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Full text of "Gesammelte Schriften;"

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Wilhelm  von  Humboldts 
Gesammelte   Schriften. 


Wilhelm  von  Humboldts 
Gesammelte  Schriften. 


Herausgegeben  von  der 

Königlich    Preussischen    Akademie    der 
Wissenschaften. 

Band  I. 

Erste  Abteilung: 
Werke   I. 


Berlin 

B.  Behr's  Verlag 

1903. 


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Wilhelm  von  Humboldts 

Werke. 


Herausgegeben  von 


Albert  Leitzmann. 


Erster   Band. 
1785—1795- 


Berlin 

B.  Behr's  Verlag 

1903. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


L)er  Königlich  preußischen  Akademie  der  Wissenschaften 
sind  zu  ihrer  Zweijahrhundertfeier  im  März  1900  durch  die  Gnade 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Königs  Wilhelm  II.  aus  dem 
Allerhöchsten  Dispositionsfonds  Mittel  gewährt  worden,  die  es  ihr 
ermöglichen,  eine  alte  Dankesschuld  gegen  den  Schöpfer  ihres 
neuen  Lebens  einzulösen  und  Wilhelm  v.  Humboldts  weitver- 
zweigte Geistesarbeit  in  einer  auch  die  politischen  Denkschriften, 
die  Tagebücher  und  Briefe  zum  ersten  Mal  umfassenden  Ausgabe 
nach  sachlicher  und  zeitlicher  Ordnung  allseitig  und  getreu  zu 
entfalten.  Sie  hätte  jedoch  diese  große  Sammlung  den  Händen 
der  berufenen  Forscher  Professor  Dr.  Albert  Leitzmann  in  Jena  und 
Professor  Dr.  Bruno  Gebhardt  in  Berlin  nicht  anvertrauen  können 
ohne  das  hochherzige  Entgegenkommen  der  Familie  Humboldts, 
an  deren  Spitze  seine  Enkelin  Frau  v.  Heinz  sogleich  den  ganzen 
in  Tegels  geweihten  Räumen  liegenden  handschriftlichen  Nachlass 
zur  Verfügung  stellte.  Für  den  politischen  Teil  hat  das  Geheime 
Staatsarchiv  eine  Fülle  von  Akten  beigesteuert.  Der  fördernden 
Hilfe  anderer  Institute  und  einzelner  Personen  wird  am  gehörigen 
Orte  gedacht  werden.  Fber  die  Grundsätze  und  die  Quellen 
dieser  Gesammtausgabe  unterrichten  knappe  kritische  und  sach- 
liche Erläuterungen. 


Inhalt. 


Seite 

j.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit,  über  die  Vorsehung  und  Unsterb- 
lichkeit [i-jSs-  i~8-j] / 

2.  Über  Religion  [i~8g] 45 

j.  Ideen  über  Staatsverfassung,  durch  die  neue  französisclie  Konstitution 

veranlaßt  [ijgi] 77 

4.  Über  die  Gesetze  der  Entwicklung  der  menschlichen   Kräße.     Bruch- 
stück [lygi] 8G 

5.  Ideen  zu  einem  Versuch  die   Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu 
bestimmen  [i-g2] 97 

6.  Über  das  Studium  des  Altertums  und  des  griechischen  insbesondere  [ijgj]  255 

7.  Theorie  der  Bildung  des  Menschen.    Bruchstück  [lygj] 282 

8.  Rezension  von  Jacobis  Woldemar  [i'jg4] 288 

g.  Über  den  Geschlechtsunterschied  und  dessen  Einßuß  auf  die  organische 

Natur  [i'jg4] ^n 

10.  Über  die  männliche  und  weibliche  Form  [ijgsl 33S 

11.  Rezension  von  Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee  [i'jgs] 370 

12.  Plan  einer  vergleichenden  Anthropologie  [ijgs] J?77 

ij.  Pindar  [ijosl '^^^ 

Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte  der  einzelnen  Aufsätze      ....  430 


Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit,  über  die 
Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 

Untersuchungen  über  das  Dasein  Gottes,  und  über  die  Wahr- 
heiten der  natürlichen  Religion  überhaupt  scheinen  der  Lieblings- 
gegenstand der  Philosophie  unsrer  Zeit  geworden  zu  sein.  Man 
hat  diejenigen  Theile  der  Philosophie  verlassen,  die,  ohne  auf 
brauchbare  Resultate  für  das  praktische  Leben  zu  führen,  nur  dem 
Scharfsinn  einige  Nahrung  versprachen;  man  hat  die  Gränzen  des 
menschlichen  Verstandes  näher  bestimmt,  und  Fragen,  die  ausser 
demselben  zu  liegen  scheinen,  und  nur  durch  ungewisse  Muth- 
massungen  beantwortet  werden  können,  lieber  unerörtert  gelassen. 
Wenn  man  vormals  alle  Künste  der  Dialektik  aufbot,  um  irgend 
eine  Hypothese  mit  neuen  Gründen  zu  unterstüzen;  so  hat  man 
jezt  alle  Kräfte  der  Vernunft   angewandt,   um  Wahrheiten   in   ein 


Erster  Druck:  Zöllners  Lesebuch  für  alle  Stände  zur  Beförderung  edler 
Grundsätze,  echten  Geschmacks  und  nützlicher  Kenntnisse  8,  i86 — 256"  (i'jS'j). 
g,  1—21  fiygoj.  Zöllner  begleitet  den  Abdruck  der  ersten  Hälfte  mit  folgender 
Anmerkung:  „Es  mag  sein,  dass  diese  Bruchstücke  alter  griechischer  Philosophie 
manchem  meiner  Leser  zu  trocken  scheinen;  sicherlich  giebt  es  auch  andre, 
denen  sie  höchst  interessant  sind.  Was  der  Herr  Verfasser  in  der  Einleitung 
von  sich  selbst  sagt,  ist  gewiss  in  unsern  Tagen  der  Fall  mehrerer  denkenden 
Männer  und  desto  mehr  bin  ich  demselben  verbunden,  dass  er  meiner  dringenden 
Bitte,  dass  er  diese  bloss  zu  seinem  eigenen  Vergnügen  imternommene  Arbeit 
meinem  Lesebuche  einverleiben  tnöchte,  nachgegeben  hat.  Denen,  welche  nicht 
ohne  Ursache  klagen,  dass  ernsthafte  Studien  und  sonderlich  Vertraulichkeit  mit 
den  Alten  jetzt  zu  verschwinden  scheinen,  kann  ich  unmöglich  die  Nachricht  vor- 
enthalten, dass  diese  männliche  Einleitung  zu  der  nachfolgenden  Übersetzung 
aus  der  Feder  eines  zwanzigjährigen  Kavaliers  geflossen  und  die  Übersetzung 
selbst  schon  vor  zwei  Jahren  von  ihm  gemacht  ist." 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  ^ 


2  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

helleres  Licht  zu  sezen,  von  denen  nicht  bloss  die  Glükseligkeit 
des  einzelnen  Menschen,  von  denen  die  Ruhe  ganzer  Staaten  ab- 
hängt. Aber  man  ist  verschiedene  Wege  eingeschlagen.  Einige 
haben  strenge  Demonstrationen  gefordert,  haben  die  Blossen  der 
bisherigen  Beweisgründe  mit  kühner  Hand  aufgedekt,  und  sich  in 
die  dunkelsten  Tiefen  der  Metaphysik  gewagt,  um  dort  neue,  un- 
umstössliche  zu  finden.  Andre  haben  jene  Wahrheiten  mehr  dem 
geraden  Menschenverstände  empfohlen,  zufrieden,  wenn  der  unein- 
genommene Wahrheitsfreund  sie  überzeugend  fände,  doch  unbe- 
kümmert, ob  ein  spizfündiger  Kopf  noch  Zweifel  dagegen  erregen 
konnte.  Beide  Methoden  haben  ihren  unstreitigen  Werth.  Man 
muss,  wenn  es  möglich  ist.  Beweise  haben,  die  jedem  Einwurf, 
die  jedem  Zweifel  Troz  bieten;  aber  sie  allein,  was  werden  sie 
wirken?  Sie  gleichen  einem  Feuer,  das  leuchtet,  ohne  zu  er- 
wärmen; und  wenn  sie  Ueberzeugung  hervorbringen,  ist  diese 
Ueberzeugung  darum  die  fruchtbare  Mutter  edler  Gesinnungen 
und  Thaten?  Jene  andern  hingegen  beleben  das  Herz,  dass  es, 
von  den  Wahrheiten  der  natürlichen  Religion  durchdrungen,  die 
Pflicht  jedes  Verhältnisses  williger  erfüllt,  jeden  Schmerz  des  Lebens 
leichter  trägt,  jede  Freude  höher  empfindet.  Denn  gewiss  ist  es 
nur  das  Eigenthum  weniger  Edlen,  in  dem  blossen  Anschaun  ihrer 
eigenen  Güte,  und  der  Vollkommenheit  des  Ganzen  glüklich 
zu  sein. 

Wenn  etwas  unserm  Zeitalter  Ehre  bringt,  wenn  etwas  seine 
grössere  Aufklärung  bewährt ;  so  ist  es  vielleicht  eben  diese  Rich- 
tung unsrer  Philosophie,  von  der  ich  rede.  Denn  was  heisst  Auf- 
klärung des  Zeitalters,  wenn  nicht  allgemeiner  verbreitete,')  vor- 
urtheilfreie  Schäzung  der  Dinge,  auf  denen  in  jedem  Verhältniss 
das  Glük  des  denkenden  Geistes  beruht,  wenn  nicht  die  glüklichere 
Wahl  der  Mittel  zu  Erreichung  dieses  Zweks,  wenn  nicht  die 
muthvollere  Bekämpfung  der  Hindernisse,  die  diesem  Zwek  ent- 
gegen sind?  Anders  den  Begriff  der  Aufklärung  bestimmt,  und 
Licht  und  Finsterniss,  und  fruchtbare  Weisheit  und  todte  Gelehr- 
samkeit, alles  ist  Eins. 

Dennoch  ist  wiederum  unläugbar,  dass  auch  eben  jezt  viele 
sich  weit  von  dem  Wege  der  Vernunft  und  der  ächten  Weisheit 
entfernen.    Diese  scheinen  sich  vorzüglich  auf  zwei  ganz  entgegen - 


^j  Der  erste  Druck  hat  „verarbeitete'^  was  ich  für  einen  Druck-  oder  Lese- 
fehler halte. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  ^ 

gesezte  Abwege  zu  verirren.  Die  einen  stürzen  nicht  bloss  die 
Beweisgründe  um,  worauf  die  Philosophie  bisher  die  Wahrheiten 
der  natürlichen  Religion  baute,  sie  läugnen  diese  Wahrheiten  selbst, 
oder  machen  sie  wenigstens  durch  Sophistereien  von  mancherlei 
Art  so  zweifelhaft  und  ungewiss,  dass  sie  alles  das  Ermunternde 
und  Beruhigende  verlieren,  was  sie  den  Weisen  aller  Zeiten  so 
schäzbar  und  ehrwürdig  machte.  Gehn  sie  vielleicht  seit  kurzem 
eine  andre  Bahn,  folgen  sie  nicht  mehr,  blind  gehorsam,  den 
Pfaden  Epikurs,  und  seines  Nachahmers  Lukrez,  und  sind  auch 
ihnen  gedankenloses  Ohngefähr,  und  bildende  Natur  nur  leere 
Schälle,  ohne  Sinn;  so  leihen  sie  dafür  jezt  die  Waffen  der  spiz- 
fündigsten  Metaphysik;  so  erschüttern  sie  die  Gewissheit  aller 
menschlichen  Erkenntniss  bis  in  ihre  ersten  Grundfesten ;  so  lassen 
sie  zwar  der  menschlichen  Vernunft  die  N  o  t  h  w  e  n  d  i  g  k  e  i  t ,  diess 
für  Wahrheit  zu  halten.  Aber  wenn  sie  fragen:  ob  es  auch 
Wahrheit  sei?  —  führen  sie  uns  dann  nicht  durch  diesen  höchsten 
Grad  des  Skepticismus  zu  eben  dem  Resultate  als  ihre  ^^orgänger? 
Die  andern  hingegen  nehmen  zwar  die  Wahrheiten  der  Pveligion 
an,  aber  sie  sprechen  der  Vernunit  die  Fähigkeit  ab,  sie  beweisen 
zu  können ;  sie  wollen  nicht  raisonniren,  sie  wollen  glauben ;  nicht 
denken,  sondern  empfinden.  Denn  diess,  dünkt  mich,  sind  die 
charakteristischen  Kenntnisse  der  Schwärmer,  von  denen  unser 
Zeitalter  uns  nur  zu  viele  Beispiele  aufstellt.  Was  Wunder,  wenn 
man  auf  einem  solchen  Wege  leicht  ausgleitet?  Wer  der  kalten 
Vernunft  folgt,  hat  einen  sichern  Führer,  hat  feste  Regeln,  die  ihn 
bald  erinnern,  wenn  er  sich  vielleicht  einmal  vom  Wege  der  Wahr- 
heit entfernt.  Aber  wer  führt  uns,  wenn  wir  uns  bloss  dunklen 
Gefühlen,  Ahndungen,  Träumen  überlassen?  wer  bewahrt  uns 
dann  vor  Glauben  an  Visionen,  an  Prophezeiungen,  und  Wunder- 
kuren, und  vor  jeder  andern  Verirrung  des  menschlichen  Ver- 
standes ? 

Gleichzeitige  Erscheinungen  von  so  ganz  verschiedener  Natur 
haben  in  der  That  etwas  Befremdendes.  Es  scheint  sonderbar, 
den  blindesten  Glauben  neben  der  erklärtesten  Zweifelsucht  zu  sehn. 
Dennoch  ist  diess  Phänomen  in  der  Geschichte  des  menschlichen 
Verstandes  nicht  selten,  so  wenig  selten,  als  bei  dem  nemlichen 
Menschen  der  Uebergang  vom  Unglauben  zur  Schwärmerei,  oder 
vom  Allglauben  zum  Nichtsglauben.  Auch  sind  diese  Uebergänge 
in  der  That  weniger  unerklärbar,  als  sie  es  beim  ersten  Anblik 
scheinen.     Wenn   der   eine   die   Frucht   des   gewöhnlichen   Unter- 


A  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

richts  sein  mag;  so  haben,  um  den  andern  begreiflich  zu  machen, 
unpartheiische  Wahrheitsforscher  schon  längst  gezeigt,  wie  leichten 
Eingang  die  Grundsäze  der  natürlichen  Religion  in  die  Köpfe  und 
Herzen  der  Menschen  finden,  wie  beides  ihre  Einfalt  und  ihre 
Fasslichkeit  sie  dem  Verstände  empfehlen,  und  wie  dieser  erst 
gleichsam  verstimmt  sein  müsse,  um  ihnen  seinen  Beifall  zu  ver- 
sagen. Diejenigen  also,  welche  jene  Wahrheiten  läugnen,  sind 
selten  gewohnt,  eigene  Untersuchungen  mit  Schärfe  und  Genauig- 
keit anzustellen.  Auch  ist  es  bequemer,  dasjenige  System  unge- 
prüft anzunehmen,  was  den  Neigungen  und  Leidenschaften  am 
meisten  schmeichelt,  was  der  Mühe  eines  beschwerlichen  Nach- 
denkens überhebt.  Dennoch  finden  sich  oft  in  ihrem  Leben  Ver- 
hältnisse, wo  auch  sie  das  Bedürfniss  einer  beruhigenden  Ueber- 
zeugung  fühlen,  einer  Ueberzeugung,  die  sie  in  ihren  ehemaligen 
Grundsäzen  vergebens  suchen,  und  da  sie  nicht  gewohnt  sind  zu 
raisonniren,  so  glauben  sie. 

Unter  diesen  Umständen,  bei  diesen  häufigen  Angriffen  auf 
Vernunft  und  Wahrheit  von  der  einen,  und  den  eben  so  häufigen 
Vertheidigungen  derselben  von  der  andern  Seite,  schien  es  mir 
nicht  uninteressant  zu  sein,  einmal  zu  untersuchen,  wie  man  in 
den  blühendsten  Zeiten  Athens  und  Roms  über  diese  Gegenstände 
gedacht  habe.  Ich  fasste  daher  den  Vorsaz,  aus  den  philosophischen 
Schriften  der  Griechen  und  Römer  mehrere  Stükke,  welche  diese 
Materie  behandeln,  in  unsre  Sprache  zu  übersezen,  und  zu  ver- 
suchen, ob  ich  sie  zu  einem  Ganzen  ordnen  könnte.  Unter 
mehreren  Vortheilen,  die  ich  mir  von  dieser  Arbeit  versprach, 
schien  sie  mir  vorzüglich  die  Vergleichung  zwischen  unsrem,  und 
jenem  Zeitalter  erleichtern  zu  können  —  eine  Vergleichung,  die 
gewiss  in  mehrern  Rüksichten  wichtig  sein  würde,  zu  welcher 
aber  auch  die  gleich  beim  ersten  Anblik  auffallende  Aehnlichkeit 
beider  Perioden  in  dem  beständigen  Kampfe  der  Wahrheit  und 
Vernunft  gegen  Zw^ifelsucht  und  Schwärmerei  eine  angenehme 
Veranlassung  giebt.  Zwar  bedarf  die  Wahrheit  zu  ihrer  Empfeh- 
lung keiner  Autoritäten;  es  ist  vielmehr  gefährlich,  sich  ihrer  zu 
dieser  Absicht  zu  bedienen.  Allein  dennoch  scheint  sie  gleichsam 
an  Würde,  an  Stärke  der  Ueberzeugung  zu  gewinnen,  wenn  man 
sieht,  mit  welchem  Eifer  die  Weisen  des  Alterthums  sie  behauptet 
haben,  nachdem  sie  dieselben  fast  auf  eben  den  Wegen,  als  die 
Forscher  neuerer  Zeiten,  gefunden  hatten;  und  aus  gleichem 
Grunde   erscheinen   Zweifel   und  Angriffe    minder  gefährlich,   die 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  c 

man  auch  damals  schon  mit  so  wenig  glüklichem  Erfolge  versucht 
hat.  Besonders  aber  könnte  diese  Vergleichung  zu  einem  richti- 
geren Unheil  über  unser  Zeitalter  Veranlassung  geben.  Die  Be- 
trachtung der  Höhe,  zu  der  die  Philosophie  in  unsren  Tagen 
gestiegen  ist,  kann  leicht  dazu  verführen,  mit  undankbarer  Ver- 
gessenheit dessen,  was  die  heutige  Philosophie  den  älteren  grie- 
chischen und  römischen  Weltweisen  schuldig  ist,  unser  Jahrhundert 
für  unendlich  aufgeklärter,  als  alle  vorhergehenden,  zu  halten. 
Und  eben  so  kann  auf  der  andern  Seite  der  Anblik  so  grosser 
Verirrungen  des  Verstandes,  und  der  so  häufigen  Uebel,  welche 
Zweifelsucht  und  Schwärmerei  hervorbrachten,  zu  Ungerechtig- 
keiten gegen  unser  Zeitalter,  und  zu  einem  Urtheil  verleiten,  das 
demselben  die  Stufe  der  Aufklärung  abspricht,  auf  der  es  steht. 
Noch  mehr  wurde  ich  in  dem  Vorsaze,  diese  Uebersezungen  zu 
verfertigen,  bestärkt,  da  ein  Mann,  in  dem  Deutschland  schon 
längst  nicht  bloss  einen  seiner  scharfsinnigsten  Philosophen,  sondern 
auch  einen  seiner  feinsten  Schriftsteller  verehrt,  und  dem  ich  den 
grössten  Theil  meiner  Bildung  schuldig  zu  sein  mit  innigster 
Dankbarkeit  bekenne,  dieser  Idee  seinen  Beifall  schenkte.  Auch 
war  ich  schon  zur  Ausführung  geschritten,  als  andre  Beschäf- 
tigungen, andre  Studien,  besonders  aber  das  Gefühl  der  Schwierig- 
keiten, und  meiner  nicht  hinreichenden  Kräfte  bei  meiner  Arbeit, 
die  neben  der  ausgebreitetsten  Bekanntschaft  mit  den  Werken  der 
neuern  Weltweisheit  zugleich  die  grösste  Belesenheit  in  den 
Schriften  der  Alten,  und  eine  nicht  gemeine  Kenntniss  ihrer  Philo- 
sophie erfordert,  als,  sag'  ich,  alle  diese  Gründe  mich  nöthigten, 
die  bereits  angefangene  Arbeit  wdeder  aufzugeben.  Ich  lasse  indess 
hier  einige  Fragmente,  die  ich  vollendet  hatte,  folgen,  und  ich 
werde  glauben,  nichts  ganz  unnüzes  gethan  zu  haben,  wenn  diese 
Probe  vielleicht  einem  Manne  von  grösserer  Sach-  und  Sprach- 
kenntniss  Veranlassung  giebt,  seine  Müsse  der  Ausführung  dieses 
Planes  zu  widmen. 

Die  hier  übersezten  Stükke  hab'  ich  aus  dem  Piaton  und 
Xenophon  gewählt.  Ueberaus  vortreflich  ist  gewiss  Piatons  Be- 
weis für  das  Dasein  Gottes.  Wenigstens  hat  uns  die  Philosophie 
noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  keinen  besseren  und  überzeugen- 
deren geliefert.  Herr  Gan-e  sagt  in  seinen  Anmerkungen  zu 
Fergusons  Grundsäzen  der  Moralphilosophie:  .,Mich  dünkt,  die 
Frage:  ist  ein  Gott.'  wenn  sie  auf  die  ersten  Grundbegrille  zurük- 
geführt  wird,  woraus  sie  entstanden  war,  ist  keine  andre,  als  diese : 


ß  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

ist  das  Denken  der  Grund  aller  Bewegung,  oder  ist  die  Bewegung 
der  Grund  des  Denkens  ?  sind  die  mechanischen  Kräfte  die  Quelle 
der  geistigen,  oder  die  geistigen  Kräfte  die  Quelle  der  körper- 
lichen?" und  in  einer  andern  Stelle:  „Der,  welcher  glaubt,  dass 
der  Geist  und  die  denkende  Kraft  das  erste  und  älteste  war;  dass 
diese  Kraft  ursprünglicher  und  unabhängiger  ist,  als  die  Kräfte 
der  Materie ;  dass  durch  sie  die  Bewegungen  der  Körperwelt  ihren 
Ursprung  nahmen:  der  ist  der  Deist  im  allgemeinsten  Verstände."  \) 

Was  aber  sucht  Piaton  so  sehr,  und  mit  so  vielen  Gründen 
zu  beweisen,  als  eben  dieses,  dass  das  Immaterielle  —  was  er 
unter  dem  Ausdruk:  Seele  versteht  —  früher  existirte,  als  die 
Körperwelt;  dass  diese  erst  durch  jenes  geordnet,  und  in  Bewegung 
gesezt  ward?  Es  wäre  hier  eine  nicht  unschikliche  Gelegenheit 
zu  weitläuftigeren  Untersuchungen,  worin  der  Zusammenhang 
dieser  Ideen  des  Piaton  mit  andern  Systemen  seines  Zeitalters  ge- 
zeigt werden  könnte;  allein  ich  muss  mich  begnügen,  nur  Eine 
Anmerkung  hinzuzufügen,  die  vielleicht  zum  besseren  Verständniss 
des  Folgenden  nicht  unnüz  sein  wird.  Piaton  redet  bloss  von 
Bewegung,  und  scheint  keine  andre  Veränderung  in  der  Natur  zu 
kennen.  Die  neuere  Philosophie  reduzirt  alle  Veränderungen  auf 
zwei  Klassen,  auf  Vorstellung  und  Bewegung  —  jene  in  der 
Geister-,  diese  in  der  Körperwelt.  Ich  lasse  es  jezt  unerörtert,  in 
wiefern  alle  Veränderungen  der  Körper  auf  den  einzigen  Begriff 
der  Bewegung  zurükgeführt  werden  können.  Genauere  Unter- 
suchungen über  die  Beschafli'enheit  unsrer  Sinne,  und  die  Art,  wie 
sie  Eindrükke  von  aussen  her  empfangen,  scheinen  andre  Resultate 
zu  geben.  Aber  die  ausführlichere  Auseinandersezung  dieser 
Materie  würde  mich  zu  weit  von  meinem  Zwek  entfernen.  Auf 
alle  Fälle  hat  Piaton  die  Art,  wie  Geister,  und  wie  Körper  wirken, 
nicht  gehörig  von  einander  unterschieden,  sondern  Vorstellung 
und  Bewegung  in  Eine  Klasse  geworfen;  ein  Fehler,  der  indess 
in  einem  Zeitalter,  wo  die  Begriffe  von  der  Immaterialität  der 
Seele  noch  so  wenig  allgemein,  und  gereinigt  waren,  desto  ver- 
zeihlicher ist,  da  noch  jezt  manche  Philosophen  in  einen  ähnlichen 
Irrthum  zu  verfallen  scheinen. 

Xenophons  Beweise  sind  weniger  streng  und  genau,  aber  desto 
fasslicher  für  den  Menschenverstand,  desto  empfehlender  für 
das  Herz! 


V   Adam   Fergusons   Grundsätze    der   Moralphilosophie    S.  j^8.  j^g;    die 
Übersetzung  erschien  Leipzig  lyyj. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  n 

Die  Einwürfe  gegen  diese  Beweisthümer  sind  schon  eben  die, 
welche  man  nachher  in  so  verschiedenen  Einkleidungen  wieder- 
holt hat. 

Wenn  man  den  Piaton  das  System  seiner  Gegner  vortragen 
hört,  so  sollte  man  glauben,  er  habe  es  aus  la  Mettrie,  oder  dem 
Systeme  de  la  natiire  entlehnt.  Eben  die  Ideen  von  einem  blinden 
Verhängniss,  von  einer  ordnenden  Natur,  von  Bewegungen  in 
der  Materie  ohne  bewegende  Ursach.  Auch  die  Einwürfe  gegen 
die  Vorsehung  sind  noch  jezt  fast  die  nemlichen.  Ist  das  Auge 
darum  zum  Sehen  geschaflen,  weil  es  zum  Sehen  bequem  ist? 
Ist  es  der  Würde  der  Gottheit  nicht  unanständig,  auch  für  das 
Einzelne,  für  das  Kleine  zu  sorgen?  Warum,  wenn  eine  weise 
Güte  die  Schiksale  der  Menschen  lenkt,  ist  das  Laster  so  oft  glük- 
licher,  als  die  Tugend?  u.  s.  f. 

Ich  sollte  mich  vielleicht  noch  einen  Augenblik  dabei  ver- 
weilen, zu  zeigen,  dass  es  auch  in  dem  Zeitalter  der  Sokrate  und 
Piatone  Schwärmer  und  Betrüger,  wie  jezt,  gab,  und  dass  nur 
■\delleicht  die  Mittel  verschieden  waren,  deren  sie  sich  zu  ihren 
Zwekkeii  bedienen.  Es  würde  mir  leicht  werden,  mehrere  Stellen, 
als  Beläge  hiezu,  selbst  aus  dem  Piaton  zu  sammlen,  der  sich  in 
den  bittersten  Ausdrükken  über  sie  beklagt,  und  ihnen  im  loten 
Buch  seiner  Geseze  kein  mildes  Schiksal  bestimmt.^)  Allein 
grossentheils  sind  diess  bekannte,  schon  mehrmals  gesagte  Dinge, 
und  noch  neuerlich  hat  Herr  Wolf  diese  Materie  ausführlich  ab- 
gehandelt.-) 


Xenophons  Denkwürdigkeiten  des  Sokrates. 

B.  I.     K.  4.3) 

Sokrates   und  Aristo  dem. 

Sokrates  erfuhr,  dass  Aristodem  der  Kleine  (so  nannte  man 
ihn)  weder  den  Göttern  opferte,  noch  die  Orakel  befragte,  sondern 

'^)  Die  Erörterung  Piatons,  auf  die  hier  Bezug  genommen  wird,  findet  sich 
in  den  Gesetzen  S.  goga. 

-)  Im  Septemberheft  lySy  der  Berlinischen  Monatsschrifi  fio,  20g)  veröffent- 
lichte Friedrich  August  Wolf  einen  Aufsatz  „Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
magnetischen  Somnainbulismus  aus  dem  Altertum",  worin  er  ausführlich  die 
antiken  Nachrichten  über  Kuren  durch  divinatorischen  Schlaf  behandelt. 

y  Die  Übersetzung  beginnt  mit  dem  -j.  und  schließt  mit  dem  18.  Paragraphen 
des  Kapitels. 


g  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

jeden,  den  er  diess  thun  sah,  verlachte.  Hör  einmal,  sprach  er 
eines  Tages  zu  ihm,  hast  Du  wohl  schon  Menschen  wegen  ihrer 
Geschicklichkeiten,  wegen  ihrer  Talente  bewundert? 

„O  ja,  schon  oft,  Sokrates,"  antwortete  Aristodem. 

Und  diess  wären? 

„In  der  Epopee  Homer,  im  Dithyramb  Melanippides,  im  Trauer- 
spiel Sophokles,  in  der  Bildhauerkunst  Polyklit,  in  der  Mahlerei 
Zeuxis." 

Aber  wer  verdient  Deinem  Urtheile  nach  mehr  Bewunderung : 
der  Künstler,  der  unbeseelte,  unbewegliche  Bilder  hervorbringt, 
oder  der  Schöpfer  beseelter,  selbstthätiger  Wesen? 

„Offenbar  der  leztere,  Sokrates,  vorausgesezt,  dass  er  nicht 
zufälligerweise,  sondern  mit  Absicht  handle." 

Wo  Du  also  einen  augenscheinlichen  Zwek,  einen  augenschein- 
lichen Nuzen  siehst,  schreibst  Du  das  dem  Zufalle,  oder  einer 
verständigen  Absicht  zu  ? 

„Wenn  ein  Zwek  da  ist,  offenbar  einer  verständigen  Absicht." 

Der  nun,  welcher  die  Menschen  zuerst  schuf,  beabsichtigte 
doch  wohl  nur  ihren  Nuzen,  indem  er  ihnen  die  sinnlichen  Werk- 
zeuge beilegte :  das  Auge,  um,  was  sichtbar  ist,  zu  sehn,  das  Ohr, 
um,  was  hörbar  ist,  zu  hören?  Wozu  dienten  ihnen  alle  Gerüche, 
hätte  er  ihnen  nicht  eine  Nase  gegeben,  sie  zu  empfinden?  Wie 
könnten  sie  das  Süsse  und  Scharfe  schmekken,  wie  alles  das  Ver- 
gnügen geniessen,  das  ihnen  der  Gaumen  verschaft,  hätten  sie 
nicht  die  Zunge  von  ihm  erhalten,  durch  die  sie  die  verschiedenen 
Arten  des  Geschmaks  unterscheiden?  Scheint  es  Dir  nicht  ferner 
eine  absichtsvolle  Einrichtung  zu  sein,  dass  unser  Auge,  weil  es 
so  überaus  empfindlich  ist,  durch  die  Augenlieder,  wie  durch 
Thüren,  verschlossen  wird,  die  sich  öfnen,  so  oft  wir  das  Auge 
zum  Sehen  brauchen,  und  sich  im  Schlaf  wieder  schliessen;  dass 
die  Augenwimpern  die  Stelle  eines  Schleiers*)  vertreten,  damit 
auch  die  Luft  dem  Auge  nicht  schade;  dass  die  Augenbraunen, 
gleich  einem  Dache,  den  Seh  weiss,  der  etwa  vom  Kopfe  herab- 
träufelt, abhalten;   dass   das  Ohr  alle  Schälle   empfängt,   und   nie 


*)  r)&fiov,  ein  Seigetuch,  Durchschlag.  Diese  Metapher  schien  mir  im  Deutschen 
unverständlich.  Auch  Cicero  in  seiner  Nachahmung  dieser  Xenophontischen  Stelle  hat 
sie  nicht  beibehalten.     Er  sagt  vallo  pilorum,  Nat.  Deor.  II.  57.  ^) 

')  „Munitaeque  sunt  palpebrae  tamquam  vallo  pilorum,  quibus  et  apertis  oculis, 
si  quid  incideret,  repelleretur  et  somno  conniventibus,  cum  oculis  ad  cernendum  non 
egereraus,  ut  qui  tamquam  involuti  quiescerent"  De  natura  deorum  2,   143. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  q 

voll  wird ;  dass  die  Vorderzähne  bei  allen  Thieren  mehr  zum  Zer- 
schneiden, die  Bakkenzähne  mehr  zum  Zermalmen  bestimmt  sind ; 
dass  der  Mund,  durch  den  alle  Thiere  die  Speisen,  die  sie  lieben, 
geniessen,  nah  an  die  Augen  und  an  die  Nase  gestellt  ist;  dass 
hingegen  das,  was  Ekel  erregt,  durch  Kanäle  abgeführt  wird,  die 
weit  von  den  sinnlichen  Werkzeugen  entfernt  sind?  Kannst  Du 
alle  diese  absichtsvollen  Einrichtungen  dem  Zufalle  zuschreiben, 
oder  vielmehr,  kannst  Du  nur  noch  darüber  zweifelhaft  sein? 

„Nein,  in  der  That  nicht,  Sokrates ;  sondern  ich  erkenne  darin, 
wenn  ich  es  so  betrachte,  das  Werk  eines  Urhebers,  der  weise, 
und  für  die  Lebendigen  mit  zärtlicher  Liebe  besorgt  ist." 

Und  noch  mehr.  Dass  allen  Menschen  die  Begierde  ange- 
bohren  ist,  andere  Geschöpfe  ihrer  Art  her\-orzubringen,  dass  den 
Müttern  vorzüglich  die  Neigung  eingepflanzt  ist,  ihre  Jungen  zu 
ernähren,  und  zu  beschüzen;  diess,  so  wie  die  heftige  Liebe  zum 
Leben,  und  die  eben  so  heftige  Furcht  vor  dem  Tode,  die  jeder 
Kreatur  eigen  ist.  zeigt  gewiss  von  den  Anordnungen  eines  Wesens, 
welches  das  Dasein  und  die  Erhaltung  der  Lebendigen  will.  Aber 
auch  auf  einem  andern  W^ege  kannst  Du  Dich  von  der  Wirklich- 
keit eines  solchen  Wesens  überzeugen.  Du  glaubst  doch  Verstand 
zu  besizen,  nicht  wahr? 

„O !  Frage  weiter,  lieber  Sokrates.  und  ich  werde  Dir  ant- 
worten." 

Ausser  Dir  aber  sollte  es  nichts  Verständiges  mehr  geben? 
Du  weisst  doch,  dass  Du  von  allen  den  Substanzen,  aus  welchen 
Dein  Körper  zusammengesezt  ist,  immer  nur  einen  kleinen  Antheil 
empfangen  hast;  dass  von  einer  jeden  noch  eine  ungeheure  Menge 
ausser  Dir  in  der  übrigen  Welt  zerstreut  ist.  In  welchem  Ver- 
hältnisse steht  z.  B.  die  wenige  Erde  und  das  wenige  Wasser  in 
Deinem  Körper  gegen  die  Masse  der  Erde  und  des  Wassers,  die 
noch  ausser  Dir  existirt?  Und  den  Verstand  solltest  Du  durch 
ein  glükliches  Ohngefähr  allein  an  Dich  gerissen  haben?  Nur  der 
sollte  ausser  Dir  nirgends  vorhanden  sein?  Und  alle  jene  bewun- 
dernswürdigen, zahllosen  Dinge  sollten  ihre  vortrefliche  Ordnung 
unverständigen  Ursachen  danken? 

„Doch,  Sokrates.  Denn  ich  sehe  ja  nirgends  die  Schöpfer 
und  Beherrscher  der  Erde,  so  wie  ich  die  Künstler  irrdischer 
Kunstwerke  sehe." 

Aber  Du  siehst  auch  Deine  eigene  Seele  nicht,  und  doch  be- 
herrscht sie  Deinen  Körper.     Du  könntest  also  auch  mit  gleichem 


10 


I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 


Rechte  Deine  eigenen  Handlungen  dem  Zufalle,  nicht  der  Ueber 
legung  zuschreiben. 

„Ich  verkenne,  ich  verachte  ja  auch  die  Gottheit  nicht,  er- 
wiederte  Aristodem ;  ich  halte  sie  ja  vielmehr  für  ein  zu  erhabenes 
Wesen,  als  dass  sie  meines  Dienstes  bedürfte." 

Je  erhabener  das  Wesen  ist,  Aristodem,  das  Dich  seiner  Sorg- 
falt würdigt,  desto  mehr  solltest  Du  es  ehren. 

„Ich  würde  die  Götter  auch  nicht  vernachlässigen,  Sokrates, 
wenn  ich  nur  glaubte,  dass  sie  sich  um  die  Menschen  bekümmerten." 

Und  Du  kannst  noch  daran  zweifeln?  Den  Menschen  allein 
unter  allen  Thieren  stellten  sie  aufrecht:  ein  Vortheil,  durch  den 
er  nicht  allein  weiter  um  sich  blikken,  und  den  Himmel  und  die 
Gestirne,  und  alles,  was  über  ihm  ist,  besser  betrachten  kann, 
sondern  wodurch  er  auch  mehr  vor  Gefahren  gesichert  ist.  Allen 
übrigen  Thieren  gaben  sie  nur  Füsse,  um  sich  damit  von  einem 
Orte  zum  andern  zu  bewegen ;  nur  der  Mensch  empfing  noch  die 
Hände,  und  durch  sie  fast  alle  die  Vortheile,  welche  ihn  glük- 
licher  machen,  als  es  die  Thiere  sind.  Alle  Thiere  sind  mit  einer 
Zunge  versehn;  doch  nur  die  Zunge  des  Menschen  ist  so  gebildet, 
dass  sie  durch  tausend  mannigfaltige  Bewegungen  artikulirte  Töne 
hervorbringt,  durch  die  wir  einander  unsere  Gedanken,  w^e  es 
uns  gefällt,  mittheilen  können.  Die  Vergnügungen  der  Liebe 
endlich  sind  allen  übrigen  Thieren  nur  in  einer  gewissen,  be- 
stimmten Zeit  des  Jahres  vergönnt;  uns  allein  steht  es  frei,  sie 
bis  ins  Alter  ununterbrochen  fortzugeniessen.  Aber  Gott  begnügte 
sich  nicht,  nur  für  unsern  Körper  zu  sorgen;  er  verlieh  (und 
diess  ist  sein  wichtigstes  Geschenk)  auch  dem  Menschen  die  voll- 
kommenste Seele.  Denn  wo  ist  ein  Geschöpf  auf  dem  Erdboden 
ausser  dem  Menschen,  dessen  Seele  sich  emporzuschwingen  ver- 
möchte bis  zum  Dasein  der  Götter,  die  so  viele  grosse  erhabene 
Dinge  so  bewundernswürdig  geordnet  haben?  Wer  ausser  dem 
Menschen  verehrt  sie  ?  Welches  Thier  ist  fähiger,  als  der  Mensch, 
sich  vor  Hunger,  oder  Durst,  oder  Kälte,  oder  Hize  zu  verwahren, 
sich  in  Krankheiten  zu  heilen,  seinen  Leib  zu  stärken  und  aus- 
zubilden, neue  Kenntnisse  zu  erwerben,  und,  was  es  gehört,  ge- 
sehen, erfahren  hat,  ins  Gedächtniss  zurükzurufen?  Und  doch 
bist  Du  noch  nicht  überzeugt,  dass  der  Mensch  in  Vergleichung 
mit  den  übrigen  Thieren  gleich  einem  Gotte  lebt,  und  sich  eben 
so  sehr  durch  die  \^orzüge  seines  Körpers,  als  durch  die  Vorzüge 
seines   Geistes    über   sie    erhebt?    Ich   sage    durch    beide.     Denn 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  1 1 

verbände  er  z.  B.  den  Leib  eines  Stiers  mit  der  \^ernunft  eines 
Menschen;  so  würde  er  nicht  nach  seinem  Wohlgefallen  handeln 
können.  Auf  der  andern  Seite  haben  die  Thiere,  welchen  die 
Natur  zwar  Hände,  aber  nicht  menschliche  Vernunft  gab,  nichts 
voraus.  Wie  kannst  Du  also.  Du,  der  Du  beide  so  wichtige  Vortheile 
in  Dir  vereinigst,  noch  zweifeln,  ob  die  Götter  für  Dich  Sorge 
tragen?    Was  müssten  sie   denn   thun,   um  Dich  zu   überzeugen? 

„Sie  müssten  mir  Rathgeber  senden,  wie  Du  sagst,  dass  sie 
thun,  um  mich  in  meinen  Handlungen  zu  leiten." 

Aber  wenn  sie  den  Athenern  durch  Orakel  weissagen,  weis- 
sagen sie  dann  nicht  auch  Dir?  Und  nicht  eben  so,  wenn  sie 
allen  Griechen,  oder  dem  ganzen  Menschengeschlechte  Zeichen 
und  Vorbedeutungen  senden?  Oder  bist  Du  immer  allein  ausge- 
schlossen, immer  allein  vernachlässigt?  Glaubst  Du  wohl,  dass 
die  Götter  den  Menschen  das  Vorurtheil  eingepflanzt  hätten,  als 
wären  sie  fähig,  ihnen  Gutes  und  Böses  zuzufügen,  wenn  sie  diese 
Macht  nicht  wirklich  besässen?  Würden  denn  die  Menschen  die 
Täuschung  so  viele  Zeitalter  hindurch  nicht  inne  geworden  sein? 
Und  siehst  Du  nicht  auch,  dass  die  ältesten  und  weisesten  unter 
den  Sterblichen,  die  ältesten  und  weisesten  Städte  und  Nationen 
die  Götter  am  meisten  verehrten,  und  dass  die  aufgeklärtesten 
Zeitalter  auch  die  meiste  Religion  besässen?  Bedenke,  Lieber, 
fuhr  Sokrates  fort,  dass  Deine  Seele  Deinen  Körper  nach  ihrer 
Willkühr  regiert.  Sollte  nun  nicht  eben  so  auch  die  Seele  des 
Weltalls  alle  Dinge  nach  ihrem  Gefallen  beherrschen  ?  Dein  Auge 
reicht  auf  mehrere  Stadien  hinaus,  und  das  Auge  der  Gottheit 
sollte  nicht  alles  auf  einmal  überschauen  können?  Deine  Seele 
kann  sich  um  Dinge,  die  hier,  die  in  Aeg}'pten,  die  in  Sicilien 
vorgehn,  bekümmern;  und  dem  göttlichen  Verstände  sollte  es  un- 
möglich sein,  für  alles  auf  einmal  Sorge  zu  tragen?  So  wie  Du 
im  Umgange  mit  Menschen  durch  Gefälligkeiten  und  Dienste,  die 
Du  ihnen  leistest,  diejenigen  kennen  lernst,  die  Dir  wieder  Dienste 
und  Gefälligkeiten  erweisen  wollen;  so  wie  Du  ihre  Klugheit 
prüfst,  indem  Du  sie  um  Rath  fragst;  so  mache  es  auch  mit  den 
Göttern.  Diene  ihnen,  und  versuche,  ob  sie  Dir  vielleicht  etwas 
von  dem  entdekken,  was  den  Menschen  verborgen  ist;  und  Du 
wirst  gewiss  die  Gottheit  für  ein  so  grosses,  so  erhabenes  Wesen 
erkennen,  dass  sie  alles  auf  einmal  überschauen,  alles  wahrnehmen, 
überall  zugleich  gegenwärtig  sein,  und  ihre  Sorgfalt  auf  alles  er- 
strekken  kann. 


12  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 


B.  IV.     K.  3.1) 

Sage  mir,  sprach  eines  Tages  Sokrates  zum  Euthydem,  ist  es 
Dir  wohl  je  eingefallen,  darüber  nachzudenken,  wie  gütig  die 
Götter  für  alle  Bedürfnisse  der  Menschen  gesorgt  haben? 

„Noch  nie,  Sokrates,"  erwiederte  Euthydem. 

Aber  sie  gaben  uns  doch,  um  diess  zuerst  zu  erwähnen,  das 
Licht;  und  Du  weisst  doch,  dass  wir  dessen  bedürfen? 

„Allerdings.  Denn  vermöge  der  Einrichtung  unsres  Auges 
würden  wir  ohne  Licht  den  Blinden  ähnlich  sein." 

Wir  bedürfen  ferner  der  Ruhe;  und  sie  haben  dazu  die  be- 
quemste Zeit,  die  Nacht,  geschaffen. 

„Auch  diess  verdient  unsern  Dank." 

Die  Sonne,  die  ein  lichtvoller  Körper  ist,  zeigt  uns  die  Zeiten 
des  Tages  an,  und  erleuchtet  alle  Gegenstände  für  unser  Auge. 
Weil  aber  die  Nacht  finster  ist,  und  alle  Gegenstände  unkenntlich 
macht;  so  lassen  die  Götter  die  Gestirne  aufgehen,  welche  die 
Zeiten  der  Nacht  bestimmen,  und  uns  eine  Menge  unsrer  Ge- 
schäfte erleichtern.  Und  der  Mond  deutet  uns  nicht  nur  die 
Theile  der  Nacht,  sondern  auch  die  Theile  des  Monats  an. 

„Allerdings." 

Ferner  lassen  die  Götter  die  Nahrung,  die  wir  brauchen,  auf 
dem  Erdboden  wachsen,  lassen  dazu  schikliche  Jahrszeiten  mit 
einander  abwechseln,  und  verschaffen  uns  dadurch  tausend  mannig- 
faltige Dinge,  nicht  allein  zu  unserm  Nuzen,  sondern  auch  zu 
unserm  Vergnügen. 

,Auch  diess  zeugt  von  ihrer  Liebe  für  die  Menschen." 

Sie  haben  uns  auch  das  Wasser  gegeben,  dessen  Nuzen  für 
uns  so  vielfach  ist.  Denn  durch  das  Wasser  keimen  und  wachsen 
mit  Hülfe  der  Erde  und  der  Jahrszeiten  alle  uns  nüzliche  Pflanzen; 
das  Wasser  ernährt  uns  selbst,  und  macht  alle  unsre  Speise  ver- 
daulicher, gesunder,  und  angenehmer.  Und  eben  darum,  weil  wir 
desselben  zu  so  vielem  Gebrauche  bedürfen,  haben  sie  es  uns  auf 
das  reichlichste  mitgetheilt. 

„Abermals  ein  Beweis  ihrer  Fürsorge !" 

Nebst   dem  Wasser  haben   sie   uns   das  Feuer  verliehen,   das 


V  Die  Übersetzung  beginnt  mit  dem  j.  und  schließt  mit  dem  i-j.  Paragraphen 
des  Kapitels. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  I  •> 

uns  gegen  Kälte  und  Finsterniss  schüzt,  und  zu  jedem  Handwerk, 
zur  Verfertigung  aller  den  Menschen  nüzlichen  Werlvzeuge  noth- 
wendig  ist.  Denn  fast  keins  von  allen  Geräthen,  die  vvär  im 
Leben  brauchen,  wird  ohne  Feuer  verfertigt. 

„Auch  diess  zeigt  eine  überschwengliche  Sorgfalt  für  die 
Menschen.'' 

Und  ist  es  nicht  wunderbar,  dass  sie  uns  von  allen  Seiten  so 
reichlich  mit  Luft  umgössen  haben,  durch  die  wir  nicht  nur  unser 
Leben  erhalten,  sondern  die  Meere  durchschiften,  um  uns  einer 
dem  andern  unsre  Bedürfnisse  aus  den  entferntesten  Gegenden 
zuzuführen?  nicht  wunderbar,  dass  die  Sonne,  wenn  sie  sich  im 
Winter  wendet,  zu  uns  kommt,  einige  Pflanzen  zur  Reife  bringt, 
andere,  deren  Zeit  vorüber  ist,  troknet,  dass  sie  sich,  nach  Vollen- 
dung dieses  Geschäfts,  nicht  weiter  nähert,  sondern  gleichsam  aus 
Furcht,  uns  durch  zu  grosse  Hize  zu  schaden,  sich  von  neuem 
wegwendet,  darauf,  weil  wir,  gienge  sie  noch  weiter  fort,  vor 
Kälte  erstarren  müssten,  wieder  umdreht,  sich  uns  abermals  nähert, 
und  den  Standpunkt  am  Himmel  wählt,  der  für  uns  der  vortheil- 
hafteste  ist? 

„Allerdings  scheint  auch  diese  Einrichtung  den  Xuzen  der 
Menschheit  zu  beabsichten." 

Und  das  gewiss  nicht  minder,  dass  die  Sonne  sich  so  allmählich 
nähert,  und  so  allmählich  wieder  entfernt,  dass  wir,  ohne  es  selbst 
zu  merken,  den  äussersten  Grad  beider  Arten  von  Witterung  er- 
reichen. Denn  wir  würden  gewiss  weder  die  Hize,  noch  die  Kälte 
ertragen  können,  wenn  sie  auf  einmal  einbrächen. 

„Sehr  richtig,  Sokrates;  nur  das  Eine  überleg'  ich  noch,  ob 
die  Götter  wohl  noch  eine  andere  Absicht  hatten,  als  für  die 
Menschen  zu  sorgen;  und  da  stosse  ich  nur  bei  der  einzigen  Be- 
trachtung an,  dass  doch  auch  die  Thiere  alles  diess  mit  uns  ge- 
niessen.'' 

Gut,  Euthydem,  sind  aber  die  Thiere  nicht  selbst  zu  unserm 
Nuzen  geschaffen?  Denn  welches  Thier  zieht  wohl  so  viel  Vor- 
theile  von  den  übrigen  Thieren,  als  der  Mensch,  dem  sie  noch 
mehr  Nuzen  gewähren,  als  selbst  die  Pflanzen?  Wenigstens  nährt 
und  bereichert  er  sich  durch  sie,  nicht  weniger  als  durch  diese. 
Viele  Völker  bedienen  sich  gar  nicht  der  Erdfrüchte  zu  ihren 
Speisen,  sondern  leben  bloss  von  der  Milch,  von  dem  Käse,  von 
dem  Fleisch   ihrer  Heerden;   und  überall  werden   die   nüzlichsten 


H 


I.  Sokrates  und  Piaton  über  die   Gottheit, 


Thiere  gebändigt  und  zahm  gemacht,  und  als  Gehülfen  im  Kriege, 
und  in  tausend  andern  Geschäften  gebraucht.*) 

„Auch  hierin  muss  ich  Dir  Recht  geben.  Denn  täglich  sieht 
man  selbst  diejenigen  unter  ihnen,  die  weit  stärker  als  der  Mensch 
sind,  ihm  so  unterthan  werden,  dass  er  sich  ihrer  nach  Gefallen 
bedienen  kann." 

Es  giebt  so  viele  nüzliche  vortrefliche  Dinge,  die  aber  von 
verschiedener  Natur  und  Beschaffenheit  sind.  Daher  verliehen  uns 
die  Götter  für  eine  jede  Gattung  derselben  angemessene  sinnliche 
Werkzeuge,  durch  die  wir  alle  diese  Güter  geniessen.  Ausserdem 
aber  machten  sie  uns  durch  den  Verstand  fähig,  uns  an  ehemalige 
sinnliche  Empfindungen  zu  erinnern,  Folgerungen  daraus  zu  ziehn, 
auf  diese  Weise  die  Brauchbarkeit  jedes  einzelnen  Dinges  kennen 
zu  lernen,  und  Veranstaltungen  zu  treffen,  wie  wir  das  Nüzliche 
geniessen,  und  das  Schädliche  vermeiden  können.  Und  dass  sie 
uns  die  Sprache  verliehen,  durch  die  wir  einander  Unterricht  über 
alles  Nüzliche  mittheilen,  in  Gesellschaft  leben,  Geseze  geben,  und 
Staaten  verwalten  können! 

„Du  hast  Recht,  Sokrates,  die  Götter  tragen  gewiss  eine  grosse 
Sorgfalt  für  uns." 

Auch  bei  zukünftigen  Dingen,  und  wann  wdr  nicht  im  Stande 
sind,  vorauszusehn,  was  uns  nüzlich  sein  wird,  helfen  sie  uns,  ent- 
hüllen uns  auf  unser  Befragen  durch  Orakel  die  Zukunft,  und 
lehren  uns,  wie  sie  am  besten  für  uns  ausfallen  werde. 


*)  Sokrates  schränkt  hier  die  Liebe  und  Sorgfalt  der  Gottheit  in  viel  zu  enge 
Gränzen  ein.  Bei  allen  ihren  wohlthätigen  Einrichtungen  soll  sie  bloss  den  Nuzen 
der  Menschen  beabsichtet,  die  Thiere  bloss  seinetwegen  geschaffen  haben.  Weit  edler, 
der  Gottheit  weit  würdiger  ist  es  gewiss,  alle  Lebendigen  zum  Zwek  der  gütigen  Ver- 
anstaltungen des  Schöpfers  zu  machen.  Und  diese  Wahrheit  ist  auch  in  der  Natur  un- 
verkennbar. Freilich  nüzen  die  Thiere  dem  Menschen,  freilich  sind  sie  seinetwegen 
geschaffen.  Allein  diess  ist  nicht  ihre  einzige,  nicht  einmal  ihre  vorzüglichste  Bestim- 
mung. Sie  sind  geschaffen,  um  Wohlsein  zu  geniessen ;  denn  sie  sind  des  Wohlseins 
fähig.  Aber  der  Schöpfer  verband  immer  mehrere  Endzwekke  mit  einander.  Daher 
sollen  sie  auch  die  Glükseligkeit  der  Menschen  befördern.  Befördern  nicht  auch  gegen- 
seitig die  Menschen  das  Wohlsein  der  Thiere?  Sind  nicht  auch  sie  wiederum  wegen 
der  Thiere  geschaffen  ?  Denn  nirgends  in  der  ganzen  Schöpfung  kann  man  sagen :  diess 
ist  das  Mittel,  diess  ist  der  Zwek.  Alles  ist  Mittel,  alles  ist  Zwek.  —  Aber  Sokrates, 
oder  vielmehr  Xenophon,  bedarf  keiner  Vertheidigung  wegen  dieser  Stelle.  Wenn  er 
sich  so  einseitig  ausdrükt ;  so  folgt  daraus  nicht,  dass  er  sich  wirklich  so  eingeschränkte 
Begriffe  von  den  Absichten  Gottes  machte.  Er  wollte  hier  bloss  den  Einwurf  des 
Euthydem  beantworten,  und  dazu  war,  was  er  sagte,  schon  hinlänglich. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 


15 


„Dich,  Sokrates,  scheinen  sie  hierin  noch  mehr  zu  begünstigen, 
da  sie  Dir,  auch  unbefragt.  anzeigen,  wie  Du  handien  sollst." 

Doch  auch  Du,  Euthydem,  wirst  gewiss  erfahren,  dass  ich  die 
Wahrheit  rede;  warte  nur  nicht,  bis  Du  die  Gestalten  der  Götter 
erblikst,  sondern  begnüge  Dich,  sie  aus  ihren  Werken  zu  erkennen, 
um  sie  zu  verehren  und  anzubeten.  Bedenke  nur,  dass  diess  die 
Art  ist,  wie  Götter  sich  otfenbaren.  Denn  auch  die  übrigen  Wesen 
in  der  Natur,  die  uns  Wohlthaten  erweisen,  thun  diess  nicht  vor 
unsern  Augen ;  und  der,  welcher  die  ganze  Welt,  in  der  so  viel 
Schönes,  so  viel  Vortrefliches  ist,  geschaffen  hat,  und  fortdauern 
lässt,  der  sie  zu  unsrem  Nuzen  ewig  unentkräftet,  ewig  blühend, 
und  unveraltet  erhält,  dem  sie  unwandelbar,  und  schneller  als  ein 
Gedanke  gehorcht;  er  ist  zwar  in  seinen  erhabenen  Wirkungen 
sichtbar,  allein  ihn  selbst,  wie  er  diess  anordnet,  sehen  wir  nicht. 
Verstattet  denn  selbst  die  Sonne,  die  doch  allen  sichtbar  ist,  starr 
in  sie  hineinzusehn  ?  Blendet  sie  nicht  das  Auge,  das  sie  verwegen 
anzublikken  wagt  ?  Auch  die  Diener  der  Gottheit  sind  unsichtbar, 
wie  Du  finden  wirst.  Wir  werden  wohl  gewahr,  dass  der  Bliz 
von  oben  herabfahrt,  dass  er  zerschmettert,  worauf  er  stösst ;  aber 
wie  er  herabschiesst,  wie  er  trift,  wie  er  wieder  verschwindet, 
sehen  wir  nicht.  Eben  so  ist  es  auch  mit  dem  Winde.  Wir  be- 
merken seine  Wirkungen,  wir  empfinden  sein  Annähern,  aber  ihn 
selbst  sehen  wir  nicht.  Ferner :  wenn  irgend  etwas  Vervv^andtschaft 
mit  der  Gottheit  hat,  so  ist  es  gewiss  unsre  Seele;  und  auch  sie 
sehen  wir  nicht,  fühlen  nur,  dass  sie  uns  beherrscht.  Alles  diess 
muss  man  erwägen,  nicht,  was  unsichtbar  ist,  geringschäzen,  sondern 
die  Macht  aus  den  Wirkungen  erkennen,  und  darum  die  Gottheit 
verehren. 

„Gewiss,  lieber  Sokrates,  ich  werde  sie  nie,  auch  nicht  in  dem 
kleinsten  Stükke  vernachlässigen.  Nur  das  macht  mich  muthlos, 
dass,  wie  es  mir  scheint,  kein  Sterblicher  im  Stande  ist,  die  Wohl- 
thaten der  Götter  mit  gleichem  Dank  zu  erwiedern." 

Werde  darum  nicht  muthlos,  Euthydem.  Du  erinnerst  Dich 
wohl  noch,  dass  jemand  das  Orakel  zu  Delphi  fragte,  wie  er  den 
Göttern  wohlgefällig  werden  könne.  Durch  das  Gesez  des 
Staats,  war  die  Antwort  des  Gottes.  Nun  ist  es  überall  Gesez, 
sich  die  Götter  nach  seinem  Vermögen  durch  Opfer  günstig  zu 
machen.  Kann  man  sie  aber  besser,  frömmer  verehren,  als  wie 
sie   selbst   es  gebieten?*)    Allein   man   muss   nicht  weniger   thun, 

*)  Man  tadelt  vielleicht  die  Anwendung,  welche  Xenophon  hier  von  dem    in    der 


jQ  I.  Sokrates  und  Platon  über  die  Gottheit, 

als  man  vermag.  Sonst  zeigt  man,  dass  man  sie  nicht  achtet. 
Man  muss  sie  aus  allen  Kräften  verehren,  und  dann  mit  Zuver- 
sicht die  grosseste  Glükseligkeit  von  ihnen  erwarten.  Von  welchen 
andern  Wesen  auch,  als  von  ihnen,  da  sie  die  wichtigsten  Wohl- 
thaten  zu  gew^ahren  im  Stande  sind,  dürfte  man  sich  grössere 
Hofnungen  machen ;  und  auf  welche  andre  Weise,  als  wenn  man 
ihnen  zu  gefallen  strebt  ?  Aber  gefallen  kann  man  ihnen  nur  durch 
den  strengsten  Gehorsam. 


Platon. 

Zehntes  Buch  der  Geseze.  *) 

Einst  auf  einer  Reise  nach  Kreta  begegnete  Platon  nahe  bei 
Gnossus  dem  Megill  und  Ivlinias.  Der  erstere  war  ein  Sparter, 
der  andre  ein  Kreter,  und  beide  hatten  von  den  Gnossiern  den 
Auftrag  erhalten,  Anführer  und  Gesezgeber  eines  neuen  Pflanz- 
volks zu  werden.  Diess  gab  zu  häufigen  Unterredungen  über  die 
Gesezgebung  zwischen  ihnen  und  dem  Platon  Anlass,  und  aus 
diesen  Gesprächen  entstanden  die  vortreflichen  Bücher  über  die 
Geseze ;  worin  also  nicht,  wne  sonst,  Sokrates,  sondern  Platon  selbst 
unter  dem  Namen  des  Athenischen  Fremdlings  auftritt. 

Den  ganzen  Plan  des  Platonischen  Werks  zu  entwikkeln,  ge- 
hört nicht  zu  meiner  gegenwärtigen  Absicht;  ich  begnüge  mich, 
nur  den  Zusammenhang  anzuzeigen,   in  dem  die   folgende  Unter- 


That  so  vortreflichen  Orakelspruch  bloss  auf  Opfer  und  äusserlichen  Gottesdienst 
macht.  Allein  er  bleibt  doch  dabei  nicht  stehn,  er  empfiehlt  doch  auch  Gehorsam, 
Vertrauen,  Liebe  gegen  die  Götter.  Uebrigens  ist  sowohl  diese  Stelle,  als  so  viele 
andre  in  den  obigen  Gesprächen  ein  Beweis,  wie  ehrwürdig  und  heilig  den  weisesten 
Männern  zu  allen  Zeiten  die  Religion  des  Staates  war,  weil  sie  einsahn,  dass  aus  ihr 
allein  der  grösste  Theil  der  Bürger  seine  Verbindlichkeiten  gegen  den  Staat,  und  gegen 
seine  Mitbürger  herleitet,  dass  er  auf  sie  allein  alle  seine  Hofnungen  baut,  und  nur  im 
Vertrauen  auf  sie  sein  Leben  für  das  Vaterland  wagt.  In  der  Periode,  in  welcher 
Sokrates  lebte,  kam  nun  noch  hinzu,  dass  sich  überhaupt  fast  gar  keine  Aufklärung 
fand,  dass  jezt  allgemeinbekannte  Wahrheiten  bloss  geheim  gehaltnes  Eigenthum  einiger 
wenigen  Weisen  blieben,  und  dass  Religion  und  Staatsverfassung  zu  nah  mit  einander 
verbunden  waren,  als  dass  man  die  erstere,  ohne  Schaden  der  leztern ,  hätte  an- 
greifen können. 

V  Die  eigentliche  Übersetzung  umfaßt  S.  88-]  c—go-j  d  des  Originals,  während 
das  Vorhergehende  vom  Anfang  des  lO.  Buches  an  nur  auszüglich,  wenn  auch 
hie  und  da  wörtlich  wiedergegeben  ist. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  jfy 

suchung   über   das    Dasein,   und   die  Vorsehung  Gottes   mit  dem 
eigentlichen  Gegenstande  des  Gesprächs  steht. 

Piaton  kommt  im  zehnten  Buch  seines  Werks  auf  diejenigen 
Verbrechen,  die,  wie  er  sagt,  vorzüglich  Folgen  der  Ausschwei- 
fungen, und  der  Zügellosigkeit  der  Jugend  sind.  Er  nennt  Ver- 
lezung  der  obrigkeitlichen  Rechte,  Uebertretung  der  kindlichen 
Pflichten,  Entweihung  heiliger  Oerter,  Verachtung  und  Beleidigung 
der  Gottheit.  Bei  diesem  leztern  Punkte  hält  er  sich  am  längsten 
auf,  weil  er  darin  den  Ursprung  der  meisten  andern  Verbrechen 
zu  finden  glaubt.  Er  sucht  also  nicht  bloss  hier  die  wirksamste 
Strafe  festzusezen,  sondern  auch  die  Ursachen  aus  dem  Wege  zu 
räumen,  aus  welchen  diese  Verachtung  der  Götter  entstehn  könnte. 

„Nur  aus  einer  der  drei  folgenden  Ursachen,  sagt  er,  kann 
es  herrühren,  wenn  die  Menschen  über  die  Götter  spotten,  oder 
sie  auf  irgend  eine  andre  Art  durch  Worte  oder  Handlungen  be- 
leidigen. Entweder  glauben  sie  überhaupt  nicht,  dass  es  Götter 
giebt;  oder  wenn  sie  auch  an  ihrem  Dasein  nicht  zweifeln,  so 
sind  sie  doch  nicht  überzeugt,  dass  sie  sich  um  die  Regierung 
der  Welt,  und  vorzüglich  um  die  Angelegenheiten  und  Schiksale 
der  Menschen  bekümmern,  oder  bilden  sich  gar  ein,  die  Götter, 
wenn  sie  auch  einmal  über  ihre  Laster  erzürnt  wären,  durch  Opfer 
und  Geschenke  besänftigen  zu  können.  Denn  nach  den  Religions- 
begritien,  welche  die  Geseze  sie  lehren,  würde  die  Furcht  vor 
dem  Unwillen,  und  der  künftigen  Strafe  der  Götter  ihnen  nie  eine 
gesezwidrige  Handlung,  oder  einen  irreligiösen  Ausdruk  erlauben. 
Doch  wie,  fährt  er  fort,  ist  dem  Uebel  zu  steuern?  Da  könnten 
sie  uns  leicht  mit  Recht  den  Vorwurf  machen,  dass  wir  die  sanften 
Gesezgeber  nicht  wären,  für  die  wir  gelten  wollten ;  und  von  uns 
fordern,  sie  erst  zu  überzeugen,  und  die  Schriften  der  Dichter 
und  Redner  zu  widerlegen,  woraus  sie  ihre  Religionsmeinungen 
schöpfen." 

„Und  sollte  es  denn  so  schwer  sein,  fällt  ihm  hier  Ivlinias  ins 
Wort,  das  Dasein  der  Götter  zu  beweisen?  Die  Betrachtung  der 
Sonne,  der  Erde,  und  der  Gestirne,  des  zwekmässigen  Wechsels 
der  verschiedenen  Jahrszeiten;  dass  alle  Völker,  Griechen  und 
Nichtgriechen,  eine  Gottheit  verehren  — "  „Mit  diesen  Beweisen, 
unterbricht  ihn  der  Athenische  Fremdling,  möchten  sie  Dich  bald 
verlachen.  Die  Ursache  ihrer  Verirrungen  ist  nicht  bloss,  wie  Du 
vielleicht  glaubst,  ein  ungemässigter  Hang  zum  \'ergnügen,  eine 
zügellose  Begierde  allen  ihren  Leidenschaften  zu  fröhnen;    es   ist 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  2 


jg  I.  Sokrates  und  Platon  über  die   Gottheit, 

etwas  weit  schlimmeres,  das  Ihr  Ausländer  gar  nicht  kennt,  eine 
grobe  Unwissenheit,  die  dabei  das  Ansehn  der  tiefsten  Weisheit 
hat.  Du  musst  nemlich  wissen,  dass  es  bei  uns,  theils  in  prosa- 
ischen, theils  in  poetischen  Schriften,  verschiedene  Systeme  über 
die  Entstehung  der  Welt  und  den  Ursprung  der  Götter  giebt  — 
dergleichen  man  bei  Euch,  wegen  der  Vortreflichkeit  Eurer  Gesez- 
gebung,  gar  nicht  findet.  Nach  diesen  hat  der  Himmel  und  die 
übrige  Körperwelt*)  zuerst  und  früher  als  alle  andre  Dinge  existirt, 
und  erst  nachher  sind  die  Götter  entstanden,  deren  Schiksale  und 
Begebenheiten  denn  der  Reihe  nach  erzählt  werden.  In  wiefern 
nun  diese  Systeme  zu  andern  Zwekken  nüzlich  sein  mögen,  ist 
bei  ihrem  Alter  schwer  zu  entscheiden.  Aber  zu  einer  eifrigeren 
Verehrung  der  Götter,  oder  zu  einer  grösseren  Ehrfurcht  gegen 
die  Eltern  tragen  sie  gewiss  nichts  bei.  Doch  ich  überlasse  jene 
altere  Weltweisen  ihrem  Schiksale.  Auch  unsre  neuern  Philo- 
sophen haben  Schuld  an  dem  Unheil.  Wenn  wir  ihnen  die  Be- 
weise für  das  Dasein  Gottes  vortrügen,  die  Du  erwähntest,  wenn 
wir  ihnen  Sonne,  Mond,  Gestirne,  und  Erde,  als  eben  so  viel 
Gottheiten  und  göttliche  Wesen  vorstellten;  so  würden  sie  uns 
mit  ihrer  Weisheit  bald  überführen,  dass  diess  alles  nur  todte  Stein- 
und  Erdmassen  sind,  die  sich  um  die  menschlichen  Angelegen- 
heiten nicht  bekümmern  können,  und  dass  alles,  was  man  von 
ihnen  erzählt,  nur  in  ausgeschmükten,  wahrscheinlich  gemachten 
Mährchen  bestehe.  Was  sollen  wir  nun  aber  thun,  meine  Freunde }' 
Sollen  wir  die  Sache  der  Götter  wider  ihre  Gegner  vertheidigen, 
und  diess  gleichsam  als  eine  Einleitung  unsren  Gesezen  über  diesen 
Gegenstand  vorausschikken  ?  Oder  sollen  wir  diese  Untersuchungen 
fahren  lassen,  und  in  unsrem  Hauptgeschäfte,  in  der  Gesezgebung, 
ununterbrochen    fortfahren?     Denn   freilich   dürfte   wohl   die  Ein- 

*)  ov^avov  Tü)v  re  aXkiov  •  Serranus  übersezt  zwar  codi  aliorumque  .  .  deorum. 
Allein  diess  scheint  mir  nicht  richtig.  Denn  einmal  ist  es  grammatisch  nicht  noth- 
wendig,  das  Wort  aü.ojv  an  das  vorhergehende  ■d'ecov  zu  ziehn ;  und  zweitens  passt 
auch  deorum,  dünkt  mich,  nicht  gut  in  den  Sinn.  Denn  Platon  tadelt  immer,  wie  man 
aus  dem  ganzen  Gespräche  sieht,  dass  man  die  Entstehung  der  Körperwelt  der  Ent- 
stehung der  Geisterwelt  vorangehen  lässt.  Aus  dem  Hesiodus  Theog.  V.  43  erhellet 
das  hier  gesagte  noch   mehr.  ') 

V  Hesiod  sagt  dort  von  den  Musen: 

„Öfcö»'  yiyoe  aiSolor  TtQcirov  xkeiovaiv  dotdfj 
e^  «CCTS,  ovg  Fala  xal  Ov^avos  ev^vg  %Tiy.Tev, 
oi  X    ex  TCüv  eytvovro   d'eoi^   Scorrj^es  eäcov}^ 

De  Serres  übersetzt  zweifellos  unrichtig. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 


19 


leitung  länger  werden,  als  das  Gesez  selbst.  Ein  System,  wie  das, 
was  ich  Euch  oben  vorgelegt  habe,  würde,  auch  wenn  es  nur 
Einer  behauptete,  schon  schwer  zu  widerlegen  sein ;  wie  vielmehr 
aber  jezt,  da  es  so  viele  Anhänger  findet?'' 

Ivlinias  und  Megill  stimmen  der  erstem  Meinung  bei. 

„Schon  oft,  sagen  sie,  wiederholten  wir  es,  dass  wir  bei  unsrem 
Geschäfte  weder  auf  Kürze,  noch  auf  Länge  Rüksicht  nehmen 
müssen.  Es  treibt  uns  ja  niemand,  und  würde  es  nicht  lächerlich 
sein,  das  Kürzere  dem  Besseren  vorzuziehn?  um  so  mehr  da  es 
doch  sicherlich  überaus  wichtig  ist.  Gewissheit  in  der  Ueberzeugung 
zu  haben,  dass  es  eine  gütige,  die  Gerechtigkeit  mehr,  als  irgend 
ein  Mensch,  liebende  Gottheit  giebt.  Welchen  schöneren  vortref- 
licheren  Eingang  könnten  wir  zu  unsren  Gesezen  finden?  Lass 
uns  daher.  Athenischer  Fremdling,  diese  Untersuchung  mit  der 
möglichsten  Genauigkeit  anstellen,  und  nichts  übergehen,  was  nur 
irgend  dazu  gehört." 

Hierauf  beginnt  die  Untersuchung  auf  folgende  Art : 

Der  Athener.  Deine  Bitte,  Klinias,  ist  zu  dringend,  als 
dass  ich  länger  zögern  könnte.  Aber  wie  ist  es  möglich,  sich 
ohne  Erbitterung  in  der  Xothwendigkeit  zu  sehn,  das  Dasein  der 
Götter  noch  beweisen  zu  müssen?  Wie  ist  es  möglich,  nicht  auf 
diejenigen  zu  zürnen,  die  uns  zu  diesen  Untersuchungen  nöthigen? 
Von  ihrer  Kindheit,  ja  von  der  Muttermilch  an,  hörten  sie  diese 
Lehren  bald  im  Scherze,  bald  im  Ernste  von  Müttern  und  Ammen ; 
waren  bei  den  Opfern,  und  den  sie  begleitenden  Schauspielen  zu- 
gegen, wo  alles  nur  darauf  Bezug  hatte,  und  die  Kindern  sonst  so 
viel  Vergnügen  machen ;  wussten,  wie  ihre  Eltern  mit  der  eifrigsten 
Inbrunst  zu  den  Göttern  beteten,  und  sie  für  sich,  und  für  sie 
anriefen;  sahen  und  honen,  wie  alle  Griechen  und  Ausländer, 
beim  Aufgange  und  Untergange  der  Sonne  und  des  Mondes,  die 
Gottheit  verehrten,  und  dadurch  jeden  \^erdacht,  als  bezweifelten 
sie  nur  im  geringsten  ihr  Dasein,  vertilgten;  und  dennoch  sezen 
sie  sich  jezt  über  diess  alles  hinweg,  und  nöthigen  uns,  ohne  nur 
irgend  Einen  triftigen  Grund  für  sich  zu  haben,  die  jezigen  Unter- 
suchungen anzustellen.  Wie  kann  man  sie,  wenn  man  diess  be- 
denkt, mit  sanften  Worten  zurecht  weisen,  und  sie  über  das 
Dasein  der  Götter  belehren?  Und  dennoch  müssen  wir  es  ver- 
suchen, dürfen  uns  dennoch  nicht  eben  so  vom  Zorn  hinreissen 
lassen,  als  sie  von  dem  Taumel  der  Sinnlichkeit.  Lasst  uns  da- 
her allen  Unmuth  in  uns  unterdrükken  und  ohne  Erbitterung  mit 


20 


I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 


Sanftmuth  zu  diesen  armen,  seelekranken  Menschen  reden.  Wir 
wollen  thun,  als  hätten  wir  einen  von  ihnen  vor  uns :  „Mein  Sohn", 
wollen  wir  zu  ihm  sagen,  „Du  bist  noch  jung.  Du  wirst  noch  oft 
bei  reifern  Jahren  viele  der  Grundsäze,  die  Du  jezt  für  wahr 
hältst,  verändern,  und  zu  ganz  entgegengesezten  übergehn.  Warte 
doch  also  bis  dahin,  ehe  Du  Dich  über  das  entscheidest,  was  das 
wichtigste  ist.  Was  aber  kann  es  mehr  sein,  als  richtig  über  die 
Götter  zu  denken,  und  edel  zu  leben  ?  Bilde  Dir  auch  nicht  etwa 
ein,  dass  Du  und  Deine  Freunde  zuerst  diese  Meinungen  über 
die  Götter  hegten.  Ich  kann  Dir  mit  Gewissheit  das  Gegentheil 
versichern.  Zu  allen  Zeiten  sind  bald  mehrere,  bald  wenigere 
von  dieser  Krankheit  angestekt.  Aber  keiner  —  auch  das  kannst 
Du  mir  glauben  —  hat  das  Dasein  der  Götter  in  seiner  Jugend 
geläugnet,  der  bis  in  sein  Alter  dabei  verharret  wäre.  Noch  eher 
haften  zwar  auch  nicht  bei  vielen,  aber  doch  bei  einigen,  die 
beiden  andern  vorerwähnten  Krankheiten,  dass  die  Götter  sich 
nicht  um  die  Menschen  bekümmern,  oder  sich  doch  leicht  durch 
Gebete  und  Opfer  versöhnen  lassen,  wenn  sie  auch  daran  Theil 
nehmen.  Warte  daher,  wenn  Du  mir  folgen  willst,  mit  Deinem 
Urtheil,  bis  diese  Materien  Dir  deutlicher  sind,  überlege  nur 
indess  fleissig,  wie  es  sich  wohl  damit  verhalten  könnte,  und  ver- 
säume nicht.  Dich  des  Unterrichts  andrer,  vorzüglich  des  Gesez- 
gebers,  zu  bedienen.  Denn  ihm  kommt  es  zu.  Dich  jezt  und 
künftig  über  diese  Gegenstände  zu  belehren.  Wage  es  aber  ja 
nicht,  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  auf  irgend  eine  Weise  gegen  die 
Götter  zu  handien." 

Klinias.  Bis  hieher,  Fremdling,  ist,  was  Du  gesagt  hast, 
vortreflich. 

D.  A.  Aber  bemerkst  Du  auch  wohl,  dass  wir  uns  hier,  ohne 
es  selbst  gewahr  zu  werden,  in  ein  sonderbares  System  verwikkelt 
haben  ? 

Kl.     In  welches,  Fremdling? 

D.  A.  In  ein  System,  das  von  vielen  für  das  weiseste  unter 
allen  gehalten  wird! 

Kl.     Erkläre  Dich  deutlicher! 

D.  A.  Sogleich.  Sie  behaupten,  dass  alles,  was  gewesen  ist, 
ist,  und  sein  wird,  sein  Dasein  entweder  der  Natur,  oder  der 
Kunst,  oder  dem  Zufall  zu  danken  habe. 

Kl.     Und  sollten  sie  darin  nicht  Recht  haben? 

D.  A.     Wie  könnten  Weise,  wie  sie,  irren?    Lass  uns   ihnen 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  21 

aber  doch  ein  wenig  folgen,  und  sehn,  was  sie  sich  eigentlich  ge- 
dacht haben! 

Kl.    Von  Herzen  gern! 

D.  A.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  sagen  sie,  sind  die 
grossesten,  vortreflichsten  Dinge  Werke  der  Natur  und  des  Zu- 
falls, der  Kunst  gehören  die  unbedeutenderen  zu.  Denn  sie  borgt 
den  ersten  Hauptstoff  von  der  Natur,  und  formt  nur,  und  bildet 
daraus  die  kleineren  Dinge,  die  wir  Kunstwerke  nennen. 

Kl.     Wie  verstehen  sie  diess? 

D.  A.  Ich  will  mich  gleich  deutlicher  erklären.  Ihrem  System 
nach  sind  die  Erde,  das  Feuer,  das  Wasser,  die  Luft  insgesammt 
durch  die  Natur  und  den  Zufall  —  beides  leblose  Wesen  —  her- 
vorgebracht; die  Kunst  hat  keinen  Theil  daran.  Eben  so  sind 
alle  übrigen  Körper  entstanden :  unser  Erdball,  die  Sonne,  der 
Mond,  und  die  Gestirne.  Denn  der  Zufall  hat  alles,  ein  jedes 
nemlich  nach  den  ihm  eigenen  Kräften,  unter  einander  geworfen, 
und  so  hat  es  sich  nach  seinen  verschiedenen  Beschaffenheiten 
mit  einander  verbunden,  das  Warme  mit  dem  Kalten,  das  Trokne 
mit  dem  Nassen,  das  Weiche  mit  dem  Harten,  und  so  fort  durch 
eine  blinde  Nothwendigkeit  immer  ein  Entgegengeseztes  mit  dem 
andern.  Hieraus  und  auf  diese  Weise  ist  der  ganze  Himmel  ent- 
standen, und  alles,  was  unter  dem  Himmel  ist,  die  Thiere,  die 
Pflanzen,  der  Wechsel  der  Jahrszeiten,  nicht  mit  Hülfe  eines  Ver- 
standes, oder  eines  Gottes,  oder  der  Kunst,  sondern  durch  die 
Natur  und  den  Zufall.  Aus  diesen,  und  später  als  sie,  ist  die 
Kunst  entsprungen  —  sterblich,  und  von  sterblichen  Menschen  er- 
funden —  und  hat  lange  nachher  Werke  hervorgebracht,  die,  ohne 
eigentlich  etwas  Wahres,  Reelles,  an  sich  zu  tragen,  nur  Phänomene 
sind,  die  bloss  unter  einander  Verwandtschaft  haben,  wie  Werke 
der  Mahlerei,  der  Musik,  und  der  übrigen  mit  diesen  beiden  wett- 
eifernden Künste.  Soll  die  Kunst  ja  etwas  Reelles  hervorbringen ; 
so  muss  sie  sich  vnAt  der  Natur  vereinigen,  wie  es  in  der  Heil- 
kunst, Oekonomik,  und  der  Gymnastik  geschieht.  Selbst  die 
Staatskunst  hat  nur  wenig  Verwandtschaft  mit  der  Natur,  und  die 
Gesezgebungskunst  gar  keine.  Daher  sie  denn  auch  lauter  falsche 
Grundsäze  aufstellt. 
Kl.     Wie  das? 

D.  A.  Die  Götter,  um  ihrer  zuerst  zu  erwähnen,  existiren, 
(ich  rede  noch  immer  in  ihrem  System  fort,)  nicht  wirklich  in  der 
Natur,  sondern  danken  ihr  Dasein  allein  der  Kunst   und   den  Gc- 


22 


I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 


sezen.  Daher  sind  sie  auch  nach  den  verschiedenen  Nationen 
verschieden,  je  nachdem  sich  die  Gesezgeber  mehr  oder  weniger 
einander  genähert  haben.  Eben  so  ist,  was  wir  Tugend  nennen, 
euvas  andres  nach  der  Natur,  etwas  andres  nach  den  Gesezen; 
und  was  gerecht  ist,  lässt  sich  nach  der  Natur  ganz  und  gar  nicht 
bestimmen.  Die  Menschen  sind  von  je  her  darüber  uneins  ge- 
wesen, haben  ihre  Meinungen  bald  auf  diese,  bald  auf  jene  Weise 
verändert,  und  immer  das  angenommen,  und  durch  Geseze  be- 
stätigt, was  ihnen  jedesmal  das  richtigste  schien.  Natur  und  Wahr- 
heit aber  haben  keinen  Theil  daran.  Solche  Lehrsäze,  lieben  Freunde, 
empfehlen  jene  weisen  Männer  der  Jugend  bald  in  prosaischen, 
bald  in  poetischen  Schriften,  und  sezen  dann  noch  hinzu:  nur 
das  sei  Recht,  was  jeder  mit  Gewah  sich  erringe.  Diess  ist  denn 
die  Quelle  der  Zügellosigkeit  unsrer  jungen  Bürger,  dass  sie  die 
Götter  nicht  glauben,  die  das  Gesez  zu  glauben  befiehlt!  Diess 
ist  die  Quelle  der  Unruhen  im  Staat,  dass  sie  nach  -der,  ihrem 
Wahn  nach,  einzig  natürlichen  Glükseligkeit  streben :  über  alle  zu 
herrschen,  und  keiner  von  den  Gesezen  verordneten  Gewalt  zu 
gehorchen. 

Kl.  Was  für  ein  S3'stem  hast  Du  uns  vorgetragen,  Fremd- 
ling, welche  Pest  für  die  Jugend,  zum  Verderben  des  Staats  und 
ihrer  Familien! 

D.  A.  Sehr  richtig,  Klinias.  Aber  was  soll  der  Gesezgeber 
thun,  wenn  diess  schon  lange  gegen  ihn  vorbereitet  ist?  Soll  er 
sich  mitten  in  der  Stadt  hinstellen,  und  bloss  befehlen,  die  von 
den  Gesezen  angenommenen  Götter  zu  glauben  und  zu  verehren, 
und  über  alles,  was  edel  und  gerecht  ist,  was  sich  auf  Tugend 
und  Laster  bezieht,  den  Vorschriften  der  Geseze  gemäss  zu  denken, 
und  so  zu  handien  ?  ihnen  drohen,  wenn  sie  seinen  Gesezen  nicht 
gehorchen  würden,  diesen  mit  dem  Tode,  jenen  mit  Geissei  und 
Kerker,  einen  andren  mit  Schande,  Mangel,  und  Verbannung  zu 
bestrafen?  Und  soll  er  nirgends  Ueberzeugungsgründe  hinzufügen, 
ihre  Herzen  zu  erweichen,  und  sie  zurükzuführen  ? 

Kl.  Ganz  und  gar  nicht,  Fremdling.  Vielmehr,  giebt  es 
irgend,  auch  noch  so  kleine,  Ueberzeugungsgründe  für  diese  Wahr- 
heiten; so  darf  der  Gesezgeber  —  wenn  er  nur  irgend  diesen 
Namen  verdienen  soll  —  nicht  müde  werden ;  sondern  [muss]  das 
hergebrachte  Gesez  durch  Beweise  für  das  Dasein  der  Götter 
unterstüzen,  der  Kunst  und  den  Gesezen  das  Wort  reden,  und 
zeigen,  dass  sie  durch  die  Natur,  oder  nicht  weniger,  als  die  Natur 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 


23 


selbst,  existiren.  weil  sie  Früchte  des  A^'erstandes  sind.     Denn  diess 
hast  Du,  dünkt  mich,  auf  die  überzeugendste  Art  dargethan. 

D.  A.  Du  bist  sehr  enthusiastisch  für  unser  Unternehmen, 
lieber  Klinias ;  aber  bedenkst  Du  auch  wohl,  ob  es  nicht  zu  schwer 
sein  wird,  so  lange  und  verwikkelte  Beweise  dem  Volke  vorzu- 
tragen?*) 

Kl.  Wir  haben  uns  ja  bei  andren  Dingen,  bei  den  Gast- 
mälern,  bei  der  Tonkunst,  so  lange,  ohne  zu  ermüden,  verweilt; 
und  bei  Untersuchungen  über  die  Gottheit  wollten  wir  es  nicht? 
Eine  vernünftige  Gesezgebung  erhält  gewiss  keine  geringe  Stüze 
dadurch,  wenn  das  Gesez  immer  zugleich  Grund  und  Beweis  an- 
giebt.  Denn  alsdann  bleibt  es  gewiss  unumstösslich.  Was  schadet 
es  auch,  wenn  unsre  Geseze  anfangs  ein  wenig  schwer  zu  ver- 
stehn  sind?  Der  langsamere  Kopf  kann  sie  ja  öfter  überlesen. 
Und  was  Du  von  der  Länge  sagst;  so  darf  uns  diese,  wenn  wir 
den  Xuzen  erwägen,  nicht  zurükhalten.  In  der  That  es  wäre  un- 
verzeihlich, Säze  von  der  Art  nicht  nach  allen  Ivräften  zu  ver- 
theidigen. 

Megill.     Klinias,  dünkt  mich,  hat  Recht,  Fremdling. 

D.  A.  Das  hat  er,  und  wir  müssen  ihm  folgen.  Wären  die 
Grundsäze,  deren  ich  vorhin  erwähnte,  nicht  gleichsam  in  der 
ganzen  Welt  ausgebreitet,  so  brauchten  wir  freilich  nicht  das 
Dasein  der  Götter  zu  vertheidigen ;  allein  so  ist  es  nothwendig. 
Und  wem  ziemt  diese  ^>rtheidigung  mehr,  als  dem  Gesezgeber, 
da  jene  schändlichen  Menschen  die  ehr^vürdigsten  Geseze  unter 
die  Füsse  treten? 

Kl.     Gewiss  keinem, 

D.  A.  So  sage  mir  denn  von  neuem.  Klinias  —  denn  wir 
müssen  immer  gemeinschaftlich  untersuchen  —  scheint  es  Dir  nicht 
auch,  dass  unsre  Gegner  Feuer,  Wasser,  Erde  und  Luft  für  die 
ersten  aller  Dinge  halten,  dass  sie  diese  zusammengenommen  die 
Natur  nennen,  und  dass  sie  erst  aus  ihnen  die   geistige  Substanz, 


*)  Ich  gehe  zwar  in  dieser  Stelle  von  Serrans  und  Ficins  Uebersezungen  ab.  *) 
Aber  sowohl  wegen  des  Zusammenhangs,  als  besonders  der  Worte  eig  rti.rjd'r]  Xeyofisva 
scheint  mir  der  Sinn,  wie  ich  ihn  ausgedrükt  habe,  richtiger  gefasst  zu  sein. 

V  De  Serres  übersetzt:  ,, Nonne  difficile  est  ea  verbis  assequi,  quae  a  vulgo 
dicuntur  et  infinita  quadam  rerum  ubertatc  cumulantur  ?" ;  bei  Ficino  lautet  die  Stelle: 
„Nonne  arduum  est  ea  rationibus  prosequi,  quae  ita  per  omnes  divulgata  sunt  ipsaque 
prolixa  simt  nee  brevitatem  patiuntur?" 


24 


I.  Sokrates  und  Platon  über  die  Gottheit, 


die  Seele,  entstehn  lassen?    Mich  dünkt  sogar,  diess  scheint  nicht 
bloss  so,  sondern  es  liegt  offenbar  in  ihren  Behauptungen. 

Kl.    Allerdings. 

D.  A.  Hätten  wir  da  nicht  auf  einmal  die  Quelle  von  allen  den 
unsinnigen  Meinungen  derer  entdekt,  die  sich  bis  jezt  mit  Unter- 
suchungen über  die  Natur  beschäftigt  haben?  Denke  ja  recht  auf- 
merksam darüber  nach.  Denn  es  wäre  doch  in  der  That  kein 
kleiner  Gewinn  für  uns,  wenn  die  Anhänger  und  Vertheidiger  so 
gottesläugnerischer  Systeme  sich  unrichtiger  Schlussfolgen  schuldig 
gemacht  hätten.     Und  mir  kommt  es  so  vor. 

Kl.  Auch  mir,  FremdHng.  Doch  sage  mir,  worin  eigentlich 
sie  geirrt  haben.    • 

D.  A.  Aber  ich  werde  fremde,  unbekannte  Säze  zu  Hülfe 
nehmen  müssen. 

Kl.  Immerzu.  Du  fürchtest,  wie  ich  sehe.  Dich  von  den 
Gränzen  der  Gesezgebung  zu  entfernen;  aber  können  wir  auf 
keinem  andren  Wege  das  Dasein  der  Götter  vertheidigen,  so 
müssen  wir  auch  diesen  einschlagen. 

D.  A.  Ich  würde  daher,  wie  ungewohnt  es  auch  klingen 
mag,  also  anfangen.  In  allen  den  Systemen,  aus  welchen  jene 
verkehrten  Grundsäze  über  die  Götter  entstanden  sind,  wird  das, 
was  die  erste  Ursache  alles  Entstehens  und  alles  Untergehens  ist, 
nicht  für  das  Erste,  sondern  für  das  Lezte  angenommen;  das 
Lezte  hingegen  wird  an  die  Stelle  des  Ersten  gesezt.  Daher  alle 
Irrthümer  über  das  Wesen  der  Götter. 

Kl.     Ich  verstehe  Dich  noch  nicht  recht. 

D.  A.  Alle  jene  Philosophen  haben,  dünkt  mich,  die  Seele,*) 
ihre  Kräfte,  und  vorzüglich  ihre  Entstehung  sehr  wenig  gekannt. 
Denn  sie  haben  nicht  gewusst,  dass  sie  früher,  als  alle  andre 
Dinge,  folglich  auch  früher,  als  die  ganze  Körpervs^elt  existirt  hat, 
und  dass  sie  allein  jede  Veränderung,  jede  Umbildung  hervor- 
bringt. Und  wenn  diess  wahr  ist,  wenn  die  Seele  wirklich  älter 
ist,  als  der  Körper;  so  muss  auch,  was  mit  der  Seele  verwandt 
ist,  früher  da  gewesen  sein,  als  das,  was  zum  Körper  gehört. 

Kl.    Wie  anders? 


*)  Platon  versteht  unter  fv^i]  in  diesem  ganzen  Gespräche  alles  Immaterielle 
überhaupt.  Mir  schien  vorzüglich  in  Rüksicht  auf  die  Weltseele,  auf  die  im  Fol- 
genden verschiedentlich  angespielt  wird,  der  Ausdruk  Seele  im  Deutschen  der 
passendste. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 


25 


D.  A.  Alles  Geistige,  Meinung,  Fürsorge,  Verstand,  Kunst, 
Gesez  u.  s.  f.  war  also  eher  da,  eh'  es  etwas  Körperliches,  etwas 
Hartes  und  Weiches,  etwas  Schweres  und  Leichtes  gab;  und  die 
grossesten,  ersten  Dinge  und  Veränderungen  sind  folglich  Werke 
der  Kunst,  da  hingegen  die  Werke  der  Xatur,  so  wie  die  Natur 
selbst  —  von  der  sie  auch  einen  unrichtigen  Begriff  haben  — 
später  entstanden,  und  der  Kunst  und  dem.  Verstände  unterge- 
ordnet sind. 

Kl.     In  wiefern  tadelst  Du  ihren  Begritf  von  der  Xatur." 

D.  A.  Sie  nennen  die  Natur  die  Entstehung  der  ersten  Dinge, 
und  sezen  die  Körper  voran.  Wenn  aber  nicht  das  Feuer,  nicht 
die  Luft,  sondern  die  Seele  zuerst  existirt  hat;  so  kann  man  ja 
diess  mit  Recht  die  natürliche  Ordnung  der  Dinge  nennen.  Aber 
freilich  muss  erst  bewiesen  werden,  dass  die  Seele  älter  ist,  als  die 
Körper;  und  wollen  wir  nicht  gleich  zu  diesem  Beweise  schreiten.^ 

Kl.    W^arum  nicht.' 

D.  A.  So  müssen  wir  uns  denn  nur  hüten,  dass  uns  nicht 
irgend  ein  junger  sophistischer  Trugschluss  täusche.  Wenn  er 
uns,  die  wir  schon  Greise  sind,  lokte,  und  uns  auf  einmal  wieder 
entschlüpfte;  so  gäbe  er  uns  gewiss  dem  Gelächter  der  Leute 
Preis,  und  zeigte  ihnen,  dass  wir,  die  wir  so  grosse  Dinge  unter- 
nehmen, auch  in  den  kleinsten  verunglükken.  Wir  wollen  uns 
einmal  vorstellen,  wir  hätten,  wir  drei,  durch  einen  Fluss  zu  gehn. 
Würd'  es  Euch  da  nicht  vernünftig  scheinen,  wenn  ich,  als  der 
jüngste  von  Euch,  und  der  am  meisten  gewohnt  wäre,  Flüsse  zu 
durchwaten.  Euch  vorschlüge,  zuerst  zu  versuchen,  und  Euch 
indess  am  sichern  Ufer  zu  lassen.  Denn  ich  könnte  ja  dann  sehn, 
ob  wohl  auch  Ihr  Aeltere  durchkommen  könntet,  und  wenn  ich 
das  sähe,  Euch  mit  meiner  grösseren  Erfahrung  helfen ;  fände  ich 
aber  das  Gegentheil,  so  hätte  ich  die  Gefahr  über  mich  genommen. 
Der  Fall,  in  dem  wir  uns  jezt  befinden,  ist  diesem  fast  gleich. 
Unsre  Untersuchung  ist  tief,  und  für  Eure  Kräfte  vielleicht  uner- 
gründlich; leicht  kann  Euch  ein  Schwindel  befallen;  leicht  könnt 
Ihr  durch  Fragen,  an  die  Ihr  nicht  gewöhnt  seid,  gefangen  werden ; 
und  dann  würdet  Ihr  Verdruss  und  Schande  davon  haben.  Ich 
will  mich  selbst  erst  fragen;  indess  sollt  Ihr  ganz  ruhig  zuhören; 
und  dann  will  ich  mir  selbst  wieder  antworten.  Und  so  will  ich 
die  ganze  Untersuchung  durchgehn,  bis  ich  bewiesen  habe,  dass 
die  Seele  früher  da  gewesen  ist,  als  der  Körper. 

Kl.     Vortreflich,  Fremdling;  mach  es  nur,  wie  Du  sagst. 


20  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

D.  A.  Nun  wohlan  denn!  Wenn  wir  aber  je  die  Gottheit 
anrufen  müssen,  so  lasst  uns  jezt  bei  dem  Beweise  ihres  eigenen 
Daseins  ihren  Beistand  erbitten,  und  durch  ihn,  wie  durch  einen 
festen  Anker  gesichert,  die  Untersuchung  beginnen.  Wenn  man 
mir,  wie  ich  eben  sagte,  Fragen  A^orlegte ;  so  glaub'  ich  auf  folgende 
Art  am  sichersten  antworten  zu  können.  Gesezt  z.  B.  man  fragte 
mich :  „Wie,  Fremdling,  ist  alles  in  Ruhe,  oder  alles  in  Bewegung, 
oder  giebt  es  Dinge,  die  sich  bewegen,  und  Dinge,  die  ruhen?" 
so  würde  ich  antworten:  es  giebt  Dinge,  die  ruhen,  und  Dinge, 
die  sich  bewegen.  —  „Muss  aber  nicht  immer  ein  Ort  da  sein, 
in  welchem  das  Ruhende  ruht,  und  das  sich  Bewegende  sich  be- 
wegt?" —  Allerdings.  —  „Und  geschieht  die  Bewegung  nicht  bei 
einigen  Dingen  in  Einem,  bei  andern  in  mehreren  Orten?"  — 
Du  verstehst  doch  unter  der  Bewegung  in  Einem  Orte  diejenigen 
Dinge,  die,  ohne  ihren  Standpunkt  zu  verändern,  nur  in  der  Mitte 
einen  Schwung  erhalten,  so  wie  man  von  Kugeln  sagt,  dass  sie 
still  stehn,  da  sie  sich  doch  im  Grunde  herumdrehn?  —  „Ganz 
recht."  —  Bei  diesem  Herumdrehn  muss  dieselbe  Bewegung  den 
grossesten  und  den  kleinsten  Zirkel  herumtreiben,  sich  verhältniss- 
mässig  unter  die  kleineren,  und  unter  die  grösseren  vertheilen, 
und  also  selbst  nach  eben  diesem  Verhältniss  bald  kleiner,  bald 
grösser  sein.  Darum  ist  sie  eben  so  bewundernswürdig,  weil  sie, 
was  beinah  unmöglich  scheinen  sollte,  nach  richtigem  Verhältniss 
zugleich  den  kleineren  und  den  grösseren  Zirkeln  Langsamkeit 
und  Geschwindigkeit  mittheilt.  —  „Du   hast  vollkommen  Recht." 

—  Und  mit  der  Bewegung  in  mehreren  Orten  meinst  Du  doch 
solche  Körper,  die  während  der  Bewegung  ihre  Stelle  verändern, 
sie  mögen  nun  immer  denselben  Mittelpunkt  zur  Basis  haben, 
oder  mehrere,  wie  beim  Herumwälzen?  Wenn  sie  so  aufeinander 
stossen,  so  trennen  sie  sich,  wenn  sie  ruhenden  Körpern  begegnen; 
treffen  sie  aber  auf  Körper,  die  gleichfalls  in  Bewegung,  und  nach 
Einem  Punkte  mit  ihnen  gerichtet  sind;  so  verbinden  sie  sich 
untereinander,  und  mit  den  Körpern,  die  sich  zwischen  ihnen 
beiden  befinden.  —  „Du  hast  meine  Meinung  völlig  richtig  gefasst." 

—  Nun  aber  nehmen  die  Körper  durch  die  Verbindung  mit  andern 
zu,  so  wie  sie  durch  die  Trennung  abnehmen;  vorausgesezt  nem- 
lich,  dass  jeder  seine  vorige  Beschaffenheit  behält.  Denn  sonst 
werden  sie  durch  jede  dieser  Veränderungen  vernichtet.  —  „Allein 
was  muss  mit  ihnen  vorgehen,  wenn  sie  entstehn  sollen?"  —  Der 
erste  Stoss   muss  einen  Zuwachs   erhalten,   durch   den   er   in   den 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  2"^ 

zweiten  Zustand,  und  von  diesem  in  den  folgenden  übergeht. 
Denn  erst  nach  drei  verschiedenen  Zuständen  wird  er  den  Sinnen 
bemerkbar.  Durch  diese  Veränderungen  und  Uebergänge  ent- 
stehen alle  Dinge ;  und  so  lange  sie  ihre  erste  Beschaffenheit  be- 
halten, existiren  sie,  sobald  sie  aber  diese  verändern,  werden  sie 
vernichtet.  Sind  wir  nicht  jezt,  meine  Freunde,  alle  Arten  der 
Bewegung  durchgegangen,  zwei  allein  ausgenommen? 

Kl.     Und  diese  zwei  sind? 

D.  A.  Eben  die,  Lieber,  um  die  wir  diese  ganze  Unter- 
suchung angestellt  haben. 

Kl.     Erkläre  Dich  ein  wenig  deutlicher. 

D.  A.     Wir  redeten  doch  von  der  Seele? 

Kl.     Nun  ja!  — 

D.  A.  So  höre  denn!  Die  eine  dieser  Bewegungen  ist  die, 
welche  andere  Dinge  bewegt,  sich  selbst  aber  nie  bewegen  kann; 
die  andre  hingegen  die,  welche  sich  und  andre  Dinge  beständig 
fort  in  Bewegung  sezt,  indem  sie  alle  Verbindung  und  Trennung, 
alle  Zunahme  und  Abnahme,  alles  Entstehen  und  Untergehen  her- 
vorbringt. Vv'ollen  wir  nun  nicht  die  erste  dieser  Bewegungen, 
die  andre  Dinge  verändert,  aber  wiederum  stets  von  andren  ver- 
ändert wird,  für  die  neunte  Art  der  Bewegung  annehmen,  und 
derjenigen,  welche  sich  und  andre  Dinge  in  Bewegung  sezt,  zu 
jeder  Art  des  Handlens,  und  des  Leidens  fähig  ist,  und  mit  Recht 
der  Grund  aller  Verändrung  und  aller  Bewegung  genannt  werden 
kann,  den  zehnten  Plaz  anweisen? 

Kl.     Allerdings. 

D.  A.  Aber  welcher  unter  diesen  Arten  von  Bewegung 
werden  wir  in  Absicht  der  Wirksamkeit  und  der  Thätigkeit  den 
Vorzug  geben? 

Kl.  Natürlich  keiner  andern,  als  der  selbstthätigen :  denn 
dieser  müssen  alle  übrigen  nachstehn. 

D.  A.  Sehr  richtig!  Jezt  haben  wir  nur  noch  einen  oder 
zwei  Punkte  in  dem  bisher  Gesagten  zu  verbessern. 

Kl.     Und  v/elche,  Fremdling? 

D.  A.  Einmal  war  es  falsch,  dass  wir  der  Bewegung,  von 
der  wir  zulezt  redeten,  den  zehnten  Plaz  anwiesen,  da  sie  doch, 
wie  Du  selbst  zugiebst,  sowohl  der  Entstehung,  als  der  Wirksam- 
keit nach,  die  erste  ist;  dann  hätten  wir  die,  welche  nach  dieser 
die  zweite  ist,  nicht  für  die  neunte  annehmen  sollen. 

Kl.     Aus  welchem  Grunde  nicht? 


28  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

D.  A.  Aus  folgendem.  Wenn  ein  Ding  von  einem  andern 
bewegt  wird,  und  dieses  wieder  von  einem  andern,  und  dieses 
wieder  von  einem  dritten,  und  immer  so  fort;  wird  dann  irgend 
eins  dieser  Dinge  den  Grund  der  Bewegung  enthalten?  Unmög- 
lich. Wie  kann  etwas,  das  von  einem  andern  Dinge  bewegt  wird, 
der  Grund  der  Bewegung  sein?  Aber  wenn  etwas  sich  selbst 
Bewegendes  eine  Veränderung  in  einem  andern  Dinge  hervor- 
bringt, und  diess  wieder  in  einem  andern,  und  wenn  auf  diese 
Art  tausend  und  zehntausend  Dinge  verändert  werden,  was  wird 
alsdann  den  Grund  aller  dieser  Veränderung  enthalten,  wenn  nicht 
die  erste  Veränderung  der  sich  selbst  bewegenden  Substanz? 
Kl.     Offenbar  nur  sie. 

D.  A.  Auch  folgende  Frage  wollen  wir  uns  wieder  zur 
eigenen  Beantwortung  vorlegen.  Wenn  alles  zugleich  still  stände 
—  eine  Hypothese,  welche  die  meisten  unsrer  Gegner  kühn  genug 
sind  anzunehmen  —  wo,  bei  welchen  Substanzen  müsste  alsdann 
die  erste  Bewegung  anfangen? 

Kl.  Nothwendig  bei  den  selbstthätigen.  Denn  diese  können 
nicht  vorher  durch  etwas  andres  in  Bewegung  gesezt  werden,  da 
vor  ihnen  gar  keine  Bewegung  vorhanden  ist. 

D.  A.  Also  liegt  der  Grund  aller  Bewegungen,  sowohl  der- 
jenigen, welche  nun  schon  aufgehört  hat,  als  derjenigen,  welche 
noch  immer  fortdauert,  allein  in  der  selbstthätigen  Bewegung. 
Müssen  wir  nicht  daher  dieser  das  höchste  Alter,  und  die  grosseste 
Wirksamkeit  zuschreiben?  und  den  Dingen,  welche  selbst  von 
andern  die  Bewegung  erhalten,  die  sie  wiederum  andern  mittheilen, 
die  zweite  Stelle  nach  ihnen  anweisen? 
Kl.    Wie  könnten  wir  anders? 

D.  A.  So  weit  wären  wir  jezt  in  unserm  Beweise  gekommen. 
Nun  w^eiter!  Was  legen  wir  einem  Körper  für  eine  Eigenschaft 
bei,  wenn  wir  in  ihm  —  er  bestehe  nun  aus  Erde,  Wasser,  oder 
Feuer,  er  sei  einfach,  oder  zusammengesezt  —  eine  solche  erste 
Bewegung  erblikken  ? 

Kl.  Fragst  Du  mich  vielleicht,  ob  wir  einem  solchen  Körper, 
der  sich  durch  sich  selbst  bewegt,  Leben  zuschreiben? 

D.  A.     Nichts  anders;  ob  wir  ihm  Leben  zuschreiben? 
Kl.    Allerdings. 

D.  A.  Und  wie?  Wenn  wir  in  einem  Körper  eine  Seele 
gewahr  werden,  suchen  wir  denn  nicht  den  Grund  seines  Lebens 
allein  in  ihr? 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  2Q 

Kl.     Allein  in  ihr. 

D.  A.  Nun  gieb  einmal  recht  Acht!  Kannst  Du  nicht  an 
jeglichem  Dinge  dreierlei  unterscheiden,  die  Substanz,  oder  die 
Sache  selbst,  die  Erklärung  und  den  Namen  desselben?  Kannst 
Du  nicht  gleichfalls  über  jedes  Ding  zwei  Fragen  aufwerfen:  die 
eine  mit  ^'oraussezung  des  Namens  nach  der  Erklärung ;  die  andere 
umgekehrt  mit  Voraussezung  der  Erklärung  nach  dem  Namen? 
Ich  will  mich  durch  ein  Beispiel  erklären.  Es  giebt  Zahlen,  wie 
Du  weisst,  die  aus  zwei  gleichen  Theilen  bestehn.  Ihr  Name  ist : 
gerade  Zahlen.  Ihre  Erklärung :  Zahlen,  die  in  zwei  gleiche  Theile 
zerfallen.  Nun  ist  es  völlig  gleichviel,  ob  ich  Dir  den  Namen 
sage,  und  Dich  nach  der  Erklärung  frage ;  oder  ob  ich  umgekehrt 
Dir  die  Erklärung  sage,  und  Dich  nach  dem  Namen  frage.  Denn 
beide,  sowohl  Name,  als  Erklärung,  bezeichnen  nur  Eine  und 
ebendieselbe  Zahl. 

Kl.     Sehr  richtig. 

D.  A.  Was  ist  nun  die  Erklärung  dessen,  was  wir  Seele 
nennen?  Ist  nicht  die  Seele  eben  das,  wovon  wir  sprechen:  eine 
selbstthätige  Bewegungskraft  ? 

Kl.  Als  eine  selbstthätige  Bewegungskraft  erklärst  Du  daher 
das  Wesen,  das  wir  insgemein  Seele  nennen? 

D.  A.  Ja,  und  wenn  diess  richtig  ist,  so  haben  wir  unwider- 
sprechlich  bewiesen,  dass  die  Seele  der  Grund  des  Entstehens, 
und  der  Bewegung  aller  Dinge  ist,  soviel  ihrer  sind,  gewesen  sind, 
und  noch  sein  werden.  Denn  von  ihr  allein  entspringt  jede  Ver- 
änderung und  jede  Bewegung.  Oder  scheint  Dir  der  Beweis  noch 
mangelhaft  ? 

Kl.  Keinesweges.  Es  ist  vielmehr  auf  das  vollkommenste 
dargethan,  dass  die  Seele  früher,  als  alle  übrigen  Dinge  existirt 
hat,  und  die  Quelle  aller  Bewegung  ist. 

D.  A.  Wird  nicht  ferner  die  Bewegung  der  leblosen  Körper, 
die  nicht  durch  sie  selbst,  sondern  durch  andre  in  ihnen  hervor- 
gebracht Vk'ird,  um  Eme,  oder  um  so  viel  Stufen,  als  man  will, 
jener  ersteren  nachstehn? 

Kl.     Offenbar. 

D.  A.  Es  war  also  völlig  richtig,  wahr,  und  unwiderleglich, 
was  wir  vorhin  behaupteten,  dass  die  Seele  früher  da  gewesen  ist, 
als  der  Körper,  und  dass  derselbe  der  Seele  untergeordnet  ist,  die 
ihn  nach  den  Gesezen  der  Natur  beherrscht. 

K 1.     Allerdings. 


30 


I.  Sokrates  und  Piaton   über  die  Gottheit, 


D.  A.  Nun  aber  gaben  wir  doch  zu  —  Du  erinnerst  Dich 
dessen  noch  ?  —  dass,  wenn  die  Seele  äher  wäre,  als  der  Körper, 
auch  die  Eigenschaften  der  Seele  älter  sein  müssten,  als  die  Eigen- 
schaften des  Körpers? 

Kl.     Das  gaben  wir  zu. 

D.  A.  Folglich  sind  Denkungsart,  Charakter,  Wille,  Nach- 
denken, Wahrheit,  Fürsorge,  und  Gedächtniss  früher  da  gewesen, 
als  körperliche  Länge,  Breite,  Tiefe,  und  Stärke,  vorausgesezt 
nemlich,  dass  die  Seele  eher  existirt  hat,  als  der  Körper. 

Kl.    Noth  wendig. 

D.  A.  Müssen  wir  nicht  auch,  wenn  wir  einmal  die  Seele 
zur  Ursache  aller  Dinge  annehmen,  eingestehn,  dass  sie  die  Quelle 
alles  Guten  und  Edlen,  sowie  alles  Schlechten  und  Unedlen,  alles 
Gerechten  und  Ungerechten,  und  aller  übrigen  einander  entgegen- 
gesezten  Eigenschaften  ist? 

Kl.     Wie  könnten  wir  anders? 

D.  A.  Ferner :  wenn  die  Seele  alle  Dinge,  die  sich  nur  irgend- 
wo bewegen,  regiert  und  belebt,  muss  sie  denn  nicht  auch  den 
Himmel  regieren? 

Kl.    Nothwendig  auch  ihn. 

D.  A.  Regiert  ihn  aber  nur  Eine,  oder  mehrere?  Ich  will 
für  Euch  antworten :  Mehrere.  Denn  weniger  als  zwei  dürfen  wir 
nicht  annehmen:  eine  wohlthätige,  und  eine,  die  das  Gegentheil 
davon  ist.*) 

Kl.     Sehr  richtig. 

D.  A.  So  lenkt  also  die  Seele  alles,  w^as  im  Himmel,  auf  der 
Erde,  und  im  Meere  geschieht,  mit  den  ihr  eignen  Arten  der  Be- 
wegungen, die  wir  Wollen,  Ueberlegen,  Sorgen,  Entschliessen, 
richtig  und  falsch  urtheilen,  die  wir  Freude  und  Betrübniss,  Muth 
und  Furcht,  Hass  und  Liebe  nennen.  So  bringen  alle  diese  Grund- 
bew^egungen,  indem  sie  die  Bewegungen  der  Körper,  welche  gleich- 
sam eine  zweite  untergeordnete  Klasse  ausmachen,  mit  sich  ver- 
einigen,    alle    Zunahme     und    Abnahme,    alle    Verbindung    und 


*)  Der  Irrthum,  dass  Piaton  hier  zwei  Grundwesen  annimmt,  ein  gutes  und  ein 
böses,  kann  seiner  Philosophie  wohl  nicht  zu  einem  grossen  Vorwurf  gereichen,  wenn 
man  bedenkt,  wie  sichtbare  Spuren  sich  noch  bis  in  unsre  Zeiten  von  dieser  Idee  er- 
balten haben.  Auch  wurden  in  der  That  viele  Schritte  dazu  erfordert,  ehe  man  zu  der 
Einsicht  gelangen  konnte,  dass  auch  die  scheinbaren  Unvollkommenheiten  in  den  Plan 
des  weisesten  und  gütigsten  Schöpfers  gehören,  weil  sie  in  Rüksicht  aufs  Ganze  nicht 
mehr  Unvollkommenheiten  sind. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 


31 


Trennung  hen'or;  ferner  alles,  was  hieraus  entsteht,  das  Heisse 
und  Kalte,  das  Schwere  und  Leichte,  das  Harte  und  Weiche,  das 
Schwarze  und  Weisse,  das  Herbe,  Süsse  und  Bittre.  Und  so 
lange  die  Seele  mit  der  \'ernunft  vereint  ist  —  sie,  selbst  eine 
Gottheit,  mit  einer  Gottheit  —  so  beglükt  sie  alles  durch  ihre 
Weisheit;  gesellt  sich  aber  die  Thorheit  zu  ihr,  so  geschieht  ge- 
rade das  Gegentheil.  Ist  diess  nun  so  richtig,  oder  bleibt  noch 
ein  Zweifel  übrig? 
K 1.     Keiner. 

D.  A.  Doch  zu  welcher  Gattung  der  Seelen  werden  wir  die- 
jenige rechnen,  welche  den  Himmel,  die  Erde,  und  dieses  ganze 
Weltgebäude  beherrscht?  zu  den  vernünftigen  und  tugendhaften, 
oder  zu  den  entgegengesezten  ?  Sollten  wir  vielleicht  auf  folgende 
Art  hierauf  antworten? 

Kl.     Wie  meinst  Du,  Fremdling? 

D.  A.  Also,  Lieber.  Wenn  die  Umwälzung  und  die  Lauf- 
bahn des  Himmels  und  der  himmlischen  Körper  den  Bewegungen, 
den  Wirkungen,  oder  besser  dem  Denken  des  Verstandes  gleicht, 
wenn  beide  mit  einander  in  Verwandtschaft  stehn;  so  ist  offenbar, 
dass  die  vortreflichste  Seele  die  Welt  beherrscht,  und  dass  sie  es 
ist,  welche  die  Welt  diese  Laufbahn  führt. 

Kl.     Offenbar. 

D.  A.  Und  dass  es  im  Gegentheil  die  unvollkommene  Seele 
ist,  w^enn  die  Welt  sich  auf  eine  unzwekmässige,  unordentliche 
Weise  bewegt. 

Kl.     Auch  diess  ist  vollkommen  richtig. 

D.  A.  Allein  welches  ist  nun  die  Bewegung  des  Verstandes  ? 
Hierauf  ist  es  in  der  That  schwer,  richtig  zu  antworten.  Billiger- 
weise muss  ich  also  die  Antwort  mit  Euch  gemeinschaftlich  über- 
nehmen, meine  Freunde. 

Kl.    Freilich. 

D.  A.  Aber  wollen  wir  mit  unsern  sterblichen  Augen  den 
^'erstand  selbst  anblikken  und  erforschen?  Dass  es  uns  da  nur 
nicht  eben  so  gehe,  als  wenn  man  zu  starr  in  die  Sonne  sieht. 
Man  ist  dann  am  hellen  Mittag  mitten  im  Finstern.  Weit  sichrer 
werden  wir  unsre  Blikke  auf  das  Bild  des  Verstandes  wenden. 

Kl.    Wie  verstehst  Du  das? 

D.  A.  Ich  meine,  welcher  Bewegung  der  Verstand  wohl  ähn- 
lich ist,  wenn  wir  sein  Bild  von  einer  jener  zehn  Bewegungen  her- 


t>2  J-  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

nehmen  wollen  ?  Ich  werde  sie  noch  einmal  in  Euer  Gedächtniss 
zurükrufen,  und  dann  lasst  uns  gemeinschaftlich  antworten. 

Kl.     Sehr  wohl. 

D.  A.  Soviel  ich  mich  noch  erinnere,  nahmen  wir  zuerst  an, 
dass  einige  Dinge  in  Bewegung,  andre  in  Ruhe  sind. 

Kl.     Ja! 

D.  A.  Ferner,  dass  von  den  Dingen,  welche  in  Bewegung 
sind,  einige  sich  in  Einem,  andre  in  verschiedenen  Orten  bewegen. 

Kl.    Auch  diess  ist  ganz  richtig. 

D.  A.  Und  die  erstere  dieser  Bewegungen  —  die  sich  wie 
die  Kugeln,  die  man  zu  drechseln  pflegt,  immer  um  Einen  Mittel- 
punkt herumdreht  —  ist  es,  welche  den  Bewegungen  des  Ver- 
standes nothwendig  am  nächsten  kommen,  und  ihnen  unter  allen 
andern  am  ähnlichsten  sein  muss. 

Kl.     Wie  so,  Fremdhng? 

D.  A.  Beide,  der  Verstand,  und  jene  dem  Herumdrehen  solcher 
gedrechselten  Kugeln  so  ähnliche  Bewegung  um  Einen  feststehenden 
Mittelpunkt  herum,  bewegen  sich  immer  auf  die  nemliche  Weise, 
in  dem  nemlichen  Ort,  in  der  nemlichen  Lage  sowohl  gegen  den 
Mittelpunkt,  als  der  Theile  gegen  einander,  nach  der  nemlichen 
Regel,  und  der  nemlichen  Ordnung.*)  Niemand  wird  uns,  wenn 
wir  diess  behaupten,  den  Vorwurf  machen  können,  dass  wir  uns 
schlecht  auf  treifende  Gleichnisse  verständen. 

Kl.     Gewiss  nicht. 

D.  A.  Aus  eben  diesem  Grunde  aber  ist  auf  der  andern 
Seite  diejenige  Bewegung,  welche  sich  nie  auf  die  nemliche  Weise, 
nie  an  dem  nemlichen  Orte,  nie  in  der  nemlichen  Lage  weder 
gegen  den  Mittelpunkt,  noch  der  Theile  gegen  einander  bewegt, 
in  der  es  ferner  weder  Regel,  noch  Ordnung,  noch  Verhältniss 
giebt,  der  Bewegung  des  Unverstandes  am  ähnlichsten. 

Kl.     Allerdings. 

D.  A.  Nun  ist  es  nicht  mehr  schwer  zu  entscheiden,  ob,  da 
doch   eine  Seele   alles   lenkt,  die  Umwälzung   des  Himmels   unter 


*)  Diese  Vergleichung  scheint  beim  ersten  Anblik  sehr  sonderbar.  Allein  man 
bedenke  nur,  dass  Körper,  die  sich  um  einen  feststehenden  Mittelpunkt  schwingen,  nie 
ihren  Ort  verändern,  und  dass  diese  Art  der  Bewegung  gewiss  die  regelmässigste  unter 
allen  nur  denkbaren  ist;  und  man  wird  finden,  dass,  wenn  die  Operationen  des  Ver- 
standes mit  irgend  einer  körperlichen  Bewegung  verglichen  werden  sollen ,  diese 
wenigstens  die  einzige  dazu  schikliche  ist. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  oo 

der  Fürsorge  und  Leitung  einer  vollkommenen,  oder  einer  unvoll- 
kommenen stehe? 

Kl.  Nein,  Fremdling,  nach  dem,  was  wir  jezt  mit  einander 
abgemacht  haben,  dürfen  wir  nicht  anders  annehmen,  als  dass  eine 
mit  jeder  Vollkommenheit  ausgerüstete  Seele  das  Weltgebäude 
beherrscht,  sei  es  nun  allein,  oder  in  Gemeinschaft  mit  mehreren. 

D.  A.  Du  hast  unsre  Schlüsse  vortreflich  gefasst,  Ivlinias. 
Merke  nur  noch  ein  wenig  auf  Folgendes.  Wenn  die  Seele  alle 
Dinge  zusammengenommen,  die  Sonne,  den  Mond,  und  die  übrigen 
Gestirne  lenkt,  lenkt  sie  denn  nicht  auch  jedes  einzelne.'' 

Kl.     Wie  könnte  sie  anders.^ 

D.  A.  So  wollen  wir  denn  einmal  über  einen  dieser  Körper 
mit  einander  reden.  Was  wir  von  ihm  sagen,  werden  wir  auf  alle 
übrigen  Dinge  anwenden  können. 

Kl.    Und  welchen  wählst  Du  zu  dieser  Absicht? 

D.  A.  Die  Sonne  z.  B.  Jedermann  sieht  ihren  Körper, 
niemand  aber  ihre  Seele,  eben  so  wenig  als  die  Seele  irgend  eines 
Thiers,  es  mag  leben  oder  todt  sein.  Sehr  wahrscheinlich  also, 
dass  sie,  ihrer  Natur  nach,  keinem  unsrer  körperlichen  Sinne 
empfindbar  ist,  dass  sie  nur  von  dem  Geiste  gedacht  werden  kann. 
Mit  dem  Verstände  allein  müssen  wir  daher  versuchen,  uns  folgen- 
den Begriff  von  ihr  zu  machen. 

Kl.    Welchen,  Fremdling? 

D.  A.  Wenn  die  Seele  die  Sonne  regiert,  so  muss  es  auf 
eine  von  folgenden  drei  Arten  geschehn.  Diess  können  wir,  ohne 
Gefahr  zu  irren,  behaupten. 

Kl.    Von  was  für  Arten  redest  Du? 

D.  A.  Sie  muss  entweder  den  runden  sichtbaren  Körper  selbst 
bewohnen,  und  ihn  eben  so  überall  hinbewegen,  als  unsre  Seele 
uns  bewegt;  oder,  selbst  mit  einem  feuer-  oder,  wie  einige  be- 
haupten, luftartigen  Körper  bekleidet,  durch  die  Kraft  ihres  Kör- 
pers den  Körper  der  Sonne  von  aussen  fortstossen;  oder  endlich 
—  und  diess  ist  die  dritte  Art  —  alles  Körpers  entblösst  sein,  und 
sich  andrer  höchst  wundervoller,  unbegreiflicher  Kräfte  bedienen. 

Kl.     Allerdings. 

D.  A.  Auf  eine  von  diesen  drei  Arten  muss  also  die  Seele 
nothwendig  die  Sonne  regieren.  Aber  dem  sei,  wie  ihm  wolle, 
ob  diese  Seele  die  Sonne  und  das  Licht  gleichsam  wie  in  einem 
Wagen  uns  zuführe,  oder  ob  sie  von  aussen,  oder  auf  irgend  eine 
andre  Weise,  welche  es  auch   sei,   auf  sie  wirke;    so    muss   doch 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  3 


34 


I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 


jeder  Mensch  eingestehn,  dass  sie  ein  Wesen  höherer  Art,  dass 
sie  eine  Gottheit  ist.     Oder  kann  er  es  anders? 

K 1.     Ohne  den  äussersten  Grad  des  Unverstandes  gewiss  nicht. 

D.  A.  Werden  wir  aber  anders  von  dem  Monde,  und  den 
übrigen  Gestirnen,  von  den  Jahren  und  Monaten,  von  dem  Wechsel 
der  Jahrszeiten  reden?  Auch  diess  alles  ist  von  Einer,  oder 
mehreren  mit  jeglicher  Vollkommenheit  begabten  Seelen  hervor- 
gebracht. Werden  wir  nicht  auch  diese  Seelen  für  Gottheiten  er- 
kennen, sie  mögen  nun,  indem  sie  den  Himmel  beherrschen,  in 
den  Körpern  selbst  wohnen,  oder  auf  diese,  oder  jene  Weise  da- 
bei wirksam  sein  ?  Und  muss  man  also  nicht  eingestehn,  dass  das 
ganze  Weltall  mit  Göttern  angefüllt  ist? 

Kl.     Niemand,  Fremdling,  ist  thöricht  genug,  es  zu  läugnen. 

D.  A.  So  können  wir  denn  nun,  lieber  Klinias  und  Megill.^ 
diejenigen  verlassen,  welche  das  Dasein  der  Götter  bisher  nicht 
glaubten.  Wir  haben  ihnen  nun  enge  Schranken  gesezt,  haben 
ihnen  nun  genau  den  Weg  vorgeschrieben,  den  sie  gehn  müssen, 
wenn  sie  uns  antworten  wollen. 

Kl.     Welche  Schranken,  welchen  Weg  meinst  Du? 

D.  A.  Den,  dass  sie  nun  entweder  uns  folgen,  und  den  übrigen 
Theil  ihres  Lebens  hindurch  das  Dasein  der  Götter  für  wahr 
halten,  oder  uns  zeigen  müssen,  dass  wir  Unrecht  hatten,  die 
Seele  für  das  erste  aller  Dinge,  für  den  Ursprung  aller  übrigen 
anzunehmen,  so  wie  alles,  was  wir  aus  diesem  Saz  weiter  folgern.. 
Lasst  uns  nur  noch  einmal  sehn,  ob  wir  ihnen  das  Dasein  der 
Götter  hinreichend  bewiesen  haben,  oder  ob  unsrem  Beweise  noch 
etwas  fehlt? 

Kl.     Gewiss  nicht  das  geringste,  Fremdling. 

D.  A.  Nun  so  haben  denn  diese  Untersuchungen  ein  Ende; 
und  so  wollen  wir  denn  jezt  die  zurükzuführen  suchen,  die  zwar 
das  Dasein  der  Götter  nicht  bezweifeln,  aber  doch  nicht  glauben, 
dass  sie  sich  um  die  menschlichen  Angelegenheiten  bekümmern. 
„Dein  Glaube  an  die  Götter,  mein  Lieber,"  wollen  wir  zu  einem 
von  ihnen  sagen,  „rührt  vielleicht  von  einer  gewissen  Verwandt- 
schaft zwischen  Dir  und  ihnen  her,  die  Dich  antreibt,  sie  zu  er- 
kennen und  zu  verehren.  Aber  das  Glük,  welches  Du  ungerechte, 
lasterhafte  Menschen  in  ihren  Familien,  und  im  Staate  geniessen 
siehst,  bringt  in  Dir  eine  Geringschäzung  gegen  sie  hervor.  Frei- 
lich ist  diess  Glük  kein  wahres  Glük,  aber  es  wird  doch  —  so 
Unrecht  es  auch  ist  —  dafür  gehalten,   wird   doch   in  Gedichten 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  oc 

und  andern  Schriften  von  mancherlei  Art  als  ein  solches  gepriesen. 
Vielleicht  siehst  Du  selbst  sogar  lasterhafte  Menschen  das  späteste 
Alter  erreichen,  und  noch  ihre  Enkel  in  den  höchsten  Ehrenstellen 
hinterlassen;  vielleicht  entspringen  hieraus  Deine  Zweifel.  Du 
hörst  oder  bist  vielleicht  selbst  Augenzeuge  von  schändlichen 
Handlungen,  von  Ungerechtigkeiten  gegen  andre,  und  nimmst  wahr, 
dass  eben  sie  die  Mittel  sind,  durch  die  sich  gewisse  Menschen 
aus  dem  Staube  zu  den  höchsten  Würden,  ja  zum  Throne  empor- 
schwingen. Die  Götter  als  die  Urheber  hievon  anzuklagen,  erlaubt 
Dir  Deine  Verwandtschaft  mit  ihnen  nicht.  Also  auf  der  einen 
Seite  von  Unverstand,  auf  der  andern  von  Furcht,  die  Götter  zu 
beleidigen,  getrieben,  bist  Du  in  die  Krankheit  verfallen,  zwar  ihr 
Dasein  zu  glauben,  aber  anzunehmen,  dass  sie  die  menschlichen 
Angelegenheiten  geringschäzen  und  vernachlässigen.  Dieser  Irr- 
thum  könnte  Dich  bald  zu  einem  noch  grössern  Leichtsinn  gegen 
die  Götter  verführen ;  wir  wollen  daher  versuchen.  Dich,  wo  mög- 
lich, durch  unsre  Beweise  davon  zu  heilen,  und  zu  dem,  was  wir 
schon  gegen  die  gesagt  haben,  welche  sogar  das  Dasein  der  Götter 
bezweifeln,  noch  die  folgende  Untersuchung  fügen."  Ihr,  Ivlinias 
und  Megill,  werdet  wohl  wieder,  wie  vorhin,  die  Stelle  des  Jüng- 
lings vertreten,  und  für  ihn  antworten.  Sollte  aber  irgend  eine 
Schwierigkeit  uns  in  der  Untersuchung  aufstossen,  so  werde  ich 
sie  auf  mich  nehmen,  und  Euch  mit  über  den  Strom  helfen. 

Kl.  Vortreflich!  Mach  es  nur,  wie  Du  sagst;  auch  w4r 
wollen  unser  Möglichstes  thun. 

D.  A.  Der  Beweis,  dass  die  Götter  sich  um  das  Kleine  nicht 
minder  bekümmern,  als  um  das  Grosseste,  wird  uns  nicht  schwer 
werden.  Denn  wir  machten  ja  schon  vorhin  mit  einander  aus, 
dass  sie  jede  Vollkommenheit  besizen,  und  dass  die  Fürsorge  fürs 
Ganze  ihr  eigentlichstes  Geschäft  ist. 

Kl.     Allerdings  kamen  wir  darin  überein. 

D.  A.  So  lass  uns  denn  nun  untersuchen,  in  welcher  Rük- 
sicht  eigentlich  wir  die  Götter  vollkommen  nannten?  Nimm  ein- 
mal z.  B.  Massigkeit  und  Weisheit.  Sind  diess  nicht  Vollkommen- 
heiten, so  wde  ihr  Gegentheil  Unvollkommenheiten? 

Kl.     Nothwendig. 

D.  A.  Ist  nicht  auch  ferner  Tapferkeit  eine  Vollliommenheit, 
und  Feigheit  das  Gegentheil  davon? 

Kl.     Wie  anders? 


og  I.  Sokratcs  und  Piaton  über  die   Gottheit, 

D.  A.  Nennen  wir  nicht  die  eine  Gattung  dieser  Dinge  edel, 
die  andre  unedel? 

Kl.    Ja. 

D.  A.  Und  müssen  wir  nun  nicht  zugeben,  dass  die  leztere 
wohl  uns,  nie  aber,  weder  in  grossem,  noch  in  geringem  Maasse, 
den  Göttern  zukommen  könne? 

Kl.     Das  müssen  wir  zugeben. 

D.  A.  Wie  aber?  Nachlässigkeit,  Trägheit,  Weichlichkeit, 
werden  wir  die  zu  den  Vollkommenheiten  der  Seele  rechnen? 

Kl.     Wie  könnten  wir  es? 

D.  A.     Also  zu  den  Unvollkommenheiten? 

Kl.    Nothw^endig. 

D.  A.  Und  die  ihnen  entgegenstehenden  Eigenschaften  zu 
der  entgegengesezten  Klasse? 

Kl.     Zu  der  entgegengesezten. 

D.  A.  Nun  endlich !  Hassen  wir  nicht  den  weichlichen,  nach- 
lässigen Müssiggänger,  den  der  Dichter*)  sehr  treffend  mit  den 
trägen  Wespen  vergleicht? 

Kl.     Allerdings. 

D.  A.  Lasst  uns  daher  ja  nicht  der  Gottheit  eine  Eigenschaft 
beilegen,  die  sie  selbst  hassen  muss;  und  lasst  uns  niemanden  eine 
solche  Behauptung  erlauben. 

Kl.     Niemanden. 

D.  A.  Würde  wohl  der  unser  Lob  auch  nur  einigermaassen 
verdienen,  der,  w^enn  ihm  aufgetragen  wäre,  etwas  zu  besorgen, 
sich  um  etwas  zu  bekümmern,  nur  immer  auf  das  Grosse  sein 
Augenmerk  richtete,  und  das  Kleine  vernachlässigte  ?  Gewiss  nicht ; 
denn  —  bedenkt  es  selbst  einmal  —  könnte  er  wohl,  er  möchte 
nun  ein  Gott,  oder  ein  Mensch  sein,  aus  einem  andern  Grunde 
so  handien,  als  aus  einem  von  folgenden  zweien? 

Kl.     Von  welchen? 

D.  A.  Ich  meine :  er  müsste  entweder  glauben,  dass  die  Ver- 
nachlässigung des  Kleinen  in  Rüksicht  aufs  Ganze  gleichviel  gelte ; 
oder,  wenn  er  das  nicht  glaubte,  so  müsste   er  sich  der  Trägheit 


*)  Hesiodus  Tagwerke.     B.  I.  v.  302.  ^) 
V  Die  Stelle  lautet: 

„Tcö  de  d'eol  refieocöai  i<ai  dvs^es,  og  y.ev  de^yos 
^ojji  y.ri^qveoai  y.od'ovQOis  siy.eXos  oQyfiv^ 
o'i  TS  fieXiaadcov  yed/iurov  r^vxovaiv  de^yoi 
ead'ovTEä.'''' 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  on 

und  Weichlichkeit  überlassen.  Oder  könnte  wohl  seine  Nach- 
lässigkeit noch  aus  einem  andren  Grunde  entspringen  ?  Denn  das 
nennen  wir  nicht  Nachlässigkeit,  wenn  es  jemanden  unmöglich  ist, 
für  alles  zu  sorgen,  und  wenn  er  aus  diesem  Grunde  —  sei  es 
das  Grosse,  oder  das  Kleine  —  vernachlässigt ;  wenn  z.  B.  irgend 
ein  Gott,  oder  Sterblicher  zu  schwach  wäre,  für  alles  Sorge  zu 
tragen. 

Kl.    Nein. 

D.  A.  Jezt  müssen  unsre  beiden  Gegner  uns  dreien  ant- 
worten. Beide  gestehen  das  Dasein  der  Götter  ein ;  aber  der  eine 
hält  sie  für  bestechlich,  der  andre  glaubt,  dass  sie  das  Kleine  ver- 
nachlässigen. Einmal  gebt  Ihr  doch  beide  zu,  dass  die  Götter 
alles  sehen  und  hören,  dass  ihnen  nichts  von  allem  verborgen  ist, 
was  in  dem  Gebiete  der  Sinne  und  des  Verstandes  liegt.  Räumt 
Ihr  das  ein,  oder  nicht? 

Kl.     Allerdings  räumen  wir  das  ein. 

D.  A.  Ferner:  dass  sie  alles  vermögen,  was  der  vereinigten 
Macht  aller  Sterblichen  und  aller  Unsterblichen  möglich  ist.^ 

Kl.     Wie  könnten  unsre  Gegner  diess  läugnen  wollen? 

D.  A.  Endlich  sind  wir  alle  Fünfe  übereingekommen,  dass 
sie  höchst  gut  und  vollkommen  sind. 

Kl.     Ganz  richtig. 

D.  A.  Nun  wir  ihnen  diese  Eigenschaften  beigelegt  haben, 
wäre  es  wohl  noch  möglich  zuzugeben,  dass  sie  irgend  etwas  aus 
Trägheit,  oder  Weichlichkeit  thäten?  Bei  uns  entsteht  Trägheit 
aus  Müssiggang  und  Weichlichkeit,  und  Müssiggang  aus  Feigheit. 
Ein  Gott  kann  nicht  feige  sein ;  wenn  er  also  etwas  vernachlässigt, 
so  kann  die  Ursache  davon  nie  in  seiner  Trägheit,  oder  in  seiner 
Weichlichkeit  liegen. 

Kl.     Nie. 

D.  A.  Aber  wenn  die  Götter  das  Kleine  bei  der  Regierung 
des  Ganzen  verabsäumen,  so  müssen  sie  doch  entweder  überzeugt 
sein,  dass  die  Sorgfalt  fürs  Kleine  nicht  nothwendig  ist,  oder  sie 
müssen  das  Gegentheil  hievon  glauben? 

Kl.     Ein  drittes  bleibt  nicht  übrig. 

D.  A.  Was  willst  Du  nun  lieber  annehmen,  mein  Bester? 
Sollen  die  Götter  aus  Unwissenheit  nachlässig  sein,  darum,  weil 
sie  nicht  einsehn,  dass  man  auch  für  das  Kleine  sorgen  muss? 
Oder,  von  dieser  Nothwendigkeit  überzeugt,  es  nur  so  machen, 
wie  die  schwächsten,  elendesten  Menschen  thun  ?    Sie  vvdssen  recht 


og  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit, 

gut,  dass  sie  besser  handien  könnten,  als  sie  handien,  aber  aus 
Hang  zum  Vergnügen,  oder  aus  Furcht  vor  irgend  einem  Unge- 
mach unterlassen  sie  es. 

Kl.    Es  lässt  sich  weder  das  eine,  noch  das  andre  denken. 

D.  A.  Weiter!  Gehören  die  Menschen  und  ihre  Schiksale 
nicht  zu  der  beseelten  Natur,  und  verehren  nicht  sie  unter  allen 
Thieren  die  Götter  am  meisten? 

Kl.    Allerdings,  wie  es  scheint. 

D.  A.  Und  wir  sind  doch,  so  wie  alle  Thiere  und  der  ganze 
Himmel,  ihr  Eigenthum? 

Kl.    Nicht  anders. 

D.  A.  Nun  nenne  man  unsre  Angelegenheiten  gross,  oder 
klein  in  den  Augen  der  Götter;  in  keinem  Fall  würde  es  sich 
für  sie  ziemen,  ihr  Eigenthum  —  uns  —  zu  vernachlässigen,  desto 
weniger  sich  für  sie  ziemen,  je  vollkommener  sie  sind,  je  aufmerk- 
samer sie  für  etwas  sorgen.  Lasst  uns  auch  noch  Folgendes  in 
Betrachtung  ziehn! 

Kl.    Was,  Fremdling? 

D.  A.  Wie  in  Rüksicht  auf  Leichtigkeit,  oder  Schwierigkeit 
unsre  Sinne,  und  unsre  Kräfte  einander  immer  entgegenstehn. 

Kl.    Wie  verstehst  Du  diess? 

D.  A.  Etwas  Kleines  zu  sehn,  zu  thun,  ist  weit  schwerer,  als 
etwas  Grosses.  Aber  zu  tragen,  in  unsre  Gewalt  zu  bekommen, 
zu.  besorgen,  ist  es  weit  leichter. 

Kl.    Allerdings. 

D.  A.  Nun  ferner!  Seze,  ein  Arzt  sollte  einen  ganzen  Körper 
heilen,  und  besässe  auch  Willen  und  Fähigkeit  dazu.  Wenn  er 
da  bloss  für  das  Grosse  sorgen,  aber  das  Kleine,  die  einzelnen 
Theile,  vernachlässigen  wollte,  würde  sich  dabei  der  ganze  Körper 
je  wohl  befinden? 

Kl.    Niemals. 

D.  A.  Eben  so  wenig  wird  Steuermännern,  Feldherrn,  Ver- 
waltern, Staatsmännern  und  wen  ich  noch  sonst  nennen  könnte, 
das  Grosse  ohne  das  Kleine  nüzlich  sein.  Denn  die  Baumeister 
sagen  ganz  richtig:  Der  kleine  Stein  liegt  nicht  ohne  dengrossen. 

Kl.    Sehr  wahr. 

D.  A.  Lasst  uns  also  doch  ja  nicht  die  Gottheit  unter  mensch- 
liche Werkmeister  herabsezen !  Sie  bearbeiten  mit  gleichem  Fleisse 
das  Grosse  und  das  Kleine,  nur  nach  Maassgabe  ihrer  Geschik- 
lichkeit  mehr  oder  weniger   genau   und  vollkommen.     Und  Gott, 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 


39 


der  Höchstweise,  er,  der  die  Fähigkeit  für  alles  zu  sorgen  mit  dem 
Willen  dazu  vereint,  Gott  sollte  das  Kleine,  wofür  die  Sorgfalt  so 
leicht  ist,  vernachlässigen;  sollte  den  trägen  Weichlingen  ähnlich 
sein,  die  aus  Arbeitsscheu  für  das  Grosse  allein  sorgen ! 

Kl.  Fern  sei  ein  solcher,  gleich  falscher  und  unerlaubter  Ge- 
danke von  uns! 

D.  A.  So  haben  wir  ja  wohl  den,  welcher  die  Gottheit  der 
Nachlässigkeit  beschuldigte,  hinlänglich  widerlegt? 

Kl.     Gevv^ss. 

D.  A.  Unsre  Beweise  haben  ihn  genöthigt,  seinen  Irrthum 
zu  gestehn.  Jezt,  glaub'  ich,  müssen  wir  nur  noch  etwas  hinzu- 
sezen,  das  ihn,  wie  ein  Zaubermittel,  fessle. 

Kl.    Und  was  ist  das,  Lieber? 

D.  A.  Wir  wollen  ihm  zeigen,  dass  der,  welcher  für  das 
Ganze  sorgt,  auch  alles  zum  Wohl  und  zur  ^^ollkommenheit  des 
Ganzen  geordnet  hat ;  dass  jeder  Theil  immer  nur  die  ihm  ange- 
messnen  Veränderungen  hen^orbringt  und  leidet ;  und  dass  es  Auf- 
seher giebt,  die  über  jede,  noch  so  kleine  Veränderung  —  sie 
bestehe  in  Wirken,  oder  in  Leiden  —  in  jeden,  auch  den  kleinsten 
Theilen  des  Ganzen,  wachen.  Du  selbst,  schwacher  Sterblicher, 
bist  gleichfalls  ein  solcher,  obwohl  kleiner  Theil,  und  arbeitest  mit 
zum  Nuzen  des  Ganzen,  Du  bedenkst  nur  nicht,  dass  alles  für 
das  Ganze,  und  für  dessen  Glükseligkeit  entsteht.  Denn  das  Ganze 
ist  nicht  Deinetwegen ;  nein.  Du  bist  seinetwegen  da').  Jeder  Arzt, 
jeder  erfahrene  Künstler  arbeitet  immer  fürs  Ganze.  Die  A^oll- 
kommenheit  des  Ganzen  ist  sein  Zwek.  Nach  dem  Ganzen  bildet 
er  den  Theil,  nicht  umgekehrt  jenes  nach  diesem.  Du  bist  nun 
unzufrieden,  weil  Du  nicht  einsiehst,  wie,  vermöge  der  Gleichheit 
Eures  Ursprungs,  das,  was  für  Dich  das  Beste  ist.  auch  zugleich 
dem  Ganzen  eben  so  wie  Dir  nüzt.  Denn  was  blieb  dem  Schöpfer 
anders  übrig  —  da  immer  dieselbe  Seele  bald  mit  diesem,  bald 
mit  jenem  Körper  vereint  ist,  da  sie  so  viele  Veränderungen  bald 
durch  sich,  bald  durch  andre  erfährt  —  als  sie,  nach  Art  der 
Knöchelspieler,  immerfort  zu  versezen,  die  besser  gewordene  in 
einen  besseren,   die   schlechter  gewordene   in   einen   schlechteren, 


*)  Ich  fürchte,  hier  den  Sinn  verfehlt  zu  haben.  Die  Worte  orrtw»  ?;  rj  reo  rov 
Travxos  ßuo  vrcaQ/fivaa  tvSaifiiov  ovata  sind  mir  nicht  ganz  deutlich,  und  es  kann 
leicht  ein  tieferer  Sinn  darin  verstekt  liegen,  als  welchen  ich  in  der  Uebersezung 
ausgedrükt  habe. 


AQ  I.  Sokrates  und  Piaton  über  die   Gottheit, 

jede  aber  in  einen  ihr  angemessenen  Ort,   damit  jeder  ein  Schik- 
sal  zu  Tlieil  werde,  wie  sie  es  verdient? 

Kl.    Was  meinst  Du  damit? 

D.  A.  Mich  dünkt,  ich  zeige  die  Art  an,  wie  es  den  Göttern 
am  leichtesten  werden  muss,  für  das  Ganze  zu  sorgen.  Denn 
wenn  ein  Künstler  bei  seinem  Werke  immer  jedes  einzelne  Ding 
in  Rüksicht  aufs  Ganze  —  das  er  nie  aus  den  Augen  verlöre  — 
umbildete ;  das  Feuer  z.  B.  in  beseeltes  Wasser  verwandelte  u.  s.  f., 
nicht  aber  mehrere  Dinge  in  Eins  vereinte,  oder  Eins  in  mehrere 
trennte,  indem  er  sie  durch  die  erste,  zweite,  oder  dritte  Ent- 
stehung durchgehn  Hesse;  so  würde  es  der  Umbildungen  eine 
unübersehbare  Menge  geben.  Meine  Methode  hingegen  macht  die 
Sorgfalt  fürs  Ganze  weit  leichter. 

Kl.    Aber  auf  welche  Art,  Fremdling? 

D.  A.  Auf  folgende.  Alle  unsre  Handlungen  haben  ihren 
Grund  in  unsrer  Seele ;  auf  der  einen  Seite  liegt  zwar  viel  Tugend 
darin,  auf  der  andren  aber  auch  viel  Lasterhaftigkeit;  beide,  Seele 
und  Leib,  sind  zwar  nicht  ewig,  so  wie  es  die  Götter  sind,  aber 
sie  sind  wenigstens  unvergänglich.  Denn  gienge  je  die  eine  oder 
der  andre  völlig  unter,  so  könnten  nie  neue  Thiere  entstehen. 
Das  Gute  endlich,  ich  meine  das  moralische  Gute,  ist  seiner  Natur 
nach  immer  nüzlich,  hingegen  das  Böse  immer  schädlich.  Alles 
diess  sah  unser  Beherrscher,  und  ordnete  jeden  einzelnen  Theil 
des  Ganzen  auf  eine  Art  an,  wie  die  Tugend  am  leichtesten  siegen 
könnte,  das  Laster  am  sichersten  unterliegen  müsste.  Er  bestimmte 
nemlich  in  Rüksicht  aufs  Ganze,  wie  jedes  Ding,  je  nachdem  es 
anders  und  anders  würde,  auch  seine  Stelle  verändern,  und  welche 
Oerter  es  bewohnen  sollte.  Wie  wir  aber  werden  wollten,  diess 
überliess  er  unsrer  Willkühr.  Denn  jeder  hat  doch  gewöhnlich 
den  Charakter,  der  seinen  Neigungen  gemäss  ist. 

Kl.    Keinen  andren. 

D.  A.  Er  versezt  daher  immerfort  alles  Beseelte;  doch  die 
Ursach  dieser  Versezung  liegt  in  den  Wesen  selbst ;  und  die  Ver- 
sezung  an  sich  stimmt  mit  dem  Willen,  und  den  Gesezen  des 
Schiksals  überein.  Diejenigen,  deren  Charakter  sich  weniger  ver- 
ändert hat,  werden  auch  weniger  versezt,  und  bleiben  fast  immer 
auf  derselben  Oberfläche.  Aber  die,  welche  sich  mehr  verändert 
haben,  und  schlechter  geworden  sind,  sinken  in  die  Tiefe  hinab, 
in  jene  unterirrdischen  Orte,  den  Hadäs,  oder  wie  wir  sie  sonst 
nennen  mögen,  und  werden  von  Furcht,  und  schreklichen  Träumen 


über  die  Vorsehunfr  und  Unsterblichkeit. 


41 


beunruhigt,  so  lange  sie  leben,   und  wenn   sie  von    ihren  Leibern 
getrennt    sind.      Diejenigen    Seelen,    welche    durch    ihren    eignen 
Willen,  und  durch  eine   mächtig  gewordene  Gewohnheit  grössere 
Fortschritte  im  Laster  oder  in  der  Tugend  gemacht  haben,  werden, 
wenn  sie  sich  zu  der  göttlichen  Tugend  gesellen,   in  glükseligere, 
völlig  heilige  Orte  versezt;   haben  sie  sich  aber  auf  die  entgegen- 
gesezte  Seite  gewandt,  so  erhalten  sie  ganz  entgegengesezte  Wohn- 
pläze.     Diess,  Jüngling,   der  Du  Dich    von   den   Göttern   vernach- 
lässigt glaubst,  ist  die  von  den  Bewohnern  des  Olymps  eingeführte 
Ordnung.    Die  schlechtere  Seele  muss  sich  immer  zu  den  schlech- 
teren, die  bessere  zu  den  besseren  gesellen,  um  da  im  Leben,  und 
in   jeglichem  Tode   alles   zu   thun   und   zu   leiden,   was   Aehnlich- 
gesinnte   von   einander   erwarten   können.     Und   weder  Du,   noch 
irgend  ein  andrer  Unglüklicher,  dürfet  Euch  je  schmeicheln.  Euch 
dieser  Ordnung   zu   entziehn.     Sie   ist   unverbrüchlicher,   als   jede 
andre,  und  Du  hast  wohl  LIrsach  auf  Deiner  Hut  zu  sein.     Denn 
nie  wirst  Du  der  Aufsicht  der  Götter  entgehn,')  und  würdest  Du 
so  klein,   dass  Du  Dich   in  dem  Mittelpunkt  der  Erde  verbärgest, 
oder    so    gross,    dass   Du   Dich    zum    Himmel    emporschwängst. 
Immer   wirst   Du    die   Strafe    empfangen,    die   Du    verdienst.    Du 
magst  hier  auf  Erden  bleiben,  oder  in  den  Hadäs,  oder  in   einen 
noch  grausenvolleren  Wohnplaz  versezt  werden.    Und  eben  so  ist 
es  mit  denen,  welche  Du  durch  Frevelthaten   aus  dem  Staube   in 
die  Höhe  steigen   sahst.     Du   glaubtest   sie   nun   auf  einmal   vom 
Unglük    zum   Glük    übergegangen,    und   dachtest   in   ihren  Hand- 
lungen, wie  in  einem  Spiegel,  die  Sorglosigkeit  der  Götter  in  Rük- 
sicht  auf  die  Menschen   zu   sehn.     Allein  Du  v\'usstest   nicht,   wie 
auch    sie    zum   Nuzen    des   Ganzen    beitragen.     Solltest  Du    aber 
wohl   diese  Kenntniss   für   überflüssig  halten  —  sie,  ohne  welche 
Du  nie  einen  Plan  Deines  Lebens  entwerfen,  ohne  welche  Du  nie 
beurtheilen   kannst,  was  Dein  Glük  und  Dein  Unglük  ausmachen 
wird?    Wenn  Du  durch  Klinias,  und  uns  übrigen  Greise  von  der 
Nichtigkeit  Deiner  bisherigen  Behauptungen  überzeugt  bist;  so  ist 
diess   schon  ein  grosses  Geschenk  der  Götter.     Doch   scheint  Dir 


*)  Wer  erinnert  sich  nicht  bei  dieser  Stelle  an  Psalm   139.     V.  8.  u.  f.?') 
V  „Führe  ich  gen  Himmel,  so  bist  du  da.     Bettete  ich  mir  in  die  Hölle, 
siehe,  so  bist  du  auch  da.     Nähme  ich  Flügel  der  Morgenröte  und  bliebe  am 
äussersten  Meer,  so  n'ürdc  mich  doch  deine  Hand  daselbst  führen   und  deine 
Rechte  mich  halten."' 


42 


I.  Sokrates  und  Plato:i  über  die  Gottheit, 


irgend  ein  Beweis  noch  mangelhaft,  so  höre,  wenn  Du  vernünftig 
sein  willst,  unser  Gespräch  mit  dem  Dritten  an.  Denn  das  Dasein 
der  Götter,  und  ihre  Fürsorge  für  die  Menschen  hab'  ich,  dünkt 
mich,  nicht  übel  dargethan.  Nur  dass  sich  diese  Götter  auch  nicht 
durch  Geschenke  ungerechter  Menschen  bestechen  lassen  —  ein 
Saz,  den  man  niemanden  zugeben  darf  —  müssen  wir  noch  nach 
allen  Kräften  bew^eisen. 

Kl.    Vortreflich!     Wir  wollen  Deinem  Vorschlage  folgen I 

D.  A.  Bei  den  Göttern  selbst!  so  sage  uns  denn,  auf  welche 
Art  sie  bestechlich  sind,  wenn  sie  es  doch  einmal  sein  sollen? 
Sage  uns,  wer  sie  sind?  welchen  Gharakter  sie  haben?  Sie  sind 
doch  wohl  Herrscher?  denn  sie  regieren  immerfort  den  ganzen 
Himmel. 

Kl.    Allerdings. 

D.  A.  Aber  welchen  Herrschern  sind  sie,  oder  welche  sind 
ihnen  ähnlich?  damit  wdr  doch  das  Grössere  gegen  das  Kleinere 
halten  können.  Gleichen  sie  vielleicht  den  Wagenführern,  wenn 
sie  im  Wettstreit  mit  einander  kämpfen,  oder  den  Steuerleuten? 
Vielleicht  können  wir  sie  auch  mit  den  Befehlshabern  der  Heere 
vergleichen,  oder  mit  den  Aerzten,  welche  die  Krankheiten  des 
Leibes  bekämpfen,  oder  mit  den  Akkcrsleuten,  die,  immer  zitternd 
für  das  Wachsthum  ihrer  Früchte,  die  gewöhnliche  schlimme 
Jahrszeit  erwarten,  oder  mit  den  Hütern  der  Heerden?  Denn 
der  Himmel,  gestanden  v/ir  ja  ein,  ist  voll  des  Guten  und  Bösen, 
und  des  lezteren  ist  mehr.  P]s  giebt  also  da  einen  unaufhörlichen 
Streit,  der  eine  bew^undernswürdige  Wachsamkeit  erfordert.  Die 
Götter  und  die  Dämonen  kämpfen  auf  unsrer  Seite,  weil  wir  ihr 
P^igenthum  sind.  Aber  Ungerechtigkeit,  Zügellosigkeit  und  Thor- 
heit  würden  uns  ins  Verderben  stürzen,  wenn  Gerechtigkeit,  Ent- 
haltsamkeit und  Weisheit  uns  nicht  wieder  retteten  —  sie,  die  in 
den  Seelen  der  Götter  wohnen.  Auch  auf  Erden  findet  sich  etwas 
Aehnliches.  Denn  gewisse  niederträchtige,  ungerechte  Seelen  ver- 
schwören sich  gegen  ihre  Wächter  (verstehe  darunter,  wen  Du 
willst,  Hunde,  Hirten,  oder  mächtige  Herrscher)  und  erschleichen 
—  denn  so  machen  sie  es,  sagt  man  —  durch  Schmeicheleien  und 
bezaubernde  Liebkosungen  die  Freiheit,  andre  ungestraft  zu  über- 
vortheilen.  Diess  Laster,  immer  mehr  zu  begehren,  als  andre  be- 
sizen,  nennen  wir  bei  den  Körpern  Krankheit,  bei  den  Jahrszeiten 
Seuche,  in  den  Staaten  und  Regierungsverfassungen,  mit  ver- 
ändertem Namen,  Ungerechtigkeit. 


über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit.  ^o 

KL     So  nennen  wir  es. 

D.  A.  Zu  behaupten,  dass  die  Götter  den  Ungerechten  gern 
verzeihen,  wenn  sie  ihnen  nur  einen  Theil  ihres  Gewinns  abgeben, 
heisst,  sie  mit  Hunden  vergleichen,  welchen  die  Wölfe  einen 
Theil  ihrer  Beute  überlassen,  und  die  dafür,  durch  das  Geschenk 
2ahm  gemacht,  ihnen  die  Erlaubniss  ertheilen,  die  Heerden  zu 
zerreissen.     Oder  liegt  wohl  etwas  anders  in  der  Behauptung? 

KL    Nichts  anders, 

D.  A.  Und  mit  welcher  von  den  vorhin  genannten  Personen 
kannst  Du  wohl  die  Götter  vergleichen,  wenn  Du  Dich  nicht 
lächerlich  machen  willst?  Etwa  mit  Steuerleuten,  die,  durch  Wein 
und  Opferfett  bestochen,  Schilf  und  Schiffer  untergehn  lassen? 

KL     Gewiss  nicht. 

D.  A.  Oder  mit  Wagenführern,  welche,  durch  Geschenke 
überredet,  den  Sieg  andern  in  die  Hände  spielen? 

KL    Welch  eine  ^"ergleichung,  Fremdling! 

D.  A.  Oder  mit  Feldherrn,  oder  Aerzten,  oder  Akkersleuten, 
oder  Hirten,  oder  endlich  Hunden,  die  von  den  Wölfen  besänftigt 
werden  ? 

KL  Behüte  der  Himmel!  Wie  könnten  wir  so  etwas  be- 
haupten ? 

D.  A.  Sind  nicht  vielmehr  die  Götter  die  erhabensten  Wächter, 
und  über  die  erhabensten  Dinge? 

K 1.     Gewiss. 

D.  A.  Sie  übertreffen  an  Wachsamkeit  alle  übrigen  Wesen, 
sie  sorgen  für  die  vortreflichsten  Dinge,  und  wir  wollten  sie  unter 
unvernünftige  Thiere,  oder  auch  nur  unter  mittelmässige  Menschen 
herabwürdigen?  Denn  schon  diese  würden  gewiss  nicht  die  Ge- 
rechtigkeit übertreten,  wenn  ihnen  auch  ungerechte  Menschen  Ge- 
schenke dafür  anböten. 

KL  Keinesweges.  Eine  solche  Behauptung  wäre  empörend; 
und  mich  dünkt,  wer  diese  Meinung  von  den  Göttern  hat,  ist 
unter  allen  Gottesverächtern   der  schändlichste   und  verwegenste. 

D.  A.  Wir  haben  nun,  glaub'  ich,  die  drei  vorgelegten  Stükkc 
hinlänglich  bewiesen:  das  Dasein  der  Götter,  ihre  Fürsorge  für 
die  Menschen,  ihre  Unbestechlichkeit  gegen  die  Ungerechten. 

Kl.  Allerdings.  Wir  alle  haben  die  Richtigkeit  Deiner  Be- 
weise eingestanden. 

D.  A.  Die  hartnäkkige  Streitsucht  jener  schlechten  Menschen 
hat  mich  heftiger,  als  sonst  reden  lassen.    Ich  habe  es  gethan,  da- 


AA         I.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottheit,  über  die  Vorsehung  und  Unsterblichkeit. 

mit  sie  sich  nicht  einbilden  mögen,  mit  ihren  Beweisen  zu  siegen, 
und,  ihren  Grundsäzen  über  die  Götter  zufolge,  alles,  was  sie 
wollen,  thun  zu  dürfen.  Darum  habe  ich  Lust  bekommen,  etwas 
jugendlicher  zu  reden.  Wenn  es  uns  auch  nur  etwas  geglükt  ist, 
unsre  Gegner  dahin  zu  bringen,  sich  selbst,  so  wie  sie  sind,  zu 
hassen,  und  die  entgegengesezte  Denkungsart  zu  lieben ;  so  haben 
wir  diese  Einleitung  zu  unsren  Gesezen  vortreflich  angewandt. 

Kl.    Wir  können  es  hoffen.    Wenn  es   aber  auch   nicht  ist; 
so  wird  diese  Untersuchung  dem  Gesezgeber  nie  Schande  machen. 


über  Religion. 

In  allen  Staaten,  deren  Andenken  uns  die  Geschichte  auf- 
bewahrt, finden  wir  religiöse  und  bürgerliche  Einrichtungen  aufs 
innigste  mit  einander  verbunden.  Gleich  interessant  für  den  Ge- 
schichtsforscher und  Philosophen  muss  es  sein,  dem  Ursprung 
dieser  Erscheinung  nachzugehn.  Ohne  Zweifel  liegt  der  Grund 
davon  allein  in  dem  Glauben  an  die  Macht  überirrdischer  Wesen, 
in  den  Erwartungen  und  Besorgnissen,  welche  dieser  Glaube  er- 
regte; die  Menschen,  welche  die  Gesellschaft  schlössen,  mochten 
nun  selbst  zu  sehr  von  diesen  Ideen  erfüllt  sein,  um  nicht  die 
Gottheit  mit  in  ihre  Verfassung  zu  verflechten,  oder  der  Gesez- 
geber  mochte  sich,  bald  aus  edler  menschenfreundlicher  Absicht, 
bald  aus  schlauem  Betrug,  dieses  Mittels  bedienen,  den  Gehorsam 
seiner  Lnterthanen  zu  fesseln.  Vorzüglich  war  diess  Leztere 
häufig  der  Fall.  So  Hess  Moses  den  Gott  seiner  Väter,  Numa  die 
Egeria,  Mahomet  den  heiligen  Geist,  so  die  Inkas  den  Sonnengott 
reden.  Nur  jeder  auf  verschiedne  Art  nach  den  Einsichten  und 
Bedürfnissen  seines  Zeitalters.  ^) 


Handschrift  (22  Quartseiten,  ohne  Titel)  im  Archiv  in  Tegel.  Ebenda  ist 
der  Beginn  einer  Umarheitung  des  Aufsatzes  (y  Quartseiten,  ohne  Titel)  erhalten, 
die  aber  yiur  bis  S.  5/  unsres  Textes  gediehen  ist. 

\)  In  der  Umarbeitung  lautet  der  erste  Absatz:  „In  allen  Staaten,  deren  An- 
denken uns  die  Geschichte  aufbewahrt,  zeigt  sie  uns  Religion  und  Staatsverfassung 
aufs  innigste  mit  einander  verbunden.  Dem  Ursprünge  dieser  Erscheinung  nach- 
zugehen, zu  untersuchen,  wie  die  Sumyne  von  Ideen  und  Etnpßndungen,  durch 
welche  nun  jeder  Einzelne,  zu  Befriedigung  seiner  ihm  eigenthiunlichen  intel- 
lektuellen oder  moralischen  Bedürfnisse,  sich,  seine  Schiksale  und  Erwartungen 
an  mehr  als  endliche  Bande  knüpft,  wie  diese  ein  Mittel  geworden  ist,  allgemein, 


46  2-    über 

In  den  alteren  Staaten  war  die  Religion  unmittelbares  Werk- 
zeug in  den  Händen  des  Herrschers.  Die  Gottheit  hatte  eigent- 
lich alle  Obergewalt,  der  Regent  war  nur  Ausleger  ihrer  Befehle ; 
oder  wo  auch  nicht  auf  diese  Weise  Theokratie  im  strengsten 
Verstände  waltete,  da  musste  doch  jedes  neue  Unternehmen  erst 
der  Prüfung  der  Gottheit  unterworfen  werden.  Sie  beschüzte 
nicht  sowohl  den  Bürger  als  Menschen,  sondern  den  ganzen  Staat, 
den  Bürger  als  Bürger.  Das  Gesez  befahl  nicht  sowohl,  sie  zu 
ehren;  sie  gab  vielmehr  selbst  das  Gesez,  oder  war  doch  Ver- 
iheidigerin  und  Rächerin  desselben.  Ihre  Gunst  gewinnen  oder 
ihren  Zorn  erregen,  hiess  dem  ganzen  Staat  Segen  oder  Verderben 
bereiten.  Alle  V^orsiellungen  von  überirrdischen  Wesen  waren  in 
jenen  rohen  unkultivirten  Zeiten  noch  völlig  anthropomorphistisch ; 
der  Gottesdienst  ein  blosses  Gewebe  von  (]ärimonien.  Auf  diese 
(]ärimonien  stüzte  sich  das  Ansehen  der  Priester;  auf  dem  An- 
sehen der  Priester  beruhte  die  Gewalt  der  Magistratspersonen. 
So  hieng  an  diesem  einzigen  Faden  die   ganze   Staatsverfassung.^) 


und  zugleich  auf  verschieden  Denkeitde  und  verschieden  Empfindende  zu  wirken, 
ynuss  dem  Philosophen,  wie  dem  Geschichtsforscher,  eine  überaus  interessante  Be- 
schäftigung gewähren.  Alle  Gesezgeber  suchen  Triebfedern,  den  Willen  der 
Bürger  mit  dem  Sinn  der  Geseze  übereinstimmend  zu  machen;  und  schon  sehr 
früh  fanden  sie  eine,  mehr  als  jede  andre  wirksame,  in  der  Furcht,  welche  die 
Macht,  in  der  Liebe,  welche  die  Schönheit  und  Güte  überirrdischer  Wesen  einßösst. 
Oft  suchten  sie  nun,  ihr  Ansehn  geradezu  durch  das  Ansehn  der  Götter  zu  ver- 
stärken, oft  nur  durch  religiöse  Ideen  den  Seelen  ihrer  Bürger  die  Stimmung  zu 
geben,  welche  ihr  Endzwek  heischte.  Allein  einfacher,  weniger  künstlich  und 
absichtsvoll  war  der  Gang  in  den  früheren,  weyiiger  kultivirten  Staaten.  Der 
Zorli  der  Gottheit  bringt  Verderbefi  über  das  Volk;  daher  ist  es  Pflicht  des 
Herrschers  zu  sorgen,  dass  Vernachlässigimg  diesen  Zorn  nicht  errege,  sondern 
anhaltender,  wohlgefälliger  Dienst  ihn  in  Seegen  imischaffe.  Eben  diese  Vor- 
stellungsart findet  sich  auch  in  späteren  Zeiten  wieder.    Nur  dass  da  nicht  sowohl 

Verderben  für  das  Volk  und  den  Staat  besorgt  wird,  als  für  den  Alleinherrscher, 
der  —  da  sich  hier  auf  die  sonderbarste  Weise  politische  Ideen  mit  Religions- 
ideen vermischen  —  für  das  Heil  seiner  Völker  bei  der  Gottheit  verantwortlich 
ist;  und  dass  die  Folgen  des  göttlichen  Zorns  mehr  jenseits  als  diesseits  des  Grabes 
gefürchtet  werden.  Wie  nun  bald  diese,  bald  jene  der  hier  angegebenen  Ursachen, 
wie  bald  eine  allein,  bald  mehrere  gemeinschaftlich  wirkten,  verdient  noch  eine 
genauere  Bestimmung  nach  den  verschiednen  Epochen  der  Geschichte.  Denn  mit 
der  grösseren  oder  geringeren  Bildung  ändert  sich  auch  der  Gesichtspunkt,  aus 
welchem  die  Gottheit  betrachtet  wird;  und  hier  kommt  es  nicht  bloss  auf  diesen 
religiösen,  sondern  noch  ausserdem  auf  den  politischen  an,  aus  welchem  man  das 

Verhältniss  des  Herrschers  zu  den  Beherrschten  ansieht." 

\)  Bis  zu  dieser  Stelle  lautet  der  zweite  Absatz  in  der  Umarbeitung  folgender- 


Religion. 


47 


Daher  war  Neuerung  in  Religionssachen  nicht  bloss,  als  üeber- 
tretung  eines  Strafgesezes,  Verbrechen,  sondern  Staatsverbrechen 
im  eigentlichsten  Verstände:  Befolgung  der  gottesdienstlichen  Ge- 
bräuche nicht  Bemühen  den  Göttern  ihre  Verehrer,  sondern  dem 
Staat  seine  Verfassung  zu  erhalten.  Daher  war  Sokrates  und 
Moses  Mendelssohns  Erfüllung  auch  der  eigensinnigsten  Foderungen 
ihrer  Religion  nicht  mitleidige  Schonung   des  Aberglaubens   ihres 


maßen:  „Bei  den  älteren,  roheren  Völkern  entsprang  die  Idee  einer  Gottheit  aus 
iimnittelbarcn  Gefühlen  der  Schwache,  der  Abhängigkeit  von  Schiksal  und  Natur,, 
die  ihre  Phantasie  in  selbstihätige  Wesen  verwandelte,  und  auf  den  Thron  der 
Schöpfung  erhob.  Diese  Wesen  —  liehen  sie  ihnen  auch  andre,  als  menschliche 
Gestalten  —  dachten  sie  sich  inenschlich,  mit  menschlichen  Neigungen  und  Leiden- 
schaften, nur  überlegen  an  Macht  und  Stärke.  Abhängig  von  ihnen  fürchteten 
sie  ihren  Zorn,  flehten  sie  um  ihre  Huld.  So  war  ein  Einfluss,  eine  Oberherr- 
schaft überirrdischer  Wesen  Grimdidee  aller  Nationen,  und  eine  Idee,  die  schon 
vor  aller  Vereinigung  zur  eigentlichen  Gesellschaft  existirte.  Schon  jede  Familie 
brachte  ihre  Götter  in  die  Staatsverbindimg.  Denn  so  erklärt  man  es  ja,  dass 
bei  allen  übrigen  Völkern  des  Alterthums  Vielgötterei,  bei  den  Israeliten  hingegen, 
die  nur  von  Einer  Fam.ilie  herstammten,  auch  nur  Anbetung  Eines  Gottes  herrsc'nte. 
Wie  mm  der  Zwek  der  Staatsvereinigung  überhaupt  Ueberwindung  aller  Hinder- 
nisse, Erreichimg  aller  Vortheile  war,  die  ohne  gemeinschaftliche  Kraft  unüber- 
windlich oder  unerreichbar  geblieben  wären;  so  entstand  jezt  auch  vereintes 
Streben,  die  Gunst  der  Gottheit  durch  gemeinsame  Verehrung  zu  erhalten.  Zu 
den  Familiengöttern  gesellten  sich  Nationalgötter;  gottesdienstliche  National- 
zusammenkünfte entstanden,  und  wurden  durcJi  die  Bequemlichkeit,  dabei  auch 
über  andre  Angelegenheiten  zu  rathschlagen,  durch  die  Neigung  zum  geselligen 
Leben,  und  zu  gemeinschaftlich  J'röhlichem  Genuss  häußger  gemacht.  Den 
Herrschern  im,  Staat  lag  es  ob,  überhaupt  für  das  Wohl  des  Ganzen  zu  sorgen ; 
also  auch  den  Willen  der  Götter  zu  erforschen,  ihm  zu  gehorchen,  oder  kein 
Mittel  zu  verabsäumen,  ihn  nach  den  Wünschen  des  Volks  umzustimmen.  So 
wurde  die  Religion  innigst  in  die  Staatsverfassung  verwebt;  so  war  der  Wille 
der  Gottheit  eigentlich  der  oberste  Herrscher,  der  irrdische  Regent  nur  Ausleger 
desselben.  So  befahl  nicht  sowohl  das  Gesez,  sie  zu  ehren ;  sie  gab  vielmehr  selbst 
das  Gesez,  oder  war  doch  Vertheidigerin  und  Rächerin  desselben.  Zwar  herrschte 
nicht  überall  Theokratie  in  diesem  strengen  Veistande  des  Worts;  aber  immer 
musste  doch  jedes  neue  Enternehmen  erst  der  Prüfung  der  Gottheit  unterworfen 
werden;  immer  musste  ihr  Ausspruch  die  wichtigsten  Unternehmungen  entscheiden, 
ihr  Beifall  die  Wahl  der  Magistratspersonen  bestätigen.  Dadurch  wurden  ihre 
Diener  zugleich  Regierer  des  Staats.  Und  nun  gewann  bald  alles  eine  veränderte 
Gestalt.  Was  anfangs  bloss  frommer  Glaube  gewesen  war,  dessen  bediente  ynan 
sich  nun  bald  aus  Herrschsucht,  bald  aber  auch  aus  der  menschenfreundlichen 
Absicht,  das  rohe,  ungebändigte  Volk  zur  Ordnung  und  Sittlichkeit  zu  führen, 
als  eines  Mittels,  um  den  weniger  aufgeklärten  Theil  der  Nation  dadurch  zu 
leiten.     Nach   und  nach   wurde  nun    die  Staatsverfassung   künstlicher   und   ver- 


48 


2.    Über 


Volks,  sondern  Erfüllung  bei  jenem  der  Bürger-,  bei  diesem  — 
da  Juden  keinen  eignen  Staat  mehr  bilden  —  der  Nationalpflicht.*) 
Daher  war  es  nicht  Intoleranz  der  Athenischen  Richter,  wenn  sie 
Sokrates  zum  Giftbecher  verdammten.  Er  war  Verbrecher  gegen 
den  Staat,  wenn  es  erwiesen  war,  dass  er  den  Altären  ihre 
Opfrer  entzog. 

Die  Gottheiten  der  alten  Völker  waren  ferner  Partikular- 
Gottheiten,  eingeschränkt  auf  die  Gränzen  menschlichen  Eigen- 
thums.  Jede  Gegend,  jede  Stelle  wurde  einem  eignen  Gotte  ge- 
weiht. So  gab  es  Götter  des  Hauses,  der  Familie,  des  Stammes, 
der  Nation ;  Götter  der  einzelnen  Aekker,  Gärten,  Haine,  Quellen, 
Berge  u.  s.  f.  Der  Schuz  dieser  Gottheiten  war  ein  Eigenthum 
der  Bewohner  dieser  Gegenden,  der  Mitglieder  dieser  Gesellschaften ; 
aber  ein  Eigenthum,  das  an  den  Gegenden  und  den  Gesellschaften 
klebte,  das  man  verlor,  wenn  man  über  die  Gränze  des  Landes 
trat,  oder  aufhörte  Mitglied  der  Familie  zu  sein.  Daher  die 
mancherlei  gottesdienstlichen  Feierlichkeiten  bei  Erbauung  von 
Häusern,    Uebertragung    von    Erbschaften,    Uebertritt    von    einer 


wikkelter,  und  je  mehr  Ausbildung  und  Verfeinerung  sie  erhielt,  desto  enger 
wurde  auch  die  Religion  mit  ihr  verbunden;  so  dass  es  nicht  mehr  möglich  war 
jene  anzugreifen,  ohne  zugleich  diese  zu  verlezen."  Der  Rest  des  Absatzes  ein- 
schließlich der  Anmerkung  stimmt  nahezu  wörtlich  zu  unserm  Text:  in  der 
letzteren  heißt  es  statt  „den  Nationalgeist"  „das  Eigenthümliche  des  National- 
geistes und  des  Nationalglaubens" ,  statt  „der  Sitten"  „der  Sitten  und  der  Vor- 
stellungsweise", statt  „für  den  Charakter"  „für  den  Charakter  und  die  Aufklärung" ; 
im  vorletzten  Satz  des  Haupttextes  ist  „Sokrates"  durch  „den  Weltweisen"  ersetzt. 
*)  Diese  Hypothese  —  denn  für  mehr  gebe  ich  es  niclit  aus,  troz  des  zuverlässigen 
Tons,  den  der  Zusammenhang  entschuldigen  mag  —  über  einen  erst  vor  so  wenig 
Jahren  verstorbenen  Mann  *)  mag  auffallend  scheinen.  Aber  immer  kam  mir  eine  solche 
Schonung,  oder  vielmehr  Beförderung  des  rohesten  Aberglaubens  bedenklich,  und  eine 
so  weit  getriebne,  in  dem  Zeitalter,  in  dem  Moses  lebte,  unnöthig  vor.  Auf  der  andren 
Seite  wäre  vielleicht  die  Absicht,  den  Nationalgeist  seines  Volks  nicht  untergehen  zu 
lassen,  eines  so  denkenden  und  scharfsinnigen  Kopfes  nicht  unwürdig.  Wenigstens  muss 
die  Untersuchung :  ob  das  Ineinanderschmelzen  der  Sitten  aller  Nationen ,  das  Hin- 
schwinden alles  Eigenthümlichen  für  den  Charakter  des  ganzen  menschlichen  Geschlechts 
• —  wenn  ich  mich  so  ausdrukken  darf  —  vortheilhaft  sei  oder  nicht  ?  auf  sehr  interes- 
sante Gesichtspunkte  führen,  und   die  Entscheidung  nicht  wenig  zweifelhaft  machen. 

V  Moses  Mendelssohn  war  am  4.  Januar  lySÖ  in  Berlin  gestorben.  In  den 
eigenen  Äußerungen  des  Philosophen  über  seine  innere  Stellung  zum  Judentum 
bietet  sich  für  diese  Hypothese  keinerlei  Anhalt;  vgl.  z.  B.  Gesammelte  Schriften 
S>  39-  355- 


Religion.  ^Q 

Familie  in  die  andre ;  ^)  daher  die  schrekkensvolle  Vorstellung,  die 
man  mit  der  Verbannung  verknüpfte.  Bei  uns  verlässt  der  Ver- 
bannte Weib,  Kinder,  väterlichen  Heerd,  heimischen  Boden,  aber 
immer  bleibt  ihm  noch  Ein  Band  übrig,  das  Band,  das  ihn  an 
seinen  Gott  knüpft.  Nach  jenen  Vorstellungen  zerriss  auch  diess, 
auch  seine  Götter  veriiessen  den  unglüklichen  Vertriebnen,  er  w^ar 
nun  Fremdling  überall,  bei  Göttern  und  Menschen.  Und  wieviel 
Schauderhaftes  muss  selbst  die  Idee  des  Fremdlings  verioren  haben, 
seitdem  die  Vorstellung  eines  allgemeinen  Vaters  und  Sorgers  das 
ganze   Menschengeschlecht   vereint?"-)    Hieraus   ist   nun    auch   be- 

'J  Bis  zu  dieser  Stelle  ist  der  Wortlaut  dieses  Absatzes  in  der  Uynarbeitung 
folgender:  „Jede  einzelne  große  — fwchterregende  oder  wohlthätige —  Wirkung 
der  Natur  wird  von  de??!  Menschen,  der  noch  auf  der  ersten  Stufe  der  Bildung 
steht,  für  die  umnittelbare  Erscheinung  eines  höheren  Wesens  erklärt.  Daher 
sind  die  Gottheiten  aller  unkultiyirten  Nationen,  imd  daher  waren  die  Gottheiten 
der  Alten  insbesondre  Partikular-Gottheiten.  Jede  Gegend,  jede  Stelle  wurde  von 
einem  eignen  Gotte  bewohnt.  In  jedem  Hain,  jeder  Grotte,  bei  jedem  Quell  ver- 
nahmen sie  das  Walten  eines  Unsterblichen.  Ihm  musste  dienen,  wer  die  Gegend 
bewohnen  wollte;  seinen  Schuz  musste  der  Opferrauch  des  Altars  erkaufen.  Da 
man  aber  so  die  Gottheit  sich  innig  verbunden  dachte  mit  dem  Ort,  den  sie  be- 
wohnte, da  man  ferner  sie  verwechselte  mit  dem  Dienst,  den  man  ihr  erwies,  ihr 
Wesen  mit  dem  Bilde,  woj-in  man  sie  verehrte;  so  wurde  nun  wiederum  die 
Gottheit  Eigenthum  der  Sterblichen.  Wie  man  sich  unter  den  Schuz  einer 
Gottheit  begeben  konnte;  ebenso  konnte  man  neue  Gegenden  ihrem  Schuze  weihen. 
Denn  ihr  Bild,  ihr  Dienst  Hess  sich  ja  übertragen.  Dadurch  wurden  nun  die 
Götter  eingeschränkt  auf  die  Gränzen  ynenschlichen  Eigenthwns;  dadurch  ent- 
standen Götter  des  Grundstüks,  des  Hauses,  der  Familie,  des  Sta??imes,  der 
Nation.  Der  Schuz  dieser  Gottheiten  war  eiri  Eigenthum  der  Bewohner  dieser 
Gegenden,  der  Mitglieder  dieser  Gesellschaften ;  aber  ein  Eigenthum,  das  an  den 
Gegenden  und  an  den  Gesellschaften  klebte,  das  man  verlor,  wenn  man  über  die 
Gränze  des  Landes  trat,  oder  aufhörte,  Mitglied  der  Familie  zu  sein."  Das 
Folgende  bis  zu  den  Worten  „bei  Göttern  imd  Menschen"  stimmt  woi-tlich  zu 
imserm   Text. 

^)  Statt  dieses  Satzes  steht  folgendes  in  der  UmarbeitU7ig :  „Daher  das 
Schauderhafte  in  der  Idee  des  Fremdlings  überhaupt.  Die  Vorstellung  eines  all- 
gemeinen Vaters  und  Sorgers  vereinte  noch  nicht  das  ganze  Menschengeschlecht. 
Daher  endlich  das  Bedürfniss  der  Uebertragung  der  Gottheiten,  wenn  man 
Wohnort  oder  Gesellschaft  mit  andren  vertauschte.  Denn  hieraus  entsprangen 
alle  gottesdietistliche  Feierlichkeiten  bei  Erbammg  von  Häusern,  Uebertritt  von 
einer  Familie  in  die  andre,  Uebertragung  von  Erbschaften,  ehe  noch  die  simpli- 
ßcirtere  Form  diese  Uebertragung  in  einen  ScheiyikauJ  verwandelte;  hieraus  dass 
Aeneas  mit  gleich  sorgsamer  Frömmigkeit  seine  Penaten,  als  seinen  Vater  und 
Sohn  den  Flammen  Ilions  entriss."  Der  Rest  des  Absatzes  stimmt  fast  wörtlich 
zu  iinserm  Text.  —  „Tu,  genitor,  cape  sacra  manu  patriosquc  penates"  Vergil, 
Aeneis  2,  yr-j. 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  4 


5©  2.    Über 

greiflich,  wie  alle  älteren  Völker  von  der  Neigung  Proselyten  zu 
machen  frei  sein,  wie  sie  vielmehr  Fremde  von  ihren  Tempeln 
entfernen  mussten.  Der  wohlthätige  Einfluss  der  Nationalgötter 
war  ausschliessendes  Eigenthum.  Man  verlor,  wenn  man  es 
theilte ;  man  raubte,  wenn  man  es  eigenmächtig  an  sich  riss.  Da- 
zu kam,  dass  Theilnahme  an  der  Religion  Theilnahme  am  Bürger- 
recht war.  Man  konnte  also  nur  Proselyten  machen  wollen, 
insofern  man  neue  Bürger  wünschte. 

Die  Religion  der  Alten  war  ein  Theil  ihrer  Staatsverfassung; 
aber  auch  nicht  mehr,  als  das.  Uebrigens  Hess  sie  jedem  Bürger 
unbegränzte  Freiheit,  sezte  ihm  keine  Schranken  weder  in  Absicht 
seiner  Ideen  über  die  Entstehung  des  Weltalls,  über  die  Leitung 
menschlicher  Begebenheiten,  über  seine  Erwartungen  jenseits  des 
Grabes  u.  s.  f.  noch  in  Absicht  seiner  Handlungen;  kurz  weder 
theoretische  noch  praktische  Philosophie  kollidirten  je  mit  der 
Religion.  Denn  auch  die  Handlungen  der  Bürger  bestimmte  sie 
nur,  insofern  die  Geseze  sie  bestimmten,  und  sie  auf  die  Befolgung 
der  Geseze  wachte.^)    Ueberhaupt  forderte  sie  nicht,  als  Werkzeug 


^J  Bis  zu  dieser  Stelle  lautet  dieser  Absatz  in  der  Umarbeitung  so :  „Je  roher 
die  Idee  der  Alten  von  der  Gottheit  war,  desto  mehr  schränkten  sie  ihre  Ver- 
ehrung allein  auf  äußern  Dienst  und  Cärimonie  ein.  Wessen  Opferrauch  vom 
Altar  emporstieg,  war  ihrer  Huld,  so  wie  der,  welcher  ihren  Dienst  vernach- 
lässigte, ihres  Zornes  gewiss.  Zwar  belohnte  sie  den  Guten,  und  bestrafte  den 
Frevler;  aber  ungerechnet,  dass  in  der  Reihe  der  Tugenden  Frömmigkeit  gegen 
die  Götter  den  ersten  Plaz  einnahm,  war  sie  auch  durch  Opfer  imd  Geschenke 
versöhnbar.  Selbst  da  eine  grössere  Aufklärung  herrschend  wurde,  da  die  Philo- 
sophie ihr  Licht  in  seiner  ganzen  Fülle  imd  Schönheit  verbreitete ,  blieben  die 
Religionsideen  in  ihrer  vorigen  Rohheit.  Denn  gleich  anfangs  waren  sie  in  die 
Staatsverfassung  übergegangen,  und  diess  versperrte  jeglicher  Verbesserung  den 
Zugang.  Nur  in  dem  Gange,  den  sie  einmal  genommen  hatten,  fortzuschreiten 
war  es  erlaubt;  man  durfte  die  Dichtimg,  die  darauf  sich  stüzende  Cärimonie 
nicht  umstürzen,  nur  sie  verfeinern,  aufs  höchste  ihr  reinen  wahren  Sinn  unter- 
schieben. Diess  Geschäft  fiel  in  die  Hände  des  Dichters  und  der  Künstler  über- 
haupt, da  gerade  die  gottesdienstlichen  Feste  den  Künsten  ihren  Ursprung  gaben. 
Daher  die  Verschiedenheiten  der  Religion  der  Alten  von  der  iinsren,  dass  bei  uns 
so  vieles  zu  den  Religionslehren  gehört,  was  wir  bei  ihnen  nur  in  dem  Gebiete 
der  Philosophie  finden,  dass  ihre  Religion  nicht,  wie  die  unsrige,  durch  die  Fort- 
schritte der  Philosophie  mehr  Richtigkeit,  sondern  nur  durch  die  Fortschritte  der 
Kunst  mehr  Schönheit  und  Grazie  erhielt,  dass  in  sie  nicht,  wie  in  die  unsrige, 
die  mehr  geläuterte  Vernunft,  sondern  die  mehr  verfeinerte  Einbildungskraft 
übergieng.  Den  Staat  interessirte  die  Religion  nur  als  ein  Theil  seiner  Verfassung, 
die  sich  auf  ihre  Cärimonien  stüzte.  Er  begnügte  sich  also,  diese  unverlezt  zu 
sehn,    sorglos,   ob    die    innere    Ueberzeugung   damit   übereinstimme,   oder   nicht. 


Religion.  c;  i 

den  Bürger  sittlicher  und  dadurch  den  Gesezen  gehorsamer  zu 
machen,  Ueberzeugung;  sondern  bloss,  als  unmittelbares  Triebrad 
in  der  Maschine  des  Staats,  Beobachtung  äusserer  Handlungen. 
Daher  die  unbeschränkte  Denkfreiheit,  die  gränzenlose  Toleranz 
der  Alten,  die  jede  Sekte  duldete,  die  eine  herrschende  Religion 
nicht  anders,  als  wie  eine  eingeführte  Staatsverfassung,  folglich 
nur  in  den  Verhältnissen  des  Bürgers  kannte;  daher  dass  die 
Philosophie  nie  vor  priesterlichen  Aussprüchen  zu  schweigen 
brauchte;  daher  dass  Cicero  als  Consul  den  Rath  der  Augurn 
einholen  musste,  und  als  Privatmann  sich  öffentlich  darüber 
wundern  durfte,  wie  ein  Augur  den  andren  ohne  Lachen  ansehen 
könnte.^)  Hätten  Philosophie  und  Religion  bei  den  Alten  in  der 
Verbindung  gestanden,  in  der  sie  jezt  stehn;^)  so  wäre  schlechter- 
dings alle  Geistesfreiheit,  alle  Kultur  verloren  gegangen,  da  die 
Staatsverfassung  so  unzertrennlich  mit  der  Religion  verknüpft  war. 
Nimmt  man  diese  Eigenthümlichkeiten  der  Religion  der  w^eniger 
kultivirten  Völker  —  die  ich  hier  nur  angeben  konnte,  die  es  aber 
wohl  der  Mühe  werth  wäre,  genauer  durchzugehn,  und  mit  den 
gehörigen  Beweisstellen  zu  belegen  —  zusammen;  so  findet  man 
in  dem  Gebrauch,  der  in  den  alten  Staaten,  und  der  in  unsren 
heutigen  von  der  Religion   gemacht  wird,   eben   den  Unterschied, 

Verfolgte  er  je  irgend  eine  Lehre  der  Philosophie;  so  trieb  ihn  dazu  mehr  Be- 
sorgniss  daraus  entspringender  Vernachlässigung  auch  des  äusseren  Gottesdienstes, 
als  intoleranter  Eifer  gegen  die  Lehre  selbst  an.  Auch  waren  die  Religionslehren 
nicht,  wie  bei  uns,  in  ein  zusammenhängendes  System  gebracht,  das  Meiste  beruhte 
auf  ungewissen,  oft  einander  widersprechenden  Volkssagen,  Ueberlieferungen, 
Erdichtungen  der  Priester,  welche  die  Phantasie  des  Dichters  noch  auf  mannig- 
faltige Art  ausschmükte.  In  dem  ganzen  Reich  des  Denkens  herrschte  noch 
nicht,  wie  bei  uns,  Konsequenz,  Uebersicht  des  Zusammenhanges  aller  Ideen. 
Leicht  blieb  es  daher  unbemerkt,  wenn  auch  die  Untersuchung  auf  Säze  führte, 
deren  Folgen  den  Volksglauben  geradezu  vernichtet  hätten."  Dann  folgen  die 
beiden  nächsten  Sätze  unsres  Textes  bis  zu  den  Worten  „zu  schweigen  brauchte" 
nahezu  wörtlich  (statt  „Philosophie"  ist  „Vernunft"  gesetzt!,  aber  in  urngekehrter 
Reihenfolge,  verbunden  durch  die  in  unserm  Text  schon  zu  Eingang  des  Absatzes 
vorkommenden  Worte:  „dass  theoretische  und  praktische  Philosophie  fast  nie  mit 
der  Religion  kollidirten" ;  die  Schlußwendung  über  Cicero  fehlt. 

y  „Mirabile  videtur,  quod  non  rideat  haruspcx,  cum  haruspiccm  vidcrit"  Cicero, 
De  natura  deorum   /,  7/. 

'')  Hier  folgt  in  der  Umarbeitung  noch :  „hätte  man  Glauben,  und  Glauben 
gewisser  bestimynter  Säze  gefodert,  hätte  tjian  endlich  mit  scharfsinnigem  Eifer 
jeder  Meinung,  die  diesen  Glauben  wankend  zu  machen  drohte,  nachgespürt" ; 
im  übrigen  stimmt  der  Schlusssatz  des  Absatzes  imd  damit  des  ganzen  Fragments 
wörtlich  zu  unserm  Text. 

4* 


£2  2.    über 

welcher  überhaupt  diese  vor  jenen  auszeichnet.  Solange  noch 
allein  Zufall  die  Staaten  schuf  und  Bedürfniss  sie  ausbildete,  suchte 
man  bloss  den  Bürger  zum  gehorchenden  Bürger  zu  zwingen; 
jezt  da  die  Gesezgebung  nach  überdachten  Planen  verfährt,  ist  sie 
bemüht,  ihn  zum  brauchbaren  Bürger  zu  bilden.  Daher  war  auch 
die  Religion  in  jenen  Zeiten  nur  Zwangsmittel,  und  daher  ist  sie 
jezt  Bildungsmittel. 

Sie  ist  also  nicht  mehr  so  innig  in  die  Staatsverfassung  ver- 
webt; diese  könnte  ohne  sie  bestehen,  wenn  die  Bürger  ohne  sie 
höhere  Moralität  und  Bereitwilligkeit  den  Gesezen  zu  gehorchen 
erlangen  könnten.  Abweichung  von  vorgeschriebnen  Religions- 
meinungen ist  nicht  mehr  Umsturz  der  Verfassung,  es  ist  nur 
Uebertretung  der  Geseze  des  Staats.  Diese  Geseze  selbst  gewinnen 
nun  eine  andre  Gestalt.  Da  die  Religion  auf  den  Charakter  wirken 
soll,  so  muss  sie  von  innerer  Ueberzeugung  begleitet  sein.  Ueber- 
zeugung  aber  lässt  sich  nicht  durch  Geseze  hervorbringen  oder 
entreissen.  Wer  also  einmal  von  der  Lehre  des  Staats  abweicht, 
den  bringt  kein  Gesez  wieder  zurük;  das  Gesez  hindert  ihn  nur, 
seine  abweichende  Meinung  weiter  zu  verbreiten.  So  gewinnt  die 
Freiheit  des  Bürgers,  da  die  Bande  zwischen  Religion  und  Staat 
lokkrer,  Religions-  und  Bürgerpflicht  weniger  Eins  sind. 

Unsre  Religion  lehrt  keine  nationale,  sondern  eine  allgemeine 
Gottheit;  ist  Religion  nicht  des  Bürgers,  sondern  des  Menschen. 
Der  Schuz  der  Gottheit  ist  nicht  ausschliessendes  Eigenthum 
einiger  Wenigen;  ist  Geschenk  woran  jeder  Theil  nehmen  kann, 
ohne  dem  andren  etwas  zu  entreissen.  Daher  unsre  Neigung 
Proselyten  zu  machen,  die  durch  die  Hofnung  eines  doppelten 
Gewinnes  erhöht  wird,  einmal  für  den  Neubekehrten,  der  zu  einer 
höheren  Stufe  der  Glükseligkeit  geführt  wird,  dann  für  den  Be- 
kehrer, der  sich  ein  Verdienst  bei  seiner  Gottheit  erwirbt,  die  nun 
um  eine  Zahl  von  Verehrern  reicher  wird. 

Unsre  Religion  ist  für  den  Menschen  als  Menschen  bestimmt, 
bezieht  sich  auf  seine  Sittlichkeit,  seine  individuelle  Glükseligkeit. 
Sie  fordert  also  Ueberzeugung.  Ueberzeugung  ist  ohne  Conse- 
quenz  in  unsrem  ganzen  Gedankensysteme,  ohne  durchgängige 
Uebereinstimmung  nicht  möglich.  Die  Vernunft  darf  also  der 
Religion  nicht  widersprechen;  sie  muss  auf  eben  die  Resultate 
führen,  oder  schweigen,  wo  sie  andre  herausbringen  würde.  So 
sind  Religion  und  Philosophie  bei  uns  innigst  verschwistert;  so 
entsteht  der  Begriff  der  Kczerei,  und  jede  philosophische  Meinung, 


Religion. 


53 


welche  dem  angenommenen  Religionsbegriff  widerspricht,  oder 
nur  auf  ihm  widersprechende  Folgen  führt,  muss  unterdrükt 
werden.  Wenn  also  die  Freiheit  zu  denken  von  jener  Seite  der 
weniger  festen  Verbindung  des  Staats  und  der  Religion  gewann; 
so  verliert  sie  wiederum  und  weit  mehr  von  dieser.  Denn  der 
Zwang  der  positiven  Religion  wird  nunmehr  auf  Dinge  ausgedehnt, 
die  an  sich  gar  keiner  positiven  Bestimmung  fähig  sind.  Schon 
die  Geschichte  zeigt  an  mehr  als  Einem  Beispiele,  wie  schädlich 
die  zu  nahe  Verbindung  von  Gegenständen  der  Untersuchung  mit 
Gegenständen  des  Glaubens  ist.  Da  man  in  den  Zeiten  der  rohesten 
Barbarei  übernatürliche  Wirkungen  durch  Bündnisse  mit  feind- 
seligen Geistern  für  möglich  hielt,  sah'  sich  die  Physik,  und  die 
Naturkunde  überhaupt  in  allen  ihren  Fortschritten  gehemmt.  Da 
man  aus  den  Urkunden  der  Religionslehrer  auch  andre  als  Religions- 
wahrheiten ziehen  zu  können  glaubte,  wurde  Copernikus  als  Kezer 
verdammt.  Und  brauchen  wir  wohl  so  weit  zurükzugehn? 
Würden  nicht  noch  jezt  manche  unsittliche  Handlungen  in  einem 
ganz  andren  Lichte  erscheinen,  wenn  wir  gewohnt  wären,  die 
Moral  in  einem  weniger  genauen  Zusammenhange  mit  der  Religion 
zu  betrachten?  Selbst  unser  Kriminalrecht  würde  eine  gute  An- 
zahl solcher  Beispiele  an  die  Hand  geben,  wenn  man  es  einmal 
in  dieser  Absicht  durchgienge.  Ich  erinnere  jezt  nur  an  Eins,  an 
die  Bestrafung  gewisser  unnatürlicher  Ausschweifungen. 

Verfolgt  man  diese  Betrachtungen  weiter;  so  findet  man,  dass 
jede  Bemühung,  die  positive  Religion  zu  reinigen,  das  heisst  über- 
einstimmender mit  der  Philosophie  und  der  sich  selbst  überlassnen 
Vernunft  zu  machen,  der  Geistesfreiheit  nachtheilig  ist.  Denn  so- 
lange Religionswahrheiten  bloss  auf  Glauben  beruhn,  kann  die 
Vernunft  nur  dann  mit  ihnen  kollidiren,  wenn  sie  diesen  Glauben, 
als  ihren  Grundpfeiler,  umstösst.  Werden  sie  aber  durch  Ver- 
nunftgründe unterstüzt,  so  widerspricht  ihnen  alles,  was  die  Be- 
weiskraft dieser  Gründe  verdächtig  macht.  Kein  rechtgläubiger 
Theologe  wird  es  Kant  zum  Vorwurf  machen,  wenn  er  der  Ver- 
nunft die  Kraft  abspricht,  über  das  Wesen  der  Dinge  an  sich  zu 
entscheiden;  vielmehr  wird  ja  eben  dadurch  der  Glaube,  auf  den 
er  alles  zurükführt,  um  so  nothwendiger.  Schwerlich  aber  v/ird 
man  ihn  bei  dem  philosophischen  Deisten  von  dem  Verdachte  des 
Atheismus  retten  können.  Denn  er  untergräbt  alle  Demonstrationen, 
worauf  dieser  seine  Ueberzeugung  baut.  Sonderbar  scheint  es, 
dass  so  gerade  die  vortreflichsten  Bemühungen   unsrer  aufgeklär- 


f.  j,  2.    Über 

54 

testen  Religionslehrer  der  wahren  Aufklärung  und  den  Fortschritten 
der  Vernunft  sollten  geschadet  haben.  Und  doch  ist  diess  von 
der  einen  Seite  unleugbar,  unleugbar  dass  dadurch  die  religiöse 
Intoleranz  in  eine  weit  drükkendere  philosophische  verwandelt 
worden  ist.  Aber  man  vergesse  auch  ja  nicht  auf  der  andren 
Seite,  dass  wir  es  eben  diesen  Bemühungen  allein  danken,  wenn 
die  positive  Religion  jezt  weniger  positiv  ist,  wenn  die  Fürsten 
gelernt  haben,  da  nicht  Zwang  zu  gebrauchen,  wo  Zwang  recht- 
widrig  und  verderblich  ist,  oder  vielmehr  wenn  die  Menschheit 
zu  aufgeklärt  geworden  ist,  um  das  Joch  länger  zu  erdulden! 

