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Wilhelm von Humboldts
Gesammelte Schriften.
Wilhelm von Humboldts
Gesammelte Schriften.
Herausgegeben von der
Königlich Preussischen Akademie der
Wissenschaften.
Band I.
Erste Abteilung:
Werke I.
Berlin
B. Behr's Verlag
1903.
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Wilhelm von Humboldts
Werke.
Herausgegeben von
Albert Leitzmann.
Erster Band.
1785—1795-
Berlin
B. Behr's Verlag
1903.
Alle Rechte vorbehalten.
L)er Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften
sind zu ihrer Zweijahrhundertfeier im März 1900 durch die Gnade
Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. aus dem
Allerhöchsten Dispositionsfonds Mittel gewährt worden, die es ihr
ermöglichen, eine alte Dankesschuld gegen den Schöpfer ihres
neuen Lebens einzulösen und Wilhelm v. Humboldts weitver-
zweigte Geistesarbeit in einer auch die politischen Denkschriften,
die Tagebücher und Briefe zum ersten Mal umfassenden Ausgabe
nach sachlicher und zeitlicher Ordnung allseitig und getreu zu
entfalten. Sie hätte jedoch diese große Sammlung den Händen
der berufenen Forscher Professor Dr. Albert Leitzmann in Jena und
Professor Dr. Bruno Gebhardt in Berlin nicht anvertrauen können
ohne das hochherzige Entgegenkommen der Familie Humboldts,
an deren Spitze seine Enkelin Frau v. Heinz sogleich den ganzen
in Tegels geweihten Räumen liegenden handschriftlichen Nachlass
zur Verfügung stellte. Für den politischen Teil hat das Geheime
Staatsarchiv eine Fülle von Akten beigesteuert. Der fördernden
Hilfe anderer Institute und einzelner Personen wird am gehörigen
Orte gedacht werden. Fber die Grundsätze und die Quellen
dieser Gesammtausgabe unterrichten knappe kritische und sach-
liche Erläuterungen.
Inhalt.
Seite
j. Sokrates und Piaton über die Gottheit, über die Vorsehung und Unsterb-
lichkeit [i-jSs- i~8-j] /
2. Über Religion [i~8g] 45
j. Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französisclie Konstitution
veranlaßt [ijgi] 77
4. Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräße. Bruch-
stück [lygi] 8G
5. Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu
bestimmen [i-g2] 97
6. Über das Studium des Altertums und des griechischen insbesondere [ijgj] 255
7. Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück [lygj] 282
8. Rezension von Jacobis Woldemar [i'jg4] 288
g. Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einßuß auf die organische
Natur [i'jg4] ^n
10. Über die männliche und weibliche Form [ijgsl 33S
11. Rezension von Wolfs Ausgabe der Odyssee [i'jgs] 370
12. Plan einer vergleichenden Anthropologie [ijgs] J?77
ij. Pindar [ijosl '^^^
Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Aufsätze .... 430
Sokrates und Piaton über die Gottheit, über die
Vorsehung und Unsterblichkeit.
Untersuchungen über das Dasein Gottes, und über die Wahr-
heiten der natürlichen Religion überhaupt scheinen der Lieblings-
gegenstand der Philosophie unsrer Zeit geworden zu sein. Man
hat diejenigen Theile der Philosophie verlassen, die, ohne auf
brauchbare Resultate für das praktische Leben zu führen, nur dem
Scharfsinn einige Nahrung versprachen; man hat die Gränzen des
menschlichen Verstandes näher bestimmt, und Fragen, die ausser
demselben zu liegen scheinen, und nur durch ungewisse Muth-
massungen beantwortet werden können, lieber unerörtert gelassen.
Wenn man vormals alle Künste der Dialektik aufbot, um irgend
eine Hypothese mit neuen Gründen zu unterstüzen; so hat man
jezt alle Kräfte der Vernunft angewandt, um Wahrheiten in ein
Erster Druck: Zöllners Lesebuch für alle Stände zur Beförderung edler
Grundsätze, echten Geschmacks und nützlicher Kenntnisse 8, i86 — 256" (i'jS'j).
g, 1—21 fiygoj. Zöllner begleitet den Abdruck der ersten Hälfte mit folgender
Anmerkung: „Es mag sein, dass diese Bruchstücke alter griechischer Philosophie
manchem meiner Leser zu trocken scheinen; sicherlich giebt es auch andre,
denen sie höchst interessant sind. Was der Herr Verfasser in der Einleitung
von sich selbst sagt, ist gewiss in unsern Tagen der Fall mehrerer denkenden
Männer und desto mehr bin ich demselben verbunden, dass er meiner dringenden
Bitte, dass er diese bloss zu seinem eigenen Vergnügen imternommene Arbeit
meinem Lesebuche einverleiben tnöchte, nachgegeben hat. Denen, welche nicht
ohne Ursache klagen, dass ernsthafte Studien und sonderlich Vertraulichkeit mit
den Alten jetzt zu verschwinden scheinen, kann ich unmöglich die Nachricht vor-
enthalten, dass diese männliche Einleitung zu der nachfolgenden Übersetzung
aus der Feder eines zwanzigjährigen Kavaliers geflossen und die Übersetzung
selbst schon vor zwei Jahren von ihm gemacht ist."
W. V. Humboldt, Werke. I. ^
2 I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
helleres Licht zu sezen, von denen nicht bloss die Glükseligkeit
des einzelnen Menschen, von denen die Ruhe ganzer Staaten ab-
hängt. Aber man ist verschiedene Wege eingeschlagen. Einige
haben strenge Demonstrationen gefordert, haben die Blossen der
bisherigen Beweisgründe mit kühner Hand aufgedekt, und sich in
die dunkelsten Tiefen der Metaphysik gewagt, um dort neue, un-
umstössliche zu finden. Andre haben jene Wahrheiten mehr dem
geraden Menschenverstände empfohlen, zufrieden, wenn der unein-
genommene Wahrheitsfreund sie überzeugend fände, doch unbe-
kümmert, ob ein spizfündiger Kopf noch Zweifel dagegen erregen
konnte. Beide Methoden haben ihren unstreitigen Werth. Man
muss, wenn es möglich ist. Beweise haben, die jedem Einwurf,
die jedem Zweifel Troz bieten; aber sie allein, was werden sie
wirken? Sie gleichen einem Feuer, das leuchtet, ohne zu er-
wärmen; und wenn sie Ueberzeugung hervorbringen, ist diese
Ueberzeugung darum die fruchtbare Mutter edler Gesinnungen
und Thaten? Jene andern hingegen beleben das Herz, dass es,
von den Wahrheiten der natürlichen Religion durchdrungen, die
Pflicht jedes Verhältnisses williger erfüllt, jeden Schmerz des Lebens
leichter trägt, jede Freude höher empfindet. Denn gewiss ist es
nur das Eigenthum weniger Edlen, in dem blossen Anschaun ihrer
eigenen Güte, und der Vollkommenheit des Ganzen glüklich
zu sein.
Wenn etwas unserm Zeitalter Ehre bringt, wenn etwas seine
grössere Aufklärung bewährt ; so ist es vielleicht eben diese Rich-
tung unsrer Philosophie, von der ich rede. Denn was heisst Auf-
klärung des Zeitalters, wenn nicht allgemeiner verbreitete,') vor-
urtheilfreie Schäzung der Dinge, auf denen in jedem Verhältniss
das Glük des denkenden Geistes beruht, wenn nicht die glüklichere
Wahl der Mittel zu Erreichung dieses Zweks, wenn nicht die
muthvollere Bekämpfung der Hindernisse, die diesem Zwek ent-
gegen sind? Anders den Begriff der Aufklärung bestimmt, und
Licht und Finsterniss, und fruchtbare Weisheit und todte Gelehr-
samkeit, alles ist Eins.
Dennoch ist wiederum unläugbar, dass auch eben jezt viele
sich weit von dem Wege der Vernunft und der ächten Weisheit
entfernen. Diese scheinen sich vorzüglich auf zwei ganz entgegen -
^j Der erste Druck hat „verarbeitete'^ was ich für einen Druck- oder Lese-
fehler halte.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. ^
gesezte Abwege zu verirren. Die einen stürzen nicht bloss die
Beweisgründe um, worauf die Philosophie bisher die Wahrheiten
der natürlichen Religion baute, sie läugnen diese Wahrheiten selbst,
oder machen sie wenigstens durch Sophistereien von mancherlei
Art so zweifelhaft und ungewiss, dass sie alles das Ermunternde
und Beruhigende verlieren, was sie den Weisen aller Zeiten so
schäzbar und ehrwürdig machte. Gehn sie vielleicht seit kurzem
eine andre Bahn, folgen sie nicht mehr, blind gehorsam, den
Pfaden Epikurs, und seines Nachahmers Lukrez, und sind auch
ihnen gedankenloses Ohngefähr, und bildende Natur nur leere
Schälle, ohne Sinn; so leihen sie dafür jezt die Waffen der spiz-
fündigsten Metaphysik; so erschüttern sie die Gewissheit aller
menschlichen Erkenntniss bis in ihre ersten Grundfesten ; so lassen
sie zwar der menschlichen Vernunft die N o t h w e n d i g k e i t , diess
für Wahrheit zu halten. Aber wenn sie fragen: ob es auch
Wahrheit sei? — führen sie uns dann nicht durch diesen höchsten
Grad des Skepticismus zu eben dem Resultate als ihre ^^orgänger?
Die andern hingegen nehmen zwar die Wahrheiten der Pveligion
an, aber sie sprechen der Vernunit die Fähigkeit ab, sie beweisen
zu können ; sie wollen nicht raisonniren, sie wollen glauben ; nicht
denken, sondern empfinden. Denn diess, dünkt mich, sind die
charakteristischen Kenntnisse der Schwärmer, von denen unser
Zeitalter uns nur zu viele Beispiele aufstellt. Was Wunder, wenn
man auf einem solchen Wege leicht ausgleitet? Wer der kalten
Vernunft folgt, hat einen sichern Führer, hat feste Regeln, die ihn
bald erinnern, wenn er sich vielleicht einmal vom Wege der Wahr-
heit entfernt. Aber wer führt uns, wenn wir uns bloss dunklen
Gefühlen, Ahndungen, Träumen überlassen? wer bewahrt uns
dann vor Glauben an Visionen, an Prophezeiungen, und Wunder-
kuren, und vor jeder andern Verirrung des menschlichen Ver-
standes ?
Gleichzeitige Erscheinungen von so ganz verschiedener Natur
haben in der That etwas Befremdendes. Es scheint sonderbar,
den blindesten Glauben neben der erklärtesten Zweifelsucht zu sehn.
Dennoch ist diess Phänomen in der Geschichte des menschlichen
Verstandes nicht selten, so wenig selten, als bei dem nemlichen
Menschen der Uebergang vom Unglauben zur Schwärmerei, oder
vom Allglauben zum Nichtsglauben. Auch sind diese Uebergänge
in der That weniger unerklärbar, als sie es beim ersten Anblik
scheinen. Wenn der eine die Frucht des gewöhnlichen Unter-
A I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
richts sein mag; so haben, um den andern begreiflich zu machen,
unpartheiische Wahrheitsforscher schon längst gezeigt, wie leichten
Eingang die Grundsäze der natürlichen Religion in die Köpfe und
Herzen der Menschen finden, wie beides ihre Einfalt und ihre
Fasslichkeit sie dem Verstände empfehlen, und wie dieser erst
gleichsam verstimmt sein müsse, um ihnen seinen Beifall zu ver-
sagen. Diejenigen also, welche jene Wahrheiten läugnen, sind
selten gewohnt, eigene Untersuchungen mit Schärfe und Genauig-
keit anzustellen. Auch ist es bequemer, dasjenige System unge-
prüft anzunehmen, was den Neigungen und Leidenschaften am
meisten schmeichelt, was der Mühe eines beschwerlichen Nach-
denkens überhebt. Dennoch finden sich oft in ihrem Leben Ver-
hältnisse, wo auch sie das Bedürfniss einer beruhigenden Ueber-
zeugung fühlen, einer Ueberzeugung, die sie in ihren ehemaligen
Grundsäzen vergebens suchen, und da sie nicht gewohnt sind zu
raisonniren, so glauben sie.
Unter diesen Umständen, bei diesen häufigen Angriffen auf
Vernunft und Wahrheit von der einen, und den eben so häufigen
Vertheidigungen derselben von der andern Seite, schien es mir
nicht uninteressant zu sein, einmal zu untersuchen, wie man in
den blühendsten Zeiten Athens und Roms über diese Gegenstände
gedacht habe. Ich fasste daher den Vorsaz, aus den philosophischen
Schriften der Griechen und Römer mehrere Stükke, welche diese
Materie behandeln, in unsre Sprache zu übersezen, und zu ver-
suchen, ob ich sie zu einem Ganzen ordnen könnte. Unter
mehreren Vortheilen, die ich mir von dieser Arbeit versprach,
schien sie mir vorzüglich die Vergleichung zwischen unsrem, und
jenem Zeitalter erleichtern zu können — eine Vergleichung, die
gewiss in mehrern Rüksichten wichtig sein würde, zu welcher
aber auch die gleich beim ersten Anblik auffallende Aehnlichkeit
beider Perioden in dem beständigen Kampfe der Wahrheit und
Vernunft gegen Zw^ifelsucht und Schwärmerei eine angenehme
Veranlassung giebt. Zwar bedarf die Wahrheit zu ihrer Empfeh-
lung keiner Autoritäten; es ist vielmehr gefährlich, sich ihrer zu
dieser Absicht zu bedienen. Allein dennoch scheint sie gleichsam
an Würde, an Stärke der Ueberzeugung zu gewinnen, wenn man
sieht, mit welchem Eifer die Weisen des Alterthums sie behauptet
haben, nachdem sie dieselben fast auf eben den Wegen, als die
Forscher neuerer Zeiten, gefunden hatten; und aus gleichem
Grunde erscheinen Zweifel und Angriffe minder gefährlich, die
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. c
man auch damals schon mit so wenig glüklichem Erfolge versucht
hat. Besonders aber könnte diese Vergleichung zu einem richti-
geren Unheil über unser Zeitalter Veranlassung geben. Die Be-
trachtung der Höhe, zu der die Philosophie in unsren Tagen
gestiegen ist, kann leicht dazu verführen, mit undankbarer Ver-
gessenheit dessen, was die heutige Philosophie den älteren grie-
chischen und römischen Weltweisen schuldig ist, unser Jahrhundert
für unendlich aufgeklärter, als alle vorhergehenden, zu halten.
Und eben so kann auf der andern Seite der Anblik so grosser
Verirrungen des Verstandes, und der so häufigen Uebel, welche
Zweifelsucht und Schwärmerei hervorbrachten, zu Ungerechtig-
keiten gegen unser Zeitalter, und zu einem Urtheil verleiten, das
demselben die Stufe der Aufklärung abspricht, auf der es steht.
Noch mehr wurde ich in dem Vorsaze, diese Uebersezungen zu
verfertigen, bestärkt, da ein Mann, in dem Deutschland schon
längst nicht bloss einen seiner scharfsinnigsten Philosophen, sondern
auch einen seiner feinsten Schriftsteller verehrt, und dem ich den
grössten Theil meiner Bildung schuldig zu sein mit innigster
Dankbarkeit bekenne, dieser Idee seinen Beifall schenkte. Auch
war ich schon zur Ausführung geschritten, als andre Beschäf-
tigungen, andre Studien, besonders aber das Gefühl der Schwierig-
keiten, und meiner nicht hinreichenden Kräfte bei meiner Arbeit,
die neben der ausgebreitetsten Bekanntschaft mit den Werken der
neuern Weltweisheit zugleich die grösste Belesenheit in den
Schriften der Alten, und eine nicht gemeine Kenntniss ihrer Philo-
sophie erfordert, als, sag' ich, alle diese Gründe mich nöthigten,
die bereits angefangene Arbeit wdeder aufzugeben. Ich lasse indess
hier einige Fragmente, die ich vollendet hatte, folgen, und ich
werde glauben, nichts ganz unnüzes gethan zu haben, wenn diese
Probe vielleicht einem Manne von grösserer Sach- und Sprach-
kenntniss Veranlassung giebt, seine Müsse der Ausführung dieses
Planes zu widmen.
Die hier übersezten Stükke hab' ich aus dem Piaton und
Xenophon gewählt. Ueberaus vortreflich ist gewiss Piatons Be-
weis für das Dasein Gottes. Wenigstens hat uns die Philosophie
noch bis auf den heutigen Tag keinen besseren und überzeugen-
deren geliefert. Herr Gan-e sagt in seinen Anmerkungen zu
Fergusons Grundsäzen der Moralphilosophie: .,Mich dünkt, die
Frage: ist ein Gott.' wenn sie auf die ersten Grundbegrille zurük-
geführt wird, woraus sie entstanden war, ist keine andre, als diese :
ß I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
ist das Denken der Grund aller Bewegung, oder ist die Bewegung
der Grund des Denkens ? sind die mechanischen Kräfte die Quelle
der geistigen, oder die geistigen Kräfte die Quelle der körper-
lichen?" und in einer andern Stelle: „Der, welcher glaubt, dass
der Geist und die denkende Kraft das erste und älteste war; dass
diese Kraft ursprünglicher und unabhängiger ist, als die Kräfte
der Materie ; dass durch sie die Bewegungen der Körperwelt ihren
Ursprung nahmen: der ist der Deist im allgemeinsten Verstände." \)
Was aber sucht Piaton so sehr, und mit so vielen Gründen
zu beweisen, als eben dieses, dass das Immaterielle — was er
unter dem Ausdruk: Seele versteht — früher existirte, als die
Körperwelt; dass diese erst durch jenes geordnet, und in Bewegung
gesezt ward? Es wäre hier eine nicht unschikliche Gelegenheit
zu weitläuftigeren Untersuchungen, worin der Zusammenhang
dieser Ideen des Piaton mit andern Systemen seines Zeitalters ge-
zeigt werden könnte; allein ich muss mich begnügen, nur Eine
Anmerkung hinzuzufügen, die vielleicht zum besseren Verständniss
des Folgenden nicht unnüz sein wird. Piaton redet bloss von
Bewegung, und scheint keine andre Veränderung in der Natur zu
kennen. Die neuere Philosophie reduzirt alle Veränderungen auf
zwei Klassen, auf Vorstellung und Bewegung — jene in der
Geister-, diese in der Körperwelt. Ich lasse es jezt unerörtert, in
wiefern alle Veränderungen der Körper auf den einzigen Begriff
der Bewegung zurükgeführt werden können. Genauere Unter-
suchungen über die Beschafli'enheit unsrer Sinne, und die Art, wie
sie Eindrükke von aussen her empfangen, scheinen andre Resultate
zu geben. Aber die ausführlichere Auseinandersezung dieser
Materie würde mich zu weit von meinem Zwek entfernen. Auf
alle Fälle hat Piaton die Art, wie Geister, und wie Körper wirken,
nicht gehörig von einander unterschieden, sondern Vorstellung
und Bewegung in Eine Klasse geworfen; ein Fehler, der indess
in einem Zeitalter, wo die Begriffe von der Immaterialität der
Seele noch so wenig allgemein, und gereinigt waren, desto ver-
zeihlicher ist, da noch jezt manche Philosophen in einen ähnlichen
Irrthum zu verfallen scheinen.
Xenophons Beweise sind weniger streng und genau, aber desto
fasslicher für den Menschenverstand, desto empfehlender für
das Herz!
V Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie S. j^8. j^g; die
Übersetzung erschien Leipzig lyyj.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. n
Die Einwürfe gegen diese Beweisthümer sind schon eben die,
welche man nachher in so verschiedenen Einkleidungen wieder-
holt hat.
Wenn man den Piaton das System seiner Gegner vortragen
hört, so sollte man glauben, er habe es aus la Mettrie, oder dem
Systeme de la natiire entlehnt. Eben die Ideen von einem blinden
Verhängniss, von einer ordnenden Natur, von Bewegungen in
der Materie ohne bewegende Ursach. Auch die Einwürfe gegen
die Vorsehung sind noch jezt fast die nemlichen. Ist das Auge
darum zum Sehen geschaflen, weil es zum Sehen bequem ist?
Ist es der Würde der Gottheit nicht unanständig, auch für das
Einzelne, für das Kleine zu sorgen? Warum, wenn eine weise
Güte die Schiksale der Menschen lenkt, ist das Laster so oft glük-
licher, als die Tugend? u. s. f.
Ich sollte mich vielleicht noch einen Augenblik dabei ver-
weilen, zu zeigen, dass es auch in dem Zeitalter der Sokrate und
Piatone Schwärmer und Betrüger, wie jezt, gab, und dass nur
■\delleicht die Mittel verschieden waren, deren sie sich zu ihren
Zwekkeii bedienen. Es würde mir leicht werden, mehrere Stellen,
als Beläge hiezu, selbst aus dem Piaton zu sammlen, der sich in
den bittersten Ausdrükken über sie beklagt, und ihnen im loten
Buch seiner Geseze kein mildes Schiksal bestimmt.^) Allein
grossentheils sind diess bekannte, schon mehrmals gesagte Dinge,
und noch neuerlich hat Herr Wolf diese Materie ausführlich ab-
gehandelt.-)
Xenophons Denkwürdigkeiten des Sokrates.
B. I. K. 4.3)
Sokrates und Aristo dem.
Sokrates erfuhr, dass Aristodem der Kleine (so nannte man
ihn) weder den Göttern opferte, noch die Orakel befragte, sondern
'^) Die Erörterung Piatons, auf die hier Bezug genommen wird, findet sich
in den Gesetzen S. goga.
-) Im Septemberheft lySy der Berlinischen Monatsschrifi fio, 20g) veröffent-
lichte Friedrich August Wolf einen Aufsatz „Ein Beitrag zur Geschichte des
magnetischen Somnainbulismus aus dem Altertum", worin er ausführlich die
antiken Nachrichten über Kuren durch divinatorischen Schlaf behandelt.
y Die Übersetzung beginnt mit dem -j. und schließt mit dem 18. Paragraphen
des Kapitels.
g I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
jeden, den er diess thun sah, verlachte. Hör einmal, sprach er
eines Tages zu ihm, hast Du wohl schon Menschen wegen ihrer
Geschicklichkeiten, wegen ihrer Talente bewundert?
„O ja, schon oft, Sokrates," antwortete Aristodem.
Und diess wären?
„In der Epopee Homer, im Dithyramb Melanippides, im Trauer-
spiel Sophokles, in der Bildhauerkunst Polyklit, in der Mahlerei
Zeuxis."
Aber wer verdient Deinem Urtheile nach mehr Bewunderung :
der Künstler, der unbeseelte, unbewegliche Bilder hervorbringt,
oder der Schöpfer beseelter, selbstthätiger Wesen?
„Offenbar der leztere, Sokrates, vorausgesezt, dass er nicht
zufälligerweise, sondern mit Absicht handle."
Wo Du also einen augenscheinlichen Zwek, einen augenschein-
lichen Nuzen siehst, schreibst Du das dem Zufalle, oder einer
verständigen Absicht zu ?
„Wenn ein Zwek da ist, offenbar einer verständigen Absicht."
Der nun, welcher die Menschen zuerst schuf, beabsichtigte
doch wohl nur ihren Nuzen, indem er ihnen die sinnlichen Werk-
zeuge beilegte : das Auge, um, was sichtbar ist, zu sehn, das Ohr,
um, was hörbar ist, zu hören? Wozu dienten ihnen alle Gerüche,
hätte er ihnen nicht eine Nase gegeben, sie zu empfinden? Wie
könnten sie das Süsse und Scharfe schmekken, wie alles das Ver-
gnügen geniessen, das ihnen der Gaumen verschaft, hätten sie
nicht die Zunge von ihm erhalten, durch die sie die verschiedenen
Arten des Geschmaks unterscheiden? Scheint es Dir nicht ferner
eine absichtsvolle Einrichtung zu sein, dass unser Auge, weil es
so überaus empfindlich ist, durch die Augenlieder, wie durch
Thüren, verschlossen wird, die sich öfnen, so oft wir das Auge
zum Sehen brauchen, und sich im Schlaf wieder schliessen; dass
die Augenwimpern die Stelle eines Schleiers*) vertreten, damit
auch die Luft dem Auge nicht schade; dass die Augenbraunen,
gleich einem Dache, den Seh weiss, der etwa vom Kopfe herab-
träufelt, abhalten; dass das Ohr alle Schälle empfängt, und nie
*) r)&fiov, ein Seigetuch, Durchschlag. Diese Metapher schien mir im Deutschen
unverständlich. Auch Cicero in seiner Nachahmung dieser Xenophontischen Stelle hat
sie nicht beibehalten. Er sagt vallo pilorum, Nat. Deor. II. 57. ^)
') „Munitaeque sunt palpebrae tamquam vallo pilorum, quibus et apertis oculis,
si quid incideret, repelleretur et somno conniventibus, cum oculis ad cernendum non
egereraus, ut qui tamquam involuti quiescerent" De natura deorum 2, 143.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. q
voll wird ; dass die Vorderzähne bei allen Thieren mehr zum Zer-
schneiden, die Bakkenzähne mehr zum Zermalmen bestimmt sind ;
dass der Mund, durch den alle Thiere die Speisen, die sie lieben,
geniessen, nah an die Augen und an die Nase gestellt ist; dass
hingegen das, was Ekel erregt, durch Kanäle abgeführt wird, die
weit von den sinnlichen Werkzeugen entfernt sind? Kannst Du
alle diese absichtsvollen Einrichtungen dem Zufalle zuschreiben,
oder vielmehr, kannst Du nur noch darüber zweifelhaft sein?
„Nein, in der That nicht, Sokrates ; sondern ich erkenne darin,
wenn ich es so betrachte, das Werk eines Urhebers, der weise,
und für die Lebendigen mit zärtlicher Liebe besorgt ist."
Und noch mehr. Dass allen Menschen die Begierde ange-
bohren ist, andere Geschöpfe ihrer Art her\-orzubringen, dass den
Müttern vorzüglich die Neigung eingepflanzt ist, ihre Jungen zu
ernähren, und zu beschüzen; diess, so wie die heftige Liebe zum
Leben, und die eben so heftige Furcht vor dem Tode, die jeder
Kreatur eigen ist. zeigt gewiss von den Anordnungen eines Wesens,
welches das Dasein und die Erhaltung der Lebendigen will. Aber
auch auf einem andern W^ege kannst Du Dich von der Wirklich-
keit eines solchen Wesens überzeugen. Du glaubst doch Verstand
zu besizen, nicht wahr?
„O ! Frage weiter, lieber Sokrates. und ich werde Dir ant-
worten."
Ausser Dir aber sollte es nichts Verständiges mehr geben?
Du weisst doch, dass Du von allen den Substanzen, aus welchen
Dein Körper zusammengesezt ist, immer nur einen kleinen Antheil
empfangen hast; dass von einer jeden noch eine ungeheure Menge
ausser Dir in der übrigen Welt zerstreut ist. In welchem Ver-
hältnisse steht z. B. die wenige Erde und das wenige Wasser in
Deinem Körper gegen die Masse der Erde und des Wassers, die
noch ausser Dir existirt? Und den Verstand solltest Du durch
ein glükliches Ohngefähr allein an Dich gerissen haben? Nur der
sollte ausser Dir nirgends vorhanden sein? Und alle jene bewun-
dernswürdigen, zahllosen Dinge sollten ihre vortrefliche Ordnung
unverständigen Ursachen danken?
„Doch, Sokrates. Denn ich sehe ja nirgends die Schöpfer
und Beherrscher der Erde, so wie ich die Künstler irrdischer
Kunstwerke sehe."
Aber Du siehst auch Deine eigene Seele nicht, und doch be-
herrscht sie Deinen Körper. Du könntest also auch mit gleichem
10
I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
Rechte Deine eigenen Handlungen dem Zufalle, nicht der Ueber
legung zuschreiben.
„Ich verkenne, ich verachte ja auch die Gottheit nicht, er-
wiederte Aristodem ; ich halte sie ja vielmehr für ein zu erhabenes
Wesen, als dass sie meines Dienstes bedürfte."
Je erhabener das Wesen ist, Aristodem, das Dich seiner Sorg-
falt würdigt, desto mehr solltest Du es ehren.
„Ich würde die Götter auch nicht vernachlässigen, Sokrates,
wenn ich nur glaubte, dass sie sich um die Menschen bekümmerten."
Und Du kannst noch daran zweifeln? Den Menschen allein
unter allen Thieren stellten sie aufrecht: ein Vortheil, durch den
er nicht allein weiter um sich blikken, und den Himmel und die
Gestirne, und alles, was über ihm ist, besser betrachten kann,
sondern wodurch er auch mehr vor Gefahren gesichert ist. Allen
übrigen Thieren gaben sie nur Füsse, um sich damit von einem
Orte zum andern zu bewegen ; nur der Mensch empfing noch die
Hände, und durch sie fast alle die Vortheile, welche ihn glük-
licher machen, als es die Thiere sind. Alle Thiere sind mit einer
Zunge versehn; doch nur die Zunge des Menschen ist so gebildet,
dass sie durch tausend mannigfaltige Bewegungen artikulirte Töne
hervorbringt, durch die wir einander unsere Gedanken, w^e es
uns gefällt, mittheilen können. Die Vergnügungen der Liebe
endlich sind allen übrigen Thieren nur in einer gewissen, be-
stimmten Zeit des Jahres vergönnt; uns allein steht es frei, sie
bis ins Alter ununterbrochen fortzugeniessen. Aber Gott begnügte
sich nicht, nur für unsern Körper zu sorgen; er verlieh (und
diess ist sein wichtigstes Geschenk) auch dem Menschen die voll-
kommenste Seele. Denn wo ist ein Geschöpf auf dem Erdboden
ausser dem Menschen, dessen Seele sich emporzuschwingen ver-
möchte bis zum Dasein der Götter, die so viele grosse erhabene
Dinge so bewundernswürdig geordnet haben? Wer ausser dem
Menschen verehrt sie ? Welches Thier ist fähiger, als der Mensch,
sich vor Hunger, oder Durst, oder Kälte, oder Hize zu verwahren,
sich in Krankheiten zu heilen, seinen Leib zu stärken und aus-
zubilden, neue Kenntnisse zu erwerben, und, was es gehört, ge-
sehen, erfahren hat, ins Gedächtniss zurükzurufen? Und doch
bist Du noch nicht überzeugt, dass der Mensch in Vergleichung
mit den übrigen Thieren gleich einem Gotte lebt, und sich eben
so sehr durch die \^orzüge seines Körpers, als durch die Vorzüge
seines Geistes über sie erhebt? Ich sage durch beide. Denn
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. 1 1
verbände er z. B. den Leib eines Stiers mit der \^ernunft eines
Menschen; so würde er nicht nach seinem Wohlgefallen handeln
können. Auf der andern Seite haben die Thiere, welchen die
Natur zwar Hände, aber nicht menschliche Vernunft gab, nichts
voraus. Wie kannst Du also. Du, der Du beide so wichtige Vortheile
in Dir vereinigst, noch zweifeln, ob die Götter für Dich Sorge
tragen? Was müssten sie denn thun, um Dich zu überzeugen?
„Sie müssten mir Rathgeber senden, wie Du sagst, dass sie
thun, um mich in meinen Handlungen zu leiten."
Aber wenn sie den Athenern durch Orakel weissagen, weis-
sagen sie dann nicht auch Dir? Und nicht eben so, wenn sie
allen Griechen, oder dem ganzen Menschengeschlechte Zeichen
und Vorbedeutungen senden? Oder bist Du immer allein ausge-
schlossen, immer allein vernachlässigt? Glaubst Du wohl, dass
die Götter den Menschen das Vorurtheil eingepflanzt hätten, als
wären sie fähig, ihnen Gutes und Böses zuzufügen, wenn sie diese
Macht nicht wirklich besässen? Würden denn die Menschen die
Täuschung so viele Zeitalter hindurch nicht inne geworden sein?
Und siehst Du nicht auch, dass die ältesten und weisesten unter
den Sterblichen, die ältesten und weisesten Städte und Nationen
die Götter am meisten verehrten, und dass die aufgeklärtesten
Zeitalter auch die meiste Religion besässen? Bedenke, Lieber,
fuhr Sokrates fort, dass Deine Seele Deinen Körper nach ihrer
Willkühr regiert. Sollte nun nicht eben so auch die Seele des
Weltalls alle Dinge nach ihrem Gefallen beherrschen ? Dein Auge
reicht auf mehrere Stadien hinaus, und das Auge der Gottheit
sollte nicht alles auf einmal überschauen können? Deine Seele
kann sich um Dinge, die hier, die in Aeg}'pten, die in Sicilien
vorgehn, bekümmern; und dem göttlichen Verstände sollte es un-
möglich sein, für alles auf einmal Sorge zu tragen? So wie Du
im Umgange mit Menschen durch Gefälligkeiten und Dienste, die
Du ihnen leistest, diejenigen kennen lernst, die Dir wieder Dienste
und Gefälligkeiten erweisen wollen; so wie Du ihre Klugheit
prüfst, indem Du sie um Rath fragst; so mache es auch mit den
Göttern. Diene ihnen, und versuche, ob sie Dir vielleicht etwas
von dem entdekken, was den Menschen verborgen ist; und Du
wirst gewiss die Gottheit für ein so grosses, so erhabenes Wesen
erkennen, dass sie alles auf einmal überschauen, alles wahrnehmen,
überall zugleich gegenwärtig sein, und ihre Sorgfalt auf alles er-
strekken kann.
12 I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
B. IV. K. 3.1)
Sage mir, sprach eines Tages Sokrates zum Euthydem, ist es
Dir wohl je eingefallen, darüber nachzudenken, wie gütig die
Götter für alle Bedürfnisse der Menschen gesorgt haben?
„Noch nie, Sokrates," erwiederte Euthydem.
Aber sie gaben uns doch, um diess zuerst zu erwähnen, das
Licht; und Du weisst doch, dass wir dessen bedürfen?
„Allerdings. Denn vermöge der Einrichtung unsres Auges
würden wir ohne Licht den Blinden ähnlich sein."
Wir bedürfen ferner der Ruhe; und sie haben dazu die be-
quemste Zeit, die Nacht, geschaffen.
„Auch diess verdient unsern Dank."
Die Sonne, die ein lichtvoller Körper ist, zeigt uns die Zeiten
des Tages an, und erleuchtet alle Gegenstände für unser Auge.
Weil aber die Nacht finster ist, und alle Gegenstände unkenntlich
macht; so lassen die Götter die Gestirne aufgehen, welche die
Zeiten der Nacht bestimmen, und uns eine Menge unsrer Ge-
schäfte erleichtern. Und der Mond deutet uns nicht nur die
Theile der Nacht, sondern auch die Theile des Monats an.
„Allerdings."
Ferner lassen die Götter die Nahrung, die wir brauchen, auf
dem Erdboden wachsen, lassen dazu schikliche Jahrszeiten mit
einander abwechseln, und verschaffen uns dadurch tausend mannig-
faltige Dinge, nicht allein zu unserm Nuzen, sondern auch zu
unserm Vergnügen.
,Auch diess zeugt von ihrer Liebe für die Menschen."
Sie haben uns auch das Wasser gegeben, dessen Nuzen für
uns so vielfach ist. Denn durch das Wasser keimen und wachsen
mit Hülfe der Erde und der Jahrszeiten alle uns nüzliche Pflanzen;
das Wasser ernährt uns selbst, und macht alle unsre Speise ver-
daulicher, gesunder, und angenehmer. Und eben darum, weil wir
desselben zu so vielem Gebrauche bedürfen, haben sie es uns auf
das reichlichste mitgetheilt.
„Abermals ein Beweis ihrer Fürsorge !"
Nebst dem Wasser haben sie uns das Feuer verliehen, das
V Die Übersetzung beginnt mit dem j. und schließt mit dem i-j. Paragraphen
des Kapitels.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. I •>
uns gegen Kälte und Finsterniss schüzt, und zu jedem Handwerk,
zur Verfertigung aller den Menschen nüzlichen Werlvzeuge noth-
wendig ist. Denn fast keins von allen Geräthen, die vvär im
Leben brauchen, wird ohne Feuer verfertigt.
„Auch diess zeigt eine überschwengliche Sorgfalt für die
Menschen.''
Und ist es nicht wunderbar, dass sie uns von allen Seiten so
reichlich mit Luft umgössen haben, durch die wir nicht nur unser
Leben erhalten, sondern die Meere durchschiften, um uns einer
dem andern unsre Bedürfnisse aus den entferntesten Gegenden
zuzuführen? nicht wunderbar, dass die Sonne, wenn sie sich im
Winter wendet, zu uns kommt, einige Pflanzen zur Reife bringt,
andere, deren Zeit vorüber ist, troknet, dass sie sich, nach Vollen-
dung dieses Geschäfts, nicht weiter nähert, sondern gleichsam aus
Furcht, uns durch zu grosse Hize zu schaden, sich von neuem
wegwendet, darauf, weil wir, gienge sie noch weiter fort, vor
Kälte erstarren müssten, wieder umdreht, sich uns abermals nähert,
und den Standpunkt am Himmel wählt, der für uns der vortheil-
hafteste ist?
„Allerdings scheint auch diese Einrichtung den Xuzen der
Menschheit zu beabsichten."
Und das gewiss nicht minder, dass die Sonne sich so allmählich
nähert, und so allmählich wieder entfernt, dass wir, ohne es selbst
zu merken, den äussersten Grad beider Arten von Witterung er-
reichen. Denn wir würden gewiss weder die Hize, noch die Kälte
ertragen können, wenn sie auf einmal einbrächen.
„Sehr richtig, Sokrates; nur das Eine überleg' ich noch, ob
die Götter wohl noch eine andere Absicht hatten, als für die
Menschen zu sorgen; und da stosse ich nur bei der einzigen Be-
trachtung an, dass doch auch die Thiere alles diess mit uns ge-
niessen.''
Gut, Euthydem, sind aber die Thiere nicht selbst zu unserm
Nuzen geschaffen? Denn welches Thier zieht wohl so viel Vor-
theile von den übrigen Thieren, als der Mensch, dem sie noch
mehr Nuzen gewähren, als selbst die Pflanzen? Wenigstens nährt
und bereichert er sich durch sie, nicht weniger als durch diese.
Viele Völker bedienen sich gar nicht der Erdfrüchte zu ihren
Speisen, sondern leben bloss von der Milch, von dem Käse, von
dem Fleisch ihrer Heerden; und überall werden die nüzlichsten
H
I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
Thiere gebändigt und zahm gemacht, und als Gehülfen im Kriege,
und in tausend andern Geschäften gebraucht.*)
„Auch hierin muss ich Dir Recht geben. Denn täglich sieht
man selbst diejenigen unter ihnen, die weit stärker als der Mensch
sind, ihm so unterthan werden, dass er sich ihrer nach Gefallen
bedienen kann."
Es giebt so viele nüzliche vortrefliche Dinge, die aber von
verschiedener Natur und Beschaffenheit sind. Daher verliehen uns
die Götter für eine jede Gattung derselben angemessene sinnliche
Werkzeuge, durch die wir alle diese Güter geniessen. Ausserdem
aber machten sie uns durch den Verstand fähig, uns an ehemalige
sinnliche Empfindungen zu erinnern, Folgerungen daraus zu ziehn,
auf diese Weise die Brauchbarkeit jedes einzelnen Dinges kennen
zu lernen, und Veranstaltungen zu treffen, wie wir das Nüzliche
geniessen, und das Schädliche vermeiden können. Und dass sie
uns die Sprache verliehen, durch die wir einander Unterricht über
alles Nüzliche mittheilen, in Gesellschaft leben, Geseze geben, und
Staaten verwalten können!
„Du hast Recht, Sokrates, die Götter tragen gewiss eine grosse
Sorgfalt für uns."
Auch bei zukünftigen Dingen, und wann wdr nicht im Stande
sind, vorauszusehn, was uns nüzlich sein wird, helfen sie uns, ent-
hüllen uns auf unser Befragen durch Orakel die Zukunft, und
lehren uns, wie sie am besten für uns ausfallen werde.
*) Sokrates schränkt hier die Liebe und Sorgfalt der Gottheit in viel zu enge
Gränzen ein. Bei allen ihren wohlthätigen Einrichtungen soll sie bloss den Nuzen
der Menschen beabsichtet, die Thiere bloss seinetwegen geschaffen haben. Weit edler,
der Gottheit weit würdiger ist es gewiss, alle Lebendigen zum Zwek der gütigen Ver-
anstaltungen des Schöpfers zu machen. Und diese Wahrheit ist auch in der Natur un-
verkennbar. Freilich nüzen die Thiere dem Menschen, freilich sind sie seinetwegen
geschaffen. Allein diess ist nicht ihre einzige, nicht einmal ihre vorzüglichste Bestim-
mung. Sie sind geschaffen, um Wohlsein zu geniessen ; denn sie sind des Wohlseins
fähig. Aber der Schöpfer verband immer mehrere Endzwekke mit einander. Daher
sollen sie auch die Glükseligkeit der Menschen befördern. Befördern nicht auch gegen-
seitig die Menschen das Wohlsein der Thiere? Sind nicht auch sie wiederum wegen
der Thiere geschaffen ? Denn nirgends in der ganzen Schöpfung kann man sagen : diess
ist das Mittel, diess ist der Zwek. Alles ist Mittel, alles ist Zwek. — Aber Sokrates,
oder vielmehr Xenophon, bedarf keiner Vertheidigung wegen dieser Stelle. Wenn er
sich so einseitig ausdrükt ; so folgt daraus nicht, dass er sich wirklich so eingeschränkte
Begriffe von den Absichten Gottes machte. Er wollte hier bloss den Einwurf des
Euthydem beantworten, und dazu war, was er sagte, schon hinlänglich.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
15
„Dich, Sokrates, scheinen sie hierin noch mehr zu begünstigen,
da sie Dir, auch unbefragt. anzeigen, wie Du handien sollst."
Doch auch Du, Euthydem, wirst gewiss erfahren, dass ich die
Wahrheit rede; warte nur nicht, bis Du die Gestalten der Götter
erblikst, sondern begnüge Dich, sie aus ihren Werken zu erkennen,
um sie zu verehren und anzubeten. Bedenke nur, dass diess die
Art ist, wie Götter sich otfenbaren. Denn auch die übrigen Wesen
in der Natur, die uns Wohlthaten erweisen, thun diess nicht vor
unsern Augen ; und der, welcher die ganze Welt, in der so viel
Schönes, so viel Vortrefliches ist, geschaffen hat, und fortdauern
lässt, der sie zu unsrem Nuzen ewig unentkräftet, ewig blühend,
und unveraltet erhält, dem sie unwandelbar, und schneller als ein
Gedanke gehorcht; er ist zwar in seinen erhabenen Wirkungen
sichtbar, allein ihn selbst, wie er diess anordnet, sehen wir nicht.
Verstattet denn selbst die Sonne, die doch allen sichtbar ist, starr
in sie hineinzusehn ? Blendet sie nicht das Auge, das sie verwegen
anzublikken wagt ? Auch die Diener der Gottheit sind unsichtbar,
wie Du finden wirst. Wir werden wohl gewahr, dass der Bliz
von oben herabfahrt, dass er zerschmettert, worauf er stösst ; aber
wie er herabschiesst, wie er trift, wie er wieder verschwindet,
sehen wir nicht. Eben so ist es auch mit dem Winde. Wir be-
merken seine Wirkungen, wir empfinden sein Annähern, aber ihn
selbst sehen wir nicht. Ferner : wenn irgend etwas Vervv^andtschaft
mit der Gottheit hat, so ist es gewiss unsre Seele; und auch sie
sehen wir nicht, fühlen nur, dass sie uns beherrscht. Alles diess
muss man erwägen, nicht, was unsichtbar ist, geringschäzen, sondern
die Macht aus den Wirkungen erkennen, und darum die Gottheit
verehren.
„Gewiss, lieber Sokrates, ich werde sie nie, auch nicht in dem
kleinsten Stükke vernachlässigen. Nur das macht mich muthlos,
dass, wie es mir scheint, kein Sterblicher im Stande ist, die Wohl-
thaten der Götter mit gleichem Dank zu erwiedern."
Werde darum nicht muthlos, Euthydem. Du erinnerst Dich
wohl noch, dass jemand das Orakel zu Delphi fragte, wie er den
Göttern wohlgefällig werden könne. Durch das Gesez des
Staats, war die Antwort des Gottes. Nun ist es überall Gesez,
sich die Götter nach seinem Vermögen durch Opfer günstig zu
machen. Kann man sie aber besser, frömmer verehren, als wie
sie selbst es gebieten?*) Allein man muss nicht weniger thun,
*) Man tadelt vielleicht die Anwendung, welche Xenophon hier von dem in der
jQ I. Sokrates und Platon über die Gottheit,
als man vermag. Sonst zeigt man, dass man sie nicht achtet.
Man muss sie aus allen Kräften verehren, und dann mit Zuver-
sicht die grosseste Glükseligkeit von ihnen erwarten. Von welchen
andern Wesen auch, als von ihnen, da sie die wichtigsten Wohl-
thaten zu gew^ahren im Stande sind, dürfte man sich grössere
Hofnungen machen ; und auf welche andre Weise, als wenn man
ihnen zu gefallen strebt ? Aber gefallen kann man ihnen nur durch
den strengsten Gehorsam.
Platon.
Zehntes Buch der Geseze. *)
Einst auf einer Reise nach Kreta begegnete Platon nahe bei
Gnossus dem Megill und Ivlinias. Der erstere war ein Sparter,
der andre ein Kreter, und beide hatten von den Gnossiern den
Auftrag erhalten, Anführer und Gesezgeber eines neuen Pflanz-
volks zu werden. Diess gab zu häufigen Unterredungen über die
Gesezgebung zwischen ihnen und dem Platon Anlass, und aus
diesen Gesprächen entstanden die vortreflichen Bücher über die
Geseze ; worin also nicht, wne sonst, Sokrates, sondern Platon selbst
unter dem Namen des Athenischen Fremdlings auftritt.
Den ganzen Plan des Platonischen Werks zu entwikkeln, ge-
hört nicht zu meiner gegenwärtigen Absicht; ich begnüge mich,
nur den Zusammenhang anzuzeigen, in dem die folgende Unter-
That so vortreflichen Orakelspruch bloss auf Opfer und äusserlichen Gottesdienst
macht. Allein er bleibt doch dabei nicht stehn, er empfiehlt doch auch Gehorsam,
Vertrauen, Liebe gegen die Götter. Uebrigens ist sowohl diese Stelle, als so viele
andre in den obigen Gesprächen ein Beweis, wie ehrwürdig und heilig den weisesten
Männern zu allen Zeiten die Religion des Staates war, weil sie einsahn, dass aus ihr
allein der grösste Theil der Bürger seine Verbindlichkeiten gegen den Staat, und gegen
seine Mitbürger herleitet, dass er auf sie allein alle seine Hofnungen baut, und nur im
Vertrauen auf sie sein Leben für das Vaterland wagt. In der Periode, in welcher
Sokrates lebte, kam nun noch hinzu, dass sich überhaupt fast gar keine Aufklärung
fand, dass jezt allgemeinbekannte Wahrheiten bloss geheim gehaltnes Eigenthum einiger
wenigen Weisen blieben, und dass Religion und Staatsverfassung zu nah mit einander
verbunden waren, als dass man die erstere, ohne Schaden der leztern , hätte an-
greifen können.
V Die eigentliche Übersetzung umfaßt S. 88-] c—go-j d des Originals, während
das Vorhergehende vom Anfang des lO. Buches an nur auszüglich, wenn auch
hie und da wörtlich wiedergegeben ist.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. jfy
suchung über das Dasein, und die Vorsehung Gottes mit dem
eigentlichen Gegenstande des Gesprächs steht.
Piaton kommt im zehnten Buch seines Werks auf diejenigen
Verbrechen, die, wie er sagt, vorzüglich Folgen der Ausschwei-
fungen, und der Zügellosigkeit der Jugend sind. Er nennt Ver-
lezung der obrigkeitlichen Rechte, Uebertretung der kindlichen
Pflichten, Entweihung heiliger Oerter, Verachtung und Beleidigung
der Gottheit. Bei diesem leztern Punkte hält er sich am längsten
auf, weil er darin den Ursprung der meisten andern Verbrechen
zu finden glaubt. Er sucht also nicht bloss hier die wirksamste
Strafe festzusezen, sondern auch die Ursachen aus dem Wege zu
räumen, aus welchen diese Verachtung der Götter entstehn könnte.
„Nur aus einer der drei folgenden Ursachen, sagt er, kann
es herrühren, wenn die Menschen über die Götter spotten, oder
sie auf irgend eine andre Art durch Worte oder Handlungen be-
leidigen. Entweder glauben sie überhaupt nicht, dass es Götter
giebt; oder wenn sie auch an ihrem Dasein nicht zweifeln, so
sind sie doch nicht überzeugt, dass sie sich um die Regierung
der Welt, und vorzüglich um die Angelegenheiten und Schiksale
der Menschen bekümmern, oder bilden sich gar ein, die Götter,
wenn sie auch einmal über ihre Laster erzürnt wären, durch Opfer
und Geschenke besänftigen zu können. Denn nach den Religions-
begritien, welche die Geseze sie lehren, würde die Furcht vor
dem Unwillen, und der künftigen Strafe der Götter ihnen nie eine
gesezwidrige Handlung, oder einen irreligiösen Ausdruk erlauben.
Doch wie, fährt er fort, ist dem Uebel zu steuern? Da könnten
sie uns leicht mit Recht den Vorwurf machen, dass wir die sanften
Gesezgeber nicht wären, für die wir gelten wollten ; und von uns
fordern, sie erst zu überzeugen, und die Schriften der Dichter
und Redner zu widerlegen, woraus sie ihre Religionsmeinungen
schöpfen."
„Und sollte es denn so schwer sein, fällt ihm hier Ivlinias ins
Wort, das Dasein der Götter zu beweisen? Die Betrachtung der
Sonne, der Erde, und der Gestirne, des zwekmässigen Wechsels
der verschiedenen Jahrszeiten; dass alle Völker, Griechen und
Nichtgriechen, eine Gottheit verehren — " „Mit diesen Beweisen,
unterbricht ihn der Athenische Fremdling, möchten sie Dich bald
verlachen. Die Ursache ihrer Verirrungen ist nicht bloss, wie Du
vielleicht glaubst, ein ungemässigter Hang zum \'ergnügen, eine
zügellose Begierde allen ihren Leidenschaften zu fröhnen; es ist
W. V. Humboldt, Werke. I. 2
jg I. Sokrates und Platon über die Gottheit,
etwas weit schlimmeres, das Ihr Ausländer gar nicht kennt, eine
grobe Unwissenheit, die dabei das Ansehn der tiefsten Weisheit
hat. Du musst nemlich wissen, dass es bei uns, theils in prosa-
ischen, theils in poetischen Schriften, verschiedene Systeme über
die Entstehung der Welt und den Ursprung der Götter giebt —
dergleichen man bei Euch, wegen der Vortreflichkeit Eurer Gesez-
gebung, gar nicht findet. Nach diesen hat der Himmel und die
übrige Körperwelt*) zuerst und früher als alle andre Dinge existirt,
und erst nachher sind die Götter entstanden, deren Schiksale und
Begebenheiten denn der Reihe nach erzählt werden. In wiefern
nun diese Systeme zu andern Zwekken nüzlich sein mögen, ist
bei ihrem Alter schwer zu entscheiden. Aber zu einer eifrigeren
Verehrung der Götter, oder zu einer grösseren Ehrfurcht gegen
die Eltern tragen sie gewiss nichts bei. Doch ich überlasse jene
altere Weltweisen ihrem Schiksale. Auch unsre neuern Philo-
sophen haben Schuld an dem Unheil. Wenn wir ihnen die Be-
weise für das Dasein Gottes vortrügen, die Du erwähntest, wenn
wir ihnen Sonne, Mond, Gestirne, und Erde, als eben so viel
Gottheiten und göttliche Wesen vorstellten; so würden sie uns
mit ihrer Weisheit bald überführen, dass diess alles nur todte Stein-
und Erdmassen sind, die sich um die menschlichen Angelegen-
heiten nicht bekümmern können, und dass alles, was man von
ihnen erzählt, nur in ausgeschmükten, wahrscheinlich gemachten
Mährchen bestehe. Was sollen wir nun aber thun, meine Freunde }'
Sollen wir die Sache der Götter wider ihre Gegner vertheidigen,
und diess gleichsam als eine Einleitung unsren Gesezen über diesen
Gegenstand vorausschikken ? Oder sollen wir diese Untersuchungen
fahren lassen, und in unsrem Hauptgeschäfte, in der Gesezgebung,
ununterbrochen fortfahren? Denn freilich dürfte wohl die Ein-
*) ov^avov Tü)v re aXkiov • Serranus übersezt zwar codi aliorumque . . deorum.
Allein diess scheint mir nicht richtig. Denn einmal ist es grammatisch nicht noth-
wendig, das Wort aü.ojv an das vorhergehende ■d'ecov zu ziehn ; und zweitens passt
auch deorum, dünkt mich, nicht gut in den Sinn. Denn Platon tadelt immer, wie man
aus dem ganzen Gespräche sieht, dass man die Entstehung der Körperwelt der Ent-
stehung der Geisterwelt vorangehen lässt. Aus dem Hesiodus Theog. V. 43 erhellet
das hier gesagte noch mehr. ')
V Hesiod sagt dort von den Musen:
„Öfcö»' yiyoe aiSolor TtQcirov xkeiovaiv dotdfj
e^ «CCTS, ovg Fala xal Ov^avos ev^vg %Tiy.Tev,
oi X ex TCüv eytvovro d'eoi^ Scorrj^es eäcov}^
De Serres übersetzt zweifellos unrichtig.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
19
leitung länger werden, als das Gesez selbst. Ein System, wie das,
was ich Euch oben vorgelegt habe, würde, auch wenn es nur
Einer behauptete, schon schwer zu widerlegen sein ; wie vielmehr
aber jezt, da es so viele Anhänger findet?''
Ivlinias und Megill stimmen der erstem Meinung bei.
„Schon oft, sagen sie, wiederholten wir es, dass wir bei unsrem
Geschäfte weder auf Kürze, noch auf Länge Rüksicht nehmen
müssen. Es treibt uns ja niemand, und würde es nicht lächerlich
sein, das Kürzere dem Besseren vorzuziehn? um so mehr da es
doch sicherlich überaus wichtig ist. Gewissheit in der Ueberzeugung
zu haben, dass es eine gütige, die Gerechtigkeit mehr, als irgend
ein Mensch, liebende Gottheit giebt. Welchen schöneren vortref-
licheren Eingang könnten wir zu unsren Gesezen finden? Lass
uns daher. Athenischer Fremdling, diese Untersuchung mit der
möglichsten Genauigkeit anstellen, und nichts übergehen, was nur
irgend dazu gehört."
Hierauf beginnt die Untersuchung auf folgende Art :
Der Athener. Deine Bitte, Klinias, ist zu dringend, als
dass ich länger zögern könnte. Aber wie ist es möglich, sich
ohne Erbitterung in der Xothwendigkeit zu sehn, das Dasein der
Götter noch beweisen zu müssen? Wie ist es möglich, nicht auf
diejenigen zu zürnen, die uns zu diesen Untersuchungen nöthigen?
Von ihrer Kindheit, ja von der Muttermilch an, hörten sie diese
Lehren bald im Scherze, bald im Ernste von Müttern und Ammen ;
waren bei den Opfern, und den sie begleitenden Schauspielen zu-
gegen, wo alles nur darauf Bezug hatte, und die Kindern sonst so
viel Vergnügen machen ; wussten, wie ihre Eltern mit der eifrigsten
Inbrunst zu den Göttern beteten, und sie für sich, und für sie
anriefen; sahen und honen, wie alle Griechen und Ausländer,
beim Aufgange und Untergange der Sonne und des Mondes, die
Gottheit verehrten, und dadurch jeden \^erdacht, als bezweifelten
sie nur im geringsten ihr Dasein, vertilgten; und dennoch sezen
sie sich jezt über diess alles hinweg, und nöthigen uns, ohne nur
irgend Einen triftigen Grund für sich zu haben, die jezigen Unter-
suchungen anzustellen. Wie kann man sie, wenn man diess be-
denkt, mit sanften Worten zurecht weisen, und sie über das
Dasein der Götter belehren? Und dennoch müssen wir es ver-
suchen, dürfen uns dennoch nicht eben so vom Zorn hinreissen
lassen, als sie von dem Taumel der Sinnlichkeit. Lasst uns da-
her allen Unmuth in uns unterdrükken und ohne Erbitterung mit
20
I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
Sanftmuth zu diesen armen, seelekranken Menschen reden. Wir
wollen thun, als hätten wir einen von ihnen vor uns : „Mein Sohn",
wollen wir zu ihm sagen, „Du bist noch jung. Du wirst noch oft
bei reifern Jahren viele der Grundsäze, die Du jezt für wahr
hältst, verändern, und zu ganz entgegengesezten übergehn. Warte
doch also bis dahin, ehe Du Dich über das entscheidest, was das
wichtigste ist. Was aber kann es mehr sein, als richtig über die
Götter zu denken, und edel zu leben ? Bilde Dir auch nicht etwa
ein, dass Du und Deine Freunde zuerst diese Meinungen über
die Götter hegten. Ich kann Dir mit Gewissheit das Gegentheil
versichern. Zu allen Zeiten sind bald mehrere, bald wenigere
von dieser Krankheit angestekt. Aber keiner — auch das kannst
Du mir glauben — hat das Dasein der Götter in seiner Jugend
geläugnet, der bis in sein Alter dabei verharret wäre. Noch eher
haften zwar auch nicht bei vielen, aber doch bei einigen, die
beiden andern vorerwähnten Krankheiten, dass die Götter sich
nicht um die Menschen bekümmern, oder sich doch leicht durch
Gebete und Opfer versöhnen lassen, wenn sie auch daran Theil
nehmen. Warte daher, wenn Du mir folgen willst, mit Deinem
Urtheil, bis diese Materien Dir deutlicher sind, überlege nur
indess fleissig, wie es sich wohl damit verhalten könnte, und ver-
säume nicht. Dich des Unterrichts andrer, vorzüglich des Gesez-
gebers, zu bedienen. Denn ihm kommt es zu. Dich jezt und
künftig über diese Gegenstände zu belehren. Wage es aber ja
nicht, bis zu diesem Zeitpunkte auf irgend eine Weise gegen die
Götter zu handien."
Klinias. Bis hieher, Fremdling, ist, was Du gesagt hast,
vortreflich.
D. A. Aber bemerkst Du auch wohl, dass wir uns hier, ohne
es selbst gewahr zu werden, in ein sonderbares System verwikkelt
haben ?
Kl. In welches, Fremdling?
D. A. In ein System, das von vielen für das weiseste unter
allen gehalten wird!
Kl. Erkläre Dich deutlicher!
D. A. Sogleich. Sie behaupten, dass alles, was gewesen ist,
ist, und sein wird, sein Dasein entweder der Natur, oder der
Kunst, oder dem Zufall zu danken habe.
Kl. Und sollten sie darin nicht Recht haben?
D. A. Wie könnten Weise, wie sie, irren? Lass uns ihnen
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. 21
aber doch ein wenig folgen, und sehn, was sie sich eigentlich ge-
dacht haben!
Kl. Von Herzen gern!
D. A. Aller Wahrscheinlichkeit nach, sagen sie, sind die
grossesten, vortreflichsten Dinge Werke der Natur und des Zu-
falls, der Kunst gehören die unbedeutenderen zu. Denn sie borgt
den ersten Hauptstoff von der Natur, und formt nur, und bildet
daraus die kleineren Dinge, die wir Kunstwerke nennen.
Kl. Wie verstehen sie diess?
D. A. Ich will mich gleich deutlicher erklären. Ihrem System
nach sind die Erde, das Feuer, das Wasser, die Luft insgesammt
durch die Natur und den Zufall — beides leblose Wesen — her-
vorgebracht; die Kunst hat keinen Theil daran. Eben so sind
alle übrigen Körper entstanden : unser Erdball, die Sonne, der
Mond, und die Gestirne. Denn der Zufall hat alles, ein jedes
nemlich nach den ihm eigenen Kräften, unter einander geworfen,
und so hat es sich nach seinen verschiedenen Beschaffenheiten
mit einander verbunden, das Warme mit dem Kalten, das Trokne
mit dem Nassen, das Weiche mit dem Harten, und so fort durch
eine blinde Nothwendigkeit immer ein Entgegengeseztes mit dem
andern. Hieraus und auf diese Weise ist der ganze Himmel ent-
standen, und alles, was unter dem Himmel ist, die Thiere, die
Pflanzen, der Wechsel der Jahrszeiten, nicht mit Hülfe eines Ver-
standes, oder eines Gottes, oder der Kunst, sondern durch die
Natur und den Zufall. Aus diesen, und später als sie, ist die
Kunst entsprungen — sterblich, und von sterblichen Menschen er-
funden — und hat lange nachher Werke hervorgebracht, die, ohne
eigentlich etwas Wahres, Reelles, an sich zu tragen, nur Phänomene
sind, die bloss unter einander Verwandtschaft haben, wie Werke
der Mahlerei, der Musik, und der übrigen mit diesen beiden wett-
eifernden Künste. Soll die Kunst ja etwas Reelles hervorbringen ;
so muss sie sich vnAt der Natur vereinigen, wie es in der Heil-
kunst, Oekonomik, und der Gymnastik geschieht. Selbst die
Staatskunst hat nur wenig Verwandtschaft mit der Natur, und die
Gesezgebungskunst gar keine. Daher sie denn auch lauter falsche
Grundsäze aufstellt.
Kl. Wie das?
D. A. Die Götter, um ihrer zuerst zu erwähnen, existiren,
(ich rede noch immer in ihrem System fort,) nicht wirklich in der
Natur, sondern danken ihr Dasein allein der Kunst und den Gc-
22
I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
sezen. Daher sind sie auch nach den verschiedenen Nationen
verschieden, je nachdem sich die Gesezgeber mehr oder weniger
einander genähert haben. Eben so ist, was wir Tugend nennen,
euvas andres nach der Natur, etwas andres nach den Gesezen;
und was gerecht ist, lässt sich nach der Natur ganz und gar nicht
bestimmen. Die Menschen sind von je her darüber uneins ge-
wesen, haben ihre Meinungen bald auf diese, bald auf jene Weise
verändert, und immer das angenommen, und durch Geseze be-
stätigt, was ihnen jedesmal das richtigste schien. Natur und Wahr-
heit aber haben keinen Theil daran. Solche Lehrsäze, lieben Freunde,
empfehlen jene weisen Männer der Jugend bald in prosaischen,
bald in poetischen Schriften, und sezen dann noch hinzu: nur
das sei Recht, was jeder mit Gewah sich erringe. Diess ist denn
die Quelle der Zügellosigkeit unsrer jungen Bürger, dass sie die
Götter nicht glauben, die das Gesez zu glauben befiehlt! Diess
ist die Quelle der Unruhen im Staat, dass sie nach -der, ihrem
Wahn nach, einzig natürlichen Glükseligkeit streben : über alle zu
herrschen, und keiner von den Gesezen verordneten Gewalt zu
gehorchen.
Kl. Was für ein S3'stem hast Du uns vorgetragen, Fremd-
ling, welche Pest für die Jugend, zum Verderben des Staats und
ihrer Familien!
D. A. Sehr richtig, Klinias. Aber was soll der Gesezgeber
thun, wenn diess schon lange gegen ihn vorbereitet ist? Soll er
sich mitten in der Stadt hinstellen, und bloss befehlen, die von
den Gesezen angenommenen Götter zu glauben und zu verehren,
und über alles, was edel und gerecht ist, was sich auf Tugend
und Laster bezieht, den Vorschriften der Geseze gemäss zu denken,
und so zu handien ? ihnen drohen, wenn sie seinen Gesezen nicht
gehorchen würden, diesen mit dem Tode, jenen mit Geissei und
Kerker, einen andren mit Schande, Mangel, und Verbannung zu
bestrafen? Und soll er nirgends Ueberzeugungsgründe hinzufügen,
ihre Herzen zu erweichen, und sie zurükzuführen ?
Kl. Ganz und gar nicht, Fremdling. Vielmehr, giebt es
irgend, auch noch so kleine, Ueberzeugungsgründe für diese Wahr-
heiten; so darf der Gesezgeber — wenn er nur irgend diesen
Namen verdienen soll — nicht müde werden ; sondern [muss] das
hergebrachte Gesez durch Beweise für das Dasein der Götter
unterstüzen, der Kunst und den Gesezen das Wort reden, und
zeigen, dass sie durch die Natur, oder nicht weniger, als die Natur
über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
23
selbst, existiren. weil sie Früchte des A^'erstandes sind. Denn diess
hast Du, dünkt mich, auf die überzeugendste Art dargethan.
D. A. Du bist sehr enthusiastisch für unser Unternehmen,
lieber Klinias ; aber bedenkst Du auch wohl, ob es nicht zu schwer
sein wird, so lange und verwikkelte Beweise dem Volke vorzu-
tragen?*)
Kl. Wir haben uns ja bei andren Dingen, bei den Gast-
mälern, bei der Tonkunst, so lange, ohne zu ermüden, verweilt;
und bei Untersuchungen über die Gottheit wollten wir es nicht?
Eine vernünftige Gesezgebung erhält gewiss keine geringe Stüze
dadurch, wenn das Gesez immer zugleich Grund und Beweis an-
giebt. Denn alsdann bleibt es gewiss unumstösslich. Was schadet
es auch, wenn unsre Geseze anfangs ein wenig schwer zu ver-
stehn sind? Der langsamere Kopf kann sie ja öfter überlesen.
Und was Du von der Länge sagst; so darf uns diese, wenn wir
den Xuzen erwägen, nicht zurükhalten. In der That es wäre un-
verzeihlich, Säze von der Art nicht nach allen Ivräften zu ver-
theidigen.
Megill. Klinias, dünkt mich, hat Recht, Fremdling.
D. A. Das hat er, und wir müssen ihm folgen. Wären die
Grundsäze, deren ich vorhin erwähnte, nicht gleichsam in der
ganzen Welt ausgebreitet, so brauchten wir freilich nicht das
Dasein der Götter zu vertheidigen ; allein so ist es nothwendig.
Und wem ziemt diese ^>rtheidigung mehr, als dem Gesezgeber,
da jene schändlichen Menschen die ehr^vürdigsten Geseze unter
die Füsse treten?
Kl. Gewiss keinem,
D. A. So sage mir denn von neuem. Klinias — denn wir
müssen immer gemeinschaftlich untersuchen — scheint es Dir nicht
auch, dass unsre Gegner Feuer, Wasser, Erde und Luft für die
ersten aller Dinge halten, dass sie diese zusammengenommen die
Natur nennen, und dass sie erst aus ihnen die geistige Substanz,
*) Ich gehe zwar in dieser Stelle von Serrans und Ficins Uebersezungen ab. *)
Aber sowohl wegen des Zusammenhangs, als besonders der Worte eig rti.rjd'r] Xeyofisva
scheint mir der Sinn, wie ich ihn ausgedrükt habe, richtiger gefasst zu sein.
V De Serres übersetzt: ,, Nonne difficile est ea verbis assequi, quae a vulgo
dicuntur et infinita quadam rerum ubertatc cumulantur ?" ; bei Ficino lautet die Stelle:
„Nonne arduum est ea rationibus prosequi, quae ita per omnes divulgata sunt ipsaque
prolixa simt nee brevitatem patiuntur?"
24
I. Sokrates und Platon über die Gottheit,
die Seele, entstehn lassen? Mich dünkt sogar, diess scheint nicht
bloss so, sondern es liegt offenbar in ihren Behauptungen.
Kl. Allerdings.
D. A. Hätten wir da nicht auf einmal die Quelle von allen den
unsinnigen Meinungen derer entdekt, die sich bis jezt mit Unter-
suchungen über die Natur beschäftigt haben? Denke ja recht auf-
merksam darüber nach. Denn es wäre doch in der That kein
kleiner Gewinn für uns, wenn die Anhänger und Vertheidiger so
gottesläugnerischer Systeme sich unrichtiger Schlussfolgen schuldig
gemacht hätten. Und mir kommt es so vor.
Kl. Auch mir, FremdHng. Doch sage mir, worin eigentlich
sie geirrt haben. •
D. A. Aber ich werde fremde, unbekannte Säze zu Hülfe
nehmen müssen.
Kl. Immerzu. Du fürchtest, wie ich sehe. Dich von den
Gränzen der Gesezgebung zu entfernen; aber können wir auf
keinem andren Wege das Dasein der Götter vertheidigen, so
müssen wir auch diesen einschlagen.
D. A. Ich würde daher, wie ungewohnt es auch klingen
mag, also anfangen. In allen den Systemen, aus welchen jene
verkehrten Grundsäze über die Götter entstanden sind, wird das,
was die erste Ursache alles Entstehens und alles Untergehens ist,
nicht für das Erste, sondern für das Lezte angenommen; das
Lezte hingegen wird an die Stelle des Ersten gesezt. Daher alle
Irrthümer über das Wesen der Götter.
Kl. Ich verstehe Dich noch nicht recht.
D. A. Alle jene Philosophen haben, dünkt mich, die Seele,*)
ihre Kräfte, und vorzüglich ihre Entstehung sehr wenig gekannt.
Denn sie haben nicht gewusst, dass sie früher, als alle andre
Dinge, folglich auch früher, als die ganze Körpervs^elt existirt hat,
und dass sie allein jede Veränderung, jede Umbildung hervor-
bringt. Und wenn diess wahr ist, wenn die Seele wirklich älter
ist, als der Körper; so muss auch, was mit der Seele verwandt
ist, früher da gewesen sein, als das, was zum Körper gehört.
Kl. Wie anders?
*) Platon versteht unter fv^i] in diesem ganzen Gespräche alles Immaterielle
überhaupt. Mir schien vorzüglich in Rüksicht auf die Weltseele, auf die im Fol-
genden verschiedentlich angespielt wird, der Ausdruk Seele im Deutschen der
passendste.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
25
D. A. Alles Geistige, Meinung, Fürsorge, Verstand, Kunst,
Gesez u. s. f. war also eher da, eh' es etwas Körperliches, etwas
Hartes und Weiches, etwas Schweres und Leichtes gab; und die
grossesten, ersten Dinge und Veränderungen sind folglich Werke
der Kunst, da hingegen die Werke der Xatur, so wie die Natur
selbst — von der sie auch einen unrichtigen Begriff haben —
später entstanden, und der Kunst und dem. Verstände unterge-
ordnet sind.
Kl. In wiefern tadelst Du ihren Begritf von der Xatur."
D. A. Sie nennen die Natur die Entstehung der ersten Dinge,
und sezen die Körper voran. Wenn aber nicht das Feuer, nicht
die Luft, sondern die Seele zuerst existirt hat; so kann man ja
diess mit Recht die natürliche Ordnung der Dinge nennen. Aber
freilich muss erst bewiesen werden, dass die Seele älter ist, als die
Körper; und wollen wir nicht gleich zu diesem Beweise schreiten.^
Kl. W^arum nicht.'
D. A. So müssen wir uns denn nur hüten, dass uns nicht
irgend ein junger sophistischer Trugschluss täusche. Wenn er
uns, die wir schon Greise sind, lokte, und uns auf einmal wieder
entschlüpfte; so gäbe er uns gewiss dem Gelächter der Leute
Preis, und zeigte ihnen, dass wir, die wir so grosse Dinge unter-
nehmen, auch in den kleinsten verunglükken. Wir wollen uns
einmal vorstellen, wir hätten, wir drei, durch einen Fluss zu gehn.
Würd' es Euch da nicht vernünftig scheinen, wenn ich, als der
jüngste von Euch, und der am meisten gewohnt wäre, Flüsse zu
durchwaten. Euch vorschlüge, zuerst zu versuchen, und Euch
indess am sichern Ufer zu lassen. Denn ich könnte ja dann sehn,
ob wohl auch Ihr Aeltere durchkommen könntet, und wenn ich
das sähe, Euch mit meiner grösseren Erfahrung helfen ; fände ich
aber das Gegentheil, so hätte ich die Gefahr über mich genommen.
Der Fall, in dem wir uns jezt befinden, ist diesem fast gleich.
Unsre Untersuchung ist tief, und für Eure Kräfte vielleicht uner-
gründlich; leicht kann Euch ein Schwindel befallen; leicht könnt
Ihr durch Fragen, an die Ihr nicht gewöhnt seid, gefangen werden ;
und dann würdet Ihr Verdruss und Schande davon haben. Ich
will mich selbst erst fragen; indess sollt Ihr ganz ruhig zuhören;
und dann will ich mir selbst wieder antworten. Und so will ich
die ganze Untersuchung durchgehn, bis ich bewiesen habe, dass
die Seele früher da gewesen ist, als der Körper.
Kl. Vortreflich, Fremdling; mach es nur, wie Du sagst.
20 I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
D. A. Nun wohlan denn! Wenn wir aber je die Gottheit
anrufen müssen, so lasst uns jezt bei dem Beweise ihres eigenen
Daseins ihren Beistand erbitten, und durch ihn, wie durch einen
festen Anker gesichert, die Untersuchung beginnen. Wenn man
mir, wie ich eben sagte, Fragen A^orlegte ; so glaub' ich auf folgende
Art am sichersten antworten zu können. Gesezt z. B. man fragte
mich : „Wie, Fremdling, ist alles in Ruhe, oder alles in Bewegung,
oder giebt es Dinge, die sich bewegen, und Dinge, die ruhen?"
so würde ich antworten: es giebt Dinge, die ruhen, und Dinge,
die sich bewegen. — „Muss aber nicht immer ein Ort da sein,
in welchem das Ruhende ruht, und das sich Bewegende sich be-
wegt?" — Allerdings. — „Und geschieht die Bewegung nicht bei
einigen Dingen in Einem, bei andern in mehreren Orten?" —
Du verstehst doch unter der Bewegung in Einem Orte diejenigen
Dinge, die, ohne ihren Standpunkt zu verändern, nur in der Mitte
einen Schwung erhalten, so wie man von Kugeln sagt, dass sie
still stehn, da sie sich doch im Grunde herumdrehn? — „Ganz
recht." — Bei diesem Herumdrehn muss dieselbe Bewegung den
grossesten und den kleinsten Zirkel herumtreiben, sich verhältniss-
mässig unter die kleineren, und unter die grösseren vertheilen,
und also selbst nach eben diesem Verhältniss bald kleiner, bald
grösser sein. Darum ist sie eben so bewundernswürdig, weil sie,
was beinah unmöglich scheinen sollte, nach richtigem Verhältniss
zugleich den kleineren und den grösseren Zirkeln Langsamkeit
und Geschwindigkeit mittheilt. — „Du hast vollkommen Recht."
— Und mit der Bewegung in mehreren Orten meinst Du doch
solche Körper, die während der Bewegung ihre Stelle verändern,
sie mögen nun immer denselben Mittelpunkt zur Basis haben,
oder mehrere, wie beim Herumwälzen? Wenn sie so aufeinander
stossen, so trennen sie sich, wenn sie ruhenden Körpern begegnen;
treffen sie aber auf Körper, die gleichfalls in Bewegung, und nach
Einem Punkte mit ihnen gerichtet sind; so verbinden sie sich
untereinander, und mit den Körpern, die sich zwischen ihnen
beiden befinden. — „Du hast meine Meinung völlig richtig gefasst."
— Nun aber nehmen die Körper durch die Verbindung mit andern
zu, so wie sie durch die Trennung abnehmen; vorausgesezt nem-
lich, dass jeder seine vorige Beschaffenheit behält. Denn sonst
werden sie durch jede dieser Veränderungen vernichtet. — „Allein
was muss mit ihnen vorgehen, wenn sie entstehn sollen?" — Der
erste Stoss muss einen Zuwachs erhalten, durch den er in den
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. 2"^
zweiten Zustand, und von diesem in den folgenden übergeht.
Denn erst nach drei verschiedenen Zuständen wird er den Sinnen
bemerkbar. Durch diese Veränderungen und Uebergänge ent-
stehen alle Dinge ; und so lange sie ihre erste Beschaffenheit be-
halten, existiren sie, sobald sie aber diese verändern, werden sie
vernichtet. Sind wir nicht jezt, meine Freunde, alle Arten der
Bewegung durchgegangen, zwei allein ausgenommen?
Kl. Und diese zwei sind?
D. A. Eben die, Lieber, um die wir diese ganze Unter-
suchung angestellt haben.
Kl. Erkläre Dich ein wenig deutlicher.
D. A. Wir redeten doch von der Seele?
Kl. Nun ja! —
D. A. So höre denn! Die eine dieser Bewegungen ist die,
welche andere Dinge bewegt, sich selbst aber nie bewegen kann;
die andre hingegen die, welche sich und andre Dinge beständig
fort in Bewegung sezt, indem sie alle Verbindung und Trennung,
alle Zunahme und Abnahme, alles Entstehen und Untergehen her-
vorbringt. Vv'ollen wir nun nicht die erste dieser Bewegungen,
die andre Dinge verändert, aber wiederum stets von andren ver-
ändert wird, für die neunte Art der Bewegung annehmen, und
derjenigen, welche sich und andre Dinge in Bewegung sezt, zu
jeder Art des Handlens, und des Leidens fähig ist, und mit Recht
der Grund aller Verändrung und aller Bewegung genannt werden
kann, den zehnten Plaz anweisen?
Kl. Allerdings.
D. A. Aber welcher unter diesen Arten von Bewegung
werden wir in Absicht der Wirksamkeit und der Thätigkeit den
Vorzug geben?
Kl. Natürlich keiner andern, als der selbstthätigen : denn
dieser müssen alle übrigen nachstehn.
D. A. Sehr richtig! Jezt haben wir nur noch einen oder
zwei Punkte in dem bisher Gesagten zu verbessern.
Kl. Und v/elche, Fremdling?
D. A. Einmal war es falsch, dass wir der Bewegung, von
der wir zulezt redeten, den zehnten Plaz anwiesen, da sie doch,
wie Du selbst zugiebst, sowohl der Entstehung, als der Wirksam-
keit nach, die erste ist; dann hätten wir die, welche nach dieser
die zweite ist, nicht für die neunte annehmen sollen.
Kl. Aus welchem Grunde nicht?
28 I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
D. A. Aus folgendem. Wenn ein Ding von einem andern
bewegt wird, und dieses wieder von einem andern, und dieses
wieder von einem dritten, und immer so fort; wird dann irgend
eins dieser Dinge den Grund der Bewegung enthalten? Unmög-
lich. Wie kann etwas, das von einem andern Dinge bewegt wird,
der Grund der Bewegung sein? Aber wenn etwas sich selbst
Bewegendes eine Veränderung in einem andern Dinge hervor-
bringt, und diess wieder in einem andern, und wenn auf diese
Art tausend und zehntausend Dinge verändert werden, was wird
alsdann den Grund aller dieser Veränderung enthalten, wenn nicht
die erste Veränderung der sich selbst bewegenden Substanz?
Kl. Offenbar nur sie.
D. A. Auch folgende Frage wollen wir uns wieder zur
eigenen Beantwortung vorlegen. Wenn alles zugleich still stände
— eine Hypothese, welche die meisten unsrer Gegner kühn genug
sind anzunehmen — wo, bei welchen Substanzen müsste alsdann
die erste Bewegung anfangen?
Kl. Nothwendig bei den selbstthätigen. Denn diese können
nicht vorher durch etwas andres in Bewegung gesezt werden, da
vor ihnen gar keine Bewegung vorhanden ist.
D. A. Also liegt der Grund aller Bewegungen, sowohl der-
jenigen, welche nun schon aufgehört hat, als derjenigen, welche
noch immer fortdauert, allein in der selbstthätigen Bewegung.
Müssen wir nicht daher dieser das höchste Alter, und die grosseste
Wirksamkeit zuschreiben? und den Dingen, welche selbst von
andern die Bewegung erhalten, die sie wiederum andern mittheilen,
die zweite Stelle nach ihnen anweisen?
Kl. Wie könnten wir anders?
D. A. So weit wären wir jezt in unserm Beweise gekommen.
Nun w^eiter! Was legen wir einem Körper für eine Eigenschaft
bei, wenn wir in ihm — er bestehe nun aus Erde, Wasser, oder
Feuer, er sei einfach, oder zusammengesezt — eine solche erste
Bewegung erblikken ?
Kl. Fragst Du mich vielleicht, ob wir einem solchen Körper,
der sich durch sich selbst bewegt, Leben zuschreiben?
D. A. Nichts anders; ob wir ihm Leben zuschreiben?
Kl. Allerdings.
D. A. Und wie? Wenn wir in einem Körper eine Seele
gewahr werden, suchen wir denn nicht den Grund seines Lebens
allein in ihr?
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. 2Q
Kl. Allein in ihr.
D. A. Nun gieb einmal recht Acht! Kannst Du nicht an
jeglichem Dinge dreierlei unterscheiden, die Substanz, oder die
Sache selbst, die Erklärung und den Namen desselben? Kannst
Du nicht gleichfalls über jedes Ding zwei Fragen aufwerfen: die
eine mit ^'oraussezung des Namens nach der Erklärung ; die andere
umgekehrt mit Voraussezung der Erklärung nach dem Namen?
Ich will mich durch ein Beispiel erklären. Es giebt Zahlen, wie
Du weisst, die aus zwei gleichen Theilen bestehn. Ihr Name ist :
gerade Zahlen. Ihre Erklärung : Zahlen, die in zwei gleiche Theile
zerfallen. Nun ist es völlig gleichviel, ob ich Dir den Namen
sage, und Dich nach der Erklärung frage ; oder ob ich umgekehrt
Dir die Erklärung sage, und Dich nach dem Namen frage. Denn
beide, sowohl Name, als Erklärung, bezeichnen nur Eine und
ebendieselbe Zahl.
Kl. Sehr richtig.
D. A. Was ist nun die Erklärung dessen, was wir Seele
nennen? Ist nicht die Seele eben das, wovon wir sprechen: eine
selbstthätige Bewegungskraft ?
Kl. Als eine selbstthätige Bewegungskraft erklärst Du daher
das Wesen, das wir insgemein Seele nennen?
D. A. Ja, und wenn diess richtig ist, so haben wir unwider-
sprechlich bewiesen, dass die Seele der Grund des Entstehens,
und der Bewegung aller Dinge ist, soviel ihrer sind, gewesen sind,
und noch sein werden. Denn von ihr allein entspringt jede Ver-
änderung und jede Bewegung. Oder scheint Dir der Beweis noch
mangelhaft ?
Kl. Keinesweges. Es ist vielmehr auf das vollkommenste
dargethan, dass die Seele früher, als alle übrigen Dinge existirt
hat, und die Quelle aller Bewegung ist.
D. A. Wird nicht ferner die Bewegung der leblosen Körper,
die nicht durch sie selbst, sondern durch andre in ihnen hervor-
gebracht Vk'ird, um Eme, oder um so viel Stufen, als man will,
jener ersteren nachstehn?
Kl. Offenbar.
D. A. Es war also völlig richtig, wahr, und unwiderleglich,
was wir vorhin behaupteten, dass die Seele früher da gewesen ist,
als der Körper, und dass derselbe der Seele untergeordnet ist, die
ihn nach den Gesezen der Natur beherrscht.
K 1. Allerdings.
30
I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
D. A. Nun aber gaben wir doch zu — Du erinnerst Dich
dessen noch ? — dass, wenn die Seele äher wäre, als der Körper,
auch die Eigenschaften der Seele älter sein müssten, als die Eigen-
schaften des Körpers?
Kl. Das gaben wir zu.
D. A. Folglich sind Denkungsart, Charakter, Wille, Nach-
denken, Wahrheit, Fürsorge, und Gedächtniss früher da gewesen,
als körperliche Länge, Breite, Tiefe, und Stärke, vorausgesezt
nemlich, dass die Seele eher existirt hat, als der Körper.
Kl. Noth wendig.
D. A. Müssen wir nicht auch, wenn wir einmal die Seele
zur Ursache aller Dinge annehmen, eingestehn, dass sie die Quelle
alles Guten und Edlen, sowie alles Schlechten und Unedlen, alles
Gerechten und Ungerechten, und aller übrigen einander entgegen-
gesezten Eigenschaften ist?
Kl. Wie könnten wir anders?
D. A. Ferner : wenn die Seele alle Dinge, die sich nur irgend-
wo bewegen, regiert und belebt, muss sie denn nicht auch den
Himmel regieren?
Kl. Nothwendig auch ihn.
D. A. Regiert ihn aber nur Eine, oder mehrere? Ich will
für Euch antworten : Mehrere. Denn weniger als zwei dürfen wir
nicht annehmen: eine wohlthätige, und eine, die das Gegentheil
davon ist.*)
Kl. Sehr richtig.
D. A. So lenkt also die Seele alles, w^as im Himmel, auf der
Erde, und im Meere geschieht, mit den ihr eignen Arten der Be-
wegungen, die wir Wollen, Ueberlegen, Sorgen, Entschliessen,
richtig und falsch urtheilen, die wir Freude und Betrübniss, Muth
und Furcht, Hass und Liebe nennen. So bringen alle diese Grund-
bew^egungen, indem sie die Bewegungen der Körper, welche gleich-
sam eine zweite untergeordnete Klasse ausmachen, mit sich ver-
einigen, alle Zunahme und Abnahme, alle Verbindung und
*) Der Irrthum, dass Piaton hier zwei Grundwesen annimmt, ein gutes und ein
böses, kann seiner Philosophie wohl nicht zu einem grossen Vorwurf gereichen, wenn
man bedenkt, wie sichtbare Spuren sich noch bis in unsre Zeiten von dieser Idee er-
balten haben. Auch wurden in der That viele Schritte dazu erfordert, ehe man zu der
Einsicht gelangen konnte, dass auch die scheinbaren Unvollkommenheiten in den Plan
des weisesten und gütigsten Schöpfers gehören, weil sie in Rüksicht aufs Ganze nicht
mehr Unvollkommenheiten sind.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
31
Trennung hen'or; ferner alles, was hieraus entsteht, das Heisse
und Kalte, das Schwere und Leichte, das Harte und Weiche, das
Schwarze und Weisse, das Herbe, Süsse und Bittre. Und so
lange die Seele mit der \'ernunft vereint ist — sie, selbst eine
Gottheit, mit einer Gottheit — so beglükt sie alles durch ihre
Weisheit; gesellt sich aber die Thorheit zu ihr, so geschieht ge-
rade das Gegentheil. Ist diess nun so richtig, oder bleibt noch
ein Zweifel übrig?
K 1. Keiner.
D. A. Doch zu welcher Gattung der Seelen werden wir die-
jenige rechnen, welche den Himmel, die Erde, und dieses ganze
Weltgebäude beherrscht? zu den vernünftigen und tugendhaften,
oder zu den entgegengesezten ? Sollten wir vielleicht auf folgende
Art hierauf antworten?
Kl. Wie meinst Du, Fremdling?
D. A. Also, Lieber. Wenn die Umwälzung und die Lauf-
bahn des Himmels und der himmlischen Körper den Bewegungen,
den Wirkungen, oder besser dem Denken des Verstandes gleicht,
wenn beide mit einander in Verwandtschaft stehn; so ist offenbar,
dass die vortreflichste Seele die Welt beherrscht, und dass sie es
ist, welche die Welt diese Laufbahn führt.
Kl. Offenbar.
D. A. Und dass es im Gegentheil die unvollkommene Seele
ist, w^enn die Welt sich auf eine unzwekmässige, unordentliche
Weise bewegt.
Kl. Auch diess ist vollkommen richtig.
D. A. Allein welches ist nun die Bewegung des Verstandes ?
Hierauf ist es in der That schwer, richtig zu antworten. Billiger-
weise muss ich also die Antwort mit Euch gemeinschaftlich über-
nehmen, meine Freunde.
Kl. Freilich.
D. A. Aber wollen wir mit unsern sterblichen Augen den
^'erstand selbst anblikken und erforschen? Dass es uns da nur
nicht eben so gehe, als wenn man zu starr in die Sonne sieht.
Man ist dann am hellen Mittag mitten im Finstern. Weit sichrer
werden wir unsre Blikke auf das Bild des Verstandes wenden.
Kl. Wie verstehst Du das?
D. A. Ich meine, welcher Bewegung der Verstand wohl ähn-
lich ist, wenn wir sein Bild von einer jener zehn Bewegungen her-
t>2 J- Sokrates und Piaton über die Gottheit,
nehmen wollen ? Ich werde sie noch einmal in Euer Gedächtniss
zurükrufen, und dann lasst uns gemeinschaftlich antworten.
Kl. Sehr wohl.
D. A. Soviel ich mich noch erinnere, nahmen wir zuerst an,
dass einige Dinge in Bewegung, andre in Ruhe sind.
Kl. Ja!
D. A. Ferner, dass von den Dingen, welche in Bewegung
sind, einige sich in Einem, andre in verschiedenen Orten bewegen.
Kl. Auch diess ist ganz richtig.
D. A. Und die erstere dieser Bewegungen — die sich wie
die Kugeln, die man zu drechseln pflegt, immer um Einen Mittel-
punkt herumdreht — ist es, welche den Bewegungen des Ver-
standes nothwendig am nächsten kommen, und ihnen unter allen
andern am ähnlichsten sein muss.
Kl. Wie so, Fremdhng?
D. A. Beide, der Verstand, und jene dem Herumdrehen solcher
gedrechselten Kugeln so ähnliche Bewegung um Einen feststehenden
Mittelpunkt herum, bewegen sich immer auf die nemliche Weise,
in dem nemlichen Ort, in der nemlichen Lage sowohl gegen den
Mittelpunkt, als der Theile gegen einander, nach der nemlichen
Regel, und der nemlichen Ordnung.*) Niemand wird uns, wenn
wir diess behaupten, den Vorwurf machen können, dass wir uns
schlecht auf treifende Gleichnisse verständen.
Kl. Gewiss nicht.
D. A. Aus eben diesem Grunde aber ist auf der andern
Seite diejenige Bewegung, welche sich nie auf die nemliche Weise,
nie an dem nemlichen Orte, nie in der nemlichen Lage weder
gegen den Mittelpunkt, noch der Theile gegen einander bewegt,
in der es ferner weder Regel, noch Ordnung, noch Verhältniss
giebt, der Bewegung des Unverstandes am ähnlichsten.
Kl. Allerdings.
D. A. Nun ist es nicht mehr schwer zu entscheiden, ob, da
doch eine Seele alles lenkt, die Umwälzung des Himmels unter
*) Diese Vergleichung scheint beim ersten Anblik sehr sonderbar. Allein man
bedenke nur, dass Körper, die sich um einen feststehenden Mittelpunkt schwingen, nie
ihren Ort verändern, und dass diese Art der Bewegung gewiss die regelmässigste unter
allen nur denkbaren ist; und man wird finden, dass, wenn die Operationen des Ver-
standes mit irgend einer körperlichen Bewegung verglichen werden sollen , diese
wenigstens die einzige dazu schikliche ist.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. oo
der Fürsorge und Leitung einer vollkommenen, oder einer unvoll-
kommenen stehe?
Kl. Nein, Fremdling, nach dem, was wir jezt mit einander
abgemacht haben, dürfen wir nicht anders annehmen, als dass eine
mit jeder Vollkommenheit ausgerüstete Seele das Weltgebäude
beherrscht, sei es nun allein, oder in Gemeinschaft mit mehreren.
D. A. Du hast unsre Schlüsse vortreflich gefasst, Ivlinias.
Merke nur noch ein wenig auf Folgendes. Wenn die Seele alle
Dinge zusammengenommen, die Sonne, den Mond, und die übrigen
Gestirne lenkt, lenkt sie denn nicht auch jedes einzelne.''
Kl. Wie könnte sie anders.^
D. A. So wollen wir denn einmal über einen dieser Körper
mit einander reden. Was wir von ihm sagen, werden wir auf alle
übrigen Dinge anwenden können.
Kl. Und welchen wählst Du zu dieser Absicht?
D. A. Die Sonne z. B. Jedermann sieht ihren Körper,
niemand aber ihre Seele, eben so wenig als die Seele irgend eines
Thiers, es mag leben oder todt sein. Sehr wahrscheinlich also,
dass sie, ihrer Natur nach, keinem unsrer körperlichen Sinne
empfindbar ist, dass sie nur von dem Geiste gedacht werden kann.
Mit dem Verstände allein müssen wir daher versuchen, uns folgen-
den Begriff von ihr zu machen.
Kl. Welchen, Fremdling?
D. A. Wenn die Seele die Sonne regiert, so muss es auf
eine von folgenden drei Arten geschehn. Diess können wir, ohne
Gefahr zu irren, behaupten.
Kl. Von was für Arten redest Du?
D. A. Sie muss entweder den runden sichtbaren Körper selbst
bewohnen, und ihn eben so überall hinbewegen, als unsre Seele
uns bewegt; oder, selbst mit einem feuer- oder, wie einige be-
haupten, luftartigen Körper bekleidet, durch die Kraft ihres Kör-
pers den Körper der Sonne von aussen fortstossen; oder endlich
— und diess ist die dritte Art — alles Körpers entblösst sein, und
sich andrer höchst wundervoller, unbegreiflicher Kräfte bedienen.
Kl. Allerdings.
D. A. Auf eine von diesen drei Arten muss also die Seele
nothwendig die Sonne regieren. Aber dem sei, wie ihm wolle,
ob diese Seele die Sonne und das Licht gleichsam wie in einem
Wagen uns zuführe, oder ob sie von aussen, oder auf irgend eine
andre Weise, welche es auch sei, auf sie wirke; so muss doch
W. V. Humboldt, Werke. I. 3
34
I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
jeder Mensch eingestehn, dass sie ein Wesen höherer Art, dass
sie eine Gottheit ist. Oder kann er es anders?
K 1. Ohne den äussersten Grad des Unverstandes gewiss nicht.
D. A. Werden wir aber anders von dem Monde, und den
übrigen Gestirnen, von den Jahren und Monaten, von dem Wechsel
der Jahrszeiten reden? Auch diess alles ist von Einer, oder
mehreren mit jeglicher Vollkommenheit begabten Seelen hervor-
gebracht. Werden wir nicht auch diese Seelen für Gottheiten er-
kennen, sie mögen nun, indem sie den Himmel beherrschen, in
den Körpern selbst wohnen, oder auf diese, oder jene Weise da-
bei wirksam sein ? Und muss man also nicht eingestehn, dass das
ganze Weltall mit Göttern angefüllt ist?
Kl. Niemand, Fremdling, ist thöricht genug, es zu läugnen.
D. A. So können wir denn nun, lieber Klinias und Megill.^
diejenigen verlassen, welche das Dasein der Götter bisher nicht
glaubten. Wir haben ihnen nun enge Schranken gesezt, haben
ihnen nun genau den Weg vorgeschrieben, den sie gehn müssen,
wenn sie uns antworten wollen.
Kl. Welche Schranken, welchen Weg meinst Du?
D. A. Den, dass sie nun entweder uns folgen, und den übrigen
Theil ihres Lebens hindurch das Dasein der Götter für wahr
halten, oder uns zeigen müssen, dass wir Unrecht hatten, die
Seele für das erste aller Dinge, für den Ursprung aller übrigen
anzunehmen, so wie alles, was wir aus diesem Saz weiter folgern..
Lasst uns nur noch einmal sehn, ob wir ihnen das Dasein der
Götter hinreichend bewiesen haben, oder ob unsrem Beweise noch
etwas fehlt?
Kl. Gewiss nicht das geringste, Fremdling.
D. A. Nun so haben denn diese Untersuchungen ein Ende;
und so wollen wir denn jezt die zurükzuführen suchen, die zwar
das Dasein der Götter nicht bezweifeln, aber doch nicht glauben,
dass sie sich um die menschlichen Angelegenheiten bekümmern.
„Dein Glaube an die Götter, mein Lieber," wollen wir zu einem
von ihnen sagen, „rührt vielleicht von einer gewissen Verwandt-
schaft zwischen Dir und ihnen her, die Dich antreibt, sie zu er-
kennen und zu verehren. Aber das Glük, welches Du ungerechte,
lasterhafte Menschen in ihren Familien, und im Staate geniessen
siehst, bringt in Dir eine Geringschäzung gegen sie hervor. Frei-
lich ist diess Glük kein wahres Glük, aber es wird doch — so
Unrecht es auch ist — dafür gehalten, wird doch in Gedichten
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. oc
und andern Schriften von mancherlei Art als ein solches gepriesen.
Vielleicht siehst Du selbst sogar lasterhafte Menschen das späteste
Alter erreichen, und noch ihre Enkel in den höchsten Ehrenstellen
hinterlassen; vielleicht entspringen hieraus Deine Zweifel. Du
hörst oder bist vielleicht selbst Augenzeuge von schändlichen
Handlungen, von Ungerechtigkeiten gegen andre, und nimmst wahr,
dass eben sie die Mittel sind, durch die sich gewisse Menschen
aus dem Staube zu den höchsten Würden, ja zum Throne empor-
schwingen. Die Götter als die Urheber hievon anzuklagen, erlaubt
Dir Deine Verwandtschaft mit ihnen nicht. Also auf der einen
Seite von Unverstand, auf der andern von Furcht, die Götter zu
beleidigen, getrieben, bist Du in die Krankheit verfallen, zwar ihr
Dasein zu glauben, aber anzunehmen, dass sie die menschlichen
Angelegenheiten geringschäzen und vernachlässigen. Dieser Irr-
thum könnte Dich bald zu einem noch grössern Leichtsinn gegen
die Götter verführen ; wir wollen daher versuchen. Dich, wo mög-
lich, durch unsre Beweise davon zu heilen, und zu dem, was wir
schon gegen die gesagt haben, welche sogar das Dasein der Götter
bezweifeln, noch die folgende Untersuchung fügen." Ihr, Ivlinias
und Megill, werdet wohl wieder, wie vorhin, die Stelle des Jüng-
lings vertreten, und für ihn antworten. Sollte aber irgend eine
Schwierigkeit uns in der Untersuchung aufstossen, so werde ich
sie auf mich nehmen, und Euch mit über den Strom helfen.
Kl. Vortreflich! Mach es nur, wie Du sagst; auch w4r
wollen unser Möglichstes thun.
D. A. Der Beweis, dass die Götter sich um das Kleine nicht
minder bekümmern, als um das Grosseste, wird uns nicht schwer
werden. Denn wir machten ja schon vorhin mit einander aus,
dass sie jede Vollkommenheit besizen, und dass die Fürsorge fürs
Ganze ihr eigentlichstes Geschäft ist.
Kl. Allerdings kamen wir darin überein.
D. A. So lass uns denn nun untersuchen, in welcher Rük-
sicht eigentlich wir die Götter vollkommen nannten? Nimm ein-
mal z. B. Massigkeit und Weisheit. Sind diess nicht Vollkommen-
heiten, so wde ihr Gegentheil Unvollkommenheiten?
Kl. Nothwendig.
D. A. Ist nicht auch ferner Tapferkeit eine Vollliommenheit,
und Feigheit das Gegentheil davon?
Kl. Wie anders?
og I. Sokratcs und Piaton über die Gottheit,
D. A. Nennen wir nicht die eine Gattung dieser Dinge edel,
die andre unedel?
Kl. Ja.
D. A. Und müssen wir nun nicht zugeben, dass die leztere
wohl uns, nie aber, weder in grossem, noch in geringem Maasse,
den Göttern zukommen könne?
Kl. Das müssen wir zugeben.
D. A. Wie aber? Nachlässigkeit, Trägheit, Weichlichkeit,
werden wir die zu den Vollkommenheiten der Seele rechnen?
Kl. Wie könnten wir es?
D. A. Also zu den Unvollkommenheiten?
Kl. Nothw^endig.
D. A. Und die ihnen entgegenstehenden Eigenschaften zu
der entgegengesezten Klasse?
Kl. Zu der entgegengesezten.
D. A. Nun endlich ! Hassen wir nicht den weichlichen, nach-
lässigen Müssiggänger, den der Dichter*) sehr treffend mit den
trägen Wespen vergleicht?
Kl. Allerdings.
D. A. Lasst uns daher ja nicht der Gottheit eine Eigenschaft
beilegen, die sie selbst hassen muss; und lasst uns niemanden eine
solche Behauptung erlauben.
Kl. Niemanden.
D. A. Würde wohl der unser Lob auch nur einigermaassen
verdienen, der, w^enn ihm aufgetragen wäre, etwas zu besorgen,
sich um etwas zu bekümmern, nur immer auf das Grosse sein
Augenmerk richtete, und das Kleine vernachlässigte ? Gewiss nicht ;
denn — bedenkt es selbst einmal — könnte er wohl, er möchte
nun ein Gott, oder ein Mensch sein, aus einem andern Grunde
so handien, als aus einem von folgenden zweien?
Kl. Von welchen?
D. A. Ich meine : er müsste entweder glauben, dass die Ver-
nachlässigung des Kleinen in Rüksicht aufs Ganze gleichviel gelte ;
oder, wenn er das nicht glaubte, so müsste er sich der Trägheit
*) Hesiodus Tagwerke. B. I. v. 302. ^)
V Die Stelle lautet:
„Tcö de d'eol refieocöai i<ai dvs^es, og y.ev de^yos
^ojji y.ri^qveoai y.od'ovQOis siy.eXos oQyfiv^
o'i TS fieXiaadcov yed/iurov r^vxovaiv de^yoi
ead'ovTEä.''''
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. on
und Weichlichkeit überlassen. Oder könnte wohl seine Nach-
lässigkeit noch aus einem andren Grunde entspringen ? Denn das
nennen wir nicht Nachlässigkeit, wenn es jemanden unmöglich ist,
für alles zu sorgen, und wenn er aus diesem Grunde — sei es
das Grosse, oder das Kleine — vernachlässigt ; wenn z. B. irgend
ein Gott, oder Sterblicher zu schwach wäre, für alles Sorge zu
tragen.
Kl. Nein.
D. A. Jezt müssen unsre beiden Gegner uns dreien ant-
worten. Beide gestehen das Dasein der Götter ein ; aber der eine
hält sie für bestechlich, der andre glaubt, dass sie das Kleine ver-
nachlässigen. Einmal gebt Ihr doch beide zu, dass die Götter
alles sehen und hören, dass ihnen nichts von allem verborgen ist,
was in dem Gebiete der Sinne und des Verstandes liegt. Räumt
Ihr das ein, oder nicht?
Kl. Allerdings räumen wir das ein.
D. A. Ferner: dass sie alles vermögen, was der vereinigten
Macht aller Sterblichen und aller Unsterblichen möglich ist.^
Kl. Wie könnten unsre Gegner diess läugnen wollen?
D. A. Endlich sind wir alle Fünfe übereingekommen, dass
sie höchst gut und vollkommen sind.
Kl. Ganz richtig.
D. A. Nun wir ihnen diese Eigenschaften beigelegt haben,
wäre es wohl noch möglich zuzugeben, dass sie irgend etwas aus
Trägheit, oder Weichlichkeit thäten? Bei uns entsteht Trägheit
aus Müssiggang und Weichlichkeit, und Müssiggang aus Feigheit.
Ein Gott kann nicht feige sein ; wenn er also etwas vernachlässigt,
so kann die Ursache davon nie in seiner Trägheit, oder in seiner
Weichlichkeit liegen.
Kl. Nie.
D. A. Aber wenn die Götter das Kleine bei der Regierung
des Ganzen verabsäumen, so müssen sie doch entweder überzeugt
sein, dass die Sorgfalt fürs Kleine nicht nothwendig ist, oder sie
müssen das Gegentheil hievon glauben?
Kl. Ein drittes bleibt nicht übrig.
D. A. Was willst Du nun lieber annehmen, mein Bester?
Sollen die Götter aus Unwissenheit nachlässig sein, darum, weil
sie nicht einsehn, dass man auch für das Kleine sorgen muss?
Oder, von dieser Nothwendigkeit überzeugt, es nur so machen,
wie die schwächsten, elendesten Menschen thun ? Sie vvdssen recht
og I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
gut, dass sie besser handien könnten, als sie handien, aber aus
Hang zum Vergnügen, oder aus Furcht vor irgend einem Unge-
mach unterlassen sie es.
Kl. Es lässt sich weder das eine, noch das andre denken.
D. A. Weiter! Gehören die Menschen und ihre Schiksale
nicht zu der beseelten Natur, und verehren nicht sie unter allen
Thieren die Götter am meisten?
Kl. Allerdings, wie es scheint.
D. A. Und wir sind doch, so wie alle Thiere und der ganze
Himmel, ihr Eigenthum?
Kl. Nicht anders.
D. A. Nun nenne man unsre Angelegenheiten gross, oder
klein in den Augen der Götter; in keinem Fall würde es sich
für sie ziemen, ihr Eigenthum — uns — zu vernachlässigen, desto
weniger sich für sie ziemen, je vollkommener sie sind, je aufmerk-
samer sie für etwas sorgen. Lasst uns auch noch Folgendes in
Betrachtung ziehn!
Kl. Was, Fremdling?
D. A. Wie in Rüksicht auf Leichtigkeit, oder Schwierigkeit
unsre Sinne, und unsre Kräfte einander immer entgegenstehn.
Kl. Wie verstehst Du diess?
D. A. Etwas Kleines zu sehn, zu thun, ist weit schwerer, als
etwas Grosses. Aber zu tragen, in unsre Gewalt zu bekommen,
zu. besorgen, ist es weit leichter.
Kl. Allerdings.
D. A. Nun ferner! Seze, ein Arzt sollte einen ganzen Körper
heilen, und besässe auch Willen und Fähigkeit dazu. Wenn er
da bloss für das Grosse sorgen, aber das Kleine, die einzelnen
Theile, vernachlässigen wollte, würde sich dabei der ganze Körper
je wohl befinden?
Kl. Niemals.
D. A. Eben so wenig wird Steuermännern, Feldherrn, Ver-
waltern, Staatsmännern und wen ich noch sonst nennen könnte,
das Grosse ohne das Kleine nüzlich sein. Denn die Baumeister
sagen ganz richtig: Der kleine Stein liegt nicht ohne dengrossen.
Kl. Sehr wahr.
D. A. Lasst uns also doch ja nicht die Gottheit unter mensch-
liche Werkmeister herabsezen ! Sie bearbeiten mit gleichem Fleisse
das Grosse und das Kleine, nur nach Maassgabe ihrer Geschik-
lichkeit mehr oder weniger genau und vollkommen. Und Gott,
über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
39
der Höchstweise, er, der die Fähigkeit für alles zu sorgen mit dem
Willen dazu vereint, Gott sollte das Kleine, wofür die Sorgfalt so
leicht ist, vernachlässigen; sollte den trägen Weichlingen ähnlich
sein, die aus Arbeitsscheu für das Grosse allein sorgen !
Kl. Fern sei ein solcher, gleich falscher und unerlaubter Ge-
danke von uns!
D. A. So haben wir ja wohl den, welcher die Gottheit der
Nachlässigkeit beschuldigte, hinlänglich widerlegt?
Kl. Gevv^ss.
D. A. Unsre Beweise haben ihn genöthigt, seinen Irrthum
zu gestehn. Jezt, glaub' ich, müssen wir nur noch etwas hinzu-
sezen, das ihn, wie ein Zaubermittel, fessle.
Kl. Und was ist das, Lieber?
D. A. Wir wollen ihm zeigen, dass der, welcher für das
Ganze sorgt, auch alles zum Wohl und zur ^^ollkommenheit des
Ganzen geordnet hat ; dass jeder Theil immer nur die ihm ange-
messnen Veränderungen hen^orbringt und leidet ; und dass es Auf-
seher giebt, die über jede, noch so kleine Veränderung — sie
bestehe in Wirken, oder in Leiden — in jeden, auch den kleinsten
Theilen des Ganzen, wachen. Du selbst, schwacher Sterblicher,
bist gleichfalls ein solcher, obwohl kleiner Theil, und arbeitest mit
zum Nuzen des Ganzen, Du bedenkst nur nicht, dass alles für
das Ganze, und für dessen Glükseligkeit entsteht. Denn das Ganze
ist nicht Deinetwegen ; nein. Du bist seinetwegen da'). Jeder Arzt,
jeder erfahrene Künstler arbeitet immer fürs Ganze. Die A^oll-
kommenheit des Ganzen ist sein Zwek. Nach dem Ganzen bildet
er den Theil, nicht umgekehrt jenes nach diesem. Du bist nun
unzufrieden, weil Du nicht einsiehst, wie, vermöge der Gleichheit
Eures Ursprungs, das, was für Dich das Beste ist. auch zugleich
dem Ganzen eben so wie Dir nüzt. Denn was blieb dem Schöpfer
anders übrig — da immer dieselbe Seele bald mit diesem, bald
mit jenem Körper vereint ist, da sie so viele Veränderungen bald
durch sich, bald durch andre erfährt — als sie, nach Art der
Knöchelspieler, immerfort zu versezen, die besser gewordene in
einen besseren, die schlechter gewordene in einen schlechteren,
*) Ich fürchte, hier den Sinn verfehlt zu haben. Die Worte orrtw» ?; rj reo rov
Travxos ßuo vrcaQ/fivaa tvSaifiiov ovata sind mir nicht ganz deutlich, und es kann
leicht ein tieferer Sinn darin verstekt liegen, als welchen ich in der Uebersezung
ausgedrükt habe.
AQ I. Sokrates und Piaton über die Gottheit,
jede aber in einen ihr angemessenen Ort, damit jeder ein Schik-
sal zu Tlieil werde, wie sie es verdient?
Kl. Was meinst Du damit?
D. A. Mich dünkt, ich zeige die Art an, wie es den Göttern
am leichtesten werden muss, für das Ganze zu sorgen. Denn
wenn ein Künstler bei seinem Werke immer jedes einzelne Ding
in Rüksicht aufs Ganze — das er nie aus den Augen verlöre —
umbildete ; das Feuer z. B. in beseeltes Wasser verwandelte u. s. f.,
nicht aber mehrere Dinge in Eins vereinte, oder Eins in mehrere
trennte, indem er sie durch die erste, zweite, oder dritte Ent-
stehung durchgehn Hesse; so würde es der Umbildungen eine
unübersehbare Menge geben. Meine Methode hingegen macht die
Sorgfalt fürs Ganze weit leichter.
Kl. Aber auf welche Art, Fremdling?
D. A. Auf folgende. Alle unsre Handlungen haben ihren
Grund in unsrer Seele ; auf der einen Seite liegt zwar viel Tugend
darin, auf der andren aber auch viel Lasterhaftigkeit; beide, Seele
und Leib, sind zwar nicht ewig, so wie es die Götter sind, aber
sie sind wenigstens unvergänglich. Denn gienge je die eine oder
der andre völlig unter, so könnten nie neue Thiere entstehen.
Das Gute endlich, ich meine das moralische Gute, ist seiner Natur
nach immer nüzlich, hingegen das Böse immer schädlich. Alles
diess sah unser Beherrscher, und ordnete jeden einzelnen Theil
des Ganzen auf eine Art an, wie die Tugend am leichtesten siegen
könnte, das Laster am sichersten unterliegen müsste. Er bestimmte
nemlich in Rüksicht aufs Ganze, wie jedes Ding, je nachdem es
anders und anders würde, auch seine Stelle verändern, und welche
Oerter es bewohnen sollte. Wie wir aber werden wollten, diess
überliess er unsrer Willkühr. Denn jeder hat doch gewöhnlich
den Charakter, der seinen Neigungen gemäss ist.
Kl. Keinen andren.
D. A. Er versezt daher immerfort alles Beseelte; doch die
Ursach dieser Versezung liegt in den Wesen selbst ; und die Ver-
sezung an sich stimmt mit dem Willen, und den Gesezen des
Schiksals überein. Diejenigen, deren Charakter sich weniger ver-
ändert hat, werden auch weniger versezt, und bleiben fast immer
auf derselben Oberfläche. Aber die, welche sich mehr verändert
haben, und schlechter geworden sind, sinken in die Tiefe hinab,
in jene unterirrdischen Orte, den Hadäs, oder wie wir sie sonst
nennen mögen, und werden von Furcht, und schreklichen Träumen
über die Vorsehunfr und Unsterblichkeit.
41
beunruhigt, so lange sie leben, und wenn sie von ihren Leibern
getrennt sind. Diejenigen Seelen, welche durch ihren eignen
Willen, und durch eine mächtig gewordene Gewohnheit grössere
Fortschritte im Laster oder in der Tugend gemacht haben, werden,
wenn sie sich zu der göttlichen Tugend gesellen, in glükseligere,
völlig heilige Orte versezt; haben sie sich aber auf die entgegen-
gesezte Seite gewandt, so erhalten sie ganz entgegengesezte Wohn-
pläze. Diess, Jüngling, der Du Dich von den Göttern vernach-
lässigt glaubst, ist die von den Bewohnern des Olymps eingeführte
Ordnung. Die schlechtere Seele muss sich immer zu den schlech-
teren, die bessere zu den besseren gesellen, um da im Leben, und
in jeglichem Tode alles zu thun und zu leiden, was Aehnlich-
gesinnte von einander erwarten können. Und weder Du, noch
irgend ein andrer Unglüklicher, dürfet Euch je schmeicheln. Euch
dieser Ordnung zu entziehn. Sie ist unverbrüchlicher, als jede
andre, und Du hast wohl LIrsach auf Deiner Hut zu sein. Denn
nie wirst Du der Aufsicht der Götter entgehn,') und würdest Du
so klein, dass Du Dich in dem Mittelpunkt der Erde verbärgest,
oder so gross, dass Du Dich zum Himmel emporschwängst.
Immer wirst Du die Strafe empfangen, die Du verdienst. Du
magst hier auf Erden bleiben, oder in den Hadäs, oder in einen
noch grausenvolleren Wohnplaz versezt werden. Und eben so ist
es mit denen, welche Du durch Frevelthaten aus dem Staube in
die Höhe steigen sahst. Du glaubtest sie nun auf einmal vom
Unglük zum Glük übergegangen, und dachtest in ihren Hand-
lungen, wie in einem Spiegel, die Sorglosigkeit der Götter in Rük-
sicht auf die Menschen zu sehn. Allein Du v\'usstest nicht, wie
auch sie zum Nuzen des Ganzen beitragen. Solltest Du aber
wohl diese Kenntniss für überflüssig halten — sie, ohne welche
Du nie einen Plan Deines Lebens entwerfen, ohne welche Du nie
beurtheilen kannst, was Dein Glük und Dein Unglük ausmachen
wird? Wenn Du durch Klinias, und uns übrigen Greise von der
Nichtigkeit Deiner bisherigen Behauptungen überzeugt bist; so ist
diess schon ein grosses Geschenk der Götter. Doch scheint Dir
*) Wer erinnert sich nicht bei dieser Stelle an Psalm 139. V. 8. u. f.?')
V „Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle,
siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am
äussersten Meer, so n'ürdc mich doch deine Hand daselbst führen und deine
Rechte mich halten."'
42
I. Sokrates und Plato:i über die Gottheit,
irgend ein Beweis noch mangelhaft, so höre, wenn Du vernünftig
sein willst, unser Gespräch mit dem Dritten an. Denn das Dasein
der Götter, und ihre Fürsorge für die Menschen hab' ich, dünkt
mich, nicht übel dargethan. Nur dass sich diese Götter auch nicht
durch Geschenke ungerechter Menschen bestechen lassen — ein
Saz, den man niemanden zugeben darf — müssen wir noch nach
allen Kräften bew^eisen.
Kl. Vortreflich! Wir wollen Deinem Vorschlage folgen I
D. A. Bei den Göttern selbst! so sage uns denn, auf welche
Art sie bestechlich sind, wenn sie es doch einmal sein sollen?
Sage uns, wer sie sind? welchen Gharakter sie haben? Sie sind
doch wohl Herrscher? denn sie regieren immerfort den ganzen
Himmel.
Kl. Allerdings.
D. A. Aber welchen Herrschern sind sie, oder welche sind
ihnen ähnlich? damit wdr doch das Grössere gegen das Kleinere
halten können. Gleichen sie vielleicht den Wagenführern, wenn
sie im Wettstreit mit einander kämpfen, oder den Steuerleuten?
Vielleicht können wir sie auch mit den Befehlshabern der Heere
vergleichen, oder mit den Aerzten, welche die Krankheiten des
Leibes bekämpfen, oder mit den Akkcrsleuten, die, immer zitternd
für das Wachsthum ihrer Früchte, die gewöhnliche schlimme
Jahrszeit erwarten, oder mit den Hütern der Heerden? Denn
der Himmel, gestanden v/ir ja ein, ist voll des Guten und Bösen,
und des lezteren ist mehr. P]s giebt also da einen unaufhörlichen
Streit, der eine bew^undernswürdige Wachsamkeit erfordert. Die
Götter und die Dämonen kämpfen auf unsrer Seite, weil wir ihr
P^igenthum sind. Aber Ungerechtigkeit, Zügellosigkeit und Thor-
heit würden uns ins Verderben stürzen, wenn Gerechtigkeit, Ent-
haltsamkeit und Weisheit uns nicht wieder retteten — sie, die in
den Seelen der Götter wohnen. Auch auf Erden findet sich etwas
Aehnliches. Denn gewisse niederträchtige, ungerechte Seelen ver-
schwören sich gegen ihre Wächter (verstehe darunter, wen Du
willst, Hunde, Hirten, oder mächtige Herrscher) und erschleichen
— denn so machen sie es, sagt man — durch Schmeicheleien und
bezaubernde Liebkosungen die Freiheit, andre ungestraft zu über-
vortheilen. Diess Laster, immer mehr zu begehren, als andre be-
sizen, nennen wir bei den Körpern Krankheit, bei den Jahrszeiten
Seuche, in den Staaten und Regierungsverfassungen, mit ver-
ändertem Namen, Ungerechtigkeit.
über die Vorsehung und Unsterblichkeit. ^o
KL So nennen wir es.
D. A. Zu behaupten, dass die Götter den Ungerechten gern
verzeihen, wenn sie ihnen nur einen Theil ihres Gewinns abgeben,
heisst, sie mit Hunden vergleichen, welchen die Wölfe einen
Theil ihrer Beute überlassen, und die dafür, durch das Geschenk
2ahm gemacht, ihnen die Erlaubniss ertheilen, die Heerden zu
zerreissen. Oder liegt wohl etwas anders in der Behauptung?
KL Nichts anders,
D. A. Und mit welcher von den vorhin genannten Personen
kannst Du wohl die Götter vergleichen, wenn Du Dich nicht
lächerlich machen willst? Etwa mit Steuerleuten, die, durch Wein
und Opferfett bestochen, Schilf und Schiffer untergehn lassen?
KL Gewiss nicht.
D. A. Oder mit Wagenführern, welche, durch Geschenke
überredet, den Sieg andern in die Hände spielen?
KL Welch eine ^"ergleichung, Fremdling!
D. A. Oder mit Feldherrn, oder Aerzten, oder Akkersleuten,
oder Hirten, oder endlich Hunden, die von den Wölfen besänftigt
werden ?
KL Behüte der Himmel! Wie könnten wir so etwas be-
haupten ?
D. A. Sind nicht vielmehr die Götter die erhabensten Wächter,
und über die erhabensten Dinge?
K 1. Gewiss.
D. A. Sie übertreffen an Wachsamkeit alle übrigen Wesen,
sie sorgen für die vortreflichsten Dinge, und wir wollten sie unter
unvernünftige Thiere, oder auch nur unter mittelmässige Menschen
herabwürdigen? Denn schon diese würden gewiss nicht die Ge-
rechtigkeit übertreten, wenn ihnen auch ungerechte Menschen Ge-
schenke dafür anböten.
KL Keinesweges. Eine solche Behauptung wäre empörend;
und mich dünkt, wer diese Meinung von den Göttern hat, ist
unter allen Gottesverächtern der schändlichste und verwegenste.
D. A. Wir haben nun, glaub' ich, die drei vorgelegten Stükkc
hinlänglich bewiesen: das Dasein der Götter, ihre Fürsorge für
die Menschen, ihre Unbestechlichkeit gegen die Ungerechten.
Kl. Allerdings. Wir alle haben die Richtigkeit Deiner Be-
weise eingestanden.
D. A. Die hartnäkkige Streitsucht jener schlechten Menschen
hat mich heftiger, als sonst reden lassen. Ich habe es gethan, da-
AA I. Sokrates und Piaton über die Gottheit, über die Vorsehung und Unsterblichkeit.
mit sie sich nicht einbilden mögen, mit ihren Beweisen zu siegen,
und, ihren Grundsäzen über die Götter zufolge, alles, was sie
wollen, thun zu dürfen. Darum habe ich Lust bekommen, etwas
jugendlicher zu reden. Wenn es uns auch nur etwas geglükt ist,
unsre Gegner dahin zu bringen, sich selbst, so wie sie sind, zu
hassen, und die entgegengesezte Denkungsart zu lieben ; so haben
wir diese Einleitung zu unsren Gesezen vortreflich angewandt.
Kl. Wir können es hoffen. Wenn es aber auch nicht ist;
so wird diese Untersuchung dem Gesezgeber nie Schande machen.
über Religion.
In allen Staaten, deren Andenken uns die Geschichte auf-
bewahrt, finden wir religiöse und bürgerliche Einrichtungen aufs
innigste mit einander verbunden. Gleich interessant für den Ge-
schichtsforscher und Philosophen muss es sein, dem Ursprung
dieser Erscheinung nachzugehn. Ohne Zweifel liegt der Grund
davon allein in dem Glauben an die Macht überirrdischer Wesen,
in den Erwartungen und Besorgnissen, welche dieser Glaube er-
regte; die Menschen, welche die Gesellschaft schlössen, mochten
nun selbst zu sehr von diesen Ideen erfüllt sein, um nicht die
Gottheit mit in ihre Verfassung zu verflechten, oder der Gesez-
geber mochte sich, bald aus edler menschenfreundlicher Absicht,
bald aus schlauem Betrug, dieses Mittels bedienen, den Gehorsam
seiner Lnterthanen zu fesseln. Vorzüglich war diess Leztere
häufig der Fall. So Hess Moses den Gott seiner Väter, Numa die
Egeria, Mahomet den heiligen Geist, so die Inkas den Sonnengott
reden. Nur jeder auf verschiedne Art nach den Einsichten und
Bedürfnissen seines Zeitalters. ^)
Handschrift (22 Quartseiten, ohne Titel) im Archiv in Tegel. Ebenda ist
der Beginn einer Umarheitung des Aufsatzes (y Quartseiten, ohne Titel) erhalten,
die aber yiur bis S. 5/ unsres Textes gediehen ist.
\) In der Umarbeitung lautet der erste Absatz: „In allen Staaten, deren An-
denken uns die Geschichte aufbewahrt, zeigt sie uns Religion und Staatsverfassung
aufs innigste mit einander verbunden. Dem Ursprünge dieser Erscheinung nach-
zugehen, zu untersuchen, wie die Sumyne von Ideen und Etnpßndungen, durch
welche nun jeder Einzelne, zu Befriedigung seiner ihm eigenthiunlichen intel-
lektuellen oder moralischen Bedürfnisse, sich, seine Schiksale und Erwartungen
an mehr als endliche Bande knüpft, wie diese ein Mittel geworden ist, allgemein,
46 2- über
In den alteren Staaten war die Religion unmittelbares Werk-
zeug in den Händen des Herrschers. Die Gottheit hatte eigent-
lich alle Obergewalt, der Regent war nur Ausleger ihrer Befehle ;
oder wo auch nicht auf diese Weise Theokratie im strengsten
Verstände waltete, da musste doch jedes neue Unternehmen erst
der Prüfung der Gottheit unterworfen werden. Sie beschüzte
nicht sowohl den Bürger als Menschen, sondern den ganzen Staat,
den Bürger als Bürger. Das Gesez befahl nicht sowohl, sie zu
ehren; sie gab vielmehr selbst das Gesez, oder war doch Ver-
iheidigerin und Rächerin desselben. Ihre Gunst gewinnen oder
ihren Zorn erregen, hiess dem ganzen Staat Segen oder Verderben
bereiten. Alle V^orsiellungen von überirrdischen Wesen waren in
jenen rohen unkultivirten Zeiten noch völlig anthropomorphistisch ;
der Gottesdienst ein blosses Gewebe von (]ärimonien. Auf diese
(]ärimonien stüzte sich das Ansehen der Priester; auf dem An-
sehen der Priester beruhte die Gewalt der Magistratspersonen.
So hieng an diesem einzigen Faden die ganze Staatsverfassung.^)
und zugleich auf verschieden Denkeitde und verschieden Empfindende zu wirken,
ynuss dem Philosophen, wie dem Geschichtsforscher, eine überaus interessante Be-
schäftigung gewähren. Alle Gesezgeber suchen Triebfedern, den Willen der
Bürger mit dem Sinn der Geseze übereinstimmend zu machen; und schon sehr
früh fanden sie eine, mehr als jede andre wirksame, in der Furcht, welche die
Macht, in der Liebe, welche die Schönheit und Güte überirrdischer Wesen einßösst.
Oft suchten sie nun, ihr Ansehn geradezu durch das Ansehn der Götter zu ver-
stärken, oft nur durch religiöse Ideen den Seelen ihrer Bürger die Stimmung zu
geben, welche ihr Endzwek heischte. Allein einfacher, weniger künstlich und
absichtsvoll war der Gang in den früheren, weyiiger kultivirten Staaten. Der
Zorli der Gottheit bringt Verderbefi über das Volk; daher ist es Pflicht des
Herrschers zu sorgen, dass Vernachlässigimg diesen Zorn nicht errege, sondern
anhaltender, wohlgefälliger Dienst ihn in Seegen imischaffe. Eben diese Vor-
stellungsart findet sich auch in späteren Zeiten wieder. Nur dass da nicht sowohl
Verderben für das Volk und den Staat besorgt wird, als für den Alleinherrscher,
der — da sich hier auf die sonderbarste Weise politische Ideen mit Religions-
ideen vermischen — für das Heil seiner Völker bei der Gottheit verantwortlich
ist; und dass die Folgen des göttlichen Zorns mehr jenseits als diesseits des Grabes
gefürchtet werden. Wie nun bald diese, bald jene der hier angegebenen Ursachen,
wie bald eine allein, bald mehrere gemeinschaftlich wirkten, verdient noch eine
genauere Bestimmung nach den verschiednen Epochen der Geschichte. Denn mit
der grösseren oder geringeren Bildung ändert sich auch der Gesichtspunkt, aus
welchem die Gottheit betrachtet wird; und hier kommt es nicht bloss auf diesen
religiösen, sondern noch ausserdem auf den politischen an, aus welchem man das
Verhältniss des Herrschers zu den Beherrschten ansieht."
\) Bis zu dieser Stelle lautet der zweite Absatz in der Umarbeitung folgender-
Religion.
47
Daher war Neuerung in Religionssachen nicht bloss, als üeber-
tretung eines Strafgesezes, Verbrechen, sondern Staatsverbrechen
im eigentlichsten Verstände: Befolgung der gottesdienstlichen Ge-
bräuche nicht Bemühen den Göttern ihre Verehrer, sondern dem
Staat seine Verfassung zu erhalten. Daher war Sokrates und
Moses Mendelssohns Erfüllung auch der eigensinnigsten Foderungen
ihrer Religion nicht mitleidige Schonung des Aberglaubens ihres
maßen: „Bei den älteren, roheren Völkern entsprang die Idee einer Gottheit aus
iimnittelbarcn Gefühlen der Schwache, der Abhängigkeit von Schiksal und Natur,,
die ihre Phantasie in selbstihätige Wesen verwandelte, und auf den Thron der
Schöpfung erhob. Diese Wesen — liehen sie ihnen auch andre, als menschliche
Gestalten — dachten sie sich inenschlich, mit menschlichen Neigungen und Leiden-
schaften, nur überlegen an Macht und Stärke. Abhängig von ihnen fürchteten
sie ihren Zorn, flehten sie um ihre Huld. So war ein Einfluss, eine Oberherr-
schaft überirrdischer Wesen Grimdidee aller Nationen, und eine Idee, die schon
vor aller Vereinigung zur eigentlichen Gesellschaft existirte. Schon jede Familie
brachte ihre Götter in die Staatsverbindimg. Denn so erklärt man es ja, dass
bei allen übrigen Völkern des Alterthums Vielgötterei, bei den Israeliten hingegen,
die nur von Einer Fam.ilie herstammten, auch nur Anbetung Eines Gottes herrsc'nte.
Wie mm der Zwek der Staatsvereinigung überhaupt Ueberwindung aller Hinder-
nisse, Erreichimg aller Vortheile war, die ohne gemeinschaftliche Kraft unüber-
windlich oder unerreichbar geblieben wären; so entstand jezt auch vereintes
Streben, die Gunst der Gottheit durch gemeinsame Verehrung zu erhalten. Zu
den Familiengöttern gesellten sich Nationalgötter; gottesdienstliche National-
zusammenkünfte entstanden, und wurden durcJi die Bequemlichkeit, dabei auch
über andre Angelegenheiten zu rathschlagen, durch die Neigung zum geselligen
Leben, und zu gemeinschaftlich J'röhlichem Genuss häußger gemacht. Den
Herrschern im, Staat lag es ob, überhaupt für das Wohl des Ganzen zu sorgen ;
also auch den Willen der Götter zu erforschen, ihm zu gehorchen, oder kein
Mittel zu verabsäumen, ihn nach den Wünschen des Volks umzustimmen. So
wurde die Religion innigst in die Staatsverfassung verwebt; so war der Wille
der Gottheit eigentlich der oberste Herrscher, der irrdische Regent nur Ausleger
desselben. So befahl nicht sowohl das Gesez, sie zu ehren ; sie gab vielmehr selbst
das Gesez, oder war doch Vertheidigerin und Rächerin desselben. Zwar herrschte
nicht überall Theokratie in diesem strengen Veistande des Worts; aber immer
musste doch jedes neue Enternehmen erst der Prüfung der Gottheit unterworfen
werden; immer musste ihr Ausspruch die wichtigsten Unternehmungen entscheiden,
ihr Beifall die Wahl der Magistratspersonen bestätigen. Dadurch wurden ihre
Diener zugleich Regierer des Staats. Und nun gewann bald alles eine veränderte
Gestalt. Was anfangs bloss frommer Glaube gewesen war, dessen bediente ynan
sich nun bald aus Herrschsucht, bald aber auch aus der menschenfreundlichen
Absicht, das rohe, ungebändigte Volk zur Ordnung und Sittlichkeit zu führen,
als eines Mittels, um den weniger aufgeklärten Theil der Nation dadurch zu
leiten. Nach und nach wurde nun die Staatsverfassung künstlicher und ver-
48
2. Über
Volks, sondern Erfüllung bei jenem der Bürger-, bei diesem —
da Juden keinen eignen Staat mehr bilden — der Nationalpflicht.*)
Daher war es nicht Intoleranz der Athenischen Richter, wenn sie
Sokrates zum Giftbecher verdammten. Er war Verbrecher gegen
den Staat, wenn es erwiesen war, dass er den Altären ihre
Opfrer entzog.
Die Gottheiten der alten Völker waren ferner Partikular-
Gottheiten, eingeschränkt auf die Gränzen menschlichen Eigen-
thums. Jede Gegend, jede Stelle wurde einem eignen Gotte ge-
weiht. So gab es Götter des Hauses, der Familie, des Stammes,
der Nation ; Götter der einzelnen Aekker, Gärten, Haine, Quellen,
Berge u. s. f. Der Schuz dieser Gottheiten war ein Eigenthum
der Bewohner dieser Gegenden, der Mitglieder dieser Gesellschaften ;
aber ein Eigenthum, das an den Gegenden und den Gesellschaften
klebte, das man verlor, wenn man über die Gränze des Landes
trat, oder aufhörte Mitglied der Familie zu sein. Daher die
mancherlei gottesdienstlichen Feierlichkeiten bei Erbauung von
Häusern, Uebertragung von Erbschaften, Uebertritt von einer
wikkelter, und je mehr Ausbildung und Verfeinerung sie erhielt, desto enger
wurde auch die Religion mit ihr verbunden; so dass es nicht mehr möglich war
jene anzugreifen, ohne zugleich diese zu verlezen." Der Rest des Absatzes ein-
schließlich der Anmerkung stimmt nahezu wörtlich zu unserm Text: in der
letzteren heißt es statt „den Nationalgeist" „das Eigenthümliche des National-
geistes und des Nationalglaubens" , statt „der Sitten" „der Sitten und der Vor-
stellungsweise", statt „für den Charakter" „für den Charakter und die Aufklärung" ;
im vorletzten Satz des Haupttextes ist „Sokrates" durch „den Weltweisen" ersetzt.
*) Diese Hypothese — denn für mehr gebe ich es niclit aus, troz des zuverlässigen
Tons, den der Zusammenhang entschuldigen mag — über einen erst vor so wenig
Jahren verstorbenen Mann *) mag auffallend scheinen. Aber immer kam mir eine solche
Schonung, oder vielmehr Beförderung des rohesten Aberglaubens bedenklich, und eine
so weit getriebne, in dem Zeitalter, in dem Moses lebte, unnöthig vor. Auf der andren
Seite wäre vielleicht die Absicht, den Nationalgeist seines Volks nicht untergehen zu
lassen, eines so denkenden und scharfsinnigen Kopfes nicht unwürdig. Wenigstens muss
die Untersuchung : ob das Ineinanderschmelzen der Sitten aller Nationen , das Hin-
schwinden alles Eigenthümlichen für den Charakter des ganzen menschlichen Geschlechts
• — wenn ich mich so ausdrukken darf — vortheilhaft sei oder nicht ? auf sehr interes-
sante Gesichtspunkte führen, und die Entscheidung nicht wenig zweifelhaft machen.
V Moses Mendelssohn war am 4. Januar lySÖ in Berlin gestorben. In den
eigenen Äußerungen des Philosophen über seine innere Stellung zum Judentum
bietet sich für diese Hypothese keinerlei Anhalt; vgl. z. B. Gesammelte Schriften
S> 39- 355-
Religion. ^Q
Familie in die andre ; ^) daher die schrekkensvolle Vorstellung, die
man mit der Verbannung verknüpfte. Bei uns verlässt der Ver-
bannte Weib, Kinder, väterlichen Heerd, heimischen Boden, aber
immer bleibt ihm noch Ein Band übrig, das Band, das ihn an
seinen Gott knüpft. Nach jenen Vorstellungen zerriss auch diess,
auch seine Götter veriiessen den unglüklichen Vertriebnen, er w^ar
nun Fremdling überall, bei Göttern und Menschen. Und wieviel
Schauderhaftes muss selbst die Idee des Fremdlings verioren haben,
seitdem die Vorstellung eines allgemeinen Vaters und Sorgers das
ganze Menschengeschlecht vereint?"-) Hieraus ist nun auch be-
'J Bis zu dieser Stelle ist der Wortlaut dieses Absatzes in der Uynarbeitung
folgender: „Jede einzelne große — fwchterregende oder wohlthätige — Wirkung
der Natur wird von de??! Menschen, der noch auf der ersten Stufe der Bildung
steht, für die umnittelbare Erscheinung eines höheren Wesens erklärt. Daher
sind die Gottheiten aller unkultiyirten Nationen, imd daher waren die Gottheiten
der Alten insbesondre Partikular-Gottheiten. Jede Gegend, jede Stelle wurde von
einem eignen Gotte bewohnt. In jedem Hain, jeder Grotte, bei jedem Quell ver-
nahmen sie das Walten eines Unsterblichen. Ihm musste dienen, wer die Gegend
bewohnen wollte; seinen Schuz musste der Opferrauch des Altars erkaufen. Da
man aber so die Gottheit sich innig verbunden dachte mit dem Ort, den sie be-
wohnte, da man ferner sie verwechselte mit dem Dienst, den man ihr erwies, ihr
Wesen mit dem Bilde, woj-in man sie verehrte; so wurde nun wiederum die
Gottheit Eigenthum der Sterblichen. Wie man sich unter den Schuz einer
Gottheit begeben konnte; ebenso konnte man neue Gegenden ihrem Schuze weihen.
Denn ihr Bild, ihr Dienst Hess sich ja übertragen. Dadurch wurden nun die
Götter eingeschränkt auf die Gränzen ynenschlichen Eigenthwns; dadurch ent-
standen Götter des Grundstüks, des Hauses, der Familie, des Sta??imes, der
Nation. Der Schuz dieser Gottheiten war eiri Eigenthum der Bewohner dieser
Gegenden, der Mitglieder dieser Gesellschaften ; aber ein Eigenthum, das an den
Gegenden und an den Gesellschaften klebte, das man verlor, wenn man über die
Gränze des Landes trat, oder aufhörte, Mitglied der Familie zu sein." Das
Folgende bis zu den Worten „bei Göttern imd Menschen" stimmt woi-tlich zu
imserm Text.
^) Statt dieses Satzes steht folgendes in der UmarbeitU7ig : „Daher das
Schauderhafte in der Idee des Fremdlings überhaupt. Die Vorstellung eines all-
gemeinen Vaters und Sorgers vereinte noch nicht das ganze Menschengeschlecht.
Daher endlich das Bedürfniss der Uebertragung der Gottheiten, wenn man
Wohnort oder Gesellschaft mit andren vertauschte. Denn hieraus entsprangen
alle gottesdietistliche Feierlichkeiten bei Erbammg von Häusern, Uebertritt von
einer Familie in die andre, Uebertragung von Erbschaften, ehe noch die simpli-
ßcirtere Form diese Uebertragung in einen ScheiyikauJ verwandelte; hieraus dass
Aeneas mit gleich sorgsamer Frömmigkeit seine Penaten, als seinen Vater und
Sohn den Flammen Ilions entriss." Der Rest des Absatzes stimmt fast wörtlich
zu iinserm Text. — „Tu, genitor, cape sacra manu patriosquc penates" Vergil,
Aeneis 2, yr-j.
W. V. Humboldt, Werke. I. 4
5© 2. Über
greiflich, wie alle älteren Völker von der Neigung Proselyten zu
machen frei sein, wie sie vielmehr Fremde von ihren Tempeln
entfernen mussten. Der wohlthätige Einfluss der Nationalgötter
war ausschliessendes Eigenthum. Man verlor, wenn man es
theilte ; man raubte, wenn man es eigenmächtig an sich riss. Da-
zu kam, dass Theilnahme an der Religion Theilnahme am Bürger-
recht war. Man konnte also nur Proselyten machen wollen,
insofern man neue Bürger wünschte.
Die Religion der Alten war ein Theil ihrer Staatsverfassung;
aber auch nicht mehr, als das. Uebrigens Hess sie jedem Bürger
unbegränzte Freiheit, sezte ihm keine Schranken weder in Absicht
seiner Ideen über die Entstehung des Weltalls, über die Leitung
menschlicher Begebenheiten, über seine Erwartungen jenseits des
Grabes u. s. f. noch in Absicht seiner Handlungen; kurz weder
theoretische noch praktische Philosophie kollidirten je mit der
Religion. Denn auch die Handlungen der Bürger bestimmte sie
nur, insofern die Geseze sie bestimmten, und sie auf die Befolgung
der Geseze wachte.^) Ueberhaupt forderte sie nicht, als Werkzeug
^J Bis zu dieser Stelle lautet dieser Absatz in der Umarbeitung so : „Je roher
die Idee der Alten von der Gottheit war, desto mehr schränkten sie ihre Ver-
ehrung allein auf äußern Dienst und Cärimonie ein. Wessen Opferrauch vom
Altar emporstieg, war ihrer Huld, so wie der, welcher ihren Dienst vernach-
lässigte, ihres Zornes gewiss. Zwar belohnte sie den Guten, und bestrafte den
Frevler; aber ungerechnet, dass in der Reihe der Tugenden Frömmigkeit gegen
die Götter den ersten Plaz einnahm, war sie auch durch Opfer imd Geschenke
versöhnbar. Selbst da eine grössere Aufklärung herrschend wurde, da die Philo-
sophie ihr Licht in seiner ganzen Fülle imd Schönheit verbreitete , blieben die
Religionsideen in ihrer vorigen Rohheit. Denn gleich anfangs waren sie in die
Staatsverfassung übergegangen, und diess versperrte jeglicher Verbesserung den
Zugang. Nur in dem Gange, den sie einmal genommen hatten, fortzuschreiten
war es erlaubt; man durfte die Dichtimg, die darauf sich stüzende Cärimonie
nicht umstürzen, nur sie verfeinern, aufs höchste ihr reinen wahren Sinn unter-
schieben. Diess Geschäft fiel in die Hände des Dichters und der Künstler über-
haupt, da gerade die gottesdienstlichen Feste den Künsten ihren Ursprung gaben.
Daher die Verschiedenheiten der Religion der Alten von der iinsren, dass bei uns
so vieles zu den Religionslehren gehört, was wir bei ihnen nur in dem Gebiete
der Philosophie finden, dass ihre Religion nicht, wie die unsrige, durch die Fort-
schritte der Philosophie mehr Richtigkeit, sondern nur durch die Fortschritte der
Kunst mehr Schönheit und Grazie erhielt, dass in sie nicht, wie in die unsrige,
die mehr geläuterte Vernunft, sondern die mehr verfeinerte Einbildungskraft
übergieng. Den Staat interessirte die Religion nur als ein Theil seiner Verfassung,
die sich auf ihre Cärimonien stüzte. Er begnügte sich also, diese unverlezt zu
sehn, sorglos, ob die innere Ueberzeugung damit übereinstimme, oder nicht.
Religion. c; i
den Bürger sittlicher und dadurch den Gesezen gehorsamer zu
machen, Ueberzeugung; sondern bloss, als unmittelbares Triebrad
in der Maschine des Staats, Beobachtung äusserer Handlungen.
Daher die unbeschränkte Denkfreiheit, die gränzenlose Toleranz
der Alten, die jede Sekte duldete, die eine herrschende Religion
nicht anders, als wie eine eingeführte Staatsverfassung, folglich
nur in den Verhältnissen des Bürgers kannte; daher dass die
Philosophie nie vor priesterlichen Aussprüchen zu schweigen
brauchte; daher dass Cicero als Consul den Rath der Augurn
einholen musste, und als Privatmann sich öffentlich darüber
wundern durfte, wie ein Augur den andren ohne Lachen ansehen
könnte.^) Hätten Philosophie und Religion bei den Alten in der
Verbindung gestanden, in der sie jezt stehn;^) so wäre schlechter-
dings alle Geistesfreiheit, alle Kultur verloren gegangen, da die
Staatsverfassung so unzertrennlich mit der Religion verknüpft war.
Nimmt man diese Eigenthümlichkeiten der Religion der w^eniger
kultivirten Völker — die ich hier nur angeben konnte, die es aber
wohl der Mühe werth wäre, genauer durchzugehn, und mit den
gehörigen Beweisstellen zu belegen — zusammen; so findet man
in dem Gebrauch, der in den alten Staaten, und der in unsren
heutigen von der Religion gemacht wird, eben den Unterschied,
Verfolgte er je irgend eine Lehre der Philosophie; so trieb ihn dazu mehr Be-
sorgniss daraus entspringender Vernachlässigung auch des äusseren Gottesdienstes,
als intoleranter Eifer gegen die Lehre selbst an. Auch waren die Religionslehren
nicht, wie bei uns, in ein zusammenhängendes System gebracht, das Meiste beruhte
auf ungewissen, oft einander widersprechenden Volkssagen, Ueberlieferungen,
Erdichtungen der Priester, welche die Phantasie des Dichters noch auf mannig-
faltige Art ausschmükte. In dem ganzen Reich des Denkens herrschte noch
nicht, wie bei uns, Konsequenz, Uebersicht des Zusammenhanges aller Ideen.
Leicht blieb es daher unbemerkt, wenn auch die Untersuchung auf Säze führte,
deren Folgen den Volksglauben geradezu vernichtet hätten." Dann folgen die
beiden nächsten Sätze unsres Textes bis zu den Worten „zu schweigen brauchte"
nahezu wörtlich (statt „Philosophie" ist „Vernunft" gesetzt!, aber in urngekehrter
Reihenfolge, verbunden durch die in unserm Text schon zu Eingang des Absatzes
vorkommenden Worte: „dass theoretische und praktische Philosophie fast nie mit
der Religion kollidirten" ; die Schlußwendung über Cicero fehlt.
y „Mirabile videtur, quod non rideat haruspcx, cum haruspiccm vidcrit" Cicero,
De natura deorum /, 7/.
'') Hier folgt in der Umarbeitung noch : „hätte man Glauben, und Glauben
gewisser bestimynter Säze gefodert, hätte tjian endlich mit scharfsinnigem Eifer
jeder Meinung, die diesen Glauben wankend zu machen drohte, nachgespürt" ;
im übrigen stimmt der Schlusssatz des Absatzes imd damit des ganzen Fragments
wörtlich zu unserm Text.
4*
£2 2. über
welcher überhaupt diese vor jenen auszeichnet. Solange noch
allein Zufall die Staaten schuf und Bedürfniss sie ausbildete, suchte
man bloss den Bürger zum gehorchenden Bürger zu zwingen;
jezt da die Gesezgebung nach überdachten Planen verfährt, ist sie
bemüht, ihn zum brauchbaren Bürger zu bilden. Daher war auch
die Religion in jenen Zeiten nur Zwangsmittel, und daher ist sie
jezt Bildungsmittel.
Sie ist also nicht mehr so innig in die Staatsverfassung ver-
webt; diese könnte ohne sie bestehen, wenn die Bürger ohne sie
höhere Moralität und Bereitwilligkeit den Gesezen zu gehorchen
erlangen könnten. Abweichung von vorgeschriebnen Religions-
meinungen ist nicht mehr Umsturz der Verfassung, es ist nur
Uebertretung der Geseze des Staats. Diese Geseze selbst gewinnen
nun eine andre Gestalt. Da die Religion auf den Charakter wirken
soll, so muss sie von innerer Ueberzeugung begleitet sein. Ueber-
zeugung aber lässt sich nicht durch Geseze hervorbringen oder
entreissen. Wer also einmal von der Lehre des Staats abweicht,
den bringt kein Gesez wieder zurük; das Gesez hindert ihn nur,
seine abweichende Meinung weiter zu verbreiten. So gewinnt die
Freiheit des Bürgers, da die Bande zwischen Religion und Staat
lokkrer, Religions- und Bürgerpflicht weniger Eins sind.
Unsre Religion lehrt keine nationale, sondern eine allgemeine
Gottheit; ist Religion nicht des Bürgers, sondern des Menschen.
Der Schuz der Gottheit ist nicht ausschliessendes Eigenthum
einiger Wenigen; ist Geschenk woran jeder Theil nehmen kann,
ohne dem andren etwas zu entreissen. Daher unsre Neigung
Proselyten zu machen, die durch die Hofnung eines doppelten
Gewinnes erhöht wird, einmal für den Neubekehrten, der zu einer
höheren Stufe der Glükseligkeit geführt wird, dann für den Be-
kehrer, der sich ein Verdienst bei seiner Gottheit erwirbt, die nun
um eine Zahl von Verehrern reicher wird.
Unsre Religion ist für den Menschen als Menschen bestimmt,
bezieht sich auf seine Sittlichkeit, seine individuelle Glükseligkeit.
Sie fordert also Ueberzeugung. Ueberzeugung ist ohne Conse-
quenz in unsrem ganzen Gedankensysteme, ohne durchgängige
Uebereinstimmung nicht möglich. Die Vernunft darf also der
Religion nicht widersprechen; sie muss auf eben die Resultate
führen, oder schweigen, wo sie andre herausbringen würde. So
sind Religion und Philosophie bei uns innigst verschwistert; so
entsteht der Begriff der Kczerei, und jede philosophische Meinung,
Religion.
53
welche dem angenommenen Religionsbegriff widerspricht, oder
nur auf ihm widersprechende Folgen führt, muss unterdrükt
werden. Wenn also die Freiheit zu denken von jener Seite der
weniger festen Verbindung des Staats und der Religion gewann;
so verliert sie wiederum und weit mehr von dieser. Denn der
Zwang der positiven Religion wird nunmehr auf Dinge ausgedehnt,
die an sich gar keiner positiven Bestimmung fähig sind. Schon
die Geschichte zeigt an mehr als Einem Beispiele, wie schädlich
die zu nahe Verbindung von Gegenständen der Untersuchung mit
Gegenständen des Glaubens ist. Da man in den Zeiten der rohesten
Barbarei übernatürliche Wirkungen durch Bündnisse mit feind-
seligen Geistern für möglich hielt, sah' sich die Physik, und die
Naturkunde überhaupt in allen ihren Fortschritten gehemmt. Da
man aus den Urkunden der Religionslehrer auch andre als Religions-
wahrheiten ziehen zu können glaubte, wurde Copernikus als Kezer
verdammt. Und brauchen wir wohl so weit zurükzugehn?
Würden nicht noch jezt manche unsittliche Handlungen in einem
ganz andren Lichte erscheinen, wenn wir gewohnt wären, die
Moral in einem weniger genauen Zusammenhange mit der Religion
zu betrachten? Selbst unser Kriminalrecht würde eine gute An-
zahl solcher Beispiele an die Hand geben, wenn man es einmal
in dieser Absicht durchgienge. Ich erinnere jezt nur an Eins, an
die Bestrafung gewisser unnatürlicher Ausschweifungen.
