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Full text of "Gesammelte Schriften .."

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WALTHER  RATHENAU 

GESAMMELTE  SCHRIFTEK 

IN  FÜNF  BÄNDEN 


Erster  Band 


A  19  18 

S.  FISCHER  .  VERLAG  •  BERLIN 


Erste  bis  vierte  Auflage. 

Alle  Rechte  vorbehalten,  besonders  das  der  Übersetzung. 
Copyright  S.  Fischer,  Verlag. 


ZUR  KRITIK  DER  ZEIT 


AN  GERHART  HAUPTMANN 

Deinen  Namen  schreibe  ich  auf  die  erste  Seite 
dieses  Buches.  Du  weißt,  ich  habe  gezögert^ 
es  zu  veröffentlichen,  weil  zweierlei  mir  fehlt: 
die  Ausführlichkeit,  die  der  Leser  von  Betrach- 
tungen verlangt,  und  die  Überredungskunst  des 
dialektischen  Beweises,  die  ich  nicht  achte.  Ich 
glaube,  daß  jeder  klare  Gedanke  den  Stempel  der 
Wahrheit  oder  des  Irrtums  auf  der  Stirn  trägt. 
Dir,  Gerhart,  habe  ich  stets  geglaubt,  ohne  Beweis 
und  ohne  Umschweif.  Nimm  dies  Buch  als  Zeichen 
der  Dankbarkeit,  die  ich  als  Deutscher  dem  Dichter 
unsres  Zeitalters  schulde,  und  als  Gabe  herzlicher 
Freundschaft. 


DAS  PROBLEM 

Durch  die  Mitte  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts geht  ein  Schnitt.  Jenseits  liegt 
alte  Zeit,  altmodische  Kultur,  geschicht- 
liche Vergangenheit,  diesseits  sind  unsere  Väter 
und  wir,  Neuzeit,  Gegenwart.  Das  ist  nicht  etwa 
eine  Täuschung  des  rückwärts  gewandten  Blickes, 
nicht  eine  Erscheinung,  die  jedem  sich  besinnenden 
Geschlecht  begegnet :  denn  wir  können  die  Zeitpunkte 
bestimmen,  wo  das  neue  Wesen  sich  vom  alten 
sondert.  Freilich  nicht  auf  ein  Jahr  oder  ein  Jahr- 
zehnt genau;  denn  wie  sollte  eine  Kulturgrenze 
sich  als  scharfkantige  Bruchfläche  darstellen  ?  Viel- 
mehr weist  sie,  aus  geringer  Entfernung  betrachtet, 
ein  Bündel  von  Splitterungen  auf,  die  jede  einzelne 
Faser  des  Gesamtlebens  je  an  andrer  Stelle  treffen. 
-So  können  wir  sagen,  wann  man  begonnen  hat, 
ein  neues  Deutsch,  Zeitungsdeutsch,  Abhandlungs- 
deutsch, Geschäftsdeutsch  zu  reden  und  zu  schreiben, 
wann  die  humanistische  Bildung  von  der  historisch- 
pragmatischen abgelöst  wurde,  wann  die  geschäftliche 
Staatenpolitikbegann,wann  die  Weltstadtphänomene 
sich  erhoben,  wann  die  faßbaren  Ideale  dem  un- 
bestimmten Sehnen  unsrer  Zeit  gewichen  sind. 

Vollends   erkennen   wir   diesseits   der   Epochen- 
grenze, etwa  seit  Beginn  der  fünfziger  Jahre,  die 

II 


nicilt  mehr  unterbrochene  Gleichförmigkeit  eines 
Zeitalters,  das  bis  zu  diesem  Augenblick  nur  großen- 
hafte  Steigerungen  und  technische  Verschiebungen 
erlebt  hat.  Vor  allem  aber  sind  alle  diesseitigen 
Menschen  uns  als  Zeitgenossen  ohne  Erläuterung 
verständlich,  indem  wir  ihre  Sprache,  Lebensauf- 
fassung, Wünsche  und  Denkweise  bis  in  die  jüngste 
Generation  unsrer  Stadtbürger  hinein  erhalten 
und  wiederholt  finden.  Unstet  und  gesellig,  sprung- 
haft, gedankenbegierig  und  sehnsüchtig,  interessiert, 
kritisch,  strebend  und  hastend  ist  die  Stimmung 
nun  schon  des  dritten  Geschlechtes  westlicher 
Menschen. 

Jenseits  des  Zeitalters  jedoch,  bis  in  die  Anfänge 
des  abgelaufenen  Jahrhunderts,  erblicken  wir  die 
Ausläufer  des  älteren  Geschlechtes :  seßhafte  Men- 
schen, die  auf  Ererbtem  beruhen,  von  handge- 
fertigten Werken  umgeben,  im  Wechselkreis  des 
Herkommens  ihr  Leben  erfüllend.  Wollte  man 
meinen,  der  Gegensatz  sei  durch  den  Abstand  ver- 
größert, so  genügt  es,  das  flache  Land  oder  die 
Städte  an  der  nördlichen  und  südlichen  Grenze 
unsres  Sprachgebiets  aufzusuchen,  um  wahrzu- 
nehmen, daß  trotz  Zeitung,  Eisenbahn,  Industrie 
und  Politik  ein  altes,  dem  Großstädter  fernes  Deutsch- 
land dort  sich  erhält  und  verteidigt.  So  wird  man 
in  den  alten  Ortschaften  Holsteins  oder  der  Nord- 
schweiz den  Unterschied  der  Stände,  die  Gegen- 
sätze der  Berufe  in  Sprache,  Gebaren  und  Gesichts- 
zügen ausgeprägt  finden,  Beschaulichkeit  der  Denk- 
weise, Handlichkeit  des  Ausdruckes,  Festigkeit  der 
Überlieferung  nicht  vermissen.  Wie  denn  über- 
haupt in  wundervollem  Erhaltungstriebe  die  Erde 
abseitig  und  oft  in  Schlupfwinkeln  alles  scheinbar 

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Vergangene,  selbst  das  Entfernteste,  uns  aufbe- 
wahrt hat,  so  daß  alle  zentrische  Bildung  von  heute 
zur  peripherischen  von  morgen  wird,  und  jeder 
Schritt  abseits  vom  Wege  auch  einen  Schritt  ab- 
seits von  der  Zeit  bedeutet. 

Betrachtet  man  aber  die  zentrischen  Gebilde 
unsrer  Zeit,  so  ist  es  zum  zweiten  Male  merk- 
würdig und  fast  erschreckend  zu  bemerken,  wie 
sehr  diese  Wesen  trotz  aller  Verschiedenheit  des 
Himmelsstrichs,  der  Herkunft  und  Vergangenheit 
einander  gleichen. 

In  ihrer  Struktur  und  Mechanik  sind  alle  größeren 
Städte  der  weißen  Welt  identisch.  Im  Mittel- 
punkt eines  Spinnwebes  von  Schienen  gelagert,^ 
schießen  sie  ihre  versteinernden  Straßenfäden  über 
das  Land.  Sichtbare  und  unsichtbare  Netze  rollen- 
den Verkehres  durchziehen  und  unterwühlen  die 
Straßenschluchten  und  pumpen  zweimal  täglich 
Menschenkörper  von  den  Gliedern  zum  Herzen. 
Ein  zweites,  drittes,  viertes  Netz  verteilt  Feuchtig- 
keit, Wärme  und  Kraft,  ein  elektrisches  Nerven- 
bündel trägt  die  Schwingungen  des  Geistes.  Nah- 
rungs-  und  Reizstoffe  gleiten  auf  Schienen  und  Was- 
serflächen herbei,  verbrauchte  Materie  entströmt 
durch  Kanäle.  So  ist  denn  das  steinerne  Bild, 
auch  im  Schnitt  betrachtet,  allenthalben  das  gleiche : 
Wabenzellen,  mit  geschmeidigen  Stoffen,  Papier, 
Holz,  Leder,  Geweben  ausgestattet,  ordnen  sich 
reihenweise ;  nach  außen  gestützt  durch  Eisen,  Stein, 
Glas  und  Zement.  Ein  wenig  höher  oder  ein  wenig 
flacher  getürmt,  die  Öffnungen  etwas  dichter  oder 
etwas  weiter  gestellt,  durch  senkrechte  oder  wage- 
rechte Ritzungen  und  Schnörkel  gegliedert,  zeigen 
die  Straßenwände  in  allen  Ländern  den  gleichen 

13 


Ausdruck.  Nur  im  alten  Inneren  der  Städte,  wo  in 
Kirchen  und  Staatshäusern  jahrhundertelang  Seele 
und  Geist  der  Gemeinschaft  wohnten,  erhalten 
sich  noch  Reste  physiognomischer  Sonderheiten 
als  fast  erstorbene  Schaustücke,  während  im  Um- 
kreis, gleichviel  ob  in  der  Richtung  der  Werkstätten, 
der  Wohnstätten  oder  der  Ruhestätten  das  inter- 
nationale Weltlager  sich  ausdehnt. 

Nicht  mindere  Einförmigkeit  begegnet  im  Gei- 
stigen. Im  täglichen  und  nächtlichen  Spiel  werfen 
die  Städte  der  Welt  einander  ihre  Bälle  zu:  ihre 
Launen,  Moden,  Leidenschaften,  Lieblinge,  ihre 
Vergnügungen,  Freuden  und  Künste,  ihre  Wissen- 
schaften und  Werke  tauschen  sie  aus  und  finden  am 
Wechsel  Gefallen.  Das  gleiche  Theaterstück  wird 
in  Berlin  und  Paris  gespielt,  die  gleiche  Ladenaus- 
lage prangt  in  London  und  Newyork,  das  gleiche 
wissenschaftliche  Problem  hält  sie  in  Atem,  der 
gleiche  Skandal  macht  sie  lachen,  die  gleiche  Küche 
ernährt  sie,  der  gleiche  Hausrat  umgibt  sie.  Nie 
waren  im  Mittelalter  zwei  benachbarte  Städte 
eines  Landes :  Nürnberg  und  Köln,  Genua  und  Vene- 
dig, einander  im  wesentlichen  so  ähnlich  wie  heute 
London  und  Paris,  Newyork  und  Berlin. 

So  kommt  es,  daß  die  städtischen  Zeitgenossen 
dieses  Kulturkreises  in  unerhörter  Weise  sich  ver- 
stehen, ja  zuletzt  gar  einander  gleichen;  so  daß 
mancher  Reisende,  der  in  einem  Nachtschlaf 
Berlin  mit  Paris  vertauscht,  sich  eigentlich  nur 
darüber  wundert,  daß  er  beim  Aussteigen  andre 
Sprachlaute  vernimmt  als  beim  Abschied. 

Wer  dürfte  aber  leugnen,  daß  die  Städte  sich 
des  wirkenden  Geistes  unsrer  Zeit  bemächtigt 
haben  ?    Wenn  auch  nicht  das  Treiben  der  Straße 

H 


lind  des  Marktes  das  Wesen  der  Länder  verkörpert, 
so  ist  doch  das  wirkende  und  das  sichtbare  Leben 
zuletzt  eines;  was  in  der  Seele  keimt,  das  spiegelt 
sich  im  Auge,  und  was  im  Auge  leuchtet,  das  zuckt 
in  den  Händen. 

Die  Betrachtung  aber  bestätigt:  in  verschiedenen 
Zungen  sprechen  die  Gedanken  aller  Länder  die 
gleiche  Sprache.  Hier  gibt  es  kein  Land  mehr  des 
vorwiegend  imperialen  Denkens,  keines  mehr  des 
künstlerischen  oder  religiösen  oder  merkantilen 
Geistes.  Rom,  Athen,  Jerusalem  und  Karthago 
sind  verschmolzen,  alle  denken  und  trachten  alles, 
und  alle  das  gleiche  in  gleicher  Weise. 

So  haben  wir  zeitlichen  Stillstand  und  örtliche 
Einform  als  Wesen  dieser  bewegtesten  und  mannig- 
faltigsten aller  Zeiten,  die  sich  stündlich  mit  Neuig- 
keiten sättigt  und  keinen  Gedanken  so  feierlich 
betont  wie  den  der  örtlichen,  nationalen  und  per- 
sönlichen Individualität. 

Und  nun  den  Blick  in  die  früheren  Jahrhunderte 
unsrer  Zeitrechnung  zurückgewendet!  Lassen  wir 
die  Wandlungen  des  technischen  Gehabens  unbe- 
achtet; halten  wir  uns  an  menschliche,  physische, 
ethische,  transzendente  Eigenschaften:  und  wir 
müssen  eingestehen,  daß  eine  ähnliche  Wandlung 
des  Leibes  und  der  Seele  bei  gleichbleibendem  Volks- 
körper in  aller  bekannten  Geschichtsentwicklung 
uns  nicht  begegnet.  Wir  kennen  Völker  mit  tausend- 
jähriger Geschichte;  wir  ahnen,  daß  Ägypten, 
Persien,  Rom  und  China  gewaltige  Wandlungen 
der  Menschen  und  ihrer  Sitten  zwischen  Anfang 
und  Ende  ihres  Völkerlaufes  erblickt  haben.  Aber 
Wandlungen  germanischer  Krieger  in  deutsche 
Gelehrte,  preußische  Beamte,  Berliner  Hausbesitzer, 

15 


sächsische  Industriearbeiter,Wandlungen  frankogalli- 
scher Abenteurer  in  französische  Bourgeois,  Pariser 
Journalisten  und  Coulissiers -Wandlungen  des  Blutes 
und  Geistes  von  solch  erstaunlicher  Verwegenheit 
i:ennen  die  uns  erschlossenen  Historien  nicht. 

Immer  wieder  fühlt  man  sich  versucht,  die  taci- 
teischen  Schilderungen  als  Fabeleien  eines  nord- 
landsüchtigen  Italieners  zu  verwerfen;  allein  die 
Geschichte  des  Mittelalters  und  die  Werke  dieser 
großen  Zeit  lassen  uns  Menschen  empfinden,  die 
der  römischen  Zeichnung  gleichen.  Vor  den  deut- 
schen Domen  und  ihren  Steinbildern,  aus  den 
Gesängen  Walthers,  Gottfrieds  und  Wolframs  blickt 
uns  die  Gewißheit  entgegen,  daß  Völker  dieses 
Schlages  gelebt  haben:  Menschen  von  demuts- 
vollem Stolz,  von  kluger  Treue,  von  furchtlosem 
Glauben,  von  kraftvoller  Zartheit. 

Suchen  wir  nach  den  Gestalten  dieser  Menschen, 
so  brauchen  wir  nur  unsre  Museen  zu  betreten: 
das  ganze  Mittelalter  hindurch,  teilweise  bis  in 
die  ersten  Jahrhundertc  der  neueren  Zeit,  zeigen 
die  Bilder  von  Menschen  und  Gottheiten  das  deut- 
sche Antlitz.  Bis  tief  nach  Italien  und  Spanien 
hinein,  wo  heute  kein  Tropfen  dieses  Blutes  mehr 
sichtbar  ist,  tragen  die  Idealgestalten  die  gleichen 
Züge.  Wo  dunklere  Gestalten  erscheinen,  kenn- 
zeichnen sie  den  Niedriggeborenen,  den  Frem- 
den und  Bösen.  Selbst  die  Bildnisdarstellungen 
der  beginnenden  Neuzeit  zeigen  in  Deutschland, 
den  Niederlanden,  Frankreich  überwiegend,  in 
Italien  häufig,  die  Gestalten,  die  bei  uns  so 
selten  geworden  sind.  Man  möchte  sagen,  daß 
das  moderne  Bildnis  vom  alten  mehr  durch  den 
Unterschied     der    Dargestellten     als    durch    Ver- 

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schiedenheit  der    Gewandung   und    der    Malweise  . 
abweicht. 

In  den  Straßen  der  Großstädte  treffen  wir  die 
Menschen  dieser  Bildnisse  selten.  Es  könnte  jemand 
tagelang  Unter  den  Linden  auf  und  ab  spazieren, 
ohne  auch  nur  einen  einzigen  Menschen  vom  ^Iten 
Schlage  zu  erblicken:  und  träfe  er  ihn,  so  würde  in 
den  meisten  Fällen  eine  kurze  Unterhaltung  offen- 
baren, daß  die  Seele  eines  Hohenstaufcn  in  diesem 
bevorzugten  Körper  nicht  wohnt.  Entfernt  man 
sich  jedoch  von  den  städtischen  Zentren  nach 
jenen  abgelegenen  Gauen  hin,  etwa  nach  Friesland, 
Jütland  und  dem  südlichen  Schweden,  so  finden 
sich  heute  noch  Menschen,  ja  Stämme,  welche  die 
antiken  Schilderungen  rechtfertigen  und  retten. 
Freilich  tragen  auch  sie  nicht  Schild  und  Brünne; 
auch  sie  sind  bisweilen  Kaufleute,  Rechtsanwälte, 
Techniker,  Ärzte;  aber  seltsam  ist  zunächst  das 
eine,  wie  starr  sie  an  einigen  alten  Berufen,  des 
Ackerbauers,  Züchters,  Fischers,  Jägers,  Schiffers, 
festhalten.  Und  da,  wo  sie  in  neuzeitlichen  Berufen 
stehen,  bemerkt  man  bald  eine  seltsame,  losgelöste, 
dingliche  und  kühne  Auffassung,  die  auf  den  Kern 
der  Sache  geht,  nicht  auf  die  Zwecke,  und  die  daher, 
wie  Glück  und  Umstände  es  wollen,  das  eine  Mal 
zu  ungewöhnlichen  Erfolgen,  das  andre  Mal  zum 
gänzlichen  Mißlingen  führt. 

Das  seltsamste  aber  ist  dies :  wo  wir  Menschen  des 
früheren  Schlages  treffen,  da  erkennen  und  ver- 
stehen wir  auch  den  Geist  alter  Zeiten.  Die  ruhige, 
treu  zuversichtliche  und  vornehm  freie  Art  des 
Betragens,  die  karge,  zur  Untertreibung  neigende 
Sprache,  die  des  Rühmens  bare  Freude  an  Kraft 
und  Mut,  die  leise  Verspottung  überklugen  Wesens, 


die  Heimatliebe,  Geistigkeit  und  immaterielle  Fröm- 
migkeit, diese  Wesenszüge  erinnern  zugleich  an  die 
höchsten  Erscheinungen  unsrer  eigenen  Zeit  und  füh- 
ren wiederumhinauf  zu  den  Liedern  des  Vogelweiders, 
zu  Fischarts  Schwänken  und  zu  Ekkharts  Mystik. 

Was  ist  nun  im  Laufe  dieser  Jahrhunderte  ge- 
schehen ?  Was  hat  die  Menschen,  ihre  Leiber,  ihre 
Seelen  so  gewandelt  ?  Was  hat  ihren  Geist  ergriffen, 
um  durch  ihn  die  Welt  so  gänzlich  umzugestalten 
und  diese  umgestaltete  Welt  rückgewandt  auf  Geister 
und  Seelen  wirken  zu  lassen  ?  Gibt  es  eine  Grund- 
erscheinung als  Ursprung  und  Achse  dieser  neuen 
Zeit  und  Welt,  die,  was  man  auch  von  Wiederkehr 
der  Dinge  sagen  mag,  schlechthin  ohne  Vorbild  und 
Gleichung  uns  umgibt  und  beherrscht?  Die  Er- 
kenntnis dieser  Urkraft  und  ihres  Wirkens  würde 
uns  Wesen  und  Zusammenhang  der  Moderne,  von 
vorgespiegelter  Selbstverständlichkeit  losgelöst,  ob- 
jektiv fühlbar  machen,  aus  dem  Übermaß  der  Er- 
scheinungen das  Notwendige  vom  Zufälligen  son- 
dern und  am  Ende  gar  eine  Vorstellung  von  der 
Richtung  der  Entwicklung  gewähren.  Und  selbst  ein 
Irrtum  im  Zielen  auf  die  Grunderscheinungen  wird 
nicht  unter  allen  Umständen  wertlos  sein,  wie  denn 
ein  erster  Schuß,  auch  wenn  er  fehlt,  dem  Geschütz- 
führer Anhalt  für  Richtung  und  Abstand  gibt. 


VERSUCHTE  LÖSUNGEN 

Wer  sich  in  eine  stetige  Erscheinung  vertieft 
in  dem  Bestreben,  ihre  Änderungen  auf 
irgendeine  Gesetzmäßigkeit  aufzureihen,  das  heißt, 
sie  als  Funktion  einer  einfacheren  oder  bekannteren 

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zeltlichen  Erscheinung  festzulegen,  der  kommt 
leicht  in  Gefahr,  Kontinuität  und  Kausalität 
zu  verwechseln,  indem  die  einzelnen  Phasen  teils 
ihrer  mählichen  Übergänge  wegen,  teils  infolge 
eines  Gegensatzes  sich  wechselseitig  zu  erzeugen 
scheinen,  während  sie  in  Wahrheit  der  Zentral- 
bewegung einer  unbekannten  dritten  Kraft  folgen. 
Ein  alltägliches  Beispiel  mag  diese  Erwägung  bis 
zu  einem  gewissen  Punkt  erläutern.  Hat  der  Wind 
eine  Zeitlang  von  Süden  her  geblasen,  dann  von 
Südwesten  und  jetzt  von  Westen,  so  werden  manche 
sagen:  Dies  war  vorauszusehen;  es  liegt  eben  eine 
nach  Westen  drehende  Neigung  des  Windes  vor. 
Ist  er  statt  dessen  von  Süden  nach  Nordosten 
gegangen,  so  wird  man  hören,  dies  sei  die  Folge 
eines  notwendigen  und  üblichen  Gegensatzstrebens. 
In  beiden  Fällen  bleibt  unbeachtet:  warum  hat 
die  westdrehende  Neigung  nicht  schließlich  nach 
Nordwesten,  Norden  oder  weiter  geführt  ?,  warum 
hat  das  Gegensatzstreben  nicht  statt  nach  Nordosten 
nach  Nordwesten  gewiesen  ?,  schHeßlich :  warum  ist 
überhaupt,  und  gerade  jetzt,  eine  Änderung  vor- 
gegangen ?  Die  Wahrheit  ist,  daß  nicht  in  irgend- 
einer Tendenz  der  Windrichtung,  sondern  in  dem 
tieferliegenden  Spiel  der  meteorischen  Kräfte  der 
Urgrund  dieser  wechselnden  Erscheinung,  dem 
beobachtenden  Sinn  unerkennbar,  ruht. 

Mit  einer  Verwechslung  von  Kontinuität  mit 
Kausalität  wird  häufig  die  Frage  nach  der  Herkunft 
der  Neuen  Zeit  beantwortet.  Ihre  Ursache,  so 
heißt  es  meistens,  liegt  im  Verkehr.  Und  woher 
kommt  der  Verkehr  ?  Von  der  Maschine.  Und  die 
Maschine  ?  Von  der  Entwicklung  der  Technik. 
Woher  stammt  die  Technik  ?       Sie  ist  angewandte 

*•  19 


Wissenschaft.  Wie  kam  die  okzidentale  Wissen- 
schaft empor?  Sie  war  das  gegensätzliche  Erzeug- 
nis der  Scholastik.  Und  so  fort  bis  zu  Adam  und 
Eva. 

Gewiß  ist  es  verlockend,  die  tausendjährige  Ent- 
wicklung an  die  Kette  der  Geistesevolution  zu 
reihen,  deren  Glieder  uns  als  lückenlose,  unzerreiß- 
bare kausale  Folge  erscheinen.  Aber  wie  bedenklich 
wäre  es,  auch  nur  die  Geschichte  eines  mensch- 
lichen Lebenstages  oder  eines  ganzen  Lebenslaufes 
an  die  Kette  einer  Gedankenfolge  reihen  zu  wollen ! 
Noch  schwerer  wäre  die  innere  Kausalität  dieser 
Gedankenfolge  selbst  glaubhaft  zu  machen,  und 
es  würde  für  die  Haltbarkeit  der  Reihe  wenig  ge- 
wonnen, wenn  man  sich  auf  den  allgemeinen  Ur- 
sprung als  Ausfluß  einer  Persönlichkeit  beschränkte. 

Gewiß  ist  es  eine  schöne  Aufgabe,  darzustellen, 
wie  ein  jugendliches  Heidentum  in  gläubige  Mystik, 
in  dürre  Scholastik  sich  verwandelt;  wie  aus  dem 
sterbenden  Reis  die  Forschung,  das  freie  Denken 
und  die  Wissenschaft  hervorsprießt;  wie  diese  in 
zweckhafter  Verzweigung  die  Technik  abspaltet; 
gewiß  mußte  es  so  sein,  denn  es  ist;  aber  warum 
mußte  es  gerade  so  sein  und  nicht  anders  ?  Die 
Griechen  hatten  Mystik,  aber  keine  Scholastik; 
sie  hatten  Wissenschaft,  aber  keine  Technik;  die 
Juden  hatten  Scholastik,  aber  keine  Forschung; 
die  Römer  hatten  freies  Denken,  Technik,  aber 
keine  Wissenschaft;  die  Ägypter  und  Chinesen 
hatten  Technik,  aber  weder  freies  Denken  noch 
Forschung.  Somit  sind  Geistesevolutionen  denk- 
bar, die  von  verschiedenartigen  Ausgängen  zu  glei- 
chen Ergebnissen,  und  wiederum  solche,  die  zu 
verschiedenartigen  Ergebnissen  bei  gleichem  Aus- 

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gang  gelangen,  und  deshalb  bietet  die  scheinbar 
so  feste  Kette  keinen  genügenden  Halt,  um  den 
eisernen    Weg   der   Völkerentwicklung   zu    tragen. 

Glücklicher  scheint  der  Versuch,  den  Neuere 
gemacht  haben:  die  Wandlung  Germaniens  in 
ein  prussianisiertes  Weltreich  —  und  gleichzeitig 
die  Parallelgestaltungen  aller  westlichen  Länder  — 
als  Funktion  wirtschaftlicher  Vorgänge  aufzufassen, 
und  zwar  sie  an  den  Übergang  von  der  Individual- 
wirtschaft  zur  Universalwirtschaft,  die  man  Kapita- 
lismus nennt,  zu  ketten.  Nur  seltsam,  daß  sie  es 
sich  nicht  angelegen  sein  ließen,  die  letzte  Triebkraft, 
die  die  Wirtschaftsverschiebung  verschuldet,  ans 
Licht  zu  ziehen,  obwohl  es  mit  Händen  zu  greifen 
war:  die  Volksvermehrung;  die  ungeheuerste,  pro- 
portional und  absolut  gewaltigste  Volksvermehrung 
seit  Anbeginn  menschenkundiger  Zeiten.  Man  zog  es 
vor,  zu  eigenartigen  Hypothesen  Zuflucht  zu  nehmen ; 
so  schuf  man  ein  besonderes  Naturgesetz,  wonach 
die  Menschheit  das  Bestreben  habe,  zwischen 
Begierde  und  Genuß  möglichst  viele  Stadien  zu 
schalten:  nicht  sehr  überzeugend  zwar,  doch  gut 
zupaß;  wie  es  denn  von  alters  her  stets  ein  Vor- 
recht der  Erklärer  war,  ein  factum  durch  eine 
facultas  zu  erleuchten. 

Wie  eng  die  wirtschaftliche  Evolution  mit  der 
Volksvermehrung  sich  verknüpft,  ist  augenscheinlich. 
Einzelwirtschaft  bedeutet  Abgeschlossenheit,  Nach- 
barlosigkeit;  Gesamtwirtschaft  bedeutet  enge  Berüh- 
rung, Zusammenschluß.  Einzelwirtschaft  kann  nur 
aus  dem  vollen  schöpfen,  ohne  Rücksicht,  wie  viel, 
wie  wenig  übrigbleibt.  Gesamtwirtschaft  lebt  von 
Ersparnis;  Ersparnis  an  Zeit,  Kraft,  Material, 
Lagerverlust,    Reibungsverlust.     Gesamtwirtschaft 

21 


ist  noch  heute  ebenso  undenkbar  bei  spärlicher 
Bevölkerung,  wie  Einzelwirtschaft  bei  großer  Dichte. 
Gesamt  Wirtschaft  muß  daher  mit  Naturnotwendig- 
keit eintreten,  sobald  eine  gewisse  Verdichtung  statt- 
gefunden hat. 

Wenn  trotz  dieses  offensichtlichen  Zusammen- 
hangs die  Vertreter  der  wirtschaftlichen  Auffassung 
nicht  gewagt  haben,  die  Volkszunahme  schlechthin 
als  Evolvente  zu  wählen,  so  läßt  sich  eine  Erwägung 
anführen,  die  dies  Zögern  zu  rechtfertigen  scheint. 

Denn  immer  wieder  tritt  bei  Aufgaben,  die  sich 
auf  Massenphänomene  beziehen  —  mögen  nun  Flüs- 
sigkeitsbewegungen oder  thermische  Erscheinungen 
oder  lebendige  Gemeinschaften  der  Betrachtung 
dienen  —  die  Erfahrung  hervor,  daß  jede  kleinste 
Verschiebung  durch  die  benachbarte  bedingt  und 
abgewandelt  ist;  keine  Kraft  wirkt  losgelöst  und 
ungehindert;  daher  denn  auch  im  vorliegenden 
Fall  nicht  bestritten  werden  kann,  daß  rückwirkend 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  wirtschaftliche 
Entwicklung  und  der  ihr  folgende  Wohlstand  auf 
die  Volksvermehrung  habe  einwirken  können.  Es 
konnte  am  Ende  gar  der  Zweifel  entstehen:  ob 
nicht  überhaupt  das  Phänomen  umgekehrt  aufge- 
baut sei :  zuerst  Wirtschaftsumsrhwung,  dann  Volks- 
verdichtung. Dies  wäre  freilich  nicht  viel  anders, 
als  wenn  jemand  den  Satz  „Volksansammlungen 
veranlassen  Verkehrsstörungen"  grundsätzlich  um- 
kehren wollte,  weil  unbestreitbar  Verkehrsstörungen 
auch  schon  manchmal  Aufläufe  hervorgerufen 
haben. 

Mit  besserem  Recht  könnte  man  geltend  machen, 
hier  werde  nur  ein  Rätsel  durch  ein  anderes  ver- 
drängt: denn  wie  in  aller  Welt  sei  eine  Volksvcr- 

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dichtung  erklärlich,  die  allen  Seuchen  und  Kriegen 
des  Mittelalters  und  der  neueren  Zeit  standgehalten 
und  von  der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
an  die  gewaltigsten  Menschenkonzentrationen  er- 
zeugt habe,  die  je  von  europäischem  Boden  er- 
tragen wurden? 

Um  dieser  seltsamen  Frage  zu  begegnen,  wird  es 
nötig  sein,  nochmals  einige  Schritte  zurückzutreten 
und  von  neuem  auszuholen. 


GESCHICHTETE  VÖLKER 

In  seltsamem  Doppelsinn  deutet  das  Wort  „Ge- 
schichte" —  das  von  geschehen  kommt  —  auf 
das  Geheimnis,  daß  nur  geschichtete  Völker 
Historie  machen  und  erleben.  Einschichtige  Völker, 
das  heißt  solche,  die  aus  einheitlich  entstammten 
oder  gut  zusammengekochten  Rasseelementen  be- 
stehen, zeigen,  von  den  Ägyptern  bis  zu  den  Chinesen, 
im  Stande  der  Zivilisation  das  gleiche  Bild:  Abge- 
schlossenheit und  Konservativismus,  lange  Dynastien- 
reihen von  wesentlich  gleichartiger  Physiognomie, 
langsam-stetige  technische  Entwicklung,  die  aber 
keinen  Aufstieg  zu  einer  idealen  Kultur  bedeutet, 
vielmehr  in  Geist  und  Kunst  eine  allmähliche 
Verflachung  und  Vernüchterung  erlebt,  indem  die 
lebendige  Kraft  des  einstmaligen,  vorzeitlichen 
Anstoßes  sich  nach  und  nach  aufbraucht. 

Eine  Geschichte  hingegen,  das  Werden  und  Ver- 
gehen politischer  Formen,  geistiger  Ziele,  Erleb- 
nisse und  Träume,  Wechsel  von  leidenschaftlichen, 
friedlichen  und  tätigen  Epochen,  Aufstieg,  Aus- 
breitung und  Niedergang,  kurz  das,  was  im  Leben 

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des  einzelnen  dem  freien,  heroischen  und  tragischen 
Schicksal  entspricht:  eine  Geschichte  ist  nur  den- 
jenigen Gemeinwesen  beschieden  worden,  die  von 
einer  Oberschicht  beherrscht,  von  einer  stammver* 
schiedenen  Unterschicht  getragen  waren.  Solche 
Zweischichtigkeit  prägt  sich  mit  Entschiedenheit 
aus  im  Bestehen  von  Aristokratien;  daß  alle  Kultur 
dieser  Erde  von  aristokratischen  Gebilden  ausge- 
gangen ist,  bezeugen  Indien,  Griechenland  und 
Rom,  Florenz  und  Venedig,  England  und  die  Nie- 
derlande, Frankreich  und  Deutschland.  Selbst  im 
fernen  Osten  muß  den  Japanern  die  Führung  und 
Verantwortung  zufallen,  weil  ihr  Feudalsystem  die 
Reste  alter  Zweischichtigkeit  am  Leben  erhält. 
Diese  Schöpferkraft  des  Zwiespalts  entspricht 
einem  einfachen  Gesetze.  Wir  können  uns  keiner 
Vorstellung  bewußt  werden  als  durch  den  Gegen- 
satz, die  Polarität.  Wer  die  See  kennt,  begreift 
das  Binnenland,  wer  die  Fremde  kennt,  begreift  die 
Heimat,  wer  seinen  Nächsten  kennt,  begreift  sich 
selbst,  soweit  denn  ein  Begreifen  uns  beschieden  ist. 
Ein  rechtes  Volk  aber  erblickt  in  seinen  Nachbarn 
den  Spiegel  nicht;  sie  sind  ihm  zu  fern,  zu  fremd 
und  zu  verhaßt.  Den  Spiegel  erblickt  es  im  fremden 
Landesgenossen,  und  bei  diesem  Anblick  wird  es 
sich  seiner  selbst  bewußt.  Es  beginnt  die  feinere 
Scheidung  und  Erkenntnis  der  physischen,  sitt- 
lichen und  geistigen  Gegensätze,  eine  Selbster- 
kenntnis, Kritik  und  Wertung  tritt  ein,  und  mit 
diesen  ersteht  ein  Ideal.  Zugleich  brechen  die 
schönsten  Kräfte  menschlicher  Gegensätze  und 
Pflichten  hervor:  der  Obere  herrscht,  leitet,  ver- 
antwortet und  schützt,  der  Untere  gehorcht,  leistet, 
dient  und  strebt.    Der  Obere  erzieht  sich  zur  Ge- 

24 


sinnung  und  Freiheit,  der  Untere  zur  Ausdauer 
und  Fertigkeit.  Daß  solche  Arbeitsteilung  Großes 
hervorzubringen  bestimmt  ist,  zeigt  jede  bewußte 
Organisation  bis  in  die  jüngste  Zeit. 

Nun  ereignet  sich  aber  in  diesen  zweischichtigen 
Volkswesen  jeweils  etwas  Wunderbares,  in  einem 
jeden  zu  seiner  Zeit  und  ein  einziges  Mal :  die  beiden 
Schichten,  einst  wie  öl  und  Wasser  getrennt, 
beginnen  sich  zu  lösen,  die  Kontraste  verfließen 
(die  Unteren  sagen:  die  Vorurteile),  ein  näheres 
Erkennen,  ein  engeres  Zusammenwirken  tritt  ein. 
Noch  hat  die  Oberschicht  soviel  Recht  und  Gel- 
tung, daß  ihre  reineren  und  freieren  Ideale  den 
Geist  der  Gesamtheit  beherrschen,  noch  hat  die 
Unterschicht  soviel  Glauben  und  Respekt,  daß 
sie  ihr  Können,  ihr  herkömmliches  Handwerk, 
ihre  Kunstfertigkeit  in  den  Dienst  dieser  Ideale 
stellt.  Die  Kunstwerke  solcher  Epochen  sind  die 
edelsten  Zeugnisse  des  irdischen  Geistes ;  vor  Zeiten 
nannte  man  sie  hohen  Stils,  heute  werden  sie  als 
archaisch  oder  primitiv  verehrt. 

Sodann  beschleunigt  sich  der  Vorgang,  dem 
Phänomen  vergleichbar,  wenn  zwei  Flüssigkeiten 
hoher  chemischer  Affinität  durch  Mischung  in 
Reaktion  treten.  Es  lösen  sich  die  lang  verhaltenen 
Energien  in  einer  Epoche  heißen  Aufschäumens 
und  leidenschaftlicher  Lebenssteigerung.  Jetzt  stei- 
gen die  Befähigten  der  Oberschicht  aus  der  Herr- 
schersphäre hinab  in  die  Schar  der  Ausübenden; 
jetzt  steigen  die  Bedeutenden  der  Unterschicht 
empor  in  die  Zahl  der  Bestimmenden;  ihre  innersten 
Geheimnisse  rufen  die  beiden  Stämme  freudig  und 
rückhaltlos  einander  zu;  jede  Wahrheit  hat  Gel- 
tung, jeder  Gedanke  findet  Hörer,  man  erlebt  das 

25 


Ungeheure  und  erwartet  das  Unmögliche.  In 
solchen  Zeiten  ersteht  der  Kunst  aus  der  Mischung 
der  Freiheit  und  des  Ausdrucks  die  Blüte,  die 
wir  aus  der  Zeit  des  Phidias  und  des  Lionardo 
kennen. 

Noch  lange  bleiben  die  Elemente  in  Bewegung, 
aber  das  Phänomen  ist  vollbracht,  die  Mischung  ist 
geschehen.  Die  Unteren  waren  die  Zahlreicheren, 
und  so  trägt  das  Gemenge  ihre  Färbung.  Meist 
haben  sie  der  Staatsform  ihren  Stempel  aufgedrückt, 
zum  mindesten  herrschen  sie  faktisch.  Die  trans- 
zendenten Ideale  der  alten  Führer  sind  gefallen, 
an  ihre  Stelle  tritt  der  freie  Bewerb  um  den  Ge- 
schmack der  Menge.  Dieser  Geschmack  aber  ist 
geistig  Skeptizismus,  Negation,  Aberglaube  und 
Rationalismus,  künstlerisch  Materialismus,  Dekla- 
mation und  Ekstase.  Einer  Epoche  dieser  Art  hat 
man  die  Bezeichnung  des  „Barock"  gegeben,  ein 
Name,  den  man  füglich  auf  die  Parallelepochen  an- 
wenden könnte,  so  daß  bei  allen  Kulturzeitaltern 
von  einer  archaischen,  einer  gipfelnden  und  einer 
Barockperiode  kurz  und  verständlich  gesprochen 
werden  könnte. 

Mit  dem  Abschluß  dieses  dritten  Abschnitts 
tritt  die  Beruhigung  ein,  und  zwar  für  immer, 
sofern  nicht  neue  Eroberer  neue  Oberschichten 
schaffen  und  den  Kreisprozeß  von  neuem  vorbereiten. 
Geschieht  dies  nicht,  so  bleiben  die  Affinitäten  ge- 
sättigt, die  freien  Energien  sind  verpufft,  und  die 
ausgebrannten  Völker  bleiben  oftmals  wie  tote 
Schlacken  am  Wege  liegen.  So  sind  aus  Dorern  und 
Attikern  innerhalb  weniger  Menschenalter  die 
Graeculi  der  Römer  geworden,  so  aus  den  Römern 
selbst  römische  Italiener, 

26 


Im  Gegensatz  zu  diesen  Erscheinungen  der  Ver- 
mischung bleiben  einschichtige  Völker  sich  selbst 
ihr  Leben  lang  gleich,  wie  die  Nationen  Asiens 
beweisen.  Technische  Erfindungen  mögen  ihr 
äußeres  Dasein  langsam  bewegen;  ihr  Geist,  ihr 
Wille  und  ihre  Seele  bleiben,  wie  sie  waren,  und 
kaum  merklich  ändern  sich  die  Zeugnisse  des  inneren 
Lebens:  Religion  und  Kunst,  Schrift  und  Sprache. 
Hier  sei  eine  Anmerkung  gestattet: 
Bei  der  großen  Aufmerksamkeit,  die  unsre  Zeit 
dem  Wesen,  der  Geschichte  und  dem  Austausch 
der  Sprachen  zuwendet,  scheint  es  seltsam,  daß 
man  sich  um  das  eigentlich  Physiologische  ihrer 
Entwicklung  wenig  kümmert.  Daß  und  wie  die 
Sprachen  sich  umgestalten,  wissen  wir;  aber  wie 
kommt  es,  daß  die  eine  sich  jahrhundertelanger 
Ruhe  erfreut,  die  andre  in  stetem  Wechsel  sich 
bewegt,  die  dritte  im  Laufe  knapper  Jahrhunderte 
von  Grund  auf  sich  erneut?  Betrachtet  man  die 
Sprache  als  einen  Teil  der  geistigen  und  körper- 
lichen Physiognomie,  so  liegt  die  Erklärung  nahe. 
Nur  gleichbleibende  Individuen  können  gleich- 
bleibend sprechen.  Veränderte  Denkweise  und  ver- 
änderte Muskulatur  muß  veränderten  Sprachaus- 
druck schaffen;  wie  denn  ein  jeder  beim  Erlernen 
bemerkt,  daß  es  einer  zwangsweisen  körperlichen 
und  geistigen  Nachahmung  bedarf,  um  neuer  Rede 
sich  anzupassen.  Starke  Persönlichkeiten  sind  nur 
in  früher  Jugend  biegsam  genug,  dieser  doppelten 
Schauspielerei  sich  zu  bequemen;  übertrieben 
vielsprachige  Befähigung  hat  bei  Alteren  etwas 
Prostitutionsmäßiges.  Sollen  ganze  Völker  ihre 
Sprache  ändern,  so  muß  in  ihrer  physischen  Be- 
schaffenheit   eine    Änderung    vorgegangen    sein; 

27 


und  es  wird  vielleicht  einstmals  in  der  beschleunig- 
ten Wandlung  der  Sprache  das  feinste  und  zuver- 
lässigste Reagens  auf  den  Zutritt  neuen  Blutes 
gefunden  werden. 

Damit  die  Doppelschichtung  eines  Volkes  ihre 
natürliche  Wirkung  ausübe,  ist  keineswegs  erfor- 
derlich, daß  eine  äußerlich  erkennbare  Trennungs- 
fläche die  entgegengesetzten  Massen  scheide,  noch 
gar,  daß  jeder  Volksgenosse  sich  seiner  Rolle  als 
oberes  oder  unteres  Glied  klar  bewußt  sei.  Voraus- 
setzung ist  lediglich,  daß  die  Oberen  den  Geist 
und  Willen  der  Gesamtheit  bestimmen  und  leiten; 
so  wie  etwa  zur  republikanischen  Zeit  die  Römer 
echten  Blutes  das  intellektuelle  Leben  der  namen- 
losen Italiker  und  Eingewanderten  derart  beherrsch- 
ten, daß  die  winzige  Zahl  der  Herren  einem  Welt- 
reich und  einer  Weltepoche  Stimmung  und  Namen 
aufzwingen  konnte.  Ebensowenig  darf  man  ver- 
langen, daß  der  attische  Plebejer,  der  das  Handwerk 
des  Steinmetzen  übte,  bei  jedem  Meißelschlag  zu 
jenem  blonden  Patriziersohn  aufblickte,  der  ihm 
sein  Götterbild  bestellte.  Es  genügte,  daß  Geist 
und  Geschmack  des  Adels  das  Zeitalter  erfüllte 
und  den  Bildner  zwang,  die  menschhche  Gestalt 
unter  der  Form  des  göttlichen  Ideals  zu  erblicken; 
denselben  Bildner,  dessen  Vorfahren  und  Nach- 
kommen, von  der  Überwachung  befreit,  weit  lieber 
Monstren,  Süßlichkeiten  und  Karikaturen  schufen. 

Umgekehrt  wird  man  sich  hüten  müssen,  in 
unklarer  Verallgemeinerung  eine  historisch  wirk- 
same Schichtung  überall  da  zu  erblicken,  wo  eine 
Abstufung  auftritt.  Dann  freilich  gibt  es  in  jeder 
Volksgemeinschaft  Starke  und  Schwache,  Reiche 
und  Arme,  Geschützte  und  Hilflose.    Aber  diese 

28 


Gruppen  stehen  einander  nicht  als  Rassen  und 
Völker  gegenüber;  indem  vielmehr  sie  auf-  und  nie- 
dertauchen wie  die  Flüssigkeitsteile  eines  Wellen- 
zuges,  können  sie  wohl  im  Zustande  der  Erhebung 
eine  etwas  veränderte  geistige  Temperatur  oder  Fär- 
bung gewinnen  und  den  Tiefen  mitteilen ;  Wechsel- 
wirkung und  Austausch  grundsätzlicher  Eigenschaf- 
ten und  Kräfte  zu  vermitteln,  vermögen  sie  nicht. 


DIE  AUFZEHRUNG  DER  OBERSCHICHT 

Noch  heute  sind  die  Länder  des  mittleren 
Europa  nicht  von  durchweg  einschichtigen 
Völkern  bewohnt.  Die  Herrscherhäuser  deutscher 
Zunge  und  ihre  Gefolgschaften  entstammen  einer 
Oberschicht,  die  sich  bei  Strafe  des  Verlustes  edel- 
ster Rechte  mit  fremdem  Blute  niemals  mischen 
darf.  Die  Heere  als  Träger  und  Garanten  der  Natio- 
nalmacht nach  außen,  der  Herrschermacht  nach 
innen,  gehorchen  adligen  Führern.  Die  Geschäfts- 
führung deutscher  Staaten  und  ihre  Vertretung 
geschieht  durch  Zugehörige  der  oberen  Schicht, 
nicht  minder  die  höchste  Leitung  der  Regierung 
und  der  größere  Teil  ihrer  Exekutive.  Ja  selbst 
die  Gesetzgebung  kann  der  Billigung  und  des 
Vetos  einer  Herrenkurie  nicht  entbehren.  Der 
Geschichtschreiber  später  Zeiten  wird  vor  einem 
Rätsel  stehen,  wenn  er  sich  zu  vergegenwärtigen 
sucht,  wie  unsre  Zeit  mit  den  äußeren  Organen 
ihres  Geistes  demokratisch  zu  fühlen  glaubte, 
während  das  Wollen  ihrer  inneren  Seele  den  Aristo- 
kratismus noch  immer  duldete  und  zu  erhalten 
strebte. 

29 


Freilich  ist  seit  den  letzten  Jahrhunderten 
Adel  nicht  mehr  reines  Abzeichen  edleren  Blutes; 
dennoch  zieht  er  seine  stärksten  Kräfte  aus  dem 
Stammhaften:  Gesinnung  und  Physis.  Wer  ein 
preußisches  Regiment  defilieren  sah  und  die  Ge- 
stalten der  Truppe  mit  denen  der  Führer  verglich, 
der  hat,  wenn  anders  sein  Auge  für  Betrachtung 
organischer  Wesen  geschärft  ist,  den  Gegensatz 
zweier  Rassen  erkannt:  gleichzeitig  aber  hat  er 
ein  sichtbares  Symbol  und  Abbild  der  Gliederung 
unsres  Volkes  erblickt. 

Weist  somit  unsre  Zeit,  bei  allem  offenkundigen 
Hang  zum  Demokratischen,  noch  immer  sichtbare 
Spuren  der  Doppelschichtung  auf,  so  können  wir 
uns  den  Beginn  unsrer  Geschichte  nicht  anders  als 
im  Charakter  ausgesprochener  Zweiheit  der  Be- 
völkerung denken. 

Vom  ganzen  ostelbischen  Deutschland  wissen 
wir,  daß  es  zu  geschichtlich  bekannten  Zeiten  durch 
Eroberung  und  Kolonisation  als  doppelschichtiges 
Volksgebilde  entstand.  Die  Sieger  waren  Ger- 
manen, die  Besiegten  Slawen,  das  Ereignis  geschah 
vom  zwölften  bis  ins  vierzehnte  Jahrhundert.  Auf 
welchen  Unterschichten  besiegter  Urbevölkerungen 
das  übrige  Deutschland  ruhte,  als  es  mit  seiner 
aristokratischen  Gliederung  von  Freien,  Halbfreien 
und  Hörigen  in  die  Geschichte  eintrat,  ist  unbekannt ; 
doch  ahnen  wir  aus  frühen  Sagen  und  späteren  Dar- 
stellungen manches  vom  Wesen  der  Unterworfenen. 
Dunkelhaarig  war  der  Knechtsbruder  des  frei- 
geborenen Knaben.  Handfertigkeit,  schlaue  Künste 
und  feiger  Sinn  ist  das  Erbteil  der  Dunkelwesen. 
Sie  sind  klein  von  Gestalt;  ihr  Haar  ist  kurz  und 
kraus;  deshalb  muß  zur  Hervorhebung  des  Gegen- 

30 


Satzes  der  Freie  in  allen  Ländern  das  blonde  Haupt- 
haar lang  und  schlicht  um  den  Scheitel  wallen  lassen. 
Bis  in  die  neuere  Zeit  hinein  zeigen  die  älteren 
bildlichen  Darstellungen  von  Bauern,  Hörigen  und 
Verbrechern  die  gleichen  Züge:  runde  Schädel, 
breite  Gesichter,  aufgestülpte  Nasen,  kurze,  ge- 
drungene Glieder.  Daß  hier  nicht  Merkmale  des 
Berufes,  sondern  des  Stammes  dargestellt  werden 
sollten,  beweisen  die  germanischen  Gebiete  des 
Nordens,  wo  Jahrhunderte  bäuerlicher  Arbeit  den 
feingegliederten,  schlanken  und  edlen  Schlag  nicht 
verwandeln  können. 

Indem  nun  jeder  der  südwestlich  gerichteten 
Germanenströme  die  dunkleren  Urvölker  über- 
deckte, und  zwar  mit  einer  Schicht,  die  um  so 
schwächer  je  weiter  sie  von  der  Einbruchszone 
entfernt  war,  so  mußte  denn  auch  die  Aufzehrung 
in  verschiedener  Geschwindigkeit  und  verschiedener 
Vollkommenheit  erfolgen:  die  südwestlichen  Halb- 
inseln Europas,  verglichen  mit  der  nordöstlichen, 
zeigen  heute  den  entschiedenen  Kontrast  dunkler 
Bevölkerung. 

Versucht  man,  sich  die  Bilanz  der  Kräfte  zu 
vergegenwärtigen,  denen  im  Laufe  der  europäischen 
Geschichte  die  beiden  Elemente  des  Volkes,  vor- 
nehmlich in  Deutschland,  ausgesetzt  waren,  so 
treten  folgende  Tendenzen  hervor: 

I.  Bezüglich  der  Herrschaft.  Sie  war  von  den 
Eroberern  mit  Gewalt  gewonnen  und  wurde  zu- 
nächst mit  Gewalt  behauptet;  solange,  bis  sie  ver- 
fassungsmäßige, soziale  oder  plutokratische  Geltung 
erlangt  hatte.  Dann  aber  mußte  die  Erhaltung  der 
Herrschaft  den  Mächten  der  Ordnung  anheimge- 
geben werden;  Gewaltakte  waren  nur  noch  statthaft 

31 


bei  der  Bekämpfung  Aufständischer  und  Ungläu- 
biger, denn  die  beiden  großen  Erbteile  des  Ostens, 
Kaisertum  und  Kirche,  wirkten  im  Sinne  der  Zivili- 
sation. So  blieb  das  Herrschaftsverhältnis  im  Inner- 
sten ungefestigt  und  unverteidigt,  mußte  zerbröckeln 
wie  jeder  Bau,  den  man  nicht  pflegt  und  erneuert, 
sondern  seiner  eigenen  Festigkeit  überlassen  zu 
können  glaubt. 

2.  Bezüglich  der  Herrschenden.  Aus  Waldland 
waren  sie  hervorgetreten,  jagd-  und  waffengeübt, 
unbekannt  mit  verfeinerten  Bedürfnissen,  unge- 
wohnt der  Arbeit  und  des  Zusammenlebens.  In 
nicht  unähnlicher  Lage,  wenn  auch  um  vieles 
tiefer  stehend,  erblickte  man  vor  einem  Menschen- 
alter  die  edleren  Stämme  des  mittleren  Afrika,  die 
seither  ihrer  Natur  entrissen,  zum  Teil  vernichtet 
sind. 

In  wenigen  Jahrhunderten  lichtet  sich  das  Land. 
Die  Jagdgründe  wichen  zurück,  der  Zwang  des 
Glaubens,  des  Lernens,  des  Erwerbes,  des  häus- 
lichen und  gedrängten  Lebens  trat  heran.  Die 
Frage  war:  Wie  wird  dies  Waldvolk  bestehen  und 
gedeihen  in  steinernen  Häusern,  bei  fremdartiger 
Nahrung,  tagsüber  dicht  bekleidet,  des  Nachts  in 
heißen  Betten,  im  Leben  von  neuen  Bildern,  Ge- 
danken und  Pflichten  umgeben  und  beherrscht? 
Die  Sehnsucht  des  Mittelalters  blieb  der  schwin- 
dende Wald.  Und  wenn  die  heitere  Schwermut 
dieser  Zeit  zu  Ausbrüchen  der  Schwärmerei,  zu 
Vorstellungen  des  Verfolgungswahns  sich  verdüsterte, 
8o  wurden  die  Wirrnisse  einer  Volksseele  offenbar, 
die  ihre  Heimat  verloren  hatte.  Kriegszüge  und 
Fehden  hielten  ununterbrochen  ihre  Auslese  der 
Vernichtung  unter  den  Besten,  indes  der  Leib  des 

32 


Volkes  von  periodischen  Seuchen  erschüttert  wurde, 
deren  Verheerungen  nicht  ihresgleichen  gefunden 
haben.  So  wirkten  veränderte  Bedingungen  des 
Bodens  und  Klimas,  neubegründete  Lebensweise, 
Krieg  und  Pestilenz  auf  das  doppelschichtige  Vollis- 
gebilde  ein;  symmetrisch,  Gleichgewicht  erhaltend 
zwischen  beiden  so  verschieden  gearteten  Organis- 
men, konnten  diese  Kräfte  sich  nicht  erzeigen: 
und  wenn  die  eine  Schale  sinken,  die  andre  steigen 
mußte,  so  war  der  herrschende  Stamm,  der  reicher, 
feiner  organisierte,  kriegerische  und  abenteuerliche 
bestimmt,  schwerer  unter  den  neuen  Lebensformen 
zu  leiden,  die  seiner  Natur  feindseliger  waren  als 
der  Natur  seiner  Knechte.  Auch  darf  hier  nicht 
unterschätzt  werden,  daß  eine  Religion  des  Frie- 
dens, der  Feindesliebe,  der  Demut,  mit  instinktiver 
Abneigung  begrüßt,  mit  Gewalt  aufgezwungen, 
zwar  zur  Milderung  der  Sitten  führen,  gleichzeitig 
aber  die  Niederen  erhöhen,  die  Hohen  erniedern 
mußte. 

3.  Bezüglich  der  Beherrschten.  Ihr  sklavisches 
Schicksal  konnte  sich  nur  mildern;  die  Stärken  der 
Knechtschaft  blieben  ihnen  erhalten.  Zähigkeit 
und  Anpassung,  Schlauheit  und  Voraussicht  sind 
die  Eigenschaften  aller  Schwachen,  Unterdrück- 
baren und  Unterdrückten;  tritt  Besitz  hinzu  oder 
ein  anderer  Hebel  der  Macht,  so  materialisieren 
sich  diese  Eigenschaften  zu  gewaltigen  Kräften. 
Fruchtbarkeit  und  Vermehrung,  bei  hochstehenden 
Stämmen  sich  selbst  das  Maß  setzend,  finden  hier 
Beschränkung  nur  durch  Not  und  Sterblichkeit, 
so  daß  sie,  wie  gespannter  Kesseldampf,  sich  schran- 
kenlos ergießen,  sobald  das  hemmende  Gewicht 
beseitigt  ist.    So  sehen  wir  heute  im  preußischen 

^•3  33 


Osten  das  Bild  einer  Unterschicht,  die  ihr  Gegen- 
gewicht überwunden  hat  und  nun  in  rastloser  Aus- 
dehnung den  Raum  des  Landes  zu  erfüllen  trachtet. 

Dem  Wachstum  kommt  die  Bildsamkeit  und 
Anpassung  zustatten,  die  abhängigen  Menschen- 
schlägen eigen  ist.  Denn  da  sie  ihre  Lebensbe- 
dingungen nicht  selbst  schaffen,  vielmehr  von 
anderen  empfangen,  so  ist  ihre  Natur,  einmal 
elastisch  gemacht,  allen  späteren  Änderungen  der 
leiblichen  und  geistigen  Umwelt  widerstehend. 
Das  Beispiel  der  Juden  bestätigt  dies,  und  noch  ein 
weiteres :  daß  die  Gewohnheit  rastloser  und  zwang- 
läufiger Arbeit  allmählich  den  Arbeitsdrang  als  neue 
Notwendigkeit  schafft,  und  um  ihn  zu  rechtfer- 
tigen, Zwecke  hinzuerfindet;  ähnlich  wie  der  Traum 
des  Erwachenden  nachträglich  ein  Erlebnis  erdich- 
tet, um  das  erweckende  Geräusch  sinnmäßig  ein- 
zuordnen. Arbeitstrieb,  Fertigkeit  und  die  ängst- 
liche Vorsicht  bedrückter  Menschen  gehen  aber 
eine  Verbindung  ein,  die  als  Vorläufer  des  Erwerbs- 
und Geschäftssinns  auf  eine  der  stärksten  Waffen 
im  Rassenkampf  hinausläuft. 

Auch  die  gewaltigen  Landerschließungen  des 
Mittelalters  durch  Roden  und  Urbarmachen  konn- 
ten, so  seltsam  es  scheint,  nur  die  Unterschicht  der 
Bevölkerung  stärken  und  erweitern.  Denn  die 
Territorialbesitzer,  die  von  jeher  in  ihrer  Subsistenz 
gesichert  und  daher  in  ihrer  Expansion  ungehindert 
sich  fühlten,  konnten  durch  die  Erschließung  ihrer 
Besitztümer  höchstens  bereichert  werden;  für  die 
Unterworfenen  aber  wurde  Raum,  Nahrung,  Tätig- 
keit und  damit  die  Möglichkeit  der  Ausbreitung 
gewonnen.  Begann  erst  einmal  die  Unterschicht, 
von  ihrem  gesindeartigen  Zustand  befreit,  sich  Raum 

34 


und  Lebensmöglichkeiten  selbst  zu  schaffen,  so 
mußte  durch  immer  nachhaltigere  Bearbeitung  der 
Erdgüter  die  arme  Natur  zu  einer  reichen,  die  dürf- 
tige Bevölkerung  zu  einer  behäbigen,  die  spärliche 
zu  einer  dichteren  sich  entwickeln.  Die  Herren  aber 
konnten  die  gleitenden  Zügel  nicht  länger  halten; 
zu  Fürsten  des  Landes  konnten  sie  aufsteigen, 
Besitzer  des  Landes  und  seiner  Menschen  höch- 
stens dem  Namen  nach  bleiben.  Die  Bewohner 
des  Landes  indessen  waren  ein  neues  Volk,  das  sich 
allmählich  mit  den  Söhnen  und  Töchtern  seiner 
Herren  vermischte. 

So  neigt  sich  die  Kräftebilanz  nach  der  Seite 
der  Unterdrückten,  bei  einer  Betrachtungsweise, 
die  keinerlei  Entwicklungsstufen  und  gelegentliche 
Ereignisse  vorausnimmt,  die  sich  hütet,  geistige 
und  technische  Errungenschaften  als  Ursachen 
anzusprechen,  da  sie  ja  ebensogut  Wirkungen  und 
Mittel  eines  unbewußt  wollenden  Massengeistes 
sein  könnten,  die  vielmehr  lediglich  von  eingeborenen 
und  uranfänglichen  Voraussetzungen  auszugehen 
sich  bestrebt. 