Stellt  sich  der  Gesezgeber  in  den  Gesichtspunkt,  den  ich  ihm 
hier  zu  bestimmen  versucht  habe  —  und  er  muss  sich  in  ihn 
stellen,  wenn  er  nicht  hinter  den  Fortschritten  der  Philosophie 
und  der  Aufklärung  seines  Zeitalters  zurükbleiben  will  —  so  wird 
sein  Unternehmen  auf  der  einen  Seite  erhabner  und  belohnender, 
auf  der  andren  aber  auch  mit  unendlich  mehr  Schwierigkeiten 
verknüpft.  Er  muss  jezt  nicht  bloss  einen  Staat  bilden,  in  dem 
Gerechtigkeit  die  Geseze  aufrecht  erhält,  Fürsorge  die  Bedürfnisse 
und  Bequemlichkeiten  des  Lebens  verschaft,  Wachsamkeit  vor 
äussren  Angriffen  sichert;  sondern  einen  Staat,  in  dem  es  dem 
Bürger  möglich  bleibt,  auch  Mensch  zu  sein,  das  heisst,  seine 
ganze  Bestimmung  als  Mensch  vollkommen  zu  erfüllen ;  muss  ihm 
selbst  zu  Erreichung  dieses  erhabnen  Zweks  durch  alle  Mittel  be- 
hülf  lieh  sein,  die  ihm  zu  Gebote  stehn.  Wenn  Lykurg  und  Solon 
nur  die  Beziehungen  ihrer  Staaten  auf  fremde  erwogen,  sich  nur 
mit  dem  Charakter  ihres  Volkes  bekannt  machten,  und  dann  auf 
Mittel  sannen,  Sicherheit  von  den  Nachbarn  her,  und  Ruhe  daheim 
zu  erhalten ;  so  muss  der  Gesezgeber  jezt  tief  in  das  Studium  des 
Menschen  eingehn,  alles  erforschen,  was  nur  irgend  Bezug  auf 
Menschenbestimmung  und  Menschenglükseligkeit  hat,  und  kein 
Mittel  ungeprüft  lassen,  wodurch  diese  erhöht  oder  vermindert 
wird.  Nicht  als  sollte  er  Erzieher  seines  Volks  sein,  nein  vielmehr 
gerade  in  der  Absicht  um  keine  Einrichtung  zu  treffen,  kein  Mittel 
zu  wählen,  wobei  die  Freiheit  der  eignen,  sich  selbst  gelassnen 
Bildung  leide;  und  doch  auch  auf  der  andren  Seite  nichts  unbe- 
nuzt  zu  lassen,  wodurch  er  im  Stande  ist,  sie  zu  befördern.  Auf 
diesem  Wege  allein  darf  er  hoffen,  das  Problem  aufzulösen,  von 
dem  ich  im  Vorigen  sprach,  das  Problem  zugleich  die  Freiheit  des 
Menschen  mit  dem  Zwange  des  Staats  zu  vereinen.  Je  tiefer  er 
den  Menschen  studirt,  desto  vollständiger  und  befriedigender  wird 


Religion.  ^^ 

die  Auflösung  dieses  Problems  sein;  Je  mehr  er  nur  von  der 
Oberfläche  schöpft,  je  eingeschränkter  seine  Ideen  von  Menschen- 
bestimmung und  Menschenwerth  sind,  je  mehr  er  bei  äussren 
Handlungen  und  Beziehungen,  äussrem  Genuss  und  Entbehren 
stehn  bleibt,  desto  weniger  wird  er  seinen  Endzwek  erreichen. 

Er  muss  das  Ideal  des  moralischen  Menschen  aufsuchen,  die 
verhältnissmässige  Stimmung  aller  Seelenfähigkeiten,  die  Mischung 
von  Erkenntniss,  Empfindung  und  Neigung,  die  den  vollsten, 
reinsten,  dauerndsten  Genuss  gewährt,  und  zugleich  die  schnellsten 
Fortschritte  zu  höherer  Vollkommenheit  möglich  macht.  Er  darf 
daher  nur  auf  das  hinsehn,  was  in  sich  fort  arbeitet  und  wirkt, 
auf  das  im  strengsten  Verstände  Moralische,  auf  der  Seele  inneres 
Sein.  Denn  darin,  dass  diess  rein  Geistige  zum  ersten  Zwek  ge- 
macht, dass  alles  Cebrige  nur  in  verschiednem  Verhältniss,  nach 
Verschiedenheit  seiner  Beschaffenheit,  darauf  bezogen  wird,  besteht 
eigentlich  die  w^ahre  Tugend  und  moralische  Vollkommenheit. 

Wenn  wir  uns  Wesen  denken,  körperlos  und  frei  von  allen 
sinnlichen  Eindrükken  und  Begierden,  so  würde  das  Leben  und 
Weben  dieser  Wesen  allein  in  Herv'orbringung  von  Ideen  bestehn. 
Ihre  Vollkommenheit,  wie  ihre  Glükseligkeit  würde  auf  der 
Klarheit  und  der  erhebenden  Fülle  dieser  Ideen  beruhen.  Ihre 
Beschaffenheit  und  die  Beschaffenheit  der  Dinge  um  sie  her,  ihren 
Ursprung,  ihre  Abhängigkeit  oder  Unabhängigkeit  von  lebendigen 
oder  leblosen  Naturen,  die  Möglichkeit  der  Fortdauer  ihres  Daseins 
werden  sie  zu  erspähen  suchen,  würden  bemüht  sein,  das  Ziel 
festzusezen,  nach  dem  ihre  wachsende  Vollkommenheit  hin  arbeiten, 
den  Weg  zu  entdekken,  auf  dem  sie  fortschreiten  müsste.  In 
allen  diesen  Untersuchungen  würden  sie  die  höchsten  Beziehungs- 
punkte wählen,  alle  Ideen  bis  in  die  feinsten  Nuancen  verfolgen; 
überall  verbreitetes  Licht  und  durchgängige  Harmonie  würden  die 
lezten  Zwekke  ihres  Strebens  sein.  Aber  sie  würden  nicht  stehen 
bleiben  bei  sich  und  der  Eingeschränktheit  ihres  Gesichtskreises, 
sie  würden  übergehn  auf  alle  gleichartige  Wesen  um  sie  her, 
sich  zu  eigen  machen,  was  sie  in  ihnen  fänden,  ihnen  geben,  was 
ihnen  noch  mangelte.  So  würde  sich  nach  und  nach  in  ihnen 
die  Idee  einer  Harmonie  aller  Geister  bilden,  so  würden  sie  sich 
nach  und  nach  ein  Ideal  aller  geistigen  Vollkommenheit  schaffen, 
und  dahin  gelangen,  sich  und  alle  übrige  Wesen  nur  als  ebenso- 
viel Abdrükke  einzelner  Theile  dieses  Ideals  zu  betrachten.  Je 
mehr  sie  sich  diese  Vorstellungsart  zu  eigen  machten,  desto  höher 


56 


2.    Über 


würde  ihre  Vollkommenheit  wachsen ;  je  weniger  sie  bloss  objektive 
Idee  des  Verstandes  wäre,  je  inniger  sie  sie  in  ihre  Individualität 
verwebt  hätten,  je  stärker  sie  in  ihnen  die  Bewegung  hen^orbrächte, 
das  Gefühl  des  Mangels,  die  Sehnsucht  den  Mangel  zu  erfüllen,  die 
wir  Begierde  nennen,  je  mehr  Leichtigkeit  sie  besässen,  diese 
Begierde  zu  stillen,  desto  gränzenloser  würde  ihre  Glükseligkeit  sein. 

Denken  wir  uns  auf  der  andren  Seite  Geschöpfe,  bloss  be- 
stimmt zu  sinnlichem  Genuss,  jeder  unkörperlichen  Vorstellung 
unfähig;  so  werden  wir  diesen,  da  in  ihnen  alle  Möglichkeit  eigner 
Wahl,  EntschUessung  und  Freiheit  verschwindet,  innere  Voll- 
kommenheit nie,  Glükseligkeit  nach  dem  Verhältniss  der  Innigkeit, 
Dauer,  und  Mannigfaltigkeit   ihres  Genusses   zuschreiben   können. 

In  dem  Menschen  ist  beides  mit  einander  vereint;  er  ist   auf 
der   einen   Seite   sinnliches    und    geniessendes    Geschöpf,    auf   der 
andren  denkendes  und  schaffendes  Wesen.     Aber  es  giebt  in  ihm 
noch   ein  Drittes,   oder  vielmehr  es   giebt   eine  Beziehung   dieser 
beiden  Naturen  auf  einander,  wodurch   sie   mit   einander  vereint 
werden.    Ich  will   hier  von   der  Fähigkeit  reden,   sinnliche  Vor- 
stellungen  mit   aussersinnlichen    Ideen   zu   verknüpfen,    aus    den 
sinnlichen  Eindrükken  allgemeine  Ideen  zu  ziehn,  die  nicht  mehr 
sinnlich  sind,  die  Sinnenwelt  als  ein  Zeichen  der  unsinnlichen  an- 
zusehn,   und   aussersinnlichen  Gegenständen   die   Hülle   sinnlicher 
Bilder  zu  leihen.    Es  fehlt  der  Sprache  an  einem  eignen  Ausdruk 
für  diese  ganze  Fähigkeit  überhaupt.    Aesthetisches   Gefühl 
drükt  einen  Theil  davon  aus,  aber  es   bezeichnet   mehr   das  Ver- 
mögen, in  dem  Verhältnisse  sinnlicher  Eindrükke  zu  einander  ge- 
wisse Allgemeinheiten   zu    bemerken,   Allgemeinheiten    nehmlich 
der  Harmonie   und   Symmetrie;   indess  sei   es   mir   erlaubt   diess 
Wort    hier    in    ausgedehnterer    Bedeutung    zu    nehmen.      Dieser 
Fähigkeit  danken   wir   alle  Empfindung   des  Schönen,   desjenigen 
Verhältnisses  des  Mannigfaltigen,  das  weder  zu  einfach  ist,  um  die 
Seele  ganz   unbeschäftigt  zu   lassen,  noch   zu   verwikkelt,  um   sie 
zu   ermüden.     Durch   sie   erhalten   wir   unsinnliche  Vorstellungen 
durch  sinnliche  Gegenstände.     Ich  führe  hier  als  ein  Beispiel  nur 
die   Physiognomik   an,   die   aber  viel    weiter    ausgedehnt   werden 
könnte,  zwar  nicht  insofern  die  Bildung   körperlicher  Theile   von 
unkörperlichen  Beschaffenheiten  abhängt;   aber  doch  insofern   als 
körperliche  Gestalten  überhaupt  wegen  gewisser  allgemeiner  Aehn- 
lichkeiten  an  unsinnliche  Ideen  erinnern.     Durch  sie  endlich  stellen 
wir   unsinnliche    Gegenstände   sinnlich    dar   durch    Bilder,   Töne, 


Religion.  ^"7 

oder  Gebehrden.  Die  wehre  Ausführung  der  Art,  wie  das  ganze 
Geschäft  der  Bezeichnung  aussersinnlicher  Ideen  vor  sich  geht, 
wie  die  ersten  Zeichen  natürliche  sind,  und  wie  erst  aus  ihnen 
willivührliche  entspringen,  so  interessant  sie  auch  gemacht  werden 
könnte,  gehört  nicht  hieher.  Die  Seelenfähigkeit,  welche  uns 
vorzüglich  zu  dieser  Verknüpfung  des  Sinnlichen  mit  dem  Un- 
sinnlichen dient,  ist  die  Einbildungskraft.  Sie  gewähn  uns  da- 
durch einen  sehr  mannigfaltigen  Xuzen.  Der  sinnliche  Genuss 
^ärd  dadurch  verfeint,  veredelt,  und  zugleich  verstärkt.  Denn  es 
gesellen  sich  eine  Menge  andrer  Ideen  zu  ihm,  welche  der  Seele 
eine  befriedigendere  Fülle  gewähren.  Alle  unsinnliche  Vorstel- 
lungen werden  lebhafter,  die  Neigungen,  welche  sie  erregen, 
stärker,  die  Begierde,  sie  zu  realisiren,  w^rd  heftiger  durch  das 
sinnliche  Bild,  in  das  man  sie  hüllt.  Denn  gerade  unsre  ersten 
und  heftigsten  Begierden  sind  ursprünglich  sinnlich. 

Aus  der  Betrachtung  dieser  beiden  Seiten  der  Seele,  der  sinn- 
lichen Begierde  und  der  bloss  geistigen  Denkkraft  und  des  Zu- 
sammenhanges, in  dem  diese  beide  mit  einander  stehn,  müssen 
alle  Grundsäze  der  Moral  fliessen.  Denn  die  Moral  muss  das 
Verhältniss  bestimmen,  welches  diese  beiden  Seiten  gegen  ein- 
ander haben  müssen. 

Sehr  viel  hängt  ab  von  der  sinnlichen  Begierde.  Sie  muss 
von  keiner  Seite  ganz  erstikt.  sondern  vielmehr,  nur  nach  Ver- 
schiedenheit der  Charaktere,  genährt  werden.  Heftigkeit  der  sinn- 
lichen Begierde  ist  schon  an  sich  Zeichen  der  Kraft  der  Seele,  so 
wie  ein  Charakter  wenig  verspricht,  in  dem  auch  ursprünglich 
die  sinnliche  Begierde  schläft.  Denn  wenn,  nach  Piatos  schöner 
Dichtung,  die  Dürftigkeit  die  Mutter  der  Begierde  ist;\)  so  ist  ihr 
Vater  der  Ueberfluss.  Die  sinnliche  Begierde  bringt  Leben  und 
Strebekraft  in  die  Seele;  unbefriedigt  macht  sie  thätig,  zur  An- 
legung von  Planen  erfindsam.  muthig  zur  Ausübung,  befriedigt 
befördert  sie  ein  leichtes,  ungehindertes  Ideenspiel.  Ueberhaupt 
bringt  sie  alle  Vori,tellungen  in  grössere  und  mannigfaltigere  Be- 
wegung, zeigt  neue  x\nsichten,  führt  auf  neue,  vorher  unbemerkt 
gebliebne  Seiten;  ungerechnet  wie  die  verschiedene  Art  ihrer  Be- 
friedigung auf  den  Körper  und  die  Organisation,  und  diess  wieder 
auf  eine  Weise,  die    uns   freilich    nur   in   den  Resultaten   sichtbar 


V  Der  Mj^hus  von  der  Erzeugung  des  "Eqcos  durch  den  lU^oi   und  die 
ITevta  wird  in  Piatons  Symposion  S.  'Mja  erzählt. 


58 


über 


wird,  auf  die  Seele  zurükwirkt.  Aber  auf  der  andren  Seite  er- 
fordert auch  die  sinnliche  Begierde  die  grosseste  Vorsicht.  Denn 
wenn  sie  die  Oberhand  gewinnt,  wenn  sie  von  untergeordnetem 
Mittel,  was  sie  immer  bleiben  sollte,  Zwek  wird;  so  vernichtet  sie 
jede  bessere  Kraft  der  Seele,  und  stumpft  vorzüglich  alles  Gefühl, 
selbst  des  sinnlich  Schönen  ab.  Unter  den  sinnlichen  Begierden 
giebt  es  schwächere  und  heftigere;  gränzen  einige  mehr,  andre 
weniger  an  das  Unsinnliche.  Ihr  wohlthätiger  Einfluss,  aber  auch 
die  damit  verbundne  Gefahr  vv^ächst  immer  im  Verhältnisse  ihrer 
Heftigkeit  und  ihrer  Verwandtschaft  mit  dem  Unsinnlichen.  Daher 
muss  unter  allen  auf  der  einen  Seite  am  meisten  gehegt,  auf  der 
andren  am  sorgsamsten  bewacht  werden  die  Begierde,  um  wieder 
mit  Plato  zu  reden,  das  Schöne  im  Schönen  zu  erzeugen.  ^) 

Ausbildung  und  Verfeinerung  muss  das  bloss  sinnliche  Gefühl 
erhalten  durch  das  Aesthetische.  Hier  beginnt  das  Gebiet  der 
Kunst,  und  ihr  Einfluss  auf  Bildung  und  Moralität.  Nichts  ist 
von  so  ausgebreiteter  Wirkung  auf  den  ganzen  Charakter,  als  der 
Ausdruk  des  Unsinnlichen  im  Sinnlichen,  des  Erhabnen,  des 
Einfachen,  des  Schönen  in  allen  Produkten  der  Kunst,  die  uns 
umgeben.  Das,  was  wir  Geschmak  nennen,  bringt  in  alle  unsre, 
auch  bloss  geistigen  Empfindungen  und  Neigungen  so  etwas  Ge- 
mässigtes, Gehaltnes,  Harmonisches,  auf  Einen  Punkt  hin  Ge- 
richtetes. Wo  dieser  Geschmak  fehlt,  da  ist  die  sinnliche  Begierde 
roh  und  ungebändigt,  da  ist  jede  andre  Geisteskultur  todt  und 
unfruchtbar,  da  haben  selbst  wissenschaftliche  Untersuchungen 
vielleicht  Scharfsinn  und  Tiefsinn,  aber  nicht  Feinheit,  nicht 
Politur,  nicht  Fruchtbarkeit  in  der  Anwendung.  Das  Gefühl  des 
Schönen  zu  erzeugen,  zu  nähren  ist  Bestimmung  der  Kunst.  So 
ist  der  Zwek  aller  Kunst  moralisch  im  höchsten  Verstände  des 
Worts.  Oft  hat  man  diesen  Saz  misverstanden,  geglaubt,  jedes 
Produkt  der  Kunst  müsste  darum  irgend  eine  Lehre  einschärfen, 
irgend  eine  Empfindung  rege  machen,  die  unmittelbar  auf  tugend- 
hafte Handlungen  führte;  jedes  Produkt,  das  diesen  Zwek  nicht 
beabsichtet,  unnüz,  das  ihm  sogar  entgegenzuarbeiten  scheint,  weil 
es  vielleicht  eine  Handlung,  die  wir,  unsrer  Lage  gemäss,  nicht 
für  tugendhaft  halten,  von  reizenden  Seiten  zeigt,  schädlich  ge- 
nannt.    Allein    das    heisst    die   Kunst   in   zu    enge    Gränzen    ein- 


^J  ,^£!(ni  yoLQ,  co  Sojy.^arss,  ly»?,  ov  rov  y.akov  6  f^cDS,  (ös  av  oiei.    dXXd  iL  u^v; 
rrjg  yEvvi,os(os  aal  rov  tÖxov  sv  tw  xalcö"  Platon,  Symposion  S.  2o6e. 


Religion.  ^g 

schränken,  und  dennoch  den  Zwek  der  wahren  sittlichen  Bildung 
verfehlen.  Der  Grund  dieses  Irrthums  liegt  darin,  dass  man  zu 
unmittelbar  wirken,  unmittelbar  gute  Gesinnungen,  gute  Hand- 
lungen hen^orbringen ,  nicht  bloss  zur  eignen  Hen^orbringung 
vorbereiten  will.  Diess  thut  der  Künstler,  wenn  er  die  Idee  des 
Schönen  überall  verbreitet,  und  sie  allein  bestimmt  ihr  daher 
auch  ihre  Gränzen.  Doch  muss  auch  die  Darstellung  des  sinnlich 
Schönen  nie  ein  Uebergewicht  in  der  Seele  gewinnen,  muss  dem 
reinen,  unvermischt  Geistigen  immer  untergeordnet  bleiben. 
Sonst  bringt  sie  nicht  Wärme  des  Gefühls,  sondern  ein  Feuer 
hervor,  das  eben  so  schnell  wieder  verlischt,  als  es  aufloderte. 
Dann  muss  das  Sinnliche  nur  immer  als  Zeichen  des  Unsinnlichen 
genommen,  nicht  beides  mit  einander  verwechselt,  nicht  auf  jenes 
angewandt  werden,  was  nur  auf  dieses  passt.  So  schwärmt  die 
Art  der  Liebe,  die  wohl  nur  die  platonisch  nannten,  denen  es  an 
Sinn  fehlte,  Piatos  erhabne  Ideen  zu  fassen. 

Ich  komme  nun  zu  dem,  was  den  Menschen  eigentlich  zum 
Menschen,  zum  denkenden  und  wollenden  Wesen  macht,  zu  seiner 
geistigen  Natur.  A^rmöge  dieser  gränzt  sein  Dasein  an  das  Dasein 
der  Wesen,  die  wir  uns  frei  denken  von  den  einschränkenden 
Fesseln  des  Körpers.  Wie  sie  kann  er  in  Ideen  wirken,  sich  ein 
Ideal  reiner,  unvermischter  geistiger  Vollkommenheit  schaffen,  und 
sich  und  andre  diesem  Ideale  näher  bringen,  ^^on  der  einen  Seite 
an  die  Sinnlichkeit  gebunden,  da  sie  sich  nur  in  ihr  darzustellen, 
mitzutheilen,  überhaupt  zu  äussern  vermag,  ist  diese  geistige  Natur 
von  der  andren  Seite  unabhängig  und  frei.  Allen  sinnlichen 
Trieben,  allen  reizenden  Bildern  der  Einbildungskraft  entgegen 
vermag  sie  Ideen  zu  realisiren,  welche  die  ruhige,  kalte  Ueber- 
legung  für  gut  erkennt.  Diess  Vermögen  der  Seele,  der  reinen 
Idee  des  Guten  gemäss,  Vollkommenheit  in  und  um  uns  zu  ver- 
breiten, Dasein,  Wirken  und  Glükseligkeit  überall  zu  schaffen  und 
zu  erhalten,  nennen  wir  moralische  Stärke,  wenn  die  Neigung 
ihm  widerspricht,  moralische  Güte,  moralisches  Gefühl,  wenn  dem 
Willen  die  Neigung  die  Hand  bietet.  Durch  sie  allein  erlangt  der 
Mensch  wahre  Würde.  Denn  sie  ist  mit  keinem  andren  Gute 
vergleichbar,  da  jedes  andre  Gut  durch  sie  erst  hervorgebracht, 
oder  doch  durch  sie  erst  des  Wunsches  werth  gemacht  wird. 
Durch  sie  wahre  Glükseligkeit.  Denn  durch  sie  wird  die  Idee  der 
Vollkommenheit,  die  an  sich  so  reich  und  gross,  so  füllend  und 
erhebend  ist,  auf  das  innigste  mit  seiner  Individualität  verbunden. 


6o  2.    über 

Es  schwindet  also  die  Leere,  welche  das  Leben  wahrhaft  elend 
macht.  Durch  sie  trägt  er  die  Schiksale  leicht,  in  die  ihn  seine 
Abhängigkeit  von  den  äussren  Dingen  um  ihn  her  verwikkelt. 
Denn  sie  lehrt  ihn  alle  seine  Gesichtspunkte  in  sich  und  sein 
inneres  Sein  zurülvzuziehn,  und  so  ist  ihm  jede  Lage  —  kummer- 
voll, oder  freudig  —  Veranlassung  seiner  Seele  einen  erhöheten 
Grad,  oder  eine  neue  Seite  der  Bildung  zu  verschaffen.  Durch 
sie  wird  er  in  das  seligste  Verhältniss  mit  andren  gesezt.  Denn 
er  sucht  in  ihnen  eben  die  geistige  Vollkommenheit,  die  er  in  sich 
hervorzubringen  strebt,  und  überall  wo  er  sie  findet,  da  glaubt  er 
sich  verbunden,  verschwistert.  Eins.  So  entsteht  das  Gefühl  der 
Freundschaft  und  Liebe.  Er  fühlt  seine  eigne  Vollkommenheit 
höher,  voller,  inniger,  wenn  er  sie  im  andren  erblikt,  er  geht  aus 
sich  heraus,  fliesst  in  den  andren  über,  und  gelangt  endlich  zu 
dem  erhebendsten  und  beseligendsten  aller  Gefühle,  zu  dem  Ge- 
fühle sich,  alles  eigne  Geniessen  und  Wirken  dahinzugehen  für 
fremdes  Wohl.  Je  reiner  und  lautrer  diess  Gefühl  ist,  je  unver- 
mischter  mit  Bildern  der  Sinnlichkeit,  desto  höhere  Wonne  lässt 
es  geniessen;  denn  desto  mehr  beruht  es  auf  feinen  und  tief 
empfundnen  Ideen,  welche  in  die  ganze  Seele  eingreifen,  und  auf 
die  ganze  Dauer  der  Existenz  wirksam  sind. 

Sinnlichkeit,  Einbildungslo-aft ,  Stärke  des  Willens  sind  nur 
Kraft  der  Her\''orbringung,  Stoff  des  Genusses ;  es  fehlt  ihnen  noch 
an  dem,  was  ihnen  die  Richtung  geben,  das  Maass  und  die  Art 
ihres  Wirkens  bestimmen  muss.  Diess  ist  das  Geschäft  der 
leitenden  Vernunft.  Auf  ihr  beruht  eigentlich  alle  wahre  Voll- 
kommenheit und  Glükseligkeit  des  denkenden  Menschen.  Denn 
sie  ordnet,  wählt  Zwek  und  Mittel;  allen  übrigen  Kräften  bleibt 
nur  die  Ausführung  überlassen.  Ich  verstehe  aber  hier  unter  der 
Vernunft  das  ganze  intellektuelle  Vermögen  des  Menschen,  seine 
ganze  Fähigkeit  Ideen  aufzufassen,  seis  durch  Beobachtung  der 
Sinne,  oder  durch  das  Anstrengen  der  Seele  auf  der  Dinge  innre 
Beschaffenheiten ;  und  die  aufgefassten  Ideen  zu  verarbeiten  durch 
Vergleichung,  Verknüpfung  und  Trennung.  Je  mehr  diese  Fähig- 
keit ervv^itert  und  gestärkt  wird,  je  mehr  Genauigkeit  der  Beob- 
achtungs-,  je  mehr  Feinheit  der  Untersuchungsgeist  erhält,  von  je 
höheren  Gesichtspunkten  er  ausgeht,  je  tiefer  er  in  das  Wesen 
der  Ideen  eindringt;  desto  höher  steigt  der  Grad  der  Vollkommen- 
heit und  Glükseligkeit.  Denn  desto  richtiger  wird  der  Gang  aller 
Seelenfähigkeiten  geleitet,  desto  mannigfaltigere  Seiten  werden  an 


Religion.  ßi 

den  Gegenständen  entdekt,  desto  inniger  wird  der  Zusammenhang 
der  Ideen;  und  Fülle  der  Ideen  und  Innigkeit  ihres  Zusammen- 
hanges ist  doch  das,  was  den  Grad  alles  intellektuellen  Genusses 
bestimmt. 

So  wären  Lebhaftigkeit  der  Sinnlichkeit,  Feuer  der  Einbildungs- 
kraft, Wärme  des  moralischen  Gefühls,  Stärke  des  Willens,  alle 
geleitet  und  beherrscht  durch  die  Kraft  der  prüfenden  Vernunft, 
der  Charakter  des  vollendeten  Menschen.  So  beruhte  Tugend  auf 
dem  richtigen  Gleichgewichte  aller  Seelenfähigkeiten;  so  könnte 
man  keiner  absolute,  jeder  nur  relative  Gränzen  bestimmen.  Ich 
glaube,  dass  dieser  Gesichtspunkt,  diese  Vorstellungsart  in  der 
Moral  von  der  äussersten  Wichtigkeit  ist.  Durch  die  äusseren 
häuslichen  und  politischen  Lagen,  worin  man  lebt,  durch  die 
äusseren  Folgen  der  Handlungen,  die  man  täglich  bemerkt,  wird 
man  zu  sehr  darauf  geleitet,  Sittlichkeit  und  Unsittlichkeit  auf  ge- 
wisse Handlungen  und  gewdsse  Gesinnungen  einzuschränken,  ver- 
gisst  man  zu  sehr  auf  den  ganzen  Zusammenhang  der  Ideen  und 
Empfindungen  zu  achten.  So  unrichtig  es  nun  auch  sein  würde, 
diese  äusseren  Lagen  und  Umstände  zu  übersehn,  so  thöricht,  bei 
der  Bestimmung  unsrer  Art  zu  wirken  das  nicht  in  i\.nschlag  zu 
bringen,  worin  und  w^orauf  wir  wirken  müssen;  so  kann  die 
Grundlage  aller  Moral  doch  nur  aus  dem  Studium  des  Menschen 
fliessen,  wie  er  an  sich  ist,  ohne  Rüksicht  auf  gewisse  äussre 
Beziehungen  oder  Verhältnisse.  Die  besondren  Anwendungen  auf 
bestimmte  individuelle  Lagen  müssen  sich  als  blosse  Folgerungen 
daraus  leicht  von  selbst  ergeben.  Vorzüglich  wichtig  ist  dieser 
Gesichtspunkt  wohl  in  der  Wahl  der  Mittel  zur  moralischen 
Bildung.  Bloss  gewisse  Handlungen,  Gesinnungen  hen^orzubringen 
giebt  es  sehr  viele  Wege,  von  welchen  doch  keiner  zur  wahren 
moralischen  Vollkommenheit  führt.  Sinnliche  Antriebe  zur  Be- 
gehung gewisser  Handlungen,  oder  Xothwendigkeit  sie  zu  unter- 
lassen bringen  Gewohnheit  hen'or;  durch  die  Gewohnheit  wird 
das  Vergnügen,  das  anfangs  nur  mit  jenen  Antrieben  verbunden 
war,  auf  die  Handlung  selbst  übergetragen,  oder  die  Neigung, 
welche  anfangs  nur  vor  der  Xothwendigkeit  schwieg,  gänzlich  er- 
stikt ;  so  wird  der  Mensch  zu  tugendhaften  Handlungen,  gewisser- 
maassen  auch  zu  tugendhaften  Gesinnungen  geleitet.  Allein  die 
Kraft  seiner  Seele  ward  dadurch  nicht  erhöht;  weder  seine  Ideen 
über  seine  Bestimmung  und  seinen  Werth  erhalten  dadurch  mehr 
Aufklärung,  noch  sein  Wille  mehr  Kraft,  die  herrschende  Neigung 


62  2.    über 

ZU  besiegen;  an  wahrer  eigentlicher  Vollkommenheit  gewinnt  er 
folglich  nichts.  Wer  also  Menschen  bilden,  nicht  zu  äussren 
Zwekken  ziehn  will,  wird  sich  dieser  Mittel  nie  bedienen.  Ich 
habe  vielleicht  in  der  Folge  dieses  Aufsazes  noch  Gelegenheit,  auf 
diesen  Punkt  zurükzukommen,  der  in  der  Anwendung  auf  Er- 
ziehung und  Gesezgebung  in  mehr  als  Einer  Rüksicht  wichtig 
ist.  Auch  bei  der  Beurtheilung  des  Werths  menschlicher  Hand- 
lungen sollte  man  den  hier  angegebnen  Gesichtspunkt  nicht  ver- 
nachlässigen. Man  redet  immer  von  einzelnen  Tugenden  und 
Lastern,  und  doch  würde  es  sehr  schwer  werden,  nur  Eine  einzige 
bestimmte  Tugend  anzugeben,  die  überall  unter  allen  Umständen 
und  bei  jedem  Charakter  Tugend  wäre.  Sittlichkeit  oder  Unsitt- 
lichkeit  ist  ja  nicht  Eigenschaft  einer  Handlung,  sondern  allein  des 
handlenden  Subjekts.  Schon  die  Alten  —  die  vielleicht  darum  in 
allem,  was  Moral  und  sittliche  Bildung  angeht,  unsre  neuere  Philo- 
sophie übertreffen,  weil  sie  allein  aus  der  Quelle  der  Erfahrung 
und  Beobachtung  schöpften,  und  auch  mehr  Gelegenheit  und 
nähere  Veranlassung  hatten,  den  Menschen  zu  studiren  —  wieder- 
holen es  oft,  dass  keine  Handlung  an  sich  weder  gut  noch  böse 
ist.^)  Alles  kommt  einzig  auf  die  Verschiedenheit  des  Charakters, 
und  nicht  bloss  darauf,  sondern  auch  auf  die  Verschiedenheit  der 
Stimmung  der  Seele  in  den  verschiednen  Epochen  des  Lebens 
an;  und  man  sollte  nie  eher  eine  Handlung  beurtheilen,  ehe  man 
nicht  die  physischen,  intellektuellen,  und  moralischen  Fähigkeiten 
und  Bedürfnisse  des  Handlenden  genau  geprüft  hätte.  Dass  indess 
dieser  Maasstab  nur  da  wichtig  ist,  wo  es  auf  Bestimmung  des 
innren  moralischen  Werthes  ankommt,  nicht  da,  wo  man  ganz 
andre,  vielleicht  gar  äussre  Endzwekke  bcabsichtet,  und  dass  es 
Allgemeinheiten  von  Fällen  giebt,  die  meistentheils  hohe  oder  ge- 
ringe moralische  Vollkommenheit  andeuten,  bedarf  wohl  nicht  erst 
einer  Erinnerung. 

Was  ich  hier  von  einzelnen  Menschen  gesagt  habe,  leidet  auch 
auf  ganze  Nationen  Anwendung.  Die  verschiednen  Stufen  ihrer 
Kultur  müssen  nach  den  verschiednen  Seelenfähigkeiten  beurtheilt 
werden,  welche  sich  in  ihnen  vorzüglich  ausgebildet  haben.  Auf 
der  niedrigsten  steht  der  rohe   unkultivirte  Wilde,   der   nur  sinn- 

y  „näaa  yd^  Tioä^is  eoS'  eyjf  avr^  if  eavr^s  TTQairofiivr]  ovze  xalfi  ovre 
aiaiQÖ."  Platon,  Symposion  S.  iSoe;  eine  Anzahl  andrer  sinnv er wayiter  Stellen  aus 
den  Alten  giebt  Hiig  in  der  Anmerkung  zu  dieser  Stelle  in  seiner  Ausgabe  des 
Dialogs. 


Religion.  ß^ 

liehe  Begierde  und  sinnliches  Vergnügen  kennt,  dem  wir,  wenn 
Tugend  moralische  Vollkommenheit  ist,  nie  Tugend  zuschreiben 
können,  den  wir  aber  tugendhaft  nennen,  wenn  Klima,  Bedürf- 
nisse, äussere  Umstände  überhaupt  von  der  einen,  Rohheit  und 
Unwissenheit  von  der  andren  Seite  eben  das  in  ihm  bewirken, 
was  sonst  nur  Wirkung  wahrer  Tugend  ist.  Von  da  bis  zur 
moralischen  Bildung  ist  eine  unüberspringbare  Kluft,  zu  welcher 
nur  die  ästhetische  den  Uebergang  bahnen  kann.  Aus  diesem 
Gesichtspunkt  muss  der  Luxus  angesehen  werden.  Solange  er 
mit  der  wahren  Kunst  gleichen  Schritt  hält,  ist  er  wohlthätig,  und 
muss  —  den  Fall  ausgenommen,  wo  besondre  politische  Lagen 
den  Verlust  andrer  noch  wichtigerer  Vortheile  fürchten  lassen  — 
befördert  werden.  Wo  er  aber  über  die  Gränzen  der  Kunst  und 
das  Gebiet  des  Schönen  hinaus  schweift,  da  fängt  er  an,  auch  dem 
Charakter  der  Nation  schädlich  zu  werden.  Nach  diesen  Grund- 
säzen  muss  der  Werth  der  Nationen  und  Zeitalter  gegen  einander 
bestimmt  werden;  nach  ihnen  Hesse  sich  entscheiden,  ob  unser 
Jahrhundert  in  der  That  auf  einen  Vorzug  an  wahrer  Kultur  An- 
spruch machen  darf?  Vorzüglich  können  zu  einer  solchen  Ver- 
gleichung  gewisse  Neigungen  und  Leidenschaften  dienen,  welche 
die  rohesten  Völker  mit  den  kultivirtesten  Nationen  gemein  haben. 
Von  dieser  Art  ist  die  Liebe  und  die  Behandlungsart  der  Weiber 
überhaupt.  Denn  in  der  edlen  ungekünstelten  und  unverstimmten 
Liebe  wirken  Sinnlichkeit,  ästhetisches  und  moralisches  Gefühl 
zugleich.  Daher  hätte  man  mit  Recht  der  Idee  einer  Geschichte, 
nicht  der  Weiber,  aber  des  weiblichen  Geschlechts  eine  glüklichere 
Ausführung  wünschen  dürfen,  als  sie  neuerlich  erhalten  hat.') 
Hätte  man  die  Nothvvendigkeit  des  Uebergangs  immer  genauer 
erwogen,  der  allemal  in  der  menschlichen  Seele  von  dem  bloss 
sinnlichen  Gefühl  durch  das  ästhetische  zu  dem  moralischen  ge- 
schehn  muss;  so  würde  man  die  Zeitalter  Griechenlands  und 
Roms  weniger  streng  beurtheilt  haben,  worin  der  sinnliche  Genuss 
bis  zu  den  höchsten  Graden  der  Ueppigkeit  hinauf  verfeinert 
wurde.  Es  ist  wahr,  das  bloss  sinnliche  Vergnügen  gewinnt  mehr 
Reiz,  wenn  es  nicht  mehr  bloss  den  gröberen,  sondern  auch  den 
feineren  Sinnen  schmeichelt;   es  wird  häufiger  genossen,   und  die 


V  Der  erste  Band  einer  „Geschichte  des  weiblichen  Geschlechts"  von  Meiners 
war  Hannover  i-jSS  erschienen;  er  stellt  im  wesentlichen  nur  die  Zeugnisse  für 
die  Stellung  der  Frau  bei  den  verschiedenen   Völkern  der  Erde  zusammen. 


64 


2.    Über 


physischen  schlimmen  Folgen  treffen  in  erhöhtem  Maasse  ein. 
Allein  auch  nur  die  physischen;  die  moralischen  werden  vermindert 
und  gehemmt.  Der  Uebergang  von  der  bloss  sinnHchen  Lust  zu 
dem  Gefühl  des  sinnlich  Schönen  macht  der  Seele  endlich  jene 
unschmakhaft,  und  bereitet  den  Schritt  zum  sittlich  Schönen  vor. 
Ich  weiss  daher  nicht,  ob  die  Bemühung,  auch  der  groben  Sinn- 
lichkeit eine  reizendere  Gestalt  zu  leihen,  nicht  mehr  unsren  Dank, 
als  unsren  Vorwurf  verdienen  sollte?*) 

Gehe  ich  auf  die  Resultate  der  bisherigen  Betrachtungen  zu- 
rük,  so  ist  der  Wohnsiz  der  Tugend  allein  das  Innere  der  Seele. 
Da  allein  liegt  ihr  Ursprung  und  ihr  wohlthätiger  Einfluss.  Aber 
wir  sind  nicht  geistige  Substanz  allein;  wir  stehn  in  Verbindung 
mit  einer  Sinnenwelt  ausser  uns,  sind  abhängig  von  ihren  Ver- 
änderungen, werden  fortgerissen  in  dem  unaufhörlichen  Flusse 
alles  Körperlichen.  V>"enn  nun  das  waltende  Schiksal  unsren  Geist 
wieder  vernichtete  ?  wenn  jede  innere  Bemühung  höherer  Vervoll- 
kommnung von  aussen  wieder  zerstört  würde?  wenn  die  Wahr- 
heit, für  die  unser  Verstand  erwärmt  ist,  die  Vollkommenheit,  für 
die  unser  Herz  glüht,  nur  Wahn  wäre,  nur  beglükkender  Traum, 
nirgend  existirend,  als  in  unsrer  Idee?  Diese  Fragen,  das  innere 
Interesse,  sie  auf  eine  für  unsre  Neigung  befriedigende  Art  beant- 
wortet zu  sehn,  führt  unsre  Empfindung  zum  Glauben  an  Religions- 
wahrheiten, indess  unser  Nachdenken  auf  einem  andren  Wege 
nach  Ueberzeugung  strebt. 

Alle  Religion  —  ich  rede  hier  von  Religion,  insofern  sie  sich 
auf  Sittlichkeit  und  Glükseligkeit  bezieht,  nicht  insofern  die  Ver- 
nunft irgend  eine  Religionswahrheit  wirklich  erkennt,  oder  zu  er- 
kennen  meint;    denn  Einsicht  der  Wahrheit    ist   unabhängig  von 


*)  Dürfte  nicht  diese  Betrachtung  dem  sonderbaren  Streit  über  den  Ausdruk : 
Freudenmädchen^)  eine  andre  Wendung  geben? 

^J  In  der  Berlinischen  Monatsschriß  vom  Septernber  i-jS-j  (w,  25-])  erschien 
ein  anonymer  kleiner  Aufsatz  „Über  den  Ausdruck  Freudenmädchen",  dessen 
Thema  im  Augustheft  i-jSS  derselben  Zeitschrift  (12,  i6g)  von  Hermes  in  einem 
Artikel  „Noch  einmal  über  den  Ausdruck  Freudenmädchen"  wiederaufgenommen 
yvurde.  Beide  richten  aus  allgemein  moralischen  und  pädagogischen  Gesichts- 
punkten einen  heftigen  Angi-iff  gegen  das  M'ort  und  wollen  es,  der  Anonymus 
durch  „Metze"  oder  „Lustmädchen",  Hermes  unter  Hinweis  auf  sein  Buch  Für 
Töchter  edler  Herkunft  j,  228  durch  „  Tochter  des  Leids"  oder  „Jammer mädchen" 
ersetzen,  was  er  auch  in  späteren  Schriften  anwendet.  Noch  Arndt  (Bruchstücke 
aus  einer  Reise  durch  einen  Teil  Italiens  2,  J2gj  gedenkt,  wie  mir  Albert  Gombert 
freundlich  mitteilt,  dieser  Kontroverse. 


Religion. 


65 


allen  Einflüssen  des  Wollens  oder  Begehrens  —  alle  Religion,  sage 
ich,  beruht  auf  einem  Bedürfniss  der  Seele.  Wir  hoffen,  wir 
ahnden,  weil  wir  wünschen.  Da,  wo  noch  alle  Spur  geistiger 
Kultur  fehlt,  ist  auch  das  Bedürfniss  bloss  sinnlich.  Furcht  und 
Hofnung  vor  Naturbegebenheiten,  welche  die  Einbildungskraft  in 
selbstthälige  Wesen  verwandelt,  machen  den  Inbegriff  der  ganzen 
Religion  aus.  Wo  geistige  Kultur  anfängt,  genügt  diess  nicht 
mehr.  Die  Seele  sehnt  sich  dann  nach  dem  Anschauen  irgend 
einer  Vollkommenheit,  von  der  ein  Funke  in  ihr  glimmt,  von  der 
sie  aber  ein  weit  höheres  Maass  ausser  sich  ahndet.  Diess  An- 
schauen geht  in  Bewunderung,  und  wenn  der  Mensch  sich  ein 
Verhältniss  zu  jenem  Wesen  hinzudenkt,  in  Liebe  über,  aus  der 
Begierde  des  Aehnlich  Werdens,  der  Vereinigung  entspringt.  Diess 
findet  sich  auch  bei  den  Völkern,  welche  noch  auf  den  niedrigsten 
Stufen  der  Bildung  stehn.  Denn  daraus  entspringt  es,  wenn  selbst 
bei  den  rohesten  Völkern  die  Ersten  der  Nation  sich  von  den 
Göttern  abzustammen,  zu  ihnen  zurül-LZukehren  rühmen.  Nur 
verschieden  ist  die  Idee  der  Gottheit  nach  der  Verschiedenheit  der 
Idee  von  Vollkommenheit,  die  in  jedem  Zeitalter  und  unter  jeder 
Nation  herrscht.  Die  Götter  der  ältesten  Griechen  und  Römer, 
und  die  Götter  unsrer  Vorfahren  waren  Ideale  körperlicher  Macht 
und  Stärke.  Als  die  Idee  des  sinnlich  Schönen  entstand  und 
verfeinert  ward,  erhob  man  die  personificirte  sinnliche  Schönheit 
auf  den  Thron  der  Gottheit,  und  so  entstand  die  Religion,  die 
man  Religion  der  Kunst  nennen  könnte.*)  Als  man  sich  von  dem 
Sinnlichen  zum  rein  Geistigen,  von  dem  Schönen  zum  Guten 
und  Wahren  erhob,  wurde  der  Inbegriff  aller  intellektuellen  und 
moralischen  Vollkommenheit  Gegenstand   der  Anbetung,  und   die 


*)  Hätte  man  diesen  Gesichtspunkt  gewählt ;  so  hätte  man  vielleicht  weniger  ein- 
seitig über  ein  Gedicht  geurtheilt,  das  man  mit  Recht  zu  den  Meisterstükken  deutscher 
Dichtkunst  zählen  kann.')  Der  Dichter  wählt  darin  den  Gesichtspunkt  der  Kunst,  des 
sinnlich  Schönen,  und  des  sittlich  Schönen,  insofern  es  durch  jenes  ausgedrukt  wird. 
Aus  diesem  Gesichtspunkt  allein  vergleicht  er  die  Religion  der  Alten  und  die  unsre, 
den  Einfluss,  den  beide  auf  Sittlichkeit  und  Glükseligkeit  haben.  Aber  er  schliesst  ja 
darum  den  Gesichtspunkt  des  rein  und  unvermischt  Geistigen  schlechterdings  nicht  aus. 

V  Gemeint  ist  Schillers  Gedicht  „Die  Götter  Griechenlands",  das,  im  März 
i']88  im  Teutschen  Merkur  erschietien,  durch  einen  Aufsatz  Fritz  Stolbergs  im 
Augustheft  i-jSS  des  Deutschen  Museums  (2,  97;  Gesammelte  Werke  10,  424) 
heftig  angegriffen  wurde,  während  Forster  im  Maiheft  ijSg  der  Neuen  Literatur 
und  Völkerkunde  (i,  jjj;  Ausgewählte  kleine  Schriften  S.  80)  sich  zu  seiner 
Verteidigung  gegen  diesen  Angriß'  erhob. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  5 


ße  2.    über 

Religion  ein  Eigenthum  der  Philosophie.  Vielleicht  könnte  nach 
diesem  Maassstab  der  Werth  der  verschiednen  Religionen  gegen 
einander  abgewogen  werden,  wenn  Religionen  nach  Nationen 
oder  Partheien,  nicht  nach  einzelnen  Individuen  verschieden  wären. 
Allein  so  ist  Religion  ganz  subjektiv,  beruht  allein  auf  der  Eigen- 
thümlichkeit  der  Vorstellungsart  jedes  Menschen. 

Wenn  die  Idee  einer  Gottheit  die  Frucht  wahrer  geistiger 
Bildung  ist,  so  wirkt  sie  schön  und  wohlthätig  auf  die  innere 
Vollkommenheit  zurük.  Alle  Dinge  erscheinen  uns  in  veränderter 
Gestalt,  wenn  sie  Geschöpfe  planvoller  Absicht,  als  wenn  sie  ein 
Werk  eines  vernunftlosen  Zufalls  sind.  Die  Ideen  von  Weisheit, 
Ordnung,  Absicht,  die  uns  zu  unsrem  Handien  so  unentbehrlich 
sind,  fassen  festere  Wurzel  in  unsrer  Seele,  wenn  wir  sie  überall 
entdekken.  Das  Endliche  wird  gleichsam  unendlich,  das  Hin- 
fällige bleibend,  das  Wandelbare  stät,  das  Verschlungne  einfach, 
wenn  wir  uns  Eine  ordnende  Ursach  an  der  Spize  der  Dinge, 
und  eine  endlose  Dauer  der  geistigen  Substanzen  denken.  Unser 
Forschen  nach  Wahrheit,  unser  Streben  nach  Vollkommenheit 
gewinnt  mehr  Festigkeit  und  Sicherheit,  wenn  es  ein  Wesen  für 
uns  giebt,  das  der  Quell  aller  Wahrheit,  der  Inbegriff  aller  Voll- 
kommenheit ist.  Widrige  Schiksale  werden  der  Seele  weniger 
fühlbar,  da  Zuversicht  und  Hofnung  sich  an  sie  knüpft.  Das 
Gefühl,  alles,  was  man  besizt,  aus  der  Hand  der  Liebe  zu 
empfangen,  erhöht  zugleich  die  Glükseligkeit  und  die  moralische 
Güte.  Durch  Dankbarkeit  bei  der  genossnen,  durch  hinlehnendes 
Vertrauen  bei  der  ersehnten  Freude  geht  die  Seele  aus  sich  heraus, 
brütet  nicht  immer,  in  sich  verschlossen,  über  den  eignen  Empfin- 
dungen, Planen,  Besorgnissen,  Hofnungen.  Wenn  sie  das  er- 
hebende Gefühl  entbehrt,  sich  allein  alles  zu  danken,  so  geniesst 
sie  das  entzükkende,  in  der  Liebe  eines  andren  Wesens  zu  leben 
—  ein  Gefühl,  worin  die  eigne  Vollkommenheit  sich  mit  der 
Vollkommenheit  jenes  Wesens  gattet.  Sie  wird  gestimmt,  andren 
zu  sein,  was  andre  ihr  sind;  will  nicht,  dass  andre  ebenso  alles 
aus  sich  selbst  nehmen  sollen,  als  sie  nichts  von  andren  empfängt. 
Ich  habe  hier  nur  die  Hauptmomente  dieser  Untersuchung  berührt. 
Tiefer  in  den  Gegenstand  einzugehn  würde  nach  Garves  meister- 
hafter Ausführung^)  unnüz  und  vermessen  sein. 


V  In  seinen  Philosophischen  Anmerkungen   und  Abhandlungen  zu   Ciceros 
Büchern  von  den  Pßichten  2,  2j;  sie  erschieyien  zuerst  Breslau  i']8j. 


Religion. 


67 


So  mitwirkend  aber  auf  der  einen  Seite  religiöse  Ideen  bei  der 
moralischen  Ven^ollkommnung  sind;  so  wenig  sind  sie  doch  auf 
der  andren  Seite  unzertrennlich  mit  ihr  verbunden.  Die  blosse 
Idee  geistiger  Vollkommenheit  ist  gross  und  füllend  und  erhebend 
genug,  um  nicht  mehr  einer  andren  Hülle  oder  Gestalt  zu  be- 
dürfen. Und  doch  liegt  jeder  Religion  eine  Personificirung,  eine 
Art  der  Versinnlichung  zum  Grunde,  ein  Anthropomorphismus  in 
höherem  oder  geringerem  Grade.  Sie  wird  auch  dem  unaufhör- 
lich vorschweben,  der  nicht  gewohnt  ist,  die  Summe  alles  moralisch 
Guten  in  Ein  Ideal  zusammenzufassen,  und  sich  in  Verhältniss  zu 
diesem  Wesen  zu  denken;  sie  vvird  ihm  Antrieb  zur  Thätigkeit, 
Stoff  aller  Glükseligkeit  sein.  Fest  durch  die  Erfahrung  überzeugt, 
dass  seinem  Geiste  Fortschreiten  in  höherer  moralischer  Stärke 
möglich  ist,  wird  er  mit  muthigem  Eifer  nach  dem  Ziele  streben, 
das  er  sich  stekt.  Der  Gedanke  der  Möglichkeit  der  Vernichtung 
seines  Daseins  wird  ihn  nicht  schrekken,  sobald  seine  täuschende 
Einbildungskraft  nicht  mehr  im  Nichtsein  das  Nichtsein  noch  fühlt. 
Seine  unabänderliche  Abhängigkeit  von  äussren  Schiksalen  drükt 
ihn  nicht;  gleichgültiger  gegen  äussres  Geniessen  und  Entbehren, 
bükt  er  nur  auf  das  rein  Intellektuelle  und  Moralische  hin,  und 
kein  Schiksal  vermag  etwas  über  das  Innere  seiner  Seele.  Sein 
Geist  fühlt  sich  durch  Selbstgenügsamkeit  unabhängig,  durch  die 
Fülle  seiner  Ideen,  und  das  Bewusstsein  seiner  innren  Stärke  über 
den  Wandel  der  Dinge  gehoben.  Wenn  er  nun  in  seine  Ver- 
gangenheit zurükgeht.  Schritt  vor  Schritt  aufsucht,  wie  er  jedes 
Ereigniss  bald  auf  diese,  bald  auf  jene  Weise  benuzte,  wie  er  nach 
und  nach  zu  dem  ward,  was  er  jezt  ist,  wenn  er  so  Ursach  und 
Wirkung,  Zwek  und  Mittel,  alles  in  sich  vereint  sieht,  und  dann 
voll  des  edelsten  Stolzes,  dessen  endliche  Wesen  fähig  sind,  ausruft: 

Hast  Du's  nicht  alles  selbst  vollendet, 
Heiligglühend  Herz  ? ') 

wie  müssen  da  in  ihm  alle  die  Ideen  von  Alleinsein,  von  Hülf- 
losigkeit,  von  Mangel  an  Schuz,  und  Trost,  und  Beistand  ver- 
schwinden, die  man  gewöhnlich  da  glaubt,  wo  eine  persönliche, 
vernünftige,    ordnende    Ursach    der    Kette    des    Kindlichen    fehlt? 

V  Goethe,  Prometheus  Vers  j2.  Die  Lesart  „du's"  beweist,  daß  Humboldt 
das  Gedicht  aus  dem  ersten  Druck  in  Jacobis  Buche  „Über  die  Lehre  des  Spinoza" 
(lyS^)  kannte,  niclit  aus  dem  i-j8g  erschienenen  achten  Bande  der  ersten  Gesammt- 
ausgabe  der  Schriften  Goethes,  wo  „du"  steht;  vgl.  Goethes  Werke  2,  jij 
weimarische  Ausgabe. 

5* 


68  2.    über 

Dieses  Selbstgefühl,  dieses  in  und  durch  sich  Sein  wird  ihn  auch 
nicht  hart  und  unempfindlich  gegen  andre  Wesen  machen,  sein 
Herz  nicht  der  theilnehmenden  Liebe  und  jeder  wohlwollenden 
Neigung  verschliessen.  Eben  die  Idee  der  Vollkommenheit,  die 
warhch  nicht  bloss  kalte  Idee  des  Verstandes  ist,  sondern  warmes 
Gefühl  des  Herzens  sein  kann,  auf  die  sich  seine  ganze  Wirk- 
samkeit bezieht,  trägt  sein  Dasein  in  das  Dasein  andrer  über. 
Es  liegt  ja  in  ihnen  gleiche  Fähigkeit  grösserer  Vollkommenheit; 
diese  Vollkommenheit  kann  er  hervorbringen,  oder  erhöhen.  Er 
ist  noch  nicht  ganz  von  dem  höchsten  Ideale  aller  Moralität  durch- 
drungen, solange  er  noch  sich  oder  andre  einzeln  zu  betrachten 
vermag,  solange  nicht  alle  geistige  Wesen  in  der  Summe  der  in 
ihnen  einzeln  zerstreut  liegenden  Vollkommenheit  in  seiner  Vor- 
stellung zusammenfliessen.  Vielleicht  ist  seine  Vereinigung  mit 
den  übrigen,  ihm  gleichartigen  Wesen  noch  inniger,  seine  Theil- 
nahme  an  ihrem  Schiksal  noch  wärmer,  je  mehr  sein  und  ihr 
Schiksal,  seiner  Vorstellungsart  nach,  allein  von  ihm  und  von 
ihnen  abhängt! 

So  ist  es,  dünkt  mich,  unleugbar,  dass  Moralität  und  Religion 
ganz  und  gar  nicht  nothwendig  mit  einander  verbunden  sind, 
dass  jene  ohne  diese  gleich  rein  und  lauter,  gleich  stark  und 
fruchtbar  sein  kann.  Denn  weder  das,  was  die  Moral  zur  Pflicht 
macht,  noch  das,  was  ihren  Gesezen  gleichsam  die  Sanktion  giebt, 
was  ihnen  Interesse  für  den  Willen  leiht,  ist  von  Religionsideen 
abhängig.  Die  Beschaffenheit  der  Handlungen,  die  wir  Pflichten 
nennen,  entspringt  theils  aus  der  innren  Natur  der  menschlichen 
Seele,  theils  aus  der  näheren  Anwendung  auf  die  Verhältnisse  der 
Menschen  gegen  einander.  Die  Wirksamkeit  der  Religion  aber 
beruht  ganz  auf  der  individuellen  Beschafl^nheit  des  Charakters, 
ist  im  strengsten  Verstände  subjektiv.  Der  kalte,  bloss  nach- 
denkende Mensch,  in  dem  die  Erkenntniss  nie  in  Empfindung 
übergeht,  dem  es  genug  ist,  das  Verhältniss  der  Dinge  und  Hand- 
lungen einzusehn,  um  seinen  Willen  danach  zu  bestimmen,  bedarf 
keines  Religionsgrundes,  um  tugendhaft  zu  handien,  und,  soviel 
es  seinem  Charakter  nach  möglich  ist,  tugendhaft  zu  sein.  Wo 
hingegen  die  Fähigkeit  zu  empfinden  sehr  stark  ist,  wo  jeder  Ge- 
danke leicht  Gefühl  wird,  wo  die  Seele  einen  starken  Hang  fühlt, 
aus  sich  heraus  in  andre  überzugehn,  an  andre  sich  anzuschliessen ; 
da  werden  Religionsideen  wirksame  Triebfedern  sein.  Indess 
doch  auch  da  nur  mit  Ausnahme.    Es  giebt  Charaktere,  in  welchen 


Religion. 


69 


eine  so  innige  Konsequenz  aller  Ideen  und  Empfindungen  herrscht, 
die  eine  so  grosse  Tiefe  der  Erkenntniss  und  des  Gefühls  besizen, 
dass  daraus  eine  Stärke  und  Selbstständigkeit  hervorgeht,  welche 
das  Hingeben  des  ganzen  Seins  an  ein  fremdes  Wesen,  das  Ver- 
trauen auf  fremde  Ivraft,  wodurch  sich  der  Einfluss  der  Religion 
vorzüglich  äussert,  wieder  fordert,  noch  erlaubt.  Auch  die  Lagen, 
welche  erfordert  werden,  um  auf  Religionswahrheiten  zurük- 
zukommen,  sind  nach  ^"erschiedenheit  der  Charaktere  verschieden. 
Bei  dem  einen  ist  jede  starke  Rührung  —  Freude  oder  Kummer 
—  bei  dem  andren  nur  das  frohe  Gefühl  aus  dem  Genuss  ent- 
SDrinsender  Dankbarkeit  dazu  hinreichend.  Die  lezteren  Charak- 
tere  verdienen  vielleicht  nicht  die  wenigste  Schäzung.  Sie  sind 
auf  der  einen  Seite  stark  genug,  um  im  Unglük  nicht  fremde 
Hülfe  zu  suchen,  und  haben  auf  der  andren  zu  viel  Sinn  für  das 
Gefühl,  geliebt  zu  werden,  um  nicht  an  die  Idee  des  Genusses 
gern  die  Idee  eines  liebevollen  Gebers  zu  knüpfen.  Unabhängig 
von  der  Empfindung  und  der  ^^erschiedenheit  des  (Charakters  ist 
nun  zwar  das,  was  in  den  Religionsideen  rein  Intellektuelles  liegt, 
die  Begriffe  von  Absicht,  Ordnung,  Zwekmässigkeit,  Vollkommen- 
heit. Allein  diese  sind  auch  der  Religion  nicht  eigen.  Die  Idee  von 
Vollkommenheit  wird  zuerst  aus  der  lebendigen  Natur  geschöpft,  dann 
auf  die  leblose  übergetragen,  endlich  nach  und  nach  bis  zu  dem  All- 
vollkommnen  hinauf  von  allen  Schranken  entblösst.  Nun  aber  bleiben 
lebendige  und  leblose  Natur  dieselben,  und  ist  es  nicht  möglich  die 
ersten  Schritte  zu  thun,  und  doch  vor  dem  lezten  stehen  zu  bleiben? 
Ich  kehre  nun  zu  dem  Gegenstande  zurük,  von  dem  ich  aus- 
gieng,  zu  der  Frage:  inwiefern  der  Gesezgeber  sich  der  Religion 
zu  seinen  Absichten  bedienen  darf?  Alle  Gesezgebung  muss  von 
dem  Gesichtspunkte  der  Bildung  des  Bürgers,  als  Menschen,  aus- 
gehn.  Denn  der  Staat  ist  nichts,  als  ein  Mittel,  diese  Bildung  zu 
befördern,  oder  vielmehr  die  Hindernisse  wegzuräumen,  die  ihr 
im  aussergesellschaftlichen  Zustande  im  Wege  stehn  würden.  Das 
ideal  eines  Staats  wäre  der,  in  welchem  die  natürliche  Beschaffen- 
heit theils  des  Bodens  und  der  Produkte,  theils  der  Einwohner 
und  ihres  Charakters,  dann  die  künstUchen  Anstalten  theils  zur 
Befriedigung  der  ph5'sischen  Bedürfnisse,  theils  zur  Verfeinerung 
des  Geschmaks,  und  Beförderung  der  Künste,  theils  endlich  zur 
Verbreitung  wissenschaftlicher  Kenntnisse,  und  Erhöhung  der 
Sittlichkeit,  in  welchem,  sage  ich,  diese  alle  das  gehörige  absolute 
und  relative  Maass  gegen  einander  hätten.     Wie  viel   oder   wenig 


70 


über 


unsre  wirkliche  Staaten  sich  diesem  Ideale  nähern,  sollte  die 
Statistik  bestimmen.  Allein  alsdann  erforderte  diese  Wissenschaft 
eine  ganz  andre  Bearbeitung,  als  sie  bis  jezt  erhalten  hat,  wo  sie 
nur  unsichre  Zeichen  zur  Beurtheilung  des  verschiednen  Werths 
der  Staaten,  bloss  Data  der  natürlichen  Beschaffenheit  des  Landes 
und  des  Reichthums  seiner  Erzeugnisse,  der  Bevölkerung,  der 
Einrichtungen  zur  Hervorbringung,  Bearbeitung  und  Vertauschung 
der  Produkte  an  die  Hand  giebt.  Die  Mittel,  welche  der  Gesez- 
geber  anwendet,  um  die  moralische  Bildung  seiner  Bürger  zu  be- 
fördern, sind  immer  in  dem  Grade  zwekmässig  und  nüzlich,  in 
dem  sie  die  innere  Entwiklung  der  Fähigkeiten  und  Neigungen 
begünstigen.  Denn  alle  Bildung  hat  ihren  Ursprung  allein  in  dem 
Innren  der  Seele,  und  kann  durch  äussre  Veranstaltungen  nur 
veranlasst,  nie  hervorgebracht  werden.  Dass  nun  die  Religion, 
welche  ganz  auf  Ideen,  Empfindungen  und  innrer  Ueberzeugung 
beruht,  ein  solches  Mittel  sei,  ist  unleugbar.  Wir  bilden  den 
Künstler,  indem  wir  sein  Auge  an  den  Meisterwerken  der  Kunst 
üben,  seine  Einbildungskraft  mit  den  schönen  Gestalten  der  Pro- 
dukte des  Alterthums  nähren.  Eben  so  muss  der  sittliche  Mensch 
gebildet  werden  durch  das  Anschauen  hoher  moralischer  ^^oll- 
kommenheit,  im  Leben  durch  Umgang,  und  durch  zwekmässiges 
Studium  der  Geschichte,  endlich  durch  das  Anschauen  der  höchsten 
idealischen  Vollkommenheit  im  Bilde  der  Gottheit.  Aber  diese 
leztere  Ansicht  ist,  wie  ich  im  Vorigen  gezeigt  zu  haben  glaube, 
nicht  für  jedes  Auge  gemacht,  oder,  um  ohne  Bild  zu  reden, 
diese  Vorstellungsart  ist  nicht  jedem  Charakter  angemessen.  Wäre 
sie  es  aber  auch;  so  ist  sie  doch  nur  da  wirksam,  wo  sie  aus 
dem  Zusammenhange  aller  Ideen  und  Empfindungen  entspringt, 
wo  sie  mehr  von  selbst  aus  dem  Inneren  der  Seele  herv^orgeht, 
als  von  aussen  in  dieselbe  gelegt  wird.  Veranlassung,  mit  Religions- 
ideen vertraut  zu  werden,  Begünstigung  des  freien  Untersuchungs- 
geistes, Leitung  desselben  auf  diese  Gegenstände  sind  folglich  die 
einzigen  Mittel,  deren  der  Gesezgeber  sich  bedienen  darf;  geht  er 
weiter,  nimmt  er  gewisse  bestimmte  Ideen  in  Schuz,  fodert  er  statt 
wahrer  Ueberzeugung  Glauben  auf  Autorität;  so  hindert  er  das  Auf- 
streben des  Geistes,  die  Entwiklung  der  Seelenkräfte,  so  bringt  er  viel- 
leicht durch  Gewinnung  der  Einbildungskraft,  durch  augenblikliche 
Rührungen  Gesezmässigkeit  der  Handlungen  seiner  Bürger,  aber  nie 
wahre  Tugend  hervor.  Denn  w^ahre  Tugend  ist  unabhängig  von  aller 
und  unverträglich  mit  befohlner,und  auf  Autorität  geglaubter  Religion. 


Relision. 


71 


Wenn  jedoch  gewisse  Religionsgrundsäze  auch  nur  gesez- 
mässige  Handlungen  hervorbringen,  ist  diess  nicht  genug  um  den 
Staat  zu  berechtigen,  sie,  auch  auf  Kosten  der  allgemeinen  Denk- 
freiheit, zu  verbreiten?  Die  Absicht  des  Staats  wird  erreicht, 
wenn  seine  Geseze  streng  befolgt  werden;  und  der  Gesezgeber 
hat  seiner  Pflicht  ein  Genüge  gethan,  wenn  er  weise  Geseze  giebt 
und  ihre  Beobachtung  von  seinen  Bürgern  zu  erhalten  weiss. 
Ueberdiess  passt  jener  aufgestellte  Begriff  von  Tugend  nur  auf 
einige  wenige  Classen  der  Mitglieder  eines  Staats,  nur  auf  die, 
welche  ihre  äussre  Lage  in  den  Stand  sezt,  einen  grossen  Theil 
ihrer  Zeit  und  ihrer  Kräfte  dem  Geschäfte  ihrer  innren  Bildung 
zu  weihen.  Die  Sorgfalt  des  Staats  muss  sich  auf  die  grössere 
Anzahl  erstrekken,  und  diese  ist  jenes  höheren  Grades  der  Mora- 
lität  unfähig. 

Ich  erwähne  hier  nicht  mehr  der  Säze,  welchen  ich  den  ersten 
Theil  dieses  Aufsazes  gewidmet  habe,  und  die  in  der  That  den 
Grund  dieser  Einwürfe  umstossen,  der  Säze  nemlich,  dass  die 
Staatseinrichtung  an  sich  nicht  Zwek,  sondern  nur  Mittel  zur 
Bildung  des  Menschen  ist,  und  dass  es  daher  dem  Gesezgeber 
nicht  gnügen  kann,  seinen  Aussprüchen  Autorität  zu  verschaffen, 
wenn  nicht  zugleich  die  Mittel,  wodurch  diese  Autorität  bewirkt 
wird,  gut,  oder  doch  unschädlich  sind.  Es  ist  aber  auch  unrichtig, 
dass  dem  Staate  allein  die  Handlungen  seiner  Bürger,  und  ihre 
Gesezmässigkeit  wichtig  sei.  Ein  Staat  ist  eine  so  zusammen- 
gesezte  und  verwikkelte  Maschine,  dass  Geseze,  die  immer  nur 
einfach,  allgemein,  und  von  geringer  Anzahl  sein  müssen,  unmög- 
lich allein  darin  hinreichen  können.  Das  Meiste  bleibt  immer  den 
freiwilligen  einstimmigen  Bemühungen  der  Bürger  zu  thun  übrig. 
Man  braucht  nur  den  Wohlstand  kultivirter  und  aufgeklärter 
Nationen  mit  der  Dürftigkeit  roher  und  ungebildeter  Völker  zu 
vergleichen,  um  von  diesem  Saze  überzeugt  zu  werden.  Daher 
sind  auch  die  Bemühungen  aller,  die  sich  je  mit  Staatseinrichtungen 
beschäftigt  haben,  immer  dahin  gegangen,  das  Wohl  des  Staats 
zum  eignen  Interesse  des  Bürgers  zu  machen,  und  den  Staat  in 
eine  Maschine  zu  verwandeln,  die  durch  die  innere  Kraft  ihrer 
Triebfedern  in  Gang  erhalten  würde,  und  nicht  unaufhörlich  neuer 
äussrer  Einwirkungen  bedürfte.  Wenn  die  neueren  Staaten  sich 
eines  Vorzugs  vor  den  alten  rühmen  dürfen ;  so  ist  es  vorzüglich, 
weil  sie  diesen  Grundsaz  mehr  realisirten.  Selbst  dass  sie  sich  der 
Religion  als  eines  Bildungsmittels  bedienen,  ist  ein  Beweis  davon. 


TO  2.    Über 

Doch  auch  die  Religion,  insofern  nemlich  durch  gewisse  bestimmte 
Säze  nur  gute  Handlungen  bewirkt  werden  sollen,  wie  es  hier  der 
Fall  ist,  ist  ein  fremdes,  von  aussen  einwirkendes  Mittel.  Daher 
muss  es  immer  des  Gesezgebers  eifrigstes  Streben  bleiben,  die 
Bildung  der  Bürger  bis  dahin  2u  erhöhen,  dass  sie  alle  Trieb- 
federn zur  Beförderung  des  Zweks  des  Staats  allein  in  der  Idee 
des  Nuzens  finden,  welchen  ihnen  die  Staatseinrichtung  zu  Er- 
reichung ihrer  individuellen  x\bsichten  gewährt.  Zu  dieser  Einsicht 
aber  ist  Aufklärung  und  hohe  Geistesbildung  nothwendig,  die  da 
nicht  emporkommen  können,  wo  der  freie  Untersuchungsgeist 
durch  Geseze  beschränkt  wird. 

Nur  dass  man  sich  überzeugt  hält :  ohne  bestimmte  geglaubte 
Religionssäze  könne  auch  äussre  Ruhe  und  Sittlichkeit  nicht  be- 
stehn,  ohne  sie  sei  es  der  bürgerlichen  Gewalt  unmöglich,  das 
Ansehen  der  Geseze  zu  erhalten,  macht,  dass  man  jenen  Be- 
trachtungen kein  Gehör  giebt.  Und  doch  bedürfte  der  Einfluss, 
den  Religionssäze,  die  auf  diese  Weise  angenommen  werden,  haben 
sollen,  wohl  erst  einer  strengeren  und  genaueren  Prüfung.  Bei 
dem  roheren  Theile  des  Volks  rechnet  man  von  allen  Religions- 
wahrheiten am  meisten  auf  die  Ideen  künftiger  Belohnungen  und 
Bestrafungen.  Diese  mindern  den  Hang  zu  unsittlichen  Hand- 
lungen nicht,  befördern  nicht  die  Neigung  zum  Guten,  verbessern 
also  den  Charakter  nicht;  sie  wirken  bloss  auf  die  Einbildungs- 
kraft, haben  folglich,  wie  Bilder  der  Phantasie  überhaupt,  Einfluss 
auf  die  Art  zu  handien,  ihr  Einfluss  wird  aber  auch  durch  alles 
das  vermindert  und  aufgehoben,  was  die  Lebhaftigkeit  der  Ein- 
bildungskraft schwächt.  Nimmt  man  nun  hinzu,  dass  diese  Er- 
wartungen so  entfernt,  und  darum,  selbst  nach  den  Vorstellungen 
der  Gläubigsten,  so  ungewiss  sind,  dass  die  Ideen  von  nachheriger 
Reue,  künftiger  Besserung,  gehofter  Verzeihung  —  welche  durch 
gewisse  Religionsbegriffe  so  sehr  begünstigt  werden  —  ihnen  einen 
grossen  Theil  ihrer  Wirksamkeit  wieder  nehmen;  so  ist  es  unbe- 
greifhch,  wie  diese  Ideen  mehr  wirken  sollten,  als  die  Vorstellung 
bürgerlicher  Strafen,  die  nah,  bei  guten  Polizeianstalten  gewiss, 
und  wTder  durch  Reue,  noch  nachfolgende  Besserung  abwendbar 
sind,  wenn  man  nur  die  Bürger  von  Kindheit  an  eben  so  mit  diesen, 
als  mit  jenen  Folgen  sittlicher  und  unsittlicher  Handlungen  be- 
kannt machte.  Unleugbar  aber  wirken  freilich  auch  weniger  auf- 
geklärte Religionsbegritfe  bei  einem  grossen  Theile  des  Volks  auf 
eine    edlere  Art.     Der   Gedanke,  Gegenstand   der  Fürsorge   eines 


Religion. 


73 


allweisen  und  voUkommnen  Wesens  zu  sein,  giebt  ihnen  mehr 
Würde,  die  Zuversicht  einer  endlosen  Dauer  führt  sie  auf  höhere 
Gesichtspunkte,  bringt  mehr  Absicht  und  Plan  in  ihre  Handlungen, 
das  Gefühl  der  liebevollen  Güte  der  Gottheit  giebt  ihrer  Seele  eine 
ähnliche  Stimmung;  kurz  die  Religion  flösst  ihnen  Sinn  für  die 
Schönheit  der  Tugend  ein.  Allein  wo  die  Religion  diese  Wir- 
kungen haben  soll,  da  muss  sie  schon  in  den  Zusammenhang  der 
Ideen  und  Empfindungen  ganz  übergegangen  sein,  welches  nicht 
leicht  möglich  ist,  wenn  der  freie  Untersuchungsgeist  gehemmt 
und  alles  auf  den  Glauben  zurükgeführt  wird;  da  muss  auch  schon 
Sinn  für  bessere  Gefühle  vorhanden  sein,  da  entspringt  sie  mehr 
aus  einem  nur  noch  unentwikkelten  Hange  zur  Sittlichkeit,  auf 
den  sie  hernach  nur  wieder  zurükwirkt.  Und  überhaupt  wird  ja 
niemand  den  Einfluss  der  Religion  auf  die  Sittlichkeit  ganz  ab- 
leugnen wollen;  es  fragt  sich  nur  immer,  ob  er  von  einigen  be- 
stimmten Religionssäzen  abhängt?  und  dann  ob  er  so  entschieden 
ist,  dass  Moralität  und  Religion  darum  in  unzertrennlicher  Ver- 
bindung mit  einander  stehn?  Beide  Fragen  m.üssen,  glaub'  ich, 
verneint  werden.  Die  Tugend  stimmt  so  sehr  mit  den  ursprüng- 
lichen Neigungen  des  Menschen  überein,  die  Gefühle  der  Liebe, 
der  Verträglichkeit,  der  Gerechtigkeit  haben  so  etwas  Süsses,  die 
der  uneigennüzigen  Thätigkeit,  der  Aufopferung  für  andre  etwas 
so  Erhebendes,  die  Verhältnisse,  welche  daraus  im  häuslichen  und 
im  gesellschaftlichen  Leben  überhaupt  entspringen,  sind  so  be- 
glükkend,  dass  es  weit  weniger  nothwendig  ist  neue  Triebfedern 
zu  tugendhaften  Handlungen  hervorzusuchen,  als  nur  denen,  welche 
schon  von  selbst  in  der  Seele  liegen,  freiere  und  ungehindertere 
Wirksamkeit  zu  verscb.aifen. 

Wollte  man  aber  auch  weiter  gehn,  wollte  man  neue  Be- 
förderungsmittel hinzufügen ;  so  dürfte  man  doch  nie  einseitig  ver- 
gessen, ihren  Xuzen  gegen  ihren  Schaden  abzuw^ägen.  Wie  viel- 
fach aber  der  Schade  eingeschränkter  Denkfreiheit  ist,  bedarf  wohl, 
nachdem  es  so  oft  gesagt  und  wieder  gesagt  ist,  keiner  weitläuf- 
tigen  Auseinandersezimg  mehr.  Erstrekte  er  sich  bloss  auf  die 
Resultate  der  Untersuchungen,  brächte  er  bloss  Unvollständigkeit 
oder  Unrichtigkeit  in  unsrcr  wissenschaftlichen  Erkenntniss  her- 
vor; so  möchte  es  vielleicht  einigen  Schein  haben,  wenn  man  den 
Nuzen,  den  man  für  den  (Charakter  davon  erwartet  —  auch  er- 
warten darf!  —  dagegen  abwägen  wollte.  Allein  so  ist  der  Nach 
theil  bei  weitem   beträchtlicher.     Der  Nuzen   freier  Untersuchung 


74 


2.    Über 


dehnt  sich  auf  unsre  ganze  Art,  nicht   bloss   zu   denken,   sondern 
zu  handien  aus.     In  einem  Manne,  der  gewohnt  ist,  Wahrheit  und 
Irrthum,  ohne  Rüksicht  auf  äussre  Verhältnisse,  für  sich  und  gegen 
andre  zu  beurtheilen,  und  von  andren   beurtheilt  zu   hören,   sind 
alle    Principien    des    Handlens    durchdachter,    konsequenter,    aus 
höheren  Gesichtspunkten  hergenommen,  als  in  dem,  dessen  Unter- 
suchungen unaufhörlich  von  Umständen  geleitet  werden,  die  nicht 
in    der   Untersuchung    selbst   liegen.     Untersuchung    und   Ueber- 
zeugung,  die  aus  der  Untersuchung  entspringt,  ist  Selbstthätigkeit ; 
Glaube  Vertrauen   auf   fremde   Kraft,   fremde   intellektuelle   oder 
moralische  Vollkommenheit.     Daher  entsteht  in  dem  untersuchen- 
den Denker  mehr  Selbstständigkeit,  mehr  Festigkeit;  in  dem  ver- 
trauenden Gläubigen  mehr  Schwäche,  mehr  Unthätigkeit.     Es   ist 
wahr,  dass  der  Glaube,  da  wo  er  ganz  herrscht  und  jeden  Zweifel 
erstikt,  einen  unüberwindlicheren  Muth,  eine  ausdaurendere  Stärke 
hen^orbringt ;  die  Geschichte  aller  Schwärmer  lehrt  es.   Allein  diese 
Stärke  ist  nur  da  wünschenswerth,  wo  es   auf  einen   äussren   be- 
stimmten Erfolg  ankommt,  zu  dem  bloss  maschinenmässiges  Wirken 
erfordert  wird ;  nicht  da,  wo  man  eignes  Beschliessen,  durchdachte, 
auf  Gründen  der  Vernunft  beruhende  Handlungen,  oder  gar  innere 
Vollkommenheit  erwartet.    Denn  diese  Stärke  selbst  beruht  gerade 
auf  Schwäche,  auf  der  Unterdrükkung  aller  eignen  Thätigkeit  der 
Vernunft.    Zweifel  sind  nur  dem  quälend,  welcher  glaubt,  nie  dem, 
welcher  bloss   der   eignen    Untersuchung  folgt.     Denn   überhaupt 
sind   diesem   die  Resultate   weit   weniger  wichtig,   als  jenem.    Er 
ist  sich,   während   der   Untersuchung,   der  Thätigkeit,   der  Stärke 
seiner  Seele  bewusst,  er  fühlt,  dass  seine  wahre  Vollkommenheit, 
seine  Glükseligkeit  eigentlich  auf  dieser  Stärke  beruht;   statt   dass 
Zweifel  an  den  Säzen,  die  er  bisher  für  wahr   hielt,   ihn  drükken 
sollten,  so  freut  es  ihn,  dass  seine  Denkkraft  soviel  gewonnen  hat, 
Irrthümer    einzusehen,    die    ihr  vorher   verborgen    blieben.     Der 
Glaube  hingegen  kann  nur  Interesse  an  dem  Resultat  selbst  finden, 
denn  für  ihn  liegt  in  der  erkannten  Wahrheit  nichts  mehr.    Zweifel, 
die  seine  Vernunft  erregt,  peinigen  ihn.    Denn  sie  sind  nicht,  wie 
in  dem  selbstdenkenden  Kopfe,  neue  Mittel  zur  Wahrheit  zu   ge- 
langen; sie  nehmen  ihm  bloss  die  Gev^ssheit,  ohne  ihm  ein  Mittel 
anzuzeigen,   sie   auf  eine   andre   Weise   wiederzuerhalten.     Diese 
Betrachtung,   weiter  verfolgt,   führt   auf  die  Bemerkung,   dass   es 
überhaupt  nicht  gut  ist,  einzelnen  Resultaten  eine  so  grosse  Wichtig- 
keit beizumessen,  zu  glauben,  dass  entweder  so  viele  andre  Wahr- 


Religion. 


75 


heiten,  oder  so  \'iele  äussre  oder  innere  nüzliche  Folgen  von  ihnen 
abhängen.  Es  wird  dadurch  zu  leicht  ein  Stillstand  in  der  Unter- 
suchung hen'orgebracht,  und  so  arbeiten  manchmal  die  freiesten 
und  aufgeklärtesten  Behauptungen  gerade  gegen  den  Grund,  ohne 
den  sie  selbst  nie  hätten  emporkommen  können.  So  wichtig  ist 
Geistesfreiheit ;  so  schädlich  jede  Einschränkung  derselben.  Auf 
der  andren  Seite  hingegen  fehlt  es  dem  Staate  nicht  an  Mitteln, 
die  Geseze  aufrecht  zu  erhalten,  \"erbrechen  zu  verhüten,  Sittlich- 
keit zu  befördern.  Man  verstopfe,  soviel  es  möglich  ist,  die  Quellen 
unsittlicher  Handlungen,  welche  in  der  Staatseinrichtung  selbst 
liegen,  man  wende  jedes  andre  Mittel  zur  Verhütung  noch  nicht 
begangner  Verbrechen  an,  man  schärfe  die  Aufsicht  der  Polizei 
auf  die  schon  begangnen,  man  strafe  auf  eine  zwekmässige  Weise, 
und  man  wird  seines  Zweks  nicht  verfehlen.  Und  vergisst  man 
denn,  dass  die  Geistesfreiheit  selbst,  und  die  Aufklärung,  die  nur 
unter  ihrem  Schuze  gedeiht,  das  wirksamste  aller  Beförderungs- 
mittel der  Sittlichkeit  ist?  Wenn  alle  übrige  nur  den  Ausbrüchen 
wehren ;  so  wirkt  sie  auf  Neigungen  und  Gesinnungen ;  wenn  alle 
übrige  nur  eine  Uebereinstimmung  äussrer  Handlungen  hervor- 
bringen, so  Schaft  sie  eine  innere  Harmonie  des  Willens  und  des 
Bestrebens.  Wann  wird  man  aber  auch  endlich  aufhören,  die 
äussren  Folgen  der  Handlungen  höher  zu  achten,  als  die  innre 
geistige  Stimmung,  aus  der  sie  fliessen;  wann  wird  der  Mann  auf- 
stehn,  der  für  die  Gesezgebung  ist.  was  Rousseau  der  Erziehung 
war,  der  den  Gesichtspunkt  von  den  äussren  ph3^sischen  Erfolgen 
hinweg  auf  die  innere  Bildung  des  Menschen  zurükzieht? 

Man  glaube  auch  nicht,  dass  jene  Geistesfreiheit  und  Auf- 
klärung nur  für  einige  Wenige  des  Volks  sei,  dass  für  den  grösseren 
Theil  desselben,  dessen  Geschäftigkeit  freilich  durch  die  Sorge  für 
die  physischen  Bedürfnisse  des  Lebens  erschöpft  wird,  sie  unnüz 
bleibe,  oder  gar  nachtheilig  werde,  dass  man  auf  ihn  nur  durch 
Verbreitung  bestimmter  Säze,  durch  Einschränkung  der  Denkfrei- 
heit wirken  könne.  Es  liegt  schon  an  sich  etwas  die  Menschheit 
Herabwürdigendes  m  dem  Gedanken,  irgend  einem  Menschen  das 
Recht  abzusprechen,  Mensch  zu  sein.  Keiner  steht  auf  einer  so 
niedrigen  Stufe  der  Kultur,  dass  er  zu  Erreichung  einer  höheren 
unfähig  wäre;  und  sollten  auch  die  aufgeklärteren  religiösen  und 
philosophischen  Ideen  auf  einen  grossen  Theil  der  Bürger  nicht 
unmittelbar  übergehn  können,  sollte  man  dieser  (blasse  von 
Menschen,  um   sich   an   ihre  Ideen   anzuschmiegen,   die  Wahrheit 


-75  2.    Über  Religion. 

in  einem  andren  Kleide  vortragen  müssen,  als  man  sonst  wählen 
würde,  sollte  man  genöthigt  sein,  mehr  zu  ihrer  Einbildungskraft 
und  zu  ihrem  Herzen,  als  zu  ihrer  kalten  Vernunft  zu  reden;  so 
verbreitet  sich  doch  die  Erweiterung,  welche  alle  wissenschaftliche 
Erkenntniss  durch  Freiheit  und  Aufklärung  erhält,  auch  bis  auf 
sie  hinunter,  so  dehnen  sich  doch  die  wohlthätigen  Folgen  des 
regen  uneingeschränkten  Untersuchungsgeistes  auf  den  Geist  und 
den  Charakter  der  ganzen  Nation  bis  in  ihre  geringsten  Individua 
hin  aus. 

Ich  seze  zu  diesen  Gründen  nichts  mehr  hinzu,  und  habe 
überhaupt  geglaubt,  bei  der  Beantwortung  der  Einwürfe,  w^elche 
man  mir  entgegenstellen  könnte,  mit  Recht  kürzer  sein  zu  dürfen. 
Wenn  der  Saz:  dass  der  Zwek  des  Menschen  im  Menschen  liegt, 
in  seiner  innren  morahschen  Bildung,  einmal  unerschütterlich  fest 
steht,  wenn  er  Grundsaz  alles  Handlens  gegen,  alles  Wirkens  auf 
Menschen,  folglich  erstes  und  höchstes  Princip  alles  Naturrechts, 
aller  Erziehung  und  Gesezgebung  geworden  ist ;  so  bedarf  die  Er- 
haltung der  grenzenlosesten  Freiheit  zu  denken,  zu  untersuchen, 
und  die  angestellten  Untersuchungen,  die  gefundnen  Resultate 
andren  mitzutheilen  keiner  Vertheidigung  mehr.  Und  diesen  Saz 
aufzustellen,  ihn  von  allen  Seiten  zu  zeigen,  ihn  mit  allen  seinen 
Gründen  auszuführen,  w^ar  der  einzige  Zwek  dieses  Aufsazes. 


Ideen  über  Staatsverfassung,  durch  die  neue  französische 
Constitution  veranlasst. 

Aus  einem  Briefe  an  einen  Freund  vom  August,    1791. 

Ich  beschäftige  mich  in  meiner  Einsamkeit^)  mehr  mit  poli- 
tischen Gegenständen,  als  ich  es  je  bei  den  häufigen  Veranlassungen 
dazu,  die  das  geschäftige  Leben  darbietet,  gethan  habe.  Ich  lese 
die  politischen  Zeitungen  regelmässiger  als  sonst  und  ob  ich  gleich 
nicht  sagen  kann,  dass  sie  ein  grosses  Interesse  in  mir  erwekten, 
so  reizen  mich  doch  noch  am  meisten  die  Französischen  An- 
gelegenheiten. Es  fällt  mir  dabei  alles  Kluge  und  Einfältige  ein, 
was  ich  seit  zwei  Jahren  darüber  gehört  habe,  und  am  Ende 
komme  ich  gewöhnlich  auf  Sie,  lieber  *,  und  den  lebhaften  An- 
theil,  den  Sie  an  diesen  Gegenständen  nahmen,-)  zurük.  Mein 
eignes  Urtheil  —  wenn  ich,  um  mir  doch  selbst  von  mir  Rechen- 
schaft zu  geben,  mich  eins  zu  fällen  zwinge  —  stimmt  dann  mit 
keinem  andren  geradezu  überein ;  es  mag  sogar  paradox  scheinen, 
aber   Sie   sind    ja    einmal    mit    meinen   Paradoxien   vertraut,    und 


Handschriß  (12  Quartseiten,  ein  undatierter  Brief  an  Gentz,  mit  Titel  ver- 
sehen und  durch  zwischen  die  Zeilen  geschriebene  Veränderungen  bearbeitet)  im 
Archiv  in  Tegel.  —  Erster  Druck :  Berlinische  Monatsschrift  ig,84—(ß  (Januar- 
heft i']g2). 

^)  Nachdem  Humboldt  den  juristischen  Staatsdienst  verlassen  und  am 
2g.  Juni  i-jgi  geheiratet  hatte,  verlebte  er  den  Rest  des  Jahres  auf  seinem  Landgut 
Burgörner  bei  Mayisfeld. 

y  Über  Gentzens  Interesse  für  die  Entwicklung  der  französischen  Bewegung 
vgl.  seine  Briefe  an  Garve  S.  $8.  100  und  Guglia,  Friedrich  von  Gentz  S.  97. 


r-g  3.    Ideen  über  Staatsverfassung, 

wenigstens  sollen  Sie  in  der  gegenwärtigen  auch  Konsequenz  mit 
den  übrigen  nicht  vermissen. 

Was  ich  am  häufigsten,  und,  ich  kann  es  nicht  läugnen,  mit 
dem  meisten  Interesse  über  die  Nationalversammlung  und  ihre 
Gesezgebung  hörte,  war  Tadel,  nur  leider  ein  Tadel,  für  den  die 
Abfertigung  immer  so  nah  lag.  Bald  Mangel  an  Sachkenntniss, 
bald  Vorurtheil,  bald  ein  kleingeistiger  Schauder  vor  allem  Neuen 
und  Ungewöhnlichen,  und  wer  weiss  was  noch  für  leicht  zu 
widerlegende  Irrthümer;  und  hielt  auch  einmal  ein  Tadel  jede 
Widerlegung  aus ;  so  blieb  doch  immer  der  leidige  Entschuldigungs- 
grund, dass  zwölfhundert  auch  weise  Menschen  doch  immer  nur 
Menschen  sind.  Mit  dem  Tadel,  wie  überhaupt  mit  dem  Be- 
urtheilen  einzelner  Anordnungen  kommt  man  also  schwerlich  ins 
Reine.  Dagegen  giebt  es,  dünkt  mich,  ein  ganz  offenbares,  kurzes, 
von  jedermann  anerkanntes  Faktum,  welches  schlechterdings  alle 
Data  zur  gründlichen  Prüfung  des  ganzen  Unternehmens  voll- 
ständig enthält. 

Die  constituirende  Nationalversammlung  hat  es  unternommen, 
ein  völlig  neues  Staatsgebäude,  nach  blossen  Grundsäzen  der  Ver- 
nunft, aufzuführen.  Diess  Faktum  muss  jedermann,  und  sie  selbst 
muss  es  einräumen.  Nun  aber  kann  keine  Staatsverfassung  ge- 
lingen, welche  die  Vernunft  —  vorausgesezt,  dass  sie  ungehinderte 
Macht  habe,  ihren  Entwürfen  Wirklichkeit  zu  geben  —  nach 
einem  angelegten  Plane  gleichsam  von  vornher  gründet;  nur  eine 
solche  kann  gedeihen,  welche  aus  dem  Kampfe  des  mächtigeren 
Zufalls  mit  der  entgegenstrebenden  Vernunft  hervorgeht.  Dieser 
Saz  ist  mir  so  evident,  dass  ich  ihn  nicht  auf  Staatsverfassungen 
allein  einschränken  möchte,  sondern  ihn  gern  auf  jedes  praktische 
Unternehmen  überhaupt  ausdehne.  Für  einen  so  rüstigen  Ver- 
theidiger  der  Vernunft  indess,  als  Sie  sind,  möchte  er  dieselbe 
Evidenz  nicht  haben.     Ich  verweile  daher  länger  dabei. 

Ehe  ich  jedoch  zu  den  Gründen  übergehe,  noch  vorher  ein 
Paar  Worte  zur  näheren  Bestimmung  desselben.  Zuvörderst,  sehen 
Sie,  lasse  ich  den  Entwurf  der  Nationalversammlung  zu  einer  Ge- 
sezgebung für  den  Entwurf  der  Vernunft  selbst  gelten.  Zweitens 
will  ich  auch  nicht  sagen,  dass  die  Grundsäze  ihres  Systems  zu 
spekulativ,  nicht  auf  die  Ausführung  berechnet  sind.  Ich  will  so- 
gar voraussezen,  alle  Gesezgeber  zusammen  hätten  den  wirklichen 
Zustand  Frankreichs  und  seiner  Bewohner  auf  das  anschaulichste 
vor  x\ugen   gehabt,   und   die  Grundsäze  der  Vernunft  diesem  Zu- 


durch  die  neue  französische  Konstitution  veranlasst. 


79 


Stande,  soviel  als  es  nur  überhaupt,  und  jenem  Ideal  unbeschadet, 
möglich  war,  angepasst.  Endlich  rede  ich  nicht  von  den  Schwierig- 
keiten der  Ausführung.  Wie  wahr  und  wizig  es  auch  sein  mag 
qt^il  ne  fant  pas  donner  des  legons  d'anatomie  siir  wi  corps  vivant; 
so  müsste  doch  erst  der  Erfolg  zeigen,  ob  nicht  dennoch  das 
Unternehmen  Dauer  gewinnt,  und  nicht  festgegründetes  Wohl  des 
Ganzen  vorübergehenden  Uebeln  Einzelner  vorgezogen  zu  werden 
verdient?  Ich  gehe  also  bloss  von  den  simpeln  Säzen  aus:  i.  die 
Nationalversammlung  wollte  eine  völlig  neue  Staatsverfassung 
gründen,  2.  sie  wollte  dieselbe  in  allen  ihren  einzelnen  Theilen 
nach  den  reinen,  wenn  gleich  der  individuellen  Lage  Frankreichs 
angepassten  Grundsäzen  der  Vernunft  bilden.  Ich  nehme  diese 
Staatsverfassung  —  für  den  Augenblik  —  als  völlig  ausführbar,  oder 
wenn  man  will,  auch  als  schon  wirklich  ausgeführt  an.  Dennoch, 
sag'  ich,  kann  eine  solche  Staatsverfassung  nicht  gedeihen. 

Eine  neue  Verfassung  soll  auf  die  bisherige  folgen.  An  die 
Stelle  eines  Systems,  das  allein  darauf  berechnet  war,  soviel  Mittel, 
als  möglich,  aus  der  Nation  zur  Befriedigung  des  Ehrgeizes  und 
der  Verschwendungssucht  eines  Einzigen  zu  ziehen,  soll  ein  System 
treten,  das  nur  die  Freiheit,  die  Ruhe,  und  das  Glük  jedes  Ein- 
zelnen zum  Zwek  hat.  Zwei  ganz  entgegengesezte  Zustände  sollen 
also  auf  einander  folgen.  Wo  ist  nun  das  Band,  das  beide  ver- 
knüpft.^ Wer  traut  sich  Erfindungskraft  und  Geschiklichkeit  ge- 
nug zu,  es  zu  weben?  Man  studire  noch  so  genau  den  gegen- 
wärtigen Zustand,  man  berechne  noch  so  genau  darnach  das,  was 
man  auf  ihn  folgen  lässt,  immer  reicht  es  nicht  hin.  Alles  unser 
Wissen  und  Erkennen  beruht  auf  allgemeinen,  d,  i.  wenn  wir  von 
Gegenständen  der  Erfahrung  reden,  unvollständigen  und  halb- 
wahren  Ideen,  von  dem  Individuellen  vermögen  wir  nur  wenig 
aufzufassen,  und  doch  kommt  hier  alles  auf  individuelle  Kräfte, 
individuelles  Wirken,  Leiden,  und  Geniessen  an.  Ganz  anders  ist 
es,  wenn  der  Zufall  wirkt,  und  die  Vernunft  ihn  nur  zu  lenken 
strebt.  Aus  der  ganzen,  individuellen  Beschaffenheit  der  Gegen- 
wart —  denn  diese  von  uns  unerkannten  Kräfte  heissen  uns  doch 
nur  Zufall  —  geht  dann  die  Folge  hervor,  die  Entwürfe,  welche 
die  Vernunft  dann  durchzusezen  bemüht  ist,  erhalten,  wenn  auch 
ihre  Bemühungen  gelingen,  von  dem  Gegenstande  selbst  noch, 
auf  den  sie  angelegt  sind,  Form  und  Modifikation.  So  können  sie 
Dauer  gewinnen,  so  Nuzen  stiften.  Auf  jene  Weise,  wenn  sie 
auch  ausgeführt  werden,  bleiben  sie  ewig  unfruchtbar.     Was   im 


3o  3-    Ideen  über  Staatsverfassung, 

Menschen  gedeihen  soll,  muss  aus  seinem  innren  entspringen, 
nicht  ihm  von  aussen  gegeben  werden,  und  was  ist  ein  Staat,  als 
eine  Summe  menschlicher  wirkender  und  leidender  Kräfte? 

Auch  fordert  jede  Wirkung  eine  gleich  starke  Gegenwirkung, 
jedes  Zeugen  ein  gleich  thätiges  Empfangen.  Die  Gegenwart  muss 
daher  schon  auf  die  Zukunft  vorbereitet  sein.  Darum  wirkt  der 
Zufall  so  mächtig.  Die  Gegenwart  reisst  da  die  Zukunft  an  sich. 
Wo  diese  ihr  noch  fremd  ist,  da  ist  alles  todt  und  kalt.  So,  wo 
Absicht  hervorbringen  will.  Die  Vernunft  hat  wohl  Fähigkeit, 
vorhandnen  Stoff  zu  bilden,  aber  nicht  Kraft,  neuen  zu  erzeugen. 
Diese  Kraft  ruht  allein  im  Wesen  der  Dinge,  diese  wirken,  die 
wahrhaft  weise  Vernunft  reizt  sie  nur  zur  Thätigkeit,  und  sucht 
sie  zu  lenken.  Hierbei  bleibt  sie  bescheiden  stehen.  Staats- 
verfassungen lassen  sich  nicht  auf  Menschen,  wie  Schösslinge  auf 
Bäume  pfropfen.  Wo  Zeit  und  Natur  nicht  vorgearbeitet  haben, 
da  ists,  als  bindet  man  Blüthen  mit  Fäden  an.  Die  erste  Mittags- 
sonne versengt  sie. 

Indess  entsteht  hier  noch  immer  die  Frage,  ob  die  Französische 
Nation  nicht  hinlänglich  vorbereitet  ist,  die  neue  Staatsverfassung 
aufzunehmen?  Allein  für  eine,  nach  blossen  Grundsäzen  der 
Vernunft,  S3^stematisch  entworfene  Staatsverfassung  kann  nie  eine 
Nation  reif  genug  sein.  •  Die  Vernunft  verlangt  ein  vereintes,  und 
verhältnissmässiges  Wirken  aller  Kräfte.  Ausser  dem  Grade  der 
Vollkommenheit  jeder  einzelnen,  hat  sie  noch  die  Festigkeit  ihrer 
Vereinigung,  und  das  richtigste  Verhältniss  einer  jeden  zu  den 
übrigen  vor  Augen.  Wenn  aber  auf  der  einen  Seite  die  Vernunft 
nur  durch  das  vielseitigste  Wirken  befriedigt  wird,  so  ist  auf  der 
andren  Seite  das  Loos  der  Menschheit  Einseitigkeit.  Jeder  Augen- 
blik  übt  nur  Eine  Kraft  in  Einer  Art  der  Aeusserung.  Häufige 
Widerholung  geht  in  Gewohnheit  über,  und  diese  Eine  Aeusserung 
dieser  Einen  Ivraft  wird  nun  mehr  oder  minder,  länger  oder  kürzer, 
Charakter.  Wie  der  Mensch  auch  ringen  mag,  die  einzelne,  in 
jedem  Moment  wirkende  Kraft  durch  die  Mitwirkung  aller  übrigen 
modificiren  zu  lassen;  so  erreicht  er  es  nie,  und  was  er  der  Ein- 
seitigkeit abgewinnt,  das  verliert  er  an  Kraft.  Wer  sich  auf 
mehrere  Gegenstände  verbreitet,  wirkt  schwächer  auf  alle.  So 
stehen  Kraft  und  Bildung  ewig  in  umgekehrtem  Verhältniss.  Der 
Weise  verfolgt  keine  ganz,  jede  ist  ihm  zu  lieb,  sie  ganz  der  andren 
zu  opfern.  So  ist  auch  in  dem  höchsten  Ideale  menschlicher  Natur, 
das  die  glühende  Phantasie  sich  zu   bilden   vermag,  jeder  Augen- 


durch  die  neue  französische  Konstitution  veranlasst.  8l 

buk  der  Gegenwart  eine  schöne,  aber  nur  Eine  Blüthe.  Den 
Kranz  vermag  nur  das  Gedächtniss  zu  flechten,  das  die  Ver- 
gangenheit mit  der  Gegenwart  verknüpft.  Wie  mit  dem  einzelnen 
Menschen,  so  mit  ganzen  Nationen.  Sie  nehmen  auf  einmal  nur 
Einen  Gang.  Daher  ihre  Verschiedenheiten  unter  einander,  daher 
ihre  Verschiedenheiten  in  ihnen  selbst  in  verschiedenen  Epochen. 
Was  thut  nun  der  weise  Gesezgeber?  Er  studirt  die  gegenwärtige 
Richtung,  dann,  je  nachdem  er  sie  findet,  befördert  er  sie,  oder 
strebt  ihr  entgegen;  so  erhält  sie  eine  andre  Modifikation,  und 
diese  wieder  eine  andre,  und  so  fort.  So  begnügt  er  sich,  sie 
dem  Ziele  der  Vollkommenheit  zu  nähern.  Was  aber  muss  ent- 
stehen, wenn  sie  auf  einmal  nach  dem  Plane  der  blossen  Vernunft, 
nach  dem  Ideale,  arbeiten,  w^nn  sie  nicht  mehr  genügsam  Eine 
Treflichkeit  verfolgen,  sondern  zu  gleicher  Zeit  nach  allen  ringen 
soll?  SchlarYheit  und  Unthätigkeit.  Alles,  was  v^är  mit  Wärme 
und  Enthusiasmus  ergreifen,  ist  eine  Art  der  Liebe.  Wenn  nun 
nicht  Ein  Ideal  mehr  die  Seele  füllt,  so  ist  Kälte,  w^o  ehemals 
Glut  war.  Ueberhaupt  vermag  mit  Energie  nie  der  zu  wirken, 
der  mit  allen  Kräften  auf  Einmal  gleichmässig  wirken  soll.  Mit 
der  Energie  aber  schwindet  jede  andre  Tugend  hin.  Ohne  sie 
wird  der  Mensch  Maschine.  Man  bewundert,  v/as  er  thut;  man 
verachtet,  was  er  ist. 

Lassen  Sie  uns  einen  Blik  auf  die  Geschichte  der  Staats- 
verfassungen werfen,  und  wir  werden  in  keiner  einen  nur  irgend 
hohen  Grad  der  Vollkommenheit  finden,  allein  von  den  Vorzügen. 
die  das  Ideal  eines  Staats  alle  vereinen  müsste,  werden  wir  auch 
in  den  verderbtesten  immer  einen,  oder  den  andren  entdekken. 
Die  erste  Herrschaft  schuf  das  Bedürfniss.  Man  gehorchte  nie 
länger,  als  man  entweder  den  Herrscher  nicht  entbehren,  oder 
ihm  nicht  widerstehen  konnte.  Diess  ist  die  Geschichte  aller, 
auch  der  blühendsten  alten  Staaten.  Eine  dringende  Gefahr 
nöthigte  die  Nation  einem  Herrscher  zu  gehorchen.  War  die 
Gefahr  vorüber,  so  strebte  sie  das  Joch  abzuschütteln.  Allein  oft 
hatte  sich  der  Herrscher  zu  sehr  festgesezt,  ihr  Ringen  war  ver- 
gebens. Dieser  Gang  ist  auch  der  menschlichen  Natur  völlig  an- 
gemessen. Der  Mensch  vermag  ausser  sich  zu  wirken,  und  sich 
in  sich  zu  bilden.  Bei  dem  Ersteren  kommt  es  bloss  auf  Kraft, 
und  zwekmässige  Richtung  derselben  an;  bei  dem  Lezteren  auf 
Selbstthätigkeit.  Daher  ist  zu  diesem  Freiheit,  zu  jenem,  da 
mehrere  Kräfte  nie  besser  gerichtet  werden,  als  wenn  Ein  Wille 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  6 


§2  3-  Ideen  über  Staatsverfassung, 

sie  lenkt,  Unterwürfigkeit  nothwendig.  Diess  Gefühl  unterwarf 
die  Menschen  der  Herrschaft,  sobald  sie  wirken  wollten ;  aber  das 
höhere  Gefühl  ihrer  innren  Würde  erwachte,  wenn  dieser  Zwek 
nun  erreicht  w^ar.  Ohne  diese  Betrachtung  würde  es  auch  nie 
begreiflich  sein,  wie  derselbe  Römer  in  der  Stadt  dem  Senat  Ge- 
seze  vorschrieb,  und  im  Lager  seinen  Rükken  willig  den  Streichen 
der  Centurionen  darbot.  Aus  dieser  Beschaffenheit  der  alten 
Staaten  entspringt  es,  dass,  wenn  man  unter  Systemen  absichtliche 
Plane  versteht,  sie  eigentlich  gar  kein  politisches  System  hatten, 
und  dass,  wenn  wir  jezt  bei  politischen  Einrichtungen  philo- 
sophische, oder  politische  Gründe  angeben,  wir  bei  ihnen  immer 
nur  historische  finden.  Diese  Verfassung  dauerte  bis  ins  Mittel- 
alter hin.  Zu  dieser  Zeit,  da  die  tiefste  Barbarei  alles  überdekte, 
musste,  sobald  sich  mit  dieser  Barbarei  Macht  vereinte,  der  ärgste 
Despotismus  entstehn,  und  billig  hätte  man  der  Freiheit  ihren 
gänzlichen  Untergang  verkündigen  sollen.  Allein  der  Kampf  der 
Herrschsüchtigen  unter  einander  erhielt  sie.  Nur  konnte  freilich, 
bei  dieser  gewaltsamen  Lage  der  Sachen,  niemand  selbst  frei  sein, 
der  nicht  zugleich  Unterdrükker  der  Freiheit  der  andren  war, 
Das  Lehnssystem  war  es,  in  welchem  die  ärgste  Sklaverei,  und 
ausgelassene  Freiheit  unmittelbar  neben  einander  existirte.  Denn 
der  Vasall  trozte  dem  Lehnsherrn  nicht  weniger,  als  er  seine 
Unterthanen  unmenschlich  bedrükte.  Die  Eifersucht  der  Regenten 
auf  die  Macht  der  Vasallen  schuf  diesen  ein  Gegengewicht  in  den 
Städten  und  dem  Volk,  und  endlich  gelang  es  ihm,  sie  zu  unter- 
drükken.  Statt  dass  nun  ehemals  doch  Ein  Stand  Depot  der 
Freiheit  gewesen  war,  war  jezt  alles  Sklave.  Der  Adel  verband 
sich  mit  dem  Regenten,  das  Volk  zu  unterdrükken,  und  von  hier 
aus  hebt  die  Verderblichkeit  des  Adels  an,  der  immer  nur  ein 
nothwendiges  Uebel  war,  und  jezt  ein  überflüssiges  geworden  ist.^) 
Seitdem  diente  nun  alles  den  Absichten  des  Regenten  allein. 
Dennoch  gewann  die  Freiheit.  Denn  da  das  Volk  mehr  dem 
Regenten,  als  dem  Adel  unterworfen  war?  so  verschafte  schon 
die  weitere  Entfernung  von  jenem  mehr  Luft.  Dann  konnten 
jene  Absichten  auch  nicht  sowohl  mehr,  wie  sonst,  unmittelbar 
durch  die  physischen  Kräfte  der  Unterthanen  —  woraus  vorzüg- 
lich die   persönliche  Sklaverei   entstand  —  erreicht  werden.     Es 


^)  Dieser  Satz  über  den  Adel  fehlt  im  ersten  Druck;  er  ßel  vermutlich  der 
Zensur  des  Herausgebers  Biester  zum  Opfer. 


durch  die  neue  französische  Konstitution  veranlasst.  3^ 

war  ein  Mittel  nothwendig,  das  Geld.  Alles  Streben  gieng  nun 
also  dahin,  von  der  Nation,  soviel  als  möglich,  Geld  aufzubringen. 
Diese  Möglichkeit  beruhte  aber  auf  zwei  Dingen.  Die  Nation 
musste  Geld  haben,  und  man  musste  es  von  ihr  bekommen. 
Jenen  Zwek  nicht  zu  verfehlen,  mussten  ihr  allerlei  Quellen  der 
Industrie  eröfnet  werden;  diesen  am  besten  zu  erreichen,  musste 
man  mannigfaltige  Wege  entdekken,  theils  um  nicht  durch  auf- 
bringende Mittel  zu  Empörungen  zu  reizen,  theils  um  die  Kosten 
zu  vermindern,  welche  die  Hebung  selbst  verursachte.  Hierauf 
gründen  sich  eigentlich  alle  unsre  heutigen  politischen  S3'steme. 
Weil  aber,  um  den  Hauptzwek  zu  erreichen,  also  im  Grunde  nur 
als  untergeordnetes  Mittel,  Wohlstand  der  Nation  beabsichtet 
wurde,  und  man  ihr,  als  unerlassbare  Bedingung  dieses  Wohl- 
standes, einen  höheren  Grad  der  Freiheit  zugestand;  so  kehrten 
gutmüthige  Menschen,  vorzüglich  Schriftsteller,  die  Sache  um, 
nannten  jenen  Wohlstand  den  Zwek,  die  Erhebung  der  Abgaben 
nur  das  nothwendige  Mittel  dazu.  Hie  und  da  kam  diese  Idee 
auch  wohl  in  den  Kopf  eines  Fürsten,  und  so  entstand  das 
Princip,  dass  die  Regierung  für  das  Glük  und  das  Wohl,  das 
physische  und  moralische,  der  Nation  sorgen  muss.  Gerade  der 
ärgste  und  drükkendste  Despotismus.  Denn  weil  die  Mittel  der 
Unterdrükkung  so  verstekt,  so  verwikkelt  waren ;  so  glaubten  sich 
die  Menschen  frei,  und  wurden  an  ihren  edelsten  Kräften  ge- 
lähmt. Indess  entsprang  aus  dem  Uebel  auch  wieder  das  Heil- 
mittel. Der  auf  diesem  Wege  zugleich  entdekte  Schaz  von 
Kenntnissen,  die  allgemeiner  verbreitete  Aufklärung  belehrten  die 
Menschheit  wieder  über  ihre  Rechte,  brachten  wieder  Sehnsucht 
nach  Freiheit  hen-or.  Auf  der  andren  Seite  wurde  das  Regieren 
so  künstlich,  dass  es  unbeschreibliche  Klugheit  und  Vorsicht  er- 
heischte. Gerade  in  dem  Lande  nun,  in  welchem  Aufklärung  die 
Nation  zur  furchtbarsten  für  den  Despotismus  gemacht  hatte, 
vernachlässigte  sich  die  Regierung  am  meisten,  und  gab  die  ge- 
fährlichsten Blossen.  Hier  musste  also  auch  die  Revolution  zuerst 
entstehen,  und  nun  konnte  kein  andres  System  folgen,  als  das 
System  einer  gemässigten,  aber  doch  völligen  und  unumschränkten 
Freiheit,  das  System  der  Vernunft,  das  Ideal  der  Staatsverfassung.^) 


V  Im  ersten  Druck  lautet  dieser  Satz:  „  .  .  .  .  und  mm  konnte  bei  der  be- 
kannten Unfähigkeit  der  Menschen,  die  Mittelwege  zu  finden,  und  besonders  bei 
dem  raschen   und  feurigen   Charakter  der  Nation   kein    andres  System  folgen 

6* 


^A  3-  Ideen  über  Staatsverfassung, 

Die  Menschheit  hatte  an  einem  Extrem  gelitten,  in  einem  Extrem 
musste  sie  ihre  Rettung  suchen.  Ob  diese  Staatsverfassung  Fort- 
gang haben  wird?  Der  Analogie  der  Geschichte  nach,  Nein! 
Aber  sie  wird  die  Ideen  aufs  neue  aufklären,  aufs  neue  jede 
thätige  Tugend  anfachen,  und  so  ihren  Segen  weit  über  Frank- 
reichs Gränzen  verbreiten.  Sie  wird  dadurch  den  Gang  aller 
menschlichen  Begebenheiten  bewähren,  in  denen  das  Gute  nie  an 
der  Stelle  wirkt,  wo  es  geschieht,  sondern  in  weiten  Entfernungen 
der  Räume  oder  der  Zeiten,  und  in  denen  jene  Stelle  ihre  wohl- 
thätige  Wirkung  wieder  von  einer  andren,  gleich  fernen,  empfängt. 

Ich  kann  mich  nicht  enthalten,  dieser  lezten  Betrachtung  noch 
einige  Beispiele  hinzuzufügen.  In  jeder  Periode  hat  es  Dinge  ge- 
geben, die,  verderblich  an  sich,  der  Menschheit  ein  unschäzbares 
Gut  retteten.  Was  erhielt  die  Freiheit  in  den  Zeiten  des  Mittel- 
alters? Das  Lehnssystem.  W^as  Aufklärung  und  W^issenschaften 
in  den  Zeiten  der  Barbarei?  Das  Mönchswesen.  Was  die  edle 
Liebe  zum  andren  Geschlecht  in  den  Zeiten  der  Herabwürdigung 
dieses  Geschlechts  bei  den  Griechen,  um  auch  aus  dem  häuslichen 
Leben  ein  Beispiel  zu  wählen?  Die  Knabenliebe.  Ja,  wir  be- 
dürfen nicht  einmal  der  Geschichte;  der  Gang  des  Menschen- 
lebens überhaupt  ist  das  treffendste  Beispiel.  In  jeder  Epoche 
desselben  ist  Eine  Art  des  Daseins  Hauptfigur  in  dem  Gemälde, 
indess  alle  übrigen  ihr,  als  Nebenfiguren,  dienen.  In  einer  andren 
Epoche  wird  sie  zur  Nebenfigur,  und  eine  von  jenen  tritt  auf  den 
Vordergrund.  So  danken  wir  allen  bloss  heitren,  sorgenfreien 
Genuss  der  Kindheit;  allen  Enthusiasmus  für  das  empfundene 
Schöne,  alle  Verachtung  der  Arbeit  und  Gefahr,  es  zu  erringen, 
dem  blühenden  Jünglingsalter;  alle  sorgsame  Ueberlegung,  allen 
Eifer  aus  Gründen  der  Vernunft  der  Reife  des  Mannes;  alle  Ge- 
wöhnung an  den  Gedanken  der  Hinfälligkeit  selbst,  alle  weh- 
müthige  Freude  an  der  Betrachtung,  das  war,  und  ist  nun  nicht 
mehr!  dem  Hinwelken  des  Greises.  In  jeder  Periode  existirt  der 
Mensch  ganz.  Aber  in  jeder  schimmert  nur  Ein  Funke  seines 
Wesens  hell  und  leuchtend;  bei  den  andren  ists  der  matte  Schein, 
bald  des  schon  halbverloschnen,  bald  des  erst  künftig  aufflam- 
menden Lichts.     Eben  so  ists  in   jedem   einzelnen  Menschen,  mit 


als  das,  worin  man  die  grösstmögliche  Freiheit  beabsichtigte  .  .  .  ."  Stil  und 
Inhalt  zeigen  in  gleicher  Weise,  daß  wir  es  hier  mit  keiner  authentischen  Kor- 
rektur, sondern  wohl  mit  einem  Zusatz  Biesters  zu  tun  haben. 


durch  die  neue  französische  Konstitution  veranlasst.  ^c 

l'eder  seiner  Fähigkeiten  und  Empfindungen.  Allein  ein  Individuum 
Einer  Art  erschöpft  selbst  in  der  Folge  aller  Zustände  nicht  alle 
Gefühle.  Der  Mann  z.  B.  bei  den  Menschen,  ewig  beschäftigt 
ausser  sich  zu  wirken,  ewig  strebend  nach  Freiheit  und  Herr- 
schaft, besizt  nur  selten  die  Sanftmuth,  die  Güte,  den  Wunsch, 
auch  durch  das  Glük  zu  beglükken,  das  man  empfindet,  nicht 
immer  durch  das,  was  man  giebt  —  welches  alles  dem  Weibe  so 
eigen  ist.  Dagegen  fehlt  es  dem  Weibe  so  oft  an  Stärke,  Thätig- 
keit,  Muth.  Um  daher  die  volle  Schönheit  des  ganzen  Menschen 
zu  fühlen,  muss  es  ein  Mittel  geben,  das  beider  Vorzüge,  wenn 
auch  nur  auf  Momente,  und  in  verschiednen  Graden  vereint 
fühlen  lässt,  und  diess  Mittel  muss  des  schönsten  Lebens  schönsten 
Genuss  bewahren. 

Was  folgt  nun  aus  diesem  allem  ?  dass  kein  einzelner  Zustand 
der  Menschen  und  Dinge  Aufmerksamkeit  verdient  an  sich,  sondern 
nur  in  Zusammenhang  mit  dem  vorhergehenden  und  folgenden 
Dasein;  dass  die  Resultate  an  sich  nichts  sind,  alles  nur  die 
Kräfte,  die  sie  hervorbringen,  und  die  aus  ihnen  entspringen. 

Und  nun  genug  für  heute,  lieber  *.     Leben  Sie  wohl! 


über  die  Gesetze  der  Entwicklung   der   menschlichen 

Kräfte. 

Bruchstück. 

Unter  allen  Bildern,  welche  die  Geschichte  darbietet,  zieht 
wohl  keines  eine  allgemeinere  und  regere  Aufmerksamkeit  an  sich, 
als  das  Bild  des  Menschen  in  der  Verschiedenheit  seiner  Lebens- 
weise nach  der  verschiedenen  Beschaffenheit  der  leblosen  und 
lebendigen  Natur  um  ihn  her,  unter  deren  unaufhörlichem  Ein- 
wirken er  lebt.  Gefesselt  von  dem  Interesse,  das  den  Menschen 
jedes  Erdstrichs  und  jedes  Jahrhunderts  an  den  Menschen  knüpft, 
stellt  der  betrachtende  Forscher  ferne,  längst  hingeschwundene 
Geschlechter  neben  sich  und  seine  Zeitgenossen,  vergleicht  mit 
prüfendem  Blik  ihr  inneres  Dasein,  ihre  Empfänglichkeit  für 
äussere  Eindrükke,  ihre  Fähigkeit  den  empfangenen  Stoff  in  ihr 
Eigenthum  zu  verwandeln,  und  mit  bereicherter  Ideenfülle,  und 
verstärkter  Empfindungskraft  eigene  Schöpfungen  hervorzubringen, 
ihre  äussere  Lage,  die  Welt,  die  sie  umgiebt,  und  die  Gestalt,  zu 
der  sie  sie  umbilden,  den  Genuss,  den  sie  aus  den  Gaben  des 
Schiksals  und  aus  den  Früchten  ihrer  Thätigkeit  ziehen.  Bald 
sieht  er  aus  seiner  Lage,  mit  seinen  Gesichtspunkten  auf  die  Vor- 
zeit hin,  bald  versezt  ihn  seine  Phantasie  selbst  in  dieselbe,  und 
eignet  ihm  den  Gesichtspunkt,  den  ehmals  ihre  Wirklichkeit  gab, 
und  so  wägt  er  unrichtiger  oder  richtiger  das  Gute  und  Be- 
glükkende  jedes  Jahrhunderts,  geniesst  jezt  des  frohen  Bewusst- 
seins  des   eigenen  Vorzugs,   und  jezt  wieder  des  wehmüthigeren 

Handschrift  (lo  Quartseiten,  ohne  Titel)  im  Archiv  in  Tegel. 


4.    Über  die  Gesetze  der  Entwicklung  der  menschlichen  Kräfte.  §-7 

und  dennoch  süssen  Gefühls,  dass  eine  Treflichkeit  hoher  be- 
seHgender  Schönheit  einmal  blühte  und  nun  nicht  mehr  ist !  Wenn 
er  auf  diese  Weise  die  Schiksale  der  Nationen  von  Epoche  zu 
Epoche  verfolgt,  so  kann  ihm  der  Zusammenhang  nicht  entgehen, 
der,  bald  wirklich,  bald  scheinbar,  jede  Begebenheit  mit  allen 
folgenden  verbindet.  Schon  der  eigenthümlichen  Natur  des  mensch- 
lichen Geistes  nach,  der  unaufhörlich  das  Allgemeine  sucht,  und 
das  Einzelne  in  ein  Ganzes  zusammenzufassen  strebt,  wird  er  alle 
zerstreuten  Züge  in  Ein  Gemähide  sammlen,  und  der  wechselnde 
Gang  aller  Schiksale  der  Erde  und  ihrer  Bewohner  wird  in  seinen 
Augen  zu  Einer  grossen,  unzertrennbaren  Einheit  werden.  Wenn 
gleich  freiHch  kein  einzelnes  Geschöpf  die  Umwandlungen  dieses 
Ganzen  in  ihrer  Folge  erfährt,  wenn  selbst  die  leblose  Natur,  die 
ihr  Schauplaz  ist,  nicht  unverändert  bleibt,  der  Boden,  der  den 
Enkel  nährt,  nicht  mehr  derselbe  ist,  den  der  Ahnherr  betrat,  und 
selbst  die  innerste  Felsmasse  unsrer  Erdkugel  vielleicht  dem  un- 
aufhörlichen Flusse  alles  Endlichen  folgt;  so  schlingt  sich  doch 
mitten  durch  allen  diesen  Wechsel  hindurch,  einer  ununter- 
brochenen Kette  gleich,  die  Reihe  der  auf  einander  folgenden 
Menschengeschlechter,  so  erhält  sich  doch  das,  was,  allein  ewig 
und  unvergänglich,  den  hinfälligen  Stoff  seines  Urhebers  überlebt, 
der  Vorrath  von  Ideen,  den  die  \^orwelt  auf  die  Nachwelt  vererbt. 
An  diesen  Fäden  verfolgt  der  philosophische  Geschichtsforscher 
oft  die  Revolutionen  des  Menschengeschlechts,  füllt  mit  Hypothesen 
die  Lükken,  welche  die  Ueberlieferung  lässt,  sieht  aus  der  Ver- 
gangenheit die  Gegenwart  entspringen,  ahndet  aus  dieser  die  nun 
neu  sich  entwikkelnde  Zukunft,  sucht  das  Ziel  zu  bestimmen,  dem 
diess  ewig  rege  wirksame  Ganze  nachstrebt,  und  erklärt  den 
gleichen  abgemessenen  Fortschritt  desselben  entweder  aus  der 
Leitung  einer  weisen  Macht,  oder  aus  der  nach  ewigen  Gesezen 
ihrer  Natur  wirkenden  Selbstthätigkeit  der  einzelnen  Kräfte.  Un- 
verkennbar ist  es  nun,  dass  diess  Ganze  nicht  in  seiner  Phantasie, 
oder  in  der  ^>^nu^•ft  allein  existirt,  die  ihre  Gebilde  so  oft  der 
Wirklichkeit  andichtet.  Die  wechselseitige  \'erschränkung  aller 
Begebenheiten  des  Menschengeschlechts  ist  klar,  und  jede  folgende 
Generation  tritt  in  keine  andere  Lage  der  Dinge,  als  in  die,  welche 
die  vorhergehenden  bereiteten,  empfängt  keine  andren  Ideen  als 
die,  welche  diese  erfanden  oder  moditicirten.  Mehr  Schwierigkeit 
aber  führt  die  Frage  mit  sich:  ob  nun  diese  Verkettung  von  Be- 
gebenheiten Einem  Ziele  entgegeneilt,  oder  das  Ziel,   das   erreicht 


38  4-    über  die  Gesetze 

werden  soll,  mit  jedem  einzelnen  Menschen  von  dieser  Erde 
scheidet,  ob  die  längere  Dauer  derselben  eine  erhöhetere  Voll- 
kommenheit, oder  noch  dasselbe  Maass  von  Kräften,  denselben 
Grad  des  Genusses,  nur  in  ewig  wechselnden,  unendlich  mannig- 
faltigen Gestalten  zeigen  wird?  Dennoch  führt  nicht  leicht  eine 
andere  Frage,  welche  das  Leben  und  Wirken  des  Menschen  be- 
trift,  ein  höheres  Interesse  mit  sich,  weil  die  Entscheidung  der- 
selben zugleich  eine  genaue  Würdigung  alles  dessen  enthalten 
müsste,  was  wir  unter  den  Menschen  gross,  und  gut,  und  wichtig 
nennen,  und  weil  sie  den  mancherlei  Führern,  ^^erbessere^n  und 
Regierern  der  Menschen  zeigte,  wie  das  Vorbild  —  dem  ihre 
ohnmächtige  Kraft  nur  nachzuahmen  strebt  —  das  allwaltende 
Schiksal  sie  leitet.  Selbst  wenn  die  Entscheidung  nicht  diesen 
Nuzen  gewährte,  bliebe  dennoch  immer  die  Untersuchung  in  mehr 
als  Einer  Rüksicht  wichtig.  Denn  sie  muss  —  wenn  sie  auf  Tiefe 
und  Genauigkeit  mit  Recht  Anspruch  machen  will  —  versuchen, 
alle  einzelne  Kräfte  auseinanderzusezen ,  welche  den  Menschen 
gross  und  glüklich  machen,  so  wie  alles  in  und  ausser  ihm,  wo- 
durch diese  Kräfte  Nahrung  und  Stärkung  erhalten,  und  was  sie 
schwächt  und  vernichtet ;  sie  muss  ferner  sogar  die  ewigen  Geseze 
zu  entdekken  suchen,  nach  welchen  der  Mensch  durch  den  natür- 
lichen Fortschritt  seiner  inneren  Kraft,  verbunden  mit  den,  bei 
einer  ewig  wechselnden,  und  doch  im  Ganzen  immer  sich  selbst 
gleichen  Natur,  ewig  neuen  und  doch  immer  wiederkehrenden 
Begebenheiten,  bald  von  dieser,  bald  von  jener  Seite  entwikkelt, 
bald  von  dieser,  bald  von  jener  beglükt  wird. 

Ehe  aber  auch  nur  ein  ^^ersuch  über  ein  Problem  gewagt 
wird,  dessen  vollständige  und  fehlerfreie  Auflösung  wohl  niemand 
von  menschlichen  Kräften  erwarten  wird,  erfordert  zuvörderst  die 
Möglichkeit  der  Auflösung  überhaupt  eine  eigene  Untersuchung. 
Denn  wenn  in  dem  Gange  menschlicher  Begebenheiten,  ihrer 
wechselseitigen  Verkettungen  ungeachtet,  keine  Einheit,  kein  gleich- 
förmiges Gesez  vorhanden  ist,  oder  wenn  dasselbe  auf  Dingen  be- 
ruht, welche  menschliche  Einsicht  nicht  zu  durchschauen  vermag, 
so  wird  die  Phantasie  im  eitlen  Haschen  nach  dem,  was  nirgend 
existirt,  Hypothesen  an  die  Stelle  der  W^ahrheit  sezen,  und  der 
erträglichste  Erfolg  des  Unternehmens  wird  die  Ueberzeugung 
seiner  Unausführbarkeit  sein.  Um  nun  aber  hierüber  erst  zur 
Gewissheit  zu  gelangen,  dürfen  wir  uns  nicht  reiner  Vernunftsäze 
und   Schlüsse   bedienen.     Gesezt  auch,   wir  besässen   irgend   eine 


der  Entwicklung  der  menschlichen  Kräfte. 


89 


Vernunftwahrheit,  die  auf  die  Nothwendigkeit  eines  gleichförmigen 
Gesezes  führte;  so  dürften  wir  dennoch  dadurch  über  die  Natur 
und  die  Beschaffenheit  desselben  keine  Aufschlüsse  erwarten.  Nur 
die  Betrachtung  der  wirkenden  Kräfte  und  ihrer  Wirkungen,  nur 
also  die  Erfahrung,  sei  es  die  innere  in  unsrem  eignen  Bewusst- 
sein,  oder  die  äussre  durch  Beobachtung,  Ueberlieferung  und  Ge- 
schichte, kann  hier  Lehrmeisterin  sein.  Der  menschliche  Geist  hat 
die  Geseze  der  Bewegung  des  Erdballs,  und  über  seinen  Wohnsiz 
hinaus  die  Stellung  und  verschiedene  Laufbahn  der  Körper  des 
Sonnens^'stems  entdekt,  zu  dem  er  gehört,  und  mit  Genauigkeit 
und  Zuverlässigkeit  weissagt  er  alle  Begebenheiten,  die  davon  ab- 
hängen. Wunderbar  ist  es,  dass  er,  vertraut  mit  den  Revolutionen 
millionenmeilen  entfernter  Sphären,  ein  Fremdling  in  den  Ver- 
änderungen ist,  die  ihn  umgeben,  auf  die  er  selbst  so  mächtig 
wirkt,  und  deren  Rükwirkung  er  erfährt.  Allein  jene  Geseze  be- 
ruhen, wie  fast  alles,  worüber  wir  zuverlässige  Theorien  besizen, 
auf  allgemeinen  Ideen  von  Grössen  und  Verhältnissen  des  Raums 
und  der  Zeit,  und  auf  Beobachtungen,  die  meistentheils  auch  nur 
darauf  hinauslaufen ;  indess  wir  hier  in  einem  Gebiete  des  Wissens 
sind,  in  dem  alles  von  den  wirklichen  Kräften,  und  dem  Wesen 
der  Dinge  abhängt,  in  dem  nur  die  Kenntniss  des  Individuums 
der  Wahrheit  nähert,  und  jede  allgemeine  Idee  immer  gerade  im 
Verhältniss  der  Menge  der  Individuen,  von  denen  sie  abgezogen 
ist,  von  derselben  entfernt.  Dieser  Schwierigkeit  und  so  vieler 
andren  aber  —  unter  welchen  die  einer  in  dem  Grade  extensiv 
ausgebreiteten,  und  intensiv  eindringenden  Beobachtung,  als  hier 
eigentlich  erfordert  würde,  nicht  vergessen  werden  muss  —  un- 
geachtet, ist  dennoch  soviel  gewiss,  dass  jegliche  Veränderung  auf 
der  Erde  eine  Wirkung  entweder  der  menschlichen  Kräfte,  oder 
der  übrigen  lebendigen  Geschöpfe,  oder  der  leblosen  Natur,  oder 
vielmehr,  da  in  keinem  dieser  Theile  der  Schöpfung  etwas  vor- 
geht, das  nicht  einen,  wenn  gleich  in  den  nächsten  Folgen  nicht 
bemerkbaren  Einfliiss  auf  die  übrigen  hätte,  ein  Resultat  der 
Wirkungen  und  Rükwirkungen  aller  dieser  Kräfte  zusammen- 
genommen ist.  Nun  sind  die  Kräfte  des  Menschen  im  Ganzen 
genommen  dieselben,  die  Nothwendigkeit  ihrer  Erhaltung  bringt 
dieselben  Bedürfnisse  hervor,  und  aus  diesen,  wie  aus  dem  ange- 
nehmen Gefühl  ihrer  Befriedigung  entspringen  ohngefehr  dieselben 
Neigungen,  Begierden  und  Leidenschaften.  Eben  so  hat  auch 
die  übrige   Natur   immer   und  überall    im  Ganzen   einen   gleichen 


QO  4-    t'ber  die  Gesetze 

Vorrath  von  Mitteln,  den  Bedürfnissen  des  Menschen  zu  genügen. 
Wie  ihre  Natur,  so  bleibt  auch  der  gegenseitige  Einfluss  dieser 
Eigenschaften  sich  gleich.  So  lässt  die  Gleichförmigkeit  der  Kräfte, 
als  der  Ursachen,  auf  eine  Gleichförmigkeit  der  Wirkungen,  der 
Ereignisse  des  Menschengeschlechts,  schliessen.  Eine  andre  Be- 
stätigung dieses  Schlusses  Hesse  sich  aus  der  Geschichte  selbst 
hernehmen.  Allein  so  wichtig  und  nothwendig  ihr  Zeugniss  bei 
dem  ganzen  Gegenstande  bleibt,  den  ich  behandle;  so  vermeide 
ich  doch  mit  Fleiss,  die  eigentlichen  Beweise  in  ihr  zu  suchen, 
vorzüglich  hier  bei  der  Prüfung  der  Ausführbarkeit  meines  Unter- 
nehmens, wo  es  am  wichtigsten  ist,  nicht  durch  Irrthümer  ge- 
täuscht zu  werden.  Denn  wenn  unsre  Geschichte  auch  einen 
grösseren  Zeitraum  umfasste,  wenn  ihr  Zusammenhang  durch 
weniger  Lükken  unterbrochen  wäre,  und  ihre  Gewissheit  weniger 
Zweifel  litte,  als  es  überhaupt  der  Fall  ist;  so  würde  es  dennoch 
immer  dem  Schlüsse  von  dem,  was  geschehen  ist,  auf  das,  was 
geschehen  wird,  von  dem  Gewöhnlichen  auf  das  Nothwendige  an 
Zuverlässigkeit  mangeln.  Es  musste  daher,  auch  die  Schwierigkeit 
noch  abgerechnet,  das  Einfache,  und  Beständige  in  einer  so  ver- 
wikkelten  und  wechselnden  Masse,  als  wir  durch  die  Ueberliefe- 
rung  erhalten,  aufzusuchen,  auf  die  Kräfte  zurükgegangen  werden, 
welche  eigentlich  alle  Veränderungen  hervorbringen.  Wenn  wir 
nun  auf  diesem  Wege  die  Wirklichkeit  gleichförmiger  Geseze  in 
den  menschlichen  Begebenheiten  entdekt  zu  haben  glauben;  so 
müssen  w^ir  jezt,  um  auch  die  Möglichkeit  zu  untersuchen,  die 
Natur  dieser  Geseze  zu  entwikkeln,  die  einzelnen  Kräfte,  deren 
zusammengesezte  Resultate  die  Begebenheiten  sind,  von  einander 
trennen,  und  sehen,  wie  weit  wir  die  Eigenthümlichkeiten  einer 
jeden  zu  erforschen  vermögen.  Die  Kräfte  des  Menschen  kennen 
wir  aus  unsrem  eignen  Gefühle,  und  über  das  Maass  derselben 
sowohl,  als  über  ihren  wechselseitigen  Eintiuss  auf  einander,  und 
auf  die  Natur,  die  sie  umgiebt,  haben  die  Weltweisen  aller  Zeiten 
eine  grosse  Menge  von  Beobachtungen  gesammelt.  Freilich  aber 
hat  man  noch,  diese  einzelnen  Kräfte  auf  die  Einzige  zurük- 
zuführen,  von  der  sie  eigentlich  nur  verschiedene  Seiten  sind,  zu 
sehr  versäumt,  die  Entwikkelung  einzelner  hervorstechender  oft 
der  Entwikklung  des  ganzen  Wesens,  in  allen  Theilen,  vorgezogen, 
und  die  Wichtigkeit  des  Einflusses  mancher  Ideen,  Sensationen, 
und  Gefühle,  gegen  den  Einfluss  andrer,  den  man  über  die  Ge- 
bühr erhöhte,  zu  sehr  verkannt.    Indess   ist  doch   hier   klar,   dass 


der  EnUvicklung  der  menschlichen  Kräfte.  qj 

angestrengte,  und  fortgesezte  Beobachtung  seiner  selbst  und  andrer 
und  Vermeidung  alles  einseitigen  und  partheiischen  Raisonnements, 
wenn  nicht  wirklich  zum  Ziele,  wenigstens  demselben  immer  näher 
führen  müsse.  Die  Gattungen  der  Thiere,  das  Alaass  ihrer  Kräfte, 
den  möglichen  Einfluss  derselben  auf  die  Menschen,  und  der 
Menschen  auf  sie  kennen  wir  gleichfalls  wenigstens  im  Ganzen, 
und  so  mangelhaft  und  dunkel  unsre  Kenntniss  auch  ist;  so  ist 
dennoch  hier  noch  einiges  Licht,  ^'öllig  aber  verschwindet  diess 
bei  der  leblosen  Natur.  Wohl  lehn  uns  eine  lange  Erfahrung 
ihre  Erscheinungen,  und  —  wenigstens  bei  vielen  —  eine  auf  Er- 
fahrung und  Raisonnement  gebaute  Wissenschaft  ihre  nothwendige 
oder  gewöhnliche  Folge.  Allein,  wenn  wir  gleich  alle  Dinge,  uns 
selbst  nicht  ausgenommen,  nur  als  Erscheinung  und  nicht  ihrem 
Wesen  nach  kennen,  so  vermögen  wir  doch  —  unsre  A'orstellung 
sei  nun  richtig  oder  nicht  —  uns  gleichsam  in  die  Natur  jedes 
lebendigen  Wesens  zu  versezen,  uns  nicht  bloss  vorzustellen,  wie, 
es  uns  erscheint,  sondern  auch,  wie  es  wohl  sich  selbst  in  sich 
fühlt.  Mit  jedem  lebendigen  Wesen  sind  wir  gleichsam  verwandt, 
und  erv\^arten  in  ihm  nichts,  als  w^ovon  wir  wenigstens  analoge 
Empfindungen  haben.  Allein  mit  der  ^"orstellung  des  Lebens  ver- 
lässt  uns  jede  ^^orstellung  des  Seins.  Wie  einem  \"olk  auf  einer 
durch  weite  Meere  von  andren  Nationen  geschiedenen  Insel  ein 
Schiff  fremder  Ankömmlinge  schreklich  ist,  so  und  schreklicher 
sollte  uns  die  leblose  Natur  sein,  jedes  Gebirge,  das  wir  vor  uns 
erblikken,  der  Fussboden,  den  wir  betreten.  Was  sichert  uns, 
dass  nicht  das  Gebürge  über  uns  herstürzt,  und  der  Boden  sich 
öfnet,  und  beide  uns  den  Leichnamen  zugesellen,  aus  welchen  ihre 
Masse  besteht?  Nur  Gewohnheit  und  Erfahrung  einer  Lebenszeit 
vermag  unsre  Besorgnisse  zu  schwächen.  Allein  so  wahr  auch 
diess  im  Allgemeinen  ist,  so  dürfen  wir  auf  der  andren  Seite  auch 
nicht  vergessen,  dass  wir  mit  den  gewöhnlichen  Erscheinungen 
auch  der  leblosen  Natur,  ihren  Wirkungen  auf  uns,  und  vielerlei 
Mitteln  auch  an  ihr  "v'eränderungen  herv'orzubringen  vertraut  sind, 
und  dass  die  grösseren  nicht  im  Voraus  zu  berechnenden  Revo- 
lutionen, ihre  Seltenheit  noch  abgerechnet,  gewöhnlich  nur  kleinere 
Räume  treffen.  So  wie  aber  hier  die  Schwierigkeit  kleiner  er- 
scheint, so  ist  bei  denjenigen  Veränderungen,  welche  aus  mensch- 
lichen Kräften  entspringen,  im  Vorigen  eine  grössere  übersehen 
worden.  Wie  genau  und  tief  man  auch  in  die  Natur  der  mensch- 
lichen Kräfte  eingedrungen  sein   mag,   so    kann   und   muss    selbst 


Q2  4-    L'ber  die  Gesetze 

ZU  dem  gegenwärtigen,  wie  zu  jedem  wissenschaftlichen  Zwekke, 
diese  Kenntniss  nur  immer  allgemein  sein.  Nun  aber  ist  jede 
menschliche  Handlung  ein  Resultat  der  ganzen  Beschaffenheit  der 
Kräfte  des  Handlenden,  in  ihrer  durchaus  bestimmten  Individuali- 
tät, und  welche  Revolutionen  eine  einzelne  That  eines  einzelnen 
Menschen  hervorzubringen  vermag,  davon  ist  die  ganze  Geschichte 
ein  lebendiges  Zeugniss.  Hieraus  vorzüglich  entspringt  es,  dass 
bisher  über  die  gegenwärtige  Materie  noch  eigentlich  nichts  ge- 
sagt ist,  das  innere  Konsequenz  hätte,  und  mit  Sicherheit  zu  irgend 
einem  Ziele  führte.  Man  hat  die  Geschichte  im  Ganzen  betrachtet, 
und  den  Zustand  des  jezigen  Jahrhunderts  mit  dem  der  vorher- 
gehenden verglichen.  Natürlich  mussten  viele  wahre  und  unleug- 
bare Vorzüge  des  ersteren  in  die  Augen  fallen,  nicht  minder 
manche  scheinbare  hinzukommen,  so  wie  sich  beinah  darthun 
lässt,  dass  jedes  Zeitalter,  das  die  Untersuchung  anstellt,  auch  selbst 
bei  eitelkeitfreier  Anspruchlosigkeit  sich  den  Vorzug  beimessen 
wird.  Denn  jedes  Zeitalter  pflegt  vorzüglich  Eine  Seite  seiner 
Kraft  zu  üben,  in  dieser  findet  es  sich  natürlich  überlegen,  und 
es  wäre  nicht  auf  diese  vorzügliche  Uebung  gerathen,  wenn  es 
nicht  zugleich  dieser  den  Preis  vor  andren  zuerkennte.  Vor  allem 
aber  konnte  niemandem  die  Menge  der  Mittel  entgehen,  die  unser 
Jahrhundert  zur  höheren  Bildung  des  Menschen  erfand,  und  die 
mannigfaltigen  Arten  diese  Mittel  auch  wiederum  der  Nachwelt 
zu  sichern.  Diess  bestimmt  denn  auch  gewöhnlich  die  meisten 
für  ihre  Enkel  noch  grössere  Vollkommenheit  und  ein  höheres 
Glük  zu  hoffen,  als  sie  selbst  um  sich  erblikken.  Dagegen  wenden 
andre  die  Beispiele  aus  der  Geschichte  ein,  wo  schnelle  und  grosse 
Revolutionen  dergleichen  Mittel  wenn  nicht  ganz  zernichtet, 
dennoch  der  Nachwelt  auf  lange  Zeit  hin  vorenthalten  haben;  und 
nun  beruht  der  Streit  auf  Vermuthungen  und  Wahrscheinlich- 
keiten, die  jeder  leicht  seinem  Interesse  gemäss  wenden  kann,  un- 
gerechnet, dass  hiebei  noch  immer  unentschieden  bleibt,  ob  nun 
auch  wirklich  die  Vollkommenheit  und  das  Glük  der  Menschen 
im  Verhältniss  der  Menge  der  Mittel  —  vorzüglich  derer,  welcher 
unser  Jahrhundert  sich  rühmt  —  wächst,  und  ob,  wenn  es  eine 
Armuth  giebt,  die  jede  Kraft  niederdrükt,  sich  nicht  auch  ein 
Reichthum  denken  lässt,  bei  dem  sie  mitten  im  schwelgenden  Ge- 
nüsse dahinschwinden?  Diess  warnende  Beispiel  lehrt  uns  daher 
einen  andren  Weg  einschlagen;  es  wird  aber  nicht  uns  von  dem 
ganzen  Unternehmen    abzuschrekken  vermögen.     Denn   wie  ver- 


der  Entwickluncr  der  menschlichen  Kräfte. 


95 


schieden  in  ihren  Richtungen,  und  wie  wichtig  in  ihren  Einflüssen 
die  einzelnen  menschlichen  Handlungen  auch  sind,  wie  unmöglich 
es  ist,  die  Geseze  zu  entdekken,  nach  welchen  auch  nur  viele  der- 
selben auf  einander  folgen ;  so  halten  doch  die  menschlichen  Kräfte 
immer  einen  ihnen  eigenthümlichen  Gang.  Auf  einen  bestimmten 
Grad  und  eine  bestimmte  Richtung  derselben  kann  wieder  nur 
ein  andrer  gleich  bestimmter  Grad,  und  eine  andre  gleich  be- 
stimmte Richtung  folgen ;  und  nichts,  auch  die  mächtigste  physische 
Revolution,  vermag  diesen  Gang  zu  verändern,  sie  kann  nur  ihn 
beschleunigen  oder  zurükhalten.  Diesem  Raisonnement  zufolge 
ist  daher  die  abgemessene  Entwikklung  der  menschlichen  Ivräfte 
allemal  das,  was  die  Revolutionen  unsres  Geschlechts  vorzüglich 
bestimmt.  Viele  dieser  Revolutionen  sind  unmittelbare  und  alleinige 
Folgen  derselben ;  bei  den  übrigen  giebt  es  wenigstens  bestimmte 
Schranken,  innerhalb  welchen  jene  Kräfte  allein  von  ihnen  ver- 
ändert werden  können.  Nun  aber  ist  es  gerade  die  Entwikkelung 
dieser  Kräfte,  die  wir  am  genauesten  erforschen  können,  gerade 
ihr  Gang,  der  schon  in  mannigfaltigen  Verhältnissen  bekannt  ist. 
und  dessen  gänzliche  genaue  Entdekkung  wenn  gleich  unendlich 
schwierig,  doch  nicht  unmöglich  erscheint.  Die  Aufsuchung 
derGesezederEntwikklung  der  menschlichen  Kräfte 
auf  Erden  wird  demnach  den  genauer  bestimmten  Gegenstand 
der  gegenwärtigen  Arbeit  ausmachen.  Diese  Geseze  können  auf- 
gesucht werden  bei  dem  einzelnen  Menschen,  sobald  man  ihm 
zugleich  eine  bestimmte  Lage  auf  der  Erde  anweist;  bei  ganzen 
Nationen,  insofern  gemeinschaftliche  Lage,  und  verbundenes  Leben 
eine  Gleichförmigkeit  ihrer  Kräfte  hen'orbringt ;  endlich  bei  auf 
einander  folgenden  Meiischengeschlechtern,  insofern  ihre  Wirksam- 
keit nicht  durch  Revolutionen  unterbrochen  worden ,  die  den 
Wirkungen  ihrer  fortschreitenden  Kräfte  fremd  sind,  sowohl  den 
unmittelbaren,  als  denjenigen  mittelbaren,  welche  zunächst  zwar 
aus  der  physischen  Natur  entspringen,  indess  doch  nur  aus  der- 
jenigen Form  derselben,  welche  sie  selbst  von  jenen  Kräften  er- 
hielt, insofern  also  keine  nachfolgende  Generation  etwas  andres 
erfährt,  als  was  die  immer  vorhergehende  vorbereitete.  Nicht 
leicht  zwar  werden  sich  nun  in  der  wirklichen  Welt  auch  nur 
zwei  Generationen  genau  in  dieser  Lage  betinden;  genau  werden 
also  auch  die  auf  diesem  Wege  noch  so  richtig  entdekten  Geseze 
auf  die  Wirklichkeit  nicht  passen,  mehr  oder  weniger  möglich 
aber  wird  ihre  Anwendung  sein,  je  mehr  oder  weniger  sie  dieser 


(^\A  4-    über  die  Gesetze 

Lage  sich  nähern.  Revolutionen,  welche  jenen  vorhergenannten 
Wirkuhgen  fremd  sind,  können  entweder  bloss  ungewöhnliche 
physische,  oder  auch  menschliche  Unternehmungen  und  einzelne 
Menschen  und  ganze  Völker  sein,  welche  mit  denen,  auf  welche 
sie  jezt  wirken,  entweder  ausser  aller  Verbindung  standen,  oder 
deren  Art  zu  sein  doch,  sei  es  in  minderem  oder  höherem  Grade, 
nicht  durch  die  Verhältnisse  dieser  motivirt  war,  die  also,  Theile 
einer  Reihe  für  sich,  sich  in  eine  andre  Reihe  mischen.  Wenn 
man  sich  überhaupt  alle  Ereignisse  des  Menschengeschlechts  als 
eine  Menge  einzelner  Reihen  vorstellt,  die  sich  zwar  eine  jede  aus 
sich  selbst  entwikkeln,  allein  auch  einander  mannigfaltig  durch- 
kreuzen, und  sich  mit  einander  verbinden,  und  durch  die  Be- 
rührung und  Verbindung  den  berührten  und  verbundenen  andre 
Modifikationen  mittheilen;  so  lassen  sich  wohl  —  wenigstens 
scheint  der  Möglichkeit  nichts  entgegenzustehen,  wenn  gleich  die 
Ausführung  selbst  mancherlei  erschwert  —  die  Geseze  cntdekken, 
nach  welchen  die  einzelnen  Theile  einer  Reihe  auf  einander  folgen, 
und  nach  welchen  eine  jede  durch  die  Berührung  einer  andren 
—  wofern  nur  diese  gegeben  ist  —  verändert  wird,  allein  uner- 
forschbar menschlicher  Einsicht  möchten  wohl  die  bleiben,  nach 
welchen  das  ganze  Gewebe  sich  durch  einander  verschlingt.  Je 
mehr  also  der  einzelnen  Reihen,  desto  abgebrochner  die  An- 
wendung der  entdekten  Geseze,  desto  ausgebreiteter  aber,  je  mehr 
der  verbundenen,  und  so  möchten  die  leztverflossenen  Jahr- 
hunderte mit  Recht  eine  grössere  Aufklärung  erwarten,  als  die 
früheren.  Da  auch  die  hinterlassenen  Werke  einer  Generation 
nicht  immer  gleich  von  der  nächstfolgenden,  oft  erst  von  einer 
bei  weitem  späteren  benuzt  werden,  und  oft  nicht  von  dieser 
ganzen,  nicht  einmal  von  einzelnen  ganzen  Nationen,  sondern  nur 
einer,  oder  der  andern  ihrer  Klassen,  wenn  nicht  gar  Individuen; 
so  kann  die  Reihe,  die  wir  in  dem  gegenwärtigen  Verstände  Eine 
nennen,  nicht  immer  weder  der  Zeitfolge  nachgehen,  sondern 
muss  oft  mehrere  Jahrhunderte  überspringen,  noch  den  Massen 
der  einzelnen  Nationen,  sondern  kann  oft  nur  einzelne  jMitglieder 
derselben  berühren,  je  nachdem  nemlich  der  Einfluss  der  Fort- 
schritte einer  Generation  diese  mit  der  nächstfolgenden,  oder  einer 
späteren,  mit  einer  ganzen  Nation,  oder  einzelnen  Theilen  der- 
selben verbindet.  Denn  diese  Reihen  sind  —  wie  schon  der  Zu- 
sammenhang des  Vorigen  hinlänglich  zeigt  —  nicht  eigentlich  Reihen 
der  Begebenheiten,  sondern  der  physischen,  intellektuellen,  und 


der  Entwicklung  der  menschlichen  Kräfte. 


95 


moralischen  Kräfte  der,  durch  den  gegenseitigen  Einfiüss  dieser 
Kräfte  mit  einander  verbundenen  Generationen;  der  Begeben- 
heiten sind  sie  es  nur  insofern,  als  diese  reine  Wirkungen  jener 
Kräfte  sind.  Die  Geseze,  deren  Aufsuchung  uns  beschäftigt, 
werden  demnach  eigentlich  nur  für  die  Kräfte  bestimmt  sein, 
und  auf  die  Schiksale  des  Menschengeschlechts  überhaupt  nur 
Anwendung  finden  i.  insofern  die  Fortschritte  einer  Generation 
rein  und  ganz  auf  die  folgende  übergehen,  2.  insofern  die  Be- 
gebenheiten selbst  reine  Wirkungen  jener  Kräfte  sind.  Keine 
dieser  beiden  Bedingungen,  am  wenigsten  beide  zugleich  treffen 
auch  nur  Einmal  in  der  wirklichen  Welt  ein;  denn  alle  Kräfte, 
folglich  auch  die  uns  unerforschbaren,  sind  in  unaufhörlicher 
Wirksamkeit,  und  alles  steht  wiederum  in  einem  unzertrennbaren 
Zusammenhange.  Auf  jene  Schiksale  also  werden  unsre  Geseze 
nur  immer  mit  sehr  grossen  Fehlern  —  obgleich  freilich  manch- 
mal mit  minderen  —  angewendet  werden  können.  Da  nun  einzelne 
Begebenheiten  auch  den  Fortschritten  der  Kräfte  oft  sehr  uner- 
wartete Wendungen  geben,  und  jene  Begebenheiten  den  entdekten 
Gesezen  nur  sehr  wenig  unterworfen  sein  dürften;  so  wird  die 
Anwendung  derselben,  auch  auf  die  Kräfte,  viele  Ausnahmen  leiden. 
Allein  so  oft  eine  solche  Begebenheit  eintritt,  ist  die  Reihe  —  in 
dem  Sinn,  in  dem  oben  davon  geredet  wurde  —  geendet,  und 
für  Eine  Reihe  sollte  ja  das  Gesez  nur  immer  gelten;  dann  kann 
aber  auch  eine  solche  Begebenheit  den  Fortschritt  der  Kräfte  nur 
immer  innerhalb  bestimmter  Gränzen  verändern.  Denn  selbst 
das  allmächtige  Schiksal  vermag  mit  lebendigen  Kräften  nicht 
nach  seinem  Gefallen  zu  walten;  die  Kräfte  widerstreben,  und 
das  Resultat  ist  allemal  aus  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  zu- 
sammengesezt.  Nun  aber  gehört  die  Gegenwirkung  zu  dem  Ge- 
biet der  uns  erforschbaren  Dinge.  Freilich  aber  muss  man  ge- 
stehen, dass,  wenn  man  nicht  unter  den  ebengenannten  Begeben- 
heiten nur  die  wichtigsten  heraushebt,  sondern  alle  dahin  rechnet, 
die  nur  überhaupt,  wenn  gleich  in  geringerem  Grade,  Einfiüss 
haben,  eigentlich  keine  einzige  Reihe  der  vorhinbeschriebenen  Art 
vorhanden  ist,  sondern  das  Ende  der  einen  immer  mit  dem  An- 
fange der  andren  zusammenfällt.  Denn  das  Zusammenwirken 
aller  Kräfte  ist  ja  unendlich  und  unaufhörlich.  Auf  die  wirkliche 
Welt  dürften  daher  unsre  Geseze  ganz  und  gar  keine  Anwendung 
finden,  wobei  jedoch  auch  in  Betrachtung  kommt,  dass  unsre 
Kenntniss  der  wirklichen  Welt  durch  eigne  und  fremde  Erfahrung 


q5  4.    über  die  Gesetze  der  Entwicklung  der  menschlichen  Kräfte. 

ebendenselben,  aus  der  Natur  unsrer  Seelenkräfte  entspringenden 
Mangel  hat,  Individualitäten  der  Wirklichkeit  in  Allgemeinheiten 
der  Ideen  zu  verwandeln,  durch  welchen  doppelten  Fehler  wir 
zwar  keine  grössere  Richtigkeit,  allein  doch  eine  grössere  Ueber- 
einstimmung  erhalten.  Wäre  diess  aber  auch  nicht,  so  zerstört 
doch  der  eben  gemachte  Einwurf  unsre  Absicht  nicht;  er  leitet 
sie  vielmehr  nur  dahin,  wo  sie  allein  Nuzen  gewähren  kann. 
Immer  nemlich  werden  wir  aus  der  gegenwärtigen  Untersuchung 
—  insofern  sie  nur  ihren  Zwek  gehörig  erreicht  —  den  Gewinn 
ziehen,  das  Fortschreilen  unsrer  eignen,  sich  entwikkelnden  Kräfte, 
und  ihre  Verhältnisse  zu  den  Dingen  um  sie  her,  wir  mögen  sie 
oder  diese  Dinge  Ursach  oder  Wirkung  nennen,  tiefer  und  voll- 
ständiger einzusehen.  Diese  Einsicht  aber  muss  überhaupt  jedem 
denkenden  Menschen,  und  vorzüglich  demjenigen,  der  auf  andre, 
vielleicht  auf  ganze  Nationen  wirken  will,  unendlich  wichtig  sein. 
Denn  wenn  sie  sich  auch  nicht  anmaassen  darf,  ihnen  die  Mittel 
genau  anzuzeigen,  welche  ihnen  die  Erreichung  ihrer  Absichten 
sichern;  so  wird  sie  sie  doch  hindern,  nach  dem  Unmöglichen 
zu  haschen,  ihnen  Ehrfurcht  für  dasjenige  einflössen,  was  sie  zum 
Gegenstande  ihrer  Thätigkeit  machten,  und  sie  vielleicht  gar  ver- 
anlassen, die  Zügel  aus  den  Händen  zu  legen,  und  selbstthätige 
Kräfte  der  Freiheit  zu  übergeben,  die  allein  ihrer  würdig  ist. 


Ideen  zu  einem  Versuch,  die  Gränzen  der  Wirksamkeit 
des  Staats  zu  bestimmen. 


Le  difficile  est  de  ne  promulguer  que  des  lois  necessaires, 
de  rester  ä  jamais  fidele  ä  ce  principe  vraiment  constitii- 
tionnel  de  la  societe,  de  se  mettre  en  garde  contre  la  fureiir 
de  gouverner,  la  plus  funeste  maladie  des  goiivernemens 
modernes. 

Mirabeau  l'aine,  siir  l'education  publique,  p.  6g.^) 


Handschrift  (außer  dem  Titelblatt  imd  7  Quartseiten  Inhalt  268  halb- 
beschriebene Quartseiten,  von  denen  S.  75 — 62  fehlen)  im  Besitz  des  Herrn  Ver- 
lagsbuchhändlers Eduard  Trewendt  in  Breslau.  —  Erster  Druck :  Ideen  zu  einem 
Versuch,  die  Gränzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.  Von  Wilhelm 
von  Humboldt.  [Motto  aus  Mirabeau.]  Breslau,  Verlag  von  Eduard  Trewendt, 
1851.  XXVIII  und  i8g  Seiten.  Herausgeber  war  Eduard  Cauer.  Zur  Geschichte 
der  Wiederauffindung  und  Herausgabe  des  Werkes  vgl.  auch  Alexander  von 
Humboldts  Brief  an  Cauer  vom  14.  November  18^0  bei  Paul  Cauer,  Staat  und 
Erziehung  S.  8j. 

V  Diese  Schriß  Mirabeaus  erschien  Paris  rjgi  unter  dem  Titel:  „Travail 
sur  l'education  publique,  trouve  dans  les  papiers  de  Mirabeau  l'aine." 

W.  V.  Humboldt,   Werke.     I.  7 


I. 

Wenn  man  die  merkwürdigsten  Staatsverfassungen  mit  ein- 
ander, und  mit  ihnen  die  Meinungen  der  bewährtesten  Philosophen 
und  Politiker  vergleicht;  so  wundert  man  sich  vielleicht  nicht  mit 
Unrecht,  eine  Frage  so  wenig  vollständig  behandelt,  und  so  wenig 
genau  beantwortet  zu  finden,  welche  doch  zuerst  die  Aufmerksam- 
keit an  sich  zu  ziehen  scheint,  die  Frage  nemlich:  zu  welchem 
Zwek  die  ganze  Staatseinrichtung  hin  arbeiten,  und  welche  Schran- 
ken sie  ihrer  Wirksamkeit  sezen  soll  ?  Den  verschiedenen  Antheil, 
welcher  der  Nation,  oder  einzelnen  ihrer  Theile,  an  der  Regierung 
gebührt,  zu  bestimmen,  die  mannigfaltigen  Zweige  der  Staatsver- 
waltung gehörig  zu  vertheilen,  und  die  nöthigen  Vorkehrungen 
zu  treffen,  dass  nicht  ein  Theil  die  Rechte  des  andren  an  sich 
reisse;  damit  allein  haben  sich  fast  alle  beschäftigt,  welche  selbst 
Staaten  umgeformt,  oder  Vorschläge  zu  politischen  Reformationen 
gemacht  haben.  Dennoch  müsste  man,  dünkt  mich,  bei  jeder 
neuen  Staatseinrichtung  zwei  Gegenstände  vor  Augen  haben,  von 
welchen  beiden  keiner  ohne  grossen  Nachtheil  übersehen  w^erden 
dürfte :  einmal  die  Bestimmung  des  herrschenden,  und  dienenden 
Theils  der  Nation,  und  alles  dessen,  w^as  zur  wirklichen  Einrichtung 
der  Regierung  gehört,  dann  die  Bestimmung  der  Gegenstände, 
auf  welche  die  einmai  eingerichtete  Regierung  ihre  Thätigkeit  zu- 
gleich ausbreiten,  und  einschränken  muss.  Diess  Leztere,  w^elches 
eigentlich  in  das  Privatleben  der  Bürger  eingreift,  und  das  Maass 
ihrer  freien  ungehemmten  Wirksamkeit  bestimmt,  ist  in  der  That 
das  wahre,  lezte  ZieV)  das  erstere  nur  ein  nothwendiges  Mittel, 
diess   zu    erreichen.     Wenn    indess    dennoch    der   Mensch    diess 


'^)  Nach  „Ziel"  gestrichen :  „gleichsam  das  politische  höchste  Gut". 

7* 


jOO  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Erstere  mit  mehr  angestrengter  Aufmerksamkeit  verfolgt;  so  be- 
währt er  dadurch  den  gewöhnlichen  Gang  seiner  Thätigkeit.  Nach 
Einem  Ziele  streben,  und  diess  Ziel  mit  Aufwand  physischer  und 
moralischer  Kraft  erringen,  darauf  beruht  das  Glük  des  rüstigen, 
kraftvollen  Menschen.  Der  Besiz,  welcher  die  angestrengte  Kraft 
der  Ruhe  übergiebt,  reizt  nur  in  der  täuschenden  Phantasie.  Zwar 
existirt  in  der  Lage  des  Menschen,  wo  die  Kraft  immer  zur  Thätig- 
keit gespannt  ist,  und  die  Natur  um  ihn  her  immer  zur  Thätigkeit 
reizt,  Ruhe,  und  Besiz  in  diesem  Verstände  nur  in  der  Idee. 
Allein  dem  einseitigen  Menschen  ist  Ruhe  auch  Aufhören  Einer 
Aeusserung,  und  dem  Ungebildeten  giebt  Ein  Gegenstand  nur  zu 
wenigen  Aeusserungen  Stoft".  Was  man  daher  von  dem  Ueber- 
druss  am  Besize,  besonders  im  Gebiete  der  feineren  Empfindungen, 
sagt,^)  gilt  ganz  und  gar  nicht  von  dem  Ideale  des  Menschen, 
welches  die  Phantasie  zu  bilden  vermag,  im  vollesten  Sinne  von 
dem  ganz  Ungebildeten,  und  in  immer  geringerem  Grade,  je  näher 
immer  höhere  Bildung  jenem  Ideale  führt.  Wie  folglich,  nach  dem 
Obigen,  den  Eroberer  der  Sieg  höher  freut,  als  das  errungene 
Land,  wie  den  Reformator  die  gefahrvolle  Unruhe  der  Refor- 
mation höher,  als  der  ruhige  Genuss  ihrer  Früchte;  so  ist  dem 
Menschen  überhaupt  Herrschaft  reizender,  als  Freiheit,  oder  wenig- 
stens Sorge  für  Erhaltung  der  Freiheit  reizender,  als  Genuss  der- 
selben. Freiheit  ist  gleichsam  nur  die  Möglichkeit  einer  unbestimmt 
mannigfaltigen  Thätigkeit;  Herrschaft,  Regierung  überhaupt  zwar 
eine  einzelne,  aber  wirkliche  Thätigkeit.  Sehnsucht  nach  Freiheit 
entsteht  daher  nur  zu  oft  erst  aus  dem  Gefühle  des  Mangels  der- 
selben. Uniäugbar  bleibt  es  jedoch  immer,  dass  die  Untersuchung 
des  Zweks  und  der  Schranken  der  Wirksamkeit  des  Staats  eine 
grosse  Wichtigkeit  hat,  und  vielleicht  eine  grössere,  als  irgend  eine 
andre  politische.  Dass  sie  allein  gleichsam  den  leztcn  Zwek  aller 
Politik  betrift,  ist  schon  eben  bemerkt  worden.  Allein  sie  erlaubt 
auch  eine  leichtere  und  mehr  ausgebreitete  Anwendung.  Eigent- 
liche Staatsrevolutionen,  andre  Einrichtungen  der  Regierung   sind 


V  Vgl.  das  berühmte  Wort  Lessings  in  der  Diiplik:  „Nicht  die  Wahrheit, 
in  deren  Besitz  irgend  ein  Mensch  ist  oder  zu  sein  vermeinet,  sondern  die  auf- 
richtige Mühe,  die  er  angewant  hat,  hinter  die  Wahrheit  zu  kommen,  macht  den 
Wert  des  Menschen.  Denn  nicht  durch  den  Besitz,  sondern  durch  die  Nach- 
forschung der  Wahrheit  erweitern  sich  seine  Kräfte,  worin  allein  seine  immer 
wachsende  Vollkommenheit  bestehet.  Der  Besitz  macht  ruhig,  träge,  stolz" 
(Sämmtliche  Schriften  ij,  2^). 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     I.  iqj 

nie  ohne  die  Konkurrenz  vieler,  oft  sehr  zufälliger  Umstände 
möglich,  und  führen  immer  mannigfaltig  nachtheilige  Folgen  mit 
sich.  Hingegen  die  Gränzen  der  Wirksamkeit  mehr  ausdehnen, 
oder  einschränken  kann  jeder  Regent  —  sei  es  in  demokratischen, 
aristokratischen,  oder  monarchischen  Staaten  —  still  und  unbe- 
merkt, und  er  erreicht  vielmehr  seinen  Endzwek  nur  um  so 
sicherer,  je  mehr  er  auffallende  Neuheit  vermeidet.  Die  besten 
menschlichen  Operationen  sind  diejenigen,  welche  die  Operationen 
der  Natur  am  getreuesten  nachahmen.  Nun  aber  bringt  der  Keim, 
welchen  die  Erde  still  und  unbemerkt  empfängt,  einen  reicheren 
und  holderen  Segen,  als  der  gewiss  nothwendige,  aber  immer  auch 
mit  Verderben  begleitete  Ausbruch  tobender  ^^ulkane.  Auch  ist 
keine  andre  Art  der  Reform  unsrem  Zeitalter  so  angemessen, 
wenn  sich  dasselbe  wirklich  mit  Recht  eines  Vorzugs  an  Kultur 
und  Aufklärung  ^)  rühmt.  Denn  die  wichtige  Untersuchung  der 
Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  muss  —  wie  sich  leicht  vor- 
aussehen lässt  —  auf  höhere  Freiheit  der  Kräfte,  und  grössere 
Mannigfaltigkeit  der  Situationen  führen.  Nun  aber  erfordert  die 
Möglichkeit  eines  höheren  Grades  der  Freiheit  immer  einen  gleich 
hohen  Grad  der  Bildung,  und  das  geringere  Bedürfniss,  gleichsam 
in  einförmigen,  verbundenen  Massen  zu  handeln,  eine  grössere 
Stärke  und  einen  mannigfaltigeren  Reichthum  der  handlenden 
Individuen.  Besizt  daher  das  gegenwärtige  Zeitalter  einen  Vorzug 
an  dieser  Bildung,  dieser  Stärke,  und  diesem  Reichthum,  so  muss 
man  ihm  auch  die  Freiheit  gewähren,  auf  welche  derselbe  mit 
Recht  Anspruch  macht.  Ebenso  sind  die  Mittel,  durch  welche 
die  Reform  zu  bewirken  stände,  einer  fortschreitenden  Bildung, 
wenn  wir  eine  solche  annehmen,  bei  weitem  angemessener.  Wenn 
sonst  das  gezükte  Schwerdt  der  Nation  die  physische  Macht  des 
Beherrschers  beschränkt;  so  besiegt  hier  Aufklärung  und  Kultur 
seine  Ideen,  und  seinen  Willen,  und  die  umgeformte  Gestalt  der 
Dinge  scheint  mehr  sein  Werk,  als  das  Werk  der  Nation 
zu  sein.  Wenn  es  nun  schon  ein  schöner,  seelenerhebender  An- 
blik  ist,  ein  Volk  zu  sehen,  das  im  vollen  Gefühl  seiner  Menschen 
und  Bürgerrechte  seine  Fesseln  zerbricht;  so  muss  —  weil,  was 
Neigung  oder  Achtung  für  das  Gesez  wirkt,  schöner  und  er- 
hebender ist,  als  was  Noth  und  Bedürfniss  erpresst  —  der  Anblik 


V  Den  Unterschied  beider  Begriffe  behandelt  ausführlich  Mendelssohns  Auf- 
satz „  Über  die  Frage :  was  heisst  aufklären  ?"  (Gesammelte  Schrißen  ^,  jgg). 


IQ2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

eines  Fürsten  ungleich  schöner  und  erhebender  sein,  welcher  selbst 
die  Fesseln  löst  und  Freiheit  gewährt,  und  diess  Geschäft  nicht 
als  Frucht  seiner  wohlthätigen  Güte,  sondern  als  Erfüllung  seiner 
ersten,  unerlasslichen  Pflicht  betrachtet.  Zumal  da  die  Freiheit, 
nach  welcher  eine  Nation  durch  Veränderung  ihrer  Verfassung 
strebt,  sich  zu  der  Freiheit,  welche  der  einmal  eingerichtete  Staat 
geben  kann,  eben  so  verhält,  als  Hofnung  zum  Genuss,  Anlage 
zur  Vollendung. 

Wirft  man  einen  Blik  auf  die  Geschichte  der  Staatsverfassungen; 
so  würde  es  sehr  schwierig  sein,  in  irgend  einer  genau  den  Um- 
fang zu  zeigen,  auf  welchen  sich  ihre  Wirksamkeit  beschränkt,  da 
man  wohl  in  keiner  hierin  einem  überdachten,  auf  einfachen 
Grundsäzen  beruhenden  Plane  gefolgt  ist.  Vorzüglich  hat  man 
immer  die  Freiheit  der  Bürger  aus  einem  zwiefachen  Gesichts- 
punkte eingeengt,  einmal  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Nothwendig- 
keit,  die  Verfassung  entweder  einzurichten,  oder  zu  sichern ;  dann 
aus  dem  Gesichtspunkte  der  Nüzlichkeit,  für  den  ph3^sischen,  oder 
moralischen  Zustand  der  Nation  Sorge  zu  tragen.  Je  mehr  oder 
weniger  die  Verfassung,  an  und  für  sich  mit  Macht  versehen, 
andre  Stüzen  brauchte ;  oder  je  mehr  oder  weniger  die  Gesezgeber 
weit  ausblikten,  ist  man  bald  mehr  bei  dem  einen,  bald  bei  dem 
andren  Gesichtspunkte  stehen  geblieben.  Oft  haben  auch  beide 
Rüksichten  vereint  gewürkt.  In  den  älteren  Staaten  sind  fast  alle 
Einrichtungen,  welche  auf  das  Privatleben  der  Bürger  Bezug  haben, 
im  eigentlichsten  Verstände  politisch.  Denn  da  die  Verfassung  in 
ihnen  wenig  eigentliche  Gewalt  besass,  so  beruhte  ihre  Dauer  vor- 
züglich auf  dem  Willen  der  Nation,  und  es  musste  auf  mannig- 
faltige Mittel  gedacht  werden,  ihren  Charakter  mit  diesem  Willen 
übereinstimmend  zu  machen.  Eben  diess  ist  noch  jezt  in  kleinen 
republikanischen  Staaten  der  Fall,  und  es  ist  daher  völlig  richtig, 
dass  —  aus  diesem  Gesichtspunkt  allein  die  Sache  betrachtet  — 
die  Freiheit  des  Privatlebens  immer  in  eben  dem  Grade  steigt,  in 
welchem  die  öffentliche  sinkt,  da  hingegen  die  Sicherheit  immer 
mit  dieser  gleichen  Schritt  hält.  Oft  aber  sorgten  auch  die  älteren 
Gesezgeber,  und  immer  die  alten  Philosophen  im  eigentlichsten 
Verstände  für  den  Menschen,  und  da  am  Menschen  der  moralische 
Werth  ihnen  das  höchste  schien,  so  ist  z.  B.  Piatos  Republik, 
nach  Rousseaus  äusserst  wahrer  Bemerkung,  mehr  eine  Erziehungs- 
ais   eine    Staatsschrift.^)      Vergleicht    man    hiermit    die    neuesten 


V  Die  Stelle  findet  sich  im  ersten  Buch  des  Einil:  „Voulez-vous  prendre  une 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     I. 


103 


Staaten,  so  ist  die  Absicht,  für  den  Bürger  selbst  und  sein  Wohl 
zu  arbeiten,  bei  so  vielen  Gesezen  und  Einrichtungen,  die  dem 
Privatleben  eine  oft  sehr  bestimmte  Form  geben,  unverkennbar. 
Die  grössere  innere  Festigkeit  unsrer  Verfassungen,  ihre  grössere 
Unabhängigkeit  von  einer  gewissen  Stimmung  des  Charakters  der 
Nation,  dann  der  stärkere  Einfluss  bloss  denkender  Köpfe  —  die, 
ihrer  Natur  nach,  weitere  und  grössere  Gesichtspunkte  zu  fassen 
im  Stande  sind  —  eine  Menge  von  Erfindungen,  welche  die  ge- 
wöhnlichen Gegenstände  der  Thätigkeit  der  Nation  besser  be- 
arbeiten oder  benuzen  lehren,  endlich  und  vor  allem  gewisse 
Religionsbegriffe,  welche  den  Regenten  auch  für  das  moralische 
und  künftige  Wohl  der  Bürger  gleichsam  verantwortlich  machen, 
haben  vereint  dazu  beigetragen,  diese  Veränderung  hers'orzubringen. 
Geht  man  aber  der  Geschichte  einzelner  Polizei-Geseze  und  Ein- 
richtungen nach,  so  rindet  man  oft  ihren  Ursprung  in  dem  bald 
wirklichen,  bald  angeblichen  Bedürfniss  des  Staats,  Abgaben  von 
den  Unterthanen  aufzubringen,  und  insofern  kehrt  die  Aehnlich- 
keit  mit  den  älteren  Staaten  zurük,  indem  insofern  diese  Ein- 
richtungen gleichfalls  auf  die  Erhaltung  der  Verfassung  abzwekken. 
Was  aber  diejenigen  Einschränkungen  betrift,  welche  nicht  sowohl 
den  Staat,  als  die  Individuen,  die  ihn  ausmachen,  zur  Absicht 
haben;  so  ist  und  bleibt  ein  mächtiger  Unterschied  zwischen  den 
älteren  und  neueren  Staaten.  Die  Alten  sorgten  für  die  Kraft 
und  Bildung  des  Menschen,  als  Menschen;  die  Neueren  für  seinen 
Wohlstand,  seine  Habe  und  seine  Erwerbfähigkeit.  Die  Alten 
suchten  Tugend,  die  Neueren  Glükseligkeit.  Daher  waren  die 
Einschränkungen  der  Freiheit  in  den  älteren  Staaten  auf  der  einen 
Seite  drükkender  und  gefährlicher.  Denn  sie  griffen  geradezu  an, 
was  des  Menschen  eigenthümliches  Wesen  ausmacht,  sein  inneres 
Dasein;  und  daher  zeigen  alle  ältere  Nationen  eine  Einseitigkeit, 
welche  (den  Mangel  an  feinerer  Kultur,  und  an  allgemeinerer 
Kommunikation  noch  abgerechnet)  grossentheils  durch  die  fast 
überall  eingeführte  gemeinschaftliche  Erziehung,  und  das  absicht- 
lich eingerichtete  gemeinschaftliche  Leben  der  Bürger  überhaupt 
hervorgebracht  und  genährt  wurde.  Auf  der  andren  Seite  er- 
hielten und  erhöheten  aber  auch  alle  diese  Staatseinrichtungen  bei 


idee  de  l'education  publique?  Lisez  la  rcpublique  de  Piaton.  Ce  n'est  point  un  ouvrage 
de  politique,  comme  le  pensent  ceux,  qui  ne  jugent  des  livres  que  par  leurs  titres. 
C'est  le  plus  beau  traite  d'education,  qu'on  ait  jamais  fait." 


104 


Ideen  zu  einem  Versuch 


den  Alten  die  thätige  Kraft  des  Menschen.  Selbst  der  Gesichts- 
punkt, den  man  nie  aus  den  Augen  verlor,  kraftvolle  und  genüg- 
same Bürger  zu  bilden,  gab  dem  Geiste  und  dem  Charakter  einen 
höheren  Schwung.  Dagegen  wird  2war  bei  uns  der  Mensch  selbst 
unmittelbar  weniger  beschränkt,  als  vielmehr  die  Dinge  um  ihn 
her  eine  einengende  Form  erhalten,  und  es  scheint  daher  möglich, 
den  Kampf  gegen  diese  äusseren  Fesseln  mit  innerer  Kraft  zu  be- 
ginnen. Allein  schon  die  Natur  der  Freiheitsbeschränkungen  unsrer 
Staaten,  dass  ihre  Absicht  bei  weitem  mehr  auf  das  geht,  was  der 
Mensch  besizt,  als  auf  das,  was  er  ist,  und  dass  selbst  in  diesem 
Fall  sie  nicht  —  wie  die  Alten  —  die  physische,  intellektuelle  und 
moralische  Kraft  nur,  wenn  gleich  einseitig,  üben,  sondern  viel- 
mehr ihr  bestimmende  Ideen,  als  Geseze,  aufdringen,  unterdrükt 
die  Energie,  welche  gleichsam  die  Quelle  jeder  thätigen  Tugend, 
und  die  nothwendige  Bedingung  zu  einer  höheren  und  vielseitigeren 
Ausbildung  ist.  Wenn  also  bei  den  älteren  Nationen  grössere 
Kraft  für  die  Einseitigkeit  schadlos  hielt;  so  wird  in  den  neueren 
der  Nachtheil  der  geringeren  Kraft  noch  durch  Einseitigkeit  erhöht. 
Ueberhaupt  ist  dieser  Unterschied  z-vsdschen  den  Alten  und  Neueren 
überall  unverkennbar.  Wenn  in  den  lezteren  Jahrhunderten  die 
SchnelHgkeit  der  gemachten  Fortschritte,  die  Menge  und  iVus- 
breitung  künstlicher  Erfindungen,  die  Grösse  der  gegründeten 
Werke  am  meisten  unsre  Aufmerksamkeit  an  sich  zieht ;  so  fesselt 
uns  in  dem  Alterthum  vor  allem  die  Grösse,  welche  immer  mit 
dem  Leben  Eines  Menschen  dahin  ist,  die  Blüthe  der  Phantasie, 
die  Tiefe  des  Geistes,  die  Stärke  des  Willens,  die  Einheit  des 
ganzen  Wesens,  welche  allein  dem  Menschen  wahren  Werth  giebt. 
Der  Mensch  und  zwar  seine  Kraft  und  seine  Bildung  war  es, 
welche  jede  Thätigkeit  rege  machte ;  bei  uns  ist  es  nur  zu  oft  ein 
ideelles  Ganze,  bei  dem  man  die  Individuen  beinah  zu  vergessen 
scheint,  oder  wenigstens  nicht  ihr  inneres  Wesen,  sondern  ihre 
Ruhe,  ihr  Wohlstand,  ihre  Glükseligkeit.  Die  Alten  suchten  die 
Glükseligkeit  in  der  Tugend,  die  Neueren  sind  nur  zu  lange  diese 
aus  jener  zu   entwikkeln   bemüht  gewesen;*)    und   der  selbst,**) 


*)  Nie  ist  dieser  Unterschied  auffallender,  als  wenn  alte  Philosophen  von  neueren 
beurtheilt  werden.  Ich  führe,  als  ein  Beispiel  eine  Stelle  Tiedemanns  über  eins  der 
schönsten  Stükke  aus  Piatos  Republik  an :  Qiianqiiam  autem  per  se  sit  iustitia  grata 
nobis:  tarnen  si  exercitium  eins  nullam  oninino  afferret  utilitatem,  si  iusto  ea 
omnia  essent  patienda,  quae  fratres  comniemorant ;  iniustitia  iustitiae  foret  prae- 
ferenda;  quae  enini  ad  felicitatem  maxime  faciunt  nostram,  sunt  absque  dubio 


die  Grenzen  der  Wirksamkeil  des  Staats  zu  bestimmen.     I.  jQr 

welcher  die  Moralität  in  ihrer  höchsten  Reinheit  sah  und  darstellte, 
glaubt,  durch  eine  sehr  künstliche  Maschinerie  seinem  Ideal  des 
Menschen  die  Glükseligkeit,  warlich  mehr,  wie  eine  fremde  Be- 
lohnung, als  wie  ein  eigen  errungenes  Gut,  zuführen  zu  müssen. 
Ich  verliere  kein  Wort  über  diese  Verschiedenheit.  Ich  schliesse 
nur  mit  einer  Stelle  aus  Aristoteles  Ethik:  „Was  einem  Jeden, 
seiner  Natur  nach,  eigenthümlich  ist,  ist  ihm  das  Beste  und  Süsseste. 
Daher  auch  den  Menschen  das  Leben  nach  der  \'ernunft,  wenn 
nemlich  darin  am  meisten  der  Mensch  besteht,  am  meisten  be- 
seligt." *) 

Schon  mehr,  als  Einmal  ist  unter  den  StaatsRechtsLehrern 
gestritten  worden,  ob  der  Staat  allein  Sicherheit,  oder  überhaupt 
das  ganze  physische  und  moralische  Wohl  der  Nation  beabsichten 
müsse?  Sorgfalt  für  die  Freiheit  des  Privatlebens  hat  vorzüglich 
auf  die  erstere  Behauptung  geführt;  indess  die  natürliche  Idee, 
dass  der  Staat  mehr,  als  allein  Sicherheit  gewähren  könne,  und 
ein  Misbrauch  in  der  Beschränkung  der  Freiheit  wohl  möglich, 
aber  nicht  nothwendig  sei,  der  lezteren  das  Wort  redeten.  Auch 
ist  diese  unläugbar  sowohl  in  der  Theorie,  als  in  der  Ausführung 
die  herrschende.  Diess  zeigen  die  meisten  S^^steme  des  Staats- 
rechts, die  neueren  philosophischen  Gesezbücher,  und  die  Ge- 
schichte der  Verordnungen  der  meisten  Staaten.  Akkerbau,  Hand- 
werke, Industrie  aller  Art,  Handel,  Künste  und  Wissenschaften 
selbst,  alles  erhält  Leben  und  Lenkung  vom  Staat.  Nach  diesen 
Grundsäzen  hat  das  Studium  der  Staatswissenschaften  eine  ver- 
änderte  Gestalt    erhalten,   wie   Kameral-    und    Polizeiwissenschaft 


aliis  praeponenda.  Jam  cQ-i-poris  criiciatus,  omniiini  reruiii  inopia,  fames,  infamia, 
quaeque  alia  euenire  iusto  fratres  dixerunt,  animi  illam  e  iiistüia  manantem  vo- 
luptatem  dubio  procul  longe  superant,  essetque  adeo  iniustitia  iustitiae  antehabenda 
et  in  virtiitum  nutnero  collocanda.  Tiedemann  in  argumentis  dialogorum  Piatonis. 
Ad  l.  2.  de  republica.  'j 

**)  Kant  über  das  höchste  Gut  in   den  Anfangsgründen  der  Metaphysik  der  Sitten, 
und  in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft. '-) 

*)  To  oiy.siov  ey.aaxco  tj;  ^vaei,  y.QaTiaxoi'  y.cu  r)öiaToi-'  tad'^  iy.aazcp'  y.uc  toj 
av&QcoTco)  Srj  6  y.ura  tov  vovv  ßios^  sirce^  fia).iara  rovro  ard'pojTTOi,  ovtos  uoa  y.ai 
svSatftovtaTUTos.     Aristotelis  Ild'ixfov  Niyofta/^.  l.  X.  c.  7.  in  ßn.  ^) 

^J  Tiedemanns  „Dialogorum  Piatonis  argumenta  exposita  et  illustrata"  erschienen 
Zweibrücken  ij86;  die  Stelle  findet  sich  S.  lyg. 

-)  Vgl.  die  zusammenfassende  Darlegimg  bei  Fischer,  Geschichte  der  neueren 
Philosophie  5*,  114. 

V  Die  Stelle  steht  S.  ii-jSa. 


I0()  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

z.  B.  beweisen,  nach  diesen  sind  völlig  neue  Zweige  der  Staats- 
verwaltung entstanden,  Kameral-  Manufaktur-  und  Finanz-Kollegia. 
So  allgemein  indess  auch  dieses  Princip  sein  mag;  so  verdient  es, 
dünkt  mich,  doch  noch  allerdings  eine  nähere  Prüfung,  und  diese 
Prü[fung]  ....'} 


11/-') 

Der  wahre  Zwek  des  Menschen  —  nicht  der,  welchen  die 
wechselnde  Neigung,  sondern  welchen  die  ewig  unveränderliche 
Vernunft  ihm  vorschreibt  —  ist  die  höchste  und  proportionirlichste 
Bildung  seiner  Kräfte  zu  einem  Ganzen.  Zu  dieser  Bildung  ist 
Freiheit  die  erste,  und  unerlassliche  Bedingung.  Allein  ausser  der 
Freiheit  erfordert  die  Entwikkelung  der  menschlichen  Kräfte  noch 
etwas  andres,  obgleich  mit  der  Freiheit  eng  verbundenes,  Mannig- 
faltigkeit der  Situationen.  Auch  der  freieste  und  unabhängigste 
Mensch,  in  einförmige  Lagen  versezt,  bildet  sich  minder  aus. 
Zwar  ist  nun  einestheils  diese  Mannigfaltigkeit  allemal  Folge  der 
Freiheit,  und  anderntheils  giebt  es  auch  eine  Art  der  Unter- 
drükkung,  die,  statt  den  Menschen  einzuschränken,  den  Dingen 
um  ihn  her  eine  beliebige  Gestalt  giebt,  so  dass  beide  gewisser- 
maassen  Eins  und  dasselbe  sind.  Indess  ist  es  der  Klarheit  der 
Ideen  dennoch  angemessener,  beide  noch  von  einander  zu  trennen. 
Jeder  Mensch  vermag  auf  Einmal  nur  mit  Einer  Kraft  zu  wirken, 
oder  vielmehr  sein  ganzes  Wesen  wird  auf  Einmal  nur  zu  Einer 
Thätigkeit  gestimmt.  Daher  scheint  der  Mensch  zur  Einseitigkeit 
bestimmt,  indem  er  seine  Energie  schwächt,  sobald  er  sich  auf 
mehrere  Gegenstände  verbreitet.  Allein  dieser  Einseitigkeit  ent- 
geht er,  wenn  er  die  einzelnen,  oft  einzeln  geübten  Kräfte  zu  ver- 
einen, den  beinah  schon  verloschnen  wie  den  erst  künftig  hell 
aufflammenden  Funken  in  jeder  Periode  seines  Lebens  zugleich 
mitwirken  zu  lassen,  und  statt  der  Gegenstände,  auf  die  er  wirkt. 


V  Der  Schluß  dieses  ersten  Kapitels,  das  ganze  zweite  und  die  vordere 
Hälfte  des  dritten  fehlen  in  der  Handschrift;  die  hierdurch  entstandene  Lücke 
wird  durch  den  Druck  in  der  Thalia  leider  nicht  vollständig  ausgefüllt,  wie  die 
Inhaltsübersicht  am  Ende  des  Werkes  beweist. 

-J  Erster  Druck  dieses  und  der  vorderen  Hälfte  des  folgenden  Kapitels: 
Schillers  Neue  Thalia  2,  iji — i6g(i']g2).  Der  Aufsatz  hat  dort  die  Überschrift: 
„Wie  weit  darf  sich  die  Sorgfalt  des  Staats  um  das  Wohl  seiner  Bürger  er- 
strecken ?"    Am  Schluß  steht  die  Bemerkung :  „Die  Fortsetzung  folgt.''' 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     I.  II.  jq— 

die  Kräfte,  womit  er  wirkt,  durch  ^^e^bindung  zu  ven-ielfältigen 
strebt.  Was  hier  gleichsam  die  Verknüpfung  der  Vergangenheit 
und  der  Zukunft  mit  der  Gegenwart  wirkt,  das  wirkt  in  der  Ge- 
sellschaft die  Verbindung  mit  andren.  Denn  auch  durch  alle 
Perioden  des  Lebens  erreicht  jeder  Mensch  dennoch  nur  Eine  der 
Vollkommenheiten,  welche  gleichsam  den  Charakter  des  ganzen 
Menschengeschlechts  bilden.  Durch  Verbindungen  also,  die  aus 
dem  Innren  der  Wesen  entspringen,  muss  einer  den  Reichthum 
des  andren  sich  eigen  machen.  Eine  solche  charakterbildende 
Verbindung  ist,  nach  der  Erfahrung  aller,  auch  sogar  der  rohesten 
Nationen,  z.  B.  die  ^^erbindung  der  beiden  Geschlechter.  Allein 
wenn  hier  der  Ausdruk,  sowohl  der  Verschiedenheit,  als  der  Sehn- 
sucht nach  der  Vereinigung  gewissermaassen  stärker  ist;  so  ist 
beides  darum  nicht  minder  stark,  nur  schwerer  bemerkbar,  ob- 
gleich eben  darum  auch  mächtiger  wirkend,  auch  ohne  alle  Rük- 
sicht  auf  jene  Verschiedenheit,  und  unter  Personen  desselben  Ge- 
schlechts. Diese  Ideen,  weiter  verfolgt  und  genauer  entwikkelt, 
dürften  vielleicht  auf  eine  richtigere  Erklärung  des  Phänomens 
der  A^rbindungen  führen,  welche  bei  den  Alten,  vorzüglich  den 
Griechen,  selbst  die  Gesezgeber  benuzten,  und  die  man  oft  zu 
unedel  mit  dem  Namen  der  gewöhnlichen  Liebe,  und  immer  un- 
richtig mit  dem  Namen  der  blossen  Freundschaft  belegt  hat.  Der 
bildende  Nuzen  solcher  Verbindungen  beruht  immer  auf  dem 
Grade,  in  welchem  sich  die  Selbstständigkeit  der  \'erbundenen  zu- 
gleich mit  der  Innigkeit  der  \>rbindung  erhält.  Denn  wenn  ohne 
diese  Innigkeit  der  eine  den  andren  nicht  genug  aufzufassen  ver- 
mag; so  ist  die  Selbstständigkeit  nothwendig,  um  das  Aufgefasste 
gleichsam  in  das  eigne  Wesen  zu  verwandeln.  Beides  aber  er- 
fordert Kraft  der  Individuen,  und  eine  A^rschiedenheit,  die,  nicht 
zu  gross,  damit  einer  den  andren  aufzufassen  vermöge,  auch  nicht 
zu  klein  ist.  um  einige  Bewundrung  dessen,  was  der  andre  besizt, 
und  den  \\'unsch  rege  zu  machen,  es  auch  in  sich  überzutragen. 
Diese  Kraft  nun  und  diese  mannigfaltige  \'erschiedenheit  vereinen 
sich  in  der  Originalität,  und  das  also,  worauf  die  ganze  Grösse 
des  Menschen  zulezt  beruht,  wonach  der  einzelne  Mensch  ewig 
ringen  muss,  und  was  der,  welcher  auf  Menschen  wirken  will, 
nie  aus  den  Augen  verlieren  darf,  ist  Eigenthümlichkeit  der  Kraft 
und  der  Bildung.  Wie  diese  Eigenthümlichkeit  durch  Freiheit  des 
Handlens  und  Mannigfaltigkeit  der  Handlenden  gewirkt  wird;  so 
bringt    sie    beides    wiederum    hervor.     Selbst    die    leblose    Natur, 


108  5.    Ideen  zu   einem  Versuch 

welche  nach  ewig  unveränderlichen  Gesezen  einen  immer  gleich- 
massigen  Schritt  hält,  erscheint  dem  eigengebildeten  Menschen 
eigenthümlicher.  Er  trägt  gleichsam  sich  selbst  in  sie  hinüber, 
und  so  ist  es  im  höchsten  Verstände  wahr,  dass  jeder  immer  in 
eben  dem  Grade  Fülle  und  Schönheit  ausser  sich  wahrnimmt,  in 
welchem  er  beide  im  eignen  Busen  bewahrt.  Wieviel  ähnlicher 
aber  noch  muss  die  Wirkung  der  Ursache  da  sein,  wo  der  Mensch 
nicht  bloss  empfindet  und  äussere  Eindrükke  auffasst,  sondern  selbst 
thätig  wird? 

A^ersucht  man  es,  diese  Ideen,  durch  nähere  Anwendungen 
auf  den  einzelnen  Menschen,  noch  genauer  zu  prüfen ;  so  reducirt 
sich  in  diesem  alles  auf  Form  und  Materie.  Die  reinste  Form 
mit  der  leichtesten  Hülle  nennen  wir  Idee,  die  am  wenigsten  mit 
Gestalt  begabte  Materie  sinnliche  Empfindung.  Aus  der  Verbin- 
dung der  Materie  geht  die  Form  hervor.  Je  grösser  die  Fülle 
und  Mannigfaltigkeit  der  Materie,  je  erhabener  die  Form.  Ein 
Götterkind  ist  nur  die  Frucht  unsterblicher  Eltern.  Die  Form 
wird  wiederum  gleichsam  Materie  einer  noch  schöneren  Form. 
So  wird  die  Blüthe  zur  Frucht,  und  aus  dem  Saamenkorn  der 
Frucht  entspringt  der  neue,  von  neuem  blüthenreiche  Stamm.  Je 
mehr  die  Mannigfaltigkeit  zugleich  mit  der  Feinheit  der  Materie 
zunimmt,  desto  höher  die  Kraft,  denn  desto  inniger  der  Zusammen- 
hang. Die  Form  scheint  gleichsam  in  die  Materie,  die  Materie  in 
die  Form  ^)  verschmolzen;  oder,  um  ohne  Bild  zu  reden,  je  ideen- 
reicher die  Gefühle  des  Menschen,  und  je  gefühlvoller  seine  Ideen, 
desto  unerreichbarer  seine  Erhabenheit.  Denn  auf  diesem  ewigen 
Begatten  der  Form  und  der  Materie,  oder  des  Mannigfaltigen  mit 
der  Einheit  beruht  die  Verschmelzung  der  beiden  im  Menschen 
vereinten  Naturen,  und  auf  dieser  seine  Grösse.  Aber  die  Stärke 
der  Begattung  hängt  von  der  Stärke  der  Begattenden  ab.  Der 
höchste  Moment  des  Menschen  ist  dieser  Moment  der  Blüthe.*) 
Die  minder  reizende,  einfache  Gestalt  der  Frucht  weist  gleichsam 
selbst  auf  die  Schönheit  der  Blüthe  hin,  die  sich  durch  sie  ent- 
falten soll.  Auch  eilt  nur  alles  der  Blüthe  zu.  Was  zuerst  dem 
Saamenkorn  entspriesst,  ist  noch  fern  von  ihrem  Reiz.    Der  volle 


*)  Blüthe,  Keife.     Neues  deutsches  Museum,    1791.     Junius,  nr.  3.^) 

V  Der  erste  Druck  hat  „in  die  Materie  die  Form". 

^J  Im  ersten  Druck  steht  „22,  j",  was  verlesen  sein  muß;  ich  gebe  mit 
Vorbehalt  obigen  Bessenmgsversuch.  Der  Verfasser  des  anonymen  Aufsatzes 
im  Neuen  deutschen  Museum  4,  §ji  ist  unbekannt. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     II. 


loq 


dikke  Stengel,  die  breiten,  aus  einander  fallenden  Blätter  bedürfen 
noch  einer  mehr  vollendeten  Bildung.  Stufenweise  steigt  diese, 
wie  sich  das  Auge  am  Stamme  erhebt ;  zartere  Blätter  sehnen  sich 
gleichsam,  sich  zu  vereinigen,  und  schliessen  sich  enger  und  enger, 
bis  der  Kelch  das  Verlangen  zu  stillen  scheint.*)  Indess  ist  das 
Geschlecht  der  Pflanzen  nicht  von  dem  Schiksal  gesegnet.  Die 
Blüthe  fällt  ab,  und  die  Frucht  bringt  wieder  den  gleich  rohen, 
und  gleich  sich  verfeinernden  Stamm  hervor.  Wenn  im  Menschen 
die  Blüthe  welkt;  so  macht  sie  nur  jener  schöneren  Plaz,  und 
den  Zauber  der  schönsten  birgt  unsrem  Auge  erst  die  ewig  un- 
erforschbare Unendlichkeit.  Was  nun  der  Mensch  von  aussen 
empfängt,  ist  nur  Saamenkorn.  Seine  energische  Thätigkeit 
muss  es,  seis  auch  das  schönste,  erst  auch  zum  seegenvollsten 
für  ihn  machen.  Aber  wohlthätiger  ist  es  ihm  immer  in 
dem  Grade,  in  welchem  es  kraftvoll,  und  eigen  in  sich  ist. 
Das  höchste  Ideal  des  Zusammenexistirens  menschlicher  Wesen 
wäre  mir  dasjenige,  in  dem  jedes  nur  aus  sich  selbst,  und  um 
seiner  selbst  willen  sich  entwikkelte.  Ph3'sische  und  moralische 
Natur  wöirden  diese  Menschen  schon  noch  an  einander  führen, 
und  wie  die  Kämpfe  des  Kriegs  ehrenvoller  sind,  als  die  der  Arena, 
wie  die  Kämpfe  erbitterter  Bürger  höheren  Ruhm  gewähren,  als 
die  getriebener  Miethsoldaten ;  so  würde  auch  das  Ringen  der  Kräfte 
dieser  Menschen  die  höchste  Energie  zugleich  beweisen  und  er- 
zeugen. 

