  würde  also 
gerade  das  begehen,  was  wir  oben  als  das  Wesen  des 
Erbdolus  nachgewiesen  haben.  Das  wahre  Wesen  des 
Erben  erfordert  hier  also  gerade,  daß  die  Adition  solange 


1)  Marclanus.  L.  15,  §§  1  u.  2.  de  SC.  Silan.  (29.  5): 
, .Heredibus  autem  qui  in  ulciscenda  morte  defuncti  cessaverunt, 
tarn  testamento  quam  ab  intestato  auferuntur  bona,  forte  et  si 
quasi  patronus  venit.   quamvls  hi   suo  jure  admittuntur." 

2)  Ulpian.  L.  3.  §  18.  de  SC.  Silan.  (29,  5). 

494 


unterbleibt.  Wenn  nun  aber  der  Erbe  in  dieser  Zwischen- 
zeit gleichfalls  stirbt?  Wenn  es  feststeht,  daß  es  nur 
wegen  des  SC.  Silanianum  die  Antretung  nach  dem  Vorigen 
unterlassen  hat,  so  hat  er  in  diesem  Falle  gerade  durch 
diese  einstweilige  Unterlassung  der  Adition  und 
seines  mit  ihr  gegebenen  persönlichen  Erwerbes  sich  eben 
als  echten  Erben,  als  echte  Identität  mit  dem  Erblasser 
gezeigt  und  betätigt,  wie  sonst  durch  die  Adition  selbst. 
Darum  transmittiert  er  in  diesem  Falle.  Und  dennoch 
soll  er  selbst  in  diesem  Falle,  da  es  zu  jener  for- 
mellen Identifikation,  die  vorzunehmen  er  diesmal  gerade 
durch  den  inneren  Begriff  des  Erbtums  gehindert 
wurde,  nicht  gekommen  ist,  nur  utiles  actiones,  nicht  direkte 
erhalten^):  ,, Eleganter  Scaevola  ait,  ut  quis  ad  heredem 
suum  utiles  actiones  transmittat,  si  forte  ante  aditionem 
decessit,  exploratum  esse  debere  idclrco  eum  non  adire, 
quod  senatusconsulto  Edictoque  terreatur."  Wie  wenig 
dies  aber  etwa  in  dem  Sinne  einer  bloßen  Billigkeit  zu 
nehmen  ist,  zeigt  sich  sofort  darin,  daß,  wenn  außer 
diesem  Hindernis  noch  ein  anderes  zeitweiliges  Hinder- 
nis der  Adition  obwaltete,  z.  B.  wenn  die  hinterlassene 
Frau  des  Ermordeten  fälschlich  für  schwanger  gehalten 
wurde,  der  Erbe  nicht  transmittiert^). 

Würde  nämlich,  wie  man  dies  allerdings  allgemein  hat 
auffassen  wollen,  die  Transmission  hier  nur  deswegen  zu- 
gelassen, weil  der  Erbe  durch  das  positive  y^  selbst  an 


1)  Ulpian,  L.  3.  §  30  h.  tit.  (29.  5). 

^)  §  32  1.  1. :  „Si  et  aliud,  impedimentum  sit  de  non  adeunda 
hereditate,  vel  aperiundarum  tabularum,  sit  et  senatusconsulti, 
nihil  prodesse  impedimentum  senatusconsulti,  si  et  aliud  fuit, 
veluti  si  praegnans  uxor  occisi  fuit,  vel  etiam  putabatur,  et 
propterea  adire  hereditatem  institutus  non  potuerit" ;  vgl.  Pa- 
pinian,  L.  4  eod.  tit. 

495 


der  Adiiiön  gehindert  ist  und  hierunter  nicht  leiden  soll, 
so  würde  diese  Billigkeit  auch  dann  Platz  greifen  müssen, 
wenn  neben  diesem  Hindernis  noch  ein  anderes  und  gleich- 
falls vorübergegangenes  bestanden  hat.  Denn  was  könnte 
für  jene  Billigkeit  darauf  ankommen,  ob  der  Erbe  in 
einer  Zeit,  in  welcher  er  trotz  alles  Wissens  durch  das 
jus  an  der  Adition  gehindert  war^.  wußte,  ob  die  Frau 
nicht  schwanger  war  ?  Allein,  wenn  ein  solches  Hinder- 
nis konkurrierte,  so  hat  sich  der  Erbe  auch  gar  nicht 
innerlich  als  Erben  gewußt,  und  die  Nichtadition 
kann  also  hier  auch  nicht  als  die  Betätigung  jener  ent- 
scheidenden Erbgesinnung,  als  Darlegung  jener  die  äußere 
Adition  zurückdrängenden  inneren  substantiellen  Identität 
ausgegeben  werden,  als  welche  sie  bei  den  bloß  durch 
das   SC.   gehinderten   Erben  ausgelegt  wird. 

Nach  dem  Karbonianischen  Edikt  kann  der  testamen- 
tarische Erbe,  der  den  unmündigen  präterierten  filius  als 
untergeschoben  bestreitet,  die  bonorum  possessio  secundum 
tabulas  inzwischen  nicht  begehren,  dieselbe  wird  vielmehr 
contra  tabulas  dem  filius  erteilt  und  die  Entscheidung  des 
Rechtsstreites  bis  zur  Zeit  der  eingetretenen  Mündigkeit 
ausgesetzt^).  Wenn  nun  der  geschriebene  Erbe  während 
dieser  Zeit  stirbt,  so  soll  —  entscheidet  Papinian  — 
seinen  Erben  dennoch  die  Transmission  eingeräumt 
werden^).  Hier  scheint  bloße  Billigkeit,  damit  das  statt- 
findende Rechtshindernis  nicht  zum  Schaden  gereiche,  vor- 
zuliegen.   Gleichwohl  unterläßt  Papinian  selbst  nicht  in 

^)  Es  könnte  darauf  ebensowenig  ankommen,  als  es  darauf 
ankommt,  ob  der  von  einer  objektiven  Bedingung  abhängig  ge- 
machte Erbe  vor  dem  Eintreffen  der  Bedingung  vom  Testament 
und  der  Bedingung  weiß. 

2)  L.  1 ;  L.  3  de  Carb.  Ed.  (37,  10) ;  L.  2  de  b.  p.  sec. 
tab.   (37,  11). 

3)  L.    12  de  Carb.   Ed.   (37.   10). 

496 


dem  Schlußgrunde,  den  er  dafür  angibt,  auf  den  tieferen 
Zusammenhang  hinzudeuten:  ,,Quid  enim,  si  non  po- 
tuerunt  adire  hereditatem  jure  cessante,  vel  ob  litem  in 
dubio  constituti  ?  Er  reduziert  also  diesen  Fall  auf  den 
anderen,  daß  die  Adition  wegen  eines  bereits  im  Laufe 
befindlichen  Rechtsstreites  gehemmt  ist.  In  der  Tat  ist 
dies  aber  gar  kein  anderer  Fall,  sondern  es  ist  jener 
Fall  selbst,  der  hier  in  Sprache  steht.  Der  Rechtsstreit 
mit  dem  unmündigen  angeblichen  Sohn  hat  der  Sache  nach 
bereits  begonnen,  nur  daß  er  mit  einer  Fristerteilung 
für  letzteren  beginnt.  Wer  aber  einen  Rechtsstreit  über 
die  Adition  führt,  zeigt  dadurch  sehr  entschieden,  daß 
er  sich  innerlich  als  Erben  auffaßt  und  betätigt.  Es  ist 
wieder  nur  eine  andere  äußere  Weise,  die  inner- 
liche Willensidentifikation,  die,  wie  wir  zeigten, 
das  allein  Wirksame  und  Lebendige  und  das  Erbtum  Pro- 
duzierende im  Aditionsakt  ist,  an  den  Tag  zu  legen. 
Es  wird  daher  selbstredend  erforderlich  sein,  daß  der 
Erbe,  um  transmittieren  zu  können,  auch  wirklich  weiß, 
daß  der  Solin  untergeschoben  ist,  was  Papinian  still- 
schweigend voraussetzt.  Denn  ohne  dies  entschiedene 
Wissen  würde  der  Erbe  auch  sich  nicht  als  Erben  wissen 
und  in  seiner  Willensinnerlichkeit  dazu  machen  und  als 
solchen  festhalten  können. 

Daß  dies  wirklich  die  stillschweigende  Voraussetzung 
Papinians  ist,  ergibt  sich  schon  daraus,  daß,  wenn  die 
hinterlassene  Frau  schwanger  zu  sein  behauptet,  der  ein- 
gesetzte fremde  Erbe  nicht  antreten  kann,  wenn  er  nicht 
weiß,  daß  die  Frau  nicht  schwanger  ist,  in  welchem 
Fall   er  es   allerdings   kann^).    Wie  also,   wenn    nun 

1)  Siehe  L.30.  §  1,  de  acqu.  her.  (29,2).  u.  oben  S.  419  fg. 
darüber,  und  Papinian  selbst  in  der  bald  zu  beziehenden  L.  84 
eod.  tit. 

10   Laeeall«,   G«.  SoLriften.   BaaJ  XU.  497 


dieser  eingesetzte  fremde  Erbe  während  der  angeblichen 
Schwangerschaft  der  Frau  stirbt  und  der  Leib  sich  darauf 
als  leer  erweist?  Wird  der  Erbe  auch  in  diesem  Falle 
transmittieren  ?  Er  wird  es  nicht  ^),  und  es  tritt  wieder 
hier  hieraus,  wie  wenig  die  Transmission  aus  der  so- 
genannten Billigkeit  zu  erklären  ist.  Es  wird  sich  schwer- 
lich als  eine  Billigkeit  darstellen,  daß  der  Erbe  gerade 
durch  die  billige  Beachtung  eines  möglichen  präterierten 
postumus,  also  gerade  durch  die  Beachtung  eines  mög- 
lichen Familienrechtes  des  Erblassers,  sein  Erbrecht  ver- 
lieren soll.  Aber  der  spekulative  Begriff  schlägt  durch, 
da  durch  jenen  Zweifel  der  Erbe  gehindert  war,  sich 
zur  entschiedenen  Willensidentifikation  mit  der  Willens- 
subjektivität des  Erblassers  zu  entschließen.  Aber  einen 
Fall  gibt  es  dennoch,  wie  Papinian  entscheidet,  in  welchem 
der  während  der  Ungewißheit  über  die  Schwanger- 
schaft der  Frau  sterbende  Erbe  transmittiert.  Und  dieser 
Fall  läuft  darauf  hinaus,  wenn  der  eingesetzte  Erbe  zu- 
gleich auch  als  Intestaterbe  des  Verstorbenen  mit 
dem  etwa  präterierten  postumus  geerbt  hätte ^): 
,,Ergo  si  ventre  pleno  sit  mulier,  nonne  iniquum  erit, 
interea  defunctum  filium  heredi  suo  relinquere  nihil  ?  Et 
ideo  decreto  filio  succurrendum  est,  quia  sive  frater  ei 
nascatur,    sive   non   nascatur,    patri    heres   futurus    est^). 


')  L.  3.  §  32  (29,  5). 

^)  L.  84  de  acqu.  vel  om.  her.  (29,  2);  vgl.  L.  4.  §  3; 
L.   5  de  b.  p.  contra  tab.   (37,  4). 

*)  Bis  hierher  spricht  Papinian  von  einem  filius,  welcher 
der  suus  des  Erblassers  ist,  und  es  kann  dies  vielleicht  auf- 
fällig scheinen,  weil  ja  der  suus,  da  er  eo  ipso  ohne  Adition 
erwirbt,  immer  transmittiert,  oder,  richtiger  gesagt,  niemals 
transmittiert,  da  er  stets  die  Erbschaft  als  eine  schon 
erworbene  auf  seine  Erben  überträgt.  Diese  scheinbare 
Schwierigkeit   aber   beseitigt   sich   dadurch,   daß   hier   von   dem 

498 


Eademqiie  ratio  facit,  ut  emancipato  quoque  subveniri 
debeat,  qui  altemtro  casu  rem  omnimodo  habiturus  est." 
Worauf  gründet  sich  nun  aber  dieser  scheinbare  Vorzug 
der  gleichzeitigen  Intestaterbqualität  ?  Es  muß  nach  dem 
Vorigen  schon  ganz  evident  sein,  daß  dies  gar  kein  Vor- 
zug des  Intestaterbrechtes  ist,  sondern  die  Sache 
vielmehr  folgenden  mit  dem  Vorhergehenden  genau  über- 
einstimmenden begrifflichen  Zusammenhang  hat :  Wer  eben 
so  erben  würde,  wenn  kein  postumus  geboren  wird,  als 
mit  diesem  zugleich,  wo  durch  seine  Geburt  das  Testa- 
ment rumpiert  wird  und  Intestaterbschaft  eintritt,  der  ist 
sich,  weil  er  eben  auf  alle  Fälle  erbt  (alterutro  casu), 
nicht  mehr  ungewiß  über  seinen  Erbcharakter,  ist  also 


Falle  eines  präterierten  postumus  gehandelt  wird,  in  welchem 
Falle,  da  durch  seine  Geburt  das  Testament  fortfiele,  die 
Erbschaft  bis  zur  Entscheidung  auch  nicht  einmal  defe- 
riert  wird  (Papinian,  a.  a.  O. :  ,,quamdiu  rumpi  testamentum 
potest.  non  defertur  ex  testamento  hereditas").  ohne  Dela- 
tion aber  auch  der  suus  nicht  erwerben  kemn.  Stirbt  nun  in- 
zwischen der  suus  und  wird  kein  postumus  geboren,  so  hat 
sich  freilich  herausgestellt,  daß  er  der  Erbe  war.  Wird  aber 
ein  pofetaimus  geboren,  so  kann  gegen  den  suus  eingewendet 
werden,  daß  er,  da  er  zu  der  Zeit,  wo  es  gewiß  wurde,  daß 
der  Erblasser  als  intestatus  gestorben  ist,  nicht  mehr  lebt, 
aus  der  erst  nach  seinem  Tode  eingetretenen  Intestatdela- 
tion  nicht  mehr  erben  kann.  Dies  wird  nun  eben  von  Papinian 
in  der  oben  weiter  erklärten  Weise  durch  die  Bemerkung  be- 
seitigt, daß  der  suus  auf  alle  Fälle  Erbe  war,  sein  Erbtum 
auch  für  jeden  derselben  festgehalten  hat,  weshalb  ihm 
im  letzteren  Falle  die  Transmission  eingeräumt  wird.  Denn 
es  ist  genau  unterscheidend  festzuhalten,  daß  dieser  Fall  — 
der  vor  der  später  erfolgten  Geburt  des  präterierten  postumus 
eingetretene  Tod  des  suus  —  der  einzige  ist,  in  welchem 
der  suus  die  Erbschaft  nicht  als  erworbene  vererbt, 
sondern  bloß  das  Recht  auf  dieselbe  transmittiert. 

10»  4Q0 


nicht  gehindert,  sich  als  Willensidentität  mit  dem  Erb- 
lasser festzuhalten.  Nur  über  die  bloße  Tatsache,  ob 
ein  postumus  geboren  werden  wird,  nicht  aber  darüber, 
ob  er  Willensidentität  mit  dem  Erblasser  ist,  ist 
er  im  ungewissen.  Nur  über  seine  Erbportion  —  die 
aber  (s.  oben  S.  424 fg.)  nur  das  dem  spekulativen  Begriff 
schlechthin  Äußerliche  und  Gleichgültige  ist  — ,  nicht 
aber  über  sein  Erbtum  ist  er  in  Zweifel.  Da  er  sich 
also  jedenfalls  innerlich  als  Willensidentität  mit  dem  Erb- 
lasser festhält,  somit  die  eigentlich  geistige  Tätig- 
keit und  Bedeutung  des  Aditionsaktes  ausübt,  und  nicht 
die  Entscheidung  über  sein  Erbtum,  sondern  bloß 
die  quantitative  Feststellung  seiner  Erb- 
portion abwartet,  so  transmittiert  er.  Und  es  trans- 
mittiert  daher  auch  der  emanzipierte  Sohn,  seitdem  ihm 
einmal  das  Intestaterbrecht  zugleich  mit  dem  suus  ein- 
geräumt ist.  —  So  tritt  schon  in  dieser  Entscheidung 
Papinians  das  Wissen  seines  Erbtums  für  sich 
allein  als  die  das  Erbrecht  dem  Erben  zu  eigen 
machende  (erwerbende)  und  daher  transmittierende  Tätig- 
keit hervor,  wenn  auch  zunächst  nur  in  einem  Falle,  in 
welchem  dies  Wissen  durch  das  objektive  Recht  gehindert 
wird,  auch  eine  Entschließung  an  den  Tag  zu  legen, 
und  in  welchem  daher  mit  Recht  vorausgesetzt  wird,  daß 
mit  diesem  Sichwissen  als  Erben  auch  das  Sichwollen 
als  solchen  verbunden  sei. 

Wenn  dies  die  besonderen  Fälle  sind,  in  welchen  die 
Digesten  die  Transmission  zulassen,  und  diese  Fälle,  wie 
gezeigt,  sämtlich  darin  übereinkommen,  daß  die  geistige 
Tätigkeit  der  inneren  Willensidentifikation,  welche  das 
Wesen  der  Adition  ausmacht,  ausgeübt  worden,  und  nur 
der  äußere  Aditionsakt  infolge  der  vom  Erbrecht  selbst 
gesetzten  Hindemisse  noch  nicht  vollzogen  sei  und  sein 

500 


konnte,  so  gelangen  wir  nun  mit  den  Kaiserkonstitutionen 
zu  besonderen  Klassen  von  Erben,  denen  die  Trans- 
mission eingeräumt  wird.  So  verordnet  Theodosius  zuerst 
im  Jahre  426,  daß^),  wenn  einem  Kinde  (infans)  eine 
Erbschaft  hinterlassen  worden,  der  väterliche  Ge- 
walthaber desselben  sie  auch  noch  nach  dem  Tode  des 
Kindes  antreten  kann. 

Es  ist  unschwer  zu  sehen,  daß  auch  diese  Transmission 
im  Prinzip  eigentlich  keine  solche  ist,  die  zugrunde  liegende 
Anschauung  vielmehr  die  ist,  daß  das  Subjekt  des 
Willens,  welchem  die  Willensidentifikation  angetragen 
worden  ist  —  der  gewalthabende  Vater  - — ,  eben  noch 
lebt,  und  diese  Willensidentifikation  jetzt  daher  von  gar 
keiner  anderen  Willenssubjektivität  vorgenommen  wird, 
als  von  der,  der  sie  in  letzter  Instanz  auch  bisher  schon 
angetragen  war,  und  auf  welche  sie  auch  bei  Lebzeiten 
des  Kindes  durch  dieses  hindurch  und  zurückwirkte.  Und 
diese  Veränderung  ist  bei  Theodosius  konsequent,  weil 
er,  während  früher  das  Kind  selbst  die  Adition  unter 
der  Zustimmung  des  Vaters  oder  der  Autorität  des  Tutors 
vornehmen  mußte  (s.  oben  Nr.  XXXVII),  dies  in  der- 
selben Verordnung  dahin  abändert,  daß  jetzt  Vater  wie 
sogar  Tutor  ohne  Beisein  des  Kindes  (infans)  in  dessen 
Namen  antreten  können^). 

Fünfundzwanzig  Jahre  darauf  erläßt  Theodosius  eine 
andere  Verordnung^),  nach  welcher  alle  direkten  Deszen- 


0  L.    18  C.   de  jur.  del.   (6,  30). 

")  Während  er  in  bezug  auf  den  mehr  als  siebenjährigen 
Pupillen  es  beim  alten  Recht,  daß  er  persönlich  antreten  muß, 
bewenden  läßt,  und  daher  ganz  konsequent  diesem  die  Trans- 
mission nicht  einräumt. 

^)  L.  un.  C.  de  his  qui  ante  etc.  (6.  52) ;  vgl.  L.  un., 
§  5  C.  de  cad.  toll.  (6,  51). 

501 


denten,  Söhne ^)  oder  Töchter,  Enkel,  Urenkel  usw.,  wenn 
sie  von  ihren  Aszendenten  zu  Erben  eingesetzt  worden 
sind,  die  Erbschaft,  wenn  sie  auch  vor  der  apertura  tabu- 
larum,  und  somit  vor  der  Adition  sterben,  wieder  auf 
ihre  Deszendenz  in  direkter  Linie  transmittieren. 

Wenn  diese  Verordnung  einerseits  durch  den  Gedanken 
der  natürlichen  Berechtigung  der  Familie  auf  das  Ver- 
mögen der  Eltern  hervorgebracht  zu  sein  scheint,  wie 
sie  in  der  Tat  auch  erst  in  einer  Zeit  möglich  ist,  in 
welcher  das  Erbtum  bereits  seit  lange  in  die  Anschauung 
einer  Ver mögen shinterlassenschaft  übergegangen  ist. 
und  in  der  sich  infolgedessen  die  Familie  seit  lange  die 
Stellung  eines  Noterben  erkämpft  hat,  so  ist  dieser  Ge- 
danke dennoch  offenbar  unfähig,  für  sich  allein  die  prin- 
zipale Erklärung  der  hier  verordneten  Transmission  ab- 
geben zu  können.  Denn  prinzipaliter  ist  dieselbe  \iel- 
mehr  gerade  wiederum  an  die  willkürliche  Freiheit  der 
testamentarischen  Einsetzung  als  ihre  Bedingung 
gebunden,  und  die  Transmission  tritt  daher  hier  keines- 
wegs als  ein  aus  eigener  Berechtigung  herfließendes 
Intestaterbrecht  der  Familie  auf  (oder  als  gegen 
das  Testament  gerichtetes  Noterbrecht  derselben).  Fühlt 
man  daher  dieser  Verordnung  an,  daß  sie  in  irgendeiner 
Weise  mit  der  Idee  der  natürlichen  Familienberechtigung 
in  Zusammenhang  steht,  so  wird  man  aber  auch  anfühlen 
müssen,  daß  sie  ebenso  wieder  mit  der  Idee  der  un- 
beschränkten testamentarischen  Erbeinsetzung  verwachsen 
erscheint.  Denn  man  wird  zugeben  müssen,  daß  sie  der 
Idee  des  Familienrechtes  nur  unter  der  Voraus- 
setzung ihres   eigenen   Gegenteils,    nämlich    nur 


_  ^)  Es  ist  also  in  bezug  auf  den  Vater  von  emanzipier- 
ten Söhnen,  und  in  bezug  auf  die  Mutter  von  Söhnen  überhaupt 
hier  die  Rede. 

502 


unter  der  Voraussetzung  der  willkürlichen  testamentarischen 
Einsetzung  der  Familie  durch  den  subjektiven  Willen 
des  Testators,  eine  Einräumung  macht.  Der  Widerspruch 
dieser  beiden  Gedanken  scheint  daher  diese  Verordnung 
zu  einer  unbegreiflichen  zu  machen,  wie  sie  denn  in  der 
Tat  durch  keinen  derselben  anders  als  auf  eine  höchst 
abstrakte,  d.  h.  durchaus  unwahre  und  den  Begriff  ver- 
fehlende Weise  woirde  erklärt  werden  können.  Ihre  kon- 
krete begriffliche  Erklänmg  ist  vielmehr  folgende. 

Wir  haben  früher  gesehen,  wie  und  warum  der  suus, 
und  zwar  in  ältester  Zeit  und  nach  strengstem  Zivilrecht, 
unmittelbarer  Erbe  ist,  und  wie  er  dies  allerdings 
infolge  seines  Familienzusammenhanges  mit  dem 
Erblasser  ist.  Nicht  aber  durch  ein  ihm  zustehendes 
Erbrecht  —  denn  sonst  würde  ihm  dasselbe  niemals 
durch  den  bloßen  und  unbeschränkten  Willen  des  Testators 
entzogen  werden  können  — ,  sondern  deshalb,  weil  er 
unmittelbare  Willensidentität  mit  dem  Erblasser 
ist,  und  daher,  wenn  er  nicht  aufgehoben  wird,  von 
selbst  das  schon  ist,  wozu  ein  anderer  Erbe  durch  den 
Prozeß  der  Willensidentifikation  erst  gemacht  werden  soll. 
Diese  unmittelbare  Willensidentität  des  suus 
wird,  wie  sie  in  der  durch  die  väterliche  Gewalt  gegebenen 
Willenseinheit  ihre  begriffliche  Grundlage  hat,  durch  die 
Emanzipation  des  Sohnes  natürlich  aufgehoben.  Der 
Sohn  tritt  dadurch  aus  dieser  Willenseinheit  heraus, 
er  tritt  aus  der  Familie  selbst  heraus,  da  der  Begriff 
der  römischen  Familie  eben  nichts  anderes  ist  als  die 
Willensidentität  eines  Personenkreises,  der  allein  in 
dem  Träger  derselben  seine  berechtigte,  für  sich  seiende 
Willenssubjektivität  ^)   hat. 


^)  Dies    ist    auch    der   einzige    und    wahrhafte    begriffliche 
Zusammenhang    der    Familie   mit    dem    alten    zivilen    Erb- 

503 


Wer  aber  hier  das  sub  Nr.  XXI  Gesagte,  sowie  unsere 
Entwackelung  über  den  Inhalt  des  Erbbegriffes  über- 
haupt, sorgfältig  erwägt,  wird  es  begreiflich  finden,  wenn 
wir  sagen,  daß  durch  die  Erbeinsetzung  des  eman- 
zipierten Sohnes  das  zerschnittene  Band  der  Familie 
gleichsam  wiederhergestellt  wird^).  Natürlich! 
Was  die  Emanzipation  bewirkte,  war,  daß  der  Sohn 
aufhörte,  Willensidentität  mit  dem  Vater  zu  sein, 
daß  er  fremder,  selbständiger  Wille  ^vird.  Was  aber 
durch  die  Erbeinsetzung  bewirkt  wird,  ist  gerade, 
daß  er  wieder  als  Willensidentität  mit  dem  früheren 
Gewalthaber  gesetzt  wird.  Durch  das  Erb  tum  wird 
also  der  Emanzipierte  gleichsam  zu  einem  wieder- 
hergestellten 5////5-),    Die  große  Härte,  aber  strenge 


recht.  Die  Familie  ist  koexistierende  Willensiden- 
tität; das  Erbtum  ist  aufeinanderfolgende,  sukze- 
diercncle  Willensidentität.  Gerade  darum  hat  die  Fa- 
milie nichts  vor  dem  Erbtum  voraus,  kein  begriffliches  Recht 
auf  Erbtum.  Denn  das  Erbium  ist  selbst  familienbil- 
dend; dies  Institut  erzeugt  selbst  das.  was  in  Rom  auch  die 
Idee  der  Familie  ist.  Die  Familie  ist,  als  schon  vorhandene 
Identität,  nur  unmittelbarer  Erbe,  wenn  der  Wille  sich  nicht 
betätigt  hat,  kann  aber,  da  das  Interesse  lediglich  in  den  sub- 
jektiven Willen  und  dessen  Perpetuierung  fällt,  nicht  die 
Substanz  des  Erbrechtes  und  keine  Instanz  gegen  den  Willen 
bilden,  da  dieser,  um  dessen  Erhaltung  es  sich  allein  handelt, 
gerade  in  unbeschränkter  Freiheit,  im  Setzen  und  Aufheben 
sein  Wesen  hat,  und  das  selbst  schon  in  sich  hat,  was  in  Rom 
die   Substanz   auch  der   Familie   bildet. 

^)  Wie  «man  auch  analog  sagen  kann,  daß  der  suus  durch 
die  exheridatio  gleichsam  aus  der  Familie  entlassen,  eman- 
zipiert wird. 

^)  Von  dem  eigentlichen  suus  kann  natürlich  die  Rede 
nicht  sein;  denn  dessen  Begriff  besteht  gerade  darin,  von 
selbst   und   ohne   Vermittlung   da   zu   sein,    während   es   der 

504 


begriffliche  Konsequenz  des  alten  Zivilrechtes 
zeigt  sich  auch  darin,  daß,  wenn  der  emancipatus  zum 
Erben  eingesetzt  wird,  kein  Schatten  der  Erinnerung  auf 
sein  früheres  Verhältnis  zum  Erblasser  fällt.  Er  ist  und 
bleibt,  einmal  gegen  denselben  fremd  und  selbständig  ge- 
worden, wie  jeder  andere  fremde  Erbe  für  ihn.  Die  all- 
mähliche Entwickelung  und  Erstarkung  der  Familienidee 
bewirkt  jetzt  aber,  daß  zur  Zeit  des  Theodosius,  wenn 
der  Emanzipierte  zum  Erben  eingesetzt  ist,  sein  frühe- 
res Verhältnis  nun  durchschlägt  und  als  gleichsam 
wiederhergestellt  erscheint.  Diese  Metamorphose  in  der 
Anschauung  ist  aber  ebenso  natürlich  wie  notwendig.  Denn 
dieser  Zeit,  die  ein  an  und  für  sich  seiendes  Intestat- 
erbrecht der  Familie  kennt,  das  der  Testator  nur  bis  zu 
einem  gewissen  quantitativen  Punkte  schmälern  und  auf 
einen  Pflichtteil  zusammendrücken  kann,  scheint  durch 
die  freiwillige  Erbeinsetzung  des  emanzipierten  Sohnes 
die  an  sich  seiende  Berechtigung  desselben  — 
die  jetzt  als  eine  stets  vorhandene  angesehen  wird  und 
der  der  Vater  nur  entgegenhandeln  kann  —  vom 
Vater  nur  anerkannt,  dadurch  die  Aufhebung  des 
ursprünglichen  Zusammenhanges  nur  ihrerseits  auT- 
gehoben  und  hierdurch  die  frühere  Berechtigung 
und  Ursprünglichkeit  wiederhergestellt  zu  sein.  Es 
fällt  für  diese  Zeit  bei  der  Einsetzung  des  Emanzipierten 
das  Gewicht  darauf,  daß  der  Sohn  eingesetzt  worden, 
daß  er  als  Sohn  eingesetzt  worden,  wodurch  das,  was 
bei  dem  noch  ungelösten  Zusammenhang  des  suus  von 
selbst  da  ist,  nun  durch  die  ihm  übertragene  Willensidentität 
in  der  früheren  substantiellen  Unmittelbarkeit  wiedergekehrt 
zu  sein  scheint.    Diese  Metamorphose  in  der  Anschauung 

emancipatus  erst  durch  Vermittlung  der  Erbeinsetzung  wie- 
der wird. 

305 


ist  um  so  natürlicher,  als  für  diese  Zeit  der  suus  selbst 
sein  Recht  nur  aus  der  natürlichen  Familienabstammung 
zu  schöpfen  scheint,  woher  die  falschen  Definitionen  von 
der  ,, quasi  debita  hereditas"  des  suus  fließen,  die,  nicht 
lange  nach  Theodosius,  Justinian  und  zum  Teil  schon 
lange  vor  ihm  Gajus  gibt.  Für  den  feinen  begrifflichen 
Unterschied,  der  für  das  alte  Zivilrecht  zwischen  dem 
suus  und  dem  eingesetzten  emancipatus  trotz  der  Ein- 
setzung vorhanden  ist  —  denn  dieser  wird  durch  die  Ein- 
setzung noch  nicht  Willensidentität,  er  wird  es  erst 
durch  die  Antretung,  während  es  der  suus  von  selbst 
ist;  es  muß  also  auch  bei  ihm  erst  Identifikation 
stattfinden,  ehe  das  frühere  Verhältnis  wiederhergestellt 
ist,  nach  der  Identifikation  besteht  aber  zu  jedem  anderen 
extraneus  dasselbe  Verhältnis  — ,  für  diesen  Unter- 
schied hat  diese  Zeit  keinen  Sinn  mehr.  Der  suus  ist 
Sohn  und  Erbe.  Der  zum  Erben  eingesetzte 
Emanzipierte  ist  gleichfalls  Sohn  und  Erbe,  und 
so  scheint  er  durch  die  Einsetzung  dasselbe,  was  jener 
ohne  dieselbe,  und  mit  einem  Schimmer  von  Suität  um- 
geben zu  sein. 

Als  wiederhergestellter  suus  kommt  ihm  daher 
nunmehr  die  Unmittelbarkeit  und  die  eigene,  von 
selbst  vorhandene  Berechtigung  desselben  zu,  so  daß 
ihm  die  Erbschaft,  die  als  ein  durch  die  Einsetzung 
nur  anerkannter,  d.h.  als  ein  hierdurch  nur  zur  gül- 
tigen Wirklichkeit  erhobener,  an  sich  seiender^)  natür- 
licher Rechtsanspruch  des  Sohnes  aufgefaßt  wird,  jetzt 
schon  vor  der  Adition  zu  gebühren  scheint.  Darum 
also  transmittiert  er,  analog  dem  suus,  und  muß  trans- 
mittieren,  wenn  diese  Anschauung  einmal  gegeben.    Nur 


^)  Vgl.    die    Entwickelung    in    Bd.    I,    §    10,    der   Theorie. 
506 


daß  erstens,  da  seine  Unmittelbarkeit  durch  das  Ver- 
hältnis der  natürlichen  Abstammung  vermittelt  ist,  diese 
seine  Unmittelbarkeit  in  ihm  selbst  nur  so  weit 
reicht,  so  weit  jenes  Verhältnis  in  Betracht  kommt; 
d.  h.  es  tritt  die  begriffliche  Konsequenz  ein,  daß  er 
nur  seiner  Deszendenz,  nicht,  wie  der  echte  suus,  auch 
seinen  fremden  Erben  transmittiert.  Und  zweitens,  daß 
er  in  der  Tat  nur  transmittiert,  während  der  suus 
die  Erbschaft  als  eine  erworbene  überträgt  (außer  in 
Fällen  wie  S.  498,  Note  3). 

Wollte  man  behaupten,  daß  durch  diese  Auffassung  des 
zum  Erben  eingesetzten  Emanzipierten,  als  eines  wieder- 
hergestellten suus,  ein  Gedanke  in  die  Verordnung  des 
Theodosius  hineingetragen  wird,  der  ihr  auch  nicht  in 
unbewußter  Form  zugrunde  liegt,  so  ist  diese  Be- 
hauptung so  irrig,  daß  jene  Konstitution  sogar  in  ihren 
Worten  diese  Anschauung  auf  das  deutlichste  heraus- 
treten läßt.  So  drückt  sich  Theodosius  daselbst  von  dem 
emanzipierten  Sohne,  Enkel  usw.  so  aus:  ,,.  .  .  licet  non 
sint  invicem  substitui  seu  cum  extranels  seu  soli  sint  in- 
stitui."  Indem  er  also  die  emanzipierten  Söhne,  Enkel  usw., 
die  doch  selber  extranel  sind,  den  extranels  entgegen- 
setzt, zeigt  er  deutlich  genug,  wie  sie  ihm  eben  keine 
extranei  zu  sein  scheinen  und  der  Begriff  des  extraneus 
sich  ihm  in  denjenigen  eines  der  Familienabstammung  nach 
fremden  Erben  verzogen  hat.  Entscheidender  noch  ist 
zweitens  der  Umstand,  daß  Theodosius  ihnen  die  Trans- 
mission des  Erbtums  einräumt,  ,,sive  se  novennt  scriptos 
heredes,  slve  ignoraverint''.  Dies  aber,  daß  nicht  einmal 
das  Wissen  erforderlich  ist,  ist  schlechterdings  ein 
Umstand,  den  wir  vor  wie  nach  Theodosius  nur  beim 
suus  finden  (vgl.  oben  S.  411fg.)  und  das  Kenn- 
zeichen   der   Suität   ausmacht.     Selbst   noch   für  die 

507 


Justinianeische  Transmission  muß  jeder  wissen,  der 
nicht  suus  ist.  Drittens  endlich  bezeichnet  Theodosius  diese 
Erbschaft  der  Deszendenten  als  QmQ  ,,tanquamdebitam", 
d.  h.  genau  so,  \vie  sonst  nur  vom  suus  gesprochen  wird 
(s.  oben  Nr.  XXI). 

Justinian  endhch  durch  die  L.  19  C.  de  jure  del.  (6,  30) 
gibt  allen  Erben,  wenn  sie  während  des  Deliberations- 
jahres  sterben,  das  Recht,  das  Erbrecht  allen  ihren 
Erben  zu  transmittieren,  so  daß  diese  nun  innerhalb  des 
von  dem  Deliberationsjahre  noch  übrig  gebliebenen  Zeit- 
raumes antreten  können.  Hier  scheint  also  eingetreten  zu 
sein,  was  wir  S.  493  für  unmöglich  erklärten,  und  das 
Prinzip,  daß  erst  durch  die  in  der  Adition  vor  sich  gehende 
innere  Willenstätigkeit  die  bis  dahin  bloß  faktische  Mög- 
lichkeit des  Erben  zum  erworbenen  und  individuellen  Recht 
werde,  aufgegeben  zu  sein.  Dennoch  ist  dies  nicht  der 
Fall,  und  selbst  noch  in  dieser  seiner  entartetsten  Gestalt 
bewahrt  das  römische  Erbrecht  seinen  Zusammenhang  mit 
dem  spekulativen  Begriff  des  alten  jus  civile,  bei  jeder 
Entfernung  von  demselben  und  jeder  Umgestaltung  immer 
noch  in  dem  eigenen  Prinzip  desselben  das  Prinzip 
der  Entfernung  und  Umgestaltung  selbst  suchend.  Die 
conditio  sine  qua  non  nämlich,  unter  welcher  Justinian 
dem  Erben  dies  Transmissionsrecht  auf  seine  Suk- 
zessoren einräumet,  ist  die,  daß  er  das  oben  entwickelte 
(Nr.  XXXIV),  zum  Erbtum  erforderliche  Wis- 
sen gehabt  habe^).  Es  bedarf  aber  nur  der  Erinnerung 
an  das  daselbst  über  dies  Wissen  und  später  über  die 
Delation  (Nr.  XXXVIII)  Gesagte,  um  den  Gedanken 

^)  ,,.  .  .  is,  qui  sciens,  hereditatem  sibi  esse  vel  ab  inte- 
stato  vel  ex  testamento  delatam  etc."  Und  bald  darauf:  ,,Si 
enim  ipse,  postquam  testamentum  fuerit  insinuatum  vel  ab  inte- 
stato  vel  aliter  ei    cognituin   sit  etc.'" 

308 


dieser  Verordnung  und  seine  genaue  Übereinstimmung  mit 
dem  dort  Erörterten  klar  hervortreten  zu  sehen.  Auch 
das  Wissen  ist  bereits,  und  vor  der  Entschließung 
des  Willens,  eine  innere,  und  zwar  die  ideellste  Tätigkeit 
des  subjektiven  Fürsichseins,  dessen  Herzensangelegenheit 
das  römische  Erbtum  bildet.  Indem  der  Erbe  weiß, 
hat  er  bereits  durch  diese  Tätigkeit  den  Willen  des  Erb- 
lassers zum  Inhalt  seines  Fürsichseins  gemacht 
und  ihn  so  in  erster  Instanz  sich  angeeignet,  zu 
seinem  eigenen  Fürsichsein  erhoben.  Darum  ist  es 
das  Wissen,  wie  wir  früher  sahen,  durch  welches  erst 
der  Erbe  die  Delation  bewirkt,  sich  selbst  die  Erb- 
schaft anbietet.  Dieses  im  Wissen  gegebene  Sichselbst- 
anbieten  seitens  des  Erben,  diese  erste  vom  Fürsich- 
sein des  Erben  an  demjenigen  des  Erblassers 
ausgeübte  und  dasselbe  sich  geistig  aneignende  Tätigkeit 
ist  es,  die  Justinian  hier  —  im  Falle  des  Todes  des 
Erben  —  als  subjektive  Aneignung  und  daher 
als  ein  erworbenes  Recht  begründend  auffaßt,  dessen 
Wirksamkeit  er  nur  durch  eine  äußere  positive  Frist  be- 
grenzt, und  dem  er  daher  innerhalb  derselben  transmittie- 
rende  Kraft  einräumt.  Weil  es  die  durch  das  Wissen 
bewirkte  Delation  als  Sichselbstanbietung  ist,  die 
Justinian  als  diese  die  Entschließung  des  Annehmens  oder 
Ausschiagens  dem  freien  Willen  noch  vorbehaltende,  an- 
eignende Willensaktion  auffaßt,  so  bringt  er  dies  Recht 
mit  der  Deliberation  in  Verbindung  und  erregt  so  den 
Schein,  es  auf  ein  besonderes  jus  deliberandi  zu  gründen. 
Allein  die  Deliberation  ist  gar  kein  besonderer  Rechts- 
faktor oder  das  Produkt  eines  solchen.  Die  Deliberation 
ist  nichts  anderes  als  der  durch  das  Wissen  und  die 
von  ihm  hervorgebrachte  Sichselbstanbietung,  als 
welche  sich   uns   die   Delation   ergeben   hat,   gegebene 

509 


geistige  Zustand  des  Erben,  Was  Justinian  also  daselbst 
von  der  Deliberation  spricht,  geht  auf  gar  kein 
anderes  begriffliches  oder  rechtliches  Moment  zurück,  als 
auf  jenes  sich  selbst  deferierende  Wissen,  und 
dieses  somit  ist  das  die  Transmission  bewirkende  Moment. 
Wenn  daher  der  geistvolle  Donellus  diese  Justinianeische 
Transmission  so  erklärt^):  die  Erben  wöirden  angesehen 
„deliberare  de  hereditate  et  id  jus  dellberandl,  atque  ex 
eo  jus  adeundi,  si  expediat,  sibl  sumere,  quod  sumtum  et 
velut  siium  factum,  non  mirum,  si  ad  heredes  suos  trans- 
ferunt",  so  lassen  die  zuletzt  hervorgehobenen  Worte 
auf  das  trefflichste  den  wahren  Begriff  der  Sache  zum 
Vorschein  kommen,  und  nur  dies  ist  irrig  daran,  daß  es 
eine  besondere  Tätigkeit  des  Deliberierens  und 
ein  besonderes  jus  deliberandt  j  sei ,  was  die  Trans  - 
mission  begründe.  Sondern  es  ist,  wie  gezeigt,  lediglich 
das  Wissen,  welches,  wie  es  die  Delation  bewirkt, 
soeben  hierdurch  von  Justinian  als  die  aneignende  und  darum 
das  jus  adeundi  transmittierende  Tätigkeit  angeschaut  wird. 
Wie  wenig  das  Deliberieren  als  ein  besonderes  Recht 
und  Moment  dabei  in  Betracht  kommt,  zeigt  sich  am  deut- 
lichsten daran,  daß  gerade,  wer  sich  eine  Delibera- 
tionsfrist ausgewirkt  hat  (si  deliberationem  meruerit), 
häufig  sein  Transmissionsrecht  dadurch  nur  verklei- 
nert. Denn  wenn  er  nun  stirbt,  verbleibt  seinen  Erben 
nur  der  von  jener  Frist ^)  etwa  noch  vorhandene 
Rest  zum  Antreten,  während,  wemi  er  sich  gar  keine 
Deliberationsfrist  erwirkt  und  gar  keine  Absicht  zu 
deliberieren  an  den  Tag  gelegt  hat  (deliberatione  minime 

1)  Comm.,  lib.  VII,  c.  IV,  p.  294. 

^)  Und  eine  längere  Frist  als  von  neun  Monaten  und  resp. 
einem  Jahre  kann  gar  nicht  gewährt  werden ;  siehe  L.  22, 
§  3  C.  eod.  tit.  Dies  ist  das  gesetzliche  Maximum. 


510 


petita),  der  zu  einem  vollen  Jahre  seit  der  Delation  noch 
übrige  Zeitraum  zum  Antreten  bleibt;  zwei  Punkte,  die 
sich  mit  voller  Deutlichkeit  aus  der  Verordnung  ergeben 
und  auch  anerkannt  sind^). 


XL.  Der  konkrete  Begriff  des  zivilen  Intestat- 
erbrechtes und  die  Zwölf  Tafeln.    —   Die  alte 
usucapio    pro    herede.    —    Der    Übergang    zur 
prätorischen  bonorum  possessio. 

Wir  haben  bereits  wiederholt  (s.  die  Nrn.  XXII  und 
XXVI)  die  Stellung  des  Intestaterbrechtes  zum  testa- 
mentarischen, oder,  was  dasselbe  ist,  die  besondere 
Stellung  des  Intestaterbrechtes  zum  Erbtum  über- 
haupt, oder,  was  wieder  dasselbe,  den  Begriff  des 
Intestaterbrechtes  in  allmählicher  Entwickelung  hervor- 
treten lassen. 


^)  Siehe  Donellus.  a.  a.  O.  —  Ebensowenig  beabsichtigt 
Justinlan,  wie  man  irrig  geglaubt  hat,  eine  Deliberations- 
frist durch  diese  Verordnung  einzuführen  und  also  den  Grund- 
satz aufzuheben,  daß  es  für  den  zivlllstlschen  Erben  keine 
gesetzliche  Frist  zum  Antreten  oder  Ausschlagen  gibt  (Gajus, 
II,  167),  sondern  nur  als  Transmissionsfrist,  nicht  De- 
liberationsfrist (nicht  also  als  Frist  für  den  fortleben- 
den Erben)  wird  jener  einjährige  Zeltraum  von  Ihm  eingeführt. 
Daß  Justinlan  gar  keine  Deliberationsfrist  festgesetzt  hat,  noch 
festsetzen  wollte;  Ist  bereits  nachgewiesen  von  Vangerow  Im 
Zivil.  Archiv.  XXII.  7;  vgl.  Puchta  und  Arndts  In  Richters 
krit.  Jahrb.,  1840.  S.  7  fg.,  17  fg.;  Mühlenbruch,  Fortsetzung 
zu  Glück.  XLI.  295  fg.:  Mayer,  Erbrecht.  §  118.  Note  22 
und  23. 

511 


Allein  diese  Entwickelimgen,  die  immer  nur  gelegent- 
lich durch  unsere  Untersuchungen  über  das  Erbtum  über- 
haupt herbeigeführt  waren,  konnten  eben  deshalb  nur  den 
ersten,  noch  bloß  formellen  und  abstrakten,  noch 
nicht  den  konkreten  Begriff  des  römischen  Zivil- 
intestaterbrechtes  ergeben. 

So  wenig  es  nun  auch  in  dem  Plane  dieses  Werkes 
liegen  kann,  Dogmatik  und  Geschichte  des  Intestaterbrech- 
tes mit  derselben  Ausführlichkeit  zu  behandeln,  mit  welcher 
hier  nur  das  römische  Erbtum  überhaupt  —  und 
deshalb  auch  sein  begrifflich  adäquatester  Repräsentant, 
das  testamentarische  Erbtum  —  behandelt  werden 
mußte,  so  würde  unsere  Aufgabe  doch  keineswegs  gelöst 
sein,  wenn  wir  nicht  noch  den  konkreten  Begriff  des 
Intestaterbrechtes  in  seiner  ganzen  Bestimmtheit  zur 
scharfen  Entwicklung  und  zum  positiven  Erweis  brächten. 

Sowie  aber  der  Begriff  des  Intestaterbrechtes  in  seiner 
wahren  Konkretion  nachgewiesen  sein  wird,  werden 
verhältnismäßig  wenige  Bemerkungen  genügen,  um,  im 
Verein  mit  dem,  was  bereits  über  den  gesamten  Gang 
der  geschichtlichen  Bewegung  des  römischen  Erbrechtes 
dargetan  worden  ist,  so\vie  im  Verein  mit  dem,  was,  außer 
über  das  zivile  Intestaterbrecht  selbst,  bei  der  Inoffiziosi- 
tätsquerel  und  an  verschiedenen  anderen  Orten  von  uns 
bemerkt  worden  ist,  die  dogmatischen  Unterschiede  wie 
die  geschichtliche  Bewegung  des  römischen  Intestaterbrech- 
tes in  das  hellste  Licht  zu  setzen. 

Das  alte  Intestaterbrecht  des  römischen  jus  civile  kennt 
bekanntlich  weder  Noterbenrecht  noch  Pflichtteil. 
Dies  juristische  Faktum,  in  die  Sprache  des  Gedankens 
übersetzt,  heißt  somit  nichts  anderes,  als  daß  das  Intestat- 
erbrecht keine  selbständige   Instanz  dem  Testator 

512 


gegenüber  bildet^),  mit  anderen  Worten,  daß  es  nur 
subsidiarisch  Platz  greift,  wenn  der  individuelle  Wille 
des  Erblassers  nicht  gesprochen  hat.  Jeder  dieser  beiden 
Sätze  heißt  aber,  in  seinem  Begriffe  ausgedrückt,  nichts 
anderes  als:  daß  das  zivile  Intestaterbrecht  nicht  die 
Bedeutung  haben  soll,  als  ein  dem  individuellen  Willen 
prinzipiell  Anderes  und  Gegenüberstehendes 
in  Betracht  zu  kommen. 

Das  Intestatgesetz  tritt  also  nicht  qua  Gesetz  ein, 
als  ein  gegen  den  individuellen  Willen  Selbständiges 
und  ihm  Gegenüberstehendes,  sondern  nur  als  ein 
mit  ihm  Identisches,  d.h.  nur  als  der  voraus- 
gesetzte individuelle  Wille  tritt  es  ein;  nur  als 
solche  Ergänzung  des  eigenen,  nicht  ausgedrück- 
ten Willens  des  Individuums  (voluntas  tacita)  greift  es 
Platz. 

Es  ist  dies  somit  derselbe  Begriff  des  Intestaterbrechtes, 
der  sich  uns  schon  früher  ergeben  hat,  nur  daß  wir  ihn 
hier  in  einer  verschiedenen  Weise  entwickelt  haben.  Gingen 
wir  zuerst  (vgl.  S.  41,  Note  2,  und  Nr.  XXII  und 
XXVI)  von  dem  römischen  Hauptsatze,  dem  Satze  Ulpians 
(L.  39  de  acqu.  her.  29,  2),  daß  die  Intestaterbschaft 
nur  subsidiarisch  deferiert  wird,  als  von  dem  Be- 
weise aus,  daß  das  Intestaterbrecht  nicht  das  Prin- 
zipale   und    Substantielle  ,    und    ebensowenig    das 


^)  Wie  groß  erweist  sich  also  beim  ersten  Schritt  eingehen- 
der Gedankenbetrachtung  der  Irrtum  der  Autoren,  welche  bisher 
das  Testament  vielmehr  als  eine  Dispensation  von  der 
primo  loco  vorhandenen  gesetzlichen  In'estaterbfolge,  und  diese 
als  das  Wesentliche  des  Erbrechtes  überhaupt,  aus  welchem 
sich  das  Testament  erst  als  Surrogat  entwickelt  habe,  oder 
beide,  Testament  und  Intestaterbrecht,  als  gleichberechtigte  und 
kämpfende  Gegensätze  auffassen ! 

11  U««l!i.   G«    Schrift«..  Ban<lXII.  513 


gleichberechtigt  und  kämpfend  Koordinierte  des  römischen 
Erbtums  sein  könne,  so  haben  wir  umgekehrt  jetzt  und 
schon  in  den  angezogenen  Nummern,  in  denen  wir  uns 
mit  dem  Intestaterbrecht  beschäftigten,  diesen  Satz  Ulpians 
als  eine  notwendige  Folge  des  inwendigen  Begriffes 
der  Sache  entwickelt.  War  unsere  Entwickelung  in  den 
vorbezogenen  Abschnitten  die,  daß  wir  von  dem  speku- 
lativen Begriff  des  Erbtums  überhaupt  als  der 
Willensfortexistenz  ausgingen  und  so  zu  der  not- 
wendigen Konsequenz  gelangten,  daß,  wenn  alles  Erbtum 
nur  Perpetuierung  der  Willenssubjektivität 
durch  eine  andere  mit  ihr  identische  ist,  das  Intestat- 
erbtum,  wenn  es  und  da  es  noch  Erbtum  überhaupt 
sein  soll,  nichts  anderes  als  diese  Fortexistenz  durch 
den  aus  dem  eigenen  Willen  des  Toten  voraus- 
gesetzten Willensträger  sein  kann,  —  so  sind  wir  jetzt 
zu  diesem  selben  Satze  auf  eine  weniger  vom  Begriff  als 
vielmehr  vom  Positiven  des  römischen  Rechtes  ausgehende 
Weise  gelangt.  Denn  wir  sind  jetzt  zu  ihm  gelangt 
von  der  bloßen  positiv-materiellen  Tatsache  des 
römischen  Zivilintestaterbrechtes  aus,  daß  es  weder  Not- 
erben  noch  Pflichtteil  kennt,  eine  Tatsache,  die 
nur  als  inhaltlicher  Gedanke  dasselbe  ausdrückt,  was 
die  subsidiäre  Stellung  des  Intestaterbrechtes  in  for- 
meller Hinsicht.  Und  freilich  mußten  beide  Wege 
zu  demselben  Resultat  führen,  denn  diese  positive 
Tatsache  ist  gar  nichts  anderes  als  das  im  Intestat- 
erbrecht sich  manifestierende  Dasein  seines  Begriffes. 
Aber  weiter  als  früher  sind  wir  mit  dieser  bloß  ver- 
schiedenen Herleitung  noch  nicht  gekommen.  Der  hier 
entwickelte  Begriff  des  Intestaterbrechtes  ist  noch  ganz 
derselbe,  und  daher  auch  ganz  ebenso  abstrakt  und  nur 
noch  formell,  wie  er  dies  in  unseren  früheren  Erörte- 

514 


rungen  in  den  Nrn.  XXII  und  XXVI  war,  auf  welche 
wir  hier  vor  allem  in  allen  ihren  Punkten  zurückverweisen 
müssen. 

Das  heißt:  In  Wahrheit  scheint  hier  wie  dort  der 
Begriff  nur  noch  abstrakt  und  bloß  formell  zu  sein, 
weil  das  bereits  in  ihm  ruhende  Inhaltliche  oder 
Konkrete  noch  nicht  zum  Vorschein  gebracht  wor- 
den ist. 

Um  dies  zu  leisten,  um  den  inhaltlichen  Begriff 
des  römischen  Zivilintestaterbrechtes  in  seiner  ganzen 
Konkret heit  hervortreten  zu  lassen,  wird  zunächst  nur 
eine  Frage  erforderlich  sein.  Die  Frage  nämlich:  Wenn 
alles  Intestaterbtum,  wie  wir  sahen,  nur  als  der  voraus- 
gesetzte Wille  des  Individuums  Platz  greift,  wenn 
dies  sein  formeller  Begriff  ist,  nur  der  nicht  aus- 
gedrückte Wille  des  Individuums  und  die  Ergänzung 
desselben  zu  sein  —  welches  ist  denn  der  nicht  aus- 
gedrückte Wille  des  Individuums  ? 

Mit  der  sich  in  einen  kurzen  Satz  zusammenfassenden 
Beantwortung  dieser  einen  Frage  wird  sich  —  so  groß 
ist  die  Macht  des  konkreten  Begriffes  —  von  selbst 
alles  Weitere  über  Dogmatik  und  geschichtliche  Bewegung 
des  Intestaterbrechtes  ergeben,  in  noch  reicherer  und  spe- 
ziellerer Weise,  als  wir,  die  wir  es  hier  unserem  Zweck 
nach  eigentlich  nur  mit  der  festen  Konstatierung 
dieses  Begriffes  und  nicht  mit  einer  besonderen  selbstän- 
digen Behandlung  der  intestaterbrechtlichen  Materie  zu 
tun  haben,  hier  auszuführen  vermögen. 

Welches  ist  also  der  nicht  ausgedrückte  Wille 
des   Individuums  ? 

Wenn  das  Individuum  keinen  besonderen  subjek- 
tiven Willen  ausgedrückt,  wenn  es  sich  nicht  als  be- 
sonderen  Willen   gesetzt   hat,    so   bleibt  als    sein 

11»  515 


Wille  nur  —  das  allgemeine  Wesen  des  Willens 
übrig.  Oder  schärfer :  der  sich  nicht  besondernde 
Wille  —  ist  der  allgemeine  Wille. 

Denn  der  besondere  Wille  ist  ja  selbst  erst  diese 
Tätigkeit  des  allgemeinen  Willens,  sich  als  be- 
sonderen zu  setzen.  Ehe  er  sich  also  zu  einer  Be- 
sonderheit bestimmt  hat,  ist  seinem  eigenen  logischen 
Begriffe  nach  im  Willen  eben  nur  sein  substantiell- 
allgemeines  Wesen  vorhanden. 

Dieser  tiefe  Satz  der  spekulativen  Logik^) 
ist  es,  den  das  römische  jus  civile  erfaßt  und  in  seinem 
Intestaterbrecht  mit  gewaltiger  begrifflicher  Konsequenz 
verwirklicht.  Der  sich  nicht  als  ein  besonderer 
setzende  individuelle  Wille  ist  also  identisch  mit  dem 
allgemeinen  Wesen  des  individuellen  Willens,  oder 
dem  Volksgeist,  dem  das  Individuum  angehört. 

Dieser  Wille  hat  also  keinen  anderen  Inhalt  als  den 
allgemeinen  Willen  des  Volkes,  oder  den  Staat, 
in  dessen  Organisation  derselbe  verwirklicht  ist.  Die 
durch  das  Band  der  Gewalt  vermittelte  Personen- 
gemeinschaft^)  oder  die  Agnaten,  die  Einheit  des 
Stammes  oder  die  Gentilen,  sind  daher,  als  die  Basen, 
auf  welchen  die  römische  Gesellschaft  überhaupt 

•^)  Denn  er  ist  nur  eine  Folge  des  logischen  Fundamental- 
gesetzes, daß  das  Besondere  überhaupt  nur  die  Tätigkeit 
des  Allgemeinen  ist,  sich  zum  Besonderen  zu  be- 
stimmen, zu  differentiieren.  Siehe  Hegels  Logik,  Bd.  II, 
Die  Lehre  vom  Begriff  und  seine  Momente :  das  Allgemeine, 
Besondere  und  Einzelne. 

^)  Es  wird  nützlich  sein,  sich  dieses  genaueren  Aus- 
druckes zu  bedienen,  als  des  Wortes:  Familie,  mit  welchem 
nun  einmal  in  germanischer  Zeit  stets  der  Begriff  der  natür- 
lichen Verwandtschaft  verbunden,  und  so  sein  römischer 
Sinn   durchaus   verändert  wird. 

516 


beruht,  auch  die  Basen  des  Intestaterbrechtes. 
Oder  das  zivile  Intestaterbrecht  ist,  wie  wir  das  bald 
noch  näher  aufzeigen  werden,  im  strengsten  Sinne  ein 
Erbrecht  der  ordo ;  es  ist  ein  Einrücken  der 
Reihenfolge  von  Grundlagen,  in  die  das  All- 
gemeine, der  Staat,  sich  organisch  gliedert^). 


^)  Von  hier  aus  erklärt  sich  nun  auch  sofort  nicht  nur  da,s 
spätere  Erbrecht  des  Fiskus,  sowie  das  Recht  desselben  auf 
die  Kaduzitäten,  sondern  auch  das  Erbrecht  der  Kurie 
(Tbeodosius,  L.  4  C.  de  her.  dec-,  6.  22),  des  coUegii  navi- 
cularionxm,  des  cohortalis,  das  von  Konstantinus  erteilt  wird 
(siehe  L.  1  u.  3  C.  de  her.  dec,  6,  62) ;  das  Erbrecht  des 
collegii  fabricensium,  das  von  Theodosius  (L.  5  C.  eod.  tit.), 
das  Erbrecht  der  Legionen,  das  schon  von  Hadrian,  und  das 
Erbrecht  der  Reiterei,  das  von  Konstantin  erteilt  wird  (L.  17 
D.  de  just.  rupt.  et  irr.  test..  28,  3.  —  L.  4,  17  D.  de 
fideic.  40,  5.  —  L.  2  C-  de  her.  dec,  6,  62),  sowie  das 
von  Theodosius  gegebene  Erbrecht  der  Kirche  (L.  10  C  de 
episc  et  der.,  1,  3).  Als  ein  Erbrecht  der  Standesgemein- 
schaft! Lange  nachdem  das  jus  gentilitium  untergegangen, 
weil  die  Stamm-  und  Geschlechtereinteilung  aufgehört  hat,  die 
Grundlagen  des  römischen  Volkslebens  zu  bilden,  und  selbst 
bis  auf  die  Erinnerung  zugrunde  gegangen  ist,  lange  nachher 
kami  und  muß  an  die  Stelle  der  Gentilen  nun  das  Intestaterbrecht 
dieser  Standesgenossenschaften  treten.  Denn  bei  der  ganz  ver- 
änderten Gestalt,  welche  die  römische  Gesellschaft  inzwischen 
erhalten  hat,  sind  diese  ordines,  die  durch  die  Lebensbe- 
schäftigung gebildeten  Reihen  und  Klassen,  Stände  und 
Kreise,  auf  welchen  die  Gesellschaft  jetzt  beruht  und 
in  die  sie  sich  gliedert,  eben  das,  was  an  die  Stelle  der 
früheren  gentes  getreten  ist.  —  Es  ist  also  von  der  höchsten, 
folgenreichsten  Wichtigkeit,  zu  begreifen,  wie  in  diesem  Erb- 
recht der  Beschäftigungs-  und  Erwerbsgenossenschaft  noch  un- 
verändert derselbe  In testaterbf  olgebegrif  f  tätig  ist, 
der  früher  den  Gentilen  die  Intestaterbschaft  überträgt,  nur 
daß  eben  in  der  so  veränderten  Gesellschaft  jene  statt  dieser 
zu  den  Grundlagen  derselben  geworden  sind.  Die  Wirklich - 

517 


Fassen  wir  zunächst  den  konkreten  Begriff  der  rö- 
mischen Intestaterbfolge,  wie  er  sich  uns  nunmehr  be- 
stimmt hat,   scharf  zusammen. 

Der  wahre  und  konkrete  Begriff  der  römischen  Intestat- 
erbfolge ist  also : 

der   allgemeine   Wille   des    Volkes,    aufgefaßt, 

vorausgesetzt    und    geltend    als    der    Wille 

dieses  bestimmten  Individuums^). 

keit  der  römischen  Gesellschaft  hat  sich  geändert,  und  damit 
tritt  unter  Festhaltung  desselben  Intestatbegriffes  dieses  Erb- 
recht der  Genossenschaften  an  Stelle  dessen  der  verschwundenen 
gentes. 

•'■)  Es  ist  vielleicht  nicht  ohne  Interesse  zu  sehen,  wie  in  dem 
romanischen  Geist  der  Päpste,  trotz  aller  Umgestaltungen 
der  Begriffe  wie  der  Verhältnisse,  immer  in  gewisser  Weise 
dieser  ursprüngliche  Geist  des  altrömischen  jus  ci\ile  fort- 
lebt. Denn  nichts  anderes  als  der  oben  entwickelte  Begriff  liegt 
der  gegen  die  französische  Krone  geltend  gemachten  Forderung 
des  Papstes  Innozenz  IV.  zugrunde,  daß  die  Güter  aller 
intestato  verstorbenen  Geistlichen,  gleichviel  ob  sie 
noch  so  nahe  Blutsverwandte  hinterließen  oder  nicht,  der  Kirche 
zufallen  sollten  (s.  Matthieu,  Paris.  Hist.,  p.  774  an  1246, 
Regierung  von  Heinrich  III.).  Die  in  der  vorigen  Note  ange- 
zogenen Kaisergesetze  über  das  Erbrecht  der  Kirche  und  des 
Standes  bilden  durchaus  keine  ausreichende  Analogie  hierfür, 
da  sie  alle  nur  für  den  Fall  verfügen,  daß  keine  erbfähigen 
Verwandten  da  sind.  Zum  Verständnis  dieser  Forderung  muß 
man  sich  erinnern,  daß  die  Geistlichen  im  Mittelalter  überall 
unter  römischem  Recht  standen,  statt  unter  Landesgesetz. 
Nach  dieser  Bemerkung  muß  die  Analogie  mit  dem  Obigen 
klar  sein.  Nicht  nur  in  geistlicher,  sondern  auch  in  Rechts - 
gemeinschaft  nur  mit  der  Kirche,  ist  es  das  rein  All- 
gemeine dieser  letzteren  selbst,  womit  der  einzelne  Geistliche 
zusammenfällt,  wenn  er  keinen  besonderen  Willen  gesetzt 
hat.  An  die  Stelle  der  Agnaten  und  Gentllen  des  jus  civile  rückt 
die  keine  solche  Gliederung  innerhalb  ihrer  kennende  einfach 
allgeineine  Substanz  der  Kirche   selbst. 

518 


Es  ist  von  der  höchsten  Wesentlichkeit,  keine  von 
diesen  beiden  Seiten  des  altrömischen  Intestaterb- 
begriffes  zu  übersehen.  Welche  von  beiden  man  über- 
sieht, fällt  man  jedesmal  notwendig  in  ein  immenses  und 
gänzliches  Mißverständnis  des  Geistes  des  römischen 
Intestaterbrechtes,  und  zwar,  obwohl  aus  entgegengesetzten 
Gründen,  dem  Resultat  nach  immer  in  dasselbe  Miß- 
verständnis, wie  wir  später  noch  zeigen  werden. 

Nur  durch  die  Erfassung  des  römischen  Intestaterb- 
rechtes, als  der  Einheit  dieser  entgegengesetzten 
Momente,  begreift  sich  die  Einheit,  in  welcher  es  mit 
dem  testamentarischen  Erbrecht  steht  und  gleich 
diesem,  individuelle  Willensfortexistenz  bildet, 
d.  h.  den  Begriff  des  Erbtums  überhaupt  erfüllt,  und  wie 
es  dennoch  in  jenen  bestimmten  und  schneidenden  Gegen- 
satz mit  der  testamentarischen  Willensgeltung  treten 
muß,  der  den  Satz:  ,,Nemo  pro  parte  testatus,  pro  parte 
intestatus  decedere  potest",  zu  seinem  notwendigen  Aus- 
druck hat^). 

Noch  einmal  ergibt  sich  hier  das  Verständnis  dieses, 
das  gesamte  römische  Erbrecht  beherrschenden  Prinzips. 
Denn  da  der  individuelle  Wille  nur  dadurch,  daß  er 
sich  nicht  als  besonderer  setzt,  als  identisch  mit  dem 
allgemeinen  Willen  vorausgesetzt  wird,  so  ist,  wo  einmal 
diese  Voraussetzung  gemacht  werden  muß,  jede  Be- 
sonderheit im  Inhalt  des  Willens  schlechthin  aus- 
geschlossen und  die  strenge  Identität  mit  dem  Allgemeinen 
gesetzt,  was  den  Schein  gibt,  daß  das  Gesetz  als  solches 

Bloße  Habsucht  reicht  zur  Erklärung  der  Möglichkeit 
einer  so  exorbitanten  Forderung  nicht  aus,  auch  schon  deshalb 
nicht,  weil  sie  sich  dann  ebenso  sehr  und  vor  allem  gegen  das 
Recht  der  Geistlichen,  zu  testieren,  hätte  richten  müssen. 

1)  Vgl  oben  Nr.  XXVI. 

519 


verfüge.  Und  umgekehrt :  Wenn  zugegeben  wird,  daß 
der  Wille  sich  tätig  als  besonderer  gesetzt  habe,  kann 
nicht  davon  die  Rede  sein,  ihn  als  identisch  mit  seiner 
ruhenden  Allgemeinheit  aufzufassen  und  also  die  Intestat- 
ordnung  eintreten  zu  lassen.  Eine  Teilung,  welche  mög- 
lich und  logisch  wäre,  wenn  der  Begriff  des  römischen 
Erbrechtes  eine  V  e  r  m  ö  g  e  n  s  Übertragung  wäre,  ist  eben 
deshalb  schlechthin  unmöglich,  weil  es  nur  Perpetuie- 
rung  der  Willenssubjektivität  ist,  die  durch  ihr 
ausdrückliches  Sichselbstsetzen  das  Eintreten  ihres 
bloßen  Vorausgesetztseins  unzulässig  und  logisch- 
unmöglich macht.  Solange  man  also  diesen  Satz:  Nemo 
pro  parte  etc.,  als  ein  im  geringsten  Befremdendes  oder 
als  ein  äußerlich-historisch  zu  Erklärendes,  oder 
solange  man  ihn  mit  Gans  —  obwohl  diese  Ansicht  be- 
reits einen  Fortschritt  darstellt  —  als  den  Ausdruck  eines 
Kampfes  zwischen  Intestatrecht  und  Testaments- 
recht als  zwei  entgegengesetzter  Prinzipien, 
als  den  Gegensatz  ,,der  Willkür  des  Individuums"  und 
der  ,, Sittlichkeit  der  Familie"  auffaßt,  oder  solange  man 
ihn  überhaupt  anders  auffaßt  als  ein  bei  Zugrundelegung 
des  historischen  Begriffes  des  römischen  Geistes 
notwendiges  logisches  Denkgesetz,  liefert  man  hierin 
den  besten  Beweis,  den  Geist  des  gesamten  römischen  Erb- 
rechtes verfehlt  zu  haben  ^). 

Sehr  richtig  sagt  Pomponius :  dazwischen,  d.  h. 
zwischen  diesen  Tatsachen,  finde  ein  natürlicher 
Kampf  statt  {eammque  renim  naturaliter  pugna  est), 
ob  jemand  testato  oder  intestato  gestorben  sei,  und 
dieser  Gegensatz  ist  eben  oben  entwickelt;  aber  er  sagt 

^)  Siehe  als  Anmerkung  hierzu  die  Kritik  des  Huschke- 
schen  Aufsatzes  als  besondere  Beilage  am  Schluß  dieser 
Nummer. 

520 


nicht,  daß  zwischen  Testaments r e c h t  und  Intestat r e c h t 
ein  Kampf  stattfinde,  wie  es  Gans  (II,  451  fg.)  völlig 
umdeutend  und  höchst  irrtümlich  auffaßt.  Es  ist  viel- 
mehr gerade  die  ruhige  Einheit  von  Testaments-  und 
Intestatrecht,  die  Idee  des  Erbtums  als  der  Willens - 
perpetuierung,  welche  jenen  sich  ausschließenden  Gegensatz 
in  der  Form,  in  welcher  der  Wille  eines  bestimmten  Toten 
fortexistiert,  hervorbringt.  Gerade  durch  diese  irrige  Auf- 
fassung des  Testaments-  und  Intestaterbrechtes  als  eines 
sich  bekämpfenden  Dualismus  wird  nun  auch  die  gesamte 
Auffassung  der  historischen  Bewegung  bei  Gans 
genötigt,  eine  falsche  zu  werden,  oder  vielmehr  es  ist 
ein  sich  gegenseitig  bedingendes  Verkennen  des  Erbrechtes 
auf  allen  seinen  Punkten.  So  faßt  Gans  und  andere  diese 
historische  Bewegung,  z.  B.  die  Inoffiziositätsquerel  (II, 
116 fg.),  als  ein  Einbrechen  der  Idee  des  Intestat- 
rechtes  in   das   System  der  testamentarischen   Willkür. 

Allein  was  hat  die  Inoffiziositätsquerel  mit  dem  Ge- 
danken des   Intestaterbrechtes  zu  tun? 

Ist  sie  ein  Recht  der  ordo  der  Agnaten  und  Gentilen  ? 
S  i  e  steht  vielmehr  von  vornherein  auf  dem  p  r  ä  t  o  r  i  - 
sehen  Boden  der  natürlichen  Familie  (Kognation), 
denn  sie  ist  allen  Kognaten  gegeben.  Sie  ist  wirklich 
das,  wofür  man  bisher  mit  Unrecht  die  Intestaterbfolge 
des  jus  civile  gehalten  hat,  sie  ist  wirkl-ich  das  erste 
Hereinbrechen  der  Idee  der  ,, natürlichen  Erbfolge" 
der  verwandten  Personen  oder  des  Familien- 
rechtes,  und  eben  deshalb  von  dem  Intestatsystem 
der  ordo  und  dem  testamentarischen  System  gleich  weit 
entfernt.  Wir  haben  gezeigt,  welches  der  wahre 
Kampf  und  das  wirkliche  Bewegungsprinzip  des 
römischen  Erbrechtes  ist.  Es  ist  der  Kampf  und  die  Ab- 
reibung des  erblasserischen  Willens  an  dem  erben - 

521 


den  Willen  oder  der  leise  Übergang  des  Erbtums  als 
Willensfortsetzung  in  den  Gedanken  des  Vermögens- 
erwerbes 0-  Sowie  das  Vermögen  anfängt,  das  Erb- 
tum  als  Substanz  zu  durchdringen,  ist  es  natürlich,  daß 
sich  jetzt  auch  das  natürliche  Recht  der  Familienglieder 
geltend  zu  machen  anfängt,  zumal  jetzt  auch  der  Erbe 
notwendig  mit  Vermögen  befaßt  ist,  während  früher  die 
Familienglieder   durch   Legate   weit    reichlicher    bedacht 

^)  D.  h.  wir  zeigen  hier,  das  sub  Nr.  VII  Gezeigte  rekapi- 
tulierend, wie  innerhalb  des  reinen  Zivilrechtes  selbst  diese 
Bewegung  schon  vorhanden  ist,  es  zum  Vermögenserbtum  um- 
zubilden. Innerhalb  des  reinen  Zivilrechtes  kann  aber  diese 
Bewegung,  wegen  der  Festigkeit  seines  Begriffes,  nicht  zu 
ihrem  notwendigen  Ziele  dringen;  innerhalb  des  reinen 
Zivilrechtes  bleibt  daher  die  lex  Falcidia  der  äußerste  Schritt 
auf  dieser  Laufbahn.  Aber  wir  werden  noch  zu  Ende  der 
gegenwärtigen  Nummer  sehen,  wie  das  Zivilrecht  selbst  noch 
den  ar deren  Trieb  in  sich  hat,  das  Erbrecht  qua- Vermögen s - 
erwerb  als  ein  von  ihm  verschiedenes  und  anderes 
Recht  außerhalb  seiner  zu  setzen  —  das  prätorische  Erb- 
recht der  bonorum  possessio.  Die  Bewegung  des  römischen 
Rechtes  ist  daher  die  gedoppelte:  die  Bewegung  des  reinen 
Zivilrechtes  innerhalb  seiner  selbst  dem  Prinzip  des  prätorischen 
Erbrechtes,  dem  Erbrecht  als  Vermögenserwerb,  entgegenzu- 
kommen, und  diese  Bewegung  führt  nicht  sehr  weit  in  ihren 
praktischen  Resultaten.  Dann  aber  die  Bewegung  des  von 
Zivilrecht  selbst,  auf  Grund  seines  in  ihm  vorhandenen 
Keimes,  als  ein  gegen  es  anderes  Recht  außerhalb  seiner 
gesetzten  prätorischen  Erbrechtsprinzipes,  welches,  sich 
selbständig  entwickelnd,  in  den  Kreis  des  Zivilrechtes  einzu- 
brechen und  sich  an  seine  Stelle  zu  setzen  sucht  —  und  diese 
Bewegung  hat  die  entscheidende  Auflösung  des  jus  zivile  zu  ihrer 
Folge.  In  beiden  Bewegungen  aber  herrscht  ein  Prinzip.  Nur 
durch  das  Erfassen  dieser  beiden  Bewegungen  kann  die  römi- 
sche Rechtsgeschichte  begriffen  werden.  Zu  seinem  konkreteren 
Verständnis  aber  wird  das  hier  Gesagte  erst  am  Ende  dieser 
Nummer  gelangen. 

522 


werden  konnten  als  der  Willenskontinuator.  Sowie  im 
zivilistischen  Erbtum  überhaupt  die  Willenssubjektivität 
des  Erblassers  anfängt,  statt  die  des  Erben  zu  verschlingen 
und  als  ihre  Fortexistenz  zu  setzen,  vielmehr  negiert 
zu  werden  und  unterzugehen  in  diejenige  des  Erben, 
der  bei  diesem  einbrechenden  Dualismus  zu  seiner  Sub- 
stanz und  seinem  Interesse  das  Vermögen  hat,  da  muß 
dasselbe  Ankämpfen  wie  gegen  das  zivilistische  Prinzip 
des  Erbtums  überhaupt,  so  auch  gegen  das  des  Intestat- 
rechtes  insbesondere  einzutreten  anfangen. 

Es  ist  daher  wieder  eine  chronologische  Gleichzeitig- 
keit von  hohem  spekulativen  Interesse,  daß  gleichzeitig 
mit  der  Bewegung  der  lex  Furia  —  Voconia  —  Falcidia, 
die  jenes  erste  Ankämpfen,  wie  wir  gesehen  haben,  dar- 
stellt, auch  die  querela  inofficiosi  sich  zu  entwickeln  be- 
ginnt, die,  indem  sie  von  vornherein  auch  den  Kognaten 
gegeben  ist,  dieselbe  innerliche  Reaktion  gegen  das  Prin- 
zip des  zivilen  Intestatrechtes  darstellt,  die  sie 
gegen  das  Testament  offen  vollbringt,  ein  Ankämpfen, 
dessen  zitternde,  sich  selbst  verleugnende  Form,  in  der 
es  zuerst  auftritt,  wir  bereits  mit  seiner  weiteren  Ent- 
wickelung  betrachtet  haben  (Nr.  X),  und  welches  gleich- 
wohl von  vornherein  der  erste  Schritt  des  prätorischen 
Prinzipes  ist,  sich  in  das  Zivilrecht  hinein  und  an 
dessen  Stelle  zu  setzen. 

Wir  sagten  aber  noch  vorher,  daß,  welche  von  den 
beiden  Seiten,  die  in  dem  spekulativen  Begriff  des  Intestat- 
rechtes geeint  sind,  man  auch  übersehe,  man  jedesmal  in 
ein  immenses  und,  obwohl  aus  entgegengesetzten  Gründen, 
im  Resultat  in  dasselbe  Mißverständnis  des  Intestat- 
rechtes verfallen  müsse.    Dies  ist  nun  zunächst  zu  zeigen. 

Alle  bisherigen  Autoren  stimmen  darin  überein,  das 
zivile  Intestaterbrecht  als  ein  wahres  Familienrecht 

523 


aufzufassen.  Die  Folgerung,  die  Gans  hieraus  zieht,  ist, 
daß  ihm  Intestaterbrecht  und  testamentarisches  in  einem 
bloßen  einheitslosen  Dualismus  zueinander  stehen. 
Hier  wird  also  die  begriffliche  Einheit  beider  ver- 
kannt, die  sich  schon  ganz  äußerlich  darin  ausspricht,  daß 
beide  eben  Erbrecht  sind.  Diese  Institute  werden  ihm 
so  zu  schlechthin  miteinander  kämpfenden  Ge- 
danken, die  keinerlei  Gemeinschaftlichkeit 
ihres  Gedankeninhaltes  haben,  deren  Nebeneinander- 
bestehen daher  schlechthin  unbegreiflich  bleibt  und 
deshalb  von  ihm  als  eine  historische  Stammesverschie- 
denheit der  Patrizier  und  Plebejer  zu  erklären  versucht 
wird,  eine  Erklärung,  die  einerseits  historisch  völlig  un- 
haltbar, und  andererseits  nichts  anderes  als  der  von  vorn- 
herein ausgesprochene  Verzicht  auf  die  Forde- 
ning  des  Begriffes  ist,  den  römischen  Geist  als  eine  Ein- 
heit seiner  Gegensätze  zu  begreifen.  Und  sicherlich,  wenn 
die  Gegensätze,  weil  sie  spekulative  Gedanltengegensätze 
sind,  scharf  und  schneidend  sind  und  sein  müssen,  so  kann 
doch  nirgendswo  weniger  als  gerade  in  Rom  und  gerade 
im  römischen  jus  civile  die  schlechthin  geschlossene 
geistige  Einheit,  welche  diese  Gegensätze  durchdringt, 
geleugnet  werden. 

Gans,  der  große  Gegner  der  historischen  Schule,  ver- 
fällt daher,  indem  er  die  Gegensätze,  statt  sie  als  Momente 
aus  der  Einheit  des  spekulativen  Begriffes  hervorgehen 
zu  lassen,  als  eine  durch  keinen  Gedanken  geeinte,  sich 
bloß  äußerlich  gegenüberstehende  historische  Stammes - 
Verschiedenheit  hinstellt,  hier  selbst  in  den  von  ihm 
der  historischen  Schule  so  lebhaft  vorgeworfenen 
Fehler,  das  aus  dem  Gedanken  Abzuleitende  als  ein 
äußerlich  und  historisch  Gegebenes  voraus- 
zusetzen.    Selbstredend    wird    bei    dieser   Anschauung. 

524 


die  nur  eine  Folge  davon  ist,  daß  Gans  gar  nicht  den 
spekulativen  Erbtumsbegriff  überhaupt,  sondern  nur  die 
empirische  Verstandesvorstellung  von  demselben  in  der 
Hand  hat,  der  Geist  des  Intestaterbrechtes  in  seiner  Be- 
stimmtheit ebenso  verfehlt,  wie  der  des  testamentarischen. 

Da  diese  einheitslose  Anschauung  mit  Recht  kein  Glück 
machen  konnte,  so  haben  Böcking  und  andere,  immer  von 
jenem  Grundirrtum  ausgehend,  daß  das  römische  Intestat- 
erbrecht seinem  Gedanken  nach  wahres  Familienrecht  sei, 
die  andere  Folgerung  gezogen  (vgl.  oben  S.  41,  Note  2), 
daß  das  Familienerbrecht  die  prinzipale  Substanz  alles 
römischen  Erbrechtes  überhaupt  sei,  deshalb  die  gesetz- 
liche Erbfolge  sei,  und  daß  der  rechtlichen  Willkür 
des  einzelnen  nur  gestattet  sei,  davon  abzuweichen  usw. 

Allein  fast  noch  mehr  als  bei  der  vorigen  Auffassung 
wird  bei  dieser  die  Stellung  beider  Systeme  zueinander 
verkannt  und  der  Geist  eines  jeden  von  beiden  mißverstan- 
den. Dies  spricht  sich  am  kürzesten  schon  in  der  hier 
vorgegangenen  totalen  Verrückung  der  formellen  Stellung 
aus,  welche  beide  Systeme  zueinander  haben.  Diese 
Autoren  übersehen,  daß  sie  hierdurch  das  Testamentsrecht 
zu  einem  subsidiarischen  gegen  das  Intestatrecht 
machen  und  sich  dadurch  in  den  offensten  und  direktesten 
Widerspruch  mit  den  Texten  versetzen,  welche  das  In- 
testaterbrecht vielmehr  für  das,  was  es  ist,  für  ein  sub- 
sidiarisches des  testamentarischen  Rechtes 
(Ulpian,  L.  39  de  acqu.  her.   29,   2)  erklärten. 

Wenn  aber  beide  Irrtümer  nur  die  Folge  von  der  Auf- 
fassung des  Intestatrechtes  als  eines  auf  die  Verwandt- 
schaft basierten  Familienrechtes  sind,  so  ist  dieser  Grund- 
irrtum selbst  wieder,  wie  sich  jetzt  zeigt,  nur  die  not- 
wendige Folge  von  dem  Übersehen  der  einen  der 
beiden  oben  erörterten  Seiten,  die  im  Begriff  des  römischen 

525 


Intestaterbrechtes  geeint  sind.  In  der  Tat,  welche  von 
diesen  beiden  Seiten  man  auch  übersieht,  so  wird  es  beide- 
mal dahin  führen  müssen,  das  Intestaterbrecht  als  Familien - 
recht  aufzufassen.  Übersieht  man  das  Moment  des  (voraus- 
gesetzten) individuellen  Willens,  so  erscheint  das  Intestat- 
erbrecht als  das  eigene  und  vom  Gesetz  als  solchem 
anerkannte  Recht  der  Familie.  Übersieht  man  da- 
gegen das  Moment  des  allgemeinen  Willens,  mit 
welchem  der  sich  nicht  besondernde  Wille  des  Individuums 
zusammenfällt,  so  erscheint  das  Intestaterbrecht  als 
bloßer  präsumtiver  Wille  der  Person  und  daher 
als  Präsumtion  ihrer  individuellen,  auf  die  Familie 
gerichteten  Gesinnung  (Familienliebe  als  Prinzip). 
Wie  wenig  aber  das  Intestaterbrecht  ein  Familienrecht 
in  dem  mit  diesem  Worte  stets  verbundenen  Sinne  ist, 
liegt  unter  anderem  z.  B.  ganz  deutlich  schon  darin,  daß, 
wenn  der  nächste  berufene  Agnat  ausschlägt  oder  stirbt, 
das  Erbrecht  der  ganzen  Klasse  der  Agnaten  fortfällt. 
Es  zeigt  sich  hierin  wieder  nur,  daß  es  nicht  die  ver- 
wandten Personen  sind,  die  als  solche  einen  eige- 
nen Rechtsanspruch  haben,  oder  denen  vom  Gesetz  ein 
solcher  gegeben  wird,  oder  die  als  Gegenstand  der  Familien- 
liebe als  Erben  präsumiert  werden,  sondern  daß  es  die 
strenge  Idee  der  ordo  ist,  die  dem  alten  Intestatrecht 
zugrunde  liegt,  und  werden  wir  hierauf  später  noch  näher 
zurückkehren^). 

^)  Es  ist  übrigens  selbstredend,  daß  alle  diese  Irrtümer  eine 
unvermeidliche  Konsequenz  des  ersten  und  fundamentalen  Irr- 
tumes  sein  mußten,  das  römische  Erbrecht  überhaupt  als  Ver- 
mögensrecht und  Vermögenserwerb  statt  in  seiner  spe- 
kulativen Wahrheit  als  Willensperpetuierung  aufzu- 
fassen. Natürlich  lag  dann  täuschend  nahe,  das  Intestaterbrecht 
der  Agnaten  für  einen  Rechtsanspruch  dieser  Personen  auf  das 
Vermögen  des  Hingeschiedenen  zu  nehmen. 

526 


Mit  dem  entwickelten  Begriffe  des  römischen  Intestat- 
erbrechtes, dem  allgemeinen  Willen,  vorausgesetzt 
und  geltend  als  der  individuelle  Wille  dieses  be- 
stimmten Individuums,  stimmt  nun  alles  Reale  und  For- 
male des  römischen  Intestatrechtes  bis  in  seine  kleinsten 
Einzelheiten  genau  überein. 

Zuerst  stimmt  damit  auf  das  schlagendste  überein  die 
feststehende  Tatsache)^,  daß  in  den  Zwölf  Tafeln 
die  testamentarische  Erbschaft  den  Bestimmungen  über 
die  Intestaterbfolge  vorangestellt  ist^). 


^)  Siehe  die  gelehrten  Untersuchungen  Dirks ens  über  die 
Zv/ölftafelfragmente   (Leipzig   1824),   S.   290. 

^)  Ebenso  ergibt  sich  jetzt  die  innere  Notwendigkeit  der 
in  den  Zwölf  Tafeln  befolgten  „Verbindung  des  Erbrechtes 
mit  der  Vormundschaft;  denn  die  letztere  erscheint  im 
alten  römischen  Zivilrecht  hauptsächlich  auf  die  Voraus- 
setzung der  Erbfolge  gegründet"  (Dirksen,  a.  a.  O., 
S.  289).  Das  Warum  hiervon  muß  jetzt  durchaus  evident  sein. 
Wenn  das  Erbtum  nur  die  fortexistierende  Willenssubjektivität 
des  Toten  ist,  so  ist  die  Verbindung  desselben  mit  der  Tutel 
so  einleuchtend,  daß  wir  es  für  überflüssig  gehalten  haben, 
dieselbe  einer  besonderen  Erörterung  zu  unterziehen,  welche 
den  Ausgangspunkt  zu  einer  selbständigen  Darstellung  der  Tutel 
bilden  müßte.  Nur  die  Bemerkung  mag  hier  ihren  Platz  finden, 
daß  die  Ansicht  von  Gothofredus,  die  Behandlung  der  Vor- 
mundschaft habe  in  den  Zwölf  Tafeln  einen  bloßen  Anhang 
der  Darstellung  vom  Erbrecht  ausgemacht,  jetzt  eine  große 
innere  Bestätigung  gewinnt  gegen  Dirksens  Meinung  (a.  a.  O.), 
daß  jene  Lehre  , .ungleich  natürlicher  den  Übergang  von  dem 
Familienrecht  zum  Erbrecht  vermittelt  habe,"  weshalb  er  die 
betreffenden  Fragmente  auch  an  den  Anfang  der  fünften  Ge- 
setzestafel stellt  (vgl.  daselbst  S.  728).  Davon,  daß  die  Tutel 
den  Übergang  vom  Familienrecht  zum  Erbrecht  vermittele, 
wird  jetzt  offenbar  nicht  mehr  die  Rede  sein  können,  sondern 
umgekehrt  das  Erbrecht  als  Ausgangspunkt  der  Tutel 
zu  fassen  sein. 

527 


■   Die  betreffenden  Zwölftafelstellen  lauten  in  ihrer  Auf- 
einanderfolge also : 

Uti  legassit  super  pecunia  tutelave  suae  rei,  ita  jus 

esto. 

Si  intestato  moritur,  cui  suus  heres  nee  sit,  adgnatus 

proximus  familiam  habeto. 

Si  adgnatus  nee  escit,  gentilis  familiam  nancitor^). 

In  gewaltigster  monumentaler  Steinschrift  enthalten  diese 
drei  kurzen  Sätze  durch  das,  was  sie  sagen  und  nicht 
sagen,  ausdrücklich  verfügen  und  voraussetzen,  vor-  und 
nachstellen,  in  graphischster  Kürze  das  Ganze  der  von 
uns  vorangeschickten  Auflösungen. 

Zuvörderst  tritt,  statt  befremden  zu  können,  jetzt  sehr 
bedeutsam  hervor,  daß  die  Zwölf  Tafeln  eigentlich  über 
das  testamentarische  Erbtum  selbst,  über  die 
Freiheit  dieser  Erbeinsetzung  nichts  verfügen  und  er- 
wähnen. Nur  über  die  Freiheit  des  Legierens  wird  ver- 
fügt, derjenigen  der  testamentarischen  Erbeinsetzung  nicht 
einmal  Erwähnung  getan.  Aber  mit  der  Frage  nach  diesem, 
auf  den  ersten  Moment  befremdenden  Umstand  ergibt  sich 
jetzt  auch  zugleich  die  Antwort. 

Niemals,  außer  in  Zeiten  höchster  Reflexion,  wird  ein 
Volk  unmittelbar  und  verfügend  das  in  seinen  Gesetzen 
aussprechen,  was  die  gesamte  Substanz  seines  Geistes,  die 
ganze  Voraussetzung  seines  geistigen  Daseins,  und  mit 
diesem  identisch  ist.  Die  testamentarische  Erbeinsetzung 
und  ihre  Freiheit,  dies,  was  bei  anderen  Völkern  gar 
nicht  vorhanden  ist  oder  sich  von  außen  her  spät,  langsam 
und  mit  großen  Beschränkungen  entwickelt,  ist  für  den 
römischen   Geist   nicht   eine    Befugnis,    die   ihm    zu 


^)  Siehe  die  fünfte  Tafel,  Fr.  3 — 5,  bei  Dirksen,  a.  a.  O-, 

S.  729. 
528 


gewähren  und  zu  verbriefen  wäre,  es  ist  seine  gesamte 
religiös-metaphysische  Grundlage,  ist  mit  der  stillen  Not- 
wendigkeit des  Seins  in  ihm  vorhanden,  ist  identisch  mit 
diesem  historischen  bestimmten  Volksgeist  selbst,  ist  für 
ihn  dasselbe,   wie  sein  geistiges   Dasein  überhaupt. 

Diese  gesamte  Voraussetzung  seines  geistigen  Daseins 
wird  daher  in  einer  altertümlichen  Zeit  von  einem  Volke 
ebensowenig  verbrieft  und  dekretiert  werden,  wie  etwa 
ein  solches  Volk  sich  seine  Existenz  überhaupt  dekretieren 
würde.  Die  testamentarische  Erbeinsetzung  und  ihre  Frei- 
heit ist  für  den  Römer  jene  absolute  Notwendigkeit  seines 
geistigen  Daseins,  welche  über  und  außerhalb  der 
Sphäre  des  Dekretierbaren  und  Gesetzlichen  für 
ihn  fällt.  Sie  muß  außerhalb  der  Sphäre  des  Gesetz- 
lichen für  ihn  fallen,  weil  sie  sogar  —  innerhalb  dieses 
Volksgeistes  —  außerhalb  der  Sphäre  des  Geschicht- 
lichen fällt,  ein  keinem  Zeitwechsel  Unterliegendes,  mit 
seinem  gesamten  Dasein  Zusammenfallendes  ist.  Die  Ge- 
schichte selbst  beweist  dies.  Die  Freiheit  der  Legate 
unterliegt  im  Lauf  derselben  Fluktuationen,  —  die  testa- 
mentarische Erbeinsetzung  selbst  und  ihre  Freiheit  ist, 
solange  Rom  und  römisches  Recht  existiert,  niemals  an- 
getastet worden^).    Es  ergibt  sich  erst  von  hier  aus  die 


der  römischen  Geschichte  und  zuletzt  mit  Justinian  bekommen. 
Die  Freiheit  der  Erbeinsetzung  ist  geblieben,  und  selbst  die 
Kinder  können,  nach  den  früheren  Verordnungen  Justinians, 
für  das  Pflichtteil  durch  Legate  abgefunden  werden  (vgl.  oben 
Nr.  X).  Erst  durch  die  Novelle  115  wird  dies  von  Justinian 
geändert,  indem  jetzt  die  Deszendenten,  wenn  nicht  die  von  ihm 
bestimmten  Enterbungsgründe  vorliegen,  für  das  Pflichtteil  zu 
Erben  eingesetzt  werden  sollen.  So  würde  denn  hier,  am 
letzten  Ende  des  römischen  Rechtes,  das  Untergegangen- 
sein desselben  insofern  von  ihm  selbst  gesetzt  sein;  aber  noch 

12  LassaUe.    G«.  Schriften.    Band  XH.  52Q 


ganze  Oberflächlichkeit  der  allgemein  verbreiteten  An- 
sicht, welche  in  dem  G  e  s  e  t  z  e  s  charakter  der  Intestat- 
erbfolge eine  dieser  zukommende  größere  Substantialität, 
Bedeutung  und  Ursprünglichkeit  sieht,  zu  welcher  das 
Testament  nur  eine  derogierende  Stellung  einnehme. 
Man  könnte  hierauf  etwa  antworten,  daß  auch  der  testa- 
mentarische Erbe  wegen  des  uti  legassit  auf  dem  Zwölf- 
tafelgesetz  beruhe,  wie  Ulpian  dies  von  dem  Legate 
wirklich  sagt^).  In  der  Tat  aber  wäre  diese  Antwort 
nicht  weniger  schief  als  das,  was  damit  beseitigt  werden 
soll.  Dasjenige,  was  iür  ein  Volk,  wie  gezeigt  worden, 
außerhalb  der  Zeit  fällt,  was  den  gesamten  Kreis 
seiner  Geschichte  bis  an  die  äußersten  Enden  derselben 
ausfüllt,  das  fällt  nicht  mehr  in  das  Gesetzliche  und 
deshalb  im  Zeitenlaufe  Wechselnde,  sondern  weit 
darüber  hinaus,  in  das  Urgesetzliche  dieses  Volkes 
hinein,  als  der  von  vornherein  mit  dieser  Gestalt  des  Geistes 
vorhandene,  mit  ihr  auftretende  und  mit  ihr  verschwindende 
Typus  dieses  Geistes,  von  dem  wohl  alle  bestimmte 
Gesetze  Ausflüsse  sind,  den  er  sich  aber  nicht  in  freier 


in  diesem  Untergang  wäre  wieder  die  Freiheit  der  testamen- 
tarischen Erheinsetzung  auch  noch  aufrecht  erhalten.  Denn  das 
Pflichtteil,  für  welches  die  Deszendenten  eingesetzt  werden 
sollen,  ist  unverändert  das  frühere  Quantum,  und  neben  die- 
sen Noterben  hat  daher  die  testamentarische  Einsetzung  noch 
ihren  freien  Spielraum.  —  Faßt  man  übrigens  mit  Donellus, 
Comm.,  VI,  13,  und  anderen  überwiegenden  Autoren  die  Vor- 
schriften der  Novelle  nicht  als  Nullitätsgründe  gegen  das  Testa- 
ment auf,  so  fehlt  in  derselben  auch  noch  dieser  Untergang, 
indem  dann  bei  Nichtbeobachtung  der  Novelle  nur  wieder  zur 
querela  inofficlosi  zu  greifen  ist,  die  durch  das  Pfllchttell- 
legat  beseitigt  wird. 

^)  Fr.   XIX,  §   17:    „Lege   nobis  adquiritur  .  .  .  item  lega- 
tum  ex  lege  duodecim  labularum." 

530 


Objektivität  gegenüberstellt,  sondern  der  ihn  wie  die  all- 
gemeine und  unmittelbare  unveränderliche  Notwendigkeit 
seines  Lebens  unausgesprochen  durchdringt. 

Wohl  aber  zeigt  sich  daran,  daß  die  Zwölf  Tafeln 
über  die  testamentarische  Erbeinsetzung  und  ihre  Frei- 
heit nichts  sagen  und  zu  sagen  nötig  haben  (ebenso  wie 
in  der  Bekanntheit,  mit  welcher  der  dogmatische  Begriff 
des  suus  vorausgesetzt  wird),  wie  unendlich  alt  und  wie 
unendlich  lange  den  Zwölf  Tafeln  vorhergehend,  das  von 
diesen  nur  vorgefundene,  nicht  geschaffene,  das  von 
ihnen  nur  als  die  ruhende  unbewegte  Substanz  ihres  Ver- 
ordnens  vorausgesetzte  und  nicht  in  den  Kreis  dieses  Ver- 
ordnens  aufgenommene  testamentarische  Erbtum  ist.  Und 
so  ist  es  denn  auch  und  hat,  wie  im  Zwölf tafelgesetze, 
seinen  Beweis  in  den  Überlieferungen  der  alten  Autoren. 
Ebensowenig  wie  ein  Ende,  kennen  wir  dem  testamen- 
tarischen Erbtum  einen  Anfang  in  der  römischen  Ge- 
schichte ;  ebensowenig  wie  ein  Vergehen,  hat  es  inner- 
halb derselben  ein  Entstehen.  So  weit  die  Erinnerungen 
dieses  Volkes  nur  reichen,  in  allen  seinen  auf  die  Grün- 
dung Roms  zurücklaufenden  und  ihr  noch  vorhergehenden 
historisch-mythischen  Traditionen  erscheint  das  testamen- 
tarische Erbtum  als  ein  unbefangenes  Voraus- 
gesetztes, mit  allen  diesen  Erinnerungen  Verfloch- 
tenes. Dies  Volk  weiß  nichts  davon,  daß  ihm  das  testa- 
mentarische Erbtum  entstanden  sei.  Mit  der  mythi- 
schen Acca  Laurentia,  der  Amme  des  Romulus,  der  in 
den  Fasten  Roms  ein  Kalendertag  geheiligt  ist  und  welcher 
der  flamen  Quirinalis  ein  öffentliches  Opfer  vollzieht, 
mit  ihr,  die  nach  Sabinus  Massurius  als  Stifterin  der 
arvalischen  Brüderschaft,  und  demn  wieder  in  mystischer 
Bedeutsamkeit  als  Gottesbuhlerin  auftritt,  mit  ihr  bereits 
erscheint  das  testamentarische  Erbtum  untrennbar  vereint 

12»  531 


und  gegeben.  Denn  aus  den  ältesten  Schriftstellern  wird 
berichtet,  daß  ihr  der  Kalendertag  in  den  Fasten  Roms 
geweiht  worden  sei,  weil  sie,  wie  die  einen  sagen,  Romulus, 
wie  die  anderen  wollen,  das  römische  Volk  zu  Erben 
ihres  aus  der  Heirat  mit  dem  Tusker  gewonnenen  Ver- 
mögens — •  dieses  ihr  indirekt  aus  der  Buhlschaft  mit 
dem  Gott  hervorgegangenen  Reichtums  —  eingesetzt 
habeO-  Schon  zur  Zeit  des  Proka,  des  Vaters  des  Vaters 
der  Rhea  Sylvia,  erwähnt  Livius^)  des  Testamentes  als 
eines  Selbstredenden.  —  Und  diese  Mythen  treten  nicht 
auf  und  sind  nicht  etwa  bewußt  geschaffen  zu  einer  inter- 
essierten Verherrlichung  des  testamentarischen  Erbtums. 
Einem  ganz  anderen  Zusammenhange  hingegeben,  blitzt 
dasselbe  immer  nur  in  ihnen  durch  als  die  Tatsache,  daß 
es  der  geistige  Boden  dieses  Volkes  ist,  auf  dem  sie 
sich  bewegen.  Wie  durch  den  spekulativen  Begriff  a  priori, 
ist  es  also  auch  durch  die  positiven  Zeugnisse  erwiesen, 
daß  das  Testament,  welches  seine  Entstehung  mit  Rom 
hat,  keine  Entstehung  in  Rom  hat.  Was  das  wahrhaft 
Positive  in  diesen  Zeugnissen  ist,  ist,  daß  der  römische 
Geist,  nicht  einmal  in  seinen  ältesten  und  dunkelsten  Tra- 
ditionen, eine  Epoche  in  seiner  Erinnerung  hat,  wo  er 
ohne  testamentarisches  Erbtum  gewesen.  Es  ist  für  ihn 
mit  seinem  Dasein  selbst  gegeben,  die  mit  diesem  Dasein 
selbst  zusammenfallende  Voraussetzung  desselben.  Wenn 
das  testamentarische  Erbtum  ein  innerhalb  der  römischen 
Geschichte  entstandenes  wäre,  wenn  es  für  sie  eine  Zeit 


^)  Siehe  über  die  Acca  Laurentia:  Gellius,  Noct.  att.,  VI, 
c.  7;  Macrobius,  Saturnal.,  I,  c.  10,  p.  241  sqq.,  ed.  Bip. ; 
Plutarch,  Quaest.  Rom.,  XXXV,  p.  116,  ed.  Wytt. ;  Plutarch. 
Romul.,  p.  19  F.;  Augustinus,  De  civ.  dei,  VI.  7;  Lac- 
tantius,  Instit.  div.,  I,  c.  20. 

2)  Lib.   I,  c.  3. 

532 


ohne  Testament  gegeben  hätte,  niemals  und  unmöglich 
hätte  sich  bei  der  immensen  Bedeutung,  welche  die  Ein- 
fühi-ung  des  Testamentes  haben  mußte,  bei  dem  groß- 
artigen Umschwung,  den  diese  Änderung  darstellte,  jede 
Erinnenmg  derselben  bis  auf  die  letzte  Spur  verwischen 
können.  Dies  wäre  ohne  Möglichkeit,  ohne  Beispiel,  ohne 
Analogie  in  der  Weltgeschichte.  Statt  dessen  tritt  uns 
überall  in  den  ersten  mythisch-religiösen  Erinnerungen 
Roms  das  Testament  als  ein  schon  vorhandenes  bestimmt 
entgegen.  Wenn  dies  für  den  rationalistischen  Verstand 
unfaßbar  sein  muß,  so  hat  sich  dagegen  gezeigt,  daß  es 
für  den  spekulativen  Begriff  sogar  ein  a  priori  Notwendiges 
ist.  Dies,  was  innerhalb  der  Geschichte  eines  Volkes 
nicht  verschwindet,  ist  auch  kein  innerhalb  dieser  Ge- 
schichte Entstehendes;  was  kein  Ende  in  der  Zeit  hat, 
hat  auch  keinen  Anfang  in  ihr.  Für  die  allgemeine 
Weltgeschichte  ist  es  ein  Zeitliches  und  Geschicht- 
liches; für  dieses  bestimmte  Volk  ist  es  dies  nicht.  Es 
ist  für  es  ein  Ur gesetzliches,  ist  identisch  mit  dieser 
Physiognomie  des  Geistes,  welche  dieses  Volk  darstellt, 
ist  selbst  diese  Physiognomie.  So  ist  es  ein  mit  ihm 
Auftretendes,  mit  ihmVerschv/indendes,  trotz  aller 
mißverstandenen  Rudera,  die  es  in  der  Welt  zurückläßt^). 
Wohl  werden  wir  in  der  folgenden  Nummer  einen, 
wie  wir  hoffen,  hellen  Blick  in  das  Woraus  v/erfen,  aus 
welchem  sich  das  testamentarische  Erbtum  der  Römer 
entwickelt  hat.  Aber  daselbst  werden  wir  auch  sehen, 
daß  dieses  Woraus  nicht  in  das  GeschichtHche,  sondern 
in   das    Urgeschichtliche   des   römischen   Volkes,    in 

^)  Und  es  wird  sich  bei  unserer  Betrachtung  des  germani- 
schen und  resp.  nriodernen  Erbrechtes  zeigen,  daß  das  testa- 
mentarische Erbium  trotz  jener  Rudera  mit  Rom  verschwun- 
den ist. 

533 


das  Vorgeschichtliche  desselben  fällt,  mit  dessen 
Überwindung  erst  römischer  Geist  da  ist,  seine  geistige 
Stätte  gründet  und  das  Pfund,  das  er  mitbringt,  wuchernd 
entwickelt. 

Wenn  aber  die  sich  selbst  perpetuierende  Übertragung 
der  Willenssubjektivität,  oder  die  Erbeinsetzung,  für  den 
Römer  nicht  eine  Befugnis,  sondern  die  Voraussetzung 
aller  Befugnisse,  seine  geistige  Physiognomie  überhaupt 
ist,  so  stellt  dagegen  der  einzelne  Willensakt  des 
Legates,  dieser  nur  auf  diesem  Boden  der  Willens- 
unsterblichkeit stehende,  dieser  selbst  aber  prinzipiell 
entgegengesetzte  und  daher  sogar  gegen  den 
Willensfortsetzer,  negativ  angehende  Akt  der  Sachen- 
vergabung^),  so  gut  wie  jede  andere  Sachenver- 
fügung unter  Lebenden,  eine  Befugnis  für  den  Römer 
dar.  Diese  Legatenfreiheit  ist  in  der  Tat  das  im  Zeiten- 
laufe Wechselnde  und  Fluktuierende,  das  Geschicht- 
liche, und  darum  kann  und  muß  sie  von  dem  Zwölf - 
tafelgesetz  festgestellt  werden,  so  daß  nun  in  den  Worten 
uti  legassit  das  testamentarische  Erbtum  selbst  nur  als 
die  vorausgesetzte  Substanz,  als  der  ruhende  Boden  dieser 
verbrieften  Befugnis  indirekt  hervortritt^). 