Verfolgt man diese Betrachtungen weiter; so findet man, dass
jede Bemühung, die positive Religion zu reinigen, das heisst über-
einstimmender mit der Philosophie und der sich selbst überlassnen
Vernunft zu machen, der Geistesfreiheit nachtheilig ist. Denn so-
lange Religionswahrheiten bloss auf Glauben beruhn, kann die
Vernunft nur dann mit ihnen kollidiren, wenn sie diesen Glauben,
als ihren Grundpfeiler, umstösst. Werden sie aber durch Ver-
nunftgründe unterstüzt, so widerspricht ihnen alles, was die Be-
weiskraft dieser Gründe verdächtig macht. Kein rechtgläubiger
Theologe wird es Kant zum Vorwurf machen, wenn er der Ver-
nunft die Kraft abspricht, über das Wesen der Dinge an sich zu
entscheiden; vielmehr wird ja eben dadurch der Glaube, auf den
er alles zurükführt, um so nothwendiger. Schwerlich aber v/ird
man ihn bei dem philosophischen Deisten von dem Verdachte des
Atheismus retten können. Denn er untergräbt alle Demonstrationen,
worauf dieser seine Ueberzeugung baut. Sonderbar scheint es,
dass so gerade die vortreflichsten Bemühungen unsrer aufgeklär-
f. j, 2. Über
54
testen Religionslehrer der wahren Aufklärung und den Fortschritten
der Vernunft sollten geschadet haben. Und doch ist diess von
der einen Seite unleugbar, unleugbar dass dadurch die religiöse
Intoleranz in eine weit drükkendere philosophische verwandelt
worden ist. Aber man vergesse auch ja nicht auf der andren
Seite, dass wir es eben diesen Bemühungen allein danken, wenn
die positive Religion jezt weniger positiv ist, wenn die Fürsten
gelernt haben, da nicht Zwang zu gebrauchen, wo Zwang recht-
widrig und verderblich ist, oder vielmehr wenn die Menschheit
zu aufgeklärt geworden ist, um das Joch länger zu erdulden!
Stellt sich der Gesezgeber in den Gesichtspunkt, den ich ihm
hier zu bestimmen versucht habe — und er muss sich in ihn
stellen, wenn er nicht hinter den Fortschritten der Philosophie
und der Aufklärung seines Zeitalters zurükbleiben will — so wird
sein Unternehmen auf der einen Seite erhabner und belohnender,
auf der andren aber auch mit unendlich mehr Schwierigkeiten
verknüpft. Er muss jezt nicht bloss einen Staat bilden, in dem
Gerechtigkeit die Geseze aufrecht erhält, Fürsorge die Bedürfnisse
und Bequemlichkeiten des Lebens verschaft, Wachsamkeit vor
äussren Angriffen sichert; sondern einen Staat, in dem es dem
Bürger möglich bleibt, auch Mensch zu sein, das heisst, seine
ganze Bestimmung als Mensch vollkommen zu erfüllen ; muss ihm
selbst zu Erreichung dieses erhabnen Zweks durch alle Mittel be-
hülf lieh sein, die ihm zu Gebote stehn. Wenn Lykurg und Solon
nur die Beziehungen ihrer Staaten auf fremde erwogen, sich nur
mit dem Charakter ihres Volkes bekannt machten, und dann auf
Mittel sannen, Sicherheit von den Nachbarn her, und Ruhe daheim
zu erhalten ; so muss der Gesezgeber jezt tief in das Studium des
Menschen eingehn, alles erforschen, was nur irgend Bezug auf
Menschenbestimmung und Menschenglükseligkeit hat, und kein
Mittel ungeprüft lassen, wodurch diese erhöht oder vermindert
wird. Nicht als sollte er Erzieher seines Volks sein, nein vielmehr
gerade in der Absicht um keine Einrichtung zu treffen, kein Mittel
zu wählen, wobei die Freiheit der eignen, sich selbst gelassnen
Bildung leide; und doch auch auf der andren Seite nichts unbe-
nuzt zu lassen, wodurch er im Stande ist, sie zu befördern. Auf
diesem Wege allein darf er hoffen, das Problem aufzulösen, von
dem ich im Vorigen sprach, das Problem zugleich die Freiheit des
Menschen mit dem Zwange des Staats zu vereinen. Je tiefer er
den Menschen studirt, desto vollständiger und befriedigender wird
Religion. ^^
die Auflösung dieses Problems sein; Je mehr er nur von der
Oberfläche schöpft, je eingeschränkter seine Ideen von Menschen-
bestimmung und Menschenwerth sind, je mehr er bei äussren
Handlungen und Beziehungen, äussrem Genuss und Entbehren
stehn bleibt, desto weniger wird er seinen Endzwek erreichen.
Er muss das Ideal des moralischen Menschen aufsuchen, die
verhältnissmässige Stimmung aller Seelenfähigkeiten, die Mischung
von Erkenntniss, Empfindung und Neigung, die den vollsten,
reinsten, dauerndsten Genuss gewährt, und zugleich die schnellsten
Fortschritte zu höherer Vollkommenheit möglich macht. Er darf
daher nur auf das hinsehn, was in sich fort arbeitet und wirkt,
auf das im strengsten Verstände Moralische, auf der Seele inneres
Sein. Denn darin, dass diess rein Geistige zum ersten Zwek ge-
macht, dass alles Cebrige nur in verschiednem Verhältniss, nach
Verschiedenheit seiner Beschaffenheit, darauf bezogen wird, besteht
eigentlich die w^ahre Tugend und moralische Vollkommenheit.
Wenn wir uns Wesen denken, körperlos und frei von allen
sinnlichen Eindrükken und Begierden, so würde das Leben und
Weben dieser Wesen allein in Herv'orbringung von Ideen bestehn.
Ihre Vollkommenheit, wie ihre Glükseligkeit würde auf der
Klarheit und der erhebenden Fülle dieser Ideen beruhen. Ihre
Beschaffenheit und die Beschaffenheit der Dinge um sie her, ihren
Ursprung, ihre Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von lebendigen
oder leblosen Naturen, die Möglichkeit der Fortdauer ihres Daseins
werden sie zu erspähen suchen, würden bemüht sein, das Ziel
festzusezen, nach dem ihre wachsende Vollkommenheit hin arbeiten,
den Weg zu entdekken, auf dem sie fortschreiten müsste. In
allen diesen Untersuchungen würden sie die höchsten Beziehungs-
punkte wählen, alle Ideen bis in die feinsten Nuancen verfolgen;
überall verbreitetes Licht und durchgängige Harmonie würden die
lezten Zwekke ihres Strebens sein. Aber sie würden nicht stehen
bleiben bei sich und der Eingeschränktheit ihres Gesichtskreises,
sie würden übergehn auf alle gleichartige Wesen um sie her,
sich zu eigen machen, was sie in ihnen fänden, ihnen geben, was
ihnen noch mangelte. So würde sich nach und nach in ihnen
die Idee einer Harmonie aller Geister bilden, so würden sie sich
nach und nach ein Ideal aller geistigen Vollkommenheit schaffen,
und dahin gelangen, sich und alle übrige Wesen nur als ebenso-
viel Abdrükke einzelner Theile dieses Ideals zu betrachten. Je
mehr sie sich diese Vorstellungsart zu eigen machten, desto höher
56
2. Über
würde ihre Vollkommenheit wachsen ; je weniger sie bloss objektive
Idee des Verstandes wäre, je inniger sie sie in ihre Individualität
verwebt hätten, je stärker sie in ihnen die Bewegung hen^orbrächte,
das Gefühl des Mangels, die Sehnsucht den Mangel zu erfüllen, die
wir Begierde nennen, je mehr Leichtigkeit sie besässen, diese
Begierde zu stillen, desto gränzenloser würde ihre Glükseligkeit sein.
Denken wir uns auf der andren Seite Geschöpfe, bloss be-
stimmt zu sinnlichem Genuss, jeder unkörperlichen Vorstellung
unfähig; so werden wir diesen, da in ihnen alle Möglichkeit eigner
Wahl, EntschUessung und Freiheit verschwindet, innere Voll-
kommenheit nie, Glükseligkeit nach dem Verhältniss der Innigkeit,
Dauer, und Mannigfaltigkeit ihres Genusses zuschreiben können.
In dem Menschen ist beides mit einander vereint; er ist auf
der einen Seite sinnliches und geniessendes Geschöpf, auf der
andren denkendes und schaffendes Wesen. Aber es giebt in ihm
noch ein Drittes, oder vielmehr es giebt eine Beziehung dieser
beiden Naturen auf einander, wodurch sie mit einander vereint
werden. Ich will hier von der Fähigkeit reden, sinnliche Vor-
stellungen mit aussersinnlichen Ideen zu verknüpfen, aus den
sinnlichen Eindrükken allgemeine Ideen zu ziehn, die nicht mehr
sinnlich sind, die Sinnenwelt als ein Zeichen der unsinnlichen an-
zusehn, und aussersinnlichen Gegenständen die Hülle sinnlicher
Bilder zu leihen. Es fehlt der Sprache an einem eignen Ausdruk
für diese ganze Fähigkeit überhaupt. Aesthetisches Gefühl
drükt einen Theil davon aus, aber es bezeichnet mehr das Ver-
mögen, in dem Verhältnisse sinnlicher Eindrükke zu einander ge-
wisse Allgemeinheiten zu bemerken, Allgemeinheiten nehmlich
der Harmonie und Symmetrie; indess sei es mir erlaubt diess
Wort hier in ausgedehnterer Bedeutung zu nehmen. Dieser
Fähigkeit danken wir alle Empfindung des Schönen, desjenigen
Verhältnisses des Mannigfaltigen, das weder zu einfach ist, um die
Seele ganz unbeschäftigt zu lassen, noch zu verwikkelt, um sie
zu ermüden. Durch sie erhalten wir unsinnliche Vorstellungen
durch sinnliche Gegenstände. Ich führe hier als ein Beispiel nur
die Physiognomik an, die aber viel weiter ausgedehnt werden
könnte, zwar nicht insofern die Bildung körperlicher Theile von
unkörperlichen Beschaffenheiten abhängt; aber doch insofern als
körperliche Gestalten überhaupt wegen gewisser allgemeiner Aehn-
lichkeiten an unsinnliche Ideen erinnern. Durch sie endlich stellen
wir unsinnliche Gegenstände sinnlich dar durch Bilder, Töne,
Religion. ^"7
oder Gebehrden. Die wehre Ausführung der Art, wie das ganze
Geschäft der Bezeichnung aussersinnlicher Ideen vor sich geht,
wie die ersten Zeichen natürliche sind, und wie erst aus ihnen
willivührliche entspringen, so interessant sie auch gemacht werden
könnte, gehört nicht hieher. Die Seelenfähigkeit, welche uns
vorzüglich zu dieser Verknüpfung des Sinnlichen mit dem Un-
sinnlichen dient, ist die Einbildungskraft. Sie gewähn uns da-
durch einen sehr mannigfaltigen Xuzen. Der sinnliche Genuss
^ärd dadurch verfeint, veredelt, und zugleich verstärkt. Denn es
gesellen sich eine Menge andrer Ideen zu ihm, welche der Seele
eine befriedigendere Fülle gewähren. Alle unsinnliche Vorstel-
lungen werden lebhafter, die Neigungen, welche sie erregen,
stärker, die Begierde, sie zu realisiren, w^rd heftiger durch das
sinnliche Bild, in das man sie hüllt. Denn gerade unsre ersten
und heftigsten Begierden sind ursprünglich sinnlich.
Aus der Betrachtung dieser beiden Seiten der Seele, der sinn-
lichen Begierde und der bloss geistigen Denkkraft und des Zu-
sammenhanges, in dem diese beide mit einander stehn, müssen
alle Grundsäze der Moral fliessen. Denn die Moral muss das
Verhältniss bestimmen, welches diese beiden Seiten gegen ein-
ander haben müssen.
Sehr viel hängt ab von der sinnlichen Begierde. Sie muss
von keiner Seite ganz erstikt. sondern vielmehr, nur nach Ver-
schiedenheit der Charaktere, genährt werden. Heftigkeit der sinn-
lichen Begierde ist schon an sich Zeichen der Kraft der Seele, so
wie ein Charakter wenig verspricht, in dem auch ursprünglich
die sinnliche Begierde schläft. Denn wenn, nach Piatos schöner
Dichtung, die Dürftigkeit die Mutter der Begierde ist;\) so ist ihr
Vater der Ueberfluss. Die sinnliche Begierde bringt Leben und
Strebekraft in die Seele; unbefriedigt macht sie thätig, zur An-
legung von Planen erfindsam. muthig zur Ausübung, befriedigt
befördert sie ein leichtes, ungehindertes Ideenspiel. Ueberhaupt
bringt sie alle Vori,tellungen in grössere und mannigfaltigere Be-
wegung, zeigt neue x\nsichten, führt auf neue, vorher unbemerkt
gebliebne Seiten; ungerechnet wie die verschiedene Art ihrer Be-
friedigung auf den Körper und die Organisation, und diess wieder
auf eine Weise, die uns freilich nur in den Resultaten sichtbar
V Der Mj^hus von der Erzeugung des "Eqcos durch den lU^oi und die
ITevta wird in Piatons Symposion S. 'Mja erzählt.
58
über
wird, auf die Seele zurükwirkt. Aber auf der andren Seite er-
fordert auch die sinnliche Begierde die grosseste Vorsicht. Denn
wenn sie die Oberhand gewinnt, wenn sie von untergeordnetem
Mittel, was sie immer bleiben sollte, Zwek wird; so vernichtet sie
jede bessere Kraft der Seele, und stumpft vorzüglich alles Gefühl,
selbst des sinnlich Schönen ab. Unter den sinnlichen Begierden
giebt es schwächere und heftigere; gränzen einige mehr, andre
weniger an das Unsinnliche. Ihr wohlthätiger Einfluss, aber auch
die damit verbundne Gefahr vv^ächst immer im Verhältnisse ihrer
Heftigkeit und ihrer Verwandtschaft mit dem Unsinnlichen. Daher
muss unter allen auf der einen Seite am meisten gehegt, auf der
andren am sorgsamsten bewacht werden die Begierde, um wieder
mit Plato zu reden, das Schöne im Schönen zu erzeugen. ^)
Ausbildung und Verfeinerung muss das bloss sinnliche Gefühl
erhalten durch das Aesthetische. Hier beginnt das Gebiet der
Kunst, und ihr Einfluss auf Bildung und Moralität. Nichts ist
von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter, als der
Ausdruk des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabnen, des
Einfachen, des Schönen in allen Produkten der Kunst, die uns
umgeben. Das, was wir Geschmak nennen, bringt in alle unsre,
auch bloss geistigen Empfindungen und Neigungen so etwas Ge-
mässigtes, Gehaltnes, Harmonisches, auf Einen Punkt hin Ge-
richtetes. Wo dieser Geschmak fehlt, da ist die sinnliche Begierde
roh und ungebändigt, da ist jede andre Geisteskultur todt und
unfruchtbar, da haben selbst wissenschaftliche Untersuchungen
vielleicht Scharfsinn und Tiefsinn, aber nicht Feinheit, nicht
Politur, nicht Fruchtbarkeit in der Anwendung. Das Gefühl des
Schönen zu erzeugen, zu nähren ist Bestimmung der Kunst. So
ist der Zwek aller Kunst moralisch im höchsten Verstände des
Worts. Oft hat man diesen Saz misverstanden, geglaubt, jedes
Produkt der Kunst müsste darum irgend eine Lehre einschärfen,
irgend eine Empfindung rege machen, die unmittelbar auf tugend-
hafte Handlungen führte; jedes Produkt, das diesen Zwek nicht
beabsichtet, unnüz, das ihm sogar entgegenzuarbeiten scheint, weil
es vielleicht eine Handlung, die wir, unsrer Lage gemäss, nicht
für tugendhaft halten, von reizenden Seiten zeigt, schädlich ge-
nannt. Allein das heisst die Kunst in zu enge Gränzen ein-
^J ,^£!(ni yoLQ, co Sojy.^arss, ly»?, ov rov y.akov 6 f^cDS, (ös av oiei. dXXd iL u^v;
rrjg yEvvi,os(os aal rov tÖxov sv tw xalcö" Platon, Symposion S. 2o6e.
Religion. ^g
schränken, und dennoch den Zwek der wahren sittlichen Bildung
verfehlen. Der Grund dieses Irrthums liegt darin, dass man zu
unmittelbar wirken, unmittelbar gute Gesinnungen, gute Hand-
lungen hen^orbringen , nicht bloss zur eignen Hen^orbringung
vorbereiten will. Diess thut der Künstler, wenn er die Idee des
Schönen überall verbreitet, und sie allein bestimmt ihr daher
auch ihre Gränzen. Doch muss auch die Darstellung des sinnlich
Schönen nie ein Uebergewicht in der Seele gewinnen, muss dem
reinen, unvermischt Geistigen immer untergeordnet bleiben.
Sonst bringt sie nicht Wärme des Gefühls, sondern ein Feuer
hervor, das eben so schnell wieder verlischt, als es aufloderte.
Dann muss das Sinnliche nur immer als Zeichen des Unsinnlichen
genommen, nicht beides mit einander verwechselt, nicht auf jenes
angewandt werden, was nur auf dieses passt. So schwärmt die
Art der Liebe, die wohl nur die platonisch nannten, denen es an
Sinn fehlte, Piatos erhabne Ideen zu fassen.
Ich komme nun zu dem, was den Menschen eigentlich zum
Menschen, zum denkenden und wollenden Wesen macht, zu seiner
geistigen Natur. A^rmöge dieser gränzt sein Dasein an das Dasein
der Wesen, die wir uns frei denken von den einschränkenden
Fesseln des Körpers. Wie sie kann er in Ideen wirken, sich ein
Ideal reiner, unvermischter geistiger Vollkommenheit schaffen, und
sich und andre diesem Ideale näher bringen, ^^on der einen Seite
an die Sinnlichkeit gebunden, da sie sich nur in ihr darzustellen,
mitzutheilen, überhaupt zu äussern vermag, ist diese geistige Natur
von der andren Seite unabhängig und frei. Allen sinnlichen
Trieben, allen reizenden Bildern der Einbildungskraft entgegen
vermag sie Ideen zu realisiren, welche die ruhige, kalte Ueber-
legung für gut erkennt. Diess Vermögen der Seele, der reinen
Idee des Guten gemäss, Vollkommenheit in und um uns zu ver-
breiten, Dasein, Wirken und Glükseligkeit überall zu schaffen und
zu erhalten, nennen wir moralische Stärke, wenn die Neigung
ihm widerspricht, moralische Güte, moralisches Gefühl, wenn dem
Willen die Neigung die Hand bietet. Durch sie allein erlangt der
Mensch wahre Würde. Denn sie ist mit keinem andren Gute
vergleichbar, da jedes andre Gut durch sie erst hervorgebracht,
oder doch durch sie erst des Wunsches werth gemacht wird.
Durch sie wahre Glükseligkeit. Denn durch sie wird die Idee der
Vollkommenheit, die an sich so reich und gross, so füllend und
erhebend ist, auf das innigste mit seiner Individualität verbunden.
6o 2. über
Es schwindet also die Leere, welche das Leben wahrhaft elend
macht. Durch sie trägt er die Schiksale leicht, in die ihn seine
Abhängigkeit von den äussren Dingen um ihn her verwikkelt.
Denn sie lehrt ihn alle seine Gesichtspunkte in sich und sein
inneres Sein zurülvzuziehn, und so ist ihm jede Lage — kummer-
voll, oder freudig — Veranlassung seiner Seele einen erhöheten
Grad, oder eine neue Seite der Bildung zu verschaffen. Durch
sie wird er in das seligste Verhältniss mit andren gesezt. Denn
er sucht in ihnen eben die geistige Vollkommenheit, die er in sich
hervorzubringen strebt, und überall wo er sie findet, da glaubt er
sich verbunden, verschwistert. Eins. So entsteht das Gefühl der
Freundschaft und Liebe. Er fühlt seine eigne Vollkommenheit
höher, voller, inniger, wenn er sie im andren erblikt, er geht aus
sich heraus, fliesst in den andren über, und gelangt endlich zu
dem erhebendsten und beseligendsten aller Gefühle, zu dem Ge-
fühle sich, alles eigne Geniessen und Wirken dahinzugehen für
fremdes Wohl. Je reiner und lautrer diess Gefühl ist, je unver-
mischter mit Bildern der Sinnlichkeit, desto höhere Wonne lässt
es geniessen; denn desto mehr beruht es auf feinen und tief
empfundnen Ideen, welche in die ganze Seele eingreifen, und auf
die ganze Dauer der Existenz wirksam sind.
Sinnlichkeit, Einbildungslo-aft , Stärke des Willens sind nur
Kraft der Her\''orbringung, Stoff des Genusses ; es fehlt ihnen noch
an dem, was ihnen die Richtung geben, das Maass und die Art
ihres Wirkens bestimmen muss. Diess ist das Geschäft der
leitenden Vernunft. Auf ihr beruht eigentlich alle wahre Voll-
kommenheit und Glükseligkeit des denkenden Menschen. Denn
sie ordnet, wählt Zwek und Mittel; allen übrigen Kräften bleibt
nur die Ausführung überlassen. Ich verstehe aber hier unter der
Vernunft das ganze intellektuelle Vermögen des Menschen, seine
ganze Fähigkeit Ideen aufzufassen, seis durch Beobachtung der
Sinne, oder durch das Anstrengen der Seele auf der Dinge innre
Beschaffenheiten ; und die aufgefassten Ideen zu verarbeiten durch
Vergleichung, Verknüpfung und Trennung. Je mehr diese Fähig-
keit ervv^itert und gestärkt wird, je mehr Genauigkeit der Beob-
achtungs-, je mehr Feinheit der Untersuchungsgeist erhält, von je
höheren Gesichtspunkten er ausgeht, je tiefer er in das Wesen
der Ideen eindringt; desto höher steigt der Grad der Vollkommen-
heit und Glükseligkeit. Denn desto richtiger wird der Gang aller
Seelenfähigkeiten geleitet, desto mannigfaltigere Seiten werden an
Religion. ßi
den Gegenständen entdekt, desto inniger wird der Zusammenhang
der Ideen; und Fülle der Ideen und Innigkeit ihres Zusammen-
hanges ist doch das, was den Grad alles intellektuellen Genusses
bestimmt.
So wären Lebhaftigkeit der Sinnlichkeit, Feuer der Einbildungs-
kraft, Wärme des moralischen Gefühls, Stärke des Willens, alle
geleitet und beherrscht durch die Kraft der prüfenden Vernunft,
der Charakter des vollendeten Menschen. So beruhte Tugend auf
dem richtigen Gleichgewichte aller Seelenfähigkeiten; so könnte
man keiner absolute, jeder nur relative Gränzen bestimmen. Ich
glaube, dass dieser Gesichtspunkt, diese Vorstellungsart in der
Moral von der äussersten Wichtigkeit ist. Durch die äusseren
häuslichen und politischen Lagen, worin man lebt, durch die
äusseren Folgen der Handlungen, die man täglich bemerkt, wird
man zu sehr darauf geleitet, Sittlichkeit und Unsittlichkeit auf ge-
wisse Handlungen und gewdsse Gesinnungen einzuschränken, ver-
gisst man zu sehr auf den ganzen Zusammenhang der Ideen und
Empfindungen zu achten. So unrichtig es nun auch sein würde,
diese äusseren Lagen und Umstände zu übersehn, so thöricht, bei
der Bestimmung unsrer Art zu wirken das nicht in i\.nschlag zu
bringen, worin und w^orauf wir wirken müssen; so kann die
Grundlage aller Moral doch nur aus dem Studium des Menschen
fliessen, wie er an sich ist, ohne Rüksicht auf gewisse äussre
Beziehungen oder Verhältnisse. Die besondren Anwendungen auf
bestimmte individuelle Lagen müssen sich als blosse Folgerungen
daraus leicht von selbst ergeben. Vorzüglich wichtig ist dieser
Gesichtspunkt wohl in der Wahl der Mittel zur moralischen
Bildung. Bloss gewisse Handlungen, Gesinnungen hen^orzubringen
giebt es sehr viele Wege, von welchen doch keiner zur wahren
moralischen Vollkommenheit führt. Sinnliche Antriebe zur Be-
gehung gewisser Handlungen, oder Xothwendigkeit sie zu unter-
lassen bringen Gewohnheit hen'or; durch die Gewohnheit wird
das Vergnügen, das anfangs nur mit jenen Antrieben verbunden
war, auf die Handlung selbst übergetragen, oder die Neigung,
welche anfangs nur vor der Xothwendigkeit schwieg, gänzlich er-
stikt ; so wird der Mensch zu tugendhaften Handlungen, gewisser-
maassen auch zu tugendhaften Gesinnungen geleitet. Allein die
Kraft seiner Seele ward dadurch nicht erhöht; weder seine Ideen
über seine Bestimmung und seinen Werth erhalten dadurch mehr
Aufklärung, noch sein Wille mehr Kraft, die herrschende Neigung
62 2. über
ZU besiegen; an wahrer eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er
folglich nichts. Wer also Menschen bilden, nicht zu äussren
Zwekken ziehn will, wird sich dieser Mittel nie bedienen. Ich
habe vielleicht in der Folge dieses Aufsazes noch Gelegenheit, auf
diesen Punkt zurükzukommen, der in der Anwendung auf Er-
ziehung und Gesezgebung in mehr als Einer Rüksicht wichtig
ist. Auch bei der Beurtheilung des Werths menschlicher Hand-
lungen sollte man den hier angegebnen Gesichtspunkt nicht ver-
nachlässigen. Man redet immer von einzelnen Tugenden und
Lastern, und doch würde es sehr schwer werden, nur Eine einzige
bestimmte Tugend anzugeben, die überall unter allen Umständen
und bei jedem Charakter Tugend wäre. Sittlichkeit oder Unsitt-
lichkeit ist ja nicht Eigenschaft einer Handlung, sondern allein des
handlenden Subjekts. Schon die Alten — die vielleicht darum in
allem, was Moral und sittliche Bildung angeht, unsre neuere Philo-
sophie übertreffen, weil sie allein aus der Quelle der Erfahrung
und Beobachtung schöpften, und auch mehr Gelegenheit und
nähere Veranlassung hatten, den Menschen zu studiren — wieder-
holen es oft, dass keine Handlung an sich weder gut noch böse
ist.^) Alles kommt einzig auf die Verschiedenheit des Charakters,
und nicht bloss darauf, sondern auch auf die Verschiedenheit der
Stimmung der Seele in den verschiednen Epochen des Lebens
an; und man sollte nie eher eine Handlung beurtheilen, ehe man
nicht die physischen, intellektuellen, und moralischen Fähigkeiten
und Bedürfnisse des Handlenden genau geprüft hätte. Dass indess
dieser Maasstab nur da wichtig ist, wo es auf Bestimmung des
innren moralischen Werthes ankommt, nicht da, wo man ganz
andre, vielleicht gar äussre Endzwekke bcabsichtet, und dass es
Allgemeinheiten von Fällen giebt, die meistentheils hohe oder ge-
ringe moralische Vollkommenheit andeuten, bedarf wohl nicht erst
einer Erinnerung.
Was ich hier von einzelnen Menschen gesagt habe, leidet auch
auf ganze Nationen Anwendung. Die verschiednen Stufen ihrer
Kultur müssen nach den verschiednen Seelenfähigkeiten beurtheilt
werden, welche sich in ihnen vorzüglich ausgebildet haben. Auf
der niedrigsten steht der rohe unkultivirte Wilde, der nur sinn-
y „näaa yd^ Tioä^is eoS' eyjf avr^ if eavr^s TTQairofiivr] ovze xalfi ovre
aiaiQÖ." Platon, Symposion S. iSoe; eine Anzahl andrer sinnv er wayiter Stellen aus
den Alten giebt Hiig in der Anmerkung zu dieser Stelle in seiner Ausgabe des
Dialogs.
Religion. ß^
liehe Begierde und sinnliches Vergnügen kennt, dem wir, wenn
Tugend moralische Vollkommenheit ist, nie Tugend zuschreiben
können, den wir aber tugendhaft nennen, wenn Klima, Bedürf-
nisse, äussere Umstände überhaupt von der einen, Rohheit und
Unwissenheit von der andren Seite eben das in ihm bewirken,
was sonst nur Wirkung wahrer Tugend ist. Von da bis zur
moralischen Bildung ist eine unüberspringbare Kluft, zu welcher
nur die ästhetische den Uebergang bahnen kann. Aus diesem
Gesichtspunkt muss der Luxus angesehen werden. Solange er
mit der wahren Kunst gleichen Schritt hält, ist er wohlthätig, und
muss — den Fall ausgenommen, wo besondre politische Lagen
den Verlust andrer noch wichtigerer Vortheile fürchten lassen —
befördert werden. Wo er aber über die Gränzen der Kunst und
das Gebiet des Schönen hinaus schweift, da fängt er an, auch dem
Charakter der Nation schädlich zu werden. Nach diesen Grund-
säzen muss der Werth der Nationen und Zeitalter gegen einander
bestimmt werden; nach ihnen Hesse sich entscheiden, ob unser
Jahrhundert in der That auf einen Vorzug an wahrer Kultur An-
spruch machen darf? Vorzüglich können zu einer solchen Ver-
gleichung gewisse Neigungen und Leidenschaften dienen, welche
die rohesten Völker mit den kultivirtesten Nationen gemein haben.
Von dieser Art ist die Liebe und die Behandlungsart der Weiber
überhaupt. Denn in der edlen ungekünstelten und unverstimmten
Liebe wirken Sinnlichkeit, ästhetisches und moralisches Gefühl
zugleich. Daher hätte man mit Recht der Idee einer Geschichte,
nicht der Weiber, aber des weiblichen Geschlechts eine glüklichere
Ausführung wünschen dürfen, als sie neuerlich erhalten hat.')
Hätte man die Nothvvendigkeit des Uebergangs immer genauer
erwogen, der allemal in der menschlichen Seele von dem bloss
sinnlichen Gefühl durch das ästhetische zu dem moralischen ge-
schehn muss; so würde man die Zeitalter Griechenlands und
Roms weniger streng beurtheilt haben, worin der sinnliche Genuss
bis zu den höchsten Graden der Ueppigkeit hinauf verfeinert
wurde. Es ist wahr, das bloss sinnliche Vergnügen gewinnt mehr
Reiz, wenn es nicht mehr bloss den gröberen, sondern auch den
feineren Sinnen schmeichelt; es wird häufiger genossen, und die
V Der erste Band einer „Geschichte des weiblichen Geschlechts" von Meiners
war Hannover i-jSS erschienen; er stellt im wesentlichen nur die Zeugnisse für
die Stellung der Frau bei den verschiedenen Völkern der Erde zusammen.
64
2. Über
physischen schlimmen Folgen treffen in erhöhtem Maasse ein.
Allein auch nur die physischen; die moralischen werden vermindert
und gehemmt. Der Uebergang von der bloss sinnHchen Lust zu
dem Gefühl des sinnlich Schönen macht der Seele endlich jene
unschmakhaft, und bereitet den Schritt zum sittlich Schönen vor.
Ich weiss daher nicht, ob die Bemühung, auch der groben Sinn-
lichkeit eine reizendere Gestalt zu leihen, nicht mehr unsren Dank,
als unsren Vorwurf verdienen sollte?*)
Gehe ich auf die Resultate der bisherigen Betrachtungen zu-
rük, so ist der Wohnsiz der Tugend allein das Innere der Seele.
Da allein liegt ihr Ursprung und ihr wohlthätiger Einfluss. Aber
wir sind nicht geistige Substanz allein; wir stehn in Verbindung
mit einer Sinnenwelt ausser uns, sind abhängig von ihren Ver-
änderungen, werden fortgerissen in dem unaufhörlichen Flusse
alles Körperlichen. V>"enn nun das waltende Schiksal unsren Geist
wieder vernichtete ? wenn jede innere Bemühung höherer Vervoll-
kommnung von aussen wieder zerstört würde? wenn die Wahr-
heit, für die unser Verstand erwärmt ist, die Vollkommenheit, für
die unser Herz glüht, nur Wahn wäre, nur beglükkender Traum,
nirgend existirend, als in unsrer Idee? Diese Fragen, das innere
Interesse, sie auf eine für unsre Neigung befriedigende Art beant-
wortet zu sehn, führt unsre Empfindung zum Glauben an Religions-
wahrheiten, indess unser Nachdenken auf einem andren Wege
nach Ueberzeugung strebt.
Alle Religion — ich rede hier von Religion, insofern sie sich
auf Sittlichkeit und Glükseligkeit bezieht, nicht insofern die Ver-
nunft irgend eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu er-
kennen meint; denn Einsicht der Wahrheit ist unabhängig von
*) Dürfte nicht diese Betrachtung dem sonderbaren Streit über den Ausdruk :
Freudenmädchen^) eine andre Wendung geben?
^J In der Berlinischen Monatsschriß vom Septernber i-jS-j (w, 25-]) erschien
ein anonymer kleiner Aufsatz „Über den Ausdruck Freudenmädchen", dessen
Thema im Augustheft i-jSS derselben Zeitschrift (12, i6g) von Hermes in einem
Artikel „Noch einmal über den Ausdruck Freudenmädchen" wiederaufgenommen
yvurde. Beide richten aus allgemein moralischen und pädagogischen Gesichts-
punkten einen heftigen Angi-iff gegen das M'ort und wollen es, der Anonymus
durch „Metze" oder „Lustmädchen", Hermes unter Hinweis auf sein Buch Für
Töchter edler Herkunft j, 228 durch „ Tochter des Leids" oder „Jammer mädchen"
ersetzen, was er auch in späteren Schriften anwendet. Noch Arndt (Bruchstücke
aus einer Reise durch einen Teil Italiens 2, J2gj gedenkt, wie mir Albert Gombert
freundlich mitteilt, dieser Kontroverse.
Religion.
65
allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens — alle Religion, sage
ich, beruht auf einem Bedürfniss der Seele. Wir hoffen, wir
ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle Spur geistiger
Kultur fehlt, ist auch das Bedürfniss bloss sinnlich. Furcht und
Hofnung vor Naturbegebenheiten, welche die Einbildungskraft in
selbstthälige Wesen verwandelt, machen den Inbegriff der ganzen
Religion aus. Wo geistige Kultur anfängt, genügt diess nicht
mehr. Die Seele sehnt sich dann nach dem Anschauen irgend
einer Vollkommenheit, von der ein Funke in ihr glimmt, von der
sie aber ein weit höheres Maass ausser sich ahndet. Diess An-
schauen geht in Bewunderung, und wenn der Mensch sich ein
Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt, in Liebe über, aus der
Begierde des Aehnlich Werdens, der Vereinigung entspringt. Diess
findet sich auch bei den Völkern, welche noch auf den niedrigsten
Stufen der Bildung stehn. Denn daraus entspringt es, wenn selbst
bei den rohesten Völkern die Ersten der Nation sich von den
Göttern abzustammen, zu ihnen zurül-LZukehren rühmen. Nur
verschieden ist die Idee der Gottheit nach der Verschiedenheit der
Idee von Vollkommenheit, die in jedem Zeitalter und unter jeder
Nation herrscht. Die Götter der ältesten Griechen und Römer,
und die Götter unsrer Vorfahren waren Ideale körperlicher Macht
und Stärke. Als die Idee des sinnlich Schönen entstand und
verfeinert ward, erhob man die personificirte sinnliche Schönheit
auf den Thron der Gottheit, und so entstand die Religion, die
man Religion der Kunst nennen könnte.*) Als man sich von dem
Sinnlichen zum rein Geistigen, von dem Schönen zum Guten
und Wahren erhob, wurde der Inbegriff aller intellektuellen und
moralischen Vollkommenheit Gegenstand der Anbetung, und die
*) Hätte man diesen Gesichtspunkt gewählt ; so hätte man vielleicht weniger ein-
seitig über ein Gedicht geurtheilt, das man mit Recht zu den Meisterstükken deutscher
Dichtkunst zählen kann.') Der Dichter wählt darin den Gesichtspunkt der Kunst, des
sinnlich Schönen, und des sittlich Schönen, insofern es durch jenes ausgedrukt wird.
Aus diesem Gesichtspunkt allein vergleicht er die Religion der Alten und die unsre,
den Einfluss, den beide auf Sittlichkeit und Glükseligkeit haben. Aber er schliesst ja
darum den Gesichtspunkt des rein und unvermischt Geistigen schlechterdings nicht aus.
V Gemeint ist Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands", das, im März
i']88 im Teutschen Merkur erschietien, durch einen Aufsatz Fritz Stolbergs im
Augustheft i-jSS des Deutschen Museums (2, 97; Gesammelte Werke 10, 424)
heftig angegriffen wurde, während Forster im Maiheft ijSg der Neuen Literatur
und Völkerkunde (i, jjj; Ausgewählte kleine Schriften S. 80) sich zu seiner
Verteidigung gegen diesen Angriß' erhob.
W. V. Humboldt, Werke. I. 5
ße 2. über
Religion ein Eigenthum der Philosophie. Vielleicht könnte nach
diesem Maassstab der Werth der verschiednen Religionen gegen
einander abgewogen werden, wenn Religionen nach Nationen
oder Partheien, nicht nach einzelnen Individuen verschieden wären.
Allein so ist Religion ganz subjektiv, beruht allein auf der Eigen-
thümlichkeit der Vorstellungsart jedes Menschen.
Wenn die Idee einer Gottheit die Frucht wahrer geistiger
Bildung ist, so wirkt sie schön und wohlthätig auf die innere
Vollkommenheit zurük. Alle Dinge erscheinen uns in veränderter
Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller Absicht, als wenn sie ein
Werk eines vernunftlosen Zufalls sind. Die Ideen von Weisheit,
Ordnung, Absicht, die uns zu unsrem Handien so unentbehrlich
sind, fassen festere Wurzel in unsrer Seele, wenn wir sie überall
entdekken. Das Endliche wird gleichsam unendlich, das Hin-
fällige bleibend, das Wandelbare stät, das Verschlungne einfach,
wenn wir uns Eine ordnende Ursach an der Spize der Dinge,
und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser
Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit
gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für
uns giebt, das der Quell aller Wahrheit, der Inbegriff aller Voll-
kommenheit ist. Widrige Schiksale werden der Seele weniger
fühlbar, da Zuversicht und Hofnung sich an sie knüpft. Das
Gefühl, alles, was man besizt, aus der Hand der Liebe zu
empfangen, erhöht zugleich die Glükseligkeit und die moralische
Güte. Durch Dankbarkeit bei der genossnen, durch hinlehnendes
Vertrauen bei der ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus,
brütet nicht immer, in sich verschlossen, über den eignen Empfin-
dungen, Planen, Besorgnissen, Hofnungen. Wenn sie das er-
hebende Gefühl entbehrt, sich allein alles zu danken, so geniesst
sie das entzükkende, in der Liebe eines andren Wesens zu leben
— ein Gefühl, worin die eigne Vollkommenheit sich mit der
Vollkommenheit jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren
zu sein, was andre ihr sind; will nicht, dass andre ebenso alles
aus sich selbst nehmen sollen, als sie nichts von andren empfängt.
Ich habe hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung berührt.
Tiefer in den Gegenstand einzugehn würde nach Garves meister-
hafter Ausführung^) unnüz und vermessen sein.
V In seinen Philosophischen Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceros
Büchern von den Pßichten 2, 2j; sie erschieyien zuerst Breslau i']8j.
Religion.
67
So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei der
moralischen Ven^ollkommnung sind; so wenig sind sie doch auf
der andren Seite unzertrennlich mit ihr verbunden. Die blosse
Idee geistiger Vollkommenheit ist gross und füllend und erhebend
genug, um nicht mehr einer andren Hülle oder Gestalt zu be-
dürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Personificirung, eine
Art der Versinnlichung zum Grunde, ein Anthropomorphismus in
höherem oder geringerem Grade. Sie wird auch dem unaufhör-
lich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles moralisch
Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in Verhältniss zu
diesem Wesen zu denken; sie vvird ihm Antrieb zur Thätigkeit,
Stoff aller Glükseligkeit sein. Fest durch die Erfahrung überzeugt,
dass seinem Geiste Fortschreiten in höherer moralischer Stärke
möglich ist, wird er mit muthigem Eifer nach dem Ziele streben,
das er sich stekt. Der Gedanke der Möglichkeit der Vernichtung
seines Daseins wird ihn nicht schrekken, sobald seine täuschende
Einbildungskraft nicht mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt.
Seine unabänderliche Abhängigkeit von äussren Schiksalen drükt
ihn nicht; gleichgültiger gegen äussres Geniessen und Entbehren,
bükt er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und
kein Schiksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein
Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die
Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innren Stärke über
den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine Ver-
gangenheit zurükgeht. Schritt vor Schritt aufsucht, wie er jedes
Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise benuzte, wie er nach
und nach zu dem ward, was er jezt ist, wenn er so Ursach und
Wirkung, Zwek und Mittel, alles in sich vereint sieht, und dann
voll des edelsten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind, ausruft:
Hast Du's nicht alles selbst vollendet,
Heiligglühend Herz ? ')
wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-
losigkeit, von Mangel an Schuz, und Trost, und Beistand ver-
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,
vernünftige, ordnende Ursach der Kette des Kindlichen fehlt?
V Goethe, Prometheus Vers j2. Die Lesart „du's" beweist, daß Humboldt
das Gedicht aus dem ersten Druck in Jacobis Buche „Über die Lehre des Spinoza"
(lyS^) kannte, niclit aus dem i-j8g erschienenen achten Bande der ersten Gesammt-
ausgabe der Schriften Goethes, wo „du" steht; vgl. Goethes Werke 2, jij
weimarische Ausgabe.
5*
68 2. über
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn auch
nicht hart und unempfindlich gegen andre Wesen machen, sein
Herz nicht der theilnehmenden Liebe und jeder wohlwollenden
Neigung verschliessen. Eben die Idee der Vollkommenheit, die
warhch nicht bloss kalte Idee des Verstandes ist, sondern warmes
Gefühl des Herzens sein kann, auf die sich seine ganze Wirk-
samkeit bezieht, trägt sein Dasein in das Dasein andrer über.
Es liegt ja in ihnen gleiche Fähigkeit grösserer Vollkommenheit;
diese Vollkommenheit kann er hervorbringen, oder erhöhen. Er
ist noch nicht ganz von dem höchsten Ideale aller Moralität durch-
drungen, solange er noch sich oder andre einzeln zu betrachten
vermag, solange nicht alle geistige Wesen in der Summe der in
ihnen einzeln zerstreut liegenden Vollkommenheit in seiner Vor-
stellung zusammenfliessen. Vielleicht ist seine Vereinigung mit
den übrigen, ihm gleichartigen Wesen noch inniger, seine Theil-
nahme an ihrem Schiksal noch wärmer, je mehr sein und ihr
Schiksal, seiner Vorstellungsart nach, allein von ihm und von
ihnen abhängt!
So ist es, dünkt mich, unleugbar, dass Moralität und Religion
ganz und gar nicht nothwendig mit einander verbunden sind,
dass jene ohne diese gleich rein und lauter, gleich stark und
fruchtbar sein kann. Denn weder das, was die Moral zur Pflicht
macht, noch das, was ihren Gesezen gleichsam die Sanktion giebt,
was ihnen Interesse für den Willen leiht, ist von Religionsideen
abhängig. Die Beschaffenheit der Handlungen, die wir Pflichten
nennen, entspringt theils aus der innren Natur der menschlichen
Seele, theils aus der näheren Anwendung auf die Verhältnisse der
Menschen gegen einander. Die Wirksamkeit der Religion aber
beruht ganz auf der individuellen Beschafl^nheit des Charakters,
ist im strengsten Verstände subjektiv. Der kalte, bloss nach-
denkende Mensch, in dem die Erkenntniss nie in Empfindung
übergeht, dem es genug ist, das Verhältniss der Dinge und Hand-
lungen einzusehn, um seinen Willen danach zu bestimmen, bedarf
keines Religionsgrundes, um tugendhaft zu handien, und, soviel
es seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Wo
hingegen die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist, wo jeder Ge-
danke leicht Gefühl wird, wo die Seele einen starken Hang fühlt,
aus sich heraus in andre überzugehn, an andre sich anzuschliessen ;
da werden Religionsideen wirksame Triebfedern sein. Indess
doch auch da nur mit Ausnahme. Es giebt Charaktere, in welchen
Religion.
69
eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen herrscht,
die eine so grosse Tiefe der Erkenntniss und des Gefühls besizen,
dass daraus eine Stärke und Selbstständigkeit hervorgeht, welche
das Hingeben des ganzen Seins an ein fremdes Wesen, das Ver-
trauen auf fremde Ivraft, wodurch sich der Einfluss der Religion
vorzüglich äussert, wieder fordert, noch erlaubt. Auch die Lagen,
welche erfordert werden, um auf Religionswahrheiten zurük-
zukommen, sind nach ^"erschiedenheit der Charaktere verschieden.
Bei dem einen ist jede starke Rührung — Freude oder Kummer
— bei dem andren nur das frohe Gefühl aus dem Genuss ent-
SDrinsender Dankbarkeit dazu hinreichend. Die lezteren Charak-
tere verdienen vielleicht nicht die wenigste Schäzung. Sie sind
auf der einen Seite stark genug, um im Unglük nicht fremde
Hülfe zu suchen, und haben auf der andren zu viel Sinn für das
Gefühl, geliebt zu werden, um nicht an die Idee des Genusses
gern die Idee eines liebevollen Gebers zu knüpfen. Unabhängig
von der Empfindung und der ^^erschiedenheit des (Charakters ist
nun zwar das, was in den Religionsideen rein Intellektuelles liegt,
die Begriffe von Absicht, Ordnung, Zwekmässigkeit, Vollkommen-
heit. Allein diese sind auch der Religion nicht eigen. Die Idee von
Vollkommenheit wird zuerst aus der lebendigen Natur geschöpft, dann
auf die leblose übergetragen, endlich nach und nach bis zu dem All-
vollkommnen hinauf von allen Schranken entblösst. Nun aber bleiben
lebendige und leblose Natur dieselben, und ist es nicht möglich die
ersten Schritte zu thun, und doch vor dem lezten stehen zu bleiben?
Ich kehre nun zu dem Gegenstande zurük, von dem ich aus-
gieng, zu der Frage: inwiefern der Gesezgeber sich der Religion
zu seinen Absichten bedienen darf? Alle Gesezgebung muss von
dem Gesichtspunkte der Bildung des Bürgers, als Menschen, aus-
gehn. Denn der Staat ist nichts, als ein Mittel, diese Bildung zu
befördern, oder vielmehr die Hindernisse wegzuräumen, die ihr
im aussergesellschaftlichen Zustande im Wege stehn würden. Das
ideal eines Staats wäre der, in welchem die natürliche Beschaffen-
heit theils des Bodens und der Produkte, theils der Einwohner
und ihres Charakters, dann die künstUchen Anstalten theils zur
Befriedigung der ph5'sischen Bedürfnisse, theils zur Verfeinerung
des Geschmaks, und Beförderung der Künste, theils endlich zur
Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, und Erhöhung der
Sittlichkeit, in welchem, sage ich, diese alle das gehörige absolute
und relative Maass gegen einander hätten. Wie viel oder wenig
70
über
unsre wirkliche Staaten sich diesem Ideale nähern, sollte die
Statistik bestimmen. Allein alsdann erforderte diese Wissenschaft
eine ganz andre Bearbeitung, als sie bis jezt erhalten hat, wo sie
nur unsichre Zeichen zur Beurtheilung des verschiednen Werths
der Staaten, bloss Data der natürlichen Beschaffenheit des Landes
und des Reichthums seiner Erzeugnisse, der Bevölkerung, der
Einrichtungen zur Hervorbringung, Bearbeitung und Vertauschung
der Produkte an die Hand giebt. Die Mittel, welche der Gesez-
geber anwendet, um die moralische Bildung seiner Bürger zu be-
fördern, sind immer in dem Grade zwekmässig und nüzlich, in
dem sie die innere Entwiklung der Fähigkeiten und Neigungen
begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem
Innren der Seele, und kann durch äussre Veranstaltungen nur
veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass nun die Religion,
welche ganz auf Ideen, Empfindungen und innrer Ueberzeugung
beruht, ein solches Mittel sei, ist unleugbar. Wir bilden den
Künstler, indem wir sein Auge an den Meisterwerken der Kunst
üben, seine Einbildungskraft mit den schönen Gestalten der Pro-
dukte des Alterthums nähren. Eben so muss der sittliche Mensch
gebildet werden durch das Anschauen hoher moralischer ^^oll-
kommenheit, im Leben durch Umgang, und durch zwekmässiges
Studium der Geschichte, endlich durch das Anschauen der höchsten
idealischen Vollkommenheit im Bilde der Gottheit. Aber diese
leztere Ansicht ist, wie ich im Vorigen gezeigt zu haben glaube,
nicht für jedes Auge gemacht, oder, um ohne Bild zu reden,
diese Vorstellungsart ist nicht jedem Charakter angemessen. Wäre
sie es aber auch; so ist sie doch nur da wirksam, wo sie aus
dem Zusammenhange aller Ideen und Empfindungen entspringt,
wo sie mehr von selbst aus dem Inneren der Seele herv^orgeht,
als von aussen in dieselbe gelegt wird. Veranlassung, mit Religions-
ideen vertraut zu werden, Begünstigung des freien Untersuchungs-
geistes, Leitung desselben auf diese Gegenstände sind folglich die
einzigen Mittel, deren der Gesezgeber sich bedienen darf; geht er
weiter, nimmt er gewisse bestimmte Ideen in Schuz, fodert er statt
wahrer Ueberzeugung Glauben auf Autorität; so hindert er das Auf-
streben des Geistes, die Entwiklung der Seelenkräfte, so bringt er viel-
leicht durch Gewinnung der Einbildungskraft, durch augenblikliche
Rührungen Gesezmässigkeit der Handlungen seiner Bürger, aber nie
wahre Tugend hervor. Denn w^ahre Tugend ist unabhängig von aller
und unverträglich mit befohlner,und auf Autorität geglaubter Religion.
Relision.
71
Wenn jedoch gewisse Religionsgrundsäze auch nur gesez-
mässige Handlungen hervorbringen, ist diess nicht genug um den
Staat zu berechtigen, sie, auch auf Kosten der allgemeinen Denk-
freiheit, zu verbreiten? Die Absicht des Staats wird erreicht,
wenn seine Geseze streng befolgt werden; und der Gesezgeber
hat seiner Pflicht ein Genüge gethan, wenn er weise Geseze giebt
und ihre Beobachtung von seinen Bürgern zu erhalten weiss.
Ueberdiess passt jener aufgestellte Begriff von Tugend nur auf
einige wenige Classen der Mitglieder eines Staats, nur auf die,
welche ihre äussre Lage in den Stand sezt, einen grossen Theil
ihrer Zeit und ihrer Kräfte dem Geschäfte ihrer innren Bildung
zu weihen. Die Sorgfalt des Staats muss sich auf die grössere
Anzahl erstrekken, und diese ist jenes höheren Grades der Mora-
lität unfähig.
Ich erwähne hier nicht mehr der Säze, welchen ich den ersten
Theil dieses Aufsazes gewidmet habe, und die in der That den
Grund dieser Einwürfe umstossen, der Säze nemlich, dass die
Staatseinrichtung an sich nicht Zwek, sondern nur Mittel zur
Bildung des Menschen ist, und dass es daher dem Gesezgeber
nicht gnügen kann, seinen Aussprüchen Autorität zu verschaffen,
wenn nicht zugleich die Mittel, wodurch diese Autorität bewirkt
wird, gut, oder doch unschädlich sind. Es ist aber auch unrichtig,
dass dem Staate allein die Handlungen seiner Bürger, und ihre
Gesezmässigkeit wichtig sei. Ein Staat ist eine so zusammen-
gesezte und verwikkelte Maschine, dass Geseze, die immer nur
einfach, allgemein, und von geringer Anzahl sein müssen, unmög-
lich allein darin hinreichen können. Das Meiste bleibt immer den
freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu thun übrig.
Man braucht nur den Wohlstand kultivirter und aufgeklärter
Nationen mit der Dürftigkeit roher und ungebildeter Völker zu
vergleichen, um von diesem Saze überzeugt zu werden. Daher
sind auch die Bemühungen aller, die sich je mit Staatseinrichtungen
beschäftigt haben, immer dahin gegangen, das Wohl des Staats
zum eignen Interesse des Bürgers zu machen, und den Staat in
eine Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft ihrer
Triebfedern in Gang erhalten würde, und nicht unaufhörlich neuer
äussrer Einwirkungen bedürfte. Wenn die neueren Staaten sich
eines Vorzugs vor den alten rühmen dürfen ; so ist es vorzüglich,
weil sie diesen Grundsaz mehr realisirten. Selbst dass sie sich der
Religion als eines Bildungsmittels bedienen, ist ein Beweis davon.
TO 2. Über
Doch auch die Religion, insofern nemlich durch gewisse bestimmte
Säze nur gute Handlungen bewirkt werden sollen, wie es hier der
Fall ist, ist ein fremdes, von aussen einwirkendes Mittel. Daher
muss es immer des Gesezgebers eifrigstes Streben bleiben, die
Bildung der Bürger bis dahin 2u erhöhen, dass sie alle Trieb-
federn zur Beförderung des Zweks des Staats allein in der Idee
des Nuzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zu Er-
reichung ihrer individuellen x\bsichten gewährt. Zu dieser Einsicht
aber ist Aufklärung und hohe Geistesbildung nothwendig, die da
nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist
durch Geseze beschränkt wird.
Nur dass man sich überzeugt hält : ohne bestimmte geglaubte
Religionssäze könne auch äussre Ruhe und Sittlichkeit nicht be-
stehn, ohne sie sei es der bürgerlichen Gewalt unmöglich, das
Ansehen der Geseze zu erhalten, macht, dass man jenen Be-
trachtungen kein Gehör giebt. Und doch bedürfte der Einfluss,
den Religionssäze, die auf diese Weise angenommen werden, haben
sollen, wohl erst einer strengeren und genaueren Prüfung. Bei
dem roheren Theile des Volks rechnet man von allen Religions-
wahrheiten am meisten auf die Ideen künftiger Belohnungen und
Bestrafungen. Diese mindern den Hang zu unsittlichen Hand-
lungen nicht, befördern nicht die Neigung zum Guten, verbessern
also den Charakter nicht; sie wirken bloss auf die Einbildungs-
kraft, haben folglich, wie Bilder der Phantasie überhaupt, Einfluss
auf die Art zu handien, ihr Einfluss wird aber auch durch alles
das vermindert und aufgehoben, was die Lebhaftigkeit der Ein-
bildungskraft schwächt. Nimmt man nun hinzu, dass diese Er-
wartungen so entfernt, und darum, selbst nach den Vorstellungen
der Gläubigsten, so ungewiss sind, dass die Ideen von nachheriger
Reue, künftiger Besserung, gehofter Verzeihung — welche durch
gewisse Religionsbegriffe so sehr begünstigt werden — ihnen einen
grossen Theil ihrer Wirksamkeit wieder nehmen; so ist es unbe-
greifhch, wie diese Ideen mehr wirken sollten, als die Vorstellung
bürgerlicher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten gewiss,
und wTder durch Reue, noch nachfolgende Besserung abwendbar
sind, wenn man nur die Bürger von Kindheit an eben so mit diesen,
als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Handlungen be-
kannt machte. Unleugbar aber wirken freilich auch weniger auf-
geklärte Religionsbegritfe bei einem grossen Theile des Volks auf
eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der Fürsorge eines
Religion.
73
allweisen und voUkommnen Wesens zu sein, giebt ihnen mehr
Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer führt sie auf höhere
Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und Plan in ihre Handlungen,
das Gefühl der liebevollen Güte der Gottheit giebt ihrer Seele eine
ähnliche Stimmung; kurz die Religion flösst ihnen Sinn für die
Schönheit der Tugend ein. Allein wo die Religion diese Wir-
kungen haben soll, da muss sie schon in den Zusammenhang der
Ideen und Empfindungen ganz übergegangen sein, welches nicht
leicht möglich ist, wenn der freie Untersuchungsgeist gehemmt
und alles auf den Glauben zurükgeführt wird; da muss auch schon
Sinn für bessere Gefühle vorhanden sein, da entspringt sie mehr
aus einem nur noch unentwikkelten Hange zur Sittlichkeit, auf
den sie hernach nur wieder zurükwirkt. Und überhaupt wird ja
niemand den Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit ganz ab-
leugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen be-
stimmten Religionssäzen abhängt? und dann ob er so entschieden
ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrennlicher Ver-
bindung mit einander stehn? Beide Fragen m.üssen, glaub' ich,
verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit den ursprüng-
lichen Neigungen des Menschen überein, die Gefühle der Liebe,
der Verträglichkeit, der Gerechtigkeit haben so etwas Süsses, die
der uneigennüzigen Thätigkeit, der Aufopferung für andre etwas
so Erhebendes, die Verhältnisse, welche daraus im häuslichen und
im gesellschaftlichen Leben überhaupt entspringen, sind so be-
glükkend, dass es weit weniger nothwendig ist neue Triebfedern
zu tugendhaften Handlungen hervorzusuchen, als nur denen, welche
schon von selbst in der Seele liegen, freiere und ungehindertere
Wirksamkeit zu verscb.aifen.
Wollte man aber auch weiter gehn, wollte man neue Be-
förderungsmittel hinzufügen ; so dürfte man doch nie einseitig ver-
gessen, ihren Xuzen gegen ihren Schaden abzuw^ägen. Wie viel-
fach aber der Schade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf wohl,
nachdem es so oft gesagt und wieder gesagt ist, keiner weitläuf-
tigen Auseinandersezimg mehr. Erstrekte er sich bloss auf die
Resultate der Untersuchungen, brächte er bloss Unvollständigkeit
oder Unrichtigkeit in unsrcr wissenschaftlichen Erkenntniss her-
vor; so möchte es vielleicht einigen Schein haben, wenn man den
Nuzen, den man für den (Charakter davon erwartet — auch er-
warten darf! — dagegen abwägen wollte. Allein so ist der Nach
theil bei weitem beträchtlicher. Der Nuzen freier Untersuchung
74
2. Über
dehnt sich auf unsre ganze Art, nicht bloss zu denken, sondern
zu handien aus. In einem Manne, der gewohnt ist, Wahrheit und
Irrthum, ohne Rüksicht auf äussre Verhältnisse, für sich und gegen
andre zu beurtheilen, und von andren beurtheilt zu hören, sind
alle Principien des Handlens durchdachter, konsequenter, aus
höheren Gesichtspunkten hergenommen, als in dem, dessen Unter-
suchungen unaufhörlich von Umständen geleitet werden, die nicht
in der Untersuchung selbst liegen. Untersuchung und Ueber-
zeugung, die aus der Untersuchung entspringt, ist Selbstthätigkeit ;
Glaube Vertrauen auf fremde Kraft, fremde intellektuelle oder
moralische Vollkommenheit. Daher entsteht in dem untersuchen-
den Denker mehr Selbstständigkeit, mehr Festigkeit; in dem ver-
trauenden Gläubigen mehr Schwäche, mehr Unthätigkeit. Es ist
wahr, dass der Glaube, da wo er ganz herrscht und jeden Zweifel
erstikt, einen unüberwindlicheren Muth, eine ausdaurendere Stärke
hen^orbringt ; die Geschichte aller Schwärmer lehrt es. Allein diese
Stärke ist nur da wünschenswerth, wo es auf einen äussren be-
stimmten Erfolg ankommt, zu dem bloss maschinenmässiges Wirken
erfordert wird ; nicht da, wo man eignes Beschliessen, durchdachte,
auf Gründen der Vernunft beruhende Handlungen, oder gar innere
Vollkommenheit erwartet. Denn diese Stärke selbst beruht gerade
auf Schwäche, auf der Unterdrükkung aller eignen Thätigkeit der
Vernunft. Zweifel sind nur dem quälend, welcher glaubt, nie dem,
welcher bloss der eignen Untersuchung folgt. Denn überhaupt
sind diesem die Resultate weit weniger wichtig, als jenem. Er
ist sich, während der Untersuchung, der Thätigkeit, der Stärke
seiner Seele bewusst, er fühlt, dass seine wahre Vollkommenheit,
seine Glükseligkeit eigentlich auf dieser Stärke beruht; statt dass
Zweifel an den Säzen, die er bisher für wahr hielt, ihn drükken
sollten, so freut es ihn, dass seine Denkkraft soviel gewonnen hat,
Irrthümer einzusehen, die ihr vorher verborgen blieben. Der
Glaube hingegen kann nur Interesse an dem Resultat selbst finden,
denn für ihn liegt in der erkannten Wahrheit nichts mehr. Zweifel,
die seine Vernunft erregt, peinigen ihn. Denn sie sind nicht, wie
in dem selbstdenkenden Kopfe, neue Mittel zur Wahrheit zu ge-
langen; sie nehmen ihm bloss die Gev^ssheit, ohne ihm ein Mittel
anzuzeigen, sie auf eine andre Weise wiederzuerhalten. Diese
Betrachtung, weiter verfolgt, führt auf die Bemerkung, dass es
überhaupt nicht gut ist, einzelnen Resultaten eine so grosse Wichtig-
keit beizumessen, zu glauben, dass entweder so viele andre Wahr-
Religion.
75
heiten, oder so \'iele äussre oder innere nüzliche Folgen von ihnen
abhängen. Es wird dadurch zu leicht ein Stillstand in der Unter-
suchung hen'orgebracht, und so arbeiten manchmal die freiesten
und aufgeklärtesten Behauptungen gerade gegen den Grund, ohne
den sie selbst nie hätten emporkommen können. So wichtig ist
Geistesfreiheit ; so schädlich jede Einschränkung derselben. Auf
der andren Seite hingegen fehlt es dem Staate nicht an Mitteln,
die Geseze aufrecht zu erhalten, \"erbrechen zu verhüten, Sittlich-
keit zu befördern. Man verstopfe, soviel es möglich ist, die Quellen
unsittlicher Handlungen, welche in der Staatseinrichtung selbst
liegen, man wende jedes andre Mittel zur Verhütung noch nicht
begangner Verbrechen an, man schärfe die Aufsicht der Polizei
auf die schon begangnen, man strafe auf eine zwekmässige Weise,
und man wird seines Zweks nicht verfehlen. Und vergisst man
denn, dass die Geistesfreiheit selbst, und die Aufklärung, die nur
unter ihrem Schuze gedeiht, das wirksamste aller Beförderungs-
mittel der Sittlichkeit ist? Wenn alle übrige nur den Ausbrüchen
wehren ; so wirkt sie auf Neigungen und Gesinnungen ; wenn alle
übrige nur eine Uebereinstimmung äussrer Handlungen hervor-
bringen, so Schaft sie eine innere Harmonie des Willens und des
Bestrebens. Wann wird man aber auch endlich aufhören, die
äussren Folgen der Handlungen höher zu achten, als die innre
geistige Stimmung, aus der sie fliessen; wann wird der Mann auf-
stehn, der für die Gesezgebung ist. was Rousseau der Erziehung
war, der den Gesichtspunkt von den äussren ph3^sischen Erfolgen
hinweg auf die innere Bildung des Menschen zurükzieht?
Man glaube auch nicht, dass jene Geistesfreiheit und Auf-
klärung nur für einige Wenige des Volks sei, dass für den grösseren
Theil desselben, dessen Geschäftigkeit freilich durch die Sorge für
die physischen Bedürfnisse des Lebens erschöpft wird, sie unnüz
bleibe, oder gar nachtheilig werde, dass man auf ihn nur durch
Verbreitung bestimmter Säze, durch Einschränkung der Denkfrei-
heit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas die Menschheit
Herabwürdigendes m dem Gedanken, irgend einem Menschen das
Recht abzusprechen, Mensch zu sein. Keiner steht auf einer so
niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu Erreichung einer höheren
unfähig wäre; und sollten auch die aufgeklärteren religiösen und
philosophischen Ideen auf einen grossen Theil der Bürger nicht
unmittelbar übergehn können, sollte man dieser (blasse von
Menschen, um sich an ihre Ideen anzuschmiegen, die Wahrheit
-75 2. Über Religion.
in einem andren Kleide vortragen müssen, als man sonst wählen
würde, sollte man genöthigt sein, mehr zu ihrer Einbildungskraft
und zu ihrem Herzen, als zu ihrer kalten Vernunft zu reden; so
verbreitet sich doch die Erweiterung, welche alle wissenschaftliche
Erkenntniss durch Freiheit und Aufklärung erhält, auch bis auf
sie hinunter, so dehnen sich doch die wohlthätigen Folgen des
regen uneingeschränkten Untersuchungsgeistes auf den Geist und
den Charakter der ganzen Nation bis in ihre geringsten Individua
hin aus.
Ich seze zu diesen Gründen nichts mehr hinzu, und habe
überhaupt geglaubt, bei der Beantwortung der Einwürfe, w^elche
man mir entgegenstellen könnte, mit Recht kürzer sein zu dürfen.
Wenn der Saz: dass der Zwek des Menschen im Menschen liegt,
in seiner innren morahschen Bildung, einmal unerschütterlich fest
steht, wenn er Grundsaz alles Handlens gegen, alles Wirkens auf
Menschen, folglich erstes und höchstes Princip alles Naturrechts,
aller Erziehung und Gesezgebung geworden ist ; so bedarf die Er-
haltung der grenzenlosesten Freiheit zu denken, zu untersuchen,
und die angestellten Untersuchungen, die gefundnen Resultate
andren mitzutheilen keiner Vertheidigung mehr. Und diesen Saz
aufzustellen, ihn von allen Seiten zu zeigen, ihn mit allen seinen
Gründen auszuführen, w^ar der einzige Zwek dieses Aufsazes.
Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische
Constitution veranlasst.
Aus einem Briefe an einen Freund vom August, 1791.
Ich beschäftige mich in meiner Einsamkeit^) mehr mit poli-
tischen Gegenständen, als ich es je bei den häufigen Veranlassungen
dazu, die das geschäftige Leben darbietet, gethan habe. Ich lese
die politischen Zeitungen regelmässiger als sonst und ob ich gleich
nicht sagen kann, dass sie ein grosses Interesse in mir erwekten,
so reizen mich doch noch am meisten die Französischen An-
gelegenheiten. Es fällt mir dabei alles Kluge und Einfältige ein,
was ich seit zwei Jahren darüber gehört habe, und am Ende
komme ich gewöhnlich auf Sie, lieber *, und den lebhaften An-
theil, den Sie an diesen Gegenständen nahmen,-) zurük. Mein
eignes Urtheil — wenn ich, um mir doch selbst von mir Rechen-
schaft zu geben, mich eins zu fällen zwinge — stimmt dann mit
keinem andren geradezu überein ; es mag sogar paradox scheinen,
aber Sie sind ja einmal mit meinen Paradoxien vertraut, und
Handschriß (12 Quartseiten, ein undatierter Brief an Gentz, mit Titel ver-
sehen und durch zwischen die Zeilen geschriebene Veränderungen bearbeitet) im
Archiv in Tegel. — Erster Druck : Berlinische Monatsschrift ig,84—(ß (Januar-
heft i']g2).
^) Nachdem Humboldt den juristischen Staatsdienst verlassen und am
2g. Juni i-jgi geheiratet hatte, verlebte er den Rest des Jahres auf seinem Landgut
Burgörner bei Mayisfeld.
y Über Gentzens Interesse für die Entwicklung der französischen Bewegung
vgl. seine Briefe an Garve S. $8. 100 und Guglia, Friedrich von Gentz S. 97.
r-g 3. Ideen über Staatsverfassung,
wenigstens sollen Sie in der gegenwärtigen auch Konsequenz mit
den übrigen nicht vermissen.
Was ich am häufigsten, und, ich kann es nicht läugnen, mit
dem meisten Interesse über die Nationalversammlung und ihre
Gesezgebung hörte, war Tadel, nur leider ein Tadel, für den die
Abfertigung immer so nah lag. Bald Mangel an Sachkenntniss,
bald Vorurtheil, bald ein kleingeistiger Schauder vor allem Neuen
und Ungewöhnlichen, und wer weiss was noch für leicht zu
widerlegende Irrthümer; und hielt auch einmal ein Tadel jede
Widerlegung aus ; so blieb doch immer der leidige Entschuldigungs-
grund, dass zwölfhundert auch weise Menschen doch immer nur
Menschen sind. Mit dem Tadel, wie überhaupt mit dem Be-
urtheilen einzelner Anordnungen kommt man also schwerlich ins
Reine. Dagegen giebt es, dünkt mich, ein ganz offenbares, kurzes,
von jedermann anerkanntes Faktum, welches schlechterdings alle
Data zur gründlichen Prüfung des ganzen Unternehmens voll-
ständig enthält.
Die constituirende Nationalversammlung hat es unternommen,
ein völlig neues Staatsgebäude, nach blossen Grundsäzen der Ver-
nunft, aufzuführen. Diess Faktum muss jedermann, und sie selbst
muss es einräumen. Nun aber kann keine Staatsverfassung ge-
lingen, welche die Vernunft — vorausgesezt, dass sie ungehinderte
Macht habe, ihren Entwürfen Wirklichkeit zu geben — nach
einem angelegten Plane gleichsam von vornher gründet; nur eine
solche kann gedeihen, welche aus dem Kampfe des mächtigeren
Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft hervorgeht. Dieser
Saz ist mir so evident, dass ich ihn nicht auf Staatsverfassungen
allein einschränken möchte, sondern ihn gern auf jedes praktische
Unternehmen überhaupt ausdehne. Für einen so rüstigen Ver-
theidiger der Vernunft indess, als Sie sind, möchte er dieselbe
Evidenz nicht haben. Ich verweile daher länger dabei.
Ehe ich jedoch zu den Gründen übergehe, noch vorher ein
Paar Worte zur näheren Bestimmung desselben. Zuvörderst, sehen
Sie, lasse ich den Entwurf der Nationalversammlung zu einer Ge-
sezgebung für den Entwurf der Vernunft selbst gelten. Zweitens
will ich auch nicht sagen, dass die Grundsäze ihres Systems zu
spekulativ, nicht auf die Ausführung berechnet sind. Ich will so-
gar voraussezen, alle Gesezgeber zusammen hätten den wirklichen
Zustand Frankreichs und seiner Bewohner auf das anschaulichste
vor x\ugen gehabt, und die Grundsäze der Vernunft diesem Zu-
durch die neue französische Konstitution veranlasst.
79
Stande, soviel als es nur überhaupt, und jenem Ideal unbeschadet,
möglich war, angepasst. Endlich rede ich nicht von den Schwierig-
keiten der Ausführung. Wie wahr und wizig es auch sein mag
qt^il ne fant pas donner des legons d'anatomie siir wi corps vivant;
so müsste doch erst der Erfolg zeigen, ob nicht dennoch das
Unternehmen Dauer gewinnt, und nicht festgegründetes Wohl des
Ganzen vorübergehenden Uebeln Einzelner vorgezogen zu werden
verdient? Ich gehe also bloss von den simpeln Säzen aus: i. die
Nationalversammlung wollte eine völlig neue Staatsverfassung
gründen, 2. sie wollte dieselbe in allen ihren einzelnen Theilen
nach den reinen, wenn gleich der individuellen Lage Frankreichs
angepassten Grundsäzen der Vernunft bilden. Ich nehme diese
Staatsverfassung — für den Augenblik — als völlig ausführbar, oder
wenn man will, auch als schon wirklich ausgeführt an. Dennoch,
sag' ich, kann eine solche Staatsverfassung nicht gedeihen.
Eine neue Verfassung soll auf die bisherige folgen. An die
Stelle eines Systems, das allein darauf berechnet war, soviel Mittel,
als möglich, aus der Nation zur Befriedigung des Ehrgeizes und
der Verschwendungssucht eines Einzigen zu ziehen, soll ein System
treten, das nur die Freiheit, die Ruhe, und das Glük jedes Ein-
zelnen zum Zwek hat. Zwei ganz entgegengesezte Zustände sollen
also auf einander folgen. Wo ist nun das Band, das beide ver-
knüpft.^ Wer traut sich Erfindungskraft und Geschiklichkeit ge-
nug zu, es zu weben? Man studire noch so genau den gegen-
wärtigen Zustand, man berechne noch so genau darnach das, was
man auf ihn folgen lässt, immer reicht es nicht hin. Alles unser
Wissen und Erkennen beruht auf allgemeinen, d, i. wenn wir von
Gegenständen der Erfahrung reden, unvollständigen und halb-
wahren Ideen, von dem Individuellen vermögen wir nur wenig
aufzufassen, und doch kommt hier alles auf individuelle Kräfte,
individuelles Wirken, Leiden, und Geniessen an. Ganz anders ist
es, wenn der Zufall wirkt, und die Vernunft ihn nur zu lenken
strebt. Aus der ganzen, individuellen Beschaffenheit der Gegen-
wart — denn diese von uns unerkannten Kräfte heissen uns doch
nur Zufall — geht dann die Folge hervor, die Entwürfe, welche
die Vernunft dann durchzusezen bemüht ist, erhalten, wenn auch
ihre Bemühungen gelingen, von dem Gegenstande selbst noch,
auf den sie angelegt sind, Form und Modifikation. So können sie
Dauer gewinnen, so Nuzen stiften. Auf jene Weise, wenn sie
auch ausgeführt werden, bleiben sie ewig unfruchtbar. Was im
3o 3- Ideen über Staatsverfassung,
Menschen gedeihen soll, muss aus seinem innren entspringen,
nicht ihm von aussen gegeben werden, und was ist ein Staat, als
eine Summe menschlicher wirkender und leidender Kräfte?
Auch fordert jede Wirkung eine gleich starke Gegenwirkung,
jedes Zeugen ein gleich thätiges Empfangen. Die Gegenwart muss
daher schon auf die Zukunft vorbereitet sein. Darum wirkt der
Zufall so mächtig. Die Gegenwart reisst da die Zukunft an sich.
Wo diese ihr noch fremd ist, da ist alles todt und kalt. So, wo
Absicht hervorbringen will. Die Vernunft hat wohl Fähigkeit,
vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen.
Diese Kraft ruht allein im Wesen der Dinge, diese wirken, die
wahrhaft weise Vernunft reizt sie nur zur Thätigkeit, und sucht
sie zu lenken. Hierbei bleibt sie bescheiden stehen. Staats-
verfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schösslinge auf
Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben,
da ists, als bindet man Blüthen mit Fäden an. Die erste Mittags-
sonne versengt sie.
Indess entsteht hier noch immer die Frage, ob die Französische
Nation nicht hinlänglich vorbereitet ist, die neue Staatsverfassung
aufzunehmen? Allein für eine, nach blossen Grundsäzen der
Vernunft, S3^stematisch entworfene Staatsverfassung kann nie eine
Nation reif genug sein. • Die Vernunft verlangt ein vereintes, und
verhältnissmässiges Wirken aller Kräfte. Ausser dem Grade der
Vollkommenheit jeder einzelnen, hat sie noch die Festigkeit ihrer
Vereinigung, und das richtigste Verhältniss einer jeden zu den
übrigen vor Augen. Wenn aber auf der einen Seite die Vernunft
nur durch das vielseitigste Wirken befriedigt wird, so ist auf der
andren Seite das Loos der Menschheit Einseitigkeit. Jeder Augen-
blik übt nur Eine Kraft in Einer Art der Aeusserung. Häufige
Widerholung geht in Gewohnheit über, und diese Eine Aeusserung
dieser Einen Ivraft wird nun mehr oder minder, länger oder kürzer,
Charakter. Wie der Mensch auch ringen mag, die einzelne, in
jedem Moment wirkende Kraft durch die Mitwirkung aller übrigen
modificiren zu lassen; so erreicht er es nie, und was er der Ein-
seitigkeit abgewinnt, das verliert er an Kraft. Wer sich auf
mehrere Gegenstände verbreitet, wirkt schwächer auf alle. So
stehen Kraft und Bildung ewig in umgekehrtem Verhältniss. Der
Weise verfolgt keine ganz, jede ist ihm zu lieb, sie ganz der andren
zu opfern. So ist auch in dem höchsten Ideale menschlicher Natur,
das die glühende Phantasie sich zu bilden vermag, jeder Augen-
durch die neue französische Konstitution veranlasst. 8l
buk der Gegenwart eine schöne, aber nur Eine Blüthe. Den
Kranz vermag nur das Gedächtniss zu flechten, das die Ver-
gangenheit mit der Gegenwart verknüpft. Wie mit dem einzelnen
Menschen, so mit ganzen Nationen. Sie nehmen auf einmal nur
Einen Gang. Daher ihre Verschiedenheiten unter einander, daher
ihre Verschiedenheiten in ihnen selbst in verschiedenen Epochen.
Was thut nun der weise Gesezgeber? Er studirt die gegenwärtige
Richtung, dann, je nachdem er sie findet, befördert er sie, oder
strebt ihr entgegen; so erhält sie eine andre Modifikation, und
diese wieder eine andre, und so fort. So begnügt er sich, sie
dem Ziele der Vollkommenheit zu nähern. Was aber muss ent-
stehen, wenn sie auf einmal nach dem Plane der blossen Vernunft,
nach dem Ideale, arbeiten, w^nn sie nicht mehr genügsam Eine
Treflichkeit verfolgen, sondern zu gleicher Zeit nach allen ringen
soll? SchlarYheit und Unthätigkeit. Alles, was v^är mit Wärme
und Enthusiasmus ergreifen, ist eine Art der Liebe. Wenn nun
nicht Ein Ideal mehr die Seele füllt, so ist Kälte, w^o ehemals
Glut war. Ueberhaupt vermag mit Energie nie der zu wirken,
der mit allen Kräften auf Einmal gleichmässig wirken soll. Mit
der Energie aber schwindet jede andre Tugend hin. Ohne sie
wird der Mensch Maschine. Man bewundert, v/as er thut; man
verachtet, was er ist.
Lassen Sie uns einen Blik auf die Geschichte der Staats-
verfassungen werfen, und wir werden in keiner einen nur irgend
hohen Grad der Vollkommenheit finden, allein von den Vorzügen.
die das Ideal eines Staats alle vereinen müsste, werden wir auch
in den verderbtesten immer einen, oder den andren entdekken.
Die erste Herrschaft schuf das Bedürfniss. Man gehorchte nie
länger, als man entweder den Herrscher nicht entbehren, oder
ihm nicht widerstehen konnte. Diess ist die Geschichte aller,
auch der blühendsten alten Staaten. Eine dringende Gefahr
nöthigte die Nation einem Herrscher zu gehorchen. War die
Gefahr vorüber, so strebte sie das Joch abzuschütteln. Allein oft
hatte sich der Herrscher zu sehr festgesezt, ihr Ringen war ver-
gebens. Dieser Gang ist auch der menschlichen Natur völlig an-
gemessen. Der Mensch vermag ausser sich zu wirken, und sich
in sich zu bilden. Bei dem Ersteren kommt es bloss auf Kraft,
und zwekmässige Richtung derselben an; bei dem Lezteren auf
Selbstthätigkeit. Daher ist zu diesem Freiheit, zu jenem, da
mehrere Kräfte nie besser gerichtet werden, als wenn Ein Wille
W. V. Humboldt, Werke. I. 6
§2 3- Ideen über Staatsverfassung,
sie lenkt, Unterwürfigkeit nothwendig. Diess Gefühl unterwarf
die Menschen der Herrschaft, sobald sie wirken wollten ; aber das
höhere Gefühl ihrer innren Würde erwachte, wenn dieser Zwek
nun erreicht w^ar. Ohne diese Betrachtung würde es auch nie
begreiflich sein, wie derselbe Römer in der Stadt dem Senat Ge-
seze vorschrieb, und im Lager seinen Rükken willig den Streichen
der Centurionen darbot. Aus dieser Beschaffenheit der alten
Staaten entspringt es, dass, wenn man unter Systemen absichtliche
Plane versteht, sie eigentlich gar kein politisches System hatten,
und dass, wenn wir jezt bei politischen Einrichtungen philo-
sophische, oder politische Gründe angeben, wir bei ihnen immer
nur historische finden. Diese Verfassung dauerte bis ins Mittel-
alter hin. Zu dieser Zeit, da die tiefste Barbarei alles überdekte,
musste, sobald sich mit dieser Barbarei Macht vereinte, der ärgste
Despotismus entstehn, und billig hätte man der Freiheit ihren
gänzlichen Untergang verkündigen sollen. Allein der Kampf der
Herrschsüchtigen unter einander erhielt sie. Nur konnte freilich,
bei dieser gewaltsamen Lage der Sachen, niemand selbst frei sein,
der nicht zugleich Unterdrükker der Freiheit der andren war,
Das Lehnssystem war es, in welchem die ärgste Sklaverei, und
ausgelassene Freiheit unmittelbar neben einander existirte. Denn
der Vasall trozte dem Lehnsherrn nicht weniger, als er seine
Unterthanen unmenschlich bedrükte. Die Eifersucht der Regenten
auf die Macht der Vasallen schuf diesen ein Gegengewicht in den
Städten und dem Volk, und endlich gelang es ihm, sie zu unter-
drükken. Statt dass nun ehemals doch Ein Stand Depot der
Freiheit gewesen war, war jezt alles Sklave. Der Adel verband
sich mit dem Regenten, das Volk zu unterdrükken, und von hier
aus hebt die Verderblichkeit des Adels an, der immer nur ein
nothwendiges Uebel war, und jezt ein überflüssiges geworden ist.^)
Seitdem diente nun alles den Absichten des Regenten allein.
Dennoch gewann die Freiheit. Denn da das Volk mehr dem
Regenten, als dem Adel unterworfen war? so verschafte schon
die weitere Entfernung von jenem mehr Luft. Dann konnten
jene Absichten auch nicht sowohl mehr, wie sonst, unmittelbar
durch die physischen Kräfte der Unterthanen — woraus vorzüg-
lich die persönliche Sklaverei entstand — erreicht werden. Es
^) Dieser Satz über den Adel fehlt im ersten Druck; er ßel vermutlich der
Zensur des Herausgebers Biester zum Opfer.
durch die neue französische Konstitution veranlasst. 3^
war ein Mittel nothwendig, das Geld. Alles Streben gieng nun
also dahin, von der Nation, soviel als möglich, Geld aufzubringen.
Diese Möglichkeit beruhte aber auf zwei Dingen. Die Nation
musste Geld haben, und man musste es von ihr bekommen.
Jenen Zwek nicht zu verfehlen, mussten ihr allerlei Quellen der
Industrie eröfnet werden; diesen am besten zu erreichen, musste
man mannigfaltige Wege entdekken, theils um nicht durch auf-
bringende Mittel zu Empörungen zu reizen, theils um die Kosten
zu vermindern, welche die Hebung selbst verursachte. Hierauf
gründen sich eigentlich alle unsre heutigen politischen S3'steme.
Weil aber, um den Hauptzwek zu erreichen, also im Grunde nur
als untergeordnetes Mittel, Wohlstand der Nation beabsichtet
wurde, und man ihr, als unerlassbare Bedingung dieses Wohl-
standes, einen höheren Grad der Freiheit zugestand; so kehrten
gutmüthige Menschen, vorzüglich Schriftsteller, die Sache um,
nannten jenen Wohlstand den Zwek, die Erhebung der Abgaben
nur das nothwendige Mittel dazu. Hie und da kam diese Idee
auch wohl in den Kopf eines Fürsten, und so entstand das
Princip, dass die Regierung für das Glük und das Wohl, das
physische und moralische, der Nation sorgen muss. Gerade der
ärgste und drükkendste Despotismus. Denn weil die Mittel der
Unterdrükkung so verstekt, so verwikkelt waren ; so glaubten sich
die Menschen frei, und wurden an ihren edelsten Kräften ge-
lähmt. Indess entsprang aus dem Uebel auch wieder das Heil-
mittel. Der auf diesem Wege zugleich entdekte Schaz von
Kenntnissen, die allgemeiner verbreitete Aufklärung belehrten die
Menschheit wieder über ihre Rechte, brachten wieder Sehnsucht
nach Freiheit hen-or. Auf der andren Seite wurde das Regieren
so künstlich, dass es unbeschreibliche Klugheit und Vorsicht er-
heischte. Gerade in dem Lande nun, in welchem Aufklärung die
Nation zur furchtbarsten für den Despotismus gemacht hatte,
vernachlässigte sich die Regierung am meisten, und gab die ge-
fährlichsten Blossen. Hier musste also auch die Revolution zuerst
entstehen, und nun konnte kein andres System folgen, als das
System einer gemässigten, aber doch völligen und unumschränkten
Freiheit, das System der Vernunft, das Ideal der Staatsverfassung.^)
V Im ersten Druck lautet dieser Satz: „ . . . . und mm konnte bei der be-
kannten Unfähigkeit der Menschen, die Mittelwege zu finden, und besonders bei
dem raschen und feurigen Charakter der Nation kein andres System folgen
6*
^A 3- Ideen über Staatsverfassung,
Die Menschheit hatte an einem Extrem gelitten, in einem Extrem
musste sie ihre Rettung suchen. Ob diese Staatsverfassung Fort-
gang haben wird? Der Analogie der Geschichte nach, Nein!
Aber sie wird die Ideen aufs neue aufklären, aufs neue jede
thätige Tugend anfachen, und so ihren Segen weit über Frank-
reichs Gränzen verbreiten. Sie wird dadurch den Gang aller
menschlichen Begebenheiten bewähren, in denen das Gute nie an
der Stelle wirkt, wo es geschieht, sondern in weiten Entfernungen
der Räume oder der Zeiten, und in denen jene Stelle ihre wohl-
thätige Wirkung wieder von einer andren, gleich fernen, empfängt.
Ich kann mich nicht enthalten, dieser lezten Betrachtung noch
einige Beispiele hinzuzufügen. In jeder Periode hat es Dinge ge-
geben, die, verderblich an sich, der Menschheit ein unschäzbares
Gut retteten. Was erhielt die Freiheit in den Zeiten des Mittel-
alters? Das Lehnssystem. W^as Aufklärung und W^issenschaften
in den Zeiten der Barbarei? Das Mönchswesen. Was die edle
Liebe zum andren Geschlecht in den Zeiten der Herabwürdigung
dieses Geschlechts bei den Griechen, um auch aus dem häuslichen
Leben ein Beispiel zu wählen? Die Knabenliebe. Ja, wir be-
dürfen nicht einmal der Geschichte; der Gang des Menschen-
lebens überhaupt ist das treffendste Beispiel. In jeder Epoche
desselben ist Eine Art des Daseins Hauptfigur in dem Gemälde,
indess alle übrigen ihr, als Nebenfiguren, dienen. In einer andren
Epoche wird sie zur Nebenfigur, und eine von jenen tritt auf den
Vordergrund. So danken wir allen bloss heitren, sorgenfreien
Genuss der Kindheit; allen Enthusiasmus für das empfundene
Schöne, alle Verachtung der Arbeit und Gefahr, es zu erringen,
dem blühenden Jünglingsalter; alle sorgsame Ueberlegung, allen
Eifer aus Gründen der Vernunft der Reife des Mannes; alle Ge-
wöhnung an den Gedanken der Hinfälligkeit selbst, alle weh-
müthige Freude an der Betrachtung, das war, und ist nun nicht
mehr! dem Hinwelken des Greises. In jeder Periode existirt der
Mensch ganz. Aber in jeder schimmert nur Ein Funke seines
Wesens hell und leuchtend; bei den andren ists der matte Schein,
bald des schon halbverloschnen, bald des erst künftig aufflam-
menden Lichts. Eben so ists in jedem einzelnen Menschen, mit
als das, worin man die grösstmögliche Freiheit beabsichtigte . . . ." Stil und
Inhalt zeigen in gleicher Weise, daß wir es hier mit keiner authentischen Kor-
rektur, sondern wohl mit einem Zusatz Biesters zu tun haben.
durch die neue französische Konstitution veranlasst. ^c
l'eder seiner Fähigkeiten und Empfindungen. Allein ein Individuum
Einer Art erschöpft selbst in der Folge aller Zustände nicht alle
Gefühle. Der Mann z. B. bei den Menschen, ewig beschäftigt
ausser sich zu wirken, ewig strebend nach Freiheit und Herr-
schaft, besizt nur selten die Sanftmuth, die Güte, den Wunsch,
auch durch das Glük zu beglükken, das man empfindet, nicht
immer durch das, was man giebt — welches alles dem Weibe so
eigen ist. Dagegen fehlt es dem Weibe so oft an Stärke, Thätig-
keit, Muth. Um daher die volle Schönheit des ganzen Menschen
zu fühlen, muss es ein Mittel geben, das beider Vorzüge, wenn
auch nur auf Momente, und in verschiednen Graden vereint
fühlen lässt, und diess Mittel muss des schönsten Lebens schönsten
Genuss bewahren.
Was folgt nun aus diesem allem ? dass kein einzelner Zustand
der Menschen und Dinge Aufmerksamkeit verdient an sich, sondern
nur in Zusammenhang mit dem vorhergehenden und folgenden
Dasein; dass die Resultate an sich nichts sind, alles nur die
Kräfte, die sie hervorbringen, und die aus ihnen entspringen.
Und nun genug für heute, lieber *. Leben Sie wohl!
über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen
Kräfte.
Bruchstück.
Unter allen Bildern, welche die Geschichte darbietet, zieht
wohl keines eine allgemeinere und regere Aufmerksamkeit an sich,
als das Bild des Menschen in der Verschiedenheit seiner Lebens-
weise nach der verschiedenen Beschaffenheit der leblosen und
lebendigen Natur um ihn her, unter deren unaufhörlichem Ein-
wirken er lebt. Gefesselt von dem Interesse, das den Menschen
jedes Erdstrichs und jedes Jahrhunderts an den Menschen knüpft,
stellt der betrachtende Forscher ferne, längst hingeschwundene
Geschlechter neben sich und seine Zeitgenossen, vergleicht mit
prüfendem Blik ihr inneres Dasein, ihre Empfänglichkeit für
äussere Eindrükke, ihre Fähigkeit den empfangenen Stoff in ihr
Eigenthum zu verwandeln, und mit bereicherter Ideenfülle, und
verstärkter Empfindungskraft eigene Schöpfungen hervorzubringen,
ihre äussere Lage, die Welt, die sie umgiebt, und die Gestalt, zu
der sie sie umbilden, den Genuss, den sie aus den Gaben des
Schiksals und aus den Früchten ihrer Thätigkeit ziehen. Bald
sieht er aus seiner Lage, mit seinen Gesichtspunkten auf die Vor-
zeit hin, bald versezt ihn seine Phantasie selbst in dieselbe, und
eignet ihm den Gesichtspunkt, den ehmals ihre Wirklichkeit gab,
und so wägt er unrichtiger oder richtiger das Gute und Be-
glükkende jedes Jahrhunderts, geniesst jezt des frohen Bewusst-
seins des eigenen Vorzugs, und jezt wieder des wehmüthigeren
Handschrift (lo Quartseiten, ohne Titel) im Archiv in Tegel.
4. Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. §-7
und dennoch süssen Gefühls, dass eine Treflichkeit hoher be-
seHgender Schönheit einmal blühte und nun nicht mehr ist ! Wenn
er auf diese Weise die Schiksale der Nationen von Epoche zu
Epoche verfolgt, so kann ihm der Zusammenhang nicht entgehen,
der, bald wirklich, bald scheinbar, jede Begebenheit mit allen
folgenden verbindet. Schon der eigenthümlichen Natur des mensch-
lichen Geistes nach, der unaufhörlich das Allgemeine sucht, und
das Einzelne in ein Ganzes zusammenzufassen strebt, wird er alle
zerstreuten Züge in Ein Gemähide sammlen, und der wechselnde
Gang aller Schiksale der Erde und ihrer Bewohner wird in seinen
Augen zu Einer grossen, unzertrennbaren Einheit werden. Wenn
gleich freiHch kein einzelnes Geschöpf die Umwandlungen dieses
Ganzen in ihrer Folge erfährt, wenn selbst die leblose Natur, die
ihr Schauplaz ist, nicht unverändert bleibt, der Boden, der den
Enkel nährt, nicht mehr derselbe ist, den der Ahnherr betrat, und
selbst die innerste Felsmasse unsrer Erdkugel vielleicht dem un-
aufhörlichen Flusse alles Endlichen folgt; so schlingt sich doch
mitten durch allen diesen Wechsel hindurch, einer ununter-
brochenen Kette gleich, die Reihe der auf einander folgenden
Menschengeschlechter, so erhält sich doch das, was, allein ewig
und unvergänglich, den hinfälligen Stoff seines Urhebers überlebt,
der Vorrath von Ideen, den die \^orwelt auf die Nachwelt vererbt.
An diesen Fäden verfolgt der philosophische Geschichtsforscher
oft die Revolutionen des Menschengeschlechts, füllt mit Hypothesen
die Lükken, welche die Ueberlieferung lässt, sieht aus der Ver-
gangenheit die Gegenwart entspringen, ahndet aus dieser die nun
neu sich entwikkelnde Zukunft, sucht das Ziel zu bestimmen, dem
diess ewig rege wirksame Ganze nachstrebt, und erklärt den
gleichen abgemessenen Fortschritt desselben entweder aus der
Leitung einer weisen Macht, oder aus der nach ewigen Gesezen
ihrer Natur wirkenden Selbstthätigkeit der einzelnen Kräfte. Un-
verkennbar ist es nun, dass diess Ganze nicht in seiner Phantasie,
oder in der ^>^nu^•ft allein existirt, die ihre Gebilde so oft der
Wirklichkeit andichtet. Die wechselseitige \'erschränkung aller
Begebenheiten des Menschengeschlechts ist klar, und jede folgende
Generation tritt in keine andere Lage der Dinge, als in die, welche
die vorhergehenden bereiteten, empfängt keine andren Ideen als
die, welche diese erfanden oder moditicirten. Mehr Schwierigkeit
aber führt die Frage mit sich: ob nun diese Verkettung von Be-
gebenheiten Einem Ziele entgegeneilt, oder das Ziel, das erreicht
38 4- über die Gesetze
werden soll, mit jedem einzelnen Menschen von dieser Erde
scheidet, ob die längere Dauer derselben eine erhöhetere Voll-
kommenheit, oder noch dasselbe Maass von Kräften, denselben
Grad des Genusses, nur in ewig wechselnden, unendlich mannig-
faltigen Gestalten zeigen wird? Dennoch führt nicht leicht eine
andere Frage, welche das Leben und Wirken des Menschen be-
trift, ein höheres Interesse mit sich, weil die Entscheidung der-
selben zugleich eine genaue Würdigung alles dessen enthalten
müsste, was wir unter den Menschen gross, und gut, und wichtig
nennen, und weil sie den mancherlei Führern, ^^erbessere^n und
Regierern der Menschen zeigte, wie das Vorbild — dem ihre
ohnmächtige Kraft nur nachzuahmen strebt — das allwaltende
Schiksal sie leitet. Selbst wenn die Entscheidung nicht diesen
Nuzen gewährte, bliebe dennoch immer die Untersuchung in mehr
als Einer Rüksicht wichtig. Denn sie muss — wenn sie auf Tiefe
und Genauigkeit mit Recht Anspruch machen will — versuchen,
alle einzelne Kräfte auseinanderzusezen , welche den Menschen
gross und glüklich machen, so wie alles in und ausser ihm, wo-
durch diese Kräfte Nahrung und Stärkung erhalten, und was sie
schwächt und vernichtet ; sie muss ferner sogar die ewigen Geseze
zu entdekken suchen, nach welchen der Mensch durch den natür-
lichen Fortschritt seiner inneren Kraft, verbunden mit den, bei
einer ewig wechselnden, und doch im Ganzen immer sich selbst
gleichen Natur, ewig neuen und doch immer wiederkehrenden
Begebenheiten, bald von dieser, bald von jener Seite entwikkelt,
bald von dieser, bald von jener beglükt wird.
Ehe aber auch nur ein ^^ersuch über ein Problem gewagt
wird, dessen vollständige und fehlerfreie Auflösung wohl niemand
von menschlichen Kräften erwarten wird, erfordert zuvörderst die
Möglichkeit der Auflösung überhaupt eine eigene Untersuchung.
Denn wenn in dem Gange menschlicher Begebenheiten, ihrer
wechselseitigen Verkettungen ungeachtet, keine Einheit, kein gleich-
förmiges Gesez vorhanden ist, oder wenn dasselbe auf Dingen be-
ruht, welche menschliche Einsicht nicht zu durchschauen vermag,
so wird die Phantasie im eitlen Haschen nach dem, was nirgend
existirt, Hypothesen an die Stelle der W^ahrheit sezen, und der
erträglichste Erfolg des Unternehmens wird die Ueberzeugung
seiner Unausführbarkeit sein. Um nun aber hierüber erst zur
Gewissheit zu gelangen, dürfen wir uns nicht reiner Vernunftsäze
und Schlüsse bedienen. Gesezt auch, wir besässen irgend eine
der Entwicklung der menschlichen Kräfte.
89
Vernunftwahrheit, die auf die Nothwendigkeit eines gleichförmigen
Gesezes führte; so dürften wir dennoch dadurch über die Natur
und die Beschaffenheit desselben keine Aufschlüsse erwarten. Nur
die Betrachtung der wirkenden Kräfte und ihrer Wirkungen, nur
also die Erfahrung, sei es die innere in unsrem eignen Bewusst-
sein, oder die äussre durch Beobachtung, Ueberlieferung und Ge-
schichte, kann hier Lehrmeisterin sein. Der menschliche Geist hat
die Geseze der Bewegung des Erdballs, und über seinen Wohnsiz
hinaus die Stellung und verschiedene Laufbahn der Körper des
Sonnens^'stems entdekt, zu dem er gehört, und mit Genauigkeit
und Zuverlässigkeit weissagt er alle Begebenheiten, die davon ab-
hängen. Wunderbar ist es, dass er, vertraut mit den Revolutionen
millionenmeilen entfernter Sphären, ein Fremdling in den Ver-
änderungen ist, die ihn umgeben, auf die er selbst so mächtig
wirkt, und deren Rükwirkung er erfährt. Allein jene Geseze be-
ruhen, wie fast alles, worüber wir zuverlässige Theorien besizen,
auf allgemeinen Ideen von Grössen und Verhältnissen des Raums
und der Zeit, und auf Beobachtungen, die meistentheils auch nur
darauf hinauslaufen ; indess wir hier in einem Gebiete des Wissens
sind, in dem alles von den wirklichen Kräften, und dem Wesen
der Dinge abhängt, in dem nur die Kenntniss des Individuums
der Wahrheit nähert, und jede allgemeine Idee immer gerade im
Verhältniss der Menge der Individuen, von denen sie abgezogen
ist, von derselben entfernt. Dieser Schwierigkeit und so vieler
andren aber — unter welchen die einer in dem Grade extensiv
ausgebreiteten, und intensiv eindringenden Beobachtung, als hier
eigentlich erfordert würde, nicht vergessen werden muss — un-
geachtet, ist dennoch soviel gewiss, dass jegliche Veränderung auf
der Erde eine Wirkung entweder der menschlichen Kräfte, oder
der übrigen lebendigen Geschöpfe, oder der leblosen Natur, oder
vielmehr, da in keinem dieser Theile der Schöpfung etwas vor-
geht, das nicht einen, wenn gleich in den nächsten Folgen nicht
bemerkbaren Einfliiss auf die übrigen hätte, ein Resultat der
Wirkungen und Rükwirkungen aller dieser Kräfte zusammen-
genommen ist. Nun sind die Kräfte des Menschen im Ganzen
genommen dieselben, die Nothwendigkeit ihrer Erhaltung bringt
dieselben Bedürfnisse hervor, und aus diesen, wie aus dem ange-
nehmen Gefühl ihrer Befriedigung entspringen ohngefehr dieselben
Neigungen, Begierden und Leidenschaften. Eben so hat auch
die übrige Natur immer und überall im Ganzen einen gleichen
QO 4- t'ber die Gesetze
Vorrath von Mitteln, den Bedürfnissen des Menschen zu genügen.
Wie ihre Natur, so bleibt auch der gegenseitige Einfluss dieser
Eigenschaften sich gleich. So lässt die Gleichförmigkeit der Kräfte,
als der Ursachen, auf eine Gleichförmigkeit der Wirkungen, der
Ereignisse des Menschengeschlechts, schliessen. Eine andre Be-
stätigung dieses Schlusses Hesse sich aus der Geschichte selbst
hernehmen. Allein so wichtig und nothwendig ihr Zeugniss bei
dem ganzen Gegenstande bleibt, den ich behandle; so vermeide
ich doch mit Fleiss, die eigentlichen Beweise in ihr zu suchen,
vorzüglich hier bei der Prüfung der Ausführbarkeit meines Unter-
nehmens, wo es am wichtigsten ist, nicht durch Irrthümer ge-
täuscht zu werden. Denn wenn unsre Geschichte auch einen
grösseren Zeitraum umfasste, wenn ihr Zusammenhang durch
weniger Lükken unterbrochen wäre, und ihre Gewissheit weniger
Zweifel litte, als es überhaupt der Fall ist; so würde es dennoch
immer dem Schlüsse von dem, was geschehen ist, auf das, was
geschehen wird, von dem Gewöhnlichen auf das Nothwendige an
Zuverlässigkeit mangeln. Es musste daher, auch die Schwierigkeit
noch abgerechnet, das Einfache, und Beständige in einer so ver-
wikkelten und wechselnden Masse, als wir durch die Ueberliefe-
rung erhalten, aufzusuchen, auf die Kräfte zurükgegangen werden,
welche eigentlich alle Veränderungen hervorbringen. Wenn wir
nun auf diesem Wege die Wirklichkeit gleichförmiger Geseze in
den menschlichen Begebenheiten entdekt zu haben glauben; so
müssen w^ir jezt, um auch die Möglichkeit zu untersuchen, die
Natur dieser Geseze zu entwikkeln, die einzelnen Kräfte, deren
zusammengesezte Resultate die Begebenheiten sind, von einander
trennen, und sehen, wie weit wir die Eigenthümlichkeiten einer
jeden zu erforschen vermögen. Die Kräfte des Menschen kennen
wir aus unsrem eignen Gefühle, und über das Maass derselben
sowohl, als über ihren wechselseitigen Eintiuss auf einander, und
auf die Natur, die sie umgiebt, haben die Weltweisen aller Zeiten
eine grosse Menge von Beobachtungen gesammelt. Freilich aber
hat man noch, diese einzelnen Kräfte auf die Einzige zurük-
zuführen, von der sie eigentlich nur verschiedene Seiten sind, zu
sehr versäumt, die Entwikkelung einzelner hervorstechender oft
der Entwikklung des ganzen Wesens, in allen Theilen, vorgezogen,
und die Wichtigkeit des Einflusses mancher Ideen, Sensationen,
und Gefühle, gegen den Einfluss andrer, den man über die Ge-
bühr erhöhte, zu sehr verkannt. Indess ist doch hier klar, dass
der EnUvicklung der menschlichen Kräfte. qj
angestrengte, und fortgesezte Beobachtung seiner selbst und andrer
und Vermeidung alles einseitigen und partheiischen Raisonnements,
wenn nicht wirklich zum Ziele, wenigstens demselben immer näher
führen müsse. Die Gattungen der Thiere, das Alaass ihrer Kräfte,
den möglichen Einfluss derselben auf die Menschen, und der
Menschen auf sie kennen wir gleichfalls wenigstens im Ganzen,
und so mangelhaft und dunkel unsre Kenntniss auch ist; so ist
dennoch hier noch einiges Licht, ^'öllig aber verschwindet diess
bei der leblosen Natur. Wohl lehn uns eine lange Erfahrung
ihre Erscheinungen, und — wenigstens bei vielen — eine auf Er-
fahrung und Raisonnement gebaute Wissenschaft ihre nothwendige
oder gewöhnliche Folge. Allein, wenn wir gleich alle Dinge, uns
selbst nicht ausgenommen, nur als Erscheinung und nicht ihrem
Wesen nach kennen, so vermögen wir doch — unsre A'orstellung
sei nun richtig oder nicht — uns gleichsam in die Natur jedes
lebendigen Wesens zu versezen, uns nicht bloss vorzustellen, wie,
es uns erscheint, sondern auch, wie es wohl sich selbst in sich
fühlt. Mit jedem lebendigen Wesen sind wir gleichsam verwandt,
und erv\^arten in ihm nichts, als w^ovon wir wenigstens analoge
Empfindungen haben. Allein mit der ^"orstellung des Lebens ver-
lässt uns jede ^^orstellung des Seins. Wie einem \"olk auf einer
durch weite Meere von andren Nationen geschiedenen Insel ein
Schiff fremder Ankömmlinge schreklich ist, so und schreklicher
sollte uns die leblose Natur sein, jedes Gebirge, das wir vor uns
erblikken, der Fussboden, den wir betreten. Was sichert uns,
dass nicht das Gebürge über uns herstürzt, und der Boden sich
öfnet, und beide uns den Leichnamen zugesellen, aus welchen ihre
Masse besteht? Nur Gewohnheit und Erfahrung einer Lebenszeit
vermag unsre Besorgnisse zu schwächen. Allein so wahr auch
diess im Allgemeinen ist, so dürfen wir auf der andren Seite auch
nicht vergessen, dass wir mit den gewöhnlichen Erscheinungen
auch der leblosen Natur, ihren Wirkungen auf uns, und vielerlei
Mitteln auch an ihr "v'eränderungen herv'orzubringen vertraut sind,
und dass die grösseren nicht im Voraus zu berechnenden Revo-
lutionen, ihre Seltenheit noch abgerechnet, gewöhnlich nur kleinere
Räume treffen. So wie aber hier die Schwierigkeit kleiner er-
scheint, so ist bei denjenigen Veränderungen, welche aus mensch-
lichen Kräften entspringen, im Vorigen eine grössere übersehen
worden. Wie genau und tief man auch in die Natur der mensch-
lichen Kräfte eingedrungen sein mag, so kann und muss selbst
Q2 4- L'ber die Gesetze
ZU dem gegenwärtigen, wie zu jedem wissenschaftlichen Zwekke,
diese Kenntniss nur immer allgemein sein. Nun aber ist jede
menschliche Handlung ein Resultat der ganzen Beschaffenheit der
Kräfte des Handlenden, in ihrer durchaus bestimmten Individuali-
tät, und welche Revolutionen eine einzelne That eines einzelnen
Menschen hervorzubringen vermag, davon ist die ganze Geschichte
ein lebendiges Zeugniss. Hieraus vorzüglich entspringt es, dass
bisher über die gegenwärtige Materie noch eigentlich nichts ge-
sagt ist, das innere Konsequenz hätte, und mit Sicherheit zu irgend
einem Ziele führte. Man hat die Geschichte im Ganzen betrachtet,
und den Zustand des jezigen Jahrhunderts mit dem der vorher-
gehenden verglichen. Natürlich mussten viele wahre und unleug-
bare Vorzüge des ersteren in die Augen fallen, nicht minder
manche scheinbare hinzukommen, so wie sich beinah darthun
lässt, dass jedes Zeitalter, das die Untersuchung anstellt, auch selbst
bei eitelkeitfreier Anspruchlosigkeit sich den Vorzug beimessen
wird. Denn jedes Zeitalter pflegt vorzüglich Eine Seite seiner
Kraft zu üben, in dieser findet es sich natürlich überlegen, und
es wäre nicht auf diese vorzügliche Uebung gerathen, wenn es
nicht zugleich dieser den Preis vor andren zuerkennte. Vor allem
aber konnte niemandem die Menge der Mittel entgehen, die unser
Jahrhundert zur höheren Bildung des Menschen erfand, und die
mannigfaltigen Arten diese Mittel auch wiederum der Nachwelt
zu sichern. Diess bestimmt denn auch gewöhnlich die meisten
für ihre Enkel noch grössere Vollkommenheit und ein höheres
Glük zu hoffen, als sie selbst um sich erblikken. Dagegen wenden
andre die Beispiele aus der Geschichte ein, wo schnelle und grosse
Revolutionen dergleichen Mittel wenn nicht ganz zernichtet,
dennoch der Nachwelt auf lange Zeit hin vorenthalten haben; und
nun beruht der Streit auf Vermuthungen und Wahrscheinlich-
keiten, die jeder leicht seinem Interesse gemäss wenden kann, un-
gerechnet, dass hiebei noch immer unentschieden bleibt, ob nun
auch wirklich die Vollkommenheit und das Glük der Menschen
im Verhältniss der Menge der Mittel — vorzüglich derer, welcher
unser Jahrhundert sich rühmt — wächst, und ob, wenn es eine
Armuth giebt, die jede Kraft niederdrükt, sich nicht auch ein
Reichthum denken lässt, bei dem sie mitten im schwelgenden Ge-
nüsse dahinschwinden? Diess warnende Beispiel lehrt uns daher
einen andren Weg einschlagen; es wird aber nicht uns von dem
ganzen Unternehmen abzuschrekken vermögen. Denn wie ver-
der Entwickluncr der menschlichen Kräfte.
95
schieden in ihren Richtungen, und wie wichtig in ihren Einflüssen
die einzelnen menschlichen Handlungen auch sind, wie unmöglich
es ist, die Geseze zu entdekken, nach welchen auch nur viele der-
selben auf einander folgen ; so halten doch die menschlichen Kräfte
immer einen ihnen eigenthümlichen Gang. Auf einen bestimmten
Grad und eine bestimmte Richtung derselben kann wieder nur
ein andrer gleich bestimmter Grad, und eine andre gleich be-
stimmte Richtung folgen ; und nichts, auch die mächtigste physische
Revolution, vermag diesen Gang zu verändern, sie kann nur ihn
beschleunigen oder zurükhalten. Diesem Raisonnement zufolge
ist daher die abgemessene Entwikklung der menschlichen Ivräfte
allemal das, was die Revolutionen unsres Geschlechts vorzüglich
bestimmt. Viele dieser Revolutionen sind unmittelbare und alleinige
Folgen derselben ; bei den übrigen giebt es wenigstens bestimmte
Schranken, innerhalb welchen jene Kräfte allein von ihnen ver-
ändert werden können. Nun aber ist es gerade die Entwikkelung
dieser Kräfte, die wir am genauesten erforschen können, gerade
ihr Gang, der schon in mannigfaltigen Verhältnissen bekannt ist.
und dessen gänzliche genaue Entdekkung wenn gleich unendlich
schwierig, doch nicht unmöglich erscheint. Die Aufsuchung
derGesezederEntwikklung der menschlichen Kräfte
auf Erden wird demnach den genauer bestimmten Gegenstand
der gegenwärtigen Arbeit ausmachen. Diese Geseze können auf-
gesucht werden bei dem einzelnen Menschen, sobald man ihm
zugleich eine bestimmte Lage auf der Erde anweist; bei ganzen
Nationen, insofern gemeinschaftliche Lage, und verbundenes Leben
eine Gleichförmigkeit ihrer Kräfte hen'orbringt ; endlich bei auf
einander folgenden Meiischengeschlechtern, insofern ihre Wirksam-
keit nicht durch Revolutionen unterbrochen worden , die den
Wirkungen ihrer fortschreitenden Kräfte fremd sind, sowohl den
unmittelbaren, als denjenigen mittelbaren, welche zunächst zwar
aus der physischen Natur entspringen, indess doch nur aus der-
jenigen Form derselben, welche sie selbst von jenen Kräften er-
hielt, insofern also keine nachfolgende Generation etwas andres
erfährt, als was die immer vorhergehende vorbereitete. Nicht
leicht zwar werden sich nun in der wirklichen Welt auch nur
zwei Generationen genau in dieser Lage betinden; genau werden
also auch die auf diesem Wege noch so richtig entdekten Geseze
auf die Wirklichkeit nicht passen, mehr oder weniger möglich
aber wird ihre Anwendung sein, je mehr oder weniger sie dieser
(^\A 4- über die Gesetze
Lage sich nähern. Revolutionen, welche jenen vorhergenannten
Wirkuhgen fremd sind, können entweder bloss ungewöhnliche
physische, oder auch menschliche Unternehmungen und einzelne
Menschen und ganze Völker sein, welche mit denen, auf welche
sie jezt wirken, entweder ausser aller Verbindung standen, oder
deren Art zu sein doch, sei es in minderem oder höherem Grade,
nicht durch die Verhältnisse dieser motivirt war, die also, Theile
einer Reihe für sich, sich in eine andre Reihe mischen. Wenn
man sich überhaupt alle Ereignisse des Menschengeschlechts als
eine Menge einzelner Reihen vorstellt, die sich zwar eine jede aus
sich selbst entwikkeln, allein auch einander mannigfaltig durch-
kreuzen, und sich mit einander verbinden, und durch die Be-
rührung und Verbindung den berührten und verbundenen andre
Modifikationen mittheilen; so lassen sich wohl — wenigstens
scheint der Möglichkeit nichts entgegenzustehen, wenn gleich die
Ausführung selbst mancherlei erschwert — die Geseze cntdekken,
nach welchen die einzelnen Theile einer Reihe auf einander folgen,
und nach welchen eine jede durch die Berührung einer andren
— wofern nur diese gegeben ist — verändert wird, allein uner-
forschbar menschlicher Einsicht möchten wohl die bleiben, nach
welchen das ganze Gewebe sich durch einander verschlingt. Je
mehr also der einzelnen Reihen, desto abgebrochner die An-
wendung der entdekten Geseze, desto ausgebreiteter aber, je mehr
der verbundenen, und so möchten die leztverflossenen Jahr-
hunderte mit Recht eine grössere Aufklärung erwarten, als die
früheren. Da auch die hinterlassenen Werke einer Generation
nicht immer gleich von der nächstfolgenden, oft erst von einer
bei weitem späteren benuzt werden, und oft nicht von dieser
ganzen, nicht einmal von einzelnen ganzen Nationen, sondern nur
einer, oder der andern ihrer Klassen, wenn nicht gar Individuen;
so kann die Reihe, die wir in dem gegenwärtigen Verstände Eine
nennen, nicht immer weder der Zeitfolge nachgehen, sondern
muss oft mehrere Jahrhunderte überspringen, noch den Massen
der einzelnen Nationen, sondern kann oft nur einzelne jMitglieder
derselben berühren, je nachdem nemlich der Einfluss der Fort-
schritte einer Generation diese mit der nächstfolgenden, oder einer
späteren, mit einer ganzen Nation, oder einzelnen Theilen der-
selben verbindet. Denn diese Reihen sind — wie schon der Zu-
sammenhang des Vorigen hinlänglich zeigt — nicht eigentlich Reihen
der Begebenheiten, sondern der physischen, intellektuellen, und
der Entwicklung der menschlichen Kräfte.
95
moralischen Kräfte der, durch den gegenseitigen Einfiüss dieser
Kräfte mit einander verbundenen Generationen; der Begeben-
heiten sind sie es nur insofern, als diese reine Wirkungen jener
Kräfte sind. Die Geseze, deren Aufsuchung uns beschäftigt,
werden demnach eigentlich nur für die Kräfte bestimmt sein,
und auf die Schiksale des Menschengeschlechts überhaupt nur
Anwendung finden i. insofern die Fortschritte einer Generation
rein und ganz auf die folgende übergehen, 2. insofern die Be-
gebenheiten selbst reine Wirkungen jener Kräfte sind. Keine
dieser beiden Bedingungen, am wenigsten beide zugleich treffen
auch nur Einmal in der wirklichen Welt ein; denn alle Kräfte,
folglich auch die uns unerforschbaren, sind in unaufhörlicher
Wirksamkeit, und alles steht wiederum in einem unzertrennbaren
Zusammenhange. Auf jene Schiksale also werden unsre Geseze
nur immer mit sehr grossen Fehlern — obgleich freilich manch-
mal mit minderen — angewendet werden können. Da nun einzelne
Begebenheiten auch den Fortschritten der Kräfte oft sehr uner-
wartete Wendungen geben, und jene Begebenheiten den entdekten
Gesezen nur sehr wenig unterworfen sein dürften; so wird die
Anwendung derselben, auch auf die Kräfte, viele Ausnahmen leiden.
Allein so oft eine solche Begebenheit eintritt, ist die Reihe — in
dem Sinn, in dem oben davon geredet wurde — geendet, und
für Eine Reihe sollte ja das Gesez nur immer gelten; dann kann
aber auch eine solche Begebenheit den Fortschritt der Kräfte nur
immer innerhalb bestimmter Gränzen verändern. Denn selbst
das allmächtige Schiksal vermag mit lebendigen Kräften nicht
nach seinem Gefallen zu walten; die Kräfte widerstreben, und
das Resultat ist allemal aus der Wirkung und Gegenwirkung zu-
sammengesezt. Nun aber gehört die Gegenwirkung zu dem Ge-
biet der uns erforschbaren Dinge. Freilich aber muss man ge-
stehen, dass, wenn man nicht unter den ebengenannten Begeben-
heiten nur die wichtigsten heraushebt, sondern alle dahin rechnet,
die nur überhaupt, wenn gleich in geringerem Grade, Einfiüss
haben, eigentlich keine einzige Reihe der vorhinbeschriebenen Art
vorhanden ist, sondern das Ende der einen immer mit dem An-
fange der andren zusammenfällt. Denn das Zusammenwirken
aller Kräfte ist ja unendlich und unaufhörlich. Auf die wirkliche
Welt dürften daher unsre Geseze ganz und gar keine Anwendung
finden, wobei jedoch auch in Betrachtung kommt, dass unsre
Kenntniss der wirklichen Welt durch eigne und fremde Erfahrung
q5 4. über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte.
ebendenselben, aus der Natur unsrer Seelenkräfte entspringenden
Mangel hat, Individualitäten der Wirklichkeit in Allgemeinheiten
der Ideen zu verwandeln, durch welchen doppelten Fehler wir
zwar keine grössere Richtigkeit, allein doch eine grössere Ueber-
einstimmung erhalten. Wäre diess aber auch nicht, so zerstört
doch der eben gemachte Einwurf unsre Absicht nicht; er leitet
sie vielmehr nur dahin, wo sie allein Nuzen gewähren kann.
Immer nemlich werden wir aus der gegenwärtigen Untersuchung
— insofern sie nur ihren Zwek gehörig erreicht — den Gewinn
ziehen, das Fortschreilen unsrer eignen, sich entwikkelnden Kräfte,
und ihre Verhältnisse zu den Dingen um sie her, wir mögen sie
oder diese Dinge Ursach oder Wirkung nennen, tiefer und voll-
ständiger einzusehen. Diese Einsicht aber muss überhaupt jedem
denkenden Menschen, und vorzüglich demjenigen, der auf andre,
vielleicht auf ganze Nationen wirken will, unendlich wichtig sein.
Denn wenn sie sich auch nicht anmaassen darf, ihnen die Mittel
genau anzuzeigen, welche ihnen die Erreichung ihrer Absichten
sichern; so wird sie sie doch hindern, nach dem Unmöglichen
zu haschen, ihnen Ehrfurcht für dasjenige einflössen, was sie zum
Gegenstande ihrer Thätigkeit machten, und sie vielleicht gar ver-
anlassen, die Zügel aus den Händen zu legen, und selbstthätige
Kräfte der Freiheit zu übergeben, die allein ihrer würdig ist.
Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit
des Staats zu bestimmen.
Le difficile est de ne promulguer que des lois necessaires,
de rester ä jamais fidele ä ce principe vraiment constitii-
tionnel de la societe, de se mettre en garde contre la fureiir
de gouverner, la plus funeste maladie des goiivernemens
modernes.
Mirabeau l'aine, siir l'education publique, p. 6g.^)
Handschrift (außer dem Titelblatt imd 7 Quartseiten Inhalt 268 halb-
beschriebene Quartseiten, von denen S. 75 — 62 fehlen) im Besitz des Herrn Ver-
lagsbuchhändlers Eduard Trewendt in Breslau. — Erster Druck : Ideen zu einem
Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Von Wilhelm
von Humboldt. [Motto aus Mirabeau.] Breslau, Verlag von Eduard Trewendt,
1851. XXVIII und i8g Seiten. Herausgeber war Eduard Cauer. Zur Geschichte
der Wiederauffindung und Herausgabe des Werkes vgl. auch Alexander von
Humboldts Brief an Cauer vom 14. November 18^0 bei Paul Cauer, Staat und
Erziehung S. 8j.
V Diese Schriß Mirabeaus erschien Paris rjgi unter dem Titel: „Travail
sur l'education publique, trouve dans les papiers de Mirabeau l'aine."
W. V. Humboldt, Werke. I. 7
I.
Wenn man die merkwürdigsten Staatsverfassungen mit ein-
ander, und mit ihnen die Meinungen der bewährtesten Philosophen
und Politiker vergleicht; so wundert man sich vielleicht nicht mit
Unrecht, eine Frage so wenig vollständig behandelt, und so wenig
genau beantwortet zu finden, welche doch zuerst die Aufmerksam-
keit an sich zu ziehen scheint, die Frage nemlich: zu welchem
Zwek die ganze Staatseinrichtung hin arbeiten, und welche Schran-
ken sie ihrer Wirksamkeit sezen soll ? Den verschiedenen Antheil,
welcher der Nation, oder einzelnen ihrer Theile, an der Regierung
gebührt, zu bestimmen, die mannigfaltigen Zweige der Staatsver-
waltung gehörig zu vertheilen, und die nöthigen Vorkehrungen
zu treffen, dass nicht ein Theil die Rechte des andren an sich
reisse; damit allein haben sich fast alle beschäftigt, welche selbst
Staaten umgeformt, oder Vorschläge zu politischen Reformationen
gemacht haben. Dennoch müsste man, dünkt mich, bei jeder
neuen Staatseinrichtung zwei Gegenstände vor Augen haben, von
welchen beiden keiner ohne grossen Nachtheil übersehen w^erden
dürfte : einmal die Bestimmung des herrschenden, und dienenden
Theils der Nation, und alles dessen, w^as zur wirklichen Einrichtung
der Regierung gehört, dann die Bestimmung der Gegenstände,
auf welche die einmai eingerichtete Regierung ihre Thätigkeit zu-
gleich ausbreiten, und einschränken muss. Diess Leztere, w^elches
eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift, und das Maass
ihrer freien ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der That
das wahre, lezte ZieV) das erstere nur ein nothwendiges Mittel,
diess zu erreichen. Wenn indess dennoch der Mensch diess
'^) Nach „Ziel" gestrichen : „gleichsam das politische höchste Gut".
7*
jOO 5- Ideen zu einem Versuch
Erstere mit mehr angestrengter Aufmerksamkeit verfolgt; so be-
währt er dadurch den gewöhnlichen Gang seiner Thätigkeit. Nach
Einem Ziele streben, und diess Ziel mit Aufwand physischer und
moralischer Kraft erringen, darauf beruht das Glük des rüstigen,
kraftvollen Menschen. Der Besiz, welcher die angestrengte Kraft
der Ruhe übergiebt, reizt nur in der täuschenden Phantasie. Zwar
existirt in der Lage des Menschen, wo die Kraft immer zur Thätig-
keit gespannt ist, und die Natur um ihn her immer zur Thätigkeit
reizt, Ruhe, und Besiz in diesem Verstände nur in der Idee.
Allein dem einseitigen Menschen ist Ruhe auch Aufhören Einer
Aeusserung, und dem Ungebildeten giebt Ein Gegenstand nur zu
wenigen Aeusserungen Stoft". Was man daher von dem Ueber-
druss am Besize, besonders im Gebiete der feineren Empfindungen,
sagt,^) gilt ganz und gar nicht von dem Ideale des Menschen,
welches die Phantasie zu bilden vermag, im vollesten Sinne von
dem ganz Ungebildeten, und in immer geringerem Grade, je näher
immer höhere Bildung jenem Ideale führt. Wie folglich, nach dem
Obigen, den Eroberer der Sieg höher freut, als das errungene
Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Refor-
mation höher, als der ruhige Genuss ihrer Früchte; so ist dem
Menschen überhaupt Herrschaft reizender, als Freiheit, oder wenig-
stens Sorge für Erhaltung der Freiheit reizender, als Genuss der-
selben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt
mannigfaltigen Thätigkeit; Herrschaft, Regierung überhaupt zwar
eine einzelne, aber wirkliche Thätigkeit. Sehnsucht nach Freiheit
entsteht daher nur zu oft erst aus dem Gefühle des Mangels der-
selben. Uniäugbar bleibt es jedoch immer, dass die Untersuchung
des Zweks und der Schranken der Wirksamkeit des Staats eine
grosse Wichtigkeit hat, und vielleicht eine grössere, als irgend eine
andre politische. Dass sie allein gleichsam den leztcn Zwek aller
Politik betrift, ist schon eben bemerkt worden. Allein sie erlaubt
auch eine leichtere und mehr ausgebreitete Anwendung. Eigent-
liche Staatsrevolutionen, andre Einrichtungen der Regierung sind
V Vgl. das berühmte Wort Lessings in der Diiplik: „Nicht die Wahrheit,
in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die auf-
richtige Mühe, die er angewant hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den
Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nach-
forschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer
wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz"
(Sämmtliche Schriften ij, 2^).
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. I. iqj
nie ohne die Konkurrenz vieler, oft sehr zufälliger Umstände
möglich, und führen immer mannigfaltig nachtheilige Folgen mit
sich. Hingegen die Gränzen der Wirksamkeit mehr ausdehnen,
oder einschränken kann jeder Regent — sei es in demokratischen,
aristokratischen, oder monarchischen Staaten — still und unbe-
merkt, und er erreicht vielmehr seinen Endzwek nur um so
sicherer, je mehr er auffallende Neuheit vermeidet. Die besten
menschlichen Operationen sind diejenigen, welche die Operationen
der Natur am getreuesten nachahmen. Nun aber bringt der Keim,
welchen die Erde still und unbemerkt empfängt, einen reicheren
und holderen Segen, als der gewiss nothwendige, aber immer auch
mit Verderben begleitete Ausbruch tobender ^^ulkane. Auch ist
keine andre Art der Reform unsrem Zeitalter so angemessen,
wenn sich dasselbe wirklich mit Recht eines Vorzugs an Kultur
und Aufklärung ^) rühmt. Denn die wichtige Untersuchung der
Grenzen der Wirksamkeit des Staats muss — wie sich leicht vor-
aussehen lässt — auf höhere Freiheit der Kräfte, und grössere
Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun aber erfordert die
Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich
hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfniss, gleichsam
in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine grössere
Stärke und einen mannigfaltigeren Reichthum der handlenden
Individuen. Besizt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug
an dieser Bildung, dieser Stärke, und diesem Reichthum, so muss
man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit
Recht Anspruch macht. Ebenso sind die Mittel, durch welche
die Reform zu bewirken stände, einer fortschreitenden Bildung,
wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener. Wenn
sonst das gezükte Schwerdt der Nation die physische Macht des
Beherrschers beschränkt; so besiegt hier Aufklärung und Kultur
seine Ideen, und seinen Willen, und die umgeformte Gestalt der
Dinge scheint mehr sein Werk, als das Werk der Nation
zu sein. Wenn es nun schon ein schöner, seelenerhebender An-
blik ist, ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen
und Bürgerrechte seine Fesseln zerbricht; so muss — weil, was
Neigung oder Achtung für das Gesez wirkt, schöner und er-
hebender ist, als was Noth und Bedürfniss erpresst — der Anblik
V Den Unterschied beider Begriffe behandelt ausführlich Mendelssohns Auf-
satz „ Über die Frage : was heisst aufklären ?" (Gesammelte Schrißen ^, jgg).
IQ2 5- Ideen zu einem Versuch
eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst
die Fesseln löst und Freiheit gewährt, und diess Geschäft nicht
als Frucht seiner wohlthätigen Güte, sondern als Erfüllung seiner
ersten, unerlasslichen Pflicht betrachtet. Zumal da die Freiheit,
nach welcher eine Nation durch Veränderung ihrer Verfassung
strebt, sich zu der Freiheit, welche der einmal eingerichtete Staat
geben kann, eben so verhält, als Hofnung zum Genuss, Anlage
zur Vollendung.
Wirft man einen Blik auf die Geschichte der Staatsverfassungen;
so würde es sehr schwierig sein, in irgend einer genau den Um-
fang zu zeigen, auf welchen sich ihre Wirksamkeit beschränkt, da
man wohl in keiner hierin einem überdachten, auf einfachen
Grundsäzen beruhenden Plane gefolgt ist. Vorzüglich hat man
immer die Freiheit der Bürger aus einem zwiefachen Gesichts-
punkte eingeengt, einmal aus dem Gesichtspunkte der Nothwendig-
keit, die Verfassung entweder einzurichten, oder zu sichern ; dann
aus dem Gesichtspunkte der Nüzlichkeit, für den ph3^sischen, oder
moralischen Zustand der Nation Sorge zu tragen. Je mehr oder
weniger die Verfassung, an und für sich mit Macht versehen,
andre Stüzen brauchte ; oder je mehr oder weniger die Gesezgeber
weit ausblikten, ist man bald mehr bei dem einen, bald bei dem
andren Gesichtspunkte stehen geblieben. Oft haben auch beide
Rüksichten vereint gewürkt. In den älteren Staaten sind fast alle
Einrichtungen, welche auf das Privatleben der Bürger Bezug haben,
im eigentlichsten Verstände politisch. Denn da die Verfassung in
ihnen wenig eigentliche Gewalt besass, so beruhte ihre Dauer vor-
züglich auf dem Willen der Nation, und es musste auf mannig-
faltige Mittel gedacht werden, ihren Charakter mit diesem Willen
übereinstimmend zu machen. Eben diess ist noch jezt in kleinen
republikanischen Staaten der Fall, und es ist daher völlig richtig,
dass — aus diesem Gesichtspunkt allein die Sache betrachtet —
die Freiheit des Privatlebens immer in eben dem Grade steigt, in
welchem die öffentliche sinkt, da hingegen die Sicherheit immer
mit dieser gleichen Schritt hält. Oft aber sorgten auch die älteren
Gesezgeber, und immer die alten Philosophen im eigentlichsten
Verstände für den Menschen, und da am Menschen der moralische
Werth ihnen das höchste schien, so ist z. B. Piatos Republik,
nach Rousseaus äusserst wahrer Bemerkung, mehr eine Erziehungs-
ais eine Staatsschrift.^) Vergleicht man hiermit die neuesten
V Die Stelle findet sich im ersten Buch des Einil: „Voulez-vous prendre une
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. I.
103
Staaten, so ist die Absicht, für den Bürger selbst und sein Wohl
zu arbeiten, bei so vielen Gesezen und Einrichtungen, die dem
Privatleben eine oft sehr bestimmte Form geben, unverkennbar.
Die grössere innere Festigkeit unsrer Verfassungen, ihre grössere
Unabhängigkeit von einer gewissen Stimmung des Charakters der
Nation, dann der stärkere Einfluss bloss denkender Köpfe — die,
ihrer Natur nach, weitere und grössere Gesichtspunkte zu fassen
im Stande sind — eine Menge von Erfindungen, welche die ge-
wöhnlichen Gegenstände der Thätigkeit der Nation besser be-
arbeiten oder benuzen lehren, endlich und vor allem gewisse
Religionsbegriffe, welche den Regenten auch für das moralische
und künftige Wohl der Bürger gleichsam verantwortlich machen,
haben vereint dazu beigetragen, diese Veränderung hers'orzubringen.
Geht man aber der Geschichte einzelner Polizei-Geseze und Ein-
richtungen nach, so rindet man oft ihren Ursprung in dem bald
wirklichen, bald angeblichen Bedürfniss des Staats, Abgaben von
den Unterthanen aufzubringen, und insofern kehrt die Aehnlich-
keit mit den älteren Staaten zurük, indem insofern diese Ein-
richtungen gleichfalls auf die Erhaltung der Verfassung abzwekken.
Was aber diejenigen Einschränkungen betrift, welche nicht sowohl
den Staat, als die Individuen, die ihn ausmachen, zur Absicht
haben; so ist und bleibt ein mächtiger Unterschied zwischen den
älteren und neueren Staaten. Die Alten sorgten für die Kraft
und Bildung des Menschen, als Menschen; die Neueren für seinen
Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbfähigkeit. Die Alten
suchten Tugend, die Neueren Glükseligkeit. Daher waren die
Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen
Seite drükkender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an,
was des Menschen eigenthümliches Wesen ausmacht, sein inneres
Dasein; und daher zeigen alle ältere Nationen eine Einseitigkeit,
welche (den Mangel an feinerer Kultur, und an allgemeinerer
Kommunikation noch abgerechnet) grossentheils durch die fast
überall eingeführte gemeinschaftliche Erziehung, und das absicht-
lich eingerichtete gemeinschaftliche Leben der Bürger überhaupt
hervorgebracht und genährt wurde. Auf der andren Seite er-
hielten und erhöheten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei
idee de l'education publique? Lisez la rcpublique de Piaton. Ce n'est point un ouvrage
de politique, comme le pensent ceux, qui ne jugent des livres que par leurs titres.
C'est le plus beau traite d'education, qu'on ait jamais fait."
104
Ideen zu einem Versuch
den Alten die thätige Kraft des Menschen. Selbst der Gesichts-
punkt, den man nie aus den Augen verlor, kraftvolle und genüg-
same Bürger zu bilden, gab dem Geiste und dem Charakter einen
höheren Schwung. Dagegen wird 2war bei uns der Mensch selbst
unmittelbar weniger beschränkt, als vielmehr die Dinge um ihn
her eine einengende Form erhalten, und es scheint daher möglich,
den Kampf gegen diese äusseren Fesseln mit innerer Kraft zu be-
ginnen. Allein schon die Natur der Freiheitsbeschränkungen unsrer
Staaten, dass ihre Absicht bei weitem mehr auf das geht, was der
Mensch besizt, als auf das, was er ist, und dass selbst in diesem
Fall sie nicht — wie die Alten — die physische, intellektuelle und
moralische Kraft nur, wenn gleich einseitig, üben, sondern viel-
mehr ihr bestimmende Ideen, als Geseze, aufdringen, unterdrükt
die Energie, welche gleichsam die Quelle jeder thätigen Tugend,
und die nothwendige Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren
Ausbildung ist. Wenn also bei den älteren Nationen grössere
Kraft für die Einseitigkeit schadlos hielt; so wird in den neueren
der Nachtheil der geringeren Kraft noch durch Einseitigkeit erhöht.
Ueberhaupt ist dieser Unterschied z-vsdschen den Alten und Neueren
überall unverkennbar. Wenn in den lezteren Jahrhunderten die
SchnelHgkeit der gemachten Fortschritte, die Menge und iVus-
breitung künstlicher Erfindungen, die Grösse der gegründeten
Werke am meisten unsre Aufmerksamkeit an sich zieht ; so fesselt
uns in dem Alterthum vor allem die Grösse, welche immer mit
dem Leben Eines Menschen dahin ist, die Blüthe der Phantasie,
die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des
ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Werth giebt.
Der Mensch und zwar seine Kraft und seine Bildung war es,
welche jede Thätigkeit rege machte ; bei uns ist es nur zu oft ein
ideelles Ganze, bei dem man die Individuen beinah zu vergessen
scheint, oder wenigstens nicht ihr inneres Wesen, sondern ihre
Ruhe, ihr Wohlstand, ihre Glükseligkeit. Die Alten suchten die
Glükseligkeit in der Tugend, die Neueren sind nur zu lange diese
aus jener zu entwikkeln bemüht gewesen;*) und der selbst,**)
*) Nie ist dieser Unterschied auffallender, als wenn alte Philosophen von neueren
beurtheilt werden. Ich führe, als ein Beispiel eine Stelle Tiedemanns über eins der
schönsten Stükke aus Piatos Republik an : Qiianqiiam autem per se sit iustitia grata
nobis: tarnen si exercitium eins nullam oninino afferret utilitatem, si iusto ea
omnia essent patienda, quae fratres comniemorant ; iniustitia iustitiae foret prae-
ferenda; quae enini ad felicitatem maxime faciunt nostram, sunt absque dubio
die Grenzen der Wirksamkeil des Staats zu bestimmen. I. jQr
welcher die Moralität in ihrer höchsten Reinheit sah und darstellte,
glaubt, durch eine sehr künstliche Maschinerie seinem Ideal des
Menschen die Glükseligkeit, warlich mehr, wie eine fremde Be-
lohnung, als wie ein eigen errungenes Gut, zuführen zu müssen.
Ich verliere kein Wort über diese Verschiedenheit. Ich schliesse
nur mit einer Stelle aus Aristoteles Ethik: „Was einem Jeden,
seiner Natur nach, eigenthümlich ist, ist ihm das Beste und Süsseste.
Daher auch den Menschen das Leben nach der \'ernunft, wenn
nemlich darin am meisten der Mensch besteht, am meisten be-
seligt." *)
Schon mehr, als Einmal ist unter den StaatsRechtsLehrern
gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit, oder überhaupt
das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichten
müsse? Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens hat vorzüglich
auf die erstere Behauptung geführt; indess die natürliche Idee,
dass der Staat mehr, als allein Sicherheit gewähren könne, und
ein Misbrauch in der Beschränkung der Freiheit wohl möglich,
aber nicht nothwendig sei, der lezteren das Wort redeten. Auch
ist diese unläugbar sowohl in der Theorie, als in der Ausführung
die herrschende. Diess zeigen die meisten S^^steme des Staats-
rechts, die neueren philosophischen Gesezbücher, und die Ge-
schichte der Verordnungen der meisten Staaten. Akkerbau, Hand-
werke, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaften
selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Nach diesen
Grundsäzen hat das Studium der Staatswissenschaften eine ver-
änderte Gestalt erhalten, wie Kameral- und Polizeiwissenschaft
aliis praeponenda. Jam cQ-i-poris criiciatus, omniiini reruiii inopia, fames, infamia,
quaeque alia euenire iusto fratres dixerunt, animi illam e iiistüia manantem vo-
luptatem dubio procul longe superant, essetque adeo iniustitia iustitiae antehabenda
et in virtiitum nutnero collocanda. Tiedemann in argumentis dialogorum Piatonis.
Ad l. 2. de republica. 'j
**) Kant über das höchste Gut in den Anfangsgründen der Metaphysik der Sitten,
und in der Kritik der praktischen Vernunft. '-)
*) To oiy.siov ey.aaxco tj; ^vaei, y.QaTiaxoi' y.cu r)öiaToi-' tad'^ iy.aazcp' y.uc toj
av&QcoTco) Srj 6 y.ura tov vovv ßios^ sirce^ fia).iara rovro ard'pojTTOi, ovtos uoa y.ai
svSatftovtaTUTos. Aristotelis Ild'ixfov Niyofta/^. l. X. c. 7. in ßn. ^)
^J Tiedemanns „Dialogorum Piatonis argumenta exposita et illustrata" erschienen
Zweibrücken ij86; die Stelle findet sich S. lyg.
-) Vgl. die zusammenfassende Darlegimg bei Fischer, Geschichte der neueren
Philosophie 5*, 114.
V Die Stelle steht S. ii-jSa.
I0() 5- Ideen zu einem Versuch
z. B. beweisen, nach diesen sind völlig neue Zweige der Staats-
verwaltung entstanden, Kameral- Manufaktur- und Finanz-Kollegia.
So allgemein indess auch dieses Princip sein mag; so verdient es,
dünkt mich, doch noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese
Prü[fung] ....'}
11/-')
Der wahre Zwek des Menschen — nicht der, welchen die
wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche
Vernunft ihm vorschreibt — ist die höchste und proportionirlichste
Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist
Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der
Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch
etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannig-
faltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste
Mensch, in einförmige Lagen versezt, bildet sich minder aus.
Zwar ist nun einestheils diese Mannigfaltigkeit allemal Folge der
Freiheit, und anderntheils giebt es auch eine Art der Unter-
drükkung, die, statt den Menschen einzuschränken, den Dingen
um ihn her eine beliebige Gestalt giebt, so dass beide gewisser-
maassen Eins und dasselbe sind. Indess ist es der Klarheit der
Ideen dennoch angemessener, beide noch von einander zu trennen.
Jeder Mensch vermag auf Einmal nur mit Einer Kraft zu wirken,
oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf Einmal nur zu Einer
Thätigkeit gestimmt. Daher scheint der Mensch zur Einseitigkeit
bestimmt, indem er seine Energie schwächt, sobald er sich auf
mehrere Gegenstände verbreitet. Allein dieser Einseitigkeit ent-
geht er, wenn er die einzelnen, oft einzeln geübten Kräfte zu ver-
einen, den beinah schon verloschnen wie den erst künftig hell
aufflammenden Funken in jeder Periode seines Lebens zugleich
mitwirken zu lassen, und statt der Gegenstände, auf die er wirkt.
V Der Schluß dieses ersten Kapitels, das ganze zweite und die vordere
Hälfte des dritten fehlen in der Handschrift; die hierdurch entstandene Lücke
wird durch den Druck in der Thalia leider nicht vollständig ausgefüllt, wie die
Inhaltsübersicht am Ende des Werkes beweist.
-J Erster Druck dieses und der vorderen Hälfte des folgenden Kapitels:
Schillers Neue Thalia 2, iji — i6g(i']g2). Der Aufsatz hat dort die Überschrift:
„Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger er-
strecken ?" Am Schluß steht die Bemerkung : „Die Fortsetzung folgt.'''
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. I. II. jq—
die Kräfte, womit er wirkt, durch ^^e^bindung zu ven-ielfältigen
strebt. Was hier gleichsam die Verknüpfung der Vergangenheit
und der Zukunft mit der Gegenwart wirkt, das wirkt in der Ge-
sellschaft die Verbindung mit andren. Denn auch durch alle
Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur Eine der
Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen
Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus
dem Innren der Wesen entspringen, muss einer den Reichthum
des andren sich eigen machen. Eine solche charakterbildende
Verbindung ist, nach der Erfahrung aller, auch sogar der rohesten
Nationen, z. B. die ^^erbindung der beiden Geschlechter. Allein
wenn hier der Ausdruk, sowohl der Verschiedenheit, als der Sehn-
sucht nach der Vereinigung gewissermaassen stärker ist; so ist
beides darum nicht minder stark, nur schwerer bemerkbar, ob-
gleich eben darum auch mächtiger wirkend, auch ohne alle Rük-
sicht auf jene Verschiedenheit, und unter Personen desselben Ge-
schlechts. Diese Ideen, weiter verfolgt und genauer entwikkelt,
dürften vielleicht auf eine richtigere Erklärung des Phänomens
der A^rbindungen führen, welche bei den Alten, vorzüglich den
Griechen, selbst die Gesezgeber benuzten, und die man oft zu
unedel mit dem Namen der gewöhnlichen Liebe, und immer un-
richtig mit dem Namen der blossen Freundschaft belegt hat. Der
bildende Nuzen solcher Verbindungen beruht immer auf dem
Grade, in welchem sich die Selbstständigkeit der \'erbundenen zu-
gleich mit der Innigkeit der \>rbindung erhält. Denn wenn ohne
diese Innigkeit der eine den andren nicht genug aufzufassen ver-
mag; so ist die Selbstständigkeit nothwendig, um das Aufgefasste
gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln. Beides aber er-
fordert Kraft der Individuen, und eine A^rschiedenheit, die, nicht
zu gross, damit einer den andren aufzufassen vermöge, auch nicht
zu klein ist. um einige Bewundrung dessen, was der andre besizt,
und den \\'unsch rege zu machen, es auch in sich überzutragen.
Diese Kraft nun und diese mannigfaltige \'erschiedenheit vereinen
sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse
des Menschen zulezt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig
ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken will,
nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft
und der Bildung. Wie diese Eigenthümlichkeit durch Freiheit des
Handlens und Mannigfaltigkeit der Handlenden gewirkt wird; so
bringt sie beides wiederum hervor. Selbst die leblose Natur,
108 5. Ideen zu einem Versuch
welche nach ewig unveränderlichen Gesezen einen immer gleich-
massigen Schritt hält, erscheint dem eigengebildeten Menschen
eigenthümlicher. Er trägt gleichsam sich selbst in sie hinüber,
und so ist es im höchsten Verstände wahr, dass jeder immer in
eben dem Grade Fülle und Schönheit ausser sich wahrnimmt, in
welchem er beide im eignen Busen bewahrt. Wieviel ähnlicher
aber noch muss die Wirkung der Ursache da sein, wo der Mensch
nicht bloss empfindet und äussere Eindrükke auffasst, sondern selbst
thätig wird?
A^ersucht man es, diese Ideen, durch nähere Anwendungen
auf den einzelnen Menschen, noch genauer zu prüfen ; so reducirt
sich in diesem alles auf Form und Materie. Die reinste Form
mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee, die am wenigsten mit
Gestalt begabte Materie sinnliche Empfindung. Aus der Verbin-
dung der Materie geht die Form hervor. Je grösser die Fülle
und Mannigfaltigkeit der Materie, je erhabener die Form. Ein
Götterkind ist nur die Frucht unsterblicher Eltern. Die Form
wird wiederum gleichsam Materie einer noch schöneren Form.
So wird die Blüthe zur Frucht, und aus dem Saamenkorn der
Frucht entspringt der neue, von neuem blüthenreiche Stamm. Je
mehr die Mannigfaltigkeit zugleich mit der Feinheit der Materie
zunimmt, desto höher die Kraft, denn desto inniger der Zusammen-
hang. Die Form scheint gleichsam in die Materie, die Materie in
die Form ^) verschmolzen; oder, um ohne Bild zu reden, je ideen-
reicher die Gefühle des Menschen, und je gefühlvoller seine Ideen,
desto unerreichbarer seine Erhabenheit. Denn auf diesem ewigen
Begatten der Form und der Materie, oder des Mannigfaltigen mit
der Einheit beruht die Verschmelzung der beiden im Menschen
vereinten Naturen, und auf dieser seine Grösse. Aber die Stärke
der Begattung hängt von der Stärke der Begattenden ab. Der
höchste Moment des Menschen ist dieser Moment der Blüthe.*)
Die minder reizende, einfache Gestalt der Frucht weist gleichsam
selbst auf die Schönheit der Blüthe hin, die sich durch sie ent-
falten soll. Auch eilt nur alles der Blüthe zu. Was zuerst dem
Saamenkorn entspriesst, ist noch fern von ihrem Reiz. Der volle
*) Blüthe, Keife. Neues deutsches Museum, 1791. Junius, nr. 3.^)
V Der erste Druck hat „in die Materie die Form".
^J Im ersten Druck steht „22, j", was verlesen sein muß; ich gebe mit
Vorbehalt obigen Bessenmgsversuch. Der Verfasser des anonymen Aufsatzes
im Neuen deutschen Museum 4, §ji ist unbekannt.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. II.
loq
dikke Stengel, die breiten, aus einander fallenden Blätter bedürfen
noch einer mehr vollendeten Bildung. Stufenweise steigt diese,
wie sich das Auge am Stamme erhebt ; zartere Blätter sehnen sich
gleichsam, sich zu vereinigen, und schliessen sich enger und enger,
bis der Kelch das Verlangen zu stillen scheint.*) Indess ist das
Geschlecht der Pflanzen nicht von dem Schiksal gesegnet. Die
Blüthe fällt ab, und die Frucht bringt wieder den gleich rohen,
und gleich sich verfeinernden Stamm hervor. Wenn im Menschen
die Blüthe welkt; so macht sie nur jener schöneren Plaz, und
den Zauber der schönsten birgt unsrem Auge erst die ewig un-
erforschbare Unendlichkeit. Was nun der Mensch von aussen
empfängt, ist nur Saamenkorn. Seine energische Thätigkeit
muss es, seis auch das schönste, erst auch zum seegenvollsten
für ihn machen. Aber wohlthätiger ist es ihm immer in
dem Grade, in welchem es kraftvoll, und eigen in sich ist.
Das höchste Ideal des Zusammenexistirens menschlicher Wesen
wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst, und um
seiner selbst willen sich entwikkelte. Ph3'sische und moralische
Natur wöirden diese Menschen schon noch an einander führen,
und wie die Kämpfe des Kriegs ehrenvoller sind, als die der Arena,
wie die Kämpfe erbitterter Bürger höheren Ruhm gewähren, als
die getriebener Miethsoldaten ; so würde auch das Ringen der Kräfte
dieser Menschen die höchste Energie zugleich beweisen und er-
zeugen.
Ist es nicht eben das, was uns an die Zeitalter Griechenlands
und Roms, und jedes Zeitalter allgemein an ein entfernteres, hin-
geschwundnes so namenlos fesselt.^ Ist es nicht vorzüglich, dass
diese Menschen härtere Kämpfe mit dem Schiksal, härtere mit
Menschen zu bestehen hatten.' dass die grössere ursprüngliche
Kraft und Eigenthümlichkeit einander begegnete, und neue wunder-
bare Gestalten schuf.' Jedes folgende Zeitalter — und in wieviel
schnelleren Graden muss diess Verhältniss von jezt an steigen } —
muss den vorigen aii Mannigfaltigkeit nachstehen, an Mannigfaltig-
keit der Xatur — die ungeheuren Wälder sind ausgehauen, die
Moräste getroknet u. s. f. — an Mannigfaltigkeit der Menschen,
durch die immer grössere Mittheilung und ^>reinigung der
*) Göthe, über die Metamorphose der Pflanzen. ^J
V Die Schriß war Gotha lygo erschienen; vgl. Goethes Naturwissenschaft-
liche Schriften 6, 2j %veimarische Ausgabe.
j fO 5- Ideen zu einem Versuch
menschlichen Werke durch die beiden vorigen Gründe.*) Diess
ist eine der vorzüglichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen,
Ungewöhnlichen, Wunderbaren so viel seltner, das Staunen, Er-
schrekken beinah zur Schande, und die Erfindung neuer, noch
unbekannter Hülfsmittel, selbst nur plözliche, unvorbereitete und
dringende Entschlüsse bei weitem seltner nothwendig macht.
Denn theils ist das Andringen der äusseren Umstände gegen den
Menschen, welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen,
versehen ist, minder gross; theils ist es nicht mehr gleich mög-
lich, ihnen allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten,
welche die Natur jedem giebt, und die er nur zu benuzen braucht:
theils endlich macht das ausgebreitetere ^) Wissen das Erfinden
weniger nothwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft da-
zu ab. Dagegen ist es unläugbar, dass, wenn die physische
Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und be-
friedigendere intellektuelle und moralische an ihre Stelle trat, und
dass Gradationen und Verschiedenheiten von unsrem mehr ver-
feinten Geiste wahrgenommen, und unsrem, wenn gleich nicht
eben so stark gebildeten, doch reizbaren kultivirten Charakter ins
praktische Leben übergetragen werden, die auch vielleicht den
Weisen des Alterthums, oder doch wenigstens nur ihnen nicht
unbemerkt geblieben wären. Es ist im ganzen Menschengeschlecht,
wie im einzelnen Menschen gegangen. Das Gröbere ist abgefallen,
das Feinere ist geblieben. Und so wäre es ohne allen Zweifel
seegenvoll, wenn das Menschengeschlecht Ein Mensch wäre, oder
die Kraft eines Zeitalters ebenso, als seine Bücher, oder Erfindungen
auf das folgende übergienge. Allein diess ist bei weitem der Fall
nicht. Freilich besizt nun auch unsre Verfeinerung eine Kraft,
und die vielleicht jene gerade um den Grad ihrer Feinheit an
Stärke übertrift; aber es fragt sich, ob nicht die frühere Bildung
durch das Gröbere immer vorangehen muss? Ueberall ist doch
*) Eben diess bemerkt einmal Rousseau im Emil.^j
V Der erste Druck hat „aiisgearbeitetere" ; vgl. auch oben S. 2 Amn. i.