Ist  es  nicht  eben  das,  was  uns  an  die  Zeitalter  Griechenlands 
und  Roms,  und  jedes  Zeitalter  allgemein  an  ein  entfernteres,  hin- 
geschwundnes  so  namenlos  fesselt.^  Ist  es  nicht  vorzüglich,  dass 
diese  Menschen  härtere  Kämpfe  mit  dem  Schiksal,  härtere  mit 
Menschen  zu  bestehen  hatten.'  dass  die  grössere  ursprüngliche 
Kraft  und  Eigenthümlichkeit  einander  begegnete,  und  neue  wunder- 
bare Gestalten  schuf.'  Jedes  folgende  Zeitalter  —  und  in  wieviel 
schnelleren  Graden  muss  diess  Verhältniss  von  jezt  an  steigen }  — 
muss  den  vorigen  aii  Mannigfaltigkeit  nachstehen,  an  Mannigfaltig- 
keit der  Xatur  —  die  ungeheuren  Wälder  sind  ausgehauen,  die 
Moräste  getroknet  u.  s.  f.  —  an  Mannigfaltigkeit  der  Menschen, 
durch     die    immer    grössere    Mittheilung    und    ^>reinigung    der 


*)  Göthe,  über  die  Metamorphose  der  Pflanzen.  ^J 

V  Die  Schriß  war  Gotha  lygo  erschienen;  vgl.  Goethes  Naturwissenschaft- 
liche Schriften  6,  2j  %veimarische  Ausgabe. 


j  fO  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

menschlichen  Werke  durch  die  beiden  vorigen  Gründe.*)  Diess 
ist  eine  der  vorzüglichsten  Ursachen,  welche  die  Idee  des  Neuen, 
Ungewöhnlichen,  Wunderbaren  so  viel  seltner,  das  Staunen,  Er- 
schrekken  beinah  zur  Schande,  und  die  Erfindung  neuer,  noch 
unbekannter  Hülfsmittel,  selbst  nur  plözliche,  unvorbereitete  und 
dringende  Entschlüsse  bei  weitem  seltner  nothwendig  macht. 
Denn  theils  ist  das  Andringen  der  äusseren  Umstände  gegen  den 
Menschen,  welcher  mit  mehr  Werkzeugen,  ihnen  zu  begegnen, 
versehen  ist,  minder  gross;  theils  ist  es  nicht  mehr  gleich  mög- 
lich, ihnen  allein  durch  diejenigen  Kräfte  Widerstand  zu  leisten, 
welche  die  Natur  jedem  giebt,  und  die  er  nur  zu  benuzen  braucht: 
theils  endlich  macht  das  ausgebreitetere  ^)  Wissen  das  Erfinden 
weniger  nothwendig,  und  das  Lernen  stumpft  selbst  die  Kraft  da- 
zu ab.  Dagegen  ist  es  unläugbar,  dass,  wenn  die  physische 
Mannigfaltigkeit  geringer  wurde,  eine  bei  weitem  reichere  und  be- 
friedigendere intellektuelle  und  moralische  an  ihre  Stelle  trat,  und 
dass  Gradationen  und  Verschiedenheiten  von  unsrem  mehr  ver- 
feinten Geiste  wahrgenommen,  und  unsrem,  wenn  gleich  nicht 
eben  so  stark  gebildeten,  doch  reizbaren  kultivirten  Charakter  ins 
praktische  Leben  übergetragen  werden,  die  auch  vielleicht  den 
Weisen  des  Alterthums,  oder  doch  wenigstens  nur  ihnen  nicht 
unbemerkt  geblieben  wären.  Es  ist  im  ganzen  Menschengeschlecht, 
wie  im  einzelnen  Menschen  gegangen.  Das  Gröbere  ist  abgefallen, 
das  Feinere  ist  geblieben.  Und  so  wäre  es  ohne  allen  Zweifel 
seegenvoll,  wenn  das  Menschengeschlecht  Ein  Mensch  wäre,  oder 
die  Kraft  eines  Zeitalters  ebenso,  als  seine  Bücher,  oder  Erfindungen 
auf  das  folgende  übergienge.  Allein  diess  ist  bei  weitem  der  Fall 
nicht.  Freilich  besizt  nun  auch  unsre  Verfeinerung  eine  Kraft, 
und  die  vielleicht  jene  gerade  um  den  Grad  ihrer  Feinheit  an 
Stärke  übertrift;  aber  es  fragt  sich,  ob  nicht  die  frühere  Bildung 
durch  das  Gröbere  immer  vorangehen   muss?    Ueberall   ist   doch 


*)  Eben  diess  bemerkt  einmal  Rousseau  im  Emil.^j 

V  Der  erste  Druck  hat  „aiisgearbeitetere" ;  vgl.  auch  oben  S.  2  Amn.  i. 

^)  Im  fünflen  Buch  zu  Anfang  des  Kapitels  über  das  Reisen:  „A  mesure 
que  les  races  se  melent  et  que  les  peuples  se  confondent,  on  voit  peu  a  peu  disparaitre 
ces  differences  nationales,  qui  frappaient  jadis  au  premier  coup  d'oeil  ....  que  tout 
cela  ne  peut  se  marquer  de  nos  jours,  oü  rinconstance  europeenne  ne  laisse  ä  nulle 
cause  naturelle  le  temps  de  faire  ses  impressions  et  oü  les  forets  abattues,  les  marais 
desseches,  la  terre  plus  uniformement,  quoique  plus  mal  cultivee  ne  laissent  plus,  meme 
au  physique,  la  meme  difference  de  terre  ä  terre  et  de  pays  ä  pays." 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     II.  III.  m 

die  Sinnlichkeit  der  erste  Keim,  wie  der  lebendigste  Ausdruk  alles 
Geistigen.  Und  wenn  es  auch  nicht  hier  der  Ort  ist,  selbst  nur 
den  Versuch  dieser  Erönerung  zu  wagen;  so  folgt  doch  gewiss 
soviel  aus  dem  Vorigen,  dass  man  wenigstens  diejenige  Eigen- 
thümlichkeit  und  Kraft,  nebst  allen  Nahrungsmitteln  derselben, 
welche  wir  noch  besizen,  sorgfältigst  bewachen  müsse. 

Bewiesen  halte  ich  demnach  durch  das  Vorige,  dass  die 
wahre  Vernunft  dem  Menschen  keinen  andren  Zu- 
stand, als  einen  solchen  wünschen  kann,  in  welchem 
nichtnurjederEinzelnederungebundensten  Freiheit 
geniesst,  sich  aus  sich  selbst,  in  seiner  Eigenthüm- 
lichkeit,  zu  entwikkeln,  sondern  in  welchem  auch  die 
physische  Natur  keine  andre  Gestalt  von  Menschen- 
händen empfängt,  als  ihr  jeder  Einzelne,  nach  dem 
Maasse  seines  Bedürfnisses  und  seiner  Neigung,  nur 
beschränkt  durch  die  Gränzen  seiner  Kraft  und  seines 
Rechts,  selbst  und  willkührlich  giebt.  Von  diesem 
Grundsaz  darf,  meines  Erachtens,  die  Vernunft  nie  mehr  nach- 
geben, als  zu  seiner  eignen  Erhaltung  selbst  nothwendig  ist.  Er 
musste  daher  auch  jeder  Politik,  und  besonders  der  Beantwortung 
der  Frage,  von  der  hier  die  Rede  ist,  immer  zum  Grunde  liegen. 

III. 

In  einer  völlig  allgemeinen  Formel  ausgedrukt,  könnte  man 
den  wahren  Umfang  der  V\"irksamkeit  des  Staats  alles  dasjenige 
nennen,  w^as  er  zum  Wohl  der  Gesellschaft  zu  thun  vermöchte, 
ohne  jenen  eben^)  ausgeführten  Grundsaz  zu  verlezen;  und  es 
würde  sich  unmittelbar  hieraus  auch  die  nähere  Bestimmung  er- 
geben, dass  jedes  Bemühen  des  Staats  verwerflich  sei,  sich  in  die 
Privatangelegenheiten  der  Bürger  überall  da  einzumischen,  wo 
dieselben  nicht  unmittelbaren  Bezug  auf  die  Kränkung  der  Rechte 
des  einen  durch  den  andren  haben.  Indess  ist  es  doch,  um  die 
vorgelegte  Frage  ganz  zu  erschöpfen,  nothwendig,  die  einzelnen 
Theile  der  gewöhnlichen  oder  möglichen  Wirksamkeit  der  Staaten 
genau  durchzugehen. 

Der  Zwek  des  Staats  kann  nemlich  ein  doppelter  sein;  er 
kann  Glük  befördern,  oder  nur  Uebel  verhindern  wollen,  und  im 
lezteren  Fall  Uebel  der  Natur  oder  Uebel  der  Menschen.    Schränkt 


^)  Der  erste  Druck  hat  „oben". 


IJ2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

er  sich  auf  das  leztere  ein,  so  sucht  er  nur  Sicherheit,  und  diese 
Sicherheit  sei  es  mir  erlaubt,  einmal  allen  übrigen  möglichen 
Zwekken,  unter  dem  Namen  des  positiven  Wohlstandes  vereint, 
entgegenzusezen.  Auch  die  Verschiedenheit  der  vom  Staat  an- 
gewendeten Mittel  giebt  seiner  Wirksamkeit  eine  verschiedene 
Ausdehnung.  Er  sucht  nemlich  seinen  Zwek  entweder  unmittel- 
bar zu  erreichen,  seis  durch  Zwang  —  befehlende  und  verbietende 
Geseze,  Strafen  —  oder  durch  Ermunterung  und  Beispiel;  oder 
mittelbar,^)  indem  er  entweder  der  Lage  der  Bürger  eine  dem- 
selben günstige  Gestalt  giebt,  und  sie  gleichsam  anders  zu  handien 
hindert,  oder  endlich,  indem  er  sogar  ihre  Neigung  mit 
demselben  übereinstimmend  zu  machen,  auf  ihren  Kopf  oder 
ihr  Herz  zu  wirken  strebt.  Im  ersten  Falle  bestimmt  er  zunächst 
nur  einzelne  Handlungen;  im  zweiten  schon  mehr  die  ganze  Hand- 
lungsweise; und  im  dritten  endlich  Charakter  und  Denkungsart. 
Auch  ist  die  Wirkung  der  Einschränkung  im  ersten  Falle  am 
kleinsten,  im  zweiten  grösser,  im  dritten  am  grossesten,  theils 
weil  auf  Quellen  gewirkt  wird,  aus  welchen  mehrere  Handlungen 
entspringen,  theils  weil  die  Möglichkeit  der  Wirkung  selbst  mehrere 
Veranstaltungen  erfordert.  So  verschieden  indess  hier  gleichsam 
die  Zweige  der  Wirksamkeit  des  Staats  scheinen,  so  giebt  es 
schwerlich  eine  Staatseinrichtung,  welche  nicht  zu  mehreren  zu- 
gleich gehörte,  da  z.  B.  Sicherheit  und  Wohlstand  so  sehr  von 
einander  abhängen,  und  was  auch  nur  einzelne  Handlungen  be- 
stimmt, wenn  es  durch  öftere  Wiederkehr  Gewohnheit  her^'or- 
bringt,  auf  den  Charakter  wirkt.  Es  ist  daher  sehr  schwierig,  hier 
eine,  dem  Gange  der  Untersuchung  angemessene  Eintheilung  des 
Ganzen  zu  finden.  Am  besten  wird  es  indess  sein,  zuvörderst  zu 
prüfen,  ob  der  Staat  auch  den  positiven  Wohlstand  der  Nation, 
oder  bloss  ihre  Sicherheit  abzwekken  soll,  bei  allen  Einrichtungen 
nur  auf  das  zu  sehen,  was  sie  hauptsächlich  zum  Gegenstande, 
oder  zur  Folge  haben,  und  bei  jedem  beider  Zwekke  zugleich 
die  Mittel  zu  prüfen,  deren  der  Staat  sich  bedienen  darf. 

Ich  rede  daher  hier  von  dem  ganzen  Bemühen  des  Staats, 
den  positiven  Wohlstand  der  Nation  zu  erhöhen,  von  aller  Sorg- 
falt für  die  Bevölkerung  des  Landes,  den  Unterhalt  der  Flinwohner, 
theils  geradezu  durch  Armenanstalten,  theils  mittelbar  durch  Be- 
förderung des  Akkerbaues,   der  Industrie   und   des  Handels,  von 


V  Dej-  erste  Druck  hat  sinnlos  „ruh  allen". 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III. 


11 


allen  Finanz-  und  Münzoperationen,  Ein-  und  Ausfuhrverboten 
u.  s.  f.  (insofern  sie  diesen  Zwek  haben),  endlich  allen  Veranstal- 
tungen zu  Verhütung  oder  Herstellung  von  Beschädigungen  durch 
die  Natur,  kurz  von  jeder  Einrichtung  des  Staats,  welche  das 
physische  Wohl  der  Nation  zu  erhalten,  oder  zu  befördern  die 
Absicht  hat.  Denn  da  das  moralische^)  nicht  leicht  um  seiner 
selbst  willen,  sondern  mehr  zum  Behuf  der  Sicherheit  befördert 
wird,  so  komme  ich  zu  diesem  erst  in  der  Folge. 

Alle  diese  Einrichtungen  nun,  behaupte  ich,  haben  nach- 
theilige Folgen,  und  sind  einer  wahren,  von  den  höchsten,  aber 
immer  menschlichen  Gesichtspunkten  ausgehenden  Politik  unan- 
gemessen. 

I.  Der  Geist  der  Regierung  herrscht  in  einer  jeden  solchen 
Einrichtung,  und  wie  weise  und  heilsam  auch  dieser  Geist  sei,  so 
bringt  er  Einförmigkeit  und  eine  fremde  Handlungsweise  in  der 
Nation  hen-or.  Statt  dass  die  Menschen  in  Gesellschaft  treten, 
um  ihre  Ivräfte  zu  schärfen,  sollten  sie  auch  dadurch  an  aus- 
schliessendem  Besiz  und  Genuss  verlieren;  so  erlangen  sie  Güter 
auf  Kosten  ihrer  Kräfte.  Gerade  die  aus  der  Vereinigung  Mehrerer 
entstehende  Mannigfaltigkeit  ist  das  höchste  Gut,  welches  die  Ge- 
sellschaft giebt,  und  diese  Mannigfaltigkeit  geht  gewiss  immer  in 
dem  Grade  der  Einmischung  des  Staats  verloren.  Es  sind  nicht 
mehr  eigentlich  die  Mitglieder  einer  Nation,  die  mit  sich  in  Ge- 
meinschaft leben,  sondern  einzelne  Unterthanen,  welche  mit  dem 
Staat,  d.  h.  dem  Geiste,  welcher  in  seiner  Regierung  herrscht,  in 
Verhältniss  kommen,  und  zwar  in  ein  Verhältniss,  in  welchem 
schon  die  überlegene  Macht  des  Staats  das  freie  Spiel  der  Kräfte 
hemmt.  Gleichförmige  Ursachen  haben  gleichförmige  Wirkungen. 
Je  mehr  also  der  Staat  mitwirkt,  desto  ähnlicher  ist  nicht  bloss 
alles  Wirkende,  sondern  auch  alles  Gewirkte.  Auch  ist  diess  ge- 
rade die  Absicht  der  Staaten.  Sie  wollen  Wohlstand  und  Ruhe. 
Beide  aber  erhält  man  immer  in  eben  dem  Grade  leicht,  in  welchem 
das  Einzelne  weniger  mit  einander  streitet.  iVllein  was  der  ^lensch 
beabsichtet  und  beabsichten  muss,  ist  ganz  etwas  andres,  es  ist 
Mannigfaltigkeit  und  Thätigkeit.  Nur  diess  giebt  vielseitige  und 
kraft\'olle  Charaktere,  und  gewiss  ist  noch  kein  Mensch  tief  genug 
gesunken,  um  für  sich  selbst  Wohlstand  und  Glük  der  Grösse 
vorzuziehen.    Wer  aber  für  andre  so  raisonnirt,  den  hat  man,  und 


V  Der  erste  Druck  hat  „Moralische". 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I. 


l\A  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

nicht  mit  Unrecht,  in  Verdacht,  dass  er  die  Menschheit  miskennt, 
und  aus  Menschen  Maschinen  machen  will. 

2.  Das  wäre  also  die  zweite  schädliche  Folge,  dass  diese  Ein- 
richtungen des  Staats  die  Kraft  der  Nation  schwächen.  So  wie 
durch  die  Form,  welche  aus  der  selbstthätigen  Materie  hervor- 
geht, die  Materie  selbst  mehr  Fülle  und  Schönheit  erhält  —  denn 
was  ist  sie  anders,  als  die  Verbindung  dessen,  was  erst  stritt  ?  eine 
Verbindung,  zu  welcher  allemal  die  Auffindung  neuer  Vereinigungs- 
punkte, folglich  gleichsam  eine  Menge  neuer  Entdekkungen  noth- 
wendig  ist,  die  immer  in  Verhältniss  mit  der  grösseren,  vorherigen 
Verschiedenheit  steigt  —  ebenso  wird  die  Materie  vernichtet  durch 
diejenige,  die  man  ihr  von  aussen  giebt.  Denn  das  Nichts  unter- 
drükt  da  das  Etwas.  Alles  im  Menschen  ist  Organisation.  Was 
in  ihm.  gedeihen  soll,  muss  in  ihm  g  e  s  ä  e  t  werden.  Alle  Kraft  sezt 
Enthusiasmus  voraus,  und  nur  wenige  Dinge  nähren  diesen  so 
sehr,  als  den  Gegenstand  desselben  als  ein  gegenwärtiges,  oder 
künftiges  Eigenthum  anzusehn.  Nun  aber  hält  der  Mensch  das 
nie  so  sehr  für  sein,  was  er  besizt,  als  was  er  thut,  und  der 
Arbeiter,  welcher  einen  Garten  bestellt,  ist  vielleicht  in  einem 
wahreren  Sinne  Eigenthum  er,  als  der  müssige  Schwelger,  der 
ihn  geniesst.  Vielleicht  scheint  diess  zu  allgemeine  Raisonnement 
keine  Anwendung  auf  die  Wirklichkeit  zu  verstatten.  Vielleicht 
scheint  es  sogar,  als  diente  vielmehr  die  Erweiterung  vieler  Wissen- 
schaften, welche  wir  diesen  und  ähnlichen  Einrichtungen  des  Staats, 
welcher  allein  Versuche  im  Grossen  anzustellen  vermag,  vorzüg- 
lich danken,  zur  Erhöhung  der  intellektuellen  Kräfte,  und  dadurch 
der  Kultur  und  des  Charakters  überhaupt.  Allein  nicht  jede  Be- 
reicherung durch  Kenntnisse  ist  unmittelbar  auch  eine  Veredlung, 
selbst  nur  der  intellektuellen  Kraft,  und  wenn  eine  solche  wirklich 
dadurch  veranlasst  wird,  so  ist  diess  nicht  sowohl  bei  der  ganzen 
Nation,  als  nur  vorzüglich  bei  dem  Theile,  welcher  mit  zur  Re- 
gierung gehört.  Ueberhaupt  wird  der  Verstand  des  Menschen 
doch,  wie  jede  andre  seiner  Kräfte,  nur  durch  eigne  Thätigkeit, 
eigne  Erfindsamkeit,  oder  eigne  Benuzung  fremder  Erfindungen 
gebildet.  Anordnungen  des  Staats  aber  führen  immer,  mehr  oder 
minder.  Zwang  mit  sich,  und  selbst,  wenn  diess  der  Fall  nicht 
ist,  so  gewöhnen  sie  den  Menschen  zu  sehr,  mehr  fremde  Be- 
lehrung, fremde  Leitung,  fremde  Hülfe  zu  erwarten,  als  selbst  auf 
Auswege  zu  denken.  Die  einzige  Art  beinah,  auf  welche  der 
Staat  die  Bürger  belehren  kann,   besteht  darin,   dass   er   das,  was 


die   Grenzen   der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III.  j  j  - 

er  für  das  Beste  erklärt,  gleichsam  das  Resultat  seiner  Unter- 
suchungen, aufstellt,  und  entweder  direkt  durch  ein  Gesez,  oder 
indirekt  durch  irgend  eine,  die  Bürger  bindende  Einrichtung  an- 
befiehlt, oder  durch  sein  Ansehn  und  ausgesezte  Belohnungen, 
oder  andre  Ermunterungsmittel  dazu  anreizt,  oder  endlich  es  bloss 
durch  Gründe  empfiehlt;  aber  welche  Methode  er  von  allen  diesen 
befolgen  mag,  so  entfernt  er  sich  immer  sehr  weit  von  dem  besten 
Wege  des  Lehrens.  Denn  dieser  besteht  unstreitig  darin,  gleich- 
sam alle  mögliche  Auflösungen  des  Problems  vorzulegen,  um  den 
Menschen  nur  vorzubereiten,  die  schiklichste  selbst  zu  wählen, 
oder  noch  besser,  diese  Auflösung  selbst  nur  aus  der  gehörigen 
Darstellung  aller  Hindernisse  zu  erfinden.  Diese  Lehrmethode 
kann  der  Staat  bei  erw^achsenen  Bürgern  nur  auf  eine  negative 
Weise,  durch  Freiheit,  die  zugleich  Hindernisse  entstehen  lässt, 
und  zu  ihrer  HinwTgräumung  Stärke  und  Geschiklichkeit  giebt, 
auf  eine  positive  Weise  aber  nur  bei  den  erst  sich  bildenden  durch 
eine  wirkliche  Nationalerziehung  befolgen.  Ebenso  ward  in  der 
Folge  der  Einwurf  weitläuftiger  geprüft  werden,  der  hier  leicht 
entstehen  kann,  dass  es  nemlich  bei  Besorgung  der  Geschäfte,  von 
w^elchen  hier  die  Rede  ist,  mehr  darauf  ankomme,  dass  die  Sache 
geschehe,  als  wäe  der,  w^elcher  sie  verrichtet,  darüber  unterrichtet 
sei,  mehr,  dass  der  Akker  wohl  gebaut  werde,  als  dass  der  Akker- 
bauer  gerade  der  geschikteste  Landwirth  sei. 

Noch  mehr  aber  leidet  durch  eine  zu  ausgedehnte  Sorgfalt 
des  Staats  die  Energie  des  Handlens  überhaupt,  und  der  mora- 
lische Charakter.  Diess  bedarf  kaum  einer  weiteren  Ausführung. 
Wer  oft  und  viel  geleitet  wird,  kommt  leicht  dahin,  den  Ueber- 
rest  seiner  Selbstthätigkeit  gleichsam  freiwilHg  zu  opfern.  Er 
glaubt  sich  der  Sorge  überhoben,  die  er  in  fremden  Händen  sieht, 
und  genug  zu  thun,  Vv'enn  er  ihre  Leitung  erwartet  und  ihr  folgt. 
Damit  verrükken  sich  seine  Vorstellungen  von  Verdienst  und  Schuld. 
Die  Idee  des  erstem  feuert  ihn  nicht  an,  das  quälende  Gefühl  der 
leztern  ergreift  ihn  seltner  und  minder  wirksam,  da  er  dieselbe 
bei  weitem  leichter  auf  seine  Lage,  und  auf  den  schiebt,  der  dieser 
die  Form  gab.  Kommt  nun  noch  dazu,  dass  er  die  Absichten 
des  Staats  nicht  für  völlig  rein  hält,  dass  er  nicht  seinen  Vortheil 
allein,  sondern  wenigstens  zugleich  einen  fremdartigen  Nebenzwek 
beabsichtet  glaubt,  so  leidet  nicht  allein  die  Kraft,  sondern  auch 
die  Güte  des  moralischen  Willens.  Er  glaubt  sich  nun  nicht  bloss 
von  jeder  Pflicht  frei,  welche  der  Staat  nicht  ausdrüklich  auflegt, 

8* 


j  j5  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

sondern  sogar  jeder  Verbesserung  seines  eignen  Zustandes  über- 
hoben, die  er  manchmal  sogar,  als  eine  neue  Gelegenheit,  welche 
der  Staat  benuzen  möchte,  fürchten  kann.  Und  den  Gesezen  des 
Staats  selbst  sucht  er,  soviel  er  vermag,  zu  entgehen,  und  hält 
jedes  Entwischen  für  Gewinn.  Wenn  man  bedenkt,  dass  bei 
einem  nicht  kleinen  Theil  der  Nation  die  Geseze  und  Einrich- 
tungen des  Staats  gleichsam  den  Umfang  der  Moralität  abzeichnen ; 
so  ist  es  ein  niederschlagender  Anblik,  oft  die  heiligsten  Pflichten 
und  die  willkührlichsten  Anordnungen  von  demselben  Munde 
ausgesprochen,  ihre  Verlezung  nicht  selten  mit  gleicher  Strafe  be- 
legt zu  sehen.  Nicht  minder  sichtbar  ist  jener  nachtheilige  Ein- 
fluss  in  dem  Betragen  der  Bürger  gegen  einander.  Wie  jeder  sich 
selbst  auf  die  sorgende  Hülfe  des  Staats  verlässt,  so  und  noch 
weit  mehr  übergiebt  er  ihr  das  Schiksal  seines  Mitbürgers.  Diess 
aber  schwächt  die  Theilnahme,  und  macht  zu  gegenseitiger  Hülfs- 
leistung  träger.  Wenigstens  muss  die  gemeinschaftliche  Hülfe  da 
am  thätigsten  sein,  wo  das  Gefühl  am  lebendigsten  ist,  dass  auf 
ihm  allein  alles  beruhe,  und  die  Erfahrung  zeigt  auch,  dass  ge- 
drükte,  gleichsam  von  der  Regierung  verlassene  Theile  eines  Volks 
immer  doppelt  fest  unter  einander  verbunden  sind.  Wo  aber  der 
Bürger  kälter  ist  gegen  den  Bürger,  da  ist  es  auch  der  Gatte 
gegen  den  Gatten,  der  Hausvater  gegen  die  Familie. 

Sich  selbst  in  allem  Thun  und  Treiben  überlassen,  von  jeder 
fremden  Hülfe  entblösst,  die  sie  nicht  selbst  sich  verschaften, 
würden  die  Menschen  auch  oft,  mit  und  ohne  ihre  Schuld,  in 
Verlegenheit  und  Unglük  gerathen.  Aber  das  Glük,  zu  welchem 
der  Mensch  bestimmt  ist,  ist  auch  kein  andres,  als  welches  seine 
Ivraft  ihm  verschaft ;  und  diese  Lagen  gerade  sind  es,  welche  den 
Verstand  schärfen,  und  den  Charakter  bilden.  Wo  der  Staat  die 
Selbstthätigkeit  durch  zu  specielles  Einwirken  verhindert,  da  — 
entstehen  etwa  solche  Uebel  nicht?  Sie  entstehen  auch  da,  und 
überlassen  den  einmal  auf  fremde  Kraft  sich  zu  lehnen  gewohnten 
Menschen  nun  einem  weit  trostloseren  Schiksal.  Denn  so  wie 
Ringen  und  thätige  Arbeit  das  Unglük  erleichtern,  so  und  in  zehn- 
fach höherem  Grade  erschwert  es  hofnungslose ,  vielleicht  ge- 
täuschte Erwartung.  Selbst  den  besten  Fall  angenommen,  gleichen 
die  Staaten,  von  denen  ich  hier  rede,  nur  zu  oft  den  Aerzten, 
welche  die  Krankheit  nähren,  und  den  Tod  entfernen.  Ehe  es 
Aerzte  gab,  kannte  man  nur  Gesundheit,  oder  Tod. 

■^.  Alles,  womit  sich  der  Mensch  beschäftigt,  wenn   es   gleich 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III.  jjn 

nur  bestimmt  ist,  physische  Bedürfnisse  mittelbar  oder  unmittelbar 
zu  befriedigen,  oder  überhaupt  äussere  Zwekke  zu  erreichen,  ist 
auf  das  genaueste  mit  innren  Empfindungen  verknüpft.  Manchmal 
ist  auch,  neben  dem  äusseren  Endzwek,  noch  ein  innerer,  und 
manchmal  ist  sogar  dieser  der  eigentlich  beabsichtete,  jener  nur, 
nothwendig  oder  zufällig,  damit  verbunden.  Je  mehr  Einheit  der 
Mensch  besLzt,  desto  freier  entspringt  das  äussere  Geschäft,  das  er 
wählt,  aus  seinem  innren  Sein:  und  desto  häufiger  und  fester 
knüpft  sich  dieses  an  jenes  da  an,  wo  dasselbe  nicht  frei  gewählt 
wurde.  Daher  ist  der  interessante  Mensch  in  allen  Lagen  und 
allen  Geschäften  interessant ;  daher  blüht  er  zu  einer  entzükkenden 
Schönheit  auf  in  einer  Lebensweise,  die  mit  seinem  Charakter 
übereinstimmt. 

So  Hessen  sich  vielleicht  aus  allen  Bauern  und  Handwerkern 
Künstler  bilden,  d.  h.  Menschen,  die  ihr  Gewerbe  um  ihres  Ge- 
werbes willen  liebten,  durch  eigen  gelenkte  Kraft  und  eigne  Er- 
findsamkeit  verbesserten,  und  dadurch  ihre  intellektuellen  Kräfte 
kultivinen,  ihren  Charakter  veredelten,  ihre  Genüsse  erhöhten. 
So  würde  die  Menschheit  durch  eben  die  Dinge  geadelt,  die  jezt, 
wie  schön  sie  auch  an  sich  sind,  so  oft  dazu  dienen,  sie  zu  ent- 
ehren. Je  mehr  der  ]\Iensch  in  Ideen  und  Empfindungen  zu  leben 
gewohnt  ist,  je  stärker  und  feiner  seine  intellektuelle  und  moralische 
Kraft  ist;  desto  mehr  sucht  er  allein  solche  äussre  Lagen  zu 
wählen,  welche  zugleich  dem  innren  Menschen  mehr  Stoif  geben, 
oder  denjenigen,  in  welche  ihn  das  Schiksal  wirft,  wenigstens 
solche  Seiten  abzugewinnen.  Der  Gewinn,  welchen  der  Mensch 
an  Grösse  und  Schönheit  einerndtet,  wenn  er  unaufhörlich  dahin 
strebt,  dass  sein  inneres  Dasein  immer  den  ersten  Plaz  behaupte, 
dass  es  immer  der  erste  Quell,  und  das  lezte  Ziel  alles  Wirkens, 
und  alles  Körperliche  und  Äeussere  nur  Hülle  und  Werkzeug  des- 
selben sei,  ist  unabsehlich. 

Wie  sehr  zeichnet  sich  nicht,  um  ein  Beispiel  zu  wählen,  in 
der  Geschichte  der  Charakter  aus,  welchen  der  ungestörte  Land- 
bau in  einem  Volke  bildet.  Die  Arbeit,  welche  es  dem  Boden 
widmet,  und  die  Erndie,  womit  derselbe  es  wieder  belohnt,  l'esseln 
es  süss  an  seinen  Akker  und  seinen  Heerd ;  Theilnahme  der  seegen- 
vollen  Mühe  und  gemeinschaftlicher  Genuss  des  Gewonnenen 
schlingen  ein  liebevolles  Band  um  jede  Familie,  von  dem  selbst  der 
mitarbeitende  Stier  nicht  ganz  ausgeschlossen  wird.  Die  Frucht,  die 
gesäet  und  geerndtet   werden   muss,  aber  alljährlich   wiederkehrt. 


jj3  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

und  nur  selten  die  Hofnung  täuscht,  macht  geduldig,  vertrauend 
und  sparsam;  das  unmittelbare  Empfangen  aus  der  Hand  der 
Natur,  das  immer  sich  aufdringende  Gefühl,  dass,  wenn  gleich  die 
Hand  des  Menschen  den  Saamen  ausstreuen  muss,  doch  nicht  sie 
es  ist,  von  welcher  Wachsthum  und  Gedeihen  kommt;  die  ewige 
Abhängigkeit  von  günstiger  und  ungünstiger  Witterung  flösst  den 
Gemüthern  bald  schauderhafte,  bald  frohe  Ahndungen  höherer 
Wesen,  wechselsweis  Furcht  und  Hofnung  ein,  und  fühn  zu 
Gebet  und  Dank;  das  lebendige  Bild  der  einfachsten  Erhabenheit, 
der  ungestörtesten  Ordnung,  und  der  mildesten  Güte  bildet  die 
Seelen  einfach,  gross,  sanft,  und  der  Sitte  und  dem  Gesez  froh 
unterworfen.  Immer  gewohnt  hen'orzubringen,  nie  zu  zerstören, 
ist  der  Akkerbauer  friedlich,  und  von  Beleidigung  und  Rache  fern, 
aber  erfüllt  von  dem  Gefühl  der  Ungerechtigkeit  eines  ungereizten 
Angriffs,  und  gegen  jeden  Störer  seines  Friedens  mit  unerschrokkenem 
Muth  beseelt. 

Allein,  freilich  ist  Freiheit  die  nothwendige  Bedingung,  ohne 
welche  selbst  das  seelenvollste  Geschäft  keine  heilsamen  Wirkungen 
dieser  Art  hervorzubringen  vermag.  Was  nicht  von  dem  Menschen 
selbst  gewählt,  worin  er  auch  nur  eingeschränkt  und  geleitet  wird, 
das  geht  nicht  in  sein  Wesen  über,  das  bleibt  ihm  ewig  fremd, 
das  verrichtet  er  nicht  eigentlich  mit  menschlicher  Kraft,  sondern 
mit  mechanischer  Fertigkeit.  Die  Alten,  vorzüglich  die  Griechen, 
hielten  jede  Beschäftigung,  welche  zunächst  die  körperliche  Kraft 
angeht,  oder  Erwerbung  äusserer  Güter,  nicht  innere  Bildung  zur 
Absicht  hat,  für  schädlich  und  entehrend.  Ihre  menschenfreund- 
lichsten Philosophen  billigten  daher  die  Sklaverei,  gleichsam  um 
durch  ein  ungerechtes  und  barbarisches  Mittel  einem  Theile  der 
Menschheit  durch  Aufopferung  eines  andren  die  höchste  Kraft 
und  Schönheit  zu  sichern.  Allein  den  Irrthum,  welcher  diesem 
ganzen  Raisonnement  zum  Grunde  Hegt,  zeigen  Vernunft  und 
Erfahrung  leicht.  Jede  Beschäftigung  vermag  den  Menschen  zu 
adeln,  ihm  eine  bestimmte,  seiner  würdige  Gestalt  zu  geben.  Nur 
auf  die  Art,  wie  sie  betrieben  wird,  kommt  es  an;  und  hier  lässt 
sich  wohl  als  allgemeine  Regel  annehmen,  dass  sie  heilsame  Wir- 
kungen äussert,  so  lange  sie  selbst,  und  die  darauf  verwandte 
Energie  vorzüglich  die  Seele  füllt,  minder  wohlthätige,  oft  nach- 
theilige hingegen,  wenn  man  mehr  auf  das  Resultat  sieht,  zu  dem 
sie  führt,  und  sie  selbst  nur  als  Mittel  betrachtet.  Denn  alles, 
was  in  sich  selbst  reizend  ist,  erwekt  Achtung  und  Liebe,  was  nur 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III. 


iiq 


als  Mittel  Xuzen  verspricht,  bloss  Interesse:  und  nun  wird  der 
Mensch  durch  Achtung  und  Liebe  ebenso  sehr  geadelt,  als  er 
durch  Interesse  in  Gefahr  ist,  entehrt  zu  werden.  Wenn  nun  der 
Staat  eine  solche  positive  Sorgfalt  übt,  als  die,  von  der  ich  hier 
rede,  so  kann  er  seinen  Gesichtspunkt  nur  auf  die  Resultate 
richten,  und  nun  die  Regeln  feststellen,  deren  Befolgung  der  Yqt- 
vollkommnung  dieser  am  zuträglichsten  ist. 

Dieser  beschränkte  Gesichtspunkt  richtet  nirgends  grösseren 
Schaden  an,  als  wo  der  wahre  Zwek  des  Menschen  völlig  moralisch, 
oder  intellektuell  ist,  oder  doch  die  Sache  selbst,  nicht  ihre  Folgen 
beabsichtet,  und  diese  Folgen  nur  nothwendig  oder  zufällig  damit 
zusammenhängen.  So  ist  es  bei  wissenschaftlichen  Untersuchungen, 
und  religiösen  Meinungen,  so  mit  allen  Verbindungen  der  Menschen 
unter  einander,  und  mit  der  natürlichsten,  die  für  den  einzelnen 
Menschen,  wie  für  den  Staat  die  wichtigste  ist,  mit  der  Ehe. 

Eine  Verbindung  von  Personen  beiderlei  Geschlechts,  welche 
sich  gerade  auf  die  Geschlechtsverschiedenheit  gründet,  wie  viel- 
leicht die  Ehe  am  richtigsten  detinirt  werden  könnte,  lässt  sich 
auf  ebenso  mannigfaltige  Weise  denken,  als  mannigfaltige  Gestalten 
die  Ansicht  jener  Verschiedenheit,  und  die,  aus  derselben  ent- 
springenden Neigungen  des  Herzens  und  Zwekke  der  Vernunft 
anzunehmen  vermögen;  und  bei  jedem  Menschen  wird  sein  ganzer 
moralischer  Charakter,  vorzüglich  die  Stärke,  und  die  Art  seiner 
Empündungskraft  darin  sichtbar  sein.  Ob  der  Mensch  mehr 
äussere  Zwekke  verfolgt,  oder  lieber  sein  innres  Wesen  beschäftigt } 
ob  sein  Verstand  thätiger  ist,  oder  sein  Gefühl.^  ob  er  lebhaft 
umfasst  und  schnell  verlässt,  oder  langsam  eindringt  und  treu 
bewahrt.^  ob  er  losere  Bande  knüpft,  oder  sich  enger  anschliesst.^ 
ob  er  bei  der  innigsten  Verbindung  mehr  oder  minder  Selbst- 
ständigkeit behält.'  und  eine  unendliche  Menge  andrer  Bestim- 
mungen moditiciren  anders  und  anders  sein  \^erhältniss  im  ehe- 
lichen Leben.  Wie  dasselbe  aber  auch  immer  bestimmt  sein  mag ; 
so  ist  die  Wirkung  davon  auf  sein  Wesen  und  seine  Glükseligkeit 
unverkennbar,  und  ob  der  ^^rsuch,  die  Wirklichkeit  nach  seiner 
innren  Stimmung  zu  linden  oder  zu  bilden,  glükke  oder  mis- 
linge.'  davon  hängt  grösstentheils  die  höhere  \^erv'ollkommnung, 
oder  die  Erschlaffung  seines  Wesens  ab.  ^^orzüglich  stark  ist 
dieser  Einfluss  bei  den  interessantesten  Menschen,  welche  am 
zartesten  und  leichtesten  auffassen,  und  am  tiefsten  bewahren. 
Zu  diesen  kann  man  mit  Recht  im  Ganzen   mehr   das   weibliche, 


I20  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

als  das  männliche  Geschlecht  rechnen,  und  daher  hängt  der 
Charakter  des  ersteren  am  meisten  von  der  Art  der  Familien- 
verhältnisse in  einer  Nation  ab.  Von  sehr  vielen  äusseren  Be- 
schäftigungen gänzlich  frei;  fast  nur  mit  solchen  umgeben,  welche 
das  innere  Wesen  beinah  ungestört  sich  selbst  überlassen ;  stärker 
durch  das,  was  sie  zu  sein,  als  was  sie  zu  thun  vermögen;  aus- 
druksvoller  durch  die  stille,  als  die  geäusserte  Empfindung;  mit 
aller  Fähigkeit  des  unmittelbarsten,  zeichenlosesten  Ausdruks,  bei 
dem  zarteren  Körperbau,  dem  beweglicheren  Auge,  der  mehr  er- 
greifenden Stimme,  reicher  versehen;  im  Verhältniss  gegen  andre 
mehr  bestimmt  zu  erwarten  und  aufzunehmen,  als  entgegenzu- 
kommen; schwächer  für  sich,  und  doch  nicht  darum,  sondern 
aus  Bewunderung  der  fremden  Grösse  und  Stärke  inniger  an- 
schliessend; in  der  Verbindung  unaufhörlich  strebend,  mit  dem 
vereinten  Wesen  zu  empfangen,  das  Empfangne  in  sich  zu  bilden, 
und  gebildet  zurükzugeben ;  zugleich  höher  von  dem  Muthe  be- 
seelt, welchen  Sorgfalt  der  Liebe,  und  Gefühl  der  Stärke  einflösst, 
die  nicht  dem  Widerstände,  aber  dem  Erliegen  im  Dulden  trozt 
—  sind  die  Weiber  eigentlich  dem  Ideale  der  Menschheit  näher, 
als  der  Mann;  und  wenn  es  nicht  unwahr  ist,  dass  sie  es  seltner 
erreichen,  als  er;  so  ist  es  vielleicht  nur,  weil  es  überall  schwerer 
ist,  den  unmittelbaren  steilen  Pfad,  als  den  Umweg  zu  gehen. 
Wie  sehr  aber  nun  ein  Wesen,  das  so  reizbar,  so  in  sich  Eins 
ist,  bei  dem  folglich  nichts  ohne  Wirkung  bleibt,  und  jede  Wir- 
kung nicht  einen  Theil,  sondern  das  Ganze  ergreift,  durch  äussre 
Misverhältnisse  gestört  wird,  bedarf  nicht  ferner  erinnert  zu 
werden.  Dennoch  hängt  von  der  Ausbildung  des  weiblichen 
Charakters  in  der  Gesellschaft  so  unendlich  viel  ab.  Wenn  es 
keine  unrichtige  Vorstellung  ist,  dass  jede  Gattung  der  Treflichkeit 
sich  —  wenn  ich  so  sagen  darf  —  in  einer  Art  der  Wesen  dar- 
stellt; so  bewahrt  der  weibliche  Charakter  den  ganzen  Schaz  der 
Sittlichkeit. 

Nach  Freiheit  strebt  der  Mann,  das  Weib  nach  Sitte, 

und  wenn,  nach  diesem  tief  und  wahr  empfundenen  Ausspruch 
des  Dichters,^)  der  Mann  sich  bemüht,  die  äusseren  Schranken 
zu  entfernen,  welche  dem  Wachsthum  hinderlich  sind;  so  zieht 
die  sorgsame  Hand  der  Frauen  die  wohlthätige  innere,  in  welcher 


V  Goethe,    Torquato    Tasso    Vers  1022.     Das  Drama  erschien  zuerst  ijgo 
im  sechsten  Bande  der  ersten  Gesammtausgabe  von  Goethes  Schriften. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III.  j2I 

allein  die  Fülle  der  Kraft  sich  zur  Blüthe  zu  läutern  vermag, 
und  zieht  sie  um  so  feiner,  als  die  Frauen  das  innre  Dasein  des 
Menschen  tiefer  empfinden,  seine  mannigfaltigen  Verhältnisse 
feiner  durchschauen,  als  ihnen  jeder  Sinn  am  willigsten  zu  Ge- 
bote steht,  und  sie  des  Vernünfteins  überhebt,  das  so  oft  die 
Wahrheit  verdunkelt. 

Sollte  es  noch  nothwendig  scheinen,  so  würde  auch  die  Ge- 
schichte diesem  Raisonnement  Bestätigung  leihen,  und  die  Sitt- 
lichkeit der  Nationen  mit  der  Achtung  des  weiblichen  Geschlechts 
überall  in  enger  ^^erbindung  zeigen.  Es  erhellt  demnach  aus  dem 
Vorigen,  dass  die  Wirkungen  der  Ehe  ebenso  mannigfaltig  sind, 
als  der  Charakter  der  Individuen;  und  dass  es  also  die  nach- 
theiligsten Folgen  haben  muss,  wenn  der  Staat  eine,  mit  der  jedes- 
maligen Beschaffenheit  der  Individuen  so  eng  verschwisterte  Yer- 
bindung  durch  Geseze  zu  bestimmen,  oder  durch  seine  Einrich- 
tungen von  andren  Dingen,  als  von  der  blossen  Neigung  abhängig 
zu  machen  versucht.  Diess  muss  um  so  mehr  der  Fall  sein,  als 
er  bei  diesen  Bestimmungen  beinah  nur  auf  die  Folgen,  auf  Be- 
völkerung, Erziehung  der  Kinder  u.  s.  f.  sehen  kann.  Zwar  lässt 
sich  gewiss  darthun,  dass  eben  diese  Dinge  auf  dieselben  Resultate 
mit  der  höchsten  Sorgfalt  für  das  schönste  innere  Dasein  führen. 
Denn  bei  sorgfältig  angestellten  ^"ersuchen  hat  man  die  unge- 
trennte, dauernde  Verbindung  Eines  Mannes  mit  Einer  Frau  der 
Bevölkerung  am  zuträglichsten  gefunden,  und  unläugbar  entspringt 
gleichfalls  keine  andre  aus  der  w^ahren,  natürlichen,  unverstimmten 
Liebe.  Ebensowenig  führt  diese  ferner  auf  andre,  als  eben  die 
Verhältnisse,  welche  die  Sitte  und  das  Gesez  bei  uns  mit  sich 
bringen:  Kindererzeugung,  eigne  P>ziehung,  Gemeinschaft  des 
Lebens,  zum  Theil  der  Güter,  Anordnung  der  äussren  Geschäfte 
durch  den  Mann,  \'erwaltung  des  Hausw^esens  durch  die  Frau. 
Allein,  der  Fehler  scheint  mir  darin  zu  liegen,  dass  das  Gesez  b  e  - 
fiehlt,  da  doch  ein  solches  Verhältniss  nur  aus  Neigung,  nicht 
aus  äussren  Anordnungen  entstehn  kann,  und  wo  Zwang  oder 
Leitung  der  Neigung  widersprechen,  diese  noch  weniger  zum 
rechten  Wege  zurükkehrt.  Daher,  dünkt  mich,  sollte  der  Staat 
nicht  nur  die  Bande  freier  und  weiter  machen,  sondern  —  wenn 
es  mir  erlaubt  ist,  hier,  wo  ich  nicht  von  der  Ehe  überhaupt, 
sondern  einem  einzelnen,  bei  ihr  sehr  in  die  Augen  fallenden  Nachtheil 
einschränkender  Staatseinrichtungen  rede,  allein  nach  den  im 
Vorigen  gewagten  Behauptungen  zu  entscheiden  —  überhaupt  von 


122  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

der  Ehe  seine  ganze  Wirksamkeit  entfernen,  und  dieselbe  vielmehr 
der  freien  Willkühr  der  Individuen,  und  der  von  ihnen  errichteten 
mannigfaltigen  Verträge,  sowohl  überhaupt,  als  in  ihren  Modi- 
fikationen, gänzlich  überlassen.  Die  Besorgniss,  dadurch  alle 
Familienverhältnisse  zu  stören,  oder  vielleicht  gar  ihre  Entstehung 
überhaupt  zu  verhindern  —  so  gegründet  dieselbe  auch,  bei  diesen 
oder  jenen  Lokalumständen,  sein  möchte  —  würde  mich,  insofern 
ich  allein  auf  die  Natur  der  Menschen  und  Staaten  im  Allgemeinen 
achte,  nicht  abschrekken.  Denn  nicht  selten  zeigt  die  Erfahrung, 
dass  gerade,  was  das  Gesez  löst,  die  Sitte  bindet;  die  Idee  des 
äussren  Zwangs  ist  einem,  allein  auf  Neigung  und  innrer  Pflicht 
beruhenden  Verhältniss,  wie  die  Ehe,  völlig  fremdartig;  und  die 
Folgen  zwingender  Einrichtungen  entsprechen  der  Absicht  schlech- 
terdings nicht. 

[5.]  ....  in  dem  moralischen  und  überhaupt  praktischen 
Leben  des  Menschen,  sofern  er  nur  auch  hier  gleichsam  die 
Regeln  beobachtet  —  die  sich  aber  vielleicht  allein  auf  die  Grund- 
säze  des  Rechts  beschränken  —  überall  den  höchsten  Gesichts- 
punkt der  eigenthümlichsten  Ausbildung  seiner  selbst  und  andrer 
vor  Augen  hat,  überall  von  dieser  reinen  Absicht  geleitet  wird, 
und  vorzüglich  jedes  andre  Interesse  diesem,  ohne  alle  Beimischung 
sinnlicher  Beweggründe  erkannten  Geseze  unterwirft.  Allein  alle 
Seiten,  welche  der  Mensch  zu  kultiviren  vermag,  stehen  in  einer 
wunderbar  engen  Verknüpfung,  und  wenn  schon  in  der  intellek- 
tuellen Welt  der  Zusammenhang,  wenn  nicht  inniger,  doch 
wenigstens  deutlicher  und  bemerkbarer  ist,  als  in  der  physischen ; 
so  ist  er  es  noch  bei  weitem  mehr  in  der  moralischen.  Daher 
müssen  sich  die  Menschen  untereinander  verbinden,  nicht  um  an 
Eigenthümlichkeit,  aber  an  ausschliessendem  IsoHrtsein  zu  ver- 
lieren; die  Verbindung  muss  nicht  ein  Wesen  in  das  andre  ver- 
wandeln, aber  gleichsam  Zugänge  von  einem  zum  andren  eröfnen; 
was  jeder  für  sich  besizt,  muss  er  mit  dem,  von  andren  Empfangnen 
vergleichen,  und  danach  modificiren,  nicht  aber  dadurch  unter- 
drükken  lassen.  Denn  wie  in  dem  Reiche  des  Intellektuellen  nie 
das  W^ahre,  so  streitet  in  dem  Gebiete  der  Moralität  nie  das  des 
Menschen  wahrhaft  Wairdige  mit  einander;  und  enge  und  mannig- 
faltige Verbindungen  eigenthümlicher  Charaktere  mit  einander  sind 
daher  ebenso  nothwendig,  um  zu  vernichten,  was  nicht  neben 
einander  bestehn  kann,  und  daher  auch  für  sich  nicht  zu  Grösse 
und  Schönheit  führt,  als  das,  dessen  Dasein  gegenseitig  ungestört 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III. 


123 


bleibt,  zu  erhalten,  zu  nähren,  und  zu  neuen,  noch  schöneren 
Geburten  zu  befruchten.  Daher  scheint  ununterbrochenes  Streben, 
die  innerste  Eigenthümlichkeit  des  andren  zu  fassen,  sie  zu  be- 
nuzen, und,  von  der  innigsten  Achtung  für  sie,  als  die  Eigen- 
thümlichkeit eines  freien  Wesens,  durchdrungen,  auf  sie  zu  wirken 
—  ein  Wirken,  bei  welchem  jene  Achtung  nicht  leicht  ein  andres 
Mittel  erlauben  wird,  als  sich  selbst  zu  zeigen  und  gleichsam  vor 
den  Augen  des  andern  mit  ihm  zu  vergleichen  —  der  höchste 
Grundsaz  der  Kunst  des  Umganges,  welche  vielleicht  unter  allen 
am  meisten  bisher  noch  vernachlässigt  worden  ist.  \\^enn  aber 
auch  diese  \'ernachlässigung  leicht  eine  Art  der  Entschuldigung 
davon  borgen  kann,  dass  der  Umgang  eine  Erholung,  nicht  eine 
mühevolle  Arbeit  sein  soll,  und  dass  leider  sehr  vielen  Menschen 
kaum  irgend  eine  interessante  eigenthümliche  Seite  abzugewinnen 
ist;  so  sollte  doch  jeder  zu  viel  Achtung  für  sein  eignes  Selbst 
besizen,  um  eine  andre  Erholung,  als  den  Wechsel  interessanter 
Beschäftigung,  und  noch  dazu  eine  solche  zu  suchen,  welche  ge- 
rade seine  edelsten  Kräfte  unthätig  lässt,  und  zu  viel  Ehrfurcht 
für  die  Menschheit,  um  auch  nur  Eins  ihrer  Mitglieder  für  völlig 
unfähig  zu  erklären,  benuzt,  oder  durch  Einwirkung  anders  modi- 
fizirt  zu  werden.  Wenigstens  aber  darf  derjenige  diesen  Gesichts- 
punkt nicht  übersehen,  welcher  sich  Behandlung  der  Menschen 
und  Wirken  auf  sie  zu  einem  eigentlichen  Geschäft  macht,  und 
insofern  folglich  der  Staat,  bei  positiver  Sorgfalt  auch  nur  für  das, 
mit  dem  Innern  Dasein  immer  eng  verknüpfte  äussre  und  ph^'sische 
Wohl,  nicht  umhin  kann,  der  Entwikklung  der  Individualität 
hinderlich  zu  werden ;  so  ist  diess  ein  neuer  Grund  eine  solche 
Sorgfalt  nie,  ausser  dem  Fall  einer  absoluten  Xoth wendigkeit,  zu 
verstatten. 

Diess  möchten  etwa  die  vorzüglichsten  nachtheiligen  Folgen 
sein,  welche  aus  einer  positiven  Sorgfalt  des  Staats  für  den  Wohl- 
stand der  Bürger  entspringen,  und  die  zwar  mit  gev^'issen  Arten 
der  Ausübung  derselben  vorzüglich  verbunden,  aber  überhaupt 
doch  von  ihr  meines  Erachtens  nicht  zu  trennen  sind.  Ich  v\^ollte 
jezt  nur  von  der  Sorgfalt  für  das  phj'sische  Wohl  reden,  und  ge- 
wiss bin  ich  auch  überall  von  diesem  Gesichtspunkte  ausgegangen 
und  habe  alles  genau  abgesondert,  was  sich  nur  auf  das  moralische 
allein  bezieht.  Allein  ich  erinnerte  gleich  anfengs,  dass  der 
Gegenstand  selbst  keine  genaue  Trennung  erlaubt,  und  diess  möge 
also  zur  Entschuldigung  dienen,  wenn  sehr  N'ieles  des  im  Vorigen 


124.  5-    Ideen  zu   einem  Versuch 

entwikkelten  Raisonnements  von  der  ganzen  positiven  Sorgfalt 
überhaupt  gilt.  Ich  habe  indess  bis  jezt  angenommen,  dass  die 
Einrichtungen  des  Staats,  von  welchen  ich  hier  rede,  schon  wirklich 
getroffen  wären,  und  ich  muss  daher  noch  von  einigen  Hinder- 
nissen reden,  welche  sich  eigentlich  bei  der  Anordnung  selbst  zeigen. 

6.  Nichts  wäre  gewiss  bei  dieser  so  nothwendig,  als  die  Vor- 
theile,  die  man  beabsichtet,  gegen  die  Nachtheile,  und  vorzüglich 
gegen  die  Einschränkungen  der  Freiheit,  welche  immer  damit  ver- 
bunden sind,  abzuwägen.  Allein  eine  solche  Abwägung  lässt  sich 
nur  sehr  schwer  und  genau,  und  vollständig  vielleicht  schlechter- 
dings nicht  zu  Stande  bringen.  Denn  jede  einschränkende  Ein- 
richtung kollidirt  mit  der  freien  und  natürlichen  Aeusserung  der 
Kräfte,  bringt  bis  ins  Unendliche  gehende  neue  Verhältnisse  her- 
vor, und  so  lässt  sich  die  Menge  der  folgenden,  welche  sie  nach 
sich  zieht,  (selbst  den  gleichmässigsten  Gang  der  Begebenheiten 
angenommen,  und  alle  irgend  wichtige  unvermuthete  Zufälle,  die 
doch  nie  fehlen,  abgerechnet)  nicht  voraussehn.  Jeder,  der  sich 
mit  der  höheren  Staatsverwaltung  zu  beschäftigen  Gelegenheit  hat, 
fühlt  gewiss  aus  Erfahrung,  wie  wenig  Maassregeln  eigentlich  eine 
unmittelbare,  absolute,  wie  viele  hingegen  eine  bloss  relative, 
mittelbare,  von  andren  vorhergegangenen  abhängende  Noth- 
wendigkeit  haben.  Dadurch  wird  daher  eine  bei  weitem  grössere 
Menge  von  Mitteln  nothwendig,  und  eben  diese  Mittel  werden 
der  Erreichung  des  eigentlichen  Zwcks  entzogen.  Nicht  allein 
dass  ein  solcher  Staat  grösserer  Einkünfte  bedarf,  sondern  er  er- 
fordert auch  künstlichere  Anstalten  zur  Erhaltung  der  eigentlichen 
politischen  Sicherheit,  die  Theile  hängen  weniger  von  selbst  fest 
zusammen,  die  Sorgfalt  des  Staats  muss  bei  weitem  thätiger  sein. 
Daraus  entspringt  nun  eine  gleich  schwierige,  und  leider  nur  zu 
oft  vernachlässigte  Berechnung,  ob  die  natürlichen  Kräfte  des 
Staats  zu  Herbeischalfung  aller  nothwendig  erforderlichen  Mittel 
hinreichend  sind?  und  fällt  diese  Berechnung  unrichtig  aus,  ist 
ein  wahres  Misverhältniss  vorhanden;  so  müssen  neue  künstliche 
Veranstaltungen  die  Kräfte  überspannen,  ein  Uebel,  an  welchem 
nur  zu  viele  neuere  Staaten,  wenn  gleich  nicht  allein  aus  dieser 
Ursache,  kranken. 

Vorzüglich  ist  hiebei  ein  Schade  nicht  zu  übersehen,  weil  er 
den  Menschen  und  seine  Bildung  so  nahe  betrift,  nemlich  dass 
die  eigentliche  Verwaltung  der  Staatsgeschäfte  dadurch  eine  Ver- 
flechtung erhält,  welche,   um   nicht  Venvirrung  zu  werden,   eine 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III.  12^ 

unglaubliche  Menge  detaillirter  Einrichtungen  bedarf,  und  ebenso- 
viele  Personen  beschäftigt.  Von  diesen  haben  indess  doch  die 
meisten  nur  mit  Zeichen  und  Formeln  der  Dinge  zu  thun.  Da- 
durch werden  nun  nicht  bloss  viele,  vielleicht  trefliche  Köpfe  dem 
Denken,  viele,  sonst  nüzlicher  beschäftigte  Hände  der  reellen 
Arbeit  entzogen;  sondern  ihre  Geisteskräfte  selbst  leiden  durch 
diese  zum  Theil  leere,  zum  Theil  zu  einseitige  Beschäftigung.  Es 
entsteht  nun  ein  neuer  und  gewöhnlicher  Erwerb,  Besorgung  von 
Staatsgeschäften,  und  dieser  macht  die  Diener  des  Staats  so  viel 
mehr  von  dem  regierenden  Theile  des  Staats,  der  sie  besoldet,  als 
eigentlich  von  der  Nation  abhängig.  Welche  fernem  Nachtheile 
aber  noch  hieraus  erwachsen,  w^elches  Warten  auf  die  Hülfe  des 
Staats,  welcher  Mangel  der  Selbstständigkeit,  welche  falsche  Eitel- 
keit, welche  Unthätigkeit  sogar  und  Dürftigkeit,  beweist  die  Er- 
fahrung am  unwädersprechlichsten.  Dasselbe  Uebel,  aus  welchem 
dieser  Nachtheil  entspringt,  wird  wieder  von  demselben  wechsels- 
weis  hervorgebracht.  Die,  welche  einmal  die  Staatsgeschäfte  auf 
diese  Weise  verwalten,  sehen  immer  mehr  und  mehr  von  der 
Sache  hinweg  und  nur  auf  die  Form  hin,  bringen  immerfort  bei 
dieser,  vielleicht  wahre,  aber  nur,  mit  nicht  hinreichender  Hinsicht 
auf  die  Sache  selbst,  und  daher  oft  zum  Nachtheil  dieser  aus- 
schlagende Verbesserungen  an,  und  so  entstehen  neue  Formen, 
neue  Weitläuftigkeiten,  oft  neue  einschränkende  Anordnungen,  aus 
welchen  wiederum  sehr  natürlich  eine  neue  Vermehrung  der  Ge- 
schäftsmänner erwächst.  Daher  nimmt  in  den  meisten  Staaten 
von  Jahrzehend  zu  Jahrzehend  das  Personale  der  Staatsdiener,  und 
der  Umfang  der  Registraturen  zu,  und  die  Freiheit  der  Unter- 
thanen  ab.  Bei  einer  solchen  Verwaltung  kommt  freilich  alles  auf 
die  genaueste  Aufsicht,  auf  die  pünktlichste  und  ehrlichste  Be- 
sorgung an,  da  der  Gelegenheiten,  in  beiden  zu  fehlen,  so  viel 
mehr  sind.  Daher  sucht  man  insofern  nicht  mit  Unrecht,  alles 
durch  so  viel  Hände,  als  möglich  gehen  zu  lassen,  und  selbst  die 
Möglichkeit  von  Trrthümern  oder  Unterschleifen  zu  entfernen. 
Dadurch  aber  werden  die  Geschäfte  beinah  völlig  mechanisch,  und 
die  Menschen  Maschinen;  und  die  wahre  Geschiklichkeit  und 
Redlichkeit  nehmen  immer  mit  dem  Zutrauen  zugleich  ab.  End- 
lich werden,  da  die  Beschäftigungen,  von  denen  ich  hier  rede,  eine 
grosse  Wichtigkeit  erhalten,  und  um  konsequent  zu  sein,  aller- 
dings erhalten  müssen,  dadurch  überhaupt  die  Gesichtspunkte  des 
Wichtigen  und  Unwichtigen,  Ehrenvollen    und  \'erächtlichen,   des 


120  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

lezten  ^)  und  der  untergeordneten  Endzwekke  verrükt.  Und  da 
die  Nothwendigkeit  von  Beschäftigungen  dieser  Art,  auch  wiederum 
durch  manche,  leicht  in  die  Augen  fallende  heilsame  Folgen  für 
ihre  Nachtheile  entschädigt;  so  halte  ich  mich  hiebei  nicht  länger 
auf,  und  gehe  nunmehr  zu  der  lezten  Betrachtung,  zu  welcher 
alles  bisher  Entwikkelte,  gleichsam  als  eine  Vorbereitung,  noth- 
wendig  war,  zu  der  Verrükkung  der  Gesichtspunkte  überhaupt 
über,  welche  eine  positive  Sorgfalt  des  Staats  veranlasst. 

7.  Die  Menschen  —  um  diesen  Theil  der  Untersuchung  mit 
einer  allgemeinen,  aus  den  höchsten  Rüksichten  geschöpften  Be- 
trachtung zu  schliessen  —  werden  um  der  Sachen,  die  Kräfte  um 
der  Resultate  willen  vernachlässigt.  Ein  Staat  gleicht  nach  diesem 
Sj^stem  mehr  einer  aufgehäuften  Menge  von  leblosen  und  leben- 
digen Werlvzeugen  der  Wirksamkeit  und  des  Genusses,  als  einer 
Menge  thätiger  und  geniessender  Kräfte.  Bei  der  Vernachlässigung 
der  Selbstthätigkeit  der  handelnden  Wesen  scheint  nur  auf  Glük- 
seHgkeit  und  Genuss  gearbeitet  zu  sein.  Allein,  wenn,  da  über 
Glükseligkeit  und  Genuss  nur  die  Empfindung  des  Geniessenden 
richtig  urtheilt,  die  Berechnung  auch  richtig  wäre;  so  wäre  sie 
dennoch  immer  weit  von  der  Würde  der  Menschheit  entfernt. 
Denn  woher  käme  es  sonst,  dass  eben  diess  nur  Ruhe  abzwekkende 
System  auf  den  menschlich  höchsten  Genuss,  gleichsam  aus  Be- 
sorgniss  vor  seinem  Gegentheil,  willig  Verzicht  thut?  Der  Mensch 
geniesst  am  meisten  in  den  Momenten,  in  welchen  er  sich  in  dem 
höchsten  Grade  seiner  Kraft  und  seiner  Einheit  fühlt.  Freilich  ist 
er  auch  dann  dem  höchsten  Elend  am  nächsten.  Denn  auf  den 
Moment  der  Spannung  vermag  nur  eine  gleiche  Spannung  zu 
folgen,  und  die  Richtung,  zum  Genuss  oder  zum  Entbehren,  liegt 
in  der  Hand  des  unbesiegten  Schiksals.  Allein  wenn  das  Gefühl 
des  Höchsten  im  Menschen  nur  Glük  zu  heissen  verdient,  so  ge- 
winnt auch  Schmerz  und  Leiden  eine  veränderte  Gestalt.  Der 
Mensch  in  seinem  Innren  wird  der  Siz  des  Glüks  und  des  Unglüks, 
und  er  wechselt  ja  nicht  mit  der  wallenden  Fluth,  die  ihn  trägt. 
Jenes  System  führt,  meiner  Empfindung  nach,  auf  ein  fruchtloses 
Streben,  dem  Schmerz  zu  entrinnen.  Wer  sich  wahrhaft  auf  Ge- 
nuss versteht,  erduldet  den  Schmerz,  der  doch  den  Flüchtigen  er- 
eilt, und  freuet  sich  unaufhörlich  am  ruhigen  Gange  des  Schiksals ; 


V  Die  Handschrift  hat  „lezteren",  was  schon  Paul  Cauer,  Staat  und  Er- 
ziehung S.  gj  Anm.  i  als  Schreibfehler  erkannt  hat. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III.  j[27 

und  der  Anblik  der  Grösse  fesselt  ihn  süss,  es  mag  entstehen,  oder 
vernichtet  werden.  So  kommt  er  —  doch  freilich  nur  der  Schwär- 
mer in  andern,  als  seltnen  Momenten  —  selbst  zu  der  Empfindung, 
dass  sogar  der  Moment  des  Gefühls  der  eignen  Zerstörung  ein 
Moment  des  Entzükkens  ist. 

Vielleicht  werde  ich  beschuldigt,  die  hier  aufgezählten  Nach- 
theile übertrieben  zu  haben;  allein  ich  musste  die  volle  Wirkung 
des  Einmischens  des  Staats  —  von  dem  hier  die  Rede  ist  — 
schildern,  und  es  versteht  sich  von  selbst,  dass  jene  Nachtheile, 
nach  dem  Grade  und  nach  der  Art  dieses  Einmischens  selbst,  sehr 
verschieden  sind.  Ueberhaupt  sei  mir  die  Bitte  erlaubt,  bei  allem, 
was  diese  Blätter  Allgemeines  enthalten,  von  Vergleichungen  mit 
der  Wirklichkeit  gänzlich  zu  abstrahiren.  In  dieser  findet  man 
selten  einen  Fall  voll  und  rein,  und  selbst  dann  sieht  man  nicht 
abgeschnitten  und  für  sich  die  einzelnen  Wirkungen  einzelner 
Dinge.  Dann  darf  man  auch  nicht  vergessen,  dass,  wenn  einmal 
schädliche  Einflüsse  vorhanden  sind,  das  Verderben  mit  sehr  be- 
schleunigten Schritten  weiter  eilt.  Wie  grössere  Kraft,  mit  grösserer 
vereint,  doppelt  grössere  hervorbringt,  so  artet  auch  geringere  mit 
geringerer  in  doppelt  geringere  aus.  Welcher  Gedanke  selbst 
wagt  es  nur,  die  Schnelligkeit  dieser  Fortschritte  zu  begleiten.'* 
Indess  auch  sogar  zugegeben,  die  Nachtheile  wären  minder  gross; 
so,  glaube  ich,  bestätigt  sich  die  vorgetragene  Theorie  doch  noch 
bei  weitem  mehr  durch  den  warlich  namenlosen  Seegen,  der  aus 
ihrer  Befolgung  —  wenn  diese,  wie  freilich  manches  zweifeln  lässt, 
je  ganz  möglich  wäre  —  entstehen  müsste.  Denn  die  immer 
thätige,  nie  ruhende,  den  Dingen  inwohnende  Kraft  kämpft  gegen 
jede,  ihr  schädliche  Einrichtung,  und  befördert  jede,  ihr  heilsame; 
so  dass  es  im  höchsten  Verstände  wahr  ist,  dass  auch  der  ange- 
strengteste Eifer  nie  soviel  Böses  zu  wirken  vermag,  als  immer 
und  überall  von  selbst  Gutes  hervorgeht. 

Ich  könnte  hier  ein  erfreuliches  Gegenbild  eines  Volkes  auf- 
stellen, das  in  der  höchsten  und  ungebundensten  Freiheit,  und  in 
der  grossesten  Mannigfaltigkeit  seiner  eignen  und  der  übrigen  Ver- 
hältnisse um  sich  her  existirte;  ich  könnte  zeigen,  wie  hier  noch 
in  eben  dem  Grade  schönere,  höhere  und  wunderbarere  Gestalten 
der  Mannigfaltigkeit  und  der  Originalität  erscheinen  müssten,  als 
in  dem,  schon  so  unnennbar  reizenden  Alterthum,  in  welchem  die 
Eigenthümlichkeit  eines  minder  kultivirten  Volks  allemal  roher 
und  gröber   ist,    in  welchem   mit   der  Feinheit    auch    allemal    die 


J28  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Stärke,  und  selbst  der  Reichthum  des  Charakters  wächst,  und  in 
welchem,  bei  der  fast  gränzenlosen  Verbindung  aller  Nationen  und 
Welttheile  mit  einander,  schon  die  Elemente  gleichsam  zahlreicher 
sind;  zeigen,  welche  Stärke  hen^orblühen  müsste,  wenn  jedes 
Wesen  sich  aus  sich  selbst  organisirte,  wenn  es,  ewig  von  den 
schönsten  Gestalten  umgeben,  mit  uneingeschränkter,  und  ewig 
durch  die  Freiheit  ermunterter  Selbstthätigkeit  diese  Gestalten  in 
sich  verwandelte ;  wie  zart  und  fein  das  innere  Dasein  des  Menschen 
sich  ausbilden,  wie  es  die  angelegentlichere  Beschäftigung  desselben 
werden,  wie  alles  Physische  und  Aeussere  in  das  Innere,  Mora- 
lische und  Intellektuelle  übergehen,  und  das  Band,  welches  beide 
Naturen  im  Menschen  verknüpft,  an  Dauer  gewinnen  würde,  wenn 
nichts  mehr  die  freie  Rükwirkung  aller  menschlichen  Beschäf- 
tigungen auf  den  Geist  und  den  Charakter  störte ;  wie  keiner  dem 
andren  gleichsam  aufgeopfert  würde,  wie  jeder  seine  ganze,  ihm 
zugemessene  Kraft  für  sich  behielte,  und  ihn  eben  darum  eine 
noch  schönere  Bereitwilligkeit  begeisterte,  ihr  eine,  für  andre  wohl- 
thätige  Richtung  zu  geben ;  wie,  wenn  jeder  in  seiner  Eigenthüm- 
lichkeit  fortschritte ,  mannigfaltigere  und  feinere  Nuancen  des 
schönen  menschlichen  Charakters  entstehen,  und  Einseitigkeit  um 
so  seltener  sein  würde,  als  sie  überhaupt  immer  nur  eine  Folge 
der  Schwäche  und  Dürftigkeit  ist,  und  als  jeder,  wenn  nichts  mehr 
den  andren  zwänge,  sich  ihm  gleich  zu  machen,  durch  die  immer 
fortdauernde  Nothwendigkeit  der  ^^e^bindung  mit  andren,  dringen- 
der veranlasst  werden  würde,  sich  nach  ihnen  anders  und  anders 
selbst  zu  modificiren;  wie  in  diesem  Volke  keine  Kraft  und  keine 
Hand  für  die  Erhöhung  und  den  Genuss  des  Menschendaseins 
verloren  gienge;  endlich  zeigen,  wie  schon  dadurch  ebenso  auch 
die  Gesichtspunkte  aller  nur  dahin  gerichtet,  und  von  jedem  andren 
falschen,  oder  doch  minder  der  Menschheit  würdigen  Endzwek 
abgewandt  werden  würden.  Ich  könnte  dann  damit  schliessen, 
aufmerksam  darauf  zu  machen,  wie  diese  v/ohlthätige  Folgen  einer 
solchen  Konstitution,  unter  einem  \^olke,  welches  es  sei,  ausge- 
streut, selbst  dem  freilich  nie  ganz  tilgbaren  Elende  der  Menschen, 
den  Verheerungen  der  Natur,  dem  Verderben  der  feindseligen 
Neigungen,  und  den  Ausschweifungen  einer  zu  üppigen  Genusses- 
fülle, einen  unendlich  grossen  Theil  seiner  Schreklichkeit  nehmen 
würden.  Allein  ich  begnüge  mich,  das  Gegenbild  geschildert  zu 
haben;  es  ist  mir  genug,  Ideen  hinzuwerfen,  damit  ein  reiferes 
Urtheil  sie  prüfe. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III. 


I2q 


Wenn  ich  aus  dem  ganzen  bisherigen  Raisonnement  das  lezte 
Resultat  zu  ziehen  versuche ;  so  muss  der  erste  Grundsaz  dieses 
Theils  der  gegenwärtigen  Untersuchung  der  sein:  der  Staat 
enthalte  sich  aller  Sorgfalt  für  den  positiven  Wohl- 
stand derBürger,  und  gehe  keinen  Schritt  weiter,  als 
zu  ihrer  Sicherstellung  gegen  sich  selbst,  und  gegen 
auswärtige  Feinde  noth wendig  ist:  zu  keinemandren 
Endzwekke  beschränke  er  ihre  Freiheit. 

Ich  müsste  mich  jezt  zu  den  Mitteln  w^enden,  durch  welche 
eine  solche  Sorgfalt  thätig  geübt  wird:  allein,  da  ich  sie  selbst, 
meinen  Grundsäzen  gemäss,  gänzlich  misbillige:  so  kann  ich  hier 
von  diesen  Mitteln  schweigen,^)  und  mich  begnügen  nur  allgemein 
zu  bemerken,  dass  die  Mittel,  wodurch  die  Freiheit  zum  Behuf 
des  Wohlstandes  beschränkt  wird,  von  sehr  mannigfaltiger  Natur 
sein  können,  direkte:  Geseze,  Ermunterungen,  Preise;  indirekte: 
wie  dass  der  Landesherr  selbst  der  beträchtlichste  Eigenthümer 
ist.  und  dass  er  einzelnen  Bürgern  überwiegende  Rechte,  Mono- 
polen u.  s.  f.  einräumt,  und  dass  alle  einen,  obgleich  dem  Grade 
und  der  Art  nach  sehr  verschiednen  Xachtheil  mit  sich  führen. 
Wenn  man  hier  auch  gegen  das  Erstere  und  Leztere  keinen  Ein- 
wurf erregte;  so  scheint  es  dennoch  sonderbar,  dem  Staate  wehren 
zu  wollen,  was  jeder  Einzelne  darf,  Belohnungen  aussezen,  unter- 
stüzen,  Eigenthümer  sein.  Wäre  es  in  der  Ausübung  möglich, 
dass  der  Staat  ebenso  eine  zwiefache  Person  ausmachte,  als  er  es 
in  der  Abstraktion  thut;  so  wäre  hiergegen  nichts  zu  erinnern. 
Es  wäre  dann  gerade  nicht  anders,  als  wenn  eine  Privatperson 
einen  mächtigen  Einfluss  erhielte.  Allein  da,  jenen  Unterschied 
zwischen  Theorie  und  Praxis  noch  abgerechnet,  der  Eintiuss  einer 
Privatperson  durch  Konkurrenz  andrer,  ^'"ersplitterung  ihres  Ver- 
mögens, selbst  durch  ihren  Tod  aufhören  kann,  lauter  Dinge,  die 
beim  Staate  nicht  zutreffen;  so  steht  noch  immer  der  Grundsaz, 
dass  der  Staat  sich  in  nichts  mischen  darf,  was  nicht  allein  die 
Sicherheit  angeht,  um  so  mehr  entgegen,  als  derselbe  schlechter- 
dings nicht  durch  Beweise  unterstüzt  worden  ist,  welche  gerade 
aus  der  Natur  des  Zwanges  allein   hergenommen  gewesen  wären. 


V  Nach  „schweigen"  gestrichen:  „und  die  Prüfung  derselben  der  Folge 
vorbehalten,  wo  ich  von  den  einzelnen  Fällen  reden  werde,  wo  freilich  eine  ein- 
malige Lage  der  Wirklichkeit  jene  Sorgfalt  unumgänglich  nothwendig  machen 
kann.    Hier  bemerke  ich  nur  allgemein  .  .  .  ." 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  9 


130 


Ideen  zu  einem  Versuch 


Auch  handelt  eine  Privatperson  aus  andren  Gründen,  als  der 
Staat.  Wenn  z.  B.  ein  einzelner  Bürger  Prämien  aussezt,  die  ich 
auch  —  wie  es  doch  wohl  nie  ist  —  an  sich  gleich  wirksam  mit 
denen  des  Staats  annehmen  will ;  so  thut  er  diess  seines  Vortheils 
halber.  Sein  Vortheil  aber  steht,  wegen  des  ewigen  Verkehrs  mit 
allen  übrigen  Bürgern,  und  wegen  der  Gleichheit  seiner  Lage  mit 
der  ihrigen,  mit  dem  Vortheile  oder  Nachtheile  andrer,  folglich 
mit  ihrem  Zustande  in  genauem  Verhältniss.  Der  Zwek,  den  er 
erreichen  will,  ist  also  schon  gewissermaassen  in  der  Gegenwart 
vorbereitet,  und  wirkt  folglich  darum  heilsam.  Die  Gründe  des 
Staats  hingegen  sind  Ideen  und  Grundsäze,  bei  welchen  auch  die 
genaueste  Berechnung  oft  täuscht ;  und  sind  es  aus  der  Privatlage 
des  Staats  geschöpfte  Gründe,  so  ist  diese  schon  an  sich  nur  zu 
oft  für  den  Wohlstand  und  die  Sicherheit  der  Bürger  bedenklich, 
und  auch  der  Lage  der  Bürger  nie  in  eben  dem  Grade  gleich. 
Wäre  sie  diess,  nun  so  ists  auch  in  der  Wirklichkeit  nicht  der 
Staat  mehr,  der  handelt,  und  die  Natur  dieses  Raisonnements  selbst 
verbietet  dann  seine.  Anwendung. 

Eben  diess,  und  das  ganze  vorige  Raisonnement  aber  gieng 
allein  aus  Gesichtspunkten  aus,  welche  bloss  die  Kraft  des  Menschen, 
als  solchen,  und  seine  innere  Bildung  zum  Gegenstand  hatten. 
Mit  Recht  würde  man  dasselbe  der  Einseitigkeit  beschuldigen, 
wenn  es  die  Resultate,  deren  Dasein  so  nothwendig  ist,  damit  jene 
Kraft  nur  überhaupt  wirken  kann,  ganz  vernachlässigte.  Es  ent- 
steht also  hier  noch  die  Frage :  ob  eben  diese  Dinge,  von  welchen 
hier  die  Sorgfalt  des  Staats  entfernt  wird,  ohne  ihn  und  für  sich 
gedeihen  können  ?  Hier  wäre  es  nun  der  Ort,  die  einzelnen  Arten 
der  Gewerbe,  Akkerbau,  Industrie,  Handel  und  alles  Uebrige,  wo- 
von ich  hier  zusammengenommen  rede,  einzeln  durchzugehen, 
und  mit  Sachkenntniss  aus  einander  zu  sezen,  welche  Nachtheile 
und  Vortheile  Freiheit  und  Selbstüberlassung  ihnen  gewährt. 
Mangel  eben  dieser  Sachkenntniss  hindert  mich,  eine  solche  Er- 
örterung einzugehen.  Auch  halte  ich  dieselbe  für  die  Sache  selbst 
nicht  mehr  nothwendig.  Indess,  gut  und  vorzüglich  historisch 
ausgeführt,  würde  sie  den  sehr  grossen  Nuzen  gewähren,  diese 
Ideen  mehr  zu  empfehlen,  und  zugleich  die  Möglichkeit  einer  sehr 
modificirten  Ausführung  —  da  die  einmal  bestehende  wirkliche 
Lage  der  Dinge  schwerlich  in  irgend  einem  Staat  eine  uneinge- 
schränkte erlauben  dürfte  —  zu  beurtheilen.  Ich  begnüge  mich 
an    einigen  wenigen   allgemeinen   Bemerkungen.    Jedes   Geschäft 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    III. 


131 


—  welcher  Art  es  auch  sei  —  wird  besser  betrieben,  wenn  man 
es  um  seiner  selbst  wollen,  als  den  Folgen  zu  Liebe  treibt.  Diess 
liegt  so  sehr  in  der  Natur  des  Menschen,  dass  gewöhnlich,  was 
man  anfangs  nur  des  Nuzens  wegen  wählt,  zulezt  für  sich  Reiz 
gewinnt.  Nun  aber  rührt  diess  bloss  daher,  weil  dem  Menschen 
Thätigkeit  lieber  ist,  als  Besiz,  allein  Thätigkeit  nur,  insofern  sie 
Selbstthätigkeit  ist.  Gerade  der  rüstigste  und  thätigste  Mensch 
würde  am  meisten  einer  erzw^ungenen  Arbeit  Müssiggang  vorziehn. 
Auch  wächst  die  Idee  des  Eigenthums  nur  mit  der  Idee  der  Frei- 
heit, und  gerade  die  am  meisten  energische  Thätigkeit  danken  wir 
dem  Gefühle  des  Eigenthums.  Jede  Erreichung  eines  grossen  End- 
zweks  erfordert  Einheit  der  Anordnung.  Das  ist  gewiss.  Ebenso 
auch  jede  \^erhütung  oder  Abwehrung  grosser  Unglüksfälle, 
Hungersnoth,  Ueberschwemmungen  u.  s.  f.  Allein  diese  Einheit 
lässt  sich  auch  durch  Nationalanstalten,  nicht  bloss  durch  Staats- 
anstalten hen^orbringen.  Einzelnen  Theilen  der  Nation,  und  ihr 
selbst  im  Ganzen  muss  nur  Freiheit  gegeben  werden,  sich  durch 
Verträge  zu  verbinden.  Es  bleibt  immer  ein  unläugbar  wichtiger 
Unterschied  zwischen  einer  Nationalanstalt  und  einer  Staatsein- 
richtung. Jene  hat  nur  eine  mittelbare,  diese  eine  unmittelbare 
Gewalt.  Bei  jener  ist  daher  mehr  Freiheit  im  Eingehen,  Trennen, 
und  Modificiren  der  Verbindung.  Anfangs  sind  höchst  wahr- 
scheinlich alle  Staatsverbindungen  nichts,  als  dergleichen  Nationen- 
vereine gewesen.  Allein  hier  zeigt  eben  die  Erfahrung  die  ver- 
derblichen Folgen,  wenn  die  Absicht  Sicherheit  zu  erhalten,  und 
andre  Endzwekke  zu  erreichen  mit  einander  verbunden  wird. 
Wer  dieses  Geschäft  besorgen  soll,  muss,  um  der  Sicherheit  \\'illen, 
absolute  Gewalt  besizen.  Diese  aber  dehnt  er  nun  auch  auf  das 
Uebrige  aus,  und  je  mehr  sich  die  Einrichtung  von  ihrer  Ent- 
stehung entfernt,  desto  mehr  wächst  die  Macht,  und  desto  mehr 
verschwindet  die  Erinnerung  des  Grundvertrags.  Eine  Anstalt  im 
Staat  hingegen  hat  nur  Gewalt,  insofern  sie  diesen  Vertrag  und 
sein  Ansehen  erhält.  Schon  dieser  Grund  allein  könnte  hinreichend 
scheinen.  Allein  dann,  wenn  auch  der  Grundvertrag  genau  be- 
wahrt würde,  und  die  Staatsverbindung  im  engsten  Verstände  eine 
Nationalverbindung  wäre;  so  könnte  dennoch  der  Wille  der  ein- 
zelnen Individuen  sich  nur  durch  Repräsentation  erklären,  und 
ein  Repräsentant  Mehrerer  kann  unmöglich  ein  so  treues  Organ 
der  Meinung  der  einzelnen  Repräsentirten  sein.  Nun  aber  führen 
alle  im  Vorigen   entwikkelte  Gründe   auf  die  Nothwendigkeit  der 

9* 


J02  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Einwilligung  jedes  Einzelnen.  Eben  diese  schliesst  auch  die  Ent- 
scheidung nach  der  Stimmenmehrheit  aus,  und  doch  Hesse  sich 
keine  andre  in  einer  solchen  Staatsverbindung,  welche  sich  auf 
diese,  das  positive  Wohl  der  Bürger  betreffende  Gegenstände  ver- 
breitete, denken.  Den  nicht  Einwilligenden  bliebe  also  nichts 
übrig,  als  aus  der  Gesellschaft  zu  treten,  dadurch  ihrer  Gerichts- 
barkeit zu  entgehen,  und  die  Stimmenmehrheit  nicht  mehr  für 
sich  geltend  zu  machen.  Allein  diess  ist  beinah  bis  zur  Unmög- 
lichkeit erschwert,  wenn  aus  dieser  Gesellschaft  gehen,  zugleich 
aus  dem  Staate  gehen  heisst.  Ferner  ist  es  besser,  wenn  bei  ein- 
zelnen Veranlassungen  einzelne  Verbindungen  eingegangen,  als 
allgemeinere  für  unbestimmte  künftige  Fälle  geschlossen  werden. 
Endlich  entstehen  auch  Vereinigungen  freier  Menschen  in  einer 
Nation  mit  grösserer  Schwierigkeit.  Wenn  nun  diess  auf  der 
einen  Seite  auch  der  Erreichung  der  Endzwekke  schadet  —  wo- 
gegen doch  immer  zu  bedenken  bleibt,  dass  allgemein,  was  schwerer 
entsteht,  weil  gleichsam  die  langgeprüfte  Kraft  sich  in  einander 
fügt,  auch  eine  festere  Dauer  gewinnt  —  so  ist  doch  gewiss  über- 
haupt jede  grössere  Vereinigung  minder  heilsam.  Je  mehr  der 
Mensch  für  sich  wirkt,  desto  mehr  bildet  er  sich.  In  einer  grossen 
Vereinigung  wird  er  zu  leicht  Werkzeug.  Auch  sind  diese  Ver- 
einigungen Schuld,  dass  oft  das  Zeichen  an  die  Stelle  der  Sache 
tritt,  welches  der  Bildung  allemal  hinderlich  ist.  Die  todte  Hiero- 
glyphe begeistert  nicht,  wie  die  lebendige  ^)  Natur.  Ich  erinnere 
hier  nur,  statt  alles  Beispiels,  an  Armenanstalten.  Tödtet  etwas 
Andres  so  sehr  alles  wahre  Mitleid,  alle  hoffende,  aber  anspruch- 
lose Bitte,  alles  Vertrauen  des  Menschen  auf  Menschen  ?  Verachtet 
nicht  jeder  den  Bettler,  dem  es  lieber  wäre,  ein  Jahr  im  Hospital 
bequem  ernährt  zu  werden,  als,  nach  mancher  erduldeten  Noth, 
nicht  auf  eine  hinwerfende  Hand,  aber  auf  ein  theilnehmendes 
Herz  zu  stossen?  Ich  gebe  es  also  zu,  wir  hätten  diese  schnellen 
Fortschritte  ohne  die  grossen  Massen  nicht  gemacht,  in  welchen 
das  Menschengeschlecht,  wenn  ich  so  sagen  darf,  in  den  lezten 
Jahrhunderten  gewirkt  hat;  allein  nur  die  schnellen  nicht.  Die 
Frucht  wäre  langsamer,  aber  dennoch  gereift.  Und  sollte  sie  nicht 
seegenvoller  gewesen  sein  ?  Ich  glaube  daher  von  diesem  Einwurf 
zurükkehren  zu  dürfen.  Zwei  andre  bleiben  der  Folge  zur  Prüfung 
aufbewahrt,    nemlich,    ob    auch,    bei    der  Sorglosigkeit,    die    dem 


V  „die  lebendige"  verbessert  aus  „das  Symbol  der". 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     III.  IV'. 


133 


Staate  hier  vorgeschrieben  wird,  die  Erhaltung  der  Sicherheit  mög- 
lich ist.-^  und  ob  nicht  wenigstens  die  Verschaffung  der  Mittel, 
welche  dem  Staate  nothwendig  zu  seiner  Wirksamkeit  eingeräumt 
werden  müssen,  ein  vielfacheres  Eingreifen  der  Räder  der  Staats- 
maschine in  die  Verhältnisse  der  Bürger  nothwendig  macht.' 


IV. 

Wäre  es  mit  dem  Uebel,  welches  die  Begierde  der  Menschen, 
immer  über  die,  ihnen  rechtmässig  gezogenen  Schranken  in  das 
Gebiet  andrer  einzugreifen,*)  und  die  daraus  entspringende  Zwie- 
tracht stiftet,  wie  mit  den  physischen  Uebeln  der  Natur,  und  den- 
jenigen, diesen  hierin  wenigstens  gleichkommenden  moralischen, 
welche  durch  Uebermaass  des  Geniessens  oder  Entbehrens,  oaer 
durch  andre,  mit  den  nothwendigen  Bedingungen  der  Erhaltung 
nicht  übereinstimmende  Handlungen  auf  eigne  Zerstörung  hinaus- 
laufen; so  wäre  schlechterdings  keine  Staatsvereinigung  nothwendig. 
Jenen  würde  der  Muth,  die  Klugheit  und  Vorsicht  der  Menschen, 
diesen  die,  durch  Erfahrung  belehrte  Weisheit  von  selbst  steuern, 
und  wenigstens  ist  in  beiden  mit  dem  gehobenen  Uebel  immer 
Ein  Kampf  beendigt.  Es  ist  daher  keine  lezte,  widerspruchlose 
Macht  nothwendig,  welche  doch  im  eigentlichsten  \^erstande  den 
BegrilT  des  Staats  ausmacht.  Ganz  anders  aber  verhält  es  sich 
mit  den  Uneinigkeiten  der  Menschen,  und  sie  erfordern  allemal 
schlechterdings  eine  solche  eben  beschriebene  Gewalt.  Denn  bei 
der  Zwietracht  entstehen  Kämpfe  aus  Kämpfen.  Die  Beleidigung 
fordert  Rache,  und  die  Rache  ist  eine  neue  Beleidigung.  Hier 
muss  man  also  auf  eine  Rache  zurükkommen,  welche  keine  neue 
Rache  erlaubt  —  und  diese  ist  die  Strafe  des  Staats  —  oder  auf 
eine  Entscheidung,  welche  die  Partheien  sich  zu  beruhigen  nöthigt, 
die    Entscheidung    des    Richters.      Auch    bedarf    nichts    so    eines 


*)  W'as  ich  hier  umschreibe,  bezeichnen  die  Griechen  mit  dem  einzigen  Worte 
^keovs^ia,  für  das  ich  aber  in  keiner  andren  Sprache  ein  völlig  gleichbedeutendes 
finde.  Indess  Hesse  sich  vielleicht  im  Deutschen:  Begierde  nach  Mehr  sagen; 
obgleich  diess  niciit  zugleich  die  Idee  der  Unrechtmässigkeit  andeutet,  welche  in  dem 
Griechischen  Ausdruk ,  wenn  gleich  nicht  dem  Wortsinne ,  aber  doch  (soviel  mir 
wenigstens  vorgekommen  ist)  dem  beständigen  Gebrauch  der  Schriftsteller  nach,  liegt. 
Passender,  obgleich,  wenigstens  dem  Sprachgebrauche  nach,  wohl  auch  nicht  von  völlig 
gleichem  Umfang,  möchte  noch  Ueber  vortheilun  g  sein. 


joA  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

zwingenden  ^)  Befehls,  und  eines  unbedingten  Gehorsams,  als  die 
Unternehmungen  der  Menschen  gegen  den  Menschen,  man  mag 
an  die  Abtreibung  eines  auswärtigen  Feindes,  oder  an  Erhaltung 
der  Sicherheit  im  Staate  selbst  denken.  Ohne  Sicherheit  vermag 
der  Mensch  weder  seine  Kräfte  auszubilden,  noch  die  Früchte 
derselben  zu  gemessen;  denn  ohne  Sicherheit  ist  keine  Freiheit. 
Es  ist  aber  zugleich  etwas,  das  der  Mensch  sich  selbst  allein  nicht 
verschaffen  kann;  diess  zeigen  die  eben  mehr  berührten  als  aus- 
geführten Gründe,  und  die  Erfahrung,  dass  unsre  Staaten,  die  sich 
doch,  da  so  viele  Verträge  und  Bündnisse  sie  mit  einander  ver- 
knüpfen, und  Furcht  so  oft  den  Ausbruch  von  Thätlichkeiten 
hindert,  gewiss  in  einer  bei  weitem  günstigeren  Lage  befinden,  als 
es  erlaubt  ist,  sich  den  Menschen  im  Naturstande  zu  denken, 
dennoch  der  Sicherheit  nicht  gemessen,  welcher  sich  auch  in  der 
mittelmässigsten  Verfassung  der  gemeinste  Unterthan  zu  erfreuen 
hat.  Wenn  ich  daher  in  dem  Vorigen  die  Sorgfalt  des  Staats 
darum  von  vielen  Dingen  entfernt  habe,  weil  die  Nation  sich  selbst 
diese  Dinge  gleich  gut,  und  ohne  die,  bei  der  Besorgung  des 
Staats  mit  einfliessende  Nachtheile  verschaffen  kann;  so  muss  ich 
dieselbe  aus  gleichem  Grunde  jezt  auf  die  Sicherheit  richten,  als 
das  Einzige,*)  welches  der  einzelne  Mensch  mit  seinen  Kräften 
allein  nicht  zu  erlangen  vermag.  Ich  glaube  daher  hier  als  den 
ersten  positiven  —  aber  in  der  Folge  noch  genauer  zu  be- 
stimmenden und  einzuschränkenden  —  Grundsaz  aufstellen  zu 
können:  dass  die  Erhaltung  der  Sicherheit  sowohl 
gegen  auswärtige  Feinde,  als  innerliche  Zwistig- 
keiten  den  Zwek  des  Staats  ausmachen,  und  seine 
Wirksamkeit  beschäftigen  muss;  da  ich  bisher  nur  negatif 
zu  bestimmen  versuchte,  dass  er  die  Gränzen  seiner  Sorgfalt 
wenigstens  nicht  weiter  ausdehnen  dürfe. 

Diese  Behauptung  wird  auch  durch  die  Geschichte  so  sehr 
bestätigt,  dass  in  allen  früheren  Nationen  die  Könige  nichts  andres 
waren,  als  Anführer  im  Kriege,  oder  Richter  im  Frieden.  Ich 
sage  die  Könige.  Denn  —  wenn  mir  diese  Abschweifung  erlaubt 
ist  —  die  Geschichte  zeigt  uns,  wie  sonderbar  es  auch  scheint, 
gerade  in  der  Epoche,  wo  dem  Menschen,  welcher,  mit  noch  sehr 


*J  La  siirete  et  la  liberte  personelle  sont  les  seitles  choses  qu'itn  etre  isole  ne 
puisse  s'assurer  par  lui  meine.    Mirabeau  5.  l'educat.  publique,  p.  iig. 
V  „zwingenden"  verbessert  aus  „unternehmenden". 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    IV.  jor 

wenigem  Eigenthum  versehen,  nur  persönliche  Kraft  kennt  und 
schäzt,  und  in  die  ungestörteste  Ausübung  derselben  den  höchsten 
Genuss  sezt,  das  Gefühl  seiner  Freiheit  das  theuerste  ist,  nichts 
als  Könige  und  Monarchien.  So  alle  Staatsverfassungen  Asiens, 
so  die  ältesten  Griechenlands,  Italiens,  und  der  freiheitliebendsten 
Stämme,  der  Germanischen.*)  Denkt  man  über  die  Gründe  hier- 
von nach :  so  wird  man  gleichsam  von  der  Wahrheit  überrascht, 
dass  gerade  die  Wahl  einer  Monarchie  ein  Beweis  der  höchsten 
Freiheit  der  Wählenden  ist.  Der  Gedanke  eines  Befehlshabers 
entsteht,  wie  oben  gesagt,  nur  durch  das  Gefühl  der  Xothwendig- 
keit  eines  Anführers,  oder  eines  Schiedsrichters.  Nun  ist  Ein 
Führer  oder  Entscheider  unstreitig  das  Zwekmässigste.  Die  Be- 
sorgniss,  dass  der  Eine  aus  einem  Führer  und  Schiedsrichter  ein 
Herrscher  werden  möchte,  kennt  der  w^ahrhaft  freie  Mann,  die 
Möglichkeit  selbst  ahndet  er  nicht ;  er  traut  keinem  Menschen  die 
Macht,  seine  Freiheit  unterjochen  zu  können,  und  keinem  Freien 
den  Willen  zu,  Herrscher  zu  sein  —  wie  denn  auch  in  der  That 
der  Herrschsüchtige,  nicht  empfänglich  für  die  hohe  Schönheit  der 
Freiheit,  die  Sklaverei  liebt,  nur  dass  er  nicht  der  Sklave  sein  will 
—  und  so  ist,  wie  die  Moral  mit  dem  Laster,  die  Theologie  mit 
der  Kezerei,  die  Politik  mit  der  Knechtschaft  entstanden.  Nur 
führen  freilich  unsre  Monarchen  nicht  eine  so  honigsüsse  Sprache, 
als  die  Könige  bei  Homer  und  Hesiodus.**) 


-y  Reges  (nam  in  terris  nomen  iriiperii  id  primum  fititj  cet.  Sallustius  in 
Catilina.  C.  2.  Kar  ag/as  ÜTtaaa  Ttohs  'EXlas  sßaai).sv£TO.  (Zuerst  wurden  alle 
Griechische  Städte  von  Königen  beherrscht  u.  s.  f.)  Dion.  Halicarn.  Antiquit. 
Rom.  l.  5.V 

**^      'OvTiva  Tiurjaovai  ^i-js  y.ov^ai  u£ya?,oiOj 

Feivofievov  t'  soiScoai  Sioz^eyscov  ßaaihrjaiVj 
Tai  fiEv  £711  yXcoaafi  y?.vysp7]v  x^iovat  e£oarjv, 
Tov  S'  E7te    ex  arofiaTOS  Qet  fzetXiy^a. 

und 
Tovvev.a  yaQ  ßaoü.qes  ey^e^Qoves,  ovvey.u  /.aon 
BXuTTTOfiEvoie  ayoQri<pc  fiETaTQOTia  SQya  relevai 
Prj'idicos,  ftaXay.oim  TtaQairpauEvoi  ETCEEoaiv. 
Hesiodus  in  Theogonia^) 

(Wen  der  göttcrentsprossenen  Könige  Zeus  des  Erhabnen 
Töchter  ehren,  auf  wen  ihr  Auge  bei  seiner  Geburt  blikt, 


V  Der  letzte  Satz  verbessert  aus  „Dionysius  von  Halikarnass  in  den  Rom. 
Alterthümern.    B.  5."  —  Die  Stelle  steht  bei  Dionysius  5,  74. 
■)  Vers  81.  88. 


j2^  5-    Wecn  zu  einem  Versuch 

Von  der  Sicherheit  gegen  auswärtige  Feinde  brauchte  ich  — 
um  zu  meinem  Vorhaben  zurükzukehren  —  kaum  ein  Wort  zu 
sagen,  wenn  es  nicht  die  Klarheit  der  Hauptidee  vermehrte,  sie 
auf  alle  einzelne  Gegenstände  nach  und  nach  anzuwenden.  Allein 
diese  Anwendung  wird  hier  um  so  weniger  unnüz  sein,  als  ich 
mich  allein  auf  die  Wirkung  des  Krieges  auf  den  Charakter  der 
Nation,  und  folglich  auf  den  Gesichtspunkt  beschränken  werde, 
den  ich  in  dieser  ganzen  Untersuchung,  als  den  herrschenden, 
gewählt  habe.  Aus  diesem  nun  die  Sache  betrachtet,  ist  mir 
der  Krieg  eine  der  heilsamsten  Erscheinungen  zur  Bildung  des 
Menschengeschlechts,  und  ungern  seh'  ich  ihn  nach  und  nach 
immer  mehr  vom  Schauplaz  zurüktreten.  Es  ist  das  freiUch 
furchtbare  Extrem,  wodurch  jeder  thätige  Muth  gegen  Gefahr, 
Arbeit  und  Mühseligkeit  geprüft  und  gestählt  wird,  der  sich 
nachher  in  so  verschiedene  Nuancen  im  Menschenleben  moditicirt, 
und  welcher  allein  der  ganzen  Gestalt  die  Stärke  und  Mannig- 
faltigkeit giebt,  ohne  welche  Leichtigkeit  Schwäche,  und  Einheit 
Leere  ist.  Man  wird  mir  antworten,  dass  es,  neben  dem  Kriege, 
noch  andre  Mittel  dieser  Art  giebt,  physische  Gefahren  bei 
mancherlei  Beschäftigungen,  und  —  wenn  ich  mich  des  Ausdruks 
bedienen  darf  —  moralische  von  verschiedener  Gattung,  welche 
den  festen,  unerschütterten  Staatsmann  im  Kabinett,  wie  den  frei- 


dem  beträufeln  sie  mit  holdem  Thaue  die  Zunge, 
Honigsüss  entströmet  seinen  Lippen-)  die  Rede. 

und 
Darum  herrschen  verständige  Könige,  dass  sie   die  Völker, 
wenn  ein  Zwist  sie  spaltet,  in  der  Versammlung  zur  Eintracht 
sonder  Mühe  bewegen,  mit  sanften  Worten  sie  lenkend.)  ^) 

V  Erster  Druck  dieses  Kapitels:  Berlinische  Monatsschrift  20,  j46—js4 
(Oktoberheß  i'jg-2).  Der  Aufsatz  hat  dort  die  Überschrift:  „Über  die  Sorgfalt 
des  Staats  für  die  Sicherheit  gegen  auswärtige  Feinde."  Biester  begleitet  den 
Abdruck  mit  folgender  Anmerkung :  „Der  Herausgeber  merkt  hierbei  an,  dass 
die  Frage,  welche  hier  in  Absicht  eines  Gegenstandes  beantwortet  ist,  in  Absicht 
aller  Gegenstände  der  inneren  Politik  untersucht,  in  einer  eigenen  Abhandlung 
dem  Publikum  vorgelegt  werden  soll.  Der  obige  Aufsatz  ist  nämlich  ein  Bruch- 
stück eines  Werkes,  welches  den  Titel  führen  wird:  Ideen  zu  einem  Versuch  die 
Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen." 

y  „seinen  Lippen"  verbessert  aus  „seinem  Alunde". 

y  Nach  „lenkend"  gestrichen:  „Hesiodus  in  der  Theogonie". 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     V 


137 


müthigen  Denker  in  seiner  einsamen  Zelle  treffen  können.  Allein 
es  ist  mir  unmöglich,  mich  von  der  Vorstellung  loszureissen,  dass, 
wie  alles  Geistige  nur  eine  feinere  Blüthe  des  Körperlichen,  so 
auch  dieses  es  ist.  Nun  lebt  zwar  der  Stamm,  auf  dem  sie  her- 
vorspriessen  kann,  in  der  Vergangenheit.  Allein  das  Andenken 
der  Vergangenheit  tritt  immer  weiter  ziirük,  die  Zahl  derer,  auf 
welche  es  wirkt,  vermindert  sich  immer  in  der  Nation,  und  selbst 
auf  diese  wird  die  Wirkung  schwächer.  Andren,  obschon  gleich 
gefahn'ollen  Beschäftigungen,  Seefahrten,  dem  Bergbau  u.  s.  f. 
fehlt,  wenngleich  mehr  und  minder,  die  Idee  der  Grösse  und  des 
Ruhms,  die  mit  dem  Kriege  so  eng  verbunden  ist.  Und  diese 
Idee  ist  in  der  That  nicht  chimärisch.  Sie  beruht  auf  einer  Vor- 
stellung von  überwiegender  Macht.  Den  Elementen  sucht  man 
mehr  zu  entrinnen,  ihre  Gewalt  mehr  auszudauern,  als  sie  zu 
besiegen; 

—  mit  Göttern 

soll  sich  nicht  messen 

irgend  ein  Mensch  ;  ^) 

Rettung  ist  nicht  Sieg;  was  das  Schiksal  wohlthätig  schenkt,  und 
menschlicher  Muth,  oder  menschliche  Erfindsamkeit  nur  benuzt, 
ist  nicht  Frucht,  oder  Beweis  der  Obergewalt.  Auch  denkt  jeder 
im  Kriege,  das  Recht  auf  seiner  Seite  zu  haben,  jeder  eine  Be- 
leidigung zu  rächen.  Nun  aber  achtet  der  natürliche  Mensch, 
und  mit  einem  Gefühl,  das  auch  der  kultivirteste  nicht  abläugnen 
kann,  es  höher,  seine  Ehre  zu  reinigen,  als  Bedarf  fürs  Leben  zu 
sammlen.  Niemand  wird  es  mir  zutrauen,  den  Tod  eines  ge- 
fallenen Kriegers  schöner  zu  nennen,  als  den  Tod  eines  kühnen 
Plinius,  oder,  um  vielleicht  nicht  genug  geehrte  ^Männer  zu  nennen, 
den  Tod  von  Roben  und  Pilatre  du  Rozier.^)  Allein  diese  Bei- 
spiele sind  selten,  und  wer  weiss,  ob  ohne  jene  sie  überhaupt  nur 
wären?  Auch  habe  ich  für  den  Krieg  gerade  keine  günstige  Lage 
gewählt.  Man  nehme  die  Spartaner  bei  Thermop3'lä.  Ich  frage 
einen  jeden,  was  solch  ein  Beispiel  auf  eine  Nation  wirkt:   Wohl 


'^j  Goethe,  Grenzen  der  Menschheit  Vers  11.  Das  Gedicht  erschien  zuerst 
i-]8fj  im  achten  Bande  der  ersten  Gesammtaiisgabe  von  Goethes  Schriften. 

^)  Pilatre  de  Rozier  verunglückte,  28  Jahre  alt,  am  i^-  Juni  i^/Ss  bei  dem 
Versuche  im  Luftballon  von  Boulogne  nach  England  zu  fahren,  indem  sein 
Ballon  Feuer  fing  und  er  mit  seinem  Begleiter,  dem  Physiker  Romain,  tot 
herabfiel;  vgl.  Forster,  Sämmtliche  Schriften  ^,  442.  „Robert'^  steht  wohl  nur 
irrtümlich  für  Romain. 


138 


Ideen  zu  einem  Versuch 


weiss  ichs,  eben  dieser  Muth,  eben  diese  Selbstverläugnung  kann 
sich  in  jeder  Situation  des  Lebens  zeigen,  und  zeigt  sich  wirklich 
in  jeder.  Aber  will  man  es  dem  sinnlichen  Menschen  A^erargen, 
wenn  der  lebendigste  Ausdruk  ihn  auch  am  meisten  hinreisst, 
und  kann  man  es  läugnen,  dass  ein  Ausdruk  dieser  Art  wenigstens 
in  der  grossesten  Allgemeinheit  wirkt?  Und  bei  alle  dem,  was 
ich  auch  je  von  Uebeln  hörte,  welche  schreklicher  wären,  als 
der  Tod;  ich  sah  noch  keinen  Menschen,  der  das  Leben  in 
üppiger  Fülle  genoss,  und  der  —  ohne  Schwärmer  zu  sein  —  den 
Tod  verachtete.  Am  wenigsten  aber  existirten  diese  Menschen 
im  Alterthum,  wo  man  noch  die  Sache  höher,  als  den  Namen, 
die  Gegenwart  höher,  als  die  Zukunft  schäzte.  Was  ich  daher 
hier  von  Kriegern  sage,  gilt  nur  von  solchen,  die,  nicht  gebildet, 
wie  jene  in  Piatos  Republik,^)  die  Dinge,  Leben  und  Tod,  nehmen 
für  das,  was  sie  sind ;  von  Kriegern,  welche,  das  Höchste  im  Auge, 
das  Höchste  aufs  Spiel  sezen.  Alle  Situationen,  in  welchen  sich 
die  Extreme  gleichsam  an  einander  knüpfen,  sind  die  interes- 
santesten und  bildendsten.  Wo  ist  diess  aber  mehr  der  Fall,  als 
im  Kriege,  wo  Neigung  und  Pflicht,  und  Pflicht  des  Menschen 
und  des  Bürgers  in  unaufhörlichem  Streite  zu  sein  scheinen,  und 
wo  dennoch  —  sobald  nur  gerechte  Vertheidigung  die  Waffen  in 
die  Hand  gab  —  alle  diese  Kollisionen  die  vollste  Auflösung  tinden  ? 
Schon  der  Gesichtspunkt,  aus  welchem  allein  igh  den  Krieg 
für  heilsam  und  nothwendig  halte,  zeigt  hinlänglich,  wie,  meiner 
Meinung  nach,  im  Staate  davon  Gebrauch  gemacht  werden  müsste. 
Dem  Geist,  den  er  wirkt,  muss  Freiheit  gewährt  werden,  sich 
durch  alle  Mitglieder  der  Nation  zu  ergiessen.  Schon  diess  spricht 
gegen  die  stehenden  Armeen.  Ueberdiess  sind  sie  und  die  neuere 
Art  des  Krieges  überhaupt  freilich  weit  von  dem  Ideale  entfernt, 
das  für  die  Bildung  des  Menschen  das  nüzHchste  wäre.  Wenn 
schon  überhaupt  der  Krieger,  mit  Aufopferung  seiner  Freiheit, 
gleichsam  Maschine  werden  muss;  so  muss  er  es  noch  in  weit 
höherem  Grade  bei  unsrer  Art  der  Kriegführung,  bei  welcher  es 
soviel  weniger  auf  die  Stärke,  Tapferkeit  und  Geschiklichkeit  des 
P^inzelnen  ankommt.  Wie  verderblich  muss  es  nun  sein,  wenn 
beträchtliche  Theile  der  Nationen,  nicht  bloss  einzelne  Jahre,  sondern 
oft  ihr  Leben  hindurch  im  Frieden,  nur  zum  Behuf  des  möglichen 
Krieges,   in   diesem   maschinenmässigen   Leben   erhalten  werden? 


V   Vgl.  den  Anfang  des  dritten  Buches  (S.  ^30aj. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.      V. 


^39 


^'ielleicht  ist  es  nirgends  so  sehr,  als  hier,  der  Fall,  dass,  mit  der 
Ausbildung  der  Theorie  der  menschlichen  Unternehmungen,  der 
Nuzen  derselben  für  diejenigen  sinkt,  welche  sich  mit  ihnen  be- 
schäftigen. Uniäugbar  hat  die  Kriegskunst  unter  den  Neueren 
unglaubliche  Fortschritte  gemacht,  aber  eben  so  unläugbar  ist  der 
edle  Charakter  der  Krieger  seltner  gew^orden,  seine  höchste  Schön- 
heit existirt  nur  noch  in  der  Geschichte  des  Alterthums,  wenigstens 
—  wenn  man  diess  für  übertrieben  halten  sollte  —  hat  der  kriege- 
rische Geist  bei  uns  sehr  oft  bloss  schädliche  Folgen  für  die 
Nationen,  da  wir  ihn  im  Alterthum  so  oft  von  so  heilsamen  be- 
gleitet sehen.  Allein  unsre  stehende  Armeen  bringen,  wenn  ich 
so  sagen  darf,  den  Krieg  mitten  in  den  Schooss  des  Friedens. 
Kriegsmuth  ist  nur  in  Verbindung  mit  den  schönsten  friedlichen 
Tugenden,  Kriegszucht  nur  in  Verbindung  mit  dem  höchsten 
Freiheitsgefühle  ehrwürdig.  Beides  getrennt  —  und  wie  sehr 
wird  eine  solche  Trennung  durch  den  im  Frieden  bewafneten 
Krieger  begünstigt?  —  artet  diese  sehr  leicht  in  Sklaverei,  jener 
in  Wildheit  und  Zügellosigkeit  aus.  Bei  diesem  Tadel  der  stehenden 
Armeen  sei  mir  die  Erinnerung  erlaubt,  dass  ich  hier  nicht  weiter 
von  ihnen  rede,  als  mein  gegenwärtiger  Gesichtspunkt  erfordert. 
Ihren  grossen,  unbestrittenen  Nuzen  —  wodurch  sie  dem  Zuge 
das  Gleichgewicht  halten,  mit  dem  sonst  ihre  Fehler  sie,  wie  jedes 
irrdische  Wesen,  unaufhaltbar  zum  Untergange  dahinreissen 
würden  —  zu  verkennen,  sei  fern  von  mir.  Sie  sind  ein  Theil 
des  Ganzen,  welches  nicht  Plane  eitler  menschlicher  A^ernunft. 
sondern  die  sichre  Hand  des  Schiksals  gebildet  hat.  Wie  sie  in 
alles  Andre,  unsrem  Zeitalter  Eigenthümliche,  eingreifen,  wie  sie 
mit  diesem  die  Schuld  und  das  Verdienst  des  Guten  und  Bösen 
theilen,  das  uns  auszeichnen  mag,  müsste  das  Gemälde  schildern, 
welches  uns,  treffend  und  vollständig  gezeichnet,  der  ^^orwelt  an 
die  Seite  zu  stellen  wagte.  Auch  müsste  ich  sehr  unglüklich  in 
Auseinandersezung  meiner  Ideen  gewesen  sein,  wenn  man  glauben 
könnte,  der  Staat  sollte,  meiner  Meinung  nach,  von  Zeit  zu  Zeit 
Krieg  erregen.  Er  gebe  Freiheit  und  dieselbe  Freiheit  geniesse 
ein  benachbarter  Staat.  Die  Menschen  sind  in  jedem  Zeitalter 
Menschen,  und  verlieren  nie  ihre  ursprünglichen  Leidenschaften. 
Es  wird  Krieg  von  selbst  entstehen;  und  entsteht  er  nicht,  nun 
so  ist  man  wenigstens  gewiss,  dass  der  PYicdc  \\eder  durch  Gewalt 
erzwungen,  noch  durch  künstliche  Lähmung  hervorgebracht  ist; 
und  dann  wird  der  Friede  der  Nationen  freilich  ein  eben  so  wohl- 


^A^^J  5-    Ideen  zu  einem   Versucli 

thätigeres  Geschenk  sein,  wie  der  friedliche  Püüger  ein  holderes 
Bild  ist,  als  der  blutige  Krieger.  Und  gewiss  ist  es,  denkt  man 
sich  ein  Fortschreiten  der  ganzen  Menschheit  von  Generation  zu 
Generation;  so  müssten  die  folgenden  Zeitalter  immer  die  fried- 
licheren sein.  Aber  dann  ist  der  Friede  aus  den  inneren  Kräften 
der  Wesen  herv^orgegangen,  dann  sind  die  Menschen,  und  zwar 
die  freien  Menschen  friedlich  geworden.  Jezt  —  das  beweist  Ein 
Jahr  Europäischer  Geschichte  —  geniessen  wir  die  Früchte  des 
Friedens,  aber  nicht  die  der  Friedlichkeit.  Die  menschlichen 
Ivräfte,  unaufhörlich  nach  einer  gleichsam  unendlichen  Wirksam- 
keit strebend,  wenn  sie  einander  begegnen,  vereinen  oder  be- 
kämpfen sich.  Welche  Gestalt  der  Kampf  annehme,  ob  die  des 
Krieges,  oder  des  Wetteifers,  oder  welche  sonst  man  nüanciren 
möge  ?   hängt  vorzüglich  von  ihrer  V'erfeinerung  ab. 

Soll  ich  jezt  auch  aus  diesem  Raisonnement  einen  zu  meinem 
Endzwek  dienenden  Grundsaz  ziehen;  so  muss  der  Staat  den 
Krieg  auf  keinerlei  Weise  befördern,  allein  auch  eben- 
sowenig, wenn  die  Nothw endig keit  ihn  fordert,  ge- 
waltsam verhindern;  dem  Einflüsse  desselben  auf 
Geist  und  Charakter  sich  durch  die  ganze  Nation  zu 
ergiessen  völlige  Freiheit  verstatten;  und  vorzüglich 
sich  aller  positiven  Einrichtungen  enthalten,  die 
Nation  zum  Kriege  zu  bilden,  oder  ihnen,  wenn  sie 
denn,  wM  e  z.  B.  Waffenübungen  der  Bürger,  schlech- 
terdings nothw  endig  sind,  eine  solche  Richtung 
geben,  dass  sie  derselben  nicht  bloss  die  Tapferkeit, 
Fertigkeit  und  Subordination  eines  Soldaten  bei- 
bringen, sondern  den  Geist  wahrer  Krieger,  oder 
vielmehr  edler  Bürger  einhauchen,  welche  für  ihr 
Vaterland  zu  fechten  immer  bereit  sind. 


VI.') 

Eine  tiefere  und  ausführlichere  Prüfung  erfordert  die  Sorgfalt 
des  Staats  für  die  innere  Sicherheit  der  Bürger  unter  einander,  zu 


'j  Erster  Druck  dieses  Kapitels  (ohne  den  ersten  Absatz):  Berlinische  Monats- 
schrift 20,  S97—606  {Dezemberheft  iyg2).  Der  Aufsatz  hat  dort  die  Überschrift: 
„  Über  öffentliche  Staatserziehung.  Bruchstück",  ^vobei  auf  den  Abdruck  des  fünften 
und  achten  Kapitels  vern'iesen  wird. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     V.  VI.  j  i  r 

der  ich  mich  Jezt  wende.  Denn  es  scheint  mir  nicht  hinlänglich, 
demselben  bloss  allgemein  die  Erhaltung  derselben  zur  Pflicht  zu 
machen,  sondern  ich  halte  es  vielmehr  für  nothwendig  die  be- 
sondern Gränzen  dabei  zu  bestimmen,  oder  w^enn  diess  allgemein 
nicht  möglich  sein  sollte,  wenigstens  die  Gründe  dieser  Unmög 
lichkeit  auseinanderzusezen,  und  die  Merkmale  anzugeben,  an 
welchen  sie  in  gegebenen  Fällen  zu  erkennen  sein  möchten.  Schon 
eine  sehr  mangelhafte  Erfahrung  lehrt,  dass  diese  Sorgfalt  mehr 
oder  minder  weit  ausgreifen  kann,  ihren  Endzwek  zu  erreichen. 
Sie  kann  sich  begnügen,  begangene  Unordnungen  wieder  herzu- 
stellen, und  zu  bestrafen.  Sie  kann  schon  ihre  Begehung  über- 
haupt zu  verhüten  suchen,  und  sie  kann  endlich  zu  diesem  End- 
zwek den  Bürgern,  ihrem  Charakter  und  ihrem  Geist,  eine  Wendung 
zu  ertheilen  bemüht  sein,  die  hierauf  abzwekt.  Auch  gleichsam 
die  Extension  ist  verschiedener  Grade  fähig.  Es  können  bloss 
Beleidigungen  der  Rechte  der  Bürger,  und  unmittelbarer  Rechte 
des  Staats  untersucht  und  gerügt  werden ;  oder  man  kann,  indem 
man  den  Bürger,  als  ein  Wesen  ansieht,  das  dem  Staate  die  An- 
wendung seiner  Kräfte  schuldig  ist,  und  also  durch  Zerstörung 
oder  Schwächung  dieser  Kräfte  ihn  gleichsam  seines  Eigenthums 
beraubt,  auch  auf  Handlungen  ein  wachsames  Auge  haben,  deren 
Folgen  sich  nur  auf  den  Handlenden  selbst  erstrekken.  Alles  diess 
fasse  ich  hier  auf  einmal  zusammen,  und  rede  daher  allgemein 
von  allen  Einrichtungen  des  Staats,  welche  in  der  Absicht  der 
Beförderung  der  öffentlichen  Sicherheit  geschehen.  Zugleich 
werden  sich  hier  von  selbst  alle  diejenigen  darstellen,  die,  sollten 
sie  auch  nicht  überall,  oder  nicht  bloss  auf  Sicherheit  abzwekken, 
das  moralische  Wohl  der  Bürger  angehen,  da,  wie  ich  schon  oben 
bemerkt,  die  Natur  der  Sache  selbst  keine  genaue  Trennung  er- 
laubt, und  diese  Einrichtungen  doch  gewöhnlich  die  Sicherheit 
und  Ruhe  des  Staats  vorzüglich  beabsichten.  Ich  werde  dabei 
demjenigen  Gange  getreu  bleiben,  den  ich  bisher  gewählt  habe. 
Ich  habe  nemlich  zuerst  die  grosseste  mögliche  Wirksamkeit  des 
Staats  angenommen,  und  nun  nach  und  nach  zu  prüfen  versucht, 
was  davon  abgeschnitten  werden  müsse.  Jezt  ist  mir  nur  die 
Sorge  für  die  Sicherheit  übrig  geblieben.  Bei  dieser  muss  nun 
aber  wiederum  auf  gleiche  Weise  verfahren  werden,  und  ich  w^rde 
daher  dieselbe  zuerst  in  ihrer  grossesten  Ausdehnung  betrachten, 
um  durch  allmähliche  Einschränkungen  auf  diejenigen  Grundsäze 
zu    kommen,   welche    mir    die    richtigen    scheinen.     Sollte    dieser 


142  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Gang  vielleicht  für  zu  langsam  und  weitläuftig  gehalten  werden; 
so  gebe  ich  gern  zu,  dass  ein  dogmatischer  Vortrag  gerade  die 
entgegengesezte  Methode  erfordern  würde.  Allein  bei  einem  bloss 
untersuchenden,  wie  der  gegenwärtige,  ist  man  wenigstens  gewiss, 
den  ganzen  Umfang  des  Gegenstandes  umspannt,  nichts  übersehen, 
und  die  Grundsäze  gerade  in  der  Folge  entwikkelt  zu  haben,  in 
welcher  sie  wirklich  aus  einander  herfliessen. 

Man  hat,  vorzüglich  seit  einiger  Zeit,  so  sehr  auf  die  Ver- 
hütung gesezwidriger  Handlungen  und  auf  Anwendung  moralischer 
Mittel  im  Staate  gedrungen.  Ich,  so  oft  ich  dergleichen  oder  ähn- 
liche Aufforderungen  höre,  freue  mich,  gesteh'  ich,  dass  eine 
solche  freiheitbeschränkende  Anwendung  bei  uns  immer  weniger 
gemacht,  und,  bei  der  Lage  fast  aller  Staaten,  immer  weniger 
möglich  wird.  Man  beruft  sich  auf  Griechenland  und  Rom,  aber 
eine  genauere  Kenntniss  ihrer  Verfassungen  würde  bald  zeigen, 
wie  unpassend  diese  Vergleichungen  sind.  Jene  Staaten  waren 
Republiken,  ihre  Anstalten  dieser  Art  waren  Stüzen  der  freien 
Verfassung,  welche  die  Bürger  mit  einem  Enthusiasmus  erfüllte, 
welcher  den  nachtheiligen  Einfluss  der  Einschränkung  der  Privat- 
freiheit minder  fühlen,  und  der  Energie  des  Charakters  minder 
schädlich  werden  liess.  Dann  genossen  sie  auch  übrigens  einer 
grösseren  Freiheit,  als  wir,  und  was  sie  aufopferten,  opferten  sie 
einer  andren  Thätigkeit,  dem  Antheil  an  der  Regierung,  auf.  In 
unsren,  meistentheils  monarchischen  Staaten  ist  das  alles  ganz 
anders.  Was  die  Alten  von  moralischen  Mitteln  anwenden  mochten, 
Nationalerziehung,  Religion,  Sittengeseze,  alles  würde  bei  uns 
minder  fruchten,  und  einen  grösseren  Schaden  bringen.  Dann 
war  auch  das  Meiste,  was  man  jezt  so  oft  für  Wirkung  der  Klug- 
heit des  Gesezgebers  hält,  bloss  schon  wirkliche,  nur  vielleicht 
wankende,  und  daher  der  Sanktion  des  Gesezes  bedürfende  Volks- 
sitte. Die  Uebereinstimmung  der  Einrichtungen  des  Eykurgus  mit 
der  Lebensart  der  meisten  unkultivirten  Nationen  hat  schon  Fer- 
guson meisterhaft  gezeigt,^)  und  da  höhere  Kultur  die  Nation  ver- 
feinerte, erhielt  sich  auch  in  der  That  nicht  mehr,  als  der  Schatten 
jener  Einrichtungen.  Endlich  steht,  dünkt  mich,  das  Menschen- 
geschlecht jezt   auf  einer  Stufe   der  Kultur,  von  welcher  es   sich 


^)  In  seinem  zuerst  i']66  erschienenen  Werke  An  essay  on  thc  history  of  civil 
Society  5.  144;  Humboldt  dürfte  die  Ausgabe  Basel  lySg  benutzt  haben,  auf  die 
sich  auch  mein  Zitat  bezieht. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    VI. 


H3 


nur  durch  Ausbildung  der  Individuen  höher  emporschwingen 
kann ;  und  daher  sind  alle  Einrichtungen,  welche  diese  Ausbildung 
hindern,  und  die  Menschen  mehr  in  Massen  zusammendrängen, 
jezt  schädlicher  als  ehmals. 

Schon  diesen  wenigen  Bemerkungen  zufolge  erscheint,  um 
zuerst  von  demjenigen  moralischen  Mittel  zu  reden,  was  am  wei- 
testen gleichsam  ausgreift,  öffentliche,  d.  i.  vom  Staat  angeordnete 
oder  geleitete  Erziehung  wenigstens  von  vielen  Seiten  bedenklich. 
Nach  dem  ganzen  vorigen  Raisonnement  kommt  schlechterdings 
Alles  auf  die  Ausbildung  des  Menschen  in  der  höchsten  Mannig- 
faltigkeit an;  öftentliche  Erziehung  aber  muss,  selbst  wenn  sie 
diesen  Fehler  vermeiden,  wenn  sie  sich  bloss  darauf  einschränken 
wollte,  Erzieher  anzustellen  und  zu  unterhalten,  immer  eine  be- 
stimmte Form  begünstigen.  Es  treten  daher  alle  die  Nachtheile 
bei  derselben  ein,  welche  der  erste  Theil  dieser  Untersuchung 
hinlänglich  dargestellt  hat,  und  ich  brauche  nur  noch  hinzuzufügen, 
dass  jede  Einschränkung  verderblicher  wird,  wenn  sie  sich  auf 
den  moralischen  Menschen  bezieht,  und  dass,  wenn  irgend  etwas 
Wirksamkeit  auf  das  einzelne  Individuum  fordert,  diess  gerade  die 
Erziehung  ist,  welche  das  einzelne  Individuum  bilden  soll.  Es  ist 
unläugbar,  dass  gerade  daraus  sehr  heilsame  Folgen  entspringen, 
dass  der  Mensch  in  der  Gestalt,  welche  ihm  seine  Lage  und  die 
Umstände  gegeben  haben,  im  Staate  selbstthätig  wird,  und  nun 
durch  den  Streit  —  wenn  ich  so  sagen  darf  —  der  ihm  vom 
Staat  angewiesenen  Lage,  und  der  von  ihm  selbst  gewählten,  zum 
Theil  er  anders  geformt  wird,  zum  Theil  die  Verfassung  des 
Staats  selbst  Aenderungen  erleidet,  wie  denn  dergleichen,  obgleich 
freilich  auf  einmal  fast  unbemerkbare  Aenderungen,  nach  den 
Modifikationen  des  Nationalcharakters,  bei  allen  Staaten  unverkenn- 
bar sind.  Diess  aber  hört  wenigstens  immer  in  dem  Grade  auf, 
in  welchem  der  Bürger  von  seiner  Kindheit  an  schon  zum  Bürger 
gebildet  wird.  Gewiss  ist  es  w^ohlthätig,  w^enn  die  Verhältnisse 
des  Menschen  und  des  Bürgers  soviel  als  möglich  zusammenfallen ; 
aber  es  bleibt  diess  doch  nur  alsdann,  wenn  das  des  Bürgers  so 
wenig  eigenthümliche  Eigenschaften  fordert,  dass  sich  die  natür- 
liche Gestalt  des  Menschen,  ohne  etwas  aufzuopfern,  erhalten  kann 
—  gleichsam  das  Ziel,  wohin  alle  Ideen,  die  ich  in  dieser  Unter- 
suchung zu  entwikkeln  vv^age,  allein  hinstreben.  Ganz  und  gar 
aber  hört  es  auf,  heilsam  zu  sein,  wenn  der  Mensch  dem  Bürger 
geopfert  wird.    Denn  wenn  gleich  alsdann  die  nachtheiligen  Folgen 


144 


=;.    Ideen  zu  einem  Versuch 


des  Misverhältnisses  hinwegfallen;  so  verliert  auch  der  Mensch 
dasjenige,  welches  er  gerade  durch  die  Vereinigung  in  einen  Staat 
zu  sichern  bemüht  war.  Daher  müsste,  meiner  Meinung  zufolge, 
die  freieste,  so  wenig  als  möglich  schon  auf  die  bürgerlichen  Ver- 
hältnisse gerichtete  Bildung  des  Menschen  überall  vorangehen. 
Der  so  gebildete  Mensch  müsste  dann  in  den  Staat  treten,  und 
die  Verfassung  des  Staats  sich  gleichsam  an  ihm  prüfen.  Nur  bei 
einem  solchen  Kampfe  würde  ich  wahre  Verbesserung  der  Ver- 
fassung durch  die  Nation  mit  Gewissheit  hoffen,  und  nur  bei  einem 
solchen  schädlichen  Einfluss  der  bürgerlichen  Einrichtung  auf  den 
Menschen  nicht  besorgen.  Denn  selbst  wenn  die  leztere  sehr 
fehlerhaft  wäre,  Hesse  sich  denken,  wie  gerade  durch  ihre  ein- 
engenden Fesseln  die  widerstrebende,  oder,  troz  derselben,  sich  in 
ihrer  Grösse  erhaltende  Energie  des  Menschen  gewänne.  Aber 
diess  könnte  nur  sein,  wenn  dieselbe  vorher  sich  in  ihrer  Freiheit 
entwikkelt  hätte.  Denn  welch  ein  ungewöhnlicher  Grad  gehörte 
dazu,  sich  auch  da,  wo  jene  Fesseln  von  der  ersten  Jugend  an 
drükten,  noch  zu  erheben  und  zu  erhalten?  Jede  öffentliche  Er- 
ziehung aber,  da  immer  der  Geist  der  Regierung  in  ihr  herrscht, 
giebt  dem  Menschen  eine  gewisse  bürgerliche  Form.  Wo  nun 
eine  solche  Form  an  sich  bestimmt  und  in  sich,  wenn  gleich  ein- 
seitig, doch  schön  ist,  wie  wir  es  in  den  alten  Staaten,  und  viel- 
leicht noch  jezt  in  mancher  Republik  finden,  da  ist  nicht  allein 
die  Ausführung  leichter,  sondern  auch  die  Sache  selbst  minder 
schädlich.  Allein  in  unsren  monarchischen  Verfassungen  existirt 
—  und  gewiss  zum  nicht  geringen  Glük  für  die  Bildung  des 
Menschen  —  eine  solche  bestimmte  Form  ganz  und  gar  nicht. 
Es  gehört  offenbar  zu  ihren,  obgleich  auch  von  manchen  Nach- 
theilen begleiteten  Vorzügen,  dass,  da  doch  die  Staatsverbindung 
immer  nur  als  ein  Mittel  anzusehen  ist,  nicht  soviel  Kräfte  der 
Individuen  auf  diess  Mittel  verwandt  zu  werden  brauchen,  als  in 
Republiken.  Sobald  der  Unterthan  den  Gesezen  gehorcht,  und 
sich  und  die  Seinigen  im  Wohlstande  und  einer  nicht  schädlichen 
Thätigkeit  erhält,  kümmert  den  Staat  die  genauere  Art  seiner 
Existenz  nicht.  Hier  hätte  daher  die  öffentliche  Erziehung,  die, 
schon  als  solche,  sei  es  auch  unvermerkt,  den  Bürger  oder  Unter- 
than, nicht  den  Menschen,  wie  die  Privaterziehung,  vor  Augen 
hat,  nicht  Eine  bestimmte  Tugend  oder  Art  zu  sein  zum  Zwek; 
sie  suchte  vielmehr  gleichsam  ein  Gleichgewicht  aller,  da  nichts 
so  sehr,  als  gerade  diess,  die  Ruhe  hervorbringt  und  erhält,  welche 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    VI. 


145 


eben  diese  Staaten  am  eifrigsten  beabsichten.  Ein  solches  Streben 
aber  gewinnt,  wie  ich  schon  bei  einer  andren  Gelegenheit  zu  zeigen 
versucht  habe,  entweder  keinen  Fortgang,  oder  führt  auf  Mangel 
an  Energie:  da  hingegen  die  A^erfolgung  einzelner  Seiten,  w^elche 
der  Privaterziehung  eigen  ist,  durch  das  Leben  in  verschiedenen 
^'e^hältnissen  und  ^>^bindungen  jenes  Gleichgewicht  sichrer  und 
ohne  Aufopferung  der  Energie  hervorbringt. 

Will  man  aber  der  öffentlichen  Erziehung  alle  positive  Be- 
förderung dieser  oder  jener  Art  der  Ausbildung  untersagen,  will 
man  es  ihr  zur  Pflicht  machen,  bloss  die  eigene  Entwikkelung 
der  Kräfte  zu  begünstigen;  so  ist  diess  einmal  an  sich  nicht  aus- 
führbar, da  was  Einheit  der  Anordnung  hat,  auch  allemal  eine 
gewisse  Einförmigkeit  der  Wirkung  hervorbringt,  und  dann  ist 
auch  unter  dieser  Voraussezung  der  Nuzen  einer  öffentlichen  Er- 
ziehung nicht  abzusehen.  Denn  ist  es  bloss  die  Absicht  zu  ver- 
hindern, dass  lünder  nicht  ganz  unerzogen  bleiben;  so  ist  es  ja 
leichter  und  minder  schädlich,  nachlässigen  Eltern  Vormünder  zu 
sezen,  oder  dürftige  zu  unterstüzen.  Ferner  erreicht  auch  die 
öffentliche  Erziehung  nicht  einmal  die  Absicht,  welche  sie  sich 
vorsezt,  nemlich  die  Umformung  der  Sitten  nach  dem  Muster, 
welches  der  Staat  für  das  ihm  angemessenste  hält.  So  wichtig 
und  auf  das  ganze  Leben  einwirkend  auch  der  Einfluss  der  Er- 
ziehung sein  mag;  so  sind  doch  noch  immer  wichtiger  die  Um- 
stände, welche  den  Menschen  durch  das  ganze  Leben  begleiten. 
Wo  also  nicht  alles  zusammenstimmt,  da  vermag  diese  Erziehung 
allein  nicht  durchzudringen.  Ueberhaupt  soll  die  Erziehung  nur, 
ohne  Rüksicht  auf  bestimmte,  den  Menschen  zu  ertheilende  bürger- 
liche Formen,  Menschen  bilden;  so  bedarf  es  des  Staats  nicht. 
Unter  freien  Menschen  gewinnen  alle  Gewerbe  besseren  Fortgang; 
blühen  alle  Künste  schöner  auf;  erweitern  sich  alle  Wissenschaften. 
Unter  ihnen  sind  auch  alle  Familienbande  enger,  die  Eltern  eifriger 
bestrebt  für  ihre  Kinder  zu  sorgen,  und,  bei  höherem  Wohlstande, 
auch  vermögender,  ihren  Wünschen  hierin  zu  folgen.  Bei  freien 
Menschen  entsteht  Xacheiferung,  und  es  bilden  sich  bessere  Er- 
zieher, wo  ihr  Schiksal  von  dem  Erfolg  ihrer  Arbeiten,  als  wo  es 
von  der  Beförderung  abhängt,  die  sie  vom  Staat  zu  erwarten 
haben.  Es  wird  daher  weder  an  sorgfältiger  Familienerziehung, 
noch  an  Anstalten  so  nüzlicher   und    nothwendiger   gcmeinschaft- 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     1.  lO 


146 


Ideen  zu  einem  Versuch 


lieber  Erziehung  fehlen.*)  Soll  aber  öffentliche  Erziehung  dem 
Menschen  eine  bestimmte  Form  ertheilen,  so  ist,  was  man  auch 
sagen  möge,  zur  Verhütung  der  Uebertretung  der  Geseze,  zur  Be- 
festigung der  Sicherheit  so  gut  als  nichts  gethan.  Denn  Tugend 
und  Laster  hängen  nicht  an  dieser  oder  jener  Art  des  Menschen 
zu  sein,  sind  nicht  mit  dieser  oder  jener  Charakterseite  nothwendig 
verbunden ;  sondern  es  kommt  in  Rüksicht  auf  sie  weit  mehr  auf 
die  Harmonie  oder  Disharmonie  der  verschiedenen  Charakterzüge, 
auf  das  Verhältniss  der  Kraft  zu  der  Summe  der  Neigungen  u.  s.  f. 
an.  Jede  bestimmte  Charakterbildung  ist  daher  eigner  Ausschwei- 
fungen fähig,  und  artet  in  dieselben  aus.  Hat  daher  eine  ganze 
Nation  ausschliesslich  vorzüglich  eine  gewisse  erhalten,  so  fehlt  es 
an  aller  entgegenstrebenden  Kraft,  und  mithin  an  allem  Gleich- 
gewicht. Vielleicht  liegt  sogar  hierin  auch  ein  Grund  der  häufigen 
Veränderungen  der  Verfassung  der  alten  Staaten.  Jede  Verfassung 
wirkte  so  sehr  auf  den  Nationalcharakter,  dieser,  bestimmt  gebildet, 
artete  aus,  und  brachte  eine  neue  hervor.  Endlich  wirkt  öffent- 
liche Erziehung,  wenn  man  ihr  völlige  Erreichung  ihrer  Absicht 
zugestehen  will,  zu  viel.  Um  die  in  einem  Staat  nothwendige 
Sicherheit  zu  erhalten,  ist  Umformung  der  Sitten  selbst  nicht  noth- 
wendig. Allein  die  Gründe,  womit  ich  diese  Behauptung  zu  unter- 
stüzen  gedenke,  bewahre  ich  der  Folge  auf,  da  sie  auf  das  ganze 
Bestreben  des  Staats,  auf  die  Sitten  zu  wirken,  Bezug  haben,  und 
mir  noch  vorher  von  einem  Paar  einzelner,  zu  demselben  ge- 
höriger Mittel  zu  reden  übrig  bleibt.  Oeffentliche  Erziehung 
scheint  mir  daher  ganz  ausserhalb  der  Schranken  zu  liegen,  in 
welchen  der  Staat  seine  Wirksamkeit  halten  muss.**) 


*j  Dans  iine  societe  bien  ordonnee,  au  contraire,  tont  invite  les  hommes  ä 
cultiver  leiirs  moyens  naturels:  sans  qii'on  s'en  mele,  l'education  sera  bonne;  eile 
sera  mime  d'autant  meiUeure,  qu'on  aura  plus  laisse  ä  faire  ä  l'industrie  des 
maitres,  et  ä  l'emulation  des  eleves.    Mirabeau  s.  l'educat.  publ.  p.  11. 

**)  Ainsi  c'est  peut-etre  un  probleme  de  savoir,  si  les  legislateurs  Fran^ais 
doivent  s'occuper  de  l'education  publique  autrement  que  pour  en  proteger  les  pro- 
gres,  et  si  la  Constitution  la  plus  favorable  au  developpement  du  moi  humain 
et  les  lois  les  plus  propres  ä  mettre  c/iacun  ä  sa  place  ne  sont  pas  la  seule  edu- 
cation,  que  le  peuple  doive  aüendre  d'eux.  l.  c.  p.  11.  D' apres  cela,  les  principes 
rigoureux  sembleraient  exiger  que  l'Assemblee  Nationale  ne  s'occupät  de  l'edu- 
cation que  pour  l'enlever  ä  des  pouvoirs,  ou  ä  des  corps  qui  peuvent  en  depraver 
l'inßuence.  l.  c.  p.  12. 


die   Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VI.  VII.  ja-j 

VII. 

Ausser  der  eigentlichen  Erziehung  der  Jugend  giebt  es  noch 
ein  anderes  Mittel  auf  den  Charakter  und  die  Sitten  der  Nation 
zu  wirken,  durch  welches  der  Staat  gleichsam  den  erwachsenen, 
reif  gewordenen  Menschen  erzieht,  sein  ganzes  Leben  hindurch 
seine  Handlungsweise  und  Denkungsart  begleitet,  und  derselben 
diese  oder  jene  Richtung  zu  ertheilen,  oder  sie  wenigstens  vor 
diesem  oder  jenem  Abwege  zu  bewahren  versucht  —  die  Religion. 
Alle  Staaten,  soviel  uns  die  Geschichte  aufzeigt,  haben  sich  dieses 
Mittels,  obgleich  in  sehr  verschiedener  Absicht,  und  in  verschie- 
denem Maasse  bedient.  Bei  den  Alten  war  die  Religion  mit  der 
Staatsverfassung  innigst  verbunden,  eigentlich  politische  Stüze  oder 
Triebfeder  derselben,  und  es  gilt  daher  davon  alles  das,  was  ich 
im  Vorigen  über  ähnliche  Einrichtungen  der  Alten  bemerkt  habe. 
,Als  die  christliche  Religion,  statt  der  ehemaligen  Partikulargott- 
heiten der  Nationen,  eine  allgemeine  Gottheit  aller  Menschen 
lehrte,  dadurch  eine  der  gefährlichsten  Mauern  umstürzte,  welche 
die  verschiedenen  Stämme  des  Menschengeschlechts  von  einander 
absonderten,  und  damit  den  wahren  Grund  aller  wahren  Menschen- 
tugend, Menschenentwikkelung  und  Menschenvereinigung  legte, 
ohne  welche  Aufklärung,  und  Kenntnisse  und  Wissenschaften  selbst 
noch  sehr  viel  länger,  wenn  nicht  immer,  ein  seltnes  Eigenthum 
einiger  Weniger  geblieben  wären:  wurde  das  Band  zwischen  der 
Verfassung  des  Staats  und  der  Religion  lokkerer.  Als  aber  nach- 
her der  Einbruch  barbarischer  Völker  die  Aufldärung  verscheuchte. 
Misverstand  eben  jener  Religion  einen  blinden  und  intoleranten 
Eifer  Proselyten  zu  machen  eingab,  und  die  politische  Gestalt  der 
Staaten  zugleich  so  verändert  war,  dass  man,  statt  der  Bürger,  nur 
Untenhanen,  und  nicht  sowohl  des  Staats,  als  des  Regenten  fand: 
wurde  Sorgfalt  für  die  Erhaltung  und  Ausbreitung  der  Religion 
aus  eigener  Gewissenhaftigkeit  der  Fürsten  geübt,  welche  dieselbe 
ihnen  von  der  Gottheit  selbst  anvertraut  glaubten.  In  neueren 
Zeiten  ist  zwar  diess  ^'orunheil  seltener  geworden,  allein  der  Ge- 
sichtspunkt der  innerlichen  Sicherheit  und  der  Sittlichkeit  —  als 
ihrer  festesten  Schuzwehr  —  hat  die  Beförderung  der  Religion 
durch  Geseze  und  Staatseinrichtungen  nicht  minder  dringend 
empfohlen.  Diess,  glaube  ich,  wären  etwa  die  Hauptepochen  in 
der  Religionsgeschichte  der  Staaten,  ob  ich  gleich  nicht  läugnen 
will,   dass   jede   der   angeführten   Rüksichten,   und  vorzüglich   die 

lO* 


[/l3  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

lezte  überall  mitwirken  mochte,  indess  freilich  Eine  die  vorzüg- 
lichste war.  Bei  dem  Bemühen,  durch  Religionsideen  auf  die 
Sitten  zu  wirken,  muss  man  die  Beförderung  einer  bestimmten 
Religion  von  der  Beförderung  der  Religiosität  überhaupt  unter- 
scheiden. Jene  ist  unstreitig  drükkender  und  verderblicher,  als 
diese.  Allein  überhaupt  ist  nur  diese  nicht  leicht,  ohne  jene,  mög- 
lich. Denn  wenn  der  Staat  einmal  Moralität  und  Religiosität  un- 
zertrennbar vereint  glaubt,  und  es  für  möglich  und  erlaubt  hält, 
durch  diess  Mittel  zu  wirken;  so  ist  es  kaum  möglich,  dass  er 
nicht,  bei  der  verschiedenen  Angemessenheit  verschiedener  Religions- 
meinungen zu  der,  wahren,  oder  angenommenen  Ideen  nach,  ge- 
formten Moralität,  eine  vorzugsweise  vor  der  andren  in  Schuz 
nehme.  Selbst  wenn  er  diess  gänzlich  vermeidet,  und  gleichsam 
als  Beschüzer  und  Vertheidiger  aller  Religionspartheien  auftritt; 
so  muss  er  doch,  da  er  nur  nach  den  äussren  Handlungen  zu 
urtheilen  vermag,  die  Meinungen  dieser  Partheien  mit  Unter- 
drükkung  der  möglichen  abweichenden  Meinungen  Einzelner  be- 
günstigen ;  und  wenigstens  interessirt  er  sich  auf  alle  Fälle  insofern 
für  Eine  Meinung,  als  er  den  aufs  Leben  einwirkenden  Glauben 
an  eine  Gottheit  allgemein  zum  herrschenden  zu  machen  sucht. 
Hiezu  kommt  nun  noch  über  diess  alles,  dass,  bei  der  Zweideutig- 
keit aller  Ausdrükke,  bei  der  Menge  der  Ideen,  welche  sich  Einem 
Wort  nur  zu  oft  unterschieben  lassen,  der  Staat  selbst  dem  Aus- 
druk  Religiosität  eine  bestimmte  Bedeutung  unterlegen  müsste, 
wenn  er  sich  desselben  irgend,  als  einer  Richtschnur,  bedienen 
wollte.  So  ist  daher,  meines  Erachtens,  schlechterdings  keine  Ein- 
mischung des  Staats  in  Religionssachen  möglich,  welche  sich  nicht, 
nur  mehr  oder  minder,  die  Begünstigung  gewisser  bestimmter 
Meinungen  zu  Schulden  kommen  Hesse,  und  folglich  nicht  die 
Gründe  gegen  sich  gelten  lassen  müsste,  welche  von  einer  solchen 
Begünstigung  hergenommen  sind.  Ebensowenig  halte  ich  eine 
Art  dieses  Einmischens  möglich,  welche  nicht  wenigstens  gewisser- 
maassen  eine  Leitung,  eine  Hemmung  der  Freiheit  der  Individuen 
mit  sich  führte.  Denn  wie  verschieden  auch  sehr  natürlich  der 
Einfluss  von  eigentlichem  Zwange,  blosser  Aufforderung,  und  end- 
lich blosser  Verschaffung  leichterer  Gelegenheit  zu  Beschäftigung 
mit  Religionsideen  ist;  so  ist  doch  selbst  in  dieser  lezteren,  wie 
im  Vorigen  bei  mehreren  ähnlichen  Einrichtungen  ausführlicher 
zu  zeigen  versucht  worden  ist,  immer  ein  gewisses,  die  Freiheit 
einengendes  Uebergewtcht   der  Vorstellungsart  des   Staats.    Diese 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     Vli. 


»49 


Bemerkungen  habe  ich  vorausschikken  zu  müssen  geglaubt,  um 
bei  der  folgenden  Untersuchung  dem  Einwurfe  zu  begegnen,  dass 
dieselbe  nicht  von  der  Sorgfalt  für  die  Beförderung  der  Religion 
überhaupt,  sondern  nur  von  einzelnen  Gattungen  derselben  rede, 
und  um  dieselbe  nicht  durch  eine  ängstliche  Durchgehung  der 
einzelnen  möglichen  Fälle  zu  sehr  zerstükkeln  zu  dürfen. 

Alle  Religion  —  und  z^va^  rede  ich  hier  von  Religion,  inso- 
fern sie  sich  auf  Sittlichkeit  und  GlükseHgkeit  bezieht,  und  folglich 
in  Gefühl  übergegangen  ist,  nicht  insofern  die  Vernunft  irgend 
eine  Religionswahrheit  wirklich  erkennt,  oder  zu  erkennen  meint, 
da  Einsicht  der  Wahrheit  unabhängig  ist  von  allen  Einflüssen  des 
Wollens  oder  Begehrens,  oder  insofern  Offenbarung  irgend  eine 
bekräftigt,  da  auch  der  historische  Glaube  dergleichen  Einflüssen 
nicht  unterworfen  sein  darf  —  alle  Religion,  sage  ich,  beruht  auf 
einem  Bedürfniss  der  Seele.  Wir  hoffen,  wdr  ahnden,  weil  wir 
wünschen.  Da,  wo  noch  alle  Spur  geistiger  Kultur  fehlt,  ist  auch 
das  Bedürfniss  bloss  sinnlich.  Furcht  und  Hofnung  bei  Xatur- 
begebenheiten,  welche  die  Einbildungslo'aft  in  selbstthätige  Wesen 
verwandelt,  machen  den  Inbegriff  der  ganzen  Religion  aus.  Wo 
geistige  Kultur  anfängt,  genügt  diess  nicht  mehr.  Die  Seele  sehnt 
sich  dann  nach  dem  Anschauen  einer  Vollkommenheit,  von  der 
ein  Funke  in  ihr  glimmt,  von  der  sie  aber  ein  weit  höheres  Maass 
ausser  sich  ahndet.  Diess  Anschauen  geht  in  Bewunderung,  und 
wenn  der  Mensch  sich  ein  Verhältniss  zu  jenem  Wesen  hinzu- 
denkt, in  Liebe  über,  aus  welcher  Begierde  des  Aehnlichwerdens, 
der  \^ereinigung  entspringt.  Diess  findet  sich  auch  bei  denjenigen 
Völkern,  welche  noch  auf  den  niedrigsten  Stufen  der  Bildung 
stehen.  Denn  daraus  entspringt  es,  wenn  selbst  bei  den  rohesten 
Völkern  die  Ersten  der  Nation  sich  von  den  Göttern  abzustammen, 
zu  ihnen  zurükzukehren  wähnen.  Xur  verschieden  ist  die  Vor- 
stellung der  Gottheit  nach  der  Verschiedenheit  der  Vorstellung 
von  Vollkommenheit,  die  in  jedem  Zeitalter  und  unter  jeder 
Nation  herrscht.  Die  Götter  der  ältesten  Griechen  und  Römer, 
und  die  Götter  unsrer  entferntesten  Vorfahren  waren  Ideale  körper- 
licher Macht  und  Stärke.  Als  die  Idee  des  sinnlich  Schönen  ent- 
stand und  verfeinert  ward,  erhob  man  die  personificirte  sinnliche 
Schönheit  auf  den  Thron  der  Gottheit,  und  so  entstand  die  Reli- 
gion, welche  man  Religion  der  Kunst  nennen  könnte.  Als  man 
sich  von  dem  Sinnlichen  zum  rein  Geistigen,  von  dem  Schönen 
zum  Guten  und  Wahren  erhob,  wurde  der  Inbegriff  aller  intellek- 


[  r  Q  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

tuellen  und  moralischen  ^Vollkommenheit  Gegenstand  der  Anbetung, 
und  die  Religion  ein  Eigenthum  der  Philosophie.  Vielleicht  könnte 
nach  diesem  Maassstabe  der  Werth  der  verschiedenen  Religionen 
gegen  einander  abgewogen  werden,  wenn  Religionen  nach  Nationen 
oder  Partheien,  nicht  nach  einzelnen  Individuen  verschieden  wären. 
Allein  so  ist  Religion  ganz  subjektiv,  beruht  allein  auf  der  Eigen- 
thümlichkeit  der  Vorstellungsart  jedes  Menschen. 

Wenn  die  Idee  einer  Gottheit  die  Frucht  wahrer  geistiger 
Bildung  ist;  so  wirkt  sie  schön  und  wohlthätig  auf  die  innere 
Vollkommenheit  zurük.  Alle  Dinge  erscheinen  uns  in  veränderter 
Gestalt,  wenn  sie  Geschöpfe  planvoller  Absicht,  als  wenn  sie  ein 
Werk  eines  vernunftlosen  Zufalls  sind.  Die  Ideen  von  W^eisheit, 
Ordnung,  Absicht,  die  uns  zu  unsrem  Handien,  und  selbst  zur 
Erhöhung  unsrer  intellektuellen  Kräfte  so  nothwendig  sind,  fassen 
festere  Wurzel  in  unsrer  Seele,  wenn  wir  sie  überall  entdekken. 
Das  Endhche  wird  gleichsam  unendlich,  das  Hinfällige  bleibend, 
das  W^andelbare  stät,  das  Verschlungene  einfach,  wenn  wir  uns 
Eine  ordnende  Ursach  an  der  Spize  der  Dinge,  und  eine  endlose 
Dauer  der  geistigen  Substanzen  denken.  Unser  Forschen  nach 
Wahrheit,  unser  Streben  nach  Vollkommenheit  gewinnt  mehr 
Festigkeit  und  Sicherheit,  wenn  es  ein  Wesen  für  uns  giebt,  das 
der  Quell  aller  Wahrheit,  der  Inbegritf  aller  Vollkommenheit  ist. 
Widrige  Schiksale  werden  der  Seele  weniger  fühlbar,  da  Zuver- 
sicht und  Hofnung  sich  an  sie  knüpft.  Das  Gefühl,  alles,  was 
man  besizt,  aus  der  Hand  der  Liebe  zu  empfangen,  erhöht  zu- 
gleich die  Glüksehgkeit  und  die  moraUsche  Güte.  Durch  Dank- 
barkeit bei  der  genossenen,  durch  hinlehnendes  Vertrauen  bei  der 
ersehnten  Freude  geht  die  Seele  aus  sich  heraus,  brütet  nicht 
immer,  in  sich  verschlossen,  über  den  eignen  Empfindungen, 
Planen,  Besorgnissen,  Hofnungen.  Wenn  sie  das  erhebende  Ge- 
fühl entbehrt,  sich  allein  alles  zu  danken;  so  gcniesst  sie  das  ent- 
zükkende,  in  der  Liebe  eines  andren  Wesens  zu  leben,  ein  Gefühl, 
worin  die  eigne  Vollkommenheit  sich  mit  der  Vollkommenheit 
jenes  Wesens  gattet.  Sie  wird  gestimmt,  andren  zu  sein,  was 
andre  ihr  sind;  will  nicht,  dass  andre  ebenso  alles  aus  sich  selbst 
nehmen  sollen,  als  sie  nichts  von  andren  empfängt,  ich  habe 
hier  nur  die  Hauptmomente  dieser  Untersuchung  berührt.  Tiefer 
in  den  Gegenstand  einzugehen,  würde,  nach  Garves  meisterhafter 
Ausführung,^)  unnüz  und  vermessen  sein. 

V  Vgl.  oben  S.  66  Anm.  i. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VII. 


151 


So  mitwirkend  aber  auf  der  einen  Seite  religiöse  Ideen  bei 
der  moralischen  ^'^en'ollkommnung  sind;  so  wenig  sind  sie  doch 
auf  der  andren  Seite  unzertrennlich  damit  verbunden.  Die  blosse 
Idee  geistiger  Vollkommenheit  ist  gross  und  füllend  und  erhebend 
genug,  um  nicht  mehr  einer  andren  Hülle  oder  Gestalt  zu  be- 
dürfen. Und  doch  liegt  jeder  Religion  eine  Personificirung,  eine 
Art  der  Versinnlichung  zum  Grunde,  ein  Anthropomorphismus  in 
höherem  oder  geringerem  Grade.  Jene  Idee  der  Vollkommenheit 
wird  auch  demjenigen  unaufhörlich  vorschweben,  der  nicht  ge- 
wohnt ist,  die  Summe  alles  Moralisch  Guten  in  Ein  Ideal  zusam- 
menzufassen, und  sich  in  ^^erhältniss  zu  diesem  Wesen  zu  denken; 
sie  wird  ihm  Antrieb  zur  Thätigkeit,  Stoff  aller  Glükseligkeit  sein. 
Fest  durch  die  Erfahrung  überzeugt,  dass  seinem  Geiste  Fort- 
schreiten in  höherer  moralischer  Stärke  möglich  ist,  wird  er  mit 
muthigem  Eifer  nach  dem  Ziele  streben,  das  er  sich  stekt.  Der 
Gedanke  der  Möglichkeit  der  A^ernichtung  seines  Daseins  wird  ihn 
nicht  schrekken,  sobald  seine  täuschende  Einbildungskraft  nicht 
mehr  im  Nichtsein  das  Nichtsein  noch  fühlt.  Seine  unabänder- 
liche Abhängigkeit  von  äusseren  Schiksalen  drükt  ihn  nicht; 
gleichgültiger  gegen  äussres  Geniessen  und  Entbehren,  blikt  er 
nur  auf  das  rein  Intellektuelle  und  Moralische  hin,  und  kein 
Schiksal  vermag  etwas  über  das  Innre  seiner  Seele.  Sein  Geist 
fühlt  sich  durch  Selbstgenügsamkeit  unabhängig,  durch  die  Fülle 
seiner  Ideen,  und  das  Bewusstsein  seiner  innren  Stärke  über  den 
Wandel  der  Dinge  gehoben.  Wenn  er  nun  in  seine  ^^ergangen- 
heit  zurükgeht.  Schritt  vor  Schritt  aufsucht,  wie  er  jedes  Ereigniss 
bald  auf  diese,  bald  auf  jene  Weise  benuzte,  wie  er  nach  und 
nach  zu  dem  ward,  was  er  jezt  ist,  wenn  er  so  Ursach  und 
Wirkung,  Zwek  und  Mittel,  alles  in  sich  vereint  sieht,  und  dann, 
voll  des  edelsten  Stolzes,  dessen  endliche  Wesen  fähig  sind, 
ausruft : 

Hast  Du  nicht  alles  selbst  vollendet, 
Heiligglühend  Herz?^) 

wie  müssen  da  in  ihm  alle  die  Ideen  von  Alleinsein,  von  Hülf- 
losigkeit,  von  Mangel  an  Schuz,  und  Trost,  und  Beistand  ver- 
schwinden, die  man  gewöhnlich  da  glaubt,  wo  eine  persönliche, 
ordnende,  vernünftige  Ursach  der  Kette  des  Endlichen  fehlt.'* 
Dieses  Selbstgefühl,  dieses  in  und  durch  sich  Sein  wird  ihn  auch 


V  Vgl.  oben  S.  G-j  Anm.  i. 


j  r  2  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

nicht  hart  und  unempfindlich  gegen  andre  Wesen  machen,  sein 
Herz  nicht  der  theilnehmenden  Liebe  und  jeder  wohlwollenden 
Neigung  verschliessen.  Eben  diese  Idee  der  Vollkommenheit,  die 
warlich  nicht  bloss  kalte  Idee  des  Verstandes  ist,  sondern  warmes 
Gefühl  des  Herzens  sein  kann,  auf  die  sich  seine  ganze  Wirksam- 
keit bezieht,  trägt  sein  Dasein  in  das  Dasein  andrer  über.  Es 
liegt  ja  in  ihnen  gleiche  Fähigkeit  zu  grösserer  Vollkommenheit, 
diese  Vollkommenheit  kann  er  hervorbringen  oder  erhöhen.  Er 
ist  noch  nicht  ganz  von  dem  höchsten  Ideale  aller  Moralität  durch- 
drungen, solange  er  noch  sich  oder  andre  einzeln  zu  betrachten 
vermag,  solange  nicht  alle  geistige  Wesen  in  der  Summe  der  in 
ihnen  einzeln  zerstreut  liegenden  Vollkommenheit  in  seiner  Vor- 
stellung zusammenfliessen.  Vielleicht  ist  seine  Vereinigung  mit 
den  übrigen,  ihm  gleichartigen  Wesen  noch  inniger,  seine  Theil- 
nahme  an  ihrem  Schiksale  noch  wärmer,  je  mehr  sein  und  ihr 
Schiksal,  seiner  Vorstellung  nach,  allein  von  ihm  und  von  ihnen 
abhängt. 

Sezt  man  vielleicht,  und  nicht  mit  Unrecht  dieser  Schilderung 
den  Einwurf  entgegen,  dass  sie,  um  Realität  zu  erhalten,  eine 
ausserordentliche,  nicht  bloss  gewöhnliche  Stärke  des  Geistes  und 
des  Charakters  erfordert;  so  darf  man  wiederum  nicht  vergessen, 
dass  diess  in  gleichem  Grade  da  der  Fall  ist,  wo  religiöse  Gefühle 
ein  wahrhaft  schönes,  von  Kälte  und  Schwärmerei  gleich  fernes 
Dasein  hervorbringen  sollen.  Auch  würde  dieser  Einwurf  über- 
haupt nur  passend  sein,  wenn  ich  die  Beförderung  der  zulezt  ge- 
schilderten Stimmung  vorzugsweise  empfohlen  hätte.  Allein  so 
geht  meine  Absicht  schlechterdings  allein  dahin,  zu  zeigen,  dass 
die  Moralität,  auch  bei  der  höchsten  Konsequenz  des  Menschen, 
schlechterdings  nicht  von  der  Religion  abhängig,  oder  überhaupt 
nothwendig  mit  ihr  verbunden  ist,  und  dadurch  auch  an  meinem 
Theile  zu  der  Entfernung  auch  des  mindesten  Schattens  von 
Intoleranz,  und  der  Beförderung  derjenigen  Achtung  beizutragen, 
welche  den  Menschen  immer  für  die  Denkungs-  und  Empfindungs- 
weise des  Menschen  erfüllen  sollte.  Um  diese  \'orsteilungsart 
4:ioch  mehr  zu  rechtfertigen,  könnte  ich  jezt  auf  der  andren  Seite 
auch  den  nachtheiligen  Einfluss  schildern,  welches  die  religiöseste 
Stimmung,  wie  die  am  meisten  entgegengesezte,  fähig  ist.  Allein 
es  ist  gehässig,  bei  so  wenig  angenehmen  Gemählden  zu  ver- 
weilen, und  die  Geschichte  schon  stellt  ihrer  zur  Genüge  auf. 
Vielleicht  führt  es  auch  sogar  eine  grössere  Evidenz  mit  sich,  auf 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VI!. 


53 


die  Natur  der  Moralität  selbst,  und  auf  die  genaue  \  erbindung, 
nicht  bloss  der  Religiosität,  sondern  auch  der  Religionssysteme 
der  Aienschen  mit  ihren  Emptindungss3'stemen  einen  flüchtigen 
Blik  zu  werfen. 

Nun  ist  weder  dasjenige,  was  die  Moral,  als  Pflicht  vorschreibt, 
noch  dasjenige,  was  ihren  Gesezen  gleichsam  die  Sanktion  giebt. 
was  ihnen  Interesse  für  den  Willen  leiht,  von  Religionsideen  ab- 
hängig. Ich  führe  hier  nicht  an,  dass  eine  solche  Abhängigkeit 
sogar  der  Reinheit  des  moralischen  Willens  Abbruch  thun  würde. 
Man  könnte  vielleicht  diesem  Grundsaz  in  einem,  aus  der  Er- 
fahrung geschöpften,  und  auf  die  Erfahrung  anzuwendenden 
Raisonnement,  wie  das  gegenwärtige,  die  hinlängliche  Gültigkeit 
absprechen.  Allein  die  Beschatfenheiten  einer  Handlung,  welche 
dieselbe  zur  Pflicht  machen,  entspringen  theils  aus  der  Natur  der 
menschlichen  Seele,  theils  aus  der  näheren  Anwendung  auf  die 
Verhältnisse  der  Menschen  gegen  einander;  und  wenn  dieselben 
auch  unläugbar  in  einem  ganz  vorzüglichen  Grade  durch  religiöse 
Gefühle  empfohlen  werden,  so  ist  diess  weder  das  einzige,  noch 
auch  bei  weitem  ein  auf  alle  Charaktere  anwendbares  Mittel. 
Vielmehr  beruht  die  Wirksamkeit  der  Religion  schlechterdings 
auf  der  individuellen  Beschaffenheit  der  Menschen,  und  ist  im 
strengsten  Verstände  subjektiv.  Der  kalte,  bloss  nachdenkende 
Mensch,  in  dem  die  Erkenntniss  nie  in  Empfindung  übergeht. 
dem  es  genug  ist,  das  Verhältniss  der  Dinge  und  Handlungen  ein- 
zusehen, um  seinen  Willen  danach  zu  bestimmen,  bedarf  keines 
Religionsgrundes,  um  tugendhaft  zu  handien,  und,  soviel  es  seinem 
(Charakter  nach  möglich  ist,  tugendhaft  zu  sein.  Ganz  anders  ist 
es  hingegen,  w^o  die  Fähigkeit  zu  empfinden  sehr  stark  ist,  wo 
jeder  Gedanke  leicht  Gefühl  wird.  Allein  auch  hier  sind  die 
Nuancen  unendlich  verschieden.  Wo  die  Seele  einen  starken 
Hang  fühlt,  aus  sich  hinaus  in  andre  überzugehen,  an  andre  sich 
anzuschliessen.  da  werden  Religionsideen  wirksame  Triebfedern 
sein.  Dagegen  giebt  es  Charaktere,  in  welchen  eine  so  innige 
Konsequenz  aller  Ideen  und  Empfindungen  herrscht,  die  eine  so 
grosse  Tiefe  der  Erkenntniss  und  des  Gefühls  besizen,  dass  daraus 
eine  Stärke  und  Selbstständigkeit  hervorgeht,  welche  das  Hingeben 
des  ganzen  Seins  an  ein  fremdes  Wesen,  das  \'ertrauen  auf  fremde 
Kraft,  wodurch  sich  der  Einfluss  der  Religion  so  vorzüglich  äussert, 
weder  fordert  noch  erlaubt.  Selbst  die  Lagen,  welche  erfordert 
werden,  um   auf  Religionsideen  zurükzukommen,  sind   nach  Ver- 


l  CA  5-    Ween  zu  einem  Versuch 

schiedenheit  der  Charaktere  verschieden.  Bei  dem  einen  ist  jede 
starke  Rührung  —  Freude  oder  Kummer  —  bei  dem  andren 
nur  das  frohe  Gefühl,  aus  dem  Genuss  entspringender  Dankbar- 
keit dazu  hinreichend.  Die  lezteren  Charalaere  verdienen  viel- 
leicht nicht  die  wenigste  Schäzung.  Sie  sind  auf  der  einen  Seite 
stark  genug,  um  im  Unglük  nicht  fremde  Hülfe  zu  suchen,  und 
haben  auf  der  andren  zu  viel  Sinn  für  das  Gefühl  geliebt  zu 
werden,  um  nicht  an  die  Idee  des  Genusses  gern  die  Idee  eines 
liebevollen  Gebers  zu  knüpfen.  Oft  hat  auch  die  Sehnsucht  nach 
religiösen  Ideen  noch  einen  edleren,  reineren,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  mehr  intellektuellen  Quell.  Was  der  Mensch  irgend  um 
sich  her  erblikt,  vermag  er  allein  durch  die  Vermittlung  seiner 
Organe  aufzufassen;  nirgends  offenbart  sich  ihm  unmittelbar  das 
reine  Wesen  der  Dinge;  gerade  das,  was  am  heftigsten  seine 
Liebe  erregt,  am  unwiderstehlichsten  sein  ganzes  Innres  ergreift, 
ist  mit  dem  dichtesten  Schleier  umhüllt;  sein  ganzes  Leben  hin- 
durch ist  seine  Thätigkeit  Bestreben,  den  Schleier  zu  durchdringen, 
seine  Wollust  Ahnden  der  W^ahrheit  in  dem  Räthsel  des  Zeichens, 
Hoffen  der  unvermittelten  Anschauung  in  andren  Perioden  seines 
Daseins.  Wo  nun,  in  wunden'oller  und  schöner  Harmonie,  nach 
der  unvermittelten  Anschauung  des  wirklichen  Daseins  der  Geist 
rastlos  forscht,  und  das  Herz  sehnsuchtsvoll  verlangt,  wo  der 
Tiefe  der  Denkkraft  nicht  die  Dürftigkeit  des  Begriffs,  und  der 
Wärme  des  Gefühls  nicht  das  Schattenbild  der  Sinne  und  der 
Phantasie  genügt;  da  folgt  der  Glaube  unaufhaltbar  dem  eigen- 
thümUchen  Triebe  der  Vernunft,  jeden  Begriff,  bis  zur  Hinweg- 
räumung aller  Schranken,  bis  zum  Ideal  zu  erweitern,  und  heftet 
sich  fest  an  ein  ^^'esen,  das  alle  andre  Wesen  umschliesst,  und 
rein  und  ohne  ^''ermittlung  existirt,  anschaut  und  schaft.  Allein 
oft  beschränkt  auch  eine  genügsamere  Bescheidenheit  den  Glauben 
innerhalb  des  Gebiets  der  Erfahrung;  oft  vergnügt  sich  zwar  das 
Gefühl  gern  an  dem,  der  Vernunft  so  eignen  Ideal,  findet  aber 
einen  wollustvolleren  Reiz  in  dem  Bestreben,  eingeschränkt  auf 
die  Welt,  für  die  ihm  Empfänglichkeit  gewährt  ist,  die  sinnliche 
und  unsinnliche  Natur  enger  zu  verweben,  dem  Zeichen  einen 
reicheren  Sinn,  und  der  Wahrheit  ein  verständlicheres,  ideenfrucht- 
bareres Zeichen  zu  leihen;  und  oft  wird  so  der  Mensch  für  das 
Entbehren  jener  trunknen  Begeisterung  hoffender  Erwartung,  in- 
dem er  seinem  Blik  in  unendliche  Fernen  zu  schweifen  verbietet, 
durch  das,  ihn  immer  begleitende  Bewusstsein  des  Gelingens  seines 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Stan.ts  zu  bestimmen.     VII. 


155 


Bestrebens  entschädigt.  Sein  minder  kühner  Gang  ist  doch  sichrer; 
der  Begriff  des  Verstandes,  an  den  er  sich  festhäh,  bei  minderem 
Reichthum,  doch  klarer;  die  sinnUche  Anschauung,  wenn  gleich 
weniger  der  Wahrheit  treu,  doch  für  ihn  tauglicher,  zur  Erfahrung 
verbunden  zu  werden.  Nichts  bewundert  der  Geist  des  Menschen 
überhaupt  so  willig  und  mit  so  voller  Einstimmung  seines  Ge- 
fühls, als  w^isheitsvolle  Ordnung  in  einer  zahllosen  Menge  mannig- 
faltiger, vielleicht  sogar  mit  einander  streitender  Individuen.  Indess 
ist  diese  Bewunderung  einigen  noch  in  einem  bei  weitem  vor- 
züglicheren Grade  eigen,  und  diese  verfolgen  daher  vor  allen  gern 
die  ^^orstellungsart,  nach  welcher  Ein  Wesen  die  Welt  schuf  und 
ordnete,  und  mit  sorgender  Weisheit  erhält.  Allein  andren  ist 
gleichsam  die  Kraft  des  Individuums  heiliger,  andre  fesselt  diese 
mehr,  als  die  Allgemeinheit  der  Anordnung,  und  es  stellt  sich 
ihnen  daher  öfter  und  natürlicher  der,  wenn  ich  so  sagen  darf, 
entgegengesezte  Weg  dar,  der  nemlich,  auf  welchem  das  Wesen 
der  Individuen  selbst,  indem  es  sich  in  sich  entwikkelt,  und  durch 
Einwirkung  gegenseitig  modificirt,  sich  selbst  zu  der  Harmonie 
stimmt,^)  in  welcher  allein  der  Geist,  wie  das  Herz  des  Menschen, 
zu  ruhen  vermag.  Ich  bin  weit  entfernt  zu  wähnen,  mit  diesen 
wenigen  Schilderungen  die  Mannigfaltigkeit  des  Stoffs,  dessen 
Reichthum  jeder  Klassifikation  widerstrebt,  erschöpft  zu  haben. 
Ich  habe  nur  an  ihnen,  wie  an  Beispielen  zeigen  wollen,  dass  die 
wahre  Religiosität,  so  wie  auch  jedes  wahre  Religionssvstem,  im 
höchsten  \'^erstande  aus  dem  innersten  Zusammenhange  der 
Empfindungsweise  des  Menschen  entspringt.  Unabhängig  von 
der  Empfindung  und  der  ^Verschiedenheit  des  Charakters  ist  nun 
zwar  das,  was  in  den  Religionsideen  rein  Intellektuelles  liegt,  die 
Begriffe  von  Absicht,  Ordnung,  Zwekmässigkeit,  Vollkommenheit. 
Allein  einmal  ist  hier  nicht  sowohl  von  diesen  Begriffen  an  sich, 
als  von  ihrem  Einfiuss  auf  die  Menschen  die  Rede,  welcher  leztere 
unstreitig  keinesweges  eine  gleiche  Unabhängigkeit  behauptet ;  und 
dann  sind  auch  diese  der  Religion  nicht  ausschliessend  eigen. 
Die  Idee  von  Vollkommenheit  wird  zuerst  aus  der  lebendigen 
Natur  geschöpft,  dann  auf  die  leblose  übergetragen,  endlich  nach 
und  nach,  bis  zu  dem  Allvollkommnen  hinauf  von  allen  Schranken 
entblösst.  Nun  aber  bleiben  lebendige  und  leblose  Natur  dieselben, 
und  ist  es  nicht  möglich,  die  ersten  Schritte   zu   thun,    imd   doch 


V  „stimmt"  verbessert  aus  „emporarbcüel" . 


156 


Ideen  zu  einem  Versuch 


vor  dem  Iczten  stehen  zu  bleiben  ?  Wenn  nun  alle  Religiosität  so 
gänzlich  auf  den  mannigfaltigen  Modifikationen  des  Charakters 
und  vorzüglich  des  Gefühls  beruht;  so  muss  auch  ihr  Einfluss 
auf  die  Sittlichkeit  ganz  und  gar  nicht  von  der  Materie  gleichsam 
des  Inhalts  der  angenommenen  Säze,  sondern  von  der  Form  des 
Annehmens,  der  Ueberzeugung,  des  Glaubens  abhängig  sein. 
Diese  Bemerkung,  die  mir  gleich  in  der  Folge  von  grossem  Nuzen 
sein  wird,  hoffe  ich  durch  das  Bisherige  hinlänglich  gerechtfertigt 
zu  haben.  Was  ich  vielleicht  allein  hier  noch  fürchten  darf,  ist 
der  Vorwurf,  in  allem,  was  ich  sagte,  nur  den  sehr  von  der 
Natur  und  den  Umständen  begünstigten,  interessanten,  und  eben 
darum  seltenen  Menschen  vor  Augen  gehabt  zu  haben.  Allein 
die  Folge  wird,  hoffe  ich,  zeigen,  dass  ich  den  freilich  grösseren 
Haufen  keineswegs  übersehe,  und  es  scheint  mir  unedel,  überall 
da,  wo  es  der  Mensch  ist,  welcher  die  Untersuchung  beschäftigt, 
nicht  aus  den  höchsten  Gesichtspunkten  auszugehen. 

Kehre  ich  jezt  —  nach  diesem  allgemeinen,  auf  die  Religion 
und  ihren  Einfluss  im  Leben  geworfenen  Buk  —  auf  die  Frage 
zurük,  ob  der  Staat  durch  die  Religion  auf  die  Sitten  der  Bürger 
wirken  darf  oder  nicht?  so  ist  es  gewiss,  dass  die  Mittel,  welche 
der  Gesezgeber  zum  Behuf  der  moralischen  Bildung  anwendet, 
immer  in  dem  Grade  nüzlich  und  zwekmässig  sind,  in  welchem 
sie  die  innere  Entwikkclung  der  Fähigkeiten  und  Neigungen  be- 
günstigen. Denn  alle  Bildung  hat  ihren  Ursprung  allein  in  dem 
Innern  der  Seele,  und  kann  durch  äussre  Veranstaltungen  nur 
veranlasst,  nie  hervorgebracht  werden.  Dass  nun  die  Religion, 
welche  ganz  auf  Ideen,  Empfindungen  und  innerer  Ueberzeugung 
beruht,  ein  solches  Alittel  sei,  ist  unläugbar.  Wir  bilden  den 
Künstler,  indem  wir  sein  Auge  an  den  Meisterwerken  der  Kunst 
üben,  seine  Einbildungskraft  mit  den  schönen  Gestalten  der  Pro- 
dukte des  Alterthumis  nähren.  Ebenso  muss  der  sittliche  Mensch 
gebildet  werden  durch  das  Anschauen  hoher  moralischer  Voll- 
kommenheit, im  Leben  durch  Umgang,  und  durch  zwekmässiges 
Studium  der  Geschichte,  endlich  durch  das  Anschauen  der  höch- 
sten, idealischen  Vollkommenheit  im  Bilde  der  Gottheit.  Aber 
diese  leztere  Ansicht  ist,  wie  ich  im  Vorigen  gezeigt  zu  haben 
glaube,  nicht  für  jedes  Auge  gemacht,  oder  um  ohne  Bild  zu 
reden,  diese  Vorstellungsart  ist  nicht  jedem  Charakter  angemessen. 
Wäre  sie  es  aber  auch;  so  ist  sie  doch  nur  da  wirksam,  wo  sie 
aus  dem  Zusammenhange  aller  Ideen  und  Empfindungen  entspringt, 


die   Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VII. 


^57 


wo  sie  mehr  von  selbst  aus  dem  Innern  der  Seele  hervorgeht, 
als  von  aussen  in  dieselbe  gelegt  wird.  Wegräumung  der  Hinder- 
nisse, mit  Religionsideen  vertraut  zu  werden,  und  Begünstigung 
des  freien  Untersuchungsgeistes  sind  folglich  die  einzigen  Mittel, 
deren  der  Gesezgeber  sich  bedienen  darf:  geht  er  weiter,  sucht 
er  die  Religiosität  direkt  zu  befördern,  oder  zu  leiten,  oder  nimmt 
er  gar  gewisse  bestimmte  Ideen  in  Schuz,  fordert  er,  statt  wahrer 
Ueberzeugung,  Glauben  auf  Autorität :  so  hindert  er  das  Aufstreben 
des  Geistes,  die  Entwildung  der  Seelenkräfte;  so  bringt  er  vielleicht 
durch  Gewinnung  der  Einbildungskraft,  durch  augenblikliche 
Rührungen  Gesezmässigkeit  der  Handlungen  seiner  Bürger,  aber 
nie  wahre  Tugend  her\-or.  Denn  wahre  Tugend  ist  unabhängig 
von  aller,  und  unverträglich  mit  befohlner,  und  auf  Autorität  ge- 
glaubter Religion. 

Wenn  jedoch  gevvisse  Religionsgrundsäze  auch  nur  gesez- 
mässige  Handlungen  hervorbringen,  ist  diess  nicht  genug,  um  den 
Staat  zu  berechtigen,  sie,  auch  auf  Kosten  der  allgemeinen  Denk- 
freiheit, zu  verbreiten  ?  Die  Absicht  des  Staats  wird  erreicht,  wenn 
seine  Geseze  streng  befolgt  werden ;  und  der  Gesezgeber  hat  seiner 
Pflicht  ein  Genüge  gethan,  wenn  er  weise  Geseze  giebt,  und  ihre 
Beobachtung  von  seinen  Bürgern  zu  erhalten  weiss.  Ueberdiess 
passt  jener  aufgestellte  Begriff'  von  Tugend  nur  auf  einige  wenige 
Klassen  der  Mitglieder  eines  Staats,  nur  auf  die.  welche  ihre  äussre 
Lage  in  den  Stand  sezt,  einen  grossen  Theil  ihrer  Zeit  und  ihrer 
Kräfte  dem  Geschäfte  ihrer  inneren  Bildung  zu  weihen.  Die  Sorg- 
falt des  Staats  muss  sich  auf  die  grössere  Anzahl  erstrekken,  und 
diese  ist  jenes  höheren  Grades  der  Moralität  unfähig. 

Ich  erwähne  hier  nicht  mehr  der  Säze,  welche  ich  in  dem 
Anfange  dieses  Aufsazes  zu  entwikkeln  versucht  habe,  und  die  in 
der  That  den  Grund  dieser  Einwürfe  umstossen,  der  Säze  nemlich, 
dass  die  Staatseinrichtung  an  sich  nicht  Zwek,  sondern  nur  Mittel 
zur  Bildung  des  Menschen  ist,  und  dass  es  daher  dem  Gesezgeber 
nicht  genügen  kam?,  seinen  Aussprüchen  Autorität  zu  verschaffen, 
wenn  nicht  zugleich  die  Mittel,  wodurch  diese  Autorität  bewirkt 
wird,  gut,  oder  doch  unschädlich  sind.  Es  ist  aber  auch  unrichtig, 
dass  dem  Staate  allein  die  Handlungen  seiner  Bürger  und  ihre 
Gesezmässigkeit  v^'ichtig  sei.  Ein  Staat  ist  eine  so  zusammen- 
gesezte  und  venvikkelte  Maschine,  dass  Geseze,  die  immer  nur 
einfach,  allgemein,  und  von  geringer  Anzahl  sein  müssen,  unmög- 
lich allein  darin  hinreichen  können.    Das  Meiste  bleibt  immer  den 


158 


Ideen  zu  einem  Versuch 


freiwilligen  einstimmigen  Bemühungen  der  Bürger  zu  thun  übrig. 
Man  braucht  nur  den  Wohlstand  kultivirter,  und  aufgeklärter 
Nationen  mit  der  Dürftigkeit  roher  und  ungebildeter  Völker  zu 
vergleichen,  um  von  diesem  Saze  überzeugt  zu  werden.  Daher 
sind  auch  die  Bemühungen  aller,  die  sich  je  mit  Staatseinrichtungen 
beschäftigt  haben,  immer  dahin  gegangen,  das  Wohl  des  Staats 
zum  eignen  Interesse  des  Bürgers  zu  machen,  und  den  Staat  in 
eine  Maschine  zu  verwandeln,  die  durch  die  innere  Kraft  ihrer 
Triebfedern  in  Gang  erhalten  würde,  und  nicht  unaufhörlich  neuer 
äussrer  Einwirkungen  bedürfte.  Wenn  die  neueren  Staaten  sich 
eines  Vorzugs  vor  den  alten  rühmen  dürfen;  so  ist  es  vorzüglich, 
weil  sie  diesen  Grundsaz  mehr  realisirten.  Selbst  dass  sie  sich 
der  Religion,  als  eines  Bildungsmittels  bedienen,  ist  ein  Beweis 
davon.  Doch  auch  die  Religion,  insofern  nemlich  durch  gewisse 
bestimmte  Säze  nur  gute  Handlungen  hen^orgebracht,  oder  durch 
positive  Leitung  überhaupt  auf  die  Sitten  gewirkt  werden  soll,  wie 
es  hier  der  Fall  ist,  ist  ein  fremdes,  von  aussen  einwirkendes 
Mittel.  Daher  muss  es  immer  des  Gesezgebers  leztes,  aber  —  wie 
ihn  wahre  Kenntniss  des  Menschen  bald  lehren  wird  —  nur  durch 
Gewährung  der  höchsten  Freiheit  erreichbares  Ziel  bleiben,  die 
Bildung  der  Bürger  bis  dahin  zu  erhöhen,  dass  sie  alle  Triebfedern 
zur  Beförderung  des  Zweks  des  Staats  allein  in  der  Idee  des 
Nuzens  finden,  welchen  ihnen  die  Staatseinrichtung  zu  Erreichung 
ihrer  individuellen  Absichten  gewährt.  Zu  dieser  Einsicht  aber 
ist  Aufklärung  und  hohe  Geistesbildung  nothwendig,  welche  da 
nicht  emporkommen  können,  wo  der  freie  Untersuchungsgeist 
durch  Geseze  beschränkt  wird. 

Nur  dass  man  sich  überzeugt  hält,  ohne  bestimmte,  geglaubte 
Religionssäze,  oder  wenigstens  ohne  Aufsicht  des  Staats  auf  die 
Religion  der  Bürger,  könne  auch  äussre  Ruhe  und  Sittlichkeit  nicht 
bestehen,  ohne  sie  sei  es  der  bürgerlichen  Gewalt  unmöglich,  das 
Ansehen  der  Geseze  zu  erhalten,  macht,  dass  man  jenen  Betrach- 
tungen kein  Gehör  giebt.  Und  doch  bedürfte  der  Einfluss,  den 
Religionssäze,  die  auf  diese  Weise  angenommen  werden,  und  über- 
haupt jede,  durch  Veranstaltungen  des  Staats  beförderte  Religiosität 
haben  soll,  wohl  erst  einer  strengeren  und  genaueren  Prüfung. 
Bei  dem  rohern  Theile  des  Volks  rechnet  man  von  allen  Religions- 
wahrheiten am  meisten  auf  die  Ideen  künftiger  Belohnungen  und 
Bestrafungen.  Diese  mindern  den  Hang  zu  unsittlichen  Hand- 
lungen nicht,  befördern  nicht  die  Neigung  zum  Guten,  verbessern 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VII. 


159 


also  den  Charakter  nicht,  sie  wirken  bloss  auf  die  Einbildungs- 
kraft, haben  folglich,  wie  Bilder  der  Phantasie  überhaupt,  Einfluss 
auf  die  Art  zu  handien,  ihr  Einfluss  wird  aber  auch  durch  alles 
das  vermindert,  und  aufgehoben,  was  die  Lebhaftigkeit  der  Ein- 
bildungskraft schwächt.  Nimmt  man  nun  hinzu,  dass  diese  Er- 
wartungen so  entfernt,  und  darum,  selbst  nach  den  Vorstellungen 
der  Gläubigsten,  so  ungewiss  sind,  dass  die  Ideen  von  nachheriger 
Reue,  künftiger  Besserung,  gehofter  Verzeihung,  welche  durch  ge- 
wisse Religionsbegrilfe  so  sehr  begünstigt  werden  —  ihnen  einen 
grossen  Theil  ihrer  Wirksamkeit  wiederum  nehmen:  so  ist  es 
unbegreiflich,  wie  diese  Ideen  mehr  v^-irken  sollten,  als  die  Vor- 
stellung bürgerlicher  Strafen,  die  nah,  bei  guten  Polizeianstalten 
gewiss,  und  weder  durch  Reue,  noch  nachfolgende  Besserung  ab- 
wendbar sind,  wenn  man  nur  von  Kindheit  an  die  Bürger  ebenso 
mit  diesen,  als  mit  jenen  Folgen  sittlicher  und  unsittlicher  Hand- 
lungen bekannt  machte.  Uniäugbar  wirken  freilich  auch  w-eniger 
aufgeklärte  Religionsbegrifte  bei  einem  grossen  Theile  des  ^'olks 
auf  eine  edlere  Art.  Der  Gedanke,  Gegenstand  der  Fürsorge  eines 
allweisen  und  vollkommnen  Wesens  zu  sein,  giebt  ihnen  mehr 
Würde,  die  Zuversicht  einer  endlosen  Dauer  führt  sie  auf  höhere 
Gesichtspunkte,  bringt  mehr  Absicht  und  Plan  in  ihre  Handlungen, 
das  Gefühl  der  liebevollen  Güte  der  Gottheit  giebt  ihrer  Seele  eine 
ähnliche  Stimmung,  kurz  die  Religion  flösst  ihnen  Sinn  für  die 
Schönheit  der  Tugend  ein.  Allein  wo  die  Religion  diese  Wir- 
kungen haben  soll,  da  muss  sie  schon  in  den  Zusammenhang  der 
Ideen  und  Emptindungen  ganz  übergegangen  sein,  welches  nicht 
leicht  möglich  ist,  w^enn  der  freie  Untersuchungsgeist  gehemmt, 
und  alles  auf  den  Glauben  zurükgeführt  wird ;  da  muss  auch  schon 
Sinn  für  bessere  Gefühle  vorhanden  sein,  da  entspringt  sie  mehr 
aus  einem,  nur  noch  unentwikkelten  Hange  zur  Sittlichkeit,  auf 
den  sie  hernach  nur  wieder  zurükwirkt.  Und  überhaupt  wird  ja 
niemand  den  Einfluss  der  Rehgion  auf  die  Sittlichkeit  ganz  ab- 
iäugnen  wollen;  es  fragt  sich  nur  immer,  ob  er  von  einigen  be- 
stimmten Religionssazen  abhängt.'  und  dann,  ob  er  so  entschieden 
ist,  dass  Moralität  und  Religion  darum  in  unzertrennlicher  Ver- 
bindung mit  einander  stehen.'  Beide  Fragen  müssen,  glaube  ich, 
verneint  werden.  Die  Tugend  stimmt  so  sehr  mit  den  ursprüng- 
lichen Neigungen  des  Menschen  überein,  die  Gefühle  der  Liebe, 
der  Verträglichkeit,  der  Gerechtigkeit  haben  so  etwas  Süsses,  die 
der   uneigennüzigen   Thätigkcit,    der  Aufopferung    für    andre    so 


ißo  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

etwas  Erhebendes,  die  Verhältnisse,  welche  daraus  im  häuslichen 
und  im  gesellschaftlichen  Leben  überhaupt  entspringen,  sind  so 
beglükkend,  dass  es  weit  weniger  nothwendig  ist,  neue  Triebfedern 
zu  tugendhaften  Handlungen  hen'orzusuchen,  als  nur  denen,  welche 
schon  von  selbst  in  der  Seele  liegen,  freiere  und  ungehindertere 
Wirksamkeit  zu  verschaffen. 

Wollte  man  aber  auch  weiter  gehen,  wollte  man  neue  Be- 
förderungsmittel hinzufügen;  so  dürfte  man  doch  nie  einseitig 
vergessen,  ihren  Nuzen  gegen  ihren  Schaden  abzuwägen.  W^ie 
vielfach  aber  der  Schade  eingeschränkter  Denkfreiheit  ist,  bedarf 
wohl,  nachdem  es  so  oft  gesagt,  und  wieder  gesagt  ist,  keiner 
weitläuftigen  Auseinandersezung  mehr;  und  ebenso  enthält  der 
Anfang  dieses  Aufsazes  schon  alles,  was  ich  über  den  Nachtheil 
jeder  positiven  Beförderung  der  Religiosität  durch  den  Staat  zu 
sagen  für  nothwendig  halte.  Erstrekte  sich  dieser  Schade  bloss 
auf  die  Resultate  der  Untersuchungen,  brächte  er  bloss  Unvoll- 
ständigkeit  oder  Unrichtigkeit  in  unsrer  wissenschaftlichen  Er- 
kenntniss  hervor;  so  möchte  es  vielleicht  einigen  Schein  haben, 
wenn  man  den  Nuzen,  den  man  für  den  Charakter  davon  er- 
wartet —  auch  erwarten  darf?  —  dagegen  abwägen  wollte.  Allein 
so  ist  der  Nachtheil  bei  weitem  beträchtlicher.  Der  Nuzen  freier 
Untersuchung  dehnt  sich  auf  unsre  ganze  Art,  nicht  bloss  zu 
denken,  sondern  zu  handien  aus.  In  einem  Manne,  der  gewohnt 
ist,  Wahrheit  und  Irrthum,  ohne  Rüksicht  auf  äussre  Verhältnisse, 
für  sich  und  gegen  andre  zu  beurtheilen,  und  von  andren  be- 
urtheilt  zu  hören,  sind  alle  Principien  des  Handlens  durchdachter, 
konsequenter,  aus  höheren  Gesichtspunkten  hergenommen,  als  in 
dem,  dessen  Untersuchungen  unaufhörlich  von  Umständen  geleitet 
werden,  die  nicht  in  der  Untersuchung  selbst  liegen.  Untersuchung 
und  Ueberzeugung,  die  aus  der  Untersuchung  entspringt,  ist 
Selbstthätigkeit ;  Glaube  Vertrauen  auf  fremde  Kraft,  fremde 
intellektuelle  oder  moralische  Vollkommenheit.  Daher  entsteht  in 
dem  untersuchenden  Denker  mehr  Selbstständigkeit,  mehr  Festig- 
keit; in  dem  vertrauenden  Gläubigen  mehr  Schwäche,  mehr  Un- 
thätigkeit.  Es  ist  wahr,  dass  der  Glaube,  wo  er  ganz  herrscht, 
und  jeden  Zweifel  erstikt,  sogar  einen  noch  unüberwindlicheren 
Muth,  eine  noch  ausdauerndere  Stärke  hen^orbringt ;  die  Geschichte 
aller  Schwärmer  lehrt  es.  Allein  diese  Stärke  ist  nur  da  wünschens- 
werth,  wo  es  auf  einen  äussren  bestimmten  Erfolg  ankommt,  zu 
welchem  bloss   maschinenmässiges  W^irken   erfordert  wird;   nicht 


die  Grenzen   der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VII.  i^[ 

da,  wo  man  eignes  Beschliessen,  durchdachte,  auf  Gründen  der 
Vernunft  beruhende  Handlungen,  oder  gar  innere  Vollkommenheit 
erwartet.  Denn  diese  Stärke  selbst  beruht  nur  auf  der  Unter- 
drükkung  aller  eignen  Thätigkeit  der  ^^ernunft.  Zweifel  sind  nur 
dem  quälend,  w^elcher  glaubt,  nie  dem,  welcher  bloss  der  eignen 
Untersuchung  folgt.  Denn  überhaupt  sind  diesem  die  Resultate 
weit  weniger  wichtig,  als  jenem.  Er  ist  sich,  während  der  Unter- 
suchung, der  Thätigkeit,  der  Stärke  seiner  Seele  bewusst,  er  fühlt, 
dass  seine  wahre  Vollkommenheit,  seine  Glükseligkeit  eigentlich 
auf  dieser  Stärke  beruht:  statt  dass  Zweifel  an  den  Säzen,  die  er 
bisher  für  wahr  hielt,  ihn  drükken  sollten,  freut  es  ihn,  dass  seine 
Denkkraft  soviel  gewonnen  hat,  Irrthümer  einzusehen,  die  ihr 
vorher  verborgen  blieben.  Der  Glaube  hingegen  kann  nur  Inter- 
esse  an  dem  Resultat  selbst  finden,  denn  für  ihn  liegt  in  der  er- 
kannten Wahrheit  nichts  mehr.  Zweifel,  die  seine  Vernunft  er- 
regt, peinigen  ihn.  Denn  sie  sind  nicht,  wie  in  dem  selbst- 
denkenden Kopfe,  neue  Mittel  zur  Wahrheit  zu  gelangen:  sie 
nehmen  ihm  bloss  die  Gewissheit,  ohne  ihm  ein  Mittel  anzuzeigen, 
dieselbe  auf  eine  andre  Weise  wieder  zu  erhalten.  Diese  Be- 
trachtung, weiter  verfolgt,  führt  auf  die  Bemerkung,  dass  es  über- 
haupt nicht  gut  ist,  einzelnen  Resultaten  eine  so  grosse  Wichtig- 
keit beizumessen,  zu  glauben,  dass  entweder  so  viele  andre  Wahr- 
heiten, oder  so  viele  äussre  oder  innere  nüzliche  Folgen  von  ihnen 
abhängen.  Es  wird  dadurch  zu  leicht  ein  Stillstand  in  der  Unter- 
suchung hen'orgebracht,  und  so  arbeiten  manchmal  die  freiesten 
und  aufgeklärtesten  Behauptungen  gerade  gegen  den  Grund,  ohne 
den  sie  selbst  nie  hätten  emporkommen  können.  So  wichtig  ist 
Geistesfreiheit,  so  schädlich  jede  Einschränkung  derselben.  Auf 
der  andren  Seite  hingegen  fehlt  es  dem  Staate  nicht  an  Mitteln, 
die  Geseze  aufrecht  zu  erhalten,  und  Verbrechen  zu  verhüten. 
Man  verstopfe,  soviel  es  möglich  ist,  diejenigen  Quellen  unsittlicher 
Handlungen,  welche  sich  in  der  Staatseinrichtung  selbst  rinden, 
man  schärfe  die  Aufsicht  der  Polizei  auf  begangene  Verbrechen, 
man  strafe  auf  eine  zwekmässige  Weise,  und  man  wird  seines 
Zweks  nicht  verfehlen.  Und  vergisst  man  denn,  dass  die  Geistes- 
freiheit selbst,  und  die  Aufklärung,  die  nur  unter  ihrem  Schuze 
gedeiht,  das  wirksamste  aller  Beförderungsmittel  der  Sicherheit  ist.' 
Wenn  alle  übrige  nur  den  Ausbrüchen  wehren,  so  wirkt  sie  auf 
Neigungen  und  Gesinnungen;  wenn  alle  übrige  nur  eine  Ueber- 
einstimmung  äussrer  Handlungen  her\'orbringen,  so  schaft  sie  eine 

\V.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  U 


lß2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

innere  Harmonie  des  Willens  und  des  Bestrebens.  Wann  wird 
man  aber  auch  endlich  aufhören,  die  äusseren  Folgen  der  Hand- 
lungen höher  zu  achten,  als  die  innere  geistige  Stimmung,  aus 
welcher  sie  fliessen?  wann  wird  der  Mann  aufstehen,  der  für  die 
Gesezgebung  ist,  was  Rousseau  der  Erziehung  war,  der  den  Ge- 
sichtspunkt von  den  äussren  physischen  Erfolgen  hinweg  auf  die 
innere  Bildung  des  Menschen  zurükzieht? 

Man  glaube  auch  nicht,  dass  jene  Geistesfreiheit  und  Auf- 
klärung nur  für  einige  Wenige  des  Volks  sei,  dass  für  den 
grösseren  Theil  desselben,  dessen  Geschäftigkeit  freilich  durch  die 
Sorge  für  die  physischen  Bedürfnisse  des  Lebens  erschöpft  wird, 
sie  unnüz  bleibe,  oder  gar  nachtheilig  werde,  dass  man  auf  ihn 
nur  durch  Verbreitung  bestimmter  Säze,  durch  Einschränkung  der 
Denkfreiheit  wirken  könne.  Es  liegt  schon  an  sich  etwas  die 
Menschheit  Herabwürdigendes  in  dem  Gedanken,  irgend  einem 
Menschen  das  Recht  abzusprechen,  ein  Mensch  zu  sein.  Keiner 
steht  auf  einer  so  niedrigen  Stufe  der  Kultur,  dass  er  zu  Er- 
reichung einer  höheren  unfähig  wäre;  und  sollten  auch  die  auf- 
geklärteren religiösen  und  philosophischen  Ideen  auf  einen  grossen 
Theil  der  Bürger  nicht  unmittelbar  übergehen  können,  sollte  man 
dieser  Klasse  von  Menschen,  um  sich  an  ihre  Ideen  anzuschmiegen, 
die  Wahrheit  in  einem  andren  Kleide  vortragen  müssen,  als  man 
sonst  wählen  würde,  sollte  man  genöthigt  sein,  mehr  zu  ihrer 
Einbildungskraft  und  zu  ihrem  Herzen,  als  zu  ihrer  kalten  Ver- 
nunft zu  reden;  so  verbreitet  sich  doch  die  Erweiterung,  welche 
alle  wissenschaftliche  Erkenntniss  durch  Freiheit  und  Aufklärung 
erhält,  auch  bis  auf  sie  herunter,  so  dehnen  sich  doch  die  wohl- 
thätigen  Folgen  der  freien,  uneingeschränkten  Untersuchung  auf 
den  Geist  und  den  Charakter  der  ganzen  Nation  bis  in  ihre  ge- 
ringsten Individua  hin  aus. 

Um  diesem  Raisonnement,  weil  es  sich  grossentheils  nur  auf 
den  Fall  bezieht,  wenn  der  Staat  gewisse  Religionssäze  zu  ver- 
breiten bemüht  ist,  eine  grössere  Allgemeinheit  zu  geben,  muss 
ich  noch  an  den,  im  Vorigen  entwikkelten  Saz  erinnern,  dass  aller 
Einfluss  der  Religion  auf  die  Sittlichkeit  weit  mehr  —  wenn  nicht 
allein  —  von  der  Form  abhängt,  in  welcher  gleichsam  die  Religion 
im  Menschen  existirt,  als  von  dem  Inhalte  der  Säze,  welche  sie 
ihm  heilig  macht.  Nun  aber  wirkt  jede  Veranstaltung  des  Staats, 
wie  ich  gleichfalls  im  Vorigen  zu  zeigen  versucht  habe,  nur  mehr 
oder  minder,  auf  diesen  Inhalt,  indess  der  Zugang  zu  jener  Form 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VII. 