^)  Vgl.  über  den  Begriff  des  Legates  Nr.  XIV  fg.; 
S.  297  fg..  S.  278.  Note  1. 

^)  Hiernach  beseitigt  sich  auch  von  selbst  die  Verwirrung, 
welche  in  der  von  Huschke  (Rhein.  Mus..  VI,  292)  sich  ge- 
stellten Frage  liegt :  ..warumi  der  Akt.  der  seinem  materiellen 
Inhalt  nach  legare  hieß,  doch  nicht  mit  diesem  Ausdruck,  son- 
dern testari  genannt  wurde."  Die  hier  zum  Vorschein  kom- 
mende Verwechslung  des  Testaments-  und  Legatsbegriffes  hat 
ihre  Quelle  in  der  dialektischen  Gegensätzlichkeit,  vermöge 
welcher  letzterer  Gegensatz  und  Betätigung  des  ersteren 
zugleich  ist,  und  verschwindet  daher  sofort  bei  scharfer  Fest- 
haltung unserer  Entwickelungen  des  Legatsbegriffes. 

534 


Wenn  aber  der  Erblasser  nicht  ausdrücklich  seinen 
Willensträger  gesetzt  hat,  si  intestato  moritur,  so  geht 
nun  das  Zwölf tafelgesetz  dazu  über,  ihm  den  voraus- 
gesetzten Wiilensträger  zu  bestimmen,  einen  Willens - 
träger,  den  es  bestimmt  und  einsetzt  aus  dem  voraus- 
gesetzten individuellen  Willen  des  Erblassers 
heraus,  welcher,  weil  sich  nicht  besondernd,  als  mit 
dem  allgemeinen  Willen  zusammenfallend  angeschaut 
wird. 

Schritt  für  Schritt  entfaltet  sich  alles  zu  blendender 
Klarheit,  wenn  dieser  konkrete  Begriff  des  Intestat- 
erbrechtes: der  allgemeine  Wille  vorausgesetzt,  und 
zwar  mit  logischer  Notwendigkeit  vorausgesetzt,  als  der 
individuelle  Wille  des  sich  nicht  besondernden 
Individuums,  festgehalten  wird. 

Zunächst  ergibt  sich  hieraus  jetzt  erst  in  seiner  ganzen 
Tiefe,  warum  das  Intestatgesetz  der  Zwölf  Tafeln  dem 
suus  sein  Erbrecht  gar  nicht  verleiht,  sondern  seiner 
nur  mit  einem  negativen  cui  suus  heres  nee  sit  erwähnend, 
sein  Erbrecht  nur  als  ein  selbständiges,  und  ihm, 
dem  Intestatrecht,  vorhergehendes  anerkennt,  als  ein 
ebenso  vorhergehendes  anerkennt,  wie  in  demselben  Satze 
durch  die  Worte  si  intestatus  moritur  das  Testamentsrecht 
anerkannt  wird.  Es  ergibt  sich  jetzt  erst  wahrhaft,  in- 
wiefern der  suus  die  Mitte  und  Einheit  zwischen  Testa- 
ments- und  Intestatrecht  bildet^),  oder  mit  anderen  Worten, 
daß  der  suus  gar  nicht  als  eigentlicher  Intestat- 
erbe zu  betrachten  ist.  Denn  beim  suus  ist  der 
Wille  des  ohne  Testament  sterbenden  Erblassers  nicht 
als  ein  vorausgesetzter  vorhanden,  sondern  als  ein 
ausdrücklich   gesetzter.      Der   suus   ist    gesetzte 


)  Siehe  oben  Nr.  XXII  und  XXVI. 

535 


Identität  mit  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers, 
nur  daß  dies  Setzen  nicht  erst  zur  Zeit  des  Todes 
stattfand,  sondern  schon  damals,  als  das  Band  der  Suität 
(Willensidentität)  vom  Erblasser  gleichviel  wodurch,  durch 
Zeugung,  Arrogation,  in  manum  conventio,  geknüpft  wurde. 
Als  nicht  aufgehoben,  ist  die  Willensidentität  geblieben, 
und  zwar  notwendig  geblieben,  was  sie  war:  ausdrück- 
lich gesetzte.  Die  Unmittelbarkeit  im  Verhält- 
nis des  suus  ist  nur  vorhanden,  wenn  man  auf  die  Zeit 
des  Todes  sieht.  Sieht  man  auf  ihren  Ursprung,  so  ist 
sie  immer  durch  eine  Willensaktion  gesetzt,  denn 
auch  die  Zeugung  ist  eine  solche,  und  wie  wenig  ihr 
spezifischer  Charakter  der  Blutsverwandtschaft  dabei  in 
Betracht  kommt,  zeigt  sich  ja  darin,  daß  reine  Willens- 
aktionen,  wie  Arrogation  und  in  manum  conventio,  die 
ganz  gleiche  Suität  erzeugen. 

Wenn  also  ein  suus  da  ist,  so  kann  nicht  davon  die 
Rede  sein,  daß  der  Wille  des  Erblassers  sich  nicht  be- 
sondert  habe,  und  darum  als  identisch  mit  seinem  all- 
gemeinen Wesen,  dem  allgemeinen  Willen,  voraus- 
gesetzt werden  müsse,  sondern  der  suus  ist  eben  die 
durch  die  besondere  Willenssubjektivität  des  Erblassers 
gesetzte  individuelle  Willensidentität  mit  ihm.  Im  suus 
ist  stets  der  Wille  des  Testators  als  ein  besonderer, 
sich  besondert  habender,  ausdrücklich  gesetzter 
vorhanden.  Der  suus  ist  daher,  begrifflich  gesprochen,  ein 
lebendiges  Testament,  womit  sofort  die  juristische 
Notwendigkeit  übereinstimmt,  daß  er,  wie  ein  Testament 
umgestoßen  werden  muß,  so  seinerseits  erst  exhere- 
diert  werden  muß,  um  nicht  als  Erbe  da  zu  sein.  So 
sehr  dies  daher  auch  paradox  klingen  kann,  so  absolut 
w£ihr  ist  es,  daß  der  suus  gar  nicht  Intestaterbe  ist. 
Er  ist   vielmehr   stets   beides    zugleich,    Intestat-    und 

53ö 


testamentarischer  Erbe,  ist  die  Einheit  von  beiden,  und 
so  begreift  sich  erst  in  letzter  Instanz,  warum  gerade 
auf  den  suus  die  Regel :  Nemo  pro  parte  testatus,  pro 
parte  intestatus,  nicht  angewendet  werden  kann.  Sein  Be- 
griff selbst  ist  von  vornherein  die  prinzipielle  Aus- 
schließung dieser  Regel.  Freilich  ist  jetzt  aber  auch 
klar,  warum,  solange  man,  wie  bisher,  diese  Stellung  und 
Bedeutung  des  suus  übersehend,  denselben  als  erste 
Klasse  der  Intestaterben  auffaßte,  hierdurch  die 
Erkenntnis  nicht  nur  des  suus  selbst,  sondern  des  ganzen 
Charakters  des  Intestaterbrechtes  völlig  versperrt 
wurde  und  auf  dasselbe  der  im  suus  vorhandene  Schein 
einer  natürlichen  Familienerbfolge  fallen  mußte. 

Verfolgen  wir  weiter  Schritt  für  Schritt  das  Zwölf- 
tafelgesetz, geben  wir  wirklich  ein  sich  starr  an  die  Worte 
und  Buchstaben  anklammerndes  Interpretieren,  welches, 
wenn  es  sich  nur  so  starr  anklammert,  daß  es  die  Worte 
absolut  deckt,  auch  immer  mit  der  Interpretation  des 
spekulativen  Begriffes  zusammenfallen  wird^). 

Wenn  also  kein  testamentarischer  Erbe  und  wenn 
kein  suus  da  ist,  so  beginnt  nun  das  Intestatrecht 
der  Zwölf  Tafeln  sein  Verfügen.  Es  beruft  den 
nächsten  Agnaten.  Aber  wie  drückt  es  sich  denn  aus  ? 
Sagt  es  ein  Wort  davon:  die  Familie  soll  die  Erb- 
schaft haben,  wie  unsere  Autoren  seine  Verfügung  stets 
aufzufassen  belieben?  Behüte!  Es  sagt  ,,agnatus  proxi- 
mus  familiani  habeto ' '.  Der  Agnat  soll  die  Familie, 
familia,  haben.  Die  familia  ist  also  nicht  das  berufene 
Subjekt  der  Erbschaft,  sondern  das  Objekt  derselben ; 
sie  ist  nicht  das  erbende,  sie  ist  das  vererbte  Prin- 
zip. —  Was  ist  denn  aber  der  wahre  ursprüngliche  und 


1)  Vgl.  oben  S.308.   Note   1. 

537 


wirkliche  Begriff  dieses  vielschillernden  Wortes :  familia, 
dieser  römischen  Familie,  die,  statt  zu  erben,  vererbt 
wird,  wenn  wir  strikte  dem  Ausdruck  der  Zwölf  Tafeln 
folgen  ?  Hätte  sich  dieses  Wort  nicht  als  Familie, 
famille,  family,  in  alle  modernen  Sprachen  verschleppt 
und  dadurch  unmerklich  für  uns,  so  oft  der  bekannte  Ton 
an  unser  Ohr  schlug,  immer  die  von  uns  damit  verbundene, 
ganz  geänderte  Vorstellung  in  unser  Bewußtsein  hinein- 
getragen, und  hätte  mem  sich  nicht,  wo  etwa  ein  ernsterer 
Anlauf  genommen  wurde,  sofort  mit  den  nebulosesten, 
breitspurigsten  Wortbildungen,  mit  Kompositis,  die  sich 
gegenseitig  einander  aufessen,  wie  ,, Vermögensfrei- 
heit", als  Erklärung  von  familia  begnügt,  die  gleichsam 
gebildet  sind,  um  sich  selbst  die  eigene  Gedankenunklar- 
heit zu  verstecken,  eben  deshalb  aber  diese  sofort  bei  jedem 
Schritte  in  der  Sacherklärung  auf  das  grellste  zum  Vor- 
schein kommen  lassen  müssen  ■'^)  —  wäre  man  ein  einziges 
Mal  darauf  ausgegangen,  den  Begriff  der  familia  wie  ein 
uns  ganz  Unbekanntes  und  Fremdes  streng  zu  erfassen, 
man  wäre  mit  denselben  vielleicht  lange  in  den  Begriff 
des  römischen  Erbrechtes  eingebrochen.  Man  hätte  dann 
keinesfalls,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  das  alte  Zivil- 
intestaterbrecht  als  ein  ,,  Familienerbrecht"  auffassen 
können. 

Der  Begriff  der  familia  ist  nun  aber  gar  nichts  anderes 
als:  die  Willensherrschaft  des  Subjekts  und  das 
ihr  Unterworfene;  eine  Willensherrschaft,  die 
also  einfache  Willensherrschaft  ist,  sofern  sie  der  selbst- 
losen Sache,  oder  einem  als  Sache  Geltenden  (dem 
Sklaven)    gegenübersteht,   und    die    sich    von    selbst    als 


^)  Siehe    hierüber    ausführlich    in     der    Beilage    zu     dieser 
Nummer. 

538 


Willensidentität  bestimmt,  insofern  das  dieser  Wii- 
lensherrschaft  Unterworfene  nicht  eine  Sache,  son- 
dern gleichfalls  an  sich  freie  Subjekte  sind,  die,  selbst 
zur  Freiheit  bestimmt,  an  jenem  Subjekte  nur  den 
zeitlichen  berechtigten  Träger  ihrer  Willenssubjektivität 
haben ^). 

Dieser  Begriff  von  familia,  durch  dessen  beide  in 
der  Willensherrschaft  wurzelnde  Seiten  sich  alles 
Weitere  sofort  erklärt,  erweist  sich  zunächst  auf  das 
schärfste  durch  den  etymologischen  Ursprung  des  Wortes. 
Denn  familia  kommt  ursprünglich  von  demselben  Stamm 
wie  famulus,  famulor,  Diener,  dienen,  und  bedeutet 
also:  das  einer  Willensherrschaft  Unterwor- 
fene, und  daher  auch  diese  Willensherrschaft  selbst, 
die  ja  In  dem  Ihr  Unterworfenen  schon  vorhanden  ist. 
Dieser  etymologische  Ursprung  Ist  sofort  von  selbst  klar, 
wird  aber  zum  Überfluß  noch  von  Festus  berichtet,  welcher 
positiv  bezeugt,  famulus  komme  von  dem  oskischen  Wort 
famel,  welches  einen  servus,  Sklave,  Diener,  bedeute, 
„woher  auch  die  familia  Ihren  Namen  hat".  ,, Famuli 
origo  ab  Oscis  dependet,  apud  quos'^servus  famel  nomina- 
batur,  linde  et  familia  vocata  est^)."  Daher  kommt  also, 
daß  die  Römer  unter  familia  alles  verstehen,  wovon  der 
Wille  das  Subjekt  Ist^),  also  einerseits  Sklave,  Geld 


^)  Vgl.  oben  beim  suus.  Nr.  XXI  fg.,  und  S.  503. 
Note  1. 

')  Festus.  v"  Famuli,  p.  87.  ed.  Müller. 

^)  Oder  daher  kommen  die  beiden  Bedeutungen  „in 
res  et  In  personas"  der  ..familiae  appellatio",  wie  Ulpian, 
L.  195,  §  1,  de  V.  s.  (50,  16)  sich  ausdrückt,  von  welchem 
nicht  verlangt  werden  kann,  daß  er  die  begriffliche  Einheit 
derselben  bewältige. 

539 


und  Gut,  wie  andererseits  Weib  und  Kind^).  Diese  sub- 
jektive Willensherrschaft  ist  es  also,  die  der 
Agnat  haben  soll,  die  durch  das  Erbtum  übertragen  wird, 
und  es  bestätigt  sich  von  hier  aus  von  neuem  alles,  was 
wir  über  den  spekulativen  Begriff  des  römischen  Erbcums 
gesagt  haben.  Natürlich  aber  kann  der  Agnat,  obgleich 
er  diese  subjektive  Willensherrschaft  nun  ergreift,  die 
derselben  unterworfen  gewesenen  Subjekte,  Weib  und 
Kind,  die  Willensherrschaft  qua  Willensidentität  mit  den 
zeitlich  neben  ihr  stehenden  Subjekten,  nicht  mit  er- 
greifen. Denn  diese  sind  eben  ihrem  Begriffe  nach  dies, 
von  Haus  aus  zu  dereinstigem  freien  Fürsichsein  bestimmte 
Subjekte  zu  sein,  woher  die  Römer  selbst  ihren  Namen : 
Üben,  ,,die  Freien",  etymologisieren^).  Ihr  Begriff  ist 
von  Haus  aus  dies,  bloß  den  zeitlichen  Träger  ihrer 
Willenssubjektivität  an  den  Vater  zu  haben  und  mit  seinem 
Hinscheiden  sui  juris,  freie  Subjekte,  zu  sein,  so 
daß  sein  Recht,  wenn  es  bei  seinen  Lebzeiten  das  des 
Lebens  und  Todes  über  sie  ist,  bei  seinem  Sterben,  wenn 


^)  Ebenso  nimmt  schon  das  Zwölf tafelgesetz  selbst 
nicht  minder  familia  in  diesem,  auf  das  Verhältnis  der  Willens- 
herrschaft zum  Personenkreise  gehenden  Sinne,  wie  ja  ganz 
entscheidend  sich  durch  das  achte  Fragment  derselben  fünften 
Gesetzestafel  (Dlrksen,  a.  a.  O.,  S-  729)  beweist,  wo  das 
Zwölftafelgesetz,  vom  Erbrecht  des  patronus  beim  Tode  des 
libertus  sprechend,  sagt :  ,,ex  ea  familia  in  eam  familiam", 
worauf  Ulplan,  a.  a.  O.,  selbst  aufmerksam  macht;  d.h.  nun 
aber,  das  Zwölftafelgesetz  nimmt  überhaupt  nicht  das  Wort 
in  zwei  verschiedenen  Bedeutungen,  wenige  Zeilen  vorher 
als  Sache,  Vermögen,  und  wenige  Zeilen  nachher  als  per- 
sönliches Verhältnis,  sondern  beidemal  eben  in  der  Ein- 
heit jener  entwickelten  begrifflichen  Bedeutung  der  subjek- 
tiven Willensherrschaft,  die  in  dem  ihr  Unterworfenen, 
Sachlichen  wie  Persönlichen,  gleichmäßig  vorhanden  ist. 

-)  Vgl.  oben  S.306.  Note   1. 

540 


sie  mündig  sind,  null  ist.  Da  er  nicht  übertragen  kann, 
was  nicht  mehr  in  seiner  Willensherrschaft  ist,  so  kann 
er  sie  auch  mit  seinem  Tode  nicht  mit  derselben  über- 
tragen. Sie  waren  von  Anfang  an  nur  auf  solange  in 
derselben,  und  der  Agnat  findet  sie  daher  nicht  mehr  in 
ihr  vor,  wenn  er  die  familia  ergreift^).  Es  zeigt  sich 
jetzt  erst  genau,  mit  welchem  präzisen  Rechte  wir  oben 
sagten:  die  römische  Familie  ist  dieselbe  Willens - 
identität  im  zeitlichen  Nebeneinander  der  Per- 
sonen, welche  das  römische  Erbtum  im  zeitlichen 
Nacheinander  derselben  darstellt,  und  Identität  wie 
Unterschied  der  familia  und  hereditas,  die  Berührung  und 
das  Auseinandergehen  beider  Ideen  sind  hiermit  vollständig 
erschöpft  und  gegeben^). 

Bleiben  wir  also  zunächst  noch  beim  Zwölftafelrecht 
stehen,  so  \\ird  gar  nicht  der  Familie  vererbt,  sondern 
die  Familie  wird  dem  Agnaten  vererbt.  Davon,  daß  der 
Agnat  auch  zur  Familie  gehöre,  diese  irgendwie  in 
sich  darstelle  und  qua  Familienglied  erbe  —  davon 
sagt  das  Zwölftafelgesetz  selbst  jemandem,  der  dies  nicht 
von  anderswoher  als  vorgefaßte  Meinung  mitbringt  und 
entschlossen  ist,  sich  zunächst  an  den  Wortlaut  der  Zwölf 
Tafeln  zu  halten,  kein  Wort! 

Wenn  nun  aber  auch  das  Zwölftafelgesetz  nichts  davon 
sagt,  liegt  es  nicht  dennoch  im  Begriff  der  Familie, 
daß   der  Agnat  zu  ihr  gehöre,   und  ist  diese   Familien- 

^)  Hier  tritt  wieder  die  größere  subjektive  Freiheit  des  rö- 
mischen Geistes  gegen  das  Attische  Erbrecht  hervor,  wo  die 
Töchter  mit  dem  Vermögen  vererbt  werden,  insoweit  also 
die  Familie  in  einem  dem  unserigen  verwandten  Sinne  ver- 
erbt wird  und  auch  in  der  filia  die  geringere  Freiheit  der 
griechischen  Subjektivität  sich  zeigt. 

2)  Vgl.   oben   S.  503.   Note    1. 

541 


mitgliedschaft  nicht  gerade  der,  wenn  auch  unaus- 
gesprochene Grund  seines  Erbrechtes  ?  Und  ist  dies  nicht 
auch  das,  was  uns  die  römischen  Juristen  selbst  ausdrück- 
lich sagen? 

Aber  gerade  die  Antwort  auf  diese  beiden  Fragen  wird 
das  Wesen  des  Intestatrechtes  in  noch  viel  entscheidendere 
Klarheit  setzen. 

Wie  soll  denn  dem  Begriffe  der  römischen  familia 
nach  der  Agnat  zu  derselben  gehören  ?  Wir  haben  soeben 
durch  die  scharfe  und  etymologisch  nachgewiesene  Be- 
griffsbestimmung der  familia  gesehen,  daß  der  Begriff 
der  familia,  insofern  sie  nicht  nur  Sachen,  sondern  Per- 
sonen umfaßt,  daß  also  der  Begriff  der  römischen 
Familie  nur  derjenige  der  Willensidentität  ist:  zwei 
oder  mehrere  Personen  von  einem  sie  identisch  durch- 
dringenden Willen,  der  sein  Fürsichsein  nur  in  einem 
von  ihnen  hat,  so  daß  sie  gegen  ihn  nur  ans  ich  Subjekte, 
er  allein  fürsichseiende  Willenssubjektivität,  subjek- 
tiver Träger  des  in  diesem  Personenkreise  ausgegossenen 
Willens  ist,  worüber  wir  bei  der  Suität  schon  das  Hin- 
reichende entwickelt  haben.  In  dieser  Willensidentität 
befindet  sich  nun  aber  der  Agnat  zu  dem  Sterbenden 
nicht,  und  folglich  gehört  er  auch  nicht  zu  dessen 
Familie. 

Daß  den  Agnaten  nicht  die  Idee  der  Familie  in 
unserem  (germanischen)  Sinne,  daß  ihnen  nicht  die  Idee 
der  Blutsverwandtschaft  in  irgendwelcher  physischen 
Auffassung  zugrunde  liegt,  das  zeigt  sich  ja  —  abgesehen 
davon,  daß  diese  ganze  Auffassung  durch  die  Bestimmung 
des  spezifisch-römischen  Begriffes  der  familia  schon  aus- 
geschlossen ist  —  ganz  entscheidend  daran,  daß  sogar 
die  durch  Männer  vermittelten  Verwandten,  ohne  Unter- 
schied der  Nähe,  keine  Agnaten  sind,  wenn  die  Männer, 

542 


durch  die  sie  verwandt  sind,  durch  willkürliche  Hand- 
lungen, wie  Emanzipation  usw.,  aus  der  Willens- 
identität herausgetreten  sind.  Es  zeigt  sich 
daran,  daß  der  Vater  sogar  und  der  eigene  Sohn  desselben, 
wenn  dieser  emanzipiert  ist,  ebensogut  wie  keine  Familie, 
auch  kein  Agnationsverhältnis  zueinander  darstellen, 
während  ihre  physische  Blutsverwandtschaft  doch  nicht 
gelitten  hat  und  das  prätorische  Recht  diesen  Gesichts- 
punkt daher  trefflich  zu  handhaben  weiß.  Um  so  ent- 
scheidender aber  tritt  in  diesem  spezifischen  Unterschied 
des  prätorischen  Rechtes  und  des  jus  civile  hervor,  daß 
aus  dem  zivilrechtlichen  Begriff  der  Familie  jede 
Idee  der  physischen  Blutsverwandtschaft  vollkommen  aus- 
geschlossen ist. 

Der  strenge  Begriff  der  römischen  Familie  würde 
sich  hiernach  —  dies  ist  die  erste  Folgerung  aus  dem 
Vorigen  —  auf  das  Verhältnis  des  Römers  zu  den  sui 
beschränken.     Denn  nur  hier  ist   Willensidentität. 

Inwiefern  bilden  aber  nun  dennoch  auch  die  Agnaten 
eine  solche  Willensidentität,  und  somit  auch  eine  römische 
familia  ? 

Nun,  zuvörderst  bilden  sie  eben  unter  sich  keine 
solche,  und  darum  keine  römische  Familie.  Aber  sie 
haben  ihre  Willensidentität  außerhalb  ihrer  an 
ihrem  gemeinschaftlichen  Willenssubjekt,  dem 
paterfamilias,  sind  daher,  wie  die  Augen  am  Rebstock, 
an  diesem  gemeinsamen  Subjekte  einander  angeboren, 
angereiht  (adgnati).  Stirbt  der  paterfamilias  nun  auch, 
so  findet  zwar  keine  Willensidentität  bei  ihnen  mehr  statt, 
weil  sie  eben  keine  zwischen  ihnen  direkt  bestehende 
war.  Aber  es  bleibt  die  Erinnerung  an  die  in  ihm, 
dem  Toten,  gewesene  Willensidentität,  und  diese 
bildet  nun  ihr  Gemeinschaftliches  und  ihren  Zusammen- 

543 


hang.  Die  Willensidentität  ist  in  dieser  Erinnerung  zu 
einer  nur  ideellen,  gewesenen  aufgehoben,  die  ihre 
wirkliche  Willensselbständigkeit  gegeneinander  nur 
wie  ein  aufgehobenes  Ansich,  wie  eine  über- 
wundene ursprüngliche  Anlage,  wie  ein  dunkler 
Hintergrund,  wie  eine  frühere  Voraussetzung  oder 
ein  hinter  ihnen  liegender  Ausgangspunkt  ihres 
Wesens,  durchzieht. 

Dies  wäre  nach  dem  entwickelten  Begriff  der  familia 
das  begrifflich  notwendige  konkrete  Verhältnis  der 
Agnaten  zueinander,  und  dies  wäre  also  keine  familia 
in  dem  streng  begrifflichen  zivilistischen  Sinn  des  Wortes. 

Warum  sagen  uns  denn  nun  aber  die  römischen  Juristen 
dennoch  —  und  dies  \var  oben  die  zweite  Frage  — ,  daß 
die  Agnaten  eine  solche  familia  bilden  ? 

Nun  natürlich,  sie  sagen  es  uns  auch  gar  nicht!  Wie 
sollten  die  römischen  Juristen  dazu  kommen,  uns  etwas 
realiter  Falsches  zu  sagen?  Nur  die  flüchtige  und  un- 
begriffliche Betrachtung  wird  die  Schuld  haben,  wenn  ein 
solches  in  ihnen  gefunden  wird. 

Was  uns  die  römischen  Juristen  wirklich  sagen,  ist 
vielmehr  durchaus  das  eben  begrifflich  Entwickelte,  und 
dasselbe  wird  jetzt  Wort  für  Wort  in  der  klassischen  Stelle 
Ulpians  über  die  familia  wiedererkannt  werden.  Ulpian 
sagt-*^):  ,, Jure  proprio  familiam  dicimus  plures  personas, 
quae  sunt  sub  iinius  potestate,  aut  natura  aut  jure^)  sub- 
jectae  ...  et  quum  paterfamilias  moritur,  quotquot  capita 
ei  subjecta  fuerint,  singulas  familias  incipiunt  habere." 
Also:   der   strenge    Begriff   der    Familie     (/«/•^  proprio) 

1)  L.  195.  §  2.  de  V.  s.  (50.  16). 

")  Es  ist  also  ganz  gleichgültig,  ob  sie  aut  natura  aut  jure 
subjectae   sind,  d.h.   die  Natur  liegt  nicht  im  Begriff  des 

Verhältnisses. 

544 


besteht  nur  in  der  Willensidentität  (Gevvaltband) 
und  geht  eben  deshalb  nicht  auf  die  Agnaten  über; 
sie  bilden,  wenn  der  paterfamilias  tot  ist,  jetzt  nur  jeder 
mit  seinen  suis  und  nicht  unter  sich  eine  Familie 
(singulas  familias  incipiunt  habere,  wie  wir  dies  soeben 
zeigten).  ,,.  .  .  Communi  jure  familiam  dicimus  omnium 
agnatorum,  nam  etsi  patrefamilia  mortuo  singuli  singulas 
familias  habent  (nochmalige  Hervorhebung  des  Vorigen), 
tamen  omnes  qui  sub  unius  ''potestate  fuemnt  (die  in  der 
Erinnerung  vorhandene,  gewesene  Willensidentität) 
recte  ejusdem  famiUae  appellabuntur  (sie,  die  Agnaten, 
sind  auch  in  dieser  verallgemeinerten,  abgeschleifteren  Be- 
deutung des  Wortes,  immer  noch  nicht  unter  sich 
eine  ,, Familie",  sondern  nur  seine,  des  Toten,  Familie 
[ejusdem  famihae];  nur  in  bezug  auf  ihn,  in  der  Er- 
innerung an  dies  ihr  gewesenes  Willenssubjekt 
sind  sie  gemeinsam  oder  Familie)  qui  ex  eadem  domo 
et  gente  proditi  sunt'' 

Ulpian  also  sagt  es  uns  mit  dürren  Worten :  jure 
proprio  bilden  die  Agnaten  gar  keine  Familie.  Was 
ist  denn  aber  in  einem  strengeren,  höheren,  ausschließ- 
licheren Sinne  jus  proprium  bei  den  Römern  als  das 
Zwölftafelgesetz?  Ulpian  sagt  also  auch  das  mit 
dürren  Worten :  für  das  Zwölftafelgesetz  bilden 
und  sind  die  Agnaten  gar  keine  Familie,  sondern 
für  seinen  Standpunkt  sind  nur  die  sui  des  Erblassers 
eine   solche^).    Diesen   aber,    die   allein   für   das    Zwölf- 


^^  Ulpian  sagt  dies  sogar  noch  entscheidender!  Denn  er 
leitet  diese  gedoppelte  Bedeutung  der  familia  damit  ein,  daß 
sie  einen  Körper  bezeichne  (ad  corporis  cujusdam  significa- 
tionem  refertur),  der  aut  jure  proprio  ipsomm  aiit  communi 
universae  cognationis  continetur.  Die  zweite  Bedeutung  der 
familia,  wonach  auch  die  Agnaten  — ■  wir  haben  von  ihm  selbst 

13  La«8»nc,    G«.  Schritten.    BanJ   XII.  545 


tafelgesetz  Familie^  wären,  überträgt  das  Intestatrecht 
der  Zwölf  Tafeln  das  Erbtum  nicht,  sondern  setzt 
sie,   wie   wir  früher  gesehen   haben,  nur  als   von  selbst 


gehört,  warum  —  eine  Familie,  d.h.  seine  Familie  bilden, 
und  die  er  mit  den  Worten  einleitet:  „Communi  jure  familiam 
dicimus  omnium  agnatorum  etc.",  ist  also  diejenige,  welche 
communi  (jure)  universae  cognationis  continetur.  Steht  denn 
aber  das  Zwölftafelgesetz  auf  dem  Standpunkte  der  universa 
cognatio  und  kann  es  von  diesem  herunter  interpretiert  werden  ? 
Was  also  Ulpian  selbst  sagt,  ist:  Stellt  man  sich  auf  den 
Standpunkt  der  gesamten  Kognation,  auf  welchem  das 
Zwölftafelgesetz  eben  nicht  steht,  auf  den  Standpunkt  der  na- 
türlichen Blutsverwandtschaft  —  der  cognatus  um- 
faßt ja  dem  Römer  schon  den  väterlichen  wie  den  mütterlichen 
Verwandten,  den  Agnaten  wie  den  bloßen  Kognaten  — ,  also 
auf  den  Standpunkt  des  prätorischen  Rechtes,  des  jus  gen- 
tium etc.,  so  erscheint  mm  von  diesem  Standpunkt,  der 
nicht  der  spezifisch-zivilistische  ist,  unser  spezifisch-zivi- 
listisches Agnationsverhältnis  noch  als  eine  beson- 
dere Gemeinschaftlichkeit  —  noch  vor  der  bloßen  Bluts- 
familie der  Kognaten,  von  der  Ulpian  erst  in  §  4  daselbst 
spricht  — ,  als  eine  Familie  und  besondere  Familie 
unter  sich,  weil  sie,  von  hier  aus  gesehen,  gleichsam  seine, 
des  Toten,  zivilistische  Familie  genannt  werden  können.  —  Und 
In  der  Tat  ist  es  dieser  Satz,  den  das  prätorische  Erbrecht 
verwirklicht,  indem  es,  sich  auf  den  Standpunkt  der  natürlichen 
Familie,  der  universae  cognationis  stellend,  das  Recht  der  blo- 
ßen Kognaten  anerkennt  und  die  Agnaten  dennoch  bevor- 
zugt. —  Die  Agnaten  also  unter  sich  oder  die  Agnation,  sagt 
Ulpian,  sind  hiernach  vom  zivilistischen  Standpunkt  aus 
keine  Familie,  kein  Familienkörper,  erscheinen  aber 
so.  wenn  man  sie  vom  prätorischen  Standpunkt  der  universa 
cognatio  aus  betrachtet.  Und  daß  sie  dann  so  erscheinen,  das 
hat  sich  an  unseren  Autoren  allerdings  sehr  bestätigt! 

^)  Aber  wieder  nicht  Familie  in  unserem  germanischen 
Sinne,  weil  es  glelchgühig  ist,  ob  natura  aut  jure  subjectae  (s. 
oben),   sondern  nur  im  römischen  der  Willensidentität. 

546 


eintretende  Erben  voraus.  Gleich  die  erste  Klasse 
von  Erben,  denen  es,  das  Intestatgesetz  der  Zwölf 
Tafeln,  das  Erbtum,  wenn  Testamentserbe  und  suus 
nicht  da  ist,  überträgt,  sind  also  solche  Personen, 
welche  das  Zwölftafelgesetz,  wie  Ulpian  uns  aufs  schärfste 
konstatiert  hat,  nicht  als  Familie  des  Toten  be- 
trachtet. 

Und  wie  soll  hiernach  auch  nur  die  Rede  davon 
sein,  daß  das  Intestaterbrecht  der  Zwölf  Tafeln  ein 
„Familienerbrecht"  darstelle,  und  ist  es  nicht  wahr- 
haft erstaunlich,  wie  eine  solche  das  römische  Recht  in 
sein  Gegenteil  verwandelnde  Auffassung  unbesehen  bei 
uns  von  der  Hand  des  einen  Autors  in  die  des  anderen 
gehen  und  den  gesamten  Autorenkreis  einmütig  und  ohne 
Ausnahme  beherrschen  kann?  Und  ist  nicht  ersichtlich, 
wie,  wäre  man  nur  ein  einziges  Mal  wahrhaft  von 
strenger  konkreter  Wortinterpretation  ausgegangen,  von  der 
man  beim  römischen  Recht  so  viel  spricht,  wäre  man 
wirklich  strikte  bei  den  Worten  der  Zwölf  Tafeln  wie 
Ulpians  stehen  geblieben,  man  genau  zu  demselben  Resul- 
tate hätte  kommen  müssen,  wie  vom  spekulativen  Be- 
griffe aus  ? 

Aber  die  Verstandes  Vorstellung  ist  eben  dies,  den 
Geist  wie  das  körperliche  Wort  gleichmäßig  ver- 
fehlen zu  müssen  und  nur  den  verblaßten  Schemen  ihrer 
eigenen  Unklarheit  überall  in  der  Hand  zu  haben. 

Treiben  wir  weiter  Wortinterpretation,  und  immer 
schärfer,  konkreter  und  lebendiger  wird  sich  uns  der  Geist 
des  Intestatrechtes  der  Zwölf  Tafeln  aufrollen,  wie  wir 
ihn  aus  dem  Begriffe  heraus  bestimmt  haben. 

Die  Zwölf  Tafeln  sagen  also  nicht,  daß  die  Familie 
die  Intestaterbschaft  haben  soll,  und  meinen  auch  nicht, 
daß  der  Agnat  Familie  des  Toten  sei. 

13-  547 


Welches  Erbprinzip  haben  sie  denn  ?  Wir  haben 
es  oben  begrifflich  bestimmt;  suchen  wir  hier  es  noch 
genauer  aus  den  Worten  zu  entwickeln. 

In  der  Tat  liegt  es  auf  das  deutlichste  in  den  Worten 
aufgerollt,  die  wir  soeben  von  Ulpian  gehört  haben : 
.....  tamen  omnes  qui  sub  unius  potestate  fuerunt  recte 
ejusdem  familiae  appellabuntur.  qui  ex  eadem  domo  et 
gente  proditL  sunt"  —  ,,.  .  .  so  werden  doch  alle  solche, 
welche  unter  der  Willensherrschaft  eines  Individuums 
gewesen  sind,  mit  Recht  seine,  dieses  Individuums, 
Familie  genannt,  als  solche,  die  aus  demselben  Haus 
und  derselben  gens  hervorgegangen  sind." 

Aufs  äußerlichste  erkennbar  springt  aus  diesen  Worten 
hervor,  wie  das  agnatische  Erbrecht  schon  von 
demselben  Prinzip  durchzuckt  und  getragen  ist, 
auf  welchem  auch  das  Erbrecht  der  Gentilen  be- 
ruht, welches  letztere  man  doch  nicht  wird  als  ein 
,. Familienerbrecht"  ausgeben  wollen^). 

Agnaten  und  Gentilen  erscheinen  schon  in  diesen 
Worten  als  zwei  Abstufungen  desselben  Gedankens, 
als  die  Voraussetzungen,  aus  deren  Hintergrund  die 
Willenssubjektivität  hervorgegangen. 

Mit  anderen  Worten:  Das  Intestatgesetz  ist  ein 
Suchen  des  Individuums. 

Wenn  sich  das  Individuum  nicht  selbst  perpetuiert 
hat,  wenn  es  weder  als  testamentarischer  Erbe  noch  als 
suus  da  ist,   so  tritt  nun  das   Intestatgesetz  auf,   um  es 


^)  Vgl.  vielmehr  oben  S-  517  u.  Note  1  das.  Auch  die 
Geschichte  des  römischen  Intestaterbrechtes  beweist  dies; 
denn  während  das  gentilitische  Erbrecht  früh  verschwindet, 
ist  die  Geschichte  des  zivilen  Intestaterbrechtes  vielmehr  die, 
unter  dem  Einfluß  des  prätorischen  Rechtes  sich  zum  Familien- 
erbrecht hin  zu  bewegen. 

548 


zu  suchen  und  zu  perpetuieren,  und  sucht  es  in  seinen 
Voraussetzungen. 

Wo  es  dasselbe  findet,  wird  sich  aus  dem  be- 
stimmen müssen,  was  es  eigentlich  sucht.  Denn  wenn  wir 
sagen,  das  römische  Intestatrecht  sucht  das  Individuum, 
so  meinen  wir  natürlich  nicht,  daß  es  dasselbe  als 
Mensch  sucht,  was  ein  sehr  weiter  und  nichtssagender 
Ausdruck  ist,  da  alles  darauf  ankommt,  was  man  als 
Mensch  (resp.  als  was  der  Mensch  sich)  auffaßt, 
sondern  es  sucht  das  Individuum  qua  römischer  Mensch 
oder  xjua  Willenssubjektivität.  Als  Identität 
(Testamentserbe,  suus)  kann  es  die  Willenssubjektivität 
nicht  mehr  vorfinden,  denn  sonst  brauchte  es  erst  gar 
nicht  zu  suchen  und  zu  verfügen.  So  sucht  es  nun  das- 
selbe (vgl.  oben  S.  544)  in  den  Voraussetzungen 
seiner  Willenssubjektivität,  in  dem  hinter  ihr  liegenden 
übervMindenen  Ausgangspunkt,  von  dem  diese  aus- 
gegangen, in  der  im  Willen  eines  dritten  Subjektes  ge- 
wesenen Willensidentität  oder  als  Agnat ion,  und  was 
dieser  gewesenen  Willensidentität  zur  wirklichen 
Willensidentität  abgeht,  das  ergänzt  nun  das  Gesetz 
durch  die  Kraft  seines  gesetzlichen  Verfügens^). 


^)  Hier  tritt  also  auf  das  deuthchste  auch  in  der  Sache 
der  subsidiarische  Charakter  des  Intestaterbrechtes  hervor, 
der  seine  formell-subsidiarische  Stellung  nur  als  not- 
wendige Folge  nach  sich  zog.  Hier  begreift  sich  auf  das  realste, 
wie  bei  dem  bloß  durch  die  Erinnerung  an  die  gewesene 
Willensidentität  vermittelten  Charakter  des  Intestatrechtes  es 
dem  Römer  bei  seinem  Begriff  vom  Erbtum  keineswegs  genügen 
konnte,  von  den  Agnaten  nach  Intestaterbrecht  beerbt  zu  werden 
(vgl.  sub  Nr.  VII  und  XXII),  und  warum  er  solchen  Wert 
darauf  legen  mußte,  denselben  Intestaterben  testamentarisch  ein- 
zusetzen. 

549 


Und  von  Voraussetzung  zu  Voraussetzung 
zurückgehend,  sucht  es  das  Individuum,  wenn  es  auch  keine 
Agnaten  findet,  wieder  in  der  Voraussetzung  dieser, 
in  dem  Hintergrunde,  aus  welchem  auch  diese  gewesene 
Willensidentität  hervorgegangen  ist,  in  dem  Hintergrund 
des  Stammes  oder  in  der  Gentilität.  Gentilen  und 
Agnaten  sind  dem  Prinzip  nach  dasselbe,  wie  schon  in 
den  Worten  Ulpians  über  die  Agnaten  qui  ex  eadem  .  . . 
gente  proditi  sunt  hervortritt,  und  nur  dem  Grade  nach 
ist  der  Agnat  das  Nähere.  Darum  zeigt  sich  dasselbe 
auch  geschichtlich.  In  derselben  Zeit,  in  welcher  das 
Recht  der  Gentilen  in  Vergessenheit  fällt,  hat  auch 
das  Recht  der  Agnaten  durch  das  im  prätorischen 
Recht  zur  Entwickelung  gelangende  Prinzip  der  Familie 
oder  der  Kognation  schon  seine  Unterminierung  erfahren. 

Wir  haben  jetzt  näher  gesehen,  wie  das  Intestatrecht, 
das  Individuum  in  seinen  Voraussetzungen  suchend  und 
von  Voraussetzung  zu  Voraussetzung  zurückgehend,  um 
es  zu  finden,  sich  auf  das  konkreteste  als  das  herausstellt, 
als  was  wir  es  oben  definiert  haben,  als:  der  voraus- 
gesetzte Wille  des   Individuums. 

Wir  haben  zugleich  gesehen,  als  was  das  Intestatgesetz 
das  Individuum  sucht,  nämlich  nicht  nach  der  Seite  seiner 
sonstigen  menschlichen  und  natürlichen  Beziehungen,  son- 
dern als  Willenssubjektivität. 

Es  bleibt  übrig,  eine  dritte  Seite  nur  noch  hervor- 
zuheben, da  sie  in  dem  Vorigen  bereits  enthalten  ist. 
W  i  e  sucht  das  Intestatrecht  das  Individuum  ?  Wir  haben 
oben  (S.  5 15 fg.)  den  spekulativen  Begriff  des  Intestat- 
rechtes  sich  durch  sich  selbst  dahin  entwickeln  sehen, 
daß  es  der  vorausgesetzte  Wille  des  Individuums  sei, 
welcher  aber,  weil  sich  nicht  besondernd,  aufgefaßt 
werde  als  identisch  mit  dem  allgemeinen  Wesen  des 

550 


Willens,  oder  mit  dem  allgemeinen  Willen.  Es 
bestimmte  sich  uns  demnach  der  konkrete  Begriff  des 
Intestatrechtes  als  der  allgemeine  Wille  des  Volkes, 
vorausgesetzt  und  geltend  als  der  Wille  dieses 
Individuums.  In  der  Tat  liegt  diese  Seite  des  allgemei- 
nen Willens  im  höchsten  Maße  beim  Intestatrecht,  nicht 
etwa  nur  formell  in  seinem  Gesetzescharakter  über- 
haupt, sondern  ebensosehr  inhaltlich  vor,  und  ist  be- 
reits identisch  mit  der  soeben  konkreter  erörterten  Be- 
trachtung, als  was  das  Intestatrecht  das  Individuum 
auffaßt. 

Das  Wesen  des  Volkes  ist  die  Willensgemein- 
schaft oder  der  allgemeine  Wille.  Diese  Willens - 
gemeinschaft,  welche  den  Begriff  des  Volkes  über- 
haupt bildet,  gliedert  sich  aber  innerhalb  desselben  aus 
verschiedenen  Kreisen  dieses  Ganzen,  aus  welchen  das 
Volk  erwächst.  Die  subjektivste  Spitze  derselben  ist  die 
Willensidentität  zwischen  dem  Ich  und  den  suis, 
hinter  dieser  die  gewesene  Willensidentität  der  Agnaten, 
hinter  dieser  die  Voraussetzung  dieser  gewesenen  Wil- 
lensidentität oder  die  Gentilen,  hinter  diesen  endlich  der 
große,  ganze  Willenskreis  oder  das  Volk.  Indem  also 
das  Intestatrecht  das  Prinzip  der  Willensgemein- 
schaft zu  seinem  Inhalt  nimmt,  nimmt  und  hat  es  keinen 
anderen  Inhalt  als  den  Begriff  des  Volkes  oder  des 
allgemeinen  Willens  selbst,  und  die  organischen 
Gliederungen,  aus  welchen  das  Volk  erwächst;  nimmt 
und  hat  es  keinen  anderen  Inhalt  als  den  Begriff,  welcher 
formell  der  Begriff  eines  jeden  Volkes  ist,  aber 
formell  und  inhaltlich  der  bestimmte  Begriff  des 
römischen  Volkes  ist  und  die  realen  Basen  bildet, 
auf  welchen  diese  Willensgesellschaft  —  wie  man 
das  römische  Volk  charakterisieren  könnte  —  beruht. 

531 


Es  zeigt  sich  also  hier  konkreter,  mit  welchem  Recht 
vAr  oben  sagten,  der  Begriff  des  Intestaterbrechtes  sei 
der  allgemeine  Wille,  vorausgesetzt,  aufgefaßt  und 
geltend  als  der  Wille  dieses  Individuums.  Was  das 
Intestaterbrecht  zu  seinem  Inhalt  hat,  ist  der  all- 
gemeine Wille  oder  das  Prinzip  des  Volkes,  und 
es  kann  nur  deshalb  den  Willen  des  Individuums  nicht 
mit  dem  allgemeinen  Willen  schlechthin  zusammenfallen 
lassen  (das  Volk  zum  Erben  einsetzen),  weil  es  den 
allgemeinen  Willen  zwar,  aber  ihn  als  den  vor- 
ausgesetzten Willen  des  sich  nicht  besondemden 
Individuums,  zum  Inhalt  hat.  Weil  der  allgemeine 
Wille  im  Individuum,  auch  ohne  Besonderung  und  tätiges 
Sichselbstsetzen  von  seiner  Seite,  immer  sofort  durch 
diese  organischen  individualisierten  Gliederungen 
vermittelt  ist,  muß  das  Gesetz  diese  Gliederungen 
zur  Erbfolge  berufen.  Oder  weil  der  als  allgemeiner 
vorausgesetzte  Wille  des  Individuums  das  Prinzip 
des  Erbrechtes  ist,  muß  es  diesen  gegliederten  Kreisen 
die  Erbfolge  übertragen;  denn  sie  sind  selbst  die 
realen,  in  physischer  Gestalt  existierenden 
Voraussetzungen  und  Grundlagen,  durch  welche  der 
individuelle  Wille  mit  dem  allgemeinen  vermittelt  ist ; 
sie  sind  die  Voraussetzung  von  dem  im  Individuum 
vorhandenen  Zusammenhang  mit  dem  allgemeinen 
Willen.  Der  allgemeine  Wille  ist  nur  als  voraus- 
gesetzter (nicht  als  testamentarisch -ausgedrückter)  im 
Individuum,  und  sie  selbst,  diese  Gliederungen,  sind 
gerade  die  existierende  Voraussetzung  davon, 
daß  der  allgemeine  Wille  überhaupt  in  ihm  vorhanden 
ist,  d.  h.  daß  das  Individuum  diesem  Volke  angehört. 
Sie  sind  also  selbst,  diese  Kreise,  ihrerseits  materiell 
eben    dasselbe,    was    das    Prinzip    des    Intestatrechtes 

552 


bildet;    sie   sind:    der   als    Voraussetzung   im    Individuum 
vorhandene  allgemeine  Wille. 

Es  hat  sich  durch  diese  Betrachtung  also  ergeben,  daß 
es  der  Begriff  des  Volkes  oder  des  allgemeinen 
Willens  ist,  welchem  in  den  gegliederten  Kreisen  und 
Genossenschaften,  in  welchen  er  im  Volke  realisiert  ist, 
das  Intestatgesetz  das  Erbrecht  überträgt.  Sahen  wir 
also  früher,  das  Intestatgesetz  sei  ein  Suchen  des  Indi- 
viduums, so  sehen  wir  jetzt  also,  daß,  wenn  dies  wegen 
der  spekulativen  Identität  beider  Begriffsmomente  auch 
mit  Recht  gesagt  werden  kann,  in  bezug  auf  den  inhalt- 
lichen Gedanken  des  Intestatgesetzes  noch  tiefer  und 
konkreter  gesagt  werden  muß :  das  Intestatgesetz  sei  ein 
Suchen  des  Allgemeinen  in  seinen  organischen  Gliede- 
rungen und  habe  dieses,  das  Prinzip  des  Volkes,  zu 
seinem  Inhalt.  Indem  das  Intestatgesetz  aber  darauf  aus- 
geht, den  allgemeinen  Willen,  das  Prinzip  des  Volkes, 
in  seinen  sich  abstufenden  Gliederungen  zu  suchen, 
muß  es  das  Prinzip  des  (römischen)  Individuums  finden; 
denn  als  diese  Gliederungen  des  allgemeinen  Willens  muß 
es  die  Willenskreise  ergreifen  und  zu  Nachfolgern 
einsetzen,  aus  welchen  der  allgemeine  Wille  organisch 
erwächst;  es  muß  dies,  weil  der  Inhalt  dieses  Volks- 
geistes selbst  der  Willensbegriff  ist.  Eben  deshalb 
nun  muß  es,  indem  es  diesen  in  seinen  Gliederimgen 
sucht,  das  Prinzip  des  Individuums,  nämlich  des 
römischen  Individuums,  finden,  weil  dieses  selbst 
sich  als  nichts  anderes  auffaßt  denn  als  Willens  Sub- 
jektivität. Daß  dieses  Übereintreffen  nicht  zufällig 
ist,  ist  freilich  sofort  sehr  durchsichtig.  Wäre  der  Inhalt 
dieses  Volksgeistes  nicht  der  Willensbegriff,  so  würde 
das  Individuum  sein  Wesen  nicht  ausschließlich  darin  er- 
fassen:     Willenssubjektivität     zu    sein.      Und    um- 

553 


gekehrt :  Wenn  das  Individuum  nicht  sein  geistiges 
Wesen,  das  Wesen  des  Menschen  überhaupt,  gerade  da- 
hineinsetzte :  Willenssubjektivität  zu  sein,  so  würde  der 
Willensbegriff  nicht  der  inhaltliche  Begriff  de^ 
römischen  Volksgeistes,  und  daher  seine  Realisierung  und 
Durchführung  durch  Erschaffung  des  Rechtssystems') 
seine  Tat  sein. 

Aber  es  reicht  auch  nicht  hin,  die  begriffliche  Identität 
beider  Momente,  des  Allgemeinen  und  des  Individuellen, 
als  eine  bloß  vorhandene  aufzufassen  und  sich  so  zu 
erklären,  daß  das  Intestatgesetz,  indem  es  das  All- 
gemeine sucht,  das  Individuelle  trifft;  sondern  alles 
hängt  davon  ab,  begreifend  festzuhalten,  daß  diese  Iden- 
tität auch  von  vornherein  schon  im  Prinzip  des  Intestat- 
gesetzes  gesetzt  ist.  Denn  das  Intestatgesetz  sucht  ja 
den  allgemeinen  Willen,  wie  er  im  Individuum 
als  vorausgesetzt  vorhanden  ist,  und  die  an  sich  vor- 
handene Identität  beider  Momente  ist  somit  von  Haus 
aus  bereits  im  Prinzip  des  Intestatrechtes  auch  gesetzt. 

Fassen  wir  also  noch  einmal  die  Dialektik  der  Be- 
griffsmomente des  Intestatrechtes  —  wir  betonen  sie  so 
sehr,  weil  nur  durch  die  genaueste  Bewältigung  derselben 
die  logische  Notwendigkeit  des  römischen  Intestatrechtes 
begriffen  und  seine  scheinbaren  Widersprüche  beherrscht 
werden  können,  und  weil  sich  nur  von  dieser  Grundlage 
aus  die  weitere  reale  Entwickelung,  die  wir  im  Nach- 
folgenden antreffen  werden,  sich  verstehen  und  die 
detaillierte  Dogmatik  und  Geschichte  desselben,  die  wir 
hier  nicht  geben  können,  sich  schi-eiben  läßt  —  kurz  in 
zwei  Sätze  zusammen:  Der  formelle  Begriff  des  In- 
testatrechtes  ist   der   vorausgesetzte    Wille   des    sich 


1)  Vgl.  oben  S.  36. 
554 


nicht  besondernden  Individuums.  Wird  also  auf  den 
formellen  Begriff  des  Intestatrechtes  gesehen,  so  steht 
derselbe  von  Haus  aus  zunächst  unter  der  vorherrschenden 
Bestimmung  des  Individuellen,  und  dies  ist  daher  das 
Moment,  welches  festzuhalten  ist,  überall  wo  es  auf  die 
formelle  Stellung  des  Intestatrechtes,  sein  formelles 
Verhältnis  zum  Testamentsrecht  usw.   ankommt. 

Welches  ist  aber  der  inhaltliche  Begriff  des  In- 
testatrechtes, oder  welches  ist  der  Inhalt  des  voraus- 
gesetzten individuellen  Willens  ? 

Weil,  wie  wir  oben  (S.  515fg.)  salien,  der  Wille,  als 
sich  nicht  besondemder,  mit  seinem  allgemeinen  Wesen, 
mit  dem  allgemeinen  Willen  identisch  ist,  so  ist 
also  —  und  zwar  wie  mit  logischer  Notwendigkeit  durch 
jenen  formellen  Begriff  selbst  gegeben  ist  —  der  in- 
haltliche Begriff  des  Intestatrechtes  der  allgemeine 
Wille.  Hier  scheint  also  das  Moment  des  Individuellen, 
indem  es  in  seinen  Gegensatz,  das  Allgemeine,  um- 
schlug, nur  in  einen  Gegensatz  umgeschlagen  oder  in 
diesem  untergegangen  zu  sein.  Allein  dies  wäre  ein  bloßer, 
und  zwar  ein  ganz  unmöglich  festzuhaltender  Schein.  Denn 
es  ist  ja  als  inhaltlicher  Begriff  des  Intestatrechtes 
der  allgemeine  Wille  nur  gesetzt  seiner  Identität  mit 
dem  sich  nicht  besondernden  individuellen  Willen 
halber.  Es  ist  also  die  Identität  des  allgemeinen  und 
individuellen  Willens  auch  im  inhaltlichen  Begriffe 
des  Intestatrechtes  schon  mitgesetzt.  Oder  es  ist  der 
allgemeine  Wille,  wie  er  im  Individuum  als  vor- 
ausgesetzter, von  selbst  individualisierter  vorhanden  und 
daher  in  jenen  organischen  individualisierten  Gliederungen 
und  Willenskreisen  gegeben  ist,  durch  welche  der  allgemeine 
Wille  im  Individuum  da  und  mit  ihm  vermittelt  ist. 

Der  gesamte   Begriff  des   Intestatrechtes  ist  also  eine 

555 


Identität,  und  zwar  eine  als  solche  gesetzte  Iden- 
tität seiner  beiden  Momente,  des  individuellen  und  all- 
gemeinen Willens,  eine  Einheit,  die  in  Bezug  auf  den 
formellen  Begriff  des  Intestatrechtes  unter  der  vor- 
herrschenden Begriffsbestimmung  des  Indi- 
viduellen, in  bezug  auf  den  inhaltlichen  Begriff 
des  Intestatrechtes  unter  der  vorherrschenden  Be- 
griffsbestimmung des  Allgemeinen  gesetzt  ist, 
da  sie  aber  beidemal  als  Einheit  gesetzt  ist,  diese  ihre 
identischen  und  deshalb  dialektisch  ineinander  übergehen- 
den Bestimmungen  ebensogut  auch  miteinander  zu  ver- 
tauschen scheinen  kann.  Wird  z.  B.  bei  äußerlich -formeller 
Betrachtung  darauf  gesehen,  daß  das  Intestatgesetz  qua 
Gesetz  ja  den  allgemeinen  Willen  darstellt,  so  kann 
nun  etwa  auch  gesagt  werden,  der  formelle  Begriff  des 
Intestatrechtes  sei  der  allgemeine  Wille  und  sein  in- 
haltlicher Begriff  sei  der,  das  Individuum  und  seinen 
vorausgesetzten  Willen  zu  suchen.  Ebenso,  wird  bei  dem 
inhaltlichen  Begriff  des  Intestatrechtes  darauf  gesehen, 
daß  das,  was  dabei  festgehalten  und  zum  Vorschein  ge- 
bracht wird,  immer  der  individuelle  Willensbegriff 
ist,  so  kann  gesagt  werden,  dieser  sei  das  Inhalt- 
liche des  Intestatbe  griff  es,  und  das  Allgemeine  jener 
Kreise  und  Genossenschaften  nur  die  Form,  in  welcher 
dieser  individuelle  Inhalt  \  erwirklicht  ist.  Die  Haupt- 
sache besteht  nur  darin,  sich  von  dem  Spiel  dieser  Ab- 
straktionen nicht  täuschen  zu  lassen,  sondern  ihre  sofort 
ineinander  übergehende  und  als  solche  gesetzte  begriff- 
liche Einheit  festzuhalten. 

Diese  Einheit  war  aber  auch  schon  in  unserer  ersten 
Begriffsentwickelung  des  Intestatrechtes  als:  des  all- 
gemeinen Willens,  vorausgesetzt  und  aufgefaßt  und 
geltend  als  der  Wille  dieses  bestimmten  Individuums 

556 


vollständig  gesetzt,  und,  was  wir  jetzt  näher  betrachtet 
haben,  ist  nur  die  sich  gegeneinander  fixierende  Form,  in 
welche  sich  diese  Momente,  gerade  weil  jedes  derselben 
auch  in  das  andere  übergeht  und  mit  ihm  in  Einheit 
gesetzt  ist,  formell  gegeneinander  auflösen  und  täuschend 
festsetzen  können,  wenn  ihre  begriffliche  Einheit  nicht 
bewältigt  wird. 

Der  inhaltliche  Begriff  des  Intestatrechtes  also, 
sagten  wir,  ist  die  Einheit  des  individuellen  und  allgemeinen 
Willens,  gesetzt  unter  der  herrschenden  Begriffsbestim- 
mung des  Allgemeinen.  Dies  zeigt  sich  als  die  kon- 
krete Wahrheit  der  Materie  sofort  daran,  daß  das  Intestat- 
gesetz  bei  seinem  Suchen  zwar  das  Prinzip  des  Indi- 
viduums, wie  wir  sagten,  findet,  aber  nicht  mehr  das 
Individuum,  die  einzelne  Willenssubjektivität  und  ihre 
Identität  (suus,  Testamentserbe)  selbst.  Wäre  dies 
da,  so  begänne  das  Intestatrecht  gar  nicht  sein  Suchen. 
In  diesem  Suchen  entfernt  es  sich  vielmehr  immer  mehr 
von  dem  Individuum  als  solchem,  immer  mehr  an  das 
rein  Allgemeine  des  Volkes  sich  annähernd,  und  so 
aufzeigend,  welches  von  vornherein  das  Wie  und  Wo, 
der  Weg  und  die  Richtung  dieses  Suchens  ist.  In  der 
Tat  war  dies  aber  auch  schon  damit  ausgesprochen,  daß 
wir  sagten,  in  seinem  Suchen  findet  das  Intestatgesetz 
das  Prinzip  des  Individuums,  nicht  dieses  selbst.  Denn 
das  Prinzip  des  Individuums  ist  eben  der  volksgeistige 
Inhalt  oder  das  rein  Allgemeine  desselben. 

Es  hat  sich  also  —  und  hierin  lag  die  notwendige 
Ursache  dieser  auf  die  früheren  Ausführungen  zurück- 
blickenden Betrachtung  —  als  der  letzte  und  tiefste  Grund 
von  jenem:  als  was  das  Intestatgesetz  das  Individuum 
sucht  und  findet,  das  Wie  und  Wo,  der  Weg  und 
die  Richtung  ergeben,  auf  welchen  es  dasselbe  sucht. 

557 


Das  Prinzip  dieses  Suchens  ist  es,  welches  dies  kon- 
krete Suchen  selbst  und  sein  Finden  bestimmt.  Und  das 
Prinzip  und  die  Richtung  dieses  Suchens  ist,  das  Indivi- 
duum zu  suchen  in  seinem  Zusammenhang  mit  dem 
allgemeinen  Willen. 

Es  bleibt  also  dabei,  daß  der  inhaltliche  Begriff  des 
Intestatrechtes  die  unter  der  herrschenden  Begriffsbestim- 
mung des  allgemeinen  Willens  gesetzte  Einheit  des 
allgemeinen  und  individuellen  Willens  ist.  Oder  es  bleibt 
dabei,  daß  es  der  Begriff  des  Volkes  oder  des  all- 
gemeinen Willens  ist,  welcher  in  den  gegliederten 
Kreisen  und  Genossenschaften,  in  welchen  er  im 
Volke  realisiert  ist,  vom  Intestatgesetz  zur  Erbfolge  be- 
rufen wird^). 


^)  Der  einzige,  dem  hiervon  eine  ganz  falsche  Ahnung,  aber 
doch  immer  irgendeine  Ahnung,  dämmerte,  ist  Niebuhr 
(Römische  Geschichte,  zweite  Ausgabe,  II,  381}.  „Er  hat", 
sagt  Huschke  (Rhein.  Mus.,  VI,  289,  Note  51),  ihn  hart  dar- 
über anlassend,  von  ihm,  ,,die  ganz  unjuristische  Idee,  das  Volk 
habe  deshalb  die  Testamente  bestätigen  müssen  (bei  den  Ko- 
mitientestamenten),  weil,  wenn  ein  einzelner  gestorben  wäre, 
das  Vermögen  mittelbar  durch  familia,  gens,  curia  hindurch 
eigentlich  dem  Volke  gehört  hätte."  (Niebuhr  sagt  nämlich 
daselbst:  ,,Da  das  Vermögen  eines  ausgestorbenen  Geschlechtes 
der  Kurie,  dasjenige  einer  erloschenen  Kurie  dem  publicum 
der  gesamten  Bürgerschaft  zufiel,  bedurfte  es  der  Einwilligung 
des  ganzen  Populus,  und  hier  liegt  der  Ursprung  der  Testamente 
vor  Pontifex  und  Kurien.")  „Aber  bekanntlich",  fährt  Huschke 
fort,  „wurden  die  bona  vacantia  ehemals  herrenlos  und  erst 
durch  die  lex  Julia  und  Papia  dem  Ararium  überwiesen.  Und 
wollte  man  jenen  dem  römischen  Rechte  ganz  fremden  Gedanken 
überhaupt  konsequent  anwenden,  so  würden,  wenn  jemand  Ag- 
naten oder  wenigstens  Gentilen  hinterlassen  hätte,  diese  und 
nicht  das  durch  sie  ausgeschlossene  Volk  haben  genehmigen 
müssen.    Niebuhr  kannte  das   Recht  historisch,   wußte 

558 


Verhält  sich  dies  so,  so  ergibt  sich  sofort  eine  not- 
wendige Konsequenz.  Ist  es  die  Gliederung  des  All- 
gemeinen als  solchen,  welcher  das  Erbrecht  über- 
tragen wird,  so  sind  es  nicht  die  zu  diesen  Kreisen  ge- 
hörigen einzelnen  Personen  als  solche,  welchen 
das  Erbrecht  gegeben  wird,  sondern  sie  nur  insofern, 
als  sie  die  zeitigen  Repräsentanten  solcher  Kreise 
und  Genossenschaften,  die  zeitigen  Träger  einer 
solchen  Gliederung  des  allgemeinen  Willens  sind.  Oder 
es  ergibt  sich  hier  nur  noch  weit  konkreter  und  bestimmter, 
daß  und  warum  das  Intestaterbrecht,  wie  wir  schon  S.  517 
zeigten,  ein  Erbrecht  der  ordo  ist,  ein  Erbrecht  der 
Stande sgenossenschaft,  wie  man  sich  vollkommen 
wohl  ausdrücken  kann,  wenn  man  festhält,  daß  der  Inhalt 


es  aber  nicht  juristisch",  schließt  Huschke  mit  gesperrter 
Schrift.  —  Es  Ist  nun  freilich  ganz  falsch,  daß  das  Testament 
In  den  Komitien  vom  Volke  bestätigt  worden  wäre;  Huschke 
hat  auch  recht,  daß  selbst  unter  Voraussetzung  der  Niebuhrschen 
Annahme  dann  die  Gentilen  und  Agnaten  hätten  genehmigen 
müssen.  Er  hat  auch  recht,  sich  gegen  Niebuhr  darauf  zu  be- 
rufen, daß  im  alten  Recht  die  bona  vacantia  herrenlos  wurden, 
was  aus  unserer  Begriffsentwickelung  mit  Notwendigkeit  folgt, 
wie  wir  später  noch  näher  sehen  werden.  Er  hat  überhaupt  recht, 
die  ganze  Ansicht  Niebuhrs,  wenn  ein  einzelner  gestorben  wäre, 
habe  sein  Vermögen  eigentlich  mittelbar  dem  Volke  gehört,  eine 
vollkommen  falsche  und  unjurlstlsche  zu  nennen.  Das  Vermögen 
gehört  nur  dem  Individuum.  Wenn  es  stirbt,  kann  es  nur  dem 
Individuellen  Willensfortsetzer  gehören.  Wenn  auch  noch  der 
letzte,  d.  h.  vorausgesetzte,  durch  die  allgemeine  Willensnatur 
des  Toten  bestimmte  individualisierte  Fortsetzer  diese  zu  geben 
ausschlägt,  die  Fortexistenz  des  erblasserischen  Willens 
also  negiert  ist,  muß  es,  individuaUtäts-  und  herrenlos,  eine 
Beute  des  ersten  Okkupanten  sein.  Aber  trotz  alledem  Ist, 
wie  aus  dem  Obigen  von  selbst  folgt,  auf  dem  Grunde  dieser 
Irrtümer  immer  noch  die  wahre  Ahnung  vorhanden,  daß  der 

559 


dieses  Standes  nichts  anderes  als  jene  Willensgemein- 
schaft in  einer  ihrer  Gliederungen  ist.  Nicht  die  In- 
dividuen erben,  sondern  die  Idee  dieser  Willens- 
gliederung erbt,  und  das  Individuum  daher  nur,  in- 
sofern es  der  zeitige  Repräsentant  dieser  Gemein- 
schaft für  den  Verstorbenen  ist,  und  es  muß  daher 
schlechterdings  in  den  Zwölf  Tafeln  heißen:  agnatus 
proxinius   habeto. 

Wir  haben  aber  hiermit  im  voraus  einen  Punkt  in 
seiner  tiefen  Notwendigkeit  aufgezeigt,  welcher  nicht  nur, 
wie  fast  der  ganze  erbrechtliche  Stoff,  bisher  niemals  be- 
griffen werden  konnte,  sondern  von  dem  man  sich  selbst 
kaum  verhehlte,  daß  man  ihn  schlechterdings  unbegreif- 
lich fand,  und  den  man  deshalb,  wie  stets  in  solchen  Fällen, 


Vo Iksbegriff  selbst  das  sukzedierende  Subjekt  des 
römischen  Intestatrechtes  sei.  In  Niebuhrs  Irrtum,  so 
radikal  er  ist,  ist  mehr  geistige  Wahrheit  enthalten  als  in 
hundert  juristischen  Richtigkeiten.  Für  einen  solchen  Irrtum 
verdient  man  nicht  so  vornehm  behandelt  zu  werden,  wie  Huschke 
in  jenem  Gegensatz  des  , .historischen  Kennens"  und  ,, juristischen 
Wissens"  tut.  Wenn  Huschke  sich  hätte  rühmen  wollen,  daß 
das  ,, juristische  Wissen"  in  ihm  gipfelt,  so  wäre  er  hierzu 
sehr  berechtigt.  Dies  ist  von  allen  Seiten  anerkannt,  imd  nie- 
mand wird  es  ihm  bestreiten.  Wenn  Huschke  aber  das  „juri- 
stische Wissen"  selbst  rühmen  will,  so  hat  er  sehr  unrecht. 
Das  ,, juristische  Wissen"  hat  keine  Veranlassung,  sich  zu  be- 
lorbeeren,  wie  ihm  ^vohl  von  jeder  Seite  dieser  beiden  Bände 
aus  klar  geworden  sein  kann,  obwohl  wir  alle  Polemik  soviel 
als  möglich  vennieden  haben.  Damit  es  sich  inzwischen  dar- 
über nicht  täusche,  werden  wir  im  Laufe  dieser  Nummer  und  in 
der  Beilage  zu  derselben  ohnehin  noch  Veranlassung  haben,  die 
Natur  dieses  ,, juristischen  Wissens"  an  Huschke  selbst,  gerade 
weil  dasselbe  in  ihm  gipfelt,  zur  Darstellung  zu  bringen.  — 
Niebuhr  aber  wurde  durch  seinen  historischen  Blick,  der 
noch  etwas  ganz  anderes  ist  als  das  ,, juristische  Wissen",  zu 
dieser  Ahnung  befähigt. 

560 


auf  den  „starren  Buchstabenformalismus"  des  römischen 
Rechtes  zurückwarf.  Wir  meinen  den  zivilistischen  Grund- 
satz, daß,  wenn  der  zur  Zeit  des  Todes  nächste  Agnat  aus- 
schlägt oder  stirbt,  das  ganze  Erbrecht  der  Agnatenklasse, 
und  nicht  weniger  auch  das  der  Gentilenklasse  fortfällt,  statt 
daß  die  anderen  Agnaten  und  resp.  die  Gentilen  an  die 
Reihe  kommen,  oder  wie  die  Römer  diesen  Grundsatz  aus- 
drücken:  ,,in  legitimls  hereditatibus  successio  non  est^)." 
Noch  der  neueste  Schriftsteller  Jherin^  in  seinem  ,, Geist 
des  römischen  Rechtes"^)  äußert  sich,  näher  darauf  ein- 
gehend, hierüber  folgendermaßen^):  ,,Das  Wort  proxi- 
mus  (in  den  Zwölf  Tafeln)  mußte  als  Vorwand  zur  Aus- 
schließung der  successio  graduum,  die  folgenden :  si  agnatus 
nee  escit  zur  Ausschließung  der  successio  ordinum  dienen. 
Beide  Passus  nahm  man  nämlich  im  absoluten  Sinn,  d.  h. 
wenn  ein  nächster  Agnat  im  Moment  des  Todes  des  Erb- 
lassers existierte,  am  Leben  war,  mochte  er  im  übrigen 
auch  die  Erbschaft  ausgeschlagen  haben,  oder  vor  der 
Antretung  derselben  verstorben  sein,  so  erklärte  man  den 
nächstfolgenden  Agnaten  nichtsdestoweniger  für  beseitigt, 
weil  er  im  Moment  des  Todes  des  Erblassers  nicht  der 
proximus  gewesen,  und  ebenso  ließ  man  in  dem  Falle 
die  Gentilen  nicht  zu,  weil  sie  nur  für  den  Fall  si  agnatus 
nee  escit  gerufen  waren,  der  spätere  Tod  oder  Verzicht 
des  Agnaten  aber  die  Existenz  desselben  nicht  ungeschehen 
machen  konnte.  Es  war  dies  in  der  Tat  ein  Musterstück 
der  Wortinterpretation  ( !),  denn  bei  unbefangener 
Betrachtung  kann  man  sich  doch  nicht  verhehlen, 
daß  bei  der  Intestaterbfol  geordnung  der  Entferntere  nicht 

1)  Paulus.    R.    S..    IV.    8.    §    23;    Ulplan.    XXVI.    §    5; 
Gajus.  III.  §§  11.  12. 

2)  II.  483  (Leipzig  1858). 

3)  Vgl.   oben  S.308.   Note    1. 

14  Laisalle.  Gee.  Schrift«.,    Band  XH.  561 


an  sich  und  schlechthin,  sondern  nur  im  Interesse  des 
Näheren  ausgeschlossen  ist,  daß  mithin,  wenn  letzterer 
später  ausfällt,  kein  Grund  abzusehen  ist,  warum  der 
Entferntere  nicht  einrücken  soll,  da  er,  wenn  auch  nicht 
absolut,  so  doch  relativ  für  diese  Erbschaft  jetzt  der 
Nächste  geworden  ist.  Wir  würden  daher,  wenn  jene  Aus- 
drücke in  einem  heutigen  Gesetz  vorkämen,  sie  im  rela- 
tiven Sinne  interpretieren,  d.  h.  sagen :  Der  nächste  Agnat 
ist  derjenige,  dem  für  diese  Erbschaft  kein  näherer  im 
Wege  steht,  und  ebenso  sind  die  Gentilen  zuzulassen,  wenn 
in  diesem  Sinne  kein  Agnat  existiert,  d.  h.  sein  Erbrecht 
geltend  machen  kann  oder  wilP)." 

Jhering  hat  ganz  recht!  Wenn  man  mit  deutschem 
Bewußtsein  an  das  römische  Recht  herangeht,  wenn 
man  die  Erbschaft  für  eine  Vermögenszuwendung,  die 
Intestaterbschaft  für  ein  Recht  der  Familienglieder  usw. 
hält,  kurz,  wenn  man  alles  für  etwas  anderes  hält,  als 
es  wirklich  ist,  wie  sollte  man  nicht  im  römischen  Recht 
anderes  zu  finden  erwarten,  als  man  wirklich  findet  ?  Und 
so  bleibt  dann,  weil  doch  alles  seine  Erklärung  haben 
will,  freilich  nichts  anderes  übrig,  als  diese  in  den  starren 
Buchstabenformalismus  zu  setzen,  der,  wenn  er  wirklich 
als  solcher  dieses  ,, Musterstück"  von  Wortmterpretation 
geliefert  hätte,  damit  nur  ein  Musterstück  von  Sinnlosig- 
keit zutage  gefördert  haben  würde.  Denn  wenn  wirklich 
,,die  Agnaten",  wie  in  diesem  Räsonnement  voraus- 
gesetzt wird,  die  zur  Intestaterbschaft  Berufenen  gewesen 
wären,  d.h.  wenn  ihnen  als  einzelnen  Personen 
ein  eventuelles  Erbrecht  vom  Zwölftafelgesetze  übertragen 
worden  wäre-),  so  würden  die  römischen  Juristen  ohne 

^)  Ebenso  in  der  Sache:  Gans  (II.  381  fg.),  Savigny,  und 
überhaupt  alle  Autoren. 
2)  Vgl.  Bd.  I,  S.  720. 

562 


Zweifel  ebensogut  wie  die  unserigen  eingesehen  haben, 
daß  dann  der  bloße  Ausdruck  proximus  agnatus  die  ent- 
fernteren Agnaten  bei  dem  Fortfall  des  ersteren  keines- 
wegs ausgeschlossen  haben  würde.  Im  Gegenteil  wäre 
dies  rechtlich  unmöglich,  wäre  schlechthin  u n - 
juristisch  gewesen;  denn  wäre  durch  das  Intestatgesetz 
den  einzelnen  zu  der  Agnation  gehörigen  Personen  als 
solchen  ein  eventuelles  Erbrecht  erteilt  gewesen,  so  wäre 
der  Tod  des  vorhergehenden  Agnaten  ja  gerade  die 
rechtliche  Bedingung^)  für  die  aktuelle  Verwirk- 
lichung des  eventuellen  Rechtes  der  auf  ihn  folgenden 
Agnaten,  nicht  aber  ein  Grund  für  den  Fortfall  des 
Rechtes  derselben  gewesen. 

Die  römischen  Juristen  würden  dann  also  nicht  ,, Wort- 
interpretation", sondern  schnödeste  Wortmißhandlung  und 
sinnloseste  Gesetzesverstümmelung  getrieben  haben;  sie 
würden  das  vom  Gesetz  den  Agnaten  gegebene  Recht 
schlechthin  widerrechtlich  fortgeleugnet  haben. 

In  der  Tat  gibt  dies  ja  auch  die  , .unbefangene  Betrach- 
tung" vollkommen  zu,  indem  sie  sich  das  Dasein  des 
Rechtes  der  entfernteren  Agnaten  ,, nicht  verhehlen  kann". 

Was  in  diesem  „Nicht verhehlen"  heraustritt,  ist  nur 
das  Eingeständnis,  daß  das  juristische  Wissen  von  heute 
von  dem  juristischen  Wissen  von  damals  sehr  weit  ent- 
fernt ist  und  jedes   Verständnis   desselben  verloren  hat. 

Bereits  muß  aber  nach  unseren  vorhergehenden  Erörte- 
rungen der  Grund,  warum  schlechterdings  keine  successio 
graduum,  keine  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  agna- 
tischen Personen  im  Intestaterbrecht  stattfinden  kann, 
vollkommen  evident  sein. 


^)  Und   als   solche   rechtliche   Bedingung   im   Gesetz    selbst 
enthalten. 


563 


Sie  kann  nicht  stattfinden,  weil  ja  das  Intestaterbrecht, 
wie  wir  sahen,  gar  kein  Erbrecht  der  einzelnen  In- 
dividuen, kein  Erbrecht  der  Familienmitglieder, 
sondern  nur  ein  Erbrecht  der  ordo  ist,  ein  Erbrecht 
der  Idee  der  in  diese  Kreise  gegliederten  allgemeinen 
Willensgemeinschaft,  vertreten  durch  den,  der  für  den 
Verstorbenen  der  zeitige  wirkliche  Repräsentant  dieses 
Kreises,  der  Träger  dieser  Idee,  der  nächste  Agnat 
und  also  der  lebendige  Durchgangspunkt  ist,  durch 
den  hindurch  sich  der  Zusammenhang  des  Gestorbenen 
mit  diesem  Willenskreise  überhaupt  vermittelt.  Es  ist 
ein  Erbrecht  der  ordines,  d.  h.  der  Reihen,  in 
welche  die  allgemeine  Willensgemeinschaft 
sich  gliedert,  vertreten  und  lebendig  in  dem  Führer 
dieser  Reihe,  dem  nächsten  Agnaten !  Ein  Erbrecht 
der  Reihe,  also  nicht  der  Reihe,  insofern  sie  nicht 
Reihe  ist,  der  Reihe,  insofern  sie  aufgelöst  ist  in 
Individuen  —  insofern  wäre  sie  ja  eben  schon  formell 
keine  Reihe,  was  aber  inhaltlich  nichts  anderes  heißt, 
als  daß  in  diesen  Punkten  (Individuen)  ein  rein  per- 
sönliches von  Punkt  zu  Punkt  gehendes  Verhältnis 
(Familienverwandtschaft)  existent  sein  könnte,  niemals 
aber  eine  Gliederung  des  allgemeinen  Willens 
des  Volkes  vorhanden  sein  würde ^).  Es  ist  ein  Erb- 
recht der  Reihen,  ein  Erbrecht  der  Kolonnen,  durch 
welche  die  römische  Individualität  auf  ihrem 
Hintergrund,  dem  allgemeinen  Volks  willen, 
steht  und  mit  ihm  vermittelt  ist. 

Hat  also  der  Führer  der  Kolonne  ausgeschlagen, 
so   hat    die    Kolonne   ausgeschlagen!     Oder    vielmehr, 

■^)  Gliederung  eines  Allgemeinen  in  einer  Vielheit 
von  einzelnen  ist  eben:  Rei  he. 

564 


sie  hat  gar  nichts  auszuschlagen,  denn  das  Erbrecht  war 
niemals  das  ihrige  als  das  der  einzelnen,  aus  denen 
die  Kolonne  sich  zusammensetzt,  sondern  es  war  das  Erb- 
recht der  Kolonne  als  solche  und  so  in  ihrem  Führer 
lebendig  und  repräsentiert. 

Mit  anderen  Worten,  die  jetzt  vollkommen  durchsichtig 
sein  müssen:  Es  ist  kein  Erbrecht  ,,der  Agnaten  und 
Gentilen",  wie  man  sich  stets  ausdrückt,  schon  in  dieser 
unmerklich  geänderten  Ausdrucksform  das  Falsche  hinein- 
tragend, sondern  es  ist  ein  Erbrecht  der  Agnation  und 
Gentilität;  diese  Begriffe  sind  es,  die  berufen  sind, 
in  die  Willenssubjektivität  einzutreten  und  sie  fortzusetzen, 
wenn*  sie  stirbt,  und  wenn  daher  der  zu  dieser  Zeit 
nächste  Agnat,  derjenige,  welcher  als  Durchgangspunkt 
die  gewesene  Willensidentität  in  sich  darstellt^ 
und  das  Individuum  so  mit  dem  Gesamtkreis  der  Agna- 
tion verbindet,  nicht  will,  die  Willensidentifikation 
mit  der  Willenssubjektivität  des  Toten  (die  Adition)  nicht 
vornimmt  (ausschlägt  oder  stirbt),  so  hat  der  Begriff 
des  Agnationskreises  selbst  in  seinem  Träger  nicht  ge- 
wollt, und  von  einer  successio  graduum  kann  auf  diesem 
Standpunkt  nach  dem  eigenen  Gedanken  desselben  gar 
keine  Rede  sein. 

Was  ist  es  für  ein  Wunder,  daß  hier  bei  der  ordo 
succedendi,  bei  der  Erbordnung,  dasselbe  formell 
zum  Vorschein  kommt,  was  von  Haus  aus  materiell 
das  Prinzip  des  Erbrechtes  der  Agnation  war? 

Da  das  materielle  Erbrecht  nur  ein  Erbrecht 
der  ordo  als  solcher  ist,  nicht  der  einzelnen  In- 
dividuen, sondern  jener  Gliederungen  des  All- 
gemeinen  ist,    wie   sollen    bei   der   Erbordnung   die 


1)  Siehe  oben  S.  544  fg. 

565 


einzelnen  Personen  sich  aufeinander  folgen  können  ?  Es 
ist  vielmehr  höchste  geistige  Notwendigkeit,  es  ist  höchste 
Einheit  von  Form  und  Inhalt,  daß  sie  dies  nicht  können. 
Es  ist  ganz  unmöglich,  daß  sie  es  können,  denn  jedes 
Gesetz  wird  dasselbe  Prinzip  in  der  Erbordnung 
realisieren,  v.as  schon  das  materielle  Prinzip  seines  Erb- 
rechtes ist. 

Es  ist  daher  nur  das  formelle  Zumvorscheinkommen 
desselben  Prinzips,  was  auch  schon  sein  materielles 
Erbrechtsprinzip  war,  welches  diese  successio  gra- 
duum  im  alten   Intestatrecht  ausschließt. 

Wenn  unsere  Autoren  das  materielle  Erbrecht 
der  Zwölf  Tafeln  nicht  verstehen,  sich  aber  hierüber 
täuschen,  so  kommt  in  ihrer  Verwunderung  über  das 
formelle  Erscheinen  desselben  Prinzips  in  bezug  auf 
die  Erbfolge  eben  auch  nur  höchst  formell  zum  Vor- 
schein, daß  und  wie  sehr  sie  sich  über  das  materielle 
Erbrechtsprinzip  der  Zwölf  Tafeln  getäuscht  haben. 
Der  Begriff  des  Erbtums  allein,  der  schon  diese  Ein- 
heit von  Erbrecht  und  Erbordnung  in  sich  enthält, 
weiß  diese  in  ihnen  zum  Vorschein  zu  bringen. 

Es  zeigt  sich  zugleich  aus  dem  Vorigen,  daß  es  auf 
eine  bestimmte  Nähe,  auf  eine  absolute  Nähe  in 
der  Agnation  für  dieses  Intestatrecht  gar  nicht  ankommen 
kann,  d.  h.  daß  dasselbe  keinen  Grad  festsetzen  kann, 
Jens  ei  t  dessen  die  Agnation  nicht  wirkt,  was  es  nur 
könnte,  wenn  es  Familien-,  Verwandtschaftsrecht 
wäre.  Hier  dagegen  ist  jede  Nähe  und  Entfernung  gleich- 
gültig. Jeder,  auch  der  entfernteste  Agnat  ist  nahe 
genug,  wenn  er  nur  zur  Zeit  der  relativ -nächste^), 

^)  Es  ergibt  sich  beiläufig  aus  dem  Obigen,  mit  welcher 
merkwürdigen  Begriffsver\vechselung  Gans  a.  a.  O.  das  Inte- 
statrecht der  Zwölf  Tafeln,  weil  er  dasselbe  ebensowenig  be- 

566 


d.  h.  wenn  er  nur  der  zeitige  Führer  der  Willens- 
kolonne ist. 

Es  zeigt  sich  hierin,  wie  dies  Erbrecht  eigentlich  eine  ■ — 
was  man  jetzt  nicht  mehr  mißverstehen  können  wird  — 
Erbordnung  ohne  Erbrecht  ist^,  oder  richtiger,  daß 
Erbordnung  und  Erbrecht  absolut  in  demselben  Punkte 
zusammenfallen  und  sich  erzeugen.  Es  ist  eine  Erb- 
ordnung  ohne  ein  von  dieser  getrenntes,  den  Personen 
der  Agnaten  einwohnendes  Erbrecht.  Es  ist  wie 
in  einer  Schlacht.  Auf  Vordermanns  Rumpf  springt 
Hintermann.  Wenn  er  gerade  in  diesem  Augenblick  der 
Nächste  in  der  Reihe,  in  der  Ordnung,  sein  wird, 
wird  er  auch  dies  Recht  haben  und  den  Verblichenen 
fortsetzen  können.  Ist  er  nicht  der  Nächste  in  der  Reihe, 
hat  er  auch  kein  Recht,  kann  nicht  springen. 

Durch  diese  Betrachtung  wird  vielleicht  am  deutlichsten, 
warum  von  einer  successio  graduum  nicht  die  Rede  sein 


greift,  als  das  der  ..absoluten  Nähe",  charakterisieren  und 
erklären  will.  Die  absolute  Nähe  wäre  eine  bestimmte 
Nähe,  eine  in  sich  selbst  ruhende  Nähe,  jenseit  welcher  keine 
Nähe  mehr  ist.  Das  Intestatrecht  der  Zwölf  Tafeln  ist  viel- 
mehr das  der  relativen  Nähe.  Der  relativ  Nächste  ist 
berufen. 

^)  Um  dies  deutlicher  zu  machen :  In  den  deutschen  Fa- 
milienfideikommissen  z.B.  ist  eine  Erbordnung  vorhanden, 
die  gleichfalls  nur  auf  den  nächsten  Agnaten  geht,  und 
ein  Erbrecht,  das  der  ganzen  Familie  übertragen  Ist, 
so  daß  das  Erbrecht  derselben  von  der  Erbordnung  ge- 
trennt und  selbständig  ist  und  nur  innerhalb  dieser  ordo  suc- 
cedendi  in  die  Erbschaft  einrückt.  Ebenso  in  der  durch  Ju- 
stinian  vorgenommenen  Umwälzung  des  Intestatrechtes,  über  die 
wir  noch  sprechen  werden.  Nur  das  Begreifen  dieses  Unter- 
schiedes von  dem  Obigen,  wo  außer  der  Erbordnung  kein 
über  sie  hinausgehendes  Erbrecht  da  ist,  gibt  den  Begriff  des 
alten  Intestatrechtes. 

557 


kann.  Denn  der  einzelne  Agnat  hat  als  solcher  gar  kein 
Recht,  und  hat  es  nie  gehabt;  er  wird  es  erst  bekommen, 
wenn  er  in  jenem  Zeitmoment  an  jenem  Fleck  stehen 
wird.  Es  ist  reine  Ordnung,  und  von  hier  aus  er- 
klärt sich  der  innere  Grund  der  großen  Vorliebe,  mit 
welcher  die  römischen  Juristen  für  das  Intestaterbrecht 
den  Ausdruck  ordo  succedendi  gebrauchen.  Und  ebenso 
folgt  daraus,  wie,  wenn  die  ganze  Reihe  nicht  da  ist, 
jetzt  die  andere  Reihe,  die  Gentilität,  einrücken  muß. 

Aber,  wird  man  vielleicht  fragen,  wenn  die  successio 
graduum  auch  ausgeschlossen  sein  muß,  warum  ist  auch 
die  successio  ordinum  ausgeschlossen  ?  Wenn  auch  mit 
dem  Nichtfortsetzenwollen  des  nächsten  Agnaten  der  ganze 
Agnatenkreis  ausgeschlossen  sein  muß,  warum  kommen 
die  Gentilen  nicht  an  die  Reihe  ?  Und  würde  dies  nicht 
gerade  durch  jenes  Erbrecht  der  ordo  erfordert  sein  ? 

Allein  auch  diese  Frage  würde  nur  be\veisen,  daß  man 
den  gesamten  Begriff  des  Erbtums  und  des  Intestaterbtums 
insbesondere  aus  den  Augen  verloren  hat. 

Der  Erbe  ist  die  Willensidentität  und  Fortexistenz 
der  erblasserischen  Willenssubjektivität,  der  testamen- 
tarische Erbe  der  ausdrücklich  gesetzte,  der  Intestat- 
erbe der  vorausgesetzte  individuelle  Wille  des  Toten. 
Dies  hatte  sich  uns  als  der  allgemeine,  formelle  Begriff 
des  Intestaterbtums  ergeben. 

Wird  also  im  Intestaterbrecht  der  individuelle  Wille 
des  Toten  auch  als  ein  vorausgesetzter  behandelt 
und  fortgesetzt,  so  muß  er  doch  als  ein  bestimmter 
behandelt  werden,  sonst  würde  er  gar  nicht  als  Wille 
behandelt.  Denn  jeder  Wille  ist  dies,  ein  bestimmter 
zu  sein.  Der  Wille  des  Toten  ist  also,  obgleich  ein 
vorausgesetzter,  doch  immer  als  ein  bestimmter  vor- 
ausgesetzt, d.  h.  auf  den  Willen  eines  anderen  bestimm- 

568 


ten  Individuums  gerichtet.  Oder  durch  den  vorausgesetzten 
individuellen  Willen  des  Toten  ist  daher  ein  bestimmtes 
Individuum,  der  nächste  Agnat,  dazu  berufen:  ihm  durch 
seinen  Willen  Fortexistenz  zu  geben.  Folglich 
kann,  ohne  diesen  Willen  des  berufenen  Agnaten, 
also  wenn  er  ausschlägt  oder  stirbt,  dem  Willen  des  Toten 
keine  Fortexistenz  von  einem  anderen  gegeben  werden, 
ebensowenig  durch  den  Willen  eines  anderen  Agnaten, 
oder  des  Gentilen,  wie  durch  den  irgendeines  beliebigen 
Dritten. 

Dasselbe,  was  von  Seiten  des  individuellen  Willens 
des  Sterbenden,  zeigt  sich  aber  auch  —  denn  beides  ist 
identisch  —  von  dem  betrachteten  inhaltlichen  Be- 
griffe des  Intestatrechtes,  von  dem  Erbbegriff  der  ordo 
aus.  So  wenig  wie  ein  entfernterer  Agnat  vorspringen 
kann,  weil  er  nicht  an  der  Reihe  ist,  so  v/enig  kann  natür- 
lich der  Gentile  springen,  denn  der  vor  ihm  stehende  Agnat 
hindert  ihn.  Die  Reihe  der  Gentilität  steht  ja  erst  hinter 
den  Agnaten,  und  der  letzte  Agnat  ist  daher  noch  der 
Vordermann  des  Gentilen.  Oder,  um  von  dem  Bilde  ab- 
zusehen :  Welches  ist  denn  überhaupt  der  inhaltliche  Grund 
des  gentilischen  und  agnatischen  Erbrechtes  ?  Die  Glie- 
derung des  allgemeinen  Willens,  in  welcher  sich  dieser 
mit  dem  individuellen  Willen,  und  der  individuelle  Wille 
mit  dem  allgemeinen  vermittelt.  Mit  dem  Willenskreise 
der  Gentilität  ist  aber  der  Römer  erst  durch  den  Agnaten 
vermittelt,  wie  er  erst  durch  die  Gentilität  mit  dem  all- 
gemeinen Willen  des  Volkes  vermittelt  ist.  Wie  das 
Individuum  erst  suus  ist,  dann  gewesene  Willensidenti- 
tät oder  Agnat,  so  ist  es  erst  durch  diese  gewesene  Wil- 
lensidentität mit  dem  Hintergrunde  ihres  Willenskreises, 
dem  Willenskreise  der  Stammeseinheit,  und  durch  diesen 
erst  mit  der  ganzen  großen  Willensgemeinschaft  des  Volkes 

569 


vermittelt.  Wenn  also  jenes  ..durch"  noch  vorhanden 
ist,  wenn  ein  zur  Zeit  des  Todes  vorhandener  Träger 
des  Willenskreises,  durch  welchen  das  Individuum  erst 
mit  dem  Willenskreise  der  Stammeseinheit  vermittelt  ist. 
direkt  oder  indirekt  ausschlägt,  der  Willenssubjektivität 
des  Toten  Fortexistenz  zu  geben  (repudiiert  oder  stirbt), 
so  hat  der  Erbe,  d.h.  der  in  seinen  Gliederungen 
eingesetzte  allgemeine  Wille,  der  durch  den  voraus- 
gesetzten Willen  des  Individuums  berufen  war,  ihm  Fort- 
existenz zu  geben,  sich  dessen  geweigert^  und  — 
dies  liegt  schon  im  Begriff  der  Gliederung  —  der 
Zusammenhang  ist  abgebrochen,  die  angebotene  Identi- 
tät ist  ausgeschlagen.  Wie  wenn  der  testamentarische 
oder  ausdrückliche  Erbe  die  Identität  ausschlägt  oder 
stirbt,  das  Intestatrecht  oder  der  vorausgesetzte  Erbe 
eintritt,  so  muß  notwendig,  wenn  auch  dieser  voraus- 
gesetzte Erbe,  der  allgemeine  Willenszusammenhang  in 
seinem  berechtigten  Träger,  ausschlägt,  der  Erblasser 
erblos  werden  und  sein  Vermögen  in  der  alten  Zeit 
des  jus  civile,  d.  h.  vor  der  lex  Julia  et  Papia,  herren- 
los sein,  und  nach  dieser  dem  ungegliederten  rein  All- 
gemeinen des  Fiskus  anheimfallen. 

Alles,  was  wir  hier  entwickelt  haben,  ist  nun  schon 
in  der  graphischen  Wortfassung  der  oben  mitgeteilten 
Zwölftafelstellen  vollständig  enthalten.  Darum  also  sagt 
das  Zwölftafelgesetz  nur :  agnatus  proximus  habeto,  und 
nichts  davon,  daß  etwa  die  Agnaten  nach  dem  Vor- 
rang der  Nähe  haben  sollen;  darum  beruft  es  den  Gen- 
tilen  nur  ,,si  agnatus  nee  sit",  wie  es  darum  nur  die 
Familie  vererbt,  aber  mit  keinem  Laute  sie  als  das 
erbende    Prinzip   bezeichnet   und   eben    darum  wieder 

^)  Der  Tod  ist  gleichfalls  —  nur  eine  physische  — 
Weigerung   dieses  Willens. 

570 


den  suus  nur  als  einen  seinem  intestatgesetzlichen  Ver- 
fügen Vorhergehenden  bezeichnet.  Es  sind  dies  alles  nicht, 
wie  unsere  Juristen  glauben,  bloße  Worte,  zufällige  Aus- 
drucksweisen, sondern  in  Stein  geschnittene  Be- 
griffe. Es  sind  also  reine  Wortinterpretation, 
die  wir  die  ganze  Zeit  hindurch  innerlich  getrieben  haben. 
Aber  freilich  durch  die  bloße  Wortinterpretation 
wird  niemand  weder  dies  noch  Ähnliches  finden!  Und 
die  römischen  Juristen  selbst  würden  es  durch  bloße 
Wortinterpretation  ebensowenig  gefunden  haben. 
Aber  in  ihnen  lebte  die  Substanz  des  Rechtes,  wie  der 
religiöse  Geist  der  Gemeinde,  in  voller  religiöser  Un- 
mittelbarkeit^). In  dieser  Religion  des  Rechtes 
oder,  was  dasselbe  ist,  des  Willensbegriffes,  welche 
den  historischen  Inhalt  des  römischen  Volksgeistes  dar- 
stellt, war  der  Gott  nicht  das  Objekt,  sondern  vor  allem 
als  in  seiner  Gemeinde  gegenwärtiges  und  tätiges 
Subjekt  in  ihnen;  nicht  durch  die  Wortinterpretation 
des  Zwölf tafelgesetzes  als  eines  bloßen  Gegenstandes 
ihrer  Betrachtung,  sondern  durch  das  Dasein  und  die 
Fortwirkung  desselben  Geistes  in  ihnen,  aus 
welchem  auch  das  Zwölftafelgesetz  geflossen  war,  fanden 
sie  ihre  zivilrechtlichen  Sätze,  und  mit  Recht  heißen  sie 
darum  in  diesem  tiefsten  Sinne  ,,Rechis quellen". 
Denn  aus  ihnen  ist  es  heraufgequollen,  sie  haben  es  aus 
sich  schaffend  produziert  in  religiöser  Inbrunst  des  Geistes, 
wie  die  Griechen  die  Kunst,  welche  diese  ebensowenig 
nach  dem  freien  Bewußtsein  ästhetischer  Theorien  ge- 
schaffen haben.  Und  so  werden  sie  Rechtsquellen  bleiben 
für  alle  Zeiten,  wie  die  Griechen  Kunstquellen  bleiben 
werden  für  die  Ewigkeit. 


')  Vgl.  oben  Nr.  X  und  XV. 

571 


Mit  dieser  Unmittelbarkeit  des  Rechtes  in  uns  ist 
es  notwendig  und  unwiderruflich  vorbei,  und  diese  Un- 
mittelbarkeit werden  wir  durch  keine  Wortinterpre- 
tation ersetzen.  Das  einzige,  wodurch  wir  sie  ersetzen 
und  den  Gedankengang  der  römischen  Juristen  zu  durch- 
dringen vermögen,  ist  das  höhere  Bewußtsein  des  speku- 
lativen Begriffes,  der  dann  an  der  Wortfassung  der 
Zwölf  Tafeln  usw.,  wie  dies  bei  den  römischen  Juristen 
selbst  der  Fall  war,  nur  ein  Korrektiv,  nicht  den 
produktiven  Quell  seiner  Auffassung  findet. 

Wie  wenig  bei  den  römischen  Juristen  von  ,, Wort- 
interpretation" die  Rede  ist,  zeigt  nichts  besser  als  gerade 
das  Intestatrecht.  Diese  Anschauung  widerlegen  und  das 
Intestatrecht  positiv  entwickeln,  ist  ganz  dasselbe  und  läßt 
sich  ineinander  leisten. 

Wo  spricht  das  Zwölftafelgesetz  ein  einziges  Wort 
von  dem  consanguineus  ?  Woher  stammt  also,  wenn  die 
römischen  Juristen  Wortinterpretation  treiben,  die  eigen- 
tümliche Stellung,  die  sie  dem  consanguineus  und  der  con- 
sanguinea  geben,  denselben,  wie  aus  dem  Wortlaut  des 
Zwölftafelgesetzes  folgt,  nur  wie  einen  Agnaten  überhaupt, 
und  ihn  dennoch  ebenso  wieder  wie  eine  besondere  Klasse 
behandelnd,  eine  Frage,  die  schon  häufig  zu  gerechter 
Verwunderung  Anlaß  gegeben  hat  ? 

Sehen  wir,  wie  genau  sie  unter  der  Einwirkung  des 
entwickelten  spekulativen  Begriffes  gearbeitet  haben !  — 
Wir  sahen,  daß  der  Begriff  der  Agnation  der  ist,  daß 
zwei  Personen  in  einem  dritten  verschwundenen  Subjekt 
ihre  gewiesene,  nur  ideelle,  in  der  Erinnerung  vorhandene 
Willensidentität  haben.  Insofern  ist  jeder  Agnat,  wie  nahe 
oder  entfernt  er  sei,  nur  dasselbe,  was  der  andere,  nur 
näherer  oder  entfernterer  Agnat.  Aber  eine  Abteilung 
in  der  Agnation  gibt  es,  welche  vermöge  der  natürlichen 

572 


Notwendigkeit  dies,  was  ihr  Begriff  ist,  ihre  ideelle 
Willensidentität  in  einem  verschwundenen  gemeinschaft- 
lichen Dritten  zu  haben,  auch  irgendeinen  Zeitraum 
hindurch  realiter  in  den  Personen  erfüllt  haben  muß, 
so  daß  hier  die  Personen  wirklich  und  selbstlebend 
in  dem  Verstorbenen  als  Lebenden  identisch  ge- 
wesen sein  müssen.  Dies  sind  die  Brüder  und  die 
Schwestern,  der  consanguineus  und  die  consanguinea.  Der 
Neffe  und  der  Onkel  brauchen  dies  schon  nicht.  Denn 
der  Neffe  kann  geboren  worden  sein,  als  das  gemein- 
schaftliche Subjekt,  welcher  sein  Großvater  und  des  Onkels 
Vater  ist,  schon  gestorben  war.  Sie  hatten  also  niemals 
eine  Zeit,  wo  sie  reale  Willensidentität  mit  ihm 
sein  mußten.  Es  ist  ihnen  dies  auch  für  den  Begriff 
der  Agnaten  nicht  erforderlich;  denn  da  dieser  nur  der- 
jenige ist,  außerhalb  ihrer  an  einem  Dritten  eine  ge- 
wesene Willensidentität  zu  haben,  so  ist  es  gleichgültig, 
wann  diese  gewesen  ist;  oder  als  aufgehobene  nur 
in  der  Erinnerung  an  einen  Dritten  vorhandene  Willens- 
identität, ist  es  für  diese  Begriffsbestimmung  gleichgültig, 
als  daseiende  und  unmittelbare  aktuelle  Willensidenti- 
tät in  ihnen  existiert  haben  zu  müssen.  Überdies  kann 
der  Onkel  und  der  Neffe,  die  Tochter  und  der  Enkel 
dasselbe  Verhältnis  zueinander  gehabt  haben.  Sie  können 
in  dem  gemeinschaftlichen  Vater  und  Großvater  ebenso 
identisch  gewesen  sein,  denn  er  kann  bei  ihrer  aller  Ge- 
burt gelebt  haben.  Sie  brauchen  es  nur  nicht  zu  sein. 
Von  demselben  Vater  erzeugte  Geschwister  aber  müssen 
immer  einen  Moment  gehabt  haben,  wo  sie  in  ihm  als 
einem  noch  Lebenden  aktuell  willensidentisch  waren. 
Von  selbst  bestimmt  sich  hiemach  der  consanguineus  und 
die  consanguinea  als  das  adäquateste  Gesetztsein 
des  Agnationsbegriffes,  als  diejenige  Realität  des- 

573 


selben,  in  welcher  alle  seine  Momente,  sowohl  die  ge- 
wesene Willensidentität  im  Dritten,  als  das  Ge- 
wesensein derselben,  in  formeller  Existenz  ge- 
setzt sind;  als  diejenige  Abteilung  der  Agnation,  über 
welche  hinaus  der  Begriff  der  Agnation,  wie  wir  oben 
an  den  Worten  Ulpians  zeigten  (S.  548),  bereits  in  die 
ideelle  Gemeinschaftlichkeit  des  Ursprunges,  oder  die 
Gentilen  überzugehen  beginnt.  Aber  wieder  nur  der 
Begriff  der  Agnation  geht  über;  die  Agnaten  selbst 
als  Personen  folgen  diesem  Übergang  nicht,  denn  sie 
können,  in  den  verschiedensten  Verwandtschaftsgraden 
stehend,  alle  noch  von  der  Gewalt  desselben  Gewalthabers 
beherrscht  und  seine  sui  gewesen  sein,  wonach  sie  dann 
auch  realiter  ganz  dasselbe  untereinander  durchgemacht 
haben,  wie  die  consanguinei.  Der  consanguineus  ist  also 
nur  das  formellere  Gesetztsein  des  agnatischen  Be- 
griffes. Er  ist  nur  das  Gesetztsein  dessen,  daß  jenes 
Gewesene,  welches  den  Begriff  der  Agnation  bildet, 
in  ihm  selbst  einmal  auch  nicht  ein  Gewesenes,  sondern 
nur  ein  Seiendes  war,  während  es  dies  im  Agnaten 
schlechthin  nur  gewesen  sein  kann. 