Entschließt  man  sich  nach  diesen  Erwägungen 
zu  der  Annahme:  in  einem  zweischichtigen  Volke, 
das  durch  fremde  Kolonisation  und  Erschließung 
des  Landes  in  veränderte  Lebensweise  geraten  war, 
habe  die  Unterschicht  von  den  Umwälzungen  den 
größeren  Nutzen  gezogen,  sich  rascher  vermehrt 
und  allmählich  einen  großen  Teil  der  Oberschicht 
aufgezehrt,  so  verschmilzt  diese  Hypothese  mit  der 
vorhin  berührten  Frage  nach  den  Ursachen  der 
nachmittelalterlichen  Volkszunahme  zu  einem  ein- 
heitlichen Theorem;  und  es  wird  augenscheinlich, 
daß  das  Gesamtphänomen  nicht  als  eine  sekundäre 

3*  3S 


Erscheinung,  sondern  als  die  dem  ganzen  neuzeit- 
lichen Erscheinungsinbegriff  zugrunde  liegende  Ur- 
sache betrachtet  werden  muß.  Tiefere  Ursachen 
können  alsdann  nur  noch  in  den  physisch-psychischen 
Elementen  gesucht  werden,  die  als  ein  Gegebenes 
gelten  müssen.  Dagegen  werden  alle  äußeren, 
also  zeitgeschichtlichen  Einwirkungen  nur  als  be- 
schleunigende oder  verzögernde  Momente,  alle 
inneren  Einzelevolutionen  —  und  unter  ihnen  die 
Reihenfolge  der  Geistesrichtungen,  der  wissen- 
schaftlichen und  technischen  Errungenschaften  — 
nur  als  Willensakte  und  Hilfsmittel  eines  in  bestimm- 
ter Richtung  strebenden  Gesamtorganismus  zu 
betrachten  sein.  Und  da  in  letzter  Linie  Wille, 
Geist  und  Seele  des  Gesamtorganismus  erkennbar 
den  Weg  entscheiden,  unerkennbar  zum  Ziele 
treiben,  so  darf  diese  Betrachtungsweise,  obschon 
sie  auf  zählbar-sichtbare  Elemente  sich  stützt, 
den    Vorwurf    materieller    Einseitigkeit    ablehnen. 

Aufgabe  weiterer  Erwägungen  wird  es  sein, 
nach  Erledigung  einiger  Nebenfragen  zu  prüfen, 
wieweit  die  neuzeitliche  Weltgestaltung  aus  dem 
geschilderten  Phänomen:  Verdichtung  und  Um- 
lagerung,  sich  ableiten  läßt. 

Es  soll  jedoch  schon  jetzt  ausgesprochen  werden, 
daß  nach  der  hier  vertretenen  Auffassung  die  Dop- 
pelerscheinung der  Ursachen  durch  eine  Doppel- 
erscheinung der  Wirkung  unsrer  Zeit  den  Stempel 
aufprägt :  die  Verdichtung  schafft  sich  in  der  sicht- 
baren Welt  ihre  Kompensation,  die  ich  Mechani- 
sierung nennen  will,  und  die  darauf  hinzielt,  einem 
übervölkerten  Planeten  die  Möglichkeit  der  Subsi- 
stenz  und  Existenz  ungeahnter  Menschenschwärme 
abzuzwingen;  die  Umlagerung  spricht  sich  in  der 

36 


geistigen  Verfassung  unsrer  Völker  als  Entger- 
manisierung  aus,  die  ein  neues,  für  die  Aufgaben 
der  Mechanisierung  seltsam  geeignetes  Menschen- 
material  erschaffen  hat. 

Indem  nun  der  veränderte  Volkskörper  dem 
Mechanisierungsdrang  sein  Bestes  liefert:  neugierig 
forschende  Geschlechter  mit  leidenschaftlichem 
Interesse  für  Tatsachen,  Zusammenhänge  und  An- 
wendungen; indem  wiederum  die  Mechanisierung 
diesen  Menschenschlag  fördert  durch  Assoziation, 
Organisation  und  Werkzeug,  verzweigen  und  ver- 
weben die  Wirkungskomplexe  sich  so  mannigfach, 
daß  man  einer  einheitlichen  Erscheinung  gegen- 
überzustehen glaubt,  die  gerade  deswegen  einzig- 
artig und  unerklärlich  wirkt.  Immerhin  lassen  sich  die 
Geäste  sondern,  wenn  man  den  Zivilisationsstand  der 
Mechanisierung  und  die  Geistesverfassung  der  Ent- 
germanisierung  losgelöst  voneinander  betrachtet. 

Erste  Anmerkung 
Naturvorgang  und  Geschichte 

Die  geschichtlichen  Evolutionen  und  Einzcl- 
leistungen  verlieren  nichts  von  ihrer  Größe 
und  Schönheit,  wenn  sie  im  Rahmen  dieser  an- 
scheinend physikalisch-geometrischen  Entwicklung 
betrachtet  werden.  Denn  die  Einreihung  in  ein 
größeres  und  einfacheres  Gesetz  streift  zwar  von 
heroischen  Ereignissen  einen  Teil  des  Zufälligen 
und  Willkürlich-Freien  ab,  sie  läßt  es  aber  um  so 
mehr  als  ein  Notwendiges  und  Zuverlässig-Sicheres 
erkennen  und  stärkt  unsre  Zuversicht,  daß  die 
Kraft  der  göttlich-menschlichen  Natur  noch  jeder- 
zeit   ausreicht,    um    veränderten  Bedingungen  zu 

37 


entsprechen,  notwendige  Heilkräfte  zu  bezeugen 
und  aus  Bedrängnissen  Möglichkeiten  höherer  Ent- 
wickelung  zu  gewinnen.  Tatsächlich  beherrscht 
den  ganzen  Kreis  des  uns  bekannten  Lebens  ein 
Gesetz,  das  sich  in  gleicher  Umfassung  im  Vege- 
tabilischen wie  im  Animalischen  offenbart:  das 
Gesetz  der  Ausnutzung  jeder  gegebenen  Lebens- 
bedingung und  der  Erfüllung  jedes  gegebenen 
Lebensraumes.  So  wie  ein  Wasserstrom  zerklüf- 
tetes Gestein  durchdringt,  derart,  daß  jede  Spalte 
und  Ader  sich  mit  Flüssigkeit  erfüllt,  gleichviel, 
welchen  verworrenen,  kaum  auffindbaren  Weg  ein 
jeder  Teil  des  Elements  zu  nehmen  hatte,  so  ergießt 
sich  das  Leben,  immerfort  verwandelt  und  umge- 
staltet, unerschöpflich  an  Erfindungskraft,  in  jede 
Existenzmöglichkeit,  in  jeden  durch  noch  so  ver- 
wickelte Bedingungen  beschränkten  Hohlraum.  Dies 
schöpferische  Gesetz  wirkt  früher  als  das  der  Aus- 
lese: denn  um  unter  geschaffenen  Lebensorgani- 
sationen auszuwählen,  müssen  Lebensorganisationen 
geschaffen  sein;  und  die  stündlich  erneute  Anpas- 
sungsarbeit jedes  fertigen  Organismus  zeigt,  daß 
nicht  Zufall  noch  das  Gesetz  großer  Zahlen  die 
Entwicklungsarbeit  der  Kreatur  bestimmt,  sondern 
ein  erfinderischer  Lebenswille.  Was  nun,  uns  un- 
bekannt, etwa  in  den  Geweben  eines  Pflanzen- 
körpers, sich  vollzieht,  der  sich  veränderter  Bestrah- 
lung, Temperatur,  Nahrung  oder  Lebensgemein- 
schaft anzupassen  gezwungen  ist,  das  erblicken  wir 
sinnlichen  und  geistigen  Auges,  bis  in  die  feinsten 
Einzelregungen  zergliedert,  in  einer  Volksgemein- 
schaft, deren  Anfangszustand  gegeben,  deren  End- 
zustand bestimmt  ist.  Sollte  dieser  Endzustand 
bezeichnet  sein  durch  den  komplexen  Begriff,  den 

38 


wir  Mechanisierung  genannt  haben,  so  wird  der 
Weg  des  Geistes  von  der  Naturbetrachtung  zur 
Naturberechnung  führen,  der  Weg  der  Wirtschaft 
vom  Einzelbetrieb  zur  Organisation,  der  Weg  der 
Arbeit  vom  Handwerk  zur  Technik,  der  Weg  der 
PoHtik  vom  Territorialbesitz  zum  Nationalstaat; 
und  die  geschichtliche  Betrachtung  wird  staunend 
verzeichnen,  wie  an  jeder  Wegkreuzung,  von  den 
tiefsten  Mächten  emporgesandt,  ein  genialer  Geist 
ersteht,  um  der  Menge  die  Richtung  ihres  unbe- 
wußten Willens  zu  weisen,  der  sie  zürnend  folgen  muß . 
Wird  dies  anerkannt,  so  bedarf  es  nicht  mehr  der 
Frage,  ob  und  wieweit  die  Forschung  in  den  letzten 
Jahrhunderten  den  Geist  der  Neuzeit  bestimmt 
habe:  wenn  Kepler  und  Newton  Himmelsgesetze 
niederschrieben,  so  waren  sie  in  sich  nicht  minder 
frei  und  vom  Genius  getragen,  indem  sie  doch  dem 
Willen  zu  neuen  Produktions-  und  Lebensgesetzen 
gehorchen  mußten,  der,  um  Tatsächlichstes  zu 
erzeugen,  der  Tatsache  und  ihrem  Gesetz  neuartigen 
Wert  verlieh. 

Zweite  Anmerkung 
Der  Anbruch  der  neuen  Zeit 

Versucht  man,  den  Vorgang  der  Umlagerung 
sich  zu  vergegenwärtigen,  an  den  unsre  Ge- 
schichte sich  aufreiht,  so  muß  man  auf  die  Vor- 
stellung verzichten,  es  könne  der  Rassenkampf  im 
wesentlichen  unter  dem  sinnfälligen  Bilde  von 
Aufständen,  Revolutionen  oder  Verschwörungen 
erblickt  werden.  Denn  nicht  einmal  die  Kämpfen- 
den selbst  waren  sich  des  Kampfes  bewußt.  Die 
einen    verteidigten    als    Erben    Rechte,    Vorteile, 

39 


Ehren  und  Besitztümer,  nach  denen  die  andern 
als  Erblose  die  Hände  ausstreckten;  und  da  weder 
Kämpfer  noch  Bekämpfte  ihre,  unsern  Augen  doch 
so  sichtbaren  Rassenmerkmale  deuteten,  vielmehr 
beide  eines  Landes,  einer  Sprache  und  eines  Glau- 
bens waren,  so  erblickten  sie  ihre  bald  ruhende,  bald 
erwachende  Feindschaft  unter  dem  Licht  gegneri- 
scher Interessen,  ständischer  Gegensätze  und  erb- 
licher Mißbräuche.  Überdies  sind  innere  Rassen- 
kämpfe reich  an  friedlichen  Eroberungen;  denn  das 
Ziel  ist  nicht  Vernichtung,  sondern  Angleichung 
und  Vermischung.  Jede  Mißehe,  jede  Deklassierung, 
jede  Rangeserhöhung  ist  ein  Sieg  und  eine  Niederlage. 

Dennoch  sind  große  Episoden  des  Gesamt- 
kampfes auch  der  chronistischen  Geschichtsbe- 
trachtung erkennbar :  das  Ringen  um  freien  Grund- 
besitz, Vormacht  der  Kirche,  Feudalrechte  des 
Adels,  Herrschaft  der  Zünfte,  evangelische  Freiheit, 
Leibeigenschaft,  Ablösung  der  Lasten,  Gewerbe- 
freiheit, Freizügigkeit;  ja  selbst  die  ersten  Kämpfe 
um  die  erbliche  Macht  des  Kapitals  sind  sichtbare 
Einzelkampagnen,  zum  Teil  Nachgefechte  des 
großen  Rassenkrieges,  dessen  letzte  Entscheidung 
erst  um  die  Wende  des  XVHL  Jahrhunderts  fiel. 

In  dem  Zeitalter,  das  etwa  mit  dem  Leben 
Goethes  zusammenfällt,  liegt  die  Schilderhebung 
der  Unterschicht  des  deutschen  Volkes  beschlossen. 
Man  vergleiche,  was  der  Frankfurter  Bürgersohn 
im  Werther  und  im  ersten  Teil  des  Meister  über 
die  Beschränkung  des  Bürgerstandes  schrieb,  mit 
dem,  was  sechzehn  Jahre  nach  seinem  Tode  in  der 
Paulskirche  seiner  Vaterstadt  gesprochen  wurde: 
zwischen  diesen  Zeitgrenzen  liegt  Deutschlands 
Umschwung. 

40 


So  konnte  denn  auch  nach  dem  Gesetz  der  Ener- 
giebefreiung, das  zu  Eingang  beschrieben  wurde, 
dieser  Zeitlauf  eine  Kulturepoche  emportragen 
wie  sie  nie  zuvor  der  Erde  beschieden  war,  und  deren 
Glanz  erst  späte  Geschlechter  voll  erfassen  werden. 
Sie  offenbart,  wie  wenig  die  Naturvorgänge  des 
Völkerlebens  von  Konstellationen  der  Zeitgeschichte 
sich  meistern  oder  unterdrücken  lassen.  Denn  aus 
einer  Periode  tiefsten  politischen  Niederganges 
bricht  sie  hervor  —  für  rein  historische  Betrach- 
tung ein  unlösbares  Rätsel  —  und  schwindet  mit 
dem  Erstarken  des  Wohlstandes,  der  Freiheit  und 
der  Macht.  Mit  ihrem  Höhepunkte  können  nur 
zwei  frühere  Kulturepochen  sich  messen,  die  im 
Aufstieg  der  bildenden  Künste  sie  übertreffen,  in 
der  Vertiefung  der  Dichtkunst,  der  Musik,  der  wissen- 
schaftlichen und  philosophischen  Forschung  und  der 
politischen  Einsicht  sie  nicht  von  fern  erreichen :  das 
Perikleische  und  das  Leoninische  Zeitalter. 

Sicher  aber  ist  zu  keiner  früheren  Zeit  eine  so 
gewaltige  Zahl  ungewöhnlicher  Menschen  auf  engem 
Bezirk  hervorgetreten,  wie  damals  in  Deutschland 
und  —  auf  andern  Gebieten,  entsprechend  dem 
politisch  gefärbten  Umschwung  —  in  Frankreich. 
Die  übrigen  großen  Kulturländer  hatten  die  Voll- 
endung ihrer  Umschichtungen  weit  früher  erlebt: 
Italien  im  XV.  und  XVI.,  England  und  die  Nieder- 
lande im  XVI.  und  XVII.  Jahrhundert. 

Seit  jener  großen  Epoche  aber,  die  als  eine  ge- 
waltige Morgendämmerung  die  Neue  Zeit  empor- 
führte, sind,  wie  das  Gesetz  es  will,  neue  geistige 
Faktoren  in  das  Leben  der  Nation  nicht  mehr  ein- 
getreten. Sprache,  Gedanken,  Politik  und  Kunst 
haben  nur  noch  im  internationalen  Austausch  wirk- 

41 


liehe  Bereicherung  erfahren;  im  übrigen  sind  sie 
trotz  mancher  AbsonderHchkeiten  einheitlicher, 
ja  einförmiger  in  Rhythmus  und  Kinetik  geworden 
und  haben  sich  damit  den  Anforderungen  der  Neuen 
Zeit,  ihren  unaufhörlich  wechselnden  und  dennoch 
innerlich  gleichbleibenden  Aufgaben  und  Gegen- 
ständen vollkommen  angepaßt. 


DIE  MECHANISIERUNG  DER  WELT.    I 

Aufgabe,  Begriff  und  Mittel 

Gegeben  ist  die  Größe  der  menschlichen  Einzel- 
leistung, gegeben  die  bewohnbare  Erdober- 
fläche, gegeben,  aber  praktisch  fast  unerschöpf- 
lich und  nur  an  den  menschlichen  Arbeitseffekt 
gebunden,  die  Menge  der  greifbaren  Rohstoffe, 
praktisch  unermeßlich  sind  die  verwertbaren  Natur- 
kräfte. Aufgabe  ist  es  nun,  für  die  zehnfach,  hun- 
dertfach sich  vermehrende  weiße  Bevölkerung  Nah- 
rung und  Gebrauchsgüter  zu  schaffen. 

Die  Alten,  in  engerer  Begrenzung  und  weiterer 
Welt  lebend,  wußten  sich  leichten  Rat :  sie  sandten 
Kolonen  in  ein  Nachbarland  und  schufen  sich 
Verdopplungen  ihrer  Vaterländlein.  Auch  in  un- 
serer Zeit  sind  Auswanderer  zu  Millionen  aus  ihrer 
Heimat  gedrängt  worden;  sie  haben  die  Bevölke- 
rungsdichte fast  aller  für  Weiße  bewohnbaren 
Länder  auf  ein  nahezu  europäisches  Maß  gebracht, 
ohne  daß  die  Volksvermehrung  der  Alten  Welt  um 
ein  merkliches  gehemmt  worden  wäre. 

Andern  Rat,  vielleicht  den  verruchtesten,  der 
je  der  Menschheit  zugerufen  wurde,  gab  Malthus; 

42 


die  natürlichen  Quellen  des  Lebens  zu  hemmen 
und  die  Nachkommenschaft  widernatürlich  zu 
beschränken.  Das  einzige  Land,  das  diesen  Weg 
beschritten  hat,  Frankreich,  ist  im  Begriffe,  daran 
zugrunde  zu  gehen. 

So  blieb  den  alten  Völkern  nur  eines  übrig :  zu  gänz- 
lich neuen  Gewohnheiten  und  Gesetzen  des  Lebens 
und  Schaffens  überzugehen,  zu  dem  Zweck,  die  irdi- 
sche Produktion  auf  das  gewaltigste  zu  vermehren  und 
sie  der  Milliardenzahl  der  Menschheit  anzupassen. 

Dies  war  nur  auf  einem  Wege  möglich :  wenn  der 
Effekt  der  menschlichen  Arbeit  um  ein  Vielfaches 
gesteigert  und  gleichzeitig  ihr  Erzeugnis,  das  produ- 
zierte Gut,  auf  das  vollkommenste  ausgenutzt 
werden  konnte.  Erhöhung  der  Produktion  unter 
Ersparnis  an  Arbeit  und  Material  ist  die  Formel, 
die  der  Mechanisierung  der  Welt  zugrunde  liegt. 

Um  die  Steigerung  des  Arbeitseffektes  zu  wür- 
digen, wolle  man  erwägen,  daß  alles  zweckbe- 
stimmte Handeln  und  Geschehen  nur  zu  einem 
Teil  dem  Zwecke  dient.  Ein  andrer  Teil  —  in 
der  Regel  weitaus  der  größere  — ,  sei  er  vorbereiten- 
der, begleitender,  schützender  oder  ungewollter 
Art,  dient  dem  Zweck  nur  mittelbar  oder  überhaupt 
nicht  und  schädigt  den  Wirkungsgrad.  Ein  Analoges 
gilt  von  den  Beimengungen,  Spaltungsprodukten, 
Abgängen  der  Materie.  Nun  ist  es  einleuchtend, 
daß  viele  dieser  Effektverluste  nur  von  der  Handlung 
selbst,  nicht  von  ihrem  Umfange  abhängen,  daher 
mit  wachsender  Leistung  an  Bedeutung  verlieren. 
Wenn  ich  einen  Brief  zur  Post  trage,  kostet  dieser 
Brief  mich  fünf  Arbeitsminuten;  trage  ich  sechzig 
Briefe  auf  einmal  zur  Post,  so  kostet  mich  jeder 
fünf  Arbeitssekunden.  Ja,  ich  kann  es  ermöglichen, 

43 


den  gesamten  Briefverkehr  einer  Kleinstadt  zu 
bewältigen,  wenn  ich  mich  als  Briefträger  den 
ganzen  Tag  über  ausschließlich  dieser  Aufgabe 
widme.  Verbrauche  ich  einen  Zentner  Kohlen,  um 
einen  Dampfkessel  anzuheizen,  so  bleibt  der  Ver- 
lust der  gleiche,  ob  ich  nun  den  Kessel  fünf  oder 
zehn  Stunden  im  Betrieb  halte;  bei  ununterbro- 
chenem Betriebe  aber  würde  der  Anheizverlust 
jede  Bedeutung  verlieren. 

Es  besteht  also  die  Möglichkeit,  den  Wirkungsgrad 
von  Vorgängen  und  die  Ausnutzung  von  Materialien 
erheblich  zu  verbessern,  indem  man  Gelegenheit 
für  möglichst  große  Mengen  gleichartiger  und  ein- 
facher Nutzhandlungen  sammelt,  um  dieselben 
ununterbrochen  auszuüben  —  dies  ist  die  Arbeits- 
teilung, auf  der  die  alte  Methode  der  Manufaktur 
beruht  — ,  oder  indem  man  den  Einzelvorgang  in 
seinem  Kraft-  und  Massenumfang  steigert,  ein 
Verfahren,  das  man  Arbeitshäufung  nennen  und 
als  die  Grundlage  der  neuzeitlichen  Fabrikation 
ansprechen  könnte. 

Die  Hilfsmittel  dieser  doppelten  Übung  der 
Effektsteigerung  sind  Organisation  und  Technik. 
Organisation,  indem  sie  Produktion  und  Verbrauch 
durch  Unterteilung,  Vereinigung  und  Verzweigung 
in  die  gewollten  mechanischen  Bahnen  lenkt,  Tech- 
nik, indem  sie  die  Naturkräfte  bändigt  und  sie 
bald  in  gewaltigen  Massenbewegungen,  bald  in 
chemischen  Wirkungen,  bald  in  elektrischen  Strö- 
men, bald  in  mechanisch  kunstfertigen  Handgriffen 
den  neuen  Produktions-  und  Verkehrsorganisa- 
tionen ausliefert. 

Daß  somit  nicht  die  Technik  oder  der  Verkehr 
Ursache  der  Mechanisierung  und.  somit  der  neu- 

44 


zeitlichen  Lebensverfassung  sein  konnte,  vielmehr 
die  Volksverdichtung  zur  Mechanisierung  drängte, 
die  ihrerseits  neue  Hilfsmittel  verlangte  und  schuf, 
darf  in  Einschaltung  nochmals  ausgesprochen  v^er- 
den.  Diesen  Zusammenhang  verkennen  hieße  nichts 
andres  als  etwa  behaupten:  die  Eisenbahn  habe 
den  Großverkehr  oder  das  Zündnadelgewehr  habe 
den  Massenkrieg  geschaffen.  In  Wirklichkeit  schafft 
der  Wille  zum  Verkehr  sich  seinen  Weg,  der  Wille 
zum  Massenkrieg  sich  sein  Geschütz ;  das  Werkzeug 
ermöglicht  das  Werk,  doch  bleibt  es  selbst  ein  Ge- 
schöpf des  auf  das  Werk  gerichteten  Willens. 

Den  Ursprung  der  Mechanisierung  aus  der  Ver- 
dichtung, ihre  Anfänge,  ihren  Verlauf  und  ihre 
Welteroberung  historisch  zu  schildern,  ist  Aufgabe 
späterer  Geschichtschreibung.  Hier  seien  in  kürze- 
sten Zügen  nur  einige  Staffeln  verzeichnet;  denn 
die  Absicht  dieser  Darstellung  richtet  sich  dahin, 
nicht  sowohl  den  Vorgang  als  die  Wirkungen  der 
Verdichtung  und  Umschichtung,  der  Mechanisie- 
rung und  Entgermanisierung  auf  die  Welt,  die 
Menschen  und  das  Leben  unsrer  Zeit  zu  erörtern. 
Mit  dem  ersten  Tausch,  der  auf  Erden  stattfand, 
war  die  Einzelwirtschaft  durchbrochen  und  zwei 
neue  Begriffe  geschaffen:  des  Tausch  Vorrates  und 
der  Spezialisierung.  Je  dichter  nun  die  angehenden 
Spezialisten  aneinander  heranrückten,  je  häufiger 
sie  sich  begegneten,  desto  mehr  konnten  sie  sich 
auf  die  wechselseitigen  Vorräte  verlassen.  Zuletzt 
konnte  der  eine  die  Erzeugung  dessen  einstellen, 
was  der  andre  besaß :  er  konnte  Korn  gegen  Vieh, 
Vieh  gegen  Erz  tauschen.  Verdichtete  sich  die 
Bevölkerung  abermals,  so  lernte  man  neue  Gegen- 
stände kennen;  es  lohnte  sich,  reich  zu  sein:  aus  dem 

45 


Vorrat  wurde  Kapital.  Der  Spezialist  wurde  ge- 
sucht, er  fand  Aufträge;  aus  Anlage  und  Kenntnis 
entstand  der  Beruf. 

Nun  war  man  aufeinander  angewiesen;  die  Begehr- 
lichkeit der  Weiber,  die  Freigebigkeit  der  Männer 
mag  das  ihre  beigetragen  haben:  man  tauschte 
und  handelte,  betrieb  Wirtschaft  und  Handwerk; 
die  Anfänge  der  wechselseitigen  Gütererzeugung 
waren  gegeben.  Aber  noch  konnte  ein  Mürrischer 
oder  Selbstzufriedener,  ein  Gegner  des  Neuen,  sich 
abseits  halten.  Verzichtete  er  auf  kunstvolle  Güter, 
auf  mannigfaches  Werkzeug,  so  mochte  er  mit  Pfeil 
und  Speer,  mit  Pflug  und  Hacke  ins  Weite  ziehen 
und  sich  von  der  Gesamtwirtschaft  befreien.  Mit 
zunehmender  Dichte  wird  auch  diese  Freiheit  be- 
nommen. Jetzt  bedarf  ein  jeder  des  Schutzes;  er 
muß  Mitglied  einer  Gemeinschaft  sein.  Der  Sitte 
kann  er  sich  nicht  entziehen,  sie  verlangt  Kleidung 
und  Behausung  und  manches  andre.  Land  zu 
erschließen  ist  ihm  versagt;  er  muß  Eigentum  achten, 
auf  dem  Seinen  haushalten,  somit  nachhaltiger 
wirtschaften,  mit  Geräten  und  Werkzeugen,  die 
beschafft  sein  wollen.  Doch  schon  ist  die  Ver- 
dichtung vorgeschritten,  die  Scholle  beschränkter, 
die  Wirtschaft  schwieriger  und  einseitiger.  Um 
den  ganzen  Bedarf  an  Lebensgütern  zu  erlangen, 
muß  verkauft,  muß  Absatz  gesucht  werden.  Die 
Wirtschaft  wird  zum  Unternehmen,  zum  Geschäft. 
Der  Absatz  stellt  sich  ein  und  mit  ihm  die  Konkur- 
renz. Eine  Zeitlang  können  Zunftbestimmungen 
und  mangelhafte  Verkehrswege  den  Handwerker 
und  Landwirt  vor  der  Geißel  des  Wettbewerbs 
schützen.  Unter  der  ständigen  Verdichtung  der 
Produktion    macht    sie    sich    denn    doch    fühlbar. 

46 


Und  trotz  der  gleichzeitigen  Konzentration  des 
Konsums  kann  keiner  froh  werden :  denn  die  Erzeu- 
gungsmethoden sind  noch  immer  primitiv,  sie 
nötigen  der  Erde  nicht  genügend  Stoffe  ab,  um  die 
Gesamtheit  zu  befriedigen,  die  Arbeit  wird  hart, 
man  leidet  Not.  Doch  eben  hat  ein  erfinderischer 
Kopf  ein  Werkzeug  erfunden,  ein  Erzeugnis  ver- 
bessert, ein  Verfahren  vereinfacht.  Der  Teufelskerl 
wird  reich,  die  andern  sehen's  und  empfinden  ihre 
Not  verdoppelt.  Nun  sind  sie  alle  dem  Wettlauf 
der  Konkurrenz  verfallen,  der  technischen,  der 
kommerziellen,  der  kapitalistischen  Konkurrenz. 
Nun  werden  alle  Künste  und  Wissenschaften  herbei- 
gerufen; die  Erfindungsreichen,  Kühnen,  Vor- 
urteilsfreien, die  Habsüchtigen,  die  Ehrgeizigen, 
die  Handfesten  eilen  voran;  die  Schwachen  bleiben 
am  Wege  liegen,  sie  werden  eingefangen  und  als 
Troß  mitgezogen.  Und  unter  den  Tritten  dieses 
Reigens  schwitzt  die  Erde  aus  allen  Poren  und  läßt 
an  Gütern  den  zehnfach  vermehrten  Enkeln  das 
Hundertfache  dessen  emporströmen,  was  sie  den 
Ahnen  kärglich  gewährte,  sich  zu  nähren,  zu 
wärmen,  zu  schmücken  und  zu  berauschen. 

Wenn  somit  die  Mechanisierung  ursprünglich 
in  der  Gütererzeugung  wurzelt,  so  blieb  sie  nicht 
lange  auf  dies  Gebiet  beschränkt.  Freilich  bedeutet 
dieses  noch  heute  den  Stammbezirk  ihrer  Verzwei- 
gung und  Überschattung;  denn  die  Gütererzeu- 
gung bleibt  das  zentrische  Gebiet  des  materiellen 
Lebens,  dasjenige,  mit  dem  sich  alle  übrigen  in 
mindestens  einem  Punkt  berühren. 

Mechanisierung  aber  erblicken  wir,  wohin  wir 
auch  über  die  Provinzen  menschlichen  Handelns 
das  Auge   schweifen  lassen;  allerdings  treten  ihre 

47 


Formen  derartig  verwickelt  und  vielgestaltig  auf, 
daß  es  vermessen  dünkt,  den  ganzen  Umriß  des 
ruhelos  bewegten  Bildes  zu  umfassen.  Dem  wirt- 
schaftlich Betrachtenden  erscheint  sie  als  Massen- 
erzeugung und  Güterausgleich;  dem  gewerblich 
Betrachtenden  als  Arbeitsteilung,  Arbeitshäufung 
und  Fabrikation;  dem  geographisch  Betrachtenden 
als  Transport-  und  Verkehrsentwicklung  und  Koloni- 
sation; dem  technisch  Betrachtenden  als  Bewälti- 
gung der  Naturkräfte;  dem  wissenschaftlich  Betrach- 
tenden als  Anwendung  der  Forschungsergebnisse; 
dem  sozial  Betrachtenden  als  Organisation  der 
Arbeitskräfte;  dem  geschäftlich  Betrachtenden  ak 
Unternehmertum  und  Kapitalismus;  dem  politisch 
Betrachtenden  als  real-  und  wirtschaftspolitische 
Staatspraxis. 

Gemeinsam  ist  aber  allen  diesen  Erscheinungs- 
formen ein  Geist,  der  sie  seltsam  und  entschieden 
von  den  Lebensformen  früherer  Jahrhunderte 
unterscheidet:  ein  Zug  von  Spezialisierung  und 
Abstraktion,  von  gewollter  Zwangsläufigkeit,  von 
zweckhaftem,  rezeptmäßigem  Denken,  ohne  Über- 
raschung und  ohne  Humor,  von  komplizierter 
Gleichförmigkeit:  ein  Geist,  der  die  Wahl  des  Na- 
mens Mechanisierung  auch  im  Sinne  des  Gefühls- 
mäßigen zu  rechtfertigen  scheint. 

Dritte  Anmerkung.  Scheinbares  Paradox 

Warum  haben  ältere  Verdichtungsprozesse, 
deren  die  Geschichte  eine  Anzahl  kennt, 
niemals  zu  einer  ausgesprochenen,  der  unsern 
vergleichbaren  Mechanisierung  geführt  ?  Sagt  man 
doch,   daß   die   Menschheit  jeden   uns   denkbaren 

48 


Gedanken  schon  einmal  gedacht  habe:  warum  hat 
sie  dies  Gedankenphänomen  unsrer,  im  übrigen 
keineswegs  so  bevorzugten  Epoche  aufgespart  ? 

Hier  ist  zunächst  zu  erinnern,  daß  keine  der  alten 
Volksverdichtungen,  relativ  und  absolut  gemessen, 
sich  mit  neuzeitlich  okzidentalen  Verhältnissen 
vergleichen  läßt.  Ägypten  und  Mesopotamien 
waren  nicht  übervölkert,  Griechenland  und  Italien 
nach  unsern  Begriffen  arm  an  Einwohnerzahl. 

Vor  allem  aber  wirkt  das  Mittclmeerklima  in 
einem  Sinne  verzögernd  auf  die  Zivilisation,  indem 
es  die  menschlichen  Bedürfnisse  an  Nahrung,  Ob- 
dach und  Kleidung  gleichzeitig  mäßigt  und  leicht 
befriedigt.  Selbst  in  den  heutigen  trocken  und  un- 
fruchtbar gewordenen  Ländern  dieser  Zone  bleibt 
der  Lebenskampf  vergleichsweise  harmlos  und 
spielend,  weil  Ertrag  und  Bedarf  noch  immer  in 
glücklicherem  Verhältnis  sich  die  Wage  halten. 
So  stehen  selbst  in  unsern  Tagen  die  Mittelmeer- 
völker mit  einer  mehr  kindlichen  als  nothaften 
Begehrlichkeit  dem  Ansturm  unsrer  Warenmassen 
gegenüber;  ihre  Produktionsmethoden  sind,  wenn 
man  vom  nördlichen  und  mittleren  Italien  absieht, 
nur  in  bescheidenem  Umfang  mechanisiert,  und 
den  übrigen  Mechanisierungsformen  haben  sie  halb 
widerwillig  halb  kindlich  nachahmend  Aufnahme 
gewährt.  Süditalien  und  Griechenland  stehen  noch 
heute  trotz  Eisenbahnen  und  Telegraphen  dem 
antiken  Leben  näher  als  dem  modernen. 

Dennoch  zeigte  das  Rom  der  späten  Republik 
und  der  Kaiser^eit  deutliche  Anfänge  der  Mechani- 
sierung, und  es  ist  lehrreich,  zu  prüfen,  weshalb 
diese  Lebensform  in  ihrem  Vordringen  gehemmt 
wurde. 

1.4  49 


Großbetriebe  waren  vorhandeiij  ja  ein  Welthandel 
und  eine  kapitalistische  Ordnung  des  Besitzes  aufge- 
kommen. Zur  Fortentwicklung  des  mechanistischen 
Prinzips  hätte  es  nun  vornehmlich  dreier  Dinge 
bedurft :  einer  Vervollkommnung  der  metallurgischen 
Technik,  insbesondere  der  Eisen-  und  Stahl- 
erzeugung, einer  Weiterbildung  der  Präzisions- 
mechanik, und  der  Konstruktion  einer  Kraftmaschine. 
Diese  Aufgaben  waren  nur  zu  lösen  auf  Grundlage 
messender  Naturerforschung.  Der  Römergeist,  der 
mit  empirischer  Technik  ungeheure  architektonische 
Aufgaben  zu  lösen  gewohnt  war,  hätte  den  strengen 
Anforderungen  dieser  Disziplinen  genügt,  obwohl 
ihm  pragmatisches  Denken  vertrauter  war  als  stilles 
Beobachten.  Schwieriger  wäre  es  in  jener  Epoche 
gewesen,  die  Hunderte  von  forschenden  und  ent- 
deckenden Geistern,  deren  die  Ausbildung  dieses 
Wissenszweiges  bedurfte,  unter  der  kleinen  Zahl 
von  bildungsliebenden  Italikern  aufzutreiben.  Sollte 
diese  Abkehr  des  Römertums  vom  Markt,  Tribunal 
und  Heerlager  zur  Gelehrtenstube  und  zum  Labora- 
torium erzwungen  werden,  so  bedurfte  es  einer  Not. 
Diese  Not  aber  war  nicht  vorhanden.  Denn  Rom 
war  gewohnt,  die  Völker  des  Erdkreises  für  seine 
Erhaltung  sorgen  zu  lassen ;  wo  ein  Prokonsul  genügte, 
um  Attalidenschätze  nach  der  Hauptstadt  zu  leiten, 
bedurfte  es  keiner  Exportfabrikationen.  Die  an  sich 
nicht  beträchtliche  Nahrungsbeschränkung  durch 
Bevölkerungsverdichtung  war  mehr  als  ausgeglichen 
durch  eine  Hoheit,  welche  die  Gesamtheit  des 
herrschenden  Volkes  zum  Souverän  erhob  und  mit 
auskömmlichen  Zivillisten  versah. 

Wenden  wir  den  Blick  außereuropäischen  Ver- 
dichtungszentren zu,  so  scheinen  in  China  die  gün- 

50 


stigsten  Voraussetzungen  für  mechanisierte  Wirt- 
schaft gegeben  zu  sein:  große  Masse  und  Dichte 
einer  Bevölkerung,  die  ausreichende  bürgerliche 
Freiheiten  genießt  und  von  der  Natur  des  Landes 
nicht'  allzu  leichtfertig  über  den  Lebenskampf  hin- 
weggehoben wird.  Und  wirklich  geben  die  Tat- 
sachen den  Voraussetzungen  recht:  außerhalb  der 
kaukasischen  Rassenzone  umschließt  China  mit 
seinem  kulturellen  Tochterlande  Japan  das  einzige 
Gebiet  der  Erde,  auf  dem  eine  eigene  großangelegte 
Technik  erwuchs,  ja  eine  Technik  die  ganz  be- 
sonders die  uns  vertrauten  verkehrhaften  Züge  auf- 
weist. Als  ein  Geschenk  Chinas  ist  vor  wenig  mehr 
als  hundert  Jahren  die  vergessene  Kunst  de»  Heer- 
straßenbaus uns  neu  beschieden  worden. 

Bis  in  die  Mitte  des  XVI IL  Jahrhunderts  war 
China  an  technischen  und  organisatorischen  Erfah- 
rungen dem  Durchschnitt  Europas  ebenbürtig; 
aber  die  Keime  überflügelnder  Entwicklung  lagen 
im  westlichen  Boden.  Daß  den  klügsten  und  tätig- 
sten Orientalen  so  wenig  wie  den  Römern  das 
Geheimnis  der  messenden  und  rechnenden  Wissen- 
schaft sich  erschloß,  befremdet  nicht,  wenn  man 
erwägt,  welche  seltenen,  ja  widersprechenden  Gei- 
stesstimmungen zusammentreffen  müssen,  damit 
systematische  und  exakte  Forschung  möglich  sei. 
Ein  ideal  gerichteter,  dem  Gesetzmäßigen  offener 
Sinn  muß  transzendenter  Betrachtung  entsagen, 
sich  mit  Liebe  dem  Tatsächlichen,  ja  dem  scheinbar 
Nebensächlichen  zuwenden,  um  in  lebenslanger 
Arbeit,  Korn  für  Korn,  das  Bleibende  vom  Zufälligen 
zu  sondern,  ohne  Hoffnung,  selbst  jemals  des  Welt- 
symbols teilhaftig  zu  werden,  das  aus  der  reinen 
Saat  erblühen  soll.  Umgekehrt  bedarf  es,  damit  die 


Forschung  sich  In  Technik  verkörpere,  praktischster 
Geister,  die  dennoch  zu  den  abstraktesten  Gebieten 
der  Wissenschaft  sich  erheben,  um  mit  promethei- 
schem  Griff  das  dem  irdischen  Bedarf  Bestimmte 
herabzuholen.  Dem  Verlauf  der  Darstellung  vor- 
greifend sei  hier  bemerkt,  daß  in  einer  Zivilisation, 
die  der  Mischung  aus  germanischer  Idealität  mit 
vorgermanischer  Zähigkeit  und  Handfertigkeit  ent- 
sprang, diese  seltenen,  vielleicht  nicht  wiederkehren- 
den Voraussetzungen  einer  Wissenschaft  und  wissen- 
schaftlichen Technik  gegeben  waren.  Daß  die  man- 
dschurisch-mongolische Zivilisation  die  gleichen 
Vorbedingungen  nicht  erfüllte,  entschied  die  Frage 
der  technischen  Welthegemonie  zugunsten  des» west- 
lichen Dichtigkeitszentrums.  In  gleichem  Sinne 
wird  sich  dereinst  die  Frage  der  politischen 
Hegemonie  entscheiden,  der  man  die  kindlich  ge- 
hässige Bezeichnung  einer  gelben  Gefahr  gegeben 
hat.  Erweist  sich  der  Westen  auch  in  Zukunft 
stärker  ideenbildend  als  der  ferne  Osten,  der  in 
jüngeren  Zeiten  diese  höchste  Kraft  nicht  mehr 
besessen  hat,  so  wird  er  auch  weiterhin  die  Ver- 
antwortung   der    Weltentwicklung    tragen. 

Zusammenfassend  dürfen  wir  die  Zwischen- 
frage: warum  Mechanisierung  bisher  auf  Erden 
nirgend  anders  als  im  germanischen  Zentrum  auf- 
getreten sei,  folgendermaßen  beantworten.  Erfor- 
derlich war  das  Zusammentreffen  stärkster  Volks- 
verdichtung mit  zwei  auslösenden  Faktoren: 
gemäßigten  physikalischen  Bedingungen,  welche 
bei  zunehmender  Dichte  die  Sorge  um  den  Unter- 
hatl  empfindlich  machten,  sodann  spezifischen 
sittlich-geistigen  Werten,  welche  imstande  waren, 
technisch-methodische  Hilfsmittel  zu  schaffen.   Die 

5^ 


alten  Mittelmeerkulturen  scheiden  aus,  denn  es  fehlte 
ihnen  fast  durchweg  an  der  Hauptbedingung,  aus- 
nahmslos am  ersten  der  beiden  auslösenden  Fak- 
toren. China  konnte  eine  gewisse  Mechanisierungs- 
arbeit leisten,  bis  im  entscheidenden  Moment  der 
intellektuale  Faktor  versagte.  Der  zentraleuro- 
päischen Kultur  war  es  vorbehalten,  alle  Bedin- 
gungen zu  erfüllen  und  die  Mechanisierung  bis 
in  die  letzten  uns  bekannten  Folgen  durchzuführen. 


DIE  MECHANISIERUNG  DER  WELT.    II 

Mechanisierung  der  Produktion 

Von  allen  Teilen  der  Erdoberfläche  strömen 
die  Urprodukte  mineralischer  und  organischer 
Abkunft  auf  eisernen  oder  wässernen  Wegen  in  die 
Sammelbecken  der  Städte  und  Häfen.  Von  dort 
verzweigen  sie  sich  nach  den  Verarbeitungsstätten, 
wo  sie  in  vorbestimmter  Mischung  eintreffen,  um 
chemisch  oder  mechanisch  umgestaltet  als  Halb- 
produkte einen  zweiten  Kreislauf  zu  beginnen. 
Von  neuem  getrennt  und  abermals  vermischt  und 
bearbeitet  erscheinen  sie  als  Verbrauchsgüter,  die 
zum  drittenmal  geordnet  in  den  Lagern  der  Groß- 
händler sich  vereinigen,  bevor  sie  die  fein  ver- 
zweigten Wege  zum  Kleinhändler  und  endlich  zum 
Verbraucher  finden,  der  sie  in  Abfallstoffe  ver- 
wandelt und  in  den  Gestaltungsprozeß  zurück- 
sendet. Dem  Blutumlauf  vergleichbar  ergießt  sich 
der  Güterstrom  durch  das  Netz  seiner  Arterien 
und  Adern.  In  jedem  Augenblick  des  Tages  und  der 
Nacht  donnern  die  Schienen,  lauschen  die  Schiffs- 

53 


schrauben,  sausen  die  Schwungräder  und  dampfen 
die  Retorten,  um  die  Last  dieses  Umlaufs  zu  er- 
neuern  und  zu  bewegen. 

Und  was  ist  das  Geschick  der  Materien  in  den 
Mägen  der  Verarbeitung  ?  Sie  werden  von  Mecha- 
nismen ergriffen,  gelöst,  erhitzt,  zerstampft  oder 
gepreßt,  zerschnitten,  gehämmert,  gezogen  oder 
gewalzt,  gesponnen,  gezwirnt,  verwoben  oder  ge- 
tränkt; ein  zweiter,  ein  dritter  Maschinenprozeß 
schließt  sich  an,  und  der  Mensch  überblickt  ord- 
nend, beschleunigend,  messend  sein  Werk,  das 
Werk  nicht  mehr  seiner  Hände,  sondern  seiner 
Mechanismen.  Ist  eine  Formung  durch  Hand- 
fertigkeit noch  vonnöten,  so  ist  das  Gesetz  der 
Produktion  unvollkommen  erfüllt.  Dies  Gesetz 
lautet:  Beschleunigung,  Genauigkeit,  Verminde- 
rung der  Reibung,  Einheitlichkeit  und  Einfachheit 
der  Typen,  Ersparnis  an  Arbeit,  Verminderung 
und  Rückgewinnung  des  Abfalls.  Da,  wo  ein  Teil 
der  Prozesse  den  Schöpfungsakten  der  Natur  über- 
lassen werden  muß,  fühlt  man  sich  berechtigt, 
von  ihr  die  gleiche  Beschleunigung  und  Genauig- 
keit, die  gleiche  Reaktionsfähigkeit  auf  Reize  und. 
Disziplin  zu  verlangen  wie  von  leblosen  Mecha- 
nismen und  Prozessen. 

Und  die  Natur  gehorcht.  Sie,  die  Erzeugerin 
der  Urmaterien,  ist  sich  des  Ernstes  und  Umfanges 
ihrer  Aufgaben  bewußt  geworden.  Nicht  mehr 
lächelnd  und  spielend  wie  ehedem,  sondern  ernst 
und  geschäftig  läßt  sie  ihre  Felder  das  zehnfache 
Maß  tragen,  läßt  sie  ihren  Flanken  das  Tausend- 
fache an  mineralischen  Werten  entströmen.  Ja, 
sie  gibt  zu  erkennen,  daß  sie  es  nur  der  mensch- 
lichen   Arbeit    und    Begehrlichkeit    anheimstellt, 

54 


die  lebenden  und  toten  Ernten  nochmals  zu  verviel- 
fachen. Keines  der  heute  geschätzten  Güter  scheint 
vorerst  auf  die  Neige  zu  gehen;  allenthalben  winkt 
und  blinkt  es  noch  von  ungehobenen  Schätzen  an 
Materie  und  Kraft. 

Die  Menschheit  hat  es  begriffen  und  eilt  ihrem 
Produktionsideal  entgegen.  Dies  Ideal  ist  erreicht, 
wenn  von  den  jeweils  günstigsten  Gewinnungs- 
stätten die  Produkte  auf  kürzestem  Wege  und  mit 
größter  Eile  zu  der  bestgelegenen  Verarbeitungs- 
stätte gelangen,  um  in  einem  einzigen  Prozeß  um- 
gestaltet sofort  einem  Vertriebssystem  übergeben 
zu  werden,  das  sie  in  die  Vorratsräume,  Küchen 
und  Werkstätten  der  Verbraucher  leitet. 

Zuweilen  scheint  es,  als  beginne  die  Güterpro- 
duktion, über  ihr  Ziel  hinausschießend,  über- 
flüssige, nicht  mehr  verzehrbare  Mengen  zu  för- 
dern. Ständig  wachsende  Massen  von  Rohstoffen 
und  Fabrikaten  schleudern  die  Länder  im  Wechsel- 
spiel einander  zu.  Hier  Erze  gegen  Kohlen,  Baum- 
wolle gegen  Getreide,  Vieh  gegen  Eisen,  Holz 
gegen  Zucker;  und  dennoch  wird  dies  gewaltige 
Werben  und  Spenden  nicht  nachlassen,  denn  immer 
noch  wächst  die  Zahl  der  Erdenbewohner,  und 
immer  noch  sind  Millionen  von  Händen  nicht  nach- 
haltig genug  in  den  Schaffensprozeß  verstrickt, 
um  ihr  Teil  am  Begehrten  zu  erraffen. 

Wohin  ergießt  sich  nun  diese  Güterflut  ?  Wir 
finden  sie  in  den  Speichern  der  Häfen,  in  den  Vorrats- 
räumen der  Fabriken  und  Handlungen,  wir  finden 
sie  in  Läden  und  Kaufhäusern.  Das  Berlin  von 
1811  besaß  im  Umkreise  seiner  Mauern  nicht  so 
viel  an  Ladengütern  wie  ein  einziges  Häuserviereck 
des  Berlins  von  1911.    Aus  den  Magazinen  fließt 

55 


der  Strom  in  die  Behausungen  der  Menschen. 
Ungezählte  Substanzen,  die  man  ehedem  nicht 
kannte,  Metalle,  Gläser,  Hölzer,  Tonwaren,  Papiere, 
Leder,  Bein,  Gewebe,  alles  bedeckt  mit  farbigen 
Schichten,  Polituren  und  Ornamenten,  füllen  die 
Gemächer;  Seifen,  Essenzen,  Chemikalien  sind 
vorrätig,  Nahrungs-  und  Genußmittel  aus  allen 
Erdteilen  werden  gespeichert;  selbst  in  den  Woh- 
nungen der  Schwachbemittelten,  ja  der  Armen 
finden  sich  Menge  und  Mannigfaltigkeit  der  Gerät- 
schaften und  Verbrauchsgüter  seit  den  letzten 
drei  Generationen  um  ein  Vielfaches  vermehrt. 
Fast  möchte  man  meinen,  die  Menschheit  sei  von 
einem  Taumel  des  Warenbesitzes,  von  einer  Geräte- 
tollheit befallen,  die  man  in  früheren  Zeiten  viel- 
leicht gewissenlosen  Spekulanten  oder  auf  Ablenkung 
bedachten  Regierungen  zur  Last  gelegt  hätte. 
Und  noch  immer  ist  Begehr  und  Lust  nach  käuf- 
lichen   Dingen    im    Steigen,    zumal    bei    Frauen. 

Ihr  passiver  Anteil  am  Produktionswachstum  ist 
nicht  unbeträchtlich.  Denn  ihre  naivere  Freude 
am  feilen  Besitz  und  am  Vergleich  des  Besitzes 
setzt  zahllose  Gewerbe  in  Bewegung,  und  ihr  ge- 
ringeres Interesse  für  Struktur  und  Konstruktion 
kommt  der  eigenartigen  Qualitätsverschiebung  des 
modernen  Erzeugnisses  in  erstaunlicher  Weise 
entgegen.  Mit  dieser  Verschiebung  aber  hat  es 
folgende  Bewandtnis. 

Jeder,  der  ein  Erzeugnis  des  alten  Handwerks  in 
Händen  hält,  etwa  ein  Buch,  eine  Truhe,  einen 
Schlüssel,  empfindet  an  diesen  Gegenständen  etwas 
Organisches,  wie  es  den  Schöpfungen  der  Natur 
eignet.  Das  Werk  ist  genau  gearbeitet,  aber  nicht 
mathematisch.   Der  Naturstoff,  dem  es  entstammt, 

56 


ist  geformt,  aber  nicht  verwandelt.  Es  besitzt  eine 
innere  Festigkeit,  die  den  Einwirkungen  des  Ge- 
brauchs und  der  Zeit  widersteht  und  ihnen  doch 
einen  seltsam  verschönernden  Einfluß  gestattet. 
Es  ist  selbst  im  größten  Reichtum  sparsam,  denn 
es  ist  ein  durchdachtes,  für  sich  alleinstehendes 
Werk,  ein  Stück  Menschennatur. 

Die  Maschine  kann  dergleichen  nicht  schaffen. 
Sie  erzeugt  mathematische,  schnurgerade,  kreis- 
runde, spitze,  scharfe,  polierte  Dinge,  die  sich  nicht 
abschleifen,  sondern  schartig  werden.  Sie  spart  am 
Material,  aber  sie  knausert  nicht  mit  Ornament, 
denn  dies  macht  ihr  keine  Arbeit.  Auch  überträgt 
sie  gern  praktisch  erwiesene  Kunstgriffe  von  einer 
Materie,  von  einer  Form  auf  die  andre.  Sie  formt 
mit  gleicher  Unbeteiligtheit  ein  Gebetbuch  und 
eine  physikalische  Wage.  Vor  allem  aber  setzt  sie 
an  die  Stelle  der  Dauerhaftigkeit  die  bequeme  Er- 
neuerung. Hausgesponnenes  Linnen  und  Papier- 
servietten sind  Sinnbilder  dieses  Gegensatzes. 

An  die  Stelle  des  Anschaffungswertes  setzt  die 
Mechanisierung  den  Verbrauchswert,  an  die  Stelle 
des  Zinsverlustes  die  Neubeschaffung.  Der  Luxus 
unsrer  Zeit  ist  nicht  Kapitalsaufwand,  sondern 
Rentenaufwand.  • 

Durchaus  verständlich!  Denn  die  Mechani- 
sierung will  produzieren.  Reparaturwerkstätten 
sind  ihr  kostspieliger  als  Fabriken;  anstatt  zu  flicken, 
schmilzt  sie  um.  Hier  kommt  ihr  ein  psychologischer 
Kreislauf  zunutze;  die  Möglichkeit  des  Wechsels 
erzeugt  den  Wunsch  nach  Wechsel,  dieser  Wunsch 
wiederum  unterstützt  das  Erneuerungsprinzip. 

Ein  Weiteres  tritt  hinzu.  Die  alten  Stoffe  waren 
nicht  abstrakt  rein.    Die  Erze,  die  Gewürze,  die 

57 


Farben,  die  Erden  enthielten  Beimengungen,  deren 
Störendes  kunstreich  überwunden  war,  und  die  nun 
dem  Gefühl,  dem  Blick,  dem  Geruch  und  Ge- 
schmack etwas  Getöntes,  Abgestuftes,  Anheimeln- 
des gaben.  Die  mechanisierte  Produktion  nennt  diese 
Zutaten  Verunreinigung  und  hat  nicht  viel  Mühe, 
sie  auszuscheiden.  Sie  hält  uns  das  duftende  Prinzip 
des  Veilchens  kristallisiert  unter  die  Nase  und  läßt 
keine  Einwendung  zu.  Sie  schafft  Extrakte,  Rein- 
kulturen, Normative.  Aber  solche  Produkte  ohne 
eigenes  Leben,  ohne  Milderung  überreizen  und 
ermüden.  So  führen  sie  abermals  zum  Wechsel 
und  nebenher,  da  sie  nun  einmal  ihre  Seele  ver- 
loren haben,   zum   Surrogat. 

Zeigen  nun  diese  Künstlichkeiten,  teils  überrein, 
teils  flüchtig  naturalisiert,  teils  nachgeahmt,  teils 
appretiert,  eine  Teufelsschönheit  im  Schimmer 
der  Neuheit,  in  dem,  was  ein  Geschäftswort  die 
Aufmachung  nennt,  und  in  einer  gewissen  Keckheit 
der  rasch  erdachten  Form,  so  blüht  diese  Frische 
schnell  dahin;  und  alsbald  klopft  das  mechanisierte 
Schicksal,  die  Mode,  an  die  Tür  und  weist  das  früh 
gealterte  Geschöpf  in  den  Vorstadtwinkel,  in  die 
Provinz,  nach  Südamerika  und  zuletzt  nach  Afrika, 
um  der  Produktion  neue  Arbeit  zuzuweisen. 

So  schafft  die  Mechanisierung  sich  selbst  un- 
geheuerste Hilfskräfte  in  dem  Warenhunger  der 
Menschen,  in  der  Irrealität,  Leblosigkeit  und 
Schattenhaftigkeit  ihrer  Produkte  und  in  der 
Mode. 

Doch  was  ist  dieser  ephemere  Umlauf  der  Ge- 
brauchsgüter im  Vergleich  zu  jenem  zweiten, 
anhäufenden,  den  die  Mechanisierung  zeitigt! 
Denn  die  Menschheit  verbraucht  nicht  alles,  was 

58 


sie  schafft;  einen  großen  Teil  ihrer  Güter  speichert 
sie  auf.    In  welcher  Form  ?    Sie  baut. 

Sie  baut  Häuser,  Paläste  und  Städte;  sie  baut 
Fabriken  und  Magazine.  Sie  baut  Landstraßen, 
Brücken,  Eisenbahnen,  Trambahnen,  Schiffe  und 
Kanäle;  Wasser-,  Gas-  und  Elektrizitätswerke, 
Telegraphenlinien,  Starkstromleitungen  und  Kabel; 
Maschinen  und  Feuerungsanlagen.  Sie  bessert 
Ländereien,    entwässert,    reguliert    und    deicht. 

Es  ist  schwerer,  sich  eine  sinnliche  als  eine  zahlen- 
mäßige Vorstellung  vom  Umfange  dieser  Bauten 
zu  machen,  die  sich  für  Deutschland  jährlich 
auf  mehrere  Milliarden  belaufen.  Schätzungs- 
weise könnte  man  annehmen,  daß  die  alljährlichen 
Erweiterungen  Berlins  etwa  der  Wertbewegung 
gleichkommen,  die  zum  Bau  des  Perikleischen  Athen 
erforderlich  waren.  Die  Neubauten  der  deutschen 
Städte  dürften  etwa  alle  fünf  Jahre  einen  Wert 
erreichen,  der  an  mechanischem  Aufwand  dem 
Bauwert  des  kaiserlichen  Rom  gleichkäme. 

Wozu    dienen    nun    diese    unerhörten    Bauten  ? 

Zum  großen  Teile  dienen  sie  direkt  der  Produk- 
tion. Zum  Teil  dienen  sie  dem  Verkehr  und  Han- 
del, somit  indirekt  der  Produktion.  Zum  Teil  dienen 
sie  der  Verwaltung,  der  Wohnung,  der  Gesundheits- 
pflege, somit  vorwiegend  der  Produktion.  Zum 
Teil  dienen  sie  der  Wissenschaft,  der  Kunst,  der 
Technik,  dem  Unterricht,  der  Erholung,  somit 
indirekt,  und  mit  einiger  Einschränkung,  noch 
immer  der  Produktion. 

Das  ist  das  Saatgut,  das  die  Mechanisierung  all- 
jährlich dem  Boden  anvertraut,  und  das  auf  lange 
Zeiten  ihr  vielfache  Ernte  tragen  wird.  Es  ist  gleich- 
zeitig der  materielle  Lohn  der  Welt  für  die  unsäg- 

59 


liehe  Anstrengung  im  Joche  der  Mechanisierung: 
denn  diese  Schätze  aus  Erde,  Stein  und  Metall 
bedeuten  die  Zunahme  der  Nationalvermögen, 
deren  unvorstellbare  Zahlen  hier  auszusprechen 
nicht  verlohnt. 

Fassen  wir  die  Reihe  dieser  Vorstellungen  zu- 
sammen, so  muß  uns  die  Erde  als  eine  einzige,  un- 
trennbare Wirtschaftsgemeinschaft  erscheinen.  Das 
Anwachsen  der  Bevölkerung  hat  dies  ungeheure 
Rad  in  Schwingungen  versetzt;  nun  kreist  es,  indem 
es  selbsttätig  und  ununterbrochen  seine  Masse 
und  Geschwindigkeit  vermehrt.  Über  das  Ziel 
des  Schutzes  und  der  Nahrung  hinausstrebend, 
schafft  die  mechanisierte  Produktion  dauernd  neue 
Begierden.  Schon  hat  sie  die  materiellen  Lebens- 
bedingungen bedeutend  gehoben;  sie  wird  und 
muß  dazu  führen,  jedes  absolute  Elend  des  Besitzes 
aus  der  Welt  zu  schaffen;  gleichzeitig  saugt  ein 
immer  wachsender  Warenhunger  die  gewaltiger 
sich  ergießenden  Ströme  auf. 

Auch  in  früheren  Jahrhunderten  war  Produktion 
eine  Hauptaufgabe  menschlicher  Tätigkeit,  doch 
ihre  Mittel  waren  beschränkt  und  gaben  keiner 
weiteren  Hoffnung  Raum  als  der,  das  Nötigste 
zu  erschwingen  und  für  himmlische  und  irdische 
Herren  etwas  zu  erübrigen.  Die  Entfesselung  der 
Mechanik  hat  jede  Schranke  niedergeworfen.  Der 
Teil  der  menschlichen  Tätigkeit  in  zivilisierten 
Ländern,  der  weder  mittelbar  noch  unmittelbar 
der  Produktion  und  ihrem  Schutze  dient,  ist  klein 
geworden.  Die  mechanisierte  Produktion  hat  sich 
zum  Selbstzweck  erhoben. 