163 


—  wenn   ich   mich  dieses  Ausdruks    ferner  bedienen  darf  —  ihm 
so    gut    als    gänzlich   verschlossen    ist.     Wie    Religion    in    einem 
Menschen  von  selbst  entstehe.^  wie  er  sie  aufnehme.^   diess  hängt 
gänzlich    von    seiner    ganzen   Art    zu    sein,    zu    denken    und    zu 
empfinden  ab.    Auch  nun  angenommen,  der  Staat  wäre  im  Stande, 
diese  auf  eine,  seinen  Absichten   bequeme  Weise  umzuformen  — 
wovon   doch   die   Unmöglichkeit  wohl   unläugbar   ist  —  so   wäre 
ich  in  der  Rechtfertigung  der,  in  dem  ganzen  bisherigen  Vortrage 
aufgestellten   Behauptungen    sehr   unglüklich   gewesen,   w^enn   ich 
hier  noch   alle   die  Gründe   wiederholen   müsste,  w'elche   es   dem 
Staate  überall  verbieten,  sich  des  Menschen,  mit  Uebersehung  der 
indi\iduellen  Zwekke  desselben,  eigenmächtig  zu  seinen  Absichten 
zu  bedienen.     Dass  auch  hier  nicht   absolute  Nothwendigkeit   ein- 
tritt, w^elche  allein  vielleicht  eine  Ausnahme   zu   rechtfenigen  ver- 
möchte, zeigt  die  Unabhängigkeit  der  Moralität  von  der  Religion, 
die  ich  darzuthun  versucht  habe,   und  werden   diejenigen  Gründe 
noch  in  ein  helleres  Licht  stellen,  durch   die   ich   bald  zu  zeigen 
gedenke,  dass  die  Erhaltung  der  innerlichen  Sicherheit   in   einem 
Staate  keineswegs   es   erfordert,   den  Sitten  überhaupt  eine   eigne 
bestimmte  Richtung  zu  geben.     Wenn  aber  irgend   etwas   in  den 
Seelen  der  Bürger  einen   fruchtbaren  Boden   für   die  Religion  zu 
bereiten  vermag,  wenn  irgend  etwas  die  fest  aufgenommene,  und 
in  das  Gedanken-  wie   in   das  Empfindungssystem   übergegangene 
Religion  wohlthätig  auf  die  Sittlichkeit  zurükwirken   lässt;   so   ist 
es  die  Freiheit,  welche  doch  immer,  wie  w^enig  es  auch  sei,  durch 
eine   positive   Sorgfalt   des  Staats   leidet.     Denn   je   mannigfaltiger 
und  eigenthümlicher  der  Mensch  sich  ausbildet,  je  höher  sein  Ge- 
fühl sich  emporschwingt :  desto  leichter  richtet  sich  auch  sein  BUk 
von  dem  engen,  w^echselnden  Kreise,  der  ihn  umgiebt,  auf  das  hin, 
dessen  Unendhchkeit  und  Einheit  den  Grund  jener  Schranken  und 
jenes  Wechsels  enthält,  er  mag  nun  ein  solches  Wesen  zu  finden, 
oder  nicht  zu  finden  vermeinen.     Je  freier  ferner  der  Mensch  ist, 
desto   selbstständigc    wird   er   in   sich,   und   desto   w^ohlwollender 
gegen  andre.    Nun  aber  führt  nichts  so  der  Gottheit  zu,  als  wohl- 
wollende Liebe ;  und  macht  nichts  so  das  Entbehren  der  Gottheit 
der  Sittlichkeit    unschädlich,    als  Selbstständigkeit,    die    Kraft,    die 
sich  in  sich  genügt,  und  sich  auf  sich  beschränkt.     Je  höher  end- 
lich das  Gefühl  der  Kraft  in  dem  Menschen,  je  ungehemmter  jede 
Aeusserung  derselben;  desto  williger  sucht   er   ein   inneres  Band, 
das  ihn  leite  und  führe,  und  so  bleibt  er  der  Sitdichkqit  hold,  es 


ißA  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

mag  nun  diess  Band  ihm  Ehrfurcht  und  Liebe  der  Gottheit,  oder 
Belohnung  des  eignen  Selbstgefühls  sein.  Der  Unterschied  scheint 
mir  demnach  der:  der  in  Religionssachen  völlig  sich  selbst  ge- 
lassene ' )  Bürger  wird,  nach  seinem  individuellen  Charakter,  reli- 
giöse Gefühle  in  sein  Innres  verweben,  oder  nicht;  aber  in  jedem 
Fall  wird  sein  Ideensystem  konsequenter,  seine  Empfindung  tiefer, 
in  seinem  Wesen  mehr  Einheit  sein,  und  so  wird  ihn  Sittlichkeit 
und  Gehorsam  gegen  die  Geseze  mehr  auszeichnen.  Der  durch 
mancherlei  Anordnungen  beschränkte  hingegen  wird  —  troz  der- 
selben —  eben  so  verschiedne  Religionsideen  aufnehmen,  oder 
nicht;  allein  in  jedem  Fall  wird  er  weniger  Konsequenz  der  Ideen, 
weniger  Innigkeit  des  Gefühls,  weniger  Einheit  des  Wesens  be- 
sizen,  und  so  wird  er  die  Sittlichkeit  minder  ehren,  und  dem  Ge- 
sez  öfter  ausweichen  wollen. 

Ohne  also  weitere  Gründe  hinzuzufügen,  glaube  ich  demnach 
den,  auch  an  sich  nicht  neuen  Saz  aufstellen  zu  dürfen,  dass  alles, 
was  die  Religion  betrift,  ausserhalb  der  Gränzen  der  Wirksamkeit 
des  Staats  liegt,  und  dass  die  Prediger,  wie  der  ganze  Gottesdienst 
überhaupt,  eine,  ohne  alle  besondre  Aufsicht  des  Staats  zu  lassende 
Einrichtung  der  Gemeinen  sein  müssten. 


VIII.  2) 

Das  lezte  Mittel,  dessen  sich  die  Staaten  zu  bedienen  pflegen, 
um  eine,  ihrem  Endzwek  der  Beförderung  der  Sicherheit  ange- 
messene Umformung  der  Sitten  zu  bewirken,  sind  einzelne  Geseze 
und  Verordnungen.  Da  aber  diess  ein  Weg  ist,  auf  welchem 
SittHchkeit  und  Tugend  nicht  unmittelbar  befördert  werden  kann ; 
so  müssen  sich  einzelne  Einrichtungen  dieser  Art  natürlich  darauf 
beschränken,  einzelne  Handlungen  der  Bürger  zu  verbieten,  oder 
zu  bestimmen,  die  theils  an  sich,  jedoch  ohne  fremde  Rechte  zu 
kränken,  unsittlich  sind,  theils  leicht  zur  Unsittlichkeit  führen. 
Dahin  gehören  vorzüglich  alle  den ")  Luxus  einschränkende  Geseze. 


^j  „in  Religionssachen  völlig  sich  selbst  gelassene"  verbessert  aus  „freie^K 
V  Erster  Druck   dieses  Kapitels:   Berlinische  Monatsschriß  20,  41g— 444 
(Novemberheft  1792/     Der  Aufsatz  hat  dort  die  Überschriß:  „Über  die  Sitten- 
verbesserung durch   Anstalten  des  Staats.     Zweites  Bruchstück  aus  dem  unge- 
druckten  Werke",  wobei  auf  den  Abdruck  des  fünften  Kapitels  verwiesen  wird. 
^)  „den"  fehlt  in  der  Handschriß,  steht  aber  im  ersten  Druck. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VII.  VIII.  ißr 

Denn  nichts  ist  unstreitig  eine  so  reiche  und  gewöhnliche  Quelle 
unsittlicher,  selbst  gesezwidriger  Handlungen,  als  das  zu  grosse 
Uebergewicht  der  Sinnlichkeit  in  der  Seele,  oder  das  Misverhält- 
niss  der  Neigungen  und  Begierden  überhaupt  gegen  die  Kräfte 
der  Befriedigung,  welche  die  äussre  Lage  darbietet.  Wenn  Ent- 
haltsamkeit und  Massigkeit  die  Menschen  mit  den  ihnen  ange- 
w^iesenen  Kreisen  zufriedner  macht;  so  suchen  sie  minder,  dieselben 
auf  eine,  die  Rechte  andrer  beleidigende,  oder  wenigstens  ihre 
eigne  Zufriedenheit  und  Glükseligkeit  störende  Weise  zu  verlassen. 
Es  scheint  daher  dem  wahren  Endzwek  des  Staats  angemessen, 
die  Sinnlichkeit  —  aus  welcher  eigentlich  alle  KolHsionen  unter 
den  Menschen  entspringen,  da  das,  worin  geistige  Gefühle  über- 
wiegend sind,  immer  und  überall  harmonisch  mit  einander  be- 
stehen kann  —  in  den  gehörigen  Schranken  zu  halten;  und,  weil 
diess  freilich  das  leichteste  Mittel  hierzu  scheint,  so  viel  als  mög- 
lich zu  unterdrükken.  Bleibe  ich  indess  den  bisher  behaupteten 
Grundsäzen  getreu,  immer  erst  an  dem  w^ahren  Interesse  des 
Menschen  die  Mittel  zu  prüfen,  deren  der  Staat  sich  bedienen 
darf;  so  wird  es  nothwendig  sein,  mehr  den  Einfluss  der  Sinn- 
lichkeit auf  das  Leben,  die  Bildung,  die  Thätigkeit  und  die  Glük- 
seligkeit des  Menschen,  soviel  es  zu  dem  gegenwärtigen  Endzwekke 
dient,  zu  untersuchen  —  eine  Untersuchung,  w^elche,  indem  sie 
den  thätigen  und  geniessenden  Menschen  überhaupt  in  seinem 
Innern  zu  schildern  versucht,  zugleich  anschaulicher  darstellen 
wird,  wie  schädlich  oder  wohlthatig  demselben  überhaupt  Ein- 
schränkung und  Freiheit  ist.  Erst  w^enn  diess  geschehen  ist,  dürfte 
sich  die  Befugniss  des  Staats,  auf  die  Sitten  der  Bürger  positiv  zu 
wirken,  in  der  höchsten  Allgemeinheit  beurtheilen,  und  damit 
dieser  Theil  der  Auflösung  der  vorgelegten  Frage  beschliessen 
lassen. 

Die  sinnlichen  Empfindungen,  Neigungen  und  Leidenschaften 
sind  es,  welche  sich  zuerst  und  in  den  heftigsten  Aeusserungen 
im  Menschen  zeigen.  Wo  sie,  ehe  noch  Kultur  sie  verfeinert, 
oder  der  Energie  der  Seele  eine  andre  Richtung  gegeben  hat, 
schweigen;  da  ist  auch  alle  Kraft  erstorben,  und  es  kann  nie 
etwas  Gutes  und  Grosses  gedeihen.  Sie  sind  es  gleichsam,  welche 
wenigstens  zuerst  der  Seele  eine  belebende  Wärme  einhauchen, 
zuerst  zu  einer  eignen  Thätigkeit  anspornen.  Sie  bringen  Leben 
und  Strebekraft  in  dieselbe;  unbefriedigt  machen  sie  thätig,  zur 
Anlegung  von  Planen  erfindsam,  muthig  zur  Ausübung;  befriedigt 


l56  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

befördern  sie  ein  leichtes,  ungehindertes  Ideenspiel.  Ueberhaupt 
bringen  sie  alle  Vorstellungen  in  grössere  und  mannigfaltigere 
Bewegung,  zeigen  neue  Ansichten,  führen  auf  neue,  vorher  unbe- 
merkt gebliebene  Seiten;  ungerechnet,  wie  die  verschiedne  Art 
ihrer  Befriedigung  auf  den  Körper  und  die  Organisation,  und 
diese  wieder  auf  eine  Weise,  die  uns  freilich  nur  in  den  Resul- 
taten sichtbar  wird,  auf  die  Seele  zurükwirkt.  Indess  ist  ihr 
Einfluss  in  der  Intension,  wie  in  der  Art  des  Wirkens  verschieden. 
Diess  beruht  theils  auf  ihrer  Stärke  oder  Schwäche,  theils  aber 
auch  —  wenn  ich  mich  so  ausdrukken  darf  —  auf  ihrer  Ver- 
v^^andtschaft  mit  dem  Unsinnhchen,  auf  der  grösseren  oder  min- 
deren Leichtigkeit,  sie  von  thierischen  Genüssen  zu  menschlichen 
Freuden  zu  erheben.  So  leiht  das  Auge  der  Materie  seiner 
Empfindung  die  für  uns  so  genussreiche  und  ideenfruchtbare  Form 
der  Gestalt,  so  das  Ohr  die  der  verhältnissmässigen  Zeitfolge  der 
Töne,  lieber  die  verschiedene  Natur  dieser  Empfindungen,  und 
die  Art  ihrer  Wirkung  Hesse  sich  vielleicht  viel  Schönes  und 
manches  Neue  sagen,  wozu  aber  schon  hier  nicht  einmal  der  Ort 
ist.  Nur  Eine  Bemerkung  über  ihren  verschiedenen  Nuzen  zur 
Bildung  der  Seele.  Das  Auge,  wenn  ich  so  sagen  darf,  liefert 
dem  Verstände  einen  mehr  vorbereiteten  Stoff.  Das  Innere  des 
Menschen  wird  uns  gleichsam  mit  seiner,  und  der  übrigen,  immer 
in  unsrer  Phantasie  auf  ihn  bezogenen  Dinge  GesteJt,  bestimmt, 
und  in  einem  einzelnen  Zustande,  gegeben.  Das  Ohr,  bloss  als 
Sinn  betrachtet,  und  insofern  es  nicht  Worte  aufnimmt,  gewährt 
eine  bei  weitem  geringere  Bestimmtheit.  Darum  räumt  auch 
Kant  den  bildenden  Künsten  den  Vorzug  vor  der  Musik  ein. 
Allein  er  bemerkt  sehr  richtig,  dass  diess  auch  zum  Maassstabe 
die  Kultur  voraussezt,  welche  die  Künste  dem  Gemüth  verschaffen,^) 
und  ich  möchte  hinzusezen,  welche  sie  ihm  unmittelbar  ver- 
schaffen. Es  fragt  sich  indess,  ob  diess  der  richtige  Maassstab  sei? 
Meiner  Idee  nach,  ist  Energie  die  erste  und  einzige  Tugend  des 
Menschen.  Was  seine  Energie  erhöht,  ist  mehr  werth,  als  was 
ihm  nur  Stoff  zur  Energie  an  die  Hand  giebt.  Wie  nun  aber 
der  Mensch  auf  Einmal  nur  Eine  Sache  empfindet,  so  wirkt 
auch  das  am  meisten,  was  nur  Eine  Sache  zugleich  ihm  darstellt; 
und  wie  in  einer  Reihe  auf  einander  folgender  Empfindungen 
jede   einen,  durch   alle   vorige   gewirkten,   und   auf  alle   folgende 


y  Kritik  der  Urteilskraft  S.  220. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VIII.  jß-y 

wirkenden  Grad  hat,  das,  in  welcliem  die  einzelnen  Bestandtheile 
in  einem  ähnlichen  Verhältnisse  stehen.    Diess  alles   aber  ist  der 
Fall  der  Musik.    Ferner  ist  der  Musik  bloss  diese  Zeitfolge  eigen; 
nur  diese  ist  in   ihr   bestimmt.     Die   Reihe,  welche   sie   darstellt, 
nöthigt   sehr   wenig    zu    einer    bestimmten   Empfindung.     Es    ist 
gleichsam  ein  Thema,  dem  man  unendlich  viele  Texte  unterlegen 
kann.    Was  ihr  also  die  Seele  des  Hörenden  —  insofern  derselbe 
nur  überhaupt,  und   gleichsam   der  Gattung  nach,   in    einer  ver- 
w^andten  Stimmung  ist  —  wirklich  unterlegt,  entspringt  völlig  frei 
und  ungebunden  aus   ihrer   eignen  Fülle,  und   so   umfasst  sie   es 
unstreitig  wärmer,  als  was  ihr  gegeben  wird,  und  was   oft  mehr 
beschäftigt,  wahrgenommen,   als   empfunden   zu   werden.     Andre 
Eigenthümlichkeiten   und  Vorzüge   der  Musik,  z.  B.   dass   sie,   da 
sie    aus    natürlichen    Gegenständen   Töne    hervorlokt,    der   Natur 
weit  näher  bleibt,  als  Mahlerei,  Plastik  und  Dichtkunst,  übergehe 
ich  hier,  da  es  mir  nicht  darauf  ankommt,  eigentlich  sie  und  ihre 
Natur  zu  prüfen,  sondern  ich   sie   nur,  als   ein  Beispiel   brauche, 
um  an  ihr  die  verschiedene  Natur  der  sinnlichen  Empfindungen 
deutlicher   darzustellen.     Die    eben    geschilderte  Art,   zu  wirken, 
ist  nun  nicht  der  Musik  allein  eigen.    Kant  bemerkt  eben  sie   als 
möglich   bei   einer  wechselnden  Farbenmischung,^)   und   in   noch 
höherem   Grade   ist   sie   es   bei   dem,  was   wir   durch   das  Gefühl 
empfinden.      Selbst    bei    dem    Geschmak    ist    sie    unverkennbar. 
Auch   im  Geschmak   ist  ein  Steigen   des  Wohlgefallens,   das   sich 
gleichsam  nach  einer  Auflösung  sehnt,  und   nach   der  gefundnen 
Auflösung  in  schwächeren  Vibrationen  nach  und  nach  verschwändet. 
Am  dunkelsten  dürfte  diess  bei  dem  Geruch  sein.     Wie   nun   im 
empfindenden   Menschen    der   Gang    der  Empfindung,   ihr   Grad, 
ihr  w^echselndes  Steigen,   und  Fallen,  ihre  —  wenn   ich   mich   so 
ausdrukken  darf  —  reine  und  volle  Harmonie   eigentlich   das   an- 
ziehendste, und  anziehender  ist,  als  der  Stoff  selbst,  insofern  man 
nemlich  vergisst,  dass  die  Natur  des  Stoffes  vorzüglich  den  Grad, 
und  noch  mehr  die  Harmonie   jenes  Ganges   bestimmt;   und   wie 
der  empfindende  Mensch  —  gleichsam  das  Bild  des  blüthetreibenden 
Frühlings  —  gerade   das   interessanteste  Schauspiel   ist;   so   sucht 
auch  der  Mensch   gleichsam   diess  Bild   seiner  Empfindung,  mehr 
als  irgend  etwas  andres,  in  allen  schönen  Künsten.     So  macht  die 
Mahlerei,  selbst  die  Plastik   es   sich   eigen.     Das  x\uge   der  Guido 


V  Kritik  der  Urteilskraß  S.  2U. 


jgg  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

Renischen  Madonna  ^)  hält  sich  gleichsam  nicht  in  den  Schranken 
eines  flüchtigen  Augenbliks.  Die  angespannte  Muskel  des  Borghe- 
sischen  Fechters  verkündet  den  Stoss,  den  er  zu  vollführen  bereit 
ist.  Und  in  noch  höherem  Grade  benuzt  diess  die  Dichtkunst. 
Ohne  hier  eigentlich  von  dem  Range  der  schönen  Künste  reden 
zu  wollen,  sei  es  mir  erlaubt,  nur  noch  Folgendes  hinzuzusezen, 
um  meine  Idee  deutlich  zu  machen.  Die  schönen  Künste  bringen 
eine  doppelte  Wirkung  hervor,  welche  man  immer  bei  jeder 
vereint,  aber  auch  bei  jeder  in  sehr  verschiedener  Mischung  antrift; 
sie  geben  unmittelbar  Ideen,  oder  regen  die  Empfindung  auf, 
stimmen  den  Ton  der  Seele,  oder,  wenn  der  Ausdruk  nicht  zu 
gekünstelt  scheint,  bereichern  oder  erhöhen  mehr  ihre  Kraft.  Je 
mehr  nun  die  eine  Wirkung  die  andre  zu  Hülfe  nimmt,  desto 
mehr  schwächt  sie  ihren  eignen  Eindruk.  Die  Dichtkunst  ver- 
einigt am  meisten,  und  vollständigsten  beide,  und  darum  ist  die- 
selbe auf  der  einen  Seite  die  vollkommenste  aller  schönen  Künste, 
aber  auf  der  andren  Seite  auch  die  schwächste.  Indem  sie  den 
Gegenstand  weniger  lebhaft  darstellt,  als  die  Mahlerei  und  die 
Plastik,  spricht  sie  die  Empfindung  weniger  eindringend  an,  als 
der  Gesang  und  die  Musik.  Allein  freilich  vergisst  man  diesen 
Mangel  leicht,  da  sie  —  jene  vorhinbemerkte  Vielseitigkeit  noch 
abgerechnet  —  dem  innren,  wahren  Menschen  gleichsam  am 
nächsten  tritt,  den  Gedanken,  wie  die  Empfindung,  mit  der  leich- 
testen Hülle  bekleidet. 

Die  energisch  wirkenden  sinnlichen  Empfindungen  —  denn 
nur  um  diese  zu  erläutern,  rede  ich  hier  von  Künsten  —  wirken 
wiederum  verschieden,  theils  je  nachdem  ihr  Gang  wirklich  das 
abgemessenste  Verhältniss  hat,  theils  je  nachdem  die  Bestandtheile 
selbst,  gleichsam  die  Materie,  die  Seele  stärker  ergreifen.  So 
wirkt  die  gleich  richtige  und  schöne  Menschenstimme  mehr  als 
ein  todtes  Instrument.  Nun  aber  ist  uns  nie  etwas  näher,  als  das 
eigne  körperliche  Gefühl.  Wo  also  dieses  selbst  mit  im  Spiele 
ist,  da  ist  die  Wirkung  am  höchsten.  Aber  wie  immer  die  un- 
verhältnissmässige  Stärke  der  Materie  gleichsam  die  zarte  Form 
unterdrükt;    so   geschieht   es  auch    hier    oft,   und   es   muss   also 


V  Gemeint  ist  die  berühmte  Himmelfahrt  Marias  in  der  damaligen  düssel- 
dorfer  Gallerie,  die  durch  unzählige  Nachbildungen  verbreitet  war  und  die  erst 
kürzlich  Forster  in  den  Ansichten  vom  Niederrhein  (Sämmtliche  Schriften  j,  8y) 
schwärmerisch  gepriesen  hatte. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VIII.  i6q 

zwischen  beiden  ein  richtiges  Verhältniss  sein.  Das  Gleichgewicht 
bei  einem  unrichtigen  Verhältniss  kann  hergestellt  werden  durch 
Erhöhung  der  Kraft  des  einen,  oder  Schw^ächung  der  Stärke  des 
andren.  Allein  es  ist  immer  falsch,  durch  Schwächung  zu  bilden, 
oder  die  Stärke  müsste  denn  nicht  natürlich,  sondern  erkünstelt 
sein.  Wo  sie  aber  das  nicht  ist,  da  schränke  man  sie  nie  ein. 
Es  ist  besser,  dass  sie  sich  zerstöre,  als  dass  sie  langsam  hinsterbe. 
Doch  genug  hievon.  Ich  hoffe  meine  Idee  hinlänglich  erläutert 
zu  haben,  obgleich  ich  gern  die  Verlegenheit  gestehe,  in  der  ich 
mich  bei  dieser  Untersuchung  befinde,  da  auf  der  einen  Seite 
das  Interesse  des  Gegenstandes,  und  die  Unmöglichkeit,  nur  die 
nöthigen  Resultate  aus  andren  Schriften  —  da  ich  keine  kenne, 
welche  gerade  aus  meinem  gegenwärtigen  Gesichtspunkt  ausgienge 
—  zu  entlehnen,  mich  einlud,  mich  weiter  auszudehnen ;  und  auf 
der  andren  Seite  die  Betrachtung,  dass  diese  Ideen  nicht  eigentlich 
für  sich,  sondern  nur  als  Lehnsäze,  hiehergehören,  mich  immer 
in  die  gehörigen  Schranken  zurükwies.  Die  gleiche  Entschuldi- 
gung muss  ich  auch  bei  dem  nun  Folgenden  nicht  zu  vergessen 
bitten. 

Ich  habe  bis  jezt  —  obgleich  eine  völlige  Trennung  nie 
möglich  ist  —  von  der  sinnlichen  Empfindung  nur  als  sinnlicher 
Empfindung  zu  reden  versucht.  Aber  Sinnlichkeit  und  Unsinn- 
lichkeit  verknüpft  ein  geheimnissvolles  Band,  und  wenn  es  unsrem 
Auge  versagt  ist,  dieses  Band  zu  sehen,  so  ahndet  es  unser  Gefühl. 
Dieser  zwiefachen  Natur  der  sichtbaren  und  unsichtbaren  Welt, 
dem  angebohrnen  Sehnen  nach  dieser,  und  dem  Gefühl  der 
gleichsam  süssen  Unentbehrlichkeit  jener,  danken  wir  alle,  wahr- 
haft aus  dem  Wesen  des  Menschen  entsprungene,  konsequente 
philosophische  Systeme,  so  wie  eben  daraus  auch  die  sinnlosesten 
Schwärmereien  entstehen.  Ewiges  Streben,  beide  dergestalt  zu 
vereinen,  dass  jede  so  wenig  als  möglich  der  andren  raube,  schien 
mir  immer  das  w^ahre  Ziel  des  menschlichen  Weisen.  Unver- 
kennbar ist  überall  diess  ästhetische  Gefühl,  mit  dem  uns  die 
Sinnlichkeit  Hülle  des  Geistigen,  und  das  Geistige  belebendes 
Princip  der  Sinnenweit  ist.  Das  ewige  Studium  dieser  Physiogno- 
mik der  Natur  bildet  den  eigentlichen  Menschen.  Denn  nichts 
ist  von  so  ausgebreiteter  Wirkung  auf  den  ganzen  Charakter,  als 
der  Ausdruk  des  Unsinnlichen  im  Sinnlichen,  des  Erhabnen,  des 
Einfachen,  des  Schönen  in  allen  Werken  der  Natur  und  Produkten 
der  Kunst,  die  uns  umgeben.     Und  hier  zeigt  sich  zugleich  wieder 


I-yO  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

der  Unterschied  der  energisch  wirkenden,  und  der  übrigen  sinn- 
lichen Empfindungen.  Wenn  das  lezte  Streben  alles  unsres 
menschlichsten  Bemühens  nur  auf  das  Entdekken,  Nähren,  und 
Erschaffen  des  einzig  wahrhaft  Existirenden,  obgleich  in  seiner 
Urgestalt  ewig  Unsichtbaren,  in  uns  und  andren  gerichtet  ist, 
wenn  es  allein  das  ist,  dessen  Ahndung  uns  jedes  seiner  Symbole 
so  theuer  und  heilig  macht;  so  treten  wir  ihm  einen  Schritt  näher, 
wenn  wir  das  Bild  seiner  ewig  regen  Energie  anschauen.  Wir 
reden  gleichsam  mit  ihm  in  schwerer  und  oft  unverstandner,  aber 
auch  oft  mit  der  gewissesten  Wahrheitsahndung  überraschender 
Sprache,  indess  die  Gestalt  —  wieder,  wenn  ich  so  sagen  darf, 
das  Bild  jener  Energie  —  weiter  von  der  Wahrheit  entfernt  ist. 
Auf  diesem  Boden,  wenn  nicht  allein,  doch  vorzüglich,  blüht  auch 
das  Schöne,  und  noch  weit  mehr  das  Erhabene  auf,  das  den 
Menschen  der  Gottheit  gleichsam  noch  näher  bringt.  Die  Noth- 
wendigkeit  eines  reinen,  von  allen  Zwekken  entfernten  Wohl- 
gefallens an  einem  Gegenstande,  ohne  Begritf,  bewährt  ihm  gleich- 
sam seine  Abstammung  von  dem  Unsichtbaren,  und  seine  Ver- 
wandtschaft damit;  und  das  Gefühl  seiner  Unangemessenheit  zu 
dem  überschwenglichen  Gegenstande  verbindet,  auf  die  menschlich 
göttlichste  Weise,  unendliche  Grösse  mit  hingebender  Demuth. 
Ohne  das  Schöne,  fehlte  dem  Menschen  die  Liebe  der  Dinge  um 
ihrer  selbst  willen;  ohne  das  Erhabne,  der  Gehorsam,  welcher 
jede  Belohnung  verschmäht,  und  niedrige  Furcht  nicht  kennt. 
Das  Studium  des  Schönen  gewährt  Geschmak,  des  Erhabnen  — 
wenn  es  auch  hiefür  ein  Studium  giebt,  und  nicht  Gefühl  und 
Darstellung  des  Erhabnen  allein  Frucht  des  Genies  ist  —  richtig 
abgewägte  Grösse.  Der  Geschmak  allein  aber,  dem  allemal  Grösse 
zum  Grunde  liegen  muss,  weil  nur  das  Grosse  des  Maasses,  und 
nur  das  Gewaltige  der  Haltung  bedarf,  vereint  alle  Töne  des  voll- 
gestimmten Wesens  in  eine  reizende  Harmonie.  Er  bringt  in 
alle  unsre,  auch  bloss  geistigen  Empfindungen  und  Neigungen  so 
etwas  Gemässigtes,  Gehaltnes,  auf  Einen  Punkt  hin  Gerichtetes. 
Wo  er  fehlt,  da  ist  die  sinnliche  Begierde  roh  und  ungebändigt, 
da  haben  selbst  wissenschaftliche  Untersuchungen  vielleicht  Scharf- 
sinn und  Tiefsinn,  aber  nicht  Feinheit,  nicht  Politur,  nicht 
Fruchtbarkeit  in  der  Anwendung.  Ueberhaupt  sind  ohne  ihn  die 
Tiefen  des  Geistes,  wie  die  Schäze  des  Wissens  todt  und  un- 
fruchtbar, ohne  ihn  der  Adel  und  die  Stärke  des  moralischen 
Willens  selbst  rauh  und  ohne  erwärmende  Seegenskraft. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VIII. 


171 


Forschen  und  Schaffen  —  darum  drehen  und  darauf  beziehen 
sich  wenigstens,  wenn  gleich  mittelbarer  oder  unmittelbarer,  alle 
Beschäftigungen  des  Menschen.  Das  Forschen,  wenn  es  die  Gründe 
der  Dinge,  oder  die  Schranken  der  Vernunft  erreichen  soll,  sezt, 
ausser  der  Tiefe,  einen  mannigfaltigen  Reichthum  und  eine  innige 
Erwärmung  des  Geistes,  eine  Anstrengung  der  vereinten  mensch- 
lichen Kräfte  voraus.  Nur  der  bloss  analytische  Philosoph  kann 
xäelleicht  durch  die  einfachen  Operationen  der  nicht  bloss  ruhigen, 
sondern  auch  kalten  Vernunft  seinen  Endzwek  erreichen.  Allein 
um  das  Band  zu  entdekken,  welches  synthetische  Säze  verknüpft, 
ist  eigentliche  Tiefe  und  ein  Geist  erforderlich,  welcher  allen  seinen 
Kräften  gleiche  Stärke  zu  verschaffen  gewusst  hat.  So  wird  Kants 
—  man  kann  wohl  mit  Wahrheit  sagen  —  nie  übertrotfener  Tief- 
sinn noch  oft  in  der  Moral  und  Aesthetik  der  Schwärmerei  be- 
schuldigt werden,  wie  er  es  schon  wurde,^)  und  —  wenn  mir  das 
Geständniss  erlaubt  ist  —  wenn  mir  selbst  einige,  obgleich  seltne 
Stellen  (ich  führe  hier,  als  ein  Beispiel,  die  Deutung  der  Regen- 
bogenfarben in  der  Kritik  der  Urtheilskraft  an)  -)  darauf  hinzu- 
führen scheinen ;  so  klage  ich  allein  den  Mangel  der  Tiefe  meiner 
intellektuellen  Kräfte  an.  Könnte  ich  diese  Ideen  hier  weiter  ver- 
folgen, so  würde  ich  auf  die  gewiss  äusserst  schwierige,  aber  auch 
ebenso  interessante  Untersuchung  stossen:  welcher  Unterschied 
eigentlich  zwischen  der  Geistesbildung  des  Metaphysikers  und  des 
Dichters  ist?  und  wenn  nicht  vielleicht  eine  vollständige,  wieder- 
holte Prüfung  die  Resultate  meines  bisherigen  Nachdenkens  hier- 
über wiederum  umstiesse,  so  würde  ich  diesen  Unterschied  bloss 
darauf  einschränken,  dass  der  Philosoph  sich  allein  mit  Per- 
ceptionen,  der  Dichter  hingegen  mit  Sensationen  beschäftigt,  beide 
aber  übrigens  desselben  Maasses  und  derselben  Bildung  der  Geistes- 
kräfte bedürfen.  Allein  diess  würde  mich  zu  weit  von  meinem 
gegenwärtigen  Endzwek  entfernen,  und  ich  hofl'e,  selbst  durch  die 


V  Dies  geschah  mthi  oder  weniger  direkt  nicht  nur  durch  Nicolai  und 
seinen  Kreis  in  den  philosophischen  Rezensionen  der  Allgemeinen  deutschen 
Bibliothek,  sondern  auch  von  andern  Gegnern  Kants,  z.  B.  Tittcl  („Über  Herrn 
Kants  Moralreform",  Frankfurt  imd  Leipzig  i'jSß)  und  Feder. 

^)  „So  scheint  die  weisse  Farbe  der  Lilie  das  Gemüt  zu  Ideen  der  Unschuld 
und  nach  der  Ordnung  der  sieben  Farben  von  der  roten  an  bis  zur  violetten 
i)  zur  Idee  der  Erhabenheit,  2)  der  Kühnheit,  jj  der  Freimütigkeit,  4)  der 
Freundlichkeit,  ^)  der  Bescheidenheit,  6)  der  Standhaftigkeit  und  yj  der  Zärtlich- 
keit zu  stimmen"  Kritik  der  Urteilskraft  S.  lyj. 


j»^2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

wenigen,  im  Vorigen  angeführten  Gründe  hinlänglich  bescheinigt 
zu  haben,  dass,  auch  um  den  ruhigsten  Denker  zu  bilden,  Genuss 
der  Sinne  und  der  Phantasie  oft  um  die  Seele  gespielt  haben  muss. 
Gehen  wir  aber  gar  von  transcendentalen  Untersuchungen  zu 
psychologischen  über,  wird  der  Mensch,  wie  er  erscheint,  unser 
Studium,  wie  wird  da  nicht  der  das  gestaltenreiche  Geschlecht  am 
tiefsten  erforschen,  und  am  wahrsten  und  lebendigsten  darstellen, 
dessen  eigner  Empfindung  selbst  die  wenigsten  dieser  Gestalten 
fremd  sind? 

Daher  erscheint  der  also  gebildete  Mensch  in  seiner  höchsten 
Schönheit,  wenn  er  ins  praktische  Leben  tritt,  wenn  er,  was  er  in 
sich  aufgenommen  hat,  zu  neuen  Schöpfungen  in  und  ausser  sich 
fruchtbar  macht.  Die  Analogie  zwischen  den  Gesezen  der  Pla- 
stischen Natur,  und  denen  des  geistigen  Schaffens  ist  schon  mit 
einem  warlich  unendlich  genievollen  Blikke  beobachtet,  und  mit 
treffenden  Bemerkungen  bewährt  worden.*)  Doch  vielleicht  wäre 
eine  noch  anziehendere  Ausführung  möglich  gewesen;  statt  der 
Untersuchung  unerforschbarer  Geseze  der  Bildung  des  Keims,  hätte 
die  Ps3xhologie  vielleicht  eine  reichere  Belehrung  erhalten,  wenn 
das  geistige  Schaffen  gleichsam  als  eine  feinere  Blüthe  des  körper- 
lichen Erzeugens  näher  gezeigt  worden  wäre.  Um  auch  in  dem 
moralischen  Leben  von  demjenigen  zuerst  zu  reden,  was  am 
meisten  blosses  Werk  der  kalten  Vernunft  scheint;  so  macht  es 
die  Idee  des  Erhabenen  allein  möglich,  dem  unbedingt  gebietenden 
Geseze  zwar  allerdings,  durch  das  Medium  des  Gefühls,  auf  eine 
menschliche,  und  doch,  durch  den  völligen  Mangel  der  Rüksicht 
auf  Glükseligkeit  oder  Unglük,  auf  eine  göttlich  uneigennüzige 
Weise  zu  gehorchen.  Das  Gefühl  der  Unangemessenheit  der 
menschlichen  Kräfte  zum  moralischen  Gesez,  das  tiefe  Bewusstsein, 
dass  der  Tugendhafteste  nur  der  ist,  welcher  am  innigsten  empfindet, 
w^ie  unerreichbar  hoch  das  Gesez  über  ihn  erhaben  ist,  erzeugt 
die  Achtung  —  eine  Empfindung,  welche  nicht  mehr  körperliche 
Hülle  zu  umgeben  scheint,  als  nöthig  ist,  sterbliche  Augen  nicht 
durch  den  reinen  Glanz  zu  verblenden.    Wenn  nun  das  moraHsche 


*)  F.  V.  Dalberg  vom  Bilden   und  Erfinden.') 

V  Die  Schrift  „Vom  Erfinden  und  Bilden"  erschien  Frankfurt  lygi.  Hum- 
boldt lernte  sie  wohl  durch  den  Koadjutor  Dalberg,  den  Bruder  des  Verfassers, 
kennen.  Über  den  Letzteren  orientiert  am  besten  Beaulieu-Marconnay,  Karl  von 
Dalberg  und  seine  Zeit  i,  6;  vgl.  auch  Haym,  Herder  2,  3S2. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VIII. 


173 


Gesez  jeden  Menschen,  als  einen  Zwek  in  sich  zu  betrachten 
nöthigt,  so  vereint  sich  mit  ihm  das  Schönheitsgefühl,  das  gern 
jedem  Staube  Leben  einhaucht,  um,  auch  in  ihm,  an  einer  eignen 
Existenz  sich  zu  freuen,  und  das  um  so  viel  voller  und  schöner 
den  Menschen  aufnimmt  und  umfasst,  als  es,  unabhängig  vom 
Begriff,  nicht  auf  die  kleine  Anzahl  der  Merkmale  beschränkt  ist, 
welche  der  Begriff,  und  noch  dazu  nur  abgeschnitten  und  einzeln, 
allein  zu  umfassen  vermag.  Die  Beimischung  des  Schönheits- 
gefühls scheint  der  Reinheit  des  moralischen  Willens  Abbruch  zu 
thun,  und  sie  könnte  es  allerdings,  und  würde  es  auch  in  der 
That,  wenn  diess  Gefühl  eigentlich  dem  Menschen  Antrieb  zur 
Moralität  sein  sollte.  Allein  es  soll  bloss  die  Pflicht  auf  sich 
haben,  gleichsam  mannigfaltigere  Anwendungen  für  das  moralische 
Gesez  aufzufinden,  welche  dem  kalten,  und  darum  hier  allemal 
unfeinen  Verstände  entgehen  würden,  und  das  Recht  gemessen, 
dem  Menschen  —  dem  es  nicht  verwehrt  ist,  die  mit  der  Tugend 
so  eng  verschwisterte  Glükseligkeit  zu  empfangen,  sondern  nur 
mit  der  Tugend  gleichsam  um  diese  Glükseligkeit  zu  handien  — 
die  süssesten  Gefühle  zu  gewähren.  Je  mehr  ich  überhaupt  über 
diesen  Gegenstand  nachdenken  mag,  desto  weniger  scheint  mir 
der  Unterschied,  den  ich  eben  bemerkte,  bloss  subtil,  und  vielleicht 
schwärmerisch  zu  sein.  Wie  strebend  der  Mensch  nach  Genuss 
ist,  wie  sehr  er  sich  Tugend  und  Glükseligkeit  ewig,  auch  unter 
den  ungünstigsten  Umständen,  vereint  denken  möchte ;  so  ist  doch 
auch  seine  Seele  für  die  Grösse  des  moralischen  Gesezes  empfäng- 
lich. Sie  kann  sich  der  Gewalt  nicht  erwehren,  mit  w^elcher  diese 
Grösse  sie  zu  handeln  nöthigt,  und,  nur  von  diesem  Gefühle 
durchdrungen,  handelt  sie  schon  darum  ohne  Rüksicht  auf  Genuss, 
weil  sie  nie  das  volle  Bewusstsein  verliert,  dass  die  Vorstellung 
jedes  Unglüks  ihr  kein  andres  Betragen  abnöthigen  würde.  Aber 
diese  Stärke  gewinnt  die  Seele  freilich  nur  auf  einem,  dem  ähn- 
lichen Wege,  von  w^elchem  ich  im  Vorigen  rede;  nur  durch 
mächtigen  inneren  Drang  und  mannigfaltigen  äussren  Streit.  Alle 
Stärke  —  gleichsam  die  Materie  —  stammt  aus  der  Sinnlichkeit, 
und,  w^ie  weit  entfernt  von  dem  Stamme,  ist  sie  doch  noch  immer, 
wenn  ich  so  sagen  darf,  auf  ihm  ruhend.  Wer  nun  seine  Kräfte 
unaufhörlich  zu  erhöhen,  und  durch  häufigen  Genuss  zu  verjüngen 
sucht,  wer  die  Stärke  seines  Charakters  oft  braucht,  seine  Unab- 
hängigkeit von  der  Sinnlichkeit  zu  behaupten,  wer  so  diese  Un- 
abhängigkeit mit  der  höchsten  Reizbarkeit  zu  vereinen  bemüht  ist, 


174 


Ideen  zu  einem  Versuch 


wessen  gerader  und  tiefer  Sinn  der  Wahrheit  unermüdet  nach- 
forscht, wessen  richtiges  und  feines  Schönheitsgefühl  keine  reizende 
Gestalt  unbemerkt  lässt,  wessen  Drang,  das  ausser  sich  Empfun- 
dene in  sich  aufzunehmen  und  das  in  sich  Aufgenommene  zu 
neuen  Geburten  zu  befruchten,  jede  Schönheit  in  seine  Indivi- 
dualität zu  verw^andeln,  und,  mit  jeder  sein  ganzes  Wesen  gattend, 
neue  Schönheit  zu  erzeugen  strebt,  der  kann  das  befriedigende 
Bewusstsein  nähren,  auf  dem  richtigen  Wege  zu  sein,  dem  Ideale 
sich  zu  nahen,  das  selbst  die  kühnste  Phantasie  der  Menschheit 
vorzuzeichnen  wagt. 

Ich  habe  durch  diess,  an  und  für  sich  politischen  Unter- 
suchungen ziemlich  fremdartige,  allein  in  der  v^on  mir  gewählten 
Folge  der  Ideen  nothwendige  Gemähide  zu  zeigen  versucht,  wie 
die  Sinnlichkeit,  mit  ihren  heilsamen  Folgen,  durch  das  ganze 
Leben,  und  alle  Beschäftigungen  des  Menschen  verflochten  ist. 
Ihr  dadurch  Freiheit  und  Achtung  zu  erwerben,  war  meine  Ab- 
sicht. Vergessen  darf  ich  indess  nicht,  dass  gerade  die  Sinnlich- 
keit auch  die  Quelle  einer  grossen  Menge  physischer  und  mora- 
lischer Uebel  ist.  Selbst  moralisch  nur  dann  heilsam,  wenn  sie 
in  richtigem  Verhältniss  mit  der  Uebung  der  geistigen  Kräfte  steht, 
erhält  sie  so  leicht  ein  schädliches  Uebergewicht.  Dann  wird 
menschliche  Freude  thierischer  Genuss,  der  Geschmak  verschwin- 
det, oder  erhält  unnatürliche  Richtungen.  Bei  diesem  lezteren 
Ausdruk  kann  ich  mich  jedoch  nicht  enthalten,  vorzüglich  in  Hin- 
sicht auf  gewisse  einseitige  Beurtheilungen,  noch  zu  bemerken, 
dass  nicht  unnatürlich  heissen  muss,  was  nicht  gerade  diesen  oder 
jenen  Zwek  der  Natur  erfüllt,  sondern  was  den  allgemeinen  End- 
zwek  derselben  mit  dem  Menschen  vereitelt.  Dieser  aber  ist,  dass 
sein  Wesen  sich  zu  immer  höherer  V^ollkommenheit  bilde,  und 
daher  vorzüglich,  dass  seine  denkende  und  empfindende  Ivraft, 
beide  in  verhältnissmässigen  Graden  der  Stärke,  sich  unzertrenn- 
lich vereine.  Es  kann  aber  ferner  ein  Misverhältniss  entstehen 
zwischen  der  Art,  wie  der  Mensch  seine  Kräfte  ausbildet,  und 
überhaupt  in  Thätigkeit  sezt,  und  zwischen  den  Mitteln  des 
Wirkens  und  Geniessens,  die  seine  Lage  ihm  darbietet,  und  diess 
Misverhältniss  ist  eine  neue  Quelle  von  Uebeln.  Nach  den  im 
Vorigen  ausgeführten  Grundsäzen  aber  ist  es  dem  Staat  nicht  er- 
laubt, mit  positiven  Endzwekken  auf  die  Lage  der  Bürger  zu 
wirken.  Diese  Lage  erhält  daher  nicht  eine  so  bestimmte  und 
erzwungene   Form,   und   ihre  grössere   Freiheit,   wie   dass   sie   in 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VIII. 


175 


eben  dieser  Freiheit  selbst  grösstentheils  von  der  Denkungs-  und 
Handlungsart  der  Bürger  ihre  Richtung  erhält,  vermindert  schon 
jenes  Misverhältniss.  Dennoch  könnte  indess  die,  immer  übrig- 
bleibende, warlich  nicht  unbedeutende  Gefahr  die  ^^orstellung  der 
Nothwendigkeit  erregen,  der  Sittenverderbniss  durch  Geseze  und 
Staatseinrichtungen  entgegenzukommen. 

Allein,  w^ären  dergleichen  Geseze  und  Einrichtungen  auch 
wirksam,  so  würde  nur  mit  dem  Grade  ihrer  Wirksamkeit  auch 
ihre  Schädlichkeit  steigen.  Ein  Staat,  in  welchem  die  Bürger  durch 
solche  Mittel  genöthigt,  oder  bewogen  würden,  auch  den  besten 
Gesezen  zu  folgen,  könnte  ein  ruhiger,  friedliebender,  wohlhabender 
Staat  sein ;  allein  er  würde  mir  immer  ein  Haufe  ernährter  Sklaven, 
nicht  eine  \^ereinigung  freier,  nur,  wo  sie  die  Gränze  des  Rechts 
übertreten,  gebundener  Menschen  scheinen.  Bloss  gewisse  Hand- 
lungen, Gesinnungen  hen^orzubringen,  giebt  es  freilich  sehr  viele 
Wege.  Keiner  von  allen  aber  führt  zur  w^ahren,  moralischen  Voll- 
kommenheit. Sinnliche  Antriebe  zur  Begehung  gewisser  Hand- 
lungen, oder  Nothwendigkeit  sie  zu  unterlassen  bringen  Gewohn- 
heit hervor,  durch  die  Gewohnheit  wird  das  Vergnügen,  das 
anfangs  nur  mit  jenen  Antrieben  verbunden  w^ar,  auf  die  Handlung 
selbst  übergetragen,  oder  die  Neigung,  welche  anfangs  nur  vor 
der  Nothwendigkeit  schwieg,  gänzlich  erstikt ;  so  wird  der  Mensch 
zu  tugendhaften  Handlungen,  gewissermaassen  auch  zu  tugend- 
haften Gesinnungen  geleitet.  Allein  die  Kraft  seiner  Seele  wird 
dadurch  nicht  erhöht;  weder  seine  Ideen  über  seine  Bestimmung 
und  seinen  Werth  erhalten  dadurch  mehr  Aufklärung,  noch  sein 
Wille  mehr  Kraft,  die  herrschende  Neigung  zu  besiegen ;  an  wahrer, 
eigentlicher  Vollkommenheit  gewinnt  er  folglich  nichts.  Wer  also 
Menschen  bilden,  nicht  zu  äussren  Zwekken  ziehn  will,  wird  sich 
dieser  Mittel  nie  bedienen.  Denn  abgerechnet,  dass  Zwang  und 
Leitung  nie  Tugend  hervorbringen:  so  schwächen  sie  auch  noch 
immer  die  Ivraft.  Was  sind  aber  Sitten  ohne  moralische  Stärke 
und  Tugend.'  Und  wie  gross  auch  das  Uebel  des  Sittenverderb- 
nisses  sein  mag,  es  ermangelt  selbst  der  heilsamen  Folgen  nicht. 
Durch  die  Extreme  müssen  die  Menschen  zu  der  Weisheit  und 
Tugend  mittlerem  Pfad  ^)  gelangen.  Extreme  müssen ,  gleich 
grossen,  in  die  Ferne  leuchtenden  Massen,  weit  wirken.    Um  den 


V  Den    Ursprung  dieses  offenbar  poetischen  Zitats,  das  wohl  Schluß  und 
Anfang  zweier  Hexameter  bildet,  habe  ich  nicht  ermitteln  können. 


jnß  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

feinsten  Adern  des  Körpers  Blut  zu  verschaffen,  muss  eine  be- 
trächtliche Menge  in  den  grossen  vorhanden  sein.  Hier  die  Ord- 
nung der  Natur  stören  wollen,  heisst  moralisches  Uebel  anrichten, 
um  physisches  zu  verhüten. 

Es  ist  aber  auch,  meines  Erachtens,  unrichtig,  dass  die  Gefahr 
des  Sittenverderbnisses  so  gross  und  dringend  sei;  und  so  manches 
auch  schon  zu  Bestätigung  dieser  Behauptung  im  Vorigen  gesagt 
worden  ist,  so  mögen  doch  noch  folgende  Bemerkungen  dazu 
dienen,  sie  ausführlicher  zu  beweisen: 

I.,  Der  Mensch  ist  an  sich  mehr  zu  wohlthätigen,  als  eigen- 
nüzigen  Handlungen  geneigt.  Diess  zeigt  sogar  die  Geschichte 
der  Wilden.  Die  häuslichen  Tugenden  haben  so  etwas  Freund- 
liches, die  öffentlichen  des  Bürgers  so  etwas  Grosses  und  Hin- 
reissendes, dass  auch  der  bloss  unverdorbene  Mensch  ihrem  Reiz 
selten  widersteht. 

2.,  Die  Freiheit  erhöht  die  Kraft,  und  führt,  wie  immer  die 
grössere  Stärke,  allemal  eine  Art  der  Liberalität  mit  sich.  Zwang 
erstikt  die  Kraft,  und  führt  zu  allen  eigennüzigen  Wünschen, 
und  allen  niedrigen  Kunstgriffen  der  Schwäche.  Zwang  hindert 
vielleicht  manche  Vergehung,  raubt  aber  selbst  den  gesezmässigen 
Handlungen  von  ihrer  Schönheit.  Freiheit  veranlasst  vielleicht 
manche  Vergehung,  giebt  aber  selbst  dem  Laster  eine  minder  un- 
edle Gestalt. 

3.,  Der  sich  selbst  überlassene  Mensch  kommt  schwerer  auf 
richtige  Grundsäze,  allein  sie  zeigen  sich  unaustilgbar  in  seiner 
Handlungsweise.  Der  absichtlich  geleitete  empfängt  sie  leichter, 
aber  sie  weichen,  auch  sogar  seiner,  doch  geschwächten  Energie. 
4.,  Alle  Staatseinrichtungen,  indem  sie  ein  mannigfaltiges  und 
sehr  verschiednes  Interesse  in  eine  Einheit  bringen  sollen,  ver- 
ursachen vielerlei  Kollisionen.  Aus  den  Kollisionen  entstehen 
Misverhältnisse  zwischen  dem  Verlangen  und  dem  Vermögen  der 
Menschen;  und  aus  diesen  Vergehungen.  Je  müssiger  also  — 
wenn  ich  so  sagen  darf  —  der  Staat,  desto  geringer  die  Anzahl 
dieser.  Wäre  es,  vorzüglich  in  gegebenen  Fällen,  möglich,  genau 
die  Uebel  aufzuzählen,  welche  Polizeieinrichtungen  veranlassen, 
und  welche  sie  verhüten,  die  Zahl  der  ersteren  würde  allemal 
grösser  sein. 

5.,  Wieviel  strenge  Aufsuchung  der  wirklich  begangenen 
Verbrechen,  gerechte   und  wohl   abgemessene,  aber  unerlassliche 


die   Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     VIII.   IX. 


177 


Strafe,  folglich  seltne  Straflosigkeit  vermag,  ist  praktisch  noch  nie 
hinreichend  versucht  worden. 

Ich  glaube  nunmehr  für  meine  Absicht  hinlänglich  gezeigt 
zu  haben,  wie  bedenklich  jedes  Bemühen  des  Staats  ist,  irgend 
einer  —  nur  nicht  unmittelbar  fremdes  Recht  kränkenden  —  Aus- 
schweifung der  Sitten  entgegen,  oder  gar  zuvorzukommen,  wie 
wenig  davon  insbesondre  heilsame  Folgen  auf  die  Sittlichkeit 
selbst  zu  erwarten  sind,  und  wie  ein  solches  Wirken  auf  den 
Charakter  der  Nation  selbst  zur  Erhaltung  der  Sicherheit  nicht 
nothvv'endig  ist.  Nimmt  man  nun  noch  hiezu  die  im  Anfange 
dieses  Aufsazes  entwikkelten  Gründe,  welche  jede  auf  positive 
Zwekke  gerichtete  Wirksamkeit  des  Staats  misbilligen,  und  die 
hier  um  so  mehr  gelten,  als  gerade  der  moralische  Mensch  jede 
Einschränkung  am  tiefsten  fühlt;  und  vergisst  man  nicht,  dass, 
wenn  irgend  eine  Art  der  Bildung  der  Freiheit  ihre  höchste 
Schönheit  dankt,  diess  gerade  die  Bildung  der  Sitten  und  des 
Charakters  ist;  so  dürfte  die  Richtigkeit  des  folgenden  Grundsazes 
keinem  weiteren  Zweifel  unterworfen  sein,  des  Grundsazes  nemlich : 
dass  der  Staat  sich  schlechterdings  alles  Bestrebens, 
direkt  oder  indirekt  auf  die  Sitten  und  den  Charakter 
der  Nation  anders  zu  wirken,  als  insofern  diess  als 
eine  natürliche,  von  selbst  entstehende  Folge  seiner 
übrigen  schlechterdings  noth wendigen  Maassregeln 
unvermeidlich  ist,  gänzlich  enthalten  müsse,  und 
dass  alles,  was  diese  Absicht  befördern  kann,  vor- 
züglich alle  besondre  Aufsicht  auf  Erziehung,  Re- 
ligionsanstalten, Luxusgeseze  u.  s.  f.  schlechterdings 
ausserhalb  der  Schranken  seiner  Wirksamkeit   liege. 


IX. 

Nachdem  ich  jezt  die  w^ichtigsten  und  schwierigsten  Theile 
der  gegenwärtigen  Untersuchung  geendigt  habe,  und  ich  mich 
nun  der  völligen  Auflösung  der  vorgelegten  Frage  nähere;  ist  es 
nothwendig,  wiederum  einmal  einen  Blik  zurük  auf  das,  bis  hieher, 
entwikkelte  Ganze  zu  werfen.  Zuerst  ist  die  Sorgfalt  des  Staats 
von  allen  denjenigen  Gegenständen  entfernt  worden,  welche  nicht 
zur  Sicherheit  der  Bürger,  der  auswärtigen  sowohl  als  der  inner- 
lichen, gehören.    Dann   ist   eben   diese  Sicherheit,  als   der  eigent- 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  12 


j-yg  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

liehe  Gegenstand  der  Wirksamkeit  des  Staats  dargestellt,  und  end- 
lich das  Princip  festgesezt  worden,  dass,  um  dieselbe  zu  befördern 
und  zu  erhalten,  nicht  auf  die  Sitten  und  den  Charakter  der  Nation 
selbst  zu  wirken,  diesem  eine  bestimmte  Richtung  zu  geben,  oder 
zu  nehmen,  versucht  werden  dürfe.  Gewissermaassen  könnte 
daher  die  Frage:  in  welchen  Schranken  der  Staat  seine  Wirk- 
samkeit halten  müsse?  schon  vollständig  beantwortet  scheinen, 
indem  diese  Wirksamkeit  auf  die  Erhaltung  der  Sicherheit,  und 
in  Absicht  der  Mittel  hiezu  noch  genauer  auf  diejenigen  einge- 
schränkt ist,  welche  sich  nicht  damit  befassen,  die  Nation  zu  den 
Endzwekken  des  Staats  gleichsam  bilden,  oder  vielmehr  ziehen  zu 
wollen.  Denn  wenn  diese  Bestimmung  gleich  nur  negativ  ist;  so 
zeigt  sich  doch  das,  was,  nach  geschehener  Absonderung,  übrig 
bleibt,  von  selbst  deutlich  genug.  Der  Staat  wird  nemlich  allein 
sich  auf  Handlungen,  welche  unmittelbar  und  geradezu  in  fremdes 
Recht  eingreifen,  ausbreiten,  nur  das  streitige  Recht  entscheiden, 
das  verlezte  wiederherstellen,  und  die  Verlezer  bestrafen  dürfen. 
Allein  der  Begriff  der  Sicherheit,  zu  dessen  näherer  Bestimmung 
bis  jezt  nichts  andres  gesagt  ist,  als  dass  von  der  Sicherheit  vor 
auswärtigen  Feinden,  und  vor  Beeinträchtigungen  der  Mitbürger 
selbst  die  Rede  sei,  ist  zu  weit,  und  vielumfassend,  um  nicht  einer 
genaueren  Auseinandersezung  zu  bedürfen.  Denn  so  verschieden 
auf  der  einen  Seite  die  Nuancen  von  dem  bloss  Ueberzeugung 
beabsichtenden  Rath  zur  zudringlichen  Empfehlung,  und  von  da 
zum  nöthigenden  Zwange,  und  eben  so  verschieden  und  vielfach 
die  Grade  der  Unbilligkeit  oder  Ungerechtigkeit  von  der,  inner- 
halb der  Schranken  des  eignen  Rechts  ausgeübten,  aber  dem 
andren  möglicherweise  schädlichen  Handlung  bis  zu  der,  gleich- 
falls sich  nicht  aus  jenen  Schranken  entfernenden,  aber  den  andren 
im  Genüsse  seines  Eigenthums  sehr  leicht,  oder  immer  störenden, 
und  von  da  bis  zu  einem  wirklichen  Eingriff  in  fremdes  Eigen- 
thum  sind;  ebenso  verschieden  ist  auch  der  Umfang  des  Begriffs 
der  Sicherheit,  indem  man  darunter  Sicherheit  vor  einem  solchen, 
oder  solchen  Grade  des  Zwanges,  oder  einer  so  nah,  oder  so  fern 
das  Recht  kränkenden  Handlung  verstehn  kann.  Gerade  aber 
dieser  Umfang  ist  von  überaus  grosser  Wichtigkeit,  und  wird  er 
zu  weit  ausgedehnt,  oder  zu  eng  eingeschränkt;  so  sind  wiederum, 
wenn  gleich  unter  andren  Namen,  alle  Gränzen  vermischt.  Ohne 
eine  genaue  Bestimmung  jenes  Umfangs  also  ist  an  eine  Berich- 
tigung dieser  Gränzen  nicht  zu  denken.     Dann   müssen   auch   die 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    IX.  j-yg 

Mittel,  deren  sich   der  Staat   bedienen   darf,  oder   nicht,  noch   bei 
weitem   genauer    auseinandergesezt    und    geprüft  werden.      Denn 
wenn  gleich  ein  auf  die  \wkliche  Umformung  der  Sitten   gerich- 
tetes   Bemühen    des    Staats ,    nach    dem    Vorigen ,    nicht    rathsam 
scheint:  so  ist  hier  doch  noch  für  die  Wirksamkeit  des  Staats  ein 
viel   zu   unbestimmter   Spielraum    gelassen,   und  z.  B.   die   Frage 
noch  sehr  w^enig   erönert,  wie  weit   die   einschränkenden  Geseze 
des  Staats  sich  von  der,  unmittelbar  das  Recht  andrer  beleidigenden 
Handlung    entfernen.'    inwiefern    derselbe    wirkliche    Verbrechen 
durch   Verstopfung   ihrer   Quellen ,   nicht   in    dem    Charakter  der 
Bürger,  aber  in  den  Gelegenheiten  der  Ausübung  verhüten   darf.^ 
Wie  sehr  aber,  und  mit  w*ie   grossem  Nachtheile   hierin  zu   weit 
gegangen  werden  kann,  ist  schon   daraus   klar,  dass   gerade  Sorg- 
falt für  die  Freiheit  mehrere  gute  Köpfe  vermocht  hat,  den  Staat 
für  das  Wohl   der  Bürger  überhaupt  verantwortlich  zu   machen, 
indem  sie  glaubten,   dass   dieser  allgemeinere   Gesichtspunkt  die 
ungehemmte  Thätigkeit  der  Kräfte   befördern   würde.     Diese  Be- 
trachtungen nöthigen  mich  daher  zu  dem  Geständniss,  bis  hieher 
mehr  grosse,  und   in   der  That  ziemlich   sichtbar  ausserhalb   der 
Schranken  der  Wirksamkeit  des  Staats  liegende  Stükke  abgesondert, 
als  die  genaueren  Gränzen,  und  gerade  da,  w^o  sie  zweifelhaft  und 
streitig  scheinen  konnten,  bestimmt   zu   haben.     Diess   bleibt   mir 
jezt  zu  thun  übrig,  und  sollte  es  mir  auch  selbst  nicht  völlig   ge- 
lingen, so  glaube  ich  doch  w^enigstens  dahin   streben  zu   müssen, 
die   Gründe    dieses   Mislingens,    so    deutlich    und  vollständig    als 
möglich,  darzustellen.     Auf  jeden  Fall   aber  hoffe    ich,  mich   nun 
sehr  kurz   fassen  zu   können,   da   alle   Grundsäze,   deren   ich    zu 
dieser  Arbeit  bedarf,  ^chon  im  Vorigen  —  wenigstens  so   viel   es 
meine  Kräfte  erlaubten  —  erörtert  und   bewiesen   worden   sind. 
Sicher  nenne   ich   die  Bürger   in   einem  Staat,  w^enn   sie   in 
der  Ausübung   der  ihnen  zustehenden   Rechte,   dieselben   mögen 
nun  ihre  Person,  oder  ihr  Eigenthum  betreffen,  nicht  durch  fremde 
Eingriffe  gestört  werden;  Sicherheit  folglich  —  wenn  der  Aus- 
druk   nicht  zu  kurz,  und  vielleicht  dadurch  undeutlich  scheint  — 
Gewissheit   der   gesezmässigen   Freiheit.     Diese  Sicher- 
heit wird   nun   nicht    durch    alle    diejenigen  Handlungen    gestört, 
welche   den   Menschen   an   irgend   einer  Thätigkeit   seiner  Kräfte, 
oder  irgend   einem   Genuss    seines  Vermögens    hindern,   sondern 
nur  durch  solche,  w^elche  diess  widerrechtlich  thun.     Diese  Be- 
stimmung, so  wie  die  obige  Definition,  ist  nicht  willkührlich  von  mir 

12* 


l^Q  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

hinzugefügt,  oder  gewählt  worden.  Beide  fliessen  unmittelbar  aus 
dem  oben  entwikkelten  Raisonnement.  Nur  wenn  man  dem  Aus- 
drukke  der  Sicherheit  diese  Bedeutung  unterlegt,  kann  jenes  An- 
wendung finden.  Denn  nur  wirkliche  Verlezungen  des  Rechts 
bedürfen  einer  andren  Macht,  als  die  ist,  welche  jedes  Individuum 
besizt;  nur  was  diese  Verlezungen  verhindert,  bringt  der  wahren 
Menschenbildung  reinen  Gewinn,  indess  jedes  andre  Bemühen 
des  Staats  ihr  gleichsam  Hindernisse  in  den  Weg  legt;  nur  das 
endlich  fliesst  aus  dem  untrüglichen  Princip  der  Nothwendig- 
keit,  da  alles  andre  bloss  auf  den  unsichren  Grund  einer,  nach 
täuschenden  Wahrscheinlichkeiten  berechneten  Nüzlichkeit  ge- 
baut ist. 

Diejenigen,  deren  Sicherheit  erhalten  werden  muss,  sind  auf 
der  einen  Seite  alle  Bürger,  in  völliger  Gleichheit,  auf  der  andren 
der  Staat  selbst.  Die  Sicherheit  des  Staats  selbst  hat  ein  Objekt 
von  grösserem  oder  geringerem  Umfange,  je  weiter  man  seine 
Rechte  ausdehnt,  oder  je  enger  man  sie  beschränkt,  und  daher 
hängt  hier  die  Bestimmung  von  der  Bestimmung  des  Zweks  der- 
selben ab.  Wie  ich  nun  diese  hier  bis  jezt  versucht  habe,  dürfte 
er  für  nichts  andres  Sicherheit  fordern  können,  als  für  die  Gewalt, 
welche  ihm  eingeräumt,  und  das  Vermögen,  welches  ihm  zuge- 
standen worden.  Hingegen  Handlungen  in  Hinsicht  auf  diese 
Sicherheit  einschränken,  wodurch  ein  Bürger,  ohne  eigentliches 
Recht  zu  kränken  —  und  folglich  vorausgesezt,  dass  er  nicht  in 
einem  besondren  persönlichen,  oder  temporellen  Verhältnisse  mit 
dem  Staat  stehe,  wie  z.  B.  zur  Zeit  eines  Krieges  —  sich  oder 
sein  Eigenthum  ihm  entzieht,  könnte  er  nicht.  Denn  die  Staats- 
vereinigung ist  bloss  ein  untergeordnetes  Mittel,  weichem  der 
wahre  Zwek,  der  Mensch,  nicht  aufgeopfert  werden  darf,  es 
müsste  denn  der  Fall  einer  solchen  Kollision  eintreten,  dass,  wenn 
auch  der  Einzelne  nicht  verbunden  wäre,  sich  zum  Opfer  zu 
geben,  doch  die  Menge  das  Recht  hätte,  ihn  als  Opfer  zu  nehmen. 
Ueberdiess  aber  darf,  den  entwikkelten  Grundsäzen  nach,  der  Staat 
nicht  für  das  Wohl  der  Bürger  sorgen,  und  um  ihre  Sicherheit 
zu  erhalten,  kann  das  nicht  nothwendig  sein,  was  gerade  die 
Freiheit  und  mithin  auch  die  Sicherheit  aufhebt. 

Gestört  wird  die  Sicherheit  entweder  durch  Handlungen,  welche 
an  und  für  sich  in  fremdes  Recht  eingreifen,  oder  durch  solche, 
von  deren  Folgen  nur  diess  zu  besorgen  ist.  Beide  Gattungen 
der  Handlungen  muss  der  Staat,  jedoch  mit  Modifikationen,  welche 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     IX.  X.  j§j 

gleich  der  Gegenstand  der  Untersuchung  sein  werden,  verbieten, 
zu  verhindern  suchen;  wenn  sie  geschehen  sind,  durch  rechtlich 
bewirkten  Ersaz  des  angerichteten  Schadens,  soviel  es  möglich  ist, 
unschädlich,  und,  durch  Bestrafung,  für  die  Zukunft  seltner  zu 
machen  bemüht  sein.  Hieraus  entspringen  Polizei-  Ci\il-  und 
Kriminalgeseze,  um  den  gew^öhnlichen  Ausdrükken  treu  zu  bleiben. 
Hiezu  kom.mt  aber  noch  ein  andrer  Gegenstand,  welcher,  seiner 
eigenthümlichen  Natur  nach,  eine  völlig  eigne  Behandlung  verdient. 
Es  giebt  nemlich  eine  Klasse  der  Bürger,  auf  welche  die  im 
Vorigen  entv^'ikkelten  Grundsäze,  da  sie  doch  immer  den  Menschen 
in  seinen  gewöhnlichen  Ivräften  voraussezen,  nur  mit  manchen 
Verschiedenheiten  passen,  ich  meine  diejenigen,  welche  noch  nicht 
das  Alter  der  Reife  erlangt  haben,  oder  welche  ^^errüktheit  oder 
Blödsinn  des  Gebrauchs  ihrer  menschlichen  Kräfte  beraubt.  Für 
die  Sicherheit  dieser  muss  der  Staat  gleichfalls  Sorge  tragen,  und 
ihre  Lage  kann,  wie  sich  schon  voraussehen  lässt,  leicht  eine  eigne 
Behandlung  erfordern.  Es  muss  also  noch  zulezt  das  A'erhältniss 
betrachtet  w^erden,  in  w^elchem  der  Staat,  —  wie  man  sich  auszu- 
drukken  pflegt  —  als  Ober  Vormund,  zu  allen  Unmündigen  unter 
den  Bürgern  steht.  So  glaube  ich  —  da  ich  von  der  Sicherheit 
gegen  auswärtige  Feinde  wohl,  nach  dem  im  Vorigen  Gesagten, 
nichts  mehr  hinzuzusezen  brauche  —  die  Aussenlinien  aller  Gegen- 
stände gezeichnet  zu  haben,  auf  w^elche  der  Staat  seine  Aufmerk- 
samkeit richten  muss.  Weit  entfernt  nun  in  alle,  hier  genannte, 
so  weitläuftige  und  schwierige  Materien  irgend  tief  eindringen  zu 
wollen,  werde  ich  mich  begnügen,  bei  einer  jeden,  so  kurz  als 
möglich,  die  höchsten  Grundsäze,  insofern  sie  die  gegenwärtige 
Untersuchung  angehen,  zu  entwikkeln.  Erst  wenn  diess  geschehen 
ist,  wird  auch  nur  der  Versuch  vollendet  heissen  können,  die  vor- 
gelegte Frage  gänzlich  zu  erschöpfen,  und  die  Wirksamkeit  des 
Staats  von  allen  Seiten  her  mit  den  gehörigen  Grenzen  zu  um- 
schliessen. 


X. 

Um  —  wie  es  jezt  geschehen  muss  —  dem  Menschen  durch 
alle  die  mannigfaltigen  Verhältnisse  des  Lebens  zu  folgen,  wird 
es  gut  sein,  bei  demjenigen  zuerst  anzufangen,  welches  unter  allen 
das  einfachste  ist,  bei  dem  Falle  nemlich,  wo  der  Mensch,  wenn 
gleich    in  Verbindung   mit   andren   lebend,   doch   völlig   innerhalb 


j§2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

der  Schranken  seines  Eigenthums  bleibt,  und  nichts  vornimmt, 
was  sich  unmittelbar  und  geradezu  auf  andre  bezieht,  ^^on  diesem 
Fall  handeln  die  meisten  der  sogenannten  Polizeigeseze.  Denn  so 
schwankend  auch  dieser  Ausdruk  ist;  so  ist  dennoch  wohl  die 
wichtigste  und  allgemeinste  Bedeutung  die,  dass  diese  Geseze,  ohne 
selbst  Handlungen  zu  betreifen,  wodurch  fremdes  Recht  unmittel- 
bar gekränkt  wird,  nur  von  Mitteln  reden,  dergleichen  Kränkungen 
vorzubeugen;  sie  mögen  nun  entweder  solche  Handlungen  be- 
schränken, deren  Folgen  selbst  dem  fremden  Rechte  leicht  gefähr- 
lich werden  können,  oder  solche,  welche  gewöhnlich  zu  Ueber- 
tretungen  der  Geseze  führen,  oder  endlich  dasjenige  bestimmen, 
was  zur  Erhaltung  oder  Ausübung  der  Gewalt  des  Staats  selbst 
nothwendig  ist.  Dass  auch  diejenigen  Verordnungen,  welche  nicht 
die  Sicherheit,  sondern  das  Wohl  der  Bürger  zum  Zwek  haben, 
ganz  vorzüglich  diesen  Namen  erhalten,  übergehe  ich  hier,  weil 
es  nicht  zu  meiner  Absicht  dient.  Den  im  Vorigen  festgesezten 
Principien  zufolge,  darf  nun  der  Staat  hier,  in  diesem  einfachen 
Verhältnisse  des  Menschen,  nichts  weiter  verbieten,  als  was  mit 
Grunde  Beeinträchtigung  seiner  eignen  Rechte,  oder  der  Rechte 
der  Bürger  besorgen  lässt.  Und  zwar  muss  in  Absicht  der  Rechte 
des  Staats  hier  dasjenige  angewandt  werden,  was  von  dem  Sinne 
dieses  Ausdruks  so  eben  allgemein  erinnert  worden  ist.  Nirgends 
also,  wo  der  Vortheil  oder  der  Schade  nur  den  Eigenthümer 
allein  trift,  darf  der  Staat  sich  Einschränkungen  durch  Prohibitiv- 
Geseze  erlauben.  Allein  es  ist  auch  zur  Rechtfertigung  solcher 
Einschränkungen  nicht  genug,  dass  irgend  eine  Handlung  einem 
andren  bloss  Abbruch  thue ;  sie  muss  auch  sein  Recht  schmälern. 
Diese  zweite  BestimmiUng  erfordert  also  eine  weitere  Erklärung. 
Schmälerung  des  Rechts  nemhch  ist  nur  überall  da,  wo  jemandem, 
ohne  seine  Einwilligung,  oder  gegen  dieselbe,  ein  Theil  seines 
Eigenthums,  oder  seiner  persönlichen  Freiheit  entzogen  wird.  Wo 
hingegen  keine  solche  Entziehung  geschieht,  wo  nicht  der  eine 
gleichsam  in  den  Kreis  des  Rechts  des  andren  eingreift,  da  ist, 
welcher  Nachtheil  auch  für  ihn  entstehen  möchte,  keine  Schmäle- 
rung der  Befugnisse.  Ebensowenig  ist  diese  da,  wo  selbst  der 
Nachtheil  nicht  eher  entsteht,  als  bis  der,  welcher  ihn  leidet,  auch 
seinerseits  thätig  wird,  die  Handlung  —  um  mich  so  auszudrukken 
—  auffasst,  oder  wenigstens  der  Wirkung  derselben  nicht,  wie  er 
könnte,  entgegenarbeitet. 

Die  Anwendung  dieser  Bestimmungen  ist  von  selbst  klar ;  ich 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     X.  j^o 

erinnere  nur  hier  an  ein  Paar  merkwürdige  Beispiele.  Es  fällt 
nemlich,  diesen  Grundsäzen  nach,  schlechterdings  alles  weg,  was 
man  von  Aergerniss  erregenden  Handlungen  in  Absicht  auf  Reli- 
gion und  Sitten  besonders  sagt.  Wer  Dinge  äussert,  oder  Hand- 
lungen vornimmt,  welche  das  Gewissen  und  die  Sittlichkeit  des 
andren  beleidigen,  mag  allerdings  unmoralisch  handeln,  allein,  so 
fern  er  sich  keine  Zudringlichkeit  zu  Schulden  kommen  lässt, 
kränkt  er  kein  Recht.  Es  bleibt  dem  andren  unbenommen,  sich 
von  ihm  zu  entfernen,  oder  macht  die  Lage  diess  unmöglich,  so 
trägt  er  die  unvermeidliche  Unbequemlichkeit  der  Verbindung  mit 
ungleichen  Charakteren,  und  darf  nicht  vergessen,  dass  vielleicht 
auch  jener  durch  den  Anblik  von  Seiten  gestört  wird,  die  ihm 
eigenthümlich  sind,  da,  auf  wessen  Seite  sich  das  Recht  befinde? 
immer  nur  da  wichtig  ist,  wo  es  nicht  an  einem  Rechte  zu  ent- 
scheiden fehlt.  Selbst  der  doch  gewiss  weit  schlimmere  Fall,  wenn 
der  Anblik  dieser  oder  jener  Handlung,  das  Anhören  dieses  oder 
jenen  Raisonnements  die  Tugend  oder  die  Vernunft  und  den  ge- 
sunden Verstand  andrer  verführte,  würde  keine  Einschränkung 
der  Freiheit  erlauben.  Wer  so  handelte,  oder  sprach,  beleidigte 
dadurch  an  sich  niemandes  Recht,  und  es  stand  dem  andern  frei, 
dem  üblen  Eindruk  bei  sich  selbst  Stärke  des  Willens,  oder  Gründe 
der  Vernunft  entgegenzusezen.  Daher  denn  auch,  wie  gross  sehr 
oft  das  hieraus  entspringende  Uebel  sein  mag,  wiederum  auf  der 
andren  Seite  nie  der  gute  Erfolg  ausbleibt,  dass  in  diesem  Fall 
die  Stärke  des  Charakters,  in  dem  vorigen  die  Toleranz  und  die 
Vielseitigkeit  der  Ansicht  geprüft  wird,  und  gewinnt.  Ich  brauche 
hier  wohl  nicht  zu  erinnern,  dass  ich  an  diesen  Fällen  hier  nichts 
weiter  betrachte,  als  ob  sie  die  Sicherheit  der  Bürger  stören? 
Denn  ihr  Verhältniss  zur  Sittlichkeit  der  Nation,  und  was  dem 
Staat  in  dieser  Hinsicht  erlaubt  sein  kann,  oder  nicht?  habe  ich 
schon  im  Vorigen  auseinanderzusezen  versucht. 

Da  es  indess  mehrere  Dinge  giebt,  deren  Beurtheilung  positive, 
nicht  jedem  eigne  Kenntnisse  erfordert,  und  wo  daher  die  Sicher- 
heit gestört  werden  kann,  wenn  jemand  vorsäzlicher  oder  unbe- 
sonnener Welse  die  Unwissenheit  andrer  zu  seinem  \'ortheile  be- 
nuzt; so  muss  es  den  Bürgern  frei  stehen,  in  diesen  Fällen  den 
Staat  gleichsam  um  Rath  zu  fragen.  Vorzüglich  auffallende  Bei- 
spiele hievon  geben,  theils  wegen  der  Häufigkeit  des  Bedürfnisses, 
theils  wegen  der  Schwierigkeit  der  Beurtheilung  und  endlich  wegen 
der  Grösse  des  zu  besorgenden  Nachtheils,  Aerzte,  und  zum  Dienst 


184  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

der  Partheien  bestimmte  Rechtsgelehrte   ab.     Um   nun   in   diesen 
Fällen   dem  Wunsche   der  Nation  zuvorzukommen,   ist  es   nicht 
bloss  rathsam,  sondern  sogar  nothwendig,  dass  der  Staat  diejenigen, 
welche  sich  zu  solchen  Geschäften  bestimmen  —  insofern  sie  sich 
einer  Prüfung  unterwerfen  wollen  —  prüfe,  und,  wenn  die  Prüfung 
gut  ausfällt,   mit   einem  Zeichen  der  Geschiklichkeit  versehe,   und 
nun  den  Bürgern  bekannt  mache,  dass  sie  ihr  Vertrauen  nur  den- 
jenigen gewiss  schenken  können,  welche  auf  diese  Weise  bewährt 
gefunden  worden  sind.    Weiter  aber   dürfte   er  auch   nie   gehen, 
nie  weder  denen,  welche  entweder  die  Prüfung  ausgeschlagen,  oder 
in   derselben   unterlegen,   die   Uebung   ihres    Geschäfts,   noch   der 
Nation  den  Gebrauch  derselben  untersagen.    Dann  dürfte  er  der- 
gleichen Veranstaltungen  auch  auf  keine  andre  Geschäfte  ausdehnen, 
als  auf  solche,  wo  einmal  nicht  auf  das  Innere,   sondern   nur   auf 
das  Aeussere  des  Menschen  gewirkt  werden  soll,  wo   dieser  folg- 
lich nicht  selbst  mitwirkend,  sondern  nur  folgsam  und  leidend  zu 
sein  braucht,    und  wo   es   demnach   nur  auf  die  Wahrheit   oder 
Falschheit  der  Resultate  ankommt;  und  wo  zweitens  die  Beurthei- 
lung  Kenntnisse  voraussezt,  die  ein  ganz  abgesondertes  Gebiet  für 
sich    ausmachen,    nicht   durch   Uebung   des  Verstandes,    und    der 
praktischen  Urtheilskraft  erworben  werden,   und   deren  Seltenheit 
selbst    das   Rathfragen    erschwert.     Handelt   der  Staat  gegen   die 
leztere  Bestimmung,  so  geräth  er  in  Gefahr,  die  Nation  träge,  un- 
thätig,  immer  vertrauend  auf  fremde  Kenntniss  und  fremden  Willen 
zu  machen,  da  gerade  der  Mangel  sicherer,  bestimmter  Hülfe  so- 
wohl zu  Bereicherung  der  eigenen  Erfahrung  und  Kenntniss  mehr 
anspornt,  als  auch  die  Bürger  unter  einander  enger  und   mannig- 
faltiger verbindet,  indem  sie  mehr  einer  von  dem  Rathe  des  andren 
abhängig  sind.     Bleibt  er  der  ersteren  Bestimmung  nicht  getreu; 
so  entspringen,  neben  dem  ebenerwähnten,  noch  alle,  im  Anfange 
dieses  Aufsazes   weiter   ausgeführte   Nachtheile.      Schlechterdings 
müsste  daher  eine  solche  Veranstaltung  wegfallen,   um  auch   hier 
wiederum   ein   merkwürdiges   Beispiel  zu  wählen,   bei  Religions- 
lehrern.   Denn  was  sollte  der  Staat  bei  ihnen  prüfen  ?    Bestimmte 
Säze  —  davon  hängt,  wie  oben  genauer  gezeigt  ist,   die  Religion 
nicht  ab;  das  Maass  der  intellektuellen  Kräfte  überhaupt  —  allein 
bei  dem  Religionslehrer,  welcher  bestimmt  ist,  Dinge  vorzutragen, 
die  in  so  genauem  Zusammenhange   mit   der  Individualität  seiner 
Zuhörer  stehen,  kommt  es  beinah  einzig  auf  das  Verhältniss  seines 
Verstandes  zu  dem  Verstände  dieser  an,   und   so  wird   schon  da- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     X. 


185 


durch  die  Beurtheilung  unmöglich ;  die  Rechtschaffenheit  und  den 
Charakter  —  allein  dafür  giebt  es  keine  andre  Prüfung,  als  gerade 
eine  solche,  zu  welcher  die  Lage  des  Staats  sehr  unbequem  ist, 
Erkundigung  nach  den  Umständen,  dem  bisherigen  Betragen  des 
Menschen  u.  s.  f.  Endlich  müsste  überhaupt,  auch  in  den  oben 
von  mir  selbst  gebilligten  Fällen,  eine  Veranstaltung  dieser  Art 
doch  nur  immer  da  gemacht  werden,  wo  der  nicht  zw^eifelhafte 
Wille  der  Nation  sie  forderte.  Denn  an  sich  ist  sie  unter  freien, 
durch  Freiheit  selbst  kultivirten  Menschen  nicht  einmal  noth- 
wendig,  und  immer  könnte  sie  doch  manchem  Misbrauch  unter- 
worfen sein.  Da  es  mir  überhaupt  hier  nicht  um  Ausführung 
einzelner  Gegenstände,  sondern  nur  um  Bestimmung  der  Grund- 
säze  zu  thun  ist,  so  will  ich  noch  einmal  kurz  den  Gesichtspunkt 
angeben,  aus  welchem  allein  ich  einer  solchen  Einrichtung  er- 
wähnte. Der  Staat  soll  nemlich  auf  keine  Weise  für  das  positive 
Wohl  der  Bürger  sorgen,  daher  auch  nicht  für  ihr  Leben  und 
ihre  Gesundheit  —  es  müssten  denn  Handlungen  andrer  ihnen 
Gefahr  drohen  —  aber  wohl  für  ihre  Sicherheit.  Und  nur,  inso- 
fern die  Sicherheit  selbst  leiden  kann,  indem  Betrügerei  die  Un- 
wissenheit benuzt,  könnte  eine  solche  Aufsicht  innerhalb  der 
Gränzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  liegen.  Indess  muss  doch 
bei  einem  Betrüge  dieser  Art  der  Betrogene  immer  zur  Ueber- 
zeugung  überredet  werden,  und  da  das  Ineinanderfliessen  der  ver- 
schiednen  Nuancen  hiebei  schon  eine  allgemeine  Regel  beinah 
unmöglich  macht,  auch  gerade  die,  durch  die  Freiheit  übrig- 
gelassene Möglichkeit  des  Betrugs  die  Menschen  zu  grösserer  Vor- 
sicht und  Klugheit  schärft;  so  halte  ich  es  für  besser  und  den 
Principien  gemässer,  in  der,  von  bestimmten  Anw^endungen  fernen 
Theorie,  Prohibitivgeseze  nur  auf  diejenigen  Fälle  auszudehnen, 
wo  ohne,  oder  gar  gegen  den  Willen  des  andren  gehandelt  wird. 
Das  vorige  Raisonnement  wird  jedoch  immer  dazu  dienen,  zu 
zeigen,  wie  auch  andre  Fälle  —  wenn  die  Nothwendigkeit  es  er- 
forderte —  in  Gem-Sssheit  der  aufgestellten  Grundsäze  behandelt 
werden  müssten.*) 


*)  Anmerkung.  Es  könnte  scheinen,  als  gehörten  die  hier  angeführten  Fälle  nicht 
zu  dem  gegenwärtigen,  sondern  mehr  zu  dem  folgenden  Abschnitt,  da  sie  Handlungen 
betreffen,  welche  sich  geradezu  auf  den  andren  beziehn.  Aber  ich  sprach  auch  hier 
nicht  von  dem  Fall,  wenn  z.  B.  ein  Arzt  einen  Kranken  wirklich  behandelt,  ein  Kechts- 
gelehrter  einen  Prozess  wirklich  übernimmt,  sondern  von  dem,  wenn  jemand  diese  Art 
zu  leben  und  sich  zu  ernähren  wählt.  Ich  fragte  mich,  ob  der  Staat  eine  solche  Wahl 
beschränken  dürfe,  und  diese  blosse  Wahl  bezieht  sich  noch  geradezu  auf  niemand. 


j35  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Wenn  bis  jezt  die  Beschaffenheit  der  Folgen  einer  Handlung 
auseinandergesezt  ist,  welche  dieselbe  der  Aufsicht  des  Staats 
untenvirft;  so  fragt  sich  noch,  ob  jede  Handlung  eingeschränkt 
werden  darf,  bei  welcher  nur  die  Möglichkeit  einer  solchen  Folge 
vorauszusehen  ist,  oder  nur  solche,  mit  welchen  dieselbe  noth- 
wendig  verbunden  ist?  In  dem  ersteren  Fall  geriethe  die  Freiheit, 
in  dem  lezteren  die  Sicherheit  in  Gefahr  zu  leiden.  Es  ist  daher 
freilich  soviel  ersichtlich,  dass  ein  Mittelweg  getroffen  werden 
muss.  Diesen  indess  allgemein  zu  zeichnen  halte  ich  für  unmög- 
lich. Freilich  müsste  die  Berathschlagung  über  einen  Fall  dieser 
Art  durch  die  Betrachtung  des  Schadens,  der  Wahrscheinlichkeit 
des  Erfolgs,  und  der  Einschränkung  der  Freiheit  im  Fall  eines 
gegebnen  Gesezes  zugleich  geleitet  werden.  Allein  keins  dieser 
Stükke  erlaubt  eigentlich  ein  allgemeines  Maass ;  vorzüglich  täuschen 
immer  Wahrscheinlichkeitsberechnungen.  Die  Theorie  kann  da- 
her nicht  mehr,  als  jene  Momente  der  Ueberlegung  angeben.  In 
der  Anwendung  müsste  man,  glaube  ich,  allein  auf  die  specielle 
Lage  sehen,  nicht  aber  sowohl  auf  die  allgemeine  Natur  der  Fälle, 
und  nur,  wenn  Erfahrung  der  Vergangenheit,  und  Betrachtung 
der  Gegenwart  eine  Einschränkung  noth wendig  machte,  die- 
selbe verfügen.  Das  Naturrecht,  wenn  man  es  auf  das  Zusammen- 
leben mehrerer  Menschen  anwendet,  scheidet  die  Gränzlinie  scharf 
ab.  Es  misbilligt  alle  Handlungen,  bei  welchen  der  eine  mit 
seiner  Schuld  in  den  Kreis  des  andern  eingreift,  alle  folglich, 
wo  der  Schade  entweder  aus  einem  eigentlichen  Versehen  ent- 
steht, oder,  wo  derselbe  immer,  oder  doch  in  einem  solchen  Grade 
der  Wahrscheinlichkeit  mit  der  Handlung  verbunden  ist,  dass  der 
Handlende  ihn  entweder  einsieht,  oder  wenigstens  nicht,  ohne 
dass  es  ihm  zugerechnet  werden  müsste,  übersehn  kann.  U  eber- 
all, wo  sonst  Schaden  entsteht,  ist  es  Zufall,  den  der  Handlende 
zu  ersezen  nicht  verbunden  ist.  Eine  weitere  Ausdehnung  Hesse 
sich  nur  aus  einem  stillschweigenden  Vertrage  der  Zusammen- 
lebenden, und  also  schon  wiederum  aus  etwas  Positivem,  her- 
leiten. Allein  hiebei  auch  im  Staate  stehen  zu  bleiben,  könnte  mit 
Recht  bedenldich  scheinen,  vorzüglich  wenn  man  die  Wichtigkeit 
des  zu  besorgenden  Schadens,  und  die  Möglichkeit  bedenkt,  die 
Einschränkung  der  Freiheit  der  Bürger  nur  wenig  nachtheilig  zu 
machen.  Auch  lässt  sich  das  Recht  des  Staats  hiezu  nicht  be- 
streiten, da  er  nicht  bloss  insofern  für  die  Sicherheit  sorgen  soll, 
dass  er,   bei  geschehenen  Kränkungen  des  Rechts,   zur  Entschädi- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     X. 


i«7 


gung  zwinge,  sondern  auch  so,  dass  er  Beeinträchtigungen  ver- 
hindre.  Auch  kann  ein  Dritter,  der  einen  Ausspruch  thun  soll, 
nur  nach  äussren  Kennzeichen  entscheiden.  Unmöglich  darf  da- 
her der  Staat  dabei  stehen  bleiben,  abzuwarten,  ob  die  Bürger  es 
nicht  werden  an  der  gehörigen  Vorsicht  bei  gefährlichen  Hand- 
lungen mangeln  lassen,  noch  kann  er  sich  allein  darauf  einlassen, 
ob  sie  die  Wahrscheinlichkeit  des  Schadens  voraussehen ;  er  muss 
vielmehr  —  wo  wirklich  die  Lage  die  Besorgniss  dringend  macht 
—  die  an  sich  unschädliche  Handlung  selbst  einschränken. 

Vielleicht  Hesse  sich  demnach  der  folgende  Grundsaz  auf- 
stellen: um  für  die  Sicherheit  der  Bürger  Sorge  zu 
tragen,  muss  der  Staat  diejenigen,  sich  unmittelbar 
allein  auf  den  Handlenden  beziehenden  Handlungen 
verbieten,  oder  einschränken,  deren  Folgen  die 
Rechte  andrer  kränken,  d.  i.  ohne  oder  gegen  die 
Einwilligung  derselben  ihre  Freiheit  oder  ihren  Be- 
siz  schmälern,^)  odervon  denen  diess  wahrscheinlich 
zu  besorgen  ist,  eine  \A'ahrscheinlichkeit,  bei  welcher 
allemal  auf  die  Grösse  des  zu  besorgenden  Schadens, 
und  die  Wichtigkeit  der  durch  ein  Prohibitivgesez 
entstehenden  Freiheitseinschränkung  zugleich  Rük- 
sicht  genommen  werden  muss.  Jede  weitere,  oder 
aus  andren  Gesichtspunkten  gemachte  Beschränkung 
der  Privatfreiheit  aber  liegt  ausserhalb  der  Gränzen 
der  Wirksamkeit  des  Staats. 

Da,  meinen  hier  entwikkelten  Ideen  nach,  der  einzige  Grund 
solcher  Einschränkungen  die  Rechte  andrer  sind ;  so  müssten  die- 
selben natürlich  sogleich  wegfallen,  als  dieser  Grund  aufhörte,  und 
sobald  also  z.  B.,  da  bei  den  meisten  Polizeiveranstaltungen  die 
Gefahr  sich  nur  auf  den  Umfang  der  Gemeinheit,  des  Dorfs,  der 
Stadt  erstrekt,  eine  solche  Gemeinheit  ihre  Aufhebung  ausdrüldich 
und  einstimmig  verlangte.  Der  Staat  müsste  alsdann  zurüktreten, 
und  sich  begnügen,  die,  mit  vorsäzlicher,  oder  schuldbarer 
Kränkung  der  Rechte  vorgefallenen  Beschädigungen  zu  bestrafen. 
Denn  diess  allein,  die  Hemmung  der  Uneinigkeiten  der  Bürger 
unter  einander,  ist  das  wahre  und  eigentliche  Interesse  des  Staats, 
an  dessen  Beförderung  ihn  nie  der  Wille  einzelner  Bürger,  wären 


V  „ihre  Freiheit  oder  ihren  Besiz  schmälern"  verbessert  ans  „die  Freiheit 
derselben  einengen,  oder  ihnen  von  ihrem  Besiz  etwas  entziehen". 


l88  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

€S  auch  die  Beleidigten  selbst,  hindern  darf.  Denkt  man  sich  auf- 
geklärte, von  ihrem  wahren  Vortheil  unterrichtete,  und  daher 
gegenseitig  wohlwollende  Menschen  in  enger  Verbindung  mit  ein- 
ander; so  werden  leicht  von  selbst  freiwillige,  auf  ihre  Sicherheit 
abzwekkende  Verträge  unter  ihnen  entstehen,  Verträge  z.  B.  dass 
diess,  oder  jenes  gefahrvolle  Geschäft  nur  an  bestimmten  Orten, 
oder  zu  gewissen  Zeiten  betrieben  werden,  oder  auch  ganz  unter- 
bleiben soll.  Verträge  dieser  Art  sind  Verordnungen  des  Staats 
bei  weitem  vorzuziehen.  Denn,  da  diejenigen  selbst  sie  schliessen, 
welche  den  Vortheil  und  Schaden  davon  unmittelbar,  und  eben 
so,  wie  das  Bedürfniss  dazu,  selbst  fühlen,  so  entstehen  sie  erstlich 
gewiss  nicht  leicht  anders,  als  wenn  sie  wirklich  nothwendig  sind; 
freiwillig  eingegangen  werden  sie  ferner  besser  und  strenger  be- 
folgt; als  Folgen  der  Selbstthätigkeit,  schaden  sie  endlich,  selbst 
bei  beträchtlicher  Einschränkung  der  Freiheit,  dennoch  dem  Cha- 
rakter minder,  und  vielmehr,  wie  sie  nur  bei  einem  gewissen 
Maasse  der  Aufklärung  und  des  Wohlwollens  entstehen,  so  tragen 
sie  wiederum  dazu  bei,  beide  zu  erhöhen.  Das  wahre  Bestreben 
des  Staats  muss  daher  dahin  gerichtet  sein,  die  Menschen  durch 
Freiheit  dahin  zu  führen,  dass  leichter  Gemeinheiten  entstehen, 
deren  Wirksamkeit  in  diesen  und  vielfältigen  ähnlichen  Fällen  an 
die  Stelle  des  Staats  treten  könne. 

Ich  habe  hier  gar  keiner  Geseze  erwähnt,  welche  den  Bürgern 
positive  Pflichten,  diess,  oder  jenes  für  den  Staat,  oder  für  einander 
aufzuopfern,  oder  zu  thun,  auflegten,  dergleichen  es  doch  bei  uns 
überall  giebt.  Allein  die  Anwendung  der  Kräfte  abgerechnet, 
welche  jeder  Bürger  dem  Staate,  wo  es  erfordert  wird,  schuldig 
ist,  und  von  der  ich  in  der  Folge  noch  Gelegenheit  haben  werde 
zu  reden,  halte  ich  es  auch  nicht  für  gut,  wenn  der  Staat  einen 
Bürger  zwingt,  zum  Besten  des  andren  irgend  etwas  gegen  seinen 
Willen  zu  thun,  möchte  er  auch  auf  die  vollständigste  Weise  da- 
für entschädigt  werden.  Denn  da  jede  Sache,  und  jedes  Geschäft, 
der  unendlichen  Verschiedenheit  der  menschlichen  Launen  und 
Neigungen  nach,  jedem  einen  so  unübersehbar  verschiedenen 
Nuzen  gewähren,  und  da  dieser  Nuzen  auf  gleich  mannigfaltige  Weise 
interessant,  wichtig,  und  unentbehrlich  sein  kann;  so  führt  die 
Entscheidung,  welches  Gut  des  einen  welchem  des  andren  vorzu- 
ziehen sei?  —  selbst  wenn  auch  nicht  die  Schwierigkeit  gänzlich 
davon  zurükschrekt  —  immer  etwas  Hartes,  über  die  Empfindung 
und  Individualität  des  andren  Absprechendes  mit  sich.     Aus  eben 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.      X. 


189 


diesem  Grunde  ist  auch,  da  eigentlich  nur  das  Gleichartige,  eines 
die  Stelle  des  andren  ersezen  kann,  wahre  Entschädigung  oft  ganz 
unmöglich,  und  fast  nie  allgemein  bestimmbar.  Zu  diesen  Xach- 
theilen  auch  der  besten  Geseze  dieser  Art  kommt  nun  noch  die 
Leichtigkeit  des  möglichen  Misbrauchs.  Auf  der  andren  Seite 
macht  die  Sicherheit  —  welche  doch  allein  dem  Staat  die  Gränzen 
richtig  vorschreibt,  innerhalb  welcher  er  seine  Wirksamkeit  halten 
muss  —  Veranstaltungen  dieser  Art  überhaupt  nicht  nothwendig, 
da  freilich  jeder  Fall,  wo  diess  sich  findet,  eine  Ausnahme  sein 
muss:  auch  werden  die  Menschen  wohlwollender  gegen  einander, 
und  zu  gegenseitiger  Hülfsleistung  bereitwilliger,  je  weniger  sich 
ihre  Eigenliebe  und  ihr  Freiheitssinn  durch  ein  eigentliches  Zwangs- 
recht des  andren  gekränkt  fühlt;  und  selbst,  wenn  die  Laune  und 
der  völlig  grundlose  Eigensinn  eines  Menschen  ein  gutes  Unter- 
nehmen binden,  so  ist  diese  Erscheinung  nicht  gleich  von  der 
Art,  dass  die  Macht  des  Staats  sich  ins  Mittel  schlagen  muss. 
Sprengt  sie  doch  nicht  in  der  physischen  Natur  jeden  Fels,  der 
dem  Wanderer  in  dem  Wege  steht!  Hindernisse  beleben  die 
Energie,  und  schärfen  die  Klugheit;  nur  diejenigen,  w^elche  die 
Ungerechtigkeiten  der  Menschen  hervorbringen,  hemmen  ohne  zu 
nüzen ;  ein  solches  aber  ist  jener  Eigensinn  nicht,  der  zw^ar  durch 
Geseze  für  den  einzelnen  Fall  gebeugt,  aber  nur  durch  Freiheit 
gebessert  werden  kann.  Diese  hier  nur  kurz  zusammengenommene 
Gründe  sind,  dünkt  mich,  stark  genug,  um  bloss  der  ehernen 
Noth wendigkeit  zu  weichen,  und  der  Staat  muss  sich  daher 
begnügen,  die,  schon  ausser  der  positiven  Verbindung  existirenden 
Rechte  der  Menschen,  ihrem  eignen  Untergange  die  Freiheit  oder 
das  Eigenthum  des  andren  aufzuopfern,  zu  schüzen. 

Endlich  entstehen  eine  nicht  unbeträchtliche  Menge  von 
Polizeigesezen  aus  solchen  Handlungen,  welche  innerhalb  der 
Gränzen  des  eignen,  aber  nicht  alleinigen,  sondern  gemeinschaft- 
lichen Rechts  vorgenommen  werden.  Bei  diesen  sind  Freiheits- 
beschränkungen natürlich  bei  weitem  minder  bedenklich,  da  in 
dem  gemeinschaftlichen  Eigenthum  jeder  Miteigenthümer  ein  Recht 
zu  widersprechen  hat.  Solch  ein  gemeinschaftliches  Eigenthum 
sind  z.  B.  Wege,  Flüsse,  die  mehrere  Besizungen  berühren,  Pläze 
und  Strassen  in  Städten  u.  s.  f. 


igo 


5.    Ideen  zu  einem  Versuch 


XI. 


Verwikkelter,  allein  für  die  gegenwärtige  Untersuchung  mit 
weniger  Schwierigkeit  verbunden,  ist  der  Fall  solcher  Handlungen, 
welche  sich  unmittelbar  und  geradezu  auf  andre  beziehen.  Denn 
wo  durch  dieselben  Rechte  gekränkt  werden,  da  muss  der  Staat 
natürlich  sie  hemmen,  und  den  Handlenden  zum  Ersaze  des  zu- 
gefügten Schadens  zwingen.  Sie  kränken  -  aber ,  nach  den  im 
Vorigen  gerechtfertigten  Bestimmungen,  das  Recht  nur  dann, 
wenn  sie  dem  andren  gegen,  oder  ohne  seine  Einwilligung  etwas 
von  seiner  Freiheit,  oder  seinem  Vermögen  entziehn.  Wenn 
jemand  von  dem  andren  beleidigt  worden  ist,  hat  er  ein  Recht 
auf  Ersaz,  allein,  da  er  in  der  Gesellschaft  seine  Privatrache  dem 
Staat  übertragen  hat,  auf  nichts  weiter,  als  auf  diesen.  Der  Be- 
leidiger ist  daher  dem  Beleidigten  auch  nur  zur  Erstattung  des 
Entzognen,  oder,  wo  diess  nicht  möglich  ist,  zur  Entschädigung 
verbunden,  und  muss  dafür  mit  seinem  Vermögen,  und  seinen 
Kräften,  insofern  er  durch  diese  zu  erwerben  vermögend  ist,  ein- 
stehn.  Beraubung  der  Freiheit,  die  z.  B.  bei  uns  bei  unver- 
mögenden Schuldnern  eintritt,  kann  nur  als  ein  untergeordnetes 
Mittel,  um  nicht  Gefahr  zu  laufen,  mit  der  Person  des  Verpflich- 
teten, seinen  künftigen  Erwerb  zu  verlieren,  Statt  finden.  Nun 
darf  der  Staat  zwar  dem  Beleidigten  kein  rechtmässiges  Mittel  zur 
Entschädigung  versagen,  allein  er  muss  auch  verhüten,  dass  nicht 
Rachsucht  sich  dieses  Vorwands  gegen  den  Beleidiger  bediene. 
Er  muss  diess  um  so  mehr,  als  im  aussergesellschaftlichen  Zu- 
stande dieser  dem  Beleidigten,  wenn  derselbe  die  Gränzen  des 
Rechts  überschritte,  Widerstand  leisten  würde,  und  hingegen  hier 
die  unwiderstehliche  Macht  des  Staats  ihn  trift,  und  als  allgemeine 
Bestimmungen,  die  immer  da  nothwendig  sind,  wo  ein  Dritter 
entscheiden  soll,  dergleichen  Vorwände  immer  eher  begünstigen. 
Die  Versicherung  der  Person  der  Schuldner  z.  B.  dürfte  daher 
leicht  noch  mehr  Ausnahmen  erfordern,  als  die  meisten  Geseze 
davon  verstatten. 

Handlungen,  die  mit  gegenseitiger  Einwilligung  vorgenommen 
werden,  sind  völlig  denjenigen  gleich,  welche  Ein  Mensch  für  sich, 
ohne  unmittelbare  Beziehung  auf  andre  ausübt,  und  ich  könnte 
daher  bei  ihnen  nur  dasjenige  wiederholen,  was  ich  im  Vorigen 
von   diesen   gesagt   habe.     Indess   giebt   es   dennoch   unter  ihnen 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XI. 


IQI 


Eine  Gattung,  welche  völlig  eigne  Bestimmungen  nothwendig 
macht,  diejenigen  nemlich,  die  nicht  gleich  und  auf  Einmal  voll- 
endet werden,  sondern  sich  auf  die  Folge  erstrekken.  Von  dieser 
Art  sind  alle  Willenserklärungen,  aus  welchen  vollkommene 
Pflichten  der  Erklärenden  entspringen,  sie  mögen  einseitig  oder 
gegenseitig  geschehen.  Sie  übertragen  einen  Theil  des  Eigenthums 
von  dem  einen  auf  den  andren,  und  die  Sicherheit  wird  gestört, 
wenn  der  Uebertragende  durch  Nicht  Erfüllung  des  Versprechens 
das  Uebertragene  wiederum  zurükzunehmen  sucht.  Es  ist  daher 
eine  der  wichtigsten  Pflichten  des  Staats  Willenserklärungen  auf- 
recht zu  erhalten.  Allein  der  Zwang,  welchen  jede  Willens- 
erklärung auflegt,  ist  nur  dann  gerecht  und  heilsam,  wenn  einmal 
bloss  der  Erklärende  dadurch  eingeschränkt  wird,  und  zweitens 
dieser,  wenigstens  mit  gehöriger  Fähigkeit  der  Ueberlegung  — 
überhaupt  und  in  dem  Moment  der  Erklärung  —  und  mit  freier 
Beschliessung  handelte.  Ueberall,  wo  diess  nicht  der  Fall  ist,  ist 
der  Zwang  eben  so  ungerecht,  als  schädlich.  Auch  ist  auf  der 
einen  Seite  die  Ueberlegung  für  die  Zukunft  nur  immer  auf  eine 
sehr  unvollkommene  Weise  möglich;  und  auf  der  andren  sind 
manche  Verbindlichkeiten  von  der  Art,  dass  sie  der  Freiheit 
Fesseln  anlegen,  welche  der  ganzen  Ausbildung  des  Menschen 
hinderlich  sind.  Es  entsteht  also  die  zweite  ^Verbindlichkeit  des 
Staats,  rechtswidrigen  Willenserklärungen  den  Beistand  der  Geseze 
zu  versagen,  und  auch  alle,  nur  mit  der  Sicherheit  des  Eigen- 
thums vereinbare  Vorkehrungen  zu  treifen,  um  zu  verhindern, 
dass  nicht  die  Unüberlegtheit  Eines  Moments  dem  Menschen  Fesseln 
anlege,  welche  seine  ganze  Ausbildung  hemmen  oder  zurükhalten. 
Was  zur  Gültigkeit  eines  Vertrags,  oder  einer  Willenserklärung 
überhaupt  erfordert  wird,  sezen  die  Theorien  des  Rechts  sehöris 
auseinander.  Nur  in  Absicht  des  Gegenstandes  derselben  bleibt 
mir  hier  zu  erinnern  übrig,  dass  der  Staat,  dem,  den  vorhin  ent- 
wikkelten  Grundsäzen  gemäss,  schlechterdings  bloss  die  Erhaltung 
der  Sicherheit  obliegt,  keine  andern  Gegenstände  ausnehmen  darf, 
als  diejenigen,  welche  entweder  schon  die  allgemeinen  Begrifle 
des  Rechts  selbst  ausnehmen,  oder  deren  Ausnahme  gleichfalls 
durch  die  Sorge  für  die  Sicherheit  gerechtfenigt  wird.  Als  hieher 
gehörig  aber  zeichnen  sich  vorzüglich  nur  folgende  Fälle  aus: 
I.,  wo  der  Versprechende  kein  Zwangsrecht  übertragen  kann, 
ohne  sich  selbst  bloss  zu  einem  Mittel  der  Absichten  des  andren 
herabzuwürdigen,   wie    z.   B.   jeder    auf  Sklaverei   hinauslaufende 


JQ2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Vertrag  wäre;  2.,  wo  der  Versprechende  selbst  über  die  Leistung 
des  Versprochenen,  der  Natur  desselben  nach,  keine  Gewalt  hat, 
wie  z.  B.  bei  Gegenständen  der  Empfindung,  und  des  Glaubens 
der  Fall  ist;  3.,  wo  das  Versprechen,  entweder  an  sich,  oder  in 
seinen  Folgen  den  Rechten  andrer  entweder  wirklich  entgegen, 
oder  doch  gefährlich  ist,  w^obei  alle,  bei  Gelegenheit  der  Hand- 
lungen einzelner  Menschen  entwikkelte  Grundsäze  eintreten.  Der 
Unterschied  zwischen  diesen  Fällen  ist  nur  der,  dass  in  dem 
ersten  und  zweiten  der  Staat  bloss  das  Zwangsrecht  der  Geseze 
versagen  muss,  übrigens  aber  weder  Willenserklärungen  dieser 
Art,  noch  auch  ihre  Ausübung,  insofern  diese  nur  mit  gegen- 
seitiger Bewilligung  geschieht,  hindern  darf,  da  er  hingegen  in 
dem  zulezt  aufgeführten  auch  die  blosse  Willenserklärung  an  sich 
untersagen  kann,  und  muss. 

Wo  aber  gegen  die  Rechtmässigkeit  eines  Vertrags  oder  einer 
Willenserklärung  kein  Einwand  zu  machen  ist ;  da  kann  der  Staat 
dennoch,  um  den  Zwang  zu  erleichtern,  welchen  selbst  der  freie 
Wille  der  Menschen  sich  unter  einander  auflegt,  indem  er  die 
Trennung  der,  durch  den  Vertrag  eingegangenen  Verbindung 
minder  erschw^ert,  verhindern,  dass  nicht  der  zu  einer  Zeit  gefasste 
Entschluss,  auf  einen  zu  grossen  Theil  des  Lebens  hinaus,  die 
Willkühr  beschränke.  Wo  ein  Vertrag  bloss  auf  Uebertragung 
von  Sachen,  ohne  weiteres  persönliches  Verhältniss,  abzwekt, 
halte  ich  eine  solche  Veranstaltung  nicht  rathsam.  Denn  einmal 
sind  dieselben  weit  seltener  von  der  Art,  dass  sie  auf  ein  dauerndes 
Verhältniss  der  Kontrahenten  führen ;  dann  stören  auch,  bei  ihnen 
vorgenommene  Einschränkungen  die  Sicherheit  der  Geschäfte  ^) 
auf  eine  bei  weitem  schädlichere  W^eise;  und  endlich  ist  es  von 
manchen  Seiten,  und  vorzüglich  zur  Ausbildung  der  Beurtheilungs- 
kraft,  und  zur  Beförderung  der  Festigkeit  des  Charakters  gut, 
dass  das  einmal  gegebene  Wort  unwiderruflich  binde,  so  dass 
man  diesen  Zwang  nie,  ohne  eine  wahre  Nothwendigkeit,  er- 
leichtern muss,  welche  bei  der  Uebertragung  von  Sachen,  wodurch 
zwar  diese  oder  jene  Ausübung  der  menschlichen  Thätigkeit  ge- 
hemmt, aber  die  Energie  selbst  nicht  leicht  geschwächt  werden 
kann,  nicht  eintritt.  Bei  Verträgen  hingegen,  welche  persönliche 
Leistungen  zur  Pflicht  machen,  oder  gar  eigentliche  persönliche 
Verhältnisse  hervorbringen,  ist  es  bei  weitem  anders.     Der  Zwang 


V  „der  Geschäfte"  verbessert  aus  „des  Eigenthums". 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XI.  ig':> 

ist  bei  ihnen  den  edelsten  Kräften  des  Menschen  nachtheiHg,  und 
da  das  GeUngen  der  Geschäfte  selbst,  die  durch  sie  bewirkt  werden, 
obgleich  mehr  oder  minder,  von  der  fortdauernden  Einwilligung 
der  Partheien  abhängt;  so  ist  auch  bei  ihnen  eine  Einschränkung 
dieser  An  minder  schädlich.  Wo  daher  durch  den  Vertrag  ein 
solches  persönliches  Verhältniss  entsteht,  das  nicht  bloss  einzelne 
Handlungen  fordert,  sondern  im  eigentlichsten  Sinn  die  Person 
und  die  ganze  Lebensweise  betrift,  wo  dasjenige,  was  geleistet, 
oder  dasjenige,  dem  entsagt  wird,  in  dem  genauesten  Zusammen- 
hange mit  inneren  Empfindungen  steht,  da  muss  die  Trennung 
zu  jeder  Zeit,  und  ohne  Anführung  aller  Gründe  erlaubt  sein. 
So  bei  der  Ehe.  Wo  das  Verhältniss  zw^ar  weniger  eng  ist,  indess 
gleichfalls  die  persönliche  Freiheit  eng  beschränkt,  da,  glaube  ich, 
müsste  der  Staat  eine  Zeit  festsezen,  deren  Länge  auf  der  einen 
Seite  nach  der  Wichtigkeit  der  Beschränkung,  auf  der  andren 
nach  der  Natur  des  Geschäfts  zu  bestimmen  w^äre,  binnen  welcher 
zwar  keiner  beider  Theile  einseitig  abgehen  dürfte,  nach  Verlauf 
welcher  aber  der  Vertrag,  ohne  Erneuerung,  kein  Zwangsrecht 
nach  sich  ziehen  könnte,  selbst  dann  nicht,  wenn  die  Partheien, 
bei  Eingehung  des  ^^ertrags,  diesem  Geseze  entsagt  hätten.  Denn 
wenn  es  gleich  scheint,  als  sei  eine  solche  Anordnung  eine  blosse 
W^ohlthat  des  Gesezes,  und  dürfte  sie,  ebensowenig  als  irgend  eine 
andre,  jemandem  aufgedrungen  werden;  so  wird  ja  niemandem 
hierdurch  die  Befugniss  genommen  auch  das  ganze  Leben  hin- 
durch dauernde  \"erhältnisse  einzugehen,  sondern  bloss  dem  einen 
das  Recht,  den  andern  da  zu  zwingen,  wo  der  Zwang  den  höchsten 
Zwekken  desselben  hinderlich  sein  würde.  Ja  es  ist  um  so  weniger 
eine  blosse  Wohlthat,  als  die  hier  genannten  Fälle,  und  vorzüglich 
der  der  Ehe  (sobald  nemlich  die  freie  Willkühr  nicht  mehr  das 
Verhältniss  begleitet)  nur  dem  Grade  nach  v-on  denjenigen  ver- 
schieden sind,  worin  der  eine  sich  zu  einem  blossen  Mittel  der 
Absicht  des  andren  macht,  oder  vielmehr  von  dem  andren  dazu 
gemacht  wird;  und  die  Befugniss  hier  die  Gränzlinie  zu  bestimmen 
zwischen  dem,  ungerechter,  und  gerechter  Weise  aus  dem  Ver- 
trag entstehenden  Zwangsrecht,  kann  dem  Staat,  d.  i.  dem  gemein- 
samen Willen  der  Gesellschaft,  nicht  bestritten  werden,  da,  ob  die, 
aus  einem  Vertrage  entstehende  Beschränkung  den,  welcher  seine 
Willensmeinung  geändert  hat,^)  wirklich  nur  zu  einem  Mittel  des 

^)  „den,  welcher  seine   Willensmeinung  geändert  hat"  verbessert  aus  „den 
einen",  wofür  zuerst  „den  Menschen"  stand. 

\V.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  ^3 


IQA  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

andren  macht?  völlig  genau,  und  der  Wahrheit  angemessen  zu 
entscheiden,  nur  in  jeglichem  speciellen  Fall  möglich  sein  würde. 
Endlich  kann  es  auch  nicht  eine  Wohlthat  aufdringen  heissen, 
wenn  man  die  Befugniss  aufhebt,  ihr  im  Voraus  zu  entsagen. 

Die  ersten  Grundsäze  des  Rechts  lehren  von  selbst,  und  es 
ist  auch  im  Vorigen  schon  ausdrüklich  erwähnt  worden,  dass  nie- 
mand gültigerweise  über  etwas  andres  einen  Vertrag  schliessen, 
oder  überhaupt  seinen  Willen  erklären  kann,  als  über  das,  was 
wirklich  sein  Eigenthum  ist,  seine  Handlungen,  oder  seinen 
Besiz.  Es  ist  auch  gewiss,  dass  der  wichtigste  Theil  der  Sorgfalt 
des  Staats  für  die  Sicherheit  der  Bürger,  insofern  Verträge  oder 
Willenserklärungen  auf  dieselbe  Einfluss  haben,  darin  besteht,  über 
der  Ausübung  dieses  Sazes  zu  wachen.  Dennoch  finden  sich  noch 
ganze  Gattungen  der  Geschäfte,  bei  welchen  man  seine  Anwendung 
gänzlich  vermisst.  So  alle  Dispositionen  von  Todeswegen,  auf 
welche  Art  sie  geschehen  mögen,  ob  direkt,  oder  indirekt,  nur 
bei  Gelegenheit  eines  andren  Vertrags,  ob  in  einem  Vertrage, 
Testamente,  oder  irgend  einer  andren  Disposition,  welcher  Art  sie 
sei.  Alles  Recht  kann  sich  unmittelbar  nur  immer  auf  die  Person 
beziehn ;  auf  Sachen  ist  es  nicht  anders  denkbar,  als  insofern  die 
Sachen  durch  Handlungen  mit  der  Person  verknüpft  sind.  Mit 
dem  Aufhören  der  Person  fällt  daher  auch  diess  Recht  weg.  Der 
Mensch  darf  daher  zwar  bei  seinem  Leben  mit  seinen  Sachen 
nach  Gefallen  schalten,  sie  ganz  oder  zum  Theil,  ihre  Substanz, 
oder  ihre  Benuzung,  oder  ihren  Besiz  veräussern,  auch  seine 
Handlungen,  seine  Disposition  über  sein  Vermögen,  wie  er  es  gut 
findet,  im  Voraus  beschränken.  Keinesweges  aber  steht  ihm  die 
Befugniss  zu,  auf  eine,  für  andre  verbindliche  Weise  zu  bestimmen, 
wie  es  mit  seinem  Vermögen  nach  seinem  Tode  gehalten  v»^erden, 
oder  wie  der  künftige  Besizer  desselben  handien  oder  nicht  handien 
solle?  Ich  verv/eile  nicht  bei  den  Einwürfen,  welche  sich  gegen 
diese  Säze  erheben  lassen.  Die  Gründe  und  Gegengründe  sind 
schon  hinlänglich  in  der  bekannten  Streitfrage  über  die  Gültigkeit 
der  Testamente  nach  dem  Naturrecht  auseinandergesezt  worden, 
und  der  Gesichtspunkt  des  Rechts  ist  hier  überhaupt  minder 
wichtig,  da  freilich  der  ganzen  Gesellschaft  die  Befugniss  nicht 
bestritten  werden  kann,  leztwilligen  Erklärungen  die,  ihnen  sonst 
mangelnde  Gültigkeit  positiv  beizulegen.  Allein  wenigstens  in  der 
Ausdehnung,  welche  ihnen  die  meisten  unsrer  Gesezgebungen  bei- 
legen,  nach    dem  System   unsres   gemeinen  Rechts,   in  welchem 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XI. 


195 


sich  hier  die  Spizfindigkeit  Römischer  Rechtsgelehrten  mit  der, 
eigentlich  auf  die  Trennung  aller  Gesellschaft  hinauslaufenden 
Herrschsucht  des  Lehnwesens  vereint,  hemmen  sie  die  Freiheit, 
deren  die  Ausbildung  des  Menschen  nothwendig  bedarf,  und  streiten 
gegen  alle,  in  diesem  ganzen  Aufsaz  entwikkelte  Grundsäze.  Denn 
sie  sind  das  vorzüglichste  Mittel,  wodurch  eine  Generation  der 
andren  Geseze  vorschreibt,  wodurch  Misbräuche  und  \^orurtheile, 
die  sonst  nicht  leicht  die  Gründe  überleben  würden,  welche  ihr 
Entstehen  unvermeidlich,  oder  ihr  Dasein  unentbehrlich  machen, 
von  Jahrhunderten  zu  Jahrhunderten  forterben,  wodurch  endlich, 
statt  dass  die  Menschen  den  Dingen  die  Gestalt  geben  sollten, 
diese  die  Menschen  selbst  ihrem  Joche  unterwerfen.  Auch  lenken 
sie  am  meisten  den  Gesichtspunkt  der  Menschen  von  der  wahren 
Kraft  und  ihrer  Ausbildung  ab,  und  auf  den  äussren  ßesiz,  und 
das  Vermögen  hin,  da  diess  nun  einmal  das  Einzige  ist,  wodurch 
dem  Willen  noch  nach  dem  Tode  Gehorsam  erzwungen  werden 
kann.  Endlich  dient  die  Freiheit  leztwälliger  Verordnungen  sehr 
oft  und  meistentheils  gerade  den  unedleren  Leidenschaften  des 
Menschen,  dem  Stolze,  der  Herrschsucht,  der  Eitelkeit  u.  s.  f.,  so 
wie  überhaupt  viel  häufiger  nur  die  minder  Weisen  und  minder 
Guten  davon  Gebrauch  machen,  da  der  Weisere  sich  in  Acht 
nimmt,  etwas  für  eine  Zeit  zu  verordnen,  deren  individuelle  Um- 
stände seiner  Kurzsichtigkeit  verborgen  sind,  und  der  Bessere  sich 
freut,  auf  keine  Gelegenheit  zu  stossen,  wo  er  den  Willen  andrer 
einschränken  muss,  statt  dieselben  noch  begierig  hervorzusuchen. 
Nicht  selten  mag  sogar  das  Geheimniss  und  die  Sicherheit  vor 
dem  Urtheil  der  Mitw^elt  Dispositionen  begünstigen,  die  sonst  die 
Schaam  unterdrükt  hatte.  Diese  Gründe  zeigen,  wie  es  mir  scheint, 
hinlänglich  die  Nothwendigkeit,  wenigstens  gegen  die  Gefahr  zu 
sichern,  welche  die  testamentarischen  Dispositionen  der  Freiheit 
der  Bürger  drohen. 

Was  soll  aber,  wenn  der  Staat  die  Befugniss  gänzlich  aufhebt. 
Verordnungen  zu  machen,  welche  sich  auf  den  Fall  des  Todes 
beziehen  —  wie  denn  die  Strenge  der  Grundsäze  diess  allerdings 
erfordert  —  an  ihre  Steile  treten  ?  Da  Ruhe  und  Ordnung,  allen 
erlaubte  Besiznehmung  unmöglich  machen,  unstreitig  nichts  anders, 
als  eine  vom  Staat  festgesezte  IntestatErbfolge.  Allein  dem  Staate 
einen  so  mächtigen  positiven  Eintluss,  als  er  durch  diese  Erbfolge, 
bei  gänzlicher  Abschaffung  der  eignen  Willenserklärungen  der 
Erblasser,   erhielte,   einzuräumen,  verbieten   auf  der  andren  Seite 

13* 


jqQ  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

manche  der  im  Vorigen  entvvikkelten  Grundsäze.  Schon  mehr 
als  einmal  ist  der  genaue  Zusammenhang  der  Geseze  der  Intestat- 
succession  mit  den  politischen  Verfassungen  der  Staaten  bemerkt 
worden,  und  leicht  Hesse  sich  dieses  Mittel  auch  zu  andren  Zwekken 
gebrauchen.  Ueberhaupt  ist  im  Ganzen  der  mannichfaltige  und 
wechselnde  Wille  der  einzelnen  Menschen  dem  einförmigen  und 
unveränderlichen  des  Staats  vorzuziehen.  Auch  scheint  es,  welcher 
Nachtheile  man  immer  mit  Recht  die  Testamente  beschuldigen 
mag,  dennoch  hart,  dem  Menschen  die  unschuldige  Freude  des 
Gedankens  zu  rauben,  diesem  oder  jenem  mit  seinem  Vermögen 
noch  nach  seinem  Tode  wohlthätig  zu  werden;  und  wenn  grosse 
Begünstigung  derselben  der  Sorgfalt  für  das  Vermögen  eine  zu 
grosse  Wichtigkeit  giebt,  so  führt  auch  gänzliche  Aufhebung  viel- 
leicht wiederum  zu  dem  entgegengesezten  Uebel.  Dazu  entsteht 
durch  die  Freiheit  der  Menschen,  ihr  Vermögen  willkührlich  zu 
hinterlassen,  ein  neues  Band  unter  ihnen,  das  zwar  oft  sehr  ge- 
misbraucht,  allein  auch  oft  heilsam  benuzt  werden  kann.  Und 
die  ganze  Absicht  der  hier  vorgetragenen  Ideen  liesse  sich  ja  viel- 
leicht nicht  unrichtig  darin  sezen,  dass  sie  alle  Fesseln  in  der  Ge- 
sellschaft zu  zerbrechen,  aber  auch  dieselbe  mit  soviel  Banden,  als 
möglich,  unter  einander  zu  verschlingen  bemüht  sind.  Der  Isolirte 
vermag  sich  eben  so  wenig  zu  bilden,  als  der  Gefesselte.  Kindlich 
ist  der  Unterschied  so  klein,  ob  jemand  in  dem  Moment  seines 
Todes  sein  Vermögen  wirklich  verschenkt,  oder  durch  ein  Testa- 
ment hinterlässt,  da  er  doch  zu  dem  Ersteren  ein  unbezweifeltes, 
und  unentreissbares  Recht  hat. 

Der  Widerspruch,  in  welchen  die  hier  aufgeführten  Gründe 
und  Gegengründe  zu  verwikkeln  schienen,  löst  sich,  dünkt  mich, 
durch  die  Betrachtung,  dass  eine  leztwillige  Verordnung  zweierlei 
Bestimmungen  enthalten  kann,  1.,  wer  unmittelbar  der  nächste 
Besizer  des  Nachlasses  sein?  2.,  wie  er  damit  schalten,  wem  er 
ihn  wiederum  hinterlassen,  und  wie  es  überhaupt  in  der  Folge 
damit  gehalten  werden  soll  ?  und  dass  alle  vorhin  erwähnte  Nach- 
theile nur  von  der  lezteren,  alle  Vortheile  hingegen  allein  von  der 
ersteren  gelten.  Denn  haben  die  Geseze  nur,  wie  sie  allerdings 
müssen,  durch  gehörige  Bestimmung  eines  Pflichttheils  Sorge  ge- 
tragen, dass  kein  Erblasser  eine  wahre  Unbilligkeit  oder  Un- 
gerechtigkeit begehen  kann,  so  scheint  mir  von  der  bloss  wohl- 
wollenden Meinung,  jemanden  noch  nach  seinem  Tode  zu  be- 
schenken, keine  sonderliche  Gefahr  zu  befürchten  zu  sein.    Auch 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XI. 


^97 


werden  die  Grundsäze,  nach  welchen  die  Menschen  hierin  ver- 
fahren werden,  zu  Einer  Zeit  gewiss  immer  ziemlich  dieselben 
sein,  und  die  grössere  Häufigkeit  oder  Seltenheit  der  Testamente 
wird  dem  Gesezgeber  selbst  zugleich  zu  einem  Kennzeichen  dienen, 
ob  die  von  ihm  eingeführte  IntestatErbfolge  noch  passend  ist,  oder 
nicht  .^  Dürfte  es  daher  vielleicht  nicht  rathsam  sein,  nach  der 
zwiefachen  Natur  dieses  Gegenstandes,  auch  die  Maassregeln  des 
Staats  in  Betreff  seiner  zu  theilen  ?  auf  der  einen  Seite  zwar  jedem 
zu  gestatten,  die  Einschränkung  in  Absicht  des  Pflichttheils  aus- 
genommen, zu  bestimmen,  w  e  r  sein  Vermögen  nach  seinem  Tode 
besizen  solle  .^  aber  ihm  auf  der  andern  zu  verbieten,  gleichfalls 
auf  irgend  eine  nur  denkbare  Weise  zu  verordnen,  wie  derselbe 
übrigens  damit  schalten,  oder  walten  solle  .^  Leicht  könnte  nun 
zwar  das,  was  der  Staat  erlaubte,  als  ein  Mittel  gemisbraucht 
werden,  auch  das  zu  thun,  w^as  er  untersagte.  x\llein  diesem 
müsste  die  Gesezgebung  durch  einzelne  und  genaue  Bestimmungen 
zuvorzukommen  bemüht  sein.  Als  solche  Bestimmungen  Hessen 
sich  z.  B.,  da  die  Ausführung  dieser  Materie  nicht  hieher  gehört, 
folgende  vorschlagen,  dass  der  Erbe  durch  keine  Bedingung  be- 
zeichnet werden  dürfte,  die  er,  nach  dem  Tode  des  Erblassers, 
vollbringen  müsste,  um  \wklich  Erbe  zu  sein ;  dass  der  Erblasser 
immer  nur  den  nächsten  Besizer  seines  Vermögens,  nie  aber  einen 
folgenden  ernennen,  und  dadurch  die  Freiheit  des  früheren  be- 
schränken dürfte;  dass  er  zwar  mehrere  Erben  ernennen  könnte, 
aber  diess  nicht ^)  geradezu  thun  müsste;  eine  Sache  zwar  dem 
Umfange,  nie  aber  den  Rechten  nach,  z.  B.  Substanz  und  Niess- 
brauch,  theilen  dürfte  u.  s.  f.  Denn  hieraus,  wde  auch  aus  der 
hiermit  nah  verbundnen  Idee,  dass  der  Erbe  den  Erblasser  vor- 
stellt —  die  sich,  wenn  ich  mich  nicht  sehr  irre,  wie  so  vieles 
andre,  in  der  Folge  für  uns  noch  äusserst  wichtig  Gewordene, 
auf  eine  Formalität  der  Römer,  und  also  auf  die  mangelhafte  Ein- 
richtung der  Gerichtsverfassung  eines  erst  sich  bildenden  Volkes 
gründet  —  entspringen  mannigfaltige  Unbequemlichkeiten,  und 
Freiheitsbeschränkungen.  Allen  diesen  aber  wird  es  möglich  sein 
zu  entgehen,  wenn  man  den  Saz  nicht  aus  den  Augen  verliert, 
dass  dem  Erblasser  nichts  weiter  verstattet  sein  darf,  als  aufs 
höchste  seinen  Erben  zu  nennen:  dass  der  Staat,  wenn  diess  gültig 


V  „nicht"  fehlt  in  der  Handschrift  und  auch  in  Cauers  Ausgabe,  ubwohl  es 
dem  Sinne  nach  notwendig  ist. 


Iq3  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

geschehen  ist,  diesem  Erben  zum  Besize  verhelfen,  aber  jeder 
weitergehenden  Willenserklärung  des  Erblassers  seine  Unterstüzung 
versagen  muss. 

Für  den  Fall,  wo  keine  Erbesernennung  von  dem  Erblasser 
geschehen  ist,  muss  der  Staat  eine  Intestaterbfolge  anordnen. 
Allein  die  Ausführung  der  Säze,  welche  dieser,  so  wie  der  Be- 
stimmung des  Pflichttheils  zum  Grunde  liegen  müssen,  gehört 
nicht  zu  meiner  gegenwärtigen  Absicht,  und  ich  kann  mich  mit 
der  Bemerkung  begnügen,  dass  der  Staat  auch  hier  nicht  positive 
Endzwekke,  z.  B.  Aufrechthaltung  des  Glanzes  und  des  Wohl- 
standes der  FamiUen,  oder  in  dem  entgegengesezten  Extreme  Ver- 
splitterung  des  Vermögens  durch  Vendelfachung  der  Theilnehmer, 
oder  gar  reichlichere  Unterstüzung  des  grösseren  Bedürfnisses, 
vor  Augen  haben  darf;  sondern  allein  den  Begriffen  des  Rechts 
folgen  muss,  die  sich  hier  vielleicht  bloss  auf  den  Begriff  des  ehe- 
maligen Miteigenthums  bei  dem  Leben  des  Erblassers  beschränken, 
und  so  das  erste  Recht  der  Familie,  das  fernere  der  Gemeine 
u.  s.  w.  einräumen.*) 

Sehr  nah  verwandt  mit  der  Erbschaftsmaterie  ist  die  Frage, 
inwiefern  Verträge  unter  Lebendigen  auf  die  Erben  übergehen 
müssen  ?  Die  Antwort  muss  sich  aus  dem  festgestellten  Grundsaz 
ergeben.  Dieser  aber  war  folgender:  der  Mensch  darf  bei  seinem 
Leben  seine  Handlungen  beschränken  und  sein  Vermögen  ver- 
äussern, wie  er  will,  auf  die  Zeit  seines  Todes  aber  weder  die 
Handlungen  dessen  bestimmen  wollen,  der  alsdann  sein  \"ermögen 
besizt,  noch  auch  hierüber  eine  Anordnung  irgend  einer  Gattung 
(man  müsste  denn  die  blosse  Ernennung  eines  Erben  billigen) 
treffen.  Es  müssen  daher  alle  diejenigen  Verbindlichkeiten  auf 
den  Erben  übergehn,  und  gegen  ihn  erfüllt  werden,  welche  wirk- 
lich die  Uebertragung  eines  Theils  des  Eigenthums  in  sich 
schliessen,    folglich    das   Vermögen   des   Erblassers   entweder  ver- 


*)  Sehr  vieles  in  dem  vorigen  Raisonnemcnt  habe  ich  aus  Mirabeaus  Rede  über 
eben  diesen  Gegenstand  entlehnt;  und  ich  würde  noch  mehr  davon  haben  bcnuzen 
können,  wenn  nicht  Mirabeau  einen,  der  gegenwärtigen  Absicht  völlig  fremden,  politischen 
Gesichtspunkt  verfolgt  hätte.  S.  Collection  complette  des  travaiix  de  Mr.  Mirabeau 
l'aine  ä  l'Assemblee  nationale.     T.  V.  p.  498 — 524.*) 

V  Der  ,, Discours  sur  l'egalite  des  partages  dans  les  successions  en  ligne  directe", 
angeblich  Mirabeaus  letzte  für  die  Nationalversammlung  bestimmte  Rede,  die  an 
seinem  Todestage  (2.  April  i'jgi)  verlesen  wurde,  ist  neuerdings  als  nicht  von  ihm 
herrührend  erwiesen  worden;  vgl.  Stern,  Das  Leben  Mirabeaus  2,  295. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XI. 


^99 


ringert  oder  vergrössert  haben;  hingegen  keine  von  denjenigen, 
welche  entweder  in  Handlungen  des  Erblassers  bestanden,  oder 
sich  nur  auf  die  Person  desselben  bezogen.  Selbst  aber  mit  diesen 
Einschränkungen  bleibt  die  Möglichkeit,  seine  Nachkommenschaft 
durch  Verträge,  die  zur  Zeit  des  Lebens  geschlossen  sind,  in 
bindende  Verhältnisse  zu  verwikkeln,  noch  immer  zu  gross.  Denn 
man  kann  ebensogut  Rechte,  als  Stükke  seines  Vermögens  ver- 
äussern, eine  solche  ^"eräusse^ung  muss  nothwendig  für  die  Erben, 
die  in  keine  andre  Lage  treten  können,  als  in  welcher  der  Erb- 
lasser selbst  war,  verbindlich  sein,  und  nun  führt  der  getheilte 
Besiz  mehrerer  Rechte  auf  Eine  und  die  nemliche  Sache  allemal 
zwingende  persönliche  Verhältnisse  mit  sich.  Es  dürfte  daher 
wohl,  wenn  nicht  nothwendig,  doch  aufs  mindeste  sehr  rathsam 
sein,  wenn  der  Staat  entweder  untersagte,  Verträge  dieser  Art 
anders  als  auf  die  Lebenszeit  zu  machen,  oder  wenigstens  die 
Mittel  erleichterte,  eine  wirkliche  Trennung  des  Eigenthums  da  zu 
bewirken,  wo  ein  solches  Verhältniss  einmal  entstanden  wäre.  Die 
genauere  Ausführung  einer  solchen  Anordnung  gehört  wiederum 
nicht  hieher,  und  das  um  so  w^eniger,  als,  wie  es  mir  scheint,  die- 
selbe nicht  sowohl  durch  Feststellung  allgemeiner  Grundsäze,  als 
durch  einzelne,  auf  bestimmte  Verträge  gerichtete  Geseze  zu 
machen  sein  würde. 

Je  weniger  der  Mensch  anders  zu  handeln  vermocht  wird, 
als  sein  Wille  verlangt,  oder  seine  Kraft  ihm  erlaubt,  desto 
günstiger  ist  seine  Lage  im  Staat.  Wenn  ich  in  Bezug  auf  diese 
Wahrheit  —  um  welche  allein  sich  eigentlich  alle  in  diesem  Auf- 
saze  vorgetragene  Ideen  drehen  —  das  Feld  unsrer  Civiljuris- 
prudenz  übersehe :  so  zeigt  sich  mir,  neben  andren,  minder  erheb- 
lichen Gegenständen,  noch  ein  äusserst  wichtiger,  die  Gesellschaften 
nemlich,  welche  man,  im  Gegensaze  der  ph^-sischen,  Menschen, 
moralische  Personen  zu  nennen  pflegt.  Da  sie  immer  eine,  von 
der  Zahl  der  Mitglieder,  weiche  sie  ausmachen,  unabhängige  Ein- 
heit enthalten,  welche  sich,  mit  nur  unbeträchtlichen  \^eränderungen, 
durch  eine  lange  Reihe  von  Jahren  hindurch  erhält;  so  bringen 
sie  aufs  mindeste  alle  die  Nachtheile  hervor,  welche  im  Vorigen 
als  Folgen  leztwilliger  \''erordnungen  dargestellt  worden  sind. 
Denn  wenn  gleich  ein  sehr  grosser  Theil  ihrer  Schädlichkeit  bei 
uns  aus  einer,  nicht  nothwendig  mit  ihrer  Natur  verbundnen 
Einrichtung  —  den  ausschliesslichen  Privilegien  nemlich,  welche 
ihnen    bald    der    Staat    ausdrüklich ,    bald    die    Gewohnheit    still- 


200  5-    I^Jcen  zu  einem  Versuch 

schweigend  ertheilt,  und  durch  welche  sie  oft  wahre  poHtische 
Corps  werden  —  entsteht ;  so  führen  sie  doch  auch  an  sich  noch 
immer  eine  beträchtliche  Menge  von  Unbequemlichkeiten  mit  sich. 
Diese  aber  entstehen  allemal  nur  dann,  wenn  die  Verfassung  der- 
selben entweder  alle  Mitglieder,  gegen  ihren  Willen,  zu  dieser 
oder  jener  Anwendung  der  gemeinschaftlichen  Mittel  zwingt,  oder 
doch  dem  Willen  der  kleineren  Zahl,  durch  Nothwendigkeit  der 
Uebereinstimmung  aller,  erlaubt,  den  der  grösseren  zu  fesseln. 
Uebrigens  sind  Gesellschaften  und  Vereinigungen,  weit  entfernt 
an  sich  schädliche  Folgen  her^'^orzubringen ,  gerade  eins  der 
sichersten  und  zwekmässigsten  Mittel,  die  Ausbildung  des  Menschen 
zu  befördern  und  zu  beschleunigen.  Das  Vorzüglichste,  was  man 
hiebei  vom  Staat  zu  erwarten  hätte,  dürfte  daher  nur  die  Anord- 
nung sein,  dass  jede  moralische  Person  oder  Gesellschaft  für  nichts 
weiter,  als  für  die  Vereinigung  der  jedesmaligen  Mitglieder  anzu- 
sehen sei,  und  daher  nichts  diese  hindern  könne,  über  die  Ver- 
wendung der  gemeinschaftlichen  Kräfte  und  Mittel  durch  Stimmen- 
mehrheit nach  Gefallen  zu  beschliessen.  Nur  muss  man  sich  wohl 
in  Acht  nehmen  für  diese  Mitglieder  bloss  diejenigen  anzusehen, 
auf  welchen  wirklich  die  Gesellschaft  beruht,  nicht  aber  diejenigen, 
welcher  sich  diese  nur  etwa  als  Werkzeuge  bedienen  —  eine  Ver- 
wechslung, welche  nicht  selten,  und  vorzüglich  bei  Beurtheilung 
der  Rechte  der  Geistlichkeit  gemacht  worden  ist. 

Aus  diesem  bisherigen  Raisonnement  nun  rechtfertigen  sich, 
glaube  ich,  folgende  Grundsäze.  Da,  wo  der  Mensch  nicht 
bloss  innerhalb  des  Kreises,  seiner  Kräfte,  und 
seines  Eigenthums  bleibt,  sondern  Handlungen  vor 
nimmt,  welche  sich  unmittelbar  auf  den  andren  be- 
ziehen, legt  die  Sorgfalt  für  die  Sicherheit  dem 
Staat  folgende   Pflichten   auf. 

I.,  bei  denjenigen  Handlungen,  welche  ohne, 
oder  gegen  den  Willen  des  andren  vorgenommen 
werden,  muss  er  verbieten,  dass  dadurch  der  andre 
in  dem  Genuss  seiner  Kräfte,  oder  dem  Besiz  seines 
Eigenthums  gekränkt  werde;  im  Fall  der  Ueber tre- 
tung den  Beleidiger  zwingen,  den  angerichteten 
Schaden  zu  ersezen,  aber  den  Beleidigten  verhin- 
dern, unter  diesem  Vor  wände,  oder  ausserdem  eine 
Privatrache   an   demselben  zu   üben. 

2.,   diejenigen  Handlungen,  welche  mit   freier  Be- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XI.  20I 

willigung  des  andren  geschehen,  muss  er  in  eben 
denjenigen,  aber  keinen  engern  Schranken  halten, 
als  welche  den  Handlungen  einzelner  Menschen  im 
Vorigen  vorgeschrieben   sind.     (S.  S.  187.) 

3.,  wenn  unter  den  eben  erwähnten  Handlungen 
solche  sind,  aus  welchen  Rechte  und  Verbindlich- 
keiten für  die  Folge  unter  den  Partheien  entstehen 
(einseitige  und  gegenseitige  Willenserklärungen, 
Verträge  u.  s.  f.),  so  muss  der  Staat  das,  aus  denselben 
entspringende  Zwangsrecht  zwar  überall  da  schüzen, 
wo  dasselbe  in  dem  Zustande  der  Fähigkeit  gehöriger 
Ueberlegung,  in  Absicht  eines,  der  Disposition  des 
U ebertragenden  unterworfenen  Gegenstandes,  und 
mit  freier  Beschliessung  übertragen  wurde;  hingegen 
niemals  da,  wo  es  entweder  den  Handlenden  selbst 
an  einem  dieser  Stükke  fehlt,  oder  wo  ein  Dritter, 
gegen,  oder  ohne  seine  Einwilligung,  widerrechtlich 
beschränkt  werden  würde. 

4.,  selbst  bei  gültigen  Verträgen  muss  er,  wenn 
aus  denselben  solche  persönliche  Verbindlichkeiten, 
oder  vielmehr  ein  solches  persönliches  Verhältniss 
entspringt,  welches  die  Freiheit  sehr  eng  beschränkt, 
die  Trennung,  auch  gegen  den  Willen  Eines  Theils, 
immer  in  dem  Grade  der  Schädlichkeit  der  Beschrän- 
kung für  die  innere  Ausbildung  erleichtern;  und  da- 
her da,  wo  die  Leistung  der,  aus  dem  ^''erhältniss 
entspringenden  Pflichten  mit  inneren  Empfindungen 
genau  verschwistert  ist,  dieselbe  unbestimmt  und 
immer,  da  hingegen,  wo,  bei  zwar  enger  Beschrän- 
kung, doch  gerade  diess  nicht  der  Fall  ist,  nach  einer, 
zugleich  nach  der  Wichtigkeit  derBeschränkung  und 
der  Natur  des  Geschäfts  zu  bestimmenden  Zeit  er- 
lauben. 

5.,  wenn  jeniand  über  sein  Vermögen  auf  den  Fall 
seines  Todes  disj  oniren  will;  so  dürfte  es  zwar  rath- 
sam  sein,  die  Ernennung  des  nächsten  Erben,  ohne 
Hinzufügung  irgend  einer,  die  Fähigkeit  desselben, 
mit  dem  Vermögen  nach  Gefallen  zu  schalten,  ein- 
schränkenden Bedingung,   zu   gestatten;   hingegen 

6.,    ist    es     not h wendig     alle    weitere    Disposition 


202  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

dieser  Art  gänzlich  zu  untersagen;  und  zugleich  eine 
IntestatErbfolge  und  einen  bestimmten  Pflichttheil 
festzusezen. 

7.,  wenn  gleich  unter  Lebendigen  geschlossene 
Verträge  insofern  auf  die  Erben  ü berge hn  und  gegen 
die  Erben  erfüllt  werden  müssen,  als  sie  dem  hinter- 
lassenen  Vermögen  eine  andre  Gestalt  geben;  so  darf 
doch  der  Staat  nicht  nur  keine  weitere  Ausdehnung 
dieses  Sazes  gestatten,  sondern  es  wäre  auch  aller- 
dings rathsam,  wenn  derselbe  einzelne  Verträge, 
welche  ein  enges  und  beschränkendes  A'^erhältniss 
unter  den  Partheien  hervorbringen  (wie  z.  B.  die 
Theilung  der  Rechte  auf  Eine  Sache  zwischen  Meh- 
reren), entweder  nur  auf  die  Lebenszeit  zuschliessen 
erlaubte,  oder  doch  dem  Erben  des  einen  oder  andren 
Theils  dieTrennung  erleichterte.  Denn  w^enn  gleich 
hier  nicht  dieselben  Gründe,  als  im  Vorigen  bei  per- 
sönlichen Verhältnissen  eintreten;  so  ist  auch  die 
Einwilligung  der  Erben  minder  frei,  und  die  Dauer 
des  Verhältnisses   sogar  unbestimmt   lang. 

Wäre  mir  die  Aufstellung  dieser  Grundsäze,  völlig  meiner 
Absicht  nach,  gelungen;  so  müssten  dieselben  allen  denjenigen 
Fällen  die  höchste  Richtschnur  vorschreiben,  in  welchen  die  Givil- 
Gesezgebung  für  die  Erhaltung  der  Sicherheit  zu  sorgen  hat. 
So  habe  ich  auch  z.  B.  der  moralischen  Personen  in  denselben 
nicht  erwähnt,  da,  je  nachdem  eine  solche  Gesellschaft  durch 
einen  lezten  Willen,  oder  einen  Vertrag  entsteht,  sie  nach  den, 
von  diesen  redenden  Grundsäzen  zu  beurtheilen  ist.  Freilich  aber 
verbietet  mir  schon  der  Reichthum  der,  in  der  CivilGesezgebung 
enthaltenen  Fälle,  mir  mit  dem  Gelingen  dieses  Vorsazes  zu 
schmeicheln. 


XIL 

Dasjenige,  worauf  die  Sicherheit  der  Bürger  in  der  Gesellschalt 
vorzüglich  beruht,  ist  die  Uebertragung  aller  eigenmächtigen  Ver- 
folgung des  Rechts  an  den  Staat.  Aus  dieser  Uebertragung  ent- 
springt aber  auch  für  diesen  die  Pflicht,  den  Bürgern  nunmehr 
zu  leisten,  was  sie  selbst  sich  nicht  mehr  verschaffen  dürfen,  und 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XI.  XII.  20"^ 

folglich  das  Recht,  wenn  es  unter  ihnen  streitig  ist,  zu  entscheiden, 
und  den,  auf  dessen  Seite  es  sich  findet,  in  dem  Besize  desselben 
zu  schüzen.  Hiebei  tritt  der  Staat  allein,  und  ohne  alles  eigne 
Interesse  in  die  Stelle  der  Bürger.  Denn  die  Sicherheit  wird  hier 
nur  dann  wirklich  verlezt,  wenn  derjenige,  w^elcher  Unrecht  leidet, 
oder  zu  leiden  vermeint,  diess  nicht  geduldig  ertragen  will;  nicht 
aber  dann,  wenn  er  entweder  einwilligt,  oder  doch  Gründe  hat, 
sein  Recht  nicht  verfolgen  zu  wollen.  Ja  selbst  wenn  Unwissen- 
heit oder  Trägheit  Vernachlässigung  des  eignen  Rechtes  veranlasste, 
dürfte  der  Staat  sich  nicht  von  selbst  darin  mischen.  Er  hat 
seinen  Pflichten  Genüge  geleistet,  sobald  er  nur  nicht  durch  ver- 
wikkelte,  dunkle,  oder  nicht  gehörig  bekannt  gemachte  Geseze  zu 
dergleichen  Irrthümern  Gelegenheit  giebt.  Eben  diese  Gründe  gelten 
nun  auch  von  allen  Mitteln,  deren  der  Staat  sich  zur  Ausmittelung 
des  Rechts  da  bedient,  wo  es  wirklich  verfolgt  wird.  Er  darf 
darin  nemlich  niemals  auch  nur  einen  Schritt  weiter  zu  gehen 
wagen,  als  ihn  der  Wille  der  Partheien  führt.  Der  erste  Grund- 
saz  jeder  Prozessordnung  müsste  daher  nothwendig  der  sein,  nie- 
mals die  Wahrheit  an  sich  und  schlechterdings,  sondern  nur 
immer  insofern  aufzusuchen,  als  diejenige  Parthei  es  fordert, 
welche  deren  Aufsuchung  überhaupt  zu  verlangen  berechtigt  ist. 
Allein  auch  hier  treten  noch  neue  Schranken  ein.  Der  Staat  darf 
nemlich  nicht  jedem  Verlangen  der  Partheien  willfahren,  sondern 
nur  demjenigen,  welches  zur  Aufklärung  des  streitigen  Rechtes 
dienen  kann,  und  auf  die  Anwendung  solcher  Mittel  gerichtet  ist. 
welche,  auch  ausser  der  Staatsverbindung,  der  Mensch  gegen  den 
Menschen,  und  zwar  in  dem  Falle  gebrauchen  kann,  in  vrelchem 
bloss  ein  Recht  zwischen  ihnen  streitig  ist,  in  w^elchem  aber  der 
andre  ihm  entweder  überhaupt  nicht,  oder  wenigstens  nicht  er- 
wiesenermaassen  etwas  entzogen  hat.  Die  hinzukommende  Gewalt 
des  Staats  darf  nicht  mehr  thun,  als  nur  die  Anwendung  dieser 
Mittel  sichern,  und  ihre  Wirksamkeit  unterstüzen.  Hieraus  ent- 
steht der  Unterschied  zwischen  dem  C]ivil  und  Kriminalverfahren, 
dass  in  jenem  das  äusserste  Mittel  zur  Erforschung  der  Wahrheit 
der  Eid  ist,  in  diesem  aber  der  Staat  einer  grösseren  Freiheit  ge- 
niesst.  Da  der  Richter  bei  der  Ausmittelung  des  streitigen  Rechts 
gleichsam  zwischen  beiden  Theilen  steht,  so  ist  es  seine  Pflicht 
zu  verhindern,  dass  keiner  derselben  durch  die  Schuld  des  andern 
in  der  Erreichung  seiner  Absicht  entweder  ganz  gestört,  oder 
doch  hingehalten  werde;   und  so  entsteht  der  zweite  gleich  noth- 


204  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

wendige  Grundsaz,  das  Verfahren  der  Partheien,  während  des 
Prozesses,  unter  specieller  Aufsicht  zu  haben,  und  zu  verhindern, 
dass  es,  statt  sich  dem  gemeinschaftlichen  Endzwek  zu  nähern, 
sich  vielmehr  davon  entferne.  Die  höchste  und  genaueste  Be- 
folgung jedes  dieser  beiden  Grundsäze  würde,  dünkt  mich,  die 
beste  Prozessordnung  hervorbringen.  Denn  übersieht  man  den 
lezteren;  so  ist  der  Chikane  der  Partheien,  und  der  Nachlässigkeit 
und  den  eigensüchtigen  Absichten  der  Sachwalter  zuviel  Spielraum 
gelassen ;  so  werden  die  Prozesse  verwikkelt,  langwierig,  kostspielig ; 
und  die  Entscheidungen  dennoch  schief,  und  der  Sache,  wie  der 
Meinung  der  Partheien,  oft  unangemessen.  Ja  diese  Nachtheile 
tragen  sogar  zur  grösseren  Häufigkeit  rechtlicher  Streitigkeiten 
und  zur  Nahrung  der  Prozesssucht  bei.  Entfernt  man  sich  hin- 
gegen von  dem  ersteren  Grundsaz ;  so  wird  das  Verfahren  inquisi- 
torisch, der  Richter  erhält  eine  zu  grosse  Gewalt,  und  mischt  sich 
in  die  geringsten  Privatangelegenheiten  der  Bürger.  Von  beiden 
Extremen  finden  sich  Beispiele  in  der  Wirklichkeit,  und  die  Er- 
fahrung bestätigt,  dass,  wenn  das  zulezt  geschilderte  die  Ereiheit 
zu  eng  und  widerrechtlich  beschränkt,  das  zuerst  aufgestellte  der 
Sicherheit  des  Eigenthums  nachtheilig  ist. 

Der  Richter  braucht  zur  Untersuchung  und  Erforschung  der 
Wahrheit  Kennzeichen  derselben,  Beweismittel.  Daher  giebt  die 
Betrachtung,  dass  das  Recht  nicht  anders  wirksame  Gültigkeit  er- 
hält, als  wenn  es,  im  Fall  es  bestritten  würde,  eines  Beweises  vor 
dem  Richter  fähig  ist,  einen  neuen  Gesichtspunkt  für  die  Gesez- 
gebung  an  die  Hand.  Es  entsteht  nemlich  hieraus  die  Noth- 
wendigkeit  neuer  einschränkender  Geseze,  nemlich  solcher,  welche 
den  verhandelten  Geschäften  solche  Kennzeichen  beizugeben  ge- 
bieten, an  welchen  künftig  ihre  Wirklichkeit  oder  Gültigkeit  zu 
erkennen  sei.  Die  Nothwendigkeit  von  Gesezen  dieser  Art  fällt 
allemal  in  eben  dem  Grade,  in  welchem  die  Vollkommenheit  der 
Gerichtsverfassung  steigt;  ist  aber  am  grossesten  da,  w^o  diese  am 
mangelhaftesten  ist,  und  daher  der  meisten  äusseren  Zeichen  zum 
Beweise  bedarf.  Daher  findet  man  die  meisten  Formalitäten  bei 
den  unkultivirtesten  Völkern.  Stufenweise  erforderte  die  Vindi- 
kation eines  Akkers,  bei  den  Römern,  erst  die  Gegenwart  der 
Partheien  auf  dem  Akker  selbst,  dann  das  Bringen  einer  Erd- 
scholle desselben  ins  Gericht,  in  der  Folge  feierliche  Worte,  und 
endlich  auch  diese  nicht  mehr.  Ueberall,  vorzüglich  aber  bei 
minder   kultivirten   Nationen    hat    folglich   die   Gerichtsverfassung 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XII.  on:i 

einen  sehr  mächtigen  Einfluss  auf  die  Gesezgebung  gehabt,  der 
sich  sehr  oft  bei  weitem  nicht  auf  blosse  Formalitäten  beschränkt. 
Ich  erinnere  hier,  statt  eines  Beispiels,  an  die  Römische  Lehre 
von  Pakten  und  Kontrakten,  die,  wie  wenig  sie  auch  bisher  noch 
aufgeklärt  ist,  schweriich  aus  einem  andren  Gesichtspunkt  ange- 
sehen werden  darf.  Diesen  Einfluss  in  verschiedenen  Gesez- 
gebungen  verschiedener  Zeitalter  und  Nationen  zu  erforschen, 
dürfte  nicht  bloss  aus  vielen  andren  Gründen,  aber  auch  vorzüg- 
lich in  der  Hinsicht  nüzlich  sein,  um  daraus  zu  beurtheilen,  w^elche 
solcher  Geseze  wohl  allgemein  nothwendig,  welche  nur  in  Lokal- 
verhältnissen gegründet  sein  möchten.^  Denn  alle  Einschränkungen 
dieser  Art  aufzuheben,  dürfte  —  auch  die  Möglichkeit  angenommen 
—  schwerlich  rathsam  sein.  Denn  einmal  wird  die  Möglichkeit 
von  Betrügereien,  z.  B.  von  Unterschiebung  falscher  Dokumente 
u.  s.  f.  zu  wenig  erschwert;  dann  werden  die  Prozesse  verviel- 
fältigt, oder,  da  diess  vielleicht  an  sich  noch  kein  Uebel  scheint, 
die  Gelegenheiten  durch  erregte  unnüze  Streitigkeiten  die  Ruhe 
andrer  zu  stören  zu  mannigfaltig.  Nun  aber  ist  gerade  die  Streit- 
sucht, welche  sich  durch  Prozesse  äussert,  diejenige,  welche  — 
den  Schaden  noch  abgerechnet,  den  sie  dem  Vermögen,  der  Zeit, 
und  der  Gemüthsruhe  der  Bürger  zufügt  —  auch  auf  den  Charakter 
den  nachtheiligsten  Einfluss  hat,  und  gerade  durch  gar  keine  nüz- 
liche  Folgen  für  diese  Nachtheile  entschädigt.  Der  Schade  der 
Förmlichkeiten  hingegen  ist  die  Erschwerung  der  Geschäfte,  und 
die  Einschränkung  der  Freiheit,  die  in  jedem  Verhältniss  bedenk- 
lich ist.  Das  Gesez  muss  daher  auch  hier  einen  Mittelweg  ein- 
schlagen, Förmlichkeiten  nie  aus  einem  andern  Gesichtspunkt  an- 
ordnen, als  um  die  Gültigkeit  der  Geschäfte  zu  sichern,  und  Be- 
trügereien zu  verhindern,  oder  den  Beweis  zu  erleichtern;  selbst 
in  dieser  Absicht  dieselben  nur  da  fordern,  wo  sie  den  indivi- 
duellen Umständen  nach  nothwendig  sind,  wo  ohne  sie  jene  Be- 
trügereien zu  leicht  zu  besorgen,  und  dieser  Beweis  zu  schwer  zu 
führen  sein  würde;  zu  denselben  nur  solche  Regeln  vorschreiben, 
deren  Befolgung  mit  nicht  grossen  Schwierigkeiten  verbunden  ist; 
und  dieselben  von  allen  denjenigen  Fällen  gänzlich  entfernen,  in 
welchen  die  Besorgung  der  Geschäfte  durch  sie  nicht  bloss 
schwieriger,  sondern  so  gut  als  unmöglich  werden  würde. 

Gehörige  Rüksicht  auf  Sicherheit  und  Freiheit  zugleich  scheint 
daher  auf  folgende  Grundsäze  zu  führen: 

I.,  Eine   der  vorzüglichsten   Pflichten    des   Staats 


2o6  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

ist  die  Untersuchung  und  Entscheidung  der  recht- 
lichen Streitigkeiten  derBürger.  Derselbe  tritt  dabei 
an  die  Stelle  der  Partheien,  und  der  eigentliche  Zw ek 
seinerDazwischenkunft  besteht  allein  darin,  auf  der 
einen  Seite  gegen  ungerechte  Forderungen  zu  be- 
schüzen,  auf  der  andren  gerechten  denjenigen  Nach- 
druk  zu  geben,  welchen  sie  von  den  Bürgern  selbst 
nur  auf  eine,  die  öffentliche  Ruhe  störende  Weise  er- 
halten könnten.  Er  muss  daher,  während  der  Unter- 
suchung des  streitigen  Rechts,  dem  Willen  der  Par- 
theien, insofern  derselbe  nur  in  dem  Rechte  gegrün- 
det ist,  folgen,  aber  jede,  sich  widerrechtlicher 
Mittel   gegen   die   andre  zu   bedienen,   verhindern. 

2.,  Die  Entscheidung  des  streitigen  Rechts  durch 
den  Richter  kann  nur  durch  bestimmte,  gesezlich 
angeordnete  Kennzeichen  der  Wahrheit  geschehen. 
Hieraus  entspringt  die  Nothwendigkeit  einer  neuen 
Gattung  derGeseze,  derjenigen  nemlich,  welche  den 
rechtlichen  Geschäften  gewisse  bestimmte  Charak- 
tere beizulegen  verordnen.  Bei  derAbfassungdieser 
nun  muss  der  Gesezgeber  einmal  immer  allein  von 
demGesichtspunktgeleitetwerden,  dieAuthenticität 
der  rechtlichen  Geschäfte  gehörig  zu  sichern,  und 
denBeweis  im  Prozesse  nicht  zu  sehr  zu  erschweren; 
ferner  aber  unaufhörlich  die  Vermeidung  des  ent- 
gegengesezten  Extrems,  der  zugrossenErschwerung 
der  Geschäfte,  vor  Augen  haben,  und  endlich  nie  da 
eine  Anordnung  treffen  wollen,  wo  dieselbe  den 
Lauf  der  Geschäfte  so  gut,  als  gänzlich  hemmen 
w  ü  r  d  e. 


XIII. 

Das  lezte,  und  vielleicht  wichtigste  Mittel,  für  die  Sicherheit 
der  Bürger  Sorge  zu  tragen,  ist  die  Bestrafung  der  Uebertretung 
der  Geseze  des  Staats.  Ich  muss  daher  noch  auf  diesen  Gegen- 
stand die  im  Vorigen  entwikkelten  Grundsäze  anwenden.  Die 
erste  Frage  nun,  welche  hiebei  entsteht,  ist  die:  welche  Hand- 
lungen der  Staat  mit  Strafen  belegen,  gleichsam  als  Verbrechen 
aufstellen  kann  ?    Die  Antwort  ist  nach  dem  Vorigen  leicht.    Denn 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XII.  XIII. 


207 


da  der  Staat  keinen  andren  Endzwek,  als  die  Sicherheit  der  Bürger, 
verfolgen  darf;  so  darf  er  auch  keine  andre  Handlungen  ein- 
schränken, als  welche  diesem  Endzwek  entgegenlaufen.  Diese 
aber  verdienen  auch  insgesammt  angemessene  Bestrafung.  Denn 
nicht  bloss,  dass  ihr  Schade,  da  sie  gerade  das  stören,  was  dem 
Menschen  zum  Genuss,  wäe  zur  Ausbildung  seiner  Ivräfte  das  un- 
entbehrlichste ist,  zu  wichtig  ist,  um  ihnen  nicht  durch  jedes 
zw^ekmässige  und  erlaubte  Mittel  entgegenzuarbeiten ;  so  muss  auch, 
schon  den  ersten  Rechtsgrundsäzen  nach,  jeder  sich  gefallen  lassen, 
dass  die  Strafe  eben  so  weit  gleichsam  in  den  Kreis  seines  Rechts 
eingreife,  als  sein  Verbrechen  in  den  des  fremden  eingedrungen 
ist.  Hingegen  Handlungen,  welche  sich  allein  auf  den  Handlenden 
beziehen,  oder  mit  Einwilligung  dessen  geschehen,  den  sie  treffen, 
zu  bestrafen,  verbieten  eben  die  Grundsäze,  welche  dieselben  nicht 
einmal  einzuschränken  erlauben;  und  es  dürfte  daher  nicht  nur 
keins  der  sogenannten  fleischlichen  Verbrechen  (die  Nothzucht 
ausgenommen),  sie  möchten  Aergerniss  geben  oder  nicht,  unter- 
nommener Selbstmord  u.  s.  f.  bestraft  werden,  sondern  sogar  die 
Ermordung  eines  andren  mit  Bewilligung  desselben  müsste  unge- 
straft bleiben,  w^enn  nicht  in  diesem  lezteren  Falle  die  zu  leichte 
Möglichkeit  eines  gefährlichen  Misbrauchs  ein  Strafgesez  noth- 
wendig  machte.  Ausser  denjenigen  Gesezen,  welche  unmittelbare 
Kränkungen  der  Rechte  andrer  untersagen,  giebt  es  noch  andre 
verschiedener  Gattung,  deren  theils  schon  im  Vorigen  gedacht  ist, 
theils  noch  erwähnt  werden  wird.  Da  jedoch,  bei  dem,  dem  Staat 
allgemein  vorgeschriebenen  Endzwek,  auch  diese,  nur  mittelbar, 
zur  Erreichung  jener  Absicht  hinstreben;  so  kann  auch  bei  diesen 
Bestrafung  des  Staats  eintreten,  insofern  nicht  schon  ihre  Ueber- 
tretung  allein  unmittelbar  eine  solche  mit  sich  führt  wie  z.  B.  die 
Uebertretung  des  Verbots  der  Fideikommisse  die  Ungültigkeit  der 
gemachten  Verfügung.  Es  ist  diess  auch  um  so  nothwendiger, 
als  es  sonst  hier  gänzlich  an  einem  Zwangsmittel  fehlen  würde, 
dem  Geseze  Gehorsani  zu  verschaffen. 

Von  dem  Gegenstande  der  Bestrafung  wende  ich  mich  zu  der 
Strafe  selbst.  Das  Maass  dieser  auch  nur  in  sehr  weiten  Gränzen 
vorzuschreiben,  nur  zu  bestimmen,  über  w^elchen  Grad  hinaus  die- 
selbe nie  steigen  dürfe,  halte  ich  in  einem  allgemeinen,  schlechter- 
dings auf  gar  keine  Lokal  Verhältnisse  bezogenen  Raisonnement  für 
unmöglich.  Die  Strafen  müssen  Uebel  sein,  welche  die  Verbrecher 
zurükschrekken.     Nun  aber  sind   die  Grade,  wie  die  Verschieden- 


2o8  5-    I^een  zu  einem  Versuch 

heiten  des  physischen  und  moralischen  Gefühls  nach  der  Ver- 
schiedenheit der  Erdstriche  und  Zeitalter  unendlich  verschieden 
und  wechselnd.  Was  daher  in  einem  gegebenen  Falle  mit  Recht 
Grausamkeit  heisst,  das  kann  in  einem  andren  die  Nothwendigkeit 
selbst  erheischen.  Nur  soviel  ist  gev^^iss,  dass  die  Vollkommenheit 
der  Strafen  immer  —  versteht  sich  jedoch  bei  gleicher  Wirksam- 
keit —  mit  dem  Grade  ihrer  Gelindigkeit  wächst.  Denn  nicht 
bloss,  dass  geUnde  Strafen  schon  an  sich  geringere  Uebel  sind; 
so  leiten  sie  auch  den  Menschen  auf  die,  seiner  am  meisten  würdige 
Weise  von  Verbrechen  ab.  Denn  je  minder  sie  physisch  schmerz- 
haft und  schrekUch  sind,  desto  mehr  sind  sie  es  moralisch;  da 
hingegen  grosses  körperliches  Leiden  bei  dem  Leidenden  selbst 
das  Gefühl  der  Schande,  bei  dem  Zuschauer  das  der  Misbilligung 
vermindert.  Daher  kommt  es  denn  auch,  dass  gelinde  Strafen  in 
der  That  viel  öfter  angewendet  werden  können,  als  der  erste  An- 
blik  zu  erlauben  scheint,  indem  sie  auf  der  andren  Seite  ein  er- 
sezendes  moralisches  Gegengewicht  erhalten.  Ueberhaupt  hängt 
die  Wirksamkeit  der  Strafen  ganz  und  gar  von  dem  Eindruk  ab, 
welchen  dieselben  auf  das  Gemüth  der  Verbrecher  machen,  und 
beinah  liesse  sich  behaupten,  dass  in  einer  Reihe  gehörig  abge- 
stufter Stufen  es  einerlei  sei,  bei  welcher  Stufe  man  gleichsam, 
als  bei  der  höchsten,  stehen  bleibe,  da  die  Wirkung  einer  Strafe 
in  der  That  nicht  sowohl  von  ihrer  Natur  an  sich,  als  von  dem 
Plaze  abhängt,  den  sie  in  der  Stufenleiter  der  Strafen  überhaupt 
einnimmt,  und  man  leicht  das  für  die  höchste  Strafe  erkennt, 
was  der  Staat  dafür  erklärt.  Ich  sage  beinah,  denn  völlig  würde 
die  Behauptung  nur  freilich  dann  richtig  sein,  wenn  die  Strafen 
des  Staats  die  einzigen  Uebel  wären,  welche  dem  Bürger  drohten. 
Da  diess  hingegen  der  Fall  nicht  ist,  vielmehr  oft  sehr  reelle 
Uebel  ihn  gerade  zu  Verbrechen  veranlassen;  so  muss  freilich 
das  Maass  der  höchsten  Strafe,  und  so  der  Strafen  überhaupt, 
welche  diesen  Uebeln  entgegenwirken  sollen,  auch  mit  Rük- 
sicht  auf  sie  bestimmt  werden.  Nun  aber  wird  der  Bürger  da, 
wo  er  einer  so  grossen  Freiheit  geniesst,  als  diese  Blätter  ihm  zu 
sichren  bemüht  sind,  auch  in  einem  grosseren  Wohlstande  leben; 
seine  Seele  wird  heitrer,  seine  Phantasie  lieblicher  sein,  und  die 
Strafe  wird,  ohne  an  Wirksamkeit  zu  verlieren,  an  Strenge  nach- 
lassen können.  So  wahr  ist  es,  dass  alles  Gute  und  Beglükkende 
in  wundervoller  Harmonie  steht,  und  dass  es  nur  nothwendig  ist, 
Eins  herbeizuführen,   um   sich   des  Segens   alles  Uebrigen  zu   er- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII. 


209 


freuen.  Was  sich  daher  in  dieser  Materie  allgemein  bestimmen 
lässt,  ist,  dünkt  mich,  allein,  dass  die  höchste  Strafe  die,  den  Lokal- 
verhältnissen nach,  möglichst  gelinde  sein  muss. 

Nur  Eine  Gattung  der  Strafen  müsste,  glaube  ich,  gänzlich 
ausgeschlossen  werden,  die  Ehrlosigkeit,  Infamie.  Denn  die  Ehre 
eines  Menschen,  die  gute  Meinung  seiner  Mitbürger  von  ihm,  ist 
keinesweges  etw^as,  das  der  Staat  in  seiner  Gewalt  hat.  Auf  jeden 
Fall  reduzirt  sich  daher  diese  Strafe  allein  darauf,  dass  der  Staat 
dem  Verbrecher  die  Merkmale  seiner  Achtung  und  seines 
Vertrauens  entziehn,  und  andren  gestatten  kann  diess  gleichfalls 
ungestraft  zu  thun.  So  wenig  ihm  nun  auch  die  Befugniss  abge- 
sprochen w^erden  darf  sich  dieses  Rechts,  wo  er  es  für  noth- 
w'endig  hält,  zu  bedienen,  und  so  sehr  sogar  seine  Pflicht  es  er- 
fordern kann;  so  halte  ich  dennoch  eine  allgemeine  Erklärung, 
dass  er  es  thun  wolle,  keinesweges  für  rathsam.  Denn  einmal 
sezt  dieselbe  eine  gewisse  Konsequenz  im  Unrechthandlen  bei  dem 
Bestraften  voraus,  die  sich  doch  in  der  That  in  der  Erfahrung 
wenigstens  nur  selten  findet;  dann  ist  sie  auch,  selbst  bei  der 
gelindesten  Art  der  Abfassung,  selbst  wenn  sie  bloss  als  eine  Er- 
klärung des  gerechten  Mistrauens  des  Staats  ausgedrukt  wird, 
immer  zu  unbestimmt,  um  nicht  an  sich  manchem  Misbrauch 
Raum  zu  geben,  und  um  nicht  wenigstens  oft,  schon  der  Konse- 
quenz der  Grundsäze  wegen,  mehr  Fälle  unter  sich  zu  begreifen, 
als  der  Sache  selbst  wegen  nöthig  wäre.  Denn  die  Gattungen 
des  Vertrauens,  welches  man  zu  einem  Menschen  fassen  kann, 
sind,  der  Verschiedenheit  der  Fälle  nach,  so  unendlich  mannigfaltig, 
dass  ich  kaum  unter  allen  Verbrechen  ein  Einziges  w^eiss,  welches 
den  Verbrecher  zu  allen  auf  Einmal  unfähig  machte.  Dazu  führt 
indess  doch  immer  ein  allgemeiner  Ausdruk,  und  der  Mensch,  bei 
dem  man  sich  sonst  nur,  bei  dahin  passenden  Gelegenheiten,  er- 
innern würde,  dass  er  dieses  oder  jenes  Gesez  übertreten  habe, 
trägt  nun  überall  ein  Zeichen  der  Unwürdigkeit  mit  sich  herum. 
Wie  hart  aber  diese  Stiafe  sei,  sagt  das,  gewiss  keinem  Menschen 
fremde  Gefühl,  dass,  ohne  das  Vertrauen  seiner  Mitmenschen,  das 
Leben  selbst  wünschen>.werth  zu  sein  aufhört.  Mehrere  Schwierig- 
keiten zeigen  sich  nun  noch  bei  der  näheren  Anwendung  dieser 
Strafe.  Mistrauen  gegen  die  Rechtschaffenheit  muss  eigentlich 
überall  da  die  Folge  sein,  wo  sich  Mangel  derselben  gezeigt  hat. 
Auf  wie  viele  Fälle  aber  alsdann  diese  Strafe  ausgedehnt  werde, 
sieht  man  von  selbst.     Nicht  minder  gross   ist  die  Schwierigkeit 

W.  V.  Humboldt,   Werke.     I.  I4 


210  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

bei  der  Frage :  wie  lange  die  Strafe  dauern  solle  ?  Unstreitig  wird 
jeder  Billigdenkende  sie  nur  auf  eine  gewisse  Zeit  hin  erstrekken 
wollen.  Aber  wird  der  Richter  bewirken  können,  dass  der,  so 
lange  mit  dem  Mistrauen  seiner  Mitbürger  Beladene,  nach  Ver- 
lauf eines  bestimmten  Tages,  auf  einmal  ihr  Vertrauen  wieder- 
gewinne? Endlich  ist  es  den,  in  diesem  ganzen  Aufsaz  vorge- 
tragenen Grundsäzen  nicht  gemäss,  dass  der  Staat  der  Meinung 
der  Bürger,  auch  nur  auf  irgend  eine  Art,  eine  gewisse  Richtung 
geben  wolle.  Meines  Erachtens,  wäre  es  daher  rathsamer,  dass 
der  Staat  sich  allein  in  den  Gränzen  der  Pflicht  hielte,  welche  ihm 
allerdings  obliegt,  die  Bürger  gegen  verdächtige  Personen  zu 
sichern,  und  dass  er  daher  überall,  wo  diess  nothwendig  sein 
kann,  z.  B.  bei  Besezung  von  Stellen,  Gültigkeit  der  Zeugen, 
Fähigkeit  der  Vormünder  u.  s.  f.  durch  ausdrükliche  Geseze 
verordnete,  dass,  wer  diess  oder  jenes  Verbrechen  begangen,  diese 
oder  jene  Strafe  erlitten  hätte,  davon  ausgeschlossen  sein  solle; 
übrigens  aber  sich  aller  weiteren,  allgemeinen  Erklärung  des  Mis- 
trauens,  oder  gar  des  Verlustes  der  Ehre  gänzlich  enthielte.  Als- 
dann wäre  es  auch  sehr  leicht,  eine  Zeit  zu  bestimmen,  nach  Ver- 
lauf welcher  ein  solcher  Einwand  nicht  mehr  gültig  sein  solle. 
Dass  es  übrigens  dem  Staat  immer  erlaubt  bleibe,  durch  ^)  be- 
schimpfende Strafen  auf  das  Ehrgefühl  zu  wirken,  bedarf  von 
selbst  keiner  Erinnerung.  Ebensowenig  brauche  ich  noch  zu 
wiederholen,  dass  schlechterdings  keine  Strafe  geduldet  werden 
muss,  die  sich  über  die  Person  des  Verbrechers  hinaus,  auf  seine 
Kinder,  oder  Verwandte  erstrekt.  Gerechtigkeit  und  Billigkeit 
sprechen  mit  gleich  starker  Stimme  gegen  sie;  und  selbst  die 
Vorsichtigkeit,  mit  welcher  sich,  bei  Gelegenheit  einer  solchen 
Strafe,  das,  übrigens  gewiss  in  jeder  Rüksicht  vortref liehe  Preus- 
sische  Gesezbuch  ausdrukt,  vermag  nicht  die,  in  der  Sache  selbst 
allemal  liegende  Härte  zu  mindern.*) 

Wenn   das   absolute  Maass   der  Strafen   keine   allgemeine  Be- 


*)  Th.  2.  Tit.  20.  §.  95.=) 

^J  Nach  „durch"  gestrichen  „entehrende  und". 

^)  Dieser  Paragraph  des  Allgemeinen  Landrechts  für  die  preußischen  Staaten 
lautet:  „Dergleichen  Hochverräter  werden  nicht  nur  ihres  sämmtlichen  Ver- 
mögens und  aller  bürgerlichen  Ehre  verlustig,  sondern  tragen  auch  die  Schuld 
des  Unglücks  ihrer  Kinder,  wenn  der  Staat  zur  Abwendung  künftiger  Gefahren 
dieselben  in  beständiger  Gefangenschaft  zu  behalten  oder  zu  verbannen  nötig 
finden  sollte." 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII.  2 1  I 

Stimmung  erlaubt;  so  ist  dieselbe  hingegen  um  so  nothwendiger 
bei  dem  relativen.  Es  muss  nemlich  festgesezt  werden,  was  es 
eigentlich  ist,  w^onach  sich  der  Grad  der,  auf  verschiedne  Ver- 
brechen gesezten  Strafen  bestimmen  muss  ?  Den  im  Vorigen  ent- 
wikkelten  Grundsäzen  nach,  kann  diess,  dünkt  mich,  nichts  anders 
sein,  als  der  Grad  der  Nicht  Achtung  des  fremden  Rechts  in  dem 
Verbrechen,  ein  Grad,  welcher,  da  hier  nicht  von  der  Anwendung 
eines  Strafgesezes  auf  einen  einzelnen  Verbrecher,  sondern  von 
allgemeiner  Bestimmung  der  Strafe  überhaupt  die  Rede  ist,  nach 
der  Natur  des  Rechts  beurtheilt  werden  muss,  welches  das  Xer- 
brechen  kränkt.  Zwar  scheint  die  natürlichste  Bestimmung  der 
Grad  der  Leichtigkeit  oder  Schwierigkeit  zu  sein,  das  Verbrechen 
zu  verhindern,  so  dass  die  Grösse  der  Strafe  sich  nach  der  Quan- 
tität der  Gründe  richten  müsste,  welche  zu  dem  Verbrechen 
trieben,  oder  davon  zurükhielten.  Allein  wird  dieser  Grundsaz 
richtig  verstanden;  so  ist  er  mit  dem  eben  aufgestellten  einerlei. 
Denn  in  einem  wohlgeordneten  Staate,  wo  nicht  in  der  Verfassung 
selbst  liegende  Umstände  zu  Verbrechen  veranlassen,  kann  es 
keinen  andren  eigentlichen  Grund  zu  ^>rb^echen  geben,  als  eben 
jene  Nicht  Achtung  des  fremden  Rechts,  welcher  sich  nur  die  zu 
Verbrechen  reizenden  Antriebe,  Neigungen,  Leidenschaften  u.  s.  f. 
bedienen,  ^"ersteht  man  aber  jenen  Saz  anders,  meint  man,  es 
müssten  den  ^>rbrechen  immer  in  dem  Grade  grosse  Strafen 
entgegengesezt  werden,  in  welchem  gerade  Lokal-  oder  Zeitver- 
hältnisse sie  häufiger  machen,  oder  gar,  ihrer  Natur  nach,  (wie 
es  bei  so  manchen  Polizeiverbrechen  der  Fall  ist)  moralische 
Gründe  sich  ihnen  weniger  eindringend  widersezen;  so  ist  dieser 
Maassstab  ungerecht  und  schädlich  zugleich.  Er  ist  ungerecht. 
Denn  so  richtig  es  wenigstens  insofern  ist,  Verhinderung  der  Be- 
leidigungen für  die  Zukunft  als  den  Zwek  aller  Strafen  anzu- 
nehmen, als  keine  Strafe  je  aus  einem  andren  Zwekke  verfügt 
werden  darf;  so  entspringt  doch  die  Verbindlichkeit  des  Beleidigten, 
die  Strafe  zu  dulden,  eigentlich  daraus,  dass  jeder  sich  gefallen 
lassen  muss,  seine  Rechte  von  dem  Andren  insoweit  verlezt  zu 
sehen,  als  er  selbst  die  Rechte  desselben  gekränkt  hat.  Darauf 
beruht  nicht  bloss  diese  Verbindhchkeit  ausser  der  Staatsverbindung, 
sondern  auch  in  derselben.  Denn  die  Herleitung  derselben  aus 
einem  gegenseitigen  Vertrag  ist  nicht  nur  unnüz,  sondern  hat  auch 
die  Schwierigkeit,  dass  z.  B.  die,  manchmal  und  unter  gewissen 
Lokalumständen   offenbar  nothwendige  Todesstrafe  bei   derselben 

14* 


212  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

schwerlich  gerechtfertigt  werden  kann-,  und  dass  jeder  Verbrecher 
sich  von  der  Strafe  befreien  könnte,  wenn  er,  bevor  er  sie  Htte, 
sich  von  dem  gesellschaftlichen  Vertrage  lossagte,  wie  z.  B.  in  den 
alten  Freistaaten  die  freiwillige  Verbannung  war,  die  jedoch,  wenn 
mich  mein  Gedächtniss  nicht  trügt,  nur  bei  Staats-,  nicht  bei 
PrivatVerbrechen  geduldet  ward.  Dem  Beleidiger  selbst  ist  daher 
gar  keine  Rüksicht  auf  die  Wirksamkeit  der  Strafe  erlaubt;  und 
wäre  es  auch  noch  so  gewiss,  dass  der  Beleidigte  keine  zweite 
Beleidigung  von  ihm  zu  fürchten  hätte,  so  müsste  er,  dessen  un- 
geachtet, die  Rechtmässigkeit  der  Strafe  anerkennen.  Allein  auf 
der  andren  Seite  folgt  auch  aus  eben  diesem  Grundsaz,  dass  er 
sich  auch  jeder,  die  Quantität  seines  Verbrechens  überschreitenden 
Strafe  rechtmässig  widersezen  kann,  wie  gewiss  es  auch  sein 
möchte,  dass  nur  diese  Strafe,  und  schlechterdings  keine  gelindere 
völlig  wirksam  sein  würde.  Zwischen  dem  inneren  Gefühle  des 
Rechts,  und  dem  Genuss  des  äusseren  Glüks  ist,  wenigstens  in  der 
Idee  des  Menschen,  ein  unläugbarer  Zusammenhang,  und  es  ver- 
mag nicht  bestritten  zu  werden,  dass  er  sich  durch  das  Erstere 
zu  dem  Lezteren  berechtigt  glaubt.  Ob  diese  seine  Erwartung  in 
Absicht  des  Glüks  gegründet  ist,  welches  ihm  das  Schiksal  ge- 
währt, oder  versagt?  —  eine  allerdings  zweifelhaftere  Frage  — 
darf  hier  nicht  erörtert  werden.  Allein  in  Absicht  desjenigen, 
welches  andre  ihm  willkührlich  geben  oder  entziehen  können, 
muss  seine  Befugniss  zu  derselben  nothwendig  anerkannt  werden ; 
da  hingegen  jener  Grundsaz  sie,  wenigstens  der  That  nach,  abzu- 
läugnen  scheint.  Es  ist  aber  auch  ferner  jener  Maassstab,  sogar 
für  die  Sicherheit  selbst,  nachtheilig.  Denn  wenn  er  gleich  diesem, 
oder  jenem  einzelnen  Geseze  vielleicht  Gehorsam  erzwingen  kann; 
so  verwirrt  er  gerade  das,  was  die  festeste  Stüze  der  Sicherheit 
der  Bürger  in  einem  Staate  ist,  das  Gefühl  der  Moralität,  indem 
er  einen  Streit  zwischen  der  Behandlung,  welche  der  Verbrecher 
erfährt,  und  der  eignen  Empfindung  seiner  Schuld  veranlasst. 
Dem  fremden  Rechte  Achtung  zu  verschaffen,  ist  das  einzige 
sichre  und  unfehlbare  Mittel,  Verbrechen  zu  verhüten;  und  diese 
Absicht  erreicht  man  nie,  sobald  nicht  jeder,  welcher  fremdes 
Recht  angreift,  gerade  in  eben  dem  Maasse  in  der  Ausübung  des 
seinigen  gehemmt  wird,  die  Ungleichheit  möge  nun  im  Mehr  oder 
im  Weniger  bestehen.  Denn  nur  eine  solche  Gleichheit  bewahrt 
die  Harmonie  zwischen  der  inneren  moralischen  Ausbildung  des 
Menschen,   und    dem   Gedeihen    der  Veranstaltungen    des   Staats, 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII. 


21'^ 


ohne  welche  auch  die  künstlichste  Gesezgebung  allemal  ihres  End- 
zweks  verfehlen  wird.  Wie  sehr  aber  nun  die  Erreichung  aller 
übrigen  Endzwekke  des  Menschen,  bei  Befolgung  des  oben  er- 
wähnten Maassstabes,  leiden  würde,  wie  sehr  dieselbe  gegen  alle, 
in  diesem  Aufsaze  vorgetragene  Grundsäze  streitet;  bedarf  nicht 
mehr  einer  weiteren  Ausführung.  Die  Gleichheit  zwischen  Ver- 
brechen und  Strafe,  welche  die  eben  entwikkelten  Ideen  fordern, 
kann  wiederum  nicht  absolut  bestimmt,  es  kann  nicht  allgemein 
gesagt  w^erden,  dieses  oder  jenes  Verbrechen  verdient  nur  eine 
solche  oder  solche  Strafe.  Nur  bei  einer  Reihe,  dem  Grade  nach 
verschiedener  Verbrechen  kann  die  Beobachtung  dieser  Gleichheit 
vorgeschrieben  werden,  indem  nun  die,  für  diese  Verbrechen  be- 
stimmten Strafen  in  gleichen  Graden  abgestuft  w^erden  müssen. 
Wenn  daher,  nach  dem  Vorigen,  die  Bestimmung  des  absoluten 
Maasses  der  Strafen,  z.  B.  der  höchsten  Strafe  sich  nach  der- 
jenigen Quantität  des  zugefügten  Uebels  richten  muss,  welche  er- 
fordert wird,  um  das  Verbrechen  für  die  Zukunft  zu  verhüten; 
so  muss  das  relative  Maass  der  übrigen,  wenn  jene,  oder  über- 
haupt Eine  einmal  festgesezt  ist,  nach  dem  Grade  bestimmt  werden, 
um  welchen  die  Verbrechen,  für  die  sie  bestimmt  sind,  grösser 
oder  kleiner,  als  dasjenige,  sind,  welches  jene,  zuerst  verhängte 
Strafe  verhüten  soll.  Die  härteren  Strafen  müssten  daher  die- 
jenigen Verbrechen  treffen,  welche  wirklich  in  den  Kreis  des 
fremden  Rechts  eingreifen;  gelindere  die  Uebertretung  derjenigen 
Geseze,  welche  jenes  nur  zu  verhindern  bestimmt  sind,  wie  wichtig 
und  nothwendig  diese  Geseze  auch  an  sich  sein  möchten.  Da- 
durch wird  dann  zugleich  die  Idee  bei  den  Bürgern  vermieden, 
dass  sie  vom  Staat  eine  willkührliche,  nicht  gehörig  motivirte  Be- 
handlung erführen  —  ein  Vorurtheil,  welches  sehr  leicht  entsteht, 
wenn  harte  Strafen  auf  Handlungen  gesezt  sind,  die  entweder 
wirklich  nur  einen  entfernten  Einfluss  auf  die  Sicherheit  haben, 
oder  deren  Zusammenhang  damit  doch  weniger  leicht  einzusehen 
ist.  Unter  jenen  erstgenannten  A^erbrechen  aber  müssten  die- 
jenigen am  härtesten  bestraft  w^erden,  welche  unmittelbar  und 
geradezu  die  Rechte  des  Staats  selbst  angreifen,  da,  wer  die 
Rechte  des  Staats  nicht  achtet,  auch  die  seiner  Mitbürger  nicht  zu 
ehren  vermag,  deren  Sicherheit  allein  von  jenen  abhängig  ist. 

Wenn  auf  diese  Weise  Verbrechen  und  Strafe  allgemein  von 
dem  Geseze  bestimmt  sind,  so  muss  nun  diess  gegebene  Straf- 
gesez   auf  einzelne  Verbrechen   angewendet   werden.     Bei   dieser 


214.  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Anwendung  sagen  schon  die  Grundsäze  des  Rechts  von  selbst, 
dass  die  Strafe  nur  nach  dem  Grade  des  Vorsazes,  oder  der 
Schuld  den  Verbrecher  treffen  kann,  mit  welchem  er  die  Hand- 
lung begieng.  Wenn  aber  der  oben  aufgestellte  Grundsaz,  dass 
nemlich  immer  die  Nicht  Achtung  des  fremden  Rechts,  und  nur 
diese  bestraft  werden  darf,  völlig  genau  befolgt  werden  soll;  so 
darf  derselbe,  auch  bei  der  Bestrafung  einzelner  Verbrechen,  nicht 
vernachlässigt  werden.  Bei  jedem  verübten  Verbrechen  muss 
daher  der  Richter  bemüht  sein,  soviel  möglich,  die  Absicht  des 
Verbrechers  genau  zu  erforschen,  und  durch  das  Gesez  in  den 
Stand  gesezt  werden,  die  allgemeine  Strafe  noch  nach  dem  indivi- 
duellen Grade,  in  welchem  er  das  Recht,  welches  er  beleidigte, 
ausser  Augen  sezte,  zu  modificiren. 

Das  Verfahren  gegen  den  Verbrecher  während  der  Unter- 
suchung findet  gleichfalls  sowohl  in  den  allgemeinen  Grundsäzen 
des  Rechts,  als  in  dem  Vorigen  seine  bestimmten  Vorschriften. 
Der  Richter  muss  nemlich  alle  rechtmässige  Mittel  anwenden,  die 
Wahrheit  zu  erforschen,  darf  sich  hingegen  keines  erlauben,  das 
ausserhalb  der  Schranken  des  Rechts  liegt.  Er  muss  daher  vor 
allen  Dingen  den  bloss  verdächtigen  Bürger  von  dem  überführten 
Verbrecher  sorgfältig  unterscheiden,  und  nie  den  ersteren,  wie  den 
lezteren,  behandeln;  überhaupt  aber  nie,  auch  den  überwiesenen 
Verbrecher  in  dem  Genuss  seiner  Menschen  und  Bürgerrechte 
kränken,  da  er  die  ersteren  erst  mit  dem  Leben,  die  lezteren  erst 
durch  eine  gesezmässige  richterliche  Ausschliessung  aus  der  Staats- 
verbindung verlieren  kann.  Die  Anwendung  von  Mitteln,  welche 
einen  eigentlichen  Betrug  enthalten,  dürfte  daher  ebenso  unerlaubt 
sein,  als  die  Folter.  Denn  wenn  man  dieselbe  gleich  vielleicht 
dadurch  entschuldigen  kann,  dass  der  Verdächtige,  oder  wenigstens 
der  Verbrecher  selbst  durch  seine  eignen  Handlungen  dazu  be- 
rechtiget ;  so  sind  sie  dennoch  der  Würde  des  Staats,  welchen  der 
Richter  vorstellt,  allemal  unangemessen ;  und  wie  heilsame  Folgen 
ein  ofnes  und  gerades  Betragen,  auch  gegen  Verbrecher,  auf  den 
Charakter  der  Nation  haben  würde,  ist  nicht  nur  an  sich,  sondern 
auch  aus  der  Erfahrung  derjenigen  Staaten  klar,  welche  sich,  wie 
2.  B.  England,  hierin  einer  edlen  Gesezgebung  erfreuen. 

Zulezt  muss  ich,  bei  Gelegenheit  des  Kriminalrechts,  noch 
eine  Frage  zu  prüfen  versuchen,  welche  vorzüglich  durch  die  Be- 
mühungen der  neueren  Gesezgebung  wichtig  geworden  ist,  die 
Frage   nemlich,   inwiefern   der  Staat  befugt,   oder  verpflichtet  ist, 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII. 


215 


Verbrechen,  noch  ehe  dieselben  begangen  werden,  zuvorzukommen.^ 
Schwerlich  wird  irgend  ein  anderes  Unternehmen  von  gleich 
menscheni'reundlichen  Absichten  geleitet,  und  die  Achtung,  womit 
dasselbe  jeden  empfindenden  Menschen  nothwendig  erfüllt,  droht 
daher  der  Unpartheilichkeit  der  Untersuchung  Gefahr.  Dennoch 
halte  ich,  ich  läugne  es  nicht,  eine  solche  Untersuchung  für  über- 
aus nothwendig,  da,  wenn  man  die  unendliche  Mannigfaltigkeit 
der  Seelenstimmungen  erwägt,  aus  welchen  der  ^^orsaz  zu  Ver- 
brechen entstehen  kann,  diesen  Vorsaz  zu  verhindern  unmöglich, 
und  nicht  allein  diess,  sondern  selbst,  nur  der  Ausübung  zuvor- 
zukommen, für  die  Freiheit  bedenklich  scheint.  Da  ich  im  Vorigen 
(S.  S.  181 — 189.)  das  Recht  des  Staats,  die  Handlungen  der  ein- 
zelnen Menschen  einzuschränken,  zu  bestimmen  versucht  habe; 
so  könnte  es  scheinen,  als  hätte  ich  dadurch  schon  zugleich  die 
gegenwärtige  Frage  beantwortet.  Allein  wenn  ich  dort  festsezte, 
dass  der  Staat  diejenigen  Handlungen  einschränken  müsse,  deren 
Folgen  den  Rechten  andrer  leicht  gefährlich  werden  können;  so 
verstand  ich  darunter  —  wie  auch  die  Gründe  leicht  zeigen,  wo- 
mit ich  diese  Behauptung  zu  unterstüzen  bemüht  war  —  solche 
Folgen,  die  allein  und  an  sich  aus  der  Handlung  fliessen,  und  nur 
etwa  durch  grössere  Vorsicht  des  Handlenden  hätten  vermieden 
werden  können.  Wenn  hingegen  von  Verhütung  von  Verbrechen 
die  Rede  ist;  so  spricht  man  natürlich  nur  von  Beschränkung 
solcher  Handlungen,  aus  w^elchen  leicht  eine  zweite,  nemlich  die 
Begehung  des  Verbrechens,  entspringt.  Der  vvichtige  Unterschied 
liegt  daher  hier  schon  darin,  dass  die  Seele  des  Handlenden  hier 
thätig,  durch  einen  neuen  Entschluss,  mitwirken  muss;  da  sie 
hingegen  dort  entweder  gar  keinen,  oder  doch  nur,  durch  Verab- 
säumung der  Thätigkeit,  einen  negativen  Einfluss  haben  konnte. 
Diess  allein  wird,  hoffe  ich,  hinreichen,  die  Gränzen  deutlich  zu 
zeigen.  Alle  Verhütung  von  Verbrechen  nun  muss  von  den  Ur^ 
Sachen  der  Verbrechen  ausgehen.  Diese  so  mannigfaltigen  Ur- 
sachen aber  Hessen  sich,  in  einer  allgemeinen  Formel,  vielleicht 
durch  das,  nicht  uarch  Gründe  der  Vernunft  gehörig  in  Schranken 
gehaltene  Gefühl  des  Misverhältnisses  ausdrukken,  welches  zwischen 
den  Neigungen  des  Handlenden  und  der  Quantität  der  recht- 
mässigen Mittel  obwaltet,  die  in  seiner  Gewalt  stehn.  Bei  diesem 
Misverhältniss  lassen  sich  wenigstens  im  Allgemeinen,  obgleich  die 
Bestimmung  im  Einzelnen  viel  Schwierigkeit  finden  würde,  zwei 
Fälle  von   einander   absondern,   einmal  wenn  dasselbe   aus    einem 


2l6  5*    Ideen  zu  einem  Versuch 

wahren  Uebermaasse  der  Neigungen,  dann  wenn  es  aus  dem,  auch 
für  ein  gewöhnliches  Maass,  zu  geringen  Vorrath  von  Mitteln 
entspringt.  Beide  Fälle  muss  noch  ausserdem  Mangel  an  Stärke 
der  Gründe  der  Vernunft,  und  des  moralischen  Gefühls,  gleichsam 
als  dasjenige  begleiten,  welches  jenes  Misverhältniss  nicht  ver- 
hindert, in  gesezwidrige  Handlungen  auszubrechen.  Jedes  Be- 
mühen des  Staats,  Verbrechen  durch  Unterdrükkung  ihrer  Ur- 
sachen in  dem  Verbrecher  verhüten  zu  wollen,  wird  daher,  nach 
der  Verschiedenheit  der  beiden  erwähnten  Fälle,  entweder  dahin 
gerichtet  sein  müssen,  solche  Lagen  der  Bürger,  welche  leicht  zu 
Verbrechen  nöthigen  können,  zu  verändern  und  zu  verbessern, 
oder  solche  Neigungen,  welche  zu  Uebertretungen  der  Geseze  zu 
führen  pflegen,  zu  beschränken,  oder  endlich  den  Gründen  der 
Vernunft  und  dem  moralischen  Gefühl  eine  wirksamere  Stärke 
zu  verschaffen.  Einen  andren  Weg,  Verbrechen  zu  verhüten,  giebt 
es  endlich  noch  ausserdem  durch  gesezliche  Verminderung  der 
Gelegenheiten,  welche  die  wirkliche  Ausübung  derselben  erleichtern, 
oder  gar  den  Ausbruch  gesezwidriger  Neigungen  begünstigen. 
Keine  dieser  verschiedenen  Arten  darf  von  der  gegenwärtigen 
Prüfung  ausgeschlossen  werden. 

Die  erste  derselben,  welche  allein  auf  Verbesserung  zu  Ver- 
brechen nöthigender  Lagen  gerichtet  ist,  scheint  unter  allen  die 
wenigsten  Nachtheile  mit  sich  zu  führen.  Es  ist  an  sich  so  wohl- 
thätig,  den  Reichthum  der  Mittel  der  Kraft,  wie  des  Genusses,  zu 
erhöhen ;  die  freie  Wirksamkeit  des  Menschen  wird  dadurch  nicht 
unmittelbar  beschränkt;  und  wenn  freilich  unläugbar  auch  hier 
alle  Folgen  anerkannt  werden  müssen,  die  ich,  im  Anfange  dieses 
Aufsazes,  als  Wirkungen  der  Sorgfalt  des  Staats  für  das  physische 
Wohl  der  Bürger  darstellte,  so  treten  sie  doch  hier,  da  eine  solche 
Sorgfalt  hier  nur  auf  so  wenige  Personen  ausgedehnt  wird,  nur 
in  sehr  geringem  Grade  ein.  Allein  immer  finden  dieselben  doch 
wirklich  Statt;  gerade  der  Kampf  der  inneren  Moralität  mit  der 
äusseren  Lage  wird  aufgehoben,  und  mit  ihm  seine  heilsame 
W^irkung  auf  die  Festigkeit  des  Charakters  des  Handlenden,  und 
auf  das  gegenseitig  sich  unterstüzende  Wohlwollen  der  Bürger 
überhaupt;  und  eben,  dass  diese  Sorgfalt  nur  einzelne  Personen 
treffen  muss,  macht  ein  Bekümmern  des  Staats  um  die  individuelle 
Lage  der  Bürger  nothwendig  —  lauter  Nachtheile,  welche  nur  die 
Ueberzeugung  vergessen  machen  könnte,  dass  die  Sicherheit  des 
Staats,  ohne  eine  solche  Einrichtung,  leiden  würde.    Aber  gerade 


die  Grenzen  der  "Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII. 