So  erweist  sich  denn  aufs  genaueste  die  begriffliche 
Notwendigkeit  jener  scheinbar  ebensosehr  dem  Zwölftafel- 
gesetz  als  sogar  sich  selbst  widersprechenden  Behandlung, 
welche  die  römischen  Juristen  dem  consanguineus  angedeihen 
lassen,  ihn  bald  als  Agnaten  schlechthin,  bald  \vieder  als 
etwas  Besonderes  nehmend.  Und  sofort  ergibt  sich  aus 
dem  Gesagten  eine  sehr  reale  Konsequenz  in  bezug  auf 
die  consanguinea.  Die  Tochter  ist,  wie  wir  das  bei  der 
Suität  gesehen  haben,  für  sich  selbst  die  freie,  sui 
juris  gewordene  Willenssubjektivität  des  Vaters,  so  gut 
wie  der  Sohn.  Aber  sie  kann,  wie  wir  diesen  Unterschied 
bedeutungsvoll  schon  bei  der  Suität  selbst  hervorbrechen 

574 


sahen  (s.  S.  344 fg.,  350 fg.).  da  sie  ihrerseits  nicht  wieder 
in  der  Gewalt  haben  kann,  ihre  Willenssubjektivität  nicht 
fortsetzen,  nicht  festhalten.  In  bezug  auf  das  Verhältnis 
der  Schwester  zum  Bruder  kann  dies  keinen  Unterschied 
machen.  Sie  war  mit  ihm  notwendig  in  derselben  Gewalt, 
war  mit  ihm  realiter  in  der  Identität  derselben  Willens- 
subjektivität eingeschlossen.  Sie  ist  daher,  nach  dem  Tode 
derselben,  gewesene  Willensidentität  mit  ihm,  sie  hält 
nicht  fest,  aber  sie  wird  festgehalten  von  derselben 
Willenssubjektivität  in  ihr  und  ihm,  sie  ist  daher  ebenso- 
gut agnata  wie  jeder  agnatus.  Als  consanguinea  beerbt 
sie  ihn  daher.  Aber  wie  steht,  wenn  der  Bruder  tot  ist, 
ihr  Verhältnis  zu  dessen  Sohn?  Mit  diesem  war  sie 
nicht  mehr  in  derselben  Gewalt.  Oder  mindestens  wenn 
der  Vater  bei  Geburt  dieses  Enkels  noch  lebte,  war  dies 
ein  Zufälliges.  Ihrem  Begriffe  nach  ist  es  nicht  ge- 
setzt, daß  sie  mit  ihm  in  derselben  Gewalt  gestanden  haben 
muß;  ihrem  Begriffe,  d.h.  dem  Begriff  ihres  Ver- 
hältnisses zueinander,  ist  dies  fremd  und  zufällig,  daß 
der  Gewalthaber  bei  der  Enkelserzeugung  noch  gelebt 
haben  muß.  Standen  sie  aber  begrifflich  nicht  in  der  Ein- 
heit desselben  Willens,  so  ist  sie  auch  nicht  gewesene 
Willensidentität  oder  Agnat  in  bezug  auf  ihn.  Denn  sie 
als  Weib  ist  eben  dies,  des  Vaters  Wiilenssubjektivität 
nur  für  sich  zu  sein,  nur  von  ihr  festgehalten  zu 
sein,  nicht  aber  sie  in  bezug  auf  andere  Personen 
festhalten  und  fortsetzen  zu  können.  Umgekehrt 
ist  er  in  bezug  auf  sie  Agnat,  denn  er  ist  eben  als  Mann 
und  Gewalthaber  dies,  die  in  ihm  seiende  Willenssubjektivi- 
tät auch  in  bezug  auf  andere  fortsetzen  und  festhalten  zu 
können.  Festgehalten  von  ihrer  Willenssubjektivität 
und  sie  nicht  in  bezug  auf  andere  festhaltend,  ist  er  also, 
der  Neffe,  mit  ihr,  sie  nicht  mit  ihm  gewesene  Willens- 

575 


Identität ;  oder  sie  ist  für  ihn  nur  Passiv-,  nicht  Aktiv- 
agnat.  Das  heißt  also,  es  ergibt  sich  hier  die  Lehre 
der  römischen  Juristen:  Das  Weib  erbt  agna- 
tisch nur  als  consanguinea ;  in  allen  weiteren  Graden 
beerbt  sie  nicht  die  Agnaten,  wird  aber  von  ihnen 
agnatisch  beerbt,  eine  Lehre  ^),  von  der  zu  keinem  Teile 
auch  nur  die  geringste  Spur  in  den  Worten  des  Intestat- 
gesetzes  der  Zwölf  Tafeln  nachgewiesen  werden  kann, 
die  diesen  vielmehr  fast  zu  widersprechen  scheint  und 
dennoch,  wie  wir  gesehen,  unter  der  strengen  Fortwirk-ung 
des  im  Zwölftafelgesetz  vorhandenen  spekulativen  Be- 
griffes von  den  römischen  Juristen  erzeugt  ist.  Justinian 
beschuldigt  daher  hier  sogar  die  Juristen,  durch  willkür- 
lich ausgeklügelte  Subtilitäten  das  Zwölftafelgesetz  korrum- 
piert zu  haben :  ,, Media  autem  jurisprudentia,  quae  aut 
lege  duodecim  tabularum  junior,  imperiali  autem  disposi- 
tione  anterior,  subtilitate  quadam  excogitata,  praefatam 
differentiam  inducebat  etc.",  wogegen  er  das  Zwölftafel- 
gesetz wiederherstellen  zu  wollen  erklärt  (,,nos  vero  legem 
duodecim  tabularum  sequentes  et  ejus  vestigia  in  hac  parte 
conservantes"),  und  eher  noch  begreift  sich  dieser  Vor- 
wurf, so  falsch  er  ist  und  so  sehr  er  die  organische 
Gedankenfortbildung  übersieht,  als  die  Ansicht  unserer 
Autoren  über  die  „Wortinterpretation"  der  römischen  Zivi- 
listen. 

Dasselbe,  was  uns  das  jus  zivile  gezeigt  hat,  zeigt  uns 
nun  auch,  wie  eine  Probe  auf  das  Rechenexempel,  die 
negative  Umgestaltung  desselben,  oder  die  Geschichte 
des  Rechtes.  Justinian  ist  es,  welcher,  das  zivile 
Intestaterbrecht  im  Geiste  unserer  Autoren  abändernd,  die 


■'^)  §  3  Inst,  de  legit.  succ.  (3,  2) ;  vgl.  über  den  consangi- 
neus  Paulus.  R.   S..  IV,  8,  3;   Gajus.   III,   10,   14  u.   a- 

576 


successio  graduum  in  dasselbe  einführt  0-  Er  selbst  aber 
behauptet  nicht  einmal,  daß  der  Grundsatz  in  legitimis 
hereditatibus  successio  non  est  bloß  durch  eine  „subtilitas 
quaedam"  der  Juristen  in  das  Zwölftafelrecht  hineingetragen 
sei,  wie  er  dies  allerdings  häufig  tut,  wenn  er  einen  Punkt 
des  alten  jus  civile  ganz  und  gar  nicht  mehr  versteht^). 
Er  gibt  vielmehr  dies  als  das  wirkliche  Prinzip  des  alten 
Rechtes  zu^)  und  stellt  seine  Abänderung  des- 
selben dagegen  offen  auf  den  Boden  des  prätori- 
schen  Prinzips:  „Quod  iterum  praetores  imperfecto 
jure  corrigentes,  non  in  totum  sine  adminiculo  relinque- 
bant,  sed  ex  cognatorum  ördine  eos  vocabant,  utpote  agna- 
tionis  jure  iis  recluso.  Sed  nos,  nihil  deesse  perfectissimo 
jure  cupientes,  nostra  constitutione*)  quam  de  jure  patro- 
natus  humanltate  siiggerente  protulimus,  sanximus,  succes- 
sionem  in  agnatorum  hereditatibus  non  esse  iis  denegan- 
dam,  quum  satis  absurdum  erat,  quod  cognatis  a  prae- 
tore  apertum  est,  hoc  agnatis  esse  reclusum^y 

^)  §  7  Inst,  de  legit.  adgn.  succ   (3,  2). 

^)  Z.  B.  gerade  daselbst,  §  3,  in  Bezug  auf  die  consanguinea : 
„Et  haec  quidem  lex  duodecim  tabularum]  nullo",  modo  intro- 
duxit.  .  .  .  Media  autem  jurisprudentia  quae  erat  lege  duodecim 
tabularum  junior,  imperlali  autem  dispositione  anterior,  sub- 
tilitate  quadani  excogitata,   praefatam  differentiam  inducebat  etc." 

^)  „Placebat  autem  in  eo  generc  percipiendarum  heredi- 
datum  successionem  non  esse  etc." 

*)  L.  4,  C.  6.  4. 

^)  Zugleich  zeigt  sich  hier  erst  das  tiefste  Fundament  für 
die  Lehre,  die  wir  im  ersten  Bande,  in  der  Note  zu  S.  720, 
in  Bezug  auf  das  ErworBensein  der  Intestatdelation  entwickelt 
haBen.  Vor  Justinian  ist  das  Intestatrecht  nicht  einmal  Familien- 
recht; der  einzelne  Agnat  als  solcher  ist  gar  nicht  einmal 
damit  Befaßt,  sondern  nur,  insofern  er  die  Idee  des  Kreises 
zur  Todeszeit  repräsentiert.  Mit  Justinian  tritt  nun  allerdings, 
wie   wir   dort   Bereits   zeigten,   eine   eventuelle    Delation 

15    L-iialU.  Cef.  Scbriftcn,  Band  XII.  577 


Es  gibt  nichts  Lehrreicheres,  nichts  begriffhch  Inhalt- 
volleres,  nichts  für  unsere  gesamten  Entvvickelungen  über 
das  Intestatrecht  Beweisenderes,  als  was  in  den  hier  be- 
rührten  geschichtlichen   Tatsachen  enthalten   ist. 


für  jeden  einzelnen  Agnaten  ein,  und  als  ein  durch 
die  Familienzeugung  vermitteltes  Recht  kann  dies  ein  erwor- 
benes Recht  scheinen.  Allein,  was  ist  denn  durch  dies  Recht 
erworben?  Keinesfalls  doch  mehr,  als  durch  dasselbe  ge- 
geben ist.  Und  gegeben  ist,  vor  wie  nach  Justinian,  durch  dies 
immer  noch  ganz  bedingte  und  eventuelle  Recht  nichts  anderes 
als  dies:  sich  mit  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers  iden- 
tifizieren zu  können,  wenn  derselbe  ohne  Testament  gestorben, 
d.h.  wenn  man  der  durch  seinen  vorausgesetzten  Willen  (In- 
testatgesetz)  dazu  beinifene  Wille  sein  wird.  Wenn  sein  Ruf 
aufgehört  hat,  während  man  wartete,  ist  es  zu  spät,  ihn  erfüllen 
zu  wollen.  Wenn  der  allgemeine  Wille,  mit  dem  der  voraus- 
gesetzte des  Toten  identisch  ist,  d.  h.  das  Intestatgesetz,  sich 
geändert  hat  und  einen  anderen  i-uft,  so  kann  jetzt  nur  dieser  den 
Ruf  erfüllen.  Dai-um  bleibt  es  dabei,  daß  man  nach  römischem 
Recht  die  deferierte  Intestaterbschaft  durch  ein  vor  der  Adition 
die  Delation  änderndes  Intestatgesetz  verliert.  Man  verliert, 
wie  wir  schon  a.  a.  O.  zeigten,  das  Recht  auf  Adition  ebenso 
gut  durch  den  physischen  Untergang  unserer  Willens- 
fähigkeit  dazu  (Tod),  wie  durch  den  rechtlichen  Unter- 
gang unserer  Fähigkeit  (Gesetzeswechsel).  Beides  entspricht 
sich  immer  und  muß  sich  entsprechen,  denn  Untergang  bleibt 
Untergang,  und  es  ist  wunderbar,  wie  dies  so  lange  übersehen 
werden  konnte.  Der  germanische  Erbe,  der  freilich  durch 
den  Wechsel  des  Intestatgesetzes  nach  dem  Tode  des  Erb- 
lassers nichts  verliert,  verliert  eben  darum  auch  durch  seinen 
Tod  nichts,  sondern  überträgt  das  schon  ererbte  Eigentum. 
Ihn  beruft  aber  das  Intestatgesetz  auch  gar  nicht  zu  einer 
Willenshandlung,  zur  Fortsetzung  eines  Toten,  und  es  beruft 
ihn  also  überhaupt  zu  nichts,  sondern  es  gibt  ihm  Sachen, 
und  die  hat  er  dann  freilich  sofort  mit  diesem  ideellen  Moment 
des  gesetzlichen  Gebens.  Genauer  wird  sich  der  Unterschied 
in  der  zweiten   Abteilung  enti,vickeln. 

578 


Das  prätorische  Prinzip  der  Kognation,  weil 
es  wirklich  das  Erbrecht  der  Familie  ist,  wofür 
unsere  Autoren  das  Zivilintestatrecht  stets  halten,  tritt 
deshalb  von  vornherein  mit  dem  Prinzip  der 
snccessio  gradimm  auf.  Es  kommt  hier  so  zu  seinem 
positiven  Beweise,  was  wir  oben  aus  dem  Begriffe 
entwickelt  haben,  daf^  jedes  Erbrecht,  welches  Familien- 
erbrecht ist,  die  einzelnen  Familienpersonen  als 
solche  mit  einem  eventuellen  Erbrecht  befassen 
und  folglich  die  successio  graduum  in  sich  enthalten 
muß;  zu  seinem  umgekehrten  Beweise  somit,  daß  das 
Zivilintestatrecht,  welches  dies  nicht  tut,  auch  kein 
Familienerbrecht  sein  kann,  und  eben  weil  es  kein  solches 
ist,  auch  eine  solche  successio  nicht  kennen  kann. 

Aber  ferner!  Der  Grundsatz,  daß  im  Zivilintestat- 
recht keine  Sukzession  ist,  er,  der  nach  unseren  Juristen 
aus  einer  bloßen  starren,  innerlich  unmotivierten  Wort- 
interpretation  entsprungen  ist,  umfaßt  unbewegt,  un- 
verändert, ohne  daß  auch  nur  an  ihm  gerüttelt  wird, 
den  gesamten  Zeitraum  der  eigentlichen  Ge- 
schichte des  römischen  Rechtes,  von  seinem 
ersten  uns  historisch  bekannten  Anfang,  dem  Zwölf tafel- 
gesetz  an,  bis  zu  seinem  letzten  Ende  und  Unter- 
gang, der  justinianeischen  Gesetzgebung;  einen  Zeitraum 
von  einem  Jahrtausend! 

Diese  Wortinterpretation  zeigt  sich  so  identisch  mit 
dem  Begriffe  und  dem  Bestehen  des  römischen  Geistes 
selbst. 

Während  dieses  Jahrtausendes  wankt,  stürzt,  ändert  sich 
alles  in  der  Welt  des  römischen  Geistes,  die  gewaltigsten 
Umwälzungen  vollbringen  sich.  Aber  diese  Wortinter- 
pretation bleibt  bestehen.  Während  dieser  Zeit  voll- 
bringt sich  natürlich  auch  auf  dem  Gebiete  des  Intestat- 

15-  57g 


rechtes  —  die  römischen  Revolutionen  sind  vor  allen 
anderen  Rechtsrevolutionen  —  der  gewaltigste  Wechsel. 
Der  Prätor  läuft  mit  der  bonorum  possessio  in  den  ver- 
schiedensten Gestaltungen  Sturm  auf  es,  das  kognatische 
Prinzip  der  Familie  schießt  Bresche  in  es,  aber  durch 
alles  dies  wird  das  Zivilintestatrecht  nur  aus  seinem  Macht - 
gebiet  mehr  und  mehr  in  einen  Winkel  zurückgedrängt, 
es  muß  mehr  und  mehr  den  Platz  dem  neben  ihm  und 
außerhalb  seiner  sich  erhebenden  prätorischen  Prinzip 
der  Familie  und  des  Vermögens  räumen.  Allein 
mindestens  in  diesem  Winkel,  der  ihm  noch  bleibt, 
innerhalb  seiner  und  insofern  ziviles  Intestatrecht  da 
ist,  behauptet  es  sich  rein !  Nicht  genug !  Auch  inner- 
halb seiner  wechselt  das  Intestaterbrecht  seinen 
inhaltlichen  Begriff.  Mit  der  geänderten  Gestalt  der 
römischen  Gesellschaft  tritt  an  die  Stelle  des  verschwun- 
denen Erbrechtes  der  Gentilen,  unter  den  Kaisern  das 
Erbrecht  der  Standesgenossenschaften  in  einem 
das  Mittelalter  anbahnenden  Sinne,  das  Erbrecht  der 
Erwerbs-  und  Berufsgenossenschaften  an  Stelle 
des  Erbrechtes  der  altrömischen  Willenskreise  (s.  oben 
S.  507,  Note  1). 

Aber  so  hat  das  Intestatrecht  nur  seinen  Inhalt  ge- 
ändert und  mußte  ihn  ändern  mit  der  organischen  Um- 
änderung, die  im  Dasein  der  Gesellschaft  selbst 
eingetreten  ist.  So  hat  es  nur  die  Antwort  auf  die 
Frage  geändert,  was  denn  der  Inhalt  des  allgemeinen 
Willens  oder  des  Volkes  sei,  und  hat  sie  naturgemäß  aus 
^der  jetzigen  Beschaffenheit  desselben  geschöpft.  Aber 
seinen  formellen  Begriff:  der  allgemeine  Wille 
vorausgesetzt  als  der  Wille  des  Individuums  zu  sein, 
hat  es  noch  nicht  geändert.  Solange  das  Zivilintestatrecht 
Zivilintestatrecht  bleibt,   muß  es  diesen  seinen  formellen 

580 


Begriff  behaupten  und  die  successio  ausschließen.  Erst 
mit  Justinian,  als  der  römische  Geist  an  seinem  Ende 
angelangt  und  zu  Ende  ist,  erst  jetzt,  wo  das  prä- 
torische  Prinzip  sich  völlig  in  das  Zivilrecht  selbst 
hinein  und  an  dessen  Stelle  setzt;  erst  jetzt,  wo. 
wie  wir  an  jedem  Punkte  unseres  Stoffes  besonders  gezeigt 
haben,  das  Erbtum  sein  wirkliches  Prinzip  verloren  hat 
und  zum  Vermögens-  und  Familienrecht  (beides 
an  sich  identische  Begriffe  im  Erbtum)  geworden  ist, 
über  welchem  sein  früherer  Geist  nur  noch  als  geister- 
hafter Schatten  schwebt^)  und  festgehalten  wird;  erst 
jetzt,  wo  es  an  sich,  d.  h.  als  totes  Ende  seines  langen 
Prozesses  und  in  sich  selbst  widersprechender  Form  sich 
zu  dem  hingetrieben  und  angenähert  hat,  womit  der 
germanische  Geist  als  seinem  wirklich  und 
darum  in  wahrhaft  begrifflicher  Konsequenz 
auftretenden  Prinzip  anfängt;  —  erst  jetzt  kann 
die  successio  graduum  im  Zivilintestatrecht,  das  nicht 
mehr  Zivilintestatrecht  und  zum  individuellen  Rechte  der 
Familienglieder  geworden  ist,   eintreten. 

Eine  Wissenschaft,  die  in  den  glänzendsten  ihrer  Ver- 
treter, und  ohne  Ausnahme,  ein  so  im  tiefsten  Sinne 
des  Wortes  welthistorisches  Faktum  für  eine 
äußerliche  ,, Wortinterpretation"  auffassen  kann,  richtet 
damit  sich  selbst,  zeigt  dadurch  allein,  wie  sie  es  übrigens 
auch  auf  jedem  anderen  Punkte  wieder  selbständig  und 
von  neuem  zeigt,  daß  ihr  von  den  gesamten  Adern 
ihres  Stoffes  auch  nicht  eine  einzige  bekannt  gewesen, 
zeigt,  daß  sie  ihre  gesamte  Methode  umändern  und  ganz 
von  vom  wieder  anfangen  muß,  wenn  sie  Wissen- 
schaft werden  will. 


')  Vgl.    oben    S.  131.    Note    1.    und    überall    bei    der   Ent- 
wickelung  justlnianeischer  Gesetze. 

581 


Wohin  wir  uns  auch  nun  \venden  im  Gebiete  des  Intestat- 
erbrechtes, ist  alles  klar  und  durchsichtig.  Für  den  ent- 
hüllten Begriff  gibt  es  keine  Schwierigkeit  mehr.  Das 
konkrete  Material  -wird,  statt  eine  Schwierigkeit  für  ihn 
zu  bilden,  ihm  vielmehr  nur  Anlaß  geben,  auch  die 
letzte  verborgenste  Falte  hervorzukehren,  die  er 
noch  in  sich  trägt. 

Betrachten  wir  zunächst  das  Wissen  bei  der  intestat- 
erbrechtlichen Adition  und  sein  Verhältnis  zum  testamen- 
tarischen. 

Ulpian  sagt^):  ..Heres  institutus  idemque  legitimus 
si  quasi  institutus  repudaverit,  quasi  legitimus  non  amittit 
hereditatem ;  sed  si  quasi  legitimus  repudiavit,  si  quidem 
seit  se  heredem  institutum,  credendus  est  utrumque  repu- 
diasse ;  si  ignorat,  ad  neutrum  ei  repudiatio  nocebit,  neque 
ad  testam.entariam,  quoniam  hanc  non  repudiavit,  neque 
ad  legitimam,  quonium  nondum  ei   fuerit  delata." 

Also  erstens :  Der  testamentarische  Erbe,  wenn  er 
als  testamentarischer  ausschlug,  verliert  damit  noch  nicht 
sein  Intestaterbrecht.  Zweitens :  Der  bloße  Intestaterbe, 
wenn  er,  glaubend,  daß  er  im  Testament  eingesetzt  sei, 
ausschlug,  verliert  damit  noch  nicht  sein  Intestaterbtum. 
Aber  drittens :  Der  Intestaterbe,  der  als  solcher  ausschlug, 
v.issend,  daß  er  auch  eingesetzter  Erbe,  verliert  damit 
nicht  nur  das  Intestaterbtum,  sondern  auch  das  nicht  aus- 
geschlagene testamentarische ;  während  viertens :  der  In- 
testaterbe, der  als  solcher  ausschlägt,  nicht  wissend,  daß 
er  auch  testamentarischer  sei,  weder  sein  testamentarisches 
Erbrecht,  da  er  dieses  nicht  ausgeschlagen,  noch  sein 
Intestaterbrecht,  weil  dieses  ihm  noch  nicht  deleriert  war, 
verliert. 


n  L.  17.    §  1.    de   acqu.   vel.    om.    her.    (29.2). 
582 


Die  Juristen  scheinen  es  freilich  hier  leicht  zu  haben. 
Denn  sie  werden  mit  Savigny  sagen:  daß  der  Erbe  „die 
Art  der  Delation"  wissen  muß,  wenn  seine  Antretung 
oder  Ausschlagung  von  Wirksamkeit  sein  soll.  Allein 
wir  haben  früher  nachgewiesen^),  daß  dies  Prinzip,  ,,die 
Art  der  Delation"  wissen  zu  müssen,  durchaus  nicht  das 
richtige  ist;  kann  es  die  hier  vorliegenden  vier  Fälle  zu- 
nächst zu  decken  scheinen,  so  deckt  es,  wie  wir  bewiesen 
haben,  andere  Fälle  nicht,  und  ist  daher  auch  bei  jenen, 
wie  sich  übrigens  noch  beiläufig  an  ihnen  selbst  ergeben 
wird,  so  wenig  wie  bei  diesen  das  Gesetz  der  Sache. 

Allein  nicht  nur  das  Prinzip  unserer  Juristen  ist,  wie 
von  früher  her  feststeht,  nicht  richtig,  sondern  Ulpians 
eigenes  Prinzip,  das  er  im  vierten  Falle  hierbei  aus- 
spricht, erweist  sich  als  unrichtig,  und  er  befindet  sich, 
wie  es  scheinen  muß,  im  dritten  und  vierten  Falle  im 
offenbarsten  Widerspruch  mit  sich  selbst.  Denn 
im  vierten  Falle  sagt  er,  der  Intestaterbe,  welcher,  eicht 
wissend,  daß  er  auch  testamentarischer  Erbe  sei,  die 
Intestaterbschaft  ausschlage,  verliere  damit  die 
testamentarische  Erbschaft  nicht.  Warum  nicht? 
Qiioniam  hanc  non  repudiavit.  Weil  er  diese  nicht  aus- 
schlug. Gut,  aber  warum  beherzigt  Ulpian  dies  nicht  auch 
im  dritten  Falle,  wo  er  von  dem  Intestaterben,  der, 
wissend,  daß  er  auch  Testamentserbe  sei,  die  Intestat- 
erbschaft ausschlägt,  sagt,  daß  er  dadurch  auch  die 
testamentarische  verliere?  Kann  nach  dem  früheren 
der  Erbe  hier  nicht  ebensogut  sagen :  hanc  non  repudiavi, 
als  Testamentserbe,  oder  die  testamentarische 
Erbschaft  habe  ich  nicht  ausgeschlagen  ?  Indessen,  dies 
ist  nur  der  Anfang  des  Widerspruches,  und  Ulpian  löst 


'■)  Siehe  oben   S.  439.   Note  2. 


ihn  wenigstens  in  den  Worten  auf,  indem  er  sagt:  in 
diesem  Falle  sei  der  die  Intestaterbschaft  aus- 
schlagende Erbe  so  anzusehen  (credendus),  als  habe 
er  beide,  Intestat-  und  testamentarische  Erbschaft 
ausgeschlagen  (utrumque  repudiasse).  Warum  er  hier 
so  anzusehen  sei,  sagt  uns  Ulpian  freilich  nicht.  —  Aber 
der  substantiellere,  auch  nicht  einmal  in  den  Worten 
aufgelöste  Widerspruch  folgt  nun  erst.  Im  vierten  Falle, 
wenn  der  Intestaterbe,  welcher  weiß,  daß  er  Intestat- 
erbe ist,  und  bloß  nicht  weiß,  daß  er  auch  Testaments- 
erbe ist,  die  Intestaterbschaft  ausschlägt,  soll  das 
nicht  nur  für  die  Testamentserbschaft,  es  soll  ihm  auch  für 
die  wissend  ausgeschlagene  Intestaterbschaft 
nicht  schaden^).  Warum?  Quoniam  nondum  ei  fuerit 
delata;  weil  sie  ihm  noch  nicht  deferiert  sei.  Und  warum 
ist  sie  ihm  noch  nicht  deferiert  ?  Aus  einem  sehr  guten 
Grunde,  werden  die  Juristen  sagen :  Weil  die  Erbschaft 
ab  intestato  erst  dann  deferiert  wird,  wenn  die  Testa- 
mentserbschaft ausgeschlagen  worden  ist.  Richtig; 
aber  wenn  dies  so  ist,  warum  verliert  im  dritten  Falle 
der  die  Intestaterbschaft  ausschlagende  testamentarische 
Erbe  mit  der  testamentarischen  zugleich  auch  die  Intestat- 
erbschaft ?  Warum  \var  ihm  also  hier  die  Intestat- 
erbschaft deferiert,  ehe  die  Testaments- 
erbschaft ausgeschlagen  war?  Man  drehe  und 
zerre  das  Resultat  in  den  Worten  herum,  soviel  man  wolle, 
immer   bleibt   das    sachliche    Resultat,   daß   die   Dela- 


^)  Es  geht  hier  übrigens  auch  wieder  das  Prinzip  von  dem 
Wissen  der  ,,Art  der  Delation"  in  Stücke;  denn  auch  die  ge- 
wußte „Art  der  Delation",  die  Delation  ab  intestato, 
verliert  hier  der  ausschlagende  Intestaterbe  nicht,  ohne  daß 
das  quoniam  nondum  ei  fuerit  delata,  wie  sich  oben  sofort  zeigt, 
eine  stichhaltige  Antwort  ist. 

584 


tion  der  Intestaterbschaft  eingetreten  ist  — 
denn  sonst  hätte  diese  nicht  wirksam  ausgeschlagen  werden 
können  —  ehe  die  Testamentserbschaft  aus- 
geschlagen war:  ein  Resultat,  das  allen  juristischen 
Regeln  über  die  Delation  mit  offenem  Hohne  ins  Ge- 
sicht lacht,  vollständig  dem  vorigen  Fall  widerspricht, 
wo  der  sich  als  Intestaterbe  wissende  Testaments-  und 
Intestaterbe  wirkungslos  die  Intestaterbschaft  —  also  die 
gewußte  Art  der  Delation  —  ausschlagen  soll,  weil 
sie  ihm  vor  seinem  Ausschlagen  der  Testamentserb- 
schaft noch  nicht  deferiert  gewesen  sei,  und  also  Ulpian 
selbst  des  grellsten  Widerspruches  mit  dem  quoniam  non- 
dum  fuerit  delata  beschuldigt*). 

Der  Widerspruch  ist  um  so  flagranter,  als  Ulpian  selbst 
in  einer  kurz  vorhergehenden  Stelle^)  sagt:  „Is  qui  heres 
institutus  est,  vel  is  cui  legitima  hereditas  delata  est,  repu- 
diatione  hereditatem  amittit.  Hoc  ita  verum  est,  si  in 
ea  causa  erat  hereditas,  ut  et  adirl  passet!'  Also :  ,,Der, 
welcher  zum  Erben  eingesetzt  ist,  oder  der,  welchem  ab 
intestato  die  Erbschaft  deferiert  ist,  verliert  die  Erbschaft 
durch  die  Repudiation.  Dies  ist  jedoch  in  dem  Sinne 
zu  nehmen,  daß  er  die  Erbschaft  nur  dann  verliert,  wenn 
sie  auch  schon  in  der  Lage  war,  von  ihm  angetreten 
werden  zu  können."  Über  das  Antreten  sagt  doch  aber 
wieder  derselbe  Ulpian:  ,,quamdiu  potest  ex  testamento 
adiri  hereditas.  ab  intestato  non  defertur"  (L.  39  eod.  tit.). 


*)  Die  Juristen  scheuen  sich  daher,  statt  Ulpian  von  seinem 
Widerspruch  zu  erlösen,  den  Fall  zu  berühren.  Savigny,  a.  a.  O-, 
III.  382.  Note  b.  zieht  dafür,  daß  der  Erbe  ..die  Art  der  Dela- 
tion, aus  letztem  Willen  oder  gesetzlich  usw."  wissen  müsse, 
alle  möglichen  Pandektenstellen  an,  die  L.  13,  14,  15,  16,  19. 
22,  23  usw.  dieses  Titels,  aber  an  der  L.  17  wird  vorbeigegangen. 

=)  L.   13  eod.  tit. 

585 


Antreten  kann  also  der  Intestaterbe  nur  dann  die  Erb- 
schaft, wenn  die  testamentarische  Erbschaft  ausgeschlagen 
ist.  Ist  er  selbst  beides  zugleich,  testamentarischer  und 
Intestaterbe,  so  kann  er  immerhin  durch  das  Ausschlagen 
des  Testamentes  sich  die  Intestaterbschaft  nur  deferieren, 
und  darum  hörten  wir  ja  soeben,  daß  auch  der  die  Intestat- 
erbschaft wissend  ausschlagende  gedoppelte  Erbe  nichts 
vollbringe,  weil  sie  vor  seiner  wirksamen  Ausschlagung 
des  Testamentes  noch  gar  nicht  deferiert  sei.  Hier 
gehen  also  wieder  mit  Krach  alle  juristischen  Regeln  über 
die  Delation  in  Stücke. 

Hatten  wir  früher  gezeigt  0.  daß  die  juristischen  Regeln 
über  die  Delation  und  Adition  den  trostlosesten  und  inhalts- 
losesten circulus  vitiosus  bilden,  so  sehen  wir  jetzt,  daß 
sie  sich  sogar  gegeneinander  empören  und  sich  Lügen 
strafen.  Und  gleichwohl  ist,  soviel  wir  uns  wenigstens 
augenblicklich  erinnern,  niemals  auch  nur  der  Versuch 
gemacht  worden,  diese  Stelle  Ulpians  aufzulösen,  und 
mit  den  durch  sie  auf  das  schneidendste  widerlegten  Regeln 
über  die  Delation  und  die  Adition  in  Einklang  zu  bringen. 

Aber  nicht  nur  die  juristischen  Regeln  widerlegen  sich 
und  Ulpian  widerspricht  sich  hier,  sondern  auch  unser 
eigenes  Prinzip,  das  wir  sub  Nr.  XXXIV  über  das  zur 
Adition  oder  Repudiation  erforderliche  spekulative  Wissen 
entwickelt  haben,  scheint  hier  Schiffbruch  zu  leiden. 

Denn  wir  sagten  dort :  Das  Wissen,  das  zur  wirksamen 
Adition  oder  Repudiation  des  Erben  erforderlich  sei,  sei 
dies,  die  Willensbeziehung  zu  kennen,  die  sich  der 
erblasserische  Wille  zu  seiner,  des  Erben,  Willenssubjek- 
tivität gegeben  habe.  Nun  ist  doch  aber  beides,  Intestat- 
erbtum  wie  testamentarisches,  immer  Erb  tum,   also  ge- 


1)  Siehe   oben   S.  482  fg. 
586 


setzte  Identität  der  Willenssubjektivität  des  Erblassers 
und  des  Erben.  Sooft  der  Erbe  sich  also  als  Erben  weiß, 
weiß  er  sich  als  Willensidentität  mit  dem  erblasserischen 
Willen,  und  es  scheint  wenig  darauf  ankommen  zu  können, 
ob  er  sich  als  testamentarisch,  oder  ab  intestato  berufenen 
Erben  weiß.  Zwar  sagten  wir  schon  dort,  alles  komme 
darauf  an,  daß  der  Erblasser  die  bestimmte  qualita- 
tive Beziehung  wisse,  die  sich  der  erblasserische  Wille 
auf  ihn  gegeben  habe.  Aber  sollte  uns  hierbei  nicht  in 
bezug  auf  den  Unterschied  der  testamentarischen  und 
Intestaterbschaft  gleichfalls  zugestoßen  sein,  was  wir  den 
Juristen  so  häufig  nachv/iesen,  daß  wir  einen  Unterschied 
in  den  Worten  statuierten,  ohne  einen  in  der  Sache 
angegeben  zu  haben  ?  Denn  zumal,  wenn  nach  unserer  Auf- 
fassung die  Intestaterbschaft  gleichfalls  von  dem  indivi- 
duellen Willen  des  Erblassers  ausgeht,  nur  von  seinem 
vorausgesetzten,  wie  kann  es  darauf  ankommen,  ob 
der  Erblasser  durch  seinen  ausdrücklichen  oder  durch  seinen 
vorausgesetzten  Willen  den  Erben  zur  Identität  mit  seiner 
Willenssubjektivität  bestimmt  hat  ?  Der  vorausgesetzte 
Wille  ist,  da  er  ja  eben  als  sein  individueller  voraus- 
gesetzt wird,  nicht  weniger  sein  Wille,  als  der  testa- 
mentarische. Femer  bleibt  Willens identi tat  immer 
Identität;  mehr  als  Identität  kann  zwischen  zwei  Willens- 
subjektivitäten nicht  stattfinden,  und  so  scheint  es  ja  gerade 
für  die  Willensbeziehung,  die  sich  die  erblasserische  Wil- 
lenssubjektivität auf  die  des  Erben  gegeben  hat,  realiter 
völlig  gleichgültig  und  unterschiedslos,  ob  er  ihm  diese 
Identität  durch  seinen  ausdrücklichen  oder  durch  seinen 
vorausgesetzten  Willen  angetragen,  und  jener  Unterschied 
im  Qualitativen  der  Willensbeziehung,  ob  der  indi- 
viduelle Wille  durch  seinen  testamentarischen  oder  intestat- 
gesetzlichen  Ausdruck  den  Erben  zu  dieser  Identität  be- 

587 


stimmt  hat,  scheint  nur  ein  inhaltsloser  Wortunterschied 
zu  sein. 

vSo  konnte  es  allerdings  vielleicht  noch  oben  (S.  416) 
scheinen,  und  wir  eilten  daher  dort  über  die  Notwendig- 
keit des  Wissens,  ob  man  testamentarischer  oder  Intestat- 
erbe sei,  so  schnell  als  möglich  hinwegzukommen,  weil 
sich  der  letzte  Grund  derselben  allerdings  erst  im  gegen- 
wärtigen Zusammenhange  nach  Erörterung  des  inhalt- 
lichen Begriffes  des  Intestatrechtes  ergeben  kann. 

Jetzt  muß  dieser  Grund,  aber  bereits  in  der  vollen 
Realität  seines   Inhaltes,  offen  vorliegen. 

Wohl  ist  Intestaterbtum,  wie  testamentarisches,  Iden- 
tität der  beiden  Willenssubjektivitäten^),  wohl  geht  in 
beiden  Fällen  diese  Willensidentität  vom  individuellen 
Willen  des  Erblassers  aus,  in  dem  einen  Falle  von  seinem 
vorausgesetzten  Willen,  wie  in  dem  anderen  Falle 
von  seinem  ausdrücklichen.  Aber  in  diesem  Unterschiede 
der  Form  liegt  ja  bereits  der  ganze  inhaltliche  Unter- 
schied, den  wir  aus  ihr  als  den  Inhalt  des  Intestaterbrechtes 
entwickelt  haben.  Der  Wille  des  sich  nicht  besondem- 
den  Individuums,  der  vorausgesetzte  Wille,  ist  iden- 
tisch mit  dem  allgemeinen  Willen,  und  nur  um 
dieser  Identität  willen  mit  dem  allgemeinen 
Willen  ist  er  seinerseits  auf  den  Intestaterben  bezogen; 
\\ne  dieser  für  sich  selbst  genommen  gleichfalls  nur  dadurch, 
daß  er  in  bezug  auf  den  Erblasser  der  Träger  und  das 
Dasein  des  in  jenen  Willenskreisen  gegliederten  all- 
gemeinen Willens  ist,  zur  Identität  mit  der  Willens- 
subjektivität des  Erblassers  bestimmt  ist.  Haben  wir  also 
bei   der  Adition  und  dem   zu  ihr  erforderlichen  Wissen 


^)  D.  li.   natürlich,   was  erst  später  zu  seiner  Entwickelung 
gelangen  kann,  nach  der  Adition  des  Intestaterben. 

588 


das  begriffliche  Gesetz  sich  ergeben  sehen :  der  Erbe  müsse 
die  zwischen  der  erblasserischen  Willens- 
subjektivität und  der  seinigen  bestehende  Wil- 
lensbeziehung wissen,  um  wirksam  antreten  zu  können, 
so  sehen  wir  jetzt,  wie  der  Erbe  dadurch  schlechterdings 
genötigt  ist,  zu  wissen,  ob  er  testamentarischer  oder  Intestat- 
erbe ist.  Nichts  würde  er  über  die  wahrhaft  zwischen 
ihm  und  der  erblasserischen  Willenssubjektivität  bestehende 
Willensbeziehung,  nichts  über  dieses  spekulative  Willens- 
verhältnis wissen,  wenn  er  dies  nicht  wüßte.  Mit  der- 
selben Notwendigkeit  also,  mit  welcher  wir  in  Nr.  XXXIV 
sahen,  daß  der  Erbe  wissen  muß,  ob  er  suus  oder  extra - 
neus,  necessarius  oder  voluntarius  heres  ist  usw.,  und  ganz 
aus  demselben  Grund  muß  er  also  auch  wissen,  ob  er 
durch  die  Selbstbestimmung  der  erblasserischen  Willens - 
Subjektivität  schlechthin,  oder  durch  ihre  in  ihrer  Nicht- 
besonderung  vorhandene  Identität  mit  dem  all- 
gemeinen Willen,  zur  Identität  mit  der  erblasserischen 
Willenssubjektivität  bestimmt  ist.  Er  würde,  sagten  wir, 
die  spekulative  Beziehung  und  Willensidentität,  zu 
der  er  berufen  ist,  denn  er  würde  die  Substanz  selbst 
dieser  Willensidentität  nicht  wissen,  solange  er  ihr  Ver- 
mitteltsein durch  die  inhaltliche  Identität  mit  dem  all- 
gemeinen Willen  nicht  weiß^).  Ohne  das  Wissen  dieser 
Vermittelung  weiß  er  also  die  wirklich  zwischen 
ihren  Willenssubjektivitäten  bestehende  Beziehung,  das  sie 


^)  Daß  er  das  Vermögen  haben  oder  die  Kreditoren 
befriedigen,  was  unsere  Juristen  stets  als  die  Substanz  der 
Erbschaft  angeben,  oder,  wenn  es  hoch  kommt,  daß  er  „die 
Kreditoren  befriedigen  und  die  sacra  fortsetzen  soll"  (s.  Huschke 
in  Richters  Krit.  Jahrbüchern,  1839,  S.  11  fg.),  das  freilich 
würde  der  Erbe  in  jedem  Falle  wissen,  ob  er  sich  für  einen 
Testaments-  oder  Intestaterben  hält. 

589 


zur  Identität  Zusammenschließende 0  nicht.  Wenn 
der  Verstand  hier  wieder  hervorbrechen  und  dieser  sub- 
stantiellen Vermittelung  des  Willens  den  Schein  eines 
Grundes  geben  wollte,  sagend:  aber  der  Intestaterbe 
weiß  doch  bloß  das  Warum  nicht,  aus  welchem  der 
Testator  ihn  zur  Willensidentität  mit  sich  gewollt  hat, 
ein  Warum,  das  doch  also  ein  ebenso  gleichgültiges 
Motiv  ist,  wie  das  reale  Motiv,  aus  welchem  der 
Erblasser  beim  testamentarischen  Erbtum  gerade  diese 
bestimmte  Person  als  Willensidentität  mit  sich  setzt  ^),  — 
so  würden  wir  ihn  sofort  wieder  in  seinen  Käfig  ein- 
sperren mit  der  Antwort:  Wenn  für  den  sich  ausdrück- 
lich setzenden  Willen  das  reale  Motiv  der  Wahl  seines 
Erben  ein  zufälliges  Motiv  ist,  neben  welchem  ebenso- 
gut andere  Motive  vorwalten  konnten  und  können,  so 
ist  für  den  vorausgesetzten  Willen  des  intestatus 
seine  Identität  mit  dem  allgemeinen  Willen,  wenn  man 
sie  als  Motiv  darstellen  will,  das  notwendige,  den 
Willen  erschöpfende  und  quantitativ  deckende 
Motiv  seines  bestimmten  Verfügens.  Und  es  ü"itt  also 
nur  wieder  zum  Vorschein  die  Wahrheit  und  absolute 
Bestätigung  der  Theorie,  die  wir  in  diesem  gesamten  Werke 
über  Wille,  Irrtum  und  Motiv  aufgestellt  und  nachgewiesen 
haben  ^),  daß  der  quantitativ  den  Willen  deckende  und 
erschöpfende  Beweggrund  nicht  mehr  gleichgültiger 
Beweggrund  ist,  sondern  identisch  ist  und  zusammenfällt 
mit  dem  Inhalt  der  Willenshandlung  selbst.  Es 
tritt  nur  zum  Vorschein,  daß  das  erschöpfende  Motiv 
eben  darum  nicht  mehr  Motiv  ist,  dessen  Begriff  es  ist 


^)  Vgl.  oben  S.  419 — 425,  bei  der  sich  für  schwanger  hal- 
tenden Frau. 

2)  Siehe  oben  S.  433.   Note   1. 
«)  Zuletzt  sub  Nr   XXXV. 

5Q0 


. 


ein  einzelnes  gegen  den  Inlialt  des  Willens  zu  sein, 
sondern  zur  Substanz  des  Willens  selbst  geworden  ist. 
Für  den  Intestatwillen  des  Erblassers  ist  seine  Iden- 
tität mit  dem  allgemeinen  Willen  und  das  in  der  bestimmten 
Person  des  Agnaten  oder  Gentilen  gegebene  Dasein  dieser 
Beziehung  das  begriffliche  Motiv,  d.h.  das  not- 
wendige und  kein  anderes  neben  sich  zulassende  Motiv 
seines  Verfügens,  also  absolute  Substanz.  Diese  in  ihm 
wie  im  Erben  als  Träger  vorhandene  Identität  mit  dem 
allgemeinen  Willen  als  ein  Motiv  für  den  Intestat- 
willen hinstellen  wollen,  wäre  an  und  für  sich  schon 
eine  jener  ewigen  Täuschungen  des  Verstandes  über  die 
Kategorien,  mit  denen  er  wirtschaftet,  eine  Täuschung, 
die  aber  sogar  als  solche  nach  unserer  Entwickelung  über 
die  Theorie  des  Irrtums  und  das  Verhältnis  von  Wille 
und  Beweggrund  realiter  unschädlich  und  einflußlos  bleiben 
würde. 

Wenden  wir  uns  also  jetzt  von  dem  entwickelten  Be- 
griff aus  wieder  auf  die  L.  17  zurück,  so  wird  natürlich 
jede  Schwierigkeit  verschwinden,  und  es  wird  sich  wieder 
das  so  oft  von  uns  betrachtete  Verhältnis  zeigen,  daß, 
wenn  die  Gründe  Ulpians  auch  nicht  richtig  und  sich 
daher  widersprechend  sind,  doch  die  von  ihm  gegebenen 
Entscheidungen  absolut  richtig  und  im  innersten  Ein- 
klang sind. 

Betrachten  wir  also  die  vier  Fälle,  in  die  wir  oben 
die  L.  17  aufgelöst  haben.  Nach  dem  ersten  Fall  soll 
der  testamentarische  Erbe,  wenn  er  als  solcher  ausschlägt, 
damit  noch  nicht  sein  Intestaterbtum  verlieren.  Natür- 
lich nicht ;  denn  w^ls  er  ablehnt,  ist  die  Identität  mit  dem 
gesetzten,  nicht  mit  dem  vorausgesetzten  Willen 
des  Erblassers,  ist  seine  Identität  mit  ihm  als  bloßen 
individuellen  Willen,  ist  nicht  seine  Identität  mit  ihm  durch 


die  Vermittelung  des  noch  zu  Hilfe  gerufenen 
allgemeinen  Willens.  Wenn  er  sich  um  ihn,  als 
bloßes  Individuum  genommen,  vielleicht  wenig  kümmern 
würde,  so  kann  er  es  doch  als  Agnat  grausam  finden, 
seine  Willenssubjektivität  untergehen  zu  lassen.  Im  Testa- 
mente fleht  ihn  bloß  der  individuelle  Wille  des  Erb- 
lassers um  Fortsetzung  an.  Im  Intestat willen  fleht  ihn 
der  individuelle  Wille  des  Erblassers  und  der  all- 
gemeine Wille  des  Volkes,  mit  dem  derselbe  identisch 
ist,  flehen  ihn  beide  an,  schon  um  der  in  ihm  vorhandenen, 
durch  die  gesamte  Willensgemeinsamkeit  des  Volkes  desi- 
gnierten Eigenschaften  willen,  jenem  Fortsetzung  zu  geben. 
Wer  jenem  ersten  Flehen  widerspricht,  von  dem  ist  durch 
nichts  gegeben,  daß  er  auch  diesem  vereinigten  Flehen 
beider  widerstehen  wird.  —  Wenn  er  also  das  Testa- 
mentserbe ausschlägt,  schlägt  er  eben  nur  die  Testaments- 
erbschaft aus,  und  eröffnet  sich  gerade  dadurch  die  Intestat- 
erbschaft. —  Der  zweite  Fall,  wenn  der  bloße  Intestat- 
erbe, irrig  glaubend,  daß  er  Testamentserbe  sei,  die 
Testamentserbschaft  ausschlägt,  ist  natürlich  ganz  mit  jenem 
identisch,  wird  darum  auch  von  Ulpian  mit  jenem  ersten 
ungetrennt  zusammen  behandelt  (,,heres  institutus  idemque 
legitimus  si  quasi  institutus  repudiaverit").  und  ist  nur 
von  uns  größerer  ÜbersichtKchkeit  wegen  besonders  ge- 
stellt worden.  Gehen  wir  nun  gleich  zum  vierten  Falle 
über.  Der  Intestaterbe,  der  zugleich  Testamentserbe  ist, 
dies  aber  nicht  weiß,  schlägt  die  Intestaterbschaft  aus. 
Da  er  gar  nicht  weiß,  daß  er  Testamentserbe  ist,  hat 
er  natürlich  auch  die  Testamentserbschaft  nicht  impli- 
zite ausgeschlagen  0 .   Ihn  kümmert  vielleicht  sein  Agnaten- 

^)  Nicht,  wie  Ulpian  sagt,  „quoniam  hanc  non  repudiavit" ; 
den«  dieses  hanc  non  repudiavit  würde  auch  im  dritten  Falle 
zutreffen;  nur  in  dem  Wissen  liegt  der  Unterschied,  wie  wir 

5Q2 


Verhältnis  wenig,  während  die  ausdrückliche  und  aus- 
schließliche Willensidentität  mit  ihm,  zu  der  sich 
der  Testator  bestimmt  hat,  während  der  honor  dieser 
Willensübertragung  ^)  ihm  vielleicht  geschmeichelt  und  ihn 
gerührt  haben  würde.  Hat  er  aber  die  Testamentserbschaft 
weder  explizite  noch  implizite  gültig  ausgeschlagen,  so  ist 
auch  die  Intestaterbschaft  noch  gar  nicht  eröffnet,  und 
darum  sein  vorzeitiges  Ausschlagen  einer  noch  nicht  an 
ihn  gerichteten  Bitte,  eines  noch  nicht  an  ihn  ergangenen 
Rufes  ist  daher  ungültig,  ebenso,  als  wenn  der  Erblasser 
noch  am  Leben  wäre.  Erst  wenn  diese  Bitte  und  dieser 
Ruf  an  ihn  ergangen  sein  wird,  wird  es  sich  finden,  ob 
er  ausschlagen  wird.  —  Kehren  wir  nun  auf  den  dritten 
Fall  zurück.  Wie,  wenn  der  Erbe  weiß,  daß  er  auch 
testamentarisch  eingesetzt  ist,  und  als  Intestaterbe 
ausschlägt?  Hier  tritt  der  von  uns  entwickelte  Begriff 
des  Intestatrechtes,  ein  vom  Individuum  ausgehender 
vorausgesetzter  Wille  desselben  und  zugleich  — 
weil  dies  eben  der  vorausgesetzte,  der  sich  nicht  be- 
sondemde  Wille  des  Individuums  notwendig  ist  —  identisch 
mit  dem  allgemeinen  Willen  zu  sein,  in  voller  Rein- 
heit und  Prägnanz  hervor.  Niemals  würde,  wenn  das 
Intestaterbrecht  nur  ,, Gesetz",  wenn  es  nicht  vom  erb- 
lasserischen Individuum  ausgehender  Wille  wäre, 
der  Erbe  mit  dem  Ausschlagen  der  bloß  intestat  g  e  s  e  t  z - 
liehen  Nachfolge  auch  die  testamentarische  aus- 
zuschlagen scheinen  können,  und  alles,  was  man  bisher 
über  das   Intestatrecht  geschrieben   hat,   bricht  schon   an 

sehen  werden.  Das  Wissen  des  Erben  tritt  auch  hier  wieder 
als  das  die  Delation  an  denselben  erst  bewirkende 
Moment  hervor,  ganz  wie  wir  dies  sub  Nr.  XXXVIII  nach- 
gewiesen haben. 

^)  Siehe  oben  S.  86- 

16   Lasealle.    Ges.  Schriften.    Band   XII.  593 


dieser  einen  Entscheidung  Ulpians  in  Stücke.  Indem  aber 
das  Intestaterbrecht  seinem  Begriffe  nach  beides  ist, 
der  vorausgesetzte  individuelle  Wille  des  Erblassers 
und  der  allgemeine  Wille,  mit  dem  er  als  voraus- 
gesetzter identisch  ist,  indem  also,  wie  wir  vorher  bei 
dem  nur  als  Testamentserben  ausschlagenden  Agnaten 
sagten,  im  Intestat willen  beides,  der  individuelle 
Wille  und  der  allgemeine  Wille  des  Volkes,  vereinigt 
den  Erben  anflehen,  dem  Erblasser  Fortexistenz  zu  geben, 
nimmt  hier,  wo  der  Erbe  sich  zugleich  als  testamentarischen 
weiß,  sein  Ausschlagen  der  Intestaterbschaft  die 
Stellung  eines  ,,ne  quidem",  eines  ,, nicht  einmal"  zur 
testamentarischen  Erbschaft  ein.  Nicht  einmal  durch 
beide  Willen  gerufen,  den  individuellen  Willen  des 
Erblassers  und  den  allgemeinen  Willen  des  Volkes,  die 
beide  im  Intestatwillen  rufen,  hat  der  Erbe  die  Willens- 
subjektivität  des  Erblassers  fortsetzen  zu  wollen  erklärt ; 
nicht  einmal  durch  den  vorausgesetzten  Willen 
des  Toten,  der  aber  deshalb  eben  erstens  eigener  Wille 
des  Toten,  als  solcher  vorausgesetzter  Wille  desselben 
ist,  und  zweitens  um  seiner  Voraussetzung  willen  nur 
noch  durch  die  gesamte  zu  Hilfe  gerufene  Substanz 
der  allgemeinen  Willensgemeinsamkeit  vermittelt  ist,  ge- 
rufen, hat  der  Erbe  die  ihm  angebotene  Willensidentität 
annehmen  zu  können  erklärt,  und  hat  eben  deshalb  und 
um  so  mehr  den  bloßen  eigenen  Willen  des  Toten,  hat 
diesen  schon  i  m  Intestatwillen  ausgeschlagen.  E  r  kann 
nicht  sagen,  daß  er  bloß  den  vorausgesetzten  Willen  ab- 
gelehnt habe  und  die  Identifizierung  mit  dem  ausdrück- 
lichen Willen  nicht  abgelehnt  haben  würde.  Denn  er 
wußte  sich  auch  als  testamentarischen  Erben,  und  wollte 
er  daher  bloß  den  vorausgesetzten  Willen  ablehnen,  so 
hat    er    dazu    das    einfache    und    positive    Mittel,    die 

594 


Testamentserbschaft  anzutreten,  wodurch  es  von 
selbst  zu  dem  vorausgesetzten  Willen  nicht  gekommen 
wäre.  Indem  er  nicht  dies  positive  Mittel  des  Unter- 
scheidens  ergriff,  sondern  einfach  den  vorausgesetzten 
Willen  des  Erblassers,  welchen  das  Intestatrecht  darstellt, 
negierte,  hat  er  in  dem  vorausgesetzten  Willen  des 
Erblassers  beides  negiert,  wovon  das  Intestaterbrecht, 
ja  die  bloße  Begriffsbestimmung:  ,, vorausgesetzter  Wille" 
schon  die  Einheit  ist,  sowohl  den  Willen,  als  sein 
Vorausgesetztsein,  sowohl  das  in  seiner  Voraus- 
setzung enthaltene  Allgemeine,  als  den  individuellen 
Willen,  als  dessen  Inhalt  dieses  Allgemeine  auftritt. 
Da  beides  im  Intestaterbtum  vorliegt,  hat  er  mit  dem 
nichtunterscheidenden  Negieren  des  Intestaterbtums  auch 
beides  abgelehnt,  hat  auch  die  testamentarische  Erb- 
schaft oder  die  Willensidentität  überhaupt  aus- 
geschlagen. Und  nur  wenn  er  von  seiner  testamentari- 
schen Einsetzung  nichts  weiß,  käme  ihm  dies  —  wie  auch 
die  Aufeinanderfolge  der  Fälle  bei  Ulpian  zeigt  —  als 
ein  den  logischen  Umfang  seiner  Willenshandlung  beschrän- 
kendes Moment  zugute. 

Es  zeigt  sich  also,  mit  welcher  begrifflichen  Not- 
wendigkeit Ulpian  sagen  muß,  jener  sich  auch  als  ein- 
gesetzter Erbe  wissende  und  die  Intestaterbschaft  ausschla- 
gende Erbe  sei  anzusehen,  als  ob  er  beides  ausgeschlagen 
habe,  credendus  est,  utrumque  repudiasse.  Die  juristi- 
schen Regeln  über  Delation  und  Adition  bleiben  aber 
auch  nach  dieser  Auflösung  zerschellt.  Denn  immer  bleibt 
wahr,  daß  der  Intestaterbe  hier  eine  Intestaterbschaft  wirk- 
sam ausschlägt,  die  ihm  noch  nicht  deferiert  ist  usw.  Und 
auch  abgesehen  vom  Begreifen  und  Erklären,  werden  die 
Juristen  sich  keine  Illusion  darüber  machen  können,  daß  sie, 
die  Hand  aufs  Herz,  diesen  Fall,  wenn  er  nicht  von  Ulpian 

'''  595 


entschieden  wäre,  ganz  entgegengesetzt  entschieden  haben 
würden,  nämlich  ganz  wie  den  vierten  Fall  bei  Ulpian. 
Sie  würden  gesagt  haben :  Der  Intestaterbe  schlägt  eine 
Intestaterbschaft  aus,  die  noch  nicht  eröffnet  ist ;  nihil  agit. 
Und  die  Testamentserbschaft  verliert  er  ebensowenig,  weil 
er  sie  nicht  ausschlägt ;  quoniam  hanc  non  repudiavit. 

Es  zeigt  sich  also  auch  hier  wieder^),  was  sich  freilich 
von  jeder  Seite  dieses  Werkes  aus  zeigen  läßt,  daß  auch 


0  Zum  Beweise:  Wir  irrten,  scheint  es,  als  wir  oben  sag- 
ten, die  Juristen  vermeiden  von  dieser  Stelle  Ulpians  zu  spre- 
chen. Huschke  ruft  vielmehr  denselben  §  1  derselben  L.  17, 
der  uns  beschäftigt  hat,  ausdrücklich  an  (Studien  des  Rom. 
Rechtes,  I,  235,  Note  64).  Und  was  sagt  er?  Folgendes: 
„Weil  der  Inhalt  der  Erklämng  des  Erben,  welcher  eine  ge- 
setzliche und  welcher  eine  Testamentserbschaft  an- 
nimmt, hiemach  ein  ganz  verschiedener  (!)  ist,  kann  auch 
niemand  antreten,  der  nicht  weiß,  ob  ihm  ex  testamento  oder 
ab  intestato  deferiert  worden,  und  kann,  wer  die  eine  An- 
tretung ablehnt,  die  andere  noch  nachholen.  L.  17,  §  1. 
de  acqu.  vel.  om.  her. !"  Das  „juristische  Wissen",  welches 
Huschke  gegen  Niebuhr  rühmt,  muß  also  hier  der  vor  ihm 
liegenden,  von  ihm  zitierten  Rechtsquelle  ins  Angesicht  hinein 
das  Gegenteil  von  derselben  sagen.  Während  Ulpian  die  Regel 
aufstellt,  daß,  wer  die  Intestaterbfolge  ablehnt,  auch  die 
Testamentserbschaft  ablehne,  und  nur  als  Ausnahme  hiervon! 
den  Fall  des  Nichtwissens  von  der  Testamentserbschaft 
statuiert  —  wie  ja  alles  Nichtwissen  die  Natur  einer  juri- 
stischen Ausnahme  hat,  von  den  Juristen  auch  stets  so  be- 
handelt wird  und  bei  dem  hier  in  Rede  stehenden  Verhältnis  auch 
faktisch  eine  Ausnahme  sein  wird,  da  der  Intestaterbe  in  der 
Regel  sehr  wohl  wissen  wird,  ob  er  im  Testament  eingesetzt  ist 
-— ,  muß  das  „juristische  Wissen"  erstens  die  Regel  verschweigen, 
zweitens  die  Ausnahme  zur  Regel  machen  und  drittens,  indem  es 
die  materielle  Bedingung  der  Ausnahme  —  das  Nicht- 
wissen —  fortläßt,  die  Regel  in  ihr  positives  Gegenteil  ver- 
wandeln und  so,  unter  Berufung  auf  die  das  Umgekehrte  sagende 

596 


das  rein  positive  „juristische  Wissen"  nur  im  theoreti- 
schen Begreifen  seine  wahre  Grundlage  haben  kann. 

Wenden  wir  uns  zu  dem  höchst  interessanten  Unter- 
schied der  Intestaterbschaft  und  der  testamentarischen,  wel- 
cher in  der  in  jure  cessio  stattfindet  und  bisher  gleichfalls 
jedem  Erklärungsversuch  unzugänglich  bleiben  mußte,  nach 
dem  enthüllten  Begriff  des  Intestaterbrechtes  aber  gleich- 
falls keinerlei  Schwierigkeiten  mehr  bieten  kann,  sondern 
diesen  nur  der  letzten  Entwickelung  seines  begrifflichen  In- 
haltes zuführen  wird. 

Der  Intestaterbe  kann  die  Erbschaft  vor  der  Antretung 
durch  in  jure  cessio  übertragen,  also  ehe  er  Erbe  ge- 
worden ist,  und  wenn  er  dies  tut,  so  geht  das  Erbtum 
gerade  so  auf  den  Zessionar  über,  als  wenn  dieser 
selbst  der  gesetzliche  Intestaterbe  wäre^).  Der  Zessionar 
wird  heres. 

Der  Testamentserbe  dagegen  kann  nicht  das  Erbtum 


Stelle  Ulpians,  in  die  positiv  falsche  Versicherung  ausbrechen: 
„und  kann,  wer  die  eine  Antretung  abgelehnt,  die  andere  noch 
nachholen."  Man  sieht,  wir  haben  im  Texte  zu  wenig  gesagt, 
als  wir  sagten,  unsere  Juristen  würden  das  Gegenteil  lehren, 
wenn  zufällig  diese  einzelne  Entscheidung  Ulpians  nicht  da  wäre. 
Sie  lehren  das  Gegenteil  von  derselben,  obgleich  sie  da 
ist!  Aber  freilich  nötigen  dazu  alle  dabei  auf  dem  Spiele 
stehenden  Regeln  über  die  Adition  und  Delation,  wie  sie  von 
unseren  Juristen  aufgestellt  werden!  Freilich  nötigt  Huschken 
noch  ganz  besonders  dazu  seine  merkwürdige  Entdeckung,  daß 
die  Aditionserklärung  des  Intestaterben  einen  „ganz  ver- 
schiedenen Inhalt"  von  der  des  testamentarischen 
Erben  habe! 

1)  Gajus,  II,  §  35:  „Nam  si  is  ad  quem  ab  intestato  legi- 
tim© jure  pertinet  hereditas,  in  jure  eam  alii  ante  aditionem  cedat, 
id  est  [antequant  heres  extiterit,  perinde  fit  heres  is  cui  in  jure 
cesserit,  ac  si  ipse  per  legem  ad  hereditatem  vocatus  esset." 
-  Ulpian.  Fragm.  XIX.  11-14. 


durch  die  cessio  in  jure  übertragen  ;  tut  er  es  vor  der  Adi- 
tion^),  so  tut  er  gar  nichts,  nihil  agit,  wie  Gajus  daselbst 
sagt  2). 

Zuerst  drängt  sich  die  Frage  auf :  Wenn  der  Begriff 
des  Erbtums  der  ist,  die  identische  Fortexistenz  der  erb- 
lasserischen Willenssubjektivität  zu  sein,  wie  kann  der 
hierzu  durch  Testament  oder  durch  Intestatgesetz  berufene 
Erbe  diese  Willensidentität  annehmen  und  ablehnen  z  u  - 
gleich?  Denn  offenbar  tut  er  dies  doch,  indem  er  sich 
nicht  als  diese  Willensidentität  setzt,  nicht  antritt  und 
dennoch  über  dieselbe,  durch  seinen  Willen  verfügt,  indem 
er  sich  weigert,  der  Erblasser  zu  sein,  und  dennoch,  als 
wäre  es  jener,  ihm  eine  andere  Willenssubjektivität,  als 
die  berufene,  zum  identischen  Fortsetzer  gibt  ?  Er  müßte 
also,  scheint  es,  diese  Willensidentität  entweder  nur  an- 
treten oder  nur  ablehnen  können,  wie  dies  beim  testamen- 
tarischen Erben  wirklich  zutrifft.  Wie  kann  er  femer  vor 
der  Adition,  also  vor  der  Identifikation  mit  der  erblasse- 


^)  Nach  der  Adition,  d.h.  nachdem  er  zum  Erben,  zum 
Dasein  der  erblasserischen  Willenssubjektivität 
durch  Identifikation  mit  derselben  geworden  ist,  kann  er  dies 
natürlich  so  wenig  los  werden  —  und  zwar  der  Intestaterbe  so 
wenig  wie  der  testamentarische  Erbe  — ,  wie  jemand  seine  eigene 
iWlllenssubjektivität  los  werden  kann.  Sie  ist  ja  jetzt  als  seine 
eigene  gesetzt.  Nach  der  Adition  wird  also  der  Intestaterbe 
ganz  ebenso  behandelt  wie  der  testamentarische,  die  hinterlassene 
Sachentotalität,  die  zur  Erbschaft  gehört,  kann  er  durch 
cessio  in  jure  übertragen;  aber  Erbe  bleibt  er  trotz  der- 
selben :  ,,nihiloniinus  ipse  heres  permanet",  wie  Gajus  a.  a.  O. 
sagt,  und  worin  sich  wieder  so  sinnfällig,  so  handgreiflich  zeigt, 
wie  wenig  das  Erbtum  mit  dem  ,, Vermögen"  oder  der  ..Ver- 
mögenstotalität" oder  der  ..Vermögensfreiheit"  zu 
schaffen  hat. 

')  II,  §  36. 
598 


rischen  Willenssubjektivität  überhaupt  über  diese  verfügen  ? 
Er  muß  es  also  vor  der  Adition,  wo  er  noch  nicht  jener 
Wille,  sondern  noch  ein  anderer  gegen  ist,  ebensowenig 
zu  können  scheinen,  wie  nach  der  Adition,  wo  es  zu  spät 
ist,  weil  er  bereits  zu  jenem  geworden  ist.  Und  endlich, 
wie  kann  gerade  der  Intestaterbe,  der  die  weniger  ad- 
äquate, die  schwächere  Realisation  des  Erbbegriffes 
ist,  ein  größeres  Recht  haben  als  der  Testamentserbe? 
Aber  das  römische  Recht  ist,  wie  wir  durchgehends  gesehen 
haben,  das  Recht  des  spekulativen  Begriffes,  in  welchem 
die  Unterschiede  der  Mathematik  ihre  Bedeutung  verlieren, 
und  es  wird  sich  zeigen,  daß  der  Intestaterbe  ein  stär- 
keres Recht  hat  als  der  testamentarische,  gerade  weil 
sein  Recht  das  schwächere  ist. 

Huschke^)  gesteht  zu,  daß  die  früheren  Erklärungsver- 
suche von  Mühlenbruch  ^)  ^veder  richtig  noch  tief  genug 
sind.  Aber  hören  wir  die  Erklärung,  die  er  selbst  an  deren 
Stelle  setzt!  Er  will  ,,die  Natur  der  in  jure  cessio  here- 
ditatis  etwas  genauer  entwickeln",  wie  er  selbst  sagt,  und 
beginnt  mit  dem  Satze :  ,,Eine  deferierte  Intestaterbschaft 
kann  mit  dem  Erfolge  in  jure  zediert  werden,  daß  der 
Vindikant  durch  die  Addiktion  ebenso  Erbe  wird,  als  wenn 
er  als  berufener  legitimus  heres  die  Erbschaft  angetreten 
hätte."  Dies  ist  richtig;  das  wissen  wir  eben  aus  Gajus. 
Aber  Huschke  wollte  den  Satz  erklären,  und  wir  fürch- 
ten sehr,  daß  der  zu  erklärende  Satz  der  einzig  richtige 
Satz  in  der  ganzen  Erklärung  bleiben  wird.  Huschke  be- 
ginnt jetzt  die  versprochene  Erklärung  unmittelbar  nach 
dem  zitierten  Satze  also:  „Überhaupt  kann  nämlich 
der  Erbe,  obgleich  er  die  Erbschaft  noch  nicht  erworben, 
sie  doch  schon  übertragen,  weil  der  Erwerb  bloß  von 

^)  Studien  des  römischen  Rechtes,  I,  233  fg. 

^)  Zession  der  Forderungsrechte,  2.  Ausg..  S.  25—28,  §  4- 

5QQ 


seinem  Wollen  abhängt."  Aber  wenn  es  „der  Erbe 
überhaupt"  könnte,  so  müßte  es  ja  auch  der  testamentarische 
können.  Und  besonders:  wenn  das  der  Grund  dieses  Kön- 
nens ist,  ,,weil  der  Erwerb  bloß  von  seinem  Wol- 
len abhängt,"  so  müßte  es  ja  unter  allen  Umständen  und 
ganz  sicher  auch  der  testamentarische  Erbe  können,  da 
ja  auch  bei  ihm,  ebensogut  wie  beim  Intestaterben,  ,,der 
Erwerb  der  Erbschaft  bloß  von  seinem  Wollen  abhängt." 
Bei  einem  so  grundfalschen  Anfang,  der  den  Grund  des 
Könnens  beim  Intestaterben  ganz  verfehlt,  braucht  man 
kern  Prophet  zu  sein,  um  vorherzusehen,  daß  Huschke 
auch  niemals  dazu  gelangen  wird,  einen  Grund  für  das 
Nichtkönnen  des  Testamentserben  anzugeben.  Die  Sache 
steht  nämlich,  wne  wir  später  sehen  werden,  gerade  um- 
gekehrt. Sie  steht  nicht  so,  daß  der  Erbe  überhaupt, 
der  Erbe  nach  seinem  reinen  Begriffe,  dies  kann,  und 
nur  der  Testamentserbe  ausnahmsweise  es  nicht  kann, 
sondern  gerade  so,  daß  der  Erbe  überhaupt,  der  Erbe  nach 
dem  adäquaten  Begriffe  es  nicht  kann  und  niemals 
können  würde,  und  gerade  nur  der  subsidiäre,  aus- 
hilfsweise Charakter  des  Intestaterben  diesen  dazu  be- 
fähigt. Doch  bleiben  wir  bei  Huschke.  Zum  besseren  Be- 
weise, daß  ,,der  Erbe  überhaupt"  das  Erbrecht  übertragen 
können  müsse,  fährt  nach  einer  kurzen  Bemerkung  über 
die  der  cessio  in  jure  zugrunde  liegende  Rechtsstreits - 
fiktion  Huschke  also  fort:  ,,Auch  widerspricht  die  Na- 
tur der  Erbschaft  ihrer  Übertragbarkeit  nicht:  denn 
sie  ist  zwar  eine  unkörperliche  Sache,  wie  ususfructus 
und  obligatio,  unterscheidet  sich  aber  von  diesen  Rech- 
ten dadurch,  daß  sie  nicht,  wie  <üese,  in  einem  Verhältnis 
zweier  Gegenstände  zueinander^)  besteht,  welches  mit  Ver- 

^)  Das  Verhältnis  zweier  Personen  zueinander  in  bezug 
auf  einen  bestimmten  einzelnen  Willensakt  oder  meh- 

000 


änderung  des  einen  Gegenstandes  notwendig  ein  anderes, 
sondern  gleich  körperlichen  Sachen  eine  Sache 
in  sich  ist,  unkörperlich  bloß  deshalb,  weil  der 
körperliche  Träger  derselben,  die  Person,  gestor- 
ben ist." 

Das  „juristische  Wissen"  von  der  unkörperlichen  Sache, 
welches  die  immense  Verwechselung  begeht,  die  Übertra- 
gung der  gesamten  geistigen  Willenssubjektivität,  welche 
sich  im  Erbtum  vollbringt,  mit  dem  einzelnen  Willens - 
akt  der  obligatio  gleichstellen  zu  wollen,  muß  für  diese 
Verwirrung  selbst  Rache  an  sich  nehmen.  Denn  es  muß 
selbst  zeigen,  daß  ihm  die  Erbschaft  —  immer  im  direkten 
Sinne  des  Erbrechtes,  das  der  Intestaterbe  in  jure  ze- 
diert, und  von  dem  Huschke  hier  also  spricht  -~  nicht  nur 
bloß  eine  unkörperliche  Sache  sei,  sondern  es  muß  ge- 
rade in  dieser  Zusammenstellung  auf  das  deutlichste  zeigen, 
wie  ihm  das  vom  Intestaterben  zedierte  Erbrecht  etwas 
noch  viel  Körperlicheres  als  die  unkörperliche  Sache  der 
obligatio  geworden  ist,  d.  h.  es  muß  die  schon  in  diesem 
Vergleich  nur  zum  Vorschein  kommende  Auffassung  des 
Erbtums  als  eines  Vermögenserwerbes  in  aller  ihrer 
Körperlichkeit  und  Schwerkraft  hindurchbrechen,  und  das 
schon  anfangs  für  eine  Sache,  aber  den  Worten  nach 
wenigstens  noch  für  eine  ,, unkörperliche  Sache"  ausge- 
gebene Erbrecht  sofort  in  eine  körperliche  Sache, 
in  eine  Sache  sans  phrase  verwandeln.  Nach  Huschkes 
ausdrücklichen  Worten  ,, unterscheidet  sich"  daher  die  Erb- 
schaft dadurch  von  der  unkörperlichen  Sache  der  obligatio, 
daß  sie  noch  viel  körperlicher  ist  als  diese.  Sie  ist 


rere  solche,  was  das  Wesen  der  obligatio  bildet,  wird  Huschken 
zu  einem  Verhältnis  , .zweier  Gegenstände  zueinander".  Doch 
wir  schreiben  hier  nicht  die  Obllgationenlehre ! 

601 


erst  eine  ,,z\var  unkörperliche  Sache",  wird  dann 
„gleich  körperlichen  Sachen",  und  endlich  zur 
,, Sache  in  sich".  Nachdem  so  die  Erbschaft  alle  Stadien 
durchlaufen  hat  und  zur  Sache  sans  phrase  geworden  ist, 
soll  sie  nichtsdestoweniger  auf  einmal  wieder  un körper- 
lich werden,  aber  ,, unkörperlich  bloß  deshalb, 
weil  der  körperliche  Träger  derselben,  die  Person, 
gestorben  ist." 

Wenn  schon  bei  der  Erbschaft  von  einem  Unkörper- 
lichen und  einem  Körperlichen  die  Rede  sein  soll,  so  würde 
man  etwa  begreifen  können,  daß  man  sich  unter  diesen  bei- 
den Faktoren  der  Erbschaft,  mit  denen  man  es  dann  zu  tun 
hat,  die  P e r s o n  des  Erblassers  als  das  Unkörperlichc, 
Persönliche  (Ideelle),  und  die  Sache  als  das  körper- 
liche Moment  vorstellt.  Dann  freilich  wird  mit  dem  Fo  r  t  - 
fall  des  persönlichen  Momentes,  des  Erblassers,  die 
Sache  nicht  unkörperlicher,  als  sie  früher  war.  Für 
Huschkes  gequälte  Abstraktionen  stellt  sich  die  ganze  Sache 
auf  den  Kopf!  Die  Erbschaft  als  Sache  wird  unkörper- 
lich, und  die  ,, Person"  ist  der  ,, körperliche  Träger 
derselben"  ! !  Das  Ergötzlichste  aber  ist,  daß  die  Sache, 
die  schon  ..gleich  körperlichen  Sachen"  und  zur  ,, Sache 
in  sich",  zur  Sache  sans  phrase  geworden  war,  jetzt  wieder 
unkörperlich  wird,  und  zwar  ausdrücklich  ,, unkörperlich 
bloß  deshalb,  weil  der  körperliche  Träger  der- 
selben, die  Person,  gestorben  ist".  Sonst  pflegte  eine  in 
sich  körperliche  Sache,  wenn  ihr  körperlicher  Träger  fort- 
fällt, erst  recht  ihre  Körperlichkeit  zu  zeigen,  indem  sie 
nun  mit  aller  Schwerkraft  der  Körperlichkeit  krachend  zu 
Boden  fällt.  Bei  der  Huschkeschen  Sache  ist  das  umge- 
kehrt. Sie  wird,  obwohl  bis  dahin  körperlich,  wahrschein- 
lich durch  den  Wirbelwind  der  Worte,  den  das  „juristi- 
sche Wissen"  erregt,  hoch  oben  in  der  Luft  erhalten,  ver- 

602 


flüchtigt  sich  aus  Ärger  über  diesen  widernatürlichen  Zu- 
stand in  ein  fades  Gas,  und  ist  so  glücklich  zur,,, unkörper- 
lichen Sache"  geworden ! 

Wir  werden  ohnehin  auf  die  wüsten  Verwirrungen, 
welche  das  , .juristische  Wissen"  vermöge  seiner  Auffas- 
sung der  Erbschaft  als  eines  Vermögenserwerbes  anrichten 
muß,  in  der  Beilage  zu  dieser  Nummer  noch  näher  ein- 
gehen, und  können  uns  daher  überheben,  hier  noch  genauer 
alle  die  Irrtümer  zu  entwickeln,  die  in  dem  zuletzt  ange- 
führten Satze  enthalten  sind.  Wir  bemerken  daher  nur, 
daß  bisher  Huschke  zwar  ganz  falsch  erklärt  hat,  warum 
der  Intestaterbe  die  Erbschaft  in  jure  zedieren  kann,  aber 
noch  nirgends  angedeutet,  warum  es  der  testamentarische 
Erbe  gleichwohl  nicht  kann.  Denn  alle  diese  Gründe, 
als  aus  der  Natur  der  Erbschaft  überhaupt  entnommen, 
würden  dann  auch  den  Testamentserben  treffen  müssen. 
Ist  die  Erbschaft  ihrer  Natur  nach  eine  ,, unkörperliche 
Sache",  so  ist  sie  dies  auch  für  den  testamentarische» 
Erben  und  daher  auch  für  ihn  übertragbar.  Aber  Gajus 
sagt  uns  nun  einmal,  daß  sie  dies  für  ihn  nicht  ist,  und 
wohl  oder  übel,  mit  geraden  oder  ungeraden  Dingen,  wird 
daher  das  ,, juristische  Wissen"  schon  einen  Unterschied 
zwischen  beiden  zu  finden  wissen,  wie  beschaffen  er  auch 
immer  sei.  Darum  fährt  Huschke  nach  den  letzten  Worten 
fort:  ,, Endlich  kann  eine  Höchstpersönlichkeit  der 
legitima  hereditas  auch  aus  dem  Grunde  nicht  behauptet 
werden,  daß  das  Gesetz  sie  nur  einer  bestimmten  Person 
angetragen  habe."  Also  das  ist  es  und  darauf  läuft  die 
, .genauere  Entwicklung"  Huschkes  hinaus!  In  den  reinen 
Wortunterschied  der  Persönlichkeit  und  Höchst - 
persönlichkeit  rettet  sich  das  , .juristische  Wissen"  hin- 
ein! Aber  im  juristischen  Begriff  der  Persönlichkeit 
gibt  es   keine   Unterschiede   von   mehr  und   weniger,  die 

603 


Unterschiede  von  Persönlichkeit  und  höchster  oder 
allerhöchster  Persönlichkeit  haben  hier  keinen  Platz.  Alle 
Erbschaft,  auch  die  Intestaterbschaft,  ist  entweder  eine 
Persönlichkeit  oder  sie  ist  es  nicht.  Der  Unterschied 
der  Persönlichkeit  und  Höchstpersönlichkeit,  den  Huschke 
auch  nicht  im  geringsten  expliziert,  so  wenig  wie  dies  ein 
anderer  vermöchte,  ist  also  nichts  als  die  krampfhafte  An- 
strengung des  juristischen  Wissens,  doch  wenigstens  in  den 
Worten  einen  Scheinunterschied  —  den  Unterschied  von 
Mensch  und  Höchstmensch,  Subjekt  und  Höchstsubjekt  — 
sich  vorzuspiegeln,  weil  es  ihn  in  der  Sache  nicht  finden 
kann.  Und  warum  ist  die  Intestaterbschaft  nicht  ebensogut 
eine  ,, Höchstpersönlichkeit"  wie  die  testamentari- 
sche ?  Das  ,, juristische  Wissen"  scheint  wesentlich  darin 
zu  bestehen,  an  dem  einen  Orte  alles  zu  vergessen,  was  es 
an  dem  anderen  gesagt  hat  und  was  ihm  hier  unbequem 
wäre.  Denn  anderwärts^)  bekennt  sich  Huschke  zu  der  all- 
gemeinen gang  und  geben  Ansicht  der  Autoren,  daß  das 
Intestaterbrecht  Familienerbrecht  sei,  auf  der  ,, Drei- 
einheit von  Mann,  Weib  und  Kind",  auf  dem  physischen 
Prinzip  der  natürlichen  Zeugung  usw.  beruhe.  Ist  dies  so, 
so  müßte  man  ja  gerade  geneigt  sein,  den  Intestaterben, 
weil  er  als  Familienglied  ja  auch  noch  die  .physische  Seite, 
die  reale  natürliche  Persönlichkeit  des  Erblassers  in  sich 
vereinigt,  weil  er  Erbe  und  Familienglied  ist  und 
als  Familienglied  erbender  Erbe,  am  meisten  und  noch 
mehr  als  den  bloßen  Testamentserben  für  eine  ,,Höchst- 
persönlichkeit"  des  Erblassers  zu  halten.  Wie  dem  aber 
auch  sei,  hier  begründet  Huschke  den  Satz,  daß  die  In- 
testaterbschaft keine  Höchstpersönlichkeit  sei,  unmittelbar 
nach  den  letzten  Worten  also  fortfahrend:  ,,Denn  die  ge- 

^)  Siehe  die  Beilage. 
604 


setzliche  Erbschaft  ist,  wie  auch  der  Name  schon  es  aus- 
drückt, etwas  an  sich  Vorhandenes,  wozu  das  Ge- 
setz nur  irgend  jemand  als  Erwerber  beruft." 
Aber  ist  denn  die  testamentarische  Erbschaft,  man  halte 
den  Erbbegriff  wofür  man  wolle,  nicht  gleichfalls  ,,etwas 
an  sich  Vorhandenes",  wozu  das  Testament  „nur  irgend 
jemand  als  Erwerber  beruft"  ?  Faßt  man  die  Erbschaft  als 
Fortsetzung  der  erblasserischen  Willenssubjektivität,  so  ist 
diese  vorhanden,  denn  sonst  könnte  sie  nicht  fortgesetzt 
werden.  Faßt  man  sie  als  Übertragung  des  Vermögens, 
oder  als  körperliche  oder  unkörperliche,  oder  eigentlich  mit 
Huschke  als  „körperlich-unkörperliche"  Sache,  so  ist  diese 
immer  ,, etwas  an  sich  Vorhandenes",  denn  sonst  könnte  sie 
nicht  übertragen  werden.  Testamentarische  wie  Intestaterb- 
schaft müssen  natürlich,  eine  so  sehr  wie  die  andere,  etwas 
an  sich  Vorhandenes  sein,  sonst  könnte  kein  Mensch  dazu 
berufen  werden,  und  das  Testament  enthält  ja  nicht  weniger 
eine  Delation  oder  Berufung  zu  dieser  Erbschaft,  als 
das  Intestatgesetz.  Das  juristische  Wissen  aber,  mit  diesen 
Lorbeeren  noch  nicht  zufrieden,  fährt  da,  wo  wir  seinen 
Satz  abgebrochen  haben,  also  fort:  ,,Und  es  kann-nicht 
behauptet  werden,  daß  die  Erbschaft  nur  durch  die  Be- 
rufung einer.bestimmten  Person  in  ihrer  Existenz 
bedingt  sei."  Soviel  Sätze  und  Satzteile  das  , .juristische 
Wissen"  im  Laufe  dieser  Erörterung  aufstellt,  soviel  posi- 
tive Falschheiten!  Es  „kann"  nicht  behauptet  werden! 
Huschke  leidet  nicht,  daß  dies  behauptet  wird !  Wie  aber, 
wenn  man  es  doch  behauptete  ?  Wie,  wenn  man  Huschke 
erwiderte:  Der  Hauptgrundsatz  des  zivilen  Intestaterb- 
rechtes, daß  eine  successio  in  demselben  nicht  sei,  daß  also, 
wenn  der  nächste  Agnat  des  Erblassers  ausschlägt  oder  auch 
nur  stirbt,  der  Erblasser  erb  los  und  die  Erbschaft  zur 
herrenlosen   Sache  wird,   zeige   ja   gerade  aufs  ent- 

605 


schiedensle  und  durch  das  monumentale  Zeugnis  des  alten 
Zivilrechtes  selbst,  daß  gerade  die  Intestaterb- 
schaft „nur  durch  die  Bemfung  einer  bestimmten 
Person  in  ihrer  Existenz  bedingt  sei"?  Gerade  also 
von  der  Intestaterbschaft  würde  der  Satz  gelten,  der  nach 
Huschke  nicht  \on  ihr  und  nur  von  der  testamentarischen 
gelten  soll.  Mit  der  Existenz  dieser  einen  Person  des 
berufenen  Agnaten  fällt  die  Existenz  der  ganzen  Erbschaft 
überhaupt  fort.  Umgekehrt  gilt  dieser  Satz  gerade  beim 
Testamentsrecht  weit  weniger.  Denn  in  einem  Testamente 
können  mehrere  Erben  eingesetzt  sein,  wo  dann,  wenn 
eine  bestimmte  Person  ausschlägt,  die  andere  von  selbst 
ihren  Platz  ausfüllt;  oder  es  kann  eine  Reihe  von  Sub- 
stituten aufgeführt  sein,  wo  immer  eine  Person  an  Stelle 
der  anderen  tritt,  was  beim  Intestaterbrecht  unmöglich  ist. 
Gerade  also  beim  Testament  ist  es  viel  weniger  wahr,  ,,daß 
die  Erbschaft  durch  die  Berufung  einer  bestimmten  Person 
in  ihrer  Existenz  bedingt  sei".  Und  schlagen  selbst  alle 
Testamentserben  aus,  so  hört  die  Erbschaft  zwar  auf,  eine 
testamentarische  zu  sein,  aber  sie  wird  nun  doch  nach 
Intestatrecht  deferiert,  und  bleibt  somit  doch  noch  im- 
mer Erbschaft,  ist  mindestens  nicht  in  ihrer  Existenz  als 
Erbschaft  durch  die  bestimmte  berufene  Person  bedingt, 
während  dies  beim  Intestatrecht,  wo  die  Erbschaft  mit  dem 
Fortfall  der  bestimmten  berufenen  Person  überhaupt  zu 
existieren  aufhört,  im  höchsten  Grade  der  Fall  ist. 

Das  juristische  Wissen  muß  also,  um  den  illusorisch- 
phantastischen Wortunterschied  der  Persönlichkeit  und 
Höchstpersönlichkeit  sich  selbst  nur  einigermaßen  plau- 
sibel zu  machen,  sofort  mit  seinem  ganzen  positiven  Stoff 
In  den  entschiedensten  Widerspruch  treten  und  grundfalsche 
Regeln  aufstellen,  die,  ließe  sich  in  solchen  Abstraktionen 
überhaupt  etwas  Wahres  zutage  fördern,  gerade  weit  eher 

606 


immer  für  das  entgegengesetzte  Gebiet  von  dem,  für 
welches  sie  gegeben  werden,  wahr  sein  würden. 

Aber  bisher  hat  Huschke  uns  nur  immer  sagen  wollen, 
weshalb  die  Intestaterbschaft  keine  „Höchstpersönlich- 
keit" ist.  Noch  fehlt  der  Grund,  weshalb  die  testamentari- 
sche Erbschaft  ihrerseits,  im  Unterschied  von  jener,  eine 
„Höchstpersönlichkeit"  ist,  oder  irgendwelche  andere  Re- 
densart, die  Huschke  wird  ausfindig  machen  wollen,  um 
zu  zeigen,  warum  der  Testamentserbe  die  in  jure  cessio 
nicht  vornehmen  kann.  Huschke  fährt  also  unmittelbar 
nach  den  letzten  Worten  fort:  „Hierin  unterscheidet  sich 
die  legitima  hereditas  wesentlich  von  der  testamentaria,  zu 
welcher  wir  daher  sogleich  übergehen.  Eine  testamentari- 
sche Erbschaft  wird  vor  der  Antretung  von  dem  eingesetz- 
ten Erben  nichtig  zediert."  Richtig,  das  ist  wieder  der 
Satz,  den  wir  aus  Gajus  wissen.  Huschke  aber  wollte  er- 
klären, warum?  Er  fährt  daher  fort:  ,,Denn  der  An- 
spruch des  Testamentserben  beruht  bloß  darauf, 
daß  in  ihm  der  materielle  Teil  (  ?  !)  der  Bedeutung 
des  familiae  emptor  liegt,  welcher  nach  dem  ursprünglichen 
Rechte  unmittelbar  mit  dem  Tode  des  Erblassers  dessen 
successor  per  universitatem  wurde,  mitliin  auf  einem  Ver- 
trage nicht  über  die  hereditas,  sondern  über  die /ß- 
milia  des  Verstorbenen,  welche  nur  im  Augenblick 
des  Erwerbes,  wo  von  keiner  Zession  einer  nicht  erwor- 
benen Erbschaft  mehr  die  Rede  sein  kann,  sich  als  here- 
ditas gestaltet." 

Hat  das  juristische  Wissen  bisher  so  viel  Verwirrungen 
angerichtet,  als  es  Sätze  hervorgebracht,  so  gipfelt  diese 
Fruchtbarkeit  in  diesem  Satze,  aus  welchem  fast  so  viel 
Irrtümer  als  Zeilen  in  ihm  sind,  herausgeschält  werden 
könnten.  Die  Hauptverwirrung,  welche  diese  Irrtümer  er- 
zeugt,  ist   hier   die   tiefsinnige   Unterscheidung   Huschkes 

607 


von  familia  und  hereditas.  Inzwischen  wir  müssen  in  der 
Beilage  ohnehin  ausführlich  auf  diese  neue  Wortunter- 
schiedstheorie Huschkes  eingehen  und  den  Knäuel  von 
Widersprüchen  aufrollen,  der  in  ihr  enthalten  ist.  Hierauf 
wollen  wir  also  verweisen.  Hier  wollen  wir  uns  begnügen, 
eine  andere  und  sehr  entscheidende  Antwort  zu  geben. 

Nach  Huschke  beruht  also  der  Unterschied  des  Intestat- 
erben und  Testamentserben  darauf,  daß  der  ,, Anspruch  des 
Testamentserben"  infolge  seines  Manzipationsvertrages 
,  ,n  i  c  h  t  über  d  i  e  hereditas,  s  o  n  d  e  m  über  d  i  e  familia 
des  Verstorbenen"  sich  erstreckt!  Aber  somit  vergißt  das 
,, juristische  Wissen"  ja,  daß  das  positive  Zwölf tafelgesetz 
ja  gerade  vom  Intestaterben  sagt:  familiam  habeto,  ihm 
also  gerade  die  familia  überträgt.  Es  ist  also  kein 
Unterschied  zwischen  familia  und  hereditas,  und  der  In- 
testaterbe hat  die  erstere  so  gut  wie  der  Testamentserbe. 
Oder  hätte  Huschke  recht,  und  wäre  wirklich  ein  Unter- 
schied zwischen  beiden,  so  beruhte  gerade  ,,der  Anspruch 
des  Intestaterben"  auf  einer  Übertragung  derfamilia, 
nicht  der  hereditas,  und  gerade  dem  Testamentserben, 
von  dem  es  dagegen  heißt :  heres  esto,  wäre  vielmehr  die 
hereditas  übertragen! 

Das  ,, juristische  Wissen"  hat  also  das  entschiedene  Un- 
glück, sobald  es  den  Ehrgeiz  hat,  sich  auf  das  Denken  ein- 
lassen zu  wollen,  mit  jedem  Worte  seinem  positiven  Stoff 
ins  Gesicht  schlagen  und  das  Gegenteil  von  dem  sagen  zu 
müssen,  was  dieser  sagt.  Es  hat  entschieden  und  fortgesetzt 
das  Unglück,  nicht  nur  Unterschiede  zu  produzieren,  die 
keine  sind,  sondern  die,  wenn  sie  welche  wären,  unglück- 
licherweise weit  eher  für  das  entgegengesetzte  Gebiet 
von  dem,  welches  sie  charakterisieren  sollen,  zutreffen 
würden. 

So  ist  denn,  wie  wir  es  voraussagten,  in  dieser  ganzen 

608 


Erklärung  des  Gajusschen  Satzes,  die  Huschke  unter- 
nimmt, der  positive  Satz  des  Gajus  das  einzige  wahre  Wort 
geblieben.  Alles  andere  hat  nicht  nur  nichts  erklärt,  son- 
dern nur  die  greulichste  Verwirrung  im  ganzen  Erbrechts - 
Stoff  hervorgebracht.  Und  das  ,, juristische  Wissen"  krönt 
diese  Verwirrung,  indem  es  mit  triumphierender  Miene 
diese  ,, genauere  Entwickelung"  in  einer  Anmerkung  damit 
schließt:  ,, hiernach"  sei  auch  der  ,,Inhalt  der  Er- 
klärung des  Erben,  welcher  eine  gesetzliche  und  welcher 
eine  Testamentserbschaft  annimmt",  also  der  Inhalt  der 
Aditionserklärung  ,,ein  ganz  verschiedener"!  Man 
kann  alles  beim  Intestat-  und  Testamentsrecht  verschieden 
finden  wollen,  die  Art  der  Berufung,  auch  noch  in  einem 
gewissen  Sinne,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  das,  wozu 
berufen  wird,  aber  nun  und  nimmermehr  den  Inhalt 
der  Aditionserklärung!  Hier  wie  dort,  beim  Intestat- 
wie  Testamentserben  ist  der  Inhalt  dieser  Erklärung  nur 
der  eine :  Erbe,  d.h.  Willensidentität  mit  dem  Erb- 
lasser sein  zu  wollen.  Dies  ist  so  klar,  so  absolut-not- 
wendig, so  sehr  der  einfache  Ausspruch  des  Rechtsstoffes 
selbst,  daß  gerade  alle  Verschiedenheiten  des  Testaments- 
und Intestatrechtes  nur  jenseits  der  Aditionserklärung 
fallen,  nur  bis  zur  Adition  reichen.  Die  Aditionselbst 
ist  gerade  wegen  dieser  Identität  ihres  Inhaltes  die  aus- 
wischende Hand  des  Erben,  welche  sich  über  jene  Unter- 
schiede breitet  und  sie  verschwinden  macht.  Mit  der  Adi- 
tion sind  alle  zivilistischen  Unterschiede  beider  Delations- 
systeme  zugrunde  gegangen,  der  Erbe  hat  sie  durch  die 
absolute  Identität  der  Erklärung,  Erbe  sein  zu  wollen, 
getilgt;  durch  die  Adition  ist  jeder  Unterschied  in  ihm, 
ob  er  testaments-  oder  intestatrechtlicher  Erbe  war,  zivi- 
listisch durchaus  zugrunde  gegangen  und  aufgehoben,  er 
ist  jetzt  Erbe  überhaupt  geworden,  und  es  ist  ihm 

17  Lasaalle,    G«.  Sckriften,    Band  XII.  609 


zivilreclitlich  nicht  mehr  das  geringste  davon  anzusehen, 
was  er  früher  war. 

Sicher,  wenn  die  römischen  Juristen  wieder  auferstün- 
den, sie  würden  unseren  Autoren  alles  glauben,  nur  dies 
eine  nicht,  daß  es  ihr  Recht  ist,  von  dem  sie  handeln! 

Kürzer,  als  die  Verwirrungen  des  juristischen  Wissens 
zu  analysieren,  wird  es  sein,  die  wahre  Notwendigkeit  jenes 
Unterschiedes  bei  der  in  jure  cessio  aufzuzeigen.  Sie  ent- 
rollt sich  aus  unserer  Begriffsentwickelung  ganz  von  selbst. 

Der  testamentarische  Erbe  ist  die  ausdrück  lieh -ge- 
setzte Willensidentität  des  Erblassers.  Als  ausdrück- 
liches Sichselbstsetzen  ist  dasselbe  notwendig  negativ 
gegen  jedes  nicht  von  ihm  Gesetzte.  Wer  sagt:  Ich  bin 
Paul,  sagt  dadurch  zugleich,  daß  er  nicht  Peter  oder  Lud- 
wig ist.  Derjenige  also,  welchen  der  Testator  gesetzt  hat, 
Willensidentität  mit  ihm  zusein,  kann  diese  entweder 
nur  sein  —  so  ist  er  Erbe  — ,  oder  nicht  sein  wollen  — 
so  ist  er  ein  ganz  rechtloser  Dritter  gegen  ihn.  Übertragen 
könnte  er  diese  Willenssubjektivität  nur,  wenn  sie  erst  die 
seinige  ist,  wenn  er  sie  erst  in  sich  aufgenommen 
hat,  und  dann  natürlich  nur  in  jener  Weise,  in  welcher 
man  seine  gesamte  Willenssubjektivität  übertragen  kann, 
also  wieder  durch  Erbeinsetzung,  oder  indem  er  sich  arro- 
gieren  läßt  usw. 

Daß  also  derjenige,  von  dem  der  Testator  gesagt  hat : 
Peter  soll  Willensidentität  mit  mir  sein,  nicht  sagen  kann : 
Nein,  ich  will  es  nicht  sein,  sondern  Paul  soll  es  sein,  ist 
äußerst  einfach  und  folgt  aus  dem  reinen  Erbbegriff  oder 
aus  dem  Begriff  ,,der  Erbschaft  überhaupt",  aus  dem  es 
nach  Huschke  gerade  nicht  folgen  soll,  von  selbst,  da  ja 
der  Wille  des  Testators  sonst  nicht  erhalten,  sondern 
negiert  werden  würde.  Und  sicher,  wäre  nicht  im  Intestat- 
erben ein  subsidiarischer,  aushilf sweiser  Charak- 

610 


ter,  wäre  er  ebenso  adäquate  Realität  des  Erbbegrlffes  wie 
der  Testamentserbe,  so  würde  er  es  ebensowenig  können  wie 
dieser.  Nun  aber  zum  Intestaterben!  Der  Intestaterbe  ist 
der  vorausgesetzte  Wille  des  Toten,  nicht  sein  ge- 
setzter. Inzwischen,  auch  als  vorausgesetzter  Wille  ist 
er  immer  noch  ein  bestimmter,  denn  er  ist  ja  nun  eben 
die  vorausgesetzte  Bestimmtheit  im  erblasserischen  Willen, 
Wir  zeigten  daher  schon  oben  (S.  569),  v/ie  auch  vom 
Intestatrecht  ,,der  Wille  des  Toten,  obgleich  ein  voraus- 
gesetzter, doch  immer  als  ein  bestimmter  Wille  vor- 
ausgesetzt, d.h.  auf  den  Willen  eines  anderen  bestimm- 
ten Individuums  ger-ichtet  sein"  und  so  behandelt  werden 
muß.  Wir  zeigten  daselbst,  wie  daher  ,, durch  den  voraus- 
gesetzten individuellen  Willen  des  Toten  ein  bestimm- 
tes Individuum,  der  nächste  Agnat,  dazu  berufen  ist:  ihm 
durch  seinen  Willen  Fortsetzung  zu  geben",  wie 
„folglich  ohne  diesen  Willen  des  berufenen  Agnaten 
dem  Willen  des  Toten  keine  Fortexistenz  von  einem  an- 
deren gegeben  werden",  und  also  von  irgendeiner  successio 
keine  Rede  sein  könne.  Dies  entwickelten  wir  oben,  und 
gewannen  so  jenen  HauptgrundsaLz  des  Zivilintestatrechtes. 
Sollten  wir  vielleicht  beabsichtigen,  gewissen  Methoden 
folgend,  hier,  wo  es  zu  unseren  Zwecken  nicht  mehr  paßt, 
dies  wieder  zurückzunehmen  ?  Keineswegs. 

Aber  was  ist  denn  durch  das  Obige  ausgeschlossen! 
Betrachten  wir  nur  die  eben  angeführten  dortigen  Worte 
selbst.  Ausgeschlossen  ist  dadurch,  daß,  ,,ohne  diesen 
Willen  des  bestimmten  berufenen  Agnaten,  dem  Willen 
des  Toten  Fortexistenz  von  einem  anderen  gegeben  werden 
kann."  Aber  ist  denn  damit  ausgeschlossen,  daß  sie  ihm 
nicht  durch  seinen  Willen  —  wie  bei  der  in  jure 
cessio  geschieht  —  von  einem  anderen  gegeben  werde? 
Wozu  ist  denn  der  Intestaterbe  berufen  ?  Dazu,  wie  es 

17«  611 


in  den  eben  rekapitulierten  Sätzen  selbst  heißt :  „ihm  (dem 
Toten)  durch  seinen  Willen  Fortexistenz  zu  geben", 
nicht  aber  somit  dazu,  ihm  Fortexistenz  zu  sein.  Ist  das 
nicht  vielleicht  auch  ein  bloßer  Wortunterschied,  den  wir 
plötzlich  geltend  machen  ?  Statt  ein  solcher  zu  sein,  ent- 
hält er  vielmehr  den  gesamten  realen  Begriff  des  Intestat- 
rechtes,  der  uns  hier  erst  in  seiner  letzten  Entfaltung  auf- 
gehen wird,  eine  Entfaltung,  die  aber  nichts  anderes  als 
nur  die  bestimmte  Heraushebung  des  von  Anfang 
an  entwickelten  subsidiären  Begriffes  dessel- 
ben ist. 

Das  Intestatgesetz,  sagten  wir  bei  dieser  Entwickelung, 
geht  darauf  aus,  das  Individuum  zu  suchen.  Aber,  sagten 
wir  daselbst  bereits  (S.  549),  dasselbe  in  reeller  Willens- 
identität finden  kann  es  nicht.  Denn  läge  eine  Willens- 
identität vor,  ein  testamentarischer  Erbe  oder  ein  suus, 
so  brauchte  das  Intestatgesetz  gar  nicht  zu  suchen  und 
könnte  gar  nicht  suchen;  es  könnte  und  brauchte  gar 
nicht  intestatgesetzlich  zu  verfügen.  Gerade  weil  es  nicht 
eine  adäquate  Willensidentität  finden  kann,  gerade 
hierin  liegt  ein  subsidiärer,  aushilfsweiser  Charakter,  ge- 
rade deshalb  muß  es  als  Gesetz  ergänzen. 

Um  dasselbe  Moment  zunächst  noch  deutlicher  von 
Seiten  des  vorausgesetzten  individuellen  Willens  des  Toten 
zu  betrachten,  so  kann  derselbe  nicht  zu  dem  Agnaten  usw. 
sagen:  Sei  Willensidentität  mit  mir,  sei  meine  Willens - 
fortexistenz.  Denn  er  selber,  der  Erblasser,  hatte  ja  noch 
gar  nicht  seinerseits  gesetzt,  daß  er  Willensiden- 
tität mit  ihm  sei.  Der  Agnat  ist  dies  also  noch  nicht,  und 
kann  somit  nicht  einfach  aufgefordert  werden,  etwas  zu 
sein,  was  er  nicht  ist. 

In  der  Intestatberufung  rufen  also  der  individuelle  In- 
testatwille  des  Erblassers  und  der  allgemeine  Wille  des 

612 


Volkes  dem  Berufenen  nicht  zu:  Sei  Willensidentität  mit 
dem  Erblasser,  sei  seine  Willensfortexistenz,  was  du  nicht 
bist,  sondern  sie  rufen  beide  ihm  zu  und  können  ihm  nur 
zurufen:  Ergänze  das  Nichtseiende;  gib  Ihm  Wil- 
lensfortexistenz ! 

So  angerufen,  im  Unterschiede  von  der  seienden  Fort- 
existenz der  erblasserischen  Willenssubjektivität,  ihr  Fort- 
existenz zu  geben,  hat  dieser  hierzu  angerufene  Wille  das 
volle  Recht,  sie  Ihr  zu  geben  durch  sich  oder  einen  an- 
deren, wenn  er  nur  der  Gebende  ist.  Er  hat  auch  bei 
der  in  jure  cessio  den  Ruf,  der  an  ihn  ergangen  ist,  und 
zv/ar  nicht  nur  ä  la  lettre,  er  hat  ihn  in  seiner  ganzen 
begrifflichen  Tiefe  erfüllt.  Denn  was  war  der  reale 
Begriff  des  Intestatrechtes  ?  Er  war  die  Fortexistenz  der 
sich  nicht  besondemden  Willenssubjektivität,  vermittelt 
durch  die  allgemeine  Willensgemeinsamkeit  des  Volkes  In 
ihren  gegliederten  Kreisen.  Nun,  diese  Fortexistenz  der 
Willenssubjektivität  überhaupt  ist  eingetreten,  und  durch 
diese  Vermittelung  der  allgemeinen  Willensgemelnsam- 
keit  des  Volkes  In  dem  Träger  des  gegliederten  Kreises 
ist  sie  hindurchgegangen  und  vermittelt  worden,  und  so  sind 
beide  Momente  des  Begriffes  erschöpft.  Daß  es  ein  sich 
nicht-besondernder  individueller  Wille  ist,  der  fort- 
gesetzt wird,  das  kommt  hier  wieder  zum  Vorschein,  nicht 
in  dem  zum  Geben  der  Willensfortexistenz  Berufenen, 
welcher  durch  die  Identität  des  sich  nicht  besondernden 
Willens  mit  dem  allgemeinen  Willen  durchaus  ausschlie- 
ßend persönlich  bestimmt  ist  —  nicht  aber  qua  Person, 
sondern  qua  diesen  Begriff  zeitig  repräsentierende 
Person  — ,  sondern  es  kommt  wieder  zum  Vorschein  In  der 
Gleichgültigkeit  der  besonderen  Person,  die  der  aus- 
schließend Angerufene  logisch  konsequent  dem  sich  nicht 
besondernden  Individuum  zum  Träger  geben  kann. 

613 


Die  schlechthinnige  Wahrheit  dieser  Entwickelung  zeigt 
sich  nun  sofort  darin,  daß  aus  eben  denselben  Gründen, 
aus  weichen  der  Intestaterbe  in  jure  zedieren  kann,  der 
suus  es  nicht  kann.  Er  kann  es  nicht  können,  obwohl  er 
formell  Intestaterbe  ist,  denn  da  er  eben,  wie  der  testamen- 
tarische Willenserbe,  schon  gesetzte  Willensidentität  mit 
dem  Erblasser  ist,  so  ist  er  nicht  berufen,  diesem  eine  Wil- 
lensidentität zu  geben,  sondern  eine  solche  zu  sein.  Dar- 
über ist  daher  auch  kein  Streit^)  zwischen  den  beiden 
Schulen  der  Sabinianer  und  Prokulejaner,  daß  der  suus 
nicht,  wie  der  sonstige  Intestaterbe,  das  Erbrecht  in 
jure  zedieren  kann,  sondern  die  Differenz  ist  nur  diese: 
Die  Sabinianer  sagen,  daß  der  suus,  wenn  er  in  jure 
zediere,  einen  überhaupt  nichtigen  Akt  vornehme,  während 
die  Prokulejaner  diesem  Akte  doch  die  Wirkung  gönnen 
wollen,  welche  beim  Testamentserben  die  in  jure  cessio 
nach  der  Adition  hat,  also  eine  keinesfalls  mehr  das 
Erbtum  berührende  Wirkung.  Es  tritt  somit  auch  hier 
wieder  hervor,  wie  der  suus,  obwohl  formell  Intestaterbe, 
doch  realiter  nicht  ein  solcher  und  deshalb  auch  vom 
Intestatgesetz  nicht  berufen,  d.h.  nicht  verfügend 
eingesetzt,  sondern  ebensosehr  Testamentserbe  ist  und 
ganz  die  Stellung  eimiimmt,  die  wir  in  unseren  gesamten 
Ausführungen  ^achge^viesen  haben. 

Wenden  wir  uns  nun  \vieder  zum  Zwölftafelgesetz,  so 
zeigt  sich  als  ein  weiterer  Beweis,  daß  wir  in  der  ge- 
gebenen Begriffsentwickelung  wieder  nichts  anderes  als 
heimliche  Wortinterpretation  getrieben  haben !  Denn  jetzt 
wird  nun  klar  sein,  warum  das  Zwölftafelgesetz  sagt: 
Familiam   habeto,  er  habe  die  Willensherrschaft,  wäh- 

^)  Siehe  Gajus,  II,  37;  III,  87.  Was  er  in  der  ersten 
Stelle  vom  necessarius  heres  sagt,  beschränkt  er  in  der  zweiten 
selbst  auf  den  suus  et  necessarius. 