60 


DIE  MECHANISIERUNG  DER  WELT.    III 

Mechanisierung  und  Organisation 

Wir  haben  die  Mechanisierung  der  Güterer- 
zeugung betrachtet  und  uns  vergegenwärtigt, 
wie  dieser  vielfältige,  alles  materielle  Handeln  um- 
schließende Aufbau  mit  Notwendigkeit  aus  dem 
Fundament  der  Volksverdichtung  erwachsen  mußte. 
Damit  nun  der  zum  sichtbaren  Gesamtgeschöpf 
erhobene  wirtschaftliche  Bienenstaat  Existenz  und 
Leben  gewinnen  konnte,  mußte  ein  System  unsicht- 
barer Verständigungen,  Bindungen  und  Bezie- 
hungen gegeben  sein,  das  die  menschlichen  Ele- 
mente des  Organismus  zusammenhielt,  Beruf  und 
Arbeit  verteilte  und  gleichzeitig  die  zu  bearbei- 
tende tote  Substanz  an  diese  lebenden  Elemente 
kettete.  Es  mußte  für  das  notwendige  Drama  der 
mechanisierten  Produktion  Textbuch,  Szenarium 
und  Rollenverteilung  geschaffen  werden. 

Den  Kern  dieser  unsichtbaren  Ordnung  der 
wirtschaftlichen  Welt  bildet  die  Einrichtung  des 
Besitzes,  und  zwar  in  der  auf  das  strengste  an  die 
Person  gebundenen   Form  des  erblichen  Besitzes. 

Damit  nun  diese  höchst  persönliche  Einrichtung 
den  mannigfachen  Bildungen  und  Bewegungen  der 
mechanisierten  Produktionsform  sich  anschmiegen 
konnte,  mußte  sie  in  analoger  Weise  wandelbar 
und  unpersönlich  werden.  Der  Besitz  mußte  bis 
ins  Kleinste  teilbar,  bis  zum  Größten  anhäufbar, 
er  mußte  beweglich,  austauschbar,  fungibel,  seine 
Erträge  mußten  vom  Stamme  trennbar  und  für 
sich  verwertbar  sein.  Kurz,  der  Besitz  mußte  im 
Abbilde  den  Aufgaben  der  mechanisierten  Wirklich- 

6i 


keit,  der  Arbeitsteilung,  Arbeitshäufung,  Organi- 
sation und  Massenwirkung  entsprechen  lernen,  er 
mußte  mechanisiert  werden. 

Den  mechanisierten  Besitz  nennen  wir  Kapital. 
Der  Vorgang,  der  von  außen  und  physikalisch  be- 
trachtet als  mechanisierte  Gütererzeugung  er- 
scheint, dieser  Vorgang  stellt  sich  von  innen, 
menschlich  und  organisatorisch  betrachtet,  als 
Kapitalismus  dar. 

Daher  wird  der  Kapitalismus  andauern,  solange 
das  mechanisierte  Produktionssystem  Bestand  hat; 
er  wird  andauern,  gleichviel  ob  alles  Kapital  der 
Welt  in  den  Händen  einer  Person  oder  eines  Ge- 
meinschaftskörpers vereinigt  wird,  und  somit  das, 
was  man  heute  Transaktion  nennt,  zur  bloßen 
Buchung  herabsinkt.  Man  kann  daher  von  dem 
Aufhören  der  privatkapitalistischen  Gesellschaft 
reden,  vorläufig  aber  nicht  von  dem  Aufhören  der 
kapitalistischen  Produktionsweise. 

Schon  jetzt  ist  die  Mechanisierung  des  Besitzes 
80  weit  vorgeschritten,  daß  das  Kapital  in  seiner 
atomistischen  Teilbarkeit,  Beweglichkeit  und  Ko- 
häsion  auffallende  Ähnlichkeiten  mit  dem  Aggregat- 
zustand der  Flüssigkeiten  aufweist  und  daher  inner- 
halb gewisser  Grenzen  den  Gesetzen  der  Hydrostatik 
und  Hydrodynamik  folgt.  Diese  Verflüssigung  ist 
geschaffen  worden  durch  eigenartige  Zirkulations- 
formen, die,  von  verschiedenster  Herkunft  und 
Geschichte,  sich  allmählich  sozusagen  zu  Münz- 
sorten des  Kapitalverkehrs  ausgebildet  haben.  Als 
Zirkulationsform  des  Grundbesitzes  kann  man  die 
Hypothek,  den  Pfandbrief  und  die  Obligation 
bezeichnen,  als  Zirkulationsform  der  Waren  den 
Wechsel,  als  Zirkulationsform  des  Arbeitswertes  die 

62 


Aktie,  als  Zirkulationsform  der  Gesamtwirtschaft 
die  öffentliche  Anleihe,  als  Zirkulationsform  des 
unspezialisierten  Vermögensanspruchs  das  Bankgut- 
haben und  die  Banknote.  Im  Maße  wie  die  Welt- 
wirtschaft sich  ausdehnt,  erhöhen  sich  die  Beträge 
dieser  fünf  Kategorien,  im  Maße  wie  die  Wirtschaft 
dem  einen  oder  andern  Schaffensgebiet  sich  zuwendet, 
ändert  sich  das  Verhältnis  ihrer  Wertbemessungen. 

In  Gestalt  der  Zirkulationsformen  häufen  sich 
die  Vermögensbestände  in  zentralen  Behältern,  aus 
denen  sie  gesammelt  oder  verteilt  den  Bestimmungen 
zugeführt  werden.  In  Argentinien  ist  der  Bau  einer 
Hafenanlage  erforderlich.  Ein  Ventil  wird  geöffnet : 
deutsche,  französische  und  englische  Bankgut- 
haben und  Wechsel  werden  gegen  argentinische  An- 
leihe eingetauscht.  Ein  zweites  Ventil:  der  argen- 
tinische Staat  verfügt  über  sein  Guthaben.  Und 
gleichzeitig  wird  der  lebende  Vorgang  sichtbar, 
dessen  finanzielles  Abbild  soeben  gebucht  wurde: 
aus  allen  Häfen  setzen  sich  Dampfer  nach  der  Bau- 
stelle hin  in  Bewegung;  sie  tragen  Säcke  Zement, 
eiserne  Schienen,  Maschinenteile,  Kessel,  Kleider; 
Lebensmittel  und  Menschen.  Werkstätten  werden 
errichtet,  Erdmengen  bewegt,  Krane  montiert, 
Löhne  ausbezahlt.  Ministerreden  gehalten,  und  die 
vereinigte  Weltwirtschaft  hat  sich  längst  wieder 
andern  Aufgaben  zugewendet. 

In  gewissem  Sinne  läßt  sich  behaupten,  die  Me- 
chanisierung des  Besitzes  sei  der  Mechanisierung 
der  Produktion  bereits  vorausgeeilt.  Denn  indem 
das  Kapital  in  seinem  hydraulischen  Zustande 
jeden  Hohlraum  des  ökonomischen  Bedürfnisses 
auszugleichen,  von  jeder  Anhäufung  überflüssiger 
Produktionseinrichtung  abzuströmen  strebt,  treibt 

63 


es  einerseits  zu  Neugründungen,  andrerseits  aber 
auch  zu  Verschmelzungen  und  Aufsaugungen.  So 
kann  es  kommen,  daß  ein  Industrieller  in  sich  selbst 
die  Doppelnatur  der  Produktionsseite  und  der 
Kapitalsseite  seines  Unternehmens  erlebt:  als  selb- 
ständiger, auf  Tradition  und  patriarchalische  Unab- 
hängigkeit gestützter  Fabrikant  wünscht  er  die  Iso- 
lation, als  Verwalter  eines  Kapitals  sieht  er  sich 
zur  Vereinigung  mit  andern  gedrängt. 

Der  anonymen,  selbsttätig  wirkenden  und  ratio- 
nalen Organisation  des  Besitzes  stehtj'Tiicht  minder 
mächtig,  wechselseitig  sie  stützend  und  von  ihr 
gestützt,  eine  zweite  Organisation  gegenüber,  die 
auf  Herkommen,  Anerkennung,  Gewalt  und  Sank- 
tion sich  aufbaut,  die  Organisation  des  Staates. 
In  ihr  kämpft  seit  unvordenklichen  Zeiten  das 
mystische  mit  dem  mechanischen  Prinzip,  das  erste 
berufen,  Herkommen  und  Ziele  zu  festigen,  das 
zweite  von  den  wachsenden  Aufgaben  und  Sorgen 
des  Augenbhcks  emporgetragen.  Die  mystische 
Stärke  des  Staates  lag  in  seiner  uralten  Verbindung 
mit  Religion  und  Kult.  Von  dem  Zeitpunkt  an, 
wo  eine  veränderte  Wirtschaft,  eine  steigende 
Bedeutung  der  Bevölkerungsmenge,  ein  verstärkter 
Reibungskoeffizient  in  der  Außenbewegung  den 
Staat  veranlaßte,  Toleranz  zu  üben,  das  Verbrechen 
der  Nebenreligion  zu  ignorieren,  fremdreligiöse 
Nachbargebiete  anzuerkennen,  war  der  Stützpunkt 
vom  Unbedingten,  Überirdischen  ins  Bedingte, 
Nützliche  verlegt;  der  religiöse  Staat  war  ein  Sakra- 
ment, der  Verwaltungsstaat  ist  eine  Einrichtung. 
Das  römische  Imperium  suchte  vergeblich  nach 
einem  Ankergrund  im  Absoluten,  Unantastbaren; 
es  mußte  sich  schließlich  mit  orientalischem  Leib- 

64 


gardendespotlsmus  abfinden  und  ging  zugrunde. 
Der  mittelalterliche  Staat  trug  zwar  nicht  mehr  in 
sich  das  Licht  der  Religion,  doch  spiegelte  er  die 
Strahlen  der  Kirche ;  und  als  die  Gewalten  sich  ent- 
zweit hatten,  erwies  sich  die  germanische  Gefolge- 
schaftstreue von  ausreichender  Idealität,  um  den 
Monarchen  sakrosankt  und  den  mit  ihm  verketteten 
Staat  unberührbar  zu  machen. 

Das  erschütterndste  Umsturzwort,  das  je  aus 
königlichem  Munde  kam,  sprach  Friedrich  der 
Große,  indem  er  den  Herrscher  als  Staatsdiener 
bezeichnete.  Nicht  in  der  Offenbarung  preußischer 
Sachlichkeit  und  Pflichtbewußtheit  lag  das  Ent- 
scheidende dieses  Wortes,  sondern  vielmehr  darin, 
daß  das  Königtum  vom  Mysterium,  der  Staat  vom 
mystischen  Königtum  losgebunden  wurde,  und  daß 
nunmehr  der  Staat  nach  Auffassung  des  königlichen 
Freigeistes  zwar  als  höchste  Einrichtung,  immerhin 
aber  nur  als  Einrichtung  der  Nützlichkeit  und  Wohl- 
fahrt und  als  Menschen  werk  dastand. 

Dies  hindert  nicht,  daß  gerade  unsre  Zeit,  und 
zwar  nicht  bloß  im  feierlichen  und  festlichen  Ver- 
kehr, die  mystische  Seite  des  Staates  und  der  Staats- 
autorität zu  betrachten  liebt.  Auch  wäre  es  durch- 
aus verkehrt,  den  Staat  als  eine  Übergangsform  an- 
zusprechen, die  geradeswegs  zur  Aktiengesellschaft 
höherer  Ordnung  führt.  Noch  immer  schöpft  er 
seine  stärkste  Lebenskraft  aus  absoluten  Werten 
und  Notwendigkeiten.  Er  bleibt  der  Garant  der 
Nationalität,  des  Rechtes  und  der  Ordnung;  das 
Jahrhundert  der  Rationalisierung  hat  ihm  überdies 
als  Ersatz  der  schwindenden  Mystik  den  Schutz 
der  Religionen,  der  Erziehung,  der  Wissenschaft  und 
Kunst  übertragen. 

I.»  65 


Sucht  man  nun  bilanzmäßig  zu  ermitteln,  wie 
weit  der  heutige  Staat  dem  Prinzip  der  Mechani- 
sierung unterliegt  und  dient,  so  handelt  es  sich 
darum,  festzustellen,  welche  Funktionen  ihm  ge- 
legentlich, welche  Funktionen  ihm  notwendig  zu- 
fallen; sodann  abzuschätzen,  wie  weit  diese  not- 
wendigen Funktionen  mechanistischer  Richtung 
folgen.  Unberücksichtigt,  doch  nicht  unbeachtet 
mag  bleiben,  daß  der  Staat  in  seinem  Aufbau  das 
Vorbild  aller  mechanistischen  Organisationen  ge- 
worden ist,  und  daß  er  an  keinem  Tage  seines  auf- 
wandreichen Lebens  die  gemünzten  Hilfsmittel 
mechanisierter  Wirtschaft  entbehren  kann. 

Von  der  Kirche  sind  die  westlichen  Staats- 
gebilde in  ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  losgelöst, 
ohne  daß  man  sagen  könnte,  sie  hätten  hierdurch 
ihren  Staatscharakter  eingebüßt. 

Das  eigentliche  Regierungswesen,  die  Aufsicht  über 
örtliche  und  regionale  Verwaltungen,  ist  in  den 
angelsächsischen  Ländern  bis  auf  eine  leichte  finan- 
zielle Überwachung  unbekannt,  und  es  denkt  nie- 
mand daran, im  Interesse  der  Staatsvervollständigung 
diese  Einrichtung  einzuführen,  ebensowenig  wie 
man  etwa  in  Frankreich  oder  in  Preußen  daran 
denkt,  sie  abzuschaffen.  Auch  sie  darf  daher  nicht 
als  ein  notwendiges  Organ  des  Staatskörpers  gelten. 

Die  Aufsicht  über  das  Erziehungswesen  ist  den 
Obliegenheiten  des  Staates  erst  in  jüngster  Zeit 
hinzugefügt  worden.  Sie  zu  beseitigen  wäre  viel- 
leicht kein  Fortschritt,  doch  eine  Maßnahme,  die 
dem  Staatsleben  nichts  von  seinem  inneren  Wesen 
rauben  könnte;  um  so  weniger  als  ein  anerkanntes 
Erziehungsideal  in  Ländern  starker  Interessen- 
gegensätze nicht  besteht. 

66 


Staatliche  Unternehmungen  des  Verkehrs,  der 
Industrie  und  des  Handels,  mögen  sie  als  notwen- 
dige Funktionen  angesehen  werden  oder  nicht, 
entspringen    und    dienen    der    Mechanisierung. 

Der  Wissenschaftsbetrieb  auf  Grundlage  pri- 
vater Universitäten  und  Forschungsinstitute  hat 
in  den  Vereinigten  Staaten  sich  durchaus  ebenbürtig 
den  Staatsbetrieben  andrer  Länder  erwiesen  und 
somit  den  Begriff  der  immanenten  Notwendigkeit 
dieser  Verwaltungsgebiete  erschüttert.  Auf  dem 
Gebiet  der  Kunst  ist  die  Betätigung  des  lehrenden, 
bestellenden  und  bestimmenden  Staates  in  den 
meisten  Kulturländern  unbedeutend,  wo  nicht 
schädlich. 

Die  staatliche  Finanzwirtschaft  beruht,  soweit  sie 
Einnahmen  schafft,  auf  mechanisierter  Wirtschaft 
und  schließt  sich  ihr  aufs  engste  an.  Soweit  sie 
Ausgaben  begleicht,  trägt  sie  die  Färbung  des 
Gesamtkörpers,  dem  sie  dienstbar  ist,  und  ver- 
hält sich  somit  im  Sinne  der  gestellten  Frage 
neutral. 

Es  bleiben,  wenn  man  von  allgemeiner  Reprä- 
sentanz absieht,  die  unumgänglichen  Funktionen  des 
Staates:  äußere  Politik  und  Landesverteidigung, 
Gesetzgebung  und  Rechtsschutz. 

Entschieden  ist  die  Verteidigung  der  Nationalität 
beim  heutigen  Stande  der  Zivilisation  eine  not- 
wendige, ja  eine  absolute  Aufgabe.  Indessen  wird 
erhaltende  und  werbende  Politik,  verteidigende 
und  angreifende  Kriegführung  weitaus  überwiegend, 
vielleicht  dauernd  in  den  Dienst  sogenannter  Lebens- 
fragen gestellt  bleiben,  die,  solange  nicht  aben- 
teuernde Menschen  oder  Nationen  die  Stetigkeit 
des  Geschichtsganges  unterbrechen,  sich  in  Fragen 

5*  6j 


der  wirtschaftlichen  Existenz  auflösen  lassen.  Tat- 
sächlich und  normalerweise  gelten  neun  Zehntel 
der  politischen  Tätigkeit  den  wirtschaftlichen  Auf- 
gaben des  Augenblicks,  der  Rest  den  wirtschaftlichen 
Aufgaben  der  Zukunft. 

Mit  Ausnahme  gewisser  seelenpathologisch,  reli- 
giös, historisch  oder  philosophisch  gestimmter 
Gebiete  der  Kriminalistik,  die  außerhalb  dieser 
Betrachtung  stehen,  dient  die  Justiz  der  Sicherheit 
und  dem  Schutz  der  wirtschaftlichen  Person  und 
Gesellschaft  auf  der  Grundlage  der  bestehenden 
Besitz-  und  Mechanisierungsordnung. 

Die  Gesetzgebung  wiederum,  die  alle  Gebiete 
des  öffentlichen  und  privaten  Lebens  auf  Grund 
der  herrschenden  Zeitanschauung  regelt  und  aus- 
gleicht, fügt  ebensowenig  wie  die  Säckelmeisterei 
dem  Gesamtbilde  eine  neue  Farbe  zu. 

So  darf  man  zusammenfassend  sagen,  daß  der 
heutige  Staat  trotz  der  Zuflüsse  an  absoluten  Auf- 
gaben, die  ihm  im  Laufe  der  letzten  beiden  Jahr- 
hunderte beschieden  waren,  in  seinem  innersten 
Wesen  den  Gesetzen  und  Evolutionen  der  Mechani- 
sierung gefolgt  ist. 

Ihn  als  eine  bewaffnete  Produktionsvereinigung 
auf  nationaler  Grundlage  hinzustellen,  wäre  viel- 
leicht verfrüht;  ihn  als  eine  mystische  Institution 
oberhalb  der  mechanisierten  Wirtschaft  und  Gesell- 
schaft zu  betrachten,  sicherlich  verspätet. 

Selbst  solche  Lebensgebiete,  die  von  materiellen 
Zielen  und  Einwirkungen  losgelöst  erscheinen  wie 
Religion  und  Wissenschaft,  haben  sich  mechani- 
stische Umformungen  gefallen  lassen  müssen.  Es 
ist  hier  nicht  der  Ort,  zu  entwickeln,  wie  die  in 
Kirchen  verkörperten  Religionen  mit  wachsender 

68 


Gebietsausdehnung  und  Bekennerzahl  sich  zu  Be- 
trieben ausgestalteten,  wie  sie  lernten,  durch  still- 
schweigende wechselseitige  Duldung  ihrem  inner- 
sten Wesen  das  schwere  Opfer  der  Arbeitsteilung 
zuzumuten,  wie  sie  hierarchisch,  finanziell,  bureau- 
kratisch  und  geschäftlich  ihre  Verwaltungskörper 
auszubauen  gezwungen  waren,  wie  sie  propagan- 
distisch wetteifern,  ja  selbst  mit  Gegnern  über  Tei- 
lung der  Gebiete,  man  möchte  sagen:  des  Absatzes 
sich  verständigen  mußten,  wie  sie  unter  Ausnutzung 
jeder  aktuellen  Verschiebung  der  Lage  politische, 
wirtschaftliche  und  soziale  Mächte  in  den  Dienst 
ihrer  Interessen  zu  ziehen  hatten. 

Der  Weltbetrieb  der  Wissenschaften,  neben  dem 
Kapitalismus  die  großartigste  der  anonymen  und 
internationalen  Organisationen,  mit  seinen  peinlich 
beobachteten  Gebietsabgrenzungen,  seinem  hoch- 
entwickelten Nachrichtenwesen,  seinem  großin- 
dustriell angelegten  Laboratoriumsbetrieb,  seiner 
Wechselbeziehung  zur  Technik,  seinen  Verbänden 
und  Kongressen  ist  genügend  gekannt  und  gerühmt, 
um  eine  Vertiefung  in  seine  Mechanisierungsform 
entbehrlich  zu  machen. 


DIE  MECHANISIERUNG  DER  WELT.    IV 

Mechanisierung  und  Gesellschaft 

So  spannen  mechanisierte  Organisationen  ihre 
vielfachen  unsichtbaren  Netze  über  jeden  Fuß- 
breit Erde.  Hier  und  da  wird  eine  Masche  sicht- 
bar :  Absperrungen,  Verbote,  Aufforderungen,  War- 
nungen, Drohungen  säumen  unsre  Wege. 

69 


•  Aber  diese  armseligen  Verkehrs maschen  bedeuten 
wenig,  verglichen  mit  jenen  zahllosen  Bindungen, 
die  mit  Ausnahme  der  Gestirne  fast  jeden  sicht- 
baren Gegenstand  an  Personen  knüpfen,  die  jede 
Tätigkeit  an  Rechte  und  Pflichten  ketten,  die 
alle  Einzelmenschen  zu  den  seltsamsten  und  man- 
nigfachsten Gemeinschaften  vereinigen.  Ein  er- 
wachsener Deutscher,  der  vermögenslos  aus  Amerika 
heimkehrt,  hat,  sofern  er  sich  nicht  um  Wohltätig- 
keit bewirbt,  nur  das  Recht,  sich  mit  normaler 
Geschwindigkeit  auf  öffentlichen  Straßen  zu  be- 
wegen und  seine  Stimme  für  die  Reichstagswahl 
abzugeben.  Kein  verwickelterer  und  schwierigerer 
Beruf  läßt  sich  in  zivilisierten  Ländern  erdenken 
als  der  des  Einsiedlers. 

Konnte  vorzeiten  ein  Deutscher  sich  rühmen, 
Christ,  Untertan,  Bürger,  Familienvater  und  Zunft- 
genosse zu  sein,  so  ist  er  heute  Subjekt  und  Objekt 
zahlloser  Gemeinschaften.  Er  ist  Bürger  des  Reichs, 
des  Staates  und  der  Stadt,  Eingesessener  des  Kreises 
und  der  Provinz  und  Mitglied  der  Kirchengemeinde ; 
er  ist  Soldat,  Wähler,  Steuerzahler,  Inhaber  von 
Ehrenämtern;  er  ist  Berufsgenosse,  Arbeitgeber  oder 
-nehmer,  Mieter  oder  Grundbesitzer,  Kunde  oder 
Lieferant;  er  ist  Versicherungsnehmer,  Mitglied 
gewerblicher,  wissenschaftlicher,  unterhaltender 
Vereinigungen;  er  ist  Kunde  einer  Bank,  Aktionär, 
Staatsgläubiger,  Sparkontenbesitzer,  Hypotheken- 
gläubiger oder  Schuldner;  er  ist  Mitglied  einer 
politischen  Partei;  er  ist  Abonnent  einer  Zeitung, 
des  Telephons,  des  Postscheckkontos,  der  Trambahn, 
der  Auskunftei;  er  ist  Kontrahent  von  Verträgen, 
mündlichen  und  schriftlichen  Verpflichtungen;  er 
ist  Sportsmann,  Sammler,   Kunstliebhaber,  Dilet- 

70 


tant,  Reisender,  Bücherleser,  Schüler,  Akademiker, 
Inhaber  von  Zeugnissen,  Legitimationen,  Diplomen 
und  Titeln;  er  ist  Korrespondent,  Firma,  Referenz, 
Adresse,  Konkurrent,  er  ist  Sachverständiger^ 
Vertrauensmann,  Schiedsrichter,  Zeuge,  Schöffe, 
Geschworener;  er  ist  Erbe,  Erblasser,  Gatte,  Ver- 
wandter, Freund. 

Diese  Bindungen  bedeuten  die  Verzweigungen 
der  Nervenfasern  im  bloßgelegten  Inneren  der 
mechanistischen  Wirtschaft.  Um  aber  das  Gewebe 
der  Gesellschaft,  der  belebten  Trägerin  der 
Mechanisierung,  vollkommener  zu  erblicken,  muß 
das  Auge  auch  auf  den  Einschlag  dieser  lebendigen 
Kette  gerichtet  werden:  den  Beruf. 

Aus  diesen  beiden  Elementen :  Bindung  und  Beruf, 
entwickelt  sich  die  entscheidende  Eigenschaft  der 
mechanisierten    Gesellschaft,    ihre    Homogenität. 

Schon  apriorisch  leuchtet  es  ein,  daß  eine  lebende 
Maschinerie,  um  den  Produktionsprozeß  der  Erde 
zu  tragen,  aus  gleichmäßigem,  normalem  und  festem 
Material  bestehen  muß,  daß  ihre  Teile  massenhaft 
produzierbar  und  auswechselbar,  fest  ineinander- 
gefügt und  reibungslos,  geschwindester  und  gleich- 
förmigster Bewegung  fähig  sein  müssen. 

Die  Bindungen  tragen  zur  Homogenisierung  bei, 
indem  sie  bewirken,  daß  jeder  mit  jedem  sich  berührt, 
reibt  und  schleift,  daß  eine  große  Zahl  gemein- 
samer Kenntnisse,  Verwaltungs-  und  Verkehrs- 
methoden zum  Gemeingut  wird,  daß  der  einzelne 
lernt,  sich  zurechtzufinden,  anzupassen,  umzugehen 
und  sich  von  der  Abgrenzung  der  Interessengebiete, 
der  Beschränkung  der  Willkür  und  der  Zusammen- 
wirkung des  Ganzen  eine  Vorstellung  zu  bilden. 
Jedes  der  mechanisierten  Gesellschaftselemente  ist 

71 


ein  wenig  alles  in  allem:  Politiker,  Geschäftsmann, 
Unterhändler,  Redner,  Disponent  und  Organisator; 
ein  jeder  ist  Träger  von  Verantwortung,  welche  füg- 
lich als  Mechanisierungsform  der  Pflicht  und,  bei 
ihrem  merklich  materiell  und  militärisch  gefärbten 
Charakter,  schlechtweg  als  die  ethische  Kategorie 
der  Mechanisierung  angesehen  werden  kann.  Erfreu- 
lich tritt  der  Ausgleich  der  Eigenschaften  zutage  in 
der  schnell  erworbenen  und  bewährten  Fähigkeit 
unsrer  Arbeiter,  zu  urteilen,  zu  handeln  und  zu 
verfügen. 

Selbst  die  scheinbar  trennende  Sonderung  des 
Berufes  muß  zur  Homogenität  führen.  Denn  eine 
reichliche  Ansammlung  in  letzter  Linie  ähnlicher 
Vorkommnisse  erzeugt  übereinstimmende  Geistes- 
dispositionen; die  Anwendung  gleichartiger  Denk- 
und  Arbeitsformen  wirkt  entscheidender  als  die 
Ungleichartigkeit  der  Anwendungs-  und  Arbeits- 
gebiete; die  Gleichförmigkeit  der  Arbeitszeit  und 
Erholungsdauer  entscheidender  als  die  Verschieden- 
heit der  Arbeitsstelle;  die  Gleichwertigkeit  der 
Einkommen  entscheidender  als  die  Ungleichheit 
der  Quellen,  aus  denen  sie  fließen. 

Ein  Rechtsanwalt  von  heute  ähnelt  seinem  medi- 
zinischen Stammtischgenossen  weit  mehr  als  ein 
Leinenweber  einem  Tuchmacher  von  ehedem. 
Und  mehr  noch  ähneln  sich  ihre  Häuslichkeiten, 
ihre  Lebensgewohnheiten,  ihre  Kleidungen,  ihre 
Denkweisen  und  ihre  Wünsche. 

Vor  allem  aber  trägt  die  zunehmende  Intellek- 
tualisierung  der  Berufe  dazu  bei,  gleichartige  Men- 
schen zu  schaffen.  Die  alte  Güterproduktion  ver- 
langte vom  einzelnen  einen  periodischen  Kreislauf 
bereitender,  schaffender,  fertigender  und  verwerten- 

72 


der  Tätigkeit,  denn  das  Werk  eines  jeden  Menschen 
war  ein  Ganzes.  Deshalb  mußte  viel  Handliches  und 
viel  Ungeistiges,  viel  Abwarten  und  viel  Umstand 
in  Kauf  genommen  werden.  Heute  ist  alle  Arbeit 
unterteilt  und  daher  verdichtet;  die  Stufenfolgen 
sind  beseitigt,  und  der  arbeitende  Mechanismus 
erfordert  mehr  denkende  Überwachung  als  hand- 
festes Zugreifen.  Im  Gegensatz  zu  den  alten  Auf- 
gaben, die  sich  periodisch  wiederholten  und  daher 
den  Wert  der  Erfahrung  aufs  höchste  schätzen  ließen, 
die  aber  in  ihrer  Wiederholung  der  Phantasie  und 
der  Erkenntnis  unmerklich  wachsenden  Spielraum 
gestatteten,  steht  der  Schaffende  und  Überwachende 
unsrer  Zeit  beständig  vor  scheinbar  neuen  Pro- 
blemen, die  sich  aber  alle  mit  gleichen  Denk- 
formen bewältigen  lassen  und  daher  die  Gleich- 
förmigkeit des  Handelns  vermehren:  so  etwa,  wie 
in  einem  Buch  mit  Regeldetriaufgaben  das  hoch- 
gemute Auftreten  von  Wasserstrahlen,  Schnell- 
läufern und  Handelsleuten  nur  eine  wechselnde 
Umschreibung  der  nämlichen  einfachen  Gleichungs- 
formel bedeutet. 

Fügt  man  dem  physischen  und  intellektuellen 
Ausgleich  der  Lebensbedingungen  die  Wirkungen 
eines  beständig  wachsenden  Volkswohlstandes  hinzu, 
so  erhält  man  die  Grundbedingungen  der  Mittel- 
standstendenz, die  für  die  mechanisierte  Gesell- 
schaft bezeichnend  ist. 

Die  bürgerliche  Gesellschaft  Deutschlands  ist 
weit  jünger  als  die  englische  und  französische. 
Von  ihrer  Entstehung  an,  die  in  die  Mitte  des 
XVni.  Jahrhunderts  fällt,  war  sie  hundert  Jahre 
lang  arm,  und  diese  Armut,  verbunden  mit  einer 
edlen  Stärke  der  Entsagung,   trug  reiche  geistige 

73 


Frucht,  die  zur  Ernte  der  romantischen  Periode 
und  des  Verfassungskampfes  reifte.  Der  Mer- 
kantilismus der  Mechanisierungszeit  brachte  ihr 
unerhörten  Zuwachs  an  Wohlstand  und  raubte  ihr 
dafür  einen  Teil  ihrer  geistigen  Werte.  Im  letzten 
Menschenalter  allein  hat  sich  die  Zahl  der  Einkom- 
men, die  selbständigen  kommerziellen  Verant- 
wortungen entsprechen,  zum  mindesten  verhundert- 
facht, und  Raum  geschaffen  für  eine  Breite  des 
bürgerlichen  Behagens  und  Luxus,  wie  sie  nur  in 
England  bekannt  war.  Behausung,  Kleidung,  Be- 
dienung und  Unterhaltung  zeigen  die  Merkmale 
dieser  Steigerung,  die  vielleicht  von  allen  Entwick- 
lungsformen der  neuen  Zeit  die  beispielloseste  ist. 
Denn  die  Geschichte  bietet  uns  zwar  Vorgänge  von 
maßlosem  Reichtum  und  Prunk  einzelner  Personen 
und  Gemeinschaften:  die  Existenz  von  Hundert- 
tausenden begüterter,  ja  nach  früheren  Begriffen 
reicher  Menschen  in  einem  Lande  aber  ist  gänzlich 
ohne  Vorgang  und  führt  zu  unabsehbaren  Folgen, 
die  man  als  Grunderscheinung  der  neuzeitlichen 
Umgestaltungen  anzusehen  sich  versucht  fühlen 
könnte,  wenn  es  nicht  klar  zutage  läge,  daß  sie  als 
Folgeerscheinungen  von  der  Verdichtung  und  Me- 
chanisierung abhängen. 

Zunächst  aber  hat  dieser  Reichtum  eine  Ver- 
armung herbeigeführt;  nicht  an  Vorstellungen 
und  Kenntnissen,  sondern  an  Wertungen,  nicht 
an  Wünschen  und  Zwecken,  sondern  an  Idealen. 
Dieser  homogenisierten  Gemeinschaft  sind  ge- 
meinschaftliche Urteile  und  Ziele  noch  nicht  er- 
wachsen, es  sei  denn  solche  von  handgreiflicher 
Utilität;  es  ist,  als  sei  dem  Gesamtkörper  ein  Innen- 
leben noch  nicht  erwacht  oder  als  seien  seine  ersten 

74 


Regungen  vom  Lärm  der  Interessen  übertäubt. 
Noch  mehr:  eine  unbewußte  Widerstandsbewegung 
der  Elemente  gegen  ihre  Homogenisierung  zwingt 
sie,  noch  einmal  jedes  erschwingliche  Maß  von 
Individualität  nach  außen  zu  kehren  und  zur  Wah- 
rung vermeintlicher  Originalität  sich  jeder  offen- 
kundigen Gemeinschaftsrichtung  zu  entziehen.  So 
wurde  in  Deutschland  nicht  einmal  für  die  Freude 
am  Vaterland  ein  kulturell  gültiger  Ausdruck  ge- 
funden: der  unterwürfigen  Devotion  und  dem 
aggressiven  Gebaren  des  Vereins-  und  Geschäfts- 
patriotismus wurde  eine  selbstvertrauende  Helden- 
verehrung, ein  sicheres  Nationalbewußtsein  nicht 
entgegengesetzt. 

Von  der  ideenbildenden  Fähigkeit  des  deutschen 
bürgerlichen  Intellektualismus  aber  hängt  es  ab, 
ob  und  wann  er  berufen  ist,  die  Verantwortung  für 
das  kulturelle  und  politische  Leben  zu  übernehmen, 
die  ihm  nach  dem  Lauf  der  mechanischen  Entwick- 
lung beschieden  ist.  Heute  trägt  er  in  Deutsch- 
land von  dieser  Verantwortung  nur  einen  kleinen 
Teil,  obwohl  die  bedeutendsten  materiellen  Auf- 
gaben :  die  Versorgung  und  Ernährung  des  Volks- 
zuwachses und  die  Bewältigung  der  Staatslasten,  auf 
seinen  Schultern  ruhen. 

Denn  nach  zwei  Seiten  hin  findet  in  Deutsch- 
land die  Homogenisierung  wo  nicht  Grenzen,  so 
doch  Hemmungen,  die  zwar  in  manchem  Sinne 
überschreitbar  und  überschritten,  für  die  heutige 
Kräfteverteilung  jedoch  von  entscheidender  Be- 
deutung sind.  Es  wird  späteren  deutschen  Ge- 
schichtschreibern schwer  verständlich  sein,  wie  in 
unsrer  Zeit  zwei  Schichtungssysteme  sich  wechsel- 
seitig durchdringen  konnten :  das  erste  ein  Überrest 

75 


der  alten  Feudalordnung,  das  zweite,  das  Kapitali- 
stische, eine  Nebenerscheinung  der  Mechanisierung 
selbst.  Noch  seltsamer  aber  muß  es  berühren,  daß 
die  neuentstandene  kapitalistische  Ordnung  zu- 
nächst dazu  beitragen  mußte,  den  Bestand  der  Feu- 
dalordnung zu  stützen. 

Tatsächlich  herrscht  heute  in  den  entscheidenden 
deutschen  Staaten  politisch  und  militärisch  der- 
jenige Rest  der  früheren  Oberschicht,  der  sich  in 
der  Form  eingesessenen  Adels  erhalten  hat.  Aus 
zwei  Gründen  konnte  er  seine  Macht  bewahren: 
einmal,  weil  sein  gesunder  Instinkt  ihn  an  die  Land- 
wirtschaft fesselte,  die  unter  der  Betriebsform  des 
Großgrundbesitzes  im  verflossenen  Jahrhundert 
einen  bedeutenden  mechanistischen  Aufschwung 
erlebte  und  die  noch  heute  eine  starke  Überwachung 
der  Landbevölkerung  ermöglicht;  sodann,  weil  eine 
Anzahl  europäischer  Dynastien,  durch  die  kapitali- 
stische Ordnung  bedenklich  gemacht,  um  so  enger 
mit  denjenigen  Mächten  verbündet  zu  bleiben 
wünschten,  die  durch  Herkom.men  ihren  Häusern 
nahestanden  und  die  bei  einem  Umsturz  am  mei- 
sten zu  verlieren  hatten.  Freilich  wurden  diese 
Erwägungen  zumeist  verlassen,  sobald  die  Ver- 
hältnisse zu  einer  gewissen  Reife  gediehen  waren: 
wie  ein  Kapitän  beim  Sturm  sein  Schiff  lieber  auf 
hoher  See  als  verankert  sieht,  so  wurde  in  solchen 
Fällen  die  Monarchie  der  Tragkraft  der  gesamten 
Nation  anvertraut.  So  bestehen  denn  feudal  ver- 
ankerte  Dynastien   nur   noch   in    Mitteleuropa. 

Daß  die  zweite  der  bestehenden  Schichtungen, 
die  kapitalistische,  und  mit  ihr  die  gewaltigste  der 
einheitlichen  Bewegungen  unsrer  Zeit,  die  soziali- 
stische, nicht  in  den   Mittelpunkt  dieser  Gesell- 

76 


Schaftsbetrachtung  gerückt  ist,  mag  befremden  und 
bedarf  der  Rechtfertigung. 

Zweifellos  ist  es  der  schwerste  Vorwurf,  welcher 
der  Zivilisation  unsrer  Zeit  gemacht  werden  kann, 
daß  sie  die  Beschränkung  eines  Proletariats  zuläßt, 
wenn  unter  einem  solchen  eine  Bevölkerungsklasse 
verstanden  wird,  deren  Angehörige  unter  normalen 
Verhältnissen  zu  selbständiger  Verantwortung  und 
unabhängiger  Lebensführung  nicht  vordringen 
können.  Die  schärfste  Zuspitzung  dieses  Vorwurfs : 
daß  nämlich  innerhalb  dieser  Klasse  zeit-  und  stellen- 
weise Not  und  Elend  haust,  wird  als  berechtigte 
Klage  durchweg  anerkannt  und  Abstellung  der 
Übel  mit  Ernst  und  nicht  ohne  Erfolg  angestrebt; 
so  daß  die  Frage  des  Notstandes  hier  ausgeschieden 
werden  darf. 

Erstrebt  nun  der  Sozialismus  die  Beseitigung 
wirtschaftlicher  Ungerechtigkeit,  die  Hebung  oder 
Umschmelzung  des  Proletariats,  so  muß  diese  Welt- 
aufgabe mit  hohem  Respekt  betrachtet  und  jeder 
Schritt  zu  ihrer  Förderung  als  Zivilisationsfort- 
schritt begrüßt  werden.  Doch  darf  man  vom  Stand- 
punkt einer  über  den  Augenblick  hinausgehenden 
Betrachtung  nicht  übersehen,  daß  es  sich  hier  um 
Abhilfen,  und  zwar  materielle  Abhilfen,  nicht  um 
absolute  Schöpfung  ifnd  Ideen  handelt.  Des- 
halb ist  es  dem  Sozialismus  nicht  gelungen,  eine 
Weltanschauung  zu  schaffen;  was  er  über  das 
materiell  praktische  Erstreben  hinausgreifend  zu- 
stande gebracht  hat,  ist  stark  anfechtbares  populär- 
philosophisches  Erzeugnis.  Sozialismus  bleibt  Zeit- 
aufgabe, solange  er  sich  nicht  zur  Transzendenz 
zu  erheben  und  neue  Ideale  für  die  gesamte  Mensch- 
heit und  ihren  geistigen  Besitz  aufzustellen  vermag. 

77 


Dann  aber  würde  sein  innerstes  Wesen  sich  wan- 
deln und  ein  großer  Teil  des  materiellen  Rüstzeugs 
abgestreift  werden  müssen. 

Aber  auch  innerhalb  der  Grenzen  der  Zeitauf- 
gabe besitzt  der  Sozialismus  nicht  die  Stärke  der 
Konsequenz  und  Unausweichlichkeit,  die  ihn  zum 
Pol  der  gesellschaftlichen  Entwicklung  machen 
könnte,  denn  er  verkennt  den  Dualismus  der  Arbeit. 
Erfindung  und  Ausführung,  Anordnung  und  Lei- 
itung  werden  sich  niemals  dauernd  und  grundsätzlich 
vereinigen  lassen,  am  wenigsten  in  einer  mechani- 
stischen und  arbeitsteilenden  Gemeinschaft.  Immer 
werden  die  intuitiv,  phantastisch,  künstlerisch  und 
organisatorisch  Veranlagten  den  handgreiflich,  prak- 
tisch, suggestiv  Veranlagten  gegenüberstehen.  Eine 
Arbeitsverschmelzung  der  beiden  Kategorien  ist 
innerhalb  der  uns  bekannten  menschlichen  Eigen- 
schaftszonen nicht  denkbar,  vielleicht  nicht  einmal 
wünschbar. 

Befreit  man  somit  das  Problem  von  der  nüch- 
ternen Phantastik  mechanisch  konstruierter  Para- 
diese, so  bleibt  als  Kern  die  große  und  ernste  Auf- 
gabe einer  Reform  des  Proletariats.  Ihre  Lösung 
muß  einsetzen  an  dem  Punkte  der  höchsten  Unge- 
rechtigkeit: bei  der  lebenslänglichen,  ja  erblichen 
Unentrinnbarkeit  des  Proletarierschicksals.  Die 
Lösung  ist  möglich,  wenn  sie  darauf  abzielt,  die 
Einsperrung  der  Vermögen,  ihre  allzu  starre  Kettung 
anPersonen,  Familien,  Genossenschaften  zu  sprengen, 
eine  gerechtere  Bindung  des  Wohlstandes  an  wirt- 
schaftliches und  geistiges  Verdienst  zu  sichern  und 
jedem  die  geistigen  Werkzeuge  erschwinglich  zu 
machen,  die  zum  Wettkampf  befähigen.  Diese  Ge- 
samttendenz habe  ich  vor  Jahren  mit  dem  Namen 

78 


Euplutismus  bezeichnet;  ihre  Mittel  bestehen  vor- 
nehmlich in  der  Beseitigung  aller  Rechte,  die  den 
Charakter  von  Privatmonopolen  tragen,  in  der 
Beschränkung  des  Erbrechts,  in  einer  gegen  mühelose 
und  ungerechte  Bereicherung  gerichteten  Gesetz- 
gebung, in  der  Ausgestaltung  der  Volkserziehung. 

Sicherlich  wird  die  Durchführung  dieser  Grund- 
lätze  Menschenalter  erfordern,  aber  ebenso  sicher- 
lich wird  sie  erfolgen,  und  ihre  Ergebnisse  werden 
den  Beweis  erbringen,  daß  es  zur  Abstellung  einer 
wirtschaftlichen  Ungerechtigkeit  keines  Weltbrande« 
bedarf.  Noch  vor  dieser  Erfüllung  aber  wird  das 
soziale  Problem  eine  Umgestaltung  erfahren,  und 
zwar  in  dem  Sinne,  daß  die  Homogenisierung,  weit 
über  die  Grenzen  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
hinausgreifend,  einen  bedeutenden,  und  zwar  den 
wertvollsten  Teil  des  Proletariats  assimiliert  haben 
wird. 

Denn  schon  heute  erreichen,  dem  ehernen  Lohn- 
gesetz zum  Trotz,  das  seinen  Trugschluß  an  die 
stillschweigende  Voraussetzung  unbeschränkten  Ar- 
beitsangebotes knüpft,  die  Einkünfte  geschulter 
Qualitätsarbeiter  eine  höhere  Ebene  als  die  des 
bürgerlichen  Durchschnitts,  und  gleichzeitig  hier- 
mit werden  bürgerliche  besitzschützende  Inter- 
essen rege.  Die  mechanistische  Produktion  aber 
muß  die  ihr  vorgeschriebene  Richtung  verfolgen 
und  beständig  darnach  trachten,  mechanische  Arbeit 
durch  Überwachungsarbeit,  ungeschulte  durch 
Qualitätsarbeit  zu  ersetzen,  die  sie  nicht  nur  höher 
bezahlen  kann,  sondern  vielmehr  so  reichlich  be- 
zahlen muß,  daß  Aufmerksamkeit  und  Stimmung 
des  Arbeiters  ihren  Zwecken  erhalten  bleiben. 
Wollte  man  dieser  Bewegung  vorwerfen,  daß  sie 

79 


nach  Auswahl  der  Qualifizierten  ersten,  zweiten  und 
dritten  Grades  schließlich  ein  doppelt  verelendetes 
Proletariat  Unqualifizierter,  Arbeitsunwilliger  und 
Arbeitsunfähiger  zurückläßt,  so  wäre  zu  erwidern, 
daß  ein  Idealzustand  auf  Erden  freilich  die  Abschaf- 
fung aller  wirtschaftlichen  Beschränkung  erfordern, 
daß  dieser  Idealzustand  aber  gleichzeitig  die  aus- 
schließliche Existenz  brauchbarer  Menschen  bean- 
spruchen würde.  Solange  dies  Ideal  nicht  erfüllt  ist, 
wird  es  des  Gegensatzes  zwischen  beschränkter  und 
reichlicher  Lebensführung  bedürfen,  um  Regungen 
der  Indolenz  zu  überwinden,  die  der  Gemeinschaft 
schaden.  Freilich  wird  es  um  so  dringender  die 
Aufgabe  der  Gesellschaft  sein,  dafür  zu  sorgen,  daß 
jeder  Willige  durch  eigene  Kraft  dem  Zustande  der 
Beschränkung  sich  entwinden  kann. 


DIE  MECHANISIERUNG  DER  WELT.   V 

Mechanisierung  und  Leben 

Die  umgestaltete  Produktionsform,  die  um- 
gestaltete Gesellschaft  und  Welt  wirken  auf 
das  Einzelleben  zurück;  sie  schaffen  ihm  neue  Vor- 
stellungen, Aufgaben,  Sorgen  und  Freuden  und 
formen  die  Persönlichkeit  derart,  wie  die  Maschine 
beim  Einlaufen  ihren  Teilen  die  rechte  Gefügigkeit 
gibt;  so  daß  die  Elemente  mit  geringster  Reibung, 
mit  Ausnutzung  aller  vorhandenen  Kräfte,  unter 
Ersparnis  an  Zeit  und  Material  willig,  nachhaltig 
und  rückhaltlos  in  den  Massenprozeß  sich  ein- 
fügen und  seinem  rastlosen  Anwachsen  dienstbar 
werden. 

80 


Der  Mensch  früherer  Zeiten  kannte  den  Kreis- 
lauf der  Natur,  die  ihn  umgab ;  er  kannte  die  Wiesen, 
Felder,  Wälder  und  Hügel  seiner  Gegend ;  die  Stra- 
ßen und  Gebäude  seines  Ortes,  die  nicht  zahlreichen 
Waren  und  Gerätschaften,  die  man  feilhielt, 
und  die  Heiligenbilder  der  Kirchen;  er  hatte  etwas 
Lesen,  vielleicht  auch  Schreiben  und  Rechnen  gelernt, 
wußte  manches  aus  den  Heiligen  Schriften  und  ver- 
stand sein  Handwerk.  Vielleicht  war  er  als  Geselle 
gewandert,  vielleicht  hatte  er  große  Herren  vorüber- 
ziehen, Kirchenfeste  sich  entfalten  sehen ;  dann  und 
wann  vernahm  er  von  fernen  Erdbeben,  Kriegen 
und  Seuchen,  erblickte  eine  Feuersbrunst,  ein  Meer- 
wunder, ein  afrikanisches  Tier;  im  übrigen  waren 
die  Ereignisse  seines  Lebens  die  natürlichen,  von 
Geburt  und  Tod  umschlossenen.  Das  Alltägliche 
war  wunderbar,  das  Wunderbare  alltäglich,  alles 
stimmte  zum  Betrachten  und  zum  Vertiefen,  nichts 
zum  Urteilen.  Die  seltenen  Ereignisse  erschüttern; 
sie  hinterließen  lange  Erinnerungen,  die  sich  mit 
langen,  zuversichtlichen  Hoffnungen  zu  einem 
ruhigen  Fluß  des  Erlebens  vereinigten. 

Vor  wenigen  Jahrzehnten  waren  Lebenskreise 
ähnlicher  Geschlossenheit  und  Rundung  etwa  noch 
in  den  Alpentälern  von  Tirol  oder  auf  friesischen 
Inseln  zu  finden;  heute  würde  es  nicht  genügen, 
bis  in  die  Kieinstädte  von  Mittelrußland  vorzu- 
dringen, um  ihre  Spuren  aufzusuchen.  Welche 
Änderung  des  Horizontes  hat  unterdessen  etwa  der 
mittlere  Bürger  des  neuen  Deutschen  Reiches  er- 
fahren ! 

Er  verläßt  die  Schule  mit  einer  Übersicht  der 
vergangenen  und  der  gegenwärtigen  Welt,  mit 
einer  flüchtigen  Kenntnis  mehrerer  Sprachen,  ver- 

16  8i 


schiedener  Rechnungsmethoden ;  er  hat  einen  Begriff 
von  der  Mannigfaltigkeit  der  Lebenseinrichtungen, 
von  der  Schematisierung  der  Naturerscheinungen. 
In  millionenfachen  Reproduktionen  sind  Kunst- 
werke aller  Zeiten,  Baustile,  Landschaften,  Völker- 
schaften an  ihm  vorübergezogen.  Der  Weg  durch  eine 
städtische  Straße  hat  ihm  mehr  Gattungen  von 
Waren,  Gerätschaften,  Apparaten  und  Mechanis- 
men vor  Augen  geführt,  als  Babylon,  Bagdad,  Rom 
und  Konstantinopel  kannten.  Das  Arbeiten  der 
Maschinen,  der  Verkehrsmittel,  der  Fabrikationen 
ist  ihm  alltäglich,  der  Anblick  von  Menschen  aller 
Berufe  und  Länder,  von  Tieren  und  Pflanzen  aller 
Zonen  nicht  überraschend.  Er  kennt  Ausflüge,  ja 
Reisen  über  meilenweite  Gebiete;  Feste,  Aufzüge, 
Vorführungen,  Unglücksfälle,  Kriegsübungen  sind 
ihm  geläufig.  Er  ist  gewohnt,  Bücher  zu  lesen. 
Hunderte  von  Gegenständen  zu  benutzen,  ja,  zu 
besitzen ;  er  ist  gewohnt,  Speisen  und  Vergnügungen 
aus  aller  Herren  Länder  zu  genießen,  sich  zu  unter- 
halten und  unterhalten  zu  lassen.  Die  Erlernung 
des  Berufes  bringt  weitere  Kenntnis  von  Methoden 
und  Hilfsmitteln,  seine  Ausübungen  an  wechselnden 
Stellen  und  Orten  neue  Erfahrung  von  Lebensver- 
hältnissen, Umgang  und  Organisation. 

Aber  mit  der  Lehrzeit  und  Berufseinrichtung 
läßt  der  Strom  der  zudringenden  Kenntnisse  nicht 
nach.  Täglich  mindestens  einmal  öffnet  das  Welt- 
theater seinen  Vorhang  und  der  Leser  des  Zeitungs- 
blatts erblickt  Mord  und  Gewalttat,  Krieg  und 
Diplomatenränke,  Fürstenreisen,  Pferderennen,Ent- 
deckungen  und  Erfindungen,  Expeditionen,  Liebes- 
verhältnisse, Bauten,  Unfälle,  Bühnenaufführungen, 
Spekulationsgeschäfte  und  Naturerscheinungen;  an 

82 


einem  Morgen  während  des  Frühkaffees  mehr  Selt- 
samkeiten, als  seinem  Ahnherrn  während  eines 
Menschenlebens  beschieden  waren.  Und  zu  dieser 
freiwilligen  Aufnahme  an  Nachricht  gesellt  sich  die 
berufliche:  die  Korrespondenz  des  Kaufmanns,  das 
Kundengeschäft,  der  Verkehr  mit  Angestellten  und 
Vorgesetzten,  mit  Behörden  und  Geschäftsleuten 
bringt  vom  Morgen  bis  zum  Abend  so  viel  an  Tat- 
sachenmaterial, das  gemerkt  und  verarbeitet  werden 
muß,  daß  Hunderte  von  Papierfabriken  ganze  Wal- 
dungen in  weiße  Bänder  verwandeln  müssen,  um  die 
Erinnerungszeichen  an  einen  kleinen  Teil  dieser 
Neuigkeiten  aufzunehmen. 

Das  Beängstigende  der  Bilderflucht  ist  ihre  Ge- 
schwindigkeit und  Zusammenhanglosigkeit.  Berg- 
leute sind  verschüttet:  flüchtige  Rührung.  Ein 
Kind  mißhandelt:  kurze  Entrüstung.  Das  Luft- 
schiff kommt:  ein  Moment  der  Aufmerksamkeit. 
Am  Nachmittag  ist  alles  vergessen,  damit  Raum  im 
Gehirn  geschaffen  werde  für  Bestellungen,  Anfragen, 
Übersichten.  Für  die  Erwägung,  das  Erinnern,  das 
Nachklingen  bleibt  keine  Zeit. 

Wie  entledigt  sich  nun  der  Geist  überflüssiger 
Notionen?  Durch  Urteil.  Die  Erscheinung  wird 
besiegelt,  etikettiert  und  eingereiht;  so  ist  sie  er- 
ledigt, indem  sie  sich  scheinbar  in  einen  Zuwachs 
an  Erfahrung,  vielfach  nur  in  einen  Zuwachs  an  Vor- 
urteil verwandelt  hat.  Aber  selbst  das  Vorurteil 
scheint  erträglicher  als  die  Urteillosigkeit,  eben  des- 
halb, weil  es  Vorstellungen  verdauen  hilft  und  in 
Zweckdienlichkeiten  verwandelt.  So  wird  geurteilt 
von  früh  bis  spät :  dies  ist  gut,  dies  ist  nützlich,  dies 
ist  ungerecht,  dies  ist  töricht.  Selbst  die  Unterhal- 
tung wird  zu  einem  Dialog  von  Urteilen,  die  leicht, 

6*  83 


verantwortungslos,  unsachlich  und  schematisch  vor- 
gebracht werden.  Im  Hagel  der  Tatsachen  erstirbt 
die  Verwunderung,  der  Respekt  vor  dem  Ereignis, 
die  Empfänglichkeit,  und  gleichzeitig  erhöht  sich 
die  Begierde  nach  neuen  Tatsachen,  nach  Steigerun- 
gen. Wird  die  Begierde  nicht  gesättigt,  so  tritt  eine 
verzweifelte  Erschöpfung  ein,  die  dem  Menschen 
seine  eigene  Lebenszeit  hassenswert  erscheinen  läßt 
und  daher  Langeweile  genannt  wird. 

Mechanistisch  betrachtet  ist  die  Langeweile 
das  Warnungssignal,  das  dem  Menschen  in  die 
Ohren  bläst:  er  sei  zeitweilig  ausgeschaltet  aus 
dem  allgemeinen  Werben  und  Walten,  und  das 
ihn  zum  Zwang  der  Arbeit  oder  des  Genusses 
antreibt. 

Die  Arbeit  selbst  aber  ist  nicht  mehr  eine  Ver- 
richtung des  Lebens,  nicht  mehr  eine  Anpassung  des 
Leibes  und  der  Seele  an  die  Naturkräfte,  sondern 
weitaus  eine  fremde  Verrichtung  zum  Zweck  des 
Lebens,  eine  Anpassung  des  Leibes  und  der  Seele 
an  den  Mechanismus.  Denn  mit  Ausnahme  der 
wenigen  freien  Berufe,  deren  Wesen  ungeteilt  und 
Selbstzweck  ist,  der  künstlerischen,  wissenschaftlichen 
und  sonsthin  schöpferisch  gestaltenden  Arbeit,  ist 
der  mechanisierte  Beruf  Teilwerk.  Er  sieht  keinen 
Anfang  und  kein  Ende,  er  steht  keiner  vollendeten 
Schöpfung  gegenüber;  denn  er  schafft  Zwischen- 
produkte und  durchläuft  Zwischenstufen.  Auch 
er  kann  angepaßten  Naturen  eine  absolut  erschei- 
nende Befriedigung  gewähren,  insbesondere  da, 
wo  er  mit  Vorrechten  und  Befugnissen  winkt;  im 
allgemeinen  aber  trägt  er  seine  Belohnung  nicht  in 
sich,  sondern  hinter  sich,  er  verlangt  nicht  sowohl 
Liebe  als  Interesse. 

84 


Mit  der  Abkehr  des  Berufes  von  der  Natur  zur 
Mechanisierung  haben  sich  weitere  Änderungen 
seines  Wesens  vollzogen. 

Zum  ersten;  der  alte  Beruf  war  gegründet  auf 
Erfahrung  und  Erlernung.  Der  Sohn  vollbrachte 
im  Kreislauf  des  Jahres,  was  der  Vater  im  Kreislauf 
des  Jahres  vollbracht  hatte.  Der  Alte  hatte  die 
längere  Übung,  er  hatte  mehr  Zwischenfälle  erlebt : 
so  war  er  geschulter  und  weiser.  Zu  ihm  blickte  man 
auf,  er  war  Autorität.  Was  das  junge  Geschlecht 
zum  Ererbten  hinzufügte,  war  freiwilliger  Tribut 
an  die  langsam  sich  ändernde  Meinung  der  Zeit,  nicht 
Not  und  Zwang. 

Wollte  heute  einer  sein  Land  bestellen,  seine 
Schuhe  fertigen,  seine  Schnittware  verkaufen, 
wie  es  ihn  seine  Vorfahren  gelehrt,  er  wäre  bald 
mit  seiner  Weisheit  am  Ende;  könnte  er  sie  bei 
seinen  wechselnden  Zwischenfällen  um  Rat  fragen, 
er  erhielte  falsche  Auskunft.  Er  muß  wie  ein  Fechter 
der  launischen  Mechanisierung  ins  Auge  schauen, 
ihre  Finten  parieren,  ihren  Stößen  zuvorkommen. 
Er  muß  planen,  erfinden,  nachahmen,  ausprobieren, 
um  sich  zu  erhalten.  Den  Begriff  der  Autorität 
versteht  er  nicht  mehr,  und  Respekt  hat  er  nur  da, 
wo  er  Erfolg  sieht. 

Zum  zweiten.  Der  Nachbar  von  ehedem  ist  der 
Konkurrent  von  heute.  Selbst  die  Landwirtschaft 
unterliegt  der  Konkurrenz,  obwohl  der  Feind  jen- 
seits der  Grenzen,  ja  des  Meeres  wohnt.  Die  Arbeit 
ist  nicht  mehr  allein  ein  Ringen  mit  der  Natur,  sie 
ist  ein  Kampf  mit  Menschen.  Der  Kampf  aber  ist 
ein  Kampf  privater  Politik;  das  verfänglichste  Ge- 
schäft, das  vor  weniger  als  zwei  Jahrhunderten  von 
einer  Handvoll  Staatsmännern  geübt  und  gehütet 

8s 


wurde,  die  Kunst,  fremde  Interessen  zu  erraten  und 
den  eigenen  dienstbar  zu  machen.  Gesamtlagen  zu 
überschauen,  den  Willen  der  Zeit  zu  deuten,  zu 
verhandeln,  zu  verbünden,  zu  isolieren  und  zu 
schlagen:  diese  Kunst  ist  heute  nicht  dem  Finanz- 
mann allein,  sondern  in  gewahrtem  Verhältnis  dem 
Krämer  unentbehrlich.  Der  mechanisierte  Beruf 
erzieht  zum  Politiker. 

Deshalb  hält  der  Berufsmensch  sich  für  befähigt, 
nicht  nur  die  eigenen,  sondern  auch  die  Angelegen- 
heiten der  Gemeinschaft  zu  beurteilen,  zu  beraten 
und  notfalls  zu  verwalten.  Er  findet  sich  nicht  mehr 
in  den  Gedanken  einer  über  ihm  schwebenden,  von 
der  Gottheit  inspirierten  und  ihr  allein  verantwort- 
lichen Erb  Weisheit;  patriarchalische  Fürsorge  emp- 
findet   er    nicht    wohltuend,    sondern    kränkend. 