217 


diese  Nothwendigkeit  kann,  dünkt  mich,  mit  Recht  bezweifelt 
werden.  In  einem  Staate,  dessen  ^^e^fassung  den  Bürger  nicht 
selbst  in  dringende  Lagen  versezt,  welcher  demselben  vielmehr 
eine  solche  Freiheit  sichert,  als  diese  Blätter  zu  empfehlen  ver- 
suchen, ist  es  kaum  möglich,  dass  Lagen  der  beschriebenen  Art 
überhaupt  entstehen,  und  nicht  in  der  freiwilligen  Hülfsleistung 
der  Bürger  selbst,  ohne  Hinzukommen  des  Staats,  Heilmittel  finden 
sollten;  der  Grund  müsste  dann  in  dem  Betragen  des  Menschen 
selbst  liegen.  In  diesem  Falle  aber  ist  es  nicht  gut,  dass  der 
Staat  ins  ^^littel  trete,  und  die  Reihe  der  Begebenheiten  störe, 
welche  der  natüriiche  Lauf  der  Dinge  aus  den  Handlungen  des- 
selben entspringen  lässt.  Immer  werden  auch  wenigstens  diese 
Lagen  nur  so  selten  eintreffen,  dass  es  überiiaupt  einer  eignen 
Daz\^•ischenkunft  des  Staats  nicht  bedürfen  wird,  und  dass  nicht 
die  Vortheile  derselben  von  den  Nachtheilen  überwiegen  werden 
sollten,  die  es,  nach  Allem  im  ^^o^igen  Gesagten,  nicht  m.ehr  noth- 
wendig  ist,  einzeln  auseinanderzusezen. 

Gerade  entgegengesezt  verhalten  sich  die  Gründe,  welche  für 
und  wider  die  zweite  Art  des  Bemühens,  Verbrechen  zu  verhindern, 
streiten,  wider  diejenige  nemlich,  welche  auf  die  Neigungen  und 
Leidenschaften  der  Menschen  selbst  zu  wirken  strebt.  Denn  auf 
der  einen  Seite  scheint  die  Nothwendigkeit  grösser,  da,  bei  minder 
gebundner  Freiheit,  der  Genuss  üppiger  ausschweift,  und  die  Be- 
gierden sich  ein  weiteres  Ziel  stekken,  wogegen  die,  freilich,  mit 
der  grösseren  eignen  Freiheit,  immer  wachsende  Achtung  auch 
des  fremden  Rechts  dennoch  vielleicht  nicht  hinlänglich  wirkt. 
Auf  der  andren  aber  vermehrt  sich  auch  der  Nachtheil  in  eben 
dem  Grade,  in  welchem  die  morahsche  Natur  jede  Fessel  schwerer 
empfindet,  als  die  physische.  Die  Gründe,  aus  welchen  ein,  auf 
die  Verbesserung  der  Sitten  der  Bürger  gerichtetes  Bemühen  des 
Staats  weder  nothwendig,  noch  rathsam  ist,  habe  ich  im  Vorigen 
zu  entwikkeln  versucht.  Eben  diese  nun  treten  in  ihrem  ganzen 
Umfange,  und  nur  mit  dem  Unterschiede  auch  hier  ein,  dass  der 
Staat  hier  nicht  die  Sitten  überhaupt  umformen,  sondern  nur  auf 
das,  der  Befolgung  der  Geseze  Gefahr  drohende  Betragen  Einzelner 
wirken  will.  Allein  gerade  durch  diesen  Unterschied  wächst  die 
Summe  der  Nachtheile.  Denn  dieses  Bemühen  muss  schon  eben 
darum,  weil  es  nicht  allgemein  wirkt,  seinen  Endzwek  minder  er- 
reichen, so  dass  daher  nicht  einmal  das  einseitige  Gute,  das  es 
abzwekt,  für  den  Schaden  entschädigt,  den  es  anrichtet;  und  dann 


2i8  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

sezt  es  nicht  bloss  ein  Bekümmern  des  Staats  um  die  Privat- 
handlungen einzelner  Individuen,  sondern  auch  eine  Macht  voraus, 
darauf  zu  wirken,  welche  durch  die  Personen  noch  bedenklicher 
wird,  denen  dieselbe  anvertraut  werden  muss.  Es  muss  nemlich 
alsdann  entweder  eigen  dazu  bestellten  Leuten,  oder  den  schon 
vorhandenen  Dienern  des  Staats  eine  Aufsicht  über  das  Betragen, 
und  die  daraus  entspringende  Lage  entweder  aller  Bürger,  oder 
der  ihnen  untergebenen,  übertragen  werden.  Dadurch  aber  wird 
eine  neue  und  drükkendere  Herrschaft  eingeführt,  als  beinah  irgend 
eine  andere  sein  könnte ;  indiskreter  Neugier,  einseitiger  Intoleranz, 
selbst  der  Heuchelei  und  Verstellung  Raum  gegeben.  Man  be- 
schuldige mich  hier  nicht,  nur  Misbräuche  geschildert  zu  haben. 
Die  Misbräuche  sind  hier  mit  der  Sache  unzertrennlich  verbunden ; 
und  ich  wage  es  zu  behaupten,  dass  selbst,  wenn  die  Geseze  die 
besten  und  menschenfreundlichsten  wären,  wenn  sie  den  Aufsehern 
bloss  Erkundigungen  auf  gesezmässigen  Wegen,  und  den  Gebrauch 
von  allem  Zwang  entfernter  Rathschläge  und  Ermahnungen  er- 
laubten, und  diesen  Gesezen  die  strengste  Folge  geleistet  würde, 
dennoch  eine  solche  Einrichtung  unnüz  und  schädlich  zugleich 
wäre.  Jeder  Bürger  muss  ungestört  handien  können,  wie  er  will, 
solange  er  nicht  das  Gesez  überschreitet;  jeder  muss  die  Befugniss 
haben,  gegen  jeden  andren,  und  selbst  gegen  alle  Wahrscheinlich- 
keit, wie  ein  Dritter  dieselbe  beurtheilen  kann,  zu  behaupten:  wie 
sehr  ich  mich  der  Gefahr,  die  Geseze  zu  übertreten,  auch  nähere, 
so  werde  ich  dennoch  nicht  unterliegen.  Wird  er  in  dieser  Frei- 
heit gekränkt,  so  verlezt  man  sein  Recht,  und  schadet  der  Aus- 
bildung seiner  Fähigkeiten,  der  Entwikkelung  seiner  Individualität. 
Denn  die  Gestalten,  deren  die  Moralität  und  die  Gesezmässigkeit 
fähig  ist,  sind  unendlich  verschieden  und  mannigfaltig;  und  wenn 
ein  Dritter  entscheidet,  dieses  oder  jenes  Betragen  muss  auf  gesez- 
widrige  Handlungen  führen,  so  folgt  er  seiner  Ansicht,  welche,  wie 
richtig  sie  auch  in  ihm  sein  möge,  immer  nur  Eine  ist.  Selbst 
aber  angenommen,  er  irre  sich  nicht,  der  Erfolg  sogar  bestätige 
sein  Urtheil,  und  der  andre,  dem  Zwange  gehorchend,  oder  dem 
Rath,  ohne  innere  Ueberzeugung,  folgend,  übertrete  das  Gesez 
diessmal  nicht,  das  er  sonst  übertreten  haben  würde;  so  ist  es 
doch  für  den  Uebertreter  selbst  besser,  er  empfinde  einmal  den 
Schaden  der  Strafe,  und  erhalte  die  reine  Lehre  der  Erfahrung, 
als  dass  er  zwar  diesem  einen  Nachtheil  entgehe,  aber  für  seine 
Ideen  keine  Berichtigung,  für  sein  moralisches  Gefühl  keine  Uebung 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII. 


2IQ 


empfange ;  doch  besser  für  die  Gesellschaft,  Eine  Gesezesübertretung 
mehr  störe  die  Ruhe,  aber  die  nachfolgende  Strafe  diene  zu  Be- 
lehrung und  Warnung,  als  dass  zwar  die  Ruhe  diessmal  nicht 
leide,  aber  darum  das,  worauf  alle  Ruhe  und  Sicherheit  der  Bürger 
sich  gründet,  die  Achtung  des  fremden  Rechts,  weder  an  sich 
wirklich  grösser  sei,  noch  auch  jezt  vermehrt  und  befördert  werde. 
Üeberhaupt  aber  wird  eine  solche  Einrichtung  nicht  leicht  einmal 
die  erwähnte  Wirkung  haben.  Wie  durch  \)  alle,  nicht  geradezu 
auf  den  Innern  Quell  aller  Handlungen  gehende  Mittel,  wird  nur 
durch  sie  eine  andre  Richtung  der,  den  Gesezen  entgegenstrebenden 
Begierden,  und  gerade  doppelt  schädliche  Verheimlichung  entstehen. 
Ich  habe  hierbei  immer  vorausgesezt,  dass  die  zu  dem  Geschäft, 
wovon  hier  die  Rede  ist,  bestimmten  Personen  keine  Ueberzeugung 
hervorbringen,  sondern  allein  durch  fremdartige  Gründe  wirken. 
Es  kann  scheinen,  als  wäre  ich  zu  dieser  \^oraussezung  nicht  be- 
rechtigt. Allein  dass  es  heilsam  ist,  durch  wirkendes  Beispiel  und 
überzeugenden  Rath  auf  seine  Mitbürger  und  ihre  Moralität  Ein- 
fluss  zu  haben,  ist  zu  sehr  in  die  Augen  leuchtend,  als  dass  es 
erst  ausdrüklich  wiederholt  werden  dürfte.  Gegen  keinen  der 
Fälle  also,  wo  jene  Einrichtung  diess  hen^orbringt,  kann  das  vorige 
Raisonnement  gerichtet  sein.  Nur,  scheint  es  mir,  ist  eine  gesez- 
liche  ^^orschrift  hiezu  nicht  bloss  ein  undienliches,  sondern  sogar 
entgegenarbeitendes  Mittel.  Einmal  sind  schon  Geseze  nicht  der 
Ort,  Tugenden  zu  empfehlen,  sondern  nur  erzwingbare  Pflichten 
vorzuschreiben,  und  nicht  selten  wird  nur  die  Tugend,  die  jeder 
Mensch  nur  freiwillig  auszuüben  sich  freut,  dadurch  verlieren. 
Dann  ist  jede  Bitte  eines  Gesezes,  und  jeder  Rath,  den  ein  Vor- 
gesezter  Ivraft  desselben  giebt,  ein  Befehl,  dem  die  Menschen  zwar 
in  der  Theorie  nicht  gehorchen  müssen,  aber  in  der  Wirldichkeit 
immer  gehorchen.  Endlich  muss  man  hiezu  noch  soviele  Um- 
stände rechnen ,  welche  die  Menschen  nöthigen ,  und  soviele 
Neigungen,  welche  sie  bewegen  können,  einem  solchen  Rathe, 
auch  gänzlich  gegen  ihre  Ueberzeugung,  zu  folgen.  Von  dieser 
Art  priegt  gewöhnlich  der  Eintiuss  zu  sein,  welchen  der  Staat  auf 
diejenigen  hat,  die  der  Verwaltung  seiner  Geschäfte  vorgesezt  sind, 
und  durch  den  er  zugleich  auf  die  übrigen  Bürger  zu  wirken 
strebt.  Da  diese  Personen  durch  besondre  Verträge  mit  ihm  ver- 
bunden sind;  so  ist  es  freilich  unläugbar,   dass   er  auch   mehrere 


V  „durch''  fehlt  in  der  Handschrift  und  in  Cauers  Ausgabe. 


220  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Rechte  gegen  sie,  als  gegen  die  übrigen  Bürger,  ausüben  kann. 
Allein  wenn  er  den  Grundsäzen  der  höchsten  gesezmässigen  Frei- 
heit getreu  bleibt;  so  wird  er  nicht  mehr  von  ihnen  zu  fordern 
versuchen,  als  die  Erfüllung  der  Bürgerpflichten  im  Allgemeinen, 
und  derjenigen  besondren,  welche  ihr  besondres  Amt  nothwendig 
macht.  Denn  offenbar  übt  er  einen  zu  mächtigen  positiven  Ein- 
fluss  auf  die  Bürger  überhaupt  aus,  wenn  er  von  jenen,  vermöge 
ihres  besondren  Verhältnisses,  etwas  zu  erhalten  sucht,  was  er 
den  Bürgern  geradezu  nicht  aufzulegen  berechtigt  ist.  Ohne  dass 
er  wirkliche  positive  Schritte  thut,  kommen  ihm  hierin  schon  von 
selbst  nur  zuviel  die  Leidenschaften  der  Menschen  zuvor,  und  das 
Bemühen,  nur  diesen,  hieraus  von  selbst  entspringenden  Nachtheil 
zu  verhüten,  wird  seinen  Eifer  und  seinen  Scharfsinn  schon  hin- 
länglich beschäftigen. 

Eine  nähere  Veranlassung,  Verbrechen  durch  Unterdrükkung 
der  in  dem  Charakter  liegenden  Ursachen  derselben  zu  verhüten, 
hat  der  Staat  bei  denjenigen,  welche  durch  wirkliche  Ueber- 
tretungen  der  Geseze  gerechte  Besorgniss  für  die  Zukunft  er- 
wekken.  Daher  haben  auch  die  denkendsten  neueren  Gesezgeber 
versucht,  die  Strafen  zugleich  zu  Besserungsmitteln  zu  machen. 
Gewiss  ist  es  nun,  dass  nicht  bloss  von  der  Strafe  der  Verbrecher 
schlechterdings  alles  entfernt  werden  muss,  was  irgend  der  Mora- 
lität  derselben  nachtheilig  sein  könnte;  sondern  dass  ihnen  auch 
jedes  Mittel,  das  nur  übrigens  nicht  dem  Endzwek  der  Strafe  zu- 
wider ist,  freistehen  muss,  ihre  Ideen  zu  berichtigen  und  ihre  Ge- 
fühle zu  verbessern.  Allein  auch  dem  Verbrecher  darf  die  Be- 
lehrung nicht  aufgedrungen  werden;  und  wenn  dieselbe  schon 
eben  dadurch  Nuzen  und  Wirksamkeit  verliert;  so  läuft  ein  solches 
Aufdringen  auch  den  Rechten  des  Verbrechers  entgegen,  der  nie 
zu  etwas  mehr  verbunden  sein  kann,  als  die  gesezmässige  Strafe 
zu  leiden. 

Ein  völlig  specieller  Fall  ist  noch  der,  wo  der  Angeschuldigte 
zwar  zu  viel  Gründe  gegen  sich  hat,  um  nicht  einen  starken  Ver- 
dacht auf  sich  zu  laden,  aber  nicht  genug,  um  verurtheilt  zu  werden. 
{Absolutio  ab  instantia)  Ihm  alsdann  die  völlige  Freiheit  unbe- 
scholtener Bürger  zu  verstatten  macht  die  Sorgfalt  für  die  Sicher- 
heit bedenklich,  und  eine  fortdauernde  Aufsicht  auf  sein  künftiges 
Betragen  ist  daher  allerdings  nothwendig.  Indess  eben  die  Gründe, 
welche  jedes  positive  Bemühen  des  Staats  bedenklich  machen, 
und  überhaupt  anrathen,  an  die  Stelle  seiner  Thätigkeit  lieber,  wo 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII.  221 

es  geschehen  kann,  die  Thätigkeit  einzelner  Bürger  zu  sezen,  geben 
auch  hier  der  freiwillig  übernommenen  Aufsicht  der  Bürger  vor 
einer  Aufsicht  des  Staats  den  Vorzug ;  und  es  dürfte  daher  besser 
sein,  verdächtige  Personen  dieser  Art  sichere  Bürgen  stellen  zu 
lassen,  als  sie  einer  unmittelbaren  Aufsicht  des  Staats  zu  über- 
geben, die  nur,  in  Ermanglung  der  Bürgschaft,  eintreten  müsste. 
Beispiele  solcher  Bürgschaften  giebt  auch,  zwar  nicht  in  diesem, 
aber  in  ähnlichen  Fällen,  die  Englische  Gesezgebung. 

Die  lezte  Art,  Verbrechen  zu  verhüten,  ist  diejenige,  welche, 
ohne  auf  ihre  Ursachen  wirken  zu  w^ollen,  nur  ihre  wirkliche  Be- 
gehung zu  verhindern  bemüht  ist.  Diese  ist  der  Freiheit  am 
w^enigsten  nachtheilig,  da  sie  am  wenigsten  einen  positiven  Einfluss 
auf  die  Bürger  hervorbringt.  Indess  lässt  auch  sie  mehr  oder 
minder  weite  Schranken  zu.  Der  Staat  kann  sich  nemlich  be- 
gnügen, die  strengste  Wachsamkeit  auf  jedes  gesezwidrige  Vor- 
haben auszuüben,  um  dasselbe,  vor  seiner  x\usführung,  zu  ver- 
hindern ;  oder  er  kann  weiter  gehen,  und  solche,  an  sich  unschäd- 
liche Handlungen  untersagen,  bei  welchen  leicht  Verbrechen 
entweder  nur  ausgeführt,  oder  auch  beschlossen  zu  werden  pflegen. 
Diess  Leztere  greift  abermals  in  die  Freiheit  der  Bürger  ein ; 
zeigt  ein  Mistrauen  des  Staats  gegen  sie,  das  nicht  bloss  auf  ihren 
Charakter,  sondern  auch  für  den  Zwek  selbst,  der  beabsichtet 
wird,  nachtheilige  Folgen  hat;  und  ist  aus  eben  den  Gründen 
nicht  rathsam,  welche  mir  die  vorhinervvähnten  Arten,  Verbrechen 
zu  verhüten,  zu  misbilligen  schienen.  Alles,  was  der  Staat  thun  darf, 
und  mit  Erfolge  für  seinen  Endzwek,  und  ohne  Nachtheil  für  die  Frei- 
heit der  Bürger,  thun  kann,  beschränkt  sich  daher  auf  das  Erstere,  auf 
die  strengste  Aufsicht  auf  jede,  entweder  wirklich  schon  begangene, 
oder  erst  beschlossene  Uebertretung  der  Geseze ;  und  da  diess  nur  un- 
eigentUch  den  Verbrechen  zuvorkommen  genannt  werden  kann;  so 
glaube  ich  behaupten  zu  dürfen,  dass  ein  solches  Zuvorkommen 
gänzlich  ausserhalb  der  Schranken  der  Wirksamkeit  des  Staats 
liegt.  Desto  emsiger  ;!ber  muss  derselbe  darauf  bedacht  sein,  kein 
begangenes  Verbrechen  unentdekt,  kein  entdektes  unbestraft,  ja 
nur  gelinder  bestraft  zu  lassen,  als  das  Gesez  es  verlangt.  Denn 
die,  durch  eine  ununterbrochene  Erfahrung  bestätigte  Ueberzeugung 
der  Bürger,  dass  es  ihnen  nicht  möglich  ist,  in  fremdes  Recht 
einzugreifen,  ohne  eine,  gerade  verhältnissmässige  Schmälerung 
des  eignen  zu  erdulden,  scheint  mir  zugleich  die  einzige  Schuz- 
mauer  der  Sicherheit  der  Bürger,   und    das    einzige    untrügliche 


222  5-    Ii^een  zu  einem  Versuch 

Mittel,  unverleziiche  Achtung  des  fremden  Rechts  zu  begründen. 
Zugleich  ist  dieses  Mittel  die  einzige  Art,  auf  eine  des  Menschen 
würdige  Weise  auf  den  Charakter  desselben  zu  wirken,  da  man 
den  Menschen  nicht  zu  Handlungen  unmittelbar  zwingen  oder 
leiten,  sondern  allein  durch  die  Folgen  ziehen  muss,  welche,  der 
Natur  der  Dinge  nach,  aus  seinem  Betragen  fliessen  müssen. 
Statt  aller  zusammengesezteren  und  künstlicheren  Mittel ,  Ver- 
brechen zu  verhüten,  würde  ich  daher  nie  etwas  anders,  als  gute, 
und  durchdachte  Geseze,  in  ihrem  absoluten  Maasse  den  Lokal- 
umständen, in  ihrem  relativen  dem  Grade  der  Immoralität  der 
Verbrecher  genau  angemessene  Strafen,  möglichst  sorgfältige  Auf- 
suchung jeder  vorgefallenen  Uebertretung  der  Geseze,  und  Hin- 
wegräumung aller  Möglichkeit  auch  nur  der  Milderung  der  rich- 
terlich bestimmten  Strafe  vorschlagen.  Wirkt  diess  freilich  sehr 
einfache  Mittel,  wie  ich  nicht  läugnen  will,  langsam;  so  wirkt  es 
dagegen  auch  unfehlbar,  ohne  Nachtheil  für  die  Freiheit,  und  mit 
heilsamem  Einfluss  auf  den  Charakter  der  Bürger.  Ich  brauche 
mich  nun  nicht  länger  bei  den  Folgen  der  hier  aufgestellten  Säze 
zu  verweilen,  wie  z.  B.  bei  der  schon  öfter  bemerkten  Wahrheit, 
dass  das  Begnadigungs-,  selbst  das  Milderungsrecht  des  Landes- 
herrn gänzlich  aufhören  müsste.  Sie  lassen  sich  von  selbst  ohne 
Mühe  daraus  herleiten.  Die  näheren  Veranstaltungen,  welche  der 
Staat  treffen  muss,  um  begangene  Verbrechen  zu  entdekken,  oder 
erst  beschlossenen  zuvorzukommen,  hängen  fast  ganz  von  indivi- 
duellen Umständen  specieller  Lagen  ab.  Allgemein  kann  hier  nur 
bestimmt  werden,  dass  derselbe  auch  hier  seine  Rechte  nicht 
überschreiten,  und  also  keine,  der  Freiheit  und  der  häuslichen 
Sicherheit  der  Bürger  überhaupt  entgegenlaufende  Maassregeln 
ergreifen  darf.  Hingegen  kann  er  für  öffentliche  Orte,  wo  am 
leichtesten  Frevel  verübt  werden,  eigene  Aufseher  bestellen; 
Fiskale  anordnen,  welche,  vermöge  ihres  Amts,  gegen  verdächtige 
Personen  verfahren;  und  endlich  alle  Bürger  durch  Geseze  ver- 
pflichten, ihm  in  diesem  Geschäfte  behülflich  zu  sein,  und  nicht 
bloss  beschlossene,  und  noch  nicht  begangene  Verbrechen,  sondern 
auch  schon  verübte,  und  ihre  Thäter  anzuzeigen.  Nur  muss  er 
diess  Leztere,  um  nicht  auf  den  Charakter  der  Bürger  nachtheilig 
zu  wirken,  immer  nur  als  Pflicht  fordern,  nicht  durch  Belohnungen, 
oder  Vortheile  dazu  anreizen ;  und  selbst  von  dieser  Pflicht  die- 
jenigen entbinden,  welche  derselben  kein  Genüge  leisten  könnten, 
ohne  die  engsten  Bande  dadurch  zu  zerreissen. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIII.  '200 

Endlich  muss  ich  noch,  ehe  ich  diese  Materie  beschliesse, 
bemerken,  dass  alle  Kriminalgeseze,  sowohl  diejenigen,  welche  die 
Strafen,  als  diejenigen,  welche  das  Verfahren  bestimmen,  allen 
Bürgern,  ohne  Unterschied,  vollständig  bekannt  gemacht  werden 
müssen.  Zwar  hat  man  verschiedentlich  das  Gegentheil  behauptet, 
und  sich  des  Grundes  bedient,  dass  dem  Bürger  nicht  die  Wahl 
gelassen  werden  müsse,  mit  dem  Uebel  der  Strafe  gleichsam  den 
Vortheil  der  gesezwidrigen  Handlung  zu  erkaufen.  Allein  —  die 
Möglichkeit  einer  fortdauernden  Verheimlichung  auch  einmal  an- 
genommen —  so  unmoralisch  auch  eine  solche  Abwägung  in  dem 
Menschen  selbst  wäre,  der  sie  vornähme;  so  darf  der  Staat,  und 
überhaupt  ein  Mensch  dem  andren,  dieselbe  doch  nicht  verwehren. 
Es  ist  im  Vorigen,  wie  ich  hoffe,  hinlänglich  gezeigt  worden,  dass 
kein  Mensch  dem  andren  mehr  Uebel,  als  Strafe,  zufügen  darf, 
als  er  selbst  durch  das  Verbrechen  gelitten  hat.  Ohne  gesezliche 
Bestimmung,  müsste  also  der  Verbrecher  soviel  erwarten,  als  er 
ohngefähr  seinem  Verbrechen  gleich  achtete;  und  da  nun  diese 
Schäzung  bei  mehreren  Menschen  zu  verschieden  ausfallen  w^ürde, 
so  ist  sehr  natürlich,  dass  man  ein  festes  Maass  durch  das  Gesez 
bestimme,  und  dass  also  zwar  nicht  die  Verbindlichkeit,  Strafe 
zu  leiden,  aber  doch  die,  bei  Zufügung  der  Strafe,  nicht  willkühr- 
lich  alle  Gränzen  zu  überschreiten,  durch  einen  Vertrag  begründet 
sei.  Noch  ungerechter  aber  wird  eine  solche  Verheimlichung  bei 
dem  Verfahren  zur  Aufsuchung  der  Verbrechen.  Da  könnte  sie 
unstreitig  zu  nichts  andrem  dienen,  als  Furcht  vor  solchen  Mitteln 
zu  erregen,  die  der  Staat  selbst  nicht  anwenden  zu  dürfen  glaubt, 
und  nie  muss  der  Staat  durch  eine  Furcht  wirken  w^ollen,  welche 
nichts  anders  unterhalten  kann,  als  Unwissenheit  der  Bürger  über 
ihre  Rechte,  oder  Mistrauen  gegen  seine  Achtung  derselben. 

Ich  ziehe  nunmehr  aus  dem,  bisher  vorgetragenen  Raisonne- 
ment  folgende  höchste  Grundsäze  jedes  Kriminalrechts  überhaupt: 

I.,  Eins  der  vorzüglichsten  Mittel  zur  Erhaltung 
der  Sicherheit  ist  die  Bestrafung  derUebertreterder 
Geseze  des  Staats.  Der  Staat  darf  jede  Handlung  mit 
einer  Strafe  belegen,  welche  die  Rechte  der  Bürger 
kränkt,  und  insofern  er  selbst  allein  aus  diesem  Ge- 
sichtspunkt Geseze  anordnet,  jede,  wodurch  eines 
seiner  Geseze  übertreten  wird. 

2.,  Die  härteste  Strafe  darf  keine  andre,  als  die, 
nach    den    individuellen   Zeit-    und    Ort  Verhältnissen 


224  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

möglichst  gelinde  sein.  Nach  dieser  müssen  alle 
übrige,  gerade  in  dem  Verhältniss  bestimmt  sein, 
in  welchem  die  Verbrechen,  gegen  welche  sie  ge- 
richtet sind,  Nicht  Achtung  des  fremden  Rechts  bei 
dem  Verbrecher  voraussezen.  So  muss  daher  die 
härteste  Strafe  denjenigen  treffen,  welcher  das  wich- 
tigsteRecht  desStaats  selbst,  eine  minder  harteden- 
jenigen,  welcher  nur  eingleich  wichtigesRecht  eines 
einzelnen  Bürgers  gekränkt,  eine  noch  gelindere 
endlich  denjenigen,  welcher  bloss  ein  Gesez  über- 
treten hatte,  dessen  Absicht  eswar,  eine  solche,  bloss 
mögliche  Kränkung  zu  verhindern. 

3.,  Jedes  Strafgesez  kann  nur  auf  denjenigen  an- 
gewendet werden,  welcher  dasselbe  mitVorsaz,  oder 
mit  Schuld  übertrat,  und  nur  in  dem  Grade,  in 
welchem  er  dadurch  Nicht  Achtung  des  fremden 
Rechts  bewies. 

4.,  Bei  der  Untersuchung  begangener  Verbrechen 
darfderStaat  zwar  jedes,  demEndzwek  angemessene 
Mittel  anwenden;  hingegen  keines,  das  den  bloss  ver- 
dächtigen Bürger  schon  als  Verbrecher  behandelte, 
noch  ein  solches,  das  die  Rechte  des  Menschen  und 
des  Bürgers,  welche  der  Staat,  auch  in  demVerbrecher, 
ehren  muss,  verlezte,  oder  das  den  Staat  einer  un- 
moralischen Handlung  schuldig  machen  würde. 

5.,  Eigene  Veranstaltungen,  noch  nicht  begangene 
Verbrechen  zu  verhüten,  darf  sich  der  Staat  nicht 
anders  erlauben,  als  insofern  dieselben  die  unmittel- 
bare Begehung  derselben  verhindern.  Alle  übrige 
aber,  sie  mögen  nun  den  Ursachen  zu  Verbrechen 
entgegenarbeiten,  oder  an  sich  unschädliche,  aber 
leicht  zu  Verbrechen  führendeHandlungen  verhüten 
w^ ollen,  liegen  ausserhalb  der  Grenzen  seiner  Wirk- 
samkeit. Wenn  zwischen  diesem,  und  dem,  bei  Ge- 
legenheit der  Handlungen  des  einzelnen  Menschen 
S.  187.  aufgestellten  Grundsaz  ein  Widerspruch  zu 
sein  scheint,  so  muss  man  nicht  vergessen,  dass 
dort  von  solchen  Handlungen  die  Rede  war,  deren 
Folgen  an  sich  fremde  Rechte  kränken  können,  hier 
hingegen  von  solchen, aus  welchen, umdiese  Wi  r  k  u  n  g 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XIII.  XIV. 


225 


liervorzubringen,  erst  eine  zweite  Handlung  entstehn 
muss.  Verheimlichung  der  Schwangerschaft  also, 
um  diess  an  einem  Beispiel  deutlich  zu  machen, 
dürfte  nicht  aus  dem  Grunde  verboten  werden,  den 
Kindermord  zu  verhüten  (man  müsste  denn  dieselbe 
schon  als  ein  Zeichen  des  Vorsazes  zu  demselben  an- 
sehen), wohl  aber  als  eine  Handlung,  welche  an  sich, 
und  ohnediess,  dem  Leben  und  der  Gesundheit  des 
Kindes  gefährlich  sein  kann. 


XIV. 

Alle  Grundsäze,  die  ich  bis  hieher  aufzustellen  versucht  habe, 
sezen  Menschen  voraus,  die  im  völligen  Gebrauch  ihrer  gereiften 
Verstandeskräfte  sind.  Denn  alle  gründen  sich  allein  darauf,  dass 
dem  selbstdenkenden  und  selbstthätigen  Menschen  nie  die  Fähig- 
keit geraubt  werden  darf,  sich,  nach  gehöriger  Prüfung  aller 
Momente  der  Ueberiegung,  willkühriich  zu  bestimmen.  Sie 
können  daher  auf  solche  Personen  keine  Anwendung  finden, 
welche  entweder,  wie  Verrükte,  oder  gänzlich  Blödsinnige,  ihrer 
Vernunft  so  gut,  als  gänzlich  beraubt  sind;  oder  bei  welchen  die- 
selbe noch  nicht  einmal  diejenige  Reife  erlangt  hat,  welche  von 
der  Reife  des  Körpers  selbst  abhängt.  Denn  so  unbestimmt,  und, 
genau  gesprochen,  unrichtig  auch  dieser  leztere  Maassstab  sein 
mag;  so  ist  er  doch  der  einzige,  welcher  allgemein  und  bei  der 
Beurtheilung  des  Dritten  gültig  sein  kann.  Alle  diese  Personen 
nun  bedürfen  einer  im  eigentlichsten  Verstände  positiven  Sorgfalt 
für  ihr  physisches  und  moralisches  Wohl,  und  die  bloss  negative 
Erhaltung  der  Sicherheit  kann  bei  denselben  nicht  hinreichen. 
Allein  diese  Sorgfalt  ist  —  um  bei  den  Kindern,  als  der  grossesten 
und  wichtigsten  Klasse  diesei  Personen  anzufangen  —  schon  ver- 
möge der  Grundsäze  des  Rechts  ein  Eigenthum  bestimmter  Per- 
sonen, der  Eltern.  Ihre  Pflicht  ist  es,  die  Kinder,  welche  sie  er- 
zeugt haben,  bis  zur  vollkommenen  Reife  zu  erziehen,  und  aus 
dieser  Pflicht  allein  entspringen  alle  Rechte  derselben,  als  noth- 
wendige  Bedingungen  der  Ausübung  von  jener.  Die  Kinder  be- 
halten daher  alle  ihre  ursprünglichen  Rechte,  auf  ihr  Leben,  ihre 
Gesundheit,  ihr  Vermögen,  wenn  sie  schon  dergleichen  besizen, 
und  selbst  ihre  Freiheit  darf  nicht  weiter  beschränkt  werden,  als 
die  Eltern   diess   theils  zu  ihrer   eignen  Bildung,   theils  zur  Er- 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  15 


226  5*    Ideen  zu  einem  Versuch 

haltung  des  nun  neu  entstehenden  Familienverhältnisses  für  noth- 
v^^endig  erachten,  und  als  sich  diese  Einschränkung  nur  auf  die 
Zeit  bezieht,  welche  zu  ihrer  Ausbildung  erfordert  wird.  Zwang 
2U  Handlungen,  welche  über  diese  Zeit  hinaus,  und  vielleicht  aufs 
ganze  Leben  hin  ihre  unmittelbaren  Folgen  erstrekken,  dürfen 
sich  daher  Kinder  niemals  gefallen  lassen.  Daher  niemals  z.  B. 
Zwang  zu  Heirathen,  oder  zu  Erwählung  einer  bestimmten  Lebens- 
art. Mit  der  Zeit  der  Reife  muss  die  elterliche  Gewalt  natürlich 
ganz  und  gar  aufhören.  Allgemein  bestehen  daher  die  Pflichten 
der  Eltern  darin,  die  Kinder,  theils  durch  persönliche  Sorgfalt  für 
ihr  physisches  und  moralisches  Wohl,  theils  durch  Versorgung 
mit  den  nothwendigen  Mitteln  in  den  Stand  zu  sezen,  eine  eigne 
Lebensweise,  nach  ihrer,  jedoch  durch  ihre  individuelle  Lage  be- 
schränkten Wahl  anzufangen;  und  die  Pflichten  der  Kinder  da- 
gegen darin,  alles  dasjenige  zu  thun,  was  nothwendig  ist,  damit 
die  Eltern  jener  Pflicht  ein  Genüge  zu  leisten  vermögen.  Alles 
nähere  Detail,  die  Aufzählung  dessen,  was  diese  Pflichten  nun 
bestimmt  in  sich  enthalten  können  und  müssen,  übergehe  ich  hier 
gänzlich.  Es  gehört  in  eine  eigentliche  Theorie  der  Gesezgebung, 
und  würde  auch  nicht  einmal  ganz  in  dieser  Plaz  finden  können, 
da  es  grossentheils  von  individuellen  Umständen  specieller  Lagen 
abhängt. 

Dem  Staate  liegt  es  nun  ob,  für  die  Sicherheit  der  Rechte 
der  Kinder  gegen  die  Eltern  Sorge  zu  tragen,  und  er  muss  daher 
zuerst  ein  gesezmässiges  Alter  der  Reife  bestimmen.  Diess  muss 
nun  natürlich  nicht  nur  nach  der  Verschiedenheit  des  Klimas  und 
selbst  des  Zeitalters  verschieden  sein,  sondern  auch  individuelle 
Lagen,  je  nachdem  nemlich  mehr  oder  minder  Reife  der  Be- 
urtheilungskraft  in  denselben  erfordert  wird,  können  mit  Recht 
darauf  Einfluss  haben.  Hiernächst  muss  er  verhindern,  dass  die 
väterliche  Gewalt  nicht  über  ihre  Gränzen  hinausschreite,  und  darf 
daher  dieselbe  mit  seiner  genauesten  Aufsicht  nicht  verlassen. 
Jedoch  muss  diese  Aufsicht  niemals  positiv  den  Eltern  eine  be- 
stimmte Bildung  und  Erziehung  der  Kinder  vorschreiben  wollen, 
sondern  nur  immer  negativ  dahin  gerichtet  sein,  Eltern  und  Kinder 
gegenseitig  in  den,  ihnen  vom  Gesez  bestimmten  Schranken  zu 
erhalten.  Daher  scheint  es  auch  weder  gerecht,  noch  rathsam, 
fortdauernde  Rechenschaft  von  den  Eltern  zu  fordern ;  man  muss 
ihnen  zutrauen,  dass  sie  eine  Pflicht  nicht  verabsäumen  werden, 
^velche  ihrem  Herzen  so  nah  liegt;  und  erst  solche  Fälle,  wo  ent- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIV,  t>  — 

weder  schon  wirkliche  Verlezungen  dieser  Pflicht  geschehen,  oder 
sehr  nah  bevorstehen,  können  den  Staat,  sich  in  diese  Familien- 
verhältnisse zu  mischen  berechtigen. 

Nach  dem  Tode  der  Eltern  bestimmen  die  Grundsäze  des 
natürlichen  Rechts  minder  klar,  an  wen  die  Sorgfalt  der  noch 
übrigen  Erziehung  fallen  soll.  Der  Staat  muss  daher  genau  fest- 
sezen,  wer  von  den  ^^erwandten  die  Vormundschaft  übernehmen, 
oder,  wenn  von  diesen  keiner  dazu  im  Stande  ist,  wie  einer  der 
übrigen  Bürger  dazu  gewählt  werden  soll.  Ebenso  muss  er  die 
nothwendigen  Eigenschaften  der  Fähigkeit  der  Vormünder  be- 
stimmen. Da  die  Vormünder  die  Pflichten  der  Eltern  über- 
nehmen; so  treten  sie  auch  in  alle  Rechte  derselben;  da  sie  aber 
auf  jeden  Fall  in  einem  minder  engen  Verhältniss  zu  ihren  Pfleg- 
befohlenen stehen,  so  können  sie  nicht  auf  ein  gleiches  Vertrauen 
Anspruch  machen,  und  der  Staat  muss  daher  seine  Aufsicht  auf 
sie  verdoppeln.  Bei  ihnen  dürfte  daher  auch  ununterbrochene 
Rechenschaftsablegung  eintreten  müssen.  Je  weniger  positiven 
Einfluss  der  Staat  auch  nur  mittelbar  ausübt,  desto  mehr  bleibt 
er  den,  im  Vorigen  entwikkelten  Grundsäzen  getreu.  Er  muss 
daher  die  Wahl  eines  Vormunds  durch  die  sterbenden  Eltern 
selbst,  oder  durch  die  zurükbleibenden  Verwandten,  oder  durch 
die  Gemeine,  zu  welcher  die  Pflegbefohlnen  gehören,  soviel  er- 
leichtern, als  nur  immer  die  Sorgfalt  für  die  Sicherheit  dieser  er- 
laubt. Ueberhaupt  scheint  es  rathsam,  alle  eigentlich  specielle  hier 
eintretende  Aufsicht  den  Gemeinheiten  zu  übertragen;  ihre  Maass- 
regeln werden  immer  nicht  nur  der  individuellen  Lage  der  Pfleg- 
befohlnen angemessener,  sondern  auch  mannigfaltiger,  minder  ein- 
förmig sein,  und  für  die  Sicherheit  der  Pflegbefohlnen  ist  dennoch 
hinlänglich  gesorgt,  sobald  die  OberAufsicht  in  den  Händen  des 
Staats  selbst  bleibt. 

Ausser  diesen  Einrichtungen,  muss  der  Staat  sich  nicht  bloss 
begnügen.  Unmündige,  gleich  andren  Bürgern,  gegen  fremde  An- 
griffe zu  beschüzen,  sondern  er  muss  hierin  auch  noch  weiter 
gehen.  Es  w^ar  nemlich  oben  festgesezt  w^orden,  dass  jeder  über 
seine  eignen  Handlungen  und  sein  Vermögen  nach  Gefallen  frei- 
w^illig  beschliessen  kann.  Eine  solche  Freiheit  könnte  Personen, 
deren  Beurtheilungskraft  noch  nicht  das  gehörige  Alter  gereift  hat, 
in  mehr  als  Einer  Hinsicht  gefährlich  werden.  Diese  Gefahren 
nun  abzuwenden  ist  zwar  das  Geschäft  der  Eltern,  oder  ^^ormünder, 
welche    das   Recht   haben,   die   Handlungen    derselben   zu   leiten. 

15* 


228  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Allein  der  Staat  muss  ihnen,  und  den  Unmündigen  selbst  hierin 
zu  Hülfe  kommen,  und  diejenigen  ihrer  Handlungen  für  ungültig 
erklären,  deren  Folgen  ihnen  schädlich  sein  würden.  Er  muss 
dadurch  verhindern,  dass  nicht  eigennüzige  Absichten  andrer  sie 
täuschen,  oder  ihren  Entschluss  überraschen.  Wo  diess  geschieht, 
muss  er  nicht  nur  zu  Ersezung  des  Schadens  anhalten,  sondern 
auch  die  Thäter  bestrafen;  und  so  können  aus  diesem  Gesichts- 
punkt Handlungen  strafbar  werden,  welche  sonst  ausserhalb  des 
Wirkungskreises  des  Gesezes  liegen  würden.  Ich  führe  hier  als 
ein  Beispiel  den  unehelichen  Beischlaf  an,  den,  diesen  Grundsäzen 
zufolge,  der  Staat  an  dem  Thäter  bestrafen  müsste,  wenn  er  mit 
einer  unmündigen  Person  begangen  würde.  Da  aber  die  mensch- 
lichen Handlungen  einen  sehr  mannigfaltig  verschiednen  Grad  der 
Beurtheilungskraft  erfordern,  und  die  Reife  der  lezteren  gleichsam 
nach  und  nach  zunimmt;  so  ist  es  gut,  zum  Behuf  der  Gültigkeit 
dieser  verschiedenen  Handlungen  gleichfalls  verschiedene  Epochen 
und  Stufen  der  Unmündigkeit  zu  bestimmen. 

Was  hier  von  Unmündigen  gesagt  worden  ist,  findet  auch 
auf  Verrükte  und  Blödsinnige  Anwendung.  Der  Unterschied  be- 
steht nur  darin,  dass  sie  nicht  einer  Erziehung  und  Bildung  (man 
müsste  denn  die  Bemühungen,  sie  zu  heilen,  mit  diesem  Namen 
belegen),  sondern  nur  der  Sorgfalt  und  Aufsicht  bedürfen;  dass 
bei  ihnen  noch  vorzüglich  der  Schaden  verhütet  werden  muss, 
den  sie  andren  zufügen  könnten ;  und  dass  sie  gewöhnlich  in  einem 
Zustande  sind,  in  welchem  sie  weder  ihrer  persönlichen  Kräfte, 
noch  ihres  Vermögens  geniessen  können,  wobei  jedoch  nicht  ver- 
gessen werden  muss,  dass,  da  eine  Rükkehr  der  Vernunft  bei  ihnen 
immer  noch  möglich  ist,  ihnen  nur  die  temporelle  Ausübung  ihrer 
Rechte,  nicht  aber  diese  Rechte  selbst  genommen  werden  können. 
Diess  noch  weiter  auszuführen,  erlaubt  meine  gegenwärtige  Absicht 
nicht,  und  ich  kann  daher  diese  ganze  Materie  mit  folgenden  all- 
gemeinen Grundsäzen  beschliessen. 

I.,  Diejenigen  Personen,  welche  entweder  über- 
haupt nicht  denGebrauch  ihrer  Verstandeskräfte  be- 
sizen,  oder  das  dazu  nothwendige  Alter  noch  nicht 
erreicht  haben,  bedürfen  einer  besondren  Sorgfalt 
für  ihr  physisches,  intellektuelles  und  moralisches 
Wohl.  Personen  dieserArt  sind  Unmündige  und  des 
Verstandes  Beraubte.  Zuerst  von  jenen,  dann  von 
diesen. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIV. 


22() 


2.,  In  Absicht  der  U  nmündigen  muss  derStaat  die 
Dauer  der  Unmündigkeit  festsezen.  Er  muss  dieselbe, 
da  sie  ohne  sehr  wesentlichen  Nachtheil  weder  zu 
kurz,  noch  zu  lang  sein  darf,  nach  den  individuellen 
Umständen  der  Lage  der  Nation  bestimmen,  wobei 
ihm  die  vollendeteAusbildung  desKörpers  zum  ohn- 
ge fähren  Kennzeichen  dienen  kann.  Rathsam  ist  es, 
mehrere  Epochen  anzuordnen,  und  gradweise  die 
Freiheit  der  Unmündigen  zu  erweitern,  und  die  Auf- 
sicht  auf  sie  zu  verringern. 

3.,  Der  Staat  muss  darauf  wachen,  dass  die  Eltern 
ihre  Pflichten  gegen  ihre  Kinder  —  nemlich  diesel- 
ben, so  gut  es  ihre  Lage  erlaubt,  in  den  Stand  zu 
sezen,nach  erreichter  Mündigkeit,  eine  eigne  Lebens- 
weise zu  wählen  und  anzufangen  —  und  die  Kinder 
ihre  Pflichten  gegen  ihreEltern  —  nemlich  alles  das- 
jenige zu  thun,  was  zur  Ausübung  jener  Pflicht  von 
Seiten  der  Eltern  noth wendig  ist  —  genau  erfüllen; 
keiner  aber  die  Rechte  überschreite,  welche  ihm  die 
Erfüllung  jener  Pflichten  einräumt.  Seine  Aufsicht 
muss  jedoch  allein  hierauf  beschränkt  sein;  und  jedes 
Bemühen,  hiebei  einen  positiven  Endzwek  zu  er- 
reichen, z.  B.  diese  oder  jene  Art  der  Ausbildung  der 
Kräfte  bei  den  Kindern  zu  begünstigen,  liegt  ausser- 
halb  der  Schranken   seiner  Wirksamkeit. 

4.,  Im  Fall  des  Todes  der  Eltern  sind  Vormünder 
noth  wendig.  Der  Staat  muss  daher  die  Art  bestim- 
men, wie  diese  bestellt  werden  sollen,  so  wie  die 
Eigenschaften,  weiche  sie  nothwendig  besizen  müs- 
sen. Er  ward  aber  gut  thun,  soviel  als  möglich  die 
Wahl  derselben  durch  die  Eltern  selbst,  vor  ihrem 
Tode,  oder  die  übrigbleibenden  Verwandten,  oder 
die  Gemeine  zu  befördern.  Das  Betragen  der  Vor- 
münder erfordeit  eine  noch  genauere  und  doppelt 
wachsame   Aufsicht. 

5.,  Um  die  Sicherheit  der  Unmündigen  zu  beför- 
dern, und  zu  verhindern,  dass  man  sich  nicht  ihrer 
Unerfahrenheit  oder  Unbesonnenheit  zu  ihrem  Nach- 
theil bediene,  muss  derStaat  diejenigen  ihrer,  allein 
für  sich  vorgenommenen  Handlungen,  deren  Folgen 


2 -IQ  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

ihnen  schädlich  werden  könnten,  für  ungültig  er- 
klären; und  diejenigen,  welche  sie  zu  ihrem V ortheil 
auf  diese  Weise   benuzen,   bestrafen. 

6.,  Alles,  was  hier  von  Unmündigen  gesagt  worden, 
gilt  auch  von  solchen,  die  ihres  Verstandes  beraubt 
sind;  nur  mit  den  Unterschieden,  welche  die  Natur 
der  Sache  selbst  zeigt.  Auch  darf  niemand  eher,  als 
ein  solcher  angesehen  werden,  ehe  er  nicht,  nach 
einer,  unter  Aufsicht  des  Richters,  durch  Aerzte 
vorgenommenen  Prüfung,  förmlich  dafür  erklärt  ist; 
und  das  Uebel  selbst  muss  immer,  als  möglicher- 
weise wieder  vorübergehend,   betrachtet  werde d. 

Ich  bin  jezt  alle  Gegenstände  durchgegangen,  auf  welche  der 
Staat  seine  Geschäftigkeit  ausdehnen  muss;  ich  habe  bei  jedem  die 
höchsten  Principien  aufzustellen  versucht.  Findet  man  diesen  Ver- 
such zu  mangelhaft,  sucht  man  viele,  in  der  Gesezgebung  wichtige 
Materien  vergebens  in  demselben;  so  darf  man  nicht  vergessen,, 
dass  es  nicht  meine  Absicht  war,  eine  Theorie  der  Gesezgebung 
aufzustellen  —  ein  Werk,  dem  weder  meine  Kräfte,  noch  meine 
Kenntnisse  gewachsen  sind  —  sondern  allein  den  Gesichtspunkt 
herauszuheben,  inwiefern  die  Gesezgebung  in  ihren  verschiedenen 
Zweigen  die  Wirksamkeit  des  Staats  ausdehnen  dürfe,  oder  ein- 
schränken müsse?  Denn  wie  sich  die  Gesezgebung  nach  ihren 
Gegenständen  abtheilen  lässt,  eben  so  kann  dieselbe  auch  nach 
ihren  Quellen  eingetheilt  werden,  und  vielleicht  ist  diese  Einthei- 
lung,  vorzüglich  für  den  Gesezgeber  selbst,  noch  fruchtbarer. 
Dergleichen  Quellen,  oder  —  um  mich  zugleich  eigentlicher  und 
richtiger  auszudrukken  —  Hauptgesichtspunkte,  aus  welchen  sich 
die  Noth wendigkeit  von  Gesezen  zeigt,  giebt  es,  wie  mich  dünkt, 
nur  drei.  Die  Gesezgebung  im  Allgemeinen  soll  die  Handlungen 
der  Bürger,  und  ihre  nothwendigen  Folgen  bestimmen.  Der  erste 
Gesichtspunkt  ist  daher  die  Natur  dieser  Handlungen  selbst,  und 
diejenigen  ihrer  Folgen,  welche  allein  aus  den  Grundsäzen  des 
Rechts  entspringen.  Der  zweite  Gesichtspunkt  ist  der  besondre 
Zwek  des  Staats,  die  Gränzen,  in  welchen  er  seine  Wirksamkeit 
zu  beschränken,  oder  der  Umfang,  auf  welchen  er  dieselbe  auszu- 
dehnen beschliesst.  Der  dritte  Gesichtspunkt  endlich  entspringt 
aus  den  Mitteln,  welcher  er  nothwendig  bedarf,  um  das  ganze 
Staatsgebäude  selbst  zu  erhalten,  um  es  nur  möglich  zu  machen, 
seinen  Zwek  überhaupt  zu  erreichen.     Jedes  nur   denkbare  Gesez 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XIV. 


231 


muss  einem  dieser  Gesichtspunkte  vorzüglich  eigen  sein;  allein 
keines  dürfte,  ohne  die  Vereinigung  aller,  gegeben  werden,  und 
gerade  diese  Einseitigkeit  der  Ansicht  macht  einen  sehr  wesent- 
lichen Fehler  mancher  Geseze  aus.  Aus  jener  dreifachen  Ansicht 
entspringen  nun  auch  drei  vorzüglich  nothwendige  Vorarbeiten  zu 
jeder  Gesezgebung:  i.,  eine  vollständige  allgemeine  Theorie  des 
Rechts.  2.,  eine  vollständige  Entwikkelung  des  Zweks,  den  der 
Staat  sich  vorsezen  sollte,  oder,  welches  im  Grunde  dasselbe  ist, 
eine  genaue  Bestimmung  der  Grenzen,  in  welchen  er  seine  Wirk- 
samkeit halten  muss ;  oder  eine  Darstellung  des  besondren  Zweks, 
welchen  diese  oder  jene  Staatsgesellschaft  sich  wirklich  vorsezt. 
3.,  eine  Theorie  der,  zur  Existenz  eines  Staats  nothwendigen  Mittel, 
und  da  diese  Mittel  theils  Mittel  der  innren  Festigkeit,  theils  Mittel 
der  Möglichkeit  der  Wirksamkeit  sind,  eine  Theorie  der  Politik 
und  der  Finanzwissenschaften;  oder  wiederum  eine  Darstellung 
des  einmal  gewählten  politischen  und  Finanzsystems.  Bei  dieser 
Uebersicht,  welche  mannigfaltige  Unterabtheilungen  zulässt,  be- 
merke ich  nur  noch,  dass  bloss  das  erste  der  genannten  Stükke 
ewig  und,  wie  die  Natur  des  Menschen  im  Ganzen  selbst,  unver- 
änderlich ist;  die  andren  aber  mannigfaltige  Modifikationen  er- 
lauben. W^erden  indess  diese  Modifikationen  nicht  nach  völlig 
allgemeinen,  von  allen  zugleich  hergenommenen  Rüksichten,  sondern 
nach  andren  zufälligeren  Umständen  gemacht,  ist  z.  B.  in  einem 
Staat  ein  festes  politisches  S^'stem,  sind  unabänderliche  Finanz- 
Einrichtungen;  so  geräth  das  zweite  der  genannten  Stükke  in  ein 
sehr  grosses  Gedränge,  und  sehr  oft  leidet  sogar  hiedurch  das  erste. 
Den  Grund  sehr  vieler  Staatsgebrechen  würde  man  gewiss  in  diesen 
und  ähnlichen  Kollisionen  finden. 

So,  hoffe  ich,  wird  die  Absicht  hinlänglich  bestimmt  sein, 
welche  ich  mir  bei  der  versuchten  Aufstellung  der  obigen  Prin- 
cipien  der  Gesezgebung  vorsezte.  Allein,  auch  unter  diesen  Ein- 
schränkungen, bin  ich  sehr  weit  entfernt,  mir  irgend  mit  dem 
Gelingen  dieser  Absicht  zu  schmeicheln.  Vielleicht  leidet  die 
Richtigkeit  der  aufgestellten  Grundsäze  im  Ganzen  weniger  Ein- 
würfe, aber  an  der  nothwendigen  Vollständigkeit,  an  der  genauen 
Bestimmung  m.ange't  es  ihnen  gewiss.  Auch  um  die  höchsten 
Principien  festzusezcn,  und  gerade  vorzüglich  zu  diesem  Zwek,  ist 
es  nothvv'endig  in  das  genaueste  Detail  einzugehen.  Diess  aber 
war  mir  hier,  meiner  Absicht  nach,  nicht  erlaubt,  und  wenn  ich 
gleich  nach  allen  meinen  Kräften  strebte,  es  in  mir,  gleichsam  als 


2^2  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Vorarbeit  zu  dem  Wenigen  zu  thun,  das  ich  hinschrieb ;  so  gelingt 
doch  ein  solches  Bemühen  niemals  in  gleichem  Grade.  Ich  be- 
scheide  mich  daher  gern,  mehr  die  Fächer,  die  noch  ausgefüllt 
werden  müssten,  gezeigt,  als  das  Ganze  selbst  hinlänglich  ent- 
wikkelt  zu  haben.  Indess  wird  doch,  hoffe  ich,  das  Gesagte  immer 
hinreichend  sein,  meine  eigentliche  Absicht  bei  diesem  ganzen 
Aufsaz  noch  deutlicher  gemacht  zu  haben,  die  Absicht  nemlich, 
dass  der  wichtigste  Gesichtspunkt  des  Staats  immer  die  Entwikke- 
lung  der  Kxäfte  der  einzelnen  Bürger  in  ihrer  Individualität  sein 
muss,  dass  er  daher  nie  etwas  andres  zu  einem  Gegenstand  seiner 
Wirksamkeit  machen  darf,  als  das,  was  sie  allein  nicht  selbst  sich 
zu  verschaffen  vermögen,  die  Beförderung  der  Sicherheit,  und  dass 
diess  das  einzige  wahre  und  untrügliche  Mittel  ist,  scheinbar 
widersprechende  Dinge,  den  Zwek  des  Staats  im  Ganzen,  und  die 
Summe  ^)  aller  Zwekke  der  einzelnen  Bürger  durch  ein  festes,  und 
dauerndes  Band  freundlich  mit  einander  zu  verknüpfen. 


XV. 

Da  ich  jezt  vollendet  habe,  was  mir,  bei  der  Uebersicht  meines 
ganzen  Plans  im  Vorigen  (S.  S.  177 — 181.)  nur  allein  noch  übrig 
zu  bleiben  schien;  so  habe  ich  nunmehr  die  vorliegende  Frage  in 
aller  der  Vollständigkeit  und  Genauigkeit  beantwortet,  welche  mir 
meine  Kräfte  erlaubten.  Ich  könnte  daher  hier  schliessen,  wenn 
ich  nicht  noch  eines  Gegenstandes  erwähnen  müsste,  welcher  auf 
das  bisher  Vorgetragene  einen  sehr  wichtigen  Einfluss  haben  kann, 
nemlich  der  Mittel,  welche  nicht  nur  die  Wirksamkeit  des  Staats 
selbst  möglich  machen,  sondern  ihm  sogar  seine  Existenz  sichern 
müssen. 

Auch  um  den  eingeschränktesten  Zwek  zu  erfüllen,  muss  der 
Staat  hinlängliche  Einkünfte  haben.  Schon  meine  Unwissenheit 
in  allem,  was  Finanzen  heisst,  verbietet  mir  hier  ein  langes  Rai- 
sonnement.  Auch  ist  dasselbe,  dem  von  mir  gewählten  Plane 
nach,  nicht  nothwendig.  Denn  ich  habe  gleich  anfangs  bemerkt, 
dass  ich  hier  nicht  von  dem  Falle  rede,  wo  der  Zwek  des  Staats 
nach  der  Quantität  der  Mittel  der  Wirksamkeit,  welche  derselbe 
in  Händen  hat,  sondern  wo  diese  nach  jenem  bestimmt  wird. 
(S.  S )  -)     Nur   des  Zusammenhangs    willen    muss    ich    be- 

V  „Summe"  verbessert  aus  „Erreichung". 

^)  Hier  wird  auf  S.  28.  29  der  Handschrift  verwiesen,  eine  Stelle,  die  in 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XIV.  XV.  233 

merken,  dass  auch  bei  FinanzEinrichtungen  jene  Rüksicht  des 
Zweks  der  Menschen  im  Staate,  und  der  daher  entspringenden 
Beschränkung  seines  Zweks  nicht  aus  den  Augen  gelassen  werden 
darf.  Auch  der  flüchtigste  Blik  auf  die  Verwebung  so  vieler 
Polizei-  und  Finanzeinrichtungen  lehrt  diess  hinlänglich.  Meines 
Erachtens  giebt  es  für  den  Staat  nur  dreieriei  Arten  der  Einkünfte : 
I.,  die  Einkünfte  aus  vorbehaltnem,  oder  an  sich  gebrachtem 
Eigenthum;  2.,  aus  direkten,  und  3.,  aus  indirekten  Abgaben. 
Alles  Eigenthum  des  Staats  führt  Nachtheile  mit  sich.  Schon 
oben  (S.  S.  129.  130.)  habe  ich  von  dem  Uebergewichte  geredet, 
welches  der  Staat,  als  Staat,  allemal  hat ;  und  ist  er  Eigenthümer, 
so  muss  er  in  viele  Privatverhältnisse  nothwendig  eingehen.  Da 
also,  wo  das  Bedürfniss,  um  welches  allein  man  eine  Staatsein- 
richtung wünscht,  gar  keinen  Einfluss  hat,  wirkt  die  Macht  mit, 
w-elche  nur  in  Hinsicht  dieses  Bedürfnisses  eingeräumt  wurde. 
Gleichfalls  mit  Nachtheilen  verknüpft  sind  die  indirekten  Abgaben. 
Die  Erfahrung  lehrt,  wie  vielfache  Einrichtungen  ihre  Anordnung 
und  ihre  Hebung  voraussezt,  welche  das  vorige  Raisonnement  un- 
streitig nicht  billigen  kann.  Es  bleiben  also  nur  die  direkten  übrig. 
Unter  den  möglichen  S3'stemen  direkter  Abgaben  ist  das  physio- 
Ivratische  unstreitig  das  einfachste.  Allein  —  ein  Einwurf,  der  auch 
schon  öfter  gemacht  worden  ist  —  eins  der  natürlichsten  Produkte 
ist  in  demselben  aufzuzählen  vergessen  w^orden,  die  Kraft  des 
Menschen,  welche,  da  sie  in  ihren  Wirkungen,  ihren  Arbeiten,  bei 
unsren  Einrichtungen  mit  zur  Waare  wird,  gleichfalls  der  Abgabe 
unterworfen  sein  muss.  Wenn  man  das  System  direkter  Abgaben, 
auf  welches  ich  hier  zurükkomme,  nicht  mit  Unrecht  das  schlech- 
teste, und  unschiklichste  aller  Finanzsysteme  nennt ;  so  muss  man 
indess  auch  nicht  vergessen,  dass  der  Staat,  welchem  so  enge 
Gränzen  der  Wirksamkeit  gesezt  sind,  keiner  grossen  Einkünfte 
bedarf,  und  dass  der  Staat,  der  so  gar  kein  eignes,  von  dem  der 
Bürger  getheiltes  Interesse  hat,  der  Hülfe  einer  freien  d.  i.  nach 
der  Erfahrung  aller  Zeitalter,  wohlhabenden  Nation  gewisser  ver- 
sichert sein  kann. 

So  wie  die  Einrichtung  der  Finanzen  der  Befolgung  der  im 
Vorigen  aufgestellten  (jrundsäze  Hindernisse  in  den  W^eg  legen 
kann;  ebenso,  und  vielleicht  noch  mehr,  ist  diess  der  Fall  bei  der 


den  jetzt  fehlenden  Blättern  (vgl.  oben  S.  g-j  Anm.)  enthalten  ivar  und  auch   in 
dem  in  der  Thalia  abgedruckten  Stück  sich  nicht  findet. 


oo  1  5.    Ideen  zu  einem  Versuch 

inneren  politischen  Verfassung.  Es  muss  nemlich  ein  Mittel  vor- 
handen sein,  welches  den  beherrschenden  und  den  beherrschten 
Theil  der  Nation  mit  einander  verbindet,  welches  dem  ersteren 
den  Besiz  der  ihm  anvertrauten  Macht  und  dem  lezteren  den  Ge- 
nuss  der  ihm  übriggelassenen  Freiheit  sichert.  Diesen  Zwek  hat 
man  in  verschiedenen  Staaten  auf  verschiedene  Weise  zu  erreichen 
versucht;  bald  durch  Verstärkung  der  gleichsam  physischen  Gewalt 
der  Regierung  —  welches  indess  freilich  für  die  Freiheit  gefährlich 
ist  —  bald  durch  die  Gegeneinanderstellung  mehrerer  einander 
entgegengesezter  Mächte,  bald  durch  Verbreitung  eines,  der  Kon- 
stitution günstigen,  Geistes  unter  der  Nation.  Diess  leztere  Mittel, 
wie  schöne  Gestalten  es  auch,  vorzüglich  im  Alterthum,  hervor- 
gebracht hat,  wird  der  Ausbildung  der  Bürger  in  ihrer  Indivi- 
dualität leicht  nachtheilig,  bringt  nicht  selten  Einseitigkeit  hervor, 
und  ist  daher  am  wenigsten  in  dem,  hier  aufgestellten  S3'steme 
rathsam.  Vielmehr  müsste,  diesem  zufolge,  eine  politische  Ver- 
fassung gewählt  werden,  welche  so  wenig,  als  möglich,  einen 
positiven  speciellen  Einfluss  auf  den  Charakter  der  Bürger  hätte, 
und  nichts  anders,  als  die  höchste  Achtung  des  fremden  Rechts, 
verbunden  mit  der  enthusiastischsten  Liebe  der  eignen  Freiheit,  in 
ihnen  herv^orbrächte.  Welche  der  denkbaren  Verfassungen  diess 
nun  sein  möchte?  versuche  ich  hier  nicht  zu  prüfen.  Diese  Prü- 
fung gehört  offenbar  allein  in  eine  Theorie  der  eigentlichen  Politik. 
Ich  begnüge  mich  nur  an  folgenden  kurzen  Bemerkungen,  welche 
wenigstens  die  Möglichkeit  einer  solchen  Verfassung  deutlicher 
zeigen.  Das  System,  das  ich  vorgetragen  habe,  verstärkt  und  ver- 
vielfacht das  Privatinteresse  der  Bürger,  und  es  scheint  daher,  dass 
eben  dadurch  das  öfi'entliche  geschwächt  werde.  Allein  es  ver- 
bindet auch  dieses  so  genau  mit  jenem,  dass  dasselbe  vielmehr 
nur  auf  jenes,  und  zwar,  wie  es  jeder  Bürger  —  da  doch  jeder 
sicher  und  frei  sein  will  —  anerkennt,  gegründet  ist.  So  dürfte 
also  doch,  gerade  bei  diesem  S3'stem,  die  Liebe  der  Konstitution 
am  besten  erhalten  werden,  die  man  sonst  oft  durch  sehr  künst- 
liche Mittel  vergebens  hervorzubringen  strebt.  Dann  trift  auch 
hier  ein,  dass  der  Staat,  der  weniger  wirken  soll,  auch  eine  ge- 
ringere Macht,  und  die  geringere  Macht  eine  geringere  Wehr 
braucht.  Endlich  versteht  sich  noch  von  selbst,  dass,  so  v/ie  über- 
haupt manchmal  Kraft  oder  Genuss  den  Resultaten  aufgeopfert 
werden  müssen,  um  beide  vor  einem  grösseren  Verlust  zu  be- 
wahren, eben  diess  auch  hier  immer  angewendet  werden  müsste. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeil  des  Staats  zu  bestimmen.     XV. 


23i 


So  hätte  ich  denn  jezt  die  vorgelegte  Frage,  nach  dem  Alaasse 
meiner  gegenwärtigen  Kräfte,  vollständig  beantwortet,  die  Wirk- 
samkeit des  Staats  von  allen  Seiten  her  mit  den  Gränzen  um- 
schlossen, welche  mir  zugleich  erspriessHch  und  nothwendig 
schienen.  Ich  habe  indess  dabei  nur  den  Gesichtspunkt  des  Besten 
gewählt;  der  des  Rechts  könnte  noch  neben  demselben  nicht  un- 
interessant scheinen.  Allein  wo  eine  Staatsgesellschaft  wirklich 
einen  gewissen  Zwek,  sichere  Gränzen  der  Wirksamkeit  freiwillig 
bestimmt  hat;  da  sind  natürlich  dieser  Zwek  und  diese  Gränzen 
—  sobald  sie  nur  von  der  Art  sind,  dass  ihre  Bestimmung  in  der 
Macht  der  Bestimmenden  lag  —  rechtmässig.  Wo  eine  solche 
ausdrükliche  Bestimmung  nicht  geschehen  ist,  da  muss  der  Staat 
natürlich  seine  Wirksamkeit  auf  diejenigen  Gränzen  zurükzubringen 
suchen,  welche  die  reine  Theorie  vorschreibt,  aber  sich  auch  von 
den  Hindernissen  leiten  lassen,  deren  Uebersehung  nur  einen 
grösseren  Xachtheil  zur  Folge  haben  würde.  Die  Nation  kann 
also  mit  Recht  die  Befolgung  jener  Theorie  immer  so  weit,  aber 
nie  weiter  erfordern,  als  diese  Hindernisse  dieselbe  nicht  unmög- 
lich machen.  Dieser  Hindernisse  nun  habe  ich  im  Vorigen  nicht 
erwähnt;  ich  habe  mich  bis  hieher  begnügt,  die  reine  Theorie  zu 
entwikkeln.  Ueberhaupt  habe  ich  versucht,  die  vortheilhafteste 
Lage  für  den  Menschen  im  Staat  aufzusuchen.  Diese  schien  mir 
nun  darin  zu  bestehen,  dass  die  mannigfaltigste  Individualität,  die 
originellste  Selbstständigkeit  mit  der  gleichfalls  mannigfaltigsten 
und  innigsten  \^ereinigung  mehrerer  Menschen  neben  einander 
aufgestellt  würde  —  ein  Problem,  welches  nur  die  höchste  Frei- 
heit zu  lösen  vermag.  Die  Möglichkeit  einer  Staatseinrichtung, 
welche  diesem  Endzwek  so  wenig,  als  möglich,  Schranken  sezte, 
darzuthun,  war  eigentlich  die  Absicht  dieser  Bogen,  und  ist  schon 
seit  längerer  Zeit  der  Gegenstand  alles  meines  Nachdenkens  ge- 
wesen. Ich  bin  zufrieden,  wenn  ich  bewiesen  habe,  dass  dieser 
Grundsa^  wenigstens  bei  allen  Staatseinrichtungen  dem  Gesezgeber, 
als  Ideal,  vorschweben  sollte. 

Eine  grosse  Erjä'.iterung  könnten  diese  Ideen  durch  die  Ge- 
schichte und  Statistik  —  beide  auf  diesen  Endzwek  gerichtet  — 
erhalten.  Ueberhaupt  hat  mir  oft  die  Statistik  einer  Reform  zu 
bedürfen  geschienen.  Statt  blosse  Data  der  Grösse,  der  Zahl  der 
Einwohner,  des  Reichthums,  der  Industrie  eines  Staats,  aus  welchen 
sein  eigentlicher  Zustand  nie  ganz  und  mit  Sicherheit  zu  be- 
urtheilen  ist,  an  die  Hand  zu  geben,  sollte  sie,  von  der  natürlichen 


2oß  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

Beschaffenheit  des  Landes  und  seiner  Bewohner  ausgehend,  das 
Maass  und  die  Art  ihrer  thätigen,  leidenden,  und  geniessenden 
Kräfte,  und  nun  schrittweise  die  Modifikationen  zu  schildern 
suchen,  welche  diese  Kräfte  theils  durch  die  Verbindung  der  Nation 
unter  sich,  theils  durch  die  Einrichtung  des  Staats  erhalten.  Denn 
die  Staatsverfassung  und  der  Nationalverein  sollten,  wie  eng  sie 
auch  in  einander  verwebt  sein  mögen,  nie  mit  einander  verwechselt 
w^erden.  Wenn  die  Staatsverfassung  den  Bürgern,  seis  durch 
Uebermacht  und  Gewalt,  oder  Gewohnheit  und  Gesez,  ein  be- 
stimmtes Verhältniss  anweist;  so  giebt  es  ausserdem  noch  ein 
andres,  freiwillig  von  ihnen  gewähltes,  unendlich  mannigfaltiges, 
und  oft  wechselndes.  Und  diess  leztere,  das  freie  Wirken  der 
Nation  unter  einander,  ist  es  eigentlich,  welches  alle  Güter  be- 
wahrt, deren  Sehnsucht  die  Menschen  in  eine  Gesellschaft  führt. 
Die  eigentliche  Staatsverfassung  ist  diesem,  als  ihrem  Zwekke, 
untergeordnet,  und  wird  immer  nur,  als  ein  nothwendiges  Mittel, 
und,  da  sie  allemal  mit  Einschränkungen  der  Freiheit  verbunden 
ist,  als  ein  nothwendiges  Uebel  gewählt.  Die  nachtheiligen  Folgen 
zu  zeigen,  welche  die  Verwechselung  der  freien  Wirksamkeit  der 
Nation  mit  der  erzwungenen  der  Staatsverfassung  dem  Genuss, 
den  Kräften,  und  dem  Charakter  der  Menschen  bringt,  ist  daher 
auch  eine  Nebenabsicht  dieser  Blätter  gewesen. 


XVI. 

Jede  Entwikklung  von  Wahrheiten,  welche  sich  auf  den 
Menschen,  und  insbesondre  auf  den  handlenden  Menschen  beziehen, 
führt  auf  den  Wunsch,  dasjenige,  was  die  Theorie  als  richtig  be- 
währt, auch  in  der  Wirklichkeit  ausgeführt  zu  sehen.  Dieser 
Wunsch  ist  der  Natur  des  Menschen,  dem  so  selten  der  still  wohl- 
thätige  Seegen  blosser  Ideen  genügt,  angemessen,  und  seine  Leb- 
haftigkeit wächst  mit  der  wohlwollenden  Theilnahme  an  dem  Glük 
der  Gesellschaft.  Allein  wie  natürlich  derselbe  auch  an  sich,  und 
wie  edel  in  seinen  Quellen  er  sein  mag;  so  hat  er  doch  nicht 
selten  schädliche  Folgen  hervorgebracht,  und  oft  sogar  schäd- 
lichere, als  die  kältere  Gleichgültigkeit  oder  —  da  auch  gerade 
aus  dem  Gegentheil  dieselbe  Wirkung  entstehn  kann  —  die  glühende 
Wärme,  welche,  minder  bekümmert  um  die  Wirklichkeit,  sich 
nur  an  der  reinen  Schönheit  der  Ideen  ergözt.  Denn  das  Wahre, 
sobald  es  —  wäre   es  auch   nur   in  Einem  Menschen  —  tief  ein- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.    XV.  XVI. 


^37 


dringende  Wurzeln  fasst,  verbreitet  immer,  nur  langsamer  und 
geräuschloser,  heilsame  Folgen  auf  das  wirldiche  Leben;  da  hin- 
gegen das,  was  unmittelbar  auf  dasselbe  übergetragen  wird,  nicht 
selten,  bei  der  Uebertragung  selbst,  seine  Gestalt  verändert,  und 
nicht  einmal  auf  die  Ideen  zurükwirkt.  Daher  giebt  es  auch  Ideen, 
w^elche  der  Weise  nie  nur  auszuführen  versuchen  würde.  Ja  für 
die  schönste,  gereifteste  Frucht  des  Geistes  ist  die  Wirklichkeit 
nie,  in  keinem  Zeitalter,  reif  genug;  das  Ideal  muss  der  Seele  des 
Bildners  jeder  Art  nur  immer,  als  unerreichbares  Muster  vor- 
schweben. Diese  Gründe  empfehlen  demnach  auch  bei  der  am 
mindesten  bezweifelten,  konsequentesten  Theorie  mehr  als  ge- 
wöhnliche Vorsicht  in  der  Anwendung  derselben;  und  um  so 
mehr  bewegen  sie  mich  noch,  ehe  ich  diese  ganze  Arbeit  be- 
schliesse,  so  vollständig,  aber  zugleich  so  kurz,  als  mir  meine 
Ivräfte  erlauben,  zu  prüfen,  inwiefern  die  im  Vorigen  theoretisch 
entwikkelten  Grundsäze  in  die  Wirklichkeit  übergetragen  werden 
könnten.'  Diese  Prüfung  w^ird  zugleich  dazu  dienen,  mich  vor 
der  Beschuldigung  zu  bewahren,  als  wollte  ich  durch  das  ^"orige 
unmittelbar  der  Wirklichkeit  Regeln  vorschreiben,  oder  auch  nur 
dasjenige  misbilligen,  was  demselben  etwa  in  ihr  widerspricht  — 
eine  Anmaassung,  von  der  ich  sogar  dann  entfernt  sein  würde, 
wenn  ich  auch  alles,  was  ich  vorgetragen  habe,  als  völlig  richtig 
und  gänzlich  zweifellos  anerkennte. 

Bei  jeglicher  Umformung  der  Gegenwart  muss  auf  den  bisherigen 
Zustand  ein  neuer  folgen.  Nun  aber  bringt  jede  Lage,  in  welcher  sich 
die  Menschen  befinden,  jeder  Gegenstand,  der  sie  umgiebt,  eine  be- 
stimmte, feste  Form  in  ihrem  Innren  hervor.  Diese  Form  vermag 
nicht  in  jede  andre  selbstgewählte  überzugehen,  und  man  verfehlt  zu- 
gleich seines  Endzweks  uad  tödtet  die  Kraft,  wenn  man  ihr  eine  un- 
passende aufdringt.  Wenn  man  die  wichtigsten  Revolutionen  der  Ge- 
schichte übersieht,  so  entdekt  man,  ohne  Mühe,  dass  die  meisten  der- 
selben aus  den  periodischen  Revolutionen  des  menschlichen  Geistes 
entstanden  sind.  Noch  mehr  wird  man  in  dieser  Ansicht  bestätigt,  wenn 
man  die  Kräfte  überschlägt,  welche  eigentlich  alle  Veränderungen 
auf  dem  Erdkreis  bewirken,  und  unter  diesen  die  menschlichen 
—  da  die  der  physischen  Natur  wegen  ihres  gleichmässigen,  ewig 
einförmig  wiederkehrenden  Ganges  in  dieser  Rüksicht  weniger 
wichtig,  und  die  der  vernunftlosen  Geschöpfe  in  eben  derselben 
an  sich  unbedeutend  sind  —  in  dem  Besize  des  Hauptantheils 
erblikt.    Die  menschliche  Kraft  vermag  sich  in  Einer  Periode  nur 


298  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

auf  Eine  Weise  zu  äussern,  aber  diese  Weise  unendlich  mannig- 
faltig zu  moditiciren;  sie  zeigt  daher  in  jedem  Moment  eine  Ein- 
seitigkeit, die  aber  in  einer  Folge  von  Perioden  das  Bild  einer 
wunderbaren  Vielseitigkeit  gewährt.  Jeder  vorhergehende  Zustand 
derselben  ist  entweder  die  volle  Ursach  des  folgenden,  oder  doch 
wenigstens  die  beschränkende,  dass  die  äussern,  andringenden 
Umstände  nur  gerade  diesen  hervorbringen  können.  Eben  dieser 
vorhergehende  Zustand,  und  die  Modifikation,  welche  er  erhält, 
bestimmt  daher  auch,  wie  die  neue  Lage  der  Umstände  auf  den 
Menschen  wirken  soll,  und  die  Macht  dieser  Bestimmung  ist  so 
gross,  dass  diese  Umstände  selbst  oft  eine  ganz  andre  Gestalt  da- 
durch erhalten.  Daher  rührt  es,  dass  alles,  was  auf  der  Erde  ge- 
schieht, gut  und  heilsam  genannt  werden  kann,  weil  die  innere 
Kraft  des  Menschen  es  ist,  welche  sich  alles,  wie  seine  Natur 
auch  sein  möge,  bemeistert,  und  diese  innere  Kraft  in  keiner  ihrer 
Aeusserungen,  da  doch  jede  ihr  von  irgend  einer  Seite  mehr  Stärke 
oder  mehr  Bildung  verschaft,  je  anders  als  —  nur  in  verschiedenen 
Graden  —  wohlthätig  wirken  kann.  Daher  ferner,  dass  sich 
vielleicht  die  ganze  Geschichte  des  menschlichen  Geschlechts  bloss 
als  eine  natürliche  Folge  der  Revolutionen  der  menschlichen  Kraft 
darstellen  liesse;  welches  nicht  nur  überhaupt  vielleicht  die  lehr- 
reichste Bearbeitung  der  Geschichte  sein  dürfte,  sondern  auch 
jeden,  auf  Menschen  zu  wirken  Bemühten  belehren  würde,  welchen 
Weg  er  die  menschliche  Kraft  mit  Fortgang  zu  führen  versuchen, 
und  welchen  er  niemals  derselben  zumuthen  müsste?  Wie  daher 
diese  innre  Kraft  des  Menschen  durch  ihre  Achtung  erregende 
Würde  die  vorzüglichste  Rüksicht  verdient;  ebenso  nöthigt  sie 
auch  diese  Rüksicht  durch  die  Gewalt  ab,  mit  welcher  sie  sich 
alle  übrigen  Dinge  unterwirft. 

Wer  demnach  die  schwere  Arbeit  versuchen  will,  einen  neuen 
Zustand  der  Dinge  in  den  bisherigen  kunstv^oll  zu  verweben,  der 
wird  vor  allem  sie  nie  aus  den  Augen  verlieren  dürfen.  Zuerst 
muss  er  daher  die  volle  Wirkung  der  Gegenwart  auf  die  Gemüther 
abwarten;  wollte  er  hier  zerschneiden,  so  könnte  er  zwar  vielleicht 
die  äussre  Gestalt  der  Dinge,  aber  nie  die  innere  Stimmung  der 
Menschen  umschatten,  und  diese  würde  wiederum  sich  in  alles 
Neue  übertragen,  was  man  gewaltsam  ihr  aufgedrungen  hätte. 
Auch  glaube  man  nicht,  dass,  je  voller  man  die  Gegenwart  wirken 
lässt,  desto  abgeneigter  der  Mensch  gegen  einen  andren  folgenden 
Zustand  werde.     Gerade  in  der  Geschichte  des  Menschen  sind  die 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XVI. 


239 


Extreme  am  nächsten  miteinander  verknüpft;  und  jeder  äussre 
Zustand,  wenn  man  ihn  ungestört  fortwirken  lässt,  arbeitet,  statt 
sich  zu  befestigen,  an  seinem  Untergange.  Diess  zeigt  nicht  nur 
die  Erfahrung  aller  Zeitalter,  sondern  es  ist  auch  der  Natur  des 
Menschen  gemäss,  sowohl  des  thätigen,  welcher  nie  länger  bei 
einem  Gegenstand  verweilt,  als  seine  Energie  Stoff  daran  findet, 
und  also  gerade  dann  am  leichtesten  übergeht,  wenn  er  sich  am 
ungestörtesten  damit  beschäftigt  hat,  als  auch  des  leidenden,  in 
welchem  zwar  die  Dauer  des  Druks  die  Kraft  abstumpft,  aber  auch 
den  Druk  um  so  härter  fühlen  lässt.  Ohne  nun  aber  die  gegen- 
wärtige Gestalt  der  Dinge  anzutasten,  ist  es  möglich,  auf  den  Geist 
und  den  Charakter  der  Menschen  zu  wirken,  möglich,  diesem  eine 
Richtung  zu  geben,  welche  jener  Gestalt  nicht  mehr  angemessen 
ist;  und  gerade  das  ist  es,  v>'as  der  Weise  zu  thun  versuchen  wird. 
Nur  auf  diesem  Wege  ist  es  möglich,  den  neuen  Plan  gerade  so 
in  der  Wirklichkeit  auszuführen,  als  man  ihn  sich  in  der  Idee 
dachte ;  auf  jedem  andren  wird  er,  den  Schaden  noch  abgerechnet, 
den  man  allemal  anrichtet,  wenn  man  den  natürlichen  Gang  der 
menschlichen  Entwikklung  stört,  durch  das,  was  noch  von  dem 
vorhergehenden  in  der  Wirklichkeit,  oder  in  den  Köpfen  der 
Menschen  übrig  ist,  modificirt,  verändert,  entstellt.  Ist  aber  diess 
Hinderniss  aus  dem  Wege  geräumt,  kann  der  neu  beschlossene 
Zustand  der  Dinge,  des  vorhergehenden  und  der,  durch  denselben 
bewirkten  Lage  der  Gegenwart  ungeachtet,  seine  volle  Wirkung 
äussern;  so  darf  auch  nichts  mehr  der  Ausführung  der  Reform 
im  Wege  stehn.  Die  allgemeinsten  Grundsäze  der  Theorie  aller 
Reformen  dürften  daher  vielleicht  folgende  sein: 

I.,  man  trage  Grundsäze  der  reinen  Theorie  alle- 
mal alsdann,  aber  nie  eher  in  die  Wirklichkeit  über, 
alsbisdiese  in  ihre  m  ganzen  Umfange  dieselben  nicht 
mehr  hindert,  diejenigen  Folgen  zu  äussern,  welche 
sie,  ohne  alle  fremde  Beimischung,  immer  hervor- 
bringen w^ürden. 

2.,  Um  den  U  ebergang  von  dem  gegen  wärtigenZu- 
stande  zum  neu  beschlossenen  zu  bewürken,  lasse 
man,  soviel  möglich,  jede  Reform  von  den  Ideen  und 
den  Köpfen  der  Menschen  ausgehen. 

Bei  den,  im  Vorigen  aufgestellten,  bloss  theoretischen  Grund- 
säzen  war  ich  zwar  überall  von  der  Natur  des  Menschen  ausge- 
gangen,   auch    hatte    ich    in   demselben    kein    ausserordentliches, 


240  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

sondern  nur  das  gewöhnliche  Maass  der  Kräfte  vorausgesezt ; 
allein  immer  hatte  ich  ihn  mir  doch  bloss  in  der  ihm  nothvvendig 
eigenthümlichen  Gestalt,  und  noch  durch  kein  bestimmtes  Ver- 
hältniss  auf  diese,  oder  jene  Weise  gebildet,  gedacht.  Nirgends 
aber  existirt  der  Mensch  so,  überall  haben  ihm  schon  die  Um- 
stände, in  welchen  er  lebt,  eine  positive,  nur  mehr  oder  minder 
abweichende  Form  gegeben.  Wo  also  ein  Staat  die  Gränzen  seiner 
Wirksamkeit,  nach  den  Grundsäzen  einer  richtigen  Theorie,  aus- 
zudehnen oder  einzuschränken  bemüht  ist,  da  muss  er  auf  diese 
Form  eine  vorzügliche  Rüksicht  nehmen.  Das  Misverhältniss 
zwischen  der  Theorie  und  der  Wirklichkeit  in  diesem  Punkte  der 
Staatsverwaltung  wird  nun  zwar,  wie  sich  leicht  voraussehen  lässt, 
überall  in  einem  Mangel  an  Freiheit  bestehen,  und  so  kann  es 
scheinen,  als  wäre  die  Befreiung  von  Fesseln  in  jeglichem  Zeitpunkt 
möglich,  und  in  jeglichem  wohlthätig.  Allein  wie  wahr  auch  diese 
Behauptung  an  sich  ist,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass,  was 
als  Fessel  von  der  einen  Seite  die  Kraft  hemmt,  auch  von  der 
andren  Stoff  wird,  ihre  Thätigkeit  zu  beschäftigen.  Schon  in  dem 
Anfange  dieses  Aufsazes  habe  ich  bemerkt,  dass  der  Mensch  mehr 
zur  Herrschaft,  als  zur  Freiheit  geneigt  ist,  und  ein  Gebäude  der 
Herrschaft  freut  nicht  bloss  den  Herrscher,  der  es  aufführt  und 
erhält,  sondern  selbst  die  dienenden  Theile  erhebt  der  Gedanke, 
Glieder  Eines  Ganzen  zu  sein,  welches  sich  über  die  Kräfte  und 
die  Dauer  einzelner  Generationen  hinauserstrekt.  Wo  daher  diese 
Ansicht  noch  herrschend  ist,  da  muss  die  Energie  hinschwinden, 
und  Schlaffheit  und  Unthätigkeit  entstehen,  wenn  man  den  Menschen 
zwingen  will,  nur  in  sich  und  für  sich,  nur  in  dem  Räume,  den 
seine  einzelnen  Kräfte  umspannen,  nur  für  die  Dauer,  die  er  durch- 
lebt, zu  wirken.  Zwar  wirkt  er  allein  auf  diese  Weise  auf  den 
unbeschränktesten  Raum,  für  die  unvergänglichste  Dauer;  allein 
er  wirkt  auch  nicht  so  unmittelbar,  er  streut  mehr  sich  selbst  ent- 
wikkelnden  Saamen  aus,  als  er  Gebäude  aufrichtet,  welche  geradezu 
Spuren  seiner  Hand  aufweisen,  und  es  ist  ein  höherer  Grad  von 
Kultur  nothwendig,  sich  mehr  an  der  Thätigkeit  zu  erfreuen, 
welche  nur  Kräfte  schaft,  und  ihnen  selbst  die  Erzeugung  der 
Resultate  überlässt,  als  an  derjenigen,  v^'elche  unmittelbar  diese 
selbst  aufstellt.  Dieser  Grad  der  Kultur  ist  die  wahre  Reife  der 
Freiheit.  Allein  diese  Reife  findet  sich  nirgends  in  ihrer  Vollendung, 
und  wird  in  dieser  —  meiner  Ueberzeugung  nach  —  auch  dem  sinn- 
lichen, so  gern  aus  sich  herausgehenden  Menschen  ewig  fremd  bleiben. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XVI. 


241 


Was  w'ürde  also  der  Staatsmann  zu  thun  haben,  der  eine 
solche  Umänderung^)  unternehmen  wollte.^  Einmal  in  jedem 
Schritt,  den  er  neu,  nicht  in  Gefolge  der  einmaligen  Lage  der 
Dinge  thäte,  der  reinen  Theorie  streng  folgen,  es  müsste  denn 
ein  Umstand  in  der  Gegenwart  liegen,  welcher,  wenn  man  sie  ihr 
aufpfropfen  wollte,  sie  verändern,  ihre  Folgen  ganz  oder  zum 
Theil  vernichten  würde.  Zweitens  alle  Freiheitsbeschränkungen, 
die  einmal  in  der  Gegenwart  gegründet  wären,  so  lange  ruhig  be- 
stehen lassen,  bis  die  Menschen  durch  untrügliche  Kennzeichen 
zu  erkennen  geben,  dass  sie  dieselben  als  einengende  Fesseln  an- 
sehen, dass  sie  ihren  Druk  fühlen,  und  also  in  diesem  Stükke  zur 
Freiheit  reif  sind ;  dann  aber  dieselben  ungesäumt  entfernen.  End- 
lich die  Reife  zur  Freiheit  durch  jegliches  2^Iittel  befördern.  Diess 
Leztere  ist  unstreitig  das  Wichtigste,  und  zugleich  in  diesem  System 
das  Einfachste.  Denn  durch  nichts  wird  diese  Reife  zur  Freiheit 
in  gleichem  Grade  befördert,  als  durch  Freiheit  selbst.  Diese  Be- 
hauptung dürften  zwar  diejenigen  nicht  anerkennen,  welche  sich 
so  oft  gerade  dieses  Mangels  der  Reife,  als  eines  ^"o^wandes  be- 
dient haben,  die  Unterdrükkung  fortdauern  zu  lassen.  Allein  sie 
folgt,  dünkt  mich,  unwidersprechlich  aus  der  Natur  des  Menschen 
selbst.  Mangel  an  Reife  zur  Freiheit  kann  nur  aus  Mangel  intellek- 
tueller und  moralischer  Ivräfte  entspringen;  diesem  Mangel  wird 
allein  durch  Erhöhung  derselben  entgegengearbeitet;  diese  Erhöhung 
aber  fordert  Uebung,  und  die  Uebung  Selbstthätigkeit  erwekkende 
Freiheit.  Xur  freilich  heisst  es  nicht  Freiheit  geben,  wenn  man 
Fesseln  löst,  welche  der  noch  nicht,  als  solche,  fühlt,  welcher  sie 
trägt.  Von  keinem  Menschen  der  Welt  aber,  wie  verwahrlost  er 
auch  durch  die  Natur,  wie  herabgewürdigt  durch  seine  Lage  sei, 
ist  diess  mit  allen  Fesseln  der  Fall,  die  ihn  drükken.  Man  löse 
also  nach  und  nach  gerade  in  eben  der  Folge,  wie  das  Gefühl  der 
Freiheit  erwacht,  und  mit  jedem  neuen  Schritt  wird  man  den 
Fortschritt  beschleunigen.  Grosse  Schwierigkeiten  können  noch 
die  Kennzeichen  dieses  Erwachens  erregen.  Allein  diese  Schwierig- 
keiten liegen  nicht  sowohl  in  der  Theorie,  als  in  der  Ausführung, 
die  freilich  nie  specielle  Regeln  erlaubt,  sondern,  wie  überall,  so 
auch  hier,  allein  das  Werk  des  Genies  ist.  In  der  Theorie  würde 
ich  mir  diese  freilich  sehr  schwierig  verwikkelte  Sache  auf  folgende 
Art  deutlich  zu  machen  suchen. 

Der  Gesezgeber  müsste  zwei  Dinge  unausbleiblich  vor  Augen 

V  „Umänderung"  verbessert  aus  „Revolution". 

W.  V.  Humboldt,   Werke.     I.  I6 


24.2  5-    Itleen  zu  einem  Versuch 

haben:  i.,  die  reine  Theorie,  bis  in  das  genaueste  Detail  ausge- 
sponnen. 2.,  den  Zustand  der  indi\äduellen  Wirklichkeit,  die  er 
umzuschaffen  bestimmt  wäre.  Die  Theorie  müsste  er  nicht  nur 
in  allen  ihren  Theilen  auf  das  genaueste  und  vollständigste  über- 
sehen, sondern  er  müsste  auch  die  nothwendigen  Folgen  jedes 
einzelnen  Grundsazes  in  ihrem  ganzen  Umfange,  in  ihrer  mannig- 
faltigen Verwebung,  und  in  ihrer  gegenseitigen  Abhängigkeit  einer 
von  der  andren,  wenn  nicht  alle  Grundsäze  auf  einmal  realisirt 
werden  könnten,  vor  Augen  haben.  Ebenso  müsste  er  —  und 
diess  Geschäft  wäre  freilich  unendlich  schwieriger  —  sich  von 
dem  Zustande  der  Wirklichkeit  unterrichten,  von  allen  Banden, 
welche  der  Staat  den  Bürgern,  und  welche  sie  sich  selbst,  gegen 
die  reinen  Grundsäze  der  Theorie,  unter  dem  Schuze  des  Staats, 
auflegen,  und  von  allen  Folgen  derselben.  Beide  Gemähide  müsste 
er  nun  mit  einander  vergleichen,  und  der  Zeitpunkt,  einen  Grund- 
saz  der  Theorie  in  die  W^irklichkeit  überzutragen,  wäre  da,  wenn 
in  der  Vergleichung  sich  fände,  dass,  auch  nach  der  Uebertragung, 
der  Grundsaz  unverändert  bleiben,  und  noch  eben  die  Folgen 
hervorbringen  würde,  welche  das  erste  Gemähide  darstellte;  oder, 
wenn  diess  nicht  ganz  der  Fall  wäre,  sich  doch  voraussehen 
Hesse,  dass  diesem  Mangel  alsdann,  wenn  die  Wirklichkeit  der 
Theorie  noch  mehr  genähert  wäre,  abgeholfen  werden  würde. 
Denn  diess  lezte  Ziel,  diese  gänzliche  Näherung  müsste  den  Blik 
des  Gesezgebers  unablässig  an  sich  ziehen. 

Diese  gleichsam  bildliche  Vorstellung  kann  sonderbar,  und 
vielleicht  noch  mehr,  als  das,  scheinen,  man  kann  sagen,  dass  diese 
Gemähide  nicht  einmal  treu  erhalten,  viel  weniger  noch  die  Ver- 
gleichung genau  angestellt  werden  könne.  Alle  diese  Einwürfe 
sind  gegründet,  allein  sie  verlieren  sehr  vieles  von  ihrer  Stärke, 
wenn  man  bedenkt,  dass  die  Theorie  immer  nur  Freiheit  verlangt, 
die  W^irklichkeit,  insofern  sie  von  ihr  abweicht,  immer  nur  Zwang 
zeigt,  die  Ursach,  warum  man  nicht  Freiheit  gegen  Zwang  ein- 
tauscht, immer  nur  Unmöglichkeit  sein,  und  diese  Unmöglich- 
keit hier,  der  Natur  der  Sache  nach,  nur  in  Einem  von  folgenden 
beiden  Stükken  liegen  kann,  entweder  dass  die  Menschen,  oder 
dass  die  Lage  noch  nicht  für  die  Freiheit  empfänglich  ist,  dass 
also  dieselbe  —  w^elches  aus  beiden  Gründen  entspringen  kann  — 
Resultate  zerstört,  ohne  welche  nicht  nur  keine  Freiheit,  sondern 
auch  nicht  einmal  Existenz  gedacht  werden  kann,  oder  dass  sie 
—  eine   allein   der  erstercn  Ursach   eigenthümliche   Folge  —  die 


die   Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XVI. 


heilsamen  Wirkungen  nicht  henorbringt,  welche  sie  sonst  immer 
begleiten.  Beides  aber  lässt  sich  doch  nicht  anders  beurtheilen, 
als  wenn  man  beides,  den  gegenwärtigen  und  den  veränderten 
Zustand,  in  seinem  ganzen  Umfang,  sich  vorstellt,  und  seine  Ge- 
stalt und  Folgen  sorgfältig  mit  einander  vergleicht.  Die  Schwierig- 
keit sinkt  auch  noch  mehr,  wenn  man  erwägt,  dass  der  Staat  selbst 
nicht  eher  umzuändern  im  Stande  ist,  bis  sich  ihm  gleichsam  die 
Anzeigen  dazu  in  den  Bürgern  selbst  darbieten,  Fesseln  nicht  eher 
zu  entfernen,  bis  ihre  Last  drükkend  wird,  dass  er  daher  über- 
haupt gleichsam  nur  Zuschauer  zu  sein,  und  wenn  der  Fall,  eine 
Freiheitsbeschränkung  aufzuheben,  eintritt,  nur  die  Möglichkeit 
oder  Unmöglichkeit  zu  berechnen,  und  sich  daher  nur  durch  die 
Nothwendigkeit  bestimmen  zu  lassen  braucht.  Zulezt  brauche  ich 
w^ohl  nicht  erst  zu  bemerken,  dass  hier  nur  von  dem  Falle  die 
Rede  war,  wo  dem  Staate  eine  Umänderung  überhaupt  nicht  nur 
ph3-sisch,  sondern  auch  moralisch  möglich  ist,  wo  also  die  Grund- 
säze  des  Rechts  nicht  entgegenstehen.  Nur  darf  bei  dieser  lezteren 
Bestimmung  nicht  vergessen  werden,  dass  das  natürliche  und  all- 
gemeine Recht  die  einzige  Grundlage  alles  übrigen  positiven  ist, 
und  dass  daher  auf  dieses  allemal  zurükgegangen  werden  muss, 
dass  folglich,  um  einen  Rechtssaz  anzuführen,  welcher  gleichsam  der 
Quell  aller  übrigen  ist,  niemand,  jemals  und  auf  irgend  eine  Weise 
ein  Recht  erlangen  kann,  mit  den  Kräften,  oder  dem  Vermögen 
eines  andren,  ohne  oder  gegen  dessen  Einwilligung  zu  schalten. 
Unter  dieser  Voraussezung  also  wage  ich  es,  den  folgenden 
Grundsaz  aufzustellen:  der  Staat  muss,  in  Absicht  der 
Gränzen  seiner  Wirksamkeit,  den  wrirklichen  Zustand 
der  Dinge  der  richtigen  und  wahren  Theorie  inso- 
weit nähern,  als  ihm  die  Möglichkeit  diess  erlaubt, 
und  ihn  nicht  Gründe  wahrer  Nothwendigkeit  daran 
hindern.  Die  Möglichkeit  aber  beruht  darauf,  dass 
die  Menschen  empfänglich  genug  für  die  Freiheit  sind, 
welche  die  Theorie  allemal  lehrt,  dass  diese  die  heil- 
samen Folgen  äussern  kann,  welche  sie  an  sich,  ohne 
entgegenstehende  Hindernisse,  immer  begleiten;  die 
entgegenarbeitend eNothw endig keitdarauf,  dassdie, 
auf  einmal  gewährte  Freiheit  nicht  Resultate  zer- 
störe, ohne  welche  nicht  nurjeder  fernere  Fortschritt, 
sondern  die  Existenz  selbst  in  Gefahr  geräth.  Beides 
muss  immer  aus  der  sorgfältig   angestellten  \'erglei- 

i6* 


2AA  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

chung  der  gegenwärtigen  und  der  ^^ eränderten  Lage 
und  ihrer  beiderseitigen  Folgen  beurtheilt  werden. 
Dieser  Grundsaz  ist  ganz  und  gar  aus  der  Anwendung  des  oben, 
in  Absicht  aller  Reformen,  aufgestellten  (S.  S.  239.)  aut  diesen 
speciellen  Fall  entstanden.  Denn  sowohl,  wenn  es  noch  an 
Empfänglichkeit  für  die  Freiheit  fehlt,  als  wenn  die  nothwendigen 
er\\^ähnten  Resultate  durch  dieselbe  leiden  würden,  hindert  die 
Wirklichkeit  die  Grundsäze  der  reinen  Theorie,  diejenigen  Folgen 
zu  äussern,  welche  sie,  ohne  alle  fremde  Beimischung,  immer  her- 
vorbringen würden.  Ich  seze  auch  jezt  nichts  mehr  zur  weiteren 
Ausführung  des  aufgestellten  Grundsazes  hinzu.  Zwar  könnte  ich 
mögliche  Lagen  der  WirkHchkeit  klassificiren,  und  an  ihnen  die 
Anwendung  desselben  zeigen.  Allein  ich  würde  dadurch  meinen 
eignen  Principien  zuwiderhandlen.  Ich  habe  nemlich  gesagt,  dass 
jede  solche  Anwendung  die  Uebersicht  des  Ganzen  und  aller  seiner 
Theile  im  genauesten  Zusammenhange  erfordert,  und  ein  solches 
Ganze  lässt  sich  durch  blosse  Hypothesen  nicht  aufstellen. 

Verbinde  ich  mit  dieser  Regel  für  das  praktische  Benehmen 
des  Staats  die  Geseze,  welche  die,  im  Vorigen  entwikkelte  Theorie 
ihm  auflegte;  so  darf  derselbe  seine  Thätigkeit  immer  nur  durch 
die  Nothwendigkeit  bestimmen  lassen.  Denn  die  Theorie  erlaubte 
ihm  allein  Sorgfalt  für  die  Sicherheit,  weil  die  Erreichung  dieses 
Zweks  allein  dem  einzelnen  Menschen  unmöglich,  und  daher  diese 
Sorgfalt  allein  nothwendig  ist;  und  die  Regel  des  praktischen  Be- 
nehmens bindet  ihn  streng  an  die  Theorie,  insofern  nicht  die 
Gegenwart  ihn  nöthigt,  davon  abzugehn.  So  ist  es  also  das 
Princip  der  Nothwendigkeit,  zu  welchem  alle,  in  diesem 
ganzen  Aufsaz  vorgetragene  Ideen,  wie  zu  ihrem  lezten  Ziele,  hin- 
streben. In  der  reinen  Theorie  bestimmt  allein  die  Eigenthümlich- 
keit  des  natürlichen  Menschen  die  Gränzen  dieser  Nothwendigkeit; 
in  der  Ausführung  kommt  die  Individualität  des  wirklichen  hinzu. 
Dieses  Princip  der  Nothwendigkeit  müsste,  wie  es  mir  scheint, 
jedem  praktischen,  auf  den  Menschen  gerichteten  Bemühen  die 
höchste  Regel  vorschreiben.  Denn  es  ist  das  Einzige,  welches  auf 
sichre,  zweifellose  Resultate  führt.  Das  Nüzliche,  was  ihm  ent- 
gegengesezt  werden  kann,  erlaubt  keine  reine  und  gewisse  Be- 
urtheilung.  Es  erfordert  Berechnungen  der  Wahrscheinlichkeit, 
welche,  noch  abgerechnet,  dass  sie,  ihrer  Natur  nach,  nicht  fehler- 
frei sein  können,  Gefahr  laufen,  durch  die  geringsten  unvorher- 
gesehenen Umstände  vereitelt  zu  werden;  da  hingegen  das  Noth- 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     XVI. 


245 


wendige  sich  selbst  dem  Gefühl  mit  Macht  aufdringt,  und  was  die 
Nothwendigkeit  befiehlt,  immer  nicht  nur  nüzlich,  sondern  sogar 
unentbehrlich  ist.  Dann  macht  das  Xüzliche,  da  die  Grade  des 
Nüzlichen  gleichsam  unendlich  sind,  immer  neue  und  neue  Ver- 
anstaltungen erforderlich,  da  hingegen  die  Beschränkung  auf  das, 
was  die  Nothwendigkeit  erheischt,  indem  sie  der  eignen  Kraft 
einen  grösseren  Spielraum  lässt,  selbst  das  Bedürfniss  dieser  ver- 
ringert. Endlich  führt  Sorgfalt  für  das  Nüzliche  meistentheils  zu 
positiven,  für  das  Nothwendige  meistentheils  zu  negativen  Ver- 
anstaltungen, da  —  bei  der  Stärke  der  selbstthätigen  Kraft  des 
Menschen  —  Nothwendigkeit  nicht  leicht  anders,  als  zur  Befreiung 
von  irgend  einer  einengenden  Fessel  eintritt.  Aus  allen  diesen 
Gründen  —  welchen  eine  ausführlichere  Analyse  noch  manchen 
andren  beigesellen  könnte  —  ist  kein  andres  Princip  mit  der  Ehr- 
furcht für  die  Individualität  selbstthätiger  Wesen,  und  der,  aus 
dieser  Ehrfurcht  entspringenden  Sorgfalt  für  die  Freiheit  so  ver- 
einbar, als  eben  dieses.  Endlich  ist  es  das  einzige  untrügliche 
Mittel  den  Gesezen  Macht  und  Ansehen  zu  verschaffen,  sie  allein 
aus  diesem  Princip  entstehen  zu  lassen.  Man  hat  vielerlei  Wege 
vorgeschlagen,  zu  diesem  Endzwek  zu  gelangen,  man  hat  vorzüg- 
lich, als  das  sicherste  Mittel,  die  Bürger  von  der  Güte  und  der 
Nüzlichkeit  der  Geseze  überzeugen  wollen.  Allein  auch  diese 
Güte  und  Nüzlichkeit  in  einem  bestimmten  Falle  zugegeben;  so 
überzeugt  man  sich  von  der  Nüzlichkeit  einer  Einrichtung  nur 
immer  mit  Mühe;  verschiedene  Ansichten  bringen  verschiedene 
Meinungen  hierüber  hervor;  und  die  Neigung  selbst  arbeitet  der 
L'eberzeugung  entgegen,  da  jeder,  wie  gern  er  auch  das  selbst- 
erkannte Nüzliche  ergreife,  sich  doch  immer  gegen  das,  ihm  auf- 
gedrungene sträubt.  Unter  das  Joch  der  Nothwendigkeit  hingegen 
beugt  jeder  willig  den  Nakken.  Wo  nun  schon  einmal  eine  ver- 
wikkclte  Eage  vorhanden  ist,  da  ist  die  Einsicht  selbst  des  Noth- 
wendigen  schwieriger;  aber  gerade  mit  der  Befolgung  dieses  Princips 
wird  die  Lage  immei  cnfacher  und  diese  Einsicht  immer  leichter. 

Ich  bin  jezt  das  Feld  durchlaufen,  das  ich  mir,  bei  dem  An- 
fange dieses  Aufsazes.  abstekte.  Ich  habe  mich  dabei  von  der 
tiefsten  Achtung  für  die  innere  Würde  des  Menschen,  und  die 
Freiheit  beseelt  gefühlt,  welche  allein  dieser  Würde  angemessen 
ist.  Möchten  die  Ideen,  die  ich  vortrug,  und  der  Ausdruk,  den 
ich  ihnen  lieh,  dieser  Empfindung  nicht  unwerth  sein! 


24.(3  5-    Ween  zu  einem  Versuch 


Inhalt. 

I. 

Einleitung.  —  Bestimmung  des  Gegenstandes  der  Unter- 
suchung. —  Seltne  Bearbeitung  und  Wichtigkeit  desselben.  — 
Historischer  Blik  auf  die  Gränzen,  welche  die  Staaten  ihrer  Wirk- 
samkeit wirklich  gesezt  haben.  —  Unterschied  der  alten  und 
neueren  Staaten.  —  Zwek  der  Staatsverbindung  überhaupt.  — 
Streitfrage,  ob  derselbe  allein  in  der  Sorgfalt  für  die  Sicherheit, 
oder  für  das  Wohl  der  Nation  überhaupt  bestehen  soll  ?  —  Gesez- 
geber  und  Schriftsteller  behaupten  das  Leztere.  —  Dennoch  ist 
eine  fernere  Prüfung  dieser  Behauptung  nothwendig.  —  Diese 
Prüfung  muss  von  dem  einzelnen  Menschen  und  seinen  höchsten 
Endzwekken  ausgehen.     S.  99 — 106. 

II. 

Betrachtung  des  einzelnen  Menschen,  und  der 
höchsten  Endzv^ekke  des  Daseins  desselben.  —  Der 
höchste  und  lezte  Zwek  jedes  Menschen  ist  die  höchste  und  pro- 
portionirlichste  Ausbildung  seiner  Kräfte  in  ihrer  individuellen 
Eigenthümlichkeit.  —  Die  nothwendigen  Bedingungen  der  Er- 
reichung desselben:  Freiheit  des  Handlens,  und  Mannigfaltigkeit 
der  Situationen.  —  Nähere  Anwendung  dieser  Säze  auf  das  innere 
Leben  des  Menschen.  —  Bestätigung  derselben  aus  der  Geschichte. 
—  Höchster  Grundsaz  für  die  ganze  gegenwärtige  Untersuchung, 
aufweichen  diese  Betrachtungen  führen.     S.   loC — 111. 

III. 
Uebergang  zur  eigentlichen  Untersuchung.  Ein- 
theilung  derselben.  Sorgfalt  des  Staats  für  das  posi- 
tive, insbesondre  physische,  Wohl  der  Bürger.  — 
Umfang  dieses  Abschnitts.  —  Die  Sorgfalt  des  Staats  für  das 
positive  Wohl  der  Bürger  ist  schädlich.  Denn  sie  —  bringt  Ein- 
förmigkeit her\^or ;  —  schwächt  die  Kraft;  —  stört  und  verhindert 
die  Rükwirkung  der  äusseren,  auch  bloss  körperlichen  Beschäf- 
tigungen, und  der  äussren  Verhältnisse   überhaupt   auf  den  Geist 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     Inhalt. 


247 


und  den  Charakter  der  Menschen:  —  muss  auf  eine  gemischte 
Menge  gerichtet  werden,  und  schadet  daher  den  Einzelnen  durch 
Maassregeln,  welche  auf  einen  jeden  von  ihnen  nur  mit  beträcht- 
lichen Fehlern  passen;  —  hindert  die  Entwikkelung  der  Indivi- 
dualität und  Eigenthümlichkeit  des  Menschen;  —  erschwert  die 
Staatsverwaltung  selbst,  verv'ielfältigt  die  dazu  erforderlichen  Mittel, 
und  wird   dadurch   eine  Quelle   neuer   mannigfaltiger  Xachtheile; 

—  verriikt  endlich  die  richtigen  und  natürlichen  Gesichtspunkte 
der  Menschen,  bei  den  wichtigsten  Gegenständen.  —  Rechtfertigung 
gegen  den  Einwurf  der  Uebertreibung  der  geschilderten  Xach- 
theile. —  Vortheile  des,  dem  eben  bestrittenen  entgegengesezten 
Systems.  —  Höchster,  aus  diesem  Abschnitt  gezogener  Grundsaz. 

—  Mittel  einer  auf  das  positive  Wohl  der  Bürger  gerichteten 
Sorgfalt  des  Staats.  —  Schädlichkeit  derselben.  —  Unterschied  der 
Fälle,  wenn  etwas  vom  Staat,  als  Staat,  und  wenn  dasselbe  von 
einzelnen  Bürgern  gethan  wird.  • —  Prüfung  des  Einwurfs :  ob 
eine  Sorgfalt  des  Staats  für  das  positive  Wohl  nicht  nothwendig 
ist,  weil  es  vielleicht  nicht  möglich  ist,  ohne  sie,  dieselben  äusseren 
Zwekke  zu  erreichen,  dieselben  nothwendigen  Resultate  zu  er- 
halten.- —  Beweis  dieser  Möglichkeit,  —  vorzüglich  durch  frei- 
willige gemeinschaftliche  Veranstaltungen  der  Bürger.  —  Vor- 
zug dieser  Veranstaltungen  vor  den  Veranstaltungen  des  Staats. 
S.  III — 133. 

IX. 

Sorgfalt    des    Staats    für    das    negative   Wohl    der 
Bürger,  für  ihre  Sicherheit. — Diese  Sorgfalt  ist  nothwendig, 

—  macht  den  eigentlichen  Endzwek  des  Staats  aus.  —  Höchster, 
aus  diesem  Abschnitt  gezogener  Grundsaz.  —  Bestätigung  des- 
selben durch  die  Geschichte.     S.   133 — 135. 


Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  gegen  aus- 
wärtige Feinde.  —  Bei  dieser  Betrachtung  gewählter  Gesichts- 
punkt. —  Einfluss  des  Kriegs  überhaupt  auf  den  Geist  und  den 
Charakter  der  Nationen.  —  Damit  angestellte  Vergleichung  des 
Zustandcs  desselben,  und  aller  sich  auf  ihn  beziehenden  Einrich- 
tungen bei  uns.  —  Mannigfaltige  Xachtheile  dieses  Zustandes  für 
die  innere  Bildung  des  Menschen.  —  Höchster,  aus  dieser  Ver- 
gleichung geschöpfter  Grundsaz.     S.  i3() — 140. 


248  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

VI. 

Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  der  Bürger 
unter  einander.  Mittel,  diesenEndzwek  zu  erreich en. 
Veranstaltungen,  welche  auf  die  Umformung  des 
Geistes  und  Charakters  der  Bürger  gerichtet  sind. 
Oeff entliche  Erziehung.  —  Möglicher  Umfang  der  Mittel, 
diese  Sicherheit  zu  befördern.  —  Moralische  Mittel.  —  Oeffentliche 
Erziehung.  —  Ist  nachtheilig,  vorzüglich  weil  sie  die  Mannigfaltig- 
keit der  Ausbildung  hindert;  —  unnüz,  weil  es  in  einer  Nation, 
die  einer  gehörigen  Freiheit  geniesst,  an  guter  Privaterziehung 
nicht  fehlen  wird ;  —  wirkt  zuviel,  weil  die  Sorgfalt  für  die  Sicher- 
heit nicht  gänzliche   Umformung  der  Sitten   nothwendig   macht; 

—  liegt  daher  ausser  den  Gränzen  der  Wirksamkeit  des  Staats. 
S.  140 — 146. 

VII. 

Religion.  —  Historischer  Blik  auf  die  Art,  wie  die  Staaten 
sich  der  Religion  bedient  haben.  —  Jedes  Einmischen  des  Staats 
in  die  Religion  führt  Begünstigung  gewisser  Meinungen,  mit  Aus- 
schliessung andrer,  und  einen  Grad  der  Leitung  der  Bürger  mit 
sich.  —  Allgemeine  Betrachtungen  über  den  Einfluss  der  Religion 
auf  den  Geist  und  den  Charakter  des  Menschen.  —  Religion  und 
Moralität  sind  nicht  unzertrennlich  mit  einander  verbunden.     Denn 

—  der  Ursprung  aller  Religionen  ist  gänzlich  subjektiv;  —  Religio- 
sität und  der  gänzliche  Mangel  derselben  können  gleich  wohl- 
thätige  Folgen  für  die  Moralität  hervorbringen;  —  die  Grundsäze 
der  Moral  sind  von  der  Religion  völlig  unabhängig;  —  und  die 
Wirksamkeit  aller  Religion  beruht  allein  auf  der  individuellen  Be- 
schaffenheit des  Menschen;  —  so  dass  dasjenige,  was  allein  auf 
die  Moralität  wirkt,  nicht  der  Inhalt  gleichsam  der  Religions- 
sj^steme  ist,  sondern  die  Form  des  innern  Annehmens   derselben. 

—  Anwendung  dieser  Betrachtungen  auf  die  gegenwärtige  Unter- 
suchung, und  Prüfung  der  Frage :  ob  der  Staat  sich  der  Religion, 
als  eines  Wirkungsmittels  bedienen  müsse?  —  Alle  Beförderung 
der  Religion  durch  den  Staat  bringt  aufs  höchste  gesezmässige 
Handlungen  herv^or.  —  Dieser  Erfolg  aber  darf  dem  Staate  nicht 
genügen,  welcher  die  Bürger  dem  Geseze  folgsam,  nicht  bloss 
ihre  Handlungen  mit  demselben  übereinstimmend  machen  soll.  — 
Derselbe  ist  auch  an  sich  ungewiss,  sogar  unwahrscheinlich,  und 
wenigstens  durch  andre  Mittel  besser  erreichbar,  als  durch   jenes. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     Inhalt. 


249 


—  Jenes  Mittel  führt  überdiess  so  überwiegende  Nachtheile  mit 
sich,  dass  schon  diese  den  Gebrauch  desselben  gänzlich  verbieten. 

—  Gelegentliche  Beantwortung  eines  hiebei  möglichen,  von  dem 
Mangel  an  Kultur  mehrerer  Volksklassen  hergenommenen  Ein- 
w^urfs.  —  Endlich,  was  die  Sache  aus  den  höchsten  und  allge- 
meinsten Gesichtspunkten  entscheidet,  ist  dem  Staat  gerade  zu 
dem  Einzigen,  was  wahrhaft  auf  die  Moralität  wirkt,  zu  der  Form 
des  Innern  Annehmens  von  Religionsbegriffen,  der  Zugang  gänz- 
lich verschlossen.  —  Daher  liegt  alles,  was  die  Religion  betrift, 
ausserhalb  der  Gränzen  der  Wirksamkeit  des  Staats.     S.  147 — 164. 

VIII. 

Sitten  Verbesserung.  —  Mögliche  Mittel  zu  derselben.  — 
Sie  reducirt  sich  vorzüglich  auf  Beschränkung  der  Sinnlichkeit.  — 
Allgemeine  Betrachtungen  über  den  Einfluss  der  Sinnlichkeit  auf 
den  Menschen.  —  Einfluss  der  sinnlichen  Empfindungen,  dieselben 
an  sich  und  allein,  als  solche,  betrachtet.  —  Verschiedenheit  dieses 
Einflusses,  nach  ihrer  eignen  verschiednen  Natur,  vorzüglich  Ver- 
schiedenheit des  Einflusses  der  energisch  wirkenden,  und  der 
übrigen  sinnlichen  Empfindungen.  —  Verbindung  des  Sinnlichen 
mit  dem  Unsinnlichen  durch  das  Schöne  und  Erhabene.  —  Ein- 
fluss der  Sinnlichkeit  auf  die  forschenden,  intellektuellen,  —  auf 
die  schaftenden,  moralischen  Kräfte  des  Menschen.  —  Nachtheile 
und  Gefahren  der  Sinnlichkeit.  —  Anwendung  dieser  Betrach- 
tungen auf  die  gegenwärtige  Untersuchung,  und  Prüfung  der  Frage : 
ob  der  Staat  positiv  auf  die  Sitten  zu  wirken  versuchen  dürfe  r  — 
•leder  solcher  Versuch  wirkt  nur  auf  die  äussern  Handlungen  — 
und  bringt  mannigfaltige  und  wichtige  Nachtheile  hen-or.  —  Sogar 
das  Sittenverderbniss  selbst,  dem  er  entgegensteuert,  ermangelt 
nicht  aller  heilsamen  Folgen  —  und  macht  wenigstens  die  An- 
wendung eines,  die  Sitten  überhaupt  umformenden  Mittels  nicht 
nothwendig.  —  Ein  solches  Mittel  liegt  daher  ausserhalb  der 
Gränzen  der  Wirksamkeit  des  Staats.  —  Höchster  aus  diesem, 
und  den  beiden  vorhergehenden  Abschnitten  gezogener  Grundsaz. 
S.  164 — 177. 

IX. 

Nähere,  positive  Bestimmung  der  Sorgfalt  des 
Staats  für  die  Sicherheit.  Entwikkelung  des  Begriffs 
der  Sicherheit.  —  Rükblik   auf  den  Gang   der  ganzen  Unter- 


2-0  5-    Ideen  zu  einem  Versuch 

suchung.  —  Aufzählung  des  noch  Mangelnden.  —  Bestimmung 
des  Begriffs  der  Sicherheit.  —  Definition.  —  Rechte,  für  deren 
Sicherheit  gesorgt  werden  muss.  —  Rechte  der  einzelnen  Bürger. 
—  Rechte  des  Staats.  —  Handlungen,  welche  die  Sicherheit 
stören.  —  Eintheilung  des  noch  übrigen  Theils  der  Untersuchung. 
S.  177 — 181. 

X. 

Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  durch  Be- 
stimmung solcher  Handlungen  der  Bürger,  welche 
sich  unmittelbar  und  geradezu  nur  auf  den  Hand- 
lenden selbst  beziehen.  (Polizeigeseze.)  —  Ueber  den 
Ausdruk  Polizeigeseze.  —  Der  einzige  Grund,  welcher  den  Staat 
hier  zu  Beschränkungen  berechtigt,  ist,  wenn  die  Folgen  solcher 
Handlungen  die  Rechte  andrer  schmälern.  —  Beschaffenheit  der 
Folgen,  welche  eine  solche  Schmälerung  enthalten.  —  Erläuterung 
durch  das  Beispiel  Aergerniss  erregender  Handlungen.  —  Vor- 
sichtsregeln für  den  Staat  für  den  Fall  solcher  Handlungen,  deren 
Folgen  dadurch  den  Rechten  andrer  gefährlich  werden  können, 
weil  ein  seltner  Grad  der  Beurtheilungskraft  und  der  Kenntnisse 
erfordert  wird,  um  der  Gefahr  zu  entgehen.  —  Welche  Nähe  der 
Verbindung  jener  Folgen  mit  der  Handlung  selbst  nothwendig  ist, 
um  Beschränkungen  zu  begründen  ?  —  Höchster  aus  dem  Vorigen 
gezogener  Grundsaz.  —  Ausnahmen  desselben.  —  Vortheile,  wenn 
die  Bürger  freiwillig  durch  Verträge  bewirken,  was  der  Staat  sonst 
durch  Geseze  bewirken  muss.  —  Prüfung  der  Frage:  ob  der 
Staat  zu  positiven  Handlungen  zwingen  kann?  —  Verneinung, 
weil  —  ein  solcher  Zwang  schädlich,  —  zur  Erhaltung  der  Sicher- 
heit nicht  nothwendig  ist.  —  Ausnahmen  des  Nothrechts.  —  Hand- 
lungen, welche  auf  gemeinschaftlichem  Eigenthum  geschehen,  oder 
dasselbe  betreffen.     S.  181  —  i8q. 


XT. 

Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  durch  Be- 
stimmung solcher  Handlungen  der  Bürger,  welche 
sich  unmittelbar  und  geradezu  auf  andre  beziehen. 
(Civil geseze.)  —  Handlungen,  welche  die  Rechte  andrer  kränken. 
—  Pflicht  des  Staats,  —  dem  Beleidigten  zur  Entschädigung  zu 
verhelfen,  —  und  den  Beleidiger  vor  der  Rache  jenes  zu  schüzen. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     Inhalt.  2^1 

— Handlungen  mit  gegenseitiger  Einwilligung. — Willenserklärungen. 

—  Doppelte  Pflicht  des  Staats  in  Rüksicht  auf  sie,  —  einmal  die 
gültigen  aufrecht  zu  erhalten,  —  zweitens  den  rechtswidrigen  den 
Schuz  der  Geseze  zu  versagen,  und  zu  verhüten,  dass  die  Menschen 
sich,  auch  durch  gültige,  nicht  zu  drükkende  Fesseln  anlegen.  — 
Gültigkeit  der  Willenserklärungen.  —  Erleichterung  der  Trennung 
gültig  geschlossener  \>rträge,  als  eine  Folge  der  zweiten  eben  er- 
wähnten Pflicht  des  Staats;  —  allein  bei  Verträgen,  welche  die 
Person  betreffen;  —  mit  verschiednen  Modifikationen,  nach  der 
eigenthümlichen  Natur  der  ^"erträge.  —  Dispositionen  von  Todes- 
wegen. —  Gültigkeit  derselben  nach  allgemeinen  Grundsäzen  des 
Rechts  .^  —  Nachtheile  derselben.  —  Gefahren  einer  blossen  Intestat- 
erbfolge, und  ^^ortheile  der  Privatdispositionen.  —  Mittelweg, 
welcher  diese  \^onheile  zu  erhalten,  und  jene  Nachtheile  zu  ent- 
fernen versucht.  —  Intestaterbfolge.  —  Bestimmung  des  Pflicht- 
theils.  —  Inwiefern  müssen  Verträge  unter  Lebendigen  auf  die 
Erben  übergehen .'  —  Nur  insofern,  als  das  hinterlassene  ^^ermögen 
dadurch  eine  andre  Gestalt  erhalten  hat.  —  \^orsichtsregeln  für 
den  Staat,  hier  Freiheitsbeschränkende  \>rhältnisse  zu  verhindern. 

—  Moralische  Personen.  —  Ihre  Nachtheile.  —  Grund  derselben. 

—  Werden  gehoben,  wenn  man  jede  moralische  Person  bloss  als 
eine  Vereinigung  der  jedesmaligen  Mitglieder  ansieht.  —  Höchste, 
aus  diesem  Abschnitt  gezogene  Grundsäze.     S.  190—202. 


XII. 

Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  durch  recht 
liehe  Entscheidung  der  Streitigkeiten  der  Bürger.  — 
Der  Staat  tritt  hier  bloss  an  die  Stelle  der  Partheien.  —  Erster, 
hieraus  entspringender  Grundsaz  der  Prozessordnung.  —  Der  Staat 
muss  die  Rechte  beider  Partheien  gegen  einander  beschüzen.  — 
Daraus  entspringender  zweiter  Grundsaz  der  Prozessordnung.  — 
Nachtheile  der  Vernachlässigung  dieser  Grundsäze.  —  Nothwendig- 
keit  neuer  Geseze  zum  Behuf  der  Möglichkeit  der  richterlichen 
Entscheidung.  —  Güte  der  Gerichtsverfassung,  das  Moment,  von 
welchem  diese  Nothwencligkeit  vorzüglich  abhängt.  —  Vortheile 
und  Nachtheile  solcher  Geseze.  —  Aus  denselben  entspringende 
Regeln  der  Gesezgebung.  —  Höchste  aus  diesem  Abschnitt  ge- 
zogne Grundsäze.    S.  202—206. 


oro  ?.    Ideen  zu  einem  Versuch 


XIII. 

Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  durch  Be- 
strafung der  U  ebertretungen  der  Geseze  des  Staats. 
(Kriminalgeseze.)  —  Handlungen,  welche  der  Staat  bestrafen 
muss.  —  Strafen.  Maass  derselben;  absolutes:  höchste  Gelindig- 
keit  bei  der  gehörigen  Wirksamkeit.  —  Schädlichkeit  der  Strafe 
der  Ehrlosigkeit.  —  Ungerechtigkeit  der  Strafen,  welche  sich,  über 
den  Verbrecher  hinaus,  auf  andre  Personen  erstrekken.  —  Rela- 
tives Maass  der  Strafen.  Grad  der  Nicht  Achtung  des  fremden 
Rechts.  —  Widerlegung  des  Grundsazes,  welcher  zu  diesem  Maass- 
stab die  Häufigkeit  der  Verbrechen,  und  die  Menge  der,  zu  ihnen 
reizenden  Antriebe  annimmt ;  —  Ungerechtigkeit,  —  Schädlichkeit 
desselben.  —  Allgemeine  Stufenfolge  der  Verbrechen  in  Absicht 
der  Härte  ihrer  Strafen.  —  Anwendung  der  Strafgeseze  auf  wirk- 
liche Verbrechen.  —  Verfahren  gegen  die  Verbrecher,  während 
der  Untersuchung.  —  Prüfung  der  Frage:  inwiefern  der  Staat 
\>rbrechen  verhüten  darf?  —  Unterschied  zwischen  der  Beant- 
wortung dieser  Frage,  und  der  Bestimmung,  sich  nur  auf  den 
Handlenden  selbst  beziehender  Handlungen  im  Vorigen.  —  Abriss 
der  verschiednen,  möglichen  Arten,  Verbrechen  zu  verhüten,  nach 
den  allgemeinen  Ursachen  der  Verbrechen.  —  Die  erste  dieser 
Arten,  welche  dem  Mangel  an  Mitteln  abhilft,  der  leicht  zu  Yer- 
brechen  führt,  ist  schädlich  und  unnüz.  —  Noch  schädlicher,  und 
daher  gleichfalls  nicht  rathsam  ist  die  zweite,  welche  auf  Ent- 
fernung der,  im  Charakter  liegenden  Ursachen  zu  ^^erbrechen  ge- 
richtet ist.  —  Anwendung  dieser  Art  auf  wirkliche  Verbrecher. 
Besserung  derselben.  —  Behandlung  der  ad  instantia  absoluirten. 
—  Lezte  Art,  Verbrechen  zu  verhüten;  Entfernung  der  Gelegen- 
heiten ihrer  Begehung.  —  Einschränkung  derselben  auf  die  blosse 
Verhütung  der  Ausführung  schon  beschlossener  Verbrechen.  — '■ 
Was  dagegen  an  die  Stelle  jener  gemisbilligten  Mittel  treten  muss, 
um  Verbrechen  zu  verhüten?  —  Die  strengste  Aufsicht  auf  be- 
gangene Verbrechen,  und  Seltenheit  der  Straflosigkeit.  —  Schäd- 
lichkeit des  Begnadigungs  und  Milderungsrechts.  —  Veranstal- 
tungen zur  Entdekkung  von  Verbrechen.  —  Nothwendigkeit  der 
Publicität  aller  Kriminalgeseze,  ohne  Unterschied.  —  Höchste,  aus 
diesem  Abschnitt  gezogne  Grundsäze.     S.  206 — 225. 


die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.     Inhalt.  2^'i 

XIV. 

Sorgfalt  des  Staats  für  die  Sicherheit  durch  Be- 
stimmung des  ^^erhältnisses  derjenigen  Personen, 
welche  nicht  im  Besiz  der  natürlichen,  oder  gehörig 
g e r e i f t e  n  m  e  n  s  c h  1  i  c h  e  n  Krä f t e  sind.  (Unmündige  und 
des  Verstandes  Beraubte.)  Allgemeine  Anmerkung 
zu  diesem  und  den  vier  vorhergehenden  Abschnitten. 

—  Unterschied  der  hier  genannten  Personen  und  der  übrigen 
Bürger.  —  Nothwendigkeit  einer  Sorgfalt  für  ihr  positives  Wohl. 

—  Unmündige.   —  Gegenseitige  Pflichten  der  Eltern  und  Kinder. 

—  Pflichten  des  Staats:  —  Bestimmung  des  Alters  der  Mündig- 
keit; —  Aufsicht  auf  die  Erfüllung  jener  Pflichten.  —  Vormund- 
schaft, nach  dem  Tode  der  Eltern.  —  Pflichten  des  Staats  in  Rük- 
sicht  auf  dieselbe.  —  Vortheile,  die  speciellere  Ausübung  dieser 
Pflichten,  wo  möglich,  den  Gemeinheiten  zu  übertragen.  —  Ver- 
anstaltungen, die  Unmündigen  gegen  Eingrifte  in  ihre  Rechte  zu 
schüzen.  —  Des  Verstandes  Beraubte.  —  Unterschiede  zwischen 
ihnen  und  den  Unmündigen.  —  Höchste,  aus  diesem  Abschnitt 
gezogene  Grundsäze.  —  Gesichtspunkt  bei  diesem  und  den  vier 
vorhergehenden  Abschnitten.  —  Bestimmung  des  ^''erhältnisses 
der  gegenwärtigen  Arbeit  zur  Theorie  der  Gesezgebung  überhaupt. 

—  Aufzählung  der  Hauptgesichtspunkte,  aus  welchen  alle  Geseze 
fliessen  müssen.  —  Hieraus  entspringende,  zu  jeder  Gesezgebung 
nothwendige  N'orarbeiten.    S.  225 — 232. 

XV. 

Verhältniss  der,  zurErhaltung  des  Staatsgebäudes 
überhaupt  noth wendigen  ^Httel  zur  vorgetragenen 
Theorie.  Schluss  der  theoretischen  Entwiklung.  — 
Finanzeinrichtungen.  —  Innere  politische  \>rfassung.  —  Betrach- 
tung der  vorgetragenen  Theorie  aus  dem  Gesichtspunkt  des  Rechts. 

—  Hauptgesichtspunkt  bei  dieser  ganzen  Theorie.  —  Inwiefern 
Geschichte  und  Stariätik  derselben  zu  Hülfe  kommen  könnten?  — 
Trennung  des  Verhältnisses  der  Bürger  zum  Staat,  und  der  Ver- 
hältnisse derselben  unter  einander.  —  Nothwendigkeit  dieser 
Trennung.    S.  232 — 231]. 

XVL 

Anwendung  der  vorgetragenen  Theorie  auf  die 
Wirklichkeit.    —  Verhältniss    theoretischer  Wahrheiten   über- 


2  ^4  5-  It^een  zu  einem  Versuch  die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen.  Inhalt. 

haupt  zur  Ausführung.  —  Dabei  nothwendige  Vorsicht.  —  Bei 
jeder  Reform  muss  der  neue  Zustand  mit  dem  vorhergehenden 
verknüpft  werden.  —  Diess  gehngt  am  besten,  wenn  man  die 
Reform  bei  den  Ideen  der  Menschen  anfängt.  —  Daraus  her- 
fliessende  Grundsäze  aller  Reformen.  —  Anwendung  derselben 
auf  die  gegenwärtige  Untersuchung.  —  Vorzüglichste  Eigenthüm- 
lichkeiten  des  aufgestellten  Systems.  —  Zu  besorgende  Gefahren 
bei  der  Ausführung  desselben.  —  Hieraus  entspringende  noth- 
wendige successive  Schritte  bei  derselben.  —  Höchster  dabei  zu 
befolgender  Grundsaz.  —  Verbindung  dieses  Grundsazes  mit  den 
Hauptgrundsäzen  der  vorgetragenen  Theorie.  —  Aus  dieser  Ver- 
bindung fliessendes  Princip  der  Nothwendigkeit.  —  Vorzüge  des- 
selben. —  Schluss.     S.  236^-245. 


über  das  Studium  des  Alterthums,  und  des 
Griechischen  insbesondre. 

I. 

Das  Studium  der  Ueberreste  des  Alterthums  —  Litteratur  und 
KunsfA^erke  —  gewährt  einen  zwiefachen  Nuzen,  einen  materialen 
und  einen  formalen.  Einen  materialen,  indem  es  andren 
Wissenschaften  Stoff  darbietet,  den  sie  bearbeiten.  Insofern  ist 
dasselbe,  und  sind  also  die  humanistischen  Wissenschaften  ^)  Hülfs- 
wissenschaften  von  jenen,  und  wie  wichtig  dieser  Nuzen  auch  an 
sich  sein  mag,  so  ist  er  ihnen  eigentlich  fremd. 

2. 

Der  formale  Xuzen  kann  wiederum  zwiefach  sein,  einmal  in- 
sofern man  die  Ueberreste  des  Alterthums  an  sich  und  als  Werke 


Handschrifi  (j8  halbbesrhriebene  Quartseiten;  auf  den  freigebliebenen  Spalten 
stehen  Randbemerkungen  von  Schiller  und  Dalberg)  im  Archiv  in  Tegel.  Ebenda 
ist  ein  älteres  Konzept  der  Abhandlung  fj4  halbbeschriebene  Quartseiten)  erhalten. 
Dazu  kommt  eine  von  drei  verschiedenen  Händen  (darunter  Wolfs  eigener)  ge- 
schriebene Abschrift,  der  ein  Blatt  fehlt,  im  Nachlass  Wolfs  in  der  Königlichen 
Bibliothek  in  Berlin  (vgl.  Köne,  Leben  und  Studien  Friedrich  August  Wolfs,  des 
Philologen  2,  2gi):  ihre  .Vi'-:  unabsichtlichen,  teils  absichtlichen  Abweichungen  von 
Humboldts  Text  gehen  auf  Wolf  zurück  und  haben  keinerlei  authentischen  Wert; 
von  Interesse  sind  dageg.i:  Wolfs  Randbemerkungen.  —  Erster  Druck:  Sechs 
ungedruck-te  Aufsätze  über  das  klassische  Altertum  von  Wilhelm  von  Humboldt, 
herausgegeben  von  Alben  Leitzmann  S.  j — ^^  (iSg6). 

V  „Besser  alte  classische  Litteratur.  So  zE.  kann  ja  Geschichte  eine  Hülfs- 
wissenschaft  zur  Medicinischen  Gelehrsamkeit  oder  zur  Jurisprudenz  seyn.  So 
kann  wieder  medicinische  Gelehrsamkeit  subsidiarisch  werden  für  alte  Litteratur 
selbst.    So  alles  —  wie  in  der  Welt  —  Zweck  und  Mittel."     Wolf. 


2^6  6.    Über  das  Studium  des  Altertums 

der  Gattung,  zu  der  sie  gehören,  betrachtet,  und  also  allein  auf 
sie  selbst  sieht;  und  zweitens  indem  man  sie  als  Werke  aus  der 
Periode,  aus  welcher  sie  stammen,  betrachtet,  und  auf  ihre  Ur- 
heber sieht.*)  ^)  Der  erste  Nuzen  ist  der  ästhetische;  er  ist 
überaus  wichtig,  aber  nicht  der  Einzige.  Darin  dass  man  ihn  oft 
für  den  einzigen  gehalten  hat,  liegt  eine  Quelle  mehrerer  falscher 
Beurtheilungen  der  Alten. 

3- 
Aus  der  Betrachtung  der  Ueberreste  des  Alterthums  in  Rük- 
sicht  auf  ihre  Urheber  entsteht  die  Kenntniss  der  Alten  selbst, 
oder  der  Menschheit  im  Alterthum.  Dieser  Gesichtspunkt 
ist  es,  welcher  allein  in  den  folgenden  Säzen  aufgefasst  werden 
soll,  theils  seiner  innren  Wichtigkeit  wegen,  theils  weil  er  seltner 
genommen  zu  werden  pflegt. 

4- 
Das  Studium  einer  Nation  gewährt  schlechterdings  alle  die- 
jenigen Vortheile,  welche  die  Geschichte  überhaupt  darbietet,  indem 
dieselbe  durch  Beispiele  von  Handlungen  und  Begebenheiten  die 
Menschenkenntniss  erweitert,  die  Beurtheilungskraft  schärft,  den 
Charakter  erhöht  und  verbessert ;  aber  es  thut  noch  mehr.  Indem 
es  nicht  sowohl  dem  Faden  auf  einander  folgender  Begebenheiten 
nachspürt,  als  vielmehr  den  Zustand  und  die  gänzliche  Lage  der 
Nation  zu  erforschen  versucht,  liefert  es  gleichsam  eine  Biogra- 
phie derselben. 

5- 
Das   Auszeichnende    einer  solchen   Biographie    ist  vorzüglich 

das,  dass,  indem  der  ganze  politische,  religiöse  und  häusliche  Zu- 
stand der  Nation  geschildert  wird,  ihr  Charakter  nach  allen 
seinen  Seiten,  und  in  seinem  ganzen  Zusammenhange 
entwikkelt,  nicht  bloss  die  gegenseitigen  Beziehungen 
der  einzelnen  Charakterzüge  unter  einander,  sondern 
auch  ihre  Relationen  zu  den  äussren  Umständen,  als 
Ursachen  oder  Folgen,  einzeln  untersucht  werden; 
und  die  "N'^ortheile  dieses  charakteristischen  Kennzeichens  eines 
solchen  Studiums  verfolge  ich  hier  allein,  mit  Uebergehung  jener 
übrigen,  öfter  berührten. 


*)  Diess  unterscheide  ich  noch. 

V  „Dahin  vorzüglich  die  äussere  Litteratiir-Geschichte."     Wolf. 


und  des  griechischen  insbesondere.     2 — 7.  2W1 

6. 
Man  pflegt  Menschenkenntniss  nur  zum  Umgange  mit  Menschen 
nothwendig  zu  halten,  und  man  pflegt  es  Menschenkenntniss  zu 
nennen,  wenn  man  eine  Menge  einzelner  Menschen  beobachtet 
und  dadurch  eine  Fertigkeit  erworben  hat,  aus  ihren  äussren  Hand- 
lungen ihre  inneren  Absichten  zu  errathen,  und  umgekehrt  durch 
künstlich  ihnen  gegebene  Beweggründe  sie  zu  Handlungen  zu  be- 
stimmen, und  in  einem  gewissen  politischen  Sinne  mag  beides 
wahr  sein.  Allein  im  philosophischen  kann  Menschenkenntniss  — 
Kenntniss  des  Menschen  überhaupt,  wie  der  einzelnen  wirklichen 
Individuen  —  nichts  anders  heissen,  als  die  Kenntniss  der 
verschiedenen  intellektuellen,  empfindenden,  und 
moralischen  menschlichen  Kräfte,  der  Modifikationen, 
die  siedurch  einander  gewinnen,  der  möglichen  Arten 
ihres  richtigen  und  unrichtigen  Verhältnisses,  der 
Beziehung  der  äusseren  Umstände  auf  sie,  dessen,  was 
diese  in  einer  gegebnen  Stimmung  unausbleiblich  wirken  müssen, 
und  was  sie  nie  zu  wirken  vermögen,  kurz  der  Geseze  der 
Nothwendigkeit  der  von  innen,  und  der  Möglichkeit 
dervon  aussen  gewirkten  Umwandlungen.  Diese  Kennt- 
niss ist,  oder  vielmehr  das  Streben  nach  dieser  —  da  hier  nur 
Streben  möglich  ist  —  führt  zur  wahren  Menschenkenntniss,  und 
diess  ist  jedem  Menschen,  als  Menschen,  und  lebte  er  auch  ganz 
von  Menschen  abgesondert,  nur  in  verschiedenen  Graden  der 
Intension  und  Extension  unentbehrlich. 

7- 
Zuerst  —  um  vom  Leichtesten  anzufangen  —  dem  handeln- 
den Menschen,  dem  ich  in  der  Folge  den  nur  mit  Ideen  Be- 
schäftigten, so  wie  endlich  beiden  den  bloss  Geniessenden  entgegen- 
sezen  werde.  Alles  praktische  Leben,  vom  Umgange  in  der 
gleichgültigsten  Gese^ls.:haft  bis  zu  dem  Regieren  des  grossesten 
Staats,  bezieht  sich  mehr  oder  minder  unmittelbar  auf  den 
Menschen;  und  wer  seiner  moralischen  Würde  wahrhaft  eingedenk 
ist,  wird  in  keinem  dieser  Verhältnisse  des  höchsten  Zweks  aller 
Moralität,  der  Veredlung  und  steigenden  Ausbildung  des  Menschen 
vergessen.  Dazu  ist  jene  Kenntniss  ihm  unentbehrlich,  theils  um 
jenen  Zwek  zu  befördern,  theils,  wenn  sein  Geschäft  so  heterogen 
ist  —  wie  es  denn  auch   sehr  achtungswürdige   dieser  Art  geben 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  17 


2r8  6-    Über  das  Studium  des  Altertums 

kann  —  dass  es  ihm  von  gewissen  Seiten  Einschränkungen  in  den 
Weg  stellen  muss,  doch  immer  das  höchst  mögliche  Minimum 
dieser  Einschränkungen  zu  bewahren.  So  lehrt  sie  ihn,  was  er 
moralisch  unternehmen  dürfe  und  politisch  mit  Erfolg  unternehmen 
könne,  und  leitet  dadurch  seinen  Verstand.  —  Aber  auch  zweitens 
seinen  Willen,  indem  sie  allein  wahre  Achtung  des  Menschen  er- 
zeugt. Alle  UnVollkommenheiten  lassen  sich  auf  Misverhältnisse 
der  Kräfte  zurükbringen.  Indem  nun  jene  Kenntniss  das  Ganze 
zeigt,  w^erden  diese  gleichsam  aufgehoben,  und  es  erscheint  zu- 
gleich die  Nothwendigkeit  ihres  Entstehens  und  die  Möglichkeit 
ihrer  Ausgleichung,  so  dass  das,  vorher  einseitig  betrachtete  Indi- 
viduum durch  diesen  allseitigen  Ueberblik  gleichsam  in  eine  andre 
höhere  Klasse  versezt  wird. 


Der  mit  Ideen  Beschäftigte  ist  —  da  ich  mich  hier  der  Ge- 
nauigkeit logischer  Eintheilungen  überheben  kann  —  Historiker 
im  allerweitesten  Sinne  des  Worts,  oder  Philosoph,  oder  Künstler. 
Der  Historiker,  insofern  ich  von  dem  im  eigentlichsten  Ver- 
stände —  dem  Beschreiber  der  Menschen  und  menschlichen  Hand- 
lungen —  abstrahire,  bedarf  jener  Kenntniss  vielleicht  am  wenigsten. 
Wenn  indess  auch  der  Forscher  des  am  mindesten  mit  Menschen- 
ähnlichkeit begabten  Theils  der  Natur  nicht  bloss  die  äussren 
Erscheinungen  aufzählen,  sondern  auch  den  Innern  Bau  erspähen 
will ;  so  kann  er  derselben  schlechterdings  nicht  gänzlich  entbehren. 
Denn  nicht  bloss  dass  alle  unsre  Ideen  von  Organisation  ursprüng- 
lich vom  Menschen  ausgehen;  so  herrscht  auch  durch  die  ganze 
Natur  eine  Analogie  wie  der  äussren  Gestalten,  so  des  inneren 
Baues.  Es  lässt  sich  daher  kein  tiefer  Blik  in  die  Beschaffenheit 
der  Organisation  auch  der  leblosen  Natur  ohne  physiologische 
Kenntniss  des  Menschen  thun,  und  diese  ist  wiederum  nicht  ohne 
psychologische  möglich ;  und  ebenso  steigt  umgekehrt  mit  dem 
Umfange  dieser  lezteren  die  Schärfe  jenes  ersten  Bliks,  wenn  gleich 
freilich  in  oft  sehr  kleinen  Graden.  Endlich  muss  ich  bemerklich 
machen,  dass  ich  hier  den  Blik  auf  den  Zusammenhang  der  ganzen 
Natur,  und  die  Beziehung  der  leblosen  auf  die  menschUche  —  die 
kein  grosser  Naturkündiger  versäumen  wird  —  ganz  übergehe, 
wie  es  denn  überhaupt  meine  Absicht  ist,  nur  zu  versuchen,  das 
für  sich  minder  Klare  in  ein  helleres  Licht  zu  stellen. 


und  des  griechischen  insbesondere.     7 — 10.  2C-Q 

9- 

Diesem  Grundsaze  getreu,  bleibe  ich  bei  dem  Philosophen 
nur  bei  dem  abstraktesten  Metaphysik  er  stehen.  Aber  wenn  auch 
dieser  das  ganze  Erkenntnissvermögen  ausmessen  soll,  wenn  es 
ferner  von  dem  Gebiete  der  Erscheinungen  in  das  Gebiet  der 
wirklichen  Wesen  keinen  andren  Weg,  als  durch  die  praktische 
Vernunft  giebt,  wenn  Freiheit  und  Nothwendigkeit  eines  allgemein 
gebietenden  Gesezes  allein  zu  Beweisen  für  die  wichtigsten,  über- 
sinnlichen Principien  führen  können;  so  muss  die  mannigfaltigste 
Beobachtung  der,  in  andren  und  andren  Graden  gemischten 
menschlichen  Kräfte  auch  diess  Geschäft  um  vieles  erleichtern,  und 
am  sichersten  das  sehen  lassen,  was  allgemein  ist  und  sich  in  jeder 
Mischung  gleich  erhält. 

10. 

Des  Künstlers  einziger  Zwek  ist  Schönheit.  Schönheit  ist 
das  allgemeine,  nothwendige,  reine  Wohlgefallen  an  einem  Gegen- 
stand ohne  Begriff.  Ein  Wohlgefallen,  das  nicht  durch  Ueber- 
zeugung  erzwungen  werden  kann  und  doch  abgenöthigt  sein  soll, 
das  allgemein  sein  muss,  und  dessen  Gegenstand  nicht  durch  den 
Begriff  reizt,  muss  sich  nothwendig  auf  die  ganze  Seelenstimmung 
des  Empfindenden  in  ihrer  grossesten  Individualität  beziehen,  wie 
auch  schon  die  unendliche  Verschiedenheit  in  Geschmaksurtheilen 
zeigt.  Wer  es  also  hervorbringen  will,  muss  sein  Wesen  mit  den 
feinsten  und  verschiedenartigsten  Wesen  gleichsam  identificirt 
haben,  und  wie  ist  diess  ohne  tiefes  und  anhaltendes  Studium 
möglich?^)  —  Auch  ausser  dieser,  zwar  allgemein  beweisenden, 
aber  auch  abstrakteren  Erörterung,  gehört  der  Künstler  gleichsam 


V  „Künstler  und  Dichter  Genie  eines  Schakespears,  Ossians,  Hotners  und  so 
mancher  andern  waren  durch  kein  anhaltendes  Studium  gebildet.  Diese  Männer 
würden  durch  anhaltendes  Studium  an  Vollendung  gewontien  an  Kraft  aber  — 
etwas  verlohren  haben.  f>em  ungeachtet  bin  ich  überzeugt  dass  ihre  Werke  voll- 
kommener geworden  wären  —  wenn  sie  mehr  jedoch  nicht  zuviel  studieret  hätten. 
Allzuvieles  Studium  fremdtr  Muster  macht  ängstlich;  imd  der  Funken  des  eignen 
Genius  erlischt  alsdann."  Dalberg.  —  Dalbergs  Anmerkungen  berühren  sich  hie 
und  da  in  Wendungen  und  Beispielen,  worauf  hier  nicht  im  einzelnen  eingegangen 
werden  soll,  mit  einigen  A.usführungen  seiner  „Commentatio  de  illustratione  et 
amplificatione  humani  intellectus",  die  iJjO  und  1777  in  den  Acta  academiae  electo- 
ralis  moguntinae  scientiarum  utilium,  quae  Erfurt]  est  erschien;  vgl.  auch  den  kurzen 
Auszug  bei  Beaulieu-Marconnay,  Karl  von  Dalberg  und  seine  Zeit  2,  joi. 

17» 


25o  6.    über  das  Studium  des  Altertums 

zur  Klasse  der  praktischen  Menschen,  und  bedarf  umsomehr  alles 
desjenigen,  was  jenen  unentbehrlich  ist,  als  er  unmittelbar  aui 
das  Höchste  und  Edelste  wirkt.  Nicht  also  bloss  um  als  Mensch 
moralisch,  sondern  auch  um  als  Künstler  mit  Erfolg  zu  wirken, 
muss  er  den  Gegenstand  tief  kennen,  auf  welchen  er  wirkt.  — 
Endlich  ist  sein  Geschäft  entweder  Ausdruk  oder  Schilderung. 
Das  Erstere  bezieht  sich  allein  und  unmittelbar,  das  Leztere,  da 
die  Schilderung  sonst  nicht  gefasst  wird,  mittelbar  auf  Empfindung, 
und  so  bleibt  diese  und  der  empfindende  Mensch  überhaupt  immer 
sein  Hauptstudium. 

II. 

Von  dem  bloss  Ge  nies  senden  endlich  Hesse  sich  eigentlich 
nichts  sagen,  da  der  Eigensinn  des  Genusses  keine  Regel  annimmt. 
Aber  ich  stelle  mich  billig  hier  in  die  Stelle  nicht  gerade  der 
edelsten  Menschen,  aber  der  Menschen  überhaupt  in  ihren  edleren 
Momenten.  In  diesen  nun  sind  die  Freuden  der  höchsten  Gattung 
die,  welche  man  durch  sich  und  andre  empfängt,  durch  Selbst- 
beobachtung, Umgang  in  allen  Abstufungen,  Freundschaft,  Liebe. 
Je  höher  diese  sind,  desto  eher  sind  sie  zerstört  ohne  ein  scharfes 
Auffassen  des  wahren  Seins  seiner  selbst  und  andrer.^)  Diess  aber 
ist  nie  möglich,  ohne  tiefes  Studium  des  Menschen  überhaupt.  — 
Diesen  Freuden  an  die  Seite  treten  nicht  unbillig  diejenigen,  welche 
der  ästhetische  Genuss  der  Werke  der  Natur  und  der  Kunst  ge- 
währt. Diese  wirken  vorzüglich  durch  Erregung  der  Empfindungen, 
welche  durch  die  äussren  Gestalten,  gleichsam  als  durch  S3^mbole 
gewekt  werden.  Je  mehr  lebendige  Ansichten  möglicher  mensch- 
licher Empfindungen   nun   das   Studium   des  Menschen  verschaft 


^)  „Der  Geschmack  des  tiefdenkenden  forschenden  Kunstkenners  ist  feiner 
lind  zuverlässiger  als  der  Geschmack  desjenichen  der  sich  immer  und  lediglich 
denjetiichen  Eitidrücken  überlassen  hat,  so  die  Gegenstände  durch  zufällige  Ein- 
würkungen  und  seine  eigne  weesentliche  innere  Anlage  in  ihm  erregen.  Allein 
das  Gefühl  des  erstem  wird  in  sehr  vielen  Fällen  nicht  so  innig,  nicht  so  lebhaß 
seyn,  als  das  Gefühl  des  letzten.  In  der  Dunkelheit,  Unbestimtheit  seiner  Begriffen 
legt  dieser  grenzenlosen  Werth  auf  den  geliebten  Gegenstand.  Das  Studimn  zeigt 
jenem  durch  Vergleichung  imd  Nachforschung  die  Grenzen  und  Unvollkommen- 
heiten  des  geliebten  Gegenstandes,  die  Zauberkraft  der  Leidenschaft  ist  verschwunden; 
sein  Verstand  hat  an  Erkentnis  gewonnen;  sein  Herz  hat  an  Empfindsamkeit  ver- 
lohren.  In  Beziehung  auf  ruhige  Zufriedenheit  hat  er  durch  Studium  gewonnen. 
Dann  Kenntnisse  führen  auf  Wahrheit;  Leidenschafi  auf  Abgründe  von  Irrthümern. 
Und  deswegen  verdient  das  Studimn  des  Menschen  Empfehlung."    Dalberg. 


und  des  griechischen  insbesondere.      lo- — 12.  261 

hat,  desto  mehr  äussrer  Gestalten  ist  die  Seele  empfänglich.  — 
Da  ich  des,  aus  der  eignen  Thätigkeit  entspringenden  Genusses 
schon  mit  dieser  Thätigkeit  selbst  im  Vorigen  erwähnt  habe 
(7 — 10.),  so  bleibt  mir  nur  noch  der  sinnliche  übrig.  Aber  auch 
dieser  ward,  indem  die  Phantasie  ihm  das  reiche  Schauspiel  seiner 
möglichen  Mannigfaltigkeit  nach  der  Verschiedenheit  des  geniessen- 
den Individuums  zugesellt,  und  indem  sie  so  gleichsam  mehrere 
Individuen  in  Eins  vereint,  venäelfacht,  erhöht  und  verfeinert.  — 
Endlich  minden  sich  durch  eine  solche  Ansicht  das  Gefühl  auch 
des  wirklichen  Unglüks.  Das  Leiden,  wie  das  Laster,  ist  eigent- 
lich nur  partiell.  Wer  das  Ganze  vor  Augen  hat,  sieht,  wie  es 
dort  erhebt,  wenn  es  hier  niederschlägt. 

12. 

Ich  habe  bis  jezt  den  Menschen  mit  Fleiss  abgesondert  in 
einzelnen  Energien  betrachtet.  Zeigte  sich  aber  auch  in  keiner 
die  Unentbehrlichkeit  der  Kenntniss,  von  der  ich  hier  rede,  so 
würde  sie  sich  doch  gerade  dadurch  bewähren,  dass  sie  vor- 
züglich noth wendig  ist,  um  das  einzelne  Bestreben 
zu  Einem  Ganzen  und  gerade  zu  derEinheit  des  edel- 
sten Zweks,  der  höchsten,  pro  portionirlichsten  Aus- 
bildung des  Menschen  zu  vereinen.^)  Denn  das  Be- 
schäftigen   einzelner    Seiten    der    Kraft    bewirkt    leicht    mindere 


^J  „Sollte  nicht  von  dem  Fortschritt  der  menschlichen  Kultur  ohngejehr  eben 
das  gelten,  was  wir  bey  jeder  Erfahrung  zu  bemerken  Gelegenheit  haben  ?  Hier 
aber  bemerkt  man  j  Momente. 

1.  Der  Gegenstand  steht  ganz  vor  uns,  aber  verworren  und  ineinander ßiessend. 

2.  Wir  trennen  einzelne  Merkmale  und  unterscheiden.  Unsere  Erkenntniss 
ist  deutlich  aber  vereinzelt  und  borniert. 

j.  Wir  verbinden  das  Getrennte  und  das  Ganze  steht  abermals  vor  uns, 
aber  jetzt  nicht  mehr  verworren  sondern  von  allen  Seiten  beleuchtet. 

In  der  ersten  Periode  waren  die  Griechen. 

In  der  zweiten  stehen  wir. 

Die  dritte  ist  also  noch  zu  hoffen,  und  dann  wird  man  die  Griechen  auch 
nicht  mehr  zurück  wünschen."  Schiller.  —  Diese  Bemerkung  Schillers,  die  Hutn- 
boldt  als  eine  „genievolle  Idee'  in  einem  Briefe  vom  ji.  März  lygj  ^^  <jlf  mitteilt, 
wurde  schon  i8j8  durch  Varnhagen  aus  eben  diesem  Briefe  veröffentlicht  und 
seitdem  unter  dem  Titel  „Kulturstufen'^  in  Schillers  Werke  aufgenommen;  vgl. 
Sämmtliche  Schriften  g,  404.  Eine  ähnliche  Anschauungsweise  kehrt  bei  Schiller 
Mufig  wieder;  vgl.  besonders  Sämyntliche  Schriften  10,  255.  2g4.  451.  484.  Der 
Schlußgedanke  klingt  schon  in  der  Vorlesung  über  Universalgeschichte  (ebenda 
9>  99)  ^"- 


2^2  6.    Über  das  Studium  des  Altertums 

Rüksicht  auf  den  Nuzen  dieses  Beschäftigens,  als  Energie,  und  zu 
grosse  auf  den  Nuzen  des  Hervorgebrachten,  als  eines  Ergon,  und 
nur  häufiges  Betrachten  des  Menschen  in  der  Schönheit  seiner 
Einheit  führt  den  zerstreuten  Blik  auf  den  wahren  Endzwek  zurük. 

13- 
So  wirkt  jene  Kenntniss,  wenn  sie  erworben  ist,  gleichsam 
als  Material;  aber  gleich  heilsam  und  vielleicht  noch  heilsamer 
wirkt  gleichsam  ihre  Form,  die  Art  sie  zu  erwerben.  Um 
den  Charakter  Eines  Menschen  und  noch  mehr  einer  noch  viel- 
seitigeren Nation  in  seiner  Einheit  zu  fassen,  muss  man  auch  sich 
selbst  mit  seinen  vereinten  Kräften  in  Bewegung  sezen.^)  Der 
Auffassende  muss  sich  immer  dem  auf  gewisse  Weise  ähnlich 
machen,  das  er  auffassen  will.  Daher  entsteht  also  grössere 
Üebung,  alle  Kräfte  gieichmässig  anzuspannen,  eine  Uebung,  die 
den  Menschen  so  vorzüglich  bildet.  —  Wer  sich  mit  diesem 
Studium  anhaltend  beschäftigt,  fasst  ferner  eine  unendliche  Mannig- 
faltigkeit der  Formen  auf,  und  so  schleifen  sich  gleichsam  die 
Ekken  seiner  eignen  ab,-)  und  aus  ihr,  vereint  mit  den  aufge- 
nommenen, entstehen  ewig  wiederum  neue.  —  So  ist  jene  Kennt- 
niss gerade  darum  heilsam,  warum  jede  andre  mangelhaft  sein 
würde,  darum,  dass  sie,  nie  ganz  erreichbar,  zu  unaufhörlichem 
Studium  zwingt,  und  so  wird  die  höchste  Menschlichkeit  durch 
das  tiefste  Studium  des  Menschen  gewirkt. 


V  „Für  den  Lehrer  humanistischer  Wissenschaften,  einen  Wolf  Ernesti 
und  s.  w.  ist  dieses  Studium  Hauptgeschäft  —  für  den  Man  der  sich  dem  thätigen 
Leben  tvitmet;  ist  es  wie  mir  dünkt  Nebensache.  Anhaltendes  Nachdenken  kann 
leidenschaftliches  Vergnügen  werden;  und  dann  ist  die  Betriebsamkeit  des practischen 
Geschäftsmanns  geschwächt.  Literatur  ist  auch  für  ihn  Hülfswissenschaft;  aber 
so  viel  er  braucht  kann  er  in  der  Jugend  erlernt  haben.  Und  allemahl  ist  es 
für  ihn  in  Nebenstunden  angenehme  Erhohlung  und  zuzeiten  Stärkung  seines 
Geistes;  aber  nicht  anhaltendes  Studium."    Dalberg. 

y  „  Wenn  alle  Ecken  abgeschliffen  sitid  so  wird  alles  glat  rund  und  einförmig 
werden.  Hierin  ist  die  Kunst  der  Ausbildung  mit  der  Kunst  des  Steinschleifers 
vergleichbar;  der  Diamant  wird  in  seiner  [Form]  dadurch  verschönert:  dass  er 
viele  Faceten  erhaltet  ohne  ganz  abgerundet  zu  werden.  Allzulanges  Nachahmen, 
und  Hineindenken  in  fremde  Gesinnungen  und  Kimstwerke  verwischt  das  Eigen- 
thümliche  des  Caracters  ganz.  Audi  hierin  est  modus  in  rebus.  Scaliger,  Casaubon, 
Salmasius  waren  die  grasten  Humanisten.  Was  sie  selbstgedachtes  schrieben, 
wäre  sehr  mitelmässig."  Dalberg.  —  „Est  modus  in  rebus,  sunt  certi  denique  fines"' 
Horaz,  Satiren  i,  i,  io6. 


und  des  griechischen  insbesondere.      12 — 15.  20^ 

14. 

Das  bis  jezt  betrachtete  Studium  des  Menschen  überhaupt  an 
dem  Charakter  einer  einzelnen  Nation,  aus  den  von  ihr  hinter- 
lassenen  Denkmälern,  ist  zwar  bei  einer  jeden  Nation  in  ge^vissem 
Grade  möglich,  in  einem  vorzüglicheren  aber  bei  einer  oder  der 
andren  nach  folgenden  vier  Momenten:  i.,  je  nachdem  die  von 
ihr  vorhandnen  Ueberreste  ein  treuer  Abdruk  ihres 
Geistes  und  ihres  Charakters  sind,  oder  nicht.  Jedes 
Produkt  der  Wissenschaft  oder  der  Kunst  hat  seine  eigne,  durch 
seine  Natur  bestimmte,  gleichsam  objektive,  idealische  Vollkommen- 
heit,^) aber  selbst  bei  dem  äussersten  Annähern  an  diese  Voll- 
kommenheit prägt  sich  dennoch  die  Individualität  des  Geistes,  der 
es  hervorbringt,  mehr  oder  minder  darin  aus,  am  meisten  aber 
freilich  da,  wo  am  mindesten  absichtlich  auf  die  Erreichung  jener 
Vollkommenheit  gesehen  ist.  Daher  der  objektive  Werth  und  die 
Individualität  eines  Geistesprodukts  nicht  selten  im  umgekehrten 
Verhältnisse  stehen.  Am  auffallendsten  ist  dieser  Unterschied  bei 
den  eigentlichen  Geistesprodukten,  weniger  bei  den  Künsten,  und 
unter  diesen  mehr  bei  den  energischen  (Musik,  Tanz)  als  bei  den 
bildenden  (Mahlerei,  Bildhauerkunst). 

15- 
2.,   je    nachdem  der  Charakter   einer  Nation  Viel- 
seitigkeit und  Einheit  —  welche  im  Grunde  Eins  sind-)  — 
besizt.     Einzelne    grosse    und    schöne   Charakterzüge    und    ihre 


^)  „Sollte  es  nicht  wahr  seyn  dass  Jeder  diejeniche  Nation  vorzüglich  studieren 
muss  auf  die  er  als  Lehrer,  Schriftsteller,  Geschäftsman  oder  als  Hausvatter 
würken  will?  Sonst  mögte  es  ihm  gehen  [wie]  dem  berühmten  Reisken  der  wüste 
wie  es  in  Arabien  aussähe  und  Leipzig  nicht  kannte  woh  er  wohnte.  Eine  Ver- 
nunft Vorstellung  (idealisches  Gedanken  Bild)  muss  er  sich  aus  streng  erwiesnen 
Gründen  in  seinem  Geist  zusammen  setzen  nach  welchem  er  in  einzlen  Fällen 
die  besondre  Eigenheiten  beurtheilt.  (Diese  Eigenheiten  sind  im  Grund  jedesmahl 
Vollkommenheiten  ode^  Um'ollkommenheiten.)  Das  Hauptstudium  in  Literatur  ist 
wie  mir  dünkt  für  den  Teutschen  teutsche  Literatur;  für  den  Engländer  Englische 
Literatur  u.  s.  w.  Die  Cncgische  Literatur  ist  allerdings  sehr  oft  ein  Gegenstand 
wichtiger  scharfsinniger  Vergleichungen ;  doch  ohnmassgeblich  niemahlen  Haupt- 
sache."   Dalberg. 

y  „bedürße  noch  einer  nähern  Erklärung.  Vielseitigkeit  katm  einem  grossen 
Theil  unsrer  Zeitgenossen  nicht  abgesprochen  werden  —  aber  Einheit  ?"  Schiller. 
—  Vgl.  die  Ausführungen  über  Einheit  und  Mannigfaltigkeit  in  den  Ästhetischen 
Briefen  (Sämmtliche  Schriften  10,  282). 


264.  ^'    über  das  Studium  des  Altertums 

Betrachtung  hat  ihren  unbestrittenen,  aber  hieher  nicht  gehörigen 
Nuzen.  Das  Studium  des  Menschen  überhaupt  an  einem  einzelnen 
Beispiel  erfordert  Mannigfaltigkeit  der  verschiednen  Seiten  des 
Charakters,  und  Einheit  ihrer  Verbindung  zu  Einem  Ganzen. 

16. 
3.,  je  nachdem  eine  Nation  reich  ist  an  Mannig- 
faltigkeit der  verschiedenen  Formen.  Es  kommt  also 
hier  wieder  nicht  sowohl  darauf  an,  ob  die  Nation,  deren  Studium 
jenen  Nuzen  gewähren  soll,  auf  einem  vorzüglichen  Grade  der 
Ausbildung  oder  der  Sittlichkeit  stehe,  sondern  bei  weitem  mehr 
darauf,  ob  sie  von  aussen  reizbar,  und  von  innen  beweglich  genug 
ist,  eines  grossen  Reichthums  der  Gestalten  empfänglich  zu   sein. 

17- 
4.,    je    nachdem    der    Charakter   einer   Nation   von 

der  Art  ist,  dass  er  demjenigen  Charakter  des  Men- 
schen überhaupt,  welcher  in  jeder  Lage,  ohne  Rük- 
sicht  auf  individuelle  Verschiedenheiten  da  sein 
kann  und  da  sein  sollte,  am  nächsten  kommt.  Ver- 
schiedenheiten dieser  Art  unter  Nationen  zeigt  auch  eine  ober- 
flächliche Vergleichung ;  Nationen,  die  eine  so  lokale  Ausbildung 
haben,  dass  ihr  Studium  mehr  Studium  einer  einzelnen  Menschen- 
gattung, als  der  Menschennatur  überhaupt  ist,^)  und  Nationen,  in 
welchen  sich  auf  der  andren  Seite  diese  Menschennatur  haupt- 
sächlich ausdrukt.  Das,  wovon  ich  hier  rede,  kann  aus  doppeltem 
Grunde  entstehen,  einmal  durch  Mangel  der  Individualität,  durch 
Nichtigkeit,  zweitens  durch  Einfachheit  des  Charakters.  Nur  das 
Leztere  ist  heilsam.  —  Das  Studium  des  Menschen  gewönne  am 
meisten  durch  Studium  und  Vergleichung  aller  Nationen  aller 
Länder  und  Zeiten.  Allein  ausser  der  Immensität  dieses  Studiums 
kommt  es  mehr  auf  den  Grad  der  Intension  an,  mit  dem  Eine 
Nation,  als  auf  den  der  Extension,  mit  welchem  eine  Menge  von 
Nationen  studirt  wird.  Ist  es  also  rathsam,  bei  Einer  oder  einem 
Paar  stehen  zu  bleiben;  so  ist  es  gut,  diejenigen  zu  wählen,  welche 
gleichsam  mehrere  andre  repräsentiren. 

18. 
Dass   nach   diesen  4  Momenten   die   alten  Nationen  die   sind, 
deren  Studium  jenen  hier  allein  ausgeführten  Nuzen  der  Kenntniss 


V  „Indier,  Chinesen."     Wolf. 


und  des  griechischen  insbesondere.      15 — iS.  26t> 

und  Bildung  des  Menschen  am  reichsten  gewähret,  soll  die  Folge 
zu  zeigen  bemüht  sein.  —  Alte  nenne  ich  hier  ausschliessend  die 
Griechen,  und  unter  diesen  oft  ausschliessend  die  Athener.  Die 
Gründe  hievon  werde  ich,  wenn  sie  sich  nicht  durch  die  Folge 
des  Raisonnements  von  selbst  entdekken,  weiter  unten  noch  mit 
Einem  Worte  berühren.  —  i.  Moment.  (14,)  Die  Ueberreste  der 
Griechen  tragen  die  meisten  Spuren  der  Individualität  ihrer  Ur- 
heber an  sich.  Die  beträchtlichsten  sind  die  litterarischen.  In 
diesen  fällt  der  Betrachtung  zuerst  die  Sprache  auf.  In  einer 
Sprache  entstehen  Abweichungen  von  der  Individualität  der 
Sprechenden  vorzüglich  aus  folgenden  3  Gründen:  i.,  durch  Ent- 
lehnen von  Wörtern  oder  Redensarten  aus  fremden  Sprachen. 
2.,  durch  das  Bedürfniss,  völlig  allgemeine  und  abstrakte  Begriffe, 
worauf  sich  vorhandene  Wörter  nicht  gut  anwenden  lassen  wollen, 
entweder  durch  völlig  neugebildete,  oder  gewaltsam  übertragene 
Ausdrükke  zu  bezeichnen,  wobei  die  Abweichung  des  neuen  Aus- 
druks  imm^er  in  dem  Grade  grösser  ist,  als  ein  Volk  weniger  reiz- 
bare und  schaffende  Phantasie  besizt,  den  abstrakten  Begriff  unter 
einem,  aus  seinem  bisherigen  Vorrath  genommenen  sinnlichen 
Bilde  zu  fassen.  3.,  durch  Nachdenken  über  die  Natur  der  Sprache 
überhaupt,  und  die  Analogie  der  eignen  insbesondre,  woraus  Aiele 
Abänderungen  des  durch  den  Sprachgebrauch  Eingeführten,  und 
näher  mit  der  Individualität  der  Lage  der  Redenden  Verknüpften 
vorzüglich  im  S3'ntax  und  in  der  Grammatik  überhaupt  entspringen. 
Nun  waren  die  Griechen  mit  keinem  einzigen  höher  gebildeten 
Volke  vor  oder  neben  ihnen  in  allgemeiner  und  vertrauter  Be- 
kanntschaft ;  ^)  es  finden  sich  daher  in  ihrer  Sprache  nur  fremde 
Wörter,  und  auch  diese  gegen  das  Ganze  nur  in  unbedeutender 
Anzahl,  von  fremden  Beugungen  und  Konstruktionen  wenigstens 
keine  deutliche  Spur.  So  fällt  jener  erste  Grund  hinweg.  Nicht 
minder  aber  die  beiden  lezteren,  da  in  Vergleichung  mit  der  sehr 
frühen  Ausbildung  der  Sprache  sehr  spät  eine  bestimmtere  Philo- 
sophie und  noch   später  Philosophie  der  Sprache   entstand,-)   und 


'j  „Die  Geschichte  enthaltet  sichere  Spuhren  dass  die  Tirier  den  wilden 
Griegen  zum  gesitteten  Memchen  bildeten."    Dalberg. 

^)  „Hierin  hat  wie  mir  dünkt  die  Griegische  Literatur  keinen  besondern 
Vorzug;  dann  alle  diese  Züge  kann  man  wie  mir  dünkt  auch  auf  teutsche  Literatur 
anwenden.  Wer  Otfrieden,  die  Minesinger,  Bragur  Adelung  Heinatz  u.  a. 
studieren  will  wird  sich  davon  überzeugen.  Die  Literar-Geschichte  einer  jeden 
Sprache  eines  jeden  Volks  hat  die  nemliche  Stufen  erstiegen."    Dalberg.  —  Gräters 


256  6.    über  das  Studium  des  Altertums 

in  Rüksicht  auf  den  zweiten  Grund  insbesondre  kein  Volk  leicht 
eine  so  reiche  Phantasie  im  Schaffen  metaphorischer  Ausdrükke 
besizt,  als  den  Griechen  eigen  war.  —  Einzelne  Beispiele  in  Ab- 
sicht der  Bildung  der  Wörter,  der  Beugungen  und  Verbindungen 
könnten  hier  die  Uebereinstimmung  der  Sprache  der  Griechen  mit 
ihrem  Charakter  zeigen. 

19- 
Die  Geistesprodukte  selbst  sind  Geschichte,  Dichtung  (wozu 
ich  hier  Kunst  überhaupt  rechne)  und  Philosophie.  —  Die  Ge- 
schichte ist  grossentheils  Griechische,  und  wo  sie  es  auch  nicht 
ist,  sind  wenigstens  die  früheren  griechischen  Geschichtschreiber 
noch  zu  wenig  gewohnt,  mehrere  Völker  zu  vergleichen,*)  und 
Eignes  und  Fremdes  von  einander  abzusondern,  auch  zu  sehr  mit 
allem  Vaterländischen  beschäftigt,  als  dass  nicht  sehr  oft  der  Grieche 
durchblikken  sollte.  In  der  Griechischen  Geschichte  selbst  aber 
macht  eine  Zusammenkunft  mehrerer  Umstände,  wozu  ich  vorzüg- 
lich den  grösseren  Einfluss  einzelner  Personen  auf  die  öffentlichen 
Angelegenheiten,  die  Verbindung  des  religiösen  Zustandes  mit  dem 
politischen,  und  des  häuslichen  mit  dem  religiösen,-)  ferner  den 
kleinen  Umfang  der  Geschichte  selbst,  der  ein  grösseres  Detail 
erlaubte,  endlich  die  noch  mehr  kindischen  Ideen  von  Merkwürdig- 
keit und  Wichtigkeit  rechne,  dass  die  alte  Geschichte  unendlich 
mehr  Charakter-  und  Sittenschilderungen  enthält,   als   die   neuere. 

20. 

Wenn  Dichtung  und  Geschichte  gesondert  sein  soll,  so  sezt 
diess  schon  bestimmtere  Ideen  über  Möglichkeit  und  Unmöglich- 
keit, Wahrscheinlichkeit  und  UnWahrscheinlichkeit,  mit  Einem  Worte 
Kritik  voraus.  Diese  erhielten  die  Griechen  erst  spät,  und  vorzüg- 
lich durch  die  Verbindung  ihrer  Fabel  mit  Religion  und  National- 
stolz später,  als  sich  sonst  hätte  erwarten  lassen.    Sehr  lange   ist 


und  Böckhs  „B?-agur,  ein  literarisches  Magazin  der  deutschen  und  nordischen 
Vorzeit"  begann  ijgi  zu  erscheinen;  vgl.  darüber  Raumer,  Geschichte  der  ger- 
manischen Philologie  S.  2%. 

^J  „Der  älteste  Geschichtschreiber  der  Griegen  ist  Hei-odot  der  die  That- 
sachen  aller  Völker  und  Gegenden  aufzufassen  suchte."    Dalberg. 

y  „Unsre  alten  Croniken  und  Schriftsteller  des  Mitelalters  sind  in  kleinen 
Zügen  noch  weit  reichhaltiger :  imd  manche  z.  B.  die  Schweitzer  Croniken  stehen 
in  Zügen  des  Edelmuths  keiner  Geschichte  nach."    Dalberg. 


vmd  des  griechischen  insbesondere.     l8 — 21.  207 

also  Dichtung  und  Geschichte  gar  nicht  gesondert,  und  als  sie 
wirklich  sich  mehr  von  einander  trennten,  durfte  der  Künstler,  der 
nicht  sowohl  für  Kenner  und  Dilettanten  der  schönen  Künste,  als 
für  ein  Volk  arbeitete,  das  in  dem  Kunstwerk  nicht  die  Kunst 
allein,  auch  sich  und  seinen  Ruhm  sehen  wollte,  sich  nicht  von 
dem  entfernen,  was  Eindruk  auf  diess  Volk  zu  machen  im  Stande 
und  also  mit  seiner  Individualität  nah  verwandt  war.  Wie  hätten 
auch  wirkliche  Abänderungen  der  Fabel  durch  den  Künstler  nicht 
wdeder  im  höchsten  Grade  Griechisch  werden  sollen,  da  er  keine 
fremde  Muster  vor  sich  hatte,^)  und  selbst  die  eigentliche  Theorie 
der  Künste  erst  später  entstand.'  —  Ferner  entsprangen  alle  vor- 
züglichste Arten  der  Dichtung  —  epische,  tragische,  lyrische  — 
bei  den  Griechen  aus  Sitten  und  öffentlichen  Einrichtungen,  bei 
Gastmählern,  Festen,  Opfern,  und  so  behielten  sie  bis  in  die 
spätesten  Zeiten  einen  Anstrich  dieses  historischen,  nicht  eigentlich 
ästhetischen  Ursprungs.-) 

21. 

Die  Philosophie  sollte  am  wenigsten  Spuren  der  Eigen- 
thümlichkeit  des  Philosophirenden  tragen.  Aber  die  praktische 
zeigte  bei  den  Griechen  immer  in  einem  sehr  hohen  Grade  den 
Griechen,  und  die  spekulative  that  diess  wenigstens  auch  sehr 
lange.  •^) 

Gegenblik  auf  moderne  Nationen.  —  Ihre  Sprache  (i8.)  durch 
Entlehnen  von  fremden,  und  Philosophie  in  hohem  Grade  umge- 
bildet. —  Selbst  ihre  vaterländische  Geschichte  (19.)  durch  Ver- 
trautheit mit  allen  Zeiten  und  Erdstrichen,  und  andre  zusammen- 
kommende Ursachen  minder  individuell  erzählt.  —  Ihre  Dichtung 
(20.)  fast  ganz  aus  fremder  Mythologie  genommen,  und  nach  ob- 


V  „Höchstwahrscheinlich  hatten  die  Griegen  Egiptische  Muster  vor  sich; 
welche  hohen  Geschmack  und  Ebenmaass  in  manche  Werke  brachten,  wie  Winkel- 
man  sehr  scharfsinnig  gezeigt  hat."  Dalberg.  —  Vgl.  Winckelmann,  Geschichte 
der  Kunst  des  Altertums  S.  ^g  Lessing. 

')  „  Überhaupt  bin  ich  mit  dem  Herrn  Verfasser  überzeugt  dass  in  Beziehung 
auf  Geschmack  bildende  Künste  und  wahre  Begriffe  von  Schönheit  die  Griegen 
eine  sehr  hohe  Stufe  der  Vollkommenheit  erreicht  haben;  und  Jiierin  ihre  Werke 
der  wichtigste  Gegenstand  eines  Hauptstudiums  sind."    Dalberg. 

^)  „Auch  in  der  Philosophie  entlehnten  die  Griegen  sehr  viel  von  Egiptern; 
wie  Brucker  und  andre  gezeigt  haben."  Dalberg.  —  Vgl.  Brucker,  Historia 
critica  philosophiae  a  mundi  incunabulis  ad  nostram  usque  aetatem  dcducta    I,   364. 


268  ö-    t'ber  das  Studium  des  Altertums 

jektiven  allgemeinen  Theorien  geformt.   —  Ihre  Philosophie  (21.) 
abstrakt  und  allgemein. 

22. 

2.  Moment.  (15.)  Der  Grieche  in  der  Periode,  wo  wir 
die  erste  vollständigere  Kenntniss  von  ihm  haben, 
steht  noch  auf  einer  sehr  niedrigen  Stufe  der  Kultur. 
In  diesem  Zustande  wird,  da  der  Bedürfnisse  und  Befriedigungs- 
mittel nur  wenige  sind,  immer  weit  mehr  Sorgfalt  auf  die  Ent- 
wikklung  der  persönlichen  Kräfte,  als  auf  die  Bereitung  und  den 
Gebrauch  von  Sachen  verv^^andt.  Der  Mangel  dieser  Hülfsmittel 
macht  auch  jene  Entwikklung  nothwendiger.  Da  überhaupt  noch 
keine  Veranlassung  vorhanden  ist,  einzelne  Seiten  vorzüglich  zu 
beschäftigen,  da  der  Mensch  nur  schlechthin  dem  Gange  der  Natur 
folgt ;  so  ist,  wo  er  handelnd  oder  leidend  wird,  sein  ganzes  Wesen 
um  so  mehr  vereint  in  Thätigkeit,  als  er  vorzüglich  durch  Sinn- 
lichkeit afficirt  wird,  und  gerade  diese  am  stärksten  das  ganze 
Wesen  ergreift.  Es  ist  daher  bei  Nationen  auf  einer 
niedrigeren  Stufe  der  Kultur  verhältnissmässig  mehr 
Entwikklung  der  Persönlichkeit  in  ihrem  Ganzen, 
als   bei  Nationen  auf  einer  höheren.*) 

23.^) 
Bei  den  Griechen  zeigt  sich  aber  ein  doppeltes,  äusserst  merk- 
würdiges, und  vielleicht  in  der  Geschichte  einziges  Phänomen. 
Als  sie  noch  sehr  viele  Spuren  der  Rohheit  anfangen- 
der Nationen  verriethen,  besassen  sie  schon  eine 
überaus  grosse  Empfänglichkeit  für  jede  Schönheit 
der  Natur  und  der  Kunst,  einen  feingebildeten  Takt, 
und  einen  richtigen  Geschmak,  nicht  der  Kritik,  aber 
der  Empfindung,  und  finden  sich  Instanzen  gegen  diesen  Takt 
und  diesen  Geschmak,  so  ist  wenigstens  jene  Reizbarkeit  und 
Empfänglichkeit  unläugbar;  und  wiederum  als  die  Kultur 
schon   auf  einen   sehr  hohen  Grad  gestiegen  war,   er- 


V  „Ganz  gewiss,  weil  (gelehrt)  kultivirte  Nationen  durch  Regeln,  die  immer 
etwas  allgemeines  sind,  Naturvölker  durch  Gefühle  sich  bestimmen.  Die  Vernunft 
erzeugt  Einheit  und  darum  oft  Einförmigkeit ;  der  Sinn  bringt  Mannigfaltigkeit." 
Schiller.  —   Vgl.  Sämmtliche  Schriften  10,  284. 

"^J  „Dieser  §  braucht  und  verdient  Erläuterung.  Es  wird  auch  nöthig  seyn 
zu  bestimtnen,  wann  eigentlich  die  erste  Periode  gesezt  wird."    Schiller. 


und  des  griechischen  insbesondere.     21 — 24.  260 

hielt  sich  dennoch  eine  Einfachheit  des  Sinns  und 
Geschmaks,  den  man  sonst  nur  in  der  Jugend  der 
Nationen  antrift.^j  Die  Entwikklung  der  Ursachen  hievon 
gehört  nicht  hieher.  Genug  das  Phänomen  ist  da.  In  seinem 
ersten  Lallen  verräth  der  Grieche  feines  und  richtiges  Gefühl ;  und 
in  dem  reifen  Alter  des  Mannes  veriiert  er  nicht  ganz  seinen 
ersten  einfachen  Ivindersinn.  Hierin,  dünkt  mich,  liegt  ein  grosser 
Theil  des  eigentlich  Charakteristischen  der  Nation. 

Da  sich  die  den  Griechen  eigenthümliche  Reizbarkeit  für 
das  Schöne  (23.)  mit  der,  bei  allen  minder  kultivirten  Nationen 
gewöhnlichen  grösseren  Aufmerksamkeit  auf  die  Entwikklung  der 
persönlichen,  und  vorzüglich  der  körperiichen  Ivräfte  (22.)  und 
mit  dem  in  griechischem  Klima  besonders  stark  wirkenden  Hange 
zur  Sinnlichkeit  verband;  musste  Sorgfalt  für  die  Ausbildung  des 
Körpers  zu  Stärke  und  Behendigkeit  um  so  nothwendiger  ent- 
springen, als  auch  die  äussere  Lage  beides  unentbehrlich  machte, 
und  der  Ausdruk  von  beidem  in  dem  Aeussren  der  Bildung  bei 
einem  leicht  beweglichen  Schönheitssinn  Achtung  und  Liebe  ge- 
winnen. Aber  auch  da  die  Kultur  sehr  hoch  gestiegen  war,  und 
längst  die  vorzügliche  Achtung  der  körperlichen  Kraft  verdrängt 
hatte,  erhielt  sich  dennoch  immer  mehr,  als  bei  irgend  einem 
andren  Volke   die   Sorgfalt   für  die  Ausbildung   der  körperlichen 


V  „Die  Kultur  der  Griechen  war  bloss  ästhetisch  und  davon  glaube  ich 
müsste  man  ausgehen,  um  dieses  Phänomen  zu  erklären.  Auch  i7iuss  man  nicht 
vergessen,  dass  die  Griechen  es  auch  im  Politischen  nicht  über  das  Jugendliche 
Alter  brachten,  und  es  ist  sehr  die  Frage  ob  sie  in  einem  männlichen  Alter  dieses 
Lob  noch  verdient  haben  würden.''  Schiller.  —  Vgl.  die  ähnlichen  Urteile  Sämmt- 
liche  Schriften  g,  1^6.  160.  lyj.     10,  28g. 

-)  „Diese  ganze  fürtrefliche  Stelle  ist  mit  so  zarten  und  zugleich  so  richtig 
bestirnten  Zügen  gezeichnet  dass  man  daran  erkennt  wie  sehr  der  edle  Verfasser 
seinen  sanften  und  schönen  Geist  mit  denen  lieblichsten  Früchten  genährt  hat 
welche  die  schönste  Zeiten  Athens  erzeugten.  Können  aber  diese  Früchten  als 
allgemeine  Nahrung  emf^'ohlen  werden  für  den  roheren  aber  auch  kraftvollem 
ernsthaßern  Geist  des  Teutschen?  Würden  ihm  nicht  die  gegenwärtige  Zeiten,  und 
der  Geist  seiner  Zeitgenossenen  aneklen?  Derjeniche  der  in  griegischem  Geist 
empfinden  denken  handien  würde  mögte  wohl  von  seinen  Zeitgenossenen  miskant, 
und  unwürksam  werden.  Meines  Erachtens  sollte  für  den  Teutschen  die  teutsche 
Literatur  Hauptstudium  seyn,  und  die  Schönheit  griegischer  Blutyien  diene  dazu 
dasjeniche  auszuschmücken  was  der  teutsche  männliche  starke  Sinn  nach  eignen 
und  gegenwärtigen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  erzeugt."    Dalberg. 


2^0  6.    Über  das  Studium  des  Alterturas 

Stärke,  Behendigkeit  und  Schönheit.  Wo  nun  noch  allgemeine 
und  abstrakte  Begriffe  selten  sind,  und  die  Empfänglichkeit  für 
das  Schöne  in  so  hohem  Grade  prädominirt,  da  muss  man  sich 
auch  die  bloss  geistigen  Vorzüge  natürlich  zuerst  unter  diesem 
Bilde  darstellen,  und  in  einer  griechischen  Seele  verschmolz 
körperliche  und  geistige  Schönheit  so  zart  in  einander,  dass  noch 
jezt  die  Geburten  jenes  Verschmelzens,  z.  B.  die  Raisonnements 
über  Liebe  in  Piaton  ein  wahrhaft  entzükkendes  Vergnügen  ge- 
währen. War  aber  auch  diese  Stimmung  in  diesem  Grade  nur 
einzeln  und  individuell,  so  lässt  sich  doch  soviel  überhaupt  als 
historisches  Faktum  aufstellen,  dass  die  Sorgfalt  für  die 
körperliche  und  geistige  Bildung  in  Griechenland 
sehr  gross  und  vorzüglich  von  Ideen  der  Schönheit 
geleitet   war. 

25.^) 

W>nn  nun  irgend  eine  Vorstellung  menschlicher  Vollkommen- 
heit Vielseitigkeit  und  Einheit  hervorzubringen  im  Stande  ist;  so 
muss  diess  diejenige  sein,  die  von  dem  Begriff  der  Schönheit  und 
der  Vorstellung  der  sinnlichen  ausgeht.  Dieser  Vorstellungsart 
zufolge  darf  es  dem  moralischen  Menschen  ebensowenig  am  rich- 
tigen Ebenmaasse  der  einzelnen  Charakterseiten  mangeln,  als  einem 
schönen  Gemähide  oder  einer  schönen  Statue  an  dem  Ebenmaasse 
ihrer  Glieder;  und  wer,  wie  der  Grieche,  mit  Schönheit  der  Formen 
genährt,  und  so  enthusiastisch,  wie  er,  für  Schönheit  und  vor- 
züglich auch  für  sinnliche  gestimmt  ist,  der  muss  endlich  gegen 
die  moralische  Disproportion  ein  gleich  feines  Gefühl  besizen,  als 
gegen  die  physische.  Aus  allem  Gesagten  ist  also  eine  grosse 
Tendenz  der  Griechen,  den  Menschen  in  der  mög- 
lichsten Vielseitigkeit  und  Einheit  auszubilden,  un- 
läugbar. 

Bemerken  muss  ich  hier  —  und  zwar  gerade  hier,  weil  hier 
am  leichtesten  der  Einwurf  entstehen  kann,  dem  die  Bemerkung 
begegnen  soll  —  dass,  was  hier  von  dem  Charakter  der  Griechen 
gesagt  ist,  zwar  unmöglich  von  einer  ganzen  Nation  in  allen  ihren 
einzelnen  Individuen  buchstäblich  wahr  sein  kann.     Gewiss  ist  es 


V  „Diese  schöne  für  mich  sehr  lehrreiche  Stelle  beweist  dass  ganz  gewiss 
die  Griegen  in  Beziehung  auf  Schönheit  die  vollkommenste  Werke  erzeugen, 
welche  mit  Recht  [als]  ästetische  Muster  empfohlen  werden."    Dalberg. 


und  des  griechischen  insbesondere.     24 — 26  271 

aber  doch,  dass  es  einzelne  Individuen  der  beschriebnen  Stimmung 
wirklich  gab,  dass  diese  nicht  allein  häufiger,  als  anderswo  existirten, 
sondern  dass  auch  gleichsam  Nuancen  dieser  Stimmung  in  der 
ganzen  Nation  verstreut  waren,  und  dass  die  Schriftsteller,  vor- 
züglich die  Dichter  und  Philosophen  —  gleichsam  der  Abdruk 
des  Geistes  des  edelsten  Theils  der  Nation  —  auf  solche  Charaktere 
vorzüglich  führen;  und  mehr  ist  nicht  nothwendig,  um  die  Er- 
reichung des  Zweks  möglich  zu  machen,  zu  welchem  hier  das 
Studium  der  Alten  empfohlen  wird. 

26. 
Diese  Sorgfalt  für  die  Ausbildung  und  diese  Art  der  Aus- 
bildung des  Menschen  zu  befördern,  trugen  noch  andre,  in  der 
äussren  Lage  der  Griechen  gegründete  Umstände  bei.  Zu  diesen 
rechne  ich  vorzüglich  folgende;  i.,  die  Sklaverei.  Diese  über- 
hob den  Freien  eines  grossen  Theils  der  Arbeiten,  deren  Gelingen 
einseitige  Uebung  des  Körpers  und  des  Geistes  —  mechanische 
Fertigkeiten  —  erfordert.')  Er  hatte  nun  Müsse,  seine  Zeit  zur 
Ausbildung  seines  Körpers  durch  Gymnastik,  seines  Geistes  durch 
Künste  und  Wissenschaften,  seines  Charakters  überhaupt  durch 
thätigen  Antheil  an  der  Staatsverfassung,  Umgang,  und  eignes 
Nachdenken  zu  bilden.  —  Dann  erhob  auch  den  Freien  die  Vor- 
stellung seiner  Vorzüge  vor  dem  Sklaven,  die  er  nicht  bloss  dem 
Glük  zu  danken  glaubte,  sondern  auf  die  er  durch  persönliche 
Erhabenheit,  und  —  bei  der,  freilich  durch  ihren  Stand  ent- 
sprungnen  Herabwürdigung  der  Sldaven  —  mit  Recht,  Anspruch 
machte ; "-)  die  er  auch  zum  Theil,  wie  bei  der  Vertheidigung  des 
Vaterlandes,  mit  Gefahren  und  Beschwerden  erkaufte,  die  der 
Sklave  nicht  mit  ihm  theilte.  —  Hieraus  zusammengenommen 
bildete  sich  die  Liberalität,  die  sich  bei  keinem  Volke  wieder  in 
dem  hohen  Grade  findet,  d.  i.  diese  Herrschaft  edler,  grosser, 
eines  Freien  wahrhaft  würdiger  Gesinnungen  in  der  Seele,  und 
dieser  lebendige  Ausdruk  derselben  in  der  Stattlichkeit  der  Bildung 
und  der  Grazie  der  Bewegungen  des  Körpers. 

^)  „Es  ist  aber  doch  sonderbar,  dass  die  Sklaver ey  im  Mittelalter  keine 
einzige  Spur  eines  ähnlichen  Einflusses  zeigt.  Die  Verschiedenheit  der  übrigen 
Umstände  erklärt  zwar  viel  aber  nicht  alles."  Schiller.  —  Vgl.  die  Ausführungen 
über  diesen  Gegenstand  in  den  Sämmtlichen  Schriften  g,  2jo. 

"^j  „Gegen  diese  Bemerken  lässt  sich  wie  mir  dünkt  manches  einwenden: 
auch  Sclaven  witmeten  sich  oft  denen  schönen  Künsten.  Die  Sklaven  waren 
gröstentheils  Kriegsgefangene  von  sehr  edlem  Ursprung  u.  s.  w."    Dalberg. 


272 


6.    Über  das  Studium  des  Altertums 


27. 

2.,  die  Regierungsverfassüng  und  politische  Ein- 
richtung überhaupt.  Die  einzige  eigentUch  gesezmässige 
Verfassung  in  Griechenland  war  die  republikanische,  an  welcher 
jeder  Bürger  mehr  oder  minder  Antheil  nehmen  konnte.  Wer 
also  etwas  durchzusezen  wünschte,  musste,  da  ihm  Gewalt  fehlte, 
Ueberredung  gebrauchen.  Er  konnte  also  Studium  der  Menschen, 
und  Fähigkeit  sich  ihnen  anzupassen,  Gewandtheit  des  Charakters, 
nicht  entbehren.  Aber  das  oft  überfein  ausgebildete  Volk  ver- 
langte noch  mehr.  Es  gab  nicht  bloss  der  Stärke  oder  der  Natur 
der  Gründe  nach,  es  sah  auch  auf  die  Form,  die  Beredsamkeit, 
das  Organ,  den  körperlichen  Anstand.  Es  blieb  also  beinah  keine 
Seite  übrig,  welche  der  Staatsmann  ungestraft  vernachlässigen  durfte. 
Dann  erforderte  die  Staatsverwaltung  noch  nicht  abgesonderte 
weitläuftige  Fächer  von  Kenntnissen,  noch  Talente  dieser  Art. 
Die  einzelnen  Theüe  derselben  waren  noch  nicht  so  getrennt,  dass 
man  sich  ausschliessend  für  sein  Leben  nur  Einem  gewidmet  hätte. 
Dieselben  Eigenschaften,  die  den  Griechen  zum  grossen  Menschen 
machten,  machten  ihn  auch  zum  grossen  Staatsmann.^)  So  fuhr 
er,  indem  er  an  den  Geschäften  des  Staats  Theil  nahm,  nur  fort, 
sich  selbst  höher  und  vielseitiger  auszubilden. 

28. 
3.,  die  Religion.  Sie  war  ganz  sinnlich,-)  beförderte  alle 
Künste ,  und  erhob  sie  durch  ihre  genaue  Verbindung  mit  der 
Staatsverfassung  zu  einer  bei  weitem  höheren  Würde  und  grösseren 
Unentbehrlichkeit.  Dadurch  nährte  sie  nicht  allein  das  Schönheits- 
gefühl, von  dem  ich  oben  sprach  (24.),  sondern  machte  es  auch, 
da  an  ihren,  immer  von  den  Künsten  begleiteten  Cärimonien  das 
ganze  Volk  Theil  nahm,  allgemeiner.  Indem  nun,  wie  ich  vorhin 
(25.)  zu  zeigen  versucht,  diess  Schönheitsgefühl   die   richtige   und 


'^J  „Es  gab  bey  den  Griechen  kein  herrschendes  Verdienst.  Die  geringste 
Virtuosität  erhielt  Huldigung,  und  der  Komödiant  war  unsterblich  wie  der  Feld- 
herr. Bey  den  Römern  verschlang  der  Staatsmann  alle  Aufmerksamkeit  der 
Nation."    Schiller. 

^)  „nicht  bloss  sinnlich,  sondern  die  freieste  Tochter  der  Phantasie. 
Es  war  kein  Kanon  vorhanden,  der  der  Dichtungskraft  Fesseln  anlegte."  Schiller. 
—  Ähnlich  heißt  es  von  den  Griechen  in  der  Abhandlung  über  das  Naive  (Sämmt- 
liche  Schrißen  10,  444):  „Ihre  Götterlehre  selbst  war  die  Eingebung  eines  naiven 
Gefühls,  die  Geburt  einer  fröhlichen  Einbildungskraft." 


und  des  griechischen  insbesondere.     27 — 30. 


273 


gleichmässige  Ausbildung  des  Menschen  befördene,  trug  sie  mittel- 
bar hiezu  ganz  vorzüglich  bei. 

29. 
4.,  den  Nationalstolz.  Wie  der  Grieche  überhaupt  einen 
hohen  Grad  von  Lebhaftigkeit  und  Reizbarkeit  besass,  so  drukte 
sich  diese  vorzüglich  stark  in  dem  Gefühl  für  Ehre  und  Nach- 
ruhm aus,  und  bei  der  engen  Verbindung  des  Bürgers  mit  dem 
Staat  in  Gefühl  für  Ehre  der  Nation.  Da  nun  der  Werth  der 
Nation  auf  dem  Werthe  ihrer  Bürger  beruhte,  und  von  diesem  vor- 
züglich ihre  Siege  im  Kriege  und  ihre  Blüthe  im  Frieden  abhieng, 
so  verdoppelte  dieser  Nationalstolz  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
Ausbildung  des  persönlichen  Werths.  —  Dann  eignete  sich  der 
Ruhm  der  Nation  jedes  ^^erdienst  oder  Talent  eines  Einzelnen 
ihrer  Mitbürger  zu.  Die  Nation  nahm  also  jedes  in  Schuz,  und 
hieraus  entstand  ein  neuer  Grund  der  Achtung  für  Künste  und 
Wissenschaften. 