614 


rend  das  Testament  sagen  muß :  Heres  esto,  er  s  e  i  Erbe. 
Das  Zwölftafelgesetz  läßt  den  Bemfenen  die  Willens- 
herrschaft  haben.  So  hat  er  sie  in  der  Hand,  kann  sie 
selbst  fortsetzen,  wenn  er  sich  durch  die  Adition  mit  ihr 
identifiziert,  kann  sie  fortgeben.  Haben  und  Geben 
widerspricht  sich  nicht.  Im  Gegenteil,  was  einer  hat, 
kann  er  geben,  und  was  einer  fortgeben  will,  muß 
er  erst  haben.  Aber  was  einer  ist,  das  kann  er  nicht 
fortgeben^).  Darum  ist  heres  esto  ausschließend,  und 
famiiiam  habeto  übertragbar.  Der  Testator  kann  und 
muß  sagen:  heres  esto^);  denn  dadurch,  daß  er  selbst 
im  Testament  der  Setzende  ist,  setzt  er  hierdurch  eben 
den  von  ihm  Berufenen  seinerseits  schon  als  seiende 
Wiilensidentität  mit  ihm.  Dieser  hat  also  die  Identi- 
tät nur  fort  zu  sein,  als  die  er  bereits  vom  Testator 
gesetzt  und  vollbracht  ist,  und  nur  auch  seinerseits  dies 
Sein,  als  daß  er  selbst  von  selten  des  Testators  schon 
gesetzt  ist,  anzuerkennen.  Bei  dem  Intestaterbrecht  fehlt 
es  ja  aber  eben  an  einer  seienden  Willensidentität  des 
Testators,  und  darum  gerade  muß  das  Intestatgesetz  erst 
ergänzend  eine  solche  ihm  geben^).  Täte  ferner  das 
Intestatgesetz  dies  mit  den  Worten:  Proximus  agnatus 
heres  esto,  so  würden  die  römischen  Juristen  ganz  un- 
bedingt und  mit  höchstem  Rechte  aufgefaßt  haben,  daß 
dieser    vom    Gesetz    ausgehende    Befehl,    etwas    zu 

^)  Er  gäbe  dann  eben  das  ganze  eigene  Sein  fort,  durch 
Erbeinsetzung,  arrogatio,  in  manum  conventio ;  s.  oben  S.  610. 

")  Abgesehen  davon,  daß  die  Formel  nur  die  Abbreviatur 
der  im  testamentum  per  aes  et  libram  in  seiner  ursprüng- 
lichen Form  in  der  beiderseitigen  dramatischen  Handlung 
schon  vollbrachten  .Willensidentifizierung  ist, 
s.  Nr.  VIII  und  V. 

^)  Man  vergleiche  dagegen  Huschkes  Erklärung  des  fami- 
iiam habeto  und  heres  esto  im  Rhein.  Mus.,  VI,  297,  Note  64. 

615 


sein,  verbindende  Kraft  habe,  d.h.  also,  daß  der 
Intestaterbe  ein  heres  invitus  sei,  wie  der  suus.  Sie  würden 
bei  ihrer  Weise  zu  interpretieren,  d.  h.  bei  der  Schärfe 
des  römischen  Geistes,  so  haben  auffassen  müssen.  Denn 
kein  Mensch  kann  sich  dem  entziehen,  rechtlich  das 
zu  sein,  was  ihm  der  Gesetzgeber  zu  sein  befiehlt.  Er 
ist  es  schon  eo  ipso  dadurch  geworden,  daß  das  Gesetz 
ihm  dies  zu  sein  befiehlt.  Der  an  das  Sein  des  Menschen 
gerichtete  Befehl  des  Gesetzes  wirkt  als  eine  Quali- 
fikation desselben,  die  ihn  ohne  sein  Zutun  sofort  be- 
faßt^). Der  Intestaterbe  würde  also  dann  dies  Sein  nicht 
nur  nicht  haben  fortgeben,  nicht  wieder  los  werden, 
in  jure  zedieren  können,  er  würde  es  auch  nicht  haben 
ausschlagen  können.  Durch  den  gesetzlichen  Befehl 
wäre  er  statim  und  ohne  seinen  Willen  Erbe  gewesen. 
Darum  kann  der  Befehl  nur  an  das  Haben  des  Be- 
rufenen gerichtet  sein.  Was  einer  hat,  das  kann  er  nicht 
nur  einem  Bestimmten  fortgeben,  das  kann  er  ergreifen 
und  festhalten,  kann  es  auch  nicht  ergreifen  und  fort- 
werfen, kann  es  ausschlagen.  Seines  gesetzlichen  Habens 
kann  man  sich  immer  entäußern,  nur  seines  gesetzlichen 
Seins  nicht.  Darum  darf  der  gesetzliche  Befehl,  wenn 
er  die  individuelle  Willkür  des  Berufenen  freilassen  soll, 
nur  an  sein  Haben  gerichtet  sein. 

Haben  wir  hier  aber  bloß  Wortinterpretation  getrieben 
und  vielleicht  übertrieben  ?  Werfen  wir  die  Worte  ganz 
fort  und  sehen  wir  jetzt  bloß  auf  den  realen  Begriff 
der  Sache,  und  jetzt  erst  werden  wir  die  innere  Not- 
wendigkeit alles  bisher  Entwickelten  in  ihrer  prä- 
zisesten und  evidentesten  Form  zum  Vorschein 
bringen,  und  nun  erst  hierbei  die  letzte  Falte  im  Be- 


0  Vgl.  unseren  Bd.  II  [IX],  §  1. 


616 


griff  des  Intestatrechtes  in  voller  Klarheit  hervortreten 
sehen. 

Wir  sagten  soeben:  Bei  dem  Intestatrecht  fehlt  es  an 
einer  schon  seienden  Willensidentität  des  Testators, 
und  gerade  darum  muß  das  Intestatgesetz  aus  dem  bloß 
vorausgesetzten  Willen  des  Toten  erst  ergänzend  ihm 
eine  solche  geben.  Und  dies  war  ja  der  bestimmte  Be- 
griff des  Intestatrechtes,  aus  dem  wir  von  Anfang  an 
alles  Weitere  desselben  entwickelt  haben.  Wie  aber  ? 
Kann  das  Gesetz  selbst  ihm  eine  solche  geben? 
Wenn  es  selbst,  das  Gesetz,  das  Gebende  sein  wollte, 
so  würde  es  ja,  welcher  Worte  es  sich  auch  immer  be- 
dienen möchte,  immer  die  Freiheit  des  Berufenen  ver- 
letzen müssen.  Es  würde  dies  ja  gerade  wollen,  wenn 
es  selber,  das  Gesetz,  das  der  erblasserischen  Willens- 
subjektivität den  Fortsetzer  Gebende  sein  wollte.  Das 
Gesetz  kann  also,  da  es  die  Willensfreiheit  des  Berufenen 
nicht  verletzen  will,  nicht  selber  dasjenige  sein,  was 
dem  Toten  die  Willensfortsetzung  ergänzt  und  gibt. 
Die  Berufung  des  Intestatgesetzes  hat  also  vielmehr  die 
Bedeutung,  daß  der  Berufene  derjenige  sein  soll, 
welcher  dem  Erblasser  die  Willensidentität  und  Fort- 
setzung ergänzt  und  gibt,  d.  h.  das  Intestatgesetz  über- 
trägt in  höchster  Einheit  von  Inhalt  und  Form 
seines  Begriffes  das,  was  sein  eigener  inhalt- 
licher Begriff  ist,  seinen  eigenen  Charakter  des  Aus- 
helfens  und  Ergänzens,  seine  eigene  gesetzliche 
Befugnis  —  auf  den  Berufenen!  Nicht  das  Intestat- 
gesetz ergänzt,  sondern  es  beruft  bloß  einen,  der  die 
Befugnis,  das  Dasein  der  Willensidentität  zu 
ergänzen,  haben  soll.  Dies  also  ist  erst  die  kon- 
krete und  wahrhafte  Bedeutung  der  intestatgesetzlichen 
Berufung.    Nicht  Erbe  des  Toten  zu  sein,  sondern 

617 


lebendiges  Intestatgesetz  zu  sein,  ausübender 
Träger  der  Befugnis  desselben  zu  sein,  dem  Toten 
die  Fortexistenz  seiner  Willenssubjektivität  zu  ergänzen 
und  zu  geben  —  dazu  ist  er  berufen;  berufen  vom 
Intestatgesetz,  berufen  vom  vorausgesetzten 
individuellen  Willen  des  Toten  selbst,  mit  dem 
jenes  nur  identisch  ist.  Da  er  überhaupt  nur  zu  diesem 
intestatgesetzlichen  Tun,  zu  diesem  Geben,  Aushelfen  und 
Ergänzen  berufen  ist,  so  liegt  es  also  von  vornherein  in 
seinem  Begriff,  der  erblasserischen  Willenssubjektivität 
ebensogut  durch  einen  anderen  wie  durch  sich  selbst  ihre 
Fortexistenz  ergänzen  und  geben  zu  können. 

Es  zeigt  sich  also,  wie  gerade  nur  v/egen  des  Subsidiären 
und  Unadäquaten,  was  im  Intestatgesetz  überhaupt  liegt 
und  deshalb  in  dem  ab  intestato  Berufenen  als  dem  leben- 
digen Träger  der  intestatlichen  Aushilfe  wiederkehrt,  das 
weitere  Recht  des  Intestatberufenen  gegen  den  Testaments- 
erben, das  Recht  der  in  jure  cessio  gegeben  ist^). 

Es  zeigt  sich  femer,  wie,  wenn  man  bloß  von  dem 
substantiellen  Begriff  des  Intestatrechtes  als  einem  aus  dem 
vorausgesetzten  Willen  des  Toten  ergänzenden  Geben  der 


■'■)  Aber  ebenso  zeigt  sich  wieder,  daß  die  Adition  des 
Intestaterben  keinen  anderen  Inhalt  hat  als  die  des  testamen- 
tarischen. Denn  durch  die  Adition  erklärt  der  Intestaterbe,  daß 
er  die  Fortexistenz  der  Willenssubjektivität,  die  er  dem  Erb- 
lasser überhaupt  nur  geben  soll,  gleichviel  in  welcher  Willens- 
individualität, ihm  in  der  seinigen  geben  wolle,  daß  er 
selbst  Erbe,  Willensidentität  mit  ihm  sein  und  von  seiner 
Befugnis,  ihm  einen  anderen  dazu  zu  geben,  keinen  Gebrauch 
machen  wolle.  Es  tritt  hier  also  nur  noch  deutlicher  heraus, 
wie  die  Adition  das  in  beiden  Systemen  inhaltlich  Gleiche, 
wie  sie,  wie  wir  oben  sagten  (S.  609),  die  auswischende  Hand 
des  Erben,  der  einheitlichen  Idee  des  Erbtums  überhaupt 
ist,  die  sich  über  die  Unterschiede  der  beiden  Berufungen  breitet. 

618 


Fortexistenz  ausgeht,  welches  aber,  um  die  Freiheit  anderer 
Personen  nicht  zu  verletzen,  nicht  selber  geben  kann,  son- 
dern diese  Befugnis  notwendig  auf  den  Berufenen  über- 
tragen muß,  man  genau  zu  demselben  Resultate  kommt, 
zu  welchem  man  von  der  Wortinterpretation  des  familiam 
habeto  der  Zwölf  Tafeln  gegen  das  heres  esto  gelangt. 
Wort  und  Begriff  sind  überhaupt  im  römischen  Zivil- 
recht schlechthin  identisch  und  sich  deckend,  und  müssen 
es  da  sein,  wo  beide  in  solcher  höchsten  Schärfe  genommen 
werden,  von  welcher  freilich  lange  jede  Ahnung  unter- 
gegangen ist. 

Es  zeigt  sich  drittens  endlich  jetzt  erst  in  seiner  ganzen 
Entfaltung  der  Begriff  des  Intestaterben. 

Von  dem  vorausgesetzten  individuellen  Wil- 
len des  Toten,  wie  von  dem  allgemeinen  Willen 
des  Volkes  selbst,  welcher  mit  jenem,  als  einem  sich 
nicht  besondemden,  nur  identisch  ist,  geht  ein  Schreien 
nach  Fortexistenz  überhaupt  für  den  Toten  aus! 
Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  Fortexistenz  in  einem 
bestimmten  individuellen  Willen  und  kann  sich 
nicht  mehr  darum  handeln,  sonst  hätte  der  Tote  sich  selbst 
in  einem  bestimmten  individuellen  Willen,  in  einem  Testa- 
mentserben oder  suus,  setzen  müssen.  Da  er  dies  nicht 
getan,  so  kann  es  sich  mit  logischer  Notwendigkeit 
für  diesen  bloß  vorausgesetzten  Willen  nur  noch  um  Fort- 
existenz in  einer  Willenssubjektivität  des  Volkes  über- 
haupt handeln.  Die  Allgemeinheit,  in  welche  der 
bloß  vorausgesetzte,  der  sich  nicht  besondernde  Wille 
des  Individuums  zusammenfallend  versinkt,  tritt  hier  in 
dieser  Gleichgültigkeit  gegen  den  bestimmten  Willens- 
fortsetzer am  realsten  heraus^).   Aber  eben  weil  der  bloß 

^)  So  wenig  liegt  im  Intestaterbrecht  ein  „Familienerbrecht" 
vor! 

619 


vorausgesetzte  individuelle  Wille,  als  sich  nicht  besondern- 
der, identisch  ist  mit  der  allgemeinen  Willensgemeinsam- 
keit des  Volkes  —  und  wäre  er  dies  nicht,  d.  h.  trüge 
er  nicht  diesen  Volksgeist  in  sich,  so  würde  er  frei- 
lich überhaupt  nicht  nach  Fortexistenz  schreien  — ,  so 
schreit,  in  beständiger  höchster  begrifflicher  Identität  der 
Momente  von  Form  und  Inhalt,  der  als  identisch -mit  der 
allgemeinen  Willensgemeinsamkeit  vorausgesetzte  indivi- 
duelle Wille  des  Toten,  daß  ihm  durch  das,  wodurch 
er  selbst  individuell  mit  dieser  allgemeinen  Willens- 
gemeinsamkeit vermittelt  ist,  also  durch  die  Ver- 
mittelung  dieser  allgemeinen  Willensgemeinsamkeit  in 
ihren  gegliederten  Trägern^),  Fortexistenz  gegeben 
werde.  Das  „durch"  der  Willenssubjektivität,  durch 
welche  die  Fortexistenz  gegeben  werden  soll  —  nicht 
diejenige,  in  der  sie  gegeben  werden  soll  — ,  ist  be- 
stimmt, ist  durch  einen  Begriff  bestimmt,  und  zwar 
gerade  durch  den  Begriff  dieser  Willensgemeinsamkeit 
selbst,  welche  das  Agens  dieses  Schreies  bildet ;  es  ist 
auf  den  zeitigen  individuellen  Träger  dieses  Begriffes 
bestimmt,  nicht  aber  individuell  bestimmt.  Das  fortsetzungs- 
süchtige Wesen  des  Toten  schreit  nach  Fortsetzung  über- 
haupt, gleichviel  in  wem.  Nur  weil  er  als  voraus- 
gesetzter Wille  identisch  ist  mit  dem  allgem.einen  Willen  — 
was  auch  allein  den  wirklichen  Grund  bildet,  diesen  Schrei 
überhaupt  bei  ihm  vorauszusetzen  — ,  ist  in  den  Gliede- 
rungen, durch  welche  sich  der  vorausgesetzte  Wille  mit 
dem  allgemeinen  individuell  vermittelt,  auch  das  Ohr 
bestimmt,  an  welches  zunächst  dieser  Schrei  anschlagen  soll. 
Aber  eben  deshalb  darf  auch  dies  nur  ein  ,, zunächst" 
sein,  und  in  jener  Gleichgültigkeit  gegen  die  fortsetzende 

^)  Siehe  oben  S.  552  fg. 
620 


Willenssubjektivität  ist  schon  gegeben,  daß  es  hierbei  sein 
Bevv'enden  nicht  haben  wird.  Lassen  die  gegliederten  Ver- 
mittler seiner  Willensgemeinsamkeit  mit  dem  Volke,  die 
Agnaten  oder  Gentilen,  dies  fortsetzungsfähige  V/esen  des 
Toten  im  Stich,  kommen  sie  nicht  herbei,  seinen  Ruf  zu 
erfüllen,  so  tönt  dieser  Ruf  weiter  und  weiter.  So  im 
Stich  gelassen  von  den  Gliederungen,  die  ihn  individuell 
mit  der  Willensgemeinsamkeit  des  Volkes  vermittelten, 
muß  er,  weil  er  als  sich  nicht  besondernder  Wille  mit 
dem  allgemeinen  Willen  identisch  ist,  jetzt  von  den 
Gliederungen  nicht  gehört,  an  den  rein  allgemeinen 
Willen  sich  wenden,  an  den  großen,  ganzen,  ungegliederten 
Willen  des  Volkes,  in  welcher  Individualität  er  auch 
existiere^)!  Ist  er  nicht  Agnat,  ist  er  nicht  Gentile,  so 
ist  er  doch  Quirite!  Diese  letzte,  rein  allgemeine 
Willensgemeinsamkeit  kann  man  ihm  nicht  rauben.  Und 
so  ergeht  denn  weiter  und  weiter  der  Schrei  dieses  fort- 
setzungssüchtigen Wesens  in  alles  Volk  hinein,  an  jeden 
ersten  und  besten  des  Volkes,  an  jeden,  der  nur  als 
Individualität  diesen  Volksgeist  in  sich  trägt,  der  seinigen 
Fortexistenz  zu  geben. 

Und  so  gibt  ihm  denn  jeder  eine  solche,  ohne  Berufung 
und  Titel,  ohne  Testament  noch  Intestatgesetz,  durch  die 
bloße  Einlebung  in  sein  Vermögen. 

Es  ist  natürlich  die  alte  usucapio  pro  berede,  von  der 
wir  sprechen,  infolge  deren  jeder  durch  den  bloßen  jährigen 
Besitz  der  Erbschaftssachen  vor  dem  Antritt  der  Erben 
das  Erb  tum,  das  heredem  esse  erzeugt,  ein  Institut, 
welches  durch  diese  Entwicklung  um  seinen  ganzen  bisher 
so  rätselhaften  Charakter,  um  seine  so  allgemein  angestaunte 


1)  Vgl.    oben    S.  552  fg..    u.    resp.    S.  517    nebst    Note    1, 
u.  S.  558.  Note  1. 

621 


Dunkelheit  gebracht,  und  in  seinem  organischen  Zusammen- 
hange mit  dem  Intestaterbrecht  aufgezeigt  ist^- 


^)  Und  nun  werden  die  Worte  des  Gajus  selbst  (II,  55) 
dies  aufs  evidenteste  heraustreten  lassen.  Er  sagt  von  der 
usucapio  pro  berede :  ,,Quare  autem  omnino  tarn  improba  pos- 
sessio et  usucapio  concessa  sit,  illa  ratio  est,  qiiod  voUierunt 
veteres  matimus  hereditates  adiri,  ut  essent  qui  sacra  facerent, 
quorum  Ulis  temporibus  summa  observatio  fuit,  et  ut  credi- 
tores  haberent,  a  quo  suum  consequerentur."  Der  erste  Grund, 
den  Gajus  mit  ,,weil"  anführt,  die  Alten  lassen  die  usucapio 
des  Erbiums  zu,  weil  sie  wollen,  daß  Erben  da  sein 
sollen,  daß  die  Willenssubjektivität  des  Toten  fortexi- 
stieren soll  (und  erst  hiernach  auch  in  zweiter  Linie, 
daß  sie  baldmöglichst  fortexistieren,  die  zur  Erbschaft 
Berechtigten  schnell  antreten  sollen  und  nicht,  wie  dem  Zivil- 
erben zusteht,  das  fortsetzungssüchtige  Wesen  des  Toten  un- 
berechenbar lange  in  Ungewißheit  lassen,  ob  sie  ihm  Fort- 
existenz geben  werden),  läßt  das  Obige  jetzt  klar  für  uns 
und  unklar  nur  für  Gajus  selbst  hervortreten.  Der  zweite 
Grund,  ,,damit  welche  da  sind,  welche  die  sacra  besorgen 
und  die  Kreditoren  befriedigen",  dieser  Grund  des  Grundes 
enthält  nur  den  schiefen  Versuch  des  Gajus,  das,  was  ihm 
traditionell  von  der  alten  Anschauung  überkommen,  sich  für 
seinen  Verstand  zu  vermitteln.  Dieser  Versuch  ist 
schief  und  muß  es  sein,  well  Gajus  dabei  nur  die  einheitliche 
Idee  des  Erbtums  In  ihre  einzelnen  Wirkungen  auflöst, 
sie  aber  eben  dadurch  verlieren  muß.  Gajus  hätte  ebenso  gut 
sagen  können,  ,,well  die  Alten  wollten,  daß  welche  da  seien, 
welche  die  Aktivobligationen  des  Toten  einkassieren,  seine  Güter 
als  die  seinigen  besitzen  usf.".  Hätte  Gajus  so  die  Idee  des 
Erbtums  in  die  gesamte  Reihe  seiner  einzelnen  Wirkungen 
aufgelöst,  so  würde  er  freilich  den  wahren  Grund  nur  In  seiner 
außer  sich  gekommenen.  Inkongruenten,  nicht  durchsichtigen 
Form  In  Händen  gehabt  haben.  Aber  dann  wäre  schon  auf  dem 
Verstandeswege  für  jedermann  zum  Vorschein  gekommen,  daß 
er  eben  nur  alle  einzelnen  Wirkungen  statt  des  elnhelt- 
hchen  Grundes  dieser  Wirkungen  setzt,  und  daß  Gajus,  alle 

fi22 


Die  alte  usucapio  pro  Iierede  ist  so  ein  Subsidiäres 
im  Intestatrecht.   Wie  das  Intestatrecht  das  Subsidiäre 


Wirkungen  des  Erbiums  als  Grund  aulzählend,  eben  nur  sagt: 
die  Alten  wollten  es,  weil  sie  wollten,  daß  Erbtum  da  sei. 
Weil  der  Verstand  des  Gajus  aber  wieder  —  und  in  dieser 
•Form  ganz  mit  Recht  —  nicht  begreifen  würde,  was  die  Alten 
daran  "für  ein  Interesse  nehmen,  daß  jemand  die  Aktivobli- 
gationen  eines  Toten  einkassiere,  seine  Güter  als  die  seini- 
gen besitze  usw.,  beschränkt  er  die  Gesamtreihe  der  einzelnen 
Wirkungen  auf  die  zwei,  daß  die  sacra  und  die  Kreditoren  be- 
friedigt werden.  Aber  gerade  hierdurch  fällt  er  nun  in  den  noch 
weit  substantielleren  und  totalen  Irrtum,  den  Schein  zu  er- 
regen, als  wäre  es  ein  anderes  als  das  eigene  Interesse  des 
Erblassers,  als  wäre  es  das  selbständige  Interesse 
dieser  Dritten,  der  Kreditoren  und  Götter,  welches,  um  be- 
friedigt zu  werden,  die  usucapio  pro  berede  hervorrufe  und  das 
Interesse,  das  „Weil"  des  Erbtums  bilde;  ein  Irrtum,  in  den 
ihm  natürlich  die  Juristen,  Huschke  voran,  dem  Gajus  tapfer 
nachsagend,  was  er  sagt,  getreulich  folgen  (siehe  oben  S.  589, 
Note  1,  wo  von  Huschke  als  Grund  der  usucapio  pro  berede 
angegeben  wird,  daß  „bald  Götter  und  Menschen  befriedigt" 
und  „für  Götter  und  Kreditoren  ein  baldiger  Nachfolger  ge- 
liefert" werde;  wobei  die  den  Worten  nach  bei  Gajus 
noch  ganz  richtige  erste  Hälfte  des  Grundes:  ut  essent  qui 
Sacra  facerent,  nun  in  noch  immer  tiefere  Unrichtigkeiten  ver- 
wandelt wird).  Aber  noch  in  diesem  totalen  Irrtum  bei  Gajus 
ist.  insofern  die  Fortsetzung  der  sacra  als  Grund  angegeben 
wird,  die  Ahnung  des  wirklichen  Begriffes  verknorpelt;  denn 
wenn  das  Interesse  der  Kreditoren  als  lebendiger  Rechtsper- 
sonen ein  Interesse  dritter  Personen  gegen  den  Erblasser  ist, 
so  ist  doch  der  Gott  nur  das  eigene  herausgesetzte  Wesen 
des  menschlichen  Geistes,  und  es  würde  daher,  selbst  abgesehen 
von  der  genaueren  Begriffsentwickelung,  welche  wir  über  die 
Idee  der  Perpetuität  der  sacra  als  notwendigen  Ausdruck  der 
Unsterbhchkeit  des  subjektiven  Willens  gegeben  haben  (Nr.  II), 
durch  diese  eine  Bemerkung  einleuchtend  sein  müssen,  daß  das 
Interesse,  welches  der  Gott  an  der  Fortexistenz  der  sacra  des 

623 


des  Testamentsrechtes  ist,  so  ist  die  usucapio  pro  herede 
das  Subsidiäre  des  Intestatrechtes :  ein  Subsidiäres 
des  Subsidiären!  Auf  alle  Weise  schreit  das  Wesen 
des  Toten  nach  Fortsetzung.  Weist  ihn  der  ausdrück- 
lich angerufene  Testamentserbe  zurück,  so  schreit  er  als 
vorausgesetzter  Wille  im  Intestatrecht,  daß  ihm  durch 
seine  individuelle  Vermittelung  mit  der  allgemeinen  Wil- 
lensgemeinsamkeit des  Volkes  Fortexistenz  in  irgendwem 
gegeben  werde:  hören  ihn  diese  individuellen  Vermittler 
nicht,    so    schreit    er    immer    weiter    als    vorausgesetzter 


Toten  nimmt,  nicht,  wie  der  Verstand  meint,  dem  alles  immer 
im  festen  Außereinander  bleibt,  eine  ,, Pietät"  gegen  den  Gott 
als  ein  drittes,  außerhalb  des  Toten  existierendes  Wesen, 
sondern  irgendwie  ein  Interesse  des  Geistes  an  sich  selber  ist. 
Schon  in  dieser  naiven  und  eigentümlichen  Gleichstellung  von 
Gläubigem  und  Göttern,  von  der  schwer  zu  sagen  ist,  ob  die 
Götter  in  Ihr  mehr  als  Gläubiger  oder  die  Gläubiger  mehr  als 
Götter  erscheinen,  zeigt  sich,  daß  weder  Götter  noch  Gläu- 
biger und  die  „Lieferung"  für  diese,  sondern  das,  worin  sich 
gemeinschaftlich  das  Interesse  der  Fortexistenz  der  sacra 
und  der  Obhgatlonen  auflöst,  also  dies:  daß  diese  Wil- 
lenssubjektivität fortexistierend  da  sei,  das  „Weil" 
bilde,  aus  welchem  die  Alten  die  usucapio  pro  herede  wollten. 
Nicht  minder  aber  zeigt  der  Verstand  in  dem  ersten  noch 
richtigen  Satze :  quod  voluerunt  veteres  maturius  hereditates 
adiri,  schon  durch  das  erklärende  Einschiebsel  maturius,  daß 
er,  das  traditionell  Überkommene  nicht  begreifend,  um  es  zu 
erklären,  es  fälschen  muß,  und  zwar  wird  dies  gleichfalls 
wieder  der  Verstand  durch  seine  eigene  Konsequenz  zeigen. 
Gajus  begreift  nicht  mehr  recht  —  wie  fern  die  Zelten,  von 
denen  er  spricht,  seinem  Bewußtsein  liegen,  legt  er  ja  noch 
recht  deutlich  durch  die  Bemerkung  über  die  sacra :  ,,quorum 
Ulis  temporlbus  summa  observatlo  fult",  an  den  Tag  — ,  was 
für  ein  so  großes  Interesse  doch  eigentlich  die  Alten  an  dem 
Zustandekommen  des  Erbtums  nahmen,  um  die  usucapio  pro 
herede  zu  gestatten.   Er  will  es  sich  in  einer  dem  Verstände 

624 


Wille  —  also  wieder  als  ecliter,  begril  f  licKer 
Intestatwille  — ,  daß  ihm  durch  die  ganz  allgemeine 
Willensgemeinsamkeit,  durch  die  er  mit  jedem  Volks- 
individuum überhaupt  verbunden  ist,  durch  den  ersten  besten 
Vorübergehenden  Fortexistenz  gegeben  werde. 

Er  schreit  so  heftig,  schreit  so  gebieterisch,  daß  er 
nicht  einmal  des  Rechtes  der  Intestaterben,  die  sein  voraus- 
gesetzter Wille  berufen  hat,  achtet.  Wenn  sie  zögern, 
wenn  sie  sich  besinnen,  wenn  sie  seine  Fortexistenz  ver- 
schleppen^), nun  so  schreit  auf  Grund  derselben  Vor- 


faßlichen Form  erklären,  und  schiebt  daher  ein  „maturius" 
ein.  Die  Alten  gestatteten  sie  deshalb,  damit  ,,die  Erbschaften 
früher  angetreten  würden"  (weil  nun  nämlich  der  Zivilerbe 
zu  fürchten  hatte,  daß  Usukapienten,  ihm  zuvorkommend,  wenn 
er  nicht  bald  antrat,  irgendwelche  Stücke  der  Erbschaft  dauernd 
entzögen).  Aber  wie?  Nur,  damit  sie  früher  angetreten  wür- 
den? Nicht  auch,  damit  sie  überhaupt  angetreten  würden? 
Wenn  jeder  dem  Erben,  auch  in  der  Voraussetzung, 
daß  dieser  noch  später  antreten  würde,  die  Sachen  vor  der 
Nase  weg  pro  berede  usukapieren  konnte,  war  jeder  hierbei 
stattfindende  Grund,  er  möchte  sein,  welcher  er  wollte,  nicht 
noch  weit  stärker,  insofern  man  die  Voraussetzung  machte, 
der  Erbe  würde  niemals  antreten?  Der  Verstand  zeigt  also 
durch  sich,  daß  das  maturius  nur  ein  erklärendes  Ein- 
schiebsel, und  zwar  ein  fälschendes  Einschiebsel  ist, 
und  daß  der  Satz  des  Gajus :  quod  voluerunt  veteres  matunus 
hereditates  adiri,  vielmehr  in  Wahrheit  einfach  heißen  muß : 
quod  voluerunt  veteres  hereditatis  adiri,  was  absolut  und  genau 
dasjenige  ist,  was  sich  uns  im  Text  vom  spekulativen  Gedanken 
aus  entwickelt  hat,  d.  h.  hier  wie  immer  fällt  wahre  Kritik 
urid   spekulative   Entwicklung  in  eins  zusammen. 

^)  Aber  wenn  sie  ausschlagen,  so  haben  sie  ihn  sogar 
negiert;  es  ist  dann  gar  kein  Fortgespanntsein  des  erb- 
lasserischen Willens  (hereditas  jacens)  mehr  vorhanden.  Der 
Wille,  auf  den  er  sich  bezog,  damit  ihm  eine  Fortexistenz  ge- 
geben werde,  hat  ihm  auch  das  Gegeben v/ erden  einer  sol- 

18  Lassalle,   Ges.  Sckriften,   Band  XU.  625 


aussetzung  dieser  vorausgesetzte  V/ille  logisch  konsequent 
weiter,  daß  der  erste  beste  Vorübergehende  jenen  zuvor- 
komme und  ihm  Fortexistenz  gebe.  War  es  ihm  ja  schon 
im  Intestatrecht  selbst  nur  um  Fortsetzung  überhaupt 
und  gleichviel  in  wem  zu  tun,  nur  daß  ihm  diese  Fort- 
setzung durch  die  Vermittelung  der  allgemeinen  Willens - 
gemeinsamkeit  gegeben  werden  sollte.  Ungegliedert  aber 
liegt  zuletzt  diese  Willensgemeinsamkeit  in  jedem  Träger 
desselben  Volksgeistes  vor,  und  es  ist  daher  nur  die  logisch 
notwendige  Abstufung  der  sie  berufenden  Voraussetzung 
selbst,  daß  sie  nur  die  erstberechtigten  sind,  an  die 
der  Ruf  sich  wendet,  und  die  herbeikommen  können,  ihm 
Erfüllung  zu  geben,  daß  aber,  solange  sie  nicht  hören 
wollen,  der  Intestatschrei  über  sie  hinausgeht  an  jeden, 
der  in  die  allgemeine  Willensgemeinsamkeit  eingeschlossen 
ist.  Dem  testamentarischen  Erben  aber  kann  dies 
nicht    passieren,     solange    er    in     seiner     echten     und 


chen  negiert  und  ihn  somit  vernichtet,  umgebracht.  Darum  ist 
er  jetzt  erblos  und  sein  Vermögen  vor  der  lex  Julia  herren- 
los und  Gegenstand  der  Okkupation,  nicht  der  Usu- 
kapion, daher  auch  nicht  der  usucapio  pro  berede.  Wenn 
eine  Fortbeziehung  des  erblasserischen  Willens  auf  einen  Fort- 
setzungsgeber überhaupt  nicht  mehr  existiert,  so  kann  auch  keiner 
mehr  für  diesen  einspringen,  pro  berede  usukapieren.  Die 
Fortexistenz  des  erblasserischen  Willens  haftet  an  dem  In- 
testaterben, und  sinkt  dem  Erblasser  ins  Grab  nach,  wenn  der 
Intestaterbe  ihn  abschüttelt  oder  selbst  stirbt.  Dann  ist  der 
Erblasser  zum  zweitenmal  gestorben,  dann  ist  auch  sein  Wille 
tot,  und  nun  kann  ihn  keiner  mehr  ins  Leben  bringen.  Die  usu- 
capio pro  berede  setzt  also  notwendig  voraus,  daß  der  Wille 
des  Erblassers  noch  an  einem  Erben  hafte,  um  ihn  ergreifen 
zu  können,  woraus  sich  erst  die  Einzelheiten  dieses  Institutes 
verstehen.  Dies  von  Gajus  nicht  bewältigte  Moment  ist  es  auch, 
welches  ihn  (siehe  S.  622,  Note  1)  zu  dem  Einschiebsel  ma- 
turius  veranlaßt. 

626 


adäquaten  begrifflichen  Weise  existiert.  Denn  dann 
ist  er  ja  (s.  Nr.  VIII)  schon  bei  Lebzeiten  des  Erb- 
lassers durch  die  beiderseitige  Willensidentifikation 
als  daseiende  Willensidentität  desselben  gesetzt, 
wie  wir  dort  bei  der  echten  und  ursprünglichen  Form  des 
zivilistischen  Testamentes,  wo  der  familiae  emptor  selbst 
der  Erbe  ist,  gesehen  haben,  und  wie  bei  zweien  Willen, 
die  sich  —  ohne  Hilfe  eines  Gesetzes,  was  nur 
beim  Intestatrecht  der  Fall  —  miteinander  identifizieren 
sollen,  ja  auch  ganz  notwendig  ist,  daß  sie  sich  noch  als 
Willen  lebend  gegenüberstehen.  Der  echte  Testaments- 
erbe, der  Testamentserbe  in  der  alten  Zeit,  bedarf  also, 
wie  nicht  etwa  bloß  aus  dieser  Form,  sondern  aus  dieser 
Form  nur  als  dem  realen  Dasein  der  Idee  folgt 
und  sich  von  allen  Teilen  unserer  Entwickelung  von  selbst 
ergibt^),  gar  keiner  neuen  Adition^);  er  ist  schon 
als  Erbe  da,  ist  diese  fortexistierende  Willenssubjektivi- 
tät, als  welche  er  sich  bereits  gesetzt  hat.  Erst  der,  wie 
wir  in  Nr.  VIII  ausdrücklich  zeigten,  in  vollständige 
Inkongruenz  mit  seinem  eigenen  Begriff  tretende 
Testamentserbe,  erst  dieser  Verderb  des  zivilistischen 
Begriffes  desselben  kann  dem  Testamentserben  dieselbe 
Inkongruenz  auch  in  seinem  materiellen  Recht  erzeugen. 

Die  usucapio  pro  berede  erweist  sich  so  als  ein  echter 
Intestatschrei.  Sie  nimmt,  was  der  letzte  für  ihre 
entwickelte  Bedeutung  erforderliche  Nachweis  ist,  im  alten 
jus  civile  nur  eine  spezifische  Stellung  zum  Intestat- 


1)  Vgl.  S.  615  und  Note  2  das.  mit  Nr.  VIII. 

2)  Man  vergleiche  nur  den  Bericht  des  Theophilus,  II,  Tit.  X, 
§  1,  welcher  deshalb  die  alte  Testamentsform  abkommen  läßt, 
weil  der  familiae  emptor,  als  der  von  selbst  vorhandene  Erbe, 
dem   Erblasser  nach  dem  Leben  getrachtet  habe. 

18-  627 


recht,  keine  zum  testamentarischen  ein,  kann  nur 
als  eine  mögliche  Modifikation  des  ersteren,  nicht  des 
zweiten  auftreten,  und  legt  auch  dadurch  ihren  nach- 
gewiesenen Begriff,  eine  innerliche  Abstufung  des  Intestat- 
rechtes  zu  sein,  entschieden  an  den  Tag. 

So  hat  sich  denn  der  Begriff  des  Intestatrechtes  zu 
seiner  organischen  Entwickelung  und  zu  seiner  letzten  über 
das  Intestatrecht  selbst  hinausgehenden  Konsequenz  ge- 
trieben. Die  usucapio  pro  berede  ist  —  inhaltlich  wie 
formell  —  ebenso  Intestatrecht,  wie  sie  es  nicht  ist; 
gerade  wie  der  suus  ebenso  testamentarischer  Erbe  ist, 
wie  Intestaterbe.  In  dieser  letzten  organischen  Abstufung 
und  umschlagenden  Konsequenz,  zu  der  sich  der  Begriff 
des  Intestatrechtes  treibt,  ist  nur  am  sinnfälligsten  klar 
geworden,  wie  weit  das  Intestatrecht  von  Anfang  an  davon 
entfernt  ist,   ,, Familienerbrecht"  zu  sein. 

Es  kann  nicht  die  Absicht  sein,  hier  auf  das  einzelne 
bei  der  usucapio  pro  berede  näher  einzugehen,  da  ja  nicht 
einmal  auf  das  eigentliche  Detail  des  Intestatrechtes  selbst 
eingegangen  werden  konnte.  Nur  ihr  Begriff  und  ihre 
allgemeine  Stellung  im  Erbrecht  sollte  klargelegt  werden. 
Aber  gerade  hierfür  sind  wenigstens  einige  Bemerkungen 
noch  unerläßlich. 

Hat  die  usucapio  einer  einzelnen  Sache  des  Erb- 
lassers schon  die  Usukapion  des  Erbtums  zur  Folge? 
Oder  ist  noch  ein  weiteres  nötig,  damit  der  Usukapient 
pro  berede  usukapiert  ?  Gajus  selbst  äußert  sich  darüber 
nicht  genau ;  denn  er  spricht  zuerst  von  einer  Usukapion 
der  rerum  hereditariarum,  während  er  bald  darauf  und 
an  späteren  Stellen  immer  von  res  und  eam  rem  spricht. 
Nimmt  man  an,  daß  Gajus  die  pro  berede  Usukapion 
als  bei  der  Usukapion  einer  einzelnen  Sache  des  Erb- 
lassers eintretend  bezeiclmen  will,  so  ist  sein  Bericht  nicht 

628 


genau,  d.  h.  er  ist  nur  für  eine  spätere  Zeit  des  jus 
civile  genau,  nicht  für  die  älteste  desselben.  Dies  folgt 
mit  der  unumstößlichsten  Gewißheit  schon  aus  den  beiden 
Sakraltheorien,  die  uns  Cicero  vorträgt  und  die  wir  sub 
Nr.  II  und  III  näher  betrachtet  haben.  Denn  dort  sagt 
ja  Cicero  mit  ausdrücklichen  Worten,  die  ältere  Theorie 
habe  die  Verpflichtung  zu  den  sacris  übergehen  lassen 
hereditate  aut  si  majorem  partem  pecuniae  capiat.  Erst 
die  jüngere  Sakraltheorie  läßt,  wie  Cicero  daselbst  be- 
zeugt, schon  mit  der  Usukapion  einer  einzelnen  Sache, 
si  ullam  rem  ceperit,  die  Verpflichtung  zu  den  sacris  ein- 
treten. Der  Usukapient  muß  also,  nach  der  älteren  Theorie, 
den  größeren  Teil  des  Vermögens  des  Toten  usukapieren, 
um  zu  den  sacris  verpflichtet  zu  sein.  Ein  Erbcharakter 
ohne  Verpflichtung  zu  den  sacris  ist  aber  vermöge  der 
absoluten  Identität  beider  nicht  möglich  (vgl.  Nr.  II),  und 
so  steht  denn  entschieden  fest,  daß  zur  Zeit  der  älteren 
Theorie  die  Usukapion  bloß  dann  eine  usucapio  pro  berede 
war,  bloß  dann  das  Erbtum  übertrug  und  den  Erbcharakter 
erzeugte,  wenn  sie  den  größeren  Teil  des  Ver- 
mögens des  Toten  umfaßte.  Es  ist  aber  nur  nötig,  dies 
Resultat  auszusprechen,  um  nun  in  völliger  Evidenz  hervor- 
treten zu  lassen,  daß,  was  wir  sub  Nr.  III  über  die  Be- 
deutung dieser  major  pars  des  Vermögens  und  über  den 
ideellen  Grund,  weshalb  eine  subsidiäre  Verpflichtung 
zu  den  sacris  durch  diesen  quantitativen  Vermögenserwerb 
auferlegt  werden  kann,  erörtert  haben,  nichts  anderes 
ist  als  —  so  wenig  wir  dort  auch,  noch  ehe  das  Intestat- 
recht  entwickelt  war,  davon  sprechen  konnten  —  die  ent- 
wickelte eigene  Bedeutung  der  usucapio  pro  herede. 
Der  überwiegende  quantitative  Zusammenhang,  zeigten 
wir  dort,  in  welchem  jemand  die  Sachen  des  Toten 
übernimmt,  läßt  durch  diesen  fortexistierenden  Zusam- 

629 


menhang  derselben  den  Widerschein  der  früheren 
Willensherrschaft  auf  den  neuen  Besitzer  fallen 
und  verpflichtet  ihn  dadurch  subsidiär  zu  den  sacris. 
Dieser  in  dem  fortexistierenden  Zusammenhang  der  Sachen 
gegebene  Widerschein  der  früheren  Willensherrschaft  ist 
es  also,  welcher  eine  Einheit  in  der  in  Einzelnes 
auseinanderfallenden  Sachenwelt  selbst  erzeugt,  die  vielen 
Sachen  in  den  Begriff  des  (individuellen)  Vermögens 
umsetzt,  diesen  erst  erschafft  und  wirklich  jene  ,, Ver- 
mögenspersönlichkeit" erzeugt,  die  unsere  Autoren  für  den 
Begriff  des  Erbrechtes  halten,  und  die  statt  dessen  nur 
das   Subsidiäre  des   Subsidiären  in  ihm  ist.    . 

Der  Ruf  also,  welcher  sich  in  der  usucapio  pro  berede 
an  jeden  Vorübergehenden  richtet,  geht,  wie  wir  schon 
oben  sagten,  dahin,  dem  Toten  Fortsetzung  zu  geben  durch 
die  bloße  Einlebung  in  sein  Vermögen,  Worte, 
die  erst  jetzt  zur  ganzen  Durchsichtigkeit  ihres  Inhaltes 
gelangen;  das  heißt  also:  Die  Bedingung  bei  der  Usu- 
kapion ist  eine  rein  faktische.  Hat  der  erste  beste 
Jemand,  der  den  Toten  fortsetzen  will,  kein  Recht, 
hat  er  weder  Testament,  noch  Intestatgesetz  in 
seiner  Hand,  hat  er  keinerlei  individuelle  Beziehung 
zum  Toten  und  nur  die  allgemeine  Gemeinsamkeit  des 
Volksgeistes  zu  ihm,  nun  so  muß  er  sich,  um  der  indivi- 
duellen Willenssubjektivität  des  Toten  Fortsetzung  zu 
geben,  wenigstens  faktisch  in  diese  Individualität 
hineinleben,  indem  er  sich  in  das  individuelle  Ver- 
mögen derselben  hineinlebt,  indem  er  es  leistet,  die 
Sachen  desselben  in  einem  solchen  Zusammenhange  an 
sich  zu  bringen,  daß  durch  die  Fortexistenz  dieses  vom 
Toten  begründeten  Zusammenhanges  der  Widerschein 
seiner  individuellen  Willensherrschaft  auf  ihm  weilt.  Dies 
ist   die   faktische   individuelle   Fortsetzung   des   Usu- 

630 


kapienten,  die  bei  ihm  an  die  Stelle  eines  ihn  berufenden 
Rechtes  tritt,  oder  dies,  dieses  Sichhineinindividua- 
1  i  s  i  e  r  e  n  in  den  Toten,  ist  die  E  r  f  ü  1 1  u  n  g  der  Bedingung, 
unter  welcher  die  Berufung  des  individuellen  Intestat- 
willens  an  ihn  ergangen  ist,  oder  die  Erfüllung  der  Auf- 
gabe individueller  Fortsetzung,  die  an  ihn  gestellt 
ist.  Es  ist  diese  faktische  Leistung  der  Sichhineinindivi- 
dualisierurg  in  den  Toten,  die  ihn  von  jedem  anderen  Volks- 
individuum und  vom  Usukapienten  pro  suo  unterscheidet. 
Während  der  echte  Erbe  (der  Testamentserbe)  in  der 
alten  Zeit  des  jus  civile  nicht  nur  kein  Vermögen  braucht, 
um  Erbe  zu  sein,  nicht  nur  keines  erhält,  sondern  auch, 
um  seinen  Begriff  des  Willensträgers  rein  zu  betätigen, 
keines  erhalten  darf,  ist  es  bei  diesem  subsidiarischsten 
Subsidiarerben  gerade  diese  Leistung  des  Vermögens- 
e  r  w  e  r  b  e  s ,  durch  welche  er  sich  dem  Toten  assimiliert  und 
sich  zum  individualisierten  Willensfortsetzer  desselben,  zum 
Erben  macht.  Dies  ist  also  die  Bedeutung  der  major  pars, 
und  es  muß  entschieden  daran  festgehalten  werden  und  ist 
durch  die  Stelle  des  Cicero  peremtorisch  bewiesen,  wenn 
auch  merkwürdigerweise,  soviel  wir  uns  erinnern,  stets  über- 
sehen, daß  die  älteste  usucapio  pro  berede  an  die  Usu- 
kapierung  der  major  pars  pecuniae  gebunden  ist. 

Aber  wie?  Was  wir  in  Nr.  III  von  dieser  major  pars, 
von  dem  durch  diesen  fortexistierenden  Zusammenhang  des 
Vermögens  entstehenden  Widerschein  der  früheren  Wil- 
lensherrschaft gesagt  und  soeben  wiederholt  haben,  was  wir 
dort  nur  hingeworfen,  hier  aber  erst  in  seinem  tiefen 
organischen  Zusammenhange  entstanden  und  begründet  ge- 
funden und  somit  hier  erst  wahrhaft  bewiesen  haben,  das 
behaupteten  wir  in  Nr.  III  ja  geradezu  als  das  subsidiäre 
unterscheidende  Prinzip  des  prätorischen  Rechtes  der 
bonorum   possessio.    Und  hier  finden   wir  es   wieder   im 

631 


ältesten  Zivilrecht  selbst  und  wollen  es  für  solches  aus- 
geben. 

Aber  mit  dieser  bloßen  Frage  fällt  nun  auch  der  letzte 
Schleier,  der  bisher  das  römische  Erbrecht  verhüllte,  und 
dasselbe  tritt  nunmehr  in  seiner  ganzen  leuchtenden  Einheit, 
in  der  ganzen  blendenden  Helle  seiner  begrifflichen  und  ge- 
schichtlichen Entvvickelung  hervor. 

Ja,  das  jus  civile  selbst  trägt  in  diesem  subsidiären 
Intestatrecht,  in  diesem  Subsidiären  des  Subsidiären  bereits 
den  Keim  in  sich,  aus  welchem  sich  das  prätorische 
Erbrecht  der  bonorum  possessio  entwickelt  hat,  den 
Keim  seines  eigenen  Verderbens.  Und  trüge  es  nicht 
selbst  schon  diesen  Keim  in  sich,  n  i  e  hätte  das  prätorische 
Erbrecht  entstehen  können.  Dieser  Keim  des  prätorischen 
Rechtes,  das  Dasein  seines  Prinzipes  im  jus  civile 
—  das  ist  eben  jene  letzte  subsidiäre  Abstufung  desselben, 
die  zivilistische  usucapio  pro  berede !  Und  wäre  hier  noch 
von  einem  einzelnen  Beweise  zu  reden,  wo  alles  Beweis 
ist,  so  würde  er  darin  liegen,  daß  die  römischen  Juristen 
selbst  den  prätorischen  bonorum  possessor  zu  den  Usu- 
kapienten  pro  berede  rechnen^)  und  also  die  Einheit  des 
zivilistischen  und  prätorischen  Erbprinzipes  in  ihm  hier 
auch  äußerlich  hervortritt. 

Die  zivilistische  usucapio  pro  berede  trägt  schon  in 
ihrer  äußeren  Erscheinung  als  ein  bona  possidere  des  Toten 
so  sehr  ihre  genetische  Verknüpfung  mit  der  bonorum  pos- 
sessio in  sinnlich  handgreiflichen  Zügen  auf  die  Stirn  ge- 
schrieben, daß  schon  bisher  das  Dasein  eines  solchen  Zu- 
sammenhanges nicht  unbemerkt  bleiben  konnte,  und  die  ver- 
schiedensten Vermutungen  darüber  aufgestellt  worden  sind. 


1)  Ulpian.  L.   11  de  H.  P.  (5,  3):  „Sed  enim  et  bc 
possessor  pro  berede  videtur  possidere." 

632 


Savigny  in  seiner  ersten  Abhandlung  über  das  Inter- 
dictum  quor.  bonor.O  denkt  sich  denselben  also:  Bei  der 
Einführung  des  prätorischen  bonorum  possessio  sei  es  der 
Zweck  gewesen,  gewisse  Personen,  die  nicht  Erben  waren, 
namentlich  die  Emanzipierten,  doch  praktisch  den  Erben 
gleichzustellen,  sowohl  hinsichts  der  Obligationen  wie  des 
Eigentums.  Für  erstere  sei  dieser  Zweck  einfach  dadurch 
erreicht  worden,  daß  der  Prätor  diesen  Personen  utilis  actio 
für  jede  einzelne  Schuldklage  gegeben  habe.  Für  das  Eigen- 
tum aber  habe  sich  der  Prätor  eben  an  die  usucapio  pro 
berede  angelehnt.  Da  diese  den  vom  Prätor  begünstigten 
Personen  ebensogut  zugestanden,  wie  jedem  anderen,  hätten 
nicht  andere  Personen  schon  vor  ihnen  sich  in  den  Besitz 
der  Sachen  gesetzt,  so  hätte  es  für  sie  eines  besonderen 
Rechtsmittels  gar  nicht  bedurft  2).  Hätte  aber  ein  anderer 
schon  zu  usukapieren  angefangen  gehabt,  so  sei  nun  frei- 
lich eine  Rechtshilfe  notwendig  gewesen,  indem  der  Prätor 
durch  das  Interdikt  diese  anderen  zwang,  die  Sachen  her- 
auszugeben, und  den  von  ihm  begünstigten  Personen  dadurch 
die  Möglichkeit  verschaffte,  die  usucapio  pro  berede  vor- 
nehmen zu  können.  Später,  nach  Einführung  des  bonitari- 
schen  Eigentums,  habe  man  dies  natürlich  dem  bonorum 
possessor  sogleich  nach  Erteilung  der  bonorum  possessio 
zugestanden,  und  nachdem  man  sich  so  mehr  und  mehr  daran 
gewöhnt  habe,  die  bonorum  possessio  als  ein  der  hereditas 
gleichartiges  Recht  anzusehen,  habe  man  auch  die  eigentüm- 
lichen Rechtsmittel  derselben  auf  sie  angewendet;  so  sei 
auch  bei  ihr  die  successio  in  Universum  jus,  namentlich  die 
possessoria  hereditatis  petitio  allmählich  entstanden. 


*)  Zeitschrift  für  geschichtliche  Rechtswissenschaft,  V,  14  fg. 
')  Insofern  wären  sie  ja  aber  auch  gar  nicht  prätorische 


633 


Es  wäre  überflüssig,  die  einzelnen  Irrtümer  und  Unmög- 
lichkeiten, welche  diese  Ansicht  enthält,  bloßzulegen. 

Der  wesentlichste  Irrtum  derselben,  den  auch  die  ihr 
entgegentretenden  Juristen  übersehen,  ist  der,  daß  über- 
haupt durch  sie  gar  nichts  erklärt,  sondern  das  zu  Er- 
klärende einfach  vorausgesetzt  wird.  Wenn  einmal 
vorausgesetzt  wird,  daß  der  Prätor  gewisse  Personen  ,, be- 
günstigen" und  den  Erben  praktisch  gleichstellen  wollte 
und  konnte,  nun  so  ist  das  Prinzip  des  prätorischen 
Erbrechtes  ja  schon  da,  ist  schon  selbst  als  bestehend 
vorausgesetzt,  und  von  einer  Genesis  desselben  aus 
der  usucapio  pro  berede  keine  Rede !  Wird  anderen  Per- 
sonen, die  zu  usukapieren  angefangen  haben,  dies  zivilisti- 
sche Recht  zugunsten  jener  Personen,  die  der  Prätor  eben 
den  Erben  gleichstellen  will,  durch  das  Interdikt  entzogen, 
nun  so  ist  ja  eben  das  prätorische  Erbrechtsprinzip  schon 
fix  und  fertig  unterstellt  und  nicht  als  aus  der  usucapio  pro 
berede  entstanden  genetisch  erklärt,  vielmehr  ist  es  sogar 
gegen  dies  zivilistische  Recht  ins  Leben  getreten.  Und  auf 
Grund  welcher  Befugnis  ?  Auf  Grund  der  anderen  prätori- 
schen Rechtsidee!  Aber  deren  Entstehung  zu  erklären, 
darum  handelte  es  sich  ja  eben !  Wird  sie  einmal  als  vor- 
handen angenommen,  so  können  die  einzelnen  Ma- 
noeuvres,  die  sie  zu  ihrer  Ausführung  gebraucht,  an  und 
für  sich  schon  nur  ein  ganz  sekundäres  Interesse  haben. 
Übrigens  ist  evident,  daß  auch  im  einzelnen  nichts  auf  diese 
Weise  entstanden  sein  kann.  Ist  die  Idee  eines  prätori- 
schen Erbrechtes  einmal  da,  so  ist  die  successio  in 
Universum  jus  und  die  possessoria  hereditatis  petltio  des 
prätorischen  Erben  ja  schon  ganz  gegeben  und  kann  nicht 
erst  später  entstehen. 

Anders  denkt  sich  Huschke  jenen  Zusammenhang.  Er 
versucht  eine  Erklärung  dieser  Genesis  der  prätorischen 

634 


bonorum  possessio  aus  der  zivilen  usucapio  pro  herede  — 
in  den  Worten.  In  der  Sache  verfällt  er  ganz  in  denselben 
Zirkel,  das  prätorische  Prinzip,  statt  seine  Genesis  zu  er- 
klären, als  schon  vorhanden  vorauszusetzen,  und  in  noch 
substantiellere  Unrichtigkeiten.  Er  denkt  sich  die  Ein- 
führung der  bonorum  possessio  also  ^)  : 

Die  usucapio  pro  herede  habe  mit  der  Zeit  einen  un- 
würdigen und  gehässigen  Charakter  angenommen.  Früher 
sei  sie  eine  pia  et  honesta  gewesen,  die  besonders  nur  von 
dem  Erblasser  nahestehenden  Personen  (  !  die  pure  Vor- 
aussetzung, die  gegen  den  ganzen  ausdrücklichen  Inhalt 
dieses  Rechtes  angeht!)  in  Anwendung  gebracht  worden 
sei,  welche  ihr  Gewissen  zu  einer  solchen  schleunigen  Be- 
sitzergreifung getrieben,  damit  nämlich  bald  Götter  und 
Menschen  befriedigt  würden  (vgl.  hierüber  oben  S.  622, 
Note  1)  ;  da  später  aber  die  Gewinnsucht  sich  über  Reli- 
gion und  Ehrenhaftigkeit  erhoben  hätte,  so  sei  sie  dadurch 
zu  einer  improba  et  lucrativa  geworden.  Hierdurch  sei  es 
sehr  gewöhnlich  geworden,  daß  der  Nachlaß  den  würdig- 
sten Kompetenten  (wer  waren  diese?)  entzogen  und  so 
sehr  zersplittert  sei,  daß  die  einheitliche  Idee  der  bona 
darüber  fast  verloren  gegangen  und  auch  der  ursprüngliche 
Zweck,  für  Götter  und  Kreditoren  einen  baldigen  Nach- 
folger zu  liefern,  ganz  verfehlt  worden  sei.  Dieser  Zustand 
der  Dinge  habe  den  Prätor  zu  einer  Intervention  auffordern 
müssen,  und  so  habe  er  denn  in  den  Edikten  über  bonorum 
possessio  ursprünglich  nur  seine  Hilfe  für  das  schon  längst 
bestandene  bona  possidere  angeboten,  wobei  ihn  vorzüglich 
der  zwiefache  Gesichtspunkt  geleitet,  einmal,  daß  die  ein- 
heitliche Natur  der  bona  (  ! )  festgehalten,  und  zweitens, 


^)  Siehe  seine  Rezension  der  Schrift  von  Fabricius  in  Rich- 
ters  Krit.    Jahrbüchern,   1839.   S.  11  fg. 

635 


daß  beim  Streite  der  Kompetenten  über  die  Erbschaft  nur 
die  Würdigsten  zu  der  vom  Prätor  autorisierten  Besitz- 
nahme zugelassen  würden.  Zugleich  habe  er  auch,  da  alles 
darauf  angekommen  sei,  dem  Erbvermögen  recht  bald 
einen  faktischen  Vorsteher  zu  geben  (  !  )  ^),  die  Anerbietung 
der  bonorum  possessio  auf  eine  gewisse  Zeit  beschränkt  und 
nach  deren  Ablauf  den  nächsten  würdigen  Kompeten- 
ten berufen  (successorium  edictum)  usw. 

Wir  haben  dieses  Referat  von  Huschkes  Ansicht  mit 
den  Worten  Vangerows  gegeben  ^),  der  darin  einen  ,, geist- 
reichen Einfall"  sieht,  ihm  aber  selbst  die  Unmöglichkeit 
entgegenhält,  daß  aus  dieser  ..prätorischen  Besitz- 
einweisung zum  Zweck  der  usucapio  pro  berede" 
sich  ein  gesamtes  abgerundetes  Erbrechtssystem  habe  ent- 
wickeln und  überdies  noch  eine  so  eigentümliche  (es  all- 
mählich verschlingende)  Stellung  zum  Zivilerbrecht  habe 
einnehmen  können,  weshalb  er  Savigny  und  Huschke  gegen- 
über —  und  soweit  mit  vollem  Recht  —  bei  der  im  ganzen 


^)  Das  „Vermögen"  ist  bei  Huschke  ein  wahres  Götzenbild 
für  den  Römer,  in  dessen  Dienst  er  sich  unablässig  schindet 
und  aufopfert.  Dies  selbstlose  Ding,  diese  bloße  Sache,  die 
das  Subjekt  genießt,  will  einen  , .faktischen  Vorsteher"  haben, 
einen,  der  es  bedingt  (vgl.  oben  25 — 35;  S- 589,  Note  1), 
will  eine  , .einheitliche  Natur"  und  eine  , .einheitliche  Idee" 
haben,  wehrt  sich  gegen  Zersplitterung,  wehrt  sich  auch  gegen 
den  ersten  besten,  dem  die  usucapio  es  doch  unterwirft,  und 
will  einen  haben,  der  seiner  , .würdig"  sei,  und  der  Römer  hat 
nichts  zu  tun.  als  nicht  nur  alle  Verhältnisse  der  Vernunft  über- 
haupt umzukehren,  sondern  auch  alle  Sätze  seines  eigenen 
jus  civile,  seines  eigenen  historischen  Geistes,  in  Stücke  zu 
schlagen,  um  nur  die  tyrannischen  Launen  dieses  Quälgeistes 
zu  befriedigen!  —  Ist  es  die  Philosophie  oder  die  positive 
Jurisprudenz,   die  sich  in  Abstraktionen  ergeht? 

2)  Pandekten.   II,   13   (Marburg   1852).' 

63Ö 


herrschenden  Ansicht  von  Fabricius  ^)  stehen  bleiben  zu 
wollen  erklärt,  nach  welcher  die  bonorum  possessio  ur- 
sprünglich aus  einer  vorläufigen  Besitzeinweisung  zum 
Zwecke  eines  gerichtlichen  Erbschaftsstreites  hervorgegan- 
gen sei. 

Wir  unsererseits  vermögen  auch  das  „Geistreiche"  in 
dem  Einfall  keineswegs  zu  finden. 

Vor  allem  ist  ja  wieder  die  vollkommen  leere,  tauto- 
logische  petitio  principii  dieser  angeblich  genetischen  Er- 
klärimg völlig  evident!  Nach  welchem  Prinzip  bestimmt 
denn  der  Prätor  die  ,,würdigsten  Kompetenten"  zur 
Usukapion?  Usukapieren  heißt  Ersitzen.  Wer  ist  zum 
Ersitzen  der  ,, Würdigste"  ?  Wer  sich  zuerst  auf  die  Sache 
setzt.  Das  zeigt  die  Vernunft,  und  ganz  besonders  das 
römische  Zivilrecht. 

Wenn  der  Prätor  statt  dessen  schon  irgendein  anderes 
Prinzip  in  der  Hand  hat,  sei  es  welches  es  wolle,  wel- 
ches die  ..würdigsten  Kompetenten"  und  die  ..nächst 
Würdigsten"  bestimmt,  so  hat  er  eben  schon  das  fix  und 
fertige  Prinzip  des  prätorischen  Erbrechtes 
von  vornherein  in  der  Hand,  und  es  braucht  und  kann 
dasselbe  nicht  mehr  aus  der  usucapio  pro  berede  allmäh- 
lich entstehen.  Das  Prinzip,  welches  bestimmt,  welche 
Personen  mit  Ausschluß  andei^er  die  würdigsten  sind, 
das  Vermögen  eines  Toten  an  sich  zu  nehmen,  pflegt  man 
eben  gemeinhin  —  v/ie  der  „geistreiche  Einfall"  übersieht 
—  Erbrecht  zu  nennen!  Nicht  nur  das  Prinzip  des  prä- 
torischen Erbrechtes  ist  dann  gar  nicht  aus  der  usucapio 
pro  berede  entstanden,  sondern  bleibt  vor  wie  nach,  man 
weiß  nicht  woher  geflogen,  und  der  Prätor  kann  dafür  die 


^)  Historische  Forschungen  Im  Gebiete  des  römischen  Pri- 
vatrechtes,  Heft   1    (Berlin   1837). 

637 


usucapio  pro  herede  auch  gar  nicht  mehr  benutzen.  Denn 
wenn  er  den  Besitz  des  Toten  erteilt  nach  einem  die  Wür- 
digsten bestimmenden  Prinzip,  so  erteilt  er  eben  gar  nicht 
mehr  Usukapion,  so  wenig  pro  herede  wie  pro  suo, 
sondern  eigenes,  selbständiges  Erbrecht,  nur  frei- 
lich nicht  zivilistisches,  sondern  prätorisches.  Und  freilich 
ist  dies  eben  die  Wahrheit,  daß  er  dies  erteilt;  aber 
dies  ist  eben  das  Gegenteil  der  in  Rede  stehenden  Ansicht, 
und  aus  ihr  heraus  niemals  zu  begreifen.  Und  ebensowenig 
könnte  die  usucapio  pro  herede,  die  ja  nur  eintritt,  solange 
die  Testaments-  und  Intestaterben  nicht  antreten,  dies  prä- 
torische  Prinzip  jemals  befähigen,  die  zivilrechtlichen 
Erben  selbst  zu  verdrängen. 

Es  ist  hiernach  überflüssig,  die  weiteren  Gegenteile  des 
Wahren  noch  näher  zu  entwickeln,  die  in  der  obigen  An- 
sicht enthalten  sind,  und  die  bei  Huschke  um  so  natürlicher 
sind,  als  er  überhaupt  einfach  die  usucapio  pro  herede  für 
, .einen  Irrtum  der  Alten"  hält^). 

Durch  die  erwähnten  Erklärungen  ist  also  das  prätori- 
sche  Erbrecht  «icht  nur  nicht  aus  der  usucapio  pro  herede 
abgeleitet,  sondern  das  prätorische  Erbrecht  bleibt  über- 
haupt unerklärt.  Es  bleibt,  was  es  war,  prätorische  Willkür, 
prätorisches  Besserwissen,  prätorische  Eigenmächtigkeit 
gegen  das  jus  civile ! 

Es  mag  sein,  daß  Niebuhr  kein  Jurist  ist.  Es  ist  auch 
wahr,  daß  die  Erklärung,  die  er  seinerseits  von  der  Ent- 
stehung der  prätorischen  bonorum  possessio  gibt  —  ilaß 
sie  nämlich  aus  dem  Besitz  des  ager  publicus  hervorge- 
gangen sei  ^)  — ,  eine  äußerst  verunglückte  und  wirklich 
unjuristisch  zu  nennende  ist.   Aber  die  Antwort,   die   er 


^)  Studien  des  römischen  Rechtes,   I,  237. 
2)  Niebuhr,   Römische  Geschichte.  II.   173  fg. 


638 


dabei  den  Juristen  gibt :  „Eine  Magistratur,  die  es  sich  hätte 
anmaßen  dürfen,  ein  Erbrecht  einzuführen,  wodurch  das 
gesetzlich  bestehende  untergraben  werden  sollte,  ist  eine 
Monstrosität,  welche  kein  verständiger  Mann,  sobald  er 
sich  die  Sache  verwirklicht  denkt,  für  möglich  halten  kann," 
ist  niemals  von  ihnen  widerlegt  worden,  und  trifft  alle  ihre 
Erklärungsversuche  gleichmäßig. 

Die  wahrhafte  genetische  Entwickelung  des  prätori- 
schen  Erbrechtes  aus  der  usucapio  pro  berede  ist  nun 
aber  aus  dem  Obigen  bereits  evident.  Das  jus  civile  trägt 
von  Anfang  an,  zwar  nur  als  seine  äußerste  versteckte 
Falte,  als  seine  subsidiärste  Abstufung  des  Subsidiären, 
diesen  Entwickelungskeim  des  zivilistischen  Verderbens  in 
sich,  aber  es  trägt  ihn  bereits  in  sich  selber.  Wie  er 
zum  Vorschein  kommt,  wie  er  sich  entfaltet  und  allmählich 
das  zivilistische  Erbrecht  selbst  verdrängt,  —  diese  ganze 
Entwickelung  ist  schon  gegeben,  wenn  man  von  hier  aus 
das  nachliest,  was  wir  in  Nr.  III  über  die  Entwickelung 
der  jüngeren  Sakraltheorie  aus  der  älteren  nach- 
gewiesen haben.  Es  ist  absolut  derselbe  Prozeß,  derselbe 
Gedankengang,  wenn  wir  auch  dort  seine  Tragweite  noch 
nicht  entfalten  konnten.  Es  ist  das  Schicksal  des  gesamten 
jus  civile,  das  wir  dort  in  dem  inneren  Verhältnis  der  beiden 
Sakraltheorien  zueinander  nachgewiesen  haben.  Das  Sub- 
sidiäre, welches  im  zivilistischen  Recht  als  Subsidiäres 
enthalten  ist,  tritt  zunächst  als  selbständiges,  aber  noch 
untergeordnetes,  als  ein  noch  subsidiäres,  aber, 
als  außerhalb  des  jus  civile  befindlich,  ihm  koordi- 
niertes Recht  neben  das  zivilistische  Recht,  und  nachdem 
es  dies  Nebeneinander  mit  dem  zivilistischen  Recht  er- 
langt hat,  hat  es  dasselbe  an  sich  schon  aufgehoben  und  setzt 
sich  allmählich  an  die  Stelle  desselben.  Wir  haben  bereits 
(S.  630 fg.)  hervorgehoben,  wie  in  dieser  seiner  subsidiär- 

639 


sten  Falte  das  Prinzip  des  zivilen  Er-brechtes  an  sich  in 
sein  absolutes  Gegenteil  umgeschlagen  ist.  Wenn  der 
Begriff  des  echten  zivilistischen  Erbtums  die  subjektive 
Willensunsterblichkeit  ist,  die  nicht  nur  mit  der  Vermögens- 
übertragung nichts  zu  tun  hat,  sondern  durchaus  negativ 
gegen  diese  ist,  so  daß  der  echte  und  wahre  Erbe  nur  der 
vermögenslose  enterbte  Willensträger,  dieser  Triumph  des 
Erblassers,  ist,  so  ist  mit  dem  äußerst- Subsidiarischen  der 
usucapio  pro  berede  ein  Erbtum  eingetreten,  welches  sich 
gerade  nur  durch  den  Vermögenserwerb  erzeugt.  Der 
Erbe  hat  hier  nicht  die  Willens  Subjektivität  des  Toten 
übertragen  bekommen  und  beherrscht  in  sekundärer  Folge 
davon  dessen  Vermögen,  sondern  gerade  nur  durch  das 
Vermögen  lebt  er  sich  hinein  in  dessen  Willen, 
wie  wir  gesehen  haben  und  wie  überdies  durch  die  von  der 
Sache  ausgehende  Usukapion  unter  allen  Umständen  evi- 
dent ist.  Es  ist  somit  ein  a n d e r e s  und  entgegengesetz- 
tesErbrechtsprinzip,  das  Erbrecht  als  Ve  rmögens- 
erwerb,  welches  als  subsidiärste  Abstufung  im  jus  civile 
selbst  an  sich  enthalten  ist.  Dieses  Prinzip  gesetzt  als 
das,  als  was  es  so  im  jus  civile  bereits  an  sich  vorhanden 
ist:  als  ein  zwar  anderes  und  selbständiges,  dem  zi- 
vilen Erbrecht  aber  noch  subsidiäres,  besonderes  Erb- 
rechtsprinzip,  das  Erbrecht  als  Vermögenserwerb 
—  dies  ist  das  prätorische  Erbrecht! 

Genau  so,  wie  es  sich  hier  durch  die  notwendige  Konse- 
quenz des  Begriffes  bestimmt  und  entwickelt  hat,  tritt  es 
in  der  Geschichte  auf.  Als  ein  anderes  und  besonderes 
Erbrecht;  denn  so  tritt  es  als  prätorisches  neben  das 
zivilistische  hin,  und  steht  auch  dem  zivilistischen 
E  r  b  e  n  als  ein  von  seinem  zivilistischen  Erbrecht  getrenn- 
tes und  verschiedenes  zu,  läßt  ihm  die  Wahl  zwischen 
diesem  neuen  bloßen  Vermögenserbrecht,  der  bonorum  pos- 

640 


sessio,  und  seinem  zivilistischen  Rechte,  und  umfaßt  testa- 
mentarisches und  Intestaterbrecht,  wenn  es  auch  ursprüng- 
lich, wie  dem  Gedanken  nach,  so  auch  historisch,  von  letz- 
terem ausgegangen  ist.  Aber  gerade  in  diesem  nachgiebigen 
Anschmiegen  an  den  zivilistischen  Erben,  gerade  darin, 
daß  es  ihm  erlaubt,  trotzdem  er  ein  solcher  ist,  auch  bloße 
bonorum  possessio  zu  agnoszieren,  zeigt  es,  daß  es  nun  ein 
besonderes  Erbrecht  ist,  das  Erbrecht  als  bloßer 
Vermögenserwerb,  welches  unabhängig  von  jenem 
ist  und  seinen  inneren,  noch  verhüllten  Antagonismus  wird 
entfalten  müssen.  Als  ein  bloß  Subsidiäres  des  jus 
civile  tritt  es  neben  dasselbe.  Denn  selbst  noch  bis  zu  Ga- 
jus'  Zeit  gilt  der  Satz-^),  daß  der  zivilistische  Erbe  dem 
bonorum  possessor  die  Erbschaft  abrufen  kann  und  dieser 
sie  nur  behält,  si  nemo  sit  alius  jure  civili  heres.  Statt  in 
einen  Konflikt  mit  dem  Zivilrecht  zu  treten,  erfaßt  es 
sich  zunächst  als  ein  Recht  supplendi  juris  civilis  gratia. 
Die  successio  in  Universum  jus  defuncti,  die  possessoria  he- 
reditatis  petitio  bringt  es  von  Haus  aus  mit  aus  seinem  müt- 
terlichen Erdreich,  und  muß  sie  mitbringen.  Denn  es  ist 
Erbrecht,  nur  Erbrecht  auf  dem  bloßen  Standpunkt  des 
Güterbesitzes,  Erbrecht  aufgefaßt  als  Vermögens- 
erwerb. Es  ist  darum  alles  in  ihm,  was  in  dem  zivi- 
listischen Erbrecht  ist,  alles  spiegelt  sich  in 
ihm  wider,  alles  kommt  in  ihm  wieder  zum  Vorschein, 
nur  entleert  von  dem  zivilistischen  Begriff  der  Willensfort- 
existenz, entleert  von  dem,  was  in  dem  zivilistischen  Recht 
das  Zivilistische  ist.  Wird  daher  gefragt,  wer  die  Erb- 
berechtigten auf  diesem  Boden  sein  können,  so  ist  zunächst 
die  Antwort,  daß  dies  natürlich  ja  wiederum  nur  die  Erb- 
berechtigten des  jus  civile  sein  können !  Nicht  die  Erbbe- 


i)  Gajus.  II.  §  149. 

19  Laj.aUe.   Ges.  Schraten.   Band  XII.  641 


reclitigung,  sondern  nur  der  Boden  ist  geändert,  auf  wel- 
chem sich  dieselbe  bewegt.  Auf  diesem  neuen  Boden 
rollt  sich  daher  noch  einmal  sachgemäß  das  ganze  System 
des  Zivilrechtes  mit  seinen  Unterschieden  auf.  Daher 
das  häufig  von  den  Autoren  bemerkte  ängstliche  Anklam- 
mem der  bonorum  possessio  an  das  System  der  Zivilerb- 
schaft, daher  die  „so  sichtbar  hervor-tretende  Berücksichti- 
gung der  Agnaten  und  in  gewisser  Weise  selbst  der  Sui- 
tät"  ^).  Nur  daß  sich  auf  diesem  Boden,  der  von  vornherein 
die  Abstraktion  vom  zivilistischen  Recht,  das 
Hinwegsehen  vom  Begriff  des  spezifisch-römischen 
historischen  Volksgeistes  ist,  sich  nichts  in  ausschließender 
Geltung  erhalten  kann,  was  nur  durch  den  Begriff  dieses 
spezifischen  historischen  Volksgeistes  gegeben  ist,  so 
daß  hier  nun  das  allgemein  Menschliche  hervorbricht,  zu- 
nächst hinter  jenem  besteht  und  dann,  es  nach  seiner  eigenen 
Reihenfolge  gliedernd,  es  allmählich  aufhebt.  Daher  also 
auch  wieder  das  relativ  Wahre  in  der  Meinung  derjenigen 
Autoren^),  welche  die  bonorum  possessio  auf  das  jus  gen- 
tium basieren,  annehmend,  daß  sie  aus  dem  Edikt  des  prae- 
tor peregrinus  in  dasjenige  des  praetor  urbanus  hinüber - 
gewandert  sei.  Sie  ist  nicht  so  gewandert  und  nicht  so 
entstanden.  Aber  als  Abstraktion  von  dem  im  jus  civile 
waltenden  spezifisch-römischen  Geistesbegriff,  bewegt  sie 
sich  dem  Prinzip  nach  von  vornherein  auf  dem  Boden  des 
jus  gentium,  bis  sie  sich  auch  in  realster  Wirklichkeit,  ihre 
unvermeidlichen  Gedankenkonsequenzen  ziehend  und  sich 
an  die  Stelle  des  Zivilrechtes  setzend,  sich  immer  mehr  zu 
einem  jus  gentium  abreibt.  Beide  Ansichten  der  Autoren, 
die  sich  als  entgegenstehende  bekämpfen,   haben  sich  so 

^)  Fabricius.  a.  a.  Ö.,  S-  7  fg. ;  Löhr  in  seinem  und  Groll- 
manns  Magazin,   III,   250  fg. ;   Vangerow,   Pandekten.   II,    14. 
2)  Siehe  oben  S.  94,  Note  1. 

642 


von  selbst  in  die  Einheit  jenes  begrifflidien  Verhältnisses 
aufgelöst. 

Zugleich  zeigt  sich  hier,  daß  auch  das,  was  wir  sub 
Nr.  V  über  die  bonorum  possessio  sagten,  zwar  richtig,  aber 
noch  abstrakt  und  einseitig  war.  Wir  konnten  dort  nur  die 
Seite  des  Gegensatzes  zwischen  der  bonorum  possessio  und 
dem  zivilen  Erbrecht  hervorheben.  Die  Seite,  nach  wel- 
cher sie  an  sich  in  ihm  enthalten  ist,  aus  ihm  entsteht  und 
die  sie  mit  ihm  gemeinsam  hat,  konnten  wir  dort  noch  nicht 
darlegen.  Auch  eine  Vorausweisung  hätte  nichts  genützt 
und  nichts  deutlich  gemacht.  Alles  Wahre  entsteht  nur 
schrittweise.  Wohl  aber  gewinnen  erst  von  hier  aus  die 
häufigen  Bemerkungen  ihr  wahres  begriffliches  Verständ- 
nis, in  welchen  wir  oft  auch  in  Einzelheiten  den  Gegensatz 
wie  die  gemeinschaftliche  Seite  beider  Institute  —  den 
Widerschein  des  zivilistischen  Prinzipes  in  der  bono- 
rum possessio  —  klar  zu  legen  suchten^).  Wohl  aber  ge- 
winnt jetzt  ihr  ganzes  Verständnis  jene  gedoppelte  Be- 
wegung, die  wir  vor  kurzem  (S.  522,  Note  1)  als  die  Be- 
wegung des  römischen  Rechtes  geschildert  haben.  Der  Satz  : 
Sacra  cum  pecunia  stellt  bereits  eine  gedoppelte  Be- 
wegung dar :  die  Bewegung,  daß  der  Übergang  der  sacra, 
oder  das  Erbtum,  das  Vermögen  nach  sich  ziehen  solle,  und 
die  Bewegung,  daß  das  Vermögen  den  Übergang  der  sacra 
oder  das  Erbtum  in  sich  schließe.  Beides  sind  somit  nur 
zwei  Seiten  des  einen  ihnen  zugrunde  liegenden  Be- 
griffes, daß  das  Erbtum  im  Vermögenserwerb  bestehe, 
einen  Begriff,  welchen  das  jus  civile  in  jener  äußersten  sub- 

1)  Vgl.  z.  B.  oben  S.  65-69  u.  S.  74-81  mit  S.  131. 
Note  1;  S.  157;  S.  219.  Note  1;  S.  319.  Note  1;  S.  328. 
Note  1:  S.  370fg.;  S.  395.  Note  3:  S.  415;  S.  421.  Note  2; 
S.498;  S.  545.  Note  1;  S.  548,  Note  1;  S.  576  fg..  629  fg.. 
649  fg..  und  besonders  S.  670  fg..  709—724. 

19*  643 


sidiarischen  Falte,  in  der  usucapio  pro  herede,  im  Keime 
schon  in  sich  trägt.  Dieser  Keim  beginnt  nun  seine  ge- 
doppelte Bewegung,  nach  jenen  beiden  Seiten  hin.  Er 
beginnt  sie,  indem  er  sich  als  das,  was  er  ist,  als  das  andere 
und  von  dem  zivilistischen  Prinzip  verschiedene  Prinzip 
des  Erbtums  als  Vermögenserwerbes  im  prätorischen  Recht 
heraussetzt,  und  er  beginnt  sie,  indem  er  im  Zivilrecht  selbst 
die  Verbindung  des  Vermögens  mit  dem  Erbtum,  die  Über- 
tragung der  pecunia  mit  der  Übertragung  der  sacra  er- 
zwingen will.  Wie  die  erstere  Bewegung  zum  Teil  schon 
sub  Nr.  III,  so  haben  wir  diese  zweite  Bewegung  schon 
in  der  Bewegung,  welche  die  lex  Furia,  Voconia,  Falcidia 
darstellt,  sub  Nr.  VII  betrachtet  und  auf  ihre  Einheit  häufig 
hingewiesen.  Schon  die  lex  Furia,  Voconia,  Falcidia,  ist 
also  das  Dasein  und  die  Bewegung  des  prätori- 
schen Prinzipes  im  jus  civile.  Und  so  haben  \vir  sie 
ja  schon  dort,  wo  uns  die  volle  Erkenntnis  des  prätorischen 
Rechtes  noch  fehlte,  als  die  Abreibung  des  erblasseri- 
schen Willens  Em  dem  widerstrebenden  erbenden  Willen, 
der  in  diesem  Gegensatze  zu  seinem  Interesse  und  zu 
seiner  Substanz  das  Vermögen  hat,  als  die  Abreibung 
jenes  idealistischen  römischen  Erbtums  sich  vollziehen 
sehen.  Diese  letztere  Bewegung  des  prätorischen  Prinzipes 
innerhalb  des  jus  civile,  oder  des  jus  civile  zum  prätorischen 
Prinzip  des  Vermögens  hin  bringt  es  aber  nicht  sehr  weit. 
Sie  bleibt  bei  dem  Viertel  der  lex  Falcidia  stehen.  Sie 
braucht  es  aber  auch  nicht  weiter  zu  bringen,  weil  nun 
inzwischen  infolge  der  ersten  Bewegung  das  als  besonderes 
prätorisches  Recht  aus  sich  herausgesetzte  Prinzip 
des  Erbtums  als  Vermögens  er  werb  stark  und  entwickelt 
genug  geworden  ist,  um  nun  von  außen  in  das  jus  civile  ein- 
zubrechen, es  zu  modifizieren  und  dann  zu  verschlingen. 
So  haben  wir  denn  gesehen,  wie  der  letzte  Verderb  des 

644 


zivilistischen  Prinzipes,  wie  Justinlan  selbst  und  seine  Ein- 
führung der  Erbschaft  sub  beneficio  inventarii,  durch 
welche  der  Erbe  den  Vermögenserwerb  als  das  Substan- 
tielleundAlleinige  seines  Verhältnisses  zum  Erblasser 
proklamiert  (L.  22.  C.  6.  30,  vgl.  unten  S.  749fg.). 
an  sich  schon  im  ältesten  Zivilrecht  enthalten  ist.  Justinian 
liegt  ganz  und  gar  schon  im  alten  Zivilrecht,  wie  im  Kinde 
der  Greis  liegt. 

Zugleich  sahen  wir,  wie  es  gerade  das  Extrem  seines 
spezifischen  historischen  Geistesbegriffes  ist,  wie 
es  gerade  jener  Überschrei  nach  einem  Willens  fortsetzer 
ist,  den  das  fortsetzungssüchtige  Wesen  des  römischen 
Toten  zuletzt  an  jeden  Vorübergehenden  ausstößt,  welcher 
dieses  Prinzip  zwingt,  in  sein  Gegenteil  umzuschlagen,  sich 
zum  Vermögensbegriff  zu  entwickeln  und  in  schrittweiser 
ununterbrochener  Kontinuität  jene  geschichtliche  Abrei- 
bungs-  und  Entnationalisierungsarbeit  an  sich  zu  vollziehen, 
die  erst  mit  Justinian  endet. 

Warum  aber  schreit  dies  fortsetzungssüchtige  Wesen 
des  römischen  Toten  gar  so  sehr  ? 

Zwar  ist  die  Antwort  hierauf  dies  ganze  Werk.  Aber 
den  geistigen  Urgrund,  aus  welchem  dieser  Schrei  her- 
auftönt, werden  wir  noch  tiefer  erst  in  der  folgenden  Num- 
mer, die  sich  scheinbar  von  dem  erbrechtlichen  Thema  ganz 
abwendet,  betrachten. 

Haben  wir  den  Greis  im  Kinde  erkannt,  so  hilft  nichts, 
wir  müssen  das  Kind  jetzt  in  seinem  Embryo  aufsuchen. 


645 


BEILAGE  ZU  S.  520. 

Sehr  richtig  beginnt  Huschke  seinen  Aulsatz  über  die 
Rechtsregel  „Nemo  pro  parte  testatus  etc.",  im  Rhein.  Mu- 
seum, 1834,  VI,  257 — 369,  mit  der  Bemerkung:  „Als  einer 
der  überzeugendsten  Beweise,  wie  wenig  wir  noch  nach 
so  vielen  Anstrengungen  der  tieferen  Grundlagen 
des  römischen  Rechtes  mächtig  geworden  sind,  kann 
wohl  die  Erscheinung  gelten,  daß  es  bis  jetzt  nicht  hat  gelingen 
wollen,  den  Fundamentalsatz  des  römischen  Erbrechtes,  näm- 
lich die  Rechtsregel  nemo  etc.,  seinem  Sinne  und  Ursprünge 
nach  zu  erklären." 

Allein  Huschke  ist  dies,  so  sehr  sein  —  ihm  mit  Gans  ge- 
meinsames —  Streben  das  richtige  ist,  diese  Erklärung  aus 
dem  Innern  des  römischen  Erbrechtes  abzuleiten,  ebensowenig 
gelungen.  Es  ist  dies  derselbe  Aufsatz  Huschkes,  den  wir 
schon  S.  27,  Note  2,  angezogen  und  in  welchem  er  das  Wesen 
der  Erbschaft  überhaupt  ausführlich  zu  eruieren  sucht.  Dieser 
Aufsatz  ist  eine  der  größten  und  anerkennenswertesten  Zer- 
marterungen des  denkenden  Verstandes,  dem  Begriff  ohne  be- 
griffliches Denken  nahe  zu  kommen  —  und  muß  daher  das 
ewige  Schicksal  der  angestrengtesten  Verstandesreflexion  teilen, 
ihn,  gerade  immer  da,  wo  sie  sich  ihm  am  meisten  genähert 
zu  haben  scheint,  wieder  am  vollständigsten  zu  verfehlen  und 
einen  Schatten  zu  umarmen.  Wegen  dieses  gedoppelten  Inter- 
esses, welches  jetzt  der  Aufsatz  Huschkes  gewähren  muß, 
zu  zeigen,  wie  sich  das  Ahnen  des  Begriffes  durch  ihn  hin- 
durchzieht, und  wie  er  denselben  bei  jedem  Punkte  wegen  der 
empirischen  Verstandesvorslellung,  von  der  er  ausgeht,  immer 
wieder  gänzlich  verfehlen  muß,  wegen  der  hohen  Wichtigkeit, 
welche    dieser    Aufsatz    für    die    Charakterisierung    der    Ver- 

646 


Standesmethode  überhaupt  hat,  mag  es  gestattet  sein, 
so  weit  die  Rücksicht  auf  den  Raum  es  irgend  erlaubt,  den- 
selben einer  eingehenden  kritischen  Betrachtung  zu  unterwerfen. 

Warum  Huschke  die  Bedeutung  der  Regel :  Nemo  pro  parte 
etc.  nicht  eruieren  kann,  davon  ist  der  Grund  bei  ihm  selbst 
sehr  deutlich  ausgesprochen.  ,,Um  der  Bedeutung  der  Regel 
nemo  pro  parte  etc."  —  beginnt  er  S.  271  —  ,,auf  den  Grund 
zu  sehen,  bedarf  es  der  Erkenntnis  dreier  Stücke:  was 
eigentlich  Erbschaft  und  Vererbung  (hereditas)  sei,  worin  das 
Wesen  der  Testaments-  und  Intestaterbfolge  bestehe  und  wie 
sich  diese  gegenseitig  zueinander  verhalten."  Und  nun  gibt  er 
sofort  den  Begriff  der  Erbschaft  dahin  an:  ,, Erbschaft  ist 
nicht  bloß  die  Menge  von  Sachen,  nicht  bloß  der 
Erwerb  vieler  solcher  Sachen,  welche  durch  den  Tod  ihren 
Eigentümer  verloren  haben;  im  Wesen  der  Erbschaft  liegt 
vielmehr  eine  Beziehung  auf  die  Einheit  jener  Menge  von 
Sachen  in  der  Person  des  Verstorbenen,  welche  wichtiger 
ist  als  die  einzelnen  Sachen  selbst." 

Somit  ist  wieder  von  vornherein  die  Einheit  der  Menge 
von  Sachen,  d.h.  das  Vermögen,  als  Substanz  des  Erb- 
tum3  gesetzt;  es  ist  in  der  Weise  von  Gans  unterschieden  zwi- 
schen den  einzelnen  Sachen  und  ihrer  Einheit,  welche  eben 
den  Begriff  der  Totalität  des  Vermögens  bildet.  Aber  das 
Vermögen  ist  hier,  trotz  des  halben  Ankämpf ens  dagegen, 
welches  in  jenen  Worten  schon  unterläuft,  von  vornherein  als 
Begriff  und  Objekt  der  Erbschaft  gesetzt,  und  auf  diesem  Boden 
können  selbst  gute  Blicke  nur  unfruchtbar  bleiben.  Das  Per- 
sönliche und  Sachliche  der  Erbschaft  kämpfen  daher  bei 
Huschke  einen  beständigen,  sich  abmarternden  und  in  den  Wor- 
ten hin  und  her  wogenden  Kampf. 

Zu  einer  Einheit  können  diese  Widersprüche  nicht  kommen, 
außer  wiederum  im  Worte,  in  dem  sich  widersprechenden 
Wortkompositum  „vermögensrechtliche  Persönlich- 
keit" (s.  oben  S.  27  fg.).  Es  ist  die  ewige  Manier  des 
Verstandes,  die  außer  Hegel  schon  Humboldt  mit  so  schöner 
Ironie  geschildert  hat  (Kosmos,  I,  17) :  „Aus  unvollständigen 
Beobachtungen  und  noch  unvollständigeren  Induktionen  entstehen 
irrige  Ansichten  von  dem  Wesen  der  Naturkräfte,  Ansichten, 
die,    durch    bedeutsame    Sprachformen     gleichsam 

647 


verkörpert  und  erstarrt,  sich  wie  ein  Gemeingut  der 
Phantasie  durch  alle  Klassen  einer  Nation  verbreiten." 
Wie  bei  den  Naturphänomenen,  ist  es  auch  bei  den  Phänomenen 
des  Geistes,  und  die  ,, vermögensrechtliche  Persönlich- 
keit" ist  eine  solche  ,, bedeutsame  Sprachform",  welche  sich 
durch  die  ganze  Klasse  der  Juristen  verbreitet  hat,  ein  Gemein- 
gut der  juristischen  Phantasie  geworden  ist !  Der  alte  ehrliche 
Hugo  Grotius  sagte  uns  oben  (S.  24)  noch  kurz  und  gut : 
Hercs  personam  defuncti  in_bonis  icrcrt.  Damit  waren  doch 
die  Person  des  Toten  und  die  Güter  noch  als  andere  gegen- 
einander stehen  geblieben,  und  es  trat  hier  schon  in  den  Worten 
deutlich  genug  heraus,  daß  trotz  jenes  personam  referre  das 
Persönliche  untergegangen,  und  das  Vermögen  die  Substanz 
der  Erbschaft  geworden  war,  wie  wir  das  in  Nr.  I  ausführlich 
nachgewiesen.  Aber  eben  das.  obwohl  es  nicht  in  der  Sache 
geändert  wird,  soll  jetzt  in  den  Worten  vermieden  werden.  Die 
Ahnung  dieses  Untergegangenseins  des  Persönlichen  im  Ver- 
mögen, trotz  aller  Versicherung,  daß  es  noch  da  sei,  das  theo- 
retische Bedürfnis  nach  einer  Einheit  des  Widersprechenden, 
dessen  Widerspruch  sich  der  Verstand  doch  wieder  nicht  ver- 
bergen kann,  erzeugt  den  buhlenden  Ausdruck  , .vermögens- 
rechtliche Persönlichkeit",  um  durch  diese  Wortzusam- 
menkoppelung  des  Widersprechenden  den  Schein  zu  erregen,  als 
ob  beides  geeint,  und  das  Persönliche  noch  Im  Vermögen  ent- 
halten sei. 

Diese  ,, bedeutsame  Sprachform"  der  ,, vermögensrechtlichen 
Persönlichkeit"  ist  vor  allem  der  Standpunkt  Huschkes ;  er 
kehrt  bei  Ihm  auf  jeder  Zeile  wieder,  er  hat  Ihn  am  meisten  zu 
den  anderen  Autoren  verbreitet ;  er  hat  ihn  mit  einer  Reihe 
ähnlicher  ,, bedeutsamen  Sprachformen"  umgeben,  er  kennt  ein 
„Vermögensleben"  des  scheidenden  Testators  (das.  S.  276), 
wobei  also  wahrscheinlich  nicht  das  Vermögen  das  Tote  und 
die  Materie  ist,  von  der  der  Testator  gelebt  hat,  sondern  In 
Irgendeiner  Weise  mit  im  Leben  lebendig  ist.  Er  definiert  die 
familia  als  die  ,, Vermögensfreiheit",  wobei  also  nicht  die  Frei- 
heit die  Freiheit  und  das  Vermögen  der  Gegensatz  davon,  das 
Unfreie,  Sachliche  Ist,  sondern  In  irgendwelcher  Welse  selbst 
an  der  Freiheit  teil  hat  usw.  ,,Denn  Immer,  wo  Begriffe  fehlen, 
da  stellt  ein  Wort  usw." 

648 


Sehen  wir  also,  was  auf  diesem  Standpunkte  der  Wort- 
berauschung geleistet  werden  kann. 

Da  Huschke.  wie  die  bereits  zitierten  Sätze  zeigen,  von 
vornherein  in  ,,der  Einheit  der  Menge  von  Sachen",  also  im 
Vermögen  den  Begriff  der  Erbschaft  sieht,  so  kann,  sagten 
wir,  auch  jede  gute  Bemerkung  auf  diesem  Boden  nur  un- 
fruchtbar bleiben  und  muß  selbst  wieder  in  substantiellen  Irr- 
tum umschlagen.   Dies  zeigt  sich  sofort. 

Es  wird  gleich  nach  den  vorher  zitierten  Worten  die  gute 
Bemerkung  gemacht,  daß  hereditas  „nach  seiner  Ableitung  von 
herus  so  viel  als  Herrn  Schaft  bedeutet,  so  daß  also  der 
Erbe  nicht  sowohl  in  die  Sachen  als  in  die  Herrnschaft, 
die  der  Verstorbene  über  seine  Sachen  hatte,  eintritt"  (das. 
S.  272).  Aber  mit  dieser  etymologischen  Annäherung  an  den 
Begriff  ist  derselbe  ebenso  wieder  gänzlich  verfehlt,  denn  es 
wird  mit  dieser  Herrnschaft  nicht  die  absolute  Herrnschaft 
des  Toten  oder  seine  geistige  Willenssubjektivität,  son- 
dern seine  Herrnschaft  über  „seine  Sachen",  die  , .vermö- 
gensrechtliche Persönlichkeit"  gemeint,  und  es  wird 
uns  daher  auch  sofort  (s.  Note  24  das.)  gesagt,  daß  es  sich 
ebenso,  wie  mit  der  hereditas,  mit  der  —  gerade  den  spezi- 
fischen Unterschied  zu  dieser  darstellenden  —  prätori- 
schen  bonorum  possessio  verhalte,  weil  beide  eine  successio 
in  Universum  jus  defuncti  bilden,  ein  Prinzip,  welches  in  der 
Tat  auch  noch  mit  der  Nachfolge  in  das  Vermögen  als  einer 
einheitlichen  Totalität  verträglich  und  deshalb  auch  der  bon. 
poss.  und  der  Erbschaft  gemeinsam  ist,  oder  vielmehr  richtiger 
ein  Prinzip,  welches  bei  der  Zivilerbschaft  eine  notwendige, 
natürliche  und  lebendige  Folge  des  spekulativen  Begriffes  der 
fortexistierenden  Willenssubjektivität,  im  prätorischen  Recht 
aber  nur  der  Schatten  ist,  welchen  der  Erbtumsbegriff  des 
Zivilrechtes  noch  auf  den  von  ihm  abweichenden  und  gegen 
ihn  reagierenden  Standpunkt  des  Vermögens  wirft,  und  daher, 
wie  es  hier  nur  als  solcher  Schatten  entstanden,  nur  aus 
dem  diesen  Schatten  werfenden  jus  civile  zu  begreifen  ist. 
Dieses  durch  die  Erbschaft  übergehende  Universum  jus  wird 
daher  unmittelbar  darauf  erklärt  als  des  Toten  „Vermögens- 
fähigkeit  als  Realität  gefaßt",  wobei  die  Erbschaft  trotz 
alles  Zwanges  der  Worte  und  des  Bestrebens,  das  Unvereinbare 

649 


zu  einen,  zu  einer  bloßen  Sache  geworden  iit,  und  nun  kann 
es  daher  nicht  mehr  wundernehmen,  wenn  dieser  erste  Teil 
der  Untersuciiung  (S.  275)  mit  dem  Eingeständnis  schließt, 
es  sei  die  hereditas  „von  der  lebenden  Person  nur  darin  ver- 
schieden, daß  sie  die  vermögensrechtliche  Person  von 
der  wirklichen  getrennt  darstellt  und  als  solche  eine  Sache 
bildet."  Trotz  aller  Beiworte,  die  ihre  Hauptworte,  und  aller 
Hauptworte,  die  ihre  Beiworte  verneinen,  wird  also  zuletzt  doch 
realiter  in  das  Eingeständnis  ausgebrochen,  daß,  was  durch 
die  Erbschaft  übertragen  werde,  eine  Sache  sei,  und  Huschkc 
hebt  dies  noch  deutlicher  hervor,  indem  er  hinzufügt,  bei  Leb- 
zeiten falle  die  Erbschaft  noch  mit  der  persönlichen  Freiheit 
zusammen  und  werde  dadurch  gehindert,  als  Sache  sich 
darzustellen,  „mit  dem  Tode  hört  dieses  Hindernis  auf  und 
das  Vermögen  zeigt  sich  als  eine  sächliche  univer- 
sitas".  Abgesehen  von  dem  wiederholten  Eingeständnis,  wie 
kann  das  Vermögen,  ohne  ein  Hexenmeister  zu  sein,  sich  als 
etwas  anderes  zeigen,  als  es  ist?  V/ie  soll  es  sich  als  eine 
.^sächliche  universitas"  zeigen  können?  Das  Vermögen  ist  eine 
Menge  einzelner  Stücke,  und  kann  sich  daher  auch  nur  so 
zeigen.  Die  universitas  oder  vielmehr  der  Schein  der  univer- 
sitas, der  in  ihm  entsteht,  wird  ledigHch  dadm'ch  erzeugt,  daß 
das  Lebendige,  nämlich  die  Willenssubjektivität,  statt  „das 
Hindernis"  für  die  sächliche  universitas  zu  sein,  vielmehr  ein 
noch  weiter  Lebendiges,  im  Erben  als  fortdauernd  Gesetztes 
ist  und  durch  seine  ideelle  Einheit,  der  jene  Vielheit  von 
Stücken  untenvorfen  ist,  in  dieser  den  bloßen  Schein  einer 
universitas  hervorbringt,  wie  iin  Leben.  Bei  keinem  Volk 
„zei^  sich  das  Vermögen  als  eine  sächliche  univer- 
sitas", weil  es  nichts  ist  als  eine  Menge  einzelner  zusammen- 
hangloser Sachen.  Bei  den  Römern  zeigt  es  sich  auch  nicht 
als  solches,  sondern  nur  durch  die  fortbestehende  Willens- 
subjektivität wird  es  in  der  Einheit  ihrer  Herrschaft  zu- 
sammengehalten und  hierdurch  dieser  Schein  erregt,  so  daß 
die  universitas  auch  bei  ihnen  nicht  auf  seiten  des  ,, Sächlichen" 
liegt  und  diesem  zukommt,  und  nie  würden  die  Römer  bei 
der  bonorum  possessio  eine  universitas  im  Erbschaftsvermögen 
haben  annehmen  können,  wenn  dies  nicht  bei  ihnen  der  ebenso 
natürliche  als  notwendige  Widerschein  und  die  F  ort  wir - 

650 


kung  ihres  spekulativen  zlvilisiisciien  Erbtunisbegriffes  noch 
in  der  prätorlschen  Reaktion  des  Vermögensstandpunktes  gegen 
denselben   gewesen  wäre   (vgl.   oben  S.  640 — 645). 

Huschke  konkludiert  nun,  daß  man  (S.  276)  ,,die  Ver- 
erbung geradezu  als  eine  vermögensrechtliche  Fort- 
pflanzung der  Familie  (!!)  bezeichnen  könne",  und  ge- 
langt so  zu  seinem  Resultat,  zum  Unterschied  der  zwei  Seiten, 
des  persönlichen  und  des  vermögensrechtlichen  Da- 
seins im  Individuum,  von  denen  aber  merkwürdigerweise  auch 
die  letztere  ebenso  „lebendig"  sein  soll,  wie  das  von  ihr  unter- 
schiedene Persönliche.  „Da  aber  das  vermögensrechtliche 
Dasein  nicht  weniger  lebendig  ist  als  das  persön- 
liche, so  ist  auch  die  Vererbung  nicht  anders  denkbar  als  so, 
daß  in  demselben  Moment  dieses  vermögensrechtliche  Dasein 
als  solches  gleich  einem  Samen  sich  trennt  usw."  Wie  das 
von  dem  persönlichen  als  unterschieden  und  getrennt 
gesetzte  vermögensrechtliche  Dasein  desselben  dennoch  gleich- 
falls ein  lebendiges  bleiben  soll,  ebenso  gut  wie  das  per- 
sönliche, wird  stets  ein  unbegreifliches  Geheimnis  bleiben,  das 
natürlich  von  Huschke  ebensowenig  begriffen  wird,  sondern  an 
dem  er  sich  in  beständigem  Sagen,  Versichern  und  Herum- 
wenden dieses  Unmöglichen  in  den  mühsamsten  Wendungen 
rastlos  zermartert,  und  an  dessen  Stelle  er  immer  wieder  ein 
Unlebendiges,  Totes,  einen  bloßen  Sachenkomplex  in  der  Hand 
behält.  Das  Interesse  dieser  Anstrengung  ist  eben  dies,  daß  in 
Huschke  der  Widerspruch  seiner  eigenen  Auffassung,  der 
Widerspruch  der  persönlich-lebendigen  und  der  vermögenssach- 
lichen Auffassung  des  Erbtums,  zu  einem  inne'"en  unklaren 
Gären  und  Ringen  gekommen  ist  und  sich  In  endlosen  Be- 
mühungen erschöpft,  sich  über  sich  selbst  hinwegzusetzen. 
Huschke  arbeitet  sich  daher  (S.  276—279)  jetzt  ebenso  resul- 
tatlos ab,  den  Unterschied  von  famllla  und  hereditas  festzu- 
setzen. Statt  zu  sehen,  daß  beide  eben  nur  den  Begriff  der 
Willensherrschaft  haben  und  die  familia,  insofern  auch 
Personen  In  sie  einbegriffen  sind,  nur  dieselbe  Willensiden- 
tität als  nebeneinander  existierende  darstellt,  welche 
die  hereditas  als  nacheinander  setzt  (siehe  oben  S.  503, 
Note  1),  daß  also  beide  nur  denselben  Begriff  verwirklichen, 
die  familia  im   Raum,  die  hereditas  in   der  Zeit,   wird   die 

651 


hereditas  als  jene  Seite  des  Verhältnisses  bestimmt,  welche 
„etwas  Unlcbendiges  ist"  (S.  276),  wogegen  sich  die  familia 
also  als  das  Lebendige  des  Verhältnisses  bestimmt.  Da  beide 
so  einen  Unterschied  haben  sollen,  der  nicht  stattfindet,  können 
sie  ihn  nicht  festhalten,  und  müssen  vielmehr  den  Unterschied 
verletzen,  der  wirklich  zwischen  ihnen  stattfindet.  Es  wird 
daher  (S.  277)  auch  die  familia  als  eine  „vermögensrecht- 
liche familia"  näher  bestimmt  —  was  bei  ihr  noch  deutlicher 
unrichtig,  da  ja  auch  die  Kinder  in  die  familia,  aber  nicht 
in  das  Vermögensrecht  fallen  — ,  es  wird  immer  vorausgesetzt 
(S.  278),  daß  der  Erbe  ,,in  die  familia  des  Erblassers  ein- 
tritt", während  wir  bereits  beim  Testament  per  aes  et  libram 
als  hauptsächlich  gesehen  haben,  daß  er  nicht  in  die  familia 
des  Erblassers  eintritt  oder  aufgenommen  wird,  sondern  diese 
in  sich  aufnimmt,  und  nun  wird  der  Unterschied  beider  dahin 
festgestellt:  ,,was  vom  Erblasser  als  familia  hinterlassen 
wird,  ist  nach  der  Seite  des  Erben  hin  hereditas",  und  noch- 
mals hinzugefügt :  ,,da  nun  die  Möglichkeit  der  Zustimmung  des 
Erben,  ja  des  Erwerbes  überhaupt  immer  voraussetzt,  daß  der 
Erblasser  schon  gestorben  sei  (wir  haben  im  Gegenteil 
gesehen,  daß  dem  Wesen  der  Sache  nach,  wie  in  der  alten 
zivilistischen  Testamentsform  nur  heraustritt,  s.  Nr.  VIII,  ur- 
sprünglich eine  Hauptsache  die  ist,  daß  die  Identifikation  zwi- 
schen zwei  lebenden  Willen  vor  sich  geht,  daß  die  Zustim- 
mung also  schon  bei  Lebzeiten  gegeben  sei,  solange  jene  Wil- 
lenssubjektivität noch  existiert),  so  muß  die  familia  für  ihn 
notwendig  sich  als  hereditas  gestalten."  Abgesehen  von  der 
in  der  Parenthese  berührten  Unwahrheit  der  Sache,  zumal  für 
die  ältere  Zeit,  wo  jedes  Moment  der  inhaltlichen  Idee  auch 
noch  drastisch  in  der  Form  gesetzt  ist,  geben  diese  Sätze  einen 
sehr  guten  logischen  Sinn.  Aber  keinen  anderen  als  eben  den 
alten,  daß,  was  der  Erblasser  als  familia,  d.  h.  nach  Huschke 
als  Gegenstand  jener  lebendigen  Vermögensfreiheit  hinterläßt, 
für  den  Erben  eben  nicht  mehr  ein  solches  Lebendige, 
sondern  eine  tote  Sachengesamtheit,  eine  bloße  Gegen- 
ständlichkeit sei.  Dies  ist  es  auch,  was  Huschke  von  An- 
fang an  gesagt  hat.  Aber  da  Huschkes  Bedeutung  eben  darin 
besteht,  bei  diesem  Satze,  in  den  er  immer  aufs  neue  zurück- 
fällt, sich  selbst  nicht  beruhigen  zu  können,  werden  wir  gleich 

652 


sehen,  wie  er  ihn  bald  wieder  leugnen  wird,  um  ihn  sofort 
wieder  zu  setzen.  Zuerst  wiederholt  er  denselben  Gedanken, 
den  wir  oben  in  jenen  Worten  konstatierten,  nochmals  sehr 
deutlich:  „familia  und  hereditas  sind  also  dieselbe  Sache,  und 
sind  es  auch  nicht,  je  nachdem  man  die  Sache  ansieht.  Sie  sind 
dasselbe  dem  Objekte  nach,  sie  sind  verschieden  der  Rich- 
tung nach."  Man  kann  nicht  deutlicher  sprechen.  Das  Ob- 
jektive, Gegenständliche  im  Vermögen  und  in  der  Erbschaft 
ist  dasselbe,  die  Sachen.  Aber  die  Richtung,  in  der  sie 
genommen  werden,  ist  verschieden.  Für  den  Erblasser  selbst 
sollen  sie  zu  seiner  „Vermögensfreiheit"  gehören,  und  für 
ihn  und  in  ihm  also  eine  lebendige  Seite  haben;  für  den  Erben 
dagegen  eine  „unlebendige"  tote  Gegenständlichkeit  darstellen. 
Huschke  wiederholt  das  daher  noch  schärfer  als  bisher  noch- 
mals: „Das  Objekt  ist  die  Vermögensfreiheit  des  Erb- 
lassers; aber  gleichwie  die  Gegenwart  zugleich  als  die  Ver- 
gangenheit beschließend  und  die  Zukunft  beginnend  betrachtet 
werden  muß,  wie  sie  von  der  Zukunft  nur  als  ein  ihr  zugeeignetes 
Moment  betrachtet  werden  kann,  dann  aber  doch  ganz,  d.  h. 
auch  mit  ihrem  der  Vergangenheit  zugewandten  Momente  in  sie 
übergeht,  und  so  dennoch  ein  lebendiger  Übergang  der  Ver- 
gangenheit in  die  Zukunft  stattfindet,  so  wird  auch  die  vom 
Erblasser  als  familia  hinterlassene  Vermögensfrei- 
heit vom  Erben  als  hereditas  begriffen."  Und  nachdem 
er  so  auf  das  nachdrücklichste  und  häufigste  festgestellt,  was 
gar  keiner  solchen  Anstrengung  bedurfte  und  ganz  selbstredend 
ist,  daß  diese  Sachengesamtheit,  die  in  Wahrheit  auch  für  den 
Erblasser  niemals  eine  lebendige  Bedeutung  in  sich  hatte,  jeden- 
falls für  den  Erben,  zum  Unterschiede  von  der  Lebendigkeit 
der  familia,  nur  als  hereditas,  als  bloße  Sachengesamtheit  be- 
griffen wird,  fährt  er  unmittelbar,  also  ohne  jede  weitere 
Vermittelung  und  Begründung  fort:  „indem  er  sie  aber  als 
solche  (als  hereditas)  ergreift,  hat  er  sie  zugleich  als 
familia." 