Zum  dritten.  Der  Beruf  ist  ernst  und  lehrt  Sor- 
gen. Niemand  nimmt  sich  des  Irrenden,  des  Fallen- 
den an;  der  Mann  trägt  in  seiner  Hand  sein  bürger- 
liches Schicksal  und  das  der  Seinen.  Eine  Verken- 
nung der  Zeit,  ein  Nachlassen  der  Kräfte,  ein  unheil- 
barer Mangel  der  Ausbildung,  eine  Handlung  der 
Leidenschaft:  und  das  Gebäude  langer  Arbeitsjahre 
stürzt  ins  Nichts.  Deshalb  empfindet  der  Mensch 
seine  eigene  Verantwortung,  aber  auch  die  seines 
Nächsten.  Er  steht  der  Allgemeinheit  mit  einem 
starken  Anspruch  an  Recht  gegenüber  und  mit  einer 
entschiedenen  Meinung  des  für  ihn  Wünschens- 
werten. Er  ist  schwer  zu  behandeln,  schwer  zu  über- 
zeugen, denn  er  fühlt  sich  in  allen  Dingen,  die  ihn 
von  fern  oder  nah  angehen,  als  neue  Kategorie :  als 
Interessent. 

So  wird  in  der  Schule  des  Berufes  der  Mensch 
seltsam  gemodelt.  Mag  ihm  die  Arbeit  eine  Freude 

86 


sein,  so  ist  nicht  mehr  die  Freude  des  Schaffens, 
sondern  des  Erledigens.  Eine  Aufgabe  ist  gelöst,  eine 
Gefahr  ist  beseitigt,  eine  Etappe  gewonnen:  nun 
zur  nächsten  und  zur  folgenden.  Die  Zeit  eilt,  die 
Konkurrenz  treibt,  die  Ansprüche  wachsen,  da  bleibt 
nicht  viel  zu  sinnen,  sich  des  Erschaffenen  zu  freuen, 
es  mit  Liebe  zu  betrachten  und  zu  verschönern; 
genug,  wenn  es  strengen,  allgemein  formulierten 
Ansprüchen  genügt.  Der  Erfolg  liegt  nicht  in  der 
Vollendung,  sondern  in  der  Erweiterung;  zehnmal, 
hundertmal  das  gleiche  Produkt  wiederholen,  in 
kürzester  Zeit,  mit  möglichster  Ersparnis,  das  bringt 
Nutzen.  Die  Arbeit  wird  extensiv,  wie  die  Produk- 
tion es  geworden  ist;  die  glückbringende  Arbeit  ist 
die,  welche  sich  vervielfältigt. 

Die  Arbeit  aber  wird  mehr  und  mehr  vergeistigt. 
Kaum  daß  sich  die  Hand  bewegt,  eine  Zahlenreihe 
zu  schreiben,  eine  Schraube  zu  verstellen;  je  teil- 
nahmloser die  Gliedmaßen  ruhen,  desto  erregter 
arbeitet  das  Gehirn.  Und  doch  ist  es  mit  ruhigem 
Nachdenken  nicht  getan;  Angst,  Begierde,  Leiden- 
schaft müssen  wirken,  damit  nichts  vergessen,  nichts 
versäumt,  nichts  verloren  werde. 

Diese  Spannung  erträgt  der  Mensch,  dessen  Groß- 
vater Hans  Sachs  oder  der  Müller  von  Sanssouci  oder 
der  Pastor  Schmidt  von  Werneuchen  gewesen  ist. 
Von  der  Flut  zusammenhangloser  Eindrücke  be- 
stürmt, zwischen  Langeweile  und  Interesse  einge- 
spannt, eilig,  rastlos,  sorgenvoll  und  überbürdet, 
leidenschaftlich  aber  lieblos  wirkend,  zehrt  er  von 
Geist  und  Seele,  um  einen  Tag  zu  leben;  und  ist  der 
Tag  verlebt  und  verbracht,  so  verfällt  er  der  Er- 
schöpfung, die  nicht  Ruhe,  sondern  Genüsse  ver- 
langt. 

87 


Die  Genüsse  des  Berufsmenschen  sind  ebenso 
extensiv  wie  seine  Arbeit.  Der  Geist,  nachzitternd 
von  den  Erregungen  des  Tages,  verlangt  in  Bewe- 
gung zu  verharren  und  einen  neuen  Wettlauf  der 
Eindrücke  zu  erleben,  nur  daß  diese  Eindrücke 
brennender  und  ätzender  sein  sollen  als  die  über- 
standenen.  In  Worte  und  Töne  sich  zu  versenken, 
ist  ihm  unmöglich,  weil  die  Gedankenflucht  des 
Schlaflosen  ihn  durchfiebert.  Gleichzeitig  pochen 
die  gequälten,  unterdrückten  Sinne  an  ihre  Tore 
und  verlangen  Berauschung.  So  werden  die  Freuden 
der  Natur  und  Kunst  mit  Hohn  ausgeschlagen, 
und  es  entstehen  Vergnügungen  sensationeller  Art, 
hastig,  banal,  prunkhaft,  unwahr  und  vergiftet. 
Diese  Freuden  grenzen  an  Verzweiflung,  sie  erinnern 
an  die  Freier  Homers,  die  beim  Herannahen  des 
Schicksals  blutiges  Fleisch  lachend  verzehren, 
während  die  Tränen  ihnen  über  die  Wangen  laufen. 
Ein  Sinnbild  entarteter  Naturbetrachtung  ist  die 
Kilometer]' agd  des  Automobils,  ein  Sinnbild  der  ins 
Gegenteil  verkehrten  Kunstempfindung  das  Ver- 
brecherstück des  Kinematographen. 

Aber  selbst  in  diesen  Tollheiten  und  Überreizun- 
gen liegt  etwas  Maschinelles.  Der  Mensch,  im  Ge- 
samtmechanismus Maschinenführer  und  Maschine 
zugleich,  hat  unter  wachsender  Spannung  und  Er- 
hitzung sein  Energiequantum  an  das  Schwungrad 
des  Weltbetriebes  abgegeben.  Ein  rauchender 
Motor  ist  kein  beschauliches  Arbeitstier,  das  sich 
unter  freiem  Himmel  weiden  läßt,  man  schmirgelt 
ihn  ab,  schmiert  ihn,  feuert  den  Kessel,  und  schon 
stampft  der  eiserne  Fuß  mit  neuen  Kräften  seinen 
Zyklopentakt. 


88 


DER  MENSCH  IM  ZEITALTER  DER  MECHANI- 
SIERUNG UND  ENTGERMANISIERUNG 

Das  Blut     ^ 

Wollen  wir  uns  die  Wandlungen  vergegenwär- 
tigen, die  dem  Naturell  des  westlichen  Men- 
schen in  den  letzten  Jahrhunderten  beschieden 
waren  und  die  noch  erstaunlicher  sind  als  die  Ver- 
änderungen seiner  Umwelt  und  seines  Lebens,  so 
müssen  wir  uns  daran  erinnern,  daß  ein  Rassen  Wech- 
sel, die  Aufzehrung  einer  Oberschicht  mit  dem  Ver- 
dichtungs-  und  Mechanisierungsprozeß  Hand  in 
Hand  ging.  Ja,  es  bestand  zwischen  diesen  Er- 
scheinungen eine  doppelte,  zum  Kreislauf  geschlos- 
sene Kausalverbindung :  die  Verdichtung  brachte  den 
Rassenwechsel  hervor,  und  der  Rassenwechsel  allein 
konnte  die  Voraussetzungen  der  entfesselt  fortschrei- 
tenden Verdichtung  schaffen,  die  Mechanisierung 
der  Produktion,  der  Gesellschaft  und  des  Lebens. 
Denn  die  germanischen  Herren  des  Abendlandes 
waren  unfähig,  diesen  Prozeß  heraufzuführen,  un- 
fähig selbst,  ihn  zu  erleiden.  Der  Strenge  und 
Schönheit  nördlichen  Waldlandes  wo  nicht  ent- 
stammend, so  doch  durch  Jahrtausende  verbunden, 
von  der  Seligkeit  des  Kampfes  mit  Natur  und  Ge- 
schöpfen erfüllt,  froh  in  der  Kraft  und  Freiheit  des 
Leibes,  nichts  verehrend  als  das  Mutvolle,  das  Un- 
berührte und  Überirdische,  ein  Volk  von  heiterem 
Ernst,  von  kindlicher  Männlichkeit,  unschlauer 
Klugheit,  träumender  Wahrheitsliebe,  der  Tat 
geneigt,  dem  Tun  abhold,  so  traten  sie  auf  die  Bühne 
der  Welt,  als  Schicksal  der  Antike  und  als  Herren 
einer  neuen  Zeit. 

89 


Als  Herren  und  Freie  blieben  sie  Krieger  und 
Landleute,  und  wo  wir  heute  noch  ihre  Überleben- 
den erblicken,  da  sind  sie  ihrem  alten  Wesen  treu 
geblieben,  der  Mechanisierung  nicht  oder  wider- 
strebend gefolgt,  nirgends  ihre  Förderer  gewesen. 
Selbst  da,  wo  sie  unentrinnbar  in  neuzeitliches 
Getriebe  verstrickt  wurden,  haben  sie  den  Mechanis- 
mus in  eine  stillere  Sphäre  eingeschlossen;  ein  hol- 
steinischer Kramladen  wird  sachlicher,  zweckfreier 
und  ungeschäftlicher  geleitet  als  eine  amerikanische 
Kirche. 

Denn  einer  reinen  furchtlosen  Natur  ist  das  Zweck- 
hafte fremd.  Die  Furcht  erspäht  hinter  den  Dingen 
Gefahren  und  Hoffnungen,  sie  flüchtet  in  die  Zu- 
kunft, indem  sie  die  Gegenwart  vernichtet.  Der 
Muthafte  läßt  sich  die  sinnliche  und  übersinnliche 
Gegenwart  genügen,  er  respektiert  die  Dinge,  liebt 
sie  um  ihrer  selbst  willen  und  benutzt  keine  Kreatur 
als  Mittel.  Die  Mechanisierung  aber  ist  auf  Zweck- 
haftigkeit  aufgebaut.  Ihr  ist  keine  Handlung  und 
kein  Gegenstand  Selbstzweck;  jedes  Organ  dient 
dem  Gesamtprozeß,  und  der  Gesamtprozeß  dient 
dazu,  neue  Organe  zu  schaffen.  Jeder  Moment  ist, 
für  sich  genommen,  wertlos,  aber  von  der  heißen 
Arbeit  erfüllt,  die  Reihe  der  wertlosen  Momente  zur 
Ewigkeit  auszudehnen. 

Das  mechanistische  System  konnte  nicht  von 
diesen  Menschen  aufgebracht  werden,  die  in  ihrer 
Unmittelbarkeit  es  kaum  erfaßten,  die  es  ungern 
erlitten  und  in  ihm  die  höchste  Gefährdung  ihrer 
Herrschaft,  ja  ihrer  Existenz  gar  bald  erblickten. 
So  haben  sie  dieses  System  bis  auf  den  heutigen  Tag 
bekämpft;  gegen  Städte,  Stände,  Konstitutionen, 
Demokratien,  Verkehr,  Handel  und  Industrie  haben 

90 


sie  sich  mannhaft  gewehrt,  und  noch  jetzt  bedeuten 
alle  konservativen  Programme  nichts  weiter  als 
Umschreibungsformeln  des  unbewußten  Willens 
gegen  die  Mechanisierung. 

Um  diese  emporzutreiben,  bedurfte  es  Menschen 
geringeren  Schlages,  Unterdrückte  und  Emanzi- 
pierte. Sie  mußten  aus  der  Knechtschaft  die  Ge- 
wohnheit der  Arbeit  mitbringen  und  das  Stigma  der 
Geduld,  das  unentbehrlich  ist  für  jeden,  der  durch 
Lernen  intellektuelle  Schätze  sammeln  soll.  Hand- 
fertigkeiten besaßen  sie  von  Ursprung  an,  denn  die 
Schwächeren  waren  von  je  auf  Werkkünste  ange- 
wiesen ;  grüblerisch  und  erfindungsreich  wurden  sie, 
weil  Furcht  ihre  Stärke  aus  der  Überlegung  sammelt. 
Auch  hatten  sie  gelernt,  seßhaft  und  in  umfriedeten 
Räumen  ihr  Wesen  zu  treiben,  das  späterhin  zur 
Stubenarbeit  wurde,  Arbeitsteilung  kannten  sie. 
Reden,  Verständigen,  Überzeugen  waren  ihre  Gegen- 
mittel gegen  Gewalt  gewesen.  Neugierde,  Wissens- 
durst, geistige  Beweglichkeit  hatte  ihnen  beständig 
genützt,  Wahrheitsliebe  nicht  immer ;  die  Zähigkeit 
des  Willens  und  die  Lust  am  Besitz  war  gestählt 
durch  die  Unablässigkeit  der  Gegenkräfte,  die  harte 
Gleichförmigkeit  des  Druckes.  In  Lebensansprüchen 
gemäßigt,  in  Genüssen  nicht  wählerisch,  ohne  Tran- 
szendenz, in  Leidenschaften  heiß,  nicht  tief,  ohne 
Bösartigkeit,  aber  rachsüchtig  und  des  Hasses  kundig : 
so  trugen  sie  den  Marschallstab  des  mechanistischen 
Menschen  im  Tornister. 

Daß  ungermanischer  Geist  für  die  Gestaltung 
der  Moderne  verantwortlich  ist,  hat  mancher  un- 
willige Denker  dem  Volksgewissen  ins  Ohr  geraunt, 
doch  stets  in  der  Meinung,  zu  entarteten  Germanen 
zu  sprechen.   So  suchte  man  nach  einem  Ferment 

91 


und  entdeckte  es  im  Judentum.  Der  Antisemitis- 
mus ist  die  falsche  Schlußfolgerung  aus  einer  höchst 
wahrhaften  Prämisse :  der  europäischen  Entger mani- 
sierung;  und  somit  kann  derjenige  Teil  der  Bewe- 
gung, der  Rückkehr  zum  Germanentum  wünscht, 
sehr  wohl  geachtet  und  verstanden  werden,  wenn 
er  auch  die  praktische  Unmöglichkeit  einer  Volks- 
entmischung verlangt. 

Die  Lehre  von  der  semitischen  Gärung  hat  jüngst 
ein  geistvoller  Nationalökonom  in  anziehender 
Weise  mit  einer  Art  verdrießlicher  Bewunderung 
des  schuldigen  Teils  entwickelt,  indem  er  das  Neu- 
zeitwesen auf  den  Kapitalismus,  den  Kapitalismus 
auf  das  Judentum  zurückführt.  Er  denkt  also  im 
Ernst  daran,  dem  kleinen  Volksstamm,  dem  die 
Welt  die  Hälfte  ihres  Gesamtbesitzes  an  religiöser 
Transzendenz  schuldet,  nun  auch  die  Summe  der 
materiellen  Lebensordnung  gutzuschreiben.  Der 
Irrtum  liegt  in  der  Verkennung  der  Tatsache, 
daß  Kapitalismus,  so  gut  wie  Technik,  Wissen- 
schaft, Verkehr,  Kolonisation,  Städteentwicklung 
oder  Weltpolitik,  nur  Einzelerscheinungen  der 
Grundfunktion  bedeuten,  die  in  der  Verdichtung 
und  ihrer  Selbstbehauptung,  der  Mechanisierung, 
liegt.  Die  Betrachtung  der  Einzelfunktionen  mag 
entwicklungsgeschichtlich  Bedeutendes  zutage  för- 
dern ;  den  inneren  Zusammenhang  enthüllt  sie  nicht. 
Wählt  man  einseitig  eine  der  Einzelerscheinungen 
als  Grundvariable,  so  laufen  die  übrigen  als  glückliche 
Zufallsergänzungen  nebenher,  und  man  muß  es  als 
eine  Art  prästabilierter  Harmonie  betrachten,  daß 
die  Geschichte  der  Erkenntnis,  der  Wissenschaft, 
der  Entdeckungen  jedesmal  rechtzeitig  die  Er- 
rungenschaften   lieferte,    deren    der    Kapitalismus 

92 


bedurfte.  Am  schwersten  aber  wird  der  Gärungs- 
theorie der  Nachweis  fallen,  daß  durch  bloße  Ein- 
wirkung eines  Fermentes  aus  taciteischen  und  karo- 
lingischen  Germanen  preußische  Kaufleute,  Fabrik- 
arbeiter, Gelehrte  und  Beamte  werden  konnten. 
Die  Gesamtheit  der  neuzeitlichen  Umwälzung 
fordert  zu  ihrer  Erklärung  neben  der  Verdichtungs- 
wirkung den  Rassenwechsel. 

Wäre  der  Wechsel  jedoch  unvermittelt  und  von 
Grund  auf  erfolgt,  so  hätte  er  die  mechanistische 
ZiviHsation  nicht  gezeitigt.  Das  Volk  bedurfte 
noch  lange  germanischer  Geistesleitung  und  bedarf 
noch  heute  germanischen  Einschlages.  Dieser  Be- 
schränkung verdankt  das  geistige  Leben  Westeuropas, 
insbesondere  Deutschlands,  die  Erhaltung  seines 
transzendenten  Inhalts,  verdankt  Kunst  und  Geistes- 
wissenschaft ihre  Freiheit  und  ihre  Innerlichkeit, 
verdankt  die  Forschung  ihre  Aufopferung  und  Wahr- 
heitsliebe, verdankt  das  Erwerbsleben  seine  Weit- 
herzigkeit, das  öffentliche  Leben  Unbescholtenheit, 
Hingebung,  Mut  und  Treue.  Genau  in  der  Abstu- 
fung, in  der  vom  Norden  nach  dem  Süden,  Süd- 
westen und  Südosten  hin  der  germanische  Einschlag 
sich  abschwächt,  verdunkeln  sich  die  Eigenschaften, 
die  er  den  Völkern  einprägte.  Skandinavien,  Eng- 
land, Deutschland,  Holland,  das  zisleithanische 
Österreich  und  die  Schweiz  bilden  noch  heute  das 
Weltzentrum  und  die  Schule  der  Kulturqualitäten, 
welche  die  gräkoromanischen  Länder  großenteils 
verloren,  die  übrigen  niemals  besessen  haben.  Den 
Vereinigten  Staaten,  die  hinsichtlich  ihrer  Ein- 
schlagsverhältnisse dem  europäischen  Durchschnitt 
entsprechen,  fehlt  die  Vorschule  germanischer  Ober- 
herrschaft und  Leitung,  sie  konnten  daher  zwar  die 

93 


mechanistische  Zivilisation  auf  den  höchsten  Gipfel 
treiben;  kulturbildende  Kräfte  sind  ihnen  nicht 
entstanden,  wenn  man  auch  in  einer  Nation  von 
achtzig  Millionen  eine  leidliche  Anzahl  kultivierter 
Menschen  auftreiben  mag.  Die  übrigen  europäischen 
und  europäisierten  Länder  haben  sich  den  Mechani- 
sierungsformen passiv,  zum  Teil  verständnislos  an- 
gepaßt, ohne  Neues  hinzuzufügen.  Die  Kultur 
Japans  ist  eine  orientalische;  v^^as  an  ihr  europäisch 
erscheint,  ihr  Idealismus  des  Dienstes,  ihre  Natur- 
liebe und  Muthaftigkeit,  entstammt  der  Herrschaft 
einer  kriegerischen  Oberschicht  unbekannter  Her- 
kunft. 

Die  treibenden  Kräfte 

Unter  dem  Bilde  des  Interesses  haben  wir  die 
Willensform  erblickt,  die  den  mechanisti- 
schen Menschen  durch  das  Gewirr  der  Bindungen 
hindurch  von  Mittel  zu  Mittel  zu  den  Zielen  leitet, 
die  zu  erstreben  er  sich  berechtigt  und  befähigt 
glaubt.  Freilich  weicht  die  Fata  Morgana  vor 
seinem  Nahen  unablässig  zurück,  denn  sein  inneres 
Leben  ist  von  Strebungen  so  durchsetzt,  daß  der 
Wille  unbewußt  zum  Selbstzweck  geworden  ist. 
Dies  drückt  sich  von  innen,  aus  der  Seele  des  Men- 
schen betrachtet,  so  aus,  daß  das  jeweils  Erreichte 
nach  dem  Bismarckschen  Worte  „auch  nichts  ist". 
Denn  in  der  mechanistischen  Welt  darf  kein  Ziel 
erreichbar  sein;  sie  bedarf  aller  Kräfte  bis  zum 
letzten  Atemzuge,  um  ihren  Wirbel  zu  beschleu- 
nigen, und  straft  den  entsprungenen  Sklaven  mit 
Not,  Vergessenheit,  Langeweile  oder  vorschnellem 
Altern. 

94 


Damit  nun  die  Besessenheit  des  Strebens  im  Men- 
schen nicht  erlahme,  bedarf  es  unerschöpflicher  Trieb- 
kräfte. Die  materiellen  Appetite,  Hunger  und  Liebe, 
reichen  nicht  aus,  denn  auch  die  weitesten  Ansprüche 
ihrer  Üppigkeiten  sind  zu  sättigen.  Die  ideellen 
Motoren,  Pflicht,  Schaffensfreude,  Wissensdrang, 
Vervollkommnung,  Ausflüsse  der  transzendenten 
Liebe,  lassen  sich  nicht  wissentlich  in  den  Dienst 
einer  materiellen  Weltordnung  stellen.  So  mußte  die 
banalste  und  rätselhafteste  aller  Leidenschaften,  der 
Ehrgeiz,  zur  Verstärkung  der  bewegenden  Mechani- 
sierungskräfte ins  Ungemessene  gesteigert  werden. 

Banal  ist  diese  Leidenschaft,  wenn  man  in  ihr 
nur  den  Inbegriff  der  am  Durchschnitt  sich  messen- 
den und  darüber  hinausstrebenden  Appetite  erblickt ; 
rätselhaft  wird  sie,  wenn  man  alle  materiellen  Be- 
gierden abspaltet  und  erkennt,  daß  dennoch  etwas 
übrigbleibt,  das  sie  alle  an  Heißhunger  und  Nach- 
haltigkeit übertrifft.  Dies  Etwas  ist  das  Strebennach 
Geltung,  und  zwar  ohne  Hinblick  auf  die  mittel- 
baren Vorteile,  die  aus  ihr  erwachsen  können,  viel- 
mehr lediglich  nach  Geltung  selbst,  nach  Aner- 
kennung, Bewunderung,  Beneidung.  Dies  Streben 
darf  nicht  verwechselt  werden  mit  dem  wesentlich 
seltneren,  dem  Schaffensdrang  verwandten  Willen 
zur  Verantwortung  und  somit  zur  Herrschaft.  So 
war  Napoleon  in  diesem  eitlen  Sinne  nicht  ehr- 
geizig, wenn  auch  höchst  herrschsüchtig;  am  Urteil 
der  Menschen  lag  ihm  nur  da,  wo  er  ihrer  bedurfte; 
Gesetze  und  Organisationen  ihnen  vorzuschreiben, 
war  ihm  wichtig.  Die  Krönung  in  Notre  Dame, 
der  erhabenste  Traum  des  Histrionen,  war  ihm  ein 
lästiges  Theaterspiel,  die  Ausarbeitung  des  Code 
civil  ein  hohes  Glück. 

95 


,Rätselhaft  ist  der  abstrakte  Ehrgeiz  deshalb,  weil 
alle  Bewunderung  der  Maske  gilt  und  von  der  Maske 
zum  Träger  kein  inneres  Band  der  Identität  führt. 
Die  Huldigung  bleibt  die  gleiche,  auch  wenn  sie  den 
Wagenlenker  für  den  Triumphator  hält,  denn  sie 
gilt  einem  beliebigen  Leichnam.  Rätselhaft  ist 
ferner  der  wahnsinnige  Wille  zur  Abhängigkeit, 
der  Sturz  in  die  Knechtschaft  der  fremden  Meinung. 
Diese  Leidenschaft  läßt  sich  nur  erklären  aus  atavi- 
stischen Gefühlsreihen  von  Zurücksetzung,  die  ihre 
Umkehrung  auszulösen  streben,  und  aus  der  ererb- 
ten Furcht  vor  Menschen,  die  sich  ihres  Gegen- 
standes zu  entledigen,  womöglich  zu  bemächtigen 
sucht,  nun  aber,  da  sie  sich  ihrer  selbst  nicht  ent- 
ledigen kann,  als  Furcht  vor  Meinungen  endet,  da 
sie   zuvor   Furcht  vor  Handlungen   gewesen  war. 

Diese  krankhafte  Psychologie  unterdrückter  Ge- 
schlechter, die  den  Schwerpunkt  außerhalb  der 
Persönlichkeit  legt  und  das  innere  Gleichgewicht 
des  Menschen  aufhebt,  war  dem  germanisch  freien 
Stammeswesen  unbekannt.  Germanisches  Selbstbe- 
wußtsein, Unabhängigkeitsgefühl  und  Herrentum  ist 
uns  überliefert,  germanischer  Ehrgeiz  und  Eitelkeits- 
hang ist  undenkbar ;  wie  denn  eine  Reihe  von  Merk- 
malen schlechthin  als  Indikatoreigenschaften  der  Ur- 
rassen  angesehen  werden  können :  vor  allem  Unwahr- 
haftigkeit,  Eitelkeit,  Neugier  und  Verkleinerungslust. 

Im  absoluten  Ehrgeiz  hat  die  auftauchende  Unter- 
schicht sich  ihre  leitende  Begierde  geschaffen.  Da- 
neben aber  hat  sie  einem  der  ursprünglichen  Appe- 
tite eine  veränderte,  die  mechanistische  Bewegung 
gewaltsam  fördernde  Form  gegeben. 

Die  Freude  am  überflüssigen  Besitz  ist  alt  und 
allgemein  menschlich,  wenn  sie  gleich  bei  edleren 

96 


Rassen  gemindert,  bei  edleren  Individuen  fast  ver- 
flüchtigt erscheint.  In  ihrer  primitiven  Form 
verlangt  sie  nach  Handgreiflichem,  Glänzendem; 
Dingen,  die  zieren,  schmücken,  die  anziehen  oder 
Neid  erregen.  In  entwickelter  Form  nähert  sie 
sich  der  fanatischen  Freude  am  Ordnen,  Verwalten 
und  Schaffen. 

Die  Mechanisierung  mußte  von  der  niederen 
Form  der  Besitzesfreude  ausgehen,  die  zum  gei- 
stigen Inventar  der  Unterschicht  gehörte;  sie  trieb 
diese  Leidenschaft  empor,  indem  sie  eine  nie  ge- 
ahnte Fülle  von  Produkten  ihrer  Begierde  entgegen- 
hielt, und  erzeugte  so  den  beispiellosen  Warenhunger, 
der  mittelbar  und  unmittelbar  mehr  als  die  Hälfte 
der  Weltarbeit  verbraucht.  Das  Kaufen  und  Kaufen- 
können ist  zumal  das  Glück  der  Frauen.  Und  da 
Maschine  und  Manufaktur  unabsehbare  Mengen 
von  Surrogaten  des  Naturgenusses  und  von  Sur- 
rogaten dieser  Surrogate  liefern,  nach  Herzens- 
lust geschmückt  und  staffiert  —  denn  den  Me- 
chanismus kostet  es  nichts,  mit  einem  Handgriff 
alle  Formen  der  belebten  Welt  auf  das  nüchterne 
Material  zu  prägen  — ,  so  ergänzt  und  erneuert  sich 
alljährlich  das  ungeheure  Warenlager  des  mensch- 
lichen Besitzes.  Wie  die  Eroberer  des  Pekinger 
Kaiserpalastes  bis  an  die  Knie  in  seidenen  Stoffen 
wateten,  so  stampft  der  erwerbende  Mensch  durch 
Ströme  von  Waren,  mit  denen  ihn  keine  eingewohnte 
Liebe  zum  Gerät  verbindet,  und  er  läßt  Ströme 
von  Abfällen  hinter  sich  zurück.  Wir  lesen  vom 
Reichtum  einer  griechischen  Stadt  und  bedenken 
nicht,  daß  im  Hause  des  Bürgers  nichts  anderes  zu 
finden  war  als  ein  paar  Tische  und  Betten,  ein 
Dutzend    Tongefäße,   Decken    und   vielleicht  ein 

'''  «  97 


kupferner  Kessel.  Die  jährliclien  Abgänge  einer 
unsrer  bürgerlichen  Wohnungen  sind  umfangreicher 
als  dieser  ganze  klassische  Besitz. 

Ehrgeiz  und  Warenhunger  arbeiten  sich  in  die 
Hände.  Der  eine  zwingt  den  Menschen,  sich  immer 
fester  in  das  Joch  der  Mechanisierung  einzupressen; 
er  steigert  seine  Erfindungskraft,  seinen  produk- 
tiven Willen.  Der  andre  erhöht  sein  Verbrauchs- 
bedürfnis und  läßt  ihn  doch  gleichzeitig  empfinden, 
daß  nur  ein  emsig  schaffendes  Organ  die  Lust  des 
Kaufens  dauernd  genießen  darf. 

Die  Summe  der  beiden  Haupttriebkräfte  aber 
steigert  sich  zu  einem  Gesamtwillen,  der  ent- 
schiedener als  irgendeine  andre  Erscheinung  die 
Seele  unsrer  Epoche  kennzeichnet,  indem  er  ihr 
den  Stempel  des  nach  außen  gerichteten  Strebens 
aufprägt.  Diese  Übermacht  des  substantiellen 
Willens  über  die  Seelenkräfte,  dieses  Zweckmen- 
schentum, das  dem  Wesen  furchthafter  Stämme 
entspringt,  setzt  die  okzidentale  Rassenverschiebung 
in  das  hellste  Licht  psychologischer  Betrachtung. 

Die  Ideale 

Einem  Menschen  kann  man  nicht  tiefer  ins 
Herz  blicken,  als  wenn  man  seine  Träume 
und  Wünsche  erforscht  und  deutet.  Wollen  wir 
unser  Bild  vom  Wesen  dieser  Epoche  vertiefen, 
so  können  wir  nichts  Besseres  tun,  als  den  Spuren 
ihrer  Ideale  nachzugehen;  denn  sie  sind  nicht  nur 
die  bewußten  und  unbewußten  Träume,  Ahnungen 
und  Sehnsuchten  einer  Gemeinschaft,  sondern  zu- 
gleich verklärte  Spiegelungen  ihres  eigenen  Wesens. 
Ein  Mensch  kann  vom  andern  träumen,  sich  mit 

98 


ihm  vergleichen,  ihn  bewundern,  sich  nach  ihm 
formen:  die  Geineinschaft  träumt  nur  sich  selbst; 
denn  fremdes  Wesen  ist  Kenntnis  des  einzelnen, 
der  Gesamtheit  ist  es  unwichtig  und  unbekannt 

Nun  folgt  sofort  ein  Widerspruch:  Damit  das 
Spiegelbild  klar  und  rein  erscheine,  muß  die  pro- 
jizierende Flamme  gleichmäßig  leuchten:  nur  ho- 
mogene Gemeinschaften  haben  Ideale.  Ein  Eng- 
länder, ein  Franzose,  ein  Neger  und  ein  Mongole, 
die  sich  im  Eisenbahnwagen  unterhalten,  können 
sich  vielleicht  über  letzte  nebelhafte  Ziele  der 
Menschlichkeit  verständigen;  ihre  Begriffe  von 
dem,  was  schön,  gut  und  wahr  ist,  werden  weit  aus- 
einandergehen. Nun  ist  aber  die  europäische  Ge- 
meinschaft ein  Verschmelzungsprodukt  zweier 
Schichten,  die  nicht  durchweg  und  gleichmäßig 
sich  durchdrungen  haben:  von  der  Legierung  bis 
zur  Mengung  findet  von  Süd  nach  Nord  ein  mäh- 
licher Übergang  statt,  überdies  mit  wechselnden 
Massenverhältnissen  der  Komponenten.  Ist  dieses 
Gemenge  genügend  gleichförmig,  um  Ideale  zu 
erzeugen  ? 

Sodann:  die  mechanistische  Lebensform  ist  ein 
Kreislauf  ohne  Ziel,  eine  sich  selbst  verstärkende 
Maschinerie  ohne  Tendenz  nach  außen,  in  sich 
geschlossen  und  ausschließlich:  kann  sie  absolute 
Ziele  und  Werte  schaffen  oder  auch  nur  aner- 
kennen oder  selbst  erhalten?  Wird  sie  nicht  am 
Ende  dahin  neigen  müssen,  alles  im  Menschen  zu 
beschwichtigen,  was  an  Fragen,  Hoffnungen  und 
Träumen  in  ihm  auftaucht,  weil  diese  immateriellen 
Regungen  ihn  dem  Arbeitsprozeß  entziehen  ?  Wird 
sie  nicht  immer  wieder  ihre  handgreiflichen  Werte, 
ihre  rechnerischen  Denkformen,  ihre  tatsächlichen 

'*  m      .  99 


Forschungen  emporheben,  um  ihre  Gefolgschaft 
zu  blenden  oder  zum  mindesten  durch  Zwiespalt 
zu  beherrschen  ? 

Ein  annähernd  lückenloses  Bild  der  zeitgenössi- 
schen Ideale  wird  sich  uns  nicht  entrollen.  Wir 
werden  uns  begnügen  müssen,  aus  Bruchstücken 
halbzerstörter  Untermalung  und  aus  neu  hervor- 
tretenden Umrißlinien  den  Sinn  der  Zeichnung 
zu  erraten:  Hier  und  da  werden  alte  und  neue 
Formen  sich  durchkreuzen,  hier  und  da  werden  wir 
Gebilde  unter  dem  Hauch  der  Mechanisierung 
erloschen  finden;  doch  wird  der  Eindruck  des  Er- 
kennbaren die  Vermutung  rechtfertigen,  daß  über- 
all da,  wo  die  fortschreitende  Homogenisierung 
bereits  Grundzüge  neuer  Ideale  festgelegt  hat,  die 
alten  merklich  dem  Verlöschen  sich  nähern.  Wie 
bisher  wird  die  Darstellung  die  den  westeuropäischen 
Ländern  gemeinsamen  Züge  hervorzuheben  suchen, 
und  dort,  wo  Sonderung  erforderlich  scheint,  den 
deutschen  Verhältnissen  sich  zuwenden. 

Das  leibliche  Ideal.  Trotz  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  des  Gegenstandes  können  ihm 
einige  kennzeichnende  Züge  abgewonnen  werden. 
Es  ist  dem  griechischen  ähnlich,  aber  schlanker, 
weniger  gerundet,  straffer  gemuskelt.  Der  Kopf 
größer,  aber  immer  noch  klein  im  Verhältnis  zum 
Körper,  der  Hals  dünner  und  länger.  Die  Nase 
stärker  gebogen  als  die  griechische  und  bedeutend 
schmaler,  aber  gleichfalls  lang.  Die  Lippen  weniger 
voll,  die  Wangen  weniger  tief,  die  Stirn  flacher. 
Vor  allem  das  Weib  weniger  breitbrüstig  und 
heroinenhaft,  zarter  und  jungfräulicher.  Alles  in 
allem  der  Leib  feiner  und  rassiger,  mehr  den  eque- 
strischen  als  den  gymnastischen  Übungen  angepaßt. 

ICO 


Zweifellos  ist  dieser  blonde  und  blauäugige  Ideal- 
typus den  überlebenden  germanischen  Naturen  ent- 
lehnt :  er  tritt  überall  da  hervor,  wo  die  Aufzehrung 
noch  nicht  vollendet  ist,  selbst  in  Frankreich. 
Spanien,  das  Land  der  frühesten  Vermischung,  kennt 
ihn  in  seiner  neuzeitlichen  Kunst  nicht  mehr;  in 
Italien  herrschte  er  bis  zum  Ende  der  Frührenais- 
sance; mit  dem  beginnenden  Barock  war  er,  wie  zu 
erwarten,  verschwunden.  Heute  steht  der  spanische 
Idealtypus  dem  arabischen,  der  italienische  dem 
gräkoromanischen  näher,  und  südfranzösische  Künst- 
ler beginnen,  die  volleren  Formen  der  Frauen  ihres 
Landesstriches  zur  Norm  zu  erheben. 

Die  Beibehaltung  des  germanischen  Körperideals 
zeigt,  was  auch  ein  Blick  in  neupreußische  Verwal- 
tungs-  und  Militärverhältnisse  bestätigt,  daß  das 
Volk  unbewußt  das  reinere  Germanentum,  soweit 
es  ihm  noch  sichtbar  vor  Augen  steht,  als  das  edlere 
Blut,  sich  selbst  als  Abkömmling  unterdrückter  und 
unedler  Geschlechter  betrachtet.  Zu  dieser  Selbst- 
losigkeit stimmt  die  humorvolle  Bescheidenheit,  in 
der  ein  Teil  des  deutschen  Bürgertums  sich  mit 
Familiennamen  abfindet,  die  bloße  Gattungs-  und 
Berufsbezeichnungen  bedeuten,  und  die  zuweilen 
verderbt  slawisch,  unverständlich,  absurd  oder  vul- 
gär klingen,  während  der  weniger  entgermanisierte 
Nordseestrich,  vor  allem  aber  Skandinavien,  die  Be- 
nennung nach  dem  Vorfahren  sich  erhalten  hat. 

Das  menschliche  und  das  ethische  Ideal 
sind  vereint  zu  betrachten,  denn  sie  hängten  durch 
die  Grundanschauungen  des  Zielbewußtseins  zu- 
sammen. 

Im  Menschlichen  herrschen  die  alten  germani- 
schen Idealbegriffe  des  Mutes  und  der  Großmut. 

lOI 


Der  mutig  Kraftvolle  wird  bewundert  und  geliebt; 
ihm  ist  alles  erlaubt,  was  er  durch  souveräne  Ge- 
walt durchsetzt,  sofern  er  sich  als  ein  großmütiger, 
gerechter  und  milder  Herr  erweist,  jedoch  mit  der 
neuzeitlichen  Einschränkung,  daß  nicht  etwa  ge- 
schädigte oder  erschreckte  Individuen  und  Gesell- 
schaften sich  entrüsten  dürfen.  Der  Aufrührer,  der 
Revolutionär,  der  kirchliche  Empörer,  der  Konqui- 
stador werden  gepriesen,  verehrt  und,  wenn  sie  Er- 
folg haben,  staatlich  anerkannt.  Verachtung  trifft, 
abgesehen  vom  vertierten  Menschen,  eigentlich  nur 
den  Feigling  und  seine  heimlichen  Taten.  Hinter- 
list, Betrug,  Diebstahl,  ja  selbst  Lüge,  die  im  außer- 
germanischen Kreise  als  zulässige  Diplomatie  gilt, 
werden  verabscheut  und  in  neuzeitlicher  Abstufung 
nach  Maßgabe  der  Vermögensgefährlichkeit  be- 
straft. Den  Taten  der  Leidenschaft  und  des  Über- 
muts steht  das  Volksbewußtsein  indifferent,  ja  mit 
einer  Art  von  Wohlwollen  gegenüber,  sie  sind  Ge- 
genstand der  Dichtung,  und  der  Kontrast  zwischen 
menschlichem  Verstehen  und  sozialer  Sühneforde- 
rung bildet  tragische  Konflikte.  Handlungen  der 
Großmut  und  mutiger  Aufopferung  begeistern, 
Ausflüsse  der  Güte,  der  Friedfertigkeit,  des  Er- 
barmens lassen  kalt.  Ein  feiger  Mensch  könnte,  ab- 
gesehen von  slawischer  Literatur,  heute  noch  nicht 
Held  europäischer  Gedichte  sein,  auch  wenn  er  mit 
allen  Tugenden  der  Evangelien  ausgestattet  wäre. 
Dagegen  läßt  sich  eine  gewisse  Verschiebung  des 
Idealtypus  in  der  Richtung  der  Energie  und  des 
Intellekts  feststellen.  Amerikanische  Menschen  des 
Erfolges  beginnen  den  Massen  zu  imponieren;  mu- 
tige Erfinder  und  Entdecker  werden  höher  gefeiert 
als  vordem  Kriegshelden;  zum  Lesebuch  des  Volkes 

102 


ist  nach  Ritter-  und  Indianergescliicliten  der  De- 
tektivroman geworden.  Ja  es  beginnt  hier  bereits 
eine  große  Verwirrung  des  bürgerlichen  Empfin- 
dens :  in  einer  Zeit,  die  den  Erfolg  an  die  Stelle  des 
Sieges  gesetzt  hat,  kann  man  nicht  umhin,  sich  ein- 
zugestehen, daß  den  Helden  von  ehedem  die  Eigen- 
schaften fehlen,  welche  die  Mechanisierung  ver- 
langt. Man  strebt,  den  Erfolgreichen  nachzuahmen, 
und  kann  somit  nicht  unterlassen,  sie  zu  bewundern, 
wo  nicht  gar  zu  lieben.  Das  germanische  Ideal,  das 
dem  Ansturm  des  Christentums  durch  ein  Jahr- 
tausend standhielt,  ist  durch  die  Mechanisierung 
erschüttert. 

Sichtbarer  noch  sind  die  Einwirkungen  der  neu- 
gestalteten Zivilisation  auf  die  Ethik  der  Gemein- 
schaft, zumal  auf  die  Schärfung  des  öffentlichen 
Gewissens.  Die  christliche  Kirche  durfte  alles 
menschliche  Elend  als  Prüfung  bezeichnen  und  auf 
das  Jenseits  verweisen;  die  Reformation  konnte  in 
großartiger  Verneinung  auf  jegliches  fromme  Ver- 
dienst verzichten.  So  begnügte  sich  die  älteste  Zeit 
hinsichtlich  aller  Wohlfahrtsbestrebungen  damit, 
Siechenhäuser,  Irrenkerker  und  Klostersuppen  zu 
stiften,  und  alles  übrige  der  bürgerlichen  Barm- 
herzigkeit anheimzustellen.  Die  mechanistische 
Epoche  dagegen  übernahm  von  ihren  Schöpfern, 
unterdrückten  und  furchthaften  Stämmen  das  Mit- 
leid, das  nichts  anderes  als  eine  altruistische  Furcht- 
empfindung ist.  In  der  Verherrlichung  dieses  Lei- 
dens zum  ethischen  Ideal  lag  zweifellos  eine  gewisse 
Diesseitigkeit  der  Anschauung,  ja  ein  ethischer  Ma- 
terialismus; doch  ist  durch  die  gesetzgeberische 
und  organisatorische  Ausgestaltung  des  Wohlfahrts- 
wesens, vor  allem  aber  durch  die  Überzeugung  des 

103 


öffentlichen  Gewissens,  daß  alles  menschliche  Elend 
als  Blutschuld  der  Gesellschaft  zu  erachten  sei,  ein 
Wert  von  so  gewaltiger  Wirklichkeit  entstanden, 
daß  jede  künftige  Einschätzung  der  Mechanisierung 
ihn  in  Rechnung  zu  stellen  haben  wird. 

Das  religiöse  Ideal.  So  mächtig  die  Kirche 
das  Leben  der  früheren  Jahrhunderte  durchdrang, 
so  gering  war  die  Wirkung  der  in  ihr  verkörperten 
reinen  christlichen  Ideen  auf  das  Germanentum. 
Widerwillig  aufgenommen,  durch  Höllenzwang  ge- 
festigt, konnte  die  Kirche  den  Abgrund,  der  zwi- 
schen dem  Worte  Christi  und  ihren  hierarchisch- 
politischen Aufgaben  lag,  nicht  überbrücken.  Mit 
dem  Mutideal  des  Germanen,  das  ihren  Lehren  der 
Demut  widersprach,  mußte  sie  sich  abfinden;  die 
wenig  evangelischen  Sitten  abendländischer  Lebens- 
weise, Politik,  Kriegführung  mußte  sie  dulden,  ja 
ihren  irdischen  Zielen  dienstbar  machen.  Den  letz- 
ten transzendenten  Inhalt  ihrer  Verkündigung 
durfte  sie  den  Massen  nicht  übermitteln,  um  nicht 
die  weltliche  Ordnung  zu  stören  oder  aufzuheben. 
Die  Lehre  von  der  Liebe,  der  Weltflucht,  der  De- 
mut, der  Kindlichkeit,  der  Zweckfreiheit,  dem 
Gottesreich  blieb  esoterisch,  ein  Besitz  der  Heiligen. 
Ins  Volk  drang  der  Mariendienst,  die  Geschichte 
der  Geburt  und  der  Leiden  Jesu,  der  Olymp  der 
Heiligen,  der  Begriff  der  Sünde  und  der  Gnade, 
Himmel  und  Hölle.  Diese  Inhalte  haben  die  Kunst 
aufs  glücklichste  befruchtet,  sie  haben  manches 
fromme  Gemüt  mit  göttlicher  Ahnung  erfüllt  und 
starke  Gewissenszwänge  auf  die  jungen  Völker  aus- 
geübt; die  Ideen  Christi  haben  sie  dem  Abend- 
lande nicht  mitgeteilt.  Man  kann  deshalb  fast 
durchweg  in  der  vorreformatorischen  Geschieht- 

104 


Schreibung  Europas  den  Begriff  des  Christentums 
durch  den  der  Kirche  ersetzen.  Die  Reformation 
hat  neben  ihren  großen  dogmatischen  und  rituellen 
Umgestaltungen  die  Evangelien  literarisch  erweckt 
und  aus  ihrem  Inhalt  so  viel  überströmen  lassen, 
daß  den  Schwachen  Tröstung,  den  Mächtigen  Er- 
bauung gespendet  wurde.  Ein  evangelisches  Leben 
in  Wahrheit  zu  verwirklichen,  hat  auch  sie  nicht 
versucht  und  ist  somit  Kirche  geblieben.  Ja  mehr 
noch :  sie  war  Macht  und  diente  der  Macht,  so  daß 
gelegentlich  der  naiv-verruchte  Gedanke  aufkom- 
men konnte:  da  nun  einmal  Christus  die  Not- 
leidenden tröstet,  so  möge  ihnen  damit  genug  sein; 
man  gebe  ihnen  statt  Brot  steinerne  Kirchen,  um 
sie  desto  besser  in  göttlicher  Furcht  und  mensch- 
licher Abhängigkeit  zu  erhalten. 

Die  beginnende  Mechanisierung  fand  sich  somit 
der  Macht  zweier  Kirchen  gegenüber  und  wandte 
gegen  sie  das  ganze  Arsenal  ihrer  Forschungsergeb- 
nisse und  Verstandesmethoden;  zum  Christentum 
selbst  drang  sie  nicht  vor.  Selbst  der  späte  und 
reiche  Geist  Nietzsches  wütete  gegen  die  Kirche, 
indem  er  glaubte,  mit  Christus  zu  kämpfen. 

Noch  heute  ist  die  mechanistische  Epoche  in 
christlichem  Sinne  nicht  weitergekommen.  Sie  hat 
den  kirchlichen  Liberalismus  emporgebracht  und 
ringt  in  materieller  Auffassung  um  dogmatische 
Zugeständnisse.  Populär-historische  Fragen  werden 
mit  Leidenschaft  erörtert,  und  das  Ziel  erscheint 
eine  dritte  Kirche  mit  unpersönlichem  Dogma. 

Auch  da,  wo  die  Zeitanschauung  sich  vom  Chri- 
stentum löste,  konnte  sie  ihr  religiöses  Empfinden 
vom  terrestrischen  Bande  der  Vernunft  nicht  be- 
freien, gleich  als  ob  eine  vielbeschäftigte  Zeit  es  für 

JOS 


angemessen  hielt,  die  göttlichen  Dinge  mit  der 
Geistesmechanik  des  Alltages  zu  erledigen,  um  nicht 
allzuweit  von  ihren  vermeintlich  produktiveren  Auf- 
gaben hinweggerissen  zu  werden.  So  griff  sie  denn 
immer  wieder  zu  den  plumpen  Hebeln  des  Ma- 
terialismus, ließ  sie  unüberzeugt  fahren,  wenn  an- 
gesehene Leute  ihr  ins  Gesicht  lachten,  und  spähte 
beständig  nach  heimlicher  Gelegenheit,  um  zu 
ihrem  Lieblingsspielzeug  zurückzukehren. 

Denn  bei  den  edleren  ungermanischen  Rassen 
mischt  sich  —  wie  bei  den  Juden  ersichtlich  —  in 
seltsamer  Weise  Aberglauben  mit  hoher  Trans- 
zendenz. Der  abergläubische  Teil  sieht  in  der  Re- 
ligion die  Mirakelseite  des  Naturgeschehens.  Glaubt 
er  sich  von  Mirakeln  und  Gebetwundern  unter- 
stützt, so  behält  er  eine  gewisse  dumpfe  Dämono- 
logie bei,  nicht  ohne  sich  seiner  Unaufgeklärtheit 
ein  wenig  zu  schämen.  Hat  er  enttäuscht  oder 
kämpfend  dem  Wunderwesen  ein  Ende  gemacht, 
so  läßt  er  sich  im  Gefühl  erledigten  Vorurteils  mit 
einer  entgötterten  Welt  oder  einem  deistisch- 
pantheistisch  verwalteten  Naturtheater  genügen. 
Der  Anspannung  der  Seelenkräfte,  des  religiösen 
Erlebens,  der  transzendenten  Intuition  ist  ein  an- 
derer Teil  dieser  Menschen  von  jeher  in  hohem 
Maße  fähig  gewesen;  doch  haben  ihre  Stimmen  in 
der  mechanistischen  Welt  bisher  wenig  Nachhall 
gefunden.  Die  Anschauung  dieser  Welt  geht  eben 
dahin,  alles  Geschehene  sei  unerstaunlich,  von  aus- 
schließlicher Realität,  nicht  ethischen,  sondern 
mechanischen  Gesetzen  unterworfen,  ohne  absolute 
Werte,  durch  Vernunft  erschöpfbar.  Diese  An- 
schauung ist  aber  nichts  anderes  als  die  Gefühls- 
lokalisierung  der   Tatsache,    daß   der   noch   junge 

io6 


mechanistische  Prozeß  die  Seelenkräfte  zugunsten 
der  Geisteskräfte  unterdrückt.  Sollte  dieser  Zwangs- 
zustand nachlassen,  so  würde  die  entgermanisierte 
Bevölkerung  an  transzendenten  Kräften  sich  reich 
genug  erweisen,  um  ein  von  Erdenfesseln  fieies  re- 
ligiöses Ideal  emporzutragen:  Beweis  ist  die  echte 
und  große  Sehnsucht  edlerer  Naturen,  die  mit  nicht 
geringerer  Inbrunst  als  vor  zweitausend  Jahren  auf 
Erlösung  wartet. 

Das  Ideal  der  Kunst.  Die  Kunst  entstand 
aus  Schmuck  und  Spiel  primitiver  Völker.  Die 
erste  Segnung  wurde  ihr  zuteil,  als  sie  im  Stande 
beginnender  Zivilisation  als  Handwerk  gebunden 
vnirde.  Hieraus  erwuchsen  ihr  die  Vorteile  der 
technischen  Bindungen  an  Materialien  und  Kräfte,- 
der  traditionellen  Summierung  der  Erfahrungen 
durch  Generationsreihen,  der  Kurzschrift  und 
Symbolik  des  Ornaments,  der  Vorräte  an  land- 
läufigen Inhalten  und  Gegenständen,  der  Gefolg- 
schaft einer  im  Mitempfinden  und  Verstehen  fort- 
schreitenden Bevölkerung. 

Eine  zweite  Steigerung  geschah,  als  Könige,  Prie- 
ster und  Herren  die  Kunst  ihren  Hofhaltungen 
dienstbar  machten,  denn  es  wuchs  die  Größe  der 
Aufgaben,  es  entstand,  von  reicheren  Mitteln  ge- 
fördert und  dem  Alltäglichen  überhoben,  ein  Zu- 
sammenwirken der  Kräfte  zu  vorbildlichem,  monu- 
mentalem Schaffen. 

Die  dritte  und  höchste  Weihe  wurde  der  Kunst 
durch  Eroberung  aufgezwungen.  Kunstfremde, 
aber  hochgeartete,  dem  Wesentlichen  zugewandte 
Kriegsstämme  unterwarfen  die  kunstfertige  Zivili- 
sationsmasse, die  an  die  Grenze  ihrer  eigenen  Ent- 
wicklungsmöglichkeit gelangt  war,  und  festigten  ein 

107 


Adelsregiment,  das  wohlwollend  und  aufs  Große 
gerichtet  die  Kunst  zu  sich  emporzog,  indem  es  ihr 
den  Inhalt  des  individuellen,  des  seelenhaften,  des 
gefühlstiefen  Lebens  verlieh.  Bis  in  die  historische 
Zeit  hinein  können  wir  derartige  Vorgänge  gewalt- 
samer Befruchtung  verfolgen;  Oberitalien,  Nord- 
frankreich, Sizilien,  Spanien  bezeugen  sie.  Daß 
Hochkultur  niemals  anderen  als  zweischichtigen, 
von  kriegerischen  Aristokraten  beherrschten  Na- 
tionen beschieden  war,  haben  wir  uns  vergegen- 
wärtigt, wie  auch  ferner,  daß  erst  der  Vermischungs- 
prozeß die  letzten  und  tiefsten  Kräfte  entbinden 
konnte. 

War  die  Mischung  geschehen,  die  Masse  geflossen 
und  beruhigt,  so  geschah  in  allen  Jahrhunderten 
und  in  allen  Nationen  das  Gleiche,  in  Griechenland 
wie  im  Italien  der  Renaissance,  in  Holland  wie  in 
Frankreich,  in  Italien  wie  in  Deutschland :  die  Kunst 
hatte  ihren  transzendenten,  ihren  religiösen,  ihren 
seelenhaften  Inhalt  verloren,  sie  war  wiederum  zur 
rein  sinnlichen  Kunst  geworden. 

Das  Wort  fordert  eine  Erläuterung.  Freilich  muß 
alle  Kunst  vor  allem  anderen  sinnlich  sein,  denn 
durch  die  Sinne  wird  sie  uns  zuteil  und  wirkt  auf 
unser  inneres  Leben.  Unter  rein  sinnlicher  Kunst 
aber  soll  diejenige  verstanden  sein,  die  auf  dem 
Wege  der  Sinne  nur  das  sensitive,  nervöse,  der  Erde 
zugewandte  und  von  ihr  abhängige  Leben  ergreift, 
während  transzendente  Kunst  bis  in  das  Urgebiet 
der  Seele,  bis  in  die  undifferenzierten  Regionen 
vorzudringen  vermag,  in  denen  jenseits  aller  Wün- 
sche und  Begierden  die  ewige  Einheit  und  Harmonie 
ahnbar  wird.  Den  Gegensatz  des  Sinnlichen  und 
Transzendenten  kann  man  nicht  deutlicher  als  in 

io8 


Beethovens  Kunst  erfassen,  etwa  im  Vergleiche  des 
Septetts  oder  der  Fidelioouverture  mit  der  Missa 
Solemnis.  Im  Sinne  dieser  Unterscheidung  be- 
schränkt sich  der  Begriff  der  sinnlichen  Kunst 
durchaus  liicht  auf  das  Gebiet  niedriger  Reizungen; 
auch  Gebilde  unvergänglicher  Schönheit  sind  in 
diese  Bestimmung  eingeschlossen,  wie  die  vom 
Pathos  der  Angst  und  der  Beschwörung  durch- 
tobten Psalmen  der  Hebräer. 

Dies  aber  kennzeichnet  die  Künste  der  Ver- 
schmelzungsepochen, daß  sie  immer  wieder  den 
Weg  eingeschlagen  haben  vom  Religiösen  zum  Ek- 
statischen und  Deklamatorischen,  vom  organisch 
Struktiven  zum  stimmungsmäßig  Koloristischen, 
vom  Architektonischen  zum  Dekorativen,  vom  Ge- 
mütvollen zum  Sentimentalen,  vom  Ergreifenden 
zum  Sensationellen;  symbolisch  gesprochen:  von 
der  Linie  zur  Farbe  und  vom  Organismus  zum 
Eindruck. 

Während  der  früheren  Perioden  der  Abstiege 
wurde  die  Kunst  aus  ihren  beiden  ältesten  Bin- 
dungen, der  handwerklichen  und  der  höfischen, 
nicht  entlassen;  im  Gegenteil,  ihre  äußeren  Fesseln 
verengten  sich.  Der  souveräne  Auftraggeber  war 
anspruchsvoller,  verwöhnter,  eigensinniger  gewor- 
den und  zwang  das  Metier  zur  äußersten  Anspan- 
nung seiner  technischen  Fertigkeiten,  und  an  die 
Stelle  kontrollierenden  aristokratischen  Geistes  trat 
die  geschulte  Zunft  der  Kenner,  die  nicht  aus 
Reinheit  des  Empfindens,  sondern  nach  bequem 
erlernbaren  Regeln  urteilte  und  Tradition  in  Kon- 
vention verwandelte.  Unter  solchem  Zwang  kamen 
seelenlose,  aber  meisterlich  vollendete  Werke  zu- 
stande, die  durch  die  Jahrhunderte  hindurch  immer 

109 


wieder  das  Gefallen  der  Mächtigen  erregten,  und 
die  von  einzelnen  für  unsere  Zeit  ersehnt  werden. 
I  Freilich  vergebens.  Denn  die  mechanistische 
Epoche  hat  längst  diese  beiden  Bindungen  derKunst 
gelöst.  Die  eine  mußte  fallen,  weil  bei  erhöhtem 
Volkswohlstand  und  doppelt  erhöhter  Kunstpro- 
duktion nur  noch  die  bürgerliche  Gesellschaft  als 
Bestellerin  auftreten  konnte;  die  andere,  weil  alles 
Handwerk  erstarb  und  mit  ihm  der  Stolz  der  Ge- 
schicklichkeit, der  Übung  und  der  Überlieferung. 
So  war  die  Kunst  befreit  durch  den  Bruch  der 
Kontrolle  und  den  Bruch  der  Tradition;  aus  Hof- 
kunst wurde  Bürgerkunst,  aus  Handwerkskunst 
Talentkunst.  Gleichzeitig  aber  war  eine  dritte 
Richtung  der  Freiheit  eröffnet;  denn  durch  For- 
schung, Verkehr  und  technische  Mittel  erschlossen 
lag  plötzlich  alles  vergangene,  alles  fremdländische 
Kunstwesen  handgreiflich  vor  aller  Augen.  Man 
erkannte,  daß,  von  wechselnden  Verhältnissen  be- 
dingt, jede  Form,  jede  Richtung,  jeder  Inhalt  mög- 
lich, keine  Bedingung  absolut,  keine  Lösung  ewig 
war.  Nun  begann  ein  Wühlen  und  Wählen,  das 
nun  schon  drei  Menschenalter  andauert,  und  dahin 
zu  führen  scheint,  daß  man  künstliche  Bedingt- 
heiten möglichst  nationaler  Art  erfindet,  um  nicht  aus 
Reichtum  zu  verarmen  und  den  beschämenden  Weg 
der  karnevalistisch  travestierenden  Mode  zu  wandeln 
Maß  man  also  von  Schranken  befreite  Sinnes- 
kunst als  das  Kunstideal  der  Mechanisierung  be- 
zeichnen, so  darf  daran  erinnert  werden,  daß  eine 
Länder  und  Generationen  überblickende  Betrach- 
tung ebensowenig  zu  Wertbemessungen  wie  zu  aus- 
schließlichen Urteilen  gelangen  darf.  Das  vorah- 
nende Fühlen  der  Kunst,  vielfach  zusammenwirkend 

HO 


mit  der  Kontraimitation,  die  den  rasch  abstumpfen- 
den Geschmack  dieser  Zeit  dem  Kontrast  entgegen- 
treibt, hat  zeitiger  als  auf  anderen  Lebensgebieten 
Gegenströmungen  in  der  Kunst  erweckt,  die  auf 
Beschränkung  und  Verinnerlichung  hinstreben. 
Freilich  haben  solche  Regungen,  die  uns  vornehm- 
lich in  der  deutschen  Dichtung  entgegentreten, 
einen  doppelten  Kampf  zu  bestehen:  mit  den 
Schreibern,  die  Rückfälligkeiten  ahnden  —  denn 
im  Kunstbetriebe  verlangt  man  nach  mechanisti- 
schem Gesetz  stets  das  äußerlich  Neue  —  und  mit 
dem  Publikum,  das  seine  sauer  erworbene  Revo- 
lutionsgesinnung noch  lange  nach  Friedensschluß 
zäh  verteidigt. 