30- 
5.,  dieTrennungGriechenlands  in  mehrere  kleine 
Staaten.^)  Wenn  ein  Staat  allein  und  für  sich  existirt;  so  nimmt 
die  Ausbildung  seiner  Kräfte  den  Weg,  den  eine  einzelne  Kraft 
nehmen  muss.  Sie  erhöht  sich  in  sich,  und  wenn  sie  ein  gewisses 
Maass  erreicht  hat,  artet  sie  in  etwas  andres  aus.  Ihre  Ausartungen 
sind  aber  immer  in  ihr  allein  motivirt,  und  damit  ist  allemal  Ein- 
seitigkeit, nur  mehr  oder  minder,  verbunden.  In  Griechenland 
aber  machte  die  gegenseitige  Gemeinschaft  der  verschiednen 
Nationen,  die  fast  alle  auf  verschiednen  Graden  der  Kultur  standen, 
und  eine  sehr  verschiedne  Art  der  Ausbildung  besassen,  dass  sich 
von  einer  Nation  auf  die  andre  manches  übertrug,  und  wenn  auch, 
bei  der  Einrichtung  der  alten  Nationen,  das  Fremde  nur  schwer 
bei  ihnen  Eingang  finden  konnte,  so  gieng  doch  immer  mehr  über, 
als  wenn  jede  abgesondert  existirt  hätte.  Diess  geschah  aber  um 
so  mehr,  als  doch  alle  immer  Griechen,  und  also  in  der  ursprüng- 
lichen Anlage  der  Charaktere  einander  gleich  waren,  so  dass  da- 
durch Uebergänge  der  Sitten  von  der  einen  zur  andren  erleichtert 
wurden.  —  Ja  wenn  auch  diese  nicht  Statt  fanden,  machte  dennoch 
das  blosse  neben  einander  Existiren  und  die  gegenseitige  Eifersucht, 
dass  die  eine  Vorzüge  nicht  vernachlässigen  durfte,  durch  welche 


V  „Sehr  wichtig."    Dalberg. 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  I8 


2nA  6.    Über  das  Studium  des  Altertums 

die  andre  überlegen  werden  konnte,  und  aufs  mindeste  sezte  diese 
Eifersucht  die  Kräfte  einer  jeden  in  thätigere  Bewegung.^) 

31- 
3.  Moment.  (16.)  Viele  zusammenkommende  Ursachen  brachten 
zwar  bei  den  Alten  sehr  entschiedene  Nationalcharaktere  und  da- 
her weniger  Diversität  in  dem  Charakter  und  der  Ausbildung  der 
einzelnen  Bürger  hervor,  und  so  herrschte  unter  diesen  von  dieser 
Seite  eine  verhältnissmässig  geringere  Mannigfaltigkeit,  als  unter 
den  Neueren.  Allein  auf  der  andren  Seite  machten  doch  auch 
hievon  die  mehr  wissenschaftlich  gebildeten  Nationen  eine  beträcht- 
liche Ausnahme,  und  ausserdem  kamen  2  Umstände  zusammen, 
jene  Mannigfaltigkeit  wieder,  und  vielleicht  um  mehr  zu  befördern, 
als  sie  von  jener  Seite  her  litt.  i.,  die  Phantasie  des 
Griechen  war  so  reizbar  von  aussen,  und  er  selbst  in 
sich  so  beweglich,  dass  er  nicht  bloss  für  jeden  Eindruk  »in 
hohem  Grade  empfänglich  war,  sondern  auch  jedem  einen  grossen 
Einfluss  auf  seine  Bildung  erlaubte,  durch  den  w^enigstens  die  ihm 
an  sich  eigenthümliche  eine  veränderte  Gestalt  annahm. 

32. 
2.,  die  Religion  übte  schlechterdings  keine  Herr- 
schaft über  den  Glauben  und  die  Gesinnungen  aus, 
sondern  schränkte  sich  auf  Cärimonien  ein,  die  jeder  Bürger  zu- 
gleich immer  von  der  politischen  Seite  betrachtete;  und  eben- 
sowenig legten  die  Ideen  von  Moralität  dem  Geiste 
Fesseln  an,  da  dieselbe  nicht  auf  einzelne  Tugenden  und  Laster, 
nach  dem  Maasse  einer  einseitig  abgewägten  Nüzlichkeit  oder 
Schädlichkeit  beschränkt  war,  sondern  vielmehr  überhaupt  nach 
Ideen  der  Schönheit  und  Liberalität  bestimmt  wurde. 

33- 
4.  Moment.  (17.)  Ein  den  Griechischen  Charakter  vorzüglich 
auszeichnender  Zug  ist,  wie  oben  (23.)  bemerkt  worden,  ein  un- 
gewöhnlicher Grad  der  Ausbildung  des  Gefühls  und  der  Phantasie 
in  einer  noch  sehr  frühen  Periode  der  Kultur,  und  ein  treueres 
Bewahren  der  kindlichen  Einfachheit  und  Naivetät  in  einer  schon 


V  „Diese  schöne  Bemerkung  ist  wie  mir  dünkt  auch  auf  Teutschland  und 
die  Europäische  Republick  einicher  maassen  anwendbar."    Dalberg. 


und  des  griechischen  insbesondere.     30 — 34.  27E, 

ziemlich  späten.^)  Es  zeigt  sich  daher  in  dem  Griechi- 
schen Charakter  meistentheils  der  ursprüngliche 
Charakter  der  Menschheit  überhaupt,  nur  mit  einem  so 
hohen  Grade  der  Verfeinerung  versezt,  als  vielleicht  nur  immer 
möglich  sein  mag;  und  vorzüglich  ist  der  Mensch,  welchen  die 
Griechischen  Schriftsteller  darstellen,  aus  lauter  höchst  einfachen, 
grossen  und  —  wenigstens  aus  gewissen  Gesichtspunkten  be- 
trachtet — ;  immer  schönen  Zügen  zusammengesezt.  Das  Studium 
eines  solchen  Charakters  muss  in  jeder  Lage  und  jedem  Zeitalter 
allgemein  heilsam  auf  die  menschliche  Bildung  widmen,  da  derselbe 
gleichsam  die  Grundlage  des  menschlichen  Charakters  überhaupt 
ausmacht.-)  Vorzüglich  aber  muss  es  in  einem  Zeitalter,  wo  durch 
unzähhge  vereinte  Umstände  die  Aufmerksamkeit  mehr  auf  Sachen, 
als  auf  Menschen,  und  mehr  auf  Massen  von  Menschen,  als  auf 
Individuen,  mehr  auf  äussren  Werth  und  Xuzen,  als  auf  innere 
Schönheit  und  Genuss  gerichtet  ist,  und  wo  hohe  und  mannig- 
faltige Kultur  sehr  weit  von  der  ersten  Einfachheit  abgeführt  hat, 
heilsam  sein,  auf  Nationen  zurül-LZublikken,  bei  welchen  diess  alles 
beinah  gerade  umgekehrt  war. 

34. 

Ein  zweiter  vorzüglich  charakteristischer  Zug 
derGriechen  ist  die  hohe  Ausbildung  des  Schönheits- 
gefühls und  des  Geschmaks  und  vorzüglich  die  all- 
gemeine Ausbreitung  dieses  Gefühls  unter  der  ganzen 
Nation,  wovon  sich  Beispiele  in  Menge  aufzählen  lassen.  '^)Nun 
aber  ist  keine  Art  der  Ausbildung  in  allen  Zeiten  und  Erdstrichen 
so  unentbehrlich,  als  gerade  diese,  die  das  ganze  Wesen  des 
Menschen,  wie  es  an  sich  beschaffen  sein  möge,  erst  gleichsam  in 
Eins  vereint,  und  ihm  die  wahre  Politur  und  den  wahren  Adel 
ertheilt;  und  nun  ist  auch  gerade  keine  jezt  und  bei  uns  so  noth- 
wendig,  als  diese,  da  es   bei   uns   so   eine  Menge   von  Tendenzen 


^)  „Diese  Steüp  enthaltet  die  sehr  fruchtbare  Wahrheit,  dass  man  die  Auf- 
merksamkeit in  neuern  Zeiten  viel  zu  wenig  auf  innern  Lebensgenus  richtet.  Ein 
fürtrefliches  Studium  bestehet  wie  mir  dünkt  in  Beobachtung  der  Kinder  und 
ihrer  fortschreitenden  Entwiklung,  da  liest  man  täglich  im  lebendigen  Buch  der 
Natur  uttd  lernt  den  Menschen  in  seiner  weesentlichen  Anlage  kennen."    Dalberg. 

y  „Aber  gar  nicht  zu  reden  von  den  wissenschaftlichen  Vorzügen  der 
Griechen!.'"     Wolf 

^)  „fürtreßich.  und  sehr  richtig."    Dalberg. 

i8» 


276 


6.    Über  das  Studium  des  Altertums 


giebt,  die  geradezu  von  allem  Geschmak  und  Schönheitsgefühl  ent- 
fernen müssen. 

So  ist  die  Stimmung  des  Charakters  der  Griechen  nach  allen 
oben  aufgezählten  Momenten  überaus  vortheilhaft  für  das  Studium 
des  Menschen  überhaupt  an  derselben,  als  einem  einzelnen  Bei- 
spiele. Aber  diess  Studium  ist  auch  bei  ihnen  vorzüglich 
möglich  aus  folgenden  2  Umständen:  i.,  hat  sich  eine  überaus 
beträchtliche  Menge  von  Denkmälern  der  Griechischen  Welt  er- 
halten, vorzüglich  eine  Menge  litterarischer,  welche  in  jeder  Rük- 
sicht  zu  dem  gegenv^ärtigen  Zv^^ekke  die  wichtigsten  sind.  2.,  er- 
fordert das  Studium  einer  Nation,  und  vorzüglich  aus  ihren 
Denkmälern,  ohne  lebendiges  Anschauen,  wenn  es  irgend  gelingen 
soll,  sowohl  an  sich  einen  entschiedenen  NationalCharakter,  als 
auch  überhaupt  abgeschnittene,  mit  denen  des  Studirenden  kon- 
trastirende  Züge.  Nun  aber  geht  die  Bildung  des  Menschen  in 
Massen  immer  der  Bildung  der  Individuen  voraus,  und  darum 
und  aus  andren  hinzukommenden  Ursachen  haben  alle  anfangende 
Nationen  sehr  entschiedene  und  abgeschnittene  NationalCharaktere. 
Bei  den  Griechen  aber  vereinigten  sich,  diess  zu  befördern,  noch 
andre,  ihnen  eigenthümliche  Umstände. 

^J  „Nach  meiner  Überzeugung  muss  der  Mensch  diejeniche  Gegenstände  am 
genauesten  kennen  am  sorgfältigsten  studieren  die  ihm  am  nächsten  liegen;  weilen 
eigentlich  diese  Gegenstände  diejenichen  sind  welche  unaußiörlich  auf  ihn  würken, 
und  auf  die  er  unaufhörlich  zurückwiirkt ;  weilen  in  würken  und  rückwürken  der 
Gebrauch  menschlicher  Kräften  und  der  Entzweck  des  menschlichen  Daseyns  ist  ; 
und  weilen  die  menschliche  Vermmfi  diese  Würkung  alsdann  auf  die  möglichst 
zweckmässigste  Weiss  leitet,  wenn  er  diejeniche  Gegenstände  durch  anhaltendes 
Studium  am  genauesten  kennt  auf  welche  er  vermög  Zeit  und  Glücks  Umständen 
und  Innern  Anlagen  am  meisten  würken  kann  und  wechselweiss  nach  diesen 
nemlichen  Umständen  auf  ihn  würken.  Nach  diesem  Grundsatz  stehen  die  Gegen- 
stände der  Studien  für  den  Menschen  in  folgendem  Verhältniss  von  Wichtigkeit. 
i.J  Selbstkentniss.  2.)  Kenntniss  seiner  Berufgeschäften  und  Wissenschaften, 
ß.)  Kenntnis  der  Personen  welche  seine  Familien  Verhältnis  ausmachen.  4.)  Kentnis 
derjenichen  Menschen  mit  welchen  er  vermöge  seiner  Berufs-Geschäften  zu  thun 
hat.  Mithin  s-)  Kenntniss  seiner  Landsleuten;  ihrer  Sitten  Begrifen,  Neigungen, 
u.  s.  w.  und  zu  dieser  Kenntnis  ist  das  Studium  der  Literatur  seiner  Mutersprache 
ein  wichtiges  Hülfsmittel.  6.)  Andre  Kenntnisse  sind  ihm  in  dein  Verhältniss 
wichtig  als  sie  in  seinem  Würkung s- Kr eiss  ihm  selbsten  als  Mitelpunct  nah  liegen. 
-j.)  Nach  diesem  Maassstab  verdient  meines  Erachtens  die  Griegische  Literatur  nur 
in  so  weit  einen  Vorzug  als  sie  die  vollkommenste  Muster  des  besten  Geschmacks 
enthaltet;  und  zu  der  ästetischen  Ausbildung  des  Geistes  beitragen  kann."    Dalberg. 


und  des  griechischen  insbesondere.     34 — 37.  277 

Giebt  man  zu,  dass  man  in  der  That  zu  dem  hier  ins  Licht 
gestellten  Endzwek  des  Studiums  Einer  Nation  vorzugsweise  be- 
darf; so  lässt  sich  nun  auch  bald  entscheiden:  ob  leicht  eine 
andre  an  die  Stelle  der  Griechischen  treten  könne? 
Es  müssten  nemlich  von  einer  solchen  alle  hier  aufgestellte  Gründe 
und  zwar,  welches  wohl  zu  bemerken  ist,  zusammengenommen 
gelten,  oder  die  mangelnden  durch  andre  gleich  wichtige  ersezt 
werden.  Die  stärksten  unter  denselben  aber  beruhten  alle  mittel- 
bar und  unmittelbar  darauf,  dass  die  Griechen,  wenigstens  für  uns, 
eine  anfangende  Nation  sind.^)  (i8 — 23.  33.  35.)  Diess  Erforder- 
niss  wird  also  auch  unumgänglich  nothwendig  und  unerlasslich 
sein.  Ob  sich  nun  in  irgend  einem  noch  unentdekten  Erdstrich 
eine  solche  Nation  zeigen  wird,*)  welche  mit  dieser  Eigenthümlich- 
keit  die  übrigen,  oder  ähnliche,  oder  höhere  Vorzüge,  als  die 
Griechische,  verbände,  oder  ob  genauere  Bekanntschaft  mit  den 
Chinesern  und  Indianern  diese  als  solche  Nationen  zeigen  wird? 
ist  im  Voraus  zu  entscheiden  nicht  möglich.  Dass  aber  weder 
die  Römische,  noch  gar  eine  neuere  Nation  an  ihre  Stelle  treten 
könne,  bewirkt  schon  der  einzige  Umstand,  dass  diese  alle  aus 
den  Griechen  mittelbar  und  unmittelbar  schöpften;  und  von  den 
übrigen,  mit  den  Griechen  gleich  alten  Nationen  haben  wir  zu 
wenig  Denkmäler  übrig.  Meines  Erachtens  werden  also  die 
Griechen  immer  in  dieser  Rüksicht  einzig  bleiben ;  nur  dass  diess 
nicht  gerade  ein  ihnen  eigner  Vorzug,  sondern  mehr  eine  Zu- 
fälligkeit ihrer  und  unsrer  relativen  Lage  ist. 

37- 
Wenn  das  Studium  der  Griechen  in  der  Absicht  unternommen 
wird,  die  ich  hier  dargestellt  habe,  so  erfordert  es  natürlich  seine 
eignen  allgemeinen  und  besondren  Vorschriften.    Die  allgemeinsten 

*)  Vergl.  Kants  Krit.  ü.  Urtheilskraft.     S.  25S— 260.2) 

^)  „Anfangend  ist  keine  Nation.  Die  Griegen  schöpften  von  Tirier  und 
Egipter,  die  Römer  von  Griegen,  wir  von  Römern;  die  Amerikaner  von  uns." 
Dalberg. 

V  Dieses  falsche  Zitat  ist  zuerst  von  Walzet  in  der  Zeitschrift  für  die  öster- 
reichischen Gymnasien  4S,  8gs  richtiggestellt  worden :  gemeint  ist  die  Erörterung 
über  die  ästhetische  Normalidee  und  ihre  nationeile  Verschiedenheit  in  der  Kritik 
der  Urteilskraft  S.  5^. 


278 


6.    Über  das  Studium  des  Altertums 


und  hauptsächlichsten  möchten  etwa  folgende  sein:  i.,  der  N uzen 
eines  solchen  Studiums  kann  nie  durch  eine,  auch  von  dem  ge- 
lehrtesten Manne  und  dem  grossesten  Kopfe  entworfene  Schilde- 
rung der  Griechen  erreicht  w^erden.  Denn  einmal  wird  dieselbe 
immer,  wenn  sie  völlig  treu  sein  soll,  nicht  individuell  genug  sein 
können,  und  wenn  sie  völlig  individuell  sein  soll,  wird  es  ihr  an 
Treue  mangeln  müssen;  und  zweitens  besteht  auch  der  grosseste 
Nuzen  eines  solchen  Studiums  nicht  gerade  in  dem  Anschauen 
eines  solchen  Charakters,  als  der  Griechische  war,  sondern  in  dem 
eignen  Aufsuchen  desselben.  Denn  durch  dieses  wird  der  Auf- 
suchende selbst  auf  eine  ähnliche  Weise  gestimmt;  Griechischer 
Geist  geht  in  ihn  über ;  und  bringt  durch  die  Art,  wie  er  sich  mit 
seinem  eignen  vermischt,  schöne  Gestalten  herv^or.^)  Es  bleibt 
daher  nichts,  als  eignes  Studium  übrig,  in  unauf- 
hörlicher Rüksicht  auf  diesen  Zwek   unternommen.-) 

38. 
2.,  muss  das  Studium  der  Griechen  selbst  nach 
einer  gewissen  S3^stematischen,  und  auf  diesen  End- 
zwek  bezogenen  Ordnung  vorgenommen  werden.^) 
Denn  wenn  gleich  alle  Schriftsteller  in  Rüksicht  auf  diesen  Zwek 
wichtig  sind ;  so  hält  man  sich  doch  billig  fürs  erste  allein  an  die 
reichsten,  und  wählt  in  diesen  eine  feste  Ordnung,  die  aber  hier 
schwer  zu  finden  ist,  da,  wenn  man  auf  die  Materien  sehen  will, 
man  hier  eigentlich  nicht  die  Gattung  der  Schriftsteller,  sondern 
der  Sachen,  die  sie  behandeln,  betrachten  müsste,  und  wenn  man 
der  Zeit  folgen  will,  es  schwer  ist,  nur  zu  bestimmen,  ob  man 
auf  die  Periode  des  Lebens  des  Schriftstellers,^)  oder  auf  die  der 
von  ihm  behandelten  Gegenstände,  oder  auf  beides  gewissermaassen 
zugleich  sehen  solle? 


^J  „schön  und  wahr;  und  auf  alle  Studien  anwendbar."    Dalberg. 

^)  „Wozu  der  Umgang  mit  Menschen,  da  man  die  Art  des  menschlichen 
Umgangs  ja  schildern  kann  ?    Wäre  ebenso."     Wolf. 

y  „Ordnung  des  Studii  hiezu??"     Wolf. 

*J  „Hierauf!  Wenigstens  bei  Dichtern.  Aber  bei  Historicis  das  letztere 
Mein  Autoren-Plan  muss  also  so  seyn,  dass  gleich  neben  älteste  Dichter  späte 
Historici  treten,  zE.  Diodor,  Apollodor.  Homer.  Hesiod.  Herodot.  Thucydides 
Xenophoti."     Wolf. 


und  des  griechischen  insbesondere.     37 — 41.  270 

39- 

3.,  muss  man  am  längsten  nicht  allein  bei  den 
Perioden  verweilen,  in  welchen  die  Griechen  am 
schönsten  und  gebildetsten  waren,  sondern  auch 
gerade  imGegentheil  ganz  vorzüglich  bei  den  ersten 
und  frühesten.  Denn  in  diesen  liegen  eigentlich  die  Keime 
des  wahren  Griechischen  Charakters ;  ^)  und  es  ist  leichter  und 
interessanter  in  der  Folge  zu  sehen,  wie  er  nach  und  nach  sich 
verändert,  und  endlich  ausartet.  —  Auch  passen  mehrere  der  im 
Vorigen  ausgeführten  Gründe  (22.  23.  33.)  ganz  vorzüglich  nur  auf 
diese  früheren  Perioden. 

40. 

Die  Hülfsmittel  zu  diesem  Studium  und  insbesondre  in  der 
hier  entwikkelten  Absicht  sind  vorzüglich  folgende:  i.,  unmittel- 
bare Bearbeitung  der  Quellen  selbst  durch  Kritik 
und  Interpretation.-)    Diese  verdient  natürlich  die  erste  Stelle. 

41. 
2.,  Schilderung  des  Zustandes  der  Griechen,  Griechische 
Antiquitäten  im  weitesten  Sinne  des  Worts,  welchem 
der  hier  aufgestellte  Endzwek  die  höchste  Ausdehnung  giebt. 
Diese  Hülfsarbeit  ist  nothwendig  theils  zum  Verständniss  der 
einzelnen  Quellen,  theils  zur  allgemeinen  Uebersicht,  und  zur 
Einleitung  in  das  gesammte  Studium  überhaupt.^)  Jeder  Schrift- 
steller  behandelt  nur  einen  einzelnen  Gegenstand,  und  man  ist  das 
Einzelne  nicht  im  Stande  in  seiner  ganzen  Anschaulichkeit  auf- 
zufassen, ohne  von  der  Lage  überhaupt  gehörig  unterrichtet  zu  sein. 


V  „Aus  dem  ästetischen  Gesichtspunct  würde  ich  die  vollkommensten  Schrift- 
steller wählen.  Von  dem  Nutzen  der  andern  Gesichts-Punkten  kann  ich  mich  nicht 
überzeugen.  In  jener  Hinsicht  verdient  meines  Erachtens  das  Studium  der 
teutschen  Literatur  fiit  einen  Teutschen  den  Vorzug."    Dalberg. 

y  „Critick  und  Interpretation  sind  wichtige  Beschäßigungen  für  den  Sprach- 
forscher, minder  wichtig  für  den  Man  der  in  der  Literatur  nach  Lebensweissheit 
und  Menschenkentnis  strebt."  Dalberg.  —  „Keine  Stelle  benutzen,  ohne  den 
ganzen  Autor  gnau  zu  kennen."     Wolf. 

^)  ,yDieses  Studium  erfordert  das  ganze  Leben  eines  Manns,  ist  sehr  schätz- 
bar für  einen  Man  wie  Heine  und  Wolf,  nicht  practisch  für  den  Geschäftsman." 
Dalberg. 


280  6.    Ober  das  Studium  des  Altertums 

42. 

3.,  Uebersezungen.  Diese  können  in  Absicht  des  über- 
sezten  Schriftstellers  einen  dreifachen  Nuzen  haben,  i.,  ihn  die- 
jenigen kennen  zu  lehren,  die  sein  Original  nicht  selbst  zu  lesen 
im  Stande  sind.  2.,  für  denjenigen,  der  das  Original  selbst  liest, 
zum  Verständniss  desselben  zu  dienen.  3.,  denjenigen,  der  das 
Original  zu  lesen  im  Begriff  ist,  vorläufig  mit  ihm  bekannt  zu 
machen,  ihn  in  seine  Manier,  seinen  Geist  einzuweihen.  Bestimmt 
man  die  Wichtigkeit  dieses  verschiednen  Nuzens  nach  dem  hier 
genommenen  Gesichtspunkt,  so  ist  der  i^  der  kleinste  und  gering- 
fügigste; der  2'^.  wichtiger,  aber  immer  klein,  da  gerade  hiezu 
Uebersezungen  die  schlechteren  Hülfsmittel  sind;  der  3'!  aber  der 
wichtigste,  da  durch  ihn  die  Uebersezung  zum  Lesen  des  Originals 
reizt,  und  bei  dem  Leser  selbst  auf  eine  höhere  Art  unterstüzt, 
indem  sie  nicht  einzelne  Stellen  verständigt,  sondern  den  Geist 
des  Lesers  gleichsam  zum  Geist  des  Schriftstellers  stimmt,  auch 
der  leztere  noch  klärer  erscheint,  wenn  man  ihn  in  dem  zwiefachen 
Medium  zwei  verschiedner  Sprachen  erblikt.  Die  Erreichung 
dieses  lezten  Nuzens  muss  allein  auf  die  Schäzung  des  Originals 
führen,  und  so  ist  der  höchste  Nuzen  einer  Uebersezung  derjenige, 
welcher  sie  selbst  zerstört.  Die  Haupterfordernisse  einer  Ueber- 
sezung wechslen  nun  nach  diesem  dreifachen  Zwekke.  Zu  dem 
i^  wird  Anpassung  des  übersezten  alten  Schriftstellers  auf  den 
niodernen  Leser,  also  oft  absichtliche  Abweichung  von  der  Treue 
-erfordert;^)  zu  dem  2^  Treue  der  Worte  und  des  Buchstabens ; -) 
zu  dem  3^  Treue  des  Geistes,  wenn  ich  so  sagen  darf,  und  des 
Gewandes,  worin  er  gekleidet  ist,  wobei  also  vorzüglich  viel  auf 
die  Nachahmung  der  Diktion  bei  Prosaikern  und  des  Rhythmus 
und  des  Versbaues  bei  Dichtern  ankommt.^) 

Um   den  im  Vorigen   dargestellten  Nuzen   in  seiner  ganzen 
Grösse  her\^orzubringen,   erfordert   das   Studium   des  Alterthums 


V  „So  Wieland."     Wolf. 

^)  „So  Voss."     Wolf. 

^J  „fürtreflich !"    Dalberg. 

*)  „Ich  viuss  gestehen  dass  ich  der  Meinung  des  Pops  beystime.  Wer  aus 
dem  Hipocren  trinken  will  der  schöpfe  recht  tief,  oder  lasse  es  gar  seyn;  Halb- 
gelarte  sind  verstimmte  Menschen,  nathürliche  Anmuth   ist  in  solchen  Menschen 


und  des  griechischen  insbesondere.     42.  43.  28 1 

die  grosseste,  ausgebreitetste,  und  genaueste  Gelehrsamkeit,  die 
sich  natürlich  nur  bei  sehr  Wenigen  finden  kann.  Allein  der 
Nuzen  ist  immer,  wenn  gleich  in  geringeren  Graden  auch  da  vor- 
handen, wo  man  sich  nur  überhaupt,  wenn  gleich  mit  minderem 
Streben  nach  Gründlichkeit,  mit  diesem  Studium  beschäftigt;  und 
er  theilt  sich  endlich  auch  sogar  allen  denen  mit,  welchen  diess 
Studium  auch  ewig  ganz  fremd  bleibt.  Denn  in  der  Verbindung 
einer  hoch  kultivirten  Gesellschaft  kann  im  genauesten  Verstände 
jede  Kenntniss  eines  Einzelnen  ein  Eigenthum  Aller  genannt 
werden. 


verschwunden  und  edle  Vollendung  in  Ausbildung  des  Geschmacks  kann  nur 
durch  anhaltendes  Studium  erreicht  werden."  Dalberg.  —  „Drink  deep  or  taste 
not  the  pierian  spring"  Pope,  Essay  on  criticism  2,  16. 


Theorie  der  Bildung  des  Menschen. 

Bruchstück. 

[I.] 

Es  wäre  ein  grosses  und  trefliches  Werk  zu  liefern,  wenn 
jemand  die  eigenthümlichen  Fähigkeiten  zu  schildern  unternähme, 
welche  die  verschiedenen  Fächer  der  menschlichen  Erkenntniss 
zu  ihrer  glücklichen  Erweiterung  voraussetzen;  den  ächten  Geist, 
in  dem  sie  einzeln  bearbeitet,  und  die  Verbindung,  in  die  sie  alle 
mit  einander  gesetzt  werden  müssen,  um  die  Ausbildung  der 
Menschheit,  als  ein  Ganzes,  zu  vollenden.  Der  Mathematiker,  der 
Naturforscher,  der  Künstler,  ja  oft  selbst  der  Philosoph  beginnen 
nicht  nur  jetzt  gewöhnlich  ihr  Geschäft,  ohne  seine  eigentliche 
Natur  zu  kennen  und  es  in  seiner  Vollständigkeit  zu  übersehen, 
sondern  auch  nur  wenige  erheben  sich  selbst  späterhin  zu  diesem 
höheren  Standpunkt  und  dieser  allgemeineren  Uebersicht.  In  einer 
noch  schlimmeren  Lage  aber  befindet  sich  derjenige,  welcher,  ohne 
ein  einzelnes  jener  Fächer  ausschliessend  zu  wählen,  nur  aus  allen 
für  seine  Ausbildung  Vortheil  ziehen  will.  In  der  Verlegenheit 
der  Wahl  unter  mehreren,  und  aus  Mangel  an  Fertigkeit,  irgend 
eins,  aus  den  engeren  Schranken  desselben  heraus,  zu  seinem 
eignen  allgemeineren  Endzweck  zu  benutzen,  gelangt  er  nothwendig 
früher  oder  später  dahin,  sich  allein  dem  Zufall  zu  überlassen  und 
was  er  etwa  ergreift,  nur  zu  untergeordneten  Absichten,  oder 
bloss  als  ein  zeitverkürzendes  Spielwerk  zu  gebrauchen.  Hierin 
liegt   einer    der   vorzüglichsten    Gründe    der   häufigen   und    nicht 


Handschrift  (8  halbbeschriebene  Quartseiten,  ohne  Titel)  im  Archiv  in  Tegel. 


7.    Theorie  der  Bildung  des  Menschen,     i.  28^ 

ungerechten  Klagen,  dass  das  Wissen  unnütz  und  die  Bearbeitung 
des  Geistes  unfruchtbar  bleibt,  dass  zwar  Vieles  um  uns  her  zu 
Stande  gebracht,  aber  nur  wenig  in  uns  verbessert  wird,  und  dass 
man  über  der  höheren,  und  nur  für  Wenige  tauglichen  wissen- 
schaftlichen Ausbildung  des  Kopfes  die  allgemeiner  und  unmittel- 
barer nützliche  der  Gesinnungen  vernachlässigt. 

Im  Mittelpunkt  aller  besonderen  Arten  der  Thätigkeit  nemlich 
steht  der  Mensch,  der  ohne  alle,  auf  irgend  etwas  Einzelnes  gerichtete 
Absicht,  nur  die  Kräfte  seiner  Natur  stärken  und  erhöhen,  seinem 
Wesen  Werth  und  Dauer  verschaffen  will.  Da  jedoch  die  blosse 
Kraft  einen  Gegenstand  braucht,  an  dem  sie  sich  üben,  und  die 
blosse  Form,  der  reine  Gedanke,  einen  Stoff,  in  dem  sie,  sich 
darin  ausprägend,  fortdauern  könne,  so  bedarf  auch  der  Mensch 
einer  Welt  ausser  sich.  Daher  entspringt  sein  Streben,  den  Ivreis 
seiner  Erkenntniss  und  seiner  Wirksamkeit  zu  erweitern,  und  ohne 
dass  er  sich  selbst  deutlich  dessen  bewusst  ist,  liegt  es  ihm  nicht 
eigentlich  an  dem,  was  er  von  jener  erwirbt,  oder  vermöge  dieser 
ausser  sich  hervorbringt,  sondern  nur  an  seiner  inneren  Ver- 
besserung und  Veredlung,  oder  wenigstens  an  der  Befriedigung 
der  Innern  Unruhe,  die  ihn  verzehrt.  Rein  und  in  seiner  End- 
absicht betrachtet,  ist  sein  Denken  immer  nur  ein  Versuch  seines 
Geistes,  vor  sich  selbst  verständlich,  sein  Handeln  ein  Versuch 
seines  Willens,  in  sich  frei  und  unabhängig  zu  werden,  seine 
ganze  äussre  Geschäftigkeit  überhaupt  aber  nur  ein  Streben,  nicht 
in  sich  müssig  zu  bleiben.  Bloss  weil  beides,  sein  Denken  und 
sein  Handeln  nicht  anders,  als  nur  vermöge  eines  Dritten,  nur 
vermöge  des  Vorstellens  und  des  Bearbeitens  von  etwas  möglich 
ist,  dessen  eigentlich  unterscheidendes  Merkmal  es  ist,  Nicht- 
Mensch, d.  i.  Welt  zu  seyn,  sucht  er,  soviel  Welt,  als  möglich  zu 
ergreifen,  und  so  eng,  als  er  nur  kann,  mit  sich  zu  verbinden. 

Die  letzte  Aufgabe  unsres  Daseyns :  dem  Begriff  der  Mensch- 
heit in  unsrer  Person,  sowohl  während  der  Zeit  unsres  Lebens, 
als  auch  noch  über  dasselbe  hinaus,  durch  die  Spuren  des  lebendigen 
Wirkens,  die  wir  zurücklassen,  einen  so  grossen  Inhalt,  als  möglich, 
zu  verschaffen,  diese  Aufgabe  löst  sich  allein  durch  die  Verknüpfung 
unsres  Ichs  mit  der  Welt  zu  der  allgemeinsten,  regesten  und 
freiesten  Wechselwirkung.  Diess  allein  ist  nun  auch  der  eigent- 
liche Massstab  zur  Beurtheilung  der  Bearbeitung  jedes  Zweiges 
menschlicher  Erkenntniss.  Denn  nur  diejenige  Bahn  kann  in 
jedem  die  richtige  seyn,  auf  welcher   das  Auge   ein   unverrücktes 


284.  7-    Theorie  der  Bildung 

Fortschreiten  bis  zu  diesem  letzten  Ziele  zu  verfolgen  im  Stande 
ist,  und  hier  allein  darf  das  Geheimniss  gesucht  werden,  das,  was 
sonst  ewig  todt  und  unnütz  bleibt,  zu  beleben  und  zu  befruchten. 

Die  Verknüpfung  unsres  Ichs  mit  der  Welt  scheint  vielleicht 
auf  den  ersten  Anblick  nicht  nur  ein  unverständlicher  Ausdruck, 
sondern  auch  ein  überspannter  Gedanke.  Bei  genauerer  Unter- 
suchung aber  wird  wenigstens  der  letztere  Verdacht  verschwinden, 
und  es  wird  sich  zeigen,  dass,  wenn  man  einmal  das  wahre  Streben 
des  menschlichen  Geistes  (das,  worin  ebensowohl  sein  höchster 
Schwung,  als  sein  ohnmächtigster  Versuch  enthalten  ist)  aufsucht, 
man  unmöglich  bei  etwas  Geringerem  stehen  bleiben  kann. 

Was  verlangt  man  von  einer  Nation,  einem  Zeitalter,  von 
dem  ganzen  Menschengeschlecht,  wenn  man  ihm  seine  Achtung 
und  seine  Bewunderung  schenken  soll  ?  Man  verlangt,  dass  Bildung, 
Weisheit  und  Tugend  so  mächtig  und  allgemein  verbreitet,  als 
möglich,  unter  ihm  herrschen,  dass  es  seinen  Innern  Werth  so 
hoch  steigern,  dass  der  Begriff  der  Menschheit,  wenn  man  ihn 
von  ihm,  als  dem  einzigen  Beispiel,  abziehen  müsste,  einen  grossen 
und  würdigen  Gehalt  gewönne.  Man  begnügt  sich  nicht  einmal 
damit.  Man  fordert  auch,  dass  der  Mensch  den  Verfassungen,  die 
er  bildet,  selbst  der  leblosen  Natur,  die  ihn  umgiebt,  das  Gepräge 
seines  Werthes  sichtbar  aufdrücke,  ja  dass  er  seine  Tugend  und 
seine  Kraft  (so  mächtig  und  so  allwaltend  sollen  sie  sein  ganzes 
Wesen  durchstralen)  noch  der  Nachkommenschaft  einhauche, 
die  er  erzeugt.  Denn  nur  so  ist  eine  Fortdauer  der  einmal  er- 
worbenen Vorzüge  möglich,  und  ohne  diese,  ohne  den  beruhigenden 
Gedanken  einer  gewissen  Folge  in  der  Veredlung  und  Bildung, 
wäre  das  Daseyn  des  Menschen  vergänglicher,  als  das  Dase3'n  der 
Pflanze,  die,  wenn  sie  hinwelkt,  wenigstens  gewiss  ist,  den  Keim 
eines  ihr  gleichen  Geschöpfs  zu  hinterlassen. 

Beschränken  sich  indess  auch  alle  diese  Forderungen  nur  auf 
das  innere  Wesen  des  Menschen,  so  dringt  ihn  doch  seine  Natur 
beständig  von  sich  aus  zu  den  Gegenständen  ausser  ihm  überzu- 
gehen, und  hier  kommt  es  nun  darauf  an,  dass  er  in  dieser  P2nt- 
fremdung  nicht  sich  selbst  verliere,  sondern  vielmehr  von  allem, 
was  er  ausser  sich  vornimmt,  immer  das  erhellende  Licht  und 
die  wohlthätige  Wärme  in  sein  Innres  zurückstrale.  Zu  dieser 
Absicht  aber  muss  er  die  Masse  der  Gegenstände  sich  selbst  näher 
bringen,  diesem  Stoff  die  Gestalt  seines  Geistes  aufdrücken  und 
beide   einander  ähnlicher  machen.     In   ihm   ist  vollkommene  Ein- 


des  Menschen,      i.  2. 


■2Ö^ 


heit  und  durchgängige  Wechselwirkung,  beide  muss  er  also  auch 
auf  die  Natur  übertragen;  in  ihm  sind  mehrere  Fähigkeiten,  ihm 
denselben  Gegenstand  in  verschiedenen  Gestalten,  bald  als  Begrifi^ 
des  Verstandes,  bald  als  Bild  der  Einbildungskraft,  bald  als  An- 
schauung der  Sinne  vor  seine  Betrachtung  zu  führen.  Mit  allen 
diesen,  wie  mit  ebensoviel  verschiedenen  Werkzeugen,  muss  er  die 
Natur  aufzufassen  versuchen,  nicht  sow^ohl  um  sie  von  allen  Seiten 
kennen  zu  lernen,  als  vielmehr  um  durch  diese  Mannigfaltigkeit 
der  Ansichten  die  eigene  inwohnende  Kraft  zu  stärken,  von  der 
sie  nur  anders  und  anders  gestaltete  Wirkungen  sind.  Gerade 
aber  diese  Einheit  und  Allheit  bestimmt  den  Begriff  der  Welt. 
Allein  auch  ausserdem  finden  sich  nun  in  eben  diesem  Begriff  in 
vollkommenem  Grade  die  Mannigfaltigkeit,  mit  welcher  die  äusseren 
Gegenstände  unsre  Sinne  rühren,  und  das  eigne  selbstständige 
Daseyn,  wodurch  sie  auf  unsre  Empfindung  einwirken.  Denn  nur 
die  Welt  umfasst  alle  nur  denkbare  Mannigfaltigkeit  und  nur  sie 
besitzt  eine  so  unabhängige  Selbstständigkeit,  dass  sie  dem  Eigen- 
sinn unsres  Willens  die  Gesetze  der  Natur  und  die  Beschlüsse  des 
Schicksals  entgegenstellt. 

Was  also  der  Mensch  nothw'endig  braucht,  ist  bloss  ein  Gegen- 
stand, der  die  Wechselwirkung  seiner  Empfänglichkeit  mit  seiner 
Selbstthätigkeit  möglich  mache.  Allein  w^enn  dieser  Gegenstand 
genügen  soll,  sein  ganzes  Wesen  in  seiner  vollen  Stärke  und  seiner 
Einheit  zu  beschäftigen;  so  muss  er  der  Gegenstand  schlechthin, 
die  Welt  seyn,  oder  doch  (denn  diess  ist  eigentlich  allein  richtig) 
als  solcher  betrachtet  werden.  Nur  um  der  zerstreuenden  und 
verwirrenden  Vielheit  zu  entfliehen,  sucht  man  Allheit;  um  sich 
nicht  auf  eine  leere  und  unfruchtbare  Weise  ins  Unendliche  hin 
zu  verlieren,  bildet  man  einen,  in  jedem  Punkt  leicht  übersehbaren 
Kreis;  um  an  jeden  Schritt,  den  man  vorrückt,  auch  die ^^orstellung 
des  letzten  Zwecks  anzuknüpfen,  sucht  man  das  zerstreute  Wissen 
und  Handeln  in  ein  geschlossenes,  die  blosse  Gelehrsamkeit  in  eine 
gelehrte  Bildung,  das  bloss  unruhige  Streben  in  eine  weise  Thätig- 
keit  zu  verwandeln. 

2. 

Dies  aber  nun  würde  gerade  durch  ein  Werk,  wie  das  oben- 
erwähnte auf  die  kräftigste  Weise  befördert  werden.  Denn  be- 
stimmt, die  mannigfaltigen  Arten  menschlicher  Thätigkeit  in  den 
Richtungen,  die  sie  dem  Geiste  geben,  und  den  P^orderungen,  die 


286  7-    Theorie  der  Bildung 

sie  an  ihn  machen,  zu  betrachten  und  zu  vergleichen,  führte  es 
geradezu  in  den  Mittelpunkt,  zu  dem  alles,  was  eigentlich  auf  uns 
einwirken  soll ,  nothwendig  gelangen  muss.  Von  ihm  geleitet, 
flüchtete  sich  die  Betrachtung  aus  der  Unendlichkeit  der  Gegen- 
stände in  den  engeren  Kreis  unsrer  Fähigkeiten  und  ihres  mannig 
faltigen  Zusammenwirkens;  das  Bild  unsrer  Thätigkeit,  die  wir 
sonst  nur  stückweise,  und  in  ihren  äussern  Erfolgen  erblicken, 
zeigte  sich  uns  hier,  wie  in  einem  zugleich  erhellenden  und  ver- 
sammelnden Spiegel,  in  unmittelbarer  Beziehung  auf  unsre  innere 
Bildung.  Den  Einfluss,  den  jedes  Geschäft  des  Lebens  auf  diese 
ausüben  kann,  leicht  und  fasslich  übersehend,  fände  vorzüglich 
derjenige  seine  Belehrung  darin,  dem  es  nur  um  die  Erhöhung 
seiner  Kräfte  und  die  Veredlung  seiner  Persönlichkeit  zu  thun  ist. 

Zugleich  aber  lernt  der,  welcher  eine  einzelne  Arbeit  verfolgt, 
nur  da  sein  Geschäft  in  seinem  ächten  Geist  und  in  einem  grossen 
Sinne  ausführen.  Er  will  nicht  mehr  bloss  dem  Menschen  Kennt- 
nisse oder  Werkzeuge  zum  Gebrauch  zubereiten,  nicht  mehr  nur 
einen  einzelnen  Theil  seiner  Bildung  befördern  helfen;  er  kennt 
das  Ziel,  das  ihm  gesteckt  ist,  er  sieht  ein,  dass,  auf  die  rechte 
Weise  betrieben,  sein  Geschäft  dem  Geiste  eine  eigne  und  neue 
Ansicht  der  W^elt  und  dadurch  eine  eigne  und  neue  Stimmung 
seiner  selbst  geben,  dass  er  von  der  Seite,  auf  der  er  steht,  seine 
ganze  Bildung  vollenden  kann;  und  dies  ist  es,  wohin  er  strebt. 
Wie  er  aber  nur  für  die  Kraft  und  ihre  Erhöhung  arbeitet,  so 
thut  er  sich  auch  nur  Genüge,  wenn  er  die  seinige  vollkommen 
in  seinem  Werke  ausprägt.  Nun  aber  wird  das  Ideal  grösser, 
wenn  man  darin  die  Anstrengung,  die  es  erreichen,  als  wenn  man 
den  Gegenstand  ausmisst,  den  es  darstellen  soll.  Ueberall  hat  das 
Genie  nur  die  Befriedigung  des  innern  Dranges  zum  Zweck,  der 
es  verzehrt,  und  der  Bildner  z.  B.  will  nicht  eigentlich  das  Bild 
eines  Gottes  darstellen,  sondern  die  Fülle  seiner  plastischen  Ein- 
bildungskraft in  dieser  Gestalt  ausdrücken  und  heften.  Jedes  Ge- 
schäft kennt  eine  ihm  eigenthümliche  Geistesstimmung,  und  nur 
in  ihr  liegt  der  ächte  Geist  seiner  Vollendung.  Aeussere  Mittel 
es  auszuführen  giebt  es  immer  mehrere,  aber  die  Wahl  unter 
ihnen  kann  nur  jene,  nur  ob  sie  geringere  oder  vollere  Befriedigung 
findet,  bestimmen. 

Das  Verfahren  unseres  Geistes,  besonders  in  seinen  geheimniss- 
volleren Wirkungen,  kann  nur  durch  tiefes  Nachdenken  und  an- 
haltende Beobachtung  seiner   selbst   ergründet  werden.    Aber   es 


des  Menschen.     2. 


2^7 


ist  selbst  damit  noch  wenig  geschehen,  wenn  man  nicht  zugleich 
auf  die  Verschiedenheit  der  Köpfe,  auf  die  Mannigfaltigkeit  der 
Weise  Rücksicht  nimmt,  wie  sich  die  Welt  in  verschiedenen  Indi- 
viduen spiegelt.  Jenes  Werk  müsste  daher  zugleich  auch  diese 
Mannigfaltigkeit  schildern,  und  dürfte  unter  denen,  die  sich  in 
irgend  einem  Fache  hervorgethan  haben,  niemanden  übergehen, 
durch  den  dasselbe  eine  neue  Gestalt,  oder  einen  erweiterten  Be- 
griff gewonnen  hätte.  Diese  müsste  es  in  ihrer  vollständigen 
Individualität,  und  dem  ganzen  Einflüsse  zeichnen,  den  ihr  Zeit- 
alter und  ihre  Nation  auf  sie  ausgeübt  hätte.  Dadurch  nun  über- 
sähe man  nicht  nur  die  mannigfaltigen  Arten,  wie  jedes  einzelne 
Fach  bearbeitet  werden  kann,  sondern  auch  die  Folge,  in  der  eine 
nach  und  nach  aus  der  andern  entspringt.  Da  jedoch  diese  Folge 
immer  wieder  durch  den  Einfluss  des  Xationalcharakters,  des  Zeit- 
alters und  der  äussern  Umstände  überhaupt  unterbrochen  wird, 
so  erhielte  man  zwei  verschiedene  aber  immer  gegenseitig  auf 
einander  einwirkende  Reihen :  die  eine  der  ^'e^ände^ungen,  welche 
irgend  eine  Geistesthätigkeit  nach  und  nach  in  ihrem  Fortschreiten 
gewinnt,  die  andre  derjenigen,  welche  der  Charakter  der  Menschen 
in  einzelnen  Nationen  und  Zeiten  sowohl,  als  im  Ganzen,  durch 
die  Beschäftigungen  annimmt,  die  er  nach  und  nach  ergreift ;  und 
in  beiden  zeigten  sich  ausserdem  die  Abweichungen,  durch  die 
genievolle  Individuen  diesen  sonst  ununterbrochen  fonschreitenden 
Naturgang  plötzlich  stören,  und  ihre  Nation  oder  ihr  Zeitalter  auf 
einmal  in  andre,  neue  Aussichten  eröfnende  Bahnen  hinschleudern. 
Allein  nur,  indem  man  dies  schrittweise  verfolgt  und  am  Ende 
im  Ganzen  überschaut,  gelangt  man  dahin,  sich  vollkommne 
Rechenschaft  abzulegen,  wie  die  Bildung  des  Menschen  durch  ein 
regelmässiges  Fortschreiten  Dauer  gewinnt,  ohne  doch  in  die  Ein- 
förmigkeit auszuarten,  mit  welcher  die  körperliche  Natur,  ohne 
jemals  etwas  Neues  hen^orzubringen,  immer  nur  von  neuem  die- 
selben Umwandlungen  durchgeht. 


Rezension  von  Jacobis  Woldemar. 

Philosophie. 

Königsberg,    b.    Nicolovius :    Woldemar    (vom    Hn.    Geh.  Rath    J a c o b i    in 
Düsseldorf)  1794.     i.  Th.  XXI  S.  Vorb.  u.  190  S.    2.  Th.  VI  S.  Vorb.  u.  294  S.  8. 

Wenn  ein  philosophisches  System  nach  seiner  inneren  Con- 
sequenz  und  Uebereinstimmung  mit  der  selbsterkannten  Wahrheit 
objectiv  beurtheilt  ist;  kann  es  nunmehr  auch  subjectiv  mit  dem 
Geiste  und  dem  Charakter  seines  Urhebers  verglichen,  und  unter- 
sucht werden,  mit  welchem  Grade  der  Nothwendigkeit  es  aus 
seiner  Individualität  entspringt,  und  welche  Eigenthümlichkeit  diese 
in  dieser  Rücksicht  an  sich  trägt.  Je  wichtiger  das  einzige  Ziel 
alles  Philosophirens ,  die  Erkenntniss  aussersinnlicher  Wahr- 
heiten und  die  strenge  Prüfung  der  Festigkeit  dieser  Erkennt- 
niss ist;  desto  interessanter  muss  die  Beschäftigung  seyn,  dem 
Gange,  auf  welchem  mehrere  Köpfe  dahin  zu  gelangen  strebten, 
mit  Aufmerksamkeit  nachzuforschen.  So  wie  aber  diess  Inter- 
esse weniger  von  dem  objectiven  Werthe  der  Systeme  an 
sich,  als  von  der  originellen  Individualität  ihrer  Urheber  ab- 
hängt; eben  so  wird  auch  diese  Beschäftigung  selbst  nicht 
sowohl  unmittelbar  der  Philosophie,  als  Wissenschaft,  als  viel- 
mehr dem  Philosophen  erspriesslich  seyn,  der  sie  vornimmt. 
Zwar  kann  das  Ideal  einer  wahren  Philosophie  —  wenn  diese 
nemlich  die  vollständige  Ausmessung  aller  menschlichen  Vermögen 
zum  Grunde  legen  muss,  um  darnach  die  Möglichkeit  objectiver 
Erkenntniss  zu  bestimmen,  und  die  allgemeinen  Gesetze  der  Thätig- 


Erster  Druck:  Allgemeine  Literaturzeitung  vom  Jahre  i-]g4  j,  801 — So-j 
(Nr.  ji^,  26.  September).  Sog— 816  (Nr.  ji6,  27.  September).  81-7—821  (Nr.  jr-j, 
27.  September). 


8.    Rezension  von  Jacobis  Woldcmar.  28q 

keit  jener  Vermögen  zu  entdecken  —  gewiss  nur  aus  dem  vereinten 
Streben  aller  menschlichen  Kräfte  hen^orgehn.  Allein  auch  bei 
Systemen,  denen  man  schlechterdings  Wahrheit  und  Allgemein- 
gültigkeit abzusprechen  genöthigt  wäre,  könnte  der  enge  Zusammen- 
hang mit  der  Kraft,  die  sie  schuf,  die  Aufmerksamkeit  anhaltend 
fesseln.  Erschiene  daher  auch  je  der  Zeitpunkt,  in  welchem  alle 
denkende  Köpfe  sich  über  Eine  Philosophie  vereinigt  hätten;  so 
würde  dennoch  das  Studium  der  bisherigen  Systeme  schon  in 
dieser  Hinsicht  immer  nothwendig  bleiben.  Am  meisten  aber 
würde  diess  der  Fall  bei  den  Systemen  solcher  Männer  seyn,  die 
ihr  ganzes  höheres  Daseyn  in  ihre  philosophische  Ueberzeugung 
am  innigsten  verwebt  haben;  wie  denn  hierin,  um  ein  Beispiel 
anzuführen,  vielleicht  niemand  die  Griechen  übertroffen  hat,  deren 
Systeme  fast  durchaus  die  Frucht  ihrer  gesammten  Kräfte  in  der 
grossesten  Harmonie  ihres  Strebens  sind,  und  die  niemand  als 
Philosophen  vollständig  würdigen  wird,  der  sie  nicht  als  Menschen 
aufzufassen  Sinn  genug  hat.  Hieraus  ergiebt  sich  also  eine  zwie- 
fache und  so  verschiedene  Behandlung  der  philosophischen  Ge- 
schichte, dass  sie  schwerlich  von  weniger,  als  zwei  ganz  ver- 
schieden gebildeten  Köpfen  mit  Hofnung  des  Erfolgs  versucht 
werden  darf.  Denn  wenn  der  eine  das  hier  angenommene  einzig 
wahre  System  unausgesetzt  vor  Augen  haben  muss;  so  müssen 
dem  andern  mehr  die  verschiednen  möglichen  Richtungen  des 
philosophischen  Geistes  gegenwärtig  seyn.  Wenn  der  eine  mit 
unerbittlicher  Strenge  alles  zurückweisen  muss,  was  sich  von  seiner 
einzigen  Norm  entfernt;  so  muss  der  andre  mit  einer  liberaleren 
Vielseitigkeit  sich  gänzlich  seinen  eignen  Meynungen  entreissen, 
und  die  fremde  Vorstellungsart  schlechterdings  nur  als  eine  eigne, 
ganz  und  gar  aber  nicht  —  sey  es  auch  noch  so  sehr  gegen  seine 
eigne  Ueberzeugung  —  als  eine  unrichtige  betrachten.  Giebt  es 
nun  eine  Philosophie,  die  auf  Dingen  beruht,  über  die  sich  nicht 
durch  Beweis  und  Gegenbeweis  streiten  lässt,  sondern  die  nur  ein 
übereinstimmendes  oder  widersprechendes  Gefühl  bejahen  oder 
verneinen  kann;  so  wird  bei  dieser  der  subjective  Zusammenhang 
mit  der  Individualität  ihres  Urhebers  auch  für  ihren  Inhalt  selbst 
wichtig  seyn.  In  gewisser  Hinsicht  aber  muss  dieser  Fall  bei  jeder 
denkbaren  Philosophie  eintreten.  Denn  jede  muss  zuletzt  auf  ein 
unmittelbares  Bewusstseyn,  als  auf  eine  Thatsache,  fussen.  Indess 
kann  es  auch  philosophische  Systeme  geben,  welche  mehrere 
solcher  Thatsachen  zum  Grunde  legen.    Von   dieser  Art   ist   nun 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  19 


290 


8.    Rezension  von 


ganz  und  gar  diejenige,  welche  der  Herausgeber  der  Briefsamm- 
lung Eduard  Allwills  als  die  seinige  schildert.  „Was  er  er- 
forscht hatte,"  sagt  er  in  der  Vorrede  zu  diesem  Buche  S.  XV.  von 
sich  selbst,  „suchte  er  sich  selbst  so  einzuprägen,  dass  es  ihm 
bliebe.  Alle  seine  wichtigsten  Ueberzeugungen  beruhten  auf  un- 
mittelbarer Anschauung;  seine  Beweise  und  Widerlegungen  auf 
zum  Theil  (wie  ihn  däuchte)  nicht  genug  bemerkten,  zum  Theil 
noch  nicht  genug  verglichenen  Thatsachen."  Bei  einer  solchen 
Theorie  giebt  es  —  und  diess  allein  raubt  derselben  gewiss  noch 
nicht  die  Möglichkeit  der  Allgemeingültigkeit  —  keine  andre  Art 
der  Ueberzeugung,  als  dass  ich  den  andern  in  eben  die  Lage  ver- 
setze, in  der  ich  selbst  einer  solchen  Anschauung  theilhaftig,  mir 
einer  solchen  Thatsache  bewusst  wurde.  Die  Flamme,  die 
hier  leuchten  soll,  vermag  nur  die  Flamme,  die  schon  brennt, 
zu  entzünden.  Sehr  richtig  fährt  daher  der  Vf.  jener  Stelle 
von  sich  weiter  fort :  „Er  musste  also ,  wenn  er  seine  Ueber- 
zeugungen  andern  mittheilen  wollte,  darstellend  zu  Werke 
gehn."  Diess  nun  zu  thun,  hat  der  Vf.  in  jenem  We  rk,  wie  in 
diesem  versucht,  in  welchem  er  (Th.  i.  Vorb.  S.  XV.)  ausdrücldich 
auf  die  hier  angeführte  Stelle  der  früher  erschienenen  Schrift  An- 
weisung giebt.  Man  muss  daher  diese  längere  Abschweifung  der 
Unmöglichkeit  verzeihen,  auf  eine  andre  Weise  den  Zweck  des 
angezeigten  Werks  vollständig  darzulegen,  und  zu  der  Eigenthüm- 
lichkcit  desselben  gehörig  vorzubereiten.  In  wiefern  nun  jede 
unmittelbare  Anschauung  alle  Erklärung  ausschliesst,  die  niemals 
andre,  als  mittelbare  Einsicht  gewährt,  und  in  wiefern  das,  worauf 
diese  Anschauungen  und  Thatsachen  beruhen  —  wenn  das,  was 
sich  darauf  gründet,  auf  Allgemeingültigkeit  Anspruch  machen 
soll  —  nicht  Einem  einzelnen,  sondern  der  Menschheit  angehören 
muss  —  insofern  bestimmt  der  Vf.  die  Absicht  seiner  Schrift  noch 
näher  dahin:  „Menschheit,  wie  sie  ist,  erklärlich  oder  unerklärlich, 
auf  das  gewissenhafteste  vor  Augen  zu  legen."  ^)  Gewiss  nicht 
bloss  ein  erhabener  Zweck,  sondern  auch  ein  schwieriges  Unter- 
nehmen! Wem  es  gelingen  soll,  der  muss  selbst  eine  hohe 
Menschheit  in  sich  tragen,  muss  oft  und  streng  sich  selbst  ge- 
prüft, und  mit  ruhiger  Beurtheilung  das  Zufällige  seines  Wesens 
von  dem  Xothwendigen  geschieden  haben,  wodurch  er  unmittelbar 
mit  der  Menschheit  in   ihrer  reinen   idealischen  Gestalt  verwandt 


i;  Woldemar  i,  XVI. 


Jacobis  Woldemar.  2QI 

ist.  Nur  solch  ein  Mann  kann  den  Eindruck  hen'orzaubern,  mit 
dem  der  gleichgestimmte  Leser  so  xieic  Stellen  des  Woldemar 
verlassen  wird ;  und  wenn  andre  literarische  Produkte  nur  einzelne 
Talente  des  Schriftstellers  beweisen,  so  stellen  solche,  als  das 
gegenwärtige,  das  ganze  Daseyn  des  Menschen  dar.  Doppelt  er- 
höht wird  dieser  Reiz  aber  dadurch,  dass  in  der  vorliegenden 
Schrift  nur  von  praktischer  Philosophie  die  Rede  ist;  dass  jede 
Zeile  das  reinste,  ächteste,  sittliche  Gefühl,  mit  dem  zartesten  und 
beweglichsten  Schönheitssinn  auf  das  innigste  verbunden,  athmet; 
und  dass  man  weniger  über  Menschheit  raisonniren  hört,  als  Per- 
sonen, deren  jede  wenigstens  in  Einer  Hinsicht  ein  Repräsentant 
der  Menschheit  heissen  kann,  in  interessanten  Situationen  selbst 
thätig  erblickt. 

Ein  Paar  seltene  Charaktere,  aus  dem  stärksten  und  zugleich 
feinsten  Stoffe  gebildet,  den  die  ^lenschheit  ertragen,  und  in  die 
edelste  Form  gegossen,  die  sie  annehmen  kann,  in  einfachen,  aber 
den  Geist  wie  das  Herz  gleich  stark  anziehenden  Lagen  in  Hand- 
lung gesetzt,  dienen  dem  Vf.  zum  Vehikel,  an  ihnen  den  Begriff 
der  ächten  Tugend,  und  Moralität  in  ihrer  Reinheit  darzustellen. 
Mit  ausserordentlich  günstigen  Anlagen  zu  Erreichung  einer  hohen 
sittlichen  Schönheit,  und  mit  natürlicher  Stimmung  zur  Erfüllung 
jeder  Pflicht  des  Wohlwollens ,  der  Selbstverläugnung  und  des 
Edelmuths  gebohren,  hat  sich  Woldemar  gewöhnt,  seine  Moralität 
nicht  bloss  aus  sich  selbst,  aus  der  Ivraft  seiner  praktischen  Ver- 
nunft, sondern  auch  aus  der  Mitte  der  Triebe  hervorgehen  zu 
sehen,  mit  deren  Widerstand  sie  sonst  am  heftigsten  zu  kämpfen 
hat.  Zu  dieser  glücklichen  Organisation  gesellt  sich  bei  ihm  die, 
auf  Vernunftgründe  gestützte  Ueberzeugung,  dass  etwas  so  Hohes 
und  Göttliches,  als  die  Tugend,  auch  nothwendig  aus  unvermittelter 
Selbstthätigkeit  entspringen  muss,  und  weder  von  äusseren  Formen 
und  Vorschriften  abhängig  gemacht,  noch  durch  Construction  von 
Begrifl'en  zu  Erreichung  bestimmter  Zwecke  gleichsam  künstlich 
aufgebaut  werden  kann.  Glühende  Wärme  des  Gefühls,  lebhafte 
Einbildungskraft,  und  vorzüglich  eine  innige  Harmonie  seines 
ganzen  Wesens,  besonders  eine  enge  Verbindung  seiner  denkenden 
und  empfindenden  Kräfte,  fesseln  ihn  überall  unauflöslich  an  an- 
geschaute Realität,  an  freie  Selbstthätigkeit,  und  entfernen  ihn 
überall  von  bloss  begriffener  Idealität,  von  auch  nur  scheinbarem 
Zwange.  So  bewirken  alle  diese  Gründe  vereint,  dass  er,  bei  den 
richtigsten   theoretischen  Ueberzeugungen   von   dem   Wesen    der 

19* 


292 


8.    Rezension  von 


Tugend  und  Sittlichkeit,  in  der  Ausübung  mehr  Pflichten  erfüllt, 
die  er  liebt,  als  sich  Gesetzen  unterwirft,  die  er  achtet,  dass  Ge- 
horsam ihm  überhaupt  fremder  ist,  als  es  Menschen  geziemt,  und 
dass  er  die  Vorschriften  der  Tugend  nur  in  den  Handlungen  des 
Tugendhaften  aufsucht,  der,  nach  seinem  Ausdruck,  eben  so  der 
Sittlichkeit  durch  die  That  die  Regel  vorschreibt,  als  das  Genie 
der  Kunst. ^)  Kein  Wunder  also,  dass  er  nicht  selten  seinem  sitt- 
lichen Gefühl,  auch  ohne  die  nothwendige  jedesmalige  genaue 
Prüfung,  zuviel  einzuräumen,  und  den  Eingebungen  seines  Herzens 
in  zu  stolzem  Vertrauen  zu  unbedingte  Folge  zu  leisten  Gefahr 
läuft.  Mit  diesem  Charakter  tritt  Woldemar  in  den  Kreis  einer 
Familie,  von  der  sein  Bruder,  Biderthal,  ein  Mitglied  ist,  und  die 
sich  nicht  minder  durch  Bande  der  Liebe,  als  der  Verwandtschaft 
an  einander  gekettet  sieht.  Kleine  Veranlassungen  aus  den  ge- 
wöhnlichen Begebenheiten  des  täglichen  Lebens  lassen  Gespräche 
über  das,  was  schicklich  und  anständig,  und  wenn  sich  die  Unter- 
redung von  der  minder  bedeutenden  Veranlassung  zu  allgemeineren 
Grundsätzen  erhebt,  über  das,  was  sittlich  und  tugendhaft  ist,  über 
die  Unterschiede  in  der  Moralität  des  jetzigen  Jahrhunderts  und 
des  Alterthums  u.  s.  f.  entstehen,  in  welchen  —  ausser  dem 
wichtigen  philosophischen  Gehalt  —  sich  der  Charakter  Woldemars 
und  der  übrigen  auftretenden  Personen  wie  von  selbst  vor  dem 
Leser  entwickelt.  Unter  allen,  die  Woldemar  umgeben,  zieht 
Henriette,  seines  Bruders  noch  unverheirathete  Schwägerin,  seine 
Aufmerksamkeit  am  meisten  auf  sich.  Sie  stimmt  seine  vorherigen 
Begriffe  über  das  andre  Geschlecht  gänzlich  um.  Neben  der  ganzen 
und  vollen  Weiblichkeit  findet  er  in  ihr  ein  gewisses  Etwas,  das 
er  mit  seiner  allgemeinen  Meynung  über  ihr  Geschlecht  nicht  zu 
vereinigen  weiss,  etwas  Höheres  und  Grösseres;  und  nach  und 
nach  schlingen  sich  ihre  Herzen  bis  zur  innigsten  Verbindung  an 
einander.  In  Woldemar  hieng  diese  Freundschaft  mit  seinen 
wichtigsten  und  höchsten  Ideen,  mit  seinem  eigensten  Wesen  zu- 
sammen. Mitten  in  dem  Wechsel  von  Empfindungen  und  Trieben, 
neben  dem  Entstehen  und  Untergehen  mannigfaltiger  Neigungen, 
fühlte  er  auch  etwas  Festes  und  Unvergängliches  in  sich.  In  den 
Momenten,  wo  sein  Inneres  am  harmonischsten  gestimmt  war, 
wuchs  auch  diess  Gefühl  am  lebhaftesten  empor;  und  nur  auf 
diesem  Unvergänglichen,  Uebermenschlichen  gleichsam  konnte  die 
ächte  Tugend,  die  Verwandtschaft  des  Sterblichen  mit  dem  Gött- 

^J  Woldemar  2,  16^.  205. 


Jacobis  Woldemar.  2Q^ 

liehen,  beruhen.  Dennoch  war  daneben  die  Veränderlichkeit  der 
menschlichen  Natur  so  sichtbar,  selbst  das  Gefühl  jenes  höheren 
Etwas  wurde  nicht  selten  dadurch  verdunkelt,  sein  Daseyn  sogar 
war  so  unbegreiflich;  es  musste  das  dringendste  Bedürfniss  für 
ihn  werden,  sich  unumstössliche  Gewissheit  desselben  zuzusichern. 
Woldemar,  den  diess  alles  noch  stärker  und  lebhafter,  als  gewöhn- 
lich, bewegte,  rang  nach  dieser  Gewissheit  auf  seine  Weise.  Ge- 
fühl, Anschauung,  bestätigte  Wirklichkeit  giengen  ihm  über  alles. 
In  einem  andern  Wesen  musste  er  finden,  was  er  in  sich  selbst 
ahndete.  So  musste  er  lernen,  „dass  seine  Weisheit  kein  Gedicht 
sey."  ^)  Lange  hatte  er  diess  mit  sich  herumgetragen,  lange  ge- 
sucht, von  glücklichem  Finden  geträumt.  Endlich  deutete  Henriette 
den  Traum,  und  wie  nun  seine  Freundschaft  nur  aus  dem  höchsten 
Gefühl  der  reinsten  Tugend  entsprang,  so  lehnte  sich  seine  Tugend 
selbst  vvdeder  an  die  Freundschaft,  als  an  eine  schwesterliche  Stütze. 
Nicht  zwar  als  hätte  es  ihr  an  eigner  Stärke  gemangelt,  aber  w^eil 
vereinzelt  gleichsam  ihre  Wesenheit  entwich,  und  die  unumstöss- 
liche Gewissheit  ihres  wirklichen  Daseyns  verschwand.  Mit  starken, 
aber  gewiss  unendlich  feinen  Fäden  war  in  diese  Empfindung  der 
Freundschaft  der  Eindruck  verwebt,  dessen  Weiblichkeit  und  vor- 
züglich schöne  Weiblichkeit  auf  den  reizbar  und  reingestimmten 
Mann  niemals  verfehlen  kann.  Alit  einem  Manne  hätte  Woldemars 
Freundschaft  andre  Modificationen  angenommen,  überhaupt  ver- 
mochte nur  eine  weibliche  Seele  jenen  Traum  ihm  zu  deuten,  und 
es  bedarf  mancher  Mittelerläuterungen,  wenn  sein  eignes  Geständ- 
niss,  „dass  jeder  weibliche  Reiz  an  Henrietten  ihm  sichtbarer,  als 
allen  andern  gewesen,  dass,  wie  Henriette,  noch  kein  Mädchen 
ihm  gefallen,"  mit  seiner  Versicherung,  „dass  seine  Empfindung 
zu  ihr  nichts  mit  ihrem  Geschlechte  zu  thun  gehabt,"  nicht  in 
Widerspruch  stehen  soll.-)  Mit  Bedauern  sieht  der  Leser,  der  die 
Ahndungen  seines  Tactes  um  so  lieber  bestätigt  oder  widerlegt 
fände,  als  schon  die  Feinheit  des  Gegenstandes  seine  Aufmerksam- 
keit anzieht,  dass  die  Geschichte  die  feineren  Nuancen  des  Ver- 
hältnisses unbestimmt  lässt;  nur  mit  Mühe  entdeckt  der  Kundige 
hie  und  da  leise  Winke.  Aber  was  Woldemar  suchte,  und  wie 
er  es  suchte,  konnte  er  nur  in  einer  weiblichen  Seele  finden. 
Durch  die  Natur  seines  Wesens  nothwendig  geleitet,  und  durch 
seine  äussere  Lage  begünstigt,  gehört  das  andre  Geschlecht  grössten- 


V  Woldemar  2,  /y/. 
"^j  Woldemar  2,  ^. 


294 


8.    Rezension  von 


theils  dem  inneren  Leben  und  Weben  in  eignen  Ideen  und  Empfin- 
dungen an.  Sich  darauf  in  hoher  Einfachheit  beschränkend,  ist 
das  weibliche  Gemüth  zwar  vielleicht  ein  minder  reiches  und 
starkes,  aber  gewiss  ein  reineres  Bild  desselben,  als  jedes  andre, 
und  daher  am  meisten  fähig,  das  zu  gewähren,  was  Woldemar 
schmerzlich  entbehrte.  Jener  Trieb  aber,  nach  dessen  Gewissheit 
er  so  ängstlich  strebte,  und  der  doch  kein  andrer  ist,  als  den  die 
Philosophie  sonst  den  uneigennützigen,  die  Aeusserung  der  prak- 
tischen Vernunft,  zu  nennen  pflegt,  ist  als  blosser  Trieb  im  Weibe 
schon  um  eben  so  viel  reger  und  ununterbrochener  lebhaft,  als 
diess  alle  Neigungen  und  Gefühle  überhaupt  in  ihm  sind.  Allein 
auch  in  seiner  höheren  Natur  ist  er  deutlicher  sichtbar.  Unter 
allen  Geschöpfen,  die  sich  nach  eignem  Willen  bestimmen,  sind 
die  Weiber  der  steten,  immer  wiederkehrenden  Ordnung  der 
Natur  gleichsam  am  nächsten  geblieben.  Dadurch  und  durch  die 
Mitwirkung  ihres  feineren  Schönheitssinnes  sind  alle  ihre,  auch 
eigennützigen  Triebe  reiner  und  harmonischer  gestimmt,  und  schon 
ihre  sanfte  Schwäche  verhütet  ein  zu  häufiges  Einmischen  der 
heftigen,  wechselnden  Begierde.  Endlich  scheinen  sie  unmittelbar 
aus  der  Hand  der  Natur  zu  kommen.  Weniger,  wie  bei  dem 
Manne,  von  eigenmächtigen  Handlungen  des  bei  diesem  stärkeren 
und  thätigeren  Willens  durchkreuzt,  ist  der  Inbegriff  ihres  Wesens 
ein  mehr  durch  die  Natur  und  die  Lage  der  Umstände  gegebenes 
Ganze.  Was  man  in  demselben  antrift,  ist  sichrer  aus  ihrer  inneren 
Beschaffenheit  hervorgegangenes  Werk  der  Natur,  als  eigne 
Schöpfung.  Wer  aber  vertraut  nicht  lieber  dem  Zeugniss  des 
Unvergänglichen,  als  der  Stimme  des  immer  wechselnden  Menschen? 
So  musste  Woldemar  sowohl  durch  die  Eigenthümlichkeit  seines 
Charakters,  als  durch  das,  was  er  vermisste,  fester  an  ein  weib- 
liches Geschöpf  gefesselt  werden;  und  so  überrascht  in  der  That 
die  Wahrheit  jenes  Geständnisses,  das  er  selbst  von  der  Wirkung 
der  weiblichen  Reize  Henriettens  ablegt.  Vielleicht  hätte  der 
Leser  diess  Verhältniss  schärfer  durchdrungen,  wenn  diese  Nuancen 
desselben  in  ein  helleres  Licht  gesetzt  worden  wären.  Jetzt  muss 
es  ihm  schwer  werden,  sich,  vorzüglich  von  Henrietten,  ein  wahres 
und  richtiges,  besonders  nur  ein  bestimmtes  Bild  zu  entwerfen, 
da  er,  wenigstens  wenn  er  sich  in  Woldemars  Seele  versetzt,  nicht 
genug  veranlasst  wird,  sie  sich  ganz  so  weiblich  zu  denken,  als 
sie  in  der  That  ist.  Oder  soll  er  vielleicht  mit  Fleiss  ungewiss 
bleiben?  soll  er  auf  der  andern  Seite  alles  auf  einen  Selbstbetrug 


I 


Jacobis  Woldemar.  2Q  c. 

in  Woldemar  schieben  ?  soll  er,  um  der  Entwicklung  der  Geschichte 
ungeduldiger   entgegen  zu  sehen,   unter  der  Freundschaft  eigent- 
liche  Liebe  vermuthen?     Allein   gewiss   w^äre   diese  Vermuthung 
irrig,  und  Woldemars  Zuneigung  zu  Henrietten  würde  im  höchsten 
Verstände  rein  genannt  werden  können,  wenn  Liebe   ein  Flecken 
heissen  dürfte.    Nicht  bloss  weil  das,  was  ihn  zuerst  an  Henrietten 
fesselte,   rein   moralisch  war,   muss   von   selbst  jede   sinnliche  Be- 
gierde schweigen.    Da  das,  wonach  er  sehnsuchtsvoll  ringt,  gerade 
das  absolute  Gegentheil  alles  Vergänglichen,  Wechselnden,  Körper- 
lichen  ist;    muss    ihn   die    leiseste   Beimischung    einer   sinnlichen 
Empfindung  empören.    Wenn  er  Gewissheit  des   nur  dunkel  Ge- 
ahndeten erhalten  will,  darf  er  es  nicht  wieder  in  leicht  täuschender 
Verbindung  mit  fremdartigem  Stoffe  erblicken,  muss  er  von  diesem 
es  sorgfältig  abscheiden,  und  geläutert   seinem  inneren  Auge  dar- 
stellen.   Für    den,   der   am   Unvergänglichen   hängt,   verliert    das 
Vergängliche    seinen   Reiz.      In  Woldemar    haben    sich    nicht   die 
denkenden  und  empfindenden  Kräfte,  beide  für  sich  gebildet  und 
gepflegt,    erst   in    ihrer   Reife  vereinigt;    sie    sind   gleichsam  von 
Kindheit  an  mit  einander  aufgewachsen,  und  eigentlich  haben  die 
ersteren  die  letzteren  erzogen.     Denn  die  Einheit  erstrebende  Ver- 
nunft —  die  sich  immer  leichter  mit  der  Phantasie,  von   der  sie 
ihren  Ideen  Symbole  leiht,  verbindet  —  ist  stärker  in  ihm,  als  der 
zergliedernde  Verstand.     Daher   sein   Ringen    nach   allem   Unver- 
mittelten, Reinen,  nach  dem  absoluten  Daseyn.    Von  diesem  allem 
aber   existirt  in   der  Wirklichkeit   nichts.    Alles   ist  da  vermittelt, 
gezeugt,  vermischt,  nur  bedingungsweis  existirend.    So  entsteht  in 
Charakteren  dieser  Gattung  Abneigung  gegen  die  empirische  Wirk- 
lichkeit,  und   in  Rücksicht   auf  die  Empfindungsweise  Abneigung 
gegen  die  Sinnlichkeit.  Das  Gefühl  drängt  sich  mit  vermehrter  Stärke 
zu  den  rein  geistigen  Empfindungen  zurück ;  die  Einbildungskraft 
wächst  zu  ungewöhnlichen  Graden;  man   erblickt  das  sonderbare 
Phänomen,  dass  die  übergrosse  Stärke  der  Empfindung  gegen  die 
ursprünglichste  aller,  die  äussere,  abstumpft.     Ueberall  wird   man 
ungewöhnliche  Glut   der  Phantasie   mit   Kälte   der  Sinne   gepaart 
finden.     Am  wenigsten   aber  hätte  Henriette   in  Woldemar  Liebe 
zu    entzünden  vermocht.     Wenn    die   Freundschaft   nur  Mannig- 
faltigkeit  verlangt   zu   gemeinschaftlicher  Verstärkung;    so   fodert 
die  Liebe  Ungleichartigkeit  zu  gegenseitiger  Ergänzung.   Woldemar 
aber  und  Henriette,  wie  Woldemar  sie  ansah,  waren  gleich.    Nach 
der  Art,  wie  sie  auf  ihn  wirkte,   nach   dem,  was  er  in   ihr   fand, 


296 


8.    Rezension  von 


fiel  vor  seinen  Augen  der  Unterschied  des  Geschlechts  —  so 
mächtig  derselbe  auch  mitgewirkt  hatte,  um  es  nur  möglich  zu 
machen,  dass  er  diess  fand  —  hinweg;  und  er  beurtheilt  sich 
vollkommen  richtig,  wenn  er  sagt,  „dass  ihm  eine  Verbindung 
mit  ihr  eben  so  unmöglich  sey,  als  der  Gedanke,  eine  Person 
seines  eigenen  Geschlechts  zu  heirathen."  ^) 

Mit  tiefer  psychologischer  Einsicht  und  feiner  poetischer  Kunst 
hat  der  Vf.  durch  die  Entwicklung  der  Eigenthümlichkeiten  Wol- 
demars  und  die  Darstellung  seines  Verhältnisses  mit  Henrietten 
das  sonderbar  scheinende  Widerstreben,  ihr  seine  Hand  zu  geben, 
nach  und  nach  sorgfältig  vorbereitet.  Der  Leser  begreift  nicht 
bloss  Woldemars  Gemüthsstimmung ;  er  fühlt  es  gleichsam  mit 
ihm,  wie  unmöglich  es  ihm  seyn  musste,  da,  wo  er,  nach  Piatos 
schönem  Bilde,^)  Flügel  suchte,  sich  in  höhere  Sphären  zu  schwingen, 
sich  durch  die  alltäglicheren  Verhältnisse  einer  Ehe  an  die  Erde 
fesseln  zu  lassen.  Dennoch  hätte  man  wohl  jenes  sonderbare  Ge- 
webe scheinbar  widerstreitender  Empfindungen  reiner  durchschaut, 
wenn  es  in  dem  Plane  des  Vf.  gelegen  hätte,  den  Vorschlag  der 
Verbindung  auf  eine  andre  Weise  herbeizuführen,  als  durch  die, 
in  der  That  beinahe  zudringliche  Sorgfalt  der  Freunde  Woldemars. 
Zu  leicht  wird  man  veranlasst,  einen  Theil  der  Abneigung  auch 
dieser  beizumessen.  Etwas  so  Zartes,  als  das  stille  Bündniss  zweier 
Herzen,  scheut  jede,  auch  die  leiseste  Berührung.  Nur  aus  sich 
will  es  hervorgehen ;  nur  in  unentweihter  Einsamkeit  will  es  sich 
entwickeln,  und  die  Hand,  die  sich  ihm  naht,  kann  es  vernichten, 
ehe  sie  es  berührt.  Henriette  wird  also  nicht  Woldemars  Gattin; 
allein  sie  selbst  verbindet  ihn  mit  ihrer  vertrauten  Freundin  Allwina. 
Entzückend  schön  ist  das  fortdauernde  trauliche  Zusammenleben 
dieser  drei  Menschen  geschildert.  Wo  wir,  den  einfachen  Wegen 
der  Natur  folgend,  mit  allen  ungetheilten  Kräften  geniessen,  da 
gewinnt  der  Genuss  einen  gewissen  innern  Gehalt,  der,  von  aussen 
gegeben,  nur  bearbeitet,  nicht  erst  neugeschaffen  zu  werden  braucht. 
Mit  der  Anstrengung  ist  daher  Erholung  gepaeirt,  und  die  eine 
führt  die  andre  wechselweis  herbei.  Diess  empfand  jetzt  Woldemar. 
Er  hatte  bis  dahin  mehr  in  Ideen  und  selbstgeschaffenen  Gefühlen 
gelebt;  ohne  jenen  himmlischen  Sphären  fremder  zu  werden  — 
sein  Verhältniss   mit  Henrietten   blieb   ja   das   nemliche  —  kehrte 


y  Woldemar  i,  i-jo. 

^)  Vgl.  die  tnit  S.  '24ßa  beginnenden  Darles^ungen  im  Phaidros. 


Jacobis  Woldemar.  2Q7 

er  in  Allwinens  Armen,  im  Schoosse  des  glücklichsten  häuslichen 
Lebens,  mehr  zu  der  menschlichen  Erde  zurück,  und  „eine  gewisse 
Befreundung  mit  Dingen  dieser  Erde"  —  heisst  es  einmal  (Th.  2. 
S.  68.)  bei  einer  andern  Gelegenheit  sehr  gut  —  ist  „süsser,  als 
die  Weisen  denken."  Aber  noch  war  er  nicht  zu  dauernder  Ruhe 
bestimmt.  Es  fehlte  seinem  Charakter  an  dem  Einzigen,  worauf 
sie  sicher  gegründet  werden  kann,  an  strenger  Zucht,  an  ernster 
Selbstbeherrschung.  Er  hätte  sie  nur  durch  ein  Geschenk  des 
Zufalls  genossen.  Sehr  gut  bereiten  die  ängstlichen  Besorgnisse 
Biderthals,  der  seines  Bruders  Betragen  für  eine  Entfernung  von 
dem  Gange  der  Natur  ansieht,  den  man  nie  ungestraft  verlässt, 
den  nahen  Sturm  vor.  Bald  darauf  erscheint  er  selbst.  Henriettens 
Vater  hatte  eine  tiefe  Abneigung  gegen  Woldemar  gefasst.  Mit 
einem,  allein  durch  Gewohnheit  und  äussere  Lagen  gebildeten 
Charakter  bemerkte  er  Woldemars  Abweichungen  von  der  ge- 
wöhnlichen Bahn,  ohne  sie  zu  begreifen ;  sah  in  ihnen  bloss  einen 
gänzlich  verkehrten  Sinn,  und  sprach  ihm  geradezu  allen  Glauben 
an  Gott  und  an  Menschen  ab.  Die  Besorgniss,  Henriette  möchte 
ihm  ihre  Hand  geben,  quälte  ihn  anhaltend,  und  als  er  an  einer 
Krankheit  tödtlich  danieder  lag,  verlangte  er  von  ihr  das  feierliche 
Gelübde,  sich  nie  mit  ihm  zu  verbinden.  Nichts,  selbst  nicht  die 
Versicherung,  dass  Woldemar  schon  mit  Allwina  verlobt  sey,  ver- 
mochte ihm  seine  Unruhe  zu  benehmen.  Henrietten  empörte  der 
Gedanke,  gegen  ihren  Freund  gleichsam  in  ein  Bündniss  zu  treten, 
und  ihm  feierlich  zu  entsagen.  Aber  der  Anblick  des  sterbenden 
Vaters,  und  die  Ermattung  selbst  ihrer  körperlichen  Kräfte  in  dem 
fürchterlichen  Kampf  zwangen  ihren  Lippen  das  Gelübde  ab.  Der 
nunmehr  beruhigte  \"ater  verschied  bald  darauf.  Woldemarn  blieb 
der  Vorfall  verschwiegen.  Erst  einige  Zeit  nachher  entdeckte  er 
ihn  durch  einen  Zufall.  Er  bewegte  ihn  heftig,  und,  wiederholter 
Kämpfe  ungeachtet,  konnte  er  die  Folgen  dieser  Bewegung  nicht 
ganz  in  sich  unterdrücken.  Ungefähr  um  dieselbe  Zeit  war  Hen- 
riette durch  nachtheilige  Stadtgerüchte  über  ihr  Verhältniss  mit 
Woldemar  verstimmt  worden.  Diess  zufällige  Zusammentreffen 
zwei  verschiedener  Eindrücke  brachte  in  ihrem  gegenseitigen  Be- 
tragen zwar  keine  Kälte,  aber  etwas  Fremdes,  Ungewohntes  hervor, 
das  in  jedem  in  dem  Grade  mehr  zunahm,  als  er  es  in  dem  andern 
bemerkte.  Henriette  wagte  endlich  eine  Erklärung.  Sie  bat  ihn, 
dass  sie  in  ihrem  äussern  Betragen  einige  Schritte  rückwärts  thun 
möchten.     Woldemar,  in  dem  sich  diese  Bitte  mit  dem  abgelegten 


298 


8.    Rezension  von 


Gelübde  verband,  wurde  durch  die  vereinte  Wirkung  von  beidem 
auf  das  gewaltsamste  erschüttert.  Henriette,  schien  es  ihm,  sey 
auf  seine  Unkosten  allzunachgiebig  gegen  andre.  „Was  muss 
ihr  der  seyn,  den  sie  so  leicht  aufopfert?"^)  Mit  Meisterhand  ist 
nun  der  Fortschritt  gezeichnet,  den  dieser  furchtbare  Zweifel  an 
dem,  was  ihm  das  Heiligste  und  Liebste  war,  in  Woldemars  Seele 
machte;  wie  er  auf  Henrietten  zurückwirkte;  wie  die  Momente, 
wo  einer  oder  der  andre  den  Knoten  zu  lösen  oder  zu  zerschneiden 
entschlossen  war,  unbenutzt  vorübergiengen;  wie  die  Art,  wie  jeder 
dem  andern  erschien,  mit  jedem  Tage  das  Misverständniss  ver- 
mehrte, die  Entwicklung  verzögerte.  Auf  das  heiterste  und  glück- 
lichste Leben  folgte  eine  schreckliche,  quaalenvolle  Zeit.  Glücklicher 
Weise  erfährt  endlich  Henriette,  dass  Woldemar  um  das  Geheim- 
niss  des  Gelübdes  weiss.  Jetzt  ist  ihr  auf  einmal  Woldemars  Um- 
änderung klar.  Nach  einem  Gespräche  über  Woldemars  Charakter, 
über  welchen  der  Leser  hier  die  letzten  Aufschlüsse  erhält,  über 
Tugend  und  Moralität  überhaupt,  (einem  Gespräche,  das  den 
schönsten  Theil  dieser  merkwürdigen  Schrift  ausmacht,)  eilt  Hen- 
riette zu  Woldemar,  beginnt  ihm  ihr  Bekenntniss  abzulegen, 
Verzeihung  bei  ihm  zu  suchen.  Bei  diesen  Worten  fühlt  sich 
Woldemar  getroffen.  Es  fällt,  wie  ein  Schleier,  von  seinen  Augen ; 
er  wird  seiner  Verirrung  gewahr.  Was  sie  von  ihm  erfleht,  fühlt 
er,  muss  er  von  ihr  erhalten.  Das  stolze  Selbstvertrauen,  durch 
das  er  gefallen  war,  schwindet ;  wie  er  ungerecht  gegen  Henrietten 
gewesen  war,  läutt  er  jetzt  Gefahr,  es  gegen  sich  zu  werden.  Aber 
auch  hier  kehrt  er  bald  wieder  um.  Die  vorige  Traulichkeit,  der 
alte  Friede  kommen  zurück,  und  Woldemar  schliesst  mit  dem 
Ausspruch:  „Wer  sich  auf  sein  Herz  verlässt,  ist  ein  Thor  — 
Richtet  nicht!",  dem  Henriette  Fenelons  Worte  zur  Seite  stellt: 
„Vertrauet  der  Liebe.    Sie  nimmt  alles ;  aber  sie  giebt  alles."  -) 

Woldemar  hatte  sich  gewöhnt,  sich  mit  einer  gewissen  Sicher- 
heit seinem  moralischen  Gefühl  zu  überlassen,  ohne  Ausnahme 
den  Regungen  seines  Herzens  zu  folgen.  Auch  konnte  er  diess 
in  den  meisten  Fällen  ohne  Gefahr.  Es  ist  sogar  unläugbar  ein 
höherer  Grad  der  Tugend,  wenn  die  Ausübung  der  Pflicht  selbst 
zur  Gewohnheit  wird,  wenn  sie  in  das  Wesen  der  sonst  ent- 
gegenstrebenden   Neigungen    übergeht,    und    nicht    jede    pflicht- 


V  Dieser  Satz  ist  kein  Zitat  aus  Woldemar. 
^)  Woldemar  2,  281. 


Jacobis   Woldemar.  2QQ 

massige  Handlung  erst  eines  neuen  Kampfes  bedarf.  Wie  edel 
auch  das  Ringen  des  Pflichtgefühls  gegen  die  Neigung  seyn  mag; 
so  ist  es  doch  immer  ein  Zustand  des  Krieges,  und  wer  segnet 
nicht  mehr  die  wohlthätige  Hand  des  Friedens?  Aber  der  Friede 
muss  nicht  durch  Nachgiebigkeit  erkauft  seyn;  er  muss  sein  Ent- 
stehen der  Niederlage  des  Feindes,  seine  Dauer  dem  Bevvusstseyn 
der  fortdauernden  Stärke  danken.  Der  wahrhaft  tugendhafte  Mann 
ist  tugendhaft,  weil  seine  Gesinnung  es  ist,  weil  diese  sich  einmal 
durch  alle  seine  Empfindungen  und  Neigungen  ergossen  hat. 
Aber  er  hört  darum  nicht  auf,  wachsam  zu  seyn,  er  entnervt 
nicht  seine  Stärke.  Sobald  der  Fall  der  Gefahr  eintritt,  weiss  er 
die  Stimme  der  Sinnlichkeit  zu  verachten,  allein  dem  dürren 
Buchstaben  des  Gesetzes  zu  gehorchen.  Und  gegen  diese  Gefahr 
sichert  keine,  noch  so  glückliche  Organisation,  keine,  noch  so  feine 
geistige  Ausbildung.  Diess  zeigt  Woldemars  Beispiel  auf  eine 
sehr  treffende  Weise.  Seitdem  er  das  Geheimniss  von  Henriettens 
Gelübde  erfuhr,  fühlte  sich  sein  Stolz  beleidigt,  seine  Selbstsucht 
gekränkt.  Ihm  allein  sollte  sie  angehören,  für  ihn  sollte  sie  alles 
andre  vergessen;  nun  trat  sie  am  Sterbebett  ihres  Vaters  gleich- 
sam einem  Bündniss  gegen  ihn  bei,  nun  konnte  sie  ihm  etwas 
verheimlichen,  nun  wollte  sie  etwas,  das  ihn  betraf,  fremden  Rück- 
sichten aufopfern.  Indess  war  seine  Freundschaft  zu  ihr  wirklich 
gross  und  selten.  An  ihr  zweifeln  hiess  ihm  an  dem  Daseyn  der 
Tugend,  an  seinem  besten  Selbst,  an  dem  allein  Göttlichen  im 
Menschen  zweifeln.  Daran  knüpften  sich  die  minder  edlen 
Regungen  seiner  Neigung.  Der  Abfall  von  ihm  verwandelte  sich 
in  einen  Abfall  von  dem  besten  Theile  der  Menschheit.  Nur  unter 
dieser  täuschenden  Gestalt,  nur  indem  er  die  Hülle  der  Tugend 
selbst  anzog,  vermochte  der  eigennützige  Trieb  einen  Woldemar 
zu  verführen;  allein  unter  dieser  musste  es  ihm  auch  gerade  bei 
einem,  nicht  an  Zucht  und  Gehorsam  gewöhnten  Woldemar  ge- 
lingen. Dass  er  aus  Stolz  fiel,  beweist  sein  augenblickliches  Zurück- 
kehren, indem  Henriette  die  Worte:  „Bekenntniss,  Verzeihung" 
aussprach.  Diess  ist  ein  tief  aus  der  menschlichen  Seele  genommener 
Zug.  Der  ungerechte  Stolz  einer  nicht  unedlen  Seele  sinkt,  wenn 
er  sich  überbefriedigt  sieht,  plötzlich  zur  Demuth  herab.  Sehr 
richtig  warnt  daher  Woldemar  vor  allzusichrem  Selbstvertrauen. 
Schön  und  weiblich  setzt  Henriette  Fenelons  Worte  hinzu.  Wer 
der  Liebe  vertraut,  wird  weniger  straucheln.  Der  Liebe  geht  die 
Demuth  schwesterlich  zur  Seite,  und  jede  Abweichung  von   dem 


"^OO 


8.    Rezension  von 


Wege  der  Pflicht  entspringt  mehr  oder  minder  aus  Selbstsucht, 
also  aus  einer  Art  des  Stolzes.  Allein  sollte  auch  das  Vertrauen 
auf  Liebe  überall  eine  sichere  Schutzwehr  seyn?  Sie  war  es  in  dem 
Fall,  in  dem  sich  Woldemar  zu  Henrietten  befand,  und  diess  kann 
dem  Vf.  hier  genügen.  Sonst  würde  auch  er  sie  gewiss  nicht 
allgemein  dafür  anerkennen.  Wie  edel  auch  ein  Trieb  seyn  mag, 
so  ist  er  immer  etwas  sinnlich  Bedingtes,  und  nicht  fähig,  weder 
sichre  —  denn  im  Gebiete  der  Sinnlichkeit  sind  tausendfältige,  auch 
dem  Wachsamsten  nicht  immer  bemerkbare  Täuschungen  möglich 
—  noch  w^eniger  aber  reine  Moralität  zu  begründen.  Allerdings 
ist  der  uneigennützige  Trieb  im  Menschen  ein  göttlicher  Trieb. 
Allein  er  ist  göttlich,  insofern  die  Kraft  gleichsam  übermenschlich 
ist,  das  Interesse  des  Individuums  der  Allgemeinheit  des  Gesetzes 
unterzuordnen.  Trieb  ist  er  nur  insofern,  als  das  Göttliche  eines 
Körpers  bedarf,  um  im  Menschen  zu  wohnen. 

Die  Schwierigkeiten,  mit  welchen  man  gewöhnlich  zu  kämpfen 
hat,  um  einen,  in  ein  ästhetisches  Gewand  gekleideten  philo- 
sophischen Inhalt  rein  abzuscheiden,  fallen  bei  der  gegenwärtigen 
Schrift  so  gut  als  ganz  hinweg.  Was  dem  Vf.  von  philosophischen 
Ideen  am  Herzen  gelegen  hat,  ist  mit  so  starken  Zügen  gezeichnet, 
drückt  sich  selbst  in  den  geschilderten  Charakteren  so  unverkenn- 
bar aus,  und  geht  schon  aus  dem  Geiste,  der  das  Ganze  so  lebendig 
durchwaltet,  so  freiwillig  hervor,  dass  der  Leser  keinen  Augenblick 
zweifelhaft  bleiben  kann.  Wäre  diess  aber  noch  möglich,  so 
dürfte  er  sich  nur  an  die,  von  dem  Vf.  in  seinen  frühern  Schriften 
geäusserten  Ueberzeugungen  wieder  zurückerinnern.  Denn  —  um 
diess  beiläufig  zu  bemerken  —  nur  in  den  Schriften  weniger 
Männer  wird  man  eine  solche  bewundernswürdige  Einheit  an- 
treffen, als  ein  tiefes  und  anhaltendes  Studium  in  den  Schriften 
des  Vf.  nirgends  vermissen  kann.  „Nach  meinem  Urtheil"  — 
heisst  es  einmal  in  den  Briefen  über  die  Lehre  des  Spinoza 
{2te  Aufl.  S.  42.)  —  „ist  das  grosseste  Verdienst  des  Forschers, 
Daseyn  zu  enthüllen,  und  zu  offenbaren.  Erklärung  ist  ihm 
Mittel,  Weg  zum  Ziele,  nächster  —  niemals  letzter  Zweck.  Sein 
letzter  Zweck  ist,  was  sich  nicht  erklären  lässt :  das  Unauflösliche, 
Unmittelbare,  Einfache."  Dieser  Ueberzeugung,  die  den  philo- 
sophischen Charakter  des  Yi.  auf  das  treffendste  schildert,  getreu, 
geht  er  in  dem  System  der  praktischen  Philosophie,  das  im 
Woldemar  seinem  ganzen  Wesen  nach  dargelegt  ist,  (Th,  i,  S.  130.) 
von  einem  „menschlichen  Instinct"  aus,  auf  dem  alle  Tugend  zu- 


Jacobis  Woldemar  OOI 

letzt  beruht,  „der  den  Menschen  zwingt,  sich  aus  den  Tiefen  seines 
Wesens  dieselbe  hen^orzuschaffen."  Dieser  Instinct  der  mensch- 
lichen, oder  überhaupt  jeder  sinnlich  vernünftigen  Natur  ist  ihm 
(vergl.  Ed.  Allwills  Briefsamml.  Vorr.  S.  XVI.  Anm.)  diejenige 
Energie,  welche  die  Art  und  Weise  ihrer  Selbstthätigkeit,  durch 
deren  Ivraft  man  sich  jede  ihrer  Handlungen  als  alleinthätig  ange- 
fangen und  fortgesetzt  denken  muss,  ursprünglich  (ohne  Hinsicht 
auf  noch  nicht  erfahrne  Lust  oder  Unlust)  bestimmt.^)  Insofern 
diese  Naturen  bloss  in  ihrer  vernünftigen  Eigenschaft  be- 
trachtet werden,  hat  derselbe  die  Erhaltung  und  Erhöhung  des 
persönlichen  Daseyns,  des  Selbstbewusstseyns ,  der  Einheit  des 
reflectirten  Bewusstseyns  mittelst  continuirlicher  durchgängiger 
Verknüpfung:  —  Zusammenhang  zum  Gegenstande;  und  in- 
sofern man  in  der  höchsten  Abstraction  die  vernünftige  Eigenschaft 
rein  absondert,  geht  der  Instinct  einer  solchen  blossen  Ver- 
nunft allein  auf  Personalität  mit  Ausschliessung  der  Person 
und  des  Daseyns,  weil  beide  hier  noth wendig  wegfallende  Indi- 
vidualität verlangen.  Die  reine  Wirksamkeit  dieses  letzten  Instincts 
könnte  reiner  Wille,  das  Herz  der  blossen  Vernunft  heissen, 
und  wenn  man  ihr,  als  einer  Indication,  philosophisch  nachgienge, 
würde  sich  aus  ihr  unter  anderm  auch  die  Erscheinung  eines  un- 
streitig vorhandnen  kategorischen  Imperativs  der  Sittlichkeit  voll- 
kommen begreiflich  finden  lassen.  Dieser  Instinct  umfasst  also 
die  doppelte  Natur  des  Menschen.  Er  geht  auf  Erhaltung  des 
Daseyns,  wie  jeder  Trieb  überhaupt;  allein  als  auch  der  ver- 
nünftigen Natur  angehörend,  nur  auf  Erhaltung  des  dem  Menschen 
eigenthümlichen  Daseyns.  Die  eigenthümliche  Natur  des  Menschen 
aber  ist  Vernunft  und  Freiheit.  Vermöge  dieses  Instincts  ist  sich 
der  Mensch  daher  einer  Kraft  bewusst,  mit  welcher  er,  allen  An- 
trieben der  Sinne  entgegen,  allein  der  Vernunft  zu  folgen  vermag ; 
ja  er  fühlt  sich  sogar,  diess  zu  thun,  durch  einen  unaustilgbaren 
Trieb  gedrungen.  Wie  dieser  Trieb  entsteht,  wie  er  wirkt,  be- 
greift er  nicht;  versucht  er  auch,  wenn  er  weise  ist,  nicht  zu  er- 
klären. Denn  erklären  lässt  sich  nur  das  Abhängige,  Vermittelte ; 
dieser  Trieb  aber  ist  das  Letzte,  Unvermittelte.    Allein  seines  Da- 


V  Wörtlich  lautet  dort  die  Definition:  „Ich  nenne  Instinkt  diejenige  Energie, 
welche  die  Art  und  Weise  der  Selbsttätigkeit,  womit  jede  Gattung  lebendiger 
Naturen  als  die  Handlung  ihres  eigentümlichen  Daseins  selbst  anfangend  und 
alleintätig  fortsetzend  gedacht  werden  muß,  ursprünglich  fohne  Hinsicht  auf  noch 
nicht  erfahrene  Lust  und  Unlust)  bestimmt." 


302 


8.    Rezension  von 


seyns  und  seiner  höheren  Natur  ist  er  sich  mit  einer  über  allen 
Zweifel  erhabenen  Gewissheit  bewusst;  er  fühlt,  dass  er  selbst  nur 
durch  ihn  mit  allem  Göttlichen  verwandt,  dass  er  „der  Odem 
Gottes  ist  in  dem  Gebilde  von  Erde."  ^)  Was  dieser  Trieb  in 
seiner  Reinheit  schaft,  ist  Tugend;  und  weil  Uebung  der  Tugend 
nichts  anders,  als  Wirksamkeit  des  Menschen  in  seinem  eigen- 
thümlichsten  Daseyn  ist,  so  ist  mit  der  Tugend  zugleich  unmittel- 
bar Glückseligkeit  verbunden.  Denn  dasselbe  Bewusstseyn,  durch 
das  wir  den  Ursprung  der  Tugend  aus  dem  bessern  Theil  unsers 
Wesens  gewahr  werden,  lehrt  uns  auch,  „dass  die  höchste  Glück- 
seligkeit nicht  eine  gewisse  Art  des  äusserlichen  Zustandes,  sondern 
eine  Beschaffenheit  des  Gemüths,  eine  Eigenschaft  der  Person  ist." 
(Th.  I.  S.  124.)  Und  so  ist  es  die  Tugend,  welche  „dem  Menschen 
zugleich  die  Geheimnisse  seiner  Natur  und  seiner  Glückseligkeit 
heller  offenbart."  (Th.  i.  S.  130.)  Auf  diesem  Fundament  ruht 
das  System  der  praktischen  Philosophie  des  Vf.  Wie  ungewöhn- 
lich nun  auch  mancher  Ausdruck,  wie  fremd  die  ganze  Dar- 
stellungsart Lesern  scheinen  mag,  welche  sich  einmal  streng  an 
die  bisherigen  Systeme  halten;  so  werden  sie  derselben  nicht  ab- 
sprechen können,  dass  die  höchste  Reinheit  der  Moralität  darin 
unentweiht  geblieben  ist.  Denn  das  Einzige,  worauf  alles  endlich 
zurückgeführt  wird,  ist  die  Kraft  der  praktischen  Vernunft,  die 
uneingeschränkte  Freiheit  des  Willens.  Alle  materialen  Grundsätze 
sind  gänzlich  entfernt;  und  derjenige,  der  zwar  nirgends  förmlich 
ausgedrückt  ist,  den  aber  die  ganze  Ideenreihe  deutlich  anzeigt,  ist 
lediglich  formal,  und  allein  in  der  Form  der  menschlichen  Ver- 
nunft enthalten,  auf  welcher  des  Menschen  persönliches  Daseyn 
beruht,  dessen  Erhaltung  und  Erhöhung  jener  Instinct  zum  Gegen- 
stande hat.  Allein  die  Moral  ist,  dieser  Vorstellungsart  zufolge, 
auch  wiederum  nicht  bloss  eine  aus  Formeln  und  Vernunftsätzen 
bestehende  Theorie,  der  es,  wie  consequent  sie  auch  an  sich  seyn 
möchte,  noch  immer  an  äussrer  Wahrheit,  an  praktischer  Noth- 
wendigkeit  mangeln  könnte ;  sie  ist  durch  die  festesten  und  in  der 
Natur  selbst  sichtbarsten  Bande  mit  der  Wirklichkeit  verknüpft, 
und  geht  aus  dem  innersten  Wesen  des  Menschen  hervor.  Wenn 
er  Mensch  heissen,  nicht  die  Stimme  seines  eignen  Gefühls  über- 
täuben will,  muss  er  ihr  Gehorsam  leisten.  Jener  Trieb  ist  un- 
läugbar  im  Menschen  vorhanden,   und   insofern  Instinct  diejenige 


V  Über  die  Lehre  des  Spinoza  S.  XLIII. 


Jacobis   Woldemar. 


303 


innere  bewegende  Kraft  ist,  welche  ursprünglich  mit  der  Eigen- 
thümlichkeit  eines  Wesens  gegeben  ist,  kann  er  auch  mit  Recht 
Instinct  genannt  werden.  Genau  untersucht  wird  hier  sogar  nichts 
anders  zum  Grunde  gelegt,  als  eben  das,  wovon  auch  das  recht- 
verstandene  Morals^'stem  der  kritischen  Philosophie  ausgeht  — 
sitthches  Gefühl,  Gewissen,  Freiheit,  Allein  es  ist  hier  auf  einem 
durchaus  andern,  völlig  eignen  Wege  gefunden,  und  wird  auf 
einem  andern  herbeigeführt.  Daher  stellt  es  auch  gerade  seinen 
Ursprung  in  ein  vorzüglich  helles  Licht,  zeigt  noch  klärer  die  Ver- 
bindung zwischen  dem  Moralgesetz,  und  der  wirldichen  Natur  des 
Menschen,  enthüllt  gleichsam  noch  mehr  die  Thatsachen  der  Frei- 
heit und  des  sittlichen  Gefühls,  und  giebt  dadurch  selbst  zur  Auf- 
bauung der  endlichen,  von  allen  Seiten  genügenden  Philosophie 
die  treflichsten  Winke.  Einen  solchen  Wink  glauben  wir  z.  B. 
darin  zu  entdecken,  dass  dem  Instinct,  der  allem  zum  Grunde 
liegt,  durchgängiger  Zusammenhang  zum  Gegenstand  gegeben,  und 
also  im  Menschen  ein  Grundtrieb  nach  innerer  und  äusserer  Ueber 
einstimmung  festgestellt  wird,  aus  dem  sich  —  wenn  es  hier  der 
Ort  wäre,  solchen  Entwicklungen  vorzugreifen  —  auch,  unter  andern 
wichtigen  Folgen  für  die  theoretische  und  praktische  Philosophie, 
der  notliwendige  Zusammenhang  der  Glückseligkeit  mit  der  Tugend 
streng  beweisen  lassen  würde.  Allein  die  Einsicht  dieses  Zu- 
sammenhanges bleibt  immer  ein  tiefer  Blick  in  die  innerste  Natur 
des  Menschen.  Den  alten  Philosophen,  vorzüglich  dem  Aristoteles, 
entgieng  er  nicht.^)  Ihnen  war  der  Mensch  zu  sehr  ein  Ganzes; 
ihre  Philosophie  gieng  zu  sehr  von  den  dunklen,  aber  richtigen 
Ahndungen  des  Wahrheitssinnes  aus.  Sie  verfielen  aber  zum 
Theil  in  ein  entgegengesetztes  Extrem,  und  läugneten  alle  Ab- 
hängigkeit von  der  Hand  des  Geschicks.  Die  neuere  Philosophie 
hat  zu  sehr  durch  fremde  Hand  verknüpft,  was,  seiner  Natur 
nach,  schon  verschwistert  ist.  Es  bleibt  einer  künftigen  vorbe- 
halten, durch  ein  noch  tieferes  Eindringen  in  die  Natur  des  sitt- 
lichen Gefühls,  und  seiner  Wirksamkeit  in  dem  ganzen  Wesen 
des  Menschen,  das  streng  darzuthun,  wofür  die  Empfindung  des 
natürlichen,  aber  gutgestimmten  Menschen  von  selbst  so  laut  spricht. 
Dass  aber  jenem  Triebe,  jenem  ursprünglichen  Instincte  nicht  etwa 
unbestimmte   Begriffe,   oder   dunkle  Gefühle   zum  Grunde   liegen. 


V  Vgl.   Jacobis    eigene   Auseinandersetzung    der   ethischen    Prinzipien    des 
Aristoteles  im  Woldemar  2,  242. 


304 


8.    Rezension  von 


beweisen  unter  mehreren  merkwürdigen  Stellen  dieser  Schrift  vor- 
züglich die  Worte  Woldemars  (Th.  i.  S.  135.)  in  dem  Gespräche 
mit  ßiderthal.  Nachdem  er  gezeigt  hat,  wie  der  Begriff  wichtiger 
und  höher  ist,  als  die  Empfindung,  und  wie  das  ganze  mensch- 
liche Bestreben  dahin  geht,  unsre  Empfindungen  in  Begriffe  zu 
verwandeln,  kommt  er  auf  die  Frage,  worin  die  Vortreflichkeit 
des  Menschen  bestehe?  „Die  Gaben,"  antwortet  er  sich  selbst, 
„sind  mancherlei;  aber  jeder  ist  vortreflich  in  seinem  Maass,  dessen 
Vernunft  seine  Empfindungen,  Begierden  und  Leidenschaften  über- 
schaut und  beherrscht.  Ich  sage  beherrscht!  denn  Empfin- 
dungen, Begierden  und  Leidenschaften  müssen  da  seyn,  wenn 
menschliche  Vernunft  da  seyn  soll.  Aus  stumpfen  Sinnen  werden 
nie  helle  Begriffe  hen^orgehen ;  und  wo  Schwäche  der  Triebe  und 
Begierden  ist,  da  kann  weder  Tugend  noch  Weisheit  eine  Stelle 
finden.  Kein  \^olk ;  keine  Obrigkeit !  Keine  Obrigkeit ;  keine  Ge- 
meine !  Je  zahlreicher  aber  und  je  rüstiger  die  Menge,  desto 
grösser  das  Fürstenthum !  Und  gleich  einem  Fürstenthum  ist  die 
Vernunft,  wovon  ich  rede.  Ihr  gehört  jenes  herrschende  Gefühl, 
jene  herrschende  Idee,  wodurch  allen  übrigen  Ideen  und  Gefühlen 
ihre  Stelle  angewiesen  wird,  und  ein  höchster  unveränder- 
licher Wille  in  die  Seele  kommt;  von  ihr  kommt  jener  auf 
unüberwindliche  Liebe  gegründeter  unüberwindlicher  Glaube,  und, 
mit  diesem  Glauben,  jener  heilige  Gehorsam,  welcher  besser  ist, 
denn  Opfer."  Das  in  dieser  letzten  Stelle  über  Liebe  und 
Glauben  Gesagte  betrift  die  Verbindung  der  Moral  mit  der 
Religion,  und  erhält  seine  vollkommene  Aufklärung  aus  den  Briefen 
über  die  Lehre  des  Spinoza.  Vorr.  S.  XLI— XLV.  §.  XXXIX— 
XLVI.  Was  also  wohl  das  Resultat  der  ganzen  Philosophie  des 
Vf.  überhaupt  seyn  dürfte,  dass  sie  nemlich  Wahrheit  und  Da- 
seyn,  um  seinem  eignen  Ausdruck  zu  folgen,  scharf  aufzufinden, 
und  klar  zu  enthüllen,  die  Thatsachen,  von  welchen  ausgegangen 
werden  muss,  darzustellen,  und  den  Weg  des  ferneren  Ganges  im 
Ganzen  zu  zeigen,  mehr  als  vielleicht  irgend  eine  andre,  mit  oft 
bewundernswürdigem  Glücke  bemüht  ist;  das  ist  gewiss  in  noch 
höherem  Grade  das  Resultat  des  in  dem  Woldemar  entworfenen 
Moralsystems.  Allein  wie  bei  seinen  übrigen  philosophischen 
Aeusserungen,  so  möchte  man  auch  hier  manchmal  wünschen, 
dass  es  ihm  gefallen  haben  möchte,  die  BegritTe  noch  genauer  zu 
analysiren,  die  Sätze  in  strengerer  Folge  aus  einander  herzuleiten, 
ja  selbst  hie  und  da  dem  Ausdruck  eine  grössere  Bestimmtheit  zu 


Jacobis  Woldemar.  90^ 

geben,  um  noch  mehr  jedem  möglichen  Misverständniss  zuvor- 
zukommen. Ueberall  würde  der  Vortrag  dadurch  mehr  FassHch- 
keit  und  grössere  philosophische  Strenge  erhalten;  wo  aber  das 
System  selbst  noch  einer  Prüfung  bedarf,  da  würde  eine  solche 
Methode  zugleich  den  Vonheil,  auch  diese  zu  erleichtern,  ge- 
währen. Allein  freilich  könnte  diess  Unternehmen,  wie  schon  der 
Vf.  selbst  einmal  (Br.  üb.  d.  Lehre  d.  Spinoza.  Vorr.  S.  XXIV.) 
bemerkt,  vollkommen  nur  in  einem  eignen  sehr  kritischen  Werke 
geschehen,  in  welchem  er  sein  Gedankensystem  von  Grund  aus, 
und  im  Zusammenhange  mit  allen  seinen  Folgen  darlegte;  und 
wenn  der  Leser  sich  ihm  schon  zum  lebhaftesten  Dank  für  das, 
was  er  empfängt,  verpflichtet  fühlt,  ist  er  freilich  nicht  berechtigt, 
auch  noch  auf  eine  neue  Gabe  Anspruch  zu  machen. 

So  reich  aber  die  gegenwärtige  Schrift  auch  an  philoso- 
phischem Gehalt  ist;  so  ist  sie  doch  auf  der  andern  Seite  zugleich 
ein  freies  dichterisches  Product,  und  verdient  vorzüglich  als  Kunst- 
werk, dass  die  prüfende  Aufmerksamkeit  dabei  verweile.  Auch 
alle  philosophische  Absicht  entfernt,  ist  das  Ganze  ein  schönes, 
anziehendes  Gemähide  interessanter  Situationen;  die  Reihe  der 
Begebenheiten  geht,  nur  durch  sich  selbst  bestimmt,  mit  unge- 
zwungener Leichtigkeit  fort,  und  das  Raisonnement  scheint  wie 
von  selbst  und  ohne  Absicht  hineinverwebt.  Die  Geschichte, 
welche  dem  Ganzen  zum  Vehikel  dient,  ist  nicht  reich  an  Er- 
findung, noch  ihr  Faden  verwickelt  —  ein  einfaches  Familienleben 
in  Verhältnissen,  die  fast  durchaus  mehr  durch  die  Empfindungs- 
weise der  handelnden  Personen,  als  durch  äussre  Vorfälle  bestimmt 
werden.  Allein  gerade  diess  foderte  auch  sowohl  die  philoso- 
phische, als  poetische  Absicht  des  Vf.  Je  weniger  Abweichungen 
die  Dazwischenkunft  äussrer  Begebenheiten  veranlasste,  desto  reiner 
konnten  sich  die  Charaktere  aus  ihrer  Individualität  entwickeln, 
und  diese  vollkommen  zu  schildern,  war  unstreitig  sein  Haupt- 
zweck. Und  in  der  That  verräth  auch  die  Art  ihrer  Zeichnung, 
ihrer  Haltung,  ihrer  Auflösung,  da  wo  die  Verwicklung  manchmal 
auf  den  höchsten  Grad  steigt,  eine  seltne  Feinheit  der  Beobachtung 
und  eine  gleich  ungewöhnliche  Gabe  der  Darstellung.  Es  gehörte 
ein  eigner  grosser  Gehalt  dazu,  die  einzelnen  Züge  zu  Menschen, 
wie  sie  hier  geschildert  sind,  zusammenzutragen,  und  reife  psycho- 
logische Einsicht,  sie,  der  Natur  entsprechend,  in  Ein  Bild  zu  ver- 
einigen. Denn  die  hier  gezeichneten  Charaktere  sind  nicht  bloss 
wegen  ihrer  wirklichen  Vortreflichkeit  selten,  sondern  besitzen  auch 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  20 


3o6 


8.    Rezension  von 


einen  Grad  der  Originalität,  der  ihnen  vor  manchem,  auch  nicht 
ungeweihtem  Auge  etwas  Fremdes,  wenn  nicht  gerade  Unnatür- 
liches geben  kann.  Zwar  existiren  gewiss,  zum  Glück  und  zur 
Ehre  der  Menschheit,  Individuen  von  gleich  eindringendem  Geiste, 
gleich  gross'er  Wärme  des  Gefühls,  gleich  zartem  Schönheitssinn, 
Menschen,  denen  also  eben  so  wenig  weder  das  Mühen  nach 
äusseren  Endzwecken,  noch  die  blosse  Thätigkeit  der  intellectuellen 
Ivräfte  genügt,  die  sich  eben  so  ein  eignes  und  gerade  das  liebste 
Geschäft  daraus  machen,  gleichsam  in  der  Mitte  ihrer  Empfin- 
dungen zu  leben.  Allein  selten,  und  auch  diess  hat  die  Natur  mit 
Weisheit  geordnet,  werden  sie  von  den  äussern  Gegenständen  so 
wenig  gestört,  und  seltner  noch  von  ihren  Verhältnissen  selbst  so 
dringend  veranlasst,  sich,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist,  so  in 
ihren  Gefühlen  zu  verlieren,  so  anhaltend  über  ihnen  zu  verweilen, 
sie  endlich  so  dauernd  und  so  mächtig  herrschend  in  sich  werden 
zu  lassen,  als  man  hier,  vorzüglich  in  einigen  Epochen,  an  Wol- 
demar  und  an  seinen  Freunden  bemerkt.  Was  in  der  Natur 
einzeln,  in  verschiedenen  Lagen,  in  längeren  Zeiten  zerstreut  ist, 
das  ist  hier  sehr  natürlich  näher  zusammengerückt,  und  macht  nur 
dadurch  einen  verschiednen,  weniger  gewohnten  Eindruck.  Es 
würde  daher  kaum  wunderbar  scheinen  dürfen,  wenn  einige 
Situationen,  z.  ß.  Woldemars  Abneigung,  sich  mit  Henrietten  zu 
verheirathen,  und  besonders  die  Art,  wie  beide  sich,  auf  die  Ver- 
anlassung eines  Misverständnisses ,  gegenseitig  quälen,  wo  Eine 
einfache  Erklärung  sie  verglichen  haben  würde,  einigen  Lesern, 
vorzüglich  beim  ersten  Anblick,  nicht  ganz  natürlich  scheinen  sollten. 
Nicht  zwar  als  könnten  dergleichen  im  wirklichen  Leben  nicht 
vorkommen,  da  jeder  Leser  sich  vielleicht  nicht  unähnlicher  er- 
innern wird ;  nicht  auch  als  entsprängen  sie  nicht  aus  den  Charak- 
teren, wie  sie  einmal  geschildert  sind,  oder  als  wären  die  Umstände 
nicht  gehörig  auseinander  gesetzt,  die  sie  nicht  bloss  möglich, 
sondern  sogar  nothwendig  machten;  sondern  bloss  weil  es  ein 
mächtiger  Unterschied  ist,  etwas  in  der  wirklichen  Natur  und  in 
der  nachahmenden  Schilderung  zu  erblicken.  Es  ist  damit  gerade 
ebenso,  als  mit  der  Erscheinung,  dass  es  Dinge  giebt,  die  beides 
zu  komisch  und  zu  tragisch  sind,  um  z.  B.  auf  dem  Theater 
Glauben  zu  finden,  und  die  dennoch  im  Leben  wirklich  und  sogar 
nicht  selten  vorkommen.  Wie  nemlich  die  Natur  immer  die  Ge- 
wissheit der  Wirklichkeit  unmittelbar  mit  sich  führt,  so  ist  die 
Nachahmung  zu  leicht  von  einem  gewissen  Mistrauen  gegen  ihre 


Jacobis  Woldemar.  "^OV 

Treue  begleitet.  Von  diesem  veranlasst  geht  man  leicht  dem  Wege 
nach,  auf  dem  sie  eine  Situation  herbeiführt,  um  ihre  Möglichkeit 
zu  beurtheilen;  und  wie  streng  und  genau  dieser  gezeichnet  se^'n 
mag,  so  zerstreut,  (noch  ungerechnet,  dass  es  oft  geheime,  kaum 
bemerkbare  Ursachen  giebt,  welche  aller  Darstellung  entschlüpfen,) 
schon  diese  Vergleichung  die  Beobachtung,  und  verändert  den 
Eindruck,  Vorzüglich  bei  der  Schilderung  von  Charakteren  mag 
es  also,  auch  innerhalb  der  empirischen  Wahrheit,  noch  eine  ge- 
wisse Grenze  der  poetischen  Wahrscheinlichkeit  geben ;  vorzüglich 
da  mag  nur  eine  gewisse  iVbweichung  von  der  gewöhnlichen 
Menschennatur,  die  dem  Gefühl  eines  jeden  zum  Maassstabe  des 
Natürlichen  dient,  erlaubt  seyn.  So  gefährlich  aber  auch  die  Ivlippe 
war,  die  dem  Vf.,  welcher,  seiner  Absicht  gemäss,  einmal  keine 
andre  moralische  Gestalten,  als  gerade  die  geschilderten,  wählen 
konnte,  hier  drohte;  so  glücklich  hat  er  sie  zu  überwinden  ver- 
standen, und  auch  die  Zweifel,  von  welchen  wir  eben  sprachen, 
werden  gewiss  bei  tieferem  Studium  der  gezeichneten  Charaktere 
verschwinden.  Vertraut  mit  dem  Wesen  der  poetischen  Kunst, 
weiss  er,  auch  was  völlig  subjectiv  scheint,  noch  an  die  noth- 
wendigen  Bedingungen  der  menschlichen  Natur  anzuknüpfen ;  mit 
kluger  Vorsicht  lässt  er  jede  neue  Wendung  des  Charakters  so 
vollständig  vorbereiten,  und  so  lange  verweilen,  und  mit  meister- 
haftem Talent  versucht  er  durch  eine  schöne,  an  mehr  als  Einer 
Stelle  hinreissende  Sprache  den  Leser  so  in  sein  Interesse  zu  ver- 
weben, dass  sein  Gefühl  in  die  gleiche  Stimmung  übergeht.  Nun 
ist  ihm  jeder  folgende  Schritt  klar,  nun  theilt  er  ihn  selbst.  Immer 
aber  bleibt  in  Charakteren,  wie  Woldemar  und  Henriette,  wie  sie 
durch  Woldemar  umgebildet  ist,  gleichsam  eine  gewisse  Schwierig- 
keit zurück.  Wie  schön  und  edel  sie  sind,  wie  tief  sie  ergreifen 
und  erschüttern;  so  spannen  sie  doch  das  Interesse  auf  eine  be- 
unruhigende Weise.  Es  schmerzt,  wenn  man  sieht,  dass  sie  in 
der  glücklichsten  äusseren  Lage,  mit  den  besten  Ivräften,  die  das 
Geschick  seinen  Günstlingen  zu  schenken  vermag,  ihre  Zufrieden- 
heit und  Thätigkeit  durch  Leiden  unterbrechen,  die  man  in  die 
Versuchung  kommen  möchte,  selbstgeschaffen  zu  nennen.  Sanft 
und  schön  ruht  daher  der  Blick  auf  einigen  andern  Gestalten  aus, 
die  mit  weiser  Oekonomie  an  ihre  Seite  gestellt  sind.  Welcher 
Leser  erinnert  sich  nicht  hiebei  an  Alhvina,  an  das  liebenswürdige 
Geschöpf,  das  in  der  höchsten  Anspruchlosigkeit,  sich  selbst  un- 
bewusst,  einen  Schatz  von  Tiefe   und  Grösse   des  Charakters  be- 


3o8 


8.    Rezension  von 


wahrt,  das  schwere  Verhältniss  zwischen  Woldemar  und  Henrietten 
allein  durch  Unbefangenheit  des  Sinnes  fasst,  und  durch  hingebende 
Liebe  in  schönen  Einklang  auflöst?  Auch  Henriettens  beide  ver- 
heirathete  Schwestern  haben  in  dieser  Rücksicht  keinen  unbeträcht- 
lichen Antheil  an  der  Wirkung  des  Ganzen;  und  selbst  der  alte 
Hornich,  wie  er  nur  durch  äussre  Verhältnisse  gebildet  ist,  und 
nur  im  Aeussern  lebt,  trägt  durch  seine  contrastirende  Gestalt 
wesentlich  dazu  bei,  der  Gruppe  Mannigfaltigkeit  zu  geben,  die 
von  einer  andern  Seite  her  Einheit  erhält.  Denn  Woldemar  ist 
es,  seine  Art  zu  seyn,  die  sich  nach  und  nach  allen  übrigen  mehr 
oder  minder  mittheilt,  an  welche  sich  alles  andre  anschliesst.  Dass 
sein  Charakter  sich  entwickelte,  dass  er  zu  dem  Grade  der  Ruhe 
und  Festigkeit  käme,  der  ihm  so  sehr  mangelte,  und  nach  dem 
er  sich  so  innig  sehnte,  ist  das  letzte  Ziel  dieses  schönen,  mannig- 
faltig verflochtenen  Ganzen.  Diesem  Ziele  arbeitet  alles  in  grosser 
Einheit  entgegen.  So  wie  Woldemar  auftritt,  erregt  sein  Charakter 
bei  dem  Leser,  wie  bei  seinen  Freunden,  Besorgnisse.  Wie  er 
da  ist,  fühlt  man  lebhaft,  ist  er  noch  nicht  zur  Stätigkeit  und 
Ruhe  gediehen;  er  muss  noch  viele  Prüfungen  bestehen,  neue 
Umwandlungen  erleiden.  In  der  Folge  steigt  die  VenA^icklung,  und 
noch  gerade  den  nächsten  Augenblick  vor  der  Auflösung  hat  sie 
den  höchsten  Gipfel  erreicht,  so  dass  man  sich  durch  diese  doppelt 
überrascht  sieht.  Dennoch  ist  es  gerade  diese  Auflösung,  mit 
welcher  mancher  Leser  minder  zufrieden  seyn  dürfte.  Wie  man 
sich  Woldemar  bis  dahin  zu  denken  gewohnt  gewesen  ist,  mit 
der  Grösse  und  Festigkeit,  mit  dieser  eigentlichen  Stärke  des 
Charakters,  hätte  man  ihn,  wenn  er  je  fallen  konnte,  lieber  sich 
durch  eigne  Kraft  wieder  aufrichten  sehen,  als  an  der  Hand  eines 
Dritten,  sey  es  auch  die  Hand  der  Geliebten.  Es  ist  schwer  zu 
beurtheilen,  ob  in  dem  Plane  des  Vf.  ein  solcher  Ausgang  mög- 
lich war.  Allein  in  dem  Charakter  selbst,  so  wie  er  entwickelt  ist 
scheint  keine  Unmöglichkeit  zu  liegen.  Wenn  er  auf  dem  Wege 
fortgieng,  auf  dem  er  war,  wenn  er,  endlich  an  aller  Menschen- 
würde und  Menschenkraft  verzweifelnd,  sich  einem  völligen  Un- 
glauben, einer  alles  verachtenden  Härte  überliess;  so  mussten 
gerade  durch  diess  Uebergewicht  der  entgegengesetzten  Gefühle 
jene  sanfteren  und  natürlicheren  nach  eben  dem  Gesetz  von  selbst 
wieder  lebhaft  werden,  nach  welchem  jede  Kraft  gerade  dann  am 
regsamsten  wird,  wenn  ihr  der  gänzliche  Untergang  droht.  Je 
schrecklicher  die  Einöde  war,  in  welche  Woldemars  Seele  sich  um- 


Jacobis  Woldemar.  aOQ 

geschaffen  fühlte,  desto  mächtiger  musste  die  leiseste  Regung 
dieser  Empfindungen  wirken ;  der  Rückweg  war  nun  schneller  als 
die  Verirrung;  und  Woldemar  kehrte  so  durch  sich  selbst  zum 
Glauben  an  Tugend  und  Menschheit,  und  mit  ihm  zum  Glauben 
an  Henrietten  zurück.  Aber  er  dankte  seine  Rettung  nicht  minder 
dem  Gefühle  der  Liebe;  Vertrauen  auf  Liebe  trat  nicht  minder 
an  die  Stelle  des  stolzeren  Selbsts^ertrauens ;  der  Sieg  der  Liebe 
war  vielmehr  um  so  grösser,  wenn  sie  nicht  Henriettens  Wort, 
wenn  sie  nur  ihr  Andenken,  nur  was  Henriette  in  Woldemars 
Seele  gestiftet  hatte,  zu  Hülfe  zu  rufen  brauchte.  Die  einzelnen 
Rollen  sind  mit  grosser  Zweckmässigkeit  unter  die  auftretenden 
Personen  vertheilt,  und  die  Charaktere  mit  vieler  Kunst  gezeichnet 
und  durchgeführt.  Der  wichtigste  ist  Woldemar  selbst.  Von  diesem 
ist  aber  schon  in  dem  ^^ersuche  geredet  worden,  den  wir  oben 
gemacht  haben,  einen  Abriss  der  ganzen  Schrift  zu  liefern,  und 
zw^ar  einen  Abriss,  der  gerade  ihre  Eigenthümlichkeiten,  und  nur 
diese  darstellte,  und  gerade  demjenigen  Leser  vielleicht  am  meisten 
willkommen  wäre,  der  das  Werk  selbst  schon  gelesen  hätte. 
Henriette  ist  zu  genau  mit  Woldemar  verbunden,  als  dass  dadurch 
nicht  zugleich  auch  die  Schilderung  ihres  Charakters  hinlänglich 
geprüft  wäre.  Indess  ist  dieser  fast  unter  allen  der  schwierigste, 
aber  auch  vor  allen  mit  feiner  Kunst  behandelt.  In  den  Lagen, 
in  welche  sie  durch  Woldemar  versetzt  wird,  kann  es  nicht  fehlen, 
dass  man  nicht  hie  und  da  einen  Augenblick  die  ganze,  volle 
Weiblichkeit  in  ihr  vermissen  sollte.  Wir  erinnern  hier  an  ihre 
eigne  Weigerung,  sich  mit  W^oldemar  zu  verbinden,  an  die  Ge- 
spräche, die  länger,  raisonnirender,  belehrender  sind,  als  wir  sie 
von  der  Anspruchlosigkeit  der  Frauen  erwarten.  Allein  bei  ge- 
nauerer Untersuchung  entdeckt  sich,  dass  gerade,  was  hier  minder 
weiblich  erscheint,  sich  durch  die  höchste  Weiblichkeit  auflöst. 
Nur  um  ihren  Freund  ihrer  Freundin  zu  schenken,  thut  sie  selbst 
Verzicht  auf  ihn ;  nur  aus  der  höchsten  Liebe  zu  ihm,  einer  Liebe, 
die  beide  Wesen  in  ihrem  ganzen  Daseyn  zusammenschmelzt, 
folgt  sie  ihm  in  dem  ihm  nun  einmal  eigenthümlichen  Ideengange; 
nur  an  dem  letzten  Gespräch,  in  dem  es  Woldemars  Rettung  gilt, 
nimmt  sie  einen  lebhaften  und  mehr  thätigen  Antheil.  Von  Allwina 
ist  schon  im  Vorigen  gesprochen.  Auch  die  übrigen  Personen 
sind  mit  Bestimmtheit  und  Sorgfalt  gezeichnet,  und  aller  Gleichheit 
ungeachtet,  welche  Freundschaft  und  gemeinschaftliches  Leben 
ihnen  gegeben  hat,  unterscheidet  sich  der  redliche,  aber  so  leicht 


ojo  8.    Rezension  von  Jacobis  Woldemar. 

ängstlich  besorgte  Biderthal  sehr  merklich  von  dem  kühneren, 
mehr  raisonnirenden  Dorenburg.  In  der  Schilderung  des  alten 
Hornich  liegt  eine  eigne  Natur  und  Wahrheit,  und  es  gehörte  viel 
Kunst  der  Behandlung  dazu,  einen  Charakter,  der  so  manche  wirk- 
liche Härten  hat,  dennoch  bis  auf  einen  gewissen  Grad  liebens- 
würdig erscheinen  zu  lassen.  —  So  wenig  sich  auch  die  Sprache 
des  Vf.  in  ihrer  Eigenthümlichkeit  mit  wenigen  Worten  charak- 
terisiren  lässt,  so  ist  sie  dennoch  zu  eindringend  und  schön,  um 
sie  ganz  zu  übergehen.  Vorzüglich  glücklich  ist  er  in  dem,  was 
gerade  andern  so  selten  gelingt,  in  Schilderungen  hoher  und  zarter 
Seelenstimmungen,  wovon  wir  unter  so  vielen  nur  folgende  wenige 
Th.  I.  S.  39.  40.  S.  186 — 190.  Th.  2.  S.  17 — 19.  S.  46.  47.ff.  zu 
Beweisen  anführen  wollen. 

Gleichsam  als  bald  längere,  bald  kürzere  Episoden  sind  in 
diese  Schrift  theils  eine  Menge  treflicher  psychologischer  Be- 
merkungen, theils  interessante  Raisonnements  über  wichtige  Gegen- 
stände aus  dem  Gebiete  der  Philosophie  des  Lebens  verwebt. 
Vorzüglich  unter  den  letzteren  zeichnen  sich  Th.  i.  S.  24.  u.  40. 
über  Freundschaft  und  Liebe;  S.  51 — 63.  über  die  Wahl  der  Ge- 
sellschaft; S.  80 — 103.  über  das  Uebermaass  in  Pracht  und  Einfach- 
heit; Th.  2.  S.  37 — 46.  über  das  weibliche  Geschlecht,  und  mehrere 
andre  aus.  In  dem  letzten  ausführlichen  Gespräch  über  Tugend 
und  Moralität  giebt  der  Vf.  zugleich  (Th.  2.  S.  210 — 2^14.  u.  Beil. 
S.  285 — 294.)  einen  körnigten  Auszug  aus  der  Moral  des  Aristoteles, 
der  das  Gedankensystem  des  Stagiriten  in  bündiger  Kürze  und 
mit  philosophischer  Präcision  darstellt,  und  den  wir  ebensowenig 
als  die  vortrefliche  Uebersetzung  eines  schönen  Stücks  aus  dem 
Plutarch^)  (Th.  2.  S,  178 — 205.)  unerwähnt  lassen  können. 

Dass  endlich  die  gegenwärtige  Schrift  eine  Vollendung  einiger 
schon  vor  mehreren  Jahren  erschienenen  Fragmente  ist,  wird  für 
den  grössten  Theil  der  Leser  nicht  erst  einer  Erwähnung  bedürfen. 


V  Jacobi  giebt  dort  einen  knappen  Auszug  aus  den  Biogravhieen  des  Agis 
und  Kleomenes. 


9- 

Ueber  den  Geschlechtsunterschied 
und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 

Von  der  Wichtigkeit  des  Endzwecks  erfüllt,  welchem  der 
Unterschied  der  Geschlechter  zunächst  gewidmet  ist,  pflegt  man 
die  Bestimmung  derselben  auf  ihn  allein  zu  beschränken.  Man 
nimmt  ihn  unmittelbar  mit  in  den  Begriff  derselben  auf,  denkt 
sich  unter  dieser  Anstalt  der  Natur  weiter  nichts,  als  ein  zur  Er- 
zeugung nothwendiges  Mittel,  und  würde,  wenn  diese  auf  einem 
andern  Wege  zu  erhalten  wäre,  einen  Unterschied  leicht  entbehren 
zu  können  glauben,  der  die  Entwicklung  der  Gattung  in  den  Indi- 
viduen nicht  selten  zu  hindern  scheint.  Nur  allenfalls  im  Menschen 
wird  auch  die  gemeinste  Beobachtung  mehr  auf  die  heilsame  Ein- 
wirkung des  einen  Geschlechts  auf  das  andere  aufmerksam  gemacht. 
Allein  auch  in  der  übrigen  Natur  ist  diese  Erscheinung  nicht 
weniger  sichtbar,  und  es  bedarf  nur  einer  massigen  Anstrengung 
des  Nachdenkens,  um  den  Begriff  des  Geschlechts  weit  über  die 
beschränkte  Sphäre  hinaus,  in  die  man  ihn  einschliesst,  in  ein 
unermessliches  Feld  zu  versetzen.  Die  Natur  wäre  ohne  ihn  nicht 
Natur,  ihr  Räderwerk  stände  still,  und  sowohl  der  Zug,  welcher 
alle  Wesen  verbindet,  als  der  Kampf,  welcher  jedes  einzelne 
nöthigt,  sich  mit  seiner,  ihm  eigenthümlichen  Energie  zu  wafnen, 
hörte  auf,  wenn  an  die  Stelle  dieses  Unterschiedes  eine  langweilige 
und  erschlaffende  Gleichheit  träte. 

Das  Streben  der  Natur  ist  auf  etwas  Unbeschränktes  gerichtet. 
Alles  Grosse  und  Trefliche,  was  in  endlichen  Kräften  wohnt,  will 


Erster  Druck:  Schillers  Hören,  Jahrgang  7795  2,  99 — i^d 


212  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

sie,  ohne  Ausnahme,  und  zwar  in  ein  Ganzes  vereint,  besitzen. 
Aber  da  diese  Kräfte  immer  endlich  und  an  die  Gesetze  der  Zeit 
gebunden  sind,  so  hebt  die  eine,  sofern  sie  thätig  ist,  die  andre 
auf,  und  es  ist  nicht  möglich,  dass  sie  alle  zugleich  wirken. 
Diess  gilt  aber  nicht  bloss  von  ihren  einzelnen  Kräften,  sondern 
überhaupt  von  ihren  beiden  hauptsächlichsten  Wirkungsarten,  der 
Ausbildung  des  Einzelnen,  und  der  Verbindung  des  Ganzen. 
Denn  indess  die  Kraftübung  Einseitigkeit  hervorbringt,  auf 
die  auch  die  Beschaffenheit  des  Stoffs  führt;  so  verlangt  die  ver- 
bindende Form  Vielseitigkeit,  und  die  eine  Forderung  ver- 
nichtet in  dem  Augenblick,  da  sie  geschieht,  nothwendig  die  andre. 
Wenn  also,  bei  allen  Schranken  der  Endlichkeit,  ein  unendliches 
Wirken  zu  Stande  kommen  sollte,  so  blieb  nichts  anders  übrig, 
als  die  zugleich  unverträglichen  Eigenschaften  in  verschiedene  Kräfte, 
oder  wenigstens  in  verschiedene  Zustände  derselben  Kraft  zu  ver- 
theilen,  und  sie  nun  durch  den  Drang  eines  Bedürfnisses  zu  gegen- 
seitiger Einwirkung  zu  nöthigen.  Diese  beiden  Merkmale  sind 
aber  gerade  auch  die  einzigen,  welche  der  Geschlechtsbegriff  in 
sich  fasst.  Denn,  geht  man  auch,  um  denselben  so  aufzufinden, 
wie  er  sich  wirklich  in  der  Natur  zeigt,  am  besten  von  dem  Be- 
griff der  Zeugung  aus,  so  kann  man  ihn  doch  auch,  ohne  alle 
Rücksicht  auf  diese,  in  seiner  völligen  Allgemeinheit  fassen;  und 
alsdann  bezeichnet  er  nichts  anders,  als  eine  so  eigenthümliche 
Ungleichartigkeit  verschiedener  Kräfte,  dass  sie  nur  verbunden  ein 
Ganzes  ausmachen,  und  ein  gegenseitiges  Bedürfniss,  diess  Ganze 
durch  Wechselwirkung  in  der  That  herzustellen. 

Denn  auf  der  Wechselwirkung  allein  beruht  das  Geheimniss 
der  Natur.  Ungleichartiger  Stoif  verknüpft  sich,  das  Verknüpfte 
wird  wiederum  Theil  eines  grösseren  Ganzen,  und  bis  ins  Un- 
endliche hin  umfasst  immer  jede  neue  Einheit  eine  reichere  Fülle, 
dient  jede  neue  Mannigfaltigkeit  einer  schöneren  Einheit.  Stoff 
und  Form,  so  vielfach  in  einander  verschränkt,  vertauschen  ihr 
Wesen,  und  nirgends  ist  etwas  bloss  bildend  oder  gebildet.  So 
erhält  die  Natur  zugleich  Einheit  und  Fülle,  zwei  scheinbar  ent- 
gegengesetzte, aber  nah  verwandte  Eigenschaften,  deren  eine 
dem  Geist  wohlthätige  Ruhe  gewährt,  wenn  ihn  die  andre  zu 
thätigem  Nachdenken  angespannt  hat. 

Von  dem  zauberähnhchen  Wirken  dieser  zahllosen  Kräfte  er- 
staunt, verzweifelt  der  menschliche  Geist,  je  in  diess  heilige  Dunkel 
zu  dringen.    Dennoch  fühlt  er  sich  durch  seine  Natur  aufgefordert, 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 


313 


es  zu  versuchen.  Soll  nun  der  Versuch  nicht  gänzlich  mislingen, 
so  wende  er  seinen  Blick  von  dem  Zusammenfluss  der  Wirkungen 
ab  auf  die  vereinzelten  wirkenden  Kräfte.  Was  dort  durch  viel- 
faches Eingreifen  in  fremder  und  mannigfaltig  verschiedener  Gestalt 
erscheint,  sieht  er  hier,  vereinzelt,  in  seiner  eigenthümlichen  wieder. 
Denn  jede  Verbindung  in  der  Natur  geht  aus  der  innren  Be- 
schaffenheit der  Wesen  hervor,  und  ihr  stilles  Wirken  unterbricht 
keine  eigenmächtige  Willkühr.  Was  sich  mit  einander  vereinigt, 
trägt  in  seinem  Wesen  selbst  das  Bedürfniss  dieser  Vereinigung; 
und  alle  Erscheinungen  der  Natur  bestimmt  der  Charakter  der 
wirkenden  Kräfte.  Ist  indess  der  Weg  auf  diese  Weise  verein- 
facht, so  darf  man  ihn  nicht  zugleich  auch  erleichtert  nennen. 
Sehr  schwierig  ist  es,  diesen  verborgenen  Charakter  zu  erspähen, 
der  nicht  in  dem  Inbegriff  der,  oft  nur  zufälligen  Aeusserungen 
eines  Dinges  besteht,  sondern  ihr  innerstes  Wesen  selbst  ausmacht, 
nicht  durch  rhapsodistische  Aufzählung  der  einzelnen  Merkmale 
erschöpft  wird,  sondern  in  seiner  ganzen  Einheit  aufgefasst  werden 
muss.  Gerade  weil  er  die  letzte  Verbindung  von  jenen  ist,  darf 
er  keine  Trennung  verstatten,  ist  er  für  die  innere  Anschauung, 
was  die  äussere  Gestalt  dem  Auge,  und  enthüllt  sich  fast  nur 
einem  gewissen  ahndenden  Gefühle,  da  er  doch  auf  Begriffe  zu- 
rückgeführt, und  durch  Beweise  bestätigt  werden  soll. 

Was,  so  wie  dieser  Charakter,  das  letzte  Resultat  aller  ver- 
einigten Kräfte  ist,  kann  wieder  nur  mit  vereinigten  Kräften  ver- 
standen werden.  In  harmonischem  Bunde  muss  das  Gefühl  mit 
dem  Gedanken  gemeinschaftlich  thätig  seyn.  Hat  der  Verstand 
die  Natur  und  die  Wirkungsart  des  Wesens  nach  Begriffen  unter- 
sucht, so  muss  die  Phantasie  das  äussere  Bild  seines  Erscheinens, 
die  Form  jenes  Inhalts,  auffassen,  und  nur  die  Einheit,  zu  welcher 
der  Geist  diess  doppelte  Resultat  zu  verknüpfen  strebt,  kann  dem 
Gesuchten  einigermaassen  entsprechen.  Keine  P>scheinung  einer 
Kraft  darf  daher  der  Forscher  zurückweisen,  und  durch  das  ganze 
Gebiet  ihrer  Wirksamkeit  muss  er  sie  verfolgen.  Bei  Untersuchung 
der  Körperwelt  muss  er  mit  der  moralischen  ebensowohl,  als  bei 
dieser  mit  jener  vertraut  seyn,  und  sein  Bemühen  gehe  auf  die 
grössere  Naturökonomie  oder  den  kleineren  Kreis  des  Menschen, 
so  darf  er  nie  das  Ganze  aus  dem  Gesichte  verlieren.  Denn  die 
äussere  sinnliche  Gestalt  der  Gegenstände  giebt  ihm  einen  Spiegel 
in  die  Hand,  in  welchem  sein  Auge  ihre  innere  Beschaffenheit 
erblickt. 


314 


9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 


Vorzüglich  aber  bedarf  der  Mensch  zu  Ergründung  und  Ver- 
edlung auch  seiner  moralischen  Natur  einer  anhaltenden  und 
ernsten  Betrachtung  der  ph3^sischen  um  ihn  her,  und  ihre  Vor- 
sorge hat  ihm  sogar  diess  Studium  erleichtert.  Schon  in  dem 
bloss  körperlichen  Theil  seines  Wesens  findet  er  mit  unverkenn- 
barer Schrift  dasjenige  ausgedrückt,  was  er  in  seinem  moralischen 
zum  Daseyn  zu  bringen  streben  soll.  Freilich  verweilt  das  Auge 
des  Betrachters  nur  selten  hinlängUch  auf  den  Zügen  dieser  Schrift. 
Vorsichtige  Besorgniss,  durch  leere  Bilder  der  Phantasie  getäuscht 
zu  werden,  zieht  oft  die  Aufmerksamkeit  davon  ab,  und  noch  weit 
öfterer  hindert  sie  Mangel  an  Feinheit  des  Sinns,  überhaupt  nur 
rege  zu  werden.  Dennoch  ist  es  unläugbar,  dass  die  physische 
Natur  nur  Ein  grosses  Ganze  mit  der  moralischen  ausmacht,  und 
die  Erscheinungen  in  beiden  nur  einerlei  Gesetzen  gehorchen. 
Nach  der  Erforschung  der  Körperwelt  und  dem  Studium  des 
Innern  Lebens  der  Geister  bleibt  daher  noch  endlich  ein  Blick  auf 
das  gegenseitige  Verhältniss  dieser  beiden  völlig  ungleichartigen 
Reiche  übrig,  um  diejenigen  Gesetze  aufzufinden,  welche,  in  beiden 
herrschend,  die  höchste  Verknüpfung  des  Naturganzen  vollenden. 
Dieser  Gesetze  werden  freilich  immer  nur  sehr  wenige  und  äusserst 
einfache  seyn  können,  da  sie  die  reiche  Mannigfaltigkeit  aller  be- 
sondren unter  sich  befassen  müssen.  Allein  eben  dadurch  wird 
es  dem  Menschen  leichter  werden,  ihnen  auch  an  seinem  Theil 
zu  gehorchen,  und  gerade  die  verborgensten  Geheimnisse  seines 
Wesens  in  ihnen  besser  enthüllt  zu  sehn.  Denn  vorzüglich  in 
dem  Felde  der  menschlichen  Empfindung  und  Begierde  giebt  es 
Tiefen,  w^elche  der  Forscher  nie  zu  ergründen  vermag,  wenn  er 
den  Blick  unmittelbar  und  allein  auf  sie  heftet.  Wo  die  Verwandt- 
schaft mit  der  schlechterdings  physischen  Natur  des  Menschen  zu 
nah  ist,  hört  die  Möglichkeit  auf,  alles  durch  seine  bloss  moralische 
zu  erklären.  Er  muss  daher  zugleich  auf  jene  zurückgehn,  und 
dasjenige,  was  in  einer  feinen  und  verwickelten  Organisation  un- 
deutlich erscheint,  muss  er  da  aufsuchen,  wo  es  in  grossen  und 
einfachen  Zügen  ausgedrückt  ist.  Wohin  aber  wendete  er  sich  da 
besser,  als  an  dieselbe  Natur  in  ihrer  weniger  verwickelten,  aber 
grössern  Oekonomie  ?  Aus  ihr  muss  der  Mensch  sich  besser  verstehn 
lernen,  und  bei  ihr  den  Stamm  aufsuchen,  von  dem  nur  die  feinste 
Blüthe  in  ihm  sprosst.  Hat  er  diesen  entdeckt,  so  ist  es  nun 
weniger  schwer,  den  wunderbaren  Bau  bis  in  seine  äussersten 
Zweige  zu  verfolgen.     Hier  ist  der  Standpunkt,  auf  welchem   der 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 


3i:> 


Kenner  der  ph3^sischen  und  der  Erforscher  der  moralischen  Natur 
einander  gegenseitig  die  Hand  bieten,  um  die  steile  Höhe  zu  er- 
steigen, von  welcher  jedes  sein  eignes  Gebiet  in  einer  neuen  und 
nun  erst  in  der  wahren  Gestalt  erblickt.  Den  äussersten  Gipfel 
dieser  Höhe  zu  erreichen,  dürfte  allerdings  wohl  menschlichen 
Kräften  verwehrt  seyn.  Aber  die  Kenntniss  der  Natur  wird  sich 
immer  ganz  und  gar  von  der  Wahrheit  entfernen,  wenn  man 
demselben  nicht  wenigstens  entgegenstrebt,  und  er  nicht  der  Ge- 
sichtspunkt ist,  den  man,  auch  bei  der  Beschäftigung  in  jedem 
einzelnen  der  beiden  Reiche,  unverrückt  im  Auge  behält. 

Aus  endlichen  Kräften  bestehend,  weiss  die  Natur  sich  durch 
ihre  Form  Unendhchkeit  zu  verschaffen.  Dem  Gesetze  derselben 
gehorsam,  hinterlässt  das  hinschwindende  Wesen,  ehe  es  von  dem 
Schauplatz  seiner  Thätigkeit  scheidet,  ein  neues  an  seiner  Stelle, 
und  indem  so  das  Einzelne  wechselt,  bleibt  das  Ganze  in  ununter- 
brochener Einheit.  Diese  Sorgfalt  für  die  Fortdauer  der  Gattungen, 
bei  der  Vergänglichkeit  der  Individuen,  ist  die  erste  Erscheinung, 
welche  sich  dem  allgemeinsten  Blick  auf  das  gesammte  Gebiet  der 
Natur  darstellt.  Aber  nicht  auf  blosse  Fortdauer  allein  beschränkt, 
ist  ihre  Absicht  hiebei  zugleich  auf  etwas  Höheres  gerichtet.  Weil 
bei  endlichen  Wesen  das  Vortrefliche  nicht  auf  einmal  entsteht, 
so  erhebt  sie  sie  von  Stufe  zu  Stufe  des  Bessren.  Dadurch  hat 
sie  es  möglich  gemacht,  nach  dem  ersten  Wurf  der  Keime,  ihre 
Hand  von  ihrem  Werk  abziehen  zu  können,  und  nun  mit  ruhigem 
Blick  auf  den  Reihen  der  Wesen  zu  verweilen,  die  sich  jetzt,  un- 
endlichen Ketten  gleich,  von  selbst,  und  doch  immer  Einem  Ziele 
zueilend  entwickeln.  Unter  allen  Verbindungen,  die  wir  in  ihr 
gewahr  werden,  sind  gerade  die  höchsten,  mannigfaltigsten  und 
innigsten  diesem  doppelten  Endzweck  gewidmet;  und  gelänge  es 
dem  menschlichen  Geist,  diese  durch  Erforschung  des  Charakters 
der  dabei  wirksamen  Kräfte  genauer  zu  durchspähen,  so  wäre  es 
ihm  dann  möglich,  diess  tiefe  Geheimniss  mit  grösserem  Recht 
zu  bewundern. 

Bei  allem  Erzeugen  entsteht  etwas  vorher  nicht  Vorhandenes. 
Gleich  der  Schöpfung,  ruft  die  Zeugung  neues  Daseyn  hervor, 
und  unterscheidet  sich  nur  dadurch  von  derselben,  dass  dem 
neu  Entstehenden  ein  schon  vorhandener  StolT  vorhergehen  muss. 
Dieser  Nothwendigkeit  ungeachtet,  hat  indess  das  Erzeugte  dennoch 
eine  von  dem  Erzeugenden  unabhängige  Kraft  des  Lebens,  und 
weit  entfernt,  dass  diese  aus  demselben  erklärbar  wäre,  bleibt   es 


9  15  9-    über  den  Geschlechtsunterschied 

vielmehr  ein  unergründliches  Geheimniss,  wie  nur  sein  Daseyn 
daraus  hervorgeht.  Was  durch  Entwicklung  oder  Wachsthum  ent- 
steht, ist  ein  Theil  desjenigen,  zu  dem  es  gehön,  und  empfängt 
aus  fremder  Hand  seine  belebende  Kraft.  Was  aber  durch  Zeugung 
ans  Licht  tritt,  ist  ein  Wesen  für  sich,  besitzt  selbst  Leben  und 
Organisation,  und  kann,  wie  es  selbst  hervorgebracht  wurde,  eben 
so  wieder  hervorbringen.  Obgleich  die  Fähigkeit  zu  zeugen  durch 
die  ganze  Natur  verbreitet  ist,  so  vermag  doch  keine  Kraft  Leben 
und  Organisation  mechanisch  zu  bilden ;  keine  Weisheit  den  Weg 
dazu  vorzuschreiben.  Daher  ist  Zeugung  von  Bildung  verschieden, 
und  darf  nur  Erweckung  genannt  werden;  die  nachfolgende  Bil- 
dung des  Erzeugten  gehört  ihm  selbst,  nicht  dem  Erzeugenden  an. 
Man  kennt,  was  der  Zeugung  vorhergeht,  und  sieht  das  Daseyn, 
das  darauf  erfolgt;  wie  beides  verknüpft  ist?  umhüllt  ein  undurch- 
dringlicher Schleier.  Denn  wie  die  Zeugung  von  Seiten  des  Er- 
zeugten Erweckung  ist,  so  ist  sie  von  Seiten  des  erzeugenden 
Wesens  nur  eine  augenblickliche  Stimmung,  die  nicht  bloss  durch 
die  höchste  Anstrengung  der  Kräfte,  sondern  besonders  durch  die 
Vereinigung  aller  bezeichnet  wird.  Die  Kraft,  welche  das  Lebendige 
und  Organische  beseelt,  kann,  wie  sie  selbst  in  sich  Eins  ist,  nur 
aus  dem  ihr  Gleichen  hervorgehen,  und  nicht  bloss  dass  jedes 
zeugende  Wesen  seine  eignen  gleichartigen  Kräfte  zur  höchsten 
Harmonie  gestimmt  fühlt,  so  ist  auch  jede  Zeugung  eine  Ver- 
bindung zweier  verschiedener  ungleichartiger  Principien,  die  man, 
da  die  einen  mehr  thätig,  die  andern  mehr  leidend  sind,  die 
zeugenden  (im  engern  Verstände  des  Worts)  und  die  empfangenden 
nennt.  So  hat  die  Natur  ihre  Kinder,  welchen,  als  endlichen 
Wesen,  nicht  alles  zugleich  zu  besitzen  vergönnt  war,  wenigstens 
an  die  Einheit  erinnert,  die  allein  jedem  höheren  Streben  genügt, 
und  ihrer  Sehnsucht  Momente  geschenkt,  die  sie  vergessen  lassen, 
dass  sie  zu  getrenntem  Daseyn  verurtheilt  sind. 

Diesem  gegenseitigen  Zeugen  und  Empfangen  ist  nicht  bloss 
die  Fortdauer  der  Gattungen  in  der  Körperwelt  anvertraut.  Auch 
die  reinste  und  geistigste  Empfindung  geht  auf  demselben  Wege 
hervor,  und  selbst  der  Gedanke,  dieser  feinste  und  letzte  Spröss- 
ling  der  Sinnlichkeit,  verläugnet  diesen  Ursprung  nicht.  Die  geistige 
Zeugungskraft  ist  das  Genie.  Wo  es  sich  zeigt,  sey  es  in  der 
Phantasie  des  Künstlers,  oder  in  der  Entdeckung  des  Forschers, 
oder  in  der  Energie  des  handlenden  Menschen,  erweisst  es  sich 
schöpferisch.    Was  seiner  Zeugung  das  Daseyn  dankt,  war  vorher 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 


317 


nicht  vorhanden,  und  ist  ebensowenig  aus  schon  Vorhandenem 
oder  schon  Bekanntem  bloss  abgeleitet.  Zwar  wird  sich  im  Gebiete 
des  Denkens,  in  welchem  durchgängiger  logischer  Zusammenhang 
herrschen  muss,  immer  die  Verbindung  desselben  mit  dem  schon 
Gegebenen  zeigen  lassen,  aber  dieser  Weg  ist  darum  nicht  auch 
ebenderselbe,  auf  welchem  es  gefunden  werden  konnte.  Denn 
das  wahrhaft  Genialische  ist  keine  Folgerung  aus,  bloss  schnell 
übersehenen,  mittelbar  zusammenhängenden  Sätzen,  es  ist  wirkliche 
Erfindung,  w^nn  gleich  das,  was  nicht  dieser  Art  ist,  ebenfalls 
auf  genieähnliche  Weise  herv'orgebracht  seyn  kann.  Was  hingegen 
das  ächte  Gepräge  des  Genies  an  der  Stirn  trägt,  gleicht  einem 
eigenen  Wesen  für  sich  mit  eignem  organischen  Leben.  Durch 
seine  Natur  schreibt  es  Gesetze  vor.  Nicht  wie  die  Theorie,  welche 
der  Verstand  langsam  auf  Begriffe  gründet,  giebt  es  die  Regel  in 
todten  Buchstaben,  sondern  unmittelbar  durch  sich  selbst,  und  mit 
ihr  zugleich  den  Sporn  sie  zu  üben.  Denn  jedes  Werk  des  Genies 
ist  wiederum  begeisternd  für  das  Genie,  und  pflanzt  so  sein  eignes 
Geschlecht  fort. 

Durch  Begeisterung  gewirkt,  ist  dem  Genie  seine  eigene  Wirk- 
samkeit unbegreiflich.  Es  geht  nicht  auf  gebrochenen  Bahnen 
fort,  hier  erscheint  es  und  dort,  aber  vergebens  suchten  wir  die 
Spuren  seines  wandlenden  Fusstritts.  Daher  ist  es  nie  zu  be- 
rechnen, und  vermag  selbst  nicht  zu  verbürgen,  ob  sein  Product 
gesetzlos  oder  regelmässig  seyn  werde?  Es  kann  diess  Letztere 
nur  mittelbar  befördern,  indem  es  sich  selbst  gesetzmässig 
macht,  und  es  ist  ihm  kein  andrer  Einfluss  auf  das  Erzeugte,  in 
dem  Augenblicke  der  Zeugung,  erlaubt,  als  durch  die  allgemeine 
Stimmung  seiner  selbst,  als  des  Erzeugenden.  Da  alle  seine  Kräfte 
in  diesem  Momente  vereinigt  sind,  bleibt  keine  zu  müssigem  Zu- 
schauen, oder  kalter  Leitung  übrig.  Selbstthätigkeit  und  Empfäng- 
lichkeit sind  beide  gleich  geschäftig  in  ihm,  und  dasjenige,  dessen 
es  sich  einzig  bewusst  ist,  ist  gerade  die  Vermählung  dieser  un- 
gleichartigen Naturen.  Nur  durch  diese  Wechselwirkung  der 
Selbstthätigkeit  und  Empfänglichkeit  wird  es  ihm  möglich,  sich 
aus  sich  selbst  herauszustellen,  und  sich  selbst,  abgesondert  von 
allem  Zufälligen,  zum  Object  seiner  Reflexion  zu  machen.  Diese 
Trennung  aber  ist  zu  jeder  genialischen  Hen-orbringung  unent- 
behrlich, da  das  Genie  das  Nothwendige  nur  aus  der  Tiefe  seiner 
Vernunft  hervorziehn,  und  es  nicht  anders,  als  durch  gänzliche 
Entfernung  aus  dem  Kreise  seines   empirischen  Daseyns   rein   ab- 


oi8  9.    über  den  Geschlechtsunterschied 

sondern  kann.  Daher  erfordert  dasselbe,  wofern  es  schöpferisch 
werden  soll,  die  höchste  Objectivität,  d.  h.  ein,  in  Bedürfniss  über- 
gehendes Vermögen,  das  Nothwendige  zu  ergreifen.  Dieses  aber 
kann  es  nur  aus  seinem  Innren  schöpfen,  oder  es  muss  vielmehr 
sein  eignes  subjectives  und  zufälliges  Daseyn  in  ein  nothwendiges 
verwandeln.  Nie  wird  der  Hand  des  Künstlers  ein  Meisterwerk 
gelingen,  wenn  er  nicht  die  idealische  Schönheit,  zu  der  doch 
seine  Phantasie  die  Züge  selbst  bildend  entwarf,  als  eine  wirkliche 
Gestalt  zu  umfassen  vermag;  nie  wird  der  Philosoph  einen  Fort- 
schritt gewinnen,  der  die  Masse  der  Ideen  wesentlich  bereichert, 
wenn  nicht  die  Wahrheit,  die  er  aus  der  Tiefe  seines  Geistes  her- 
vorzog, seinen  innren  Sinn,  gleich  einem  äussren  Objecte  bewegt; 
und  nie  wird  in  schwierigen  Fällen  des  Lebens  der  handlende 
Mensch  alle  verwickelte  Knoten  gegen  einander  wirkender  Trieb- 
federn genialisch  lösen,  wenn  er  nicht  über  der  Welt  sein  eignes 
Ich  vergisst,  oder  vielmehr  sein  Ich  zu  dem  Umfang  einer  Welt 
erweitert. 

Leichter  als  der  Augenblick,  in  welchem  das  neue  Daseyn  er- 
weckt wird,  ist  der  Zustand  zu  beobachten,  welcher  demselben 
vorhergeht.  In  dieser  Stimmung  der  schöpferischen  Weihe  ist, 
von  welcher  Art  auch  die  Zeugung  seyn  möge,  das  Gefühl  einer 
überfliessenden  Fülle  mit  dem  eines  bedürftigen  Mangels  verbunden. 
Die  Kraft  sammelt  sich  in  sich  selbst,  nie  fühlt  sie  sich  reicher 
und  grösser,  nie  lebhafter  bewegt,  nie  rüstiger  zur  herrlichsten 
Thätigkeit.  Selbst  die  Erinnerung  an  diese  Stärke  vermag  noch, 
sie  in  der  Folge  begeisternd  zu  erwecken.  Aber  in  dieser  Be- 
wegung liegt  der  Keim  einer  unruhvollen  Sehnsucht,  die  zur 
Hen^orbringung  reizt.  Sich,  ihres  Reichthums  ungeachtet,  so  wie 
sie  ist,  nicht  genügend,  ahndet  sie  etwas  andres,  mit  dem  vereint 
sie  erst  ein  vollendetes  Ganze  bildet.  Wird  ihr  Suchen  hier  mit 
glücklichem  Finden  gekrönt,  so  strebt  sie  nach  einer  Vereinigung, 
welche  jedes  einzelne  Dase3^n  vertilgt.  Es  entsteht  ein  Wogen, 
ein  Hin-  und  Herwanken,  und  jene  Sehnsucht  erreicht  eine 
schmerzliche  Höhe.  Die  ganze  Erwartung  ist  nun  auf  die  Hen^or- 
bringung  gespannt,  und  das  eigne  Ich  entäussert  sich  bis  zu  dem 
Grade,  dass  es  sich  selbst  gern  für  die  neue  Schöpfung  hingeben 
möchte.  Aus  diesem  höchsten  Daseyn  springt  das  Daseyn  hervor. 
Auf  diesem  einzigen  Moment  beruht  die  Erzeugung  auch  des  geistigsten 
Products.  Hat  die  Phantasie  des  Künstlers  einmal  das  Bild  lebendig 
geboren,  so  ist  das  Meisterwerk  vollendet,  wenn  auch  seine  Hand  in 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Xatur. 


319 


demselben  Augenblick  erstarrte.  Die  wirkliche  Darstellung  gehört 
nur  noch  dem  Nachhall  jenes  entscheidenden  Moments  an. 

Eine  befremdende  Erscheinung  ist  es,  dass  Kräfte,  die  sich  so 
nothwendig  sind,  und  so  heftig  suchen,  getrennt  existiren  sollen, 
und  dass  das  zur  A'erbindung  Bestimmte  nicht  Eins  seyn  kann. 
Denn  überall  sehen  wir  zur  Zeugung  zwei  ungleichartige  Kräfte 
erforderlich,  dieselben  mögen  nun,  w^ie  in  einem  Theil  der  Xatur, 
in  Einem  Wesen  verknüpft,  oder  in  zwei  verschiedne  vertheilt 
seyn.  Da  das  Erzeugte  mit  dem  Erzeugenden  immer  gleichartig 
und  ihm  ähnlich  ist,  so  scheint  es  wunderbar,  warum  nicht  un- 
mittelbar aus  dem  Leben  das  Leben,  aus  einer  Kraft  die  andere 
hen^orgehen  könne?  und  da  der  Begritf  der  reinen  Kraft  hier 
nichts  Widersprechendes  enthält,  so  müssen  wdr  diess  in  den 
Schranken  derselben  aufsuchen. 

Die  lebendige  Kraft,  welche  jedes  organische  Wesen  beseelt, 
fordert  einen  Körper.  Dieser  Körper  und  jene  Kraft  stehen  in 
unaufhörlicher  Gemeinschaft,  indem  sie  gegenseitig  auf  einander 
ein  und  zurück  wirken.  So  ist  in  jedem  organischen  Wesen 
Wirkung  und  Rückwirkung  verbunden.  Wie  unbegreiflich  nun 
auch  das  Geschäft  der  Zeugung  ist,  so  wird  doch  soviel  wenigstens 
klar,  dass  das  Erzeugte  aus  einer  Stimmung  des  Erzeugenden 
hervorgeht,  und,  wie  vorzüglich  die  Producte  des  Genies  auf- 
fallend zeigen,  derselben  ähnlich  ist.  Die  Erzeugung  organischer 
Wesen  erfordert  daher  eine  doppelte,  eine  auf  Wirkung  und  eine 
andre  auf  Rückw^irkung  gerichtete  Stimmung,  und  diese  ist  in  der- 
selben Kraft  und  zu  gleicher  Zeit  unmöglich. 

Hier  nun  beginnt  der  Unterschied  der  Geschlechter.  Die 
zeugende  Ivraft  ist  mehr  zur  Einw^irkung,  die  empfangende  mehr 
zur  Rückwirkung  gestimmt.  Was  von  der  erstem  belebt  wird, 
nennen  wir  männlich,  w^as  die  letztere  beseelt,  w^  e  i  b  1  i  c  h.  Alles 
Männliche  zeigt  mehr  Selbstthätigkeit,  alles  Weibliche  mehr  leidende 
EmpfängUchkeit.  Indess  besteht  dieser  Unterschied  nur  in  der 
Richtung,  nicht  in  dem  Vermögen.  Denn  wie  die  thätige  Ivraft 
eines  Wesens,  so  auch  seine  leidende,  und  wiederum  umgekehrt. 
Etwas  bloss  Leidendes  ist  nicht  denkbar.  Zu  allem  Leiden 
(Empfinden  einer  fremden  Einwirkung)  gehört  doch  aufs  mindeste 
Berührung.  Was  aber  gar  kein  Vermögen  der  Thätigkeit  besitzt, 
ist  gar  nichts,  wird  durchdrungen,  aber  nicht  berührt.  Daher 
überall  gleichviel  Entgegenwirken,  als  Leiden.  Die  thätige  Kraft 
hingegen   ist   (w^enn  wir   uns   erinnern,   dass   hier   nur  von   einer 


020  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

endlichen  geredet  wird)  den  Bedingungen  der  Zeit  unterworfen, 
und  an  einen  Stoff,  mithin  an  etwas  Leidendes  gebunden.  Ohne 
auch  in  tiefere  Beweise  einzugehen,  sehen  wir  im  Menschen  immer 
Selbstthätigkeit  und  Empfänglichkeit  einander  gegenseitig  ent- 
sprechen. Der  selbstthätigste  Geist  ist  auch  der  reizbarste;  und 
das  Herz,  das  für  jeden  Eindruck  am  meisten  empfänglich  ist,  giebt 
auch  jeden  mit  der  lebhaftesten  Energie  zurück.  Nur  also  die  ver- 
schiedene Richtung  unterscheidet  hier  die  männliche  Kraft  von 
der  weiblichen.  Die  erstere  beginnt,  vermöge  ihrer  Selbstthätig- 
keit, mit  der  Einwirkung;  nimmt  aber,  vermöge  ihrer  Empfäng- 
lichkeit, die  Rückwirkung  gegenseitig  auf.  Die  letztere  geht  gerade 
den  entgegengesetzten  Weg.  Mit  ihrer  Empfänglichkeit  nimmt  sie 
die  Einwirkung  auf,  und  erwiedert  sie  mit  Selbstthätigkeit. 

Diesen  zwiefachen  Charakter  drückt  auch  der  verschiedene  Zu- 
stand aus,  welcher  in  beiden  der  Hervorbringung  unmittelbar  vor- 
hergeht. In  beiden  ist  das  Gefühl  eines  überströmenden  Ver- 
mögens mit  dem  eines  schmerzlichen  Entbehrens  gepaart.  Aber 
wo  die  Männlichkeit  herrscht,  ist  das  Vermögen:  Kraft  des  Lebens, 
bis  zur  Dürftigkeit  von  Stoff  entblösst;  und  die  entbehrende  Sehn- 
sucht auf  ein  Wesen  gerichtet,  das  der  Energie  zugleich  Stoff  zur 
Thätigkeit  gebe,  und,  indem  es  durch  Rückwirkung  ihre  Empfäng- 
lichkeit beschäftigt,  ihre  glühende  Heftigkeit  lindre.  In  dem  Kreise 
der  Weiblichkeit  hingegen  ist  das  Vermögen:  eine  üppig  über- 
strömende Fülle,  zu  reich,  als  dass  die  eigne  Kraft  allein  ihrer 
Belebung  genügte;  indess  die  entbehrende  Sehnsucht  ein  Wesen 
sucht,  das  zugleich  den  Innern  Stoff  erwecke,  und  der  eignen 
Kraft,  indem  es  sie  durch  Einwirkung  zu  selbstthätiger  Rückwirkung 
nöthigt,  eine  grössere  Stärke  ertheile.  In  dem  ersteren  Fall  ist 
daher  eine  Stärke,  die,  auf  Einen  Punkt  versammelt,  von  diesem 
nach  aussen  hin  strebt.  Ausser  sich  sucht  dasjenige  einen 
Stoff,  was  in  sich  nicht  genug  Beschäftigung  seiner  Thätigkeit 
findet.  In  dem  letzteren  ist  eine  Fülle  des  Stoffs,  die  sich  einen 
fremden  Gegenstand  in  einem  Punkt  innerhalb  ihres  Wesens 
aufzunehmen,  und  von  ihm  Einheit  zu  empfangen  sehnt.  So  be- 
friedigt die  eine  Kraft  die  Sehnsucht  der  andren,  und  beide  um- 
schlingen einander  zu  einem  harmonischen  Ganzen. 

Auch  in  der  geistigen  Zeugung  nehmen  wir  nicht  bloss  die- 
selbe Wechselwirkung,  sondern  auch  denselben  Unterschied  zwei 
verschiedner  Geschlechter  wahr.  Ganz  anders  ist  es  in  Gemüthern 
beschaffen,  die  zu  zeugen,   anders   in   solchen,   die  zu  empfangen 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur.  ^2  I 

bestimmt  sind.  Es  ist  schon  schwer,  so  feine  Verschiedenheiten 
im  intellectuellen  und  moralischen  Leben  nur  zu  bemerken,  und 
bei  weitem  schwerer  noch,  sie  darzustellen.  Wo  indess  das  Genie 
männliche  Kraft  besitzt,  da  wird  es,  zeugend,  mit  selbstthätiger 
Vernunft  auf  das  idealische  Object  einwirken.  Wo  demselben 
hingegen  weibliche  Fülle  eigen  ist,  wird  es,  empfangend,  die  Ein- 
wirkung dieses  Objects  durch  das  Uebergewicht  der  Phantasie 
erfahren  und  enviedern.  Vorzüglich  offenbart  sich  dieser  Unter- 
schied in  der  innren  Stimmung  bei  der  Hen-orbringung  selbst; 
dem  geübten  Blick  aber  wird  er  ebensowenig  in  den  Producten 
entgehn.  Denn  ist  gleich  jedes  ächte  Werk  des  Genies  die  Frucht 
einer  freien,  in  sich  selbst  gegründeten,  und  in  ihrer  Art  unbe- 
greiflichen Uebereinstimmung  der  Phantasie  mit  der  Vernunft;  so 
kann  ihm  dennoch  bald  die  männlichere  Vernunft  mehr  Tiefe, 
bald  die  weiblichere  Phantasie  mehr  üppige  Fülle  und  reizende 
Anmuth  gewähren.*)  Da  aber  der  Geschlechtsunterschied  über- 
haupt, als  ein  Unterschied  der  Natur,  durch  den  formenden  Willen, 
so  viel  als  möglich  zur  Einheit  erhoben  werden  muss;  so  wird 
freilich  dasjenige  Genie,  das  sich  auf  seine  Bildung  versteht,  jene 
beiden  Kräfte,  bis  zur  gänzlichen  Verkennung  desselben,  in  ein 
reines  Gleichgewicht  zu  stimmen  bemüht  seyn.  Deutlicher,  als 
hier,  erscheint  daher  dieser  Unterschied  im  praktischen  Leben. 
W"o  dort  der  Tugendhafte,  von  dem  erhabenen  Gefühl  der  Achtung 
des  Gesetzes  durchdrungen,  der  Ausübung  seiner  Pflicht  sein 
Glück  und  sein  Leben  opfert,  da  ist  eine  grosse  und  heroische 
Handlung  mit  männlicher  Kraft  erzeugt.  Der  moralische  Sinn 
fühlt  sich  in  rüstiger  Stärke,  die  Stimme  der  Pflicht  ruft  ihn  zur 
That,  und  er  empfindet  sich  gedrungen,  dem  Rufe  zu  folgen. 
Wo  hingegen  die  Tugend,  im  Bündniss  mit  der  Phantasie,  durch 


*)  Diese  Vergleichung  in  einzelnen  Fällen  wirklich  anzustellen,  ist  schon  darum 
von  vielen  Schwierigkeiten  begleitet,  weil  selten  zwei  Köpfe  übrigens  Aehnlichkeit 
genug  zeigen,  um  gerade  diesen  Unterschied  auffallend  sichtbar  zu  machen.  Nur  also 
um  an  Beispiele  zu  erinnern,  sey  es  erlaubt,  hier  Homer  und  Virgil,  Ariost  und 
Dante,  Thompson  und  Young,  Plato  und  Aristoteles  einander  gegenüber 
zu  stellen.  Wenigstens  dürfte  niemand  leicht  in  Abrede  seyn,  dass,  in  Rücksicht  auf 
ihre  Gegentheile,  in  den  zuerst  genannten,  wenigstens  in  Vergleichung  mit  der  aus 
ihnen  hervorleuchtenden  Kraft,  mehr  Ueppigkeit  der  Phantasie  herrscht,  da  aus  den 
letzteren  die  Form  der  Vernunft  mit  einer  fast  an  Härte  gränzenden  Bestimmtheit  spricht. 
Zugleich  von  dieser  Härte  und  von  einer  zu  grossen  Ueppigkeit  frei,  kann  So  pho  kies, 
in  der  Mitte  zwischen  Aeschylus  und  Euripides,  zum  Beispiel  des  geschlechtlosen 
Genies  dienen. 

W.  V.  Humboldt.    Werke.     I.  21 


922  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

ihre  Anmuth  reizt,  da  ist  jenes  moralische  Gefühl  mehr  empfangend, 
als  zeugend.  Es  erhält  aus  der  Hand  der  Einbildungskraft  die 
wohlthätige  Gestalt,  schliesst  sich  mit  Innigkeit  an  sie  an,  und 
strebt,  sie  mit  seinem  Wesen  zu  vereinigen ;  und  so  ist  die  tugend- 
hafte Handlung,  welche  hervorgeht,  nicht  sowohl  das  Werk  einer 
völlig  frei  und  selbstthätig,  als  einer  zurückwirkenden  Kraft. 

Dieselbe  Eigenthümlichkeit  der  zeugenden  und  empfangenden 
Kräfte,  welche  wir  in  den  Momenten  ihrer  höchsten  Thätigkeit 
wahrnehmen,  offenbart  sich  auch  durch  ihr  ganzes  Daseyn  hin- 
durch. U eberall  spricht  aus  den  ersteren  hervorbringende  Kraft 
durch  freies  Geben  aus  eigner  Fülle;  überall  ist  in  den  letzteren 
Stärke  des  Auffassens  durch  festes  Umschliessen  des  Aufge- 
nommenen sichtbar.  Aber  über  das  stille  Dase^^n  der  Wesen 
unaufmerksam  hinwegrollend,  eilt  unser  Blick  immer  nur  ihren 
Wirkungen  zu,  und  doch  ist  es  eben  diess  unbemerkte  Leben, 
dem  die  Kräfte  der  Natur  ihre  Fortdauer  danken.  Denn  was  ist 
jenes  Daseyn  anders,  als  eine  ununterbrochene  Wirksamkeit,  welche 
unaufhörlich  die  Thätigkeit  vorbereitet,  die  wir  nur  in  dem  letzten 
Theil  ihrer  Laufbahn  erblicken,  wenn  das  fortgesetzte  Streben  die 
Kraft  endlich  bis  zum  Ueberströmen  anschwellt  ?  Nur  die  körper- 
liche Wirkung  rührt  unsren  gröberen  Sinn,  indess  der  feine,  aber 
mächtige  Einfluss,  den  alles,  was  lebt,  unmittelbar  dadurch  ver- 
breitet, dass  es  ist,  uns  gleich  einem  unsichtbaren  Hauch  ent- 
schlüpft. Eben  so  ist  nun  auch  den  zeugenden  und  empfangenden 
Kräften  nicht  die  Sorge  der  Fortpflanzung  allein  anvertraut,  nicht 
bloss  die  Erzeugung,  die  vor  unsren  Augen  geschieht.  Auch  die 
Erhaltung,  und  da  die  Erhaltung  des  Endlichen  nur  unaufhörlicher 
Tod  ist,  an  den  immer  wiederkehrendes  Leben  sich  anknüpft,  auch 
die  uns  verborgene  Wiedererzeugung  ist  ihr  Werk.  Vermöchte 
daher  auch  die  Natur  jenen  Zweck  der  Fortpflanzung  auf  einem 
andren  Wege  zu  erreichen,  so  könnte  sie  doch  nie  die  Wechsel- 
wirkung entbehren,  in  der  die  Kräfte  der  Geschlechter  einander 
gegenseitig  ergänzen. 

Die  Natur,  welche  mit  endlichen  Mitteln  unendliche  Zwecke 
verfolgt,  gründet  ihr  Gebäude  auf  den  Widerstreit  der  Kräfte. 
Alles  Beschränkte  zielt  auf  Zerstörung,  und  der  himmlische  Friede 
wohnt  allein  in  dem  Wirkungskreis  dessen,  was  sich  selbst  genügt. 
Der  zerstörenden  Thätigkeit  des  einen  muss  daher  das  andre  ent- 
gegenstreben, und  indem  beide  gegenseitig  einander  ihren  End- 
zweck vereiteln,  erfüllen   sie   den  schrankenlosen  Plan  der  Natur. 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Xatur.  32^ 

Allein  auch  sie  gewinnt  diesen  Sieg  nur,  wenn  man  sie  in  ihrem 
ganzen  Umfang  und  durch  die  Dauer  aller  ihrer  Epochen  be- 
trachtet; oder  vielmehr  derselbe  liegt  allein  in  dem  Inhalte  ihrer 
Gesetze.  In  jeder  einzelnen  Periode  dauert  der  Kampf  noch  fort, 
und  das  Vollendete  entbehrend,  muss  sie  sich  das  Höchstmögliche 
zu  besitzen  begnügen.  Da  sie  die  Schranken  nicht  entfernen  kann, 
muss  eine  Kraft  die  Lücken  der  andren  ausfüllen;  und  da  jede 
Thätigkeit  sich  endlich  selbst  aufreibt,  Unthätigkeit  aber  verbannt 
ist,  so  muss  die  Ruhe  in  dem  Wechsel  der  Wirksamkeit  bestehen. 
Denn  die  höchste  Kraft  erfordert  die  Vereinigung  widersprechender 
Bedingungen.  Mit  rastloser  Anstrengung  soll  beharrliches  Aus- 
dauern verbunden  seyn.  Aber  die  Anstrengung  ist  ein  Feuer,  das 
sich  selbst  verzehrt;  um  nicht  an  Intension  zu  verlieren,  muss  sie 
sich  aller  hindernden  Masse  entledigen,  und  den  Stoff,  den  sie 
besitzt,  energisch  zusammendrängen.  Denn  giebt  es  gleich  auch 
Kräfte,  welche  gerade  durch  Masse  mächtig  sind,  wovon  vorzüg- 
lich die  unbelebte  Natur  auffallende  Beispiele  zeigt,  so  wirkt  doch 
da  eigentlich  nur  die  vereinte  Stärke  vieler  einzelnen,  zufällig  in 
Gemeinschaft  stehenden  Theile.  Indem  nun  die  Anstrengung  die 
Empfänglichkeit  ausschliesst,  nimmt  sie  sich  selbst  den  Genuss 
erquickender  Ruhe.  Dagegen  erfordert  die  Stärke  des  Wider- 
standes, welche  zur  ausdauernden  Beharrlichkeit  nothwendig  ist, 
mehr  Fähigkeit,  die  fremde  Einwirkung  aufzunehmen,  als  sie 
zurückzuweisen,  mehr  Stimmung  zu  leiden,  und  daher  einen 
reicheren  Stofi.  Ist  aber  dieser,  in  sich  zurückgezogen,  so  sehr 
zur  Beschäftigung  mit  fremder  Energie  aufgelegt,  so  verbietet  er 
sich  dadurch  selbst  die  Möglichkeit  eigner  selbstthätiger  Anstrengung. 
So  verschliesst  die  Dichtungskraft,  wenn  sie  in  glühendem  Feuer 
Bilder  auf  Bilder  schaft,  die  Sinne  den  äusseren  Eindrücken ;  und 
so  verwehren  diese,  wenn  sie  mit  lebendiger  Wärme  die  Wirk- 
lichkeit umfassen,  jener  den  kühnen  Auffiug  ins  Land  der  Er- 
findung. 

Die  männliche  Kraft,  zu  beleben  bestimmt,  sammelt  sich  von 
selbst,  und  durch  eigne  Bewegung.  Allen  Stoff,  den  sie  besitzt, 
drängt  sie  zu  ungetheilter  Einheit  zusammen.  Je  reicher  und 
mannigfaltiger  derselbe  ist,  desto  ermattender  ist  die  Anstrengung, 
aber  auch  desto  grösser  die  Wirkung.  Der  Stoff  darf  nicht  schon 
durch  seine  eigne  Xatur  zur  Verbindung  gestimmt  seyn.  Von  ihr, 
als  einem  herrschenden  Princip,  muss  er  die  Leitung  erhalten. 
So  in  sich  versammelt,  wirkt  sie  aus  sich  heraus.     \"on   heftigem 


224  9"    ^^^^  ^^^  Geschlechtsunterschied 

Drange  thätig  zu  seyn  beseelt,  wünscht  sie  einen  Gegenstand  zu 
finden,  den  sie  durchdringe ;  aber  ganz  nur  Selbstthätigl<:eit,  ist  sie 
in  diesem  Augenblick  aller  Empfänglichkeit  verschlossen.  Einer 
solchen  Anstrengung  folgt  jedoch  bald  Ermattung  nach,  und  sie 
gleicht  einem  Hauche,  der  mächtig  belebt,  aber  bald  verschwindet. 
Mit  dem  Gefühl  der  sinkenden  Stärke  erwacht  in  ihr  die  Sehn- 
sucht der  Empfänglichkeit,  und  gern  ruht  sie  da  aus,  wo  sie  vor- 
her bloss  schöpferisch  war.  So  ist  sie,  was  sie  ist,  durch  sich 
selbst,  und  ihre  eigenthümliche  Form.  Der  Mann,  dessen  Brust 
ein  thatenkühner  Muth  begeistert,  fühlt  sich  in  sich  verengt.  Viel 
Erfahrungen  hat  er  mit  beobachtendem  Geiste  auf  der  Bahn  des 
Lebens  gesammelt,  hohe  Ideale  aus  seinem  Innren  hervorgeschaffen; 
mannigfaltige  Gefühle  bewegen  ihn,  bald  die  Würde  der  neuen 
Schöpfung,  nach  der  er  sich  sehnt,  bald  theilnehmendes  Mitgefühl 
mit  den  Wesen,  die  er  zu  veredlen  strebt.  Für  alle  diese  er- 
habenen Bilder  hat  sein  Busen  nicht  Raum  genug,  und  heisser 
Durst  nach  Thätigkeit  treibt  ihn.  Er  sucht  eine  Welt,  die  seiner 
Sehnsucht  entspreche.  Uneigennützig  und  fern  von  jedem  Ge- 
danken an  eignen  Genuss,  befruchtet  er  sie  mit  der  Fülle  seiner 
Kraft.  Die  neue  Schöpfung  steht  da,  und  freudig  ruht  er  aus  im 
Anblicke  seiner  Kinder. 

Die  weibliche  Kraft,  zur  Rückwirkung  bestimmt,  sammelt  sich 
auf  einen  fremden  Gegenstand  und  durch  fremden  Reiz.  Da  der 
Stoff,  den  sie  in  reicher  Fülle  besitzt,  sich  durch  seine  eigenthüm- 
liche Natur  vereint ;  so  wirkt  er  mehr  durch  ein  leidendes,  als  ein 
selbstthätiges  Vermögen.  Mit  dem  Grade  seiner  Mannigfaltigkeit 
wächst  gleichfalls  die  Schönheit  der  Wirkung,  nicht  aber  zugleich 
auch  die  Anstrengung.  Vielmehr  wird  diese  durch  vielfachere  Be- 
rührungspunkte erleichtert,  und  ihr  Grad  nur  durch  die  Innigkeit 
des  Umschliessens  bestimmt,  die  von  der  gegenseitigen  Harmonie 
abhängt.  Der  Stoff  der  weiblichen  Kraft  bedarf  weniger  der 
Herrschaft  eines  vereinenden  Princips,  sondern  verbindet  sich  mehr 
durch  seine  eigene  Gleichartigkeit.  In  dieser  Einheit  erwiedert  sie 
die  Einwirkung  mit  immer  steigendem  Feuer,  bis  endlich  ihre 
ganze  Thätigkeit  angespannt  ist.  Aber  da  ihre  eigenthümliche 
Natur  sie  fähiger  macht,  Widerstand  zu  leiden,  und  sie  von  der 
glühenden  Heftigkeit  frei  ist,  welche  die  männliche  verzehrt,  so 
vergütet  sie  die  Langsamkeit  ihrer  Wirkung  durch  längeres  Aus- 
dauern. So  dankt  sie  der  Beschaffenheit  ihres  Stoffs  selbst  einen 
Theil  ihrer  Wirksamkeit,  die  durch  ihn  vorbereitet  und  unterstützt 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 


325 


wird.  Ein  Herz,  das  sich,  von  mannigfaltigen  Empfindungen  be- 
wegt und  von  einer  edeln  Strebsamkeit  beseelt,  reich  in  sich  selbst 
fühlt,  aber  den  kühnen  Muth  vermisst,  sich  eine  eigne  Richtung 
zu  geben,  wird  von  unruhiger  Sehnsucht  gefoltert.  Sich  selbst 
unverständlich,  und  arm  im  Schoosse  des  Ueberflusses,  wünscht 
es  ein  Wesen  zu  finden,  das  die  verschlungenen  Knoten  seiner 
Gefühle  freundlich  löse.  Je  tiefer  die  Quelle  dieser  vens^orrenen 
Stimmung  verborgen  liegt,  desto  schwerer  begegnet  es  der  Ge- 
währung seines  Wunsches,  aber  desto  inniger  schliesst  es  sich  an 
die  gefundene  Erscheinung  an.  Je  länger  es  an  ihr  verweilt,  desto 
mehr  Berührungspunkte  entdeckt  es,  und  verlässt  sie  nicht  eher, 
bis  der  Keim  zur  vollendeten  Frucht  gereift  ist. 

Nicht  also  ihrem  Grade,  sondern  allein  ihrer  Gattung  nach, 
sind  die  zeugenden  und  empfangenden  Kräfte  von  einander  ver- 
schieden. Blosses  Aufnehmen  ist  kein  Empfangen,  sondern  steht 
eben  so  unter  diesem,  als  das  Geben  unter  dem  Zeugen.  Beide, 
Zeugen  und  Empfangen,  sind  höhere  und  kraft^'ollere  Energien, 
beide  ein  Hervorbringen  durch  Geben  und  Aufnehmen.  Eigne 
fruchtbare  Fülle  muss  bei  Jenem  das  Entäusserte  begleiten,  bei 
diesem  das  Aufgenommene  umfassen.  Der  wahre  Charakter- 
unterschied beider  Kräfte  besteht  darin,  dass  den  empfangenden 
mehr  Stoff,  mehr  Körper,  den  zeugenden  mehr  Seele  eigen  ist, 
wenn  nemlich  Seele  jedes  selbstthätige  Princip  bezeichnet.  Gerade 
aber  durch  diese  Verschiedenheit  thun  sie  der  Forderung  der 
Natur  ein  Genüge.  Sollte  der  Zerstörung  drohenden  Heftigkeit 
der  männlichen  Kraft  eine  andre  entgegengestellt  werden,  so 
durfte  es  keine  gleichartige  seyn.  Gegenseitige  Ermattung  hätte 
dann  den  Kampf  beschlossen,  in  dem,  wie  überall  in  der  Natur, 
der  Unterliegende  selbst  neues  Leben  aus  den  Händen  des  Ueber- 
winders  erhalten  sollte.  Der  überströmenden  Fülle  musste  daher 
ein  Bedürfniss  gegenüberstehn;  aber  da  die  Natur  in  ihrem  Gebiet 
eben  so  wenig  Armuth  als  Selbstgenügsamkeit  verstattet,  so  ist 
das  Bedürfniss  wieder  mit  Reichthum  verknüpft.  Indem  nun 
alles  Männliche  angestrengte  Energie,  alles  Weibliche  be- 
harrliches Ausdauern  besitzt,  bildet  die  unaufhörliche 
Wechselwirkung  von  beiden  die  unbeschränkte  Kraft  der 
Natur,  deren  Anstrengung  nie  ermattet,  und  deren  Ruhe  nie  in 
Unthätigkeit  ausartet. 

Zu  jeder  Zeugung  wird  also  zweierlei  erfordert,  lebendige 
Energie  der  Kraft,  die  auf  Einen  Punkt  sich  zusammenzieht,  und 


"25  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

lebendige  Fülle  des  Stoffs,  der  ihre  Einströmung  in  allen  seinen 
Punkten  empfängt.  Jene  wird  daher,  ihrer  Natur  nach,  auf 
Trennung  gerichtet  seyn,  weil  alles,  was  nicht  sie  selbst  ist,  sie 
in  ihrer  reinen  Wirksamkeit  hindert:  diese  wird  auf  Einheit  ge- 
richtet seyn,  um  von  allen  Seiten  aus  die  einwirkende  Kraft  zu 
umschliessen.  Wenn  das  Genie  (da  diese  Erscheinungen  durch 
die  ganze  Kette  der  hervorbringenden  Wesen  dieselben  sind), 
vermöge  der  reinen  Selbstthätigkeit  der  Vernunft,  die  belebende 
Flamme  ausströmt,  der,  gleich  einem  Funken,  das  göttliche  Werk 
entsprüht,  so  muss  die  Phantasie  sie  in  ihren  Schooss  aufnehmen, 
und  wohlthätig  umschliessen.  Die  zeugende  Kraft  vermöchte 
sich  nicht  energisch  zu  sammeln,  wenn  sie  nicht  alles  zurück- 
wiese, was  diese  Anstrengung  stören  könnte ;  und  der  empfangenden 
wäre  es  unmöglich,  sich  von  allen  Seiten  her  nach  Einem  Punkt 
hin  zu  neigen,  wenn  sie  nicht  die  höchste  Uebereinstimmung  in 
sich  bewahrte.  Die  Heftigkeit,  mit  der  die  erstere  fortstrebt, 
richtet  sie  auf  einzelne  Gesichtspunkte,  und  ihre  unaufgehaltene 
Wirkung  müsste  überall  Trennung  und  Zerstörung  seyn.  Da- 
gegen macht  der  letzteren  die  harmonische  Sanftmuth,  mit  der 
sie  entgegenkommt,  eine  mehr  umfassende  Einheit  zum  Gesetz, 
und  ihre  Frucht  ist  Erhaltung.  Was  zu  beleben  bestimmt  ist, 
muss  reizend  erwecken.  Aller  Reiz  aber  richtet  die  Aufmerksam- 
keit auf  einen  einzelnen  Zustand,  und  das  Gefühl  durchgängiger 
Gleichgültigkeit  würde  Schlummer  oder  Tod  seyn.  Das  Belebende 
darf  daher  nicht,  mit  allzugrosser  Schonung,  jede  Erschütterung 
vermeiden.  Dagegen  muss  der  Stoff,  welcher  der  Belebung  ent- 
gegengeführt wird,  gleichmässig  und  ganz  von  ihr  durchdrungen 
werden.  Was  endlich  mehr  Form  besitzt,  zielt  zwar  auf  Ver- 
bindung, aber,  wie  die  Form  überhaupt,  nur  durch  Trennung; 
so  wie,  was  dem  Stoffe  näher  liegt,  wie  dieser  selbst,  zwar  in 
sich  ein  Mannigfaltiges,  aber  noch  wenig  geschieden  ist. 

U eberall,  wo  der  männliche  und  weibliche  Charakter  sichtbar 
ist,  wird  man  in  ihm  diese  Seiten  gewahr;  in  dem  ersteren  ein 
Streben,  mit  trennender  Heftigkeit  erzeugend,  in  dem  letzteren 
ein  Bemühen,  durch  Verbindung  erhaltend  zu  seyn.  Alle  Eigen- 
schaften, in  welche  gekleidet  beide  Geschlechter  durch  die  ganze 
Natur,  aber  vorzüglich  im  Menschen,  erscheinen,  bringen  den- 
selben verschiedenen  Eindruck  hervor.  Die  reifende  Anmuth  und 
die  liebliche  Fülle  der  Weiblichkeit  bewegt  die  Sinne;  die  nicht 
sowohl  anschauliche,  als  bildliche  Vorstellungsart  und  der  sinnliche 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur.  027 

Zusammenhang  aller  Begritfe  geben  der  Phantasie  ein  reiches  und 
lebendiges  Bild;  und  die  Einheit  des  Charakters,  der,  jedem  Ein- 
druck offen,  jeden  mit  entsprechender  Innigkeit  ervviedert,  rührt 
die  Empfindung.  So  wirkt  alles  Weibliche  vorzüglich  auf  die- 
jenigen Kräfte,  welche  den  ganzen  Menschen  in  seiner  ursprüng- 
lichen Einfachheit  zeigen.  Was  dem  Mann  und  seinem  Geschlechte 
angehört,  lässt  dagegen  diese  minder  befriedigt,  beschäftigt  aber 
mehr  das  Vermögen  der  Begriffe.  Die  Gestalt  hat  mehr  Bestimmt- 
heit, als  anmuthige  Schönheit;  die  Begriffe  sind  deutlicher  und 
sorgfältiger  geschieden,  stehn  aber  auch  in  weniger  leichter  Ver- 
bindung; der  Charakter  ist  stark  und  hat  feste  Richtungen,  er- 
scheint aber  nicht  selten  auch  einseitig  und  hart.  Alles  Männliche, 
kann  man  daher  sagen,  ist  mehr  aufklärend,  alles  Weibliche  mehr 
rührend.  Das  eine  gewährt  mehr  Licht,  das  andere  mehr  Wärme. 
Da  in  der  endlichen  Natur  das  Leben  immer  dem  Tode  zur  Seite 
steht,  und  das  Bessre  nur  an  die  Stelle  des  minder  Guten  tritt; 
so  muss  dem  neuen  Daseyn  das  schon  vorhandene  weichen.  Die 
Kraft  nun,  die,  von  eignem  Entschluss  getrieben,  ausser  sich  thätig 
ist,  muss  mit  einer  Willkühr  handeln,  die,  wenn  sie  Hindernisse 
zerstörend  hinwegräumt,  nicht  anders  als  gewaltthätig  erscheinen 
kann.  Daher  ist  kein  Muth  zu  grösseren  Unternehmungen  ohne 
eine  gewisse  Härte  denkbar.  Da  aber  die  neue  Schöpfung  nicht 
gedeiht,  wenn  sie  nicht  mit  weiblicher  Schonung  gepflegt  wird, 
so  wandelt  in  einem  wahrhaft  zum  handlenden  Leben  gebohrnen 
Genie  sanfte  Milde  die  Härte  in  ernste  Festigkeit  um. 

Denn  nur  die  \^erbindung  der  Eigenthümlichkeiten  beider 
Geschlechter  bringt  das  Vollendete  hervor,  und  wenn  das  Studium 
des  männlichen  den  Verstand  anhaltender  beschäftigt,  und  die 
Betrachtung  des  weiblichen  die  Empfindung  lebhafter  bewegt,  so 
befriedigt  nur  die  Verknüpfung  beider,  oder  vielmehr  das  reine 
Wesen,  abgesondert  von  allem  Geschlechtsunterschied,  die  Ver- 
nunft, als  das  Vermögen  der  Ideen.  Die  höchste  Einheit  erfordert 
allemal  zwei  entgegengesetzte  Richtungen.  Da  die  Einheit  über- 
haupt nur  dann  Werth  hat,  wenn  sie  aus  der  Fülle,  nie  aber, 
wenn  sie  aus  der  Armuth  entspringt ;  so  darf  die  Stärke  und  Aus- 
bildung der  einzelnen  Theile  nicht  minder  gross  seyn,  als  die 
Innigkeit  des  Zusammenhangs  aller.  Allein  um  das  Einzelne  zu 
üben,  wird  Trennung  erfordert,  und  eben  diese  Trennung 
schränkt  die  Möglichkeit  der  Verbindung  ein.  Da  nun  das 
eine  Geschlecht  jene,  das  andre  diese  mehr  begünstigt,  so  befördern 


228  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

beide,  indem  sie  einander  entgegenwirken,  gemeinschaftlich  die 
wunderbare  Einheit  der  Natur,  welche  zugleich  das  Ganze  aufs 
innigste  verknüpft,  und  das  Einzelne  aufs  vollkommenste  ausge- 
bildet zeigt. 