^) Im fünflen Buch zu Anfang des Kapitels über das Reisen: „A mesure
que les races se melent et que les peuples se confondent, on voit peu a peu disparaitre
ces differences nationales, qui frappaient jadis au premier coup d'oeil .... que tout
cela ne peut se marquer de nos jours, oü rinconstance europeenne ne laisse ä nulle
cause naturelle le temps de faire ses impressions et oü les forets abattues, les marais
desseches, la terre plus uniformement, quoique plus mal cultivee ne laissent plus, meme
au physique, la meme difference de terre ä terre et de pays ä pays."
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. II. III. m
die Sinnlichkeit der erste Keim, wie der lebendigste Ausdruk alles
Geistigen. Und wenn es auch nicht hier der Ort ist, selbst nur
den Versuch dieser Erönerung zu wagen; so folgt doch gewiss
soviel aus dem Vorigen, dass man wenigstens diejenige Eigen-
thümlichkeit und Kraft, nebst allen Nahrungsmitteln derselben,
welche wir noch besizen, sorgfältigst bewachen müsse.
Bewiesen halte ich demnach durch das Vorige, dass die
wahre Vernunft dem Menschen keinen andren Zu-
stand, als einen solchen wünschen kann, in welchem
nichtnurjederEinzelnederungebundensten Freiheit
geniesst, sich aus sich selbst, in seiner Eigenthüm-
lichkeit, zu entwikkeln, sondern in welchem auch die
physische Natur keine andre Gestalt von Menschen-
händen empfängt, als ihr jeder Einzelne, nach dem
Maasse seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur
beschränkt durch die Gränzen seiner Kraft und seines
Rechts, selbst und willkührlich giebt. Von diesem
Grundsaz darf, meines Erachtens, die Vernunft nie mehr nach-
geben, als zu seiner eignen Erhaltung selbst nothwendig ist. Er
musste daher auch jeder Politik, und besonders der Beantwortung
der Frage, von der hier die Rede ist, immer zum Grunde liegen.
III.
In einer völlig allgemeinen Formel ausgedrukt, könnte man
den wahren Umfang der V\"irksamkeit des Staats alles dasjenige
nennen, w^as er zum Wohl der Gesellschaft zu thun vermöchte,
ohne jenen eben^) ausgeführten Grundsaz zu verlezen; und es
würde sich unmittelbar hieraus auch die nähere Bestimmung er-
geben, dass jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die
Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo
dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte
des einen durch den andren haben. Indess ist es doch, um die
vorgelegte Frage ganz zu erschöpfen, nothwendig, die einzelnen
Theile der gewöhnlichen oder möglichen Wirksamkeit der Staaten
genau durchzugehen.
Der Zwek des Staats kann nemlich ein doppelter sein; er
kann Glük befördern, oder nur Uebel verhindern wollen, und im
lezteren Fall Uebel der Natur oder Uebel der Menschen. Schränkt
^) Der erste Druck hat „oben".
IJ2 5- Ideen zu einem Versuch
er sich auf das leztere ein, so sucht er nur Sicherheit, und diese
Sicherheit sei es mir erlaubt, einmal allen übrigen möglichen
Zwekken, unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint,
entgegenzusezen. Auch die Verschiedenheit der vom Staat an-
gewendeten Mittel giebt seiner Wirksamkeit eine verschiedene
Ausdehnung. Er sucht nemlich seinen Zwek entweder unmittel-
bar zu erreichen, seis durch Zwang — befehlende und verbietende
Geseze, Strafen — oder durch Ermunterung und Beispiel; oder
mittelbar,^) indem er entweder der Lage der Bürger eine dem-
selben günstige Gestalt giebt, und sie gleichsam anders zu handien
hindert, oder endlich, indem er sogar ihre Neigung mit
demselben übereinstimmend zu machen, auf ihren Kopf oder
ihr Herz zu wirken strebt. Im ersten Falle bestimmt er zunächst
nur einzelne Handlungen; im zweiten schon mehr die ganze Hand-
lungsweise; und im dritten endlich Charakter und Denkungsart.
Auch ist die Wirkung der Einschränkung im ersten Falle am
kleinsten, im zweiten grösser, im dritten am grossesten, theils
weil auf Quellen gewirkt wird, aus welchen mehrere Handlungen
entspringen, theils weil die Möglichkeit der Wirkung selbst mehrere
Veranstaltungen erfordert. So verschieden indess hier gleichsam
die Zweige der Wirksamkeit des Staats scheinen, so giebt es
schwerlich eine Staatseinrichtung, welche nicht zu mehreren zu-
gleich gehörte, da z. B. Sicherheit und Wohlstand so sehr von
einander abhängen, und was auch nur einzelne Handlungen be-
stimmt, wenn es durch öftere Wiederkehr Gewohnheit her^'or-
bringt, auf den Charakter wirkt. Es ist daher sehr schwierig, hier
eine, dem Gange der Untersuchung angemessene Eintheilung des
Ganzen zu finden. Am besten wird es indess sein, zuvörderst zu
prüfen, ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation,
oder bloss ihre Sicherheit abzwekken soll, bei allen Einrichtungen
nur auf das zu sehen, was sie hauptsächlich zum Gegenstande,
oder zur Folge haben, und bei jedem beider Zwekke zugleich
die Mittel zu prüfen, deren der Staat sich bedienen darf.
Ich rede daher hier von dem ganzen Bemühen des Staats,
den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorg-
falt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Flinwohner,
theils geradezu durch Armenanstalten, theils mittelbar durch Be-
förderung des Akkerbaues, der Industrie und des Handels, von
V Dej- erste Druck hat sinnlos „ruh allen".
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III.
11
allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhrverboten
u. s. f. (insofern sie diesen Zwek haben), endlich allen Veranstal-
tungen zu Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch
die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das
physische Wohl der Nation zu erhalten, oder zu befördern die
Absicht hat. Denn da das moralische^) nicht leicht um seiner
selbst willen, sondern mehr zum Behuf der Sicherheit befördert
wird, so komme ich zu diesem erst in der Folge.
Alle diese Einrichtungen nun, behaupte ich, haben nach-
theilige Folgen, und sind einer wahren, von den höchsten, aber
immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unan-
gemessen.
I. Der Geist der Regierung herrscht in einer jeden solchen
Einrichtung, und wie weise und heilsam auch dieser Geist sei, so
bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise in der
Nation hen-or. Statt dass die Menschen in Gesellschaft treten,
um ihre Ivräfte zu schärfen, sollten sie auch dadurch an aus-
schliessendem Besiz und Genuss verlieren; so erlangen sie Güter
auf Kosten ihrer Kräfte. Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer
entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Ge-
sellschaft giebt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiss immer in
dem Grade der Einmischung des Staats verloren. Es sind nicht
mehr eigentlich die Mitglieder einer Nation, die mit sich in Ge-
meinschaft leben, sondern einzelne Unterthanen, welche mit dem
Staat, d. h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in
Verhältniss kommen, und zwar in ein Verhältniss, in welchem
schon die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte
hemmt. Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen.
Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloss
alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. Auch ist diess ge-
rade die Absicht der Staaten. Sie wollen Wohlstand und Ruhe.
Beide aber erhält man immer in eben dem Grade leicht, in welchem
das Einzelne weniger mit einander streitet. iVllein was der ^lensch
beabsichtet und beabsichten muss, ist ganz etwas andres, es ist
Mannigfaltigkeit und Thätigkeit. Nur diess giebt vielseitige und
kraft\'olle Charaktere, und gewiss ist noch kein Mensch tief genug
gesunken, um für sich selbst Wohlstand und Glük der Grösse
vorzuziehen. Wer aber für andre so raisonnirt, den hat man, und
V Der erste Druck hat „Moralische".
W. V. Humboldt, Werke. I.
l\A 5- Ideen zu einem Versuch
nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit miskennt,
und aus Menschen Maschinen machen will.
2. Das wäre also die zweite schädliche Folge, dass diese Ein-
richtungen des Staats die Kraft der Nation schwächen. So wie
durch die Form, welche aus der selbstthätigen Materie hervor-
geht, die Materie selbst mehr Fülle und Schönheit erhält — denn
was ist sie anders, als die Verbindung dessen, was erst stritt ? eine
Verbindung, zu welcher allemal die Auffindung neuer Vereinigungs-
punkte, folglich gleichsam eine Menge neuer Entdekkungen noth-
wendig ist, die immer in Verhältniss mit der grösseren, vorherigen
Verschiedenheit steigt — ebenso wird die Materie vernichtet durch
diejenige, die man ihr von aussen giebt. Denn das Nichts unter-
drükt da das Etwas. Alles im Menschen ist Organisation. Was
in ihm. gedeihen soll, muss in ihm g e s ä e t werden. Alle Kraft sezt
Enthusiasmus voraus, und nur wenige Dinge nähren diesen so
sehr, als den Gegenstand desselben als ein gegenwärtiges, oder
künftiges Eigenthum anzusehn. Nun aber hält der Mensch das
nie so sehr für sein, was er besizt, als was er thut, und der
Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem
wahreren Sinne Eigenthum er, als der müssige Schwelger, der
ihn geniesst. Vielleicht scheint diess zu allgemeine Raisonnement
keine Anwendung auf die Wirklichkeit zu verstatten. Vielleicht
scheint es sogar, als diente vielmehr die Erweiterung vieler Wissen-
schaften, welche wir diesen und ähnlichen Einrichtungen des Staats,
welcher allein Versuche im Grossen anzustellen vermag, vorzüg-
lich danken, zur Erhöhung der intellektuellen Kräfte, und dadurch
der Kultur und des Charakters überhaupt. Allein nicht jede Be-
reicherung durch Kenntnisse ist unmittelbar auch eine Veredlung,
selbst nur der intellektuellen Kraft, und wenn eine solche wirklich
dadurch veranlasst wird, so ist diess nicht sowohl bei der ganzen
Nation, als nur vorzüglich bei dem Theile, welcher mit zur Re-
gierung gehört. Ueberhaupt wird der Verstand des Menschen
doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Thätigkeit,
eigne Erfindsamkeit, oder eigne Benuzung fremder Erfindungen
gebildet. Anordnungen des Staats aber führen immer, mehr oder
minder. Zwang mit sich, und selbst, wenn diess der Fall nicht
ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Be-
lehrung, fremde Leitung, fremde Hülfe zu erwarten, als selbst auf
Auswege zu denken. Die einzige Art beinah, auf welche der
Staat die Bürger belehren kann, besteht darin, dass er das, was
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III. j j -
er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner Unter-
suchungen, aufstellt, und entweder direkt durch ein Gesez, oder
indirekt durch irgend eine, die Bürger bindende Einrichtung an-
befiehlt, oder durch sein Ansehn und ausgesezte Belohnungen,
oder andre Ermunterungsmittel dazu anreizt, oder endlich es bloss
durch Gründe empfiehlt; aber welche Methode er von allen diesen
befolgen mag, so entfernt er sich immer sehr weit von dem besten
Wege des Lehrens. Denn dieser besteht unstreitig darin, gleich-
sam alle mögliche Auflösungen des Problems vorzulegen, um den
Menschen nur vorzubereiten, die schiklichste selbst zu wählen,
oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen
Darstellung aller Hindernisse zu erfinden. Diese Lehrmethode
kann der Staat bei erw^achsenen Bürgern nur auf eine negative
Weise, durch Freiheit, die zugleich Hindernisse entstehen lässt,
und zu ihrer HinwTgräumung Stärke und Geschiklichkeit giebt,
auf eine positive Weise aber nur bei den erst sich bildenden durch
eine wirkliche Nationalerziehung befolgen. Ebenso ward in der
Folge der Einwurf weitläuftiger geprüft werden, der hier leicht
entstehen kann, dass es nemlich bei Besorgung der Geschäfte, von
w^elchen hier die Rede ist, mehr darauf ankomme, dass die Sache
geschehe, als wäe der, w^elcher sie verrichtet, darüber unterrichtet
sei, mehr, dass der Akker wohl gebaut werde, als dass der Akker-
bauer gerade der geschikteste Landwirth sei.
Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt
des Staats die Energie des Handlens überhaupt, und der mora-
lische Charakter. Diess bedarf kaum einer weiteren Ausführung.
Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Ueber-
rest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwilHg zu opfern. Er
glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht,
und genug zu thun, Vv'enn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt.
Damit verrükken sich seine Vorstellungen von Verdienst und Schuld.
Die Idee des erstem feuert ihn nicht an, das quälende Gefühl der
leztern ergreift ihn seltner und minder wirksam, da er dieselbe
bei weitem leichter auf seine Lage, und auf den schiebt, der dieser
die Form gab. Kommt nun noch dazu, dass er die Absichten
des Staats nicht für völlig rein hält, dass er nicht seinen Vortheil
allein, sondern wenigstens zugleich einen fremdartigen Nebenzwek
beabsichtet glaubt, so leidet nicht allein die Kraft, sondern auch
die Güte des moralischen Willens. Er glaubt sich nun nicht bloss
von jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrüklich auflegt,
8*
j j5 5- Ideen zu einem Versuch
sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes über-
hoben, die er manchmal sogar, als eine neue Gelegenheit, welche
der Staat benuzen möchte, fürchten kann. Und den Gesezen des
Staats selbst sucht er, soviel er vermag, zu entgehen, und hält
jedes Entwischen für Gewinn. Wenn man bedenkt, dass bei
einem nicht kleinen Theil der Nation die Geseze und Einrich-
tungen des Staats gleichsam den Umfang der Moralität abzeichnen ;
so ist es ein niederschlagender Anblik, oft die heiligsten Pflichten
und die willkührlichsten Anordnungen von demselben Munde
ausgesprochen, ihre Verlezung nicht selten mit gleicher Strafe be-
legt zu sehen. Nicht minder sichtbar ist jener nachtheilige Ein-
fluss in dem Betragen der Bürger gegen einander. Wie jeder sich
selbst auf die sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch
weit mehr übergiebt er ihr das Schiksal seines Mitbürgers. Diess
aber schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfs-
leistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hülfe da
am thätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf
ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass ge-
drükte, gleichsam von der Regierung verlassene Theile eines Volks
immer doppelt fest unter einander verbunden sind. Wo aber der
Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es auch der Gatte
gegen den Gatten, der Hausvater gegen die Familie.
Sich selbst in allem Thun und Treiben überlassen, von jeder
fremden Hülfe entblösst, die sie nicht selbst sich verschaften,
würden die Menschen auch oft, mit und ohne ihre Schuld, in
Verlegenheit und Unglük gerathen. Aber das Glük, zu welchem
der Mensch bestimmt ist, ist auch kein andres, als welches seine
Ivraft ihm verschaft ; und diese Lagen gerade sind es, welche den
Verstand schärfen, und den Charakter bilden. Wo der Staat die
Selbstthätigkeit durch zu specielles Einwirken verhindert, da —
entstehen etwa solche Uebel nicht? Sie entstehen auch da, und
überlassen den einmal auf fremde Kraft sich zu lehnen gewohnten
Menschen nun einem weit trostloseren Schiksal. Denn so wie
Ringen und thätige Arbeit das Unglük erleichtern, so und in zehn-
fach höherem Grade erschwert es hofnungslose , vielleicht ge-
täuschte Erwartung. Selbst den besten Fall angenommen, gleichen
die Staaten, von denen ich hier rede, nur zu oft den Aerzten,
welche die Krankheit nähren, und den Tod entfernen. Ehe es
Aerzte gab, kannte man nur Gesundheit, oder Tod.
■^. Alles, womit sich der Mensch beschäftigt, wenn es gleich
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III. jjn
nur bestimmt ist, physische Bedürfnisse mittelbar oder unmittelbar
zu befriedigen, oder überhaupt äussere Zwekke zu erreichen, ist
auf das genaueste mit innren Empfindungen verknüpft. Manchmal
ist auch, neben dem äusseren Endzwek, noch ein innerer, und
manchmal ist sogar dieser der eigentlich beabsichtete, jener nur,
nothwendig oder zufällig, damit verbunden. Je mehr Einheit der
Mensch besLzt, desto freier entspringt das äussere Geschäft, das er
wählt, aus seinem innren Sein: und desto häufiger und fester
knüpft sich dieses an jenes da an, wo dasselbe nicht frei gewählt
wurde. Daher ist der interessante Mensch in allen Lagen und
allen Geschäften interessant ; daher blüht er zu einer entzükkenden
Schönheit auf in einer Lebensweise, die mit seinem Charakter
übereinstimmt.
So Hessen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern
Künstler bilden, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Ge-
werbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und eigne Er-
findsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellektuellen Kräfte
kultivinen, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten.
So würde die Menschheit durch eben die Dinge geadelt, die jezt,
wie schön sie auch an sich sind, so oft dazu dienen, sie zu ent-
ehren. Je mehr der ]\Iensch in Ideen und Empfindungen zu leben
gewohnt ist, je stärker und feiner seine intellektuelle und moralische
Kraft ist; desto mehr sucht er allein solche äussre Lagen zu
wählen, welche zugleich dem innren Menschen mehr Stoif geben,
oder denjenigen, in welche ihn das Schiksal wirft, wenigstens
solche Seiten abzugewinnen. Der Gewinn, welchen der Mensch
an Grösse und Schönheit einerndtet, wenn er unaufhörlich dahin
strebt, dass sein inneres Dasein immer den ersten Plaz behaupte,
dass es immer der erste Quell, und das lezte Ziel alles Wirkens,
und alles Körperliche und Äeussere nur Hülle und Werkzeug des-
selben sei, ist unabsehlich.
Wie sehr zeichnet sich nicht, um ein Beispiel zu wählen, in
der Geschichte der Charakter aus, welchen der ungestörte Land-
bau in einem Volke bildet. Die Arbeit, welche es dem Boden
widmet, und die Erndie, womit derselbe es wieder belohnt, l'esseln
es süss an seinen Akker und seinen Heerd ; Theilnahme der seegen-
vollen Mühe und gemeinschaftlicher Genuss des Gewonnenen
schlingen ein liebevolles Band um jede Familie, von dem selbst der
mitarbeitende Stier nicht ganz ausgeschlossen wird. Die Frucht, die
gesäet und geerndtet werden muss, aber alljährlich wiederkehrt.
jj3 5. Ideen zu einem Versuch
und nur selten die Hofnung täuscht, macht geduldig, vertrauend
und sparsam; das unmittelbare Empfangen aus der Hand der
Natur, das immer sich aufdringende Gefühl, dass, wenn gleich die
Hand des Menschen den Saamen ausstreuen muss, doch nicht sie
es ist, von welcher Wachsthum und Gedeihen kommt; die ewige
Abhängigkeit von günstiger und ungünstiger Witterung flösst den
Gemüthern bald schauderhafte, bald frohe Ahndungen höherer
Wesen, wechselsweis Furcht und Hofnung ein, und fühn zu
Gebet und Dank; das lebendige Bild der einfachsten Erhabenheit,
der ungestörtesten Ordnung, und der mildesten Güte bildet die
Seelen einfach, gross, sanft, und der Sitte und dem Gesez froh
unterworfen. Immer gewohnt hen'orzubringen, nie zu zerstören,
ist der Akkerbauer friedlich, und von Beleidigung und Rache fern,
aber erfüllt von dem Gefühl der Ungerechtigkeit eines ungereizten
Angriffs, und gegen jeden Störer seines Friedens mit unerschrokkenem
Muth beseelt.
Allein, freilich ist Freiheit die nothwendige Bedingung, ohne
welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen Wirkungen
dieser Art hervorzubringen vermag. Was nicht von dem Menschen
selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird,
das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd,
das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern
mit mechanischer Fertigkeit. Die Alten, vorzüglich die Griechen,
hielten jede Beschäftigung, welche zunächst die körperliche Kraft
angeht, oder Erwerbung äusserer Güter, nicht innere Bildung zur
Absicht hat, für schädlich und entehrend. Ihre menschenfreund-
lichsten Philosophen billigten daher die Sklaverei, gleichsam um
durch ein ungerechtes und barbarisches Mittel einem Theile der
Menschheit durch Aufopferung eines andren die höchste Kraft
und Schönheit zu sichern. Allein den Irrthum, welcher diesem
ganzen Raisonnement zum Grunde Hegt, zeigen Vernunft und
Erfahrung leicht. Jede Beschäftigung vermag den Menschen zu
adeln, ihm eine bestimmte, seiner würdige Gestalt zu geben. Nur
auf die Art, wie sie betrieben wird, kommt es an; und hier lässt
sich wohl als allgemeine Regel annehmen, dass sie heilsame Wir-
kungen äussert, so lange sie selbst, und die darauf verwandte
Energie vorzüglich die Seele füllt, minder wohlthätige, oft nach-
theilige hingegen, wenn man mehr auf das Resultat sieht, zu dem
sie führt, und sie selbst nur als Mittel betrachtet. Denn alles,
was in sich selbst reizend ist, erwekt Achtung und Liebe, was nur
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III.
iiq
als Mittel Xuzen verspricht, bloss Interesse: und nun wird der
Mensch durch Achtung und Liebe ebenso sehr geadelt, als er
durch Interesse in Gefahr ist, entehrt zu werden. Wenn nun der
Staat eine solche positive Sorgfalt übt, als die, von der ich hier
rede, so kann er seinen Gesichtspunkt nur auf die Resultate
richten, und nun die Regeln feststellen, deren Befolgung der Yqt-
vollkommnung dieser am zuträglichsten ist.
Dieser beschränkte Gesichtspunkt richtet nirgends grösseren
Schaden an, als wo der wahre Zwek des Menschen völlig moralisch,
oder intellektuell ist, oder doch die Sache selbst, nicht ihre Folgen
beabsichtet, und diese Folgen nur nothwendig oder zufällig damit
zusammenhängen. So ist es bei wissenschaftlichen Untersuchungen,
und religiösen Meinungen, so mit allen Verbindungen der Menschen
unter einander, und mit der natürlichsten, die für den einzelnen
Menschen, wie für den Staat die wichtigste ist, mit der Ehe.
Eine Verbindung von Personen beiderlei Geschlechts, welche
sich gerade auf die Geschlechtsverschiedenheit gründet, wie viel-
leicht die Ehe am richtigsten detinirt werden könnte, lässt sich
auf ebenso mannigfaltige Weise denken, als mannigfaltige Gestalten
die Ansicht jener Verschiedenheit, und die, aus derselben ent-
springenden Neigungen des Herzens und Zwekke der Vernunft
anzunehmen vermögen; und bei jedem Menschen wird sein ganzer
moralischer Charakter, vorzüglich die Stärke, und die Art seiner
Empündungskraft darin sichtbar sein. Ob der Mensch mehr
äussere Zwekke verfolgt, oder lieber sein innres Wesen beschäftigt }
ob sein Verstand thätiger ist, oder sein Gefühl.^ ob er lebhaft
umfasst und schnell verlässt, oder langsam eindringt und treu
bewahrt.^ ob er losere Bande knüpft, oder sich enger anschliesst.^
ob er bei der innigsten Verbindung mehr oder minder Selbst-
ständigkeit behält.' und eine unendliche Menge andrer Bestim-
mungen moditiciren anders und anders sein \^erhältniss im ehe-
lichen Leben. Wie dasselbe aber auch immer bestimmt sein mag ;
so ist die Wirkung davon auf sein Wesen und seine Glükseligkeit
unverkennbar, und ob der ^^rsuch, die Wirklichkeit nach seiner
innren Stimmung zu linden oder zu bilden, glükke oder mis-
linge.' davon hängt grösstentheils die höhere \^erv'ollkommnung,
oder die Erschlaffung seines Wesens ab. ^^orzüglich stark ist
dieser Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am
zartesten und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren.
Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche,
I20 5- Ideen zu einem Versuch
als das männliche Geschlecht rechnen, und daher hängt der
Charakter des ersteren am meisten von der Art der Familien-
verhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren Be-
schäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben, welche
das innere Wesen beinah ungestört sich selbst überlassen ; stärker
durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun vermögen; aus-
druksvoller durch die stille, als die geäusserte Empfindung; mit
aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichenlosesten Ausdruks, bei
dem zarteren Körperbau, dem beweglicheren Auge, der mehr er-
greifenden Stimme, reicher versehen; im Verhältniss gegen andre
mehr bestimmt zu erwarten und aufzunehmen, als entgegenzu-
kommen; schwächer für sich, und doch nicht darum, sondern
aus Bewunderung der fremden Grösse und Stärke inniger an-
schliessend; in der Verbindung unaufhörlich strebend, mit dem
vereinten Wesen zu empfangen, das Empfangne in sich zu bilden,
und gebildet zurükzugeben ; zugleich höher von dem Muthe be-
seelt, welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst,
die nicht dem Widerstände, aber dem Erliegen im Dulden trozt
— sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Menschheit näher,
als der Mann; und wenn es nicht unwahr ist, dass sie es seltner
erreichen, als er; so ist es vielleicht nur, weil es überall schwerer
ist, den unmittelbaren steilen Pfad, als den Umweg zu gehen.
Wie sehr aber nun ein Wesen, das so reizbar, so in sich Eins
ist, bei dem folglich nichts ohne Wirkung bleibt, und jede Wir-
kung nicht einen Theil, sondern das Ganze ergreift, durch äussre
Misverhältnisse gestört wird, bedarf nicht ferner erinnert zu
werden. Dennoch hängt von der Ausbildung des weiblichen
Charakters in der Gesellschaft so unendlich viel ab. Wenn es
keine unrichtige Vorstellung ist, dass jede Gattung der Treflichkeit
sich — wenn ich so sagen darf — in einer Art der Wesen dar-
stellt; so bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schaz der
Sittlichkeit.
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte,
und wenn, nach diesem tief und wahr empfundenen Ausspruch
des Dichters,^) der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken
zu entfernen, welche dem Wachsthum hinderlich sind; so zieht
die sorgsame Hand der Frauen die wohlthätige innere, in welcher
V Goethe, Torquato Tasso Vers 1022. Das Drama erschien zuerst ijgo
im sechsten Bande der ersten Gesammtausgabe von Goethes Schriften.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III. j2I
allein die Fülle der Kraft sich zur Blüthe zu läutern vermag,
und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre Dasein des
Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen Verhältnisse
feiner durchschauen, als ihnen jeder Sinn am willigsten zu Ge-
bote steht, und sie des Vernünfteins überhebt, das so oft die
Wahrheit verdunkelt.
Sollte es noch nothwendig scheinen, so würde auch die Ge-
schichte diesem Raisonnement Bestätigung leihen, und die Sitt-
lichkeit der Nationen mit der Achtung des weiblichen Geschlechts
überall in enger ^^erbindung zeigen. Es erhellt demnach aus dem
Vorigen, dass die Wirkungen der Ehe ebenso mannigfaltig sind,
als der Charakter der Individuen; und dass es also die nach-
theiligsten Folgen haben muss, wenn der Staat eine, mit der jedes-
maligen Beschaffenheit der Individuen so eng verschwisterte Yer-
bindung durch Geseze zu bestimmen, oder durch seine Einrich-
tungen von andren Dingen, als von der blossen Neigung abhängig
zu machen versucht. Diess muss um so mehr der Fall sein, als
er bei diesen Bestimmungen beinah nur auf die Folgen, auf Be-
völkerung, Erziehung der Kinder u. s. f. sehen kann. Zwar lässt
sich gewiss darthun, dass eben diese Dinge auf dieselben Resultate
mit der höchsten Sorgfalt für das schönste innere Dasein führen.
Denn bei sorgfältig angestellten ^"ersuchen hat man die unge-
trennte, dauernde Verbindung Eines Mannes mit Einer Frau der
Bevölkerung am zuträglichsten gefunden, und unläugbar entspringt
gleichfalls keine andre aus der w^ahren, natürlichen, unverstimmten
Liebe. Ebensowenig führt diese ferner auf andre, als eben die
Verhältnisse, welche die Sitte und das Gesez bei uns mit sich
bringen: Kindererzeugung, eigne P>ziehung, Gemeinschaft des
Lebens, zum Theil der Güter, Anordnung der äussren Geschäfte
durch den Mann, \'erwaltung des Hausw^esens durch die Frau.
Allein, der Fehler scheint mir darin zu liegen, dass das Gesez b e -
fiehlt, da doch ein solches Verhältniss nur aus Neigung, nicht
aus äussren Anordnungen entstehn kann, und wo Zwang oder
Leitung der Neigung widersprechen, diese noch weniger zum
rechten Wege zurükkehrt. Daher, dünkt mich, sollte der Staat
nicht nur die Bande freier und weiter machen, sondern — wenn
es mir erlaubt ist, hier, wo ich nicht von der Ehe überhaupt,
sondern einem einzelnen, bei ihr sehr in die Augen fallenden Nachtheil
einschränkender Staatseinrichtungen rede, allein nach den im
Vorigen gewagten Behauptungen zu entscheiden — überhaupt von
122 5- Ideen zu einem Versuch
der Ehe seine ganze Wirksamkeit entfernen, und dieselbe vielmehr
der freien Willkühr der Individuen, und der von ihnen errichteten
mannigfaltigen Verträge, sowohl überhaupt, als in ihren Modi-
fikationen, gänzlich überlassen. Die Besorgniss, dadurch alle
Familienverhältnisse zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung
überhaupt zu verhindern — so gegründet dieselbe auch, bei diesen
oder jenen Lokalumständen, sein möchte — würde mich, insofern
ich allein auf die Natur der Menschen und Staaten im Allgemeinen
achte, nicht abschrekken. Denn nicht selten zeigt die Erfahrung,
dass gerade, was das Gesez löst, die Sitte bindet; die Idee des
äussren Zwangs ist einem, allein auf Neigung und innrer Pflicht
beruhenden Verhältniss, wie die Ehe, völlig fremdartig; und die
Folgen zwingender Einrichtungen entsprechen der Absicht schlech-
terdings nicht.
[5.] .... in dem moralischen und überhaupt praktischen
Leben des Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die
Regeln beobachtet — die sich aber vielleicht allein auf die Grund-
säze des Rechts beschränken — überall den höchsten Gesichts-
punkt der eigenthümlichsten Ausbildung seiner selbst und andrer
vor Augen hat, überall von dieser reinen Absicht geleitet wird,
und vorzüglich jedes andre Interesse diesem, ohne alle Beimischung
sinnlicher Beweggründe erkannten Geseze unterwirft. Allein alle
Seiten, welche der Mensch zu kultiviren vermag, stehen in einer
wunderbar engen Verknüpfung, und wenn schon in der intellek-
tuellen Welt der Zusammenhang, wenn nicht inniger, doch
wenigstens deutlicher und bemerkbarer ist, als in der physischen ;
so ist er es noch bei weitem mehr in der moralischen. Daher
müssen sich die Menschen untereinander verbinden, nicht um an
Eigenthümlichkeit, aber an ausschliessendem IsoHrtsein zu ver-
lieren; die Verbindung muss nicht ein Wesen in das andre ver-
wandeln, aber gleichsam Zugänge von einem zum andren eröfnen;
was jeder für sich besizt, muss er mit dem, von andren Empfangnen
vergleichen, und danach modificiren, nicht aber dadurch unter-
drükken lassen. Denn wie in dem Reiche des Intellektuellen nie
das W^ahre, so streitet in dem Gebiete der Moralität nie das des
Menschen wahrhaft Wairdige mit einander; und enge und mannig-
faltige Verbindungen eigenthümlicher Charaktere mit einander sind
daher ebenso nothwendig, um zu vernichten, was nicht neben
einander bestehn kann, und daher auch für sich nicht zu Grösse
und Schönheit führt, als das, dessen Dasein gegenseitig ungestört
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III.
123
bleibt, zu erhalten, zu nähren, und zu neuen, noch schöneren
Geburten zu befruchten. Daher scheint ununterbrochenes Streben,
die innerste Eigenthümlichkeit des andren zu fassen, sie zu be-
nuzen, und, von der innigsten Achtung für sie, als die Eigen-
thümlichkeit eines freien Wesens, durchdrungen, auf sie zu wirken
— ein Wirken, bei welchem jene Achtung nicht leicht ein andres
Mittel erlauben wird, als sich selbst zu zeigen und gleichsam vor
den Augen des andern mit ihm zu vergleichen — der höchste
Grundsaz der Kunst des Umganges, welche vielleicht unter allen
am meisten bisher noch vernachlässigt worden ist. \\^enn aber
auch diese \'ernachlässigung leicht eine Art der Entschuldigung
davon borgen kann, dass der Umgang eine Erholung, nicht eine
mühevolle Arbeit sein soll, und dass leider sehr vielen Menschen
kaum irgend eine interessante eigenthümliche Seite abzugewinnen
ist; so sollte doch jeder zu viel Achtung für sein eignes Selbst
besizen, um eine andre Erholung, als den Wechsel interessanter
Beschäftigung, und noch dazu eine solche zu suchen, welche ge-
rade seine edelsten Kräfte unthätig lässt, und zu viel Ehrfurcht
für die Menschheit, um auch nur Eins ihrer Mitglieder für völlig
unfähig zu erklären, benuzt, oder durch Einwirkung anders modi-
fizirt zu werden. Wenigstens aber darf derjenige diesen Gesichts-
punkt nicht übersehen, welcher sich Behandlung der Menschen
und Wirken auf sie zu einem eigentlichen Geschäft macht, und
insofern folglich der Staat, bei positiver Sorgfalt auch nur für das,
mit dem Innern Dasein immer eng verknüpfte äussre und ph^'sische
Wohl, nicht umhin kann, der Entwikklung der Individualität
hinderlich zu werden ; so ist diess ein neuer Grund eine solche
Sorgfalt nie, ausser dem Fall einer absoluten Xoth wendigkeit, zu
verstatten.
Diess möchten etwa die vorzüglichsten nachtheiligen Folgen
sein, welche aus einer positiven Sorgfalt des Staats für den Wohl-
stand der Bürger entspringen, und die zwar mit gev^'issen Arten
der Ausübung derselben vorzüglich verbunden, aber überhaupt
doch von ihr meines Erachtens nicht zu trennen sind. Ich v\^ollte
jezt nur von der Sorgfalt für das phj'sische Wohl reden, und ge-
wiss bin ich auch überall von diesem Gesichtspunkte ausgegangen
und habe alles genau abgesondert, was sich nur auf das moralische
allein bezieht. Allein ich erinnerte gleich anfengs, dass der
Gegenstand selbst keine genaue Trennung erlaubt, und diess möge
also zur Entschuldigung dienen, wenn sehr N'ieles des im Vorigen
124. 5- Ideen zu einem Versuch
entwikkelten Raisonnements von der ganzen positiven Sorgfalt
überhaupt gilt. Ich habe indess bis jezt angenommen, dass die
Einrichtungen des Staats, von welchen ich hier rede, schon wirklich
getroffen wären, und ich muss daher noch von einigen Hinder-
nissen reden, welche sich eigentlich bei der Anordnung selbst zeigen.
6. Nichts wäre gewiss bei dieser so nothwendig, als die Vor-
theile, die man beabsichtet, gegen die Nachtheile, und vorzüglich
gegen die Einschränkungen der Freiheit, welche immer damit ver-
bunden sind, abzuwägen. Allein eine solche Abwägung lässt sich
nur sehr schwer und genau, und vollständig vielleicht schlechter-
dings nicht zu Stande bringen. Denn jede einschränkende Ein-
richtung kollidirt mit der freien und natürlichen Aeusserung der
Kräfte, bringt bis ins Unendliche gehende neue Verhältnisse her-
vor, und so lässt sich die Menge der folgenden, welche sie nach
sich zieht, (selbst den gleichmässigsten Gang der Begebenheiten
angenommen, und alle irgend wichtige unvermuthete Zufälle, die
doch nie fehlen, abgerechnet) nicht voraussehn. Jeder, der sich
mit der höheren Staatsverwaltung zu beschäftigen Gelegenheit hat,
fühlt gewiss aus Erfahrung, wie wenig Maassregeln eigentlich eine
unmittelbare, absolute, wie viele hingegen eine bloss relative,
mittelbare, von andren vorhergegangenen abhängende Noth-
wendigkeit haben. Dadurch wird daher eine bei weitem grössere
Menge von Mitteln nothwendig, und eben diese Mittel werden
der Erreichung des eigentlichen Zwcks entzogen. Nicht allein
dass ein solcher Staat grösserer Einkünfte bedarf, sondern er er-
fordert auch künstlichere Anstalten zur Erhaltung der eigentlichen
politischen Sicherheit, die Theile hängen weniger von selbst fest
zusammen, die Sorgfalt des Staats muss bei weitem thätiger sein.
Daraus entspringt nun eine gleich schwierige, und leider nur zu
oft vernachlässigte Berechnung, ob die natürlichen Kräfte des
Staats zu Herbeischalfung aller nothwendig erforderlichen Mittel
hinreichend sind? und fällt diese Berechnung unrichtig aus, ist
ein wahres Misverhältniss vorhanden; so müssen neue künstliche
Veranstaltungen die Kräfte überspannen, ein Uebel, an welchem
nur zu viele neuere Staaten, wenn gleich nicht allein aus dieser
Ursache, kranken.
Vorzüglich ist hiebei ein Schade nicht zu übersehen, weil er
den Menschen und seine Bildung so nahe betrift, nemlich dass
die eigentliche Verwaltung der Staatsgeschäfte dadurch eine Ver-
flechtung erhält, welche, um nicht Venvirrung zu werden, eine
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III. 12^
unglaubliche Menge detaillirter Einrichtungen bedarf, und ebenso-
viele Personen beschäftigt. Von diesen haben indess doch die
meisten nur mit Zeichen und Formeln der Dinge zu thun. Da-
durch werden nun nicht bloss viele, vielleicht trefliche Köpfe dem
Denken, viele, sonst nüzlicher beschäftigte Hände der reellen
Arbeit entzogen; sondern ihre Geisteskräfte selbst leiden durch
diese zum Theil leere, zum Theil zu einseitige Beschäftigung. Es
entsteht nun ein neuer und gewöhnlicher Erwerb, Besorgung von
Staatsgeschäften, und dieser macht die Diener des Staats so viel
mehr von dem regierenden Theile des Staats, der sie besoldet, als
eigentlich von der Nation abhängig. Welche fernem Nachtheile
aber noch hieraus erwachsen, w^elches Warten auf die Hülfe des
Staats, welcher Mangel der Selbstständigkeit, welche falsche Eitel-
keit, welche Unthätigkeit sogar und Dürftigkeit, beweist die Er-
fahrung am unwädersprechlichsten. Dasselbe Uebel, aus welchem
dieser Nachtheil entspringt, wird wieder von demselben wechsels-
weis hervorgebracht. Die, welche einmal die Staatsgeschäfte auf
diese Weise verwalten, sehen immer mehr und mehr von der
Sache hinweg und nur auf die Form hin, bringen immerfort bei
dieser, vielleicht wahre, aber nur, mit nicht hinreichender Hinsicht
auf die Sache selbst, und daher oft zum Nachtheil dieser aus-
schlagende Verbesserungen an, und so entstehen neue Formen,
neue Weitläuftigkeiten, oft neue einschränkende Anordnungen, aus
welchen wiederum sehr natürlich eine neue Vermehrung der Ge-
schäftsmänner erwächst. Daher nimmt in den meisten Staaten
von Jahrzehend zu Jahrzehend das Personale der Staatsdiener, und
der Umfang der Registraturen zu, und die Freiheit der Unter-
thanen ab. Bei einer solchen Verwaltung kommt freilich alles auf
die genaueste Aufsicht, auf die pünktlichste und ehrlichste Be-
sorgung an, da der Gelegenheiten, in beiden zu fehlen, so viel
mehr sind. Daher sucht man insofern nicht mit Unrecht, alles
durch so viel Hände, als möglich gehen zu lassen, und selbst die
Möglichkeit von Trrthümern oder Unterschleifen zu entfernen.
Dadurch aber werden die Geschäfte beinah völlig mechanisch, und
die Menschen Maschinen; und die wahre Geschiklichkeit und
Redlichkeit nehmen immer mit dem Zutrauen zugleich ab. End-
lich werden, da die Beschäftigungen, von denen ich hier rede, eine
grosse Wichtigkeit erhalten, und um konsequent zu sein, aller-
dings erhalten müssen, dadurch überhaupt die Gesichtspunkte des
Wichtigen und Unwichtigen, Ehrenvollen und \'erächtlichen, des
120 5- Ideen zu einem Versuch
lezten ^) und der untergeordneten Endzwekke verrükt. Und da
die Nothwendigkeit von Beschäftigungen dieser Art, auch wiederum
durch manche, leicht in die Augen fallende heilsame Folgen für
ihre Nachtheile entschädigt; so halte ich mich hiebei nicht länger
auf, und gehe nunmehr zu der lezten Betrachtung, zu welcher
alles bisher Entwikkelte, gleichsam als eine Vorbereitung, noth-
wendig war, zu der Verrükkung der Gesichtspunkte überhaupt
über, welche eine positive Sorgfalt des Staats veranlasst.
7. Die Menschen — um diesen Theil der Untersuchung mit
einer allgemeinen, aus den höchsten Rüksichten geschöpften Be-
trachtung zu schliessen — werden um der Sachen, die Kräfte um
der Resultate willen vernachlässigt. Ein Staat gleicht nach diesem
Sj^stem mehr einer aufgehäuften Menge von leblosen und leben-
digen Werlvzeugen der Wirksamkeit und des Genusses, als einer
Menge thätiger und geniessender Kräfte. Bei der Vernachlässigung
der Selbstthätigkeit der handelnden Wesen scheint nur auf Glük-
seHgkeit und Genuss gearbeitet zu sein. Allein, wenn, da über
Glükseligkeit und Genuss nur die Empfindung des Geniessenden
richtig urtheilt, die Berechnung auch richtig wäre; so wäre sie
dennoch immer weit von der Würde der Menschheit entfernt.
Denn woher käme es sonst, dass eben diess nur Ruhe abzwekkende
System auf den menschlich höchsten Genuss, gleichsam aus Be-
sorgniss vor seinem Gegentheil, willig Verzicht thut? Der Mensch
geniesst am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem
höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt. Freilich ist
er auch dann dem höchsten Elend am nächsten. Denn auf den
Moment der Spannung vermag nur eine gleiche Spannung zu
folgen, und die Richtung, zum Genuss oder zum Entbehren, liegt
in der Hand des unbesiegten Schiksals. Allein wenn das Gefühl
des Höchsten im Menschen nur Glük zu heissen verdient, so ge-
winnt auch Schmerz und Leiden eine veränderte Gestalt. Der
Mensch in seinem Innren wird der Siz des Glüks und des Unglüks,
und er wechselt ja nicht mit der wallenden Fluth, die ihn trägt.
Jenes System führt, meiner Empfindung nach, auf ein fruchtloses
Streben, dem Schmerz zu entrinnen. Wer sich wahrhaft auf Ge-
nuss versteht, erduldet den Schmerz, der doch den Flüchtigen er-
eilt, und freuet sich unaufhörlich am ruhigen Gange des Schiksals ;
V Die Handschrift hat „lezteren", was schon Paul Cauer, Staat und Er-
ziehung S. gj Anm. i als Schreibfehler erkannt hat.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III. j[27
und der Anblik der Grösse fesselt ihn süss, es mag entstehen, oder
vernichtet werden. So kommt er — doch freilich nur der Schwär-
mer in andern, als seltnen Momenten — selbst zu der Empfindung,
dass sogar der Moment des Gefühls der eignen Zerstörung ein
Moment des Entzükkens ist.
Vielleicht werde ich beschuldigt, die hier aufgezählten Nach-
theile übertrieben zu haben; allein ich musste die volle Wirkung
des Einmischens des Staats — von dem hier die Rede ist —
schildern, und es versteht sich von selbst, dass jene Nachtheile,
nach dem Grade und nach der Art dieses Einmischens selbst, sehr
verschieden sind. Ueberhaupt sei mir die Bitte erlaubt, bei allem,
was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Vergleichungen mit
der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahiren. In dieser findet man
selten einen Fall voll und rein, und selbst dann sieht man nicht
abgeschnitten und für sich die einzelnen Wirkungen einzelner
Dinge. Dann darf man auch nicht vergessen, dass, wenn einmal
schädliche Einflüsse vorhanden sind, das Verderben mit sehr be-
schleunigten Schritten weiter eilt. Wie grössere Kraft, mit grösserer
vereint, doppelt grössere hervorbringt, so artet auch geringere mit
geringerer in doppelt geringere aus. Welcher Gedanke selbst
wagt es nur, die Schnelligkeit dieser Fortschritte zu begleiten.'*
Indess auch sogar zugegeben, die Nachtheile wären minder gross;
so, glaube ich, bestätigt sich die vorgetragene Theorie doch noch
bei weitem mehr durch den warlich namenlosen Seegen, der aus
ihrer Befolgung — wenn diese, wie freilich manches zweifeln lässt,
je ganz möglich wäre — entstehen müsste. Denn die immer
thätige, nie ruhende, den Dingen inwohnende Kraft kämpft gegen
jede, ihr schädliche Einrichtung, und befördert jede, ihr heilsame;
so dass es im höchsten Verstände wahr ist, dass auch der ange-
strengteste Eifer nie soviel Böses zu wirken vermag, als immer
und überall von selbst Gutes hervorgeht.
Ich könnte hier ein erfreuliches Gegenbild eines Volkes auf-
stellen, das in der höchsten und ungebundensten Freiheit, und in
der grossesten Mannigfaltigkeit seiner eignen und der übrigen Ver-
hältnisse um sich her existirte; ich könnte zeigen, wie hier noch
in eben dem Grade schönere, höhere und wunderbarere Gestalten
der Mannigfaltigkeit und der Originalität erscheinen müssten, als
in dem, schon so unnennbar reizenden Alterthum, in welchem die
Eigenthümlichkeit eines minder kultivirten Volks allemal roher
und gröber ist, in welchem mit der Feinheit auch allemal die
J28 5- Ideen zu einem Versuch
Stärke, und selbst der Reichthum des Charakters wächst, und in
welchem, bei der fast gränzenlosen Verbindung aller Nationen und
Welttheile mit einander, schon die Elemente gleichsam zahlreicher
sind; zeigen, welche Stärke hen^orblühen müsste, wenn jedes
Wesen sich aus sich selbst organisirte, wenn es, ewig von den
schönsten Gestalten umgeben, mit uneingeschränkter, und ewig
durch die Freiheit ermunterter Selbstthätigkeit diese Gestalten in
sich verwandelte ; wie zart und fein das innere Dasein des Menschen
sich ausbilden, wie es die angelegentlichere Beschäftigung desselben
werden, wie alles Physische und Aeussere in das Innere, Mora-
lische und Intellektuelle übergehen, und das Band, welches beide
Naturen im Menschen verknüpft, an Dauer gewinnen würde, wenn
nichts mehr die freie Rükwirkung aller menschlichen Beschäf-
tigungen auf den Geist und den Charakter störte ; wie keiner dem
andren gleichsam aufgeopfert würde, wie jeder seine ganze, ihm
zugemessene Kraft für sich behielte, und ihn eben darum eine
noch schönere Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine, für andre wohl-
thätige Richtung zu geben ; wie, wenn jeder in seiner Eigenthüm-
lichkeit fortschritte , mannigfaltigere und feinere Nuancen des
schönen menschlichen Charakters entstehen, und Einseitigkeit um
so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine Folge
der Schwäche und Dürftigkeit ist, und als jeder, wenn nichts mehr
den andren zwänge, sich ihm gleich zu machen, durch die immer
fortdauernde Nothwendigkeit der ^^e^bindung mit andren, dringen-
der veranlasst werden würde, sich nach ihnen anders und anders
selbst zu modificiren; wie in diesem Volke keine Kraft und keine
Hand für die Erhöhung und den Genuss des Menschendaseins
verloren gienge; endlich zeigen, wie schon dadurch ebenso auch
die Gesichtspunkte aller nur dahin gerichtet, und von jedem andren
falschen, oder doch minder der Menschheit würdigen Endzwek
abgewandt werden würden. Ich könnte dann damit schliessen,
aufmerksam darauf zu machen, wie diese v/ohlthätige Folgen einer
solchen Konstitution, unter einem \^olke, welches es sei, ausge-
streut, selbst dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen,
den Verheerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen
Neigungen, und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genusses-
fülle, einen unendlich grossen Theil seiner Schreklichkeit nehmen
würden. Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschildert zu
haben; es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes
Urtheil sie prüfe.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III.
I2q
Wenn ich aus dem ganzen bisherigen Raisonnement das lezte
Resultat zu ziehen versuche ; so muss der erste Grundsaz dieses
Theils der gegenwärtigen Untersuchung der sein: der Staat
enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohl-
stand derBürger, und gehe keinen Schritt weiter, als
zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst, und gegen
auswärtige Feinde noth wendig ist: zu keinemandren
Endzwekke beschränke er ihre Freiheit.
Ich müsste mich jezt zu den Mitteln w^enden, durch welche
eine solche Sorgfalt thätig geübt wird: allein, da ich sie selbst,
meinen Grundsäzen gemäss, gänzlich misbillige: so kann ich hier
von diesen Mitteln schweigen,^) und mich begnügen nur allgemein
zu bemerken, dass die Mittel, wodurch die Freiheit zum Behuf
des Wohlstandes beschränkt wird, von sehr mannigfaltiger Natur
sein können, direkte: Geseze, Ermunterungen, Preise; indirekte:
wie dass der Landesherr selbst der beträchtlichste Eigenthümer
ist. und dass er einzelnen Bürgern überwiegende Rechte, Mono-
polen u. s. f. einräumt, und dass alle einen, obgleich dem Grade
und der Art nach sehr verschiednen Xachtheil mit sich führen.
Wenn man hier auch gegen das Erstere und Leztere keinen Ein-
wurf erregte; so scheint es dennoch sonderbar, dem Staate wehren
zu wollen, was jeder Einzelne darf, Belohnungen aussezen, unter-
stüzen, Eigenthümer sein. Wäre es in der Ausübung möglich,
dass der Staat ebenso eine zwiefache Person ausmachte, als er es
in der Abstraktion thut; so wäre hiergegen nichts zu erinnern.
Es wäre dann gerade nicht anders, als wenn eine Privatperson
einen mächtigen Einfluss erhielte. Allein da, jenen Unterschied
zwischen Theorie und Praxis noch abgerechnet, der Eintiuss einer
Privatperson durch Konkurrenz andrer, ^'"ersplitterung ihres Ver-
mögens, selbst durch ihren Tod aufhören kann, lauter Dinge, die
beim Staate nicht zutreffen; so steht noch immer der Grundsaz,
dass der Staat sich in nichts mischen darf, was nicht allein die
Sicherheit angeht, um so mehr entgegen, als derselbe schlechter-
dings nicht durch Beweise unterstüzt worden ist, welche gerade
aus der Natur des Zwanges allein hergenommen gewesen wären.
V Nach „schweigen" gestrichen: „und die Prüfung derselben der Folge
vorbehalten, wo ich von den einzelnen Fällen reden werde, wo freilich eine ein-
malige Lage der Wirklichkeit jene Sorgfalt unumgänglich nothwendig machen
kann. Hier bemerke ich nur allgemein . . . ."
W. V. Humboldt, Werke. I. 9
130
Ideen zu einem Versuch
Auch handelt eine Privatperson aus andren Gründen, als der
Staat. Wenn z. B. ein einzelner Bürger Prämien aussezt, die ich
auch — wie es doch wohl nie ist — an sich gleich wirksam mit
denen des Staats annehmen will ; so thut er diess seines Vortheils
halber. Sein Vortheil aber steht, wegen des ewigen Verkehrs mit
allen übrigen Bürgern, und wegen der Gleichheit seiner Lage mit
der ihrigen, mit dem Vortheile oder Nachtheile andrer, folglich
mit ihrem Zustande in genauem Verhältniss. Der Zwek, den er
erreichen will, ist also schon gewissermaassen in der Gegenwart
vorbereitet, und wirkt folglich darum heilsam. Die Gründe des
Staats hingegen sind Ideen und Grundsäze, bei welchen auch die
genaueste Berechnung oft täuscht ; und sind es aus der Privatlage
des Staats geschöpfte Gründe, so ist diese schon an sich nur zu
oft für den Wohlstand und die Sicherheit der Bürger bedenklich,
und auch der Lage der Bürger nie in eben dem Grade gleich.
Wäre sie diess, nun so ists auch in der Wirklichkeit nicht der
Staat mehr, der handelt, und die Natur dieses Raisonnements selbst
verbietet dann seine. Anwendung.
Eben diess, und das ganze vorige Raisonnement aber gieng
allein aus Gesichtspunkten aus, welche bloss die Kraft des Menschen,
als solchen, und seine innere Bildung zum Gegenstand hatten.
Mit Recht würde man dasselbe der Einseitigkeit beschuldigen,
wenn es die Resultate, deren Dasein so nothwendig ist, damit jene
Kraft nur überhaupt wirken kann, ganz vernachlässigte. Es ent-
steht also hier noch die Frage : ob eben diese Dinge, von welchen
hier die Sorgfalt des Staats entfernt wird, ohne ihn und für sich
gedeihen können ? Hier wäre es nun der Ort, die einzelnen Arten
der Gewerbe, Akkerbau, Industrie, Handel und alles Uebrige, wo-
von ich hier zusammengenommen rede, einzeln durchzugehen,
und mit Sachkenntniss aus einander zu sezen, welche Nachtheile
und Vortheile Freiheit und Selbstüberlassung ihnen gewährt.
Mangel eben dieser Sachkenntniss hindert mich, eine solche Er-
örterung einzugehen. Auch halte ich dieselbe für die Sache selbst
nicht mehr nothwendig. Indess, gut und vorzüglich historisch
ausgeführt, würde sie den sehr grossen Nuzen gewähren, diese
Ideen mehr zu empfehlen, und zugleich die Möglichkeit einer sehr
modificirten Ausführung — da die einmal bestehende wirkliche
Lage der Dinge schwerlich in irgend einem Staat eine uneinge-
schränkte erlauben dürfte — zu beurtheilen. Ich begnüge mich
an einigen wenigen allgemeinen Bemerkungen. Jedes Geschäft
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III.
131
— welcher Art es auch sei — wird besser betrieben, wenn man
es um seiner selbst wollen, als den Folgen zu Liebe treibt. Diess
liegt so sehr in der Natur des Menschen, dass gewöhnlich, was
man anfangs nur des Nuzens wegen wählt, zulezt für sich Reiz
gewinnt. Nun aber rührt diess bloss daher, weil dem Menschen
Thätigkeit lieber ist, als Besiz, allein Thätigkeit nur, insofern sie
Selbstthätigkeit ist. Gerade der rüstigste und thätigste Mensch
würde am meisten einer erzw^ungenen Arbeit Müssiggang vorziehn.
Auch wächst die Idee des Eigenthums nur mit der Idee der Frei-
heit, und gerade die am meisten energische Thätigkeit danken wir
dem Gefühle des Eigenthums. Jede Erreichung eines grossen End-
zweks erfordert Einheit der Anordnung. Das ist gewiss. Ebenso
auch jede \^erhütung oder Abwehrung grosser Unglüksfälle,
Hungersnoth, Ueberschwemmungen u. s. f. Allein diese Einheit
lässt sich auch durch Nationalanstalten, nicht bloss durch Staats-
anstalten hen^orbringen. Einzelnen Theilen der Nation, und ihr
selbst im Ganzen muss nur Freiheit gegeben werden, sich durch
Verträge zu verbinden. Es bleibt immer ein unläugbar wichtiger
Unterschied zwischen einer Nationalanstalt und einer Staatsein-
richtung. Jene hat nur eine mittelbare, diese eine unmittelbare
Gewalt. Bei jener ist daher mehr Freiheit im Eingehen, Trennen,
und Modificiren der Verbindung. Anfangs sind höchst wahr-
scheinlich alle Staatsverbindungen nichts, als dergleichen Nationen-
vereine gewesen. Allein hier zeigt eben die Erfahrung die ver-
derblichen Folgen, wenn die Absicht Sicherheit zu erhalten, und
andre Endzwekke zu erreichen mit einander verbunden wird.
Wer dieses Geschäft besorgen soll, muss, um der Sicherheit \\'illen,
absolute Gewalt besizen. Diese aber dehnt er nun auch auf das
Uebrige aus, und je mehr sich die Einrichtung von ihrer Ent-
stehung entfernt, desto mehr wächst die Macht, und desto mehr
verschwindet die Erinnerung des Grundvertrags. Eine Anstalt im
Staat hingegen hat nur Gewalt, insofern sie diesen Vertrag und
sein Ansehen erhält. Schon dieser Grund allein könnte hinreichend
scheinen. Allein dann, wenn auch der Grundvertrag genau be-
wahrt würde, und die Staatsverbindung im engsten Verstände eine
Nationalverbindung wäre; so könnte dennoch der Wille der ein-
zelnen Individuen sich nur durch Repräsentation erklären, und
ein Repräsentant Mehrerer kann unmöglich ein so treues Organ
der Meinung der einzelnen Repräsentirten sein. Nun aber führen
alle im Vorigen entwikkelte Gründe auf die Nothwendigkeit der
9*
J02 5- Ideen zu einem Versuch
Einwilligung jedes Einzelnen. Eben diese schliesst auch die Ent-
scheidung nach der Stimmenmehrheit aus, und doch Hesse sich
keine andre in einer solchen Staatsverbindung, welche sich auf
diese, das positive Wohl der Bürger betreffende Gegenstände ver-
breitete, denken. Den nicht Einwilligenden bliebe also nichts
übrig, als aus der Gesellschaft zu treten, dadurch ihrer Gerichts-
barkeit zu entgehen, und die Stimmenmehrheit nicht mehr für
sich geltend zu machen. Allein diess ist beinah bis zur Unmög-
lichkeit erschwert, wenn aus dieser Gesellschaft gehen, zugleich
aus dem Staate gehen heisst. Ferner ist es besser, wenn bei ein-
zelnen Veranlassungen einzelne Verbindungen eingegangen, als
allgemeinere für unbestimmte künftige Fälle geschlossen werden.
Endlich entstehen auch Vereinigungen freier Menschen in einer
Nation mit grösserer Schwierigkeit. Wenn nun diess auf der
einen Seite auch der Erreichung der Endzwekke schadet — wo-
gegen doch immer zu bedenken bleibt, dass allgemein, was schwerer
entsteht, weil gleichsam die langgeprüfte Kraft sich in einander
fügt, auch eine festere Dauer gewinnt — so ist doch gewiss über-
haupt jede grössere Vereinigung minder heilsam. Je mehr der
Mensch für sich wirkt, desto mehr bildet er sich. In einer grossen
Vereinigung wird er zu leicht Werkzeug. Auch sind diese Ver-
einigungen Schuld, dass oft das Zeichen an die Stelle der Sache
tritt, welches der Bildung allemal hinderlich ist. Die todte Hiero-
glyphe begeistert nicht, wie die lebendige ^) Natur. Ich erinnere
hier nur, statt alles Beispiels, an Armenanstalten. Tödtet etwas
Andres so sehr alles wahre Mitleid, alle hoffende, aber anspruch-
lose Bitte, alles Vertrauen des Menschen auf Menschen ? Verachtet
nicht jeder den Bettler, dem es lieber wäre, ein Jahr im Hospital
bequem ernährt zu werden, als, nach mancher erduldeten Noth,
nicht auf eine hinwerfende Hand, aber auf ein theilnehmendes
Herz zu stossen? Ich gebe es also zu, wir hätten diese schnellen
Fortschritte ohne die grossen Massen nicht gemacht, in welchen
das Menschengeschlecht, wenn ich so sagen darf, in den lezten
Jahrhunderten gewirkt hat; allein nur die schnellen nicht. Die
Frucht wäre langsamer, aber dennoch gereift. Und sollte sie nicht
seegenvoller gewesen sein ? Ich glaube daher von diesem Einwurf
zurükkehren zu dürfen. Zwei andre bleiben der Folge zur Prüfung
aufbewahrt, nemlich, ob auch, bei der Sorglosigkeit, die dem
V „die lebendige" verbessert aus „das Symbol der".
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. III. IV'.
133
Staate hier vorgeschrieben wird, die Erhaltung der Sicherheit mög-
lich ist.-^ und ob nicht wenigstens die Verschaffung der Mittel,
welche dem Staate nothwendig zu seiner Wirksamkeit eingeräumt
werden müssen, ein vielfacheres Eingreifen der Räder der Staats-
maschine in die Verhältnisse der Bürger nothwendig macht.'
IV.
Wäre es mit dem Uebel, welches die Begierde der Menschen,
immer über die, ihnen rechtmässig gezogenen Schranken in das
Gebiet andrer einzugreifen,*) und die daraus entspringende Zwie-
tracht stiftet, wie mit den physischen Uebeln der Natur, und den-
jenigen, diesen hierin wenigstens gleichkommenden moralischen,
welche durch Uebermaass des Geniessens oder Entbehrens, oaer
durch andre, mit den nothwendigen Bedingungen der Erhaltung
nicht übereinstimmende Handlungen auf eigne Zerstörung hinaus-
laufen; so wäre schlechterdings keine Staatsvereinigung nothwendig.
Jenen würde der Muth, die Klugheit und Vorsicht der Menschen,
diesen die, durch Erfahrung belehrte Weisheit von selbst steuern,
und wenigstens ist in beiden mit dem gehobenen Uebel immer
Ein Kampf beendigt. Es ist daher keine lezte, widerspruchlose
Macht nothwendig, welche doch im eigentlichsten \^erstande den
BegrilT des Staats ausmacht. Ganz anders aber verhält es sich
mit den Uneinigkeiten der Menschen, und sie erfordern allemal
schlechterdings eine solche eben beschriebene Gewalt. Denn bei
der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die Beleidigung
fordert Rache, und die Rache ist eine neue Beleidigung. Hier
muss man also auf eine Rache zurükkommen, welche keine neue
Rache erlaubt — und diese ist die Strafe des Staats — oder auf
eine Entscheidung, welche die Partheien sich zu beruhigen nöthigt,
die Entscheidung des Richters. Auch bedarf nichts so eines
*) W'as ich hier umschreibe, bezeichnen die Griechen mit dem einzigen Worte
^keovs^ia, für das ich aber in keiner andren Sprache ein völlig gleichbedeutendes
finde. Indess Hesse sich vielleicht im Deutschen: Begierde nach Mehr sagen;
obgleich diess niciit zugleich die Idee der Unrechtmässigkeit andeutet, welche in dem
Griechischen Ausdruk , wenn gleich nicht dem Wortsinne , aber doch (soviel mir
wenigstens vorgekommen ist) dem beständigen Gebrauch der Schriftsteller nach, liegt.
Passender, obgleich, wenigstens dem Sprachgebrauche nach, wohl auch nicht von völlig
gleichem Umfang, möchte noch Ueber vortheilun g sein.
joA 5- Ideen zu einem Versuch
zwingenden ^) Befehls, und eines unbedingten Gehorsams, als die
Unternehmungen der Menschen gegen den Menschen, man mag
an die Abtreibung eines auswärtigen Feindes, oder an Erhaltung
der Sicherheit im Staate selbst denken. Ohne Sicherheit vermag
der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte
derselben zu gemessen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.
Es ist aber zugleich etwas, das der Mensch sich selbst allein nicht
verschaffen kann; diess zeigen die eben mehr berührten als aus-
geführten Gründe, und die Erfahrung, dass unsre Staaten, die sich
doch, da so viele Verträge und Bündnisse sie mit einander ver-
knüpfen, und Furcht so oft den Ausbruch von Thätlichkeiten
hindert, gewiss in einer bei weitem günstigeren Lage befinden, als
es erlaubt ist, sich den Menschen im Naturstande zu denken,
dennoch der Sicherheit nicht gemessen, welcher sich auch in der
mittelmässigsten Verfassung der gemeinste Unterthan zu erfreuen
hat. Wenn ich daher in dem Vorigen die Sorgfalt des Staats
darum von vielen Dingen entfernt habe, weil die Nation sich selbst
diese Dinge gleich gut, und ohne die, bei der Besorgung des
Staats mit einfliessende Nachtheile verschaffen kann; so muss ich
dieselbe aus gleichem Grunde jezt auf die Sicherheit richten, als
das Einzige,*) welches der einzelne Mensch mit seinen Kräften
allein nicht zu erlangen vermag. Ich glaube daher hier als den
ersten positiven — aber in der Folge noch genauer zu be-
stimmenden und einzuschränkenden — Grundsaz aufstellen zu
können: dass die Erhaltung der Sicherheit sowohl
gegen auswärtige Feinde, als innerliche Zwistig-
keiten den Zwek des Staats ausmachen, und seine
Wirksamkeit beschäftigen muss; da ich bisher nur negatif
zu bestimmen versuchte, dass er die Gränzen seiner Sorgfalt
wenigstens nicht weiter ausdehnen dürfe.
Diese Behauptung wird auch durch die Geschichte so sehr
bestätigt, dass in allen früheren Nationen die Könige nichts andres
waren, als Anführer im Kriege, oder Richter im Frieden. Ich
sage die Könige. Denn — wenn mir diese Abschweifung erlaubt
ist — die Geschichte zeigt uns, wie sonderbar es auch scheint,
gerade in der Epoche, wo dem Menschen, welcher, mit noch sehr
*J La siirete et la liberte personelle sont les seitles choses qu'itn etre isole ne
puisse s'assurer par lui meine. Mirabeau 5. l'educat. publique, p. iig.
V „zwingenden" verbessert aus „unternehmenden".
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. IV. jor
wenigem Eigenthum versehen, nur persönliche Kraft kennt und
schäzt, und in die ungestörteste Ausübung derselben den höchsten
Genuss sezt, das Gefühl seiner Freiheit das theuerste ist, nichts
als Könige und Monarchien. So alle Staatsverfassungen Asiens,
so die ältesten Griechenlands, Italiens, und der freiheitliebendsten
Stämme, der Germanischen.*) Denkt man über die Gründe hier-
von nach : so wird man gleichsam von der Wahrheit überrascht,
dass gerade die Wahl einer Monarchie ein Beweis der höchsten
Freiheit der Wählenden ist. Der Gedanke eines Befehlshabers
entsteht, wie oben gesagt, nur durch das Gefühl der Xothwendig-
keit eines Anführers, oder eines Schiedsrichters. Nun ist Ein
Führer oder Entscheider unstreitig das Zwekmässigste. Die Be-
sorgniss, dass der Eine aus einem Führer und Schiedsrichter ein
Herrscher werden möchte, kennt der w^ahrhaft freie Mann, die
Möglichkeit selbst ahndet er nicht ; er traut keinem Menschen die
Macht, seine Freiheit unterjochen zu können, und keinem Freien
den Willen zu, Herrscher zu sein — wie denn auch in der That
der Herrschsüchtige, nicht empfänglich für die hohe Schönheit der
Freiheit, die Sklaverei liebt, nur dass er nicht der Sklave sein will
— und so ist, wie die Moral mit dem Laster, die Theologie mit
der Kezerei, die Politik mit der Knechtschaft entstanden. Nur
führen freilich unsre Monarchen nicht eine so honigsüsse Sprache,
als die Könige bei Homer und Hesiodus.**)
-y Reges (nam in terris nomen iriiperii id primum fititj cet. Sallustius in
Catilina. C. 2. Kar ag/as ÜTtaaa Ttohs 'EXlas sßaai).sv£TO. (Zuerst wurden alle
Griechische Städte von Königen beherrscht u. s. f.) Dion. Halicarn. Antiquit.
Rom. l. 5.V
**^ 'OvTiva Tiurjaovai ^i-js y.ov^ai u£ya?,oiOj
Feivofievov t' soiScoai Sioz^eyscov ßaaihrjaiVj
Tai fiEv £711 yXcoaafi y?.vysp7]v x^iovat e£oarjv,
Tov S' E7te ex arofiaTOS Qet fzetXiy^a.
und
Tovvev.a yaQ ßaoü.qes ey^e^Qoves, ovvey.u /.aon
BXuTTTOfiEvoie ayoQri<pc fiETaTQOTia SQya relevai
Prj'idicos, ftaXay.oim TtaQairpauEvoi ETCEEoaiv.
Hesiodus in Theogonia^)
(Wen der göttcrentsprossenen Könige Zeus des Erhabnen
Töchter ehren, auf wen ihr Auge bei seiner Geburt blikt,
V Der letzte Satz verbessert aus „Dionysius von Halikarnass in den Rom.
Alterthümern. B. 5." — Die Stelle steht bei Dionysius 5, 74.
■) Vers 81. 88.
j2^ 5- Wecn zu einem Versuch
Von der Sicherheit gegen auswärtige Feinde brauchte ich —
um zu meinem Vorhaben zurükzukehren — kaum ein Wort zu
sagen, wenn es nicht die Klarheit der Hauptidee vermehrte, sie
auf alle einzelne Gegenstände nach und nach anzuwenden. Allein
diese Anwendung wird hier um so weniger unnüz sein, als ich
mich allein auf die Wirkung des Krieges auf den Charakter der
Nation, und folglich auf den Gesichtspunkt beschränken werde,
den ich in dieser ganzen Untersuchung, als den herrschenden,
gewählt habe. Aus diesem nun die Sache betrachtet, ist mir
der Krieg eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bildung des
Menschengeschlechts, und ungern seh' ich ihn nach und nach
immer mehr vom Schauplaz zurüktreten. Es ist das freiUch
furchtbare Extrem, wodurch jeder thätige Muth gegen Gefahr,
Arbeit und Mühseligkeit geprüft und gestählt wird, der sich
nachher in so verschiedene Nuancen im Menschenleben moditicirt,
und welcher allein der ganzen Gestalt die Stärke und Mannig-
faltigkeit giebt, ohne welche Leichtigkeit Schwäche, und Einheit
Leere ist. Man wird mir antworten, dass es, neben dem Kriege,
noch andre Mittel dieser Art giebt, physische Gefahren bei
mancherlei Beschäftigungen, und — wenn ich mich des Ausdruks
bedienen darf — moralische von verschiedener Gattung, welche
den festen, unerschütterten Staatsmann im Kabinett, wie den frei-
dem beträufeln sie mit holdem Thaue die Zunge,
Honigsüss entströmet seinen Lippen-) die Rede.
und
Darum herrschen verständige Könige, dass sie die Völker,
wenn ein Zwist sie spaltet, in der Versammlung zur Eintracht
sonder Mühe bewegen, mit sanften Worten sie lenkend.) ^)
V Erster Druck dieses Kapitels: Berlinische Monatsschrift 20, j46—js4
(Oktoberheß i'jg-2). Der Aufsatz hat dort die Überschrift: „Über die Sorgfalt
des Staats für die Sicherheit gegen auswärtige Feinde." Biester begleitet den
Abdruck mit folgender Anmerkung : „Der Herausgeber merkt hierbei an, dass
die Frage, welche hier in Absicht eines Gegenstandes beantwortet ist, in Absicht
aller Gegenstände der inneren Politik untersucht, in einer eigenen Abhandlung
dem Publikum vorgelegt werden soll. Der obige Aufsatz ist nämlich ein Bruch-
stück eines Werkes, welches den Titel führen wird: Ideen zu einem Versuch die
Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen."
y „seinen Lippen" verbessert aus „seinem Alunde".
y Nach „lenkend" gestrichen: „Hesiodus in der Theogonie".
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. V
137
müthigen Denker in seiner einsamen Zelle treffen können. Allein
es ist mir unmöglich, mich von der Vorstellung loszureissen, dass,
wie alles Geistige nur eine feinere Blüthe des Körperlichen, so
auch dieses es ist. Nun lebt zwar der Stamm, auf dem sie her-
vorspriessen kann, in der Vergangenheit. Allein das Andenken
der Vergangenheit tritt immer weiter ziirük, die Zahl derer, auf
welche es wirkt, vermindert sich immer in der Nation, und selbst
auf diese wird die Wirkung schwächer. Andren, obschon gleich
gefahn'ollen Beschäftigungen, Seefahrten, dem Bergbau u. s. f.
fehlt, wenngleich mehr und minder, die Idee der Grösse und des
Ruhms, die mit dem Kriege so eng verbunden ist. Und diese
Idee ist in der That nicht chimärisch. Sie beruht auf einer Vor-
stellung von überwiegender Macht. Den Elementen sucht man
mehr zu entrinnen, ihre Gewalt mehr auszudauern, als sie zu
besiegen;
— mit Göttern
soll sich nicht messen
irgend ein Mensch ; ^)
Rettung ist nicht Sieg; was das Schiksal wohlthätig schenkt, und
menschlicher Muth, oder menschliche Erfindsamkeit nur benuzt,
ist nicht Frucht, oder Beweis der Obergewalt. Auch denkt jeder
im Kriege, das Recht auf seiner Seite zu haben, jeder eine Be-
leidigung zu rächen. Nun aber achtet der natürliche Mensch,
und mit einem Gefühl, das auch der kultivirteste nicht abläugnen
kann, es höher, seine Ehre zu reinigen, als Bedarf fürs Leben zu
sammlen. Niemand wird es mir zutrauen, den Tod eines ge-
fallenen Kriegers schöner zu nennen, als den Tod eines kühnen
Plinius, oder, um vielleicht nicht genug geehrte ^Männer zu nennen,
den Tod von Roben und Pilatre du Rozier.^) Allein diese Bei-
spiele sind selten, und wer weiss, ob ohne jene sie überhaupt nur
wären? Auch habe ich für den Krieg gerade keine günstige Lage
gewählt. Man nehme die Spartaner bei Thermop3'lä. Ich frage
einen jeden, was solch ein Beispiel auf eine Nation wirkt: Wohl
'^j Goethe, Grenzen der Menschheit Vers 11. Das Gedicht erschien zuerst
i-]8fj im achten Bande der ersten Gesammtaiisgabe von Goethes Schriften.
^) Pilatre de Rozier verunglückte, 28 Jahre alt, am i^- Juni i^/Ss bei dem
Versuche im Luftballon von Boulogne nach England zu fahren, indem sein
Ballon Feuer fing und er mit seinem Begleiter, dem Physiker Romain, tot
herabfiel; vgl. Forster, Sämmtliche Schriften ^, 442. „Robert'^ steht wohl nur
irrtümlich für Romain.
138
Ideen zu einem Versuch
weiss ichs, eben dieser Muth, eben diese Selbstverläugnung kann
sich in jeder Situation des Lebens zeigen, und zeigt sich wirklich
in jeder. Aber will man es dem sinnlichen Menschen A^erargen,
wenn der lebendigste Ausdruk ihn auch am meisten hinreisst,
und kann man es läugnen, dass ein Ausdruk dieser Art wenigstens
in der grossesten Allgemeinheit wirkt? Und bei alle dem, was
ich auch je von Uebeln hörte, welche schreklicher wären, als
der Tod; ich sah noch keinen Menschen, der das Leben in
üppiger Fülle genoss, und der — ohne Schwärmer zu sein — den
Tod verachtete. Am wenigsten aber existirten diese Menschen
im Alterthum, wo man noch die Sache höher, als den Namen,
die Gegenwart höher, als die Zukunft schäzte. Was ich daher
hier von Kriegern sage, gilt nur von solchen, die, nicht gebildet,
wie jene in Piatos Republik,^) die Dinge, Leben und Tod, nehmen
für das, was sie sind ; von Kriegern, welche, das Höchste im Auge,
das Höchste aufs Spiel sezen. Alle Situationen, in welchen sich
die Extreme gleichsam an einander knüpfen, sind die interes-
santesten und bildendsten. Wo ist diess aber mehr der Fall, als
im Kriege, wo Neigung und Pflicht, und Pflicht des Menschen
und des Bürgers in unaufhörlichem Streite zu sein scheinen, und
wo dennoch — sobald nur gerechte Vertheidigung die Waffen in
die Hand gab — alle diese Kollisionen die vollste Auflösung tinden ?
Schon der Gesichtspunkt, aus welchem allein igh den Krieg
für heilsam und nothwendig halte, zeigt hinlänglich, wie, meiner
Meinung nach, im Staate davon Gebrauch gemacht werden müsste.
Dem Geist, den er wirkt, muss Freiheit gewährt werden, sich
durch alle Mitglieder der Nation zu ergiessen. Schon diess spricht
gegen die stehenden Armeen. Ueberdiess sind sie und die neuere
Art des Krieges überhaupt freilich weit von dem Ideale entfernt,
das für die Bildung des Menschen das nüzHchste wäre. Wenn
schon überhaupt der Krieger, mit Aufopferung seiner Freiheit,
gleichsam Maschine werden muss; so muss er es noch in weit
höherem Grade bei unsrer Art der Kriegführung, bei welcher es
soviel weniger auf die Stärke, Tapferkeit und Geschiklichkeit des
P^inzelnen ankommt. Wie verderblich muss es nun sein, wenn
beträchtliche Theile der Nationen, nicht bloss einzelne Jahre, sondern
oft ihr Leben hindurch im Frieden, nur zum Behuf des möglichen
Krieges, in diesem maschinenmässigen Leben erhalten werden?
V Vgl. den Anfang des dritten Buches (S. ^30aj.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. V.
^39
^'ielleicht ist es nirgends so sehr, als hier, der Fall, dass, mit der
Ausbildung der Theorie der menschlichen Unternehmungen, der
Nuzen derselben für diejenigen sinkt, welche sich mit ihnen be-
schäftigen. Uniäugbar hat die Kriegskunst unter den Neueren
unglaubliche Fortschritte gemacht, aber eben so unläugbar ist der
edle Charakter der Krieger seltner gew^orden, seine höchste Schön-
heit existirt nur noch in der Geschichte des Alterthums, wenigstens
— wenn man diess für übertrieben halten sollte — hat der kriege-
rische Geist bei uns sehr oft bloss schädliche Folgen für die
Nationen, da wir ihn im Alterthum so oft von so heilsamen be-
gleitet sehen. Allein unsre stehende Armeen bringen, wenn ich
so sagen darf, den Krieg mitten in den Schooss des Friedens.
Kriegsmuth ist nur in Verbindung mit den schönsten friedlichen
Tugenden, Kriegszucht nur in Verbindung mit dem höchsten
Freiheitsgefühle ehrwürdig. Beides getrennt — und wie sehr
wird eine solche Trennung durch den im Frieden bewafneten
Krieger begünstigt? — artet diese sehr leicht in Sklaverei, jener
in Wildheit und Zügellosigkeit aus. Bei diesem Tadel der stehenden
Armeen sei mir die Erinnerung erlaubt, dass ich hier nicht weiter
von ihnen rede, als mein gegenwärtiger Gesichtspunkt erfordert.
Ihren grossen, unbestrittenen Nuzen — wodurch sie dem Zuge
das Gleichgewicht halten, mit dem sonst ihre Fehler sie, wie jedes
irrdische Wesen, unaufhaltbar zum Untergange dahinreissen
würden — zu verkennen, sei fern von mir. Sie sind ein Theil
des Ganzen, welches nicht Plane eitler menschlicher A^ernunft.
sondern die sichre Hand des Schiksals gebildet hat. Wie sie in
alles Andre, unsrem Zeitalter Eigenthümliche, eingreifen, wie sie
mit diesem die Schuld und das Verdienst des Guten und Bösen
theilen, das uns auszeichnen mag, müsste das Gemälde schildern,
welches uns, treffend und vollständig gezeichnet, der ^^orwelt an
die Seite zu stellen wagte. Auch müsste ich sehr unglüklich in
Auseinandersezung meiner Ideen gewesen sein, wenn man glauben
könnte, der Staat sollte, meiner Meinung nach, von Zeit zu Zeit
Krieg erregen. Er gebe Freiheit und dieselbe Freiheit geniesse
ein benachbarter Staat. Die Menschen sind in jedem Zeitalter
Menschen, und verlieren nie ihre ursprünglichen Leidenschaften.
Es wird Krieg von selbst entstehen; und entsteht er nicht, nun
so ist man wenigstens gewiss, dass der PYicdc \\eder durch Gewalt
erzwungen, noch durch künstliche Lähmung hervorgebracht ist;
und dann wird der Friede der Nationen freilich ein eben so wohl-
^A^^J 5- Ideen zu einem Versucli
thätigeres Geschenk sein, wie der friedliche Püüger ein holderes
Bild ist, als der blutige Krieger. Und gewiss ist es, denkt man
sich ein Fortschreiten der ganzen Menschheit von Generation zu
Generation; so müssten die folgenden Zeitalter immer die fried-
licheren sein. Aber dann ist der Friede aus den inneren Kräften
der Wesen herv^orgegangen, dann sind die Menschen, und zwar
die freien Menschen friedlich geworden. Jezt — das beweist Ein
Jahr Europäischer Geschichte — geniessen wir die Früchte des
Friedens, aber nicht die der Friedlichkeit. Die menschlichen
Ivräfte, unaufhörlich nach einer gleichsam unendlichen Wirksam-
keit strebend, wenn sie einander begegnen, vereinen oder be-
kämpfen sich. Welche Gestalt der Kampf annehme, ob die des
Krieges, oder des Wetteifers, oder welche sonst man nüanciren
möge ? hängt vorzüglich von ihrer V'erfeinerung ab.
Soll ich jezt auch aus diesem Raisonnement einen zu meinem
Endzwek dienenden Grundsaz ziehen; so muss der Staat den
Krieg auf keinerlei Weise befördern, allein auch eben-
sowenig, wenn die Nothw endig keit ihn fordert, ge-
waltsam verhindern; dem Einflüsse desselben auf
Geist und Charakter sich durch die ganze Nation zu
ergiessen völlige Freiheit verstatten; und vorzüglich
sich aller positiven Einrichtungen enthalten, die
Nation zum Kriege zu bilden, oder ihnen, wenn sie
denn, wM e z. B. Waffenübungen der Bürger, schlech-
terdings nothw endig sind, eine solche Richtung
geben, dass sie derselben nicht bloss die Tapferkeit,
Fertigkeit und Subordination eines Soldaten bei-
bringen, sondern den Geist wahrer Krieger, oder
vielmehr edler Bürger einhauchen, welche für ihr
Vaterland zu fechten immer bereit sind.
VI.')
Eine tiefere und ausführlichere Prüfung erfordert die Sorgfalt
des Staats für die innere Sicherheit der Bürger unter einander, zu
'j Erster Druck dieses Kapitels (ohne den ersten Absatz): Berlinische Monats-
schrift 20, S97—606 {Dezemberheft iyg2). Der Aufsatz hat dort die Überschrift:
„ Über öffentliche Staatserziehung. Bruchstück", ^vobei auf den Abdruck des fünften
und achten Kapitels vern'iesen wird.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. V. VI. j i r
der ich mich Jezt wende. Denn es scheint mir nicht hinlänglich,
demselben bloss allgemein die Erhaltung derselben zur Pflicht zu
machen, sondern ich halte es vielmehr für nothwendig die be-
sondern Gränzen dabei zu bestimmen, oder w^enn diess allgemein
nicht möglich sein sollte, wenigstens die Gründe dieser Unmög
lichkeit auseinanderzusezen, und die Merkmale anzugeben, an
welchen sie in gegebenen Fällen zu erkennen sein möchten. Schon
eine sehr mangelhafte Erfahrung lehrt, dass diese Sorgfalt mehr
oder minder weit ausgreifen kann, ihren Endzwek zu erreichen.
Sie kann sich begnügen, begangene Unordnungen wieder herzu-
stellen, und zu bestrafen. Sie kann schon ihre Begehung über-
haupt zu verhüten suchen, und sie kann endlich zu diesem End-
zwek den Bürgern, ihrem Charakter und ihrem Geist, eine Wendung
zu ertheilen bemüht sein, die hierauf abzwekt. Auch gleichsam
die Extension ist verschiedener Grade fähig. Es können bloss
Beleidigungen der Rechte der Bürger, und unmittelbarer Rechte
des Staats untersucht und gerügt werden ; oder man kann, indem
man den Bürger, als ein Wesen ansieht, das dem Staate die An-
wendung seiner Kräfte schuldig ist, und also durch Zerstörung
oder Schwächung dieser Kräfte ihn gleichsam seines Eigenthums
beraubt, auch auf Handlungen ein wachsames Auge haben, deren
Folgen sich nur auf den Handlenden selbst erstrekken. Alles diess
fasse ich hier auf einmal zusammen, und rede daher allgemein
von allen Einrichtungen des Staats, welche in der Absicht der
Beförderung der öffentlichen Sicherheit geschehen. Zugleich
werden sich hier von selbst alle diejenigen darstellen, die, sollten
sie auch nicht überall, oder nicht bloss auf Sicherheit abzwekken,
das moralische Wohl der Bürger angehen, da, wie ich schon oben
bemerkt, die Natur der Sache selbst keine genaue Trennung er-
laubt, und diese Einrichtungen doch gewöhnlich die Sicherheit
und Ruhe des Staats vorzüglich beabsichten. Ich werde dabei
demjenigen Gange getreu bleiben, den ich bisher gewählt habe.
Ich habe nemlich zuerst die grosseste mögliche Wirksamkeit des
Staats angenommen, und nun nach und nach zu prüfen versucht,
was davon abgeschnitten werden müsse. Jezt ist mir nur die
Sorge für die Sicherheit übrig geblieben. Bei dieser muss nun
aber wiederum auf gleiche Weise verfahren werden, und ich w^rde
daher dieselbe zuerst in ihrer grossesten Ausdehnung betrachten,
um durch allmähliche Einschränkungen auf diejenigen Grundsäze
zu kommen, welche mir die richtigen scheinen. Sollte dieser
142 5- Ideen zu einem Versuch
Gang vielleicht für zu langsam und weitläuftig gehalten werden;
so gebe ich gern zu, dass ein dogmatischer Vortrag gerade die
entgegengesezte Methode erfordern würde. Allein bei einem bloss
untersuchenden, wie der gegenwärtige, ist man wenigstens gewiss,
den ganzen Umfang des Gegenstandes umspannt, nichts übersehen,
und die Grundsäze gerade in der Folge entwikkelt zu haben, in
welcher sie wirklich aus einander herfliessen.
Man hat, vorzüglich seit einiger Zeit, so sehr auf die Ver-
hütung gesezwidriger Handlungen und auf Anwendung moralischer
Mittel im Staate gedrungen. Ich, so oft ich dergleichen oder ähn-
liche Aufforderungen höre, freue mich, gesteh' ich, dass eine
solche freiheitbeschränkende Anwendung bei uns immer weniger
gemacht, und, bei der Lage fast aller Staaten, immer weniger
möglich wird. Man beruft sich auf Griechenland und Rom, aber
eine genauere Kenntniss ihrer Verfassungen würde bald zeigen,
wie unpassend diese Vergleichungen sind. Jene Staaten waren
Republiken, ihre Anstalten dieser Art waren Stüzen der freien
Verfassung, welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte,
welcher den nachtheiligen Einfluss der Einschränkung der Privat-
freiheit minder fühlen, und der Energie des Charakters minder
schädlich werden liess. Dann genossen sie auch übrigens einer
grösseren Freiheit, als wir, und was sie aufopferten, opferten sie
einer andren Thätigkeit, dem Antheil an der Regierung, auf. In
unsren, meistentheils monarchischen Staaten ist das alles ganz
anders. Was die Alten von moralischen Mitteln anwenden mochten,
Nationalerziehung, Religion, Sittengeseze, alles würde bei uns
minder fruchten, und einen grösseren Schaden bringen. Dann
war auch das Meiste, was man jezt so oft für Wirkung der Klug-
heit des Gesezgebers hält, bloss schon wirkliche, nur vielleicht
wankende, und daher der Sanktion des Gesezes bedürfende Volks-
sitte. Die Uebereinstimmung der Einrichtungen des Eykurgus mit
der Lebensart der meisten unkultivirten Nationen hat schon Fer-
guson meisterhaft gezeigt,^) und da höhere Kultur die Nation ver-
feinerte, erhielt sich auch in der That nicht mehr, als der Schatten
jener Einrichtungen. Endlich steht, dünkt mich, das Menschen-
geschlecht jezt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich
^) In seinem zuerst i']66 erschienenen Werke An essay on thc history of civil
Society 5. 144; Humboldt dürfte die Ausgabe Basel lySg benutzt haben, auf die
sich auch mein Zitat bezieht.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VI.
H3
nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen
kann ; und daher sind alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung
hindern, und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen,
jezt schädlicher als ehmals.
Schon diesen wenigen Bemerkungen zufolge erscheint, um
zuerst von demjenigen moralischen Mittel zu reden, was am wei-
testen gleichsam ausgreift, öffentliche, d. i. vom Staat angeordnete
oder geleitete Erziehung wenigstens von vielen Seiten bedenklich.
Nach dem ganzen vorigen Raisonnement kommt schlechterdings
Alles auf die Ausbildung des Menschen in der höchsten Mannig-
faltigkeit an; öftentliche Erziehung aber muss, selbst wenn sie
diesen Fehler vermeiden, wenn sie sich bloss darauf einschränken
wollte, Erzieher anzustellen und zu unterhalten, immer eine be-
stimmte Form begünstigen. Es treten daher alle die Nachtheile
bei derselben ein, welche der erste Theil dieser Untersuchung
hinlänglich dargestellt hat, und ich brauche nur noch hinzuzufügen,
dass jede Einschränkung verderblicher wird, wenn sie sich auf
den moralischen Menschen bezieht, und dass, wenn irgend etwas
Wirksamkeit auf das einzelne Individuum fordert, diess gerade die
Erziehung ist, welche das einzelne Individuum bilden soll. Es ist
unläugbar, dass gerade daraus sehr heilsame Folgen entspringen,
dass der Mensch in der Gestalt, welche ihm seine Lage und die
Umstände gegeben haben, im Staate selbstthätig wird, und nun
durch den Streit — wenn ich so sagen darf — der ihm vom
Staat angewiesenen Lage, und der von ihm selbst gewählten, zum
Theil er anders geformt wird, zum Theil die Verfassung des
Staats selbst Aenderungen erleidet, wie denn dergleichen, obgleich
freilich auf einmal fast unbemerkbare Aenderungen, nach den
Modifikationen des Nationalcharakters, bei allen Staaten unverkenn-
bar sind. Diess aber hört wenigstens immer in dem Grade auf,
in welchem der Bürger von seiner Kindheit an schon zum Bürger
gebildet wird. Gewiss ist es w^ohlthätig, w^enn die Verhältnisse
des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusammenfallen ;
aber es bleibt diess doch nur alsdann, wenn das des Bürgers so
wenig eigenthümliche Eigenschaften fordert, dass sich die natür-
liche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann
— gleichsam das Ziel, wohin alle Ideen, die ich in dieser Unter-
suchung zu entwikkeln vv^age, allein hinstreben. Ganz und gar
aber hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger
geopfert wird. Denn wenn gleich alsdann die nachtheiligen Folgen
144
=;. Ideen zu einem Versuch
des Misverhältnisses hinwegfallen; so verliert auch der Mensch
dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einen Staat
zu sichern bemüht war. Daher müsste, meiner Meinung zufolge,
die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Ver-
hältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen.
Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten, und
die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei
einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Ver-
fassung durch die Nation mit Gewissheit hoffen, und nur bei einem
solchen schädlichen Einfluss der bürgerlichen Einrichtung auf den
Menschen nicht besorgen. Denn selbst wenn die leztere sehr
fehlerhaft wäre, Hesse sich denken, wie gerade durch ihre ein-
engenden Fesseln die widerstrebende, oder, troz derselben, sich in
ihrer Grösse erhaltende Energie des Menschen gewänne. Aber
diess könnte nur sein, wenn dieselbe vorher sich in ihrer Freiheit
entwikkelt hätte. Denn welch ein ungewöhnlicher Grad gehörte
dazu, sich auch da, wo jene Fesseln von der ersten Jugend an
drükten, noch zu erheben und zu erhalten? Jede öffentliche Er-
ziehung aber, da immer der Geist der Regierung in ihr herrscht,
giebt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form. Wo nun
eine solche Form an sich bestimmt und in sich, wenn gleich ein-
seitig, doch schön ist, wie wir es in den alten Staaten, und viel-
leicht noch jezt in mancher Republik finden, da ist nicht allein
die Ausführung leichter, sondern auch die Sache selbst minder
schädlich. Allein in unsren monarchischen Verfassungen existirt
— und gewiss zum nicht geringen Glük für die Bildung des
Menschen — eine solche bestimmte Form ganz und gar nicht.
Es gehört offenbar zu ihren, obgleich auch von manchen Nach-
theilen begleiteten Vorzügen, dass, da doch die Staatsverbindung
immer nur als ein Mittel anzusehen ist, nicht soviel Kräfte der
Individuen auf diess Mittel verwandt zu werden brauchen, als in
Republiken. Sobald der Unterthan den Gesezen gehorcht, und
sich und die Seinigen im Wohlstande und einer nicht schädlichen
Thätigkeit erhält, kümmert den Staat die genauere Art seiner
Existenz nicht. Hier hätte daher die öffentliche Erziehung, die,
schon als solche, sei es auch unvermerkt, den Bürger oder Unter-
than, nicht den Menschen, wie die Privaterziehung, vor Augen
hat, nicht Eine bestimmte Tugend oder Art zu sein zum Zwek;
sie suchte vielmehr gleichsam ein Gleichgewicht aller, da nichts
so sehr, als gerade diess, die Ruhe hervorbringt und erhält, welche
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VI.
145
eben diese Staaten am eifrigsten beabsichten. Ein solches Streben
aber gewinnt, wie ich schon bei einer andren Gelegenheit zu zeigen
versucht habe, entweder keinen Fortgang, oder führt auf Mangel
an Energie: da hingegen die A^erfolgung einzelner Seiten, w^elche
der Privaterziehung eigen ist, durch das Leben in verschiedenen
^'e^hältnissen und ^>^bindungen jenes Gleichgewicht sichrer und
ohne Aufopferung der Energie hervorbringt.
Will man aber der öffentlichen Erziehung alle positive Be-
förderung dieser oder jener Art der Ausbildung untersagen, will
man es ihr zur Pflicht machen, bloss die eigene Entwikkelung
der Kräfte zu begünstigen; so ist diess einmal an sich nicht aus-
führbar, da was Einheit der Anordnung hat, auch allemal eine
gewisse Einförmigkeit der Wirkung hervorbringt, und dann ist
auch unter dieser Voraussezung der Nuzen einer öffentlichen Er-
ziehung nicht abzusehen. Denn ist es bloss die Absicht zu ver-
hindern, dass lünder nicht ganz unerzogen bleiben; so ist es ja
leichter und minder schädlich, nachlässigen Eltern Vormünder zu
sezen, oder dürftige zu unterstüzen. Ferner erreicht auch die
öffentliche Erziehung nicht einmal die Absicht, welche sie sich
vorsezt, nemlich die Umformung der Sitten nach dem Muster,
welches der Staat für das ihm angemessenste hält. So wichtig
und auf das ganze Leben einwirkend auch der Einfluss der Er-
ziehung sein mag; so sind doch noch immer wichtiger die Um-
stände, welche den Menschen durch das ganze Leben begleiten.
Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag diese Erziehung
allein nicht durchzudringen. Ueberhaupt soll die Erziehung nur,
ohne Rüksicht auf bestimmte, den Menschen zu ertheilende bürger-
liche Formen, Menschen bilden; so bedarf es des Staats nicht.
Unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe besseren Fortgang;
blühen alle Künste schöner auf; erweitern sich alle Wissenschaften.
Unter ihnen sind auch alle Familienbande enger, die Eltern eifriger
bestrebt für ihre Kinder zu sorgen, und, bei höherem Wohlstande,
auch vermögender, ihren Wünschen hierin zu folgen. Bei freien
Menschen entsteht Xacheiferung, und es bilden sich bessere Er-
zieher, wo ihr Schiksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es
von der Beförderung abhängt, die sie vom Staat zu erwarten
haben. Es wird daher weder an sorgfältiger Familienerziehung,
noch an Anstalten so nüzlicher und nothwendiger gcmeinschaft-
W. V. Humboldt, Werke. 1. lO
146
Ideen zu einem Versuch
lieber Erziehung fehlen.*) Soll aber öffentliche Erziehung dem
Menschen eine bestimmte Form ertheilen, so ist, was man auch
sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Geseze, zur Be-
festigung der Sicherheit so gut als nichts gethan. Denn Tugend
und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des Menschen
zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakterseite nothwendig
verbunden ; sondern es kommt in Rüksicht auf sie weit mehr auf
die Harmonie oder Disharmonie der verschiedenen Charakterzüge,
auf das Verhältniss der Kraft zu der Summe der Neigungen u. s. f.
an. Jede bestimmte Charakterbildung ist daher eigner Ausschwei-
fungen fähig, und artet in dieselben aus. Hat daher eine ganze
Nation ausschliesslich vorzüglich eine gewisse erhalten, so fehlt es
an aller entgegenstrebenden Kraft, und mithin an allem Gleich-
gewicht. Vielleicht liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen
Veränderungen der Verfassung der alten Staaten. Jede Verfassung
wirkte so sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet,
artete aus, und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffent-
liche Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht
zugestehen will, zu viel. Um die in einem Staat nothwendige
Sicherheit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht noth-
wendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu unter-
stüzen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf das ganze
Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Bezug haben, und
mir noch vorher von einem Paar einzelner, zu demselben ge-
höriger Mittel zu reden übrig bleibt. Oeffentliche Erziehung
scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu liegen, in
welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss.**)
*j Dans iine societe bien ordonnee, au contraire, tont invite les hommes ä
cultiver leiirs moyens naturels: sans qii'on s'en mele, l'education sera bonne; eile
sera mime d'autant meiUeure, qu'on aura plus laisse ä faire ä l'industrie des
maitres, et ä l'emulation des eleves. Mirabeau s. l'educat. publ. p. 11.
**) Ainsi c'est peut-etre un probleme de savoir, si les legislateurs Fran^ais
doivent s'occuper de l'education publique autrement que pour en proteger les pro-
gres, et si la Constitution la plus favorable au developpement du moi humain
et les lois les plus propres ä mettre c/iacun ä sa place ne sont pas la seule edu-
cation, que le peuple doive aüendre d'eux. l. c. p. 11. D' apres cela, les principes
rigoureux sembleraient exiger que l'Assemblee Nationale ne s'occupät de l'edu-
cation que pour l'enlever ä des pouvoirs, ou ä des corps qui peuvent en depraver
l'inßuence. l. c. p. 12.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VI. VII. ja-j
VII.
Ausser der eigentlichen Erziehung der Jugend giebt es noch
ein anderes Mittel auf den Charakter und die Sitten der Nation
zu wirken, durch welches der Staat gleichsam den erwachsenen,
reif gewordenen Menschen erzieht, sein ganzes Leben hindurch
seine Handlungsweise und Denkungsart begleitet, und derselben
diese oder jene Richtung zu ertheilen, oder sie wenigstens vor
diesem oder jenem Abwege zu bewahren versucht — die Religion.
Alle Staaten, soviel uns die Geschichte aufzeigt, haben sich dieses
Mittels, obgleich in sehr verschiedener Absicht, und in verschie-
denem Maasse bedient. Bei den Alten war die Religion mit der
Staatsverfassung innigst verbunden, eigentlich politische Stüze oder
Triebfeder derselben, und es gilt daher davon alles das, was ich
im Vorigen über ähnliche Einrichtungen der Alten bemerkt habe.
,Als die christliche Religion, statt der ehemaligen Partikulargott-
heiten der Nationen, eine allgemeine Gottheit aller Menschen
lehrte, dadurch eine der gefährlichsten Mauern umstürzte, welche
die verschiedenen Stämme des Menschengeschlechts von einander
absonderten, und damit den wahren Grund aller wahren Menschen-
tugend, Menschenentwikkelung und Menschenvereinigung legte,
ohne welche Aufklärung, und Kenntnisse und Wissenschaften selbst
noch sehr viel länger, wenn nicht immer, ein seltnes Eigenthum
einiger Weniger geblieben wären: wurde das Band zwischen der
Verfassung des Staats und der Religion lokkerer. Als aber nach-
her der Einbruch barbarischer Völker die Aufldärung verscheuchte.
Misverstand eben jener Religion einen blinden und intoleranten
Eifer Proselyten zu machen eingab, und die politische Gestalt der
Staaten zugleich so verändert war, dass man, statt der Bürger, nur
Untenhanen, und nicht sowohl des Staats, als des Regenten fand:
wurde Sorgfalt für die Erhaltung und Ausbreitung der Religion
aus eigener Gewissenhaftigkeit der Fürsten geübt, welche dieselbe
ihnen von der Gottheit selbst anvertraut glaubten. In neueren
Zeiten ist zwar diess ^'orunheil seltener geworden, allein der Ge-
sichtspunkt der innerlichen Sicherheit und der Sittlichkeit — als
ihrer festesten Schuzwehr — hat die Beförderung der Religion
durch Geseze und Staatseinrichtungen nicht minder dringend
empfohlen. Diess, glaube ich, wären etwa die Hauptepochen in
der Religionsgeschichte der Staaten, ob ich gleich nicht läugnen
will, dass jede der angeführten Rüksichten, und vorzüglich die
lO*
[/l3 5. Ideen zu einem Versuch
lezte überall mitwirken mochte, indess freilich Eine die vorzüg-
lichste war. Bei dem Bemühen, durch Religionsideen auf die
Sitten zu wirken, muss man die Beförderung einer bestimmten
Religion von der Beförderung der Religiosität überhaupt unter-
scheiden. Jene ist unstreitig drükkender und verderblicher, als
diese. Allein überhaupt ist nur diese nicht leicht, ohne jene, mög-
lich. Denn wenn der Staat einmal Moralität und Religiosität un-
zertrennbar vereint glaubt, und es für möglich und erlaubt hält,
durch diess Mittel zu wirken; so ist es kaum möglich, dass er
nicht, bei der verschiedenen Angemessenheit verschiedener Religions-
meinungen zu der, wahren, oder angenommenen Ideen nach, ge-
formten Moralität, eine vorzugsweise vor der andren in Schuz
nehme. Selbst wenn er diess gänzlich vermeidet, und gleichsam
als Beschüzer und Vertheidiger aller Religionspartheien auftritt;
so muss er doch, da er nur nach den äussren Handlungen zu
urtheilen vermag, die Meinungen dieser Partheien mit Unter-
drükkung der möglichen abweichenden Meinungen Einzelner be-
günstigen ; und wenigstens interessirt er sich auf alle Fälle insofern
für Eine Meinung, als er den aufs Leben einwirkenden Glauben
an eine Gottheit allgemein zum herrschenden zu machen sucht.
Hiezu kommt nun noch über diess alles, dass, bei der Zweideutig-
keit aller Ausdrükke, bei der Menge der Ideen, welche sich Einem
Wort nur zu oft unterschieben lassen, der Staat selbst dem Aus-
druk Religiosität eine bestimmte Bedeutung unterlegen müsste,
wenn er sich desselben irgend, als einer Richtschnur, bedienen
wollte. So ist daher, meines Erachtens, schlechterdings keine Ein-
mischung des Staats in Religionssachen möglich, welche sich nicht,
nur mehr oder minder, die Begünstigung gewisser bestimmter
Meinungen zu Schulden kommen Hesse, und folglich nicht die
Gründe gegen sich gelten lassen müsste, welche von einer solchen
Begünstigung hergenommen sind. Ebensowenig halte ich eine
Art dieses Einmischens möglich, welche nicht wenigstens gewisser-
maassen eine Leitung, eine Hemmung der Freiheit der Individuen
mit sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der
Einfluss von eigentlichem Zwange, blosser Aufforderung, und end-
lich blosser Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäftigung
mit Religionsideen ist; so ist doch selbst in dieser lezteren, wie
im Vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen ausführlicher
zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses, die Freiheit
einengendes Uebergewtcht der Vorstellungsart des Staats. Diese
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Vli.
»49
Bemerkungen habe ich vorausschikken zu müssen geglaubt, um
bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe zu begegnen, dass
dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beförderung der Religion
überhaupt, sondern nur von einzelnen Gattungen derselben rede,
und um dieselbe nicht durch eine ängstliche Durchgehung der
einzelnen möglichen Fälle zu sehr zerstükkeln zu dürfen.
Alle Religion — und z^va^ rede ich hier von Religion, inso-
fern sie sich auf Sittlichkeit und GlükseHgkeit bezieht, und folglich
in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Vernunft irgend
eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu erkennen meint,
da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von allen Einflüssen des
Wollens oder Begehrens, oder insofern Offenbarung irgend eine
bekräftigt, da auch der historische Glaube dergleichen Einflüssen
nicht unterworfen sein darf — alle Religion, sage ich, beruht auf
einem Bedürfniss der Seele. Wir hoffen, wdr ahnden, weil wir
wünschen. Da, wo noch alle Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch
das Bedürfniss bloss sinnlich. Furcht und Hofnung bei Xatur-
begebenheiten, welche die Einbildungslo'aft in selbstthätige Wesen
verwandelt, machen den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo
geistige Kultur anfängt, genügt diess nicht mehr. Die Seele sehnt
sich dann nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der
ein Funke in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass
ausser sich ahndet. Diess Anschauen geht in Bewunderung, und
wenn der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzu-
denkt, in Liebe über, aus welcher Begierde des Aehnlichwerdens,
der \^ereinigung entspringt. Diess findet sich auch bei denjenigen
Völkern, welche noch auf den niedrigsten Stufen der Bildung
stehen. Denn daraus entspringt es, wenn selbst bei den rohesten
Völkern die Ersten der Nation sich von den Göttern abzustammen,
zu ihnen zurükzukehren wähnen. Xur verschieden ist die Vor-
stellung der Gottheit nach der Verschiedenheit der Vorstellung
von Vollkommenheit, die in jedem Zeitalter und unter jeder
Nation herrscht. Die Götter der ältesten Griechen und Römer,
und die Götter unsrer entferntesten Vorfahren waren Ideale körper-
licher Macht und Stärke. Als die Idee des sinnlich Schönen ent-
stand und verfeinert ward, erhob man die personificirte sinnliche
Schönheit auf den Thron der Gottheit, und so entstand die Reli-
gion, welche man Religion der Kunst nennen könnte. Als man
sich von dem Sinnlichen zum rein Geistigen, von dem Schönen
zum Guten und Wahren erhob, wurde der Inbegriff aller intellek-
[ r Q 5- Ideen zu einem Versuch
tuellen und moralischen ^Vollkommenheit Gegenstand der Anbetung,
und die Religion ein Eigenthum der Philosophie. Vielleicht könnte
nach diesem Maassstabe der Werth der verschiedenen Religionen
gegen einander abgewogen werden, wenn Religionen nach Nationen
oder Partheien, nicht nach einzelnen Individuen verschieden wären.
Allein so ist Religion ganz subjektiv, beruht allein auf der Eigen-
thümlichkeit der Vorstellungsart jedes Menschen.
Wenn die Idee einer Gottheit die Frucht wahrer geistiger
Bildung ist; so wirkt sie schön und wohlthätig auf die innere
Vollkommenheit zurük. Alle Dinge erscheinen uns in veränderter
Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller Absicht, als wenn sie ein
Werk eines vernunftlosen Zufalls sind. Die Ideen von W^eisheit,
Ordnung, Absicht, die uns zu unsrem Handien, und selbst zur
Erhöhung unsrer intellektuellen Kräfte so nothwendig sind, fassen
festere Wurzel in unsrer Seele, wenn wir sie überall entdekken.
Das Endhche wird gleichsam unendlich, das Hinfällige bleibend,
das W^andelbare stät, das Verschlungene einfach, wenn wir uns
Eine ordnende Ursach an der Spize der Dinge, und eine endlose
Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser Forschen nach
Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit gewinnt mehr
Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für uns giebt, das
der Quell aller Wahrheit, der Inbegritf aller Vollkommenheit ist.
Widrige Schiksale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuver-
sicht und Hofnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was
man besizt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zu-
gleich die Glüksehgkeit und die moraUsche Güte. Durch Dank-
barkeit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der
ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht
immer, in sich verschlossen, über den eignen Empfindungen,
Planen, Besorgnissen, Hofnungen. Wenn sie das erhebende Ge-
fühl entbehrt, sich allein alles zu danken; so gcniesst sie das ent-
zükkende, in der Liebe eines andren Wesens zu leben, ein Gefühl,
worin die eigne Vollkommenheit sich mit der Vollkommenheit
jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren zu sein, was
andre ihr sind; will nicht, dass andre ebenso alles aus sich selbst
nehmen sollen, als sie nichts von andren empfängt, ich habe
hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung berührt. Tiefer
in den Gegenstand einzugehen, würde, nach Garves meisterhafter
Ausführung,^) unnüz und vermessen sein.
V Vgl. oben S. 66 Anm. i.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VII.
151
So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei
der moralischen ^'^en'ollkommnung sind; so wenig sind sie doch
auf der andren Seite unzertrennlich damit verbunden. Die blosse
Idee geistiger Vollkommenheit ist gross und füllend und erhebend
genug, um nicht mehr einer andren Hülle oder Gestalt zu be-
dürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Personificirung, eine
Art der Versinnlichung zum Grunde, ein Anthropomorphismus in
höherem oder geringerem Grade. Jene Idee der Vollkommenheit
wird auch demjenigen unaufhörlich vorschweben, der nicht ge-
wohnt ist, die Summe alles Moralisch Guten in Ein Ideal zusam-
menzufassen, und sich in ^^erhältniss zu diesem Wesen zu denken;
sie wird ihm Antrieb zur Thätigkeit, Stoff aller Glükseligkeit sein.
Fest durch die Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fort-
schreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit
muthigem Eifer nach dem Ziele streben, das er sich stekt. Der
Gedanke der Möglichkeit der A^ernichtung seines Daseins wird ihn
nicht schrekken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht
mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänder-
liche Abhängigkeit von äusseren Schiksalen drükt ihn nicht;
gleichgültiger gegen äussres Geniessen und Entbehren, blikt er
nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein
Schiksal vermag etwas über das Innre seiner Seele. Sein Geist
fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die Fülle
seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innren Stärke über den
Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine ^^ergangen-
heit zurükgeht. Schritt vor Schritt aufsucht, wie er jedes Ereigniss
bald auf diese, bald auf jene Weise benuzte, wie er nach und
nach zu dem ward, was er jezt ist, wenn er so Ursach und
Wirkung, Zwek und Mittel, alles in sich vereint sieht, und dann,
voll des edelsten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind,
ausruft :
Hast Du nicht alles selbst vollendet,
Heiligglühend Herz?^)
wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-
losigkeit, von Mangel an Schuz, und Trost, und Beistand ver-
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,
ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt.'*
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn auch
V Vgl. oben S. G-j Anm. i.
j r 2 5. Ideen zu einem Versuch
nicht hart und unempfindlich gegen andre Wesen machen, sein
Herz nicht der theilnehmenden Liebe und jeder wohlwollenden
Neigung verschliessen. Eben diese Idee der Vollkommenheit, die
warlich nicht bloss kalte Idee des Verstandes ist, sondern warmes
Gefühl des Herzens sein kann, auf die sich seine ganze Wirksam-
keit bezieht, trägt sein Dasein in das Dasein andrer über. Es
liegt ja in ihnen gleiche Fähigkeit zu grösserer Vollkommenheit,
diese Vollkommenheit kann er hervorbringen oder erhöhen. Er
ist noch nicht ganz von dem höchsten Ideale aller Moralität durch-
drungen, solange er noch sich oder andre einzeln zu betrachten
vermag, solange nicht alle geistige Wesen in der Summe der in
ihnen einzeln zerstreut liegenden Vollkommenheit in seiner Vor-
stellung zusammenfliessen. Vielleicht ist seine Vereinigung mit
den übrigen, ihm gleichartigen Wesen noch inniger, seine Theil-
nahme an ihrem Schiksale noch wärmer, je mehr sein und ihr
Schiksal, seiner Vorstellung nach, allein von ihm und von ihnen
abhängt.
Sezt man vielleicht, und nicht mit Unrecht dieser Schilderung
den Einwurf entgegen, dass sie, um Realität zu erhalten, eine
ausserordentliche, nicht bloss gewöhnliche Stärke des Geistes und
des Charakters erfordert; so darf man wiederum nicht vergessen,
dass diess in gleichem Grade da der Fall ist, wo religiöse Gefühle
ein wahrhaft schönes, von Kälte und Schwärmerei gleich fernes
Dasein hervorbringen sollen. Auch würde dieser Einwurf über-
haupt nur passend sein, wenn ich die Beförderung der zulezt ge-
schilderten Stimmung vorzugsweise empfohlen hätte. Allein so
geht meine Absicht schlechterdings allein dahin, zu zeigen, dass
die Moralität, auch bei der höchsten Konsequenz des Menschen,
schlechterdings nicht von der Religion abhängig, oder überhaupt
nothwendig mit ihr verbunden ist, und dadurch auch an meinem
Theile zu der Entfernung auch des mindesten Schattens von
Intoleranz, und der Beförderung derjenigen Achtung beizutragen,
welche den Menschen immer für die Denkungs- und Empfindungs-
weise des Menschen erfüllen sollte. Um diese \'orsteilungsart
4:ioch mehr zu rechtfertigen, könnte ich jezt auf der andren Seite
auch den nachtheiligen Einfluss schildern, welches die religiöseste
Stimmung, wie die am meisten entgegengesezte, fähig ist. Allein
es ist gehässig, bei so wenig angenehmen Gemählden zu ver-
weilen, und die Geschichte schon stellt ihrer zur Genüge auf.
Vielleicht führt es auch sogar eine grössere Evidenz mit sich, auf
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VI!.
53
die Natur der Moralität selbst, und auf die genaue \ erbindung,
nicht bloss der Religiosität, sondern auch der Religionssysteme
der Aienschen mit ihren Emptindungss3'stemen einen flüchtigen
Blik zu werfen.
Nun ist weder dasjenige, was die Moral, als Pflicht vorschreibt,
noch dasjenige, was ihren Gesezen gleichsam die Sanktion giebt.
was ihnen Interesse für den Willen leiht, von Religionsideen ab-
hängig. Ich führe hier nicht an, dass eine solche Abhängigkeit
sogar der Reinheit des moralischen Willens Abbruch thun würde.
Man könnte vielleicht diesem Grundsaz in einem, aus der Er-
fahrung geschöpften, und auf die Erfahrung anzuwendenden
Raisonnement, wie das gegenwärtige, die hinlängliche Gültigkeit
absprechen. Allein die Beschatfenheiten einer Handlung, welche
dieselbe zur Pflicht machen, entspringen theils aus der Natur der
menschlichen Seele, theils aus der näheren Anwendung auf die
Verhältnisse der Menschen gegen einander; und wenn dieselben
auch unläugbar in einem ganz vorzüglichen Grade durch religiöse
Gefühle empfohlen werden, so ist diess weder das einzige, noch
auch bei weitem ein auf alle Charaktere anwendbares Mittel.
Vielmehr beruht die Wirksamkeit der Religion schlechterdings
auf der individuellen Beschaffenheit der Menschen, und ist im
strengsten Verstände subjektiv. Der kalte, bloss nachdenkende
Mensch, in dem die Erkenntniss nie in Empfindung übergeht.
dem es genug ist, das Verhältniss der Dinge und Handlungen ein-
zusehen, um seinen Willen danach zu bestimmen, bedarf keines
Religionsgrundes, um tugendhaft zu handien, und, soviel es seinem
(Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Ganz anders ist
es hingegen, w^o die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist, wo
jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein auch hier sind die
Nuancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen starken
Hang fühlt, aus sich hinaus in andre überzugehen, an andre sich
anzuschliessen. da werden Religionsideen wirksame Triebfedern
sein. Dagegen giebt es Charaktere, in welchen eine so innige
Konsequenz aller Ideen und Empfindungen herrscht, die eine so
grosse Tiefe der Erkenntniss und des Gefühls besizen, dass daraus
eine Stärke und Selbstständigkeit hervorgeht, welche das Hingeben
des ganzen Seins an ein fremdes Wesen, das \'ertrauen auf fremde
Kraft, wodurch sich der Einfluss der Religion so vorzüglich äussert,
weder fordert noch erlaubt. Selbst die Lagen, welche erfordert
werden, um auf Religionsideen zurükzukommen, sind nach Ver-
l CA 5- Ween zu einem Versuch
schiedenheit der Charaktere verschieden. Bei dem einen ist jede
starke Rührung — Freude oder Kummer — bei dem andren
nur das frohe Gefühl, aus dem Genuss entspringender Dankbar-
keit dazu hinreichend. Die lezteren Charalaere verdienen viel-
leicht nicht die wenigste Schäzung. Sie sind auf der einen Seite
stark genug, um im Unglük nicht fremde Hülfe zu suchen, und
haben auf der andren zu viel Sinn für das Gefühl geliebt zu
werden, um nicht an die Idee des Genusses gern die Idee eines
liebevollen Gebers zu knüpfen. Oft hat auch die Sehnsucht nach
religiösen Ideen noch einen edleren, reineren, wenn ich so sagen
darf, mehr intellektuellen Quell. Was der Mensch irgend um
sich her erblikt, vermag er allein durch die Vermittlung seiner
Organe aufzufassen; nirgends offenbart sich ihm unmittelbar das
reine Wesen der Dinge; gerade das, was am heftigsten seine
Liebe erregt, am unwiderstehlichsten sein ganzes Innres ergreift,
ist mit dem dichtesten Schleier umhüllt; sein ganzes Leben hin-
durch ist seine Thätigkeit Bestreben, den Schleier zu durchdringen,
seine Wollust Ahnden der W^ahrheit in dem Räthsel des Zeichens,
Hoffen der unvermittelten Anschauung in andren Perioden seines
Daseins. Wo nun, in wunden'oller und schöner Harmonie, nach
der unvermittelten Anschauung des wirklichen Daseins der Geist
rastlos forscht, und das Herz sehnsuchtsvoll verlangt, wo der
Tiefe der Denkkraft nicht die Dürftigkeit des Begriffs, und der
Wärme des Gefühls nicht das Schattenbild der Sinne und der
Phantasie genügt; da folgt der Glaube unaufhaltbar dem eigen-
thümUchen Triebe der Vernunft, jeden Begriff, bis zur Hinweg-
räumung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet
sich fest an ein ^^'esen, das alle andre Wesen umschliesst, und
rein und ohne ^''ermittlung existirt, anschaut und schaft. Allein
oft beschränkt auch eine genügsamere Bescheidenheit den Glauben
innerhalb des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt sich zwar das
Gefühl gern an dem, der Vernunft so eignen Ideal, findet aber
einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben, eingeschränkt auf
die Welt, für die ihm Empfänglichkeit gewährt ist, die sinnliche
und unsinnliche Natur enger zu verweben, dem Zeichen einen
reicheren Sinn, und der Wahrheit ein verständlicheres, ideenfrucht-
bareres Zeichen zu leihen; und oft wird so der Mensch für das
Entbehren jener trunknen Begeisterung hoffender Erwartung, in-
dem er seinem Blik in unendliche Fernen zu schweifen verbietet,
durch das, ihn immer begleitende Bewusstsein des Gelingens seines
die Grenzen der Wirksamkeit des Stan.ts zu bestimmen. VII.
155
Bestrebens entschädigt. Sein minder kühner Gang ist doch sichrer;
der Begriff des Verstandes, an den er sich festhäh, bei minderem
Reichthum, doch klarer; die sinnUche Anschauung, wenn gleich
weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglicher, zur Erfahrung
verbunden zu werden. Nichts bewundert der Geist des Menschen
überhaupt so willig und mit so voller Einstimmung seines Ge-
fühls, als w^isheitsvolle Ordnung in einer zahllosen Menge mannig-
faltiger, vielleicht sogar mit einander streitender Individuen. Indess
ist diese Bewunderung einigen noch in einem bei weitem vor-
züglicheren Grade eigen, und diese verfolgen daher vor allen gern
die ^^orstellungsart, nach welcher Ein Wesen die Welt schuf und
ordnete, und mit sorgender Weisheit erhält. Allein andren ist
gleichsam die Kraft des Individuums heiliger, andre fesselt diese
mehr, als die Allgemeinheit der Anordnung, und es stellt sich
ihnen daher öfter und natürlicher der, wenn ich so sagen darf,
entgegengesezte Weg dar, der nemlich, auf welchem das Wesen
der Individuen selbst, indem es sich in sich entwikkelt, und durch
Einwirkung gegenseitig modificirt, sich selbst zu der Harmonie
stimmt,^) in welcher allein der Geist, wie das Herz des Menschen,
zu ruhen vermag. Ich bin weit entfernt zu wähnen, mit diesen
wenigen Schilderungen die Mannigfaltigkeit des Stoffs, dessen
Reichthum jeder Klassifikation widerstrebt, erschöpft zu haben.
Ich habe nur an ihnen, wie an Beispielen zeigen wollen, dass die
wahre Religiosität, so wie auch jedes wahre Religionssvstem, im
höchsten \'^erstande aus dem innersten Zusammenhange der
Empfindungsweise des Menschen entspringt. Unabhängig von
der Empfindung und der ^Verschiedenheit des Charakters ist nun
zwar das, was in den Religionsideen rein Intellektuelles liegt, die
Begriffe von Absicht, Ordnung, Zwekmässigkeit, Vollkommenheit.
Allein einmal ist hier nicht sowohl von diesen Begriffen an sich,
als von ihrem Einfiuss auf die Menschen die Rede, welcher leztere
unstreitig keinesweges eine gleiche Unabhängigkeit behauptet ; und
dann sind auch diese der Religion nicht ausschliessend eigen.
Die Idee von Vollkommenheit wird zuerst aus der lebendigen
Natur geschöpft, dann auf die leblose übergetragen, endlich nach
und nach, bis zu dem Allvollkommnen hinauf von allen Schranken
entblösst. Nun aber bleiben lebendige und leblose Natur dieselben,
und ist es nicht möglich, die ersten Schritte zu thun, imd doch
V „stimmt" verbessert aus „emporarbcüel" .
156
Ideen zu einem Versuch
vor dem Iczten stehen zu bleiben ? Wenn nun alle Religiosität so
gänzlich auf den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters
und vorzüglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss
auf die Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam
des Inhalts der angenommenen Säze, sondern von der Form des
Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein.
Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem Nuzen
sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich gerechtfertigt
zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch fürchten darf, ist
der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den sehr von der
Natur und den Umständen begünstigten, interessanten, und eben
darum seltenen Menschen vor Augen gehabt zu haben. Allein
die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich den freilich grösseren
Haufen keineswegs übersehe, und es scheint mir unedel, überall
da, wo es der Mensch ist, welcher die Untersuchung beschäftigt,
nicht aus den höchsten Gesichtspunkten auszugehen.
Kehre ich jezt — nach diesem allgemeinen, auf die Religion
und ihren Einfluss im Leben geworfenen Buk — auf die Frage
zurük, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bürger
wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel, welche
der Gesezgeber zum Behuf der moralischen Bildung anwendet,
immer in dem Grade nüzlich und zwekmässig sind, in welchem
sie die innere Entwikkclung der Fähigkeiten und Neigungen be-
günstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem
Innern der Seele, und kann durch äussre Veranstaltungen nur
veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass nun die Religion,
welche ganz auf Ideen, Empfindungen und innerer Ueberzeugung
beruht, ein solches Alittel sei, ist unläugbar. Wir bilden den
Künstler, indem wir sein Auge an den Meisterwerken der Kunst
üben, seine Einbildungskraft mit den schönen Gestalten der Pro-
dukte des Alterthumis nähren. Ebenso muss der sittliche Mensch
gebildet werden durch das Anschauen hoher moralischer Voll-
kommenheit, im Leben durch Umgang, und durch zwekmässiges
Studium der Geschichte, endlich durch das Anschauen der höch-
sten, idealischen Vollkommenheit im Bilde der Gottheit. Aber
diese leztere Ansicht ist, wie ich im Vorigen gezeigt zu haben
glaube, nicht für jedes Auge gemacht, oder um ohne Bild zu
reden, diese Vorstellungsart ist nicht jedem Charakter angemessen.
Wäre sie es aber auch; so ist sie doch nur da wirksam, wo sie
aus dem Zusammenhange aller Ideen und Empfindungen entspringt,
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VII.
^57
wo sie mehr von selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht,
als von aussen in dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hinder-
nisse, mit Religionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung
des freien Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel,
deren der Gesezgeber sich bedienen darf: geht er weiter, sucht
er die Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt
er gar gewisse bestimmte Ideen in Schuz, fordert er, statt wahrer
Ueberzeugung, Glauben auf Autorität : so hindert er das Aufstreben
des Geistes, die Entwildung der Seelenkräfte; so bringt er vielleicht
durch Gewinnung der Einbildungskraft, durch augenblikliche
Rührungen Gesezmässigkeit der Handlungen seiner Bürger, aber
nie wahre Tugend her\-or. Denn wahre Tugend ist unabhängig
von aller, und unverträglich mit befohlner, und auf Autorität ge-
glaubter Religion.
Wenn jedoch gevvisse Religionsgrundsäze auch nur gesez-
mässige Handlungen hervorbringen, ist diess nicht genug, um den
Staat zu berechtigen, sie, auch auf Kosten der allgemeinen Denk-
freiheit, zu verbreiten ? Die Absicht des Staats wird erreicht, wenn
seine Geseze streng befolgt werden ; und der Gesezgeber hat seiner
Pflicht ein Genüge gethan, wenn er weise Geseze giebt, und ihre
Beobachtung von seinen Bürgern zu erhalten weiss. Ueberdiess
passt jener aufgestellte Begriff' von Tugend nur auf einige wenige
Klassen der Mitglieder eines Staats, nur auf die. welche ihre äussre
Lage in den Stand sezt, einen grossen Theil ihrer Zeit und ihrer
Kräfte dem Geschäfte ihrer inneren Bildung zu weihen. Die Sorg-
falt des Staats muss sich auf die grössere Anzahl erstrekken, und
diese ist jenes höheren Grades der Moralität unfähig.
Ich erwähne hier nicht mehr der Säze, welche ich in dem
Anfange dieses Aufsazes zu entwikkeln versucht habe, und die in
der That den Grund dieser Einwürfe umstossen, der Säze nemlich,
dass die Staatseinrichtung an sich nicht Zwek, sondern nur Mittel
zur Bildung des Menschen ist, und dass es daher dem Gesezgeber
nicht genügen kam?, seinen Aussprüchen Autorität zu verschaffen,
wenn nicht zugleich die Mittel, wodurch diese Autorität bewirkt
wird, gut, oder doch unschädlich sind. Es ist aber auch unrichtig,
dass dem Staate allein die Handlungen seiner Bürger und ihre
Gesezmässigkeit v^'ichtig sei. Ein Staat ist eine so zusammen-
gesezte und venvikkelte Maschine, dass Geseze, die immer nur
einfach, allgemein, und von geringer Anzahl sein müssen, unmög-
lich allein darin hinreichen können. Das Meiste bleibt immer den
158
Ideen zu einem Versuch
freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu thun übrig.
Man braucht nur den Wohlstand kultivirter, und aufgeklärter
Nationen mit der Dürftigkeit roher und ungebildeter Völker zu
vergleichen, um von diesem Saze überzeugt zu werden. Daher
sind auch die Bemühungen aller, die sich je mit Staatseinrichtungen
beschäftigt haben, immer dahin gegangen, das Wohl des Staats
zum eignen Interesse des Bürgers zu machen, und den Staat in
eine Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft ihrer
Triebfedern in Gang erhalten würde, und nicht unaufhörlich neuer
äussrer Einwirkungen bedürfte. Wenn die neueren Staaten sich
eines Vorzugs vor den alten rühmen dürfen; so ist es vorzüglich,
weil sie diesen Grundsaz mehr realisirten. Selbst dass sie sich
der Religion, als eines Bildungsmittels bedienen, ist ein Beweis
davon. Doch auch die Religion, insofern nemlich durch gewisse
bestimmte Säze nur gute Handlungen hen^orgebracht, oder durch
positive Leitung überhaupt auf die Sitten gewirkt werden soll, wie
es hier der Fall ist, ist ein fremdes, von aussen einwirkendes
Mittel. Daher muss es immer des Gesezgebers leztes, aber — wie
ihn wahre Kenntniss des Menschen bald lehren wird — nur durch
Gewährung der höchsten Freiheit erreichbares Ziel bleiben, die
Bildung der Bürger bis dahin zu erhöhen, dass sie alle Triebfedern
zur Beförderung des Zweks des Staats allein in der Idee des
Nuzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zu Erreichung
ihrer individuellen Absichten gewährt. Zu dieser Einsicht aber
ist Aufklärung und hohe Geistesbildung nothwendig, welche da
nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist
durch Geseze beschränkt wird.
Nur dass man sich überzeugt hält, ohne bestimmte, geglaubte
Religionssäze, oder wenigstens ohne Aufsicht des Staats auf die
Religion der Bürger, könne auch äussre Ruhe und Sittlichkeit nicht
bestehen, ohne sie sei es der bürgerlichen Gewalt unmöglich, das
Ansehen der Geseze zu erhalten, macht, dass man jenen Betrach-
tungen kein Gehör giebt. Und doch bedürfte der Einfluss, den
Religionssäze, die auf diese Weise angenommen werden, und über-
haupt jede, durch Veranstaltungen des Staats beförderte Religiosität
haben soll, wohl erst einer strengeren und genaueren Prüfung.
Bei dem rohern Theile des Volks rechnet man von allen Religions-
wahrheiten am meisten auf die Ideen künftiger Belohnungen und
Bestrafungen. Diese mindern den Hang zu unsittlichen Hand-
lungen nicht, befördern nicht die Neigung zum Guten, verbessern
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VII.
159
also den Charakter nicht, sie wirken bloss auf die Einbildungs-
kraft, haben folglich, wie Bilder der Phantasie überhaupt, Einfluss
auf die Art zu handien, ihr Einfluss wird aber auch durch alles
das vermindert, und aufgehoben, was die Lebhaftigkeit der Ein-
bildungskraft schwächt. Nimmt man nun hinzu, dass diese Er-
wartungen so entfernt, und darum, selbst nach den Vorstellungen
der Gläubigsten, so ungewiss sind, dass die Ideen von nachheriger
Reue, künftiger Besserung, gehofter Verzeihung, welche durch ge-
wisse Religionsbegrilfe so sehr begünstigt werden — ihnen einen
grossen Theil ihrer Wirksamkeit wiederum nehmen: so ist es
unbegreiflich, wie diese Ideen mehr v^-irken sollten, als die Vor-
stellung bürgerlicher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten
gewiss, und weder durch Reue, noch nachfolgende Besserung ab-
wendbar sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso
mit diesen, als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Hand-
lungen bekannt machte. Uniäugbar wirken freilich auch w-eniger
aufgeklärte Religionsbegrifte bei einem grossen Theile des ^'olks
auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der Fürsorge eines
allweisen und vollkommnen Wesens zu sein, giebt ihnen mehr
Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer führt sie auf höhere
Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und Plan in ihre Handlungen,
das Gefühl der liebevollen Güte der Gottheit giebt ihrer Seele eine
ähnliche Stimmung, kurz die Religion flösst ihnen Sinn für die
Schönheit der Tugend ein. Allein wo die Religion diese Wir-
kungen haben soll, da muss sie schon in den Zusammenhang der
Ideen und Emptindungen ganz übergegangen sein, welches nicht
leicht möglich ist, w^enn der freie Untersuchungsgeist gehemmt,
und alles auf den Glauben zurükgeführt wird ; da muss auch schon
Sinn für bessere Gefühle vorhanden sein, da entspringt sie mehr
aus einem, nur noch unentwikkelten Hange zur Sittlichkeit, auf
den sie hernach nur wieder zurükwirkt. Und überhaupt wird ja
niemand den Einfluss der Rehgion auf die Sittlichkeit ganz ab-
iäugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen be-
stimmten Religionssazen abhängt.' und dann, ob er so entschieden
ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrennlicher Ver-
bindung mit einander stehen.' Beide Fragen müssen, glaube ich,
verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit den ursprüng-
lichen Neigungen des Menschen überein, die Gefühle der Liebe,
der Verträglichkeit, der Gerechtigkeit haben so etwas Süsses, die
der uneigennüzigen Thätigkcit, der Aufopferung für andre so
ißo 5- Ideen zu einem Versuch
etwas Erhebendes, die Verhältnisse, welche daraus im häuslichen
und im gesellschaftlichen Leben überhaupt entspringen, sind so
beglükkend, dass es weit weniger nothwendig ist, neue Triebfedern
zu tugendhaften Handlungen hen'orzusuchen, als nur denen, welche
schon von selbst in der Seele liegen, freiere und ungehindertere
Wirksamkeit zu verschaffen.
Wollte man aber auch weiter gehen, wollte man neue Be-
förderungsmittel hinzufügen; so dürfte man doch nie einseitig
vergessen, ihren Nuzen gegen ihren Schaden abzuwägen. W^ie
vielfach aber der Schade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf
wohl, nachdem es so oft gesagt, und wieder gesagt ist, keiner
weitläuftigen Auseinandersezung mehr; und ebenso enthält der
Anfang dieses Aufsazes schon alles, was ich über den Nachtheil
jeder positiven Beförderung der Religiosität durch den Staat zu
sagen für nothwendig halte. Erstrekte sich dieser Schade bloss
auf die Resultate der Untersuchungen, brächte er bloss Unvoll-
ständigkeit oder Unrichtigkeit in unsrer wissenschaftlichen Er-
kenntniss hervor; so möchte es vielleicht einigen Schein haben,
wenn man den Nuzen, den man für den Charakter davon er-
wartet — auch erwarten darf? — dagegen abwägen wollte. Allein
so ist der Nachtheil bei weitem beträchtlicher. Der Nuzen freier
Untersuchung dehnt sich auf unsre ganze Art, nicht bloss zu
denken, sondern zu handien aus. In einem Manne, der gewohnt
ist, Wahrheit und Irrthum, ohne Rüksicht auf äussre Verhältnisse,
für sich und gegen andre zu beurtheilen, und von andren be-
urtheilt zu hören, sind alle Principien des Handlens durchdachter,
konsequenter, aus höheren Gesichtspunkten hergenommen, als in
dem, dessen Untersuchungen unaufhörlich von Umständen geleitet
werden, die nicht in der Untersuchung selbst liegen. Untersuchung
und Ueberzeugung, die aus der Untersuchung entspringt, ist
Selbstthätigkeit ; Glaube Vertrauen auf fremde Kraft, fremde
intellektuelle oder moralische Vollkommenheit. Daher entsteht in
dem untersuchenden Denker mehr Selbstständigkeit, mehr Festig-
keit; in dem vertrauenden Gläubigen mehr Schwäche, mehr Un-
thätigkeit. Es ist wahr, dass der Glaube, wo er ganz herrscht,
und jeden Zweifel erstikt, sogar einen noch unüberwindlicheren
Muth, eine noch ausdauerndere Stärke hen^orbringt ; die Geschichte
aller Schwärmer lehrt es. Allein diese Stärke ist nur da wünschens-
werth, wo es auf einen äussren bestimmten Erfolg ankommt, zu
welchem bloss maschinenmässiges W^irken erfordert wird; nicht
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VII. i^[
da, wo man eignes Beschliessen, durchdachte, auf Gründen der
Vernunft beruhende Handlungen, oder gar innere Vollkommenheit
erwartet. Denn diese Stärke selbst beruht nur auf der Unter-
drükkung aller eignen Thätigkeit der ^^ernunft. Zweifel sind nur
dem quälend, w^elcher glaubt, nie dem, welcher bloss der eignen
Untersuchung folgt. Denn überhaupt sind diesem die Resultate
weit weniger wichtig, als jenem. Er ist sich, während der Unter-
suchung, der Thätigkeit, der Stärke seiner Seele bewusst, er fühlt,
dass seine wahre Vollkommenheit, seine Glükseligkeit eigentlich
auf dieser Stärke beruht: statt dass Zweifel an den Säzen, die er
bisher für wahr hielt, ihn drükken sollten, freut es ihn, dass seine
Denkkraft soviel gewonnen hat, Irrthümer einzusehen, die ihr
vorher verborgen blieben. Der Glaube hingegen kann nur Inter-
esse an dem Resultat selbst finden, denn für ihn liegt in der er-
kannten Wahrheit nichts mehr. Zweifel, die seine Vernunft er-
regt, peinigen ihn. Denn sie sind nicht, wie in dem selbst-
denkenden Kopfe, neue Mittel zur Wahrheit zu gelangen: sie
nehmen ihm bloss die Gewissheit, ohne ihm ein Mittel anzuzeigen,
dieselbe auf eine andre Weise wieder zu erhalten. Diese Be-
trachtung, weiter verfolgt, führt auf die Bemerkung, dass es über-
haupt nicht gut ist, einzelnen Resultaten eine so grosse Wichtig-
keit beizumessen, zu glauben, dass entweder so viele andre Wahr-
heiten, oder so viele äussre oder innere nüzliche Folgen von ihnen
abhängen. Es wird dadurch zu leicht ein Stillstand in der Unter-
suchung hen'orgebracht, und so arbeiten manchmal die freiesten
und aufgeklärtesten Behauptungen gerade gegen den Grund, ohne
den sie selbst nie hätten emporkommen können. So wichtig ist
Geistesfreiheit, so schädlich jede Einschränkung derselben. Auf
der andren Seite hingegen fehlt es dem Staate nicht an Mitteln,
die Geseze aufrecht zu erhalten, und Verbrechen zu verhüten.
Man verstopfe, soviel es möglich ist, diejenigen Quellen unsittlicher
Handlungen, welche sich in der Staatseinrichtung selbst rinden,
man schärfe die Aufsicht der Polizei auf begangene Verbrechen,
man strafe auf eine zwekmässige Weise, und man wird seines
Zweks nicht verfehlen. Und vergisst man denn, dass die Geistes-
freiheit selbst, und die Aufklärung, die nur unter ihrem Schuze
gedeiht, das wirksamste aller Beförderungsmittel der Sicherheit ist.'
Wenn alle übrige nur den Ausbrüchen wehren, so wirkt sie auf
Neigungen und Gesinnungen; wenn alle übrige nur eine Ueber-
einstimmung äussrer Handlungen her\'orbringen, so schaft sie eine
\V. V. Humboldt, Werke. I. U
lß2 5- Ideen zu einem Versuch
innere Harmonie des Willens und des Bestrebens. Wann wird
man aber auch endlich aufhören, die äusseren Folgen der Hand-
lungen höher zu achten, als die innere geistige Stimmung, aus
welcher sie fliessen? wann wird der Mann aufstehen, der für die
Gesezgebung ist, was Rousseau der Erziehung war, der den Ge-
sichtspunkt von den äussren physischen Erfolgen hinweg auf die
innere Bildung des Menschen zurükzieht?
Man glaube auch nicht, dass jene Geistesfreiheit und Auf-
klärung nur für einige Wenige des Volks sei, dass für den
grösseren Theil desselben, dessen Geschäftigkeit freilich durch die
Sorge für die physischen Bedürfnisse des Lebens erschöpft wird,
sie unnüz bleibe, oder gar nachtheilig werde, dass man auf ihn
nur durch Verbreitung bestimmter Säze, durch Einschränkung der
Denkfreiheit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas die
Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgend einem
Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein. Keiner
steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu Er-
reichung einer höheren unfähig wäre; und sollten auch die auf-
geklärteren religiösen und philosophischen Ideen auf einen grossen
Theil der Bürger nicht unmittelbar übergehen können, sollte man
dieser Klasse von Menschen, um sich an ihre Ideen anzuschmiegen,
die Wahrheit in einem andren Kleide vortragen müssen, als man
sonst wählen würde, sollte man genöthigt sein, mehr zu ihrer
Einbildungskraft und zu ihrem Herzen, als zu ihrer kalten Ver-
nunft zu reden; so verbreitet sich doch die Erweiterung, welche
alle wissenschaftliche Erkenntniss durch Freiheit und Aufklärung
erhält, auch bis auf sie herunter, so dehnen sich doch die wohl-
thätigen Folgen der freien, uneingeschränkten Untersuchung auf
den Geist und den Charakter der ganzen Nation bis in ihre ge-
ringsten Individua hin aus.
Um diesem Raisonnement, weil es sich grossentheils nur auf
den Fall bezieht, wenn der Staat gewisse Religionssäze zu ver-
breiten bemüht ist, eine grössere Allgemeinheit zu geben, muss
ich noch an den, im Vorigen entwikkelten Saz erinnern, dass aller
Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit weit mehr — wenn nicht
allein — von der Form abhängt, in welcher gleichsam die Religion
im Menschen existirt, als von dem Inhalte der Säze, welche sie
ihm heilig macht. Nun aber wirkt jede Veranstaltung des Staats,
wie ich gleichfalls im Vorigen zu zeigen versucht habe, nur mehr
oder minder, auf diesen Inhalt, indess der Zugang zu jener Form
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VII.
163
— wenn ich mich dieses Ausdruks ferner bedienen darf — ihm
so gut als gänzlich verschlossen ist. Wie Religion in einem
Menschen von selbst entstehe.^ wie er sie aufnehme.^ diess hängt
gänzlich von seiner ganzen Art zu sein, zu denken und zu
empfinden ab. Auch nun angenommen, der Staat wäre im Stande,
diese auf eine, seinen Absichten bequeme Weise umzuformen —
wovon doch die Unmöglichkeit wohl unläugbar ist — so wäre
ich in der Rechtfertigung der, in dem ganzen bisherigen Vortrage
aufgestellten Behauptungen sehr unglüklich gewesen, w^enn ich
hier noch alle die Gründe wiederholen müsste, w'elche es dem
Staate überall verbieten, sich des Menschen, mit Uebersehung der
indi\iduellen Zwekke desselben, eigenmächtig zu seinen Absichten
zu bedienen. Dass auch hier nicht absolute Nothwendigkeit ein-
tritt, w^elche allein vielleicht eine Ausnahme zu rechtfenigen ver-
möchte, zeigt die Unabhängigkeit der Moralität von der Religion,
die ich darzuthun versucht habe, und werden diejenigen Gründe
noch in ein helleres Licht stellen, durch die ich bald zu zeigen
gedenke, dass die Erhaltung der innerlichen Sicherheit in einem
Staate keineswegs es erfordert, den Sitten überhaupt eine eigne
bestimmte Richtung zu geben. Wenn aber irgend etwas in den
Seelen der Bürger einen fruchtbaren Boden für die Religion zu
bereiten vermag, wenn irgend etwas die fest aufgenommene, und
in das Gedanken- wie in das Empfindungssystem übergegangene
Religion wohlthätig auf die Sittlichkeit zurükwirken lässt; so ist
es die Freiheit, welche doch immer, wie w^enig es auch sei, durch
eine positive Sorgfalt des Staats leidet. Denn je mannigfaltiger
und eigenthümlicher der Mensch sich ausbildet, je höher sein Ge-
fühl sich emporschwingt : desto leichter richtet sich auch sein BUk
von dem engen, w^echselnden Kreise, der ihn umgiebt, auf das hin,
dessen Unendhchkeit und Einheit den Grund jener Schranken und
jenes Wechsels enthält, er mag nun ein solches Wesen zu finden,
oder nicht zu finden vermeinen. Je freier ferner der Mensch ist,
desto selbstständigc wird er in sich, und desto w^ohlwollender
gegen andre. Nun aber führt nichts so der Gottheit zu, als wohl-
wollende Liebe ; und macht nichts so das Entbehren der Gottheit
der Sittlichkeit unschädlich, als Selbstständigkeit, die Kraft, die
sich in sich genügt, und sich auf sich beschränkt. Je höher end-
lich das Gefühl der Kraft in dem Menschen, je ungehemmter jede
Aeusserung derselben; desto williger sucht er ein inneres Band,
das ihn leite und führe, und so bleibt er der Sitdichkqit hold, es
ißA 5. Ideen zu einem Versuch
mag nun diess Band ihm Ehrfurcht und Liebe der Gottheit, oder
Belohnung des eignen Selbstgefühls sein. Der Unterschied scheint
mir demnach der: der in Religionssachen völlig sich selbst ge-
lassene ' ) Bürger wird, nach seinem individuellen Charakter, reli-
giöse Gefühle in sein Innres verweben, oder nicht; aber in jedem
Fall wird sein Ideensystem konsequenter, seine Empfindung tiefer,
in seinem Wesen mehr Einheit sein, und so wird ihn Sittlichkeit
und Gehorsam gegen die Geseze mehr auszeichnen. Der durch
mancherlei Anordnungen beschränkte hingegen wird — troz der-
selben — eben so verschiedne Religionsideen aufnehmen, oder
nicht; allein in jedem Fall wird er weniger Konsequenz der Ideen,
weniger Innigkeit des Gefühls, weniger Einheit des Wesens be-
sizen, und so wird er die Sittlichkeit minder ehren, und dem Ge-
sez öfter ausweichen wollen.
Ohne also weitere Gründe hinzuzufügen, glaube ich demnach
den, auch an sich nicht neuen Saz aufstellen zu dürfen, dass alles,
was die Religion betrift, ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit
des Staats liegt, und dass die Prediger, wie der ganze Gottesdienst
überhaupt, eine, ohne alle besondre Aufsicht des Staats zu lassende
Einrichtung der Gemeinen sein müssten.
VIII. 2)
Das lezte Mittel, dessen sich die Staaten zu bedienen pflegen,
um eine, ihrem Endzwek der Beförderung der Sicherheit ange-
messene Umformung der Sitten zu bewirken, sind einzelne Geseze
und Verordnungen. Da aber diess ein Weg ist, auf welchem
SittHchkeit und Tugend nicht unmittelbar befördert werden kann ;
so müssen sich einzelne Einrichtungen dieser Art natürlich darauf
beschränken, einzelne Handlungen der Bürger zu verbieten, oder
zu bestimmen, die theils an sich, jedoch ohne fremde Rechte zu
kränken, unsittlich sind, theils leicht zur Unsittlichkeit führen.
Dahin gehören vorzüglich alle den ") Luxus einschränkende Geseze.
^j „in Religionssachen völlig sich selbst gelassene" verbessert aus „freie^K
V Erster Druck dieses Kapitels: Berlinische Monatsschriß 20, 41g— 444
(Novemberheft 1792/ Der Aufsatz hat dort die Überschriß: „Über die Sitten-
verbesserung durch Anstalten des Staats. Zweites Bruchstück aus dem unge-
druckten Werke", wobei auf den Abdruck des fünften Kapitels verwiesen wird.
^) „den" fehlt in der Handschriß, steht aber im ersten Druck.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VII. VIII. ißr
Denn nichts ist unstreitig eine so reiche und gewöhnliche Quelle
unsittlicher, selbst gesezwidriger Handlungen, als das zu grosse
Uebergewicht der Sinnlichkeit in der Seele, oder das Misverhält-
niss der Neigungen und Begierden überhaupt gegen die Kräfte
der Befriedigung, welche die äussre Lage darbietet. Wenn Ent-
haltsamkeit und Massigkeit die Menschen mit den ihnen ange-
w^iesenen Kreisen zufriedner macht; so suchen sie minder, dieselben
auf eine, die Rechte andrer beleidigende, oder wenigstens ihre
eigne Zufriedenheit und Glükseligkeit störende Weise zu verlassen.
Es scheint daher dem wahren Endzwek des Staats angemessen,
die Sinnlichkeit — aus welcher eigentlich alle KolHsionen unter
den Menschen entspringen, da das, worin geistige Gefühle über-
wiegend sind, immer und überall harmonisch mit einander be-
stehen kann — in den gehörigen Schranken zu halten; und, weil
diess freilich das leichteste Mittel hierzu scheint, so viel als mög-
lich zu unterdrükken. Bleibe ich indess den bisher behaupteten
Grundsäzen getreu, immer erst an dem w^ahren Interesse des
Menschen die Mittel zu prüfen, deren der Staat sich bedienen
darf; so wird es nothwendig sein, mehr den Einfluss der Sinn-
lichkeit auf das Leben, die Bildung, die Thätigkeit und die Glük-
seligkeit des Menschen, soviel es zu dem gegenwärtigen Endzwekke
dient, zu untersuchen — eine Untersuchung, w^elche, indem sie
den thätigen und geniessenden Menschen überhaupt in seinem
Innern zu schildern versucht, zugleich anschaulicher darstellen
wird, wie schädlich oder wohlthatig demselben überhaupt Ein-
schränkung und Freiheit ist. Erst w^enn diess geschehen ist, dürfte
sich die Befugniss des Staats, auf die Sitten der Bürger positiv zu
wirken, in der höchsten Allgemeinheit beurtheilen, und damit
dieser Theil der Auflösung der vorgelegten Frage beschliessen
lassen.
Die sinnlichen Empfindungen, Neigungen und Leidenschaften
sind es, welche sich zuerst und in den heftigsten Aeusserungen
im Menschen zeigen. Wo sie, ehe noch Kultur sie verfeinert,
oder der Energie der Seele eine andre Richtung gegeben hat,
schweigen; da ist auch alle Kraft erstorben, und es kann nie
etwas Gutes und Grosses gedeihen. Sie sind es gleichsam, welche
wenigstens zuerst der Seele eine belebende Wärme einhauchen,
zuerst zu einer eignen Thätigkeit anspornen. Sie bringen Leben
und Strebekraft in dieselbe; unbefriedigt machen sie thätig, zur
Anlegung von Planen erfindsam, muthig zur Ausübung; befriedigt
l56 5- Ideen zu einem Versuch
befördern sie ein leichtes, ungehindertes Ideenspiel. Ueberhaupt
bringen sie alle Vorstellungen in grössere und mannigfaltigere
Bewegung, zeigen neue Ansichten, führen auf neue, vorher unbe-
merkt gebliebene Seiten; ungerechnet, wie die verschiedne Art
ihrer Befriedigung auf den Körper und die Organisation, und
diese wieder auf eine Weise, die uns freilich nur in den Resul-
taten sichtbar wird, auf die Seele zurükwirkt. Indess ist ihr
Einfluss in der Intension, wie in der Art des Wirkens verschieden.