Inzwischen  spielen  die  Wirkungen  der  mechani- 
sierten Produktionsform  unmittelbar  in  die  Werk- 
stätten der  Künste  hinein.  Die  Erschwerung  des 
Existenzkampfs,  die  Konkurrenz,  der  massenhafte 
Bedarf  und  seine  massenhafte  Deckung,  die  Publi- 
zistik, das  Ausstellungswesen,  die  Aushilfsbeschäf- 
tigungen treiben  zu  hastiger,  skizzenhafter,  äußer- 
lich aufgereihter  Produktion;  die  Grenzgebiete 
zwischen  Kunst  und  Geschäft  verzehren  einen  star- 
ken Teil  der  Arbeitskraft.  Das  Spiel  der  Mode  tritt 
hinzu,  der  Drang  zum  Neuen,  die  Vormacht  des 
weiblichen  und  des  gewerbsästhetischen  Urteils,  zu- 
letzt die  geschäftliche  oder  tendenziöse  Begründung 
der  Aufträge;  so  darf  es  nicht  wundernehmen,  daß 
die  bedächtigste  der  Künste,  die  Architektur,  unter 
der  Mechanisierung  ihrer  vielgeschäftigen.  Betriebe 
zum  kunsthistorischen  Dekorationsgeschäft  herab- 
sank, und  daß  die  jüngste  französische  Malerei  in 
Technik  und  Inhalt  ihrer  Werke  sich  indianischen 
Darbietungen  nähert. 

III 


Das  Ideal  der  Wissenschaft.  Welch  wunder- 
bare Vorbestimmung  für  Wissenschaftsbetrieb  den 
germanisch  durchsetzten  Völkermischungen  inne- 
wohnt, haben  wir  gesehen.  Die  Liebe  der  Urvölker 
zum  Tatsächlichen  als  Grundlage  der  Forschung, 
die  Idealität  der  Germanen  als  unbeirrbare  Instanz 
der  Betrachtung  mußten  sich  verbinden,  um  das 
mechanistische  Wunder  der  Zeiten,  die  moderne 
Gesamtwissenschaft,  möglich  zu  machen.  Die  eigen- 
tümliche Richtung  jedoch,  die  den  Wissenschafts- 
geist zum  mächtigsten  Faktor  der  Mechanisierung 
erhob,  verdankt  sie  der  Zweckhaftigkeit  der  einstig 
Unterdrückten.  Wenn  der  phantastische  Mensch 
sich  mit  der  vereinfachenden  Erklärung  begnügt 
und  den  Donner  als  Gottesstimme,  den  Himmel  als 
eherne  Sphäre  hinnimmt,  so  verlangt  der  Zweck- 
hafte, die  Erscheinung  sich  dienstbar  zu  machen, 
sie  ganz  zu  besitzen,  wie  er  sagt:  dahinterzukom- 
men. Er  stellt  die  sieben  Fragen,  wittert  Wider- 
sprüche, verlangt  Beweise.  Diese  Beweise  aber  kann 
nur  die  Rechnung  liefern,  weil  sie  als  unumstößlich 
gilt,  und  so  beginnt  er  zu  zählen,  zu  messen,  zu 
wägen,  zu  rechnen.  Es  hat  etwas  Einleuchtendes, 
daß  Nomaden,  die  ersten  Besitzer  zahlenmäßiger 
Güter,  Erfinder  des  rechnerischen  Denkens  auf  Er- 
den gewesen  sind;  und  somit  wären  die  Patriarchen 
der  Hirtenvölker  nicht  nur  die  Väter  des  Kapitals, 
sondern  auch  der  exakten  Wissenschaft.  Indem  nun 
die  Wissenschaft  die  rechnerische  und  experimen- 
telle Ermittlung  des  Gesetzmäßigen  zum  höchsten 
Prinzip  erhob,  entäußerte  sie  sich  in  einem  Akt 
großartiger  Selbstverleugnung  für  immer  der  Spe- 
kulation und  der  Hoffnung  auf  absolute  Erkenntnis. 
Sie  widmete  ungezählte  Geschlechter  der  Lösung 

112 


umschränktester  Aufgaben,  indem  sie  es  sich  ge- 
nügen ließ,  das  ungemessen  zuströmende  Material 
des  Tatsächlichen  in  das  Netzwerk  der  Gesetz- 
mäßigkeiten zu  verflechten  und  hierdurch  für  die 
Menschheit  erträglich  zu  machen.  Der  Mechani- 
sierung zugeführt,  hat  die  Summe  der  entdeckten 
und  errechneten  Tatsachen  und  Zusammenhänge 
erstaunliche  technische  Ergebnisse  gezeitigt;  im 
Sinne  der  Erkenntnis  gemessen,  hat  sie  das  Gebiet 
des  Unbegreiflichen  zwar  mit  neuen  Fragestellungen 
bestürmt,  jedoch  nicht  verkleinert,  sondern  ver- 
größert. Das  Prinzip  der  mechanischen  Gesetz- 
mäßigkeit aber  hat  sich  derart  als  wissenschaftliche 
Denkform  unserer  Zeit  festgesetzt,  daß  die  er- 
zählenden, schildernden  und  urteilenden  Wissen- 
schaften nur  so  weit  als  reine  Wissenschaften  er- 
scheinen, als  sie  sich  dieser  Form  bedienen  können, 
im  übrigen  als  Verwandte  der  Technik  und  der 
kritischen  Kunst  sich  anlassen. 

Der  zweckhafte  Einschlag,  der  die  Wissenschaft 
zur  Exaktheit  zwang  und  ihr  Ideal  zu  einem  im 
höchsten  Sinne  geometrischen  machte,  durchdringt, 
wie  den  Betrieb,  so  die  Menschen,  die  ihm  ange- 
hören, und  unterscheidet  sie  auf  das  entschiedenste 
von  künstlerisch  schaffenden. 

In  einer  Zeit,  die  den  gewaltigsten  Besitz  der 
Urvölker,  die  ethische  Produktivität,  noch  nicht  zu- 
tage gefördert  hat,  sind  sie  die  höchsten  Vertreter 
des  Zweckmenschentums,  und  ihr  geistiger  Schatz 
kann  als  der  Idealismus  der  Materiellen  gelten. 

Daß  das  politische  Ideal  unserer  Zeit,  soweit 

^  es  auf  die  Verhältnisse  der  Völker  zueinander  sich 

bezieht,  im  Nationalismus  zu  suchen  ist,  mag  auf 

den  ersten  Blick  befremden.    Denn  das  Netz  der 


I 


t.8  .  113 


Mechanisierung  ist  international :  niemals  waren  die 
Völker  einander  so  nahe,  niemals  haben  sie  der 
Wechselwirkung  so  sehr  bedurft,  einander  so  viel 
besucht  und  so  gut  gekannt.  Da  aber  der  Na- 
tionalismus als  Zentralgedanke  sehr  jung,  kaum 
mehr  als  hundertjährig  die  Politik  beherrscht,  da  er, 
aus  bewußtem  Gegensatz  zum  Kosmopolitismus  des 
Aufklärungsalters  entstanden,  gemeinschaftlich  mit 
der  Mechanisierung  aufgewachsen  ist,  so  muß  sein 
Ursprung  wo  nicht  im  Wesen,  so  doch  in  den  Mo- 
dalitäten der  Mechanisierung  begriffen  werden. 

Indem  wir  nun  das  Paradox  zu  erklären  suchen, 
wie  die  fortschreitende  Homogenisierung  und  An- 
gleichung  der  Völker  ihren  Willensausdruck  in  die 
Betonung  der  relativen  Gegensätzlichkeiten  stellen 
konnte,  müssen  wir  uns  erinnern,  daß  die  Hochperiode 
der  Mechanisierung  die  europäische  Welt  in  einem 
Augenblick  tiefster  politischer  Zerklüftung  über- 
rascht hat.  Vereinigt  standen  zu  Anfang  des  letzten 
Jahrhunderts  die  leitenden  Mächte  Frankreich 
gegenüber,  so  wie  sie  in  etwas  veränderter  Konstel- 
lation seit  Ende  des  Jahrhunderts  Deutschland 
gegenüberstehen.  Das,  was  sich  in  der  Zwischen- 
zeit ereignet  hat,  ist  seit  Philipps  und  Alexanders 
Tagen  in  der  Weltgeschichte  nicht  erhört  worden: 
ein  armes,  mäßig  bevölkertes,  politisch  verwahr- 
lostes Land  erhebt  sich  innerhalb  dreier  Menschen- 
alter zum  begütertsten,  volkreichsten,  kriegerisch 
gefürchtetsten  im  Kreise  der  europäischen  Völker. 
Die  Geschichte  betrachtet  noch  immer,  obwohl  sie 
es  leugnet,  die  politischen  Ereignisse  als  die  pri- 
mären und  erblickt  in  den  drei  preußischen  Kriegen 
das  Moment  der  Erhebung.  Es  tut  der  Größe  der 
Menschen  und  ihrer  Taten  keinen  Abbruch,  wenn 

114 


erklärt  wird,  daß  ohne  die  Mechanisierung  Deutsch- 
lands der  Zuwachs  an  Volk  und  Reichtum,  ohne  ihn 
die  Erhebung  nicht  mögHch  war,  die  ihrerseits  dann 
abermals  auf  die  Mechanisierung  mächtig  rückge- 
wirkt hat.  Das  XIX.  Jahrhundert  gehört,  trotz  des 
Ausbaus  der  englischen  Kolonialmacht,  den  Deut- 
schen und  Amerikanern,  und  beiden  aus  wirtschaft- 
lichen Ursachen:  den  Amerikanern,  weil  sie  das 
reichste  Land  der  Erde  erschlossen,  den  Deutschen, 
weil  sie  der  bürgerlichen  Intelligenz  ein  angepaßtes 
Arbeitsfeld  gewannen. 

Moderne  Kriege  sind  im  Völkerleben  das  gleiche, 
was  Examina  im  bürgerlichen  Leben  sind,  Befähi- 
gungsnachweise. Den  Befähigungsnachweis  als 
Großmacht  hat  Preußen  mit  deutscher  Hilfe  er- 
bracht; der  Befähigungsnachweis  als  führende  Wirt- 
schaftsmacht Europas  wird  Deutschland  über  lang 
oder  kurz  von  den  wetteifernden  Nationen  auf- 
gezwungen werden.  Im  Vorgefühl  dieser  Abrech- 
nung ist  nicht  nur  alles  Kriegsspiel  unserer  Zeit, 
sondern  auch  alles  Wirtschaftsspiel  Rüstung.  Jede 
neue  Industrie  und  jede  neue  Handelsverbindung 
ist  ein  Gegenwert  von  Bataillonen.  Alle  Politik  ist 
Wirtschaftspolitik,  Kriegsbereitschaft. 

Dies  bedeutet  der  Nationalismus  unserer  Zeit, 
der  somit  eine  Reaktion  auf  die  ungleichmäßige 
Verteilung  der  mechanistischen  Vorteile  darstellt. 

Wiederholen  wir  kurz  den  Kreisprozeß:  Im 
Augenblick  heftigen  Zwiespalts  wird  den  Völkern 
eine  Wirtschaftsform  aufgezwungen,  die  eigentlich 
für  geeinigte  Völker  bestimmt  ist.  Getrennt  bildet 
man  sie  aus;  es  zeigt  sich,  daß  eine  bevorzugte  Na- 
tion die  unvergleichlich  größten  Vorteile  zieht,  weil 
sie  die  besten  Voraussetzungen  besitzt.    Diese  Na- 

8*  IIS 


tion  erhebt  sich  aus  politischer  und  wirtschaft- 
licher Nichtigkeit  zum  bestimmenden  Faktor  und 
besiegelt  diese  Stellung  mit  dem  Schwertknauf. 
Der  Moment  zur  wirtschaftlichen  Einigung  ist  ver- 
paßt ;  die  friedliche  Konkurrenz  wird  zur  wirtschaft- 
lichen Rüstung,  und  die  Nationen  stehen  feindlicher 
als  zu  Beginn  der  Epoche  einander  gegenüber. 

Der  letzte  Schritt,  die  Überleitung  des  natio- 
nalistischen Empfindens  aus  dem  politischen  Be- 
wußtsein in  das  bürgerliche,  ging  bewußt  von 
Deutschland  aus,  und  zwar  von  der  politisch  herr- 
schenden Klasse,  die  ihre  Interessen  von  der  Me- 
chanisierung nicht  genügend  gefördert  sah  und  da- 
her kein  Bedenken  trug,  ihr  den  internationalen 
Boden  zu  entziehen.  Durch  den  deutschen  Schutz- 
zoll wurde  der  private  ausländische  Konkurrent  ge- 
troffen, und  indem  er  sein  eigenes  Land  zu  Ver- 
geltungen drängte,  nährte  er  bei  sich  selbst  und 
seinen  Landsleuten  gleichzeitig  das  nationale  Be- 
wußtsein und  die  Abneigung  gegen  den  Rivalen; 
beides  zuerst  im  wirtschaftlichen,  dann  überwiegend 
im  politischen  Sinne. 

So  will  es  scheinen,  als  sei  der  Nationalismus,  in 
seiner  Eigenschaft  als  Brotfrage,  für  alle  Zeiten  ver- 
ankert. Er  ist  es  nicht,  denn  das  Widersinnige  ist 
nicht  von  Dauer. 

Es  braucht  wohl  nicht  ausgesprochen  zu  werden, 
daß  der  Name  des  Nationalismus  hier  nicht  als 
Gleichsinn  des  Wortes  Patriotismus  genannt  wird, 
daß  vielmehr  unter  jenem  Begriff  die  Tendenz 
verstanden  ist,  die  Nationen  in  ihren  Lebens- 
funktionen abzusondern,  ihre  Vergesellschaftung  zu 
hindern.  Auch  in  dieser  Bedeutung  bleibt  der  Na- 
tionalismus in  seiner  Urform  berechtigt:  es  darf 

ii6 


einer  Nation  nicht  zugemutet  werden,  fremder 
Sprache,  fremdem  Glauben,  fremder  Kultur  und 
fremder  Obrigkeit  sich  zu  fügen;  das  Weltcäsaren- 
tum  hat  seine  Berechtigung  verloren,  und  ein  ab- 
soluter Kosmopolitismus  wird  als  politisches  Ideal 
schwerlich  wiederkehren.  Indessen  ist  es  durchaus 
denkbar,  daß  die  staatlichen  Organisationen  über 
den  Rahmen  des  Staates  hinaus  einen  unvergleich- 
lich weiteren  Ausbau  erfahren,  als  bisher  durch 
völkerrechtliche,  schiedsrichterliche  und  postalische 
Vereinbarungen  geschehen.  Denn  dies  ist  der  Me- 
chanisierung und  der  Natur  gemeinsam,  daß  ihre 
Organisationen  nach  dem  Großen  wie  nach  dem 
Kleinen  hin,  nach  innen  wie  nach  außen  ins  Unend- 
liche wachsen.  So  wie  Zellen  zum  Leibe,  Indi- 
viduen zu  Landesverbänden,  Landesverbände  zu 
Reichen  sich  zusammenschließen,  so  wird  eine 
engere  Vergesellschaftung  der  Reiche  unausbleiblich 
sein;  und  in  dem  Maße,  wie  sie  fortschreiten,  wird 
es  fraglich  werden,  was  das  wünschenswertere  ist; 
wenige  große  Komplexe  locker  gefügt,  oder  viele 
kleine  Komplexe  fest  gefügt  und  eng  vereinigt.  In 
diesem  Sinne  ist  das  Deutsche  Reich  ein  glücklich 
gestalteter  Organismus,  der  um  so  dauerhafter  sein 
wird,  je  mehr  er  seinen  Teilen  größtmögliche  Frei- 
heit individuellen  Lebens  erhält. 

Die  Entfesselung  aus  den  Banden  des  Nationalis- 
mus aber  wird  nicht  sowohl  durch  Kongresse  und 
Schiedsverträge  geschehen,  als  durch  wirtschaftliche 
Verständigungen.  Vielleicht  werden  die  ersten 
Schritte  zu  Zoll  Vereinigungen  führen,  und  es  wäre 
mehr  gewonnen,  als  durch  Bündnisse  sich  erreichen 
läßt,  wenn  nach  mehreren  Seiten  hin  die  deutschen 
Zollgrenzen  verschwänden. 


Das  Ideal  des  staatlichen  Auf  baus  im  Sinne 
der  Mechanisierung  ist  der  Verwaltungsstaat.  So- 
sehr die  Bezeichnungen  des  Regierens  und  der  Re- 
gierung uns  vertraut  sind,  so  kann  doch  nicht  ge- 
leugnet werden,  daß  die  Zahl  und  Mannigfaltigkeit 
der  Interessen  und  Bedürfnisse  innerhalb  einer 
mechanisierten  Gemeinschaft  den  wahren  Begriff 
des  Regierens,  die  Leitung  einer  Menge  durch  über- 
legenen Willen  und  überlegene  Einsicht  zu  vorbe- 
stimmten Zielen,  nahezu  aufgehoben  hat.  Der  Be- 
griff der  Verwaltung  hingegen  kennzeichnet  sich 
als  Ausgleich  berechtigter  Interessen  durch  be- 
stimmte Instanzen,  wobei  allerdings  gewisse  prak- 
tische und  ideelle  Endziele  vorschweben  können; 
jedoch  dürfen  diese  auf  die  Dauer  nicht  außerhalb 
der  Linie  liegen,  die  der  Schwerpunkt  der  aner- 
kannten Interessen  ohnehin  beschreibt.  Dem  Ein- 
zelnen steht  die  Verwaltung  tatsächlich,  der  Ge- 
meinschaft nur  scheinbar  als  regierende  Obrigkeit 
gegenüber,  und  ethnologische  Verschiedenheiten 
finden  nur  insofern  statt,  als  die  Gesamtheit  in 
einem  Falle  vorwiegend  initiativ,  im  anderen  Falle 
vorwiegend  prohibitiv  ihren  Willen  zur  Geltung 
bringt.  Freilich  sind  die  sozialen  Gruppen  mit  ver- 
schiedener Stärke  an  der  Instrumentation  des  Ge- 
samtwillens beteiligt,  und  man  kann  sagen,  daß  in 
fast  allen  älteren  Kulturstaaten  die  früheren  abso- 
luten Gewalten,  Adel  und  Klerus,  eine  gewisse 
Vormacht  sich  erhalten  haben;  so  ist  Österreich 
ein  ausgesprochen  kirchlich,  Preußen  ein  ausge- 
sprochen aristokratisch  verwaltetes  Land. 

Auch  die  monarchischen  Gewalten  haben  im 
Verwaltungsstaat  ihre  Bedeutung  behalten,  zum 
Teil  erhöht.    Der  größere  Teil  der  europäischen 

Ii8 


Staaten  bestellt  aus  Monarchien,  und  es  darf  be- 
hauptet werden,  daß  das  republikanische  Ideal  des 
XVIII.  Jahrhunderts  dahinschwindet.  Dies  ist  im 
Sinne  der  Mechanisierung  durchaus  folgerichtig; 
denn  es  besteht  ein  berechenbarer  Vorteil  darin, 
an  der  höchsten  Spitze  der  Verwaltung,  dort,  wo 
die  leiseste  Willensregung  im  Abstieg  zur  Peripherie 
die  heftigsten  Bewegungen  auslösen  kann,  Ange- 
hörige eines  Hauses  zu  wissen,  das,  allen  bürger- 
lichen Interessen  seit  Menschenaltern  und  für  alle 
Zukunft  enthoben,  seine  Existenz  mit  der  des 
Staates  gleichzusetzen  gelernt  hat.  Aufgabe  der 
Verfassung  ist  es  dann,  die  noch  verbleibenden 
menschlichen  Schwächen  —  von  denen  eigentlich 
nur  Eitelkeit  za  fürchten  ist  —  so  weit  zu  neutrali- 
sieren, daß  eine  Einseitigkeit  der  Entscheidungs- 
funktionen vermieden  wird.  Vorzüglich  haben 
Greise  und  Frauen  sich  als  verwaltungsstaatliche 
Souveräne  bewährt.   ' 

Falsch  wäre  es,  zu  folgern,  daß  im  mechanisierten 
Staatswesen  die  persönliche  Willenswirkung  des 
Monarchen  sich  verflüchtigt.  Sie  wird  aber  um  so 
machtvoller  sein,  je  mehr  er  sich  entschließt,  allen 
äußeren  Interessen  und  Einflüssen  fernzustehen. 
Der  Parteimonarch  ist  im  modernen  Staate  unmög- 
lich; der  Klassenmonarch  setzt  sich  Rückschlägen 
aus  und  schädigt  seine  Autorität;  der  gänzlich  un- 
interessierte Monarch,  der  seine  Existenz  auf  die 
Gesamtheit  der  Nation  stützt,  wird  dasjenige  Or- 
gan des  Staatsgehirns  bedeuten,  das  in  Analogie 
der  transzendenten  Willensfreiheit  des  Individuums 
den  Zweifel  besiegt  und  den  Charakter  bestimmt. 
Als  Ausdruck  dieser  irdischen  Uninteressiertheit  ist 
denn   auch   die    Idee   einer   Gottesverantwortung 

*  119 


wohl  verständlich,  wobei  freilich  leicht  eine  Ver- 
wechslung von  persönlichen  Wünschen  mit  gött- 
lichen Inspirationen  sich  ereignen  kann.  So  wäre 
angesichts  dieses  mystisch  klingenden  Wortes  die 
Erinnerung  an  ein  friderizianisches  mit  einer  klei- 
nen Variante  statthaft:  daß  Gott  im  Kriege  hinter 
den  stärkeren  Bataillonen  und  im  Frieden  hinter 
den  wichtigeren  Interessen  steht. 

Im  Gegensatz  zur  monarchischen  Autorität  ist 
die  politische  Vormacht  des  Adels  im  Absteigen, 
denn  sie  findet  in  der  mechanistischen  Gesellschaft 
keine  reale  Stütze,  vielmehr  wetteifernde  Mächte. 
Der  preußisch-deutsche  Aristokratismus,  der  un- 
gebrocheil^te  in  Europa,  ist  aus  Gründen,  die  wir 
gestreift  haben,  durch  preußische  Verfassung  und 
Verwaltungstradition  gewährleistet  und  somit  auch 
für  die  nähere  Zukunft  ausreichend  verankert. 
Preußen  verdankt  ihm  viel,  denn  er  hat  einen  Be- 
amten- und  Offizierskörper  herangebildet,  der  an 
praktischem  Idealismus,  Mut  und  Pflichttreue  alle 
Hierarchien  des  XIX.  Jahrhunderts  überstrahlt 
und  von  dem  sinnlich  schwer  faßbaren  Vorgang, 
daß  eine  höher  organisierte  Oberschicht  ein  ganzes 
Volksleben  zu  kontrollieren  vermag,  uns  ein  voll- 
kommenes Bild  gibt. 

Obwohl  der  preußische  Adel  die  Kraft  bewährt, 
aus  kleiner  Menschenzahl  viele  und  bedeutende 
Talente  zu  prägen,  ist  seine  Veranlagung  nicht 
eigentlich  intellektuell.  Seine  großen  Vorzüge  be- 
ruhen auf  einem  unbeirrbaren  Sinn  für  das  Ehren- 
hafte, einem  scharfen  Blick  für  das  Praktisch-nütz- 
liche, auf  Mut,  Ausdauer  und  Genügsamkeit.  Ehr- 
geiz, Streben  nach  Verantwortung,  Freiheit  des 
Gedankens,    Erfindungskraft,    Anpassungsfähigkeit 

I20 


sind  nur  seinen  größten  Talenten  eigen,  dem 
Durchschnitt  fremd. 

Solange  daher  unter  einfacheren  und  langsamer 
wechselnden  Verhältnissen  die  Verwaltungstätig- 
keit etwa  nach  Art  der  Gutswirtschaft  erlernt  und 
auf  traditioneller  Grundlage  patriarchalisch  ausge- 
übt werden  konnte,  blieb  der  preußische  Regie- 
rungsadel unübertroffen.  Daß  er  neuen  Gedanken- 
formen und  Arbeitsmethoden  gegenüber  teilnahm- 
los auf  der  Überlieferung  beharrte,  war  1806  sein 
Schaden,  1849  sein  Vorteil.  In  dem  Maße  nun, 
wie  die  mechanistische  Weltwirtschaft  ganze  Ge- 
biete der  Staatsverwaltung  in  reine  Geschäfts- 
betriebe verwandelte,  der  Wechsel  der  Anschau- 
ungen und  Aufgaben  ein  tägliches  Umlernen,  ein 
beständiges  Erfinden  forderte,  zeigte  es  sich,  daß 
zwar  die  alten  Eigenschaften  noch  immer  höchst 
schätzbar  und  unverkürzt  vorhanden  waren,  daß 
aber  der  vorzüglichste  Menschendurchschnitt  nicht 
immer  ausreichen  konnte  zur  Lösung  vorgangloser 
Aufgaben  und  zur  Konkurrenz  gegen  die  stärksten 
Talente  des  Auslandes. 

Denn  inzwischen  war  im  Auslande,  insbesondere 
in  England  und  Frankreich,  einigermaßen  auch  in 
Österreich,  Rußland  und  Italien,  bewußt  oder  un- 
bewußt die  Erkenntnis  durchgedrungen,  daß  oberste 
Verantwortlichkeiten  nur  von  entschiedenen  Ta- 
lenten getragen  werden  dürfen,  und  daß  es  für 
Millionenstaaten  keine  Entschuldigung  gibt,  wenn 
diese  Talente  nicht  aufgefunden  werden.  So  haben 
sich  ohne  Zutun  der  Gesetzgebung  als  Folge  einer 
freieren  Praxis  in  jenen  Staaten  selbsttätig  wirkende 
Selektionsmethoden  von  größter  Verschiedenheit 
herausgebildet,  die  aber  alle  darin  übereinstimmen, 

♦  121 


daß  sie  die  Talente  des  Landes  aus  den  Millionen 
der  Mindergeeigneten  aussieben,  an  die  Oberfläche 
tragen  und  den  Verantwortungen  zuführen,  für  die 
sie  von  Natur  bestimmt  sind.  Solche  selbsttätige 
Selektionsmethoden  zu  erläutern  ist  hier  nicht  der 
Platz ;  es  genügt  zu  bemerken,  daß  Preußen  sie  nicht 
kennt,  und  somit  darauf  angewiesen  ist,  aus  hundert- 
fach kleinerem  Material  nach  veralteter  Übung  die 
Rekrutierung  seiner  ersten  Geschäftsführer  vorzu- 
nehmen. So  fällt  denn  die  doppelt  erschwerte  Auf- 
gabe der  Entdeckung  höchster  Begabungen  drei 
Königlichen  Kabinetten  zu,  und  es  kann  kommen, 
daß  bei  gesteigerten  Ansprüchen  an  Vermögen, 
Herkunft,  Repräsentation  und  Glanz  der  Persön- 
lichkeit die  schwersten  Verantwortungen  in  Krieg 
und  Frieden  nicht  immer  auf  den  stärksten  Schul- 
tern ruhen.  Es  ist  ein  schönes  Zeichen  der  Festig- 
keit des  preußischen  Gefüges  und  der  Brauchbarkeit 
des  aristokratischen  Durchschnitts,  daß  bisher  erst 
auf  zwei  Gebieten  vorwiegend  geschäftlicher  Art, 
freilich  auch  entscheidender  Wichtigkeit,  dieMängel 
des  Systems  offenkundig  geworden  sind:  im  Kolo- 
nialwesen und  in  der  auswärtigen  Politik.  Grund- 
sätzliche Mängel  eijies  Aufbaues  können  auf  die 
Dauer  nicht  ohne  Gefahren  bleiben;  es  ist  zu 
hoffen,  daß  es  nicht  allzu  schwerer  Erschütterungen 
bedarf,  um  sie  zu  beseitigen,  und  daß  nicht  eine 
allzu  heftige  Reaktion  das  Gute  mit  dem  Fehler- 
haften vernichtet  und  uns  in  die  Arme  des  Amerika- 
nismus  treibt. 

Ein  weiterer  Mangel  in  der  Anpassung  des  preu- 
ßischen Verwaltungsstaates  an  die  herrschende 
Mechanisierung  ist  zu  erwähnen.  Mechanistische 
Geschäfte  erfordern  zwar  einen  gewissen  Oppor- 

IZZ 


tunismus  im  Anschluß  an  den  Wechsel  der  Erforder- 
nisse und  die  Ansprüche  des  Tages,  der  Sieg  aber 
steht  dem  zu,  der  durch  die  Klippen  des  Augen- 
blicks steuernd  den  Fernpunkt  eines  weit  erspähten 
Zieles  nicht  aus  dem  Auge  verliert.  In  parlamen- 
tarischen Staaten  ist  das  Fernziel  Erbteil  einer 
führenden  Partei,  somit  eines  Volksteiles.  Mini- 
sterien wechseln  und  sterben  aus;  das  Parteiziel 
bleibt  erhalten,  und  der  scheidende  Politiker  ist 
zufrieden,  wenn  er  auch  nur  einen  Fußbreit  sich 
ihm  nähern  konnte,  in  dem  Bewußtsein,  daß  sein 
Genosse  oder  er  selbst  dereinst  berufen  sein  wird, 
die  Arbeit  fortzusetzen.  In  der  Ruhezeit  verfolgt 
das  Staatsschiff  den  Kurs  der  Gegenpartei,  berührt 
andere  Inseln  und  bleibt  doch  bereit,  die  ununter- 
brochene Fahrt  von  neuem  aufzunehmen.  So  ent- 
steht eine  politische  Tradition,  eine  Politik  der 
Diagonale  und  die  Möglichkeit,  Aufgaben  zu  stellen 
und  zu  lösen,  die  Jahrzehnte  erfordern. 

In  Preußen  beschränkt  sich  die  ministerielle 
Lebensdauer  auf  wenige  Jahre.  Der  Minister  kann 
keiner  Partei  angehören,  denn  er  muß  die  Fiktion 
vertreten,  daß  die  vom  Parlament  unabhängige 
Regierung  sozusagen  im  Absoluten  wurzelt;  somit 
kann  er  sich  auf  eine  Parteitradition  nicht  stützen. 
Hegt  er  dennoch  weitausschauende  Pläne,  so  wird 
er  doppelt  Bedenken  tragen,  sich  und  seinen  Stab 
ihnen  zu  widmen:  denn  er  selbst  wird  die  Ver- 
wirklichung nicht  erleben,  und  sein  Nachfolger  wird 
vielleicht  damit  beginnen,  das  mühsam  gelegte 
Fundament  so  gründlich  zu  zerstören,  daß  kein 
Späterer  Lust  findet,  es  zu  erneuern. 

Deshalb  fehlt  es  im  preußischen  Deutschland 
trotz   aller   Tradition   der   Verwaltung,   seit   Bis- 

123 


marcks  Abgang  an  politischer  Tradition,  an  poli- 
tischen Ideen  und  an  politischer  Langatmigkeit. 
Da  auch  dieser  Fehler  in  der  Konkurrenz  der 
Staaten  sich  geltend  zu  machen  beginnt,  zumal  in 
dem  Sinne,  daß  unsere  außenpolitischen  Ziele  stark 
zusammengeschmolzen  sind,  so  wird  die  Abhilfe 
nicht  mehr  lange  auf  sich  warten  lassen. 

So  müssen  wir  am  Schluß  dieser  Zwischenbe- 
trachtung fast  mit  Erstaunen  die  paradoxe  Tatsache 
feststellen,  daß  Preußen-Deutschland,  das  führende 
Land  der  europäischen  Mechanisierung,  das  viel 
gefürchtete  und  viel  bewunderte  Land  der  Technik, 
das  stärkste  Industrieland  der  alten  Welt,  das  Land 
der  erfolgreichsten  Geschäftsleute,  sich  in  seiner 
politischen  Ordnung  den  einmal  gegebenen  Ver- 
hältnissen der  Mechanisierung  so  wenig  angepaßt 
hat  —  und  zwar  ohne  Überlegenes  an  ihre  Stelle 
zu  setzen  — ,  daß  es  weder  seine  öffentlichen  Ge- 
schäfte selbst  verwaltet,  noch  eine  ausreichende 
Zahl  von  Talenten  für  entscheidende  Verantwor- 
tungen aufbringt,  noch  klare  und  bedeutende  poli- 
tische Ziele  besitzt,  noch  auch  —  wie  wir  leider 
hinzusetzen  müssen  —  dem  Auslande  gegenüber 
jederzeit  den  Einfluß  ausüben  kann,  der  einem  Ver- 
teidigungsaufwand von  zwei  Milliarden  und  der 
stärksten  Territorialarmee  aller  Länder  und  Zeiten 
entspricht. 

Dies  Bild  eines  Staatswesens,  das  sich  gegen  das 
mechanisierende  Ideal  zu  wehren  sucht,  ist  für  un- 
sere Betrachtung  doppelt  lehrreich.  Einmal,  weil 
es  zeigt,  welche  gewaltigen  Kräfte  die  Mechani- 
sierung aufzubringen  vermag,  um  Widerspenstige 
zu  bändigen.  Schon  heute  befindet  sich  das  alt- 
preußische    Herrschaftswesen    in     einem     labilen 

124 


Gleichgewichtszustand  ähnlich  dem  zu  Beginn  des 
XIX.  Jahrhunderts,  und  es  ist  nur  eines  zu  hoffen : 
daß  der  zögernde  Abbau,  der  sich  in  diesen  Jahr- 
zehnten vollzieht,  nicht  durch  Katastrophen  über- 
stürzt wird. 

Sodann  ist  es  wichtig,  festzuhalten,  daß  der  ge- 
genwärtige antimechanistische  Verwaltungszustand 
Preußens  in  letzter  Linie  einem  Rest  von  Abhängig- 
keitsbedürfnis der  ehemals  unterdrückten  Volks- 
schicht seine  Erhaltung  verdankt.  Dieses  Ab- 
hängigkeitsbedürfnis äußert  sich  in  absolutem  Sinne 
in  der  Lust,  durch  Befehle,  Verbote,  Anweisungen, 
Ermahnungen,  Ausschließungen,  Privilegien  dau- 
ernd geleitet  und  beschränkt  zu  werden;  es  äußert 
sich  in  relativem  Sinne  in  der  Verehrung  und  Be- 
wunderung, die  ohne  bewußte  Kenntnis  der  Ur- 
sache dem  anerkannt  edleren  Blute,  dem  ausge- 
sprochenen Herrentume  gezollt  wird. 

Das  Rudiment  vormechanistischer  Empfindungs- 
weise, das  hier  zutage  tritt,  führt  uns  zurück  zu  der 
Übersicht  der  zeitgenössischen  Ideale,  die  wir  so- 
eben beendet  haben. 

Die  Mehrzahl  dieser  Bilder  trägt  noch  die  Züge, 
die  der  älteren  Empfindungswelt  angehören;  um 
so  ausgeprägter,  je  weiter  wir  uns  aus  dem  Mittel- 
gebiet des  Mechanisierungskampfes  nach  uninter- 
essierten Regionen  hin  entfernen.  Ausgesprochen 
altertümlich  erscheint  das  körperliche  und  das 
menschliche  Ideal,  ausgesprochen  neuzeitlich  das 
wissenschaftliche,  politische  und  staatliche.  Es 
gleicht  auch  hierin  das  Gesamtbewußtsein  dem  Be- 
wußtsein des  Einzelnen,  daß  abseits  der  interes- 
sierten Geistessphären  sich  vorzeitliche  Reste  ge- 
mütlicher,  harmloser,   kindlicher   und   abergläubi- 

125 


scher  Empfindungen  erhalten,  die  aufgesogen  wer- 
den in  dem  Maße,  wie  das  Interessenbewußtsein 
sich  verdeutlicht  und  ausdehnt.  Denn  ein  der 
Menschheit  nicht  gerade  schmeichelhaftes  Gesetz 
scheint  zu  bestimmen,  daß  die  uninteressierte  Über- 
zeugung sich  allmählich  der  interessierten  Über- 
zeugung anpaßt;  mit  anderen  Worten,  daß  die 
Überzeugung  nicht  dauernd  den  Interessen  wider- 
sprechen kann.  Weshalb  es  denn  auch  von  jeher 
verdienstvoller  und  erfolgreicher  war,  die  Menschen 
von  falschen  Interessen  zu  befreien,  als  von  falschen 
Meinungen. 

So  kann  es  nicht  befremden,  in  den  Träumen 
der  Mechanisierung  eine  gemeinsame  Tendenz  zu 
erblicken,  die  der  philosophische  Geist  überwunden 
wähnt:  das  Streben  nach  dem  ausschließlich  Ver- 
nünftigen. Noch  immer  gehört  unser  waches  Le- 
ben der  Aufklärung,  dem  Rationalismus :  wie  könnte 
es  anders  sein  in  einer  Zeit,  die  uns  beweist,  daß 
Furcht  stärker  ist  als  Mut,  Fleiß  stärker  als  Kraft, 
Klugheit  stärker  als  Träume?  Einer  Zeit,  die 
beständig  das  Wort  im  Munde  führt:  daß  sie 
weiß,  was  sie  will,  und  den  Erfolg  als  Gesetz  be- 
trachtet ? 

Wir  müssen  anerkennen,  daß  niemals,  solange  die 
irdische  Menschheit  besteht,  eine  Weltstimmung  so 
einheitlich  einen  so  ungeheuren  Kreis  von  Wesen 
beherrscht  hat,  wie  die  mechanistische.  Ihre  Macht 
scheint  unentrinnbar,  denn  sie  beherrscht  die  Pro- 
duktionsquellen, die  Produktionsmethoden,  die  Le- 
bensmächte und  die  Lebensziele :  und  diese  Macht 
beruht  auf  Vernunft. 


126 


Von  der  Sehnsucht  der  Zeit 

Trotzdem  aber  die  Mechanisierung  noch  lange 
nicht  ihren  Zenit  erreicht  hat,  trotzdem  sie 
ihre  Aufgabe,  den  Weltkreis  zu  europäisieren,  erst 
nach  Menschenaltern  erfüllen  und  vielleicht  auch 
dann  noch  nicht  gipfeln  wird,  trägt  sie  schon  heute 
den  Tod  im  Herzen.  Denn  im  Urgrund  ihres  Be- 
wußtseins graut  dieser  Welt  vor  ihr  selbst;  ihre 
innersten  Regungen  klagen  sie  an  und  ringen  nach 
Befreiung  aus  den  Ketten  unablässiger  Zweck- 
gedanken. 

Die  Welt  sagt,  sie  weiß,  was  sie  will.  Sie  weiß  es 
nicht,  denn  sie  will  Glück  und  sorgt  um  Materie. 
Sie  fühlt,  daß  die  Materie  sie  nicht  beglückt,  und 
ist  verurteilt,  sie  immer  von  neuem  zu  begehren. 
Sie  gleicht  Midas,  der  im  Goldstrom  verschmachtet. 

Die  Hoffnungen,  die  aus  der  Tiefe  aufsteigen 
und  im  Geiste  Einzelner  Bewußtsein  erlangen,  sind 
widerspruchsvoll  und  daher  dem  Gemeingeist  un- 
klar. Denn  einem  Geiste  wird  nur  das  vernehmbar, 
was  von  gleichklingenden  Elementen  harmonisch 
zum  Akkorde  verstärkt  wird,  das  Widerstrebende 
bleibt  dumpfes  Geräusch.  Aus  aller  Verworrenheit 
aber  klingt  die  Stimme  der  Sehnsucht  doppelt  er- 
greifend, weil  sie,  das  selbstsichere  Wort  der  Be- 
wußtseinswelt verleugnend,  sich  anklagt,  was  sie 
ersehne,  das  wisse  sie  nicht. 

Wer  lehrt  den  zweifelnden  Menschen  dieser  Zeit, 
was  er  schätzen,  lieben,  begehren,  erstreben  darf? 

Er  wendet  sich  zur  Philosophie;  sie  antwortet 
ihm:  so  mußte  dieser,  so  mußte  jener  denken.  Um- 
stände und  Anlage  führen  zur  einen  oder  zur  andern 
Weltanschauung.    Jede  ist  wahr,  jede  ist  falsch,  je 

•f  127 


nach  der  Eröffnung  steht  das  Spiel  so  oder  so.  Das 
Ergebnis  ist  Kritik. 

Er  wendet  sich  zur  Religion;  sie  zeigt  ihm  die 
Entstehung  und  Entwicklung  des  religiösen  Ge- 
dankens, sie  entwirft  eine  psychologische  Analyse 
des  religiösen  Empfindens,  projiziert  das  Wandel- 
bild der  Glaubensformen  und  gibt  eine  Geschichte 
Gottes.  Die  Gottheit  wird  zum  naturgeschicht- 
lichen Gegenstand. 

Er  wendet  sich  zum  Menschen:  der  eine  preist 
die  alten  Tugenden,  der  andere  die  neuen.  Sinnes- 
lust und  Beschaulichkeit,  Naturgenuß  und  Erfolg, 
Ehre  und  Freiheit,  Pflicht  und  Reichtum:  zuletzt 
wird  alles  der  Individualität  anheimgestellt. 

Er  befragt  die  Wissenschaft.  Sie  rät  ihm,  sich  zu 
spezialisieren. 

Die  Kunst  eröffnet  ihm  den  Bildersaal,  der  von 
Memphis  bis  Paris,  von  Mexiko  bis  Peking  alle 
Schönheit  der  Zeiten  und  Völker  birgt.  Sie  ver- 
herrlicht die  eine,  schmäht  die  andere  Epoche  mit 
dem  Hinweis,  daß  sie  morgen  umgekehrt  verfahren 
wird. 

Das  Erwerbsleben  lehrt,  wie  man  Bedürfnisse 
schafft  und  befriedigt,  wie  man  organisiert  und 
verwaltet  und  die  käuflichen  Güter  der  Welt  ver- 
mehrt, damit  neue  Geschlechter  Lebensunterhalt, 
Arbeit  und  neue  Zweifel  finden. 

Es  ist,  als  sei  die  Welt  flüssig  geworden  und  zer- 
rinne in  den  Händen.  Alles  ist  möglich,  alles  ist 
erlaubt,  alles  ist  begehrenswert,  alles  ist  gut.  Zu- 
letzt tut  der  Abgrund  der  Zeiten  sich  auf,  und  es 
zeigt  sich  wie  in  Macbeths  Spiegel  jedes  der  Ge- 
sichte zu  schwankenden  Geschlechterreihen  erwei- 
tert; jeder  Mosaikstein  des  fHmmernden  Bildes  wird 

128 


zum  endlosen  Bande,  und  in  jedem  Querschnitt 
des  Bündels  erscheint  ein  neues  Symbol  unsäglicher 
Relativitäten. 

Der  Mensch  aber  begehrt  Glauben  und  Werte. 
Er  fühlt,  daß  er  Unersetzliches  besessen  hat;  nun^ 
trachtet  er  das  Verlorene  mit  List  wiederzuge- 
winnen und  pflanzt  kleine  Heiligtümer  in  seine 
mechanisierte  Welt,  wie  man  Dachgärten  auf 
Fabrikgebäuden  anlegt.  Aus  dem  Inventar  der 
Zeiten  wird  hier  ein  Naturkult  hervorgesucht,  dort 
ein  Aberglauben,  ein  Gemeinschaftsleben,  eine 
künstliche  Naivität,  eine  falsche  Heiterkeit,  ein 
Kraftideal,  eine  Zukunftskunst,  ein  gereinigtes 
Christentum,  eine  Altertümelei,  eine  Stilisierung. 
Halb  gläubig,  halb  verlogen  wird  eine  Zeitlang  die 
Andacht  verrichtet,  bis  Mode  und  Langeweile  den 
Götzen  töten. 

Dennoch  ist  dieses  Spiel  nicht  verächtlich,  weil 
es  aus  Sehnsucht  stammt.  Aber  es  bleibt  hilflos 
und  kindisch,  weil  auf  dem  zitternden  Boden  der 
Mechanisierung  arkadische  Haine  nicht  gedeihen. 
Mancher  wählt  die  Flucht;  aber  der  Amerikaner, 
der  zwei  Jahre  lang  in  Wäldern  haust,  muß  beim 
Anblick  des  Gerätes,  des  Buches  und  Kleides,  das 
er  mit  sich  führt,  sich  eingestehen,  daß  er  von  der 
Mechanisierung  der  andern  lebt,  daß  seine  Ein- 
siedelei eine  Sommerfrische  auf  Kosten  der  me~ 
chanisierten  Gemeinschaft  bedeutet.  Mancher 
wählt  die  Abgeschlossenheit,  aber  muß  empfinden, 
daß  ein  Glück,  das  sich  nicht  mitteilt,  fehlerhaft  ist. 

Die  Blume  vor  dem  Fenster  eines  Bauernhauses, 
das  Lied  auf  der  Landstraße,  der  Sonntagsasuflug 
der  Stadtbewohner,  das  Buch  in  den  Händen  des 
Arbeiters  bezeugen,  daß  das  Volk  entschlossen  ist, 

5'  ^  129 


nicht  in  mechanistischer  Zweckhaftigkeit  aufzu- 
gehen; aber  Lesehallen  und  Volkstheater,  populäre 
Wissenschaft,  Gartenkolonien  und  halb  wohltätige 
Unterhaltungen  sind  bei  aller  Nützlichkeit  allzu- 
,  dürftige  Mittel,  um  den  Seelenfunken  anzufachen. 
Nicht  mehr  wäre  dem  Seelenleben  gewonnen,  wenn 
nach  dem  Siege  des  sozialistischen  Prinzips  um  den 
Preis  trübseligen  Ausgleichs  ein  Zuwachs  des  Mini- 
maleinkommens von  140  Talern  erkauft  würde. 
Mechanistische  Mittel  werden  die  mechanistischen 
Übel  nicht  heilen. 

Wenn  es  nicht  vermessen  erscheint,  die  Frage  zu 
stellen:  wo  die  Gegenkräfte  der  Mechanisierung  zu 
finden  sind,  und  wie  sie  ausgelöst  werden  können, 
so  muß  der  Versuch  gewagt  werden,  die  Gesamt- 
heit dieser  Weltbewegung  mit  einem  Blick  zu  um- 
fassen. 

Was  ist  der  Sinn  der  Mechanisierung,  was  ist  ihr 
Wesen  und  Ziel  ? 

Betrachten  wir  zuerst  ihre  Entstehung.  Vor  An- 
bruch der  Geschichte  waren  Kraft  und  Mut  die 
höchsten  Tugenden  des  Menschen.  Heroische  Völ- 
ker, gestählt  im  Kampf  mit  den  Na  turmächten, 
traten  aus  ihren  Wäldern  hervor;  sie  unterjochten 
die  schwächeren,  friedfertigeren  Urbewohner.  Der 
Kluge  war  der  Knecht  des  Starken;  er  diente  ihm 
mit  Arbeit  und  Künsten  und  wurde  dafür  geschützt 
und  geleitet.  Der  Unterdrückte  sammelte,  der  Herr 
verschwendete  sein  Erbteil ;  Klugheit  war  zäher  als 
Kraft;  und  in  dem  tausendjährigen  Ringen  um  den 
Weltbesitz,  das  wir  Geschichte  nennen,  siegte  nach 
Wechselfällen  und  Rückschlägen,  erst  hier,  dann 
dort,  zuletzt  überall,  Intellekt  und  Zahl  über  Ge- 
sinnung und  Tradition.    Die  Welt  erhielt  ihr  Ge- 

130 


präge  von  den  Rebellen;  an  die  Stelle  der  Kaste 
trat  die  Organisation,  an  die  Stelle  des  Frons  die 
Maschine.  Die  einstigen  Herren,  soweit  ihr  Blut 
nicht  in  Mischung  aufging,  waren  gezwungen,  sich 
der  Mechanisation  anzupassen;  nur  da,  wo  glück- 
liche Umstände  ihnen  unveräußerlichen  Landbesitz 
erhielten,  blieben  sie  im  Besitz  vo»  Vorrechten. 
Naturgemäß  waren  die  mechanistischen  Einrich- 
tungen auf  die  Eigenschaften  ihrer  Schöpfer  zuge- 
schnitten; sie  erforderten  Intelligenz,  Zähigkeit, 
Beweglichkeit  und  Erfindungsgabe.  Innerhalb  der 
geistigen  Atmosphäre  der  Mechanisierung,  die  wir 
zu  schildern  unternahmen,  kämpfen  nun  die  Werte 
der  alten  Gesinnungswelt  mit  den  Werten  der  neuen 
Intellektualwelt.  Zwar  leben  noch  die  einen  in  ge- 
wissen Schätzungen  des  Volksbewußtseins  fort; 
doch  für  die  andern  hat  der  praktische  Erfolg  ent- 
schieden, und  in  der  geistigen  Verwirrung,  die  der 
Kampf  und  das  Einleben  in  veränderte  Ordnungen 
geschaffen  hat,  scheint  der  Augenblick  gekommen, 
wo  die  neuen  Werte  in  die  Feste  des  Unbewußten, 
des  Gefühls,  überzutreten  beginnen,  wo  die  ein- 
seitige, vernichtende  Auslese  des  Intellektualismus, 
die  bisher  vorzugsweise  als  Ergebnis  der  Praxis  ge- 
duldet wurde,  jene  Rudimente  älterer  Wertungen, 
von  denen  wir  gesprochen  haben,  hinwegspült,  und 
sich  zum  Wahrzeichen  der  Zeit  erhebt. 

Hier  ist  der  Punkt,  wo  zum  ersten  Male  Erkennt- 
nis einzugreifen  hat.  Sie  muß  zur  Schätzung  dessen 
führen,  was  die  Welt  den  ethischen  und  geistigen 
Werten  der  einstigen  Oberschicht  verdankt,  und 
muß  die  Verantwortung  erwecken  für  die  Gefahr 
der  Verarmung,  die  aus  ihrer  Vernichtung  er- 
wächst. 

9*  •  131 


Spätere  Zeiten  werden  nicht  begreifen,  mit  wel- 
chem Mangel  an  psychologischem  Instinkt  wir  den 
Gegensätzen  menschlicher  Geistesrichtung  gegen- 
überstanden, wie  wir  über  Erscheinungen  und  Zu- 
sammenhänge, die  mit  Händen  zu  greifen  waren, 
hinwegsahen,  weil  unsere  Augen  sich  auf  die  merk- 
würdigsten Süge  unserer  Epoche  nicht  einstellen 
wollten.  Ja,  diese  Metapher  ist  im  wörtlichsten 
Sinne  wahr;  es  erfordert  kaum  mehr  an  physiogno- 
mischer  Wahrnehmung,  um  körperlich  die  Grund- 
kontraste zu  empfinden,  als  normale  Kinder  Frem- 
den entgegenbringen. 

Vor  Jahren  habe  ich  entwickelt,  daß  Furcht  und 
Zweckhaftigkeit  auf  der  einen,  Mut  und  Zweck- 
freiheit auf  der  andern  Seite  die  Grundstimmungen 
des  Menschengeistes  ausdrücken.  Indem  der  da- 
mals aufgestellte  Begriff  des  Zweckmenschen  zum 
Gemeingut  wurde,  hat  sich  ein  Element  der  Beob- 
achtungsreihe gefestigt.  Allmählich  aber  wird  in 
das  Bewußtsein  der  Gemeinschaft  die  Erkenntnis 
eindringen,  daß  gewisse,  stets  verschwisterte  Eigen- 
schaften regelmäßig  im  Gefolge  der  einen,  andere 
im  Gefolge  der  andern  Kategorie  auftreten  müssen. 
Solange  Menschen,  welche  die  Merkmale  der  Eitel- 
keit, der  Neugier,  des  Betätigungsdranges,  der  Un- 
wahrhaftigkeit,  der  Kritiklust,  der  Unsachlichkeit, 
der  Trübsal  tragen,  mit  den  gleichen  Blicken  an- 
geschaut werden  wie  diejenigen,  welche  selbstbe- 
wußt, abenteuerlich,  wahrhaft,  phantasievoll,  sach- 
lich und  heiter  sind,  so  lange  ist  unsere  Zeit  gleich- 
sam phsychologisch  farbenblind.  Die  Kenntnis  der 
geistigen  Eigenschaftsgruppen  wird  aber  dereinst  so 
selbstverständlich  erscheinen,  wie  heute  etwa  die 
Unterscheidung    der    körperlichen    Gruppenmerk- 

132 


male  von  Kaukasiern  und  Mongolen.  Sie  wird 
nicht,  wie  angesichts  der  einseitigen  Färbung  un- 
serer sprachlichen  Charakteristik  angenommen  wer- 
den könnte,  zur  Verachtung  der  einen,  zur  Ver- 
herrlichung der  andern  Gruppe  führen  —  denn  die 
Beiworte  verdanken  ihre  extremen  Wertungen  dem 
Anschauungskreis  der  doppelschichtigen  Epoche  — 
vielmehr  werden  zwei,  wenn  auch  scharf  getrennte 
Idealtypen  sich  abstrahieren  lassen.  Daß  auch  der 
zweckhafte  Typ  unserer  westlichen  Anschauung  an- 
sprechende, ja  sympathische  Züge  entgegenbringen 
kann,  zeigt  das  Bild  der  Erzväter,  Sokrates',  Epiktets 
oder  um  von  Neuzeitlichen  zu  reden,  etwa  Voltaires, 
Heines,  Victor  Hugos,  Tolstois. 

So  wird  die  Erkenntnis  menschlicher  Qualitäten 
uns  die  Sicherheit  der  Wertung  wiedergeben.  Vor 
allem  aber  wird  sie  verhindern,  daß  in  einseitiger 
Auslese  die  Mechanisierung  fortfährt,  Gesinnung 
zugunsten  von  Intelligenz  zu  vernichten;  sie  wird 
bewirken,  daß  ein  Menschenschlag  erhalten  bleibt, 
dem  die  Welt  ihre  Schönheit,  ihre  Phantastik  und 
höhere  Ordnung  verdankt. 

Entspringt  diese  erste  Forderung  aus  den  Ent- 
stehungsbedingungen der  Mechanisierung,  so  müs- 
sen die  Wirkungsbedingungen  dieser  Kraft  in  ent- 
sprechender Weise  zu  umspannen  und  auszudeuten 
sein. 

Mechanisierung  entspricht  wirtschaftlicher  Not- 
wendigkeit: verzehnfachte  Bevölkerung  auf  un- 
veränderter Bodenfläche  verlangt  neue  Wirtschafts- 
methoden. Der  Kern  der  Mechanisierung  ist  der 
Produktionsprozeß.  Er  teilt  mit  andern  undurch- 
geistigten oder  irrationalen  Prozessen  ähnlicher  Art 
—  wie  zum  Beispiel  dem  Prozeß  der  persönlichen 


Bereicherung  oder  des  Ausbaus  von  Unternehmun- 
gen —  die  Tendenz,  in  unablässiger  Selbsterregung 
den  Umtrieb  zu  steigern,  und  zwar  in  doppelter 
Erhöhung:  einmal  so,  daß  die  Produktionssteigerung 
die  Bevölkerung  verdichtet,  und  gleichzeitig  die 
Verdichtung  wiederum  die  Produktion  erhöht;  so- 
dann in  dem  Sinne,  daß  die  Menge  der  Verbrauchs- 
güter den  Einzelverbrauch  anregt  und  wiederum 
der  vermehrte  Einzelverbrauch  neue  Verbrauchs- 
güter verlangt. 

Den  ersten  Kreislauf  gemäß  der  Malthusdoktrin 
zu  durchschneiden,  ist  wider  die  Natur  und  bleibt 
außer  Betracht.  Der  zweite  Kreislauf  greift  in 
geheiligte  Gesetze  nicht  ein,  er  ist  im  Sinne  der 
Natur  willkürlich  und  daher  auflösbar. 

Mit  dem  Lächeln,  das  uns  entlockt  wird,  wenn 
wir  von  der  Freude  ostafrikanischer  Neger  an 
preußischen  Husarenjacken  hören,  werden  unsere 
Nachkommen  vernehmen,  von  welchem  Waren- 
hunger wir  besessen  waren.  Ein  Dritteil,  vielleicht 
die  Hälfte  der  Weltarbeit  geht  auf,  um  der  Mensch- 
heit Reizungs-  und  Betäubungsmittel,  Schmuck, 
Spiel,  Tand,  Waffen,  Vergnügungen  und  Zerstreu- 
ungen zu  schaffen,  deren  sie  zur  Erhaltung  des  leib- 
lichen, zur  Beglückung  des  seelischen  Lebens  nicht 
bedarf,  die  vielmehr  dazu  dienen,  den  Menschen 
dem  Menschen  und  der  Natur  zu  entfremden. 
Dies  vor  Augen  zu  stellen,  genügt  es,  die  Zahlen 
einer  Produktionsstatistik  oder  eines  mittleren  Haus- 
halts darauf  zu  prüfen,  wieviel  zum  Glück  und 
Leben  notwendige  Posten  es  enthält  (wobei  natür- 
lich die  Belastungen  aus  dem  Privatmonopol  städti- 
schen Boden?  als  Geschäftskosten,  nicht  als  not- 
wendiger Verbrauch  zu  rechnen  sind),  oder  in  den 

^34 


Fensterauslagen  einer  Hauptstraße  die  millionen- 
fachen Nichtigkeiten  zu  betrachten,  welche  die  Be- 
gierde der  Menschen  erregen  und  Tag  für  Tag  mit 
saurer  Arbeit  erkämpft  werden. 

Es  wurde  erwähnt,  daß  die  Frauen,  die  nicht 
bloß  der  Natur,  sondern  auch  den  Urvölkern  näher 
stehen  als  wir,  sich  bereitwilliger  blenden  lassen 
vom  Schimmer  des  mechanisierten  Produkts,  wo- 
gegen der  Mann  sich  maßloser  dem  Genuß  der 
Zivilisationsgifte  hingibt. 

Der  primitive  Irrtum,  es  sei  zu  befürchten,  daß 
bei  Beschränkung  der  Weltarbeit  auf  notwendige 
Produkte  die  Bevölkerung  einen  Teil  ihres  Lebens- 
unterhalts verliere,  kann  hier  unberücksichtigt  blei- 
ben; er  bedeutet  eine  Abwandlung  des  alten  Trug- 
schlusses: Luxus  sei  notwendig,  weil  er  Geld  unter 
die  Leute  bringe. 

So  trägt  die  Welt  einen  großen  Teil  ihrer  Me- 
chanisierungslast freiwillig;  sie  wird  sich  in  dem 
Maße  entlasten,  ihre  Arbeitskraft  und  Muße  be-- 
glückenderen  Zielen  zuwenden  und  die  Zwangs- 
gesetze  der  Mechanisierung  durchbrechen,  wie  sie 
auf  Nichtigkeiten  und  Schädlichkeiten  verzichtet. 
Wer  aber  in  diesen  das  erstrebenswerte  Glück  der 
Völker  erblickt,  dem  sei  es  gegönnt,  sofern  er  seine 
Torheit  nicht  andern  zumutet. 

Seltsam  ist  es,  daß  unsere  so  sehr  zum  Werten 
und  Umwerten  geneigte  Zeit,  die  heute  das  Tanzen 
und  morgen  das  Beten  anpreist,  heute  das  Trinken 
und  morgen  den  Sport  verurteilt,  daß  diese  Zeit 
noch  keine  Regung  des  Gewissens  verspürt  hat 
angesichts  der  ungeheuerlichen  Verschwendung  an 
Arbeit,  Geist  und  Rohstoff,  deren  der  einzelne  und 
die  Gesamtheit  sich  schuldig  macht.   Ästhetisches 

I3S 


Ärgernis  an  dem  Produktenwust  hat  mancher  ge- 
nommen; nun  steht  die  Zeit  vor  der  Tür,  die  in 
diesem  Narrenkram  das  materielle  Weltverbrechen 
erblicken  und  mit  verständnislosem  Grauen  die 
Spielzeuge  des  XX.  Jahrhunderts  betrachten  Vv^ird. 

Es  bleibt  der  dritte  Versuch  und  die  umfassendste 
Frage:  wie  dürfen  wir  die  mechanistische  Epoche 
bewerten,  wenn  wir  sie  im  Bilde  der  Menschheits- 
entwicklung  betrachten. 