Denn  die  ursprünglich  anfangende  Thätigkeit  ist  den  zeugenden 
Kräften,  so  wie  die  erwiedernde  den  empfangenden  eigen,  und 
die  Zeugung,  als  das  gemeinschaftliche  Werk  beider,  ist  auf  diese 
Weise  zwischen  ihnen  vertheilt.  Alle  Hervorbringung  setzt  einen 
Stoff  voraus ;  denn  nur  an  das  schon  Vorhandene  knüpft  die  Natur 
das  Neue  an.  Dieser  Stoff  bildet  sich  aus,  und  zwar  durch  einen 
Trieb,  welcher  mit  eigenthümlicher  Kraft,  und  nach  einer  Regel 
(die,  wie  vorhin  bemerkt  worden,  die  Erzeugung  des  Gleichartigen 
scheint)  thätig  ist.  Zu  diesem  Triebe  aber,  als  zu  einer  ihm 
vorher  fremden  Energie,  muss  er  erweckt  werden,  und  diese  Er- 
weckung ist  der  Anfang  des  Lebens,  als  der  Verbindung  des 
Bildungstriebes  (im  allgemeinsten  Verstände)  mit  der  rohen  Materie. 
Das  erste  Geschäft  dieses  Bildungstriebes  ist  die  Ausbildung  selbst, 
und,  ist  diese  vollendet,  die  Ersetzung  dessen,  was  der  organische 
Körper  zufällig  verliert.  Allein  auch  ausserdem  ist  er  ununter- 
brochen fort  thätig,  um  die  einmal  vollendete  Bildung  zu  erhalten. 
Denn  da  die  Gesetze  der  Materie,  hier  vorzüglich  die  chemischen 
Verwandtschaften,  den  Gesetzen  des  Lebens,  d.  i.  der  Organisation, 
immerfort  entgegenarbeiten,  und  das  Leben,  wie  die  Resultate 
neuerer  Untersuchungen  zeigen,  nichts  anders  ist,  als  der  Sieg  der 
letzteren  über  die  ersteren ;  so  ist  ein  unaufhörlicher  Kampf  nöthig, 
diese  Oberherrschaft  zu  behaupten.  Das  Princip,  das  hier  thätig 
ist,  pflegt  man  die  Lebenskraft  zu  nennen,  und  von  ihr  macht  der 
Bildungstrieb  (im  engern  Verstände)  nur  eine  besondre  Modi- 
fication  aus.  Die  Hervorbringung  erfordert  daher  zwei  unent- 
behrliche Elemente,  rohen  Stoff,  und  Belebung  desselben  zur 
Ausbildung. 

Sollen  diese  beide  unter  die  zeugenden  und  empfangenden 
Kräfte  vertheilt  werden,  so  scheint  es  natürlich  den  Stoff  den 
letzteren,  die  Belebung  den  ersteren  zuzuschreiben.  Wenigstens 
zeigte  sich,  nach  dem  bisherigen  Raisonnement,  bei  den  zeugenden 
Kräften  die  Energie,  bei  den  empfangenden  das  ursprünglich  Vor- 
handne,  worauf  die  Energie  wirkt,  in  höherem  Grade.  So  schien 
in  Absicht  der  hervorbringenden  Kraft  den  erstem  mehr  selbst- 
thätiges  Feuer,  den  letztern  mehr  entgegenwirkende  Stärke;  in 
Absicht  der  Einheit  der  Wirkung  den  ersteren  ein  stärkeres   ver- 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur.  ^20 

einendes  Princip,  den  letzteren  mehr  freiwillige  Uebereinstimmung 
des  Einzelnen  eigen  zu  se3'n.  Auch  in  der  Betrachtung  der  Natur 
entdeckt  schon  ein  flüchtiger  Blick  überall  in  dem  männlichen 
Geschlecht  mehr  Ausdruck  von  Ivraft,  in  dem  weiblichen,  zwar 
nicht  an  sich,  aber  in  Vergleichung  mit  der,  aus  demselben  her- 
vorleuchtenden Ivraft,  mehr  Ausdruck  von  Fülle. 

Jeder  reinen  Theilung  widerspricht  indess  schon  die  Analogie 
der  Naturgesetze.  Denn  soweit  unsre  Beobachtung  reicht,  sehen 
wir,  dass  die  Natur,  immer  bemüht ,  den  höchsten  Reichthum 
durch  die  einfachsten  Mittel  herv^orzuschaften,  Wesen  von  ungleich- 
artiger Wirksamkeit  nicht  sowohl  durch  den  Grad,  als  die  Richtung 
ihrer  Kräfte  von  einander  unterscheidet.  Eben  so  ist  nun  auch 
in  den  empfangenden  nicht  weniger  Kraft,  als  in  den  zeugenden 
Stoff  in  dem  Augenblick  der  Hervorbringung  wirksam;  und  die 
Verschiedenheit  liegt  allein  in  der  Art,  wie  beide  gegenseitig  ge- 
stimmt sind.  In  dem  männlichen  Geschlechte  ist  alles  allein  auf 
die  Einwirkung  gerichtet.  Da  der  Stoff  bloss  bestimmt  ist,  sie 
dadurch  zu  verstärken,  dass  er  ihr  gleichsam  einen  Körper  leiht, 
so  sucht  sie  ihn  sich,  fast  bis  zur  Vertilgung  seiner  eigenthüm- 
lichen  Natur,  zu  assimiliren.  In  dem  weiblichen  geht  dagegen  die 
ganze  Stimmung  auf  die  Rückwirkung.  Indem  die  Ivraft  diese  in 
dem  Stoff  zu  erhöhen  strebt,  behandelt  sie  ihn  mit  grösserer 
Schonung.  Eigentlich  geschieht  daher  die  Belebung  durch  beide 
Geschlechter  zugleich,  nur  dass  die  männliche  Kraft  doch  allein 
die  Erweckung  bewirkt,  indess  die  weibliche  nur  ihre  Möglichkeit 
vorbereitet,  und  ihre  Fortdauer  sichert.  Nie  vermöchte  auch  die 
belebende  Kraft  auf  den  Stoff  zu  wirken,  wenn  nicht  zugleich 
eigne  Thätigkeit  desjenigen  Wesens  hinzukäme,  welchem  derselbe 
angehört.  Selbst  die  stärkste  Einwirkung  kann  nur  durch  Rück- 
'vs'irkung  in  das  eigne  Wesen  aufgenommen  werden,  und  aus  dem 
ganzen  Umfange  ihres  Gebiets  hat  die  organische  Natur  bloss  un- 
thätiges  Leiden  verbannt.  Dadurch,  dass  sie  jedem  Geschlecht 
beide  zur  Erzeugung  nothwendige  Kräfte  verliehen,  hat  sie  es 
möglich  gemacht,  dass  Mangel  der  Kraft  auf  der  einen  Seite  durch 
ein  Uebergewicht  auf  der  andern  gleichsam  übertragen  werden 
kann.  Wo  es  der  männlichen  Kraft  an  Stärke  gebricht,  da  kann 
die  Lebendigkeit  der  weiblichen  noch  die  Möglichkeit  der  Frucht- 
barkeit retten,  wie  diess  die  Erfahrung  in  der  That  nicht  selten 
beweisst,  und  umgekehrt  kann,  wo  die  weibliche  einen  zur 
Empfänglichkeit  wenig  vorbereiteten  Stoff  darbietet,  die  männliche 


ooQ  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

diesen  Fehler  wiederum  gut  machen.  Mag  man  sich  diess  nun 
durch  einen  wirlclichen  Austausch  der  Functionen,  oder,  was  wahr- 
scheinlicher ist,  durch  eine  Erweckung  und  Unterstützung  der 
Schwäche  des  einen  Theils  vermöge  einer  ausserordentlichen  Stärke 
des  andren  erklären,  die,  indem  sie  ihrer  Verrichtung  in  einem 
eminenten  Grade  genügt,  die  gegenseitige  erleichtert;  so  bestätigen 
Fälle  dieser  Art,  ebenso  w^ie  die,  wo  augenblickliche  Stimmungen 
der  Mutter  auf  die  Beschaifenheit  der  Frucht  wirksam  schienen, 
das  hier  Gesagte  auch  auf  dem  Weg  der  Erfahrung.  Wenn  indess 
Zeugung  und  Empfängniss  beide  einen  Stoff  und  eine  Kraft  er- 
fordern; so  ist  bei  der  ersteren  der  Stoff  nur  nothwendig,  weil 
die  Kraft  nicht  ohne  Stoff  zu  wirken  vermöchte,  und  bei  der 
letzteren  die  Kraft  nur  erforderlich,  weil  ohne  sie  die  Einwirkung 
auf  den  Stoff  nicht  geschehen  kann.  Redet  man  daher  bloss  von 
der  Hauptrichtung  beider  Geschlechter;  so  gehört  dennoch  die 
Kraft  bei  der  Hervorbringung  bloss  dem  zeugenden,  der  Stoff 
bloss  dem  empfangenden  an. 

Den  geweihten  Schleier  zu  durchdringen,  in  den  die  Natur 
gerade  ihr  heiligstes  Bilden  verhüllt,  ist  von  einer  Schwierigkeit 
begleitet,  welche  sich  schon  durch  die  mannigfaltigen  und  gänz- 
lich verschiedenen  Theorien  über  diesen  Gegenstand  verräth.  Die 
wahrscheinlichste  unter  denselben  stimmt  jedoch  genau  mit  dem 
eben  Gesagten  überein.  Ueberall,  wo  die  Natur  Zeugung  und 
Empfängniss  zwei  verschiedenen  Wesen  anvertraut  hat,  ist  der 
Stoff  in  dem  empfangenden,  das  belebende  Princip  in  dem 
zeugenden.  Damit  aber  beide  miteinander  in  Verbindung  gesetzt 
werden  können,  muss  noch  eine  Thätigkeit  auch  des  ersteren 
hinzukommen,  durch  welche  ein  Theil  des  Stoffs  sich  losreisst, 
und  Keim  zur  ferneren  Ausbildung  wird.  Gerade  in  ihrer  ge- 
heimsten Werkstätte  wirkt  daher  die  Natur  am  meisten  schöpferisch 
und  am  wenigsten  mechanisch.  Gerade  hier  lässt  sich  am  wenigsten 
die  Wirkung  aus  den  Ursachen  berechnen;  vielmehr  zündet  nur 
ein  Funke  den  andern  an.  Diess  haben  am  meisten  diejenigen 
gefühlt,  welche  diess  Phänomen  durch  jene  Wirkungsart  zu  er- 
klären unternahmen,  da  doch  dem  menschlichen  Verstand  hier 
nichts  übrig  blieb,  als  die  hervorbringenden  Ursachen  aufzusuchen, 
den  Erfolg  zu  beobachten,  und  nicht  zu  erklären,  sondern 
schweigend  zu  bewundern,  ein  Gipfel  der  bescheidenen  Achtung 
gegen  die  grosse  Werkmeisterin,  zu  welchem  nur  die  neuere 
philosophische  Naturkunde  führen  konnte.    Wunderbar  ist  es  zu 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 


?3i 


sehen,  wie  die  Natur,  indem  sie  sich  jener  körperlichen  Kräfte 
nur  in  soweit  bedient,  als  es  ihr  gleichsam  unentbehrlich  schien, 
die  Freiheit,  diess  grosse  Vorrecht  der  Geisterwelt,  auch  in  das 
andre  Gebiet  ihres  Reichs  hinüberzuführen  strebt.  Nur  eine 
Partikel  des  Stoffs  nimmt  sie  auf,  nur  zur  ersten  Belebung  ent- 
lehnt sie  eine  fremde  Kraft.  Wie  der  erste  Funke  glimmt,  lodert 
er  durch  sich  selbst  auf,  empfängt  Nahrung,  aber  die  er  nach 
eignen  Gesetzen  gebraucht. 

Achtung  für  alles  wirkliche  Daseyn,  und  Streben,  demselben 
eine  bestimmte  Gestalt  nach  eigner  Willkühr  zu  geben,  bezeichnen 
überall  den  weiblichen  und  männlichen  Charakter,  und  so  erfüllen 
sie  beide  dadurch  gemeinschaftlich  den  grossen  Endzweck  der 
Natur,  die  unaufhörliche  Wechselwirkung  der  Form  und  des 
Stoffes.  Unmittelbar  gegenübergestellt,  müssten  Form  und  Stoff 
einander  feindlich  begegnen.  Da  aber,  bei  der,  den  beiden  Ge- 
schlechtern eigenthümlichen  Wirkungsart,  die  Strenge  der  Form 
durch  den  Stoff",  den  dieselbe  annehmen  muss,  gemildert,  und  der 
Stoff  durch  eine  formende  Kraft  zur  Empfänglichkeit  vorbereitet 
wird;  so  ist  nun  die  innige  Vereinigung  möglich,  auf  welcher 
allein  das  Geheimniss  der  Organisation  beruht.  Die  Nothwendig- 
keit,  mit  welcher  alle  wechselseitig  aufeinander  wirkende  Kräfte 
eine  der  andren  bedürfen,  macht  auch  die  zeugenden  und 
empfangenden  abhängig  von  einander.  Indess  ist  den  ersteren 
doch  nicht  alle  Beschäftigung  ihrer  Wirksamkeit  für  sich  allein, 
so  wie  den  letzteren,  verw^ehrt,  und  diess  begründet  eine  grössere 
Unabhängigkeit  von  ihrer  Seite.  Eben  darum  aber  sind  die  ent- 
gegengesetzten das  höchste  Beförderungsmittel  aller  Verbindung, 
und  da  nun  gerade  die  Kunst  der  Verbindung  das  höchste  Da- 
seyn in  der  Natur  bewahrt,  so  sind  dieselben  durch  ihre  innre 
Beschaffenheit  mehr  und  dringender,  diess  zu  befördern,  veranlasst. 
Sie  sind  es,  die  man  als  das  eigentlich  verknüpfende  Band  in  dem 
Ganzen  der  Natur  ansehen  kann;  die  am  emsigsten  Gegenstände 
aufsuchen,  welche  ihre  Energie  zu  beleben  vermögen,  und  bei  den 
gefundenen  am  längsten  verweilen. 

Durch  diess  Verweilen  führt  die  Fähigkeit  zu  empfangen  zu 
dauernder  Beharrlichkeit.  Mehr  in  sich  zurückzukehren,  als  in 
weite  Fernen  zu  schweifen  durch  ihre  Natur  selbst  veranlasst, 
sind  alle  empfangende  Wesen  an  einen  stäteren,  minder  wechseln- 
den Gang  gefesselt.  Um  der  Kraft,  die  ihnen  entgegenkommt, 
ausdauernde    Stärke     entgegenzusetzen,    das    Getrennte    zu    ver- 


'702  9-    Über  den  Geschlechtsunterschied 

binden,  und  die  Einwirkung  zu  erwiedern,  bedürfen  sie  eines 
harmonischen  und  gleichgestimmten  Strebens.  Da  mit  dem 
Empfangen  auch  zugleich  die  Ausbildung  des  Keims  verbunden 
ist,  so  erfordert  diese  häufig  eine  verwickeitere  Organisation;  und 
wenigstens  muss  die  Natur,  um  diesen  Zweck  nicht  zu  verfehlen, 
Wesen,  die  hiezu  bestimmt  sind,  mit  doppelter  Wachsamkeit  an 
ihre  Gesetze  binden.  Beharrlichkeit  aber  ist  die  Unveränderlich- 
keit  des  Endlichen,  und  so  scheint  die  Natur  auch  diesen  letzten 
Vorzug,  welcher  erst  allen  übrigen,  die  ohne  ihn  nur  ein  erbetenes 
und  vergängliches  Daseyn  besitzen  würden,  den  wahren  innren 
Werth  und  den  schönsten  äussern  Glanz  giebt,  den  empfangenden 
Kräften  vorzugsweise  von  selbst  und  aus  freier  Gunst  zu  ertheilen. 
Aber  die  Beharrlichkeit  hat  nur  dann  einen  Werth,  wenn  sie 
das  Gesetz  der  Thätigkeit  ist,  nicht  wenn  sie  zur  Unthätigkeit 
herabsinkt.  Besitzt  nun  das  weibliche  Geschlecht  ein  Princip  der 
Beharrlichkeit,  so  ist  ihm  nicht  auch  zugleich  ein  andres  der 
Thätigkeit  eigen,  sondern  es  muss  diess  von  der  wechselseitigen 
Einwirkung  des  männlichen  erwarten.  Die  Kraft,  die  mit  so 
grosser  Heftigkeit  wirkt,  dass  sie  selbst  die  Zerstörung  nicht 
scheut,  und  fremden  Stoff  nach  eigner  Willkühr  zu  formen  unter- 
nimmt, ist  unermüdet,  aber  auch  leicht  dem  Wechsel  unterworfen. 
Da  sie  nicht  Raum  genug  in  sich  fühlt,  das  schwellende  Streben 
zu  fassen,  so  ist  ihr  Ruhe  unerträglich;  und  da  sie  nicht  sowohl 
der  Beschaffenheit  des  Stoffs  nachgiebt,  als  von  eignem  Feuer  be- 
seelt wird,  so  lässt  sich  die  Stätigkeit  ihrer  Wirksamkeit  nicht 
verbürgen.  In  demjenigen  Theil  der  Natur,  in  welchem  überhaupt 
wenig  oder  gar  keine  Willkühr  herrscht,  wird  diess  wenig  sicht- 
bar seyn;  vielleicht  aber  ist  es  auch  nur,  wie  so  vieles  in  diesem 
Gebiet,  wenig  beobachtet,  und  wenigstens  bestätigt  in  dem  übrigen 
die  Erfahrung  diese,  hier  bloss  aus  Begriffen  gefolgerte  Behaup- 
tung. Soll  der  Mensch  zu  dem  Ideale  gelangen,  das  die  Vernunft 
ihm  vorschreibt;  so  muss  der  Mann  seine  natürliche  Thätigkeit 
an  ein  festes  Gesetz  binden,  das  Weib  die  Gesetzmässigkeit,  welche 
es  seinem  Wesen  eingeprägt  fühlt,  durch  innre  Antriebe  mit 
Thätigkeit  beleben.  Unterliegt  aber  das  Bemühen  der  Vernunft 
hier  dem  Hang  der  Natur,  so  hebt  der  doppelte  Fehler  beider 
Geschlechter  sich  selbst  wieder  auf.  Mit  verschiedenen  Eigen- 
schaften versehen  und  doch  unzertrennlich  von  einander,  be- 
schränken sie  sich  selbst  bis  auf  die  Gränze,  welche  dem  End- 
zweck des  Ganzen  entspricht. 


und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur.  ooo 

Die  Natur,  in  ihrem  ganzen  Umfang  betrachtet,  ist  unver- 
änderlich. Die  Thätigkeit  ihrer  Kräfte  rastet  ^)  nie,  und  ihre  Ge- 
setze verschatfen  sich  immer  gleichen  Gehorsam.  So  unterbricht 
nichts  je  weder  den  Grad,  noch  die  Form  ihrer  Wirksamkeit. 
Diese  Thätigkeit  aber  unveränderlich  zu  erhalten  findet  sie 
in  der  gegenseitigen  Eigenthümlichkeit  beider  Geschlechter  eine 
mächtige  Stütze.  Indess  sie  aus  dem  einen  Rastlosigkeit 
schöpft,  verbürgt  ihr  das  andre  die  Stätigkeit. 

So  sind  nun  zwischen  beiden  Geschlechtern  die  Anlagen  ver- 
theilt,  welche  es  ihnen  möglich  machen,  diess  unermessliche  Ganze 
zu  bilden.  Nur  dadurch  gelang  es  der  Natur,  widersprechende 
Eigenschaften  zu  verbinden,  und  das  Endliche  dem  Unendlichen 
zu  nähern.  Denn  überall  droht  angestrengte  Thätigkeit  dem 
ruhigen  Daseyn,  so  wie  erhaltende  Ruhe  der  regen  Energie  den 
Untergang.  Darum  beseelte  die  Natur  ihre  Söhne  mit  Kraft,  Feuer 
und  Lebhaftigkeit,  und  hauchte  ihren  Töchtern  Haltung,  Wärme 
und  Innigkeit  ein.  Indess  nun  die  einen  ihr  Gebiet  zu  erweitern 
streben,  bereichern  es  die  andern  mit  sorgsamer  Hand  innerhalb 
seiner  Gränzen.  Denn  der  ganze  Charakter  des  männlichen  Ge- 
schlechts ist  auf  Energie  gerichtet;  dahin  zielt  seine  Kraft,  seine 
zerstörende  Heftigkeit,  sein  Streben  nach  Aussenwirkung,  seine 
Rastlosigkeit.  Dagegen  geht  die  Stimmung  des  weiblichen,  seine 
ausdauernde  Stärke,  seine  Neigung  zur  Verbindung,  sein  Hang  die 
Einwirkung  zu  erwiedern  und  seine  holde  Stätigkeit  allein  auf 
Erhaltung  und  Daseyn.  Mit  gemeinschaftlicher  Sorgfalt  ver- 
richten sie  daher  die  beiden  grossen  Operationen  der  Natur,  die, 
ewig  wiederkehrend,  doch  so  oft  in  veränderter  Gestalt  erscheinen, 
Erzeugung  und  Ausbildung  des  Erzeugten.  Vergleicht  man  indess 
ihre  eigenthümliche  Beschaffenheit  noch  näher  mit  einander;  so 
hat  die  Natur  die  empfangenden  Kräfte  noch  unter  genauere  Ob- 
hut genommen.  Sie  theilen  mit  ihr  ihre  entschiedensten  Vorzüge, 
und,  gleich  den  Töchtern  im  Hause,  schliessen  sie  sich  näher  an 
die  sorgsame  Mutter  an. 

Daseyn,  von  Energie  beseelt,  ist  Leben,  und  das  höchste 
Leben  das  letzte  Ziel,  in  dem  sich  das  Streben  aller  verschiedenen 
Kräfte  der  Natur  vereint.  Die  Verschiedenheit  beider  Geschlechter 
befördert  die  Erreichung  dieses  Ziels,  oder  vielmehr  ihre  eigen- 
thümliche Beschaffenheit  führt   sie  zu  demselben   hin,   ohne   dass 


V  Der  erste  Druck  hat  „rostet". 


'3,'IA    9'  Über  den  Geschlechtsunterschied  und  dessen  Einfluss  auf  die  organische  Natur. 

sie  selbst  sich  dessen  bewusst  sind.  Denn  keine  Kraft  der  Natur 
dient  als  Mittel  einem  Zweck,  oder  strebt  einer  fremden  Absicht 
entgegen.  Indem  alle  harmonisch  wirksam  sind,  folgt  jede  nur 
ihrem  eignen  Triebe,  und  das  letzte  Resultat  der  Thätigkeit  aller 
geht  mit  einer  Nothwendigkeit  hervor,  die,  da  sie  alle  Absicht 
ausschliesst,  auf  den  ersten  Anblick  zufällig  scheinen  kann.  In 
gleicher  Freiheit  wirken  nun  auch  die  Kräfte  beider  Geschlechter, 
und  so  kann  man  dieselben  als  zwei  wohlthätige  Gestalten  ansehen, 
aus  deren  Händen  die  Natur  ihre  letzte  Vollendung  empfängt. 
Dieser  erhabenen  Bestimmung  genügen  sie  aber  nur  dann,  wenn 
sich  ihre  Wirksamkeit  gegenseitig  umschlingt,  und  die  Neigung, 
welche  das  eine  dem  andren  sehnsuchtsvoll  nähert,  ist  die  Liebe. 
So  gehorcht  daher  die  Natur  derselben  Gottheit,  deren  Sorgfalt 
schon  der  ahndende  Weisheitssinn  der  Griechen  die  Anordnung 
des  Chaos  übertrug. 


I 


10. 

Ueber  die  männliche  und  weibliche  Form. 

Die  Einheit  der  Gattung  abgerechnet,  welche  sich  in  der 
männlichen  und  weiblichen  Bildung  gemeinschaftlich  ausdrückt, 
stehen  selbst  die  Geschlechtsverschiedenheiten  beider  in  einer  so 
vollkommenen  Uebereinstimmung  mit  einander,  dass  sie  dadurch 
zu  einem  Ganzen  zusammenschmelzen.  Alan  abstrahire  nun  ent- 
weder von  dem  Geschlechtscharakter  oder  man  vereinige  denselben, 
so  erhält  man  in  beiden  Fällen  ein  Bild  des  Menschen  in  seiner 
allgemeinen  Natur.  Die  Züge  beider  Gestalten  beziehen  sich  da- 
her wechselweis  auf  einander;  der  Ausdruck  der  Kraft  in  der 
einen  wird  durch  den  Ausdruck  von  Schwäche  in  der  andern  ge- 
mildert, und  die  weibliche  Zartheit  richtet  sich  an  der  männlichen 
Festigkeit  auf.  So  wendet  sich  das  Auge  von  jeder  einzelnen  un- 
befriedigt zur  andern,  und  jede  wird  nur  durch  die  andere  ergänzt. 
Und  eben  so  wie  das  Ideal  der  menschlichen  Vollkommenheit,  so 
ist  auch  das  Ideal  der  menschlichen  Schönheit  unter  beiden  auf 
solche  Art  vertheilt,  dass  wir  von  den  zwei  verschiedenen  Prin- 
cipien,  deren  Vereinigung  die  Schönheit  ausmacht,  in  jedem  Ge- 
schlecht ein  anderes  überwiegen  sehen.  Unverkennbar  wird  bei 
der  Schönheit  des  Mannes  mehr  der  Verstand  durch  die  Ober- 
herrschaft der  Form  {formositas)  und  durch  die  kunstmässige  Be- 
stimmtheit der  Züge,  bei  der  Schönheit  des  Weibes  mehr  das 
Gefühl  durch  die  freie  Fülle  des  Stoffes  und  durch  die  liebliche 
Anmuth  der  Züge  (venustas)  befriedigt;  obgleich  keine  von  beiden 
auf  den  Namen   der  Schönheit  Anspruch   machen   könnte,  wenn 


Erster  Druck:  Schillers  Hören,  Jahrgang  ijg^  ^,  80 — /oj.  4>  i4 — 40. 


336 


lo.    über  die  männliche 


sie  nicht  beide  Eigenschaften  in  sich  vereinigte.  Aber  die  höchste 
und  vollendete  Schönheit  erfordert  nicht  bloss  Vereinigung,  sondern 
das  genaueste  Gleichgewicht  der  Form  und  des  Stoffes, 
der  Kunstmässigkeit  und  der  Freiheit,  der  geistigen  und  sinnlichen 
Einheit,  und  dieses  erhält  man  nur,  w^enn  man  das  Charakte- 
ristische beider  Geschlechter  in  Gedanken  zusammenschmelzt,  und 
aus  dem  innigsten  Bunde  der  reinen  Männlichkeit  und  der  reinen 
Weiblichkeit  die  Menschlichkeit  bildet. 

Aber  eine  solche  reine  Männlichkeit  und  Weiblichkeit  auch 
nur  aufzufinden,  ist  unendlich  schwer,  und  in  der  Erfahrung 
schlechterdings  unmöglich.  In  der  Erfahrung  kommt  immer  der 
eigenthümliche  Charakter  des  Individuums  dazwischen,  der  den 
allgemeinen  Geschlechtscharakter  in  demselben  theils  durch  Ein- 
mischung fremder  Züge  entstellt,  theils  durch  Mittheilung  seiner 
eigenen  zufälligen  Schranken  ihn  hindert,  seine  höchste  Vollendung 
zu  erreichen.  Jenes  Fremdartige  muss  also  durch  den  Verstand 
davon  abgesondert,  diese  Schranken  des  Individuums  müssen  ent- 
fernt werden,  wenn  der  reine  Geschlechtscharakter  zur  Darstellung 
kommen  soll.  Der  Verstand  aber  kann  nur  dürftige  Abstractionen 
liefern,  und  hier  ist  es  uns  gerade  um  ein  vollständiges  sinnliches 
Bild  zu  thun,  weil  der  wahre  Geist  der  Geschlechtseigenthümlich- 
keit  nur  in  dem  lebendigen  Zusammenwirken  aller  einzelnen  Züge 
sich  ausdrücken  kann. 

Aus  dieser  Verlegenheit  nun  werden  wir  durch  die  productive 
Einbildungskraft  gerissen,  welche  aus  dem  Gebiet  der  Erfahrung 
in  ein  idealisches  übergeht,  allen  zufälligen  Ueberfluss  und  alle 
zufällige  Schranken  von  ihrem  Gegenstand  absondert,  und  das 
Unendliche  der  Vernunft  in  eben  so  bestimmte  Formen  einkleidet, 
als  sonst  nur  die  zufällige  und  beschränkte  Geburt  der  Zeit,  das 
wirkliche  Individuum,  zeigt.  Mit  diesem  wunderbaren  Vermögen 
vorzugsweise  von  der  Natur  ausgestattet,  bevölkerte  der  Grieche 
seinen  Olymp  mit  idealischen  Gestalten.  Wenn  er  nun  reine 
Eigenthümlichkeit  und  Schönheit  suchte,  wandte  er  sich  zum 
Kreise  der  Götter,  und  fand  da,  was  er  auf  der  Erde  vermisste. 
Niemand  in  den  folgenden  Jahrhunderten  hat  diess  Volk  in  der 
Kunst  übertroffen,  den  verborgensten  Charakter  eines  Wesens  in 
seiner  noch  unentfalteten  Knospe  zu  pflücken,  und  in  dieser  Zart- 
heit mit  einer  bestimmten  Gestalt  zu  umgeben.  Nur  dem 
Griechischen  Künstler  gelang  es,  das  Ideal  selbst  zu  einem  Indi- 
viduum  zu   machen,    und   bei    ihm   werden   wir   auch    den    be- 


und  weibliche  Form.  'i'^1 

friedigendsten  Aufschluss  über  den  vorliegenden  Gegenstand 
schöpfen. 

In  dem  Kreise  der  Göttinnen  begegnet  uns  das  Ideal  der 
Weiblichkeit  zuerst  in  Dionens  Tochter.  Der  Ideine  und  zarte 
Gliederbau,  welcher  jeden  schmeichelnden  Liebreiz  vereint,  der 
üppige  Wuchs,  das  schmachtend  feuchte  Auge,  der  sehnsuchtsvoll 
geöfnete  Mund,  die  holde  Sittsamkeit,  welche  mehr  jungfräuliche 
Schüchternheit  als  entfernende  Strenge  verräth,  und  die  himm- 
lische Anmuth,  die,  gleich  einem  Hauche,  über  ihre  ganze  Gestalt 
ausgegossen  ist,  kündigen  ein  Geschlecht  an,  das  auf  seine  Schwäche 
selbst  seine  Macht  gründet.  Was  sich  ihrem  Kreise  naht,  athmet 
Liebe  und  Genuss,  und  ihr  Blick  selbst  ladet  freundlich  dazu  ein. 
Es  war  eine  grosse  und  weitumfassende  Idee,  welche  die  Venus 
der  Griechen  darstellte:  die  alles  hen^orbringende,  und  alles 
Lebendige  durchströmende  Ivraft.  Zu  dieser  Idee  konnten  sie 
kein  glücklicheres  Sinnbild  wählen,  als  die  aufblühende  Ideal- 
gestalt des  Weibes,  des  schönsten  aller  hen^orbringenden  Wesen, 
und  keinen  glücklichern  Moment,  als  denjenigen,  wo  das  erste, 
noch  unbestimmte  Verlangen  den  Busen  schwellt. 

In  diesem  ersten  Jugendalter  erscheint  die  Weiblichkeit  reiner, 
und  lässt  sich  eben  deswegen,  weil  sie  sich  der  übrigen  Natur 
noch  nicht  ganz  angeeignet  hat,  mehr  vereinzelt  wahrnehmen ;  sie 
ist  weniger  Charakter,  als  Stimmung  des  Moments  und  der 
Neigung.  In  der  seelenvollsten  Mine,  in  dem  lebendigsten  Aus- 
druck des  moralischen  und  sogar  des  intellectuellen  Charakters 
kann  zwar  die  weibliche  Eigenthümlichkeit  sichtbar  seyn ;  aber  am 
treuesten  offenbart  sie  sich  in  der  physischen  Gestalt  und  dem 
sinnlichen  Ausdruck,  und  gerade  diess,  zum  Ideale  erhoben,  strahlt 
aus  der  Göttin  der  Schönheit  hervor.  Was  unser  dunkles  Gefühl 
von  weiblicher  Bildung  erwartet,  finden  wir  darum  in  ihr  am 
leichtesten  wieder,  und  wenn  wir  den  Eindruck  prüfen,  den  ihr 
Anblick  in  uns  erregt,  so  fühlen  wir  uns  von  einer  üppigen  Fülle 
des  Reizes  durchdrungen,  die  von  wundervoller  Schönheit  des 
Baues  gehalten,  und  von  feiner  Grazie  gemässigt  wird.  Darum 
erscheint  sie  uns  menschlicher,  und  obgleich  sie  auf  keine  Weise 
die  Gottheit  verläugnet,  so  nahen  wir  ihr  dennoch  mit  vertrauender 
Hofnung. 

Was  aus  der  Göttin  der  Liebe  laut  und  unverkennbar  spricht, 
das  ruht  in  Dianens  Gestalt  noch  schlummernd  und  unentfaltet. 
Mit  jedem  Reiz  ihres  Geschlechts  geschmückt,  verschmäht  sie  die 

W.  V.  Humboldt,   Werke.     I.  23 


338 


lo.    über  die  männliche 


süssen  Freuden  der  Liebe,  und  ergötzt  sich  nur  an  männlichen 
Beschäftigungen.  Mitten  unter  einer  Schaar  gleichgesinnter  Ge- 
spielinnen, verfolgt  sie  in  den  Tiefen  der  Wälder  das  Wild  mit 
grausamem  Bogen,  und  bestraft  mit  Strenge  den  Frevler,  der  sich 
ihr  mit  unkeuschen  Augen  naht.  Durch  diese  jungfräuliche  Sitte 
ist  sie  mit  Mi  nerven  verwandt;  aber  der  Charakter  beider 
Göttinnen  ist  dennoch  wesentlich  unterschieden.  In  Jupiters 
furchtbarer  Tochter  hat  der  Ernst  der  Weisheit  jede  weibliche 
Schwäche  vertilgt;  das  zeigt  der  ruhige,  nachdenkend  nieder- 
geschlagene Blick.  Dianens  Auge  hängt  mit  lebhafter  Begierde 
an  dem  Gegenstand  ihres  Strebens ;  sie  hat  nur  Neigung  mit 
Neigung  vertauscht.  Die  Weiblichkeit  ist  ihr  nicht  fremd,  viel- 
mehr zeigt  sie  nirgends  männliche  Kraft;  in  fröhlicher  Unbe- 
fangenheit ist  sie  sich  ihrer  nur  selbst  nicht  bewusst.  Ueberhaupt 
ist  sie  kein  Ideal  einer  Gattung,  vielmehr  einer  individuellen 
Stimmung,  oder  bestimmter,  einer  gewissen  Stufe  des  Alters. 
Die  zarte  Sehnsucht,  welche  ein  Geschlecht  an  das  andere  knüpft, 
braucht  zu  ihrer  Entwicklung  den  ruhigen  Einfluss  eines  in  sich 
gekehrten  Sinnes.  Aber  die  ersten  Aufwallungen  des  jugendlichen 
Gefühls  schweifen,  wie  Dianens  Blick,  in  die  Ferne.  Daher  ist 
das  früheste  jungfräuliche  Alter  nicht  selten  von  einer  gewissen 
Gefühllosigkeit,  ja  sogar,  da  ein  grosser  Theil  der  weiblichen  Milde 
von  der  Entwicklung  jener  Empfindungen  abhängt,  von  einer  ge- 
wissen Härte  begleitet.  Nur  schlüpfen  einige  Charaktere  so  schnell 
über  diese  Periode  hinweg,  dass  sie  kaum  noch  bemerkbar  ist, 
indess  sie  sich  in  andern  länger  erhält.  Dieser  Zustand  bringt  die 
eigenthümliche  Bildung  herv^or,  welche  Latonens  Tochter  aus  der 
Hand  des  Künstlers  empfieng.  Der  weibliche  Reiz  strömt  nicht 
in  schmelzender  Schönheit  von  ihr  aus ,  sondern  ist  noch  ver- 
schlossen in  sich,  und  sich  selbst  verborgen.  Der  Bau  der  Glieder 
hat  mehr  Festigkeit  und  schlanke  Behendigkeit,  und  der  ganze 
Ausdruck  sagt,  dass  die  Seele  nicht  in  sich  zurücksinkt,  sondern 
auswärts  nach  fremden  Gegenständen  strebt.  Dabei  aber  stellt 
sich  der  Hauptcharakter  der  göttlichen  Weiblichkeit,  Anmuth  von 
Würde  getragen,  in  so  hohem  Grade  dar,  dass  er  nur  desto 
mächtiger  erscheint,  je  mehr  er  zurücktritt.  Dianens  Strenge  hat 
auch  schon  die  Phantasie  der  Dichter  gemildert.  Wenn  die  nächtliche 
Einsamkeit  und  das  Schweigen  der  tosenden  Jagd  die  Göttin  mehr 
in  sich  selbst  zurückführen,  wird  sie  von  Endymions  Reizen  gerührt, 
indess  man  die  ernste  Pallas  keiner  Schwachheit  zu  zeihen  vermag. 


und  weibliche  Form.  Q5Q 

Wenn  man  Cytherens  Anmuth  mit  der  Würde  der  Juno 
vergleicht,  so  sieht  man  die  Weiblichkeit  in  eine  neue  und  er- 
weiterte Sphäre  versetzt.  In  der  ersteren  ist  sie  rege  und  thätig; 
bei  der  letzteren  ergiesst  sie  sich  ruhig  durch  das  ganze  Wesen, 
und  erscheint  weder  allein,  noch  in  einem  einzelnen  Moment  der 
Neigung  oder  des  Affects,  sondern  ist,  aufs  innigste  in  die  gött- 
liche Persönlichkeit  verwebt,  zum  Charakter  geworden.  Zwar 
muss  es  dem  Leser  der  Dichter  schwer  werden,  diese  Züge  in  der- 
jenigen Gottheit  zu  finden,  die  mit  Rache  athmender  Eifersucht 
ihre  Feinde  verfolgt,  und  an  den  Trümmern  des  rauchenden 
Uiums  sich  weidet.  Aber  man  muss  den  allgemeinen  Charakter 
der  Götter  von  den  Fabeln  unterscheiden,  womit  die  spielende 
Phantasie  eines  sinnlichen  Volks  denselben  verunstaltet  hat.  Denn 
so  wenig  Jupiters  Lüsternheit  dem  Vater  der  Götter  wesentlich 
ist,  so  w^enig  ist  es  Junos  Eifersucht  und  Rachgier  der  Königin 
des  Himmels.  Doch  selbst  in  den  Fabeln  der  Dichter  verläugnet 
die  Göttin  weder  den  Charakter  der  Erhabenheit  noch  der  Milde, 
und  nur  auf  Augenblicke  kann  ihn  die  Macht  der  Affecte  ver- 
dunkeln. Allein  in  die  höchste  weibliche  Anmuth  und  Würde 
gekleidet,  erscheint  sie  aus  der  Hand  des  bildenden  Künstlers,  der 
seiner  Phantasie  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  weniger  Will- 
kührlichkeit,  als  der  Dichter  verstattete.  Zwar  zieht  auch  hier 
ehrwürdige  Hoheit  einen  heiligen  Kreis  um  die  Göttin.  Aber  ist 
es  dem  stillen  Verehrer  gelungen,  sich  ihr  mit  geweihtem  Herzen 
zu  nahen,  so  umstralt  ihn  nun  auf  einmal  ihre  holdselige  Schön- 
heit. Die  Ungleichheit,  mit  welcher  der  bildende  Künstler  und 
der  Dichter  dieselbe  Gottheit  behandelten,  beruht  offenbar  auf  der 
ungleichen  Entwicklung  der  Begriffe  von  der  moralischen  und 
physischen  Bildung  des  Geschlechts;  denn  nothwendig  musste 
der  Künstler,  der  sich  auf  den  Ausdruck  der  letztern  einschränkte, 
es  dem  Dichter  eben  so  weit  zuvorthun,  als  das  Ideal  der  äussern 
Gestalt  mehr  geläutert  und  ausgebildet  war.  Das  Bild  hingegen, 
welches  der  Dichter  von  der  Göttin  entwarf,  richtete  sich  nach 
den  eingeschränkten  Begriffen,  die  man  sich  von  der  moralischen 
Bestimmung  des  Geschlechts  bilden  mochte;  sein  Muster  war  die 
züchtige  Gattin,  die  Freundin  der  Ordnung  und  Häuslichkeit,  aber 
zugleich  auch  die  eifrige  Beschützerin  ihrer  Rechte,  und  diese 
idealisirte  er  in  der  Königin  der  Götter. 

Haben  wir  indess  unsre  Phantasie  von  diesen  Nebenbegriffen 
gereinigt,   so   stellt  sich   uns   in   dieser  Gottheit   das  Bild  wahrer 


QAO  ^°-    Über  die  männliche 

Weiblichkeit  nur  auf  einer  erhabenen  Stufe  dar.  In  keinem 
einzelnen  Zuge  dringt  sie  sich  vor,  sondern  wirft  um  die  ganze 
Gestalt  einen  zarten  Schleier,  durch  welchen  die  Gottheit  frei  und 
ungehindert  durchblickt.  Sie  zeigt  sich  daher  auch  nicht  in  der 
Beschränkung,  welche  ein  bestimmter  einzelner  Zustand  allemal 
mit  sich  führt,  sondern  umschliesst  vielmehr  jede  noch  unent- 
wickelte Anlage,  und  giebt  dem  Verstände  und  der  Phantasie  ein 
unbegrenztes  Feld  zu  verfolgen.  Denn  nicht,  wie  die  Göttin  der 
Liebe,  durch  einladende  Sehnsucht,  noch,  wie  Latonens  Tochter, 
durch  jugendliche  Unbefangenheit  verräth  Juno  das  Weib,  sondern 
durch  eine  ruhige,  über  das  ganze  Wesen  verbreitete  Fülle.  Auch 
der  Schatten  der  Begierde  verschwindet,  und  innre  Selbstgenüg- 
samkeit hebt  sie  aus  dem  Kreise  irrdischer  Beschränktheit  hinweg. 
Ihre  hehre  Gestalt,  ihr  weites  rundgewölbtes  Auge,  und  der  Aus- 
druck der  Hoheit  in  ihrem  Munde  geben  ihr  eine  Würde,  welche 
jede  Spur  der  Bedürftigkeit  vertilgt.  Indem  sie  aber  hierin  die 
Weiblichkeit  gleichsam  verläugnet,  dankt  sie  derselben  ihre  ganze 
übrige  Schönheit.  Weiblich  ist  die  Fülle  ihres  W^esens,  eine  weib- 
liche, langsam  ausströmende  Kraft  ihre  wohlthätige  Macht,  und 
zugleich  ist  beides  mit  lieblicher  Anmuth  und  allen  Reizen  der 
Jugend  geschmückt.  Denn  wie  sich  jede  Gottheit  des  Vorrechts 
erfreut,  alles  Menschliche  zu  gemessen  und  zu  leiden,  ohne  über 
den  Augenblick  der  Gegenwart  hinaus,  den  Sterblichen  gleich, 
beschränkende  Folgen  zu  erfahren,  so  kehrt  auch  Juno  ewig  als 
jungfräuliche  Braut  in  Zevs  Umarmung  zurück. 

Dennoch  erscheint  die  Weiblichkeit  nicht  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Beschaffenheit  in  ihr,  nicht  wie  sie,  noch  unverändert  durch 
die  Persönlichkeit,  aus  der  Hand  der  Natur  kommt,  ^^ielmehr 
mit  der  Gottheit  vereint,  wird  sie  von  dieser  emporgetragen. 
Kühner  erhebt  sich  daher  die  Gestalt  der  Göttin,  freier  wölbt  sich 
das  Auge,  stolzer  gebietet  der  Mund,  und  frei  von  den  Schranken 
des  Geschlechts,  ist  sie  allein  mit  den  Vorzügen  desselben  begabt. 
Der  Ausdruck  der  göttlichen  und  weiblichen  Natur  verliert  sich 
sanft  in  einander,  und  jeder  wird  durch  den  andern  gegenseitig 
erhöht  oder  gemässigt.  Die  üppige  Fülle  der  Weiblichkeit,  der 
es  leicht  an  Haltung  gebricht,  wird  in  einen  sich  selbst  be- 
herrschenden Reichthum  verwandelt,  und  die  weibliche  Kraft,  die 
von  äussrer  Nothwendigkeit  abhängt,  erscheint  mehr  durch  eine 
innre  gebunden.  Wo  hingegen  die  furchtbare  Grösse  der  Gottheit 
Schrecken   erregen   könnte,   da  verbannt  ihn   die   Sanftmuth   des 


und  weibliche  Form. 


341 


Weibes.  Durch  sie  erscheint  der  feste  Rathschluss ,  den  die 
Götterstirn  verlvündet,  nicht  von  der  Willlvühr  der  Laune  abhängig, 
sondern  an  die  hohe  Ordnung  der  Dinge  geknüpft,  und  der  feier- 
liche Ernst,  welcher  die  Göttin  umgiebt,  verliert  jeden  Anschein 
der  Härte,  da  er  aus  weiblicher  Zucht  und  Sittsamkeit  hervorgeht. 

Hier  also  tritt  die  Weiblichkeit  in  einer  neuen  Gestalt  auf. 
Es  ist  nicht  das  eigene  Ideal  derselben,  welches  wir  sehen,  nicht 
eine  Gestalt,  welche  ihre  Vorzüge,  wie  ihre  nothwendigen  Schranken, 
zu  zeigen  bestimmt  wäre;  es  ist  das  Ideal  einer  geistigen  Natur 
überhaupt,  welche,  um  einen  Körper  anzunehmen,  sich  nothwendig 
zu  einem  Geschlechte  bekennen  musste,  und  nun  das  weibliche 
wählte.  Denn  unabhängig  von  der  Form  der  Geschlechter,  muss 
es  noch  eine  andere  mittlere  geben,  die  ein  reiner  Abdruck  der 
Menschlichkeit,  oder,  wenn  wir  uns  diese  idealisch  erhöht  denken, 
der  Göttlichkeit  im  Sinne  der  Alten  ist,  und  zu  welcher  jedes 
einzelne  Geschlecht  emporstreben  sollte.  Die  Schwierigkeit  ist 
nur,  bei  diesem  U ebertritt  in  ein  fremdes  Gebiet,  doch  gleichsam 
das  eigne  nicht  zu  verlassen,  sondern  es  vielmehr  idealisch  zu 
enA'eitern.  Gerade  diese  Forderung  aber  ist  hier  erfüllt,  da  die 
Göttlichkeit  den  Charakter  der  Weiblichkeit  als  Naturcharakter 
vertilgt,  und  als  Willenscharakter  dargestellt,  ihm  eine  unendliche 
Fläche  eingeräumt,  und,  indem  sie  seine  Schranken  entfernte, 
seinen  Vorzügen  selbst  einen  neuen  Glanz  mitgetheilt  hat.  Jeder 
Zug  der  erhabenen  Bildung  ist  weiblich ;  unverkennbar  aber  spricht 
zugleich  aus  jedem  die  Gottheit;  und  so  gewinnt  bei  Weibern 
und  Göttinnen  die  Menschlichkeit  und  Göttlichkeit  immer  in  eben 
dem  Grade,  in  welchem  die  Weiblichkeit  ihr  ganzes  Wesen 
lebendiger  beseelt. 

Wenn  man  sich  ruhig  den  Eindrücken  überlässt,  welche  in 
diesen  Idealen,  wie  in  der  Wirklichkeit  selbst,  die  weibHche 
Schönheit  in  dem  Gemüthe  hen^orbringt,  und  sie  auf  einen  be- 
stimmten und  allgemeinen  Begriff  zurückzuführen  versucht;  so 
sind  es  Lieblichkeit  und  Anmuth,  welche  den  Sinnen  von  allen 
Seiten  entgegenkommen.  Ein  zarter  Gliederbau  von  verhältniss- 
mässiger  Grösse  und  mit  schön  wallenden  Linien  umschlossen, 
in  allen  Theilen  Fülle  und  Weichheit,  eine  sanfte  und  doch  leb- 
hafte Farbenmischung,  eine  feine  und  glatte  Haut,  lange  und  an- 
muthig  fliessende  Locken  —  diese  und  ähnliche  Züge  sind  es, 
welche  in  der  Phantasie  des  Betrachters  zurückbleiben,  und  sich 
in  keiner  wahrhaft  weiblichen  Bildung  verläugnen,  wenn  sie  gleich 


342 


lo.    Über  die  männliche 


in  mannigfaltig  verschiedenen  Gestalten  erscheinen.  Das  charak- 
teristische Merkmal  der  weiblichen  Bildung  ist  daher  die  ununter- 
brochene Stätigkeit  der  Umrisse,  mit  welcher  ein  Theil  aus  dem 
andern  gleichsam  auszufliessen  scheint.  Sie  verwandelt  die  aus 
der  Gestalt  hervorleuchtende  Kraft  in  reizende  Fülle,  und  ver- 
bindet alle  einzelne  Züge  in  ungezwungener  Leichtigkeit  zu  einem 
harmonischen  Ganzen. 

Dieser  materielle  Reiz,  welcher  allein  den  Sinnen  schmeichelt, 
muss,  um  zur  Anmuth  zu  werden,  eine  Form  annehmen,  durch 
welche  er  der  höheren  Forderung  des  Geistes  Genüge  leistet. 
Ohne  sie  geht  er  nicht  in  das  Gebiet  der  Schönheit  über,  und 
sie  ist  es  allein,  die  ihn  zur  Grazie  erhebt.  Zwar  wird  die  Kunst- 
mässigkeit  in  der  Bildung  des  weiblichen  Körpers  durch  die 
grössere  Weichheit  und  den  sanfteren  Fluss  der  Umrisse  versteckt; 
aber  sie  darf  nicht  verschwinden,  und  in  einem  wahrhaft  schönen 
weiblichen  Bau  muss  die  technische  Vollkommenheit  ebenso  durch- 
schimmern, als  sie  in  einigen  übriggebliebenen  Kunstwerken  des 
Alterthums  dem  Auge  in  der  That  sichtbar  ist,  wenigstens  wenn 
dasselbe  die  Leitung  des  Gefühlsinns  zu  Hülfe  ruft.  Wie  aus 
der  sinnlichen  Harmonie  des  Baues  die  reine  Kunstmässigkeit 
herv^orblicken  muss,  so  wird,  wenn  die  Gestalt  vollendet  heissen 
soll,  von  beiden  noch  ein  Ausdruck  der  sittlichen  Harmonie  des 
Charakters  gefordert.  Würde  und  Selbstständigkeit  stralen  als- 
dann aus  dem  Wuchs  und  den  Gesichtszügen  hervor.  Ohne  ein 
übermüthiges  Streben  nach  Herrschaft  zu  verrathen,  begnügt  sich 
die  aufgerichtete  Gestalt,  der  Fesseln  entledigt  zu  seyn,  die  sonst 
alles  Lebendige  binden.  In  eigner  Kraft  erhebt  sie  sich,  und 
unterwirft  sich  willig  den  Gesetzen  einer  Ordnung,  die  sich  mit 
ihrer  Freiheit  vertragen.  Also  weit  entfernt,  dass  der  Ausdruck 
des  Geistes  an  der  weiblichen  Bildung  vermisst  werden  sollte,  so 
ordnet  sich  derselbe  vielmehr  nur  jener  gefälligen  Grazie  frei- 
willig unter. 

An  diesem  Charakter  einer  grösseren  Anmuthigkeit,  als  man 
sie  von  der  bloss  menschlichen  Bildung  erwartet,  ist  die  Weib- 
lichkeit überall  ohne  Mühe  erkennbar.  Gleich  sichtbar  muss  nun 
zwar  in  der  hohen  männlichen  Schönheit  die  Männlichkeit  seyn; 
nur  zeigt  sich  hier  der  sehr  merkwürdige  Unterschied,  dass  die 
letztere  nicht  sowohl,  wenn  sie  da  ist,  leicht  bemerkt,  als,  wo  sie 
fehlt,  vermisst  wird.  Der  eigentliche  Geschlechtsausdruck  ist  in 
der  männlichen  Gestalt  weniger  hervorstechend,  und  kaum  dürfte 


und  weibliche  Form. 


343 


es  möglich  seyn,  das  Ideal  reiner  Männlichkeit  eben  so,  wie  in 
der  Venus  das  Ideal  reiner  Weiblichkeit,  zu  vereinzeln.  Schon 
bei  dem  ersten  Anblick  beider  Gestalten  wird  man  gewahr,  dass 
der  Geschlechtsbau  bei  der  männlichen  bei  weitem  weniger  mit 
dem  ganzen  übrigen  Körper  verbunden  ist.  Bei  der  weiblichen 
hat  die  Natur  mit  unverkennbarer  Sorgfalt  alle  Theile,  die  das 
Geschlecht  bezeichnen,  oder  nicht  bezeichnen,  in  Eine  Form  ge- 
gossen, und  die  Schönheit  sogar  davon  abhängig  gemacht.  Bei 
jener  hat  sie  sich  hierin  eine  grössere  Sorglosigkeit  erlaubt;  sie 
verstattet  ihr  mehr  Unabhängigkeit  von  dem,  was  nur  dem  Ge- 
schlecht angehört,  und  ist  zufrieden,  dieses,  unbekümmert  um  die 
Harmonie  mit  dem  Ganzen,  nur  angedeutet  zu  haben.  Vielleicht 
aber  verwebte  sie  auch  den  männlichen  Charakter  nur  feiner  in 
das  übrige  Wesen  des  Mannes,  und  zeichnete  ihn  durch  den  Aus- 
druck grösserer  Kraft,  mehr  reger  und  schneller  Anstrengung  und 
geringerer  Masse.  Diese  besondere  Eigenthümlichkeit  aber  lässt 
sich  nicht  gerade  auf  die  Rechnung  seines  Geschlechts  setzen. 
Denn  da  sie  von  keiner  Seite  dem  Charakter  der  reinen  Mensch- 
heit widerspricht,  so  kann  sie  der  rein  menschlichen,  so  wie  die 
entgegengesetzte  der  weiblichen  Form  eigenthümlich  seyn;  und 
die  grössere  Unabhängigkeit  von  dem  Geschlechtsunterschied  ge- 
hört daher  unmittelbar  mit  zu  dem  Begritf  der  männlichen  Bildung. 
Je  mehr  Ivraft  und  Freiheit  auch  die  Gestalt  des  ^lannes  ver- 
räth,  desto  männlicher  erklärt  ihn  selbst  das  alltägliche  Unheil. 
Noch  mehr,  als  in  der  weiblichen  Schönheit  muss  die  Kraft  die 
Masse  überwunden  haben,  und  wir  verzeihen  es  eher,  wenn  sich 
jene,  selbst  mit  Verletzung  der  blossen  Anmuth,  zu  sichtbar  her- 
vordrängt, als  wenn  sie  im  Gegentheil  dieser  unterliegt.  Daher 
wird  die  männliche  Schönheit  immer  in  dem  Grade  erhöht,  in 
welchem  die  Ivraft  gestärkt  wird,  und  sinkt  immer  um  so  viel 
herab,  als  man  dem  Genuss  Uebergewicht  über  die  Thätigkeit 
verstattet.  Selbst  die  An,  wie  man  das  Wachsthum  der  Kraft 
befördert,  ist  nicht  gleichgültig,  und  immer  Vt'ird  sie  da  weniger 
männlich  erscheinen,  wo  man  sie  mehr  mit  Fülle  nährt,  als  durch 
Anstrengung  übt.  So  dachten  sich  die  Alten  den  Bacchus. 
Reiche  Fülle  bezeichnet  ihn;  in  fröhlichem  Taumel  durchzog  er 
die  Erde  und  bezwang  entfernte  und  mächtige  \'ölker  mehr  durch 
die  üppige  Macht  seiner  Natur,  als  durch  die  Anstrengung  seines 
Willens.  Seine  Bildung  ist  noch  zarter  und  jugendlicher,  als  die 
der  übrigen  Götter,   seine  Hüften   sind   weiblicher  ausgeschweift, 


344 


lo.    über  die  männliche 


und  der  ganze  Bau  seiner  Glieder  ist  voller  und  runder.  Indess 
er,  mit  der  thätigen  Kraft  des  Mannes  gerüstet,  gerade  die  Eigen- 
thümlichkeiten  des  Geschlechts  in  seinem  Charakter  ausdrückt, 
nähert  er  sich  dennoch  der  Gränze  der  Weiblichkeit.  Wie  Venus 
bezeichnet  er  eine  Naturkraft,  und  ist  überhaupt,  eben  so  wie 
diese,  näher  als  die  höheren  Gottheiten,  mit  der  Natur  verwandt. 
Aber  gerade  wie  sie  das  treuste  Bild  reiner  WeibHchkeit  ist,  so 
stellt  er  eine  Abweichung  von  der  Mannheit  dar;  und  überhaupt 
wird  der  Mann  jederzeit  in  demselben  Grade  mehr  von  seinem 
Geschlechte  ausarten,  als  er  sich  von  demselben  beherrschen  lässt. 
Obgleich  diess  im  Ganzen  auch  bei  den  Weibern  der  Fall  ist,  und 
in  der  Heftigkeit  des  Aifects  die  lieblichsten  Züge  der  Weiblichkeit 
erlöschen,  so  ist  doch  hier  die  Gränze  weiter  gesteckt,  und  es  ist 
den  Weibern  in  einem  hohen  Grade  ihrem  Geschlecht  nachzugeben 
verstattet,  indess  der  Mann  das  seinige  fast  überall  der  Menschheit 
zum  Opfer  bringen  muss.  Aber  gerade  diess  bestätigt  aufs  neue 
die  grosse  Freiheit  seiner  Gestalt  von  den  Schranken  des  Ge- 
schlechts. Denn  ohne  an  seine  ursprüngliche  Naturbestimmung 
zu  erinnern,  kann  er  die  höchste  Männlichkeit  verrathen;  da  hin- 
gegen dem  genauen  Beobachter  der  weiblichen  Schönheit  jene 
allemal  sichtbar  seyn  wird,  wie  fein  auch  übrigens  die  Weiblich- 
keit über  das  ganze  Wesen  mag  verbreitet  seyn.  Schon  von 
selbst  stimmt  der  männliche  Körperbau  fast  durchaus  mit  den 
Erwartungen  überein,  die  man  sich  von  dem  menschlichen  Körper 
überhaupt  bildet,  und  nicht  die  Partheilichkeit  der  Männer  allein 
erhebt  ihn  gleichsam  zur  Regel,  von  welcher  die  Verschiedenheiten 
des  weiblichen  mehr  eine  Abweichung  vorstellen.  Auch  der 
partheiloseste  Betrachter  muss  gestehen,  dass  der  letztere  mehr 
den  bestimmten,  der  männliche  dagegen  den  allgemeinen  Natur- 
zweck alles  Lebendigen  ausdrückt,  die  Masse  durch  Form  zu  be- 
siegen. 

Aber  auch  an  der  männlichen  Bildung  bleiben  noch  immer 
Spuren  genug  von  der  Geschlechtseigenthümlichkeit  übrig,  welche 
da,  wo  die  höchste  Schönheit  hervorgehen  soll,  in  der  reinen 
Menschlichkeit  sich  verlieren  müssen.  Wenn  der  Körper  des 
Weibes  eine  sanfte  Fläche,  von  wellenförmigen  Linien  begränzt, 
darbietet,  so  erhebt  die  dem  Manne  eigenthümliche  Kraft  und 
Heftigkeit  auf  dem  seinigen  hervorragende  Sehnen,  und  sein 
stärkerer  Bau,  weniger  mit  milderndem  Fleische  bekleidet,  deutet 
alle  Umrisse   sichtbarer   an.    Alle   Ecken   springen   schneller  und 


und  weibliche  Form.  o^r 

minder  vorbereitet  hen^or,  der  ganze  Körper  ist  in  bestimmtere 
Abschnitte  abgetheilt,  und  gleicht  einer  Zeichnung,  die  eine  kühne 
Hand  mit  strenger  Richtigkeit,  aber  wenig  bekümmert  um  Grazie, 
entwarft.  Was  hier  in  seinen  Extremen  geschildert  ist,  lässt  frei- 
lich, auch  mit  genauer  Beobachtung  der  natürlichen  Wahrheit, 
eine  grosse  Veredlung  zu.  Aber  selbst  bei  der  höchsten  wird 
eine  Bestimmtheit  übrig  bleiben,  welche  sich  der  Gränze  der  Härte 
nähert.  Solch  ein  Ideal  ist,  nach  dem  Urtheil  der  Kunstkenner, 
der  Farnesische  Hercules.  Nach  langer  Arbeit  ruht  er  aus, 
gestützt  auf  das  Werkzeug  seiner  Kraft.  Riesen  und  Ungeheuer 
hat  er  bezwungen,  aber  nicht  mit  der  leichten  Macht  der  Götter, 
die  mit  dem  Gebot  ihres  Mundes  und  dem  Wink  ihrer  Hand  ihre 
Gegner  vernichten;  mit  der  Anstrengung  eines  Sterblichen  hat  er 
gerungen,  mit  mühevollem  Schweiss  den  Sieg  erkämpft.  Zu  der- 
selben Gattung  gehören  auch  die  Fechterkörper.  Arbeit  und 
Kraftübung  leuchten  aus  ihnen  her\'or,  und  der  Ausdruck  des 
empfangenden  Genusses  ist  überall,  selbst  da  entfernt,  w^o  derselbe 
die  männliche  Kraft  belohnt.  Festigkeit,  Bestimmtheit  und  eine 
Schärfe  der  Umrisse,  die  leicht  in  Härte  auszuarten  Gefahr  läuft, 
machen  also  ein  zweites  wesentliches  Merkmal  der  Bildung  des 
Mannes  aus.  Wo  nicht  schon  die  Hand  der  Natur  oder  die 
moralische  Kultur  diese  Züge  wohlthätig  gemildert  hat,  da  rauben 
sie  der  männlichen  Schönheit  wieder  etwas  von  der  Freiheit,  die 
sie  durch  ihre  grössere  Unabhängigkeit  von  dem  Geschlecht  ge- 
wann. 

In  der  Natur  des  Göttlichen  strebt  alles  der  Reinheit  und 
Vollkommenheit  des  Gattungsbegriffs  entgegen.  Auch  der  Cha- 
rakter der  Geschlechter  fängt  an  in  demselben  zu  erlöschen,  und 
in  der  jugendlichen  Gestalt  der  Götter  verliert  sich  die  scharfe 
Zeichnung  des  männlichen  Körpers  in  einer  milden  Grazie,  welche 
die  Härte  hinwegnimmt,  ohne  die  Bestimmtheit  zu  vertilgen.  Wenn 
Hercules  sich  zum  Olymp  emporgeschwungen  hat,  und  in 
Hebes  Umarmung  des  mühevollen  Erdelebens  vergisst,  so  um- 
wallt auch  seine  körperliche  Bildung  eine  mehr  geläuterte  Schön- 
heit, und  mit  jugendlicher  Leichtigkeit  bewegen  sich  die  ent- 
fesselten Glieder.  Sich  diesem  Ideale  zu  nähern,  kann  auch  der 
Mensch  versuchen,  und  die  Verbindung  der  menschlichen  Schön- 
heit mit  der  männlichen  hilft  erst  die  letztere  vollenden.  Grossen- 
theils vermag  die  Seele  von  innen  heraus  diesen  ^^orzug  hervor- 
zuschaffen ;  aber  noch  mehr  ist  er,  insofern  er  nicht  den  Ausdruck 


'iAß  lo.    Über  die  männliche 

des  moralischen  Charakters  verstärken,  sondern  die  eigentliche 
Schönheit  erhöhen  soll,  eine  Gabe  der  Natur.  Vorzüglich  ist  diess 
in  der  Jugend  der  Fall,  die,  wenn  die  Bildung  der  Kindheit 
gewissermaassen  weiblicher  ist,  auf  der  schmalen  Gränze  zwischen 
beiden  Geschlechtern  steht.  Alsdann  erscheint  die  eigenthümliche 
Schönheit  des  Mannes  in  ihrem  herrlichsten  Glänze.  Jede  ein- 
engende Schranke  ist  entfernt,  und  alles  vereint  sich  zu  dem 
lebendigsten  Ausdruck  einer  mit  Stärke  gerüsteten  Energie,  die 
durch  Anmuth  gemässigt  ist.  Ein  solches  Ideal  ächter  Männlich- 
keit erblicken  wir  im  Vaticanischen  Apoll.  Die  höchste 
männliche  Kraft  und  Bestimmtheit  ist  in  ihm  in  die  schönste 
Götterjugend  gekleidet;  alle  Züge  der  Bildung  sind  sanft  und  oft 
nur  noch  dem  Gefühle  bemerkbar  gezeichnet;  und  wenn  uns  der 
Bogen  in  seiner  Hand  und  der  Köcher  auf  der  Schulter  in 
Schrecken  setzen,  so  durchdringt  uns  die  stille  Erhabenheit  des 
Gottes  mit  ruhiger  Ehrfurcht. 

Wäre  unser  Sinn  genug  an  Schönheit  gewöhnt,  um  überall 
auch  Schönheit  zu  fordern ;  so  würden  wir  die  Härte,  welche  die 
Gestalt  des  Mannes  so  oft  begleitet,  minder  übersehn,  und  durch 
sie  mehr  an  das  Geschlecht,  als  an  die  Gattung  erinnert  werden. 
Indess  liegt  es  doch  nicht  sowohl  an  einem  Mangel  aesthetischer 
Reizbarkeit  in  uns,  als  vielmehr  an  dem  ganzen  Geist  seiner 
Bildung,  wenn  wir  bei  ihm  mehr  auf  Bestimmtheit,  als  auf  Schön- 
heit der  Formen  achten.  Diese  Bestimmtheit  ist  ein  eben  so 
charakteristisches  Merkmal  seiner  Bildung,  als  es  Reiz  und  An- 
muth bei  der  weiblichen  ist;  daher  man  ihm  eben  so  wenig  Un- 
bestimmtheit und  Leere,  als  dem  Weibe  Mangel  an  Grazie  ver- 
zeiht. Diess  bringt  den  hohen  Ausdruck  selbstthätiger  Kraft  in 
ihm  herv'or,  und  verbindet  alle  einzelne  Theile  mehr  zu  der  Ein- 
heit des  Begrifls  eines  lebendigen  und  selbstständigen  Wesens,  als 
zu  der  sinnlichen  Einheit  der  Form,  auf  der  wir  so  gern  in  dem 
weiblichen  Körper  verweilen. 

Nach  diesen  Merkmalen  sollte  man  indess  in  der  Gestalt  des 
Mannes  nur  Vollkommenheit  ahnden,  und  an  Schönheit  verzweifeln, 
wenn  sich  mit  jener  strengen  Richtigkeit  des  Baues  nicht  zugleich 
reizende  Anmuth  verbinden  könnte.  Diess  aber  ist  bei  der  männ- 
lichen Schönheit  in  der  That  der  Fall;  die  abstracte  Einheit  des 
Begriffs,  welche  dem  Verstand  Genüge  leistet,  befriedigt  durch  die 
lebendige  Einheit  der  Ausführung  das  Gefühl,  und  mit  der  höchsten 
Bestimmtheit   und  Mannigfaltigkeit   der  Umrisse    ist   der   leiseste 


und  weibliche  Form. 


347 


Uebergang  einer  Form  in  die  andere  verträglich.  Hat  unter  uns 
Mangel  an  gj^mnastischen  Uebungen,  harte  Arbeit,  welche  die 
Bildung  entstellt,  mindere  Freiheit  von  Sorge  und  von  mecha- 
nischer Beschäftigung,  und  die  ganze  der  Schönheit  ungünstige 
Neigung  des  Zeitalters  es  schwieriger  gemacht,  diess  an  dem 
lebenden  männlichen  Körper  zu  bestätigen;  so  dürfen  wir  uns 
nur  an  die  Kunstwerke  des  Alterthums  wenden.  Auch  der  Schatten 
der  Härte  ist  dort  verbannt,  und  die  Umrisse  der  männlichen  Ge- 
stalt fliessen  gleich  sanft,  nur  mit  mehr  Sparsamkeit  des  Stoffs, 
als  in  der  weiblichen,  ineinander.  Vorzüglich  sichtbar  ist  diess  in 
dem  höchsten  Ideale  des  Mannes,  wo  der  physischen  Eigenthüm- 
lichkeit  zugleich  die  intellectuelle  und  moralische  zur  Seite  steht. 
Reiz  und  Anmuth  gatten  sich  also  nicht  weniger  mit  der  männ- 
lichen, als  mit  der  weiblichen  Form,  nur  dass  sie  der  letzteren 
das  Gesetz  selbst  zu  geben,  bei  der  ersteren  mehr  das  Gesetz  des 
Verstandes  auszuführen  scheinen. 

Bei  dieser  Schilderung  der  Gestalt  beider  Geschlechter  ist  es 
unmöglich,  nicht  zugleich  auch  an  ihre  innere  Eigenthümlichkeiten 
erinnert  zu  werden.  Wie  sehr  der  Betrachter  vermeiden  möchte, 
eine  Vergleichung  mit  denselben  anzustellen,  um  nicht  dadurch 
die  Lauterkeit  der  Beobachtung  zu  stören,  so  muss  sich  die  Aehn- 
lichkeit,  selbst  wider  seinen  Willen,  ihm  aufdringen.  Denn  über- 
haupt ist  keine  Gestalt  eines  organischen  Wesens  rein,  nur  von 
sich  selbst  abhängig,  sondern  jede  wird  durch  den  Begriff  des- 
selben und  die  ihm  inwohnende  Kraft  bestimmt.  In  der  unorga- 
nischen Natur  ist  alle  Gestalt  blosse  Masse,  wenn  nicht  willkühr- 
lich,  doch  wenigstens  nicht  nach  innren  Gesetzen,  sondern  durch 
äussre  Einwirkungen  an  einander  gehäuft.  Von  Kraft  ist  keine 
Spur,  als  von  derjenigen,  durch  welche  die  Masse  mächtig  ist; 
und  daher  sind  Formen  dieser  Art  keiner  andern  Bedeutung  fähig, 
als  welche  die  Phantasie  ihnen  willkührlich  nach  unbestimmten 
Aehnlichkeiten  beilegen  will.  Ganz  anders  ist  es  schon  in  dem 
Reiche,  welches  zunächst  an  dieses  gränzt.  Die  Pflanze  strebt 
mit  eignem  Leben  empor,  und  streckt  vielfach  getheiltc  Wurzeln 
und  Zweige  aus,  um  fremden  Stoff  aufzunehmen  und  eignen  ab- 
zusondern. Hier  ist  nicht  mehr,  wie  dort,  wo  eine  rohe  unge- 
schiedene Masse  auf  einem  sichren  Grunde  ruhte,  die  Gestalt  bloss 
nach  mechanischen  Gesetzen  begreiflich;  es  offenbart  sich  in  ihr 
eine  innre  formende  Kraft.  Dieser  strebt  indess  die  Materie  ent- 
gegen,  und   daher  stellt  jeder   organische  Körper   das  Bild   eines 


348 


lo.    über  die  männliche 


Kampfes  dar,  in  welchem  bald  der  eine,  bald  der  andere  Theil 
die  Oberhand  behält.  Wenn  die  Materie  aufhört  Widerstand  zu 
leisten,  so  begünstigt  sie  die  Kraft,  indem  sie  derselben,  gerade 
wie  in  dem  innren  Wesen  die  Empfänglichkeit  der  Selbstthätig- 
keit,  einen  körperlichen  Stoff  leiht,  und  sie  durch  Leichtigkeit 
mildert.  Die  Beschaffenheit  und  das  Verhältniss  dieser  beiden 
Elemente,  der  Umfang  der  Kraft,  und  die  Art,  wie  die  Materie 
sie  verkörpert,  bestimmen  eine  Stufenfolge  mehr  oder  weniger 
edler  Bildungen,  nach  welcher  sich  jeder  Naturgestalt  ihr  Rang 
anweisen  Hesse.  Bei  diesem  Geschäft  müsste  man  sich  aber  hüten, 
über  die  äussre  Bildung  hinauszugehn.  Unmittelbar  die  Gestalt 
muss  die  Kraft  ankündigen,  auf  die  es  hier  ankommt,  und  thut 
diess  auch  in  der  That.  Wo  die  ganze  Masse,  in  mehrere  einzelne 
Glieder  vertheilt,  Leichtigkeit  und  Beweglichkeit  gewinnt,  wo  in 
dieser  Vertheilung,  wie  in  den  Umrissen  überhaupt,  Ebenmaass 
und  Regel  herrscht,  da  ist  eine  bildende  Kraft  sichtbar,  welche 
diese,  aus  den  Gesetzen  der  blossen  Materie  unerklärbare  Er- 
scheinungen hervorbringt,  und  der  Thätigkeit  sowohl  ihren  Um- 
fang als  ihre  Gränzen  bestimmt.  Das  erstere  ist  vorzüglich 
in  der  menschlichen  Gestalt  offenbar,  die  nicht  bloss,  wie  jede 
organische  Bildung,  eine  bildende  Kraft  und  einen  bildsamen  Stoff 
überhaupt  zeigt,  sondern  auch  eine  unbeschränkte,  schlechterdings 
zu  keiner  einzelnen  Verrichtung  ausschliesslich  bestimmte  Kraft, 
und  einen  Stoff,  der,  anstatt  derselben  zu  widerstreben,  ihr  viel- 
mehr entgegenzukommen  scheint. 

Durch  die  ganze  übrige  thierische  Schöpfung  sehen  wir,  dass 
jedem  Wesen  eine  bestimmte  Anzahl  von  Wegen  zu  verfolgen 
angewiesen,  alle  übrigen  hingegen  versagt  sind.  Nicht  genug  aber, 
dass  es  die  letzteren  nicht  wirklich  einzuschlagen  vermag,  so  ist 
es  nicht  einmal  im  Stande,  diess  zu  begehren,  und  seine  Neigung 
ist,  wie  sein  Vermögen  gefesselt.  Dagegen  ist  der  Thätigkeit  des 
Menschen  schlechterdings  keine  einzelne  Richtung  ausschUesslich 
vorgeschrieben ;  was  seiner  Natur  unmittelbar  versagt  scheint,  dazu 
kann  er  die  Innern  Schwierigkeiten  durch  Uebung,  die  äussern 
durch  allerlei  Hülfsmittel  entfernen,  und  das  gänzlich  Unmögliche 
selbst  kann  er  w^enigstens  verlangend  versuchen.  Diese  Eigen- 
thümlichkeit  nun  verräth  auch  unmittelbar  seine  Gestalt,  und  das 
unterscheidende  physiognomische  Merkmal  derselben  ist  eine  solche 
Beschaffenheit   der  Bildung,   mit  welcher  selbst  der  Gedanke_  des 


und  weibliche  Form. 


349 


Zwangs  unverträglich,  und  die  nur  durch  Freiheit  erklärbar  ist.*) 
Zwar  offenbart  sich  dieses  nicht  in  irgend  einem  einzelnen  Zuge, 
sondern  in  dem  ganzen  Habitus  des  Körperbaues  und  in  der 
freien  Zusammenstimmung  aller  Theile,  daher  es  auch  nur  gesehn 
und  empfunden,  und  nicht  mit  Worten  beschrieben  werden  kann. 
Wenn  aber  gleich  der  Mensch  durch  diese  ihm  eigenthümliche 
Freiheit  über  die  Schranken  der  Endlichkeit  hinweggerückt  scheint, 
so  tritt  er  darum  noch  nicht  aus  den  Gränzen  der  Natur,  sondern 
diese  sind  in  dem  menschlichen  Bau  nur  weiter  gerückt.  Denn 
indem  die  Materie  die  freie  Thätigkeit  des  Geistes  durch  ihre 
Schwerfälligkeit  und  Trägheit  beschränkt,  so  mildert  sie  auch 
durch  ihre  ruhige  Stätigkeit  die  ungestüme  Gewalt,  mit  welcher 
die  Willkühr  sich  äussert ;  und  indem  der  Geist  durch  seine  strenge 
Gesetzmässigkeit  der  Materie  Zwang  anthut,  so  beschränkt  er  zu- 
gleich ihren  Ueberfluss,  der  unaufhörlich  bestrebt  ist,  die  Form 
zu  vernichten. 

Da  der  Mensch  als  ein  gemischtes  Wesen  Freiheit  mit  Natur- 
nothwendigkeit  verknüpft,  so  erreicht  er  nur  durch  das  vollkom- 
menste Gleichgewicht  beider  das  Ideal  reiner  Menschheit.  Zwar 
müsste,  wenn  die  moralische  Würde  behauptet  werden  sollte,  der 
Wille  herrschen,  aber  nicht  über  eine  widerstrebende,  sondern 
mit  ihm  übereinstimmende  Natur,  und  eben  diess  müsste  auch 
die  äussre  Bildung  verkündigen.  Hier  aber  sieht  sich  die  Ein- 
bildungskraft von  der  Wirklichkeit  verlassen,  welche  ihr  nirgends 
die  Gestalt  eines  solchen  reinen,  über  alle  Geschlechtseigenthümlich- 
keit  erhabenen  Wesens  zeigt,  und  es  wird  ihr  sogar  schwer,  auch 
nur  ein  Bild  davon  zu  entwerfen.  Denn  indem  sie  den  Charakter 
des  einen  Geschlechts  zu  verwischen  bemüht  ist,  läuft  sie  Gefahr, 
den  des  andern  an  die  Stelle  zu  setzen,  oder,  wenn  sie  diess  ver- 


*)  Auf  ähnliche  Weise,  als  hier,  wenn  gleich  nur  in  den  ersten  Grundzügen, 
beim  Menschen  geschehn  ist,  liesse  sich  eine  Physiognomik  aller  Thiergattungen  ent- 
werfen, bei  der  nur  vorzüglich  die  beiden  Klippen  zu  vermeiden  wären,  weder  der 
Willkühr  einer  spielenden  Einbildungskraft,  noch  dem  mit  den  innren  Eigenschaften 
des  Geschöpfs  vertrauten  Verstände  ein  einseitiges  Uebergewicht  einzuräumen ;  folglich 
I.,  nicht  blossen  Grillen  zu  folgen,  sondern  überall,  an  der  Hand  der  Naturgeschichte, 
von  dem  eigentlichen  Körperbau,  insofern  er  auf  die  Gestalt  Einfluss  hat,  auszugehen ; 
2.,  dem  Begriff  der  innren  Vollkommenheit  des  Geschöpfs,  wie  schon  oben  erinnert  ist, 
auf  diese  physiognomische  Beurtheilung  seiner  Gestalt  keinen  Einfluss  zu  verslatten,  und 
es  sich  anfangs  wenigstens  nicht  stören  zu  lassen,  wenn  auch  vollkommnere  Thiere  in 
Absicht  ihrer  Gestalt  einen  niedrigeren  Platz  erhielten,  oder  umgekehrt.  Von  dem  Thier- 
reich  dürfte  man  hernach  den  Uebergang  zu  den  Pflanzen  um  vieles  erleichtert    finden. 


350 


lo.    über  die  männliche 


meiden  will,  die  übrigbleibenden  Merkmale  bis  zur  Unbestimmt- 
heit zu  schwächen.  Indess  ist  es  dennoch  unläugbar,  dass  zuweilen 
selbst  in  der  Wirklichkeit,  wenn  gleich  nur  einzelne  Züge  einer 
Gestalt  durchschimmern,  die,  als  rein  menschlich,  zwischen  der 
männlichen  und  weiblichen  mitten  inne  steht,  und  weil  jeder  ein 
dunkles  Bild  davon  in  seiner  Seele  trägt,  von  niemand  verkannt 
wird.  Hie  und  da  findet  man  etwas  Ueberweibliches,  wenn  der 
Ausdruck  erlaubt  ist,  das  doch  niemand  darum  unweiblich  oder 
männlich  nennen  möchte;  und  eben  so  stösst  man  bei  Männern 
auf  Züge,  die  man  nicht  auf  die  Rechnung  des  Geschlechts  zu 
setzen  vermag.  Von  dieser  Art  ist  z.  B.  eine  gewisse  ruhige 
Grösse,  welche  nicht  durch  Natur,  sondern  durch  Willensstärke 
entsteht,  und  die  in  einer  weiblichen  Gestalt  niemals  unweiblich 
erscheinen  wird,  aber  in  einer  männlichen  auch  nicht  sowohl 
männlich,  als  menschlich  heissen  muss.  Sammelte  man  diess  und 
ähnliche  Merkmale  (die  man  vielleicht  so  am  richtigsten  aufsuchte, 
dass  man  sich  fragte,  was  wohl  von  einer  männlichen  Bildung, 
mit  Beibehaltung  der  vollen  W^eiblichkeit,  auf  eine  weibliche  über- 
getragen werden  könnte?)  in  Ein  Bild  zusammen;  so  würde  sich 
eine  kunstmässige  Bestimmtheit  der  Züge  zeigen,  die  aber  von 
Härte  und  Gewaltthätigkeit  gleich  weit  entfernt  wäre,  und  mit 
dieser  würde  sich  eine  Anmuth  gatten,  die,  ohne  sie  verdrängen 
zu  wollen,  eben  so  wenig  von  ihr  verdrängt  werden  dürfte.  Indem 
aber  die  eine  der  andern  wiche,  würde  alsdann  jede  sich  schwächen; 
über  dem  Bemühen,  beide  ganz  aufzufassen,  würde  der  Betrachter 
keine  in  ihrer  Reinheit  erblicken,  und  Vermischung  würde  an  die 
Stelle  der  Verknüpfung  treten. 

Von  diesen  beiden  charakteristischen  Merkmalen  der  mensch- 
lichen Gestalt,  deren  eigenthümliche  Verschiedenheit  in  der  Einheit 
des  Ideals  verschwindet,  herrscht  in  jedem  Geschlecht  eins  vorzugs- 
weise, indess  das  andere  nur  nicht  vermisst  wird.  Dadurch  be- 
ziehen sich  beide,  wie  Hälften  eines  unsichtbaren  Ganzen  auf  ein- 
ander, und  nöthigen  durch  ihren  gegenseitigen  Mangel  das  Gemüth, 
sie  im  Ideal  zu  ergänzen.  In  der  Gestalt  des  Mannes  offenbart 
sich  durchaus  eine  strengere,  in  der  Gestalt  des  Weibes  eine 
Hberalere  Herrschaft  des  Geistes;  dort  spricht  der  Wille  lauter, 
hier  die  Natur.  So  wie  grössere  Kraft  und  geringere  Abhängig- 
keit von  einzelnen  bestimmten  Naturzwecken  jenen  fähiger  machen, 
jede  Lage  zu  ertragen  und  selbst  hervorzubringen,  so  verräth  diess 
auch  sein  höherer  Wuchs,  seine  mehr  hervortretende  Brust,  seine 


und  weibliche  Form. 


351 


Stärkere  Knochenmasse,  und  das  minder  verdeckte  Spiel  seiner 
Muskeln.  Kleiner,  mit  grösserer  Fülle  begabt  und  mit  stetigeren 
Umrissen,  geniesst  das  weibliche  Geschlecht  einer  gleich  grossen 
Beweglichkeit,  die  aber,  von  geringerer  Kraft  begleitet,  mehr  als 
Geschmeidigkeit  erscheint.  In  dem  Manne  hat  der  Wille  den 
vollkommensten  Sieg  errungen,  und  den  Stoff,  fast  bis  zur  gänz- 
lichen Vertilgung  seines  Naturcharakters,  ausgearbeitet.  In  dem 
Weibe  hat  der  Stoff  seine  Eigenthümlichkeit  mehr  zu  behaupten 
gewusst,  und  indem  er  sich  unterwirft,  flieht  er  den  Ausdruck 
seines  Unterliegens.  Da  nun  auf  diese  Art  jedes  der  beiden  Ge- 
schlechter zwar  die  ganze  Menschheit  in  allen  ihren  Eigenthüm- 
lichkeiten,  aber  nach  einer  mehr  einseitigen  Richtung  zeigt;  so 
muss  nothwendig  immer  das  eine  zu  dem  andern  leiten.  Gerade 
dadurch,  dass  Eine  Seite  überwiegend  ist,  entsteht  unvermeidlich 
das  Verlangen,  auch  einmal  die  andere  herrschen  zu  sehen,  und 
so,  wenn  nicht  in  der  Wirklichkeit,  doch  wenigstens  in  der  Phan- 
tasie, das  gestörte  Gleichgewicht  wiederum  herzustellen. 

So  wie  sich  beide  Geschlechter  zum  Ideal  reiner  und  ge- 
schlechtsloser Menschheit  verhalten,  so  verhält  sich  auch  ihre 
beiderseitige  Schönheit  zum  Ideal  der  Schönheit.  In  beiden,  haben 
wir  gehört,  ist  die  Menschheit  ausgedrückt,  denn  jedes  stellt  die 
beiden,  in  ihr  vereinten  Naturen  dar;  nur  dass  in  jedem  eine 
dieser  beiden  Naturen  das  Uebergewicht  hat.  Eben  so  kommt 
nun  auch  beiden  Schönheit  zu,  aber  in  jedem  herrscht  nur  Ein 
Bestandtheil  derselben,  ohne  jedoch  den  andern  auszuschliessen. 
Wie  in  der  Menschheit  sich  die  Naturnothwendigkeit  mit  der  Frei- 
heit gattet,  so  sehen  wir  in  der  Schönheit  die  Materie  mit  der 
Form  gepaart.  Wie  in  der  veredelten  Menschheit  das  Gebot  der 
Vernunft  als  der  freie  Wunsch  der  Neigung,  und  die  Stimme  des 
Aft'ects  als  der  Ausdruck  des  vernünftigen  Willens  erscheint;  so 
erscheint  in  der  hohen  Schönheit  die  Gesetzmässigkeit  der  Form 
als  ein  freies  Spiel  der  Materie,  und  die  Geburt  der  Willkühr  als 
ein  M^erk  des  Gesetzes.  Wo  sich  daher  die  Menschheit  zeigt,  da 
wird  auch  Schönheit  möglich  seyn ;  denn  beide  verhalten  sich  wie 
Wirklichkeit  und  Erscheinung,  Urbild  und  Abbild  zu  einander, 
und  wie  die  Menschheit  specificirt  ist,  so  wird  es  auch  jeder- 
zeit die  Schönheit  seyn.  Der  Ausdruck  strengerer  Willensherrschaft 
wird  in  der  männlichen  Bildung  mehr  Bestimmtheit  der  Formen 
erzeugen;  der  Ausdruck  grösserer  Naturfreiheit  in  der  weiblichen 


352 


lo.    Über  die  männliche 


mehr  die  Stätigkeit  des  Stoifs  unterstützen.  Aber  beide  Gestalten 
müssten  jedem  Anspruch  auf  Schönheit  entsagen,  wenn  nicht  jede 
diese  beiden  Vorzüge  in  sich  vereinte,  und  es  nicht  bloss  ein 
Ueberge wicht  Eines  derselben  wäre,  welches  die  eine  von  der 
andern,  und  beide  vom  Ideal  unterscheidet.  Denn  erhaben  über 
den  Kampf,  in  den  alles  Wirkliche  durch  seine  Schranken  ver- 
wickelt wird ,  und  von  der  Eigenthümlichkeit  frei ,  welche  die 
Gattungen  von  einander  unterscheidet,  behauptet  das  Ideal  der 
Schönheit,  so  wie  das  Ideal  der  Menschheit,  das  vollkommenste 
Gleichgewicht.  Der  Formtrieb  und  der  Sachtrieb  werden  da- 
her gleich  befriedigt,  und  tauschen  in  freiem  Spiel  ihre  gegen- 
seitigen Functionen  aus.*) 

Wenn  diess  Gleichgewicht  beider  Principien  der  Schönheit 
gestört,  nicht  aber  zugleich  auch  ihre  Verbindung  aufgehoben 
wird ;  so  entstehen  statt  der  einfachen  idealischen  Schönheit  zwei 
verschiedene,  aber  minder  vollkommene  Gattungen.  Beide  bringen 
die  Harmonie  hervor,  welche  das  Schönheitsgefühl  charakterisirt, 
aber  jede  geht  diesem  Ziel  auf  einem  andern  Wege  entgegen. 
Indem  sich  die  eine  durch  einen  überwiegenden  Ausdruck  von 
Gesetzmässigkeit  der  Vernunft  empfiehlt,  so  wird  zugleich  durch 
die  Anmuth  der  Darstellung  die  Einbildungskraft  ins  Interesse 
gezogen ;  indem  die  andere  durch  eine  scheinbare  Willkührlichkeit 
der  Einbildungskraft  schmeichelt,  so  unterwirft  sie  dieselbe  zu- 
gleich durch  eine  wahre  Nothwendigkeit  dem  Gesetze.  Diess  er- 
fahren wir  in  der  Einwirkung  der  Schönheit  beider  Geschlechter 
auf  das  Gefühl.  Die  männliche  fodert  durch  verwickeitere  Formen 
zunächst  nur  den  Verstand  auf,  dessen  Befriedigung  sich  erst 
später  in  das  wahre  Schönheitsgefühl  auflöst.  Die  weibliche  giebt 
durch  ihre  einfacheren  Formen  der  Einbildungskraft  mehr  Freiheit, 
und  ladet  zunächst  bloss  durch  Ueppigkeit  des  Stoffes  die  Sinne 
ein,  bis  erst  bei  längerem  Verweilen  und  tieferem  Studium  auch 
die  ernsteren  Foderungen  der  Schönheit  befriedigt  werden.  Weil 
aber  auf  diesem  Wege  immer  ein  Uebergewicht  auf  der  einen 
Seite,  folglich  auf  der  andern  ein  Mangel  bleibt,  so  thut  keine 
von    beiden    dem    aesthetischen    Gefühl   Genüge,    welches    seiner 


*)  Sowohl  bei  diesem,  als  den  nächstfolgenden  Absätzen  wird  der  Leser  ersucht, 
sich  an  den,  in  den  Briefen  über  aesthetische  Erziehung  im  i  sten  und  2ten 
St.  der  Hören  aufgestellten  Begriff  der  Schönheit  zu  erinnern.  ^) 

^)   Vgl.  besonders  Schiller,  Sämmtliche  Schrißen  lo,  J2j. 


und  weibliche  Form.  o  -  <> 

Natur  nach  zum  Vollendeten  strebt,  und  sich  nicht  eher,  als  beim 
Ideale  zur  Ruhe  giebt.  Von  der  einen  Bildung  geht  es  daher  zur 
andern  über,  und  strebt,  indem  es  durch  die  Eigenthümlichkeiten 
der  einen  die  entgegengesetzten  der  andern  aufhebt,  beide  in  ein 
Ganzes  zu  verknüpfen,  um  wenigstens  Augenblicke  lang  das  Ideal 
festzuhalten.  Diese  Beziehung  der  zweifachen  Geschlechtsbildung 
auf  die  idealische  Schönheit  macht,  dass  jede  nur  eigentlich  inso- 
fern wahrhaft  schön  erscheint,  als  ihr  die  andere  gegenübersteht, 
jede  (um  ein  kühneres  Bild  zu  gebrauchen)  nur  einen  Accord 
anschlägt,  welcher  erst  in  der  andern  vollkommen  austönt.  Auch 
hier  stehen  die  Geschlechter  in  gegenseitiger  Abhängigkeit  von 
einander;  denn  beschränkt  für  sich,  gewinnen  sie  auch  hier  nur 
durch  ihre  innige  Gemeinschaft  Vollendung.  Aber  eben  so  wie 
die  Schranken  der  Geschlechtsbildung  die  Phantasie  unaufhörlich 
zu  Herv'orbringung  des  Ideals  auffodern,  so  führen  die  Schranken 
dieses  \^ermögens  nothwendig  wieder  zu  der  Geschlechtsbildung 
zurück.  Vergebens  würde  die  Phantasie  die  Herrschaft  der  Form 
gegen  die  Freiheit  des  Stoffs  völlig  gleichmässig  abzuwägen  ver- 
suchen; denn  da  sie  immer  nur  von  Einer  Seite  ausgehen  könnte, 
so  würde  sie  auch  entweder  der  einen  oder  der  andern  ein  Ueber- 
gewicht  einräumen,  und  dadurch,  ohne  es  selbst  zu  bemerken, 
zur  männlichen  und  weiblichen  Bildung  zurückkehren. 

Wenn  nun  aber  das  nach  Vollendung  strebende  ästhetische 
Gefühl  von  der  einen  Geschlechtsbildung  unbefriedigt  zur  andern 
übergeht,  so  wird  es  hierin  selbst  von  der  eigenthümlichen  Be 
schaffenheit  beider  unterstützt.  Denn  ihrer  charakteristischen  ^'er- 
schiedenheiten  ungeachtet,  nähern  sich  die  männliche  und  weib 
liehe  Bildung  dadurch  einander,  dass  in  jeder  dem  besondern 
Ausdruck  des  Geschlechts  der  allgemeine  Ausdruck  der  Mensch- 
heit zur  Seite  steht.  Indem  die  Uebereinstimmung  mit  dem  Ideal, 
zu  w^elcher  der  letztere  berechtigt,  durch  die  Schranken  des  ersteren 
begränzt  wird,  entstehen  die  besondren  Arten  der  Schönheit,  die 
wir  die  männliche  und  die  weibliche  nennen.  Ohne  den  Charakter 
des  Geschlechts  besässe  der  Mann  keine  eigenthümliche  Schönheit, 
ohne  den  Charakter  der  Menschheit  überhaupt  keine  Schönheit; 
und  eben  diess  ist  mit  dem  Weibe  der  Fall,  wenn  gleich  die  weib- 
liche Bildung,  gerade  insofern  sie  weiblich  ist,  der  Schönheit  näher 
verwandt  scheint.  U eberall  muss  man  sich  gewöhnen,  das  Ge- 
schlecht als  Schranke  zu  betrachten,  da  es  von  der  Summe  der 
Anlagen,  welche  der  Begriff  der  Gattung  in  sich  fasst,  immer  eine 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  23 


334 


10.    über  die  männliche 


gewisse  Anzahl  einseitig  ausschliesst.  In  der  Menschheit  hebt  es 
die  gegenseitige  Freiheit  auf,  mit  welcher  die  Selbstthätigkeit  und 
Empfänglichkeit  in  dem  Ideale  zusammenwirken,  und  damit  sich 
jede  in  einem  eigenen  Wesen  darstelle,  muss  (da  sie  einander 
doch  niemals  ganz  entbehren  können)  die  eine  der  andern  unter- 
geordnet werden.  Wo  nun  die  Selbstthätigkeit  die  Empfänglich- 
keit unterdrückt,  da  muss  auch  in  der  Erscheinung  der  Stoff  der 
Form  dienen,  und  das  Gegentheil  muss  da  Statt  finden,  wo  die 
Selbstthätigkeit  der  Empfänglichkeit  weicht.  Alle  Schönheit  aber 
beruht  auf  einer  freien  Verbindung  der  Form  mit  dem  Sto fl , 
und  wenn  sich  dieselbe  auch  (insofern  man  von  ihren  höchsten 
Graden  abstrahirt)  mit  dem  einseitigen  Uebergewicht  eines  ihrer 
beiden  Elemente  verträgt,  so  erlaubt  sie  doch  nie  gänzliche  Unter- 
drückung des  andern,  oder  was  auf  dasselbe  hinausläuft,  wirkliche 
Trennung  beider. 

Kaum  ist  es  indess  nöthig,  dasjenige  noch  aus  Begriffen  be- 
weisen zu  wollen,  was  sich  schon  innerhalb  des  Kreises  der  Er- 
fahrung so  mannigfaltig  bestätigt.  Im  Mann  und  im  Weibe  findet 
unser  ästhetisches  Gefühl  nur  insofern  Schönheit,  als  der  Charakter 
der  Menschheit  den  Charakter  des  Geschlechts  veredelt  hat.  Der 
uncultivirte  männliche  Naturcharakter,  ausser  Zusammenhang  mit 
dem  moralischen  Menschencharakter  betrachtet,  drückt  den  Zügen 
das  Gepräge  der  Härte  und  Gewaltthätigkeit  auf,  und  die  zu 
scharfe  Zeichnung  der  Form  verbannt  alle  Weichheit  des  Stoffs, 
ohne  deswegen  auch  nothwendig  den  Verstand  durch  Gesetz- 
mässigkeit zu  befriedigen.  Dagegen  zeigt  die  weibliche  Bildung, 
wenn  wir  uns  die  Weiblichkeit  gleich  entblösst  von  menschlicher 
Cultur  denken,  eine  plumpe  Masse,  die  allein  Trägheit  und  Schlau- 
heit verräth,  und  der  Ueberfluss  des  Stoffs  unterdrückt  alle  Spuren 
der  Form.  Unfähig  zu  jedem  freieren  Aufscliwung,  wird  die 
Gestalt  nur  durch  den  Ausdruck  der  Begierde  belebt,  und  giebt 
dadurch  das  widrige  Bild  einer  kraftlosen  Heftigkeit.  Könnte  man 
sich  daher  den  Geschlechtscharakter  vereinzelt  denken,  so  würde 
der  Ausdruck  der  zeugenden  Kraft  bloss  in  gewaltthätiger  An- 
strengung der  Energie,  der  Ausdruck  der  empfangenden  allein  in 
üppigem  Uebermaasse  des  Stoffs  bestehen,  und  indem  jener  dem 
auf  einzelne  Zwecke  gerichteten  Verstände,  dieser  der  groben 
Sinnlichkeit  einseitig  Genüge  thäte,  würde  jeder  den  ästhetischen 
Sinn  unbefriedigt  lassen. 

Dass  der  Geschlechtscharakter  in  der  That  nur  in  Verbindung 


und  -weibliche  Form.  o  >-  - 

mit  dem  höheren  Menschencharakter  der  Schönheit  fähig  ist,  wird 
alsdann  noch  anschaulicher,  wenn  man  ihn  getrennt  von  diesem 
betrachtet.  Unmittelbar  wie  man  das  Gebiet  der  Menschheit  ver- 
lässt,  sinkt  auch  die  Schönheit  herab;  aber  unmittelbar  zeigt  sich 
auch  alsdann  zwischen  beiden  Geschlechtern  eine,  in  ihren  wesent- 
lichen Eigenthümlichkeiten  nothwendig  gegründete  Verschieden- 
heit. Das  männliche  Geschlecht  behält,  auch  wenn  es  gänzlich 
auf  seinen  blossen  Naturcharakter  zurückgesetzt  ist,  doch  immer 
den  Ausdruck  einer  Kraft,  die  zwar,  von  roher  Wildheit  begleitet, 
furchtbar  und  zurückstossend  ist,  aber  doch  immer,  zumal  wo 
alle  moralische  Federungen  hinwegfallen,  Interesse  und  Staunen 
erweckt.  In  dem  weiblichen  hingegen  unterdrückt  alsdann  die 
Materie  die  Kraft,  und  dieser  Verlust  wird  durch  keine  Anmuth 
vergütet.  Hieraus  muss  man  sich  die  auffallende  Erscheinung  er- 
Idären,  dass  im  Thierreiche  beide  Geschlechter  in  Absicht  auf  ihre 
Schönheit  in  einem  so  gänzlich  umgekehrten  \'^erhältniss,  als  in 
der  ^Menschheit,  stehen.  Denn  anstatt  dass  im  Menschen  das 
schwächere  Geschlecht  dem  stärkeren  an  Schönheit  nicht  nur 
vollkommen  gleich  ist,  sondern  es  sogar  darin  übertrift;  so  sind 
dagegen  durchaus  alle  weibliche  Thiere  auffallend  weniger  schön, 
als  die  männlichen  ihrer  Gattung.  Vergebens  würde  man  den 
Grund  dieser  Verschiedenheit  in  dem  organischen  Körperbau 
aufsuchen  wollen,  da  die,  aus  der  eigentlichen  Structur  des  Körpers 
erkennbaren  Ursachen  der  Geschlechtsverschiedenheit,  der  Analogie 
der  Naturgesetze  zufolge,  nothwendig  überall  dieselben  seyn 
müssen.  Auch  findet  man  bei  den  Thieren  in  der  That  dieselben 
physischen  Eigenthümlichkeiten  der  Geschlechter,  wie  bei  dem 
Menschen;  auch  dort  ist  das  weibliche,  in  Vergleichung  mit  dem 
männlichen,  durchaus  kleiner,  schwächer,  von  zarterem  Knochen- 
bau, und  mit  mehr  Masse  begabt.  Die  allgemeine  Natur  der 
Thierheit  ist  es  daher,  welche  allein  den  Grund  jener  Erscheinung 
enthält.  Unfähig  durch  sich  selbst  Ansprüche  auf  Würde  zu 
machen,  sinkt  dieselbe  durch  weibliche  Kleinheit,  Schwäche  und 
Weichheit  gänzlich  herab,  und  kann  nur  noch  durch  männliche 
Grösse,  Kraft  und  Festigkeit  gewinnen.  Da  die  physische  Schwäche 
der  Weiblichkeit  in  ihr  nicht  durch  moralische  Stärke  gehoben 
wird,  so  erscheint  dieselbe  als  blosser  Ausdruck  des  Unvermögens, 
der  auch  in  der  weiblich-menschlichen  Gestalt  erst  ausgelöscht 
seyn  muss,  wenn  sie  der  Schönheit  fähig  seyn  soll;  da  aber  von 
der  thierischen  Gestalt  nur  phj'sische  Vorzüge  gefodert  werden. 


356 


lo.    über  die  männliche 


SO   schadet   es    dagegen    nichts,   wenn   der  Ausdruck   männlicher 
Unabhängigkeit  in  einen  Ausdruck  gesetzloser  Willkühr  ausartet. 

Ohne  indess  bis  zur  Thierheit  hinabzusteigen,  lassen  sich  die 
obigen  Behauptungen  auch  durch  Beispiele  aus  der  menschlichen 
Natur  selbst  bestätigen.  Unter  denjenigen  Nationen,  die  noch, 
ohne  alle  Gultur,  im  ursprünglichen  Stande  der  Wildheit  leben, 
ist  die  Gestalt  der  Weiber  fast  eben  so  wenig  an  Schönheit  mit 
der  Gestalt  der  Männer  vergleichbar;  und  wenn  man  auch  unter 
gebildeten  Nationen  hie  und  da  ähnliche  Ungleichheiten  bemerkt, 
so  würde  eine  genauere  Untersuchung  wahrscheinlich  auch  auf 
ähnliche  Ursachen  führen.  Wenigstens  sehen  wir  auch  unter  uns, 
dass,  wo  männliche  und  weibliche  Gestalten  das  Gepräge  aus- 
schweifender Sittenlosigkeit  an  sich  tragen,  wo  die  Menschheit  in 
ihnen  entadelt,  und  die  Freiheit  der  Vernunft  unterdrückt  ist,  die 
letzteren  immer  einen  noch  ekelhafteren  und  widrigeren  Eindruck 
hervorbringen,  als  die  ersteren,  die  wenigstens  noch  durch  den 
Ausdruck  physischer  Kraft  eine  gewisse  Haltung  bekommen.  In 
allen  diesen  Fällen  nun  kehrt  dieselbe  Erscheinung  zurück ;  überall 
ist  die  weibliche  Gestalt  nur  für  den  höchsten  Ausdruck  geschaffen, 
und  wenn  sie  nicht  in  menschlicher  Schönheit  auftritt,  so  ist 
ihr  Schönheit  überhaupt  fremd.  Freilich  aber  gilt  diess  allein  bei 
der  ästhetischen  Beurtheilung ;  nur  da,  wo  der  Mensch,  nicht  das 
Geschlecht  die  Entscheidung  fällt.  Hier  schmeichelt  ohne  Unter- 
schied die  Bildung  des  einen  Geschlechts  der  Neigung  des  andern, 
und  leicht  gewinnt  hier  jedes  bei  dem  andern  den  Preis.  Nur 
wo  in  feiner  organisirten  Seelen  das  Gefühl  für  das  Schöne  alle 
Empfindungen  harmonisch  gestimmt  hat,  ist  auch  diese  Neigung 
höheren  Foderungen  untergeordnet,  nur  da  wird  der  blosse  Ge- 
schlechtstrieb in  menschliche  Liebe  verwandelt,  und  von  dem  be- 
schränkten Gebiet  der  Sinne  in  das  idealische  der  Phantasie  hin- 
übergeführt. Sonst  dehnt  sich  vielmehr  diese  Unlauterkeit  des 
Geschmacks  auf  alle  Gegenstände  aus,  die  nur  irgend  diese  Seite 
berühren;  und  untersuchten  wir  die  Urtheile  genau,  die  im  Kreise 
des  gesellschaftlichen  Lebens  über  Bildung,  Mode,  Anstand,  über 
Kunstwerke,  Theater,  Schriften  u.  s.  w.,  kurz  über  alles  gefällt 
werden,  was  im  weitesten  Verstände  zum  Gebiete  des  Geschmacks 
gehört,  so  würden  wir  mit  Erstaunen  wahrnehmen,  wie  selten 
uneigennütziger  Beifall  ächte  Schönheit  krönt. 

Der  Geschlechtscharakter  ist  also  als  eine  Schranke  anzusehen, 
welche  die  männliche  und  weibliche  Schönheit  von  der  idealischen 


und  weibliche  Form. 


!57 


entfernt;  und  so  lange  er  auf  die  Form  Einfluss  hat.  wird  er  es 
derselben  unmöglich  machen,  sich  zum  Ideal  zu  erheben.  Aber 
da  es  das  Gesetz  der  endlichen  Natur  ist,  nur  vermittelst  der 
Schranken  zum  Unendlichen  aufzusteigen,  nur  durch  Materie  zur 
Form,  und  nur  durch  Trennung  zur  Harmonie  zu  gelangen;  so 
ist  die  Geschlechtsschönheit,  obgleich  sie  für  sich  allein  der  Ideal- 
schönheit ewig  widerspricht,  doch  der  einzige  Weg  zu  derselben. 
Ueberdiess  ist  der  Mensch  nur,  insofern  er  dem  Geschlecht  an- 
gehört, an  diese  Schranke  gebunden,  aber  insofern  er  zugleich  die 
Anlagen  zur  freien  geschlechtslosen  Menschheit  in  sich  trägt,  davon 
losgesprochen.  Vermöge  der  letztern  kann  er  die  ^"ollendung, 
welche  die  Gränzen  seines  Geschlechts  ihm  versagen,  sich  durch 
Freiheit  erwerben,  und  seinen  einseitigen  Xaturcharakter  durch 
seinen  moralischen  zum  Ideal  ergänzen;  und  je  lebendiger  dieser, 
sev  es  durch  die  Gunst  der  Natur,  oder  durch  die  innere  Wirk- 
samkeit der  \^ernunft,  auch  aus  der  äussern  Bildung  spricht,  desto 
mehr  verliert  der  Ausdruck  des  Geschlechtscharakters  seine  Ein- 
seitigkeit. Wir  sehen  aus  der  Verbindung  der  ^lenschheit  mit 
dem  Geschlecht  eine  neue  mittlere  Schönheit  hervorgehn,  und 
diese  ist  es,  welche  man  gewöhnlich  unter  der  männlichen  und 
weiblichen  Schönheit  versteht.  In  ihr  ist  das  Gleichgewicht  des 
Ideals  nur  um  so  viel  gestört,  als  es  die  Beschränktheit  endlicher 
Naturen  nothwendig  macht,  und  diese  Störung  selbst  ertheilt  der 
Gestalt  eine  so  individuelle  Mischung  der  Züge,  dass  sie  dadurch 
einen  neuen  Zauber  ge\%annt.  Es  ist  weder  die  Menschheit  allein, 
noch  das  Geschlecht,  welches  im  Mann  und  im  Weibe  erscheint; 
eigne,  in  sich  geschlossene  Gestalten  sind  beide,  welche  weder  an 
jene,  noch  an  dieses  einseitig  erinnern.  Der  Ausdruck  der  männ- 
lichen Stärke,  welche  vereinzelt  für  sich  zu  leicht  das  Ansehn 
physischer  Gewalt  erhält,  w^ird  durch  den  Ausdruck  menschlicher 
Würde  gemildert,  und  die  blinde  Herrschaft  der  Willkühr,  die 
den  Mann,  ehe  er  sich,  der  Herrschaft  der  ^'ernunft  unterwirft, 
in  eine  bedenkliche  Anarchie  versetzt,  kündigt  sich  als  moralische 
Freiheit  an.  So  weicht  in  den  Idealen  der  Kunst  der  männliche 
Trotz  des  Heroen  der  milden  Erhabenheit  des  Gottes,  und  so 
finden  wir  in  diesem  den  Charakter  der  Männlichkeit,  der  fast 
bis  auf  seine  letzten  Spuren  vertilgt  ist,  nur  in  seiner  Ueber- 
einstimmung  mit  der  reinen  Menschheit  wieder. 

Noch  inniger  aber  ist  in  der  weiblichen  Schönheit  die  Weib- 
lichkeit mit   der  Menschheit  verbunden;   und   noch   mehr,  als   in 


358 


lO.    über  die  männliche 


der  männlichen,  geht  aus  beiden  eine  neue  mittlere  Bildung  hervor, 
welche,  indem  sie  ihre  Züge  zugleich  von  beiden  entlehnt,  den 
einseitigen  Ausdruck  jeder  gleich  täuschend  verbirgt.  Denn  selbst 
in  den  höchsten  Graden  der  Vollendung  erhält  sich  der  Ausdruck 
der  Weiblichkeit  unverkennbar  neben  dem  Ausdruck  der  reinen 
Menschheit,  und  wenn  er  auch  unaufhörlich  in  ihn  überfliesst,  so 
geht  er  doch  nie  ganz  in  demselben  unter.  Allein  dieser  Eigen- 
thümlichkeit  ungeachtet,  vermag  dennoch  das  Weib  nicht  weniger, 
als  der  Mann,  seiner  Schönheit  eine  von  der  einseitigen  Geschlechts- 
bildung unabhängige  Vollendung  zu  geben.  Zwar  kann  weder  die 
überwiegende  Herrschaft  des  Stolfs  gänzlich  aufgehoben,  noch  der 
Ausdruck  ph3^sischer  Schwäche  und  Abhängigkeit  vertilgt  werden, 
welcher  immer  die  weibliche  Gestalt  begleitet.  Aber  indem  die 
freie  Kraft  der  Menschheit  sich  jener  physischen  Schwäche  zur 
Seite  stellt,  bringt  sie  das  Bild  einer  moralischen,  durch  sich  selbst 
gemässigten  Stärke  hervor,  und  eben  so  wird  jene  Naturabhängig- 
keit in  eine  freiwillige  Unterwerfung  unter  ein  selbstgegebenes 
Gesetz  verwandelt.  Gleich  ungehemmte  Kraft  spricht  daher  aus 
der  männlichen  und  weiblichen  Bildung,  nur  dass  sie  in  der 
ersteren  sich  über  einen  schrankenlosen  Wirkungskreis  zu  ver- 
breiten, in  der  letzteren  sich  freiwillig  zu  massigen  scheint. 

Weil  aber  beide  Geschlechter  nie  der  Endlichkeit  entfliehn, 
so  setzt  sich  dieser  idealischen  Vollendung  der  Gestalt  in  beiden 
ein  ewiges  Hinderniss  entgegen ;  und  nie  ist  die  höchste  Schönheit 
in  der  Wirklichkeit  erreichbar.  Das  Endliche  müsste  zum  Un- 
endlichen werden,  wenn  jenes  Gleichgewicht  in  der  Erscheinung 
dargestellt  werden  sollte,  und  selbst  dann  würde  kein  mensch- 
licher Sinn  es  aufzufassen  vermögen.  Allein  auch  hier  zeigt  der 
Ausdruck  des  zweifachen  Geschlechtscharakters  einen  Weg,  sich 
dem  Ziele  zu  nähern,  und  auch  dem  Betrachter  kommt  er  zu  Hülfe, 
der  sich  von  der  Erscheinung  zur  Idee  zu  erheben  versucht.  Da 
beide  Geschlechtsbildungen  mit  der  rein  menschlichen  verwandt 
sind,  so  wecken  sie  beide  das  Gefühl  ächter  Schönheit  in  ihm; 
da  aber  jede  eine  besondere  Gattung  ausmacht,  so  wird  auch 
seine  Aufmerksamkeit  durch  jede  vorzugsweise  auf  eine  der  beiden 
Gattungen  der  Schönheit  geheftet.  Dadurch  empfängt  er  beide 
Elemente  des  Ideals  einzeln  und  in  verständlicher  Klarheit,  ohne 
dass  doch  die  Einheit  aufgelöst  wird,  in  welcher  das  Wesen  des- 
selben besteht.  Ungestört  kann  er  es  nun  durch  die  Schöpfungs- 
kraft seiner  Phantasie   zu   bilden   versuchen,  und   sich,  indem   er 


und  weibliche  Form. 


359 


auch  hier,  wie  überall,  von  der  Wirklichkeit  ausser  ihm  nur  den 
beschränkten  Stoff  entlehnt,  durch  innere  selbstthätige  Kraft  zur 
schrankenlosen  Idee  erheben. 

Man  mag  daher  objectiv  auf  die  Bildung  der  Geschlechter 
selbst,  oder  subjectiv  auf  den  Eindruck  sehen,  den  sie  herv^or- 
bringen ;  so  muss  der  Geschlechtscharakter,  der  nur  in  Vergleichung 
mit  dem  Ideal  eine  einengende  Gränze  ist,  in  Rücksicht  auf  die 
Schranken  endlicher  Naturen  vielmehr  ein  Mittel  zur  Vollkommen- 
heit heissen.  Der  Ausdruck  des  männlichen  hebt  in  der  Be- 
stimmtheit der  Züge  die  Herrschaft  der  Form  mehr 
heraus,  und  da  ihn  der  Ausdruck  der  reinen  Menschheit  mildernd 
begleitet,  so  kann  er  sich  nicht  weiter  vom  Ideale  entfernen,  als 
an  sich  nothwendig  ist,  jene  Eine  Seite  des  letzteren  vorzugsweise 
darzustellen.  Der  Ausdruck  des  weibhchen  zeigt  in  derAnmuth 
der  Züge  die  Freiheit  des  Stoffs  in  einem  lebhafteren  Bilde, 
und  wird  auf  eben  die  Weise  von  demselben  Ausdruck  der  reinen 
Menschheit  beherrscht.  Der  Mann  erscheint  nun  feuriger,  das 
Weib  sanfter,  als  man  sich  den  geschlechtslosen  Menschen  denkt; 
und  daher  pflegt  man  zu  sagen,  dass  die  männliche  Schönheit  zur 
Anstrengung  auffodere,  die  weibliche  zur  Ruhe  einlade.  Allein 
diese  Ausdrücke  schildern  nur  die  gemeine  Wirkung  der  ver- 
schiednen  Geschlechtsbildung  auf  wenig  verfeinerte  Sinne,  und 
vorzüglich  den  Eindruck,  welchen  die  Gestalt  des  einen  Ge- 
schlechts in  dem  andern  hervorbringt.  Wenn  die  angestrengte 
ICraft  des  Mannes  erquickende  Ruhe,  die  unbestimmte  Sehnsucht 
des  Weibes  bestimmende  Einheit  sucht,  so  muss  beiden  ihre 
gegenseitige  Gestalt  Befriedigung  gewähren,  die  aber,  weil  sie  Be- 
dürfnissen entspricht,  immer  eigennützig  und  der  ästhetischen 
Beurtheilung  nachtheilig  ist. 

Wo  sich  der  Mensch  der  Betrachtung  des  Schönen  weiht,  da 
muss  er  sich  von  aller  Partheilichkeit  lossagen,  und  geschlechtslos 
allein  der  Menschheit  angehören.  Nur  in  solchen  glücklichen 
Momenten  gelingt  es  ihm,  sein  Wesen  zu  dem  höchsten  Gleich- 
gewichte zu  stimmen,  und  die  Kräfte,  womit  er  der  Natur  und 
womit  er  der  Gottheit  verwandt  ist,  in  Eins  zu  verschmelzen.  Zu 
diesem  Ziel  führt  ihn  die  männliche  und  weibliche  Form  auf  ver- 
schiedenen Wegen.  Die  weibliche  bezaubert  zuerst  die  Sinne 
durch  ihre  Anmuth ;  da  aber  der  StolT  ganz  Form,  die  scheinbare 
Willkühr  ganz  Nothwendigkeit,  und  die  Fülle  des  sinnlichen  Reizes 
nur  Ausdruck  zarter  und  feiner  Geistigkeit  ist,  so  fliesst  die  zuerst 


360 


10.    über  die  männliche 


geweckte  sinnliche  Empfindung  in  unentweihter  Reinheit  in  die 
geistige  über.  Die  männliche  fodert,  indem  sie  zu  den  Sinnen 
spricht,  unmittelbar  zugleich  durch  Bestimmtheit  den  Geist  zur 
Thätigkeit  auf;  da  aber  die  Form  in  ihr  als  Stotf,  die  Nothwendig- 
keit  als  Freiheit,  und  die  geistige  Würde  in  dem  Gewände  sinn- 
licher Anmuth  auftritt,  so  geht  die  zuerst  rege  gemachte  geistige 
Empfindung  in  die  sinnliche  über.  Dort  geht  das  Gemüth  vom 
Spiel  zum  Ernst,  hier  vom  Ernst  zum  Spiele;  und  da  in  beiden 
Fällen  zwei  verschiedene  Empfindungen  entstehen,  zwischen  welchen 
das  Gemüth  unaufhörlich  schwankt,  und  die  es  immer  reproducirt; 
so  bringt  jede  beider  Bildungen  eine  gemischte  Stimmung  hervor, 
in  welcher  der  eigenthümliche  Charakter  einer  jeden  durch  den 
entgegengesetzten  gemässigt  ist.  Die  weibliche  Gestalt  legt  durch 
diese  Verbindung  ihre  erschlaffende,  die  männliche  ihre  an- 
spannende Eigenschaft  ab;  und  indem  die  erstere  mit  Kraft  be- 
seelt, die  letztere  durch  Anmuth  gemässigt  wird,  wirken  beide 
belebend  auf  das  Herz.  Dagegen  hängt  die  Zuneigung  zu  jeder 
der  beiden  Formen  von  der  Uebereinstimmung  des  eignen  Cha- 
rakters mit  dem  ihrigen  ab,  und  die  sanftere  Empfindung  wird 
lieber  bei  der  weiblichen,  die  mehr  energische  bei  der  männlichen 
Schönheit  verweilen.  Indem  nun  auf  diese  Weise  die  Betrachtung 
jeder  von  einer  ihr  analogen  einseitigen  Stimmung  auszugehn,  aber 
eine  gemischte  hervorzubringen  pflegt,  so  wird  das  Gemüth  immer 
von  der  einen  für  die  andere,  und  dadurch  von  beiden  für  die 
Ideal-Schönheit  empfänglich  gemacht. 

Nie  wird  daher  der  Künstler,  der  nach  der  höchsten  Wirkung 
streben  soll,  das  Studium  beider  Gestalten  von  einander  trennen, 
oder  sich  ausschliesslich  der  Darstellung  Einer  widmen  dürfen. 
Aber  selbst  bei  der  sorgfältigsten  Vermeidung  einer  solchen  Ein- 
seitigkeit wird  er  doch  nie  in  beiden  gleich  glücklich  seyn,  und 
nie  ganz  die  Neigung  überwinden  können,  die  ihn  überwiegend 
zu  der  Einen  hinzieht.  Denn  auch  das  Kunstgenie  fühlt  den  Ein- 
fluss  des  Geschlechtscharakters,  und  das  angestrengteste  Bemühen 
nach  reiner  Idealität  wird  denselben  doch  nur  zu  veredlen,  schwer- 
lich aber  zu  vertilgen  vermögen.  Die  männliche  Bildung  befriedigt 
sichtbarer  durch  Richtigkeit  der  Verhältnisse  die  Anfoderungen 
der  Kunst,  die  weibliche  durch  Anmuth  der  Umrisse  die  An- 
foderungen des  Gefühls  an  die  Schönheit.  Das  Gefühl  aber  ist 
nur  dann  ein  sichrer  Führer,  wenn  der  Verstand  es  ausgebildet 
hat,  und  der  angehende  Künstler  muss   sich  daher  zuerst   an  der 


und  weibliche  Form. 


361 


männlichen  Gestalt  üben,  wo  er  den  technischen  Theil  der  Kunst 
fest  und  deutlich  gezeichnet  findet.  Erst  wenn  er  in  diesem 
Studium  beträchtliche  F'ortschritte  gemacht  hat,  wird  es  auch 
seinem  Auge  gelingen,  dieselbe  Xothwendigkeit  der  Form  auch 
unter  der  Hülle  weiblicher  Anmuth  zu  entdecken,  und  der  letzte 
schwere  Schritt  seiner  Ausbildung  wird  es  seyn,  diese  Xothwendig- 
keit darzustellen,  ohne  der  Grazie  zu  schaden.  In  den  höchsten 
Graden  der  Vollendung  ist  die  Darstellung  der  weiblichen  Schön- 
heit schwerer ;  denn  zu  allen  Foderungen,  welche  die  männliche 
an  den  Künstler  macht,  kommt  noch  die  schwierigste  hinzu:  indem 
er  die  strengste  Gesetzmässigkeit  beweist,  den  Schein  derselben 
zu  vermeiden.  Verlangt  man  hingegen  nur  geringere  Vollkommen- 
heit, so  ist  die  weibliche  Gestalt  wieder  leichter.  Denn  wenn  in 
der  männlichen  jeder  Fehler  gegen  die  Wahrheit  zu  sichtbar  ist, 
und  es  schon  ein  tieferes  Studium  erfodert  alle  zu  vermeiden; 
so  begnügt  sich  dagegen  bei  der  weiblichen  der  mittelmässige 
Künstler,  so  wie  der  gewöhnliche  Beurtheiler  mit  der  blossen 
Aussenseite  der  Weiblichkeit,  mit  Weichheit,  Gefälligkeit  und  Reiz, 
und  übersieht  darüber  leichter  wenn  nicht  wirkliche  Unwahrheit, 
doch  wenigstens  Leere. 

Selbst  in  dem  ächten  Künstler,  der  aber  vorzugsweise  für 
weibliche  Schönheit  gestimmt  ist,  macht  zuerst  die  Phantasie  ihre 
Ansprüche  auf  sanfte  Stetigkeit  und  liebliche  Anmuth  geltend,  und 
selbst  er  fängt  von  dem  sinnlichen  Theile  der  Kunst  an  (wenn 
der  Ausdruck  erlaubt  ist),  nur  dass  er  nicht  auch  dabei  stehen 
bleibt,  sondern  von  da  zur  Idee  übergeht.  Diese  sucht  er  nun  in 
ihrer  höchsten  Lauterkeit  und  Präcision  aufzufassen  und  darzu- 
stellen; aber  wegen  jenes  Uebergewichts  der  Phantasie  besitzt  er 
nicht  sowohl  Schärfe  als  Feinheit  des  Blicks,  nicht  sowohl  Kühn- 
heit als  Zartheit  der  Hand,  und  scheint  nicht  sowohl  die  einzelnen 
Züge  genau  zu  unterscheiden,  als  er  vielmehr  das  Ganze  durch 
kaum  bemerkbare  Uebergänge  verbindet.  Gerade  umgekehrt  werden 
in  dem,  mehr  für  männliche  Schönheit  gestimmten  zuerst  die 
P'oderungen  des  Geistes  auf  Bestimmtheit  und  Xothwendigkeit 
der  Form  rege;  er  fängt  von  dem  geistigen  Theile  der  Kunst  an, 
ergreift  mit  tiefeindringendem  Blick  den  Charakter  der  Gestalt, 
und  zeichnet  ihn  mit  kraftvollen  Zügen,  indem  er  ihn  zugleich  in 
anmuthige  Grazie  kleidet,  und  sich  dadurch  von  der  Wahrheit  zur 
Schönheit  erhebt.  Zwar  ist  es  unvermeidlich,  bei  Schilderungen, 
wie  die  hier  entworfenen  sind,  nicht  das  noch  zu  sehr  zu  trennen, 


362 


lo.    über  die  männliche 


was  in  der  Wirklichkeit  innig  verbunden  ist;  allein  unläugbar 
wird  doch  ein  solches  Uebergewicht  entgegengesetzter  Eigenschaften 
in  diesen  beiden  verschiednen  Künstleranlagen  herrschen,  und  durch 
das  Studium  des  Ideal-Schönen  zwar  vermindert,  nie  aber  gänzlich 
aufgehoben  werden. 

In  welchen  Verhältnissen  man  daher  die  verschiedne  Ge- 
schlechtsbildung betrachten  mag,  so  findet  man  dieselbe  immer  in 
einer  doppelten  Beziehung:  auf  sich  selbst  und  auf  das  Ideal;  und 
eben  so  wie  beide  Geschlechter  durch  ihre  Innern,  sich  gegenseitig 
unterstützenden  Anlagen  die  menschliche  Kraft,  über  den  Kreis 
der  Endlichkeit  hinaus,  erweitern,  so  führen  sie  durch  ihre  äussere 
verschiedne  Gestalt  das  Schönheitsgefühl  dem  Ideal  entgegen.  Denn 
so  schwer  sich  auch  die  äussere  Bildung  aus  der  Innern  organischen 
Bestimmung  verständlich  machen  lässt,  so  belohnend  ist  es  doch, 
selbst  den  verborgnen  Zusammenhang  der  Natur  aufzusuchen;  und 
hier  bedarf  es  keiner  mühsamen  Anstrengung,  um  sich  zu  über- 
zeugen, dass  keines  von  beiden  Geschlechtern,  seiner  Innern  Eigen- 
thümlichkeit  nach,  unter  einer  andern  Gestalt,  als  die  es  wirklich 
zeigt,  zu  erscheinen  im  Stande  war.  In  dem  männlichen  ist  Ueber 
gewicht  der  Kraft  charakteristisch  und  zwar  einer  Kraft,  die  zu 
zeugen  bestimmt  ist,  sich  schnell  zu  sammeln  vermag,  und  immer 
von  Einem  Punkt  aus  nach  aussen  hin  strebt.  Mit  Schnelligkeit 
sehn  wir  sie  daher  die  Muskeln  anspannen,  mit  Heftigkeit  sich 
aller  hindernden  Masse  entledigen,  und,  ununterbrochene  Thätig- 
keit  athmend,  den  ruhigen  Genuss  entfernen.  Dadurch  nähert  sie 
sich  der  bildenden  Kunst,  die  eben  so,  wie  sie,  dem  lebenden 
Princip  Herrschaft  in  der  todten  Masse  verschaft. 

Die  empfangende  Kraft  hingegen  besitzt  eine  grössere  Fülle; 
sie  ist  mehr  gemacht,  Thätigkeit  zu  erwiedern,  als  ursprünglich 
zu  erzeugen,  aber  was  ihr  an  Feuer  gebricht,  das  ersetzt  sie  durch 
Beharrlichkeit.  Durch  ununterbrochene  Stätigkeit  der  Umrisse, 
Zartheit  und  Weichheit  kündigt  sich  daher  die  Weiblichkeit  auch 
in  der  äussern  Gestalt  an,  und  ertheilt  derselben  dadurch,  selbst 
wenn  ihr  die  Schönheit  fehlt,  doch  wenigstens  immer  den  Reiz 
des  Angenehmen,  das  so  oft  mit  dem  eigentlich  Schönen  ver- 
wechselt wird.  Da  sie  nun  zugleich  keinem  Theil  sich  über- 
wiegend vorzudrängen  verstattet,  und  nur  die  höchste  sinnliche 
Einheit  ihr  vollkommen  entspricht,  so  steht  die  weibliche  Gestalt 
überhaupt  der  Schönheit  näher,  als  die  männliche,  und  hat  selbst 
da  wenigstens  die  Form  derselben,  wo  sie  auch  ihren  Gehalt  ent- 


und  weiblicbe  Form. 


^63 


behrt.  Denn  da  Freiheit  von  allem  Zwang  die  Seele  jeder  Schön- 
heit ist,  und  die  ächte  Schönheit  sich  nur  dadurch  unterscheidet, 
dass  sie  mit  dieser  Eigenschaft  die  höchste  Realität  und  Bestimmt- 
heit verbindet,  so  muss  schon  die  blosse  Stätigkeit,  Flüssigkeit  und 
Kühnheit  der  Formen  als  ein  Analogen  der  Schönheit  erscheinen, 
weil  sie  jenen  wesentlichen  Charakter  derselben  an  sich  trägt. 
Hierauf  gründet  sich  unstreitig  die  Foderung  der  Schönheit,  die 
man  vorzugsweise  vor  dem  männlichen  Geschlecht  an  das  weib- 
liche richtet.  Bei  dem  Mann  ist  die  Schönheit  eine  Zugabe  und 
ein  freies  Geschenk  der,  über  den  einseitigen  Geschlechtscharakter 
siegenden  Menschheit  in  ihm;  von  dem  Weibe  wird  sie  als  eine 
Schuld,  die  das  Geschlecht  entrichtet,  wie  die  Weiblichkeit  selbst, 
verlangt.  Wie  diese,  kann  sie  daher  auch  bei  der  Beurtheilung 
des  Innern  in  Betrachtung  kommen,  und  gewissermaassen  zur 
Pflicht  gemacht  werden ;  denn  der  innere  Charakter  der  ^^'eiblich- 
keit  kann  keinen  andern  Ausdruck  als  Schönheit  haben.  Mit  Un- 
recht aber  würde  man  diese  noch  gehaltlose  Schönheit,  die  nur 
eine  eigene  beschränkte  Gattung  ist,  mit  jener  ächten  und  idea- 
lischen venvechseln,  zu  welcher  vielmehr  jedes  Geschlecht  sich 
nur  dadurch  erhebt,  dass  es  die  reine  Menschheit  mehr  in  sich 
geltend  zu  machen,  das  männliche,  dass  es  mehr  Freiheit,  das 
weibliche,  dass  es  mehr  Nothwendigkeit  zu  erlangen  versucht. 

Nicht  immer  aber  wird  durch  diess  doppelte  Bemühen  die 
eigentliche  Schönheit  erhöht.  Sehr  oft  erhält  die  Gestalt  nur  einen 
lebhafteren  Ausdruck  dadurch,  und  der  Ausdruck  ist  wesentlich 
von  der  Schönheit  verschieden.  Zwar  werden  in  der  Erfahrung 
oft  beide  mit  einander  verwechselt,  und  nicht  selten  hören  wir 
Bildungen  schön  nennen,  die  bloss  interessant  heissen  dürften. 
Wie  sonst  so  oft  durch  die  Sinnlichkeit,  so  ward  hier  das  ästhe- 
tische Gefühl  durch  den  Verstand  irre  geführt,  und  es  bestätigt 
sich  aufs  neue,  wie  selten  die  harmonische  Stimmung  des  Ge- 
müths  ist,  welche  allein  für  Schönheit  empfänglich  macht.  Wo 
der  Ausdruck  vorwaltet,  da  beherrscht  das  Gemüth  die  Züge,  und 
hindert  sie,  ihrer  eignen  Freiheit  zu  folgen.  Daher  erklärt  sich 
eine  solche  Bildung  nicht,  wie  die  bloss  ästhetische,  durch  sich 
selbst,  und  die  Aufmerksamkeit  wird  von  der  äussern  Gestalt  auf 
den  Innern  Charakter  gezogen.  Die  bloss  gefällige  Bildung  hin- 
gegen verkündigt  die  höchste  Freiheit  der  Züge;  an  keinen  be- 
stimmten Ausdruck  gebunden,  überlassen  sie  sich  allein  einer  an- 
muthigen  Stätigkeit.     Darum  wird  zwar  hier  das  Auge  nicht  von 


3^4 


lo.    über  die  männliche 


der  Gestalt  hinweg  zu  etwas  anderm  hinübergeführt,  aber  es  ist 
ihm  gleich  unmöglich,  auf  dieser  Leerheit  zu  verweilen.  Nur  die 
schöne  Gestalt,  die  zwischen  beiden  in  der  Mitte  steht,  enthält,  in 
sich  vollendet,  zugleich  alles,  was  dem  Sinn  und  was  dem  Geiste 
genügt,  und  nur  in  ihr  ist  der  inhaltvollste  Ausdruck  zugleich  mit 
der  freiesten  Anmuth  der  Züge  verbunden.  Darum  aber  findet 
nun  auch  der  Betrachter  in  ihr  seine  kühnsten  Erwartungen  über- 
troffen, und  da  er  das  ganze  Wesen  in  vollkommener  Einheit  er- 
blickt, so  trennt  seine  Phantasie  nicht  mehr  die  äussre  Gestalt  von 
der  Innern  Bedeutung.  Also  nicht  deswegen,  weil  ihr  der  Cha- 
rakter mangelt,  sondern  deswegen,  weil  sie  ihn  nicht  auf  Unkosten 
der  Freiheit  hen'orstechen  lässt,  ist  die  Schönheit  von  dem  Aus- 
druck zu  unterscheiden.  Indem  sich  der  letztere  bloss  auf  die 
Darstellung  des  gegenwärtigen  Zustandes,  also  auf  eine  enge 
Wirklichkeit  beschränkt,  drückt  die  Schönheit  vielmehr  das  Total 
des  Charakters,  und  das  unendliche  Vermögen  desselben  aus,  aus 
welchem  alle  einzelnen  Aeusserungen  lliessen.  Da  aber  das  Un- 
endliche in  der  Erscheinung  unerreichbar  ist,  so  bleibt  freilich 
auch  die  höchste  menschliche  Schönheit  in  gewissem  Verstände 
nur  Ausdruck,  und  so  kommt  es  nur  darauf  an,  den  letzteren  der 
Schönheit  zu  nähern.  Von  einem  Bilde  des  vorübergehenden 
Affects  muss  er  zu  einem  Bilde  des  bleibenden  Charakters  erhoben 
werden,  und  zwar  eines  Charakters,  der  nicht  bloss  von  einer 
Seite,  sondern  von  allen  harmonisch  ausgebildet  ist. 

Eine  auffallende  Erscheinung  ist  es,  dass,  obgleich  der  Aus- 
druck der  Schönheit  sogar  Gefahr  droht,  dennoch  der  bessere  Ge- 
schmack unsers  Zeitalters  fast  ausschliesslich  auf  ihn  gerichtet  ist. 
Sowohl  in  Gemählden  als  in  den  Werken  der  bildenden  Kunst  ver- 
gessen wir  Grazie  und  Schönheit  über  der  Zeichnung  der  Cha- 
raktere, und  oft  nur  der  momentanen  leidenschaftlichen  Stimmung 
derselben;  dem  Dichter  übersehen  wir  Fehler  der  Composition 
des  Ganzen,  auf  welcher  die  Schönheit  beruht,  wenn  er  uns  nur 
durch  Charakter-Ausdruck  Genüge  leistet,  und  eben  so  verzeihen 
wir  dem  Schriftsteller  überhaupt  Mangel  an  kunstvoller  Einheit 
der  Darstellung,  wenn  er  uns  nur  durch  kühne  und  originelle 
Wendungen  interessirt.  Der  wahre  Tonkünstler,  der  sich  über 
den  willkührlichen  Anspruch  der  Mode  hinaussetzt,  führt  eine 
ähnliche  Klage,  und  wer  sich  gewöhnt  hat,  das  Gesetz  der  Schön- 
heit auch  auf  Gegenstände  des  täglichen  Lebens  anzuwenden,  der 
muss   in   unserm   Umgang,   unserm  Anstand,   unsern   Sitten   sehr 


und  weibliche  Form.  og- 

oft  die  nöthige  Grazie  und  das  Bestreben  nach  ächter  Schönheit 
vermissen,  so  sehr  auch  der  Verstand  durch  den  innern  Gehalt 
und  Charakter  im  einzelnen  befriedigt  wird.  Kaum  ist  es  mög- 
lich, sich  hiebei  nicht  an  den  Einfluss  zu  erinnern,  welchen  zwei 
Nationen  von  ganz  entgegengesetztem  Charakter  nach  und  nach 
auf  unsern  Geschmack  ausgeübt  haben,  und  seine  Blicke  nicht 
erwartungsvoll  auf  eine  dritte  zu  richten,  welche  den  Gehalt,  wie 
die  Form,  wieder  in  ihre  Rechte  einsetzte  und  beiden  einander 
zu  verdrängen  wehrte,  wenn  sich  von  einem  besondern  National- 
charakter die  ^^ollendung  erwarten  Hesse,  die  nur  das  Werk  des 
allgemeinen  ^^ernunftcharakters  se3'n  kann.  Aber  so  unmöglich 
es  auch  ist,  anders  als  auf  diesem  Weg  zu  der  ächten  Schönheit 
hindurchzudringen,  so  sehr  ist  man  wieder  in  Gefahr,  gerade 
auf  diesem  Weg  sie  gänzlich  zu  verfehlen. 

Noch  mehr,  als  die  Schönheit  selbst,  muss  die  Weiblichkeit 
von  dieser  Gefahr  bedroht  werden,  da  sie  nicht  bloss  der  Schön- 
heit so  nah  verwandt  ist,  sondern  sich  ihr  gerade  von  derjenigen 
Seite  nähert,  welche  durch  den  Ausdruck  verloren  geht;  und  in 
der  That  müsste  man  für  die  ächte  Weiblichkeit  im  Ausdruck 
besorgt  seyn,  wenn  man  jenem  herrschenden  Zeitgeschmack  einen 
Einfluss  auf  weibliche  Bildung  zutrauen  dürfte.  Denn  auch  hier 
wird  nicht  selten  das  Anziehende  mit  dem  Schönen  verwechselt, 
und  unter  den  verschiedenen  Arten  des  Ausdrucks  selbst  dem 
stärker  hen'orstechenden  der  mehr  sanfte  und  gefällige  nachgesetzt. 
Wie  es  überhaupt  das  Schicksal  der  W^eiber  ist,  weit  öfter  den 
einseitigen  Foderungen  der  Sinne  oder  des  "\'"erstandes,  als  dem 
Urtheil  reiner  Empfindung  unterworfen  zu  werden,  so  wird  auch 
bei  Beurtheilung  ihrer  Schönheit  (wenn  man  sich  ja  über  das 
Sinnliche  erhebt)  noch  zu  sehr  auf  irgend  einen  hen-or- 
stechenden  Ausdruck  von  Geist,  Witz  und  Lebhaftigkeit  Rücksicht 
genommen,  und  dagegen  zu  leicht  der  Ausdruck  eines  ruhigen, 
aber  sanften  und  zarten  Gefühls  übersehn.  Auch  jetzt  noch  hat 
man  sich  nicht  ganz  entwöhnt,  nur,  was  piquant  ist,  zu  suchen, 
und  gleich  als  wäre  man  sich  seiner  Schlaffheit  bewusst,  überall 
einen  erweckenden  Reiz  zu  verlangen.  Darum  wird  gerade  der 
höchste  Charakterausdruck,  dessen  durchgängige  Harmonie  der 
Schönheit  am  meisten  empfänglich  ist,  auch  jetzt  noch  am  meisten 
verkannt,  und  der  mehr  in  die  Augen  fallende  Glanz  des  Verstandes 
dem  bescheidenen  Ausdruck  der  Empfindung  vorgezogen,  die  sich 
nur  durch  Ueberspannung  interessant  machen   kann.     Gerade  die 


oßß  lo.    über  die  männliche 

ächtweiblichen  Gestalten,  die  nichts  Ausgezeichnetes  besitzen,  aus 
welchen  aber  Zartheit  des  Gefühls,  ruhige  Sittsamkeit,  und  ein 
anspruchloser  Eifer  für  alles  Wahre  und  Gute  spricht,  werden 
mit  dem  zweideutigen  Lobe  zurückgewiesen,  womit  man  die  blosse 
Herzensgüte  mehr  zu  beschämen  als  zu  belohnen  pflegt.  Nichts 
aber  ist  dem  Charakter  wahrer  Weiblichkeit  in  der  äussern 
Bildung  verderblicher,  als  diese  Stimmung  des  Geschmacks,  die, 
obgleich  sie  sich,  der  besseren  Richtung  des  Zeitalters  nach,  ihrem 
Ende  naht,  und  bald  nicht  mehr  die  herrschende  seyn  dürfte,  doch 
noch  immer  zu  allgemein  ist.  Denn  da  die  Eigenthümlichkeit  der 
weiblichen  Gestalt  auf  Freiheit  und  Harmonie  des  Ganzen  beruht, 
der  Ausdruck  aber  immer  einzelne  Züge  mehr  oder  minder 
heraushebt,  so  muss  er  mit  demselben  in  einem  nothwendigen 
Widerstreit  stehen,  und  sehr  oft  wird  man  die  Unweiblichkeit  ge- 
wisser Bildungen  in  der  blossen  Stärke  des  Ausdrucks  gegründet 
finden. 

Wer  indess  von  der  Vollkommenheit  der  weiblichen  Gestalt, 
selbst  in  ihrer  Unabhängigkeit  von  der  Schönheit,  durchdrungen 
ist,  der  wird  derselben  deshalb  nicht  weniger  Ausdruck  bei- 
messen wollen,  als  der  männlichen.  Sie  muss  vielmehr,  da  sie 
sich  ihrer  Xatur  nach  weniger  an  den  Verstand,  als  an  die  Sinne 
wendet,  noch  sorgfältiger  Leerheit  vermeiden.  Zwar  sind  die 
Gränzen,  innerhalb  welcher  der  Ausdruck  spielen  darf,  in  der 
weiblichen  Gestalt  gev.'iss  enger  gezogen,  nur  dass  der  weibliche 
Körper,  durch  seine  grössere  Geschmeidigkeit,  feinere  Verschieden- 
heiten bemerkbar  zu  machen  fähig  ist,  und  dadurch  vorzugsweise 
Feinheit  des  Ausdrucks  besitzt.  Denn  nicht  in  einzelnen,  scharf 
gezeichneten  Zügen,  sondern  innig  in  die  ganze  Gestalt  verwebt, 
auf  den  ersten  Blick  kaum  bemerkbar,  und  in  edle  Einfachheit 
gekleidet,  muss  sich  der  innere  Charakter  in  wahrhaft  weiblichen 
Bildungen  darstellen.  Ist  aber  diese  vollkommene  Harmonie  un- 
erreichbar, so  ist  es  sogar  weiblicher,  wenn  die  Seele  sich  nur 
durchzublicken  genügt,  als  wenn  sie  sich  vorzudrängen  strebt. 
Unstreitig  ist  also  die  weibliche  Schönheit  mit  dem  Ausdruck, 
aber  nur  mit  dem  höchsten  verträglich.  Nur  der  Charakter,  nicht 
der  beschränkte  Zustand  vorübergehender  Neigungen  und  Affecte 
stellt  sich  mit  Glück  in  ihr  dar,  und  auch  jener  nur  in  der  harmo- 
nischen Einheit  seiner  Kräfte,  und  der  Totalität  seiner  Anlagen. 
Leichter  verstattet  daher  die  Weiblichkeit  den  Ausdruck  der  Phan- 
tasie  und  Empfindung,   als   des  Verstandes,   da   dieser  mehr  auf 


und  weibliche  Form. 


367 


Trennung,  wie  Jene  auf  Verbindung  gerichtet  ist.  Allein  selbst 
die  Verstandeskräfte  wirken  in  dem  Weibe  weniger  trennend  als 
verbindend,  woraus  vorzugsweise  die  eigenthümliche  Erscheinung 
entspringt,  die  wir  Geist  nennen,  und  die  der  Mann  nicht  immer 
mit  gleicher  Leichtigkeit  en^ärbt.  Durchaus  stehen  daher  Schön- 
heit und  Weiblichkeit  in  gleichem  A^rhältniss  zum  Ausdruck  in 
der  Gestalt;  auf  gleiche  Weise  droht  er  beiden  Gefahr,  und  auf 
gleiche  Weise  ist  er  mit  beiden  zu  vereinigen. 

Ganz  anders  verhält  sich  dagegen  der  Ausdruck  zur  Eigen- 
thümlichkeit  der  männlichen  Bildung.  Er  mag  auf  einzelnen  her- 
vorstechenden Zügen  beruhen,  oder  in  die  ganze  übrige  Gestalt 
feiner  verflochten  seyn,  sich  vordrängen  oder  bescheidner  zurück- 
stehn;  so  kann  er  zwar  durch  seine  Stärke  die  Schönheit  be- 
leidigen, welche  immer  beide  Geschlechter  einander  näher  führt, 
aber  das  Charakteristische  der  Männlichkeit  wird  dabei  eher  ge- 
winnen, als  verlieren.  Ist  er  daher  bei  dem  weiblichen  Geschlecht 
mehr  versteckt,  als  sich  von  der  rein  menschlichen  Gestalt  er- 
warten Hesse,  so  ist  er  bei  dem  männlichen  deutlicher  ausgesprochen. 
Deutlicher  fällt  er  daher  auch  in  der  männHchen  Bildung  ins  Auge, 
da  er  bei  der  weiblichen  dem  ungeübten  Blick  sogar  oft  entgeht. 
Weil  aber  die  Uebereinstimmung  in  der  männlichen  Gestalt  mehr 
gedacht  als  empfunden  wird,  so  scheint  der  männliche  Ausdruck 
oft  räthselhafter  und  sonderbarer,  als  der  weibliche,  der  mit  der 
ganzen  Gestalt  in  \^erbindung  steht,  und  durch  dieselbe  erklärt 
wird.  Eben  darum  aber  erfodert  der  letztere,  um  vollkommen 
verstanden  zu  werden,  einen  von  Natur  feinen  und  vielfach  ge- 
übten Tact,  jener  mehr  eindringenden  Scharfsinn,  und  durch  Er- 
fahrung unterstützte  Urtheilskraft. 

Das  freieste  Gebiet  eröfnet  sich  dem  Ausdruck  in  der  Be- 
wegung der  Gestalt,  und  hier  vorzüglich  entfaltet  der  weibliche 
Charakter  seine  ganze  Eigenthümlichkeit,  die  sich  ungleich  sicht- 
barer in  dem  wechselnden  Minenspiel,  als  in  den  bleibenden 
Zügen  des  Gesichts  offenbart.  Durchaus  ist  die  Gestalt  der  Weiber 
sprechender,  als  die  männliche;  und,  der  Harmonie  einer  seelen- 
vollen Musik  ähnlich,  sind  alle  ihre  Bewegungen  feiner  und  sanfter 
modulirt,  da  hingegen  der  Mann  auch  hier  eine  grössere  Heftig- 
keit und  Schwere  verräth.  Da  in  der  weiblichen  Seele  die  Phan 
tasie  immer  dem  Verstände,  die  Empfindung  der  Vernunft  zuvor- 
eilt, und  dadurch  beide,  indem  sie  auch  selbst  unaufhörlich  in 
einander    übergehn,    gemeinschaftlich    die    Einheit    des    Gemüths 


368 


10.    über  die  männliche 


hervorbringen,  nach  welcher  der  Mann  nur  mit  mühsamer  An- 
strengung strebt;  so  ist  bei  den  Weibern  auch  das  innre  Leben 
weniger  von  der  äussern  Erscheinungsweise  geschieden,  und  mit 
freiwilliger  Leichtigkeit  mahlt  sich  die  Seele  in  dem  bildsameren 
Bau.  Von  selbst  theilt  sich  den  Zügen  die  unbeschränkte  Freiheit 
der  Umrisse  mit,  durch  welche  der  blosse  Ausdruck  in  die  Schön- 
heit überfliesst;  denn  nicht  eine  einzelne  Bewegung,  sondern  die 
ganze  Seele  ist  es,  die  aus  derselben  spricht,  und  zwar  eine  weib- 
hche  Seele,  die,  weil  Phantasie  und  Empfindung  in  ihr  herrschen, 
mehr  das  Harte  und  Feste,  als  das  Schwankende  und  Unbestimmte 
flieht.  Aber  nicht  die  Gestalt  allein,  auch  die  Stimme,  die  noch 
mächtiger  ist,  unmittelbar  die  Empfindung  zu  wecken,  trägt  die- 
selbe Eigenthümlichkeit  in  beiden  Geschlechtern  an  sich.  Sanfter 
und  melodischer,  aber  in  mannigfaltiger  wechselnden  Schwingungen 
ertönt  sie  aus  dem  Munde  des  Weibes ;  einfacher,  aber  eindringen- 
der und  stärker  aus  dem  Munde  des  Mannes,  und  beide  drücken 
die  Gefühle  ihrer  Seele  ihrem  Charakter  gemäss  aus. 

Auf  jener  zarten  Bildsamkeit  der  weiblichen  Gestalt,  durch 
die  sie  ein  treuer  und  heller  Spiegel  des  Innern  wird,  beruht  der 
eigenthümliche  Genuss,  welchen  der  Umgang  mit  dem  andern 
Geschlecht  gev/ährt.  Nirgends  spricht  die  Empfindung  so  un- 
mittelbar zu  uns,  und  nichts  vermag  daher  auch  so  tiefe  Gefühle 
zu  wecken,  so  harmonische  Stimmungen  hervorzubringen.  Den 
Mann,  der  durch  seine  Thätigkeit  leicht  aus  sich  selbst  heraus- 
gerissen wird,  wieder  in  sich  zurückzuführen;  was  sein  Verstand 
trennt,  durch  das  Gefühl  zu  verbinden;  seinen  langsamem  Fort- 
schritten zuvorzueilen,  und  die  höchste  Vernunfteinheit,  nach  der 
er  strebt,  ihm  in  der  Sinnlichkeit  darzustellen,  ist  die  schöne 
Bestimmung  dieses  Geschlechts,  mit  der  auch  die  äussere  Bildung 
desselben  aufs  genaueste  zusammenstimmt.  Daher  beruht  auch 
die  Macht  des  Weibes  vorzugsweise  auf  der  lebendigen  Gegenwart, 
wo  nicht  vor  den  Sinnen,  doch  vor  der  Einbildungskraft.  Zwar 
gilt  eben  diess  auch  von  dem  Manne,  wenn  er  in  dem  ganzen 
Adel  seiner  Bildung  auftreten  soll;  auch  seiner  Gestalt  ist  eine 
Sprache  eigen,  welche  das  Herz  mächtig  ergreift,  und  die  Stim- 
mungen seiner  Seele  mit  den  feinsten  Zügen  mahlt.  Allein  um 
sein  Inneres  zu  dieser  Zartheit  zu  stimmen,  und  seinen  äussern 
Bau  einer  solchen  Bildsamkeit  fähig  zu  machen,  muss  er  sich  von 
seinem  Geschlecht  gleichsam  lossagen,  und  über  den  Naturzweck 
hinausgehen;  also  mehr  leisten,  als  selbst  seine  höhere  Bestimmung 


uud   weibliche  Form. 


3Ö9 


erheischt.  Das  weibliche  Geschlecht  hingegen  muss  gerade  jede 
weibliche  Eigenthümlichkeit  mit  schonender  Sorgfalt  zu  erhalten 
bemüht  se^'n,  um  nicht  jenen  lebendigen  Ausdruck  seiner  Gestalt 
selbst  zu  zernichten;  und  wenn  ihm  diess  Bemühen  gänzlich 
mislingt;  so  sinkt  es  allein  zu  seiner  Naturbestimmung  und  den 
Verrichtungen  des  äussern  alltäglichen  Lebens  herab,  oder  geht 
zu  Beschäftigungen  über,  die  eigentlich  nicht  zu  seinem  Kreise 
gehören.  Denn  auch  hier  ist  die  Weiblichkeit,  sobald  man  die 
Gränzen  des  blossen  Naturzwecks  verlässt,  nur  das  Höchste  zu 
geben  geschaffen,  und  wer  sich  mit  andern  Foderungen  an  sie 
wendet,  der  beweist  bloss  seine  Unkenntniss  des  Geschlechts. 


W.  V.  Humboldt,   Werke.     I.  24 


II. 
Rezension  von  Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee. 

Philologie. 

Halle,  in  der  Waisenhausbuchh. :  Hovieri  Odyssea  et  Batracho- 
jnyomachia.  In  usuni  scholarum  et  praelectioniim.  Editio  altera, 
priore  emendatior.     1794.    XXXIV  Vorb.  u.  47S  S.  8.  (i  Rthlr.) 

So  wenig  auch  die  Absicht  des  Hn.  Prof.  Wolf  dahin  gieng, 
in  diesem  Abdruck,  der  allein  den  Mangel  der  Exemplarien  der 
Odyssee  bis  zur  Vollendung  seiner  jetzigen  neuen  Ausgabe  des 
Homer  ^)  zu  ersetzen  bestimmt  ist,  eine  vollständige  Recension  des 
Textes  vorzunehmen;  so  hat  doch  eine  nicht  unbeträchtliche  An- 
zahl von  Stellen  schon  hier  ihre  Berichtigung  erhalten.  Die  Be- 
urtheilung  dieser  Textverbesserungen  bleibt  schicklicherweise  bis 
zur  Erscheinung  der  grössern  Ausgabe  ausgesetzt,  und  nur  also 
um  bestimmter  anzugeben,  wodurch  sich  auch  schon  dieser  Ab- 
druck vor  dem  vorigen^)  auszeichnet,  wollen  wir  einige  der- 
selben ausheben,  uns  aber  auch  diese  bloss  anzuzeigen  begnügen. 
So  steht  III.  73.  für  xoty^  äXdiovrat  :  roi  %'  älötovrai  (wie  schon  sonst 
IX.  254.).  IV.  372.  f.  liisd^irjg  :  f^s^leig  (vergl.  Brunck  ad  Soph.  Oed. 
Tyr.  628).  667. f.   al'Kä  ol  avxCo  :  allä   ol   amCo    (ihm   selbst,   im 

Erster  Druck:  Allgemeine  Literatur zeitiing  vom  Jahre  i'jfjs  2,  5(^9-— 57 J 
(Nr.  lOy,  16.  Juni). 

^)  Vgl.  über  diese  berühmte,  nur  die  Ilias  umfassende  Ausgabe,  deren  Er- 
scheinen Wolfs  „Significatio  de  operum  homericorum  critica  editione  a  se  curata" 
1794  vorausgegangen  war.  Körte,  Leben  und  Studien  Friedrich  August  Wolfs 
des  Philologen  i,  26^. 

-j  Die  erste  Außage  war  Halle  iy84—S5  erschienen. 


II.    Rezension  von  Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee.  o-rj 

Gegensatz  mit  dem  gleich  darauf  folgenden  tvqIv  rj/nlv).  VIII.  337. 
342.  XVII.  37.  und  sonst  f.  %Qvof^:  XQvoej]  (nach  dem  alten  Jonismus, 
wie  schon  sonst  Od.  VII.  90.  II.  V.  427.  u.  a.  a.  O.  m.).  VIII. 
483.  f.  fJQwi:  fJQ(p.  539.  f.  ölog  äotöbg  :  ^elog  a.  X.  7.  f.  äxotTag:  aMkig. 
II. f.  aiöoioig  alöxoioiv  :  cuöoirjg  a.  XI.  335. f.  oye  :  oöe.  XII.  87. f. 
7ie)MQ  -/.a-Äog  :  TtelwQ  '/.axöv.  XIV.  101.  f.  ovßöosia  :  ovßöoia  (wie  IL 
XI.  678.  neue  Wolf.  Ausg.  679.).  445.  f.  Id-sht :  ide'Aj]  (wegen  des 
vorhergehenden  xe).  XV.  105.  f.  «V^"  eoav  ol  Ttirtloi  :  sv^"  eoäv  ol  n. 
(nach  einer  besondern  Ausnahme,  welche  die  alten  Grammatiker 
hier  machten,  damit  nicht  01  als  Nominativ  zu  Ttinloi  gezogen  würde). 

XVIII.  35().  f.  fi  ctQ  x'  l^fAsig  :  ^  ctQ  a  Id^iloig.  XXII.  14.  f.  ol :  ol. 
Batrachom.  248.  f.  (fvyjj :  cpvyoi,  und  um  einige  noch  wichtigere 
zusammenzustellen:  XIII. 439. f.  tw  —  öieTi-iayov  :  %.  —  öihf.iayev {\tv^. 
II.  I.  531.  VII.  302.).  XIV.  92.  f.  ovo'  ht  (psLÖw  :  ovo'  em  cp.  XVI. 
387.  f.    ßovleod^E  :  ßöleo^^e.     X\'^III.  35Q.  f.    sv&a   d'lyw  :   ev&a  /^  iyco. 

XIX.  590.  f.  ov  (.loi :  ov  TIS  i-ioL.  Vorzüglich  aber  hat  der  Heraus- 
geber den  ganzen  Text  in  Absicht  auf  die  Accentuation  und  Ortho- 
graphie überhaupt,  im  weitesten  Sinne  dieses  Worts,  durchaus 
umgeformt,  und  mit  den  Grundsätzen  des  gelehrten  Alterthums, 
vorzüglich  der  besten  Alexandrinischen  Grammatiker,  überein- 
stimmend gemacht.  Ueber  einige  dieser  Grundsätze  selbst,  die 
zum  Theil  vor  Bekanntmachung  der  venetianischen  Schollen^) 
nicht  vollständig  aufgefunden  werden  konnten,  hat  er  sich  in  der 
Vorrede  erklärt,  und  damit  den  Freunden  der  Griechischen  Literatur 
ein  neues  schätzbares  Geschenk  gemacht,  da  es  Jetzt  z.  B.  möglich 
ist,  die  verwickelte  Lehre  der  Anastrophe,  über  v/elche  bisher  nur 
höchst  unbestimmte  Begriffe  herrschten,  in  einigen  wenigen  all- 
gemeinen Regeln  (unter  denen  wir  nur  diejenigen,  welche  log  be- 
treffen, vermissen)  zu  übersehen.'-)  Ueberhaupt  lässt  sich,  nach 
dem  nun  durch  diese  Wolfische  Ausgabe  der  Odyssee,  und  die 
eben  erschienene  der  Iliade,  ein  vollständiges  Muster  einer  Text- 
berichtigung von  dieser  Seite  (bei  der  wir  hier  allein  verweilen) 
gegeben  ist,  die  Hofnung  schöpfen,  dass  auch  die  künftigen  Heraus- 
geber der  Classiker,  wenigstens  durch  diese  Erleichterung  aufge- 
muntert, ihre  Aufmerksamkeit  endlich  auf  diese  Dinge  richten, 
und  die  Meisterwerke  des  Alterthums  auch  in  dieser  Rücksicht 
in  ihrer  wahren  Gestalt  herstellen  werden;  —  eine  Hofnung,  die 


V  Diese  wurden  zum  ersten  Mal  Venedig  i ■j6'6'  durch  Villoison  herausgegeben. 

V  Vgl.  Wolf  S.  XVII. 

24* 


372 


1 1.    Rezension  von 


freilich  vielen  höchst  unbedeutend  scheinen  wird,  es  aber  wahrlich 
am  wenigsten  in  einem  Zeiträume  ist,  in  welchem  die  Kritik  schon 
offenbar  an  schwankender  Unbestimmtheit  krank  liegt,  und  in 
w^elchem  (einige  seltene  Ausnahmen  abgerechnet)  gerade  gründ- 
liche Genauigkeit  am  meisten  vermisst  wird.  Der  Herausg.  erklärt 
sich  an  mehreren  Stellen  der  Vorrede  bald  ernsthaft,  bald  mit 
feiner  Ironie  über  die  Sitte,  diese  grammatikalischen  Dinge  als 
geringfügige  Kleinigkeiten  zu  verachten,  gegen  welche  schon  allein 
die  Betrachtung  sprechen  sollte,  wie  subtil  die  alten  Theoristen 
von  Aristoteles  an  über  diese  Gegenstände  zu  raisonniren  pflegten.^) 
Und  gewiss  ist  es  auch  nirgends  so  sehr,  als  in  der  Kritik  der 
Fall,  dass  selbst  das  Kleinste  in  sehr  naher  Beziehung  auf  das 
Wichtigste  steht.  Denn  um  die  Denkmäler  des  Alterthums,  so 
viel  es  möglich  ist,  wieder  in  ihrer  Aechtheit  herzustellen,  darf 
auch  die  geringfügigste  Kleinigkeit  nicht  verabsäumt  werden,  sobald 
sie  nur  irgend  dazu  dienen  kann,  diese  Aechtheit  zu  erkennen, 
oder  gleichsam  festzuhalten.  Ueberhaupt  aber  ist  es  schwer  zu 
sagen,  was  denn  eigentlich  Kleinigkeit  heissen  solle?  Für  den- 
jenigen, der  sich  gewöhnt  hat,  irgend  ein  Fach  der  Wissenschaften 
mit  philosophischem  Geist  zu  studiren,  hat  kein  Theil  desselben 
eine  abgesonderte  Wichtigkeit,  sondern  jeder  erhält  dieselbe  nur 
durch  sein  Verhältniss  zum  Ganzen.  Nur  durch  den  Gesichts- 
punkt aufs  Ganze,  nicht  aber  durch  flüchtiges  Vorübergehn  vor 
dem  scheinbar  Geringfügigen,  unterscheidet  sich  die  geistvolle  Be- 
handlung von  der  pedantischen.  Nun  aber  hängt  in  den  Wissen- 
schaften alles  mit  allem  zusammen,  und  wenn  der  Kritiker  z.  B. 
die  Sprache  in  ihrem  ganzen  Umfange  studiren  muss,  so  ist  es 
schwer  zu  begreifen,  wie  er  z.  B.  Accentuation  und  Orthographie 
übergehen,  oder  doch  nicht  erschöpfend,  sondern  allenfalls  nur 
bis  auf  einen  gewissen  beliebigen  Grad  studiren  könne.  Wie  viel 
aber  von  der  Kenntniss  der  Lehre  der  Accentuation,  und  gerade 
in  ihren  bisher  weniger  bemerkten  Feinheiten  abhängt,  davon  führt 
der  Vf.  vorzüglich  S.  XV.  ein  merkwürdiges  Beispiel  bei  Ge- 
legenheit <\q.t  protiominum  hy/Xuiv/MV  und  ÖQd-OTOvovf.ievwv  an.  In  der 
bekannten  Stelle  der  Ilias  nemlich  (V.  116.),  wo  Diomedes  die 
Minerva  um  Beistand  anruft,  liess  man  bisher  durchaus  in  allen 
Uebersetzungen  den  Helden  sagen :  „wenn  Du  m  i  r  und  dem  Vater 
sonst  beistandest,  so  stehe  mir  jetzt  bei"  (eben  als  würde  ei/tor' 


V  Vgl.  Wolf  S.  VII.  IX.  XIV.  XXIV.  XXVII.  XXXIV. 


"Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee.  nnr, 

i^iol  -/ML  TTUToL  gelesen),  da  er  sich  doch,  wenn  man  genau  dem 
in  allen  Ausgaben  vorkommenden  Accente  folgt  (einoTe  (.lot  •/..  7t.), 
mit  wahrhaft  Griechischer,  auch  dem  Heldenalter  nicht  fremder 
Bescheidenheit  so  ausdrückt:  „Wenn  Du  einst  meinem  Vater 
beistandest,  so  stehe  nun  auch  m  i  r  bei."  Schwerlich  würden  sich 
manche,  die  stolz  darauf  zu  thun  scheinen,  nur  den  Geist  und 
den  ästhetischen  Gehalt  der  Alten  aufzusuchen,  eingebildet  haben, 
dass  mangelhafte  Kenntniss  der  Accentuation  sie  dahin  bringen 
könnte,  der  Zartheit  eines  Heldencharakters  Unrecht  zu  thun. 
Allein  selbst  wo  der  Einfluss  der  Lehre  von  der  Accentuation  auf 
den  Sinn  nicht  so  offenbar  ist,  als  hier,  giebt  sie  doch  oft  eine 
dringende  ^'eranlassung,  nicht  nur  in  den  Sinn  einzelner  Stellen, 
sondern  in  die  Natur  der  Sprache  und  der  Wortfügung  überhaupt 
tiefer  einzugehen,  und  auch  hiezu  liefert  diese  Vorrede  einige 
trefliche  Belege.  Es  ist  nemlich  bekannt,  dass,  wenn  das  Nomen, 
zu  welchem  eine  Präposition  gehört,  vor  derselben  vorausgeht, 
die  Präposition  alsdann  in  der  Regel  ihren  Accent  von  der  letzten 
Silbe  auf  die  erste  zurückzieht,  damit  sie  in  der  Aussprache  mit 
dem  vorhergehenden,  nicht  aber  mit  dem  folgenden  Worte  ver- 
bunden werde.  Ist  nun  der  Fall  so,  dass  einige  Worte  später  ein 
Verbum  folgt,  mit  dem  die  Präposition  wohl  sonst  auch  verbunden 
zu  werden  pflegt  (wie  z.  B.  Od.  III.  408.  IX.  6.  II.  X.  274. 
XXIII.  561.),  so  ist  eine  doppelte  Beziehung  der  Präposition  auf 
das  Verbum  vorwärts  und  auf  das  Nomen  rückwärts  möglich, 
von  welchen  jede  eine  verschiedene  Stellung  des  Accents  erfodert, 
und  hier  hängt  nun  die  Entscheidung,  die  nicht  in  allen  Fällen 
dieselbe  seyn  kann,  von  einer  feinen  Untersuchung  der  Natur  der 
Wortfügung  und  der  Aussprache  überhaupt,  der  Eigenthümlich- 
keit  der  Griechischen  Sprache  insbesondre,  und  sogar  der  Sitte 
des  besondern  Zeitalters  und  Schriftstellers  ab.  So  bemerkt  der 
Herausg.  bei  dieser  Gelegenheit,  z.  B.  S.  XXV.  sehr  scharfsinnig, 
dass  in  der  alten  Homerischen  Sprache  über  die  Trennung  der 
Präpositionen  von  ihren  Verbis,  und  über  die  Tmesis  überhaupt 
anders,  als  in  der  späteren  geurtheilt  werden  müsse,  da  jene  noch 
freier  trennt,  was  diese  regelmässiger  verbindet.  Auf  diese  Weise 
leitet  also  die  Accentuation  selbst,  und  gerade  durch  ihre  soge- 
nannten Spitzfindigkeiten  auf  eben  die  Dinge,  die  man  jetzt  so  oft 
im  Munde  führt,  auf  Sprachphilosophie,  Geist  des  Zeitalters  u.  s.  f., 
über  die  es  aber  freilich  bequemer  ist,  oberflächlich  zu  raisonniren, 
als   gründliche   historische   Untersuchungen   anzustellen.      Freilich 


374 


II.    Rezension  von 


Wäre  es  nun  hiezu  nicht  eben  nöthig,  die  Accente  wirklich  zu 
schreiben,  genug  wenn  man  nur  auch  auf  die  nicht  ge- 
schriebenen achtete;  hierauf  aber  muss  Rec.  den  Leser  bitten, 
die  Antwort  bei  dem  Herausg.  selbst  nachzusehen.  (S.  XXI.)^) 
Bei  den  Griechen  endlich,  in  deren  Charakter  das  feinste,  und  auf 
das  höchste  ausgebildete  Schönheitsgefühl  ein  hervorstechender 
Zug  ist,  sollte  nicht  bloss  die  Materie,  der  GedankengehaJt, 
sondern  auch  die  Form,  und  zwar  im  weitesten  Sinne  des  Worts, 
wichtig  scheinen.  Dahin  aber  gehört  ganz  vorzüglich  die  Decla- 
mation,  der  Vortrag  der  Poesie  sowohl  als  der  Prose,  und  da  es 
der  Natur  der  Sache  nach  äusserst  schwierig  ist,  von  dieser  einen 
richtigen  Begriff  zu  fassen ;  so  wäre  es  mehr  als  sonderbar,  wenn 
man  gerade  dasjenige  Studium  vernachlässigen  wollte,  was  hier 
eine  entschiedene  Wichtigkeit  hat,  das  Studium  der  Accentuation 
und  Orthographie.  Immer  wird  freilich  der  Versuch  vergeblich 
bleiben,  die  Declamation  der  Alten  ganz  wieder  unter  uns  her- 
zustellen, und  den  Homer  eben  so  als  Plato,  oder  auch  nur  als 
Longin  zu  lesen;  aber  unläugbar  bleibt  es  doch,  dass  das  Studium 
derselben  uns  nicht  nur  über  die  Feinheit  des  Griechischen  Organs 
wichtige  Aufschlüsse,  sondern  auch  über  unsere  eigene  Declamation 
in  unsrer  Sprache  nicht  unbedeutende  Winke  ertheilt.  In  dieser 
letzten  Rücksicht  führt  der  Herausg.  z.  B.  die  Sorgfalt  an,  mit 
welcher  die  Griechen  bei  apostrophirten  Wörtern  den  Consonans, 
der  zur  weggelassenen  Silbe  gehört,  mit  der  folgenden  Silbe  ver- 
banden, da  bei  uns  ungeübte  Leser  ihn  so  oft  an  die  vorher- 
gehende anschliessen,  und  die  sie  bewog,  diesen  Consonans,  wenn 
das  W^ort  am  Ende  eines  Verses  stand,  allein  zu  trennen,  und 
zum  Anfang  des  folgenden  hinüberzuziehen,  wie  z.  B.  11.  VIII.  207. 

v^,  avzov  x'  evd^  änäxotzo  y.a&i]i.i£vog  oiog  ev  "löj]'-) 

Im  Pindar  (0/.  III.  46.)  muss  sogar  ein  einzelnes  solches  v 
einmal  aus  dem  Ende  einer  Antistrophe  in  den  Anfang  der 
folgenden  Epode  hinüberwandern.     In  der  That  klingt   auch,  wie 


^J  Doi't  heißt  es:  „Dicunt  quidem  ii,  qui  scribentes  tonis  non  utuntur,  contextu 
cujusque  loci  facile  indicari,  quo  modo  illa  distinguenda  sint.  Recte.  Quo  modo  ambigua 
pronuntiando  distinguenda  sint,  contextus  indicat;  quo  et  alia  plura  nituntur  et  tota 
interpunctio.  Hac  tarnen  nobiscum  utuntur  isti.  Cur  ergo  tonos  minus  volunt  notis  suis 
insigniri,  quos  se  certe  recitando  et  tacite  legendo  distinguere  non  dissimulant?" 

2;  Vgl.  Wolf  S.  IX. 


Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee.  o^r 

iedem  nicht  ungebildeten  Ohr  auffallend  seyn  muss,  die  entgegen- 
gesetzte Aussprache  nicht  nur  höchst  unangenehm,  sondern  giebt 
noch  ausserdem  manchmal  zu  Zweideutigkeiten  Anlass.  So  kann, 
um  ein  Beispiel  aus  unserer  Sprache  anzuführen,  das  apostrophirte 
Imperfectum :  winkt'  durch  unrichtiges  Lesen  in  das  Präsens  ver- 
wandelt werden,  und  ein  lächerliches  Misverständnis  derselben  Art 
erzählt  der  Scholiast  des  Euripides  von  dem  Atheniensischen Theater. 
Als  nemlich  Orestes  beim  Euripides  (Eur.  Or.  279.)  aus  einem 
Anfall  der  Raserei  erwacht,  ruft  er  aus: 

Ey.  v.vuc'itcov  yuQ  av^ig  av  yalrjv    oqco. 

„Die  Woge  schweigt;  ich  seh'  die  Heitre  wieder!" 

Der  Schauspieler  Hegelochus  hielt,  als  er  diese  Rolle  spielte,  weil 
ihm  gerade  nach  der  zweiten  Silbe  der  Odem  ausgieng,  hinter 
yalry  ein,  und  nun  klang  der  ^^ers: 

"Ek  KVfiärcov  yciQ  nv&is  av  ycc?.fjv  oqcö. 

„Die  Woge  schweigt;  ich  seh'  das  Wiesel  wieder!" 

Die  Comödiendichter  versäumten  diese  Gelegenheit  nicht,  sich 
über  das  tragische  Theater  lustig  zu  machen.  Sann}Tion  unter 
andern  Hess  einen  Verfolgten,  der  vor  seinen  Feinden  floh,  ausrufen: 

„Wie  mach'  ichs,  dass  ich  in  ein  Loch  entschlüpfe? 

Könnt'  ich  nur  schnell  zum  Wiesel  werden! 

Allein  was  hülf  es  mir?    Es  käme 

Hegelochus,  der  Tragiker,  und  schriee 

Laut  meinen  Feinden  zu : 

Die    Woge    schweigt;    ich    seh'    das    Wiesel    wieder!" 

und  auf  eine  ähnliche  Art  wird  der  arme  Hegelochus  auch  von 
Aristophanes  verspottet.  (S.  Aristoph.  Raft.  v.  304.,  wo  Bruncks 
Note,  so  wie  Markland  ad  Eur.  Suppl.  901.  zu  berichtigen  ist.) 
Diese  Materie,  noch  ein  wenig  weiter  verfolgt,  könnte  noch  zu 
andern  sehr  interessanten  Bemerkungen  führen.  Wenn  z.  B.  in 
solchem  Fall  gerade  nach  einem  Apostroph  der  Sinn  einen  Ab- 
schnitt verlangt,  wie  schv^^ebend  muss  dann  die  Griechische  Stimme 
beide  Wörter  gehalten,  wie  sanft  sie  in  einander  haben  überfliessen 
lassen?  und  ebenso,  wenn  dieser  Fall  am  Ende  des  Verses  ein- 
tritt, da  der  Herausg.  bemerkt,  dass  das  Ende  des  Verses  allemal 
im  Lesen  angedeutet  wurde  ;\)  wohin  vielleicht  auch  gehört,  dass 
die  Griechischen  Dichter,  vorzüglich  die  lyrischen,  zu  den  End- 
silben der  Verse  gern  lange  Silben  wählten,  (w^ie  denn  namentlich 


j;  Vgl  Wolf  S.  XIX. 


linß  II.    Rezension  von  Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee. 

bei  Pindar  bei  weitem  der  grösste  Theil  der  Endsilben  lang  ist,) 
um  dadurch  das  Schweben  und  Innehalten  der  Stimme  zu  er- 
leichtern, (vergl.  Marius  Victorinus  eä.  Putsch,  p.  2569.)  ^)  die 
doch  gewiss  wieder  sehr  schnell  zum  folgenden  Verse  hinüber- 
eilte, da  die  Endsilbe  des  einen  Verses  oft  durch  Position  der 
Anfangssilbe  des  andern  lang  wird,  und  die  Griechen  überhaupt 
weit  schneller,  als  wir,  declamirten.  Aber  vielleicht  hat  sich  Rec. 
durch  das  Interesse,  das  diese,  noch  so  wenig  behandelte  Materie 
in  ihm  erweckte,  schon  zu  weit  führen  lassen.  Er  begnügt  sich 
daher,  nur  noch  anzumerken,  dass  der  Leser,  ausser  den  genannten 
Gegenständen,  noch  über  andere  Materien,  z.  B.  über  die  richtige 
Abtheilung  der  Wörter  (z.  B.  Ttqe-aßa  oder  Ttgeg-ßa),  ^TQeiörjg  oder 
i^TQuörjg,  die  l^Tvirj  yala,  das  v  i(p€Xyivai;ixöv,  die  Verdoppelung  der 
Consonanten,  und  vorzüglich  der  fünf  Halbvocale,  die  Zusammen- 
ziehung einiger  Wörter  (z.  B.  af-iTtelayog)  und  die  Diastole,  lehr- 
reiche Bemerkungen  findet,  welche  die  Resultate  gelehrter  und 
scharfsinniger  Untersuchungen  sind.-)  Denen,  die  sich  nicht  scheuen, 
tiefer  einzugehen,  empfehlen  wir  die  Vergleichung  einiger  Stellen 
der  Reitzischen  Schrift  de  prosodiae  Graecae  accentus  inclmatione, 
vorzüglich  p.  124 — 126.  von  der  Anastrophe.^) 

Endlich  dürfen  wir  nicht  unbemerkt  lassen,  dass  der  Druck 
sehr  sauber,  und  weniger  klein  und  angreifend  für  das  Auge,  als 
in  der  vorigen  Ausgabe  ist,  und  dass  sich  auch  dieser  Abdruck 
durch  die,  den  Wolfischen  Ausgaben  so  eigenthümliche  Correct- 
^eit  auszeichnet. 


■')  „Desinit  autem  spondeo,  quia  constat  ex  duabus  longis  vel  quia  omnis  depositio 
recipit  moram"  Keil,  Grammatici  latini  6,  131.  Humboldt  zitiert  die  alten  Gramma- 
tiker nach  Putsches  Hanau  1605  erschienenen  „Grammaticae  latinae  auctores  antiqui." 

^;  Vgl.  Wolf  s.  VIII.  XI.  XXV u.  xxvin.  xxx.  xxxi.  xxxiii. 

'^  Auch  Wolf  S.  XVIII  verweist  auf  diese  Erörterung  von  Reiz,  dessen 
Schrift  er  selbst  ijgi  neu  herausgegeben  hatte. 


12. 

Plan  einer  vergleichenden  Anthropologie. 

I. 

Wie  man  in  der  vergleichenden  Anatomie  die  Beschatfenheit 
des  menschlichen  Körpers  durch  die  Untersuchung  des  thierischen 
erläutert:  ebenso  kann  man  in  einer  vergleichenden  Anthropologie 
die  Eigenthümlichkeiten  des  moralischen  Charakters  der  ver- 
schiedenen Menschengattungen  neben  einander  aufstellen  und 
vergleichend  beurtheilen. 

Geschichtschreiber,  Biographen,  Reisebeschreiber,  Dichter, 
Schriftsteller  aller  Art,  selbst  den  speculativen  Philosophen  nicht 
ausgenommen,  enthalten  Data  zu  dieser  Wissenschaft.  Auf  Reisen, 
wie  zu  Hause,  im  geschäftigen,  wie  im  müssigen  Leben  bietet 
sich  überall  die  Gelegenheit  dar,  sie  zu  bereichern  und  zu  be- 
nutzen, und  unter  allen  Studien  ist  kein  anderes  in  so  hohem 
Grade  unser  beständiger  Begleiter,  als  das  Studium  des  Menschen. 
Es  kommt  nur  darauf  an,  den  reichen  Stolf,  den  das  ganze  Leben 
hergiebt,  zu  sammeln,  zu  sichten,   zu  ordnen  und  zu  verarbeiten. 

Diess  zu  thun  ist  die  vergleichende  Anthropologie  bestimmt, 
welche,  indem  sie  sich  auf  die  allgemeine  stützt,  und  den  Gattungs- 
( Charakter  des  Menschen  als  bekannt  voraussetzt,  nur  seine  indivi- 
duellen Verschiedenheiten  aufsucht,  die  bloss  zufälligen  und  vor- 
übergehenden von  den  wesentlichen  und  bleibenden  absondert,  die 
Beschatfenheit  dieser  erforscht,  ihren  Ursachen  nachspürt,  ihren 
Werth  beunheilt,  die  Art  sie  zu  behandeln  bestimmt,  und  den 
Fortgang  ihrer  Entwicklung  vorhersagt. 


Handschrift  (4^  Qiuvtseiten)  im  Archiv  in  Tegel. 


378 


12.    Plan  einer 


Wichtigkeit   dieser  Untersuchungen. 


Es  giebt  kein  praktisches  Geschäft  im  menschlichen  Leben, 
das  nicht  der  Kenntniss  des  Menschen  bedürfte,  und  zwar  nicht 
bloss  des  allgemeinen,  philosophisch  gedachten,  sondern  des  indivi- 
duellen, wie  er  vor  unsern  Augen  erscheint.  Es  ist  schwer  bei 
der  Erwerbung  dieser  Kenntniss  den  doppelten  Fehler  zu  ver- 
meiden, sich  weder  einen  zu  unbestimmten  und  allgemeinen,  noch 
auch  einen  zu  particulairen  Begriff  von  dem  Individuum  zu  bilden; 
es  weder  zu  sehr  bloss  nach  seinen  möglichen  Anlagen,  noch  zu 
sehr  mit  allen  bloss  zufälligen  Beschränkungen  zu  betrachten. 
Durch  den  ersteren  beraubt  gewöhnlich  der  bloss  speculirende 
Philosoph  seine  Grundsätze  ihrer  praktischen  Anwendbarkeit; 
durch  den  letzteren  der  blosse  Geschäftsmann  seine  Einrichtungen 
ihrer  längeren  Dauer  und  ihres  wohlthätigen  Einflusses  auf  die 
Aufklärung  und  den  Innern  Charakter. 

Um  zugleich  den  Menschen  mit  Genauigkeit  zu  kennen,  wie 
er  ist,  und  mit  Freiheit  zu  beurtheilen,  wozu  er  sich  entwickeln 
kann,  müssen  der  praktische  Beobachtungssinn  und  der  philo- 
sophirende  Geist  gemeinschaftlich  thätig  seyn.  Diese  Verbindung 
aber  wird  beträchtlich  erleichtert,  wenn  die  individuelle  Charakter- 
kenntniss  in  einer  vergleichenden  Anthropologie  zu  einem  Gegen- 
stande des  wissenschaftlichen  Nachdenkens  erhoben  wird,  und 
wenn  man  in  derselben  von  den  Eigenthümlichkeiten  verschiedener 
Menschenclassen,  und  dem  gewöhnlichen  Einfluss  äusserer  Lagen 
auf  den  Innern  Charakter  bestimmte  und  getreue  Schilderungen 
antrift.  Der  allgemeine  Typus,  den  sie  angiebt,  kann  alsdann  mit 
Hülfe  eigner  Erfahrung  weiter  ausgezeichnet ;  in  der  Sphäre,  welche 
sie  einem  Charakter  überhaupt  als  möglich  anweist,  kann  die  Stelle 
bestimmt  werden,  welche  er  in  dem  jedesmaligen  Moment  wirk- 
lich einnimmt. 

Der  Gesetzgeber,  hat  man  immer  gesagt,  muss  seine  Nation, 
ihren  Geist  und  ihre  Gesinnung  studirt  haben,  wenn  er  mit  Fort- 
gang auf  sie  einwirken  will.  Wie  aber  ist  es  möglich  den  Cha- 
rakter Einer  Nation  vollständig  zu  kennen,  ohne  nicht  zugleich 
auch  die  andern  erforscht  zu  haben,  mit  welchen  jene  in  den 
nächsten  Beziehungen  steht,  durch  deren  contrastirende  ^)  Ver- 
schiedenheit  er   theils  wirklich   entstanden    ist,    theils    allein   voll- 


V  „contrastirende"  verbessert  aus  „charakteristische". 


vergleichenden  Anthropologie.    2.  ^7Q 

kommen  begriffen  werden  kann  ?  und  wie  ist  es  erlaubt,  auf  einen 
individuellen  Charakter  einzuwirken,  ohne  darüber  nachgedacht  zu 
haben,  inwiefern  Charakterverschiedenheiten  überhaupt  möglich? 
inwiefern  mit  den  Foderungen  einer  freien  und  allgemeinen  Aus- 
bildung verträglich  ?  oder  gar  politisch  oder  moralisch  nothwendig 
sind  ? 

Um  einzelnen  Zügen  gleichsam  gewisse  Kunstgritfe  der  Re- 
gierungskunst abzulernen,  um  einzusehen,  dass  man  den  Franzosen 
nicht  pedantisch,  den  Engländer  nicht  sichtbar  despotisch  behandeln 
muss,  bedarf  es  freilich  so  grosser  Zurüstungen  nicht.  Mittel  die 
empfindlichen  Stellen  des  menschlichen  Charakters  zu  schonen, 
und  seine  Schwächen  zu  benutzen,  giebt  auch  eine  obertlächliche 
Beobachtung  leicht  an  die  Hand. 

Aber  es  soll  etwas  ganz  andres  geschehen.  Die  individuellen 
Charaktere  sollen  so  ausgebildet  werden,  dass  sie  eigenthümlich 
bleiben,  ohne  einseitig  zu  werden,  dass  sie  der  Erfüllung  der  all- 
gemeinen Foderungen  an  allgemeine  idealische  ^)  Vortreflichkeit 
keine  Hindernisse  in  den  Weg  legen,  nicht  bloss  durch  Fehler 
und  Extreme  eigenthümlich  sind,  aber  dagegen  ihre  wesentlichen 
Gränzen  nicht  überschreiten,  und  in  sich  consequent  bleiben.  In 
dieser  Innern  Consequenz  und  äussern  Congruenz  mit  dem  Ideal 
sollen  alsdann  alle  gemeinschaftlich  zusammenwirken. 

Denn  nur  gesellschaftlich  kann  die  Menschheit  ihren  höchsten 
Gipfel  erreichen,  und  sie  bedarf  der  Vereinigung  vieler  nicht  bloss 
um  durch  blosse  Vermehrung  der  Kräfte  grössere  und  dauerhaftere 
Werke  hen'orzubringen ,  sondern  auch  vorzüglich  um  durch 
grössere  Mannigfaltigkeit  der  Anlagen  ihre  Natur  in  ihrem  wahren 
Reichthum  und  ihrer  ganzen  Ausdehnung  zu  zeigen.  Ein  Mensch 
ist  nur  immer  für  Eine  Form,  für  Einen  Charakter  geschatfen, 
ebenso  eine  Classe  der  Menschen.  Das  Ideal  der  Menschheit  aber 
stellt  soviele  und  mannigfaltige  Formen  dar,  als  nur  immer  mit 
einander  verträglich  sind.  Daher  kann  es  nie  anders,  als  in  der 
Totalität  der  Individuen  erscheinen. 

Man  nehme  in  Gedanken  aus  der  Reihe  der  Europäischen 
Nationen  eine  hinweg,  die  keinen  im  Ganzen  sehr  beträchtlichen 
Antheil  an  der  Kultur  und  den  Fortschritten  dieses  Welttheils  ge- 
nommen hat,  und  nicht  einmal  ein  eigner  Stamm,  nur  ein  Zweig 
einer  andern  Nation  ist,  ich  meyne  die  Schweizerische,  und  es 
würde    auf   einmal    in   dem   kultivirten,    üppigen,   von  der   ersten 

y  „idealische"  verbessert  aus  „klassische". 


o8o  12.    Plan  einer 

Einfachheit  der  Natur  so  weit  entfernten  Europa  an  einem  Volke 
fehlen,  das  noch  mitten  unter  unähnlichen  Nachbarn  eine  ver- 
gleichungsweise  so  grosse  Einfalt  der  Sitten  besitzt,  die  Zahl  seiner 
Bedürfnisse  auf  so  wenige  beschränkt,  sich  mit  einem  so  dürftigen 
Vorrath  von  Mitteln  und  mit  Verfassungen  behilft,  wie  sie  sonst 
nur  die  Kindheit  der  Nationen  zeigt. 

Wir  haben  mit  Fleiss  den  schweitzerischen  Charakter  zum 
Beispiel  gewählt,  der  wenigstens  zum  Theil  der  Natur  so  nah 
verwandt  ist,  dass  niemand  seine  Eigenthümlichkeiten  anders  als 
mit  innigem  Mitgefühl  untergehn  sehen  könnte.  Denn  sonst  ist 
nicht  freilich  gleich  jede  Verschiedenheit  des  Auf  bewahrens  w^erth, 
und  seltner  gerade  ist  diess  eine  nationeile,  die  durch  die  Ver- 
bindung so  vieler  bloss  zufälliger  Umstände  entspringt. 

Aber  gerade  weil  nicht  jede  Varietät  empfehlungswürdig,  ja 
viele  sogar  tadelhaft  sind,  und  es  doch  (um  nur  diess  Eine  hier 
in  Betrachtung  zu  ziehen)  schon  physisch  unmöglich  ist,  die 
Menschen  auf  Einmal  und  gänzlich  aus  ihrem  gewohnten  Gleise 
herauszuheben,  ihre  Individualität  zu  vernichten  und  sie  zu  andern 
Menschen  zu  machen,  muss  man  ihre  Verschiedenheiten  studiren, 
und  was  sich  aus  ihnen  entwickeln  lässt,  überschlagen. 

Der  Mensch  soll  seinen  Charakter,  den  er  einmal  durch  die 
Natur  und  die  Lage  empfangen  hat,  beibehalten,  nur  in  ihm  be- 
wegt er  sich  leicht,  ist  er  thätig  und  glücklich.  Darum  soll  er 
aber  nicht  minder  die  allgemeinen  Foderungen  der  Menschheit 
befriedigen  und  seiner  geistigen  Ausbildung  keinerlei  Schranken 
setzen.  Diese  beiden  einander  widersprechenden  Foderungen  mit 
einander  verbinden  und  beide  Aufgaben  zugleich  lösen  soll  der 
praktische  Menschenkenner,  und  wie  kann  er  in  diesem  Geschäfte 
glücklich  seyn,  ohne  die  allgemeinen  möglichen  Verschiedenheiten 
der  menschlichen  Natur,  und  die  allgemeinen  Verhältnisse  einzelner 
Eigenthümlichkeiten  zum  Ideal  der  Gattung  sorgfältig  erforscht 
zu  haben.? 

Den  Menschen  zu  bilden  ist  aber  nicht  bloss  der  Erzieher, 
der  Religionslehrer,  der  Gesetzgeber  bestimmt.  So  wie  jeder 
Mensch  neben  allem,  was  er  noch  sonst  seyn  kann,  zugleich  immer 
noch  Mensch  ist,  so  hat  er  auch  die  Obliegenheit  auf  sich,  neben 
allen  Geschäften,  die  er  sonst  immer  betreiben  mag,  zugleich  auf 
die  intellectuelle  und  moralische  Bildung  seiner  und  andrer  prak- 
tische Rücksicht  zu  nehmen. 

Es  ist  das  allgemeine  Gesetz,  das  die  Vernunft  aller  Gemein- 


vergleichenden  Anthropologie.   2.  q§  j 

Schaft  der  Menschen  unter  einander  unnachlasslich  vorschreibt: 
ihre  MoraUtät  und  ihre  Cultur  gegenseitig  zu  achten,  nie  nach- 
theilig auf  sie  einzuwirken,  aber  sie,  wo  es  geschehen  kann,  zu 
reinigen  und  zu  erhöhen.  Die  Stärke  der  VerbindUchkeit  hiezu 
bei  einzelnen  bestimmten  Geschäften  wächst  nun  mit  dem  Grade 
ihres  Einflusses  auf  den  Geist  und  den  Charakter,  und  wo  ihr 
vollkommen  ein  Genüge  geleistet  werden  soll,  da  muss  ebensosehr 
auf  die  individuelle  Charakterform,  als  auf  die  allgemeine  gesehen 
werden. 

Am  wenigsten  kann  sich  von  dieser  Verpflichtung  der  Gesetz- 
geber lossagen,  da  er  die  grosseste  und  gefährlichste  Macht  in 
Händen  hat,  auf  die  Menschen  zu  wirken.  Die  ganze  Politik,  vor- 
züglich die  innere,  wird  dadurch  einem  Gesichtspunkte  unter- 
geordnet, der  ihr  an  sich  eigentlich  fremd  ist.  Denn  da  sie  für 
sich  eigentlich  nichts  anders  zu  thun  hat,  als  nur  die  Aufgabe  zu 
lösen,  wie  der  letzte  Zweck  aller  bürgerlichen  Vereinigung,  die 
Sicherheit  der  Person  und  des  Eigenthums  am  kürzesten  und  ge- 
wissesten erhalten  werden  kann?  so  muss  sie  nun  bei  jeder  Ver- 
anstaltung, die  sie  vorschlägt,  erst  nach  dem  Einflüsse  fragen, 
welchen  dieselbe  auf  den  Charakter  der  Bürger,  als  Menschen, 
ausüben  wird?  und  jede  erst  nach  diesem  Maassstabe  prüfen.  Da 
noch  überdiess  beide  Gesichtspunkte  fast  überall  auf  ganz  ent- 
gegengesetzte Resultate  führen  müssen,  der  rein  politische  auf 
Zwang,  der  erweiterte  moralische  auf  Freiheit,  so  wird  es  ihr 
schwierigstes  Geschäft  seyn,  diese  beiden  streitenden  Foderungen 
mit  einander  zu  vereinigen,  und  diese  Schwierigkeit  wird  dadurch 
noch  grösser,  dass  sie,  sobald  von  einer  Anwendung  die  Rede  ist, 
einen  individuellen  Charakter  zu  schonen  und  zu  leiten,  also  noch 
mehr  particulaire  Umstände  in  Acht  zu  nehmen  hat. 

Die  gewöhnliche  Theorie  über  diesen  Gegenstand  ist  grossen 
Misbräuchen  ausgesetzt.  Sie  lehrt  den  Gesetzgeber,  die  Eigen- 
thümlichkeiten  zu  benutzen,  um  die  Nation  dadurch  leichter  zu 
lenken  und  zu  beherrschen.  Aber  wie  leicht  führt  dieser  bloss 
politische  Gesichtspunkt,  ohne  die  höheren  moralischen,  in  die  Ge- 
fahr, auch  offenbare  Schwächen  und  Blossen  absichtlich  zu  unter- 
halten. 

Eine  neue  Schwierigkeit  mehr  findet  der  Staatsmann  der 
neueren  Zeit,  wo  mehrere  Nationen  nicht  nur,  wie  auch  vormals 
oft,  unter  Einem  Scepter  vereinigt  sind,  sondern  auch  im  ge- 
nauesten Verstände  als  Eine  Masse  wirken  sollen.     Soll  diess   mit 


082  12.    Plan  einer 

vollkommener  Präcision  und  Schnelligkeit  geschehen,  so  wäre  es 
unstreitig  besser  die  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Stoffe  auf- 
zuheben, Sprache,  Sitten,  A'Ie3'nungen  u.  s.  w.  gleich  zu  machen. 
Aber  ist  diess  ohne  Verlust  an  Eigenthümlichkeit,  und  folglich 
zugleich  an  Selbstthätigkeit  und  Energie  möglich,  und  welchen 
dieser  beiden  Vorzüge  soll  er  nun  dem  andern  aufopfern?  Stellt 
er  diese  Untersuchung  mit  dem  Geiste  an,  der  weder  die  Würde 
des  individuellen  Charakters,  noch  den  unläugbaren  Nutzen  grosser 
Staaten  und  Massen  von  Menschen  verkennt,  so  wird  er  sie  gar 
bald  verlassen,  und  sich  lieber  zu  der  Aufgabe  w^enden,  beide 
Vorzüge  mit  einander  zu  vereinigen.  Die  Auflösung  dieser  aber 
kann  er  sich  nur  noch  allenfalls  von  dem  genauesten  Studium  der 
wirklichen  Individualität  der  Subjecte,  die  er  zu  behandeln  hat, 
versprechen. 

Die  Religion  scheint  am  wenigsten  Einfluss  von  der  Eigen- 
thümlichkeit ihrer  Bekenner  leiden  zu  dürfen.  Sie  lehrt  Wahrheit 
und  die  Wahrheit  ist  durchaus  objectiv  und  allgemein.  Dennoch 
ist  gerade  bei  ihr  die  Sorgfalt,  sie  immer  und  Schritt  vor  Schritt 
die  Umänderungen  des  Geistes  begleiten  zu  lassen,  am  meisten 
nothwendig,  wenn  die  doppelte  Gefahr  eines  drückenden  Gewissens- 
zwanges, oder  religiöser  Gleichgültigkeit  vermieden  werden   soll. 

Die  übrigen  Geschäfte  des  Lebens  haben  selten  einen  nahen 
und  grossen  Einfluss  auf  die  innre  Individualität.  Es  ist  hin- 
reichend grobe  Fehler  zu  vermeiden,  um  der  Gefahr  nachtheiliger 
Einwirkungen  zu  entgehen. 

Desto  mächtiger  aber  wirkt  auf  die  eigenthümliche  Charakter- 
bildung der  freie  und  alltägliche  Umgang  in  engeren  und  weiteren 
Verbindungen:  in  der  Ehe,  der  Freundschaft,  kleineren  und 
grösseren  gesellschaftlichen  Cirkeln.  Die  Kunst  dieses  Umgangs, 
wenn  sie  nicht,  wie  bisher  immer  geschehn  ist,  zu  einem  blossen 
Talent  zu  gefallen  und  zu  gewinnen  herabgewürdigt  werden  soll, 
beruht  ganz  und  gar  auf  Charakterkenntniss  und  Charakterbildung. 

Sie  strebt  zuerst  jeden  Umgang  so  wichtig  für  die  Cultur  und 
den  Charakter  zu  machen,  ihm  soviel  Seele  zu  geben,  als  nur 
immer  möglich  ist,  dann  aber  noch  in  jedem  die  verschiedenen 
Individualitäten  so  einzeln  zu  stellen  und  in  Massen  zu  gruppiren, 
dass  sie  dem  Betrachter  das  Bild  einer  lehrreichen  Mannigfaltigkeit 
geben,  einander  selbst  aber  durch  ihre  zweckmässige  Berührung 
zugleich  empfänglicher  und  eigenthümlicher  machen.  Beides  will 
sie    jedoch    nicht    anders,    als    unter    der   Bedingung   einer   voll- 


vergleichenden  Anthropologie.   2.  ojjo 

kommenen  Freiheit  ausführen,  mit  gänzlicher  Vermeidung  alles 
Scheins  von  Absicht.  Alles  soll  von  selbst  entstehn,  alles  Spiel 
und  Erholung,  nichts  Ernst  oder  Geschäft  seyn.  Diess  macht  sie 
zur  eigentlich  schönen  Kunst. 

Die  Grundlinien  dieser  Kunst  zu  entwerfen,  wäre  zugleich 
nützlich  und  unterhaltend,  aber  es  könnte  nur  die  Arbeit  eines 
Mannes  seyn,  der  einen  grossen  und  vielseitigen  eignen  Charakter 
mit  einer  ausgebreiteten  Kenntniss  fremder  Individualitäten  ver- 
bände, und  ebensoviel  Gedanken-  und  Empfindungsgehalt  besässe, 
ein  enges  ^"e^hältniss  interessant  zu  machen,  als  Leichtigkeit  und 
Beweglichkeit,  in  den  Cirkeln  der  grossen  Welt  eine  Rolle  zu 
spielen. 

Gerade  also  zu  dem,  was  als  ein  alltägliches  Bedürfniss  immer 
wiederkehrt,  bedürfen  wir  am  meisten  einer  individualisirenden 
Menschenkenntniss,  und  mit  ihrer  Hülfe  können  wir  gerade  die 
Stunden,  die  wir  gewöhnhch  leer  und  verloren  achten,  zu  den 
inhaltvollsten  unsres  Lebens  machen. 

Der  Erziehung  ist  im  Vorigen  nicht  erwähnt  worden.  Es 
liegt  zu  sehr  am  Tage,  wie  unentbehrliche  "\"orarbeiten  ihr  Unter- 
suchungen, wie  die  gegenwärtige  seyn  müssen.  Andre  Beziehungen 
sind  der  Kürze  wegen  übergangen.  So  muss  z.  B.  der  Arzt  noth- 
w^endig  auf  den  moralischen  und  gerade,  da  nur  diesen  ihm  zu 
kennen  wichtig  seyn  kann,  auf  den  individuellen  Charakter  achten. 

Die  vergleichende  Anthropologie  ist  daher  zu  einem  doppelten 
Zweck  und  zu  einem  doppelten  Geschäfte  nützlich.  Sie  erleichtert 
die  Kenntniss  der  Charaktere,  und  giebt  zugleich  eine  philoso- 
phische Anleitung,  ihren  Werth  zu  beurtheilen,  ihre  ferneren  Ent- 
wicklungen zu  berechnen,  und  die  Möglichkeit  zu  überschlagen, 
wie  sie  mit  andern  als  ein  Ganzes  zusammenzuwirken  fähig  sind. 
Sie  dient  dem  Geschäftsmann,  der  den  Menschen  benutzen  und 
beherrschen  will,  und  zugleich  dem  Erzieher  und  Philosophen,  der 
ihn  zu  bessern  und  zu  bilden  bemüht  ist. 