Als  wessen  familia?  Als  familia  des  Toten?  Das  wäre 
die  reine  Hexerei!  Wie  kann  der  Erbe,  für  den,  wie  Huschke 
so  ausdrückhch  expliziert  hat,  jene  familia  nur  wenn  der  Erb- 
lasser schon  gestorben,  nur  als  hereditas  da  sein  soll,  er,  für 
den   sich  „die  familia  des   Erblassers  notwendig   als  here- 

653 


ditas  gestalten  muß."  er,  dessen  Stellung  zu  den  Sachen  von 
Huschke  genau  und  unterscheidend  dahin  bestimmt  wird,  daß 
er,  was  „vom  Erblasser  als  familia  hiiiterlassen"  wird,  seiner- 
seits „als  hereditas  begreift",  —  wie  kann  er  dadurch, 
daß  er  sie  als  solche  hereditas  im  Unterschiede  von  der 
familia  ergreift,  sie  als  familia  in  der  Hand  haben? 
Dies  ist  Zauberei ! 

Huschke  fährt  fort:  „Somit  ist  also  auch  hereditas  nichts 
Unlebendiges"  —  aber  zwei  Seiten  vorher  (S.  276)  hatten 
wir  direkt  gehört,  daß  diese  geiade  , .etwas  Unlcbendi^es"  im 
Unters  chi.d  von  der  familia  sei  — ,  ..sondern  nur  die  un  leb  en- 
digere, nach  einer  Wiederbelebung  (sie  ist  also  voilaufig 
tot)  sich  sehnende  Seite  dessen,  was  zugleich  hinter  sich 
(aber  somit  eben  hinter  sich,  somit  auch  hier  nach  Huschke 
selbst  als  tot  und  vergangen)  die  lebendigere  der  familia  hat." 

Die  Erbschaft,  die  als  das  Unlebendige  des  Vermögens  im 
Gegensatz  zu  dem  Lebendigen  der  familia  bestimmt  war.  soll 
jetzt  also  aufhören  —  obgleich  kein  Mensch  begreifen  kann  wie- 
so, und  Huschke  nicht  den  geringsten  Grund  dafür  angibt  — 
das  Unlebendige  zu  sein.  Aber  sie  soll  auch  wieder  nicht 
aufhören,  soll  nicht  ein  lebendiges,  wie  die  famiha  sein. 
Sie  wird  daher  zu  einem  „Unlebendigeren",  wobei  jedes 
Prinzip  für  das  Quantitative  dieses  angeblichen  Unterschiedes 
aufgegeben  ist.  Der  Jurist  wird  in  der  Verlegenheit  zmn  Poeten 
und  leiht  dem  toten  Vermögen  das  ..Sehnen"  nach  einer  ..Wie- 
derbelebung". Aber  wenn  sich  die  hereditas  nach  ..Wiederbe- 
lebung sehnt",  so  ist  ja  auch  hierdurch  eingestanden,  daß  sie 
einstweilen  nicht  lebendig  ist,  sondern  Sache  geworden,  totes 
Vermögen.  Wenn  es  tot  ist  und  wiederbelebt  werden  muß, 
so  ist  ja  das  Belebende  nicht  die  familia  des  alten  Herrn, 
sondern  es  kommt  nur  zum  Leben  in  einem  anderen,  neuen 
Herrn,  zu  einem  , .Vermögensleben",  wie  sich  Huschke  des- 
halb auch  S.  276  ausdrückt.  —  und  so  zeigt  sich  denn  hier, 
daß  Huschke,  wenn  er  vorher  den  Erben  das  Vermögen,  das 
er  als  hereditas  ergreift,  als  familia  in  der  Hand  haben 
läßt,  mit  dieser  familia  nur  die  eigene  Vermögensfreiheit  des 
neuen  Herrn  meinen  kann,  —  und  das  ist  freilich  ganz  klar,  daß, 
wenn  man  sich  einmal  auf  solche  wirre,  begriffswidrige  Vor- 
stellungen einlassen  will,  man  sagen  kann,  daß  jedes  Vermögen 

654 


in  seinem  Herrn  Lebendigkeit  habe.  Aber  somit  ist,  was  der 
Tote  hinterlassen  hat,  erst  recht  als  tote  Sache  gesetzt, 
die  nur  wieder  einmal  an  dem  Leben  eines  anderen  Herrn 
teilnimmt,  was  mit  der  familia  des  Erblassers  nichts  zu  tun 
hat,  diese  tot  läßt  und  gar  nicht  das  Verhällnis  der  Sachen 
als  Erbschaft,  sondern  höchstens  als  Eigentum  betrifft. 
Und  darum  fährt  Huschke  fort:  „Und  dieses  sagt  auch  der 
Ausdruck  hereditas,  welcher,  genau  genommen,  die  den  Herrn 
erwartende  Verm.ögensfreiheit  bezeichnet,  also  auf  die  Zukunft 
hinzielt."  Der  Ausdruck  hereditas  besagt  nun  zwar  nicht  das 
geringste  von  ,, Erwartung".  Aber  abgesehen  davon,  wenn  dies 
das  Resultat  sein  sollte,  daß  die  hereditas  gegenwärtig  unleben- 
diges Vermögen,  toter  Sachenkomplex  ist  und  später  wie- 
der einmal  von  einem  Lebendigen,  von  einem  Herrn  besessen 
und  zusammengerüttelt  werden  wird,  —  um  zu  diesem  trockenen' 
Satze  und  diesem  das  Vermögen  nach  wie  vor  zur  Substanz 
machenden  Resultat  zu  gelangen,  dazu  bedurfte  es  dieses  Unge- 
heuern A.nlaufes  nicht,  denn  davon  wurde  von  Anfang  an  aus- 
gegangen. Und  damit,  daß  der  Verstand,  wie  dies  seine  Weise 
ist,  das  denkend  nicht  Begriffene  durch  unklare  Bilder,  sich  in 
sich  selbst  widersprechende  Vorstellungen  und  die  Vereinigung 
unmöghch  zu  vereinigender  Worte  sich  gewaltsam  plausibel 
machen  will,  hat  er  dies  nur  in  seiner  Illusion  erreicht;  in  der 
Sache  ist  er  nicht  von  der  Stelle  gekommen,  hat  sich  nur  noch 
tiefer  und  gründlicher  in  Widersprüche  verstrickt.  So  sich  selbst 
aufhebende  Worte,  wie  ,, Vermögensleben"  usw.  —  denn  nur 
das  Leben  ist  Leben  und  das  Verm.ögen  ist  das  Tote  —  können 
wohl  in  den  Mund,  nie  in  den  Geist  genommen  werden.  Und 
könnten  sie  dies  selbst,  so  würde  sich  immer  nur  dabei  das 
Vermögen  als  die  Substanz  dieses  angeblichen  Lebens  und 
Verhältnisses,  es  würde  sich  jenes  ,,Vermögensroulement"  er- 
geben, welches  wir  schon  oben  (S.  25 — 33)  als  den  wahren 
Inhalt  dieser  Ansicht  nachgewiesen  haben  und  das  nach 
ihr  die  als  Fiktion  gewußte  Fiktion  eines  Subjektes  in 
den  Dienst  seines  Funktionierens  genommen  hat,  eine  Fik- 
tion, die  hier  Huschke  selbst  sogar  noch  als  bloße  Fik- 
tion fahren  läßt.  Denn  wenn  die  hereditas  ihre  Wieder- 
belebung erst  von  dem  neuen  Herrn  erwartet,  so  ist  es 
nicht    wahr    und    als    nicht    wahr   eingestanden,    daß    mit 

655 


der  hereditas  selbst  etwas  Lebendiges  und  PersönlicKcs,  ein 
ideales  Subjekt  hinterlassen  und  auf  den  Erben  übergegangen 
sei.  Dies  ideale  Subjekt  ist  jetzt  als  bloße  Fiktion  eingestanden, 
und  gerade,  indem  sie  näher  zu  begründen  versucht  wurde,  als 
unwahr  aufgegeben.  Wenn  also  Huschke  jetzt  die  hereditas  als 
die  ,, ihren  Herrn  erwartende  Vermögensfreiheit"  definiert,  so 
heißt  dies,  nach  diesen  Worten  selbst,  wie  nach  allem  vorigen, 
in  reines  Deutsch  übersetzt,  nichts  anderes  als:  das  Ver- 
mögen erwartet  den  Herrn,  die  hereditas  ist  ein  „den  Herrn 
erwartendes  Vermögen",  —  und  freilich  stimmt  dies  auch 
genau  überein  mit  alledem,  was  Huschke  uns  vorher  darüber 
gesagt  hat,  daß  die  hereditas  , .etwas  Unlebendiges"  sei  und 
daß  die  vom  Erblasser  als  familia  hinterlassene  ..Vermögens- 
freiheit" für  den  Erben  als  hereditas,  bloßes  Vermögen, 
sich  darstelle,  so  daß  die  derselben  dann  doch  wieder  zuge- 
sprochene, aber  ,.un lebendigere"  Art  von  Lebendigkeit 
sich  jetzt  nur  als  diese  in  das  Vermögen  hineingetragene  poetische 
..Erwartung  eines  Herrn"  herausstellt,  eine  Er\vartung,  womit 
erstens  das  Verm.ögen  als  solches  der  Begriff  des  Erbtums 
geblieben  ist,  zweitens  dem  Vermögen  eine  Tätigkeit  geliehen 
wird,  die  es  unmöglich  haben  kann;  denn  während  die  familia 
des  Erblassers  tot  hinter  ihm  liegt,  ist  das  Vermögen  ein  Sach- 
liches, das  nichts  erwartet,  noch  erwarten  kann,  und  dem  es 
sehr  gleichgültig  ist,  einen  Herrn  zu  haben  oder  nicht.  Drittens 
aber  Ist  es  noch  schlimmer,  als  wenn  Huschke  gesagt  hätte: 
die  hereditas  sei  ein  den  Herrn  erwartendes  Vermögen,  denn 
indem  er  sie  In  der  sich  zermarternden  Anstrengung,  in  den 
bloßen  Worten  das  Lebendige  zu  gewinnen,  das  Ihm  In  der 
Sache  entgeht,  als  die  ,,den  Herrn  erwartende  Vermögens- 
freiheit" definiert,  verfällt  er  wieder  In  jene  unablässige  con- 
tradictio  in  adjecto.  die  den  Aufsatz  von  einem  Ende  zum  an- 
deren charakterisiert.  Denn  Freiheit  Ist  vielmehr  dies:  kei- 
nen Herrn  zu  erwarten,  sondern  selber  der  Herr  zu  sein. 
Frei  sein  und  Herr  sein  Ist  ganz  Identisch,  und  nirgends 
tritt  diese  Identität  strenger  und  deutlicher  heraus  als  Im  rö- 
mischen Erbtum. 

So  gleicht  dieser  Aufsatz  dem  beständigen  Versuche  eines 
Menschen,  fliegen  zu  wollen  ohne  Flügel,  einem  Aufschwünge, 
bei  dem  er  Immer  schwerer  auf  die  Füße  wieder  zurückfallen 

656 


muß.  Es  ist  der  rastlose  Anprall  des  Verstandes  gegen  die 
Eisenstäbe  seines  Käfigs,  ein  Anprall,  bei  dem  er  aber  nur 
ein  rasselndes  Geräusch  erregt  und  diese  Eisenstäbe  nicht  zu 
erschüttern  vermag. 

Aus  dieser  von  ihm  in  den  Worten  versicherten,  in  der  Sache 
aber  in  ihr  striktes  Gegenteil  untergegangenen  „persönlichen 
Natur  der  Vererbung"  folgert  Huschke  nun  (S.  279),  daß, 
wie  man  ein  Tier  nur  ganz  oder  gar  nicht  fangen  oder  frei- 
lassen, eine  Ehe  nicht  teilweise  abschließen  kann  usw.,  so  auch 
die  Erbschaft  —  als  familia  genommen  —  nur  ganz  oder  gar 
nicht  vererbt  werden  könne.  Aber  auch  bei  diesem  äußerlich 
dem  Richtigen  sich  annähernden  Satze  kann,  weil  er  eben  nur 
in  den  Worten  gewonnen  worden,  in  der  Sache  aber  das 
Gegenteil  einer  „persönlichen  Natur  der  Vererbung"  sich 
heerausgestellt  hat,  von  Huschke  nicht  stehen  geblieben  werden. 
Er  muß  ihn  vielmehr  sofort  wieder  als  unwahr  aufzeigen,  muß 
selber  aufzeigen,  daß  nach  seiner  Auffassung  des  Erbbegriffes 
auch  hier  re  vera  das  Gegenteil  eintreten  muß.  ,,Aber,  wie 
verträgt  es  sich  hiermit",  fährt  Huschke  S.  279  fort,  „daß 
doch  die  hereditas  eine  teilbare  Sache  ist,  daß  mehrere,  jeder 
auf  einen  Teil,  zu  Erben  eingesetzt  werden  können?"  Und  er 
antwortet:  „Auch  hier  müssen  wir  wieder  jene  beiden  Sei- 
ten ins  Auge  fassen.  Insofern  die  Erbschaft  dem  Erben 
zugekehrt  ist,  ist  sie  Sache  und  ebenso  teilbar,  wie  jedes 
Eigentum  an  einer  beweglichen  Sache."  Aber  der  Begriff  der 
Erbschaft  ist  ja  immer  dies:  einem  Erben  zugekehrt,  auf  einen 
Erben  bezogen  zu  sein!  Eine  Erbschaft,  die  dies  nicht  wäre, 
wäre  gar  nicht  Erbschaft  mehr,  weil  diese  Beziehung  eben 
der  Begriff  des  Verhältnisses  selbst  ist.  Aber  Huschke  sieht 
selbst,  daß  dies  ,, eigentlich"  der  Fall  ist,  und  fährt,  selber  die 
Konsequenz  hiervon  ziehend,  fort:  ,,Da  sie  nun  aber  nach 
dieser  Seite  hin  eigentlich  den  Namen  hereditas  führt, 
so  müssen  wir  die  hereditas  geradezu  ein  teilbares  Recht 
nennen!!"  Ist  ein  größerer  Irrtum  denkbar?  Weil  das  zur 
hereditas  etwa  gehörige  und  ihr  ganz  äußerliche  Vermögen 
(vgl.  oben  Nr.  XXXII)  teilbar  ist,  wird  für  Huschke  hier  die 
hereditas  selbst,  die  hereditas  als  Recht,  das,  was  nach  ihm 
selbst  „eigentlich"  allein  Erbschaft  ist,  teilbar!  Die  here- 
ditas ist,  wie  wir  in  der  bezogenen  Nummer  sahen,  ein  stets 

20  La..fialle.   Gss.  Sclxriften.  Band  XII.  657 


und  absolut  unteilbares  Recht,  und  nur  das  ihr  gleichgültige, 
ihrem  Begriff  überhaupt  äußerliche,  nur  zufällig  mit  ihr  ver- 
knüpfte Akzessorium,  welches  in  der  Zeit  des  echten  jus  civlle 
sogar  in  Gegensatz  zur  hereditas  tritt,  ist  teilbar.  Dieses  ist 
teilbar,  wie  jede  Quantität,  während  die  hereditas,  wie  alles 
Begriffliche  und  Qualitative,  unteilbar  ist.  Huschke  aber 
muß,  weil  er  tatsächlich  den  Begriff  der  Erbschaft  im  Ver- 
mögen sieht,  auch  ausdrücklich  eingestehen,  daß  hiernach  die 
hereditas  selbst,  die  hereditas  als  Recht,  ,, geradezu  ein  teil- 
bares Recht"  geworden  sei.  und  muß  so  selbst  dem  wider- 
sprechen, was  er  soeben  über  ihre  Unteilbarkeit  den  Worten 
nach,  aber  im  Widerspruch  mit  dem  tatsächlichen  Inhalt  seines 
Begriffes  vom  Erbtum,  gesagt  hat.  Huschke  fährt  fort:  „So- 
fern sie  (die  hereditas)  dagegen  dem  Verstorbenen  zuge- 
kehrt ist,  ist  sie  eine  Person,  und  darum  unteilbar."  Was  ist 
denn  das  aber  überhaupt  für  eine  Unterscheidung :  die  Erbschaft, 
insofern  sie  dem  Erben  zugekehrt,  auf  ihn  bezogen,  und  inso- 
fern sie  dem  Verstorbenen  zugekehrt  ist !  Was  würden  die  Ju- 
risten wohl,  und  zwar  mit  Recht,  gegen  einen  Philosophen  sagen 
—  ein  wirklicher  wird  es  freilich  nicht  tun  — ,  der  diese  son- 
derbarste aller  Unterscheidungen  aufstellen  wollte !  Insofern 
eine  Erbschaft  nicht  dem  Erben  zugekehrt  ist,  ist  sie  ja 
überhaupt  nicht  Erbschaft.  Ein  Subjekt,  oder  eine  familia, 
das  nicht  auf  einen  Erben  bezogen  ist,  sondern  bloß  als  auf 
sich  selbst  bezogen  gedacht  wird,  ist  gar  nicht  Erblasser, 
sondern  ein  lebendiges  Subjekt.  Ein  Vermögen,  das  nicht 
auf  einen  Erben  bezogen,  ihm  zugekehrt  ist,  ist  nicht  Erb- 
schaft, sondern  Eigentum  und  Vermögen  überhaupt! 

Diese  rasende  Verstandesanstreagung,  dieses  entsetzliche 
Wortgeringe  langt  also  wieder,  auf  den  Tod  erschöpft,  bei  dem 
Resultat  an:  Insofern  etwas  nicht  Erbschaft  sei,  insofern  es 
lebendiges  Subjekt  und  Eigentum  eines  solchen  sei  — 
sei  es  lebendig,  persönlich  und  unteilbar,  was  freilich  nie  von 
irgend  jemand  übersehen  worden  ist;  insofern  dieses  selbe  aber 
,, einem  Erben  zugekehrt"  sei,  das  heißt,  insofern  überhaupt 
von  Erbtum  allein  die  Rede  sein  kann,  insofern  ,, eigent- 
lich" hereditas  vorhanden  ist,  sei  sie  ein  Unlebendiges,  Totes 
und  Teilbares.  Der  Verstand  sucht  umsonst  über  seinen  eigenen 
Schatten  zu  springen.  Dieser  springt  immer  mit,  und  jeder  neue 

658 


Anlauf  langt  daher  notwendig  immer  wieder  auf  dem  alten  Ver- 
mögensstandpunkt an. 

Aus  der  Unteilbarkeit  der  Erbschaft,  in  wahrer,  begrifflicher 
Weise  aufgefaßt,  würde  sich  sofort  die  Regel  nemo  pro  parte 
etc.  ergeben.  Denn  wenn  es  die  Willenssubjektivität 
ist,  die  sich  durch  den  Idenlifikationsprozeß  des  Erbtums  per- 
petuiert.  und  das  Erbtum  nichts  mit  dem  Vermögen  und  „Ver- 
mögensleben'" zu  tun  hat,  so  ist  es  klar,  daß  diese  ideale  Un- 
teilbarkeit des  Ichs  sich  nur  in  bestimmter  Weise  über- 
tragen kann,  weil  jede  Bestimmtheit  die  andere  Bestimmt- 
heit ausschließt,  und  wer  sich  selbst  identifiziert,  und  erklärt: 
mein  Wille  ist  =  A,  nicht  noch  von  dem  Intestatsystem  mit 
anderen  identifiziert  werden  kann,  ohne  diesen  Willen,  der  ja 
gerade  im  Erbtum  erhalten  werden  soll,  zu  negieren.  Die 
scheinbare  Ausnahme  des  nicht  eingesetzten  suus,  der  nur  des- 
halb mit  Testamentserben  teilen  kann,  weil  er  stets  selbst- 
gesetzter Wille  des  Testators  ist  (S.  534 fg.),  bestätigt  dies 
gerade  ganz  entscheidend.  Allein  freilich  wird  sich  diese  Regel 
aus  der  von  Huschke  in  den  Worten  versicherten,  in  der  Tat 
aber  mit  seiner  Argumentation  im  striktesten  Widerspruch  ste- 
henden Unteilbarkeit  der  Erbschaft  nicht  ergeben  können.  Denn 
was  würde  hindern,  zu  sagen:  Insofern  ein  Erblasser  Erben 
einsetzt,  ist  er  ja  „den  Erben  zugekehrt",  und  schafft 
also  jenes  ,, geradezu  teilbare  Recht  der  hereditas",  das 
er  somit  teilen,  nach  Testamentsrecht  wie  Intestatrecht  sich 
übertragen  lassen  kann?  Huschke  sieht  daher  selbst  ein,  daß 
er  jene  Regel  noch  keineswegs  erklärt  hat,  und  fährt  deshalb 
fort  (S.  281):  „Allein  hiermit  ist  doch  die  Möglichkeit  noch 
nicht  ausgeschlossen,  daß  ebenso,  wie  man  mehrere  Erben  im 
Testament  einsetzen  kann,  man  auch  die  eine  Hälfte  durch  Te- 
stament, andere  dagegen  durch  das  Gesetz  sich  vererben  lassen 
könne." 

Er  schlägt  daher  (S.  282)  den  an  sich  ganz  richtigen  Weg 
ein,  das  Wesen  der  Intestaterbfolge  und  die  Verschiedenheit 
ihrer  Prinzipien  von  der  testamentarischen  untersuchen  zu  wollen. 
„In  dieser  Beziehung,"  sagt  er,  „fällt  in  die  Augen,  daß  die 
Testamentserbfolge  auf  dem  Prinzip  der  Freiheit,  die 
Intestaterbfolge  auf  dem  Prinzip  der  Notwendigkeit  be- 

20«  659 


ruht,  jene  daher  eine  ethische,  diese  eine  physische  Grund- 
lage hat." 

Dies  ist  also  von  vornherein  wieder  der  alle  Dualismus  der 
bisherigen  Ansichten  über  Testament  und  Intestaterbfolge.  Es 
ist  wieder  das  allgemein  herrschende  Gerede  von  dem  Intestat- 
erbrecht als  einem  physischen  oder  Familienprmzip  im  Gegen- 
satz zu  dem  Freiheitsprinzip  des  Testamentes,  welches  in  seiner 
konsequentesten  Auffassung  zu  seinem  Kern  eben  die  Gans- 
sche,  von  diesem  auch  in  denselben  Worten  bekannte  und 
nur  in  geistreicherer  Weise  durchgeführte  Ansicht  über  beide 
Erbsysteme  als  den  Gegensatz  des  Prinzipes  der  „Freiheit" 
und  der  ,, Notwendigkeit"  hat.  Dies  Gerede  ist  das  für  das 
römische  Erbrecht  grundsätzlich  falsche.  Solange  nicht  begriffen 
wird,  daß  in  Rom  das  Intestatrecht  gleichfalls  nur  dasselbe 
ethische  Willensprinzip  ist,  daß  es  gleichfalls  nur  den 
subjektiven  Willen  des  Erblassers  zu  seiner  Quelle  und 
zum  Inhalt  hat,  solange  ist  von  einer  Erkenntnis  des  Intestat- 
erbrechtes nicht  die  Rede  und  der  Weg  dazu  überall  grundsätz- 
lich versperrt.  Freilich  ist  aber  auch  dieses  Verfehlen  des 
Intestaterbrechtes  nur  eine  Folge  davon,  daß  der  Begriff  des 
Erbtums  überhaupt  verfehlt  worden  Ist.  Denn  hat  man 
dieses  erst  als  die  subjektive  Willensunsterblichkeit  begriffen, 
so  folgt  dann  freihch  von  selbst,  daß  auch  das  Intestaterbrecht, 
da  es  doch  Erbtum  überhaupt  erzeugen  soll.  Immer  nur  von 
dem  subjektiven  Willen  selbst  ausgehen  und  daher  nur 
die  Bedeutung  eines  bei  fehlendem  Sichselbstsetzen  voraus- 
gesetzten Inhaltes  desselben  haben  kann. 

Durch  diese  ganz  falsche  Basis,  von  der  Huschke  auch  hier 
ausgeht,  macht  er  sich  also  jedes  wahrhafte  Resultat  seiner 
Vergleichung  der  Intestatdelation  mit  der  testamentarischen  von 
vornherein  unmöglich,  und  langt  daher,  nach  einer  Reihe  von 
ebenso  mühsamen  und  sich  selbst  aufhebenden  Wendungen,  die 
aufs  neue  speziell  zu  betrachten  der  Raum  nicht  erlaubt,  bei 
dem  Resultat  an  (S.  296) :  „Was  für  eine  Verschiedenheit 
bleibt  uns  nun  also  noch  zwischen  der  testamentarischen  und 
der  gesetzlichen  Erbesernennung?  Offenbar  nur  die,  daß  jene 
vom  Testator,  diese  vom  Gesetz  ausgeht."  Das  ist  frei- 
lich das  äußerliche,  sinnliche  Faktum,  bei  welchem  anzulangen 
es  gar  keiner  Untersuchung  bedurft  hätte,  und  welches  den  seit 

660 


Menschengedenken  ganz  kursiven  Irrtum  über  die  Natur  des 
römischen  Intestatrechtes  bildet,  die  vielmehr  darin  besteht, 
ebenso  sehr  vom  subjektiven  Willen  des  Testators  auszu- 
gehen, wie  das  Testament.  Huschke  fährt  fort:  ,,Diese  (Ver- 
schiedenheit) ist  aber  auch  von  der  größten  Wichtigkeit,  wie 
sich  sogleich  zeigen  wird,  wenn  wir  jetzt  zum  dritten  oben 
hervorgehobenen  Punkte,  der  Untersuchung  des  Verhältnisses 
dieser  beiden  Berufsarten  zur  Natur  der  Erbschaft,  über- 
gehen." Huschke  kehrt  also  jetzt  zu  dem  Punkte,  bei  welchem 
er  bei  der  Bolrachtung  der  Erbschaft  überhaupt  stehen  ge- 
blieben ist,  zurück,  und  zwar  mit  folgenden  Worten :  ,,Wir 
sahen  oben,  daß  der  eigentliche  Gegenstand,  zu  wel- 
chem ein  Erbe  berufen  wird,  die  familia,  d.h.  die  ver- 
mögensrechtliche Person  des  Erblassers,  und  daß  sie 
als  solche  unteilbar  sei."  Durchaus  unwahr!  Kein  Wort 
davon  haben  wir  ,,oben"  gesehen,  sondern  nur  das  strikteste 
Gegenteil !  Denn  wir  hörten  ja  „oben"  vielmehr,  daß,  „insofern 
die  Erbschaft  dem  Erben  zugekehrt  ist,"  sie  ,,Sache 
und  teilbar",  ein  ,, geradezu  teilbares  Recht"  sei.  Der 
„eigentliche  Gegenstand",  zu  welchem  ein  Erbe  berufen 
wird,  ist  doch  aber  dies,  was  ,,ihm  zugekehrt  ist".  Und 
auch  Huschke  selbst  hatte  oben  deshalb  eingestanden,  daß  diese 
dem  ,, Erben  zugekehrte"  Seite  das  sei,  was  , .eigentlich" 
die  hereditas  bilde,  also  den  , .eigentlichen  Gegenstand,  zu 
dem  der  Erbe  berufen"  sei.  Nur  ,, sofern  sie  dagegen  dem 
Verstorbenen  zugekehrt  ist",  hieß  es  oben,  nur  insofern  sie 
also  nicht  das.  oder  mindestens  doch  nicht  , .eigentlich"  das 
ist,  wozu  der  Erbe  berufen  ist,  sei  sie  Person  und  unteil- 
bar! —  Weil  der  Verstand,  unfähig,  eine  Lösung  in  der  Sache 
hervorzubringen,  sich  schließlich  nach  aller  Qual  immer  damit 
zufrieden  stellen  muß,  sich  in  Worten  zu  berauschen  und  zu 
beruhigen,  und  sich  in  den  Worten  zu  versichern,  daß  er  er- 
langt habe,  wovon  er  in  der  Sache  das  reine,  unversöhnte 
Gegenteil  in  den  Händen  hat,  so  muß  —  denn  irgendwo  muß 
doch  über  den  Graben  gesprungen  sein  —  Huschke  hier  ver- 
sichern, daß  er  „oben"  das  Gegenteil  von  dem  gezeigt  habe, 
was  er  nicht  nur  der  Sache  nach,  sondern  sogar  mit  ausdrück- 
lichen Worten  gezeigt  und  auf  das  stärkste  hervorgehoben  hat. 
Aber  auch  bei  diesem  Sprunge  springt  immer  die  Vermögens- 

661 


auffassung  des  Erbiums  mit  Huschke  mit.  Huschke  versichert 
gerade  bei  diesem  Sprunge  aufs  neue:  die  familia  sei  die 
, .vermögensrechtliche  Person"  des  Erblassers,  und  als 
solche  unteilbar.  Wenn  es  aber  das  Vermögensrechtliche 
in  der  Person  ist,  welche  der  ,, eigentliche  Gegenstand",  das 
W'^esen  der  Erbschaft  ist,  so  muß  sie  vielmehr  notwendig  teil- 
bar sein;  denn  alles  Vermögensrechtliche  ist,  weil  ein 
Materielles,  auch  ein  Quantitatives  und  somit  Teilbares, 
nur  das  Ideelle  ist  unteilbar.  Und  dies  ändert  sich  nicht, 
mit  welchem  Schein  des  Persönlichen  man  auch  in  den  Worten 
das  Vermögensrechtliche  bekleide.  Selbst  noch  der  eigene 
Leichnam  des  Toten,  so  sehr  hier  dem  Materiellen  noch  der 
Schein  der  Person  anklebt,  wäre  seiner  Natur  nach  teil- 
bar. Es  tritt  immer  das  schon  oben  (S.  28fg.)  Nachgewiesene 
ein,  daß  bei  der  geistvollen  Verknüpfung  solcher  Gegensätze, 
wie  ,, vermögensrechtliche  Persönlichkeit",  das  Vermögensrecht- 
liche die  Persönlichkeit  verschlungen  hat.  Für  wen  überhaupt, 
der  sich  nicht  mit  bloßen  Worten,  mit  , .bedeutsamen  Sprach- 
formen", wie  Humboldt  ironisch  sagt,  bezahlt,  kann  ein  Unter- 
schied sein  zwischen  ,, vermögensrechtlicher  Person"  und  ,,per- 
sönlichem  Vermögensrecht"?  Nur  um  sich  sein  eigenes, 
ihm  ahnend  aufdämmerndes  Fiasko  zu  verstecken,  braucht  die 
Verstandesreflexion  statt  des  einfachen  und  gesunden  Aus- 
druckes :  , .persönliches  Vermögensrecht",  den  in  Wahrheit  doch 
nur  dasselbe  besagenden,  gequälten  und  widerspruchsvollen  Aus- 
druck, die  , .bedeutsame  Sprachform ",  einer  , .vermögensrecht- 
lichen Person".  Die  ,, vermögensrechtliche  Person"  ist, 
wie  alles,  was  einmal  in  die  Sphäre  des  Vermögens  und 
somit  der  Materie  gesetzt  ist,  durchaus  nicht  persönlich  und 
unteilbar,  und  das  zeigt  gerade  am  besten  das  römische  Erb- 
recht selbst,  indem  es  zwei  und  mehr  Erben  zu  ernennen  ge- 
stattet und  so  das  Vermögensrechtliche  in  der  Person 
beliebig  teilen  läßt. 

Weil  dies  alles  sich  so  verhält,  kann  es  aber  nicht  genügen, 
daß  dies  die  wahre  Konsequenz  von  Huschkes  Lehre  gegen 
Huschkes  Worte  sei,  sondern  Huschke,  gerade  weil  er  es 
ernster  nimmt  als  andere,  wie  durch  Fatalität  dazu  bestimmt, 
das  Schicksal  des  Verstandes  mit  seltener  Normalität  an  sich 
zu  vollziehen,  wird  uns  auch  selbst  sehr  bald  sagen  müssen, 

6Ö2 


daß  es  sich  so  verhält.  —  Er  hatte  soeben  gesagt,  man  habe 
„oben"  gesehen,  daß  der  „eigentliche  Gegenstand,  zu  welchem 
der  Erbe  berufen  wird,"  die  familia  sei.  Nun  hatte  man  zwar 
„oben"  nicht  das  Geringste  hiervon,  sondern  das  direkte  Gegen- 
teil gesehen,  daß  das.  wozu  „eigentlich"  der  Erbe  berufen 
oder  was  ihm  zugekehrt  sei,  eine  sachliche  und  teilbare  here- 
ditas  sei.  Weil  Huschke  aber,  sagten  wir,  auch  bei  diesem 
Sprunge  immer  fortfährt,  die  familia  als  eine  „vermögensrecht- 
liche Persönlichkeit"  aufzufassen,  nützt  ihm  der  Sprung  nicht 
einmal,  und  er  wird  uns  sofort  wieder  das  Gegenteil  von  dem 
sagen,  was  er  hier  versichert,  oben  gesagt  zu  haben.  Zunächst 
fährt  er  unmittelbar  so  fort:  „Wenn  nun  jemand  sich  selbst 
einen  "Erben  ernennt,  so  ist  es  wiederum  diese  Person,  welche 
diesen  Akt  vornimmt.  Also  (?!)  fallen  in  dem  Akt  der  Erbes- 
ernennung Subjekt  und  Objekt  in  eins  zusammen  (was 
nach  Huschke  durchaus  nicht  wahr  ist),  die  familia  will 
sich  dem  Erben  übertragen,  sie  vererbt  sich  selbst, 
und  hiermit  ist  der  Grund  unserer  Regel  gefunden."  Wer  sollte 
bei  diesem  äußeren  Anklang  der  Worte  an  das  wirkliche  begriff- 
liche Verhältnis  nicht  glauben,  daß  Huschke,  obwohl  dieser 
Satz  nicht  bei  ihm  begründet,  obwohl  nach  dem  Früheren  nur 
das  Gegenteil  davon  wahr  ist,  hier  nahe  daran  sei,  und  sei  es  auch 
nur  infolge  einer  Intuition,  in  das  Heiligtum  des  Begriffes  ein- 
zudringen? Noch  nicht  zwar  in  den  Grund  der  Regel  nemo 
pro  parte  etc.,  wie  er  selbst  glaubt,  aber  doch  mindestens  in 
den  Begriff  des  Erbtums  überhaupt?  Behüte!  Da  Huschke 
unter  der  „familia",  die  sich  übertragen  will,  immer  nur  die 
vermögensrechtliche  Person  versteht,  ist  es  nur  ein  Klingen 
und  Anklingen  der  Worte;  in  der  Sache  ist  er  hundert  Meilen 
weit  davon  entfernt  und  legt  das  sofort  in  einer  erklärenden 
Anmerkung  zu  diesen  Worten  treulich  an  den  Tag.  ,,Wenn 
nämlich  auch,"  erklärt  Huschke  diese  Worte,  „der  Vererbende 
und  das  Vererbte  im  Objekt  zusammenfällt,  so  ist  doch 
dieser  Gegenstand  ein  anderer  als  vererbendes  Sub- 
jekt und  als  vererbtes  Objekt  (!!!),  gleichwie  auch  das 
Bewußtsein,  als  von  sich  gesetztes,  schon  ein  anderes  ist,  als 
das  Bewußtsein  an  sich.  Nun  ist  aber  familia,  wie  gezeigt,  der 
Ausdruck  für  die  Vermögensfreiheit,  insofern  sie  dem 
Erblasser  zugekehrt  ist  und  mit  ihm  zusammenfällt,  folg- 

663 


lieh  die  Vermögensfreiheit,  insofern  sie  sich  vererbt, 
aber  nicht,  insofern  sie  von  sich  vererbt  wird"!!! 
Der  Wortwirrwarr  des  Verstandes  erreicht  hier  seinen  Gipfel. 
Die  babylonische  Sprachverwirrung  ist  Harmonie  dagegen.  Der 
Widerspruch  begnügt  sich  hier  nicht,  einige  Zeilen  hintereinander 
aufzutreten ;  wütend  geworden,  stellt  er  sich  sich  selbst  gegen- 
über und  schneidet  sich  Gesichter!  Was  ist  das  für  eine  Ver- 
mögensfreiheit oder  sonst  ein  Dmg,  welches  ein  anderes  ist, 
insofern  es  sich  selbst  vererbt  oder  insofern  es  von  sich  selbst 
vererbt  wird  ? !  Da  die  ganze  Tretmühlenarbelt  des  Verstandes, 
weil  ihm  der  Gedanke  unfaßbar  bleibt,  von  vornherein  genötigt 
ist,  nur  ein  sprachliches  Geräusch  hervorzubringen,  sich  nur 
in  Worten,  in  ,, bedeutsamen  Sprachformen"  berauschen  und 
mit  Worten  illusorisch  in  Ruhe  einwiegen  zu  können,  so  bricht 
Huschke  hier  ernstlich  in  das  Geheimnis  der  ihn  treibenden 
Methode  durch  und  meint,  der  Unterschied  müsse  darin  liegen, 
ob  er,  Huschke,  denselben  Akt,  denselben  Inhalt  in  der  Aktiv- 
oder  Passivform  des  Verbums  ausspreche! 

Aber  diese  Grimasse,  zu  der  sich  der  Verstand  verzerren 
muß  in  dem  Schmerze,  sich  dem  ihn  hin-  und  herreißenden 
Widerspruche  nicht  entwinden  zu  können,  Ist  noch  nicht  alles ! 
Im  Text  hatte  uns  Huschke  versichert,  daß,  weil  jemand  sich 
selbst  einen  Erben  ernannt,  Subjekt  und  Objekt  in  diesem 
Akt  in  eins  zusammenfallen,  die  f  amilia  sich  dem  Erben  über- 
tragen wolle.  Aber  weil  familla  den  Begriff  des  Vermögens- 
rechtlichen für  Ihn  hat,  muß  er  uns  in  der  Anmerkung  gestehen, 
daß  davon  kein  Wort  wahr  ist,  daß  familla  nur  das  dem 
Erblasser  Zugekehrte  und  mit  ihm  Zusammenfallende  sei,  daß 
daher  trotz  des  Zusammenfallens  von  Subjekt  und  Objekt,  von 
dem  der  Text  spricht,  doch  dieser  Gegenstand  ,,ein  anderer 
als  vererbendes  Subjekt  und  als  vererbtes  Objekt"  bleibt, 
daß  sie  also  wieder  nicht  zusammenfallen  und  andere  gegen- 
einander sind.  Woher  kommt  dieser  Widerspruch?  Er  erhellt 
sich  bei  schärferer  Betrachtung  der  Worte  der  Anmerkung: 
,,Wenn  nämlich  auch  der  Vererbende  und  das  Vererbte  im 
Objekt  zusammenfällt,  so  ist  doch  usw."  Also  nur  im  Ob- 
jekt, d.h.  im  Vermögen,  nicht  als  Selbstobjekt  der 
Handlung,  läßt  Huschke  den  Vererbenden  und  das  Ver- 
erbte  zusammenfallen.    Es  ist   wieder  die   alte   Weisheit,   daß 

664 


das  Vermögen  vererbt  wird,  wonach  freilich  Vererbendes 
und  Vererbtes,  Person  und  Vermögen,  andere  gegeneinander 
bleiben.  Es  war  also  wieder  nur  Schein,  wenn  es  im  Text 
hieß:  „die  familia  will  sich  dem  Erben  übertragen,  sie  ver- 
erbt sich  selbst".  Es  ist  mit  dem  „sich  selbst"  nicht  gemeint, 
die  familia  vererbt  sich  selbst  als  ideale  Fähigkeit,  sondern  sie 
vererbt  ihren  Gegenstand,  das  Vermögen.  Hiermit,  meint 
Huschke,  sei  der  Grund  der  Regel  nemo  pro  parte  etc.  ge- 
funden: „denn  wenn  Testator  und  Erbschaft  sich  indiffe- 
renzieren (wir  hörten  aber  soeben  in  der  Anmerkung,  daß 
sie  vielmehr  fortfahren,  sich  zu  differenzieren),  so 
folgt,  daß  auf  dieselbe  Weise,  wie  die  Erbschaft  ob- 
jektiv unteilbar  ist,  auch  der  subjektive,  mit  ihr  zu- 
sammenfallende Wille  unteilbar,  mithin  jede  Konkurrenz 
eines  anderen  Willens  mit  sich  ausschließend  sei, 
und  daß  also  usw."  Huschke  schließt  in  diesen  Worten  seinen 
Beweis  mit  der  grandlosesten  Umkehrung  seines  Beweisthemas, 
die  denkbar  ist.  Bisher  handelte  es  sich  darum,  zu  beweisen, 
daß  die  Erbschaft  objektiv  unteilbar  sei,  wovon  wir  von 
Huschke  selbst  immer  das  Gegenteil  gehört  haben.  Daß  der 
subjektive  Wille  unteilbar  sei,  das  würde  jeder  Mensch 
Huschken  von  so  einem  idealen  Dinge,  wie  der  subjektive  Wille 
ist,  aufs  bloße  Wort  geglaubt  haben!  Weil  jede  Sache  doch 
ein  Ende  haben  muß,  nimmt  Huschke  den  Anschein,  als  habe 
er  bisher  schon  bewiesen,  daß  die  Erbschaft  objektiv 
untedbar  sei,  wovon  er  uns  nie  etwas  als  das  Gegenteil  sagte, 
und  als  habe  er  nur  zu  beweisen,  daß  der  subjektive  Wille 
unteilbar   sei,  was  freilich  kein   Mensch  je   bestritten  hat. 

Huschke  gewinnt  aber  nicht  einmal  etwas  mit  dieser  totalen 
Verwechselung  des  Beweisthemas ;  denn  da  bei  ihm  ,,das  Ver- 
erbende und  das  Vererbte  zwar  im  Objekt  zusammenfällt", 
aber  doch  „ein  anderer  als  vererbendes  Subjekt  und 
als  vererbtes  Objekt"  gegeneinander  bleibt  (wie  Person 
und  Vermögen  natürlich  immer  gegeneinander  bleiben  müssen), 
warum  sollte  der  unteilbar  vererbende  Wille  das  , .vererbte 
Objekt",  das  ja  „ein  anderes"  gegen  ihn  ist  und  bleibt, 
nicht  teilweise  nach  Testamentsrecht  und  teilweise  nach  In- 
testatrecht  übertragen  wollen  können?  Er  würde  hierdurch  eine 
Teilung  nicht  in  sich,  sondern  nur  in  dies  Objekt,  das,  als  ein 

665 


anderes  als  er,  dieser  Teilung  fähig  ist,  hineinbringen.  Oder 
mit  anderen  Worten :  warum  sollte  der  testierende  Wille  nicht 
selbst  die  gesetzliche  Erbfolge  für  einen  Teil  wollen  können? 
Huschke  antwortet :  deshalb  nicht,  weil  der  Wille,  als  unteilbar, 
, .mithin  jede  Konkurrenz  eines  anderen  Willens 
mit  sich  ausschließend  sei".  Und  hierin  ist  nach  ihm 
,,der  Grund  unserer  Regel  gefunden". 

Aber  dieser  Grund  ist  höchst  irrig !  Es  ist  nicht  wahr,  daß 
der  Wille  im  Testament  ,,jede  Konkurrenz  eines  anderen 
Willens  mit  sich  ausschließend"  sein  müsse,  und  wenn  das  In- 
testaterbrecht wirklich,  wie  Huschke  freilich  glauben  muß,  ein 
anderer  Wille  als  der  des  Testierenden  wäre,  so  würde  die 
Regel  nemo  pro  parte  etc.  gerade  nie  haben  entstehen 
können!  Es  ist  leicht,  beides  zu  zeigen. 

Nichts  hindert  den  Testator,  seinen  Intestaterben  einzusetzen. 
Freilich  fällt  dann  der  Reflex  gar  nicht  darauf,  daß  dieser 
auch  Intestaterbe  wäre,  und  er  hat  ihn  in  einen  testamentarischen 
verwandelt.  Nichts  hindert  aber  auch  den  Testator,  ohne  nament- 
liche Bezeichnung  des  Erben  zu  bestimmen :  mein  Intestaterbe 
sei  mir  Erbe.  Diese  Einsetzung  ist  gültig,  denn  von  einer  in- 
certa  persona  kann  dabei  nicht  die  Rede  sein  (vgl.  S-  391  fg.). 
Freilich  würde  hier  noch  keine  Teilung  eintreten.  Aber  der 
Testator  kann  ebenso  gut  sagen:  mein  Intestaterbe  und 
Paul  Peter  seien  mir  Erben.  Man  wird  sagen,  daß  immerhin 
der  Intestaterbe,  indem  er  eingesetzt  sei,  in  einen  testamen- 
tarischen verwandelt  worden  sei.  Richtig.  Aber  verwandelt  oder 
nicht  —  eine  ..Konkurrenz  eines  anderen  Willens"  (wenn 
das  Intestaterbrecht,  wie  Huschke  glaubt,  ein  solches  wäre), 
eine  Konkurrenz  des  Intestatgesetzes  mit  dem  testamentari- 
schen Willen  hat  hier  jedenfalls  stattgefunden.  Der  In- 
testaterbe ist  hier  nicht  bloß  eingesetzt,  weil  er  nach  dem 
Intestatgesetz  Erbe  sein  würde  —  was  einen  gleichgültigen 
Grund  darstellen  würde  — ,  sondern  der  ist  eingesetzt,  der 
nach  dem  Willen  des  Intestatgesetzes  Erbe  sein  würde,  ohne 
namentliche  Bezeichnung,  und  so  Ist  die  Konkurrenz  dieses 
Intestatgesetzlichen  Willens  vom  testierenden  Willen  selbst  ge- 
setzt; es  ist  gerade  der  Reflex  gesetzt  auf  den  intestatgesetz- 
lichen Willen  und  den,  den  dieser  wollen  wird.  Es  ist 
also  nicht  wahr,  daß  der  testierende  Wille  seiner  Natur  nach 

666 


notwendig  „jede  Konkurrenz  eines  anderen  Willens  mit 
sich  ausschließend  sei".  —  Wir  haben  aber  auch  gesagt:  wäre 
das  Intestatgesetz,  wie  Huschke  meint,  ein  anderer  Wille 
gegen  den  Willen  des  Testators,  so  würde  gerade  dann  die 
Regel  nemo  pro  parte  etc.  nicht  haben  entstehen  können  und 
unwahr  sein.  Es  ist  ebenso  leicht,  dies  zu  zeigen.  In  der  Tat, 
nach  unserer  Entwickelung  des  Intestaterbrechtes  ist  dasselbe 
ja  nicht  ein  anderer  Wille  als  der  Testator,  sondern  wie- 
derum der  eigene  (vorausgesetztte)  Wille  desselben.  Und  wir 
zeigten  bei  dieser  Entwickelung  bereits,  wie  die  Regel  nemo 
pro  parte  etc.  gerade  nur  daraus  folge,  weil  das  Intestaterb- 
recht der  eigene  Wille  des  Testators  sei.  Gerade  nur,  weil 
beides  der  eigene  Wille  des  Testators  ist,  schließt  das  Sich- 
setzen  desselben  in  der  einen  Form,  in  der  Form  aus- 
drücklicher Bestimmtheit,  das  Sichsetzen  desselben  als  eine 
andere  Bestimmtheit  aus.  Wer  sich  selbst  nicht  bestimmt, 
ist  noch  unbestimmt,  und  kann  bestimmt  werden.  Wer  sich  aber 
selbst  bestimmt,  sich  als  A  bestimmt,  der  kann,  wenn  von 
Selbstbestimmung  die  Rede  sein  soll,  nicht  behandelt  werden, 
als  habe  er  sich  selbst  als  Nicht-A  bestimmt. 

Folglich  wurzelt  die  Regel  nemo  pro  parte  etc.  immer  nur 
darin,  daß  beides,  testamentarisches  wie  Intestaterbrecht,  die 
eigene,  ausdrückliche  oder  vorausgesetzte  Selbstbestim- 
mung der  erblasserischen  Willenssubjektivität  ist.  Wäre  das 
Intestatrecht  aber  ein  ,,an derer  Wille",  als  der  des  Testie- 
renden, so  könnte  die  Regel  nicht  gelten.  Dies  zeigt  auf  das 
deutlichste  das  Noterbenrecht.  Hier  tritt  das  Gesetz  als 
ein  anderer  Wille  gegen  den  Testator,  hier  tritt  es  als  Ge- 
setz auf  —  und  sofort  zeigt  sich,  daß  dann  kein  Grund  vor- 
handen ist,  die  Konkurrenz  dieses  ,, anderen"  Willens  mit  dem 
Testierenden  auszuschließen.  Die  Regel  nemo  pro  parte  etc. 
bleibt  unter  Justinian  bestehen,  aber  das  hindert  nicht,  daß. 
wenn  der  Testator  den  Noterben  weniger  als  das  Pflichtteil 
hinterlassen  hat,  dieses  ergänzt  wird  und  das  Testament  den- 
noch ruhig  bestehen  bleibt  (s.  oben  sub  Nr.  X).  Und  frei- 
lich muß  das  eintreten;  denn  wenn  erst  das  Gesetz  qua  Ge- 
setz, wenn  es  als  ein  anderer  Wille  zwingend  gegen  den 
Testator  auftritt,  wie  dies  beim  Noterbenrecht  der  Fall  (welches 
daher  gar  nicht  mehr  genau  als  I  n  t  e  s  t  a  t  gesetz  im  römischen 

667 


Sinne  zu  bezeichnen  ist,  rlenn  dies  ist  nur  ein  solches,  v/elches 
eintritt,  wenn  der  Testator  nicht  verfügt  hat,  wenn  er  in -testa- 
tus moritur;  nicht  ein  gegen  sein  Testament  eintretendes  Recht), 
so  muß  dann  dieses  zwingende  und  qua  Gesetz  verfügende 
Gesetz  um  der  Normalität  willen,  die  es  dem  individuellen 
Willen  zur  Pflicht  macht,  auch  als  dem  abweichenden  indivi- 
duellen V/illen  rechtlich  einwohnend  gedacht  werden. 

Weil  Huschke  also  nach  keiner  Seite  hin  in  die  Bedeutung 
des  Grundsatzes  nemo  pro  parte  etc.  eingebrochen  ist,  und  die- 
jenige, die  er  dafür  nimmt,  eine  ganz  unwahre  und  kontradik- 
torische Ist,  muß  er  fortfahren,  mit  Recht  drückten  sich  die 
römischen  Juristen  gerade  so  aus :  ,,es  sei  unmöglich,  daß  je- 
mand zum  Teil  testatus,  zum  Teil  intestatus  sterbe,  nicht 
aber:  daß  er  zum  Teil  durch  Testament,  zum  Teil  durch 
Gesetz  beerbt  versterbe.  Der  erstere  Ausdruck  nämlich,  das 
rein  Negative,  daß  mit  einem  Testament  nicht  zugleich  eine 
Delation,  die  nicht  dieses  Testament  sei,  nach  Teilen  kon- 
kurrieren könne,  trifft  damit  den  eigentlichen  Grund  der  Regel, 
die  Ausschließlichkeit  und  Unteilbarkeit  der  testamentarischen 
Sukzession,  wogegen  die  andere  andeuten  würde,  daß  in 
der  Art  des  testamentarischen  oder  gesetzlichen  Willens  etwas 
Widersprechendes  liege,  was  nicht  der  Fall  ist.  Ciceros 
oben  angeführte  Fassung  der  Regel  (nämlich  de  invent.,  2, 
21 :  „Nee  unquam  factum  est,  ut  ejusdem  pecuniae  alius  testa- 
mento,  alius  lege  heres  esset),  die  dieses  Mißverständ- 
nis begünstigt,  ist  eben  deshalb  tadelnswert."  So  muß 
Huschke  dazu  kommen,  gerade  das  Beste,  Richtigste  und 
Auf  k  lärend  ste,  was,  wie  wir  früher  zeigten  (S.  353 fg.). 
uns  über  diesen  Grundsatz  gesagt  worden  ist,  tadeln  und  als 
ein  Mißverständnis  hinstellen  zu  müssen!  Wir  sahen  a.  a. 
O.,  daß  gerade  nur  aus  diesen  Worten  Ciceros  sich  erklärt, 
warum  das  Erbewerden  des  präterierten  suus  neben  dem  te- 
stamentarischen Erben  die  Regel  nemo  pro  parte  etc.  nicht 
verletze,  weil  nämlich  der  suus  doch  Immer  nicht  durch  Ge- 
setz Erbe  wird,  sondern  die  Indifferente  Mitte  des  Testaments- 
und Intestatrechtes  darstellt.  Wir  zeigten  daselbst,  wie  das 
ganze  Verständnis  dieser  Regel,  wie  des  Intestaterbrechtes  über- 
haupt, davon  abhängt,  zu  begreifen,  daß  der  Gegensatz,  den 
die  Regel  ausdrückt,  der  Gegensatz  des  eigenen  Setzens  und 

668 


des,  in  Ermangelung  eines  solchen,  durch  Gesetz  eintre- 
tenden Voraussetzens  sei,  und  daß  nur  deshalb  der  suus,  weil 
er  ja  immer  eine  vom  Testator  selbst  gesetzte,  nicht 
bloß  durch  Gesetz  eingesetzte  Willensidentität  mit  ihm  sei, 
daher  von  vornherein  diesem  Gegensatze  entzogen  sein  könne 
und  müsse.  Huschke  findet  diesen  tief  in  das  Wesen  des  In- 
testaterbrechtes führenden  Ausspruch  Ciceros  falsch  und  tadelns- 
wert; er  findet  es  falsch,  die  Regel  so  aufzufassen,  daß  der 
Testator  nicht  „zum  Teil  durch  Testament,  zum  Teil  durch 
Gesetz  beerbt  versterben"  könne,  weil  hierdurch  ange- 
deutet sein  würde,  „daß  in  der  Art  des  testamentarischen  oder 
gesetzlichen  Willens  etwas  Widersprechendes  liege,  was  nicht 
der  Fall  ist".  Freilich  würde  das  dadurch  angedeutet  sein,  und 
freilich  ist  dies  auch,  wie  von  uns  nachgewiesen,  durch- 
aus und  allein  der  Fall  und  gibt  allein  die  Bedeutung 
und  logische  Notwendigkeit  der  Regel.  Worin  sollte  denn  sonst 
noch  der  Widerspruch  liegen,  wenn  nicht  ,,in  der  Art  des 
testamentarischen  oder  gesetzlichen  Willens"?  Im  Subjekt 
dieses  Willens  liegt  er  nicht;  dies  ist  bei  beiden  dasselbe:  der 
Testator.  In  dem.  Objekt  oder  der  Substanz  (Inhalt)  des 
Willens  liegt  er  nicht;  dies  ist  bei  beiden  dasselbe:  Erbtum; 
nur  in  der  Art  des  Willens,  ob  er  sich  durch  ausdrückliches 
Sichselbstsetzen  oder  durch  subsidiarisches  gesetzliches  Vor- 
aussetzen kontinuiert,  —  nur  darin  liegt  der  Widerspruch, 
von  dem  die  Regel  spricht. 

Huschke  bekundet  also  gerade  durch  diese  Explikation  auf 
das  deutUchste,  wie  unendlich  weit  er  davon  ist,  trotz  aller 
Sprünge,  und  abgesehen  von  allen  Versicherungen,  das  bewiesen 
zu  haben,  wovon  er  das  Gegenteil  bewiesen  hat,  auch  nur  im 
allerentfemtesten  den  wahren  Smn  der  Regel  erraten  zu  haben. 
Die  ganze  Wortjägerei  des  Verstandes  hat  zu  gar  nichts  ge- 
führt und  konnte  von  vornherein  zu  gar  nichts  führen,  weil  sie 
den  Vermögensbegriff  als  Begriff  des  Erbtums,  trotz  aller 
Anstrengung,  dies  in  den  Worten  herunterzuwürgen,  immer  mit- 
nahm, und  dies  natürlich  jede  weitere  Erkenntnis  des  konkreten 
Stoffes  notwendig  versperren  mußte.  Und  nur,  weil  doch  alles 
sein  Ende  haben  muß,  nimmt  dieser  rastlose  Widerspruch  hier 
die  Miene,  einer  herbeigeführten  ruhigen  Lösung  an ! 

Huschke  fährt  fort:  eine  „Probe  für  die  Richtigkeit  seiner 

669 


Deduktion"  sei  sofort  der  Satz,  ,,daß  nicht  bloß  die  Erb- 
folge ab  intestato,  sondern  auch  die  Erbfolge  aus  einem 
anderen  Testament  mit  der  testamentarischen  Erbfolge  un- 
verträglich sein  muß".  Wenn  dieser  Satz  wirklich  eine  Probe 
für  die  Richtigkeit  von  Huschkes  Ansicht  ist,  so  wird  die  Probe 
traurig  ausfallen !  Denn  soweit  der  Satz  richtig  ist,  beruht  er 
einfach  auf  dem  ganz  anderen  Grunde,  daß  durch  das  spätere 
Testament  das  frühere  notwendig  aufgehoben  ist,  und  folg- 
lich überhaupt  nicht  zwei  Testamente,  sondern  nur  eins,  vor- 
liegen. Tritt  dies  Auf  gehobensein  nicht  ein,  so  tritt  auch 
die  Unzulässigkeit  der  Erbfolge  aus  zwei  Testamenten  nicht 
ein.  Und  zum  Beweise  dieses  Satzes  wollen  wir  uns  nicht  auf 
die  L.  1,  §  6,  de  bon.  poss.  sec  tab.  (37,  11)  berufen,  durch 
die  Huschke  in  der  Anmerkung  sich  selbst  widerlegt  (,,Sed 
etsi  in  duobus  codicibus  simul  signatis  alios  atque  alios  he- 
redes  scripserit  et  utrumque  extet:  ex  utroque  quasi  ex  uno 
competit  bonorum  possessio,  quia  pro  unis  tabulis  habendum 
est  et  supremum  utrumque  accipiemus") ;  denn  was  Ulpian 
in  dieser  Stelle  sagt,  handelt  nur  von  der  bonorum  possessio, 
nicht  von  der  Zivilerbschaft,  die  Huschke  freilich  in  seiner 
ganzen  Untersuchung,  eben  v.-ei)  er  den  Erbschaftsbegriff  des 
jus  civile  gänzlich  verfehlt,  als  ein  mit  der  bonorum  possessio 
Gleichstehendes  behandelt,  während  beide  nur  durch  ihren  Un- 
terschied richtig  erfaßt  werden  können.  Aber  diese  Stelle 
widerlegt  Huschkes  Ansicht  auch  noch  in  zwei  Hinsichten. 
Sie  zeigt  gegen  ihn,  daß,  wäre  die  Zivilerbschaft  das,  wofür 
Huschke  sie  hält,  nämlich  die  Übertragung  der  ,,vermögens- 
rechtlichen  Persönlichkeit",  die  Erbfolge  aus  mehreren 
Testamenten  einander  nicht  ausschließen  würde,  insofern  die 
Testamente  gleichzeitig  vollzogen  sind  und  daher  kein  spä- 
teres vorliegt,  durch  welches  der  individuelle  Wille  selbst 
sein  früheres  Produkt  wieder  aufgehoben  hat.  Die  bonorum 
possessio  ist  wirklich  in  gewisser  Weise  diese  Übertragung 
der  , .vermögensrechtlichen  Persönlichkeit",  wofür  Huschke  die 
zivile  hereditas  hält.  Denn  ihr  Standpunkt  und  ihre  Substanz 
ist  eben,  zum  Unterschiede  von  der  Willensperpetuierung 
des  Zivilerbrechtes,  der  Vermögenserwerb  (siehe  Nr. 
V),  und  indem  der  Geist  des  Zivilrechtes  noch  seinen  W i - 
derschein  und  Schatten  über  die  durch  Billigkeit  und  jus 

670 


gentium  hervorgebrachte  gegensätzliche  prätorische  Abwei- 
chung wirft,  entsteht  hier  genau,  was  hiernach  entstehen  muß : 
nicht  mehr  die  Übertragung  des  Willens,  sondern  der  Wi- 
derschein und  Schatten  desselben  im  Vermögen  und 
auf  dem  Vermögensstandpunkt  oder  „die  vermögens- 
rechtliche Persönlichkeit",  ein  Widerschein  und  Schat- 
ten, den  unsere  Juristen  für  einen  aus  sich  selbst  entstandenen 
selbständigen  Körper  und  für  das  wahre  Wesen  des  Erbrechtes 
halten,  der  aber  bei  jeder  Annäherung  an  ihn  verschwinden  muß 
und  sich  nur  aus  der  leibhaftigen  Gestalt,  die  diesen 
ihren  Schatten  auf  das  ihrer  Persönlichkeit  entgegengesetzte  Ele- 
ment der  Erde  geworfen  hat,  erkennen  läßt. 

Was  also  Huschke,  indem  er  dem  Zivilrecht  nachläuft,  wirk- 
lich in  der  Hand  behält,  ist  so  immer  der  Widerschein  und 
Schatten  des  prätorischen  oder  justinianeischen 
Rechtes.  Beide  stehen  in  dieser  Hinsicht  im  Prinzip  einander 
gleich;  denn  die  prätorische  bonorum  possessio  ist  eben 
das  Erbrecht  in  der  Reaktion  und  Absonderung  vom  zivilisti- 
schen Erbrecht  oder  das  Erbrecht  als  Vermögenserwerb, 
auf  welches  der  Geist  des  neben  ihm  bestehenden  jus  civile 
als  Widerschein  fällt  und  es  noch  in  seinem  Abweichen 
gliedert  und  bestimmt  (vgl.  S.  640  fg.  und  S.  643  fg.,  Note  1). 
Das  justinianeische  Recht  dagegen  ist  im  Prinzip  nur  das 
dieses  Nebeneinanderbestehen  aufgehoben  habende,  an 
die  Stelle  dieses  zivilistischen  Rechtes  getretene  und  somit 
selber  zivilistisch  gewordene  prätorische  Recht;  ein 
Recht,  in  welchem  daher  der  Geist  des  jus  civile,  der  im 
prätorischen  Recht  wegen  des  Nebeneinander  beider  sich 
als  Widerschein  bestimmt,  hier,  wegen  des  Gewesen- 
seins des  Zivilrechtes,  nur  noch  als  Schatten  tätig  ist. 
Da  sich  aber  Widerschein  und  Schatten  immer  nur  aus  dem 
beurteilen  und  erkennen  lassen,  aus  welchem  sie  geworfen  wer- 
den, so  erkennt  Huschke  notwendig  auch  diese  nicht. 

So  zeigt  Huschke  eben  deshalb  das  Irrige  seiner  gesamten 
Auffassung  des  Zivilerbrechtes  durch  Bezugnahme  auf  diese 
Stelle  dadurch  auf,  daß  er  bonorum  possessio  und  Zivilerbrecht 
dabei  als  ihrem  Begriffe  nach  ganz  identische  Dinge  behandelt. 
Bei  dem  Testament  ex  jure  civili  würde  schon  durch  die 
Form  desselben  die  Gleichzeitigkeit  zweier  Testamente, 

671 


von  der  Ulpian  hier  beim  prätorischen  Testament  spricht,  ganz 
unmöghch  sein. 

Eben  deshalb  ist  aber  Huschke  nun  noch  nicht  in  bczug  auf 
das  zivilrechtliche  Testament  in  seiner  Behauptung  wider- 
legt, daß  ,,die  Erbfolge  aus  einem  anderen  Testament  mit  der 
testamentarischen  Erbfolge  unverträglich  sein  muß".  Ja,  es 
scheint,  daß  sich  hier  diese  Widerlegung  gar  nicht  erbringen 
lassen  wird,  weil  hier  wegen  der  unmöglichen  Gleichzeitigkeit 
der  Testamente  der  individuelle  Wille  durch  das  zweite  Te- 
stament immer  das  erste  von  selbst  aufgehoben  haben  wird. 
Allein  auch  hier  ist  die  Widerlegung  zur  Hand.  Und  zwar  be- 
steht sie  in  nichts  anderem  als  in  dem  vorhin  schon  angezogenen 
Falle  des  übergegangenen  und  dem  eingesetzten  Erben  zur 
Hälfte  akkreszierenden  suus  (s.  oben  Nr.  XXV  und  XXVI). 
Der  suus  ist,  wie  wir  sahen  (siehe  S.  535),  selbst  ein  leben- 
diges Testament,  weil  er  selbst  durch  das  eigene  und 
ausdrückliche  Tun  des  Testators  —  durch  die  Zeugung 
—  von  ihm  gesetzte  Willensidentität  mit  ihm  ist, 
und  nur,  weil  er  selbst  ein  lebendiges  Testament  ist,  kann  er 
mit  dem  Testamentarerben  teilen.  Zugleich  ist  der  suus  ein 
solches  Testament,  welches  nicht  stillschweigend  durch 
ein  anderes,  sondern  nur  durch  ausdrückliche  Exheredation 
wieder  aufgehoben  werden  kann.  Ist  dies  nicht  eingetreten, 
so  kann,  wie  sich  in  diesem  Falle  zeigt,  das  lebendige  Testa- 
ment mit  dem  anderen  Testament  sehr  gut  nebeneinander  be- 
stehen und  sich  vertragen. 

Die  Probe  also,  welche  Huschke  selbst  für  die  Richtigkeit 
seiner  Deduktion  vorschlug,  ist  nach  allen  Seiten  hin  höchst 
kläglich   ausgefallen. 

Aber  Huschke  ruht  nicht!  Es  reicht  ihm  nicht  hin,  teils 
Dinge  gesagt  zu  haben,  die  objektiv  Irrig  sind,  teils  sich  selbst 
Innerlich  widerlegt  zu  haben.  Es  treibt  Ihn  rastlos,  es  auch 
wieder  herauszusagen,  daß  er  nichts  gesagt,  daß  er  sich 
nur  In  einem  fort  widersprochen  habe.  Und  so  sehen  wir  Ihn 
denn,  nachdem  er  lange  schon  scheinbar  vollkommen  beruhigt, 
„den  Grund  unserer  Regel  gefunden",  S.  301  in  das  Geständnis 
ausbrechen :  ,,An  sich  würde  nämlich,  wie  auch  oben  bemerkt 
wurde.  In  der  Freiheit,  auf  welcher  die  Testamentserbfolge 
beruht,  kein  Grund  liegen,  weshalb  sie  mit  der  notwendigen 

672 


Erbfolge  nicht  sollte  konkurrieren  können;  umge- 
kehrt müssen  wir  behaupten,  daß  der  Erblasser  zu- 
gleich die  gesetzliche  Erbfolge  für  einen  Teil 
wollen  könnte." 

Ist  es  erhört!  Oben,  wenige  Seiten  vorher,  erfuhren  wir 
als  den  letzten  und  wahren  Grund  unserer  Regel,  daß  der 
Wille,  weil  er  unteilbar  ist,  „jede  Konkurrenz  eines  an- 
deren Willens  mit  sich  ausschließend  sei''.  Dort 
hatten  wir  das  noch  zu  widerlegen  und  zu  zeigen,  daß  nichts 
von  alledem  wahr  und  ihm  überdies  durch  Huschkes  Lehre 
beständig  innerlich  widersprochen  sei.  Hier  zeigt  Huschke,  daß 
er  unserer  Widerlegung  gar  nicht  bedurfte;  daß  er  das  selbst 
vollkommen  einsieht!  Jetzt  gesteht  er  ein,  es  liege  kein  Grund 
vor,  daß  der  testamentarische  Wille  und  derjenige  ,,der  not- 
wendigen Erbfolge  (die  Intestaterbfolge,  dasjenige,  was  nur 
ganz  subsidiarisch  eintritt,  wenn  es  einem  Individuum  ge- 
fallen hat,  nicht  zu  wollen,  wird  für  Huschke,  wie  für  die 
Autoren  überhaupt,  zur  notwendigen  Erbfolge!  Welche  Lo- 
gik!) nicht  sollte  konkurrieren  können"  !  Jetzt  aber  muß  Huschke 
„umgekehrt  behaupten",  daß  eben  die  Unendlichkeit  der  Frei- 
heit dahin  führen  würde,  daß  der  Erblasser  auch  selbst 
die  Intestaterbfolge  pro  parte  wollen,  den  Willen  der- 
selben als  einen  konkurrierenden  in  sich  aufnehmen  könne ! 
D.  h. :  Huschke  muß  jetzt  alles  das  sagen,  wovon  wir  oben 
gegen  seine  Worte  zeigten,  daß  er  es  von  seinem  Stand- 
punkt aus  notwendig  sagen  müsse!  Aber  wo  bleibt  denn  nun, 
v,'enn  alles  bisher  Gesagte  jetzt  wieder  umgeworfen  ist,  die 
Regel  nemo  pro  parte  etc.  und  ihr  Grund  bei  Huschke?  Aber 
Huschke  fährt  mit  einem  ,,Aber"  fort,  und  wenn  er  ihn  uns 
also  auch  bis  jetzt  nicht  gesagt  hat,  jetzt  wird  er  ihn  uns 
sagen:  „Aber,"  fährt  Huschke  fort,  , .diese  Freiheit  steht,  wie 
v;ir  jetzt  sehen,  noch  unter  einem  Gesetze"  (bis  jetzt  haben 
wir  ja  eben  nichts  davon  gesehen;  das  angebliche  Gesetz  ist 
ja  soeben  zurückgenommen  worden !  Aber  das  tut  nichts ;  war 
das  Gesetz  auch  bis  jetzt  nicht  gesagt  worden,  so  wird  es  uns 
doch  in  den  jetzt  folgenden  Worten  mitgeteilt) :  ,, indem  der  freie 
Wollende  selbst  das  Objekt  seines  Wollens  ist,  und  dieses 
Objekt  nicht  Produkt,  sondern  Voraussetzung  seines  freien  Wil- 
lens ist,  fängt  sich  gleichsam  die  Freiheit  in  sich  selbst,  findet 

21    LasMlle.  Ges.  ScKriften,  Bsnd  XII.  673 


in   sich   selbst  ihre   Beschränkung,  und   in   dieser   Be- 
schränkung durch  sich  selbst  liegi  der  Giund  unserer  Regel!!" 

Nicht  die  Freiheit  fängt  sich,  sondern  Huschke  fängt  sich ! 
Die  Wortjägerei  des  Verstandes  fängt  sich,  fängt  sich  in  einem 
Gewirr  gebirgshoch  sich  türmender  Worte,  in  einem  Satze, 
der,  wenn  er  von  einem  Philosophen  herrührte,  allein  hin- 
gereicht hätte,  um  bei  den  Juristen  die  Philosophie  auf  Jahre 
wegen  nebulosester  Unklarheit,  Abstraktion  und  Wortreiterei 
in  Verruf  zu  bringen!  Hinter  diesem  Wortgebirge,  hinter  dem 
der  Verstand  sich  vor  sich  selbst  versteckt  hat.  fühlt  er  sich 
endlich  vor  sich  und  anderen  sicher  1  Das  ,,Nest  von  Wider- 
sprüchen", um  mit  Kant  zu  reden,  in  das  sich  der  Verstand 
durch  dieses  Wortgeräusch  geflüchtet  hat,  wollen  wir  nicht 
hier  noch  einmal  entwirren!  Es  sind  immer  die  alten,  stets 
wiederkehrenden,  an  denen  der  Verstand  würgt  und  würgt,  bis 
ihm  vor  Anstrengung  die  Augen  aus  dem  Kopfe  treten,  ohne 
sie  doch  hinunterwürgen  zu  können.  Aber  was  wir  noch  zeigen 
müssen,  ist,  wie  er  bei  jedem  neuen  Versuche,  sich  zu  retten, 
sich  in  immer  größeren  Widerspruch  mit  seinem  Stoffe  ver- 
wickelt. Der  Grundsatz  nemo  pro  parte  etc.  soll  also,  nach 
Huschkes  Schlußerklärung,  darin  seinen  Grund  haben,  daß  die 
Freiheit  des  Testators  in  sich  selbst  eine  ,, Beschränkung" 
findet !  Aber  es  ist  ja  wie  mit  Händen  zu  greifen,  daß  der 
Grundsatz  gar  keine  Beschränkung  für  den  Testator 
und  seine  Freiheit  darstellt!  Worin  sollte  denn  die  Wil- 
lensfreiheit des  Testators  durch  ihn  beschränkt  sein?  Der  Te- 
stator kann  ja  ganz  beliebig,  wie  er  will,  Testamentserben  und 
Intestaterben  bunt  durcheinander  würfeln  und  in  jedem  belie- 
bigen Verhältnis  einsetzen!  Also  nicht  im  geringsten  für  die 
testierende  Freiheit,  sondern  nur  die  außerhalb  des  Testa- 
mentes Stehenden  und  dasselbe  Beurteilenden  enthält  der 
Grundsatz  eine  Beschränkung!  Mit  anderen  Worten:  der 
Grundsatz  enthält  nur  eine  Regel  der  logischen  Interpre- 
tation des  im  Testament  vorhandenen  Willens  und  nicht  im 
geringsten  eine  Beschränkung  des  testierenden  Willens  und  seiner 
Freiheit ! 

Es  ist  die  einfachste  Regel  der  logischen  Interpretation,  daß, 
wer  schwarz  sagt,  nicht  angesehen  werden  könne,  als  ob  er 
weiß  sage,  wer  testatus  stirbt,  notwendig  nicht  intestatus  stirbt,. 

674 


wer  sagt:  icli  heiße  von  jetzt  ab  Paul,  niclit  gerufen  werden 
könne:  Peter! 

Und  um  dieses  einfachsten  Satzes  willen,  der,  sowie  der 
römische  Erbiumsbegriff  erst  verstanden  ist,  zur  höchsten  1  ri- 
vialität  herabsinkt  —  weshalb  Papinian  den  Verstoß  dagegen 
auch  mit  Recht  absurd  nennt  — ,  diese  rasenden,  fünfzig 
Seiten  füllenden  Anstrengungen  Huschkes  und  ein  so  gänz- 
hch   gescheitertes   Resultat ! 

Auf  einer  solchen  Grundlage  lassen  sich  natürlich  dann 
auch  keine  wahrhaften  Konsequenzen  gewinnen,  und  Huschkes 
weiteres  Bestreben,  die  Wirkungen  der  Regel  zu  durchdringen, 
muß  ebenso  vergeblich  bleilx;n,  wie  dasjenige,  die  Regel  selbst 
zu  gewinnen. 

Nach  wie  vor  laufen  richtige  Ahnungen  und  die  höchsten 
Verkennungen  auf  jedem  Punkte,  sich  untrennbar  durchdringend, 
durcheinander ;  nach  wie  vor  bleiben  die  Auflösungen  der  erb- 
rechtlichen Sätze,  die  Kuschke  beleuchtet,  bloße  Schein- 
und  Wort  auf  lösungen,  im  günstigsten  Falle  in  reiner  Tauto- 
logie dasselbe  wiederholend,  was  uns  die  römischen  Juristen 
in  den  betreffenden  Sätzen  sagen,  und  ob  dieser  Tautologie  den 
befriedigten  Schein  innerer  begrifflicher  Erkenntnis  annehmend ; 
nach  wie  vor  vollzieht  sich  an  Huschke  das  Schicksal  des 
Verstandes,  daß  gerade,  je  richtiger  die  Ahnung  ist,  die  in 
ihm  arbeitet,  desto  größer  und  abgrundartiger  der  Irr- 
tum ist,  in  den  er  fallen  muß.  Huschke  (S.  306,  307),  alles 
immer  sehend,  was  mit  dem  Verstände  gesehen  werden  kann, 
wirft  zuerst  und  allein  von  allen  Autoren  den  trefflichen  Blick, 
daß  das  Intestaterbrecht  nicht  erst  selbst  den  suus  ein- 
setze und  berufe,  noch  berufen  könne,  sondern  indem  es 
sich  ausdrückt:  ,,cui  suus  heres  nee  escit",  dadurch  sein  ,, durch 
Naturgesetz  schon  vorhandenes  Erbrecht  als  ein  solches 
erwähne  und  dadurch  anerkenne"  (vgl.  oben  Nr.  XXI  und 
XXVI  und  S.  534  fg.).  Wer  sollte  nicht  glauben,  daß  Huschke 
durch  diese  Bemerkung  sich  auf  den  besten  Weg  gebracht  hat, 
in  den  Begriff  des  suus  einzubrechen?  Aber  nein!  Auch  dieser 
richtige  Blick,  den  er  selbst  wirft,  bleibt  bei  ihm  —  gläsern! 
Kein  geistiger  Strahl  der  Erkenntnis  der  Suität  entzündet  sich 
aus  ihm.  und  wir  sahen  bereits,  wie  Huschke  trotzdem  den 
Cicero  tadelt,  der  durch  seine  Worte  gerade  dies  nicht  durch 

21-  675 


das  Gesetz  eingesetzte  Wesen  des  suus  so  deutlich  her- 
vortreten läßt,  und  wie  er  den  suus  in  seinem  Wesen  als  ebenso 
testamentarischen  wie  Intestaterben,  als  die  Einheit  von  beiden, 
die  dann  sowohl  das  Verständnis  des  ganzen  Intestatrechtes, 
sowie  die  Bedeutung  des  Grundsatzes  nemo  pro  parte  etc. 
von  selbst  aufschließt,  in  keiner  Weise  begriffen  hat.  Aber 
nicht  nur  der  Blick  bleibt  gläsern  — ■,  sondern  jeder  rich- 
tige geistige  Inhalt,  der  auf  die  verschiebende  Netzhaut  des 
Verstandes  geworfen  wird,  muß  sich  zum  Ungeheuerlichen 
der  Karikatur  verzerren.  Oder,  wie  wir  soeben  sagten,  je 
richtiger  die  Ahnung  ist.  die  in  dem  Verstände  arbeitet,  desto 
größer  und  abgrundartiger  muß  der  Irrtum  sein,  in  den  er 
fällt.  Und  Huschke  legt  das  wieder  auf  das  schlagendste  dar! 
Denn  weil  er  den  richtigen  Verstandesblick  wirft,  daß  das 
Zwölftafelgesetz  durch  jene  negative  Wortfassung  den  suus  gar 
nicht  selbst  einsetzt,  so  faßt  er  nun  —  an  derselben  Stelle  — 
das  Wesen  des  suus  also  auf:  ..Daher  beruht  denn  auch  das 
Erbrecht  der  sui  heredes  als  solches  eigentlich  auf  gar 
keinem  def erierenden  Willen,  nicht  auf  dem  des 
Testators,  wie  sich  von  selbst  versteht  (!!),  ebenso- 
wenig aber  auf  dem  des  Gesetzes  usw."  Alles  hängt  lediglich 
und  allein  davon  ab,  zu  begreifen,  wieso  der  Wille  des 
Testators  im  suus  als  schon  vorhanden  und  fort- 
existierend gesetzt  ist,  —  Huschke  kommt  umgekehrt 
dazu,  den  suus  als  nicht  auf  dem  Willen  des  Testators  be- 
ruhend, einen  römischen  Erben  ohne  den  Willen  des  Testa- 
tors, ja,  zu  der  noch  größeren  Ungeheuerlichkeit,  ein 
römisches  Erbrecht,  das  auf  gar  keinem  def  erierenden 
Willen  beruht,  zu  kennen!  Und  nochmals  hebt  Huschke  in 
dem  soeben  abgebrochenen  Satze  dies  auf  das  bestimmteste  her- 
vor: „.  .  .  ebensowenig  aber  auf  dem  des  Gesetzes,  welches, 
die  Natur  dieses  Verhältnisses  richtig  auffassend,  nur  sagte: 
wenn  jemand  ohne  Testament  sterbe,  der  keinen  suus  heres 
habe,  so  sollte  der  nächste  Agnat  Erbe  sein  —  also  still- 
schweigend dieses  Erbrecht  als  dem,  welches  auf  einem 
Willen  beruht,  vorausgehend  betrachtete".  Das  Zwölf- 
tafelgesetz läßt  zwar  den  Satz  vom  testamentarischen 
Erb  tum  diesem  Satze,  welcher  den  suus  erwähnt,  unmittelbar 
vorhergehen,  und  zeigt  so  schon  durch  seine  formelle  Stel- 

676 


lung,  daß  es  das  Erbrecht,  welches,  um  mit  Huschke  zu  reden, 
„auf  einem  Willen  beruht",  als  dem  suus  ,,vo  raus  gehend" 
betrachtet!  Das  Zwölftafelgesetz  wiederholt  dies  zwar  noch 
in  dem  Satze  selbst,  in  welchem  es  den  suus  erwähnt,  indem 
es  ihn  nur  erwähnt  —  si  intestatus  moritur.  Macht  nichts!  Für 
den  Verstand  wird  umgekehrt  dadurch  das  angeblich  auf  kei- 
nem Willen  beruhende  Erbrecht  des  suus  zu  einem  von  dem 
Zwölftafelgesetz  als  dem,  welches  ,,auf  einem  Willen  beruht", 
,,vor ausgehend"  betrachteten.  Sehen  wir  jetzt  nach  dieser 
näheren  Betrachtung  den  zuerst  von  uns  belobten  Satz  Huschkes, 
das  Intestatgesetz  könne  bei  dem  suus  ,,nur  sein  durch  Natur- 
gesetz schon  vorhandenes  Erbrecht  als  ein  solches  erwähnen 
und  dadurch  anerkeniien",  nochmals  an,  so  sehen  wir  jetzt,  wie 
schon  hier  neben  und  in  dem  Richtigen  auch  das  ganz  Falsche  in 
untrennbarer  Durchdringung  vorhanden  war.  Denn  jetzt  hat 
sich  uns  nur  erklärt,  was  Huschke  unter  dem  ,,durch  Natur- 
gesetz" vorhandenen  Erbrecht  des  suus  gemeint  hat,  nämlich 
ein  im  Gegensatz  zum  Willen  des  Testators  vorhandenes 
selbständiges  Familienrecht,  also  ganz  wieder  das  alte  Ge- 
rede vom  Intestaterbrecht,  als  einem  Recht  der  natürlichen 
Familienverwandtschaft  und  der  Naturnotwendigkeit;  eine  Auf- 
fassung, die  bei  Gans  zu  ihrer  geistvollsten  Verklärung  gekom- 
men, und  die  Huschke,  wie  wir  schon  früher  sahen,  trotz  allem, 
was  er  gegen  Gans  sagen  mag,  im  Grunde  vollständig  mit 
ihm  teilt. 

Da  Huschke  den  Begriff  der  sui  so  vollständig  verfehlt, 
so  kann  es  natürlich  auch  nicht  wundernehmen,  daß  er  den  Grund 
ihres  erbrechtlichen  Verhältnisses  und  ihrer  Benennung  in  ganz 
derselben  durchaus  unwahren  Weise  erklärt,  wie  wir  dies  oben 
bei  Gajus  u.  a.  (Nr.  XXI)  gefunden  haben.  Huschke  erklärt 
also  (S.  306)  die  sui  dadurch,  sie  seien  vermöge  ihrer  Per- 
soneneinheit mit  dem  Erblasser  , .gewissermaßen  schon  bei 
seinen  Lebzeiten  in  ihm  Eigentümer  des  Ve r m ö g e n s , 
und  der  Tod  des  Erblassers  bewirkt  nur,  daß  dieses  ihr 
Recht  (nämlich  Eigentümer  des  Vermögens  zu  sein),  welches 
bis  dahin  noch  in  des  Erblassers  potestas  oder  manus  ver- 
borgen lag,  frei  hervortritt".  Also  ganz  wieder  das  alte,  mit 
sich  selbst  und  dem  Rechtsfaktum  vollständig  in  Widerspruch 
stehende   Gerede  des   Gajus   von   dem   ,,quodammodo   domini" 

677 


des  Vermögens  sein,  welches  wir  bereits  oben  (S.  303)  aus- 
reichend widerlegt  und  vielmehr  als  ein  „nullo  modo  domini" 
nachgewiesen  haben. 

Aber  warum  muß  denn  Huschke  den  Begriff  des  suus  ver- 
fehlen, warum  kann  ihm  auch  jene  Bemerkung  dazu  keinen 
Weg  bahnen  ?  Nun,  notwendig  wieder  wegen  der  alten  Ve  r  - 
mögensauffassung  der  Erbschaft.  Dies  ist  in  dem  eben  zitier- 
ten Satze  schon  sehr  deutlich  hervorgetreten  und  zeigt  sich  noch 
deutlicher  m  einem  anderen  Satze.  Er  sagt  (S.  305) :  ,,Wcnn 
jemand  Deszendenten  hinterläßt,  welche  durch  seinen  Tod  in 
seiner  familia  siii  juris  werden,  so  sind  diese  nach  der  Natur 
der  familia  sui  heredes,  d.h.  sie  beerben  in  diesem  Ver- 
mögen gleichsam  sich  selbst."  Aber  was  hat  denn  das  zum 
Erben  seiner  selbst  werden  des  suus  (s.  oben  S- 311) 
mit  dem  ,,in  diesem  Vermögen"  zu  tun?  Der  suus  als 
Erbe  wird  suus  heres  oder  Erbe  seiner  selbst,  indem  die 
ideale  Willenssubjektivität,  die  ihm  der  Erblasser  als  Erben 
überträgt,  auch  bisher  schon  an  sich  die  seinige  war, 
er  also  jetzt  nur  zum  Subjekt  seiner  selbst,  seines  bis- 
herigen Selbst  umgewandelt  w ird  (während  er,  enterbt,  zwar 
auch  sui  juris  v/ird,  aber  als  eine  andere,  neue  Willens- 
subjektivität gegen  den  Erblasser,  wie  der  emancipatus).  Irgend 
etwas  von  diesem  Verhältnis  dämmert  auch,  wenn  auch  noch 
so  sehr  in  täuschend  ahnungsvoller  Verschwommenheit,  dem 
Verstände ;  das  zeigt  sich  deutlich,  indem  er  auf  das  „sui 
juris  werden"  Bezug  nimmt.  Huschke  möchte  gern  durch- 
brechen dahinein,  daß  der  suus  als  Erbe  nur  sich  selber,  sein 
eigenes  Subjektsein,  findet,  und  so  bricht  er  denn  durch  in 
—  das  Vermögen  xmd  läßt  den  suus  ,,in  diesem  Ver- 
mögen" gleichsam  sich  selber  beerben!  ,,Im  Vermögen" 
freilich  kann  der  suus  sich  und  seine  eigene  Subjektivität  nicht 
finden !  Sonst  werden  wir  nächstens  noch  zu  hören  bekommen, 
daß  die  römische  Subjektivität  im  Vermögen  liegt  und  aus 
diesem  vom  Subjekt  erworben  wird!  Und  so  treibt  denn  gerade 
auch  jene  leise,  sch\\anke  Ahnung  den  Verstand  immer  nur  in 
das  tapfere,  gedoppelte  und  komische  Fiasko,  den  suus,  der 
grundsätzlich  nie  etwas  haben  kennte,  zu  einem  zu  machen,  der 
„gewissermaßen"  seit  je  ,,EigeRtümer  des  Vermögens" 
ist,  und  ihn  zu  einem  Erben  zu  machen,  der  nicht  —  sich 

678 


selbst   erbt,   sondern,    obgleich   er   gesund    und    munter   und 
noch   gar  nicht  gestorben  ist,   sich  selbst  ..beerbt"! 

So  gehen  denn  auch  bei  der  Suität  dieselben  ächzenden, 
stöhnenden,  würgenden  Wortabmarterungen  fort,  dasselbe  sich 
Sichselbstgegenüberstellen  und  Sichgesichterschneiden  der  Wi- 
dersprüche tritt  ein.  ganz  wie  oben  bei  der  hereditas.  nur  dali 
es  überflüssig  wäre,  dies  noch  einmal  ganz  in  derselben  Aus- 
führlichkeit  darzustellen. 

Die  höchste  Beruhigung,  zu  der  es  diese  Methode  bringen 
kann,  ist  die  rein  tautologische  Versicherung  dessen,  was  uns 
die  römischen  Juristen  in  sinnlichen  Ausdrücken  und  Fällen 
sagen,  in  anderen,  abstrakter  und  allgemeiner  klingenden  Wor- 
ten, wobei  mit  jedem  Ansatz,  in  dieser  Tautologie  einen  gei- 
stigen Grund  zum  Vorschein  zu  bringen,  sofort  aus  der  nichts- 
sagenden Tautologie  in  den  entschiedensten  Irrtum  verfallen 
werden  muß.  So  will  Huschke  erklären,  warum  die  präterierte 
Tochter  und  der  präterierte  Enkel,  obwohl  sie  sui  sind,  dennoch, 
wenn  ein  extraneus  eingesetzt,  nur  zur  Hälfte  akkreszieren,  wo-, 
von  wir  oben  (Nr.  XXV)  die  tiefe  begriffliche  Notwendigkeit 
entwickelt  haben.  Huschke  seinerseits  begründet  dies  Resultat 
so  (S.  310  fg.):  Der  Sohn  gehöre  wesentlich  ,.zu  der  Drei- 
einheit, aus  welcher  die  familia  besteht",  wie  sich  auch  in  den 
Namen  pater,  mater,  filius  familias  zu  erkennen  gebe.  Er 
erinnert  an  das  indische  Gesetz  des  Menn,  IX,  45 :  ..Der  voll- 
kommene Mann  besteht  aus  sich  selbst,  seinem  Weibe  und  seinem 
Sohne."  ..Weit  vollständiger  und  tiefer  aber"  habe  noch  ,,das 
römische  Recht  diese  Naturwahrheit  aufgefaßt  und  angewandt". 
—  Unglücklicherweise  ist  der  römische  Geist  und  das  römische 
Recht  dieser  indischen  Anschauung  des  Menschen  als  eines 
erst  in  der  Familie  zu  seiner  Vollständigkeit  gelangenden  Glie- 
des sehr  fern!  Der  römische  Geist  schaut  den  Menschen  viel- 
mehr schlechterdings  als  Subjekt,  als  die  Selbständig- 
keit der  für  sich  seiendenWillenssubjektivität,  nicht 
als  Familienperson  in  dem  hier  entwickelten  Sinne  an.  Außer 
dem.  daß  dies  dieser  ganze  Band  beweist,  genüge  es,  dafür 
anzurufen,  daß.  wie  uns  die  römischen  Juristen  nicht  umsonst 
berichten,  der  Sohn  sofort  dadurch,  daß  er  sui  juris  wird, 
wenn  er  auch  weder  Weib  noch  Kind  hat,  schon  paterfamilias 
ist!  (Ulpian,  L.   195.  §  2,  de  V.  S.  50.   16.)  Diese  Fähig- 

67Q 


kcit  des  für  sich  seienden  Willens,  nicht  der  reale 
Inhalt,  den  sich  derselbe  gibt,  ist  es  also,  der  den  Römer  zum 
paterfamilias  macht.  Huschke  läßt  vielmehr  in  jenem  Satze 
von  der  ,, Dreieinheit,  aus  welcher  die  familia  besteht", 
nur  auf  das  deutlichste  hervortreten,  daß  er,  trotz  alles  Stu- 
diums des  römischen  Rechtes  ein  guter  Germane,  die  (römi- 
sche) familia  und  die  (deutsche)  Familie  vollständig  mit- 
einander verwechselt.  Dem  Römer  bedeutet  familia  —  und 
solange  man  dies  nicht  erkennt,  ist  freilich  gar  kein  Verständnis 
des  römischen  Erbrechtes  möglich  —  nicht  Familie,  nicht 
ein  Verwandtschaftsverhältnis,  sondern,  wie  wir  früher  gezeigt 
haben  (vgl.  S-  538fg.),  einfach  die  Willensherrschaft 
des  Subjektes  und  das  ihr  Unterworfene.  Daher  kommt  auch 
familia  ursprünglich  von  famulus,  famulor,  Diener,  die- 
nen, wie  dies  von  selbst  klar  ist  und  wir  dies  außerdem  von 
Feslus  bereits  positiv  bezeugt  gesehen  haben.  Daher  kommt, 
daß  bei  den  Römern  unter  familia  nicht  bloß  Weib  und  Kind, 
sondern  Sklave,  Geld  und  Gut,  kurz  alles,  wovon  der  Wille 
das  Subjekt  ist,  befaßt  wird.  Daher  kommt  es,  daß  es 
heißt :  paterfamilias,  materfamilias,  filiusfamilias,  filiaf amilias, 
das  erste  als  Subjekt  dieser  Willensherrschaft,  die  anderen 
als  die  ihr  Unterworfenen.  Daher  kommt  es  endlich, 
daß,  worüber  Huschke  in  der  Anmerkung  daselbst  seine  Ver- 
wunderung nicht  ganz  unterdrücken  kann,  die  Zwölf  Tafeln 
,,familia  schlechthin  für  eine  einzelne  Person"  setzen  kön- 
nen, z.  B.  agnatus  familiam  habeto,  d.  h.  er  habe  des  Toten 
Willensherrschaft.  —  So  führt  uns  denn  der  Begriff,  die 
Sprache  und  die  positiven  Zeugnisse  gleichmäßig  von  der  phan- 
tasievollen indischen  Anschauung  des  Menn  bei  den  Römern 
zu  dem  Begriff  der  selbständigen  subjektiven  Willens herr- 
schaft  und  des  ihr  Dienenden  hin,  wobei  es  nun  freilich 
mit  der  ,,Dreieinheit  ,  aus  welcher  die  familia  besteht", 
nichts  ist. 

Huschke  fährt  fort:  deshalb  habe  nun  der  filius  „auch 
ebenso  unmittelbaren  und  vollen  Anspruch  auf  das  Familien- 
vermögen nach  des  Vaters  Tode,  wie  dieser  es  bei  seinen 
Lebzeiten  hat".  Soviel  Zeilen,  soviel  schwerste  Irrtümer!  Er- 
stens gibt  es  gar  kein  römisches  Familienvermögen.  Zweitens 
hat  ja  der  suus  überhaupt  gar  keinen  Anspruch  auf  das  Ver- 

680 


mögen,  sondern  höchstens  nur  auf  das  Erb  tum.  Um  nicht 
Erbe  zu  sein,  muß  er  exherediert  werden.  Hierin  kann  also 
ein  gewisser  Anspruch  auf  da3  Erbe  sein  liegen.  Aber  abge- 
sehen davon,  daß  der  Vater  dem  suus  als  Erben  vor  der 
Falcidia  das  Vermögen  durch  Legate  entziehen  kann,  kann  er 
ihn  ja  auch  auf  Eintausendstel  usw.  als  Erbe  einsetzen,  und 
hiergegen  hat  der  suus  keinen  Schutz.  Also  auch  wenn  er 
Erbe  ist,  wenn  er  in  gewisser  Weise  darauf,  Erbe  zu  sein, 
Anspruch  hat,  —  auf  das  Vermögen  hat  der  suus  keinerlei 
Anspruch,  auch  nicht  bei  des  Vaters  Tode.  Statt  aber  hieran 
zu  sehen,  daß  Erb  tum  und  Vermögen  im  römischen  Recht 
ganz  auseinanderfällt,  leiht  Huschke  dem  suus  kurz  und  gut 
einen  „unmittelbaren  und  vollen  Anspruch  auf  das  Fami- 
lienvermögen nach  des  Vaters  Tode".  Aber  Huschke  soll 
erklären,  warum  das  nun  nicht  in  gleichem  Maße  bei  der 
Tochter  und  dem  Enkel  stattfindet,  und  fährt  daher  fort:  ,, So- 
wohl Tochter  als  Enkel  dagegen  gehören  nicht  absolut  und 
vollständig  zur  familia  (?!);  die  Tochter  nicht,  obgleich  sie 
auch  filiafamilias  heißt"  (mit  der  ,,Dreiemheit"  ist  es  also 
nichts),  ,,weil  sie  das  Kindesverhältnis  nicht  vollkom- 
men ursprünglich  und  eigentümlich"  (warum),  ,, son- 
dern bloß  sekundär  als  geschlechtlich-mindere  Ab- 
zweigung des  filiusfamilias  in  sich  enthält"  (aber  warum 
enthält  sie  es  denn  in  , .geschlechtlich-minderer  Abzweigung" 
in  sich  ?  Danach  fragt  man  ja  eben !  Das  römische  Recht  macht 
ja  sonst  keinen  Unterschied  zwischen  dem  Erbrecht  der  filia 
und  des  filius),  ,,und  eben  deshalb  nicht  in  dem  Gattungs- 
gliede  (?)  des  Vaters  als  Kind,  sondern  vielmehr  als  mafer- 
familias  in  dem  Hause  ihres  zukünftigen  Ehemannes  ihre  wahre 
Bedeutung  hat."  Es  ist  stark  und  originell  von  Huschke,  der 
Tochter  zu  bestreiten,  daß  sie  ebenso  gut  , .vollkommen  ur- 
sprünglich und  eigentümlich"  ein  Kind  ihres  Vaters 
sein  und  also  das  ..Kindesverhältnis  in  sich  enthalten"  könne, 
wie  auch  ein  Sohn !  Jedenfalls  aber  ist  der  von  ihm  angegebene 
Grund,  die  Tochter  habe  , .nicht  in  dem  Gattungsgliede  des 
Vaters  als  Kind,  sondern  vielmehr  als  mß/^rf amilias  in  dem 
Hause  ihres  zukünftigen  Ehemannes  ihre  wahre  Bedeutung", 
gerade  das  Gegenteil  des  richtigen  Grundes.  Es  ist  um- 
gekehrt:   als    Kind    stellt   die   Tochter    das    Kindesverhältnis 

681 


ebenso  vollkommen,  ebenso  ursprünglich  und  eigentümlich  dar 
wie  der  filius;  als  Kind  füllt  sie  ihre  Stellung  ebenso  gut 
aus  wie  der  filius.  Aber  geraüo  als  ma/^/-familias,  in  dem 
Hause  ihres  zukünftigen  Ehemannes,  füllt  sie  die  ,, wahre  Be- 
deutung" des  Erben,  die  Ro'le  der  \Vi  llcnsub  jek  tivi  tat, 
nicht  mehr  aus.  Denn  sie  steht  nur  in  der  Gewalt  des 
Vaters  —  darum  ist  sie,  als  Kind  genommen,  dasselbe,  was 
der  filius  — ,  aber  sie  kann  nicht  in  der  Gewalt  haben; 
also  gerade  als  maferiamiWas  ist  sie  mangelhaft  und  entspricht 
somit  nur  zur  Hälfte  dem  Begriff,  perpetuierende  Fortexistenz 
der  Willenssubjektivität  zu  sein. 

Huschke,  nachdem  er  den  Grund  bei  der  Tochter  nicht  er- 
klärt hat,  will  nun  den  Enkel  erklären,  und  fährt  fort :  ,,Der 
Enkel  nicht"  (d.  h.  gehöre  nicht  absolut  und  vollständig  zur 
familia),  ,,weil  er  gar  nicht  mehr  eine  von  jenen  drei  Posi- 
tionen, Vater,  Mutter,  Kind,  in  der  Familie  des  Gewalt- 
habers einnimmt  —  daher  auch  nicht  neposfamilias  — ,  sondern 
vielmehr  zu  der  Dreieinheit  seines  Vaters  als  Sohn  gehört 
und  naturgemäß  erst  durch  den  Tod  des  Großvaters  in 
der  Familie  seines  Vaters  als  filiusfamiUas  seine  wesentliche 
Gattungsbedeutung  erhalten  wird."  Hier  also  muß  die  ,,Drei- 
einheit"  herhalten,  von  der  wir  schon  oben  gesehen  haben, 
daß  es  nichts  mit  ihr  ist.  Der  Enkel  also  gehört  nicht  mehr 
zur  „Dreieinheit  der  familia",  ist  nicht  mehr  ,,Kind ".  Aber, 
wenn  dies  der  Fall,  warum  beerbt  er,  wenn  sein  Vater  tot  ist, 
den  Großvater  dennoch  als  suus  ?  Und  besonders,  warum  be- 
erbt er  ihn,  als  einziger  Sohn  eines  toten  suus,  zu  gleichen 
Teilen  und  also  zu  gleichem  Recht  mit  einem  anderen  noch 
lebenden  filius?  Es  ist  ein  Glück,  daß  Huschke  sich  dies  in 
diesem  Augenblicke  nicht  einfallen  zu  lassen  beliebt,  sonst 
würden  wir  wieder  zu  hören  bekommen,  v/Ie  der  Enkel,  ob- 
wohl er  nicht  Kind  sei,  dennoch  Kind  sei,  und  wie,  obwohl  er 
keine  von  jenen  drei  Positionen  einnehme,  er  dennoch  eine  von 
jenen  drei  Positionen  einnehme,  und  wie,  obwohl  er  nach 
Huschke  erst  „durch  den  Tod  des  Großvaters  seine  Gattungs- 
bedeutung erhalten"  kann,  er  doch  nicht  erst  durch  den  Tod 
des  Großvaters  seine  Gattungsbedeutung  erhält ;  d.  h.  die  Wider- 
sprüche würden  wieder  anfangen,  sich  hin  und  her  zu  zerren  und 
ihren   tollen,   wirbelnden   Sankt -Veitstanz   aufzuführen. 

682 


Durch  diese  Erklärungsmethode  des  Verstandes,  wobei  er 
die  gute,  derbe,  sinnliche  Erscheinung  —  den  Bericht  der 
römischen  Juristen  —  nur  mit  triumphierender  Miene  in  reflek- 
tierte, verallgemeinernde  Ausdrücke  übersetzt,  durch  diese  Er- 
klärungsmethode, die  Moliere  schon  so  unsterblich  charakteri- 
siert hat,  indem  er  den  Bakkalaureus  auf  die  Frage,  warum  das 
Opium  einschläfert,  antworten  läßt:  „Quia  ei  vis  inest  quaedam 
dormitiva"  —  durch  diese  Erklärungsmethode  ist  natürlich  nicht 
nur  nicht  das  Geringste  gewonnen,  sondern  das  gesunde,  sinnliche 
Faktum  nur  noch  verdorben,  indem  ihm  diese  verallgemeinernden^ 
Ausdrücke  eine  Beziehung  auf  ein  Wesen  gegeben,  welches,  wie 
wir  gesehen  haben,  gar  nicht  das  sein  ige  ist. 

Warum  überhaupt  das  Intestatrecht  dieser  sul  anders  sein 
muß,  als  das  ihrer  testamentarischen  Akkreszenz,  warum  die 
filia  und  der  ncpos  nach  seines  Vaters  Tode  sowohl  sind  als 
nicht  sind,  was  der  filius,  warum  der  Unterschied  ihrer  nur 
bei  dem  Eindringen  in  das  Testament,  nicht  ab  intestato  zum 
Vorschein  kommen  kann,  warum  sie  —  worin  besonders  dies 
begriffliche  Verhältnis  erst  in  seiner  Bestimmtheit  her- 
vortritt —  als  präterierte  sul  unter  Umständen  besser 
und  schlechter  daran  sein  müssen,  denn  als  ab  intestato  be- 
rufene sui  —  eine  wahrhafte  Erklärung  dieser  Fragen,  die 
wir  sub  Nr.  XXV  und  XXVI  zur  Entwicklung  gebracht,  kann 
von   dieser   Methode   auch   nicht   nur   einmal   versucht   v.'erden. 