Niemals,  seit  Erschaffung  des  Planeten,  war  ein 
so  großes  Quantum  irdischen  Geistes  in  Bewegung 
wie  heute.  Die  Zahl  der  menschlichen  Gehirne 
steht  im  Zenit,  und  die  Denkarbeit  geht  an  die 
Grenzen  ihrer  Kräfte.  Vom  Denken  werden  alle 
Räder  der  Welt  im  Schwung  erhalten,  und  setzte 
der  sorgende  Erdengeist  acht  Tage  lang  aus,  so 
würde  das  rückwärts  stürmende  Getriebe  alles 
Menschenwerk  zerschmettern. 

Auch  die  Mechanik  des  Denkens  ist  höher  ge- 
steigert als  zu  irgendeiner  früheren  Zeit.  Denn 
das  materielle  Wissen  ist  gewaltig,  die  Menge  der 
erkannten  Zusammenhänge,  der  beobachteten  Tat- 
sachen, der  verfügbaren  Analogien  unermeßlich. 
Vor  allem  aber  sind  wirksame,  der  Mechanisierung 
angepaßte  Methoden  und  Formen  des  Denkens 
verfügbar,  die  früheren  Zeiten  unbekannt,  heute 
von  jedermann  mühelos  gehandhabt  werden,  vom 
Politiker,  Dichter,  Reporter  und  Landwirt.  Be- 
herrschend für  unser  Denkwesen  ist  die  Form  ge- 
worden, die  man  als  Fluxionsmethode  bezeichnen 
könnte.  Sie  besteht  darin,  daß  die  Erscheinung 
nicht  mehr  als  ein  fest  Gegebenes  angesehen  wird, 
sondern  als  kontinuierliche  Funktion  veränderlicher 
Faktoren.    Auf  ihr  beruht  die  mathematische  Ana- 

136 


lysis,  die  Entwicklungslehre,  die  historische  Be- 
trachtungsweise, das  naturwissenschaftliche  Messen, 
die  Statistik.  In  Verbindung  mit  ihr  haben  mathe- 
matisch-physikalische, philosophisch-kritische,  ver- 
gleichend naturwissenschaftliche,  mechanisch  kon- 
struktive, praktisch  organisatorische  Methoden  sich 
der  Geister  bemächtigt,  und  neue  Begriffe,  Ver- 
ständigungsmittel, Lehren  und  Sprachformen  ge- 
schaffen. Und  wiederum  die  neuere  Sprache  selbst, 
mit  ihren  zahllosen  Formeln  abstrakter  Zusammen- 
hänglichkeit,  bildet  ein  kräftiges  Triebwerk  des 
mechanistischen  Denkens.  Deshalb  ist  es  ein  frucht- 
loses Beginnen,  wenn  Popularpropagandisten  ihr 
den  Rückweg  zum  handlichen  Ausdruck  des  Alter- 
tums weisen  wollen,  indem  sie  nach  feststehenden 
Rezepten  Wort  für  Wort  des  mechanistischen  Ge- 
füges  in  falsche  Bildlichkeiten  umsetzen  und  das 
journalistische  Gerippe  ihrer  Darstellung  mit  Thea- 
terlappen behängen.  Kraft  der  Sprache  ist  nichts 
anderes  als  Kraft  der  Gedanken;  weggelassene  Prä- 
positionen ändern  daran  nichts. 

Wenn  so  die  Welt  im  Sinne  des  Denkens  durch 
und  durch  vergeistigt  erscheint,  so  möchte  man 
glauben,  daß  ungeheure  Erleuchtungen  und  Fern- 
blicke, wahrhafte  Seligkeiten  des  Geistes  unserer 
Zeit  beschieden  sein  müßten.  Nichts  dergleichen 
ist  der  Fall;  schon  die  grenzenlose  Spezialisierung 
macht  es  unmöglich.  Denn  wie  in  einem  Bergwerk 
die  Förderung  verarmt,  wenn  die  Längen  und  Ver- 
zweigungen der  Stollen  das  Maß  überschreiten,  so 
gehen  die  unermeßlichen  Erlebnisse  und  Ent- 
deckungen jedes  Tages,  in  Winkeln  gestaut,  dem 
Gesamtleben  verloren.  Gäbe  es  Geister,  wie  die 
Humanistenzeit  zum  letzten  Male  sie  kannte,  die 

137 


den  Inbegriff  unseres  Wissens  zu  umspannen  ver- 
möchten: sie  würden  die  Geistesbrücken  nieder- 
brechen sehen  unter  der  Last  des  Wissens  und  zu- 
letzt sich  bescheiden,  alles  registrierend  hinzuneh- 
men, weil  denn  schließlich  von  einer  jeden  Wahr- 
heit auch  das  Gegenteil  wahr  und  erwiesen  ist. 

Aber  die  Natur  sendet  solche  Geister  nicht; 
schon  deshalb  nicht,  weil  in  den  überreichen  und 
überfeinen  Denkapparaten  kein  Organ  sich  findet, 
das  anders  wirkt  als  analysierend,  angleichend,  ver- 
wertend, kritisierend.  Fast  alles,  was  geschrieben 
wird,  kennen  wir,  bevor  wir  es  gelesen  haben;  von 
fast  allem,  was  gedacht  wird,  wissen  wir  das  Er- 
gebnis, noch  bevor  es  zu  Ende  gedacht  ist.  Es 
geht  uns  wie  geübten  Kartenspielern,  die,  wenn 
die  ersten  Blätter  ausgespielt  sind,  voraussehen,  wie 
die  Partie  verläuft,  welche  Zwischenfälle  eintreten, 
ja  welche  Fehler  gemacht  werden.  Niemals  hat 
man  das  Wort  Synthese  so  häufig  vernommen  wie 
in  dieser  Zeit;  aber  was  sind  diese  Synthesen? 
Ähnlichkeiten,  Analogien,  Bilder,  Symbole,  Zu- 
sammenhänge; je  fremdartiger,  desto  bekannter, 
je  verstiegener,  desto  trivialer,  nach  stets  den  gleichen 
Rezepten  aufgestellt,  erläutert,  verteidigt  und  be- 
wiesen. 

Hier  liegt  die  tiefste  Sehnsucht  unserer  Zeit,  die 
ihren  Sinn  sucht.  Unbewußt  fühlt  sie  sich  ange- 
widert vom  Denken,  vom  mechanistischen  Denken; 
sie  hat  alles  schon  einmal  gehabt  und  durchgrübelt, 
alles  durchgeschätzt,  jedes  Gefühl  sondiert  und  ab- 
geleitet. Sie  weiß,  wie  alle  diese  Rätsellösungen 
schmecken  und  wie  lange  sie  vorhalten.  Sie  sehnt 
sich  nach  einem  jenseits  des  Beweisbaren  stehenden 
Sinn  und  schrickt  davor  zurück,  weil  er  ihr  will- 

138 


kürlich  scheint;  und  er  ist  willkürlich,  weil  er  nicht 
in  ihrer  Seele  liegt.  Deshalb  blickt  sie  auf  zu  den 
Geistern,  die  göttliche  Überzeugungen  in  ihren 
Seelen  trugen,  Plato,  Paulus,  Franziskus,  Ekkhart, 
und  kann  doch  die  Überzeugungen  nicht  erwerben, 
weil  sie  diese  Seelen  nicht  erwerben  kann.  Sie 
schafft  sich  Gemeinden,  Tempel  und  Altäre,  und 
empfindet  verzweifelnd,  daß  sie  das  einzelne  nicht 
glauben  kann,  weil  sie  alles  glaubt,  daß  sie  alles 
glauben  muß,  weil  sie  nichts  glauben  kann.  Die 
Zeit  sucht  nicht  ihren  Sinn  und  ihren  Gott,  sie 
sucht  ihre  Seele,  die  im  Gemenge  des  Blutes,  im 
Gewühl  des  mechanistischen  Denkens  und  Be- 
gehrens sich  verdüstert  hat. 

Sie  sucht  ihre  Seele  und  wird  sie  finden;  freilich 
gegen  den  Willen  der  Mechanisierung.  Dieser 
Epoche  lag  nichts  daran,  das  Seelenhafte  im  Men- 
schen zu  entfalten;  sie  ging  darauf  aus,  die  Welt 
nutzbar  und  somit  rationell  zu  machen,  die  Wun- 
dergrenze zu  verschieben  und  das  Jenseitige  zu 
verdecken.  Dennoch  sind  wir  wie  je  zuvor  vom 
Mysterium  umgeben;  unter  jeder  glatten  Ge- 
dankenfläche tritt  es  zutage,  und  von  jedem  all- 
täglichen Erlebnis  bedarf  es  eines  einzigen  Schrittes 
bis  zum  Mittelpunkt  der  Welt.  Die  drei  Strah- 
lungen der  Seele :  die  Liebe  zur  Kreatur,  zur  Natur 
und  zur  Gottheit  konnte  die  Mechanisierung  dem 
Einzelleben  nicht  rauben;  für  das  Leben  der  Ge- 
samtheit wurden  sie  zur  Bedeutungslosigkeit  ver- 
flüchtigt. Menschenliebe  sank  zum  kalten  Erbar- 
men und  zur  Fürsorgepflicht  herab,  und  bedeutet 
dennoch  den  ethischen  Gipfel  der  Gesamtepoche; 
Naturl  ebe  wurde  zum  sentimentalen  Sonntags- 
vergnügen;   Gottesliebe,    überdeckt    vom    Regie- 

139 


betrieb  mythologisch-dogmatischer  Ritualien,  trat 
in  den  Dienst  diesseitiger  und  jenseitiger  Interessen 
und  wurde  so  nicht  bloß  unedlen  Naturen  ver- 
dächtig. 

Es  gibt  wohl  keinen  einzigen  Weg,  auf  dem  es 
dem  Menschen  nicht  möglich  wäre,  seine  Seele  zu 
finden,  und  wenn  es  die  Freude  am  Aeroplan  wäre. 
Aber  die  Menschheit  wird  keine  Umwege  beschrei- 
ten. Es  werden  keine  Propheten  kommen  und  keine 
Religionsstifter,  denn  diese  übertäubte  Zeit  läßt 
keine  Einzelstimme  mehr  vernehmlich  werden; 
sonst  könnte  sie  heute  noch  auf  Christus  und  Paulus 
hören.  Es  werden  keine  esoterischen  Gemeinden 
die  Führung  ergreifen,  denn  eine  Gcheimlehre  wird 
schon  vom  ersten  Schüler  mißverstanden,  geschweige 
vom  zweiten.  Es  wird  keine  Einheitskunst  der  Welt 
ihre  Seele  bringen,  denn  die  Kunst  ist  ein  Spiegel 
und  ein  Spiel  der  Seele,  nicht  ihre  Urheberin. 

Das  Größte  und  Wunderbarste  ist  das  Einfache. 
F^s  wird  nichts  geschehen,  als  daß  die  Menschheit 
unter  dem  Druck  und  Drang  der  Mechanisierung, 
der  Unfreiheit,  des  fruchtlosen  Kampfes,  die  Hemm- 
nisse zur  Seite  schleudert,  die  auf  dem  Wachstum 
ihrer  Seele  lasten.  Das  wird  geschehen  nicht  durch 
Grübeln  und  Denken,  sondern  durch  freies  Be- 
greifen und  Erleben.  Was  heute  viele  reden  und 
einzelne  begreifen,  das  werden  später  viele  und  zu- 
letzt alle  begreifen :  daß  gegen  die  Seele  keine  Macht 
der  Erde  standhält. 

Was  rufen  die  Völker  aller  Zeiten  einander  zu  ? 
Erlebnisse  ihrer  Seelen.  Was  kümmern  uns  die 
Salben  der  Ägypter,  die  Ritualien  der  Juden,  die 
Schlachtordnungen  der  Griechen,  die  Auspizien 
der  Römer,   die   Alchymistereien   der   Scholasten  ? 

140 


Was  ihre  Seelen  gelitten  und  geschaffen  haben, 
ihre  Gesänge  und  Bilder,  Gesichte  und  Ahnungen, 
das  besitzen  wir  als  ein  untrennbares  Teil  unser 
selbst.  Was  wir  im  Leben  genossen,  wenn  die 
Seele  unbeteiligt,  was  wir  erduldeten,  wenn  die 
Seele  unverletzt  blieb,  bedeutet  nur  einen  Reiz  und 
einen  Schatten,  zu  flüchtig  für  die  Erinnerung. 
Die  Kunst,  die  unsern  Nerven  schmeichelt,  der 
Gedanke,  der  nicht  in  die  Tiefe  klingt,  die  Hand- 
lung, die  unsere  äußere  Erfahrung«  bereichert,  sind 
tote  Dinge. 

Gleichviel,  wie  wir  das  Herz  der  Welt  zu  erfassen 
suchen:  immer  wird  uns  die  Seele,  unsere  eigene 
Seele,  entgegentreten.  Nehmen  wir  das  Körper- 
liche als  real  und  primär,  so  müssen  wir  aus  Materie 
Geist,  aus  Geist  Seele  sich  losringen  sehen :  denn  das 
Atom  ballt  sich  zur  Zelle,  und  aus  dem  Widerstreit 
sich  aufhebender  Sensibilitätskeime  wird  Empfin- 
dung erkennbar;  die  Zelle  vereinigt  sich  zum  Men- 
schen, und  aus  der  Summierung  gleichgerichteter 
Empfindungselemente  wird  Geist  sichtbar;  der 
Mensch  verbindet  sich  zur  Gemeinschaft,  und  aus 
der  widerstrebenden  Mannigfalt  der  Geister  tritt 
die  Seele  zutage,  die  im  Einzelmenschen  wirkte, 
wie  der  Geist  in  der  Einzelzelle,  wie  die  Empfindung 
im  Atom,  unbefreit  und  dennoch  lebendig.  Neh- 
men wir  das  Ich  als  real  und  primär,  so  löst  sich 
aus  der  Täuschung  der  Materie  die  bedingte  Reali- 
tät des  Geistes,  aus  dem  Geist  die  volle  Realität 
der  Seele,  die  sich  aus  der  Trübung  befreit,  indem 
sie  sich  ihrer  selbst  bewußt  wird.  Nehmen  wir  das 
Ich  und  das  Körperliche  gleichzeitig  als  real  und 
identisch,  so  erleben  wir  an  uns  selbst,  aus  der 
Erfahrung  unseres  Lebens,  die  Entwicklung  vom 

*  141 


instinktiven  Dasein  der  Kindheit  zum  geistigen 
Dasein  der  Jugend  und  zum  seelischen  Dasein  der 
Reife. 

Nichts  anderes  ist  erforderlich  als  die  Gewißheit 
des  Lebens  und  Wertes  unserer  Seele;  denn  es  han- 
delt sich  nicht  darum,  die  Seele  zu  erzeugen,  son- 
dern zu  entfesseln,  und  durch  diese  Gewißheit  ist 
sie  frei  und  des  Aufstiegs  fähig. 

Diese  Erkenntnis  ist  nicht  neu,  sondern  sehr  alt; 
wie  denn  alle  Worte,  die  außerhalb  alltäglicher  Not 
der  Geist  im  Laufe  der  Jahrhunderte  der  Mensch- 
heit zugerufen  hat,  stets  das  Gleiche  bedeuten, 
nämlich:  achte  auf  deine  Seele.  Hier  bedürfen  wir 
der  Erinnerung  deshalb,  weil  in  einer  Zeit,  die  sich 
ihrer  Entseelung  bewußt  wird,  solche  Erfahrungen 
eine  gewaltige  Realität  erlangen,  eine  Realität,  die 
unabhängig  von  aller  religiösen  und  philosophischen 
Vereinzelung  dasteht. 

Nein,  es  wird  und  kann  nichts  weiter  eintreten 
als  das  Begreifen,  daß  die  Seele  wachsen  kann,  und 
daß  es  wiederum  Dinge  gibt,  die  sie  verkleinern 
und  vernichten  können.  Und  dieses  Begreifen  wird 
nicht  in  Dithyramben  oder  Bußpsalmen  ausklingen, 
sondern  in  Selbstgewißheit  und  Schweigen.  Die 
heißen  Wünsche  der  Menschen  werden  schweigen 
lernen,  die  Wünsche  nach  käuflichen  Freuden,  nach 
maßloser  Bereicherung  an  äußeren  Eindrücken,  nach 
Beschleunigung  des  Lebensschritts,  nach  Extensiv- 
wirtschaft und  Raubbau  des  Geistes.  Nicht  daß 
deshalb  das  Arbeitsleben  und  der  Produktionsprozeß 
stillstände;  denn  auch  wenn  das  Wertlose  vom 
Wünschenswerten  und  Nötigen  gesondert  wird, 
bleibt  noch  viel,  noch  mehr  als  heute  zu  schaffen, 
um  größere  und  gleichmäßigere  Sorgenfreiheit  der 

142 


Lebensführung  zu  sichern.  Nicht  ganz  so  leicht, 
und  dennoch  gewiß,  werden  die  Begierden  schwei- 
gen lernen,  die  den  Menschen  zum  Sklaven  der 
Meinung  machen,  die  Freude  am  Neid,  am  Beifall, 
an  der  Beachtung;  ohne  daß  es  deshalb  an  Män- 
nern und  Frauen  fehlen  wird,  die  aus  Lust  am 
Schaffen,  an  Verantwortung  und  Initiative  Führer- 
schaft leisten  und  erstreben.  Schweigen  lernen 
wird  auch  die  Kunst;  wie  denn  von  jeher  un- 
aufdringlich und  schweigend,  und  so  der  Natur 
vergleichbar,  die  großen  Werke  durch  die  Zeiten 
geschritten  sind. 

Zieht  man  die  Umwälzungsgeschwindigkeit  in 
Rechnung,  an  die  uns  das  XIX.  Jahrhundert  ge- 
wöhnt hat,  so  wird  man  die  Erwartung  des  neuen 
Zustandes  der  Menschheit,  der  sich  von  dem  heu- 
tigen nicht  wesentlicher  unterscheidet  als  etwa  der 
zeitgenössische  haitianische  vom  zeitgenössischen 
englischen,  nicht  als  utopisch  bezeichnen.  Freilich 
kann  nicht  zu  gleicher  Zeit  die  ganze  bewohnte 
Welt  ihn  empfangen;  vielleicht  wird  in  Zentral- 
afrika noch  immer  die  Glückseligkeit  des  Waren- 
hauses blühen,  wenn  in  Deutschland  das  Geschrei 
der  Modeneuigkeiten  längst  verstummt  ist. 

Wohl  aber  wäre  es  utopische  Schwachheit,  aus 
eigener  Unzulänglichkeit  die  Kräfte  ermessen  zu 
woller^'  die  in  der  Menschheit  das  Reich  der  Seele 
einstmals  auslösen  wird. 

Die  mechanistische  Entwicklung  können  wir  ohne 
Staunen,  ja  ohne  Geistesaufwand  ein  gutes  Stück 
zukunftwärts  weiterdenken.  Ein  hundertfach  über- 
völkerter Erdball,  die  letzten  asiatischen  Wüsten 
angebaut,  ländergroße  Städte,  die  Entfernungen 
durch    Geschwindigkeiten    aufgehoben,    die    Erde 

•  H3 


meilentief  unterwühlt,  alle  Naturkräfte  angezapft, 
alle  Produkte  künstlich  herstellbar,  alle  körperliche 
Arbeit  durch  Maschinen  und  durch  Sport  ersetzt, 
unerhörte  Bequemlichkeiten  des  Lebens  allen  zu- 
gänglich, Altersschwäche  als  alleinige  Todesart,  je- 
der Beruf  jedem  eröffnet,  ewiger  Friede,  ein  inter- 
nationaler Staat  der  Staaten,  allgemeine  Gleich- 
heit, die  Kenntnisse  des  mechanischen  Naturge- 
schehens ins  Unabsehbare  erweitert,  neue  Stoffe, 
Organismen  und  Energien  in  beliebiger  Menge  ent- 
deckt, ja  zu  guter  Letzt  Verbindungen  mit  fernen 
Gestirnen  hergestellt  und  erhalten:  im  Sinne  der 
Mechanisierung  die  höchsten  Aufgaben,  alle  lösens- 
wert  und  vermutlich  dermaleinst  gelöst ;  wem  macht 
es  Schwierigkeiten,  dies  Bild  künftiger  Bequemlich- 
keit und  Gelehrsamkeit  beliebig  auszumalen,  und 
wen  macht  es  glücklich? 

Im  Seelischen  auch  nur  einen  Schritt  über  das 
dem  einzelnen  Menschen  gestattete  Maß  vorzu- 
dringen, ist  unmöglich.  Ein  Grieche  konnte  sich 
durchaus,  und  ohne  Enthusiasmus,  das  Fliegen  der 
Menschen  vorstellen,  den  Hamlet  oder  die  IX.Sym- 
phonie  konnte  er  sich  nicht  vorstellen,  ebensowenig 
wie  ein  Mensch  der  Steinzeit  sich  die  Freude  an 
einer  Gebirgslandschaft  oder  einer  Brandung  vor- 
stellen konnte.  Wir  brauchen  nicht  über  das  Alter 
des  Menschengeschlechtes  hinauszugehen,  um  zu 
Zeiten  zu  gelangen,  in  denen  die  Seelengewalten 
unseres  eigensten  Lebens,  die  Liebe  der  Geschlech- 
ter, die  Liebe  zur  Heimat,  zu  Eltern  und  Kindern, 
zu  Gott  und  Natur  noch  nicht  aus  primitiven  In- 
stinkten hervorgetreten,  somit  im  eigentlichen 
Sinne  nicht  erfunden  und  auch  nicht  vorstellbar 
waren. 

144 


Oft  hat  man  die  spielende  Frage  gestellt,  was 
wohl  ein  großer  Geist  des  Altertums  wiederkehrend 
zu  den  Gestaltungen  der  neuen  Zeit  sagen  würde. 
Wählt  man  für  diese  Rolle  einen  aufs  Wesentliche 
gerichteten  Geist  wie  den  des  Plato,  so  dürfte  man 
fabeln:  die  Früchte  der  Mechanisierung  würde  er 
mit  wechselndem  Interesse  hinnehmen,  die  höchste 
Kunst  Europas  der  seinen  verwandt  empfinden, 
drei  Dinge  aber  würde  er  als  Offenbarungen  ver- 
ehren: die  Lehre  Christi,  die  germanische  Natur- 
betrachtung und  die  deutsche  Musik. 

Hier  verläuft  eben  eine  der  Grenzlinien,  die  das 
Gebiet  des  Geistes  von  freiem  Gebieten  sondern; 
sie  ist  zart,  aber  unüberschreitbar.  Was  vom  Her- 
aufdämmern des  Seelenreiches  in  Gedanken  und 
Worten  materialisierbar  ist,  das  haben  wir  gestreift; 
Glaubhaftigkeit  kann  nur  im  Mitklingen  tieferer 
Schwingungen  gesucht  und  gefunden  werden,  dia- 
lektische Beweise  sind  Überredungsmittel.  Wollte 
man  versuchen,  eine  alte,  innere  Überzeugung, 
eigentlich  negativer  Art,  vom  Wesen  dieses  Reiches, 
gedanklich  zu  übersetzen,  so  könnte  man  auf  der 
Grundlage  realistischer  Weltanschauung  abermals 
davon  ausgehen,  daß  von  der  Geisteseinheit  des 
Atoms  zu  derjenigen  der  Zelle,  von  der  Geistes- 
einheit der  Zelle  zu  derjenigen  des  Menschen,  von 
der  Geisteseinheit  des  Menschen  zu  derjenigen  der 
Gemeinschaft  eine  immer  wachsende  und  immer 
sich  verengernde  Angliederung  stattfindet.  Wie 
die  Summierung  zweier  Geistesinhalte  erfolgt,  wis- 
sen wir  nicht,  denn  das,  was  man  eigentlich  Mecha- 
nik des  Geistes  nennen  müßte,  ist  uns  vollkommen» 
unbekannt.  Wohl  aber  wissen  wir,  daß  die  Sum- 
mierung zu  einer  sehr  engen  Verbindung  führt,  ja 

HS 


daß  der  unendlich  summierte  menschliche  Geist 
sich  selbst  als  eine  Einheit  empfindet  und  nur  durch 
besondere  Beobachtung  seine  Vielfältigkeit  entdeckt. 
Den  nächsten  Prozeß  der  geistigen  Summierung, 
den  des  Menschengeistes  zur  geistigen  Gemein- 
schaft, aber  können  wir  beobachten;  wir  können 
den  Gemeinschaftsgeist  einer  Ehe,  einer  Freund- 
schaft, eines  Stammes  und  Volkes,  ja  selbst  einer 
Versammlung  oder  Gesellschaft  entstehen  sehen. 
Und  hier  entdecken  wir,  daß  das  eigentlich  sum- 
mierende Moment  nicht  in  der  ursprünglichen 
Gleichrichtung,  sondern  vielmehr  in  dem  Streben 
nach  Gleichrichtung,  nach  Zusammenhang  und 
Verschmelzung,  in  der  Aufhebung  der  trennenden 
Schranken,  in  der  Beseitigung  des  Individuellen  liegt. 
Dies  summierende  Moment  wird  uns  objektiv  hier- 
durch nicht  bekannter,  aber  wir  nehmen  wahr,  daß 
es  von  innen  empfunden*  mit  dem  Mysterium  der 
Liebe  identisch  ist. 

Folgen  wir  nun  den  Analogien  mit  der  Annahme, 
daß  alle  künftige  Entwicklung  abermals  zur  Ver- 
engung der  geistigen  Angliederung  führen  muß, 
so  kehren  wir  von  der  Abstraktion  zu  der  Urwahr- 
heit  zurück,  daß  die  Aufhebung  der  individuellen 
Willenstäuschung  das  Reich  der  Liebe  emporführt. 
Und  dieses  Reich  der  Seele  und  der  Liebe  kann  tat- 
sächlich auch  das  Reich  Gottes  genannt  werden, 
weil  es  seinen  Schwerpunkt  vom  geistig  Individuel- 
len in  das  seelisch  Universelle  verlegt. 

Wiederholen  wir  nach  diesen  Erwägungen  die 
Frage,  welche  Bedeutung  der  mechanistischen 
Epoche  in  der  Evolution  der  Menschheit  zuzu- 
sprechen sei,  so  bietet  sich  eine  gesetzmäßige  Ana- 
logie.  So  wie  in  der  belebten  Natur  jeder  Aufstieg 

146 


vom  niedern  zum  höher  gearteten  Organismus 
durch  große  Not  erschwerter  Lebensbedingungen 
erzwungen  wurde,  so  glauben  wir  zu  wissen,  daß 
die  höchsten  Menschenrassen  ihren  Aufstieg  gleich- 
viel welcher  tausendjährigen  Lebensschule  verdan- 
ken. Die  Natur  aber  gab  sich  mit  der  Bildung  einer 
Auslese  nicht  zufrieden.  Die  Auserwählten  mußten 
sich  als  Herrscher  über  die  niederen  Völker  ver- 
breiten, um  sie  zu  führen,  zu  erziehen,  ihnen  neue 
Kräfte  einzuprägen,  schlummernde  zu  erwecken. 
Indem  sie  diese  Aufgabe  erfüllten,  lösten  sie  sich 
auf,  dem  Urgesetz  gehorchend. 

Die  neue  Not,  die  nun  begann,  die  Not  der  Ver- 
dichtung, der  Mechanisierung  und  des  Intellekt- 
tualismus,  trägt  etwas  Größeres,  Endgültigeres, 
Feierlicheres  in  sich  als  ihre  Vorläuferinnen.  Denn 
diese  Not  entspringt  nicht  physikalischen  und  klima- 
tischen Umwälzungen;  sie  ist  von  der  Menschheit 
selbst  geschaffen,  die  nunmehr,  hinreichend  ent- 
wickelt, ihrem  eigenen  Inneren  überlassen,  mit  den 
gleichen  Mitteln  sich  Qualen  bereitet  und  Erlösung 
sucht. 

Vielleicht  wird  sie  gezwungen  sein,  noch  mehr- 
mals ähnliche  Erziehungen  zu  vollenden,  indem  es 
ihr  obliegt,  zurückgebliebene  Völker  emporzuheben ; 
vielleicht  soll  ihre  massenhafte  Vermehrung  neben- 
her dazu  dienen,  die  Kulturaufgaben,  denen  euro- 
päische Kolonialarbeit  so  hilflos  gegenübersteht, 
allmählich  und  ohne  Einbuße  eigenen  Wesens  durch 
Verschmelzung  zu  lösen;  gleichviel:  die  Not  der 
Mechanisierung  hat  ihre  Gegenkräfte  bereits  er- 
zeugt, und  wir  dürfen  somit  auch  sie  als  eine  der 
großen  Schulungen  der  Erdengeschlechter  an- 
sprechen in  der  Zuversicht,  daß  sie  in  ihrer  Einzig- 


!•• 


H7 


art  das  Große  emporführen  wird,  von  dem  wir  ge- 
sprochen haben.  Ihr  Beruf  macht  sie  vergleichbar 
mit  dem  Leben  einzelner  Menschen,  die,  mit  allen 
Kräften  des  Geistes  ausgestattet,  suchend  ins  Weite 
streben  und  schweigend  heimkehren,  weil  sie  ihre 
Seele  gefunden  haben,  durch  Verzicht  und  Gewinn 
doppelt  bereichert. 

1911 


148 


MAHNUNG  UND  WARNUNG 


ÜBER  ENGLANDS  GEGENWÄRTIGE  LAGE 


Vorbemerkung 

Gegenüber  der  Meinung  derjenigen  Deut- 
schen, die  in  dem  Vereinigten  Königreich 
einen  mäßig  bevölkerten  Inselstaat  und  einen 
gleichgearteten  Mitberater  des  europäischen  Völ- 
kervereins erblicken,  ist  es  nützlich,  die  überragende 
Bedeutung  dieser  Macht,  die  seit  den  Zeiten  des 
Römer-  und  des  Frankenreiches  ihresgleichen  nicht 
gehabt  hat,  zuv^^eilen  ins  Gedächtnis  zu  rufen.  Der 
dritte  Teil  der  bev^^ohnten  Erde  steht  unter  Eng- 
lands Botmäßigkeit  oder  Einfluß;  Hunderte  von 
Millionen  Menschen  reden  seine  Sprache  und  be- 
wahren seine  Kultur.  Seine  Flotte  findet  Stütz- 
punkte an  allen  Küsten;  ihre  Übermacht  vermag 
jeden  Gegner  aus  den  Meeren  zu  vertreiben.  Eng- 
lischen Gebieten  entstammen  zwei  Drittel  der  Gold- 
produktion der  Erde;  englische  Städte  sind  die  Han- 
dels- und  Marktzentren  der  Welt.  Mit  dem  Kapi- 
talreichtum des  Landes  kann  Deutschland,  mit  sei- 
ner Geldflüssigkeit  nur  Frankreich  sich  messen,  mit 
dem  Umfang  der  auswärtigen  tributpflichtigen  Un- 
ternehmungen kein  anderes  Volk.  Überlieferung, 
Gleichförmigkeit  der  Rasse  und  Kultur  schaffen 
den  einheitlichsten  Volks  willen,  den  wir  kennen; 
die  Abwechslung  zweier  patriotischer  und  verant- 
wortlicher Regierungsparteien  verleiht  der  Politik 

153 


die  Stetigkeit  eines  arithmetischen  Mittels.  Ein 
zum  Aristokratismus  neigender,  tätiger  und  wohl- 
habender Mittelstand  von  ungemeiner  Ausdehnung 
übt  Körper  und  Geist  in  harmonischem  Ausgleich 
und  liefert  einen  Nachwuchs  von  Menschen,  die 
Verantwortlichkeit  erstreben  und  ertragen. 

Hält  man  diese  Verhältnisse  vor  Augen,  so  ergeben 
sich  diejenigen  Einschränkungen,  deren  die  nach- 
folgenden Ausführungen  bedürfen;  denn  diese  be- 
ziehen sich  auf  Nachteile  und  Gefahren,  denen  das 
britische  Reich  gegenwärtig  standzuhalten  hat. 

Da  nun  die  äußere  Machtstellung  des  Landes  auf 
zwei  Grundlagen  beruht:  dem  Erwerbsleben  und 
der  Kolonialmacht,  so  sollen  in  gleicher  Ordnung 
die  nachstehenden  Beobachtungen  vorgetragen 
werden. 


V 


I.  Wirtschaftliche  Sorgen 

om  Handel,  als  der  naturgemäßen,  herkömm- 
lichen und  von  den  gegenwärtigen  Verhält- 
nissen weniger  berührten  Quelle  englischen  Erwer- 
bes braucht  in  diesem  Zusammenhange  nicht  ge- 
sprochen zu  werden. 

Beachtenswerter  ist  die  Lage  der  englischen  In- 
dustrie, deren  relativen  Rückgang  ich  in  meinem 
letzten  Buche  zu  beleuchten  versuchte.  Die  Haupt- 
ursachen dieses  Ermattens  im  internationalen  Wett- 
bewerb sind  folgende : 

I.  Lebensgewohnheit  und  Erziehung.  Der  Eng- 
länder verlangt  vom  Leben  ein  höheres  Maß  von 
Muße  und  Erholung,  auch  in  der  Jugend,  als  der 
Deutsche.  In  der  demütigen  Tätigkeit  des  Lernens 
überschreitet  er  daher  nicht  gern  eine  gewisse  Grenze 

154 


und  verschmäht  die  gleichzeitig  enzyklopädische 
und  verzweigte  Ausbildung  des  deutschen  Studenten. 
Somit  ist  das  technisch  geschulte  Beamtenmaterial 
der  Engländer  dem  unsern  nicht  entfernt  zu  ver- 
gleichen, und  keine  Vermehrung  technischer  Lehr- 
anstalten wird  hieran  etwas  ändern.  Aber  auch  in 
der  geschäftlichen  Tätigkeit  ist  der  englische  Beamte 
unterlegen,  denn  er  arbeitet  zwei  Stunden  weniger 
als  sein  deutscher  Konkurrent;  er  verlangt  min- 
destens einen  freien  Nachmittag  in  der  Woche,  hö- 
here Bezahlung  und  ein  klar  umschriebenes,  von 
ungewöhnlichen  und  komplizierten  Wechselfällen 
befreites  Arbeitsgebiet. 

Nun  beruhen  aber  die  neueren,  vorwiegend  wis- 
senschaftlich gearteten  Industrien,  wie  etwa  Ma- 
schinenindustrie, chemische  Industrie,  Elektrizi- 
tätsindustrie, auf  zwei  Stützen:  Technik  und  Or- 
ganisation, das  heißt:  auf  der  Tüchtigkeit  des 
technischen  und  kaufmännischen  Beamten.  Hier- 
aus erhellt,  warum  England,  bei  aller  seiner  Stärke 
in  älteren  Industriezweigen,  insbesondere  in  den- 
jenigen, die  Gebrauchswaren  liefern,  seine  starke 
Stellung  zunächst  behauptet,  während  seine  neu- 
eren Großindustrien,  die  vermöge  erweiterter  Ar- 
beitsteilung die  fertigmachenden  Industrien  mit 
Produktionsmitteln  versorgen,  hinter  dem  Ausland 
zurückbleiben. 

2.  Ein  zweites  Hemmnis  englischer  Industrien 
sind  die  Arbeiterorganisationen.  Sie  mußten  die 
ganze  soziale  Versicherungsarbeit  übernehmen,  die 
durch  unsere  Sozialgesetzgebung  verstaatlicht  wur- 
de, und  haben  daher  eine  ungeheure  Stärke  gewon- 
nen. Diese  Stärke,  verbunden  mit  einem  geschäfts- 
mäßig praktischen  Sinn,  der  nicht  von  Zukunfts- 

155 


Staaten  träumt,  sondern  heutige  Lebensbedingungen 
zu  beherrschen  und  anzupassen  trachtet  — ,  diese 
Stärke  hat  den  Gewerkschaften  die  Kontrolle  der 
englischen  Industrie  gesichert.  Sie  schreiben  vor, 
ob  und  zu  welchen  Bedingungen  gearbeitet  werden 
darf,  ob  neue  Maschinen  eingestellt  oder  Betriebe 
erweitert  werden  dürfen.  Diese  Einwirkung  hat 
den  englischen  Produktionsbedingungen  die  Elasti- 
zität geraubt,  die  ausländischer  Wettbewerb  erfor- 
dert. In  Einschaltung  darf  hier  bemerkt  werden, 
daß  aus  dem  Gegensatz  der  Wert  unserer  sozialen 
Gesetzgebung  deutlich  hervortritt.  Eine  Sicherung 
des  Arbeiters  gegen  Gefahren  und  Alterssorgen  wäre 
zwar  sicherlich  auch  ohne  gesetzliches  Zutun,  auf 
Grundlage  privater  Verbände  zustande  gekommen; 
aber  diese  Verbände  hätten  wahrscheinlich  unsere 
Industrie  zugrunde  gerichtet.  Die  Gesamtheit  der 
Industriellen  hat  daher  keinen  Anlaß,  sich  über  die 
Belastungen   dieser   Gesetzgebung   zu   beklagen. 

3.  Überlieferung  und  Konservatismus,  zwei  Fak- 
toren höchster  Stärke,  wo  es  sich  um  Regierungs- 
und Verwaltungsfragen  liandelt,  sind  der  industriel- 
len Entwicklung  entgegengesetzt.  Vornehmlich  ist 
es  die  Fähigkeit  der  Amerikaner,  in  letzter  Zeit  siuth. 
einigermaßen  der  Deutschen,  erhebliche  Risiken 
und  Ausgaben  auf  sich  zu  nehmen,  um  Betriebe 
zu  verbessern,  neue  Arbeitsmethoden  und  neue  Er- 
zeugnisse einzuführen,  neue  Unternehmungen  und 
Industriezweige  zu  schaffen.  Der  Engländer  hin- 
gegen hat  jahrzehntelang  mit  seinen  älteren  In- 
dustrien Glück  gehabt,  ja  eine  führende  Stellung 
behauptet,  ohne  sich  Sorgen  um  Geldbeschaffung 
oder  wirtschaftliche  Experimente  machen  zu  müs- 
sen; so  steht»  er  Neuerungen  unwillig  und   miß- 

156 


trauisch  gegenüber,  beauftragt  allenfalls  einen  ge- 
werbsmäßigen Sachverständigen  —  denn  über  eigene 
maßgebliche  Kräfte  verfügt  er  nicht  — ,  ihm  Gut- 
achten und  Berechnungen  vorzulegen,  und  ent- 
scheidet sich  erst  dann  für  die  Reform,  wenn  die 
Welt  längst  mit  neuen  Dingen  beschäftigt  ist.  Auch 
dies  fördert  den  industriellen  Konservativismus,  daß 
die  Unternehmungen  großenteils  in  den  Händen 
Privater  liegen,  die  nach  altem  Herkommen  nicht 
gern  an  die  Grenze  ihrer  Mittel  herantreten,  noch 
weniger  aber  Kredite  zu  beanspruchen  wünschen, 
während  unsere  Aktiengesellschaften  unter  Mithilfe 
industriell  veranlagter  Banken  sich  ohne  Bedenken 
und  Schwierigkeit  Anleihen  oder  Kapitaleinlagen  be- 
schaffen. 

Versucht  man,  die  drei  Kategorien,  die  den  ver- 
zögerten Fortschritt  oder  vergleichsweisen  Rück- 
gang englischer  Industrie  verschulden,  auf  ein 
Grundprinzip  zurückzuführen,  so  wäre  man  geneigt 
anzunehmen,  daß  alter  Reichtum,  alte  Kultur  und 
alte  Führerschaft  England  ungeeignet  machen,  die 
unterwürfigen  Qualitäten  des  übertriebenen  Ler- 
nens, der  Vielgeschäftigkeit  und  der  Konkurrenz- 
gebarung anzunehmen,  die  modernes  Erwerbsleben 
leider  erfordert.  England  leidet  unter  seinen  besten 
Eigenschaften. 

Die  Engländer  selbst  sind  sich  des  Vorgangs  deut- 
lich bewußt,  seiner  Ursachen  nicht.  In  erster 
Linie  glauben  sie,  daß  das  System  der  technischen 
Erziehung  reformiert  werden  müsse,  während  es 
sich  in  Wirklichkeit  um  Fragen  der  nationalen  Le- 
bensweise handelt.  In  zweiter  Linie  regt  sich  in  allen 
Ecken  des  Landes  die  Neigung  zu  Schutzzöllen,  de- 
nen ja  vielfach  die  Kraft  zugesprochen  wird,  er- 

^S7 


schlaffende  Industrien  zu  halten,  während  sie  in 
Wirklichkeit  nur  imstande  sind,  junge  und  aufstre- 
bende Gewerbe  in  ihrer  ersten  Entwickelungszeit 
zu  schützen  und  zu  stärken. 

Aus  Besprechungen  mit  führenden  Finanzleuten 
ergab  sich  nun  die  seltsame  Tatsache,  daß  der  Ruf 
nach  Gewerbeschutz  einstweilen  durchaus  nicht 
vorwiegend  von  Industriellen  oder  Arbeitern  aus- 
geht. Diese  beiden  Berufsklassen  vertreten  viel- 
mehr großenteils  die  nur  innerhalb  enger  Grenzen 
zutreffende  Ansicht,  daß  Schutzzölle  die  Verbrauchs- 
güter des  Landes  verteuern,  woraus  die  einen  schlie- 
ßen, daß  die  Löhne  erheblich  gesteigert  werden 
würden,  während  die  andern  selbst  bei  gesteigerten 
Löhnen  verschlechterte  Lebensbedingungen  be- 
fürchten. Danach  macht  sich  wohl  auf  selten  der 
Händler  und  Cityleute  die  Erkenntnis  geltend,  daß 
ein  schutzzöUnerisches  England  auf  die  Dauer  nicht 
den  Großhandel  und  die  Hauptmärkte  des  Kon- 
tinents sich  werde  erhalten  können,  daß  vielmehr 
diese  Hauptquellen  des  nationalen  Erwerbes  vor- 
wiegend von  deutschen  Häfen  und  Handelsplätzen 
abgefangen  werden  würden.  Tatsächlich  sieht  Eng- 
land in  dieser  wichtigsten  aller  gegenwärtigen  Wirt- 
schaftsfragen sich  vor  die  Wahl  gestellt:  entweder 
in  gleicher  Weise  die  fernere  Entwicklung  seiner 
Industrie  seinem  Handel  und  seiner  Weltstellung 
zu  opfern,  wie  es  seine  Landwirtschaft  in  der  Mitte 
des  XIX.  Jahrhunderts  geopfert  hat,  oder  mit  dem 
mangelhaften  Hilfsmittel  der  Schutzzölle  die  In- 
dustrie zu  verteidigen,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  Han- 
del und  Handelsflotte,  Warenverkehr,  Geldverkehr 
und  Märkte  ernsthaft  geschädigt  werden. 

In  dieser  schweren  Besorgnis  sind  es,  wie  erwähnt, 

158 


merkwürdigerweise  nicht  so  sehr  die  eigentlich  be- 
troffenen Industriellen,  -die  Schutz  fordern,  als  eine 
andere  Klasse  von  Interessenten,  die  sich  gleichfalls, 
aber  auf  gänzlich  andersgeartetem  Gebiete,  in  Be- 
drängnis fühlen  —  nämlich  die  Imperialisten. 

IL  Koloniale  Sorgen 

Es  bezeichnet  die  seltsame  Doppelheit  englischer 
Politik,  die  nicht  wie  die  unsre  durch  unüber- 
brückbare wirtschaftliche  Gegensätze  in  Spannung 
gehalten  wird,  sondern  nach  Gelegenheitsgründen 
bald  hier  bald  dort  ein  altes  Prinzip  verläßt,  ein 
neues  aufnimmt  — ,  es  bezeichnet  diese  Wendigkeit 
und  Unbefangenheit,  daß  der  Mann,  der  seiner 
Königin  die  Kaiserkrone  von  Indien  aufs  Haupt 
setzte,  das  Wort  gesprochen  haben  soll:  die  Kolo- 
nien seien  der  Mühlstein  an  Englands  Halse. 

Die  politischen  Erben  Disraelis,  die  heute  im- 
perialistische Ziele  verfolgen,  werden  sich  dieses 
gewichtigen  Bildes  bewußt,  deutlicher  als  es  dem 
kontinentalen  Blick  sich  darstellt. 

Denn  wenn  wir,  von  gewohnten  Anschauungen 
ausgehend,  die  englische  Weltstellung  auf  Seemanns- 
tüchtigkeit und  Kolonialherrschaft  zurückführen, 
so  erblicken  wir  in  der  letzteren  nicht  nur  den  Inbe- 
griff maritimer  Stützpunkte  und  überseeischer 
Bundesgenossenschaften,  sondern  vor  allem  den 
Quell  unversieglicher  Schätze,  die  als  Tribute,  Ge- 
hälter, Pensionen,  Handels-  und  Absatzgewinne 
dem. Mutterlande  zufließen.  Diese  wirtschaftliche 
Seite  des  kolonialen  Imperiums  verdient  indessen 
eine  etwas  nüchternere  Betrachtung. 

Es  wird  kaum  möglich  sein,  und  wohl  auch  von 

..       '  159 


keiner  Stelle  der  Verwaltung  aus  ernstlich  versucht 
werden,  die  wirtschaftliche  Bilanz  des  kolonialen 
Soll  und  Haben  zahlenmäßig  zu  ziehen.  Sowohl 
unter  den  Aktiven  wie  unter  den  Passiven  würden 
Posten  erscheinen,  die  sich  jeder  Berechnung  ent- 
ziehen: unter  den  ersteren  der  Wert  des  Handels- 
verkehrs, unter  den  letzteren  die  Erfordernisse  für 
solche  Anlagen,  die  sich  spät,  indirekt  oder  nie  be- 
zahlt machen,  sowie  für  maritimen  Schutz  und  krie- 
gerische Unternehmungen.  Indessen  läßt  sich  aus 
einer  Reihe  übereinstimmender  Zeichen  schließen, 
daß  diese  Bilanz  heute  in  hohem  Maße  passiv  ist. 
Was  zunächst  zahlenmäßige  Überweisungen  aus  den 
Kolonien  anlangt,  so  finden  solche  in  irgendwie 
beachtenswertem   Maße   überhaupt   nicht   statt. 

Die  Kolonien  halten  und  bezahlen  ihren  eigenen 
Beamtenkörper,  der  aus  einsässigen  Persönlichkeiten 
besteht;  das  Militär,  soweit  es  überhaupt  von  der 
Heimat  gestellt  wird,  erhält  und  verzehrt  seine 
Löhnung  in  dem  Lande,  wo  es  angesetzt  ist;  Kon- 
tributionen werden  an  das  Mutterland  nicht  ent- 
richtet. Dagegen  verlangen  viele  Kolonien  erheb- 
liche direkte  Zuschüsse  aus  der  Heimat;  sie  verlangen 
die  Finanzierung  ihrer  Anleihen,  gleichviel  ob  diese 
zureichend,  oder  wie  etwa  die  von  Kapland,  sehr 
mäßig  fundiert  sind ;  sie  verlangen  endlich  gewaltige 
Geldmittel  für  Verkehrsanlagen,  Bewässerung,  Be- 
festigung, Kriegführung,  die  entweder  vorschuß- 
weise oder  als  verlorene  Zuschüsse  gewährt  werden 
müssen.  Daß  der  englische  Handel  aus  den  Kolonien 
erhebliche  Vorteile  zieht,  ist  unbestreitbar,  und  es 
fällt  hiergegen  nur  wenig  ins  Gewicht,  daß  beträcht- 
liche Unterstützungen  an  Dampferlinien  gezahlt 
werden  müssen.   Auch  englische  Erzeugnisse  finden 

i6o 


in  den  Kolonien  Absatz:  bis  zu  welchem  Maße,  ist 
schwer  zu  sagen,  obgleich  die  Handelsstatistiken 
die  Einfuhrziffern  mit  über  50  Prozent  der  Gesamt- 
einfuhr nachweisen;  denn  zweifellos  finden  viele 
deutsche  und  amerikanische  Produkte  auf  dem  Um- 
weg über  England  dort  —  eine  zweite  Heimat.  So 
viel  aber  ist  sicher,  daß  der  koloniale  Absatz  keine 
Schätze  abwirft;  denn  trotz  mannigfacher  Bevor- 
zugung wirkt  der  internationale  Wettkampf  in  den 
Kolonialgebieten    mit   rücksichtsloser  Schärfe. 

Als  wahrscheinlich  darf  angenommen  werden, 
daß  die  wirtschaftlichen  Vorteile,  die  England  aus 
seinen  Kolonien  zieht,  sich  in  einem  Verhältnis  ab- 
stufen, das  bei  sehr  zahlreicher  und  tätiger  farbiger 
Bevölkerung  seinen  günstigsten  Grad  erreicht,  wäh- 
rend die  überwiegend  von  europäischen  Rassen  be- 
siedelten Länder  der  Heimat  mehr  und  mehr  national 
und  wirtschaftlich  verloren  gehen;  es  dürfte  daher 
Indien  noch  immer  Englands  wertvollster  Besitz 
sein.  Erscheinen  somit  die  wirtschaftlichen  Vorteile, 
die  England  der  kolonialen  Ausdehnung  verdankt, 
begrenzt,  so  muß  aus  der  politischen  Betrachtung  sich 
ergeben,  welches  Maß  vernünftiger  Berechtigung, 
mithin  von  Stabilität,  dem  Imperium  innewohnt. 
Auch  hier  ergibt  sich  eine  ähnliche  Gesetzmäßigkeit 
insofern,  als  die  Dichte  und  Bedeutung  der  weißen 
Bevölkerung  in  einer  gewissen  Proportionalität  stehen 
zu  den  Sorgen,  die  der  Heimat  erwachsen. 

Abermals  zeigen  die  Kolonien  mit  dichter  und 
vergleichsweise  entwickelter  farbiger  Bevölkerung 
das  günstigste  Bild.  Sie  erweisen  sich  als  gesicherter 
Staatsbesitz,  dessen  innere  und  äußere  Verteidigung 
zwar  aufmerksame  Überwachung  erfordert,  der  auch 
gelegentlich  bei  Wirtschaftskalamitäten  durch  Auf- 

I.  "  »      161 


stände  gefährdet  werden  kann,  im  allgemeinen  aber, 
mit  der  Länge  der  Zeit,  mit  dem  Ausbau  von  Ver- 
kehrs- und  Verteidigungsmitteln  dem  Stammland 
immer  enger  angekettet  wird. 

Anders  diejenigen  Kolonien,  die  wie  Südafrika 
infolge  der  Spärliclikeit  oder  Passivität  der  einge- 
borenen Bevölkerung  eine  gleichzeitige  Besiedelung 
durch  farbige  und  weiße  Elemente  erfordern.  Über- 
wiegt hier  das  dunkle  Element,  wie  dies  zumal  bei 
beginnender  Kolonisation  entschieden  der  Fall  sein 
muß,  so  entsteht  innerhalb  weniger  Generationen 
eine  moralische,  vielleicht  auch  physische  Nieder- 
ziehung des  Europäertums.  Das  beständige  Beispiel 
des  untätigen  und  amoralischen  Eingeborenen,  die 
schwer  zu  ertragende  Gewöhnung  an  ein  angebore- 
nes Herrscherdasein,  die  Erziehung  der  Kinder  in 
der  Umgebung  und  Atmosphäre  einer  unterwürfigen 
Kaste  —  diese  Faktoren  scheinen  zu  einer  inneren 
Entartung  beizutragen,  die  zu  weitgreifender  Ver- 
mischung und  Bastardisierung  führen  kann.  So  ist 
im  Kapland  der  Stamm  der  Capboys  entstanden, 
eine  Mischlingszucht  von  Holländern  und  Negern, 
die  in  allen  Abstufungen  von  Weiß  zu  Schwarz  heute 
einen  wesentlichen  Bestandteil  der  südafrikanischen 
Bevölkerung  bildet.  Schreitet  nun  die  Vermehrung 
der  Eingeborenen  und  Mischlinge  rascher  voran  als 
die  der  Europäer,  so  entstehen  neue  Wirrnisse.  Denn 
auch  die  Farbigen  haben  im  Zusammenleben  mit 
den  Weißen  sich  so  weit  gewandelt,  daß  sie  ge- 
lernt haben,  Ansprüche  zu  erheben;  zunächst  auf 
Teilnahme  an  der  Verwaltung.  Dr.  Jameson,  der 
Führer  jenes  berüchtigten  Zuges  gegen  Johannes- 
burg, der  bis  vor  kurzem  dem  Kapministerium  ange- 
hörte, vertritt  mit  Entschiedenheit  die  Berechtigung 

162 


der  Farbigen  zur  Selbstverwaltung,  indem  er  an- 
führt, daß  eine  scharfe  Grenze  zwischen  ihnen  und 
den  Weißen  physisch  überhaupt  nicht  mehr  gezogen 
werden  könne.  So  besitzen  denn  im  Kapland  die 
Farbigen  tatsächlich  das  parlamentarische  Stimm- 
recht, während  andere  Kolonien,  wie  z.  B.  Natal, 
wo  das  weiße  Element  vorherrscht,  auf  diesen  Ver- 
fassungszustand des  Nachbarlandes  mit  Abscheu 
hinabsehen  und  vornehmlich  um  seinetwillen  von 
der  Errichtung  einer  südafrikanischen  Union  nichts 
wissen  wollen. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Strebungen  der  oberfläch- 
lich zivilisierten  Eingeborenen  sich  noch  weiter  er- 
strecken, daß  die  äthiopische  Bewegung,  durch 
schwarze  Missionare  geschürt,  Anhänger  wirbt  für 
die  der  Monroedoktrin  nachgebildete  These:  „Af- 
rika den  Afrikanern".  So  sind  denn  heute  ernste 
englische  Beurteiler  der  Ansicht,  daß  das  Land  in 
absehbarer  Zukunft  zu  wählen  haben  werde  zwischen 
friedlicher  Unterwerfung  unter  teilweise  afrikanische 
Kontrolle  oder  schweren  inneren  Kämpfen.  Mag 
dieser  Hinblick  zu  dunkel  erscheinen :  so  viel  ist  ge- 
wiß, daß  nur  eine  Stärkung  des  hellen  Elements, 
somit  eine  energische  Förderung  der  Einwanderung 
und  allmähliche  Umwandlung  der  Länder  in  weiße 
Kolonien  die  inneren  Reibungen  beseitigen  und 
die  Verschmelzung  der  verschiedenartigen  Verwal- 
tungen zu  einer  einheitlichen  südafrikanischen  Ko- 
lonialorganisation ermöglichen  wird.  In  gleichem 
Maße  aber  werden  diejenigen  neuen  Gegenstrebun- 
gen  dem  Mutterlande  gegenüber  auftreten,  die  von 
allen  weißen  und  zu  einer  gewissen  Reife  gelangten 
Kolonien  gezeitigt  werden,  und  die  eine  wirkliche 
Gefahr  für  das  koloniale  Imperium  bilden. 


n* 


163 


Betrachtet  man  vergleichend  die  Vereinigten 
Staaten  und  Kanada,  so  erblickt  man  zwei  Länder 
von  nahezu  gleichaltriger  Geschichte  und  ähnlicher 
Flächenausdehnung,  aber  von  sehr  verschiedener 
Bedeutung.  Das  eine,  stark  bevölkert,  eine  politisch 
führende,  wirtschaftlich  unerreichte  -  Macht  von 
ungeheurem  Wohlstand,  das  andere  spärlich  be- 
wohnt, politisch  ohne  Existenz,  verwaltungsmäßig 
abhängig,  zwar  mit  zunehmendem  Wohlstand,  doch 
ohne  überragende  wirtschaftliche  Bedeutung.  So 
kann  es  nicht  wundernehmen,  daß  die  Bewohner  es 
ablehnen,  Klima  und  Boden  allein  für  die  verzögerte 
Entwicklung  verantwortlich  zu  machen,  sondern 
vielmehr  in  der  Abhängigkeit  von  einem  europä- 
ischen Lande  den  schwersten  Nachteil  erblicken. 
Diese  Stimmungen  finden  offen  Ausdruck;  eine 
peinliche  Szene  auf  einem  Bankett  in  Washington 
gab  vor  wenigen  Wochen  die  kennzeichnende  Abbil- 
dung kanadischer   Unabhängigkeitsgelüste. 

England  ist  sich  dieser  zentrifugalen  Tendenzen 
bewußt  und  bemüht  sich,  durch  Freisinn,  der  fast 
an  Schlaffheit  grenzt,  ihnen  zuvorzukommen.  Man 
kann  in  der  Dezentralisation  nicht  weiter  gehen,  als 
hier  geschieht.  Selbst  halbentwickelte  Kolonialge- 
bilde haben  eigene  Parlamente,  eigene  Gesetzgebung, 
Wirtschaftspolitik,  Beamtenkörper.  England  und 
seinem  Statthalter  bleibt  kaum  etwas  anderes  als 
Veto  und  Exekutive.  Aber  alle  Liberalität  kann  den 
Gedanken  nicht  zurückdrängen,  der  in  allen  weißen 
Kolonien  auftaucht  und  Boden  gewinnt :  daß  in  sehr 
absehbarer  Zeit  an  die  Stelle  des  Vormundschafts- 
verhältnisses eine  Union  zu  treten  habe,  die  denn 
freilich  in  der  Praxis  andere  Wege  einschlagen  könnte, 
als  es  den  Programmen  entspricht. 

164 


Was  England  heute  den  loslösenden  Bestrebungen 
allein  entgegensetzen  kann,  ist  seine  Flotte.  „Hier 
habt  ihr  einen  Schutz,"  so  sagt  Großbritannien, 
„den  keiner  von  euch  entbehren  und  den  kein  andres 
Land  euch  gewähren  kann,  denn  die  britische  Flotte 
ist  ein  unerreichbares,  jeder  Nebenbuhlerschaft  ent- 
hobenes Einzigtum."  Auf  diesem  Nachsatz  liegt 
das  Gewicht.  Denn  er  bezeichnet  den  Untergrund 
der  englischen  Flottenernpfindlichkeit :  mit  jedem 
Schiff,  das  Deutschland  baut,  lockert  sich  ein  Stein 
des  britischen  Kolonialgebäudes. 

So  ist  es  begreiflich,  daß  die  imperialistische  Partei 
sich  nach  neuen  Mitteln  umsieht,  um  die  übersee- 
ischen Besitzungen  sich  fester  zu  verbinden;  und 
es  trifft  sich  seltsam,  daß  abermals  der  Gedanke  des 
Schutzzollsystems  sich  darbietet.  Hier  aber  er- 
scheint er,  den  veränderten  Zielen  entsprechend, 
in  neuem  Kleide.  Ein  gemeinschaftlicher  Zollring, 
der  nicht  nur  auf  die  Produkte  der  Industrie,  son- 
dern auch  der  Landwirtschaft  und  der  kolonialen 
Wirtschaft  sich  erstreckt,  soll  das  gesamte  britische 
Weltreich  umschließen  und  eine  gewaltige  Pro- 
duktionseinheit schaffen.  Unter  seinem  Schutz 
sollen  die  Überseeländer  das  Heimatreich  mit 
Rohstoffen,  Nahrungs-  und  Genußmitteln  ver- 
sorgen und  im  Austausch  Industrieprodukte  er- 
halten. 

Die  Schwächen  dieses  gewaltigen  Gedankens  lie- 
gen offen  zutage :  er  ist  für  beide  Parteien  unannehm- 
bar. Abgesehen  von  der  Frage,  ob  die  Gemeinschaft 
in  ihrer  Produktion  vielseitig  und  hinlänglich  genug 
sein  würde,  um  sich  von  der  Umwelt  genügend  frei- 
zumachen: die  Kolonien  würden  es  auf  die  Dauer 
nicht  ertragen,  englische  Erzeugnisse  unter  mono- 

i6s 


polistischen  Bedingungen  zu  beziehen ;  und  England, 
das  keine  erliebliclie  Landwirtschaft  betreibt  und 
sich  noch  heute  vor  lediglich  industriellen  Zöllen 
fürchtet,  weil  sie  die  Lebensführung  verteuern,  wür- 
de die  Einbeziehung  des  Gesamtbereichs  aller  Kon- 
summittel in  die  umfassende  Zolleinheit  sich  nicht 
gefallen  lassen.  Die  gewichtigen,  im  Vorangegan- 
genen erwähnten  Bedenken  hinsichtlich  Gefährdung 
des  Handels  und  der  Märkte  bleiben  überdies  in  ver- 
stärktem Maße  geltend. 