Aber  sie  ist  ausserdem  die  unterhaltendste  Beschäftigung  des 
menschlichen  Geistes.  Denn  er  findet  in  ihr  i.  den  erhabensten 
Gegenstand,  den  die  Natur  darbietet,  am  genauesten  und  voll- 
ständigsten geschildert;  2.  eine  Mannigfaltigkeit,  die  nicht  bloss 
durch  das  bunte  Farbenspiel  des  Gemähides  die  Einbildungskraft 
und  die  Sinne  vergnügt,  sondern  durch  die  Feinheit  der  Züge  zu- 
gleich den  Geist  und  die  Empfindung  bereichert,  und  die  3.  immer 
zugleich   so   behandelt   ist,   dass   nicht   bloss   jede   einzelne  Eigen- 


384 


12.    Plan  einer 


thümlichkeit  als  ein  Ganzes  betrachtet,  sondern  auch  alle  zu  einem 
Ganzen  zusammengestellt  werden. 


3.  Unmittelbarer  Einfluss   einer  individuellen 
Menschenkenntniss  auf  die  Charaktereigenthümlichkeit. 

Nicht  genug,  dass  eine  vergleichende  Anthropologie  die  Ver- 
schiedenheit menschlicher  Charaktere  kennen  lehrt;  sie  trägt  auch 
selbst  dazu  bei,  eine  grössere  hervorzubringen,  und  die  schon 
wirklich  vorhandene  zweckmässiger  zu  leiten. 

Ob  das  Erstere  aber  nun  ein  Vortheil  zu  nennen  sey,  oder 
ob  nicht  vielmehr  eine  noch  grössere  Mannigfaltigkeit  der  Charakter- 
formen der  allgemeinen  Richtigkeit  und  der  Objectivität  der  Kultur, 
des  Geschmacks  und  der  Sitten  Hindernisse  in  den  Weg  lege? 
diess  dürfte  in  den  Augen  der  Meisten  noch  so  ausgemacht  nicht 
seyn.  Alle  Werke,  welche  der  Mensch  herv^orbringt ,  gewinnen 
durch  eine  allgemeine  und  von  Subjectivität  Einzelner  unabhängige 
Behandlung  einen  besseren  Fortgang,  und  selbst  die  Arbeiten  des 
Geistes  können  hievon  nur  in  gewisser  Rücksicht  ausgenommen 
werden.  Ebenso  wird  den  Verfassungen  und  den  praktischen 
Verhältnissen  unter  den  Menschen  Dauer  und  Sicherheit  mehr 
durch  Gleichförmigkeit  der  Sitten,  als  durch  die  unregelmässigeren 
Einwirkungen  ungewöhnlicher  Individuen  verbürgt. 

Dagegen  hängt  Kraft,  Erfindungsgeist,  Enthusiasmus  von 
Originalität  ab,  und  ohne  ausserordentliche  und  eigen  gewählte 
Bahnen  des  Geistes  würde  nie  etwas  Grosses  entstanden  seyn. 

Ueberhaupt  ist  Verschiedenheit  der  Charakterformen,  wenn 
sie  auch  sogar  schädlich  seyn  sollte,  dennoch  einmal  schlechter- 
dings unvermeidlich,  und  die  Frage  ist  bloss  die,  ob  man  dieselbe 
blindlings  dem  Zufall  überlassen,  oder  durch  vernünftige  Leitung 
zur  Eigenthümlichkeit  umschatfen  soll?  Auf  diese  aber  kann  die 
Antwort  unmöglich  anders,  als  Eine  seyn. 

Die  vergleichende  Anthropologie  sucht  den  Charakter  ganzer 
Classen  von  Menschen  auf,  vorzüglich  den  der  Nationen  und  der 
Zeiten.  Diese  Charaktere  sind  oft  zufällig;  sollen  denn  auch  diese 
erhalten  werden?  soll  der  Philosoph,  der  Geschichtschreiber,  der 
Dichter,  der  Mensch  seinen  Namen,  seine  Nation,  sein  Zeitalter, 
sein  Individuum  endlich  sichtbar  an  sich  tragen?  —  Allerdings, 
nur  recht  verstanden.    Der  Mensch  soll  alle  A^erhältnisse,  in  denen 


vergleichenden  Anthropologie.    2.  3.  ogü, 

er  sich  befindet,  auf  sich  einwirken  lassen,  den  Eintluss  keines 
einzigen  zurückweisen,  aber  den  Einfluss  aller  aus  sich  heraus  und 
nach  objectiven  Principien  bearbeiten.  So  soll  er  seyn;  wieviel 
er  hernach  hievon  in  den  verschiedenen  Gattungen  seiner  Thätig- 
keit  zeige?  hängt  von  den  Erfordernissen  dieser  Gattung  und 
der  Natur  seiner  Individualität  ab.  Je  mehr  subjeaive  Originalität 
er  aber,  dem  objectiven  Werthe  des  Werks  unbeschadet,  zeigen 
kann,  desto  besser. 

Der  Mensch  kann  wohl  vielleicht  in  einzelnen  Fällen  und 
Perioden  seines  Lebens,  nie  aber  im  Ganzen  Stoff  genug  sammeln. 
Je  mehr  Stoff  er  in  Form,  je  mehr  Mannigfaltigkeit  in  Einheit 
verwandelt,  desto  reicher,  lebendiger,  kraftvoller,  fruchtbarer  ist  er. 
Eine  solche  Mannigfaltigkeit  aber  giebt  ihm  der  Einfluss  vielfältiger 
V'erhältnisse.  Je  mehr  er  sich  demselben  öfnet,  desto  mehr  neue 
Seiten  werden  in  ihm  angespielt,  desto  reger  muss  seine  innere 
Thätigkeit  seyn,  dieselben  einzeln  auszubilden,  und  zusammen  zu 
einem  Ganzen  zu  verbinden.  Das  Zweckwidrige  und  Verderbliche 
ist  bloss  das  unthätige  Hingeben  an  einen  einzelnen.  Daraus  ent- 
stehen die  plumpen  National-  und  Familiencharaktere,  die  uns  in 
der  Wirklichkeit  unaufhörlich  begegnen ;  daran  aber  ist  die  innere 
Schlaffheit  und  Trägheit,  nicht  die  äussere  Mannigfaltigkeit  Schuld. 
Nach  der  Anleitung  einer  richtigen  Bildungstheorie  wird  kein  Mit- 
glied einer  Nation  dem  andern  so  autfallend  ähnlich  sehen;  der 
Nationalcharakter  wird  sich  in  allen  Einzelnen  spiegeln,  aber  gerade 
weil  er  in  jedem  durch  den  Einfluss  aller  übrigen  ^^erhältnisse, 
und  vorzüglich  durch  die  prüfende  und  richtende  Vernunft  ge- 
mildert wird,  so  wird  er  im  Ganzen  nicht  so  plump  und  hand- 
greiflich, dagegen  reiner,  eigenthümlicher,  feiner  und  vielseitiger 
erscheinen. 

Der  Mensch  ist  allein  genommen  schwach,  und  vermag  durch 
seine  eigne  kurzdauernde  Kraft  nur  wenig.  Er  bedarf  einer  Höhe, 
auf  die  er  sich  stellen ;  einer  Masse,  die  für  ihn  gelten ;  einer  Reihe, 
an  die  er  sich  anschliessen  kann.  Diesen  Vortheil  erlangt  er  aber 
unfehlbar,  je  mehr  er  den  Geist  seiner  Nation,  seines  Geschlechts, 
seines  Zeitalters  auf  sich  fortpflanzt.  Was  war  ein  Römer  schon 
allein  dadurch,  dass  Rom  ihn  gebohren  hatte  ?  Was  ein  Scipio  da- 
durch, dass  er  aus  dem  Geschlecht  der  Kornelier  stammte?  Was 
sind  die  neueren  Dichter  schon  einzig  dadurch,  dass  sie  den  ganzen 
Reichthum  Griechischer  Dichtkunst  als  ihr  Eigenthum  behandeln, 
und  sich  auf  einmal  zu  einer  solchen  Höhe  emporschwingen? 

W.  V.  Humboldt,    Werke.     I.  2$ 


386 


12.    Plan  einer 


Aber  von  der  subjectiven  Kenntniss  der  Natur  zu  ihrer  ob- 
jectiven  Beschaffenheit  scheint  ein  mächtiger  Sprung  zu  seyn.  Wie 
kann  die  Erweiterung  und  Verfeinerung  der  ersteren  unmittelbar 
die  Veredlung  der  letzteren  befördern?  —  Uniäugbar  dadurch,  dass 
beides:  das  Beobachtende  und  das  Beobachtete  hier  der  Mensch 
ist,  dass  dieser  sich  überall,  selbst  ohne  es  immer  zu  bemerken, 
seiner  inneren  Geistesform  anpasst,  und  dass  die  Masse  herrschen- 
der Begriffe  sich  immer  endlich  auf  eine  uns  selbst  oft  unbegreif- 
liche Weise,  nicht  bloss  den  Menschen,  sondern  sogar  die  todte 
Natur  unterwirft. 

Dass  eine  erweiterte  Kenntniss  der  Charaktereigenthümlichkeit 
Charaktere  richtiger  beurtheilen,  und  zweckmässigere  Methoden 
ihrer  Behandlung  auffinden  lehrt,  versteht  sich  hiebei  von  selbst. 
Aber  auch  bloss  dadurch,  dass  man  feinere  Nuancen  in  dem  Cha- 
rakter entdeckt,  modificirt  sich  derselbe  in  der  That  auf  eine 
mannigfaltigere  Weise;  dadurch  dass  man  einzelne  Gattungen 
studirt  und  ihre  Formen  so  individuell,  als  sie  sind,  und  so 
idealisch,  als  sie  werden  können,  aufstellt,  entwickeln  sie  sich 
wirklich  reiner  und  bestimmter. 

Der  Charakter  entsteht  nicht  anders,  als  durch  das  beständige 
Einwirken  der  Thätigkeit  der  Gedanken  und  Empfindungen.  Da- 
durch dass  diese  gewisse  Anlagen  unaufhörlich,  und  andere  nie- 
mals oder  selten  beschäftigen,  werden  die  einen  entwickelt  und 
die  andern  unterdrückt,  und  so  geht  nach  und  nach  die  bestimmte 
Charakterform  hervor.  Durch  diese  durchgängige  Correspondenz 
unsrer  Art  zu  seyn  und  unsrer  Art  zu  urtheilen,  unsrer  praktischen 
und  unsrer  theoretischen  Beschaffenheit  wird  es  uns  möglich,  bloss 
durch  die  Idee  und  von  unserm  Geiste  aus  thätig  und  praktisch 
auf  uns  einzuwirken.  Man  kann  nichts  durch  den  Verstand  be- 
greifen, was  nicht  auf  irgend  eine  Weise  in  dem  Gebiet  der 
Sinne  und  der  Empfindung  angespielt  ist;  aber  man  kann  auch 
nichts  in  sein  Wesen  aufnehmen,  was  nicht  durch  Begriffe  einiger- 
maassen  vorbereitet  ist.  Man  kann  nicht  einsehen,  wofür  man 
keinen  Sinn  hat,  wozu  der  Stoff  mangelt;  aber  man  kann  auch 
nichts  seyn,  wovon  man  gar  keinen  Begriff  hat,  wozu  die  Form 
fehlt. 

Die  Achtsamkeit  auf  das  Charakteristische  leistet  aber  noch 
mehr.  Einestheils  nimmt  sie  jeden  Gegenstand  zuerst  und  vor- 
züglich in  seiner  Beziehung  auf  das  innere  Wesen;  anderntheils 
weckt  sie  den  Charakter  und  erregt  seine  Thätigkeit.    Sobald  aber 


vergleichenden  Anthropologie.  3.  ^87 

einmal  der  Charakter  erw^acht  ist,  so  eignet  er  sich  von  allen 
Dingen,  die  auf  ihn  einwirken,  immer  von  selbst  nur  das  an,  was 
ihm  homogen  ist;  von  allen  Seiten  her  wird  also  Stoff  und  Nahrung 
auf  einen  einzigen  Punkt  hin  zusammengetragen.  Man  sieht  diess 
sehr  deutlich  an  Charakteren,  die  von  Natur  heftig,  leidenschaft- 
lich und  einseitig  sind.  Von  diesen  pflegt  man  mit  Recht  zu 
sagen,  dass  sie  überall  nur  sich  sehen,  in  alles  nur  sich  hinüber 
tragen ;  darum  wächst  auch  ihre  Einseitigkeit  mit  so  verdoppelten 
Fortschritten.  Der  Fehler  liegt  aber  bei  ihnen  nicht  daran,  dass 
ihre  Individualität  zu  rege  wäre,  sondern  nur  daran,  dass  sie  es 
durch  Leidenschaft  und  Naturanlage  wird.  Würde  sie  aber  durch 
eine  Stimmung  des  Geistes  rege  gemacht,  durch  das  Streben,  über- 
all eine  schöne  Individualität  zu  zeigen,  so  würde  der  Erfolg  ganz 
und  gar  ein  andrer  seyn.  Ein  solcher  Mensch  würde  gleichfalls 
alles  charakteristisch  auf  sich  einw^irken  lassen,  und  charakteristisch 
behandeln.  Aber  er  würde  dasjenige,  was  ihm  heterogen  wäre, 
nicht  übersehen  noch  weg\\'erfen,  sondern  nur  auf  seine  Weise 
und  zu  seinen  Zwecken  benutzen;  er  würde  jeden  Gegenstand 
durchaus  objectiv  und  wie  der  Unbefangenste  aufnehmen,  der 
ganze,  aber  freilich  wichtige  Unterschied  würde  nur  in  dem  Grade 
und  der  Art  der  Aneignung  liegen.  Der  Contrast  einiger  aus- 
wärtigen Nationen  mit  der  Deutschen  zeigt  diess  sehr  deutlich. 
Franzosen  und  Engländer  gehen  in  auffallend  bestimmten  Cha- 
rakterformen fort;  aber  sie  behandeln  auch  sehr  häufig  die  Welt 
um  sich  her  nur  auf  ihre  einseitige  Weise,  und  verfehlen  Wahr- 
heit und  Objectivität. 

Vorzüglich  aber  bildet  sich  der  Charakter  gesellschaftlich  zur 
Reinheit  und  Bestimmtheit  aus,  wenn  er  mit  reinen  und  be- 
stimmten Charakteren  in  A^erbindung  kommt.  Es  ist  nicht  die 
Aehnlichkeit  allein,  zu  welcher  sich  einer  dem  andern  anartet,  es 
ist  auch  der  Kontrast,  in  welchem  sie  sich  einander  entgegensetzen. 
Denn  der  moralischen,  wie  der  physischen  Organisation  ist  ein 
assimilirender  Bildungstrieb  eigen,  der  aber,  sobald  nur  der  eigne 
Charakter  erst  einige  Bestimmtheit  erlangt  hat,  nicht  geradezu  aut 
Aehnlichkeit,  sondern  auf  eine  verhältnissmässige  Stellung  der 
beiderseitigen  Individualitäten  gegen  einander  herausgeht.  So  wird 
der  männliche  Charakter  reiner  und  männlicher,  wenn  ihm  der 
weibliche  gegenübergestellt  ist,  und  umgekehrt.  Ucbrigcns  aber 
bemerkt  man  diese  Eigenthümlichkeit  freilich  mehr  bei  einzelnen 
Individuen,  als  ganzen  Gattungen,    ^'orzüglich  wird  sie  noch   bei 

25* 


388 


12.    Plan  einer 


Charakteren  von  Nationen  vermisst,  die  im  Verkehr  unter  einander 
noch  immer  mehr  ihre  Originalität  entweder  übertreiben  oder 
aufgeben,  als  zweckmässig  bestimmen  und  bilden.  Selbst  die 
äussre  Gesichtsbildung  erfährt  einigermaassen  diesen  Einfluss,  wie 
2.  B.  die  gewiss  nicht  chimärische  Aehnlichkeit  von  verheiratheten 
Personen  unter  einander  beweist. 

Wenn  aber  einmal  Ein  Schritt  geschehen  ist,  so  folgen  die 
übrigen  mit  unglaublicher  Leichtigkeit  nach.  Denn  nichts  wirkt 
so  lebendig  rund  um  sich  her,  als  die  menschliche  Individualität. 
Vorzüglich  wirkt  in  dieser  Hinsicht  die  Abstammung,  welche  das- 
jenige, was  bisher  erworben  ist,  dem  neuen  Individuum  als  fertige 
Anlage  überliefert,  und  so  jedesmal  das  in  ein  sichres  Eigenthum 
verwandelt,  was  solange  nur  ein  minder  sichrer  Besitz  schien. 

Das  Studium  der  Charaktere  in  ihrer  Individualität  vermehrt 
also  diese  letztere  selbst.  Dass  aber  von  dieser,  von  der  Mannig- 
faltigkeit der  Charakterformen  die  Veredlung  der  Gattungen  ab- 
hängt, davon  ist  auch  ausser  der  menschlichen  Natur  ein  merk- 
würdiges Beispiel  vorhanden  —  das  bekannte  Phänomen  nemlich, 
dass  die  Hausthiere  mehr  Rassen,  mehr  Varietäten,  und  endlich 
auch  mehr  individuelle  Merkmale  zeigen,  als  alle  übrige  Thier- 
gattungen. 


4.  Zweck  und  Verfahren  der  vergleichenden  Anthro- 
pologie  im  Allgemeinen.   —  Gefahr   eines   möglichen 

Misbrauchs. 

Das  Bestreben  der  vergleichenden  Anthropologie  geht  dahin, 
die  mögliche  Verschiedenheit  der  menschlichen  Natur  in  ihrer 
Idealität  auszumessen ;  oder,  was  dasselbe  ist,  zu  untersuchen,  wie 
das  menschliche  Ideal,  dem  niemals  Ein  Individuum  adäc|uat  ist, 
durch  viele  dargestellt  werden  kann. 

Was  sie  sucht,  ist  also  kein  Gegenstand  der  Natur,  sondern 
etwas  Unbedingtes,  —  Ideale,  die  aber  auf  Individuen,  auf  empi- 
rische Objecte  so  bezogen  werden,  dass  man  sie  als  das  Ziel  an- 
sieht, dem  diese  sich  nähern  sollen. 

Könnte  sie  diesen  Zweck  erreichen,  ohne  zu  der  Beobachtung 
der  wirklichen  Natur  herabzusteigen,  so  würde  sie  eine  rein  philo- 
sophische und  speculative  Wissenschaft  bleiben.  Und  in  gewissem 
Verstände   kann   sie  diess  in  der  That.     Sie   kann   bloss   bei  dem 


vergleichenden  Antliropologie.    3.    4.  ^8q 

allgemeinen  Ideale  des  Menschen  stehen  bleiben;  sie  kann  dasselbe 
nach  seinen  einzelnen  Seiten  zerlegen,  und  aus  diesen  einzelnen 
Virtuositäten  einzelne  idealische  Gestalten  bilden,  in  welchen  sich 
um  dieselben,  als  um  die  herrschenden  Züge,  die  übrigen  Eigen- 
schaften, deren  der  vollkommen  ausgebildete  Mensch  nicht  ent- 
behren kann,  in  gehöriger  Unterordnung  herum  versammeln.  In 
dem  Ideale  des  Menschen  findet  sich  z.  B.  Sinn  für  Schönheit  und 
Streben  nach  Wahrheit,  beide  für  sich  in  hoher  Stärke,  und  gegen- 
einander in  voUkommnem  Gleichgewicht.  Man  zerlege  diese  beiden 
Tendenzen,  mache  jede  zum  Grundzug  einer  besondern  Indivi- 
dualität, ergänze  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  übrige  Gestalt, 
und  man  erhält,  ohne  irgend  eine  specielle  Erfahrung  zu  bedürfen, 
die  reinen  Charaktere  des  Künstlers  und  des  Philosophen. 

Aber  um  jene  oben  aufgestellte  Foderung  ganz  zu  erfüllen, 
muss  die  vergleichende  Anthropologie  sich  nothwendig  an  eine 
strenge  Beobachtung  der  Wirklichkeit  gewöhnen,  und  sogar  durch- 
aus überall  von  dieser  zuerst  ausgehn.    Denn 

1.  würde  jenes  mehr  speculative  Verfahren  eine  überaus  nach- 
theilige Dürftigkeit,  sowohl  in  der  Mannigfaltigkeit  aller  Formen, 
als  in  der  Bestimmtheit  jeder  einzelnen  mit  sich  führen.  Auch 
mit  der  glücklichsten  Anstrengung  würde  es  nicht  möglich  seyn, 
von  da  aus  in  eine  nur  irgend  grosse  Individualität  herabzusteigen. 

2.  bedarf  die  Aufstellung  des  Ideales  selbst  einer  gewissen- 
haften Beobachtung  der  Wirklichkeit.  Denn  diess  Ideal  ist  nichts 
anders,  als  die  nach  allen  Richtungen  hin  erweiterte,  von  allen 
beschränkenden  Hindernissen  befreite  Xatur. 

3.  leidet  sie  nur  dann,  w^enn  sie  sich  unmittelbar  an  die 
empirische  Beobachtung  hält,  praktische  Anwendung  auf  das 
wirkliche  Leben,  da  sie  sonst  vergebens  hohe  Ideale  aufstellen 
würde,  wenn  es  ihr  an  Mitteln  fehlte,  dieselben  an  die  Wirklich- 
keit anzuknüpfen. 

Der  Mensch  entwickelt  sich  nur  nach  Maassgabe  der  ph3'sischen 
Dinge,  die  ihn  umgeben.  Umstände  und  Ereignisse,  die  auf  den 
ersten  Anblick  seinem  Innern  völlig  heterogen  sind,  Klima,  Boden, 
Lebensunterhalt,  äussere  Einrichtungen  u.  s.  f.  bringen  in  ihm  neue, 
und  oft  die  feinsten  und  höchsten  moralischen  Erscheinungen 
hervor.  Durch  ein  physisches  Mittel,  durch  Zeugung  und  Ab- 
stammung, wird  die  einmal  erworbene  moralische  Xatur  über- 
tragen und  fortgepflanzt,  und  dadurch  nehmen  die  intellectuellen 
und  moralischen  Fortschritte,   die   sonst  vielleicht  vorübergehend 


390 


12.    Plan  einer 


und  wechselnd  seyn  würden,  gewissermaassen  an  der  Stätigkeit 
und  der  Dauer  der  Natur  Theil.  Die  physische  Beschaffenheit 
des  Menschen  spielt  daher  bei  der  Bildung  seines  Charakters  eine 
in  jeder  Rücksicht  bedeutende  Rolle. 

Noch  deutlicher,  als  bei  einzelnen  Individuen,  ist  diess  bei  der 
Betrachtung  des  ganzen  Menschengeschlechts.  Grosse  Massen, 
Stämme  und  Nationen,  behalten  Jahrhunderte  hindurch  einen  ge- 
meinsamen Charakter,  und  selbst,  wo  derselbe  grosse  Verände- 
rungen erleidet,  sind  noch  die  Spuren  seines  Ursprungs  sichtbar. 
Gleiche  Ursachen  bringen  durch  alle  Zeiten  hindurch  gleiche 
Wirkungen  hervor,  und  durchaus  wird  man  daher  im  Ganzen 
ziemlich  dieselben  Resultate  ähnlicher  Kräfte  finden,  denselben 
Einfluss  der  äusseren  Lagen,  dasselbe  Spiel  der  Leidenschaften, 
dieselbe  Macht  des  Guten  und  Wahren,  mit  dem  es  aus  dem  ver- 
worrensten Gewebe  von  Begebenheiten  und  in  den  mannigfaltigsten 
Gestalten  hervorgeht.  Ueberall  verrathen  die  Handlungen  der 
Einzelnen  eine  eigenmächtige  Willkühr  der  Neigung,  indess  die 
Schicksale  der  Masse  das  unverkennbare  Gepräge  der  Natur  an 
sich  tragen.  Wieviel  bestimmter  und  klarer  noch  würden  wir 
diess  einsehen,  wenn  wir  uns  nicht  immer  nur  auf  einen  so  kurzen 
Zeitraum  berufen  müssten,  und  auch  bei  diesem  nicht  so  oft  durch 
die  UnVollständigkeit  unsrer  Kenntniss  aufgehalten  würden. 

Dadurch  nun  wird  die  vergleichende  Anthropologie  genöthigt, 
nicht  bloss  von  der  Erfahrung  auszugehen,  sondern  sich  so  tief 
als  möglich  in  dieselbe  zu  versenken.  Sie  muss  die  bleibenden 
Charaktere  der  Geschlechter,  Alter,  Temperamente,  Nationen  u.  s.  w. 
eben  so  sorgfältig  aufsuchen,  als  der  Naturforscher  bemüht  ist,  die 
Racen  und  Varietäten  der  Thierwelt  zu  bestimmen.  Ob  es  ihr 
gleich  eigentlich  und  an  sich  durchaus  nur  darauf  ankommt,  zu 
wissen,  wie  verschieden  der  idealische  Mensch  seyn  kann,  muss 
sie  den  Anschein  annehmen,  als  wäre  es  ihr  darum  zu  thun,  zu 
bestimmen,  wie  verschieden  der  individuelle  Mensch  in  der  That  ist? 

Ihre  Eigenthümlichkeit  besteht  daher  darin,  dass  sie  einen 
empirischen  Stoff  auf  eine  speculative  Weise,  einen  historischen 
Gegenstand  philosophisch,  die  wirkliche  Beschaffenheit  des  Menschen 
mit  Hinsicht  auf  seine  mögliche  Entwicklung  behandelt. 

Bei  der  Verbindung  einer  naturhistorischen  und  einer  philo- 
sophischen Beurtheilung  leidet  zwar  gewöhnlich  die  erstere;  hier 
indess  drohet  eine  nicht  minder  grosse  Gefahr  auch  der  letzteren. 
Da  die  vergleichende  Anthropologie  die  Charaktere  von  Menschen- 


vergleichenden  Anthropologie.    4.    5.  oqi 

gattungen  aufsucht,  so  wird  sie  leicht  verleitet,  dieselben  theils 
bestimmter,  theils  dauernder  anzunehmen,  als  die  Wirklichkeit  sie 
zeigt,  und  die  Würde  des  Menschen  sie  verstattet.  Eine  solche 
Tendenz  aber  muss  der  Ausbildung  der  menschlichen  Natur  im 
höchsten  Grade  verderblich  seyn,  deren  Adel  ganz  vorzüglich  auf 
der  Möglichkeit  einer  freien  IndividuaUtät  beruht.  Es  ist  hier  die 
gefährliche  Ivlippe,  die  man  bei  jedem  Unheil  über  den  Menschen 
vermeiden  muss,  ihn  immer  zugleich  und  doch  nie  zu  sehr  als 
Naturwesen  zu  behandeln. 

Hier  indess  ist  diese  Klippe  bei  weitem  weniger  gefährlich. 
Denn  unsre  Absicht  hier  ist  bloss  die,  überhaupt  individuelle  Ver- 
schiedenheiten aufzusuchen,  und  zwar  solche,  die  auch  noch  mit 
idealischen  Federungen  verträglich  sind;  nicht  aber  die,  das 
Menschengeschlecht  naturhistorisch  zu  classificiren.  Diess  Letztere 
brauchen  wir  nur  als  Mittel  zur  Erreichung  jenes  Zwecks,  theils 
um  den  Individuen  selbst  näher  zu  treten,  das  Dauernde  und 
Wesentliche  sicherer  zu  erkennen,  und  uns  durch  vorübergehende 
Zufälligkeiten  weniger  irre  führen  zu  lassen,  theils  um  den  Gang 
der  Natur  selbst  besser  zu  beobachten,  auf  welchem  diese  vermöge 
der  Aehnlichkeit  der  Gattungen  die  Originalität  der  Individuen 
befördert,  indem  sie  sie  benutzt,  dieselben  zu  bestimmen,  ohne 
doch  ihre  Freiheit  zu  binden. 

Möchten  also  auch  Geschlechts-  Temperaments-  und  National- 
charaktere noch  weniger  bestimmt  seyn,  als  sie  es  in  der  That 
sind,  so  ist  diess  kein  Einwurf  gegen  das  Gelingen  einer  ver- 
gleichenden Anthropologie.  Denn  dieser  ist  es  genug,  nur  auf 
wesentliche  Verschiedenheiten  geführt  worden  zu  se3^n,  und  das- 
jenige, was  sich  nun  immer  im  Object  wirklich  findet,  für  den 
praktischen  Gebrauch  gehörig  geprüft  und  gewürdigt  zu  haben. 


5.  Methode.    Ausdehnung  und  Grenzen.    Eintheilung. 

Die  vergleichende  Anthropologie  ist  nach  dem  Vorigen  ein 
Zweig  der  philosophisch-praktischen  Menschenkenntniss.  Wie 
diese  wird  sie  daher  die  Empirie,  so  wie  die  blosse  Speculation 
vermeiden,  und  sich  allein  und  durchaus  auf  Erfahrung  stützen. 
Auch  wird  sie  die  Hauptregeln  anerkennen,  und  befolgen,  welche 
diese  aufstellt.     Sie  wird  demnach : 

I.  die  Data  zu  ihren  Charaktergemuhlden  aus  den  Aeusserungen 


392 


12.    Plan  einer 


des  ganzen  Menschen,  zugleich  aus  seiner  physischen,  intellectuellen 
und  moralischen  Natur  hernehmen,  um  sich  des  vollständigsten 
Stoffs  zu  versichern. 

2.  unter  diesen  vorzüglich  auf  diejenigen  Züge  achten,  welche 
recht  eigentlich  den  Charakter,  und  zwar  denselben  da,  wo  er 
individuell  verschieden  zu  seyn  pflegt,  bezeichnen  —  auf  das  Ver- 
hältniss  und  die  Bewegung  der  Kräfte. 

3.  immer  nur  auf  die  innere  Beschaffenheit  und  Vollkommen- 
heit, nie  bloss  oder  auch  nur  hauptsächlich  auf  die  Tauglichkeit 
zu  äusseren  Zwecken  sehen, 

4.  den  Charakter  soviel  als  möglich  genetisch  schildern. 

5.  von  den  Thatsachen  und  Aeusserungen  aus  zu  den  allge- 
meinen Eigenschaften,  und  von  da  zum  eigentlichen  Innern  Wesen 
übergehen. 

6.  die  zufälligen  Eigenschaften  von  den  wesentlichen  genau 
absondern,  und  nach  den  verschiednen  Graden  ihrer  Zufälligkeit 
ordnen. 

7.  den  bisher  mehr  nach  einzelnen  Seiten  betrachteten  Charakter 
in  die  höchste  Einheit  zusammenziehn,  aus  dem  vollständig  ge- 
zeichneten Bilde  den  Begriff  herausnehmen,  —  was  dadurch  am 
besten  geschieht,  dass  man  die  Art,  wie  er  zu  den  höchsten  und 
ganz  allgemeinen  Zwecken  des  Menschen  gelangt,  auf  einmal  aus- 
zusprechen versucht. 

Ihre  besondre  Tendenz,  nicht  bloss,  w^ie  die  Menschenkennt- 
niss  überhaupt,  den  Menschen  im  Allgemeinen,  oder  einzelne 
gerade  interessante  Individuen  zu  studiren,  sondern  den  Umfang 
der,  ohne  Verletzung  der  Idealität,  möglichen  Verschiedenheit  im 
Menschengeschlecht  zu  erforschen,  durch  welche  sie  zugleich  auf 
die  Untersuchung  von  Gattungscharakteren  geführt  wird,  fügt  den 
vorigen  Regeln  noch  folgende  hinzu: 

1 .  da  es  ihr  vorzüglich  darum  zu  thun  ist,  zu  erforschen,  wie 
die  idealische  Vollkommenheit,  die  Einem  Individuum  unerreichbar 
ist,  sich  in  mehreren  gesellschaftlich  ausdrückt,  so  wird  sie  haupt- 
sächlich durch  diese  Absicht  bei  der  Wahl  der  Charaktere  zu 
ihrem  Studium  geleitet  werden.  Sie  wird  soviel  als  möglich  solche 
aufsuchen,  die  entweder  den  Begriff  der  Menschheit  erweitern, 
oder  sich  so  gegenseitig  gegen  einander  verhalten,  dass  sie  Züge, 
die  zusammen  nicht  in  gleicher  Stärke  verträglich  seyn  würden, 
einzeln  darstellen. 

2.  da  sie  sich  auf  ihrem  Wege  besonders  an  Gattungscharak- 


vergleichenden  Anthropologie.  5.  oqo 

teren  halten  muss,  so  wird  sie  dieselben  so  rein  als  möglich  von 
allem  Einfluss  der  einzelnen  Individualitäten  bestimmen,  und  ihre 
Eigenthümlichkeiten  daher  vornemlich  aus  den  gemeinschaftlich 
auf  sie  einwirkenden  Ursachen,  und  aus  ihrem  Begriffe  herleiten. 

3.  dagegen  wird  sie  sich  aber  auch  sorgfältig  hüten,  durch 
einen  zu  festen  und  engen  Begriff  der  Gattung  die  Freiheit  der 
Individuen  zu  beschränken. 

Der  Umfang  der  vergleichenden  Anthropologie  v^öirde  eigent- 
lich dem  des  ganzen  menschlichen  Geschlechts  gleich  se3^n,  wenn 
nicht  zwei  Ursachen  sie  hinderten,  ihre  Grenzen  so  weit  aus- 
zudehnen. 

Der  Mensch  bedarf  eines  gewissen,  nicht  geringen  Grades  der 
Cultur,  um  eine  individuelle  Form  zu  erlangen.  Seine  erste  Aus- 
bildung ist  durchaus  nur  in  Massen,  nur  in  rohen,  noch  durch 
wenige  Züge  bestimmten  Formen.  Dieser  Grad  der  Cultur  muss 
schon  zu  einer  beträchtlichen  Höhe  gestiegen  seyn,  wenn  der 
Charakter  so  verfeinert,  und  seine  Form  so  bestimmt  seyn  soll, 
dass  er  auch  nur  einzelne  Züge  zeigt,  welche  eine  Erweiterung 
des  Begriffs  der  Menschheit  in  ihrer  Vollendung  erwarten  lassen, 
noch  mehr  aber  dass  er  als  eine  Bahn  erscheine,  in  welcher  der 
Mensch  sich  dieser  Vollendung  auf  eine  zweckmässige  Weise  nähern 
kann.  Denn  die  ersten  Eigenthümlichkeiten  noch  roherer  Völker 
sind  meistentheils  entweder  nur  äussre,  oder  zufällige  und  unbe- 
deutende, oder  gar  fehlerhafte  Verschiedenheiten ;  auf  diese  folgen 
einzelne  mehr  oder  weniger  versprechende  Züge;  und  erst  die 
letzte  Stufe  ist  es,  wenn  die  Eigenthümlichkeit  sich  über  alle  Kräfte 
verbreitet,  und  einen  durchaus  individuellen  Charakter  zu  bilden 
anfängt. 

Selbst  in  unserm  cultivirten  Europa  finden  wir  noch  alle  diese 
Stufen  neben  einander.  Auf  jener  höchsten  stehen  unstreitig 
Franzosen,  Engländer  u.  s.  f.;  Fohlen,  Spanier  und  Portugiesen 
wohl  nur  auf  der  mittleren;  und  gewiss  auf  der  untersten  noch 
Russen  und  Türken.  Wer  möchte  es  unternehmen,  von  dieser 
letzteren  einen  individuell-idealischen  Charakter  aufzustellen,  wer 
nur  überhaupt,  nach  Abzug  der  äussern  oder  zufälligen  Ver- 
schiedenheiten, einen  individuellen  Charakter,  der  sich  noch  von 
dem  allgemeiner  menschlichen  auf  eine  irgend  für  die  Betrachtung 
dankbare  Weise  unterschiede? 

Wenn  aber  auch  gegen  die  Tauglichkeit  des  Objects  selbst 
nichts  eingewendet  werden  kann,  so  gehört  eine  tiefe  und  genaue 


394 


12.    Plan  einer 


Kenntniss  desselben  dazu,  um  eine  solche  Schilderung  zu  ent- 
werfen, als  hier  nothwendig  ist.  Nur  eine  einzige  innere  und 
wesentliche  Eigenheit  als  solche  zu  erforschen,  ist  schon  schwierig ; 
wieviel  mehr  aber  alle  in  ihrer  Verbindung  zu  einem  Ganzen  zu 
kennen.  Wieviele  Hülfsmittel  auch  z.  B.  zur  Kenntniss  der  Nationen 
vorhanden  seyn  mögen,  so  wird  doch  derjenige,  der  hier  selbst 
Hand  an  das  Werk  legt,  sich  bald  gerade  da  verlassen  fühlen,  wo 
er  am  meisten  eines  sicheren  Führers  bedürfte. 

Nur  von  sehr  wenigen  Menschengattungen  ist  es  also  möglich 
auch  nur  den  Versuch  zu  wagen,  ein  vollständiges  Bild  ihrer 
innern  und  wesentlichen  Eigenthümlichkeit  zu  geben.  Denn  zu 
dem  vollkommnen  Gelingen  ist  vielleicht,  wenn  man  die  Hinder- 
nisse, die  im  Object  und  in  unserer  Kenntniss  desselben  liegen, 
zusammennimmt,  nicht  eine  einzige  reif.  Dennoch  kann  sich  eine 
philosophische  ^)  Anthropologie  nicht  mit  etwas  Geringerem  be- 
gnügen. Sie  muss  immer  ein  Ganzes,  eine  vollendete  Gestalt  auf- 
suchen; bloss,  wie  die  physiologische,  nach  einer  Menge  von  Ver- 
schiedenheiten zu  haschen,  ist  ihr  durchaus  fremd.  Wenn  daher 
diese  letztere  vorzüglich  in  den  entferntesten  Himmelsstrichen 
verweilt,  welche  die  abweichendsten  Verschiedenheiten  aufweisen, 
so  wird  sie  sich  hauptsächlich  auf  den  kleinen  Kreis  der  höchsten 
Cultur  beschränken,  in  welchem  die  Eigenthümlichkeiten  am 
meisten  bestimmt  und  vollendet  erscheinen. 

Was  die  Anordnung  der  Theile  betrift,  so  wird  der  Schilderung 
der  einzelnen  Charaktere  eine  allgemeine  Einleitung  vorangehen 
müssen,  um  i.  die  Möglichkeit,  die  Ursachen  und  den  Werth  der 
Verschiedenheit  überhaupt,  2.  die  Natur  der  Gattungscharaktere 
im  Allgemeinen,  3.  die  Natur  einzelner  unter  denselben,  z.  B.  der 
Geschlechter,  Nationen  u.  s.  f.  insbesondre  abzuhandeln. 


6.    Quellen    und    Hülfsmittel.     Noth wendige    Geistes 

Stimmung. 

Wenn  der  individuelle  Charakter  des  Menschen  zum  Behuf 
seiner  möglichen  Idealisirung  erforscht,  und  dieser  Stoff  nicht 
fragmentarisch  bloss  an  einzelnen  Fällen,  sondern  in  allgemeinen 
Sätzen,  als  eine  Theorie,    bearbeitet  werden   soll;    so   muss   seine 


V  „eine  philosophische"  verbessert  ans  „die  vergleichende". 


vergleichenden  Anthropologie.    5.    6.  oq- 

Behandlung  alle  Arten  der  Betrachtung  der  Natur  durchgehen, 
und  zugleich  naturhistorisch,  historisch   und  philosophisch   seyn. 

Der  Mensch,  auch  als  Gattung  betrachtet,  ist  offenbar  ein 
Glied  in  der  Kette  der  physischen  Natur.  Er  artet,  wie  die  übrigen 
Thiere,  in  Rassen  aus,  diese  Rassen  pflanzen  ihre  Eigenthümlich- 
keiten  fort,  und  erzeugen  mit  einander  halbschlächtige  Blendlinge. 
Hier  und  in  andern  ähnlichen  Fällen  sind  offenbar  Naturwirkungen, 
die  nicht  zurückgewiesen  werden  können,  nur  benutzt  und  geleitet 
werden  müssen.  In  dieser  Rücksicht  gehört  der  Mensch  schlechter- 
dings der  Natur  an.  Er  kann,  wie  sie,  beobachtet  werden,  und, 
was  das  eigentlich  charakteristische  Kennzeichen  hiebei  ist,  es  ist 
möglich,  mit  ihm  zu  experimentiren. 

Der  Naturnothwendigkeit  im  ]\Ienschen  am  meisten  entgegen 
steht  seine  Willkühr.  Vermöge  dieser  beginnt  und  endigt  er 
Handlungen,  ohne  weder  durch  Naturzwang,  noch  auch  gerade 
durch  Vernunftnöthigung  getrieben  zu  werden.  Er  folgt,  wie  man 
zu  sagen  pflegt,  dem  Zufafl,  äusseren  Einwirkungen,  oder  inneren 
augenblicklichen  Antrieben.  Was  er  auf  diese  Weise  thut,  ist 
zwar  oft  physisch,  da  es  auch  nicht  einmal  mittelbar  aus  Vernunft 
entspringt,  es  ist  aber  doch  immer  das  Resultat  physischer  oder 
andrer  Veränderungen  auf  eine  freie  Natur,  und  daher  weder  nach 
Naturgesetzen  zu  berechnen,  noch  auch  eines  Experimentes  fähig. 
Von  dieser  Seite  kahn  der  Mensch  bloss  historisch  erkannt  werden. 
So  ist  er;  so  ward  er.  Das  Warum?  erlaubt  keine  befriedigende 
Antwort. 

Natur  und  Willkühr  werden  verknüpft  in  der  acht  mensch- 
lichen Freiheit  durch  Vernunft.  Denn  die  ^^ernunft  bringt  eine 
ebensogrosse  Nothwendigkeit  nach  Gesetzen  hen^or,  als  die  Natur, 
aber  sie  thut  der  Freiheit  nicht  den  mindesten  Eintrag,  da  sie  sich 
selbst  das  Gesetz  giebt.  Hier  sind  also  Gesetze,  und  zwar  solche, 
die,  ausserhalb  des  Gebiets  der  Erscheinungen,  aus  einer  selbst- 
ständigen Kraft  emaniren.  Hier  beginnt  demnach  das  Gebiet  der 
philosophischen  und  ästhetischen  Beurtheilung. 

Jede  theoretische  Bearbeitung  eines  Stoffs  setzt  eine  Be- 
urtheilung nach  Gesetzen  voraus,  und  nur  insofern  der  mensch- 
liche Charakter  einer  solchen  fähig  ist,  verstattet  er  eine  wissen- 
schaftliche Behandlung. 

Die  organische  Natur  des  Menschen  lässt  allerdings  Gesetze 
sehen,  die  regelmässig  und  unfehlbar  eintreffen.  So  ist  es  z.  B. 
ein  allgemeines  Naturgesetz,   dass  ein  Theil  der  Individualität  der 


39Ö 


12.    Plan  einer 


Eltern  auf  die  Kinder  übergeht.  Aber  die  verwickelte  Oekonomie 
des  menschlichen  Körpers,  seine  noch  unbegreiflichere  Verbindung 
mit  dem  moralischen  Charakter,  und  die  grosse  Schwierigkeit,  mit 
dem  Menschen  zu  experimentiren,  macht,  dass  jene  Gesetze  noch 
immer  so  unvollkommen,  und  schwerlich  je  durchaus  vollständig 
erkannt  werden.  So  ist  es  in  dem  vorigen  Beispiel  nicht  möglich 
zu  bestimmen,  was  gerade,  in  welchem  Grade,  und  unter  welchen 
Umständen  mehr  oder  minder  durch  die  Zeugung  forterbt.  Selbst, 
was  doch  bei  weitem  einfacher  ist,  die  physische  und  physiologische 
Eigenthümlichkeit  eines  Individuums  als  ein  Ganzes  zu  kennen, 
giebt  es  noch  nicht  einmal  eine  allgemeine  Formel  oder  Methode. 
Man  beobachtet  und  kennt  bloss  einzelne  Verschiedenheiten,  aus 
denen  sich  wenig  oder  nichts  schliessen  lässt. 

Die  grosseste  Strenge  und  Gesetzmässigkeit  verstattet  die  philo- 
sophische Beurtheilung,  allein  auch  mehr  da,  wo  sie  dem  Menschen 
für  seine  Gesinnungen  Regeln  vorschreibt,  als  da,  wo  sie  zum 
Behuf  der  Erweiterung  seines  Wissens  den  wirkHchen  Zusammen- 
hang zwischen  seinen  Kräften  aufzudecken  bemüht  ist.  Zwar  wird 
sie  einzelne  Verhältnisse  unfehlbar  richtig  bestimmen  und  auf- 
klären, aber  da  diese  nie  ganz  allein  und  vereinzelt  vorhanden, 
also  die  Fälle  nie  rein  gegeben  sind,  so  werden  die  Innern  intellec- 
tuellen  und  moralischen  Verhältnisse  nie  ganz  fehlerlos  dargestellt, 
oder  vollständig  erschöpft  werden  können. 

Am  wenigsten  Gesetzmässigkeit  zeigt  ein  bloss  historisch  be- 
handelter Stoff.  Alles  Einzelne  erscheint  in  demselben  eben  so 
regellos,  als  der  Zufall  und  die  Willkühr,  die  es  hen^orbringen. 
Dennoch  kehren  auch  hier,  sobald  man  nur  grosse  Massen  auf 
einmal  ins  Auge  fasst,  gleiche  Ereignisse  in  einer  gewissen,  ob- 
gleich weniger  strengen  und  schwerer  zu  beobachtenden  Regel- 
mässigkeit zurück. 

Der  Stoff,  den  die  vergleichende  Anthropologie  darbietet,  ist 
daher  nicht  gerade  einer  wissenschaftlichen,  ja  nicht  einmal  durch- 
aus einer  theoretischen  Behandlung  fähig.  In  wie  hohem  Grade 
er  indess  auch  empirisch  se3^n  mag,  so  zeigen  doch  die  einzelnen 
Erscheinungen  immer  eine  gewisse  Stätigkeit,  Folge  und  Gesetz- 
mässigkeit, und  diese  letztere  muss  nothwendig  sowohl  mit  der 
Erweiterung  unsrer  Kenntniss,  als  mit  der  Veredlung  der  mensch- 
lichen Natur  selbst,  noch  mit  dem  Fortschritte  der  Zeit  immer 
höher  steigen.  Der  Bearbeiter  hat  sich  daher  zwar  zunächst  so 
genau  als   möglich   an   die  Wirklichkeit  anzuschliessen,   aber   mit 


vergleichenden  Anthropologie.  6.  oq" 

der  Beobachtung  muss  er  zugleich  immer  soviel  als  möglich  eine 
streng  philosophische  Behandlung  verbinden,  theils  um  die  Masse 
der  Thatsachen  nach  Gesetzen  theoretisch  zu  ordnen,  theils  um 
die  durch  die  Beobachtung  erhaltenen  Charaktere  praktisch  nach 
Gesetzen  zu  beurtheilen. 

Wer  hierin  glücldich  seyn,  und  die  individuelle  Menschen- 
kenntniss  wahrhaft  erweitern  will,  der  muss  gewissermaassen  die 
verschiedenen  Geistesstimmungen  des  Naturbeobachters,  des  Histo- 
rikers und  des  Philosophen  in  sich  vereinigen.  Wie  der  erstere 
muss  er  überall  von  dem  Begriff  der  Organisation  ausgehen,  durch- 
gängig vollkommene  Gesetzmässigkeit  voraussetzen,  alles  aus  den 
Innern  und  eignen  Ivräften  des  Wesens  erklären,  in  diesen  jede 
zugleich  als  Zweck  und  als  Mittel  betrachten,  und  nie  zu  andern 
als  physischen  Erklärungen  seine  Zuflucht  nehmen.  Wie  dem 
zweiten  liegt  es  ihm  ob,  mit  der  antheillosesten  Gleichgültigkeit 
bloss  nach  dem,  was  geschehen  ist?  zu  fragen,  und  das  Ganze, 
zu  dem  die  einzelnen  von  ihm  beobachteten  Thatsachen  gehören, 
weder  als  ein  Naturprodukt,  noch  auch  als  ein  reines  Willens- 
produkt anzusehen,  damit  er  auch  nicht  einmal  versucht  werde, 
von  Ursachen  und  Gesetzen  auf  die  einzelnen  Erscheinungen, 
sondern  immer  von  diesen  auf  jene  überzugehen.  Denn  das  ist 
es  gerade,  was  den  Historiker,  wenn  man  ihn  nemlich  dem  Natur- 
beobachter und  Philosophen  entgegensetzt,  auszeichnet,  dass  er  es 
einzig  und  allein  mit  dem,  was  geschehen  ist,  zu  thun  hat,  und 
das  Feld,  auf  dem  er  thätig  ist,  weder  als  das  Gebiet  der  Natur, 
noch  als  das  Gebiet  eines  reinen  Willens,  sondern  als  das  Reich 
des  Schicksals  und  des  Zufalls  betrachtet,  von  dessen  Launen 
wenigstens  im  Einzelnen  niemand  Rechenschaft  zu  geben  fähig 
ist.  Wie  der  Philosoph  endlich  darf  er  nicht  vergessen,  dass  ein 
freies  und  selbstständiges  Wesen  der  Gegenstand  seiner  Betrachtung 
ist,  bei  dem  er  erste,  nothwendige,  ausserhalb  der  Erscheinungen 
liegende  Ursachen  voraussetzen,  und  das  er  streng  nach  Gesetzen, 
nach  Vernunftidealen  beurtheilen  muss. 

Was  das  Schwierigste  ist,  so  dürfen  diese  drei  so  verschiedenen 
Geistesstimmungen  nicht  einmal  immer,  wenn  auch  freilich  oft, 
einzeln  bei  einzelnen  Theilen  der  Charakterkenntniss  thätig,  sie 
müssen  sehr  häufig  sehr  nahe  mit  einander  verbunden  seyn.  Denn 
da  der  Mensch  ein  freies  Wesen  in  der  Kette  der  Natur  ist,  so 
wird  auch  dasjenige,  was  durchaus  selbstständig  aus  ihm  entspringt, 
leicht  zu   einer  Art  von  Organisation,   und  wenn   daher  der  StoÜ 


2q8  12.    Plan  einer 

des  Charakters  einmal  hinlänglich  historisch  erforscht  ist,  so  ist 
es  immer  nothwendig  zugleich  zu  versuchen,  ihn  als  Natur  und 
Organisation  zu  erklären,  und  als  die  freieste  Exertion  rein 
menschlicher  Kräfte  idealisch  zu  beurtheilen.  In  der  moralischen 
Natur  des  Menschen  muss  man  gleichsam  eine  bewegliche  Organi- 
sation annehmen,  eine  bewundernswürdige  Leichtigkeit  etwas  zur 
Natur  werden  zu  lassen,  und  es  doch,  bei  veränderter  Charakter- 
richtung, wieder  gegen  etwas  anderes  zu  vertauschen.  In  der 
That  sehen  wir,  dass  auf  der  einen  Seite  der  Mensch  sich  Eigen- 
schaften dergestalt  anzueignen  vermag,  dass  sie  sich  mit  allem  in 
ihm  verbinden,  in  seine  physische  Beschaffenheit  sogar  übergehen, 
und  von  ihm  aus  sich  auch  auf  andere  fortpflanzen;  dass  er  auf 
der  andern,  sobald  sein  Geist  eine  andere  Wendung  nimmt,  aus 
der  bisherigen  Form  heraustreten  und  sie  mit  einer  andern  ver- 
wechslen  kann.  Diese  letztere  Kraft  zeigt  sich  manchmal  in  dem 
Kampf  individueller  Züge  mit  dem  Charakter  des  Geschlechts,  oder 
der  Nation  in  einem  bewundernswürdigen  Grade.  Diese  dem 
ersten  Anblick  nach  so  wenig  begreifliche  Verbindung  der  Stätig- 
keit  und  Versatilität  findet  unstreitig  ihre  Erklärung  in  dem  Zu- 
sammenwirken der  sinnlichen  und  rein  geistigen  Kräfte  im  Menschen. 
Die  ersteren  streben  immer  alles  zu  assimiliren,  alles  in  Habitus 
und  Natur  zu  verwandeln.  Dagegen  ist  den  letzteren  jede  Stätig- 
keit  fremd,  die  nicht  auf  einer  fortwährenden  Billigung  des  gegen- 
wärtigen Augenblicks,  sondern  auf  einer  Fortdauer  voriger  Ein- 
drücke beruht.  Nun  gewinnen  zwar  im  Kampfe  die  geistigen 
Kräfte  immer  die  Oberhand,  da  aber  die  sinnUchen  doch  auch 
immer  thätig  bleiben,  so  entsteht  immerfort  eine  habituelle  Natur, 
die  nur,  wenn  sie  mit  veränderten  Geistesrichtungen  in  Wider- 
spruch geräth,  nicht  alleinherrschend  werden  kann. 

Die  gehörige  Mischung,  in  welcher  die  in  so  hohem  Grade 
ungleichartigen  Anlagen  mit  einander  zu  einer  richtigen  Menschen- 
kenntniss  verbunden  seyn  müssen,  künstlich  und  regelmässig  zu 
finden,  dürfte  schwer,  wo  nicht  unmöglich  seyn.  Auch  findet 
man  in  der  That  meistentheils  entweder  zu  empirische  oder  zu 
speculative  Menschenbeobachter.  Die  beste  Schule  für  die  Menschen- 
kenntniss  ist  daher  das  Leben,  und  derjenige  wird  am  besten  in 
derselben  gelingen,  dessen  Charakter  selbst  in  vorzüglichem  Grade 
kultivirt  ist,  der  zugleich  formenreich  und  hinlänglich  gewöhnt  ist, 
sich  nach  Gesetzen  zu  beurtheilen.  Denn  demjenigen,  der  selbst 
die  nothwendige  Freiheit  und  Gesetzmässigkeit  in  sich  verbindet, 


vergleichenden  Anthropologie.    6.    7.  "^QQ 

wird  es  auch  weder  an  der  Empfänglichkeit  fehlen,  den  gegebnen 
Stoff  aufzufassen,  noch  an  der  Kraft,  ihn  einer  strengen  Prüfung 
nach  Gesetzen  zu  unterwerfen. 


7.  Von  derCharakter Verschiedenheit  imAllgemeinen. 

Der  erste  Unterschied,  den  wir  unter  mehreren  Menschen 
bemerken,  und  der  auch  dem  flüchtigsten  Blick  nicht  entgeht,  ist 
die  Verschiedenheit  der  Gegenstände  ihrer  Beschäftigung,  der 
Producte  ihres  Fleisses,  der  Art,  ihre  Bedürfnisse  zu  befriedigen, 
und  das  Leben  zu  gemessen.  An  diese  in  die  Augen  fallenden 
Dinge  heftet  sich  zuerst  der  Begriff  der  Eigenthümlichkeit  bei 
einzelnen  Individuen,  wie  bei  ganzen  Nationen,  unter  welchen 
letzteren  man  noch  von  sehr  vielen  gerade  nur  soviel,  nur  ihre 
Kleidung,  Beschäftigungen,  Vergnügungen,  Lebensart  u.  s.  f.  kennt. 

Die  zweite  Classe  von  Kennzeichen  der  Verschiedenheit  unter 
Menschen  geht  schon  näher  ihre  Persönlichkeit  an,  wenn  sie  auch 
gleich  das  Innre  derselben  noch  nicht  geradezu  und  unmittelbar 
schildert.  Man  kann  dahin  alles  Aeussre  in  dem  Körperbau  und 
dem  Betragen  rechnen,  Gestalt,  Farbe  des  Gesichts  und  des  Haars, 
Physiognomie,  Sprache,  Gang  und  Gebehrden  überhaupt.  Diese 
Gattung  von  Kennzeichen  ist  hauptsächlich  wichtig,  da  sie  auf  der 
einen  Seite  dem  Menschen  selbst  näher  führt,  als  die  vorige,  und 
auf  der  andern  ein  wahreres  und  treueres  Bild  giebt,  als  dasjenige 
ist,  was  man  unmittelbar  von  dem  Innern  doch  immer  mehr 
schliesst,  als  geradezu  sieht.  Daher  bleibt  nicht  allein  der  gesunde 
und  natürliche  Tact,  der,  wenn  auch  manchmal  im  Einzelnen, 
doch  selten  im  Ganzen  grosse  Fehlgriffe  thut,  schlechterdings  bei 
diesen  stehen,  sondern  auch  der  philosophischste  Menschenkenner 
behält  dieselben  unverrückt  vor  Augen,  um  an  ihnen,  als  an  un- 
mittelbaren Thatsachen,  seine  tiefer  eingehenden  Urtheile  zu  prüfen 
und  zu  berichtigen. 

Von  diesen  beiden  Gattungen  der  Kennzeichen  aus  kann  man 
endlich  auf  die  Innern  Verschiedenheiten  selbst  übergehen.  Diese 
trift  man  alsdann  zwar  nicht  in  den  Kräften  selbst,  da  das  ganze 
Menschengeschlecht  durchaus  mit  denselben  ausgestattet  ist,  wohl 
aber  in  ihrem  Grade,  da  sie  bei  dem  einen  eine  Hohe  erlangen, 
zu  der  sich  der  andre  nie  emporschwingt,  in  ihrem  N'crhältniss, 
wenn   bei    dem    einen    die    Phantasie,   bei   dem  andern    der  Ver- 


^00  ^2.    Plan  einer 

Stand  u.  s.  f.  herrschend  ist,  oder  in  ihrer  Bewegung,  da  der  eine 
rastlos  und  thätig,  der  andre  trag  und  unthätig  ist,  u.  s.  f.  an; 
ferner  in  den  Empfindungen,  die  bei  dem  einen  sanfter  und  reiz- 
barer, als  bei  dem  andern  sind,  endlich  in  Neigungen  und 
Leidenschaften. 

Aber  alle  diese  Verschiedenheiten,  so  einzeln,  als  sie  hier 
dastehn,  betrachtet,  beweisen  mehr  Verschiedenheiten  in  einzelnen 
Aeusserungen ,  als  in  dem  Charakter  selbst.  Solange  man  sie 
einzeln  betrachtet,  bleibt  es  immer  ungewiss,  ob  sie  nicht  mehr 
bloss  aus  einer  Verschiedenheit  der  äussern  Lagen  und  Umstände, 
als  aus  einer  innern  Charakterform  entspringen,  aus  welcher  das 
Individuum  entweder  gar  nicht  oder  doch  nicht  ganz  heraus- 
zugehen im  Stande  ist.  Nur  in  diesem  letzteren  Falle  aber  ist 
doch  eine  eigentliche  Charakten^erschiedenheit  vorhanden,  und 
um  daher  auf  diese  zu  kommen,  bedarf  es  noch  andrer  und  tiefer 
eingreifender  Beobachtungen. 


[8.]  Hauptsächlichste  Thatsache,   auf  welche   der  Ge- 
danke einer  vergleichenden  Anthropologie  sich  vor- 
züglich  stützt. 

Diese  Thatsache  ist  der  Unterschied  der  Geschlechter,  welche 
die  Natur  zu  einer  so  unverkennbaren  Eigenthümlichkeit  eines 
jeden  für  sich,  und  einer  sich  so  scharf  entgegengesetzten  Ver- 
schiedenheit bestimmt  hat,  dass  vernünftiger  Weise  auch  nicht 
einmal  der  Gedanke  entstehen  kann,  den  Charakter  des  einen  mit 
dem  des  andern  zu  vertauschen,  oder  die  Individualität  beider 
durch  eine  dritte  zu  vertilgen.  Ueberall,  wo  von  individuellen 
Unterschieden  die  Rede  ist,  kann  daher  derselbe  zum  Muster 
dienen,  an  dem  die  Art,  die  Entstehung,  die  Entwicklung  und  das 
Verhältniss  solcher  Eigenthümlichkeiten  unter  einander  und  zur 
Gattung  auf  die  auffallendste  Weise  sichtbar  ist.  Bei  allem  aber, 
was  sich  auf  Naturbeobachtung  gründet,  ist  es  ein  Haupterfoder- 
niss  einer  guten  Methode,  jeden  einzelnen  Punkt  gerade  da  auf- 
zusuchen, wo  er  sich  am  sichtbarsten  zeigt. 

Unter  beiden  Geschlechtern  selbst  ist  es  hier,  wo  es  darauf 
ankommt,  die  Einheit  in  den  einzelnen  Eigenthümlichkeiten  zu 
bestimmen,  welche  dazu  gehört,  um  eine  eigentliche  Charakter- 
verschiedenheit zu  begründen,  besser,  bei  dem  weiblichen   stehen 


vergleichenden  Anthropologie.    7-  8.  4.01 

ZU  bleiben,  da  dieses  die  Individualität  der  Art  reiner  und  weniger 
mit  der  der  Gattung  vermischt,  als  das  männliche,  an  sich  trägt. 
Betrachten  wir  nun  die  einzelnen  Züge  der  Natur  der  Weiber 
in  Vergleichung  mit  den  Männern,  so  finden  wir: 

1.  ihren  Körperbau  Ideiner,  schwächer  und  zarter;  ihre 
Knochen  feiner  und  biegsamer;  die  Muskelkraft  mehr  zum  lang- 
samen Ausdauern,  als  zur  plötzlichen  Anstrengung  geschickt ;  ihre 
Gestalt  von  weichen,  fliessenden  Umrissen  begränzt,  voll  Fülle 
und  Anmuth;  ihren  Ausdruck  in  der  Ruhe  und  der  Bewegung 
mehr  mannigfaltig,  sprechend  und  sanft,  als  gerade,  fest  und  be- 
stimmt; ihre  Schönheit  überhaupt  mehr  durch  die  Freiheit  des 
Stoffs  in  der  Anmuth,  als  durch  die  Herrschaft  der  Form  in  der 
Bestimmtheit  der  Züge  hen^orstechend ;  ihre  physische  Organisation 
endlich  durch  eine  überwiegende  Reizbarkeit  und  Thätigkeit  des 
Nervensystems,  und  eine  gewisse  Passivität,  vermöge  welcher  sie 
Uebeln  länger  wdderstehn,  und  leichter  grosse  Veränderungen 
erleiden  kann,  ausgezeichnet. 

2.  in  Rücksicht  auf  ihre  intellectuellen  Fähigkeiten  eine  ent- 
schiedene Neigung  zur  Betrachtung  der  Natur  und  alles  dessen, 
was  einen  unmittelbaren  Werth  und  Gehalt  besitzt,  verbunden 
mit  einer  fast  gleichen  Abneigung  gegen  alles  bloss  Mittelbare 
und  Symbolische;  eine  bewundernswürdige  Stärke  in  demjenigen 
Theile  der  Erforschung  der  Wahrheit,  welcher  lebhafte  und  be- 
wegliche Reizbarkeit,  leichtes  und  schnelles  Auffassen  und  Ver- 
knüpfen fodert,  dagegen  eine  nicht  minder  auffallende  Schwäche 
und  einen  fast  noch  grösseren  Widerwillen  gegen  denjenigen,  der 
mehr  auf  Selbstthätigkeit  und  scheidender  Strenge  beruht.  Daher 
ist  es  den  Frauen  in  so  hohem  Grade  eigen,  ihr  forschendes 
Streben  überall  nach  dem  wahren  Wesen  der  Dinge  zu  richten; 
aber  ebendaher  erreichen  sie  doch  diess  letztere  so  selten  in  seiner 
objectiven  Reinheit.  Sie  behandeln  ihren  Gegenstand  nicht  so 
willkührlich,  als  nicht  selten  der  Mann;  dagegen  aber  mit  einer 
nachsichtsvolleren  Schonung,  als  die  Foderung  ihn  zu  durch- 
schauen und  vollkommen  in  ihn  einzudringen  verstattet.  Lieber 
dem  Geiste  der  Wahrheit  verfehlen  sie  ihren  Buchstaben.  So 
wenden  sie  sich  bei  Objecten  der  Beobachtung  gewiss  immer  un- 
mittelbar an  die  Wirklichkeit  selbst,  aber  da  sie  sich  mehr  den 
Eindrücken,  welche  dieselbe  in  ihnen  hervorbringt,  überlassen,  als 
sie  aufzudecken,  zu  zerlegen,  und  ihr  mit  Versuchen  nachzugehen 
geneigt    sind,    so    gelingt    es    ihnen    nur    selten,    sie    genau    zu 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  ^6 


402 


12.    Plan  einer 


ergründen;  meistentheils  knüpfen  sie  vielmehr  ihre  subjective  Vor- 
stellungsart an  dieselbe  an,  und  führen  in  ihr,  wie  in  ihrem  eigen- 
thümlichsten  Elemente,  nur  ihr  eignes  inneres  Leben  fort.  Ebenso 
nehmen  sie  jedes  Raisonnement  gewiss  immer  von  der  Seite  seiner 
bedeutendsten  und  fruchtbarsten  Folgen,  bringen  es  mit  allen 
ihren  übrigen  Begriffen  in  gegenseitige  Verbindung,  sind  aber 
nicht  immer  sorgfältig  genug,  es  auf  hinlänglich  sichere  Gründe 
zu  stützen.  Aus  gleichen  Gründen  empfinden  sie  auch  nach  den 
letzten  Resultaten  der  abstraktesten  Philosophie  ein  dringendes 
Bedürfniss,  weil  schon  ihre  Natur  ihnen  nicht  eher,  als  bis  sie 
ihre  ganze  Gedankenmasse  in  eine  Einheit  verbunden  haben,  zu 
ruhen  erlaubt;  da  indess  die  Abstraction  ihrer  Individualität  doch 
durchaus  widerspricht,  so  bleibt  ihnen  die  eigentliche  Speculation 
immer  fremd.  Der  Wahrheitssinn  existirt  in  ihnen  im  genauesten 
Verstände  des  Worts,  als  ein  Sinn,  sie  sind  durch  ihre  Natur 
selbst  gedrungen,  ihn  zu  lieben  und  ihm  zu  huldigen;  aber  aus 
einem  ursprünglich  in  dieser  gegründeten  Mangel  an  derjenigen 
sondernden  Kraft,  welche  das  eigne  Ich  recht  scharf  von  der  Welt 
abscheidet,  die  es  umgiebt,  werden  sie  seinem  letzten  Ziel:  der 
Erforschung  der  Wahrheit  nicht  so  nah   kommen,  als   der  Mann. 

Das  Unterscheidende  dieser  intellectuellen  Eigenthümlichkeit 
des  andern  Geschlechts  beruht  grösstentheils  auf  der  Reizbarkeit 
und  Lebhaftigkeit  der  Phantasie,  welche  den  übrigen  Kräften,  am 
wenigsten  dem  Verstände  und  der  Vernunft,  nicht  leicht  abge- 
sondert zu  w^irken  verstattet,  aber  dagegen  auch  selbst  nicht  so 
willkührlich,  als  oft  im  Manne  verfährt,  sondern  den  Sinnen  und 
dem  Gefühl  folgsamer  getreu  bleibt. 

Nicht  also  gerade  baaren  Gewinn  an  einzelnen  Kenntnissen 
oder  Wahrheiten  darf  man  von  dem  Geiste  der  Frauen  er\;\^arten ; 
er  leistet  mehr,  und  seine  Bestimmung  ist  höher  und  edler.  Das 
Höchste  und  Beste  in  der  allgemeinsten  Geistesthätigkeit  über- 
haupt, das  Umfassen  eines  mannigfaltigen  Reichthums,  das  treue 
Anhalten  an  die  Natur  und  den  unmittelbaren  Gehalt,  das  Streben, 
alles  und  überall  zu  verknüpfen,  das  Bedürfniss,  das  eigne  Ich 
und  die  umgebende  Welt  nicht  nur  immer  auf  einander  zu  beziehn, 
sondern  auch  durchaus  in  Eins  zu  verschmelzen,  ist  unmittelbar 
durch  seine  Natur  selbst  gegeben.  Es  fehlt  ihm  nur,  dass  er 
auch  das  Einzelne  immer  hinreichend  sichre. 

Darum  wirkt  gerade  der  weibliche  Geist  so  wohlthätig  auf 
den   männlichen.     Wo   der   letztere  durch   willkührliche  Einfälle 


vergleichenden  Anthropologie.    8. 


403 


und  grübelndes  Speculiren  zweifelt,  da  beruhigt  und  befestigt  ihn 
oft  der  gesunde  und  natürliche  Blick  des  ersteren;  wo  jener  hin- 
gegen, weil  er  seiner  Meynung  widersprechende  Thatsachen  über- 
sieht oder  gering  achtet,  zu  früh  gewiss  ist,  foden  dieser  ihn  zum 
Zweifel  auf.  Ausserdem  aber  sieht  der  Mann  die  unendliche  Bahn, 
die  er  langsam  und  Schrittweise  durchmessen  soll,  in  dem  Geiste 
des  Weibes,  der  schnell  und  mit  Ueberspringung  der  mittleren 
Schritte  beide  Enden  zusammenknüpft,  als  einen  kurzen  Weg 
sinnlich  dargestellt,  und  wird  unaufhörlich  durch  denselben  an 
das  Letzte  und  Höchste  erinnert,  das  er  erreichen  soll,  ohne  doch 
in  seiner  eigenthümlichen  Thätigkeit  gestört  zu  werden,  in  welcher 
er  sich  \-ielmehr  durch  den  entgegengesetzten  Mangel  in  der  weib- 
lichen aufgefodert  fühlt,  noch  rüstiger  fortzuarbeiten. 

3.  in  Rücksicht  auf  den  ästhetischen  Charakter  des  Geschlechts. 

Wenn  der  Schönheitssinn  lebhaft  und  rege  seyn  soll,  so  muss 
die  Energie  des  Geistes  in  einer  gewissen  mittleren  Richtung 
zwischen  der  Thätigkeit  der  Sinnlichkeit  und  der  des  reinen  Ver- 
standes gehalten,  kein  Gegenstand  weder  von  der  Seite  seines 
physischen  Gebrauchs,  noch  von  der  seines  Begriffs  allein  be- 
trachtet werden ;  vielmehr  ist  es  nothwendig,  immer  beide  zugleich 
zusammenzunehmen  und  gleichsam  zu  venauschen,  und  die 
Materie  sowohl  als  den  Begriff  desselben  bloss  als  Gestalt  d.  i. 
als  etwas  zwar  sinnliches,  aber  doch  unkörperliches  zu  behandeln. 
Diesem  Verbinden  heterogener  Gemüthskrälte,  diesem  mittleren 
Schweben  zwischen  der  Wirklichkeit  und  der  reinen  Geistigkeit 
ist  nun  die  ganze  intellectuelle  Anlage  der  Frauen  in  hohem  Grade 
günstig.  Sie  sind  bei  gleichen  Graden  der  Kultur  durchaus  mehr 
als  der  Mann  auf  das  Höchste  und  Idealische  gerichtet  (theils  weil 
sie  überhaupt  mehr  nach  Einheit  streben,  theils  weil  die  in  ihnen 
vorzugsweise  herrschende  Phantasie  dieselbe  Richtung  hat,  theils 
endlich  weil  sie  in  einer  niedrigeren  Sphäre  die  Befriedigung  durch 
reine  Verstandesbeschäftigung  weniger  kennen)  und  trennen  sich 
doch  zu  ungern  so  weit  von  der  sinnlichen  Wirklichkeit,  um  in 
dem  Gebiete  abgezogener  Vernunftideen  anhaltend  zu  verweilen. 
Nichts  kann  ihnen  daher  so  willkommen  seyn,  als  eine  Beunhei- 
lung,  die  so  sehr,  als  nur  irgend  eine  andre,  Allgemeinheit  und 
Nothwendigkeit  mit  sich  führt,  und  doch  nicht  nach  deutlich  er- 
kannten, vollkommen  ausgesprochnen  Grundsätzen  bloss  mecha- 
nisch geschieht.  Dazu  kommt  die  äussere  Anmuth  und  Schönheit, 
welche  die  weibliche  Gestalt  selbst  besitzt  und  die  sie  anzunehmen 

26* 


404 


12.    Plan  einer 


fähig  ist,  die  richtig  vertheihe  Fülle  und  Feinheit  des  Baus  und 
der  Züge,  die  Grazie  der  Bewegungen,  die  wohlklingende  Stärke 
und  Sanftheit  der  Stimme.  Denn  ausserdem,  dass  dieser  eigne  Reiz 
beständig  die  Sinne  umgiebt,  wirkt  er  auch  auf  die  Beschaffenheit 
und  den  Rh3ahmus  der  Empfindungen  zurück,  oder  ist  vielleicht 
richtiger  selbst  in  beiden  gegründet.  Endlich  gesellt  sich  die 
äussere  Lage  hinzu,  in  welcher  die  ernsthaften  Geschäfte  gerade 
die  am  wenigsten  anstrengenden  sind,  die  alle  übrige  als  Spiel 
und  Erholung  anzusehen  verstattet,  und  überhaupt  der  Müsse  des 
Geistes  und  dem  Umherschweifen  der  Phantasie  soviel  Zeit  zu 
widmen  erlaubt.  Darum  ist  der  Schönheitssinn  der  Frauen  un- 
aufhörlich rege,  und  in  so  bewundernswürdigem  Grade  lebhaft, 
darum  beurtheilen  sie  alles  nach  den  Regeln  des  Gefallenden,  und 
suchen  in  die  kleinsten  Züge  ihres  Lebens  Geschmack  zu  ver- 
weben. —  Diess  ist  im  eigentlichsten  Verstände  Anlage  des  Ge- 
schlechts, und  muss  unvermeidlich  entstehen,  sobald  menschliche 
Kultur  sich  mit  weiblichem  Charakter  verbindet.  Nur  ob  dieser 
Schönheitssinn  richtig  und  rein  ist,  ob  er  nicht  z.  B.  das  bloss 
Angenehme  oft  mit  dem  Schönen  verwechselt?  hängt  mehr  von 
der  Individualität  einzelner  Subjecte  ab. 

Aber  von  diesem  unbestimmteren  Schönheitssinn  ist  noch  ein 
weiter  Weg  bis  zum  eigentlichen  Kunstgefühl,  und  noch  mehr 
bis  zum  Kunstgenie.  In  allem,  was  der  Kunst  angehört,  lässt 
sich  das  Technische,  das  bloss  auf  logischen  Regeln  beruht,  von 
der  Wahrheit  in  der  Nachahmung  der  Natur  und  diese  wiederum 
von  dem  eigentlich  Künstlerischen  oder  Poetischen,  der  reinen 
Erzeugung  der  selbstthätigen  Phantasie,  abscheiden.  Die  Richtig- 
keit des  Urtheils  über  das  erste  Erfoderniss  hängt  ganz  und  gar 
von  einer  bestimmt  darauf  gerichteten  Verstandescultur  ab.  Weib- 
lich wird  es  indess  sej^n,  es  hiemit  nicht  allzustreng  zu  nehmen, 
sondern  vielmehr  sogar  bedeutendere  Fehler  anderen  Schönheiten 
zu  verzeihen.  Ueber  das  zweite  Erforderniss  werden  die  Frauen 
vermöge  der  Feinheit  ihres  Beobachtungsgeistes  und  der  Zuver- 
lässigkeit ihres  Taktes  vortrefliche  Richterinnen  seyn.  Selbst  der 
Natur  so  nah,  ist  ihnen  kein  Zug  fremd,  der  aus  ihr  entlehnt 
wird ;  in  so  hohem  Grade  reizbar  und  beweglich,  werden  sie  nicht 
leicht  für  eine  Empfindung,  welche  der  Dichter  in  ihnen  weckt, 
den  entsprechenden  Ton  in  ihrem  Innern  vermissen.  So  werden 
sie  ihn  tiefer  und  inniger  verstehen;  aber  sie  werden  ihn  auch 
strenger  beurtheilen.    Denn  da  sie  ihrem  natürlichen  Gefühle,  frei 


vergleichenden  Anthropologie.  S.  40^ 

von  vorgefassten  Meynungen  (die  den  Mann  so  oft  irre  führen) 
folgen,  so  wird  das  Charakterlose  und  Unnatürliche  sie  weniger 
zu  täuschen  im  Stande  seyn.  Die  einzige  Gefahr,  die  ihnen  hier 
droht,  ist  nur  die,  ihrer  Beurtheilung  vielleicht  eine  zu  einseitige, 
zu  sehr  aus  ihrer  Individualität  entlehnte  Erfahrung  zum  Grunde 
zu  legen;  doch  ist  selbst  diese  geringer,  da  ihr  Charakter  ^)  einen 
grösseren  Kreis  umschliesst.  Die  weibliche  Natur  ist  an  und  für 
sich  ungleich  poetischer,  als  die  männliche,  und  es  kann  daher 
nicht  fehlen,  dass  nicht  auch  für  das  höchste  und  letzte  Erfoder- 
niss  der  Kunst  der  weibliche  Geist  ofner  und  empfänglicher  seyn 
sollte.  Er  versenkt  sich  nicht  leicht  zu  tief  in  die  Wirklichkeit, 
und  erhebt  sich  nur  selten  zum  ganz  reinen  Gebiet  der  Ideen. 
Das  Einzige,  was  ihm  hier  mangeln  könnte,  wäre  vielleicht  die 
Kraft,  mit  welcher  die  selbstthätige  Einbildungslvraft  ihr  Product 
durchaus  individuell  und  doch  ganz  und  gar  idealisch,  gleichsam 
in  der  Mitte  zwischen  der  Natur  und  der  Idee  frei  schwebend 
erhält;  und  in  der  That  findet  man  auch  von  dieser  Seite  das 
weibliche  Urtheil  nicht  immer  rein,  nicht  selten  mehr  durch  die 
Wahrheit,  als  durch  das  Poetische  eines  Kunstwerks  bestimmt, 
und  oft  durch  subjective  Beziehungen,  Uebereinstimmungen  oder 
Verschiedenheiten,  bestochen.  Die  Geschlechts-Anlage  macht  ein 
poetisches  Urtheil  überhaupt  leichter  und  häufiger  möglich,  als  in 
dem  Manne,  aber  sie  setzt  der  vollkommnen  Freiheit  und  Reinheit 
desselben  (da  sie  die  Phantasie  zu  nah  mit  der  Empfindung  ver- 
knüpft und  überhaupt  den  Gemüthskräften  weniger  abgesondert 
zu  wirken  verstattet)  grössere  Hindernisse  in  den  Weg;  indess 
nie  so  grosse,  dass  sie  nicht  mit  völliger  Beibehaltung  ihrer  Eigen- 
thümiichkeit,  was  wenigstens  das  Urtheil  betrift,  sollten  überwunden 
werden  können. 

Bei  weitem  schwieriger  schon  ist  das  eigne  Schaffen ,  das 
Kunstgenie.  Das  Genie  überhaupt  kann  zwar,  als  der  freieste  und 
höchste  Schwung  des  menschlichen  Geistes,  nur  der  Individualität 
angehören,  und  muss  in  dem  Gattungscharakter  allemal  Hinder- 
nisse antreffen ;  es  fragt  sich  nur,  in  welchem  mehr  oder  weniger? 
Ein  gewisser  Theil  nun  in  der  Ausübung  der  Kunst  gelingt  den 
Frauen  unläugbar  in  hohem  Grade.  Ihre  Productionen  besitzen 
vorzugsweise  Leichtigkeit  und  Anmuth,  sind  lieblich  und  gefällig, 
und  wenigstens  gewiss  immer  in  einzelnen  Zügen  wahr   und   tief 


V  Nach  „Charakter"  gestrichen:  „durch  seine  eigne  Natur  schon  an  sich". 


aqÖ  ^2.    Plan  einer 

aus  der  Natur  genommen.  Ob  sie  aber  auch,  wie  nur  das  Genie 
vermag,  im  Stande  sind,  eine  Gestalt  so  hinzustellen,  dass  sie  sich 
durchaus  über  die  Natur  erhebt,  und  doch  ganz  und  gar  Natur 
ist,  ob  es  ihrer  Phantasie  nicht  dazu  an  Stärke,  oder  wenigstens 
an  der  Herrscherkraft,  die  sich  eigenmächtig  von  jedem  fremden 
Gesetz  losmacht,  und  sich  selbst  das  Gesetz  giebt,  ob  nicht 
ihrem  Geiste  überhaupt  an  Objectivität  gebricht?  ist  eine  andere 
Frage.  Wenigstens  ist  es  gewiss,  dass  der  weibliche  Charakter 
vermöge  seiner  grösseren  Empfänglichkeit  auch  eine  bei  weitem 
höhere  Selbstthätigkeit  erfodert,  um  das  zur  Production  des  Genies 
nöthige  Gleichgewicht  zu  erhalten.  Inwiefern  indess  dennoch  ein 
einzelnes  Individuum  diese  Schwierigkeiten  überwinden  kann? 
erlaubt  keine  allgemeine  Bestimmung.  Nur  lehrt  die  Erfahrung 
soviel,  dass  Frauen  sich  nicht  leicht  an  denjenigen  Gattungen  ver- 
suchen, deren  Gelingen  vorzugsweise  auf  ihrer  künstlerischen,  nur 
durch  Genie  möglichen  Form  beruht,  wie  die  epische  und  drama- 
tische Poesie  und  die  plastische  Kunst  ist,  sondern  fast  aus- 
schliessend  nur  an  denen,  die  gleichsam  mehr  Fläche  darbieten, 
dem  blossen  Reiz  und  dem  Reichthum  des  Stoffes  mehr  Raum 
verstatten,  der  Musik  und  Mahlerei,  dem  Roman  und  der  lyrischen 
Dichtkunst,  obgleich  auch  hieran  die  grössere  Kunstfertigkeit  und 
der  ausharrendere  Fleiss  Schuld  seyn  kann,  den  jene  Gattungen 
fodern. 

Ueberhaupt  muss  die  Weiblichkeit  schon  eine  gewisse  Läute- 
rung erfahren  haben,  ehe  wissenschaftliche  oder  dichterische  Pro- 
ductionskraft  möglich  wird.  Ohne  diese  fehlt  es  ihr,  selbst  in  den 
vorzüglichsten  Subjecten,  an  der  hinlänglichen  Klarheit  und  Ruhe, 
und  noch  mehr  an  der  Kraft,  und  selbst  an  der  Neigung  eine 
Reihe  einzelner  Gedanken  oder  Empfindungen  von  der  ganzen 
Masse  abzusondern,  und  für  sich  zu  bearbeiten. 

4.  in  Rücksicht  auf  das  Empfindungsvermögen  und  den  Willen. 

Um  das  weibliche  Geschlecht  von  seiner  eigenthümlichsten 
Seite  zu  sehen,  muss  man  von  dem  moralischen  Charakter  aus- 
gehen. Wie  bei  den  Männern  der  Geist,  so  ist  bei  den  Frauen 
die  Gesinnung  am  meisten  rege  und  thätig.  Was  sie  irgendwoher 
aufnehmen,  wird  in  dieselbe  verwandelt;  alles  geht  in  sie  über; 
alles  entspringt  wieder  aus  ihr.  Dadurch  ist  ihnen  eine  so  ent- 
schiedene und  beständige  Richtung  nach  der  Wirklichkeit  eigen. 
Denn  indess  der  Geist,  wenigstens  seinen  letzten  Zwecken  nach, 
immer  im  Gebiet  der  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  und  die 


vergleichenden  Anthropologie.  8.  4.07 

Phantasie  im  Reiche  der  Möglichkeit  vervveih,  gehört  dem  Gefühl 
und  der  Gesinnung  nur  die  individuelle  Gegenwart  an. 

Der  erste  und  ursprüngliche  Grund  hievon  liegt  in  der  Natur- 
bestimmung des  Geschlechts.  Um  Leben  und  Daseyn  zu  geben 
und  zu  erhalten,  muss  es  der  Natur  und  der  Wirklichkeit  treu 
bleiben,  und  sich  streng  an  sie  binden.  Zwar  beruht  diess  zu- 
nächst nur  auf  der  physischen  Organisation;  aber  der  Eintluss 
davon  verbreitet  sich  unmittelbar  auch  auf  den  moralischen  Cha- 
rakter. Denn  da  sich  mit  dem  Bedürfniss  der  Natur  zugleich  in 
der  Liebe  die  menschlichsten  und  geistigsten  Gefühle  verknüpfen, 
so  ergiesst  sich  diese  Empfindung  durchaus  durch  das  ganze  Wesen, 
und  theilt  demselben  ihre  Eigenthümlichkeit  mit.  Dasselbe  ist 
zwar  auch  in  dem  Manne  der  Fall,  aber  der  wichtige  Unterschied 
ist  der,  dass  die  Frauen  der  empfangende  und  bewahrende  Theil 
sind,  dass  nur  ihnen  das  durchaus  eigne  Gefühl  angehört,  Mutter 
zu  seyn,  und  dass  der  Charakter  des  Geschlechts  überhaupt  inniger 
in  ihre  Persönlichkeit  verwebt  ist. 

Die  weibliche  Empfindung  zeichnet  sich  vor  der  männlichen 
zwar  durch  grössere  Reizbarkeit,  aber  noch  mehr  durch  grössere 
Innigkeit  aus.  Nicht  dass  nicht  auch  in  die  Seele  des  Mannes  ein 
einzelnes  Gefühl  so  tief  eindringen  könnte,  dass  es  alle  Kräfte  und 
Triebfedern  des  Gemüths  auf  einmal  anspannt;  eine  Eigenthüm- 
lichkeit, die  ihm  vielmehr  sogar  ausschliessend  eigen  ist.  Aber 
in  der  Seele  der  Frauen  erklingen  (wenn  das  Bild  erlaubt  ist)  von 
den  Schwingungen  einer  einzelnen  Saite  immer  zugleich  alle 
übrigen;  ihr  Gemüth  gleicht  dem  stillen  und  klaren  Wasser,  in 
dem  die  leiseste  Bewegung  von  Welle  zu  Welle  bis  an  die  äussersten 
Gränzen  fortzittert.  Daher  ist  ihre  Innigkeit  mehr  von  Leichtig- 
keit und  Wärme,  die  des  Mannes  mehr  von  Heftigkeit,  Feuer  und 
Anstrengung  begleitet. 

Aus  der  Innigkeit  entspringt  die  weibliche  Schaam,  so  wie 
aus  dieser  die  weibliche  Züchtigkeit.  Die  Empfindung  der  Schaam 
entsteht  immer,  wenn  man  sich  in  sich  versenkt,  Ueberlegung  und 
Verstand  nicht  kaltblütig  genug  von  Gefühl  und  Neigung  ge- 
sondert fühlt,  und  durch  den  Anblick  des  entgegengesetzten  Zu- 
standes  in  einem  andern  auf  diesen  Contrast  des  eignen  aufmerk- 
sam gemacht  wird.  Weil  nun  der  Mann,  seiner  Natur  nach,  kälter 
und  besonnener  ist,  so  ist  die  weibliche  Schaam  am  meisten  sicht- 
bar im  Verhältniss  gegen  das  andre  Geschlecht.  Die  physische 
Organisation     des     Weibes     ist     ebenso     zum     Aufnehmen     und 


Ao8  12.    Plan  einer 

Empfangen  geneigt,  als  die  moralische,  alles  zurück  auf  den  inneren 
Zustand  zu  reflectiren.  Beides  verbindet  sich  in  der  besondern 
Gattung  dieser  Empfindung,  die  wir  die  jungfräuliche  Schaam 
nennen,  und  die  man  als  die  Quelle  betrachten  kann,  aus  der  sich 
diess  Gefühl  überhaupt  über  die  ganze  Organisation  und  über 
alle  Zustände  derselben  nur  in  verschiedenem  Maass  und  in  ver 
schiednen  Gestalten  ergiesst. 

Schlechterdings  eigenthümlich  ist  den  Weibern  das  Mutter- 
gefühl, vorzüglich  ehe  die  Frucht  noch  gebohren  ist.  Eine  Liebe, 
die  durchaus  durch  keinen  Eindruck  der  Individualität  hervor- 
gebracht (denn  die  Zuneigung  zum  Vater  verstärkt  und  verändert 
nur,  erzeugt  aber  nicht  diese  Empfindung)  und  doch  mit  der  un- 
bedingtesten Aufopferung  verbunden  ist,  die  allein  darauf  beruht, 
dass  ein  fremdes  Wesen  mit  dem  eignen  in  so  durchgängiger 
Mittheilung,  so  inniger  Berührung  steht,  dass  es  selbst  nur  einen 
Theil  desselben  ausmacht,  und  diess  Wesen  doch  ein  lebendiges 
und  menschliches  ist,  das  nur,  um  einem  unabhängigen  Daseyn 
entgegenzureifen,  auf  eine  kurze  Zeit  an  ein  fremdes  geknüpft  ist 
—  eine  solche  Liebe,  die  noch  dazu  mehr  als  bloss  in  der  Anlage 
auch  denen  eingepflanzt  ist,  die  sie  nie  aus  eigner  Erfahrung 
kennen,  und  die  gewiss  nicht  bloss  ihren  ph3^sischen  Endzweck 
erfüllt,  sondern  sich  mit  ihren  Einflüssen  über  den  ganzen  Cha- 
rakter verbreitet,  öfnet  den  Frauen  einen  ganz  anderen  Sinn  der 
Aneignung,  und  lehrt  sie  einen  ganz  anderen  Weg  kennen,  äussre 
Objecte  mit  sich  zu  verknüpfen,  in  sich  aufzubewahren,  und 
wieder  von  sich  zu  scheiden,  als  wofür  der  Mann  nur  einen  Be- 
griff hat.  Daher  stammt  es,  dass  in  der  weiblichen  Seele  jede 
tiefere  Empfindung,  jede  eigenthümliche  Idee  ein  Theil  ihrer  selbst 
wird,  die  sie  nur  mit  Mühe  und  gleichsam  mit  Schmerzen  aus 
sich  loswindet,  und  dass  sie  eine  Freude  der  entbehrenden  und 
selbst  der  schmerzensvollen  Aufopferung  kennt,  die  der  Mann 
nur  selten  und  in  einzelnen  leidenschaftlichen  Momenten  empfindet. 

Lebhafte  Reizbarkeit  der  Empfindung  und  Anhänglichkeit  an 
die  einmal  gefasste  Me3^nung  bringen  natürlich  einen  leidenschaft- 
lichen, leicht  erregbaren  und  heftigen  Charakter  hervor.  Da  aber 
die  intellectuelle  Cultur  die  Einseitigkeit  des  Verstandes,  und  die 
ästhetische  die  Materialität  der  Empfindung  vermindert;  so  ver- 
schwindet diese  Leidenschaftlichkeit  auch  in  gebildeten  Frauen 
wiederum  bis  auf  ihre  letzten  kaum  noch  erkennbaren  Spuren. 
Das  Gemüth  erfährt  in  ihnen  seltner  jene  ungleichen,  stürmischen 


vergleichenden  Anthropologie.  8.  4.00 

Regungen,  die  wir  mit  dem  Namen  der  Leidenschaften  bezeichnen; 
aber  es  befindet  sich  dafür  in  dem  Zustande  einer  fortdauernden 
höheren,  jedoch  gleichmässigeren  Spannung,^)  und  wenn  sich  eine 
Leidenschaft  ihrer  bemächtigt,  so  ist  es  nur  für  einen  Gegenstand, 
auf  den  sich,  wenigstens  der  Ansicht  des  Subjectes  nach,  alle 
Kräfte  der  Seele  würdig  vereinigen  können,  und  nur  auf  eine  edle 
und  grosse  Weise.  In  dem  Zustande  einer  solchen  Leidenschaft 
verliert  alsdann,  sobald  die  Umstände  es  erheischen,  die  schöne 
Weiblichkeit  ihre  gewohnte  Schüchternheit,  sie  tritt,  auf  einmal 
frei  geworden,  hen^or,  erklärt  sich  laut  für  den  geliebten  Gegen- 
stand, und  schüttelt  das  Joch  äusserer  und  conventioneller  Rück- 
sichten von  sich  ab. 

Nichts  ist  der  Weiblichkeit  so  sehr  zuwider,  als  moralische 
Gleichgültigkeit.  In  den  gemeineren  Naturen  kündigt  sich  diess 
durch  Härte  und  Intoleranz  an;  in  den  besseren  und  höheren 
herrscht  zwar  die  freieste  und  schönste  Liberalität,  aber  sie  unter- 
scheidet sich  von  der  männlichen  dennoch  dadurch,  dass,  wenn 
Dingen,  die  das  sittliche  Gefühl  beleidigen,  andere  sonst  achtungs- 
wenhe  Eigenschaften  zur  Seite  stehen,  die  Schätzung  dieser  der 
Geringschätzung  jener  nicht  das  mindeste  abzieht,  da  hingegen  der 
Mann  hierin  leicht  zu  weit  geht,  und  den  Fehler,  den  er  bloss  tole- 
riren  will,  selbst  mit  theilt.  Ueberhaupt  sind  Frauen  —  wenigstens 
gilt  diess  gewiss  von  den  edleren  —  bei  weitem  strenger  bei  Be- 
urtheilung  der  Grundsätze,  als  ihrer  Anwendung  in  einzelnen 
Momenten,  und  es  ist  selbst  weiblich,  die  Milde  oder  die  Inconse- 
quenz  (denn  beides  ist  sehr  häufig  der  Fall)  bei  dieser  sogar  zu 
übertreiben. 

W^enn  man  die  Frage  aufwirft,  ob  die  sinnliche,  ästhetische 
oder  moralische  Empfindung  im  Ganzen  genommen  bei  den  Frauen 
die  Oberhand  behauptet,  so  lässt  sich  dieselbe  bei  keiner  einzelnen 
vorzugsweise  bejahen.  Ueberwiegende  und  heftige  Sinnlichkeit  ist 
den  Weibern  in  der  Regel  und  bei  einer  natürlichen  Ausbildung 
so  wenig  eigen,  dass  der  berüchtigte  Streit  über  die  Kälte  oder 
die  Leidenschaftlichkeit  des  Geschlechts  in  diesem  Punkte  ohne 
Zweifel  zum  \'ortheil  der  ersteren  Behauptung  entschieden  werden 
muss;  die  ästhetische  wird,  wo  es  auf  Gefühl  und  (Charakter  an- 
kommt, wenigstens  nicht  im  W^iderspruch  mit  der  moralischen 
siegen;   und  der  trockne  und  zugleich   dürftige  Ernst   der  mora- 


V  „Spannung"  verbessert  aus  „Stimmung". 


AlO  12.    Plan  einer  vergleichenden  Anthropologie.    8. 

lischen  genügt  für  sich  allein  genommen  wenigstens  der  besseren 
und  vielseitigeren  nicht,  wenn  er  auch  der  gewöhnlichen  und  all- 
täglichen durchgängige  Genüge  leistet.  Wo  bei  der  schönen 
Weiblichkeit  das  Gemüth  zu  wahrer  und  heftiger  Leidenschaft 
entflammt  werden  soll,  da  müssen  jene  drei  Arten  der  Empfindung 
mit  einander  zusammentreffen;  alsdann  aber  wird  sich  dieselbe 
in  jeder  mit  einem  so  mächtigen  Feuer  äussern,  dass  der  uner- 
fahrne Beurtheiler  die  jedesmal  vorwaltende  leicht  für  die  einzige 
erklären  kann.  Der  rohen  noch  ganz  der  Natur  angehörenden 
Weiblichkeit  ist  zwar  Ausgelassenheit  der  sinnlichen  Begierde  nicht 
fremd,  aber  sie  entsteht  nicht  sowohl  aus  positiver  Stärke  der 
Sinnlichkeit  (die  in  dem  selbstständigeren  und  objectiveren  Manne 
ungleich  grösser  seyn  muss)  als  aus  Leere  der  Empfindung,  und 
aus  Mangel  einer  entgegenstehenden  Kraft,  die  sie  zu  zügeln  ver- 
möchte. Daher  wird  sie  mehr  als  im  Manne  durch  die  Kultur 
herabgespannt. 

Die  Harmonie,  welche  die  Frauen  in  der  ganzen  Summe  ihrer 
Empfindungen  fodern,  die  Totalität,  auf  die  sie  bei  jedem  Gegen- 
stande dringen,  dem  sie  sich  mit  einer  gewissen  Wärme  widmen 
sollen,  und  die  Tiefe  und  Innigkeit  ihres  Gefühls  müssen  zu- 
sammengenommen in  hohem  Grade  dasjenige  hervorbringen,  was 
man  stäte  und  dauernde  Gesinnungen  nennt,  und  auf  der  einen 
Seite  dem  Wechsel  der  Laune,  auf  der  andern  der  absichtlichen 
Wirkungsart  des  Willens  entgegensetzt.  Daher  ruht  die  weibliche 
Moralität  mehr  auf  der  Natur,  als  auf  Ueberlegung  und  Charakter- 
stärke, und  daher  gewährt  das  weibliche  Gemüth  so  oft  das  schöne 
Schauspiel  einer  freiwilligen  Herrschaft  edler  Gesinnungen,  da  das 
männliche  mehr  das  erhabene  einzelner  glücklich  errungener 
Kämpfe  darbietet.  Dass  es  dem  andern  Geschlechte  indess  ebenso- 
wenig nothwendig  an  der  Kraft  gebricht,  welche  zu  diesen  er- 
fodert  wird,  zeigen  häufige  Beispiele,  nur  dass  freilich  die  unver- 
brüchliche Anhänglichkeit  an  reine  Sittlichkeit  mehr  aus  einmal  in 
die  Natur  selbst  übergegangenen  Gesinnungen,  als  aus  unmittel- 
barer Achtung  für  das  Gesetz  hervorgehen  wird. 


13- 
Pindar.*) 

I.  Charakter  und  Lage  —  historisch. 

II.  Schilderung  seiner  Gedichte  und  Beurtheilung  ihrer  einzelnen  Theile  —     ritisch. 
III.  Schilderung  und  Beurtheilung  seines  dichterischen  Charakters  überhaupt  —  rein 
philosophisch. 

I. 

(Gesichtspunkt   bei   Beurtheilung   der   alten  Dichter 

überhaupt) 
I. 
Die  alten  Dichter  überhaupt  dürfen  nicht  anders,  als  mit 
Rücksicht  auf  ihre  individuelle  Lage  beunheilt  werden,  wenn 
nicht  bei  der  Bestimmung  des  Charakters  ihrer  Producte  die 
bloss  zufälligen  Züge  mit  den  wahrhaft  eigenthümlichen  ver- 
wechselt werden  sollen. 

(des   Pindar  insbesondre.) 

2. 

In  einem  ganz  vorzüglichen  Sinne   findet  diess   beim  Pindar 
Statt,  da  dieser  zugleich  eine  geheiligte  und  eine  ötVentliche  Person 


Handschrift  (54  halbbeschriebene  Quartseiten,  von  denen  S.  19—22  fehlen) 
im  Archiv  in  Tegel.  —  Erster  Druck  (ohne  die  Anmerkungen) :  Sechs  ungedruckte 
Aufsätze  über  das  klassische  Altertum  von  Wilhelm  von  Humboldt,  herausgegeben 
von  Albert  Leitzmann  S.  34—54  (i8(ß). 

*)  Alte  Schriftsteller  über  Pindars  Leben.    Aristodemus.    Schol.  Pind.  ad  P.  III.  137. 


412 


Pindar. 


war.  —  Er  war  der  bestellte  Sänger  des  Phöbus  *)  —  nahm  Theil 
an  den  Geschenken,  die  der  Gott  empfieng,**)  —  und  sein  aus- 
gebreiteter Ruhm***)  machte  ihn  zum  Organ  jeder  öffentlichen 
Feier  bei  Siegen  und  Festen  im  ganzen  Griechenland,  f) 

3- 
Daher  entspringt  die   festliche  Würde   und  Erhabenheit,    die 
ihn   so   vorzüglich    auszeichnet,    und   die  vermehrt  v^urde   durch 
seinen  nationellenft)  und  individuellen  Charakter. 

(Einfluss  des  Böotischen  Charakters   auf  ihn.) 

4- 
Der   Hauptzug  des   Böotischen   Charakters    ist   unbehülfliche 
Schwere,    und   körperliche   Stärke.     Dann   Hang  zur  Musik,  ins- 
besondre der  Flöte. 

5- 
Wenn  man  diess  verbindet,  scheint  Hang  zu  körperlicher 
Thätigkeit  und  körperlichem  Genuss  hen^orzugehn.  Ueberhaupt 
kann  man  wohl  die  Böotischen  Nationalzüge  nach  andern  Nationen 
desselben  AeoHschen  Stammes  beurtheilen.  Im  Ganzen  kam  der 
Aeolische  Charakter  dem  Dorischen  unstreitig  näher,  als  dem 
Attischen.  Schon  die  grössere  Aehnlichkeit  der  Mundarten  spricht 
dafür,  so  wie  dass  beide  Stämme  soviele,  und  fast  bloss  lyrische 
Dichter  besassen.  Man  darf  daher  wohl  den  Aeoliern  den  Haupt- 
zug der  Dorier  gleichfalls  beilegen,  vermöge  dessen  diese  weniger 
der  Phantasie  und  einer  müssigen  Speculation,  als  der  W^irldich- 
keit  und  den  reellen  Verhältnissen  des  praktischen  Lebens  ange- 
hörten.   In  den  Doriern,  wenigstens  in  den  Lacedämoniern,  aber 


*)  Pausan.  X.  24. 

**)  Thomas   Magister.     Gen.   Pind.   v.    16 — 18.     Pausan.   IX.  23.     Plut.   de  sera 
num.  vind.  p.  989.  /.  24.    Castellanus  de  festis  Graec.  p.  165. 

***)  Plato  de  LL.  l.  3.  p.  590.  F.  Ed.  Louan.  Menon.  p.  16.  G.  Aeschines.  cp.  4. 
Diogen.  Laert.  /.  4.  sect.  31.  p.  246.  ed.  Amstel.  Dionysius  Halic.  T.  2.  p.  68.  /.  44. 
ed.  Wechel.  Longin.  de  sublimit.  sect.  33.  Athen.  /.  XIII.  2.  p.  564.  D.  Horatius. 
IV.  2.  Plin.  II.  c.  12.  s.  9.  Quinctilian.  X.  i.  p.  740.  ed.  Hack.  Macrobius.  /.  5.  c.  17. 
p.  50.  51.  ed.  Lugd. 

f)  Thomas  Magister.  Solin.  c.  9.  Ael.  /.  4.  c.   15.     Thom.   Mag.    Tzetzes    in   He- 
siodum  p.  104.  b.  ed.  Heins.    Aeschinis  cp.  4.    Pausan.  I.  8.  p.  20. 

ff)  Geschlecht  und  Herkunft.  Thom.  Mag.  Pyth.  V.  99.  Pindars  Bruder  selbst 
Kämpfer.     Gen.  Pind.  vers.  her.  v.  4.  5. 


2-s.  413 

hatten  diese  Züge  eine  sehr  veredelte  Gestalt  gewonnen.  Es 
herrschte  daher  auf  der  einen  Seite  mehr  Seelengrösse  und  Strenge 
der  Sitten,  aber  auf  der  andern  auch  mehr  Rigidität  und  daher 
weniger  Neigung  zu  künstlerischem  Talent.  Von  beiden  das 
Gegentheil  zeigen  in  Lesbos  die  Aeolischen  Sitten,  und  die  Neigung 
zur  Musik  in  den  Thebanern  deutet  auf  diese  Verwandtschaft  hin, 
wenn  gleich  Himmelsstrich  und  Landesart  diese  künstlerische  An- 
lage in  ungünstige  Schranken  einschloss. 

6. 

Nachdem  es  auf  diese  Weise,  durch  Hülfe  der  Lesbischen 
Dichterschule  begreiflich  geworden  ist,  wie  ein  Pindar  in  Theben 
aufstehen  konnte,  sieht  man  zugleich,  dass  eine  entschieden  lyrische 
Stimmung  und  Hang  zu  gemeinschaftlicher  Freude  bei  Familien- 
und  Bürgerfesten  im  Pindar  durch  den  Nationalcharakter  bestätigt 
wurde.  Ausserdem  aber  lassen  sich  auch  Spuren  dieses  letzteren 
in  der  gleichsam  patriarchalischen  Gesinnung  des  Dichters,  seiner 
fast  austeren  Frömmigkeit,  der  Bitterkeit  in  der  häufigen  Er- 
wähnung seiner  Hasser*)  und  Neider,  dem  häufigeren  Einmischen 
seiner  eignen  Person,**)  dem  ihm  Schuld  gegebenen  Eigennutz, 
und  der  Feierlichkeit  oder  Heftigkeit  seines  Ganges  entdecken. 

(Sein   individueller   Charakter.) 

Zu  einem  Herold  der  Götter  und  Helden  passt  auch  Pindars 
individueller  Charakter.  Tiefe  Ehrfurcht  für  Seelengrösse  und 
Tugend ;  mit  edlem  Stolz  verbundenes  Bewusstseyn  seiner  eignen 
Würde;  endlich  der  milde  und  heitre  Frohsinn,  welcher  zum 
freien  Erguss  der  Empfindungen  einladet,  machen  die  Hauptzüge 
aus,  welche  seine  Gedichte  verrathen. 

8. 
Zuerst  zeichnet  sich  seine  Frömmigkeit  aus,  die  mehr  Ernst, 
Würde  und  Furcht  zeigt,  als  man  sonst  bei  Griechischen  Dichtern 
gewohnt  ist.     Daher  seine  Besorgniss,   die  Gottheit   durch   irgend 


*)  Diogenes  Laert.  /.  2.  sect.  46.  p.  108.  ed.  Amstel.  Schal,  ad  P.  II.  97-  'S^- 
Suidas  V.  Bacchylides.  Steph.  Byzant.  v.  'lovXig.  Athen.  X.  c.  21.  p.  455.  C.  ibiqtie 
Casaubonus. 

**)  Plut.  de  laude  siii.  p.  957-  539-  ed.  Francof. 


414 


i-i.    Pindar. 


einen  Ausdruck  zu  beleidigen,  und  seine  Vorsicht  in  der  Ver- 
werfung unheiliger  oder  abgeschmackter  Fabeln.  —  Historische 
Beweise.*) 

9- 
An  diese  schliesst  sich  zunächst  die  Verehrung  der  Helden 
der  Vorzeit  an,  die  er  oft  als  Mittelpersonen  zwischen  den  Göttern 
und  seinen  Siegern  braucht.  In  diesen  schätzt  er  am  meisten 
gerade  Tapferkeit  und  ofne  Stärke.  Daher  sind  Herkules,  Achill, 
Ajax,  Jason  mehrmals  bei  ihm  wiederkehrende  Figuren;  dagegen 
Ulyss  selbst  durch  Homers  Namen  nicht  gegen  seinen  Tadel  ge- 
schützt wird. 

IG. 

Ebenso  ist  seine  ganze  moralische  Gesinnung  ^)  auf  Offenheit, 
Treue  und  Genügsamkeit,  auf  Bürgereintracht,**)  Friedfertigkeit 
und  Familienglück,  dabei  aber  auf  ein  edles  Streben  nach  grossen 
Thaten,  nur  verbunden  mit  Beschränkung  unmässiger  Wünsche 
gerichtet.  Neid,  Selbstsucht  und  hinterlistige  Gleissnerei  erbittern 
ihn  bis  zur  Härte. 

II. 

Aber  jede  Grösse  verschwindet  umsonst,  wenn  nicht  die 
Stimme  des  Nachruhms  sie  verherrlicht.  Diese  ertönen  zu  lassen, 
ist  er  bestimmt;  bei  diesem  Geschäft  stehn  ihm  die  Musen  vor- 
züglich bei;  und  wenn  er  dem  Haufen,  der  ihn  nicht  fasst,  mis- 
fällt,  so  hat  er  doch  den  Beifall  der  Weisen. 

12. 

In  diesem  ernsten,  strengen,  feierlichen  Charakter  herrscht 
doch  durchaus  milde  Sanftmuth  und  heitre  Fröhlichkeit.  Die 
Charitinnen  sind  es,  welchen  der  Dichter  am  häufigsten  opfert, 
und  wo  er  die  wünschenswürdigsten  Dinge  nennt,  vergisst  er  nie 


*)  Thom.  Mag.  Bildsäule  des  Apollon  Boedromios  und  Hermes  Agoraeos. 
Pausan.  IX.  17.  Tempel  der  Mutter  der  Götter  bei  seinem  Hause.  IX.  25.  Schol.  Pind. 
ad  Pyth.  III.  137.  Pausan.  IX.  16.  Pan  sang  seine  Lieder.  Gen.  Pind.  V.  19.  20. 
Plut.  Numa.  p.  113.  ed.  Steph.  62.  c.  ed.  Francof.  contra  Colot.  p.  2022.  Ferner 
Plutarchus  ne  siiaiiiter  quidem  vivi  posse  seciindiim  Epicuri  decreta.  Ed.  Francof. 
p.  I103.  a.  Philostratus.  Umgang  mit  Persephone.  Pausan.  IX.  23.  Falsche  Anekdote, 
dass  ihn  Castor  und  Pollux,  wie  den  Simonides,  aus  einem  einstürzenden  Hause  gerufen. 
Solinus.  c.  I.  ibique  Salmasius. 

**)  Epigr.  Leonidae.    Ed.  Ox.  in. 

V  Hier  ist  die  Anynerkung gestrichen:  „Plutarchus  n^gl  ipvxoyoviaq. -p.  i8g^." 


S— 14. 


415 


des  sinnlichen  Lebensgenusses,  erhöht  durch  die  Freuden  der 
Musik  und  des  Gesanees.  Diess  schloss  sich  an  seine  Frömmig- 
keit  an,  da  der  Gottesdienst  zugleich  immer  mit  Kunstgenuss  ver- 
bunden war.  —  Gesang  seiner  Töchter  bei  Nacht.  Schöne  Stimmen 
der  Böotierinnen. 

13- 

V^on  Pindars  sanfteren  Gefühlen  zeugt  seine  Liebe*)  zum 
schönen  Theoxenus.  So  viel  sich  einsehen  lässt,  beruhte  sie  auf 
dem  begeisterten  Gefühl  einer  reizbaren  und  empfänglichen  Seele 
für  Schönheit  und  Jugend,  und  hat  mit  Platonischer  und  Sokra- 
tischer  Knabenliebe  keine  Aehnlichkeit.  In  Theoxenus  Armen  und 
im  Theater  starb  er.**) 

14. 

Auf  diese  Weise  war  über  Pindars  ganzes  Leben  ein  Glanz 
verbreitet,  in  welchem  Grösse  und  Anmuth  sich  gatteten.  Hieraus 
muss  man  es  sich  erklären,  wenn  er  öfter  auf  das  Lob  des  Reich- 
thums  in  seinen  Gedichten  zurückkommt,  und  wenn  er  die  Macht 
der  Könige  höher  erhebt,  als  einem  Griechen  zu  geziemen  scheint. 
Ueberhaupt  war  er  wohl  der  eigentlichen  Volksregierung  nicht 
geneigt,  und  es  lässt  sich  aus  dem  Ganzen  seines  Charakters 
schliessen,  dass  er  den  ruhigen  Lebensgenuss  in  der  Sicherheit 
des  Friedens  unsichern  Gefahren  unendlich  vorziehen  musste. 
Vielleicht  daher  sein  Abrathen  vom  Perserkrieg.  Wenn  an  den 
Anekdoten  von  seiner  Begierde  nach  Reichthümern  etwas  Wahres 
ist,  wie  sich  alles  wohl  kaum  abläugnen  lässt,***)  so  gehört  dieser 
Charakterzug  hieher,  und  die  Tempel  und  Bildsäulen,  die  er 
weihte,  zeigen  wenigstens,  wie  diese  Neigung  mit  seinem  Streben 
nach  Ruhm  und  selbst  mit  seinen  moralischen  Gesinnungen  zu- 
sammenhieng. 


*)  Athen.  XIII.  8.  p.  601.  C.  ed.  Liigd.  Pindari  efßgies  zh  tojri.  2.  jnt.  Graec. 
Gron.   Tab.  60.  ex  aed.  lust.     Bürette  in  den  Mctri.  XIV.  p.  363.') 

**)   Thom.    Mag.    Plut.    Consolat.    ad   Apollon.  p.    189.    /.    12.    Valer.    Max.    IX. 
12.  ext.  7. 

***)  Ol.  I.  2.  II.  loi.  III.  75.    P.  XI.  63.    /.  II.  9-    Schol.  ad  I.  V.  2. 
^yl  Bürette  veröffentlichte  in  den  Memoircs  de   literature,   tires   des   registres   de 
l'academie    royale    des    inscriptions    et    heiles   lettres    14,  172   Plutarchs  Schrift    TTfQi 
(lovar/Sig  nebst  einer  Übersetzung  und  schloß  daran  S.  2-j8  längere  „Remarques 
sur  le  dialogue  de  Plutarque  touchant  la  musique". 


4i6 


Pindar. 


So  ist  Pindar,  von  dem  es  nicht  bekannt  ist,  dass  er  sonst 
ein  bürgerliches  Amt  bekleidet  hätte,  im  genauesten  Verstände  als 
ein  öffentlicher  Sänger,  und  als  ein  heiliger  Dichter,  gleichsam  als 
Priester  anzusehen.  Dadurch  und  durch  einen  Antheil  Böotischen 
und  Aeolischen  Natureis  bekommt  er  eine  Würde,  einen  Ernst, 
und  eine  Strenge,  die  ihn  den  Hebräischen  Sängern  auch  im  Cha- 
rakter beinah  ähnlich  machen  würde,  wenn  nicht  die  Griechische 
Leichtigkeit,  Milde  und  Sinnlichkeit  wieder  alle  Spur  eigentlicher 
Gleichheit  verwischten. 

16. 

Ueber  seine  intellectuelle  Ausbildung*)  giebt  die  Geschichte 
so  gut  als  keinen  Aufschluss.  Indess  sind  seine  Lehrer,**)  Zeit- 
genossen zu  erwähnen,  sein  Umgang  mit  Aeschylos  ***)  und  seine 
Reisen t)  ^u  untersuchen.  —  Fortschreitung  seiner  Bildung;  Zeit- 
folge der  Oden. 

(Aeussre   Beschaffenheit   seiner  Gedichte;) 

17- 

Ausser  der  individuellen  Lage  des  Dichters  selbst  muss  zur 
Beurtheilung  seines  poetischen  Charakters  auch  noch  die  zufällige 
und  äussre  Beschaffenheit  seiner  Gedichte  hinzugenommen  werden. 

(aller  lyrischen  überhaupt) 

18. 

tt)Alle  lyrischen  Gedichte  waren  für  den  Gesang,  ftt)  die 
meisten  für  eine  Art  theatralischer  Aufführung  bestimmt,  so  dass 


*)  Clem.   Alex.  Strom,  l.  5.  p.  598.  B.  ed.  Paris,  l.  i.  p.  308.  C.  Paedagog. 
l.  3.  p.  252.  B. 

**)  Thomas  Magister.     Gen.  Pind.  v.  9 — 12.     Bürette  (Mem.  d.  l'Ac.  d.  Inscript. 
T.   14.  p.  359-)  hält  den  Agathocles  für  Einen  mit  Lasus.     Lasus.  Bürette.  Mem.  XIV. 
p.  324.     Vd.  dt.  ad  p.  35.  in  marg.  nr.  II.  i) 
***)  Thomas  Magister. 

t)  Ael.  /.  4.  c.  15. 
•ff)  Aufbewahrung  heiliger  Hymnen.     Pausan.  IX.   16. 
ttt)  ?"<'-^  ^"^  cantu  spoliaueris,  nuda  remanebit  oratio.     Cicero.  ^) 
V  Das  hier  zitierte  Blatt  der  Handschrift  fehlt. 
^)  Orator  §'  18^,  WO  es  wörtlich  „nuda  paene  remanet"  heißt. 


15-21-  417 

sie  immer  mit  Musik,  häufig  mit  Tanz  begleitet  waren.  Der 
Dichter  lehrte  sie  diejenigen,  welche  sie  aufführten,  und  meisten- 
theils  war  er  selbst  der  Tonkünstler.  Inwiefern  gilt  das  alles  auch 
von  Pindar?  Schickte  er  bloss  seine  Gedichte,  oder  unterrichtete 
Chöre  nach  den  auswärtigen  Ländern,  für  die  er  dichtete? 

19. 

Daher  kam  so  vieles  auf  den  Vortrag  und  auf  denjenigen  Theil 
der  Poesie  an,  der  sich  auf  denselben  bezieht.  Der  Dichter  musste 
mehr  suchen  dem  sinnlichen  Theil  der  Kunst  ein  Genüge  zu  thun. 
und  die  höheren  Federungen  '^iirden  ihm  williger  nachgelassen. 
Auch  war  er,  als  Grieche,  schon  durch  die  Eigenthümlichkeit 
seines  Xationalcharakters  sich  vorzugsweise  nach  jener  Seite  zu 
wenden  aufgefodert. 

(der  seinigen  insbesondre) 
20. 
Aber  Pindar  kann  überdiess  nur  nach  Einer  Art  seiner  Ge- 
dichte von  uns  beurtheilt  werden,  und  diese  ist  unglücklicherweise 
in  soviele  zufällige  Schranken  eingeengt,  dass  der  Einfluss  dieser 
aufs  neue  von  seinem  reinen  Charakter  geschieden  werden  muss. 
Wir  besitzen  nur  seine  Siegshymnen.  Diese  waren  nicht  an  \\"irk- 
lich  grosse  und  verdiente  Männer  gerichtet,  sondern  an  Könige, 
deren  reich  genährte  Gespanne,  oder  an  Athleten,  die  mit  der 
Kraft  ihrer  Glieder  den  Preis  gewannen.  ( Tiefere  Untersuchungen 
über  die  Wagenführer,  und  Athleten.')  Aristagoras  in  Kern.  II. 
war  doch  Pr}'tane.)  Selten  also  war  die  Person  des  Helden,  und 
nie,  insofern  sie  den  Sieg  gewonnen  hatte,  merk\s*ürdig.  Nur  das 
Vaterland,  die  Familie  des  Siegers  und  der  Sieg  selbst  konnte  des 
Preises  gewürdigt  werden. 

21. 

Aber  auch  dieser  Sieg  selbst  hatte  an  sich  nichts  Grosses  und 
Wichtiges,  weder  in  dem  Guten,  das  er  schafte,  noch  in  den 
Kräften,  die  ihn  errangen.  Er  war  die  Frucht  des  Reichthums 
im  Wagen-  und  Pferderennen,  körperlicher  Kräfte  und  einer  an- 
haltenden, bis  ans  Illiberale  gränzenden  körperlichen  Lebung  in 
den  übrigen  Kämpfen,   und  selbst  wo   der  Wettkampf  die  Kunst 


*)  Pindars  Bruder  selbst  Athlet.     Gen.  Pind.  V.  4-  5- 
W.  V.  Humboldt,  Werke.     I.  *7 


4i8 


Pindar. 


betrift  (wovon  im  Pindar  nur  Ein  Beispiel  vorkommt),  ist  es  sehr 
zweifelhaft,  ob  der  Preis  mehr  der  Stärke  oder  mehr  dem  Talent 
gebührte. 

22. 

Aber  auf  der  andern  Seite  war  der  Preis,  der  in  diesen 
Spielen  errungen  wurde,  der  höchste,  dessen  ein  Grieche  sich 
rühmen  konnte;  und  gegen  ihn  blieb  selbst  das  grosseste  Bürger- 
verdienst und  der  schönste  Kampf  fürs  Vaterland  zurück.  Griechen- 
land kannte  für  jede  Grösse  einen  eignen  Dank.  Stille  Ehrfurcht, 
Liebe  und  Vertrauen  belohnten  das  ächte  Verdienst;  aber  lautes 
Frohlocken,  exaltirte  Begeisterung,  und  ein  Preis,  an  dem  die 
Sinnlichkeit  und  die  Phantasie  mehr,  als  Geist  und  Herz  Antheil 
nahmen,  erhoben  den  Sieger  der  Kampfspiele. 

23- 
Ihre  Feier  war  eine  Feier  der  Phantasie.    Alles  was   die  so 

reizbare  Einbildungskraft  des   Griechen   zu   befeuern  vermochte, 

kam  bei  den  Kampfspielen  zusammen:  die  ungeheure  Menge  des 

Volks,  das  nationale  Vorurtheil,  da  nur  Hellenen  diese  Feier  theilen 

durften,  die  nahe  Verbindung  der  Spiele  mit  heiligen  Gebräuchen^ 

das  ehrwürdige  Alter  der  Einrichtung,  das  sich  bis  in  das  Dunkel 

der  Heldenzeit  verlor,  der  Wettkampf  verschiedener  Griechischer 

Stämme  in  der  Person  ihrer  Kämpfer,   endlich   die   Grösse   des 

Schauspiels  selbst,  die  Schönheit  und  Stärke  der  Ringerkörper,  die 

Pracht  der  Gespanne,   die  wetteifernde  Anstrengung  der  Kräfte. 

24. 
Diese  sinnliche  und  phantastische  Stimmung  zu  erhöhen,  trug 
grade  der  Umstand  nicht  wenig  bei,  dass  der  Wettkampf  nicht 
ernsthaft,  sondern  ein  blosses  Spiel,  eine  völlig  freie  Aeusserung 
der  Kräfte  war.  Jeder  ernstliche  Kampf  hätte  durch  die  Wichtig- 
keit seines  Gegenstandes  mehr  den  Verstand  oder  das  Herz  inter- 
essirt,  und  die  Phantasie  niedergedrückt,  oder  zerstreut.  Dieser 
hingegen  hob  sie  vielmehr  in  leichtem  Spiel  in  die  Höhe,  da  er 
nur  gleichsam  die  Form  eines  Kampfes  behalten  hatte,  und  der 
Sieger  in  ihm  nur  den  blossen  Schall  des  Ruhmes  verfolgte. 

24.  b.^) 
Was    den   Ruhm    in   Kampfspielen    noch   vor    jeder   andern 
Gattung   der   Ehre    auszeichnete,    und   ihn   besonders   zu   einem 

V  Dieser  Abschnitt  ist  am  Rande  nachgetragen. 


21 — 26. 


419 


(jegenstande  der  Phantasie  und  einer  dichterischen  Behandlung 
machte,  war  die  Art,  wie  er  erworben  wurde.  Jeder  andre  Ruhm 
wird  langsam,  nach  und  nach,  durch  mehrere  zusammentreffende 
Handlungen  und  Umstände,  die  immer  noch  eine  ungleiche  Be- 
urtheilung  und  Würdigung  zulassen,  errungen ;  und  wenn  er  ein- 
mal erworben  ist,  muss  er  erhalten  werden,  er  lebt  nur  in  der 
fortdauernden  Meynung  der  Menschen,  auf  die  also  auch  fort- 
gewirkt werden  muss.  Bei  den  Kampfspielen  war  nur  Ein  Schritt 
zu  thun,  und  es  war  alles  gewonnen.  Der  Sieg  musste  errungen 
werden;  diess  geschah  auf  eine  entschiedene  unverkennbare  Weise. 
Alle  Meynung  des  Ruhms  hieng  jetzt  allein  an  der  Meynung  des 
Sieges  und  hier  war  nicht  mehr  Ungleichheit  der  Beurtheilung 
oder  Besorgniss  des  Verlustes  zu  fürchten.  (Zu  untersuchen,  ob 
nachheriges  Unterliegen,  oder  irgend  eine  Art  der  x\ufführung  und 
des  Betragens  die  Ehre  eines  Olympioniken  wieder  zu  schmälern 
vermochte.)  Dadurch  wurde  die  Erkämpfung  eines  Kampfsieges 
so  sehr  einer  Vergötterung  ähnlich,  und  diess  hat  Pindar  vortref- 
lich  benutzt. 

25. 

Ist  aber  der  Ruhm,  dessen  die  Sieger  in  den  vier  grossen 
Spielen  genossen,  nur  einmal  aus  der  Reizbarkeit  der  Phantasie 
der  Griechen,  auf  die  hier  von  allen  Seiten  eingewirkt  wurde,  er- 
klärbar, so  verwebte  sich  nun  dieser  Gedanke  in  alle  gesellschaft- 
liche und  bürgerliche  Einrichtungen.  Jetzt  war  der  Ruhm  des 
Siegers,  durch  den  er  zugleich  sein  Vaterland  verherrlichte,  in  der 
That  etwas  Grosses,  und  wie  gering  sein  wirkliches  und  persön- 
liches Verdienst  seyn  mochte,  so  stand  er  dennoch  bloss  durch 
den  Platz,  auf  den  er  sich  geschwungen  hatte,  auf  einer  unend- 
lichen Höhe.  —  Veränderungen  in  der  Meynung  von  der  Grösse 
der  Kampfspiele.    Inwiefern  schon  zu  Pindars  Zeit? 

26. 

Anstatt  also  dass  die  Geringfügigkeit  des  Gegenstandes  dem 
Dichter  hätte  zu  schaflen  machen  sollen,  hatte  er  vielmehr  jede 
Ivraft  anzustrengen,  demselben  gleich  zu  bleiben.  Da  indess  die 
Grösse  desselben  nur  eine  sinnliche  war,  so  bestimmte  diess  zu- 
gleich den  Charakter  der  Siegshymnen,  und  so  stimmt  dieser  (}egen- 
stand  nicht  wenig  mit  dem  individuellen  und  nationeilen  Charakter 
Pindars,  seiner  Lebensart  und  seiner  Beschäftigungen  überein  — 
obgleich    sich   der  ganze  Umfang  seines   Genies   und   (Charakters 

27* 


420 


Pindar. 


nicht  genau  ausmessen  lässt,  da  die  Behandlung  dieser  Gegenstände 
fast  die  einzige  Quelle  ist,  aus  der  man  schöpfen  kann. 


II. 

(Innere  Natur  und  Beschaffenheit  der  Siegshymnen 

im  Ganzen.) 

27. 

Pindars  Dichtercharakter  zu  schildern  ist  nur  an  den  Siegs- 
hymnen möglich.  Die  Fragmente  seiner  übrigen  Stücke  geben 
nur  Muthmaassungen  an  die  Hand.  Die  Siegshymnen  sollten  den 
errungenen  Sieg  verkündigen,  den  Ruhm  des  Siegers  verherrlichen, 
und  vorzüglich  als  Ausdruck  der  Freude  und  Anruf  an  die  Gott- 
heit die  Feier  des  Sieges  zu  begehen  dienen. 

28. 
Die  Stimmung,  in  Vielehe  der  Dichter  sich  und  die  Zuhörer 
versetzen  musste,  wslt  daher  aus  Empfindungen  der  Grösse  und 
der  Freude  vermischt.  Diese  hervorzubringen  gab  der  einzelne 
specielle  Sieg  nichts  oder  nur  sehr  v^enig  her;  dieser  Gegenstand 
war  allen  Griechen  zu  nah  und  zu  bekannt,  als  dass  der  Dichter 
dabei  hätte  verweilen  dürfen.  Daher  kommt  schlechterdings  keine 
Schilderung  der  Kampfspiele  selbst  im  Pindar  vor;  nur  auf  be- 
sondre einzelne  Umstände  spielt  er  hie  und  da  an.  Das  Einzige, 
was  er  von  seinem  Gegenstande  entlehnen  kann,  ist  die  allgemeine 
Idee  des  Ruhms  und  der  Grösse,  die  mit  den  Siegen  verbunden 
•war,  und   die  Geschichte  der  Vorfahren  und   der  Vaterstadt  des 

Siegers. 

29. 

Hier  aber  eröfnet  sich  ihm  auch  ein  weites  Feld  für  die 
Phantasie.  Von  der  Familie  des  Siegers  oder  seiner  Vaterstadt 
geht  er  leicht  zu  den  berühmtesten  Helden  Griechenlands  über. 
Durch  diese  bahnt  er  sich  den  Weg  zu  den  Göttern,  und  so  knüpft 
er  den  Sieger  zuletzt  an  diese  an.  Nun  ist  er  in  dem  Gebiete, 
welches  mehr,  als  irgend  ein  anderes  der  dichterischen  Einbildungs- 
kraft, und  besonders  der  begeisterten  phantastischen  Stimmung 
angemessen  ist,  welche  die  Kampfspiele  so  ausgezeichnet  be- 
gleiteten. In  diesem  verweilt  er  daher  auch  am  häufigsten  und 
längsten,   indess   er  dagegen  der  grösseren   und  verdienstvolleren 


26- 


421 


Thaten  der  näheren  Vorfahren,  selbst  des  Kampfs  für  die  Freiheit 
nur  sparsam  und  vorübergehend  erwähnt. 

30. 
Dadurch  also  wird  der  Hauptcharakter  des  Dichters  glänzend, 
erhaben  und  feierlich.  Aber  indess  er  die  Phantasie  auf  diese 
Weise  leicht  erhebt  und  beschäftigt,  mischt  er  der  Empfindung 
zugleich  noch  einen  grösseren  und  wnürdigeren  Gehalt  bei.  Der 
Sieg,  der  nicht  anders  als  durch  Kampf  zu  erringen  war,  führte 
natürlich  die  Vorstellung  der  Anstrengung  herbei,  die  er  kostete, 
und  die  schwindelnde  Höhe,  auf  welcher  der  begeisterte  Dichter 
den  Sieger  sah,  erinnerte  an  die  Gefahr,  sich  des  Sieges  zu  über- 
heben. Aus  diesen  beiden  Quellen  entspringen  vorzüglich  die 
ernsten  Betrachtungen,  durch  welche  das  Gefühl  der  Freude  auf 
der  einen  Seite  zwar  gemässigt,  aber  auf  der  andern  auch  würdiger 
und  dauernd  gemacht  wird. 

31- 

Allein  auch  hier  herrscht  dieselbe  Erhabenheit,  welche  den 
Dichter  überall  auszeichnet.  Die  Unveränderlichkeit  des  Schicksals, 
die  Vergleichung  der  Nichtigkeit  der  Menschen  mit  der  Macht  und 
Grösse  der  Götter  sind  das  oft  in  mannigfaltiger  Behandlung 
wiederkehrende  Thema.  So  verbindet  sich  überall  in  der  Wirkung, 
die  Pindar  hervorbringt,  gehaltvolle  Tiefe  mit  anmuthiger  Fülle 
und  Leichtigkeit.  (N.  IV.  10—14.)^)  Die  Stimmung,  in  die  seine 
besten  Stücke  den  Leser  versetzen,  ist  gemeinschaftlich  durch  die 
grossesten  und  erhabensten  Ideen  der  Vernunft,  und  die  glänzendsten 
und  lachendsten  Bilder  der  Phantasie  bewirkt,  und  durch  den 
Gebrauch  von  beidem  strebt  er  Einem  und  demselben  Ziele 
entgegen. 

32. 

Diess  Ziel  ist  nemlich  ein  Gefühl  der  Ruhe  und  Heiterkeit, 
dem  aber  eine  sichre  und  grosse  Grundlage  zur  Stütze  dient. 
Darum  ergreift  er  zuerst  das  Gefühl  mächtig  durch  die  ernste 
Vorstellung  der  furchtbaren  Macht  der  Gottheit,  und  der  Wandel- 
barkeit des  menschlichen  Glücks,  durch  die  Erinnerung  an  un- 
günstige Schicksale,   deren  Erwähnung  er  oft  sucht,  statt  sie  zu 


1)  ,/f '7,"«  S'loyfiäTCDf  ■/,novi,(inBoov  ßtoreiei,  ort   xe  avf  Xaniraiv  zv/,n   y/Moaa 
foevos  iieXoi  jSa&sias." 


422 


Pindar. 


vermeiden,  und  durch  warnende  Sentenzen;  darum  sucht  er  selbst 
die  Einbildungskraft  so  oft,  sey  es  durch  den  Inhalt  und  den 
Gegenstand  seiner  Schilderungen,  oder  durch  die  Darstellung  und 
die  Wahl  des  Ausdrucks,  mehr  lebhaft  zu  erschüttern,  als  bloss 
angenehm  zu  bewegen.  Aber  am  Ende  werden  diese  beunruhigenden 
Gefühle  immer  wiederum  ausgeglichen  und  in  eine  gleichförmige 
Stimmung  aufgelöst,  die,  zufrieden  mit  dem  steten  Gange  des 
Schicksals  und  dem  Willen  der  Götter,  sich  dem  Genuss  der 
Gegenwart,  aber  mit  weiser  Mässigung  überlässt.  Mit  dem  Genuss 
wird  immer  zugleich  auf  edle  Thätigkeit  hingewiesen,  und  innere 
Grösse  und  äusserer  Ruhm  immer  als  wechselsweis  sich  erwerbend 
und  belohnend  dargestellt. 

33- 
Durch  die  Einmischung  so  ernster  und  würdiger  Betrach- 
tungen gewinnt  Pindar,  dass  die  Stimmung  der  Grösse,  in  die  er 
den  Leser  versetzt,  mehr  Würde  und  Feierlichkeit  empfängt.  Es 
ist  keine  irrdische,  sondern  eine  himmlische  Höhe,  auf  die  sich 
der  Dichter  versetzt  sieht.  Diese  aber  mahlt  er  mehr  für  den 
äussern,  als  den  Innern  Sinn  aus.  Daher  der  strahlende  Glanz, 
der  über  alle  seine  Schilderungen  ausgegossen  ist,  und  die  Fülle 
der  Bilder  und  des  Ausdrucks,  die  mit  erhabner  Leichtigkeit  dahin- 
rollt.  Daher  verweilt  er  so  gern  auch  bei  Gegenständen  sinnlicher 
Pracht  und  Grösse;  und  der  Glanz  des  Goldes,  die  Macht  der 
Könige,  der  Schall  des  Ruhms,  lauter  Objecte,  auf  die  ihn  der 
Gegenstand  seiner  Dichtungen  so  nothwendig  führen  musste,  ver- 
webt er  dadurch  so  sehr  in  den  Charakter  seiner  Poesie,  dass  er 
sie  nicht  von  seinem  Stoff  zu  empfangen,  sondern  willkührlich  zu 
wählen  scheint. 

34. 

Die  Grösse,  deren  Gefühl  der  Dichter  hervorbringt,  ist  nicht 
gerade  Grösse  der  Gesinnungen,  der  Empfindungen,  oder  einzelner 
Thaten,  es  ist  Grösse  der  Existenz,  des  Daseyns,  des  Lebens  über- 
haupt. Wer  sie  besitzt,  geniesst  ungetrübte  Ruhe,  ist  mit  allem 
moralisch  und  physisch  Grossen  und  Glänzenden  verwandt,  einig 
mit  den  Göttern  und  mit  dem  Schicksal.  Daher  stammt  die  Ruhe, 
die  Heiterkeit,  die  strahlende  Erhabenheit,  die  den  Pindar  vorzugs- 
weise auszeichnet,  und  die  sich  so  ganz  von  jener  andern  Gattung 
des  Erhabenen  unterscheidet,  welche   die  moralische   Grösse  im 


32—42. 


423 


Kampf  gegen  die  physische  darstellt,  und  sonst  von  den  lyrischen 


Dichtern  oft  gebraucht  ^vird. 


35- 
Damit  hängt  es  zusammen,  dass 


[in.] 

[40.] 
....  vor  allen  andern  Jason,  und  Herkules  beim  Telamon. 
Auf  ähnliche  Weise  sind  auch  alle  übrigen  Gegenstände  behandelt, 
die  er  aufführt,  wenn  sie  auch  nicht  lebendige  Wesen  sind.  Alles 
tritt  in  einem  gewissen  Charakter  auf;  nichts  wird  bloss  den 
Sinnen,  alles  zugleich  dem  Gemüth  und  der  Empfindung  geschilden. 
Fast  die  trefhchste  Charakterscene,  der  Gesang  Apolls  und  der 
Musen  in  der  i.  Pyth.  Ode. 

41. 

Der  Umfang,  aus  welchem  die  Pindgirischen  Charaktere  ge- 
nommen sind,  ist  freilich  nicht  gross.  Göttermacht.  Heldengrösse, 
uneigennützige  Ruhmbegierde,  Verfolgung  des  Lasters.  Beschützung 
alles  Guten,  strenge  Offenheit  und  Gerechtigkeit,  Neigung  zu 
Bürgereintracht  und  Familienliebe,  und  fröhliche  Stimmung  zum 
Genuss  des  Lebens,  mit  den  Zügen,  die  diesen  entgegengesetzt 
sind,  umschliessen  ihn  ziemlich  genau.  Dennoch  fehlt  es  inner- 
halb dieses  Kreises  nicht  an  Mannigfaltigkeit. 

42. 

Hauptfiguren  Pindars.  Die  Götter:  im  Allgemeinen,  die 
höchste  Macht,  tadellose  Weisheit,  Gerechtigkeit  und  Güte,  aber 
furchtbarer  und  unerbittlicher  Zorn  gegen  die,  welche  sie  be- 
leidigen. Einzelne :  Jupiter,  der  höchste  Inbegriff  jenes  Charakters. 
Apollon.  Durchaus  jugendlich,  mit  grosser  Heftigkeit,  aber  vor 
allen  mit  Kunst  und  Weisheit  begabt.  Eine  ganz  eigne  (ob  sie 
wohl  noch  sonst  irgendwo  vorkommt?)  Vorstellung  ist  Apoll 
beim  Chiron.  Die  Götternatur,  ihre  Kraft  und  Weisheit  ist  hier 
mit  der  Unerfahrenheit  sterblicher  Jugend  verknüpft,  und  der 
weise  Greis  ehrt  die  eine,  indem  er  die  andre  belehrt.  Die 
Charitinnen,  sanfte  und  hebliche  Gestalten,  die  Geberinnen  alles 
Glänzenden,    Lachenden    und    Fröhlichen.      Einige    allegorische 


424  ^3-    Pindar. 

Figuren,  z.  B.  Hesychia.    Die  übrigen  Götter  nur  im  Vorbeigehn, 
nach  ihren  gewöhnlichen  Charakteren  erwähnt. 

43- 
Die  Helden.  Herkules,  der  Inbegriff  aller  Kraft  und  Tapfer- 
keit. Jason,  neben  jenen  Heldenvorzügen,  vorzüglich  zum  Frieden 
geneigt,  und  von  uneigennützigem  Edelmuth.  Ajax,  eine  merk- 
würdige, in  gewissem  Dunkel  gehaltene  Gestalt.  Die  Dioskuren, 
sanft,  voll  zärtlicher  Bruderliebe,  zum  Wohlwollen  und  zur  Hülfe 
geneigt.  Völlig  friedliche,  nur  zum  Wohlthun  bereite,  und  durch 
Weisheit  hervorstechende  Charaktere  sind  Chiron  und  Aeskulap. 
Vorzüglich  ist  der  erstere  schön  und  charakteristisch  geschildert. 
Gegenbilder  dieser  grossen  und  edlen  Naturen  geben  die  Titanen, 
Ixion,  Pelias,  Odysseus  und  andre.  Weibliche  Charaktere  werden 
nur  sehr  wenig  berührt.  Ganz  in  den  Heldencharakter  über- 
gegangen ist  die  Weiblichkeit  in  der  Kyrene.  Wenige  aber  doch 
hübsch  gezeichnete  Züge  der  Weiblichkeit  kommen  bei  Gelegen- 
heit der  Koronis,  Evadne,  und  in  dem  Fragment  an  Xenophon 
über  die  Korinthischen  Mädchen  vor.  Indess  erhebt  sich  hier 
nichts  über  die  gewöhnliche  Ansicht.  Wichtiger  sind  die  Schil- 
derungen einiger  Völker  und  Lebensarten,  vorzüglich  der  Hyper- 
boräer  und  des  Lebens  in  den  glücklichen  Inseln.  Hie  und  da 
scheinen  Charaktere,  die  besser  hätten  benutzt  werden  können, 
vernachlässigt,  z.  ß.  Medea. 

44. 

Wo  also  die  Einmischung  des  Epischen  im  Pindar  wirklich 
gelungen  ist,  da  stellt  er  einzelne  Bilder  —  wirkliche  Personen 
und  Charaktere  oder  Handlungen  und  Begebenheiten  —  auf,  die, 
indem  sie  die  Phantasie  beschäftigen,  zugleich  das  Gemüth  seiner 
lyrischen  Absicht  gemäss  stimmen.  Die  Eigenthümlichkeit  des 
Dichters  zeigt  sich  alsdann  darin,  dass  er  auf  der  einen  Seite  der 
Phantasie  ein  ausführlicheres,  glänzenderes,  reicheres  Gemähide 
darbietet,  und  auf  der  andern  dennoch  das  Gemüth  durch  den 
festen  und  bestimmten  Charakter  seiner  Züge  stärker  erschüttert, 
so  dass  durch  beides  zusammengenommen  die  Stimmung,  die  er 
hervorbringt,  und  in  der  extensiver  Reichthum  sich  mit  intensiver 
Stärke  verbindet,  zwar  minder  heftig  und  plötzlich,  aber  voller, 
dauernder,  und  mehr  über  die  ganze  Seele  verbreitet  ist,  als  bei 
andern  lyrischen  Dichtern.     Fehler  hingegen,  in  welche  er  nicht 


42-47.  42  5 

selten  verfällt,  sind  theils  epische  Episoden  da  einzuweben,  wo  sie 
der  l}Tischen  Absicht  eher  schaden,  als  nützen,  oder  sie  weiter, 
als  in  dieser  Rücksicht  vortheilhaft  ist,  fortzuführen. 


(Pindars   didaktischer  Theil,   seine   Sentenzen.) 

45- 
Das  zweite  hauptsächliche  Mittel,  dessen  sich  der  Dichter  zu 
seiner  Absicht  bedient,  sind  die  Sentenzen.  Diese  braucht  er  zu- 
weilen beinah  mit  zu  freigebiger  Hand,  und  fast  überall  dienen 
sie  ihm,  die  verschiedenen  Theile  längerer  Abschnitte  seiner  Ge- 
dichte, oder  des  Ganzen  selbst  zu  verbinden. 

4(i. 

Ihr  Inhalt  ist  nicht  von  sehr  grossem  Umfang  und  ganz  aus 
der  Sphäre  genommen,  aus  welcher  er  zugleich  seinen  epischen 
Stoff,  insofern  derselbe  Charakter  an  sich  trägt,  schöpft.  Fast  alle 
sind  eigenthche  Aussprüche  der  Weisheit,  und  sagen  oft  nur  in 
veränderten  Formen  die  einfachen  ^^erhältnisse  aus,  in  welchen 
der  Mensch  auf  der  einen  Seite  zu  den  Göttern  und  dem  Schick- 
sal, auf  der  andern  zu  seinem  Vaterlande,  seinen  Mitbürgern,  seiner 
Familie  steht.  Nur  sehr  wenige  (näher  zu  untersuchende)  be- 
ziehen sich  auf  mehr  verborgne,  nur  gewissen  Vorstellungsarten 
eigenthümliche  Meynungen.  {0/.ll.v.g6 — 149.  Nem.W.  v.  i — 13.) 
Vorzüglich  beschäftigt  sich  der  Dichter  häufig  mit  der  gegenseitigen 
Lage  der  Götter  und  Menschen,  und  indem  er  beide  beständig 
einander  nähert,  dennoch  aber  die  Ueberlegenheit  der  erstcren 
unaufhörlich  darstellt,  erfüllt  er  die  Seele  wechselsweis  mit  den 
(Gefühlen  von  Würde  und  Ehrfurcht.  Eigentlich  feine  Sentenzen, 
intellectuelle  Raisonnements ,  nüancirte  Empfindungen  sind  ihm 
durchaus  fremd.  Ueberall  spricht  ein  gerader  und  schlichter,  durch 
Erfahrung  geleiteter,  scharf  und  tief  in  die  wahren  \^erhältnisse 
der  Dinge  eindringender,  rein  moralischer  Sinn,  nirgends  ein 
grübelnder,  spitzfindiger  oder  auch  nur  vorzüglich  entwickelnder 
Verstand. 

47- 

Nie  also  geben  seine  Sentenzen  dem  Geist  eine  abgesonderte 
Beschäftigung.  Indem  sie  an  die  wichtigsten  Verhältnisse  der 
menschlichen  Natur  erinnern,  und  ihre  wirkliche  Beschalienheit 
in  einfacher  Wahrheit   aufdecken,   rühren   sie   das   ganze  Gemüth 


426 


I  ■;.    Pindar. 


und  diejenige  Empfindung,  die  durch  den  Einfluss  der  wirklichen 
Lage  der  Dinge  entsteht,  und  wieder  auf  diese  zurückwirkt.  Ihre 
Tendenz  ist  schlechterdings  moralisch.  Allein  indem  sie  so  der 
Natur  völlig  nah  bleiben,  fehlt  es  ihnen  dennoch  nicht  an  idea- 
lischem Schwünge.  Denn  sie  stellen  die  Natur  selbst  in  einer 
unendlichen  Erweiterung,  einer  in  Stufen  fortgehenden  Erhöhung 
dar,  die  unter  dem  Bilde  des  Helden  und  Göttercharakters  ^)  der 
Phantasie  näher  gebracht  wird.  Der  Totaleindruck  wird  nun  nur 
um  so  grösser,  da  die  begeisterte  Stimmung,  in  welche  die  Ein- 
bildungslvraft  versetzt  wird,  durch  die  Wahrheit  und  Innigkeit  des 
natürlichen  Gefühls,  an  das  sich  der  Dichter  zuerst  wendet,  mehr 
Gehalt  und  Dauer  empfängt.  Pindars  Eigenthümlichkeit  —  denn 
im  Ganzen  bezeichnet  derselbe  Charakter  alle  frühere  Griechische 
Dichter  —  liegt  hiebei  darin,  dass  seine  Weisheit  noch  gediegener 
und  kraftvoller,  aber  auch  noch  einfacher  und  auf  einen  noch 
kleineren  Kreis  beschränkt,  die  Aussicht  ins  Idealische  aber  mehr 
für  die  Phantasie  und  die  Sinne,  glänzender  und  lachender  aus- 
gemahlt  ist. 

(Einheit   der  Pindarischen  Gedichte.) 

48. 
Nichts  musste  bei  den  Siegsh^^mnen  so  schwierig  seyn,  als  in 
diesem  Stoff  ein  lyrisches  Ganzes  herv-orzubringen.  Der  Sieger 
sollte  gepriesen  werden.  Das  Thema  war  hier  immer  der  Ruhm, 
die  Hauptempfindung  die  Freude.  Aber  beides  war  zu  einförmig 
und  unbestimmt,  als  dass  leicht  ein  individuelles  lyrisches  Ganze 
daraus  hätte  gebildet  werden  können.  Auch  giebt  es  mehrere 
Oden  im  Pindar,  die  im  eigentlichsten  Verstände  blosse  Siegesfeier 
sind,  einzelne  poetische  Schönheiten  besitzen,  aber  im  Ganzen, 
und  vor  allem,  von  Musik  entblösst,  keine  Wirkung  machen.  Auch 
findet  sich  in  sehr  vielen  eine  gewisse  Einförmigkeit  der  Anlage, 
die  sie  in  drei  Stücke,  eine  Exposition,  Verkündigung  des  Sieges, 
eine  historische  oder  sententiöse  Digression,  und  ein  Zurückkehren 
zu  dem  Sieger  und  seinem  Lobe,  sehr  natürlich  abtheilt. 

49- 
An  eine  Einheit,  wie   man   sie   in   andern  lyrischen  Dichtern 

findet,   die   eine   einzelne  Empfindung,   ein   einzelnes   Bild,   einen 


V   „des   Helden   und   Göttercharakters"    verbessert   aus   „der   Helden-   und 
göttlichen  Natur",  wofür  zuerst  „der  Vergötterung"  stand. 


47—51-  4^7 

einzelnen  Gedanken  aufstellen,  zu  denken  verbietet  daher  schon 
die  episch-lyrische  Gattung,  die  uns  allein  von  Pindar  übrig  ist. 
So  wie  seine  Gedichte  längere,  durch  wechselnde  Schilderungen 
und  Gedanken  fonlaufende  Stücke  sind,  so  erregen  sie  auch  eine 
Reihe  von  Empfindungen  und  Vorstellungen,  in  welcher  zugleich 
auf  die  Uebergänge  von  der  einen  zur  andern,  und  auf  das,  was 
in  allen  herrschend  ist,  bei  der  Beurtheilung  geachtet  werden  muss. 

50. 

In  den  Uebergängen  herrscht  die  grosseste  lyrische  Freiheit. 
Die  Phantasie  allein  bringt  sie  gewöhnlich  herbei,  und  die  blosse 
Erwähnung  eines  Gegenstandes  ist  dem  Dichter  ein  hinlänglicher 
Grund,  um  bei  diesem  zu  verweilen.  Oft  indess  beruht  auch  die 
neue  Wendung  auf  einer  Sentenz,  zu  welcher  das  ^"orige  führte, 
und  die  nun  wieder  für  sich  eines  Beispiels  zum  Belege  bedarf. 
Manchmal  sind  die  Uebergänge  loser,  als  sich  auf  irgend  eine 
Weise  vertheidigen  lässt.  Allein  auch  im  Ganzen  muss  man  keine 
strenge,  gebundene  Folge  erwarten.  Der  Dichter  lässt  seine 
Phantasie  in  der  Stimmung,  in  die  er  sich  versetzt  hat,  frei  herum- 
schweifen; ergreift  alles,  was  sich,  derselben  gemäss,  auf  seinem 
Wege  ihm  darbietet,  und  bricht  am  Ende  willkührlich  ab,  wenn 
er  sich  zu  weit  verirrt  hat. 

Indess  ist  hierin  doch  nicht  ganz  soviel  Willkührliches,  als  es 
auf  den  ersten  Anblick  vielleicht  scheinen  möchte.  Zwar  ist  es 
gewiss,  dass  Pindars  Gesänge  keinen  so  künstlich  angelegten  Plan, 
und  nicht  so  sorgfältig  einander  angepasste  Theile  kennen,  als 
andre  spätere  lyrische  Stücke ;  auch  scheint  es  wohl,  als  hätte  der 
Dichter  sich  wenigstens  oft  begnügt,  nur  durch  eine  Reihe  lose 
verbundener  Schilderungen  und  Betrachtungen,  unterstützt  von 
der  Sprache  und  dem  Rhythmus,  die  Gemüther  der  Zuhörer  zur 
Feier  des  Sieges  zu  stimmen,  und  als  habe  er  nur  allgemein  das 
Gebiet  überschlagen,  das  ihm  die  jedesmalige  Veranlassung  öfnete, 
und  hier  mit  willkührlicher  Freiheit  die  einzelnen  Gegenstände 
gewählt.  Indess  wirken  dennoch  wenn  nicht  alle,  doch  die 
schönsten  Oden  als  ein  Ganzes  auf  die  Einbildungskraft,  indem 
entweder  Ein  Thema  durchgeführt  oder  wenigstens  h'ine  dauernde 
Empfindung  durch  alle  Theile  des  Stücks  hindurch  unterhalten  ist. 
Dieser  letzten  Art   der  Einheit   bedient  sich   der  Dichter  oft   mit 


428 


n.    Pindar. 


vorzüglichem  Glücke.  Jede  Ode  hat  in  dieser  Rücksicht  ihren 
eignen  Ton,  ihre  eigne  Haltung,  bewegt  sich  schneller  oder  lang- 
samer, erhebt  sich  stärker  oder  fliesst  sanfter  dahin.  Vorzüglich 
zeichnen  sich  hierin  einige  aus,  so  wie  andre,  und  nicht  wenige, 
es  wiederum  so  schwach  andeuten,  dass  es  sich  kaum  mit  Ge- 
nauigkeit bestimmen  lässt.     {Pyth.  I.) 

52. 
Sind  also  Pindars  Gedichte  selten  als  Ausdrücke  einzelner 
und  bestimmter  Empfindungen  anzusehen,  so  sind  sie  doch  Er- 
giessungen  der  Seele  in  einzelnen  und  dauernden  Stimmungen, 
die  ihren  Charakter  der  Behandlung  jedes  Gegenstandes  aufdrücken, 
den  er  berührt.  Bei  der  Einförmigkeit  seines  Stoffs  lässt  sich 
hier  keine  grosse  Mannigfaltigkeit  erwarten.  Feierliche  Würde 
verbunden  mit  fröhlicher  Anmuth  verrathen  sich  so  gut  als 
überall.  Allein  ausserdem,  dass  bald  mehr  die  eine,  bald  die 
andre  das  Uebergewicht  hat,  auch  beide  den  Graden  nach  ver- 
schieden sind,  so  finden  sich  auch  ganz  eigenthümliche  heftigere 
oder  sanftere  Stimmungen.  Die  letzteren  zeichnen  sich  alsdann 
durch  vorzüglichere  Anmuth  und  Lieblichkeit  aus,  und  merkwürdig 
ist  es,  dass  auch  die  ersteren,  selbst  wenn  der  Dichter  gegen  Neid 
und  Misgunst  kämpft,  diese  Eigenschaften  dennoch  nie  verläugnen. 

(Diction.) 

53- 
Pindars  Sprache  hat  einen  eigenthümlichen  lyrischen  Charakter. 
Kühne  Metaphern,  ungewöhnliche  Zusammensetzungen,  neue  Ver- 
bindungen der  Sätze  geben  dem  Vortrag  eine  ganz  eigne  Farbe. 
In  dem  Vortrage  selbst  ist  etwas  Abgerissenes.  Einzelne  Theile 
sind  vollendet  und  prächtig  dargestellt ;  andre  um  sie  herum  mehr 
vernachlässigt.  Daher  wohl  die  nicht  seltene  Mattigkeit  des  Aus- 
drucks, selbst  in  den  schönsten  Stücken.  (Ueber  den  Periodenbau 
ist  mehr  nachzudenken.)  Dem  Sinne  schmiegt  sich  Pindars  Sprache 
erstaunlich  an,  und  wie  die  Stimmung  des  Dichters  wechselt,  ver- 
ändert sich  auch  augenblicklich  der  Ton  des  Vortrags. 

(Rhythmus.) 

54- 
Ueber  das  Silbenmaass  ist  es  schwer  zu  urtheilen,  da  wir  es 
nur  ohne  begleitende  Musik  kennen.    Pindar  ist  darin  erstaunlich 


51- 


429 


genau,  und  bewahrt  nicht  bloss  die  Zahl  und  das  Maass  der 
Silben,  sondern  auch  die  einmal  gewählten  Abschnitte  in  sehr 
vielen  Silbenmaassen.  Jede  rhythmische  Periode  hat  einen  sehr 
grossen  Umfang,  den  unser  Ohr  kaum  noch  zu  fassen  vermag. 
Nie,  ein  einzigesmal  ausgenommen,  haben  zwei  Oden  dasselbe 
Silbenmaass.  (Ueber  den  Unterschied  dieser  Silbenmaasse  von  den 
kürzern,  die  ordentliche  Kanons  geworden  sind,  und  ihre  Gründe 
ist  genauer  nachzusuchen,  wie  auch  über  alles  historische,  was  das 
Silbenmaass  betrift.)  *)  Gewiss  war  jeder  Rhythmus  dem  Ton  der 
Ode  angemessen;  einigermaassen  lässt  sich  diess  auch  jetzt  noch 
zeigen,  und  man  muss  nie  vergessen,  dass  es  hier  auf  die  Musik 
eigentlich  ankam,  und  das  Silbenmaass  sich  nur  insofern  zur  Be- 
urtheilung  brauchen  lässt,  als   es   mit  der  Musik   übereinstimmte. 


(Bestimmter  Begriff  der  Siegshymnen,   als  Recapitu- 
lation   des  Vorigen.) 

55- 
Am  richtigsten  stellt  man  sich   daher  die  Pindarischen  Siegs- 
hymnen   als    musikalisch-poetische    Ganze    vor,    in    welchen    der 
Dichter,  .... 


*)  Kaaro^eiov  fie/.os.  Bürette  inem.  XIV.  p.  302.  PoUux.  /.  4.  c.  7.  S.  53.  c.  10. 
S.  78.  82.  Eustathius  ad  IL  XVI.  v.  617.  p.  1078.  Find.  P.  II.  125.  /.  I.  21.  Plut. 
in  Lycurgo.  p.  97.  /.  28.  ed.  Steph.  Val.  Ma.x.  /.  2.  c.  6.  2.  Thucydides.  /.  5.  c.  70. 
xAulus  Gellius.  I.   11. 


Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte 
der  einzelnen  Aufsätze. 

/.  Sokrates  und  Piaton  über  die  Gottfieit,  über  die  Vorsehung 
lind  Unsterblichkeit  (vgl.  Haym,  Wilhelm  von  Humboldt  S.  8). 

Der  Gedanke,  die  Probleme  der  natürlichen  Religion  durch  eine  Reihe  über- 
setzter Stücke  aus  den  philosophischen  Schriften  der  Alten  mit  angeschlossener 
Erläuterung  und  kritischer  Würdigung  zu  beleuchten,  erwuchs  im  Jahre  i'jSß 
wohl  unmittelbar  aus  den  Anregungen  Engels  in  seinen  in  diesem  Jahre  nach 
Nicolais  Zeugnis  (Sammlung  der  deutschen  Abhandlungen,  welche  in  der  könig- 
lichen Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  vorgelesen  worden  i8oj  S.  g)  den 
Brüdern  Humboldt  gehaltenen  Privatvorlesungen  über  Philosophie.  Es  ist  nicht 
unmöglich,  daß  Engel  seinerseits  dabei  unter  dem  Einßusse  Garves  stand,  der  in 
seiner  leipziger  Zeit  den  gleichen,  aber  niemals  ausgeführten  Plan  hatte  (Brief- 
wechsel zwischen  Garve  und  Zollikofer  S.  i8i).  Doch  ließ  die  Schwierigkeit  der 
Aufgabe  es  damals  nur  zu  einigen  Fragmenten  von  Übertragimgen  aus  Xenophon 
und  Piaton  kojnmen  und  an  die  eigentliche  Erörterung  der  Philosopheme  wurde 
noch  keine  Hand  angelegt.  Ein  Zufall  brachte  nach  zwei  Jahren  zu  ungünstiger 
Zeit  eine  dem  Verfasser  selbst  durchaus  nicht  willkommene  Veranlassung  zur 
Veröffentlichung:  auf  Kunths  Vorschlag  erbat  Zöllner  die  Übersetzungen  zur 
Aufnahme  in  sein  den  Aufklärimg stendenzen  dienendes  Lesebuch  für  alle  Stände 
und  Humboldt,  im  Begriff  nach  der  Universität  Frankfurt  abzureisen,  tnußte  im 
September  i']8']  in  aller  Eile  eine  Durchsicht  vornehmen  sowie  Anmerkungen  und 
eine  Einleitung  beifügen  (an  Henriette  Herz,  Dezember  i']8-]).  Engel  ist  auch 
der  Mann,  dem  Humboldt  in  der  Einleitung  den  größten  Teil  seiner  Bildung 
schuldig  zu  sein  dankbar  bekennt,  nicht  Mendelssohn,  wie  Haym  später  (Briefe 
von  Humboldt  an  Nicolovius  S.  114)  irrtümlicherweise  amiahm:  daß  Humboldt 
beim  Vortrag  der  Morgenstunden  zugegen  gewesen  sei  (Kayserling,  Moses 
Mendelssohn'^  S.  455),  ist  eine  durch  nichts  verbürgte  Tradition  und  die  Stelle 
spricht  von  einem  Lebenden,  nicht  von  einem  Toten. 

2.    Über  Religion  (vgl.  Haym  S.  24.  $g). 

Der  Aufsatz  fällt  in  die  Zeit  zwischen  dem  August  1788,  wo  der  zitierte 
Artikel  von  Hermes  imd  Stolbergs  Polemik  gegen  Schillers  Götter  Griechenlands 


Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte  der  einzelnen  Aufsätze,     i — 4.  i  •>  j 

erschienen,  und  Hwnboldts  Mitie  Juli  ijSg  erfolgtem  Abschied  aus  Göttingen,  eher 
wohl  gegen  Ende  als  gegen  Anfang  dieses  Zeitraums,  wie  die  Emanzipation  von 
den  berliner  aufklärenden  und  sentimentalen  Kreisen  und  der  wachsende  Einfluß 
Forsters  be%veisen.  Dieser  lernte  die  Abhandlung  „über  den  Einfluß  des  Theismus, 
Atheisynus  und  Skeptizismus  auf  die  Sitten  der  Menschen"  wahrscheinlich  bei 
Humboldts  Aufenthalt  in  Mainz  im  September  ijSg  kennen,  während  er  selbst 
mit  der  Abfassung  seines  vielfach  ähnliche  Gedanken  behandelnden  Aufsatzes  über 
Proselytenmacherei  beschäftigt  war,  und  wünschte  ihn  für  den  zweiten  Band  seiner 
Kleinen  Schriften  zu  gewinnen,  der  auch  Beiträge  jüngerer  Freunde  enthalten 
sollte  (Jugendbriefe  Alexander  von  Humboldts  an  Wegener  S.  72J.  Humboldt 
scheint  ausweichend,  wenn  nicht  ablehnend  geantwortet  zu  haben,  wenigstens 
mußte  Forster  seine  Bitte  im  Jahre  lygi  brieflich  erneuern,  worauf  Humboldt 
eine  Umarbeitung  angefangen  zu  haben  scheint,  die  indessen  bald  liegen  blieb. 
Am  16.  August  des  Jahres  lehnte  er  dann  Forsters  Anerbieten  definitiv  ab,  da  er 
die  Arbeit  erst  einer  gründlichen  Revision  unterziehen  müsse,  zu  der  ihm  augen- 
blicklich die  Stimmung  fehle.  Bald  darauf  aber  wurden  die  ganze  zweite  Hälfte 
und  vereinzelte  Sätze  aus  der  ersten  fast  wörtlich  dem  siebenten  und  achten 
Kapitel  der  Schrift  über  die  Grenzen  der  Staatswirksamkeit  einverleibt. 

ß.  Ideen  über  Staatsverfassung,  durch  die  neue  französische 
Konstitutioti  veranlaßt  (vgl.  Haym  S.  4j;  Fester,  Rousseau  imd  die 
deutsche  Geschichtsphilosophie  S.  295;  Gebhardt,  Wilhelm  von  Humboldt  als 
Staatsmann  i,  g). 

Seit  seinem  Austritt  aus  dem  Staatsdienst,  seiner  Heirat  und  der  Übersiedelung 
in  die  Einsamkeit  von  Burgöj-ner  im  Juli  i-jgi  verfolgte  Humboldt  mit  lebhaftem 
Interesse  den  Fortgang  der  politischen  Ereignisse  in  Frankreich,  dessen  National- 
versammlung soeben  das  Verfassungswerk  abgeschlossen  hatte,  und  trat  darüber 
in  einen  eingehenden  Briefwechsel  mit  Gentz.  Ein  Brief  an  Gentz,  nur  wenig 
im  Eingang  verändert  und  hie  und  da  stilistisch  überarbeitet,  ist  auch  dieser 
Aufsatz.  Humboldt  nennt  ihn  Forster  gegenüber  fi.  Juni  Z792J  zufällig  und  zum 
Teil  deshalb  mit  vielen  sinnentstellenden  Druckfehlern  ans  Licht  gekommen:  un- 
richtig behauptet  Fester,  daß  er  ohne  Humboldts  Wissen  gedruckt  worden  sei, 
denn  seine  eigenhändige  Redaktion  des  Briefes  liegt  vor. 

4.  Über  die  Gesetze  der  Entwicklung  der  menschlichen 
Kräfte. 

Für  dieses  Bruchstück,  Humboldts  ersten  Versuch  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichtsphilosophie,  und  seine  chronologische  Stellung  war  aus  den  gleichzeitigen 
Briefquellen  nichts  zu  gewinnen;  ich  habe  es  an  dieser  Stelle  auf  Grund  des 
Wasserzeichens  eingeordnet,  das  sich  sonst  nur  in  Briefen  der  ersten  burgörner- 
schen  Monate  wiederfindet.  So  wenig  man  sonst  oft  bei  literarhistorisch-chrono- 
logischen Fragen  mit  der  Untersuchung  der  Wasserzeichen  ausrichten  kann,  so 
ersriebis  erwies  sich  mir  diese  Betrachtunp;  bei  Humboldt.  Bei  dem  bis  iS-20  fast 
beständigen  Ortswechsel  hat  Humboldt  eine  grofie  Zahl  verschiedener  Papiersorten 
verwendet,  deren  Firmenzeichen  beständig  wechseln,  und  niemals,  wie  die 
sicher  datierten  Briefe  zeigen,  kehrt  dasselbe  Wasserzeichen  in  zwei  zeitlich  aus- 
einanderliegenden Epochen  wieder.    Da  nun  auch  die  Abhandlungen,  deren  Ent- 


^02  Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte 

stehiingszeit  feststeht,  ausnahmslos  dieselben  Wasserzeichen  aufweisen  wie  die 
gleichzeitigen  Briefe,  so  kann  meines  Erachtens  mit  völliger  Sicherheit  in  den 
wenigen  Fällen,  wo  für  die  Entstehung  einer  Abhandhmg  alle  Daten  fehlen,  die 
chronologische  Entscheidung  auf  Grund  dieser  Zeichen  gefällt  werden. 

5.  Ideen  zu  einem  Versuch  die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des 
Staats  zu  bestimmen  (vgl.  Cauers  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe;  Haym 
S.46;  Bluntschli,  Geschichte  des  allgemeinen  Staatsrechts  und  der  Politik  S.  j8g; 
Treitschke,  Historische  und  politische  Aufsätze  ^,  i ;  Fester  S.  2g6;  Gebhardt  r,  12). 

Nachdem  Gentz  im  November  lygi  einige  Tage  in  Bur görner  gewesen 
war,  wo  ein  lebhafter  Meinungsaustausch  der  Freunde  die  politische  Korrespondenz 
fortsetzte,  drängte  es  Humboldt,  sein  endgültiges  Urteil  über  die  französische 
Konstitution  und  die  Prinzipien  seiner  Politik  überhaupt  in  kurzen  Zügen  schrift- 
lich zu  fixieren.  So  begann  er  einen  längeren  Brief  an  Gentz,  der  es  schließlich 
auf  dreizehn  Bogen  brachte  und  am  g.  Januar  7792  abgeschlossen  wurde.  In 
diesem  Briefe  sind  die  wichtigsten  Erörterungen  der  ersten  sechs  sowie  des  achten 
und  fünfzehnten  Kapitels  der  nachherigen  Abhandlung  über  die  Grenzen  der 
Staatswirksainkeit  nahezu  wörtlich  enthalten  und  er  lag  Humboldt  bei  der  späteren 
Redaktion  zweifellos  wieder  vor.  Bedenken  wir  noch,  daß  zu  dem  siebenten 
Kapitel  der  ältere  Aufsatz  über  Religion  (oben  zu  Nr.  2)  verwertet  wurde,  so  lag 
also  die  größere,  allgemeinere  Hälfte  der  Schrift  in  ihren  gedanklichen  Grund- 
zügen fertig  vor,  als  Humboldts  Ende  Januar  zu  längerem  Aufenthalt  nach  Erfurt 
gingen.  Hier  trat  Humboldt  in  täglichen  intimen  Umgang  mit  Dalberg.  Schon 
in  den  ersten  Tagen  bat  dieser  Humboldt,  dessen  Interesse  für  politische  Gegen- 
stände ihm  aus  den  „Ideen  über  Staatsverfassung"  entgegengetreten  war,  seine 
Ansichten  über  die  Grenzen  der  Staatswirksamkeit  niederzuschreiben  (Humboldt 
an  Forster,  i.  Juni  i'jg2j.  Die  Ausarbeitimg,  teils  Redaktion  der  erwähnten  älteren 
Materialien,  teils  erste  Niederschrift  des  neunten  bis  vierzehiten  und  sechzehnten 
Kapitels,  dauerte  bis  zum  April  (Briefwechsel  zwischen  Schiller  imd  Lotte  j,  51). 
Dann  wurde  der  bihalt  des  fertigen  Werkes  eingehend  in  Gesprächen  mit  Dalberg 
erörtert:  es  gab  täglich  „philosophische  Bataillen"  (ebenda  j,  §4;  Humboldt  an 
Forster,  i.  Juni  i'jg2j  imd  auch  Dalberg  begann  seinen  wesentlich  abweichenden 
Standpunkt  in  einer  eigenen  Schrift  darzustellen,  die  er  im  folgenden  Jahre 
anojiyyn  veröffentlichte  (Beaidieu-Marconnay ,  Karl  von  Dalberg  imd  seine  Zeit 
I,  igj).  Mit  dem  druckfertigen  Manuskript  und  einer  gleichlautenden  Abschrift 
reiste  Humboldt  im  Juli  über  Jena  nach  Berlin  und  ging  Mitte  August  zu  längerem 
Aufenthalt  nach  Auleben:  seine  Originalhandschrift  hatte  er  zur  Lektüre  in 
Schillers,  die  Abschrift  in  Berlin  in  Brinkmanns  Händen  zurückgelassen. 

Schiller  las  die  Abhandlung  init  großem  Interesse  und  versprach  Humboldt 
schriftliche  Bemerkungen,  zu  denen  es  aber  nicht  kam;  zugleich  riet  er  vor  der 
Herausgabe  des  Gatizeti  einen  Abschnitt  in  der  Berlinischen  Monatsschriß  ab- 
drucken zu  lassen  (Humboldt  an  Brinkmann,  j.  September  Z792J.  Humboldt  bat 
daher  Brinkmann,  der  sich  unterdessen  in  Berlin  um  einen  Verleger  bemühte, 
bei  Biester  den  Abdruck  des  fünften,  sechsten  oder  achten,  nicht  aber  des  siebenten 
Kapitels  zu  betreiben;  gegen  Humboldts  eigentlichen  Wunsch  nahm  Biester  alle 
drei  Kapitel  in  die  Monatsschrift  auf,  nannte  auch  den  Namen  des  Verfassers 
Trotzdem  inzwischen  erhebliche  Zensurschwierigkeiten  entstanden  waren,  die  das 


der  einzelnen  Aufsätze.     4 — 6. 


433 


Erscheinen  des  Buches  in  Preußen  fast  illusoi-isch  machten  (Humboldt  an  Brink- 
mann, 21.,  26.  September  und  11.  Oktober  1792;  an  Schiller,  12.  Oktober  i'jgz), 
trat  Brinkmann,  da  andre  Verleger  Humboldts  Honoraransprüche  nicht  be- 
friedigen wollten,  in  Unterhandlungen  mit  Vieweg.  Zugleich  aber  erschien  Hum- 
boldt imter  den  außerpreußischen  Verlegern  Göschen  am  geeignetsten  und  er 
bat  in  dem  zuletzt  zitierten  Briefe  Schiller  um  seine  Vermittlung  bei  diesem. 
Am  2g.  Oktober  lehnte  Vieweg  in  einem  Brief  an  Brinkmann  den  Verlag  aus 
finanziellen  Gründen  ab,  so  daß  für  die  Verhandlung  mit  Göschen  nun  freie 
Bahn  war  (Hiayiboldt  an  Schiller  und  Brinkmann,  g.  November  i']g2).  Schiller 
schrieb  diesem  am  16.  November  voller  Lobes  über  das  Werk  (Briefe  j,  227,', 
hatte  auch  inzwischen  das  zweite  imd  einen  Teil  des  dritten  Kapitels  in  seiner 
Neuen  Thalia  zum  Abdruck  gebracht,  leider  mit  argen  Druckfehlern.  Indessen 
auch  Göschen  lehnte  gegen  Weihnachten  den  Verlag  ab,  da  er  mit  der  neuen 
Ausgabe  von  Wlelands  Werken  zu  sehr  überlastet  sei.  Hierauf  beschloß  Hum- 
boldt, dem  allmählich  durch  Bemerkungen  von  Freunden  wie  durch  eigene  An- 
schauung eine  Revision  mehrerer  Abschnitte  mehr  und  mehr  notwendig  erschien, 
die  ganze  Schriß  vorläufig  zurückzuhalten,  und  ließ  sich  davon  auch  durch  eine 
neue,  Mitte  Januar  ij()j  empfangene  Nachricht  Schillers,  daß  er  einen  Verleger 
gefunden  habe,  nicht  abbringen  (an  Schiller,  14.  und  18.  Januar  ijg^;  ein  Brink- 
mann, 8.  Februar  i'jgj;  an  Wolf,  22.  Mai  i'jg^J-  Zu  dieser  geplanten  Über- 
arbeitung ist  es  niemals  gekommen,  da  Philologie  und  Ästhetik  nunmehr  auf  lange 
Zeit  im  Mittelpunkt  von  Humboldts  Interesse  standen,  und  erst  nach  seinem  Tode 
ist  das  höchst  charakteristische  Jugendwerk  ans  Licht  getreten. 

Der  in  der  Thalia  abgedruckte  Abschnitt  fand  Friedrich  Schlegels  Beifall 
(Briefe  an  seinen  Bruder  August  Wilhelm  S.  80). 

6.  Über  das  Studium  des  Altertums  und  des  griechischen  ins- 
besondere (vgl.  Haym  S.  75;  meine  Einleitung  zum  ersten  Druck). 

Gleich  in  den  ersten  Wochen  des  Aufenthalts  in  Auleben  im  August  und 
September  7792  entstand  in  Humboldt  im  Anschluß  an  die  beginnende  intensive 
Lektüre  griechischer  Autoren  der  Plan  zu  einem  prinzipiellen  Aufsatz  über  Be- 
deutung und  Wert  des  Altertumsstudiums  (an  Brinkmann,  ß.  September  i'jg2). 
Er  wollte  damit  ein  von  ihm  damals  geplantes  journalartiges  Sammelwerk  „Hellas" 
eröffnen,  in  dem  Übersetzimgen  und  Beiträge  zur  Kenntnis  des  antiken  Lebens 
und  zum  tieferen  Verständnis  der  Schriftsteller  in  zwangloser  Folge  erscheinen 
sollten  (an  denselben,  jo.  November  iyg2).  Auch  seinem  philologischen  Freunde 
und  Berater  Wolf  setzte  er  am  i.  Dezember  seine  dahin  gehenden  Absichten 
ausführlich  auseinander.  Zu  Weihnachten,  wo  Wolf  Humboldts  Gast  in  Auleben 
war,  wir  jene  prinzipielle  Arbeit  naturgeynäß  ein  Hauptgegenstand  der  Gespräche. 
Wolf  erkannte  die  Förderlichkeit  des '^Gedankens  ohne  Rückhalt  an  und  trieb  zur 
Ausgestaltung :  so  entstand  denn  um  die  Mitte  des  Januar  lygj  in  raschem  Wurf 
die  erste  Niederschrift  und  ging  am  2j.  an  Wolf  zur  Begutachtung  ab.  Ein 
ausführliches  Begleitschreiben  berichtete  eingehend  von  der  Entstehung  der  Skizze, 
entschuldigte  eine  Reihe  von  Mängeln  in  Stil  und  Inhalt,  besonders  die  noch  mehr 
zufällige  und  vielfältig  beschränkte  Kenntnis  der  griechischen  Literatur,  und  bat 
um  recht  reichliche  kritische  Randbemerkungen.  Bei  dem  skizzenhaften  Charakter 
des  Ganzen  beschlich  Humboldt  solir  bald  die  Reue,  etwas  so  Unvollendetes   in 


W.  V.  Humboldt,   Werke.     1. 


28 


434 


Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte 


die  Hände  des  Meisters  der  Altertumswissenschaft  gelegt  zu  haben  (an  WolJ, 
6.  Februar  rjgj),  und  er  gab  den  Gedanken  einer  baldigen  Drucklegung  wohl 
schon  jetzt  auf.  Wolf  ließ  sich  eine  Abschrift  anfei-tigen,  die  er  mit  einigen 
Randbemerkungen  versah,  imd  sprach  im  ganzen  und  großen  seine  Billigung  aus ; 
der  Wortlaut  seiner  beurteilenden  Antwort  liegt  nicht  vor.  Das  Manuskript  er- 
schien zunächst  nicht  in  der  Öffentlichkeit,  sondern  wurde  nur  vertrauten  Freunden 
wie  Schiller,  Dalberg,  Körner  in  den  folgenden  Monaten  zur  Einsicht  und  Be- 
sprechung überlassen.  Über  Schillers  fördernde,  vielfach  geniale  und  Dalbergs 
originell-einseitige,  den  eigentlichen  Sinn  und  Zweck  der  Arbeit  fast  überall  miß- 
verstehende Randbemerkungen  berichtete  Humboldt  selbst  ausführlich  Wolf  in 
einem  Briefe  voyn  ji.  März;  Körner  fand  im  Stil  imd  in  der  Technik  der  Ge- 
dankenführung vielerlei  auszusetzen  (Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Körner 

3y  ^39)- 

Als  Wolf  i8oj  den  ersten  Band  seines  Museujns  der  Altertumswissenschaft 

mit  der  grundlegenden,  Goethe  gewidmeten  „Darstellung  der  Altertumswissen- 
schaft" eröffnete,  brachte  er  in  zwei  längeren  Anmerkungen  (S.  126 — 12g.  ij^ — 
^37)  wiederholt  in  meiner  Ausgabe  von  Humboldts  Aufsätzen  über  das  klassische 
Altertum  S.  20g),  ohne  den  ISIamen  des  Verfassers  zu  nennen,  eine  Reihe  philo- 
sophischer Sätze  über  antike  Studien,  die  er  als  „einige  in  einem  Briefwechsel 
verstreute  Gedanken  eines  Gelehrten,  avfxcpiloloyovvtög  nvog  nod-'  ijfiiv  KaXov 
Tidya^ov"  einführte.  Wie  schon  früh  richtig  erkannt  worden  ist  imd  von  Arnoldt 
mit  Unrecht  bezweifelt  wurde,  sind  es  Bruchstücke  aus  Humboldts  Abhandlung, 
allerdings  durch  Wolf  frei  und  ziemlich  bedeutend  umgestaltet ,  weshalb  ihnen 
eine  Bedeutung  für  den  Text  der  humboldtschen  Arbeit  nicht  zukommt. 

7.  Theorie  der  Bildung  des  Menschen. 

Ich  setze  dies  Bruchstück  in  den  Beginn  des  burgörner sehen  Winters  i"g3; 
früher  kann  es  der  Orthographie  wegen  nicht  fallen,  da  Humboldts  Prinzip  „ck" 
für  „k"  imd  „kk",  „tz"  für  „z"  und  „seyn"  für  „sein"  zu  schreiben  mit  dem 
Herbst  i'jg^  momentan  einsetzt.  Briefe  an  Körner  vom  27.  Oktober  und  ig.  No- 
vember sprechen  von  einem  Plan,  die  Prinzipien  der  Menschenbildung  im  Zu- 
sammenhange zu  behandeln  und  eine  philosophische  Geschichte  der  Menschheit, 
über  Herder  hinausgehend  (an  Brinkmann,  ig.  Dezember  i'jg3J,  dadurch  vor- 
zubereiten; den  Ansatz  zu  seiner  Ausführung  haben  wir  wohl  in  dem  Fragment 
zu  erkennen. 

8.  Rezension  von  Jacobis  Woldemar  (vgl.  Haym  S.  104;  Die 
7-omantische  Schule  S.  22-j). 

Amji.  Januar  i'jg4  sandte  Jacobi  an  Humboldt  seine  eben  fertig  gewordene 
neue  Bearbeitung  des  Woldemar  und  knüpfte  damit  den  seit  langer  Zeit  abge- 
rissenen Faden  ihrer  freundschaftlichen  Beziehungen  wieder  an  (Jacobis  aus- 
erlesener Briefwechsel  2,  141);  am  i.  März  kam  die  Sendimg  in  Jena  in  Hum- 
boldts Hände  (Tagebuch).  Als  dieser  kurze  Zeit  darauf  von  Schütz  und  Hufe- 
land zur  Mitarbeiterschaft  an  der  Allgemeinen  Literaturzeitung  aufgefordert 
wurde,  nahm  er  es  unter  der  Bedingung  an,  nur  wenige  und  ihm  selbst  interes- 
sante Bücher  besprechen  zu  wollen,  und  erbot  sich  zu  einer  Rezension  des 
jacobischen  Romans,  ohne  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe  in  seiner  Situation  zu 


der  einzelnen  Aufsätze.     6 — lo. 


435 


verkennen.  Bei  der  Herzlichkeit  seiner  persönlichen  Beziehungen  zu  dem  Ver- 
fasser und  Jacobis  Empfindlichkeit  konnte  er,  der  den  Rotiian  als  Kunstwerk 
flieht  hoch  schätzte  und  für  eine  mißglückte  Nachahmung  Goethes  hielt  (an  Körner, 
10.  Dezember  ijg4),  seine  wahre  Meinung  über  das  Ganze  nur  sehr  schonend 
zum  Ausdruck  bringen  und  mußte  sich  daher  an  eine  Paraphrase  des  philo- 
sophischen Inhalts  und  eine  psychologische  Zergliederung  der  Charaktere  halten, 
auch  hier  stets  besorst  der  Eigenliebe  des  Autors  nicht  zu  nahe  zu  treten.  Es  ist 
daher  erklärlich,  daß  ihm  die  Arbeit  fatal  und  äußerst  mülievoll  erschien  und  er 
selbst  mit  dem  Inhalt  und  besonders  der  Diktion  unzufrieden  war  (an  Brinkmann, 
14.  September  und  ^.  November  ijg4;  an  Schiller,  14.  September  ijgsJ-  ^"^ 
ganz  sicher  zu  gehen,  schickte  er  die  Rezension  vor  dem  Abdruck  im  Manuskript 
am  25.  August  an  Jacobi  zur  Begutachtung  (Tagebuch),  der  sie  umgehend  am 
■j.  September  höchst  befriedigt  zurücksandte  und  in  seitiem  Begleitbriefe  noch  ge- 
nauer auf  einzelne  Punkte  aus  der  Psychologie  seiner  Personen  zu  sprechen  kam 
(Jacobis  auserlesener  Briefwechsel  2,  i']4).  Ende  des  Monats  erschien  sie  dann 
gedruckt.  Als  zwei  Jahre  später  Friedrich  Schlegel  seine  vernichtende  Rezension 
über  den  Woldemar  schrieb,  meinte  Humboldt  dadurch  ärger  mitgenojyimen  zu 
sein  als  Jacobi  selbst  (an  Jacobi,  2j.  Januar  17977,  bekannte  aber  imverhohlen 
sein  volles  Einverständnis  damit  (an  Brinkmann,  g.  Dezember  i'jcfi). 

Von  Schiller  ist  keine  Beurteilung  der  Rezension  bekannt;  Goethe,  dem 
Humboldt  ein  Exemplar  übersandt  hatte,  sprach  sich  gegen  Schiller  und  Jacobi 
anerkennend  aus  (Briefe  10,  201.  206).  Ob  eine  scharfe  Äußerung  Friedrich 
Schlegels  sich  auf  die  Rezension  bezieht,  ist  fraglich  (Briefe  an  seinen  Bruder 
August  Wilhelm  S.  211;  vgl.  auch  S.  288).  Äußerst  charakteristisch  ist  der  aus- 
führliche Gedankenaustausch  über  Humboldts  Kritik  im  Briefwechsel  zwischen 
Rahel  und  David  Veit  (i,  2-/2.  2,  5.  11.  ij.  21.  40.  s^)- 

g.  10.  Über  den  Geschlechtsunterschied  und  dessen  Einfluss 
auf  die  organische  Natur;  Über  die  männliche  und  weibliche 
Form  (vgl.  Haym  S.  iio). 

Als  Schiller  im  Sommer  i-jg4  die  Hören  gründete,  hatte  er  Humboldt  in 
den  engeren  Redaktorenausschuß  mit  aufgenommen  und  dieser  wurde  durch  das 
Erscheinen  des  Journals  imd  Schillers  Aufmunterung  bewogen,  seine  damaligen 
Studien  über  den  menschlichen  Charakter  (an  Körner,  7.  März  iigi)  zum  vor- 
läufigen Abschluß  zu  bringen  in  zwei  Aufsätzen  über  die  Geschlechter  oder,  wie 
sie  in  den  Briefwechseln  des  schillerschen  Kreises  heißen,  über  die  Weiber. 
Schon  eine  Stelle  der  Woldemarrezension  ließ  klar  erkennen,  daß  er  von  diesem 
Punkte  aus  dem  Geheimnis  des  Charakters  nahezukommen  hoffte.  Der  erste 
Aufsatz  wurde  um  Neujahr  ijgs  fertig  und  am  7.  Januar  von  Schiller  an  Körner 
zur  Begutachtung  gesandt  (Briefe  4,  gy);  das  Manuskript  des  zweiten  ging  am 
16.  März  an  Cotta  ab  (ebenda  4,  14/]).  Bei  der  Ausarbeitung  hatte  sich  Hum- 
boldt der  besonderen  Teilnahme  Schillers  zu  erfreuen,  dessen  kritische  Be- 
merkungen in  erster  Linie  dem  Stil  zu  gute  kamen  (an  Körner,  7.  Mai  i'jgs). 
Trotzdem  war  er  mit  der  Diktion  unzufrieden  und  glaubte  darin  unrecht  getan 
zu  haben,  daß  er  seine  Studien  über  den  Charakter  mit  diesen  Erörterungen  an- 
gefangen hatte,  mit  denen  sie  eigentlich  hätten  abschließen  sollen  (an  Schiller, 
Qi.  August  und  27.  November  i'jgs).    Zwei  Zitate  aus  Blumenbach  und  Alexander 

28* 


436 


Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte 


von  Humboldt,  die  das  Manuskript  des  ersten  Aufsatzes  enthielt,  wwden  auf 
Goethes  Anraten  gestrichen,  um  die  Anonymität  nicht  zu  durchsichtig  zu  machen 
(Goethes  Briefe  lO,  2ji ;  Schillers  Briefe  4,  116). 

Schiller  dachte  vom  Wert  und  der  Bedeutung  der  beiden  Aufsätze  sehr  hoch : 
er  fand  darin  trotz  der  noch  immer  nicht  ganz  beseitigten  Trockenheit  der 
Schreibart  einen  schönen  imd  großen  Sinn  und  hoffte,  daß  Humboldts  Ideen, 
namentlich  wenn  er  sie  noch  weiter  ausführen  würde,  noch  ganz  kurrente  Münze 
werden  würden;  ja  er  hatte  die  Absicht  selbst  ihren  Wert  öffentlich  ins  Licht  zu 
stellen  (Briefe  4,  gi.  284.  J4j).^  Körner,  der  scharfe  Kritiker  der  humboldtschen 
Eigenart,  fand  den  Stoff  gehaltvoll  imd  mit  Geist  imd  Feinheit  behandelt,  hatte 
aber  am  Vortrag  allerhand,  besonders  das  Abstrakte  auszusetzen  imd  vermißte 
an  vielen  Stellen  die  individuelle  Begeisterung  (Briefwechsel  zwischen  Schiller 
und  Körner  ß,  2j8J.  Von  Goethe  besitzen  wir  keilte  Äußerung  über  den  Eindruck 
der  Aufsätze.  Jacobi  tadelte  neben  vielem  Lobe  das  Schillerisierende  des  Stils 
(Auserlesener  Briefwechsel  2,  21g).  Nur  herben  Spott  hatte  der  romantische  Kreis 
über  die  humboldtschen  Weiblichkeiten  (Karoline  i,  168):  Friedrich  Schlegel  er- 
klärte, man  könne  die  Aufsätze  wirklich  nicht  wohl  verstehen  (Brieje  an  seinen 
Bruder  August  Wilhelm  S.  2j6).  Am  meisten  schmerzlich  war  Humboldt  das 
Urteil  Kants,  das  dieser  brieflich  Schiller  ausgesprochen  hatte:  er  könne  sich  die 
Abhandlung,  die  an  Schwärmerei  grenze,  nicht  enträtseln,  ein  so  guter  Kopf 
auch  der  Verfasser  sei,  da  er  selbst  den  Geschlechtsunterschied  immer  als  etwas 
Unerklärbares  angesehen  habe  (Briefwechsel  ß,  11);  Humboldt  wollte  seine  Dar- 
legungen gar  nicht  so  transszendent  genommen  wissen  (an  Körner,  7.  Mai  ijgs; 
vgl.  auch  Friedrich  Schlegels  Briefe  an  seinen  Bruder  August  Wilhebn  S.  2j6, 
Schillers  Briefe  4,  iqo  und  Briefwechsel  zwischen  Rahel  und  David  Veit  2,  2J2J. 
Die  Rezensenten  der  Hören  gehen  zumeist  mit  den  humboldtschen  Aufsätzen 
streng  ins  Gericht  (Braun,  Schiller  im  Urteile  seiner  Zeitgenossen  2,  48.  18). 
Um  so  erfreulicher  war  es  für  Um,  von  naturhistorischer  Seite  in  einem  wissen- 
schaftlichen Werke  über  den  Menschen  zitiert  zu  werden  (an  Schiller,  28.  Sep- 
tember lygsJ- 

II.  Rezension  von  Wolfs  Ausgabe  der  Odyssee  (vgl.  Haym 
S.  140). 

Als  im  Herbst  ijgj  der  Druck  von  Wolfs  verbesserter  kleiner  Ausgabe  der 
O  dy  s  s  e  e  begann,  erhielt  Humboldt,  der  im  lebhaftestem  philologischen  Briefwechsel 
mit  Wolf  stand,  von  diesem  die  einzelnen  Aushängebogen  nach  Tegel  imd  später 
nach  Burgörner  zugesandt  und  widmete  ihnen  ein  eingehendes  Studium,  indem 
er  den  Text  mit  der  älteren  Ausgabe  genau  verglich  und  über  wichtigere  Ab- 
weichungen mit  Wolf  in  brieflichen  Meinimg saustaiisch  trat  (an  Wolf,  28.  Oktober 
und  28.  November  sowie  in  einem  undatierten  Briefe  aus  dem  Herbst  i'jgß)- 
Am  25.  Juli  i']g4  dankte  er  für  die  Übersendung  des  fertigen  Exemplars  und 
sprach  sich  sehr  befriedigt  über  die  Vorrede  aus.  So  war  er  wie  kaum  ein 
Zweiter  gerüstet,  auch  in  einer  öffentlichen  Besprechung  auf  die  Bedeutung  der 
Edition  hinzuweisen,  und  trug  bei  Gelegenheit  eines  Besuches  Wolfs  in  Jena  im 
Mai  i-jg-^  diesem  imd  Schütz  eine  Rezension  des  Buches  für  die  Allgemeine 
Literaturzeitung  an,  die  Ende  Mai  im  Manuskript  fertiggestellt,  Anfang  Juni  an 
Wolf  zur  Einsicht  überschickt  imd  auf  seinen  Wimsch  noch   in  einigen  Kleinig- 


der  einzelnen  Aufsätze.     lo — i'^. 


437 


keiten  verbessert  wurde  (an  ^Volf,  j.  und  75.  Juni  i'os)-  -^"^  Interesse  der  dilet- 
tantischen Leser  wurde  der  Anzeige,  die  am  16.  Juni  gedruckt  erschien,  durch 
die  Erzählung  der  Anekdote  von  dem  athenischen  Schauspieler  und  die  Verszitate 
ein  vergnüglicheres  Element  beigemischt. 

1-2.  Plan  einer  vergleichenden  Anthropologie  (vgl.  Haym 
S.  i-ji.  I-/6). 

Dieser  Entwurf  gehurt  nach  den  Wasserzeichen  (vgl.  oben  zu  Nr.  4)  in  den 
August  oder  September  i~gs,  <^ls  Humboldt,  mit  den  Druckanordnungen  des  schiller- 
schen  Musenalmanachs  beschäßigt  und  durch  häusliche  Verhältnisse  häufig 
an  geistiger  Sammlung  verhindert,  in  Tegel  den  Faden  seiner  jenaischen  Unter- 
suchungen weiterzuspinnen  sich  anschickte.  In  den  gleichzeitigen  Korrespondenzen 
wird  seiner  nirgends  gedacht,  wohl  weil  er  nach  dem  ersten  rasch  hingeschriebenen 
Anfang  bald  als  unbefriedigend  vom  Verfasser  beiseite  gelegt  wurde.  Nach  der 
Rückkehr  nach  Jena  gibt  Humboldt  in  einem  Briefe  an  Wolf  vom  2j.  Dezember 
ijgÖ  eine  skizzenhaße  Übersicht  über  seine  Absichten  mit  seiner  Anthropologie, 
woraus  wir  ersehen,  daß  mit  der  Charakterisierung  der  Geschlechter,  die  an  die 
Horenaufsätze  anknüpft,  nur  eben  der  erste  Schritt  auf  der  dort  vorgezeichneten 
Bahn  getan  war;  daß  schon  ein  Stück  der  Arbeit  schriftlich  vorlag,  wird  dort 
nicht  erwähnt,  vielmehr  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  alles  noch  im  Stadiujn 
des  Entwurfs  und  der  vorbereitenden  Studien  sei.  So  yvenig  also  schien  das 
Fenig gewordene  den  erhöhten  Ansprüchen  zu  genügen,  die  Humboldt  infolge  der 
vertiefenden  Einwirkimgen  des  mmmehr  nebenherlaufenden  Plans  einer  Charak- 
teristik des  achtzehnten  Jahrhunderts  jetzt  an  die  Anthropologie  stellte.  Noch  in 
der  ersten  pariser  Zeit  taucht  der  Plan  einmal  flüchtig  wieder  auf  (an  Goethe, 
April  i-rß). 

Iß.  Pindar  (vgl.  Haym  S.  142;  meine  Einleitung  zum  ersten  Druck). 

In  der  Einsamkeit  von  Tegel  wandte  sich  Humboldt  im  Herbst  7795  wieder 
eingehender  antiken  Studien  zu  imd  es  entstand  der  Plan,  die  Resultate  dieser 
Studien  zu  einem  Aufsatz  über  die  Griechen,  ihre  menschliche  tmd  dichterische 
Individualität  zusammenzufassen,  um  damit  zugleich  Schillers  Wunsch  einer 
weiteren  aktiven  Teilnahme  an  den  Hören  genugzutun  (an  Körner,  i.  August 
/795,-  an  Schiller,  6.  November  i-jgs;  an  Wolf,  g.  November  i-jgs).  Unter 
Schillers  Mahnung  und  Anregung  kam  der  Gedanke  bald  zu  deutlicherer  Aus- 
gestaltimg: in  einer  Reihe  einzelner  Aufsätze  sollte  der  griechische  Dichtergeist 
in  seinem  Wesen  und  seiner  Entwicklung  dargestellt  und  dabei  in  Rücksicht  auf 
die  so  viel  schon  erörterte  homerisch-epische  Frage  der  Anfang  mit  der  lyrischen 
Poesie  gemacht  werden;  von  dieser  sollten  nacheinander  Pindar,  die  Chöre  und 
die  Fragmente  nebst  den  Gedichten  der  Anthologie  zur  Behandlung  kommen  (an 
Körner,  -Jj.  November  i~os;  an  Schiller,  2j.  November  und  4.  Dezember  i~gs)- 
Schillers  Teilnahme  zeigte  sich  auch  weiterhin  durch  die  in  seinen  Briefen  ent- 
haltenen klärenden  oder  polemisierenden  Bemerkungen,  wie  er  denn  z.  B.  ein 
andres  Einteilungsprinzip  für  den  Stoff  vorschlug  (Briefe  4,  J-^-V-  Humboldt 
blieb  indessen  bei  seiner  envähnten  Disposition  und  schrieb  in  der  Mitte  des 
Dezembers   in    raschem    Wurf  die   Charakteristik   Pindars   nieder  [an   Schiller, 


A'iS  Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte  der  einzelnen  Aufsätze.     13. 

14.  Dezember  ijgsJ-  Nene  Anregungen  Schillers  und  das  für  Humboldt  typische 
rasche  Unbefriedigtsein  mit  der  eigenen  Leistimg  ließen  jedoch  die  Arbeit  sehr 
bald  ins  Stocken  geraten  imd  das  Dilemma,  ob  auf  diesem  spezielleren  Wege 
fortgefahren  oder  nicht  vielmehr  die  Aufgabe  von  allgemeineren  Erörterungen 
ausgehend  besser  imd  fruchtbarer  behandelt  werden  solle,  brachte  dann  den 
ganzen  Plan  zu  Falle  (an  Wolf,  5.  Januar  i'jgG;  an  Körner,  j.  Mai  i-;rß). 
Humboldt  ist  dann  nicht  wieder  auf  ihn  zurückgekommen;  der  Plan  einer 
Charakteristik  des  achtzehnten  Jahrhimderts  verdrängte  seit  dem  Anfang  des 
Jahres  lygö  für  längere  Zeit  die  antiken  Studien. 

Leider  ist  das  erhaltene  Manuskript  defekt:  es  fehlt  der  Eingang  des  dritten, 
pJiilosophi sehen  Teils  der  Abhandlung  und  der  Schluß  des  Ganzen,  beidemal  die 
innere  Hälße  eines  in  QLuvtformat  gefalteten  Bogens. 

Jena,  jo.  April  ir/)j. 

Albert  Leitzmann. 


Text. 

Soweit  in  diesem  Band  und  in  den  folgenden  Humboldts  eigene  Handschriften 
dem  Text  zu  Grunde  liegen,  werden  sie  völlig  getreu  wiedergegeben.  Vorlagen 
von  Schreiberhand  und  alte  Drucke  werden  nach  den  Normen  behandelt,  die  der 
Brauch  Humboldts  für  die  Abfassungszeit  ergibt,  so  daß  jede  Periode  sich  in 
Orthographie  und  Interpunktion  einheitlich  darstellt. 


Lippert  &  Co.    (G.  Pätz'schc  Buchdr.),  Naumburg  a.  S. 


ISDISDISDISOISDISOISOISOISÜI^ISÜWISDISÜISÜISÜISÜUÜISÜISÜISDISDISÜWISO 


Inhalts-Übersicht  der  Ausgabe  von 

WILHELM  VON  HUMBOLDT's 
GESAMMELTEN  SCHRIFTEN 


Bd.  I — VIII.  Werke  im  engeren  Sinn 

Bd.  IX.  Gedichte  und  poetische  Übersetzungen 

\    Bd.  X— XII.  Politische  Denkschriften 

Bd.  XIII.  Tagebücher 

Bd.  XIV  ff.  Briefe. 

Für  raschen  Fortgang  ist  gesorgt;  die  Bände  sind  einzeln  oder 
durch  Subscription  auf  alle  zu  beziehen.  Bd.  I.  und  Band  X  (Politische 
Denkschriften  I)  werden  zugleich  im  Juni  1903  ausgegeben.  Daran 
wird  sich  im  Herbst  Bd.  XL,  im  Winter  Bd.  II.  schliessen. 


ISÜISÜISÜISÜIZIWISDISÜISÜISDISÜISÜI^ISOISÜISÜISDISÜISÜUOISOISDISOISÜI^ 


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Universify  of  Toronto 
Library 


Acme  Library  Card  Pocket 
LOWE-MARTIN  CO.  Limited 


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