Wir  könnten  in  derselben  Weise  wie  bisher  den  Huschkeschen 
Aufsatz  noch  Zeile  für  Zeile  bis  an  sein  Ende  begleiten;  wir 
glauben  aber,  daß  das  Bisherige  mehr  als  hinreicht.  Unser 
Zweck,  der  über  und  über  erfüllt  sein  muß,  war,  an  dem  muster- 
haften und  glänzenden  Beispiel  dieses  Aufsatzes  einen  Beitrag 
zur  Physiologie  des  Verstandes  zu  liefern,  der  In  der 
juristischen  Materie  ausschließlicher  als  irgendwo  wütet  und 
von  jeher  —  seit  dem  Untergange  Roms  —  gewütet  hat;  unser 
Zweck  war  nicht  der,  Huschke  zu  verunglimpfen  oder  zu  ver- 
kleinern. Im  Gegenteil!  Wäre  sein  Verstand  nicht  der 
höchste,  sein  Scharfsinn  nicht  der  begabteste  und  nor- 
malste —  er  v/ürde  sich  gar  nicht  dazu  geeignet  haben,  an 
seinem  Beispiel  diesen  Sektionsprozeß  durchzuführen,  und  wir 
haben  es  schon  früher  ausgesprochen  (S.  26,  Note  1),  daß 
dieser   Aufsatz,   so  sehr  er  sich  überall   selbst  vernichtet  und 

683 


überall  in  die  radikalsten  Irrtümer  fällt,  so  wenig  er  auch  — 
schon  1834  erschienen  —  in  der  späteren  Literatur  eine  be- 
fruchtende Einwirkung  hervorgebracht  hat  und  hervorbringen 
konnte,  uns  dennoch  als  das  Höchste  erscheint,  was  bisher 
auf  dem  erbrechtlichen  Gebiet  geschrieben  worden,  und  in  ge- 
wisser Hinsicht  selbst  Gans  überlegen  ist.  Denn  auch  Gans 
gehl  lediglich  von  dem  empirisch-verständigen  Erbschaftsbegriff, 
von  dem  Vermögen  als  dem  Begriff  der  Erbschaft  aus,  wie 
wir  dies  überall  nachgewiesen  haben,  und  bei  ihm  ist  der  Wider- 
spruch desselben  noch  nicht  einmal  sich  fühlbar  und  zur  Marter 
geworden  wie  bei  Huschke.  —  Die  Auflösung  dieses  schein- 
baren Widerspruches  in  unserer  Beurteilung  des  Huschkeschen 
Aufsatzes  ist  sehr  einfach.  Es  gibt  drei  Sorten  von  Verstand. 
Der  eine  ist  der,  der  immer  nur  die  eine  Seite  der  Sache 
sieht  —  dies  ist  der  beschränkte  Verstand.  Der  andere  Ver- 
stand ist  derjenige,  welcher  entwickelt  genug  ist,  um  beide 
Seiten  der  Sache  zu  sehen,  aber  sie  immer  nur  abwechselnd, 
nie  gleichzeitig  sieht.  Dies  ist  der  gebildete,  ent- 
wickelte Verstand.  Da  er  die  beiden  Seiten  der  Sache  nur 
abwechselnd  sieht,  so  fühlt  er  ihren  Widerspruch  nicht. 
Er  lebt  daher  mit  Gott  und  der  Welt  zufrieden,  vor  allem  mit 
sich  selbst,  stellt  jede  Seite  der  Sache  in  einen  besonderen 
Winkel  und  vergißt  jedesmal  die  eine  ganz,  wenn  er  die  andere 
braucht  und  hervorholt.  Der  seltenste  und  höchste  Ver- 
stand ist  der,  welcher  gleichzeitig  beide  Seiten  der  Sache 
sieht,  eben  deshalb  aber  auch  ihren  Widerspruch  fühlt. 
Da  er  ihn  fühlt,  so  bildet  er  seine  Marter,  und  darum  voll- 
zieht sich  gerade  an  diesem  höchsten  Verstände  jenes  Strafge- 
richt: er  will  den  Widerspruch  der  beiden  Seiten  gewaltsam 
ausgleichen,  der  ihn  rastlos  wie  einen  Ball  sich  in  die  Arme 
wirft,  will,  da  er  ihn  in  der  Sache  nicht  versöhnen  kann,  ihn 
mindestens  in  den  Worten  verlöschen,  und  nun  beginnt  jene 
wilde  Jagd  der  Worte,  aus  jeder  noch  so  verwischten  Fassung 
derselben  schallt  ihm  aus  der  Tiefe  seines  Gewissens  aufs  neue 
das  gelle  Hohngelächter  des  einmal  erkannten  Widerspruches 
entgegen,  er  kann  ihn  nicht  zum  Schweigen  bringen,  und  mit 
allem  Hin-  und  Herzerren  hat  er  sich  den  Marterpfahl  des 
Widerspruches  nur  um  so  tiefer  in  den  Leib  gerannt,  ist  nur 

684 


in  einen  um  so  tieferen  Abgrund  des  Falschen  und  Widerspre- 
chenden hineingefallen,  und  wenn  er  zuletzt  endlich  atemlos, 
schweißtriefend,  zitternd  die  tolle  Jagd  aufgeben  muß.  so  ist 
es  nur  die  Verzweiflung  an  der  unmöglichen  Aufgabe,  die 
Ihn  bestimmt,  endlich  mit  vor  Resignation  geschlossenen  Augen 
bei  einem  Satze  stehen  zu  bleiben,  dem  er  selbst  schon  zwanzig- 
mal widersprochen  und  dem  er,  wenn  er  noch  weiter  darüber 
fortführe,   noch   andere  zwanzigmal   widersprechen   würde. 

Zum  Begriff,  welcher  keine  zwei  Selten  mehr  hat,  son- 
dern für  welchen  dann  die  zwei  Seiten  des  Verstandes  eben 
nur  sinnliche,  täuschende,  aus  seiner  Inneren  Einheit  her- 
ausgeschickte Reflexionsaußenseiten  sind,  vermag  der 
Verstand  auf  dieser  tollen  Jagd  nie  durchzudringen!  Je  mehr 
er  sich  ihm  zu  nähern  scheint,  desto  mehr  entfernt  er  sich  von 
ihm.  Denn  es  geht  nicht  mit  dem  Begriff  wie  mit  der  Königs- 
krone, die  David  fand,  als  er  ausging,  seines  Vaters  Esel  zu 
suchen.  Wer  nicht  vom  Begriff  ausgeht,  wird  Ihn  nicht 
finden! 

Einerseits  sieht  man  jetzt  erst,  mit  welcher  Notwendigkeit 
die  Savignysche  Verstandesklarheit,  dieses  unaufhörlichen  Wi- 
derspruches müde,  das  Persönhche  in  der  Erbschaft  nun  auch 
bewußt  aufgab  (s.  oben  S.  26 — 35).  Andererseits  ist  aber 
die  geschilderte  Selbstfolterung  das  höchste  Stadium,  zu  dem 
es  der  Verstand  bringen  kann,  und  nur  der  höchste  Verstand 
kann  in  diese  Qual  verfallen.  Es  läßt  sich  deshalb  mit  einem 
ganz  anderen  Rechte,  als  dasjenige  ist,  mit  welchem  Huschke 
dem  Vermögen  das  , .Sehnen"  nach  Wiederbelebung  zu- 
schreibt, dieser  Aufsatz  als  ein  Sehnen  des  Verstandes  nach 
dem  Begriff  charakterisieren! 

Der  Huschkesche  Aufsatz  stellt  Insofern  seinerseits  einen 
der  stärksten  Beweise  für  die  Wahrheit  und  Objektivität 
unserer  Auffassung  und  Entwlckelung  des  Erbrechtes  dar,  und 
bekräftigt  jetzt  auf  das  entschiedenste  das,  was  wir  schon  sub 
Nr.  I  über  die  Selbstauflösung  in  den  bisherigen  Ansichten 
über  das  Erbrecht  nachgewiesen  haben. 

Nicht  indes  zum  Zweck  dieses  literarhistorischen  Beweises, 
den  unsere  Arbeit,  die  zu  ihrem  wahrhaften  Beweis  das  ge- 
samte Material  des  römischen  Erbrechtes  hat,  entbehren  könnte, 

685 


haben  wir  diese  Physiologie  des  Verstandes  geschrieben.  Wir 
haben  sie  vielmehr  geschrieben  einzig  um  der  Hoffnung  willen, 
dadurch  vielleicht  mindestens  den  jüngeren  Juristen  an  dem 
Beispiel  jenes  scharfsinnigsten  Mannes  bis  zur  Evidenz  klar 
zu  machen,  zu  welcher  notwendigen  Resultatlosigkeit  sie  ihr 
Streben  verdammen,  wenn  sie  sich  nicht  der  Methode  be- 
mächtigen,  die  allein   Erkenntnis  hervorbringen   kann. 


686 


XLI.    Die    religiöse    Substanz    und    die    pelas- 
gisch-etruskische  Vorzeit. 

Schon  im  Anfang  dieser  Untersuchung,  seitdem  wir  das 
Testament  als  die  ,,römische  Unsterblichkeit",  als  die 
Unsterblichkeit  der  Willenssubjektivität  entwickelt,  war  be- 
reits der  religiös-metaphysische  Grundcharakter  des 
römischen  Erbtums  bloßgelegt,  und  von  allen  Seiten  aus 
hatte  uns  die  Untersuchung  immer  von  selbst  wieder  darauf 
zurückgeführt  und  diese  religiös-metaphysische  Anschauung 
als  die  gestaltende  und  produzierende  Stelle  des  erbrecht- 
lichen Stoffes  erwiesen. 

Allein  noch  haben  wir  nur  diese  religiöse  Substanz  in 
dem  realisierten  Ausdruck  betrachtet,  den  sie  sich 
im  Recht  gibt;  noch  haben  wir  sie  nicht  in  ihrer  eigensten 
und  ursprünglichsten  Heimat  aufgesucht,  noch  haben  wir 
sie  nicht  a  1  s  religiöse  Substanz  oder  im  Gebiete  des  Re- 
ligiösen selbst  betrachtet  und  nachgewiesen.  —  Dies  ist 
es,  was  noch  übrig  bleibt.  Wenn  unsere  Lehre  richtig  sein 
soll,  so  wird  sich  auch  noch  nachweisen  lassen  müssen,  wie 
dasselbe,  von  dem  wir  gesehen  haben,  daß  es  im  Erbrecht 
herausgesetzt  und  entwickelt  ist,  auch  schon  in  der  spezi- 
fisch-römischen Religionssubstanz  in  embryonisch-zusam- 
mengefaltetem  Zustand  typisch  vorhanden  ist.  Als  die 
Grundlage  dessen,  was  sich  im  Recht  und  zum  Recht 
nur  entwickelt,  würde  dieser  Nachweis  nach  streng  logischer 
Konsequenz  selbst  formell  den  Ausgangspunkt  unserer  Un- 

687 


tersuchungen  haben  bilden,  und  noch  vor  der  Behandlung 
der  Sacra  (Nr.  II)  seine  Stelle  haben  finden  müssen. 

Allein  das  logische  Interesse  trat  hier  in  zu  großen 
Gegensatz  mit  der  psychologischen  Rücksicht  auf  den 
Leser,  um  dieser  nicht  aufgeopfert  zu  werden.  Wer  die 
Organisation  des  entwickelten  Menschen  kennt,  mag  bei 
scharfer  Betrachtung  sie  im  Embryo  vorbildlich  wieder- 
finden können.  Niemals  aber  wird  umgekehrt,  ohne  die 
Beziehung  auf  jene  schon  bekannte  entwickelte  Gestalt,  das 
im  Embryo  Enthaltene  verstanden  zu  werden  vermögen. 
Diese  Betrachtung  also  kann  jetzt  erst  statthaben.  Dazu 
aber,  sie  überhaupt  vorzunehmen,  drängt  auch  noch  eine 
andere  Erwägung. 

Wir  haben  darauf  ausgehend,  das  römische  Erbrecht 
zu  begreifen,  die  Geschichte  des  römischen  Geistes 
geschrieben.  Wir  haben  gesehen,  was  der  römische  Geist 
ist,  das  kulturhistorische  Prinzip  der  subjektivenWil- 
lensunsterblichkeit,  das  er  darstellt  und  das  ihn  be- 
fähigt, der  welthistorische  Vorgänger  der  subjektiven 
Geistesunsterblichkeit,  oder  des  Christentums  zu 
sein ;  wir  haben  gesehen,  wie  er  mit  diesem  Begriff  von 
Haus  auf  auftritt,  wie  er  sich  vermöge  der,  in  ihm  selbst 
liegenden  Keime  und  Bewegungsgesetze  diesen  seinen  spe- 
zifisch-römischen, oder,  was  dasselbe  ist,  zivilistischen  Be- 
griff mehr  und  mehr  in  den  geschilderten  emzelnen  Phasen 
seiner  Bewegung  abreiben,  und  in  dieser  fortlaufenden  Ent- 
nationalisierungsarbeit endlich  sich  selbst  zu  jenem  geistigen 
jus  gentium,  zu  jenem  allgemein -menschlichen  und  kosmo- 
politischen Residuum  seines  Prozesses  entwickeln  muß, 
in  welchem  er  selbst,  nach  seiner  historisch-geistigen  Be- 
stimmtheit, in  sein  striktes  Gegenteil  untergegangen,  und  so 
nur  noch  —  aber  auch  so  gerade  —  zu  dem  geeigneten 
Boden  geworden  ist,  den  christlichen  Geist  in  sich  auf- 

688 


zunehmen.  Der  römische  Geist  vollbringt  also  auch  in 
seiner  Bewegung  nichts  anderes  als  dies,  sich  auch  realiter 
dahin  fortzubewegen,  als  dessen  Vorstufe  er  sich 
seinem  eigenen  Begriffe  nach  uns  von  Haus  aus  be- 
stimmt hatte.  Er  vollbringt  in  seiner  Geschichte  und  Be- 
wegung nichts  anderes,  als  dies,  diesen  logischen  Zu- 
sammenhang seines  Begriffes  durch  die  eigene  Dialektik 
desselben  auch   weltgeschichtlich  zu  erfüllen. 

Allein  für  eine  Geschichte  des  römischen  Geistes  reicht 
es  noch  nicht  hin,  seinen  Inhalt,  die  Phasen  und  Stadien 
seiner  Bewegung  und  sein  Ende  aufgezeigt  zu  haben.  — 
Wie  das  Wohin  desselben,  wäre  es  auch  noch  erforder- 
lich, sein  Woher  nachzuweisen.  Um  die  ganze  kultur- 
historische Rolle  und  Bedeutung  des  römischen  Geistes  zu 
überblicken  —  und  dies  allein  heißt  die  Geschichte  eines 
historischen  Volksgeistes  geben  —  wäre  es  auch 
noch  erforderlich,  die  Anfänge  desselben,  oder  das  Wor- 
aus, aus  welchem  sich  dieser  bestimmte  historische  Geistes- 
begriff entwickelt  hat,  nachzuweisen.  Als  das  Woraus 
seines  Entstehens  fallen  diese  Anfänge  nicht  mehr  in  die 
Zeit  und  Bewegung  seines  Entstandenseins  oder  in 
seine  Geschichte.  Dem  entsprechend  haben  wir  auch  be- 
reits früher  (S.  528 — 535)  die  Notwendigkeit  erkannt,  daß 
und  warum  die  Idee  des  testamentarischen  Erbtums  nichts 
innerhalb  der  römischen  Geschichte  Entstandenes  ist  und 
sein  kann,  sondern  die  Physiognomie  bildet,  welche  die- 
ser bestimmte  Geist  sofort  an  sich  trägt,  als  er  auftritt. 
Gerade  wie  beim  einzelnen  Menschen  selbst  die  Anfänge, 
aus  denen  er  entstanden,  nicht  mehr  in  den  Anfang  sei- 
ner eigenen  Bewegung  —  seines  Lebens  —  hinein- 
fallen, sondern  diesem  vorhergehen  und  nur  in  dem  in 
einem  anderen  Leben  vorhandenen  embryonischen  Zu- 
stande gegeben  sind,  aus  welchem  sich  dieses  Individuum 

22  Lwsalle.  Ges.  SeKriften.  Band  XII.  689 


entwickelt  hat,  welcher  aber  nicht  mehr  innerhalb  des  eige- 
nen Lebens  dieses  Individuums  fällt,  gerade  so  auch  bei 
einem  Volksgeiste.  Das  Woraus  seines  geistigen  Ent- 
standenseins fällt  hiemach  nicht  mehr  in  die  Zeit,  son- 
dern in  die  Vorzeit,  nicht  in  die  Geschichte,  sondern 
in  die  Urgeschichte  dieses  Volkes. 

Erst  so  in  jenem  vorgeschichtlichen  Woraus  seiner 
Entstehung  begriffen,  würde  dieser  historische  Geist  völlig 
erkannt  sein.  Denn  dann  erst  würde  die  kulturhistorische 
Schlagader  bloßgelegt  sein,  welche  er  in  der  Geschichte 
des  menschlichen  Geistes  überhaupt  bildet,  die  beiden 
äußersten  Enden,  die  seine  Bewegung  in  diesem  ver- 
nünftigen Organismus  miteinander  verbindet. 

Diese  geistige  Vorzeit  und  Vorgeschichte  eines  Volkes 
ist  wiederum  nur  aus  seiner  Religion  erkennbar,  in  wel- 
cher stets  die  ältesten  Erinnerungen  einer  Nation  über  sich, 
und  die  elementaren  Mächte  ihres  Ursprunges  und  Bil- 
dungsprozesses aufbewahrt  sind.  Wird  aber  mit  wahrhaft 
kritischem  Blick  zu  Werke  gegangen,  so  müssen  sich  gerade 
bei  den  Römern  diese  geistigen  Urstoffe  aus  dem  reli- 
giösen Gebiete  um  so  bestimmter  erkennen  lassen,  als  der 
römische  Geist,  der  überhaupt  nicht  im  Religiösen  — 
sondern  im  Rechte  —  den  Höhepunkt  seiner  Bedeutung 
und  Entwickelungsarbeit  hat,  nie  sehr  weit  gegangen  ist  in 
der  Umbildung  seiner  ursprünglichen  religiösen  Elemente, 
sie  vielmehr  hauptsächlich  nur  mit  dem  später  von  ihm 
akzeptierten  griechischen  Mythenstoffe  in  ein  buntes  Kon- 
glomerat mehr  durcheinandergeworfen  und  ihnen  assimiliert 
hat,  aus  welchem  sich  jene  bei  einem  gesetzmäßig  zu  Werke 
gehenden  kritischen  Unterscheiden  mit  großer  Sicherheit 
heraussondem  lassen. 

Zwar  ist  uns  sehr  wohl  bekannt,  welche  Vorurteile  wir 
durch  diese  Untersuchung  gegen  uns  erregen,  welche  Vor- 

6Q0 


urteile  wir  schon  durch  die  Überschrift  dieses  Kapitels  er- 
regt haben  können,  und  wie  wir  hierdurch  selbst  den  Erfolg 
unseres  eigenen  Werkes  zu  gefährden  scheinen. 

Denn  bisher  wird  man  uns  vielleicht  zugegeben  haben, 
daß  jeder  Schritt  in  der  Begriffsentwickelung  nur  ein 
Schritt  im  positiven  Stoffe,  jeder  Schritt  im  positiven 
Stoffe  nur  ein  schrittweises  Herausspringen  der  Idee  war, 
und  daß  hier  somit  Philosophie  und  der  Positivismus  des 
empirischen  Stoffes  ihre  Gegensätzlichkeit  gegeneinander 
verloren  haben. 

Die  Zurückführung  eines  so  positiven  und  scheinbar 
selbständigen  Gebietes  aber,  wie  das  Rechtsgebiet  ist,  auf 
das  Dunkel  religiöser  Ahnungen,  das  Sprechen  von  einem 
vorgeschichtlichen  pelasgischen  Urgiimde,  da  uns  doch  im 
Recht  nichts  über  das  Zwölftafelgesetz  Hinausgehendes 
historisch  bekannt,  und  somit  scheinbar  von  einem  Beweise 
gar  keine  Rede  ist,  kann  sich  als  ein  so  überkühnes  Tun 
darstellen,  daß  darin  der  träumerische  Charakter  der  Phi- 
losophie nun  doch  wieder  offen  hervorzutreten,  und  durch 
seine  Ungunst  auch  die  bisher  gewonnenen  Resultate  zu 
gefährden  scheint. 

Wir  sind  um  diese  Einwürfe  und  diese  Gefahr  sehr  un- 
bekümmert. 

Das  Recht  ist  wie  die  Religion  ein  geistiges  Produkt. 
Der  Geist  selbst  aber  ist  eine  Einheit,  und  darum  kann 
alles  Geistige  nur  in  der  Einheit,  die  es  in  ihm  hat, 
eben  deshalb  aber  nur  durch  die  Einheit  der  Wissen- 
schaften walirhaft  begriffen  werden.  Und  was  jene  man- 
gelnden Beweise  für  die  römische  Vorzeit  betrifft,  so  ver- 
hält es  sich  damit  so,  wie  Schelling^)  bei  einer  ähnlichen 


^)  Einleitung   in   die    Philosophie   der   Mythologie.    Werke, 
Abtlg.  II.  T.  I.  S.  112. 

22«  691 


Gelegenheit  sagt:  Es  gibt  einen  Glauben  des  Forschers, 
der  darin  besteht,  daß  trotz  aller  Unbilden  der  Zeit  für 
alles  die  Beweise  noch  vorhanden  sind. 

Und  sie  sind  vorhanden,  und  in  einem  viel  reicheren 
Grade  als  hier,  wo  wir,  die  strengste  Selbstbeherrschung 
übend,  uns  auf  das  Notdürftigste  beschränken  müssen,  ent- 
wickelt werden  kann. 

So  viel  wird  von  selbst  klar  sein,  daß  jene,  von  uns 
längst  nachgewiesene  religiös-metaphysische  Grund- 
anschauung des  römischen  Erbiums,  jene  überall  dargelegte 
Verbindung  des  Testamentes  mit  den  religiösen  Ideen  über- 
haupt, im  Gebiete  des  Religiösen  selbst  nirgends  anders 
ihre  substantielle  Wurzel  haben  kann,  als  in  dem  alten 
Manen-  und  Larenkultus,  welcher  auch  in  voller 
Übereinstimmung  hiermit  überall  als  der  spezifischste  Mit- 
telpunkt römischer  Religion  hervortritt  und  mit  den  sacris 
privatis  in  enger  Verbindung  steht. 

Es  ist,  wie  bereits  bemerkt,  nicht  möglich,  diesen  ebenso 
dunkeln,  als  interessanten  Gegenstand  in  vollster  Ausführ- 
lichkeit zu  behandeln  und  zu  gestalten,  was  vielmehr  eine 
selbständige  Arbeit  erfordern  würde. 

Aber  die  umfassendsten  Hauptgrundlagen  seiner  inneren 
Übereinstimmung  mit  dem  von  uns  entwickelten  Begriff 
müssen  gelegt,  es  muß  nachgewiesen  werden,  wie  in  diesen 
römisch-italischen  Religionswesen  nur  derselbe  Begriff  vor- 
liegt, den  wir  als  den  Begriff  des  Erbtums  entwickelt 
haben:  die  durch  keinen  Tod  aufgehobene  Fortexistenz 
der  subjektiven  Willensindividualität. 

So  tritt  zuvörderst,  ganz  abgesehen  natürlich  von  der 
sehr  gleichgültigen  Richtigkeit  der  Etymologie,  jetzt  als  ein 
entscheidendes  Moment  für  den  Begriff  des  Manentums 
hervor,  daß  die  Manen  schon  im  Altertum  definiert  werden 
von  manere,  als  die  Bleibenden,  Beharrenden,  wie 

692 


Martianus  Capella^)  uns  berichtet.  Sie  sind  nicht  Tote, 
Gewesene.  Sie  sind  Bleibende,  sie  sind  und  bleiben 
dasselbe,  was  sie  waren ;  sie  sind  und  bleiben  —  und 
das  ist  ihr  großer  und  spezifischer  Unterschied  in  der 
Gesamtdämonologie  des  Altertums  —  geistige  Indivi- 
dualitäten, d.h.  übereinstimmend  mit  dem,  was  sich 
uns  oben")  als  der  römische  Begriff  der  Geistesindi- 
vidualität bestimmt  hat,  Willenssubjekte,  und  darum 
auf  die  Außenwelt  als  ihren  Gegenstand  bezogene  Wil- 
lenssubjektivitäten.  Sie  verlieren  diese  Willensspan- 
nung auf  den  einzigen  und  notwendigen  Gegenstand 
des  Willens,  die  Außenwelt  —  so  sehr  dies  ihr  unter- 
scheidendes Wesen  von  den  Mythologen  übersehen  worden 
ist,  die  sie  stets  mehr  oder  weniger  in  das  allgemeine  Dä- 
monenwesen des  Altertums  untergehen  lassen  — ,  auch  mit 
dem  Tode  nicht,  und  lehrreicher  als  Bücher  ist  hierin 
die  eine  Stelle  des  Livius^):  ,,Pace  parta  instare  tunc 
tribuni  Patribus,  ut  P.  Valerii  fidem  exsolverent,  instare 
Claudio,  ut  collegae  Deos  manes  fraude  liberaret"^) 

Vor  allem  aber  ist  bei  einer  systematischen  Durch- 
denkung dieses  Gegenstandes  auf  eins  zurückzugehen,  auf 
die  Sitte  der  Bestattung  der  Leichname.  Es  ist  einer  der 
genialsten  Blicke,  welche  Creuzer  geworfen  hat,  wenn  er^) 
sagt,  es  stelle  ,,das   Begraben  oder  das  Verbrennen  der 

^)  De  nupt.,  §   162.  p.   217.  ed.   Kopp. 

2)  Siehe  oben   S.  34,   40,   45fg..   551  fg.;   vgl.    Nr. XIII. 

^)  III.  c.   19;  I.  613,  ed.   Drakenb. 

*)  Während  in  der  homerisch-griechischen  Götterwelt  der 
Tote  ein  bewußtloser  und  erinnerungsloser  Schatten  ist,  der 
erst  mit  dem  Lebensquell,  dem  Blute,  das  ihm  Opfernde  zu 
trinken  geben,  das  Fürsichsein,  die  Erinnerung  an  sein  ober- 
weltliches Dasein  wiedererhält.  Das  festere  Haften  der  Sub- 
jektivität  in  dem  römischen   Geiste  ist   hier   unverkennbar. 

'')  Symbolik  und  Mythologie,  3.  Ausg.,  I.  145. 

693 


Leichname  zwei  ganz  verschiedene  religiöse 
Volks  an  sichten  dar,  und  in  dieser  Differenz  liegt  ein 
Hauptkriterium  der  Völkerabkunft  und  der  Ver- 
schiedenheit der  Stämme  bei  größeren  Nationen".  In  der 
Tat  wird  nicht  geleugnet  werden  können,  daß  es  nichts  so 
Entgegengesetztes  gibt,  als  z.B.  die  ägyptische  Sitte, 
durch  das  Mumisieren  der  Leichname  die  Individualität 
des  Toten  in  geschlossenster  Weise  zu  bewahren, 
und  die  griechische  Sitte  des  Ver brennen s  der  Leich- 
name. Schon  die  Alten  wußten  das,  und  führten  diese  Ver- 
schiedenheiten auf  Gegensätze  in  der  geistigen  Ge- 
samtanschauung der  Völker  und  theosophischen  Sy- 
steme zurück,  wie  z,  B.  Servius  in  Virg.  Aeneid.,  III,  68, 
die  Sitte  der  Verbrennung  daraus  fließen  läßt  ,,ut  statim 
anima  in  generalltatem,  id  est  in  suam  naturam  redlreV'.*') 
Gehen  wir  nun  nach  dieser  Vorbemerkung  auf  die  römi- 
sche Sitte  der  Totenbestattung  zurück,  so  hat  schon  Zoega-) 
nachgewiesen,  daß  in  der  ältesten  Zeit  die  Römer,  wie 
die  alten  Italier  überhaupt,  ihre  Toten  nicht  nur  begru- 
ben, sondern  in  ihren  Wohnhäusern  begruben.  Und 
schon  Servius^)  und  Isidorus^)  berichten,  daß  dies  seinen 
Grund  in  der  alten  Laren-  und  Manenreligion  gehabt  habe, 
um  den  Geist  des  Abgeschiedenen  bei  sich  zu  haben  und 
seiner  besonderen  Obhut  und  Hilfe  um  desto  sicherer  zu 
sein^).   Sonach  erscheint  aber  schon  hier  der  Geist  des 


^)  Siehe  meine  Philosophie  des  Herakleitos,  I  [VII],  510, 
und  die  anderen  daselbst  bezogenen  Stellen  des  Servnis, 
Tertullianus  und  J.  Lydus- 

*)  De  obeliscis,  p.   269. 

'')  In  Virg.  Aeneid..  V.  64;  VI.  152. 

0  Orlgg..  XV.  11. 

^)  Vgl.  hierzu  und  über  die  Larenreligion  überhaupt  Jere- 
mias  Müller,  De  diis  Romanorum  Laribus  et  Penatibus  (Kopen- 

694 


Abgeschiedenen  in  einer  besondersengen  Beziehung  auf 
den  früheren  realen  Schauplatz  seines  Wirkens  und 
Schaltens,  auf  den  Schauplatz  seiner  Willensherr- 
schaft. 

Zwar  kann  es  scheinen,  daß  wir  hier  noch  kein  spezi- 
fisch-römisches Prinzip  gewonnen  haben.  Denn  Plato^) 
erzählt  uns,  daß  auch  die  Griechen  ihre  Toten  ursprünglich 
im  Hause  begruben.  ,,Ja,  die  noch  älteren  als  jene  begruben 
ihre  Toten  im  Hause,  wir  hingegen  tun  nichts  hiervon" 
(ot  d'av  exeivcov  jiQOjeQoi  avxov  xal  e&anxov  iv  Ttj  oty.ia 
rovg  äjiod^avövrag'  f]jneTg  de  joincov''  ovdsv  Jtoiovjuev). 
Allein  gerade  hierdurch  ordnet  sich  dieser  Gegenstand  zu 
einer  systematischen  Klarheit.  Denn  wenn  man  die  Stelle 
in  ihrem  Zusammenhange  betrachtet,  so  zeigt  sich  un wider - 
sprechlich,  daß  Plato  hier  von  einer  Urzeit  spricht.  In 
dem  Satze  vorher  spricht  er  bereits  von  den  ,, vormals" 
{jzQorov)  bei  den  Hellenen  bestanden  habenden  Gebräuchen 
des  Opfemachschlachtens  vor  dem  Heraustragen  der  Leich- 
name und  des  Herbeiholens  der  lyyvxQioxQiai,  d.  h.  v^e 
Boeckh  ^)  nachgewiesen  hat,  von  dem  bereits  uralten  und 
schon  von  Solon  abgeschafften  Dienst  der  Weiber, 
die  das  ossilegium  besorgten  (die  Gebeine  der  verbrannten 
Leichname  in  eine  Urne  sammelten ;  Knochenleserinnen, 
wie  es  Schleiermacher  übersetzt).  Wenn  nun  Plato  sagt, 
daß  „die  noch  früheren  als  jene"  die  Sitte  des  Toten- 
begrabens  im  Hause  gehabt,  so  läßt  sich  also  an  nichts 
als  eine  Urzeit  denken,  somit  an  eine  —  pelasgische 
Zeit. 


Hagen.  1811).  S.  67  fg.;  K.  O-  Müller  in  seinen  Etruskern. 
Buch  III.  Kap.  4,  und  Creuzer,  über  die  Gottheiten  der  Etrus- 
ker.  Symbol,  und  MythoL.  3.  Ausg..  III.  553  fg. 

1)  Minos,   p.  315.   E. 

2)  In  Piaton.   Min.,  p.  57, 

695 


Und  nun  wäre  allerdings  sofort  eine  Grundlage  von 
höchster  innerer  Übereinstimmung  gegeben,  eine  Grundlage, 
die  weitgreifender  und  zusammenhängender  ist,  als  wir  sie 
zunächst  hier  verfolgen  können,  auf  die  uns  aber  der  Lauf 
der  Untersuchung  später  von  selbst  vielleicht  wieder  zu- 
rückführen dürfte. 

Das  pelasgische  Zeitalter  der  Völkerstämme,  die 
sich  später  zu  Hellenen  und  Römern  entwickeln,  steht  noch, 
bei  beiden  übereinstimmend,  unter  der  Sitte  einer  grob- 
sinnlichen  Bewahrung  der  Individualität  des 
Toten. 

Aber  die  Entvvickelung  von  dieser  gemeinschaftlichen 
Wurzel  aus  ist  eine  verschiedene  und  dem  allgemeinen  Ent- 
wickelungsgang  beider  Völker  vollkommen  entsprechende. 
Während  bei  den  Griechen  in  frühester  Zeit,  mit  ihrem 
Hellenisierungsprozeß  selbst,  die  Sitte  um  sich  greift,  die 
Leichname  zu  verbrennen  und  so,  wie  Servius  sagt:  ,,die 
Seele  in  das  Allgemeine  als  in  ihre  Natur  zurückkehren  zu 
lassen,"  wird  in  Rom  sogar  das  Begraben  in  den  Häu- 
sern erst  durch  das  Zwölftafelgesetz  verboten  ,,hominem 
mortuum  in  urbe  ne  sepeäto,  neve  iirttd'^).  Das  Be- 
graben selbst  erscheint  hier  noch  auf  gleichem  Fuß, 
und  ihm  sogar  vorangehend,  mit  dem  Verbrennen,  ja  diese 
grobkörnige  Grundlage  haftet  in  dem  Individualismus  des 
römischen  Volksgeistes  so  fest,  kämpft  in  der  nationalen 
Substanz  desselben  so  zäh  gegen  den  neuen  Gebrauch  an, 
daß  fast  bis  ans  Ende  der  Republik  die  Mitglieder  der 
Gens  Cornelia  sich  noch  beerdigen  lassen  (Cicero,  De  leg., 
II,  22  :  ..gentemque  Comeliam  usque  ad  memoriam  nostram 
hac  sepultura  scimus  esse  usam'"). 

Allein  Römertum  wie  Hellenentum  haben  ihre  Bedeu- 


1)  Cicero.  De  legg..  II,  23. 
6% 


tung  nicht  in  dem,  wovon  sie  ausgehen,  sondern  in  dem, 
wozu  sie  diese  Grundlage  umgestalten.  Und  wie  die  Tat 
und  Bedeutung  der  Hellenen  die  ist,  das  Sinnliche  und 
Materiell -Natürliche  orientalischer  Anschauung,  das  bei- 
den Völkern  als  gemeinschaftlicher  verschwindender  Aus- 
gangspunkt und  Substrat  ihres  Umformungsprozesses  dient, 
zu  objektiv-geistiger  Bedeutung  zu  verklären,  zu  all- 
gemein sittlich-geistigen  Potenzen  zu  verinner- 
lichen, und  damit  zur  Gestalt,  zum  objektiv-Idea- 
len und,  auf  der  höchsten  Spitze  dieser  Leistung,  zur  Idee 
durchzubrechen  (vgl.  hierüber  meine  Philosophie  des  Hera- 
kleitos,  I,  196 — 202,  554 — 561,  60,  und  an  vielen  anderen 
Orten  daselbst),  —  so  besteht  die  Tat  und  Bedeutung  des 
anderen  pelasgischen  Entwickelungszweiges , 
des  Römertums,  darin,  diese  sinnlich-natürliche  Substanz, 
von  der  sie  ausgehen,  zu  der  noch  intensiveren  Inner- 
lichkeit des  für  sich  seienden  Willens,  der  Wil- 
lenssubjektivität, zu  entwickeln.  Die  abgeschiedene 
Individualität  des  Toten  ist  bleibende,  unvergängliche 
Willensinnerlichkeit,  unsterbliche  Willenssubjektivität. 
Aber  sie  ist  gerade  durch  den  Tod  reine  Willenssubjektivi- 
tät geworden  ^ )  ;  nach  ihrer  sinnlichen  Gestalt  hin,  in 
ihrer  eigenen  Verwickelung  mit  dem  Stofflichen,  ist  sie 
aufgehoben.  Darum  kann  auch  dies  Auf  gehobensein  des 
Sinnlichen  an  ihr  gesetzt  werden,  und  der  Verbrennungs- 
prozeß der  Toten  (zu  Macrobius'  Zeit  war  er  bereits  wie- 
der außer  Gewohnheit  gekommen,  Saturnal.,  VII,  7) 
kann  hier  Eingang  finden  und  herrschend  werden.  Aber  was 
so  an  ihnen  aufgehoben  ist,  ist  nur  ihre  Vermischung  mit 


^)  Vgl.  über  das  Verhältnis  der  einzelnen  sinnlichen  Wil- 
lensakte zu  der  durch  sie  hindurchgehenden  allgemeinen  Willens- 
subjektivität oben  sub  Nr.  II. 

697 


dem  Sinnliclien  uiid  Stofflichen  an  ihnen,  wodurch  sie  jetzt 
erst  gerade  als  reine  Willensherrschaft,  als  reine 
Willenssubjektivitäten  hervortreten.  Darum  bleibt 
auch  nach  der  Beerdigung  der  Leichnam  außer  dem  Hause, 
und  nach  der  Verbrennung  derselben  immer  das  Haus, 
in  welchem  ihnen  das  Lararium,  die  Hauskapelle,  als  Sitz 
ihres  geistigen  Wesens  eingeräumt  wird,  der  unmittelbare 
Ort  ihrer  geistigen  Willensherrschaft  ^).  Das  Haus,  die 
Stätte  ihres  Schaltens,  dieses  Stück  der  Wirklichkeit,  das 
ihrer  Willensherrschaft  im  Leben  unterworfen  war,  dieser 
unmittelbare  Schauplatz  ihres  Regierens,  er  bleibt  ihnen 
als  die  Außenwelt,  auf  die  sie  bezogen  sind,  die  sie  fort- 
fahren zu  regieren  und  zu  beherrschen,  und  in  dem  Zentral - 
punkt  dieser  Stätte,  auf  dem  Herde,  wird  ihnen  geopfert. 
Der  abgeschiedene  Geist  also  als  bleibende  für  sich 
seiende  Willenssubjektivität  ist  Mane,  Deus  Ma- 
nis.  Dieser  selbe  Geist  gedacht  in  seiner  bleibenden  be- 
sonderen Beziehung  auf  den  früheren  Schauplatz  seines 
Wollens  und  Herrschens  —  so  ist  er  Lar.  Dies  ist 
das  nun  hoffentlich  sehr  klare  und  sich  von  allen  Seiten 
bestätigende  Begriffsverhältnis  beider  Wesenklassen  zuein- 
ander. Dasselbe  ist  noch  mythisch- genealogisch  voll- 
ständig klar  ausgedrückt,  indem  die  Göttin  Mania  als  Mut- 
ter der  Laren  genannt  wird:  s.  Macrobius,  Saturnal.,  I, 
c.  7,  p.  232,  ed.  Bip.  (wo  noch  eine  von  den  nicht  seltenen 
Spuren  des  alten  grausen  Menschenopferkultus,  durch  wel- 
chen die  Manen  besänftigt  wurden,  hervortritt:  ,,. . .  ut  pro 
familiarum  sospitate  pueri  mactarentur  Maniae  Deae  matri 
Lamm"),  und  Varro  ap.  Arnob.  adv.  gent.,  III,  c.  41, 
p.  131,  ed.  Or. 


^)  Über  die  Lararia  siehe  J.  Gutherius,  De  vet.  jure  Pon- 
tificio.    III.    10,   in   Graevii   Thesaur.    Antiqu.    Rom.,   V.    139- 

698 


Diese  bleibende  Willensherrschaft  über  die 
Stätte  ihres  Gewesenseins,  über  das  Stück  realer 
Außenwelt,  das  unmittelbar  ihrem  Herrschervvillen  un- 
terworfen war,  ist  es,  welche  sich  überall  als  das  her- 
vorstechende und  charakteristische  Wesen  der  Laren  kund- 
gibt. In  allen  ihren  Benennungen  bereits  tritt  dies  frappant 
hervor.  Praestites,^(oa<amai,77^0£OTWT£^^),Vorsteher  also, 
werden  sie  genannt,  denn  dies  ist  eben  ihr  Wesen,  bleibend 
selbständige  Subjektivitäten,  nach  wie  vor  Willens - 
herren,  herrschende  Gebieter  dieses  Machtbe- 
zirkes zu  sein.  Von  dem  Namen  Lar  selbst  ist  aus  dem 
Tuskischen  —  welches  ja  die  anerkannte  Quelle  des  römi- 
schen Larenkultus  ist  —  nachgewiesen  (s.  Jeremias  Müller, 
De  diis  Romanorum  Laribus  et  Penatibus  [Kopenhagen 
1811],  S.  53fg. ;  vgl.  Lanzi,  Saggio  di  Ling.  Etrusca, 
II,  283 — 286;  Döderlein,  Handbuch  der  lateinischen  Ety- 
mologie, S.  95),  daß  es  gar  nichts  anderes  als  Fürst, 
Herr,  TtQootdtrjg, prlnceps  heißt;  also  (Döderlein,  a.a.O., 
will  sogar  mit  Bezug  auf  die  Form  Larth  das  englische 
„Lord"  parallelisieren)  soviel  wie  Gebieter,  Herr  über- 
haupt und  absolut,  ohne  besondere  Beziehung  auf  ein  Eigen- 
tum, als  Ehrentitel,  Willensherr  schlechthin.  (Man 
vergleiche  hier,  was  \vir  S.  305,  Note  1,  über  Etymologie 
und  Bedeutung  von  heres  gesehen  haben.)  Es  ist  dies  all- 
gemein anerkannt  und  kann  auch  gar  nicht  geleugnet  werden. 
Denn  noch  tritt  in  den  Namenszusammensetzungen :  Lar- 
Porsenna,  Lar-Tolumnius  (s.  Cicero,  Phil.,  IX,  Kap.  2) 
diese  Titelbedeutung  als  Herr,  Gebieter,  tatsächlich 
hervor.  Vgl.  K.  O.  Müller,  Etrusker,  II,  90 fg.:  „Daß 
die  Laren  dem  tuslcischen  Glauben  angehören,  davon  über- 


^)  Plutarch,    Rom.    Quaest..    LI.    II.    132.    ed.    Wytt-    - 
Ovid.  Fast..  V.  133. 


699 


zeugt  schon  der  Name,  da  sowohl  Larth  wie  Lars  bei  den 
Etruskern  gewöhnliche  Vornamen  waren,  die  aus  einem 
Ehrennamen  entstanden  sein  müssen"^). 

So  bleiben  sie  denn  absolute  Herren  und  Regierer 
dieses  Schauplatzes  ihrer  Willensherrschaft,  auf  welchem 
nichts  mehr  wider  ihren  Willen  vorfällt,  und  so  werden 
sie  zu  Schutzgöttern,  zu  Wächtern  und  Bewah- 
rern des  Hauses  (dii  aedium  custodes,  oder  tectorum 
doniuumque  custodes.  Bewahrer  der  Dächer  und  Häu- 
ser, wie  es  bei  Arnobius,  Adv.  gent.  1.  1.,  heißt);  sie 
verleihen  somit  den  Familienschutz,  werden  lares  fa- 
miliäres, und  insofern  dieselbe  Familie  forterbend  das  Haus 
ihrer  Vorfahren  bewohnt,  scheinen  sie  somit  zu  Fami- 
liengottheiten geworden  zu  sein. 

Aber  dies  ist  der  erste  der  beiden  äußerst  wesent- 
lichen Irrtümer,  in  welche  die  Altertumsforscher  ganz  all- 
gemein in  bezug  auf  die  Laren  verfallen  sind,  und  der 
sie  verhindert  hat,  das  Wesen  derselben  in  seiner  Wahrheit 
zu  erfassen.  Denn  so  häufig  auch  von  den  Laren  bei  den 
alten  Schriftstellern  in  einem  Sinne  und  Zusammenhange 
die  Rede  ist,  welcher  auf  den  Begriff  der  Vorfahren 
und.  was  uns  so  natürlich  damit  zusEunmenzufallen  scheint, 
der  Familienvorfahren  hinweist,  so  ist  doch  nur  das 
erstere  der  Fall,  daß  sie  freilich  immer  Vorfahren  über- 
haupt, d.h.  Gewesene  bedeuten,  mit  den  Familien - 
vorfahren  aber  nur  da  und  nur  so  lange  zusammenfallen, 
als  dieselbe  Familie  im  Besitz  desselben  Hauses  ist.  Mit 
anderen  Worten :  Es  ist  in  diesen  Wesen  —  und  darin  be- 
steht der  Irrtum,  von  dem  wir  sprechen  —  auch  nicht  im 
geringsten   die    Idee   der    Familienabstammung,    der 

^)  Vgl.  daselbst,  I,  405:  „Tuskische  Fürsten  heißen  fast 
immer  Lars,  und  man  konnte  daher  leicht  Lars  für  eine  Be- 
zeichnung der  Fürstenwürde  halten." 

700 


Familiensubstanz  vorhanden  (so  wenig  wie  im  römi- 
schen Erbrecht,  wie  wir  von  diesem  auf  das  genaueste  nach- 
gewiesen haben);  sondern  nur  dies  ist  ihr  Begriff,  die 
schaltenden  Willensherren  der  von  ihnen  fortbeherrschten 
Stätte  zu  sein.  Nur  an  den  Ort,  das  Haus,  nicht  an  die 
Familie  sind  sie  gebunden.  Wäre  die  Blutseinheit  der 
Familie  ihr  Begriff,  so  würden  sie  den  durch  das  Band  der 
Abstammung  mit  ihnen  Verknüpften  angehören.  Sie 
wären  im  Besitz  der  Familie,  aber  sie  wären  nicht 
mehr  die  Schaltenden,  die  Machthaber,  die  ,, Mäch- 
tigen", , .Potentes"  (Lares  Coilo  Potentes),  wie  In- 
schriften sie  nennen^). 

Am  deutlichsten  kommt  diese  Unterscheidung  zum  Aus- 
trag, wenn  die  reale  Trennung  von  Ort  und  Familie 
eintritt.  Hier  kommt  auch  der  angegebene  Begriffsunter- 
schied zu  seinem  realen  Beweis.  Der  Lar  verbleibt  nicht 
der  Familie,  sondern  der  Lar  verbleibt  dem  Ort,  weil 
vielmehr  der  Ort  ihm  verbleibt;  die  fortziehende  Familie 
verliert  ihn  (v/odurch  sich  die  Laren  beiläufig  sehr  deut- 
lich von  den  Penaten  unterscheiden,  mit  denen  sie  durchaus 
nicht  identisch  sind),  und  der  neue  Hausherr,  der  das 
Haus  verkauft  hat,  übernimmt  die  Laren  des  Ortes  und 
ihren  Kultus,  wie  z.  B.  bei  Plautus  ^)  der  neue  Hausherr 
die  Laren  des  eben  von  ihm  gekauften  Hauses  bekränzt  — 
eine  bis  in  späte  Zeiten  ^)  fortdauernde  Sitte  —  und  an- 


^)  Siehe  Ezech.  Spanheim,  De  Vest.  et  Prytan.  Graec  in 
Graevii  Thesaur.  Antiqu.  Rom.,  V,  686  fg- 
2)  Trinum.,  I.  2.  v.   1: 

Larem  corona  nostrum  decorari  volo. 
Uxor,  venerare,  ut  nobis  haec  habitatio 
Bona,    fausta,   felix,    fortunataque   eveniat. 
^)  Vgl.  die  Commentt.  Herodot.  von  Creuzer,  I,  235,  Note, 
und  über  die  Lokalitäten  dieser  Culte  Raoul-Rochette,  Lettre 

701 


fleht,  daß  ihm  die  neue  Wohnungsstätte  glückbringend 
sein  möge.  Der  Lar  fährt  also  fort,  die  Stätte  zu  beherr- 
schen. Die  fortziehende  Familie  verliert  mit  dem  Orte 
auch  seine  Laren,  und  darum  kann  Catilina  bei  Sallust^) 
den  ruinierten  Verschwörern,  die  er  durch  Vergleichung 
ihres  elenden  Loses  mit  der  Lage  der  Reichen  zur  Wut 
reizen  will,  zurufen:  , .nirgends  auf  der  ganzen  Welt  hät- 
ten sie  einen  lar  famillaris  mehr."  Und  darum,  wegen 
dieses  unpersönlichen  V^erhältnisses,  welches  seitens 
der  lebenden  Hausherren  zu  ihnen,  die  für  sie  nicht 
Ahnen,  sondern  nur  Abgeschiedene  überhaupt  sind,  be- 
steht, kann  sie  der  Kirchenvater  M.  Minucius  Felix  ^) 
mit  den  unbekannten  Gottheiten  zusammenstellen  und 
zu  ihnen  rechnen :  ,,. . .  dum  aras  exstruunt,  etiam  ignotis 
numlnibiis  et  manibus.''  So  zeigt  sich  denn  also  ganz  scharf 
und  bestimmt,  wie  unrichtig  und  den  Begriff  der  Laren 
ganz  entstellend  es  ist,  wenn  Creuzer^)  von  ihnen  sagt: 
,,Über  dem  Strahlenpunkt  jeder  individuellen  Perso- 
nalität, dem  Charakter  und  dem  Sinn  jedes  Men- 
schenlebens schwebet  als  Herr  und  Regierer  ein  Genien - 
paar,  wovon  der  eine  sorgsam  und  freundlich  über  die  ihm 
anvertraute  Seele  wacht  usw."  Nichts  ist  dem  ur- 
sprünglichen Wesen  des  tuskischen  Lar  fremder,  als  eine 
solche  Beziehung  auf  die  „individuelle  Personalität  des 
Menschen"  oder  dieser  zu  ihm ;  nichts  ist  seinem  ursprüng- 
lichen Wesen  mehr  entgegenstehend,  als  ein  solches  posi- 
tives fürsorgendes  Verhältnis  zu  einer  ,,ihm  anvertrauten 
Seele".  Es  v^ird  hier  in  den  Geist  orientalischer  Dämono- 


ä   Mr.   Panofka,  in  den  Annales  de   l'Institut  de   France,   III. 
415  fg. 

')  Catilln.,  c.  20. 

^)  Octav.,  c.  VI.  p.  31.  ed.  Lindn. 

')  Symbolik  und  Myth..  a.  a.  O-.  III.  556. 

702 


logie  und  Genienlehre  überhaupt  hineingefallen  und  der  Be- 
griff dieser  altitalischen  Wesen  gänzlich  verkannt.  Der 
Lar  hat  überhaupt  in  seinem  Begriff  keine  direkte  Be- 
ziehung auf  die  „menschliche  Personalität"  des  Hausherrn, 
sondern  er  ist  dies,  bleibender  Schalter  des  Ortes  seiner 
früheren  Herrschaft,  der  auf  diesen  bezogene  fortexi- 
stierende Willensherr  und  Gebieter  zu  sein. 

Der  zweite  Hauptirrtum,  von  dem  man  sofort  sehen 
wird,  wie  eng  er  mit  dem  ersten  zusammenhängt,  ist  fol- 
gender : 

Diese  machthaberische  Beziehung  des  Lar  auf  den 
bestimmten  Ort  trat  natürlich  in  allen  Nachrichten  der 
Alten  viel  zu  sehr  und  zu  charakteristisch  in  den  Vorder- 
grund, um  gänzlich  als  Tatsache  von  unseren  Altertums- 
forschern übersehen  werden  zu  können.  In  dieser  Tatsäch- 
lichkeit ist  sie  vielmehr  als  das  Wesen  des  Lar  allgemein 
anerkannt.  Siehe  z.  B.  K.  O.  Müller,  Etrusker,  II,  90  fg. : 
,,Auch  in  bezug  auf  die  Götter  war  Lar  bei  den  Tuskern 
und  Römern  eine  sehr  umfassende  Ehrenbenennung,  die 
schwerlich  eine  bestimmte  Anzahl  von  Personen  bezeich- 
nete, bei  der  aber  der  Schutz  und  Vorstand  eines  be- 
stimmten Bezirkes  (daher  lares  praestites)  offenbar 
das  Charakteristische  und  die  Hauptsache  war." 
Aber  das  ist  alles,  was  er  hierüber  sagt.  Auch  Creuzer  ist 
weit  entfernt,  diese  Tatsächlichkeit  zu  übersehen  (s.  a.  a. 
O.,  S.  556  fg.,  S.  561).  Aber  es  fragt  sich  nur  wieder, 
wie  man  die  Tatsache  auffaßt,  was  man  als  ihre  gei- 
stige Begründung  denkt.  In  den  Darstellungen  der 
bildenden  Kunst  erscheint  als  das  Attribut  der  Laren  der 
Hund  (s.  die  bei  Creuzer,  a.  a.  O.,  S.  565,  569,  ange- 
führten Denkmäler)  und,  gleichviel  welches  das  Alter  die- 
ser Darstellungen  sein  mag,  eine  spätere  deutungssüchtige 
Zeit  faßt  dies  schon  bei  den  Alten  als  ein  Symbol  ihrer 

703 


Treue  auf  gegen  das  Haus,  als  schützende  und  wachende 
Hausgötter,  furchtbar,  feindselig  gegen  Frennde,  zahm, 
linde,  mild  gegen  die  Bewohner  des  Hauses.  Und  das  soll 
auch  nicht  geleugnet  werden,  daß  sie  später  allmählich 
—  und  wir  werden  noch  einen  Blick  darauf  werfen,  wann 
und  wie  —  diese  Umbildung  im  Volksglauben  erfahren 
haben.  Aber  von  ihrem  ursprünglichen,  eigentlichen 
und  immer  wieder  durchblickenden  Wesen  ist  das  sehr 
weit  entfernt!  Wenn  im  Hund  ein  Symbol  der  Treue  zu 
liegen  scheinen  kann,  weil  der  Lar  dem  Ort  treu  bleibt, 
so  ist  zu  bemerken,  daß,  wenn  der  Lar  dem  Ort  treu  bleibt, 
er  nur  sich  selber,  seiner  Willensherrschaft  über  ihn 
treu  bleibt,  und  hierbei  also  von  Treue  nicht  die  Rede 
wäre.  Soll  hier  von  Treue  die  Rede  sein,  so  wäre  viel- 
mehr nur  dieTreuedes  Ortes  zu  bewundern,  der  immer 
noch  den  gestorbenen  Willensherren  anhängt  und  angehört. 
Wenn  der  Lar  den  Ort  bewacht  —  und  freilich  tut  er 
dies  — ,  so  ist  zu  bemerken,  daß  er  dies  ursprünglich 
durchaus  nicht  im  plutarchischen  Sinne  tut,  als  ein  schüt- 
zender, wachender  Haus-  und  Heilsgott,  sondern  er  be- 
wacht ihn  als  das  ihm  untergebene  Machtgebiet,  und 
so  allerdings  auch  eifersüchtig  und  abwehrend  wie 
ein  Hund  das  Sein  ige. 

In  jenem  plutarchischen,  milden  Sinne  fassen  die  Alter- 
tumsforscher sehr  irrig  das  ursprüngliche  Wesen  des  tus- 
kischen  Laren.  Wenn  Creuzer  also  (a.  a.  O.,  S.  556) 
zur  Erklärung  desselben  sagt:  ,,Auch  wo  Menschen  bei- 
sammen wohnen,  ist  unsichtbar  ein  Genius  gegenwärtig. 
Das  liebe  Gut,  das  wir  unter  der  Vaterstadt  zu  denken 
pflegen,  jenes  heimatliche  Gefühl,  das  uns  bei  ihrem  Namen 
bewegt,  eines  wie  das  andere  ist  unter  den  Schirm  des 
Genius  gegeben.  So  auch  das  Vaterhaus.  Jedes  teuerste 
Gefülil,  das  ein  Kind  bei  diesem  Andenken  empfinden  mag, 

704 


jene  Gewohnheit  des  Lebens  in  ihm  von  frühester  Erinne- 
rung an,  die  bergende  Sicherheit,  die  stille  Vertraulichkeit 
jedes  Winkels,  der  ruhige  Verlaß  auf  dies  von  den  Vätern 
ererbte  Eigentum,  und  wie  die  Beziehungen  alle  hießen 
mögen,  sie  alle  sind  in  den  Begriff  des  Lar  (Lars,  Herr) 
zusammengedrängt,  der  das  Vaterhaus  als  unsichtbarer  Ge- 
bieter bewohnet  — ",  so  ist  in  dieser  schönen  und  gemüt- 
lichen Explikation  auch  nicht  eine  Seite  des  alten  ursprüng- 
lichen Larentums  getroffen.  Nichts  ist  dem  altitalischen 
Geiste  fremder  als  diese  Gemütsseite,  die  erst  das  Produkt 
sehr  später  und  humanisierender  Umbildungen  ist,  nichts 
ist  dem  alt-römischen  Geiste  weiter  abliegend,  ihm,  der 
schon  in  seiner  pelasgisch-etrurischen  ^)  Anlage  nur  dies 
ist:  Willenssubjektivität  zu  sein,  und  alles  im  sub- 
stantiellen Keime  in  sich  zu  enthalten,  was  sich  aus  diesem 
Keim  entwickeln  wird. 

Wir  haben  vielmehr  gesehen,  welches  der  ganz  be- 
stimmte Begriff  der  Laren  ist.  Er  ist  dies :  fortexistierende 
selbständige  Willenssubjektivitäten  zu  sein,  fortherrschend 
in  dem  Machtbezirk,  welcher  die  Stätte  ihres  Schaltens 
war.  Der  Deus  Manis,  gedacht  als  Lar,  hat  also  direkt 
zunächst  gar  keine  Beziehung  auf  den  späteren  Haus- 
herrn. Er  hat  direkt,  in  seinem  Begriffe,  nur  jene  fort- 
herrschende Beziehung  des  Willensherm  zu  dem  Ort. 
Nur  indirekt,  weil  durch  denselben  Ort  vermittelt,  tritt 
er  hierdurch  in  eine  Beziehung  auf  den  neuen  Hausherrn 
desselben.  Und  aus  dieser  bloßen  Betrachtung  schon  er- 
hellt auf  den  ersten  Blick,  daß  diese  Beziehung  ursprüng- 
lich keine  sehr  freundliche  gewesen  sein  wird;  daß  sie 

^)  Nur  für  Leser,  die  zufälHg  diesem  Stoffe  fernstehen  soll- 
ten, wird  bemerkt,  daß  auch  die  alten  Etrusker  Pelasger  sind, 
tyrrhenische  Pelasger,  wie  sie  von  den  Alten  überall 
(auch  Tyrrhener  schlechtweg)  genannt  werden. 

23  LassaUc.  G»    Schriften.   Ba.  XII.  705 


vielmekr  eine  negative  sein  muß,  denn  dieser  neufe 
Herr  greift  nun  ein  in  das  Machtgebiet  des  Ab- 
geschiedenen, dessen  Willensherrschaft  gleichfalls  als 
fortbestehend  und  bleibend  gedacht  wird,  und  ver- 
letzt dadurch  dessen  Recht.  So  ist  die  Kollision  gegeben, 
und  es  ist  ersichtlich,  daß  sie  ursprünglich  eine  furcht- 
bare sein  muß,  und  nur  durch  furchtbare  Abfindungen  und 
Besänftigungen  dies  negative  Wesen  des  Lar  gegen  den 
neuen  Herrn  überwunden  werden  kann.  Und  so  tritt  denn 
als  das  erste  und  ursprüngliche  Verhältnis  jenes  ne- 
gative Verhältnis  der  Laren  hervor,  welches  die  Mytho- 
logen  ganz  in  den  Hintergrund  treten  zu  lassen  pflegen. 
Es  ist  der  Menschenopferdienst  der  Laren  und  der 
Mania-^),  das  Schlachten  der  eigenen  Kinder  an 
ihren  Altären  für  die  Unversehrtheit  der  Fa- 
milie: ...  cum  ludi  per  urbem  in  compitis  agitabantur, 
restitiiti  scilicet  a  Tarquinio  Superbo  Larlbiis  ac  Maniae 
ex  responso  Apollinis,  quo  praeceptum  est,  ut  pro  capi- 
tibus  capitibus  supplicaretur ;  idque  aliquamdiu  observatum, 
ut  pro  familiamm  sospifate  paed  mactarentiir  Maniae 
Deae  matrl  Lamm;  Macrobius  Saturn.,  lib.  I,  c.  VII, 
p.  232,  ed.  Bip. 

Der  Lar  ist  also  ursprünglich  so  wenig  Familienwesen, 
daß,  um  ihm  das  Wohl  derselben  abzukaufen,  die  Kinder 
vielmehr  geschlachtet  werden. 


^)  Das  starke  Hervortreten  des  etruskischen  Menschenopfer- 
kultus überhaupt  wird  gut  hervorgehoben  bei  K.  O.  Müller, 
Elrusker.  II.  108;  vgl.  daselbst  S.  21.  und  Bd.  I.  S-  197. 
Note  28.  Bekannthch  schlachteten  nach  Livius,  VII,  15,  die 
tuskischen  Tarquinier  einmal  307  von  ihnen  gefangene  Römer 
ihren  Göltern  auf  einmal  zum  Opfer.  Müller  bemerkt  auch 
bereits,  daß  die  römischen  Menschenopfer  tuskischen  Ursprunges 
sind. 

706 


Und  man  bemerke  wohl,  was  in  der  Stelle  des  Ma- 
crobius  hervortritt.  Schon  während  des  Königtums  ist  dieser 
Kultus  in  Rom  unterdrückt  gewesen.  Von  dem  etrus- 
ki sehen  König  T£Lrquinius  wird  er  auf  Grund  eines  Ora- 
kels des  Apollo^)  wiederhergestellt.  Aber  die  zivilisierende 
Rolle  der  Republik  stürzt  mit  dem  Königtum  auch  diesen 
grauenvollen  Kultus !  Kaum  hat  Junius  Brutus  den  Tar- 
quinius  vertrieben,  so  befiehlt  er  als  Konsul,  Mohn-  und 
Knoblauchköpfe  abzuschlachten,  damit  dem  Spruche  des 
Gottes  Genüge  geschehe.  Und  nun  wird  die  Mania  zu  einem 
milden  heilbringenden  Wesen  und  ,,ihre  Bildnisse  vor  den 
Türen  der  Familien  aufgehängt,  um  Gefahr,  die  ihnen  be- 
vorstände, zu  beschwichtigen"  (s.  alles  dies  bei  Macrobius, 
a.  a.  O.). 

Aber  noch  immer  stürmt  hin  und  wieder  das  negative 
Wesen  des  Laren  in  seiner  alten  Furchtbarkeit  wieder 
an,  und  immer  tritt  in  den  Überlieferungen  der  alten  Schrif t- 


^)  Wer  dieser  Apollo,  von  dem  Macrobius  erzählt,  gewesen, 
daß  er  nämlich  selbst  niemand  anders  als  der  tuskische  Manen- 
gott Dispater  gewesen,  läßt  sich  mit  Sicherheit  feststellen.  Auf 
dem  Berge  Soracte  befand  sich  ein  Heiligtum,  den  Diis  Mani- 
bus  und  besonders  dem  Dispater  geweiht,  wie  uns  Servius  (in 
Virg.  Aeneld..  XI,  785)  berichtet.  Virgil  selbst  aber  (XI,  786) 
läßt  einen  Tusker  beten: 

Summe  deum,  sancti  cusios  Soractis  Apollo 

Quem  primi  collmus. 
Die  von  K.  O.  Müller,  das.  II,  68  fg.,  merkwürdig  gefundene 
Identifizierung  von  Dispater  und  Apollo,  die  er  aus  dem  zu- 
fäUigen  Zusammentreffen  erklärt,  daß  dem  Apollo  bei  den 
Griechen  die  Wölfe  heilig  waren  und  die  Priester  des  Soranus 
von  Wölfen  den  Namen  trugen,  erklärt  sich  vielmehr  sehr  na- 
türlich aus  seiner  eigenen  negativen  Nachtseite,  jenem  Prinzip 
des  Verderbens,  das  dem  Apollo  von  seinem  orientalischen  Ur- 
sprung her  eigen  ist;  siehe  hierüber  meine  Philosophie   Hera- 

klits.  I.  198 fg. 

23*  707 


steller  selbst  hervor,  daß  es  die  Grundlage  tuskischer 
Substanz  in  der  römischen  Religion  ist,  welche  durch 
ihre  Beschwichtigung  und  Versöhnung  hindurch  wieder  zum 
Vorschein  zu  kommen  versucht.  Als  sich  der  bekannte  Ab- 
grund öffnet,  in  den  sich  Curtius  dann  stürzt,  um  ihn  zu 
schließen,  da  verkünden,  wie  uns  Varro  erzählt,  die  von 
den  Römern  bekanntlich  nur  aus  den  Etruskern  genom- 
menen Haruspices,  durch  ein  Senatuskonsult  um  Rat  ge- 
fragt, daß  es  der  Manengott  sei,  welcher  als  Sühnopfer 
fordere,  daß  ihm  der  tapferste  Bürger  geopfert  werde  ^)  : 
,,et  id  ex  Sen.  Cons.  ad  aruspices  relatum  esse,  responsum 
Deiini  Manium  postilionem  postulare  id,  civem  fortissimum 
eo  demitti." 

Und  noch  lange  ^)  durchzittert  den  Volksgeist  die  nie 
ganz  verlöschende  Erinnerung  an  das  frühere  Wesen  dieser 
bleibenden  Willensherren!  Je  mehr  sich  spätere  Schrift- 
steller bestreben,  sie  als  die  Milden,  Linden  und  Guten, 
als  Segen  und  Heilsquellen  der  Familien  zu  schildern  '). 
und  je  mehr  alte  Etymologien  dies  schon  in  ihren  Namen 
legen,  indem  sie  denselben  von  dem  alten  mane,  gut,  er- 
klären*), um  so  mehr  beruht  dies  auf  demselben  alten 
scheuen  Euphemismus,  der  die  Erinnyen  als  die  ,, Wohl- 
gesinnten" als  Eumeniden  darstellt.  Und  im  Grunde  sagt 
uns  dies  ja  Festus  bei  dieser  Etymologie  in  der  zuletzt  an- 
geführten Stelle  selbst,  und  es  ist  nur  ein  Übersehen,  das 


1)  Varro  de  L.  L.,  lib.  V.  §  148. 

2)  Vgl.  Pllnlus,  H.  N..  XXVIII,  3.  und  :XXX,  3.  mit  Dio 
Cass..  XLIII,  24. 

^)  Siehe  z.  B.  Apulejus,  De  genio  Socrat.,  II,  152  sqq., 
ed.   Bosch. 

*)  Macrobius,  Saturnal.,  I,  c.  3,  p.  209.  ed.  Bip.  Festus. 
v*^  Mannuos,  p.  146;  v^  Manes.  p.  157;  v^  Matrem  Matutam, 
p.  122.  ed.  Müller. 

708 


nicht  in  seinen  Worten  zu  sehen,  was  offen  in  denselben 

ausgesprochen  liegt.  Denn  er  sagt  daselbst: et  inferi 

dii  manes  wi  supplidter  appellati  bono  essent"  Sie  werden 
also  so  genannt,  nicht  als  solche,  welche  die  Guten  sind, 
sondern  als  solche,  welche  flehentlich  angerufen  werden, 
daß  sie  gut  und  zum  Guten  sein  mögen,  gerade  weil  sie  es 
nicht  sind.  So  wird  auch  bei  den  römischen  Geburten  eine 
Göttin  Mana  Geneta  angerufen,  daß  niemand  von  den  im 
Hause  Geborenen  gut  werde,  und  Plutarch,  welcher  uns 
dies  berichtet^),  erklärt  es  selbst  damit,  daß  die  ..Guten" 
hier  die  Verstorbenen  bedeuten.  Ja,  selbst  noch  bei  so 
späten  Dichtern,  wie  Horaz.  klingt  das  negative,  besänf- 
tigungsbedürftige Wesen  der  Laren  deutlich  hindurch. 
Od.  III.  23,  V.  2: 

Si  thure  placaris    et  homa 
Fruge   Lares   avidaque  porca. 

So  weit  ist  es,  wie  hier  vorerst  in  diesen  Stoff  einge- 
gangen werden  kann.  Was  haben  wir  denn  aber  eigentlich 
in  demselben  gesehen  ? 

Wir  haben  in  der  religiösen  Substanz  der  pelas- 
gisch-etrurischen  Vorzeit  denselben  geistigen  Keim: 
die  unendliche  Willenssubjektivität  und  ihre 
bleibende  Fortexistenz,  die  Unsterblichkeit  der  Wil- 
lensindividualität und  ihre  fortschaltende  Willensherrschaft, 
gesehen,  welchen  das  Römertum  zur  Ausführung  und  Ent- 
wickelung  bringt  ? 

Durch  die  Überwindung  jener  noch  negativen 
Richtung  seiner  in  ihm  fortwirkenden  pelasgisch-etrurischen 
Ursubstanz.  eine  Überwindung,  welche  sich  durch  die  Mi- 
schung derselben  mit  dem  Einfluß  eines  anderen  sittigenden 
Elementes  vollzieht,  ist  erst  das  höhere  Dasein  spezifi- 

1)  Quaest.  Roman..  LH.  277;  II.  133.  ed.  Wyttenb. 

709 


sehen  Römertums  oder  quiritischen  Geistes  ge- 
geben, und  im  Recht  ist  es,  wo  der  Römer  diese  seine 
nationale  Ursubstanz  zur  Versöhnung,  zum  Abdruck 
und  zur  gebildeten  Entwickelung  bringt. 

Zur  Versöhnung,  sagen  wir;  denn  der  erste  Schritt, 
mit  welchem  das  Dasein  spezifischen  Römertums  in  der 
Geschichte  erscheint,  der  testamentarische  Erbe,  ist 
bereits  die  Versöhnung  der  negativen  Stellung  jener  beiden 
Willensherren,  des  alten  und  des  neuen,  zueinander.  Der 
Erbe  ist  es  jetzt  selbst,  der  die  geistige  Willens- 
subjektivität des  Toten  fortsetzt,  und  er  ist  es, 
in  dessen  unbeschränkt  freier  testamentarischer  Wahl  sie 
sich  selbst  fortsetzt.  Wenn  bei  den  Tuskern  der  Ab- 
geschiedene, der  Lar,  der  ,,Herr"  war,  so  ist  jetzt  viel- 
mehr er,  der  neue  Nachfolger,  zum  ,,Herrn",  heres, 
geworden^).  Denn  er  hat  jenen  in  sich  aufgenom- 
men, setzt  ihn  fort  und  ist  selbst  seine  Fortexistenz,  die 
jener  nun  nicht  mehr  außer  sich,  sondern  in  sich  hat.  So 
ist  denn  schon  mit  dem  ersten  Schritte  spezifischen  Römer- 
tums diese  Versöhnung  gegeben.  Es  zeigt  sich  jetzt  die 
ganze  innere  Notwendigkeit,  vermöge  welcher  (s.  oben 
S.  528 — 534)  das  testamentarische  Erbtum  keinen  Anfang 
hat  und  haben  kann  in  der  Geschichte  dieses  Geistes. 
Denn  solange  dieses  Erbtum  noch  nicht  da  wäre,  wäre  die- 
ser Geist  noch  nicht  spezifisch-römischer  Geist,  des- 
sen Dasein  gerade  in  diesem  Versöhntsein  besteht.  Könnte 
man  dem  testamentarischen  Erbtum  in  Rom  einen  Anfang 
nachweisen,  wovon  wir  an  dem  angeführten  Orte  wie  be- 
grifflich, so  auch  historisch  gezeigt  haben,  daß  es  nicht  der 
Fall  ist,  so  würde  gesagt  werden  müssen,  daß  damals  noch 
nicht  römischer  Geist  vorhanden  gewesen,  daß  er  noch 


1)  Vgl.  hierüber  oben  S.311.   Note   1. 
710 


in  dem  Stadium  seines  vorgeschichtlichen  Daseins 
und  Bildungsprozesses  aus  seinen  verschiedenen  Elementen 
begriffen  gewesen  sei.  Und  der  entscheidende  Beweis  hier- 
für wäre,  daß,  wie  wir  oben  gezeigt,  in  dem  Bewußt- 
sein dieses  Volkes,  in  seinem  geistigen  Fürsich- 
selbstsein,  das  Testament  keine  Entstehung  hat.  Te- 
stamentarisch und  von  unbeschränkter  Freiheit 
muß  dies  Erbtum  von  Haus  aus  sein,  wenn  es  jene  Ver- 
söhnung vollbringen  soll.  Denn  wäre  es  dies  nicht,  so  wäre 
er  es  nicht,  der  Tote,  der  seine  Willenssubjektivität  im 
Erben  setzte  und  fortsetzte,  sondern  sein  Wille  hätte  ge- 
rade an  dem  ihm  aufgezwungenen  Erben  seine  Ne- 
gation und  seinen  Untergang,  und  so  stünde  er  noch 
in  dem  alten  negativen  Verhältnis  des  Lar  zu  ihm.  Erst 
durch  die  unbeschränkte  Willensfreiheit  testamentarischen 
Einsetzens  nimmt  auch  das  Intestatrecht  den  Charakter  einer 
vom  Gesetze  dem  individuellen  Willen  geleisteten  subsi- 
diären Hilfe,  eines  Herbeieilens  des  ganzen  Volkes  und 
Volksbegriffes  zur  Erfüllung  seines  vorausgesetzten 
Willens  an,  und  wir  haben  jetzt  die  historisch-reale 
Gestalt  der  Notwendigkeit  gesehen,  vermöge  welcher 
dieser  vorausgesetzte  Wille  als  identisch  mit  dem  all- 
gemeinen Willen  vorausgesetzt  wird;  eine  Identität,  die 
schon  mit  dem  Herbeieilen  selbst  des  ganzen  Volkes  zu 
seiner  individuellen  Ergänzung  gegeben  ist.  Wir  haben 
jetzt  erst  die  historisch-reale  Gestalt  der  Notwen- 
digkeit gesehen,  vermöge  welcher  das  Interesse  an  dem 
fortexistierenden  Dasein  dieses  vorausgesetzten  —  und  um 
so  mehr  an  dem  des  testamentarisch  selbst  gesetzten  — 
Willens  den  ganzen  historischen  Geistesbegriff  dieses  Vol- 
kes durchzittern  muß,  oder  die  Bedeutung  des  Satzes : 
testamentif actio  juris  publici  est  (vgl.  Nr.  X  und  Nr.  XV). 
Wir  haben  jetzt  erst  die  reale  Gestalt  der  Notwendigkeit 

711 


gesehen,  vermöge  welcher  das  Zwölftafelgesetz  mit  der 
höchsten  Freiheit  des  Legierens  beginnen  muß,  die  Freiheit 
der  Erbeinsetzung  aber  als  die  gesamte  stumme  Sichselbst- 
voraussetzung dieses  ganzen  historischen  Volksgeistes  nicht 
einmal  verfügen  kann,  und  warum,  statt  von  einem  notwen- 
digen Familienerben  auszugehen,  es  vielmehr  erst  das  Ende 
der  römischen  Rechtsgeschichte  ist,  sich  auf  einen  niemals 
ganz  erreichten  Noterben  hinzubewegen. 

Wir  sagten  aber  auch :  im  Recht  ist  es,  in  welchem  der 
Römer  diese  seine  nationale  Ursubstanz  zur  Versöhnung 
bringt.  Und  dies  ist  nicht  nur  so  aufzufassen  als  ein  empi- 
risch durch  das  Material  des  Erbrechtes  Feststehendes  und 
von  uns  an  ihm  Nachgewiesenes.  Es  ist  vielmehr  vor  allem 
die  begriffliche  logische  Notwendigkeit  zu  begreifen,  ver- 
möge welcher  diese  Versöhnung  sich  gerade  im  Recht 
vollbringen  und  das  Rechtssystem  produzieren  muß. 

Die  Versöhnung,  welche  der  römische  Geist  vollbringt, 
oder  eigentlich  nicht  vollbringt,  sondern  ist,  besteht  darin, 
daß  die  Vorstellung  der  unendlichen  Willenssub- 
jektivität, welche  bereits  als  religiöse  Vorstellung 
in  der  pelasgisch-etrurischen  Ursubstanz  vorhanden  ist,  aus 
diesem  Elemente  bloßen  religiösen  Insichseins,  in 
welchem  sie  sich  negativ  gegen  den  neuen  Nachfolger  be- 
stimmt und  bestimmen  muß,  weil  dieser  ein  anderer 
gegen  den  Lar  ist,  herausgerissen  und  zur  Wirklich- 
keit verwandelt  werde.  Der  Orkus  soll  zur  Oberwelt  pro- 
duziert werden.  Die  Versöhnung  soll  dadurch  vor  sich 
gehen,  daß  der  neue  Nachfolger  selbst  den  Toten  in  sich 
aufnimmt  und  Perpetuierer  seiner  Willenssubjektivität  wird. 
Die  Überwindung  jenes  negativen  Verhältnisses  soll  da- 
durch erfolgen,  daß  die  Unendlichkeit  der  Willenssubjek- 
tivität des  Toten  in  dem  Nachfolger  selbst  realisiert,  und 
so  in  der  allgemeinen  lebendigen  Wirklichkeit  selbst  statt 

712 


in  der  Unterwelt  verwirklicht  werden  soll.  Die  Realisation 
eines  geistigen  Inhaltes  in  der  Sphäre  der  allgemeinen 
Wirklichkeit  —  dies  und  nichts  anderes  ist  eben  der 
formelle  Begriff  des  Rechtes.  Ein  geistiger  Inhalt  reali- 
siert in  dem  Insichsein  der  Vorstellung,  —  so  ist  er  Re- 
ligion; hineingebildet  in  das  Sinnliche  und  Stoffliche,  — 
so  ist  er  Kunst ;  ausgeführt  im  Reich  des  sich  selbst  durch- 
sichtigen Begreifens,  —  so  ist  er  Philosophie;  verwirk- 
licht aber  in  der  allgemeinen  geistigen  Wirklich- 
keit, —  so  ist  er  Recht.  Es  ist  also  eine  begriffliche 
Notwendigkeit,  daß  diese  Versöhnung  im  Rechte  ge- 
schieht; sie  ist  selbst  der  Gedanke  des  Rechtes.  Alle 
Völker  haben  ein  Recht.  Denn  alle  Völker  verwirklichen 
einen  geistigen  Inhalt  in  der  realen  Wirklichkeit.  Was  der 
Römer  aber  verwirklicht  in  dieser  Sphäre  des  Rechtes, 
das  ist,  wie  wir  sahen,  der  Gedanke  der  unendlichen 
Willenssubjektivität,  d.h.  es  ist  der  inhaltliche 
Begriff  des  Rechtes  selbst,  den  er  in  der  for- 
mellen Sphäre  des  Rechtes  verwirklicht,  und  so  hat 
er  nicht  e  i  n  Recht,  sondern  das  Recht ! 

Die  Unendlichkeit  der  Willenssubjektivität  verwirklicht 
in  der  realen  allgemeinen  Wirklichkeit,  —  dies  ist  nicht 
bloß  Erbrecht,  sondern  das  Recht  und  das  Rechts - 
System  überhaupt.  Und  so  ergibt  sich  hier  bestimmter 
die  welthistorische  Notwendigkeit,  die  wir  schon  früher 
kurz  angedeutet  (s.  S.  36,  vgl.  S.  572  fg.),  hier  aber  näher 
zur  Entwickelung  gebracht  haben,  weshalb  es  der  römische 
Volksgeist  ist,  welcher  aus  seiner  innersten  Anlage  heraus 
das  Rechtssystem  produzieren  muß. 

Man  kann  in  diesem  Sinne  sagen,  die  wahre  Religion 
des  Römers  sei  das  Recht,  die  Religion  sei  dagegen  für  ihn 
eigentlich  nur  das  Vorhistorische  seines  Ausgangspunktes, 
so  daß  er  nur  in  der  Überwindung  dieser  Form  der  geistigen 

713 


Tätigkeit  das  Spezifische  seines  Geistes  habe,  und  die  Re- 
ligion von  ihm  nur  als  das  ihm  und  seinem  Geiste 
Fremde,  welches  aber  die  ihn  noch  mit  ehrfurchtsvollem 
Schauer  durchzitternde  Grundlage  seines  Ausgegangen- 
seins und  seines  Zusammenhanges  bilde,  aufbewahrt  worden 
sei.  Und  mit  dieser  begrifflichen  Entwickelung  gelangt  nun 
ein  anderes  höchst  merkwürdiges  Verhältnis,  das  schon  oft 
hohe  Verwunderung  erregt  hat  und  noch  größere  zu  er- 
regen verdient  hätte,  zu  seiner  vollen  geistigen  Klarheit, 
gelangt  nicht  nur  zu  seiner  eigenen  Erklärung,  sondern  zur 
Fleraussetzung  der  in  ihm  vorhandenen  welthistorischen 
Notwendigkeit  und  Bedeutung.  Jedes  Volk  treibt  seine  Re- 
legion  selbst,  denn  es  ist  sein  eigenes  Wesen,  das  es 
darin  betätigt.  Der  Römer  aber  läßt,  wie  hier  stofflich 
nicht  weiter  dargelegt  werden  kann,  aber  jedem  mit  diesem 
Stoffe  Vertrauten  hinreichend  bekannt  ist,  —  der  Römer 
läßt  seine  Religion,  was  ohne  Beispiel  in  der  Weltgeschichte 
ist,  als  ein  ihm  Fremdes  und  ihn  dennoch  Durchzitterndes 
von  einem  fremden  Volke,  und  zwar  gerade  von  den 
Etruskern^),  besorgen^).  Handelt  es  sich  um  Haru- 
spicin  (Opferschau),  Prodigia  Portenta,  Blitzdeutung  und 
Divination,  um  irgendeinen  Teil  religiöser  Disziplin,  so 
wird  vom  Senat  nach  Etrurien  gesendet,  etruskische 
Haruspices,  Fulguratoren  usw.  werden  herbeigeholt,  um 
den  Willen  der  Götter  zu  erforschen.  Diese  hieratische  Ab- 
hängigkeit ist  so  drückend,  daß  während  der  Belagerung 
Vejis  die  Prodigien  nicht  produziert  werden  können,  weil 


^)  Livius,  V,  Kap.  1,  nennt  sie  eine  ,,gens  ante  omnes  alias 
eo  magis  dedita  religionibus,  quod  excelleret  arte  colendi  eas" ; 
vgl.  Livius,  XXVII,  37,  und  XXXII,  1. 

2)  Siehe  das  Material  hierüber  in  reichlicher  Menge  bei 
K.  O.  Müller,  Etrusker,  Buch  3.  bes.  Kap.  1  u.  2.  und 
Kap.  5-7. 

714 


Etrurien,  den  Römern  gerade  feindlich,  keine  kundigen 
Leute  senden  will^),  und  ein  andermal  diese  Haruspices 
hingerichtet  werden  müssen,  weil  sie,  dem  römischen  Volke 
feindlich  gesinnt,  das  Gegenteil  von  dem  angeben,  was  die 
Prokuration  erheischte^).  Als  Rom  in  der  Blüte  seiner 
Macht  steht,  Etrurien  lange  unterworfen  hat,  und  die  von 
den  etruskischen  Großen  kastenmäßig  fortgepflanzte  reli- 
giöse Disziplin  in  Gefahr  des  Verfalls  gerät,  da  beschließt 
der  römische  Senat,  um  sie  hiergegen  zu  sichern,  von 
Staats  wegen,  daß  immer  zehn  Söhne  der  Edlen  in  der 
religiösen  Disziplin  unterrichtet  werden  sollen,  aber  zehn 
Söhne  etruskischer  Edlen  aus  jeder  der  zwölf  etrus- 
kischen Völkerschaften^).  Die  Kunde  des  Religiösen  soll 
erhalten  werden,  der  römische  Geist  erzittert  bei  der  Ge- 
fahr, den  Zusammenhang  mit  seiner  vorhistorischen  Grund- 
lage zu  verlieren,  die  in  ihm  ein  Aufgehobenes,  aber  noch 
in  diesem  Auf  gehobensein  Fortwirkendes  und  Bestimmendes 
ist;  sie  soll  ihm  erhalten  werden,  aber  weil  sie  ein  in 
seinem  spezifischen  Volksgeiste  Aufgehobenes  ist,  als  ein 
seinem  Geiste  Fremdes,  als  ein  Buch,  in  dem  er 
nicht  lesen  kann,  ein  Buch  der  Ursprünge,  das  nur  für 
jene  ältere  Nation  zu  entziffern  ist,  die  als  Nation  niemals 
über  dieses  Stadium  des  Geistes  hinausgekommen*). 

')  Livius.  V,  15. 

')  Aul.  Gellius.  Noct.  att.,  IV.  5.  5- 

')  Cicero.  De  divin.,  I.  41.  92,  und  Tacitus,  Annal.  XI,  15. 

■*)  Müller  sagt  a.  a.  O..  II.  2,  sehr  richtig,  es  sei  dieser 
Verkehr  zwischen  Rom  und  Etrurien  ein  solcher  gewesen,  „für 
den  man  kaum  ein  anderes  passendes  Beispiel  in  der  Geschichte 
hat."  Wenn  er  aber  selbst,  um  das  Unbegreifliche  zu  erklären, 
hinzufügt:  „und  den  man  auch  nur  durch  die  sehr  prak- 
tische Ansicht  der  Religion  bei  den  alten  Römern  erklären 
kann,  die  von  der  trefflichen  Kunde  der  Etrusker  Nutzen  ziehen 
zu  können  glaubten,  ohne  sie  selbst  zu  durchdringen,"  so  ist  es 

715 


Zugleich  muß  sich  in   diesen  Andeutungen  ein  helles 
Licht  auf  die  kulturhistorische  Bedeutung  und  die  weltge- 

besser,  ehe  man  solche  Erklärungen  gibt,  die  Unerklärlichkeit 
der  Sache  einzugestehen  und  nicht  zu  erklären.  Noch  viel  prak- 
tischer wäre  es  dann  jedenfalls  gewesen,  sich  um  Religion  und 
religiöse  Disziplin  gar  nicht  zu  bekümmern,  wozu  ja  ein 
Volk  nie  durch  einen  äußeren  Zwang,  sondern  nur  durch  einen 
inneren  Drang  getrieben  wird,  bei  dem  es  dann  aber  wieder 
unbegreiflich  erscheinen  muß,  die  Kunde  desselben  von  sich 
auszuschließen  und  grundsätzlich  Fremden  zu  überlassen. 
Ja.  was  das  ,,Pr aktische"  betrifft,  so  war  die  Sache  davon 
gerade  das  Gegenteil!  Müller  selbst  erwähnt  der  oben  fol- 
genden Beispiele  von  dem  Vejenterkrleg  und  den  mit  dem  Tode 
bestraften  Harusplces.  Ja,  Müller  sagt  dabei  selbst  (II,  7) : 
„Und  doch  konnte  sich  kaum  ein  Bienenschwarm  in  einem 
öffentlichen  Gebäude  zeigen,  ohne  daß  Harusplces  herbeigeholt 
wurden."  Wo  bei  einer  solchen  drückenden  Abhängigkeit  von 
einem  fremden,  so  oft  feindlichen  Volke  das  Praktische 
bleiben  soll,  ist  nicht  leicht  abzusehen;  zumal  für  einen  Volks- 
geist, der,  wie  der  römische,  selbst  darüber  befragt,  wahrschein- 
lich in  der  eigenen  Selbständigkeit  das  „Praktische" 
gesehen  hätte.  Nicht  einmal  zu  Kunst  und  Wissenschaft,  zu 
denen  ein  solches  rein  praktisches  Verhältnis  doch  weit  eher 
denkbar  wäre,  verhalten  sich  die  Römer  in  dieser  praktischen 
Welse;  sondern  als  sie  diese  von  den  Griechen  empfangen, 
Inokulieren  sie  dieselben,  so  viel  ihnen  nur  möghch,  dem  eige- 
nen Geiste,  produzieren  einen  Plautus,  Horaz,  Virgll,  die 
Stoiker  usw.  Nur  gerade  die  Kunde  religiöser  Disziplin,  unter 
der  sie  sich  beugen  und  die  ihre  Geschicke  bestimmt,  versuchen 
sie  nicht,  sich  zu  inokulieren  und  sie  selbst  zu  durchdringen! 
—  Die  Erklärung  Ist  nun  aber  Im  Obigen  gegeben ;  sie  besteht 
darin,  daß  jener  ,, Verkehr"  zwischen  Rom  und  Etrurien  über- 
haupt keinen  Verkehr,  sondern  ein  Verhältnis,  ein  geistiges, 
kulturhistorisches  Verhältnis  darstellt.  Auch  nachdem  sich  der 
römische  Geist  zu  seinem  spezifischen  Wesen,  zum  Geist 
des  Rechtes  entwickelt  hat  und  die  Religion  nur  die  von  Ihm 
aufbewahrte  Grundlage  seines  gegenwärtigen.  Ihm  eigentümlichen 
Wesens  geworden  ist,  besteht  nun  Im  rein  religiösen  Ge- 

71(1 


schichtliche  Stellung  jenes  in  Dunkel  gehüllten  gewaltigen 
Volkes  ergossen  haben,  welches  durch  seine  beiden  Aus- 
biete —  und  indirekt  —  die  hieratische  Oberherrlichkeit 
der  tusklschen  Substanz  noch  fort.  Die  Auflehnung  gegen  die 
direkte  Herrschaft  dieser  hieratischen  Oberherrllchkeit  — 
das  ist  die  Bedeutung  der  Perlode  der  Tarquinler,  ihres  Sturzes 
und  der  darauf  folgenden,  für  Rom  zunächst  so  unglücklichen 
Kriege.  Jene  indirekte  Herrschaft  des  tusklschen  Elementes  im 
rein  religiösen  Gebiete  aber  besteht  bis  spät  in  die  Kalserzelt 
fort  und  muß  fortbestehen.  Denn  Indem  der  römische  Geist  in 
jenem  oben  genau  entwickelten  Prozeß  von  der  Religion  zum 
Rechte  überging,  hat  er  nicht  die  Religion  selbst  zu  einer 
neuen,  seinem  gegenwärtigen  geistigen  Wesen  entsprechenden 
umgewandelt,  sondern  in  ein  anderes  Gebiet  ist  er  einge- 
treten, und  jenes  hat  er  nur  In  einer  Art  von  geistiger  Ver- 
gangenheit beibehalten,  als  das  fortwirkende  und  dennoch  auf- 
gehobene Elementarische  seiner  Entwickelung.  So,  als  ein  Auf- 
gehobenes, ist  es  ihm  ein  Dunkles  geworden,  das  hinter  ihm 
liegt  und  in  dem  er  nicht  mehr  lesen  kann,  weil  es  nicht  das 
seinem  Wesen  Entsprechende  ist.  Der  pelasgische  Etrusker 
produziert  die  systematische  religiöse  Wissenschaft, 
der  Römer  das  System  des  jus.  Als  die  Haruspices  dem 
Tiberius  Gracchus  vorwerfen,  er  habe  bei  den  Komitien,  die  zur 
Konsulwahl  gehalten  wurden,  etwas  in  den  Auspizien  —  also  in 
den  mit  dem  öffentlichen  Recht  verknüpften  religiösen 
Gebräuchen,  die  deshalb  auch  nicht  zur  tusklschen  Kompetenz 
gehören  —  versehen,  da  antwortet  er  ihnen,  so  hohes  Ansehen 
auch  die  Haruspices  im  rein  Religiösen  genießen,  mit  der 
höchsten  Verachtung,  sie  auf  jenen  Unterschied  hindrängend: 
„An  vos  Tusci  ac  barbari  auspiciorum  populi  Romani  Jus 
tenetls  et  interpretes  esse  comitionim  potestis?"  (Cicero,  De 
nat.  deor.  II,  4.)  Das  heißt:  Wo  Recht  und  Volkswille 
ins  Spiel  kommen,  da  hört  das  Religiöse  auf,  und  da  Ist  kein 
Platz  mehr  für  die  tuskische  Substanz,  der  nur  das  rein  Reli- 
giöse angehört.  —  Aus  der  vorherigen  Entwickelung  über  die 
notwendige  Dunkelheit  des  Religiösen  für  die  Römer  ergibt 
sich  auch  die  Notwendigkeit,  warum  gerade  bei  ihnen  der  reli- 
giöse Aberglaube  gipfelt.   Er  muß  dies,  gerade  weil  ihnen 

717 


läufer,  Griechen  und  Römer,  so  tief  in  die  Menschheits- 
geschichte eingreift,  des  Pelasgervolkes.  Für  Griechen 
wie  Römer  ist  es  nur  der  verschwindende  Ausgangspunkt 
ihrer  Entwickelung,  das  Material  ihres  negativen  und  um- 
formenden Arbeitens  und  Gestaltens. 

Aber  gleichwohl  bringen  sie,  die  Pelasger,  aus  ihren 
orientalischen  Ursitzen  in  der  Form  religiöser  Dumpfheit 
und  deren  blutiger  Gärung  jenen  unendlichen  Inhalt,  die 
unendliche  Willenssubjektivität,  schon  mit,  welchen  die 
Hellenen  zur  Freiheit  der  Kunst,  und  die  Römer  zur 
Freiheit  des  Rechtes  umbilden  und  entwickeln. 

Wollte  aber  jemand  jenen  von  uns  auf  so  positive  und 
so  systematische  Weise  bewiesenen  innersten  Zusammen- 
hang des  römischen  Erbrechtes  und  des  pelasgisch- 
etrurischen  Larentums,  des  römischen  heres  und  des 
tuskischen  Lar,  gerade  weil  ihm  zu  viel  Licht  und  Tages- 
helle darin  ist,  in  den  Verdacht  eines  Träumens  nehmen, 
—  nun,  so  würden  wir  einem  solchen  eine  sehr  nüchterne, 
sehr  trockene,  rein  erbrechtliche  Anekdote  erzählen, 
oder  vielmehr  auf  eine  solche  Bezug  nehmen,  die  uns  ein 
vollkommen  nüchterner,  vollkommen  geistloser  und  somit 
doch  gewiß  vollkommen  autoritätischer  Schriftsteller  er- 
zählt 1  Es  ist  Valerius  Maximus,  den  \vir  m.einen,  und  dies 
Geschichtchen  ist  gleich  das  erste,  welches  er  uns  in  seinem 

die  Religion  ein  Fremdes  und  Ungegenwärtiges  geworden  ist, 
ih  welchem  sie  sich  schlechthin  nicht  mehr  sicher  und  selbst- 
gewiß fühlen,  und  deshalb  eine  Beute  jeder  Superstition,  jeder 
schwankenden  Vermutung  werden  müssen.  Es  ist  die  Unsicher- 
heit, die  daraus  entsteht,  das  religiöse  Prinzip  nicht  mehr  in 
sich  zu  haben,  und  daher  jedem  Glauben  als  einem  möglichen 
hingegeben  zu  sein.  —  Hieraus  erklärt  sich  auch,  warum  Rom 
ein  Pantheon  aller  Götter  wird  und  den  Religionen  aller  be- 
siegten Völker  Tempel  baut.  Es  ist  dieselbe  Unlebendigkeit  des 
Religiösen  im  römischen  Geist,  die  dies  ermöglicht. 

718 


Kapitel  de  testamentis  rescissis  berichtet^).  Ein  Krieger 
kehrt  aus  dem  Felde  zurück.  Aber  durch  das  falsche  Ge- 
rücht seines  Todes  getäuscht,  hat  sein  inzwischen  gestor- 
bener Vater  ihn  enterbt  (wahrscheinlich  inter  ceteros,  vgl. 
S.  465  fg.),  und  andere  Erben  findet  er  im  Besitz  des  ihm 
verschlossenen  väterlichen  Hauses.  Verzweifelnd  steht  er 
da!  Die  Blüte  der  Jugend  hatte  er  für  die  Republik  hin- 
gegeben, die  höchsten  Gefahren  und  Mühseligkeiten  ge- 
tragen!  Da  wendet  er  sich  an  das  Volk,  er  zeigt  die 
Narben  auf  seiner  Brust  und  ruft  aus  —  es  sind  die  ein- 
zigen Worte  in  der  Stelle,  die  Valerius,  der  Tradition 
folgend,  ihm  selbst  in  den  Mund  legt  — :  „ne  avitos  ejus 
ares  odiosa^)  ipsi  urbi  onera  possiderent",  ,,sie  möchten 
sich  in  acht  nehmen,  daß  sie  nicht  seine  väterlichen  Laren 
als  der  Stadt  selbst  feindselige  Bürden  besäßen."  Und  so 
dringt  er  durch  mit  seinem  Anspruch  bei  den  Centumviri. 
Jene  von  uns  entv/ickelte  innere  Identität  des  Laren - 
t u m s  und  des  Erbrechtes  —  wir  sehen  sie  hier  in  dieser 
naiven  Erzählung  aus  alter  Zeit  als  das  Positive  des 
erbrechtlichen  Stoffes  hervortreten.  Den  Lar  ruft 
der  Jüngling  auf,  als  er  um  sein  Erbrecht  streitet,  und  so 
kommt  dieser  hier  in  der  einfach  nackten  Erzählung  als 
der  ideelle  Träger  und  die  innere  Substanz  dieses  Rech- 
tes zum  Vorschein,  und  jene  von  uns  entwickelte  Lehre  über 
den  geistigen  Zusammenhang  von  Larenkultus  und  Erbrecht 
erweist  sich  hier  als  die  eigene  Lehre  des  erbrechtlichen 
Stoffes.  Den  Lar,  den  bleibenden  Willensherrn,  ruft  er 
auf,  und  zwar  ruft  er  ihn  auf  als  ein,  wenn  ihm  der  Bund 
der  Versöhnung  gebrochen  wird,  dem  Volke  selbst  und  dem 
ganzen  Gemeinwesen  feindseliges,  drohendes  Wesen.  Denn 

1)  Memorab..   lib.   VII,   c.   7.   no.    1,    II.   87,   ed.    Blp. 
-)  Denn   so  muß   offenbar  statt  des  ganz   sinnlosen   otiosa 
gelesen  werden. 

719 


durch  jene  Versöhnung  hat  er  in  ihm,  dem  suus,  diesem  von 
ihm  selbstgesetzten  Willensperpetuierer,  seinen  wahrhaften 
unmittelbaren  Erben,  seine  daseiende  Willensfortexistenz, 
die  er  nur  durch  jenen,  durch  seine  eigene  Voraussetzung 
machtlosen  Irrtum  in  den  Worten  verfehlte^).  Wird  ihm 
dieser  wahrhafte  Willensperpetuierer  nicht  gegeben  und 
anerkannt,  so  ist  ihm  der  Bund  der  Versöhnung  gebrochen, 
seine  Willensfortexistenz  ist  negiert,  statt  realisiert  zu 
sein,  und  der  Lar  tritt  wieder  in  sein  altes  negatives  und 
furchtbares  Verhältnis  im  Volksgeist.  Nicht  etwa  bloß 
die  usurpierenden  Erben,  sondern  die  urbs  selbst,  dieses 
ganze  spezifische  Gemeinwesen,  das  auf  dieser  Versöhnung 
beruht,  hat  mit  Recht  zu  zittern  bei  diesem  Bruch,  bei  die- 
sem Wiederaufreißen  des  gähnenden  pelasgischen  Abgrun- 
des, für  dessen  Schließung  die  Anerkennung  der  Fortexi- 
stenz des  Lar  im  Erben  die  unerläßliche  Bedingung  war ! 
Aber  wir  sagten  oben,  nicht  nur  vollbringt  der  Römer 
diese  Ve rsöhnung  seiner  nationalen  Ursubstanz  i  m 
Recht  —  oder  richtiger  vielmehr:  er  produziert  durch 
ihre  Versöhnung  das  Recht  — ,  sondern  er  bringt 
diese  seine  nationale  Ursubstanz  im  Recht  auch  noch 
zum  Aus-  und  Abdruck  und  zur  gebildeten  Ent- 
Wickelung.  In  der  Tat !  Noch  auf  dem  Boden  dieser 
Versöhnung  erhebt  sich  von  neuem  und  muß  sich  er- 
heben, jetzt  in  gebildeter  Weise,  das  alte  negative  Ver- 
hältnis des  Lar  und  des  Nachfolgers  dieses  bleibenden  Wil- 
lensherrn als  das  negative  Verhältnis  des  Erblas- 


^)  Wir  haben  daher  oben  bei  der  rein  erbrechtlichen  Er- 
örterung gezeigt  (S.  462 — 466,  vgl.  Note  3  das.),  daß  und 
warum  ohne  jede  Bezugnahme  auf  Billigkeit,  Gefühlsrücksicht 
usw.,  der  Jüngling  nach  der  reinen  Strenge  des  zivilistischen 
Erbrechtsbegriffes  siegen  muß,  und  dies  durch  die  römischen 
Juristen  bestätigt  gesehen. 

720 


sers  und  Erben  zueinander.  Mit  anderen  Worten: 
der  Erblasser  negiert  den  Erben,  wie  wir  sahen  (Nr. 
VI  und  VII),  indem  er  diesem  das  eigene  Interesse  und 
somit  die  eigene  Willenspersönlichkeit  abzüchtigt,  und 
darin  gerade  die  absolute  Gewißheit  seiner  Fortexistenz 
in  ihm,  seinen  höchsten  Triumph  und  metaphysischen  Wil- 
lenskitzel, die  alleinige  reine  und  adäquate  Reali- 
sation seines  Begriffes  hat. 

Dieses  negative  Verhältnis  muß  sich  erheben,  wie  sich 
jetzt  auch  als  reale  historische  Notwendigkeit  zeigt. 
Denn  es  ist  ja  nur  dieselbe  Substanz,  die  sich  jetzt 
auf  dem  höheren  Boden  dieser  Versöhnung,  auf  dem  Boden 
des  Rechtes,  aufrollt  und  abspielt.  Nur  daß  natürlich 
jener  negative  Konflikt,  der  in  der  Dumpfheit  religiösen 
Insichseins  den  ganzen  Menschen  verzehrte,  auf  dem  durch 
diese  Versöhnung  hervorgebrachten  gebildeten  Boden  der 
Willensgeltung  oder  des  Rechtes  sich  auf  die  Ne- 
gation des  erbenden  Eigenwillens  und  des  von  ihm  be- 
herrschten Vermögens  beschränken  muß. 

Alles,  was  wir  früher  überall  über  die  tief -notwendige 
Bedeutung  des  enterbten  Erben  als  des  echten  und  wahr- 
haften zivilistischen  Erbbegriffes  gesagt  haben,  was  wir 
sub  Nr.  VII  über  den  Kampf  zwischen  Erblasser  und 
Erben  in  der  lex  Furia,  Voconia,  Falcidia  und  über  den 
durch  die  lex  Falcidia  schon  gegebenen  Verderb  des  zivi- 
listischen Erbbegriffes  gesagt  haben,  was  wir  sub  Nr.  VII 
und  IX  über  die  Sitte  der  Fiduziarerbschaft  und  über  die 
Treue  gegen  die  Substanz  des  Volksgeistes,  welche  den 
verläßlichen  Boden  dieser  Sitte  bildet,  was  wir  sub  Nr. 
VIII  über  das  formelle  Gesetztsein  dieser  Enterbimg  im 
Manzipationstestament,  sub  Nr.  X  und  XV  über  das  testa- 
mentum  calatis  comitiis,  über  den  das  Testament  durch- 
dringenden Charakter  des  öffentlichen  Rechtes,  über  die 

24   UssaU«,    G«.  Schriften.   Band  XII.  721 


gesetzgeberische  Befugnis  des  Testators,  über  die  höhere 
Kraft  des  Toten  als  des  Lebenden,  über  das  jus  sepulcro- 
rum  und  das  legatum  poenae  nomine  gesagt  haben,  was  wir 
sub  Nr.  XIV  über  den  Gegensatz  von  Legatar  und  Erben, 
und  sub  Nr.  XV — XIX  über  die  Bedeutung  der  Form 
der  Legate  gesagt  haben,  in  welcher  der  Erblasser  sich  als 
den  Fortgeltenden  gegen  den  Erben  zum  Vorschein  bringen 
will  usf.  usf.,  empfängt  jetzt  noch  eine  ganz  andere  Be- 
deutsamkeit. Wenn  wir  sub  Nr.  I  noch  assertorisch  vor- 
ausschickten, daß  der  dort  entwickelte  Begriff  der  histori- 
sche Begriff  des  römischen  Volksgeistes  sei,  und  dies  dann 
an  dem  Stoffe  nachgewiesen,  so  haben  wir  jetzt  erst  die 
reale  historische  Notwendigkeit  nachgewiesen,  warum 
dies  der  historische  Geistesbegriff  des  römischen  Volkes 
sei  und  sein  muß.  Es  ist  keine  Seite  dieses  Bandes,  welche 
nicht,  von  hier  aus  gelesen,  noch  eine  ganz  andere  Per- 
spektive, eine  noch  weit  tiefere  inhaltliche  Bedeutung  emp- 
fängt. Jetzt  auch  haben  wir  erst  die  reale  Notwendigkeit 
jenes  Überschreies  nach  Fortsetzung  erkannt,  den  der  Tote 
in  der  usucapio  pro  berede  an  jeden  Vorübergehenden  rich- 
tet, und  den  dunkeln  Urgrund,  aus  welchem  dieser  Schrei 
herauftönt,  ein  Überschrei,  welcher  mit  unvermeidlicher 
dialektischer  Notwendigkeit  der  Keim  und  Zwang  der  Ab- 
reibung seines  zivilistischen  Geistes,  und  sein  eigenes  Ver- 
derben ist.  Alles  Entwickelte  zeigt  erst  von  hier  aus  seine 
typische,  ursprüngliche  Notwendigkeit  in  der  religiös-gei- 
stigen Substanz  auf,  welche  dieses  Volk  überkommen  hat, 
mit  der  es  auftritt  und  zu  wirtschaften  hat,  und  deren  Ent- 
wickelung  zur  Freiheit  des  Rechtes  sein  eigenes  spezifisches 
Sein  und  seine  historische  Mission  ist. 