Von  großer  Bedeutung  muß  es  aber  erscheinen, 
daß  von  zwei  ganz  verschiedenen  Seiten  aus  auf  das 
gleiche  Ziel  hingearbeitet  wird,  wobei  die  Kolonial- 
partei mit  großen  Mitteln  der  Wühlerei  und  hohen 
Parolen  sich  bereits  in  Tätigkeit  befindet,  während 
die  nach  herkömmlichen  ökonomischen  Anschau- 
ungen vornehmlich  interessierten  Gruppen,  näm- 
lich die  der  Industrie,  einstweilen  noch  zögern,  aus 
der  Deckung  hervorzutreten  und  sich  den  Bundes- 
genossen zu  vereinigen. 

Als  außenstehende  Beurteiler  können  wir  die  eng- 
lische Schutzzolltendenz  nur  als  verkehrt  betrachten, 
als  industrielle  Interessenten  sie  als  schädlich  emp- 
finden; es  stehen  uns  aber  keine  Mittel  zu  Gebote, 
sie  abzulenken.  Und  wenn  man  auch  im  allgemeinen 
die  englische  Politik  als  vorbildlich  insofern  be- 
zeichnen darf,  als  sie  stets,  gleichsam  instinktiv, 
die  wahren  Bedürfnisse  der  Nation  erfaßt  und 
besorgt  hat,  so  ist  der  Fall  doch  nicht  auszu- 
schließen, daß  in  Zeiten  der  Verlegenheit  starke 
Konstellationen  vermeintlicher  Interessen  die  Ent- 
schlüsse bestimmen. 


i66 


Rückwirkungen 

So  sehen  wir  England  Keute  von  zwei  schweren 
Sorgen  erfüllt:  der  wirtschaftlichen  und  der 
kolonialen,  denen  zwei  Mittel  der  Abhilfe  gegen- 
überstehen ;  das  eine  —  Schutzzoll  —  grundsätzlich 
durchaus  durchführbar,  aber  vermutlich  nicht  heil- 
sam; das  andere  —  Flottenvermehrung  —  zweck- 
entsprechend und  geeignet,  vielleicht  aber  nicht 
so  bequem  durchführbar,  wie  es  auf  den  ersten 
Blick  erscheint.  Zwar  ist  die  englische  Flotte  außer- 
ordentlich volkstümlich,  der  höchste  Stolz  der  Na- 
tion; ihre  Besatzung  findet  in  der  maritimen  Be- 
völkerung reichlichen  Nachwuchs;  der  Schiffbau 
ist  unübertroffen;  die  Mittel  zur  Erhaltung  und 
Verstärkung  sind  stets  aufs  freigebigste  vom  Par- 
lament bewilligt  worden  —  aber  das  Land  ist  heute 
nicht  mehr  so  ausgabefroh  wie  früher,  und  opferwil- 
lig ist  es  nie  gewesen.  Wenn  auch  die  Staatsbilanz 
mit  einer  Schuldentilgung  von  i8  Millionen  glän- 
zend erscheint,  so  ist  der  Überschuß  doch  nur  eine 
Folge  der  Kriegssteuer,  die  noch  immer  gezahlt  und 
ungern  gezahlt  wird.  England  könnte  bei  seinem 
großen  nationalen  Wohlstand  ein  erheblich  ver- 
größertes Haushaltsoll  ertragen;  es  will  aber  nicht 
höher  besteuert  sein,  ebensowenig  wie  es  die  Last 
einer  allgemeinen  Wehrpflicht  zu  tragen  gewillt  ist. 
Dies  verwöhnte  Land  macht  seit  Jahren  schlechte 
Geschäfte  und  lebt  nach  unsern  Begriffen  über  seine 
Verhältnisse :  da  sind  neue  Steuern  die  unliebsamste 
Ausgabe.  So  mußte  auch  die  Heeresreform  ein 
Stückwerk  bleiben;  sowohl  die  Einrichtung  der 
Territorialarmee  als  die  der  Military  Associations, 
die  einen  Teil  der  Lasten  zu  freiwilligen  machen 

167 


sollen,  scheinen  Mißerfolge.  Wenn  daher  auch  häu- 
fig das  Wort  ertönt :  „auf  ein  deutsches  Schiff  zwei 
englische",  so  äußert  sich  darin  mehr  ein  Wunsch 
als  ein  Gelübde.  Zweifellos  kann  England  seine 
Flotte  verstärken,  wird  sie  verstärken  und  muß  sie 
verstärken  —  aber  das  gegenwärtige  maßlose  Ver- 
hältnis der  Übermacht  kann  auf  die  Dauer  nicht  er- 
halten bleiben. 

In  hohem  Maße  beachtenswert  ist  es,  daß  beide 
Sorgen,  die  industrielle  und  die  koloniale,  den  Blick 
der  Nation  nach  Deutschland  hinüberlenken.  Hier 
sitzt  der  Konkurrent  und  der  Rivale.  Aus  allen  Un- 
terhaltungen mit  gebildeten  Engländern  klingt  es 
heraus,  bald  als  Kompliment,  bald  als  Vorwurf, 
bald  als  Ironie :  ihr  werdet  uns  überflügeln,  ihr  habt 
uns  überflügelt.  Und  ein  drittes  gewichtiges 
Moment  tritt  hinzu,  das  wir  uns  in  der 
Heimat  nicht  immer  vergegenwärtigen: 
die  Beurteilung  Deutschlands,  wie  es 
sich  dem  Außenstehenden  darstellt.'  Man 
blickt  von  außerhalb  in  den  Völkerkessel 
des  Kontinents  und  gewahrt,  von  stok- 
kenden  Nationen  eingeschlossen,  ein  Vo  1  k 
von  rastloser  Tätigkeit  und  enormer  phy- 
sischerAusdehnungskraft.  Achthundert- 
tausend neue  Deutsche  jährlich!  Jedes 
Jahrfünft  eine  zusätzliche  Bevölkerung 
nahezu  gleich  der  von  Skandinavien  oder 
der  Schweiz!  Und  man  fragt  sich,  wie 
lange  das  blutarme  Frankreich  dem 
Atmosphärendruck  dieser  Bevölkerung 
standhalten  könne. 

So  verkörpert  und  verörtlicht  sich  jede 
englische  Unzufriedenheit  —  und  es  gibt 

j68 


deren  genug  seit  dem  letzten  Kriege  —  im 
Begriffe  Deutschland.  Und  was  bei  den  Ge- 
bildeten als  erwogeneÜberzeugungauftritt, 
das  äußert  sich  beim  Volke,  bei  der  Jugend, 
in  der  Provinz  als  Vorurteil,  als  Haß  und 
Phantasterei  in  einem  Umfange,  der  weit 
über  das  Maß  unsrer  journalistischen  Wahr- 
nehmungsfähigkeit hinausgeht. 

Es  wäre  schwächlich  und  oberflächlich, 
wollte  man  glauben,  daß  kleine  Freund- 
lichkeiten, Deputationsbesuche  oder  Preß- 
manöver Unzufriedenheiten  stillen  können, 
die  aus  so  tiefen  Quellen  fließen.  Nurunsre 
Gesamtpolitik  ist  imstande,  England wenig- 
stensdiesenEindruck  zu  verschaffen,  daß  von 
Deutschlands  Seite  aus  keine  Verstimmung, 
keine  Furcht,  kein  Expansionsbedürfnis  und 
keine  Offensive  besteht.  Die  Massen  werden 
hierdurch  nicht  überzeugt,  wohl  aber  die 
Regierungen  im  Bewußtsein  ihrer  Verant- 
wortung erhalten  werden. 

Ist  es  zutreffend,  daß  seit  dem  Aufhören 
der  Eroberungskriege  es  vorwiegend  ratlose 
Verlegenheiten  gewesen  sind,  die  europä- 
ische Konflikte  veranlaßt  haben,  so  ergibt 
sich  von  neuem  der  Anlaß,  nichts  zu  versäu- 
men, was  zu r  politischen  Beruhigung  beitra- 
gen kann;  in  demBewußtsein, daß  mit  jedem 
Jahr,  das  vergeht,  das  maritime  Machtver- 
hältnis sich  für  uns  günstiger  gestaltet  und 
hierdurch  eine  allmähliche  Bekräftigung 
des   Gleichgewichtes   wiederum   eintritt. 

Diese  Arbeit  wurde  während  eines  längeren  Aufenthalts  in  englischen  Territorien  im 
Sommer  1908  geschrieben  und  als  Denkschrift  dem  damaligen  Reichskanzler  überreicht, 

169 


POLITIK,  HUMOR  UND  ABRÜSTUNG 

Manto 
Den  lieb'  ich,  der  Unmögliches  begehrt. 


I. 


Im  Schachspiel  wird  derjenige  siegen,  dem  der 
stärkste  Gegenzug  zur  Verfügung  steht.  Der 
stärkste  Gegenzug  abei  ist  dadurch  gekennzeichnet, 
daß  er  nicht  nur  Absicht  und  Angriffsplan  des  Geg- 
ners durchkreuzt,  sondern  gleichzeitig  dem  eignen 
Spiel  neue  Aussichten  und  Stärken  schafft. 

Eine  dauernd  defensive  Staats-  oder  Geschäfts- 
politik muß  Schaden  leiden.  Ein  tüchtiger  Ge- 
schäftsmann weiß,  daß  jeder  Tag  neue  Schwierig- 
keiten und  Mißhelligkeiten  bringt,  während  uner- 
wartete Glücksfälle  selten  eintreten.  Die  Wirrnisse 
zu  ordnen,  die  Unbequemlichkeiten  zu  beseitigen, 
genügt  nicht:  es  müssen  beständig  neue  Netze  aus- 
geworfen werden,  damit  von  hundert  Losen  eines 
gewinnt.  Bei  gleicher  Einsicht  und  gleichem  Fleiß 
wird  von  zwei  Geschäftsleuten  derjenige  der  erfolg- 
reichere sein,  der  die  meisten  Eisen  im  Feuer  hat. 
Wer  sich  darauf  beschränkt,  die  Widernisse  des  Tages 
auszugleichen  und  Welle  für  Welle  ruhig  abzuwarten, 
den  trifft  zuletzt  eine,  die  ihn  niederwirft. 

Hierin  sind  Staatsgeschäfte  und  Privatgeschäfte 
gleichzusetzen.  Der  Kaufmann  fragt  sich,  wenn  man 
ihm  von  Erfindungen  oder  Unfällen,  von  Ernten 
oder  Gesetzesvorlagen  erzählt :  was  kann  ich  darauf- 
hin machen  ?  und  kauft  oder  verkauft,  kündigt,  leiht 
oder  treibt  ein,  je  nach  seiner  Meinung.  Als  man 
Bismarck  die  Nachricht  vom  zweiten  Attentat 
brachte,  fragte  und  klagte  er  nicht,  sondern  sagte 
bloß:  jetzt  haben  wir  sie!  und  meinte  damit,  über 
drei  Gedankenschlüsse  hinweg,  den  Zusammenbruch 
des  Liberalismus.  Das  war  vollkommene  Genialität 
und  Realpolitik:  Genialität,  weil  im  Handumdrehen 

173 


ein  furchtbares  und  widerwärtiges  Ereignis  in  das 
stärkste  Trieb  mittel  des  eignen  Willens  verwandelt 
wurde;  Realpolitik  nicht  nur  im  herkömmlichen 
Sinne  der  illusionsfreien  Zweckfolge,  sondern  vor 
allem  in  dem  Respekt  vor  der  Realität  der  entschie- 
denen Tatsache  und  der  gegebenen  Lage.  Jede  neue 
Tatsache  macht  in  der  Welt  unzählige  Aussichten 
zunichte ;  sie  erweckt  aber  auch  unzählige  neue  zum 
Leben.  Deshalb  muß  jede  Tatsache  in  doppeltem 
Sinne  geprüft  werden:  wie  weit  sie  sich  mit  den 
früheren  Absichten  verträgt  und  wie  weit  sie  neue 
Absichten  zuläßt. 

Was  bedeutet  überhaupt  geschäftliche  oder  po- 
litische Genialität  ?  Mir  scheint,  nichts  andres, 
als  daß  in  der  Camera  obscura  des  Geistes  sich  ein 
Weltbild  darstellt,  das  alle  wesentlichen  Zusammen- 
hänge und  Gesetzmäßigkeiten  der  Wirklichkeit  un- 
bewußt wiedergibt,  und  das  daher  auch  gewisser- 
maßen experimentell  sich  jederzeit  verschieben  läßt, 
so  daß  es  innerhalb  menschlicher  Grenzen  sogar  das 
Bild  der  Zukunft  aufweist.  Dieser  Vorgang  der 
Weltbildung  ist  intuitiv  und  daher  mühelos;  er  ist 
zwar  an  ein  vorhandenes  Erfahrungsmaterial  gegen- 
wärtiger und  vergangener  Tatsachen  gebunden  und 
läßt  sich  durch  Nachforschungen  und  Erhebungen 
ergänzen;  aber  er  läßt  sich  nicht  erzwingen.  Nach 
außen  wird  daher  politische  Genialität  erkennbar 
sein  einerseits  als  Kraftüberschuß,  Freiheit  und 
somit  als  Humor  im  Sinne  jener  Bism.arckschen  Re- 
gung (wenn  unter  dem  Begriff  des  Humors  die  Sou- 
veränität gegenüber  der  Erscheinung  verstanden 
werden  darf) ;  anderseits  als  zukunf twärts  gewandter 
Blick,  als  Phantasie.  Sicherlich  muß  hier  Freiheit 
nicht  mit  Frivolität,  Phantasie  nicht  mit  Phantastik 

174 


verwechselt  werden ;  Frivolität  ist  unsittlich,  Phan- 
tastik  irreal. 

Politische  Genialität  aber  wird  nicht  nur  im  Re- 
alen, sondern  auch  im  letzten  Sinne  im  Ethischen 
wurzeln :  denn  ihr  Weltbild  wäre  nicht  vollkommen, 
wenn  es  nicht  auch  den  immanenten  sittlichen  Ge- 
setzen Raum  schaffte.  Freilich  wird  diese  Sittlich- 
keit sich  nicht  darin  äußern,  daß  man  jeder  prak- 
tischen Frage  gewaltsam  eine  moralische  Seite  ab- 
zwingt, wodurch  denn  gemeinhin  aus  einem  Gebiete 
möglichen  Iirens  zwei  gemacht  werden. 

Ein  allzu  sorgenvoller  Kaufmann  wird  wenig 
Kredit  erhalten,  denn  er  läßt  befürchten,  daß  seine 
Lebenskraft  dem  Gewichte  der  Widrigkeiten  er- 
liegt, und  daß  es  ihm  an  Hilfsquellen  fehlt.  Wer 
Schwierigkeiten  sucht,  der  wird  wohl  noch  mehr 
finden,  als  er  erwartet.  Wer  in  allen  kleinen  Dingen 
eine  ethische  Seite  sucht,  setzt  sich  der  Gefahr  aus, 
in  großen  Dingen  unethisch  zu  handeln.  W^er  jede 
neue  Tatsache  als  einen  Quell  von  Mühen  und  Un- 
zuträglichkeiten betrachtet,  wird  sich  über  Mangel 
an  Gelegenheiten  beklagen. 

Die  beste  Stimmung  des  Geschäftsmannes  ist, 
wenn  er  sich  sagt:  es  gibt  keine  Not,  aus  der  sich 
nicht  eine  Tugend  machen  ließe. 

IL 

Die  Bismarcksche  Epoche  hat  uns  in  einem  allzu 
saturierten  Zustand  hinterlassen.  Deutsch- 
land glich  einem  Kaufmann,  dem  man  für  sein  Ge- 
schäft viel  Geld  herausgezahlt  hat,  und  den  nun 
die  Sorge,  nichts  zu  verlieren,  von  neuen  Unter- 
nehmungen abhält.    Nachdem  man  bis   1870  ein 

17s 


ärmliches,  etwas  abenteuerhaftes,  aber  hoffnungs- 
volles Leben  geführt  hatte,  erwachte  man  als  wohl- 
habender, gesättigter  Bourgeois;  freilich  in  unbe- 
queme Grenzen  eingeschlossen,  die  man  vollkom- 
men ausfüllte  und  von  nun  an  verteidigen  sollte, 
und  inmitten  ähnlich  gefestigter  Existenzen,  die 
die  ihrigen  verteidigten.  Die  Zeit  der  Expansion 
war  vorüber,  die  geographische  Lage  beklemmt. 
Nun  beging  man  einen  unbegreiflichen  Fehler,  dessen 
Gleichnis  zu  suchen  man  weit  in  der  Geschichte 
hinaufsteigen  müßte:  man  gestattete  der  Volksstim- 
me eines  Nachbarn,  in  jeder  unbeschäftigten  Stunde 
Racheschwüre  auszustoßen,  und  gewöhnte  sich  in 
mißverstandener  Höflichkeit  daran,  diesen  merk- 
würdigen Zustand  einseitiger  Bedrohung  als  eine 
berechtigte  Eigenart  aufzufassen,  bis  er  den  Charak- 
ter eines  allgemein  gebilligten  Gewohnheitsrechtes 
erhielt,  das  heute  als  eine  der  stärksten  Wirklichkei- 
ten der  Weltpolitik  einen  Teil  unsrer  Handlungs- 
fähigkeit lahmlegt. 

f  Seit  Bismarcks  Abgang  ist  die  deutsche  Politik 
defensiv  geblieben.  Wir  haben  nicht  ein  einziges 
eigenes  Aktivgeschäft  abgeschlossen,  und,  was  be- 
denklicher ist,  nicht  einmial  eine  größere  aktive  Auf- 
gabe für  unsre  Politik  gefunden.  Den  zahllosen  Be- 
teuerungen unsrer  Friedensliebe  hätten  wir  die 
beweiskräftige  Formel  hinzufügen  können:  weil 
wir  nicht  wissen,  was  wir  uns  wünschen  sollen.  Der 
größte  Erfolg  unsrer  neueren  Politik  war  dem  letzten 
Amtsjahre  des  Fürsten  Bülow  beschieden :  er  be- 
stand in  dem  Turnier  für  Österreich  gegen  Rußland 
und  betraf  unsre  Interessen  somit  nur  mittelbar. 
Inzwischen  dient  uns  die  der  Finanz,  nicht  der  Po- 
litik entsprossene  Bagdadbahn  in  freudvollen  und 

176 


leidvollen  Tagen  als  fröhlicher,  wenn  auch  einsamer 
Wetterfrosch. 

Dankbar  wurde  es  begrüßt,  daß  der  fünfte  Kanz- 
ler in  seiner  großen  Rede  über  die  Abrüstungsfrage 
das  liberum  arbitrium  Deutschlands  in  weltgeschicht- 
lichen Dingen  emporhob.  Er  verschaffte  dem  un- 
ausgesprochenen Gedanken  Geltung,  daß  zu  einer 
Zeit,  in  der  das  Gleichgewicht  der  Nationen  noch 
nicht  endgültig  stabilisiert  sei,  Krieg  und  Frieden 
nicht  in  die  Hände  von  Kommissionen  gehöre. 

Um  so  mehr  wird  der  erste  Teil  der  Rede,  die  Be- 
handlung der  Abrüstungsfrage,  die  man  besser  eine 
Kontingentierungsfrage  nennen  sollte,  Enttäuschung 
erweckt  haben,  denn  hier  konnte  man  glauben,  die 
freudlose  Ablehnung  einer  unzeitigen  Belästigung 
zu  vernehmen,  und  sich  somit  in  eine  mißgestimmte 
Defensive  zurückversetzt  fühlen,  wo  vielleicht  ein 
guter  Einfall  oder  wenigstens  eine  hoffnungsvolle 
Mitwirkung  uns  und  der  Welt  einen  Dienst  erwei- 
sen konnte. 

Denn  abgesehen  davon,  daß  das  ungewöhnliche 
Interesse,  das  die  Nationen  der  Frage  entgegen- 
bringen, ganz  unabhängig  von  ihrem  Inhalt,  an 
sich  eine  Realität  bedeutet,  die  zugreifende  Auf- 
merksamkeit verdient:  in  der  Kontingentierungs- 
idee selbst  liegt  ein  gesunder  und  keimkräftiger 
Kern. 

Der  Umfang  der  Rolle,  die  ein  Staat  auf  dem 
Welttheater  zu  spielen  berechtigt  ist,  bestimmt  sich 
zu  jeder  Zeit  durch  eine  Reihe  von  Gegebenheiten 
geographischer,  physischer  und  moralischer  Ord- 
nung. Vorübergehend  kann  die  tatsächliche  Macht- 
sphäre die  Grenze  der  natürlichen  Berechtigung 
überschreiten    oder    unausgefüllt    lassen;    auf    die 


X,  xa 


177 


Dauer  wird  Macht  und  Machtberechtigung,  Aus- 
dehnung und  Ausdehnungsberechtigung  sich  die 
Wage  halten.  Mit  65  Millionen  Einwohnern,  star- 
kem Landheer,  leidlicher  Flotte,  bedeutendem  Ein- 
kommen, hohem  Stande  der  Zivilisation,  des  tech- 
nischen Könnens  und  der  ethischen  Werte  darf 
Deutschland  territoriale  und  potentielle  Ansprüche 
gegebenen  Umfangs  stellen;  mit  jeder  Verschiebung 
eines  dieser  Faktoren  ändert  sich  das  Maß  der  Be- 
rechtigung, wenn  auch  die  historische  Gestaltung  nur 
in  Zeiträumen  den  Änderungen  zu  folgen  vermag. 

Der  Gesamtzustand  der  Wehrfähigkeit  sollte, 
wenn  möglich,  ein  genaues  Abbild  des  inneren 
Machtbegriffes  darstellen.  Die  Zahlen  der  Land- 
und  Seeheere  müssen  zur  Bevölkerungszahl,  ihre 
Kampfmittel  zum  Volkswohlstand  und  zum  Stande 
der  Technik,  ihre  Ausbildung  und  Tüchtigkeit  zur 
Zivilisation  und  Ethik  im  Verhältnis  des  Abbildes 
zur  Wirklichkeit  stehen.  Freilich  liegt  in  diesem 
Verhältnis  ein  subjektiver  Faktor,  den  ich  den  An- 
spannungsfaktor nennen  möchte;  denn  tatsächlich 
kann  ein  vergleichsweise  schwacher  Staat  seine 
Kräfte  eine  Zeitlang  über  jedes  verständige  Maß 
hinaus  anspannen  und  sich  einen  Verteidigungszu- 
stand schaffen,  der  seine  Verhältnisse  übersteigt, 
während  ein  starker  Staat,  wie  z.  B.  Nordamerika, 
im  Vertrauen  auf  seine  geographische  Lage  seine 
Kampfmittel  in  einer  für  europäische  Begriffe  un- 
gewöhnlichen Schonung  zu  erhalten  vermag. 

Der  Anspannungsfaktor  kann  somit  an  sich  ver- 
schieden sein;  indessen  ist  es  keine  Frage,  daß  der 
zügellose  Wettbewerb  der  Nationen  die  Wirkung 
haben  muß,  alle  Anspannungsfaktoren  dauernd  zu 
steigern  und  somit  möglicherweise  über  lang  oder 

17B  i 


kurz  sie  für  den  einen,  den  andern  oder  alle  unerträg- 
lich zu  machen. 

Es  ist  sicher  schwierig,  aber  durchaus  nicht  hoff- 
nungslos, Mittel  zu  finden,  um  auf  dem  Wege  der 
Kontingentierung  die  kriegerische  Anspannung  aus- 
zugleichen und  in  erträglichen  Grenzen  zu  halten, 
und  in  diesem  Sinne  ist  der  Gedanke  der  Abrüstung 
keine  leere  Utopie,  sondern  eine  moderne  und  brauch- 
bare Idee  von  entschiedener  Tragweite.  Gern  gebe 
ich  zu,  daß  möglicherweise  die  englischen  Anreger 
ihren  Vorschlag  anders  verstanden  haben.  Vielleicht 
wollten  sie  gar  nicht  Wehrkraft  und  innere  Macht 
in  ein  dauerndes  gesundes  Verhältnis  bringen,  son- 
dern im  Gegenteil  die  heutige  internationale  Kräfte- 
verteilung verewigen  und  jedem  einen  Rock  schnei- 
dern, der  mit  der  Zeit  entweder  zu  eng  oder  zu  weit 
werden  muß;  sie  haben  sich  ja  nicht  allzu  deutlich 
ausgesprochen.  Gleichviel;  in  Geschäften  muß  man 
auch  mißverstehen  können;  dann  wird  mitunter 
aus  einem  törichten  Gedanken  ein  verständiger, 
man  findet  für  freundliche  Mitwirkung  Anerken- 
nung und  für  gute  Laune  Belohnung. 

III. 

In  seiner  Rede  hat  der  Kanzler  auf  das  Beispiel 
industrieller  Syndikate  hingewiesen  und  somit 
an  kaufmännisch  geschultes  Denken  appelliert;  es 
darf  deshalb  in  einer  Ausführung,  der  ohnedies  der 
Vorwurf  theoretischer  Betrachtung  schwerlich  er- 
spart bleibt,  der  Versuch  gemacht  werden,  zu  er- 
mitteln, wie  weit  kommerzielle  Denkformen  sich 
auf  das  Abrüstungsproblem  anwenden  lassen. 
Zunächst  würde  man  anstreben,  das  Problem  klar 


I»» 


179 


zu  umschreiben.  Ist  dies  in  dem  Sinne  geschehen, 
wie  oben  angeführt,  daß  es  sich  nicht  um  eine  Rang- 
ordnung der  Nationen  handelt,  nicht  um  eine  mecha- 
nische Minderung  der  Kontingente,  sondern  viel- 
mehr um  die  Ermittlung  eines  Anspannungsver- 
hältnisses, um  die  Anpassung  der  Streitkräfte  an  die 
Leistungsfähigkeit,  so  erkennt  man  sofort,  daß  die 
Aufgabe  in  zwei  Teile  zerfällt :  einmal  die  Bindung 
des  materiellen  Aufwandes  an  das  Vermögen,  so- 
dann die  Bindung  des  Menschenaufwandes  an  die 
Bevölkerungszahl. 

Sogleich  erhebt  sich  eine  Schwierigkeit.  Denn  es 
fehlt  uns  an  Methoden,  das  Vermögen,  ja  auch  nur 
das  Einkommen  eines  Landes  genau  rechnerisch 
zu  ermitteln.  Indessen  ist  uns  eine  Größe  bekannt, 
die  in  gewissem  Sinne  gleichzeitig  ein  Abbild  des 
Volks  Vermögens  und  des  Zivilisationsstandes  dar- 
stellt :  die  Summe  der  öffentlichen  Lasten,  die  sich 
aus  allen  direkten  und  indirekten  Abgaben  zusam- 
mensetzt. Diese  Größe  ist  zwar  nicht  mit  der  End- 
summe der  Staatshaushalte  identisch :  einmal,  weil 
in  Deutschland  zum  Beispiel  gewisse  Beträge  in  den 
Einzelhaushalten  verrechnet  werden,  die  im  Reichs- 
budget wiederkehren,  sodann  weil  von  den  Staats- 
monopolen in  den  verschiedenen  Ländern  nicht  die 
Gesamtausgaben,  sondern  nur  die  reinen  Über- 
schüsse einzusetzen  sind.  Immerhin  lassen  sich  ohne 
grundsätzliche  Schwierigkeit  Verrechnungsweisen 
feststellen,  aus  denen  mit  genügender  Genauigkeit 
die  Summe  der  Staatsausgaben  —  natürlich  mit 
Ausschaltung  des  Schuldendienstes  —  hervorgeht. 

Aufgabe  nun  wäre  es,  zu  bestimmen,  daß  alle 
jährlichen  Ausgaben  für  Land-,  See-  und  Luftheer 
ein  festes  Verhältnis  zur  Gesamtausgabe  des  Staates 

i8o 


nicht  überschreiten  dürfen.  Ein  internationaler 
Rechnungshof  hätte  die  Abrechnungen  zu  prüfen. 

Nach  kommerziellen  Erfahrungen  läßt  sich  die- 
sem ersten  Schritt  ein  zweiter  anfügen:  wenn  man 
nämlich  berücksichtigt,  daß  im  allgemeinen  solche 
Beschränkungen  williger  aufgenommen  werden,  die 
man  nicht  für  die  Gegenwart,  sondern  für  die  Zu- 
kunft und  gewissermaßen  auf  Zuwachs  bemißt. 

Geht  man  davon  aus,  daß  in  jedem  Staat  die 
Lasten  für  Heer  und  Flotte,  auf  den  Kopf  der  Be- 
völkerung berechnet,  einen  gewissen  Satz  ausmachen, 
für  den  man  etwa  den  in  Deutschland  bestehenden 
als  Norm  ansehen  könnte ;  bestimmt  man  nun,  daß  der 
anderthalbfache  oder  doppelte  Betrag  dieses  Normal- 
satzes als  Höchstgrenze  zu  gelten  habe,  die  in  gewissen 
Staffeln  erreicht,  aber  niemals  überschritten  werden 
dürfe  —  so  wäre  eine  Beschränkung  geschaffen,  die 
zwar  für  den  Augenblick  unwirksam  bliebe,  die  viel- 
leicht aber  schon  nach  einemMenschenalterdenDruck 
der  Rüstungsopfer  wesentlich  erleichtern  könnte. 

Rechnerisch  übersichtlicher  als  die  Anpassung 
des  materiellen  Aufwandes  an  den  Volkswohlstand 
erscheint  die  Anpassung  des  menschlichen  Aufwan- 
des an  die  Bevölkerungsgröße.  Denn  diese  ist  durch- 
weg aufs  genaueste  feststellbar  und  zumeist  fest- 
gestellt, so  daß  es  fast  seltsam  erscheinen  müßte, 
wenn  niemals  der  internationale  Vorschlag  gemacht 
worden  sein  sollte:  ein  Höchstverhältnis  der  jähr- 
lichen Aushebungen  zur  Bevölkerungszahl  zu  be- 
stimmen, für  das  etwa  dasjenige  Frankreichs,  als 
ein  besonders  vorgeschrittenes,  zu  wählen  wäre. 

Auch  hier  ließe  sich  die  erste  Beschränkung  durch 
eine  zweite  steigern,  indem  man  dazu  schritte,  so- 
wohl eine  maximale  Dienstzeit  für  Heer  und  Flotte, 

i8i 


wie  auch  eine  obere  und  untere  Altersgrenze  des 
kriegstüchtigen  Alters  zu  bestimmen. 

Es  kann  nicht  die  Aufgabe  dieser  in  vier  Sätzen 
gezeichneten  Umrißlinie  sein,  ein  internationales  Ab- 
rüstungsprogramm einwandfrei  und  gebrauchsfertig 
zu  entwerfen;  es  genügt,  wenn  dargetan  erscheint, 
daß  gerechte  und  verständliche  Vorschläge  sich 
finden  lassen,  die  einer  großen  und  entwicklungs- 
fähigen Macht  keinen  Abbruch  tun,  die  eine  freund- 
willige Mitarbeit  in  humanen  Völkerfragen  zu  er- 
kennen geben  und  es  andern  überlassen,  sich  zu 
entdecken,  sofern  es  diesen  nicht  um  die  Sache  selbst, 
sondern  um  Nebenabsichten  zu  tun  war. 

Gelingt  es  überdies,  den  Gedanken  zu  bekräftigen, 
daß  in  der  Welt  keine  Tatsache  und  Realität  in  die 
Erscheinung  treten  kann,  die,  sei  sie  auch  noch  so 
verwirrend,  sich  nicht  mit  Lust  und  Humor  zum 
Guten  wenden  ließe,  so  ist  der  Wunsch  dieser  Be- 
trachtung erfüllt. 


182 


STAAT  UND  JUDENTUM 
EINE  POLEMIK 


I. 

Erwiderung  auf  einen  Artikel  des  Herrn  Ge- 
heimrat *** 

Herr  Geheimrat  ***  hat  sich  in  freier  und  vor- 
nehmer Art  über  die  Judenfrage  geäußert.  Er 
beginnt  mit  einer  objektiven  und  weitgefaßten  Ana- 
lyse des  jüdischen  Geistes,  kommt  zu  dem  Schluß, 
daß  eine  Verschmelzung  jüdischen  Positivismus  mit 
germanischer  Transzendenz  zu  erstreben  sei,  und 
geht  über  zu  den  Ursachen  der  gegenwärtigen  Ab- 
sonderung. 

Hier  teilen  sich  unsre  Wegr  zum  ersten  Male, 
denn  ***  erblickt  den  Inbegriff  der  trennenden 
Faktoren  in  der  Synagoge. 

Der  heutige  kultivierte  Jude  ist  meines  Erachtens 
weniger  als  irgend  ein  anderer  zeitgenössischer  Kul- 
turträger vom  Dogmatisch- Religiösen  abhängig. 
Er  betrachtet  seinen  Väterglauben  als  einen  ab- 
geklärten Deismus  im  Sinne  der  Philosophen  des 
i8.  Jahrhunderts,  ist  im  mythologischen^  histori- 
schen, exegetischen,  dogmatischen,  ja  selbst  im 
rituellen  Bereich  der  geschichtlichen  Nationalreli- 
gion wenig  bewandert,  und  tritt  in  der  Regel  nur 
anläßlich  der  sakramentalen  Handlungen  des  Lebens 
in  Berührung  mit  der  Religionsgemeinschaft.  Ein 
so  lockeres  Verhältnis  schafft  keine  Absonderung; 
sonst  müßte  sie  bei  den  weitaus  glaubenseifrigeren 
Katholiken  fühlbarer  sein  als  bei  den  Juden. 

Die  wahre  Ursache  der  Trennung  liegt  in  tiefer 
und  alter  Stammesabneigung. 

Die  Abneigung  der  Juden  gegen  die  Germanen 
war  in  der  Zeit  der  materiellen  Bedrückung  lebhaft, 
ja  leidenschaftlich.    Seit  zwei  bis  drei  Menschen- 

I8S 


altern  stirbt  sie  ab  und  weicht  bei  den  jüngeren  Ge- 
sch-lechtern  einer  rückhaltlosen  Anerkennung  der 
Nation,  der  sie  den  wertvollsten  Teil  ihrer  Geistes- 
güter verdanken. 

Auf  christlich-deutscher  Seite  ist  die  Abneigung 
bis  vor  etwa  zwei  Jahrzehnten  stark  angewachsen, 
und  zwar  in  gleichem  Maße  wie  die  Zahl,  der  Reich- 
tum, der  Einfluß,  der  Wettbewerb,  das  Selbstbe- 
wußtsein und  die  Schaustellung  der  Juden  fühlbar 
wurde.  Seit  der  letzten  Antisemitenperiode  scheint 
die  deutsche  Abneigung  stetig  geblieben,  vielleicht 
um  eine  Kleinigkeit  rückgebildet  zu  sein. 

Auf  ein  Erlöschen  dieser  Abneigung  ist  kaum  zu 
hoffen,  solange  der  Staat  sie  durch  gegensätzliche 
Behandlung  billigt,  anpreist  und  rechtfertigt,  und 
solange  gewisse  Stammeseigentümlichkeiten  den 
jüdischen  Deutschen  seinem  christlichen  Lands- 
mann erkennbar  und  verdächtig  machen. 

Es  liegt  nahe,  den  Juden  anzuraten,  durch  eine 
energische  Selbsterziehung,  die  schon  seit  einem 
Jahrhundert  von  vielen  geübt  wird,  alle  ablegbaren 
Seltsamkeiten  zu  beseitigen.  Vor  Jahren  habe  ich 
dies  ausgesprochen  in  der  Meinung,  daß  so  die  edel- 
sten Gegenkräfte  des  Antisemitismus  geweckt  und 
hiermit  im  eigentlichen  Sinne  Not  zur  Tugend 
werde.  Doch  habe  ich  mir  nicht  verhehlt,  daß  es 
hart  ist,  Opfer  als  Gegenleistung  für  Bedrückung 
zu  verlangen,  und  daß  dieses  Volksopfer  lange  Zeit- 
läufte zu  seiner  Erfüllung  braucht. 

***  stellt  ein  solches  Verlangen  nicht;  er  empfiehlt 
den  Juden  nichts  weiter,  als  zum  christlichen  Glau- 
ben überzutreten. 

Trotz  falscher  Diagnose  könnte  immerhin  das 
Heilmittel  nützen.    Versuchen  wir  daher  einmal, 

i86 


vorurteilsfrei  festzustellen,  was  einem  aufgeklärten 
Juden  unsrer  Zeit  die  Taufe  bedeutet. 

Ich  glaube,  daß  die  vier  Evangelien  dem  gebilde- 
ten Juden  so  vertraut  sind  wie  dem  gebildeten 
Christen,  und  habe  niemals  einen  Juden  getroffen, 
der  die  Ethik  des  Neuen  Testaments  abgelehnt 
hätte.  Einzelne  glauben  sie  im  Alten  Testament 
enthalten,  andere  erkennen  rückhaltlos  ihre  Über- 
legenheit über  alle  uns  bekannten  Sittenlehren  an. 
Die  Transzendenz  des  Christentums:  Erlösung 
durch  Liebe  ist  eine  dem  Judentum  naheliegende 
Vorstellung,  und  die  Göttlichkeit  Christi  im  Sinne 
liberaler  evangelischer  Kirchenlehrer  wird  unter  den 
Juden,  die  den  Geist  als  Ausfluß  der  Gottheit  fühlen, 
Bekenner  finden. 

Anders  liegt  es  mit  dem  Bekenntnis  der  Taufe, 
dem  Apostolikum.  Ich  weiß  nicht,  wie  viele  er- 
wachsene evangelische  Christen  im  Schöße  ihrer 
Kirche  verbleiben  würden,  wenn  ihnen  heute  ein 
Modernisteneid  im  Sinne  unbedingter  Anerkennung 
des  vorgeschriebenen  Glaubensbekenntnisses  zu- 
geschoben würde.  Für  den  Juden  liegt  der  Fall 
schwieriger :  je  selbstverständlicher  ihm  die  inneren 
Heilswahrheiten  der  christlichen  Glaubenslehre  er- 
scheinen, desto  entschiedener  sieht  er  sich  auf  das 
eigentlich  Trennende  des  Bekenntnisses,  auf  die 
dogmatisch-mythologischen  Bestandteile  als  die 
eigentliche,  zu  überschreitende  Grenzlinie  hinge- 
wiesen, und  es  wird  nicht  leicht  sein,  seiner  Emp- 
findung vernehmbar  zu  machen,  weshalb  diese  über- 
wiegend nachevangelischen  Sätze,  wie  die  von  der 
Himmel-  und  Höllenfahrt  Christi,  über  seine  und 
seiner  Kinder  Lebenslage  entscheiden  sollen. 

Dieser  Konflikt  wird  von  der  staatlichen  Kirche 

187 


empfunden  und  geflissentlich  vertieft.  Auf  einer 
früheren  Synodalversammlung  wurde  bei  der  Be- 
ratung der  Bekenntnisfrage  im  Hinblick  auf  die 
Judenbekehrung  offen  ausgesprochen:  es  sei  an  der 
Zeit,  die  Türen  zu  schließen.  Mit  andern  Worten: 
es  sei  angezeigt,  die  Gewissenszweifel  jüdischer 
Proselyten  zu  benutzen,  um  ihnen  den  Zugang  zur 
Kirche  zu  verstellen.  Wieweit  diese  Taktik  mit  dem 
Geist  der  Evangelien  zu  vereinen  ist,  habe  ich  nicht 
zu  beurteilen. 

Wiederholt  hört  man  sagen,  es  gäbe  evangelische 
Geistliche,  die  es  mit  dem  Glaubensbekenntnis  so 
streng  nicht  nähmen.  Insbesondere  erklären  ge- 
taufte •  Judenchristen  fast  übereinstimmend,  in 
ihrem  Falle  sei  es  besonders  milde  hergegangen. 
Auf  diese  Betrachtungsweise  einzugehen,  verlohnt 
nicht.  Sie  steht  auf  der  gleichen  Stufe  wie  etwa  eine 
Entschuldigung  wegen  Zollschmuggels  in  dem  Sin- 
ne, daß  der  verantwortliche  Beamte  es  an  Vorsicht 
habe  fehlen  lassen. 

Bedeutsamer  für  das  Verhältnis  des  zeitgenössi- 
schen deutschen  Juden  zur  Taufe  als  die  Frage  des 
Bekenntnisses  ist  ein  zweites  Moment.  Jeder  Staats- 
bürger weiß,  daß  mit  der  Zugehörigkeit  zum  Juden- 
tume  nur  bürgerliche  Nachteile,  mit  Übertritt  zum 
Christentume  erhebliche  Vorteile  verknüpft  sind. 

Den  Juden  trifft  ein  sozialer  Makel.  In  die  Ver- 
einigungen und  den  Verkehr  des  besseren  cJirist- 
lichen  Mittelstandes  wird  er  nicht  aufgenommen. 
Zahlreiche  Geschäftsunternehmungen  schließen  ihn 
als  Beamten  aus.  Die  Universitätsprofessur  ist  ihm 
durch  stille  Vereinbarung  versperrt,  die  Regierungs- 
und Militärlaufbahn,  der  höhere  Richterstand  durch 
offizielle  Maßnahmen.    In  den  Jugendjahren  eines 

l88 


jeden  deutschen  Juden  gibt  es  einen  schmerzlichen 
Augenblick,  an  den  er  sich  zeitlebens  erinnert :  wenn 
ihm  zum  ersten  Male  voll  bewußt  wird,  daß  er  als 
Bürger  zweiter  Klasse  in  die  Welt  getreten  ist,  und 
daß  keine  Tüchtigkeit  und  kein  Verdienst  ihn  aus 
dieser  Lage  befreien  kann. 

Gleichzeitig  aber  erfährt  er,  daß  ein  Glaubensakt, 
gleichviel  ob  innerlich  gerechtfertigt  oder  äußerlich 
herbeigeführt,  seine  Abstammung  zu  verdunkeln, 
seinen  Makel  zu  tilgen,  seine  bürgerlichen  Nachteile 
zu  beseitigen  vermag. 

Daß  der  generationsweise  wiederkehrenden,  täg- 
ich  erneuten  Versuchung,  die  dieser  eigenartige 
Ausfluß  unsrer  Staatsweisheit  herbeiführt,  ein  ver- 
hältnismäßig kleiner  Prozentsatz  der  deutschen  Ju- 
den erliegt,  offenbart  meines  Erachtens  die  stärkste 
Eigenschaft  des  modernen  Judentums.  Ich  weiß, 
daß  Menschen,  die  sich  von  ganzem  Herzen  zum 
Christentume  hingezogen  fühlen,  auf  die  äußere 
Zugehörigkeit  verzichten,  weil  sie  mit  Belohnung 
verbunden  ist.  Diesem  Verzicht  liegt  die  Über- 
zeugung zugrunde,  daß  ein  ideeller  Schritt  seine 
Reinheit  verlieren  muß,  wenn  er  zu  materiellen  Vor- 
teilen führt;  eine  Erwägung,  die  nicht  ganz  zu  der 
Vorstellung  paßt,  die  man  gemeinhin  von  der  kühlen 
Berechnung  des  jüdischen  Geistes  sich  bildet. 

Die  Forderung  der  Taufe  enthält  somit  für  den 
gebildeten  und  gewissenhaften  Juden  eine  doppelt 
schwere  Zumutung:  sie  legt  ihm  auf,  ein  altertüm- 
lich-dogmatisch gefaßtes  Glaubensbekenntnis  ab- 
zulegen, von  dem  er  weiß,  daß  gerade  die  Verlegen- 
heit, die  es  ihm  bereitet,  zur  Beibehaltung  beiträgt; 
sie  legt  ihm  ferner  auf,  sich  als  einen  Menschen  zu 
smpfinden,  der  von  der  Ablehnung  seines  Väter- 

189 


glaubens  geschäftlich  oder  sozial  profitiert;  und  zu 
guter  Letzt  nötigt  sie  ihn,  durch  den  Akt  löblicher 
Unterwerfung  sich  einverstanden  zu  erklären  mit 
der  preußischen  Judenpolitik,  die  nicht  weniger  be- 
deutet, als  die  schwerste  Kränkung,  die  ein  Staat 
einer  Bevölkerungsgruppe  zuzufügen  vermag.  Denn 
man  vergleiche  alle  Maßnahmen,  die  von  der  preu- 
ßisch-deutschen Politik  gegen  Volksgruppen  selbst 
in  der  Gegenwehr  oder  im  Zorn  ergriffen  worden 
sind,  gegen  Polen,  Weifen,  Dänen,  Elsässer :  niemals 
hat  man  gewagt,  eine  dieser  Gruppen  in  ausnahms- 
loser Gesamtheit  sozial  zu  entwürdigen. 

In  diesem  Zusammenhange  darf  und  muß  es  aus- 
gesprochen werden:  die  der  preußischen  Judenpoli- 
tik zugrunde  liegenden  Vorstellungen  sind  rück- 
ständig, falsch,  unzweckmäßig  und  unsittlich. 

Rückständig:  denn  alle  Nationen  westlicher  Kul- 
tur haben  diese  Vorstellungen  aufgegeben,  ohne 
Schaden  zu  erleiden. 

Falsch:  denn  Maßnahmen,  die  gegen  eine  Rasse 
gedacht  sind,  werden  gegen  eine  Religionsgemein- 
schaft gerichtet. 

Unzweckmäßig:  denn  an  die  Stelle  der  offenkun- 
digen Verjudung,  die  bekämpft  werden  soll,  tritt 
die  latente,  und  zwar  auf  Grund  einer  üblen  Aus- 
lese; gleichzeitig  wird  eine  große,  konservativ  ver- 
anlagte Volksgruppe  in  die  Opposition  getrieben. 

Unmoralisch:  denn  es  werden  Prämien  auf  Glau- 
benswechsel gesetzt  und  Konvertiten  bevorzugt, 
während  hunderttausend  Staatsbürger,  die  nichts 
anderes  begangen  haben,  als  ihrem  Gewissen  und 
ihrer  Überzeugung  gefolgt  zu  sein,  in  ungesetzlicher 
Weise  und  durch  kleine  Mittel  um  Bürgerrechte  ver- 
kürzt werden. 

190 


Ich.  wage  fast  zu  hoffen,  daß  Geheimrat 
hierin  recht  geben  wird:  wenn  man  die  Wahl  hat, 
eine  ungesunde  und  unhaltbare  Staatsraison  zu  be- 
seitigen oder  eine  halbe  Million  Menschen  zum 
Glaubenswechsel  zu  bewegen,  so  sollte  man  es  zu- 
nächst einmal  mit  dem  einfacheren  Mittel  versuchen. 

Die  deutschen  Juden  tragen  einen  erheblichen  Teil 
unsres  Wirtschaftslebens,  einen  unverhältnismäßigen 
Teil  der  Staatslasten  und  der  freiwilligen  Wohlfahrts- 
und Wohltätigkeitsaufwendungen  auf  ihren  Schul- 
tern. Sie  hätten  die  Mittel  in  der  Hand,  um  eine  un- 
vernünftige Staatsräson  in  kürzester  Zeit  unmöglich 
zu  machen.  Daß  sie  in  weit  überwiegender  Zahl  staats- 
fördernd gesinnt  bleiben,  beweist  einen  Gemütszug, 
der  praktischem  Christentum  nicht  unähnlich  sieht. 

Wie  dem  auch  sei :  die  preußische  Judenpolitik  hat 
ihre  Glanzzeit  überschritten,  die  mit  dem  Kampfe 
Bismarcks  gegen  den  Liberalismus  zusammenfiel. 
Ein  Industriestaat  von  der  Bedeutung  unsres  Reiches 
bedarf  aller  seiner  Kräfte,  der  geistigen  und  ma- 
teriellen ;  er  kann  auf  einen  Faktor  wie  den  des  deut- 
schen Judentums  nicht  verzichten.  Noch  ehe  ein 
Jahrzehnt  vergeht,  wird  der  letzte  Schritt  zur  Eman- 
zipation der  Juden  geschehen  sein. 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  die  deutschen  Juden 
das  erste  Jahrhundert  ihrer  beginnenden  Freiheit 
schlecht  angewendet  haben.  Kulturell  und  materiell 
haben  sie  zum  Wohl  ihres  Vaterlandes  beigetragen. 
Ist  der  Makel  sozialer  Ungleichheit  getilgt,  so  ist 
damit  auch  der  offizielle  Teil  der  Volksabneigung 
gegen  die  jüdischen  Deutschen  beseitigt  und  der 
Weg  zum  herzlichen  Verständnis  gebahnt.  Un- 
dankbarkeit und  Herzlosigkeit  sind  niemals  Fehler 
des  semitischen  Blutes  gewesen. 

191 


IL 

Sendschreiben  an  Herrn  von  N. 

Ihre  Ausführungen  haben  mich  deshalb  interes- 
siert und  angezogen,  weil  sie  in  knapper,  klarer 
und  ehrlicher  Sprache  die  normale  Auffassung  des 
preußischen  Staatsbeamten,  Offiziers  und  Standes- 
herrn, somit  des  herrschenden  Preußentums,  dar- 
legen. Dieses  Preußentum  liebe  und  bewundere  ich 
als  Preuße  und  als  Mensch ;  das  kann  mich  aber  nicht 
hindern,  es  mit  offenen  Augen  anzuschauen  und 
rückhaltlos  die  Stimme  zu  erheben,  wenn  es  mir 
zu  irren  oder  zu  fehlen  scheint.  Hierbei  darf  ich 
das  Vorrecht  ausreichender  Unparteilichkeit,  das 
ich  Ihnen  gern  zugestehe,  auch  für  mich  bean- 
spruchen. Vor  einigen  zwanzig  Jahren  hätte  es  mir 
Freude  gemacht,  Soldat  bleiben  zu  dürfen;  heute 
ist  mein  Alter  und  mein  Tätigkeitskreis  nicht  mehr 
derart,  daß  der  Wunsch  nach  staatlicher  Förderung 
mich  beunruhigen  könnte. 

Ihre  Darlegung  steht  und  fällt  mit  der  Behaup- 
tung, daß  der  deutsche  Jude  anders  geartet  und  in 
entscheidenden  Eigenschaften  weniger  wert  sei  als 
sein  uransässiger  Landsmann,  daß  seine  staats- 
erhaltende Veranlagung  und  seine  staatsfördernde 
Befähigung  nicht  zureiche.  Die  weiteren  Voraus- 
setzungen: daß  ein  gesitteter  Staat  berechtigt  sei, 
ihm  unbequem  scheinende  Elemente  mit  kleinen 
und  unverfassungsmäßigen  Mitteln  zu  bekämpfen, 
daß  er  „den  Sack  schlagen  und  den  Esel  meinen" 
dürfe,  das  heißt,  eine  Religionsgemeinschaft  ab- 
wehren, um  eine  Blutsgemeinschaft  fernzuhalten; 
daß  er  Gewissenskonflikte  seiner  B  ürger  schüren  dürfe, 
indem  er  auf  Glaubenswechsel  Prämien  setzt;  daß  er 

192 


überzeugungstreu  Gebliebene  benachteiligen  dürfe 
zugunsten  mobilerer  Elemente — diese  Voraussetzun- 
gen, die  mir  durchaus  nicht  einwandfrei  erscheinen, 
treten  gegen  den  ersten  Satz  in  den  Hintergrund. 

Ich  müßte  demnach  wohl  den  Nachweis  zu  er- 
bringen suchen,  daß  die  deutschen  Juden  nicht  „in 
jeder  Beziehung  anders  gestaltet",  daß  sie  nicht, 
praktisch  betrachtet,  menschlich  und  staatlich  min- 
derw^ertig  sind. 

Ich  verzichte  darauf,  diesen  Beweis  anzutreten. 
Nicht  deshalb,  weil  es  hart  ist,  daß  jemand,  dessen 
Vorfahren,  Familie  und  Person  sich  seit  Menschen- 
altern redlich  bemüht  haben,  dem  Lande  zu  nützen, 
seinen  Bürgern  Arbeit  zu  schaffen  und  seine  Wirt- 
schaft zu  heben,  sich  gegen  den  Vorwurf  wehren 
muß,  minderwertiger  Insasse  zu  sein.  Ich  bin  der 
Kritik  und  Selbstkritik  zugänglich  und  habe  sie  in 
der  von  Ihnen  erwähnten  Schrift  geübt,  indem 
ich  den  deutschen  Juden  minderer  Kultur  eine 
Reihe  von  äußeren  Schwächen  und  Mängeln  vor- 
hielt. 

Ich  verzichte  deshalb,  weil  die  Ablenkung  auf 
allgemeine  Prinzipienfragen  den  Tod  jeder  real- 
politischen Erörterung  bedeutet. 

Nur  drei  Bemerkungen  zu  der  Minderwertigkeits- 
frage seien  mir  im  Vorübergehen  gestattet. 

Erstens.  Meines  Erachtens  sollte  niemals  ein 
Einzelner  ein  Verdammnisurteil  über  einen  ganzen 
Kulturstamm  aussprechen.  Wie  oft  Ist  von  Fran- 
zosen und  Engländern  über  Deutsche,  von  Deut- 
schen über  Franzosen  und  Engländer,  über  Polen, 
Russen,  Österreicher,  Italiener  der  Stab  gebrochen 
worden.  Solche  allgemeine  Kritiken  haben  nicht 
den  Wert  politischer  Urteile,  denn  sie  sind  getrübt 

X.X3  193 


durch  die  Begrenztheit  der  Erfahrung,  durch  per- 
sönliche Vorliebe  und  Abneigung  und  häufig  durch 
zufällige  Erlebnisse.  Den  Juden  gegenüber  wird 
das  Urteil  vorwiegend  zum  Identitätsurteil:  denn 
in  der  Regel  wird  nur  der  unkultivierte  Jude  als 
Jude  erkannt  und  getadelt. 

Zweitens.  Juden  erscheinen  als  neuerungsliebend 
nur  da,  wo  man  sie  schlecht  behandelt,  und  das  ist 
menschlich.  Das  Gegenteil  wäre  Charakterlosigkeit. 
In  Ländern  der  Gleichberechtigung,  in  England, 
Frankreich,  Italien,  Amerika  gehören  sie  zu  den 
staatlich  positivsten  Elementen.  Daß  das  Judentum 
überhaupt  besteht,  verdankt  es  dem  strengsten  Kon- 
servatismus, den  die  Geschichte  kennt. 

Drittens.  Sie  schätzen  die  Intelligenz  der  Juden. 
Ich  teile  Ihre  Ansicht,  daß  Intelligenz  erst  in  Ver- 
bindung mit  ethischen  Werten  Bedeutung  erhält. 
Mangelt  es  den  Juden  nun  in  so  hohem  Maße  an 
ethischen  Werten,  daß  sie  deshalb  zur  Ausübung 
jeglicher  staatlichen  Autorität  unmöglich  wären, 
so  müßte  sich  dieser  Mangel  wissenschaftlich,  stati- 
stisch, geschichtlich  fassen  lassen.  Polen,  Slowe- 
nen, Rumänen,  Serben,  sie  alle  sind  regierungsfähig : 
die  Juden  sind  es  nicht.  Oder  sind  sie  es  am  Ende 
doch  ?  Verdankt  nicht  England  seine  Imperialpolitik 
einem  Juden,  dessen  Standbild  vor  der  Westminster- 
kirche  steht  ?  Haben  nicht  Frankreich,  Italien,  Ruß- 
land, Österreich  und  sogar  Preußen  ein  paar  ganz 
tüchtige  Minister  jüdischen  Blutes  gehabt  ?  Im 
westlichen  Auslande  sind  weit  mehr  Stammesdeut- 
sche als  Juden  ansässig.  Wie  wäre  es,  wenn  am  Ende 
gar  die  Statistik  der  Regierenden  zugunsten  der 
Juden  ausschlüge  ? 

Aber  genug  hiervon.    Ich  weiß,  daß  Sätze  von 

194 


einer  gewissen  Allgemeinheit  nicht  widerlegbar 
sind,  und  will  deshalb  getrost  für  den  Augenblick 
einmal  annehmen,  die  Juden  seien  ethisch,  poli- 
tisch, sozial  ein  minderwertiges  Element,  somit  er- 
heblich tiefer  stehend  als  etwa  die  österreichischen 
Polen  und  Tschechen.  Was  bedeutet  dies  —  um 
Ihrer  wissenschaftlichen  Anschauungsweise  zu  fol- 
gen —  wissenschaftlich  ? 

Zur  Bekleidung  eines  höheren  militärischen, 
richterlichen  oder  gouvernementalen  Amtes  in 
Preußen  sind  gewisse  Vorbedingungen  der  Erzie- 
hung, der  Bildung,  des  Charakters  und  des  Phy- 
sischen entscheidend.  Nicht  alle  Preußen  erfüllen 
diese  Bedingungen.  Nehmen  wir  also  das  Verhältnis 
der  Regierungsfähigen  auf  20  Prozent  an,  so  können 
wir  bei  wissenschaftlicher  Betrachtung  nicht  mehr 
tun,  als  das  gleiche  Verhältnis  bei  den  Juden  auf  die 
Hälfte,  also  auf  etwa  10  Prozent  herabzusetzen.  Was 
bestimmt  nun  die  preußische  Verwaltungspraxis 
dazu,  diese  10  oder  x-Prozent  einfach  zu  ignorieren  ? 

Ihre  Ausführungen  zeigen  genügend  Geschmack 
und  Aufrichtigkeit,  um  zu  erklären,  weshalb  Sie 
das  landläufige  Argument  verschmäht  haben:  der 
jüdische  Vorgesetzte  hat  keine  Autorität.  So  viel 
Autorität  wie  der  getaufte  Jude  darf  der  ungetaufte 
unter  allen  Umständen  beanspruchen.  Wäre  es 
anders,  so  hieße  das:  der  Untergebene  treibt  Reli- 
gionsverfolgung auf  eigene  Faust,  und  die  Remedur 
hätte  bei  ihm  zu  beginnen. 

Ein  anderer  Einwand  wäre  plausibler:  der  Pro- 
zentsatz der  Verantwortungsfähigen  unter  den  Ju- 
den ist  gleich  Null  oder  verschwindend  klein.  Hier 
kann  ich  mich  auf  kein  besseres  Gegenzeugnis  be- 
rufen als  auf  das  der  preußischen  Regierung.    Sie 

>s*  195 


bestellt  und  befördert  jährlich  Dutzende  von  Juden, 
die  durch  die  Taufe  weder  an  Fähigkeit  noch  an 
Zuverlässigkeit  gewonnen  haben.  Sie  bekleidet 
diese  Schützlinge  mit  aller  ihr  zustehenden  Autori- 
tät, übernimmt  die  Verantwortung  für  ihre  Amts- 
handlungen— und  fährt  nicht  ein  mal  schlecht  dabei. 

Dies  führt  mich  zur  Erledigung  eines  dritten  Ein- 
wandes,  desjenigen,  den  Sie  zu  dem  Ihren  gemacht 
haben:  das  Eindringen  des  jüdischen  Geistes  muß 
verhindert  werden. 

Gäbe  es  unter  den  kultivierten  Juden  einen  sol- 
chen jüdischen  Geist,  so  hätte  er  den  mit  Juden 
reichlich  verschwägerten  preußischen  Adel  und  die 
mit  getauften  Juden  stark  durchsetzte  Staatsbeam- 
tenschaft längst  ergriffen.  Sie  werden  ebensowenig 
wie  ich  Klagen  darüber  gehört  haben,  daß  durch 
Männer  wie  Simson,  Friedberg,  Friedenthal,  Moß- 
ner  die  preußische  Justiz,  Verwaltung  und  Armee 
mit  sogenanntem  jüdischen  Geist  infiziert  wor- 
den sei. 

Die  Tatsachen  liegen  einfach  und  mit  klaren  Wor- 
ten gesagt  wie  folgt : 

Die  Regierung  wehrt  sich  gegen  das  jüdische 
Element  und  schützt  Unbrauchbarkeit  der  Juden 
vor.  Die  Religionsfrage  spielt,  wie  sie  selbst  zuge- 
steht, keine  Rolle. 

Nun  hat  sie  aber  nicht  die  Courage  oder  nicht 
die  Findigkeit  gehabt,  sich  der  getauften  Kategorie 
zu  erwehren,  und  die  Brauchbarkeit  dieser  Kategorie 
beweist  a  fortiori  die  Brauchbarkeit  der  ungetauften 
und  somit  die  Unwahrhaftigkeit   des  Vorwandes. 