Diess beruht theils auf ihrer Stärke oder Schwäche, theils aber
auch — wenn ich mich so ausdrukken darf — auf ihrer Ver-
v^^andtschaft mit dem Unsinnhchen, auf der grösseren oder min-
deren Leichtigkeit, sie von thierischen Genüssen zu menschlichen
Freuden zu erheben. So leiht das Auge der Materie seiner
Empfindung die für uns so genussreiche und ideenfruchtbare Form
der Gestalt, so das Ohr die der verhältnissmässigen Zeitfolge der
Töne, lieber die verschiedene Natur dieser Empfindungen, und
die Art ihrer Wirkung Hesse sich vielleicht viel Schönes und
manches Neue sagen, wozu aber schon hier nicht einmal der Ort
ist. Nur Eine Bemerkung über ihren verschiedenen Nuzen zur
Bildung der Seele. Das Auge, wenn ich so sagen darf, liefert
dem Verstände einen mehr vorbereiteten Stoff. Das Innere des
Menschen wird uns gleichsam mit seiner, und der übrigen, immer
in unsrer Phantasie auf ihn bezogenen Dinge GesteJt, bestimmt,
und in einem einzelnen Zustande, gegeben. Das Ohr, bloss als
Sinn betrachtet, und insofern es nicht Worte aufnimmt, gewährt
eine bei weitem geringere Bestimmtheit. Darum räumt auch
Kant den bildenden Künsten den Vorzug vor der Musik ein.
Allein er bemerkt sehr richtig, dass diess auch zum Maassstabe
die Kultur voraussezt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen,^)
und ich möchte hinzusezen, welche sie ihm unmittelbar ver-
schaffen. Es fragt sich indess, ob diess der richtige Maassstab sei?
Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des
Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was
ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber
der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfindet, so wirkt
auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm darstellt;
und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfindungen
jede einen, durch alle vorige gewirkten, und auf alle folgende
y Kritik der Urteilskraft S. 220.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VIII. jß-y
wirkenden Grad hat, das, in welcliem die einzelnen Bestandtheile
in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Diess alles aber ist der
Fall der Musik. Ferner ist der Musik bloss diese Zeitfolge eigen;
nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe, welche sie darstellt,
nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten Empfindung. Es ist
gleichsam ein Thema, dem man unendlich viele Texte unterlegen
kann. Was ihr also die Seele des Hörenden — insofern derselbe
nur überhaupt, und gleichsam der Gattung nach, in einer ver-
w^andten Stimmung ist — wirklich unterlegt, entspringt völlig frei
und ungebunden aus ihrer eignen Fülle, und so umfasst sie es
unstreitig wärmer, als was ihr gegeben wird, und was oft mehr
beschäftigt, wahrgenommen, als empfunden zu werden. Andre
Eigenthümlichkeiten und Vorzüge der Musik, z. B. dass sie, da
sie aus natürlichen Gegenständen Töne hervorlokt, der Natur
weit näher bleibt, als Mahlerei, Plastik und Dichtkunst, übergehe
ich hier, da es mir nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre
Natur zu prüfen, sondern ich sie nur, als ein Beispiel brauche,
um an ihr die verschiedene Natur der sinnlichen Empfindungen
deutlicher darzustellen. Die eben geschilderte Art, zu wirken,
ist nun nicht der Musik allein eigen. Kant bemerkt eben sie als
möglich bei einer wechselnden Farbenmischung,^) und in noch
höherem Grade ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl
empfinden. Selbst bei dem Geschmak ist sie unverkennbar.
Auch im Geschmak ist ein Steigen des Wohlgefallens, das sich
gleichsam nach einer Auflösung sehnt, und nach der gefundnen
Auflösung in schwächeren Vibrationen nach und nach verschwändet.
Am dunkelsten dürfte diess bei dem Geruch sein. Wie nun im
empfindenden Menschen der Gang der Empfindung, ihr Grad,
ihr w^echselndes Steigen, und Fallen, ihre — wenn ich mich so
ausdrukken darf — reine und volle Harmonie eigentlich das an-
ziehendste, und anziehender ist, als der Stoff selbst, insofern man
nemlich vergisst, dass die Natur des Stoffes vorzüglich den Grad,
und noch mehr die Harmonie jenes Ganges bestimmt; und wie
der empfindende Mensch — gleichsam das Bild des blüthetreibenden
Frühlings — gerade das interessanteste Schauspiel ist; so sucht
auch der Mensch gleichsam diess Bild seiner Empfindung, mehr
als irgend etwas andres, in allen schönen Künsten. So macht die
Mahlerei, selbst die Plastik es sich eigen. Das x\uge der Guido
V Kritik der Urteilskraß S. 2U.
jgg 5. Ideen zu einem Versuch
Renischen Madonna ^) hält sich gleichsam nicht in den Schranken
eines flüchtigen Augenbliks. Die angespannte Muskel des Borghe-
sischen Fechters verkündet den Stoss, den er zu vollführen bereit
ist. Und in noch höherem Grade benuzt diess die Dichtkunst.
Ohne hier eigentlich von dem Range der schönen Künste reden
zu wollen, sei es mir erlaubt, nur noch Folgendes hinzuzusezen,
um meine Idee deutlich zu machen. Die schönen Künste bringen
eine doppelte Wirkung hervor, welche man immer bei jeder
vereint, aber auch bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrift;
sie geben unmittelbar Ideen, oder regen die Empfindung auf,
stimmen den Ton der Seele, oder, wenn der Ausdruk nicht zu
gekünstelt scheint, bereichern oder erhöhen mehr ihre Kraft. Je
mehr nun die eine Wirkung die andre zu Hülfe nimmt, desto
mehr schwächt sie ihren eignen Eindruk. Die Dichtkunst ver-
einigt am meisten, und vollständigsten beide, und darum ist die-
selbe auf der einen Seite die vollkommenste aller schönen Künste,
aber auf der andren Seite auch die schwächste. Indem sie den
Gegenstand weniger lebhaft darstellt, als die Mahlerei und die
Plastik, spricht sie die Empfindung weniger eindringend an, als
der Gesang und die Musik. Allein freilich vergisst man diesen
Mangel leicht, da sie — jene vorhinbemerkte Vielseitigkeit noch
abgerechnet — dem innren, wahren Menschen gleichsam am
nächsten tritt, den Gedanken, wie die Empfindung, mit der leich-
testen Hülle bekleidet.
Die energisch wirkenden sinnlichen Empfindungen — denn
nur um diese zu erläutern, rede ich hier von Künsten — wirken
wiederum verschieden, theils je nachdem ihr Gang wirklich das
abgemessenste Verhältniss hat, theils je nachdem die Bestandtheile
selbst, gleichsam die Materie, die Seele stärker ergreifen. So
wirkt die gleich richtige und schöne Menschenstimme mehr als
ein todtes Instrument. Nun aber ist uns nie etwas näher, als das
eigne körperliche Gefühl. Wo also dieses selbst mit im Spiele
ist, da ist die Wirkung am höchsten. Aber wie immer die un-
verhältnissmässige Stärke der Materie gleichsam die zarte Form
unterdrükt; so geschieht es auch hier oft, und es muss also
V Gemeint ist die berühmte Himmelfahrt Marias in der damaligen düssel-
dorfer Gallerie, die durch unzählige Nachbildungen verbreitet war und die erst
kürzlich Forster in den Ansichten vom Niederrhein (Sämmtliche Schriften j, 8y)
schwärmerisch gepriesen hatte.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VIII. i6q
zwischen beiden ein richtiges Verhältniss sein. Das Gleichgewicht
bei einem unrichtigen Verhältniss kann hergestellt werden durch
Erhöhung der Kraft des einen, oder Schw^ächung der Stärke des
andren. Allein es ist immer falsch, durch Schwächung zu bilden,
oder die Stärke müsste denn nicht natürlich, sondern erkünstelt
sein. Wo sie aber das nicht ist, da schränke man sie nie ein.
Es ist besser, dass sie sich zerstöre, als dass sie langsam hinsterbe.
Doch genug hievon. Ich hoffe meine Idee hinlänglich erläutert
zu haben, obgleich ich gern die Verlegenheit gestehe, in der ich
mich bei dieser Untersuchung befinde, da auf der einen Seite
das Interesse des Gegenstandes, und die Unmöglichkeit, nur die
nöthigen Resultate aus andren Schriften — da ich keine kenne,
welche gerade aus meinem gegenwärtigen Gesichtspunkt ausgienge
— zu entlehnen, mich einlud, mich weiter auszudehnen ; und auf
der andren Seite die Betrachtung, dass diese Ideen nicht eigentlich
für sich, sondern nur als Lehnsäze, hiehergehören, mich immer
in die gehörigen Schranken zurükwies. Die gleiche Entschuldi-
gung muss ich auch bei dem nun Folgenden nicht zu vergessen
bitten.
Ich habe bis jezt — obgleich eine völlige Trennung nie
möglich ist — von der sinnlichen Empfindung nur als sinnlicher
Empfindung zu reden versucht. Aber Sinnlichkeit und Unsinn-
lichkeit verknüpft ein geheimnissvolles Band, und wenn es unsrem
Auge versagt ist, dieses Band zu sehen, so ahndet es unser Gefühl.
Dieser zwiefachen Natur der sichtbaren und unsichtbaren Welt,
dem angebohrnen Sehnen nach dieser, und dem Gefühl der
gleichsam süssen Unentbehrlichkeit jener, danken wir alle, wahr-
haft aus dem Wesen des Menschen entsprungene, konsequente
philosophische Systeme, so wie eben daraus auch die sinnlosesten
Schwärmereien entstehen. Ewiges Streben, beide dergestalt zu
vereinen, dass jede so wenig als möglich der andren raube, schien
mir immer das w^ahre Ziel des menschlichen Weisen. Unver-
kennbar ist überall diess ästhetische Gefühl, mit dem uns die
Sinnlichkeit Hülle des Geistigen, und das Geistige belebendes
Princip der Sinnenweit ist. Das ewige Studium dieser Physiogno-
mik der Natur bildet den eigentlichen Menschen. Denn nichts
ist von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter, als
der Ausdruk des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabnen, des
Einfachen, des Schönen in allen Werken der Natur und Produkten
der Kunst, die uns umgeben. Und hier zeigt sich zugleich wieder
I-yO 5- Ideen zu einem Versuch
der Unterschied der energisch wirkenden, und der übrigen sinn-
lichen Empfindungen. Wenn das lezte Streben alles unsres
menschlichsten Bemühens nur auf das Entdekken, Nähren, und
Erschaffen des einzig wahrhaft Existirenden, obgleich in seiner
Urgestalt ewig Unsichtbaren, in uns und andren gerichtet ist,
wenn es allein das ist, dessen Ahndung uns jedes seiner Symbole
so theuer und heilig macht; so treten wir ihm einen Schritt näher,
wenn wir das Bild seiner ewig regen Energie anschauen. Wir
reden gleichsam mit ihm in schwerer und oft unverstandner, aber
auch oft mit der gewissesten Wahrheitsahndung überraschender
Sprache, indess die Gestalt — wieder, wenn ich so sagen darf,
das Bild jener Energie — weiter von der Wahrheit entfernt ist.
Auf diesem Boden, wenn nicht allein, doch vorzüglich, blüht auch
das Schöne, und noch weit mehr das Erhabene auf, das den
Menschen der Gottheit gleichsam noch näher bringt. Die Noth-
wendigkeit eines reinen, von allen Zwekken entfernten Wohl-
gefallens an einem Gegenstande, ohne Begritf, bewährt ihm gleich-
sam seine Abstammung von dem Unsichtbaren, und seine Ver-
wandtschaft damit; und das Gefühl seiner Unangemessenheit zu
dem überschwenglichen Gegenstande verbindet, auf die menschlich
göttlichste Weise, unendliche Grösse mit hingebender Demuth.
Ohne das Schöne, fehlte dem Menschen die Liebe der Dinge um
ihrer selbst willen; ohne das Erhabne, der Gehorsam, welcher
jede Belohnung verschmäht, und niedrige Furcht nicht kennt.
Das Studium des Schönen gewährt Geschmak, des Erhabnen —
wenn es auch hiefür ein Studium giebt, und nicht Gefühl und
Darstellung des Erhabnen allein Frucht des Genies ist — richtig
abgewägte Grösse. Der Geschmak allein aber, dem allemal Grösse
zum Grunde liegen muss, weil nur das Grosse des Maasses, und
nur das Gewaltige der Haltung bedarf, vereint alle Töne des voll-
gestimmten Wesens in eine reizende Harmonie. Er bringt in
alle unsre, auch bloss geistigen Empfindungen und Neigungen so
etwas Gemässigtes, Gehaltnes, auf Einen Punkt hin Gerichtetes.
Wo er fehlt, da ist die sinnliche Begierde roh und ungebändigt,
da haben selbst wissenschaftliche Untersuchungen vielleicht Scharf-
sinn und Tiefsinn, aber nicht Feinheit, nicht Politur, nicht
Fruchtbarkeit in der Anwendung. Ueberhaupt sind ohne ihn die
Tiefen des Geistes, wie die Schäze des Wissens todt und un-
fruchtbar, ohne ihn der Adel und die Stärke des moralischen
Willens selbst rauh und ohne erwärmende Seegenskraft.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VIII.
171
Forschen und Schaffen — darum drehen und darauf beziehen
sich wenigstens, wenn gleich mittelbarer oder unmittelbarer, alle
Beschäftigungen des Menschen. Das Forschen, wenn es die Gründe
der Dinge, oder die Schranken der Vernunft erreichen soll, sezt,
ausser der Tiefe, einen mannigfaltigen Reichthum und eine innige
Erwärmung des Geistes, eine Anstrengung der vereinten mensch-
lichen Kräfte voraus. Nur der bloss analytische Philosoph kann
xäelleicht durch die einfachen Operationen der nicht bloss ruhigen,
sondern auch kalten Vernunft seinen Endzwek erreichen. Allein
um das Band zu entdekken, welches synthetische Säze verknüpft,
ist eigentliche Tiefe und ein Geist erforderlich, welcher allen seinen
Kräften gleiche Stärke zu verschaffen gewusst hat. So wird Kants
— man kann wohl mit Wahrheit sagen — nie übertrotfener Tief-
sinn noch oft in der Moral und Aesthetik der Schwärmerei be-
schuldigt werden, wie er es schon wurde,^) und — wenn mir das
Geständniss erlaubt ist — wenn mir selbst einige, obgleich seltne
Stellen (ich führe hier, als ein Beispiel, die Deutung der Regen-
bogenfarben in der Kritik der Urtheilskraft an) -) darauf hinzu-
führen scheinen ; so klage ich allein den Mangel der Tiefe meiner
intellektuellen Kräfte an. Könnte ich diese Ideen hier weiter ver-
folgen, so würde ich auf die gewiss äusserst schwierige, aber auch
ebenso interessante Untersuchung stossen: welcher Unterschied
eigentlich zwischen der Geistesbildung des Metaphysikers und des
Dichters ist? und wenn nicht vielleicht eine vollständige, wieder-
holte Prüfung die Resultate meines bisherigen Nachdenkens hier-
über wiederum umstiesse, so würde ich diesen Unterschied bloss
darauf einschränken, dass der Philosoph sich allein mit Per-
ceptionen, der Dichter hingegen mit Sensationen beschäftigt, beide
aber übrigens desselben Maasses und derselben Bildung der Geistes-
kräfte bedürfen. Allein diess würde mich zu weit von meinem
gegenwärtigen Endzwek entfernen, und ich hofl'e, selbst durch die
V Dies geschah mthi oder weniger direkt nicht nur durch Nicolai und
seinen Kreis in den philosophischen Rezensionen der Allgemeinen deutschen
Bibliothek, sondern auch von andern Gegnern Kants, z. B. Tittcl („Über Herrn
Kants Moralreform", Frankfurt imd Leipzig i'jSß) und Feder.
^) „So scheint die weisse Farbe der Lilie das Gemüt zu Ideen der Unschuld
und nach der Ordnung der sieben Farben von der roten an bis zur violetten
i) zur Idee der Erhabenheit, 2) der Kühnheit, jj der Freimütigkeit, 4) der
Freundlichkeit, ^) der Bescheidenheit, 6) der Standhaftigkeit und yj der Zärtlich-
keit zu stimmen" Kritik der Urteilskraft S. lyj.
j»^2 5- Ideen zu einem Versuch
wenigen, im Vorigen angeführten Gründe hinlänglich bescheinigt
zu haben, dass, auch um den ruhigsten Denker zu bilden, Genuss
der Sinne und der Phantasie oft um die Seele gespielt haben muss.
Gehen wir aber gar von transcendentalen Untersuchungen zu
psychologischen über, wird der Mensch, wie er erscheint, unser
Studium, wie wird da nicht der das gestaltenreiche Geschlecht am
tiefsten erforschen, und am wahrsten und lebendigsten darstellen,
dessen eigner Empfindung selbst die wenigsten dieser Gestalten
fremd sind?
Daher erscheint der also gebildete Mensch in seiner höchsten
Schönheit, wenn er ins praktische Leben tritt, wenn er, was er in
sich aufgenommen hat, zu neuen Schöpfungen in und ausser sich
fruchtbar macht. Die Analogie zwischen den Gesezen der Pla-
stischen Natur, und denen des geistigen Schaffens ist schon mit
einem warlich unendlich genievollen Blikke beobachtet, und mit
treffenden Bemerkungen bewährt worden.*) Doch vielleicht wäre
eine noch anziehendere Ausführung möglich gewesen; statt der
Untersuchung unerforschbarer Geseze der Bildung des Keims, hätte
die Ps3xhologie vielleicht eine reichere Belehrung erhalten, wenn
das geistige Schaffen gleichsam als eine feinere Blüthe des körper-
lichen Erzeugens näher gezeigt worden wäre. Um auch in dem
moralischen Leben von demjenigen zuerst zu reden, was am
meisten blosses Werk der kalten Vernunft scheint; so macht es
die Idee des Erhabenen allein möglich, dem unbedingt gebietenden
Geseze zwar allerdings, durch das Medium des Gefühls, auf eine
menschliche, und doch, durch den völligen Mangel der Rüksicht
auf Glükseligkeit oder Unglük, auf eine göttlich uneigennüzige
Weise zu gehorchen. Das Gefühl der Unangemessenheit der
menschlichen Kräfte zum moralischen Gesez, das tiefe Bewusstsein,
dass der Tugendhafteste nur der ist, welcher am innigsten empfindet,
w^ie unerreichbar hoch das Gesez über ihn erhaben ist, erzeugt
die Achtung — eine Empfindung, welche nicht mehr körperliche
Hülle zu umgeben scheint, als nöthig ist, sterbliche Augen nicht
durch den reinen Glanz zu verblenden. Wenn nun das moraHsche
*) F. V. Dalberg vom Bilden und Erfinden.')
V Die Schrift „Vom Erfinden und Bilden" erschien Frankfurt lygi. Hum-
boldt lernte sie wohl durch den Koadjutor Dalberg, den Bruder des Verfassers,
kennen. Über den Letzteren orientiert am besten Beaulieu-Marconnay, Karl von
Dalberg und seine Zeit i, 6; vgl. auch Haym, Herder 2, 3S2.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VIII.
173
Gesez jeden Menschen, als einen Zwek in sich zu betrachten
nöthigt, so vereint sich mit ihm das Schönheitsgefühl, das gern
jedem Staube Leben einhaucht, um, auch in ihm, an einer eignen
Existenz sich zu freuen, und das um so viel voller und schöner
den Menschen aufnimmt und umfasst, als es, unabhängig vom
Begriff, nicht auf die kleine Anzahl der Merkmale beschränkt ist,
welche der Begriff, und noch dazu nur abgeschnitten und einzeln,
allein zu umfassen vermag. Die Beimischung des Schönheits-
gefühls scheint der Reinheit des moralischen Willens Abbruch zu
thun, und sie könnte es allerdings, und würde es auch in der
That, wenn diess Gefühl eigentlich dem Menschen Antrieb zur
Moralität sein sollte. Allein es soll bloss die Pflicht auf sich
haben, gleichsam mannigfaltigere Anwendungen für das moralische
Gesez aufzufinden, welche dem kalten, und darum hier allemal
unfeinen Verstände entgehen würden, und das Recht gemessen,
dem Menschen — dem es nicht verwehrt ist, die mit der Tugend
so eng verschwisterte Glükseligkeit zu empfangen, sondern nur
mit der Tugend gleichsam um diese Glükseligkeit zu handien —
die süssesten Gefühle zu gewähren. Je mehr ich überhaupt über
diesen Gegenstand nachdenken mag, desto weniger scheint mir
der Unterschied, den ich eben bemerkte, bloss subtil, und vielleicht
schwärmerisch zu sein. Wie strebend der Mensch nach Genuss
ist, wie sehr er sich Tugend und Glükseligkeit ewig, auch unter
den ungünstigsten Umständen, vereint denken möchte ; so ist doch
auch seine Seele für die Grösse des moralischen Gesezes empfäng-
lich. Sie kann sich der Gewalt nicht erwehren, mit w^elcher diese
Grösse sie zu handeln nöthigt, und, nur von diesem Gefühle
durchdrungen, handelt sie schon darum ohne Rüksicht auf Genuss,
weil sie nie das volle Bewusstsein verliert, dass die Vorstellung
jedes Unglüks ihr kein andres Betragen abnöthigen würde. Aber
diese Stärke gewinnt die Seele freilich nur auf einem, dem ähn-
lichen Wege, von w^elchem ich im Vorigen rede; nur durch
mächtigen inneren Drang und mannigfaltigen äussren Streit. Alle
Stärke — gleichsam die Materie — stammt aus der Sinnlichkeit,
und, w^ie weit entfernt von dem Stamme, ist sie doch noch immer,
wenn ich so sagen darf, auf ihm ruhend. Wer nun seine Kräfte
unaufhörlich zu erhöhen, und durch häufigen Genuss zu verjüngen
sucht, wer die Stärke seines Charakters oft braucht, seine Unab-
hängigkeit von der Sinnlichkeit zu behaupten, wer so diese Un-
abhängigkeit mit der höchsten Reizbarkeit zu vereinen bemüht ist,
174
Ideen zu einem Versuch
wessen gerader und tiefer Sinn der Wahrheit unermüdet nach-
forscht, wessen richtiges und feines Schönheitsgefühl keine reizende
Gestalt unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfun-
dene in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu
neuen Geburten zu befruchten, jede Schönheit in seine Indivi-
dualität zu verw^andeln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend,
neue Schönheit zu erzeugen strebt, der kann das befriedigende
Bewusstsein nähren, auf dem richtigen Wege zu sein, dem Ideale
sich zu nahen, das selbst die kühnste Phantasie der Menschheit
vorzuzeichnen wagt.
Ich habe durch diess, an und für sich politischen Unter-
suchungen ziemlich fremdartige, allein in der v^on mir gewählten
Folge der Ideen nothwendige Gemähide zu zeigen versucht, wie
die Sinnlichkeit, mit ihren heilsamen Folgen, durch das ganze
Leben, und alle Beschäftigungen des Menschen verflochten ist.
Ihr dadurch Freiheit und Achtung zu erwerben, war meine Ab-
sicht. Vergessen darf ich indess nicht, dass gerade die Sinnlich-
keit auch die Quelle einer grossen Menge physischer und mora-
lischer Uebel ist. Selbst moralisch nur dann heilsam, wenn sie
in richtigem Verhältniss mit der Uebung der geistigen Kräfte steht,
erhält sie so leicht ein schädliches Uebergewicht. Dann wird
menschliche Freude thierischer Genuss, der Geschmak verschwin-
det, oder erhält unnatürliche Richtungen. Bei diesem lezteren
Ausdruk kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hin-
sicht auf gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu bemerken,
dass nicht unnatürlich heissen muss, was nicht gerade diesen oder
jenen Zwek der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen End-
zwek derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber ist, dass
sein Wesen sich zu immer höherer V^ollkommenheit bilde, und
daher vorzüglich, dass seine denkende und empfindende Ivraft,
beide in verhältnissmässigen Graden der Stärke, sich unzertrenn-
lich vereine. Es kann aber ferner ein Misverhältniss entstehen
zwischen der Art, wie der Mensch seine Kräfte ausbildet, und
überhaupt in Thätigkeit sezt, und zwischen den Mitteln des
Wirkens und Geniessens, die seine Lage ihm darbietet, und diess
Misverhältniss ist eine neue Quelle von Uebeln. Nach den im
Vorigen ausgeführten Grundsäzen aber ist es dem Staat nicht er-
laubt, mit positiven Endzwekken auf die Lage der Bürger zu
wirken. Diese Lage erhält daher nicht eine so bestimmte und
erzwungene Form, und ihre grössere Freiheit, wie dass sie in
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VIII.
175
eben dieser Freiheit selbst grösstentheils von der Denkungs- und
Handlungsart der Bürger ihre Richtung erhält, vermindert schon
jenes Misverhältniss. Dennoch könnte indess die, immer übrig-
bleibende, warlich nicht unbedeutende Gefahr die ^^orstellung der
Nothwendigkeit erregen, der Sittenverderbniss durch Geseze und
Staatseinrichtungen entgegenzukommen.
Allein, w^ären dergleichen Geseze und Einrichtungen auch
wirksam, so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch
ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger durch
solche Mittel genöthigt, oder bewogen würden, auch den besten
Gesezen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender
Staat sein ; allein er würde mir immer ein Haufe ernährter Sklaven,
nicht eine \^ereinigung freier, nur, wo sie die Gränze des Rechts
übertreten, gebundener Menschen scheinen. Bloss gewisse Hand-
lungen, Gesinnungen hen^orzubringen, giebt es freilich sehr viele
Wege. Keiner von allen aber führt zur w^ahren, moralischen Voll-
kommenheit. Sinnliche Antriebe zur Begehung gewisser Hand-
lungen, oder Nothwendigkeit sie zu unterlassen bringen Gewohn-
heit hervor, durch die Gewohnheit wird das Vergnügen, das
anfangs nur mit jenen Antrieben verbunden w^ar, auf die Handlung
selbst übergetragen, oder die Neigung, welche anfangs nur vor
der Nothwendigkeit schwieg, gänzlich erstikt ; so wird der Mensch
zu tugendhaften Handlungen, gewissermaassen auch zu tugend-
haften Gesinnungen geleitet. Allein die Kraft seiner Seele wird
dadurch nicht erhöht; weder seine Ideen über seine Bestimmung
und seinen Werth erhalten dadurch mehr Aufklärung, noch sein
Wille mehr Kraft, die herrschende Neigung zu besiegen ; an wahrer,
eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts. Wer also
Menschen bilden, nicht zu äussren Zwekken ziehn will, wird sich
dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass Zwang und
Leitung nie Tugend hervorbringen: so schwächen sie auch noch
immer die Ivraft. Was sind aber Sitten ohne moralische Stärke
und Tugend.' Und wie gross auch das Uebel des Sittenverderb-
nisses sein mag, es ermangelt selbst der heilsamen Folgen nicht.
Durch die Extreme müssen die Menschen zu der Weisheit und
Tugend mittlerem Pfad ^) gelangen. Extreme müssen , gleich
grossen, in die Ferne leuchtenden Massen, weit wirken. Um den
V Den Ursprung dieses offenbar poetischen Zitats, das wohl Schluß und
Anfang zweier Hexameter bildet, habe ich nicht ermitteln können.
jnß 5. Ideen zu einem Versuch
feinsten Adern des Körpers Blut zu verschaffen, muss eine be-
trächtliche Menge in den grossen vorhanden sein. Hier die Ord-
nung der Natur stören wollen, heisst moralisches Uebel anrichten,
um physisches zu verhüten.
Es ist aber auch, meines Erachtens, unrichtig, dass die Gefahr
des Sittenverderbnisses so gross und dringend sei; und so manches
auch schon zu Bestätigung dieser Behauptung im Vorigen gesagt
worden ist, so mögen doch noch folgende Bemerkungen dazu
dienen, sie ausführlicher zu beweisen:
I., Der Mensch ist an sich mehr zu wohlthätigen, als eigen-
nüzigen Handlungen geneigt. Diess zeigt sogar die Geschichte
der Wilden. Die häuslichen Tugenden haben so etwas Freund-
liches, die öffentlichen des Bürgers so etwas Grosses und Hin-
reissendes, dass auch der bloss unverdorbene Mensch ihrem Reiz
selten widersteht.
2., Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die
grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich. Zwang
erstikt die Kraft, und führt zu allen eigennüzigen Wünschen,
und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche. Zwang hindert
vielleicht manche Vergehung, raubt aber selbst den gesezmässigen
Handlungen von ihrer Schönheit. Freiheit veranlasst vielleicht
manche Vergehung, giebt aber selbst dem Laster eine minder un-
edle Gestalt.
3., Der sich selbst überlassene Mensch kommt schwerer auf
richtige Grundsäze, allein sie zeigen sich unaustilgbar in seiner
Handlungsweise. Der absichtlich geleitete empfängt sie leichter,
aber sie weichen, auch sogar seiner, doch geschwächten Energie.
4., Alle Staatseinrichtungen, indem sie ein mannigfaltiges und
sehr verschiednes Interesse in eine Einheit bringen sollen, ver-
ursachen vielerlei Kollisionen. Aus den Kollisionen entstehen
Misverhältnisse zwischen dem Verlangen und dem Vermögen der
Menschen; und aus diesen Vergehungen. Je müssiger also —
wenn ich so sagen darf — der Staat, desto geringer die Anzahl
dieser. Wäre es, vorzüglich in gegebenen Fällen, möglich, genau
die Uebel aufzuzählen, welche Polizeieinrichtungen veranlassen,
und welche sie verhüten, die Zahl der ersteren würde allemal
grösser sein.
5., Wieviel strenge Aufsuchung der wirklich begangenen
Verbrechen, gerechte und wohl abgemessene, aber unerlassliche
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. VIII. IX.
177
Strafe, folglich seltne Straflosigkeit vermag, ist praktisch noch nie
hinreichend versucht worden.
Ich glaube nunmehr für meine Absicht hinlänglich gezeigt
zu haben, wie bedenklich jedes Bemühen des Staats ist, irgend
einer — nur nicht unmittelbar fremdes Recht kränkenden — Aus-
schweifung der Sitten entgegen, oder gar zuvorzukommen, wie
wenig davon insbesondre heilsame Folgen auf die Sittlichkeit
selbst zu erwarten sind, und wie ein solches Wirken auf den
Charakter der Nation selbst zur Erhaltung der Sicherheit nicht
nothvv'endig ist. Nimmt man nun noch hiezu die im Anfange
dieses Aufsazes entwikkelten Gründe, welche jede auf positive
Zwekke gerichtete Wirksamkeit des Staats misbilligen, und die
hier um so mehr gelten, als gerade der moralische Mensch jede
Einschränkung am tiefsten fühlt; und vergisst man nicht, dass,
wenn irgend eine Art der Bildung der Freiheit ihre höchste
Schönheit dankt, diess gerade die Bildung der Sitten und des
Charakters ist; so dürfte die Richtigkeit des folgenden Grundsazes
keinem weiteren Zweifel unterworfen sein, des Grundsazes nemlich :
dass der Staat sich schlechterdings alles Bestrebens,
direkt oder indirekt auf die Sitten und den Charakter
der Nation anders zu wirken, als insofern diess als
eine natürliche, von selbst entstehende Folge seiner
übrigen schlechterdings noth wendigen Maassregeln
unvermeidlich ist, gänzlich enthalten müsse, und
dass alles, was diese Absicht befördern kann, vor-
züglich alle besondre Aufsicht auf Erziehung, Re-
ligionsanstalten, Luxusgeseze u. s. f. schlechterdings
ausserhalb der Schranken seiner Wirksamkeit liege.
IX.
Nachdem ich jezt die w^ichtigsten und schwierigsten Theile
der gegenwärtigen Untersuchung geendigt habe, und ich mich
nun der völligen Auflösung der vorgelegten Frage nähere; ist es
nothwendig, wiederum einmal einen Blik zurük auf das, bis hieher,
entwikkelte Ganze zu werfen. Zuerst ist die Sorgfalt des Staats
von allen denjenigen Gegenständen entfernt worden, welche nicht
zur Sicherheit der Bürger, der auswärtigen sowohl als der inner-
lichen, gehören. Dann ist eben diese Sicherheit, als der eigent-
W. V. Humboldt, Werke. I. 12
j-yg 5. Ideen zu einem Versuch
liehe Gegenstand der Wirksamkeit des Staats dargestellt, und end-
lich das Princip festgesezt worden, dass, um dieselbe zu befördern
und zu erhalten, nicht auf die Sitten und den Charakter der Nation
selbst zu wirken, diesem eine bestimmte Richtung zu geben, oder
zu nehmen, versucht werden dürfe. Gewissermaassen könnte
daher die Frage: in welchen Schranken der Staat seine Wirk-
samkeit halten müsse? schon vollständig beantwortet scheinen,
indem diese Wirksamkeit auf die Erhaltung der Sicherheit, und
in Absicht der Mittel hiezu noch genauer auf diejenigen einge-
schränkt ist, welche sich nicht damit befassen, die Nation zu den
Endzwekken des Staats gleichsam bilden, oder vielmehr ziehen zu
wollen. Denn wenn diese Bestimmung gleich nur negativ ist; so
zeigt sich doch das, was, nach geschehener Absonderung, übrig
bleibt, von selbst deutlich genug. Der Staat wird nemlich allein
sich auf Handlungen, welche unmittelbar und geradezu in fremdes
Recht eingreifen, ausbreiten, nur das streitige Recht entscheiden,
das verlezte wiederherstellen, und die Verlezer bestrafen dürfen.
Allein der Begriff der Sicherheit, zu dessen näherer Bestimmung
bis jezt nichts andres gesagt ist, als dass von der Sicherheit vor
auswärtigen Feinden, und vor Beeinträchtigungen der Mitbürger
selbst die Rede sei, ist zu weit, und vielumfassend, um nicht einer
genaueren Auseinandersezung zu bedürfen. Denn so verschieden
auf der einen Seite die Nuancen von dem bloss Ueberzeugung
beabsichtenden Rath zur zudringlichen Empfehlung, und von da
zum nöthigenden Zwange, und eben so verschieden und vielfach
die Grade der Unbilligkeit oder Ungerechtigkeit von der, inner-
halb der Schranken des eignen Rechts ausgeübten, aber dem
andren möglicherweise schädlichen Handlung bis zu der, gleich-
falls sich nicht aus jenen Schranken entfernenden, aber den andren
im Genüsse seines Eigenthums sehr leicht, oder immer störenden,
und von da bis zu einem wirklichen Eingriff in fremdes Eigen-
thum sind; ebenso verschieden ist auch der Umfang des Begriffs
der Sicherheit, indem man darunter Sicherheit vor einem solchen,
oder solchen Grade des Zwanges, oder einer so nah, oder so fern
das Recht kränkenden Handlung verstehn kann. Gerade aber
dieser Umfang ist von überaus grosser Wichtigkeit, und wird er
zu weit ausgedehnt, oder zu eng eingeschränkt; so sind wiederum,
wenn gleich unter andren Namen, alle Gränzen vermischt. Ohne
eine genaue Bestimmung jenes Umfangs also ist an eine Berich-
tigung dieser Gränzen nicht zu denken. Dann müssen auch die
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. IX. j-yg
Mittel, deren sich der Staat bedienen darf, oder nicht, noch bei
weitem genauer auseinandergesezt und geprüft werden. Denn
wenn gleich ein auf die \wkliche Umformung der Sitten gerich-
tetes Bemühen des Staats , nach dem Vorigen , nicht rathsam
scheint: so ist hier doch noch für die Wirksamkeit des Staats ein
viel zu unbestimmter Spielraum gelassen, und z. B. die Frage
noch sehr w^enig erönert, wie weit die einschränkenden Geseze
des Staats sich von der, unmittelbar das Recht andrer beleidigenden
Handlung entfernen.' inwiefern derselbe wirkliche Verbrechen
durch Verstopfung ihrer Quellen , nicht in dem Charakter der
Bürger, aber in den Gelegenheiten der Ausübung verhüten darf.^
Wie sehr aber, und mit w*ie grossem Nachtheile hierin zu weit
gegangen werden kann, ist schon daraus klar, dass gerade Sorg-
falt für die Freiheit mehrere gute Köpfe vermocht hat, den Staat
für das Wohl der Bürger überhaupt verantwortlich zu machen,
indem sie glaubten, dass dieser allgemeinere Gesichtspunkt die
ungehemmte Thätigkeit der Kräfte befördern würde. Diese Be-
trachtungen nöthigen mich daher zu dem Geständniss, bis hieher
mehr grosse, und in der That ziemlich sichtbar ausserhalb der
Schranken der Wirksamkeit des Staats liegende Stükke abgesondert,
als die genaueren Gränzen, und gerade da, w^o sie zweifelhaft und
streitig scheinen konnten, bestimmt zu haben. Diess bleibt mir
jezt zu thun übrig, und sollte es mir auch selbst nicht völlig ge-
lingen, so glaube ich doch w^enigstens dahin streben zu müssen,
die Gründe dieses Mislingens, so deutlich und vollständig als
möglich, darzustellen. Auf jeden Fall aber hoffe ich, mich nun
sehr kurz fassen zu können, da alle Grundsäze, deren ich zu
dieser Arbeit bedarf, ^chon im Vorigen — wenigstens so viel es
meine Kräfte erlaubten — erörtert und bewiesen worden sind.
Sicher nenne ich die Bürger in einem Staat, w^enn sie in
der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte, dieselben mögen
nun ihre Person, oder ihr Eigenthum betreffen, nicht durch fremde
Eingriffe gestört werden; Sicherheit folglich — wenn der Aus-
druk nicht zu kurz, und vielleicht dadurch undeutlich scheint —
Gewissheit der gesezmässigen Freiheit. Diese Sicher-
heit wird nun nicht durch alle diejenigen Handlungen gestört,
welche den Menschen an irgend einer Thätigkeit seiner Kräfte,
oder irgend einem Genuss seines Vermögens hindern, sondern
nur durch solche, w^elche diess widerrechtlich thun. Diese Be-
stimmung, so wie die obige Definition, ist nicht willkührlich von mir
12*
l^Q 5. Ideen zu einem Versuch
hinzugefügt, oder gewählt worden. Beide fliessen unmittelbar aus
dem oben entwikkelten Raisonnement. Nur wenn man dem Aus-
drukke der Sicherheit diese Bedeutung unterlegt, kann jenes An-
wendung finden. Denn nur wirkliche Verlezungen des Rechts
bedürfen einer andren Macht, als die ist, welche jedes Individuum
besizt; nur was diese Verlezungen verhindert, bringt der wahren
Menschenbildung reinen Gewinn, indess jedes andre Bemühen
des Staats ihr gleichsam Hindernisse in den Weg legt; nur das
endlich fliesst aus dem untrüglichen Princip der Nothwendig-
keit, da alles andre bloss auf den unsichren Grund einer, nach
täuschenden Wahrscheinlichkeiten berechneten Nüzlichkeit ge-
baut ist.
Diejenigen, deren Sicherheit erhalten werden muss, sind auf
der einen Seite alle Bürger, in völliger Gleichheit, auf der andren
der Staat selbst. Die Sicherheit des Staats selbst hat ein Objekt
von grösserem oder geringerem Umfange, je weiter man seine
Rechte ausdehnt, oder je enger man sie beschränkt, und daher
hängt hier die Bestimmung von der Bestimmung des Zweks der-
selben ab. Wie ich nun diese hier bis jezt versucht habe, dürfte
er für nichts andres Sicherheit fordern können, als für die Gewalt,
welche ihm eingeräumt, und das Vermögen, welches ihm zuge-
standen worden. Hingegen Handlungen in Hinsicht auf diese
Sicherheit einschränken, wodurch ein Bürger, ohne eigentliches
Recht zu kränken — und folglich vorausgesezt, dass er nicht in
einem besondren persönlichen, oder temporellen Verhältnisse mit
dem Staat stehe, wie z. B. zur Zeit eines Krieges — sich oder
sein Eigenthum ihm entzieht, könnte er nicht. Denn die Staats-
vereinigung ist bloss ein untergeordnetes Mittel, weichem der
wahre Zwek, der Mensch, nicht aufgeopfert werden darf, es
müsste denn der Fall einer solchen Kollision eintreten, dass, wenn
auch der Einzelne nicht verbunden wäre, sich zum Opfer zu
geben, doch die Menge das Recht hätte, ihn als Opfer zu nehmen.
Ueberdiess aber darf, den entwikkelten Grundsäzen nach, der Staat
nicht für das Wohl der Bürger sorgen, und um ihre Sicherheit
zu erhalten, kann das nicht nothwendig sein, was gerade die
Freiheit und mithin auch die Sicherheit aufhebt.
Gestört wird die Sicherheit entweder durch Handlungen, welche
an und für sich in fremdes Recht eingreifen, oder durch solche,
von deren Folgen nur diess zu besorgen ist. Beide Gattungen
der Handlungen muss der Staat, jedoch mit Modifikationen, welche
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. IX. X. j§j
gleich der Gegenstand der Untersuchung sein werden, verbieten,
zu verhindern suchen; wenn sie geschehen sind, durch rechtlich
bewirkten Ersaz des angerichteten Schadens, soviel es möglich ist,
unschädlich, und, durch Bestrafung, für die Zukunft seltner zu
machen bemüht sein. Hieraus entspringen Polizei- Ci\il- und
Kriminalgeseze, um den gew^öhnlichen Ausdrükken treu zu bleiben.
Hiezu kom.mt aber noch ein andrer Gegenstand, welcher, seiner
eigenthümlichen Natur nach, eine völlig eigne Behandlung verdient.
Es giebt nemlich eine Klasse der Bürger, auf welche die im
Vorigen entv^'ikkelten Grundsäze, da sie doch immer den Menschen
in seinen gewöhnlichen Ivräften voraussezen, nur mit manchen
Verschiedenheiten passen, ich meine diejenigen, welche noch nicht
das Alter der Reife erlangt haben, oder welche ^^errüktheit oder
Blödsinn des Gebrauchs ihrer menschlichen Kräfte beraubt. Für
die Sicherheit dieser muss der Staat gleichfalls Sorge tragen, und
ihre Lage kann, wie sich schon voraussehen lässt, leicht eine eigne
Behandlung erfordern. Es muss also noch zulezt das A'erhältniss
betrachtet w^erden, in w^elchem der Staat, — wie man sich auszu-
drukken pflegt — als Ober Vormund, zu allen Unmündigen unter
den Bürgern steht. So glaube ich — da ich von der Sicherheit
gegen auswärtige Feinde wohl, nach dem im Vorigen Gesagten,
nichts mehr hinzuzusezen brauche — die Aussenlinien aller Gegen-
stände gezeichnet zu haben, auf w^elche der Staat seine Aufmerk-
samkeit richten muss. Weit entfernt nun in alle, hier genannte,
so weitläuftige und schwierige Materien irgend tief eindringen zu
wollen, werde ich mich begnügen, bei einer jeden, so kurz als
möglich, die höchsten Grundsäze, insofern sie die gegenwärtige
Untersuchung angehen, zu entwikkeln. Erst wenn diess geschehen
ist, wird auch nur der Versuch vollendet heissen können, die vor-
gelegte Frage gänzlich zu erschöpfen, und die Wirksamkeit des
Staats von allen Seiten her mit den gehörigen Grenzen zu um-
schliessen.
X.
Um — wie es jezt geschehen muss — dem Menschen durch
alle die mannigfaltigen Verhältnisse des Lebens zu folgen, wird
es gut sein, bei demjenigen zuerst anzufangen, welches unter allen
das einfachste ist, bei dem Falle nemlich, wo der Mensch, wenn
gleich in Verbindung mit andren lebend, doch völlig innerhalb
j§2 5- Ideen zu einem Versuch
der Schranken seines Eigenthums bleibt, und nichts vornimmt,
was sich unmittelbar und geradezu auf andre bezieht, ^^on diesem
Fall handeln die meisten der sogenannten Polizeigeseze. Denn so
schwankend auch dieser Ausdruk ist; so ist dennoch wohl die
wichtigste und allgemeinste Bedeutung die, dass diese Geseze, ohne
selbst Handlungen zu betreifen, wodurch fremdes Recht unmittel-
bar gekränkt wird, nur von Mitteln reden, dergleichen Kränkungen
vorzubeugen; sie mögen nun entweder solche Handlungen be-
schränken, deren Folgen selbst dem fremden Rechte leicht gefähr-
lich werden können, oder solche, welche gewöhnlich zu Ueber-
tretungen der Geseze führen, oder endlich dasjenige bestimmen,
was zur Erhaltung oder Ausübung der Gewalt des Staats selbst
nothwendig ist. Dass auch diejenigen Verordnungen, welche nicht
die Sicherheit, sondern das Wohl der Bürger zum Zwek haben,
ganz vorzüglich diesen Namen erhalten, übergehe ich hier, weil
es nicht zu meiner Absicht dient. Den im Vorigen festgesezten
Principien zufolge, darf nun der Staat hier, in diesem einfachen
Verhältnisse des Menschen, nichts weiter verbieten, als was mit
Grunde Beeinträchtigung seiner eignen Rechte, oder der Rechte
der Bürger besorgen lässt. Und zwar muss in Absicht der Rechte
des Staats hier dasjenige angewandt werden, was von dem Sinne
dieses Ausdruks so eben allgemein erinnert worden ist. Nirgends
also, wo der Vortheil oder der Schade nur den Eigenthümer
allein trift, darf der Staat sich Einschränkungen durch Prohibitiv-
Geseze erlauben. Allein es ist auch zur Rechtfertigung solcher
Einschränkungen nicht genug, dass irgend eine Handlung einem
andren bloss Abbruch thue ; sie muss auch sein Recht schmälern.
Diese zweite BestimmiUng erfordert also eine weitere Erklärung.
Schmälerung des Rechts nemhch ist nur überall da, wo jemandem,
ohne seine Einwilligung, oder gegen dieselbe, ein Theil seines
Eigenthums, oder seiner persönlichen Freiheit entzogen wird. Wo
hingegen keine solche Entziehung geschieht, wo nicht der eine
gleichsam in den Kreis des Rechts des andren eingreift, da ist,
welcher Nachtheil auch für ihn entstehen möchte, keine Schmäle-
rung der Befugnisse. Ebensowenig ist diese da, wo selbst der
Nachtheil nicht eher entsteht, als bis der, welcher ihn leidet, auch
seinerseits thätig wird, die Handlung — um mich so auszudrukken
— auffasst, oder wenigstens der Wirkung derselben nicht, wie er
könnte, entgegenarbeitet.
Die Anwendung dieser Bestimmungen ist von selbst klar ; ich
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. X. j^o
erinnere nur hier an ein Paar merkwürdige Beispiele. Es fällt
nemlich, diesen Grundsäzen nach, schlechterdings alles weg, was
man von Aergerniss erregenden Handlungen in Absicht auf Reli-
gion und Sitten besonders sagt. Wer Dinge äussert, oder Hand-
lungen vornimmt, welche das Gewissen und die Sittlichkeit des
andren beleidigen, mag allerdings unmoralisch handeln, allein, so
fern er sich keine Zudringlichkeit zu Schulden kommen lässt,
kränkt er kein Recht. Es bleibt dem andren unbenommen, sich
von ihm zu entfernen, oder macht die Lage diess unmöglich, so
trägt er die unvermeidliche Unbequemlichkeit der Verbindung mit
ungleichen Charakteren, und darf nicht vergessen, dass vielleicht
auch jener durch den Anblik von Seiten gestört wird, die ihm
eigenthümlich sind, da, auf wessen Seite sich das Recht befinde?
immer nur da wichtig ist, wo es nicht an einem Rechte zu ent-
scheiden fehlt. Selbst der doch gewiss weit schlimmere Fall, wenn
der Anblik dieser oder jener Handlung, das Anhören dieses oder
jenen Raisonnements die Tugend oder die Vernunft und den ge-
sunden Verstand andrer verführte, würde keine Einschränkung
der Freiheit erlauben. Wer so handelte, oder sprach, beleidigte
dadurch an sich niemandes Recht, und es stand dem andern frei,
dem üblen Eindruk bei sich selbst Stärke des Willens, oder Gründe
der Vernunft entgegenzusezen. Daher denn auch, wie gross sehr
oft das hieraus entspringende Uebel sein mag, wiederum auf der
andren Seite nie der gute Erfolg ausbleibt, dass in diesem Fall
die Stärke des Charakters, in dem vorigen die Toleranz und die
Vielseitigkeit der Ansicht geprüft wird, und gewinnt. Ich brauche
hier wohl nicht zu erinnern, dass ich an diesen Fällen hier nichts
weiter betrachte, als ob sie die Sicherheit der Bürger stören?
Denn ihr Verhältniss zur Sittlichkeit der Nation, und was dem
Staat in dieser Hinsicht erlaubt sein kann, oder nicht? habe ich
schon im Vorigen auseinanderzusezen versucht.
Da es indess mehrere Dinge giebt, deren Beurtheilung positive,
nicht jedem eigne Kenntnisse erfordert, und wo daher die Sicher-
heit gestört werden kann, wenn jemand vorsäzlicher oder unbe-
sonnener Welse die Unwissenheit andrer zu seinem \'ortheile be-
nuzt; so muss es den Bürgern frei stehen, in diesen Fällen den
Staat gleichsam um Rath zu fragen. Vorzüglich auffallende Bei-
spiele hievon geben, theils wegen der Häufigkeit des Bedürfnisses,
theils wegen der Schwierigkeit der Beurtheilung und endlich wegen
der Grösse des zu besorgenden Nachtheils, Aerzte, und zum Dienst
184 5- Ideen zu einem Versuch
der Partheien bestimmte Rechtsgelehrte ab. Um nun in diesen
Fällen dem Wunsche der Nation zuvorzukommen, ist es nicht
bloss rathsam, sondern sogar nothwendig, dass der Staat diejenigen,
welche sich zu solchen Geschäften bestimmen — insofern sie sich
einer Prüfung unterwerfen wollen — prüfe, und, wenn die Prüfung
gut ausfällt, mit einem Zeichen der Geschiklichkeit versehe, und
nun den Bürgern bekannt mache, dass sie ihr Vertrauen nur den-
jenigen gewiss schenken können, welche auf diese Weise bewährt
gefunden worden sind. Weiter aber dürfte er auch nie gehen,
nie weder denen, welche entweder die Prüfung ausgeschlagen, oder
in derselben unterlegen, die Uebung ihres Geschäfts, noch der
Nation den Gebrauch derselben untersagen. Dann dürfte er der-
gleichen Veranstaltungen auch auf keine andre Geschäfte ausdehnen,
als auf solche, wo einmal nicht auf das Innere, sondern nur auf
das Aeussere des Menschen gewirkt werden soll, wo dieser folg-
lich nicht selbst mitwirkend, sondern nur folgsam und leidend zu
sein braucht, und wo es demnach nur auf die Wahrheit oder
Falschheit der Resultate ankommt; und wo zweitens die Beurthei-
lung Kenntnisse voraussezt, die ein ganz abgesondertes Gebiet für
sich ausmachen, nicht durch Uebung des Verstandes, und der
praktischen Urtheilskraft erworben werden, und deren Seltenheit
selbst das Rathfragen erschwert. Handelt der Staat gegen die
leztere Bestimmung, so geräth er in Gefahr, die Nation träge, un-
thätig, immer vertrauend auf fremde Kenntniss und fremden Willen
zu machen, da gerade der Mangel sicherer, bestimmter Hülfe so-
wohl zu Bereicherung der eigenen Erfahrung und Kenntniss mehr
anspornt, als auch die Bürger unter einander enger und mannig-
faltiger verbindet, indem sie mehr einer von dem Rathe des andren
abhängig sind. Bleibt er der ersteren Bestimmung nicht getreu;
so entspringen, neben dem ebenerwähnten, noch alle, im Anfange
dieses Aufsazes weiter ausgeführte Nachtheile. Schlechterdings
müsste daher eine solche Veranstaltung wegfallen, um auch hier
wiederum ein merkwürdiges Beispiel zu wählen, bei Religions-
lehrern. Denn was sollte der Staat bei ihnen prüfen ? Bestimmte
Säze — davon hängt, wie oben genauer gezeigt ist, die Religion
nicht ab; das Maass der intellektuellen Kräfte überhaupt — allein
bei dem Religionslehrer, welcher bestimmt ist, Dinge vorzutragen,
die in so genauem Zusammenhange mit der Individualität seiner
Zuhörer stehen, kommt es beinah einzig auf das Verhältniss seines
Verstandes zu dem Verstände dieser an, und so wird schon da-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. X.
185
durch die Beurtheilung unmöglich ; die Rechtschaffenheit und den
Charakter — allein dafür giebt es keine andre Prüfung, als gerade
eine solche, zu welcher die Lage des Staats sehr unbequem ist,
Erkundigung nach den Umständen, dem bisherigen Betragen des
Menschen u. s. f. Endlich müsste überhaupt, auch in den oben
von mir selbst gebilligten Fällen, eine Veranstaltung dieser Art
doch nur immer da gemacht werden, wo der nicht zw^eifelhafte
Wille der Nation sie forderte. Denn an sich ist sie unter freien,
durch Freiheit selbst kultivirten Menschen nicht einmal noth-
wendig, und immer könnte sie doch manchem Misbrauch unter-
worfen sein. Da es mir überhaupt hier nicht um Ausführung
einzelner Gegenstände, sondern nur um Bestimmung der Grund-
säze zu thun ist, so will ich noch einmal kurz den Gesichtspunkt
angeben, aus welchem allein ich einer solchen Einrichtung er-
wähnte. Der Staat soll nemlich auf keine Weise für das positive
Wohl der Bürger sorgen, daher auch nicht für ihr Leben und
ihre Gesundheit — es müssten denn Handlungen andrer ihnen
Gefahr drohen — aber wohl für ihre Sicherheit. Und nur, inso-
fern die Sicherheit selbst leiden kann, indem Betrügerei die Un-
wissenheit benuzt, könnte eine solche Aufsicht innerhalb der
Gränzen der Wirksamkeit des Staats liegen. Indess muss doch
bei einem Betrüge dieser Art der Betrogene immer zur Ueber-
zeugung überredet werden, und da das Ineinanderfliessen der ver-
schiednen Nuancen hiebei schon eine allgemeine Regel beinah
unmöglich macht, auch gerade die, durch die Freiheit übrig-
gelassene Möglichkeit des Betrugs die Menschen zu grösserer Vor-
sicht und Klugheit schärft; so halte ich es für besser und den
Principien gemässer, in der, von bestimmten Anw^endungen fernen
Theorie, Prohibitivgeseze nur auf diejenigen Fälle auszudehnen,
wo ohne, oder gar gegen den Willen des andren gehandelt wird.
Das vorige Raisonnement wird jedoch immer dazu dienen, zu
zeigen, wie auch andre Fälle — wenn die Nothwendigkeit es er-
forderte — in Gem-Sssheit der aufgestellten Grundsäze behandelt
werden müssten.*)
*) Anmerkung. Es könnte scheinen, als gehörten die hier angeführten Fälle nicht
zu dem gegenwärtigen, sondern mehr zu dem folgenden Abschnitt, da sie Handlungen
betreffen, welche sich geradezu auf den andren beziehn. Aber ich sprach auch hier
nicht von dem Fall, wenn z. B. ein Arzt einen Kranken wirklich behandelt, ein Kechts-
gelehrter einen Prozess wirklich übernimmt, sondern von dem, wenn jemand diese Art
zu leben und sich zu ernähren wählt. Ich fragte mich, ob der Staat eine solche Wahl
beschränken dürfe, und diese blosse Wahl bezieht sich noch geradezu auf niemand.
j35 5- Ideen zu einem Versuch
Wenn bis jezt die Beschaffenheit der Folgen einer Handlung
auseinandergesezt ist, welche dieselbe der Aufsicht des Staats
untenvirft; so fragt sich noch, ob jede Handlung eingeschränkt
werden darf, bei welcher nur die Möglichkeit einer solchen Folge
vorauszusehen ist, oder nur solche, mit welchen dieselbe noth-
wendig verbunden ist? In dem ersteren Fall geriethe die Freiheit,
in dem lezteren die Sicherheit in Gefahr zu leiden. Es ist daher
freilich soviel ersichtlich, dass ein Mittelweg getroffen werden
muss. Diesen indess allgemein zu zeichnen halte ich für unmög-
lich. Freilich müsste die Berathschlagung über einen Fall dieser
Art durch die Betrachtung des Schadens, der Wahrscheinlichkeit
des Erfolgs, und der Einschränkung der Freiheit im Fall eines
gegebnen Gesezes zugleich geleitet werden. Allein keins dieser
Stükke erlaubt eigentlich ein allgemeines Maass ; vorzüglich täuschen
immer Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Die Theorie kann da-
her nicht mehr, als jene Momente der Ueberlegung angeben. In
der Anwendung müsste man, glaube ich, allein auf die specielle
Lage sehen, nicht aber sowohl auf die allgemeine Natur der Fälle,
und nur, wenn Erfahrung der Vergangenheit, und Betrachtung
der Gegenwart eine Einschränkung noth wendig machte, die-
selbe verfügen. Das Naturrecht, wenn man es auf das Zusammen-
leben mehrerer Menschen anwendet, scheidet die Gränzlinie scharf
ab. Es misbilligt alle Handlungen, bei welchen der eine mit
seiner Schuld in den Kreis des andern eingreift, alle folglich,
wo der Schade entweder aus einem eigentlichen Versehen ent-
steht, oder, wo derselbe immer, oder doch in einem solchen Grade
der Wahrscheinlichkeit mit der Handlung verbunden ist, dass der
Handlende ihn entweder einsieht, oder wenigstens nicht, ohne
dass es ihm zugerechnet werden müsste, übersehn kann. U eber-
all, wo sonst Schaden entsteht, ist es Zufall, den der Handlende
zu ersezen nicht verbunden ist. Eine weitere Ausdehnung Hesse
sich nur aus einem stillschweigenden Vertrage der Zusammen-
lebenden, und also schon wiederum aus etwas Positivem, her-
leiten. Allein hiebei auch im Staate stehen zu bleiben, könnte mit
Recht bedenldich scheinen, vorzüglich wenn man die Wichtigkeit
des zu besorgenden Schadens, und die Möglichkeit bedenkt, die
Einschränkung der Freiheit der Bürger nur wenig nachtheilig zu
machen. Auch lässt sich das Recht des Staats hiezu nicht be-
streiten, da er nicht bloss insofern für die Sicherheit sorgen soll,
dass er, bei geschehenen Kränkungen des Rechts, zur Entschädi-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. X.
i«7
gung zwinge, sondern auch so, dass er Beeinträchtigungen ver-
hindre. Auch kann ein Dritter, der einen Ausspruch thun soll,
nur nach äussren Kennzeichen entscheiden. Unmöglich darf da-
her der Staat dabei stehen bleiben, abzuwarten, ob die Bürger es
nicht werden an der gehörigen Vorsicht bei gefährlichen Hand-
lungen mangeln lassen, noch kann er sich allein darauf einlassen,
ob sie die Wahrscheinlichkeit des Schadens voraussehen ; er muss
vielmehr — wo wirklich die Lage die Besorgniss dringend macht
— die an sich unschädliche Handlung selbst einschränken.
Vielleicht Hesse sich demnach der folgende Grundsaz auf-
stellen: um für die Sicherheit der Bürger Sorge zu
tragen, muss der Staat diejenigen, sich unmittelbar
allein auf den Handlenden beziehenden Handlungen
verbieten, oder einschränken, deren Folgen die
Rechte andrer kränken, d. i. ohne oder gegen die
Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Be-
siz schmälern,^) odervon denen diess wahrscheinlich
zu besorgen ist, eine \A'ahrscheinlichkeit, bei welcher
allemal auf die Grösse des zu besorgenden Schadens,
und die Wichtigkeit der durch ein Prohibitivgesez
entstehenden Freiheitseinschränkung zugleich Rük-
sicht genommen werden muss. Jede weitere, oder
aus andren Gesichtspunkten gemachte Beschränkung
der Privatfreiheit aber liegt ausserhalb der Gränzen
der Wirksamkeit des Staats.
Da, meinen hier entwikkelten Ideen nach, der einzige Grund
solcher Einschränkungen die Rechte andrer sind ; so müssten die-
selben natürlich sogleich wegfallen, als dieser Grund aufhörte, und
sobald also z. B., da bei den meisten Polizeiveranstaltungen die
Gefahr sich nur auf den Umfang der Gemeinheit, des Dorfs, der
Stadt erstrekt, eine solche Gemeinheit ihre Aufhebung ausdrüldich
und einstimmig verlangte. Der Staat müsste alsdann zurüktreten,
und sich begnügen, die, mit vorsäzlicher, oder schuldbarer
Kränkung der Rechte vorgefallenen Beschädigungen zu bestrafen.
Denn diess allein, die Hemmung der Uneinigkeiten der Bürger
unter einander, ist das wahre und eigentliche Interesse des Staats,
an dessen Beförderung ihn nie der Wille einzelner Bürger, wären
V „ihre Freiheit oder ihren Besiz schmälern" verbessert ans „die Freiheit
derselben einengen, oder ihnen von ihrem Besiz etwas entziehen".
l88 5- Ideen zu einem Versuch
€S auch die Beleidigten selbst, hindern darf. Denkt man sich auf-
geklärte, von ihrem wahren Vortheil unterrichtete, und daher
gegenseitig wohlwollende Menschen in enger Verbindung mit ein-
ander; so werden leicht von selbst freiwillige, auf ihre Sicherheit
abzwekkende Verträge unter ihnen entstehen, Verträge z. B. dass
diess, oder jenes gefahrvolle Geschäft nur an bestimmten Orten,
oder zu gewissen Zeiten betrieben werden, oder auch ganz unter-
bleiben soll. Verträge dieser Art sind Verordnungen des Staats
bei weitem vorzuziehen. Denn, da diejenigen selbst sie schliessen,
welche den Vortheil und Schaden davon unmittelbar, und eben
so, wie das Bedürfniss dazu, selbst fühlen, so entstehen sie erstlich
gewiss nicht leicht anders, als wenn sie wirklich nothwendig sind;
freiwillig eingegangen werden sie ferner besser und strenger be-
folgt; als Folgen der Selbstthätigkeit, schaden sie endlich, selbst
bei beträchtlicher Einschränkung der Freiheit, dennoch dem Cha-
rakter minder, und vielmehr, wie sie nur bei einem gewissen
Maasse der Aufklärung und des Wohlwollens entstehen, so tragen
sie wiederum dazu bei, beide zu erhöhen. Das wahre Bestreben
des Staats muss daher dahin gerichtet sein, die Menschen durch
Freiheit dahin zu führen, dass leichter Gemeinheiten entstehen,
deren Wirksamkeit in diesen und vielfältigen ähnlichen Fällen an
die Stelle des Staats treten könne.
Ich habe hier gar keiner Geseze erwähnt, welche den Bürgern
positive Pflichten, diess, oder jenes für den Staat, oder für einander
aufzuopfern, oder zu thun, auflegten, dergleichen es doch bei uns
überall giebt. Allein die Anwendung der Kräfte abgerechnet,
welche jeder Bürger dem Staate, wo es erfordert wird, schuldig
ist, und von der ich in der Folge noch Gelegenheit haben werde
zu reden, halte ich es auch nicht für gut, wenn der Staat einen
Bürger zwingt, zum Besten des andren irgend etwas gegen seinen
Willen zu thun, möchte er auch auf die vollständigste Weise da-
für entschädigt werden. Denn da jede Sache, und jedes Geschäft,
der unendlichen Verschiedenheit der menschlichen Launen und
Neigungen nach, jedem einen so unübersehbar verschiedenen
Nuzen gewähren, und da dieser Nuzen auf gleich mannigfaltige Weise
interessant, wichtig, und unentbehrlich sein kann; so führt die
Entscheidung, welches Gut des einen welchem des andren vorzu-
ziehen sei? — selbst wenn auch nicht die Schwierigkeit gänzlich
davon zurükschrekt — immer etwas Hartes, über die Empfindung
und Individualität des andren Absprechendes mit sich. Aus eben
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. X.
189
diesem Grunde ist auch, da eigentlich nur das Gleichartige, eines
die Stelle des andren ersezen kann, wahre Entschädigung oft ganz
unmöglich, und fast nie allgemein bestimmbar. Zu diesen Xach-
theilen auch der besten Geseze dieser Art kommt nun noch die
Leichtigkeit des möglichen Misbrauchs. Auf der andren Seite
macht die Sicherheit — welche doch allein dem Staat die Gränzen
richtig vorschreibt, innerhalb welcher er seine Wirksamkeit halten
muss — Veranstaltungen dieser Art überhaupt nicht nothwendig,
da freilich jeder Fall, wo diess sich findet, eine Ausnahme sein
muss: auch werden die Menschen wohlwollender gegen einander,
und zu gegenseitiger Hülfsleistung bereitwilliger, je weniger sich
ihre Eigenliebe und ihr Freiheitssinn durch ein eigentliches Zwangs-
recht des andren gekränkt fühlt; und selbst, wenn die Laune und
der völlig grundlose Eigensinn eines Menschen ein gutes Unter-
nehmen binden, so ist diese Erscheinung nicht gleich von der
Art, dass die Macht des Staats sich ins Mittel schlagen muss.
Sprengt sie doch nicht in der physischen Natur jeden Fels, der
dem Wanderer in dem Wege steht! Hindernisse beleben die
Energie, und schärfen die Klugheit; nur diejenigen, w^elche die
Ungerechtigkeiten der Menschen hervorbringen, hemmen ohne zu
nüzen ; ein solches aber ist jener Eigensinn nicht, der zw^ar durch
Geseze für den einzelnen Fall gebeugt, aber nur durch Freiheit
gebessert werden kann. Diese hier nur kurz zusammengenommene
Gründe sind, dünkt mich, stark genug, um bloss der ehernen
Noth wendigkeit zu weichen, und der Staat muss sich daher
begnügen, die, schon ausser der positiven Verbindung existirenden
Rechte der Menschen, ihrem eignen Untergange die Freiheit oder
das Eigenthum des andren aufzuopfern, zu schüzen.
Endlich entstehen eine nicht unbeträchtliche Menge von
Polizeigesezen aus solchen Handlungen, welche innerhalb der
Gränzen des eignen, aber nicht alleinigen, sondern gemeinschaft-
lichen Rechts vorgenommen werden. Bei diesen sind Freiheits-
beschränkungen natürlich bei weitem minder bedenklich, da in
dem gemeinschaftlichen Eigenthum jeder Miteigenthümer ein Recht
zu widersprechen hat. Solch ein gemeinschaftliches Eigenthum
sind z. B. Wege, Flüsse, die mehrere Besizungen berühren, Pläze
und Strassen in Städten u. s. f.
igo
5. Ideen zu einem Versuch
XI.
Verwikkelter, allein für die gegenwärtige Untersuchung mit
weniger Schwierigkeit verbunden, ist der Fall solcher Handlungen,
welche sich unmittelbar und geradezu auf andre beziehen. Denn
wo durch dieselben Rechte gekränkt werden, da muss der Staat
natürlich sie hemmen, und den Handlenden zum Ersaze des zu-
gefügten Schadens zwingen. Sie kränken - aber , nach den im
Vorigen gerechtfertigten Bestimmungen, das Recht nur dann,
wenn sie dem andren gegen, oder ohne seine Einwilligung etwas
von seiner Freiheit, oder seinem Vermögen entziehn. Wenn
jemand von dem andren beleidigt worden ist, hat er ein Recht
auf Ersaz, allein, da er in der Gesellschaft seine Privatrache dem
Staat übertragen hat, auf nichts weiter, als auf diesen. Der Be-
leidiger ist daher dem Beleidigten auch nur zur Erstattung des
Entzognen, oder, wo diess nicht möglich ist, zur Entschädigung
verbunden, und muss dafür mit seinem Vermögen, und seinen
Kräften, insofern er durch diese zu erwerben vermögend ist, ein-
stehn. Beraubung der Freiheit, die z. B. bei uns bei unver-
mögenden Schuldnern eintritt, kann nur als ein untergeordnetes
Mittel, um nicht Gefahr zu laufen, mit der Person des Verpflich-
teten, seinen künftigen Erwerb zu verlieren, Statt finden. Nun
darf der Staat zwar dem Beleidigten kein rechtmässiges Mittel zur
Entschädigung versagen, allein er muss auch verhüten, dass nicht
Rachsucht sich dieses Vorwands gegen den Beleidiger bediene.
Er muss diess um so mehr, als im aussergesellschaftlichen Zu-
stande dieser dem Beleidigten, wenn derselbe die Gränzen des
Rechts überschritte, Widerstand leisten würde, und hingegen hier
die unwiderstehliche Macht des Staats ihn trift, und als allgemeine
Bestimmungen, die immer da nothwendig sind, wo ein Dritter
entscheiden soll, dergleichen Vorwände immer eher begünstigen.
Die Versicherung der Person der Schuldner z. B. dürfte daher
leicht noch mehr Ausnahmen erfordern, als die meisten Geseze
davon verstatten.
Handlungen, die mit gegenseitiger Einwilligung vorgenommen
werden, sind völlig denjenigen gleich, welche Ein Mensch für sich,
ohne unmittelbare Beziehung auf andre ausübt, und ich könnte
daher bei ihnen nur dasjenige wiederholen, was ich im Vorigen
von diesen gesagt habe. Indess giebt es dennoch unter ihnen
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI.
IQI
Eine Gattung, welche völlig eigne Bestimmungen nothwendig
macht, diejenigen nemlich, die nicht gleich und auf Einmal voll-
endet werden, sondern sich auf die Folge erstrekken. Von dieser
Art sind alle Willenserklärungen, aus welchen vollkommene
Pflichten der Erklärenden entspringen, sie mögen einseitig oder
gegenseitig geschehen. Sie übertragen einen Theil des Eigenthums
von dem einen auf den andren, und die Sicherheit wird gestört,
wenn der Uebertragende durch Nicht Erfüllung des Versprechens
das Uebertragene wiederum zurükzunehmen sucht. Es ist daher
eine der wichtigsten Pflichten des Staats Willenserklärungen auf-
recht zu erhalten. Allein der Zwang, welchen jede Willens-
erklärung auflegt, ist nur dann gerecht und heilsam, wenn einmal
bloss der Erklärende dadurch eingeschränkt wird, und zweitens
dieser, wenigstens mit gehöriger Fähigkeit der Ueberlegung —
überhaupt und in dem Moment der Erklärung — und mit freier
Beschliessung handelte. Ueberall, wo diess nicht der Fall ist, ist
der Zwang eben so ungerecht, als schädlich. Auch ist auf der
einen Seite die Ueberlegung für die Zukunft nur immer auf eine
sehr unvollkommene Weise möglich; und auf der andren sind
manche Verbindlichkeiten von der Art, dass sie der Freiheit
Fesseln anlegen, welche der ganzen Ausbildung des Menschen
hinderlich sind. Es entsteht also die zweite ^Verbindlichkeit des
Staats, rechtswidrigen Willenserklärungen den Beistand der Geseze
zu versagen, und auch alle, nur mit der Sicherheit des Eigen-
thums vereinbare Vorkehrungen zu treifen, um zu verhindern,
dass nicht die Unüberlegtheit Eines Moments dem Menschen Fesseln
anlege, welche seine ganze Ausbildung hemmen oder zurükhalten.
Was zur Gültigkeit eines Vertrags, oder einer Willenserklärung
überhaupt erfordert wird, sezen die Theorien des Rechts sehöris
auseinander. Nur in Absicht des Gegenstandes derselben bleibt
mir hier zu erinnern übrig, dass der Staat, dem, den vorhin ent-
wikkelten Grundsäzen gemäss, schlechterdings bloss die Erhaltung
der Sicherheit obliegt, keine andern Gegenstände ausnehmen darf,
als diejenigen, welche entweder schon die allgemeinen Begrifle
des Rechts selbst ausnehmen, oder deren Ausnahme gleichfalls
durch die Sorge für die Sicherheit gerechtfenigt wird. Als hieher
gehörig aber zeichnen sich vorzüglich nur folgende Fälle aus:
I., wo der Versprechende kein Zwangsrecht übertragen kann,
ohne sich selbst bloss zu einem Mittel der Absichten des andren
herabzuwürdigen, wie z. B. jeder auf Sklaverei hinauslaufende
JQ2 5- Ideen zu einem Versuch
Vertrag wäre; 2., wo der Versprechende selbst über die Leistung
des Versprochenen, der Natur desselben nach, keine Gewalt hat,
wie z. B. bei Gegenständen der Empfindung, und des Glaubens
der Fall ist; 3., wo das Versprechen, entweder an sich, oder in
seinen Folgen den Rechten andrer entweder wirklich entgegen,
oder doch gefährlich ist, w^obei alle, bei Gelegenheit der Hand-
lungen einzelner Menschen entwikkelte Grundsäze eintreten. Der
Unterschied zwischen diesen Fällen ist nur der, dass in dem
ersten und zweiten der Staat bloss das Zwangsrecht der Geseze
versagen muss, übrigens aber weder Willenserklärungen dieser
Art, noch auch ihre Ausübung, insofern diese nur mit gegen-
seitiger Bewilligung geschieht, hindern darf, da er hingegen in
dem zulezt aufgeführten auch die blosse Willenserklärung an sich
untersagen kann, und muss.
Wo aber gegen die Rechtmässigkeit eines Vertrags oder einer
Willenserklärung kein Einwand zu machen ist ; da kann der Staat
dennoch, um den Zwang zu erleichtern, welchen selbst der freie
Wille der Menschen sich unter einander auflegt, indem er die
Trennung der, durch den Vertrag eingegangenen Verbindung
minder erschw^ert, verhindern, dass nicht der zu einer Zeit gefasste
Entschluss, auf einen zu grossen Theil des Lebens hinaus, die
Willkühr beschränke. Wo ein Vertrag bloss auf Uebertragung
von Sachen, ohne weiteres persönliches Verhältniss, abzwekt,
halte ich eine solche Veranstaltung nicht rathsam. Denn einmal
sind dieselben weit seltener von der Art, dass sie auf ein dauerndes
Verhältniss der Kontrahenten führen ; dann stören auch, bei ihnen
vorgenommene Einschränkungen die Sicherheit der Geschäfte ^)
auf eine bei weitem schädlichere W^eise; und endlich ist es von
manchen Seiten, und vorzüglich zur Ausbildung der Beurtheilungs-
kraft, und zur Beförderung der Festigkeit des Charakters gut,
dass das einmal gegebene Wort unwiderruflich binde, so dass
man diesen Zwang nie, ohne eine wahre Nothwendigkeit, er-
leichtern muss, welche bei der Uebertragung von Sachen, wodurch
zwar diese oder jene Ausübung der menschlichen Thätigkeit ge-
hemmt, aber die Energie selbst nicht leicht geschwächt werden
kann, nicht eintritt. Bei Verträgen hingegen, welche persönliche
Leistungen zur Pflicht machen, oder gar eigentliche persönliche
Verhältnisse hervorbringen, ist es bei weitem anders. Der Zwang
V „der Geschäfte" verbessert aus „des Eigenthums".
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI. ig':>
ist bei ihnen den edelsten Kräften des Menschen nachtheiHg, und
da das GeUngen der Geschäfte selbst, die durch sie bewirkt werden,
obgleich mehr oder minder, von der fortdauernden Einwilligung
der Partheien abhängt; so ist auch bei ihnen eine Einschränkung
dieser An minder schädlich. Wo daher durch den Vertrag ein
solches persönliches Verhältniss entsteht, das nicht bloss einzelne
Handlungen fordert, sondern im eigentlichsten Sinn die Person
und die ganze Lebensweise betrift, wo dasjenige, was geleistet,
oder dasjenige, dem entsagt wird, in dem genauesten Zusammen-
hange mit inneren Empfindungen steht, da muss die Trennung
zu jeder Zeit, und ohne Anführung aller Gründe erlaubt sein.
So bei der Ehe. Wo das Verhältniss zw^ar weniger eng ist, indess
gleichfalls die persönliche Freiheit eng beschränkt, da, glaube ich,
müsste der Staat eine Zeit festsezen, deren Länge auf der einen
Seite nach der Wichtigkeit der Beschränkung, auf der andren
nach der Natur des Geschäfts zu bestimmen w^äre, binnen welcher
zwar keiner beider Theile einseitig abgehen dürfte, nach Verlauf
welcher aber der Vertrag, ohne Erneuerung, kein Zwangsrecht
nach sich ziehen könnte, selbst dann nicht, wenn die Partheien,
bei Eingehung des ^^ertrags, diesem Geseze entsagt hätten. Denn
wenn es gleich scheint, als sei eine solche Anordnung eine blosse
W^ohlthat des Gesezes, und dürfte sie, ebensowenig als irgend eine
andre, jemandem aufgedrungen werden; so wird ja niemandem
hierdurch die Befugniss genommen auch das ganze Leben hin-
durch dauernde \"erhältnisse einzugehen, sondern bloss dem einen
das Recht, den andern da zu zwingen, wo der Zwang den höchsten
Zwekken desselben hinderlich sein würde. Ja es ist um so weniger
eine blosse Wohlthat, als die hier genannten Fälle, und vorzüglich
der der Ehe (sobald nemlich die freie Willkühr nicht mehr das
Verhältniss begleitet) nur dem Grade nach v-on denjenigen ver-
schieden sind, worin der eine sich zu einem blossen Mittel der
Absicht des andren macht, oder vielmehr von dem andren dazu
gemacht wird; und die Befugniss hier die Gränzlinie zu bestimmen
zwischen dem, ungerechter, und gerechter Weise aus dem Ver-
trag entstehenden Zwangsrecht, kann dem Staat, d. i. dem gemein-
samen Willen der Gesellschaft, nicht bestritten werden, da, ob die,
aus einem Vertrage entstehende Beschränkung den, welcher seine
Willensmeinung geändert hat,^) wirklich nur zu einem Mittel des
^) „den, welcher seine Willensmeinung geändert hat" verbessert aus „den
einen", wofür zuerst „den Menschen" stand.
\V. V. Humboldt, Werke. I. ^3
IQA 5- Ideen zu einem Versuch
andren macht? völlig genau, und der Wahrheit angemessen zu
entscheiden, nur in jeglichem speciellen Fall möglich sein würde.
Endlich kann es auch nicht eine Wohlthat aufdringen heissen,
wenn man die Befugniss aufhebt, ihr im Voraus zu entsagen.
Die ersten Grundsäze des Rechts lehren von selbst, und es
ist auch im Vorigen schon ausdrüklich erwähnt worden, dass nie-
mand gültigerweise über etwas andres einen Vertrag schliessen,
oder überhaupt seinen Willen erklären kann, als über das, was
wirklich sein Eigenthum ist, seine Handlungen, oder seinen
Besiz. Es ist auch gewiss, dass der wichtigste Theil der Sorgfalt
des Staats für die Sicherheit der Bürger, insofern Verträge oder
Willenserklärungen auf dieselbe Einfluss haben, darin besteht, über
der Ausübung dieses Sazes zu wachen. Dennoch finden sich noch
ganze Gattungen der Geschäfte, bei welchen man seine Anwendung
gänzlich vermisst. So alle Dispositionen von Todeswegen, auf
welche Art sie geschehen mögen, ob direkt, oder indirekt, nur
bei Gelegenheit eines andren Vertrags, ob in einem Vertrage,
Testamente, oder irgend einer andren Disposition, welcher Art sie
sei. Alles Recht kann sich unmittelbar nur immer auf die Person
beziehn ; auf Sachen ist es nicht anders denkbar, als insofern die
Sachen durch Handlungen mit der Person verknüpft sind. Mit
dem Aufhören der Person fällt daher auch diess Recht weg. Der
Mensch darf daher zwar bei seinem Leben mit seinen Sachen
nach Gefallen schalten, sie ganz oder zum Theil, ihre Substanz,
oder ihre Benuzung, oder ihren Besiz veräussern, auch seine
Handlungen, seine Disposition über sein Vermögen, wie er es gut
findet, im Voraus beschränken. Keinesweges aber steht ihm die
Befugniss zu, auf eine, für andre verbindliche Weise zu bestimmen,
wie es mit seinem Vermögen nach seinem Tode gehalten v»^erden,
oder wie der künftige Besizer desselben handien oder nicht handien
solle? Ich verv/eile nicht bei den Einwürfen, welche sich gegen
diese Säze erheben lassen. Die Gründe und Gegengründe sind
schon hinlänglich in der bekannten Streitfrage über die Gültigkeit
der Testamente nach dem Naturrecht auseinandergesezt worden,
und der Gesichtspunkt des Rechts ist hier überhaupt minder
wichtig, da freilich der ganzen Gesellschaft die Befugniss nicht
bestritten werden kann, leztwilligen Erklärungen die, ihnen sonst
mangelnde Gültigkeit positiv beizulegen. Allein wenigstens in der
Ausdehnung, welche ihnen die meisten unsrer Gesezgebungen bei-
legen, nach dem System unsres gemeinen Rechts, in welchem
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI.
195
sich hier die Spizfindigkeit Römischer Rechtsgelehrten mit der,
eigentlich auf die Trennung aller Gesellschaft hinauslaufenden
Herrschsucht des Lehnwesens vereint, hemmen sie die Freiheit,
deren die Ausbildung des Menschen nothwendig bedarf, und streiten
gegen alle, in diesem ganzen Aufsaz entwikkelte Grundsäze. Denn
sie sind das vorzüglichste Mittel, wodurch eine Generation der
andren Geseze vorschreibt, wodurch Misbräuche und \^orurtheile,
die sonst nicht leicht die Gründe überleben würden, welche ihr
Entstehen unvermeidlich, oder ihr Dasein unentbehrlich machen,
von Jahrhunderten zu Jahrhunderten forterben, wodurch endlich,
statt dass die Menschen den Dingen die Gestalt geben sollten,
diese die Menschen selbst ihrem Joche unterwerfen. Auch lenken
sie am meisten den Gesichtspunkt der Menschen von der wahren
Kraft und ihrer Ausbildung ab, und auf den äussren ßesiz, und
das Vermögen hin, da diess nun einmal das Einzige ist, wodurch
dem Willen noch nach dem Tode Gehorsam erzwungen werden
kann. Endlich dient die Freiheit leztwälliger Verordnungen sehr
oft und meistentheils gerade den unedleren Leidenschaften des
Menschen, dem Stolze, der Herrschsucht, der Eitelkeit u. s. f., so
wie überhaupt viel häufiger nur die minder Weisen und minder
Guten davon Gebrauch machen, da der Weisere sich in Acht
nimmt, etwas für eine Zeit zu verordnen, deren individuelle Um-
stände seiner Kurzsichtigkeit verborgen sind, und der Bessere sich
freut, auf keine Gelegenheit zu stossen, wo er den Willen andrer
einschränken muss, statt dieselben noch begierig hervorzusuchen.
Nicht selten mag sogar das Geheimniss und die Sicherheit vor
dem Urtheil der Mitw^elt Dispositionen begünstigen, die sonst die
Schaam unterdrükt hatte. Diese Gründe zeigen, wie es mir scheint,
hinlänglich die Nothwendigkeit, wenigstens gegen die Gefahr zu
sichern, welche die testamentarischen Dispositionen der Freiheit
der Bürger drohen.
Was soll aber, wenn der Staat die Befugniss gänzlich aufhebt.
Verordnungen zu machen, welche sich auf den Fall des Todes
beziehen — wie denn die Strenge der Grundsäze diess allerdings
erfordert — an ihre Steile treten ? Da Ruhe und Ordnung, allen
erlaubte Besiznehmung unmöglich machen, unstreitig nichts anders,
als eine vom Staat festgesezte IntestatErbfolge. Allein dem Staate
einen so mächtigen positiven Eintluss, als er durch diese Erbfolge,
bei gänzlicher Abschaffung der eignen Willenserklärungen der
Erblasser, erhielte, einzuräumen, verbieten auf der andren Seite
13*
jqQ 5. Ideen zu einem Versuch
manche der im Vorigen entvvikkelten Grundsäze. Schon mehr
als einmal ist der genaue Zusammenhang der Geseze der Intestat-
succession mit den politischen Verfassungen der Staaten bemerkt
worden, und leicht Hesse sich dieses Mittel auch zu andren Zwekken
gebrauchen. Ueberhaupt ist im Ganzen der mannichfaltige und
wechselnde Wille der einzelnen Menschen dem einförmigen und
unveränderlichen des Staats vorzuziehen. Auch scheint es, welcher
Nachtheile man immer mit Recht die Testamente beschuldigen
mag, dennoch hart, dem Menschen die unschuldige Freude des
Gedankens zu rauben, diesem oder jenem mit seinem Vermögen
noch nach seinem Tode wohlthätig zu werden; und wenn grosse
Begünstigung derselben der Sorgfalt für das Vermögen eine zu
grosse Wichtigkeit giebt, so führt auch gänzliche Aufhebung viel-
leicht wiederum zu dem entgegengesezten Uebel. Dazu entsteht
durch die Freiheit der Menschen, ihr Vermögen willkührlich zu
hinterlassen, ein neues Band unter ihnen, das zwar oft sehr ge-
misbraucht, allein auch oft heilsam benuzt werden kann. Und
die ganze Absicht der hier vorgetragenen Ideen liesse sich ja viel-
leicht nicht unrichtig darin sezen, dass sie alle Fesseln in der Ge-
sellschaft zu zerbrechen, aber auch dieselbe mit soviel Banden, als
möglich, unter einander zu verschlingen bemüht sind. Der Isolirte
vermag sich eben so wenig zu bilden, als der Gefesselte. Kindlich
ist der Unterschied so klein, ob jemand in dem Moment seines
Todes sein Vermögen wirklich verschenkt, oder durch ein Testa-
ment hinterlässt, da er doch zu dem Ersteren ein unbezweifeltes,
und unentreissbares Recht hat.
Der Widerspruch, in welchen die hier aufgeführten Gründe
und Gegengründe zu verwikkeln schienen, löst sich, dünkt mich,
durch die Betrachtung, dass eine leztwillige Verordnung zweierlei
Bestimmungen enthalten kann, 1., wer unmittelbar der nächste
Besizer des Nachlasses sein? 2., wie er damit schalten, wem er
ihn wiederum hinterlassen, und wie es überhaupt in der Folge
damit gehalten werden soll ? und dass alle vorhin erwähnte Nach-
theile nur von der lezteren, alle Vortheile hingegen allein von der
ersteren gelten. Denn haben die Geseze nur, wie sie allerdings
müssen, durch gehörige Bestimmung eines Pflichttheils Sorge ge-
tragen, dass kein Erblasser eine wahre Unbilligkeit oder Un-
gerechtigkeit begehen kann, so scheint mir von der bloss wohl-
wollenden Meinung, jemanden noch nach seinem Tode zu be-
schenken, keine sonderliche Gefahr zu befürchten zu sein. Auch
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI.
^97
werden die Grundsäze, nach welchen die Menschen hierin ver-
fahren werden, zu Einer Zeit gewiss immer ziemlich dieselben
sein, und die grössere Häufigkeit oder Seltenheit der Testamente
wird dem Gesezgeber selbst zugleich zu einem Kennzeichen dienen,
ob die von ihm eingeführte IntestatErbfolge noch passend ist, oder
nicht .^ Dürfte es daher vielleicht nicht rathsam sein, nach der
zwiefachen Natur dieses Gegenstandes, auch die Maassregeln des
Staats in Betreff seiner zu theilen ? auf der einen Seite zwar jedem
zu gestatten, die Einschränkung in Absicht des Pflichttheils aus-
genommen, zu bestimmen, w e r sein Vermögen nach seinem Tode
besizen solle .^ aber ihm auf der andern zu verbieten, gleichfalls
auf irgend eine nur denkbare Weise zu verordnen, wie derselbe
übrigens damit schalten, oder walten solle .^ Leicht könnte nun
zwar das, was der Staat erlaubte, als ein Mittel gemisbraucht
werden, auch das zu thun, w^as er untersagte. x\llein diesem
müsste die Gesezgebung durch einzelne und genaue Bestimmungen
zuvorzukommen bemüht sein. Als solche Bestimmungen Hessen
sich z. B., da die Ausführung dieser Materie nicht hieher gehört,
folgende vorschlagen, dass der Erbe durch keine Bedingung be-
zeichnet werden dürfte, die er, nach dem Tode des Erblassers,
vollbringen müsste, um \wklich Erbe zu sein ; dass der Erblasser
immer nur den nächsten Besizer seines Vermögens, nie aber einen
folgenden ernennen, und dadurch die Freiheit des früheren be-
schränken dürfte; dass er zwar mehrere Erben ernennen könnte,
aber diess nicht ^) geradezu thun müsste; eine Sache zwar dem
Umfange, nie aber den Rechten nach, z. B. Substanz und Niess-
brauch, theilen dürfte u. s. f. Denn hieraus, wde auch aus der
hiermit nah verbundnen Idee, dass der Erbe den Erblasser vor-
stellt — die sich, wenn ich mich nicht sehr irre, wie so vieles
andre, in der Folge für uns noch äusserst wichtig Gewordene,
auf eine Formalität der Römer, und also auf die mangelhafte Ein-
richtung der Gerichtsverfassung eines erst sich bildenden Volkes
gründet — entspringen mannigfaltige Unbequemlichkeiten, und
Freiheitsbeschränkungen. Allen diesen aber wird es möglich sein
zu entgehen, wenn man den Saz nicht aus den Augen verliert,
dass dem Erblasser nichts weiter verstattet sein darf, als aufs
höchste seinen Erben zu nennen: dass der Staat, wenn diess gültig
V „nicht" fehlt in der Handschrift und auch in Cauers Ausgabe, ubwohl es
dem Sinne nach notwendig ist.
Iq3 5. Ideen zu einem Versuch
geschehen ist, diesem Erben zum Besize verhelfen, aber jeder
weitergehenden Willenserklärung des Erblassers seine Unterstüzung
versagen muss.
Für den Fall, wo keine Erbesernennung von dem Erblasser
geschehen ist, muss der Staat eine Intestaterbfolge anordnen.
Allein die Ausführung der Säze, welche dieser, so wie der Be-
stimmung des Pflichttheils zum Grunde liegen müssen, gehört
nicht zu meiner gegenwärtigen Absicht, und ich kann mich mit
der Bemerkung begnügen, dass der Staat auch hier nicht positive
Endzwekke, z. B. Aufrechthaltung des Glanzes und des Wohl-
standes der FamiUen, oder in dem entgegengesezten Extreme Ver-
splitterung des Vermögens durch Vendelfachung der Theilnehmer,
oder gar reichlichere Unterstüzung des grösseren Bedürfnisses,
vor Augen haben darf; sondern allein den Begriffen des Rechts
folgen muss, die sich hier vielleicht bloss auf den Begriff des ehe-
maligen Miteigenthums bei dem Leben des Erblassers beschränken,
und so das erste Recht der Familie, das fernere der Gemeine
u. s. w. einräumen.*)
Sehr nah verwandt mit der Erbschaftsmaterie ist die Frage,
inwiefern Verträge unter Lebendigen auf die Erben übergehen
müssen ? Die Antwort muss sich aus dem festgestellten Grundsaz
ergeben. Dieser aber war folgender: der Mensch darf bei seinem
Leben seine Handlungen beschränken und sein Vermögen ver-
äussern, wie er will, auf die Zeit seines Todes aber weder die
Handlungen dessen bestimmen wollen, der alsdann sein \"ermögen
besizt, noch auch hierüber eine Anordnung irgend einer Gattung
(man müsste denn die blosse Ernennung eines Erben billigen)
treffen. Es müssen daher alle diejenigen Verbindlichkeiten auf
den Erben übergehn, und gegen ihn erfüllt werden, welche wirk-
lich die Uebertragung eines Theils des Eigenthums in sich
schliessen, folglich das Vermögen des Erblassers entweder ver-
*) Sehr vieles in dem vorigen Raisonnemcnt habe ich aus Mirabeaus Rede über
eben diesen Gegenstand entlehnt; und ich würde noch mehr davon haben bcnuzen
können, wenn nicht Mirabeau einen, der gegenwärtigen Absicht völlig fremden, politischen
Gesichtspunkt verfolgt hätte. S. Collection complette des travaiix de Mr. Mirabeau
l'aine ä l'Assemblee nationale. T. V. p. 498 — 524.*)
V Der ,, Discours sur l'egalite des partages dans les successions en ligne directe",
angeblich Mirabeaus letzte für die Nationalversammlung bestimmte Rede, die an
seinem Todestage (2. April i'jgi) verlesen wurde, ist neuerdings als nicht von ihm
herrührend erwiesen worden; vgl. Stern, Das Leben Mirabeaus 2, 295.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI.
^99
ringert oder vergrössert haben; hingegen keine von denjenigen,
welche entweder in Handlungen des Erblassers bestanden, oder
sich nur auf die Person desselben bezogen. Selbst aber mit diesen
Einschränkungen bleibt die Möglichkeit, seine Nachkommenschaft
durch Verträge, die zur Zeit des Lebens geschlossen sind, in
bindende Verhältnisse zu verwikkeln, noch immer zu gross. Denn
man kann ebensogut Rechte, als Stükke seines Vermögens ver-
äussern, eine solche ^"eräusse^ung muss nothwendig für die Erben,
die in keine andre Lage treten können, als in welcher der Erb-
lasser selbst war, verbindlich sein, und nun führt der getheilte
Besiz mehrerer Rechte auf Eine und die nemliche Sache allemal
zwingende persönliche Verhältnisse mit sich. Es dürfte daher
wohl, wenn nicht nothwendig, doch aufs mindeste sehr rathsam
sein, wenn der Staat entweder untersagte, Verträge dieser Art
anders als auf die Lebenszeit zu machen, oder wenigstens die
Mittel erleichterte, eine wirkliche Trennung des Eigenthums da zu
bewirken, wo ein solches Verhältniss einmal entstanden wäre. Die
genauere Ausführung einer solchen Anordnung gehört wiederum
nicht hieher, und das um so w^eniger, als, wie es mir scheint, die-
selbe nicht sowohl durch Feststellung allgemeiner Grundsäze, als
durch einzelne, auf bestimmte Verträge gerichtete Geseze zu
machen sein würde.
Je weniger der Mensch anders zu handeln vermocht wird,
als sein Wille verlangt, oder seine Kraft ihm erlaubt, desto
günstiger ist seine Lage im Staat. Wenn ich in Bezug auf diese
Wahrheit — um welche allein sich eigentlich alle in diesem Auf-
saze vorgetragene Ideen drehen — das Feld unsrer Civiljuris-
prudenz übersehe : so zeigt sich mir, neben andren, minder erheb-
lichen Gegenständen, noch ein äusserst wichtiger, die Gesellschaften
nemlich, welche man, im Gegensaze der ph^-sischen, Menschen,
moralische Personen zu nennen pflegt. Da sie immer eine, von
der Zahl der Mitglieder, weiche sie ausmachen, unabhängige Ein-
heit enthalten, welche sich, mit nur unbeträchtlichen \^eränderungen,
durch eine lange Reihe von Jahren hindurch erhält; so bringen
sie aufs mindeste alle die Nachtheile hervor, welche im Vorigen
als Folgen leztwilliger \''erordnungen dargestellt worden sind.
Denn wenn gleich ein sehr grosser Theil ihrer Schädlichkeit bei
uns aus einer, nicht nothwendig mit ihrer Natur verbundnen
Einrichtung — den ausschliesslichen Privilegien nemlich, welche
ihnen bald der Staat ausdrüklich , bald die Gewohnheit still-
200 5- I^Jcen zu einem Versuch
schweigend ertheilt, und durch welche sie oft wahre poHtische
Corps werden — entsteht ; so führen sie doch auch an sich noch
immer eine beträchtliche Menge von Unbequemlichkeiten mit sich.
Diese aber entstehen allemal nur dann, wenn die Verfassung der-
selben entweder alle Mitglieder, gegen ihren Willen, zu dieser
oder jener Anwendung der gemeinschaftlichen Mittel zwingt, oder
doch dem Willen der kleineren Zahl, durch Nothwendigkeit der
Uebereinstimmung aller, erlaubt, den der grösseren zu fesseln.
Uebrigens sind Gesellschaften und Vereinigungen, weit entfernt
an sich schädliche Folgen her^'^orzubringen , gerade eins der
sichersten und zwekmässigsten Mittel, die Ausbildung des Menschen
zu befördern und zu beschleunigen. Das Vorzüglichste, was man
hiebei vom Staat zu erwarten hätte, dürfte daher nur die Anord-
nung sein, dass jede moralische Person oder Gesellschaft für nichts
weiter, als für die Vereinigung der jedesmaligen Mitglieder anzu-
sehen sei, und daher nichts diese hindern könne, über die Ver-
wendung der gemeinschaftlichen Kräfte und Mittel durch Stimmen-
mehrheit nach Gefallen zu beschliessen. Nur muss man sich wohl
in Acht nehmen für diese Mitglieder bloss diejenigen anzusehen,
auf welchen wirklich die Gesellschaft beruht, nicht aber diejenigen,
welcher sich diese nur etwa als Werkzeuge bedienen — eine Ver-
wechslung, welche nicht selten, und vorzüglich bei Beurtheilung
der Rechte der Geistlichkeit gemacht worden ist.
Aus diesem bisherigen Raisonnement nun rechtfertigen sich,
glaube ich, folgende Grundsäze. Da, wo der Mensch nicht
bloss innerhalb des Kreises, seiner Kräfte, und
seines Eigenthums bleibt, sondern Handlungen vor
nimmt, welche sich unmittelbar auf den andren be-
ziehen, legt die Sorgfalt für die Sicherheit dem
Staat folgende Pflichten auf.
I., bei denjenigen Handlungen, welche ohne,
oder gegen den Willen des andren vorgenommen
werden, muss er verbieten, dass dadurch der andre
in dem Genuss seiner Kräfte, oder dem Besiz seines
Eigenthums gekränkt werde; im Fall der Ueber tre-
tung den Beleidiger zwingen, den angerichteten
Schaden zu ersezen, aber den Beleidigten verhin-
dern, unter diesem Vor wände, oder ausserdem eine
Privatrache an demselben zu üben.
2., diejenigen Handlungen, welche mit freier Be-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI. 20I
willigung des andren geschehen, muss er in eben
denjenigen, aber keinen engern Schranken halten,
als welche den Handlungen einzelner Menschen im
Vorigen vorgeschrieben sind. (S. S. 187.)
3., wenn unter den eben erwähnten Handlungen
solche sind, aus welchen Rechte und Verbindlich-
keiten für die Folge unter den Partheien entstehen
(einseitige und gegenseitige Willenserklärungen,
Verträge u. s. f.), so muss der Staat das, aus denselben
entspringende Zwangsrecht zwar überall da schüzen,
wo dasselbe in dem Zustande der Fähigkeit gehöriger
Ueberlegung, in Absicht eines, der Disposition des
U ebertragenden unterworfenen Gegenstandes, und
mit freier Beschliessung übertragen wurde; hingegen
niemals da, wo es entweder den Handlenden selbst
an einem dieser Stükke fehlt, oder wo ein Dritter,
gegen, oder ohne seine Einwilligung, widerrechtlich
beschränkt werden würde.
4., selbst bei gültigen Verträgen muss er, wenn
aus denselben solche persönliche Verbindlichkeiten,
oder vielmehr ein solches persönliches Verhältniss
entspringt, welches die Freiheit sehr eng beschränkt,
die Trennung, auch gegen den Willen Eines Theils,
immer in dem Grade der Schädlichkeit der Beschrän-
kung für die innere Ausbildung erleichtern; und da-
her da, wo die Leistung der, aus dem ^''erhältniss
entspringenden Pflichten mit inneren Empfindungen
genau verschwistert ist, dieselbe unbestimmt und
immer, da hingegen, wo, bei zwar enger Beschrän-
kung, doch gerade diess nicht der Fall ist, nach einer,
zugleich nach der Wichtigkeit derBeschränkung und
der Natur des Geschäfts zu bestimmenden Zeit er-
lauben.
5., wenn jeniand über sein Vermögen auf den Fall
seines Todes disj oniren will; so dürfte es zwar rath-
sam sein, die Ernennung des nächsten Erben, ohne
Hinzufügung irgend einer, die Fähigkeit desselben,
mit dem Vermögen nach Gefallen zu schalten, ein-
schränkenden Bedingung, zu gestatten; hingegen
6., ist es not h wendig alle weitere Disposition
202 5- Ideen zu einem Versuch
dieser Art gänzlich zu untersagen; und zugleich eine
IntestatErbfolge und einen bestimmten Pflichttheil
festzusezen.
7., wenn gleich unter Lebendigen geschlossene
Verträge insofern auf die Erben ü berge hn und gegen
die Erben erfüllt werden müssen, als sie dem hinter-
lassenen Vermögen eine andre Gestalt geben; so darf
doch der Staat nicht nur keine weitere Ausdehnung
dieses Sazes gestatten, sondern es wäre auch aller-
dings rathsam, wenn derselbe einzelne Verträge,
welche ein enges und beschränkendes A'^erhältniss
unter den Partheien hervorbringen (wie z. B. die
Theilung der Rechte auf Eine Sache zwischen Meh-
reren), entweder nur auf die Lebenszeit zuschliessen
erlaubte, oder doch dem Erben des einen oder andren
Theils dieTrennung erleichterte. Denn w^enn gleich
hier nicht dieselben Gründe, als im Vorigen bei per-
sönlichen Verhältnissen eintreten; so ist auch die
Einwilligung der Erben minder frei, und die Dauer
des Verhältnisses sogar unbestimmt lang.
Wäre mir die Aufstellung dieser Grundsäze, völlig meiner
Absicht nach, gelungen; so müssten dieselben allen denjenigen
Fällen die höchste Richtschnur vorschreiben, in welchen die Givil-
Gesezgebung für die Erhaltung der Sicherheit zu sorgen hat.
So habe ich auch z. B. der moralischen Personen in denselben
nicht erwähnt, da, je nachdem eine solche Gesellschaft durch
einen lezten Willen, oder einen Vertrag entsteht, sie nach den,
von diesen redenden Grundsäzen zu beurtheilen ist. Freilich aber
verbietet mir schon der Reichthum der, in der CivilGesezgebung
enthaltenen Fälle, mir mit dem Gelingen dieses Vorsazes zu
schmeicheln.
XIL
Dasjenige, worauf die Sicherheit der Bürger in der Gesellschalt
vorzüglich beruht, ist die Uebertragung aller eigenmächtigen Ver-
folgung des Rechts an den Staat. Aus dieser Uebertragung ent-
springt aber auch für diesen die Pflicht, den Bürgern nunmehr
zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr verschaffen dürfen, und
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XI. XII. 20"^
folglich das Recht, wenn es unter ihnen streitig ist, zu entscheiden,
und den, auf dessen Seite es sich findet, in dem Besize desselben
zu schüzen. Hiebei tritt der Staat allein, und ohne alles eigne
Interesse in die Stelle der Bürger. Denn die Sicherheit wird hier
nur dann wirklich verlezt, wenn derjenige, w^elcher Unrecht leidet,
oder zu leiden vermeint, diess nicht geduldig ertragen will; nicht
aber dann, wenn er entweder einwilligt, oder doch Gründe hat,
sein Recht nicht verfolgen zu wollen. Ja selbst wenn Unwissen-
heit oder Trägheit Vernachlässigung des eignen Rechtes veranlasste,
dürfte der Staat sich nicht von selbst darin mischen. Er hat
seinen Pflichten Genüge geleistet, sobald er nur nicht durch ver-
wikkelte, dunkle, oder nicht gehörig bekannt gemachte Geseze zu
dergleichen Irrthümern Gelegenheit giebt. Eben diese Gründe gelten
nun auch von allen Mitteln, deren der Staat sich zur Ausmittelung
des Rechts da bedient, wo es wirklich verfolgt wird. Er darf
darin nemlich niemals auch nur einen Schritt weiter zu gehen
wagen, als ihn der Wille der Partheien führt. Der erste Grund-
saz jeder Prozessordnung müsste daher nothwendig der sein, nie-
mals die Wahrheit an sich und schlechterdings, sondern nur
immer insofern aufzusuchen, als diejenige Parthei es fordert,
welche deren Aufsuchung überhaupt zu verlangen berechtigt ist.
Allein auch hier treten noch neue Schranken ein. Der Staat darf
nemlich nicht jedem Verlangen der Partheien willfahren, sondern
nur demjenigen, welches zur Aufklärung des streitigen Rechtes
dienen kann, und auf die Anwendung solcher Mittel gerichtet ist.
welche, auch ausser der Staatsverbindung, der Mensch gegen den
Menschen, und zwar in dem Falle gebrauchen kann, in vrelchem
bloss ein Recht zwischen ihnen streitig ist, in w^elchem aber der
andre ihm entweder überhaupt nicht, oder wenigstens nicht er-
wiesenermaassen etwas entzogen hat. Die hinzukommende Gewalt
des Staats darf nicht mehr thun, als nur die Anwendung dieser
Mittel sichern, und ihre Wirksamkeit unterstüzen. Hieraus ent-
steht der Unterschied zwischen dem C]ivil und Kriminalverfahren,
dass in jenem das äusserste Mittel zur Erforschung der Wahrheit
der Eid ist, in diesem aber der Staat einer grösseren Freiheit ge-
niesst. Da der Richter bei der Ausmittelung des streitigen Rechts
gleichsam zwischen beiden Theilen steht, so ist es seine Pflicht
zu verhindern, dass keiner derselben durch die Schuld des andern
in der Erreichung seiner Absicht entweder ganz gestört, oder
doch hingehalten werde; und so entsteht der zweite gleich noth-
204 5- Ideen zu einem Versuch
wendige Grundsaz, das Verfahren der Partheien, während des
Prozesses, unter specieller Aufsicht zu haben, und zu verhindern,
dass es, statt sich dem gemeinschaftlichen Endzwek zu nähern,
sich vielmehr davon entferne. Die höchste und genaueste Be-
folgung jedes dieser beiden Grundsäze würde, dünkt mich, die
beste Prozessordnung hervorbringen. Denn übersieht man den
lezteren; so ist der Chikane der Partheien, und der Nachlässigkeit
und den eigensüchtigen Absichten der Sachwalter zuviel Spielraum
gelassen ; so werden die Prozesse verwikkelt, langwierig, kostspielig ;
und die Entscheidungen dennoch schief, und der Sache, wie der
Meinung der Partheien, oft unangemessen. Ja diese Nachtheile
tragen sogar zur grösseren Häufigkeit rechtlicher Streitigkeiten
und zur Nahrung der Prozesssucht bei. Entfernt man sich hin-
gegen von dem ersteren Grundsaz ; so wird das Verfahren inquisi-
torisch, der Richter erhält eine zu grosse Gewalt, und mischt sich
in die geringsten Privatangelegenheiten der Bürger. Von beiden
Extremen finden sich Beispiele in der Wirklichkeit, und die Er-
fahrung bestätigt, dass, wenn das zulezt geschilderte die Ereiheit
zu eng und widerrechtlich beschränkt, das zuerst aufgestellte der
Sicherheit des Eigenthums nachtheilig ist.
Der Richter braucht zur Untersuchung und Erforschung der
Wahrheit Kennzeichen derselben, Beweismittel. Daher giebt die
Betrachtung, dass das Recht nicht anders wirksame Gültigkeit er-
hält, als wenn es, im Fall es bestritten würde, eines Beweises vor
dem Richter fähig ist, einen neuen Gesichtspunkt für die Gesez-
gebung an die Hand. Es entsteht nemlich hieraus die Noth-
wendigkeit neuer einschränkender Geseze, nemlich solcher, welche
den verhandelten Geschäften solche Kennzeichen beizugeben ge-
bieten, an welchen künftig ihre Wirklichkeit oder Gültigkeit zu
erkennen sei. Die Nothwendigkeit von Gesezen dieser Art fällt
allemal in eben dem Grade, in welchem die Vollkommenheit der
Gerichtsverfassung steigt; ist aber am grossesten da, w^o diese am
mangelhaftesten ist, und daher der meisten äusseren Zeichen zum
Beweise bedarf. Daher findet man die meisten Formalitäten bei
den unkultivirtesten Völkern. Stufenweise erforderte die Vindi-
kation eines Akkers, bei den Römern, erst die Gegenwart der
Partheien auf dem Akker selbst, dann das Bringen einer Erd-
scholle desselben ins Gericht, in der Folge feierliche Worte, und
endlich auch diese nicht mehr. Ueberall, vorzüglich aber bei
minder kultivirten Nationen hat folglich die Gerichtsverfassung
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XII. on:i
einen sehr mächtigen Einfluss auf die Gesezgebung gehabt, der
sich sehr oft bei weitem nicht auf blosse Formalitäten beschränkt.
Ich erinnere hier, statt eines Beispiels, an die Römische Lehre
von Pakten und Kontrakten, die, wie wenig sie auch bisher noch
aufgeklärt ist, schweriich aus einem andren Gesichtspunkt ange-
sehen werden darf. Diesen Einfluss in verschiedenen Gesez-
gebungen verschiedener Zeitalter und Nationen zu erforschen,
dürfte nicht bloss aus vielen andren Gründen, aber auch vorzüg-
lich in der Hinsicht nüzlich sein, um daraus zu beurtheilen, w^elche
solcher Geseze wohl allgemein nothwendig, welche nur in Lokal-
verhältnissen gegründet sein möchten.^ Denn alle Einschränkungen
dieser Art aufzuheben, dürfte — auch die Möglichkeit angenommen
— schwerlich rathsam sein. Denn einmal wird die Möglichkeit
von Betrügereien, z. B. von Unterschiebung falscher Dokumente
u. s. f. zu wenig erschwert; dann werden die Prozesse verviel-
fältigt, oder, da diess vielleicht an sich noch kein Uebel scheint,
die Gelegenheiten durch erregte unnüze Streitigkeiten die Ruhe
andrer zu stören zu mannigfaltig. Nun aber ist gerade die Streit-
sucht, welche sich durch Prozesse äussert, diejenige, welche —
den Schaden noch abgerechnet, den sie dem Vermögen, der Zeit,
und der Gemüthsruhe der Bürger zufügt — auch auf den Charakter
den nachtheiligsten Einfluss hat, und gerade durch gar keine nüz-
liche Folgen für diese Nachtheile entschädigt. Der Schade der
Förmlichkeiten hingegen ist die Erschwerung der Geschäfte, und
die Einschränkung der Freiheit, die in jedem Verhältniss bedenk-
lich ist. Das Gesez muss daher auch hier einen Mittelweg ein-
schlagen, Förmlichkeiten nie aus einem andern Gesichtspunkt an-
ordnen, als um die Gültigkeit der Geschäfte zu sichern, und Be-
trügereien zu verhindern, oder den Beweis zu erleichtern; selbst
in dieser Absicht dieselben nur da fordern, wo sie den indivi-
duellen Umständen nach nothwendig sind, wo ohne sie jene Be-
trügereien zu leicht zu besorgen, und dieser Beweis zu schwer zu
führen sein würde; zu denselben nur solche Regeln vorschreiben,
deren Befolgung mit nicht grossen Schwierigkeiten verbunden ist;
und dieselben von allen denjenigen Fällen gänzlich entfernen, in
welchen die Besorgung der Geschäfte durch sie nicht bloss
schwieriger, sondern so gut als unmöglich werden würde.
Gehörige Rüksicht auf Sicherheit und Freiheit zugleich scheint
daher auf folgende Grundsäze zu führen:
I., Eine der vorzüglichsten Pflichten des Staats
2o6 5- Ideen zu einem Versuch
ist die Untersuchung und Entscheidung der recht-
lichen Streitigkeiten derBürger. Derselbe tritt dabei
an die Stelle der Partheien, und der eigentliche Zw ek
seinerDazwischenkunft besteht allein darin, auf der
einen Seite gegen ungerechte Forderungen zu be-
schüzen, auf der andren gerechten denjenigen Nach-
druk zu geben, welchen sie von den Bürgern selbst
nur auf eine, die öffentliche Ruhe störende Weise er-
halten könnten. Er muss daher, während der Unter-
suchung des streitigen Rechts, dem Willen der Par-
theien, insofern derselbe nur in dem Rechte gegrün-
det ist, folgen, aber jede, sich widerrechtlicher
Mittel gegen die andre zu bedienen, verhindern.
2., Die Entscheidung des streitigen Rechts durch
den Richter kann nur durch bestimmte, gesezlich
angeordnete Kennzeichen der Wahrheit geschehen.
Hieraus entspringt die Nothwendigkeit einer neuen
Gattung derGeseze, derjenigen nemlich, welche den
rechtlichen Geschäften gewisse bestimmte Charak-
tere beizulegen verordnen. Bei derAbfassungdieser
nun muss der Gesezgeber einmal immer allein von
demGesichtspunktgeleitetwerden, dieAuthenticität
der rechtlichen Geschäfte gehörig zu sichern, und
denBeweis im Prozesse nicht zu sehr zu erschweren;
ferner aber unaufhörlich die Vermeidung des ent-
gegengesezten Extrems, der zugrossenErschwerung
der Geschäfte, vor Augen haben, und endlich nie da
eine Anordnung treffen wollen, wo dieselbe den
Lauf der Geschäfte so gut, als gänzlich hemmen
w ü r d e.
XIII.
Das lezte, und vielleicht wichtigste Mittel, für die Sicherheit
der Bürger Sorge zu tragen, ist die Bestrafung der Uebertretung
der Geseze des Staats. Ich muss daher noch auf diesen Gegen-
stand die im Vorigen entwikkelten Grundsäze anwenden. Die
erste Frage nun, welche hiebei entsteht, ist die: welche Hand-
lungen der Staat mit Strafen belegen, gleichsam als Verbrechen
aufstellen kann ? Die Antwort ist nach dem Vorigen leicht. Denn
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XII. XIII.
207
da der Staat keinen andren Endzwek, als die Sicherheit der Bürger,
verfolgen darf; so darf er auch keine andre Handlungen ein-
schränken, als welche diesem Endzwek entgegenlaufen. Diese
aber verdienen auch insgesammt angemessene Bestrafung. Denn
nicht bloss, dass ihr Schade, da sie gerade das stören, was dem
Menschen zum Genuss, wäe zur Ausbildung seiner Ivräfte das un-
entbehrlichste ist, zu wichtig ist, um ihnen nicht durch jedes
zw^ekmässige und erlaubte Mittel entgegenzuarbeiten ; so muss auch,
schon den ersten Rechtsgrundsäzen nach, jeder sich gefallen lassen,
dass die Strafe eben so weit gleichsam in den Kreis seines Rechts
eingreife, als sein Verbrechen in den des fremden eingedrungen
ist. Hingegen Handlungen, welche sich allein auf den Handlenden
beziehen, oder mit Einwilligung dessen geschehen, den sie treffen,
zu bestrafen, verbieten eben die Grundsäze, welche dieselben nicht
einmal einzuschränken erlauben; und es dürfte daher nicht nur
keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen (die Nothzucht
ausgenommen), sie möchten Aergerniss geben oder nicht, unter-
nommener Selbstmord u. s. f. bestraft werden, sondern sogar die
Ermordung eines andren mit Bewilligung desselben müsste unge-
straft bleiben, w^enn nicht in diesem lezteren Falle die zu leichte
Möglichkeit eines gefährlichen Misbrauchs ein Strafgesez noth-
wendig machte. Ausser denjenigen Gesezen, welche unmittelbare
Kränkungen der Rechte andrer untersagen, giebt es noch andre
verschiedener Gattung, deren theils schon im Vorigen gedacht ist,
theils noch erwähnt werden wird. Da jedoch, bei dem, dem Staat
allgemein vorgeschriebenen Endzwek, auch diese, nur mittelbar,
zur Erreichung jener Absicht hinstreben; so kann auch bei diesen
Bestrafung des Staats eintreten, insofern nicht schon ihre Ueber-
tretung allein unmittelbar eine solche mit sich führt wie z. B. die
Uebertretung des Verbots der Fideikommisse die Ungültigkeit der
gemachten Verfügung. Es ist diess auch um so nothwendiger,
als es sonst hier gänzlich an einem Zwangsmittel fehlen würde,
dem Geseze Gehorsani zu verschaffen.
Von dem Gegenstande der Bestrafung wende ich mich zu der
Strafe selbst. Das Maass dieser auch nur in sehr weiten Gränzen
vorzuschreiben, nur zu bestimmen, über w^elchen Grad hinaus die-
selbe nie steigen dürfe, halte ich in einem allgemeinen, schlechter-
dings auf gar keine Lokal Verhältnisse bezogenen Raisonnement für
unmöglich. Die Strafen müssen Uebel sein, welche die Verbrecher
zurükschrekken. Nun aber sind die Grade, wie die Verschieden-
2o8 5- I^een zu einem Versuch
heiten des physischen und moralischen Gefühls nach der Ver-
schiedenheit der Erdstriche und Zeitalter unendlich verschieden
und wechselnd. Was daher in einem gegebenen Falle mit Recht
Grausamkeit heisst, das kann in einem andren die Nothwendigkeit
selbst erheischen. Nur soviel ist gev^^iss, dass die Vollkommenheit
der Strafen immer — versteht sich jedoch bei gleicher Wirksam-
keit — mit dem Grade ihrer Gelindigkeit wächst. Denn nicht
bloss, dass geUnde Strafen schon an sich geringere Uebel sind;
so leiten sie auch den Menschen auf die, seiner am meisten würdige
Weise von Verbrechen ab. Denn je minder sie physisch schmerz-
haft und schrekUch sind, desto mehr sind sie es moralisch; da
hingegen grosses körperliches Leiden bei dem Leidenden selbst
das Gefühl der Schande, bei dem Zuschauer das der Misbilligung
vermindert. Daher kommt es denn auch, dass gelinde Strafen in
der That viel öfter angewendet werden können, als der erste An-
blik zu erlauben scheint, indem sie auf der andren Seite ein er-
sezendes moralisches Gegengewicht erhalten. Ueberhaupt hängt
die Wirksamkeit der Strafen ganz und gar von dem Eindruk ab,
welchen dieselben auf das Gemüth der Verbrecher machen, und
beinah liesse sich behaupten, dass in einer Reihe gehörig abge-
stufter Stufen es einerlei sei, bei welcher Stufe man gleichsam,
als bei der höchsten, stehen bleibe, da die Wirkung einer Strafe
in der That nicht sowohl von ihrer Natur an sich, als von dem
Plaze abhängt, den sie in der Stufenleiter der Strafen überhaupt
einnimmt, und man leicht das für die höchste Strafe erkennt,
was der Staat dafür erklärt. Ich sage beinah, denn völlig würde
die Behauptung nur freilich dann richtig sein, wenn die Strafen
des Staats die einzigen Uebel wären, welche dem Bürger drohten.
Da diess hingegen der Fall nicht ist, vielmehr oft sehr reelle
Uebel ihn gerade zu Verbrechen veranlassen; so muss freilich
das Maass der höchsten Strafe, und so der Strafen überhaupt,
welche diesen Uebeln entgegenwirken sollen, auch mit Rük-
sicht auf sie bestimmt werden. Nun aber wird der Bürger da,
wo er einer so grossen Freiheit geniesst, als diese Blätter ihm zu
sichren bemüht sind, auch in einem grosseren Wohlstande leben;
seine Seele wird heitrer, seine Phantasie lieblicher sein, und die
Strafe wird, ohne an Wirksamkeit zu verlieren, an Strenge nach-
lassen können. So wahr ist es, dass alles Gute und Beglükkende
in wundervoller Harmonie steht, und dass es nur nothwendig ist,
Eins herbeizuführen, um sich des Segens alles Uebrigen zu er-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII.
209
freuen. Was sich daher in dieser Materie allgemein bestimmen
lässt, ist, dünkt mich, allein, dass die höchste Strafe die, den Lokal-
verhältnissen nach, möglichst gelinde sein muss.
Nur Eine Gattung der Strafen müsste, glaube ich, gänzlich
ausgeschlossen werden, die Ehrlosigkeit, Infamie. Denn die Ehre
eines Menschen, die gute Meinung seiner Mitbürger von ihm, ist
keinesweges etw^as, das der Staat in seiner Gewalt hat. Auf jeden
Fall reduzirt sich daher diese Strafe allein darauf, dass der Staat
dem Verbrecher die Merkmale seiner Achtung und seines
Vertrauens entziehn, und andren gestatten kann diess gleichfalls
ungestraft zu thun. So wenig ihm nun auch die Befugniss abge-
sprochen w^erden darf sich dieses Rechts, wo er es für noth-
w'endig hält, zu bedienen, und so sehr sogar seine Pflicht es er-
fordern kann; so halte ich dennoch eine allgemeine Erklärung,
dass er es thun wolle, keinesweges für rathsam. Denn einmal
sezt dieselbe eine gewisse Konsequenz im Unrechthandlen bei dem
Bestraften voraus, die sich doch in der That in der Erfahrung
wenigstens nur selten findet; dann ist sie auch, selbst bei der
gelindesten Art der Abfassung, selbst wenn sie bloss als eine Er-
klärung des gerechten Mistrauens des Staats ausgedrukt wird,
immer zu unbestimmt, um nicht an sich manchem Misbrauch
Raum zu geben, und um nicht wenigstens oft, schon der Konse-
quenz der Grundsäze wegen, mehr Fälle unter sich zu begreifen,
als der Sache selbst wegen nöthig wäre. Denn die Gattungen
des Vertrauens, welches man zu einem Menschen fassen kann,
sind, der Verschiedenheit der Fälle nach, so unendlich mannigfaltig,
dass ich kaum unter allen Verbrechen ein Einziges w^eiss, welches
den Verbrecher zu allen auf Einmal unfähig machte. Dazu führt
indess doch immer ein allgemeiner Ausdruk, und der Mensch, bei
dem man sich sonst nur, bei dahin passenden Gelegenheiten, er-
innern würde, dass er dieses oder jenes Gesez übertreten habe,
trägt nun überall ein Zeichen der Unwürdigkeit mit sich herum.
Wie hart aber diese Stiafe sei, sagt das, gewiss keinem Menschen
fremde Gefühl, dass, ohne das Vertrauen seiner Mitmenschen, das
Leben selbst wünschen>.werth zu sein aufhört. Mehrere Schwierig-
keiten zeigen sich nun noch bei der näheren Anwendung dieser
Strafe. Mistrauen gegen die Rechtschaffenheit muss eigentlich
überall da die Folge sein, wo sich Mangel derselben gezeigt hat.
Auf wie viele Fälle aber alsdann diese Strafe ausgedehnt werde,
sieht man von selbst. Nicht minder gross ist die Schwierigkeit
W. V. Humboldt, Werke. I. I4
210 5- Ideen zu einem Versuch
bei der Frage : wie lange die Strafe dauern solle ? Unstreitig wird
jeder Billigdenkende sie nur auf eine gewisse Zeit hin erstrekken
wollen. Aber wird der Richter bewirken können, dass der, so
lange mit dem Mistrauen seiner Mitbürger Beladene, nach Ver-
lauf eines bestimmten Tages, auf einmal ihr Vertrauen wieder-
gewinne? Endlich ist es den, in diesem ganzen Aufsaz vorge-
tragenen Grundsäzen nicht gemäss, dass der Staat der Meinung
der Bürger, auch nur auf irgend eine Art, eine gewisse Richtung
geben wolle. Meines Erachtens, wäre es daher rathsamer, dass
der Staat sich allein in den Gränzen der Pflicht hielte, welche ihm
allerdings obliegt, die Bürger gegen verdächtige Personen zu
sichern, und dass er daher überall, wo diess nothwendig sein
kann, z. B. bei Besezung von Stellen, Gültigkeit der Zeugen,
Fähigkeit der Vormünder u. s. f. durch ausdrükliche Geseze
verordnete, dass, wer diess oder jenes Verbrechen begangen, diese
oder jene Strafe erlitten hätte, davon ausgeschlossen sein solle;
übrigens aber sich aller weiteren, allgemeinen Erklärung des Mis-
trauens, oder gar des Verlustes der Ehre gänzlich enthielte. Als-
dann wäre es auch sehr leicht, eine Zeit zu bestimmen, nach Ver-
lauf welcher ein solcher Einwand nicht mehr gültig sein solle.
Dass es übrigens dem Staat immer erlaubt bleibe, durch ^) be-
schimpfende Strafen auf das Ehrgefühl zu wirken, bedarf von
selbst keiner Erinnerung. Ebensowenig brauche ich noch zu
wiederholen, dass schlechterdings keine Strafe geduldet werden
muss, die sich über die Person des Verbrechers hinaus, auf seine
Kinder, oder Verwandte erstrekt. Gerechtigkeit und Billigkeit
sprechen mit gleich starker Stimme gegen sie; und selbst die
Vorsichtigkeit, mit welcher sich, bei Gelegenheit einer solchen
Strafe, das, übrigens gewiss in jeder Rüksicht vortref liehe Preus-
sische Gesezbuch ausdrukt, vermag nicht die, in der Sache selbst
allemal liegende Härte zu mindern.*)
Wenn das absolute Maass der Strafen keine allgemeine Be-
*) Th. 2. Tit. 20. §. 95.=)
^J Nach „durch" gestrichen „entehrende und".
^) Dieser Paragraph des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten
lautet: „Dergleichen Hochverräter werden nicht nur ihres sämmtlichen Ver-
mögens und aller bürgerlichen Ehre verlustig, sondern tragen auch die Schuld
des Unglücks ihrer Kinder, wenn der Staat zur Abwendung künftiger Gefahren
dieselben in beständiger Gefangenschaft zu behalten oder zu verbannen nötig
finden sollte."
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII. 2 1 I
Stimmung erlaubt; so ist dieselbe hingegen um so nothwendiger
bei dem relativen. Es muss nemlich festgesezt werden, was es
eigentlich ist, w^onach sich der Grad der, auf verschiedne Ver-
brechen gesezten Strafen bestimmen muss ? Den im Vorigen ent-
wikkelten Grundsäzen nach, kann diess, dünkt mich, nichts anders
sein, als der Grad der Nicht Achtung des fremden Rechts in dem
Verbrechen, ein Grad, welcher, da hier nicht von der Anwendung
eines Strafgesezes auf einen einzelnen Verbrecher, sondern von
allgemeiner Bestimmung der Strafe überhaupt die Rede ist, nach
der Natur des Rechts beurtheilt werden muss, welches das Xer-
brechen kränkt. Zwar scheint die natürlichste Bestimmung der
Grad der Leichtigkeit oder Schwierigkeit zu sein, das Verbrechen
zu verhindern, so dass die Grösse der Strafe sich nach der Quan-
tität der Gründe richten müsste, welche zu dem Verbrechen
trieben, oder davon zurükhielten. Allein wird dieser Grundsaz
richtig verstanden; so ist er mit dem eben aufgestellten einerlei.
Denn in einem wohlgeordneten Staate, wo nicht in der Verfassung
selbst liegende Umstände zu Verbrechen veranlassen, kann es
keinen andren eigentlichen Grund zu ^>rb^echen geben, als eben
jene Nicht Achtung des fremden Rechts, welcher sich nur die zu
Verbrechen reizenden Antriebe, Neigungen, Leidenschaften u. s. f.
bedienen, ^"ersteht man aber jenen Saz anders, meint man, es
müssten den ^>rbrechen immer in dem Grade grosse Strafen
entgegengesezt werden, in welchem gerade Lokal- oder Zeitver-
hältnisse sie häufiger machen, oder gar, ihrer Natur nach, (wie
es bei so manchen Polizeiverbrechen der Fall ist) moralische
Gründe sich ihnen weniger eindringend widersezen; so ist dieser
Maassstab ungerecht und schädlich zugleich. Er ist ungerecht.
Denn so richtig es wenigstens insofern ist, Verhinderung der Be-
leidigungen für die Zukunft als den Zwek aller Strafen anzu-
nehmen, als keine Strafe je aus einem andren Zwekke verfügt
werden darf; so entspringt doch die Verbindlichkeit des Beleidigten,
die Strafe zu dulden, eigentlich daraus, dass jeder sich gefallen
lassen muss, seine Rechte von dem Andren insoweit verlezt zu
sehen, als er selbst die Rechte desselben gekränkt hat. Darauf
beruht nicht bloss diese Verbindhchkeit ausser der Staatsverbindung,
sondern auch in derselben. Denn die Herleitung derselben aus
einem gegenseitigen Vertrag ist nicht nur unnüz, sondern hat auch
die Schwierigkeit, dass z. B. die, manchmal und unter gewissen
Lokalumständen offenbar nothwendige Todesstrafe bei derselben
14*
212 5- Ideen zu einem Versuch
schwerlich gerechtfertigt werden kann-, und dass jeder Verbrecher
sich von der Strafe befreien könnte, wenn er, bevor er sie Htte,
sich von dem gesellschaftlichen Vertrage lossagte, wie z. B. in den
alten Freistaaten die freiwillige Verbannung war, die jedoch, wenn
mich mein Gedächtniss nicht trügt, nur bei Staats-, nicht bei
PrivatVerbrechen geduldet ward. Dem Beleidiger selbst ist daher
gar keine Rüksicht auf die Wirksamkeit der Strafe erlaubt; und
wäre es auch noch so gewiss, dass der Beleidigte keine zweite
Beleidigung von ihm zu fürchten hätte, so müsste er, dessen un-
geachtet, die Rechtmässigkeit der Strafe anerkennen. Allein auf
der andren Seite folgt auch aus eben diesem Grundsaz, dass er
sich auch jeder, die Quantität seines Verbrechens überschreitenden
Strafe rechtmässig widersezen kann, wie gewiss es auch sein
möchte, dass nur diese Strafe, und schlechterdings keine gelindere
völlig wirksam sein würde. Zwischen dem inneren Gefühle des
Rechts, und dem Genuss des äusseren Glüks ist, wenigstens in der
Idee des Menschen, ein unläugbarer Zusammenhang, und es ver-
mag nicht bestritten zu werden, dass er sich durch das Erstere
zu dem Lezteren berechtigt glaubt. Ob diese seine Erwartung in
Absicht des Glüks gegründet ist, welches ihm das Schiksal ge-
währt, oder versagt? — eine allerdings zweifelhaftere Frage —
darf hier nicht erörtert werden. Allein in Absicht desjenigen,
welches andre ihm willkührlich geben oder entziehen können,
muss seine Befugniss zu derselben nothwendig anerkannt werden ;
da hingegen jener Grundsaz sie, wenigstens der That nach, abzu-
läugnen scheint. Es ist aber auch ferner jener Maassstab, sogar
für die Sicherheit selbst, nachtheilig. Denn wenn er gleich diesem,
oder jenem einzelnen Geseze vielleicht Gehorsam erzwingen kann;
so verwirrt er gerade das, was die festeste Stüze der Sicherheit
der Bürger in einem Staate ist, das Gefühl der Moralität, indem
er einen Streit zwischen der Behandlung, welche der Verbrecher
erfährt, und der eignen Empfindung seiner Schuld veranlasst.
Dem fremden Rechte Achtung zu verschaffen, ist das einzige
sichre und unfehlbare Mittel, Verbrechen zu verhüten; und diese
Absicht erreicht man nie, sobald nicht jeder, welcher fremdes
Recht angreift, gerade in eben dem Maasse in der Ausübung des
seinigen gehemmt wird, die Ungleichheit möge nun im Mehr oder
im Weniger bestehen. Denn nur eine solche Gleichheit bewahrt
die Harmonie zwischen der inneren moralischen Ausbildung des
Menschen, und dem Gedeihen der Veranstaltungen des Staats,
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII.
21'^
ohne welche auch die künstlichste Gesezgebung allemal ihres End-
zweks verfehlen wird. Wie sehr aber nun die Erreichung aller
übrigen Endzwekke des Menschen, bei Befolgung des oben er-
wähnten Maassstabes, leiden würde, wie sehr dieselbe gegen alle,
in diesem Aufsaze vorgetragene Grundsäze streitet; bedarf nicht
mehr einer weiteren Ausführung. Die Gleichheit zwischen Ver-
brechen und Strafe, welche die eben entwikkelten Ideen fordern,
kann wiederum nicht absolut bestimmt, es kann nicht allgemein
gesagt w^erden, dieses oder jenes Verbrechen verdient nur eine
solche oder solche Strafe. Nur bei einer Reihe, dem Grade nach
verschiedener Verbrechen kann die Beobachtung dieser Gleichheit
vorgeschrieben werden, indem nun die, für diese Verbrechen be-
stimmten Strafen in gleichen Graden abgestuft w^erden müssen.
Wenn daher, nach dem Vorigen, die Bestimmung des absoluten
Maasses der Strafen, z. B. der höchsten Strafe sich nach der-
jenigen Quantität des zugefügten Uebels richten muss, welche er-
fordert wird, um das Verbrechen für die Zukunft zu verhüten;
so muss das relative Maass der übrigen, wenn jene, oder über-
haupt Eine einmal festgesezt ist, nach dem Grade bestimmt werden,
um welchen die Verbrechen, für die sie bestimmt sind, grösser
oder kleiner, als dasjenige, sind, welches jene, zuerst verhängte
Strafe verhüten soll. Die härteren Strafen müssten daher die-
jenigen Verbrechen treffen, welche wirklich in den Kreis des
fremden Rechts eingreifen; gelindere die Uebertretung derjenigen
Geseze, welche jenes nur zu verhindern bestimmt sind, wie wichtig
und nothwendig diese Geseze auch an sich sein möchten. Da-
durch wird dann zugleich die Idee bei den Bürgern vermieden,
dass sie vom Staat eine willkührliche, nicht gehörig motivirte Be-
handlung erführen — ein Vorurtheil, welches sehr leicht entsteht,
wenn harte Strafen auf Handlungen gesezt sind, die entweder
wirklich nur einen entfernten Einfluss auf die Sicherheit haben,
oder deren Zusammenhang damit doch weniger leicht einzusehen
ist. Unter jenen erstgenannten A^erbrechen aber müssten die-
jenigen am härtesten bestraft w^erden, welche unmittelbar und
geradezu die Rechte des Staats selbst angreifen, da, wer die
Rechte des Staats nicht achtet, auch die seiner Mitbürger nicht zu
ehren vermag, deren Sicherheit allein von jenen abhängig ist.
Wenn auf diese Weise Verbrechen und Strafe allgemein von
dem Geseze bestimmt sind, so muss nun diess gegebene Straf-
gesez auf einzelne Verbrechen angewendet werden. Bei dieser
214. 5- Ideen zu einem Versuch
Anwendung sagen schon die Grundsäze des Rechts von selbst,
dass die Strafe nur nach dem Grade des Vorsazes, oder der
Schuld den Verbrecher treffen kann, mit welchem er die Hand-
lung begieng. Wenn aber der oben aufgestellte Grundsaz, dass
nemlich immer die Nicht Achtung des fremden Rechts, und nur
diese bestraft werden darf, völlig genau befolgt werden soll; so
darf derselbe, auch bei der Bestrafung einzelner Verbrechen, nicht
vernachlässigt werden. Bei jedem verübten Verbrechen muss
daher der Richter bemüht sein, soviel möglich, die Absicht des
Verbrechers genau zu erforschen, und durch das Gesez in den
Stand gesezt werden, die allgemeine Strafe noch nach dem indivi-
duellen Grade, in welchem er das Recht, welches er beleidigte,
ausser Augen sezte, zu modificiren.
Das Verfahren gegen den Verbrecher während der Unter-
suchung findet gleichfalls sowohl in den allgemeinen Grundsäzen
des Rechts, als in dem Vorigen seine bestimmten Vorschriften.
Der Richter muss nemlich alle rechtmässige Mittel anwenden, die
Wahrheit zu erforschen, darf sich hingegen keines erlauben, das
ausserhalb der Schranken des Rechts liegt. Er muss daher vor
allen Dingen den bloss verdächtigen Bürger von dem überführten
Verbrecher sorgfältig unterscheiden, und nie den ersteren, wie den
lezteren, behandeln; überhaupt aber nie, auch den überwiesenen
Verbrecher in dem Genuss seiner Menschen und Bürgerrechte
kränken, da er die ersteren erst mit dem Leben, die lezteren erst
durch eine gesezmässige richterliche Ausschliessung aus der Staats-
verbindung verlieren kann. Die Anwendung von Mitteln, welche
einen eigentlichen Betrug enthalten, dürfte daher ebenso unerlaubt
sein, als die Folter. Denn wenn man dieselbe gleich vielleicht
dadurch entschuldigen kann, dass der Verdächtige, oder wenigstens
der Verbrecher selbst durch seine eignen Handlungen dazu be-
rechtiget ; so sind sie dennoch der Würde des Staats, welchen der
Richter vorstellt, allemal unangemessen ; und wie heilsame Folgen
ein ofnes und gerades Betragen, auch gegen Verbrecher, auf den
Charakter der Nation haben würde, ist nicht nur an sich, sondern
auch aus der Erfahrung derjenigen Staaten klar, welche sich, wie
2. B. England, hierin einer edlen Gesezgebung erfreuen.
Zulezt muss ich, bei Gelegenheit des Kriminalrechts, noch
eine Frage zu prüfen versuchen, welche vorzüglich durch die Be-
mühungen der neueren Gesezgebung wichtig geworden ist, die
Frage nemlich, inwiefern der Staat befugt, oder verpflichtet ist,
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII.
215
Verbrechen, noch ehe dieselben begangen werden, zuvorzukommen.^
Schwerlich wird irgend ein anderes Unternehmen von gleich
menscheni'reundlichen Absichten geleitet, und die Achtung, womit
dasselbe jeden empfindenden Menschen nothwendig erfüllt, droht
daher der Unpartheilichkeit der Untersuchung Gefahr. Dennoch
halte ich, ich läugne es nicht, eine solche Untersuchung für über-
aus nothwendig, da, wenn man die unendliche Mannigfaltigkeit
der Seelenstimmungen erwägt, aus welchen der ^^orsaz zu Ver-
brechen entstehen kann, diesen Vorsaz zu verhindern unmöglich,
und nicht allein diess, sondern selbst, nur der Ausübung zuvor-
zukommen, für die Freiheit bedenklich scheint. Da ich im Vorigen
(S. S. 181 — 189.) das Recht des Staats, die Handlungen der ein-
zelnen Menschen einzuschränken, zu bestimmen versucht habe;
so könnte es scheinen, als hätte ich dadurch schon zugleich die
gegenwärtige Frage beantwortet. Allein wenn ich dort festsezte,
dass der Staat diejenigen Handlungen einschränken müsse, deren
Folgen den Rechten andrer leicht gefährlich werden können; so
verstand ich darunter — wie auch die Gründe leicht zeigen, wo-
mit ich diese Behauptung zu unterstüzen bemüht war — solche
Folgen, die allein und an sich aus der Handlung fliessen, und nur
etwa durch grössere Vorsicht des Handlenden hätten vermieden
werden können. Wenn hingegen von Verhütung von Verbrechen
die Rede ist; so spricht man natürlich nur von Beschränkung
solcher Handlungen, aus w^elchen leicht eine zweite, nemlich die
Begehung des Verbrechens, entspringt. Der vvichtige Unterschied
liegt daher hier schon darin, dass die Seele des Handlenden hier
thätig, durch einen neuen Entschluss, mitwirken muss; da sie
hingegen dort entweder gar keinen, oder doch nur, durch Verab-
säumung der Thätigkeit, einen negativen Einfluss haben konnte.
Diess allein wird, hoffe ich, hinreichen, die Gränzen deutlich zu
zeigen. Alle Verhütung von Verbrechen nun muss von den Ur^
Sachen der Verbrechen ausgehen. Diese so mannigfaltigen Ur-
sachen aber Hessen sich, in einer allgemeinen Formel, vielleicht
durch das, nicht uarch Gründe der Vernunft gehörig in Schranken
gehaltene Gefühl des Misverhältnisses ausdrukken, welches zwischen
den Neigungen des Handlenden und der Quantität der recht-
mässigen Mittel obwaltet, die in seiner Gewalt stehn. Bei diesem
Misverhältniss lassen sich wenigstens im Allgemeinen, obgleich die
Bestimmung im Einzelnen viel Schwierigkeit finden würde, zwei
Fälle von einander absondern, einmal wenn dasselbe aus einem
2l6 5* Ideen zu einem Versuch
wahren Uebermaasse der Neigungen, dann wenn es aus dem, auch
für ein gewöhnliches Maass, zu geringen Vorrath von Mitteln
entspringt. Beide Fälle muss noch ausserdem Mangel an Stärke
der Gründe der Vernunft, und des moralischen Gefühls, gleichsam
als dasjenige begleiten, welches jenes Misverhältniss nicht ver-
hindert, in gesezwidrige Handlungen auszubrechen. Jedes Be-
mühen des Staats, Verbrechen durch Unterdrükkung ihrer Ur-
sachen in dem Verbrecher verhüten zu wollen, wird daher, nach
der Verschiedenheit der beiden erwähnten Fälle, entweder dahin
gerichtet sein müssen, solche Lagen der Bürger, welche leicht zu
Verbrechen nöthigen können, zu verändern und zu verbessern,
oder solche Neigungen, welche zu Uebertretungen der Geseze zu
führen pflegen, zu beschränken, oder endlich den Gründen der
Vernunft und dem moralischen Gefühl eine wirksamere Stärke
zu verschaffen. Einen andren Weg, Verbrechen zu verhüten, giebt
es endlich noch ausserdem durch gesezliche Verminderung der
Gelegenheiten, welche die wirkliche Ausübung derselben erleichtern,
oder gar den Ausbruch gesezwidriger Neigungen begünstigen.
Keine dieser verschiedenen Arten darf von der gegenwärtigen
Prüfung ausgeschlossen werden.
Die erste derselben, welche allein auf Verbesserung zu Ver-
brechen nöthigender Lagen gerichtet ist, scheint unter allen die
wenigsten Nachtheile mit sich zu führen. Es ist an sich so wohl-
thätig, den Reichthum der Mittel der Kraft, wie des Genusses, zu
erhöhen ; die freie Wirksamkeit des Menschen wird dadurch nicht
unmittelbar beschränkt; und wenn freilich unläugbar auch hier
alle Folgen anerkannt werden müssen, die ich, im Anfange dieses
Aufsazes, als Wirkungen der Sorgfalt des Staats für das physische
Wohl der Bürger darstellte, so treten sie doch hier, da eine solche
Sorgfalt hier nur auf so wenige Personen ausgedehnt wird, nur
in sehr geringem Grade ein. Allein immer finden dieselben doch
wirklich Statt; gerade der Kampf der inneren Moralität mit der
äusseren Lage wird aufgehoben, und mit ihm seine heilsame
W^irkung auf die Festigkeit des Charakters des Handlenden, und
auf das gegenseitig sich unterstüzende Wohlwollen der Bürger
überhaupt; und eben, dass diese Sorgfalt nur einzelne Personen
treffen muss, macht ein Bekümmern des Staats um die individuelle
Lage der Bürger nothwendig — lauter Nachtheile, welche nur die
Ueberzeugung vergessen machen könnte, dass die Sicherheit des
Staats, ohne eine solche Einrichtung, leiden würde. Aber gerade
die Grenzen der "Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII.
217
diese Nothwendigkeit kann, dünkt mich, mit Recht bezweifelt
werden. In einem Staate, dessen ^^e^fassung den Bürger nicht
selbst in dringende Lagen versezt, welcher demselben vielmehr
eine solche Freiheit sichert, als diese Blätter zu empfehlen ver-
suchen, ist es kaum möglich, dass Lagen der beschriebenen Art
überhaupt entstehen, und nicht in der freiwilligen Hülfsleistung
der Bürger selbst, ohne Hinzukommen des Staats, Heilmittel finden
sollten; der Grund müsste dann in dem Betragen des Menschen
selbst liegen. In diesem Falle aber ist es nicht gut, dass der
Staat ins ^^littel trete, und die Reihe der Begebenheiten störe,
welche der natüriiche Lauf der Dinge aus den Handlungen des-
selben entspringen lässt. Immer werden auch wenigstens diese
Lagen nur so selten eintreffen, dass es überiiaupt einer eignen
Daz\^•ischenkunft des Staats nicht bedürfen wird, und dass nicht
die Vortheile derselben von den Nachtheilen überwiegen werden
sollten, die es, nach Allem im ^^o^igen Gesagten, nicht m.ehr noth-
wendig ist, einzeln auseinanderzusezen.
Gerade entgegengesezt verhalten sich die Gründe, welche für
und wider die zweite Art des Bemühens, Verbrechen zu verhindern,
streiten, wider diejenige nemlich, welche auf die Neigungen und
Leidenschaften der Menschen selbst zu wirken strebt. Denn auf
der einen Seite scheint die Nothwendigkeit grösser, da, bei minder
gebundner Freiheit, der Genuss üppiger ausschweift, und die Be-
gierden sich ein weiteres Ziel stekken, wogegen die, freilich, mit
der grösseren eignen Freiheit, immer wachsende Achtung auch
des fremden Rechts dennoch vielleicht nicht hinlänglich wirkt.
Auf der andren aber vermehrt sich auch der Nachtheil in eben
dem Grade, in welchem die morahsche Natur jede Fessel schwerer
empfindet, als die physische. Die Gründe, aus welchen ein, auf
die Verbesserung der Sitten der Bürger gerichtetes Bemühen des
Staats weder nothwendig, noch rathsam ist, habe ich im Vorigen
zu entwikkeln versucht. Eben diese nun treten in ihrem ganzen
Umfange, und nur mit dem Unterschiede auch hier ein, dass der
Staat hier nicht die Sitten überhaupt umformen, sondern nur auf
das, der Befolgung der Geseze Gefahr drohende Betragen Einzelner
wirken will. Allein gerade durch diesen Unterschied wächst die
Summe der Nachtheile. Denn dieses Bemühen muss schon eben
darum, weil es nicht allgemein wirkt, seinen Endzwek minder er-
reichen, so dass daher nicht einmal das einseitige Gute, das es
abzwekt, für den Schaden entschädigt, den es anrichtet; und dann
2i8 5- Ideen zu einem Versuch
sezt es nicht bloss ein Bekümmern des Staats um die Privat-
handlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht voraus,
darauf zu wirken, welche durch die Personen noch bedenklicher
wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es muss nemlich
alsdann entweder eigen dazu bestellten Leuten, oder den schon
vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht über das Betragen,
und die daraus entspringende Lage entweder aller Bürger, oder
der ihnen untergebenen, übertragen werden. Dadurch aber wird
eine neue und drükkendere Herrschaft eingeführt, als beinah irgend
eine andere sein könnte ; indiskreter Neugier, einseitiger Intoleranz,
selbst der Heuchelei und Verstellung Raum gegeben. Man be-
schuldige mich hier nicht, nur Misbräuche geschildert zu haben.
Die Misbräuche sind hier mit der Sache unzertrennlich verbunden ;
und ich wage es zu behaupten, dass selbst, wenn die Geseze die
besten und menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern
bloss Erkundigungen auf gesezmässigen Wegen, und den Gebrauch
von allem Zwang entfernter Rathschläge und Ermahnungen er-
laubten, und diesen Gesezen die strengste Folge geleistet würde,
dennoch eine solche Einrichtung unnüz und schädlich zugleich
wäre. Jeder Bürger muss ungestört handien können, wie er will,
solange er nicht das Gesez überschreitet; jeder muss die Befugniss
haben, gegen jeden andren, und selbst gegen alle Wahrscheinlich-
keit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen kann, zu behaupten: wie
sehr ich mich der Gefahr, die Geseze zu übertreten, auch nähere,
so werde ich dennoch nicht unterliegen. Wird er in dieser Frei-
heit gekränkt, so verlezt man sein Recht, und schadet der Aus-
bildung seiner Fähigkeiten, der Entwikkelung seiner Individualität.
Denn die Gestalten, deren die Moralität und die Gesezmässigkeit
fähig ist, sind unendlich verschieden und mannigfaltig; und wenn
ein Dritter entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesez-
widrige Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie
richtig sie auch in ihm sein möge, immer nur Eine ist. Selbst
aber angenommen, er irre sich nicht, der Erfolg sogar bestätige
sein Urtheil, und der andre, dem Zwange gehorchend, oder dem
Rath, ohne innere Ueberzeugung, folgend, übertrete das Gesez
diessmal nicht, das er sonst übertreten haben würde; so ist es
doch für den Uebertreter selbst besser, er empfinde einmal den
Schaden der Strafe, und erhalte die reine Lehre der Erfahrung,
als dass er zwar diesem einen Nachtheil entgehe, aber für seine
Ideen keine Berichtigung, für sein moralisches Gefühl keine Uebung
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII.
2IQ
empfange ; doch besser für die Gesellschaft, Eine Gesezesübertretung
mehr störe die Ruhe, aber die nachfolgende Strafe diene zu Be-
lehrung und Warnung, als dass zwar die Ruhe diessmal nicht
leide, aber darum das, worauf alle Ruhe und Sicherheit der Bürger
sich gründet, die Achtung des fremden Rechts, weder an sich
wirklich grösser sei, noch auch jezt vermehrt und befördert werde.
Üeberhaupt aber wird eine solche Einrichtung nicht leicht einmal
die erwähnte Wirkung haben. Wie durch \) alle, nicht geradezu
auf den Innern Quell aller Handlungen gehende Mittel, wird nur
durch sie eine andre Richtung der, den Gesezen entgegenstrebenden
Begierden, und gerade doppelt schädliche Verheimlichung entstehen.
Ich habe hierbei immer vorausgesezt, dass die zu dem Geschäft,
wovon hier die Rede ist, bestimmten Personen keine Ueberzeugung
hervorbringen, sondern allein durch fremdartige Gründe wirken.
Es kann scheinen, als wäre ich zu dieser \^oraussezung nicht be-
rechtigt. Allein dass es heilsam ist, durch wirkendes Beispiel und
überzeugenden Rath auf seine Mitbürger und ihre Moralität Ein-
fluss zu haben, ist zu sehr in die Augen leuchtend, als dass es
erst ausdrüklich wiederholt werden dürfte. Gegen keinen der
Fälle also, wo jene Einrichtung diess hen^orbringt, kann das vorige
Raisonnement gerichtet sein. Nur, scheint es mir, ist eine gesez-
liche ^^orschrift hiezu nicht bloss ein undienliches, sondern sogar
entgegenarbeitendes Mittel. Einmal sind schon Geseze nicht der
Ort, Tugenden zu empfehlen, sondern nur erzwingbare Pflichten
vorzuschreiben, und nicht selten wird nur die Tugend, die jeder
Mensch nur freiwillig auszuüben sich freut, dadurch verlieren.