Als  der  Gegensatz  auch  in  dieser  gebildeten  geistigen 
Form  überwunden  ist,  als  der  Erbe  den  Erblasser  bewäl- 
tigt und  in  der  Erbschaft  sub  beneficio  inventarii  offen  das 

722 


Vermögen  als  sein  Prinzip  proklamieren  kann,  —  als  so 
der  Lar  zum  zweitenmal  gestorben  ist,  da  ist  der  Gegensatz 
nicht  in  dem  römischen  Volksgeiste  überwunden  —  dies 
wird  er  nie  — ,  sondern  dieser  Volksgeist  selbst  ist 
mit  diesem  Gegensatz  erloschen,  um  einem  anderen  Volke 
Platz  zu  machen,  welches  nun  von  Haus  aus  mit  jenem 
Prinzipe  auftritt,  auf  welches  sich  hinzubewegen  die 
Geschichte  des  römischen  Geistes  war,  und  welches  er 
niemals  erreichen  konnte. 

Noch  aber  kann  die  Frage  entstehen,  hat  der  römische 
Geist  niemals  irgendein  zusammenfassendes  Bewußtsein 
über  sein  hier  nachgewiesenes  Verhältnis  zu  seiner  natio- 
nalen vorgeschichtlichen  Ursubstanz,  über  seinen  hier  ent- 
wickelten geistigen  Entstehungsprozeß  und  dessen 
Bedeutung  gehabt,  und  in  deutlicher  Weise  ausgesprochen  ? 

So  wenig  wir  auch  beabsichtigen,  das,  wie  wir  glauben, 
mit  fester  Hand  Gewonnene  dadurch  zu  gefährden,  daß 
wir  uns  weiter  auf  das  schwankende  Gebiet  der  Mythendeu- 
tung begeben,  so  ist  doch  der  Zwang  zu  groß,  um  nicht 
das,  was  unsere  Entwickelung  war,  auch  noch  als  das  in 
unverkennbaren  Zügen  ausgedrückte  eigene  Selbstbe- 
kenntnis des  römischen  Geistes  nachzuweisen.  Wenn  das 
Gebiet  auch  ein  schwankender  Boden  ist,  so  kann  der  das 
systematische  Prinzip  seines  Gehens  in  sich  selbst  tragende 
Schritt  dennoch  ein  fester  sein. 

Es  gibt  einen  dunkeln  und  wunderlichen  Mythus  in 
Rom,  welcher  seit  je  das  Kreuz  der  Mythologen  gewesen. 

Es  ist  die  Acca  Larentia,  von  der  wir  sprechen  und  die 
wir  bereits  einmal  im  Laufe  dieser  Untersuchungen  flüchtig 
haben  berühren  müssen. 

Ihr  Mythus,  wie  er  aus  dem  Geschichtschreiber  Macer 
bei  Macrobius,  aus  Sabinus  Massurius  bei  Gellius,  aus 
Verrius  bei   Lactantius  und  anderen  erzählt  wird,  ist  in 

24-  723 


Kürze  folgender  0-  So  ist  die  Amme  des  Romulus,  neben- 
bei auch  Mutter  von  zwölf  Söhnen,  von  denen  sie  einen 
durch  Tod  verliert,  und  an  seine  Stelle  Romulus  annimmt. 
Auch  nach  diesen  Berichterstattern,  nach  denen  sie  des 
Romulus  Amme  ist,  ist  sie  eine  Hure-),  und  für  den  reichen 
aus  diesem  Stande  erzielten  Gewmn  setzt  sie,  nach  den 
einen  den  Romulus,  nach  den  anderen  das  römische  Volk 
selbst  zum  Erben  ein.  —  Ausgeführter  wird  ihr  Mythus 
bei  anderen  vorgetragen.  Diese  lassen  sie  unter  der  Herr- 
schaft des  Königs  Ancus  leben  und  erzählen,  der  Tempel - 
hüler  habe  einst  mit  dem  Gott  Hercules  Würfel  gespielt. 
Dem  Sieger  sollte  der  andere  eine  Mahlzeit  und  ein  Freu- 
denmädchen liefern.  Hercules  habe  gewonnen,  und  so  habe 
ihm  der  Tempelhüter  darauf  die  berühmteste  Hure  jener 
Zeit,  die  Acca  Larentia^),  nebst  der  Mahlzeit  in  sein 
Heiligtum  eingeschlossen.  Am  anderen  Tage  aber  ver- 
breitet sie  das  Gerücht,  sie  habe  nach  dem  Beischlaf  keine 
andere  Belohnung  von  dem  Gotte  empfangen  als  die  Pflicht 
oder  den  Auftrag  (munus)"^),  daß  sie  nicht  den  Vorteil 


1)  Llvius,  I.  4.  Macrobius,  Saturn.,  I,  c.  10,  p-  241  sqq. 
A.  Gellius.  N.  A..  VI.  7.  Lactantius,  Inst..  I,  c.  20;  p.  66. 
ed.  Bip.  Plutarch,  Romul.,  p.  19,  F..  und  Quaest.  Rom.. 
XXXV,  p.  116,  ed.  Wyttenb.  Augustin,  De  civ.  dei.  VI.  7. 
Festus,  v°  Larentaha.  p.   119,  M. 

^)  „Sed  Acca  Larentia  corpus  in  vulgum  dabat,  pecuniam- 
que  emeruerat  ex  eo  quaestu  uberem;  ea  testamento  ut  in 
Antiatis  historia  scriptum  est.  Romulum  regem,  ut  quidem  alii 
tradiderunt.  populum  Romanum  bonis  suis  haeredem  fecit" ; 
Gellius,  a.  a.  O. 

^) illum  Accam  Larentiam  nobiHssimum  per  id   tem- 

pus   scorlum  intra  aedem  inclusisse'" ;   Macrobius,   a.    a.    O. 

*)  post  concubitum  Dei  accepisset  munus,  ne  commo- 

dum  primae  occasionis.  cum  sc  domum  reciperet,  offerendae 
aspernaretur." 

724 


der  ersten  Gelegenheit,  die  sich  hei  ihrer  Nachhausekunft 
darböte,  verachten  möge.  In  der  Tat  wird  sie,  aus  dem 
Tempel  heraustretend,  von  dem  Tusker  Carutius  hegehrt; 
dem  Götterauftrag  gehorchend,  gibt  sie  sich  ihm  hin,  wird 
von  ihm,  einem  sehr  reichen  Manne,  dann  geheiratet,  ge- 
langt nach  seinem  Tode  in  den  Besitz  aller  seiner  Güter, 
und  als  sie  stirbt,  verkündet  sie  als  Erben  das  römische 
Volk^).  Nach  Macer  lebt  sie  zur  Zeit  des  Romulus  und 
ist  dessen  Amme,  heiratet  aber  gleichfalls  den  reichen 
Tusker  Carutius,  und  setzt  bei  ihrem  Tode  den  Romulus 
zum  Erben  der  von  jenem  erlangten  Güter  ein^).  Nach 
allen  Berichterstattern  gleichmäßig  wird  ihr  wegen  des 
Verdienstes,  das  sie  sich  dadurch  erwirbt,  daß  sie  Romu- 
lus oder  das  römische  Volk  zum  Erben  einsetzt,  ein  Tag 
in  den  Fasten  Roms  gewidmet  und  der  Flamen  des  Quiri- 
nus  vollbringt  ihr  das  Opfer  ^). 

Man  muß  gestehen,  es  ist  eine  wunderliche  Kalender- 
heiHge,  diese  Acca  Larentia,  und  es  ist  begreiflich,  wenn 
die  Mythologen  nichts  mit  ihr  anzufangen  gevvoißt  haben. 
Creuzer  sieht  kurz  und  gut  nichts  anderes  in  ihr,  als  einen 


^) cum  decederet,  populum  Romanum  nuncupavit  here- 

dem" ;  Macrobius,  a.  a.  O. 

'■')  Macrobius.  a.  a.  O. 

^)  Geüius,  a.  a.  O.  Es  sind  göttliche  Ehren,  honores 
divinos,  nach  Augustin  und  Lactantius,  a.  a.  O.  So  sagt  auch 
Minucius  Felix  (Octav.,  c.  25,  p.  157,  ed.  Lind.):  ,,San© 
et  Acca  Larentia  et  Flora,  meretrices  propudiosae  inter  morbos 
Romanorum  et  deos  compufandac."  —  Der  Zusammenhang  mit 
den  Manen  tritt  bei  ihrer  Feier  sofort  in  den  Worten  der 
Schriftsteller  bedeutungsvoll  hervor ;  Macrobius,  a.  a.  O. :  ,,Quo 
Diis    Manibus     ejus   per   flaminem   sacrificaretur",    und    Varro, 

De  L.  L.,  VI,  §§  23,  24: ut  ajunt  quidam  ad  sepulcrum 

Accae,    ut    quod    ibi    prope    faciunt     Dih    Manibus    Servilibus 


sacer 


dotes.' 


725 


,,aus  einer  italischen  Herbstfeier  entstandenen  Mythus,  des- 
sen Elemente  sind:  Hercules,  die  Sonnenkraft,  Acca  La- 
rentia,  die  von  den  Herbstregen  getränkte  Erde,  welche 
aus  ihrem  Schöße  neue  Saaten  hervorbringt,  wenn  gewisse 
Tage  des  Kalenders  wieder  gewonnen  sind"  ^),  eine  Deu- 
tung, die  schon  vor  lauter  Willkür  gar  keine  Widerlegung 
verdient, 

K.  O.  Müller  wirft  bereits  einen  besseren  Blick  ^). 
Schon  aus  dem  Namen  der  Larentia  folgert  er  ihren 
sich  darin  offen  genug  aussprechenden  Zusammenhang  mit 
der  Larenreligion,  und  belegt  dies  auch  durch  den 
Zusammenhang  der  römischen  Feste,  indem  er  nachweist, 
,,daß  am  elften  vor  den  Kaienden  des  Januar  ein  Fest  der 
Laren  und  am  zehnten  die  Larentinalien  gefeiert  wurden, 
an  welchen  dem  Jupiter  als  dem  Seelengeber  geopfert  und 
der  Acca  Larentia  parentiert  woirde". 

Er  ist  deshalb  sogar  geneigt  anzunehmen,  daß  sie  von 
der  Larenmutter  Mania  kaum  verschieden,  und  aus  der 
tuskischen  Religion  in  die  römische  Mythologie  hinein- 
getragen worden  sei,  was  nur  noch  eine  gewisse  Annäherung 
an  das  Richtige  hat,  aber  bereits  nicht  mehr  richtig  ist. 
Wenn  er  aber  sagt^),  daß  sie  auf  sonderbare  Weise  aller 
göttlichen  Würde  entkleidet  und  schmählich  erniedrigt  wor- 
den ist,  wenn  er  die  Sage  eine  ,, merkwürdig  verworrene 
Sage"  nennt,  wenn  er  sagt*):  ,,eine  Buhlerin,  lupa,  heißt 


1)  Symbolik  und  Mythologie.  3.  Ausg..  I.  102. 

2)  Elrusker,  II,  103-105. 

^)  A.  a.  O.,  S.  103:  ,.Von  der  Larenmutter  Mania  ist  wohl 
kaum  die  Acca  Larentia  verschieden,  die  aus  der  tuskischen 
Religion  in  die  römische  Mythologie  hineingetragen,  aber  auf 
sonderbare  Weise  aller  göttlichen  Würde  entkleidet  und  schmäh- 
lich erniedrigt  worden  ist." 

*)  A.  a.  O..  S.  104. 

726  • 


die  Larentia  wohl  nur  durch  Mißverstand  der  Wölfin, 
die  hier  nach  den  Wölfen  des  Dispater  auf  dem  Berge 
Soracte  zu  deuten  sein  möchte,  aber  zeitig  mit  der  Wölfin 
des  Mars,  welche  den  Romulus  säugte,  vermischt  worden 
ist"^),  —  so  spricht  sich  hierin  nur  das  substantiellste 
Mißverständnis  des  Mythos  und  die  daraus  fließende  un- 
berechtigte Willkür  aus,  das,  was  gerade  die  charakte- 
ristischsten und  eigentümlichsten,  ihre  Echtheit  gerade  hier- 
durch bekundenden  Züge  des  Mythos  sind,  statt  sie  rein 
aufzufassen,  für  eine  schmähliche  Erniedrigung  und  son- 
derbare Entkleidung  göttlicher  Würde  auszugeben. 

Es  ist  vielmehr  gerade  das  die  frappante  und  rein  auf- 

^)  Gerade  das  Umgekehrte  dieser  letzteren  Vermutung 
ist  die  Wahrheit.  Eine  Wölfin  ist  nur  deshalb,  dem  gewöhn- 
lichen Mythus  zufolge,  dem  Romulus  zur  Säugerin  gegeben, 
weil  die  Acca  Larentia  seine  Amme,  und  diese  eine  Hure  war, 
und  weil  lupa  den  Römern  ebenso  wohl  Hure  wie  Wölfin  be- 
deutet. Darum  gibt  man  ihm  dann  statt  der  tropischen  auch 
eine  wirkliche  lupa  zur  Säugerin.  Unsere  gesamte  Deutung 
des  Mythos  wird  dies  von  selbst  beweisen.  Aber  auch  unab- 
hängig von  dieser  und  durch  die  bloße  Stelle  des  Livius  wird, 
sowohl  durch  seine  reale  Darstellung  als  durch  seine  eigene 
Erklärung,  dieser  Punkt  fest  bewiesen.  Livius  erzählt  (I,  4), 
wie  nach  der  Sage  eine  Wölfin  den  ausgesetzten  Romulus  und 
Remus  gesäugt  habe,  und  wie  die  Kinder  darauf  von  dem 
Hirten  Faustulus  gefunden  und  an  sich  genommen  worden  seien, 
der  ja  von  den  Autoren  so  häufig  als  der  Gatte  der  Larentia, 
der  Amme  des  Romulus,  genannt  wird  (s.  die  obigen  Stellen). 
Demgemäß  fährt  auch  Livius  selbst  fort:  „Ab  eo  (Faustulo) 
ad  stabula  Larentiae  iixori  educandos  Mos.  Sunt,  qui  Laren- 
tiam,  vulgato  corpore,  lupam  inter  pastores  vocatam  putent; 
inde  locum  fabulae  ac  miraculo  datum."  Das  also  wußte  man 
schon  in  Rom  selbst,  daß  den  Romulus  eine  Wölfin  nur 
deshalb  gesäugt  hat,  weil  seine  Amme,  die  Larentia,  eine 
Hure,  lupa,  war.  Und  es  bleibt  zunächst  nur  übrig,  zu  wissen, 
warum  die  Amme  des  Romulus  eine  Hure  gewesen  sei. 

727 


zufassende  Eigentümlichkeit  des  Mythos,  daß  er  von  An- 
fang bis  Ende  einen  gewissen  nüchternen  und  auf  der 
Erde  stehenden  Charakter  hat,  und  diesen  in  einer  so 
großen  Zahl  realster,  wie  aus  der  Wirklichkeit  gegrif- 
fener Züge  durchführt.  Die  Acca  Larentia  ist  keine  Göt- 
tin, und  wird  auch  niemals  zu  einer  solchen.  Sie  ist 
purer  Mensch  und  aus  der  allergewöhnlichsten  Klasse. 
Sie  ist  des  Romulus  Amme,  sie  ist  ein  Hirtenweib,  sie  ist 
auch  eine  Hure,  und  zwar,  wie  es  bei  Macrobius  heißt, 
die  berüchtigtste  ihrer  Zeit.  Trotzdem  sie  schon  einen 
Mann,  den  Faustulus,  hat,  heiratet  sie  auch  einen  anderen, 
und  zwar,  wie  die  Berichterstatter  mit  einem  merkwürdigen 
Realismus  der  Züge  angeben,  nicht  irgendeinen  anderen, 
imd  auch  nach  den  Versionen,  die  sie  erst  zu  Ancus'  Zeit 
leben  lassen,  nicht  einen  Römer,  sondern  gerade  einen 
Tusker.  Nach  dessen  Tod  erlangt  sie  seine  Güter  und 
setzt  das  römische  Volk  zu  Erben  derselben  ein,  was 
wiederum  sehr  materielle  und  an  der  Erde  klebende  Züge 
smd-^).  Schon  dies  zeigt,  daß  wir  es  hier  mit  einem  jener 
historisierenden  Mythen  zu  tun  haben,  wie  sie  in 
Rom  gerade  besonders  häufig  sind.  Auch  bei  ihrem  Tode 
geht  mit  ihr  selbst  keine  Verwandlung  zu  einer  Göttin 
vor.  Aber  obwohl  sie  im  Tode  wie  im  Leben  Mensch 
bleibt  —  und  obgleich  dies  wohl  noch  nie  ein  Volk  aus 
solcher  Ursache  für  jemanden,  und  zumal  für  eine  öffent- 
liche Dirne  getan  hat  — ,  wird  ihr  ein  Kultus  gewidmet, 
und  selbst  göttliche  Ehren  erwiesen.  Ja,  die  Ver- 
ehrung dieser  öffentlichen  Dirne  tritt  so  stark  als  die 
spezifischste  römische  Religion  hervor,  daß  Lac- 
tantius,  nachdem  er  die  heidnischen  Religionen  im  allge- 

^)  Cato  bei  Macrobius  will  sogar  noch  die  Äcker  bezeich- 
nen, die  auf  diese  Weise  in  den  Besitz  des  römischen  Volkes 
gekommen  sind. 

728 


meinen  besprochen  hat  und  nun  auf  die  spezifische 
römische  Religion  übergehen  zu  wollen  erklärt,  sofort 
mit  der  Verehrung  dieser  Larentia  den  Anfang  macht ^). 

Wie  um  die  Verwirrung  voll  zu  machen,  blitzt  in  dies 
Gewebe  realistischer  Züge  einmal  eine  Beziehung  auf  einen 
Gott  hinein.  Und  hier  ist  wieder  sehr  eigentümlich,  daß 
es  gerade  ein  nicht-italischer,  fremder  Gott  ist, 
daß  es  Hercules  ist,  zu  dem  Larentia  in  Beziehung  tritt. 
Noch  eigentümlicher  aber  ist  die  Art  dieser  Beziehung. 
Denn  nachdem  er  sich  mit  ihr  vermischt  —  was  an  und  für 
sich  in  jenen  Mythologien  nichts  Eigentümliches  wäre  — , 
gibt  er  ihr  statt  jeder  anderen  Belohnung  die  Pflicht  auf, 
sich  auch  noch  mit  dem  ersten  besten  anderen  zu  vermischen, 
mit  dem  sich  ihr  die  nächste  Gelegenheit  dazu  bieten  werde. 
Dieser  andere  ist  aber  niemand  anders,  wie  durch  den 
Effekt  sich  zeigt,  als  eben  jener  Tusker,  der  sie  heiratet 
und  reich  macht,  und  so  ist  denn  in  letzter  Instanz  die  Ver- 
mischung mit  dem  Gott  und  sein  Auftrag  die  wirkende  Ur- 
sache der  Vermischung  mit  dem  Tusker  und  des  hieraus 
auf  das  römische  Volk  herabströmenden  reichen  Erbsegens. 

Wenn  schon  durch  diese  bloße  Betrachtung  der  geglie- 
derten Züge  im  Zusammenhange  mit  unseren  früheren  Er- 
örterungen das  Dunkel  des  Mythus  sich  dämmernd  zu  lich- 
ten beginnt,  so  ist  es,  um  zur  Helle  hindurchzubrechen, 
nur  noch  nötig,  zuvor  Aufschluß  über  das  Verhältnis  zu 
bekommen,  in  welchem  Hercules  ursprünglich  zu  den  ita- 
lischen Völkerschaften  erscheint. 

Dies  ist  aber  gar  kein  anderes,  als  daß  er,  nach  einer 

^)  Inst,  div.,  I,  20:  „Venio  nunc  ad  proprias  Romanoruin 
religionesy  quoniam  de  communlbus  dixi.  Romuli  nutrix  Lupa 
honoribus  est  affecta  divinis.  Et  ferrem,  si  animal  ipsum  fuisset 
cujus  figuram  gerit.  Auetor  est  Livius,  Larentinae  esse  simu- 
lacrum  et  quidem  non  corporis,  sed  nientis  et  morum  etc." 

729 


in  geschlossenster  Übereinstimmung  bei  den  Alten  ^)  auf- 
tretenden Sage,  auf  seinem  Zuge  durch  Italien  als  sittigende 
Potenz  bei  ihnen  auftritt,  indem  er  den  bei  ihnen  bestehen- 
den, dem  Manen-  und  Unterweltsgott  Dis  geweihten  Men- 
schenopferkultus abschafft.  Er  tut  dies  dadurch, 
daß  er  die  (pcora,  die  sie  nach  dem  Orakelspruche  dem 
Gotte  opfern  sollen,  nach  der  doppelten  Bedeutung  dieses 
Wortes  als  Lichter  statt  als  Männer  auslegt,  und  sie 
Kerzen  opfern  heißt.  Merkwürdig  tritt  hier  sofort  die 
Ähnlichkeit  dieser  Rolle  heraus  mit  dem  ganz  Überein- 
stimmenden, was  uns  oben  (s.  S.  706 fg.)  Macrobius  von 
dem  Gründer  der  Republik,  Junius  Brutus,  berichtet  hat, 
welcher  den  von  dem  etruskischen  Tarquinius  auf  Grund 
eines  Orakels  wiederhergestellten,  den  Laren  gewidmeten 
Menschenopferkultus  durch  Umdeutung  der  Köpfe  in 
Mohn-  und  Knoblauchköpfe  abschafft.  Aber  —  und  es 
ist  wahrhaft  unbegreiflich,  wie  nicht  einmal  die  äußerliche 
Zusamm.enstellung  auf  das  richtige  Verständnis  derselben 
geführt  hat  —  beide  Stellen  des  Macrobius  sind  überhaupt 
ein  und  dieselbe,  Macrobius  macht  selbst  auf  diese  innere 
Ähnlichkeit  aufmerksam,  und  reiht  beide  Erzählungen  des- 
halb aneinander. 

Und  nun  ist  nur  erforderlich,  jenen  übereinstimmenden 
Bericht  bei  Macrobius  u.  a.  in  seinem  Gesamtzusammen- 
hange ausführlicher  zu  referieren,  um  eins  der  großartigsten 
Facta  der  Religions-,  Völker-  und  Kulturhistorie,  und  mit 
diesem  durch  bloße  Zusammenfassung  der  einzelnen  Züge 
das  Verständnis  des  Mythos  von  der  Acca  Larentia  zu 
gewinnen. 


^)  Varro  ap.  Macrob.,  Saturn.,  I.  c  7,  p.  232,  ed.  Bip. ; 
Dionys.  Halic,  Üb.  I.  c  24.  p.  30,  ed.  Sylb. ;  vgl.  das. 
c.   13—16.  p.  15-19.  ed.  Sylb.;  Stephan.  Byz..  v«    'Aßooiy. 

730 


Aus  ihren  Sitzen  ausgetriebene  Pelasger  —  erzählt 
Macrobius  aus  Varro  •*•)  —  kommen,  nachdem  sie  ver- 
schiedene Länder  berührt,  nach  Dodona,  jenem  bekannten 
Sitze  des  alten  pelasgischen  Orakels,  und  ungewiß,  wo  sie 
sich  niederlassen  sollen,  erhalten  sie  auf  ihre  Frage  vom 
Orakel  eine  Antwort,  welche  ihnen  aufgibt,  nach  Italien 
zu  gehen,  sich  dort  mit  den  Sikelern  und  Aborigenern,  den 
bekannten  Ureinwohnern  dieses  Landes,  zu  vermischen  und 
dann  dem  Phöbus  den  Zehnten  zu  entrichten,  die  Köpfe 
dem  Hades  und  die  cp&Ta  dem  Saturn.  Sie  gehorchen  dem 
Orakel,  erobern  die  Gegend  und  geben  dem  Apollo  den 
Zehnten ")  der  Beute,  errichten  dem  Dis  eine  Kapelle  und 
dem  Saturn  einen  Altar  ^),  und  nachdem  sie  lange  Zeit 

^)  „Quod  Pelasgi,  sicut  Varro  memorat,  cum  sedibus  suis 
pulsi,  diversas  terras  petiissent,  confluxerunt  plerique  Dodo- 
nam,  et  incerti  quibus  haererent  locis,  ejusmodi  accepere  res- 
ponsum : 

ZreixEre  jiiatö/uevoi  ZixeXwv  ZarovQviav  alav 
'Hö*  'AßoQiyEvecov  Korvyrjv  ov  räoog  öxeTxai 
Oig  ärajur/^evreg  öexdrrjv  eHTisjuipare  0oißcp 
Kai  xeq^aXäg  "Adr]  y.al  toJ  nargl  7ief.meze  cp&xa." 
Cf   Dionys.  Halic,  I.  c.'24.  p.   16.  ed.  Sylb. 

-)  Man  erinnere  sich  bei  dem  Zehnten,  was  Dionysius,  a. 
a.  0>,  S.  19,  erzählt,  wie  die  Pelasger  deshalb  von  den  Göttern 
mit  Unglück  heimgesucht,  weil,  nachdem  sie  ihnen  den  Zehnten 
von  allem  Ertrage  gelobt,  sie  ihnen  zwar  den  Zehnten  an  Früch- 
ten und  Vieh,  nicht  aber  den  der  Menschengeburt  geopfert 
(vgl.  den  latinischen  ver  sacrum),  worauf  sich  die  Pelasger 
hierzu  entschließen,  nicht  aber,  ohne  daß  es  zum  Aufstand  — 
der  von  den  Vornehmsten  und  den  Vorstehern  der  Städte  aus- 
geht —  und  zur  Spaltung  kommt,  weil  sie  sich  über  die  Ver- 
teilung des  Zehnten  nicht  verständigen  können,  woraus  nun  die 
weiteren  Irrfahrten  des  fortziehenden  Teiles  der  Pelasger  ent- 
stehen. 

^)  ,,.  .  .  vastatisque  Siciliensibus  incolis  occupavere  regio- 
nem,  decima  praedae,  secundum  responsum,  Apollini  consecrant, 

731 


hindurch  dem  Dis  mit  Menschenköpfen  und  dem  Saturn 
durch  das  Schlachten  von  Männern  geopfert,  kommt  Her- 
cules auf  seinem  Zuge  mit  den  Rindern  des  Geryon  in  diese 
Gegend  und  rät  den  Nachkommen  jener  Pelasger,  daß 
sie  jene  unseligen  Opfer  mit  glückbedeutenderen  vertauschen 
und  künstlich  gebildete  Menschengesichtchen  (oscilla)  statt 
der  Köpfe  dem  Dis  darbringen  und  die  Altäre  des  Saturn 
nicht  durch  Menschenschlachten,  sondern  durch  Anzündung 
von  Lichtern  feiern  sollen,  den  Sinn  des  Orakels  so  besser 
erfüllend^). 

Pelasger  also  sind  es,  welche  zuerst  jenen  Menschen- 
opferkultus des  Unterweltgottes  Dis  zu  den  Ureinwohnern 
Italiens  bringen,  den  Avir  oben  als  den  Larenkultus  der 
Etnisker  oder  t}Trhenischen  Pelasger,  wie  sie  die  Alten 
nennen,  näher  betrachtet  haben.  Daß  der  Menschenopfer- 
kultus der  Pelasger,  von  dem  Dionysius  und  Varro  bei 
Macrobius  hier  sprechen,  gar  nichts  anderes  ist,  als  ein 
Larenkultus,  wäre  schon  aus  dem  Manen gotte  Dis"), 
der  als  solcher  eine  so  große  Rolle  in  der  etruskischen 
Religion  spielt  ^),  von  selbst  klar,  tritt  aber  auch  noch  in 
der  ausdrücklichen  und  bedeutsamen  Erwähnung  der  Laren 
bei  diesen  Pelasgern,  die  bei  Dionysius  in  der  angeführten 


erectisquc  Diti  sacello  et  Saturno  ara.  cujus  festum  Satumalia 
nominarunt;  cumque  diu  humanis  capitibus  Ditem  et  virorum 
victimir.  Satumum  placare  se  crederent  propter  oraculum  etc." 
Macrobius,  a.  a.  O. 

^)  Worauf  nun  Macrobius  den  Albinus  Cäcina  einwerfen 
läßt,  ganz  dieselbe  Opferumwandlung  werde  ja  auch  in  bezug 
auf  den  Tarquinius  und  Brutus  berichtet,  und  diese  Geschichte 
erzählt. 

-)  Vgl.    oben    S.  707.    Note    1. 

3)  Siehe  K.  O.  Müller.  Etrusker.  II.  67  fg. 


732 


Erzählung  von  jener  Krise  auftaucht,  besonders  hervor^). 
Und  das  so  häufig  konstatierte  Übereintreffen,  daß  jede 
griechische  Stadt,  welche  den  dort  so  oft  wiederkehrenden 
Namen  Larissa  trägt,  sich  historisch  als  ein  Sitz  und 
eine  Kolonie  der  Pelasger  nachweise,  empfängt  jetzt 
eine  neue  Durchsichtigkeit  und  eine  neue  Tragweite. 

Kaum  wäre  es  jetzt  noch  nötig,  für  das  Verständnis 
des  Hercules  daran  zu  erinnern,  was  Diodor,  dem  alten 
Geschichtschreiber  Timäus  folgend,  in  den  sinnlichen  Zügen 
größtenteils  ganz  und  gar  verschieden,  aber  in  der  Idee 
schlechthin  übereinstimmend,  von  dem  Zuge  des  Hercules 
in  Italien  erzählt").  Dieser  Repräsentant  der  letzten  pelas- 
gisch- hellenischen  Kolonie,  die  nach  Italien  kommt ^), 
durchwandert  nach  Diodor  das  Land  der  Liguren  und  der 
tyrrhenischen  Pelasger  (Etrusker)^)  —  wo  also  für  ihn 
kein  Ort  des  Bleibens  gewesen  zu  sein  scheint  —  und 
schlägt  an  der  Tiber,  da  wo  jetzt  Rom  steht,  sein  Lager 
auf.  Erst  viele  Menschenalter  später  sei  Roma  von  Romu- 
lus  erbaut  worden.  Damals  sei  nur  der  palatinische  Hügel 
von  Eingeborenen  bewohnt  gewesen,  welche  eine  ganz  kleine 
Stadt  innehatten.  Hier  trifft  Herakles  freundlichen  Emp- 
fang. Von  den  zwei  angesehensten  Männern  dieser  Hügel- 
bewohner, Cacius  und  Pinarius,  sei  er  äußerst  gastfrei 
aufgenommen  und  beschenkt  worden.  Nicht  nur  das  An- 
denken dieser  Männer  habe  sich  noch  immer  erhalten,  son- 
dern auch  das  Geschlecht  der  Pinarier,  das  älteste  in  Rom, 


^)  Dionys.,  I,  c.  16,  p.  19:  „«at  nolla  Ecphxia  (lares)  ÖXa 
i^'i]?Mq)'&r],  fXEQOvg  avrcov  /.le&iora^uevov  n.  z.  A." 

n  Diodor.  Sic.  lib.  IV.  c.  21,  I.  335.  ed.  Dind. 

^)  Vgl.  die  Resultate  der  Forschungen  von  Raoul-Rochette 
(Hist.  des  Colonies  Grecques).  Niebuhr.  Dolomien  u.  a. 

"*)  f'Hgaxh'is  de  öieX&cbv  ri]v  re  rcöv  Aiyvcov  xal  t/jv  xöjv 
TvQ^Yjvwv  xcÖQav  X.  X.  X." 

733 


dauere  noch  jetzt  zu  seiner  Zeit  fort.  Herakles  habe  sich 
diese  freundliche  Gesinnung  (rrjv  evvoiav)  der  Hügelbewoh- 
ner wohl  gefallen  lassen  und  ihnen  verkündet :  wer  nach 
seinem  Heimgange  zu  den  Göttern  dem  Hercules  den 
Zehnten  von  seinem  Vermögen  zu  weihen  ge- 
loben werde,  der  werde  ein  beglückteres  Leben 
haben ^).  Und  wirklich  dauere  diese  Sitte  noch  "fort  bis 
auf  seine,  Diodors,  Tage.  Viele  Römer,  nicht  bloß  solche 
von  mittlerem  Vermögen,  sondern  auch  von  den  reichsten 
hätten  gelobt,  dem  Herakles  zu  zehnten,  und  seien  gerade 
darauf  so  mit  Gütern  gesegnet  {evöaitiovag)  worden,  daß 
ihr  Vermögen  sich  auf  4000  Talente  belief.  So  habe  Luc- 
cullus  sein  Vermögen  schätzen  lassen  und  dem  Gotte  den 
ganzen  Zehnten  ^geopfert  durch  Veranstaltung  lan.g  fort- 
dauernder Schmausereien').  Die  Römer  hätten  aber  dem 
Gotte  einen  Tempel  an  der  Tiber  errichtet,  um  die  Opfer 
aus  dem  Zehnten  darzubringen. 

Nach  den  vorher  mitgeteilten  Berichten  kann  die  Be- 
deutung dieser  von  Diodor  nach  Timäus  gegebenen  Er- 
zählung nicht  mehr  dem  geringsten  Zweifel  unterliegen. 

Der  Vermögenszehnte,  den  Herakles  bei  jenen,  die  ihn 
freundlich  empfangen,  für  sich  einführt,  der  Zehnte,  von 
dem  er  verspricht,  daß  er  denen,  die  ihn  zu  weihen  ge- 
loben, em  wohlbeglückteres  Leben  schaffen  werde,  und 
der  —  ganz  wie  in  dem  Mythus  der  Acca  Larentia,  die 
durch  den  Rat  des  Gottes  dem  römischen  Volke  zustande 
gebrachte  reiche  Erbschaft  —  in  der  Tat  einen  so  reichen 
irdischen  Segen  nach  sich  zieht,  er  ist  nicht  ein  Zehn- 


^)  ., .  .  .  TtQoeXjiEV  avroTg,  Sri  /ueid  ri]V  eavzov  fXExäoxaoiv 
eig  rovg  &Eovg  töig  ev^auevocg  ixöexazevoeiv  'Hgay-kel  rijv 
ovotav,  ovtiß/joerai  zöv  ß'iov  EvdaiuoveorsQov  e^eiv." 

-)  Ebenso  Sulla  (siehe  Plutarch,  !,  474.  A.)  und  auch 
Crassus  (siehe  Plutarch,  das..  S.  543,  C.)- 

734 


t  e  n ,  den  Herakles  sich  einführt,  eristdieEinführung 
des  herakleischen  Prinzipes  in  den  Zehnten;  er 
ist  jene  Umwandlung  des  den  Unterweltsgöttern 
gespendeten  Menschenzehnten  in  einen  Vermö- 
genszehnten, die  wir  nach  Dionysius,  Varro  und  Ste- 
phan von  Byzanz  den  Herakles  bei  den  mit  den  Aborigenern 
vermischten  Pelasgern  haben  vollbringen  sehen. 

Und  gleichsam  damit  dem  eigenen  Denken  auch  nicht 
das  geringste  übrig  bleibe,  und  um  uns  in  den  Stand  zu 
setzen,  einen  mathematischen  Beweis  zu  führen, 
ist  uns  bei  Plutarch  die  Nachricht  erhalten:  Herakles 
habe  die  Römer  von  einem  Zehnten,  den  sie  den 
Etraskern  bis  dahin  zu  entrichten  gehabt  hät- 
ten, befreit^),  und  es  wird  dabei  von  Plutarch  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  diese  Tatsache  nicht  der  Grund  davon  sei, 
daß  so  viele  reiche  Römer  dem  Herakles  ihr  Vermögen 
verzehnten.  Herakles  führt  also  gar  nicht  einen  Zehnten 
für  sich  ein,  sondern  er  befreit  die  Römer  von  jenem 
Zehnten,  den  siederetruskischen  Substanz  ent- 
richten, er  vollbringt  und  bedeutet  die  Umwandlung  des 
pelasgisch-etruskischen  in  den  deshalb  ihm  gewidmeten 
Vermögenszehnten. 

Nachdem  jetzt  aber  die  Bedeutung  des  herakleischen 
Prinzipes  für  die  italische  Mythologie  ins  Klare  gestellt 
ist,  bedarf  auch  der  Mythus  der  Acca  Larentia  nur  noch 
der  Zusammenfassung  seiner  Züge,  um  in  voller  Klarheit 
seine  großartige  Bedeutung  zu  enthüllen. 

Wenn  in  der  Erzählung  des  Varro  und  Dionysius  ethno- 


1)  Plut.  Quaest.  Rom.,  .p.  267.  E..  II.  95.  ed.  Wytt. : 
,^Aia  xl  xop  'HQaxXet  nolXol  xo)V  nXovoioiv  iöexdrsvov  xäg 
ovoiag]  .  .  .  "li  öxt  Pco/uaiovg  vno  Tv^Qtjvöjv  öexa- 
xevo/UEVovg    dTiip.Äa^Ev;" 

735 


graphische  und  religionsgeschichtliche  Züge  von  hohem 
Interesse  hervortraten,  so  ist  in  dem  Mythus  der  Acca 
Larentia  noch  etwas  ganz  anderes  gegeben. 

Es  ist  einer  der  wunderbarsten  und  gewaltigsten  Mythen, 
die  uns  das  Altertum  hinterlassen  hat,  und  statt  irgend 
entstellt  und  verdorben  zu  sein,  bedarf  er  in  wahrhaft  künst- 
lerischer Vollendung  nicht  eines  Zuges  mehr,  und  kann 
nicht  emen  entbehren,  um  jenen  ^v■eltbewegenden  Hergang 
auszusprechen,  den  er  in  tiefer  Bedeutsamkeit  ausspricht. 

Acca  Larentia,  das  Wesen,  an  dessen  Brüsten  Rom 
gelegen  hat,  personifiziert  in  seinem  Gründer  Romulus,  ist 
ein  Mischwesen,  eine  Hure,  wie  Rom  den  Charakter 
der  Völkermischung,  aus  dem  es  entsprungen,  naiv  und 
treu  darstellt. 

Sie  ist  die  Frau  des  Hirten  Faustulus,  der  jenen  pala- 
tinischen  Hügelbewohnern  entspricht,  die  nach  Diodor  den 
Herakles  so  bereitwillig  aufnehmen.  Doch  sie  ist  Hure, 
und  als  solche  vermischt  sie  sich  mit  dem  Tusker  Caru- 
tius.  Aber  sie  hat  sich  auch  mit  Herakles  vermischt  und 
den  Einfluß  dieses  Prinzipes  in  sich  aufgenommen. 

Die  Vermischung  mit  dem  Gotte  war  nach  dem  Mythus, 
der  die  Aufeinanderfolge  umkehren  muß,  um  die  objek- 
tive Entwickelung  des  Seins  zu  einem  plan-  und  zwecklos 
Gewollten  göttlicher  Fürsehung  zu  machen,  die  treibende 
Veranlassung  zu  der  Vermischung  mit  der  tuskischen  Sub- 
stanz. Der  hierauf  hinauslaufende  Rat  ist  die  einzige  und 
höchste  Belohnung,  die  ihr  der  Gott  für  ihre  Vermischung 
mit  ihm  geben  kann,  ein  zukunftsvoller  Götterauftrag,  dem 
Acca  Larentia,  treu  ihrem  Metier,  gehorsamt. 

Indem  sie  sich  mit  beiden  mischt,  mit  der  tuskischen 
Substanz  und  dem  herakleischen  Prinzip,  und  so  die  Ver- 
mischung beider  miteinander  in  sich  selbst  bewirkt,  ist  hier- 

736 


durch  jene  negative  Stellung  der  tusklechen  Substanz  (s. 
oben  S.  709fg.,  711 — 719)  überwunden.  Das  hera- 
kleische  Prinzip  ist  in  sie  eingeführt,  der  Abgrund  der 
Unterwelt  ist  geschlossen,  der  Vermögenszehnten  ist  an 
die  Stelle  des  Menschenzehnten,  das  Opfer  von  Kerzen 
an  die  Stelle  des  Menschenopfers,  das  Opfer  von  Bildchen 
und  von  Mohn-  und  Knoblauchköpfen  an  die  Stelle  des- 
jenigen von  Menschenköpfen  getreten,  und  die  Larenmutter 
Mania  aus  ihrer  unterweltlichen  verzehrenden  Stellung  her- 
ausgerissen und  in  ein  heilbringendes  Wesen  der  Leben- 
digen verkehrt  worden  (s.  oben  S.  708).  Das  ist  der  reiche 
irdische  Segen,  der  aus  der  Mischung  mit  dem  Etrusker 
nach  dem  Beischlaf  mit  dem  Gott  auf  das  römische  Volk 
herabströmt.  Jetzt  wissen  wir  auch,  warum  es  bei  Ma- 
croblus  heißt,  daß  der  Menschenopferkultus  der  Laren 
und  der  Mania  von  dem  etruskischen  Tarquinlus  nicht  ein- 
geführt, sondern  wiedereingeführt,  wiederherge- 
stellt worden  ist  (restituti,  s.  oben  S.  706). 

Auf  welche  Weise  gelangt  denn  aber  im  Mythus  der 
Acca  Larentia  das  römische  Volk  zu  jenem  aus  dieser 
Überwindung  der  negativen  Richtung  der  etruskischen  Sub- 
stanz auf  es  herabströmenden  reichen  irdischen  Segen  ?  In 
merkwürdiger  Vollendung  antwortet  uns  darauf  der  Mythus 
selbst :  ,,cum  decederet,  populum  Romanum  mincupavit  he- 
redeni"^).  Als  Larentia,  die  Amme  des  Romulus,  stirbt, 


^)  Macroblus,  a.  a.  C,  S-  242.  Es  ist  bemerkenswert,  daß 
die  römische  Tradition  bei  der  Angabe,  wie  Acca  Larentia 
zuvor  selbst  das  Vermögen  von  ihrem  tuskischen  Gatten  nach 
dessen  Tode  erlangt  habe,  nie  von  Testament,  auch  nicht 
einmal  von  hereditas  überhaupt  spricht,  sondern  da  heißt  es 
nur:  „post  obltum  viri  omniuni  bonorum  ejus  facta  compos"; 
siehe  Macrobius,  a.  a.  O. 

25    La«»Ue,   G«    Schriften.    Bind  XII.  737 


nunkupiert^)  sie,  verkündet  sie  das  römische  Volk  als 
testamentarischen  Erben!  Nicht  das  Objekt  der  Be- 
reicherung, nicht  die  fabelhaften  Äcker,  sondern  das  Mit- 
tel der  Bereicherung  selbst,  das  Testament,  ist  der 
reiche  Segen,  der  sich  aus  jener  Überwindung  der  nega- 
tiven Richtung  seiner  pelasgisch-tuskischen  Substanz  auf 
das  römische  Volk  herabergießt,  der  mit  dieser  durch  die 
Mischung  vollbrachten  Überwindung  sofort  gegeben  und 
vorhanden  ist. 

Die  pelasgische  Substanz,  die  unendliche  Willenssub- 
jektivität des  Lar,  aus  seiner  negativen  Stellung,  die  er 
in  der  religiösen  Vorstellung  einnimmt,  herausgerissen,  ist 
der  im  Erben  fortexistierende  Lar  und  darum  seine  von 
ihm  selbst  gesetzte  Willensfortexistenz  oder  der 
testamentarische  Erbe!  —  Die  unendliche  Willens- 
subjektivität aus  der  Unterwelt,  in  welche  sie  das  dumpfe 
Insichsein  der  religiösen  Vorstellung  versenkt,  herausge- 
rissen und  gesetzt  als  geltend  oben  in  der  geistigen 
Wirklichkeit  der  Lebenden  —  das  ist  das  Recht 
überhaupt.  Durch  das  Testament,  wie  wir  oben  sag- 
ten (s.  S.  713),  ist  der  Abgrund  der  Religion  geschlossen 
und  der  Orkus  zur  Oberwelt  oder  zum  Recht  herauf - 
produziert.  Das  Testament  und  das  Recht  —  das  ist 
der  reiche  irdische  Segen,  der  ein  ,, beglückteres 
Leben  hervorbringende"  Segen  {röv  ßiov  evdaijLioveoreQov 
e'ieiv)  des  römischen  Volkes,  der  ihm  aus  jener  mischenden 
windung  seiner  pelasgisch-tuskischen  Substanz  stammt ! 

So  ist  Acca  Larentia  nur  die  eigene  Selbstpersoni- 
fikation und  Selbstanbetung  Roms;  es  ist  nur  die 
Gestalt,  in  welcher  Rom  seinen  eigenen  historischen 


^)  Bekanntlich  der  solennelle  Ausdruck  für  die  älteste  zivi- 
listische Testamentsform. 

738 


Genius  anschaut  und  als  göttlich  verehrt.  Alles, 
was  wir  oben  aus  dem  Begriff  entwickelt,  das  haben  wir 
hier  als  die  eigene,  aber  wieder  nur  dem  Begriff  lesbare 
Runenschrift  des  alten  Mythus  wiedergefunden!^)  • 

Jetzt  wissen  wir  auch,  warum  es  bei  Sabinus  Massu- 
rius  ^)  heißt,  Acca  Larentia  sei  Mutter  von  zwölf  Söhnen 
gewesen,  von  denen  sie  einen  durch  den  Tod  verloren  und 
an  dessen  Stelle  sie  Romulus  eingesetzt  habe. 

Es  ist  die  deutlichste  Beziehung  auf  den  berühmten 
etruskischen  Zwölfstädtebund,  wie  denn  ja  auch  die 
Etrusker  bei  der  Ausbreitung  ihrer  Herrschaft  im  Tiber- 
wie  im  Paduslande  zwölf  Städte  gegründet  haben  sollen^) 
und  die  frühere  Abhängigkeit  Roms  von  etruskischer  ^) 
Suprematie,  die  in  der  Periode  der  beiden  Tarquinier  so 
deutlich  ausgesprochen  ist,  im  allgemeinen  lange  anerkannt 
istO. 


^)  Jetzt  sehen  wir  auch,  daß  es  nchtig  ist,  wenn  K.  O. 
Müller  (siehe  oben  S.  726)  im  Namen  der  Larentia  die  klare 
Beziehung  auf  Lar  erkennt ;  aber  falsch,  wenn  er  sie  mit  der 
Larenmutter  Mania  identifizieren  will.  Sie  ist  das  von  den 
Laren  herkommende,  aber  überwundene,  umgewan- 
delte Wesen  derselben.  Jetzt  begreift  sich  auch,  warum 
im  alten  Kalender  unmittelbar  auf  das  Fest  der  Laren  das  der 
Larentia  folgt. 

2)  Bei  Gelllus.  N.  A..  VI.  c.  7. 

3)  Siehe  K.  O.  Müller,  Etrusker.  I.  73.  131,  168,  344  fg. 
*)  Jetzt    begreift    sich    auch,    wie   so    DIonysIus    v.    Halle. 

(I,  29)  bei  so  vielen  griechischen  Schriftstellern  die  Meinung 
finden  kann,  daß  Rom  eine  etruskische  (tyrrhenische)  Stadt 
sei,  und  Herakleides  Ponticus  (ap.  Plutarch.  CamilL,  22)  sie 
dennoch  eine  hellenische  Stadt  nennen  kann. 

^)  Niebuhr,  Römische  Geschichte.  2.  Ausg.,  I,  425:  „Ich 
will  hierüber  nicht  weiter  grübeln,  aber  in  dieser  Darstellung, 
wie  In  der  gewöhnlichen  von  L.  Tarquinius  Priscus,  ist  die 
Ansicht  klar,  daß  Rom  einst  tuskische  Formen  von  einem  Für- 

25»  739 


Es  hat  sich  uns  so  eine  feste  Grundlage  für  die  Ent- 
wirrung der  gesamten  Sagen-  und  Ursprungsgeschichte 
Roms  ergeben,  die  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden  kann, 
tiber  nur  geistig  festgehalten  zu  werden  braucht,  um  zur 
Aufwickelung  dieses  Knäuels  zu  führen. 

Servius,  den  man  den  historischen  Romulus  nenner 
könnte,  dessen  mythisch  vorausgeworfener  Schatten  Romu- 
lus nur  ist,  er,  von  dem  wirklich  spezifisch-römischer 
Geist  und  Verfassung  stammt,  trägt  wieder  denselben 
Mischcharakter,  das  Dasein  der  tuskischen  Substanz 
und  die  Überwindung  derselben,  durch  seinen  Ursprung 
auf  der  Stirn.  Auf  dem  Herde  des  etruskischen  Königs 
Tarquinius  Priscus,  da,  wo  die  Römer  die  Sacra  ver- 
richten^), da  entsteht  plötzlich  aus  der  Asche  ein  männ- 
liches Zeugungsglied.  Und  zwar  ist  es,  wie  die  Sage 
ausdrücklich  berichtet,  der  Lar,  der  diese  Gestalt  ange- 
nommen hat.  Er  wird  zuerst  von  einer  latinischen  Sklavin 
gesehen,  die  es  der  Königin  Tanaquil  hinterbringt.  Diese, 
tief  erfahren  in  etruskischer  Divinationswissenschaft,  ver- 
kündet dem  König,  der  Schicksalsbeschluß  sei,  daß  ein 


sten  dieser  Nation  erhalten  habe  und  die  große  und  glän- 
zende Hauptstadt  eines  mächtigen  etruskischen 
Staates  war":  vgl.  K.  O.  Müller.  Etrusker.  I.  121-123. 
—  Insofern  aber  Niebuhr  in  den  angeführten  Worten  von  den 
tuskischen  Formen,  welche  Rom  von  einem  Fürsten  dieser 
Nation  erhalten  hat,  den  von  ihm  zuerst  durch  die  Rede  des 
Claudius  in  seiner  Identität  mit  dem  tuskischen  Mastarna  nach- 
gewiesenen Servius  Tullius  meint,  auf  den  die  Römer  ihre 
Verfassung  zurückführen,  greift  sein  durch  historischen  Blick 
nur  ganz  im  allgemeinen  in  richtiger  Richtung  getriebenes  Ver- 
muten völlig  fehl.  Servius  Tullius-Mastarna  ist  gerade  ent- 
tuskerndes,  das  spezifisch  Römische  produzierendes  Moment, 
worüber  hier  im  Text  nur  eine  kurze  Andeutung  folgen  kann. 
^)  ,lEcp    rjg  äXXag  xe  avvxekovoi  Pcojuacoi  leQovgycag  x.  x.  X. 

740 


mehr  als  menschliches  Geschlecht^)  aus  dem 
Weibe  hervorgehe,  welches  sich  mit  diesem  Zeugungsglied 
vermischen  werde.  Aber  Tarquinius  beschließt  zum  Un- 
glück seines  Hauses,  jenes  Weib  selbst,  das  ihn  zuerst 
gesehen,  solle  den  Beischlaf  mit  ihm  vollziehen.  Und  so 
entspringt  aus  der  Vermischung  des  tuskischen  Lar 
mit  der  latinischen  Sklavin  —  Servius  TuUius,  der 
König  von  Rom  wird  und  die  römische  Verfassung 
gründet^). 

Also  auch  Servius,  der  spezifische  Schöpfer  des  Römi- 
schen, ist  nur  dies  —  ganz  wie  wir  dies  im  Mythus  der 
Acca  Larentia  gesehen  haben  — :  hervorgegangen  zu 
sein  aus  tuskischem  Larentum,  aber  nur  durch  seine 
mischende  Überwindung^). 

Dieser  Servius  selbst  ist  es  nun,  welcher  nach 
den  Zeugnissen  der  Alten  zur  Erinnerung  an  seinen  Ur- 


^)  „öxi  yevog  anb  xriq  eoriag  xov  ßaodsiov  nenQcoxai  yeveo- 
■&ai.  xqeTxxov  f]  xaxd  xr]v  dv&QCOJielav  cpvotv  ex  xrjg  /iux^etor]g 
xcö  (pavxdojtiaxi  yvvaixog.'^ 

^)  Siehe  den  Bericht  bei  Plinius,  XXXVI,  70.  DIonysius 
V.  Hahc,  IV,  2,  p.  207,  ed.  Sylb.  (aus  welchem  die  ange- 
zogenen Stellen).  Amobius,  Adv.  gent.,  V,  c  17,  p.  178. 
Ovid,  Fast.,  VI,  627.  —  Plinius  sagt  ausdrücklich  lar,  und 
Dionyslub  übersetzt  das  lateinische  lar  ganz  richtig  und  genau, 
wenn  er  Ihn  einen  }<ax  olxiav  ^JQcog  nennt;  vgl.  über  den  aus 
dem  Larendienst  entsprungenen  Heroendienst  der  abgeschiedenen 
Vorfahren  Isaak  Casaubonus  zu  Sueton.  Caes.,  c.  88,  p.  226, 
ed.  Wolf,  und  Raoult-Rochette  In  den  Monumens  Inedits, 
wonach  auf  Denkmalen  die  abgeschiedenen  Seelen  häufig  als 
7]Qcoeg  vorkommen  und  Ihre  Grabmäler  i]Qcoa  genannt  werden, 
womit  wieder  die  sprachliche  Bemerkung  über  iJQcog  oben, 
S.  305.  Note  1,  zu  vergleichen  Ist. 

^)  Ja.  diese  Identität  Ist  so  unleugbar,  daß  eben  des- 
wegen der  Ursprung  von  Romulus  selbst  auf  solche 
Zeugung   zurückgeführt   wird;    siehe   Plutarch,    Romul.,    c.    2. 

741 


Sprung  den  Laren  die  Spiele  der  Kompitalien  stif- 
tet^). Das  sind  aber  eben  die  Laren  in  ihrer  neuen  Wen- 
dung, die  Laren,  die  jenen  Scheideweg  in  sich  schon 
eingeschlagen  haben,  die  Laren  in  ihrer  versöhnten 
Wendung  zum  Guten  und  als  frohe  Heilsgötter,  zu  denen 
sie  sich  durch  jene  Überwindung  ihres  negativen  Wesens 
umwenden  (siehe  oben  S.  706 fg.).  Dies  tritt,  wie  in  dem 
Namen")  dieser  Compitalia,  nach  welchen  die  Laren  auch 
lares  compitales  genannt  werden,  so  auch  in  den  Berichten 
der  Alten  und  in  den  Gebräuchen  dieses  Festes  deutlich 
hervor.  Es  sind  Spiele  und  Freudenfeste,  und  es  reicht 
hier  hin,  an  den  charakteristischen  Zug  zu  erinnern,  daß 
an  diesen  Festtagen  der  Laren  die  Sklaven  volle  Frei- 
heit gleich  ihren  Herren  genießen^),  in  deutlicher  Erin- 


^)  Plinius,  a.  a.  O. ;  Dionysius  v.  Halic,  IV,  p.  219,  ed. 
Sylb. ;  A.  Gellius,  N.  A..  X.  24. 

^)  Compitalia  werden  nämlich  diese  Spiele  genannt  von  com- 
pitum,  Scheideweg,  weil  sie  ihnen  nach  Servius'  Verord- 
nung an  Scheidewegen  gefeiert  werden,  worin  aber  nichts 
anderes  als  wiederum,  unter  Anspielung  auf  den  bekannten 
Mythos  vom  Scheideweg  des  Herakles  —  dem  deshalb 
auch  die  Scheidewege  heilig  sind  —  die  Beziehung  auf  jenes 
he  rak  leise  he  Prinzip  und  auf  die  durch  dasselbe  in  ihnen 
voll!  rächte  Umwendung  zu  freundlichen,  versöhnten,  durch 
Spiele  ergötzten  Göttern  hervortritt.  So  werden  jetzt  die  Laren 
auf  Kreuz-  und  Scheidewege  gesetzt  (Servius  bei  Dionysius, 
a.  a.  O.,  befiehlt,  daß  ihnen  an  allen  Scheidewegen  Heilig- 
tümer errichtet  werden  müssen),  zu  denen  sie,  die  Ins  Innerste 
des  Hauses  gehören,  sonst  nicht  die  geringste  Beziehung  haben, 
und  es  entstehen  lares  compitales,  viales  usw.  So  begreift  sich 
auch  das  Verbot  bei  Cato  in  bezug  auf  die  Laren :  „Rem 
divlnam  nisi  compitallbus  in  compito,  aut  in  foco,  ne  faclat." 

^)  Siehe  die  Stellen  Note  1,  und  Cicero,  Epist.  ad 
Attlc,  VII,  7;  Horatlus.  Od.  III,  17,  14.  und  MItscherHch 
dazu;    vgl.  Hempelius    de    Dlls    Laribus,    p.  XLIII  sqq.,    und 

742 


nerung  daran,  daß  es  ihr  eigenes  Freiheitsfest  ist,  das  Fest 
ihrer  Befreiung  von  der  religiös-hieratischen  Herrschaft, 
das  die  Römer  hier  feiern.  So  auch  begreift  sich  erst  die 
große,  von  ihnen  selbst  nicht  erklärte  Wichtigkeit,  mit 
welcher  Dionysius  und  andere  die  Gründung  dieses  Festes 
als  eine  der  Hauptverordnungen  des  Servius  anführen. 

Allein  wenn  wir  sagten,  nur  den  Laren  in  dieser  ver- 
söhnten Wendung  stiftet  Servius  diese  Compitalia,  und 
er  ist  es,  der  diesen  Kultus  ihrer  als  versöhnter  Wesen 
einführt,  und  dies  ist  die  Bedeutung  der  Compitalia, 
so  ist  dies  alles  ja  am  entscheidendsten  dadurch  erwiesen, 
wenn  wir  uns  noch  einmal  der  Stelle  des  Macrobius  (Sat. 
I,  c.  7)  zuwenden.  Denn  aus  dieser  erfahren  wir  ja,  daß 
Tarquinius  gerade  gegen  diese  von  Servius  den  Laren 
gestiftete  Compitalia  auftritt  und  an  Stelle  dieser  den 
laribus  compitalibus  gefeierten  Wendespiele  den  Laren 
und  der  Mania  den  alten  Menschenopferkultus 
wiederherstellen  will^). 

Aber  so  sehr  auch  die  alte  etruskische  Substanz  gewaltig 
von  neuem  anstürmt,  sie  kann  des  versöhnten  Geistes  nicht 
mehr  Herr  werden.  Die  Periode  des  Tarquinius  Superbus, 
die  Eroberung  Roms  durch  Porsenna  ist  diese  Periode 
des  römischen  Kampfes  für  das  spezifisch-römische 
Bewußtsein,  für  seine  Befreiung,  Herausentwickelung  und 
Losreißung  von  der  hieratischen  Herrschaft  des  religiösen 


Morestellus    de    fer.    Rom-,    Dialog.   XI,    in    Graevii    Thes, 
Antiqu.,    VIII.   803   sqq. 

^)  „Quälern  nunc  permutationem  sacrificii,  Praetextate,  me- 
morasti,  invenio  postea  Compitalibus  celebratam,  cum  ludi  per 
urbeni  in  compitis  agitabantur,  restltnü  scilicet  a  Tarquinio 
superbo  Laribus  ac  Maniae,"  heißt  es  bei  Macrobius.  Die 
Lares,  denen  Tarquinius  ihre  Feier  restituieren  will,  treten 
in  der  Stelle  von  selbst  in  Gegensatz  zu  den  lares  compitales. 

743 


Elementes,  die  trotz  der  vorübergelienden  tuskischen  Waf- 
fenerfolge nicht  mehr  aufgehalten  werden  kann.  Die  Re- 
ligion kann  des  Rechtes  nicht  mehr  Herr  werden ! 
Aber  in  der  Erinnemng  Roms  behauptet  sie  sich  noch  als 
die  Grundlage  seines  Entstandenseins,  wie  sich  dies  (s. 
oben  S.  7 14 fg.)  in  dem  eigentümlichen  Verhältnis  Roms 
zu  etruskischer  religiöser  Disziplin  zeigt,  und  in  den  Iden 
des  Mai,  im  Frühlingsäquinoktium,  stürzen  noch  zu  des 
Dionysius  Zeit  im  feierlichen  Aufzuge  die  Pontifices,  die 
Vestalinnen  und  die  Prätoren  —  als  sollte  jenes  Hervor- 
gegangensein des  Rechtes  aus  der  Religion  durch  dieser 
Gegenwart  angedeutet  werden  —  dreißig  Bildchen  von 
Menschen  von  der  heiligen  Brücke  in  den  Tiberstrom,  und 
Dionysius  selbst  erzählt,  daß  ihnen  dieser  Gebrauch  von 
Hercules  gelehrt  worden  sei,  der  einen  Altar  auf  dem 
satumischen  Hügel  gegründet,  die  Menschenopfer  bei  ihnen 
abgeschafft  und,  um  die  erzürnten  Götter  wegen  der  Ver- 
nachlässigung der  heimischen  sacra  zu  versöhnen,  jene  bild- 
liche Opferung  angeordnet  hätte ^). 

So  hat  sich  denn  durch  allmähliches  und  systematisches 
Zurückgehen  ein  großes  Stück  Vorgeschichte  unseren 
Augen  enthüllt,  und  wenn  Niebuhr  (a.  a.  O.)  noch  aus- 
ruft, daß  sich  hier  nur  „von  der  Höhe  her  einige  Punkte 
in  grauer  Ferne  kenntlich  zeigen,  die,  wenn  man  herab- 
stiege, um  sich  ihnen  zu  nähern,  sich  sogleich  wieder  aus 
dem   Blick   verlieren"-),  so  haben  sich  uns  vielmehr  in 


')  Dionysius  v.   Halic.  I,  c.  24,  p*  39,  ed.  Sylb. 

')  Der  prinzipielle  Unterschied  der  hier  entwickelten  .A.uf- 
fassungswelse  von  der  Niebuhrschen  muß  von  selbst  klar  sein. 
Niebuhr  faßt  den  vorgeschichtlichen  Stoff,  insbesondere  die 
Perlode  der  Tarquinier,  als  freie  Poesie  auf;  er  sieht  in 
ihnen  ein  Heldenlied,  ein  Nibelungenlied  ,,von  der  Helden 
Not".  GeschichlHche  Sage  und  Mythos  ist  aber  niemals  freie 

744 


Bestimmtheit  die  scharf  geschnittenen  Umrisse  dieses  Ent- 
stehungsprozesses und  seiner  geistigen  Faktoren  ergeben. 

Der  Zusammenhang  aber,  der  uns  zu  diesen  Unter- 
suchungen trieb,  war  kein  willkürlicher,  er  war  die  trei- 
bende Seele  des  Stoffes  selbst.  Wo  das  Recht  in  seiner 
Tiefe  erfaßt  wird,  da  wird  ganz  mit  derselben  Notwendig- 
keit auf  die  Entstehungsgeschichte  Roms  hingetrieben,  mit 
welcher  die  Entstehung  Roms  sich  zur  Produktion  des 
Rechtes  getrieben  hat. 

Das  allgemeinste  philosophische  Resultat  aber,  das  sich 
uns  aus  diesen  Entwickelungen  ergeben  hat  und  mit  wel- 
chem wir  dieselben  schließen  wollen,  ist  folgendes.  Pelas- 
ger  und  Römer,  Pelasger  und  Hellenen,  dies,  was  wir 
als  ein  reales  völkergeschichtliches  Verhältnis  auszuspre- 
chen pflegen,  stellt  ebenso  sehr  ein  reines  Verhältnis  der 


Poesie,  und  am  wenigsten  bei  den  Römern.  Es  ist  mythische 
Verarbeitung  eines  sehr  realen,  geistig-historischen  Inhaltes,  der 
aus  dieser  seiner  ihn  oft  bis  zur  Unkenntlichkeit  treibenden 
Umbildung  nur  herausgelöst  sein  will.  Aus  jenem  Verhältnis 
Niebuhrs  zum  geschichtlichen  Stoff  fließt  seine  Überlegenheit 
in  rein  kritischer  Beziehung,  und  seine  Schranke,  das  Positive 
in  jenem  Sagenstoffe  zu  erkennen.  Daher  der  totale  Gegensatz 
In  den  Resultaten,  zu  denen  sich  seine  Betrachtungsweise  gegen 
die  obige  treiben  muß.  So  sieht  er  z.  B.  (2.  Ausg.,  II,  572") 
in  der  Erzählung,  daß  Tarquinlus  Menschenopfer  eingeführt 
habe,  eine  aus  bloßem  Parteigeist  entstandene  Erdichtung,  oder 
(das.  S  609)  In  der  von  Ihm  selbst  angezogenen  Nachricht 
des  Plutarch,  daß  Herkules  die  Römer  vom  etruskischen  Zehn- 
ten befreit  habe,  den  allegorischen  Ausdruck  davon,  daß  sie 
es  „durch  eigene  Kraft"  getan  haben,  und  will  die  Nachricht 
deshalb  auf  die  durch  Porsenna  den  Römern  auferlegte  Ab- 
hängigkeit beziehen.  Wir  glauben  durch  eine  vollständigere  Be- 
trachtung des  hier  einschlagenden  Stoffes  gezeigt  zu  haben, 
wie  In  dem  letzten  Faktum  so  wenig  von  einer  Allegorie,  als  In 
ersterem  von  einer  Parteierdichtung  die  Rede  ist.  Beide  Nach- 

745 


Idee,  den  Übergang  und  Durchbruch  derselben  Substanz 
aus  einer  Form  des  menschlichen  Geistes  in  eine  höhere 
dar,  den  Übergang  der  unendlichen  Subjektivität  aus  der 
Form  der  phantastischen  Innerlichkeit  der  Religion,  bei 
den  Hellenen  in  die  höhere  Form  und  Realisation  der 
Kunst,  bei  den  Römern  in  die  höhere  Form  und  Reali- 
sation des  Rechtes. 

Die  Religion  bleibt  bei  beiden  Geistesgestalten  hin- 
ter ihnen  liegen,  bei  den  Römern  als  jener  überwundene 
Zusammenhang  mit  seiner  mütterlichen  Wurzel,  wie  wir 
dies  oben  (S.  711  fg.)  gezeigt,  bei  den  Griechen,  wo  dies 
nur  sinnlich  weniger  stark  in  die  Augen  tritt,  dadurch,  daß 
der  religiöse  Boden,  wie  schon  bei  Homer  der  Fall,  nur 
zum  Ferment  und  Stoff  für  die  umgestaltende  Tätigkeit  der 
Kunst  genommen  wird. 

richten,  scheinbar  so  getrennt,  hängen  vielmehr  ganz  miteinander, 
hängen  wiederum  ebenso,  wie  sich  gezeigt  hat,  mit  einer  Masse 
scheinbar  ebenso  unabhängiger  und  selbständiger  Überlieferun- 
gen auf  das  Innigste  zusammen,  und  sind  Züge  in  diesem 
großen  Gewebe,  welches  die  rellgionsgeschlchtllche  Umwälzung 
und  den  Bildungsprozeß  des  spezifisch-römischen  Geistes  her- 
austreten läßt.  Wenn  nach  dem,  was  wir  zuletzt  über  Servlus 
angedeutet  haben,  die  Acca  Larentia,  die  des  Romulus  Amme 
Ist,  nach  so  vielen  Berichterstattern  erst  unter  Ancus  Mar- 
tius  gelebt  und  zu  seiner  Zeit  sich  mit  Herakles  ver- 
mischt haben  soll,  so  leuchtet  jetzt  durch  die  bloße  Be- 
trachtung, daß  dieser  Ancus  der  König  Ist,  der  unmittelbar 
vor  der  tarquinischen  Herrschaft  (L.  Tarquinius  Priscus)  und 
dem  in  ihr  erfolgenden  Auftreten  des  Mastarna-Servius  herrscht, 
ohne  daß  dies  hier  weiter  verfolgt  werden  kann,  von  selbst  ein. 
In  welchem  innigen  Zusammenhange  es  mit  dem  oben  Nach- 
gewiesenen steht.  —  Nicht  ein  Heldenlied,  sondern  die  Residua 
eines  der  größten  und  wahrsten  kulturhistorischen  Prozesse,  und 
der  wahrhafte  Entwickelungsprozeß  des  spezifisch-römi- 
schen Geistes  Ist  es,  den  wir  In  jenen  Mythen  vor  uns  haben. 


746 


XLII.  Schluß. 

Wir  glauben  nunmehr  den  Zweck,  den  wir  uns  gestellt, 
vollständig  erreicht  und  das  römische  Erbrecht  in  seiner 
dogmatischen  Entfaltung,  wie  in  seiner  historischen  Bewe- 
gung auf  das  strengste  als  das  Dasein  des  spekulativen  Be- 
griffes nachgewiesen  zu  haben,  den  wir  sub  Nr.  I  als  den 
kulturhistorischen  Inhalt  des  römischen  Volksgeistes  ent- 
wickelt haben;  des  Begriffes  der  Unendlichkeit  und  Per- 
petuierung  des  subjektiven  Willens,  oder,  wie  wir  dies, 
um  Analogie  und  Unterschied  mit  zuideren  Stufen  des  welt- 
historischen Geistes  bestimmt  hervorzuheben,  schon  dort 
darlegten:  des  Begriffes  der  Unsterblichkeit  des 
Geistes,  der  aber  noch  nicht  als  Geist  aufgefaßt  wird, 
sondern  sich  vorerst  nur  auffaßt  als  der  der  objek- 
tiven Außenwelt  entgegengesetzte,  und  daher  mit 
ihr  als  seinem  notwendigen  Gegensatze  behaf- 
tete und  sich  auf  sie  beziehende  subjektive 
Wille  der  Person. 

Aus  dem  so  gefaßten  spekulativen  Begriff  in  dieser 
seiner  konkreten  Präzision  ergibt  sich  sofort  das  Gesamte 
des  römischen  Erbrechtes,  Dogmatik  wie  Geschichte. 

Nur  von  diesem  spekulativen  historischen  Begriff  aus  be- 
greift sich  der  wahrhafte  Geist  des  römischen  Erbrechtes ; 
nur  so  entwickelt  und  gestaltet  sich  von  selbst  der  gesamte 
erbrechtliche  Stoff  bis  in  seine  einzelnsten  Sätze  hinein,  wie 
wir  hinreichend  zeigten,  zu  einem  konsequenten  Systeme  im- 
manenter Vernunft,  während  es  sonst  im  ganzen  wie  in 
seinen  Einzelheiten  durchaus  mißverstanden  wird.  Nur  so 
begreift  sich  auch  die  Geschichte  dieses  Rechtes  als 
eine  innerlich  zusammenhängende  Gedankenbewegung,  bei 
der  das  Spekulative  und  Interessante  darin  besteht,  das  G  e  - 

747 


doppelte  zu  begreifen:  wae  in  dieser  Fortbewegung  der 
ursprüngliche  spekulative  Begriff  (das  alte  Zivilerbrecht) 
ebenso  sehr  beständig  schrittweise  von  sich  abläßt,  sich 
veräußerlicht  und  in  sein  Gegenteil  (die  Erbschaft  als 
Vermögenserwerb)  überzugehen  anfängt,  als  diese  Bewe- 
gung andererseits  wiederum  beständig  den  inneren  Zusam- 
menhang mit  dem  spekulativen  Begriff  des  Zivilerbrechtes 
noch  bewahrt,  sich  dieser  Wurzel  nie  entäußert,  und  noch 
in  ihrem  Ablassen  von  ihm  unter  seiner  treibenden  Ein- 
wirkung steht.  Charakter  wie  innere  Notwendigkeit  dieser 
Fortbewegung  haben  wir  aufgezeigt.  Denn  wir  haben  ge- 
sehen, wie  urspünglich  der  spekulative  Begriff  des  Erb- 
tums  als  der  identischen  Willensperpetuierung 
sich  ohne  Rücksicht  auf  das  Vermögen  und  selbst  im 
schroffsten  Gegensatz  zu  dem  Vermögen  verwirk- 
licht; wie  aber  das  Erbtum  eben  hierin  an  dem  selbstän- 
digen subjektiven  Willen  des  Erben,  der  im  Gegensatz  zum 
Vermögen  gebracht,  immer  häufiger  auszuschlagen  anfängt, 
das  innere  Moment  seiner  Reibung  findet^),  und  daher 
den  individuellen  Willen  des  Erben  für  die  Herstellung 
der  Willensidentität  erst  durch  sein  persönliches  Inter- 
esse interessieren  muß  (lex  Falcidia),  einen  Übergang 
des  Erbtums,  den  man  als  den  Grundsatz  sacra  non  sine 
pecunia  aussprechen  kann,  und  der  somit  innerlich  durch- 
aus übereinstimmt  und  zusammentrifft  mit  dem  Grundsatz 
Sacra  cum  pecunia,  der  sich  inzwischen  aus  der  äußersten 


^)  Daß  der  realiter  enterbte  Erbe  ausschlägt,  ist,  wie  wir 
wiederholen  müssen  (s.  Nr.  VII),  nicht  äußerlich  und  zu- 
fällig zu  nehmen,  sondern  es  zeigt  sich  darin  nichts  anderes, 
als  daß  der  Wille  des  Erben,  den  der  Erblasser  als  das 
Dasein  seines  Willens  setzt,  vielmehr  ein  anderer  und  ver- 
schiedener von  ihm  ist;  d.h.  es  zeigt  sich  darin  der  Kampf 
des   Erbtums  mit  seiner  eigenen  Voraussetzung. 

748 


J 


subsidiären  Falte  des  Intestaterbrechtes,  der  usucapio  pro 
berede,  zu  einem  selbständigen,  besonderen  und  subsidiären 
Erbrecht,  dem  Erbrecht  als  Vermögenserwerb  oder  der 
prätorischen  bonorum  possessio  heraus  entwickelt  hat. 

Mit  der  lex  Falcidia  ist  also  auch  der  zivilistische 
Testamentsbegriff  bereits  an  sich  in  dasselbe  übergangen, 
was  das  subsidiäre  prätorische  Erbrecht  seinerseits  ist. 
Der  Erblasser  soll  seine  Fortexistenz  sichern,  indem  er 
den  Erben  für  die  Verwirklichung  des  testamentari- 
schen Willens  bestimmt.  Dies  hat  er  auch  erreicht ;  allein 
indem  er  dies  nur  dadurch  erreichte,  daß  er  das  per- 
sönliche Interesse  des  Erben  befriedigen  mußte,  hat 
er  an  sich  den  Willen  desselben  bereits  als  einen  an- 
deren, übergreifenden  und  den  Erblasser  negieren- 
den (während  ja  dieses  letzteren  Wille  die  zu  perpe- 
tuierende  und  als  fortbestehend  aufzuzeigende  ursprüngliche 
Substanz  des  Erbtums  war)  anerkannt.  Er  hat  den 
Erben  als  notwendigen  Vermögens  nehm  er  aner- 
kainnt,  oder  als  seine,  des  Erben,  Substanz  das  Vermö- 
gen gesetzt.  So  hat  sich  denn  auch  die  zivilistische  Sphäre 
für  sich  selbst  zu  demselben  Prinzip  hingetrieben,  wohin 
sich  jener,  aus  ihr  als  ein  besonderes  Recht  herausgesetzte 
subsidiäre  Keim  entwickelt  hat;  sie  kann  und  muß  daher 
von  nun  an  dasselbe  wieder  in  sich  aufnehmen  und,  ihren 
zivilistischen  Unterschied  gegen  dies  besondere  und  subsi- 
diäre prätorische  Erbrecht  allmählich  aufgebend,  sich  mit 
demselben  zu  einer  Einheit  durchdringen.  So  ist  also  auch 
für  das  zivilistische  und  testamentarische  Erb- 
tum  die  Umwandlung  des  spekulativen  Erbtumsbegriffes 
in  einen  Vermögenserwerb  gegeben,  eine  Umwandlung, 
die  in  den  mannigfaltigsten  und  feinsten  Verschlingungen 
immer  noch  an  den  Begriff  der  Willensidentität  gebunden, 
als  Ende  dieser  langen  Bewegung  endlich  die  justinianeische 

749 


Erbschaft  sub  beneflclo  in ventaril  produziert ^ ) ,  in  wel- 
cher letzten  Entäußerung  seines  spekulativen  Begriffes, 
die  wir  im  römischen  Recht  eintreten  sehen,  der  Vermö- 
genserwerb die  siegreiche  Gleichstellung  er- 
langt, von  dem  Erben  als  das  Substantielle  seines 
Verhältnisses  offen  gesetzt  werden  zu  können. 
Endlich  gelangt  man  erst  durch  dieses  Verständnis  des 
Erbrechtes  zu  dem  wahrhaften  und  konkreten  Verständnis 
des  welthistorischen  Inhaltes  des  römischen  Volksgeistes 
und  seines  dialektischen  Verhältnisses  zu  den  ihm  voran- 
gehenden und  ihm  nachfolgenden  Stufen  der  geistigen  Ent- 
wickelung.  Ebenso  hat  sich  dabei  ein  heller  Blick  in  die 
Bedeutung  des  jus  civile  überhaupt,  und  sein  Verhältnis 
zum  römischen  Geiste  ergeben.  Es  hat  sich  ganz  konkret 
gezeigl,  wie  das  jus  civile  nichts  anderes  ist  als  das  Dasein 
des  spekulativen  Begriffes,  welcher  den  ursprünglichen  In- 
halt des  römischen  Volksgeistes  ausmacht,  in  seiner  uner- 
schüttert substantiellen  Gedrungenheit.  Das  prätorische 
Recht  ist  nichts  anderes  als  die  Bewegung  des  römischen 
Volksgeistes,  in  der  Form  der  Ergänzung  und  Fortbildung, 
sich  die  spezifische  Substanz  dieses  Volksgeistes  all- 
mählich abzuarbeiten  und  abzuschleifen  und  in  allgemein- 
menschliche Verhältnisse  münden  zu  lassen,  eine  Be- 
wegung, welche  ihrer  äußeren  Form  nach  jetzt  von  dem 
unter  der  Form  der  Billigkeit  gegen  den  spekulativen 
Begriff  reagierenden  Verstand  vollzogen  wird.  Das  prä- 
torische Recht  ist  so  nichts  anderes  als  die  große  und 
langsame  Arbeit  der  allmählichen  Entnationalisie- 
rung. Diese  Arbeit  trifft  daher  innerlich  wie  äußerlich  in 
ihren  Endpunkten  mit  dem  Christentum  zusammen  und 
macht  durch  diese  von  ihr  vollzogene  Auflösung  des  spezi- 


1)  L.  22  C.  (6.  30). 
750 


fischen  Volksgeistes  Rom  fähig,  den  allgemein- 
menschlichen, kosmopolitischen  Geist  des  Chri- 
stentums in  sich  aufzunehmen. 

Wie  die  stoische  Philosophie  diesen  selben  auf- 
lösenden und  für  die  christliche  Anschauung  vorbereitenden 
Prozeß  im  reinen  Gedanken  bezeichnet,  so  stellt  ihn 
das  prätorische  Recht  als  sich  bereits  in  der  Rechts - 
Wirklichkeit  des  Volkslebens  vollziehend  dar.  So 
gestaltet  sich  die  Historie  zu  einem  überall  zusammenhän- 
genden, überall  durchsichtigen  und  lichtvollen  Ganzen  ver- 
nünftiger Bewegung.  —  Wenn  bisher  das  römische  Erb- 
recht so  sehr  mißverstanden  wurde,  so  liegt  hier,  wie  bei 
so  vielem  anderen,  eine  hauptsächliche  Schuld  daran,  daß 
bei  der  Beschäftigung  mit  römischem  Recht  immer  von  dem 
justinianeischen  Recht,  also  vom  römischen  Recht  in 
seiner  letzten  Gestalt  ausgegangen  wird.  Das  justiniane- 
ische  Recht  ist  aber  eben  ein  letztes,  das  somit  gar 
nicht  aus  sich  selbst  begriffen  werden  kann.  Um  zu 
wissen,  was  Rom  sei,  muß  überall  auf  das  älteste  Zivil- 
recht zurückgegangen,  und  von  ihm  der  Ausgangspunkt 
genommen  werden.  Von  hier  aus  erhellt  sich  dann  erst 
auch  jene  letzte  Gestalt,  die  das  Moment  ihres  Gewor- 
denseins, und  somit  das  Moment  ihrer  Erklärung,  nur 
in  ihm,  durchaus  nicht  in  sich  selbst  hat.  — 

Wenn  es  zwecklos  wiederholend  wäre,  ausführlicher, 
als  in  diesem  flüchtigsten  Rückblick  auf  das  allgemeinste 
Lineament  der  erbrechtlichen  Bewegung  geschehen  ist,  den 
ideellen  Gehalt  und  Gang  desselben  zu  betrachten,  der  sich 
aus  der  Zusammenfassung  des  bei  dem  konkreten  Reich- 
tum des  Materials  von  uns  eingehend  Entwickelten  von 
selbst  ergibt,  und  vom  Geiste  nur  in  einer  ihm  gegenwärtigen 
Einheit  mit  jenem  Detail  erfaßt  werden  kann,  so  ist  es 
dagegen  erforderlich,  auf  zwei   Punkte  nochmals  hinzu- 

751 


weisen,  zwei  Punkte,  welche  den  Faden  bilden,  durch  wel- 
chen die  Darstellung  des  Erbrechtes  mit  dem  Ganzen  unse- 
res Werkes  zusammenhängt,  und  die  uns  die  Veranlassung 
zu  dieser  Darstellung  gebildet  haben. 

Der  eine  Punkt  ist  jener,  daß  das  Erbrecht  vor  der 
Adition  kein  erworbenes  Recht  ist,  wovon  wir  erst  die 
innere  Notwendigkeit  kennen  gelernt  haben,  weil,  wie  das 
Allgemeine  nur  aus  allen  Einzelheiten  sich  ergibt,  so  auch 
wechselwirkend  das  einzelne  erst  aus  dem  Allgemeinen 
sich  wahrhaft  begreift. 

Dieser  Punkt  selbst  ist  aber  nur  eine  in  seinem  Wesen 
identische  Folgerung  aus  jenem  anderen  Punkte,  welcher 
uns  ebenso  berechtigt  wie  genötigt  hat,  dem  Erb- 
recht eine  so  ausführliche  und  selbständige  Entwickelung 
zu  widmen,  und  überhaupt  nicht  mehr  ein  bloßer  Punkt  zu 
nennen  ist.  Er  ist  vielmehr  die  geistige  Achse  des  gesamten 
Erbrechtes.  Wir  meinen  den  in  Bd.  I,  §  2,  A.,  ver- 
sprochenen Nachweis,  daß  das  Erbrecht  schlechterdings  ein 
durch  die  individuelle  Willensaktion  des  Erben 
vermitteltes  und  hervorgebrachtes  Recht,  und  deshalb  also 
auch  ein  erworbenes  Recht  ist.  Ohne  diesen  Nachweis 
würde  es  entweder  haben  scheinen  müssen,  daß  das  Erb- 
recht kein  erworbenes  Recht,  oder  daß  unsere  Theorie  der 
erworbenen  Rechte,  welcher  das  Erbrecht  seiner  sinnlichen 
Erscheinung  nach  zu  widersprechen  scheint,  falsch  ist.  Die- 
ser Nachweis,  daß  das  Erbrecht  weder  dem  testamentari- 
schen Erben  durch  eine  andere  dritte  Person  gege- 
ben, noch  dem  Intestaterben  durch  das  bloße  Faktum 
des  Todes  eines  Dritten  oder  durch  das  Gesetz  verliehen 
wird  —  denn  Testaments-  wie  Intestaterbe  haben  beide  zu 
ihrem  gemeinschaftlichen  Wesen  den  Begriff,  sich  durch 
die  Adition  als  identische  Willenssubjektivität  mit  dem  Erb- 
lasser zu  setzen  —  dieser  Nachweis,  sagen  wir,  konnte  in 

752 


seiner  inneren  Tiefe  nur  durch  eine  mindestens  das  Wesentr 
lichere  des  gesamten  erbrechtlichen  Stoffes  in  Dogmatik 
wie  Geschichte  umfassende  Darstellung  erbracht  werden. 

Dafür  hoffen  wir  ihn  aber  jetzt  zu  einer  unumstößlichen 
Gewißheit  erhoben  zu  haben.  Wir  haben  mit  einer  Über- 
einstim.mung  bis  in  die  einzelnsten  Details  hinein,  welche 
jeden  Zweifel  ausschließt,  gesehen,  daß  das  Erbtum  nichts 
anderes  als  die  die  Willenssubjektivität  des  Erblassers 
perpetuierende  Willensidentität  des  Erben  mit  ihm  ist, 
alles  Erbrecht  also  durch  und  durch  auf  der  inneren 
Willensaktion  des  Erben  beruht  und  durch  sie,  als  die 
Erzeugerin  jener  Identität  der  Willenssubjektivität,  erst  her- 
vorgebracht wird.  Wir  haben  daher  gesehen  (Nr.  V),  daß 
es  erst  der  Wille  des  Erben  ist,  der  dem  testamentari- 
schen Willen  Dasein,  Gültigkeit  und  Halt  verleiht,  so  daß 
das  Testament  ebenso  gut  als  Wille  des  Erben  wie  des 
Erblassers  angesprochen  werden  kann.  Und  dies  ist  so 
wenig  eine  verzerrende  hyperidealistische  Paradoxie,  daß 
es  in  der  Tat  so  angesprochen  wird,  in  dem  Quasi - 
kontrakt  nämlich,  welchen  die  Legate  für  den  Erben 
bilden  sollen. 

Wir  haben  gesehen,  daß  es  ferner  diefürsichseiende 
Tätigkeit  des  Erben  selbst  erst  ist,  welche  die  De- 
lation des  Erbrechtes  hervorbringt.  Wenn  der  Erbe  keine 
wirksame  A  d  i  t  i  o  n  vornehmen  kann,  ohne  daß  er  weiß, 
so  heißt  das  nichts  anderes  als:  Ein  Recht  auf  An- 
nahme der  Erbschaft,  ein  Erbrecht  (jus  adeundi)  exi- 
stiert nicht  ^),   wenn  nicht  der   Erbe  zuvor  durch   seine 


^)  Daß  die  Erbschaft  nicht  vor  der  Adition  ein  erwor- 
benes Recht  des  Erben  sein  konnte,  war  freilich  ganz  sinnlich 
offenbar.  Aber  das  jus  adeundi,  das  Erbrecht,  welches  exi- 
stierte vor  Annahme  der  Erbschaft  und  existiert  hatte,  auch 
wenn  diese  später  ausgeschlagen  wurde,  schien  ein  solches  er- 

26  Laasall«.   Ges.  Schrift«»,  Band  XH.  753 


eigene  Willensaktion  den  Willen  des  Erblassers  seinem 
subjektiven  Fürsichsein  angeeignet  hat.  Und  da  die  Sub- 
stanz des  Erbtums  die  Willensidentität  der  beiden 
Personen  ist,  so  kann  es  auch  nicht  wunder  nehmen,  wenn 
überhaupt  jeder  der  beiden  Faktoren  mit  dem  anderen  ver- 
tauscht werden  könnte,  da  das  Verhältnis  eben  dies  ist,  diese 
beiden  verschiedenen  Willen  als  einen  identischen  und 
einigen  Willen  erscheinen  zu  lassen.  Kann  einerseits  alles 
auf  den  Willen  des  Erblassers  zurückgeführt  werden,  da 
von  ihm  alles  ausgeht,  so  kann  ebenso  gut  alles  dem  Willen 
des  Erben  imputiert  werden,  da  durch  diesen  Willen  erst 


worbenes  Recht  sein  zu  können,  und  dies  war  es,  was  Savigny 
irregeführt  hat  (siehe  oben  I,  673 fg.)-  Aber  es  hat  sich  jetzt 
gezeigt,  daß  das  jus  adeundi  vor  der  Adition  ebensowenig 
ein  erworbenes  Recht  ist,  wie  z.  B.  beim  ursprünglichen  testa- 
mentum  per  aes  et  libram  das  Recht  eines  Bürgers,  mit  einem 
Erblasser  als  familiae  emptor  ein  Manzipationstestament  vor- 
zunehmen und  dadurch  Erbe  zu  werden,  ein  erworbenes 
Recht  vor  der  Testamentshandlung  war.  Sein  legales  Recht, 
mit  jedem  zu  gehen,  der  ihn  zum  familiae  emptor  rufen  würde, 
war  63  freilich,  ein  bloß  legales  Recht,  welches  bis  zu  seiner 
Ausübung,  ebenso  gut  wie  durch  einen  geänderten  Willen 
des  berufenden  Erblassers  auch  durch  ein  neues  Gesetz 
über  die  für  den  familiae  emptor  erforderlichen  Fähigkeiten 
stets  entzogen  werden  konnte.  Wenn  bei  dem  Erben  in  den 
späteren  Testamentsformen,  indem  jetzt  die  Adition  erst  nach 
dem  Tode  des  Erblassers,  statthat,  die  MögUchkeit  einer  Wil- 
lensärderung  von  Seiten  des  letzteren  fortgefallen  ist,  so  ist 
dagegen  jene  andere  Ursache  der  Änderung,  die  durch  ein 
neues  Gesetz  erforderte  Fähigkeit  für  diese  Handlung,  wirk- 
sam geblieben.  Das  jus  adeundi  ist,  wie  an  diesem  Beispiel 
nur  besonders  deutlich  gemacht  werden  soll,  ein  Recht,  wel- 
ches, bloß  legal  durch  das  Intestatgesetz  oder  den  Willen 
eines  Dritten  in  eine  Person  hineingesetzt,  zu  einem  erwor- 
benen Rechte  erst  durch  seine  Ausübung  wird,  durch  welche 
es  sich  in  Erbtum  aufhebt. 

754 


jener  andere  rechtliches  Dasein  und  fortexistierende  Wirk- 
samkeit erhält.  Das  testamentum  per  aes  et  libram  in 
seinem  ursprünglichen  Ritus  (wo  der  lamiliae  emptor  der 
heres  ist)  —  dieses  adäquate  Gesetztsein  aller  Momente 
der  Testamentsidee  in  der  äußeren  Form  —  enthält  in  der 
formellen  Handlung  und  Formel  selbst  schon  äußerlich  die 
notwendige  Kooperation  und  gleiche  Wirksamkeit  der  bei- 
den Willen  zum  Zustandekommen  des  Testamentes.  Wir 
haben  gesehen,  wie  das  Transmissionsrecht  des  Erben,  der 
noch  nicht  angetreten,  sich  auf  dieselbe  innere  Willens - 
aktion  zurückführt.  Wir  haben  gesehen,  wie  selbst  der  suus 
und  necessarius  nur  durch  innere  Willensaktion  erbt, 
und  der  Akt  der  Adition  bei  ihm  nur  deshalb  fortfällt,  weil 
seine  Willensidentität  mit  dem  Subjekte  seines  Willens 
bereits  gegeben  ist  (S.  313 fg.).  Wir  haben,  mit  einem 
Wort,  den  gesamten  Reichtum  des  erbrechtlichen  Stoffes 
von  diesem  einen  spekulativen  Begriff  als  seiner 
tätigen  Seele  sich  hervorbringen  und  zu  einem  lebendigen 
Organismus  gestalten  sehen. 

Das  Erbrecht  ist  also  in  unwiderleglicher  Weise  als 
ein  durch  die  eigene  individuelle  Willensaktion 
des  Erben  erzeugtes  und  nur  darum  auch  als  ein  erwor- 
benes Recht  nachgewiesen. 

Es  ist  jetzt  klar,  warum  ein  Gesetz,  welches  nach  ein- 
mal eingetretenem  Erbtum  (also  beim  extraneus  nach  der 
Adition,  beim  suus  nach  eingetretener  Delation)  das 
Erbrecht  abändern  wollte,  durch  individuelle  Willensaktion 
vermittelte  Rechte  aufheben,  somit  Willenshandlungen  de- 
naturieren, rückwirken  würde. 

Der  letzte  Pfeiler  unserer  Theorie  der  erworbenen 
Rechte  wäre  also  aufgeführt. 

Aber  wenn  wir  sagen,  dieser  Nachweis  ist  erbracht,  so 
meinen  wir  nur,  daß  er  in  bezug  auf  das  römische  Erb- 

26-  755 


recht  erbracht  sei.  Gerade  nachdem  dasselbe  in  seinem 
wirklichen  und  wahrhaftigen,  spezifischen  Geiste  in 
aller  Schärfe  desselben  bloßgelegt  worden  ist,  muß  um  so 
mehr  und  von  selbst  die  täuschende  Analogie  zwischen  ihm 
und  dem  germanischen  Erbrecht  verschwinden.  Es  wird  von 
selbst  klar  sein,  daß  nichts  von  dem  hier  über  das  römi- 
sche Erbrecht  Entwickelten,  daß  auch  nicht  ein  Wort 
davon  auf  das  germanische  Erbrecht  passen  würde  ^). 

Es  entsteht  also  die  Frage:  Inwiefern  stellt  sich  aber 
auch  nach  germanischem  Rechte,  wenn  solches  mit 
dem  obigen  in  der  historischen  Substanz  des  römischen 
Volksgeistes  wurzelnden  Begriffe  nichts  zu  schaffen  hat, 
das  Erbrecht  als  ein  erworbenes  Recht  dar? 

Diese  Frage  ist  aber  gar  keine  andere  und  fällt  in  ihrer 
Beantwortung  ganz  zusammen  mit  der  schon  (Bd.  I,  S.  725) 
aufgeworfenen  Frage:  Warum  erwirbt  nach  allem  ger- 
manischen Recht  der  Erbe  ipso  jure  durch  den  Tod  des 
Erblassers,  während  in  Rom  erst  durch  die  Adition  ? 

Und  zu  der  Beantwortung  dieser  Frage  haben  wir  jetzt 
überzugehen. 


^)  Es  zeigt  sich  hier  wieder,  daß  es  genau  genommen  gar 
kein  ,, Erbrecht  im  allgemeinen",  sondern  nur  römisches  Erb- 
recht, germanisches  Erbrecht  usw.  gibt.  Alle  Disziplinen 
des  historischen  Geistes  haben  nur  In  Ihrer  historischen 
Erscheinung  ihren  konkreten  und  Inhaltvollen  spekulativen  Be- 
griff. Der  formelle  Begriff,  den  die  gleichartigen  Gestalten 
verschiedener  historischer  Weltepochen,  also  z.  B.  römisches  und 
germanisches  Erbrecht,  als  Erbrecht  überhaupt  miteinander  ge- 
mein haben,  ist  nur  ein  ganz  abstrakter  und  Inhaltsloser,  der  durch 
die  Differenz  und  den  Gegensatz  des  Volksgeistes  in  den  ver- 
schiedenen Perioden  oft  zu  absolutem  Gegensatz  um- 
schlägt.  Das  Folgende  wird  dies  deutlich  genug  herausstellen. 


756 


II. 


DAS  WESEN  DES  GERMANISCHEN 
ERBRECHTS 


Mußten  wir  uns  bei  dem  römischen  Erbrecht  einer  selb- 
sächlichen  des  Stoffes  und  seiner  Geschichte  erst  hervor- 
die  verkannte  geistige  Bedeutung  desselben  aus  dem  Tat- 
sächlichen des  Stoffes  und  seiner  Geschichte  erst  hervor- 
treten zu  lassen,  so  werden  wir  uns  bei  dem  germanischen 
Erbrecht  um  so  kürzer  fassen  können.  Denn  teils  sind  hier 
die  Faktoren  selbst,  mit  denen  wir  unseren  Beweis  zu 
führen  haben,  infolge  ihrer  mit  der  Substanz  des  modernen 
Geistes  verwandten  Anschauung  bereits  richtiger  in  ihrer 
geistigen  Bedeutung  erkannt,  so  daß  wir  unsererseits  diese 
Prämissen  nur  zu  ihren  bisher  übersehenen  Folgerungen 
zu  treiben  haben,  teils  und  soforn  dies  auch  nicht  der  Fall 
ist,  wird  sich  jetzt  gerade  aus  dem  scharfen  Gegen- 
satze des  römischen  Erbrechtbegriffes  von  selbst  ein 
helles  und  unzweifelhaftes  Licht  über  das  differente  Wesen 
des  germanischen  Erbrechtes  ergießen.  Hier  wie  überall 
wird  der  Geist  in  seiner  Bestimmtheit  nur  aus  seinen 
Gegensätzen  klar.  Es  muß  daher  ausdrücklich  hervor- 
gehoben werden,  daß  das  Nachfolgende  Beweiskraft  wie 
Verständnis  nur  für  denjenigen  haben  wird  und  kann, 
welcher  unsere  Entwickelung  des  römischen  Erbrechtes  mit 
Aufmerksamkeit  mit  uns  durchgemacht  hat. 

Die  uralte  Rechtsmaxime:  ,,Le  mort  saisit  le  vif," 
,,der  Tote  erbet  den  Lebenden,"  wie  sie  deutsch, 
oder  ,,mortuus  aperit  oculos  viventis,"  wie  sie  lateinisch 
ausgedrückt  zu  werden  pflegt,  eine  Rechtsmaxime,  die  wir 
bei  allen  germanischen  Stämmen  wiederfinden,  ist  es,  welche 
in  jener  den  Rechtssprichwörtem  eigenen  energischen  Form 

759 


die  Anschauung  in  sich  enthält,  daß  die  Erbschaft  sofort 
und  unmittelbar  mit  dem  Tod  des  Erblassers  ipso  jure  auf 
den  Erben  übergehe^).  Wir  finden  diese  Anschauung  als 
seit  den  ältesten  Zeiten  dem  deutschen  Volksrechte  zu- 
grunde liegend^),  und  wo  immer  germanische  Stämme  sich 
niederließen,  in  Holland  und  England,  in  Frankreich,  Spa- 
nien und  Italien^),  haben  sie  diese  Anschauung  mitgenomi- 
men  und  ungeachtet  aller  dieser  Vermischung  mit  fremden 
und  romanischen  Elementen  zum  Rechte  gestaltet.  Ja,  diese 
Anschauung  lebt  mit  solcher  Kraft  in  der  ursprünglichsten 
Anlage  des  germanischen  Geistes,  daß  sie,  wenn  sie  natür- 
lich dem  römischen  Rechte  in  den  Ländern  weichen  mußte, 
wo  dieses  zum  gemeinen  Rechte  rezipiert  \\airde,  hierdurch 
nicht  beseitigt,  sondern  nur  in  das  Innere  des  Volksgeistes 
zurückgetrieben,  mit  ungeschwächter  Kraft  aus  demselben 
wieder  in  den   modernen   Gesetzgebungen  dieser  Völker 


*  *)  Siehe  Tiraquell,  De  regula:  le  mort  saisit  le  vif;  Opp., 
II,  1  sqq.  In  einer  Urkunde  von  1332  (s.  Miraei  Cod.  diplom. 
Belg.,  IIb.  II,  c.  82)  wird  sie  schon  als  altes  notorisches 
vaterländisches  Gewohnheitsrecht  bezogen  (,,se  esse  saisitum 
per  con&uetudinem  patriae  notariam,  quod  mortuus  saisit  vi- 
vum",  heißt  es  daselbst) ;  vgl.  Mittermaier,  Grundsätze  des 
deutschen  Rechtes.  5.  Ausg..  §  466.  Note  9—14.  In  Frank- 
reich findet  sich  die  Formel  schon  unter  Ludwig  IX. ;  s. 
Etabliss..  lib.  II,  c.  4,  und  Troplong  sur  les  Coütumes  dAmiens 
in  der  Revue  de  legislation,  XXV,  147. 

*)  Siehe  z.  B.  die  Leg.  Alemannic-,  Tit.  92 :  „Si  quis 
mulier  peperit  puerum  et  in  ipsa  hora  mortua  fuerit  et  infans 
vivus  remanserit  aliquanto  spacio,  vel  unius  horae,  et  postea  de- 
functus  fuerit,  hereditas  materna  ad  patrem  ejus  pertineat." 

'')  Heineccius.  Elem.  jur.  Germ..  Hb.  II.  Tit.  10.  §  296; 
Eiserhart,  Grundsätze  der  teutschen  Rechte  in  Sprichwörtern, 
3.  Ausg..  S.  329,  Note  2 ;  Eichhorn,  Einleitung  in  das  teutsche 
Privatrecht,  §  353. 

760 


hervorbricht,  wie  viele  Bestandteile  des  romischen  Rech- 
tes auch  sonst  in  dieselben  aufgenommen  sein  möchten. 

So  bildet  sie  in  Frankreich,  wo  sich  die  Formel :  Le 
mort  saisit  le  vif,  in  den  pays  coutumiers  das  ganze  Mittel- 
alter hindurch  erhalten  hat,  die  erbrechtliche  Grundlage 
des  Code  Napoleon.  Sie  beherrscht  das  preußische  Allge- 
meine Landrecht  ^),  und  findet  sich  nicht  weniger  im  öster- 
reichischen Gesetzbuch  ^  ) . 

Allein  es  ist  ersichtlich,  daß  wir  durch  die  Bezugnahme 
auf  diese  Formel  noch  keinen  Schritt  vorwärts  in  der 
Erklärung  jener  Anschauung  getan  haben.  Weit  entfernt, 
aus  dem  Rechtssprichworte  erklärt  werden  zu  können,  ist 
dieses  selbst  vielmehr  nur  der  gedrungene  und  körnige 
Ausdruck  jener  Anschauung,  und  kann  erst  aus  ihr  seine 
Erklärung  empfangen. 

Es  muß  sogar  vorläufig  scheinen,  als  ob  jene  Formel: 
Le  mort  saisit  le  vif,  auf  das  energischste  unsere  Behaup- 
tung verneinte,  daß  auch  nach  germanischem  Rechte  das 
Erbrecht  auf  der  eigenen  individuellen  Willensaktion 
des  Erben  beruht.  Denn  durch  diese  Formel  wird  ja  eben 
dies  auf  das  stärkste  ausgedrückt,  daß  durch  das  bloße 
Faktum  des  erblasserischen  Todes  und  ohne  irgendein 
weiteres  hinzukommendes  Moment  die  Erbschaft  das  ange- 
fallene Eigentum  des  Erben  sei,  und  eben  dies  wird  auch 
in  den  angeführten  Gesetzgebungen  auf  das  ausdrücklichste 
bestimmt.  Inzwischen,  die  Frage  nach  der  begrifflichen 
Erklärung  jener  Anschauung  und  die  Frage  nach  dem 
Nachweis,  wie  sie  dennoch  auch  nach  germanischem  Recht 
das  Erbrecht  durch  die  individuelle  Willensaktion  des 
Erben  vermittelt  sei,  sind  innerlich,  wie  wir  bereits  be- 


761 


«)  T. 

II 

Tit. 
Tit 

9.  §  367-370. 
8.  bes.  §  537. 

merkt  haben,  eine  Frage,  und  es  wird  sich  zeigen,  daß 
wir  mit  der  Beantwortung  der  ersten  auch  vollständig  die 
Basis  zu  der  Beantwortung  der  zweiten  gelegt  haben. 

Als  die  Germanen  in  der  Geschichte  auftreten,  kennen 
sie,  wie  bereits  Tacitus  bekundet,  nur  Intestaterbrecht^). 
Aber  schon  dieser  Name  allein  droht  durch  die  scheinbare 
Gleichartigkeit  mit  dem,  was  in  Rom  unter  Intestaterb- 
recht verstanden  wird,  gründlich  irre  zu  führen,  wenn  nicht 
der  ganze  Unterschied  beider  klargelegt  wird,  ein  Unter- 
schied, der  groß  genug  ist,  um  ihnen  nichts  gemeinsam 
zu  lassen  als  die  Benennung.  Denn  nicht  von  dem  Unter- 
schiede in  den  Rechtsvorschriften  ist  hier  die  Rede, 
der,  so  ungeheuer  er  ist,  immerhin  auch  noch  Gemeinsames 
übrig  ließe ;  sondern  von  dem  Unterschiede  in  der  Idee 
beider  Institute,  die  sie  bei  beiden  Völkern  zu  etwas  von 
Grund  aus  anderem  macht.  Schon  der  flüchtigsten  Betrach- 
tung wird  einleuchten  müssen,  daß  Intestaterbrecht,  welches 
nur  subsidiär  zur  Geltung  kommt,  wenn  der  indivi- 
duelle Wille  des  Erblassers  nicht  gesprochen  hat,  wie 
dies  in  Rom  der  Fall,  und  Intestaterbrecht  als  einziges 
und  exklusives,  den  abweichenden  Willen  des  Erb- 
lassers ausschließendes  Recht  zwei  grundverschiedene 
Dinge,  von  grundverschiedenen  Ideen  getragen  sein  müssen 
und  eigentlich,  scharf  ausgedrückt,  nichts  miteinander  ge- 
meinsam haben,  als  jenen,  in  dem  Tode  eines  Erblassers 
bestehenden  A n  1  a ß ,  die  Verschiedenheit  ihrer  Volks- 
geister aufzuzeigen. 

Der  Begriff  des  römischen  Intestaterbrechtes,  auf  dessen 
genau  nachgewiesenen  Geist  wir  uns  hier  zurückbeziehen 
müssen,  war  der  allgemeine  Wille  des  Volkes,  vorausge- 


^)  Tacitus,  German.,  c.  20:  ..Heredes  tarnen  successoresque 
sui  culque  liberi,  nullum  testamentum." 


762 


setzt,  aufgefaßt  und  geltend  als  der  Wille  dieses  be- 
stimmten, sich  nicht  besondernden  Individuums. 

Es  springt  in  die  Augen,  wie  dieser  Intestatbegriff 
schlechterdings  nichts  mit  demjenigen  des  germanischen 
Erbrechtes  gemeinsam  haben  kann:  denn  wenn  jener  Be- 
griff ein  Intestaterbrecht  durchdringen  muß,  welches  nur 
subsidiarisch  Platz  greift,  wenn  der  Erblasser  von  seiner 
absoluten  Freiheit  zu  testieren  keinen  Gebrauch  gemacht 
hat,  —  wie  kann  hiermit  ein  Intestaterbrecht  irgendetwas 
gemein  haben,  welches  wie  das  der  germanischen  Völker 
in  seiner  ursprünglichen  und  nationalen  Gestalt  aus- 
schließliches, testamentarische  Verfügung  gar  nicht 
kennendes  Erbrecht  ist ;  welches  ferner  diesen  herrschen- 
den und  prinzipalen  Charakter  des  Erbrechtes,  In- 
testatrecht  zu  sein,  auch  bis  in  seine  spätesten  und  mo- 
dernsten Fortbildungen  als  Noterbenrecht  und  Pflichtteil, 
neben  welchen  der  testamentarischen  Freiheit  immer  nur 
ein  bescheidener  und  nur  quantitativer  Teil  (disponible 
Quantität)  eingeräumt  ist,  unverrückbar  beibehält ;  und  wel- 
ches endlich,  mindestens  in  seiner  mittleren  Periode,  dies 
substantielle  und  selbständige  Recht  der  Intestaterben  so 
konsequent  festhält,  daß  das  Recht  derselben  nicht  erst 
mit  dem  Tode  des  Erblassers  beginnt,  sondern  schon  bei 
seinen  Lebzeiten  wirksam  vorhanden  ist  und  ihm  die  Frei- 
heit der  Veräußerung  des  ,,Erbeigen"  nimmt. 