Dann ist jede Bitte eines Gesezes, und jeder Rath, den ein Vor-
gesezter Ivraft desselben giebt, ein Befehl, dem die Menschen zwar
in der Theorie nicht gehorchen müssen, aber in der Wirldichkeit
immer gehorchen. Endlich muss man hiezu noch soviele Um-
stände rechnen , welche die Menschen nöthigen , und soviele
Neigungen, welche sie bewegen können, einem solchen Rathe,
auch gänzlich gegen ihre Ueberzeugung, zu folgen. Von dieser
Art priegt gewöhnlich der Eintiuss zu sein, welchen der Staat auf
diejenigen hat, die der Verwaltung seiner Geschäfte vorgesezt sind,
und durch den er zugleich auf die übrigen Bürger zu wirken
strebt. Da diese Personen durch besondre Verträge mit ihm ver-
bunden sind; so ist es freilich unläugbar, dass er auch mehrere
V „durch'' fehlt in der Handschrift und in Cauers Ausgabe.
220 5- Ideen zu einem Versuch
Rechte gegen sie, als gegen die übrigen Bürger, ausüben kann.
Allein wenn er den Grundsäzen der höchsten gesezmässigen Frei-
heit getreu bleibt; so wird er nicht mehr von ihnen zu fordern
versuchen, als die Erfüllung der Bürgerpflichten im Allgemeinen,
und derjenigen besondren, welche ihr besondres Amt nothwendig
macht. Denn offenbar übt er einen zu mächtigen positiven Ein-
fluss auf die Bürger überhaupt aus, wenn er von jenen, vermöge
ihres besondren Verhältnisses, etwas zu erhalten sucht, was er
den Bürgern geradezu nicht aufzulegen berechtigt ist. Ohne dass
er wirkliche positive Schritte thut, kommen ihm hierin schon von
selbst nur zuviel die Leidenschaften der Menschen zuvor, und das
Bemühen, nur diesen, hieraus von selbst entspringenden Nachtheil
zu verhüten, wird seinen Eifer und seinen Scharfsinn schon hin-
länglich beschäftigen.
Eine nähere Veranlassung, Verbrechen durch Unterdrükkung
der in dem Charakter liegenden Ursachen derselben zu verhüten,
hat der Staat bei denjenigen, welche durch wirkliche Ueber-
tretungen der Geseze gerechte Besorgniss für die Zukunft er-
wekken. Daher haben auch die denkendsten neueren Gesezgeber
versucht, die Strafen zugleich zu Besserungsmitteln zu machen.
Gewiss ist es nun, dass nicht bloss von der Strafe der Verbrecher
schlechterdings alles entfernt werden muss, was irgend der Mora-
lität derselben nachtheilig sein könnte; sondern dass ihnen auch
jedes Mittel, das nur übrigens nicht dem Endzwek der Strafe zu-
wider ist, freistehen muss, ihre Ideen zu berichtigen und ihre Ge-
fühle zu verbessern. Allein auch dem Verbrecher darf die Be-
lehrung nicht aufgedrungen werden; und wenn dieselbe schon
eben dadurch Nuzen und Wirksamkeit verliert; so läuft ein solches
Aufdringen auch den Rechten des Verbrechers entgegen, der nie
zu etwas mehr verbunden sein kann, als die gesezmässige Strafe
zu leiden.
Ein völlig specieller Fall ist noch der, wo der Angeschuldigte
zwar zu viel Gründe gegen sich hat, um nicht einen starken Ver-
dacht auf sich zu laden, aber nicht genug, um verurtheilt zu werden.
{Absolutio ab instantia) Ihm alsdann die völlige Freiheit unbe-
scholtener Bürger zu verstatten macht die Sorgfalt für die Sicher-
heit bedenklich, und eine fortdauernde Aufsicht auf sein künftiges
Betragen ist daher allerdings nothwendig. Indess eben die Gründe,
welche jedes positive Bemühen des Staats bedenklich machen,
und überhaupt anrathen, an die Stelle seiner Thätigkeit lieber, wo
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII. 221
es geschehen kann, die Thätigkeit einzelner Bürger zu sezen, geben
auch hier der freiwillig übernommenen Aufsicht der Bürger vor
einer Aufsicht des Staats den Vorzug ; und es dürfte daher besser
sein, verdächtige Personen dieser Art sichere Bürgen stellen zu
lassen, als sie einer unmittelbaren Aufsicht des Staats zu über-
geben, die nur, in Ermanglung der Bürgschaft, eintreten müsste.
Beispiele solcher Bürgschaften giebt auch, zwar nicht in diesem,
aber in ähnlichen Fällen, die Englische Gesezgebung.
Die lezte Art, Verbrechen zu verhüten, ist diejenige, welche,
ohne auf ihre Ursachen wirken zu w^ollen, nur ihre wirkliche Be-
gehung zu verhindern bemüht ist. Diese ist der Freiheit am
w^enigsten nachtheilig, da sie am wenigsten einen positiven Einfluss
auf die Bürger hervorbringt. Indess lässt auch sie mehr oder
minder weite Schranken zu. Der Staat kann sich nemlich be-
gnügen, die strengste Wachsamkeit auf jedes gesezwidrige Vor-
haben auszuüben, um dasselbe, vor seiner x\usführung, zu ver-
hindern ; oder er kann weiter gehen, und solche, an sich unschäd-
liche Handlungen untersagen, bei welchen leicht Verbrechen
entweder nur ausgeführt, oder auch beschlossen zu werden pflegen.
Diess Leztere greift abermals in die Freiheit der Bürger ein ;
zeigt ein Mistrauen des Staats gegen sie, das nicht bloss auf ihren
Charakter, sondern auch für den Zwek selbst, der beabsichtet
wird, nachtheilige Folgen hat; und ist aus eben den Gründen
nicht rathsam, welche mir die vorhinervvähnten Arten, Verbrechen
zu verhüten, zu misbilligen schienen. Alles, was der Staat thun darf,
und mit Erfolge für seinen Endzwek, und ohne Nachtheil für die Frei-
heit der Bürger, thun kann, beschränkt sich daher auf das Erstere, auf
die strengste Aufsicht auf jede, entweder wirklich schon begangene,
oder erst beschlossene Uebertretung der Geseze ; und da diess nur un-
eigentUch den Verbrechen zuvorkommen genannt werden kann; so
glaube ich behaupten zu dürfen, dass ein solches Zuvorkommen
gänzlich ausserhalb der Schranken der Wirksamkeit des Staats
liegt. Desto emsiger ;!ber muss derselbe darauf bedacht sein, kein
begangenes Verbrechen unentdekt, kein entdektes unbestraft, ja
nur gelinder bestraft zu lassen, als das Gesez es verlangt. Denn
die, durch eine ununterbrochene Erfahrung bestätigte Ueberzeugung
der Bürger, dass es ihnen nicht möglich ist, in fremdes Recht
einzugreifen, ohne eine, gerade verhältnissmässige Schmälerung
des eignen zu erdulden, scheint mir zugleich die einzige Schuz-
mauer der Sicherheit der Bürger, und das einzige untrügliche
222 5- Ii^een zu einem Versuch
Mittel, unverleziiche Achtung des fremden Rechts zu begründen.
Zugleich ist dieses Mittel die einzige Art, auf eine des Menschen
würdige Weise auf den Charakter desselben zu wirken, da man
den Menschen nicht zu Handlungen unmittelbar zwingen oder
leiten, sondern allein durch die Folgen ziehen muss, welche, der
Natur der Dinge nach, aus seinem Betragen fliessen müssen.
Statt aller zusammengesezteren und künstlicheren Mittel , Ver-
brechen zu verhüten, würde ich daher nie etwas anders, als gute,
und durchdachte Geseze, in ihrem absoluten Maasse den Lokal-
umständen, in ihrem relativen dem Grade der Immoralität der
Verbrecher genau angemessene Strafen, möglichst sorgfältige Auf-
suchung jeder vorgefallenen Uebertretung der Geseze, und Hin-
wegräumung aller Möglichkeit auch nur der Milderung der rich-
terlich bestimmten Strafe vorschlagen. Wirkt diess freilich sehr
einfache Mittel, wie ich nicht läugnen will, langsam; so wirkt es
dagegen auch unfehlbar, ohne Nachtheil für die Freiheit, und mit
heilsamem Einfluss auf den Charakter der Bürger. Ich brauche
mich nun nicht länger bei den Folgen der hier aufgestellten Säze
zu verweilen, wie z. B. bei der schon öfter bemerkten Wahrheit,
dass das Begnadigungs-, selbst das Milderungsrecht des Landes-
herrn gänzlich aufhören müsste. Sie lassen sich von selbst ohne
Mühe daraus herleiten. Die näheren Veranstaltungen, welche der
Staat treffen muss, um begangene Verbrechen zu entdekken, oder
erst beschlossenen zuvorzukommen, hängen fast ganz von indivi-
duellen Umständen specieller Lagen ab. Allgemein kann hier nur
bestimmt werden, dass derselbe auch hier seine Rechte nicht
überschreiten, und also keine, der Freiheit und der häuslichen
Sicherheit der Bürger überhaupt entgegenlaufende Maassregeln
ergreifen darf. Hingegen kann er für öffentliche Orte, wo am
leichtesten Frevel verübt werden, eigene Aufseher bestellen;
Fiskale anordnen, welche, vermöge ihres Amts, gegen verdächtige
Personen verfahren; und endlich alle Bürger durch Geseze ver-
pflichten, ihm in diesem Geschäfte behülflich zu sein, und nicht
bloss beschlossene, und noch nicht begangene Verbrechen, sondern
auch schon verübte, und ihre Thäter anzuzeigen. Nur muss er
diess Leztere, um nicht auf den Charakter der Bürger nachtheilig
zu wirken, immer nur als Pflicht fordern, nicht durch Belohnungen,
oder Vortheile dazu anreizen ; und selbst von dieser Pflicht die-
jenigen entbinden, welche derselben kein Genüge leisten könnten,
ohne die engsten Bande dadurch zu zerreissen.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII. '200
Endlich muss ich noch, ehe ich diese Materie beschliesse,
bemerken, dass alle Kriminalgeseze, sowohl diejenigen, welche die
Strafen, als diejenigen, welche das Verfahren bestimmen, allen
Bürgern, ohne Unterschied, vollständig bekannt gemacht werden
müssen. Zwar hat man verschiedentlich das Gegentheil behauptet,
und sich des Grundes bedient, dass dem Bürger nicht die Wahl
gelassen werden müsse, mit dem Uebel der Strafe gleichsam den
Vortheil der gesezwidrigen Handlung zu erkaufen. Allein — die
Möglichkeit einer fortdauernden Verheimlichung auch einmal an-
genommen — so unmoralisch auch eine solche Abwägung in dem
Menschen selbst wäre, der sie vornähme; so darf der Staat, und
überhaupt ein Mensch dem andren, dieselbe doch nicht verwehren.
Es ist im Vorigen, wie ich hoffe, hinlänglich gezeigt worden, dass
kein Mensch dem andren mehr Uebel, als Strafe, zufügen darf,
als er selbst durch das Verbrechen gelitten hat. Ohne gesezliche
Bestimmung, müsste also der Verbrecher soviel erwarten, als er
ohngefähr seinem Verbrechen gleich achtete; und da nun diese
Schäzung bei mehreren Menschen zu verschieden ausfallen w^ürde,
so ist sehr natürlich, dass man ein festes Maass durch das Gesez
bestimme, und dass also zwar nicht die Verbindlichkeit, Strafe
zu leiden, aber doch die, bei Zufügung der Strafe, nicht willkühr-
lich alle Gränzen zu überschreiten, durch einen Vertrag begründet
sei. Noch ungerechter aber wird eine solche Verheimlichung bei
dem Verfahren zur Aufsuchung der Verbrechen. Da könnte sie
unstreitig zu nichts andrem dienen, als Furcht vor solchen Mitteln
zu erregen, die der Staat selbst nicht anwenden zu dürfen glaubt,
und nie muss der Staat durch eine Furcht wirken w^ollen, welche
nichts anders unterhalten kann, als Unwissenheit der Bürger über
ihre Rechte, oder Mistrauen gegen seine Achtung derselben.
Ich ziehe nunmehr aus dem, bisher vorgetragenen Raisonne-
ment folgende höchste Grundsäze jedes Kriminalrechts überhaupt:
I., Eins der vorzüglichsten Mittel zur Erhaltung
der Sicherheit ist die Bestrafung derUebertreterder
Geseze des Staats. Der Staat darf jede Handlung mit
einer Strafe belegen, welche die Rechte der Bürger
kränkt, und insofern er selbst allein aus diesem Ge-
sichtspunkt Geseze anordnet, jede, wodurch eines
seiner Geseze übertreten wird.
2., Die härteste Strafe darf keine andre, als die,
nach den individuellen Zeit- und Ort Verhältnissen
224 5- Ideen zu einem Versuch
möglichst gelinde sein. Nach dieser müssen alle
übrige, gerade in dem Verhältniss bestimmt sein,
in welchem die Verbrechen, gegen welche sie ge-
richtet sind, Nicht Achtung des fremden Rechts bei
dem Verbrecher voraussezen. So muss daher die
härteste Strafe denjenigen treffen, welcher das wich-
tigsteRecht desStaats selbst, eine minder harteden-
jenigen, welcher nur eingleich wichtigesRecht eines
einzelnen Bürgers gekränkt, eine noch gelindere
endlich denjenigen, welcher bloss ein Gesez über-
treten hatte, dessen Absicht eswar, eine solche, bloss
mögliche Kränkung zu verhindern.
3., Jedes Strafgesez kann nur auf denjenigen an-
gewendet werden, welcher dasselbe mitVorsaz, oder
mit Schuld übertrat, und nur in dem Grade, in
welchem er dadurch Nicht Achtung des fremden
Rechts bewies.
4., Bei der Untersuchung begangener Verbrechen
darfderStaat zwar jedes, demEndzwek angemessene
Mittel anwenden; hingegen keines, das den bloss ver-
dächtigen Bürger schon als Verbrecher behandelte,
noch ein solches, das die Rechte des Menschen und
des Bürgers, welche der Staat, auch in demVerbrecher,
ehren muss, verlezte, oder das den Staat einer un-
moralischen Handlung schuldig machen würde.
5., Eigene Veranstaltungen, noch nicht begangene
Verbrechen zu verhüten, darf sich der Staat nicht
anders erlauben, als insofern dieselben die unmittel-
bare Begehung derselben verhindern. Alle übrige
aber, sie mögen nun den Ursachen zu Verbrechen
entgegenarbeiten, oder an sich unschädliche, aber
leicht zu Verbrechen führendeHandlungen verhüten
w^ ollen, liegen ausserhalb der Grenzen seiner Wirk-
samkeit. Wenn zwischen diesem, und dem, bei Ge-
legenheit der Handlungen des einzelnen Menschen
S. 187. aufgestellten Grundsaz ein Widerspruch zu
sein scheint, so muss man nicht vergessen, dass
dort von solchen Handlungen die Rede war, deren
Folgen an sich fremde Rechte kränken können, hier
hingegen von solchen, aus welchen, umdiese Wi r k u n g
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIII. XIV.
225
liervorzubringen, erst eine zweite Handlung entstehn
muss. Verheimlichung der Schwangerschaft also,
um diess an einem Beispiel deutlich zu machen,
dürfte nicht aus dem Grunde verboten werden, den
Kindermord zu verhüten (man müsste denn dieselbe
schon als ein Zeichen des Vorsazes zu demselben an-
sehen), wohl aber als eine Handlung, welche an sich,
und ohnediess, dem Leben und der Gesundheit des
Kindes gefährlich sein kann.
XIV.
Alle Grundsäze, die ich bis hieher aufzustellen versucht habe,
sezen Menschen voraus, die im völligen Gebrauch ihrer gereiften
Verstandeskräfte sind. Denn alle gründen sich allein darauf, dass
dem selbstdenkenden und selbstthätigen Menschen nie die Fähig-
keit geraubt werden darf, sich, nach gehöriger Prüfung aller
Momente der Ueberiegung, willkühriich zu bestimmen. Sie
können daher auf solche Personen keine Anwendung finden,
welche entweder, wie Verrükte, oder gänzlich Blödsinnige, ihrer
Vernunft so gut, als gänzlich beraubt sind; oder bei welchen die-
selbe noch nicht einmal diejenige Reife erlangt hat, welche von
der Reife des Körpers selbst abhängt. Denn so unbestimmt, und,
genau gesprochen, unrichtig auch dieser leztere Maassstab sein
mag; so ist er doch der einzige, welcher allgemein und bei der
Beurtheilung des Dritten gültig sein kann. Alle diese Personen
nun bedürfen einer im eigentlichsten Verstände positiven Sorgfalt
für ihr physisches und moralisches Wohl, und die bloss negative
Erhaltung der Sicherheit kann bei denselben nicht hinreichen.
Allein diese Sorgfalt ist — um bei den Kindern, als der grossesten
und wichtigsten Klasse diesei Personen anzufangen — schon ver-
möge der Grundsäze des Rechts ein Eigenthum bestimmter Per-
sonen, der Eltern. Ihre Pflicht ist es, die Kinder, welche sie er-
zeugt haben, bis zur vollkommenen Reife zu erziehen, und aus
dieser Pflicht allein entspringen alle Rechte derselben, als noth-
wendige Bedingungen der Ausübung von jener. Die Kinder be-
halten daher alle ihre ursprünglichen Rechte, auf ihr Leben, ihre
Gesundheit, ihr Vermögen, wenn sie schon dergleichen besizen,
und selbst ihre Freiheit darf nicht weiter beschränkt werden, als
die Eltern diess theils zu ihrer eignen Bildung, theils zur Er-
W. V. Humboldt, Werke. I. 15
226 5* Ideen zu einem Versuch
haltung des nun neu entstehenden Familienverhältnisses für noth-
v^^endig erachten, und als sich diese Einschränkung nur auf die
Zeit bezieht, welche zu ihrer Ausbildung erfordert wird. Zwang
2U Handlungen, welche über diese Zeit hinaus, und vielleicht aufs
ganze Leben hin ihre unmittelbaren Folgen erstrekken, dürfen
sich daher Kinder niemals gefallen lassen. Daher niemals z. B.
Zwang zu Heirathen, oder zu Erwählung einer bestimmten Lebens-
art. Mit der Zeit der Reife muss die elterliche Gewalt natürlich
ganz und gar aufhören. Allgemein bestehen daher die Pflichten
der Eltern darin, die Kinder, theils durch persönliche Sorgfalt für
ihr physisches und moralisches Wohl, theils durch Versorgung
mit den nothwendigen Mitteln in den Stand zu sezen, eine eigne
Lebensweise, nach ihrer, jedoch durch ihre individuelle Lage be-
schränkten Wahl anzufangen; und die Pflichten der Kinder da-
gegen darin, alles dasjenige zu thun, was nothwendig ist, damit
die Eltern jener Pflicht ein Genüge zu leisten vermögen. Alles
nähere Detail, die Aufzählung dessen, was diese Pflichten nun
bestimmt in sich enthalten können und müssen, übergehe ich hier
gänzlich. Es gehört in eine eigentliche Theorie der Gesezgebung,
und würde auch nicht einmal ganz in dieser Plaz finden können,
da es grossentheils von individuellen Umständen specieller Lagen
abhängt.
Dem Staate liegt es nun ob, für die Sicherheit der Rechte
der Kinder gegen die Eltern Sorge zu tragen, und er muss daher
zuerst ein gesezmässiges Alter der Reife bestimmen. Diess muss
nun natürlich nicht nur nach der Verschiedenheit des Klimas und
selbst des Zeitalters verschieden sein, sondern auch individuelle
Lagen, je nachdem nemlich mehr oder minder Reife der Be-
urtheilungskraft in denselben erfordert wird, können mit Recht
darauf Einfluss haben. Hiernächst muss er verhindern, dass die
väterliche Gewalt nicht über ihre Gränzen hinausschreite, und darf
daher dieselbe mit seiner genauesten Aufsicht nicht verlassen.
Jedoch muss diese Aufsicht niemals positiv den Eltern eine be-
stimmte Bildung und Erziehung der Kinder vorschreiben wollen,
sondern nur immer negativ dahin gerichtet sein, Eltern und Kinder
gegenseitig in den, ihnen vom Gesez bestimmten Schranken zu
erhalten. Daher scheint es auch weder gerecht, noch rathsam,
fortdauernde Rechenschaft von den Eltern zu fordern ; man muss
ihnen zutrauen, dass sie eine Pflicht nicht verabsäumen werden,
^velche ihrem Herzen so nah liegt; und erst solche Fälle, wo ent-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIV, t> —
weder schon wirkliche Verlezungen dieser Pflicht geschehen, oder
sehr nah bevorstehen, können den Staat, sich in diese Familien-
verhältnisse zu mischen berechtigen.
Nach dem Tode der Eltern bestimmen die Grundsäze des
natürlichen Rechts minder klar, an wen die Sorgfalt der noch
übrigen Erziehung fallen soll. Der Staat muss daher genau fest-
sezen, wer von den ^^erwandten die Vormundschaft übernehmen,
oder, wenn von diesen keiner dazu im Stande ist, wie einer der
übrigen Bürger dazu gewählt werden soll. Ebenso muss er die
nothwendigen Eigenschaften der Fähigkeit der Vormünder be-
stimmen. Da die Vormünder die Pflichten der Eltern über-
nehmen; so treten sie auch in alle Rechte derselben; da sie aber
auf jeden Fall in einem minder engen Verhältniss zu ihren Pfleg-
befohlenen stehen, so können sie nicht auf ein gleiches Vertrauen
Anspruch machen, und der Staat muss daher seine Aufsicht auf
sie verdoppeln. Bei ihnen dürfte daher auch ununterbrochene
Rechenschaftsablegung eintreten müssen. Je weniger positiven
Einfluss der Staat auch nur mittelbar ausübt, desto mehr bleibt
er den, im Vorigen entwikkelten Grundsäzen getreu. Er muss
daher die Wahl eines Vormunds durch die sterbenden Eltern
selbst, oder durch die zurükbleibenden Verwandten, oder durch
die Gemeine, zu welcher die Pflegbefohlnen gehören, soviel er-
leichtern, als nur immer die Sorgfalt für die Sicherheit dieser er-
laubt. Ueberhaupt scheint es rathsam, alle eigentlich specielle hier
eintretende Aufsicht den Gemeinheiten zu übertragen; ihre Maass-
regeln werden immer nicht nur der individuellen Lage der Pfleg-
befohlnen angemessener, sondern auch mannigfaltiger, minder ein-
förmig sein, und für die Sicherheit der Pflegbefohlnen ist dennoch
hinlänglich gesorgt, sobald die OberAufsicht in den Händen des
Staats selbst bleibt.
Ausser diesen Einrichtungen, muss der Staat sich nicht bloss
begnügen. Unmündige, gleich andren Bürgern, gegen fremde An-
griffe zu beschüzen, sondern er muss hierin auch noch weiter
gehen. Es w^ar nemlich oben festgesezt w^orden, dass jeder über
seine eignen Handlungen und sein Vermögen nach Gefallen frei-
w^illig beschliessen kann. Eine solche Freiheit könnte Personen,
deren Beurtheilungskraft noch nicht das gehörige Alter gereift hat,
in mehr als Einer Hinsicht gefährlich werden. Diese Gefahren
nun abzuwenden ist zwar das Geschäft der Eltern, oder ^^ormünder,
welche das Recht haben, die Handlungen derselben zu leiten.
15*
228 5- Ideen zu einem Versuch
Allein der Staat muss ihnen, und den Unmündigen selbst hierin
zu Hülfe kommen, und diejenigen ihrer Handlungen für ungültig
erklären, deren Folgen ihnen schädlich sein würden. Er muss
dadurch verhindern, dass nicht eigennüzige Absichten andrer sie
täuschen, oder ihren Entschluss überraschen. Wo diess geschieht,
muss er nicht nur zu Ersezung des Schadens anhalten, sondern
auch die Thäter bestrafen; und so können aus diesem Gesichts-
punkt Handlungen strafbar werden, welche sonst ausserhalb des
Wirkungskreises des Gesezes liegen würden. Ich führe hier als
ein Beispiel den unehelichen Beischlaf an, den, diesen Grundsäzen
zufolge, der Staat an dem Thäter bestrafen müsste, wenn er mit
einer unmündigen Person begangen würde. Da aber die mensch-
lichen Handlungen einen sehr mannigfaltig verschiednen Grad der
Beurtheilungskraft erfordern, und die Reife der lezteren gleichsam
nach und nach zunimmt; so ist es gut, zum Behuf der Gültigkeit
dieser verschiedenen Handlungen gleichfalls verschiedene Epochen
und Stufen der Unmündigkeit zu bestimmen.
Was hier von Unmündigen gesagt worden ist, findet auch
auf Verrükte und Blödsinnige Anwendung. Der Unterschied be-
steht nur darin, dass sie nicht einer Erziehung und Bildung (man
müsste denn die Bemühungen, sie zu heilen, mit diesem Namen
belegen), sondern nur der Sorgfalt und Aufsicht bedürfen; dass
bei ihnen noch vorzüglich der Schaden verhütet werden muss,
den sie andren zufügen könnten ; und dass sie gewöhnlich in einem
Zustande sind, in welchem sie weder ihrer persönlichen Kräfte,
noch ihres Vermögens geniessen können, wobei jedoch nicht ver-
gessen werden muss, dass, da eine Rükkehr der Vernunft bei ihnen
immer noch möglich ist, ihnen nur die temporelle Ausübung ihrer
Rechte, nicht aber diese Rechte selbst genommen werden können.
Diess noch weiter auszuführen, erlaubt meine gegenwärtige Absicht
nicht, und ich kann daher diese ganze Materie mit folgenden all-
gemeinen Grundsäzen beschliessen.
I., Diejenigen Personen, welche entweder über-
haupt nicht denGebrauch ihrer Verstandeskräfte be-
sizen, oder das dazu nothwendige Alter noch nicht
erreicht haben, bedürfen einer besondren Sorgfalt
für ihr physisches, intellektuelles und moralisches
Wohl. Personen dieserArt sind Unmündige und des
Verstandes Beraubte. Zuerst von jenen, dann von
diesen.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIV.
22()
2., In Absicht der U nmündigen muss derStaat die
Dauer der Unmündigkeit festsezen. Er muss dieselbe,
da sie ohne sehr wesentlichen Nachtheil weder zu
kurz, noch zu lang sein darf, nach den individuellen
Umständen der Lage der Nation bestimmen, wobei
ihm die vollendeteAusbildung desKörpers zum ohn-
ge fähren Kennzeichen dienen kann. Rathsam ist es,
mehrere Epochen anzuordnen, und gradweise die
Freiheit der Unmündigen zu erweitern, und die Auf-
sicht auf sie zu verringern.
3., Der Staat muss darauf wachen, dass die Eltern
ihre Pflichten gegen ihre Kinder — nemlich diesel-
ben, so gut es ihre Lage erlaubt, in den Stand zu
sezen,nach erreichter Mündigkeit, eine eigne Lebens-
weise zu wählen und anzufangen — und die Kinder
ihre Pflichten gegen ihreEltern — nemlich alles das-
jenige zu thun, was zur Ausübung jener Pflicht von
Seiten der Eltern noth wendig ist — genau erfüllen;
keiner aber die Rechte überschreite, welche ihm die
Erfüllung jener Pflichten einräumt. Seine Aufsicht
muss jedoch allein hierauf beschränkt sein; und jedes
Bemühen, hiebei einen positiven Endzwek zu er-
reichen, z. B. diese oder jene Art der Ausbildung der
Kräfte bei den Kindern zu begünstigen, liegt ausser-
halb der Schranken seiner Wirksamkeit.
4., Im Fall des Todes der Eltern sind Vormünder
noth wendig. Der Staat muss daher die Art bestim-
men, wie diese bestellt werden sollen, so wie die
Eigenschaften, weiche sie nothwendig besizen müs-
sen. Er ward aber gut thun, soviel als möglich die
Wahl derselben durch die Eltern selbst, vor ihrem
Tode, oder die übrigbleibenden Verwandten, oder
die Gemeine zu befördern. Das Betragen der Vor-
münder erfordeit eine noch genauere und doppelt
wachsame Aufsicht.
5., Um die Sicherheit der Unmündigen zu beför-
dern, und zu verhindern, dass man sich nicht ihrer
Unerfahrenheit oder Unbesonnenheit zu ihrem Nach-
theil bediene, muss derStaat diejenigen ihrer, allein
für sich vorgenommenen Handlungen, deren Folgen
2 -IQ 5- Ideen zu einem Versuch
ihnen schädlich werden könnten, für ungültig er-
klären; und diejenigen, welche sie zu ihrem V ortheil
auf diese Weise benuzen, bestrafen.
6., Alles, was hier von Unmündigen gesagt worden,
gilt auch von solchen, die ihres Verstandes beraubt
sind; nur mit den Unterschieden, welche die Natur
der Sache selbst zeigt. Auch darf niemand eher, als
ein solcher angesehen werden, ehe er nicht, nach
einer, unter Aufsicht des Richters, durch Aerzte
vorgenommenen Prüfung, förmlich dafür erklärt ist;
und das Uebel selbst muss immer, als möglicher-
weise wieder vorübergehend, betrachtet werde d.
Ich bin jezt alle Gegenstände durchgegangen, auf welche der
Staat seine Geschäftigkeit ausdehnen muss; ich habe bei jedem die
höchsten Principien aufzustellen versucht. Findet man diesen Ver-
such zu mangelhaft, sucht man viele, in der Gesezgebung wichtige
Materien vergebens in demselben; so darf man nicht vergessen,,
dass es nicht meine Absicht war, eine Theorie der Gesezgebung
aufzustellen — ein Werk, dem weder meine Kräfte, noch meine
Kenntnisse gewachsen sind — sondern allein den Gesichtspunkt
herauszuheben, inwiefern die Gesezgebung in ihren verschiedenen
Zweigen die Wirksamkeit des Staats ausdehnen dürfe, oder ein-
schränken müsse? Denn wie sich die Gesezgebung nach ihren
Gegenständen abtheilen lässt, eben so kann dieselbe auch nach
ihren Quellen eingetheilt werden, und vielleicht ist diese Einthei-
lung, vorzüglich für den Gesezgeber selbst, noch fruchtbarer.
Dergleichen Quellen, oder — um mich zugleich eigentlicher und
richtiger auszudrukken — Hauptgesichtspunkte, aus welchen sich
die Noth wendigkeit von Gesezen zeigt, giebt es, wie mich dünkt,
nur drei. Die Gesezgebung im Allgemeinen soll die Handlungen
der Bürger, und ihre nothwendigen Folgen bestimmen. Der erste
Gesichtspunkt ist daher die Natur dieser Handlungen selbst, und
diejenigen ihrer Folgen, welche allein aus den Grundsäzen des
Rechts entspringen. Der zweite Gesichtspunkt ist der besondre
Zwek des Staats, die Gränzen, in welchen er seine Wirksamkeit
zu beschränken, oder der Umfang, auf welchen er dieselbe auszu-
dehnen beschliesst. Der dritte Gesichtspunkt endlich entspringt
aus den Mitteln, welcher er nothwendig bedarf, um das ganze
Staatsgebäude selbst zu erhalten, um es nur möglich zu machen,
seinen Zwek überhaupt zu erreichen. Jedes nur denkbare Gesez
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIV.
231
muss einem dieser Gesichtspunkte vorzüglich eigen sein; allein
keines dürfte, ohne die Vereinigung aller, gegeben werden, und
gerade diese Einseitigkeit der Ansicht macht einen sehr wesent-
lichen Fehler mancher Geseze aus. Aus jener dreifachen Ansicht
entspringen nun auch drei vorzüglich nothwendige Vorarbeiten zu
jeder Gesezgebung: i., eine vollständige allgemeine Theorie des
Rechts. 2., eine vollständige Entwikkelung des Zweks, den der
Staat sich vorsezen sollte, oder, welches im Grunde dasselbe ist,
eine genaue Bestimmung der Grenzen, in welchen er seine Wirk-
samkeit halten muss ; oder eine Darstellung des besondren Zweks,
welchen diese oder jene Staatsgesellschaft sich wirklich vorsezt.
3., eine Theorie der, zur Existenz eines Staats nothwendigen Mittel,
und da diese Mittel theils Mittel der innren Festigkeit, theils Mittel
der Möglichkeit der Wirksamkeit sind, eine Theorie der Politik
und der Finanzwissenschaften; oder wiederum eine Darstellung
des einmal gewählten politischen und Finanzsystems. Bei dieser
Uebersicht, welche mannigfaltige Unterabtheilungen zulässt, be-
merke ich nur noch, dass bloss das erste der genannten Stükke
ewig und, wie die Natur des Menschen im Ganzen selbst, unver-
änderlich ist; die andren aber mannigfaltige Modifikationen er-
lauben. W^erden indess diese Modifikationen nicht nach völlig
allgemeinen, von allen zugleich hergenommenen Rüksichten, sondern
nach andren zufälligeren Umständen gemacht, ist z. B. in einem
Staat ein festes politisches S^'stem, sind unabänderliche Finanz-
Einrichtungen; so geräth das zweite der genannten Stükke in ein
sehr grosses Gedränge, und sehr oft leidet sogar hiedurch das erste.
Den Grund sehr vieler Staatsgebrechen würde man gewiss in diesen
und ähnlichen Kollisionen finden.
So, hoffe ich, wird die Absicht hinlänglich bestimmt sein,
welche ich mir bei der versuchten Aufstellung der obigen Prin-
cipien der Gesezgebung vorsezte. Allein, auch unter diesen Ein-
schränkungen, bin ich sehr weit entfernt, mir irgend mit dem
Gelingen dieser Absicht zu schmeicheln. Vielleicht leidet die
Richtigkeit der aufgestellten Grundsäze im Ganzen weniger Ein-
würfe, aber an der nothwendigen Vollständigkeit, an der genauen
Bestimmung m.ange't es ihnen gewiss. Auch um die höchsten
Principien festzusezcn, und gerade vorzüglich zu diesem Zwek, ist
es nothvv'endig in das genaueste Detail einzugehen. Diess aber
war mir hier, meiner Absicht nach, nicht erlaubt, und wenn ich
gleich nach allen meinen Kräften strebte, es in mir, gleichsam als
2^2 5- Ideen zu einem Versuch
Vorarbeit zu dem Wenigen zu thun, das ich hinschrieb ; so gelingt
doch ein solches Bemühen niemals in gleichem Grade. Ich be-
scheide mich daher gern, mehr die Fächer, die noch ausgefüllt
werden müssten, gezeigt, als das Ganze selbst hinlänglich ent-
wikkelt zu haben. Indess wird doch, hoffe ich, das Gesagte immer
hinreichend sein, meine eigentliche Absicht bei diesem ganzen
Aufsaz noch deutlicher gemacht zu haben, die Absicht nemlich,
dass der wichtigste Gesichtspunkt des Staats immer die Entwikke-
lung der Kxäfte der einzelnen Bürger in ihrer Individualität sein
muss, dass er daher nie etwas andres zu einem Gegenstand seiner
Wirksamkeit machen darf, als das, was sie allein nicht selbst sich
zu verschaffen vermögen, die Beförderung der Sicherheit, und dass
diess das einzige wahre und untrügliche Mittel ist, scheinbar
widersprechende Dinge, den Zwek des Staats im Ganzen, und die
Summe ^) aller Zwekke der einzelnen Bürger durch ein festes, und
dauerndes Band freundlich mit einander zu verknüpfen.
XV.
Da ich jezt vollendet habe, was mir, bei der Uebersicht meines
ganzen Plans im Vorigen (S. S. 177 — 181.) nur allein noch übrig
zu bleiben schien; so habe ich nunmehr die vorliegende Frage in
aller der Vollständigkeit und Genauigkeit beantwortet, welche mir
meine Kräfte erlaubten. Ich könnte daher hier schliessen, wenn
ich nicht noch eines Gegenstandes erwähnen müsste, welcher auf
das bisher Vorgetragene einen sehr wichtigen Einfluss haben kann,
nemlich der Mittel, welche nicht nur die Wirksamkeit des Staats
selbst möglich machen, sondern ihm sogar seine Existenz sichern
müssen.
Auch um den eingeschränktesten Zwek zu erfüllen, muss der
Staat hinlängliche Einkünfte haben. Schon meine Unwissenheit
in allem, was Finanzen heisst, verbietet mir hier ein langes Rai-
sonnement. Auch ist dasselbe, dem von mir gewählten Plane
nach, nicht nothwendig. Denn ich habe gleich anfangs bemerkt,
dass ich hier nicht von dem Falle rede, wo der Zwek des Staats
nach der Quantität der Mittel der Wirksamkeit, welche derselbe
in Händen hat, sondern wo diese nach jenem bestimmt wird.
(S. S ) -) Nur des Zusammenhangs willen muss ich be-
V „Summe" verbessert aus „Erreichung".
^) Hier wird auf S. 28. 29 der Handschrift verwiesen, eine Stelle, die in
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XIV. XV. 233
merken, dass auch bei FinanzEinrichtungen jene Rüksicht des
Zweks der Menschen im Staate, und der daher entspringenden
Beschränkung seines Zweks nicht aus den Augen gelassen werden
darf. Auch der flüchtigste Blik auf die Verwebung so vieler
Polizei- und Finanzeinrichtungen lehrt diess hinlänglich. Meines
Erachtens giebt es für den Staat nur dreieriei Arten der Einkünfte :
I., die Einkünfte aus vorbehaltnem, oder an sich gebrachtem
Eigenthum; 2., aus direkten, und 3., aus indirekten Abgaben.
Alles Eigenthum des Staats führt Nachtheile mit sich. Schon
oben (S. S. 129. 130.) habe ich von dem Uebergewichte geredet,
welches der Staat, als Staat, allemal hat ; und ist er Eigenthümer,
so muss er in viele Privatverhältnisse nothwendig eingehen. Da
also, wo das Bedürfniss, um welches allein man eine Staatsein-
richtung wünscht, gar keinen Einfluss hat, wirkt die Macht mit,
w-elche nur in Hinsicht dieses Bedürfnisses eingeräumt wurde.
Gleichfalls mit Nachtheilen verknüpft sind die indirekten Abgaben.
Die Erfahrung lehrt, wie vielfache Einrichtungen ihre Anordnung
und ihre Hebung voraussezt, welche das vorige Raisonnement un-
streitig nicht billigen kann. Es bleiben also nur die direkten übrig.
Unter den möglichen S3'stemen direkter Abgaben ist das physio-
Ivratische unstreitig das einfachste. Allein — ein Einwurf, der auch
schon öfter gemacht worden ist — eins der natürlichsten Produkte
ist in demselben aufzuzählen vergessen w^orden, die Kraft des
Menschen, welche, da sie in ihren Wirkungen, ihren Arbeiten, bei
unsren Einrichtungen mit zur Waare wird, gleichfalls der Abgabe
unterworfen sein muss. Wenn man das System direkter Abgaben,
auf welches ich hier zurükkomme, nicht mit Unrecht das schlech-
teste, und unschiklichste aller Finanzsysteme nennt ; so muss man
indess auch nicht vergessen, dass der Staat, welchem so enge
Gränzen der Wirksamkeit gesezt sind, keiner grossen Einkünfte
bedarf, und dass der Staat, der so gar kein eignes, von dem der
Bürger getheiltes Interesse hat, der Hülfe einer freien d. i. nach
der Erfahrung aller Zeitalter, wohlhabenden Nation gewisser ver-
sichert sein kann.
So wie die Einrichtung der Finanzen der Befolgung der im
Vorigen aufgestellten (jrundsäze Hindernisse in den W^eg legen
kann; ebenso, und vielleicht noch mehr, ist diess der Fall bei der
den jetzt fehlenden Blättern (vgl. oben S. g-j Anm.) enthalten ivar und auch in
dem in der Thalia abgedruckten Stück sich nicht findet.
oo 1 5. Ideen zu einem Versuch
inneren politischen Verfassung. Es muss nemlich ein Mittel vor-
handen sein, welches den beherrschenden und den beherrschten
Theil der Nation mit einander verbindet, welches dem ersteren
den Besiz der ihm anvertrauten Macht und dem lezteren den Ge-
nuss der ihm übriggelassenen Freiheit sichert. Diesen Zwek hat
man in verschiedenen Staaten auf verschiedene Weise zu erreichen
versucht; bald durch Verstärkung der gleichsam physischen Gewalt
der Regierung — welches indess freilich für die Freiheit gefährlich
ist — bald durch die Gegeneinanderstellung mehrerer einander
entgegengesezter Mächte, bald durch Verbreitung eines, der Kon-
stitution günstigen, Geistes unter der Nation. Diess leztere Mittel,
wie schöne Gestalten es auch, vorzüglich im Alterthum, hervor-
gebracht hat, wird der Ausbildung der Bürger in ihrer Indivi-
dualität leicht nachtheilig, bringt nicht selten Einseitigkeit hervor,
und ist daher am wenigsten in dem, hier aufgestellten S3'steme
rathsam. Vielmehr müsste, diesem zufolge, eine politische Ver-
fassung gewählt werden, welche so wenig, als möglich, einen
positiven speciellen Einfluss auf den Charakter der Bürger hätte,
und nichts anders, als die höchste Achtung des fremden Rechts,
verbunden mit der enthusiastischsten Liebe der eignen Freiheit, in
ihnen herv^orbrächte. Welche der denkbaren Verfassungen diess
nun sein möchte? versuche ich hier nicht zu prüfen. Diese Prü-
fung gehört offenbar allein in eine Theorie der eigentlichen Politik.
Ich begnüge mich nur an folgenden kurzen Bemerkungen, welche
wenigstens die Möglichkeit einer solchen Verfassung deutlicher
zeigen. Das System, das ich vorgetragen habe, verstärkt und ver-
vielfacht das Privatinteresse der Bürger, und es scheint daher, dass
eben dadurch das öfi'entliche geschwächt werde. Allein es ver-
bindet auch dieses so genau mit jenem, dass dasselbe vielmehr
nur auf jenes, und zwar, wie es jeder Bürger — da doch jeder
sicher und frei sein will — anerkennt, gegründet ist. So dürfte
also doch, gerade bei diesem S3'stem, die Liebe der Konstitution
am besten erhalten werden, die man sonst oft durch sehr künst-
liche Mittel vergebens hervorzubringen strebt. Dann trift auch
hier ein, dass der Staat, der weniger wirken soll, auch eine ge-
ringere Macht, und die geringere Macht eine geringere Wehr
braucht. Endlich versteht sich noch von selbst, dass, so v/ie über-
haupt manchmal Kraft oder Genuss den Resultaten aufgeopfert
werden müssen, um beide vor einem grösseren Verlust zu be-
wahren, eben diess auch hier immer angewendet werden müsste.
die Grenzen der Wirksamkeil des Staats zu bestimmen. XV.
23i
So hätte ich denn jezt die vorgelegte Frage, nach dem Alaasse
meiner gegenwärtigen Kräfte, vollständig beantwortet, die Wirk-
samkeit des Staats von allen Seiten her mit den Gränzen um-
schlossen, welche mir zugleich erspriessHch und nothwendig
schienen. Ich habe indess dabei nur den Gesichtspunkt des Besten
gewählt; der des Rechts könnte noch neben demselben nicht un-
interessant scheinen. Allein wo eine Staatsgesellschaft wirklich
einen gewissen Zwek, sichere Gränzen der Wirksamkeit freiwillig
bestimmt hat; da sind natürlich dieser Zwek und diese Gränzen
— sobald sie nur von der Art sind, dass ihre Bestimmung in der
Macht der Bestimmenden lag — rechtmässig. Wo eine solche
ausdrükliche Bestimmung nicht geschehen ist, da muss der Staat
natürlich seine Wirksamkeit auf diejenigen Gränzen zurükzubringen
suchen, welche die reine Theorie vorschreibt, aber sich auch von
den Hindernissen leiten lassen, deren Uebersehung nur einen
grösseren Xachtheil zur Folge haben würde. Die Nation kann
also mit Recht die Befolgung jener Theorie immer so weit, aber
nie weiter erfordern, als diese Hindernisse dieselbe nicht unmög-
lich machen. Dieser Hindernisse nun habe ich im Vorigen nicht
erwähnt; ich habe mich bis hieher begnügt, die reine Theorie zu
entwikkeln. Ueberhaupt habe ich versucht, die vortheilhafteste
Lage für den Menschen im Staat aufzusuchen. Diese schien mir
nun darin zu bestehen, dass die mannigfaltigste Individualität, die
originellste Selbstständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltigsten
und innigsten \^ereinigung mehrerer Menschen neben einander
aufgestellt würde — ein Problem, welches nur die höchste Frei-
heit zu lösen vermag. Die Möglichkeit einer Staatseinrichtung,
welche diesem Endzwek so wenig, als möglich, Schranken sezte,
darzuthun, war eigentlich die Absicht dieser Bogen, und ist schon
seit längerer Zeit der Gegenstand alles meines Nachdenkens ge-
wesen. Ich bin zufrieden, wenn ich bewiesen habe, dass dieser
Grundsa^ wenigstens bei allen Staatseinrichtungen dem Gesezgeber,
als Ideal, vorschweben sollte.
Eine grosse Erjä'.iterung könnten diese Ideen durch die Ge-
schichte und Statistik — beide auf diesen Endzwek gerichtet —
erhalten. Ueberhaupt hat mir oft die Statistik einer Reform zu
bedürfen geschienen. Statt blosse Data der Grösse, der Zahl der
Einwohner, des Reichthums, der Industrie eines Staats, aus welchen
sein eigentlicher Zustand nie ganz und mit Sicherheit zu be-
urtheilen ist, an die Hand zu geben, sollte sie, von der natürlichen
2oß 5- Ideen zu einem Versuch
Beschaffenheit des Landes und seiner Bewohner ausgehend, das
Maass und die Art ihrer thätigen, leidenden, und geniessenden
Kräfte, und nun schrittweise die Modifikationen zu schildern
suchen, welche diese Kräfte theils durch die Verbindung der Nation
unter sich, theils durch die Einrichtung des Staats erhalten. Denn
die Staatsverfassung und der Nationalverein sollten, wie eng sie
auch in einander verwebt sein mögen, nie mit einander verwechselt
w^erden. Wenn die Staatsverfassung den Bürgern, seis durch
Uebermacht und Gewalt, oder Gewohnheit und Gesez, ein be-
stimmtes Verhältniss anweist; so giebt es ausserdem noch ein
andres, freiwillig von ihnen gewähltes, unendlich mannigfaltiges,
und oft wechselndes. Und diess leztere, das freie Wirken der
Nation unter einander, ist es eigentlich, welches alle Güter be-
wahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt.
Die eigentliche Staatsverfassung ist diesem, als ihrem Zwekke,
untergeordnet, und wird immer nur, als ein nothwendiges Mittel,
und, da sie allemal mit Einschränkungen der Freiheit verbunden
ist, als ein nothwendiges Uebel gewählt. Die nachtheiligen Folgen
zu zeigen, welche die Verwechselung der freien Wirksamkeit der
Nation mit der erzwungenen der Staatsverfassung dem Genuss,
den Kräften, und dem Charakter der Menschen bringt, ist daher
auch eine Nebenabsicht dieser Blätter gewesen.
XVI.
Jede Entwikklung von Wahrheiten, welche sich auf den
Menschen, und insbesondre auf den handlenden Menschen beziehen,
führt auf den Wunsch, dasjenige, was die Theorie als richtig be-
währt, auch in der Wirklichkeit ausgeführt zu sehen. Dieser
Wunsch ist der Natur des Menschen, dem so selten der still wohl-
thätige Seegen blosser Ideen genügt, angemessen, und seine Leb-
haftigkeit wächst mit der wohlwollenden Theilnahme an dem Glük
der Gesellschaft. Allein wie natürlich derselbe auch an sich, und
wie edel in seinen Quellen er sein mag; so hat er doch nicht
selten schädliche Folgen hervorgebracht, und oft sogar schäd-
lichere, als die kältere Gleichgültigkeit oder — da auch gerade
aus dem Gegentheil dieselbe Wirkung entstehn kann — die glühende
Wärme, welche, minder bekümmert um die Wirklichkeit, sich
nur an der reinen Schönheit der Ideen ergözt. Denn das Wahre,
sobald es — wäre es auch nur in Einem Menschen — tief ein-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XV. XVI.
^37
dringende Wurzeln fasst, verbreitet immer, nur langsamer und
geräuschloser, heilsame Folgen auf das wirldiche Leben; da hin-
gegen das, was unmittelbar auf dasselbe übergetragen wird, nicht
selten, bei der Uebertragung selbst, seine Gestalt verändert, und
nicht einmal auf die Ideen zurükwirkt. Daher giebt es auch Ideen,
w^elche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja für
die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirklichkeit
nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muss der Seele des
Bildners jeder Art nur immer, als unerreichbares Muster vor-
schweben. Diese Gründe empfehlen demnach auch bei der am
mindesten bezweifelten, konsequentesten Theorie mehr als ge-
wöhnliche Vorsicht in der Anwendung derselben; und um so
mehr bewegen sie mich noch, ehe ich diese ganze Arbeit be-
schliesse, so vollständig, aber zugleich so kurz, als mir meine
Ivräfte erlauben, zu prüfen, inwiefern die im Vorigen theoretisch
entwikkelten Grundsäze in die Wirklichkeit übergetragen werden
könnten.' Diese Prüfung w^ird zugleich dazu dienen, mich vor
der Beschuldigung zu bewahren, als wollte ich durch das ^"orige
unmittelbar der Wirklichkeit Regeln vorschreiben, oder auch nur
dasjenige misbilligen, was demselben etwa in ihr widerspricht —
eine Anmaassung, von der ich sogar dann entfernt sein würde,
wenn ich auch alles, was ich vorgetragen habe, als völlig richtig
und gänzlich zweifellos anerkennte.
Bei jeglicher Umformung der Gegenwart muss auf den bisherigen
Zustand ein neuer folgen. Nun aber bringt jede Lage, in welcher sich
die Menschen befinden, jeder Gegenstand, der sie umgiebt, eine be-
stimmte, feste Form in ihrem Innren hervor. Diese Form vermag
nicht in jede andre selbstgewählte überzugehen, und man verfehlt zu-
gleich seines Endzweks uad tödtet die Kraft, wenn man ihr eine un-
passende aufdringt. Wenn man die wichtigsten Revolutionen der Ge-
schichte übersieht, so entdekt man, ohne Mühe, dass die meisten der-
selben aus den periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes
entstanden sind. Noch mehr wird man in dieser Ansicht bestätigt, wenn
man die Kräfte überschlägt, welche eigentlich alle Veränderungen
auf dem Erdkreis bewirken, und unter diesen die menschlichen
— da die der physischen Natur wegen ihres gleichmässigen, ewig
einförmig wiederkehrenden Ganges in dieser Rüksicht weniger
wichtig, und die der vernunftlosen Geschöpfe in eben derselben
an sich unbedeutend sind — in dem Besize des Hauptantheils
erblikt. Die menschliche Kraft vermag sich in Einer Periode nur
298 5- Ideen zu einem Versuch
auf Eine Weise zu äussern, aber diese Weise unendlich mannig-
faltig zu moditiciren; sie zeigt daher in jedem Moment eine Ein-
seitigkeit, die aber in einer Folge von Perioden das Bild einer
wunderbaren Vielseitigkeit gewährt. Jeder vorhergehende Zustand
derselben ist entweder die volle Ursach des folgenden, oder doch
wenigstens die beschränkende, dass die äussern, andringenden
Umstände nur gerade diesen hervorbringen können. Eben dieser
vorhergehende Zustand, und die Modifikation, welche er erhält,
bestimmt daher auch, wie die neue Lage der Umstände auf den
Menschen wirken soll, und die Macht dieser Bestimmung ist so
gross, dass diese Umstände selbst oft eine ganz andre Gestalt da-
durch erhalten. Daher rührt es, dass alles, was auf der Erde ge-
schieht, gut und heilsam genannt werden kann, weil die innere
Kraft des Menschen es ist, welche sich alles, wie seine Natur
auch sein möge, bemeistert, und diese innere Kraft in keiner ihrer
Aeusserungen, da doch jede ihr von irgend einer Seite mehr Stärke
oder mehr Bildung verschaft, je anders als — nur in verschiedenen
Graden — wohlthätig wirken kann. Daher ferner, dass sich
vielleicht die ganze Geschichte des menschlichen Geschlechts bloss
als eine natürliche Folge der Revolutionen der menschlichen Kraft
darstellen liesse; welches nicht nur überhaupt vielleicht die lehr-
reichste Bearbeitung der Geschichte sein dürfte, sondern auch
jeden, auf Menschen zu wirken Bemühten belehren würde, welchen
Weg er die menschliche Kraft mit Fortgang zu führen versuchen,
und welchen er niemals derselben zumuthen müsste? Wie daher
diese innre Kraft des Menschen durch ihre Achtung erregende
Würde die vorzüglichste Rüksicht verdient; ebenso nöthigt sie
auch diese Rüksicht durch die Gewalt ab, mit welcher sie sich
alle übrigen Dinge unterwirft.
Wer demnach die schwere Arbeit versuchen will, einen neuen
Zustand der Dinge in den bisherigen kunstv^oll zu verweben, der
wird vor allem sie nie aus den Augen verlieren dürfen. Zuerst
muss er daher die volle Wirkung der Gegenwart auf die Gemüther
abwarten; wollte er hier zerschneiden, so könnte er zwar vielleicht
die äussre Gestalt der Dinge, aber nie die innere Stimmung der
Menschen umschatten, und diese würde wiederum sich in alles
Neue übertragen, was man gewaltsam ihr aufgedrungen hätte.
Auch glaube man nicht, dass, je voller man die Gegenwart wirken
lässt, desto abgeneigter der Mensch gegen einen andren folgenden
Zustand werde. Gerade in der Geschichte des Menschen sind die
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XVI.
239
Extreme am nächsten miteinander verknüpft; und jeder äussre
Zustand, wenn man ihn ungestört fortwirken lässt, arbeitet, statt
sich zu befestigen, an seinem Untergange. Diess zeigt nicht nur
die Erfahrung aller Zeitalter, sondern es ist auch der Natur des
Menschen gemäss, sowohl des thätigen, welcher nie länger bei
einem Gegenstand verweilt, als seine Energie Stoff daran findet,
und also gerade dann am leichtesten übergeht, wenn er sich am
ungestörtesten damit beschäftigt hat, als auch des leidenden, in
welchem zwar die Dauer des Druks die Kraft abstumpft, aber auch
den Druk um so härter fühlen lässt. Ohne nun aber die gegen-
wärtige Gestalt der Dinge anzutasten, ist es möglich, auf den Geist
und den Charakter der Menschen zu wirken, möglich, diesem eine
Richtung zu geben, welche jener Gestalt nicht mehr angemessen
ist; und gerade das ist es, v>'as der Weise zu thun versuchen wird.
Nur auf diesem Wege ist es möglich, den neuen Plan gerade so
in der Wirklichkeit auszuführen, als man ihn sich in der Idee
dachte ; auf jedem andren wird er, den Schaden noch abgerechnet,
den man allemal anrichtet, wenn man den natürlichen Gang der
menschlichen Entwikklung stört, durch das, was noch von dem
vorhergehenden in der Wirklichkeit, oder in den Köpfen der
Menschen übrig ist, modificirt, verändert, entstellt. Ist aber diess
Hinderniss aus dem Wege geräumt, kann der neu beschlossene
Zustand der Dinge, des vorhergehenden und der, durch denselben
bewirkten Lage der Gegenwart ungeachtet, seine volle Wirkung
äussern; so darf auch nichts mehr der Ausführung der Reform
im Wege stehn. Die allgemeinsten Grundsäze der Theorie aller
Reformen dürften daher vielleicht folgende sein:
I., man trage Grundsäze der reinen Theorie alle-
mal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über,
alsbisdiese in ihre m ganzen Umfange dieselben nicht
mehr hindert, diejenigen Folgen zu äussern, welche
sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervor-
bringen w^ürden.
2., Um den U ebergang von dem gegen wärtigenZu-
stande zum neu beschlossenen zu bewürken, lasse
man, soviel möglich, jede Reform von den Ideen und
den Köpfen der Menschen ausgehen.
Bei den, im Vorigen aufgestellten, bloss theoretischen Grund-
säzen war ich zwar überall von der Natur des Menschen ausge-
gangen, auch hatte ich in demselben kein ausserordentliches,
240 5- Ideen zu einem Versuch
sondern nur das gewöhnliche Maass der Kräfte vorausgesezt ;
allein immer hatte ich ihn mir doch bloss in der ihm nothvvendig
eigenthümlichen Gestalt, und noch durch kein bestimmtes Ver-
hältniss auf diese, oder jene Weise gebildet, gedacht. Nirgends
aber existirt der Mensch so, überall haben ihm schon die Um-
stände, in welchen er lebt, eine positive, nur mehr oder minder
abweichende Form gegeben. Wo also ein Staat die Gränzen seiner
Wirksamkeit, nach den Grundsäzen einer richtigen Theorie, aus-
zudehnen oder einzuschränken bemüht ist, da muss er auf diese
Form eine vorzügliche Rüksicht nehmen. Das Misverhältniss
zwischen der Theorie und der Wirklichkeit in diesem Punkte der
Staatsverwaltung wird nun zwar, wie sich leicht voraussehen lässt,
überall in einem Mangel an Freiheit bestehen, und so kann es
scheinen, als wäre die Befreiung von Fesseln in jeglichem Zeitpunkt
möglich, und in jeglichem wohlthätig. Allein wie wahr auch diese
Behauptung an sich ist, so darf man nicht vergessen, dass, was
als Fessel von der einen Seite die Kraft hemmt, auch von der
andren Stoff wird, ihre Thätigkeit zu beschäftigen. Schon in dem
Anfange dieses Aufsazes habe ich bemerkt, dass der Mensch mehr
zur Herrschaft, als zur Freiheit geneigt ist, und ein Gebäude der
Herrschaft freut nicht bloss den Herrscher, der es aufführt und
erhält, sondern selbst die dienenden Theile erhebt der Gedanke,
Glieder Eines Ganzen zu sein, welches sich über die Kräfte und
die Dauer einzelner Generationen hinauserstrekt. Wo daher diese
Ansicht noch herrschend ist, da muss die Energie hinschwinden,
und Schlaffheit und Unthätigkeit entstehen, wenn man den Menschen
zwingen will, nur in sich und für sich, nur in dem Räume, den
seine einzelnen Kräfte umspannen, nur für die Dauer, die er durch-
lebt, zu wirken. Zwar wirkt er allein auf diese Weise auf den
unbeschränktesten Raum, für die unvergänglichste Dauer; allein
er wirkt auch nicht so unmittelbar, er streut mehr sich selbst ent-
wikkelnden Saamen aus, als er Gebäude aufrichtet, welche geradezu
Spuren seiner Hand aufweisen, und es ist ein höherer Grad von
Kultur nothwendig, sich mehr an der Thätigkeit zu erfreuen,
welche nur Kräfte schaft, und ihnen selbst die Erzeugung der
Resultate überlässt, als an derjenigen, v^'elche unmittelbar diese
selbst aufstellt. Dieser Grad der Kultur ist die wahre Reife der
Freiheit. Allein diese Reife findet sich nirgends in ihrer Vollendung,
und wird in dieser — meiner Ueberzeugung nach — auch dem sinn-
lichen, so gern aus sich herausgehenden Menschen ewig fremd bleiben.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XVI.
241
Was w'ürde also der Staatsmann zu thun haben, der eine
solche Umänderung^) unternehmen wollte.^ Einmal in jedem
Schritt, den er neu, nicht in Gefolge der einmaligen Lage der
Dinge thäte, der reinen Theorie streng folgen, es müsste denn
ein Umstand in der Gegenwart liegen, welcher, wenn man sie ihr
aufpfropfen wollte, sie verändern, ihre Folgen ganz oder zum
Theil vernichten würde. Zweitens alle Freiheitsbeschränkungen,
die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig be-
stehen lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kennzeichen
zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende Fesseln an-
sehen, dass sie ihren Druk fühlen, und also in diesem Stükke zur
Freiheit reif sind ; dann aber dieselben ungesäumt entfernen. End-
lich die Reife zur Freiheit durch jegliches 2^Iittel befördern. Diess
Leztere ist unstreitig das Wichtigste, und zugleich in diesem System
das Einfachste. Denn durch nichts wird diese Reife zur Freiheit
in gleichem Grade befördert, als durch Freiheit selbst. Diese Be-
hauptung dürften zwar diejenigen nicht anerkennen, welche sich
so oft gerade dieses Mangels der Reife, als eines ^"o^wandes be-
dient haben, die Unterdrükkung fortdauern zu lassen. Allein sie
folgt, dünkt mich, unwidersprechlich aus der Natur des Menschen
selbst. Mangel an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellek-
tueller und moralischer Ivräfte entspringen; diesem Mangel wird
allein durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung
aber fordert Uebung, und die Uebung Selbstthätigkeit erwekkende
Freiheit. Xur freilich heisst es nicht Freiheit geben, wenn man
Fesseln löst, welche der noch nicht, als solche, fühlt, welcher sie
trägt. Von keinem Menschen der Welt aber, wie verwahrlost er
auch durch die Natur, wie herabgewürdigt durch seine Lage sei,
ist diess mit allen Fesseln der Fall, die ihn drükken. Man löse
also nach und nach gerade in eben der Folge, wie das Gefühl der
Freiheit erwacht, und mit jedem neuen Schritt wird man den
Fortschritt beschleunigen. Grosse Schwierigkeiten können noch
die Kennzeichen dieses Erwachens erregen. Allein diese Schwierig-
keiten liegen nicht sowohl in der Theorie, als in der Ausführung,
die freilich nie specielle Regeln erlaubt, sondern, wie überall, so
auch hier, allein das Werk des Genies ist. In der Theorie würde
ich mir diese freilich sehr schwierig verwikkelte Sache auf folgende
Art deutlich zu machen suchen.
Der Gesezgeber müsste zwei Dinge unausbleiblich vor Augen
V „Umänderung" verbessert aus „Revolution".
W. V. Humboldt, Werke. I. I6
24.2 5- Itleen zu einem Versuch
haben: i., die reine Theorie, bis in das genaueste Detail ausge-
sponnen. 2., den Zustand der indi\äduellen Wirklichkeit, die er
umzuschaffen bestimmt wäre. Die Theorie müsste er nicht nur
in allen ihren Theilen auf das genaueste und vollständigste über-
sehen, sondern er müsste auch die nothwendigen Folgen jedes
einzelnen Grundsazes in ihrem ganzen Umfange, in ihrer mannig-
faltigen Verwebung, und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit einer
von der andren, wenn nicht alle Grundsäze auf einmal realisirt
werden könnten, vor Augen haben. Ebenso müsste er — und
diess Geschäft wäre freilich unendlich schwieriger — sich von
dem Zustande der Wirklichkeit unterrichten, von allen Banden,
welche der Staat den Bürgern, und welche sie sich selbst, gegen
die reinen Grundsäze der Theorie, unter dem Schuze des Staats,
auflegen, und von allen Folgen derselben. Beide Gemähide müsste
er nun mit einander vergleichen, und der Zeitpunkt, einen Grund-
saz der Theorie in die W^irklichkeit überzutragen, wäre da, wenn
in der Vergleichung sich fände, dass, auch nach der Uebertragung,
der Grundsaz unverändert bleiben, und noch eben die Folgen
hervorbringen würde, welche das erste Gemähide darstellte; oder,
wenn diess nicht ganz der Fall wäre, sich doch voraussehen
Hesse, dass diesem Mangel alsdann, wenn die Wirklichkeit der
Theorie noch mehr genähert wäre, abgeholfen werden würde.
Denn diess lezte Ziel, diese gänzliche Näherung müsste den Blik
des Gesezgebers unablässig an sich ziehen.
Diese gleichsam bildliche Vorstellung kann sonderbar, und
vielleicht noch mehr, als das, scheinen, man kann sagen, dass diese
Gemähide nicht einmal treu erhalten, viel weniger noch die Ver-
gleichung genau angestellt werden könne. Alle diese Einwürfe
sind gegründet, allein sie verlieren sehr vieles von ihrer Stärke,
wenn man bedenkt, dass die Theorie immer nur Freiheit verlangt,
die W^irklichkeit, insofern sie von ihr abweicht, immer nur Zwang
zeigt, die Ursach, warum man nicht Freiheit gegen Zwang ein-
tauscht, immer nur Unmöglichkeit sein, und diese Unmöglich-
keit hier, der Natur der Sache nach, nur in Einem von folgenden
beiden Stükken liegen kann, entweder dass die Menschen, oder
dass die Lage noch nicht für die Freiheit empfänglich ist, dass
also dieselbe — w^elches aus beiden Gründen entspringen kann —
Resultate zerstört, ohne welche nicht nur keine Freiheit, sondern
auch nicht einmal Existenz gedacht werden kann, oder dass sie
— eine allein der erstercn Ursach eigenthümliche Folge — die
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XVI.
heilsamen Wirkungen nicht henorbringt, welche sie sonst immer
begleiten. Beides aber lässt sich doch nicht anders beurtheilen,
als wenn man beides, den gegenwärtigen und den veränderten
Zustand, in seinem ganzen Umfang, sich vorstellt, und seine Ge-
stalt und Folgen sorgfältig mit einander vergleicht. Die Schwierig-
keit sinkt auch noch mehr, wenn man erwägt, dass der Staat selbst
nicht eher umzuändern im Stande ist, bis sich ihm gleichsam die
Anzeigen dazu in den Bürgern selbst darbieten, Fesseln nicht eher
zu entfernen, bis ihre Last drükkend wird, dass er daher über-
haupt gleichsam nur Zuschauer zu sein, und wenn der Fall, eine
Freiheitsbeschränkung aufzuheben, eintritt, nur die Möglichkeit
oder Unmöglichkeit zu berechnen, und sich daher nur durch die
Nothwendigkeit bestimmen zu lassen braucht. Zulezt brauche ich
w^ohl nicht erst zu bemerken, dass hier nur von dem Falle die
Rede war, wo dem Staate eine Umänderung überhaupt nicht nur
ph3-sisch, sondern auch moralisch möglich ist, wo also die Grund-
säze des Rechts nicht entgegenstehen. Nur darf bei dieser lezteren
Bestimmung nicht vergessen werden, dass das natürliche und all-
gemeine Recht die einzige Grundlage alles übrigen positiven ist,
und dass daher auf dieses allemal zurükgegangen werden muss,
dass folglich, um einen Rechtssaz anzuführen, welcher gleichsam der
Quell aller übrigen ist, niemand, jemals und auf irgend eine Weise
ein Recht erlangen kann, mit den Kräften, oder dem Vermögen
eines andren, ohne oder gegen dessen Einwilligung zu schalten.
Unter dieser Voraussezung also wage ich es, den folgenden
Grundsaz aufzustellen: der Staat muss, in Absicht der
Gränzen seiner Wirksamkeit, den wrirklichen Zustand
der Dinge der richtigen und wahren Theorie inso-
weit nähern, als ihm die Möglichkeit diess erlaubt,
und ihn nicht Gründe wahrer Nothwendigkeit daran
hindern. Die Möglichkeit aber beruht darauf, dass
die Menschen empfänglich genug für die Freiheit sind,
welche die Theorie allemal lehrt, dass diese die heil-
samen Folgen äussern kann, welche sie an sich, ohne
entgegenstehende Hindernisse, immer begleiten; die
entgegenarbeitend eNothw endig keitdarauf, dassdie,
auf einmal gewährte Freiheit nicht Resultate zer-
störe, ohne welche nicht nurjeder fernere Fortschritt,
sondern die Existenz selbst in Gefahr geräth. Beides
muss immer aus der sorgfältig angestellten \'erglei-
i6*
2AA 5- Ideen zu einem Versuch
chung der gegenwärtigen und der ^^ eränderten Lage
und ihrer beiderseitigen Folgen beurtheilt werden.
Dieser Grundsaz ist ganz und gar aus der Anwendung des oben,
in Absicht aller Reformen, aufgestellten (S. S. 239.) aut diesen
speciellen Fall entstanden. Denn sowohl, wenn es noch an
Empfänglichkeit für die Freiheit fehlt, als wenn die nothwendigen
er\\^ähnten Resultate durch dieselbe leiden würden, hindert die
Wirklichkeit die Grundsäze der reinen Theorie, diejenigen Folgen
zu äussern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer her-
vorbringen würden. Ich seze auch jezt nichts mehr zur weiteren
Ausführung des aufgestellten Grundsazes hinzu. Zwar könnte ich
mögliche Lagen der WirkHchkeit klassificiren, und an ihnen die
Anwendung desselben zeigen. Allein ich würde dadurch meinen
eignen Principien zuwiderhandlen. Ich habe nemlich gesagt, dass
jede solche Anwendung die Uebersicht des Ganzen und aller seiner
Theile im genauesten Zusammenhange erfordert, und ein solches
Ganze lässt sich durch blosse Hypothesen nicht aufstellen.
Verbinde ich mit dieser Regel für das praktische Benehmen
des Staats die Geseze, welche die, im Vorigen entwikkelte Theorie
ihm auflegte; so darf derselbe seine Thätigkeit immer nur durch
die Nothwendigkeit bestimmen lassen. Denn die Theorie erlaubte
ihm allein Sorgfalt für die Sicherheit, weil die Erreichung dieses
Zweks allein dem einzelnen Menschen unmöglich, und daher diese
Sorgfalt allein nothwendig ist; und die Regel des praktischen Be-
nehmens bindet ihn streng an die Theorie, insofern nicht die
Gegenwart ihn nöthigt, davon abzugehn. So ist es also das
Princip der Nothwendigkeit, zu welchem alle, in diesem
ganzen Aufsaz vorgetragene Ideen, wie zu ihrem lezten Ziele, hin-
streben. In der reinen Theorie bestimmt allein die Eigenthümlich-
keit des natürlichen Menschen die Gränzen dieser Nothwendigkeit;
in der Ausführung kommt die Individualität des wirklichen hinzu.
Dieses Princip der Nothwendigkeit müsste, wie es mir scheint,
jedem praktischen, auf den Menschen gerichteten Bemühen die
höchste Regel vorschreiben. Denn es ist das Einzige, welches auf
sichre, zweifellose Resultate führt. Das Nüzliche, was ihm ent-
gegengesezt werden kann, erlaubt keine reine und gewisse Be-
urtheilung. Es erfordert Berechnungen der Wahrscheinlichkeit,
welche, noch abgerechnet, dass sie, ihrer Natur nach, nicht fehler-
frei sein können, Gefahr laufen, durch die geringsten unvorher-
gesehenen Umstände vereitelt zu werden; da hingegen das Noth-
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. XVI.
245
wendige sich selbst dem Gefühl mit Macht aufdringt, und was die
Nothwendigkeit befiehlt, immer nicht nur nüzlich, sondern sogar
unentbehrlich ist. Dann macht das Xüzliche, da die Grade des
Nüzlichen gleichsam unendlich sind, immer neue und neue Ver-
anstaltungen erforderlich, da hingegen die Beschränkung auf das,
was die Nothwendigkeit erheischt, indem sie der eignen Kraft
einen grösseren Spielraum lässt, selbst das Bedürfniss dieser ver-
ringert. Endlich führt Sorgfalt für das Nüzliche meistentheils zu
positiven, für das Nothwendige meistentheils zu negativen Ver-
anstaltungen, da — bei der Stärke der selbstthätigen Kraft des
Menschen — Nothwendigkeit nicht leicht anders, als zur Befreiung
von irgend einer einengenden Fessel eintritt. Aus allen diesen
Gründen — welchen eine ausführlichere Analyse noch manchen
andren beigesellen könnte — ist kein andres Princip mit der Ehr-
furcht für die Individualität selbstthätiger Wesen, und der, aus
dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit so ver-
einbar, als eben dieses. Endlich ist es das einzige untrügliche
Mittel den Gesezen Macht und Ansehen zu verschaffen, sie allein
aus diesem Princip entstehen zu lassen. Man hat vielerlei Wege
vorgeschlagen, zu diesem Endzwek zu gelangen, man hat vorzüg-
lich, als das sicherste Mittel, die Bürger von der Güte und der
Nüzlichkeit der Geseze überzeugen wollen. Allein auch diese
Güte und Nüzlichkeit in einem bestimmten Falle zugegeben; so
überzeugt man sich von der Nüzlichkeit einer Einrichtung nur
immer mit Mühe; verschiedene Ansichten bringen verschiedene
Meinungen hierüber hervor; und die Neigung selbst arbeitet der
L'eberzeugung entgegen, da jeder, wie gern er auch das selbst-
erkannte Nüzliche ergreife, sich doch immer gegen das, ihm auf-
gedrungene sträubt. Unter das Joch der Nothwendigkeit hingegen
beugt jeder willig den Nakken. Wo nun schon einmal eine ver-
wikkclte Eage vorhanden ist, da ist die Einsicht selbst des Noth-
wendigen schwieriger; aber gerade mit der Befolgung dieses Princips
wird die Lage immei cnfacher und diese Einsicht immer leichter.
Ich bin jezt das Feld durchlaufen, das ich mir, bei dem An-
fange dieses Aufsazes. abstekte. Ich habe mich dabei von der
tiefsten Achtung für die innere Würde des Menschen, und die
Freiheit beseelt gefühlt, welche allein dieser Würde angemessen
ist. Möchten die Ideen, die ich vortrug, und der Ausdruk, den
ich ihnen lieh, dieser Empfindung nicht unwerth sein!
24.(3 5- Ween zu einem Versuch
Inhalt.
I.
Einleitung. — Bestimmung des Gegenstandes der Unter-
suchung. — Seltne Bearbeitung und Wichtigkeit desselben. —
Historischer Blik auf die Gränzen, welche die Staaten ihrer Wirk-
samkeit wirklich gesezt haben. — Unterschied der alten und
neueren Staaten. — Zwek der Staatsverbindung überhaupt. —
Streitfrage, ob derselbe allein in der Sorgfalt für die Sicherheit,
oder für das Wohl der Nation überhaupt bestehen soll ? — Gesez-
geber und Schriftsteller behaupten das Leztere. — Dennoch ist
eine fernere Prüfung dieser Behauptung nothwendig. — Diese
Prüfung muss von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten
Endzwekken ausgehen. S. 99 — 106.
II.
Betrachtung des einzelnen Menschen, und der
höchsten Endzv^ekke des Daseins desselben. — Der
höchste und lezte Zwek jedes Menschen ist die höchste und pro-
portionirlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen
Eigenthümlichkeit. — Die nothwendigen Bedingungen der Er-
reichung desselben: Freiheit des Handlens, und Mannigfaltigkeit
der Situationen. — Nähere Anwendung dieser Säze auf das innere
Leben des Menschen. — Bestätigung derselben aus der Geschichte.
— Höchster Grundsaz für die ganze gegenwärtige Untersuchung,
aufweichen diese Betrachtungen führen. S. loC — 111.
III.
Uebergang zur eigentlichen Untersuchung. Ein-
theilung derselben. Sorgfalt des Staats für das posi-
tive, insbesondre physische, Wohl der Bürger. —
Umfang dieses Abschnitts. — Die Sorgfalt des Staats für das
positive Wohl der Bürger ist schädlich. Denn sie — bringt Ein-
förmigkeit her\^or ; — schwächt die Kraft; — stört und verhindert
die Rükwirkung der äusseren, auch bloss körperlichen Beschäf-
tigungen, und der äussren Verhältnisse überhaupt auf den Geist
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Inhalt.
247
und den Charakter der Menschen: — muss auf eine gemischte
Menge gerichtet werden, und schadet daher den Einzelnen durch
Maassregeln, welche auf einen jeden von ihnen nur mit beträcht-
lichen Fehlern passen; — hindert die Entwikkelung der Indivi-
dualität und Eigenthümlichkeit des Menschen; — erschwert die
Staatsverwaltung selbst, verv'ielfältigt die dazu erforderlichen Mittel,
und wird dadurch eine Quelle neuer mannigfaltiger Xachtheile;
— verriikt endlich die richtigen und natürlichen Gesichtspunkte
der Menschen, bei den wichtigsten Gegenständen. — Rechtfertigung
gegen den Einwurf der Uebertreibung der geschilderten Xach-
theile. — Vortheile des, dem eben bestrittenen entgegengesezten
Systems. — Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsaz.
— Mittel einer auf das positive Wohl der Bürger gerichteten
Sorgfalt des Staats. — Schädlichkeit derselben. — Unterschied der
Fälle, wenn etwas vom Staat, als Staat, und wenn dasselbe von
einzelnen Bürgern gethan wird. • — Prüfung des Einwurfs : ob
eine Sorgfalt des Staats für das positive Wohl nicht nothwendig
ist, weil es vielleicht nicht möglich ist, ohne sie, dieselben äusseren
Zwekke zu erreichen, dieselben nothwendigen Resultate zu er-
halten.- — Beweis dieser Möglichkeit, — vorzüglich durch frei-
willige gemeinschaftliche Veranstaltungen der Bürger. — Vor-
zug dieser Veranstaltungen vor den Veranstaltungen des Staats.
S. III — 133.
IX.
Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der
Bürger, für ihre Sicherheit. — Diese Sorgfalt ist nothwendig,
— macht den eigentlichen Endzwek des Staats aus. — Höchster,
aus diesem Abschnitt gezogener Grundsaz. — Bestätigung des-
selben durch die Geschichte. S. 133 — 135.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit gegen aus-
wärtige Feinde. — Bei dieser Betrachtung gewählter Gesichts-
punkt. — Einfluss des Kriegs überhaupt auf den Geist und den
Charakter der Nationen. — Damit angestellte Vergleichung des
Zustandcs desselben, und aller sich auf ihn beziehenden Einrich-
tungen bei uns. — Mannigfaltige Xachtheile dieses Zustandes für
die innere Bildung des Menschen. — Höchster, aus dieser Ver-
gleichung geschöpfter Grundsaz. S. i3() — 140.
248 5- Ideen zu einem Versuch
VI.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit der Bürger
unter einander. Mittel, diesenEndzwek zu erreich en.
Veranstaltungen, welche auf die Umformung des
Geistes und Charakters der Bürger gerichtet sind.
Oeff entliche Erziehung. — Möglicher Umfang der Mittel,
diese Sicherheit zu befördern. — Moralische Mittel. — Oeffentliche
Erziehung. — Ist nachtheilig, vorzüglich weil sie die Mannigfaltig-
keit der Ausbildung hindert; — unnüz, weil es in einer Nation,
die einer gehörigen Freiheit geniesst, an guter Privaterziehung
nicht fehlen wird ; — wirkt zuviel, weil die Sorgfalt für die Sicher-
heit nicht gänzliche Umformung der Sitten nothwendig macht;
— liegt daher ausser den Gränzen der Wirksamkeit des Staats.
S. 140 — 146.
VII.
Religion. — Historischer Blik auf die Art, wie die Staaten
sich der Religion bedient haben. — Jedes Einmischen des Staats
in die Religion führt Begünstigung gewisser Meinungen, mit Aus-
schliessung andrer, und einen Grad der Leitung der Bürger mit
sich. — Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss der Religion
auf den Geist und den Charakter des Menschen. — Religion und
Moralität sind nicht unzertrennlich mit einander verbunden. Denn
— der Ursprung aller Religionen ist gänzlich subjektiv; — Religio-
sität und der gänzliche Mangel derselben können gleich wohl-
thätige Folgen für die Moralität hervorbringen; — die Grundsäze
der Moral sind von der Religion völlig unabhängig; — und die
Wirksamkeit aller Religion beruht allein auf der individuellen Be-
schaffenheit des Menschen; — so dass dasjenige, was allein auf
die Moralität wirkt, nicht der Inhalt gleichsam der Religions-
sj^steme ist, sondern die Form des innern Annehmens derselben.
— Anwendung dieser Betrachtungen auf die gegenwärtige Unter-
suchung, und Prüfung der Frage : ob der Staat sich der Religion,
als eines Wirkungsmittels bedienen müsse? — Alle Beförderung
der Religion durch den Staat bringt aufs höchste gesezmässige
Handlungen herv^or. — Dieser Erfolg aber darf dem Staate nicht
genügen, welcher die Bürger dem Geseze folgsam, nicht bloss
ihre Handlungen mit demselben übereinstimmend machen soll. —
Derselbe ist auch an sich ungewiss, sogar unwahrscheinlich, und
wenigstens durch andre Mittel besser erreichbar, als durch jenes.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Inhalt.
249
— Jenes Mittel führt überdiess so überwiegende Nachtheile mit
sich, dass schon diese den Gebrauch desselben gänzlich verbieten.
— Gelegentliche Beantwortung eines hiebei möglichen, von dem
Mangel an Kultur mehrerer Volksklassen hergenommenen Ein-
w^urfs. — Endlich, was die Sache aus den höchsten und allge-
meinsten Gesichtspunkten entscheidet, ist dem Staat gerade zu
dem Einzigen, was wahrhaft auf die Moralität wirkt, zu der Form
des Innern Annehmens von Religionsbegriffen, der Zugang gänz-
lich verschlossen. — Daher liegt alles, was die Religion betrift,
ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit des Staats. S. 147 — 164.
VIII.
Sitten Verbesserung. — Mögliche Mittel zu derselben. —
Sie reducirt sich vorzüglich auf Beschränkung der Sinnlichkeit. —
Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss der Sinnlichkeit auf
den Menschen. — Einfluss der sinnlichen Empfindungen, dieselben
an sich und allein, als solche, betrachtet. — Verschiedenheit dieses
Einflusses, nach ihrer eignen verschiednen Natur, vorzüglich Ver-
schiedenheit des Einflusses der energisch wirkenden, und der
übrigen sinnlichen Empfindungen. — Verbindung des Sinnlichen
mit dem Unsinnlichen durch das Schöne und Erhabene. — Ein-
fluss der Sinnlichkeit auf die forschenden, intellektuellen, — auf
die schaftenden, moralischen Kräfte des Menschen. — Nachtheile
und Gefahren der Sinnlichkeit. — Anwendung dieser Betrach-
tungen auf die gegenwärtige Untersuchung, und Prüfung der Frage :
ob der Staat positiv auf die Sitten zu wirken versuchen dürfe r —
•leder solcher Versuch wirkt nur auf die äussern Handlungen —
und bringt mannigfaltige und wichtige Nachtheile hen-or. — Sogar
das Sittenverderbniss selbst, dem er entgegensteuert, ermangelt
nicht aller heilsamen Folgen — und macht wenigstens die An-
wendung eines, die Sitten überhaupt umformenden Mittels nicht
nothwendig. — Ein solches Mittel liegt daher ausserhalb der
Gränzen der Wirksamkeit des Staats. — Höchster aus diesem,
und den beiden vorhergehenden Abschnitten gezogener Grundsaz.
S. 164 — 177.
IX.
Nähere, positive Bestimmung der Sorgfalt des
Staats für die Sicherheit. Entwikkelung des Begriffs
der Sicherheit. — Rükblik auf den Gang der ganzen Unter-
2-0 5- Ideen zu einem Versuch
suchung. — Aufzählung des noch Mangelnden. — Bestimmung
des Begriffs der Sicherheit. — Definition. — Rechte, für deren
Sicherheit gesorgt werden muss. — Rechte der einzelnen Bürger.
— Rechte des Staats. — Handlungen, welche die Sicherheit
stören. — Eintheilung des noch übrigen Theils der Untersuchung.
S. 177 — 181.
X.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Be-
stimmung solcher Handlungen der Bürger, welche
sich unmittelbar und geradezu nur auf den Hand-
lenden selbst beziehen. (Polizeigeseze.) — Ueber den
Ausdruk Polizeigeseze. — Der einzige Grund, welcher den Staat
hier zu Beschränkungen berechtigt, ist, wenn die Folgen solcher
Handlungen die Rechte andrer schmälern. — Beschaffenheit der
Folgen, welche eine solche Schmälerung enthalten. — Erläuterung
durch das Beispiel Aergerniss erregender Handlungen. — Vor-
sichtsregeln für den Staat für den Fall solcher Handlungen, deren
Folgen dadurch den Rechten andrer gefährlich werden können,
weil ein seltner Grad der Beurtheilungskraft und der Kenntnisse
erfordert wird, um der Gefahr zu entgehen. — Welche Nähe der
Verbindung jener Folgen mit der Handlung selbst nothwendig ist,
um Beschränkungen zu begründen ? — Höchster aus dem Vorigen
gezogener Grundsaz. — Ausnahmen desselben. — Vortheile, wenn
die Bürger freiwillig durch Verträge bewirken, was der Staat sonst
durch Geseze bewirken muss. — Prüfung der Frage: ob der
Staat zu positiven Handlungen zwingen kann? — Verneinung,
weil — ein solcher Zwang schädlich, — zur Erhaltung der Sicher-
heit nicht nothwendig ist. — Ausnahmen des Nothrechts. — Hand-
lungen, welche auf gemeinschaftlichem Eigenthum geschehen, oder
dasselbe betreffen. S. 181 — i8q.
XT.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Be-
stimmung solcher Handlungen der Bürger, welche
sich unmittelbar und geradezu auf andre beziehen.
(Civil geseze.) — Handlungen, welche die Rechte andrer kränken.
— Pflicht des Staats, — dem Beleidigten zur Entschädigung zu
verhelfen, — und den Beleidiger vor der Rache jenes zu schüzen.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Inhalt. 2^1
— Handlungen mit gegenseitiger Einwilligung. — Willenserklärungen.
— Doppelte Pflicht des Staats in Rüksicht auf sie, — einmal die
gültigen aufrecht zu erhalten, — zweitens den rechtswidrigen den
Schuz der Geseze zu versagen, und zu verhüten, dass die Menschen
sich, auch durch gültige, nicht zu drükkende Fesseln anlegen. —
Gültigkeit der Willenserklärungen. — Erleichterung der Trennung
gültig geschlossener \>rträge, als eine Folge der zweiten eben er-
wähnten Pflicht des Staats; — allein bei Verträgen, welche die
Person betreffen; — mit verschiednen Modifikationen, nach der
eigenthümlichen Natur der ^"erträge. — Dispositionen von Todes-
wegen. — Gültigkeit derselben nach allgemeinen Grundsäzen des
Rechts .^ — Nachtheile derselben. — Gefahren einer blossen Intestat-
erbfolge, und ^^ortheile der Privatdispositionen. — Mittelweg,
welcher diese \^onheile zu erhalten, und jene Nachtheile zu ent-
fernen versucht. — Intestaterbfolge. — Bestimmung des Pflicht-
theils. — Inwiefern müssen Verträge unter Lebendigen auf die
Erben übergehen .' — Nur insofern, als das hinterlassene ^^ermögen
dadurch eine andre Gestalt erhalten hat. — \^orsichtsregeln für
den Staat, hier Freiheitsbeschränkende \>rhältnisse zu verhindern.
— Moralische Personen. — Ihre Nachtheile. — Grund derselben.
— Werden gehoben, wenn man jede moralische Person bloss als
eine Vereinigung der jedesmaligen Mitglieder ansieht. — Höchste,
aus diesem Abschnitt gezogene Grundsäze. S. 190—202.
XII.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch recht
liehe Entscheidung der Streitigkeiten der Bürger. —
Der Staat tritt hier bloss an die Stelle der Partheien. — Erster,
hieraus entspringender Grundsaz der Prozessordnung. — Der Staat
muss die Rechte beider Partheien gegen einander beschüzen. —
Daraus entspringender zweiter Grundsaz der Prozessordnung. —
Nachtheile der Vernachlässigung dieser Grundsäze. — Nothwendig-
keit neuer Geseze zum Behuf der Möglichkeit der richterlichen
Entscheidung. — Güte der Gerichtsverfassung, das Moment, von
welchem diese Nothwencligkeit vorzüglich abhängt. — Vortheile
und Nachtheile solcher Geseze. — Aus denselben entspringende
Regeln der Gesezgebung. — Höchste aus diesem Abschnitt ge-
zogne Grundsäze. S. 202—206.
oro ?. Ideen zu einem Versuch
XIII.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Be-
strafung der U ebertretungen der Geseze des Staats.
(Kriminalgeseze.) — Handlungen, welche der Staat bestrafen
muss. — Strafen. Maass derselben; absolutes: höchste Gelindig-
keit bei der gehörigen Wirksamkeit. — Schädlichkeit der Strafe
der Ehrlosigkeit. — Ungerechtigkeit der Strafen, welche sich, über
den Verbrecher hinaus, auf andre Personen erstrekken. — Rela-
tives Maass der Strafen. Grad der Nicht Achtung des fremden
Rechts. — Widerlegung des Grundsazes, welcher zu diesem Maass-
stab die Häufigkeit der Verbrechen, und die Menge der, zu ihnen
reizenden Antriebe annimmt ; — Ungerechtigkeit, — Schädlichkeit
desselben. — Allgemeine Stufenfolge der Verbrechen in Absicht
der Härte ihrer Strafen. — Anwendung der Strafgeseze auf wirk-
liche Verbrechen. — Verfahren gegen die Verbrecher, während
der Untersuchung. — Prüfung der Frage: inwiefern der Staat
\>rbrechen verhüten darf? — Unterschied zwischen der Beant-
wortung dieser Frage, und der Bestimmung, sich nur auf den
Handlenden selbst beziehender Handlungen im Vorigen. — Abriss
der verschiednen, möglichen Arten, Verbrechen zu verhüten, nach
den allgemeinen Ursachen der Verbrechen. — Die erste dieser
Arten, welche dem Mangel an Mitteln abhilft, der leicht zu Yer-
brechen führt, ist schädlich und unnüz. — Noch schädlicher, und
daher gleichfalls nicht rathsam ist die zweite, welche auf Ent-
fernung der, im Charakter liegenden Ursachen zu ^^erbrechen ge-
richtet ist. — Anwendung dieser Art auf wirkliche Verbrecher.
Besserung derselben. — Behandlung der ad instantia absoluirten.
— Lezte Art, Verbrechen zu verhüten; Entfernung der Gelegen-
heiten ihrer Begehung. — Einschränkung derselben auf die blosse
Verhütung der Ausführung schon beschlossener Verbrechen. — '■
Was dagegen an die Stelle jener gemisbilligten Mittel treten muss,
um Verbrechen zu verhüten? — Die strengste Aufsicht auf be-
gangene Verbrechen, und Seltenheit der Straflosigkeit. — Schäd-
lichkeit des Begnadigungs und Milderungsrechts. — Veranstal-
tungen zur Entdekkung von Verbrechen. — Nothwendigkeit der
Publicität aller Kriminalgeseze, ohne Unterschied. — Höchste, aus
diesem Abschnitt gezogne Grundsäze. S. 206 — 225.
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Inhalt. 2^'i
XIV.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Be-
stimmung des ^^erhältnisses derjenigen Personen,
welche nicht im Besiz der natürlichen, oder gehörig
g e r e i f t e n m e n s c h 1 i c h e n Krä f t e sind. (Unmündige und
des Verstandes Beraubte.) Allgemeine Anmerkung
zu diesem und den vier vorhergehenden Abschnitten.
— Unterschied der hier genannten Personen und der übrigen
Bürger. — Nothwendigkeit einer Sorgfalt für ihr positives Wohl.
— Unmündige. — Gegenseitige Pflichten der Eltern und Kinder.
— Pflichten des Staats: — Bestimmung des Alters der Mündig-
keit; — Aufsicht auf die Erfüllung jener Pflichten. — Vormund-
schaft, nach dem Tode der Eltern. — Pflichten des Staats in Rük-
sicht auf dieselbe. — Vortheile, die speciellere Ausübung dieser
Pflichten, wo möglich, den Gemeinheiten zu übertragen. — Ver-
anstaltungen, die Unmündigen gegen Eingrifte in ihre Rechte zu
schüzen. — Des Verstandes Beraubte. — Unterschiede zwischen
ihnen und den Unmündigen. — Höchste, aus diesem Abschnitt
gezogene Grundsäze. — Gesichtspunkt bei diesem und den vier
vorhergehenden Abschnitten. — Bestimmung des ^''erhältnisses
der gegenwärtigen Arbeit zur Theorie der Gesezgebung überhaupt.
— Aufzählung der Hauptgesichtspunkte, aus welchen alle Geseze
fliessen müssen. — Hieraus entspringende, zu jeder Gesezgebung
nothwendige N'orarbeiten. S. 225 — 232.
XV.
Verhältniss der, zurErhaltung des Staatsgebäudes
überhaupt noth wendigen ^Httel zur vorgetragenen
Theorie. Schluss der theoretischen Entwiklung. —
Finanzeinrichtungen. — Innere politische \>rfassung. — Betrach-
tung der vorgetragenen Theorie aus dem Gesichtspunkt des Rechts.
— Hauptgesichtspunkt bei dieser ganzen Theorie. — Inwiefern
Geschichte und Stariätik derselben zu Hülfe kommen könnten? —
Trennung des Verhältnisses der Bürger zum Staat, und der Ver-
hältnisse derselben unter einander. — Nothwendigkeit dieser
Trennung. S. 232 — 231].
XVL
Anwendung der vorgetragenen Theorie auf die
Wirklichkeit. — Verhältniss theoretischer Wahrheiten über-
2 ^4 5- It^een zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Inhalt.
haupt zur Ausführung. — Dabei nothwendige Vorsicht. — Bei
jeder Reform muss der neue Zustand mit dem vorhergehenden
verknüpft werden. — Diess gehngt am besten, wenn man die
Reform bei den Ideen der Menschen anfängt. — Daraus her-
fliessende Grundsäze aller Reformen. — Anwendung derselben
auf die gegenwärtige Untersuchung. — Vorzüglichste Eigenthüm-
lichkeiten des aufgestellten Systems. — Zu besorgende Gefahren
bei der Ausführung desselben. — Hieraus entspringende noth-
wendige successive Schritte bei derselben. — Höchster dabei zu
befolgender Grundsaz. — Verbindung dieses Grundsazes mit den
Hauptgrundsäzen der vorgetragenen Theorie. — Aus dieser Ver-
bindung fliessendes Princip der Nothwendigkeit. — Vorzüge des-
selben. — Schluss. S. 236^-245.
über das Studium des Alterthums, und des
Griechischen insbesondre.
I.
Das Studium der Ueberreste des Alterthums — Litteratur und
KunsfA^erke — gewährt einen zwiefachen Nuzen, einen materialen
und einen formalen. Einen materialen, indem es andren
Wissenschaften Stoff darbietet, den sie bearbeiten. Insofern ist
dasselbe, und sind also die humanistischen Wissenschaften ^) Hülfs-
wissenschaften von jenen, und wie wichtig dieser Nuzen auch an
sich sein mag, so ist er ihnen eigentlich fremd.
2.
Der formale Xuzen kann wiederum zwiefach sein, einmal in-
sofern man die Ueberreste des Alterthums an sich und als Werke
Handschrifi (j8 halbbesrhriebene Quartseiten; auf den freigebliebenen Spalten
stehen Randbemerkungen von Schiller und Dalberg) im Archiv in Tegel. Ebenda
ist ein älteres Konzept der Abhandlung fj4 halbbeschriebene Quartseiten) erhalten.
Dazu kommt eine von drei verschiedenen Händen (darunter Wolfs eigener) ge-
schriebene Abschrift, der ein Blatt fehlt, im Nachlass Wolfs in der Königlichen
Bibliothek in Berlin (vgl. Köne, Leben und Studien Friedrich August Wolfs, des
Philologen 2, 2gi): ihre .Vi'-: unabsichtlichen, teils absichtlichen Abweichungen von
Humboldts Text gehen auf Wolf zurück und haben keinerlei authentischen Wert;
von Interesse sind dageg.i: Wolfs Randbemerkungen. — Erster Druck: Sechs
ungedruck-te Aufsätze über das klassische Altertum von Wilhelm von Humboldt,
herausgegeben von Alben Leitzmann S. j — ^^ (iSg6).
V „Besser alte classische Litteratur. So zE. kann ja Geschichte eine Hülfs-
wissenschaft zur Medicinischen Gelehrsamkeit oder zur Jurisprudenz seyn. So
kann wieder medicinische Gelehrsamkeit subsidiarisch werden für alte Litteratur
selbst. So alles — wie in der Welt — Zweck und Mittel." Wolf.
2^6 6. Über das Studium des Altertums
der Gattung, zu der sie gehören, betrachtet, und also allein auf
sie selbst sieht; und zweitens indem man sie als Werke aus der
Periode, aus welcher sie stammen, betrachtet, und auf ihre Ur-
heber sieht.*) ^) Der erste Nuzen ist der ästhetische; er ist
überaus wichtig, aber nicht der Einzige. Darin dass man ihn oft
für den einzigen gehalten hat, liegt eine Quelle mehrerer falscher
Beurtheilungen der Alten.
3-
Aus der Betrachtung der Ueberreste des Alterthums in Rük-
sicht auf ihre Urheber entsteht die Kenntniss der Alten selbst,
oder der Menschheit im Alterthum. Dieser Gesichtspunkt
ist es, welcher allein in den folgenden Säzen aufgefasst werden
soll, theils seiner innren Wichtigkeit wegen, theils weil er seltner
genommen zu werden pflegt.
4-
Das Studium einer Nation gewährt schlechterdings alle die-
jenigen Vortheile, welche die Geschichte überhaupt darbietet, indem
dieselbe durch Beispiele von Handlungen und Begebenheiten die
Menschenkenntniss erweitert, die Beurtheilungskraft schärft, den
Charakter erhöht und verbessert ; aber es thut noch mehr. Indem
es nicht sowohl dem Faden auf einander folgender Begebenheiten
nachspürt, als vielmehr den Zustand und die gänzliche Lage der
Nation zu erforschen versucht, liefert es gleichsam eine Biogra-
phie derselben.
5-
Das Auszeichnende einer solchen Biographie ist vorzüglich
das, dass, indem der ganze politische, religiöse und häusliche Zu-
stand der Nation geschildert wird, ihr Charakter nach allen
seinen Seiten, und in seinem ganzen Zusammenhange
entwikkelt, nicht bloss die gegenseitigen Beziehungen
der einzelnen Charakterzüge unter einander, sondern
auch ihre Relationen zu den äussren Umständen, als
Ursachen oder Folgen, einzeln untersucht werden;
und die "N'^ortheile dieses charakteristischen Kennzeichens eines
solchen Studiums verfolge ich hier allein, mit Uebergehung jener
übrigen, öfter berührten.
*) Diess unterscheide ich noch.
V „Dahin vorzüglich die äussere Litteratiir-Geschichte." Wolf.
und des griechischen insbesondere. 2 — 7. 2W1
6.
Man pflegt Menschenkenntniss nur zum Umgange mit Menschen
nothwendig zu halten, und man pflegt es Menschenkenntniss zu
nennen, wenn man eine Menge einzelner Menschen beobachtet
und dadurch eine Fertigkeit erworben hat, aus ihren äussren Hand-
lungen ihre inneren Absichten zu errathen, und umgekehrt durch
künstlich ihnen gegebene Beweggründe sie zu Handlungen zu be-
stimmen, und in einem gewissen politischen Sinne mag beides
wahr sein. Allein im philosophischen kann Menschenkenntniss —
Kenntniss des Menschen überhaupt, wie der einzelnen wirklichen
Individuen — nichts anders heissen, als die Kenntniss der
verschiedenen intellektuellen, empfindenden, und
moralischen menschlichen Kräfte, der Modifikationen,
die siedurch einander gewinnen, der möglichen Arten
ihres richtigen und unrichtigen Verhältnisses, der
Beziehung der äusseren Umstände auf sie, dessen, was
diese in einer gegebnen Stimmung unausbleiblich wirken müssen,
und was sie nie zu wirken vermögen, kurz der Geseze der
Nothwendigkeit der von innen, und der Möglichkeit
dervon aussen gewirkten Umwandlungen. Diese Kennt-
niss ist, oder vielmehr das Streben nach dieser — da hier nur
Streben möglich ist — führt zur wahren Menschenkenntniss, und
diess ist jedem Menschen, als Menschen, und lebte er auch ganz
von Menschen abgesondert, nur in verschiedenen Graden der
Intension und Extension unentbehrlich.
7-
Zuerst — um vom Leichtesten anzufangen — dem handeln-
den Menschen, dem ich in der Folge den nur mit Ideen Be-
schäftigten, so wie endlich beiden den bloss Geniessenden entgegen-
sezen werde. Alles praktische Leben, vom Umgange in der
gleichgültigsten Gese^ls.:haft bis zu dem Regieren des grossesten
Staats, bezieht sich mehr oder minder unmittelbar auf den
Menschen; und wer seiner moralischen Würde wahrhaft eingedenk
ist, wird in keinem dieser Verhältnisse des höchsten Zweks aller
Moralität, der Veredlung und steigenden Ausbildung des Menschen
vergessen. Dazu ist jene Kenntniss ihm unentbehrlich, theils um
jenen Zwek zu befördern, theils, wenn sein Geschäft so heterogen
ist — wie es denn auch sehr achtungswürdige dieser Art geben
W. V. Humboldt, Werke. I. 17
2r8 6- Über das Studium des Altertums
kann — dass es ihm von gewissen Seiten Einschränkungen in den
Weg stellen muss, doch immer das höchst mögliche Minimum
dieser Einschränkungen zu bewahren. So lehrt sie ihn, was er
moralisch unternehmen dürfe und politisch mit Erfolg unternehmen
könne, und leitet dadurch seinen Verstand. — Aber auch zweitens
seinen Willen, indem sie allein wahre Achtung des Menschen er-
zeugt. Alle UnVollkommenheiten lassen sich auf Misverhältnisse
der Kräfte zurükbringen. Indem nun jene Kenntniss das Ganze
zeigt, w^erden diese gleichsam aufgehoben, und es erscheint zu-
gleich die Nothwendigkeit ihres Entstehens und die Möglichkeit
ihrer Ausgleichung, so dass das, vorher einseitig betrachtete Indi-
viduum durch diesen allseitigen Ueberblik gleichsam in eine andre
höhere Klasse versezt wird.
Der mit Ideen Beschäftigte ist — da ich mich hier der Ge-
nauigkeit logischer Eintheilungen überheben kann — Historiker
im allerweitesten Sinne des Worts, oder Philosoph, oder Künstler.
Der Historiker, insofern ich von dem im eigentlichsten Ver-
stände — dem Beschreiber der Menschen und menschlichen Hand-
lungen — abstrahire, bedarf jener Kenntniss vielleicht am wenigsten.
Wenn indess auch der Forscher des am mindesten mit Menschen-
ähnlichkeit begabten Theils der Natur nicht bloss die äussren
Erscheinungen aufzählen, sondern auch den Innern Bau erspähen
will ; so kann er derselben schlechterdings nicht gänzlich entbehren.
Denn nicht bloss dass alle unsre Ideen von Organisation ursprüng-
lich vom Menschen ausgehen; so herrscht auch durch die ganze
Natur eine Analogie wie der äussren Gestalten, so des inneren
Baues. Es lässt sich daher kein tiefer Blik in die Beschaffenheit
der Organisation auch der leblosen Natur ohne physiologische
Kenntniss des Menschen thun, und diese ist wiederum nicht ohne
psychologische möglich ; und ebenso steigt umgekehrt mit dem
Umfange dieser lezteren die Schärfe jenes ersten Bliks, wenn gleich
freilich in oft sehr kleinen Graden. Endlich muss ich bemerklich
machen, dass ich hier den Blik auf den Zusammenhang der ganzen
Natur, und die Beziehung der leblosen auf die menschUche — die
kein grosser Naturkündiger versäumen wird — ganz übergehe,
wie es denn überhaupt meine Absicht ist, nur zu versuchen, das
für sich minder Klare in ein helleres Licht zu stellen.
und des griechischen insbesondere. 7 — 10. 2C-Q
9-
Diesem Grundsaze getreu, bleibe ich bei dem Philosophen
nur bei dem abstraktesten Metaphysik er stehen. Aber wenn auch
dieser das ganze Erkenntnissvermögen ausmessen soll, wenn es
ferner von dem Gebiete der Erscheinungen in das Gebiet der
wirklichen Wesen keinen andren Weg, als durch die praktische
Vernunft giebt, wenn Freiheit und Nothwendigkeit eines allgemein
gebietenden Gesezes allein zu Beweisen für die wichtigsten, über-
sinnlichen Principien führen können; so muss die mannigfaltigste
Beobachtung der, in andren und andren Graden gemischten
menschlichen Kräfte auch diess Geschäft um vieles erleichtern, und
am sichersten das sehen lassen, was allgemein ist und sich in jeder
Mischung gleich erhält.
10.
Des Künstlers einziger Zwek ist Schönheit. Schönheit ist
das allgemeine, nothwendige, reine Wohlgefallen an einem Gegen-
stand ohne Begriff. Ein Wohlgefallen, das nicht durch Ueber-
zeugung erzwungen werden kann und doch abgenöthigt sein soll,
das allgemein sein muss, und dessen Gegenstand nicht durch den
Begriff reizt, muss sich nothwendig auf die ganze Seelenstimmung
des Empfindenden in ihrer grossesten Individualität beziehen, wie
auch schon die unendliche Verschiedenheit in Geschmaksurtheilen
zeigt. Wer es also hervorbringen will, muss sein Wesen mit den
feinsten und verschiedenartigsten Wesen gleichsam identificirt
haben, und wie ist diess ohne tiefes und anhaltendes Studium
möglich?^) — Auch ausser dieser, zwar allgemein beweisenden,
aber auch abstrakteren Erörterung, gehört der Künstler gleichsam
V „Künstler und Dichter Genie eines Schakespears, Ossians, Hotners und so
mancher andern waren durch kein anhaltendes Studium gebildet. Diese Männer
würden durch anhaltendes Studium an Vollendung gewontien an Kraft aber —
etwas verlohren haben. f>em ungeachtet bin ich überzeugt dass ihre Werke voll-
kommener geworden wären — wenn sie mehr jedoch nicht zuviel studieret hätten.
Allzuvieles Studium fremdtr Muster macht ängstlich; imd der Funken des eignen
Genius erlischt alsdann." Dalberg. — Dalbergs Anmerkungen berühren sich hie
und da in Wendungen und Beispielen, worauf hier nicht im einzelnen eingegangen
werden soll, mit einigen A.usführungen seiner „Commentatio de illustratione et
amplificatione humani intellectus", die iJjO und 1777 in den Acta academiae electo-
ralis moguntinae scientiarum utilium, quae Erfurt] est erschien; vgl. auch den kurzen
Auszug bei Beaulieu-Marconnay, Karl von Dalberg und seine Zeit 2, joi.
17»
25o 6. über das Studium des Altertums
zur Klasse der praktischen Menschen, und bedarf umsomehr alles
desjenigen, was jenen unentbehrlich ist, als er unmittelbar aui
das Höchste und Edelste wirkt. Nicht also bloss um als Mensch
moralisch, sondern auch um als Künstler mit Erfolg zu wirken,
muss er den Gegenstand tief kennen, auf welchen er wirkt. —
Endlich ist sein Geschäft entweder Ausdruk oder Schilderung.
Das Erstere bezieht sich allein und unmittelbar, das Leztere, da
die Schilderung sonst nicht gefasst wird, mittelbar auf Empfindung,
und so bleibt diese und der empfindende Mensch überhaupt immer
sein Hauptstudium.
II.
Von dem bloss Ge nies senden endlich Hesse sich eigentlich
nichts sagen, da der Eigensinn des Genusses keine Regel annimmt.
Aber ich stelle mich billig hier in die Stelle nicht gerade der
edelsten Menschen, aber der Menschen überhaupt in ihren edleren
Momenten. In diesen nun sind die Freuden der höchsten Gattung
die, welche man durch sich und andre empfängt, durch Selbst-
beobachtung, Umgang in allen Abstufungen, Freundschaft, Liebe.
Je höher diese sind, desto eher sind sie zerstört ohne ein scharfes
Auffassen des wahren Seins seiner selbst und andrer.^) Diess aber
ist nie möglich, ohne tiefes Studium des Menschen überhaupt. —
Diesen Freuden an die Seite treten nicht unbillig diejenigen, welche
der ästhetische Genuss der Werke der Natur und der Kunst ge-
währt. Diese wirken vorzüglich durch Erregung der Empfindungen,
welche durch die äussren Gestalten, gleichsam als durch S3^mbole
gewekt werden. Je mehr lebendige Ansichten möglicher mensch-
licher Empfindungen nun das Studium des Menschen verschaft
^) „Der Geschmack des tiefdenkenden forschenden Kunstkenners ist feiner
lind zuverlässiger als der Geschmack desjenichen der sich immer und lediglich
denjetiichen Eitidrücken überlassen hat, so die Gegenstände durch zufällige Ein-
würkungen und seine eigne weesentliche innere Anlage in ihm erregen. Allein
das Gefühl des erstem wird in sehr vielen Fällen nicht so innig, nicht so lebhaß
seyn, als das Gefühl des letzten. In der Dunkelheit, Unbestimtheit seiner Begriffen
legt dieser grenzenlosen Werth auf den geliebten Gegenstand. Das Studimn zeigt
jenem durch Vergleichung imd Nachforschung die Grenzen und Unvollkommen-
heiten des geliebten Gegenstandes, die Zauberkraft der Leidenschaft ist verschwunden;
sein Verstand hat an Erkentnis gewonnen; sein Herz hat an Empfindsamkeit ver-
lohren. In Beziehung auf ruhige Zufriedenheit hat er durch Studium gewonnen.
Dann Kenntnisse führen auf Wahrheit; Leidenschafi auf Abgründe von Irrthümern.
Und deswegen verdient das Studimn des Menschen Empfehlung." Dalberg.
und des griechischen insbesondere. lo- — 12. 261
hat, desto mehr äussrer Gestalten ist die Seele empfänglich. —
Da ich des, aus der eignen Thätigkeit entspringenden Genusses
schon mit dieser Thätigkeit selbst im Vorigen erwähnt habe
(7 — 10.), so bleibt mir nur noch der sinnliche übrig. Aber auch
dieser ward, indem die Phantasie ihm das reiche Schauspiel seiner
möglichen Mannigfaltigkeit nach der Verschiedenheit des geniessen-
den Individuums zugesellt, und indem sie so gleichsam mehrere
Individuen in Eins vereint, venäelfacht, erhöht und verfeinert. —
Endlich minden sich durch eine solche Ansicht das Gefühl auch
des wirklichen Unglüks. Das Leiden, wie das Laster, ist eigent-
lich nur partiell. Wer das Ganze vor Augen hat, sieht, wie es
dort erhebt, wenn es hier niederschlägt.
12.
Ich habe bis jezt den Menschen mit Fleiss abgesondert in
einzelnen Energien betrachtet. Zeigte sich aber auch in keiner
die Unentbehrlichkeit der Kenntniss, von der ich hier rede, so
würde sie sich doch gerade dadurch bewähren, dass sie vor-
züglich noth wendig ist, um das einzelne Bestreben
zu Einem Ganzen und gerade zu derEinheit des edel-
sten Zweks, der höchsten, pro portionirlichsten Aus-
bildung des Menschen zu vereinen.^) Denn das Be-
schäftigen einzelner Seiten der Kraft bewirkt leicht mindere
^J „Sollte nicht von dem Fortschritt der menschlichen Kultur ohngejehr eben
das gelten, was wir bey jeder Erfahrung zu bemerken Gelegenheit haben ? Hier
aber bemerkt man j Momente.
1. Der Gegenstand steht ganz vor uns, aber verworren und ineinander ßiessend.
2. Wir trennen einzelne Merkmale und unterscheiden. Unsere Erkenntniss
ist deutlich aber vereinzelt und borniert.
j. Wir verbinden das Getrennte und das Ganze steht abermals vor uns,
aber jetzt nicht mehr verworren sondern von allen Seiten beleuchtet.
In der ersten Periode waren die Griechen.
In der zweiten stehen wir.
Die dritte ist also noch zu hoffen, und dann wird man die Griechen auch
nicht mehr zurück wünschen." Schiller. — Diese Bemerkung Schillers, die Hutn-
boldt als eine „genievolle Idee' in einem Briefe vom ji. März lygj ^^ <jlf mitteilt,
wurde schon i8j8 durch Varnhagen aus eben diesem Briefe veröffentlicht und
seitdem unter dem Titel „Kulturstufen'^ in Schillers Werke aufgenommen; vgl.
Sämmtliche Schriften g, 404. Eine ähnliche Anschauungsweise kehrt bei Schiller
Mufig wieder; vgl. besonders Sämyntliche Schriften 10, 255. 2g4. 451. 484. Der
Schlußgedanke klingt schon in der Vorlesung über Universalgeschichte (ebenda
9> 99) ^"-
2^2 6. Über das Studium des Altertums
Rüksicht auf den Nuzen dieses Beschäftigens, als Energie, und zu
grosse auf den Nuzen des Hervorgebrachten, als eines Ergon, und
nur häufiges Betrachten des Menschen in der Schönheit seiner
Einheit führt den zerstreuten Blik auf den wahren Endzwek zurük.
13-
So wirkt jene Kenntniss, wenn sie erworben ist, gleichsam
als Material; aber gleich heilsam und vielleicht noch heilsamer
wirkt gleichsam ihre Form, die Art sie zu erwerben. Um
den Charakter Eines Menschen und noch mehr einer noch viel-
seitigeren Nation in seiner Einheit zu fassen, muss man auch sich
selbst mit seinen vereinten Kräften in Bewegung sezen.^) Der
Auffassende muss sich immer dem auf gewisse Weise ähnlich
machen, das er auffassen will. Daher entsteht also grössere
Üebung, alle Kräfte gieichmässig anzuspannen, eine Uebung, die
den Menschen so vorzüglich bildet. — Wer sich mit diesem
Studium anhaltend beschäftigt, fasst ferner eine unendliche Mannig-
faltigkeit der Formen auf, und so schleifen sich gleichsam die
Ekken seiner eignen ab,-) und aus ihr, vereint mit den aufge-
nommenen, entstehen ewig wiederum neue. — So ist jene Kennt-
niss gerade darum heilsam, warum jede andre mangelhaft sein
würde, darum, dass sie, nie ganz erreichbar, zu unaufhörlichem
Studium zwingt, und so wird die höchste Menschlichkeit durch
das tiefste Studium des Menschen gewirkt.
V „Für den Lehrer humanistischer Wissenschaften, einen Wolf Ernesti
und s. w. ist dieses Studium Hauptgeschäft — für den Man der sich dem thätigen
Leben tvitmet; ist es wie mir dünkt Nebensache. Anhaltendes Nachdenken kann
leidenschaftliches Vergnügen werden; und dann ist die Betriebsamkeit des practischen
Geschäftsmanns geschwächt. Literatur ist auch für ihn Hülfswissenschaft; aber
so viel er braucht kann er in der Jugend erlernt haben. Und allemahl ist es
für ihn in Nebenstunden angenehme Erhohlung und zuzeiten Stärkung seines
Geistes; aber nicht anhaltendes Studium." Dalberg.
y „ Wenn alle Ecken abgeschliffen sitid so wird alles glat rund und einförmig
werden. Hierin ist die Kunst der Ausbildung mit der Kunst des Steinschleifers
vergleichbar; der Diamant wird in seiner [Form] dadurch verschönert: dass er
viele Faceten erhaltet ohne ganz abgerundet zu werden. Allzulanges Nachahmen,
und Hineindenken in fremde Gesinnungen und Kimstwerke verwischt das Eigen-
thümliche des Caracters ganz. Audi hierin est modus in rebus. Scaliger, Casaubon,
Salmasius waren die grasten Humanisten. Was sie selbstgedachtes schrieben,
wäre sehr mitelmässig." Dalberg. — „Est modus in rebus, sunt certi denique fines"'
Horaz, Satiren i, i, io6.
und des griechischen insbesondere. 12 — 15. 20^
14.
Das bis jezt betrachtete Studium des Menschen überhaupt an
dem Charakter einer einzelnen Nation, aus den von ihr hinter-
lassenen Denkmälern, ist zwar bei einer jeden Nation in ge^vissem
Grade möglich, in einem vorzüglicheren aber bei einer oder der
andren nach folgenden vier Momenten: i., je nachdem die von
ihr vorhandnen Ueberreste ein treuer Abdruk ihres
Geistes und ihres Charakters sind, oder nicht. Jedes
Produkt der Wissenschaft oder der Kunst hat seine eigne, durch
seine Natur bestimmte, gleichsam objektive, idealische Vollkommen-
heit,^) aber selbst bei dem äussersten Annähern an diese Voll-
kommenheit prägt sich dennoch die Individualität des Geistes, der
es hervorbringt, mehr oder minder darin aus, am meisten aber
freilich da, wo am mindesten absichtlich auf die Erreichung jener
Vollkommenheit gesehen ist. Daher der objektive Werth und die
Individualität eines Geistesprodukts nicht selten im umgekehrten
Verhältnisse stehen. Am auffallendsten ist dieser Unterschied bei
den eigentlichen Geistesprodukten, weniger bei den Künsten, und
unter diesen mehr bei den energischen (Musik, Tanz) als bei den
bildenden (Mahlerei, Bildhauerkunst).
15-
2., je nachdem der Charakter einer Nation Viel-
seitigkeit und Einheit — welche im Grunde Eins sind-) —
besizt. Einzelne grosse und schöne Charakterzüge und ihre
^) „Sollte es nicht wahr seyn dass Jeder diejeniche Nation vorzüglich studieren
muss auf die er als Lehrer, Schriftsteller, Geschäftsman oder als Hausvatter
würken will? Sonst mögte es ihm gehen [wie] dem berühmten Reisken der wüste
wie es in Arabien aussähe und Leipzig nicht kannte woh er wohnte. Eine Ver-
nunft Vorstellung (idealisches Gedanken Bild) muss er sich aus streng erwiesnen
Gründen in seinem Geist zusammen setzen nach welchem er in einzlen Fällen
die besondre Eigenheiten beurtheilt. (Diese Eigenheiten sind im Grund jedesmahl
Vollkommenheiten ode^ Um'ollkommenheiten.) Das Hauptstudium in Literatur ist
wie mir dünkt für den Teutschen teutsche Literatur; für den Engländer Englische
Literatur u. s. w. Die Cncgische Literatur ist allerdings sehr oft ein Gegenstand
wichtiger scharfsinniger Vergleichungen ; doch ohnmassgeblich niemahlen Haupt-
sache." Dalberg.
y „bedürße noch einer nähern Erklärung. Vielseitigkeit katm einem grossen
Theil unsrer Zeitgenossen nicht abgesprochen werden — aber Einheit ?" Schiller.
— Vgl. die Ausführungen über Einheit und Mannigfaltigkeit in den Ästhetischen
Briefen (Sämmtliche Schriften 10, 282).
264. ^' über das Studium des Altertums
Betrachtung hat ihren unbestrittenen, aber hieher nicht gehörigen
Nuzen. Das Studium des Menschen überhaupt an einem einzelnen
Beispiel erfordert Mannigfaltigkeit der verschiednen Seiten des
Charakters, und Einheit ihrer Verbindung zu Einem Ganzen.
16.
3., je nachdem eine Nation reich ist an Mannig-
faltigkeit der verschiedenen Formen. Es kommt also
hier wieder nicht sowohl darauf an, ob die Nation, deren Studium
jenen Nuzen gewähren soll, auf einem vorzüglichen Grade der
Ausbildung oder der Sittlichkeit stehe, sondern bei weitem mehr
darauf, ob sie von aussen reizbar, und von innen beweglich genug
ist, eines grossen Reichthums der Gestalten empfänglich zu sein.
17-
4., je nachdem der Charakter einer Nation von
der Art ist, dass er demjenigen Charakter des Men-
schen überhaupt, welcher in jeder Lage, ohne Rük-
sicht auf individuelle Verschiedenheiten da sein
kann und da sein sollte, am nächsten kommt. Ver-
schiedenheiten dieser Art unter Nationen zeigt auch eine ober-
flächliche Vergleichung ; Nationen, die eine so lokale Ausbildung
haben, dass ihr Studium mehr Studium einer einzelnen Menschen-
gattung, als der Menschennatur überhaupt ist,^) und Nationen, in
welchen sich auf der andren Seite diese Menschennatur haupt-
sächlich ausdrukt. Das, wovon ich hier rede, kann aus doppeltem
Grunde entstehen, einmal durch Mangel der Individualität, durch
Nichtigkeit, zweitens durch Einfachheit des Charakters. Nur das
Leztere ist heilsam. — Das Studium des Menschen gewönne am
meisten durch Studium und Vergleichung aller Nationen aller
Länder und Zeiten. Allein ausser der Immensität dieses Studiums
kommt es mehr auf den Grad der Intension an, mit dem Eine
Nation, als auf den der Extension, mit welchem eine Menge von
Nationen studirt wird. Ist es also rathsam, bei Einer oder einem
Paar stehen zu bleiben; so ist es gut, diejenigen zu wählen, welche
gleichsam mehrere andre repräsentiren.
18.
Dass nach diesen 4 Momenten die alten Nationen die sind,
deren Studium jenen hier allein ausgeführten Nuzen der Kenntniss
V „Indier, Chinesen." Wolf.
und des griechischen insbesondere. 15 — iS. 26t>
und Bildung des Menschen am reichsten gewähret, soll die Folge
zu zeigen bemüht sein. — Alte nenne ich hier ausschliessend die
Griechen, und unter diesen oft ausschliessend die Athener. Die
Gründe hievon werde ich, wenn sie sich nicht durch die Folge
des Raisonnements von selbst entdekken, weiter unten noch mit
Einem Worte berühren. — i. Moment. (14,) Die Ueberreste der
Griechen tragen die meisten Spuren der Individualität ihrer Ur-
heber an sich. Die beträchtlichsten sind die litterarischen. In
diesen fällt der Betrachtung zuerst die Sprache auf. In einer
Sprache entstehen Abweichungen von der Individualität der
Sprechenden vorzüglich aus folgenden 3 Gründen: i., durch Ent-
lehnen von Wörtern oder Redensarten aus fremden Sprachen.
2., durch das Bedürfniss, völlig allgemeine und abstrakte Begriffe,
worauf sich vorhandene Wörter nicht gut anwenden lassen wollen,
entweder durch völlig neugebildete, oder gewaltsam übertragene
Ausdrükke zu bezeichnen, wobei die Abweichung des neuen Aus-
druks imm^er in dem Grade grösser ist, als ein Volk weniger reiz-
bare und schaffende Phantasie besizt, den abstrakten Begriff unter
einem, aus seinem bisherigen Vorrath genommenen sinnlichen
Bilde zu fassen. 3., durch Nachdenken über die Natur der Sprache
überhaupt, und die Analogie der eignen insbesondre, woraus Aiele
Abänderungen des durch den Sprachgebrauch Eingeführten, und
näher mit der Individualität der Lage der Redenden Verknüpften
vorzüglich im S3'ntax und in der Grammatik überhaupt entspringen.
Nun waren die Griechen mit keinem einzigen höher gebildeten
Volke vor oder neben ihnen in allgemeiner und vertrauter Be-
kanntschaft ; ^) es finden sich daher in ihrer Sprache nur fremde
Wörter, und auch diese gegen das Ganze nur in unbedeutender
Anzahl, von fremden Beugungen und Konstruktionen wenigstens
keine deutliche Spur. So fällt jener erste Grund hinweg. Nicht
minder aber die beiden lezteren, da in Vergleichung mit der sehr
frühen Ausbildung der Sprache sehr spät eine bestimmtere Philo-
sophie und noch später Philosophie der Sprache entstand,-) und
'j „Die Geschichte enthaltet sichere Spuhren dass die Tirier den wilden
Griegen zum gesitteten Memchen bildeten." Dalberg.
^) „Hierin hat wie mir dünkt die Griegische Literatur keinen besondern
Vorzug; dann alle diese Züge kann man wie mir dünkt auch auf teutsche Literatur
anwenden. Wer Otfrieden, die Minesinger, Bragur Adelung Heinatz u. a.
studieren will wird sich davon überzeugen. Die Literar-Geschichte einer jeden
Sprache eines jeden Volks hat die nemliche Stufen erstiegen." Dalberg. — Gräters
256 6. über das Studium des Altertums
in Rüksicht auf den zweiten Grund insbesondre kein Volk leicht
eine so reiche Phantasie im Schaffen metaphorischer Ausdrükke
besizt, als den Griechen eigen war. — Einzelne Beispiele in Ab-
sicht der Bildung der Wörter, der Beugungen und Verbindungen
könnten hier die Uebereinstimmung der Sprache der Griechen mit
ihrem Charakter zeigen.
19-
Die Geistesprodukte selbst sind Geschichte, Dichtung (wozu
ich hier Kunst überhaupt rechne) und Philosophie. — Die Ge-
schichte ist grossentheils Griechische, und wo sie es auch nicht
ist, sind wenigstens die früheren griechischen Geschichtschreiber
noch zu wenig gewohnt, mehrere Völker zu vergleichen,*) und
Eignes und Fremdes von einander abzusondern, auch zu sehr mit
allem Vaterländischen beschäftigt, als dass nicht sehr oft der Grieche
durchblikken sollte. In der Griechischen Geschichte selbst aber
macht eine Zusammenkunft mehrerer Umstände, wozu ich vorzüg-
lich den grösseren Einfluss einzelner Personen auf die öffentlichen
Angelegenheiten, die Verbindung des religiösen Zustandes mit dem
politischen, und des häuslichen mit dem religiösen,-) ferner den
kleinen Umfang der Geschichte selbst, der ein grösseres Detail
erlaubte, endlich die noch mehr kindischen Ideen von Merkwürdig-
keit und Wichtigkeit rechne, dass die alte Geschichte unendlich
mehr Charakter- und Sittenschilderungen enthält, als die neuere.
20.
Wenn Dichtung und Geschichte gesondert sein soll, so sezt
diess schon bestimmtere Ideen über Möglichkeit und Unmöglich-
keit, Wahrscheinlichkeit und UnWahrscheinlichkeit, mit Einem Worte
Kritik voraus. Diese erhielten die Griechen erst spät, und vorzüg-
lich durch die Verbindung ihrer Fabel mit Religion und National-
stolz später, als sich sonst hätte erwarten lassen. Sehr lange ist
und Böckhs „B?-agur, ein literarisches Magazin der deutschen und nordischen
Vorzeit" begann ijgi zu erscheinen; vgl. darüber Raumer, Geschichte der ger-
manischen Philologie S. 2%.
^J „Der älteste Geschichtschreiber der Griegen ist Hei-odot der die That-
sachen aller Völker und Gegenden aufzufassen suchte." Dalberg.
y „Unsre alten Croniken und Schriftsteller des Mitelalters sind in kleinen
Zügen noch weit reichhaltiger : imd manche z. B. die Schweitzer Croniken stehen
in Zügen des Edelmuths keiner Geschichte nach." Dalberg.
vmd des griechischen insbesondere. l8 — 21. 207
also Dichtung und Geschichte gar nicht gesondert, und als sie
wirklich sich mehr von einander trennten, durfte der Künstler, der
nicht sowohl für Kenner und Dilettanten der schönen Künste, als
für ein Volk arbeitete, das in dem Kunstwerk nicht die Kunst
allein, auch sich und seinen Ruhm sehen wollte, sich nicht von
dem entfernen, was Eindruk auf diess Volk zu machen im Stande
und also mit seiner Individualität nah verwandt war. Wie hätten
auch wirkliche Abänderungen der Fabel durch den Künstler nicht
wdeder im höchsten Grade Griechisch werden sollen, da er keine
fremde Muster vor sich hatte,^) und selbst die eigentliche Theorie
der Künste erst später entstand.' — Ferner entsprangen alle vor-
züglichste Arten der Dichtung — epische, tragische, lyrische —
bei den Griechen aus Sitten und öffentlichen Einrichtungen, bei
Gastmählern, Festen, Opfern, und so behielten sie bis in die
spätesten Zeiten einen Anstrich dieses historischen, nicht eigentlich
ästhetischen Ursprungs.-)
21.
Die Philosophie sollte am wenigsten Spuren der Eigen-
thümlichkeit des Philosophirenden tragen. Aber die praktische
zeigte bei den Griechen immer in einem sehr hohen Grade den
Griechen, und die spekulative that diess wenigstens auch sehr
lange. •^)
Gegenblik auf moderne Nationen. — Ihre Sprache (i8.) durch
Entlehnen von fremden, und Philosophie in hohem Grade umge-
bildet. — Selbst ihre vaterländische Geschichte (19.) durch Ver-
trautheit mit allen Zeiten und Erdstrichen, und andre zusammen-
kommende Ursachen minder individuell erzählt. — Ihre Dichtung
(20.) fast ganz aus fremder Mythologie genommen, und nach ob-
V „Höchstwahrscheinlich hatten die Griegen Egiptische Muster vor sich;
welche hohen Geschmack und Ebenmaass in manche Werke brachten, wie Winkel-
man sehr scharfsinnig gezeigt hat." Dalberg. — Vgl. Winckelmann, Geschichte
der Kunst des Altertums S. ^g Lessing.
') „ Überhaupt bin ich mit dem Herrn Verfasser überzeugt dass in Beziehung
auf Geschmack bildende Künste und wahre Begriffe von Schönheit die Griegen
eine sehr hohe Stufe der Vollkommenheit erreicht haben; und Jiierin ihre Werke
der wichtigste Gegenstand eines Hauptstudiums sind." Dalberg.
^) „Auch in der Philosophie entlehnten die Griegen sehr viel von Egiptern;
wie Brucker und andre gezeigt haben." Dalberg. — Vgl. Brucker, Historia
critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem dcducta I, 364.
268 ö- t'ber das Studium des Altertums
jektiven allgemeinen Theorien geformt. — Ihre Philosophie (21.)
abstrakt und allgemein.
22.
2. Moment. (15.) Der Grieche in der Periode, wo wir
die erste vollständigere Kenntniss von ihm haben,
steht noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kultur.
In diesem Zustande wird, da der Bedürfnisse und Befriedigungs-
mittel nur wenige sind, immer weit mehr Sorgfalt auf die Ent-
wikklung der persönlichen Kräfte, als auf die Bereitung und den
Gebrauch von Sachen verv^^andt. Der Mangel dieser Hülfsmittel
macht auch jene Entwikklung nothwendiger. Da überhaupt noch
keine Veranlassung vorhanden ist, einzelne Seiten vorzüglich zu
beschäftigen, da der Mensch nur schlechthin dem Gange der Natur
folgt ; so ist, wo er handelnd oder leidend wird, sein ganzes Wesen
um so mehr vereint in Thätigkeit, als er vorzüglich durch Sinn-
lichkeit afficirt wird, und gerade diese am stärksten das ganze
Wesen ergreift. Es ist daher bei Nationen auf einer
niedrigeren Stufe der Kultur verhältnissmässig mehr
Entwikklung der Persönlichkeit in ihrem Ganzen,
als bei Nationen auf einer höheren.*)
23.^)
Bei den Griechen zeigt sich aber ein doppeltes, äusserst merk-
würdiges, und vielleicht in der Geschichte einziges Phänomen.
Als sie noch sehr viele Spuren der Rohheit anfangen-
der Nationen verriethen, besassen sie schon eine
überaus grosse Empfänglichkeit für jede Schönheit
der Natur und der Kunst, einen feingebildeten Takt,
und einen richtigen Geschmak, nicht der Kritik, aber
der Empfindung, und finden sich Instanzen gegen diesen Takt
und diesen Geschmak, so ist wenigstens jene Reizbarkeit und
Empfänglichkeit unläugbar; und wiederum als die Kultur
schon auf einen sehr hohen Grad gestiegen war, er-
V „Ganz gewiss, weil (gelehrt) kultivirte Nationen durch Regeln, die immer
etwas allgemeines sind, Naturvölker durch Gefühle sich bestimmen. Die Vernunft
erzeugt Einheit und darum oft Einförmigkeit ; der Sinn bringt Mannigfaltigkeit."
Schiller. — Vgl. Sämmtliche Schriften 10, 284.
"^J „Dieser § braucht und verdient Erläuterung. Es wird auch nöthig seyn
zu bestimtnen, wann eigentlich die erste Periode gesezt wird." Schiller.
und des griechischen insbesondere. 21 — 24. 260
hielt sich dennoch eine Einfachheit des Sinns und
Geschmaks, den man sonst nur in der Jugend der
Nationen antrift.^j Die Entwikklung der Ursachen hievon
gehört nicht hieher. Genug das Phänomen ist da. In seinem
ersten Lallen verräth der Grieche feines und richtiges Gefühl ; und
in dem reifen Alter des Mannes veriiert er nicht ganz seinen
ersten einfachen Ivindersinn. Hierin, dünkt mich, liegt ein grosser
Theil des eigentlich Charakteristischen der Nation.
Da sich die den Griechen eigenthümliche Reizbarkeit für
das Schöne (23.) mit der, bei allen minder kultivirten Nationen
gewöhnlichen grösseren Aufmerksamkeit auf die Entwikklung der
persönlichen, und vorzüglich der körperiichen Ivräfte (22.) und
mit dem in griechischem Klima besonders stark wirkenden Hange
zur Sinnlichkeit verband; musste Sorgfalt für die Ausbildung des
Körpers zu Stärke und Behendigkeit um so nothwendiger ent-
springen, als auch die äussere Lage beides unentbehrlich machte,
und der Ausdruk von beidem in dem Aeussren der Bildung bei
einem leicht beweglichen Schönheitssinn Achtung und Liebe ge-
winnen. Aber auch da die Kultur sehr hoch gestiegen war, und
längst die vorzügliche Achtung der körperlichen Kraft verdrängt
hatte, erhielt sich dennoch immer mehr, als bei irgend einem
andren Volke die Sorgfalt für die Ausbildung der körperlichen
V „Die Kultur der Griechen war bloss ästhetisch und davon glaube ich
müsste man ausgehen, um dieses Phänomen zu erklären. Auch i7iuss man nicht
vergessen, dass die Griechen es auch im Politischen nicht über das Jugendliche
Alter brachten, und es ist sehr die Frage ob sie in einem männlichen Alter dieses
Lob noch verdient haben würden.'' Schiller. — Vgl. die ähnlichen Urteile Sämmt-
liche Schriften g, 1^6. 160. lyj. 10, 28g.
-) „Diese ganze fürtrefliche Stelle ist mit so zarten und zugleich so richtig
bestirnten Zügen gezeichnet dass man daran erkennt wie sehr der edle Verfasser
seinen sanften und schönen Geist mit denen lieblichsten Früchten genährt hat
welche die schönste Zeiten Athens erzeugten. Können aber diese Früchten als
allgemeine Nahrung emf^'ohlen werden für den roheren aber auch kraftvollem
ernsthaßern Geist des Teutschen? Würden ihm nicht die gegenwärtige Zeiten, und
der Geist seiner Zeitgenossenen aneklen? Derjeniche der in griegischem Geist
empfinden denken handien würde mögte wohl von seinen Zeitgenossenen miskant,
und unwürksam werden. Meines Erachtens sollte für den Teutschen die teutsche
Literatur Hauptstudium seyn, und die Schönheit griegischer Blutyien diene dazu
dasjeniche auszuschmücken was der teutsche männliche starke Sinn nach eignen
und gegenwärtigen Verhältnissen und Bedürfnissen erzeugt." Dalberg.
2^0 6. Über das Studium des Alterturas
Stärke, Behendigkeit und Schönheit. Wo nun noch allgemeine
und abstrakte Begriffe selten sind, und die Empfänglichkeit für
das Schöne in so hohem Grade prädominirt, da muss man sich
auch die bloss geistigen Vorzüge natürlich zuerst unter diesem
Bilde darstellen, und in einer griechischen Seele verschmolz
körperliche und geistige Schönheit so zart in einander, dass noch
jezt die Geburten jenes Verschmelzens, z. B. die Raisonnements
über Liebe in Piaton ein wahrhaft entzükkendes Vergnügen ge-
währen. War aber auch diese Stimmung in diesem Grade nur
einzeln und individuell, so lässt sich doch soviel überhaupt als
historisches Faktum aufstellen, dass die Sorgfalt für die
körperliche und geistige Bildung in Griechenland
sehr gross und vorzüglich von Ideen der Schönheit
geleitet war.
25.^)
W>nn nun irgend eine Vorstellung menschlicher Vollkommen-
heit Vielseitigkeit und Einheit hervorzubringen im Stande ist; so
muss diess diejenige sein, die von dem Begriff der Schönheit und
der Vorstellung der sinnlichen ausgeht. Dieser Vorstellungsart
zufolge darf es dem moralischen Menschen ebensowenig am rich-
tigen Ebenmaasse der einzelnen Charakterseiten mangeln, als einem
schönen Gemähide oder einer schönen Statue an dem Ebenmaasse
ihrer Glieder; und wer, wie der Grieche, mit Schönheit der Formen
genährt, und so enthusiastisch, wie er, für Schönheit und vor-
züglich auch für sinnliche gestimmt ist, der muss endlich gegen
die moralische Disproportion ein gleich feines Gefühl besizen, als
gegen die physische. Aus allem Gesagten ist also eine grosse
Tendenz der Griechen, den Menschen in der mög-
lichsten Vielseitigkeit und Einheit auszubilden, un-
läugbar.
Bemerken muss ich hier — und zwar gerade hier, weil hier
am leichtesten der Einwurf entstehen kann, dem die Bemerkung
begegnen soll — dass, was hier von dem Charakter der Griechen
gesagt ist, zwar unmöglich von einer ganzen Nation in allen ihren
einzelnen Individuen buchstäblich wahr sein kann. Gewiss ist es
V „Diese schöne für mich sehr lehrreiche Stelle beweist dass ganz gewiss
die Griegen in Beziehung auf Schönheit die vollkommenste Werke erzeugen,
welche mit Recht [als] ästetische Muster empfohlen werden." Dalberg.
und des griechischen insbesondere. 24 — 26 271
aber doch, dass es einzelne Individuen der beschriebnen Stimmung
wirklich gab, dass diese nicht allein häufiger, als anderswo existirten,
sondern dass auch gleichsam Nuancen dieser Stimmung in der
ganzen Nation verstreut waren, und dass die Schriftsteller, vor-
züglich die Dichter und Philosophen — gleichsam der Abdruk
des Geistes des edelsten Theils der Nation — auf solche Charaktere
vorzüglich führen; und mehr ist nicht nothwendig, um die Er-
reichung des Zweks möglich zu machen, zu welchem hier das
Studium der Alten empfohlen wird.
26.
Diese Sorgfalt für die Ausbildung und diese Art der Aus-
bildung des Menschen zu befördern, trugen noch andre, in der
äussren Lage der Griechen gegründete Umstände bei. Zu diesen
rechne ich vorzüglich folgende; i., die Sklaverei. Diese über-
hob den Freien eines grossen Theils der Arbeiten, deren Gelingen
einseitige Uebung des Körpers und des Geistes — mechanische
Fertigkeiten — erfordert.') Er hatte nun Müsse, seine Zeit zur
Ausbildung seines Körpers durch Gymnastik, seines Geistes durch
Künste und Wissenschaften, seines Charakters überhaupt durch
thätigen Antheil an der Staatsverfassung, Umgang, und eignes
Nachdenken zu bilden. — Dann erhob auch den Freien die Vor-
stellung seiner Vorzüge vor dem Sklaven, die er nicht bloss dem
Glük zu danken glaubte, sondern auf die er durch persönliche
Erhabenheit, und — bei der, freilich durch ihren Stand ent-
sprungnen Herabwürdigung der Sldaven — mit Recht, Anspruch
machte ; "-) die er auch zum Theil, wie bei der Vertheidigung des
Vaterlandes, mit Gefahren und Beschwerden erkaufte, die der
Sklave nicht mit ihm theilte. — Hieraus zusammengenommen
bildete sich die Liberalität, die sich bei keinem Volke wieder in
dem hohen Grade findet, d. i. diese Herrschaft edler, grosser,
eines Freien wahrhaft würdiger Gesinnungen in der Seele, und
dieser lebendige Ausdruk derselben in der Stattlichkeit der Bildung
und der Grazie der Bewegungen des Körpers.
^) „Es ist aber doch sonderbar, dass die Sklaver ey im Mittelalter keine
einzige Spur eines ähnlichen Einflusses zeigt. Die Verschiedenheit der übrigen
Umstände erklärt zwar viel aber nicht alles." Schiller. — Vgl. die Ausführungen
über diesen Gegenstand in den Sämmtlichen Schriften g, 2jo.
"^j „Gegen diese Bemerken lässt sich wie mir dünkt manches einwenden:
auch Sclaven witmeten sich oft denen schönen Künsten. Die Sklaven waren
gröstentheils Kriegsgefangene von sehr edlem Ursprung u. s. w." Dalberg.
272
6. Über das Studium des Altertums
27.
2., die Regierungsverfassüng und politische Ein-
richtung überhaupt. Die einzige eigentUch gesezmässige
Verfassung in Griechenland war die republikanische, an welcher
jeder Bürger mehr oder minder Antheil nehmen konnte. Wer
also etwas durchzusezen wünschte, musste, da ihm Gewalt fehlte,
Ueberredung gebrauchen. Er konnte also Studium der Menschen,
und Fähigkeit sich ihnen anzupassen, Gewandtheit des Charakters,
nicht entbehren. Aber das oft überfein ausgebildete Volk ver-
langte noch mehr. Es gab nicht bloss der Stärke oder der Natur
der Gründe nach, es sah auch auf die Form, die Beredsamkeit,
das Organ, den körperlichen Anstand. Es blieb also beinah keine
Seite übrig, welche der Staatsmann ungestraft vernachlässigen durfte.
Dann erforderte die Staatsverwaltung noch nicht abgesonderte
weitläuftige Fächer von Kenntnissen, noch Talente dieser Art.
Die einzelnen Theüe derselben waren noch nicht so getrennt, dass
man sich ausschliessend für sein Leben nur Einem gewidmet hätte.
Dieselben Eigenschaften, die den Griechen zum grossen Menschen
machten, machten ihn auch zum grossen Staatsmann.^) So fuhr
er, indem er an den Geschäften des Staats Theil nahm, nur fort,
sich selbst höher und vielseitiger auszubilden.
28.
3., die Religion. Sie war ganz sinnlich,-) beförderte alle
Künste , und erhob sie durch ihre genaue Verbindung mit der
Staatsverfassung zu einer bei weitem höheren Würde und grösseren
Unentbehrlichkeit. Dadurch nährte sie nicht allein das Schönheits-
gefühl, von dem ich oben sprach (24.), sondern machte es auch,
da an ihren, immer von den Künsten begleiteten Cärimonien das
ganze Volk Theil nahm, allgemeiner. Indem nun, wie ich vorhin
(25.) zu zeigen versucht, diess Schönheitsgefühl die richtige und
'^J „Es gab bey den Griechen kein herrschendes Verdienst. Die geringste
Virtuosität erhielt Huldigung, und der Komödiant war unsterblich wie der Feld-
herr. Bey den Römern verschlang der Staatsmann alle Aufmerksamkeit der
Nation." Schiller.
^) „nicht bloss sinnlich, sondern die freieste Tochter der Phantasie.
Es war kein Kanon vorhanden, der der Dichtungskraft Fesseln anlegte." Schiller.
— Ähnlich heißt es von den Griechen in der Abhandlung über das Naive (Sämmt-
liche Schrißen 10, 444): „Ihre Götterlehre selbst war die Eingebung eines naiven
Gefühls, die Geburt einer fröhlichen Einbildungskraft."
und des griechischen insbesondere. 27 — 30.
273
gleichmässige Ausbildung des Menschen befördene, trug sie mittel-
bar hiezu ganz vorzüglich bei.
29.
4., den Nationalstolz. Wie der Grieche überhaupt einen
hohen Grad von Lebhaftigkeit und Reizbarkeit besass, so drukte
sich diese vorzüglich stark in dem Gefühl für Ehre und Nach-
ruhm aus, und bei der engen Verbindung des Bürgers mit dem
Staat in Gefühl für Ehre der Nation. Da nun der Werth der
Nation auf dem Werthe ihrer Bürger beruhte, und von diesem vor-
züglich ihre Siege im Kriege und ihre Blüthe im Frieden abhieng,
so verdoppelte dieser Nationalstolz die Aufmerksamkeit auf die
Ausbildung des persönlichen Werths. — Dann eignete sich der
Ruhm der Nation jedes ^^erdienst oder Talent eines Einzelnen
ihrer Mitbürger zu. Die Nation nahm also jedes in Schuz, und
hieraus entstand ein neuer Grund der Achtung für Künste und
Wissenschaften.
30-
5., dieTrennungGriechenlands in mehrere kleine
Staaten.^) Wenn ein Staat allein und für sich existirt; so nimmt
die Ausbildung seiner Kräfte den Weg, den eine einzelne Kraft
nehmen muss. Sie erhöht sich in sich, und wenn sie ein gewisses
Maass erreicht hat, artet sie in etwas andres aus. Ihre Ausartungen
sind aber immer in ihr allein motivirt, und damit ist allemal Ein-
seitigkeit, nur mehr oder minder, verbunden. In Griechenland
aber machte die gegenseitige Gemeinschaft der verschiednen
Nationen, die fast alle auf verschiednen Graden der Kultur standen,
und eine sehr verschiedne Art der Ausbildung besassen, dass sich
von einer Nation auf die andre manches übertrug, und wenn auch,
bei der Einrichtung der alten Nationen, das Fremde nur schwer
bei ihnen Eingang finden konnte, so gieng doch immer mehr über,
als wenn jede abgesondert existirt hätte. Diess geschah aber um
so mehr, als doch alle immer Griechen, und also in der ursprüng-
lichen Anlage der Charaktere einander gleich waren, so dass da-
durch Uebergänge der Sitten von der einen zur andren erleichtert
wurden. — Ja wenn auch diese nicht Statt fanden, machte dennoch
das blosse neben einander Existiren und die gegenseitige Eifersucht,
dass die eine Vorzüge nicht vernachlässigen durfte, durch welche
V „Sehr wichtig." Dalberg.
W. V. Humboldt, Werke. I. I8
2nA 6. Über das Studium des Altertums
die andre überlegen werden konnte, und aufs mindeste sezte diese
Eifersucht die Kräfte einer jeden in thätigere Bewegung.^)
31-
3. Moment. (16.) Viele zusammenkommende Ursachen brachten
zwar bei den Alten sehr entschiedene Nationalcharaktere und da-
her weniger Diversität in dem Charakter und der Ausbildung der
einzelnen Bürger hervor, und so herrschte unter diesen von dieser
Seite eine verhältnissmässig geringere Mannigfaltigkeit, als unter
den Neueren. Allein auf der andren Seite machten doch auch
hievon die mehr wissenschaftlich gebildeten Nationen eine beträcht-
liche Ausnahme, und ausserdem kamen 2 Umstände zusammen,
jene Mannigfaltigkeit wieder, und vielleicht um mehr zu befördern,
als sie von jener Seite her litt. i., die Phantasie des
Griechen war so reizbar von aussen, und er selbst in
sich so beweglich, dass er nicht bloss für jeden Eindruk »in
hohem Grade empfänglich war, sondern auch jedem einen grossen
Einfluss auf seine Bildung erlaubte, durch den w^enigstens die ihm
an sich eigenthümliche eine veränderte Gestalt annahm.
32.
2., die Religion übte schlechterdings keine Herr-
schaft über den Glauben und die Gesinnungen aus,
sondern schränkte sich auf Cärimonien ein, die jeder Bürger zu-
gleich immer von der politischen Seite betrachtete; und eben-
sowenig legten die Ideen von Moralität dem Geiste
Fesseln an, da dieselbe nicht auf einzelne Tugenden und Laster,
nach dem Maasse einer einseitig abgewägten Nüzlichkeit oder
Schädlichkeit beschränkt war, sondern vielmehr überhaupt nach
Ideen der Schönheit und Liberalität bestimmt wurde.
33-
4. Moment. (17.) Ein den Griechischen Charakter vorzüglich
auszeichnender Zug ist, wie oben (23.) bemerkt worden, ein un-
gewöhnlicher Grad der Ausbildung des Gefühls und der Phantasie
in einer noch sehr frühen Periode der Kultur, und ein treueres
Bewahren der kindlichen Einfachheit und Naivetät in einer schon
V „Diese schöne Bemerkung ist wie mir dünkt auch auf Teutschland und
die Europäische Republick einicher maassen anwendbar." Dalberg.
und des griechischen insbesondere. 30 — 34. 27E,
ziemlich späten.^) Es zeigt sich daher in dem Griechi-
schen Charakter meistentheils der ursprüngliche
Charakter der Menschheit überhaupt, nur mit einem so
hohen Grade der Verfeinerung versezt, als vielleicht nur immer
möglich sein mag; und vorzüglich ist der Mensch, welchen die
Griechischen Schriftsteller darstellen, aus lauter höchst einfachen,
grossen und — wenigstens aus gewissen Gesichtspunkten be-
trachtet — ; immer schönen Zügen zusammengesezt. Das Studium
eines solchen Charakters muss in jeder Lage und jedem Zeitalter
allgemein heilsam auf die menschliche Bildung widmen, da derselbe
gleichsam die Grundlage des menschlichen Charakters überhaupt
ausmacht.-) Vorzüglich aber muss es in einem Zeitalter, wo durch
unzähhge vereinte Umstände die Aufmerksamkeit mehr auf Sachen,
als auf Menschen, und mehr auf Massen von Menschen, als auf
Individuen, mehr auf äussren Werth und Xuzen, als auf innere
Schönheit und Genuss gerichtet ist, und wo hohe und mannig-
faltige Kultur sehr weit von der ersten Einfachheit abgeführt hat,
heilsam sein, auf Nationen zurül-LZublikken, bei welchen diess alles
beinah gerade umgekehrt war.
34.
Ein zweiter vorzüglich charakteristischer Zug
derGriechen ist die hohe Ausbildung des Schönheits-
gefühls und des Geschmaks und vorzüglich die all-
gemeine Ausbreitung dieses Gefühls unter der ganzen
Nation, wovon sich Beispiele in Menge aufzählen lassen. '^)Nun
aber ist keine Art der Ausbildung in allen Zeiten und Erdstrichen
so unentbehrlich, als gerade diese, die das ganze Wesen des
Menschen, wie es an sich beschaffen sein möge, erst gleichsam in
Eins vereint, und ihm die wahre Politur und den wahren Adel
ertheilt; und nun ist auch gerade keine jezt und bei uns so noth-
wendig, als diese, da es bei uns so eine Menge von Tendenzen
^) „Diese Steüp enthaltet die sehr fruchtbare Wahrheit, dass man die Auf-
merksamkeit in neuern Zeiten viel zu wenig auf innern Lebensgenus richtet. Ein
fürtrefliches Studium bestehet wie mir dünkt in Beobachtung der Kinder und
ihrer fortschreitenden Entwiklung, da liest man täglich im lebendigen Buch der
Natur uttd lernt den Menschen in seiner weesentlichen Anlage kennen." Dalberg.
y „Aber gar nicht zu reden von den wissenschaftlichen Vorzügen der
Griechen!.'" Wolf
^) „fürtreßich. und sehr richtig." Dalberg.
i8»
276
6. Über das Studium des Altertums
giebt, die geradezu von allem Geschmak und Schönheitsgefühl ent-
fernen müssen.
So ist die Stimmung des Charakters der Griechen nach allen
oben aufgezählten Momenten überaus vortheilhaft für das Studium
des Menschen überhaupt an derselben, als einem einzelnen Bei-
spiele. Aber diess Studium ist auch bei ihnen vorzüglich
möglich aus folgenden 2 Umständen: i., hat sich eine überaus
beträchtliche Menge von Denkmälern der Griechischen Welt er-
halten, vorzüglich eine Menge litterarischer, welche in jeder Rük-
sicht zu dem gegenv^ärtigen Zv^^ekke die wichtigsten sind. 2., er-
fordert das Studium einer Nation, und vorzüglich aus ihren
Denkmälern, ohne lebendiges Anschauen, wenn es irgend gelingen
soll, sowohl an sich einen entschiedenen NationalCharakter, als
auch überhaupt abgeschnittene, mit denen des Studirenden kon-
trastirende Züge. Nun aber geht die Bildung des Menschen in
Massen immer der Bildung der Individuen voraus, und darum
und aus andren hinzukommenden Ursachen haben alle anfangende
Nationen sehr entschiedene und abgeschnittene NationalCharaktere.
Bei den Griechen aber vereinigten sich, diess zu befördern, noch
andre, ihnen eigenthümliche Umstände.
^J „Nach meiner Überzeugung muss der Mensch diejeniche Gegenstände am
genauesten kennen am sorgfältigsten studieren die ihm am nächsten liegen; weilen
eigentlich diese Gegenstände diejenichen sind welche unaußiörlich auf ihn würken,
und auf die er unaufhörlich zurückwiirkt ; weilen in würken und rückwürken der
Gebrauch menschlicher Kräften und der Entzweck des menschlichen Daseyns ist ;
und weilen die menschliche Vermmfi diese Würkung alsdann auf die möglichst
zweckmässigste Weiss leitet, wenn er diejeniche Gegenstände durch anhaltendes
Studium am genauesten kennt auf welche er vermög Zeit und Glücks Umständen
und Innern Anlagen am meisten würken kann und wechselweiss nach diesen
nemlichen Umständen auf ihn würken. Nach diesem Grundsatz stehen die Gegen-
stände der Studien für den Menschen in folgendem Verhältniss von Wichtigkeit.
i.J Selbstkentniss. 2.) Kenntniss seiner Berufgeschäften und Wissenschaften,
ß.) Kenntnis der Personen welche seine Familien Verhältnis ausmachen. 4.) Kentnis
derjenichen Menschen mit welchen er vermöge seiner Berufs-Geschäften zu thun
hat. Mithin s-) Kenntniss seiner Landsleuten; ihrer Sitten Begrifen, Neigungen,
u. s. w. und zu dieser Kenntnis ist das Studium der Literatur seiner Mutersprache
ein wichtiges Hülfsmittel. 6.) Andre Kenntnisse sind ihm in dein Verhältniss
wichtig als sie in seinem Würkung s- Kr eiss ihm selbsten als Mitelpunct nah liegen.
-j.) Nach diesem Maassstab verdient meines Erachtens die Griegische Literatur nur
in so weit einen Vorzug als sie die vollkommenste Muster des besten Geschmacks
enthaltet; und zu der ästetischen Ausbildung des Geistes beitragen kann." Dalberg.
und des griechischen insbesondere. 34 — 37. 277
Giebt man zu, dass man in der That zu dem hier ins Licht
gestellten Endzwek des Studiums Einer Nation vorzugsweise be-
darf; so lässt sich nun auch bald entscheiden: ob leicht eine
andre an die Stelle der Griechischen treten könne?
Es müssten nemlich von einer solchen alle hier aufgestellte Gründe
und zwar, welches wohl zu bemerken ist, zusammengenommen
gelten, oder die mangelnden durch andre gleich wichtige ersezt
werden. Die stärksten unter denselben aber beruhten alle mittel-
bar und unmittelbar darauf, dass die Griechen, wenigstens für uns,
eine anfangende Nation sind.^) (i8 — 23. 33. 35.) Diess Erforder-
niss wird also auch unumgänglich nothwendig und unerlasslich
sein. Ob sich nun in irgend einem noch unentdekten Erdstrich
eine solche Nation zeigen wird,*) welche mit dieser Eigenthümlich-
keit die übrigen, oder ähnliche, oder höhere Vorzüge, als die
Griechische, verbände, oder ob genauere Bekanntschaft mit den
Chinesern und Indianern diese als solche Nationen zeigen wird?
ist im Voraus zu entscheiden nicht möglich. Dass aber weder
die Römische, noch gar eine neuere Nation an ihre Stelle treten
könne, bewirkt schon der einzige Umstand, dass diese alle aus
den Griechen mittelbar und unmittelbar schöpften; und von den
übrigen, mit den Griechen gleich alten Nationen haben wir zu
wenig Denkmäler übrig. Meines Erachtens werden also die
Griechen immer in dieser Rüksicht einzig bleiben ; nur dass diess
nicht gerade ein ihnen eigner Vorzug, sondern mehr eine Zu-
fälligkeit ihrer und unsrer relativen Lage ist.
37-
Wenn das Studium der Griechen in der Absicht unternommen
wird, die ich hier dargestellt habe, so erfordert es natürlich seine
eignen allgemeinen und besondren Vorschriften. Die allgemeinsten
*) Vergl. Kants Krit. ü. Urtheilskraft. S. 25S— 260.2)
^) „Anfangend ist keine Nation. Die Griegen schöpften von Tirier und
Egipter, die Römer von Griegen, wir von Römern; die Amerikaner von uns."
Dalberg.
V Dieses falsche Zitat ist zuerst von Walzet in der Zeitschrift für die öster-
reichischen Gymnasien 4S, 8gs richtiggestellt worden : gemeint ist die Erörterung
über die ästhetische Normalidee und ihre nationeile Verschiedenheit in der Kritik
der Urteilskraft S. 5^.
278
6. Über das Studium des Altertums
und hauptsächlichsten möchten etwa folgende sein: i., der N uzen
eines solchen Studiums kann nie durch eine, auch von dem ge-
lehrtesten Manne und dem grossesten Kopfe entworfene Schilde-
rung der Griechen erreicht w^erden. Denn einmal wird dieselbe
immer, wenn sie völlig treu sein soll, nicht individuell genug sein
können, und wenn sie völlig individuell sein soll, wird es ihr an
Treue mangeln müssen; und zweitens besteht auch der grosseste
Nuzen eines solchen Studiums nicht gerade in dem Anschauen
eines solchen Charakters, als der Griechische war, sondern in dem
eignen Aufsuchen desselben. Denn durch dieses wird der Auf-
suchende selbst auf eine ähnliche Weise gestimmt; Griechischer
Geist geht in ihn über ; und bringt durch die Art, wie er sich mit
seinem eignen vermischt, schöne Gestalten herv^or.^) Es bleibt
daher nichts, als eignes Studium übrig, in unauf-
hörlicher Rüksicht auf diesen Zwek unternommen.-)
38.
2., muss das Studium der Griechen selbst nach
einer gewissen S3^stematischen, und auf diesen End-
zwek bezogenen Ordnung vorgenommen werden.^)
Denn wenn gleich alle Schriftsteller in Rüksicht auf diesen Zwek
wichtig sind ; so hält man sich doch billig fürs erste allein an die
reichsten, und wählt in diesen eine feste Ordnung, die aber hier
schwer zu finden ist, da, wenn man auf die Materien sehen will,
man hier eigentlich nicht die Gattung der Schriftsteller, sondern
der Sachen, die sie behandeln, betrachten müsste, und wenn man
der Zeit folgen will, es schwer ist, nur zu bestimmen, ob man
auf die Periode des Lebens des Schriftstellers,^) oder auf die der
von ihm behandelten Gegenstände, oder auf beides gewissermaassen
zugleich sehen solle?
^J „schön und wahr; und auf alle Studien anwendbar." Dalberg.
^) „Wozu der Umgang mit Menschen, da man die Art des menschlichen
Umgangs ja schildern kann ? Wäre ebenso." Wolf.
y „Ordnung des Studii hiezu??" Wolf.
*J „Hierauf! Wenigstens bei Dichtern. Aber bei Historicis das letztere
Mein Autoren-Plan muss also so seyn, dass gleich neben älteste Dichter späte
Historici treten, zE. Diodor, Apollodor. Homer. Hesiod. Herodot. Thucydides
Xenophoti." Wolf.
und des griechischen insbesondere. 37 — 41. 270
39-
3., muss man am längsten nicht allein bei den
Perioden verweilen, in welchen die Griechen am
schönsten und gebildetsten waren, sondern auch
gerade imGegentheil ganz vorzüglich bei den ersten
und frühesten. Denn in diesen liegen eigentlich die Keime
des wahren Griechischen Charakters ; ^) und es ist leichter und
interessanter in der Folge zu sehen, wie er nach und nach sich
verändert, und endlich ausartet. — Auch passen mehrere der im
Vorigen ausgeführten Gründe (22. 23. 33.) ganz vorzüglich nur auf
diese früheren Perioden.
40.
Die Hülfsmittel zu diesem Studium und insbesondre in der
hier entwikkelten Absicht sind vorzüglich folgende: i., unmittel-
bare Bearbeitung der Quellen selbst durch Kritik
und Interpretation.-) Diese verdient natürlich die erste Stelle.
41.
2., Schilderung des Zustandes der Griechen, Griechische
Antiquitäten im weitesten Sinne des Worts, welchem
der hier aufgestellte Endzwek die höchste Ausdehnung giebt.
Diese Hülfsarbeit ist nothwendig theils zum Verständniss der
einzelnen Quellen, theils zur allgemeinen Uebersicht, und zur
Einleitung in das gesammte Studium überhaupt.^) Jeder Schrift-
steller behandelt nur einen einzelnen Gegenstand, und man ist das
Einzelne nicht im Stande in seiner ganzen Anschaulichkeit auf-
zufassen, ohne von der Lage überhaupt gehörig unterrichtet zu sein.
V „Aus dem ästetischen Gesichtspunct würde ich die vollkommensten Schrift-
steller wählen. Von dem Nutzen der andern Gesichts-Punkten kann ich mich nicht
überzeugen. In jener Hinsicht verdient meines Erachtens das Studium der
teutschen Literatur fiit einen Teutschen den Vorzug." Dalberg.
y „Critick und Interpretation sind wichtige Beschäßigungen für den Sprach-
forscher, minder wichtig für den Man der in der Literatur nach Lebensweissheit
und Menschenkentnis strebt." Dalberg. — „Keine Stelle benutzen, ohne den
ganzen Autor gnau zu kennen." Wolf.
^) ,yDieses Studium erfordert das ganze Leben eines Manns, ist sehr schätz-
bar für einen Man wie Heine und Wolf, nicht practisch für den Geschäftsman."
Dalberg.
280 6. Ober das Studium des Altertums
42.
3., Uebersezungen. Diese können in Absicht des über-
sezten Schriftstellers einen dreifachen Nuzen haben, i., ihn die-
jenigen kennen zu lehren, die sein Original nicht selbst zu lesen
im Stande sind. 2., für denjenigen, der das Original selbst liest,
zum Verständniss desselben zu dienen. 3., denjenigen, der das
Original zu lesen im Begriff ist, vorläufig mit ihm bekannt zu
machen, ihn in seine Manier, seinen Geist einzuweihen. Bestimmt
man die Wichtigkeit dieses verschiednen Nuzens nach dem hier
genommenen Gesichtspunkt, so ist der i^ der kleinste und gering-
fügigste; der 2'^. wichtiger, aber immer klein, da gerade hiezu
Uebersezungen die schlechteren Hülfsmittel sind; der 3'! aber der
wichtigste, da durch ihn die Uebersezung zum Lesen des Originals
reizt, und bei dem Leser selbst auf eine höhere Art unterstüzt,
indem sie nicht einzelne Stellen verständigt, sondern den Geist
des Lesers gleichsam zum Geist des Schriftstellers stimmt, auch
der leztere noch klärer erscheint, wenn man ihn in dem zwiefachen
Medium zwei verschiedner Sprachen erblikt. Die Erreichung
dieses lezten Nuzens muss allein auf die Schäzung des Originals
führen, und so ist der höchste Nuzen einer Uebersezung derjenige,
welcher sie selbst zerstört. Die Haupterfordernisse einer Ueber-
sezung wechslen nun nach diesem dreifachen Zwekke. Zu dem
i^ wird Anpassung des übersezten alten Schriftstellers auf den
niodernen Leser, also oft absichtliche Abweichung von der Treue
-erfordert;^) zu dem 2^ Treue der Worte und des Buchstabens ; -)
zu dem 3^ Treue des Geistes, wenn ich so sagen darf, und des
Gewandes, worin er gekleidet ist, wobei also vorzüglich viel auf
die Nachahmung der Diktion bei Prosaikern und des Rhythmus
und des Versbaues bei Dichtern ankommt.^)
Um den im Vorigen dargestellten Nuzen in seiner ganzen
Grösse her\^orzubringen, erfordert das Studium des Alterthums
V „So Wieland." Wolf.
^) „So Voss." Wolf.
^J „fürtreflich !" Dalberg.
*) „Ich viuss gestehen dass ich der Meinung des Pops beystime. Wer aus
dem Hipocren trinken will der schöpfe recht tief, oder lasse es gar seyn; Halb-
gelarte sind verstimmte Menschen, nathürliche Anmuth ist in solchen Menschen
und des griechischen insbesondere. 42. 43. 28 1
die grosseste, ausgebreitetste, und genaueste Gelehrsamkeit, die
sich natürlich nur bei sehr Wenigen finden kann. Allein der
Nuzen ist immer, wenn gleich in geringeren Graden auch da vor-
handen, wo man sich nur überhaupt, wenn gleich mit minderem
Streben nach Gründlichkeit, mit diesem Studium beschäftigt; und
er theilt sich endlich auch sogar allen denen mit, welchen diess
Studium auch ewig ganz fremd bleibt. Denn in der Verbindung
einer hoch kultivirten Gesellschaft kann im genauesten Verstände
jede Kenntniss eines Einzelnen ein Eigenthum Aller genannt
werden.
verschwunden und edle Vollendung in Ausbildung des Geschmacks kann nur
durch anhaltendes Studium erreicht werden." Dalberg. — „Drink deep or taste
not the pierian spring" Pope, Essay on criticism 2, 16.
Theorie der Bildung des Menschen.
Bruchstück.
[I.]
Es wäre ein grosses und trefliches Werk zu liefern, wenn
jemand die eigenthümlichen Fähigkeiten zu schildern unternähme,
welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntniss
zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen; den ächten Geist,
in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle
mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der
Menschheit, als ein Ganzes, zu vollenden. Der Mathematiker, der
Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen
nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche
Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen,
sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem
höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Uebersicht. In einer
noch schlimmeren Lage aber befindet sich derjenige, welcher, ohne
ein einzelnes jener Fächer ausschliessend zu wählen, nur aus allen
für seine Ausbildung Vortheil ziehen will. In der Verlegenheit
der Wahl unter mehreren, und aus Mangel an Fertigkeit, irgend
eins, aus den engeren Schranken desselben heraus, zu seinem
eignen allgemeineren Endzweck zu benutzen, gelangt er nothwendig
früher oder später dahin, sich allein dem Zufall zu überlassen und
was er etwa ergreift, nur zu untergeordneten Absichten, oder
bloss als ein zeitverkürzendes Spielwerk zu gebrauchen. Hierin
liegt einer der vorzüglichsten Gründe der häufigen und nicht
Handschrift (8 halbbeschriebene Quartseiten, ohne Titel) im Archiv in Tegel.
7. Theorie der Bildung des Menschen, i. 28^
ungerechten Klagen, dass das Wissen unnütz und die Bearbeitung
des Geistes unfruchtbar bleibt, dass zwar Vieles um uns her zu
Stande gebracht, aber nur wenig in uns verbessert wird, und dass
man über der höheren, und nur für Wenige tauglichen wissen-
schaftlichen Ausbildung des Kopfes die allgemeiner und unmittel-
barer nützliche der Gesinnungen vernachlässigt.
Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich
steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete
Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem
Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse
Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die
blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich
darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch
einer Welt ausser sich. Daher entspringt sein Streben, den Ivreis
seiner Erkenntniss und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne
dass er sich selbst deutlich dessen bewusst ist, liegt es ihm nicht
eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser
ausser sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Ver-
besserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung
der Innern Unruhe, die ihn verzehrt. Rein und in seiner End-
absicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines
Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch
seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine
ganze äussre Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht
in sich müssig zu bleiben. Bloss weil beides, sein Denken und
sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur
vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich
ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-
Mensch, d. i. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt, als möglich zu
ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.
Die letzte Aufgabe unsres Daseyns : dem Begriff der Mensch-
heit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens,
als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen
Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich,
zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung
unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und
freiesten Wechselwirkung. Diess allein ist nun auch der eigent-
liche Massstab zur Beurtheilung der Bearbeitung jedes Zweiges
menschlicher Erkenntniss. Denn nur diejenige Bahn kann in
jedem die richtige seyn, auf welcher das Auge ein unverrücktes
284. 7- Theorie der Bildung
Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele zu verfolgen im Stande
ist, und hier allein darf das Geheimniss gesucht werden, das, was
sonst ewig todt und unnütz bleibt, zu beleben und zu befruchten.
Die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt scheint vielleicht
auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck,
sondern auch ein überspannter Gedanke. Bei genauerer Unter-
suchung aber wird wenigstens der letztere Verdacht verschwinden,
und es wird sich zeigen, dass, wenn man einmal das wahre Streben
des menschlichen Geistes (das, worin ebensowohl sein höchster
Schwung, als sein ohnmächtigster Versuch enthalten ist) aufsucht,
man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann.
Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von
dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung
und seine Bewunderung schenken soll ? Man verlangt, dass Bildung,
Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als
möglich, unter ihm herrschen, dass es seinen Innern Werth so
hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn
von ihm, als dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen grossen
und würdigen Gehalt gewönne. Man begnügt sich nicht einmal
damit. Man fordert auch, dass der Mensch den Verfassungen, die
er bildet, selbst der leblosen Natur, die ihn umgiebt, das Gepräge
seines Werthes sichtbar aufdrücke, ja dass er seine Tugend und
seine Kraft (so mächtig und so allwaltend sollen sie sein ganzes
Wesen durchstralen) noch der Nachkommenschaft einhauche,
die er erzeugt. Denn nur so ist eine Fortdauer der einmal er-
worbenen Vorzüge möglich, und ohne diese, ohne den beruhigenden
Gedanken einer gewissen Folge in der Veredlung und Bildung,
wäre das Daseyn des Menschen vergänglicher, als das Dase3'n der
Pflanze, die, wenn sie hinwelkt, wenigstens gewiss ist, den Keim
eines ihr gleichen Geschöpfs zu hinterlassen.
Beschränken sich indess auch alle diese Forderungen nur auf
das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine Natur
beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzu-
gehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser P2nt-
fremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem,
was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und
die wohlthätige Wärme in sein Innres zurückstrale. Zu dieser
Absicht aber muss er die Masse der Gegenstände sich selbst näher
bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und
beide einander ähnlicher machen. In ihm ist vollkommene Ein-
des Menschen, i. 2.
■2Ö^
heit und durchgängige Wechselwirkung, beide muss er also auch
auf die Natur übertragen; in ihm sind mehrere Fähigkeiten, ihm
denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begrifi^
des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als An-
schauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen. Mit allen
diesen, wie mit ebensoviel verschiedenen Werkzeugen, muss er die
Natur aufzufassen versuchen, nicht sow^ohl um sie von allen Seiten
kennen zu lernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit
der Ansichten die eigene inwohnende Kraft zu stärken, von der
sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind. Gerade
aber diese Einheit und Allheit bestimmt den Begriff der Welt.
Allein auch ausserdem finden sich nun in eben diesem Begriff in
vollkommenem Grade die Mannigfaltigkeit, mit welcher die äusseren
Gegenstände unsre Sinne rühren, und das eigne selbstständige
Daseyn, wodurch sie auf unsre Empfindung einwirken. Denn nur
die Welt umfasst alle nur denkbare Mannigfaltigkeit und nur sie
besitzt eine so unabhängige Selbstständigkeit, dass sie dem Eigen-
sinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des
Schicksals entgegenstellt.
Was also der Mensch nothw'endig braucht, ist bloss ein Gegen-
stand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner
Selbstthätigkeit möglich mache. Allein w^enn dieser Gegenstand
genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner
Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstand schlechthin,
die Welt seyn, oder doch (denn diess ist eigentlich allein richtig)
als solcher betrachtet werden. Nur um der zerstreuenden und
verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sich
nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin
zu verlieren, bildet man einen, in jedem Punkt leicht übersehbaren
Kreis; um an jeden Schritt, den man vorrückt, auch die ^^orstellung
des letzten Zwecks anzuknüpfen, sucht man das zerstreute Wissen
und Handeln in ein geschlossenes, die blosse Gelehrsamkeit in eine
gelehrte Bildung, das bloss unruhige Streben in eine weise Thätig-
keit zu verwandeln.
2.
Dies aber nun würde gerade durch ein Werk, wie das oben-
erwähnte auf die kräftigste Weise befördert werden. Denn be-
stimmt, die mannigfaltigen Arten menschlicher Thätigkeit in den
Richtungen, die sie dem Geiste geben, und den P^orderungen, die
286 7- Theorie der Bildung
sie an ihn machen, zu betrachten und zu vergleichen, führte es
geradezu in den Mittelpunkt, zu dem alles, was eigentlich auf uns
einwirken soll , nothwendig gelangen muss. Von ihm geleitet,
flüchtete sich die Betrachtung aus der Unendlichkeit der Gegen-
stände in den engeren Kreis unsrer Fähigkeiten und ihres mannig
faltigen Zusammenwirkens; das Bild unsrer Thätigkeit, die wir
sonst nur stückweise, und in ihren äussern Erfolgen erblicken,
zeigte sich uns hier, wie in einem zugleich erhellenden und ver-
sammelnden Spiegel, in unmittelbarer Beziehung auf unsre innere
Bildung. Den Einfluss, den jedes Geschäft des Lebens auf diese
ausüben kann, leicht und fasslich übersehend, fände vorzüglich
derjenige seine Belehrung darin, dem es nur um die Erhöhung
seiner Kräfte und die Veredlung seiner Persönlichkeit zu thun ist.
Zugleich aber lernt der, welcher eine einzelne Arbeit verfolgt,
nur da sein Geschäft in seinem ächten Geist und in einem grossen
Sinne ausführen. Er will nicht mehr bloss dem Menschen Kennt-
nisse oder Werkzeuge zum Gebrauch zubereiten, nicht mehr nur
einen einzelnen Theil seiner Bildung befördern helfen; er kennt
das Ziel, das ihm gesteckt ist, er sieht ein, dass, auf die rechte
Weise betrieben, sein Geschäft dem Geiste eine eigne und neue
Ansicht der W^elt und dadurch eine eigne und neue Stimmung
seiner selbst geben, dass er von der Seite, auf der er steht, seine
ganze Bildung vollenden kann; und dies ist es, wohin er strebt.
Wie er aber nur für die Kraft und ihre Erhöhung arbeitet, so
thut er sich auch nur Genüge, wenn er die seinige vollkommen
in seinem Werke ausprägt. Nun aber wird das Ideal grösser,
wenn man darin die Anstrengung, die es erreichen, als wenn man
den Gegenstand ausmisst, den es darstellen soll. Ueberall hat das
Genie nur die Befriedigung des innern Dranges zum Zweck, der
es verzehrt, und der Bildner z. B. will nicht eigentlich das Bild
eines Gottes darstellen, sondern die Fülle seiner plastischen Ein-
bildungskraft in dieser Gestalt ausdrücken und heften. Jedes Ge-
schäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur
in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung. Aeussere Mittel
es auszuführen giebt es immer mehrere, aber die Wahl unter
ihnen kann nur jene, nur ob sie geringere oder vollere Befriedigung
findet, bestimmen.
Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimniss-
volleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und an-
haltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden. Aber es
des Menschen. 2.
2^7
ist selbst damit noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich
auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der
Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Indi-
viduen spiegelt. Jenes Werk müsste daher zugleich auch diese
Mannigfaltigkeit schildern, und dürfte unter denen, die sich in
irgend einem Fache hervorgethan haben, niemanden übergehen,
durch den dasselbe eine neue Gestalt, oder einen erweiterten Be-
griff gewonnen hätte. Diese müsste es in ihrer vollständigen
Individualität, und dem ganzen Einflüsse zeichnen, den ihr Zeit-
alter und ihre Nation auf sie ausgeübt hätte. Dadurch nun über-
sähe man nicht nur die mannigfaltigen Arten, wie jedes einzelne
Fach bearbeitet werden kann, sondern auch die Folge, in der eine
nach und nach aus der andern entspringt. Da jedoch diese Folge
immer wieder durch den Einfluss des Xationalcharakters, des Zeit-
alters und der äussern Umstände überhaupt unterbrochen wird,
so erhielte man zwei verschiedene aber immer gegenseitig auf
einander einwirkende Reihen : die eine der ^'e^ände^ungen, welche
irgend eine Geistesthätigkeit nach und nach in ihrem Fortschreiten
gewinnt, die andre derjenigen, welche der Charakter der Menschen
in einzelnen Nationen und Zeiten sowohl, als im Ganzen, durch
die Beschäftigungen annimmt, die er nach und nach ergreift ; und
in beiden zeigten sich ausserdem die Abweichungen, durch die
genievolle Individuen diesen sonst ununterbrochen fonschreitenden
Naturgang plötzlich stören, und ihre Nation oder ihr Zeitalter auf
einmal in andre, neue Aussichten eröfnende Bahnen hinschleudern.
Allein nur, indem man dies schrittweise verfolgt und am Ende
im Ganzen überschaut, gelangt man dahin, sich vollkommne
Rechenschaft abzulegen, wie die Bildung des Menschen durch ein
regelmässiges Fortschreiten Dauer gewinnt, ohne doch in die Ein-
förmigkeit auszuarten, mit welcher die körperliche Natur, ohne
jemals etwas Neues hen^orzubringen, immer nur von neuem die-
selben Umwandlungen durchgeht.
Rezension von Jacobis Woldemar.
Philosophie.
Königsberg, b. Nicolovius : Woldemar (vom Hn. Geh. Rath J a c o b i in
Düsseldorf) 1794. i. Th. XXI S. Vorb. u. 190 S. 2. Th. VI S. Vorb. u. 294 S. 8.
Wenn ein philosophisches System nach seiner inneren Con-
sequenz und Uebereinstimmung mit der selbsterkannten Wahrheit
objectiv beurtheilt ist; kann es nunmehr auch subjectiv mit dem
Geiste und dem Charakter seines Urhebers verglichen, und unter-
sucht werden, mit welchem Grade der Nothwendigkeit es aus
seiner Individualität entspringt, und welche Eigenthümlichkeit diese
in dieser Rücksicht an sich trägt. Je wichtiger das einzige Ziel
alles Philosophirens , die Erkenntniss aussersinnlicher Wahr-
heiten und die strenge Prüfung der Festigkeit dieser Erkennt-
niss ist; desto interessanter muss die Beschäftigung seyn, dem
Gange, auf welchem mehrere Köpfe dahin zu gelangen strebten,
mit Aufmerksamkeit nachzuforschen. So wie aber diess Inter-
esse weniger von dem objectiven Werthe der Systeme an
sich, als von der originellen Individualität ihrer Urheber ab-
hängt; eben so wird auch diese Beschäftigung selbst nicht
sowohl unmittelbar der Philosophie, als Wissenschaft, als viel-
mehr dem Philosophen erspriesslich seyn, der sie vornimmt.
Zwar kann das Ideal einer wahren Philosophie — wenn diese
nemlich die vollständige Ausmessung aller menschlichen Vermögen
zum Grunde legen muss, um darnach die Möglichkeit objectiver
Erkenntniss zu bestimmen, und die allgemeinen Gesetze der Thätig-
Erster Druck: Allgemeine Literaturzeitung vom Jahre i-]g4 j, 801 — So-j
(Nr. ji^, 26. September). Sog— 816 (Nr. ji6, 27. September). 81-7—821 (Nr. jr-j,
27. September).
8. Rezension von Jacobis Woldcmar. 28q
keit jener Vermögen zu entdecken — gewiss nur aus dem vereinten
Streben aller menschlichen Kräfte hen^orgehn. Allein auch bei
Systemen, denen man schlechterdings Wahrheit und Allgemein-
gültigkeit abzusprechen genöthigt wäre, könnte der enge Zusammen-
hang mit der Kraft, die sie schuf, die Aufmerksamkeit anhaltend
fesseln. Erschiene daher auch je der Zeitpunkt, in welchem alle
denkende Köpfe sich über Eine Philosophie vereinigt hätten; so
würde dennoch das Studium der bisherigen Systeme schon in
dieser Hinsicht immer nothwendig bleiben. Am meisten aber
würde diess der Fall bei den Systemen solcher Männer seyn, die
ihr ganzes höheres Daseyn in ihre philosophische Ueberzeugung
am innigsten verwebt haben; wie denn hierin, um ein Beispiel
anzuführen, vielleicht niemand die Griechen übertroffen hat, deren
Systeme fast durchaus die Frucht ihrer gesammten Kräfte in der
grossesten Harmonie ihres Strebens sind, und die niemand als
Philosophen vollständig würdigen wird, der sie nicht als Menschen
aufzufassen Sinn genug hat. Hieraus ergiebt sich also eine zwie-
fache und so verschiedene Behandlung der philosophischen Ge-
schichte, dass sie schwerlich von weniger, als zwei ganz ver-
schieden gebildeten Köpfen mit Hofnung des Erfolgs versucht
werden darf. Denn wenn der eine das hier angenommene einzig
wahre System unausgesetzt vor Augen haben muss; so müssen
dem andern mehr die verschiednen möglichen Richtungen des
philosophischen Geistes gegenwärtig seyn. Wenn der eine mit
unerbittlicher Strenge alles zurückweisen muss, was sich von seiner
einzigen Norm entfernt; so muss der andre mit einer liberaleren
Vielseitigkeit sich gänzlich seinen eignen Meynungen entreissen,
und die fremde Vorstellungsart schlechterdings nur als eine eigne,
ganz und gar aber nicht — sey es auch noch so sehr gegen seine
eigne Ueberzeugung — als eine unrichtige betrachten. Giebt es
nun eine Philosophie, die auf Dingen beruht, über die sich nicht
durch Beweis und Gegenbeweis streiten lässt, sondern die nur ein
übereinstimmendes oder widersprechendes Gefühl bejahen oder
verneinen kann; so wird bei dieser der subjective Zusammenhang
mit der Individualität ihres Urhebers auch für ihren Inhalt selbst
wichtig seyn. In gewisser Hinsicht aber muss dieser Fall bei jeder
denkbaren Philosophie eintreten. Denn jede muss zuletzt auf ein
unmittelbares Bewusstseyn, als auf eine Thatsache, fussen. Indess
kann es auch philosophische Systeme geben, welche mehrere
solcher Thatsachen zum Grunde legen. Von dieser Art ist nun
W. V. Humboldt, Werke. I. 19
290
8. Rezension von
ganz und gar diejenige, welche der Herausgeber der Briefsamm-
lung Eduard Allwills als die seinige schildert. „Was er er-
forscht hatte," sagt er in der Vorrede zu diesem Buche S. XV. von
sich selbst, „suchte er sich selbst so einzuprägen, dass es ihm
bliebe. Alle seine wichtigsten Ueberzeugungen beruhten auf un-
mittelbarer Anschauung; seine Beweise und Widerlegungen auf
zum Theil (wie ihn däuchte) nicht genug bemerkten, zum Theil
noch nicht genug verglichenen Thatsachen." Bei einer solchen
Theorie giebt es — und diess allein raubt derselben gewiss noch
nicht die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit — keine andre Art
der Ueberzeugung, als dass ich den andern in eben die Lage ver-
setze, in der ich selbst einer solchen Anschauung theilhaftig, mir
einer solchen Thatsache bewusst wurde. Die Flamme, die
hier leuchten soll, vermag nur die Flamme, die schon brennt,
zu entzünden. Sehr richtig fährt daher der Vf. jener Stelle
von sich weiter fort : „Er musste also , wenn er seine Ueber-
zeugungen andern mittheilen wollte, darstellend zu Werke
gehn." Diess nun zu thun, hat der Vf. in jenem We rk, wie in
diesem versucht, in welchem er (Th. i. Vorb. S. XV.) ausdrücldich
auf die hier angeführte Stelle der früher erschienenen Schrift An-
weisung giebt. Man muss daher diese längere Abschweifung der
Unmöglichkeit verzeihen, auf eine andre Weise den Zweck des
angezeigten Werks vollständig darzulegen, und zu der Eigenthüm-
lichkcit desselben gehörig vorzubereiten. In wiefern nun jede
unmittelbare Anschauung alle Erklärung ausschliesst, die niemals
andre, als mittelbare Einsicht gewährt, und in wiefern das, worauf
diese Anschauungen und Thatsachen beruhen — wenn das, was
sich darauf gründet, auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen
soll — nicht Einem einzelnen, sondern der Menschheit angehören
muss — insofern bestimmt der Vf. die Absicht seiner Schrift noch
näher dahin: „Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich,
auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen." ^) Gewiss nicht
bloss ein erhabener Zweck, sondern auch ein schwieriges Unter-
nehmen! Wem es gelingen soll, der muss selbst eine hohe
Menschheit in sich tragen, muss oft und streng sich selbst ge-
prüft, und mit ruhiger Beurtheilung das Zufällige seines Wesens
von dem Xothwendigen geschieden haben, wodurch er unmittelbar
mit der Menschheit in ihrer reinen idealischen Gestalt verwandt
i; Woldemar i, XVI.
Jacobis Woldemar. 2QI
ist. Nur solch ein Mann kann den Eindruck hen'orzaubern, mit
dem der gleichgestimmte Leser so xieic Stellen des Woldemar
verlassen wird ; und wenn andre literarische Produkte nur einzelne
Talente des Schriftstellers beweisen, so stellen solche, als das
gegenwärtige, das ganze Daseyn des Menschen dar. Doppelt er-
höht wird dieser Reiz aber dadurch, dass in der vorliegenden
Schrift nur von praktischer Philosophie die Rede ist; dass jede
Zeile das reinste, ächteste, sittliche Gefühl, mit dem zartesten und
beweglichsten Schönheitssinn auf das innigste verbunden, athmet;
und dass man weniger über Menschheit raisonniren hört, als Per-
sonen, deren jede wenigstens in Einer Hinsicht ein Repräsentant
der Menschheit heissen kann, in interessanten Situationen selbst
thätig erblickt.
Ein Paar seltene Charaktere, aus dem stärksten und zugleich
feinsten Stoffe gebildet, den die ^lenschheit ertragen, und in die
edelste Form gegossen, die sie annehmen kann, in einfachen, aber
den Geist wie das Herz gleich stark anziehenden Lagen in Hand-
lung gesetzt, dienen dem Vf. zum Vehikel, an ihnen den Begriff
der ächten Tugend, und Moralität in ihrer Reinheit darzustellen.
Mit ausserordentlich günstigen Anlagen zu Erreichung einer hohen
sittlichen Schönheit, und mit natürlicher Stimmung zur Erfüllung
jeder Pflicht des Wohlwollens , der Selbstverläugnung und des
Edelmuths gebohren, hat sich Woldemar gewöhnt, seine Moralität
nicht bloss aus sich selbst, aus der Ivraft seiner praktischen Ver-
nunft, sondern auch aus der Mitte der Triebe hervorgehen zu
sehen, mit deren Widerstand sie sonst am heftigsten zu kämpfen
hat. Zu dieser glücklichen Organisation gesellt sich bei ihm die,
auf Vernunftgründe gestützte Ueberzeugung, dass etwas so Hohes
und Göttliches, als die Tugend, auch nothwendig aus unvermittelter
Selbstthätigkeit entspringen muss, und weder von äusseren Formen
und Vorschriften abhängig gemacht, noch durch Construction von
Begrifl'en zu Erreichung bestimmter Zwecke gleichsam künstlich
aufgebaut werden kann. Glühende Wärme des Gefühls, lebhafte
Einbildungskraft, und vorzüglich eine innige Harmonie seines
ganzen Wesens, besonders eine enge Verbindung seiner denkenden
und empfindenden Kräfte, fesseln ihn überall unauflöslich an an-
geschaute Realität, an freie Selbstthätigkeit, und entfernen ihn
überall von bloss begriffener Idealität, von auch nur scheinbarem
Zwange. So bewirken alle diese Gründe vereint, dass er, bei den
richtigsten theoretischen Ueberzeugungen von dem Wesen der
19*
292
8. Rezension von
Tugend und Sittlichkeit, in der Ausübung mehr Pflichten erfüllt,
die er liebt, als sich Gesetzen unterwirft, die er achtet, dass Ge-
horsam ihm überhaupt fremder ist, als es Menschen geziemt, und
dass er die Vorschriften der Tugend nur in den Handlungen des
Tugendhaften aufsucht, der, nach seinem Ausdruck, eben so der
Sittlichkeit durch die That die Regel vorschreibt, als das Genie
der Kunst. ^) Kein Wunder also, dass er nicht selten seinem sitt-
lichen Gefühl, auch ohne die nothwendige jedesmalige genaue
Prüfung, zuviel einzuräumen, und den Eingebungen seines Herzens
in zu stolzem Vertrauen zu unbedingte Folge zu leisten Gefahr
läuft. Mit diesem Charakter tritt Woldemar in den Kreis einer
Familie, von der sein Bruder, Biderthal, ein Mitglied ist, und die
sich nicht minder durch Bande der Liebe, als der Verwandtschaft
an einander gekettet sieht. Kleine Veranlassungen aus den ge-
wöhnlichen Begebenheiten des täglichen Lebens lassen Gespräche
über das, was schicklich und anständig, und wenn sich die Unter-
redung von der minder bedeutenden Veranlassung zu allgemeineren
Grundsätzen erhebt, über das, was sittlich und tugendhaft ist, über
die Unterschiede in der Moralität des jetzigen Jahrhunderts und
des Alterthums u. s. f. entstehen, in welchen — ausser dem
wichtigen philosophischen Gehalt — sich der Charakter Woldemars
und der übrigen auftretenden Personen wie von selbst vor dem
Leser entwickelt. Unter allen, die Woldemar umgeben, zieht
Henriette, seines Bruders noch unverheirathete Schwägerin, seine
Aufmerksamkeit am meisten auf sich. Sie stimmt seine vorherigen
Begriffe über das andre Geschlecht gänzlich um. Neben der ganzen
und vollen Weiblichkeit findet er in ihr ein gewisses Etwas, das
er mit seiner allgemeinen Meynung über ihr Geschlecht nicht zu
vereinigen weiss, etwas Höheres und Grösseres; und nach und
nach schlingen sich ihre Herzen bis zur innigsten Verbindung an
einander. In Woldemar hieng diese Freundschaft mit seinen
wichtigsten und höchsten Ideen, mit seinem eigensten Wesen zu-
sammen. Mitten in dem Wechsel von Empfindungen und Trieben,
neben dem Entstehen und Untergehen mannigfaltiger Neigungen,
fühlte er auch etwas Festes und Unvergängliches in sich. In den
Momenten, wo sein Inneres am harmonischsten gestimmt war,
wuchs auch diess Gefühl am lebhaftesten empor; und nur auf
diesem Unvergänglichen, Uebermenschlichen gleichsam konnte die
ächte Tugend, die Verwandtschaft des Sterblichen mit dem Gött-
^J Woldemar 2, 16^. 205.
Jacobis Woldemar. 2Q^
liehen, beruhen. Dennoch war daneben die Veränderlichkeit der
menschlichen Natur so sichtbar, selbst das Gefühl jenes höheren
Etwas wurde nicht selten dadurch verdunkelt, sein Daseyn sogar
war so unbegreiflich; es musste das dringendste Bedürfniss für
ihn werden, sich unumstössliche Gewissheit desselben zuzusichern.
Woldemar, den diess alles noch stärker und lebhafter, als gewöhn-
lich, bewegte, rang nach dieser Gewissheit auf seine Weise. Ge-
fühl, Anschauung, bestätigte Wirklichkeit giengen ihm über alles.
In einem andern Wesen musste er finden, was er in sich selbst
ahndete. So musste er lernen, „dass seine Weisheit kein Gedicht
sey." ^) Lange hatte er diess mit sich herumgetragen, lange ge-
sucht, von glücklichem Finden geträumt. Endlich deutete Henriette
den Traum, und wie nun seine Freundschaft nur aus dem höchsten
Gefühl der reinsten Tugend entsprang, so lehnte sich seine Tugend
selbst vvdeder an die Freundschaft, als an eine schwesterliche Stütze.
Nicht zwar als hätte es ihr an eigner Stärke gemangelt, aber w^eil
vereinzelt gleichsam ihre Wesenheit entwich, und die unumstöss-
liche Gewissheit ihres wirklichen Daseyns verschwand. Mit starken,
aber gewiss unendlich feinen Fäden war in diese Empfindung der
Freundschaft der Eindruck verwebt, dessen Weiblichkeit und vor-
züglich schöne Weiblichkeit auf den reizbar und reingestimmten
Mann niemals verfehlen kann. Alit einem Manne hätte Woldemars
Freundschaft andre Modificationen angenommen, überhaupt ver-
mochte nur eine weibliche Seele jenen Traum ihm zu deuten, und
es bedarf mancher Mittelerläuterungen, wenn sein eignes Geständ-
niss, „dass jeder weibliche Reiz an Henrietten ihm sichtbarer, als
allen andern gewesen, dass, wie Henriette, noch kein Mädchen
ihm gefallen," mit seiner Versicherung, „dass seine Empfindung
zu ihr nichts mit ihrem Geschlechte zu thun gehabt," nicht in
Widerspruch stehen soll.-) Mit Bedauern sieht der Leser, der die
Ahndungen seines Tactes um so lieber bestätigt oder widerlegt
fände, als schon die Feinheit des Gegenstandes seine Aufmerksam-
keit anzieht, dass die Geschichte die feineren Nuancen des Ver-
hältnisses unbestimmt lässt; nur mit Mühe entdeckt der Kundige
hie und da leise Winke. Aber was Woldemar suchte, und wie
er es suchte, konnte er nur in einer weiblichen Seele finden.
Durch die Natur seines Wesens nothwendig geleitet, und durch
seine äussere Lage begünstigt, gehört das andre Geschlecht grössten-
V Woldemar 2, /y/.
"^j Woldemar 2, ^.
294
8. Rezension von
theils dem inneren Leben und Weben in eignen Ideen und Empfin-
dungen an. Sich darauf in hoher Einfachheit beschränkend, ist
das weibliche Gemüth zwar vielleicht ein minder reiches und
starkes, aber gewiss ein reineres Bild desselben, als jedes andre,
und daher am meisten fähig, das zu gewähren, was Woldemar
schmerzlich entbehrte. Jener Trieb aber, nach dessen Gewissheit
er so ängstlich strebte, und der doch kein andrer ist, als den die
Philosophie sonst den uneigennützigen, die Aeusserung der prak-
tischen Vernunft, zu nennen pflegt, ist als blosser Trieb im Weibe
schon um eben so viel reger und ununterbrochener lebhaft, als
diess alle Neigungen und Gefühle überhaupt in ihm sind. Allein
auch in seiner höheren Natur ist er deutlicher sichtbar. Unter
allen Geschöpfen, die sich nach eignem Willen bestimmen, sind
die Weiber der steten, immer wiederkehrenden Ordnung der
Natur gleichsam am nächsten geblieben. Dadurch und durch die
Mitwirkung ihres feineren Schönheitssinnes sind alle ihre, auch
eigennützigen Triebe reiner und harmonischer gestimmt, und schon
ihre sanfte Schwäche verhütet ein zu häufiges Einmischen der
heftigen, wechselnden Begierde. Endlich scheinen sie unmittelbar
aus der Hand der Natur zu kommen. Weniger, wie bei dem
Manne, von eigenmächtigen Handlungen des bei diesem stärkeren
und thätigeren Willens durchkreuzt, ist der Inbegriff ihres Wesens
ein mehr durch die Natur und die Lage der Umstände gegebenes
Ganze. Was man in demselben antrift, ist sichrer aus ihrer inneren
Beschaffenheit hervorgegangenes Werk der Natur, als eigne
Schöpfung. Wer aber vertraut nicht lieber dem Zeugniss des
Unvergänglichen, als der Stimme des immer wechselnden Menschen?
So musste Woldemar sowohl durch die Eigenthümlichkeit seines
Charakters, als durch das, was er vermisste, fester an ein weib-
liches Geschöpf gefesselt werden; und so überrascht in der That
die Wahrheit jenes Geständnisses, das er selbst von der Wirkung
der weiblichen Reize Henriettens ablegt. Vielleicht hätte der
Leser diess Verhältniss schärfer durchdrungen, wenn diese Nuancen
desselben in ein helleres Licht gesetzt worden wären. Jetzt muss
es ihm schwer werden, sich, vorzüglich von Henrietten, ein wahres
und richtiges, besonders nur ein bestimmtes Bild zu entwerfen,
da er, wenigstens wenn er sich in Woldemars Seele versetzt, nicht
genug veranlasst wird, sie sich ganz so weiblich zu denken, als
sie in der That ist. Oder soll er vielleicht mit Fleiss ungewiss
bleiben? soll er auf der andern Seite alles auf einen Selbstbetrug
I
Jacobis Woldemar. 2Q c.
in Woldemar schieben ? soll er, um der Entwicklung der Geschichte
ungeduldiger entgegen zu sehen, unter der Freundschaft eigent-
liche Liebe vermuthen? Allein gewiss w^äre diese Vermuthung
irrig, und Woldemars Zuneigung zu Henrietten würde im höchsten
Verstände rein genannt werden können, wenn Liebe ein Flecken
heissen dürfte. Nicht bloss weil das, was ihn zuerst an Henrietten
fesselte, rein moralisch war, muss von selbst jede sinnliche Be-
gierde schweigen. Da das, wonach er sehnsuchtsvoll ringt, gerade
das absolute Gegentheil alles Vergänglichen, Wechselnden, Körper-
lichen ist; muss ihn die leiseste Beimischung einer sinnlichen
Empfindung empören. Wenn er Gewissheit des nur dunkel Ge-
ahndeten erhalten will, darf er es nicht wieder in leicht täuschender
Verbindung mit fremdartigem Stoffe erblicken, muss er von diesem
es sorgfältig abscheiden, und geläutert seinem inneren Auge dar-
stellen. Für den, der am Unvergänglichen hängt, verliert das
Vergängliche seinen Reiz. In Woldemar haben sich nicht die
denkenden und empfindenden Kräfte, beide für sich gebildet und
gepflegt, erst in ihrer Reife vereinigt; sie sind gleichsam von
Kindheit an mit einander aufgewachsen, und eigentlich haben die
ersteren die letzteren erzogen. Denn die Einheit erstrebende Ver-
nunft — die sich immer leichter mit der Phantasie, von der sie
ihren Ideen Symbole leiht, verbindet — ist stärker in ihm, als der
zergliedernde Verstand. Daher sein Ringen nach allem Unver-
mittelten, Reinen, nach dem absoluten Daseyn. Von diesem allem
aber existirt in der Wirklichkeit nichts. Alles ist da vermittelt,
gezeugt, vermischt, nur bedingungsweis existirend. So entsteht in
Charakteren dieser Gattung Abneigung gegen die empirische Wirk-
lichkeit, und in Rücksicht auf die Empfindungsweise Abneigung
gegen die Sinnlichkeit. Das Gefühl drängt sich mit vermehrter Stärke
zu den rein geistigen Empfindungen zurück ; die Einbildungskraft
wächst zu ungewöhnlichen Graden; man erblickt das sonderbare
Phänomen, dass die übergrosse Stärke der Empfindung gegen die
ursprünglichste aller, die äussere, abstumpft. Ueberall wird man
ungewöhnliche Glut der Phantasie mit Kälte der Sinne gepaart
finden. Am wenigsten aber hätte Henriette in Woldemar Liebe
zu entzünden vermocht. Wenn die Freundschaft nur Mannig-
faltigkeit verlangt zu gemeinschaftlicher Verstärkung; so fodert
die Liebe Ungleichartigkeit zu gegenseitiger Ergänzung. Woldemar
aber und Henriette, wie Woldemar sie ansah, waren gleich. Nach
der Art, wie sie auf ihn wirkte, nach dem, was er in ihr fand,
296
8. Rezension von
fiel vor seinen Augen der Unterschied des Geschlechts — so
mächtig derselbe auch mitgewirkt hatte, um es nur möglich zu
machen, dass er diess fand — hinweg; und er beurtheilt sich
vollkommen richtig, wenn er sagt, „dass ihm eine Verbindung
mit ihr eben so unmöglich sey, als der Gedanke, eine Person
seines eigenen Geschlechts zu heirathen." ^)
Mit tiefer psychologischer Einsicht und feiner poetischer Kunst
hat der Vf. durch die Entwicklung der Eigenthümlichkeiten Wol-
demars und die Darstellung seines Verhältnisses mit Henrietten
das sonderbar scheinende Widerstreben, ihr seine Hand zu geben,
nach und nach sorgfältig vorbereitet. Der Leser begreift nicht
bloss Woldemars Gemüthsstimmung ; er fühlt es gleichsam mit
ihm, wie unmöglich es ihm seyn musste, da, wo er, nach Piatos
schönem Bilde,^) Flügel suchte, sich in höhere Sphären zu schwingen,
sich durch die alltäglicheren Verhältnisse einer Ehe an die Erde
fesseln zu lassen. Dennoch hätte man wohl jenes sonderbare Ge-
webe scheinbar widerstreitender Empfindungen reiner durchschaut,
wenn es in dem Plane des Vf. gelegen hätte, den Vorschlag der
Verbindung auf eine andre Weise herbeizuführen, als durch die,
in der That beinahe zudringliche Sorgfalt der Freunde Woldemars.
Zu leicht wird man veranlasst, einen Theil der Abneigung auch
dieser beizumessen. Etwas so Zartes, als das stille Bündniss zweier
Herzen, scheut jede, auch die leiseste Berührung. Nur aus sich
will es hervorgehen ; nur in unentweihter Einsamkeit will es sich
entwickeln, und die Hand, die sich ihm naht, kann es vernichten,
ehe sie es berührt. Henriette wird also nicht Woldemars Gattin;
allein sie selbst verbindet ihn mit ihrer vertrauten Freundin Allwina.
Entzückend schön ist das fortdauernde trauliche Zusammenleben
dieser drei Menschen geschildert. Wo wir, den einfachen Wegen
der Natur folgend, mit allen ungetheilten Kräften geniessen, da
gewinnt der Genuss einen gewissen innern Gehalt, der, von aussen
gegeben, nur bearbeitet, nicht erst neugeschaffen zu werden braucht.
Mit der Anstrengung ist daher Erholung gepaeirt, und die eine
führt die andre wechselweis herbei. Diess empfand jetzt Woldemar.
Er hatte bis dahin mehr in Ideen und selbstgeschaffenen Gefühlen
gelebt; ohne jenen himmlischen Sphären fremder zu werden —
sein Verhältniss mit Henrietten blieb ja das nemliche — kehrte
y Woldemar i, i-jo.
^) Vgl. die tnit S. '24ßa beginnenden Darles^ungen im Phaidros.
Jacobis Woldemar. 2Q7
er in Allwinens Armen, im Schoosse des glücklichsten häuslichen
Lebens, mehr zu der menschlichen Erde zurück, und „eine gewisse
Befreundung mit Dingen dieser Erde" — heisst es einmal (Th. 2.
S. 68.) bei einer andern Gelegenheit sehr gut — ist „süsser, als
die Weisen denken." Aber noch war er nicht zu dauernder Ruhe
bestimmt. Es fehlte seinem Charakter an dem Einzigen, worauf
sie sicher gegründet werden kann, an strenger Zucht, an ernster
Selbstbeherrschung. Er hätte sie nur durch ein Geschenk des
Zufalls genossen. Sehr gut bereiten die ängstlichen Besorgnisse
Biderthals, der seines Bruders Betragen für eine Entfernung von
dem Gange der Natur ansieht, den man nie ungestraft verlässt,
den nahen Sturm vor. Bald darauf erscheint er selbst. Henriettens
Vater hatte eine tiefe Abneigung gegen Woldemar gefasst. Mit
einem, allein durch Gewohnheit und äussere Lagen gebildeten
Charakter bemerkte er Woldemars Abweichungen von der ge-
wöhnlichen Bahn, ohne sie zu begreifen ; sah in ihnen bloss einen
gänzlich verkehrten Sinn, und sprach ihm geradezu allen Glauben
an Gott und an Menschen ab. Die Besorgniss, Henriette möchte
ihm ihre Hand geben, quälte ihn anhaltend, und als er an einer
Krankheit tödtlich danieder lag, verlangte er von ihr das feierliche
Gelübde, sich nie mit ihm zu verbinden. Nichts, selbst nicht die
Versicherung, dass Woldemar schon mit Allwina verlobt sey, ver-
mochte ihm seine Unruhe zu benehmen. Henrietten empörte der
Gedanke, gegen ihren Freund gleichsam in ein Bündniss zu treten,
und ihm feierlich zu entsagen. Aber der Anblick des sterbenden
Vaters, und die Ermattung selbst ihrer körperlichen Kräfte in dem
fürchterlichen Kampf zwangen ihren Lippen das Gelübde ab. Der
nunmehr beruhigte \"ater verschied bald darauf. Woldemarn blieb
der Vorfall verschwiegen. Erst einige Zeit nachher entdeckte er
ihn durch einen Zufall. Er bewegte ihn heftig, und, wiederholter
Kämpfe ungeachtet, konnte er die Folgen dieser Bewegung nicht
ganz in sich unterdrücken. Ungefähr um dieselbe Zeit war Hen-
riette durch nachtheilige Stadtgerüchte über ihr Verhältniss mit
Woldemar verstimmt worden. Diess zufällige Zusammentreffen
zwei verschiedener Eindrücke brachte in ihrem gegenseitigen Be-
tragen zwar keine Kälte, aber etwas Fremdes, Ungewohntes hervor,
das in jedem in dem Grade mehr zunahm, als er es in dem andern
bemerkte. Henriette wagte endlich eine Erklärung. Sie bat ihn,
dass sie in ihrem äussern Betragen einige Schritte rückwärts thun
möchten. Woldemar, in dem sich diese Bitte mit dem abgelegten
298
8. Rezension von
Gelübde verband, wurde durch die vereinte Wirkung von beidem
auf das gewaltsamste erschüttert. Henriette, schien es ihm, sey
auf seine Unkosten allzunachgiebig gegen andre. „Was muss
ihr der seyn, den sie so leicht aufopfert?"^) Mit Meisterhand ist
nun der Fortschritt gezeichnet, den dieser furchtbare Zweifel an
dem, was ihm das Heiligste und Liebste war, in Woldemars Seele
machte; wie er auf Henrietten zurückwirkte; wie die Momente,
wo einer oder der andre den Knoten zu lösen oder zu zerschneiden
entschlossen war, unbenutzt vorübergiengen; wie die Art, wie jeder
dem andern erschien, mit jedem Tage das Misverständniss ver-
mehrte, die Entwicklung verzögerte. Auf das heiterste und glück-
lichste Leben folgte eine schreckliche, quaalenvolle Zeit. Glücklicher
Weise erfährt endlich Henriette, dass Woldemar um das Geheim-
niss des Gelübdes weiss. Jetzt ist ihr auf einmal Woldemars Um-
änderung klar. Nach einem Gespräche über Woldemars Charakter,
über welchen der Leser hier die letzten Aufschlüsse erhält, über
Tugend und Moralität überhaupt, (einem Gespräche, das den
schönsten Theil dieser merkwürdigen Schrift ausmacht,) eilt Hen-
riette zu Woldemar, beginnt ihm ihr Bekenntniss abzulegen,
Verzeihung bei ihm zu suchen. Bei diesen Worten fühlt sich
Woldemar getroffen. Es fällt, wie ein Schleier, von seinen Augen ;
er wird seiner Verirrung gewahr. Was sie von ihm erfleht, fühlt
er, muss er von ihr erhalten. Das stolze Selbstvertrauen, durch
das er gefallen war, schwindet ; wie er ungerecht gegen Henrietten
gewesen war, läutt er jetzt Gefahr, es gegen sich zu werden. Aber
auch hier kehrt er bald wieder um. Die vorige Traulichkeit, der
alte Friede kommen zurück, und Woldemar schliesst mit dem
Ausspruch: „Wer sich auf sein Herz verlässt, ist ein Thor —
Richtet nicht!", dem Henriette Fenelons Worte zur Seite stellt:
„Vertrauet der Liebe. Sie nimmt alles ; aber sie giebt alles." -)
Woldemar hatte sich gewöhnt, sich mit einer gewissen Sicher-
heit seinem moralischen Gefühl zu überlassen, ohne Ausnahme
den Regungen seines Herzens zu folgen. Auch konnte er diess
in den meisten Fällen ohne Gefahr. Es ist sogar unläugbar ein
höherer Grad der Tugend, wenn die Ausübung der Pflicht selbst
zur Gewohnheit wird, wenn sie in das Wesen der sonst ent-
gegenstrebenden Neigungen übergeht, und nicht jede pflicht-
V Dieser Satz ist kein Zitat aus Woldemar.
^) Woldemar 2, 281.
Jacobis Woldemar. 2QQ
massige Handlung erst eines neuen Kampfes bedarf. Wie edel
auch das Ringen des Pflichtgefühls gegen die Neigung seyn mag;
so ist es doch immer ein Zustand des Krieges, und wer segnet
nicht mehr die wohlthätige Hand des Friedens? Aber der Friede
muss nicht durch Nachgiebigkeit erkauft seyn; er muss sein Ent-
stehen der Niederlage des Feindes, seine Dauer dem Bevvusstseyn
der fortdauernden Stärke danken. Der wahrhaft tugendhafte Mann
ist tugendhaft, weil seine Gesinnung es ist, weil diese sich einmal
durch alle seine Empfindungen und Neigungen ergossen hat.
Aber er hört darum nicht auf, wachsam zu seyn, er entnervt
nicht seine Stärke. Sobald der Fall der Gefahr eintritt, weiss er
die Stimme der Sinnlichkeit zu verachten, allein dem dürren
Buchstaben des Gesetzes zu gehorchen. Und gegen diese Gefahr
sichert keine, noch so glückliche Organisation, keine, noch so feine
geistige Ausbildung. Diess zeigt Woldemars Beispiel auf eine
sehr treffende Weise. Seitdem er das Geheimniss von Henriettens
Gelübde erfuhr, fühlte sich sein Stolz beleidigt, seine Selbstsucht
gekränkt. Ihm allein sollte sie angehören, für ihn sollte sie alles
andre vergessen; nun trat sie am Sterbebett ihres Vaters gleich-
sam einem Bündniss gegen ihn bei, nun konnte sie ihm etwas
verheimlichen, nun wollte sie etwas, das ihn betraf, fremden Rück-
sichten aufopfern. Indess war seine Freundschaft zu ihr wirklich
gross und selten. An ihr zweifeln hiess ihm an dem Daseyn der
Tugend, an seinem besten Selbst, an dem allein Göttlichen im
Menschen zweifeln. Daran knüpften sich die minder edlen
Regungen seiner Neigung. Der Abfall von ihm verwandelte sich
in einen Abfall von dem besten Theile der Menschheit. Nur unter
dieser täuschenden Gestalt, nur indem er die Hülle der Tugend
selbst anzog, vermochte der eigennützige Trieb einen Woldemar
zu verführen; allein unter dieser musste es ihm auch gerade bei
einem, nicht an Zucht und Gehorsam gewöhnten Woldemar ge-
lingen. Dass er aus Stolz fiel, beweist sein augenblickliches Zurück-
kehren, indem Henriette die Worte: „Bekenntniss, Verzeihung"
aussprach. Diess ist ein tief aus der menschlichen Seele genommener
Zug. Der ungerechte Stolz einer nicht unedlen Seele sinkt, wenn
er sich überbefriedigt sieht, plötzlich zur Demuth herab. Sehr
richtig warnt daher Woldemar vor allzusichrem Selbstvertrauen.
Schön und weiblich setzt Henriette Fenelons Worte hinzu. Wer
der Liebe vertraut, wird weniger straucheln. Der Liebe geht die
Demuth schwesterlich zur Seite, und jede Abweichung von dem
"^OO
8. Rezension von
Wege der Pflicht entspringt mehr oder minder aus Selbstsucht,
also aus einer Art des Stolzes. Allein sollte auch das Vertrauen
auf Liebe überall eine sichere Schutzwehr seyn? Sie war es in dem
Fall, in dem sich Woldemar zu Henrietten befand, und diess kann
dem Vf. hier genügen. Sonst würde auch er sie gewiss nicht
allgemein dafür anerkennen. Wie edel auch ein Trieb seyn mag,
so ist er immer etwas sinnlich Bedingtes, und nicht fähig, weder
sichre — denn im Gebiete der Sinnlichkeit sind tausendfältige, auch
dem Wachsamsten nicht immer bemerkbare Täuschungen möglich
— noch w^eniger aber reine Moralität zu begründen. Allerdings
ist der uneigennützige Trieb im Menschen ein göttlicher Trieb.
Allein er ist göttlich, insofern die Kraft gleichsam übermenschlich
ist, das Interesse des Individuums der Allgemeinheit des Gesetzes
unterzuordnen. Trieb ist er nur insofern, als das Göttliche eines
Körpers bedarf, um im Menschen zu wohnen.
Die Schwierigkeiten, mit welchen man gewöhnlich zu kämpfen
hat, um einen, in ein ästhetisches Gewand gekleideten philo-
sophischen Inhalt rein abzuscheiden, fallen bei der gegenwärtigen
Schrift so gut als ganz hinweg. Was dem Vf. von philosophischen
Ideen am Herzen gelegen hat, ist mit so starken Zügen gezeichnet,
drückt sich selbst in den geschilderten Charakteren so unverkenn-
bar aus, und geht schon aus dem Geiste, der das Ganze so lebendig
durchwaltet, so freiwillig hervor, dass der Leser keinen Augenblick
zweifelhaft bleiben kann. Wäre diess aber noch möglich, so
dürfte er sich nur an die, von dem Vf. in seinen frühern Schriften
geäusserten Ueberzeugungen wieder zurückerinnern. Denn — um
diess beiläufig zu bemerken — nur in den Schriften weniger
Männer wird man eine solche bewundernswürdige Einheit an-
treffen, als ein tiefes und anhaltendes Studium in den Schriften
des Vf. nirgends vermissen kann. „Nach meinem Urtheil" —
heisst es einmal in den Briefen über die Lehre des Spinoza
{2te Aufl. S. 42.) — „ist das grosseste Verdienst des Forschers,
Daseyn zu enthüllen, und zu offenbaren. Erklärung ist ihm
Mittel, Weg zum Ziele, nächster — niemals letzter Zweck. Sein
letzter Zweck ist, was sich nicht erklären lässt : das Unauflösliche,
Unmittelbare, Einfache." Dieser Ueberzeugung, die den philo-
sophischen Charakter des Yi. auf das treffendste schildert, getreu,
geht er in dem System der praktischen Philosophie, das im
Woldemar seinem ganzen Wesen nach dargelegt ist, (Th, i, S. 130.)
von einem „menschlichen Instinct" aus, auf dem alle Tugend zu-
Jacobis Woldemar OOI
letzt beruht, „der den Menschen zwingt, sich aus den Tiefen seines
Wesens dieselbe hen^orzuschaffen." Dieser Instinct der mensch-
lichen, oder überhaupt jeder sinnlich vernünftigen Natur ist ihm
(vergl. Ed. Allwills Briefsamml. Vorr. S. XVI. Anm.) diejenige
Energie, welche die Art und Weise ihrer Selbstthätigkeit, durch
deren Ivraft man sich jede ihrer Handlungen als alleinthätig ange-
fangen und fortgesetzt denken muss, ursprünglich (ohne Hinsicht
auf noch nicht erfahrne Lust oder Unlust) bestimmt.^) Insofern
diese Naturen bloss in ihrer vernünftigen Eigenschaft be-
trachtet werden, hat derselbe die Erhaltung und Erhöhung des
persönlichen Daseyns, des Selbstbewusstseyns , der Einheit des
reflectirten Bewusstseyns mittelst continuirlicher durchgängiger
Verknüpfung: — Zusammenhang zum Gegenstande; und in-
sofern man in der höchsten Abstraction die vernünftige Eigenschaft
rein absondert, geht der Instinct einer solchen blossen Ver-
nunft allein auf Personalität mit Ausschliessung der Person
und des Daseyns, weil beide hier noth wendig wegfallende Indi-
vidualität verlangen. Die reine Wirksamkeit dieses letzten Instincts
könnte reiner Wille, das Herz der blossen Vernunft heissen,
und wenn man ihr, als einer Indication, philosophisch nachgienge,
würde sich aus ihr unter anderm auch die Erscheinung eines un-
streitig vorhandnen kategorischen Imperativs der Sittlichkeit voll-
kommen begreiflich finden lassen. Dieser Instinct umfasst also
die doppelte Natur des Menschen. Er geht auf Erhaltung des
Daseyns, wie jeder Trieb überhaupt; allein als auch der ver-
nünftigen Natur angehörend, nur auf Erhaltung des dem Menschen
eigenthümlichen Daseyns. Die eigenthümliche Natur des Menschen
aber ist Vernunft und Freiheit. Vermöge dieses Instincts ist sich
der Mensch daher einer Kraft bewusst, mit welcher er, allen An-
trieben der Sinne entgegen, allein der Vernunft zu folgen vermag ;
ja er fühlt sich sogar, diess zu thun, durch einen unaustilgbaren
Trieb gedrungen. Wie dieser Trieb entsteht, wie er wirkt, be-
greift er nicht; versucht er auch, wenn er weise ist, nicht zu er-
klären. Denn erklären lässt sich nur das Abhängige, Vermittelte ;
dieser Trieb aber ist das Letzte, Unvermittelte. Allein seines Da-
V Wörtlich lautet dort die Definition: „Ich nenne Instinkt diejenige Energie,
welche die Art und Weise der Selbsttätigkeit, womit jede Gattung lebendiger
Naturen als die Handlung ihres eigentümlichen Daseins selbst anfangend und
alleintätig fortsetzend gedacht werden muß, ursprünglich fohne Hinsicht auf noch
nicht erfahrene Lust und Unlust) bestimmt."
302
8. Rezension von
seyns und seiner höheren Natur ist er sich mit einer über allen
Zweifel erhabenen Gewissheit bewusst; er fühlt, dass er selbst nur
durch ihn mit allem Göttlichen verwandt, dass er „der Odem
Gottes ist in dem Gebilde von Erde." ^) Was dieser Trieb in
seiner Reinheit schaft, ist Tugend; und weil Uebung der Tugend
nichts anders, als Wirksamkeit des Menschen in seinem eigen-
thümlichsten Daseyn ist, so ist mit der Tugend zugleich unmittel-
bar Glückseligkeit verbunden. Denn dasselbe Bewusstseyn, durch
das wir den Ursprung der Tugend aus dem bessern Theil unsers
Wesens gewahr werden, lehrt uns auch, „dass die höchste Glück-
seligkeit nicht eine gewisse Art des äusserlichen Zustandes, sondern
eine Beschaffenheit des Gemüths, eine Eigenschaft der Person ist."
(Th. I. S. 124.) Und so ist es die Tugend, welche „dem Menschen
zugleich die Geheimnisse seiner Natur und seiner Glückseligkeit
heller offenbart." (Th. i. S. 130.) Auf diesem Fundament ruht
das System der praktischen Philosophie des Vf. Wie ungewöhn-
lich nun auch mancher Ausdruck, wie fremd die ganze Dar-
stellungsart Lesern scheinen mag, welche sich einmal streng an
die bisherigen Systeme halten; so werden sie derselben nicht ab-
sprechen können, dass die höchste Reinheit der Moralität darin
unentweiht geblieben ist. Denn das Einzige, worauf alles endlich
zurückgeführt wird, ist die Kraft der praktischen Vernunft, die
uneingeschränkte Freiheit des Willens. Alle materialen Grundsätze
sind gänzlich entfernt; und derjenige, der zwar nirgends förmlich
ausgedrückt ist, den aber die ganze Ideenreihe deutlich anzeigt, ist
lediglich formal, und allein in der Form der menschlichen Ver-
nunft enthalten, auf welcher des Menschen persönliches Daseyn
beruht, dessen Erhaltung und Erhöhung jener Instinct zum Gegen-
stande hat. Allein die Moral ist, dieser Vorstellungsart zufolge,
auch wiederum nicht bloss eine aus Formeln und Vernunftsätzen
bestehende Theorie, der es, wie consequent sie auch an sich seyn
möchte, noch immer an äussrer Wahrheit, an praktischer Noth-
wendigkeit mangeln könnte ; sie ist durch die festesten und in der
Natur selbst sichtbarsten Bande mit der Wirklichkeit verknüpft,
und geht aus dem innersten Wesen des Menschen hervor. Wenn
er Mensch heissen, nicht die Stimme seines eignen Gefühls über-
täuben will, muss er ihr Gehorsam leisten. Jener Trieb ist un-
läugbar im Menschen vorhanden, und insofern Instinct diejenige
V Über die Lehre des Spinoza S. XLIII.
Jacobis Woldemar.
303
innere bewegende Kraft ist, welche ursprünglich mit der Eigen-
thümlichkeit eines Wesens gegeben ist, kann er auch mit Recht
Instinct genannt werden. Genau untersucht wird hier sogar nichts
anders zum Grunde gelegt, als eben das, wovon auch das recht-
verstandene Morals^'stem der kritischen Philosophie ausgeht —
sitthches Gefühl, Gewissen, Freiheit, Allein es ist hier auf einem
durchaus andern, völlig eignen Wege gefunden, und wird auf
einem andern herbeigeführt. Daher stellt es auch gerade seinen
Ursprung in ein vorzüglich helles Licht, zeigt noch klärer die Ver-
bindung zwischen dem Moralgesetz, und der wirldichen Natur des
Menschen, enthüllt gleichsam noch mehr die Thatsachen der Frei-
heit und des sittlichen Gefühls, und giebt dadurch selbst zur Auf-
bauung der endlichen, von allen Seiten genügenden Philosophie
die treflichsten Winke. Einen solchen Wink glauben wir z. B.
darin zu entdecken, dass dem Instinct, der allem zum Grunde
liegt, durchgängiger Zusammenhang zum Gegenstand gegeben, und
also im Menschen ein Grundtrieb nach innerer und äusserer Ueber
einstimmung festgestellt wird, aus dem sich — wenn es hier der
Ort wäre, solchen Entwicklungen vorzugreifen — auch, unter andern
wichtigen Folgen für die theoretische und praktische Philosophie,
der notliwendige Zusammenhang der Glückseligkeit mit der Tugend
streng beweisen lassen würde. Allein die Einsicht dieses Zu-
sammenhanges bleibt immer ein tiefer Blick in die innerste Natur
des Menschen. Den alten Philosophen, vorzüglich dem Aristoteles,
entgieng er nicht.^) Ihnen war der Mensch zu sehr ein Ganzes;
ihre Philosophie gieng zu sehr von den dunklen, aber richtigen
Ahndungen des Wahrheitssinnes aus. Sie verfielen aber zum
Theil in ein entgegengesetztes Extrem, und läugneten alle Ab-
hängigkeit von der Hand des Geschicks. Die neuere Philosophie
hat zu sehr durch fremde Hand verknüpft, was, seiner Natur
nach, schon verschwistert ist. Es bleibt einer künftigen vorbe-
halten, durch ein noch tieferes Eindringen in die Natur des sitt-
lichen Gefühls, und seiner Wirksamkeit in dem ganzen Wesen
des Menschen, das streng darzuthun, wofür die Empfindung des
natürlichen, aber gutgestimmten Menschen von selbst so laut spricht.
Dass aber jenem Triebe, jenem ursprünglichen Instincte nicht etwa
unbestimmte Begriffe, oder dunkle Gefühle zum Grunde liegen.
V Vgl. Jacobis eigene Auseinandersetzung der ethischen Prinzipien des
Aristoteles im Woldemar 2, 242.
304
8. Rezension von
beweisen unter mehreren merkwürdigen Stellen dieser Schrift vor-
züglich die Worte Woldemars (Th. i. S. 135.) in dem Gespräche
mit ßiderthal. Nachdem er gezeigt hat, wie der Begriff wichtiger
und höher ist, als die Empfindung, und wie das ganze mensch-
liche Bestreben dahin geht, unsre Empfindungen in Begriffe zu
verwandeln, kommt er auf die Frage, worin die Vortreflichkeit
des Menschen bestehe? „Die Gaben," antwortet er sich selbst,
„sind mancherlei; aber jeder ist vortreflich in seinem Maass, dessen
Vernunft seine Empfindungen, Begierden und Leidenschaften über-
schaut und beherrscht. Ich sage beherrscht! denn Empfin-
dungen, Begierden und Leidenschaften müssen da seyn, wenn
menschliche Vernunft da seyn soll. Aus stumpfen Sinnen werden
nie helle Begriffe hen^orgehen ; und wo Schwäche der Triebe und
Begierden ist, da kann weder Tugend noch Weisheit eine Stelle
finden. Kein \^olk ; keine Obrigkeit ! Keine Obrigkeit ; keine Ge-
meine ! Je zahlreicher aber und je rüstiger die Menge, desto
grösser das Fürstenthum ! Und gleich einem Fürstenthum ist die
Vernunft, wovon ich rede. Ihr gehört jenes herrschende Gefühl,
jene herrschende Idee, wodurch allen übrigen Ideen und Gefühlen
ihre Stelle angewiesen wird, und ein höchster unveränder-
licher Wille in die Seele kommt; von ihr kommt jener auf
unüberwindliche Liebe gegründeter unüberwindlicher Glaube, und,
mit diesem Glauben, jener heilige Gehorsam, welcher besser ist,
denn Opfer." Das in dieser letzten Stelle über Liebe und
Glauben Gesagte betrift die Verbindung der Moral mit der
Religion, und erhält seine vollkommene Aufklärung aus den Briefen
über die Lehre des Spinoza. Vorr. S. XLI— XLV. §. XXXIX—
XLVI. Was also wohl das Resultat der ganzen Philosophie des
Vf. überhaupt seyn dürfte, dass sie nemlich Wahrheit und Da-
seyn, um seinem eignen Ausdruck zu folgen, scharf aufzufinden,
und klar zu enthüllen, die Thatsachen, von welchen ausgegangen
werden muss, darzustellen, und den Weg des ferneren Ganges im
Ganzen zu zeigen, mehr als vielleicht irgend eine andre, mit oft
bewundernswürdigem Glücke bemüht ist; das ist gewiss in noch
höherem Grade das Resultat des in dem Woldemar entworfenen
Moralsystems. Allein wie bei seinen übrigen philosophischen
Aeusserungen, so möchte man auch hier manchmal wünschen,
dass es ihm gefallen haben möchte, die BegritTe noch genauer zu
analysiren, die Sätze in strengerer Folge aus einander herzuleiten,
ja selbst hie und da dem Ausdruck eine grössere Bestimmtheit zu
Jacobis Woldemar. 90^
geben, um noch mehr jedem möglichen Misverständniss zuvor-
zukommen. Ueberall würde der Vortrag dadurch mehr FassHch-
keit und grössere philosophische Strenge erhalten; wo aber das
System selbst noch einer Prüfung bedarf, da würde eine solche
Methode zugleich den Vonheil, auch diese zu erleichtern, ge-
währen. Allein freilich könnte diess Unternehmen, wie schon der
Vf. selbst einmal (Br. üb. d. Lehre d. Spinoza. Vorr. S. XXIV.)
bemerkt, vollkommen nur in einem eignen sehr kritischen Werke
geschehen, in welchem er sein Gedankensystem von Grund aus,
und im Zusammenhange mit allen seinen Folgen darlegte; und
wenn der Leser sich ihm schon zum lebhaftesten Dank für das,
was er empfängt, verpflichtet fühlt, ist er freilich nicht berechtigt,
auch noch auf eine neue Gabe Anspruch zu machen.
So reich aber die gegenwärtige Schrift auch an philoso-
phischem Gehalt ist; so ist sie doch auf der andern Seite zugleich
ein freies dichterisches Product, und verdient vorzüglich als Kunst-
werk, dass die prüfende Aufmerksamkeit dabei verweile. Auch
alle philosophische Absicht entfernt, ist das Ganze ein schönes,
anziehendes Gemähide interessanter Situationen; die Reihe der
Begebenheiten geht, nur durch sich selbst bestimmt, mit unge-
zwungener Leichtigkeit fort, und das Raisonnement scheint wie
von selbst und ohne Absicht hineinverwebt. Die Geschichte,
welche dem Ganzen zum Vehikel dient, ist nicht reich an Er-
findung, noch ihr Faden verwickelt — ein einfaches Familienleben
in Verhältnissen, die fast durchaus mehr durch die Empfindungs-
weise der handelnden Personen, als durch äussre Vorfälle bestimmt
werden. Allein gerade diess foderte auch sowohl die philoso-
phische, als poetische Absicht des Vf. Je weniger Abweichungen
die Dazwischenkunft äussrer Begebenheiten veranlasste, desto reiner
konnten sich die Charaktere aus ihrer Individualität entwickeln,
und diese vollkommen zu schildern, war unstreitig sein Haupt-
zweck. Und in der That verräth auch die Art ihrer Zeichnung,
ihrer Haltung, ihrer Auflösung, da wo die Verwicklung manchmal
auf den höchsten Grad steigt, eine seltne Feinheit der Beobachtung
und eine gleich ungewöhnliche Gabe der Darstellung. Es gehörte
ein eigner grosser Gehalt dazu, die einzelnen Züge zu Menschen,
wie sie hier geschildert sind, zusammenzutragen, und reife psycho-
logische Einsicht, sie, der Natur entsprechend, in Ein Bild zu ver-
einigen. Denn die hier gezeichneten Charaktere sind nicht bloss
wegen ihrer wirklichen Vortreflichkeit selten, sondern besitzen auch
W. V. Humboldt, Werke. I. 20
3o6
8. Rezension von
einen Grad der Originalität, der ihnen vor manchem, auch nicht
ungeweihtem Auge etwas Fremdes, wenn nicht gerade Unnatür-
liches geben kann. Zwar existiren gewiss, zum Glück und zur
Ehre der Menschheit, Individuen von gleich eindringendem Geiste,
gleich gross'er Wärme des Gefühls, gleich zartem Schönheitssinn,
Menschen, denen also eben so wenig weder das Mühen nach
äusseren Endzwecken, noch die blosse Thätigkeit der intellectuellen
Ivräfte genügt, die sich eben so ein eignes und gerade das liebste
Geschäft daraus machen, gleichsam in der Mitte ihrer Empfin-
dungen zu leben. Allein selten, und auch diess hat die Natur mit
Weisheit geordnet, werden sie von den äussern Gegenständen so
wenig gestört, und seltner noch von ihren Verhältnissen selbst so
dringend veranlasst, sich, wenn der Ausdruck erlaubt ist, so in
ihren Gefühlen zu verlieren, so anhaltend über ihnen zu verweilen,
sie endlich so dauernd und so mächtig herrschend in sich werden
zu lassen, als man hier, vorzüglich in einigen Epochen, an Wol-
demar und an seinen Freunden bemerkt. Was in der Natur
einzeln, in verschiedenen Lagen, in längeren Zeiten zerstreut ist,
das ist hier sehr natürlich näher zusammengerückt, und macht nur
dadurch einen verschiednen, weniger gewohnten Eindruck. Es
würde daher kaum wunderbar scheinen dürfen, wenn einige
Situationen, z. ß. Woldemars Abneigung, sich mit Henrietten zu
verheirathen, und besonders die Art, wie beide sich, auf die Ver-
anlassung eines Misverständnisses , gegenseitig quälen, wo Eine
einfache Erklärung sie verglichen haben würde, einigen Lesern,
vorzüglich beim ersten Anblick, nicht ganz natürlich scheinen sollten.
Nicht zwar als könnten dergleichen im wirklichen Leben nicht
vorkommen, da jeder Leser sich vielleicht nicht unähnlicher er-
innern wird ; nicht auch als entsprängen sie nicht aus den Charak-
teren, wie sie einmal geschildert sind, oder als wären die Umstände
nicht gehörig auseinander gesetzt, die sie nicht bloss möglich,
sondern sogar nothwendig machten; sondern bloss weil es ein
mächtiger Unterschied ist, etwas in der wirklichen Natur und in
der nachahmenden Schilderung zu erblicken. Es ist damit gerade
ebenso, als mit der Erscheinung, dass es Dinge giebt, die beides
zu komisch und zu tragisch sind, um z. B. auf dem Theater
Glauben zu finden, und die dennoch im Leben wirklich und sogar
nicht selten vorkommen. Wie nemlich die Natur immer die Ge-
wissheit der Wirklichkeit unmittelbar mit sich führt, so ist die
Nachahmung zu leicht von einem gewissen Mistrauen gegen ihre
Jacobis Woldemar. "^OV
Treue begleitet. Von diesem veranlasst geht man leicht dem Wege
nach, auf dem sie eine Situation herbeiführt, um ihre Möglichkeit
zu beurtheilen; und wie streng und genau dieser gezeichnet se^'n
mag, so zerstreut, (noch ungerechnet, dass es oft geheime, kaum
bemerkbare Ursachen giebt, welche aller Darstellung entschlüpfen,)
schon diese Vergleichung die Beobachtung, und verändert den
Eindruck, Vorzüglich bei der Schilderung von Charakteren mag
es also, auch innerhalb der empirischen Wahrheit, noch eine ge-
wisse Grenze der poetischen Wahrscheinlichkeit geben ; vorzüglich
da mag nur eine gewisse iVbweichung von der gewöhnlichen
Menschennatur, die dem Gefühl eines jeden zum Maassstabe des
Natürlichen dient, erlaubt seyn. So gefährlich aber auch die Ivlippe
war, die dem Vf., welcher, seiner Absicht gemäss, einmal keine
andre moralische Gestalten, als gerade die geschilderten, wählen
konnte, hier drohte; so glücklich hat er sie zu überwinden ver-
standen, und auch die Zweifel, von welchen wir eben sprachen,
werden gewiss bei tieferem Studium der gezeichneten Charaktere
verschwinden. Vertraut mit dem Wesen der poetischen Kunst,
weiss er, auch was völlig subjectiv scheint, noch an die noth-
wendigen Bedingungen der menschlichen Natur anzuknüpfen ; mit
kluger Vorsicht lässt er jede neue Wendung des Charakters so
vollständig vorbereiten, und so lange verweilen, und mit meister-
haftem Talent versucht er durch eine schöne, an mehr als Einer
Stelle hinreissende Sprache den Leser so in sein Interesse zu ver-
weben, dass sein Gefühl in die gleiche Stimmung übergeht. Nun
ist ihm jeder folgende Schritt klar, nun theilt er ihn selbst. Immer
aber bleibt in Charakteren, wie Woldemar und Henriette, wie sie
durch Woldemar umgebildet ist, gleichsam eine gewisse Schwierig-
keit zurück. Wie schön und edel sie sind, wie tief sie ergreifen
und erschüttern; so spannen sie doch das Interesse auf eine be-
unruhigende Weise. Es schmerzt, wenn man sieht, dass sie in
der glücklichsten äusseren Lage, mit den besten Ivräften, die das
Geschick seinen Günstlingen zu schenken vermag, ihre Zufrieden-
heit und Thätigkeit durch Leiden unterbrechen, die man in die
Versuchung kommen möchte, selbstgeschaffen zu nennen. Sanft
und schön ruht daher der Blick auf einigen andern Gestalten aus,
die mit weiser Oekonomie an ihre Seite gestellt sind. Welcher
Leser erinnert sich nicht hiebei an Alhvina, an das liebenswürdige
Geschöpf, das in der höchsten Anspruchlosigkeit, sich selbst un-
bewusst, einen Schatz von Tiefe und Grösse des Charakters be-
3o8
8. Rezension von
wahrt, das schwere Verhältniss zwischen Woldemar und Henrietten
allein durch Unbefangenheit des Sinnes fasst, und durch hingebende
Liebe in schönen Einklang auflöst? Auch Henriettens beide ver-
heirathete Schwestern haben in dieser Rücksicht keinen unbeträcht-
lichen Antheil an der Wirkung des Ganzen; und selbst der alte
Hornich, wie er nur durch äussre Verhältnisse gebildet ist, und
nur im Aeussern lebt, trägt durch seine contrastirende Gestalt
wesentlich dazu bei, der Gruppe Mannigfaltigkeit zu geben, die
von einer andern Seite her Einheit erhält. Denn Woldemar ist
es, seine Art zu seyn, die sich nach und nach allen übrigen mehr
oder minder mittheilt, an welche sich alles andre anschliesst. Dass
sein Charakter sich entwickelte, dass er zu dem Grade der Ruhe
und Festigkeit käme, der ihm so sehr mangelte, und nach dem
er sich so innig sehnte, ist das letzte Ziel dieses schönen, mannig-
faltig verflochtenen Ganzen. Diesem Ziele arbeitet alles in grosser
Einheit entgegen. So wie Woldemar auftritt, erregt sein Charakter
bei dem Leser, wie bei seinen Freunden, Besorgnisse. Wie er
da ist, fühlt man lebhaft, ist er noch nicht zur Stätigkeit und
Ruhe gediehen; er muss noch viele Prüfungen bestehen, neue
Umwandlungen erleiden. In der Folge steigt die VenA^icklung, und
noch gerade den nächsten Augenblick vor der Auflösung hat sie
den höchsten Gipfel erreicht, so dass man sich durch diese doppelt
überrascht sieht. Dennoch ist es gerade diese Auflösung, mit
welcher mancher Leser minder zufrieden seyn dürfte. Wie man
sich Woldemar bis dahin zu denken gewohnt gewesen ist, mit
der Grösse und Festigkeit, mit dieser eigentlichen Stärke des
Charakters, hätte man ihn, wenn er je fallen konnte, lieber sich
durch eigne Kraft wieder aufrichten sehen, als an der Hand eines
Dritten, sey es auch die Hand der Geliebten. Es ist schwer zu
beurtheilen, ob in dem Plane des Vf. ein solcher Ausgang mög-
lich war. Allein in dem Charakter selbst, so wie er entwickelt ist
scheint keine Unmöglichkeit zu liegen. Wenn er auf dem Wege
fortgieng, auf dem er war, wenn er, endlich an aller Menschen-
würde und Menschenkraft verzweifelnd, sich einem völligen Un-
glauben, einer alles verachtenden Härte überliess; so mussten
gerade durch diess Uebergewicht der entgegengesetzten Gefühle
jene sanfteren und natürlicheren nach eben dem Gesetz von selbst
wieder lebhaft werden, nach welchem jede Kraft gerade dann am
regsamsten wird, wenn ihr der gänzliche Untergang droht. Je
schrecklicher die Einöde war, in welche Woldemars Seele sich um-
Jacobis Woldemar. aOQ
geschaffen fühlte, desto mächtiger musste die leiseste Regung
dieser Empfindungen wirken ; der Rückweg war nun schneller als
die Verirrung; und Woldemar kehrte so durch sich selbst zum
Glauben an Tugend und Menschheit, und mit ihm zum Glauben
an Henrietten zurück. Aber er dankte seine Rettung nicht minder
dem Gefühle der Liebe; Vertrauen auf Liebe trat nicht minder
an die Stelle des stolzeren Selbsts^ertrauens ; der Sieg der Liebe
war vielmehr um so grösser, wenn sie nicht Henriettens Wort,
wenn sie nur ihr Andenken, nur was Henriette in Woldemars
Seele gestiftet hatte, zu Hülfe zu rufen brauchte. Die einzelnen
Rollen sind mit grosser Zweckmässigkeit unter die auftretenden
Personen vertheilt, und die Charaktere mit vieler Kunst gezeichnet
und durchgeführt. Der wichtigste ist Woldemar selbst. Von diesem
ist aber schon in dem ^^ersuche geredet worden, den wir oben
gemacht haben, einen Abriss der ganzen Schrift zu liefern, und
zw^ar einen Abriss, der gerade ihre Eigenthümlichkeiten, und nur
diese darstellte, und gerade demjenigen Leser vielleicht am meisten
willkommen wäre, der das Werk selbst schon gelesen hätte.
Henriette ist zu genau mit Woldemar verbunden, als dass dadurch
nicht zugleich auch die Schilderung ihres Charakters hinlänglich
geprüft wäre. Indess ist dieser fast unter allen der schwierigste,
aber auch vor allen mit feiner Kunst behandelt. In den Lagen,
in welche sie durch Woldemar versetzt wird, kann es nicht fehlen,
dass man nicht hie und da einen Augenblick die ganze, volle
Weiblichkeit in ihr vermissen sollte. Wir erinnern hier an ihre
eigne Weigerung, sich mit W^oldemar zu verbinden, an die Ge-
spräche, die länger, raisonnirender, belehrender sind, als wir sie
von der Anspruchlosigkeit der Frauen erwarten. Allein bei ge-
nauerer Untersuchung entdeckt sich, dass gerade, was hier minder
weiblich erscheint, sich durch die höchste Weiblichkeit auflöst.
Nur um ihren Freund ihrer Freundin zu schenken, thut sie selbst
Verzicht auf ihn ; nur aus der höchsten Liebe zu ihm, einer Liebe,
die beide Wesen in ihrem ganzen Daseyn zusammenschmelzt,
folgt sie ihm in dem ihm nun einmal eigenthümlichen Ideengange;
nur an dem letzten Gespräch, in dem es Woldemars Rettung gilt,
nimmt sie einen lebhaften und mehr thätigen Antheil. Von Allwina
ist schon im Vorigen gesprochen. Auch die übrigen Personen
sind mit Bestimmtheit und Sorgfalt gezeichnet, und aller Gleichheit
ungeachtet, welche Freundschaft und gemeinschaftliches Leben
ihnen gegeben hat, unterscheidet sich der redliche, aber so leicht
ojo 8. Rezension von Jacobis Woldemar.
ängstlich besorgte Biderthal sehr merklich von dem kühneren,
mehr raisonnirenden Dorenburg. In der Schilderung des alten
Hornich liegt eine eigne Natur und Wahrheit, und es gehörte viel
Kunst der Behandlung dazu, einen Charakter, der so manche wirk-
liche Härten hat, dennoch bis auf einen gewissen Grad liebens-
würdig erscheinen zu lassen. — So wenig sich auch die Sprache
des Vf. in ihrer Eigenthümlichkeit mit wenigen Worten charak-
terisiren lässt, so ist sie dennoch zu eindringend und schön, um
sie ganz zu übergehen. Vorzüglich glücklich ist er in dem, was
gerade andern so selten gelingt, in Schilderungen hoher und zarter
Seelenstimmungen, wovon wir unter so vielen nur folgende wenige
Th. I. S. 39. 40. S. 186 — 190. Th. 2. S. 17 — 19. S. 46. 47.ff. zu
Beweisen anführen wollen.
Gleichsam als bald längere, bald kürzere Episoden sind in
diese Schrift theils eine Menge treflicher psychologischer Be-
merkungen, theils interessante Raisonnements über wichtige Gegen-
stände aus dem Gebiete der Philosophie des Lebens verwebt.
Vorzüglich unter den letzteren zeichnen sich Th. i. S. 24. u. 40.
über Freundschaft und Liebe; S. 51 — 63. über die Wahl der Ge-
sellschaft; S. 80 — 103. über das Uebermaass in Pracht und Einfach-
heit; Th. 2. S. 37 — 46. über das weibliche Geschlecht, und mehrere
andre aus. In dem letzten ausführlichen Gespräch über Tugend
und Moralität giebt der Vf. zugleich (Th. 2. S. 210 — 2^14. u. Beil.
S. 285 — 294.) einen körnigten Auszug aus der Moral des Aristoteles,
der das Gedankensystem des Stagiriten in bündiger Kürze und
mit philosophischer Präcision darstellt, und den wir ebensowenig
als die vortrefliche Uebersetzung eines schönen Stücks aus dem
Plutarch^) (Th. 2. S, 178 — 205.) unerwähnt lassen können.
Dass endlich die gegenwärtige Schrift eine Vollendung einiger
schon vor mehreren Jahren erschienenen Fragmente ist, wird für
den grössten Theil der Leser nicht erst einer Erwähnung bedürfen.
V Jacobi giebt dort einen knappen Auszug aus den Biogravhieen des Agis
und Kleomenes.
9-
Ueber den Geschlechtsunterschied
und dessen Einfluss auf die organische Natur.
Von der Wichtigkeit des Endzwecks erfüllt, welchem der
Unterschied der Geschlechter zunächst gewidmet ist, pflegt man
die Bestimmung derselben auf ihn allein zu beschränken. Man
nimmt ihn unmittelbar mit in den Begriff derselben auf, denkt
sich unter dieser Anstalt der Natur weiter nichts, als ein zur Er-
zeugung nothwendiges Mittel, und würde, wenn diese auf einem
andern Wege zu erhalten wäre, einen Unterschied leicht entbehren
zu können glauben, der die Entwicklung der Gattung in den Indi-
viduen nicht selten zu hindern scheint. Nur allenfalls im Menschen
wird auch die gemeinste Beobachtung mehr auf die heilsame Ein-
wirkung des einen Geschlechts auf das andere aufmerksam gemacht.
Allein auch in der übrigen Natur ist diese Erscheinung nicht
weniger sichtbar, und es bedarf nur einer massigen Anstrengung
des Nachdenkens, um den Begriff des Geschlechts weit über die
beschränkte Sphäre hinaus, in die man ihn einschliesst, in ein
unermessliches Feld zu versetzen. Die Natur wäre ohne ihn nicht
Natur, ihr Räderwerk stände still, und sowohl der Zug, welcher
alle Wesen verbindet, als der Kampf, welcher jedes einzelne
nöthigt, sich mit seiner, ihm eigenthümlichen Energie zu wafnen,
hörte auf, wenn an die Stelle dieses Unterschiedes eine langweilige
und erschlaffende Gleichheit träte.
Das Streben der Natur ist auf etwas Unbeschränktes gerichtet.
Alles Grosse und Trefliche, was in endlichen Kräften wohnt, will
Erster Druck: Schillers Hören, Jahrgang 7795 2, 99 — i^d
212 9- Über den Geschlechtsunterschied
sie, ohne Ausnahme, und zwar in ein Ganzes vereint, besitzen.
Aber da diese Kräfte immer endlich und an die Gesetze der Zeit
gebunden sind, so hebt die eine, sofern sie thätig ist, die andre
auf, und es ist nicht möglich, dass sie alle zugleich wirken.
Diess gilt aber nicht bloss von ihren einzelnen Kräften, sondern
überhaupt von ihren beiden hauptsächlichsten Wirkungsarten, der
Ausbildung des Einzelnen, und der Verbindung des Ganzen.
Denn indess die Kraftübung Einseitigkeit hervorbringt, auf
die auch die Beschaffenheit des Stoffs führt; so verlangt die ver-
bindende Form Vielseitigkeit, und die eine Forderung ver-
nichtet in dem Augenblick, da sie geschieht, nothwendig die andre.
Wenn also, bei allen Schranken der Endlichkeit, ein unendliches
Wirken zu Stande kommen sollte, so blieb nichts anders übrig,
als die zugleich unverträglichen Eigenschaften in verschiedene Kräfte,
oder wenigstens in verschiedene Zustände derselben Kraft zu ver-
theilen, und sie nun durch den Drang eines Bedürfnisses zu gegen-
seitiger Einwirkung zu nöthigen. Diese beiden Merkmale sind
aber gerade auch die einzigen, welche der Geschlechtsbegriff in
sich fasst. Denn, geht man auch, um denselben so aufzufinden,
wie er sich wirklich in der Natur zeigt, am besten von dem Be-
griff der Zeugung aus, so kann man ihn doch auch, ohne alle
Rücksicht auf diese, in seiner völligen Allgemeinheit fassen; und
alsdann bezeichnet er nichts anders, als eine so eigenthümliche
Ungleichartigkeit verschiedener Kräfte, dass sie nur verbunden ein
Ganzes ausmachen, und ein gegenseitiges Bedürfniss, diess Ganze
durch Wechselwirkung in der That herzustellen.
Denn auf der Wechselwirkung allein beruht das Geheimniss
der Natur. Ungleichartiger Stoif verknüpft sich, das Verknüpfte
wird wiederum Theil eines grösseren Ganzen, und bis ins Un-
endliche hin umfasst immer jede neue Einheit eine reichere Fülle,
dient jede neue Mannigfaltigkeit einer schöneren Einheit. Stoff
und Form, so vielfach in einander verschränkt, vertauschen ihr
Wesen, und nirgends ist etwas bloss bildend oder gebildet. So
erhält die Natur zugleich Einheit und Fülle, zwei scheinbar ent-
gegengesetzte, aber nah verwandte Eigenschaften, deren eine
dem Geist wohlthätige Ruhe gewährt, wenn ihn die andre zu
thätigem Nachdenken angespannt hat.
Von dem zauberähnhchen Wirken dieser zahllosen Kräfte er-
staunt, verzweifelt der menschliche Geist, je in diess heilige Dunkel
zu dringen. Dennoch fühlt er sich durch seine Natur aufgefordert,
und dessen Einfluss auf die organische Natur.
313
es zu versuchen. Soll nun der Versuch nicht gänzlich mislingen,
so wende er seinen Blick von dem Zusammenfluss der Wirkungen
ab auf die vereinzelten wirkenden Kräfte. Was dort durch viel-
faches Eingreifen in fremder und mannigfaltig verschiedener Gestalt
erscheint, sieht er hier, vereinzelt, in seiner eigenthümlichen wieder.
Denn jede Verbindung in der Natur geht aus der innren Be-
schaffenheit der Wesen hervor, und ihr stilles Wirken unterbricht
keine eigenmächtige Willkühr. Was sich mit einander vereinigt,
trägt in seinem Wesen selbst das Bedürfniss dieser Vereinigung;
und alle Erscheinungen der Natur bestimmt der Charakter der
wirkenden Kräfte. Ist indess der Weg auf diese Weise verein-
facht, so darf man ihn nicht zugleich auch erleichtert nennen.
Sehr schwierig ist es, diesen verborgenen Charakter zu erspähen,
der nicht in dem Inbegriff der, oft nur zufälligen Aeusserungen
eines Dinges besteht, sondern ihr innerstes Wesen selbst ausmacht,
nicht durch rhapsodistische Aufzählung der einzelnen Merkmale
erschöpft wird, sondern in seiner ganzen Einheit aufgefasst werden
muss. Gerade weil er die letzte Verbindung von jenen ist, darf
er keine Trennung verstatten, ist er für die innere Anschauung,
was die äussere Gestalt dem Auge, und enthüllt sich fast nur
einem gewissen ahndenden Gefühle, da er doch auf Begriffe zu-
rückgeführt, und durch Beweise bestätigt werden soll.
Was, so wie dieser Charakter, das letzte Resultat aller ver-
einigten Kräfte ist, kann wieder nur mit vereinigten Kräften ver-
standen werden. In harmonischem Bunde muss das Gefühl mit
dem Gedanken gemeinschaftlich thätig seyn. Hat der Verstand
die Natur und die Wirkungsart des Wesens nach Begriffen unter-
sucht, so muss die Phantasie das äussere Bild seines Erscheinens,
die Form jenes Inhalts, auffassen, und nur die Einheit, zu welcher
der Geist diess doppelte Resultat zu verknüpfen strebt, kann dem
Gesuchten einigermaassen entsprechen. Keine P>scheinung einer
Kraft darf daher der Forscher zurückweisen, und durch das ganze
Gebiet ihrer Wirksamkeit muss er sie verfolgen. Bei Untersuchung
der Körperwelt muss er mit der moralischen ebensowohl, als bei
dieser mit jener vertraut seyn, und sein Bemühen gehe auf die
grössere Naturökonomie oder den kleineren Kreis des Menschen,
so darf er nie das Ganze aus dem Gesichte verlieren. Denn die
äussere sinnliche Gestalt der Gegenstände giebt ihm einen Spiegel
in die Hand, in welchem sein Auge ihre innere Beschaffenheit
erblickt.
314
9- Über den Geschlechtsunterschied
Vorzüglich aber bedarf der Mensch zu Ergründung und Ver-
edlung auch seiner moralischen Natur einer anhaltenden und
ernsten Betrachtung der ph3^sischen um ihn her, und ihre Vor-
sorge hat ihm sogar diess Studium erleichtert. Schon in dem
bloss körperlichen Theil seines Wesens findet er mit unverkenn-
barer Schrift dasjenige ausgedrückt, was er in seinem moralischen
zum Daseyn zu bringen streben soll. Freilich verweilt das Auge
des Betrachters nur selten hinlängUch auf den Zügen dieser Schrift.
Vorsichtige Besorgniss, durch leere Bilder der Phantasie getäuscht
zu werden, zieht oft die Aufmerksamkeit davon ab, und noch weit
öfterer hindert sie Mangel an Feinheit des Sinns, überhaupt nur
rege zu werden. Dennoch ist es unläugbar, dass die physische
Natur nur Ein grosses Ganze mit der moralischen ausmacht, und
die Erscheinungen in beiden nur einerlei Gesetzen gehorchen.
Nach der Erforschung der Körperwelt und dem Studium des
Innern Lebens der Geister bleibt daher noch endlich ein Blick auf
das gegenseitige Verhältniss dieser beiden völlig ungleichartigen
Reiche übrig, um diejenigen Gesetze aufzufinden, welche, in beiden
herrschend, die höchste Verknüpfung des Naturganzen vollenden.
Dieser Gesetze werden freilich immer nur sehr wenige und äusserst
einfache seyn können, da sie die reiche Mannigfaltigkeit aller be-
sondren unter sich befassen müssen. Allein eben dadurch wird
es dem Menschen leichter werden, ihnen auch an seinem Theil
zu gehorchen, und gerade die verborgensten Geheimnisse seines
Wesens in ihnen besser enthüllt zu sehn. Denn vorzüglich in
dem Felde der menschlichen Empfindung und Begierde giebt es
Tiefen, w^elche der Forscher nie zu ergründen vermag, wenn er
den Blick unmittelbar und allein auf sie heftet. Wo die Verwandt-
schaft mit der schlechterdings physischen Natur des Menschen zu
nah ist, hört die Möglichkeit auf, alles durch seine bloss moralische
zu erklären. Er muss daher zugleich auf jene zurückgehn, und
dasjenige, was in einer feinen und verwickelten Organisation un-
deutlich erscheint, muss er da aufsuchen, wo es in grossen und
einfachen Zügen ausgedrückt ist. Wohin aber wendete er sich da
besser, als an dieselbe Natur in ihrer weniger verwickelten, aber
grössern Oekonomie ? Aus ihr muss der Mensch sich besser verstehn
lernen, und bei ihr den Stamm aufsuchen, von dem nur die feinste
Blüthe in ihm sprosst. Hat er diesen entdeckt, so ist es nun
weniger schwer, den wunderbaren Bau bis in seine äussersten
Zweige zu verfolgen. Hier ist der Standpunkt, auf welchem der
und dessen Einfluss auf die organische Natur.
3i:>
Kenner der ph3^sischen und der Erforscher der moralischen Natur
einander gegenseitig die Hand bieten, um die steile Höhe zu er-
steigen, von welcher jedes sein eignes Gebiet in einer neuen und
nun erst in der wahren Gestalt erblickt. Den äussersten Gipfel
dieser Höhe zu erreichen, dürfte allerdings wohl menschlichen
Kräften verwehrt seyn. Aber die Kenntniss der Natur wird sich
immer ganz und gar von der Wahrheit entfernen, wenn man
demselben nicht wenigstens entgegenstrebt, und er nicht der Ge-
sichtspunkt ist, den man, auch bei der Beschäftigung in jedem
einzelnen der beiden Reiche, unverrückt im Auge behält.
Aus endlichen Kräften bestehend, weiss die Natur sich durch
ihre Form Unendhchkeit zu verschaffen. Dem Gesetze derselben
gehorsam, hinterlässt das hinschwindende Wesen, ehe es von dem
Schauplatz seiner Thätigkeit scheidet, ein neues an seiner Stelle,
und indem so das Einzelne wechselt, bleibt das Ganze in ununter-
brochener Einheit. Diese Sorgfalt für die Fortdauer der Gattungen,
bei der Vergänglichkeit der Individuen, ist die erste Erscheinung,
welche sich dem allgemeinsten Blick auf das gesammte Gebiet der
Natur darstellt. Aber nicht auf blosse Fortdauer allein beschränkt,
ist ihre Absicht hiebei zugleich auf etwas Höheres gerichtet. Weil
bei endlichen Wesen das Vortrefliche nicht auf einmal entsteht,
so erhebt sie sie von Stufe zu Stufe des Bessren. Dadurch hat
sie es möglich gemacht, nach dem ersten Wurf der Keime, ihre
Hand von ihrem Werk abziehen zu können, und nun mit ruhigem
Blick auf den Reihen der Wesen zu verweilen, die sich jetzt, un-
endlichen Ketten gleich, von selbst, und doch immer Einem Ziele
zueilend entwickeln. Unter allen Verbindungen, die wir in ihr
gewahr werden, sind gerade die höchsten, mannigfaltigsten und
innigsten diesem doppelten Endzweck gewidmet; und gelänge es
dem menschlichen Geist, diese durch Erforschung des Charakters
der dabei wirksamen Kräfte genauer zu durchspähen, so wäre es
ihm dann möglich, diess tiefe Geheimniss mit grösserem Recht
zu bewundern.
Bei allem Erzeugen entsteht etwas vorher nicht Vorhandenes.
Gleich der Schöpfung, ruft die Zeugung neues Daseyn hervor,
und unterscheidet sich nur dadurch von derselben, dass dem
neu Entstehenden ein schon vorhandener StolT vorhergehen muss.
Dieser Nothwendigkeit ungeachtet, hat indess das Erzeugte dennoch
eine von dem Erzeugenden unabhängige Kraft des Lebens, und
weit entfernt, dass diese aus demselben erklärbar wäre, bleibt es
9 15 9- über den Geschlechtsunterschied
vielmehr ein unergründliches Geheimniss, wie nur sein Daseyn
daraus hervorgeht. Was durch Entwicklung oder Wachsthum ent-
steht, ist ein Theil desjenigen, zu dem es gehön, und empfängt
aus fremder Hand seine belebende Kraft. Was aber durch Zeugung
ans Licht tritt, ist ein Wesen für sich, besitzt selbst Leben und
Organisation, und kann, wie es selbst hervorgebracht wurde, eben
so wieder hervorbringen. Obgleich die Fähigkeit zu zeugen durch
die ganze Natur verbreitet ist, so vermag doch keine Kraft Leben
und Organisation mechanisch zu bilden ; keine Weisheit den Weg
dazu vorzuschreiben. Daher ist Zeugung von Bildung verschieden,
und darf nur Erweckung genannt werden; die nachfolgende Bil-
dung des Erzeugten gehört ihm selbst, nicht dem Erzeugenden an.
Man kennt, was der Zeugung vorhergeht, und sieht das Daseyn,
das darauf erfolgt; wie beides verknüpft ist? umhüllt ein undurch-
dringlicher Schleier. Denn wie die Zeugung von Seiten des Er-
zeugten Erweckung ist, so ist sie von Seiten des erzeugenden
Wesens nur eine augenblickliche Stimmung, die nicht bloss durch
die höchste Anstrengung der Kräfte, sondern besonders durch die
Vereinigung aller bezeichnet wird. Die Kraft, welche das Lebendige
und Organische beseelt, kann, wie sie selbst in sich Eins ist, nur
aus dem ihr Gleichen hervorgehen, und nicht bloss dass jedes
zeugende Wesen seine eignen gleichartigen Kräfte zur höchsten
Harmonie gestimmt fühlt, so ist auch jede Zeugung eine Ver-
bindung zweier verschiedener ungleichartiger Principien, die man,
da die einen mehr thätig, die andern mehr leidend sind, die
zeugenden (im engern Verstände des Worts) und die empfangenden
nennt. So hat die Natur ihre Kinder, welchen, als endlichen
Wesen, nicht alles zugleich zu besitzen vergönnt war, wenigstens
an die Einheit erinnert, die allein jedem höheren Streben genügt,
und ihrer Sehnsucht Momente geschenkt, die sie vergessen lassen,
dass sie zu getrenntem Daseyn verurtheilt sind.
Diesem gegenseitigen Zeugen und Empfangen ist nicht bloss
die Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut. Auch
die reinste und geistigste Empfindung geht auf demselben Wege
hervor, und selbst der Gedanke, dieser feinste und letzte Spröss-
ling der Sinnlichkeit, verläugnet diesen Ursprung nicht. Die geistige
Zeugungskraft ist das Genie. Wo es sich zeigt, sey es in der
Phantasie des Künstlers, oder in der Entdeckung des Forschers,
oder in der Energie des handlenden Menschen, erweisst es sich
schöpferisch. Was seiner Zeugung das Daseyn dankt, war vorher
und dessen Einfluss auf die organische Natur.
317
nicht vorhanden, und ist ebensowenig aus schon Vorhandenem
oder schon Bekanntem bloss abgeleitet. Zwar wird sich im Gebiete
des Denkens, in welchem durchgängiger logischer Zusammenhang
herrschen muss, immer die Verbindung desselben mit dem schon
Gegebenen zeigen lassen, aber dieser Weg ist darum nicht auch
ebenderselbe, auf welchem es gefunden werden konnte. Denn
das wahrhaft Genialische ist keine Folgerung aus, bloss schnell
übersehenen, mittelbar zusammenhängenden Sätzen, es ist wirkliche
Erfindung, w^nn gleich das, was nicht dieser Art ist, ebenfalls
auf genieähnliche Weise herv'orgebracht seyn kann. Was hingegen
das ächte Gepräge des Genies an der Stirn trägt, gleicht einem
eigenen Wesen für sich mit eignem organischen Leben. Durch
seine Natur schreibt es Gesetze vor. Nicht wie die Theorie, welche
der Verstand langsam auf Begriffe gründet, giebt es die Regel in
todten Buchstaben, sondern unmittelbar durch sich selbst, und mit
ihr zugleich den Sporn sie zu üben. Denn jedes Werk des Genies
ist wiederum begeisternd für das Genie, und pflanzt so sein eignes
Geschlecht fort.
Durch Begeisterung gewirkt, ist dem Genie seine eigene Wirk-
samkeit unbegreiflich. Es geht nicht auf gebrochenen Bahnen
fort, hier erscheint es und dort, aber vergebens suchten wir die
Spuren seines wandlenden Fusstritts. Daher ist es nie zu be-
rechnen, und vermag selbst nicht zu verbürgen, ob sein Product
gesetzlos oder regelmässig seyn werde? Es kann diess Letztere
nur mittelbar befördern, indem es sich selbst gesetzmässig
macht, und es ist ihm kein andrer Einfluss auf das Erzeugte, in
dem Augenblicke der Zeugung, erlaubt, als durch die allgemeine
Stimmung seiner selbst, als des Erzeugenden. Da alle seine Kräfte
in diesem Momente vereinigt sind, bleibt keine zu müssigem Zu-
schauen, oder kalter Leitung übrig. Selbstthätigkeit und Empfäng-
lichkeit sind beide gleich geschäftig in ihm, und dasjenige, dessen
es sich einzig bewusst ist, ist gerade die Vermählung dieser un-
gleichartigen Naturen. Nur durch diese Wechselwirkung der
Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit wird es ihm möglich, sich
aus sich selbst herauszustellen, und sich selbst, abgesondert von
allem Zufälligen, zum Object seiner Reflexion zu machen. Diese
Trennung aber ist zu jeder genialischen Hen-orbringung unent-
behrlich, da das Genie das Nothwendige nur aus der Tiefe seiner
Vernunft hervorziehn, und es nicht anders, als durch gänzliche
Entfernung aus dem Kreise seines empirischen Daseyns rein ab-
oi8 9. über den Geschlechtsunterschied
sondern kann. Daher erfordert dasselbe, wofern es schöpferisch
werden soll, die höchste Objectivität, d. h. ein, in Bedürfniss über-
gehendes Vermögen, das Nothwendige zu ergreifen. Dieses aber
kann es nur aus seinem Innren schöpfen, oder es muss vielmehr
sein eignes subjectives und zufälliges Daseyn in ein nothwendiges
verwandeln. Nie wird der Hand des Künstlers ein Meisterwerk
gelingen, wenn er nicht die idealische Schönheit, zu der doch
seine Phantasie die Züge selbst bildend entwarf, als eine wirkliche
Gestalt zu umfassen vermag; nie wird der Philosoph einen Fort-
schritt gewinnen, der die Masse der Ideen wesentlich bereichert,
wenn nicht die Wahrheit, die er aus der Tiefe seines Geistes her-
vorzog, seinen innren Sinn, gleich einem äussren Objecte bewegt;
und nie wird in schwierigen Fällen des Lebens der handlende
Mensch alle verwickelte Knoten gegen einander wirkender Trieb-
federn genialisch lösen, wenn er nicht über der Welt sein eignes
Ich vergisst, oder vielmehr sein Ich zu dem Umfang einer Welt
erweitert.
Leichter als der Augenblick, in welchem das neue Daseyn er-
weckt wird, ist der Zustand zu beobachten, welcher demselben
vorhergeht. In dieser Stimmung der schöpferischen Weihe ist,
von welcher Art auch die Zeugung seyn möge, das Gefühl einer
überfliessenden Fülle mit dem eines bedürftigen Mangels verbunden.
Die Kraft sammelt sich in sich selbst, nie fühlt sie sich reicher
und grösser, nie lebhafter bewegt, nie rüstiger zur herrlichsten
Thätigkeit. Selbst die Erinnerung an diese Stärke vermag noch,
sie in der Folge begeisternd zu erwecken. Aber in dieser Be-
wegung liegt der Keim einer unruhvollen Sehnsucht, die zur
Hen^orbringung reizt. Sich, ihres Reichthums ungeachtet, so wie
sie ist, nicht genügend, ahndet sie etwas andres, mit dem vereint
sie erst ein vollendetes Ganze bildet. Wird ihr Suchen hier mit
glücklichem Finden gekrönt, so strebt sie nach einer Vereinigung,
welche jedes einzelne Dase3^n vertilgt. Es entsteht ein Wogen,
ein Hin- und Herwanken, und jene Sehnsucht erreicht eine
schmerzliche Höhe. Die ganze Erwartung ist nun auf die Hen^or-
bringung gespannt, und das eigne Ich entäussert sich bis zu dem
Grade, dass es sich selbst gern für die neue Schöpfung hingeben
möchte. Aus diesem höchsten Daseyn springt das Daseyn hervor.
Auf diesem einzigen Moment beruht die Erzeugung auch des geistigsten
Products. Hat die Phantasie des Künstlers einmal das Bild lebendig
geboren, so ist das Meisterwerk vollendet, wenn auch seine Hand in
und dessen Einfluss auf die organische Xatur.
319
demselben Augenblick erstarrte. Die wirkliche Darstellung gehört
nur noch dem Nachhall jenes entscheidenden Moments an.
Eine befremdende Erscheinung ist es, dass Kräfte, die sich so
nothwendig sind, und so heftig suchen, getrennt existiren sollen,
und dass das zur A'erbindung Bestimmte nicht Eins seyn kann.
Denn überall sehen wir zur Zeugung zwei ungleichartige Kräfte
erforderlich, dieselben mögen nun, w^ie in einem Theil der Xatur,
in Einem Wesen verknüpft, oder in zwei verschiedne vertheilt
seyn. Da das Erzeugte mit dem Erzeugenden immer gleichartig
und ihm ähnlich ist, so scheint es wunderbar, warum nicht un-
mittelbar aus dem Leben das Leben, aus einer Kraft die andere
hen^orgehen könne? und da der Begritf der reinen Kraft hier
nichts Widersprechendes enthält, so müssen wdr diess in den
Schranken derselben aufsuchen.
Die lebendige Kraft, welche jedes organische Wesen beseelt,
fordert einen Körper. Dieser Körper und jene Kraft stehen in
unaufhörlicher Gemeinschaft, indem sie gegenseitig auf einander
ein und zurück wirken. So ist in jedem organischen Wesen
Wirkung und Rückwirkung verbunden. Wie unbegreiflich nun
auch das Geschäft der Zeugung ist, so wird doch soviel wenigstens
klar, dass das Erzeugte aus einer Stimmung des Erzeugenden
hervorgeht, und, wie vorzüglich die Producte des Genies auf-
fallend zeigen, derselben ähnlich ist. Die Erzeugung organischer
Wesen erfordert daher eine doppelte, eine auf Wirkung und eine
andre auf Rückw^irkung gerichtete Stimmung, und diese ist in der-
selben Kraft und zu gleicher Zeit unmöglich.
Hier nun beginnt der Unterschied der Geschlechter. Die
zeugende Ivraft ist mehr zur Einw^irkung, die empfangende mehr
zur Rückwirkung gestimmt. Was von der erstem belebt wird,
nennen wir männlich, w^as die letztere beseelt, w^ e i b 1 i c h. Alles
Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr leidende
EmpfängUchkeit. Indess besteht dieser Unterschied nur in der
Richtung, nicht in dem Vermögen. Denn wie die thätige Ivraft
eines Wesens, so auch seine leidende, und wiederum umgekehrt.
Etwas bloss Leidendes ist nicht denkbar. Zu allem Leiden
(Empfinden einer fremden Einwirkung) gehört doch aufs mindeste
Berührung. Was aber gar kein Vermögen der Thätigkeit besitzt,
ist gar nichts, wird durchdrungen, aber nicht berührt. Daher
überall gleichviel Entgegenwirken, als Leiden. Die thätige Kraft
hingegen ist (w^enn wir uns erinnern, dass hier nur von einer
020 9- Über den Geschlechtsunterschied
endlichen geredet wird) den Bedingungen der Zeit unterworfen,
und an einen Stoff, mithin an etwas Leidendes gebunden. Ohne
auch in tiefere Beweise einzugehen, sehen wir im Menschen immer
Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit einander gegenseitig ent-
sprechen. Der selbstthätigste Geist ist auch der reizbarste; und
das Herz, das für jeden Eindruck am meisten empfänglich ist, giebt
auch jeden mit der lebhaftesten Energie zurück. Nur also die ver-
schiedene Richtung unterscheidet hier die männliche Kraft von
der weiblichen. Die erstere beginnt, vermöge ihrer Selbstthätig-
keit, mit der Einwirkung; nimmt aber, vermöge ihrer Empfäng-
lichkeit, die Rückwirkung gegenseitig auf. Die letztere geht gerade
den entgegengesetzten Weg. Mit ihrer Empfänglichkeit nimmt sie
die Einwirkung auf, und erwiedert sie mit Selbstthätigkeit.
Diesen zwiefachen Charakter drückt auch der verschiedene Zu-
stand aus, welcher in beiden der Hervorbringung unmittelbar vor-
hergeht. In beiden ist das Gefühl eines überströmenden Ver-
mögens mit dem eines schmerzlichen Entbehrens gepaart. Aber
wo die Männlichkeit herrscht, ist das Vermögen: Kraft des Lebens,
bis zur Dürftigkeit von Stoff entblösst; und die entbehrende Sehn-
sucht auf ein Wesen gerichtet, das der Energie zugleich Stoff zur
Thätigkeit gebe, und, indem es durch Rückwirkung ihre Empfäng-
lichkeit beschäftigt, ihre glühende Heftigkeit lindre. In dem Kreise
der Weiblichkeit hingegen ist das Vermögen: eine üppig über-
strömende Fülle, zu reich, als dass die eigne Kraft allein ihrer
Belebung genügte; indess die entbehrende Sehnsucht ein Wesen
sucht, das zugleich den Innern Stoff erwecke, und der eignen
Kraft, indem es sie durch Einwirkung zu selbstthätiger Rückwirkung
nöthigt, eine grössere Stärke ertheile. In dem ersteren Fall ist
daher eine Stärke, die, auf Einen Punkt versammelt, von diesem
nach aussen hin strebt. Ausser sich sucht dasjenige einen
Stoff, was in sich nicht genug Beschäftigung seiner Thätigkeit
findet. In dem letzteren ist eine Fülle des Stoffs, die sich einen
fremden Gegenstand in einem Punkt innerhalb ihres Wesens
aufzunehmen, und von ihm Einheit zu empfangen sehnt. So be-
friedigt die eine Kraft die Sehnsucht der andren, und beide um-
schlingen einander zu einem harmonischen Ganzen.
Auch in der geistigen Zeugung nehmen wir nicht bloss die-
selbe Wechselwirkung, sondern auch denselben Unterschied zwei
verschiedner Geschlechter wahr. Ganz anders ist es in Gemüthern
beschaffen, die zu zeugen, anders in solchen, die zu empfangen
und dessen Einfluss auf die organische Natur. ^2 I
bestimmt sind. Es ist schon schwer, so feine Verschiedenheiten
im intellectuellen und moralischen Leben nur zu bemerken, und
bei weitem schwerer noch, sie darzustellen. Wo indess das Genie
männliche Kraft besitzt, da wird es, zeugend, mit selbstthätiger
Vernunft auf das idealische Object einwirken. Wo demselben
hingegen weibliche Fülle eigen ist, wird es, empfangend, die Ein-
wirkung dieses Objects durch das Uebergewicht der Phantasie
erfahren und enviedern. Vorzüglich offenbart sich dieser Unter-
schied in der innren Stimmung bei der Hen-orbringung selbst;
dem geübten Blick aber wird er ebensowenig in den Producten
entgehn. Denn ist gleich jedes ächte Werk des Genies die Frucht
einer freien, in sich selbst gegründeten, und in ihrer Art unbe-
greiflichen Uebereinstimmung der Phantasie mit der Vernunft; so
kann ihm dennoch bald die männlichere Vernunft mehr Tiefe,
bald die weiblichere Phantasie mehr üppige Fülle und reizende
Anmuth gewähren.*) Da aber der Geschlechtsunterschied über-
haupt, als ein Unterschied der Natur, durch den formenden Willen,
so viel als möglich zur Einheit erhoben werden muss; so wird
freilich dasjenige Genie, das sich auf seine Bildung versteht, jene
beiden Kräfte, bis zur gänzlichen Verkennung desselben, in ein
reines Gleichgewicht zu stimmen bemüht seyn. Deutlicher, als
hier, erscheint daher dieser Unterschied im praktischen Leben.
W"o dort der Tugendhafte, von dem erhabenen Gefühl der Achtung
des Gesetzes durchdrungen, der Ausübung seiner Pflicht sein
Glück und sein Leben opfert, da ist eine grosse und heroische
Handlung mit männlicher Kraft erzeugt. Der moralische Sinn
fühlt sich in rüstiger Stärke, die Stimme der Pflicht ruft ihn zur
That, und er empfindet sich gedrungen, dem Rufe zu folgen.
Wo hingegen die Tugend, im Bündniss mit der Phantasie, durch
*) Diese Vergleichung in einzelnen Fällen wirklich anzustellen, ist schon darum
von vielen Schwierigkeiten begleitet, weil selten zwei Köpfe übrigens Aehnlichkeit
genug zeigen, um gerade diesen Unterschied auffallend sichtbar zu machen. Nur also
um an Beispiele zu erinnern, sey es erlaubt, hier Homer und Virgil, Ariost und
Dante, Thompson und Young, Plato und Aristoteles einander gegenüber
zu stellen. Wenigstens dürfte niemand leicht in Abrede seyn, dass, in Rücksicht auf
ihre Gegentheile, in den zuerst genannten, wenigstens in Vergleichung mit der aus
ihnen hervorleuchtenden Kraft, mehr Ueppigkeit der Phantasie herrscht, da aus den
letzteren die Form der Vernunft mit einer fast an Härte gränzenden Bestimmtheit spricht.
Zugleich von dieser Härte und von einer zu grossen Ueppigkeit frei, kann So pho kies,
in der Mitte zwischen Aeschylus und Euripides, zum Beispiel des geschlechtlosen
Genies dienen.
W. V. Humboldt. Werke. I. 21
922 9- Über den Geschlechtsunterschied
ihre Anmuth reizt, da ist jenes moralische Gefühl mehr empfangend,
als zeugend. Es erhält aus der Hand der Einbildungskraft die
wohlthätige Gestalt, schliesst sich mit Innigkeit an sie an, und
strebt, sie mit seinem Wesen zu vereinigen ; und so ist die tugend-
hafte Handlung, welche hervorgeht, nicht sowohl das Werk einer
völlig frei und selbstthätig, als einer zurückwirkenden Kraft.
Dieselbe Eigenthümlichkeit der zeugenden und empfangenden
Kräfte, welche wir in den Momenten ihrer höchsten Thätigkeit
wahrnehmen, offenbart sich auch durch ihr ganzes Daseyn hin-
durch. U eberall spricht aus den ersteren hervorbringende Kraft
durch freies Geben aus eigner Fülle; überall ist in den letzteren
Stärke des Auffassens durch festes Umschliessen des Aufge-
nommenen sichtbar. Aber über das stille Dase^^n der Wesen
unaufmerksam hinwegrollend, eilt unser Blick immer nur ihren
Wirkungen zu, und doch ist es eben diess unbemerkte Leben,
dem die Kräfte der Natur ihre Fortdauer danken. Denn was ist
jenes Daseyn anders, als eine ununterbrochene Wirksamkeit, welche
unaufhörlich die Thätigkeit vorbereitet, die wir nur in dem letzten
Theil ihrer Laufbahn erblicken, wenn das fortgesetzte Streben die
Kraft endlich bis zum Ueberströmen anschwellt ? Nur die körper-
liche Wirkung rührt unsren gröberen Sinn, indess der feine, aber
mächtige Einfluss, den alles, was lebt, unmittelbar dadurch ver-
breitet, dass es ist, uns gleich einem unsichtbaren Hauch ent-
schlüpft. Eben so ist nun auch den zeugenden und empfangenden
Kräften nicht die Sorge der Fortpflanzung allein anvertraut, nicht
bloss die Erzeugung, die vor unsren Augen geschieht. Auch die
Erhaltung, und da die Erhaltung des Endlichen nur unaufhörlicher
Tod ist, an den immer wiederkehrendes Leben sich anknüpft, auch
die uns verborgene Wiedererzeugung ist ihr Werk. Vermöchte
daher auch die Natur jenen Zweck der Fortpflanzung auf einem
andren Wege zu erreichen, so könnte sie doch nie die Wechsel-
wirkung entbehren, in der die Kräfte der Geschlechter einander
gegenseitig ergänzen.
Die Natur, welche mit endlichen Mitteln unendliche Zwecke
verfolgt, gründet ihr Gebäude auf den Widerstreit der Kräfte.
Alles Beschränkte zielt auf Zerstörung, und der himmlische Friede
wohnt allein in dem Wirkungskreis dessen, was sich selbst genügt.
Der zerstörenden Thätigkeit des einen muss daher das andre ent-
gegenstreben, und indem beide gegenseitig einander ihren End-
zweck vereiteln, erfüllen sie den schrankenlosen Plan der Natur.
und dessen Einfluss auf die organische Xatur. 32^
Allein auch sie gewinnt diesen Sieg nur, wenn man sie in ihrem
ganzen Umfang und durch die Dauer aller ihrer Epochen be-
trachtet; oder vielmehr derselbe liegt allein in dem Inhalte ihrer
Gesetze. In jeder einzelnen Periode dauert der Kampf noch fort,
und das Vollendete entbehrend, muss sie sich das Höchstmögliche
zu besitzen begnügen. Da sie die Schranken nicht entfernen kann,
muss eine Kraft die Lücken der andren ausfüllen; und da jede
Thätigkeit sich endlich selbst aufreibt, Unthätigkeit aber verbannt
ist, so muss die Ruhe in dem Wechsel der Wirksamkeit bestehen.
Denn die höchste Kraft erfordert die Vereinigung widersprechender
Bedingungen. Mit rastloser Anstrengung soll beharrliches Aus-
dauern verbunden seyn. Aber die Anstrengung ist ein Feuer, das
sich selbst verzehrt; um nicht an Intension zu verlieren, muss sie
sich aller hindernden Masse entledigen, und den Stoff, den sie
besitzt, energisch zusammendrängen. Denn giebt es gleich auch
Kräfte, welche gerade durch Masse mächtig sind, wovon vorzüg-
lich die unbelebte Natur auffallende Beispiele zeigt, so wirkt doch
da eigentlich nur die vereinte Stärke vieler einzelnen, zufällig in
Gemeinschaft stehenden Theile. Indem nun die Anstrengung die
Empfänglichkeit ausschliesst, nimmt sie sich selbst den Genuss
erquickender Ruhe. Dagegen erfordert die Stärke des Wider-
standes, welche zur ausdauernden Beharrlichkeit nothwendig ist,
mehr Fähigkeit, die fremde Einwirkung aufzunehmen, als sie
zurückzuweisen, mehr Stimmung zu leiden, und daher einen
reicheren Stofi. Ist aber dieser, in sich zurückgezogen, so sehr
zur Beschäftigung mit fremder Energie aufgelegt, so verbietet er
sich dadurch selbst die Möglichkeit eigner selbstthätiger Anstrengung.
So verschliesst die Dichtungskraft, wenn sie in glühendem Feuer
Bilder auf Bilder schaft, die Sinne den äusseren Eindrücken ; und
so verwehren diese, wenn sie mit lebendiger Wärme die Wirk-
lichkeit umfassen, jener den kühnen Auffiug ins Land der Er-
findung.
Die männliche Kraft, zu beleben bestimmt, sammelt sich von
selbst, und durch eigne Bewegung. Allen Stoff, den sie besitzt,
drängt sie zu ungetheilter Einheit zusammen. Je reicher und
mannigfaltiger derselbe ist, desto ermattender ist die Anstrengung,
aber auch desto grösser die Wirkung. Der Stoff darf nicht schon
durch seine eigne Xatur zur Verbindung gestimmt seyn. Von ihr,
als einem herrschenden Princip, muss er die Leitung erhalten.
So in sich versammelt, wirkt sie aus sich heraus. \"on heftigem
224 9" ^^^^ ^^^ Geschlechtsunterschied
Drange thätig zu seyn beseelt, wünscht sie einen Gegenstand zu
finden, den sie durchdringe ; aber ganz nur Selbstthätigl<:eit, ist sie
in diesem Augenblick aller Empfänglichkeit verschlossen. Einer
solchen Anstrengung folgt jedoch bald Ermattung nach, und sie
gleicht einem Hauche, der mächtig belebt, aber bald verschwindet.
Mit dem Gefühl der sinkenden Stärke erwacht in ihr die Sehn-
sucht der Empfänglichkeit, und gern ruht sie da aus, wo sie vor-
her bloss schöpferisch war. So ist sie, was sie ist, durch sich
selbst, und ihre eigenthümliche Form. Der Mann, dessen Brust
ein thatenkühner Muth begeistert, fühlt sich in sich verengt. Viel
Erfahrungen hat er mit beobachtendem Geiste auf der Bahn des
Lebens gesammelt, hohe Ideale aus seinem Innren hervorgeschaffen;
mannigfaltige Gefühle bewegen ihn, bald die Würde der neuen
Schöpfung, nach der er sich sehnt, bald theilnehmendes Mitgefühl
mit den Wesen, die er zu veredlen strebt. Für alle diese er-
habenen Bilder hat sein Busen nicht Raum genug, und heisser
Durst nach Thätigkeit treibt ihn. Er sucht eine Welt, die seiner
Sehnsucht entspreche. Uneigennützig und fern von jedem Ge-
danken an eignen Genuss, befruchtet er sie mit der Fülle seiner
Kraft. Die neue Schöpfung steht da, und freudig ruht er aus im
Anblicke seiner Kinder.
Die weibliche Kraft, zur Rückwirkung bestimmt, sammelt sich
auf einen fremden Gegenstand und durch fremden Reiz. Da der
Stoff, den sie in reicher Fülle besitzt, sich durch seine eigenthüm-
liche Natur vereint ; so wirkt er mehr durch ein leidendes, als ein
selbstthätiges Vermögen. Mit dem Grade seiner Mannigfaltigkeit
wächst gleichfalls die Schönheit der Wirkung, nicht aber zugleich
auch die Anstrengung. Vielmehr wird diese durch vielfachere Be-
rührungspunkte erleichtert, und ihr Grad nur durch die Innigkeit
des Umschliessens bestimmt, die von der gegenseitigen Harmonie
abhängt. Der Stoff der weiblichen Kraft bedarf weniger der
Herrschaft eines vereinenden Princips, sondern verbindet sich mehr
durch seine eigene Gleichartigkeit. In dieser Einheit erwiedert sie
die Einwirkung mit immer steigendem Feuer, bis endlich ihre
ganze Thätigkeit angespannt ist. Aber da ihre eigenthümliche
Natur sie fähiger macht, Widerstand zu leiden, und sie von der
glühenden Heftigkeit frei ist, welche die männliche verzehrt, so
vergütet sie die Langsamkeit ihrer Wirkung durch längeres Aus-
dauern. So dankt sie der Beschaffenheit ihres Stoffs selbst einen
Theil ihrer Wirksamkeit, die durch ihn vorbereitet und unterstützt
und dessen Einfluss auf die organische Natur.
325
wird. Ein Herz, das sich, von mannigfaltigen Empfindungen be-
wegt und von einer edeln Strebsamkeit beseelt, reich in sich selbst
fühlt, aber den kühnen Muth vermisst, sich eine eigne Richtung
zu geben, wird von unruhiger Sehnsucht gefoltert. Sich selbst
unverständlich, und arm im Schoosse des Ueberflusses, wünscht
es ein Wesen zu finden, das die verschlungenen Knoten seiner
Gefühle freundlich löse. Je tiefer die Quelle dieser vens^orrenen
Stimmung verborgen liegt, desto schwerer begegnet es der Ge-
währung seines Wunsches, aber desto inniger schliesst es sich an
die gefundene Erscheinung an. Je länger es an ihr verweilt, desto
mehr Berührungspunkte entdeckt es, und verlässt sie nicht eher,
bis der Keim zur vollendeten Frucht gereift ist.
Nicht also ihrem Grade, sondern allein ihrer Gattung nach,
sind die zeugenden und empfangenden Kräfte von einander ver-
schieden. Blosses Aufnehmen ist kein Empfangen, sondern steht
eben so unter diesem, als das Geben unter dem Zeugen. Beide,
Zeugen und Empfangen, sind höhere und kraft^'ollere Energien,
beide ein Hervorbringen durch Geben und Aufnehmen. Eigne
fruchtbare Fülle muss bei Jenem das Entäusserte begleiten, bei
diesem das Aufgenommene umfassen. Der wahre Charakter-
unterschied beider Kräfte besteht darin, dass den empfangenden
mehr Stoff, mehr Körper, den zeugenden mehr Seele eigen ist,
wenn nemlich Seele jedes selbstthätige Princip bezeichnet. Gerade
aber durch diese Verschiedenheit thun sie der Forderung der
Natur ein Genüge. Sollte der Zerstörung drohenden Heftigkeit
der männlichen Kraft eine andre entgegengestellt werden, so
durfte es keine gleichartige seyn. Gegenseitige Ermattung hätte
dann den Kampf beschlossen, in dem, wie überall in der Natur,
der Unterliegende selbst neues Leben aus den Händen des Ueber-
winders erhalten sollte. Der überströmenden Fülle musste daher
ein Bedürfniss gegenüberstehn; aber da die Natur in ihrem Gebiet
eben so wenig Armuth als Selbstgenügsamkeit verstattet, so ist
das Bedürfniss wieder mit Reichthum verknüpft. Indem nun
alles Männliche angestrengte Energie, alles Weibliche be-
harrliches Ausdauern besitzt, bildet die unaufhörliche
Wechselwirkung von beiden die unbeschränkte Kraft der
Natur, deren Anstrengung nie ermattet, und deren Ruhe nie in
Unthätigkeit ausartet.
Zu jeder Zeugung wird also zweierlei erfordert, lebendige
Energie der Kraft, die auf Einen Punkt sich zusammenzieht, und
"25 9- Über den Geschlechtsunterschied
lebendige Fülle des Stoffs, der ihre Einströmung in allen seinen
Punkten empfängt. Jene wird daher, ihrer Natur nach, auf
Trennung gerichtet seyn, weil alles, was nicht sie selbst ist, sie
in ihrer reinen Wirksamkeit hindert: diese wird auf Einheit ge-
richtet seyn, um von allen Seiten aus die einwirkende Kraft zu
umschliessen. Wenn das Genie (da diese Erscheinungen durch
die ganze Kette der hervorbringenden Wesen dieselben sind),
vermöge der reinen Selbstthätigkeit der Vernunft, die belebende
Flamme ausströmt, der, gleich einem Funken, das göttliche Werk
entsprüht, so muss die Phantasie sie in ihren Schooss aufnehmen,
und wohlthätig umschliessen. Die zeugende Kraft vermöchte
sich nicht energisch zu sammeln, wenn sie nicht alles zurück-
wiese, was diese Anstrengung stören könnte ; und der empfangenden
wäre es unmöglich, sich von allen Seiten her nach Einem Punkt
hin zu neigen, wenn sie nicht die höchste Uebereinstimmung in
sich bewahrte. Die Heftigkeit, mit der die erstere fortstrebt,
richtet sie auf einzelne Gesichtspunkte, und ihre unaufgehaltene
Wirkung müsste überall Trennung und Zerstörung seyn. Da-
gegen macht der letzteren die harmonische Sanftmuth, mit der
sie entgegenkommt, eine mehr umfassende Einheit zum Gesetz,
und ihre Frucht ist Erhaltung. Was zu beleben bestimmt ist,
muss reizend erwecken. Aller Reiz aber richtet die Aufmerksam-
keit auf einen einzelnen Zustand, und das Gefühl durchgängiger
Gleichgültigkeit würde Schlummer oder Tod seyn. Das Belebende
darf daher nicht, mit allzugrosser Schonung, jede Erschütterung
vermeiden. Dagegen muss der Stoff, welcher der Belebung ent-
gegengeführt wird, gleichmässig und ganz von ihr durchdrungen
werden. Was endlich mehr Form besitzt, zielt zwar auf Ver-
bindung, aber, wie die Form überhaupt, nur durch Trennung;
so wie, was dem Stoffe näher liegt, wie dieser selbst, zwar in
sich ein Mannigfaltiges, aber noch wenig geschieden ist.
U eberall, wo der männliche und weibliche Charakter sichtbar
ist, wird man in ihm diese Seiten gewahr; in dem ersteren ein
Streben, mit trennender Heftigkeit erzeugend, in dem letzteren
ein Bemühen, durch Verbindung erhaltend zu seyn. Alle Eigen-
schaften, in welche gekleidet beide Geschlechter durch die ganze
Natur, aber vorzüglich im Menschen, erscheinen, bringen den-
selben verschiedenen Eindruck hervor. Die reifende Anmuth und
die liebliche Fülle der Weiblichkeit bewegt die Sinne; die nicht
sowohl anschauliche, als bildliche Vorstellungsart und der sinnliche
und dessen Einfluss auf die organische Natur. 027
Zusammenhang aller Begritfe geben der Phantasie ein reiches und
lebendiges Bild; und die Einheit des Charakters, der, jedem Ein-
druck offen, jeden mit entsprechender Innigkeit ervviedert, rührt
die Empfindung. So wirkt alles Weibliche vorzüglich auf die-
jenigen Kräfte, welche den ganzen Menschen in seiner ursprüng-
lichen Einfachheit zeigen. Was dem Mann und seinem Geschlechte
angehört, lässt dagegen diese minder befriedigt, beschäftigt aber
mehr das Vermögen der Begriffe. Die Gestalt hat mehr Bestimmt-
heit, als anmuthige Schönheit; die Begriffe sind deutlicher und
sorgfältiger geschieden, stehn aber auch in weniger leichter Ver-
bindung; der Charakter ist stark und hat feste Richtungen, er-
scheint aber nicht selten auch einseitig und hart. Alles Männliche,
kann man daher sagen, ist mehr aufklärend, alles Weibliche mehr
rührend. Das eine gewährt mehr Licht, das andere mehr Wärme.
Da in der endlichen Natur das Leben immer dem Tode zur Seite
steht, und das Bessre nur an die Stelle des minder Guten tritt;
so muss dem neuen Daseyn das schon vorhandene weichen. Die
Kraft nun, die, von eignem Entschluss getrieben, ausser sich thätig
ist, muss mit einer Willkühr handeln, die, wenn sie Hindernisse
zerstörend hinwegräumt, nicht anders als gewaltthätig erscheinen
kann. Daher ist kein Muth zu grösseren Unternehmungen ohne
eine gewisse Härte denkbar. Da aber die neue Schöpfung nicht
gedeiht, wenn sie nicht mit weiblicher Schonung gepflegt wird,
so wandelt in einem wahrhaft zum handlenden Leben gebohrnen
Genie sanfte Milde die Härte in ernste Festigkeit um.
Denn nur die \^erbindung der Eigenthümlichkeiten beider
Geschlechter bringt das Vollendete hervor, und wenn das Studium
des männlichen den Verstand anhaltender beschäftigt, und die
Betrachtung des weiblichen die Empfindung lebhafter bewegt, so
befriedigt nur die Verknüpfung beider, oder vielmehr das reine
Wesen, abgesondert von allem Geschlechtsunterschied, die Ver-
nunft, als das Vermögen der Ideen. Die höchste Einheit erfordert
allemal zwei entgegengesetzte Richtungen. Da die Einheit über-
haupt nur dann Werth hat, wenn sie aus der Fülle, nie aber,
wenn sie aus der Armuth entspringt ; so darf die Stärke und Aus-
bildung der einzelnen Theile nicht minder gross seyn, als die
Innigkeit des Zusammenhangs aller. Allein um das Einzelne zu
üben, wird Trennung erfordert, und eben diese Trennung
schränkt die Möglichkeit der Verbindung ein. Da nun das
eine Geschlecht jene, das andre diese mehr begünstigt, so befördern
228 9- Über den Geschlechtsunterschied
beide, indem sie einander entgegenwirken, gemeinschaftlich die
wunderbare Einheit der Natur, welche zugleich das Ganze aufs
innigste verknüpft, und das Einzelne aufs vollkommenste ausge-
bildet zeigt.
Denn die ursprünglich anfangende Thätigkeit ist den zeugenden
Kräften, so wie die erwiedernde den empfangenden eigen, und
die Zeugung, als das gemeinschaftliche Werk beider, ist auf diese
Weise zwischen ihnen vertheilt. Alle Hervorbringung setzt einen
Stoff voraus ; denn nur an das schon Vorhandene knüpft die Natur
das Neue an. Dieser Stoff bildet sich aus, und zwar durch einen
Trieb, welcher mit eigenthümlicher Kraft, und nach einer Regel
(die, wie vorhin bemerkt worden, die Erzeugung des Gleichartigen
scheint) thätig ist. Zu diesem Triebe aber, als zu einer ihm
vorher fremden Energie, muss er erweckt werden, und diese Er-
weckung ist der Anfang des Lebens, als der Verbindung des
Bildungstriebes (im allgemeinsten Verstände) mit der rohen Materie.
Das erste Geschäft dieses Bildungstriebes ist die Ausbildung selbst,
und, ist diese vollendet, die Ersetzung dessen, was der organische
Körper zufällig verliert. Allein auch ausserdem ist er ununter-
brochen fort thätig, um die einmal vollendete Bildung zu erhalten.
Denn da die Gesetze der Materie, hier vorzüglich die chemischen
Verwandtschaften, den Gesetzen des Lebens, d. i. der Organisation,
immerfort entgegenarbeiten, und das Leben, wie die Resultate
neuerer Untersuchungen zeigen, nichts anders ist, als der Sieg der
letzteren über die ersteren ; so ist ein unaufhörlicher Kampf nöthig,
diese Oberherrschaft zu behaupten. Das Princip, das hier thätig
ist, pflegt man die Lebenskraft zu nennen, und von ihr macht der
Bildungstrieb (im engern Verstände) nur eine besondre Modi-
fication aus. Die Hervorbringung erfordert daher zwei unent-
behrliche Elemente, rohen Stoff, und Belebung desselben zur
Ausbildung.
Sollen diese beide unter die zeugenden und empfangenden
Kräfte vertheilt werden, so scheint es natürlich den Stoff den
letzteren, die Belebung den ersteren zuzuschreiben. Wenigstens
zeigte sich, nach dem bisherigen Raisonnement, bei den zeugenden
Kräften die Energie, bei den empfangenden das ursprünglich Vor-
handne, worauf die Energie wirkt, in höherem Grade. So schien
in Absicht der hervorbringenden Kraft den erstem mehr selbst-
thätiges Feuer, den letztern mehr entgegenwirkende Stärke; in
Absicht der Einheit der Wirkung den ersteren ein stärkeres ver-
und dessen Einfluss auf die organische Natur. ^20
einendes Princip, den letzteren mehr freiwillige Uebereinstimmung
des Einzelnen eigen zu se3'n. Auch in der Betrachtung der Natur
entdeckt schon ein flüchtiger Blick überall in dem männlichen
Geschlecht mehr Ausdruck von Ivraft, in dem weiblichen, zwar
nicht an sich, aber in Vergleichung mit der, aus demselben her-
vorleuchtenden Ivraft, mehr Ausdruck von Fülle.
Jeder reinen Theilung widerspricht indess schon die Analogie
der Naturgesetze. Denn soweit unsre Beobachtung reicht, sehen
wir, dass die Natur, immer bemüht , den höchsten Reichthum
durch die einfachsten Mittel herv^orzuschaften, Wesen von ungleich-
artiger Wirksamkeit nicht sowohl durch den Grad, als die Richtung
ihrer Kräfte von einander unterscheidet. Eben so ist nun auch
in den empfangenden nicht weniger Kraft, als in den zeugenden
Stoff in dem Augenblick der Hervorbringung wirksam; und die
Verschiedenheit liegt allein in der Art, wie beide gegenseitig ge-
stimmt sind. In dem männlichen Geschlechte ist alles allein auf
die Einwirkung gerichtet. Da der Stoff bloss bestimmt ist, sie
dadurch zu verstärken, dass er ihr gleichsam einen Körper leiht,
so sucht sie ihn sich, fast bis zur Vertilgung seiner eigenthüm-
lichen Natur, zu assimiliren. In dem weiblichen geht dagegen die
ganze Stimmung auf die Rückwirkung. Indem die Ivraft diese in
dem Stoff zu erhöhen strebt, behandelt sie ihn mit grösserer
Schonung. Eigentlich geschieht daher die Belebung durch beide
Geschlechter zugleich, nur dass die männliche Kraft doch allein
die Erweckung bewirkt, indess die weibliche nur ihre Möglichkeit
vorbereitet, und ihre Fortdauer sichert. Nie vermöchte auch die
belebende Kraft auf den Stoff zu wirken, wenn nicht zugleich
eigne Thätigkeit desjenigen Wesens hinzukäme, welchem derselbe
angehört. Selbst die stärkste Einwirkung kann nur durch Rück-
'vs'irkung in das eigne Wesen aufgenommen werden, und aus dem
ganzen Umfange ihres Gebiets hat die organische Natur bloss un-
thätiges Leiden verbannt. Dadurch, dass sie jedem Geschlecht
beide zur Erzeugung nothwendige Kräfte verliehen, hat sie es
möglich gemacht, dass Mangel der Kraft auf der einen Seite durch
ein Uebergewicht auf der andern gleichsam übertragen werden
kann. Wo es der männlichen Kraft an Stärke gebricht, da kann
die Lebendigkeit der weiblichen noch die Möglichkeit der Frucht-
barkeit retten, wie diess die Erfahrung in der That nicht selten
beweisst, und umgekehrt kann, wo die weibliche einen zur
Empfänglichkeit wenig vorbereiteten Stoff darbietet, die männliche
ooQ 9- Über den Geschlechtsunterschied
diesen Fehler wiederum gut machen. Mag man sich diess nun
durch einen wirlclichen Austausch der Functionen, oder, was wahr-
scheinlicher ist, durch eine Erweckung und Unterstützung der
Schwäche des einen Theils vermöge einer ausserordentlichen Stärke
des andren erklären, die, indem sie ihrer Verrichtung in einem
eminenten Grade genügt, die gegenseitige erleichtert; so bestätigen
Fälle dieser Art, ebenso w^ie die, wo augenblickliche Stimmungen
der Mutter auf die Beschaifenheit der Frucht wirksam schienen,
das hier Gesagte auch auf dem Weg der Erfahrung. Wenn indess
Zeugung und Empfängniss beide einen Stoff und eine Kraft er-
fordern; so ist bei der ersteren der Stoff nur nothwendig, weil
die Kraft nicht ohne Stoff zu wirken vermöchte, und bei der
letzteren die Kraft nur erforderlich, weil ohne sie die Einwirkung
auf den Stoff nicht geschehen kann. Redet man daher bloss von
der Hauptrichtung beider Geschlechter; so gehört dennoch die
Kraft bei der Hervorbringung bloss dem zeugenden, der Stoff
bloss dem empfangenden an.