Schon  die  soeben  angeführten  Momente  lassen  hinrei- 
chend deutlich  hervortreten,  daß  das  germanische  Intestat- 
erbrecht nun  wirklich  das  ist,  was  von  dem  römischen  mit 
Unrecht  behauptet  wird^):   wahres   Familienrecht. 

^)  Und  gerade  infolge  dieser  germanischen  Anschauung 
von  ihm  behauptet  wird,  die,  wie  im  ganzen  heutigen  Bewußtsein, 
so  auch  in  dem  unserer  modernen  römischen  Juristen  unmerklich 
fortlebt. 

763 


Es  handelt  sich  nur  darum,  letzteren  Begriff  näher  und 
schärfer  darzulegen. 

Der  Begriff  der  Familie  ist  die  sittliche  Identität 
der  Personen,  die  zu  ihrer  substantiellen  Grundlage 
nicht  mehr  das  bloße  Setzen  des  subjektiven  Willens, 
die  Willensaneignung,  sondern  die  sich  empfindende 
Einheit  des  Geistes  oder  die  Liebe^)  hat-).  Da  die 
Empfindung  das  Unmittelbare  oder  Seiende  im 
Geiste  ist,  so  Ist  die  Einheit  hier  als  seiende  vorhanden, 
oder  sie  ist  Identität  des  Blutes.  Hier  tritt  also  die 
Zeugung  in  ihrem  spezifischen  Charakter  hervor.  Wenn 
aber  diese  sittliche  Personeneinheit  der  Begriff  der  Familie 
ist,  so  ergeben  sich  mit  Notwendigkeit  daraus  folgende  be- 
griffliche Konsequenzen:  Das  Vermögen  wird  seiner  Sub- 
stanz nach  ein  an  sich  gemeinsames  Familien- 
eigentum sein.  Das  Recht  des  Intestaterben  auf  das  Ver- 
mögen wird  daher  nicht  erst  beim  Tode  des  Erblassers 
entstehen  und  nicht  durch  dessen  Willen  verliehen  sein. 
Wie  es  sich  vielmehr  auf  das  seiende  Verhältnis  als 
Familienglied  gründet,  so  wird  dies  an  sich  seiende 
Recht  daher  schon  mit  seinem  Eintreten  in  die  Familie, 
mit  seinem  Erzeugtsein  von  Ihm  erworben  sein,  und 
nur  mit  dem  Todesfall  In  Wirklichkeit  treten.  Endlich 
wird  demnach  dies  schon  bei  Lebzeiten  des  Erblassers  an 
sich  vorhandene  eigene  Recht  des  Erben  sich  deshalb  auch 
schon  bei  Lebzelten  des  Erblassers  als  daseiend  zeigen 


^)  Siehe   Hegel,   Rechtsphilosophie,   §  158  fg. 

^)  Man  könnte  also  in  der  Tat,  wenn  es  um  kurze  Anti- 
thesen zu  tun  ist,  und  wenn  man  den  konkreten  Inhalt  der 
darin  eingeschlossenen  begrifflichen  Entwickelung  in  seiner  be- 
stimmten Begrenzung  dabei  vor  Augen  hat,  etwa  sagen, 
der  römische  Volksgeist  verhält  sich  zum  germanischen  wie 
Wille  zu  Liebe. 

764 


und  durch  die  Beschränkung  seines  individuellen  Eigen- 
tumsrechtes jene  an  sich  seiende  Gemeinsamkeit  der  Ver- 
mögenssubstanz dartun  müssen. 

Und  schließlich  ist  durch  alles  dieses  schon  gegeben, 
daß  das  Erbrecht,  während  es  in  Rom  in  seiner  Substanz 
ein  Recht  auf  die  Willensfortsetzung  des  Individuums 
war,  und  der  Erbe  sich  nur  infolge  dessen  durch  das  Ein- 
treten in  diese  Willenssubjektivität  alles  von  ihr  Depen- 
dierenden  akzidentell  bemächtigte,  bei  den  germanischen 
Völkern,  als  das  eigene  und  selbständige  Recht  des 
Familiengliedes,  nicht  mehr  ein  Recht  auf  Willenskonti- 
nuität, sondern  hier  in  der  Tat  auch  seiner  Substanz  nach 
nichts  anderes  als  ein  Vermögensrecht  ist,  ein  Recht 
auf  seinen  bei  dem  Eintritt  in  die  Familie  erworbenen 
Anteil  an  dem  an  sich  gemeinsamen  Familienver- 
mögen. 

Diese  Züge  des  Begriffes  sind  in  so  offen  zutage  lie- 
gender Weise  diejenigen  des  germanischen  Erbrechtes,  daß 
ein  detailliertes  Eingehen  hier  durchaus  nicht  erforderlich 
ist  und  wenige  Erinnerungen  hinreichen,  um  diese  Überein- 
stimmung völlig  darzutun. 

Wenn  der  erste  Grundsatz  des  römischen  Erbrechtes  ist, 
daß  der  Erbe  mit  seinem  eigenen  Vermögen  für  alle  Schul- 
den des  Erblassers  haftet,  so  ist  der  erste  Grundsatz  des 
germanischen  Rechtes,  weil  dieses  in  dem  Erbtum  keine 
Willenskontinuität,  sondern  nur  einen  Vermögenser- 
werb  erblickt,  daß  die  aus  diesem  Erwerbe  entspringenden 
Verpflichtungen  den  Erwerb  selbst  nie  übersteigen,  der 
Erbe  also  nicht  ultra  vires  hereditatis  verhaftet  sein  kann^)  : 
„Hie  behalte  dies  sonderlich,  daß  der  erbe  seines  sonder- 


^)  Glosse  zum  Sachsenspiegel,  I,  6. 

765 


liehen,  vor  sich  gewonnen,  eigenen  guts  nichts  für  des 
verstorbenen  schuld  geben  noch  zahlen  darf"^). 

Lange  nachdem  die  testamentarischen  Dispositionen  ge- 
meinüblich geworden  sind,  darf  doch  nur  derjenige,  der 
keine  gesetzlichen  Erben  hat,  beliebig  testieren.  Derjenige 
aber,  w^elcher  gesetzliche  Erben  hat,  darf  nicht  nur  bloß 
insoweit  testieren,  als  dies  die  Rechte  der  nächsten  Erben 
gestatten,  sondern  selbst  innerhalb  dieser  Grenzen  häufig 


^)  Und  es  ist  dies  in  der  germanischen  Erbanschauung  so 
notwendig,  daß  trotz  aller  Aufnahme  von  römischen  Rechtsideen 
das  Allgemeine  Landrecht  das  Prinzip  aufstellt,  wer  durch  pro 
herede  gestio  eine  Erbschaft  antritt,  solle  vermutet  werden, 
dieselbe  nur  unter  dem  Vorbehalt  der  Rechts  wohltat  des 
Inventars  anzutreten  (T.  I,  Tit.  9.  §  420).  Zur  Beseiti- 
gung dieser  Rechtswohltat  ist  eine  , .deutliche  und  be- 
stimmte Entsagung"  auf  dieselbe  —  also  ein  beson- 
derer Wille  —  erforderhch  (das.,  §  414).  Man  sieht,  wie 
sich  hier  die  Vermutung  in  das  direkte  Gegenteil  ihrer  Stellung 
im  römischen  Recht  umkehrt,  und  man  sieht  jetzt  auch,  warum 
sie  sich  umkehrt.  Was  dort  Ausnahme  ist,  wird  hier  Regel, 
was  dort  Regel,  hier  Ausnahme,  und  zwar  aus  keinem  anderen 
Grunde,  als  weil  den  germanischen  Völkern  das  Erbrecht  von 
vornherein  und  prinzipiell  nichts  anderes  als  Vermögens- 
recht ist,  während  es  im  römischen  Recht,  und  zwar  auch  erst 
in  seiner  letzten,  justinianeischen  Gestalt,  nxir  durch  beson- 
deren Vorbehalt  zu  einem  bloßen  Vermögenserwerb 
gemacht  werden  konnte.  Wenn  deutsche  Juristen  noch  so  sehr 
römisches  Recht  machen  wollen,  so  werden  sie  Rechtssätze 
aus  demselben  aufnehmen,  aber,  unter  einer  ganz  geänderten 
Weltanschauung  stehend,  diese  unbewußt  in  das  begriff- 
liche Gegenteil  ihrer  Bedeutung  im  römischen  Rechte  ver- 
wandeln. —  In  Sachsen  ist  der  Erbe  gleichfalls  nicht  über 
die  vires  hereditatis  gehalten;  siehe  Haubold.  Lehrb.  d.  sächs. 
Rechtes,  §  348. 

766 


nur  dann,  wenn  er  zugunsten  eines  Verwandten  oder  Ehe- 
gatten verfügt^). 

Das  unbedingte  Recht  des  nächsten  Erben  ist  das 
Eigen,  Erbeigen  (die  Propres,  Propres  de  heritage, 
wie  diese  Güter  in  den  französischen  Coütumes,  wo  sie 
ganz  dieselbe  rechtliche  Stellung  einnehmen,  heißen),  über 
welches  dem  Erblasser  die  Befugnis  testamentarischer  Dis- 
position nicht  zusteht.  „Ane  erwen  gelof  mus  nieman 
sin  egen  gewen"^).  Es  ist  für  unseren  Zweck  überflüssig, 
uns  auf  den  Streit  einzulassen,  ob  der  Erblasser  bloß  über 
die  Fahrnis  oder  über  die  Fahrnis  und  die  Errun- 
genschaft (conquets)  verfügen  kann^).  Der  Gedanke 
ist  in  beiden  Fällen  derselbe.  Denn  es  wird  emleuchtend 
sein,  daß  das  Verhältnis  der  Fahrnis  und  des  Grund- 
eigentums zueinander  vom  germanischen  Rechte  nicht 
anders  aufgefaßt  wird  als  das  Verhältnis  der  Substanz 
des  Vermögens,  des  fundus,  zu  ihren  Früchten.  Es  be- 
darf nur  des  flüchtigsten  Blickes  auf  die  ökonomischen 
Verhältnisse  jener  Zeiten,  in  welchen  diese  Unterscheidung 
von  Fahrnis  und  Erbgut  entstanden  ist,  auf  die  überwie- 
gende Wichtigkeit  des  Grundeigentums  dazumal,  sowohl 
im  Verhältnis  zu  der  Masse  des  mobilen  Vermögens  als 
in  Hinsicht  auf  den  Erwerb  desselben,  der  damals  fast 
ausschließlich  aus  dem  Grundbesitz  hervorging,  um  dies  in 
seiner  ganzen  Notwendigkeit  als  einen  Ausdruck  der  tat- 
sächlichen ökonomischen  Verhältnisse  jener  Zeiten  zu 
begreifen.  Die  Fahrnis  wird  also  nur  als  die  Nutzung 


1)  Schwabenspiegel.  Kap.  283.  §§  2.  3;  Kap.  285.  290  bis 
294.  Senkenberg.  Ausg. ;  Sydow.  Darstellung  des  Erbrechtes 
nach  den  Grundsätzen  des  Sachsenspiegels.  S.  304  fg. 

2)  Sachsenspiegel,  I.  52. 

^)  Mlttermaler,  Grundsätze  des  gem.  deutschen  Prlvatrechtes, 
5.  Ausg.,  §  467,  und  dagegen  Eichhorn,  Einleitung.  §  332. 

767 


des  Eigentums  und  als  aus  dieser  entstanden  auf- 
gefaßt, und  unterliegt  daher,  vvie  die  Nutzungen  selbst, 
während  seines  Lebens  der  Dispositionsbefugnis  des  Erb- 
lassers. 

Nur  der  Grundbesitz  erscheint  als  die  Substanz  des 
Vermögens  und  ist  daher,  wie  sich  dies  schon  oben  bei  der 
begrifflichen  Entvvickelung  ergab,  als  Substanz  der  an 
sich  gemeinsame  Vermögensstock  der  Familie,  welcher 
deshalb  der  freien  Dispositionsbefugnis  entzogen  ist.  Es 
kann  daher  für  das  Interesse  des  Begriffes  gleichgültig 
sein,  ob  das  von  einem  Individuum  nicht  geerbte,  sondern 
individuell  erworbene  Gut,  die  Errungenschaft  (acquet), 
der  Fahrnis  gleichgestellt  wird,  weil  es  wie  diese 
als  aus  den  Nutzungen  des  Erbgutes  hervorgegangen 
angesehen  wird,  oder  ob  es  wie  das  Erbgut,  also  als 
Vermögens  Substanz,  behandelt  wird,  weil  es  selbst  wie- 
der die  Form  von  Grundeigentum  angenommen  hat^). 

Aber  nicht  nur  testamentarisch  kann  der  Erblasser  nicht 
über  das  Erbeigen  disponieren,  sondern  auch  unter  Le- 
benden kann  er  wegen  jenes  an  sich  vorhandenen  Rechtes 
der  Erben  nicht  mit  Gültigkeit  darüber  verfügen.  Der 
nächste  Erbe  kann  die  ohne  seine  Einwilligung  vorgenom- 


^)  Es  erhellt  übrigens,  -  daß  die  erstere  Meinung  (Gleich- 
stellung von  Fahrnis  und  Errungenschaft)  die  bei  weitem  grö- 
ßere begriffliche  Konsequenz  für  sich  hat,  wie  sie  auch  von 
fast  allen  französischen  coütumes  bei  den  propres  festgehalten 
Nvird  (und  noch  heute  der  französischen  ehelichen  Gütergemein- 
schaft zugrunde  liegt).  Wenn  der  Sachsenspiegel  und  der  land- 
rechthche  Richtsteig  die  zweite  Meinung  zu  schützen  scheinen, 
während  die  Glossen  zum  Sachsenspiegel  selbst  widersprechen 
(,,Hat  och  ein  Mann  Erbe  und  Eigen  um  sein  wohlgewonnen 
habe  gekouft,  er  mag  daz  Gut  geben  und  uf lassen,  wem  er 
will."  ,,Das  Eigen,  daz  an  uns  irstirbet  von  Erbegangk, 
daz  heißt  Erbeigen  und  daz  mag  man  nicht  lassen  ohne 

768 


mene  Veräußerung  des  Erbeigen  durch  den  Eigentümer 
binnen  Jahr  und  Tag  widerrufen,  und  wenn  wir  oben  sahen, 
daß  der  Erbe  nicht  mit  seinem  persönHchen  Vermögen 
für  die  Schulden  des  Erblassers  verbunden  ist,  so  ist 
jetzt  nun  weiter  hinzuzufügen,  daß  er  auch  nicht  einmal 
mit  dem  Erbeigen,  sondern  nur  mit  der  ererbten 
Fahrnis  (und  resp.  der  ererbten  Errungenschaft)  für  die- 
selben haftet^):  ,,Swe  so  dat  erwe  nimmt,  die  sal  dur 
recht  die  scult  geben  also  vorn,  als  it  erwe  geweret 
anvarender  hawe."  Und  der  Landrechtliche  Richtsteig 
antwortet  auf  die  Frage,  wiefern  die  Witwe  die  Schuld 
zahlen  solle-)  :  ,,Also  verrn  dat  erwe  weret  an  varen- 
der  hawen;  mit  den  eygenen  en  darff  men  geen 
schold  gelten,  wan  hut  sonder  sünreerwen  orlowe 
niet  laten  en  mach."  Ja,  nicht  einmal  unter  seinen 
Söhnen  selbst  kann  der  Eigentümer  eine  beliebige  Vertei- 
lung des  Erbeigen  vornehmen.  Es  kommt  nicht  nur  darauf 
an,  daß  die  Familiensubstanz  überhaupt  berück- 
sichtigt sei,  sondern  jedes  einzelne  dieser  Glieder  hat 
bei  seinem  Eintritt  in  die  Familie  für  sich  das  indivi- 
duelle Recht  erworben  auf  gleichen  Anteil  an  dem 


Erben  Laube"),  und  schon  die  alten  Volksrechte  diesen  Un- 
terschied kennen,  so  ist  teils  zu  bemerken,  daß  man,  wenn  in 
Gesetzesstellen,  die  über  Erbrecht  handeln,  bloß  Fahrnis  und 
Eigen  einander  entgegengesetzt  werden,  hieraus  nach  der  obigen 
Erörterung  nun  nicht  mehr  den  Schluß  machen  kann,  die 
Errungenschaft  sei  dadurch,  weil  sie  doch  nicht  Falirnis  sei, 
dem  Eigen  gleichgestellt ;  teils  hat  man  bereits  die  Ansicht  auf- 
gestellt, daß  der  Sachsenspiegier  eine  partikular-rechtliche  An- 
schauung, nicht  diejenige  des  gemeinen  deutschen  Rechtes,  darin 
wiedergibt. 

^)  Sachsenspiegel,  I.  6. 

")  Kap.   10,  Senkenberg.  Ausg. 

27    LiäiaUe.    C«e.  Sctrift«.   BanJ   XII.  769 


an  sich  gemeinsamen  Familienvermögen,  wie  dies  be- 
reits in  den  alten  Volksrechten  hervortritt  0- 

In  dieser  Dispositionsbeschränkung  des  Eigentümers, 
selbst  unter  Lebenden,  in  dieser  Nichtverhaftiing  des  Erb- 
gutes für  die  Schulden  des  Erblassers  zeigt  sich  auf  das 
unbestreitbarste,  wie  das  Eigentum  gemeinsames 
Eigentum  der  Familie  ist  und  somit  das  schon  durch 
die  Geburt  eines  jeden  Familiengliedes  erworbene  an- 
sichseiende  Eigentumsrecht  des  Erben  auf  dasselbe, 
ein  Charakterzug,  der  überall  in  den  germanischen  Rechten 
zutage  tritt.  Wenn  es  im  Sachsenspiegel  heißt  ^)  :  ,,Swat 
man  enem  manne  oder  wiwe  gift,  dat  sollen  sie  besitten  dre 
dage.  Swat  sie  mit  klage  irvorderet  oder  uppe  sie 
geerwet  wert,  das  en  dorfen  sie  nicht  besitten," 
so  erhellt  jetzt  von  selbst,  warum  gerade  bei  diesen  beiden 
Arten  von  Eigentumserwerb  der  Besitz  nicht  gefordert 
wird.  Beide  Arten  des  Erwerbes,  Rechtsstreit  wie  Erb- 
schaft, stimmen  nämlich  darin  überein,  daß  das  Recht 
selbst  nicht  erst  jetzt  erworben,  sondern  als  an  sich 
schon  früher  vorhanden  und  als  jetzt  nur  durch  die  Klage 
resp.  Erbschaft  zur  Anerkennung  und  Verwirk- 
lichung gebracht  angesehen  wird^). 


■^)  Siehe  z.  B.  Lex  Burgundionum.  Tit.  I,  c  1  :  ,.Ut  palri, 
etiam  antequam  (cum  filiis)  dividat,  de  communi  facultate  et 
de  labore  suo  (individuelle  Errungenschaft,  in  ihrem  Begriffe 
also  mit  der  Nutzung  ganz  zusammenfallend  und  darum 
labor)  cuilibet  dare  liceat,  absqne  terra  sortis  titulo  (Erbeigen) 
acquisita." 

2)  III.  83. 

*)  Vgl.  §  10  der  Theorie,  Bd.  I,  wo  wir  gesehen  haben,  daß, 
wenn  ein  Erwerb  von  der  gegenwärtigen  Rechtsidee  selbst  nur 
als  die  Realisierung  eines  schon  früher  als  an  sich  vor- 
handen gedachten  Rechtes  aufgefaßt  wird,  diese  Verwirk- 
lichung, doch  ohne  Berührung  der  rechtlichen  Folgen  in- 

770 


Die  innere  Notwendigkeit  der  Maxime:  Le  mort  saisit 
le  vif,  muß  sich  jetzt  aus  den  vorstehenden  Erörterungen 
mit  vollster  Evidenz  ergeben  haben.  Das  Eigentum  an  der 
Erbschaft  muß  ipso  jure  durch  den  Tod  des  Erblassers 
auf  den  Erben  übergehen,  weil  dasselbe  schon  vorher  an 
sich  gemeinsames  Familieneigentum  war^),  oder  weil  das 
Eigentumsrecht  des  Erben  weder  durch  den  Willen  des 
Erblassers,  noch  erst  zur  Zeit  seines  Todes  erwor- 
ben wird,  sondern  schon  durch  die  Geburt  des  Erben 
ein  an  sich  erworbenes  war  und  nur  jetzt  aus  diesem 
ansich  seienden,  latenten  Zustand  aktuell  oder  für 
sich  wird.  Das  vinculum  juris  läuft  daher,  wie  z.B.  bei 
einer  bedingten  Obligation,  auf  die  Zeit  der  Geburt  des 
Erben  zurück,  und  es  kann  daher,  wenn  die  vorausbe- 
stimmte Bedingung  eintritt,  von  keiner  Erwerbshand- 
lung noch  von  einem  neuen  Willen  zu  erwerben  die 
Rede  sein,  weil  überhaupt  kein  neuer  Erwerb  vorliegt. 

Es  ist  nur  das  an  sich  Seinige,  worüber  der  Erbe 

nerhalb  der  Zeit  des  bloßen  Ansichseins,  auf  die  Zeit 
des  ansichseienden  Rechtes  zurücklaufen  muß.  Wir 
sehen  dies  hier  also  auch  durch  das  germanische  Recht  be- 
stätigt. 

^)  Vgl.  Fischer,  Das  erbschaftliche  Versendungsrecht  ohne 
Besitzergreifung  (Regensburg  1786),  S.  73  fg.  Es  darf  aber 
nicht  übersehen  werden,  wie  daselbst  geschieht,  daß  das  Eigen- 
tum nur  an  sich  gemeinsames  Eigentum  der  Familie,  nicht 
aktuelles  Gesamtfamilieneigentum  ist,  und  daher  von  vornherein 
die  Bestimmung  hat,  bei  der  Auflösung  der  Familie  (Tod) 
sich  in  die  bei  dem  Eintritt  eines  jeden  ihrer  Glieder  ideell 
erworbenen  Anteile  auflösen  zu  können. 

Deshalb  bildet  aber  auch  das  Recht  und  der  usus  der  Tei- 
lung unter  den  Erben  keinen  Einwurf  gegen  den  hier  festge- 
stellten Charakter  des  germanischen  Eigentums  als  Gesamteigen- 
tum der  Familie. 

27-  771 


jetzt  freie  Dispositionsbefugnis  erlangt,  indem  die  Ge- 
bundenheit desselben  in  Gemäßheit  der  beim  Eintritt  des 
Erben  in  die  Familie  vorausbestimmten  Weise  fortfällt. 
Wenn  hiemach  der  mit  dem  Todesfall  des  Erblassers 
eo  ipso  eintretende  Übergang  des  Eigentums  bei  der  Grund- 
idee des  germanischen  Erbrechtes  eine  der  Rechtsidee  selbst 
entfließende  Konsequenz  ist,  wenn  also  die  Maxime :  Le 
mort  saisit  le  vif,  darin  ihre  begriffliche  Erklärung  und 
gebieterische  Notwendigkeit  hat,  daß  die  Erbschaft  kein 
neues,  jetzt  erst  entstehendes  Recht  des  Erben,  sondern 
nur  das  Aktuellwerden  seines  schon  früher  erworbenen,  a  n  - 
sich  seienden  Eigentumsrechtes  darstellt,  so  ist  aber 
auch  nicht  weniger  klar,  daß  dieser  Eigentumserwerb  des 
Erben  nichtsdestoweniger  durch  eine  individuelle  Wil- 
lensaktion desselben  vermittelt,  und  also  wahrhaft  er- 
worbenes Recht  ist.  Nur  daß  diese  individuelle  Willens- 
aktion des  Erben  nicht  zur  Zeit  der  Erbschaft  zu  suchen 
ist,  sondern  auf  die  seiner  Geburt  zurückläuft.  Zwar 
stellt  sich  die  Geburt  sinnlich  als  ein  unpersönliches 
Faktum  seitens  des  Geborenen  dar.  Aber  es  tritt  hier 
wieder  ein,  was  wir  bereits  Bd.  I,  §  2,  A.,  von  der 
Personenrepräsentation  überhaupt  gesehen  haben,  infolge 
derselben  die  durch  die  Geburt,  da  sie  zwar  seitens  des 
Erzeugten  sich  als  eine  Tatsache,  seitens  des  Erzeugers 
aber  als  W  i  1 1  e  n  s  a  k  t  i  o  n  darstellt,  entstandenen  Rechte 
als  durch  die  eigene  individuelle  Willensaktion 
des  Geborenen  erworben  angesehen  werden  müssen.  Wenn 
dies  schon  von  der  nur  formellen  römischen  Personen- 
repräsentation  gilt,  so  gilt  es  nur  um  so  stärker  von  der 
sittlichen  Identität  der  Personen,  welche  in  der 
Idee  der  germanischen  Familie  hervortritt.  Es  ist  infolge 
der  Gesinnung  der  Liebe,  in  welcher  (s.  oben  S.  764) 
die  sittliche  Einheit  der  Personen  besteht,  die  Absicht 

772 


und  der  Wille  des  Vaters,  auf  das  Kind  bei  der  Er- 
zeugung alle  die  Rechte  zu  übertragen  und  für  es  zu  er- 
werben, welche  ihm  durch  Geburt  entstehen,  und  dieser 
Wille  des  Erzeugers  erscheint  bei  der  in  der  sittlichen 
Einheit  derselben  gegebenen  Identität  des  Geistes  und 
der  Gesittung  deshalb  hier  nicht  nur  formell  als  die 
eigeneWillensaktion  des  mit  seinem  Vater  identischen 
und  in  ihm  wollenden  Kindes  0.  sondern  auch  inhaltlich 


^)  Die  Auffassung  des  Erbrechtes,  als  in  der  sittlichen 
Personenidentität  der  Familie  beruhend,  die  ihre  äußere 
Realität  in  dem  an  sich  gemeinsamen  Vermögen  hat,  ge- 
hört, worauf  schon  früher  verwiesen  (S.  480,  Note  2),  Hegel 
an,  und  ist  da  in  dem  Vorangehenden  nur  näher  expliziert  wor- 
den. Nur  daß  Hegel  in  den  Irrtum  verfiel,  für  die  Idee  des 
Erbrechtes  überhaupt  zu  nehmen,  was  eben  nur  die  be- 
stimmte historische  Idee  des  germanischen  Erb- 
rechtes ist.  Dem  römischen  Erbrecht  ist  dieser  Begriff, 
wie  wir  gesehen  haben,  durchaus  fremd  und  unzupassend,  sowohl 
dem  Intestatrecht  wie  dem  testamentarischen.  Es  ist  bis  heran 
noch  ein  in  allen  Wissenschaften,  in  Rechts-  wie  Kunst-  und 
Geistesphilosophie  überhaupt  sich  fühlbar  machender  Mangel 
der  Philosophie,  daß  für  eine  absolute  und  logische  Ka- 
tegorie genommen  wird,  was  nur  der  Begriff  einer  bestimm- 
ten historischen  Gestalt  des  Geistes,  der  Inhalt  einer 
bestimmten  National-  und  Zeitidee,  also  historische 
Geistes kategorie  ist.  (Wir  werden  z.B.  noch  im  Verlauf 
sehen,  inwiefern  es  gerade  beim  Erbrecht  Leibniz  ähnlich  er- 
gangen Ist,  wie  Hegel.)  Selbstredend  wird  hierdurch  halbe 
Wahrheil  produziert,  indem  nämlich  einerseits  der  wahrhafte 
Begriff  einer  bestimmten  historischen  Geistesrealität,  z.B. 
des  germanischen  Erbrechtes,  wirklich  getroffen  wird,  anderer- 
seits aber  dieser  bloß  historische  Geistesinhalt  jetzt  zum 
logischen  Begriff  jener  Geistesform  in  allen  Zeiten  und  bei 
allen  Nationen  gemacht  werden  soll,  während  er  hier  einen 
ganz  anderen,  oft  schlechthin  entgegengesetzten  gei- 
stigen Inhalt  hat.  Diese  halbe  Wahrheit  Ist  daher,  well  zu  einer 

773 


als  die  Willensaktion  des  für  es,  das  Kind,  wollenden 
Vaters. 

bestimmten  Zeit  zutreffend  und  hierdurch  bestechend,  für  die 
wirkliche  begriffliche  Erkenntnis  solcher  Institute  häufig  um  so 
hinderlicher.  Worauf  diese  Verwechselung  der  absolut-logi- 
schen und  der  historischen  Kategorien  des  Geistes  beruht, 
das  Wahre,  das  auch  diesem  Irrtum  zugrunde  liegt,  und  wie  letz- 
terer allein  zu  vermeiden  ist,  —  dies  auseinanderzusetzen  kann 
nicht  mehr  Gegenstand  des  gegenwärtigen  Werkes  sein.  Es  läßt 
sich  dies  vielmehr  nur  durch  die  Nachweisung  des  Verhältnisses 
erreichen,  welches  zwischen  dem  formellen  Begriff  des  Gei- 
stes und  seinem  historischen  Inhalt,  seinem  historischen 
Begriff,  besteht,  also  nur  durch  eine  systematische  Ent- 
wich elung  der  Philosophie  des  Geistes,  eine  viel- 
leicht künftig  von  uns  zu  erbringende  Arbeit,  auf  die  wir  bereits 
früher  hinzuweisen  veranlaßt  waren.  Nur  soviel  ergibt  sich 
aus  dem  Vorigen  von  selbst,  daß  erst  aus  dem  konkreten  Ver- 
ständnis der  Idee  der  bestimmten  historischen  Erbrechts- 
systeme, des  orientalischen,  römischen,  germanischen,  daß  erst 
aus  der  scharfen  Erfassung  des  schlechthinnigen  Gegen- 
satzes, in  welchem  die  Begriffe  derselben  zueinander  stehen, 
für  welche  das  Erbrecht  nur  die  gemeinsame  Form  und 
Hülse  Ist,  die  Verschiedenheit  ihres  Inhaltes  dahinein 
auszuschütten,  festgestellt  werden  kann,  inwiefern  von  Erb- 
recht überhaupt  gesprochen  und  was  darunter  verstanden 
werden  kann. 

Weil  Hegel  den  Begriff  des  germanischen  Erbrechtes 
für  den  des  Erbrechtes  überhaupt  nimmt,  kommt  er  auch 
nur  dazu,  das  Intestaterbrecht  zu  konstruieren.  Das  Te- 
stamentsrecht dagegen  macht  Ihm  Verlegenheit,  und  muß 
ihm  solche  machen,  weil  Hegel  eben  nicht  die  Idee  des  römi- 
schen Erbrechtes  erfaßt  hat,  mit  \velchem  das  Testaments- 
recht seinem  Begriffe  nach  identisch  ist.  Hegel  erklärt  daher 
(^Rechtsphilosophie,  §  179  fg.)  das  Testament  für  eine  Nach- 
bildung der  Familie,  durch  Bildung  eines  Kreises  von  Freun- 
den, Bekannten  usw.  Abgesehen  davon,  daß  dies  auf  das  römi- 
sche   Erbrecht    durchaus   nicht    passen    würde,    enthält    es    aber 

774 


Allein  wenn  in  dem  Vorstehenden  die  geistige  Notwen- 
digkeit der  Maxime:  Le  mort  saisit  le  vif,  für  das  ger- 


aucli  einen  nicht  zu  versöhnenden  inneren  Widerspruch  gegen 
das.  was  Hegel  als  die  Idee  der  Erbschaft  überhaupt  angegeben. 
Denn  wenn  das  durch  die  sittliche  Identität  der  natürlichen 
Familie  bewirkte,  an  sich  gemeinsame  Eigentumsrecht  derselben 
der  Begriff  des  Erbrechtes  sein  soll,  so  fehlt  ja  eben  die 
Befugnis  zu  jener  Nachbildung  in  der  Sphäre  des 
Vermögens,  und  es  kann  also  mindestens  in  bezug  auf  das 
Vermögen  zu  einer  solchen  Nachbildung  gar  nicht  kommen. 
Um  diesem  zu  begegnen,  soll  nach  Hegel  durch  das  mit  dem 
Tod  gegebene  „Auseinanderfallen"  (der  Familie)  diese 
..Freiheit  für  die  Willkür  der  Familienglieder"  entstehen.  Allein 
hierdurch  tritt  der  Widerspruch,  weit  entfernt,  versöhnt  zu 
werden,  nur  um  so  schärfer  hervor.  Denn  in  demselben  ideellen 
Moment,  in  welchem  durch  dies  Auseinanderfallen  der 
Familie  diese  Freiheit  für  das  Individuum  eintreten  würde,  ist 
ja  auch  schon  das  an  sich  gemeinsame  Vermögen  in  wirkliches 
Eigeniumsrecht  der  einzelnen  Familien glie der.  in  bestimmte 
Anteile  derselben  übergegangen  (le  mort  saisit  le  vif),  und 
wenn  also  vor  dem  Tode  des  Testators  die  Befugnis  zu 
testieren  wegen  des  Familienrechtes  fehlte,  so  fehlt  nach  dem 
Auseinanderfallen  der  Familie,  also  nach  dem  Tode  des  Te- 
stators, ihm  auch  noch  die  Substanz,  über  die  sein  Wille 
verfügen  könnte. 

Es  läßt  sich  also  nicht  verkennen,  daß  bei  Hegel,  so  sehr 
man  dies  allgemein  übersehen  hat,  gar  kein  irgend  stichhaltiger 
Begriff  des  testamentarischen  Rechtes  zu  finden  ist.  Und  es 
konnte  dies  auch  gar  nicht  anders  sein,  da  sein  Begriff  des 
Erbrechtes  überhaupt  abgezogen  ist  von  dem  Geiste 
eines  Volkes,  dessen  Erbrecht  wesentlich  In  testatrecht 
ist.  und  dem  daher  der  Begriff  des  testamentarischen  innerlich 
stets  ebenso  fremd  bleibt,  wie  das  Testament  selbst  semem 
ursprünglichen   nationalen  Geiste  unbekannt  war. 

Dies  ist  denn  auch  der  Grund,  weshalb  Hegel  (das..  §  180) 
mit  solcher  Ungunst  das  Testament  überhaupt  betrachtet.  Er 
erklärt  ausdrücklich,  die  bloße  Willkür  des  Verstorbenen  könne 
nicht  zum  Prinzip  für  das  Recht  zu  testieren  gemacht 

775 


manische  Erbrecht  sich  ergeben  hat,  so  paßt  doch  alles 
bisher  Gesagte  offenbar  lediglich  und  ausschließlich  nur 
auf  das  Intestaterbrecht,  wegen  des  diesem  zugrunde 
liegenden,  an  sich  gememsamen  Eigentums  der  Familie, 
und  es  entsteht  daher  nun  die  Frage:  Wie  erklärt  sich, 
daß  dieselbe  Maxime  auch  das  Testamentsrecht  dieser 
Völker  bis  auf  die  heutige  Zeit  beherrscht  ? 

Aber  diese  Frage  kann  bereits  für  keinen,  der  unserer 
Entwicklung  des  römischen  und  germanischen  Erbrechtes 
mit  Aufmerksamkeit  gefolgt  ist,  eine  Frage  mehr  sein. 


werden,  und  das  von  derselben  beherrschte  römische  Erbrecht 
erscheint  ihm  daher  nur  als  Unsittlichkeit,  wird  ausdrück- 
lich so  von  ihm  qualifiziert  und  mit  dem  Rechte  des  Vaters, 
die  Kinder  zu  verkaufen,  verglichen.  Man  kann  für  heute 
dem  Testament  ebenso  abgeneigt  sein,  als  Hegel,  und  es  wird 
sich  vielleicht  bald  zeigen,  daß  sich  aus  unseren  objektiven 
Darstellungen  zwar  andere,  aber  noch  radikalere  Folgerungen 
über  das  moderne  Testamentsrecht  von  selbst  ergeben.  Aber 
dies  auch  auf  die  Entstehung  des  Testamentes  in  der  histo- 
rischen Entwickelung  des  Geistes  anwenden,  und  somit  auch 
in  dem  römischen  Recht  nur  Willkür  und  Unsittlich- 
keit sehen  wollen,  heißt  demselben  hohes  Unrecht  tun  und 
gegen  die  systematische  Anforderung  der  Hegeischen  Philoso- 
phie selbst  verstoßen,  wonach  die  historischen  Instanzen  als 
die  stufenweisen  Entwickelungen  des  vernünftigen  und  sittlichen 
Geistes  zu  begreifen  sind.  Hegel  war  zu  diesem  Verstoß 
gegen  seine  eigene  Philosophie  gezwungen,  \veil  natürlich  auch 
er,  hereditas  und  bonorum  possessio  für  begrifflich  identisch 
haltend,  das  römische  Testament  als  eine  Vermögensverfügung 
auffaßt,  und  dann  allerdings  nur  Willkür  in  ihm  gesehen  wer- 
den kann.  Bei  der  wahrhaften  Erkenntnis  des  römischen  Erb- 
und  Testamentsbegriffes  erweist  sich  derselbe  dagegen,  wie 
wir  gesehen  haben,  als  ein  hoher  Fortschritt  in  der  kultur- 
historischen Entwickelung  der  Idee  des  Geistes,  dessen 
römische  subjektive  Willenstranszendenz  ebenso  sehr  durch- 
gemacht  werden  mußte  und  ein   Moment  der  Wahrheit  und 

776 


Die  germanischen  Völker  kennen,  wie  wir  gesehen 
haben,  in  ihrer  nationalen  Ursprünglichkeit,  garkein  Te- 
stament. Als  sie  mit  den  Römern  zusammentreten,  finden 
sie  dasselbe  bei  diesen  vor  und  entlehnen  ihnen  äußerlich 
seinen  Gebrauch,  aber  sie  verstehen  die  geistige  Be- 
deutung des  römischen  Testamentes  natürlich  nicht;  ver- 
stehen sie  um  so  weniger,  als  nicht  einmal  unsere  Autoren 
bis  heute  sie  verstanden  haben.   Sie  halten  das   römische 


Totalität  ist,  wie  die  subjektive  G  e  i  s  t  e  s  transzendenz  der 
christhcKen  Religion  und  ihres  Himmelreiches.  Und  indem  die- 
ser Begriff  des  römischen  Erbiums  streng  der  objektiven  Me- 
thode der  Hegeischen  Philosophie  entflossen  ist  und  mit  ihr 
in  der  innersten  Übereinstimmung  steht,  bleibt  Hegel,  ^venn 
er  ihn  auch  selbst  verfehlte,  nichtsdestoweniger  der  Miter- 
zeuger und  Urerzeuger  desselben. 

Endlich  mag  noch  bemerkt  werden,  daß,  was  Stahl  (Die 
Philosophie  des  Rechtes  nach  geschichtlicher  Ansicht,  II, 
255 — 261)  über  das  Erbrecht  sagt,  wie  jeder  wahrhafte  Ge- 
danke, der  sich  in  seinem  Werke  findet,  nur  der  Hegeischen 
Philosophie  schlechthin  entlehnt  ist,  ohne  daß  die  Wendungen 
vom  ,, Reiche  Gottes"  und  ,, Reiche  des  Menschen",  in  welche 
der  Hegeische  Gedankeninhalt  hier  verkleidet  ist,  jemand  dar- 
über täuschen  können.  Weil  aber  Hegel,  der  mindestens  kein 
Jurist  ex  professo  war,  und  dem  bei  der  gigantischen  univer- 
sellen Aufgabe,  der  er  sich  unterzog,  kein  einzelnes  Versehen 
angerechnet  werden  kann,  der  Begriff  des  römischen  Erb- 
rechtes völlig  entgangen  ist,  kennt  ihn  auch  Herr  Stahl  nicht. 
Weil  Hegel  das  Versehen  macht,  die  Idee  des  germanischen 
Intestatrechtes  für  den  Begriff  alles  Erbrechtes  überhaupt  zu 
halten,  stößt  dasselbe  auch  Herrn  Stahl  zu,  und  weil  Hegel 
In  der  Verlegenheit  in  die  soeben  kritisierte  Unmöglichkeit  ver- 
fällt, das  Testament  als  eine  Nachahmung  und  Nachbildung 
der  Idee  der  natürlichen  Familie  (der  Idee  der  Familie 
In  Ihrer  germanischen  und  Hegeischen  Auffassung)  zu  er- 
klären, erklärt  es  auch  Herr  Stahl  dafür. 

777 


Testament  für  das,  was  es  äußerlich  und  sinnlich  zu  sein 
scheint,  für  eine  Vermögensverfügung. 

Als  eine  solche  Vermögens  Verfügung  nehmen  sie 
nun  das  Testament  von  den  Römern  in  Gebrauch,  weil  dies 
ihrem  Sinne  für  individuelle  Freiheit  schmeichelt  und  in- 
sofern sich  in  dem  Gedanken  der  individuellen 
Arbeit  (labor,  Errungenschaft),  im  Gegensatz  zu  der 
überkommenen  Vermögenssubstanz,  also  in  den 
in  Fahrnis  und  Akquest  sich  darstellenden  Nutzungen 
derselben,  ein  analoges  Element  und  ein  Raum  für  diese 
Freiheit  der  Vermögensverfügung  findet.  Sie  nehmen  es 
auf,  nicht  ohne  Widerstand  der  nationalen  Substanz  gegen 
den  fremden  Eindringling-^).  Aber  sie  verstehen  den  Be- 
griff des  römischen  Testamentes  so  wenig,  daß  sie  lange 
Zeit  hindurch  nicht  einmal  seinen  äußerlichen  juristi- 
schen Charakter  —  diese  Wirkungen  des  Begriffes 
—  aufzufassen  verstehen,  und  da  sie  einmal  das  Testament 
für  eine  Vermögens  Verfügung  nehmen,  es  ganz  und 
gar  mit  einer  Schenkung  unter  Lebenden  identifi- 
zieren. Zahlreiche  Urkundenbeweise  belegen  dies.  Die 
Prinzessin  Irmina,  Tochter  des  Königs  Pipin,  macht  im 
Jahre  690  ein  Testament.  „Sana  mente  testamentiim  meum 
fieri  rogavi,"  heißt  es  darin,  und  am  Ende  nochmals :  ,,Ego 
Huncio  presbyter  hoc  testamentum  praescripsi  . . .  Ego 
Irmina  hoc  testamentum  meum  per  legi."  Die  Verfügung 
des  Aktes  aber  lautet :  ,,Ista  omnia  ad  memorata  loca  Sanc- 
torum  a  die  praesentl  per  praesentem  paginam  testamenti 


1)  Vgl.  z.  B.  Lex  Burgund..  Tit.  XLIII,  cap.  1 :  ...  .  .  Ideo- 
que  hoc  ordine  in  populo  nostro  donationes  factae  et  testa- 
menla  valebunt  etc."  Noch  im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
waren,  wie  Zasius  bekundet  (Consil.  et  resp.,  Lib.  I,  Resp.  3. 
No.  76),  die  Testamente  unter  dem  deutschen  Bürgerstande  noch 
gar  nicht  üblich. 

778 


tradimus  et  transfundimus  perpetualiter  in  Dei  nomine  pos- 
sidendum,"  und  stellt  somit  einen  sofortigen  Eigen- 
tumsübergang oder  eine  Schenkung  dar,  Pipin  selbst 
sagt  in  einer  Schenkung,  die  er  zugunsten  einer  Abtei  im 
Jahre  706  macht :  „Sed  praesens  donatio  ad  instar  testa- 
menti  cum  stipulatione  adnixa  omni  tempore  firma  stabili- 
tate  capiat  f irmitatem"  ^ ) . 

Ebenso  zeigt  sich  in  den  Volksrechten-)  diese  Gleich- 
stellung von  Testament  und  Schenkung^).  Und  endlich  tritt 
der  Charakter  der  Schenkung  unter  Lebenden  in  den  deut- 
schen Vergabungen  von  Todes  wegen,  aus  welchen  sich 
auch  die  universellen  akquisitiven  Erbverträge  ent- 
wickeln*), darin  aufs  stärkste  hervor,  daß  dieselben  zuerst 
einerseits  unwiderruflich  sind,  andererseits  einen  so- 
fortigen Vermögensübergang  auf  den  Begabten  enthalten, 
indem  der  Vergabende  nur  bis  zu  seinem  Tode  Nießbrau- 
cher bleibt,  das  Sondereigentum  aber  an  den  Begabten  ver- 


*)  Siehe  die  angezogenen  beiden  Urkunden  in  den  Preuves 
de  l'histoire  de  Lorraine  von  Dom  Calmet,  I,  261  und  263. 
Dieselbe  Nichtunterscheidung  zwischen  Testament  und  Schen- 
kung findet  sich  in  einer  Menge  der  daselbst  mitgeteilten  Ur- 
kunden. 

^)  Soweit  sie  überhaupt  schon  das  Testament  in  sich  auf- 
nehmen ;  in  denen  der  ripuarischen  und  salischen  Franken  kommt 
bekanntlich  noch  keine  Spur  von  demselben  vor. 

^)  Siehe  Lex  Burgund..  Tit.  XLIII.  c.  1  (oben  S.  778, 
Note  1),  und  das.  Tit.  LX,  c.  1 :  ,,Caeterum  sl  quis  posthaec 
barbarus  vel  testari  volaerlt  vel  donare  aut  Romanam  con- 
suetudlnem  aut  barbaricam  servandam  sciat  etc."  Das  römi- 
sche Testament  und  die  barbarische  Schenkung  (Ver- 
gabung von  Todes  wegen)  erscheinen  hier  —  denn  nur  dies 
Ist  die  richtige  und  offenbar  zutage  liegende  Auffassung  der 
Stelle   —   als   absolut   korrelative   Begriffe. 

*)  Hierüber  und  über  die  Vergabungen  von  Todes  wegen 
sehr  gründlich :  Beseler.  Die  Le'ire  von  den  Erbverträgen. 

779 


äußert,  oder  resp.  dieser  in  das  deutsche  Gesamteigentum 
mit  dem  Vergabenden  getreten  ist^). 

Ja,  man  muß  sagen,  dieser  juristische  Irrtum,  diese 
verwechsehide  Identifizierung  von  Testament  und  Schen- 
kung ist  im  höchsten  Grade  konsequent,  wenn  man  zuvor 
den  begrifflichen  Irrtum  begeht,  das  Testament  für 
eine  Vermögens  Verfügung,  eine  Vergabung  aufzu- 
fassen. 

Wenn  das  Testament,  wie  im  römischen  Geiste,  die 
Willensfortsetzung  des  Erblassers  darstellt,  so  ist  ebenso 
begreiflich  wie  notv/endig,  daß  diese  Willensfortsetzung 
erst  eintritt  und  eintreten  kann,  wenn  die  natürliche 
Weise,  in  welcher  der  erblasserische  Wille  (als  sinnliche 
Persönlichkeit)  existiert,  erloschen  ist,  daß  somit  erst  mit 
diesem  Augenblicke  des  Todes  das  Testament  mit  seinem 
gesamten  Inhalte  in  Wirksamkeit  treten  kann.  Wenn  aber, 
wie  im  germanischen  Geiste  und  Rechte,  gar  nicht  mehr  die 
Rede  davon  ist,  daß  durch  das  Testament  die  Willenssub- 
jektivität des  Erblassers  fortgesetzt  werde,  wenn  also  im 
Volksgeist  die  Anschauung  diese  ist,  daß  dieser  subjektive 
Wille  mit  dem  Tode  wirklich  erloschen  ist,  ohne 
in  dem  Testament  den  Apparat  einer  künstlichen  und  über- 
natürlichen Fortexistenz  zu  haben,  so  ist  es  auch  ganz  un- 
möglich, diesen  Willen,  nachdem  er  erloschen,  etwas 
wollen  und  also  jetzt  erst  wirksam  werden  und  das 
vinculum  juris  erlangen  zu  lassen. 

Es  ist  dies  für  das  germanische  Recht  notwendig  ganz 
ebenso  unmöglich,  als  es  für  das  alte  römische  jus  civile 
unmöglich  war,  eine  Willensverfügung  (ein  Legat) 
aufrecht  halten  zu  wollen,  wenn  die  Willens  Subjek- 
tivität selbst  die  Fortsetzung,  die  sie  sich  geben  wollte. 


^ )  Siehe  Beseler,  a.   a.  O. 

730 


infolge  davon  daß  der  Erbe  ausschlug,  nicht  erlangt 
hatte.  Wenn  das  Testament  eine  Vermögensver gabung 
ist,  so  war  es  offenbar  unmöglich,  diese  Vermögens- 
handlungerstdann  vornehmen  zu  lassen  oder  als  recht- 
lich vorgenommen  und  also  mit  dem  vinculum  juris  bekleidet 
zu  denken,  wenn  der  Handelnde  bereits  tot  und  somit 
nicht  mehr  fähig  war,  zu  wollen  und  zu  geben.  Wie  unmög- 
lich dies  ist,  zeigt  sich  am  besten  daran,  daß  selbst  die 
römische  donatio  mortis  causa,  weil  sie  eben  kein 
Testament,  sondern  eine  Vermögensver  gabung  ist,  an- 
erkanntermaßen^) und  trotz  ihrer  Widerruflichkeit  einen 
sofortigen  Vermögensübergang  bewirkt,  weshalb 
auch  Manzipation,  resp.  cessio  in  jure  oder  Tradition  bei 
ihr  nötig  ist^). 

Dieses  juristische  Mißverständnis  des  römischen  Te- 
stamentes im  germanischen  Recht  ist  also  bei  Zugrunde- 
legung des  begrifflichen  Mißverständnisses  desselben 
ein  höchst  logisches  und  konsequentes.  Es  ist  ein  Irrtum, 
in  dem  größere  Wahrheit  enthalten  ist,  als  in  der  Ver- 
besserung desselben. 

Dieser  Irrtum  ist  nur  ein  Beweis  von  dem  Widerstände, 
welchen  noch  i  n  der  Aufnahme  des  Testamentes  die  natio- 
nale Anschauung  und  die  gesunde  Rechtslogik  dem  frem- 
den unbegriffenen  Wesen  des  Erbtums  entgegensetzt,  in- 

^)  Siehe  z.  B.  Vangerow,  Pandekten,  II,  579  fg. ;  Savigny, 
System.   IV,  266  fg. 

^)  Es  bleibt,  trotz  aller  Abweichungen,  die  erst  durch  eine 
geschichtliche  Entwickelung  der  donatio  mortis  causa  im 
Verband  mit  der  von  uns  gegebenen  des  Erbrechtes  klar  gelegt 
werden  können,  immer  ihr  Charakter:  Praesens  praesenti  dat 
(Marcell..  L.  38  de  mort.  caus.  don.,  39.  6),  weshalb  sie  mit 
Recht  (L.  1  pr.  de  donat..  39.  5)  als  eine  gewöhnliche  Schen- 
kung, welche  nur  durch  eine  Bedingung  wieder  aufgelöst  wird 
(donatio  quae  conditione  resolvitur)   angeführt  wird. 

781 


dem  sie  es  unbewußt  in  eine  Schenkung  unter  Lebenden 
verwandelt. 

Es  dauert  daher  lange,  bis  dieser  Irrtum  über  den  juri- 
stischen Charakter  des  Testamentes  berichtigt,  und  dasselbe 
auch  bei  den  germanischen  Nationen  wie  in  Rom  zu  einem 
allezeit  und  willkürlich  \viderruflichen,  erst  mit  dem  Tode 
Rechtskraft  erlangenden  Akte  geworden  ist,  und  diese  Be- 
richtigung vollbringt  sich  in  vielfachen  und  allmählichen 
Übergängen,  deren  Geschichte  zu  geben  hier  nicht  der 
Ort  ist. 

Aber  als  nun  dieser  juristische  In'tuni  berichtigt  ist, 
ist  nichtsdestoweniger  der  begriffliche  Irrtum,  das  rö- 
mische Testament  für  eine  Vermögensvergabung  zu 
halten  und  es  a  l  s  solche  aufzunehmen,  geblieben.  Es  ist 
daher  durch  diese  Berichtigung  nicht  nur  nichts  gewonnen, 
sondern  es  ist  jetzt  gleichsam  der  Irrtum  nur  in  seine  zweite 
und  noch  substantiellere  Phase  getreten.  Denn  der  juri- 
stische Charakter  des  römischen  Testamentes  ist  jetzt  dem 
begrifflichen  Boden,  in  welchem  er  allein  seine  gei- 
stige Wurzel,  seine  innere  Existenzmöglichkeit 
hat  und  welcher  allein  jenen  juristischen  Charakter 
hervortreibt,  dem  Begriff  der  Perpetuierung  der  Wil- 
lenssubjektivität ^),  entrissen,  und  ohne  diese  seine  organi- 
sche Grundlage  auf  die  äußerlichste  und  begriffloseste 
Weise  in  eine  geistige  Welt  (Intestaterbtum,  Erbtum  als 
eigenes  Recht  des  Familiengliedes  auf  das  an  sich  gemein - 

0  Die  germanischen  Nationen  können  trotz  ihres  Prin- 
zipes  der  geistigen  Unsterblichkeit,  oder  vielmehr  wegen  des- 
selben, keinen  Sinn  und  darum  auch  kein  Ve  r  s  t  ä  n  d  n  i  s  für 
diese  Willensunsterblichkeit  besitzen,  welche  das  höchste 
Interesse  und  den  höchsten  Inhalt  des  römischen  Geistes  bildet, 
und  zwar  deshalb,  weil  ihre  Unsterblichkeit  zwar  auch  noch 
die  des  subjektiven  Geistes,  aber  des  nur  auf  sein  inneres 

782 


saiiie  Vermögen)  und  auf  einen  juristischen  Boden  (Ver- 
mögenshandlung) übertragen,  mit  welchen  sie  nach  allen 
Seiten  hin  in  dem  widerspruchvollsten  Konflikt, 
in  dem  Verhältnis  innerer  Unmöglichkeit  stehen. 

Denn  es  braucht  jetzt  nicht  mehr  bewiesen  zu  werden  -- 
da  dieser  Beweis  vielmehr  durch  die  gesamte  Entwickelung 
dieses  Bandes  in  seiner  objektivsten  Weise  und  darum  in 
seiner  unwiderleglichsten  Schärfe  erbracht  worden  ist  — , 
sondern  es  braucht  nur  noch  ausgesprochen  zu  wer- 
den, daß,  wie  sich  hierdurch  ergeben  hat,  das  gesamte  Te- 
stamentsrecht der  germanischen  Nationen  nichts  ist  als  — 
ein  großes  Mißverständnis!  Ein  Mißverständnis, 
dessen  Entstehung,  Natur  und  Beschaffenheit  wir  auf  das 
genaueste  nachgewiesen  haben. 

Nationen  haben  gut  fremde  und  darum  in  ihrem  inner- 
sten Wesen  unverstandene  Institutionen  in  sich  aufnehmen 
wollen.  Juristen  haben  gut  diesen  Institutionen  ihren  äuße- 
ren rechtlichen  Charakter  ablauschen  und  verpflanzen.  Was 
hieraus  entsteht,  ist  dennoch  niemals  die  wirkliche 
Aufnahme  des  Fremden.  Hierzu  würde  vor  allem  das  be- 
griffliche geistige  Verständnis  des  Aufzunehmenden 
gehören,  aber  in  diesem  Falle  würde  es  wegen  der  Fremd- 
heit dieses  seines  Begriffes  für  den  anderen  Volksgeist 
gar  nicht  zur  Aufnahme  kommen.  In  ihrer  Idee  gründlich 
mißverstanden   wird    vielmehr   die    Institution,    resp.    was 

Wesen  bezogenen,  in  sich  zurückgezogenen  Geistes 
(Seele,  individuelle  Seligkeit)  ist,  nicht  mehr  die  des  noch  auf 
die  Außenwelt  bezogenen  subjektiven  Geistes,  also 
nicht  mehr  Willensunsterblichkeit  ist.  Die  Objekte  des 
endlichen  Willens  kümmern  die  reine  Seele  des  Christen 
nicht  mehr,  und  nicht  mehr  in  der  Fortdauer  seiner  Herr- 
schaft über  die  Außenwelt,  wie  der  römische  Geist, 
hat  er  die  Gewähr  seiner   Unsterblichkeit. 

783 


von  ihrem  äußerlichen  juristischen  Charakter  abstrahiert 
worden  ist,  unter  die  Herrschaft  der  eigenen  natio- 
nalen Ideen  des  aufnehmenden  Volksgeistes  gestellt  und 
in  gewaltsamster  Weise  zu  einer  rein  äußerlichen 
Einheit  mit  diesen  verbunden.  Während  die  Institution  so- 
mit hier,  da  sie  um  ihren  Begriff  gekommen,  auch  eine 
ganz  andere  juristische  Gestaltung  annehmen  muß,  als  auf 
ihrem  ursprünglichen  Boden  ^ ) ,  scheint  sie  gerade  d  a  - 
durch  nach  dem  Verlauf  längerer  Zeitperioden  zu  dem 
eigenen  geistigen  Inventar  der  aufnehmenden  Nation 
selbst  zu  gehören,  ist  und  bleibt  aber  mit  diesem  Volksgeiste 
nur  in  solcher  Einheit,  wie  etwa  ein  Dorn  mit  dem  ihn 
umgebenden  Fleische.  Ihres  Begriffes  entäußert,  bleibt  sie, 
ebenso  wie  sie  einen  totalen  Widerspruch  gegen  ihre  frühere 
organische  Gestalt  darbietet,  ebenso  auch  nach  allen  Seiten 
hin  im  schneidendsten  Widerspruch  mit  dem  neuen  Boden, 
auf  den  sie  verpflanzt,  mit  den  nationalen  Ideen,  unter  deren 
Herrschaft  sie  gestellt  worden  ist,  ist  und  bleibt  sie :  der 
Widerspruch  in  sich  selbst,  eine  innere  Unmög- 
lichkeit. 

Dies  ist  das  Schicksal  des  römischen  Testamentes  bei 
den  germanischen  Nationen.  Aufgenommen  von  einem 
Volksgeist,  der  seiner  eigenen  nationalen  Idee  nach  alles 
Erbtum  als  Intestaterbtum,  als  das  eigene  Recht 
des  Erben  auffaßt,  wird  bei  diesen  Nationen  auch  dem 
testamentarischen  Erbrecht  der  Charakter  des 
germanischen  Erbtums  überhaupt,  der  Charak- 
ter des  Intestatrechtes  aufgedrückt  und  so  die  bei 


^)  Glaubt  man  vielleicht,  ein  alter  Römer  würde  unser  heu- 
tiges Testamentsrecht  noch  als  ein  Testamentsrecht 
überhaupt  gelten  lassen,  oder  würde  es  ihm  nicht  vielmehr 
als   eine   reine   Absurdität  erscheinen  müssen? 

784 


letzterem  begrifflich  notwendige  Maxime:  Le  mort  saisit 
le  vif,  auch  auf  jenes  ausgedehnt. 

Will  man  einen  noch  augenfälligeren  Beweis  hierfür, 
als  die  bisherige  Auseinandersetzung  enthält,  so  braucht 
man  nur  einen  Blick  auf  eine  andere  Maxime  des  fränkisch- 
germanischen Testamentsrechtes  zu  werfen,  eine  Maxime, 
in  Verbindung  mit  welcher  jener  Grundsatz :  Le  mort  saisit 
le  vif,  erst  sein  wahres  Verständnis  erhält.  Wir  meinen 
die  Maxime  •■ )  :  Solus  Deus  heredem  facere  potest,  non 
homo"),  oder,  wie  sie  die  französischen  Coutümen  aus- 
drücken :  Heritier  ne  s'institute  point.  Diese  Regel,  ent- 
standen nach  der  Aufnahme  des  Testamentes  aus  dem  römi- 
schen Recht,  um  den  Unterschied  von  demselben  darzu- 
legen, erreicht  diesen  Zweck  in  einem  hohen  Grade.  Sie 
zeigt  auf  das  sinnfälligste,  wie  das  Testament  in  seiner 
Rezeption  selbst  in  ein  seinem  römischen  Sinne 
schlechthin  Entgegengesetztes  und  Fremdes  ver- 
wandelt wird.  Sie  zeigt,  wie  dem  testamentarischen 
Rechte  selbst  von  den  germanischen  Nationen  bei  seiner 
Aufnahme  der  Charakter  des  Intestaterbrechtes 
aufgedrückt,  wie  es  unter  die  Herrschaft  der  na- 
tionalen Intestaterbidee  gestellt  wird,  gerade  wie 
wir  dies  eben  von  der  Geltung  der  Maxime:  Le  mort 
saisit    le   vif,    innerhalb    des   Testamentsrechtes    gesehen 

^)  Glanville,  De  legibus  Angliae.  VII,  1 ;  vgl.  de  Lauriere 
sur   Loisel,  2,   4,   5. 

")  Es  gibt  bei  richtiger  Auffassung  gar  keine  konzentriertere 
Parallele  des  Geistes  des  germanischen  und  des  römischen  Erb- 
rechtes, als  die  Vergleichung  dieses  Satzes  mit  dem  entspre- 
chenden römischen:  Praetor  heredem  non  facere  potest.  Wie 
im  germanischen  Geist  das  Erb  tum  nur  durch  die  natür- 
liche Gehurt  (Gott,  als  Ursache  derselben)  hervorgebracht 
werden  kann,  so  in  Rom  nur  durch  den  spezifischen  histo- 
rischen Volksgeist,  das  Jus  civile. 

28   L««ne.    G«.  Schriften.    E^nd  XII.  785 


haben  ^ ),  und  ganz  unbekümmert  um  den  radikalen  Wider- 
spruch, in  welchen  dadurch  die  aufgenommene  Testaments- 
idee mit  sich  selbst  gerät. 

Wir  wiederholen  es,  das  moderne  Testamentsrecht  ist, 
wie  sich  gezeigt  hat,  nichts  als  ein  großes  Mißverständnis, 
eine  kompakte  theoretische   Unmöglichkeit! 

Es  würde  nichts  nützen,  diesen  Ausspruch  kühn  finden, 
die  Augen  gewaltsam  gegen  ihn  verschließen,  ihm  Neo- 
logismus und  negativen  Kritizismus  zur  Last  legen  zu  wol- 
len. Wir  sind  nicht  von  einer  subjektiven  Polemik,  nicht 
einmal  von  einer  Kritik  gegen  das  Testament  ausgegangen. 
Wir  haben  dasselbe  keineswegs  von  willkürlich  von  uns 
mitgebrachten  subjektiven  Verstandesgrundsätzen  herab  be- 
urteilt. Wir  sind  vielmehr  durchaus  positiv  begreifend, 
objektiv  darstellend  zu  Werke  gegangen.  Wir  haben 
die  große  kulturhistorische  Idee  des  römischen  Testamentes, 
seine  geistige  Wahrheit,  sich  ergeben  sehen;  wir  haben 
ihren  objektiven  Ent^vickelungsgang  durch  die  Phasen  der 
römischen  Rechtsgeschichte  und  bis  zu  den  germanischen 
Nationen  verfolgt.  Wenn  es  diese  streng  historische  Ent- 
wickelung  selbst  ist,  welche  mit  immanenter  Notwendigkeit 
in  jenes  Resultat  mündet,  so  ist  dasselbe  nicht  mehr  eine 
willkürliche  und  subjektive  Kritik,  es  ist  die  von 


^)  Es  ist  dies  so  wahr,  daß  selbst  in  den  Zweigen  des  ger- 
manischen Rechtes,  in  welchen  die  Maxime  solus  Deus  etc. 
nicht  aufgenommen  ist,  ihr  Sinn  dennoch  zutrifft.  Denn  auch  wo 
man  einen  Erben  testamentarisch  einsetzen  kann,  ist  er  doch 
nur  den  Worten  nach  Erbe.  In  der  Tat  aber  verhält  er  sich, 
da  er  nicht  Willensfortsetzer  ist,  zum  römischen  heres  immer 
nur  ähnlich  wie  ein  Legatar,  ein  Bedachter,  etwa  wie  ein  lega- 
tarius  partiarius,  in  dessen  Anteil  alle  Erbschaftssachen  hinein- 
fallen. Daß  man  aber  testamentarisch  nur  einen  legataire  uni- 
versel,  nicht  einen  Erben  ernennen  könne,  ist  eben  was  durch 
jene  Maxime  besagt. wird. 

786 


der  Geschichte  selbst  vollzogene  und  darum  objek- 
tive Kritik  des  Testamentes,  es  ist  die  vom  menschlichen 
Gattungsgeiste  selbst  vollbrachte  Auflösung  des  Dogmas. 
Jener  Ausspruch  hat  daher  keine  geringere  Bedeutung,  als 
das  absolute  Urteil  der  Wissenschaft  zu  bilden, 
gegen  welches  weder  Einwurf  noch  Appell  möglich  sein 
wird. 

Der  große  Irrtum  der  Neueren,  daß  das  Testament 
natu r rechtlich  sei,  hat  durch  die  wahrhafte  Entwicke- 
lung  der  Idee  und  Geschichte  des  Testamentes  seine  so 
erschöpfende  Auflösung  gefunden,  daß  seine  wissen- 
schaftliche Fortdauer  fortan  unmöglich  ist. 

Weit  entfernt  von  diesem  Irrtum,  fassen  die  Römer, 
statt  das  Testament  für  juris  gentium  zu  halten,  den  öf- 
fentlichen Geist  für  die  wesentliche  Bedingung  nicht 
nur  der  Hervorbringung,  sondern  auch  der  Fähig- 
keit zum  Testfmiente  auf  ^).  Weit  entfernt,  das  Testieren 
für  eine  natürliche  und  darum  naturrechtliche  Fähigkeit 
des  Individuums  zu  nelimen,  ist  der  Römer  vielmehr 
von  der  natürlichen  Unfähigkeit  des  Individuums,  nach 
seinem  Tode  noch  einen  Willen  auszuüben,  so  durchdrun- 
gen, daß  es  des  Zusammentreffens  zweier  Willen,  des 
Konkurses  eines  noch  lebenden  Willens  bedarf,  wel- 
cher den  des  Toten  zu  dem  seinigen  macht,  damit  der 
Wille  des  Toten,  das  Testament,  ein  gültiger  sei.  Wir 
haben  gesehen,  wie  dies  schon  in  der  äußeren  Form  des 
klassischen  Testamentsaktes  heraustritt,  in  der  älteren  Ge- 
stalt des  testamentum  per  aes  et  libram,  dessen  Bedeutung 
eben  diese  ist,  alle  Momente  der  Idee  des  Testa- 
mentes in  der  äußeren  Form  zu  setzen.  Wir  haben 
ferner  gesehen,   wie  dies  auch  nach  dem  Verfall   dieser 

1)  Siehe  Nr.  X  und  XV. 

28'  787 


Testamentsform  und  zu  allen  Zeiten,  solange  römisches 
Recht  existiert,  der  inhaltliche  Grundgedanke  desselben 
bleibt,  indem  der  Wille  des  Verstorbenen  (das  Testament) 
nurdannunddadurch  fortbesteht,  daß  ihn  der  Lebende 
zu  dem  seinigen  macht,  und  mit  dem  Ausschlagen  oder 
dem  Tode  dieses  letzteren  die  Nichtigkeit  des  toten,  nicht 
mehr  wollen  könnenden  Willens,  die  Ungültigkeit  des  Te- 
stamentes eintritt^).  Es  genügt,  an  diese  zwei  Punkte  zu 
erinnern.  Überdies  ist  unsere  gesamte  Darstellung  des  römi- 
schen Erbrechtes  nur  eine  Durchführung  und  Entwickelung 
dieses  Gedankens  gewesen.  Das  römische  Recht  unterstützt 
also  den  Irrtum  von  der  naturrechtlichen  Natur  des  Testa- 
mentes nicht  nur  nicht,  es  schließt  ihn  aus  und  ist  gerade 
seine  beste  Widerlegung.  Das  römische  Recht,  statt  anzu- 
nehmen, daß  der  Wille  nach  seinem  Untergange  noch 
verfügen,  ein  vinculum  juris  hervorbringen  könne  —  was 
eine  schlechthin  sich  in  sich  selbst  widersprechende  An- 
nahme ist  — ,  ist  gerade  die  ungeheuere  Anstrengung,  den 
Willen  im  Tode  der  natürlichen  Person  nicht  untergehen 
zu  lassen,  sondern  ihn  durch  die  Identifikation  mit 
einer  lebenden  Willensperson  in  alle  Ewigkeit  zu  er- 
halten (Nr.  VIII).  Das  römische  Erbtum  stellt  daher,  wie 
wir  erschöpfend  gesehen  haben,  nicht  eme  Vermögens - 
Zuwendung,  sondern  die  Forterhaltung  der  Wil- 
lenssubjektivität dar.  Nur  hierin  ist  seine  Substanz, 
seine  geistige  Bedeutung,  sein  Interesse,  weshalb  wir  das- 
selbe als  das  Dogma  der  Unsterblichkeit  in  seiner 
römischen  Gestalt  bezeichnen  konnten.  Dies  ist  so  wahr, 
daß  zur  Zeit,  wo  der  nationale  Geist  noch  in  der  Blüte 
seiner  ursprünglichsten  Gedrungenheit  steht,  die  Fortsetzung 
der  Willenssubjektivität  sogar  in  Spaltung  und  nega- 

')  Siehe  Nr.  V 
788 


tiven  Gegensatz  gegen  die  Vermögenszuvvendung  tritt 
(s.  Nr.  VII).  Ja,  dieser  Gegensatz  ist  sogar  ein  stets 
bleibender,  denn  er  ist  die  bleibende  Grundlage  des 
Legates  (s.  Nr.  XIV fg.).  Und  er  muß  ein  bleibender 
sein,  denn  erst  in  dem  Sichabstoßen  seiner  von  sich  selbst, 
in  der  sich  zu  einzelnen  und  bestimmten  Willenswirkungen 
treibenden  Fortexistenz  seiner  allgemeinen  Willenssubjek- 
tivität, also  erst  in  der  von  dem  Erben  abstoßenden  und 
seinem  Interesse  negativen  Verfügung  des  Legates, 
hat  der  Wille  des  Toten  die  echte  Gewähr  und  Be- 
tätigung, daß  er  es  ist,  der  in  dem  erbenden  Willen 
fortexistiert.  Das  höchste  Interesse  des  Erblassers,  die 
unzweifelhafteste  Betätigung  seiner  Willensfortdauer  ist 
nicht,  daß  der  Erbe  hat,  sondern  daß  der  Erbe  handelt, 
wie  sein,  des  Erblassers  Wille  ihn  handeln  läßt  (s.  Nr. 
VI  und  VII). 

Das  römische  Recht,  weil  es  also  wirklich  die  F  o  r  t  - 
existenz  des  Willens  des  Toten  durch  die  Identifi- 
zierung ihrer  Willenssubjektivität,  die  Erbe  und  Erblasser 
vornehmen,  hervorbringt,  wenn  auch  natürlich  in  supra- 
naturalistischer und  idealistischer  Weise,  wie  der  Christ 
seine  Fortexistenz  im  Jenseits,  ist  daher  das  einzige  in- 
nerhalb seiner  konsequente,  das  einzige  in  sich 
mögliche  Testamentsrecht.  Zwar  haben  wir  gesehen, 
wie  auch  dieses  Testamentsrecht  an  der  Unmöglichkeit 
seiner  spiritualistischen  Voraussetzung,  daß  A  =  B  sei, 
oder  daß  die  Willenssubjektivitäten  des  Erblassers  und  des 
Erben  trotz  aller  gewollten  Identifikation  aufhören  können, 
andere  gegeneinander  zu  sein,  zerschellt  und  zer- 
schellen muß,  wie  sich  ebenso  schon  in  der  erbrechtlichen 
Dogmatik  an  den  äußersten  Grenzen  dieses  Testaments- 
rechtes als  in  der  Geschichte  desselben  der  Wider- 
spruch  dieser    übernatürlichen    Voraussetzung     mit    der 

780 


Wirklichkeit  hervortreiben  muß.  Aber  von  der  Un- 
möglichkeit dieser  Voraussetzung  einmal  abgesehen  und 
diese  Anschauung  einmal  zugegeben,  ist  innerhalb  der- 
selben und  somit  innerhalb  des  Testamentsrechtes  alles 
vernünftig,  konsequent  und  notwendig.  Wenn  einmal  die 
Willenssubjektivität  trotz  des  Todes  ihres  natürlichen  Sub- 
strates fortexistiert,  so  ist  es  auch  ganz  natürlich,  daß 
dieser  Wille  noch  nach  dem  Tode  wirken  und  verfügen 
kann. 

Wenn  aber,  wie  im  germanischen  Rechte,  von  einer 
künstlichen  Fortsetzung  der  geistigen  Willenssubjektivität 
durch  das  Testament  gar  keine  Rede  ist,  wenn  dieses  als 
bloße  Vermögenszuwendung  aulgefaßt,  wenn  der  sub- 
jektive Wille  somit,  wie  er  es  in  Wahrheit  ist,  als  ein 
mit  seinem  Tode  erlöschender  angesehen  wird,  —  wie 
ist  es  dann  möglich,  daß  der  Wille  nach  seinem  Unter- 
gange noch  disponiert  und  Verfügungen  trifft  ?  Und  zu 
leugnen  ist  es  doch  nicht,  daß,  da  das  Testament  bis  zum 
erfolgten  Tode  stets  willkürlich  widerruflich  bleibt,  der 
Wille  erst  nach  dem  Tode  das  \inculum  iuris  erzeugt, 
rechtliche  Willensverfügung  wirkt. 

Es  wird  nichts  nützen,  hiergegen  mit  Vorwürfen  einer 
atomistischen  Rechtsanschauung  usw.  um  sich  werfen  zu 
wollen.  Diese  Vorwürfe  wären  schon  um  dessentwillen 
ganz  unangebracht,  weil  die  vorstehende  Argumentation  ja 
zunächst  nur  das  Testamentsrecht,  und  nicht  das 
Intestaterbrecht  trifft,  welches  man  ohnehin  bei  uns  als  das 
substantiellere  ohne  Schwierigkeit  gelten  läßt.  Und  auch 
abgesehen  davon,  wäre  dieser  angebliche  Atomismus  mit 
der  Logik  selbst  identisch,  da  es  der  absolute  Widerspruch 
in  sich  selbst  ist,  daß  der  Wille,  nachdem  er  zu  sein  auf - 
gehört  hat,  wollen  und  geben  kann.  Es  findet  sich 
daher  dieser  Widerspruch  nur  als  Folge  der  erörterten  miß- 

790 


verständlichen  Auffassung  des  römischen  Testamentes  als 
einer  Vermögensverfügung  im  germariischen  Rechte 
vor.  Oder  vielmehr  richtiger,  eben  wegen  dieser  irrtüm- 
lichen Auffassung  findet  sich  dieser  unmögliche  Wider- 
spruch auch  im  germanischen  Rechte  nicht  vor, 
sondern  es  wird  nun,  wie  wir  gesehen  haben,  deshalb  das 
Testament  von  ihm  in  eine  sofortige  Vermögensentäuße- 
rung, in  eine  Schenkung  unter  Lebenden  umgewan- 
delt. Erst  Schritt  für  Schritt  bringen  es  die  romanischen 
Juristen  dahin,  diese  Reaktion  der  nationalen  Rechtsver- 
nunft zu  besiegen  und  die  rechtliche  Wirkung  des 
römischen  Testamentes  in  das  germanische  Recht  empirisch 
hinüber  zu  impfen. 

Betrachtet  man  jetzt  also,  mit  welchem  Recht  und  auf 
welchen  Grund  hin  man  das  moderne  Testament  für  ein 
Naturrecht  ausgegeben  hat,  so  ergibt  sich  ein  gar  selt- 
sames Resultat.  Man  hat  ein  Natur  recht  gemacht  aus 
dem,  was  vielmehr  eine  natürliche  Unmöglichkeit 
ist!  Man  hat  ein  Natur  recht  gemacht  aus  einem  Rechte, 
—  welches  sich  nie  und  nirgends  vorfindet,  in  dem 
nationalen  Rechte  keines  Volkes  und  keiner  Zeit^), 
weder  im  römischen,  noch  im  germanischen!  —  Gerade 
weil  sie  weder  begriffen,  warum  sich  dieses  angebliche 
Recht  im  germanischen  Recht  nicht  findet,  noch  welche 
ganz  andere  Natur  und  Bedeutung  es  im  römischen 
Rechte  hat,  —  aus  diesem  doppelten  Irrtum  haben  die 


^)  Es  ist  bekannt,  daß  der  Orient  nur  Intestatrecht  kennt. 
Was  das  attische  Recht  betrifft,  so  ist  nicht  hier  der  Ort  zu 
beweisen,  aber  von  selbst  einleuchtend,  daß  das  sehr  späte 
Aufkommen  des  Testamentes  von  Rom  importiert  ist.  Die 
attische  Vermögensübertragung  durch  Adoption  ist  natürlich 
etwas  ganz  anderes. 

791 


Juristen  die  erst  durch  ihr  eigenes  gelehrtes  Mißverständ- 
nis hervorgebrachte  Fähigkeit  des  toten  Willens,  über 
das  Vermögen  zu  verfügen,  zu  dem  stolzen  Range  einer 
naturrechtlichen  erhoben! 

So  blutig  und  schneidend  die  Ironie  dieser  Gegensätze 
ist,  so  wenig  wird  man  ihre  nachgewiesene  tatsächliche 
Wahrheit  bestreiten  können.  Aber  auch  die  innere  Verbin- 
dungsbrücke, welche  zwischen  diesen  schroffen  Gegensätzen 
besteht,  liegt  näher,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen 
sollte.  In  der  Tat,  gerade  weil  man  den  begrifflichen  Zu- 
sammenhang, die  geistige  Entstehung  und  Vermit- 
tel ung  des  römischen  Testamentes  nicht  begriff  —  und 
deshalb  natürlich  auch  nicht  den  Prozeß  seiner  Übertra- 
gung in  das  Recht  der  germanischen  Nationen  —,  weil 
man  also  seine  wahre  historische  Geistespositivi- 
tät  nicht  verstand,  mußte  dies  Recht  zu  testieren  als  ein 
unmittelbar  gegebenes  erscheinen.  Folglich  konnte 
und  mußte  es  nach  zwei  entgegengesetzten  Seiten  hin  miß- 
verstanden werden,  und  i  s  t  auch  wirklich  nach  beiden 
Seiten  hin  mißverstanden  ^vorden,  Man  konnte  es,  als 
unmittelbar  gegebenes,  als  ein  bloß  äußerliches  po- 
sitives Rechtsinstitut  auffassen,  —  und  dieser  nicht 
weniger  große  Irrtum  ist  von  allen  begangen  worden,  welche 
das  Testament  nicht  für  naturrechtlich  halten.  Dieser 
Irrtum  ist  durch  unsere  Darstellung  gleichfalls  gänzlich 
beseitigt.  Wir  haben  gesehen,  wie  das  römische  Testament 
vielmehr  in  der  innersten  Entwickelungsgeschichte  des  welt- 
historischen Geistes  selbst  seine  ideelle  Genesis  und  not- 
wendige Wurzel  hat,  wie  es  selbst  eine  Phase  dieses 
Werdensprozesses  des  Geistes  darstellt,  statt  bloß  äußer- 
lich positiv  zu  sein. 

Oder  aber  man  konnte  —  hier  wie  immer  gehen  die 
abstrakten  Gegensätze  ineinander  über  —  als  unmittel- 

792 


bar  gegebenes  das  Testament  als  ein  natürlich-ge- 
gebenes, d.h.  als  Naturrecht  auffassen. 

Und  die  Flachheit  des  eben  erörterten  entgegengesetzten 
Irrtums  mußte  freilich  zu  diesem  nicht  minder  verkehrten 
treiben. 

Beide  Irrtümer  sind  jetzt  von  uns  aufgelöst,  und  es  ist 
in  ihre  Wahrheit  hindurchgebrochen  worden. 

Es  hat  sich  gezeigt,  daß  das  Testament,  weit  entfernt 
davon,  ein  nur  positiv  gegebenes  Rechtsinstitut  zu  sein, 
ein  notwendiges  Moment  des  Geistes  m  seiner  histo- 
rischen Entwickelung  darstellt,  und  eben  deshalb  ebenso 
weit  entfernt,  ein  bleibendes  oder  natu r rechtliches 
zu  sein,  mit  dem  Vorübergehen  dieser  Entwickelungsstufe 
des  welthistorischen  Geistes,  der  römischen  Stufe,  um 
jeden  Sinn,  Zusammenhang  und  innere  Möglichkeit  ge- 
kommen ist,  und  nicht  nationaler  Rechtsschöpfung,  son- 
dern nur  gelehrtem  Mißverständnis  seine  widerspruchsvolle 
Erhaltung  verdankt. 

Zugleich  haben  wir  an  diesem  großen  Beispiel  des 
Erbrechtes  einen  lehrreichen  Nachweis,  wie  Gelehrte  Ge- 
schichte machen,  wenn  sie  Produkte  des  geistigen  Lebens 
anderer  Nationen  in  empirischer  Auffassung  unverstanden 
übertragen. 

Jetzt  erst  nach  dieser  Darlegung  und  Charakterisierung 
der  Beschaffenheit,  welche  die  Aufnahme  des  Testamentes 
durch  die  germanischen  Nationen  hat,  begreift  sich  klar 
und  lichtvoll  von  innen  heraus,  wie  in  jener  Periode,  wo 
mit  allem  bloß  empirisch  Überlieferten  gebrochen  wurde, 
in  jener  Zeit,  wo,  wie  Hegel  sagt,  ,,die  Welt  auf  ihren 
Kopf,  die  Vernunft,  gestellt  wurde,"  das  Gesetz  des  fran- 
zösischen Nationalkonventes  vom  7./ 10.  März  1793, 
durch  welches  alle  Fähigkeit,  indirekter  Linie 

703 


zu  testieren^),  abgeschafft  wurde"),  so  möglich 
wie  notwendig  war.  Es  \vürde  bloß  von  gänzlicher  Gedan- 
kenlosigkeit zeugen,  dasselbe  auf  Rechnung  der  beliebten 
Deklamationen  von  abstrakter  Gleichheitswut  des  Kon- 
ventes setzen  zu  ^vollen.  Wie  der  Instinkt  stets  der  be- 
wußten Theorie  vorausgeht,  war  es  nichts  als  der  aus  der 
Reaktion  gegen  alles  empirisch  Überlieferte  von  selbst 
entspringende,  unbevvoißte  Rückgang  des  Volksgeistes 
auf  seine  eigene  nationale  Substanz'').   Freilich 


^)  Vgl.  hierüber  und  über  die  Fortsetzung  des  vom  Konvent 
erlassenen  Erbrechtes  im  Code  Napoleon  genauer  im  ersten 
Bande.   S.  639  fg. 

^)  Brissot.  der  Chef  der  Gironde,  tritt  dabei  mit  großer 
theoretischer  Bewußtheit  auf.  ,,Le  premier  principe",  sagt  er, 
,,c*est  que  le  droit  de  tester  est  une  de  ces  Conventions  sociales, 
qui  ne  tiennent  leur  existence  que  de  la  loi ;  le  second,  c'est 
que  la  loi  peut  ne  pas  faire  executer  la  volonU  d'un  individu 
qui  n'est  plus.  La  loi  peut  supprimer  la  Convention  qu'elle  ga- 
rantit;  le  droit  de  tester  peut  donc  etre  aboli."  (Moniteur  vom 
9.  u.  10.  März  1793-)  Bei  tieferer  Betrachtung  führen  sich, 
wie  wir  gesehen  haben,  diese  beiden  Prinzipien  auf  eine 
Einheit  zurück  und  das  ,,la  loi  peut  ne  pas  faire  executer 
etc."  verwandelt  sich  in  ein  ,,ne  peut  pas  faire  executer  la  vo- 
lonte d'un  individu  qui  n'est  plus,"  was  auch  Brissots  Kon- 
klusion innerlich  zugrunde  liegt. 

^)  Es  zeigt  sich  hier  wieder  beiläufig,  als  wie  seicht  sich, 
wenn  man  tiefer  dringt,  das  unwissende  Geschwätz  der  Tages- 
publizisten a  la  Dietzel  herausstellt,  welche  in  der  Französi- 
schen Revolution  von  1789  den  Triumph  des  ,,Romanismu  s" 
und  den  Untergang  des  germanischen  Elementes  in 
der  französischen  Nation  erblicken.  Wir  sehen  Im  strikten  Ge- 
genteil, wie  der  Konvent  es  gerade  ist,  welcher,  den  seit  Jahr- 
hunderten empirisch  aufgenommenen  und  in  Deutschland 
noch  ruhig  fortbestehenden  Romanismus  entfernend, 
mit  der  größten  Energie  wieder  auf  den  eigenen  Gehalt  des 
germanischen    Geistes    zurückgeht.    Da    \v\r    hier    übrigens, 

704 


wird  damit  nicht  bis  in  die  germanischen  Wälder  zurück- 
gegangen. Der  begriffliche  Unterschied  von  dem  Charakter 
des  germanischen  Erbrechtes  besteht  unter  diesem  Kon- 
ventsgesetze nämlich  darin,  daß  die  Intestaterben  (Kinder) 
während  des  Lebens  des  Erblassers  kein  Recht  (kein 
ansich  seiendes)  auf  das  Vermögen  desselben  haben, 
derselbe  vielmehr  (vgl.  dagegen  oben  über  das  Erbeigen) 
beliebig  auf  lästigen  Titel  veräußern  kann,  und  deshalb 
auch  konsequent  alle  Teile  der  Erbschaft  für  die  Schulden 
haften.  Die  Intestaterben  erben  also  nur,  insofern  etwas 
beim  Tode  noch  da  ist,  sie  erben  gesetzlich,  insofern 
irgend  Vermögensgegenstände  zur  Vererbung  über- 
haupt kommen;  sie  haben  aber  kein  Recht  mehr  darauf, 
daß  irgendein  Teil  von  dem  Vermögen  des  Lebenden 
zur  Vererbung  komme.  D.  h.  es  hat  sich  jetzt  gerade  die 
Idee  der  individuellen  Freiheit  so  weit  gegen  das 
germanische  Recht  entwickelt,   daß  der  Eigentümer  zum 


wie  schon  mehreremal  im  Laufe  dieses  Werkes,  dieses  Dietzel - 
sehen  Räsonnements  Erwähnung  getan  haben,  welches  gerade 
seiner  Oberflächlichkeit  wegen  so  große  Beliebtheit  und  Ver- 
breitung gefunden  und  selbst  Männer  mit  sich  fortgerissen  hat, 
von  denen  man  ein  Besseres  hätte  erwarten  sollen,  so  sei  es 
erlaubt,  hier  die  Ansicht  anzuführen,  die  ein  anderer  Mann, 
ein  Mann  freilich  auch  von  ganz  anderen  realen  Studien,  die 
Eduard  Gans  über  das  Verhältnis  der  Französischen  Revolution 
zum  germanischen  und  romanischen  Geiste  ausspricht.  Gans 
(Erbrecht,  III,  480)  schließt  seine  Auseinandersetzung  über 
das  Verhältnis  des  romanischen  und  germanischen  Gei- 
stes in  Frankreich  mit  den  Worten:  ,,Wenn  seine  romanische 
Grundlage  es  schon  im  Mittelalter  glänzen  ließ,  so  hat  die 
freie  Bewegung  des  germanischen  Geistes  in  ihm  sich  ebenso 
von  diesem  Mittelalter,  freilich  in  Form  einer  gewaltigen  Feuers- 
brunst, zu  befreien  gesucht,  und  die  neue  Kultur,  an  deren  Spitze 
es  getreten,  läßt  von  einem  alten  Frankreich  sprechen,  das  sich 
von   dem   heutigen  unterscheidet.  " 

795 


alleinigen  und  unbedingten  Eigentümer  geworden 
ist.  Mit  anderen  Worten  liegt  aber  hierin  nur,  daß  das 
Eigentum  jetzt  nicht  mehr,  wie  Hegel  v/ill,  und  wie  im 
germanischen  Rechte  wirklich  der  Fall  ist,  an  sich  ge- 
meinsames Eigentum  der  Familie  ist,  und  sich  diese 
ansichseiende  Gemeinsamkeit  beim  Tode  nur  auflöst. 
Denn  hierzu  wäre  eben  erforderlich,  daß  schon  bei  Leb- 
zeiten des  Eigentümers  ein  an  sich  vorhandenes  und  seine 
Veräußerungsbefugnis  beschränkendes,  wenn  auch  erst  nach 
seinem  Tode  zur  aktuellen  Wirksamkeit  gelangendes  Recht 
der  Intestaterben  da  wäre.  Da  dies  nicht  der  Fall,  so  ist 
das  Eigentum  jetzt  rein  individuelles  Eigentum, 
nicht  Familieneigentum.  (Nur  verschenken  kann  der 
Eigentümer  beim  Dasein  von  Kindern  auch  während  seines 
Lebens  nicht  über  die  quotite  disponible  hinaus.)  Au"f 
welchem  Prinzip  beruht  nun  aber  hier  die  Intestaterbfolge  ? 
Da  der  Eigentümer  alles  auf  lässigen  Titel  veräußern  und 
verschenken  kann,  beruht  sie  nicht  auf  einem  eigenen 
Vermögensrechte  der  Intestaterben,  welches  sonst  schon  bei 
Lebzeiten  als  ein  An  sich  vorhanden  sein  müßte.  Da  der 
Erblasser  nicht  testieren  kann,  so  beruht  sie  auch  nicht 
auf  einem  präsumierten  Willen  desselben.  Es  ist  also  klar, 
daß  sie  auf  nichts  anderem  beruht,  als  auf  dem  die  Ver- 
mögenshinterlassenschaften regelnden  allge- 
meinen Willen  des  Staates.  Sie  beruht  auf  der  Fa- 
milie, da  sie  nur  diese  beruft,  aber  nicht  mehr  auf  der 
Familie  als  aus  eigenem  Recht  erbender,  auch  nicht  auf 
der  Familie  als  durch  den  präsumierten  Willen  des  Toten 
berufen,  sondern  auf  der  Familie  als  Staatsinsti- 
tution. (Weshalb  nun  auch  die  Befugnis  des  Eigen- 
tümers zu  Schenkungen  im  Interesse  der  Familie  be- 
schränkt wird  und  werden  kann.)  Hier  zeigt  sich,  in  ihrem 
Inneren  betrachtet,  eine  jener  geistigen  Ähnlichkeiten 

796 


der  Französischen  Revolution  mit  dem  altrömischen  Volks- 
geiste und  seinem  strengen  jus  civile.  Doch  ist  ebensowenig 
der  Unterschied  und  Gegensatz  zu  übersehen.  Dort  (Nr. 
XL)  galt  der  allgemeine  Staatswille  nur  als  der 
präsumierte  Wille  des  Individuums,  hier  gilt  viel- 
mehr das  individuelle  Verhältnis  der  Familie  nur 
als  Institution  des  Staates.  Das  Allgemeine  ist 
also  hier  gerade  in  viel  tieferem  und  prinzipiellerem  Sinne 
der  geistige  Boden  des  Erbrechtes. 

Selbstredend  wird  jedes  Erbrecht,  welches,  wie  der 
Konvent  die  Testierfreiheit  aufhebt,  andererseits  aber  auch 
ein  ansichseiendes  Vermögensanrecht  der  Intestaterben  bei 
Lebzeiten  des  Eigentümers  nicht  anerkennt,  auf  demselben 
Prinzipe  beruhen.  Aber  wenn  auch  nur,  wie  meist  in  den 
gegenwärtigen  Erbrechten  der  Fall,  die  letztere  Be- 
dingung zutrifft,  Testierfreiheit  aber  innerhalb  einer 
quantitativen  Grenze  (quotite  disponible)  besteht,  so 
wird  doch  bis  zu  dem  Punkte,  wo  diese  quotite  dis- 
ponible und  also  mit  ihr  die  Testierfreiheit  eintritt,  das 
eben  Entwickelte  der  Charakter  dieses  Erbrechtes  sein. 
(Denn  soweit  das  Individuum  nicht  testieren  kann, 
soweit  läßt  sich  das  Intestatrecht  nicht  als  präsumier- 
ter individueller  Wille  auffassen.)  Es  ist  also,  wie  sehr 
dies  auch  verwundern  oder  erschrecken  mag,  bei  der  wahr- 
haften Betrachtung  dennoch  der  Fall,  daß  die  meisten 
heutigen  Erbrechtssysteme,  wie  z.  B.  der  Code  Napoleon, 
in  ihrem  innersten  Grunde  und  bis  zum  Eintreten  der  dis- 
poniblen Quantität,  an  sich  oder  im  Prinzip  nichts  an- 
deres darstellen,  als  eine  Regelung  der  Hinterlassen- 
schaften von  Sozietäts  wegen. 

Wegen  jenes  inneren  absoluten  Widerspruches  des  Te- 
stamentes ist  es  endlich  noch  keinem  Philosophen  ge- 
lungen, einen  wahrhaften  und  haltbaren  Begriff  des  Te- 

797 


stamentes  aufzustellen;  und  dies  ist  der  letzte  Nachweis, 
den  wir  als  Schluß  dieser  Darstellung  zu  erbringen  haben. 

Von  Hegel  haben  wir  bereits  nachgewiesen,  daß  seine 
Erbrechtstheorie  lediglich  eine  Theorie  des  Intestaterb- 
rechtes ist,  und  das  Testament  aus  ihr  heraus  weder  ge- 
rechtfertigt ist  noch  werden  kann.  Der  einzige  Philosoph 
außer  Hegel  aber,  welcher  eine  Erbrechtstheorie  aufgestellt 
hat,  die  diesen  Namen  verdient,  ist  Leibniz.  Seine  Te- 
stamentstheorie ist  folgende  ^)  :  ,,Testamenta  vero  mero 
jure  nullius  essent  momenti,  nisi  anima  esset  immortalis, 
sed  quia  mortui  revera  adhuc  vivunt,  ideo  manent  domini 
rerum,  quos  vero  heredes  reliquei-unt,  concipiendi  sunt  ut 
procuratores  in  rem  suam."  (,, Testamente  aber  wären  mit 
vollem  Recht  durchaus  null  undnichtig,  wenn  die  Seele 
nicht  eine  unsterbliche  wäre.  Aber  weil  die  Toten  in  Wahr- 
heit noch  leben,  so  bleiben  sie  Eigentümer  der  Sachen,  die- 
jenigen aber,  welche  sie  als  Erben  zurückließen,  sind  auf- 
zufassen wie  ihre  stellvertretende  Verwalter  in  dem  Ver- 
mögen.") 

In  mehi"  als  einer  Hinsicht  sind  diese  tiefen  Worte  des 
tiefen  Denkers  vom  größten  Interesse !  Zunächst  tritt  deut- 
lich hervor,  wie  nahe  daran  Leibniz  war  —  und  bei  dem 
Urheber  der  Monadenphilosophie,  in  welcher  das  Prinzip 
der  reinen  Individualität  seine  höchste  geistige  Spitze  ge- 
funden hat,  erhellt  sofort  die  Notwendigkeit  dieses  Über- 
eintreffens — ,  das  Prinzip  des  römischen  Erbrechtes  aus 
sich  heraus  zu  reproduzieren.  Das  Testament  hat  ihm  nur 
deshalb  Gültigkeit,  weil  die  individuelle  Seele  des  Erb- 
lassers unsterblich  ist,  weil  die  Seelen  auch  nach  dem  Tode 
manent  domini  rerum,  ganz  wie  wir  in  der  Tat  den  objek- 


^)  Nova    Methodus   Jurisprud.,   ed.    Lips.   et    Halae    1748, 
pars  specialis,  §  20,  p.   43. 


7Q8 


tiven  Her  vor  gang  des  römischen  Testamentes  aus  dem  Ma- 
nenglauben nachgewiesen  haben.  Aber  kein  einzelner  denkt 
mit  der  Konsequenz  eines  Volksgeistes,  und  Leibniz  ist, 
indem  er  auf  dem  Wege  ist,  die  Idee  des  römischen  Testa- 
mentes auf  dem  Boden  des  christlichen  Geistes  zu  repro- 
duzieren, durch  den  Einfluß  dieses  Bodens  auch  gezwungen, 
wieder  in  das  reine  Gegenteil  der  römischen  Erbrechtsidee 
zu  verfallen.  Denn  während  die  römische  Testaments-  und 
Erbrechtsidee  überhaupt  die  versöhnte  Identifikation 
der  beiden  Willenssubjektivitäten  des  Erblassers  und  Erben 
ist,  welche  hervorbringt,  daß  ersterer  in  letzterem  fort- 
lebt, daß  letzterer,  der  heres,  selber  der  Erblasser  und 
seine  Fortexistenz  ist,  kann  auf  dem  Boden  des  christ- 
lichen Geistes,  der  die  Fortexistenz  des  Individuums  wo 
anders  als  in  dem  von  ihm  als  endlich  aufgegebenen  sub- 
jektiven Willen  weiß,  diese  Auffassung  nicht  mehr  statt- 
finden, und  der  Erblasser  bleibt  daher  der  Eigentümer 
des  Vermögens,  zu  welchem  sich  der  Erbe  nur  als  sein 
Verwalter  bestimmt. 

Kritisch  betrachtet,  widerlegt  sich  die  Theorie  von  Leib- 
niz sehr  einfach. 

Zunächst  ist  klar  und  wird  von  Leibniz  gerade  selbst 
anerkannt  und  hervorgehoben,  daß  hiernach  nur  unter  der 
Voraussetzung  der  Unsterblichkeit  der  Seele  von 
einem  Testamente  die  Rede  sein  kann.  Aber  selbst  noch 
unter  dieser  Voraussetzung  ist  seine  Theorie  in  philosophi- 
scher wie  juristischer  Hinsicht  gleichmäßig  unhaltbar.  Er- 
stens deshalb,  weil  bei  der  christlichen  Unsterblichkeit, 
im  Gegensatze  zu  der  römischen,  der  als  reine  Seele  fort- 
existierende Geist  nicht  mehr  auf  die  irdische  Außenwelt 
und  deren  sachliche  Teile  bezogen  sein  kann.  Er  hat  diese 
Beziehung  mit  der  Einkehr  in  den  Himmel  seiner  reinen 
Wesenheit  abgestreift.    Seine  himmlische   Fortexistenz  ist 

799 


gerade  dies,  diese  Endlichkeit  in  sich  selbst  und  diese  Be- 
ziehungen auf  Endliches  aufgehoben  zu  haben.  Bei  der 
christlichen  Unsterblichkeit,  bei  der  Unsterblichkeit  der 
Seele,  kann  daher  der  Tote  nicht  mehr  fortfahren, 
Eigentümer  zu  sein.  Der  Römer  kann  ihm  diese  Fort- 
existenz geben,  weil  er  die  Unendlichkeit  überhaupt  im 
Willen  selbst  erblickt,  und  daher  dem  Willen  des  Erb- 
lassers die  Unsterblichkeit  indem  subjektiven  Willen  eines 
anderen  Lebenden  gibt.  Der  christliche  Geist,  der  sich, 
weil  ihm  die  Unsterblichkeit  Einkehr  in  sein  reines  Gat- 
tungswesen ist,  dieselbe  nicht  in  einem  anderen  lebenden 
Subjekt  geben  kann,  sondern  sie  in  den  transzendenten 
Himmel  der  absoluten  Geistigkeit  verlegen  muß,  zeigt  eben 
hieran,  wie  er  nach  seinem  eigenen  Gedanken  prinzipiell 
gar  nicht  fortfahren  kann,   Eigentümer  zu  bleiben. 

Zweitens,  wäre  der  Tote  Eigentümer,  ohne  selbst  in 
dem  Lebenden  fortzuexistieren,  so  ist  nach  dem  Früheren 
philosophisch  wie  historisch  klar,  daß  er  dann  gar  nicht 
diese  positive  und  versöhnte  Stellung  zu  dem  Lebendigen 
als  seinem  Stellvertreter  und  Prokurator  einnehmen  könnte, 
wie  sie  ihm  Leibniz  in  einer  willkürlichen  Vorstellung 
leiht,  sondern  als  bleibender  Willensherr  und  Eigentümer 
zu  dem  Lebenden,  der  kein  Eigentümer  ist,  folgerecht  in 
das  negative  Verhältnis  treten  müßte,  das  sich  uns  philo- 
sophisch als  die  erste  Stufe  dieses  Verhältnisses  heraus- 
gestellt und  historisch  als  die  pelasgische  ergeben  hat. 
Drittens  endlich  tritt  zur  philosophischen  Widerlegung  und 
als  eine  notwendige  Folge  derselben  die  juristische,  daß 
nach  Leibniz,  wenn  man  von  den  beiden  ersten  Gründen 
selbst  absähe,  zwar  das  testamentarische  Erb  tum  gerettet, 
aber  das  Eigentum  untergegangen  wäre.  Nach  der  Theo- 
rie Leibnizens  wäre  Adam,  resp.  der  erste  Testator,  der 
einzige   Eigentümer,   alle  anderen   Menschen  nur  in   alle 

800 


Ewigkeit  Verwalter  und  Prokuratoren  desselben.  Die  juri- 
stische Kategorie  des  Eigentums  wäre  untergegangen,  und 
diese  Theorie  steht  daher  mit  dem  gesamten  juristischen 
Stoff  selbst  in  dem  diametralsten  Widerspruch. 

So  zerschellt  auch  die  Leibnizsche  Theorie  vollständig. 
—  Endlich  muß  noch  hervorgehoben  werden,  daß,  ob- 
gleich Leibniz  das  Angeführte  nur  in  bezug  auf  das  Te- 
stament sagt,  er  dennoch  durch  dasselbe  vermöge  der  not- 
wendigen Konsequenz  des  Gedankens  seiner  eigenen  Theo- 
rie des  Intestaterbrechtes  widerspricht  und  sie  aufhebt  •'^). 
Denn  wenn  Leibniz  einmal  den  positiven  Satz  aufstellt, 
daß  wegen  der  Unsterblichkeit  der  Seele  die  Toten  in 
Wahrheit  noch  leben  und  deshalb  weiter  Eigentümer  der 
Sachen  bleiben  (sed  quia  mortui  revera  adhuc  vivunt,  ideo 
manent  domini  renmi),  so  gilt  das  dann  notwendig  und  um 
so  mehr  auch  von  den  ab  intestato  hinterlassenen 
Sachen,  und  Leibniz  hebt  dadurch  selbst  auf,  was  er  uns 
(s.  d.  Note)  über  die  Begründung  des  Intestaterbrechtes 
sagt  2). 


^)  Diese  faßt  er  in  folgende  zwei  Sätze:  ..Successio,  quae 
non  producit  novum  jus,  sed  vetus  transfert.  Succedunt  autem 
ab  intestato  mero  jure  soli  descendentes,  in  stirpes,  sed  ita 
in  ea  tantum  bona  quae  parentis  erant,  cum  nascerentur,  quia 
anima  eorum  per  traducem  ex  anima  parentis  orta  est;  caete- 
rorum  successio  ab  intestato  pertinet  ad  fontem  pactorum,  quia 
ex  lege  descendit." 

^)  Es  wäre  also  für  Leibniz  erforderlich  gewesen,  auch  das 
Intestaterbrecht  aus  der  Unsterblichkeit  der  Seele  und 
dem  fortdauernden  Eigentumsrecht  des  Toten  zu  entwickeln, 
statt  es,  wie  er  in  dem  zweiten  Satze  tut,  ex  lege  und  resp. 
selbst  aus  der  Überleitung  (per  traduceni)  der  Seele  bei 
der  Zeugung  (man  vergleiche  die  Rolle,  welche  dies  bekannte 
Dogma  in  der  christlichen  Theologie  spielt)  fließen  zu  lassen; 
d.h.  er  hätte  das  Intestaterbrecht  als  eine  subsidiäre  Pro- 

29  Lassalle.  G«.  Schriften,  Band  XII.  801 


Es  zeigt  sich  hier  wieder  in  der  direktesten  Bestätigung 
und  Ergänzung  des  oben  Gesagten  (S.  773,  Anmerkung), 
wie  die  Leibnizsche  Erbrechtstheorie  nur  Testaments- 
theorie ist  und  das  Intestatrecht  nicht  aus  sich  entwickeln 
kann,  gerade  wie  die  Hegeische  Erbrechtstheorie  nur  In- 
testaterbrechtstheorie  ist  und  das  Testament  nicht 
aus  sich  zu  erklären  vermag, 

Leibniz  kann,  weil  er  vom  individuellen  Geist  ausgeht, 
als  Erbrechtstheorie  nur  eine  Testamentstheorie  produ- 
zieren, wie  Hegel,  weil  er  vom  allgemeinen  Geist  und  resp. 
der  Familie  ausgeht,  nur  eine  Intestatrechtstheorie 
produzieren  kann.  Letzterer  muß  deshalb  das  germanische 
Erbrecht  als  identisch  mit  der  Idee  des  Erbrechtes 
überhaupt  auffassen,  wie  Leibniz,  trotz  des  diametralen 
Unterschiedes,  auf  ein  der  römischen  Erbtumsidee  ana- 
loges Prinzip  geraten  muß.  Allein  wenn  sich  auch  die 
Leibnizsche  Theorie  so  nach  allen  Seiten  hin  auflöst,  so 
bleibt  doch  als  das  große  Verdienst  dieses  mit  gewaltigem 
Blick  von  der  Oberfläche  der  Dinge  stets  in  das  tiefste 
Innere  derselben  eindringenden  Denkers  der  tiefe  Satz 
übrig,  mit  welchem  wir  diese  Darstellung  schließen  wollen  : 
,,Testamenta  vero  mero  jure  nullius  essent  momenti, 

nisi  anima  esset  immortalis.'" 


kuration  und  Stellvertretung  des  Toten  entwickeln  müssen, 
wie  dies  das  römische  jus  civile  tut,  wobei  sich  wieder  die 
geringere    Konsequenz   des   Individuums   gegen   den   Volksgeist 


802 


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