Den geweihten Schleier zu durchdringen, in den die Natur
gerade ihr heiligstes Bilden verhüllt, ist von einer Schwierigkeit
begleitet, welche sich schon durch die mannigfaltigen und gänz-
lich verschiedenen Theorien über diesen Gegenstand verräth. Die
wahrscheinlichste unter denselben stimmt jedoch genau mit dem
eben Gesagten überein. Ueberall, wo die Natur Zeugung und
Empfängniss zwei verschiedenen Wesen anvertraut hat, ist der
Stoff in dem empfangenden, das belebende Princip in dem
zeugenden. Damit aber beide miteinander in Verbindung gesetzt
werden können, muss noch eine Thätigkeit auch des ersteren
hinzukommen, durch welche ein Theil des Stoffs sich losreisst,
und Keim zur ferneren Ausbildung wird. Gerade in ihrer ge-
heimsten Werkstätte wirkt daher die Natur am meisten schöpferisch
und am wenigsten mechanisch. Gerade hier lässt sich am wenigsten
die Wirkung aus den Ursachen berechnen; vielmehr zündet nur
ein Funke den andern an. Diess haben am meisten diejenigen
gefühlt, welche diess Phänomen durch jene Wirkungsart zu er-
klären unternahmen, da doch dem menschlichen Verstand hier
nichts übrig blieb, als die hervorbringenden Ursachen aufzusuchen,
den Erfolg zu beobachten, und nicht zu erklären, sondern
schweigend zu bewundern, ein Gipfel der bescheidenen Achtung
gegen die grosse Werkmeisterin, zu welchem nur die neuere
philosophische Naturkunde führen konnte. Wunderbar ist es zu
und dessen Einfluss auf die organische Natur.
?3i
sehen, wie die Natur, indem sie sich jener körperlichen Kräfte
nur in soweit bedient, als es ihr gleichsam unentbehrlich schien,
die Freiheit, diess grosse Vorrecht der Geisterwelt, auch in das
andre Gebiet ihres Reichs hinüberzuführen strebt. Nur eine
Partikel des Stoffs nimmt sie auf, nur zur ersten Belebung ent-
lehnt sie eine fremde Kraft. Wie der erste Funke glimmt, lodert
er durch sich selbst auf, empfängt Nahrung, aber die er nach
eignen Gesetzen gebraucht.
Achtung für alles wirkliche Daseyn, und Streben, demselben
eine bestimmte Gestalt nach eigner Willkühr zu geben, bezeichnen
überall den weiblichen und männlichen Charakter, und so erfüllen
sie beide dadurch gemeinschaftlich den grossen Endzweck der
Natur, die unaufhörliche Wechselwirkung der Form und des
Stoffes. Unmittelbar gegenübergestellt, müssten Form und Stoff
einander feindlich begegnen. Da aber, bei der, den beiden Ge-
schlechtern eigenthümlichen Wirkungsart, die Strenge der Form
durch den Stoff", den dieselbe annehmen muss, gemildert, und der
Stoff durch eine formende Kraft zur Empfänglichkeit vorbereitet
wird; so ist nun die innige Vereinigung möglich, auf welcher
allein das Geheimniss der Organisation beruht. Die Nothwendig-
keit, mit welcher alle wechselseitig aufeinander wirkende Kräfte
eine der andren bedürfen, macht auch die zeugenden und
empfangenden abhängig von einander. Indess ist den ersteren
doch nicht alle Beschäftigung ihrer Wirksamkeit für sich allein,
so wie den letzteren, verw^ehrt, und diess begründet eine grössere
Unabhängigkeit von ihrer Seite. Eben darum aber sind die ent-
gegengesetzten das höchste Beförderungsmittel aller Verbindung,
und da nun gerade die Kunst der Verbindung das höchste Da-
seyn in der Natur bewahrt, so sind dieselben durch ihre innre
Beschaffenheit mehr und dringender, diess zu befördern, veranlasst.
Sie sind es, die man als das eigentlich verknüpfende Band in dem
Ganzen der Natur ansehen kann; die am emsigsten Gegenstände
aufsuchen, welche ihre Energie zu beleben vermögen, und bei den
gefundenen am längsten verweilen.
Durch diess Verweilen führt die Fähigkeit zu empfangen zu
dauernder Beharrlichkeit. Mehr in sich zurückzukehren, als in
weite Fernen zu schweifen durch ihre Natur selbst veranlasst,
sind alle empfangende Wesen an einen stäteren, minder wechseln-
den Gang gefesselt. Um der Kraft, die ihnen entgegenkommt,
ausdauernde Stärke entgegenzusetzen, das Getrennte zu ver-
'702 9- Über den Geschlechtsunterschied
binden, und die Einwirkung zu erwiedern, bedürfen sie eines
harmonischen und gleichgestimmten Strebens. Da mit dem
Empfangen auch zugleich die Ausbildung des Keims verbunden
ist, so erfordert diese häufig eine verwickeitere Organisation; und
wenigstens muss die Natur, um diesen Zweck nicht zu verfehlen,
Wesen, die hiezu bestimmt sind, mit doppelter Wachsamkeit an
ihre Gesetze binden. Beharrlichkeit aber ist die Unveränderlich-
keit des Endlichen, und so scheint die Natur auch diesen letzten
Vorzug, welcher erst allen übrigen, die ohne ihn nur ein erbetenes
und vergängliches Daseyn besitzen würden, den wahren innren
Werth und den schönsten äussern Glanz giebt, den empfangenden
Kräften vorzugsweise von selbst und aus freier Gunst zu ertheilen.
Aber die Beharrlichkeit hat nur dann einen Werth, wenn sie
das Gesetz der Thätigkeit ist, nicht wenn sie zur Unthätigkeit
herabsinkt. Besitzt nun das weibliche Geschlecht ein Princip der
Beharrlichkeit, so ist ihm nicht auch zugleich ein andres der
Thätigkeit eigen, sondern es muss diess von der wechselseitigen
Einwirkung des männlichen erwarten. Die Kraft, die mit so
grosser Heftigkeit wirkt, dass sie selbst die Zerstörung nicht
scheut, und fremden Stoff nach eigner Willkühr zu formen unter-
nimmt, ist unermüdet, aber auch leicht dem Wechsel unterworfen.
Da sie nicht Raum genug in sich fühlt, das schwellende Streben
zu fassen, so ist ihr Ruhe unerträglich; und da sie nicht sowohl
der Beschaffenheit des Stoffs nachgiebt, als von eignem Feuer be-
seelt wird, so lässt sich die Stätigkeit ihrer Wirksamkeit nicht
verbürgen. In demjenigen Theil der Natur, in welchem überhaupt
wenig oder gar keine Willkühr herrscht, wird diess wenig sicht-
bar seyn; vielleicht aber ist es auch nur, wie so vieles in diesem
Gebiet, wenig beobachtet, und wenigstens bestätigt in dem übrigen
die Erfahrung diese, hier bloss aus Begriffen gefolgerte Behaup-
tung. Soll der Mensch zu dem Ideale gelangen, das die Vernunft
ihm vorschreibt; so muss der Mann seine natürliche Thätigkeit
an ein festes Gesetz binden, das Weib die Gesetzmässigkeit, welche
es seinem Wesen eingeprägt fühlt, durch innre Antriebe mit
Thätigkeit beleben. Unterliegt aber das Bemühen der Vernunft
hier dem Hang der Natur, so hebt der doppelte Fehler beider
Geschlechter sich selbst wieder auf. Mit verschiedenen Eigen-
schaften versehen und doch unzertrennlich von einander, be-
schränken sie sich selbst bis auf die Gränze, welche dem End-
zweck des Ganzen entspricht.
und dessen Einfluss auf die organische Natur. ooo
Die Natur, in ihrem ganzen Umfang betrachtet, ist unver-
änderlich. Die Thätigkeit ihrer Kräfte rastet ^) nie, und ihre Ge-
setze verschatfen sich immer gleichen Gehorsam. So unterbricht
nichts je weder den Grad, noch die Form ihrer Wirksamkeit.
Diese Thätigkeit aber unveränderlich zu erhalten findet sie
in der gegenseitigen Eigenthümlichkeit beider Geschlechter eine
mächtige Stütze. Indess sie aus dem einen Rastlosigkeit
schöpft, verbürgt ihr das andre die Stätigkeit.
So sind nun zwischen beiden Geschlechtern die Anlagen ver-
theilt, welche es ihnen möglich machen, diess unermessliche Ganze
zu bilden. Nur dadurch gelang es der Natur, widersprechende
Eigenschaften zu verbinden, und das Endliche dem Unendlichen
zu nähern. Denn überall droht angestrengte Thätigkeit dem
ruhigen Daseyn, so wie erhaltende Ruhe der regen Energie den
Untergang. Darum beseelte die Natur ihre Söhne mit Kraft, Feuer
und Lebhaftigkeit, und hauchte ihren Töchtern Haltung, Wärme
und Innigkeit ein. Indess nun die einen ihr Gebiet zu erweitern
streben, bereichern es die andern mit sorgsamer Hand innerhalb
seiner Gränzen. Denn der ganze Charakter des männlichen Ge-
schlechts ist auf Energie gerichtet; dahin zielt seine Kraft, seine
zerstörende Heftigkeit, sein Streben nach Aussenwirkung, seine
Rastlosigkeit. Dagegen geht die Stimmung des weiblichen, seine
ausdauernde Stärke, seine Neigung zur Verbindung, sein Hang die
Einwirkung zu erwiedern und seine holde Stätigkeit allein auf
Erhaltung und Daseyn. Mit gemeinschaftlicher Sorgfalt ver-
richten sie daher die beiden grossen Operationen der Natur, die,
ewig wiederkehrend, doch so oft in veränderter Gestalt erscheinen,
Erzeugung und Ausbildung des Erzeugten. Vergleicht man indess
ihre eigenthümliche Beschaffenheit noch näher mit einander; so
hat die Natur die empfangenden Kräfte noch unter genauere Ob-
hut genommen. Sie theilen mit ihr ihre entschiedensten Vorzüge,
und, gleich den Töchtern im Hause, schliessen sie sich näher an
die sorgsame Mutter an.
Daseyn, von Energie beseelt, ist Leben, und das höchste
Leben das letzte Ziel, in dem sich das Streben aller verschiedenen
Kräfte der Natur vereint. Die Verschiedenheit beider Geschlechter
befördert die Erreichung dieses Ziels, oder vielmehr ihre eigen-
thümliche Beschaffenheit führt sie zu demselben hin, ohne dass
V Der erste Druck hat „rostet".
'3,'IA 9' Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur.
sie selbst sich dessen bewusst sind. Denn keine Kraft der Natur
dient als Mittel einem Zweck, oder strebt einer fremden Absicht
entgegen. Indem alle harmonisch wirksam sind, folgt jede nur
ihrem eignen Triebe, und das letzte Resultat der Thätigkeit aller
geht mit einer Nothwendigkeit hervor, die, da sie alle Absicht
ausschliesst, auf den ersten Anblick zufällig scheinen kann. In
gleicher Freiheit wirken nun auch die Kräfte beider Geschlechter,
und so kann man dieselben als zwei wohlthätige Gestalten ansehen,
aus deren Händen die Natur ihre letzte Vollendung empfängt.
Dieser erhabenen Bestimmung genügen sie aber nur dann, wenn
sich ihre Wirksamkeit gegenseitig umschlingt, und die Neigung,
welche das eine dem andren sehnsuchtsvoll nähert, ist die Liebe.
So gehorcht daher die Natur derselben Gottheit, deren Sorgfalt
schon der ahndende Weisheitssinn der Griechen die Anordnung
des Chaos übertrug.
I
10.
Ueber die männliche und weibliche Form.
Die Einheit der Gattung abgerechnet, welche sich in der
männlichen und weiblichen Bildung gemeinschaftlich ausdrückt,
stehen selbst die Geschlechtsverschiedenheiten beider in einer so
vollkommenen Uebereinstimmung mit einander, dass sie dadurch
zu einem Ganzen zusammenschmelzen. Alan abstrahire nun ent-
weder von dem Geschlechtscharakter oder man vereinige denselben,
so erhält man in beiden Fällen ein Bild des Menschen in seiner
allgemeinen Natur. Die Züge beider Gestalten beziehen sich da-
her wechselweis auf einander; der Ausdruck der Kraft in der
einen wird durch den Ausdruck von Schwäche in der andern ge-
mildert, und die weibliche Zartheit richtet sich an der männlichen
Festigkeit auf. So wendet sich das Auge von jeder einzelnen un-
befriedigt zur andern, und jede wird nur durch die andere ergänzt.
Und eben so wie das Ideal der menschlichen Vollkommenheit, so
ist auch das Ideal der menschlichen Schönheit unter beiden auf
solche Art vertheilt, dass wir von den zwei verschiedenen Prin-
cipien, deren Vereinigung die Schönheit ausmacht, in jedem Ge-
schlecht ein anderes überwiegen sehen. Unverkennbar wird bei
der Schönheit des Mannes mehr der Verstand durch die Ober-
herrschaft der Form {formositas) und durch die kunstmässige Be-
stimmtheit der Züge, bei der Schönheit des Weibes mehr das
Gefühl durch die freie Fülle des Stoffes und durch die liebliche
Anmuth der Züge (venustas) befriedigt; obgleich keine von beiden
auf den Namen der Schönheit Anspruch machen könnte, wenn
Erster Druck: Schillers Hören, Jahrgang ijg^ ^, 80 — /oj. 4> i4 — 40.
336
lo. über die männliche
sie nicht beide Eigenschaften in sich vereinigte. Aber die höchste
und vollendete Schönheit erfordert nicht bloss Vereinigung, sondern
das genaueste Gleichgewicht der Form und des Stoffes,
der Kunstmässigkeit und der Freiheit, der geistigen und sinnlichen
Einheit, und dieses erhält man nur, w^enn man das Charakte-
ristische beider Geschlechter in Gedanken zusammenschmelzt, und
aus dem innigsten Bunde der reinen Männlichkeit und der reinen
Weiblichkeit die Menschlichkeit bildet.
Aber eine solche reine Männlichkeit und Weiblichkeit auch
nur aufzufinden, ist unendlich schwer, und in der Erfahrung
schlechterdings unmöglich. In der Erfahrung kommt immer der
eigenthümliche Charakter des Individuums dazwischen, der den
allgemeinen Geschlechtscharakter in demselben theils durch Ein-
mischung fremder Züge entstellt, theils durch Mittheilung seiner
eigenen zufälligen Schranken ihn hindert, seine höchste Vollendung
zu erreichen. Jenes Fremdartige muss also durch den Verstand
davon abgesondert, diese Schranken des Individuums müssen ent-
fernt werden, wenn der reine Geschlechtscharakter zur Darstellung
kommen soll. Der Verstand aber kann nur dürftige Abstractionen
liefern, und hier ist es uns gerade um ein vollständiges sinnliches
Bild zu thun, weil der wahre Geist der Geschlechtseigenthümlich-
keit nur in dem lebendigen Zusammenwirken aller einzelnen Züge
sich ausdrücken kann.
Aus dieser Verlegenheit nun werden wir durch die productive
Einbildungskraft gerissen, welche aus dem Gebiet der Erfahrung
in ein idealisches übergeht, allen zufälligen Ueberfluss und alle
zufällige Schranken von ihrem Gegenstand absondert, und das
Unendliche der Vernunft in eben so bestimmte Formen einkleidet,
als sonst nur die zufällige und beschränkte Geburt der Zeit, das
wirkliche Individuum, zeigt. Mit diesem wunderbaren Vermögen
vorzugsweise von der Natur ausgestattet, bevölkerte der Grieche
seinen Olymp mit idealischen Gestalten. Wenn er nun reine
Eigenthümlichkeit und Schönheit suchte, wandte er sich zum
Kreise der Götter, und fand da, was er auf der Erde vermisste.
Niemand in den folgenden Jahrhunderten hat diess Volk in der
Kunst übertroffen, den verborgensten Charakter eines Wesens in
seiner noch unentfalteten Knospe zu pflücken, und in dieser Zart-
heit mit einer bestimmten Gestalt zu umgeben. Nur dem
Griechischen Künstler gelang es, das Ideal selbst zu einem Indi-
viduum zu machen, und bei ihm werden wir auch den be-
und weibliche Form. 'i'^1
friedigendsten Aufschluss über den vorliegenden Gegenstand
schöpfen.
In dem Kreise der Göttinnen begegnet uns das Ideal der
Weiblichkeit zuerst in Dionens Tochter. Der Ideine und zarte
Gliederbau, welcher jeden schmeichelnden Liebreiz vereint, der
üppige Wuchs, das schmachtend feuchte Auge, der sehnsuchtsvoll
geöfnete Mund, die holde Sittsamkeit, welche mehr jungfräuliche
Schüchternheit als entfernende Strenge verräth, und die himm-
lische Anmuth, die, gleich einem Hauche, über ihre ganze Gestalt
ausgegossen ist, kündigen ein Geschlecht an, das auf seine Schwäche
selbst seine Macht gründet. Was sich ihrem Kreise naht, athmet
Liebe und Genuss, und ihr Blick selbst ladet freundlich dazu ein.
Es war eine grosse und weitumfassende Idee, welche die Venus
der Griechen darstellte: die alles hen^orbringende, und alles
Lebendige durchströmende Ivraft. Zu dieser Idee konnten sie
kein glücklicheres Sinnbild wählen, als die aufblühende Ideal-
gestalt des Weibes, des schönsten aller hen^orbringenden Wesen,
und keinen glücklichern Moment, als denjenigen, wo das erste,
noch unbestimmte Verlangen den Busen schwellt.
In diesem ersten Jugendalter erscheint die Weiblichkeit reiner,
und lässt sich eben deswegen, weil sie sich der übrigen Natur
noch nicht ganz angeeignet hat, mehr vereinzelt wahrnehmen ; sie
ist weniger Charakter, als Stimmung des Moments und der
Neigung. In der seelenvollsten Mine, in dem lebendigsten Aus-
druck des moralischen und sogar des intellectuellen Charakters
kann zwar die weibliche Eigenthümlichkeit sichtbar seyn ; aber am
treuesten offenbart sie sich in der physischen Gestalt und dem
sinnlichen Ausdruck, und gerade diess, zum Ideale erhoben, strahlt
aus der Göttin der Schönheit hervor. Was unser dunkles Gefühl
von weiblicher Bildung erwartet, finden wir darum in ihr am
leichtesten wieder, und wenn wir den Eindruck prüfen, den ihr
Anblick in uns erregt, so fühlen wir uns von einer üppigen Fülle
des Reizes durchdrungen, die von wundervoller Schönheit des
Baues gehalten, und von feiner Grazie gemässigt wird. Darum
erscheint sie uns menschlicher, und obgleich sie auf keine Weise
die Gottheit verläugnet, so nahen wir ihr dennoch mit vertrauender
Hofnung.
Was aus der Göttin der Liebe laut und unverkennbar spricht,
das ruht in Dianens Gestalt noch schlummernd und unentfaltet.
Mit jedem Reiz ihres Geschlechts geschmückt, verschmäht sie die
W. V. Humboldt, Werke. I. 23
338
lo. über die männliche
süssen Freuden der Liebe, und ergötzt sich nur an männlichen
Beschäftigungen. Mitten unter einer Schaar gleichgesinnter Ge-
spielinnen, verfolgt sie in den Tiefen der Wälder das Wild mit
grausamem Bogen, und bestraft mit Strenge den Frevler, der sich
ihr mit unkeuschen Augen naht. Durch diese jungfräuliche Sitte
ist sie mit Mi nerven verwandt; aber der Charakter beider
Göttinnen ist dennoch wesentlich unterschieden. In Jupiters
furchtbarer Tochter hat der Ernst der Weisheit jede weibliche
Schwäche vertilgt; das zeigt der ruhige, nachdenkend nieder-
geschlagene Blick. Dianens Auge hängt mit lebhafter Begierde
an dem Gegenstand ihres Strebens ; sie hat nur Neigung mit
Neigung vertauscht. Die Weiblichkeit ist ihr nicht fremd, viel-
mehr zeigt sie nirgends männliche Kraft; in fröhlicher Unbe-
fangenheit ist sie sich ihrer nur selbst nicht bewusst. Ueberhaupt
ist sie kein Ideal einer Gattung, vielmehr einer individuellen
Stimmung, oder bestimmter, einer gewissen Stufe des Alters.
Die zarte Sehnsucht, welche ein Geschlecht an das andere knüpft,
braucht zu ihrer Entwicklung den ruhigen Einfluss eines in sich
gekehrten Sinnes. Aber die ersten Aufwallungen des jugendlichen
Gefühls schweifen, wie Dianens Blick, in die Ferne. Daher ist
das früheste jungfräuliche Alter nicht selten von einer gewissen
Gefühllosigkeit, ja sogar, da ein grosser Theil der weiblichen Milde
von der Entwicklung jener Empfindungen abhängt, von einer ge-
wissen Härte begleitet. Nur schlüpfen einige Charaktere so schnell
über diese Periode hinweg, dass sie kaum noch bemerkbar ist,
indess sie sich in andern länger erhält. Dieser Zustand bringt die
eigenthümliche Bildung herv^or, welche Latonens Tochter aus der
Hand des Künstlers empfieng. Der weibliche Reiz strömt nicht
in schmelzender Schönheit von ihr aus , sondern ist noch ver-
schlossen in sich, und sich selbst verborgen. Der Bau der Glieder
hat mehr Festigkeit und schlanke Behendigkeit, und der ganze
Ausdruck sagt, dass die Seele nicht in sich zurücksinkt, sondern
auswärts nach fremden Gegenständen strebt. Dabei aber stellt
sich der Hauptcharakter der göttlichen Weiblichkeit, Anmuth von
Würde getragen, in so hohem Grade dar, dass er nur desto
mächtiger erscheint, je mehr er zurücktritt. Dianens Strenge hat
auch schon die Phantasie der Dichter gemildert. Wenn die nächtliche
Einsamkeit und das Schweigen der tosenden Jagd die Göttin mehr
in sich selbst zurückführen, wird sie von Endymions Reizen gerührt,
indess man die ernste Pallas keiner Schwachheit zu zeihen vermag.
und weibliche Form. Q5Q
Wenn man Cytherens Anmuth mit der Würde der Juno
vergleicht, so sieht man die Weiblichkeit in eine neue und er-
weiterte Sphäre versetzt. In der ersteren ist sie rege und thätig;
bei der letzteren ergiesst sie sich ruhig durch das ganze Wesen,
und erscheint weder allein, noch in einem einzelnen Moment der
Neigung oder des Affects, sondern ist, aufs innigste in die gött-
liche Persönlichkeit verwebt, zum Charakter geworden. Zwar
muss es dem Leser der Dichter schwer werden, diese Züge in der-
jenigen Gottheit zu finden, die mit Rache athmender Eifersucht
ihre Feinde verfolgt, und an den Trümmern des rauchenden
Uiums sich weidet. Aber man muss den allgemeinen Charakter
der Götter von den Fabeln unterscheiden, womit die spielende
Phantasie eines sinnlichen Volks denselben verunstaltet hat. Denn
so wenig Jupiters Lüsternheit dem Vater der Götter wesentlich
ist, so w^enig ist es Junos Eifersucht und Rachgier der Königin
des Himmels. Doch selbst in den Fabeln der Dichter verläugnet
die Göttin weder den Charakter der Erhabenheit noch der Milde,
und nur auf Augenblicke kann ihn die Macht der Affecte ver-
dunkeln. Allein in die höchste weibliche Anmuth und Würde
gekleidet, erscheint sie aus der Hand des bildenden Künstlers, der
seiner Phantasie aus leicht begreiflichen Gründen weniger Will-
kührlichkeit, als der Dichter verstattete. Zwar zieht auch hier
ehrwürdige Hoheit einen heiligen Kreis um die Göttin. Aber ist
es dem stillen Verehrer gelungen, sich ihr mit geweihtem Herzen
zu nahen, so umstralt ihn nun auf einmal ihre holdselige Schön-
heit. Die Ungleichheit, mit welcher der bildende Künstler und
der Dichter dieselbe Gottheit behandelten, beruht offenbar auf der
ungleichen Entwicklung der Begriffe von der moralischen und
physischen Bildung des Geschlechts; denn nothwendig musste
der Künstler, der sich auf den Ausdruck der letztern einschränkte,
es dem Dichter eben so weit zuvorthun, als das Ideal der äussern
Gestalt mehr geläutert und ausgebildet war. Das Bild hingegen,
welches der Dichter von der Göttin entwarf, richtete sich nach
den eingeschränkten Begriffen, die man sich von der moralischen
Bestimmung des Geschlechts bilden mochte; sein Muster war die
züchtige Gattin, die Freundin der Ordnung und Häuslichkeit, aber
zugleich auch die eifrige Beschützerin ihrer Rechte, und diese
idealisirte er in der Königin der Götter.
Haben wir indess unsre Phantasie von diesen Nebenbegriffen
gereinigt, so stellt sich uns in dieser Gottheit das Bild wahrer
QAO ^°- Über die männliche
Weiblichkeit nur auf einer erhabenen Stufe dar. In keinem
einzelnen Zuge dringt sie sich vor, sondern wirft um die ganze
Gestalt einen zarten Schleier, durch welchen die Gottheit frei und
ungehindert durchblickt. Sie zeigt sich daher auch nicht in der
Beschränkung, welche ein bestimmter einzelner Zustand allemal
mit sich führt, sondern umschliesst vielmehr jede noch unent-
wickelte Anlage, und giebt dem Verstände und der Phantasie ein
unbegrenztes Feld zu verfolgen. Denn nicht, wie die Göttin der
Liebe, durch einladende Sehnsucht, noch, wie Latonens Tochter,
durch jugendliche Unbefangenheit verräth Juno das Weib, sondern
durch eine ruhige, über das ganze Wesen verbreitete Fülle. Auch
der Schatten der Begierde verschwindet, und innre Selbstgenüg-
samkeit hebt sie aus dem Kreise irrdischer Beschränktheit hinweg.
Ihre hehre Gestalt, ihr weites rundgewölbtes Auge, und der Aus-
druck der Hoheit in ihrem Munde geben ihr eine Würde, welche
jede Spur der Bedürftigkeit vertilgt. Indem sie aber hierin die
Weiblichkeit gleichsam verläugnet, dankt sie derselben ihre ganze
übrige Schönheit. Weiblich ist die Fülle ihres W^esens, eine weib-
liche, langsam ausströmende Kraft ihre wohlthätige Macht, und
zugleich ist beides mit lieblicher Anmuth und allen Reizen der
Jugend geschmückt. Denn wie sich jede Gottheit des Vorrechts
erfreut, alles Menschliche zu gemessen und zu leiden, ohne über
den Augenblick der Gegenwart hinaus, den Sterblichen gleich,
beschränkende Folgen zu erfahren, so kehrt auch Juno ewig als
jungfräuliche Braut in Zevs Umarmung zurück.
Dennoch erscheint die Weiblichkeit nicht in ihrer ursprüng-
lichen Beschaffenheit in ihr, nicht wie sie, noch unverändert durch
die Persönlichkeit, aus der Hand der Natur kommt, ^^ielmehr
mit der Gottheit vereint, wird sie von dieser emporgetragen.
Kühner erhebt sich daher die Gestalt der Göttin, freier wölbt sich
das Auge, stolzer gebietet der Mund, und frei von den Schranken
des Geschlechts, ist sie allein mit den Vorzügen desselben begabt.
Der Ausdruck der göttlichen und weiblichen Natur verliert sich
sanft in einander, und jeder wird durch den andern gegenseitig
erhöht oder gemässigt. Die üppige Fülle der Weiblichkeit, der
es leicht an Haltung gebricht, wird in einen sich selbst be-
herrschenden Reichthum verwandelt, und die weibliche Kraft, die
von äussrer Nothwendigkeit abhängt, erscheint mehr durch eine
innre gebunden. Wo hingegen die furchtbare Grösse der Gottheit
Schrecken erregen könnte, da verbannt ihn die Sanftmuth des
und weibliche Form.
341
Weibes. Durch sie erscheint der feste Rathschluss , den die
Götterstirn verlvündet, nicht von der Willlvühr der Laune abhängig,
sondern an die hohe Ordnung der Dinge geknüpft, und der feier-
liche Ernst, welcher die Göttin umgiebt, verliert jeden Anschein
der Härte, da er aus weiblicher Zucht und Sittsamkeit hervorgeht.
Hier also tritt die Weiblichkeit in einer neuen Gestalt auf.
Es ist nicht das eigene Ideal derselben, welches wir sehen, nicht
eine Gestalt, welche ihre Vorzüge, wie ihre nothwendigen Schranken,
zu zeigen bestimmt wäre; es ist das Ideal einer geistigen Natur
überhaupt, welche, um einen Körper anzunehmen, sich nothwendig
zu einem Geschlechte bekennen musste, und nun das weibliche
wählte. Denn unabhängig von der Form der Geschlechter, muss
es noch eine andere mittlere geben, die ein reiner Abdruck der
Menschlichkeit, oder, wenn wir uns diese idealisch erhöht denken,
der Göttlichkeit im Sinne der Alten ist, und zu welcher jedes
einzelne Geschlecht emporstreben sollte. Die Schwierigkeit ist
nur, bei diesem U ebertritt in ein fremdes Gebiet, doch gleichsam
das eigne nicht zu verlassen, sondern es vielmehr idealisch zu
enA'eitern. Gerade diese Forderung aber ist hier erfüllt, da die
Göttlichkeit den Charakter der Weiblichkeit als Naturcharakter
vertilgt, und als Willenscharakter dargestellt, ihm eine unendliche
Fläche eingeräumt, und, indem sie seine Schranken entfernte,
seinen Vorzügen selbst einen neuen Glanz mitgetheilt hat. Jeder
Zug der erhabenen Bildung ist weiblich ; unverkennbar aber spricht
zugleich aus jedem die Gottheit; und so gewinnt bei Weibern
und Göttinnen die Menschlichkeit und Göttlichkeit immer in eben
dem Grade, in welchem die Weiblichkeit ihr ganzes Wesen
lebendiger beseelt.
Wenn man sich ruhig den Eindrücken überlässt, welche in
diesen Idealen, wie in der Wirklichkeit selbst, die weibHche
Schönheit in dem Gemüthe hen^orbringt, und sie auf einen be-
stimmten und allgemeinen Begriff zurückzuführen versucht; so
sind es Lieblichkeit und Anmuth, welche den Sinnen von allen
Seiten entgegenkommen. Ein zarter Gliederbau von verhältniss-
mässiger Grösse und mit schön wallenden Linien umschlossen,
in allen Theilen Fülle und Weichheit, eine sanfte und doch leb-
hafte Farbenmischung, eine feine und glatte Haut, lange und an-
muthig fliessende Locken — diese und ähnliche Züge sind es,
welche in der Phantasie des Betrachters zurückbleiben, und sich
in keiner wahrhaft weiblichen Bildung verläugnen, wenn sie gleich
342
lo. Über die männliche
in mannigfaltig verschiedenen Gestalten erscheinen. Das charak-
teristische Merkmal der weiblichen Bildung ist daher die ununter-
brochene Stätigkeit der Umrisse, mit welcher ein Theil aus dem
andern gleichsam auszufliessen scheint. Sie verwandelt die aus
der Gestalt hervorleuchtende Kraft in reizende Fülle, und ver-
bindet alle einzelne Züge in ungezwungener Leichtigkeit zu einem
harmonischen Ganzen.
Dieser materielle Reiz, welcher allein den Sinnen schmeichelt,
muss, um zur Anmuth zu werden, eine Form annehmen, durch
welche er der höheren Forderung des Geistes Genüge leistet.
Ohne sie geht er nicht in das Gebiet der Schönheit über, und
sie ist es allein, die ihn zur Grazie erhebt. Zwar wird die Kunst-
mässigkeit in der Bildung des weiblichen Körpers durch die
grössere Weichheit und den sanfteren Fluss der Umrisse versteckt;
aber sie darf nicht verschwinden, und in einem wahrhaft schönen
weiblichen Bau muss die technische Vollkommenheit ebenso durch-
schimmern, als sie in einigen übriggebliebenen Kunstwerken des
Alterthums dem Auge in der That sichtbar ist, wenigstens wenn
dasselbe die Leitung des Gefühlsinns zu Hülfe ruft. Wie aus
der sinnlichen Harmonie des Baues die reine Kunstmässigkeit
herv^orblicken muss, so wird, wenn die Gestalt vollendet heissen
soll, von beiden noch ein Ausdruck der sittlichen Harmonie des
Charakters gefordert. Würde und Selbstständigkeit stralen als-
dann aus dem Wuchs und den Gesichtszügen hervor. Ohne ein
übermüthiges Streben nach Herrschaft zu verrathen, begnügt sich
die aufgerichtete Gestalt, der Fesseln entledigt zu seyn, die sonst
alles Lebendige binden. In eigner Kraft erhebt sie sich, und
unterwirft sich willig den Gesetzen einer Ordnung, die sich mit
ihrer Freiheit vertragen. Also weit entfernt, dass der Ausdruck
des Geistes an der weiblichen Bildung vermisst werden sollte, so
ordnet sich derselbe vielmehr nur jener gefälligen Grazie frei-
willig unter.
An diesem Charakter einer grösseren Anmuthigkeit, als man
sie von der bloss menschlichen Bildung erwartet, ist die Weib-
lichkeit überall ohne Mühe erkennbar. Gleich sichtbar muss nun
zwar in der hohen männlichen Schönheit die Männlichkeit seyn;
nur zeigt sich hier der sehr merkwürdige Unterschied, dass die
letztere nicht sowohl, wenn sie da ist, leicht bemerkt, als, wo sie
fehlt, vermisst wird. Der eigentliche Geschlechtsausdruck ist in
der männlichen Gestalt weniger hervorstechend, und kaum dürfte
und weibliche Form.
343
es möglich seyn, das Ideal reiner Männlichkeit eben so, wie in
der Venus das Ideal reiner Weiblichkeit, zu vereinzeln. Schon
bei dem ersten Anblick beider Gestalten wird man gewahr, dass
der Geschlechtsbau bei der männlichen bei weitem weniger mit
dem ganzen übrigen Körper verbunden ist. Bei der weiblichen
hat die Natur mit unverkennbarer Sorgfalt alle Theile, die das
Geschlecht bezeichnen, oder nicht bezeichnen, in Eine Form ge-
gossen, und die Schönheit sogar davon abhängig gemacht. Bei
jener hat sie sich hierin eine grössere Sorglosigkeit erlaubt; sie
verstattet ihr mehr Unabhängigkeit von dem, was nur dem Ge-
schlecht angehört, und ist zufrieden, dieses, unbekümmert um die
Harmonie mit dem Ganzen, nur angedeutet zu haben. Vielleicht
aber verwebte sie auch den männlichen Charakter nur feiner in
das übrige Wesen des Mannes, und zeichnete ihn durch den Aus-
druck grösserer Kraft, mehr reger und schneller Anstrengung und
geringerer Masse. Diese besondere Eigenthümlichkeit aber lässt
sich nicht gerade auf die Rechnung seines Geschlechts setzen.
Denn da sie von keiner Seite dem Charakter der reinen Mensch-
heit widerspricht, so kann sie der rein menschlichen, so wie die
entgegengesetzte der weiblichen Form eigenthümlich seyn; und
die grössere Unabhängigkeit von dem Geschlechtsunterschied ge-
hört daher unmittelbar mit zu dem Begritf der männlichen Bildung.
Je mehr Ivraft und Freiheit auch die Gestalt des ^lannes ver-
räth, desto männlicher erklärt ihn selbst das alltägliche Unheil.
Noch mehr, als in der weiblichen Schönheit muss die Kraft die
Masse überwunden haben, und wir verzeihen es eher, wenn sich
jene, selbst mit Verletzung der blossen Anmuth, zu sichtbar her-
vordrängt, als wenn sie im Gegentheil dieser unterliegt. Daher
wird die männliche Schönheit immer in dem Grade erhöht, in
welchem die Ivraft gestärkt wird, und sinkt immer um so viel
herab, als man dem Genuss Uebergewicht über die Thätigkeit
verstattet. Selbst die An, wie man das Wachsthum der Kraft
befördert, ist nicht gleichgültig, und immer Vt'ird sie da weniger
männlich erscheinen, wo man sie mehr mit Fülle nährt, als durch
Anstrengung übt. So dachten sich die Alten den Bacchus.
Reiche Fülle bezeichnet ihn; in fröhlichem Taumel durchzog er
die Erde und bezwang entfernte und mächtige \'ölker mehr durch
die üppige Macht seiner Natur, als durch die Anstrengung seines
Willens. Seine Bildung ist noch zarter und jugendlicher, als die
der übrigen Götter, seine Hüften sind weiblicher ausgeschweift,
344
lo. über die männliche
und der ganze Bau seiner Glieder ist voller und runder. Indess
er, mit der thätigen Kraft des Mannes gerüstet, gerade die Eigen-
thümlichkeiten des Geschlechts in seinem Charakter ausdrückt,
nähert er sich dennoch der Gränze der Weiblichkeit. Wie Venus
bezeichnet er eine Naturkraft, und ist überhaupt, eben so wie
diese, näher als die höheren Gottheiten, mit der Natur verwandt.
Aber gerade wie sie das treuste Bild reiner WeibHchkeit ist, so
stellt er eine Abweichung von der Mannheit dar; und überhaupt
wird der Mann jederzeit in demselben Grade mehr von seinem
Geschlechte ausarten, als er sich von demselben beherrschen lässt.
Obgleich diess im Ganzen auch bei den Weibern der Fall ist, und
in der Heftigkeit des Aifects die lieblichsten Züge der Weiblichkeit
erlöschen, so ist doch hier die Gränze weiter gesteckt, und es ist
den Weibern in einem hohen Grade ihrem Geschlecht nachzugeben
verstattet, indess der Mann das seinige fast überall der Menschheit
zum Opfer bringen muss. Aber gerade diess bestätigt aufs neue
die grosse Freiheit seiner Gestalt von den Schranken des Ge-
schlechts. Denn ohne an seine ursprüngliche Naturbestimmung
zu erinnern, kann er die höchste Männlichkeit verrathen; da hin-
gegen dem genauen Beobachter der weiblichen Schönheit jene
allemal sichtbar seyn wird, wie fein auch übrigens die Weiblich-
keit über das ganze Wesen mag verbreitet seyn. Schon von
selbst stimmt der männliche Körperbau fast durchaus mit den
Erwartungen überein, die man sich von dem menschlichen Körper
überhaupt bildet, und nicht die Partheilichkeit der Männer allein
erhebt ihn gleichsam zur Regel, von welcher die Verschiedenheiten
des weiblichen mehr eine Abweichung vorstellen. Auch der
partheiloseste Betrachter muss gestehen, dass der letztere mehr
den bestimmten, der männliche dagegen den allgemeinen Natur-
zweck alles Lebendigen ausdrückt, die Masse durch Form zu be-
siegen.
Aber auch an der männlichen Bildung bleiben noch immer
Spuren genug von der Geschlechtseigenthümlichkeit übrig, welche
da, wo die höchste Schönheit hervorgehen soll, in der reinen
Menschlichkeit sich verlieren müssen. Wenn der Körper des
Weibes eine sanfte Fläche, von wellenförmigen Linien begränzt,
darbietet, so erhebt die dem Manne eigenthümliche Kraft und
Heftigkeit auf dem seinigen hervorragende Sehnen, und sein
stärkerer Bau, weniger mit milderndem Fleische bekleidet, deutet
alle Umrisse sichtbarer an. Alle Ecken springen schneller und
und weibliche Form. o^r
minder vorbereitet hen^or, der ganze Körper ist in bestimmtere
Abschnitte abgetheilt, und gleicht einer Zeichnung, die eine kühne
Hand mit strenger Richtigkeit, aber wenig bekümmert um Grazie,
entwarft. Was hier in seinen Extremen geschildert ist, lässt frei-
lich, auch mit genauer Beobachtung der natürlichen Wahrheit,
eine grosse Veredlung zu. Aber selbst bei der höchsten wird
eine Bestimmtheit übrig bleiben, welche sich der Gränze der Härte
nähert. Solch ein Ideal ist, nach dem Urtheil der Kunstkenner,
der Farnesische Hercules. Nach langer Arbeit ruht er aus,
gestützt auf das Werkzeug seiner Kraft. Riesen und Ungeheuer
hat er bezwungen, aber nicht mit der leichten Macht der Götter,
die mit dem Gebot ihres Mundes und dem Wink ihrer Hand ihre
Gegner vernichten; mit der Anstrengung eines Sterblichen hat er
gerungen, mit mühevollem Schweiss den Sieg erkämpft. Zu der-
selben Gattung gehören auch die Fechterkörper. Arbeit und
Kraftübung leuchten aus ihnen her\'or, und der Ausdruck des
empfangenden Genusses ist überall, selbst da entfernt, w^o derselbe
die männliche Kraft belohnt. Festigkeit, Bestimmtheit und eine
Schärfe der Umrisse, die leicht in Härte auszuarten Gefahr läuft,
machen also ein zweites wesentliches Merkmal der Bildung des
Mannes aus. Wo nicht schon die Hand der Natur oder die
moralische Kultur diese Züge wohlthätig gemildert hat, da rauben
sie der männlichen Schönheit wieder etwas von der Freiheit, die
sie durch ihre grössere Unabhängigkeit von dem Geschlecht ge-
wann.
In der Natur des Göttlichen strebt alles der Reinheit und
Vollkommenheit des Gattungsbegriffs entgegen. Auch der Cha-
rakter der Geschlechter fängt an in demselben zu erlöschen, und
in der jugendlichen Gestalt der Götter verliert sich die scharfe
Zeichnung des männlichen Körpers in einer milden Grazie, welche
die Härte hinwegnimmt, ohne die Bestimmtheit zu vertilgen. Wenn
Hercules sich zum Olymp emporgeschwungen hat, und in
Hebes Umarmung des mühevollen Erdelebens vergisst, so um-
wallt auch seine körperliche Bildung eine mehr geläuterte Schön-
heit, und mit jugendlicher Leichtigkeit bewegen sich die ent-
fesselten Glieder. Sich diesem Ideale zu nähern, kann auch der
Mensch versuchen, und die Verbindung der menschlichen Schön-
heit mit der männlichen hilft erst die letztere vollenden. Grossen-
theils vermag die Seele von innen heraus diesen ^^orzug hervor-
zuschaffen ; aber noch mehr ist er, insofern er nicht den Ausdruck
'iAß lo. Über die männliche
des moralischen Charakters verstärken, sondern die eigentliche
Schönheit erhöhen soll, eine Gabe der Natur. Vorzüglich ist diess
in der Jugend der Fall, die, wenn die Bildung der Kindheit
gewissermaassen weiblicher ist, auf der schmalen Gränze zwischen
beiden Geschlechtern steht. Alsdann erscheint die eigenthümliche
Schönheit des Mannes in ihrem herrlichsten Glänze. Jede ein-
engende Schranke ist entfernt, und alles vereint sich zu dem
lebendigsten Ausdruck einer mit Stärke gerüsteten Energie, die
durch Anmuth gemässigt ist. Ein solches Ideal ächter Männlich-
keit erblicken wir im Vaticanischen Apoll. Die höchste
männliche Kraft und Bestimmtheit ist in ihm in die schönste
Götterjugend gekleidet; alle Züge der Bildung sind sanft und oft
nur noch dem Gefühle bemerkbar gezeichnet; und wenn uns der
Bogen in seiner Hand und der Köcher auf der Schulter in
Schrecken setzen, so durchdringt uns die stille Erhabenheit des
Gottes mit ruhiger Ehrfurcht.
Wäre unser Sinn genug an Schönheit gewöhnt, um überall
auch Schönheit zu fordern ; so würden wir die Härte, welche die
Gestalt des Mannes so oft begleitet, minder übersehn, und durch
sie mehr an das Geschlecht, als an die Gattung erinnert werden.
Indess liegt es doch nicht sowohl an einem Mangel aesthetischer
Reizbarkeit in uns, als vielmehr an dem ganzen Geist seiner
Bildung, wenn wir bei ihm mehr auf Bestimmtheit, als auf Schön-
heit der Formen achten. Diese Bestimmtheit ist ein eben so
charakteristisches Merkmal seiner Bildung, als es Reiz und An-
muth bei der weiblichen ist; daher man ihm eben so wenig Un-
bestimmtheit und Leere, als dem Weibe Mangel an Grazie ver-
zeiht. Diess bringt den hohen Ausdruck selbstthätiger Kraft in
ihm herv'or, und verbindet alle einzelne Theile mehr zu der Ein-
heit des Begrifls eines lebendigen und selbstständigen Wesens, als
zu der sinnlichen Einheit der Form, auf der wir so gern in dem
weiblichen Körper verweilen.
Nach diesen Merkmalen sollte man indess in der Gestalt des
Mannes nur Vollkommenheit ahnden, und an Schönheit verzweifeln,
wenn sich mit jener strengen Richtigkeit des Baues nicht zugleich
reizende Anmuth verbinden könnte. Diess aber ist bei der männ-
lichen Schönheit in der That der Fall; die abstracte Einheit des
Begriffs, welche dem Verstand Genüge leistet, befriedigt durch die
lebendige Einheit der Ausführung das Gefühl, und mit der höchsten
Bestimmtheit und Mannigfaltigkeit der Umrisse ist der leiseste
und weibliche Form.
347
Uebergang einer Form in die andere verträglich. Hat unter uns
Mangel an gj^mnastischen Uebungen, harte Arbeit, welche die
Bildung entstellt, mindere Freiheit von Sorge und von mecha-
nischer Beschäftigung, und die ganze der Schönheit ungünstige
Neigung des Zeitalters es schwieriger gemacht, diess an dem
lebenden männlichen Körper zu bestätigen; so dürfen wir uns
nur an die Kunstwerke des Alterthums wenden. Auch der Schatten
der Härte ist dort verbannt, und die Umrisse der männlichen Ge-
stalt fliessen gleich sanft, nur mit mehr Sparsamkeit des Stoffs,
als in der weiblichen, ineinander. Vorzüglich sichtbar ist diess in
dem höchsten Ideale des Mannes, wo der physischen Eigenthüm-
lichkeit zugleich die intellectuelle und moralische zur Seite steht.
Reiz und Anmuth gatten sich also nicht weniger mit der männ-
lichen, als mit der weiblichen Form, nur dass sie der letzteren
das Gesetz selbst zu geben, bei der ersteren mehr das Gesetz des
Verstandes auszuführen scheinen.
Bei dieser Schilderung der Gestalt beider Geschlechter ist es
unmöglich, nicht zugleich auch an ihre innere Eigenthümlichkeiten
erinnert zu werden. Wie sehr der Betrachter vermeiden möchte,
eine Vergleichung mit denselben anzustellen, um nicht dadurch
die Lauterkeit der Beobachtung zu stören, so muss sich die Aehn-
lichkeit, selbst wider seinen Willen, ihm aufdringen. Denn über-
haupt ist keine Gestalt eines organischen Wesens rein, nur von
sich selbst abhängig, sondern jede wird durch den Begriff des-
selben und die ihm inwohnende Kraft bestimmt. In der unorga-
nischen Natur ist alle Gestalt blosse Masse, wenn nicht willkühr-
lich, doch wenigstens nicht nach innren Gesetzen, sondern durch
äussre Einwirkungen an einander gehäuft. Von Kraft ist keine
Spur, als von derjenigen, durch welche die Masse mächtig ist;
und daher sind Formen dieser Art keiner andern Bedeutung fähig,
als welche die Phantasie ihnen willkührlich nach unbestimmten
Aehnlichkeiten beilegen will. Ganz anders ist es schon in dem
Reiche, welches zunächst an dieses gränzt. Die Pflanze strebt
mit eignem Leben empor, und streckt vielfach getheiltc Wurzeln
und Zweige aus, um fremden Stoff aufzunehmen und eignen ab-
zusondern. Hier ist nicht mehr, wie dort, wo eine rohe unge-
schiedene Masse auf einem sichren Grunde ruhte, die Gestalt bloss
nach mechanischen Gesetzen begreiflich; es offenbart sich in ihr
eine innre formende Kraft. Dieser strebt indess die Materie ent-
gegen, und daher stellt jeder organische Körper das Bild eines
348
lo. über die männliche
Kampfes dar, in welchem bald der eine, bald der andere Theil
die Oberhand behält. Wenn die Materie aufhört Widerstand zu
leisten, so begünstigt sie die Kraft, indem sie derselben, gerade
wie in dem innren Wesen die Empfänglichkeit der Selbstthätig-
keit, einen körperlichen Stoff leiht, und sie durch Leichtigkeit
mildert. Die Beschaffenheit und das Verhältniss dieser beiden
Elemente, der Umfang der Kraft, und die Art, wie die Materie
sie verkörpert, bestimmen eine Stufenfolge mehr oder weniger
edler Bildungen, nach welcher sich jeder Naturgestalt ihr Rang
anweisen Hesse. Bei diesem Geschäft müsste man sich aber hüten,
über die äussre Bildung hinauszugehn. Unmittelbar die Gestalt
muss die Kraft ankündigen, auf die es hier ankommt, und thut
diess auch in der That. Wo die ganze Masse, in mehrere einzelne
Glieder vertheilt, Leichtigkeit und Beweglichkeit gewinnt, wo in
dieser Vertheilung, wie in den Umrissen überhaupt, Ebenmaass
und Regel herrscht, da ist eine bildende Kraft sichtbar, welche
diese, aus den Gesetzen der blossen Materie unerklärbare Er-
scheinungen hervorbringt, und der Thätigkeit sowohl ihren Um-
fang als ihre Gränzen bestimmt. Das erstere ist vorzüglich
in der menschlichen Gestalt offenbar, die nicht bloss, wie jede
organische Bildung, eine bildende Kraft und einen bildsamen Stoff
überhaupt zeigt, sondern auch eine unbeschränkte, schlechterdings
zu keiner einzelnen Verrichtung ausschliesslich bestimmte Kraft,
und einen Stoff, der, anstatt derselben zu widerstreben, ihr viel-
mehr entgegenzukommen scheint.
Durch die ganze übrige thierische Schöpfung sehen wir, dass
jedem Wesen eine bestimmte Anzahl von Wegen zu verfolgen
angewiesen, alle übrigen hingegen versagt sind. Nicht genug aber,
dass es die letzteren nicht wirklich einzuschlagen vermag, so ist
es nicht einmal im Stande, diess zu begehren, und seine Neigung
ist, wie sein Vermögen gefesselt. Dagegen ist der Thätigkeit des
Menschen schlechterdings keine einzelne Richtung ausschUesslich
vorgeschrieben ; was seiner Natur unmittelbar versagt scheint, dazu
kann er die Innern Schwierigkeiten durch Uebung, die äussern
durch allerlei Hülfsmittel entfernen, und das gänzlich Unmögliche
selbst kann er w^enigstens verlangend versuchen. Diese Eigen-
thümlichkeit nun verräth auch unmittelbar seine Gestalt, und das
unterscheidende physiognomische Merkmal derselben ist eine solche
Beschaffenheit der Bildung, mit welcher selbst der Gedanke_ des
und weibliche Form.
349
Zwangs unverträglich, und die nur durch Freiheit erklärbar ist.*)
Zwar offenbart sich dieses nicht in irgend einem einzelnen Zuge,
sondern in dem ganzen Habitus des Körperbaues und in der
freien Zusammenstimmung aller Theile, daher es auch nur gesehn
und empfunden, und nicht mit Worten beschrieben werden kann.
Wenn aber gleich der Mensch durch diese ihm eigenthümliche
Freiheit über die Schranken der Endlichkeit hinweggerückt scheint,
so tritt er darum noch nicht aus den Gränzen der Natur, sondern
diese sind in dem menschlichen Bau nur weiter gerückt. Denn
indem die Materie die freie Thätigkeit des Geistes durch ihre
Schwerfälligkeit und Trägheit beschränkt, so mildert sie auch
durch ihre ruhige Stätigkeit die ungestüme Gewalt, mit welcher
die Willkühr sich äussert ; und indem der Geist durch seine strenge
Gesetzmässigkeit der Materie Zwang anthut, so beschränkt er zu-
gleich ihren Ueberfluss, der unaufhörlich bestrebt ist, die Form
zu vernichten.
Da der Mensch als ein gemischtes Wesen Freiheit mit Natur-
nothwendigkeit verknüpft, so erreicht er nur durch das vollkom-
menste Gleichgewicht beider das Ideal reiner Menschheit. Zwar
müsste, wenn die moralische Würde behauptet werden sollte, der
Wille herrschen, aber nicht über eine widerstrebende, sondern
mit ihm übereinstimmende Natur, und eben diess müsste auch
die äussre Bildung verkündigen. Hier aber sieht sich die Ein-
bildungskraft von der Wirklichkeit verlassen, welche ihr nirgends
die Gestalt eines solchen reinen, über alle Geschlechtseigenthümlich-
keit erhabenen Wesens zeigt, und es wird ihr sogar schwer, auch
nur ein Bild davon zu entwerfen. Denn indem sie den Charakter
des einen Geschlechts zu verwischen bemüht ist, läuft sie Gefahr,
den des andern an die Stelle zu setzen, oder, wenn sie diess ver-
*) Auf ähnliche Weise, als hier, wenn gleich nur in den ersten Grundzügen,
beim Menschen geschehn ist, liesse sich eine Physiognomik aller Thiergattungen ent-
werfen, bei der nur vorzüglich die beiden Klippen zu vermeiden wären, weder der
Willkühr einer spielenden Einbildungskraft, noch dem mit den innren Eigenschaften
des Geschöpfs vertrauten Verstände ein einseitiges Uebergewicht einzuräumen ; folglich
I., nicht blossen Grillen zu folgen, sondern überall, an der Hand der Naturgeschichte,
von dem eigentlichen Körperbau, insofern er auf die Gestalt Einfluss hat, auszugehen ;
2., dem Begriff der innren Vollkommenheit des Geschöpfs, wie schon oben erinnert ist,
auf diese physiognomische Beurtheilung seiner Gestalt keinen Einfluss zu verslatten, und
es sich anfangs wenigstens nicht stören zu lassen, wenn auch vollkommnere Thiere in
Absicht ihrer Gestalt einen niedrigeren Platz erhielten, oder umgekehrt. Von dem Thier-
reich dürfte man hernach den Uebergang zu den Pflanzen um vieles erleichtert finden.
350
lo. über die männliche
meiden will, die übrigbleibenden Merkmale bis zur Unbestimmt-
heit zu schwächen. Indess ist es dennoch unläugbar, dass zuweilen
selbst in der Wirklichkeit, wenn gleich nur einzelne Züge einer
Gestalt durchschimmern, die, als rein menschlich, zwischen der
männlichen und weiblichen mitten inne steht, und weil jeder ein
dunkles Bild davon in seiner Seele trägt, von niemand verkannt
wird. Hie und da findet man etwas Ueberweibliches, wenn der
Ausdruck erlaubt ist, das doch niemand darum unweiblich oder
männlich nennen möchte; und eben so stösst man bei Männern
auf Züge, die man nicht auf die Rechnung des Geschlechts zu
setzen vermag. Von dieser Art ist z. B. eine gewisse ruhige
Grösse, welche nicht durch Natur, sondern durch Willensstärke
entsteht, und die in einer weiblichen Gestalt niemals unweiblich
erscheinen wird, aber in einer männlichen auch nicht sowohl
männlich, als menschlich heissen muss. Sammelte man diess und
ähnliche Merkmale (die man vielleicht so am richtigsten aufsuchte,
dass man sich fragte, was wohl von einer männlichen Bildung,
mit Beibehaltung der vollen W^eiblichkeit, auf eine weibliche über-
getragen werden könnte?) in Ein Bild zusammen; so würde sich
eine kunstmässige Bestimmtheit der Züge zeigen, die aber von
Härte und Gewaltthätigkeit gleich weit entfernt wäre, und mit
dieser würde sich eine Anmuth gatten, die, ohne sie verdrängen
zu wollen, eben so wenig von ihr verdrängt werden dürfte. Indem
aber die eine der andern wiche, würde alsdann jede sich schwächen;
über dem Bemühen, beide ganz aufzufassen, würde der Betrachter
keine in ihrer Reinheit erblicken, und Vermischung würde an die
Stelle der Verknüpfung treten.
Von diesen beiden charakteristischen Merkmalen der mensch-
lichen Gestalt, deren eigenthümliche Verschiedenheit in der Einheit
des Ideals verschwindet, herrscht in jedem Geschlecht eins vorzugs-
weise, indess das andere nur nicht vermisst wird. Dadurch be-
ziehen sich beide, wie Hälften eines unsichtbaren Ganzen auf ein-
ander, und nöthigen durch ihren gegenseitigen Mangel das Gemüth,
sie im Ideal zu ergänzen. In der Gestalt des Mannes offenbart
sich durchaus eine strengere, in der Gestalt des Weibes eine
Hberalere Herrschaft des Geistes; dort spricht der Wille lauter,
hier die Natur. So wie grössere Kraft und geringere Abhängig-
keit von einzelnen bestimmten Naturzwecken jenen fähiger machen,
jede Lage zu ertragen und selbst hervorzubringen, so verräth diess
auch sein höherer Wuchs, seine mehr hervortretende Brust, seine
und weibliche Form.
351
Stärkere Knochenmasse, und das minder verdeckte Spiel seiner
Muskeln. Kleiner, mit grösserer Fülle begabt und mit stetigeren
Umrissen, geniesst das weibliche Geschlecht einer gleich grossen
Beweglichkeit, die aber, von geringerer Kraft begleitet, mehr als
Geschmeidigkeit erscheint. In dem Manne hat der Wille den
vollkommensten Sieg errungen, und den Stoff, fast bis zur gänz-
lichen Vertilgung seines Naturcharakters, ausgearbeitet. In dem
Weibe hat der Stoff seine Eigenthümlichkeit mehr zu behaupten
gewusst, und indem er sich unterwirft, flieht er den Ausdruck
seines Unterliegens. Da nun auf diese Art jedes der beiden Ge-
schlechter zwar die ganze Menschheit in allen ihren Eigenthüm-
lichkeiten, aber nach einer mehr einseitigen Richtung zeigt; so
muss nothwendig immer das eine zu dem andern leiten. Gerade
dadurch, dass Eine Seite überwiegend ist, entsteht unvermeidlich
das Verlangen, auch einmal die andere herrschen zu sehen, und
so, wenn nicht in der Wirklichkeit, doch wenigstens in der Phan-
tasie, das gestörte Gleichgewicht wiederum herzustellen.
So wie sich beide Geschlechter zum Ideal reiner und ge-
schlechtsloser Menschheit verhalten, so verhält sich auch ihre
beiderseitige Schönheit zum Ideal der Schönheit. In beiden, haben
wir gehört, ist die Menschheit ausgedrückt, denn jedes stellt die
beiden, in ihr vereinten Naturen dar; nur dass in jedem eine
dieser beiden Naturen das Uebergewicht hat. Eben so kommt
nun auch beiden Schönheit zu, aber in jedem herrscht nur Ein
Bestandtheil derselben, ohne jedoch den andern auszuschliessen.
Wie in der Menschheit sich die Naturnothwendigkeit mit der Frei-
heit gattet, so sehen wir in der Schönheit die Materie mit der
Form gepaart. Wie in der veredelten Menschheit das Gebot der
Vernunft als der freie Wunsch der Neigung, und die Stimme des
Aft'ects als der Ausdruck des vernünftigen Willens erscheint; so
erscheint in der hohen Schönheit die Gesetzmässigkeit der Form
als ein freies Spiel der Materie, und die Geburt der Willkühr als
ein M^erk des Gesetzes. Wo sich daher die Menschheit zeigt, da
wird auch Schönheit möglich seyn ; denn beide verhalten sich wie
Wirklichkeit und Erscheinung, Urbild und Abbild zu einander,
und wie die Menschheit specificirt ist, so wird es auch jeder-
zeit die Schönheit seyn. Der Ausdruck strengerer Willensherrschaft
wird in der männlichen Bildung mehr Bestimmtheit der Formen
erzeugen; der Ausdruck grösserer Naturfreiheit in der weiblichen
352
lo. Über die männliche
mehr die Stätigkeit des Stoifs unterstützen. Aber beide Gestalten
müssten jedem Anspruch auf Schönheit entsagen, wenn nicht jede
diese beiden Vorzüge in sich vereinte, und es nicht bloss ein
Ueberge wicht Eines derselben wäre, welches die eine von der
andern, und beide vom Ideal unterscheidet. Denn erhaben über
den Kampf, in den alles Wirkliche durch seine Schranken ver-
wickelt wird , und von der Eigenthümlichkeit frei , welche die
Gattungen von einander unterscheidet, behauptet das Ideal der
Schönheit, so wie das Ideal der Menschheit, das vollkommenste
Gleichgewicht. Der Formtrieb und der Sachtrieb werden da-
her gleich befriedigt, und tauschen in freiem Spiel ihre gegen-
seitigen Functionen aus.*)
Wenn diess Gleichgewicht beider Principien der Schönheit
gestört, nicht aber zugleich auch ihre Verbindung aufgehoben
wird ; so entstehen statt der einfachen idealischen Schönheit zwei
verschiedene, aber minder vollkommene Gattungen. Beide bringen
die Harmonie hervor, welche das Schönheitsgefühl charakterisirt,
aber jede geht diesem Ziel auf einem andern Wege entgegen.
Indem sich die eine durch einen überwiegenden Ausdruck von
Gesetzmässigkeit der Vernunft empfiehlt, so wird zugleich durch
die Anmuth der Darstellung die Einbildungskraft ins Interesse
gezogen ; indem die andere durch eine scheinbare Willkührlichkeit
der Einbildungskraft schmeichelt, so unterwirft sie dieselbe zu-
gleich durch eine wahre Nothwendigkeit dem Gesetze. Diess er-
fahren wir in der Einwirkung der Schönheit beider Geschlechter
auf das Gefühl. Die männliche fodert durch verwickeitere Formen
zunächst nur den Verstand auf, dessen Befriedigung sich erst
später in das wahre Schönheitsgefühl auflöst. Die weibliche giebt
durch ihre einfacheren Formen der Einbildungskraft mehr Freiheit,
und ladet zunächst bloss durch Ueppigkeit des Stoffes die Sinne
ein, bis erst bei längerem Verweilen und tieferem Studium auch
die ernsteren Foderungen der Schönheit befriedigt werden. Weil
aber auf diesem Wege immer ein Uebergewicht auf der einen
Seite, folglich auf der andern ein Mangel bleibt, so thut keine
von beiden dem aesthetischen Gefühl Genüge, welches seiner
*) Sowohl bei diesem, als den nächstfolgenden Absätzen wird der Leser ersucht,
sich an den, in den Briefen über aesthetische Erziehung im i sten und 2ten
St. der Hören aufgestellten Begriff der Schönheit zu erinnern. ^)
^) Vgl. besonders Schiller, Sämmtliche Schrißen lo, J2j.
und weibliche Form. o - <>
Natur nach zum Vollendeten strebt, und sich nicht eher, als beim
Ideale zur Ruhe giebt. Von der einen Bildung geht es daher zur
andern über, und strebt, indem es durch die Eigenthümlichkeiten
der einen die entgegengesetzten der andern aufhebt, beide in ein
Ganzes zu verknüpfen, um wenigstens Augenblicke lang das Ideal
festzuhalten. Diese Beziehung der zweifachen Geschlechtsbildung
auf die idealische Schönheit macht, dass jede nur eigentlich inso-
fern wahrhaft schön erscheint, als ihr die andere gegenübersteht,
jede (um ein kühneres Bild zu gebrauchen) nur einen Accord
anschlägt, welcher erst in der andern vollkommen austönt. Auch
hier stehen die Geschlechter in gegenseitiger Abhängigkeit von
einander; denn beschränkt für sich, gewinnen sie auch hier nur
durch ihre innige Gemeinschaft Vollendung. Aber eben so wie
die Schranken der Geschlechtsbildung die Phantasie unaufhörlich
zu Herv'orbringung des Ideals auffodern, so führen die Schranken
dieses \^ermögens nothwendig wieder zu der Geschlechtsbildung
zurück. Vergebens würde die Phantasie die Herrschaft der Form
gegen die Freiheit des Stoffs völlig gleichmässig abzuwägen ver-
suchen; denn da sie immer nur von Einer Seite ausgehen könnte,
so würde sie auch entweder der einen oder der andern ein Ueber-
gewicht einräumen, und dadurch, ohne es selbst zu bemerken,
zur männlichen und weiblichen Bildung zurückkehren.
Wenn nun aber das nach Vollendung strebende ästhetische
Gefühl von der einen Geschlechtsbildung unbefriedigt zur andern
übergeht, so wird es hierin selbst von der eigenthümlichen Be
schaffenheit beider unterstützt. Denn ihrer charakteristischen ^'er-
schiedenheiten ungeachtet, nähern sich die männliche und weib
liehe Bildung dadurch einander, dass in jeder dem besondern
Ausdruck des Geschlechts der allgemeine Ausdruck der Mensch-
heit zur Seite steht. Indem die Uebereinstimmung mit dem Ideal,
zu w^elcher der letztere berechtigt, durch die Schranken des ersteren
begränzt wird, entstehen die besondren Arten der Schönheit, die
wir die männliche und die weibliche nennen. Ohne den Charakter
des Geschlechts besässe der Mann keine eigenthümliche Schönheit,
ohne den Charakter der Menschheit überhaupt keine Schönheit;
und eben diess ist mit dem Weibe der Fall, wenn gleich die weib-
liche Bildung, gerade insofern sie weiblich ist, der Schönheit näher
verwandt scheint. U eberall muss man sich gewöhnen, das Ge-
schlecht als Schranke zu betrachten, da es von der Summe der
Anlagen, welche der Begriff der Gattung in sich fasst, immer eine
W. V. Humboldt, Werke. I. 23
334
10. über die männliche
gewisse Anzahl einseitig ausschliesst. In der Menschheit hebt es
die gegenseitige Freiheit auf, mit welcher die Selbstthätigkeit und
Empfänglichkeit in dem Ideale zusammenwirken, und damit sich
jede in einem eigenen Wesen darstelle, muss (da sie einander
doch niemals ganz entbehren können) die eine der andern unter-
geordnet werden. Wo nun die Selbstthätigkeit die Empfänglich-
keit unterdrückt, da muss auch in der Erscheinung der Stoff der
Form dienen, und das Gegentheil muss da Statt finden, wo die
Selbstthätigkeit der Empfänglichkeit weicht. Alle Schönheit aber
beruht auf einer freien Verbindung der Form mit dem Sto fl ,
und wenn sich dieselbe auch (insofern man von ihren höchsten
Graden abstrahirt) mit dem einseitigen Uebergewicht eines ihrer
beiden Elemente verträgt, so erlaubt sie doch nie gänzliche Unter-
drückung des andern, oder was auf dasselbe hinausläuft, wirkliche
Trennung beider.
Kaum ist es indess nöthig, dasjenige noch aus Begriffen be-
weisen zu wollen, was sich schon innerhalb des Kreises der Er-
fahrung so mannigfaltig bestätigt. Im Mann und im Weibe findet
unser ästhetisches Gefühl nur insofern Schönheit, als der Charakter
der Menschheit den Charakter des Geschlechts veredelt hat. Der
uncultivirte männliche Naturcharakter, ausser Zusammenhang mit
dem moralischen Menschencharakter betrachtet, drückt den Zügen
das Gepräge der Härte und Gewaltthätigkeit auf, und die zu
scharfe Zeichnung der Form verbannt alle Weichheit des Stoffs,
ohne deswegen auch nothwendig den Verstand durch Gesetz-
mässigkeit zu befriedigen. Dagegen zeigt die weibliche Bildung,
wenn wir uns die Weiblichkeit gleich entblösst von menschlicher
Cultur denken, eine plumpe Masse, die allein Trägheit und Schlau-
heit verräth, und der Ueberfluss des Stoffs unterdrückt alle Spuren
der Form. Unfähig zu jedem freieren Aufscliwung, wird die
Gestalt nur durch den Ausdruck der Begierde belebt, und giebt
dadurch das widrige Bild einer kraftlosen Heftigkeit. Könnte man
sich daher den Geschlechtscharakter vereinzelt denken, so würde
der Ausdruck der zeugenden Kraft bloss in gewaltthätiger An-
strengung der Energie, der Ausdruck der empfangenden allein in
üppigem Uebermaasse des Stoffs bestehen, und indem jener dem
auf einzelne Zwecke gerichteten Verstände, dieser der groben
Sinnlichkeit einseitig Genüge thäte, würde jeder den ästhetischen
Sinn unbefriedigt lassen.
Dass der Geschlechtscharakter in der That nur in Verbindung
und -weibliche Form. o >- -
mit dem höheren Menschencharakter der Schönheit fähig ist, wird
alsdann noch anschaulicher, wenn man ihn getrennt von diesem
betrachtet. Unmittelbar wie man das Gebiet der Menschheit ver-
lässt, sinkt auch die Schönheit herab; aber unmittelbar zeigt sich
auch alsdann zwischen beiden Geschlechtern eine, in ihren wesent-
lichen Eigenthümlichkeiten nothwendig gegründete Verschieden-
heit. Das männliche Geschlecht behält, auch wenn es gänzlich
auf seinen blossen Naturcharakter zurückgesetzt ist, doch immer
den Ausdruck einer Kraft, die zwar, von roher Wildheit begleitet,
furchtbar und zurückstossend ist, aber doch immer, zumal wo
alle moralische Federungen hinwegfallen, Interesse und Staunen
erweckt. In dem weiblichen hingegen unterdrückt alsdann die
Materie die Kraft, und dieser Verlust wird durch keine Anmuth
vergütet. Hieraus muss man sich die auffallende Erscheinung er-
Idären, dass im Thierreiche beide Geschlechter in Absicht auf ihre
Schönheit in einem so gänzlich umgekehrten \'^erhältniss, als in
der ^Menschheit, stehen. Denn anstatt dass im Menschen das
schwächere Geschlecht dem stärkeren an Schönheit nicht nur
vollkommen gleich ist, sondern es sogar darin übertrift; so sind
dagegen durchaus alle weibliche Thiere auffallend weniger schön,
als die männlichen ihrer Gattung. Vergebens würde man den
Grund dieser Verschiedenheit in dem organischen Körperbau
aufsuchen wollen, da die, aus der eigentlichen Structur des Körpers
erkennbaren Ursachen der Geschlechtsverschiedenheit, der Analogie
der Naturgesetze zufolge, nothwendig überall dieselben seyn
müssen. Auch findet man bei den Thieren in der That dieselben
physischen Eigenthümlichkeiten der Geschlechter, wie bei dem
Menschen; auch dort ist das weibliche, in Vergleichung mit dem
männlichen, durchaus kleiner, schwächer, von zarterem Knochen-
bau, und mit mehr Masse begabt. Die allgemeine Natur der
Thierheit ist es daher, welche allein den Grund jener Erscheinung
enthält. Unfähig durch sich selbst Ansprüche auf Würde zu
machen, sinkt dieselbe durch weibliche Kleinheit, Schwäche und
Weichheit gänzlich herab, und kann nur noch durch männliche
Grösse, Kraft und Festigkeit gewinnen. Da die physische Schwäche
der Weiblichkeit in ihr nicht durch moralische Stärke gehoben
wird, so erscheint dieselbe als blosser Ausdruck des Unvermögens,
der auch in der weiblich-menschlichen Gestalt erst ausgelöscht
seyn muss, wenn sie der Schönheit fähig seyn soll; da aber von
der thierischen Gestalt nur phj'sische Vorzüge gefodert werden.
356
lo. über die männliche
SO schadet es dagegen nichts, wenn der Ausdruck männlicher
Unabhängigkeit in einen Ausdruck gesetzloser Willkühr ausartet.
Ohne indess bis zur Thierheit hinabzusteigen, lassen sich die
obigen Behauptungen auch durch Beispiele aus der menschlichen
Natur selbst bestätigen. Unter denjenigen Nationen, die noch,
ohne alle Gultur, im ursprünglichen Stande der Wildheit leben,
ist die Gestalt der Weiber fast eben so wenig an Schönheit mit
der Gestalt der Männer vergleichbar; und wenn man auch unter
gebildeten Nationen hie und da ähnliche Ungleichheiten bemerkt,
so würde eine genauere Untersuchung wahrscheinlich auch auf
ähnliche Ursachen führen. Wenigstens sehen wir auch unter uns,
dass, wo männliche und weibliche Gestalten das Gepräge aus-
schweifender Sittenlosigkeit an sich tragen, wo die Menschheit in
ihnen entadelt, und die Freiheit der Vernunft unterdrückt ist, die
letzteren immer einen noch ekelhafteren und widrigeren Eindruck
hervorbringen, als die ersteren, die wenigstens noch durch den
Ausdruck physischer Kraft eine gewisse Haltung bekommen. In
allen diesen Fällen nun kehrt dieselbe Erscheinung zurück ; überall
ist die weibliche Gestalt nur für den höchsten Ausdruck geschaffen,
und wenn sie nicht in menschlicher Schönheit auftritt, so ist
ihr Schönheit überhaupt fremd. Freilich aber gilt diess allein bei
der ästhetischen Beurtheilung ; nur da, wo der Mensch, nicht das
Geschlecht die Entscheidung fällt. Hier schmeichelt ohne Unter-
schied die Bildung des einen Geschlechts der Neigung des andern,
und leicht gewinnt hier jedes bei dem andern den Preis. Nur
wo in feiner organisirten Seelen das Gefühl für das Schöne alle
Empfindungen harmonisch gestimmt hat, ist auch diese Neigung
höheren Foderungen untergeordnet, nur da wird der blosse Ge-
schlechtstrieb in menschliche Liebe verwandelt, und von dem be-
schränkten Gebiet der Sinne in das idealische der Phantasie hin-
übergeführt. Sonst dehnt sich vielmehr diese Unlauterkeit des
Geschmacks auf alle Gegenstände aus, die nur irgend diese Seite
berühren; und untersuchten wir die Urtheile genau, die im Kreise
des gesellschaftlichen Lebens über Bildung, Mode, Anstand, über
Kunstwerke, Theater, Schriften u. s. w., kurz über alles gefällt
werden, was im weitesten Verstände zum Gebiete des Geschmacks
gehört, so würden wir mit Erstaunen wahrnehmen, wie selten
uneigennütziger Beifall ächte Schönheit krönt.
Der Geschlechtscharakter ist also als eine Schranke anzusehen,
welche die männliche und weibliche Schönheit von der idealischen
und weibliche Form.
!57
entfernt; und so lange er auf die Form Einfluss hat. wird er es
derselben unmöglich machen, sich zum Ideal zu erheben. Aber
da es das Gesetz der endlichen Natur ist, nur vermittelst der
Schranken zum Unendlichen aufzusteigen, nur durch Materie zur
Form, und nur durch Trennung zur Harmonie zu gelangen; so
ist die Geschlechtsschönheit, obgleich sie für sich allein der Ideal-
schönheit ewig widerspricht, doch der einzige Weg zu derselben.
Ueberdiess ist der Mensch nur, insofern er dem Geschlecht an-
gehört, an diese Schranke gebunden, aber insofern er zugleich die
Anlagen zur freien geschlechtslosen Menschheit in sich trägt, davon
losgesprochen. Vermöge der letztern kann er die ^"ollendung,
welche die Gränzen seines Geschlechts ihm versagen, sich durch
Freiheit erwerben, und seinen einseitigen Xaturcharakter durch
seinen moralischen zum Ideal ergänzen; und je lebendiger dieser,
sev es durch die Gunst der Natur, oder durch die innere Wirk-
samkeit der \^ernunft, auch aus der äussern Bildung spricht, desto
mehr verliert der Ausdruck des Geschlechtscharakters seine Ein-
seitigkeit. Wir sehen aus der Verbindung der ^lenschheit mit
dem Geschlecht eine neue mittlere Schönheit hervorgehn, und
diese ist es, welche man gewöhnlich unter der männlichen und
weiblichen Schönheit versteht. In ihr ist das Gleichgewicht des
Ideals nur um so viel gestört, als es die Beschränktheit endlicher
Naturen nothwendig macht, und diese Störung selbst ertheilt der
Gestalt eine so individuelle Mischung der Züge, dass sie dadurch
einen neuen Zauber ge\%annt. Es ist weder die Menschheit allein,
noch das Geschlecht, welches im Mann und im Weibe erscheint;
eigne, in sich geschlossene Gestalten sind beide, welche weder an
jene, noch an dieses einseitig erinnern. Der Ausdruck der männ-
lichen Stärke, welche vereinzelt für sich zu leicht das Ansehn
physischer Gewalt erhält, w^ird durch den Ausdruck menschlicher
Würde gemildert, und die blinde Herrschaft der Willkühr, die
den Mann, ehe er sich, der Herrschaft der ^'ernunft unterwirft,
in eine bedenkliche Anarchie versetzt, kündigt sich als moralische
Freiheit an. So weicht in den Idealen der Kunst der männliche
Trotz des Heroen der milden Erhabenheit des Gottes, und so
finden wir in diesem den Charakter der Männlichkeit, der fast
bis auf seine letzten Spuren vertilgt ist, nur in seiner Ueber-
einstimmung mit der reinen Menschheit wieder.
Noch inniger aber ist in der weiblichen Schönheit die Weib-
lichkeit mit der Menschheit verbunden; und noch mehr, als in
358
lO. über die männliche
der männlichen, geht aus beiden eine neue mittlere Bildung hervor,
welche, indem sie ihre Züge zugleich von beiden entlehnt, den
einseitigen Ausdruck jeder gleich täuschend verbirgt. Denn selbst
in den höchsten Graden der Vollendung erhält sich der Ausdruck
der Weiblichkeit unverkennbar neben dem Ausdruck der reinen
Menschheit, und wenn er auch unaufhörlich in ihn überfliesst, so
geht er doch nie ganz in demselben unter. Allein dieser Eigen-
thümlichkeit ungeachtet, vermag dennoch das Weib nicht weniger,
als der Mann, seiner Schönheit eine von der einseitigen Geschlechts-
bildung unabhängige Vollendung zu geben. Zwar kann weder die
überwiegende Herrschaft des Stolfs gänzlich aufgehoben, noch der
Ausdruck ph3^sischer Schwäche und Abhängigkeit vertilgt werden,
welcher immer die weibliche Gestalt begleitet. Aber indem die
freie Kraft der Menschheit sich jener physischen Schwäche zur
Seite stellt, bringt sie das Bild einer moralischen, durch sich selbst
gemässigten Stärke hervor, und eben so wird jene Naturabhängig-
keit in eine freiwillige Unterwerfung unter ein selbstgegebenes
Gesetz verwandelt. Gleich ungehemmte Kraft spricht daher aus
der männlichen und weiblichen Bildung, nur dass sie in der
ersteren sich über einen schrankenlosen Wirkungskreis zu ver-
breiten, in der letzteren sich freiwillig zu massigen scheint.
Weil aber beide Geschlechter nie der Endlichkeit entfliehn,
so setzt sich dieser idealischen Vollendung der Gestalt in beiden
ein ewiges Hinderniss entgegen ; und nie ist die höchste Schönheit
in der Wirklichkeit erreichbar. Das Endliche müsste zum Un-
endlichen werden, wenn jenes Gleichgewicht in der Erscheinung
dargestellt werden sollte, und selbst dann würde kein mensch-
licher Sinn es aufzufassen vermögen. Allein auch hier zeigt der
Ausdruck des zweifachen Geschlechtscharakters einen Weg, sich
dem Ziele zu nähern, und auch dem Betrachter kommt er zu Hülfe,
der sich von der Erscheinung zur Idee zu erheben versucht. Da
beide Geschlechtsbildungen mit der rein menschlichen verwandt
sind, so wecken sie beide das Gefühl ächter Schönheit in ihm;
da aber jede eine besondere Gattung ausmacht, so wird auch
seine Aufmerksamkeit durch jede vorzugsweise auf eine der beiden
Gattungen der Schönheit geheftet. Dadurch empfängt er beide
Elemente des Ideals einzeln und in verständlicher Klarheit, ohne
dass doch die Einheit aufgelöst wird, in welcher das Wesen des-
selben besteht. Ungestört kann er es nun durch die Schöpfungs-
kraft seiner Phantasie zu bilden versuchen, und sich, indem er
und weibliche Form.
359
auch hier, wie überall, von der Wirklichkeit ausser ihm nur den
beschränkten Stoff entlehnt, durch innere selbstthätige Kraft zur
schrankenlosen Idee erheben.
Man mag daher objectiv auf die Bildung der Geschlechter
selbst, oder subjectiv auf den Eindruck sehen, den sie herv^or-
bringen ; so muss der Geschlechtscharakter, der nur in Vergleichung
mit dem Ideal eine einengende Gränze ist, in Rücksicht auf die
Schranken endlicher Naturen vielmehr ein Mittel zur Vollkommen-
heit heissen. Der Ausdruck des männlichen hebt in der Be-
stimmtheit der Züge die Herrschaft der Form mehr
heraus, und da ihn der Ausdruck der reinen Menschheit mildernd
begleitet, so kann er sich nicht weiter vom Ideale entfernen, als
an sich nothwendig ist, jene Eine Seite des letzteren vorzugsweise
darzustellen. Der Ausdruck des weibhchen zeigt in derAnmuth
der Züge die Freiheit des Stoffs in einem lebhafteren Bilde,
und wird auf eben die Weise von demselben Ausdruck der reinen
Menschheit beherrscht. Der Mann erscheint nun feuriger, das
Weib sanfter, als man sich den geschlechtslosen Menschen denkt;
und daher pflegt man zu sagen, dass die männliche Schönheit zur
Anstrengung auffodere, die weibliche zur Ruhe einlade. Allein
diese Ausdrücke schildern nur die gemeine Wirkung der ver-
schiednen Geschlechtsbildung auf wenig verfeinerte Sinne, und
vorzüglich den Eindruck, welchen die Gestalt des einen Ge-
schlechts in dem andern hervorbringt. Wenn die angestrengte
ICraft des Mannes erquickende Ruhe, die unbestimmte Sehnsucht
des Weibes bestimmende Einheit sucht, so muss beiden ihre
gegenseitige Gestalt Befriedigung gewähren, die aber, weil sie Be-
dürfnissen entspricht, immer eigennützig und der ästhetischen
Beurtheilung nachtheilig ist.
Wo sich der Mensch der Betrachtung des Schönen weiht, da
muss er sich von aller Partheilichkeit lossagen, und geschlechtslos
allein der Menschheit angehören. Nur in solchen glücklichen
Momenten gelingt es ihm, sein Wesen zu dem höchsten Gleich-
gewichte zu stimmen, und die Kräfte, womit er der Natur und
womit er der Gottheit verwandt ist, in Eins zu verschmelzen. Zu
diesem Ziel führt ihn die männliche und weibliche Form auf ver-
schiedenen Wegen. Die weibliche bezaubert zuerst die Sinne
durch ihre Anmuth ; da aber der StolT ganz Form, die scheinbare
Willkühr ganz Nothwendigkeit, und die Fülle des sinnlichen Reizes
nur Ausdruck zarter und feiner Geistigkeit ist, so fliesst die zuerst
360
10. über die männliche
geweckte sinnliche Empfindung in unentweihter Reinheit in die
geistige über. Die männliche fodert, indem sie zu den Sinnen
spricht, unmittelbar zugleich durch Bestimmtheit den Geist zur
Thätigkeit auf; da aber die Form in ihr als Stotf, die Nothwendig-
keit als Freiheit, und die geistige Würde in dem Gewände sinn-
licher Anmuth auftritt, so geht die zuerst rege gemachte geistige
Empfindung in die sinnliche über. Dort geht das Gemüth vom
Spiel zum Ernst, hier vom Ernst zum Spiele; und da in beiden
Fällen zwei verschiedene Empfindungen entstehen, zwischen welchen
das Gemüth unaufhörlich schwankt, und die es immer reproducirt;
so bringt jede beider Bildungen eine gemischte Stimmung hervor,
in welcher der eigenthümliche Charakter einer jeden durch den
entgegengesetzten gemässigt ist. Die weibliche Gestalt legt durch
diese Verbindung ihre erschlaffende, die männliche ihre an-
spannende Eigenschaft ab; und indem die erstere mit Kraft be-
seelt, die letztere durch Anmuth gemässigt wird, wirken beide
belebend auf das Herz. Dagegen hängt die Zuneigung zu jeder
der beiden Formen von der Uebereinstimmung des eignen Cha-
rakters mit dem ihrigen ab, und die sanftere Empfindung wird
lieber bei der weiblichen, die mehr energische bei der männlichen
Schönheit verweilen. Indem nun auf diese Weise die Betrachtung
jeder von einer ihr analogen einseitigen Stimmung auszugehn, aber
eine gemischte hervorzubringen pflegt, so wird das Gemüth immer
von der einen für die andere, und dadurch von beiden für die
Ideal-Schönheit empfänglich gemacht.
Nie wird daher der Künstler, der nach der höchsten Wirkung
streben soll, das Studium beider Gestalten von einander trennen,
oder sich ausschliesslich der Darstellung Einer widmen dürfen.
Aber selbst bei der sorgfältigsten Vermeidung einer solchen Ein-
seitigkeit wird er doch nie in beiden gleich glücklich seyn, und
nie ganz die Neigung überwinden können, die ihn überwiegend
zu der Einen hinzieht. Denn auch das Kunstgenie fühlt den Ein-
fluss des Geschlechtscharakters, und das angestrengteste Bemühen
nach reiner Idealität wird denselben doch nur zu veredlen, schwer-
lich aber zu vertilgen vermögen. Die männliche Bildung befriedigt
sichtbarer durch Richtigkeit der Verhältnisse die Anfoderungen
der Kunst, die weibliche durch Anmuth der Umrisse die An-
foderungen des Gefühls an die Schönheit. Das Gefühl aber ist
nur dann ein sichrer Führer, wenn der Verstand es ausgebildet
hat, und der angehende Künstler muss sich daher zuerst an der
und weibliche Form.
361
männlichen Gestalt üben, wo er den technischen Theil der Kunst
fest und deutlich gezeichnet findet. Erst wenn er in diesem
Studium beträchtliche F'ortschritte gemacht hat, wird es auch
seinem Auge gelingen, dieselbe Xothwendigkeit der Form auch
unter der Hülle weiblicher Anmuth zu entdecken, und der letzte
schwere Schritt seiner Ausbildung wird es seyn, diese Xothwendig-
keit darzustellen, ohne der Grazie zu schaden. In den höchsten
Graden der Vollendung ist die Darstellung der weiblichen Schön-
heit schwerer ; denn zu allen Foderungen, welche die männliche
an den Künstler macht, kommt noch die schwierigste hinzu: indem
er die strengste Gesetzmässigkeit beweist, den Schein derselben
zu vermeiden. Verlangt man hingegen nur geringere Vollkommen-
heit, so ist die weibliche Gestalt wieder leichter. Denn wenn in
der männlichen jeder Fehler gegen die Wahrheit zu sichtbar ist,
und es schon ein tieferes Studium erfodert alle zu vermeiden;
so begnügt sich dagegen bei der weiblichen der mittelmässige
Künstler, so wie der gewöhnliche Beurtheiler mit der blossen
Aussenseite der Weiblichkeit, mit Weichheit, Gefälligkeit und Reiz,
und übersieht darüber leichter wenn nicht wirkliche Unwahrheit,
doch wenigstens Leere.
Selbst in dem ächten Künstler, der aber vorzugsweise für
weibliche Schönheit gestimmt ist, macht zuerst die Phantasie ihre
Ansprüche auf sanfte Stetigkeit und liebliche Anmuth geltend, und
selbst er fängt von dem sinnlichen Theile der Kunst an (wenn
der Ausdruck erlaubt ist), nur dass er nicht auch dabei stehen
bleibt, sondern von da zur Idee übergeht. Diese sucht er nun in
ihrer höchsten Lauterkeit und Präcision aufzufassen und darzu-
stellen; aber wegen jenes Uebergewichts der Phantasie besitzt er
nicht sowohl Schärfe als Feinheit des Blicks, nicht sowohl Kühn-
heit als Zartheit der Hand, und scheint nicht sowohl die einzelnen
Züge genau zu unterscheiden, als er vielmehr das Ganze durch
kaum bemerkbare Uebergänge verbindet. Gerade umgekehrt werden
in dem, mehr für männliche Schönheit gestimmten zuerst die
P'oderungen des Geistes auf Bestimmtheit und Xothwendigkeit
der Form rege; er fängt von dem geistigen Theile der Kunst an,
ergreift mit tiefeindringendem Blick den Charakter der Gestalt,
und zeichnet ihn mit kraftvollen Zügen, indem er ihn zugleich in
anmuthige Grazie kleidet, und sich dadurch von der Wahrheit zur
Schönheit erhebt. Zwar ist es unvermeidlich, bei Schilderungen,
wie die hier entworfenen sind, nicht das noch zu sehr zu trennen,
362
lo. über die männliche
was in der Wirklichkeit innig verbunden ist; allein unläugbar
wird doch ein solches Uebergewicht entgegengesetzter Eigenschaften
in diesen beiden verschiednen Künstleranlagen herrschen, und durch
das Studium des Ideal-Schönen zwar vermindert, nie aber gänzlich
aufgehoben werden.
In welchen Verhältnissen man daher die verschiedne Ge-
schlechtsbildung betrachten mag, so findet man dieselbe immer in
einer doppelten Beziehung: auf sich selbst und auf das Ideal; und
eben so wie beide Geschlechter durch ihre Innern, sich gegenseitig
unterstützenden Anlagen die menschliche Kraft, über den Kreis
der Endlichkeit hinaus, erweitern, so führen sie durch ihre äussere
verschiedne Gestalt das Schönheitsgefühl dem Ideal entgegen. Denn
so schwer sich auch die äussere Bildung aus der Innern organischen
Bestimmung verständlich machen lässt, so belohnend ist es doch,
selbst den verborgnen Zusammenhang der Natur aufzusuchen; und
hier bedarf es keiner mühsamen Anstrengung, um sich zu über-
zeugen, dass keines von beiden Geschlechtern, seiner Innern Eigen-
thümlichkeit nach, unter einer andern Gestalt, als die es wirklich
zeigt, zu erscheinen im Stande war. In dem männlichen ist Ueber
gewicht der Kraft charakteristisch und zwar einer Kraft, die zu
zeugen bestimmt ist, sich schnell zu sammeln vermag, und immer
von Einem Punkt aus nach aussen hin strebt. Mit Schnelligkeit
sehn wir sie daher die Muskeln anspannen, mit Heftigkeit sich
aller hindernden Masse entledigen, und, ununterbrochene Thätig-
keit athmend, den ruhigen Genuss entfernen. Dadurch nähert sie
sich der bildenden Kunst, die eben so, wie sie, dem lebenden
Princip Herrschaft in der todten Masse verschaft.
Die empfangende Kraft hingegen besitzt eine grössere Fülle;
sie ist mehr gemacht, Thätigkeit zu erwiedern, als ursprünglich
zu erzeugen, aber was ihr an Feuer gebricht, das ersetzt sie durch
Beharrlichkeit. Durch ununterbrochene Stätigkeit der Umrisse,
Zartheit und Weichheit kündigt sich daher die Weiblichkeit auch
in der äussern Gestalt an, und ertheilt derselben dadurch, selbst
wenn ihr die Schönheit fehlt, doch wenigstens immer den Reiz
des Angenehmen, das so oft mit dem eigentlich Schönen ver-
wechselt wird. Da sie nun zugleich keinem Theil sich über-
wiegend vorzudrängen verstattet, und nur die höchste sinnliche
Einheit ihr vollkommen entspricht, so steht die weibliche Gestalt
überhaupt der Schönheit näher, als die männliche, und hat selbst
da wenigstens die Form derselben, wo sie auch ihren Gehalt ent-
und weiblicbe Form.
^63
behrt. Denn da Freiheit von allem Zwang die Seele jeder Schön-
heit ist, und die ächte Schönheit sich nur dadurch unterscheidet,
dass sie mit dieser Eigenschaft die höchste Realität und Bestimmt-
heit verbindet, so muss schon die blosse Stätigkeit, Flüssigkeit und
Kühnheit der Formen als ein Analogen der Schönheit erscheinen,
weil sie jenen wesentlichen Charakter derselben an sich trägt.
Hierauf gründet sich unstreitig die Foderung der Schönheit, die
man vorzugsweise vor dem männlichen Geschlecht an das weib-
liche richtet. Bei dem Mann ist die Schönheit eine Zugabe und
ein freies Geschenk der, über den einseitigen Geschlechtscharakter
siegenden Menschheit in ihm; von dem Weibe wird sie als eine
Schuld, die das Geschlecht entrichtet, wie die Weiblichkeit selbst,
verlangt. Wie diese, kann sie daher auch bei der Beurtheilung
des Innern in Betrachtung kommen, und gewissermaassen zur
Pflicht gemacht werden ; denn der innere Charakter der ^^'eiblich-
keit kann keinen andern Ausdruck als Schönheit haben. Mit Un-
recht aber würde man diese noch gehaltlose Schönheit, die nur
eine eigene beschränkte Gattung ist, mit jener ächten und idea-
lischen venvechseln, zu welcher vielmehr jedes Geschlecht sich
nur dadurch erhebt, dass es die reine Menschheit mehr in sich
geltend zu machen, das männliche, dass es mehr Freiheit, das
weibliche, dass es mehr Nothwendigkeit zu erlangen versucht.
Nicht immer aber wird durch diess doppelte Bemühen die
eigentliche Schönheit erhöht. Sehr oft erhält die Gestalt nur einen
lebhafteren Ausdruck dadurch, und der Ausdruck ist wesentlich
von der Schönheit verschieden. Zwar werden in der Erfahrung
oft beide mit einander verwechselt, und nicht selten hören wir
Bildungen schön nennen, die bloss interessant heissen dürften.
Wie sonst so oft durch die Sinnlichkeit, so ward hier das ästhe-
tische Gefühl durch den Verstand irre geführt, und es bestätigt
sich aufs neue, wie selten die harmonische Stimmung des Ge-
müths ist, welche allein für Schönheit empfänglich macht. Wo
der Ausdruck vorwaltet, da beherrscht das Gemüth die Züge, und
hindert sie, ihrer eignen Freiheit zu folgen. Daher erklärt sich
eine solche Bildung nicht, wie die bloss ästhetische, durch sich
selbst, und die Aufmerksamkeit wird von der äussern Gestalt auf
den Innern Charakter gezogen. Die bloss gefällige Bildung hin-
gegen verkündigt die höchste Freiheit der Züge; an keinen be-
stimmten Ausdruck gebunden, überlassen sie sich allein einer an-
muthigen Stätigkeit. Darum wird zwar hier das Auge nicht von
3^4
lo. über die männliche
der Gestalt hinweg zu etwas anderm hinübergeführt, aber es ist
ihm gleich unmöglich, auf dieser Leerheit zu verweilen. Nur die
schöne Gestalt, die zwischen beiden in der Mitte steht, enthält, in
sich vollendet, zugleich alles, was dem Sinn und was dem Geiste
genügt, und nur in ihr ist der inhaltvollste Ausdruck zugleich mit
der freiesten Anmuth der Züge verbunden. Darum aber findet
nun auch der Betrachter in ihr seine kühnsten Erwartungen über-
troffen, und da er das ganze Wesen in vollkommener Einheit er-
blickt, so trennt seine Phantasie nicht mehr die äussre Gestalt von
der Innern Bedeutung. Also nicht deswegen, weil ihr der Cha-
rakter mangelt, sondern deswegen, weil sie ihn nicht auf Unkosten
der Freiheit hen'orstechen lässt, ist die Schönheit von dem Aus-
druck zu unterscheiden. Indem sich der letztere bloss auf die
Darstellung des gegenwärtigen Zustandes, also auf eine enge
Wirklichkeit beschränkt, drückt die Schönheit vielmehr das Total
des Charakters, und das unendliche Vermögen desselben aus, aus
welchem alle einzelnen Aeusserungen lliessen. Da aber das Un-
endliche in der Erscheinung unerreichbar ist, so bleibt freilich
auch die höchste menschliche Schönheit in gewissem Verstände
nur Ausdruck, und so kommt es nur darauf an, den letzteren der
Schönheit zu nähern. Von einem Bilde des vorübergehenden
Affects muss er zu einem Bilde des bleibenden Charakters erhoben
werden, und zwar eines Charakters, der nicht bloss von einer
Seite, sondern von allen harmonisch ausgebildet ist.
Eine auffallende Erscheinung ist es, dass, obgleich der Aus-
druck der Schönheit sogar Gefahr droht, dennoch der bessere Ge-
schmack unsers Zeitalters fast ausschliesslich auf ihn gerichtet ist.
Sowohl in Gemählden als in den Werken der bildenden Kunst ver-
gessen wir Grazie und Schönheit über der Zeichnung der Cha-
raktere, und oft nur der momentanen leidenschaftlichen Stimmung
derselben; dem Dichter übersehen wir Fehler der Composition
des Ganzen, auf welcher die Schönheit beruht, wenn er uns nur
durch Charakter-Ausdruck Genüge leistet, und eben so verzeihen
wir dem Schriftsteller überhaupt Mangel an kunstvoller Einheit
der Darstellung, wenn er uns nur durch kühne und originelle
Wendungen interessirt. Der wahre Tonkünstler, der sich über
den willkührlichen Anspruch der Mode hinaussetzt, führt eine
ähnliche Klage, und wer sich gewöhnt hat, das Gesetz der Schön-
heit auch auf Gegenstände des täglichen Lebens anzuwenden, der
muss in unserm Umgang, unserm Anstand, unsern Sitten sehr
und weibliche Form. og-
oft die nöthige Grazie und das Bestreben nach ächter Schönheit
vermissen, so sehr auch der Verstand durch den innern Gehalt
und Charakter im einzelnen befriedigt wird. Kaum ist es mög-
lich, sich hiebei nicht an den Einfluss zu erinnern, welchen zwei
Nationen von ganz entgegengesetztem Charakter nach und nach
auf unsern Geschmack ausgeübt haben, und seine Blicke nicht
erwartungsvoll auf eine dritte zu richten, welche den Gehalt, wie
die Form, wieder in ihre Rechte einsetzte und beiden einander
zu verdrängen wehrte, wenn sich von einem besondern National-
charakter die ^^ollendung erwarten Hesse, die nur das Werk des
allgemeinen ^^ernunftcharakters se3'n kann. Aber so unmöglich
es auch ist, anders als auf diesem Weg zu der ächten Schönheit
hindurchzudringen, so sehr ist man wieder in Gefahr, gerade
auf diesem Weg sie gänzlich zu verfehlen.
Noch mehr, als die Schönheit selbst, muss die Weiblichkeit
von dieser Gefahr bedroht werden, da sie nicht bloss der Schön-
heit so nah verwandt ist, sondern sich ihr gerade von derjenigen
Seite nähert, welche durch den Ausdruck verloren geht; und in
der That müsste man für die ächte Weiblichkeit im Ausdruck
besorgt seyn, wenn man jenem herrschenden Zeitgeschmack einen
Einfluss auf weibliche Bildung zutrauen dürfte. Denn auch hier
wird nicht selten das Anziehende mit dem Schönen verwechselt,
und unter den verschiedenen Arten des Ausdrucks selbst dem
stärker hen'orstechenden der mehr sanfte und gefällige nachgesetzt.
Wie es überhaupt das Schicksal der W^eiber ist, weit öfter den
einseitigen Foderungen der Sinne oder des "\'"erstandes, als dem
Urtheil reiner Empfindung unterworfen zu werden, so wird auch
bei Beurtheilung ihrer Schönheit (wenn man sich ja über das
Sinnliche erhebt) noch zu sehr auf irgend einen hen-or-
stechenden Ausdruck von Geist, Witz und Lebhaftigkeit Rücksicht
genommen, und dagegen zu leicht der Ausdruck eines ruhigen,
aber sanften und zarten Gefühls übersehn. Auch jetzt noch hat
man sich nicht ganz entwöhnt, nur, was piquant ist, zu suchen,
und gleich als wäre man sich seiner Schlaffheit bewusst, überall
einen erweckenden Reiz zu verlangen. Darum wird gerade der
höchste Charakterausdruck, dessen durchgängige Harmonie der
Schönheit am meisten empfänglich ist, auch jetzt noch am meisten
verkannt, und der mehr in die Augen fallende Glanz des Verstandes
dem bescheidenen Ausdruck der Empfindung vorgezogen, die sich
nur durch Ueberspannung interessant machen kann. Gerade die
oßß lo. über die männliche
ächtweiblichen Gestalten, die nichts Ausgezeichnetes besitzen, aus
welchen aber Zartheit des Gefühls, ruhige Sittsamkeit, und ein
anspruchloser Eifer für alles Wahre und Gute spricht, werden
mit dem zweideutigen Lobe zurückgewiesen, womit man die blosse
Herzensgüte mehr zu beschämen als zu belohnen pflegt. Nichts
aber ist dem Charakter wahrer Weiblichkeit in der äussern
Bildung verderblicher, als diese Stimmung des Geschmacks, die,
obgleich sie sich, der besseren Richtung des Zeitalters nach, ihrem
Ende naht, und bald nicht mehr die herrschende seyn dürfte, doch
noch immer zu allgemein ist. Denn da die Eigenthümlichkeit der
weiblichen Gestalt auf Freiheit und Harmonie des Ganzen beruht,
der Ausdruck aber immer einzelne Züge mehr oder minder
heraushebt, so muss er mit demselben in einem nothwendigen
Widerstreit stehen, und sehr oft wird man die Unweiblichkeit ge-
wisser Bildungen in der blossen Stärke des Ausdrucks gegründet
finden.
Wer indess von der Vollkommenheit der weiblichen Gestalt,
selbst in ihrer Unabhängigkeit von der Schönheit, durchdrungen
ist, der wird derselben deshalb nicht weniger Ausdruck bei-
messen wollen, als der männlichen. Sie muss vielmehr, da sie
sich ihrer Xatur nach weniger an den Verstand, als an die Sinne
wendet, noch sorgfältiger Leerheit vermeiden. Zwar sind die
Gränzen, innerhalb welcher der Ausdruck spielen darf, in der
weiblichen Gestalt gev.'iss enger gezogen, nur dass der weibliche
Körper, durch seine grössere Geschmeidigkeit, feinere Verschieden-
heiten bemerkbar zu machen fähig ist, und dadurch vorzugsweise
Feinheit des Ausdrucks besitzt. Denn nicht in einzelnen, scharf
gezeichneten Zügen, sondern innig in die ganze Gestalt verwebt,
auf den ersten Blick kaum bemerkbar, und in edle Einfachheit
gekleidet, muss sich der innere Charakter in wahrhaft weiblichen
Bildungen darstellen. Ist aber diese vollkommene Harmonie un-
erreichbar, so ist es sogar weiblicher, wenn die Seele sich nur
durchzublicken genügt, als wenn sie sich vorzudrängen strebt.
Unstreitig ist also die weibliche Schönheit mit dem Ausdruck,
aber nur mit dem höchsten verträglich. Nur der Charakter, nicht
der beschränkte Zustand vorübergehender Neigungen und Affecte
stellt sich mit Glück in ihr dar, und auch jener nur in der harmo-
nischen Einheit seiner Kräfte, und der Totalität seiner Anlagen.
Leichter verstattet daher die Weiblichkeit den Ausdruck der Phan-
tasie und Empfindung, als des Verstandes, da dieser mehr auf
und weibliche Form.
367
Trennung, wie Jene auf Verbindung gerichtet ist. Allein selbst
die Verstandeskräfte wirken in dem Weibe weniger trennend als
verbindend, woraus vorzugsweise die eigenthümliche Erscheinung
entspringt, die wir Geist nennen, und die der Mann nicht immer
mit gleicher Leichtigkeit en^ärbt. Durchaus stehen daher Schön-
heit und Weiblichkeit in gleichem A^rhältniss zum Ausdruck in
der Gestalt; auf gleiche Weise droht er beiden Gefahr, und auf
gleiche Weise ist er mit beiden zu vereinigen.
Ganz anders verhält sich dagegen der Ausdruck zur Eigen-
thümlichkeit der männlichen Bildung. Er mag auf einzelnen her-
vorstechenden Zügen beruhen, oder in die ganze übrige Gestalt
feiner verflochten seyn, sich vordrängen oder bescheidner zurück-
stehn; so kann er zwar durch seine Stärke die Schönheit be-
leidigen, welche immer beide Geschlechter einander näher führt,
aber das Charakteristische der Männlichkeit wird dabei eher ge-
winnen, als verlieren. Ist er daher bei dem weiblichen Geschlecht
mehr versteckt, als sich von der rein menschlichen Gestalt er-
warten Hesse, so ist er bei dem männlichen deutlicher ausgesprochen.
Deutlicher fällt er daher auch in der männHchen Bildung ins Auge,
da er bei der weiblichen dem ungeübten Blick sogar oft entgeht.
Weil aber die Uebereinstimmung in der männlichen Gestalt mehr
gedacht als empfunden wird, so scheint der männliche Ausdruck
oft räthselhafter und sonderbarer, als der weibliche, der mit der
ganzen Gestalt in \^erbindung steht, und durch dieselbe erklärt
wird. Eben darum aber erfodert der letztere, um vollkommen
verstanden zu werden, einen von Natur feinen und vielfach ge-
übten Tact, jener mehr eindringenden Scharfsinn, und durch Er-
fahrung unterstützte Urtheilskraft.
Das freieste Gebiet eröfnet sich dem Ausdruck in der Be-
wegung der Gestalt, und hier vorzüglich entfaltet der weibliche
Charakter seine ganze Eigenthümlichkeit, die sich ungleich sicht-
barer in dem wechselnden Minenspiel, als in den bleibenden
Zügen des Gesichts offenbart. Durchaus ist die Gestalt der Weiber
sprechender, als die männliche; und, der Harmonie einer seelen-
vollen Musik ähnlich, sind alle ihre Bewegungen feiner und sanfter
modulirt, da hingegen der Mann auch hier eine grössere Heftig-
keit und Schwere verräth. Da in der weiblichen Seele die Phan
tasie immer dem Verstände, die Empfindung der Vernunft zuvor-
eilt, und dadurch beide, indem sie auch selbst unaufhörlich in
einander übergehn, gemeinschaftlich die Einheit des Gemüths
368
10. über die männliche
hervorbringen, nach welcher der Mann nur mit mühsamer An-
strengung strebt; so ist bei den Weibern auch das innre Leben
weniger von der äussern Erscheinungsweise geschieden, und mit
freiwilliger Leichtigkeit mahlt sich die Seele in dem bildsameren
Bau. Von selbst theilt sich den Zügen die unbeschränkte Freiheit
der Umrisse mit, durch welche der blosse Ausdruck in die Schön-
heit überfliesst; denn nicht eine einzelne Bewegung, sondern die
ganze Seele ist es, die aus derselben spricht, und zwar eine weib-
hche Seele, die, weil Phantasie und Empfindung in ihr herrschen,
mehr das Harte und Feste, als das Schwankende und Unbestimmte
flieht. Aber nicht die Gestalt allein, auch die Stimme, die noch
mächtiger ist, unmittelbar die Empfindung zu wecken, trägt die-
selbe Eigenthümlichkeit in beiden Geschlechtern an sich. Sanfter
und melodischer, aber in mannigfaltiger wechselnden Schwingungen
ertönt sie aus dem Munde des Weibes ; einfacher, aber eindringen-
der und stärker aus dem Munde des Mannes, und beide drücken
die Gefühle ihrer Seele ihrem Charakter gemäss aus.
Auf jener zarten Bildsamkeit der weiblichen Gestalt, durch
die sie ein treuer und heller Spiegel des Innern wird, beruht der
eigenthümliche Genuss, welchen der Umgang mit dem andern
Geschlecht gev/ährt. Nirgends spricht die Empfindung so un-
mittelbar zu uns, und nichts vermag daher auch so tiefe Gefühle
zu wecken, so harmonische Stimmungen hervorzubringen. Den
Mann, der durch seine Thätigkeit leicht aus sich selbst heraus-
gerissen wird, wieder in sich zurückzuführen; was sein Verstand
trennt, durch das Gefühl zu verbinden; seinen langsamem Fort-
schritten zuvorzueilen, und die höchste Vernunfteinheit, nach der
er strebt, ihm in der Sinnlichkeit darzustellen, ist die schöne
Bestimmung dieses Geschlechts, mit der auch die äussere Bildung
desselben aufs genaueste zusammenstimmt. Daher beruht auch
die Macht des Weibes vorzugsweise auf der lebendigen Gegenwart,
wo nicht vor den Sinnen, doch vor der Einbildungskraft. Zwar
gilt eben diess auch von dem Manne, wenn er in dem ganzen
Adel seiner Bildung auftreten soll; auch seiner Gestalt ist eine
Sprache eigen, welche das Herz mächtig ergreift, und die Stim-
mungen seiner Seele mit den feinsten Zügen mahlt. Allein um
sein Inneres zu dieser Zartheit zu stimmen, und seinen äussern
Bau einer solchen Bildsamkeit fähig zu machen, muss er sich von
seinem Geschlecht gleichsam lossagen, und über den Naturzweck
hinausgehen; also mehr leisten, als selbst seine höhere Bestimmung
uud weibliche Form.
3Ö9
erheischt. Das weibliche Geschlecht hingegen muss gerade jede
weibliche Eigenthümlichkeit mit schonender Sorgfalt zu erhalten
bemüht se^'n, um nicht jenen lebendigen Ausdruck seiner Gestalt
selbst zu zernichten; und wenn ihm diess Bemühen gänzlich
mislingt; so sinkt es allein zu seiner Naturbestimmung und den
Verrichtungen des äussern alltäglichen Lebens herab, oder geht
zu Beschäftigungen über, die eigentlich nicht zu seinem Kreise
gehören. Denn auch hier ist die Weiblichkeit, sobald man die
Gränzen des blossen Naturzwecks verlässt, nur das Höchste zu
geben geschaffen, und wer sich mit andern Foderungen an sie
wendet, der beweist bloss seine Unkenntniss des Geschlechts.
W. V. Humboldt, Werke. I. 24
II.
Rezension von Wolfs Ausgabe der Odyssee.
Philologie.
Halle, in der Waisenhausbuchh. : Hovieri Odyssea et Batracho-
jnyomachia. In usuni scholarum et praelectioniim. Editio altera,
priore emendatior. 1794. XXXIV Vorb. u. 47S S. 8. (i Rthlr.)
So wenig auch die Absicht des Hn. Prof. Wolf dahin gieng,
in diesem Abdruck, der allein den Mangel der Exemplarien der
Odyssee bis zur Vollendung seiner jetzigen neuen Ausgabe des
Homer ^) zu ersetzen bestimmt ist, eine vollständige Recension des
Textes vorzunehmen; so hat doch eine nicht unbeträchtliche An-
zahl von Stellen schon hier ihre Berichtigung erhalten. Die Be-
urtheilung dieser Textverbesserungen bleibt schicklicherweise bis
zur Erscheinung der grössern Ausgabe ausgesetzt, und nur also
um bestimmter anzugeben, wodurch sich auch schon dieser Ab-
druck vor dem vorigen^) auszeichnet, wollen wir einige der-
selben ausheben, uns aber auch diese bloss anzuzeigen begnügen.
So steht III. 73. für xoty^ äXdiovrat : roi %' älötovrai (wie schon sonst
IX. 254.). IV. 372. f. liisd^irjg : f^s^leig (vergl. Brunck ad Soph. Oed.
Tyr. 628). 667. f. al'Kä ol avxCo : allä ol amCo (ihm selbst, im
Erster Druck: Allgemeine Literatur zeitiing vom Jahre i'jfjs 2, 5(^9-— 57 J
(Nr. lOy, 16. Juni).
^) Vgl. über diese berühmte, nur die Ilias umfassende Ausgabe, deren Er-
scheinen Wolfs „Significatio de operum homericorum critica editione a se curata"
1794 vorausgegangen war. Körte, Leben und Studien Friedrich August Wolfs
des Philologen i, 26^.
-j Die erste Außage war Halle iy84—S5 erschienen.
II. Rezension von Wolfs Ausgabe der Odyssee. o-rj
Gegensatz mit dem gleich darauf folgenden tvqIv rj/nlv). VIII. 337.
342. XVII. 37. und sonst f. %Qvof^: XQvoej] (nach dem alten Jonismus,
wie schon sonst Od. VII. 90. II. V. 427. u. a. a. O. m.). VIII.
483. f. fJQwi: fJQ(p. 539. f. ölog äotöbg : ^elog a. X. 7. f. äxotTag: aMkig.
II. f. aiöoioig alöxoioiv : cuöoirjg a. XI. 335. f. oye : oöe. XII. 87. f.
7ie)MQ -/.a-Äog : TtelwQ '/.axöv. XIV. 101. f. ovßöosia : ovßöoia (wie IL
XI. 678. neue Wolf. Ausg. 679.). 445. f. Id-sht : ide'Aj] (wegen des
vorhergehenden xe). XV. 105. f. «V^" eoav ol Ttirtloi : sv^" eoäv ol n.
(nach einer besondern Ausnahme, welche die alten Grammatiker
hier machten, damit nicht 01 als Nominativ zu Ttinloi gezogen würde).
XVIII. 35(). f. fi ctQ x' l^fAsig : ^ ctQ a Id^iloig. XXII. 14. f. ol : ol.
Batrachom. 248. f. (fvyjj : cpvyoi, und um einige noch wichtigere
zusammenzustellen: XIII. 439. f. tw — öieTi-iayov : %. — öihf.iayev {\tv^.
II. I. 531. VII. 302.). XIV. 92. f. ovo' ht (psLÖw : ovo' em cp. XVI.
387. f. ßovleod^E : ßöleo^^e. X\'^III. 35Q. f. sv&a d'lyw : ev&a /^ iyco.
XIX. 590. f. ov (.loi : ov TIS i-ioL. Vorzüglich aber hat der Heraus-
geber den ganzen Text in Absicht auf die Accentuation und Ortho-
graphie überhaupt, im weitesten Sinne dieses Worts, durchaus
umgeformt, und mit den Grundsätzen des gelehrten Alterthums,
vorzüglich der besten Alexandrinischen Grammatiker, überein-
stimmend gemacht. Ueber einige dieser Grundsätze selbst, die
zum Theil vor Bekanntmachung der venetianischen Schollen^)
nicht vollständig aufgefunden werden konnten, hat er sich in der
Vorrede erklärt, und damit den Freunden der Griechischen Literatur
ein neues schätzbares Geschenk gemacht, da es Jetzt z. B. möglich
ist, die verwickelte Lehre der Anastrophe, über v/elche bisher nur
höchst unbestimmte Begriffe herrschten, in einigen wenigen all-
gemeinen Regeln (unter denen wir nur diejenigen, welche log be-
treffen, vermissen) zu übersehen.'-) Ueberhaupt lässt sich, nach
dem nun durch diese Wolfische Ausgabe der Odyssee, und die
eben erschienene der Iliade, ein vollständiges Muster einer Text-
berichtigung von dieser Seite (bei der wir hier allein verweilen)
gegeben ist, die Hofnung schöpfen, dass auch die künftigen Heraus-
geber der Classiker, wenigstens durch diese Erleichterung aufge-
muntert, ihre Aufmerksamkeit endlich auf diese Dinge richten,
und die Meisterwerke des Alterthums auch in dieser Rücksicht
in ihrer wahren Gestalt herstellen werden; — eine Hofnung, die
V Diese wurden zum ersten Mal Venedig i ■j6'6' durch Villoison herausgegeben.
V Vgl. Wolf S. XVII.
24*
372
1 1. Rezension von
freilich vielen höchst unbedeutend scheinen wird, es aber wahrlich
am wenigsten in einem Zeiträume ist, in welchem die Kritik schon
offenbar an schwankender Unbestimmtheit krank liegt, und in
w^elchem (einige seltene Ausnahmen abgerechnet) gerade gründ-
liche Genauigkeit am meisten vermisst wird. Der Herausg. erklärt
sich an mehreren Stellen der Vorrede bald ernsthaft, bald mit
feiner Ironie über die Sitte, diese grammatikalischen Dinge als
geringfügige Kleinigkeiten zu verachten, gegen welche schon allein
die Betrachtung sprechen sollte, wie subtil die alten Theoristen
von Aristoteles an über diese Gegenstände zu raisonniren pflegten.^)
Und gewiss ist es auch nirgends so sehr, als in der Kritik der
Fall, dass selbst das Kleinste in sehr naher Beziehung auf das
Wichtigste steht. Denn um die Denkmäler des Alterthums, so
viel es möglich ist, wieder in ihrer Aechtheit herzustellen, darf
auch die geringfügigste Kleinigkeit nicht verabsäumt werden, sobald
sie nur irgend dazu dienen kann, diese Aechtheit zu erkennen,
oder gleichsam festzuhalten. Ueberhaupt aber ist es schwer zu
sagen, was denn eigentlich Kleinigkeit heissen solle? Für den-
jenigen, der sich gewöhnt hat, irgend ein Fach der Wissenschaften
mit philosophischem Geist zu studiren, hat kein Theil desselben
eine abgesonderte Wichtigkeit, sondern jeder erhält dieselbe nur
durch sein Verhältniss zum Ganzen. Nur durch den Gesichts-
punkt aufs Ganze, nicht aber durch flüchtiges Vorübergehn vor
dem scheinbar Geringfügigen, unterscheidet sich die geistvolle Be-
handlung von der pedantischen. Nun aber hängt in den Wissen-
schaften alles mit allem zusammen, und wenn der Kritiker z. B.
die Sprache in ihrem ganzen Umfange studiren muss, so ist es
schwer zu begreifen, wie er z. B. Accentuation und Orthographie
übergehen, oder doch nicht erschöpfend, sondern allenfalls nur
bis auf einen gewissen beliebigen Grad studiren könne. Wie viel
aber von der Kenntniss der Lehre der Accentuation, und gerade
in ihren bisher weniger bemerkten Feinheiten abhängt, davon führt
der Vf. vorzüglich S. XV. ein merkwürdiges Beispiel bei Ge-
legenheit <\q.t protiominum hy/Xuiv/MV und ÖQd-OTOvovf.ievwv an. In der
bekannten Stelle der Ilias nemlich (V. 116.), wo Diomedes die
Minerva um Beistand anruft, liess man bisher durchaus in allen
Uebersetzungen den Helden sagen : „wenn Du m i r und dem Vater
sonst beistandest, so stehe mir jetzt bei" (eben als würde ei/tor'
V Vgl. Wolf S. VII. IX. XIV. XXIV. XXVII. XXXIV.
"Wolfs Ausgabe der Odyssee. nnr,
i^iol -/ML TTUToL gelesen), da er sich doch, wenn man genau dem
in allen Ausgaben vorkommenden Accente folgt (einoTe (.lot •/.. 7t.),
mit wahrhaft Griechischer, auch dem Heldenalter nicht fremder
Bescheidenheit so ausdrückt: „Wenn Du einst meinem Vater
beistandest, so stehe nun auch m i r bei." Schwerlich würden sich
manche, die stolz darauf zu thun scheinen, nur den Geist und
den ästhetischen Gehalt der Alten aufzusuchen, eingebildet haben,
dass mangelhafte Kenntniss der Accentuation sie dahin bringen
könnte, der Zartheit eines Heldencharakters Unrecht zu thun.
Allein selbst wo der Einfluss der Lehre von der Accentuation auf
den Sinn nicht so offenbar ist, als hier, giebt sie doch oft eine
dringende ^'eranlassung, nicht nur in den Sinn einzelner Stellen,
sondern in die Natur der Sprache und der Wortfügung überhaupt
tiefer einzugehen, und auch hiezu liefert diese Vorrede einige
trefliche Belege. Es ist nemlich bekannt, dass, wenn das Nomen,
zu welchem eine Präposition gehört, vor derselben vorausgeht,
die Präposition alsdann in der Regel ihren Accent von der letzten
Silbe auf die erste zurückzieht, damit sie in der Aussprache mit
dem vorhergehenden, nicht aber mit dem folgenden Worte ver-
bunden werde. Ist nun der Fall so, dass einige Worte später ein
Verbum folgt, mit dem die Präposition wohl sonst auch verbunden
zu werden pflegt (wie z. B. Od. III. 408. IX. 6. II. X. 274.
XXIII. 561.), so ist eine doppelte Beziehung der Präposition auf
das Verbum vorwärts und auf das Nomen rückwärts möglich,
von welchen jede eine verschiedene Stellung des Accents erfodert,
und hier hängt nun die Entscheidung, die nicht in allen Fällen
dieselbe seyn kann, von einer feinen Untersuchung der Natur der
Wortfügung und der Aussprache überhaupt, der Eigenthümlich-
keit der Griechischen Sprache insbesondre, und sogar der Sitte
des besondern Zeitalters und Schriftstellers ab. So bemerkt der
Herausg. bei dieser Gelegenheit, z. B. S. XXV. sehr scharfsinnig,
dass in der alten Homerischen Sprache über die Trennung der
Präpositionen von ihren Verbis, und über die Tmesis überhaupt
anders, als in der späteren geurtheilt werden müsse, da jene noch
freier trennt, was diese regelmässiger verbindet. Auf diese Weise
leitet also die Accentuation selbst, und gerade durch ihre soge-
nannten Spitzfindigkeiten auf eben die Dinge, die man jetzt so oft
im Munde führt, auf Sprachphilosophie, Geist des Zeitalters u. s. f.,
über die es aber freilich bequemer ist, oberflächlich zu raisonniren,
als gründliche historische Untersuchungen anzustellen. Freilich
374
II. Rezension von
Wäre es nun hiezu nicht eben nöthig, die Accente wirklich zu
schreiben, genug wenn man nur auch auf die nicht ge-
schriebenen achtete; hierauf aber muss Rec. den Leser bitten,
die Antwort bei dem Herausg. selbst nachzusehen. (S. XXI.)^)
Bei den Griechen endlich, in deren Charakter das feinste, und auf
das höchste ausgebildete Schönheitsgefühl ein hervorstechender
Zug ist, sollte nicht bloss die Materie, der GedankengehaJt,
sondern auch die Form, und zwar im weitesten Sinne des Worts,
wichtig scheinen. Dahin aber gehört ganz vorzüglich die Decla-
mation, der Vortrag der Poesie sowohl als der Prose, und da es
der Natur der Sache nach äusserst schwierig ist, von dieser einen
richtigen Begriff zu fassen ; so wäre es mehr als sonderbar, wenn
man gerade dasjenige Studium vernachlässigen wollte, was hier
eine entschiedene Wichtigkeit hat, das Studium der Accentuation
und Orthographie. Immer wird freilich der Versuch vergeblich
bleiben, die Declamation der Alten ganz wieder unter uns her-
zustellen, und den Homer eben so als Plato, oder auch nur als
Longin zu lesen; aber unläugbar bleibt es doch, dass das Studium
derselben uns nicht nur über die Feinheit des Griechischen Organs
wichtige Aufschlüsse, sondern auch über unsere eigene Declamation
in unsrer Sprache nicht unbedeutende Winke ertheilt. In dieser
letzten Rücksicht führt der Herausg. z. B. die Sorgfalt an, mit
welcher die Griechen bei apostrophirten Wörtern den Consonans,
der zur weggelassenen Silbe gehört, mit der folgenden Silbe ver-
banden, da bei uns ungeübte Leser ihn so oft an die vorher-
gehende anschliessen, und die sie bewog, diesen Consonans, wenn
das W^ort am Ende eines Verses stand, allein zu trennen, und
zum Anfang des folgenden hinüberzuziehen, wie z. B. 11. VIII. 207.
v^, avzov x' evd^ änäxotzo y.a&i]i.i£vog oiog ev "löj]'-)
Im Pindar (0/. III. 46.) muss sogar ein einzelnes solches v
einmal aus dem Ende einer Antistrophe in den Anfang der
folgenden Epode hinüberwandern. In der That klingt auch, wie
^J Doi't heißt es: „Dicunt quidem ii, qui scribentes tonis non utuntur, contextu
cujusque loci facile indicari, quo modo illa distinguenda sint. Recte. Quo modo ambigua
pronuntiando distinguenda sint, contextus indicat; quo et alia plura nituntur et tota
interpunctio. Hac tarnen nobiscum utuntur isti. Cur ergo tonos minus volunt notis suis
insigniri, quos se certe recitando et tacite legendo distinguere non dissimulant?"
2; Vgl. Wolf S. IX.
Wolfs Ausgabe der Odyssee. o^r
iedem nicht ungebildeten Ohr auffallend seyn muss, die entgegen-
gesetzte Aussprache nicht nur höchst unangenehm, sondern giebt
noch ausserdem manchmal zu Zweideutigkeiten Anlass. So kann,
um ein Beispiel aus unserer Sprache anzuführen, das apostrophirte
Imperfectum : winkt' durch unrichtiges Lesen in das Präsens ver-
wandelt werden, und ein lächerliches Misverständnis derselben Art
erzählt der Scholiast des Euripides von dem Atheniensischen Theater.
Als nemlich Orestes beim Euripides (Eur. Or. 279.) aus einem
Anfall der Raserei erwacht, ruft er aus:
Ey. v.vuc'itcov yuQ av^ig av yalrjv oqco.
„Die Woge schweigt; ich seh' die Heitre wieder!"
Der Schauspieler Hegelochus hielt, als er diese Rolle spielte, weil
ihm gerade nach der zweiten Silbe der Odem ausgieng, hinter
yalry ein, und nun klang der ^^ers:
"Ek KVfiärcov yciQ nv&is av ycc?.fjv oqcö.
„Die Woge schweigt; ich seh' das Wiesel wieder!"
Die Comödiendichter versäumten diese Gelegenheit nicht, sich
über das tragische Theater lustig zu machen. Sann}Tion unter
andern Hess einen Verfolgten, der vor seinen Feinden floh, ausrufen:
„Wie mach' ichs, dass ich in ein Loch entschlüpfe?
Könnt' ich nur schnell zum Wiesel werden!
Allein was hülf es mir? Es käme
Hegelochus, der Tragiker, und schriee
Laut meinen Feinden zu :
Die Woge schweigt; ich seh' das Wiesel wieder!"
und auf eine ähnliche Art wird der arme Hegelochus auch von
Aristophanes verspottet. (S. Aristoph. Raft. v. 304., wo Bruncks
Note, so wie Markland ad Eur. Suppl. 901. zu berichtigen ist.)
Diese Materie, noch ein wenig weiter verfolgt, könnte noch zu
andern sehr interessanten Bemerkungen führen. Wenn z. B. in
solchem Fall gerade nach einem Apostroph der Sinn einen Ab-
schnitt verlangt, wie schv^^ebend muss dann die Griechische Stimme
beide Wörter gehalten, wie sanft sie in einander haben überfliessen
lassen? und ebenso, wenn dieser Fall am Ende des Verses ein-
tritt, da der Herausg. bemerkt, dass das Ende des Verses allemal
im Lesen angedeutet wurde ;\) wohin vielleicht auch gehört, dass
die Griechischen Dichter, vorzüglich die lyrischen, zu den End-
silben der Verse gern lange Silben wählten, (w^ie denn namentlich
j; Vgl Wolf S. XIX.
linß II. Rezension von Wolfs Ausgabe der Odyssee.
bei Pindar bei weitem der grösste Theil der Endsilben lang ist,)
um dadurch das Schweben und Innehalten der Stimme zu er-
leichtern, (vergl. Marius Victorinus eä. Putsch, p. 2569.) ^) die
doch gewiss wieder sehr schnell zum folgenden Verse hinüber-
eilte, da die Endsilbe des einen Verses oft durch Position der
Anfangssilbe des andern lang wird, und die Griechen überhaupt
weit schneller, als wir, declamirten. Aber vielleicht hat sich Rec.
durch das Interesse, das diese, noch so wenig behandelte Materie
in ihm erweckte, schon zu weit führen lassen. Er begnügt sich
daher, nur noch anzumerken, dass der Leser, ausser den genannten
Gegenständen, noch über andere Materien, z. B. über die richtige
Abtheilung der Wörter (z. B. Ttqe-aßa oder Ttgeg-ßa), ^TQeiörjg oder
i^TQuörjg, die l^Tvirj yala, das v i(p€Xyivai;ixöv, die Verdoppelung der
Consonanten, und vorzüglich der fünf Halbvocale, die Zusammen-
ziehung einiger Wörter (z. B. af-iTtelayog) und die Diastole, lehr-
reiche Bemerkungen findet, welche die Resultate gelehrter und
scharfsinniger Untersuchungen sind.-) Denen, die sich nicht scheuen,
tiefer einzugehen, empfehlen wir die Vergleichung einiger Stellen
der Reitzischen Schrift de prosodiae Graecae accentus inclmatione,
vorzüglich p. 124 — 126. von der Anastrophe.^)
Endlich dürfen wir nicht unbemerkt lassen, dass der Druck
sehr sauber, und weniger klein und angreifend für das Auge, als
in der vorigen Ausgabe ist, und dass sich auch dieser Abdruck
durch die, den Wolfischen Ausgaben so eigenthümliche Correct-
^eit auszeichnet.
■') „Desinit autem spondeo, quia constat ex duabus longis vel quia omnis depositio
recipit moram" Keil, Grammatici latini 6, 131. Humboldt zitiert die alten Gramma-
tiker nach Putsches Hanau 1605 erschienenen „Grammaticae latinae auctores antiqui."
^; Vgl. Wolf s. VIII. XI. XXV u. xxvin. xxx. xxxi. xxxiii.
'^ Auch Wolf S. XVIII verweist auf diese Erörterung von Reiz, dessen
Schrift er selbst ijgi neu herausgegeben hatte.
12.
Plan einer vergleichenden Anthropologie.
I.
Wie man in der vergleichenden Anatomie die Beschatfenheit
des menschlichen Körpers durch die Untersuchung des thierischen
erläutert: ebenso kann man in einer vergleichenden Anthropologie
die Eigenthümlichkeiten des moralischen Charakters der ver-
schiedenen Menschengattungen neben einander aufstellen und
vergleichend beurtheilen.
Geschichtschreiber, Biographen, Reisebeschreiber, Dichter,
Schriftsteller aller Art, selbst den speculativen Philosophen nicht
ausgenommen, enthalten Data zu dieser Wissenschaft. Auf Reisen,
wie zu Hause, im geschäftigen, wie im müssigen Leben bietet
sich überall die Gelegenheit dar, sie zu bereichern und zu be-
nutzen, und unter allen Studien ist kein anderes in so hohem
Grade unser beständiger Begleiter, als das Studium des Menschen.
Es kommt nur darauf an, den reichen Stolf, den das ganze Leben
hergiebt, zu sammeln, zu sichten, zu ordnen und zu verarbeiten.
Diess zu thun ist die vergleichende Anthropologie bestimmt,
welche, indem sie sich auf die allgemeine stützt, und den Gattungs-
( Charakter des Menschen als bekannt voraussetzt, nur seine indivi-
duellen Verschiedenheiten aufsucht, die bloss zufälligen und vor-
übergehenden von den wesentlichen und bleibenden absondert, die
Beschatfenheit dieser erforscht, ihren Ursachen nachspürt, ihren
Werth beunheilt, die Art sie zu behandeln bestimmt, und den
Fortgang ihrer Entwicklung vorhersagt.
Handschrift (4^ Qiuvtseiten) im Archiv in Tegel.
378
12. Plan einer
Wichtigkeit dieser Untersuchungen.
Es giebt kein praktisches Geschäft im menschlichen Leben,
das nicht der Kenntniss des Menschen bedürfte, und zwar nicht
bloss des allgemeinen, philosophisch gedachten, sondern des indivi-
duellen, wie er vor unsern Augen erscheint. Es ist schwer bei
der Erwerbung dieser Kenntniss den doppelten Fehler zu ver-
meiden, sich weder einen zu unbestimmten und allgemeinen, noch
auch einen zu particulairen Begriff von dem Individuum zu bilden;
es weder zu sehr bloss nach seinen möglichen Anlagen, noch zu
sehr mit allen bloss zufälligen Beschränkungen zu betrachten.
Durch den ersteren beraubt gewöhnlich der bloss speculirende
Philosoph seine Grundsätze ihrer praktischen Anwendbarkeit;
durch den letzteren der blosse Geschäftsmann seine Einrichtungen
ihrer längeren Dauer und ihres wohlthätigen Einflusses auf die
Aufklärung und den Innern Charakter.
Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie
er ist, und mit Freiheit zu beurtheilen, wozu er sich entwickeln
kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philo-
sophirende Geist gemeinschaftlich thätig seyn. Diese Verbindung
aber wird beträchtlich erleichtert, wenn die individuelle Charakter-
kenntniss in einer vergleichenden Anthropologie zu einem Gegen-
stande des wissenschaftlichen Nachdenkens erhoben wird, und
wenn man in derselben von den Eigenthümlichkeiten verschiedener
Menschenclassen, und dem gewöhnlichen Einfluss äusserer Lagen
auf den Innern Charakter bestimmte und getreue Schilderungen
antrift. Der allgemeine Typus, den sie angiebt, kann alsdann mit
Hülfe eigner Erfahrung weiter ausgezeichnet ; in der Sphäre, welche
sie einem Charakter überhaupt als möglich anweist, kann die Stelle
bestimmt werden, welche er in dem jedesmaligen Moment wirk-
lich einnimmt.
Der Gesetzgeber, hat man immer gesagt, muss seine Nation,
ihren Geist und ihre Gesinnung studirt haben, wenn er mit Fort-
gang auf sie einwirken will. Wie aber ist es möglich den Cha-
rakter Einer Nation vollständig zu kennen, ohne nicht zugleich
auch die andern erforscht zu haben, mit welchen jene in den
nächsten Beziehungen steht, durch deren contrastirende ^) Ver-
schiedenheit er theils wirklich entstanden ist, theils allein voll-
V „contrastirende" verbessert aus „charakteristische".
vergleichenden Anthropologie. 2. ^7Q
kommen begriffen werden kann ? und wie ist es erlaubt, auf einen
individuellen Charakter einzuwirken, ohne darüber nachgedacht zu
haben, inwiefern Charakterverschiedenheiten überhaupt möglich?
inwiefern mit den Foderungen einer freien und allgemeinen Aus-
bildung verträglich ? oder gar politisch oder moralisch nothwendig
sind ?
Um einzelnen Zügen gleichsam gewisse Kunstgritfe der Re-
gierungskunst abzulernen, um einzusehen, dass man den Franzosen
nicht pedantisch, den Engländer nicht sichtbar despotisch behandeln
muss, bedarf es freilich so grosser Zurüstungen nicht. Mittel die
empfindlichen Stellen des menschlichen Charakters zu schonen,
und seine Schwächen zu benutzen, giebt auch eine obertlächliche
Beobachtung leicht an die Hand.
Aber es soll etwas ganz andres geschehen. Die individuellen
Charaktere sollen so ausgebildet werden, dass sie eigenthümlich
bleiben, ohne einseitig zu werden, dass sie der Erfüllung der all-
gemeinen Foderungen an allgemeine idealische ^) Vortreflichkeit
keine Hindernisse in den Weg legen, nicht bloss durch Fehler
und Extreme eigenthümlich sind, aber dagegen ihre wesentlichen
Gränzen nicht überschreiten, und in sich consequent bleiben. In
dieser Innern Consequenz und äussern Congruenz mit dem Ideal
sollen alsdann alle gemeinschaftlich zusammenwirken.
Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten
Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloss
um durch blosse Vermehrung der Kräfte grössere und dauerhaftere
Werke hen'orzubringen , sondern auch vorzüglich um durch
grössere Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren
Reichthum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen. Ein Mensch
ist nur immer für Eine Form, für Einen Charakter geschatfen,
ebenso eine Classe der Menschen. Das Ideal der Menschheit aber
stellt soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit
einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der
Totalität der Individuen erscheinen.
Man nehme in Gedanken aus der Reihe der Europäischen
Nationen eine hinweg, die keinen im Ganzen sehr beträchtlichen
Antheil an der Kultur und den Fortschritten dieses Welttheils ge-
nommen hat, und nicht einmal ein eigner Stamm, nur ein Zweig
einer andern Nation ist, ich meyne die Schweizerische, und es
würde auf einmal in dem kultivirten, üppigen, von der ersten
y „idealische" verbessert aus „klassische".
o8o 12. Plan einer
Einfachheit der Natur so weit entfernten Europa an einem Volke
fehlen, das noch mitten unter unähnlichen Nachbarn eine ver-
gleichungsweise so grosse Einfalt der Sitten besitzt, die Zahl seiner
Bedürfnisse auf so wenige beschränkt, sich mit einem so dürftigen
Vorrath von Mitteln und mit Verfassungen behilft, wie sie sonst
nur die Kindheit der Nationen zeigt.
Wir haben mit Fleiss den schweitzerischen Charakter zum
Beispiel gewählt, der wenigstens zum Theil der Natur so nah
verwandt ist, dass niemand seine Eigenthümlichkeiten anders als
mit innigem Mitgefühl untergehn sehen könnte. Denn sonst ist
nicht freilich gleich jede Verschiedenheit des Auf bewahrens w^erth,
und seltner gerade ist diess eine nationeile, die durch die Ver-
bindung so vieler bloss zufälliger Umstände entspringt.
Aber gerade weil nicht jede Varietät empfehlungswürdig, ja
viele sogar tadelhaft sind, und es doch (um nur diess Eine hier
in Betrachtung zu ziehen) schon physisch unmöglich ist, die
Menschen auf Einmal und gänzlich aus ihrem gewohnten Gleise
herauszuheben, ihre Individualität zu vernichten und sie zu andern
Menschen zu machen, muss man ihre Verschiedenheiten studiren,
und was sich aus ihnen entwickeln lässt, überschlagen.
Der Mensch soll seinen Charakter, den er einmal durch die
Natur und die Lage empfangen hat, beibehalten, nur in ihm be-
wegt er sich leicht, ist er thätig und glücklich. Darum soll er
aber nicht minder die allgemeinen Foderungen der Menschheit
befriedigen und seiner geistigen Ausbildung keinerlei Schranken
setzen. Diese beiden einander widersprechenden Foderungen mit
einander verbinden und beide Aufgaben zugleich lösen soll der
praktische Menschenkenner, und wie kann er in diesem Geschäfte
glücklich seyn, ohne die allgemeinen möglichen Verschiedenheiten
der menschlichen Natur, und die allgemeinen Verhältnisse einzelner
Eigenthümlichkeiten zum Ideal der Gattung sorgfältig erforscht
zu haben.?
Den Menschen zu bilden ist aber nicht bloss der Erzieher,
der Religionslehrer, der Gesetzgeber bestimmt. So wie jeder
Mensch neben allem, was er noch sonst seyn kann, zugleich immer
noch Mensch ist, so hat er auch die Obliegenheit auf sich, neben
allen Geschäften, die er sonst immer betreiben mag, zugleich auf
die intellectuelle und moralische Bildung seiner und andrer prak-
tische Rücksicht zu nehmen.
Es ist das allgemeine Gesetz, das die Vernunft aller Gemein-
vergleichenden Anthropologie. 2. q§ j
Schaft der Menschen unter einander unnachlasslich vorschreibt:
ihre MoraUtät und ihre Cultur gegenseitig zu achten, nie nach-
theilig auf sie einzuwirken, aber sie, wo es geschehen kann, zu
reinigen und zu erhöhen. Die Stärke der VerbindUchkeit hiezu
bei einzelnen bestimmten Geschäften wächst nun mit dem Grade
ihres Einflusses auf den Geist und den Charakter, und wo ihr
vollkommen ein Genüge geleistet werden soll, da muss ebensosehr
auf die individuelle Charakterform, als auf die allgemeine gesehen
werden.
Am wenigsten kann sich von dieser Verpflichtung der Gesetz-
geber lossagen, da er die grosseste und gefährlichste Macht in
Händen hat, auf die Menschen zu wirken. Die ganze Politik, vor-
züglich die innere, wird dadurch einem Gesichtspunkte unter-
geordnet, der ihr an sich eigentlich fremd ist. Denn da sie für
sich eigentlich nichts anders zu thun hat, als nur die Aufgabe zu
lösen, wie der letzte Zweck aller bürgerlichen Vereinigung, die
Sicherheit der Person und des Eigenthums am kürzesten und ge-
wissesten erhalten werden kann? so muss sie nun bei jeder Ver-
anstaltung, die sie vorschlägt, erst nach dem Einflüsse fragen,
welchen dieselbe auf den Charakter der Bürger, als Menschen,
ausüben wird? und jede erst nach diesem Maassstabe prüfen. Da
noch überdiess beide Gesichtspunkte fast überall auf ganz ent-
gegengesetzte Resultate führen müssen, der rein politische auf
Zwang, der erweiterte moralische auf Freiheit, so wird es ihr
schwierigstes Geschäft seyn, diese beiden streitenden Foderungen
mit einander zu vereinigen, und diese Schwierigkeit wird dadurch
noch grösser, dass sie, sobald von einer Anwendung die Rede ist,
einen individuellen Charakter zu schonen und zu leiten, also noch
mehr particulaire Umstände in Acht zu nehmen hat.
Die gewöhnliche Theorie über diesen Gegenstand ist grossen
Misbräuchen ausgesetzt. Sie lehrt den Gesetzgeber, die Eigen-
thümlichkeiten zu benutzen, um die Nation dadurch leichter zu
lenken und zu beherrschen. Aber wie leicht führt dieser bloss
politische Gesichtspunkt, ohne die höheren moralischen, in die Ge-
fahr, auch offenbare Schwächen und Blossen absichtlich zu unter-
halten.
Eine neue Schwierigkeit mehr findet der Staatsmann der
neueren Zeit, wo mehrere Nationen nicht nur, wie auch vormals
oft, unter Einem Scepter vereinigt sind, sondern auch im ge-
nauesten Verstände als Eine Masse wirken sollen. Soll diess mit
082 12. Plan einer
vollkommener Präcision und Schnelligkeit geschehen, so wäre es
unstreitig besser die Verschiedenheiten der einzelnen Stoffe auf-
zuheben, Sprache, Sitten, A'Ie3'nungen u. s. w. gleich zu machen.
Aber ist diess ohne Verlust an Eigenthümlichkeit, und folglich
zugleich an Selbstthätigkeit und Energie möglich, und welchen
dieser beiden Vorzüge soll er nun dem andern aufopfern? Stellt
er diese Untersuchung mit dem Geiste an, der weder die Würde
des individuellen Charakters, noch den unläugbaren Nutzen grosser
Staaten und Massen von Menschen verkennt, so wird er sie gar
bald verlassen, und sich lieber zu der Aufgabe w^enden, beide
Vorzüge mit einander zu vereinigen. Die Auflösung dieser aber
kann er sich nur noch allenfalls von dem genauesten Studium der
wirklichen Individualität der Subjecte, die er zu behandeln hat,
versprechen.
Die Religion scheint am wenigsten Einfluss von der Eigen-
thümlichkeit ihrer Bekenner leiden zu dürfen. Sie lehrt Wahrheit
und die Wahrheit ist durchaus objectiv und allgemein. Dennoch
ist gerade bei ihr die Sorgfalt, sie immer und Schritt vor Schritt
die Umänderungen des Geistes begleiten zu lassen, am meisten
nothwendig, wenn die doppelte Gefahr eines drückenden Gewissens-
zwanges, oder religiöser Gleichgültigkeit vermieden werden soll.
Die übrigen Geschäfte des Lebens haben selten einen nahen
und grossen Einfluss auf die innre Individualität. Es ist hin-
reichend grobe Fehler zu vermeiden, um der Gefahr nachtheiliger
Einwirkungen zu entgehen.
Desto mächtiger aber wirkt auf die eigenthümliche Charakter-
bildung der freie und alltägliche Umgang in engeren und weiteren
Verbindungen: in der Ehe, der Freundschaft, kleineren und
grösseren gesellschaftlichen Cirkeln. Die Kunst dieses Umgangs,
wenn sie nicht, wie bisher immer geschehn ist, zu einem blossen
Talent zu gefallen und zu gewinnen herabgewürdigt werden soll,
beruht ganz und gar auf Charakterkenntniss und Charakterbildung.
Sie strebt zuerst jeden Umgang so wichtig für die Cultur und
den Charakter zu machen, ihm soviel Seele zu geben, als nur
immer möglich ist, dann aber noch in jedem die verschiedenen
Individualitäten so einzeln zu stellen und in Massen zu gruppiren,
dass sie dem Betrachter das Bild einer lehrreichen Mannigfaltigkeit
geben, einander selbst aber durch ihre zweckmässige Berührung
zugleich empfänglicher und eigenthümlicher machen. Beides will
sie jedoch nicht anders, als unter der Bedingung einer voll-
vergleichenden Anthropologie. 2. ojjo
kommenen Freiheit ausführen, mit gänzlicher Vermeidung alles
Scheins von Absicht. Alles soll von selbst entstehn, alles Spiel
und Erholung, nichts Ernst oder Geschäft seyn. Diess macht sie
zur eigentlich schönen Kunst.
Die Grundlinien dieser Kunst zu entwerfen, wäre zugleich
nützlich und unterhaltend, aber es könnte nur die Arbeit eines
Mannes seyn, der einen grossen und vielseitigen eignen Charakter
mit einer ausgebreiteten Kenntniss fremder Individualitäten ver-
bände, und ebensoviel Gedanken- und Empfindungsgehalt besässe,
ein enges ^"e^hältniss interessant zu machen, als Leichtigkeit und
Beweglichkeit, in den Cirkeln der grossen Welt eine Rolle zu
spielen.
Gerade also zu dem, was als ein alltägliches Bedürfniss immer
wiederkehrt, bedürfen wir am meisten einer individualisirenden
Menschenkenntniss, und mit ihrer Hülfe können wir gerade die
Stunden, die wir gewöhnhch leer und verloren achten, zu den
inhaltvollsten unsres Lebens machen.
Der Erziehung ist im Vorigen nicht erwähnt worden. Es
liegt zu sehr am Tage, wie unentbehrliche "\"orarbeiten ihr Unter-
suchungen, wie die gegenwärtige seyn müssen. Andre Beziehungen
sind der Kürze wegen übergangen. So muss z. B. der Arzt noth-
w^endig auf den moralischen und gerade, da nur diesen ihm zu
kennen wichtig seyn kann, auf den individuellen Charakter achten.
Die vergleichende Anthropologie ist daher zu einem doppelten
Zweck und zu einem doppelten Geschäfte nützlich. Sie erleichtert
die Kenntniss der Charaktere, und giebt zugleich eine philoso-
phische Anleitung, ihren Werth zu beurtheilen, ihre ferneren Ent-
wicklungen zu berechnen, und die Möglichkeit zu überschlagen,
wie sie mit andern als ein Ganzes zusammenzuwirken fähig sind.
Sie dient dem Geschäftsmann, der den Menschen benutzen und
beherrschen will, und zugleich dem Erzieher und Philosophen, der
ihn zu bessern und zu bilden bemüht ist.
Aber sie ist ausserdem die unterhaltendste Beschäftigung des
menschlichen Geistes. Denn er findet in ihr i. den erhabensten
Gegenstand, den die Natur darbietet, am genauesten und voll-
ständigsten geschildert; 2. eine Mannigfaltigkeit, die nicht bloss
durch das bunte Farbenspiel des Gemähides die Einbildungskraft
und die Sinne vergnügt, sondern durch die Feinheit der Züge zu-
gleich den Geist und die Empfindung bereichert, und die 3. immer
zugleich so behandelt ist, dass nicht bloss jede einzelne Eigen-
384
12. Plan einer
thümlichkeit als ein Ganzes betrachtet, sondern auch alle zu einem
Ganzen zusammengestellt werden.
3. Unmittelbarer Einfluss einer individuellen
Menschenkenntniss auf die Charaktereigenthümlichkeit.
Nicht genug, dass eine vergleichende Anthropologie die Ver-
schiedenheit menschlicher Charaktere kennen lehrt; sie trägt auch
selbst dazu bei, eine grössere hervorzubringen, und die schon
wirklich vorhandene zweckmässiger zu leiten.
Ob das Erstere aber nun ein Vortheil zu nennen sey, oder
ob nicht vielmehr eine noch grössere Mannigfaltigkeit der Charakter-
formen der allgemeinen Richtigkeit und der Objectivität der Kultur,
des Geschmacks und der Sitten Hindernisse in den Weg lege?
diess dürfte in den Augen der Meisten noch so ausgemacht nicht
seyn. Alle Werke, welche der Mensch herv^orbringt , gewinnen
durch eine allgemeine und von Subjectivität Einzelner unabhängige
Behandlung einen besseren Fortgang, und selbst die Arbeiten des
Geistes können hievon nur in gewisser Rücksicht ausgenommen
werden. Ebenso wird den Verfassungen und den praktischen
Verhältnissen unter den Menschen Dauer und Sicherheit mehr
durch Gleichförmigkeit der Sitten, als durch die unregelmässigeren
Einwirkungen ungewöhnlicher Individuen verbürgt.
Dagegen hängt Kraft, Erfindungsgeist, Enthusiasmus von
Originalität ab, und ohne ausserordentliche und eigen gewählte
Bahnen des Geistes würde nie etwas Grosses entstanden seyn.
Ueberhaupt ist Verschiedenheit der Charakterformen, wenn
sie auch sogar schädlich seyn sollte, dennoch einmal schlechter-
dings unvermeidlich, und die Frage ist bloss die, ob man dieselbe
blindlings dem Zufall überlassen, oder durch vernünftige Leitung
zur Eigenthümlichkeit umschatfen soll? Auf diese aber kann die
Antwort unmöglich anders, als Eine seyn.
Die vergleichende Anthropologie sucht den Charakter ganzer
Classen von Menschen auf, vorzüglich den der Nationen und der
Zeiten. Diese Charaktere sind oft zufällig; sollen denn auch diese
erhalten werden? soll der Philosoph, der Geschichtschreiber, der
Dichter, der Mensch seinen Namen, seine Nation, sein Zeitalter,
sein Individuum endlich sichtbar an sich tragen? — Allerdings,
nur recht verstanden. Der Mensch soll alle A^erhältnisse, in denen
vergleichenden Anthropologie. 2. 3. ogü,
er sich befindet, auf sich einwirken lassen, den Eintluss keines
einzigen zurückweisen, aber den Einfluss aller aus sich heraus und
nach objectiven Principien bearbeiten. So soll er seyn; wieviel
er hernach hievon in den verschiedenen Gattungen seiner Thätig-
keit zeige? hängt von den Erfordernissen dieser Gattung und
der Natur seiner Individualität ab. Je mehr subjeaive Originalität
er aber, dem objectiven Werthe des Werks unbeschadet, zeigen
kann, desto besser.
Der Mensch kann wohl vielleicht in einzelnen Fällen und
Perioden seines Lebens, nie aber im Ganzen Stoff genug sammeln.
Je mehr Stoff er in Form, je mehr Mannigfaltigkeit in Einheit
verwandelt, desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er.
Eine solche Mannigfaltigkeit aber giebt ihm der Einfluss vielfältiger
V'erhältnisse. Je mehr er sich demselben öfnet, desto mehr neue
Seiten werden in ihm angespielt, desto reger muss seine innere
Thätigkeit seyn, dieselben einzeln auszubilden, und zusammen zu
einem Ganzen zu verbinden. Das Zweckwidrige und Verderbliche
ist bloss das unthätige Hingeben an einen einzelnen. Daraus ent-
stehen die plumpen National- und Familiencharaktere, die uns in
der Wirklichkeit unaufhörlich begegnen ; daran aber ist die innere
Schlaffheit und Trägheit, nicht die äussere Mannigfaltigkeit Schuld.
Nach der Anleitung einer richtigen Bildungstheorie wird kein Mit-
glied einer Nation dem andern so autfallend ähnlich sehen; der
Nationalcharakter wird sich in allen Einzelnen spiegeln, aber gerade
weil er in jedem durch den Einfluss aller übrigen ^^erhältnisse,
und vorzüglich durch die prüfende und richtende Vernunft ge-
mildert wird, so wird er im Ganzen nicht so plump und hand-
greiflich, dagegen reiner, eigenthümlicher, feiner und vielseitiger
erscheinen.
Der Mensch ist allein genommen schwach, und vermag durch
seine eigne kurzdauernde Kraft nur wenig. Er bedarf einer Höhe,
auf die er sich stellen ; einer Masse, die für ihn gelten ; einer Reihe,
an die er sich anschliessen kann. Diesen Vortheil erlangt er aber
unfehlbar, je mehr er den Geist seiner Nation, seines Geschlechts,
seines Zeitalters auf sich fortpflanzt. Was war ein Römer schon
allein dadurch, dass Rom ihn gebohren hatte ? Was ein Scipio da-
durch, dass er aus dem Geschlecht der Kornelier stammte? Was
sind die neueren Dichter schon einzig dadurch, dass sie den ganzen
Reichthum Griechischer Dichtkunst als ihr Eigenthum behandeln,
und sich auf einmal zu einer solchen Höhe emporschwingen?
W. V. Humboldt, Werke. I. 2$
386
12. Plan einer
Aber von der subjectiven Kenntniss der Natur zu ihrer ob-
jectiven Beschaffenheit scheint ein mächtiger Sprung zu seyn. Wie
kann die Erweiterung und Verfeinerung der ersteren unmittelbar
die Veredlung der letzteren befördern? — Uniäugbar dadurch, dass
beides: das Beobachtende und das Beobachtete hier der Mensch
ist, dass dieser sich überall, selbst ohne es immer zu bemerken,
seiner inneren Geistesform anpasst, und dass die Masse herrschen-
der Begriffe sich immer endlich auf eine uns selbst oft unbegreif-
liche Weise, nicht bloss den Menschen, sondern sogar die todte
Natur unterwirft.
Dass eine erweiterte Kenntniss der Charaktereigenthümlichkeit
Charaktere richtiger beurtheilen, und zweckmässigere Methoden
ihrer Behandlung auffinden lehrt, versteht sich hiebei von selbst.
Aber auch bloss dadurch, dass man feinere Nuancen in dem Cha-
rakter entdeckt, modificirt sich derselbe in der That auf eine
mannigfaltigere Weise; dadurch dass man einzelne Gattungen
studirt und ihre Formen so individuell, als sie sind, und so
idealisch, als sie werden können, aufstellt, entwickeln sie sich
wirklich reiner und bestimmter.
Der Charakter entsteht nicht anders, als durch das beständige
Einwirken der Thätigkeit der Gedanken und Empfindungen. Da-
durch dass diese gewisse Anlagen unaufhörlich, und andere nie-
mals oder selten beschäftigen, werden die einen entwickelt und
die andern unterdrückt, und so geht nach und nach die bestimmte
Charakterform hervor. Durch diese durchgängige Correspondenz
unsrer Art zu seyn und unsrer Art zu urtheilen, unsrer praktischen
und unsrer theoretischen Beschaffenheit wird es uns möglich, bloss
durch die Idee und von unserm Geiste aus thätig und praktisch
auf uns einzuwirken. Man kann nichts durch den Verstand be-
greifen, was nicht auf irgend eine Weise in dem Gebiet der
Sinne und der Empfindung angespielt ist; aber man kann auch
nichts in sein Wesen aufnehmen, was nicht durch Begriffe einiger-
maassen vorbereitet ist. Man kann nicht einsehen, wofür man
keinen Sinn hat, wozu der Stoff mangelt; aber man kann auch
nichts seyn, wovon man gar keinen Begriff hat, wozu die Form
fehlt.
Die Achtsamkeit auf das Charakteristische leistet aber noch
mehr. Einestheils nimmt sie jeden Gegenstand zuerst und vor-
züglich in seiner Beziehung auf das innere Wesen; anderntheils
weckt sie den Charakter und erregt seine Thätigkeit. Sobald aber
vergleichenden Anthropologie. 3. ^87
einmal der Charakter erw^acht ist, so eignet er sich von allen
Dingen, die auf ihn einwirken, immer von selbst nur das an, was
ihm homogen ist; von allen Seiten her wird also Stoff und Nahrung
auf einen einzigen Punkt hin zusammengetragen. Man sieht diess
sehr deutlich an Charakteren, die von Natur heftig, leidenschaft-
lich und einseitig sind. Von diesen pflegt man mit Recht zu
sagen, dass sie überall nur sich sehen, in alles nur sich hinüber
tragen ; darum wächst auch ihre Einseitigkeit mit so verdoppelten
Fortschritten. Der Fehler liegt aber bei ihnen nicht daran, dass
ihre Individualität zu rege wäre, sondern nur daran, dass sie es
durch Leidenschaft und Naturanlage wird. Würde sie aber durch
eine Stimmung des Geistes rege gemacht, durch das Streben, über-
all eine schöne Individualität zu zeigen, so würde der Erfolg ganz
und gar ein andrer seyn. Ein solcher Mensch würde gleichfalls
alles charakteristisch auf sich einw^irken lassen, und charakteristisch
behandeln. Aber er würde dasjenige, was ihm heterogen wäre,
nicht übersehen noch weg\\'erfen, sondern nur auf seine Weise
und zu seinen Zwecken benutzen; er würde jeden Gegenstand
durchaus objectiv und wie der Unbefangenste aufnehmen, der
ganze, aber freilich wichtige Unterschied würde nur in dem Grade
und der Art der Aneignung liegen. Der Contrast einiger aus-
wärtigen Nationen mit der Deutschen zeigt diess sehr deutlich.
Franzosen und Engländer gehen in auffallend bestimmten Cha-
rakterformen fort; aber sie behandeln auch sehr häufig die Welt
um sich her nur auf ihre einseitige Weise, und verfehlen Wahr-
heit und Objectivität.
Vorzüglich aber bildet sich der Charakter gesellschaftlich zur
Reinheit und Bestimmtheit aus, wenn er mit reinen und be-
stimmten Charakteren in A^erbindung kommt. Es ist nicht die
Aehnlichkeit allein, zu welcher sich einer dem andern anartet, es
ist auch der Kontrast, in welchem sie sich einander entgegensetzen.
Denn der moralischen, wie der physischen Organisation ist ein
assimilirender Bildungstrieb eigen, der aber, sobald nur der eigne
Charakter erst einige Bestimmtheit erlangt hat, nicht geradezu aut
Aehnlichkeit, sondern auf eine verhältnissmässige Stellung der
beiderseitigen Individualitäten gegen einander herausgeht. So wird
der männliche Charakter reiner und männlicher, wenn ihm der
weibliche gegenübergestellt ist, und umgekehrt. Ucbrigcns aber
bemerkt man diese Eigenthümlichkeit freilich mehr bei einzelnen
Individuen, als ganzen Gattungen, ^'orzüglich wird sie noch bei
25*
388
12. Plan einer
Charakteren von Nationen vermisst, die im Verkehr unter einander
noch immer mehr ihre Originalität entweder übertreiben oder
aufgeben, als zweckmässig bestimmen und bilden. Selbst die
äussre Gesichtsbildung erfährt einigermaassen diesen Einfluss, wie
2. B. die gewiss nicht chimärische Aehnlichkeit von verheiratheten
Personen unter einander beweist.
Wenn aber einmal Ein Schritt geschehen ist, so folgen die
übrigen mit unglaublicher Leichtigkeit nach. Denn nichts wirkt
so lebendig rund um sich her, als die menschliche Individualität.
Vorzüglich wirkt in dieser Hinsicht die Abstammung, welche das-
jenige, was bisher erworben ist, dem neuen Individuum als fertige
Anlage überliefert, und so jedesmal das in ein sichres Eigenthum
verwandelt, was solange nur ein minder sichrer Besitz schien.
Das Studium der Charaktere in ihrer Individualität vermehrt
also diese letztere selbst. Dass aber von dieser, von der Mannig-
faltigkeit der Charakterformen die Veredlung der Gattungen ab-
hängt, davon ist auch ausser der menschlichen Natur ein merk-
würdiges Beispiel vorhanden — das bekannte Phänomen nemlich,
dass die Hausthiere mehr Rassen, mehr Varietäten, und endlich
auch mehr individuelle Merkmale zeigen, als alle übrige Thier-
gattungen.
4. Zweck und Verfahren der vergleichenden Anthro-
pologie im Allgemeinen. — Gefahr eines möglichen
Misbrauchs.
Das Bestreben der vergleichenden Anthropologie geht dahin,
die mögliche Verschiedenheit der menschlichen Natur in ihrer
Idealität auszumessen ; oder, was dasselbe ist, zu untersuchen, wie
das menschliche Ideal, dem niemals Ein Individuum adäc|uat ist,
durch viele dargestellt werden kann.
Was sie sucht, ist also kein Gegenstand der Natur, sondern
etwas Unbedingtes, — Ideale, die aber auf Individuen, auf empi-
rische Objecte so bezogen werden, dass man sie als das Ziel an-
sieht, dem diese sich nähern sollen.
Könnte sie diesen Zweck erreichen, ohne zu der Beobachtung
der wirklichen Natur herabzusteigen, so würde sie eine rein philo-
sophische und speculative Wissenschaft bleiben. Und in gewissem
Verstände kann sie diess in der That. Sie kann bloss bei dem
vergleichenden Antliropologie. 3. 4. ^8q
allgemeinen Ideale des Menschen stehen bleiben; sie kann dasselbe
nach seinen einzelnen Seiten zerlegen, und aus diesen einzelnen
Virtuositäten einzelne idealische Gestalten bilden, in welchen sich
um dieselben, als um die herrschenden Züge, die übrigen Eigen-
schaften, deren der vollkommen ausgebildete Mensch nicht ent-
behren kann, in gehöriger Unterordnung herum versammeln. In
dem Ideale des Menschen findet sich z. B. Sinn für Schönheit und
Streben nach Wahrheit, beide für sich in hoher Stärke, und gegen-
einander in voUkommnem Gleichgewicht. Man zerlege diese beiden
Tendenzen, mache jede zum Grundzug einer besondern Indivi-
dualität, ergänze von diesem Gesichtspunkte aus die übrige Gestalt,
und man erhält, ohne irgend eine specielle Erfahrung zu bedürfen,
die reinen Charaktere des Künstlers und des Philosophen.
Aber um jene oben aufgestellte Foderung ganz zu erfüllen,
muss die vergleichende Anthropologie sich nothwendig an eine
strenge Beobachtung der Wirklichkeit gewöhnen, und sogar durch-
aus überall von dieser zuerst ausgehn. Denn
1. würde jenes mehr speculative Verfahren eine überaus nach-
theilige Dürftigkeit, sowohl in der Mannigfaltigkeit aller Formen,
als in der Bestimmtheit jeder einzelnen mit sich führen. Auch
mit der glücklichsten Anstrengung würde es nicht möglich seyn,
von da aus in eine nur irgend grosse Individualität herabzusteigen.
2. bedarf die Aufstellung des Ideales selbst einer gewissen-
haften Beobachtung der Wirklichkeit. Denn diess Ideal ist nichts
anders, als die nach allen Richtungen hin erweiterte, von allen
beschränkenden Hindernissen befreite Xatur.
3. leidet sie nur dann, w^enn sie sich unmittelbar an die
empirische Beobachtung hält, praktische Anwendung auf das
wirkliche Leben, da sie sonst vergebens hohe Ideale aufstellen
würde, wenn es ihr an Mitteln fehlte, dieselben an die Wirklich-
keit anzuknüpfen.
Der Mensch entwickelt sich nur nach Maassgabe der ph3'sischen
Dinge, die ihn umgeben. Umstände und Ereignisse, die auf den
ersten Anblick seinem Innern völlig heterogen sind, Klima, Boden,
Lebensunterhalt, äussere Einrichtungen u. s. f. bringen in ihm neue,
und oft die feinsten und höchsten moralischen Erscheinungen
hervor. Durch ein physisches Mittel, durch Zeugung und Ab-
stammung, wird die einmal erworbene moralische Xatur über-
tragen und fortgepflanzt, und dadurch nehmen die intellectuellen
und moralischen Fortschritte, die sonst vielleicht vorübergehend
390
12. Plan einer
und wechselnd seyn würden, gewissermaassen an der Stätigkeit
und der Dauer der Natur Theil. Die physische Beschaffenheit
des Menschen spielt daher bei der Bildung seines Charakters eine
in jeder Rücksicht bedeutende Rolle.
Noch deutlicher, als bei einzelnen Individuen, ist diess bei der
Betrachtung des ganzen Menschengeschlechts. Grosse Massen,
Stämme und Nationen, behalten Jahrhunderte hindurch einen ge-
meinsamen Charakter, und selbst, wo derselbe grosse Verände-
rungen erleidet, sind noch die Spuren seines Ursprungs sichtbar.
Gleiche Ursachen bringen durch alle Zeiten hindurch gleiche
Wirkungen hervor, und durchaus wird man daher im Ganzen
ziemlich dieselben Resultate ähnlicher Kräfte finden, denselben
Einfluss der äusseren Lagen, dasselbe Spiel der Leidenschaften,
dieselbe Macht des Guten und Wahren, mit dem es aus dem ver-
worrensten Gewebe von Begebenheiten und in den mannigfaltigsten
Gestalten hervorgeht. Ueberall verrathen die Handlungen der
Einzelnen eine eigenmächtige Willkühr der Neigung, indess die
Schicksale der Masse das unverkennbare Gepräge der Natur an
sich tragen. Wieviel bestimmter und klarer noch würden wir
diess einsehen, wenn wir uns nicht immer nur auf einen so kurzen
Zeitraum berufen müssten, und auch bei diesem nicht so oft durch
die UnVollständigkeit unsrer Kenntniss aufgehalten würden.
Dadurch nun wird die vergleichende Anthropologie genöthigt,
nicht bloss von der Erfahrung auszugehen, sondern sich so tief
als möglich in dieselbe zu versenken. Sie muss die bleibenden
Charaktere der Geschlechter, Alter, Temperamente, Nationen u. s. w.
eben so sorgfältig aufsuchen, als der Naturforscher bemüht ist, die
Racen und Varietäten der Thierwelt zu bestimmen. Ob es ihr
gleich eigentlich und an sich durchaus nur darauf ankommt, zu
wissen, wie verschieden der idealische Mensch seyn kann, muss
sie den Anschein annehmen, als wäre es ihr darum zu thun, zu
bestimmen, wie verschieden der individuelle Mensch in der That ist?
Ihre Eigenthümlichkeit besteht daher darin, dass sie einen
empirischen Stoff auf eine speculative Weise, einen historischen
Gegenstand philosophisch, die wirkliche Beschaffenheit des Menschen
mit Hinsicht auf seine mögliche Entwicklung behandelt.
Bei der Verbindung einer naturhistorischen und einer philo-
sophischen Beurtheilung leidet zwar gewöhnlich die erstere; hier
indess drohet eine nicht minder grosse Gefahr auch der letzteren.
Da die vergleichende Anthropologie die Charaktere von Menschen-
vergleichenden Anthropologie. 4. 5. oqi
gattungen aufsucht, so wird sie leicht verleitet, dieselben theils
bestimmter, theils dauernder anzunehmen, als die Wirklichkeit sie
zeigt, und die Würde des Menschen sie verstattet. Eine solche
Tendenz aber muss der Ausbildung der menschlichen Natur im
höchsten Grade verderblich seyn, deren Adel ganz vorzüglich auf
der Möglichkeit einer freien IndividuaUtät beruht. Es ist hier die
gefährliche Ivlippe, die man bei jedem Unheil über den Menschen
vermeiden muss, ihn immer zugleich und doch nie zu sehr als
Naturwesen zu behandeln.
Hier indess ist diese Klippe bei weitem weniger gefährlich.
Denn unsre Absicht hier ist bloss die, überhaupt individuelle Ver-
schiedenheiten aufzusuchen, und zwar solche, die auch noch mit
idealischen Federungen verträglich sind; nicht aber die, das
Menschengeschlecht naturhistorisch zu classificiren. Diess Letztere
brauchen wir nur als Mittel zur Erreichung jenes Zwecks, theils
um den Individuen selbst näher zu treten, das Dauernde und
Wesentliche sicherer zu erkennen, und uns durch vorübergehende
Zufälligkeiten weniger irre führen zu lassen, theils um den Gang
der Natur selbst besser zu beobachten, auf welchem diese vermöge
der Aehnlichkeit der Gattungen die Originalität der Individuen
befördert, indem sie sie benutzt, dieselben zu bestimmen, ohne
doch ihre Freiheit zu binden.
Möchten also auch Geschlechts- Temperaments- und National-
charaktere noch weniger bestimmt seyn, als sie es in der That
sind, so ist diess kein Einwurf gegen das Gelingen einer ver-
gleichenden Anthropologie. Denn dieser ist es genug, nur auf
wesentliche Verschiedenheiten geführt worden zu se3^n, und das-
jenige, was sich nun immer im Object wirklich findet, für den
praktischen Gebrauch gehörig geprüft und gewürdigt zu haben.
5. Methode. Ausdehnung und Grenzen. Eintheilung.
Die vergleichende Anthropologie ist nach dem Vorigen ein
Zweig der philosophisch-praktischen Menschenkenntniss. Wie
diese wird sie daher die Empirie, so wie die blosse Speculation
vermeiden, und sich allein und durchaus auf Erfahrung stützen.
Auch wird sie die Hauptregeln anerkennen, und befolgen, welche
diese aufstellt. Sie wird demnach :
I. die Data zu ihren Charaktergemuhlden aus den Aeusserungen
392
12. Plan einer
des ganzen Menschen, zugleich aus seiner physischen, intellectuellen
und moralischen Natur hernehmen, um sich des vollständigsten
Stoffs zu versichern.
2. unter diesen vorzüglich auf diejenigen Züge achten, welche
recht eigentlich den Charakter, und zwar denselben da, wo er
individuell verschieden zu seyn pflegt, bezeichnen — auf das Ver-
hältniss und die Bewegung der Kräfte.
3. immer nur auf die innere Beschaffenheit und Vollkommen-
heit, nie bloss oder auch nur hauptsächlich auf die Tauglichkeit
zu äusseren Zwecken sehen,
4. den Charakter soviel als möglich genetisch schildern.
5. von den Thatsachen und Aeusserungen aus zu den allge-
meinen Eigenschaften, und von da zum eigentlichen Innern Wesen
übergehen.
6. die zufälligen Eigenschaften von den wesentlichen genau
absondern, und nach den verschiednen Graden ihrer Zufälligkeit
ordnen.
7. den bisher mehr nach einzelnen Seiten betrachteten Charakter
in die höchste Einheit zusammenziehn, aus dem vollständig ge-
zeichneten Bilde den Begriff herausnehmen, — was dadurch am
besten geschieht, dass man die Art, wie er zu den höchsten und
ganz allgemeinen Zwecken des Menschen gelangt, auf einmal aus-
zusprechen versucht.
Ihre besondre Tendenz, nicht bloss, w^ie die Menschenkennt-
niss überhaupt, den Menschen im Allgemeinen, oder einzelne
gerade interessante Individuen zu studiren, sondern den Umfang
der, ohne Verletzung der Idealität, möglichen Verschiedenheit im
Menschengeschlecht zu erforschen, durch welche sie zugleich auf
die Untersuchung von Gattungscharakteren geführt wird, fügt den
vorigen Regeln noch folgende hinzu:
1 . da es ihr vorzüglich darum zu thun ist, zu erforschen, wie
die idealische Vollkommenheit, die Einem Individuum unerreichbar
ist, sich in mehreren gesellschaftlich ausdrückt, so wird sie haupt-
sächlich durch diese Absicht bei der Wahl der Charaktere zu
ihrem Studium geleitet werden. Sie wird soviel als möglich solche
aufsuchen, die entweder den Begriff der Menschheit erweitern,
oder sich so gegenseitig gegen einander verhalten, dass sie Züge,
die zusammen nicht in gleicher Stärke verträglich seyn würden,
einzeln darstellen.
2. da sie sich auf ihrem Wege besonders an Gattungscharak-
vergleichenden Anthropologie. 5. oqo
teren halten muss, so wird sie dieselben so rein als möglich von
allem Einfluss der einzelnen Individualitäten bestimmen, und ihre
Eigenthümlichkeiten daher vornemlich aus den gemeinschaftlich
auf sie einwirkenden Ursachen, und aus ihrem Begriffe herleiten.
3. dagegen wird sie sich aber auch sorgfältig hüten, durch
einen zu festen und engen Begriff der Gattung die Freiheit der
Individuen zu beschränken.
Der Umfang der vergleichenden Anthropologie v^öirde eigent-
lich dem des ganzen menschlichen Geschlechts gleich se3^n, wenn
nicht zwei Ursachen sie hinderten, ihre Grenzen so weit aus-
zudehnen.
Der Mensch bedarf eines gewissen, nicht geringen Grades der
Cultur, um eine individuelle Form zu erlangen. Seine erste Aus-
bildung ist durchaus nur in Massen, nur in rohen, noch durch
wenige Züge bestimmten Formen. Dieser Grad der Cultur muss
schon zu einer beträchtlichen Höhe gestiegen seyn, wenn der
Charakter so verfeinert, und seine Form so bestimmt seyn soll,
dass er auch nur einzelne Züge zeigt, welche eine Erweiterung
des Begriffs der Menschheit in ihrer Vollendung erwarten lassen,
noch mehr aber dass er als eine Bahn erscheine, in welcher der
Mensch sich dieser Vollendung auf eine zweckmässige Weise nähern
kann. Denn die ersten Eigenthümlichkeiten noch roherer Völker
sind meistentheils entweder nur äussre, oder zufällige und unbe-
deutende, oder gar fehlerhafte Verschiedenheiten ; auf diese folgen
einzelne mehr oder weniger versprechende Züge; und erst die
letzte Stufe ist es, wenn die Eigenthümlichkeit sich über alle Kräfte
verbreitet, und einen durchaus individuellen Charakter zu bilden
anfängt.
Selbst in unserm cultivirten Europa finden wir noch alle diese
Stufen neben einander. Auf jener höchsten stehen unstreitig
Franzosen, Engländer u. s. f.; Fohlen, Spanier und Portugiesen
wohl nur auf der mittleren; und gewiss auf der untersten noch
Russen und Türken. Wer möchte es unternehmen, von dieser
letzteren einen individuell-idealischen Charakter aufzustellen, wer
nur überhaupt, nach Abzug der äussern oder zufälligen Ver-
schiedenheiten, einen individuellen Charakter, der sich noch von
dem allgemeiner menschlichen auf eine irgend für die Betrachtung
dankbare Weise unterschiede?
Wenn aber auch gegen die Tauglichkeit des Objects selbst
nichts eingewendet werden kann, so gehört eine tiefe und genaue
394
12. Plan einer
Kenntniss desselben dazu, um eine solche Schilderung zu ent-
werfen, als hier nothwendig ist. Nur eine einzige innere und
wesentliche Eigenheit als solche zu erforschen, ist schon schwierig ;
wieviel mehr aber alle in ihrer Verbindung zu einem Ganzen zu
kennen. Wieviele Hülfsmittel auch z. B. zur Kenntniss der Nationen
vorhanden seyn mögen, so wird doch derjenige, der hier selbst
Hand an das Werk legt, sich bald gerade da verlassen fühlen, wo
er am meisten eines sicheren Führers bedürfte.
Nur von sehr wenigen Menschengattungen ist es also möglich
auch nur den Versuch zu wagen, ein vollständiges Bild ihrer
innern und wesentlichen Eigenthümlichkeit zu geben. Denn zu
dem vollkommnen Gelingen ist vielleicht, wenn man die Hinder-
nisse, die im Object und in unserer Kenntniss desselben liegen,
zusammennimmt, nicht eine einzige reif. Dennoch kann sich eine
philosophische ^) Anthropologie nicht mit etwas Geringerem be-
gnügen. Sie muss immer ein Ganzes, eine vollendete Gestalt auf-
suchen; bloss, wie die physiologische, nach einer Menge von Ver-
schiedenheiten zu haschen, ist ihr durchaus fremd. Wenn daher
diese letztere vorzüglich in den entferntesten Himmelsstrichen
verweilt, welche die abweichendsten Verschiedenheiten aufweisen,
so wird sie sich hauptsächlich auf den kleinen Kreis der höchsten
Cultur beschränken, in welchem die Eigenthümlichkeiten am
meisten bestimmt und vollendet erscheinen.
Was die Anordnung der Theile betrift, so wird der Schilderung
der einzelnen Charaktere eine allgemeine Einleitung vorangehen
müssen, um i. die Möglichkeit, die Ursachen und den Werth der
Verschiedenheit überhaupt, 2. die Natur der Gattungscharaktere
im Allgemeinen, 3. die Natur einzelner unter denselben, z. B. der
Geschlechter, Nationen u. s. f. insbesondre abzuhandeln.
6. Quellen und Hülfsmittel. Noth wendige Geistes
Stimmung.
Wenn der individuelle Charakter des Menschen zum Behuf
seiner möglichen Idealisirung erforscht, und dieser Stoff nicht
fragmentarisch bloss an einzelnen Fällen, sondern in allgemeinen
Sätzen, als eine Theorie, bearbeitet werden soll; so muss seine
V „eine philosophische" verbessert ans „die vergleichende".
vergleichenden Anthropologie. 5. 6. oq-
Behandlung alle Arten der Betrachtung der Natur durchgehen,
und zugleich naturhistorisch, historisch und philosophisch seyn.
Der Mensch, auch als Gattung betrachtet, ist offenbar ein
Glied in der Kette der physischen Natur. Er artet, wie die übrigen
Thiere, in Rassen aus, diese Rassen pflanzen ihre Eigenthümlich-
keiten fort, und erzeugen mit einander halbschlächtige Blendlinge.
Hier und in andern ähnlichen Fällen sind offenbar Naturwirkungen,
die nicht zurückgewiesen werden können, nur benutzt und geleitet
werden müssen. In dieser Rücksicht gehört der Mensch schlechter-
dings der Natur an. Er kann, wie sie, beobachtet werden, und,
was das eigentlich charakteristische Kennzeichen hiebei ist, es ist
möglich, mit ihm zu experimentiren.
Der Naturnothwendigkeit im ]\Ienschen am meisten entgegen
steht seine Willkühr. Vermöge dieser beginnt und endigt er
Handlungen, ohne weder durch Naturzwang, noch auch gerade
durch Vernunftnöthigung getrieben zu werden. Er folgt, wie man
zu sagen pflegt, dem Zufafl, äusseren Einwirkungen, oder inneren
augenblicklichen Antrieben. Was er auf diese Weise thut, ist
zwar oft physisch, da es auch nicht einmal mittelbar aus Vernunft
entspringt, es ist aber doch immer das Resultat physischer oder
andrer Veränderungen auf eine freie Natur, und daher weder nach
Naturgesetzen zu berechnen, noch auch eines Experimentes fähig.
Von dieser Seite kahn der Mensch bloss historisch erkannt werden.
So ist er; so ward er. Das Warum? erlaubt keine befriedigende
Antwort.
Natur und Willkühr werden verknüpft in der acht mensch-
lichen Freiheit durch Vernunft. Denn die ^^ernunft bringt eine
ebensogrosse Nothwendigkeit nach Gesetzen hen^or, als die Natur,
aber sie thut der Freiheit nicht den mindesten Eintrag, da sie sich
selbst das Gesetz giebt. Hier sind also Gesetze, und zwar solche,
die, ausserhalb des Gebiets der Erscheinungen, aus einer selbst-
ständigen Kraft emaniren. Hier beginnt demnach das Gebiet der
philosophischen und ästhetischen Beurtheilung.
Jede theoretische Bearbeitung eines Stoffs setzt eine Be-
urtheilung nach Gesetzen voraus, und nur insofern der mensch-
liche Charakter einer solchen fähig ist, verstattet er eine wissen-
schaftliche Behandlung.
Die organische Natur des Menschen lässt allerdings Gesetze
sehen, die regelmässig und unfehlbar eintreffen. So ist es z. B.
ein allgemeines Naturgesetz, dass ein Theil der Individualität der
39Ö
12. Plan einer
Eltern auf die Kinder übergeht. Aber die verwickelte Oekonomie
des menschlichen Körpers, seine noch unbegreiflichere Verbindung
mit dem moralischen Charakter, und die grosse Schwierigkeit, mit
dem Menschen zu experimentiren, macht, dass jene Gesetze noch
immer so unvollkommen, und schwerlich je durchaus vollständig
erkannt werden. So ist es in dem vorigen Beispiel nicht möglich
zu bestimmen, was gerade, in welchem Grade, und unter welchen
Umständen mehr oder minder durch die Zeugung forterbt. Selbst,
was doch bei weitem einfacher ist, die physische und physiologische
Eigenthümlichkeit eines Individuums als ein Ganzes zu kennen,
giebt es noch nicht einmal eine allgemeine Formel oder Methode.
Man beobachtet und kennt bloss einzelne Verschiedenheiten, aus
denen sich wenig oder nichts schliessen lässt.
Die grosseste Strenge und Gesetzmässigkeit verstattet die philo-
sophische Beurtheilung, allein auch mehr da, wo sie dem Menschen
für seine Gesinnungen Regeln vorschreibt, als da, wo sie zum
Behuf der Erweiterung seines Wissens den wirkHchen Zusammen-
hang zwischen seinen Kräften aufzudecken bemüht ist. Zwar wird
sie einzelne Verhältnisse unfehlbar richtig bestimmen und auf-
klären, aber da diese nie ganz allein und vereinzelt vorhanden,
also die Fälle nie rein gegeben sind, so werden die Innern intellec-
tuellen und moralischen Verhältnisse nie ganz fehlerlos dargestellt,
oder vollständig erschöpft werden können.
Am wenigsten Gesetzmässigkeit zeigt ein bloss historisch be-
handelter Stoff. Alles Einzelne erscheint in demselben eben so
regellos, als der Zufall und die Willkühr, die es hen^orbringen.
Dennoch kehren auch hier, sobald man nur grosse Massen auf
einmal ins Auge fasst, gleiche Ereignisse in einer gewissen, ob-
gleich weniger strengen und schwerer zu beobachtenden Regel-
mässigkeit zurück.
Der Stoff, den die vergleichende Anthropologie darbietet, ist
daher nicht gerade einer wissenschaftlichen, ja nicht einmal durch-
aus einer theoretischen Behandlung fähig. In wie hohem Grade
er indess auch empirisch se3^n mag, so zeigen doch die einzelnen
Erscheinungen immer eine gewisse Stätigkeit, Folge und Gesetz-
mässigkeit, und diese letztere muss nothwendig sowohl mit der
Erweiterung unsrer Kenntniss, als mit der Veredlung der mensch-
lichen Natur selbst, noch mit dem Fortschritte der Zeit immer
höher steigen. Der Bearbeiter hat sich daher zwar zunächst so
genau als möglich an die Wirklichkeit anzuschliessen, aber mit
vergleichenden Anthropologie. 6. oq"
der Beobachtung muss er zugleich immer soviel als möglich eine
streng philosophische Behandlung verbinden, theils um die Masse
der Thatsachen nach Gesetzen theoretisch zu ordnen, theils um
die durch die Beobachtung erhaltenen Charaktere praktisch nach
Gesetzen zu beurtheilen.
Wer hierin glücldich seyn, und die individuelle Menschen-
kenntniss wahrhaft erweitern will, der muss gewissermaassen die
verschiedenen Geistesstimmungen des Naturbeobachters, des Histo-
rikers und des Philosophen in sich vereinigen. Wie der erstere
muss er überall von dem Begriff der Organisation ausgehen, durch-
gängig vollkommene Gesetzmässigkeit voraussetzen, alles aus den
Innern und eignen Ivräften des Wesens erklären, in diesen jede
zugleich als Zweck und als Mittel betrachten, und nie zu andern
als physischen Erklärungen seine Zuflucht nehmen. Wie dem
zweiten liegt es ihm ob, mit der antheillosesten Gleichgültigkeit
bloss nach dem, was geschehen ist? zu fragen, und das Ganze,
zu dem die einzelnen von ihm beobachteten Thatsachen gehören,
weder als ein Naturprodukt, noch auch als ein reines Willens-
produkt anzusehen, damit er auch nicht einmal versucht werde,
von Ursachen und Gesetzen auf die einzelnen Erscheinungen,
sondern immer von diesen auf jene überzugehen. Denn das ist
es gerade, was den Historiker, wenn man ihn nemlich dem Natur-
beobachter und Philosophen entgegensetzt, auszeichnet, dass er es
einzig und allein mit dem, was geschehen ist, zu thun hat, und
das Feld, auf dem er thätig ist, weder als das Gebiet der Natur,
noch als das Gebiet eines reinen Willens, sondern als das Reich
des Schicksals und des Zufalls betrachtet, von dessen Launen
wenigstens im Einzelnen niemand Rechenschaft zu geben fähig
ist. Wie der Philosoph endlich darf er nicht vergessen, dass ein
freies und selbstständiges Wesen der Gegenstand seiner Betrachtung
ist, bei dem er erste, nothwendige, ausserhalb der Erscheinungen
liegende Ursachen voraussetzen, und das er streng nach Gesetzen,
nach Vernunftidealen beurtheilen muss.
Was das Schwierigste ist, so dürfen diese drei so verschiedenen
Geistesstimmungen nicht einmal immer, wenn auch freilich oft,
einzeln bei einzelnen Theilen der Charakterkenntniss thätig, sie
müssen sehr häufig sehr nahe mit einander verbunden seyn. Denn
da der Mensch ein freies Wesen in der Kette der Natur ist, so
wird auch dasjenige, was durchaus selbstständig aus ihm entspringt,
leicht zu einer Art von Organisation, und wenn daher der StoÜ
2q8 12. Plan einer
des Charakters einmal hinlänglich historisch erforscht ist, so ist
es immer nothwendig zugleich zu versuchen, ihn als Natur und
Organisation zu erklären, und als die freieste Exertion rein
menschlicher Kräfte idealisch zu beurtheilen. In der moralischen
Natur des Menschen muss man gleichsam eine bewegliche Organi-
sation annehmen, eine bewundernswürdige Leichtigkeit etwas zur
Natur werden zu lassen, und es doch, bei veränderter Charakter-
richtung, wieder gegen etwas anderes zu vertauschen. In der
That sehen wir, dass auf der einen Seite der Mensch sich Eigen-
schaften dergestalt anzueignen vermag, dass sie sich mit allem in
ihm verbinden, in seine physische Beschaffenheit sogar übergehen,
und von ihm aus sich auch auf andere fortpflanzen; dass er auf
der andern, sobald sein Geist eine andere Wendung nimmt, aus
der bisherigen Form heraustreten und sie mit einer andern ver-
wechslen kann. Diese letztere Kraft zeigt sich manchmal in dem
Kampf individueller Züge mit dem Charakter des Geschlechts, oder
der Nation in einem bewundernswürdigen Grade. Diese dem
ersten Anblick nach so wenig begreifliche Verbindung der Stätig-
keit und Versatilität findet unstreitig ihre Erklärung in dem Zu-
sammenwirken der sinnlichen und rein geistigen Kräfte im Menschen.
Die ersteren streben immer alles zu assimiliren, alles in Habitus
und Natur zu verwandeln. Dagegen ist den letzteren jede Stätig-
keit fremd, die nicht auf einer fortwährenden Billigung des gegen-
wärtigen Augenblicks, sondern auf einer Fortdauer voriger Ein-
drücke beruht. Nun gewinnen zwar im Kampfe die geistigen
Kräfte immer die Oberhand, da aber die sinnUchen doch auch
immer thätig bleiben, so entsteht immerfort eine habituelle Natur,
die nur, wenn sie mit veränderten Geistesrichtungen in Wider-
spruch geräth, nicht alleinherrschend werden kann.
Die gehörige Mischung, in welcher die in so hohem Grade
ungleichartigen Anlagen mit einander zu einer richtigen Menschen-
kenntniss verbunden seyn müssen, künstlich und regelmässig zu
finden, dürfte schwer, wo nicht unmöglich seyn. Auch findet
man in der That meistentheils entweder zu empirische oder zu
speculative Menschenbeobachter. Die beste Schule für die Menschen-
kenntniss ist daher das Leben, und derjenige wird am besten in
derselben gelingen, dessen Charakter selbst in vorzüglichem Grade
kultivirt ist, der zugleich formenreich und hinlänglich gewöhnt ist,
sich nach Gesetzen zu beurtheilen. Denn demjenigen, der selbst
die nothwendige Freiheit und Gesetzmässigkeit in sich verbindet,
vergleichenden Anthropologie. 6. 7. "^QQ
wird es auch weder an der Empfänglichkeit fehlen, den gegebnen
Stoff aufzufassen, noch an der Kraft, ihn einer strengen Prüfung
nach Gesetzen zu unterwerfen.
7. Von derCharakter Verschiedenheit imAllgemeinen.
Der erste Unterschied, den wir unter mehreren Menschen
bemerken, und der auch dem flüchtigsten Blick nicht entgeht, ist
die Verschiedenheit der Gegenstände ihrer Beschäftigung, der
Producte ihres Fleisses, der Art, ihre Bedürfnisse zu befriedigen,
und das Leben zu gemessen. An diese in die Augen fallenden
Dinge heftet sich zuerst der Begriff der Eigenthümlichkeit bei
einzelnen Individuen, wie bei ganzen Nationen, unter welchen
letzteren man noch von sehr vielen gerade nur soviel, nur ihre
Kleidung, Beschäftigungen, Vergnügungen, Lebensart u. s. f. kennt.
Die zweite Classe von Kennzeichen der Verschiedenheit unter
Menschen geht schon näher ihre Persönlichkeit an, wenn sie auch
gleich das Innre derselben noch nicht geradezu und unmittelbar
schildert. Man kann dahin alles Aeussre in dem Körperbau und
dem Betragen rechnen, Gestalt, Farbe des Gesichts und des Haars,
Physiognomie, Sprache, Gang und Gebehrden überhaupt. Diese
Gattung von Kennzeichen ist hauptsächlich wichtig, da sie auf der
einen Seite dem Menschen selbst näher führt, als die vorige, und
auf der andern ein wahreres und treueres Bild giebt, als dasjenige
ist, was man unmittelbar von dem Innern doch immer mehr
schliesst, als geradezu sieht. Daher bleibt nicht allein der gesunde
und natürliche Tact, der, wenn auch manchmal im Einzelnen,
doch selten im Ganzen grosse Fehlgriffe thut, schlechterdings bei
diesen stehen, sondern auch der philosophischste Menschenkenner
behält dieselben unverrückt vor Augen, um an ihnen, als an un-
mittelbaren Thatsachen, seine tiefer eingehenden Urtheile zu prüfen
und zu berichtigen.
Von diesen beiden Gattungen der Kennzeichen aus kann man
endlich auf die Innern Verschiedenheiten selbst übergehen. Diese
trift man alsdann zwar nicht in den Kräften selbst, da das ganze
Menschengeschlecht durchaus mit denselben ausgestattet ist, wohl
aber in ihrem Grade, da sie bei dem einen eine Hohe erlangen,
zu der sich der andre nie emporschwingt, in ihrem N'crhältniss,
wenn bei dem einen die Phantasie, bei dem andern der Ver-
^00 ^2. Plan einer
Stand u. s. f. herrschend ist, oder in ihrer Bewegung, da der eine
rastlos und thätig, der andre trag und unthätig ist, u. s. f. an;
ferner in den Empfindungen, die bei dem einen sanfter und reiz-
barer, als bei dem andern sind, endlich in Neigungen und
Leidenschaften.
Aber alle diese Verschiedenheiten, so einzeln, als sie hier
dastehn, betrachtet, beweisen mehr Verschiedenheiten in einzelnen
Aeusserungen , als in dem Charakter selbst. Solange man sie
einzeln betrachtet, bleibt es immer ungewiss, ob sie nicht mehr
bloss aus einer Verschiedenheit der äussern Lagen und Umstände,
als aus einer innern Charakterform entspringen, aus welcher das
Individuum entweder gar nicht oder doch nicht ganz heraus-
zugehen im Stande ist. Nur in diesem letzteren Falle aber ist
doch eine eigentliche Charakten^erschiedenheit vorhanden, und
um daher auf diese zu kommen, bedarf es noch andrer und tiefer
eingreifender Beobachtungen.
[8.] Hauptsächlichste Thatsache, auf welche der Ge-
danke einer vergleichenden Anthropologie sich vor-
züglich stützt.
Diese Thatsache ist der Unterschied der Geschlechter, welche
die Natur zu einer so unverkennbaren Eigenthümlichkeit eines
jeden für sich, und einer sich so scharf entgegengesetzten Ver-
schiedenheit bestimmt hat, dass vernünftiger Weise auch nicht
einmal der Gedanke entstehen kann, den Charakter des einen mit
dem des andern zu vertauschen, oder die Individualität beider
durch eine dritte zu vertilgen. Ueberall, wo von individuellen
Unterschieden die Rede ist, kann daher derselbe zum Muster
dienen, an dem die Art, die Entstehung, die Entwicklung und das
Verhältniss solcher Eigenthümlichkeiten unter einander und zur
Gattung auf die auffallendste Weise sichtbar ist. Bei allem aber,
was sich auf Naturbeobachtung gründet, ist es ein Haupterfoder-
niss einer guten Methode, jeden einzelnen Punkt gerade da auf-
zusuchen, wo er sich am sichtbarsten zeigt.
Unter beiden Geschlechtern selbst ist es hier, wo es darauf
ankommt, die Einheit in den einzelnen Eigenthümlichkeiten zu
bestimmen, welche dazu gehört, um eine eigentliche Charakter-
verschiedenheit zu begründen, besser, bei dem weiblichen stehen
vergleichenden Anthropologie. 7- 8. 4.01
ZU bleiben, da dieses die Individualität der Art reiner und weniger
mit der der Gattung vermischt, als das männliche, an sich trägt.
Betrachten wir nun die einzelnen Züge der Natur der Weiber
in Vergleichung mit den Männern, so finden wir:
1. ihren Körperbau Ideiner, schwächer und zarter; ihre
Knochen feiner und biegsamer; die Muskelkraft mehr zum lang-
samen Ausdauern, als zur plötzlichen Anstrengung geschickt ; ihre
Gestalt von weichen, fliessenden Umrissen begränzt, voll Fülle
und Anmuth; ihren Ausdruck in der Ruhe und der Bewegung
mehr mannigfaltig, sprechend und sanft, als gerade, fest und be-
stimmt; ihre Schönheit überhaupt mehr durch die Freiheit des
Stoffs in der Anmuth, als durch die Herrschaft der Form in der
Bestimmtheit der Züge hen^orstechend ; ihre physische Organisation
endlich durch eine überwiegende Reizbarkeit und Thätigkeit des
Nervensystems, und eine gewisse Passivität, vermöge welcher sie
Uebeln länger wdderstehn, und leichter grosse Veränderungen
erleiden kann, ausgezeichnet.
2. in Rücksicht auf ihre intellectuellen Fähigkeiten eine ent-
schiedene Neigung zur Betrachtung der Natur und alles dessen,
was einen unmittelbaren Werth und Gehalt besitzt, verbunden
mit einer fast gleichen Abneigung gegen alles bloss Mittelbare
und Symbolische; eine bewundernswürdige Stärke in demjenigen
Theile der Erforschung der Wahrheit, welcher lebhafte und be-
wegliche Reizbarkeit, leichtes und schnelles Auffassen und Ver-
knüpfen fodert, dagegen eine nicht minder auffallende Schwäche
und einen fast noch grösseren Widerwillen gegen denjenigen, der
mehr auf Selbstthätigkeit und scheidender Strenge beruht. Daher
ist es den Frauen in so hohem Grade eigen, ihr forschendes
Streben überall nach dem wahren Wesen der Dinge zu richten;
aber ebendaher erreichen sie doch diess letztere so selten in seiner
objectiven Reinheit. Sie behandeln ihren Gegenstand nicht so
willkührlich, als nicht selten der Mann; dagegen aber mit einer
nachsichtsvolleren Schonung, als die Foderung ihn zu durch-
schauen und vollkommen in ihn einzudringen verstattet. Lieber
dem Geiste der Wahrheit verfehlen sie ihren Buchstaben. So
wenden sie sich bei Objecten der Beobachtung gewiss immer un-
mittelbar an die Wirklichkeit selbst, aber da sie sich mehr den
Eindrücken, welche dieselbe in ihnen hervorbringt, überlassen, als
sie aufzudecken, zu zerlegen, und ihr mit Versuchen nachzugehen
geneigt sind, so gelingt es ihnen nur selten, sie genau zu
W. V. Humboldt, Werke. I. ^6
402
12. Plan einer
ergründen; meistentheils knüpfen sie vielmehr ihre subjective Vor-
stellungsart an dieselbe an, und führen in ihr, wie in ihrem eigen-
thümlichsten Elemente, nur ihr eignes inneres Leben fort. Ebenso
nehmen sie jedes Raisonnement gewiss immer von der Seite seiner
bedeutendsten und fruchtbarsten Folgen, bringen es mit allen
ihren übrigen Begriffen in gegenseitige Verbindung, sind aber
nicht immer sorgfältig genug, es auf hinlänglich sichere Gründe
zu stützen. Aus gleichen Gründen empfinden sie auch nach den
letzten Resultaten der abstraktesten Philosophie ein dringendes
Bedürfniss, weil schon ihre Natur ihnen nicht eher, als bis sie
ihre ganze Gedankenmasse in eine Einheit verbunden haben, zu
ruhen erlaubt; da indess die Abstraction ihrer Individualität doch
durchaus widerspricht, so bleibt ihnen die eigentliche Speculation
immer fremd. Der Wahrheitssinn existirt in ihnen im genauesten
Verstände des Worts, als ein Sinn, sie sind durch ihre Natur
selbst gedrungen, ihn zu lieben und ihm zu huldigen; aber aus
einem ursprünglich in dieser gegründeten Mangel an derjenigen
sondernden Kraft, welche das eigne Ich recht scharf von der Welt
abscheidet, die es umgiebt, werden sie seinem letzten Ziel: der
Erforschung der Wahrheit nicht so nah kommen, als der Mann.
Das Unterscheidende dieser intellectuellen Eigenthümlichkeit
des andern Geschlechts beruht grösstentheils auf der Reizbarkeit
und Lebhaftigkeit der Phantasie, welche den übrigen Kräften, am
wenigsten dem Verstände und der Vernunft, nicht leicht abge-
sondert zu w^irken verstattet, aber dagegen auch selbst nicht so
willkührlich, als oft im Manne verfährt, sondern den Sinnen und
dem Gefühl folgsamer getreu bleibt.
Nicht also gerade baaren Gewinn an einzelnen Kenntnissen
oder Wahrheiten darf man von dem Geiste der Frauen er\;\^arten ;
er leistet mehr, und seine Bestimmung ist höher und edler. Das
Höchste und Beste in der allgemeinsten Geistesthätigkeit über-
haupt, das Umfassen eines mannigfaltigen Reichthums, das treue
Anhalten an die Natur und den unmittelbaren Gehalt, das Streben,
alles und überall zu verknüpfen, das Bedürfniss, das eigne Ich
und die umgebende Welt nicht nur immer auf einander zu beziehn,
sondern auch durchaus in Eins zu verschmelzen, ist unmittelbar
durch seine Natur selbst gegeben. Es fehlt ihm nur, dass er
auch das Einzelne immer hinreichend sichre.
Darum wirkt gerade der weibliche Geist so wohlthätig auf
den männlichen. Wo der letztere durch willkührliche Einfälle
vergleichenden Anthropologie. 8.
403
und grübelndes Speculiren zweifelt, da beruhigt und befestigt ihn
oft der gesunde und natürliche Blick des ersteren; wo jener hin-
gegen, weil er seiner Meynung widersprechende Thatsachen über-
sieht oder gering achtet, zu früh gewiss ist, foden dieser ihn zum
Zweifel auf. Ausserdem aber sieht der Mann die unendliche Bahn,
die er langsam und Schrittweise durchmessen soll, in dem Geiste
des Weibes, der schnell und mit Ueberspringung der mittleren
Schritte beide Enden zusammenknüpft, als einen kurzen Weg
sinnlich dargestellt, und wird unaufhörlich durch denselben an
das Letzte und Höchste erinnert, das er erreichen soll, ohne doch
in seiner eigenthümlichen Thätigkeit gestört zu werden, in welcher
er sich \-ielmehr durch den entgegengesetzten Mangel in der weib-
lichen aufgefodert fühlt, noch rüstiger fortzuarbeiten.
3. in Rücksicht auf den ästhetischen Charakter des Geschlechts.
Wenn der Schönheitssinn lebhaft und rege seyn soll, so muss
die Energie des Geistes in einer gewissen mittleren Richtung
zwischen der Thätigkeit der Sinnlichkeit und der des reinen Ver-
standes gehalten, kein Gegenstand weder von der Seite seines
physischen Gebrauchs, noch von der seines Begriffs allein be-
trachtet werden ; vielmehr ist es nothwendig, immer beide zugleich
zusammenzunehmen und gleichsam zu venauschen, und die
Materie sowohl als den Begriff desselben bloss als Gestalt d. i.
als etwas zwar sinnliches, aber doch unkörperliches zu behandeln.
Diesem Verbinden heterogener Gemüthskrälte, diesem mittleren
Schweben zwischen der Wirklichkeit und der reinen Geistigkeit
ist nun die ganze intellectuelle Anlage der Frauen in hohem Grade
günstig. Sie sind bei gleichen Graden der Kultur durchaus mehr
als der Mann auf das Höchste und Idealische gerichtet (theils weil
sie überhaupt mehr nach Einheit streben, theils weil die in ihnen
vorzugsweise herrschende Phantasie dieselbe Richtung hat, theils
endlich weil sie in einer niedrigeren Sphäre die Befriedigung durch
reine Verstandesbeschäftigung weniger kennen) und trennen sich
doch zu ungern so weit von der sinnlichen Wirklichkeit, um in
dem Gebiete abgezogener Vernunftideen anhaltend zu verweilen.
Nichts kann ihnen daher so willkommen seyn, als eine Beunhei-
lung, die so sehr, als nur irgend eine andre, Allgemeinheit und
Nothwendigkeit mit sich führt, und doch nicht nach deutlich er-
kannten, vollkommen ausgesprochnen Grundsätzen bloss mecha-
nisch geschieht. Dazu kommt die äussere Anmuth und Schönheit,
welche die weibliche Gestalt selbst besitzt und die sie anzunehmen
26*
404
12. Plan einer
fähig ist, die richtig vertheihe Fülle und Feinheit des Baus und
der Züge, die Grazie der Bewegungen, die wohlklingende Stärke
und Sanftheit der Stimme. Denn ausserdem, dass dieser eigne Reiz
beständig die Sinne umgiebt, wirkt er auch auf die Beschaffenheit
und den Rh3ahmus der Empfindungen zurück, oder ist vielleicht
richtiger selbst in beiden gegründet. Endlich gesellt sich die
äussere Lage hinzu, in welcher die ernsthaften Geschäfte gerade
die am wenigsten anstrengenden sind, die alle übrige als Spiel
und Erholung anzusehen verstattet, und überhaupt der Müsse des
Geistes und dem Umherschweifen der Phantasie soviel Zeit zu
widmen erlaubt. Darum ist der Schönheitssinn der Frauen un-
aufhörlich rege, und in so bewundernswürdigem Grade lebhaft,
darum beurtheilen sie alles nach den Regeln des Gefallenden, und
suchen in die kleinsten Züge ihres Lebens Geschmack zu ver-
weben. — Diess ist im eigentlichsten Verstände Anlage des Ge-
schlechts, und muss unvermeidlich entstehen, sobald menschliche
Kultur sich mit weiblichem Charakter verbindet. Nur ob dieser
Schönheitssinn richtig und rein ist, ob er nicht z. B. das bloss
Angenehme oft mit dem Schönen verwechselt? hängt mehr von
der Individualität einzelner Subjecte ab.
Aber von diesem unbestimmteren Schönheitssinn ist noch ein
weiter Weg bis zum eigentlichen Kunstgefühl, und noch mehr
bis zum Kunstgenie. In allem, was der Kunst angehört, lässt
sich das Technische, das bloss auf logischen Regeln beruht, von
der Wahrheit in der Nachahmung der Natur und diese wiederum
von dem eigentlich Künstlerischen oder Poetischen, der reinen
Erzeugung der selbstthätigen Phantasie, abscheiden. Die Richtig-
keit des Urtheils über das erste Erfoderniss hängt ganz und gar
von einer bestimmt darauf gerichteten Verstandescultur ab. Weib-
lich wird es indess sej^n, es hiemit nicht allzustreng zu nehmen,
sondern vielmehr sogar bedeutendere Fehler anderen Schönheiten
zu verzeihen. Ueber das zweite Erforderniss werden die Frauen
vermöge der Feinheit ihres Beobachtungsgeistes und der Zuver-
lässigkeit ihres Taktes vortrefliche Richterinnen seyn. Selbst der
Natur so nah, ist ihnen kein Zug fremd, der aus ihr entlehnt
wird ; in so hohem Grade reizbar und beweglich, werden sie nicht
leicht für eine Empfindung, welche der Dichter in ihnen weckt,
den entsprechenden Ton in ihrem Innern vermissen. So werden
sie ihn tiefer und inniger verstehen; aber sie werden ihn auch
strenger beurtheilen. Denn da sie ihrem natürlichen Gefühle, frei
vergleichenden Anthropologie. S. 40^
von vorgefassten Meynungen (die den Mann so oft irre führen)
folgen, so wird das Charakterlose und Unnatürliche sie weniger
zu täuschen im Stande seyn. Die einzige Gefahr, die ihnen hier
droht, ist nur die, ihrer Beurtheilung vielleicht eine zu einseitige,
zu sehr aus ihrer Individualität entlehnte Erfahrung zum Grunde
zu legen; doch ist selbst diese geringer, da ihr Charakter ^) einen
grösseren Kreis umschliesst. Die weibliche Natur ist an und für
sich ungleich poetischer, als die männliche, und es kann daher
nicht fehlen, dass nicht auch für das höchste und letzte Erfoder-
niss der Kunst der weibliche Geist ofner und empfänglicher seyn
sollte. Er versenkt sich nicht leicht zu tief in die Wirklichkeit,
und erhebt sich nur selten zum ganz reinen Gebiet der Ideen.
Das Einzige, was ihm hier mangeln könnte, wäre vielleicht die
Kraft, mit welcher die selbstthätige Einbildungslvraft ihr Product
durchaus individuell und doch ganz und gar idealisch, gleichsam
in der Mitte zwischen der Natur und der Idee frei schwebend
erhält; und in der That findet man auch von dieser Seite das
weibliche Urtheil nicht immer rein, nicht selten mehr durch die
Wahrheit, als durch das Poetische eines Kunstwerks bestimmt,
und oft durch subjective Beziehungen, Uebereinstimmungen oder
Verschiedenheiten, bestochen. Die Geschlechts-Anlage macht ein
poetisches Urtheil überhaupt leichter und häufiger möglich, als in
dem Manne, aber sie setzt der vollkommnen Freiheit und Reinheit
desselben (da sie die Phantasie zu nah mit der Empfindung ver-
knüpft und überhaupt den Gemüthskräften weniger abgesondert
zu wirken verstattet) grössere Hindernisse in den Weg; indess
nie so grosse, dass sie nicht mit völliger Beibehaltung ihrer Eigen-
thümiichkeit, was wenigstens das Urtheil betrift, sollten überwunden
werden können.
Bei weitem schwieriger schon ist das eigne Schaffen , das
Kunstgenie. Das Genie überhaupt kann zwar, als der freieste und
höchste Schwung des menschlichen Geistes, nur der Individualität
angehören, und muss in dem Gattungscharakter allemal Hinder-
nisse antreffen ; es fragt sich nur, in welchem mehr oder weniger?
Ein gewisser Theil nun in der Ausübung der Kunst gelingt den
Frauen unläugbar in hohem Grade. Ihre Productionen besitzen
vorzugsweise Leichtigkeit und Anmuth, sind lieblich und gefällig,
und wenigstens gewiss immer in einzelnen Zügen wahr und tief
V Nach „Charakter" gestrichen: „durch seine eigne Natur schon an sich".
aqÖ ^2. Plan einer
aus der Natur genommen. Ob sie aber auch, wie nur das Genie
vermag, im Stande sind, eine Gestalt so hinzustellen, dass sie sich
durchaus über die Natur erhebt, und doch ganz und gar Natur
ist, ob es ihrer Phantasie nicht dazu an Stärke, oder wenigstens
an der Herrscherkraft, die sich eigenmächtig von jedem fremden
Gesetz losmacht, und sich selbst das Gesetz giebt, ob nicht
ihrem Geiste überhaupt an Objectivität gebricht? ist eine andere
Frage. Wenigstens ist es gewiss, dass der weibliche Charakter
vermöge seiner grösseren Empfänglichkeit auch eine bei weitem
höhere Selbstthätigkeit erfodert, um das zur Production des Genies
nöthige Gleichgewicht zu erhalten. Inwiefern indess dennoch ein
einzelnes Individuum diese Schwierigkeiten überwinden kann?
erlaubt keine allgemeine Bestimmung. Nur lehrt die Erfahrung
soviel, dass Frauen sich nicht leicht an denjenigen Gattungen ver-
suchen, deren Gelingen vorzugsweise auf ihrer künstlerischen, nur
durch Genie möglichen Form beruht, wie die epische und drama-
tische Poesie und die plastische Kunst ist, sondern fast aus-
schliessend nur an denen, die gleichsam mehr Fläche darbieten,
dem blossen Reiz und dem Reichthum des Stoffes mehr Raum
verstatten, der Musik und Mahlerei, dem Roman und der lyrischen
Dichtkunst, obgleich auch hieran die grössere Kunstfertigkeit und
der ausharrendere Fleiss Schuld seyn kann, den jene Gattungen
fodern.
Ueberhaupt muss die Weiblichkeit schon eine gewisse Läute-
rung erfahren haben, ehe wissenschaftliche oder dichterische Pro-
ductionskraft möglich wird. Ohne diese fehlt es ihr, selbst in den
vorzüglichsten Subjecten, an der hinlänglichen Klarheit und Ruhe,
und noch mehr an der Kraft, und selbst an der Neigung eine
Reihe einzelner Gedanken oder Empfindungen von der ganzen
Masse abzusondern, und für sich zu bearbeiten.
4. in Rücksicht auf das Empfindungsvermögen und den Willen.
Um das weibliche Geschlecht von seiner eigenthümlichsten
Seite zu sehen, muss man von dem moralischen Charakter aus-
gehen. Wie bei den Männern der Geist, so ist bei den Frauen
die Gesinnung am meisten rege und thätig. Was sie irgendwoher
aufnehmen, wird in dieselbe verwandelt; alles geht in sie über;
alles entspringt wieder aus ihr. Dadurch ist ihnen eine so ent-
schiedene und beständige Richtung nach der Wirklichkeit eigen.
Denn indess der Geist, wenigstens seinen letzten Zwecken nach,
immer im Gebiet der Allgemeinheit und Nothwendigkeit und die
vergleichenden Anthropologie. 8. 4.07
Phantasie im Reiche der Möglichkeit vervveih, gehört dem Gefühl
und der Gesinnung nur die individuelle Gegenwart an.
Der erste und ursprüngliche Grund hievon liegt in der Natur-
bestimmung des Geschlechts. Um Leben und Daseyn zu geben
und zu erhalten, muss es der Natur und der Wirklichkeit treu
bleiben, und sich streng an sie binden. Zwar beruht diess zu-
nächst nur auf der physischen Organisation; aber der Eintluss
davon verbreitet sich unmittelbar auch auf den moralischen Cha-
rakter. Denn da sich mit dem Bedürfniss der Natur zugleich in
der Liebe die menschlichsten und geistigsten Gefühle verknüpfen,
so ergiesst sich diese Empfindung durchaus durch das ganze Wesen,
und theilt demselben ihre Eigenthümlichkeit mit. Dasselbe ist
zwar auch in dem Manne der Fall, aber der wichtige Unterschied
ist der, dass die Frauen der empfangende und bewahrende Theil
sind, dass nur ihnen das durchaus eigne Gefühl angehört, Mutter
zu seyn, und dass der Charakter des Geschlechts überhaupt inniger
in ihre Persönlichkeit verwebt ist.
Die weibliche Empfindung zeichnet sich vor der männlichen
zwar durch grössere Reizbarkeit, aber noch mehr durch grössere
Innigkeit aus. Nicht dass nicht auch in die Seele des Mannes ein
einzelnes Gefühl so tief eindringen könnte, dass es alle Kräfte und
Triebfedern des Gemüths auf einmal anspannt; eine Eigenthüm-
lichkeit, die ihm vielmehr sogar ausschliessend eigen ist. Aber
in der Seele der Frauen erklingen (wenn das Bild erlaubt ist) von
den Schwingungen einer einzelnen Saite immer zugleich alle
übrigen; ihr Gemüth gleicht dem stillen und klaren Wasser, in
dem die leiseste Bewegung von Welle zu Welle bis an die äussersten
Gränzen fortzittert. Daher ist ihre Innigkeit mehr von Leichtig-
keit und Wärme, die des Mannes mehr von Heftigkeit, Feuer und
Anstrengung begleitet.
Aus der Innigkeit entspringt die weibliche Schaam, so wie
aus dieser die weibliche Züchtigkeit. Die Empfindung der Schaam
entsteht immer, wenn man sich in sich versenkt, Ueberlegung und
Verstand nicht kaltblütig genug von Gefühl und Neigung ge-
sondert fühlt, und durch den Anblick des entgegengesetzten Zu-
standes in einem andern auf diesen Contrast des eignen aufmerk-
sam gemacht wird. Weil nun der Mann, seiner Natur nach, kälter
und besonnener ist, so ist die weibliche Schaam am meisten sicht-
bar im Verhältniss gegen das andre Geschlecht. Die physische
Organisation des Weibes ist ebenso zum Aufnehmen und
Ao8 12. Plan einer
Empfangen geneigt, als die moralische, alles zurück auf den inneren
Zustand zu reflectiren. Beides verbindet sich in der besondern
Gattung dieser Empfindung, die wir die jungfräuliche Schaam
nennen, und die man als die Quelle betrachten kann, aus der sich
diess Gefühl überhaupt über die ganze Organisation und über
alle Zustände derselben nur in verschiedenem Maass und in ver
schiednen Gestalten ergiesst.
Schlechterdings eigenthümlich ist den Weibern das Mutter-
gefühl, vorzüglich ehe die Frucht noch gebohren ist. Eine Liebe,
die durchaus durch keinen Eindruck der Individualität hervor-
gebracht (denn die Zuneigung zum Vater verstärkt und verändert
nur, erzeugt aber nicht diese Empfindung) und doch mit der un-
bedingtesten Aufopferung verbunden ist, die allein darauf beruht,
dass ein fremdes Wesen mit dem eignen in so durchgängiger
Mittheilung, so inniger Berührung steht, dass es selbst nur einen
Theil desselben ausmacht, und diess Wesen doch ein lebendiges
und menschliches ist, das nur, um einem unabhängigen Daseyn
entgegenzureifen, auf eine kurze Zeit an ein fremdes geknüpft ist
— eine solche Liebe, die noch dazu mehr als bloss in der Anlage
auch denen eingepflanzt ist, die sie nie aus eigner Erfahrung
kennen, und die gewiss nicht bloss ihren ph3^sischen Endzweck
erfüllt, sondern sich mit ihren Einflüssen über den ganzen Cha-
rakter verbreitet, öfnet den Frauen einen ganz anderen Sinn der
Aneignung, und lehrt sie einen ganz anderen Weg kennen, äussre
Objecte mit sich zu verknüpfen, in sich aufzubewahren, und
wieder von sich zu scheiden, als wofür der Mann nur einen Be-
griff hat. Daher stammt es, dass in der weiblichen Seele jede
tiefere Empfindung, jede eigenthümliche Idee ein Theil ihrer selbst
wird, die sie nur mit Mühe und gleichsam mit Schmerzen aus
sich loswindet, und dass sie eine Freude der entbehrenden und
selbst der schmerzensvollen Aufopferung kennt, die der Mann
nur selten und in einzelnen leidenschaftlichen Momenten empfindet.
Lebhafte Reizbarkeit der Empfindung und Anhänglichkeit an
die einmal gefasste Me3^nung bringen natürlich einen leidenschaft-
lichen, leicht erregbaren und heftigen Charakter hervor. Da aber
die intellectuelle Cultur die Einseitigkeit des Verstandes, und die
ästhetische die Materialität der Empfindung vermindert; so ver-
schwindet diese Leidenschaftlichkeit auch in gebildeten Frauen
wiederum bis auf ihre letzten kaum noch erkennbaren Spuren.
Das Gemüth erfährt in ihnen seltner jene ungleichen, stürmischen
vergleichenden Anthropologie. 8. 4.00
Regungen, die wir mit dem Namen der Leidenschaften bezeichnen;
aber es befindet sich dafür in dem Zustande einer fortdauernden
höheren, jedoch gleichmässigeren Spannung,^) und wenn sich eine
Leidenschaft ihrer bemächtigt, so ist es nur für einen Gegenstand,
auf den sich, wenigstens der Ansicht des Subjectes nach, alle
Kräfte der Seele würdig vereinigen können, und nur auf eine edle
und grosse Weise. In dem Zustande einer solchen Leidenschaft
verliert alsdann, sobald die Umstände es erheischen, die schöne
Weiblichkeit ihre gewohnte Schüchternheit, sie tritt, auf einmal
frei geworden, hen^or, erklärt sich laut für den geliebten Gegen-
stand, und schüttelt das Joch äusserer und conventioneller Rück-
sichten von sich ab.
Nichts ist der Weiblichkeit so sehr zuwider, als moralische
Gleichgültigkeit. In den gemeineren Naturen kündigt sich diess
durch Härte und Intoleranz an; in den besseren und höheren
herrscht zwar die freieste und schönste Liberalität, aber sie unter-
scheidet sich von der männlichen dennoch dadurch, dass, wenn
Dingen, die das sittliche Gefühl beleidigen, andere sonst achtungs-
wenhe Eigenschaften zur Seite stehen, die Schätzung dieser der
Geringschätzung jener nicht das mindeste abzieht, da hingegen der
Mann hierin leicht zu weit geht, und den Fehler, den er bloss tole-
riren will, selbst mit theilt. Ueberhaupt sind Frauen — wenigstens
gilt diess gewiss von den edleren — bei weitem strenger bei Be-
urtheilung der Grundsätze, als ihrer Anwendung in einzelnen
Momenten, und es ist selbst weiblich, die Milde oder die Inconse-
quenz (denn beides ist sehr häufig der Fall) bei dieser sogar zu
übertreiben.
W^enn man die Frage aufwirft, ob die sinnliche, ästhetische
oder moralische Empfindung im Ganzen genommen bei den Frauen
die Oberhand behauptet, so lässt sich dieselbe bei keiner einzelnen
vorzugsweise bejahen. Ueberwiegende und heftige Sinnlichkeit ist
den Weibern in der Regel und bei einer natürlichen Ausbildung
so wenig eigen, dass der berüchtigte Streit über die Kälte oder
die Leidenschaftlichkeit des Geschlechts in diesem Punkte ohne
Zweifel zum \'ortheil der ersteren Behauptung entschieden werden
muss; die ästhetische wird, wo es auf Gefühl und (Charakter an-
kommt, wenigstens nicht im W^iderspruch mit der moralischen
siegen; und der trockne und zugleich dürftige Ernst der mora-
V „Spannung" verbessert aus „Stimmung".
AlO 12. Plan einer vergleichenden Anthropologie. 8.
lischen genügt für sich allein genommen wenigstens der besseren
und vielseitigeren nicht, wenn er auch der gewöhnlichen und all-
täglichen durchgängige Genüge leistet. Wo bei der schönen
Weiblichkeit das Gemüth zu wahrer und heftiger Leidenschaft
entflammt werden soll, da müssen jene drei Arten der Empfindung
mit einander zusammentreffen; alsdann aber wird sich dieselbe
in jeder mit einem so mächtigen Feuer äussern, dass der uner-
fahrne Beurtheiler die jedesmal vorwaltende leicht für die einzige
erklären kann. Der rohen noch ganz der Natur angehörenden
Weiblichkeit ist zwar Ausgelassenheit der sinnlichen Begierde nicht
fremd, aber sie entsteht nicht sowohl aus positiver Stärke der
Sinnlichkeit (die in dem selbstständigeren und objectiveren Manne
ungleich grösser seyn muss) als aus Leere der Empfindung, und
aus Mangel einer entgegenstehenden Kraft, die sie zu zügeln ver-
möchte. Daher wird sie mehr als im Manne durch die Kultur
herabgespannt.
Die Harmonie, welche die Frauen in der ganzen Summe ihrer
Empfindungen fodern, die Totalität, auf die sie bei jedem Gegen-
stande dringen, dem sie sich mit einer gewissen Wärme widmen
sollen, und die Tiefe und Innigkeit ihres Gefühls müssen zu-
sammengenommen in hohem Grade dasjenige hervorbringen, was
man stäte und dauernde Gesinnungen nennt, und auf der einen
Seite dem Wechsel der Laune, auf der andern der absichtlichen
Wirkungsart des Willens entgegensetzt. Daher ruht die weibliche
Moralität mehr auf der Natur, als auf Ueberlegung und Charakter-
stärke, und daher gewährt das weibliche Gemüth so oft das schöne
Schauspiel einer freiwilligen Herrschaft edler Gesinnungen, da das
männliche mehr das erhabene einzelner glücklich errungener
Kämpfe darbietet. Dass es dem andern Geschlechte indess ebenso-
wenig nothwendig an der Kraft gebricht, welche zu diesen er-
fodert wird, zeigen häufige Beispiele, nur dass freilich die unver-
brüchliche Anhänglichkeit an reine Sittlichkeit mehr aus einmal in
die Natur selbst übergegangenen Gesinnungen, als aus unmittel-
barer Achtung für das Gesetz hervorgehen wird.
13-
Pindar.*)
I. Charakter und Lage — historisch.
II. Schilderung seiner Gedichte und Beurtheilung ihrer einzelnen Theile — ritisch.
III. Schilderung und Beurtheilung seines dichterischen Charakters überhaupt — rein
philosophisch.
I.
(Gesichtspunkt bei Beurtheilung der alten Dichter
überhaupt)
I.
Die alten Dichter überhaupt dürfen nicht anders, als mit
Rücksicht auf ihre individuelle Lage beunheilt werden, wenn
nicht bei der Bestimmung des Charakters ihrer Producte die
bloss zufälligen Züge mit den wahrhaft eigenthümlichen ver-
wechselt werden sollen.
(des Pindar insbesondre.)
2.
In einem ganz vorzüglichen Sinne findet diess beim Pindar
Statt, da dieser zugleich eine geheiligte und eine ötVentliche Person
Handschrift (54 halbbeschriebene Quartseiten, von denen S. 19—22 fehlen)
im Archiv in Tegel. — Erster Druck (ohne die Anmerkungen) : Sechs ungedruckte
Aufsätze über das klassische Altertum von Wilhelm von Humboldt, herausgegeben
von Albert Leitzmann S. 34—54 (i8(ß).
*) Alte Schriftsteller über Pindars Leben. Aristodemus. Schol. Pind. ad P. III. 137.
412
Pindar.
war. — Er war der bestellte Sänger des Phöbus *) — nahm Theil
an den Geschenken, die der Gott empfieng,**) — und sein aus-
gebreiteter Ruhm***) machte ihn zum Organ jeder öffentlichen
Feier bei Siegen und Festen im ganzen Griechenland, f)
3-
Daher entspringt die festliche Würde und Erhabenheit, die
ihn so vorzüglich auszeichnet, und die vermehrt v^urde durch
seinen nationellenft) und individuellen Charakter.
(Einfluss des Böotischen Charakters auf ihn.)
4-
Der Hauptzug des Böotischen Charakters ist unbehülfliche
Schwere, und körperliche Stärke. Dann Hang zur Musik, ins-
besondre der Flöte.
5-
Wenn man diess verbindet, scheint Hang zu körperlicher
Thätigkeit und körperlichem Genuss hen^orzugehn. Ueberhaupt
kann man wohl die Böotischen Nationalzüge nach andern Nationen
desselben AeoHschen Stammes beurtheilen. Im Ganzen kam der
Aeolische Charakter dem Dorischen unstreitig näher, als dem
Attischen. Schon die grössere Aehnlichkeit der Mundarten spricht
dafür, so wie dass beide Stämme soviele, und fast bloss lyrische
Dichter besassen. Man darf daher wohl den Aeoliern den Haupt-
zug der Dorier gleichfalls beilegen, vermöge dessen diese weniger
der Phantasie und einer müssigen Speculation, als der W^irldich-
keit und den reellen Verhältnissen des praktischen Lebens ange-
hörten. In den Doriern, wenigstens in den Lacedämoniern, aber
*) Pausan. X. 24.
**) Thomas Magister. Gen. Pind. v. 16 — 18. Pausan. IX. 23. Plut. de sera
num. vind. p. 989. /. 24. Castellanus de festis Graec. p. 165.
***) Plato de LL. l. 3. p. 590. F. Ed. Louan. Menon. p. 16. G. Aeschines. cp. 4.
Diogen. Laert. /. 4. sect. 31. p. 246. ed. Amstel. Dionysius Halic. T. 2. p. 68. /. 44.
ed. Wechel. Longin. de sublimit. sect. 33. Athen. /. XIII. 2. p. 564. D. Horatius.
IV. 2. Plin. II. c. 12. s. 9. Quinctilian. X. i. p. 740. ed. Hack. Macrobius. /. 5. c. 17.
p. 50. 51. ed. Lugd.
f) Thomas Magister. Solin. c. 9. Ael. /. 4. c. 15. Thom. Mag. Tzetzes in He-
siodum p. 104. b. ed. Heins. Aeschinis cp. 4. Pausan. I. 8. p. 20.
ff) Geschlecht und Herkunft. Thom. Mag. Pyth. V. 99. Pindars Bruder selbst
Kämpfer. Gen. Pind. vers. her. v. 4. 5.
2-s. 413
hatten diese Züge eine sehr veredelte Gestalt gewonnen. Es
herrschte daher auf der einen Seite mehr Seelengrösse und Strenge
der Sitten, aber auf der andern auch mehr Rigidität und daher
weniger Neigung zu künstlerischem Talent. Von beiden das
Gegentheil zeigen in Lesbos die Aeolischen Sitten, und die Neigung
zur Musik in den Thebanern deutet auf diese Verwandtschaft hin,
wenn gleich Himmelsstrich und Landesart diese künstlerische An-
lage in ungünstige Schranken einschloss.
6.
Nachdem es auf diese Weise, durch Hülfe der Lesbischen
Dichterschule begreiflich geworden ist, wie ein Pindar in Theben
aufstehen konnte, sieht man zugleich, dass eine entschieden lyrische
Stimmung und Hang zu gemeinschaftlicher Freude bei Familien-
und Bürgerfesten im Pindar durch den Nationalcharakter bestätigt
wurde. Ausserdem aber lassen sich auch Spuren dieses letzteren
in der gleichsam patriarchalischen Gesinnung des Dichters, seiner
fast austeren Frömmigkeit, der Bitterkeit in der häufigen Er-
wähnung seiner Hasser*) und Neider, dem häufigeren Einmischen
seiner eignen Person,**) dem ihm Schuld gegebenen Eigennutz,
und der Feierlichkeit oder Heftigkeit seines Ganges entdecken.
(Sein individueller Charakter.)
Zu einem Herold der Götter und Helden passt auch Pindars
individueller Charakter. Tiefe Ehrfurcht für Seelengrösse und
Tugend ; mit edlem Stolz verbundenes Bewusstseyn seiner eignen
Würde; endlich der milde und heitre Frohsinn, welcher zum
freien Erguss der Empfindungen einladet, machen die Hauptzüge
aus, welche seine Gedichte verrathen.
8.
Zuerst zeichnet sich seine Frömmigkeit aus, die mehr Ernst,
Würde und Furcht zeigt, als man sonst bei Griechischen Dichtern
gewohnt ist. Daher seine Besorgniss, die Gottheit durch irgend
*) Diogenes Laert. /. 2. sect. 46. p. 108. ed. Amstel. Schal, ad P. II. 97- 'S^-
Suidas V. Bacchylides. Steph. Byzant. v. 'lovXig. Athen. X. c. 21. p. 455. C. ibiqtie
Casaubonus.
**) Plut. de laude siii. p. 957- 539- ed. Francof.
414
i-i. Pindar.
einen Ausdruck zu beleidigen, und seine Vorsicht in der Ver-
werfung unheiliger oder abgeschmackter Fabeln. — Historische
Beweise.*)
9-
An diese schliesst sich zunächst die Verehrung der Helden
der Vorzeit an, die er oft als Mittelpersonen zwischen den Göttern
und seinen Siegern braucht. In diesen schätzt er am meisten
gerade Tapferkeit und ofne Stärke. Daher sind Herkules, Achill,
Ajax, Jason mehrmals bei ihm wiederkehrende Figuren; dagegen
Ulyss selbst durch Homers Namen nicht gegen seinen Tadel ge-
schützt wird.
IG.
Ebenso ist seine ganze moralische Gesinnung ^) auf Offenheit,
Treue und Genügsamkeit, auf Bürgereintracht,**) Friedfertigkeit
und Familienglück, dabei aber auf ein edles Streben nach grossen
Thaten, nur verbunden mit Beschränkung unmässiger Wünsche
gerichtet. Neid, Selbstsucht und hinterlistige Gleissnerei erbittern
ihn bis zur Härte.
II.
Aber jede Grösse verschwindet umsonst, wenn nicht die
Stimme des Nachruhms sie verherrlicht. Diese ertönen zu lassen,
ist er bestimmt; bei diesem Geschäft stehn ihm die Musen vor-
züglich bei; und wenn er dem Haufen, der ihn nicht fasst, mis-
fällt, so hat er doch den Beifall der Weisen.
12.
In diesem ernsten, strengen, feierlichen Charakter herrscht
doch durchaus milde Sanftmuth und heitre Fröhlichkeit. Die
Charitinnen sind es, welchen der Dichter am häufigsten opfert,
und wo er die wünschenswürdigsten Dinge nennt, vergisst er nie
*) Thom. Mag. Bildsäule des Apollon Boedromios und Hermes Agoraeos.
Pausan. IX. 17. Tempel der Mutter der Götter bei seinem Hause. IX. 25. Schol. Pind.
ad Pyth. III. 137. Pausan. IX. 16. Pan sang seine Lieder. Gen. Pind. V. 19. 20.
Plut. Numa. p. 113. ed. Steph. 62. c. ed. Francof. contra Colot. p. 2022. Ferner
Plutarchus ne siiaiiiter quidem vivi posse seciindiim Epicuri decreta. Ed. Francof.
p. I103. a. Philostratus. Umgang mit Persephone. Pausan. IX. 23. Falsche Anekdote,
dass ihn Castor und Pollux, wie den Simonides, aus einem einstürzenden Hause gerufen.
Solinus. c. I. ibique Salmasius.
**) Epigr. Leonidae. Ed. Ox. in.
V Hier ist die Anynerkung gestrichen: „Plutarchus n^gl ipvxoyoviaq. -p. i8g^."
S— 14.
415
des sinnlichen Lebensgenusses, erhöht durch die Freuden der
Musik und des Gesanees. Diess schloss sich an seine Frömmig-
keit an, da der Gottesdienst zugleich immer mit Kunstgenuss ver-
bunden war. — Gesang seiner Töchter bei Nacht. Schöne Stimmen
der Böotierinnen.
13-
V^on Pindars sanfteren Gefühlen zeugt seine Liebe*) zum
schönen Theoxenus. So viel sich einsehen lässt, beruhte sie auf
dem begeisterten Gefühl einer reizbaren und empfänglichen Seele
für Schönheit und Jugend, und hat mit Platonischer und Sokra-
tischer Knabenliebe keine Aehnlichkeit. In Theoxenus Armen und
im Theater starb er.**)
14.
Auf diese Weise war über Pindars ganzes Leben ein Glanz
verbreitet, in welchem Grösse und Anmuth sich gatteten. Hieraus
muss man es sich erklären, wenn er öfter auf das Lob des Reich-
thums in seinen Gedichten zurückkommt, und wenn er die Macht
der Könige höher erhebt, als einem Griechen zu geziemen scheint.
Ueberhaupt war er wohl der eigentlichen Volksregierung nicht
geneigt, und es lässt sich aus dem Ganzen seines Charakters
schliessen, dass er den ruhigen Lebensgenuss in der Sicherheit
des Friedens unsichern Gefahren unendlich vorziehen musste.
Vielleicht daher sein Abrathen vom Perserkrieg. Wenn an den
Anekdoten von seiner Begierde nach Reichthümern etwas Wahres
ist, wie sich alles wohl kaum abläugnen lässt,***) so gehört dieser
Charakterzug hieher, und die Tempel und Bildsäulen, die er
weihte, zeigen wenigstens, wie diese Neigung mit seinem Streben
nach Ruhm und selbst mit seinen moralischen Gesinnungen zu-
sammenhieng.
*) Athen. XIII. 8. p. 601. C. ed. Liigd. Pindari efßgies zh tojri. 2. jnt. Graec.
Gron. Tab. 60. ex aed. lust. Bürette in den Mctri. XIV. p. 363.')
**) Thom. Mag. Plut. Consolat. ad Apollon. p. 189. /. 12. Valer. Max. IX.
12. ext. 7.
***) Ol. I. 2. II. loi. III. 75. P. XI. 63. /. II. 9- Schol. ad I. V. 2.
^yl Bürette veröffentlichte in den Memoircs de literature, tires des registres de
l'academie royale des inscriptions et heiles lettres 14, 172 Plutarchs Schrift TTfQi
(lovar/Sig nebst einer Übersetzung und schloß daran S. 2-j8 längere „Remarques
sur le dialogue de Plutarque touchant la musique".
4i6
Pindar.
So ist Pindar, von dem es nicht bekannt ist, dass er sonst
ein bürgerliches Amt bekleidet hätte, im genauesten Verstände als
ein öffentlicher Sänger, und als ein heiliger Dichter, gleichsam als
Priester anzusehen. Dadurch und durch einen Antheil Böotischen
und Aeolischen Natureis bekommt er eine Würde, einen Ernst,
und eine Strenge, die ihn den Hebräischen Sängern auch im Cha-
rakter beinah ähnlich machen würde, wenn nicht die Griechische
Leichtigkeit, Milde und Sinnlichkeit wieder alle Spur eigentlicher
Gleichheit verwischten.
16.
Ueber seine intellectuelle Ausbildung*) giebt die Geschichte
so gut als keinen Aufschluss. Indess sind seine Lehrer,**) Zeit-
genossen zu erwähnen, sein Umgang mit Aeschylos ***) und seine
Reisen t) ^u untersuchen. — Fortschreitung seiner Bildung; Zeit-
folge der Oden.
(Aeussre Beschaffenheit seiner Gedichte;)
17-
Ausser der individuellen Lage des Dichters selbst muss zur
Beurtheilung seines poetischen Charakters auch noch die zufällige
und äussre Beschaffenheit seiner Gedichte hinzugenommen werden.
(aller lyrischen überhaupt)
18.
tt)Alle lyrischen Gedichte waren für den Gesang, ftt) die
meisten für eine Art theatralischer Aufführung bestimmt, so dass
*) Clem. Alex. Strom, l. 5. p. 598. B. ed. Paris, l. i. p. 308. C. Paedagog.
l. 3. p. 252. B.
**) Thomas Magister. Gen. Pind. v. 9 — 12. Bürette (Mem. d. l'Ac. d. Inscript.
T. 14. p. 359-) hält den Agathocles für Einen mit Lasus. Lasus. Bürette. Mem. XIV.
p. 324. Vd. dt. ad p. 35. in marg. nr. II. i)
***) Thomas Magister.
t) Ael. /. 4. c. 15.
•ff) Aufbewahrung heiliger Hymnen. Pausan. IX. 16.
ttt) ?"<'-^ ^"^ cantu spoliaueris, nuda remanebit oratio. Cicero. ^)
V Das hier zitierte Blatt der Handschrift fehlt.
^) Orator §' 18^, WO es wörtlich „nuda paene remanet" heißt.
15-21- 417
sie immer mit Musik, häufig mit Tanz begleitet waren. Der
Dichter lehrte sie diejenigen, welche sie aufführten, und meisten-
theils war er selbst der Tonkünstler. Inwiefern gilt das alles auch
von Pindar? Schickte er bloss seine Gedichte, oder unterrichtete
Chöre nach den auswärtigen Ländern, für die er dichtete?
19.
Daher kam so vieles auf den Vortrag und auf denjenigen Theil
der Poesie an, der sich auf denselben bezieht. Der Dichter musste
mehr suchen dem sinnlichen Theil der Kunst ein Genüge zu thun.
und die höheren Federungen '^iirden ihm williger nachgelassen.
Auch war er, als Grieche, schon durch die Eigenthümlichkeit
seines Xationalcharakters sich vorzugsweise nach jener Seite zu
wenden aufgefodert.
(der seinigen insbesondre)
20.
Aber Pindar kann überdiess nur nach Einer Art seiner Ge-
dichte von uns beurtheilt werden, und diese ist unglücklicherweise
in soviele zufällige Schranken eingeengt, dass der Einfluss dieser
aufs neue von seinem reinen Charakter geschieden werden muss.
Wir besitzen nur seine Siegshymnen. Diese waren nicht an \\"irk-
lich grosse und verdiente Männer gerichtet, sondern an Könige,
deren reich genährte Gespanne, oder an Athleten, die mit der
Kraft ihrer Glieder den Preis gewannen. ( Tiefere Untersuchungen
über die Wagenführer, und Athleten.') Aristagoras in Kern. II.
war doch Pr}'tane.) Selten also war die Person des Helden, und
nie, insofern sie den Sieg gewonnen hatte, merk\s*ürdig. Nur das
Vaterland, die Familie des Siegers und der Sieg selbst konnte des
Preises gewürdigt werden.
21.
Aber auch dieser Sieg selbst hatte an sich nichts Grosses und
Wichtiges, weder in dem Guten, das er schafte, noch in den
Kräften, die ihn errangen. Er war die Frucht des Reichthums
im Wagen- und Pferderennen, körperlicher Kräfte und einer an-
haltenden, bis ans Illiberale gränzenden körperlichen Lebung in
den übrigen Kämpfen, und selbst wo der Wettkampf die Kunst
*) Pindars Bruder selbst Athlet. Gen. Pind. V. 4- 5-
W. V. Humboldt, Werke. I. *7
4i8
Pindar.
betrift (wovon im Pindar nur Ein Beispiel vorkommt), ist es sehr
zweifelhaft, ob der Preis mehr der Stärke oder mehr dem Talent
gebührte.
22.
Aber auf der andern Seite war der Preis, der in diesen
Spielen errungen wurde, der höchste, dessen ein Grieche sich
rühmen konnte; und gegen ihn blieb selbst das grosseste Bürger-
verdienst und der schönste Kampf fürs Vaterland zurück. Griechen-
land kannte für jede Grösse einen eignen Dank. Stille Ehrfurcht,
Liebe und Vertrauen belohnten das ächte Verdienst; aber lautes
Frohlocken, exaltirte Begeisterung, und ein Preis, an dem die
Sinnlichkeit und die Phantasie mehr, als Geist und Herz Antheil
nahmen, erhoben den Sieger der Kampfspiele.
23-
Ihre Feier war eine Feier der Phantasie. Alles was die so
reizbare Einbildungskraft des Griechen zu befeuern vermochte,
kam bei den Kampfspielen zusammen: die ungeheure Menge des
Volks, das nationale Vorurtheil, da nur Hellenen diese Feier theilen
durften, die nahe Verbindung der Spiele mit heiligen Gebräuchen^
das ehrwürdige Alter der Einrichtung, das sich bis in das Dunkel
der Heldenzeit verlor, der Wettkampf verschiedener Griechischer
Stämme in der Person ihrer Kämpfer, endlich die Grösse des
Schauspiels selbst, die Schönheit und Stärke der Ringerkörper, die
Pracht der Gespanne, die wetteifernde Anstrengung der Kräfte.
24.
Diese sinnliche und phantastische Stimmung zu erhöhen, trug
grade der Umstand nicht wenig bei, dass der Wettkampf nicht
ernsthaft, sondern ein blosses Spiel, eine völlig freie Aeusserung
der Kräfte war. Jeder ernstliche Kampf hätte durch die Wichtig-
keit seines Gegenstandes mehr den Verstand oder das Herz inter-
essirt, und die Phantasie niedergedrückt, oder zerstreut. Dieser
hingegen hob sie vielmehr in leichtem Spiel in die Höhe, da er
nur gleichsam die Form eines Kampfes behalten hatte, und der
Sieger in ihm nur den blossen Schall des Ruhmes verfolgte.
24. b.^)
Was den Ruhm in Kampfspielen noch vor jeder andern
Gattung der Ehre auszeichnete, und ihn besonders zu einem
V Dieser Abschnitt ist am Rande nachgetragen.
21 — 26.
419
(jegenstande der Phantasie und einer dichterischen Behandlung
machte, war die Art, wie er erworben wurde. Jeder andre Ruhm
wird langsam, nach und nach, durch mehrere zusammentreffende
Handlungen und Umstände, die immer noch eine ungleiche Be-
urtheilung und Würdigung zulassen, errungen ; und wenn er ein-
mal erworben ist, muss er erhalten werden, er lebt nur in der
fortdauernden Meynung der Menschen, auf die also auch fort-
gewirkt werden muss. Bei den Kampfspielen war nur Ein Schritt
zu thun, und es war alles gewonnen. Der Sieg musste errungen
werden; diess geschah auf eine entschiedene unverkennbare Weise.
Alle Meynung des Ruhms hieng jetzt allein an der Meynung des
Sieges und hier war nicht mehr Ungleichheit der Beurtheilung
oder Besorgniss des Verlustes zu fürchten. (Zu untersuchen, ob
nachheriges Unterliegen, oder irgend eine Art der x\ufführung und
des Betragens die Ehre eines Olympioniken wieder zu schmälern
vermochte.) Dadurch wurde die Erkämpfung eines Kampfsieges
so sehr einer Vergötterung ähnlich, und diess hat Pindar vortref-
lich benutzt.
25.
Ist aber der Ruhm, dessen die Sieger in den vier grossen
Spielen genossen, nur einmal aus der Reizbarkeit der Phantasie
der Griechen, auf die hier von allen Seiten eingewirkt wurde, er-
klärbar, so verwebte sich nun dieser Gedanke in alle gesellschaft-
liche und bürgerliche Einrichtungen. Jetzt war der Ruhm des
Siegers, durch den er zugleich sein Vaterland verherrlichte, in der
That etwas Grosses, und wie gering sein wirkliches und persön-
liches Verdienst seyn mochte, so stand er dennoch bloss durch
den Platz, auf den er sich geschwungen hatte, auf einer unend-
lichen Höhe. — Veränderungen in der Meynung von der Grösse
der Kampfspiele. Inwiefern schon zu Pindars Zeit?
26.
Anstatt also dass die Geringfügigkeit des Gegenstandes dem
Dichter hätte zu schaflen machen sollen, hatte er vielmehr jede
Ivraft anzustrengen, demselben gleich zu bleiben. Da indess die
Grösse desselben nur eine sinnliche war, so bestimmte diess zu-
gleich den Charakter der Siegshymnen, und so stimmt dieser (}egen-
stand nicht wenig mit dem individuellen und nationeilen Charakter
Pindars, seiner Lebensart und seiner Beschäftigungen überein —
obgleich sich der ganze Umfang seines Genies und (Charakters
27*
420
Pindar.
nicht genau ausmessen lässt, da die Behandlung dieser Gegenstände
fast die einzige Quelle ist, aus der man schöpfen kann.
II.
(Innere Natur und Beschaffenheit der Siegshymnen
im Ganzen.)
27.
Pindars Dichtercharakter zu schildern ist nur an den Siegs-
hymnen möglich. Die Fragmente seiner übrigen Stücke geben
nur Muthmaassungen an die Hand. Die Siegshymnen sollten den
errungenen Sieg verkündigen, den Ruhm des Siegers verherrlichen,
und vorzüglich als Ausdruck der Freude und Anruf an die Gott-
heit die Feier des Sieges zu begehen dienen.
28.
Die Stimmung, in Vielehe der Dichter sich und die Zuhörer
versetzen musste, wslt daher aus Empfindungen der Grösse und
der Freude vermischt. Diese hervorzubringen gab der einzelne
specielle Sieg nichts oder nur sehr v^enig her; dieser Gegenstand
war allen Griechen zu nah und zu bekannt, als dass der Dichter
dabei hätte verweilen dürfen. Daher kommt schlechterdings keine
Schilderung der Kampfspiele selbst im Pindar vor; nur auf be-
sondre einzelne Umstände spielt er hie und da an. Das Einzige,
was er von seinem Gegenstande entlehnen kann, ist die allgemeine
Idee des Ruhms und der Grösse, die mit den Siegen verbunden
•war, und die Geschichte der Vorfahren und der Vaterstadt des
Siegers.
29.
Hier aber eröfnet sich ihm auch ein weites Feld für die
Phantasie. Von der Familie des Siegers oder seiner Vaterstadt
geht er leicht zu den berühmtesten Helden Griechenlands über.
Durch diese bahnt er sich den Weg zu den Göttern, und so knüpft
er den Sieger zuletzt an diese an. Nun ist er in dem Gebiete,
welches mehr, als irgend ein anderes der dichterischen Einbildungs-
kraft, und besonders der begeisterten phantastischen Stimmung
angemessen ist, welche die Kampfspiele so ausgezeichnet be-
gleiteten. In diesem verweilt er daher auch am häufigsten und
längsten, indess er dagegen der grösseren und verdienstvolleren
26-
421
Thaten der näheren Vorfahren, selbst des Kampfs für die Freiheit
nur sparsam und vorübergehend erwähnt.
30.
Dadurch also wird der Hauptcharakter des Dichters glänzend,
erhaben und feierlich. Aber indess er die Phantasie auf diese
Weise leicht erhebt und beschäftigt, mischt er der Empfindung
zugleich noch einen grösseren und wnürdigeren Gehalt bei. Der
Sieg, der nicht anders als durch Kampf zu erringen war, führte
natürlich die Vorstellung der Anstrengung herbei, die er kostete,
und die schwindelnde Höhe, auf welcher der begeisterte Dichter
den Sieger sah, erinnerte an die Gefahr, sich des Sieges zu über-
heben. Aus diesen beiden Quellen entspringen vorzüglich die
ernsten Betrachtungen, durch welche das Gefühl der Freude auf
der einen Seite zwar gemässigt, aber auf der andern auch würdiger
und dauernd gemacht wird.
31-
Allein auch hier herrscht dieselbe Erhabenheit, welche den
Dichter überall auszeichnet. Die Unveränderlichkeit des Schicksals,
die Vergleichung der Nichtigkeit der Menschen mit der Macht und
Grösse der Götter sind das oft in mannigfaltiger Behandlung
wiederkehrende Thema. So verbindet sich überall in der Wirkung,
die Pindar hervorbringt, gehaltvolle Tiefe mit anmuthiger Fülle
und Leichtigkeit. (N. IV. 10—14.)^) Die Stimmung, in die seine
besten Stücke den Leser versetzen, ist gemeinschaftlich durch die
grossesten und erhabensten Ideen der Vernunft, und die glänzendsten
und lachendsten Bilder der Phantasie bewirkt, und durch den
Gebrauch von beidem strebt er Einem und demselben Ziele
entgegen.
32.
Diess Ziel ist nemlich ein Gefühl der Ruhe und Heiterkeit,
dem aber eine sichre und grosse Grundlage zur Stütze dient.
Darum ergreift er zuerst das Gefühl mächtig durch die ernste
Vorstellung der furchtbaren Macht der Gottheit, und der Wandel-
barkeit des menschlichen Glücks, durch die Erinnerung an un-
günstige Schicksale, deren Erwähnung er oft sucht, statt sie zu
1) ,/f '7,"« S'loyfiäTCDf ■/,novi,(inBoov ßtoreiei, ort xe avf Xaniraiv zv/,n y/Moaa
foevos iieXoi jSa&sias."
422
Pindar.
vermeiden, und durch warnende Sentenzen; darum sucht er selbst
die Einbildungskraft so oft, sey es durch den Inhalt und den
Gegenstand seiner Schilderungen, oder durch die Darstellung und
die Wahl des Ausdrucks, mehr lebhaft zu erschüttern, als bloss
angenehm zu bewegen. Aber am Ende werden diese beunruhigenden
Gefühle immer wiederum ausgeglichen und in eine gleichförmige
Stimmung aufgelöst, die, zufrieden mit dem steten Gange des
Schicksals und dem Willen der Götter, sich dem Genuss der
Gegenwart, aber mit weiser Mässigung überlässt. Mit dem Genuss
wird immer zugleich auf edle Thätigkeit hingewiesen, und innere
Grösse und äusserer Ruhm immer als wechselsweis sich erwerbend
und belohnend dargestellt.
33-
Durch die Einmischung so ernster und würdiger Betrach-
tungen gewinnt Pindar, dass die Stimmung der Grösse, in die er
den Leser versetzt, mehr Würde und Feierlichkeit empfängt. Es
ist keine irrdische, sondern eine himmlische Höhe, auf die sich
der Dichter versetzt sieht. Diese aber mahlt er mehr für den
äussern, als den Innern Sinn aus. Daher der strahlende Glanz,
der über alle seine Schilderungen ausgegossen ist, und die Fülle
der Bilder und des Ausdrucks, die mit erhabner Leichtigkeit dahin-
rollt. Daher verweilt er so gern auch bei Gegenständen sinnlicher
Pracht und Grösse; und der Glanz des Goldes, die Macht der
Könige, der Schall des Ruhms, lauter Objecte, auf die ihn der
Gegenstand seiner Dichtungen so nothwendig führen musste, ver-
webt er dadurch so sehr in den Charakter seiner Poesie, dass er
sie nicht von seinem Stoff zu empfangen, sondern willkührlich zu
wählen scheint.
34.
Die Grösse, deren Gefühl der Dichter hervorbringt, ist nicht
gerade Grösse der Gesinnungen, der Empfindungen, oder einzelner
Thaten, es ist Grösse der Existenz, des Daseyns, des Lebens über-
haupt. Wer sie besitzt, geniesst ungetrübte Ruhe, ist mit allem
moralisch und physisch Grossen und Glänzenden verwandt, einig
mit den Göttern und mit dem Schicksal. Daher stammt die Ruhe,
die Heiterkeit, die strahlende Erhabenheit, die den Pindar vorzugs-
weise auszeichnet, und die sich so ganz von jener andern Gattung
des Erhabenen unterscheidet, welche die moralische Grösse im
32—42.
423
Kampf gegen die physische darstellt, und sonst von den lyrischen
Dichtern oft gebraucht ^vird.
35-
Damit hängt es zusammen, dass
[in.]
[40.]
.... vor allen andern Jason, und Herkules beim Telamon.
Auf ähnliche Weise sind auch alle übrigen Gegenstände behandelt,
die er aufführt, wenn sie auch nicht lebendige Wesen sind. Alles
tritt in einem gewissen Charakter auf; nichts wird bloss den
Sinnen, alles zugleich dem Gemüth und der Empfindung geschilden.
Fast die trefhchste Charakterscene, der Gesang Apolls und der
Musen in der i. Pyth. Ode.
41.
Der Umfang, aus welchem die Pindgirischen Charaktere ge-
nommen sind, ist freilich nicht gross. Göttermacht. Heldengrösse,
uneigennützige Ruhmbegierde, Verfolgung des Lasters. Beschützung
alles Guten, strenge Offenheit und Gerechtigkeit, Neigung zu
Bürgereintracht und Familienliebe, und fröhliche Stimmung zum
Genuss des Lebens, mit den Zügen, die diesen entgegengesetzt
sind, umschliessen ihn ziemlich genau. Dennoch fehlt es inner-
halb dieses Kreises nicht an Mannigfaltigkeit.
42.
Hauptfiguren Pindars. Die Götter: im Allgemeinen, die
höchste Macht, tadellose Weisheit, Gerechtigkeit und Güte, aber
furchtbarer und unerbittlicher Zorn gegen die, welche sie be-
leidigen. Einzelne : Jupiter, der höchste Inbegriff jenes Charakters.
Apollon. Durchaus jugendlich, mit grosser Heftigkeit, aber vor
allen mit Kunst und Weisheit begabt. Eine ganz eigne (ob sie
wohl noch sonst irgendwo vorkommt?) Vorstellung ist Apoll
beim Chiron. Die Götternatur, ihre Kraft und Weisheit ist hier
mit der Unerfahrenheit sterblicher Jugend verknüpft, und der
weise Greis ehrt die eine, indem er die andre belehrt. Die
Charitinnen, sanfte und hebliche Gestalten, die Geberinnen alles
Glänzenden, Lachenden und Fröhlichen. Einige allegorische
424 ^3- Pindar.
Figuren, z. B. Hesychia. Die übrigen Götter nur im Vorbeigehn,
nach ihren gewöhnlichen Charakteren erwähnt.
43-
Die Helden. Herkules, der Inbegriff aller Kraft und Tapfer-
keit. Jason, neben jenen Heldenvorzügen, vorzüglich zum Frieden
geneigt, und von uneigennützigem Edelmuth. Ajax, eine merk-
würdige, in gewissem Dunkel gehaltene Gestalt. Die Dioskuren,
sanft, voll zärtlicher Bruderliebe, zum Wohlwollen und zur Hülfe
geneigt. Völlig friedliche, nur zum Wohlthun bereite, und durch
Weisheit hervorstechende Charaktere sind Chiron und Aeskulap.
Vorzüglich ist der erstere schön und charakteristisch geschildert.
Gegenbilder dieser grossen und edlen Naturen geben die Titanen,
Ixion, Pelias, Odysseus und andre. Weibliche Charaktere werden
nur sehr wenig berührt. Ganz in den Heldencharakter über-
gegangen ist die Weiblichkeit in der Kyrene. Wenige aber doch
hübsch gezeichnete Züge der Weiblichkeit kommen bei Gelegen-
heit der Koronis, Evadne, und in dem Fragment an Xenophon
über die Korinthischen Mädchen vor. Indess erhebt sich hier
nichts über die gewöhnliche Ansicht. Wichtiger sind die Schil-
derungen einiger Völker und Lebensarten, vorzüglich der Hyper-
boräer und des Lebens in den glücklichen Inseln. Hie und da
scheinen Charaktere, die besser hätten benutzt werden können,
vernachlässigt, z. ß. Medea.
44.
Wo also die Einmischung des Epischen im Pindar wirklich
gelungen ist, da stellt er einzelne Bilder — wirkliche Personen
und Charaktere oder Handlungen und Begebenheiten — auf, die,
indem sie die Phantasie beschäftigen, zugleich das Gemüth seiner
lyrischen Absicht gemäss stimmen. Die Eigenthümlichkeit des
Dichters zeigt sich alsdann darin, dass er auf der einen Seite der
Phantasie ein ausführlicheres, glänzenderes, reicheres Gemähide
darbietet, und auf der andern dennoch das Gemüth durch den
festen und bestimmten Charakter seiner Züge stärker erschüttert,
so dass durch beides zusammengenommen die Stimmung, die er
hervorbringt, und in der extensiver Reichthum sich mit intensiver
Stärke verbindet, zwar minder heftig und plötzlich, aber voller,
dauernder, und mehr über die ganze Seele verbreitet ist, als bei
andern lyrischen Dichtern. Fehler hingegen, in welche er nicht
42-47. 42 5
selten verfällt, sind theils epische Episoden da einzuweben, wo sie
der l}Tischen Absicht eher schaden, als nützen, oder sie weiter,
als in dieser Rücksicht vortheilhaft ist, fortzuführen.
(Pindars didaktischer Theil, seine Sentenzen.)
45-
Das zweite hauptsächliche Mittel, dessen sich der Dichter zu
seiner Absicht bedient, sind die Sentenzen. Diese braucht er zu-
weilen beinah mit zu freigebiger Hand, und fast überall dienen
sie ihm, die verschiedenen Theile längerer Abschnitte seiner Ge-
dichte, oder des Ganzen selbst zu verbinden.
4(i.
Ihr Inhalt ist nicht von sehr grossem Umfang und ganz aus
der Sphäre genommen, aus welcher er zugleich seinen epischen
Stoff, insofern derselbe Charakter an sich trägt, schöpft. Fast alle
sind eigenthche Aussprüche der Weisheit, und sagen oft nur in
veränderten Formen die einfachen ^^erhältnisse aus, in welchen
der Mensch auf der einen Seite zu den Göttern und dem Schick-
sal, auf der andern zu seinem Vaterlande, seinen Mitbürgern, seiner
Familie steht. Nur sehr wenige (näher zu untersuchende) be-
ziehen sich auf mehr verborgne, nur gewissen Vorstellungsarten
eigenthümliche Meynungen. {0/.ll.v.g6 — 149. Nem.W. v. i — 13.)
Vorzüglich beschäftigt sich der Dichter häufig mit der gegenseitigen
Lage der Götter und Menschen, und indem er beide beständig
einander nähert, dennoch aber die Ueberlegenheit der erstcren
unaufhörlich darstellt, erfüllt er die Seele wechselsweis mit den
(Gefühlen von Würde und Ehrfurcht. Eigentlich feine Sentenzen,
intellectuelle Raisonnements , nüancirte Empfindungen sind ihm
durchaus fremd. Ueberall spricht ein gerader und schlichter, durch
Erfahrung geleiteter, scharf und tief in die wahren \^erhältnisse
der Dinge eindringender, rein moralischer Sinn, nirgends ein
grübelnder, spitzfindiger oder auch nur vorzüglich entwickelnder
Verstand.
47-
Nie also geben seine Sentenzen dem Geist eine abgesonderte
Beschäftigung. Indem sie an die wichtigsten Verhältnisse der
menschlichen Natur erinnern, und ihre wirkliche Beschalienheit
in einfacher Wahrheit aufdecken, rühren sie das ganze Gemüth
426
I ■;. Pindar.
und diejenige Empfindung, die durch den Einfluss der wirklichen
Lage der Dinge entsteht, und wieder auf diese zurückwirkt. Ihre
Tendenz ist schlechterdings moralisch. Allein indem sie so der
Natur völlig nah bleiben, fehlt es ihnen dennoch nicht an idea-
lischem Schwünge. Denn sie stellen die Natur selbst in einer
unendlichen Erweiterung, einer in Stufen fortgehenden Erhöhung
dar, die unter dem Bilde des Helden und Göttercharakters ^) der
Phantasie näher gebracht wird. Der Totaleindruck wird nun nur
um so grösser, da die begeisterte Stimmung, in welche die Ein-
bildungslvraft versetzt wird, durch die Wahrheit und Innigkeit des
natürlichen Gefühls, an das sich der Dichter zuerst wendet, mehr
Gehalt und Dauer empfängt. Pindars Eigenthümlichkeit — denn
im Ganzen bezeichnet derselbe Charakter alle frühere Griechische
Dichter — liegt hiebei darin, dass seine Weisheit noch gediegener
und kraftvoller, aber auch noch einfacher und auf einen noch
kleineren Kreis beschränkt, die Aussicht ins Idealische aber mehr
für die Phantasie und die Sinne, glänzender und lachender aus-
gemahlt ist.
(Einheit der Pindarischen Gedichte.)
48.
Nichts musste bei den Siegsh^^mnen so schwierig seyn, als in
diesem Stoff ein lyrisches Ganzes herv-orzubringen. Der Sieger
sollte gepriesen werden. Das Thema war hier immer der Ruhm,
die Hauptempfindung die Freude. Aber beides war zu einförmig
und unbestimmt, als dass leicht ein individuelles lyrisches Ganze
daraus hätte gebildet werden können. Auch giebt es mehrere
Oden im Pindar, die im eigentlichsten Verstände blosse Siegesfeier
sind, einzelne poetische Schönheiten besitzen, aber im Ganzen,
und vor allem, von Musik entblösst, keine Wirkung machen. Auch
findet sich in sehr vielen eine gewisse Einförmigkeit der Anlage,
die sie in drei Stücke, eine Exposition, Verkündigung des Sieges,
eine historische oder sententiöse Digression, und ein Zurückkehren
zu dem Sieger und seinem Lobe, sehr natürlich abtheilt.
49-
An eine Einheit, wie man sie in andern lyrischen Dichtern
findet, die eine einzelne Empfindung, ein einzelnes Bild, einen
V „des Helden und Göttercharakters" verbessert aus „der Helden- und
göttlichen Natur", wofür zuerst „der Vergötterung" stand.
47—51- 4^7
einzelnen Gedanken aufstellen, zu denken verbietet daher schon
die episch-lyrische Gattung, die uns allein von Pindar übrig ist.
So wie seine Gedichte längere, durch wechselnde Schilderungen
und Gedanken fonlaufende Stücke sind, so erregen sie auch eine
Reihe von Empfindungen und Vorstellungen, in welcher zugleich
auf die Uebergänge von der einen zur andern, und auf das, was
in allen herrschend ist, bei der Beurtheilung geachtet werden muss.
50.
In den Uebergängen herrscht die grosseste lyrische Freiheit.
Die Phantasie allein bringt sie gewöhnlich herbei, und die blosse
Erwähnung eines Gegenstandes ist dem Dichter ein hinlänglicher
Grund, um bei diesem zu verweilen. Oft indess beruht auch die
neue Wendung auf einer Sentenz, zu welcher das ^"orige führte,
und die nun wieder für sich eines Beispiels zum Belege bedarf.
Manchmal sind die Uebergänge loser, als sich auf irgend eine
Weise vertheidigen lässt. Allein auch im Ganzen muss man keine
strenge, gebundene Folge erwarten. Der Dichter lässt seine
Phantasie in der Stimmung, in die er sich versetzt hat, frei herum-
schweifen; ergreift alles, was sich, derselben gemäss, auf seinem
Wege ihm darbietet, und bricht am Ende willkührlich ab, wenn
er sich zu weit verirrt hat.
Indess ist hierin doch nicht ganz soviel Willkührliches, als es
auf den ersten Anblick vielleicht scheinen möchte. Zwar ist es
gewiss, dass Pindars Gesänge keinen so künstlich angelegten Plan,
und nicht so sorgfältig einander angepasste Theile kennen, als
andre spätere lyrische Stücke ; auch scheint es wohl, als hätte der
Dichter sich wenigstens oft begnügt, nur durch eine Reihe lose
verbundener Schilderungen und Betrachtungen, unterstützt von
der Sprache und dem Rhythmus, die Gemüther der Zuhörer zur
Feier des Sieges zu stimmen, und als habe er nur allgemein das
Gebiet überschlagen, das ihm die jedesmalige Veranlassung öfnete,
und hier mit willkührlicher Freiheit die einzelnen Gegenstände
gewählt. Indess wirken dennoch wenn nicht alle, doch die
schönsten Oden als ein Ganzes auf die Einbildungskraft, indem
entweder Ein Thema durchgeführt oder wenigstens h'ine dauernde
Empfindung durch alle Theile des Stücks hindurch unterhalten ist.
Dieser letzten Art der Einheit bedient sich der Dichter oft mit
428
n. Pindar.
vorzüglichem Glücke. Jede Ode hat in dieser Rücksicht ihren
eignen Ton, ihre eigne Haltung, bewegt sich schneller oder lang-
samer, erhebt sich stärker oder fliesst sanfter dahin. Vorzüglich
zeichnen sich hierin einige aus, so wie andre, und nicht wenige,
es wiederum so schwach andeuten, dass es sich kaum mit Ge-
nauigkeit bestimmen lässt. {Pyth. I.)
52.
Sind also Pindars Gedichte selten als Ausdrücke einzelner
und bestimmter Empfindungen anzusehen, so sind sie doch Er-
giessungen der Seele in einzelnen und dauernden Stimmungen,
die ihren Charakter der Behandlung jedes Gegenstandes aufdrücken,
den er berührt. Bei der Einförmigkeit seines Stoffs lässt sich
hier keine grosse Mannigfaltigkeit erwarten. Feierliche Würde
verbunden mit fröhlicher Anmuth verrathen sich so gut als
überall. Allein ausserdem, dass bald mehr die eine, bald die
andre das Uebergewicht hat, auch beide den Graden nach ver-
schieden sind, so finden sich auch ganz eigenthümliche heftigere
oder sanftere Stimmungen. Die letzteren zeichnen sich alsdann
durch vorzüglichere Anmuth und Lieblichkeit aus, und merkwürdig
ist es, dass auch die ersteren, selbst wenn der Dichter gegen Neid
und Misgunst kämpft, diese Eigenschaften dennoch nie verläugnen.
(Diction.)
53-
Pindars Sprache hat einen eigenthümlichen lyrischen Charakter.
Kühne Metaphern, ungewöhnliche Zusammensetzungen, neue Ver-
bindungen der Sätze geben dem Vortrag eine ganz eigne Farbe.
In dem Vortrage selbst ist etwas Abgerissenes. Einzelne Theile
sind vollendet und prächtig dargestellt ; andre um sie herum mehr
vernachlässigt. Daher wohl die nicht seltene Mattigkeit des Aus-
drucks, selbst in den schönsten Stücken. (Ueber den Periodenbau
ist mehr nachzudenken.) Dem Sinne schmiegt sich Pindars Sprache
erstaunlich an, und wie die Stimmung des Dichters wechselt, ver-
ändert sich auch augenblicklich der Ton des Vortrags.
(Rhythmus.)
54-
Ueber das Silbenmaass ist es schwer zu urtheilen, da wir es
nur ohne begleitende Musik kennen. Pindar ist darin erstaunlich
51-
429
genau, und bewahrt nicht bloss die Zahl und das Maass der
Silben, sondern auch die einmal gewählten Abschnitte in sehr
vielen Silbenmaassen. Jede rhythmische Periode hat einen sehr
grossen Umfang, den unser Ohr kaum noch zu fassen vermag.
Nie, ein einzigesmal ausgenommen, haben zwei Oden dasselbe
Silbenmaass. (Ueber den Unterschied dieser Silbenmaasse von den
kürzern, die ordentliche Kanons geworden sind, und ihre Gründe
ist genauer nachzusuchen, wie auch über alles historische, was das
Silbenmaass betrift.) *) Gewiss war jeder Rhythmus dem Ton der
Ode angemessen; einigermaassen lässt sich diess auch jetzt noch
zeigen, und man muss nie vergessen, dass es hier auf die Musik
eigentlich ankam, und das Silbenmaass sich nur insofern zur Be-
urtheilung brauchen lässt, als es mit der Musik übereinstimmte.
(Bestimmter Begriff der Siegshymnen, als Recapitu-
lation des Vorigen.)
55-
Am richtigsten stellt man sich daher die Pindarischen Siegs-
hymnen als musikalisch-poetische Ganze vor, in welchen der
Dichter, ....
*) Kaaro^eiov fie/.os. Bürette inem. XIV. p. 302. PoUux. /. 4. c. 7. S. 53. c. 10.
S. 78. 82. Eustathius ad IL XVI. v. 617. p. 1078. Find. P. II. 125. /. I. 21. Plut.
in Lycurgo. p. 97. /. 28. ed. Steph. Val. Ma.x. /. 2. c. 6. 2. Thucydides. /. 5. c. 70.
xAulus Gellius. I. 11.
Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte
der einzelnen Aufsätze.
/. Sokrates und Piaton über die Gottfieit, über die Vorsehung
lind Unsterblichkeit (vgl. Haym, Wilhelm von Humboldt S. 8).
Der Gedanke, die Probleme der natürlichen Religion durch eine Reihe über-
setzter Stücke aus den philosophischen Schriften der Alten mit angeschlossener
Erläuterung und kritischer Würdigung zu beleuchten, erwuchs im Jahre i'jSß
wohl unmittelbar aus den Anregungen Engels in seinen in diesem Jahre nach
Nicolais Zeugnis (Sammlung der deutschen Abhandlungen, welche in der könig-
lichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen worden i8oj S. g) den
Brüdern Humboldt gehaltenen Privatvorlesungen über Philosophie. Es ist nicht
unmöglich, daß Engel seinerseits dabei unter dem Einßusse Garves stand, der in
seiner leipziger Zeit den gleichen, aber niemals ausgeführten Plan hatte (Brief-
wechsel zwischen Garve und Zollikofer S. i8i). Doch ließ die Schwierigkeit der
Aufgabe es damals nur zu einigen Fragmenten von Übertragimgen aus Xenophon
und Piaton kojnmen und an die eigentliche Erörterung der Philosopheme wurde
noch keine Hand angelegt. Ein Zufall brachte nach zwei Jahren zu ungünstiger
Zeit eine dem Verfasser selbst durchaus nicht willkommene Veranlassung zur
Veröffentlichung: auf Kunths Vorschlag erbat Zöllner die Übersetzungen zur
Aufnahme in sein den Aufklärimg stendenzen dienendes Lesebuch für alle Stände
und Humboldt, im Begriff nach der Universität Frankfurt abzureisen, tnußte im
September i']8'] in aller Eile eine Durchsicht vornehmen sowie Anmerkungen und
eine Einleitung beifügen (an Henriette Herz, Dezember i']8-]). Engel ist auch
der Mann, dem Humboldt in der Einleitung den größten Teil seiner Bildung
schuldig zu sein dankbar bekennt, nicht Mendelssohn, wie Haym später (Briefe
von Humboldt an Nicolovius S. 114) irrtümlicherweise amiahm: daß Humboldt
beim Vortrag der Morgenstunden zugegen gewesen sei (Kayserling, Moses
Mendelssohn'^ S. 455), ist eine durch nichts verbürgte Tradition und die Stelle
spricht von einem Lebenden, nicht von einem Toten.
2. Über Religion (vgl. Haym S. 24. $g).
Der Aufsatz fällt in die Zeit zwischen dem August 1788, wo der zitierte
Artikel von Hermes imd Stolbergs Polemik gegen Schillers Götter Griechenlands
Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Aufsätze, i — 4. i •> j
erschienen, und Hwnboldts Mitie Juli ijSg erfolgtem Abschied aus Göttingen, eher
wohl gegen Ende als gegen Anfang dieses Zeitraums, wie die Emanzipation von
den berliner aufklärenden und sentimentalen Kreisen und der wachsende Einfluß
Forsters be%veisen. Dieser lernte die Abhandlung „über den Einfluß des Theismus,
Atheisynus und Skeptizismus auf die Sitten der Menschen" wahrscheinlich bei
Humboldts Aufenthalt in Mainz im September ijSg kennen, während er selbst
mit der Abfassung seines vielfach ähnliche Gedanken behandelnden Aufsatzes über
Proselytenmacherei beschäftigt war, und wünschte ihn für den zweiten Band seiner
Kleinen Schriften zu gewinnen, der auch Beiträge jüngerer Freunde enthalten
sollte (Jugendbriefe Alexander von Humboldts an Wegener S. 72J. Humboldt
scheint ausweichend, wenn nicht ablehnend geantwortet zu haben, wenigstens
mußte Forster seine Bitte im Jahre lygi brieflich erneuern, worauf Humboldt
eine Umarbeitung angefangen zu haben scheint, die indessen bald liegen blieb.
Am 16. August des Jahres lehnte er dann Forsters Anerbieten definitiv ab, da er
die Arbeit erst einer gründlichen Revision unterziehen müsse, zu der ihm augen-
blicklich die Stimmung fehle. Bald darauf aber wurden die ganze zweite Hälfte
und vereinzelte Sätze aus der ersten fast wörtlich dem siebenten und achten
Kapitel der Schrift über die Grenzen der Staatswirksamkeit einverleibt.
ß. Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische
Konstitutioti veranlaßt (vgl. Haym S. 4j; Fester, Rousseau imd die
deutsche Geschichtsphilosophie S. 295; Gebhardt, Wilhelm von Humboldt als
Staatsmann i, g).
Seit seinem Austritt aus dem Staatsdienst, seiner Heirat und der Übersiedelung
in die Einsamkeit von Burgöj-ner im Juli i-jgi verfolgte Humboldt mit lebhaftem
Interesse den Fortgang der politischen Ereignisse in Frankreich, dessen National-
versammlung soeben das Verfassungswerk abgeschlossen hatte, und trat darüber
in einen eingehenden Briefwechsel mit Gentz. Ein Brief an Gentz, nur wenig
im Eingang verändert und hie und da stilistisch überarbeitet, ist auch dieser
Aufsatz. Humboldt nennt ihn Forster gegenüber fi. Juni Z792J zufällig und zum
Teil deshalb mit vielen sinnentstellenden Druckfehlern ans Licht gekommen: un-
richtig behauptet Fester, daß er ohne Humboldts Wissen gedruckt worden sei,
denn seine eigenhändige Redaktion des Briefes liegt vor.
4. Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen
Kräfte.
Für dieses Bruchstück, Humboldts ersten Versuch auf dem Gebiete der
Geschichtsphilosophie, und seine chronologische Stellung war aus den gleichzeitigen
Briefquellen nichts zu gewinnen; ich habe es an dieser Stelle auf Grund des
Wasserzeichens eingeordnet, das sich sonst nur in Briefen der ersten burgörner-
schen Monate wiederfindet. So wenig man sonst oft bei literarhistorisch-chrono-
logischen Fragen mit der Untersuchung der Wasserzeichen ausrichten kann, so
ersriebis erwies sich mir diese Betrachtunp; bei Humboldt. Bei dem bis iS-20 fast
beständigen Ortswechsel hat Humboldt eine grofie Zahl verschiedener Papiersorten
verwendet, deren Firmenzeichen beständig wechseln, und niemals, wie die
sicher datierten Briefe zeigen, kehrt dasselbe Wasserzeichen in zwei zeitlich aus-
einanderliegenden Epochen wieder. Da nun auch die Abhandlungen, deren Ent-
^02 Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte
stehiingszeit feststeht, ausnahmslos dieselben Wasserzeichen aufweisen wie die
gleichzeitigen Briefe, so kann meines Erachtens mit völliger Sicherheit in den
wenigen Fällen, wo für die Entstehung einer Abhandhmg alle Daten fehlen, die
chronologische Entscheidung auf Grund dieser Zeichen gefällt werden.
5. Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des
Staats zu bestimmen (vgl. Cauers Einleitung zu seiner Ausgabe; Haym
S.46; Bluntschli, Geschichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik S. j8g;
Treitschke, Historische und politische Aufsätze ^, i ; Fester S. 2g6; Gebhardt r, 12).
Nachdem Gentz im November lygi einige Tage in Bur görner gewesen
war, wo ein lebhafter Meinungsaustausch der Freunde die politische Korrespondenz
fortsetzte, drängte es Humboldt, sein endgültiges Urteil über die französische
Konstitution und die Prinzipien seiner Politik überhaupt in kurzen Zügen schrift-
lich zu fixieren. So begann er einen längeren Brief an Gentz, der es schließlich
auf dreizehn Bogen brachte und am g. Januar 7792 abgeschlossen wurde. In
diesem Briefe sind die wichtigsten Erörterungen der ersten sechs sowie des achten
und fünfzehnten Kapitels der nachherigen Abhandlung über die Grenzen der
Staatswirksainkeit nahezu wörtlich enthalten und er lag Humboldt bei der späteren
Redaktion zweifellos wieder vor. Bedenken wir noch, daß zu dem siebenten
Kapitel der ältere Aufsatz über Religion (oben zu Nr. 2) verwertet wurde, so lag
also die größere, allgemeinere Hälfte der Schrift in ihren gedanklichen Grund-
zügen fertig vor, als Humboldts Ende Januar zu längerem Aufenthalt nach Erfurt
gingen. Hier trat Humboldt in täglichen intimen Umgang mit Dalberg. Schon
in den ersten Tagen bat dieser Humboldt, dessen Interesse für politische Gegen-
stände ihm aus den „Ideen über Staatsverfassung" entgegengetreten war, seine
Ansichten über die Grenzen der Staatswirksamkeit niederzuschreiben (Humboldt
an Forster, i. Juni i'jg2j. Die Ausarbeitimg, teils Redaktion der erwähnten älteren
Materialien, teils erste Niederschrift des neunten bis vierzehiten und sechzehnten
Kapitels, dauerte bis zum April (Briefwechsel zwischen Schiller imd Lotte j, 51).
Dann wurde der bihalt des fertigen Werkes eingehend in Gesprächen mit Dalberg
erörtert: es gab täglich „philosophische Bataillen" (ebenda j, §4; Humboldt an
Forster, i. Juni i'jg2j imd auch Dalberg begann seinen wesentlich abweichenden
Standpunkt in einer eigenen Schrift darzustellen, die er im folgenden Jahre
anojiyyn veröffentlichte (Beaidieu-Marconnay , Karl von Dalberg imd seine Zeit
I, igj). Mit dem druckfertigen Manuskript und einer gleichlautenden Abschrift
reiste Humboldt im Juli über Jena nach Berlin und ging Mitte August zu längerem
Aufenthalt nach Auleben: seine Originalhandschrift hatte er zur Lektüre in
Schillers, die Abschrift in Berlin in Brinkmanns Händen zurückgelassen.
Schiller las die Abhandlung init großem Interesse und versprach Humboldt
schriftliche Bemerkungen, zu denen es aber nicht kam; zugleich riet er vor der
Herausgabe des Gatizeti einen Abschnitt in der Berlinischen Monatsschriß ab-
drucken zu lassen (Humboldt an Brinkmann, j. September Z792J. Humboldt bat
daher Brinkmann, der sich unterdessen in Berlin um einen Verleger bemühte,
bei Biester den Abdruck des fünften, sechsten oder achten, nicht aber des siebenten
Kapitels zu betreiben; gegen Humboldts eigentlichen Wunsch nahm Biester alle
drei Kapitel in die Monatsschrift auf, nannte auch den Namen des Verfassers
Trotzdem inzwischen erhebliche Zensurschwierigkeiten entstanden waren, die das
der einzelnen Aufsätze. 4 — 6.
433
Erscheinen des Buches in Preußen fast illusoi-isch machten (Humboldt an Brink-
mann, 21., 26. September und 11. Oktober 1792; an Schiller, 12. Oktober i'jgz),
trat Brinkmann, da andre Verleger Humboldts Honoraransprüche nicht be-
friedigen wollten, in Unterhandlungen mit Vieweg. Zugleich aber erschien Hum-
boldt imter den außerpreußischen Verlegern Göschen am geeignetsten und er
bat in dem zuletzt zitierten Briefe Schiller um seine Vermittlung bei diesem.
Am 2g. Oktober lehnte Vieweg in einem Brief an Brinkmann den Verlag aus
finanziellen Gründen ab, so daß für die Verhandlung mit Göschen nun freie
Bahn war (Hiayiboldt an Schiller und Brinkmann, g. November i']g2). Schiller
schrieb diesem am 16. November voller Lobes über das Werk (Briefe j, 227,',
hatte auch inzwischen das zweite imd einen Teil des dritten Kapitels in seiner
Neuen Thalia zum Abdruck gebracht, leider mit argen Druckfehlern. Indessen
auch Göschen lehnte gegen Weihnachten den Verlag ab, da er mit der neuen
Ausgabe von Wlelands Werken zu sehr überlastet sei. Hierauf beschloß Hum-
boldt, dem allmählich durch Bemerkungen von Freunden wie durch eigene An-
schauung eine Revision mehrerer Abschnitte mehr und mehr notwendig erschien,
die ganze Schriß vorläufig zurückzuhalten, und ließ sich davon auch durch eine
neue, Mitte Januar ij()j empfangene Nachricht Schillers, daß er einen Verleger
gefunden habe, nicht abbringen (an Schiller, 14. und 18. Januar ijg^; ein Brink-
mann, 8. Februar i'jgj; an Wolf, 22. Mai i'jg^J- Zu dieser geplanten Über-
arbeitung ist es niemals gekommen, da Philologie und Ästhetik nunmehr auf lange
Zeit im Mittelpunkt von Humboldts Interesse standen, und erst nach seinem Tode
ist das höchst charakteristische Jugendwerk ans Licht getreten.
Der in der Thalia abgedruckte Abschnitt fand Friedrich Schlegels Beifall
(Briefe an seinen Bruder August Wilhelm S. 80).
6. Über das Studium des Altertums und des griechischen ins-
besondere (vgl. Haym S. 75; meine Einleitung zum ersten Druck).
Gleich in den ersten Wochen des Aufenthalts in Auleben im August und
September 7792 entstand in Humboldt im Anschluß an die beginnende intensive
Lektüre griechischer Autoren der Plan zu einem prinzipiellen Aufsatz über Be-
deutung und Wert des Altertumsstudiums (an Brinkmann, ß. September i'jg2).
Er wollte damit ein von ihm damals geplantes journalartiges Sammelwerk „Hellas"
eröffnen, in dem Übersetzimgen und Beiträge zur Kenntnis des antiken Lebens
und zum tieferen Verständnis der Schriftsteller in zwangloser Folge erscheinen
sollten (an denselben, jo. November iyg2). Auch seinem philologischen Freunde
und Berater Wolf setzte er am i. Dezember seine dahin gehenden Absichten
ausführlich auseinander. Zu Weihnachten, wo Wolf Humboldts Gast in Auleben
war, wir jene prinzipielle Arbeit naturgeynäß ein Hauptgegenstand der Gespräche.
Wolf erkannte die Förderlichkeit des '^Gedankens ohne Rückhalt an und trieb zur
Ausgestaltung : so entstand denn um die Mitte des Januar lygj in raschem Wurf
die erste Niederschrift und ging am 2j. an Wolf zur Begutachtung ab. Ein
ausführliches Begleitschreiben berichtete eingehend von der Entstehung der Skizze,
entschuldigte eine Reihe von Mängeln in Stil und Inhalt, besonders die noch mehr
zufällige und vielfältig beschränkte Kenntnis der griechischen Literatur, und bat
um recht reichliche kritische Randbemerkungen. Bei dem skizzenhaften Charakter
des Ganzen beschlich Humboldt solir bald die Reue, etwas so Unvollendetes in
W. V. Humboldt, Werke. 1.
28
434
Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte
die Hände des Meisters der Altertumswissenschaft gelegt zu haben (an WolJ,
6. Februar rjgj), und er gab den Gedanken einer baldigen Drucklegung wohl
schon jetzt auf. Wolf ließ sich eine Abschrift anfei-tigen, die er mit einigen
Randbemerkungen versah, imd sprach im ganzen und großen seine Billigung aus ;
der Wortlaut seiner beurteilenden Antwort liegt nicht vor. Das Manuskript er-
schien zunächst nicht in der Öffentlichkeit, sondern wurde nur vertrauten Freunden
wie Schiller, Dalberg, Körner in den folgenden Monaten zur Einsicht und Be-
sprechung überlassen. Über Schillers fördernde, vielfach geniale und Dalbergs
originell-einseitige, den eigentlichen Sinn und Zweck der Arbeit fast überall miß-
verstehende Randbemerkungen berichtete Humboldt selbst ausführlich Wolf in
einem Briefe voyn ji. März; Körner fand im Stil imd in der Technik der Ge-
dankenführung vielerlei auszusetzen (Briefwechsel zwischen Schiller und Körner
3y ^39)-
Als Wolf i8oj den ersten Band seines Museujns der Altertumswissenschaft
mit der grundlegenden, Goethe gewidmeten „Darstellung der Altertumswissen-
schaft" eröffnete, brachte er in zwei längeren Anmerkungen (S. 126 — 12g. ij^ —
^37) wiederholt in meiner Ausgabe von Humboldts Aufsätzen über das klassische
Altertum S. 20g), ohne den ISIamen des Verfassers zu nennen, eine Reihe philo-
sophischer Sätze über antike Studien, die er als „einige in einem Briefwechsel
verstreute Gedanken eines Gelehrten, avfxcpiloloyovvtög nvog nod-' ijfiiv KaXov
Tidya^ov" einführte. Wie schon früh richtig erkannt worden ist imd von Arnoldt
mit Unrecht bezweifelt wurde, sind es Bruchstücke aus Humboldts Abhandlung,
allerdings durch Wolf frei und ziemlich bedeutend umgestaltet , weshalb ihnen
eine Bedeutung für den Text der humboldtschen Arbeit nicht zukommt.
7. Theorie der Bildung des Menschen.
Ich setze dies Bruchstück in den Beginn des burgörner sehen Winters i"g3;
früher kann es der Orthographie wegen nicht fallen, da Humboldts Prinzip „ck"
für „k" imd „kk", „tz" für „z" und „seyn" für „sein" zu schreiben mit dem
Herbst i'jg^ momentan einsetzt. Briefe an Körner vom 27. Oktober und ig. No-
vember sprechen von einem Plan, die Prinzipien der Menschenbildung im Zu-
sammenhange zu behandeln und eine philosophische Geschichte der Menschheit,
über Herder hinausgehend (an Brinkmann, ig. Dezember i'jg3J, dadurch vor-
zubereiten; den Ansatz zu seiner Ausführung haben wir wohl in dem Fragment
zu erkennen.
8. Rezension von Jacobis Woldemar (vgl. Haym S. 104; Die
7-omantische Schule S. 22-j).
Amji. Januar i'jg4 sandte Jacobi an Humboldt seine eben fertig gewordene
neue Bearbeitung des Woldemar und knüpfte damit den seit langer Zeit abge-
rissenen Faden ihrer freundschaftlichen Beziehungen wieder an (Jacobis aus-
erlesener Briefwechsel 2, 141); am i. März kam die Sendimg in Jena in Hum-
boldts Hände (Tagebuch). Als dieser kurze Zeit darauf von Schütz und Hufe-
land zur Mitarbeiterschaft an der Allgemeinen Literaturzeitung aufgefordert
wurde, nahm er es unter der Bedingung an, nur wenige und ihm selbst interes-
sante Bücher besprechen zu wollen, und erbot sich zu einer Rezension des
jacobischen Romans, ohne die Schwierigkeit der Aufgabe in seiner Situation zu
der einzelnen Aufsätze. 6 — lo.
435
verkennen. Bei der Herzlichkeit seiner persönlichen Beziehungen zu dem Ver-
fasser und Jacobis Empfindlichkeit konnte er, der den Rotiian als Kunstwerk
flieht hoch schätzte und für eine mißglückte Nachahmung Goethes hielt (an Körner,
10. Dezember ijg4), seine wahre Meinung über das Ganze nur sehr schonend
zum Ausdruck bringen und mußte sich daher an eine Paraphrase des philo-
sophischen Inhalts und eine psychologische Zergliederung der Charaktere halten,
auch hier stets besorst der Eigenliebe des Autors nicht zu nahe zu treten. Es ist
daher erklärlich, daß ihm die Arbeit fatal und äußerst mülievoll erschien und er
selbst mit dem Inhalt und besonders der Diktion unzufrieden war (an Brinkmann,
14. September und ^. November ijg4; an Schiller, 14. September ijgsJ- ^"^
ganz sicher zu gehen, schickte er die Rezension vor dem Abdruck im Manuskript
am 25. August an Jacobi zur Begutachtung (Tagebuch), der sie umgehend am
■j. September höchst befriedigt zurücksandte und in seitiem Begleitbriefe noch ge-
nauer auf einzelne Punkte aus der Psychologie seiner Personen zu sprechen kam
(Jacobis auserlesener Briefwechsel 2, i']4). Ende des Monats erschien sie dann
gedruckt. Als zwei Jahre später Friedrich Schlegel seine vernichtende Rezension
über den Woldemar schrieb, meinte Humboldt dadurch ärger mitgenojyimen zu
sein als Jacobi selbst (an Jacobi, 2j. Januar 17977, bekannte aber imverhohlen
sein volles Einverständnis damit (an Brinkmann, g. Dezember i'jcfi).
Von Schiller ist keine Beurteilung der Rezension bekannt; Goethe, dem
Humboldt ein Exemplar übersandt hatte, sprach sich gegen Schiller und Jacobi
anerkennend aus (Briefe 10, 201. 206). Ob eine scharfe Äußerung Friedrich
Schlegels sich auf die Rezension bezieht, ist fraglich (Briefe an seinen Bruder
August Wilhelm S. 211; vgl. auch S. 288). Äußerst charakteristisch ist der aus-
führliche Gedankenaustausch über Humboldts Kritik im Briefwechsel zwischen
Rahel und David Veit (i, 2-/2. 2, 5. 11. ij. 21. 40. s^)-
g. 10. Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss
auf die organische Natur; Über die männliche und weibliche
Form (vgl. Haym S. iio).
Als Schiller im Sommer i-jg4 die Hören gründete, hatte er Humboldt in
den engeren Redaktorenausschuß mit aufgenommen und dieser wurde durch das
Erscheinen des Journals imd Schillers Aufmunterung bewogen, seine damaligen
Studien über den menschlichen Charakter (an Körner, 7. März iigi) zum vor-
läufigen Abschluß zu bringen in zwei Aufsätzen über die Geschlechter oder, wie
sie in den Briefwechseln des schillerschen Kreises heißen, über die Weiber.
Schon eine Stelle der Woldemarrezension ließ klar erkennen, daß er von diesem
Punkte aus dem Geheimnis des Charakters nahezukommen hoffte. Der erste
Aufsatz wurde um Neujahr ijgs fertig und am 7. Januar von Schiller an Körner
zur Begutachtung gesandt (Briefe 4, gy); das Manuskript des zweiten ging am
16. März an Cotta ab (ebenda 4, 14/]). Bei der Ausarbeitung hatte sich Hum-
boldt der besonderen Teilnahme Schillers zu erfreuen, dessen kritische Be-
merkungen in erster Linie dem Stil zu gute kamen (an Körner, 7. Mai i'jgs).
Trotzdem war er mit der Diktion unzufrieden und glaubte darin unrecht getan
zu haben, daß er seine Studien über den Charakter mit diesen Erörterungen an-
gefangen hatte, mit denen sie eigentlich hätten abschließen sollen (an Schiller,
Qi. August und 27. November i'jgs). Zwei Zitate aus Blumenbach und Alexander
28*
436
Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte
von Humboldt, die das Manuskript des ersten Aufsatzes enthielt, wwden auf
Goethes Anraten gestrichen, um die Anonymität nicht zu durchsichtig zu machen
(Goethes Briefe lO, 2ji ; Schillers Briefe 4, 116).
Schiller dachte vom Wert und der Bedeutung der beiden Aufsätze sehr hoch :
er fand darin trotz der noch immer nicht ganz beseitigten Trockenheit der
Schreibart einen schönen imd großen Sinn und hoffte, daß Humboldts Ideen,
namentlich wenn er sie noch weiter ausführen würde, noch ganz kurrente Münze
werden würden; ja er hatte die Absicht selbst ihren Wert öffentlich ins Licht zu
stellen (Briefe 4, gi. 284. J4j).^ Körner, der scharfe Kritiker der humboldtschen
Eigenart, fand den Stoff gehaltvoll imd mit Geist imd Feinheit behandelt, hatte
aber am Vortrag allerhand, besonders das Abstrakte auszusetzen imd vermißte
an vielen Stellen die individuelle Begeisterung (Briefwechsel zwischen Schiller
und Körner ß, 2j8J. Von Goethe besitzen wir keilte Äußerung über den Eindruck
der Aufsätze. Jacobi tadelte neben vielem Lobe das Schillerisierende des Stils
(Auserlesener Briefwechsel 2, 21g). Nur herben Spott hatte der romantische Kreis
über die humboldtschen Weiblichkeiten (Karoline i, 168): Friedrich Schlegel er-
klärte, man könne die Aufsätze wirklich nicht wohl verstehen (Brieje an seinen
Bruder August Wilhelm S. 2j6). Am meisten schmerzlich war Humboldt das
Urteil Kants, das dieser brieflich Schiller ausgesprochen hatte: er könne sich die
Abhandlung, die an Schwärmerei grenze, nicht enträtseln, ein so guter Kopf
auch der Verfasser sei, da er selbst den Geschlechtsunterschied immer als etwas
Unerklärbares angesehen habe (Briefwechsel ß, 11); Humboldt wollte seine Dar-
legungen gar nicht so transszendent genommen wissen (an Körner, 7. Mai ijgs;
vgl. auch Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhebn S. 2j6,
Schillers Briefe 4, iqo und Briefwechsel zwischen Rahel und David Veit 2, 2J2J.
Die Rezensenten der Hören gehen zumeist mit den humboldtschen Aufsätzen
streng ins Gericht (Braun, Schiller im Urteile seiner Zeitgenossen 2, 48. 18).
Um so erfreulicher war es für Um, von naturhistorischer Seite in einem wissen-
schaftlichen Werke über den Menschen zitiert zu werden (an Schiller, 28. Sep-
tember lygsJ-
II. Rezension von Wolfs Ausgabe der Odyssee (vgl. Haym
S. 140).
Als im Herbst ijgj der Druck von Wolfs verbesserter kleiner Ausgabe der
O dy s s e e begann, erhielt Humboldt, der im lebhaftestem philologischen Briefwechsel
mit Wolf stand, von diesem die einzelnen Aushängebogen nach Tegel imd später
nach Burgörner zugesandt und widmete ihnen ein eingehendes Studium, indem
er den Text mit der älteren Ausgabe genau verglich und über wichtigere Ab-
weichungen mit Wolf in brieflichen Meinimg saustaiisch trat (an Wolf, 28. Oktober
und 28. November sowie in einem undatierten Briefe aus dem Herbst i'jgß)-
Am 25. Juli i']g4 dankte er für die Übersendung des fertigen Exemplars und
sprach sich sehr befriedigt über die Vorrede aus. So war er wie kaum ein
Zweiter gerüstet, auch in einer öffentlichen Besprechung auf die Bedeutung der
Edition hinzuweisen, und trug bei Gelegenheit eines Besuches Wolfs in Jena im
Mai i-jg-^ diesem imd Schütz eine Rezension des Buches für die Allgemeine
Literaturzeitung an, die Ende Mai im Manuskript fertiggestellt, Anfang Juni an
Wolf zur Einsicht überschickt imd auf seinen Wimsch noch in einigen Kleinig-
der einzelnen Aufsätze. lo — i'^.
437
keiten verbessert wurde (an ^Volf, j. und 75. Juni i'os)- -^"^ Interesse der dilet-
tantischen Leser wurde der Anzeige, die am 16. Juni gedruckt erschien, durch
die Erzählung der Anekdote von dem athenischen Schauspieler und die Verszitate
ein vergnüglicheres Element beigemischt.
1-2. Plan einer vergleichenden Anthropologie (vgl. Haym
S. i-ji. I-/6).
Dieser Entwurf gehurt nach den Wasserzeichen (vgl. oben zu Nr. 4) in den
August oder September i~gs, <^ls Humboldt, mit den Druckanordnungen des schiller-
schen Musenalmanachs beschäßigt und durch häusliche Verhältnisse häufig
an geistiger Sammlung verhindert, in Tegel den Faden seiner jenaischen Unter-
suchungen weiterzuspinnen sich anschickte. In den gleichzeitigen Korrespondenzen
wird seiner nirgends gedacht, wohl weil er nach dem ersten rasch hingeschriebenen
Anfang bald als unbefriedigend vom Verfasser beiseite gelegt wurde. Nach der
Rückkehr nach Jena gibt Humboldt in einem Briefe an Wolf vom 2j. Dezember
ijgÖ eine skizzenhaße Übersicht über seine Absichten mit seiner Anthropologie,
woraus wir ersehen, daß mit der Charakterisierung der Geschlechter, die an die
Horenaufsätze anknüpft, nur eben der erste Schritt auf der dort vorgezeichneten
Bahn getan war; daß schon ein Stück der Arbeit schriftlich vorlag, wird dort
nicht erwähnt, vielmehr ausdrücklich hervorgehoben, daß alles noch im Stadiujn
des Entwurfs und der vorbereitenden Studien sei. So yvenig also schien das
Fenig gewordene den erhöhten Ansprüchen zu genügen, die Humboldt infolge der
vertiefenden Einwirkimgen des mmmehr nebenherlaufenden Plans einer Charak-
teristik des achtzehnten Jahrhunderts jetzt an die Anthropologie stellte. Noch in
der ersten pariser Zeit taucht der Plan einmal flüchtig wieder auf (an Goethe,
April i-rß).
Iß. Pindar (vgl. Haym S. 142; meine Einleitung zum ersten Druck).
In der Einsamkeit von Tegel wandte sich Humboldt im Herbst 7795 wieder
eingehender antiken Studien zu imd es entstand der Plan, die Resultate dieser
Studien zu einem Aufsatz über die Griechen, ihre menschliche tmd dichterische
Individualität zusammenzufassen, um damit zugleich Schillers Wunsch einer
weiteren aktiven Teilnahme an den Hören genugzutun (an Körner, i. August
/795,- an Schiller, 6. November i-jgs; an Wolf, g. November i-jgs). Unter
Schillers Mahnung und Anregung kam der Gedanke bald zu deutlicherer Aus-
gestaltimg: in einer Reihe einzelner Aufsätze sollte der griechische Dichtergeist
in seinem Wesen und seiner Entwicklung dargestellt und dabei in Rücksicht auf
die so viel schon erörterte homerisch-epische Frage der Anfang mit der lyrischen
Poesie gemacht werden; von dieser sollten nacheinander Pindar, die Chöre und
die Fragmente nebst den Gedichten der Anthologie zur Behandlung kommen (an
Körner, -Jj. November i~os; an Schiller, 2j. November und 4. Dezember i~gs)-
Schillers Teilnahme zeigte sich auch weiterhin durch die in seinen Briefen ent-
haltenen klärenden oder polemisierenden Bemerkungen, wie er denn z. B. ein
andres Einteilungsprinzip für den Stoff vorschlug (Briefe 4, J-^-V- Humboldt
blieb indessen bei seiner envähnten Disposition und schrieb in der Mitte des
Dezembers in raschem Wurf die Charakteristik Pindars nieder [an Schiller,
A'iS Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Aufsätze. 13.
14. Dezember ijgsJ- Nene Anregungen Schillers und das für Humboldt typische
rasche Unbefriedigtsein mit der eigenen Leistimg ließen jedoch die Arbeit sehr
bald ins Stocken geraten imd das Dilemma, ob auf diesem spezielleren Wege
fortgefahren oder nicht vielmehr die Aufgabe von allgemeineren Erörterungen
ausgehend besser imd fruchtbarer behandelt werden solle, brachte dann den
ganzen Plan zu Falle (an Wolf, 5. Januar i'jgG; an Körner, j. Mai i-;rß).
Humboldt ist dann nicht wieder auf ihn zurückgekommen; der Plan einer
Charakteristik des achtzehnten Jahrhimderts verdrängte seit dem Anfang des
Jahres lygö für längere Zeit die antiken Studien.
Leider ist das erhaltene Manuskript defekt: es fehlt der Eingang des dritten,
pJiilosophi sehen Teils der Abhandlung und der Schluß des Ganzen, beidemal die
innere Hälße eines in QLuvtformat gefalteten Bogens.
Jena, jo. April ir/)j.
Albert Leitzmann.
Text.
Soweit in diesem Band und in den folgenden Humboldts eigene Handschriften
dem Text zu Grunde liegen, werden sie völlig getreu wiedergegeben. Vorlagen
von Schreiberhand und alte Drucke werden nach den Normen behandelt, die der
Brauch Humboldts für die Abfassungszeit ergibt, so daß jede Periode sich in
Orthographie und Interpunktion einheitlich darstellt.
Lippert & Co. (G. Pätz'schc Buchdr.), Naumburg a. S.
ISDISDISDISOISDISOISOISOISÜI^ISÜWISDISÜISÜISÜISÜUÜISÜISÜISDISDISÜWISO
Inhalts-Übersicht der Ausgabe von
WILHELM VON HUMBOLDT's
GESAMMELTEN SCHRIFTEN
Bd. I — VIII. Werke im engeren Sinn
Bd. IX. Gedichte und poetische Übersetzungen
\ Bd. X— XII. Politische Denkschriften
Bd. XIII. Tagebücher
Bd. XIV ff. Briefe.
Für raschen Fortgang ist gesorgt; die Bände sind einzeln oder
durch Subscription auf alle zu beziehen. Bd. I. und Band X (Politische
Denkschriften I) werden zugleich im Juni 1903 ausgegeben. Daran
wird sich im Herbst Bd. XL, im Winter Bd. II. schliessen.
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