In  dem  neulich  veröffentlichten  Aufsatz  habe  ich 
es  vermieden,  die  letzten  Ursachen  dieser  hilflos- 
brutalen  politischen  Tendenz  zu   erörtern,   denn 

196 


meine  Ausführungen  waren  nicht  gegen  sie  gerichtet, 
sondern  gegen  den  etwas  zu  handgreiflichen  Vor- 
schlag des  Herrn  Geheimrats  *** :  alle  Juden  möch- 
ten sich  taufen.  Da  Sie,  verehrter  Herr  v.  N.,  den 
Regierungsmaßnahmen,  meines  Erachtens  unzutref- 
fende, ideelle  Motivierungen  unterstellen,  so  muß 
ich  erwidern,  daß  die  wahren  Ursachen  lediglich 
in  der  Furcht  der  in  Preußen  herrschenden  Klasse 
vor  liberalem  Wettbewerb  zu  finden  sind. 

Die  Judenpolitik  ist  nichts  weiter  als  der  letzte 
Ausdruck  der  gegen  Unzünftige  gerichteten  In- 
teressenpolitik der  beiden  herrschenden  Kasten.  Sie 
selbst  sagen  mit  dankenswerter  Offenheit :  „Unsre 
Familien  haben  den  preußischen  Staat  geschaf- 
fen, wir  arbeiten  seit  zweihundert  Jahren  daran, 
wir  sollen  nun  Ihnen  eine  führende  Hand  an  der 
Staatsmaschine  lassen?" 

Ich  antworte  Ihnen  darauf  offen  und  ohne  eine 
Spur  von  Ironie:  Dies  ist  das  einzige  Argument, 
das  sich  hören  läßt,  für  das  ich  ein  gutesTeil  Sympathie 
hege,  und  das  einer  Verständigung  zugrunde  gelegt 
werden  kann.  Es  ist  richtig,  daß  der  preußische  Adel 
das  leider  absterbende  alte  Preußentum  geschaffen 
hat,  es  ist  richtig,  daß  er  einen  prächtigen,  zum  Re- 
gieren im  älteren  Sinne  überaus  geeigneten  Stamm 
bildet,  es  ist  hart,  daß  er  seine  hundertjährigen  Vor- 
rechte, mit  wem  es  auch  sei,  teilen  soll. 

Begnügen  Sie  sich  mit  diesem  starken  Argument, 
das  zum  Verständnis  und  zum  Herzen  spricht,  und 
bedecken  Sie  es  nicht  mit  dem  Mantel  einer  Stam- 
meskritik, die  bei  einzelnen  auf  Grund  zufälliger 
Erlebnisse  und  begrenzter  Erfahrung  echt  sein  mag, 
die  aber  im  Angesicht  von  tausend  persönlichen 
Freundschaften     und    Ehebündnissen     zerflattert. 

197 


Denn  trotz  mancher  Schwäclien,  die  StandesKerren 
und  Emporkömmlinge  sich  wechselweise  vorzuwer- 
fen haben,  vertragen  Adel  und  Judenschaft  sich 
gar  nicht  so  schlecht,  und  die  Ägis  der  Stammes- 
feindschaft wird  vorwiegend  nur  dann  geschüttelt, 
wenn  InteresscD  aufeinanderplatzen. 

Sagen  Sie  uns  offen  und  ehrlich:  wir  fürchten 
eure  Konkurrenz;  bekämpfen  Sie  uns,  wenn  Sie 
wollen,  aber  mit  ritterlichen  Waffen.  Beschimpfen 
Sie  uns  nicht.  Nicht  Sie  blicken  in  unsre  Herzen, 
und  es  ist  das  härteste,  was  der  Mensch  dem  Men- 
schen zurufen  kann,  wenn  er  sagt :  Dein  Blut,  deine 
Seele,  deine  Gesinnung"  hat  keinen  Teil  an  unsrer 
Gemeinschaft,  du  bist  und  bleibst  anders  geartet, 
unedel,  fremd. 

Den  Kampf  aber  werden  Verhältnisse  entschei- 
den, nicht  Menschen.  Eine  aufrichtige  und  un- 
sittliche Politik  kann  keinen  Bestand  haben,  die 
preußische  Judenpolitik  aber  wird  noch  früher  an 
ihrer  Unzweckmäßigkeit  scheitern  als  an  ihrer  Un- 
gerechtigkeit. 

Hier  muß  ich  nochmals  auf  Ihr  Wort  zurück- 
greifen: „Unsre  Familien  haben  den  preußischen 
Staat  geschaffen." 

Als  Ihre  Familien  den  Staat  schufen,  da  trugen 
sie  ihn  auch,  denn  der  Staat  war  ein  Agrarstaat,  und 
sie  besaßen  den  Grund  und  Boden.  Heute  tragen 
sie  ihn  nicht  mehr,  denn  Preußen  sowohl  wie  das 
Reich  sind  Industriestaaten  geworden;  die  Land- 
wirtschaft kann  die  achtmalhunderttausend  Deut- 
schen, die  jährlich  geboren  werden,  weder  beschäf- 
tigen noch  ernähren.  Noch  weniger  kann  sie  die 
Lasten  erschwingen,  deren  Staat  und  Reich  zu  ihrer 
Erhaltung  und  Verteidigung  bedürfen. 

198 


Wert  und  Bedeutung  der  Landwirtschaft  lasse 
ich  unangetastet.  Sie  aber  werden  nicht  leugnen 
können,  daß  Handel  und  Industrie,  die  entscheiden- 
den Faktoren  unsrer  Wirtschaft,  auf  dem  Bürger- 
tum und  nicht  zum  mindesten  dem  jüdischen  Bür- 
gertum beruhen.  Und  deshalb  können  Sie  den  Ele- 
menten, die  die  Wirtschaft  erhalten,  auf  die  Dauer 
nicht  die  Mitwirkung  an  der  Verwaltung  versagen. 

Regieren  ist  heute  nicht  mehr  dasselbe,  was  es 
vor  hundert  Jahren  war.  Es  ist  nicht  mehr  patri- 
archisches Verwalten  anvertrauter  Menschen  und 
Dinge.  Regieren  heißt  heute:  führen  und  Initia- 
tive ergreifen;  diese  Initiative  muß  ethisch  und 
ideell,  sie  muß  aber  auch  geschäftlich  sein. 

Gleichzeitig  ist  die  Kriegführung  zur  Technik 
geworden.  Sie  beruht  nicht  mehr  allein  auf  Manns- 
zucht und  Bravour;  Erfindungsgabe  und  Initiative 
geben  den  Siegen  der  neueren  Zeit  eine  intellektuelle 
Färbung. 

Die  bewährten  Stärken  unsrer  beiden  regierenden 
Kasten,  des  erblichen  Beamtentums  und  des  Adels, 
sind  Treue,  Zucht  und  Überlieferung.  Ob  diese  Ge- 
schlechter auf  der  ganzen  Linie  einzuschwenken  und 
den  neuen  Aufgaben  gegenüber  Front  zu  machen 
vermögen,  ist  mehr  als  zweifelhaft,  denn  Über- 
lieferung und  Neuerung  schließen  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  einander  aus.  Bei  Aufgaben  vorwie- 
gend geschäftlichen  Charakters,  welche  aus  kolo- 
nialen, auswärtigen  und  finanziellen  Problemen  sich 
ergeben,  hat  die  preußische  Verwaltungstradition 
schon  mehrfach  versagt. 

Ein  Volk  von  .fünfundsechzig  Millionen  Men- 
schen kann  verlangen,  daß  die  führenden  Stellen 
im  Staatswesen  von  allerersten  Talenten,  die  ver- 

199 


antwortlichen  Stellen  von  befähigten  Spezialisten 
besetzt  werden. 

Tausend  herrschende  Familien  können  selbst  bei 
hoher  und  spezialisierter  Begabung  weder  an  Zahl, 
noch  an  Beschaffenheit  den  gewaltig  gesteigerten 
Verbrauch  an  Verwaltungskräften  decken.  Kein 
gerecht  denkender  Mensch  wird  diesen  Familien 
ihre  Verdienste  zu  schmälern,  ihre  entschiedene  Mit- 
wirkung bei  den  höchsten  Staatsaufgaben  zu  be- 
seitigen wünschen.  Wollen  sie  aber  dauernd  die 
Staatsmaschine  monopolisieren,  so  werden  die  Ver- 
hältnisse sich  stärker  erweisen  und  diejenigen  Ab- 
hilfen eintreten  lassen,  die  den  widerspenstigen  Kon- 
servatismus Preußens  schon  mehrmals,  wenn  auch  in 
hartem  Anstoß,  zurechtgerückt  haben,  und  die  man 
demgemäß  sehr  wohl  als  Fügungen  bezeichnen  durfte. 

Deshalb  bleibe  ich  bei  meiner  Überzeugung  und 
Zuversicht:  der  Staat  kann  auf  keine  seiner  geistigen 
und  sittlichen  Kiäfte  verzichten;  er  muß  und  wird 
dem  Bürgertum  im  weitesten  Sinne,  und  somit  auch 
den  Juden,  die  Mitwirkung  an  den  gemeinsamen 
Arbeiten  zugunsten  des  Staatswohls  gewähren,  und 
dies  in  kürzerer  Zeit,  als  die  Beteiligten  annehmen. 
Erkannte  Notwendigkeiten  schreiten  rasch  zur  Er- 
füllung; jetzt  ist  der  Zeitpunkt,  sie  auszusprechen. 

III. 

Erwiderung    auf    das    Schreiben    eines    be- 
freundeten Grundbesitzers 

Erstaunt  war  ich,  das  volkstümdiche  Kennwort 
des  „Staates  im  Staat''  von  meinem  Freunde 
aufgenommen  zu  sehen;  denn  er  selbst  blickt  auf 
seiner  und  seiner  Gemahlin  Seite  auf  zwei  stattliche 

200 


Reihen  jüdischer  Vorfahren  zurück,  deren  nationale 
Gesinnung  bekannt  ist.  Gleichviel.  Sehen  wir  zu, 
was  die  Lehre  von  der  Internationalität  der  Juden 
bedeutet. 

Schwerlich  gibt  es  heute  noch  einen  ernsten  Be- 
urteiler, der  behauptet,  im  Kriegsfall  möchten  sich 
die  deutschen  Juden  auf  "die  Seite  des  Feindes  stellen. 
Ebensowenig  habe  ich  je  den  Vorwurf  gehört,  sie 
hätten  gelegentlich  in  Friedenszeiten  mit  einer  aus- 
wärtigen Macht  zu  liebäugeln  oder  anzuzetteln  ge- 
sucht, um  Deutschlands  Stellung  oder  Politik  zu  er- 
schüttern. 

Die  Sinnlosigkeit  der  Unterstellung  wird  doppelt 
einleuchtend,  wenn  man  die  unvorsichtigen  Ver- 
gleiche mit  Polen,  Elsässern  und  Dänen  prüft,  denn 
diese  Vergleiche  enthüllen  sich  als  Gegenbeweise. 
Polen,  Elsässer  and  Dänen  blicken  auf  außerdeut- 
sche politische  Zentren;  die  Polen  auf  ihr  altes 
Königreich,  die  Elsässer  auf  Frankreich,  die  Dänen 
auf  Dänemark.  Wollte  man  unter  den  Juden  selbst 
den  geringen  Einschlag  der  Zionisten  politisch 
fassen,  so  könnte  man  nur  sagen,  daß  es  sich  um  ein 
Auswanderungsideal  handelt.  Eine  Absplitterung 
deutscher  Landesteile  zugunsten  eines  jerusalemiti- 
schen  Staates  hat  wohl  noch  niemand  befürwortet 
oder  befürchtet.  Es  bleibt  also  für  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Juden  die  Tatsache  offenkundig,  daß 
sie  außerhalb  des  Reiches  kein  politisches  Zentrum 
oder  Ideal  kennen,  während  die  deutschen  Katholi- 
ken, deren  Nationalitätsgefühl  kaum  angezweifelt 
werden  dürfte,  jenseits  der  Alpen  ein  anerkanntes 
religiöses  Zentrum  verehren,  das  sich  politisch  durch- 
aus nicht  immer  teilnahmslos  verhält. 

Während  man  nun  ganz  mit  Recht  Polen,  Elsässer 

20I 


und  Dänen  als  gutgläubig  national  so  lange  aner- 
kennt, bis  sie  selbst  den  Gegenbeweis  erbringen, 
hat  man  sich  in  aller  Ruhe  daran  gewöhnt,  die  Juden 
ohne  die  Spur  eines  Anhalts  des  Antinationalismus 
zu  beschuldigen  und  ihnen  den  Rechtfertigungsbe- 
weis zuzuschieben ;  ja  man  geht,  wie  die  Ausführun- 
gen meines  Freundes  zeigen,  noch  weiter  und  hält 
den  durch  bürgerliche  Minderung  bestraften  Un- 
verdächtigen drohend  das  Beispiel  der  verdächtigen 
und  unbestraften  Fremdnationalen  entgegen. 

Der  Jude  soll  durch  die  Taufe  den  Nachweis 
der  Loslösung  erbringen;  Loslösung  wovon?  Von 
seiner  Familie  ?  Seiner  Religion  ?  Nein :  von  seiner 
Nation.  Wo  liegt  diese  ?  Gewerbsmäßige  Antise- 
miten haben  den  Humor,  zu  antworten:  in  der  Al- 
liance  Israelite;  indem  sie  nämlich  eine  wenig  be- 
kannte internationale  Wohltätigkeitsanstalt  mit  den 
Schrecken  des  Freimaurertums  ausstatten.  Was 
würden  wohl  die  deutschen  Katholiken  antworten, 
wenn  man  von  ihnen  verlangte,  sie  möchten  durch 
Übertritt  zur  evangelischen  Kirche  den  Nachweis 
ihrer  Loslösung  von  ausländischen  Religionsorgani- 
sationen erbringen? 

Ich  will  meinen  Widerpart  nicht  dialektisch  wider- 
legen, sondern  mich  mit  ihm  verständigen.  Des- 
halb komme  ich  ihm  einen  Schritt  entgegen  und 
nehme  an,  er  habe  folgendes  gemeint:  die  Juden 
stellen  die  Einheit  der  Abkunft,  die  Einheit  der 
Religion  und  der  Familie  über  die  nationale  Einheit; 
sie  sind  daher  schlechte  Staatsbürger. 

Der  erste  Teil  des  Satzes,  den  ich  auf  Grund  mei- 
ner Erfahrung  bei  zivilisierten  Juden  aufs  entschie- 
denste bestreite,  läßt  sich  weder  für  diesen,  noch 
für    irgendeinen    andern    Volksteil    beweisen    oder 


202 


widerlegen,  abgesehen  davon,  daß  es  eine  unwürdige 
Zwecklosigkeit  ist,  seinem  Mitmenschen  in  die  tief- 
sten Falten  seines  Gewissens  nachzuspüren.  Poli- 
tisch entscheidend  ist  der  zweite  Teil :  sind  die  Juden 
schlechte  Staatsbürger,  oder  sind  sie  es  nicht  ? 

Da  ist  zunächst  daran  zu  erinnern,  daß  wir  nicht 
mehr  im  Zeitalter  der  Gefühlsbehauptungen,  son- 
dern in  einer  wissenschaftlich  forschenden  Epoche 
leben.  Die  fanatische  Beschuldigung  der  Brunnen- 
vergiftung und  Hostienschändung  führt  heute  nicht 
mehr  Tausende  zur  Folter  und  zum  Tode.  Wir 
haben  die  Möglichkeit,  Massenbeschuldigungen  ver- 
suchsmäßig zu  prüfen.  Wo  ist  nun  das  Material 
politischer  oder  kriminaler  Statistik,  das  auch  nur 
den  Verdacht  schlechter  Staatsbürgerschaft  bei  den 
Juden  rechtfertigt  ?  Können  fünf malhunderttausend 
leicht  erkennbare,  statistisch  überwachte,  scharf 
beobachtete  Menschen  ein  nationales  Vergehen  so 
heimlich  verbergen,  daß  kein  Reagens  sich  trübt 
und  kein  Zeiger  ausschlägt  ?  Und  hat  man  das  Recht, 
in  einem  wissenschaftlich  genannten  Zeitalter  so 
unbewiesene,  ja  negativ  widerlegte  Massenbehaup- 
tungen zur  Grundlage  einer  Politik  zu  machen  ? 

Weiter.  Die  deutsche  Judenschaft  ist  in  Handel 
und  Wandel,  in  Besitz  und  Kultur  so  eng  an  das 
Wohlergehen  der  deutschen  Länder  und  des  Deut- 
schen Reichs  geknüpft,  daß  kaum  ein  andrer  Teil 
des  Volkes  in  gleichem  Maße  leiden  würde,  wenn 
die  politische  Macht  Deutschlands  sich  senkte.  Viele 
der  kultivierten  Länder  bieten  den  Juden  bessere 
wirtschaftliche  Aussichten  als  Deutschland,  fast 
alle  bieten  ihnen  größere  Rechte.  Wenn  sie  dennoch 
ihr  wirtschaftliches  und  kulturelles  Dasein  an  das 
Land  ihrer  Heimat  gekettet  haben :  ist  es  dann  wahr- 

203 


scheinlich,  daß  sie  dem  Geschick  dieses  Landes  gleich- 
gültig oder  übelwollend  gegenüberstehen  ? 

Aber  genug  der  negativen  Beweise.  Was  ist  denn 
eigentlich  nationale  Gesinnung  und  Betätigung? 
Besteht  sie  lediglich  in  unterwürfigen  Redensarten 
oder  aggressiven  Liedern  ?  Dann  gebe  ich  die  der 
Juden  gerne  preis.  Oder  besteht  sie  in  liebevoller 
und  hingebender,  aufopfernder  und  freier  Kultur- 
arbeit zu  Ehren  und  zum  Segen  des  angestammten 
Landes  ?  Dann  möge  der  aufstehen,  der  vor  Gott 
und  Gewissen  behaupten  kann,  daß  die  deutschen 
Juden  ihr  Maß  von  Kulturarbeit  nicht  ehrlich  und 
reichlich  erfüllt  haben,  daß  sie  nicht  mehr  zu  Deutsch- 
lands Hoheit,  Glück  und  Ehre  beigetragen  haben  als 
alle  berufsmäßigen  Antisemiten  zusammengenom- 
men. In  diesem  Zusammenhang  ziemt  es  kaum 
und  beschämt  es  fast,  vom  Materiellen  zu  reden. 
Dennoch  sei  die  Nebenfrage  gestellt:  was  geschähe 
wohl,  wenn  die  armselige  halbe  Million  deutscher 
Juden  einmal  zehn  Jahre  lang  die  Mittel,  die  sie  den 
Zwecken  der  allgemeinen  Wohlfahrt,  den  Aufgaben 
der  Forschung  und  den  Werken  der  Kunst  zuwendet, 
bis  zum  Eintritt  besserer  Zeiten  aufspeichern  woll- 
te ?  Manches  wohltätige  Werk  bliebe  ungeschehen, 
manches  Problem  ungelöst,  und  die  deutsche  Kunst, 
so  sagen  mir  einige  ihrer  hervorragenden  Vertreter, 
könnte  auswandern. 

Soviel  von  nationaler  Gesinnung.  Doch  da  ich 
im  Zuge  bin,  möchte  ich  noch  das  Argument  eines 
Staatsbeamten  erwähnen,  das  mir  der  Beachtung 
wert  schien.  Er  sagte :  „Ja,  wenn  wir  die  Juden  zu- 
lassen   wo  wollen  wir  die  Grenze  finden  ?" 

Das,  meine  Herren,  ist  Ihre  Sache.  Stellen  Sie 
hohe    Anforderungen.     Scheiden    Sie    unerbittlich 

204 


jeden  aus,  dessen  Herkunft,  Erziehung,  Gesinnung 
Talent  oder  Charakter  Ihnen  den  mindesten  Zwei- 
fel läßt.  Überwachen  Sie  die  Ausgewählten  mit 
doppelter  Strenge.  Und  wenn  das  Material,  das  Ihrer 
gewissenhaften  Prüfung  standhält,  noch  immer 
Ihnen  zu  umfangreich  erscheinen  sollte:  —  dann 
freilich  haben  Sie  recht  gehabt,  wenn  Sie  bei  Ihrem 
notorischen  Überfluß  an  Talenten  in  allen  Ver- 
waltungszweigen bisher  eine  so  schroffe  Enthaltsam- 
samkeit  üben. 

Zum  Schluß  möchte  ich  neben  meinen  Gegnern 
und  Fürsprechern  auch  der  Zahl  derer  danken,  die 
mir  versicherten,  meinen  Ausführungen  könne  man 
wohl  beistimmen,  an  eine  Änderung  der  bestehen- 
den Dinge  könne  jedoch  in  absehbarer  Zeit  nicht 
wohl  gedacht  werden.  Gewiß,  so  scheint  es.  Aber 
bedenken  Sie  wohl :  wenn  heute  im  Land  und  Reich 
die  Dinge  anders  lägen,  die  Vollberechtigung  der 
Juden  durchgeführt  wäre,  wie  in  England,  Frank- 
reich, Italien,  wer  würde  ihre  Aufhebung  beantra- 
gen ?  Wer  würde  von  solchem  Antrag  Erfolg  er- 
warten ? 

Auf  der  Gewalt  der  Trägheit  beruhen  heute  diese 
Dinge,  nicht  auf  Sinn  und  Recht,  Not  oder  Gesetz. 
Deshalb  kann  trotz  Lauheit,  Schwäche,  Gleich- 
gültigkeit und  Übelwollen  die  Minderung  des  Rechts 
und  die  Beugung  des  Gesetzes  keinen  Bestand  haben. 
Und  wenn  wohlwollende  Anhänger  der  Gewohnheit 
mich  mit  der  Beständigkeit  des  Herkömmlichen  ver- 
trösten, so  antworte  ich  ihnen  im  Vertrauen  auf 
eine  immanente  Gerechtigkeit:  Das  Herkömmliche 
an  sich  kann  sich  noch  lange  halten,  auch  wenn  es 
schon  seinen  Sinn  verloren  hat;  jedoch  nicht  mehr, 
wenn  es  zum  Unrecht  geworden  ist.  Wer  es  als  Un- 

205 


recht  erkannt  hat  und  dennoch  stützt,  der  macht 
sich  zum  Mitschuldigen. 

Von  den  Juden  erhoffe  ich,  daß  sie  auch  während 
der  Dauer  ihres  Minderrechts  unablässig  an  ihrer 
Selbsterziehung  arbeiten,  in  allen  guten  Tugenden 
mit  ihren  christlichen  Landsleuten  wetteifern  und 
in  verdoppelter  Liebe  ihrem  Lande  dienen.  Ihres 
guten,  wohlerworbenen  und  ungesetzlich  verküm- 
merten Rechtes  mögen  sie  gedenken,  nicht  in  Groll, 
aber  in  Zuversicht,    Gott  wird's  richten. 

IV. 

Schlußbe  merkung 

Eine  unpolemische,  aber  persönliche  Bemer- 
kung mag  diese  Kontroverse  aufklärend  be- 
schließen. 

Ich  kämpfe  nicht  für  den  jüdischen  Reserveleut" 
nant. 

Ich  bedaure  auch  nicht  den  Juden,  der  sich  staat- 
liche Verantwortung  wünscht  und  sie  nicht  erhält. 
Wer  Verantwortung  sucht,  der  hat  sie;  vor  sich, 
vor  Menschen,  vor  Gott.  Wer  Einlaß  erbittend  sich 
an  Stellen  begibt,  wo  man  ihn  nicht  haben  will, 
tut  mir  leid;  ich  kann  ihm  nicht  helfen. 

Ich  kämpfe  gegen  das  Unrecht,  das  in 
Deutschlandgeschieht,  dennichsehe  Schat- 
ten aufsteigen,  wohin  ich  mich  wende.  Ich 
sehe  sie,wenn  ich  abends  durchdie  gellen  den 
Straßen  von  Berlin  gehe;  wenn  ich  die  Inso- 
lenz unsres  wahnsinnig  gewordenen  Reich- 
tums erblicke;  wenn  ich  die  Nichtigkeit 
kraftstrotzender  Worte  vernehme  oder  von 
pseudogermanischer  Ausschließlichkeit  be- 

206 


richten  höre,  die  vor  Zeitungsartikeln  und 
Hof  da  menbe  merkungen  zusammenzuckt. 
Eine  Zeit  ist  nicht  deshalb  sorgenlos,  weil 
der  Leutnant  strahlt  und  der  Attache  voll 
Hoffnung  ist.  Seit  Jahr  zehnten  hat  Deutsch- 
land keine  ernstere  Periode  durchlebt  als 
diese;  das  stärkste  aber, was  ins olchenZeiten 
geschehen  kann,  ist:  das  Unrecht  abtun. 

Das  Unrecht,  das  gegen  das  deutsche  Ju- 
dentum und  teilweise  gegen  das  deutsche 
Bürgertum  geschieht,  ist  nicht  das  größte, 
aber  es  ist  auch  eines.  Deshalb  mußte  es  aus- 
gesprochen werden.  Das  beste  aber  wird 
sein,  wenn  je  der  von  uns  in  sein  menschliches, 
soziales  und  bürgerliches  Gewissen  hinab- 
steigt und  Unrecht  abtut,  wo  er  es  findet. 

19H 


207 


ENGLAND  UND  WIR 
EINE  PHILIPPIKA 


I,  X4 


Schicksalskriege  sind  Examina,  die  ein  Staat  durch- 
machen muß,  um  in  eine  höhere  Klasse  versetzt  zu 
werden.  Die  Kriege  des  Großen  Kurfürsten,  Fried- 
richs des  Großen,  Wilhelms  1.  haben  Brandenburg- 
Preußen-Deutschland  zum  souveränen  Staat,  zur 
europäischen  Macht,  zur  Großmacht  und  zur  Welt- 
macht vorschreiten  lassen.  Eine  kontinentale  Hege- 
monie hat  Deutschland  unter  Bismarck  kurze  Zeit 
ausgeübt;  sie  war  nicht  ausreichend  befestigt  und 
wurde  uns  genommen. 

Seitdem  ist  Deutschland  zum  volkreichsten, 
heereskräftigsten,  reichsten  und  industriellsten 
Lande  Europas  erwachsen;  seine  Bevölkerung  be- 
läuft sich  auf  65  Millionen  Menschen,  sein  Heer  auf 
I V2  Millionen  Streiter,  sein  Vermögen  auf  300  Mil- 
liarden, seine  Gütererzeugung  auf  50  Milliarden  Mark. 

Deutschland  hat  keine  politischen  Bestrebungen. 
Es  begnügt  sich  mit  einem  knappen  Sechstel  des 
europäischen  Einflusses,  ist  einverstanden,  wenn 
Frankreich,  das  nur  im  Bodenumfang  mit  ihm*  sich 
messen  kann,  gelegentlich  die  entscheidendere 
Stimme  im  Konzert  führt,  und  versagt  sich,  teils 
aus  Trägheit,  teils  aus  mangelnder  Tradition,  aus- 
wärtige Ziele.  Dagegen  kann  es  nicht  vermeiden, 
seinen  Verbrauch  und  seinen  Absatz  zu  sichern, 
seinen  Handel  und  seine  Kolonien  zu  schützen; 
Dies  aber  sind  Verrichtungen  einer  Seemacht,  und 
somit  muß  Deutschland  den  Rang  einer  Seemacht 
beanspruchen. 

Die  Frage  ist  nun,  ob  uns  dieser  Rang  ohne  er- 
neutes Examen  eingeräumt  wird,  und  das  Seltsame 
besteht  auch  hier:  daß  unsere  ernstesten  Entschlüsse 
von  den  andern  gefaßt  werden. 

Frankreich,   ein  Staat,  der  niemals   Realpolitik 

14*  211 


betrieben  hat,  der  nicht  wissen  will,  was  ist,  und 
nicht  zugeben  will,  was  er  weiß,  Frankreich  spielt 
mit  der  Hoffnung,  uns  in  den  Halbschatten  einer 
mitteleuropäischen  Mittelmacht  zurücksinken  zu 
sehen.  Zu  schwach,  um  diesen  Rückschritt  zu  er- 
zwingen, begeht  unsere  schöne  Nachbarin  frauen- 
zimmerliche Wege  und  gibt  sich  jedem  männlichen 
Beschützer  hin,  wenn  er  verspricht,  den  Räuber 
ihrer  Ehre  zu  züchtigen.  Einen  Angriff  von  Frank- 
reich haben  wir  nicht  zu  fürchten,  es  sei  denn,  daß 
es  ein  versteckter  Angriff  Englands  ist. 

England,  das  klügste  und  wahrhaft 
politische  Volk  der  Erde,  versteht  die 
Lage  vollkommen.  England  haßt  uns 
eigentlich  nicht,  aber  es  empfindet  un- 
sern  Aufstieg  als  eine  vierfache  Gefahr. 
Denn 

erstens  fühlt  es  sich  technisch-indu- 
striell  überflügelt; 

zweitens  glaubt  es  sich  verpflichtet, 
gegen  jede  sich  entwickelnde  kontinen- 
tale  Vormacht   einzuschreiten; 

drittens  wird  sein  koloniales  Gebäude 
innerlich  erschüttert,  wenn  die  Allein- 
herrschaft zur  See  den  Wert  des  ge- 
schichtlichen Dogmas  verliert; 

viertens  wird  das  Wettrüsten  zu  kost- 
spielig und  bei  stetig  wechselnder  Tech- 
nik im   Erfolge   ungewiß. 

Der  Krieg,  den  England  zu  führen  hätte,  wäre 
somit  ein  Präventivkrieg;  eine  Kategorie,  die  Bis- 
marck  ablehnte. 

Endete  der  Krieg  mit  einer  entschiedenen  Nieder- 
lage Deutschlands,  so  hätte  England  eine  Reihe 

212 


von  JaKren  Ruhe.  Die  inneren  Ursachen  der  eng- 
lischen Besorgnis  wären  jedoch  nicht  endgültig 
beseitigt,  denn  sip  liegen  nicht  in  der  Politik,  son- 
dern in  den  Kräften  des  deutschen  Volkes  begründet. 
Kriege  würden  daher  so  lange  sich  periodisch  wieder- 
holen, bis  der  Weg  der  Weltentwicklung  diese  Rivali- 
tät erledigte. 

Jeder  andere  Ausgang  des  Krieges  kann 
außer  Betracht  bleiben.  Wie  er  aber  auch 
fiele:  immer  läge  der  Hauptvorteil  auf  der 
Seite  der  Vereinigten  Staaten,  und  die  ame- 
rikanische Wirtschaftsfrage  käme  in  ein  so 
verändertes  Stadium,  daß  möglicherweise 
alle  andern  Ergebnisse  sich  ihr  unterord- 
neten. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  solche  Argu- 
mente jetzt,  in  diesem  Augenblick,  mit  höchster 
Klarheit  und  Unerschrockenheit  in  London  erwogen 
werden.  Und  es  ist  menschlich  bedeutungsvoll,  wie 
ein  edles  Volk,  in  eine  ihm  fremde  Rolle  gepreßt, 
mit  seinen  Empfindungen  kämpft.  Denn  England 
ist  seit  zwei  Jahrhunderten  gewohnt  gewesen,  jede 
Frage  vor  seinen  kurulischen  Stuhl  hintreten  zu 
lassen  und  gemächlich  zu  entscheiden.  In  seinen 
Räumen  ist  viel  diktiert  und  geordnet,  viel  gefordert, 
manchmal  gedroht,  selten  angeboten  und  niemals 
gebeten  worden.  Unerhörtes  hat  man  in  Beratungen 
und  Kongressen  erreicht,  häufig  zugegriffen,  wo 
es  zu  okkupieren  gab,  vorbereitete  Eingeborenen- 
kriege mit  Entschlossenheit  begonnen  und  beendet; 
eine  Politik  der  Phantastik,  der  Leidenschaft,  des 
Abenteuers  und  der  Verzweiflung  war  der  Dogen- 
weisheit dieses  Landes  fremd.  Nun  vernimmt  man 
schon   unenglisch   heiße   Zeitungsrufe;    die   zwie- 

213 


spältige  Regierung  war  im  Herbst  dem  Wagnis  nahe, 
und  nur  der  mächtige  Citybürger  und  Gentrymann 
bewahrt  seine  hundertjährige  Gelassenheit. 

Ein  einzigartiger  englischer  Zug:  als  politischer 
Herold  erscheint  vor  Beginn  des  Kampfspieles  der 
Freund  des  Premiers,  Lord  Haidane,  in  Berlin,  Krieg 
und  Frieden  in  den  Falten  seines  Überrockes  tra- 
gend. Und  bald  nach  seiner  Heimkehr  bietet  noch- 
mals, zum  letzten-  und  zum  allerletztenmal,  in 
öffentlicher  Rede  der  Seeminister  die  Treuga  Dei, 
den  Gottesfrieden,  quartalsweise  mit  gesetzlicher 
Kündigung  aus. 

Es  wäre  eine  törichte  Verkennung,  in  diesen  fast 
ländlich  einfachen  Mitteln  Tücke  oder  Windbeu- 
telei zu  suchen.  Der  Englischmann  ist  klug,  aber 
nicht  fein;  er  hält  nicht  gerade  jedes  Versprechen, 
aber  er  ist  kein  Schwindler.  In  keinem  Lande  ist 
die  persönliche  Lüge  so  verpönt  wie  dort;  will  der 
Engländer  intrigieren,  so  bezahlt  er  mit  schwerem 
Geld  ein  paar  schwarze  Halunken;  sich  selbst  zu 
prostituieren,  ist  er  zu  stolz,  zu  reich  und  zu  fromm. 

Berlin  ist  nicht  die  Stadt  des  politischen  Humors. 
Der  Kaiser  hat  ihn;  aber  fünfundzwanzig  Jahre 
auswärtiger  Erfahrung  bestimmen  ihn  zu  der  Er- 
kenntnis, daß  Geschäfte  nicht  von  zwei  Seiten  aus 
verantwortlich  geleitet  werden  können.  Der  Halb - 
konstitutionalismus,  die  absonderliche  und 
vorbildlose  Staatsform,  in  der  wir  leben, 
geht  von  dem  Begriff  einer  gouvernemen- 
talen  Erbweisheit  aus.  Daher  hat  sie  die 
Eigenschaft,  alles  geschäftsmäßige  Denken 
durch  verwaltungsmäßiges  Denken  zu 
ersetzen  und  jede  politische  Teilnahme, 
ausgenommen  die    wirtschaftlich    interes- 


sierte,  im  Volke  zu  töten.  Preußen  erzeugt 
fortwährend  vorzügliche  Verwaltungsbe- 
amte; dagegen  hat  es  in  hundert  Jahren  nur 
einen  einzigen  bedeutenden  Staatsmann 
der  auswärtigen  Politik  hervorgebracht. 
Und  dieser  war  ein  Abseitiger,  ausderRegie- 
rung  zweimal  Entlassener;  durch  einen 
dynastischen  Zufall  gelangte  er  in  die  Ge- 
schäfte und  hinterließ  nach  mehr  als  einem 
Menschenalter  keinen  Jünger.  Während 
dieses  Jahrhunderts  aber  war  England  im- 
stande, in  jeder  Generation  eine  doppelte 
Besetzung  erster  Staatskünstler  und  Diplo- 
maten sich  zu  halten. 

Daß  in  dem  ungewohnten  Augenblick,  wo  Eng- 
land schwankt  und  seine  im  Innern  bedrängte  Regie- 
rung bei  uns  die  Auskunft  sucht,  die  sie  im  Lande 
nicht  findet,  daß  in  diesem  seltsam  angeweh- 
ten Moment  beiuns  der  leuchtende  Gedanke 
erfinderischen  Humors  aufsteige,  der  die 
Runzeln  von  Europas  Stirne  glättet,  dürfen 
wir  nicht  mehr  hoffen.  Uns  machen  neue  Situa- 
tionen keine  Freude;  durch  alle  Stadien  von  der 
simplen  Störung  zur  Verlegenheit,  von  der  Ver- 
drießlichkeit zum  Unwillen  bewegt  uns  ein  auf- 
tauchendes Ereignis;  es  macht  uns,  bildlich  gespro- 
chen, in  den  meisten  Fällen  Leibschmerzen.  Wir 
sind  passiv  gesonnen;  deshalb  ging  die  heiter  be- 
gonnene Attacke  auf  Agadir  so  anmutlos  zu  Ende, 
daß  trotz  geringfügigster  Güterverschiebung  Be- 
teiligte und  Unbeteiligte  sich  geärgert,  abgespannt 
und  blamiert  fühlten. 

Zum  Glück  bedarf  es  jedoch  diesmal  nur  einer 
bürgerlichen  Erwägung,  um  d^n  Punkt  zu  finden. 


von  dem  aus  die  Spannung  zu  lösen  ist,  sofern  guter 
Wille  besteht. 

Englandfühltsichbe  droht,  weil  wir  rüsten; 
England  rüstet,  weil  es  sich  bedroht  fühlt; 
wir  rüsten  nicht,  weil  England  rüstet,  aber 
wir  hören  nicht  auf,  zu  rüsten,  solange  Eng- 
land rüstet:  ein  Zirkelschluß. 

Kann  der  Vernünftige  nachgeben?  Können  wir 
den  Kreisprozeß  anhalten  ? 

Wir  könnten  es,  wenn  die  Lage  eine  symmetrische 
wäre.  Sie  ist  es  nicht. 

Wir  sind  mit  keinem  Gegner  Englands  verbündet. 
Vielleicht  weil  England  keinen  Gegner  hat.  Gleich- 
viel. Aber  England  ist  durch  die  Entente  an  unsern 
erklärten  Widerpart  gebunden.  Die  Entente,  ein 
Produkt  Marokkos,  scheint  in  ihrer  Hauptbestim- 
mung erledigt.  Geheime  Klauseln  sollen  nicht  be- 
stehen: immerhin,  die  Entente  selbst  besteht;  und 
wir  müssen  glauben,  daß  sie  mehr  vorstellt  als  eine 
Frühstücksvereinigung.  Ist  sie  mehr,  so  hat  England 
nicht  das  Recht,  von  uns  Rüstungsbeschränkungen 
zu  erwarten.  Bedeutet  sie  nichts,  so  wird  es  leicht 
sein,  uns  Sicherungen  zu  gewähren.  Freilich  dürfte 
es  nicht  genügen,  mündliche  oder  schriftliche  Er- 
klärungen zu  wechseln:  das  sind  Höflichkeiten  und 
Formeln,  die  kein  Bündnis  entkräften.  Ist  es  Eng- 
land wahrhaft  darum  zu  tun,  in  Frieden  mit 
uns  zu  leben,  so  mag  es  einen  Neutralitäts- 
vertrag uns  bieten,  der  uns,  gleichgültig  ob 
die  Entente  besteht  oder  nicht,  zu  Freunden 
macht. 

Zeigt  sich  England  zu  diesem  zwar  untä- 
tigen, doch  friedfertigen  Einverständnis 
bereit,  so  ist  es  an  uns,  ein  Rüstungsabkom 

zi6 


men  zu  finden,  das  beiden  Nationen  Luft 
schafft:  es  sei  nun,  daß  nach  Churchills  Vor- 
schlag Rastjahre  vereinbart  werden,  sei  es, 
daß  man  Kielzahlen  oder  Tonnengehalte 
kontingentiert. 

Weist  England  die  Neutralität  zurück,  so  wissen 
wir,  daß  seine  Friedensbeteuerungen  nur  bis  zur 
nächsten  Verwicklung  gelten.  Dann  wäre  der  Vor- 
schlag der  Abrüstung  Phrase,  seine  Annahme 
Schwäche.  Bleibt  überdies  die  Entente  bestehen, 
so  haben  wir  Britannien  als  Gegner  einzuschätzen; 
denn  Frankreichs  Allianzen  sind  nicht  Bündnisse  des 
Friedens,  sondern  des  Kampfes  und  der  Rache, 
die  gefährlich  bleiben,  auch  wenn  sie  dem  Bedürf- 
nisse nationaler  Redensart  zuliebe  geschaffen  sind. 

Gegen  den  Gedanken  der  Neutralität  kann  Eng- 
land nur  den  einen  erwägenswerten  Einwand  er- 
heben: wer  bürgt  dafür,  daß  nicht  im  nächsten 
Augenblick  sich  Deutschland  auf  Frankreich  stürze, 
um  die  Arbeit  von  1870  zu  beenden?  Hierauf  ist 
zu  erwidern :  der  ganze  politische  Kredit  des  Deut- 
schen Reiches  beruht  auf  seiner  Mission  als  Friedens- 
macht. Abgesehen  davon,  daß  Deutschland  keine 
Gewinne  erwarten  könnte,  die  das  Risiko  und  die 
industrielle  Zerrüttung  eines  Angriffskrieges  recht- 
fertigen, darf  eine  so  zentral  gelagerte  Macht,  ein- 
geschlossen in  überlange,  schlecht  geschützte  Gren- 
zen, nicht  die  Wege  des  Abenteuers  und  der  gewalt- 
samen Expansion  beschreiten.  Vierzig  Jahre  lang 
war  Frankreich  vor  uns  sicher,  in  starken  und  in 
schwachen  Augenblicken;  und  wer  uns  die  Humani- 
tät der  Friedensliebe  und  Enthaltsamkeit  nicht  zuer- 
kennt, der  wird  uns  die  Klugheit  der  Selbsterhaltung 
nicht  abstreiten. 

217 


So  liegt  bei  England  die  Entscheidung  nicht  allein 
über  guteß  und  böses  politisches  Wetter,  sondern 
über  Krieg  und  Frieden.  Nach  einem  Gesetze,  das 
man  in  Parodie  eines  physikalischen  Satzes  als  das 
Gesetz  der  kleinsten  Wirkungen  bezeichnen  könnte, 
haben  die  menschlichen  wie  die  geschichtlichen 
Ereignisse  die  Neigung,  sich  mit  dem  geringsten 
Ausschlag,  mit  der  unbedeutendsten  Form  zu  be- 
gnügen. Katastrophale  Geschehnisse  treten  auf, 
aber  selten  dann,  wenn  sie  vorausgesagt  wurden; 
von  zwei  Möglichkeiten  hat  die  neutralere  die 
größere  Wahrscheinlichkeit.  Das  wirtschaftliche 
Gewissen  der  Welt  hat  unbewußt  seit  einigen  Jahr- 
zehnten die  Wahrheit  dieses  Satzes  erkannt ;  deshalb 
bleiben  Industriemärkte  und  Börsen,  im  Gegensatz 
zu  der  Nervosität  früherer  Zeiten,  indolent  im 
Anblick  großer  Gefahren. 

Wohl  ist  es  daher  möglich,  daß  Abneigung  gegen 
Heftigkeiten  und  verantwortliches  Bewußtsein  es  zu- 
stande bringen,  den  Brand  zu  dämpfen,  ehe  er  die 
Pulverkammern  zündet,  und  es  wäre  Vermessenheit, 
die  furchtbare  Klärung  herbeizuwünschen.  Aber 
dieser  Friede  ist  kraftlos,  solange  England  es  ver- 
schmäht, uns  beide  Hände  zu  reichen,  solange  es  die 
Rechte  bietet  und  die  Linke  versteckt.  Immer  wie- 
der wird  der  Schrecken  die  beiden  Völker  aufstören, 
die  zur  Freundschaft  bestimmt  sind,  die  sich  unend- 
lich vieles  zu  sagen,  mitzuteilen  und  zu  leisten  haben; 
mit  jedem  Jahre  wird  die  Entfremdung  vorschreiten 
und  das  doppelte  Schuldbuch  anwachsen. 

Heute,  man  sage  hüben  und  drüben,  was  man 
wolle,  klingt  noch  kein  Völkerhaß  in  Vorwurf  und 
Abv/eisung  hinein.  Im  Gegenteil:  es  gibt  vielleicht 
nicht  zwei  Völker  der  Erde,  die  im  vollen  Bewußt-- 

218 


sein  ihrer  Interessengegensätze  wechselseitig  so 
rückhaltlos  ihre  Tugenden,  Kräfte  und  Mächte 
schätzen  und  verstehen.  Nicht  an  uns  liegt  es,  wenn 
das  rechte  Wort,  das  Wort  des  Vertrauens,  des  Frie- 
dens und  der  Freundschaft,  ungesprochen  bleibt. 


1912 


219 


POLITISCHE  AUSLESE 


Vor  einigen  Jahren  wurde  bei  einem  Würden- 
träger über  die  Schwierigkeiten  geklagt,  oberste 
Leiter  der  deutschen  Politik  zu  finden.  Ich  nahm 
mir  die  Freiheit,  zu  sagen :  „Deutschland  hat  neun 
aktive  Botschafter.  Wie  kommt  es,  daß  nicht  ein 
jeder  dieser  ausgesuchtesten  Männer  des  Landes 
geeignet  ist,  in  jedem  Augenblicke  die  gesamte  Ver- 
antwortung zu  übernehmen?",  und  man  gestand, 
daß  sachliche  Gründe  hierfür  nicht  zu  finden 
seien. 

Die  Durchschnittsleistung  unsrer  auswärtigen 
Politiker  ist  hoch  einzuschätzen,  wie  die  Durch- 
schnittsleistung unseres  Beamtenstandes  überhaupt; 
sie  hat  sich  im  Laufe  des  letzten  Jahrhundertes  eher 
gehoben  als  gesenkt:  Geschäftskenntnis,  technische 
Mittel,  Sprachenkunde,  Verkehrsformen  wurden 
vervollkommnet.  Dagegen  hat  seit  Friedrich  dem 
Großen  Preußen  nicht  vermocht,  mehr  als  einen 
überragenden  diplomatischen  Geist  hervorzu- 
bringen. 

Hervorzubringen?  Das  ist  eben  die  Frage.  Viel- 
leicht nur  aufzufinden.  Auch  Bismarck  wurde  nur 
durch  Zufall,  nicht  auf  dem  Wege  des  Beamtenauf- 
stiegs, gefunden. 

Eine  Nation  wie  Preußen-Deutschland  mit  65 
Millionen  Menschen  höchster  Zivilisation  hat  aber 
den  Anspruch,  seine  obersten  Verantwortungen 
jederzeit  von  den  höchsten  Talenten  getragen  zu 
sehen;  mehr  noch:  diese  Posten  mit  doppelter  und 
dreifacher  Reserve  gedeckt  zu  wissen.  England  hat 
diese  Besetzung  ein  Jahrhundert  hindurch  mühelos 
aufgebracht.  Frankreich  seit  1870  mit  geringen 
Unterbrechungen,  Österreich  in  neuerer  Zeit  aus- 
reichend.   Preußen   fand   nur   einen   überlegenen 

223 


Mann  zu  seiner  diplomatischen  Verteidigung,  vor 
und  nach  ihm  keinen. 

Liegt  es  am  Rohmaterial  der  Menschen?  Ge- 
schäfte sind  von  Geschäften  nicht  verschieden.  Die 
amerikanische  Schiffahrt  oder  Eisenindustrie  im 
Schach  zu  halten,  ist  keine  andersgeartete  Aufgabe, 
als  einen  Bahnbau  in  der  Türkei  oder  einen  Zollver- 
trag durchzusetzen.  Syndikatskämpfe  und  Bündnis- 
verhandlungen unterscheiden  sich  wesentlich  im 
Gegenstande,  weniger  in  der  Methode.  Seit  zwan- 
zig Jahren  ist  Deutschland  unbestritten  das  führende 
Land  Europas  in  wirtschaftlicher  Verwaltung  und 
Geschäftsführung.  Nahezu  zehntausend  Unter- 
nehmungen sind  neu  entstanden  und  haben  ein 
Armeekorps  von  Leitern  verlangt  und  gefunden. 
Starke  geschäftliche  Kapazitäten  hat  Frankreich, 
Amerika,  Italien  und  Rußland  von  uns  bezogen. 
Eine  bemerkenswerte  Anzahl  höchster  Talente 
leitet  unsere  Wirtschaft.  Aber  das  Auswärtige  Amt 
konnte  sich  nicht  entsprechend  mit  Potenz  be- 
reichern. 

Liegt  es  somit  nicht  am  Rohmaterial,  sondern  an 
der  Auswahl,  so  ist  zunächst  zu  prüfen,  wieweit  der 
preußische  Aristokratismus  die  Schuld  trägt. 

Für  die  höhere  Beamtenlaufbahn  kommt  in 
Preußen  im  wesentlichen  der  echte  und  der  imi- 
tierte Landesadel  in  Betracht.  Unter  dem  imi- 
tierten Adel  verstehe  ich  die  Bourgeois-gentil- 
hommes  zweiter  Generation,  die  heute  in  Deutsch- 
land zahlreich  die  praktischen  Eigenschaften  ihrer 
Väter  gegen  aristokratische  Allüren  und  Auffas- 
sungen einzutauschen  bestrebt  sind,  ein  seltsames 
Produkt  jungen  Reichtums,  das  aus  dieser  Betrach- 
tung ausgeschaltet  werden  kann. 

224 


Der  preußische  Adel  bildet  durch  Pflichtbewußt- 
sein, Ehrenhaftigkeit,  Mut,  Treue  und  Opferbereit- 
schaft die  vollendetste  Militär-  und  Beamtenhier- 
archie, die  wir  kennen.  Seine  Stärke  beruht  aber  auf 
Tradition,  nicht  auf  Anpassung;  auf  pflicht mäßigem 
Ermessen,  nicht  auf  Erfindung;  auf  Autorität, 
nicht  auf  Geschicklichkeit  und  Schlagfertigkeit; 
auf  Selbstbewußtsein,  nicht  auf  Konzilianz;  auf 
Beobachtung,  nicht  auf  Phantasie.  Zum  Staats- 
mann gehört  aber  die  Mischung  beider  Polaritäten : 
er  muß,  wie  Napoleon  und  Bismarck,  halb  Römer, 
halb   Levantiner,  halb   Baidur,  halb   Loke  sein. 

Die  aristokratische  Einseitigkeit  der  Auswahl  ver- 
kleinert nicht  nur  den  Kreis  der  Verfügbarkeit  im 
Verhältnis  von  hundert  zu  einem  und  verengert  so- 
mit das  diplomatische  Deutschland  bis  unterhalb 
der  Grenzen  Dänemarks  oder  der  Schweiz:  sie  gibt 
vor  allem  den  intellektuellen  Durchschnitt  ver- 
ändert und  unvollkommen  wieder. 

Hierin  liegt  ein  Rückschritt  gegen  die  Zeit  vor 
hundert  Jahren.  Damals  war  das  Bürgertum  un- 
entwickelt, der  Adel  allein  geschäftsfähig,  das 
Ausland  in  gleicher  Lage,  die  Aufgabe  einfach. 
Heute  ist  das  Bürgertum  Träger  einer  ungeheuren 
geschäftlichen  Intelligenz,  der  Adel  überflügelt, 
das  Ausland  von  seinen  stärksten  Geistern  ver- 
teidigt, die  Weltlage  von  äußerster  Verworren- 
heit. Dennoch  sind  die  Einrichtungen  die  gleichen 
geblieben. 

Ich  lasse  es  dahingestellt,  ob  trotz  des  schweren 
Handicaps,  das  der  Aristokratismus  uns  auferlegt, 
die  Möglichkeit  besteht,  auch  heute  noch  an  Zahl 
und  Stärke  ausreichende  Talente  vor  die  Front  zu 
bringen.     Soll   die    Möglichkeit   aber   verwirklicht 


werden,  so  bedarf  es  der  vollendetsten,  selbsttätig 
wirkenden    Auslese. 

Unter  dieser  Bezeichnung  verstehe  ich  Prinzipien, 
die,  unabhängig  von  zeitweiliger  Geschicklichkeit 
einzelner  Menschen,  es  dauernd  und  grundsätzlich 
erzwingen,  daß  aus  einem  gegebenen  Kreise  von 
Personen  die  geeignetsten  erkannt,  geprüft  und  der 
Verantwortung  zugeführt  werden. 

Unser  Wirtschaftsleben  kennt  diese  selbsttätige 
Auslese  in  ihrer  schroffsten  Form :  Zugang  für  jeden; 
Ausschaltung  des  Ungeeigneten  nach  alleiniger 
Maßgabe  des  Erfolges. 

Alle  parlamentarisch  regierten  Länder  kennen  und 
üben  sie,  bewußt  und  unbewußt:  Aussiebung  der 
Bewerber  durch  Volkswahl,  Beobachtung  ihrer 
Leistungen  als  Redner,  Debatter,  Kommissions- 
berater, Probezeit  als  zweite  Kabinettsmitglieder. 

Aufs  höchste  entwickelt  findet  sich  naturgemäß 
die  Auslese  in  England:  schon  die  Mitschüler  des 
Kolleges  und  der  Universität  glauben,  an  Begabung, 
Gewandtheit,  Autorität  und  körperlicher  Leistung 
den  künftigen  Premier  zu  erkennen.  Ein  Kabinetts- 
mitglied hebt  den  Vielversprechenden  aus  seiner 
Laufbahn,  setzt  ihn  neben  sich  als  Privatsekretär, 
sendet  ihn  ins  Land,  sieht  ihn  als  Abgeordneten 
heimkehren,  schult  und  prüft  ihn,  betraut  ihn  mit 
Vertretung  und  Nachfolge.  Denn  die  Partei  trägt 
die  Verantwortung  für  ihre  Ideen  und  für  ihren 
Nachwuchs,  sie  schuldet  dem  Lande,  was  sie  von  ihm 
empfangen  hat,  und  arbeitet  nicht  für  den  Tag, 
sondern  für  Geschlechter. 

In  Preußen-Deutschland  sind  selbst  die  Anfänge 
einer  selbsttätigen  Auslese  unbekannt.  Die  Parla- 
mente können  sie  nicht  bieten:  träten  selbst  regie- 

226 


rungsfähige  Elemente  dort  zu  Tage,  es  wäre  ver- 
gebens, denn  die  antikonstitutionelle  Praxis  ver- 
bietet, Parlamentarier  zur  Regierung  aufzurufen. 
Rückwirkend  aber  macht  eben  diese  Praxis  unsere 
Parlamente  unfruchtbar  an  Talenten  und  Ideen: 
denn  welcher  Mensch,  der  Einzelverantwortung 
erstrebt  und  erträgt,  sollte  es  sich  genügen  lassen, 
Wahlreden,  Kommissionsreden  und  Plenarreden  zu 
halten,  in  der  höchsten  Hoffnung,  das  eine  oder 
andere  Mal  in  der  Mehrheit  zu  bleiben  ?  Pragma- 
tische Politik  treiben  bei  uns  nur  die  Konservativen ; 
sie  verteidigen  Besitzrechte  und  wirken  auf  den 
Staat  von  zwei  Seiten  ein,  der  parlamentarischen 
und  der  gouvernementalen ;  die  übrigen  boxen  blind. 
Es  ist  ein  Irrtum,  wenn  man  annimmt,  unser  Partei- 
wesen lasse  eine  parlamentarische  Verantwortung 
nicht  zu:  umgekehrt,  ein  Parlament  ohne  Regie- 
rungsverantwortlichkeit wird  weder  Männer  und 
Ideen  produzieren,  noch  eine  zeitlose,  der  Partei- 
enge enthobene  Verantwortung  begreifen  lernen. 
Auslese  kann  nur  wirken,  wenn  sie  von  unten 
herauf  beginnt.  Unter  einem  Dutzend  vorhandener 
Regierungspräsidenten,  Ministerialdirektoren  und 
Gesandten  den  geeignetsten  Mann  herauszufinden, 
ist  eine  leichte  Aufgabe  (womit  nicht  gesagt  ist,  daß 
sie  immer  gelöst  wird) :  not  tut  es,  den  richtigen 
Regierungspräsidenten,  Ministerialdirektor  und 
Landrat  zu  schaffen.  Deshalb  ist  es  eine  be- 
denkliche und  meistenteils  nutzlose  Maßregel,  zur 
gelegentlichen  Auffrischung  des  Bestandes  Außen- 
stehende, Militärs,  Kaufleute,  Industrielle  herbeizu- 
ziehen. Der  Mann,  der  sich  suchen  und  finden  läßt, 
ist  in  der  Regel  ein  Unbefriedigter  oder  Unbe- 
schäftigter; er  bleibt  in  gewissem  Sinne  Dilettant 

II»  227 


und  Außensteher,  seine  guten  Eigenschaften  reiben 
sich  auf,  seine  schlechten  kompromittieren,  und  die 
unerfreuten  Berufsgenossen  atmen  auf,  wenn  das 
heimatlose  Meteor  explodiert.  Das  gewaltsame 
Experiment  dieser  Auffrischung  erinnert  an  Jagd- 
vorgänge: mit  der  Eisenbahn  verfrachtet  wird  ein 
Eber  in  das  fürstliche  Gehege  gesetzt,  eine  Hatz, 
aber  keine  Verbesserung  des  Bestandes. 

Wenn  es  also  auf  die  Einleitung  des  Selektions- 
vorganges ankommt:  wo  hegt  diese  Urwahl  in 
Preußen  ?  Sie  liegt  in  den  Händen  des  preußischen 
Geheimrates  und  heißt  „Qualifikation  zum  Regie- 
rungsassessor". 

Ich  habe  nicht  die  Absicht,  mich  über  diesen 
Kernpunkt,  den  eigentlichen  Keimvorgang  des 
Regierungsleibes,  den  wichtigsten  und  selten  berühr- 
ten Urprozeß  unserer  verwaltungspolitischen  Exi- 
stenz näher  auszusprechen.  Es  genügt  zu  betonen, 
daß  es  sich  nicht  um  einen  Vorgang  von  mecha- 
nischer Zuverlässigkeit,  mit  selbsttätiger  Sicherung, 
sondern  um  eine  Beamtenfunktion  handelt,  die  in 
aller  Stille,  je  nachdem,  gut  oder  schlecht,  wie  es 
Menschenwerk  mit  sich  bringt,  gedeiht.  Ausge- 
schaltet mag  die  Frage  bleiben,  ob  und  wie  weit  bei 
dieser  Methode  Vorteile  des  äußeren  Menschen,  Zu- 
gehörigkeiten zu  Verbänden  und  Verbindungen,  Ex- 
zellenzen als  Paten,  Hofdamen  als  Muhmen,  in  Wett- 
bewerb mit  ideellen  Eigenschaften  treten  können. 

Entscheidend  wirkt,  daß  hier  persönliches  Er- 
messen an  die  Stelle  objektiver  Einrichtungen  tritt. 
Eindrücke,  Auskünfte  und  Akten  treten  an  die 
Stelle  von  Proben,  Leistungen  und  Erfolgen.  Wird 
somit  jemals  die  Frage  zu  stellen  sein:  Warum  fehlt 
es  uns  an  Diplomaten  und  Staatsmännern  ?  so  muß 

228 


die  Antwort  lauten:  weil  der  Geheimrat  nicht 
allwissend  ist. 

Daß  auch  in  Preußen  amtliche  Auslese  möglich 
ist,  beweist  die  Armee.  Zu  ihrem  Berufsdienst  wird 
jeder  zugelassen,  der  gebildet,  ehrbarer  Herkunft, 
kein  Krüppel  und  kein  Jude  ist.  Die  Siebmaschen 
sind  weit,  der  Zufluß  beträchtlich.  Aus  Hunderten 
werden  die  Brauchbarsten  erprobt,  der  Akademie 
zugewiesen,  geprüft  und  beobachtet.  Die  Besten 
im  Dienst  und  Hörsaal  ergeben  die  besten  Führer. 
Deshalb  ist  unsere  Heeresleitung  in  ihrer  Gesamtheit 
vorbildlich  und  unerreicht;  wie  weit  die  objektive 
Auslese  bei  der  Besetzung  einzelner  hoher  Posten 
anderen  Grundsätzen  weicht,  steht  hier  nicht  zur 
Erörterung. 

Nun  könnte  man  fragen:  was  schadet  das  alles? 
Deutschland  ist  ein  gesundes  Land.  Ist  nicht  bisher 
alles  sehr  gut  gegangen  ? 

Zunächst  ist  seit  Bismarcks  Tagen  nicht  alles 
sehr  gut  gegangen.  Von  Jahr  zu  Jahr  begreifen  wir 
mehr,  wieviel  von  dem,  was  man  vor  einem  Men- 
schenalter Preußen  nannte,  Bismarck  hieß.  Seither 
sind  wir,  die  volkreichste  und  wohlhabendste  Kul- 
turmacht Europas,  von  dem  Sitz  unbestrittener 
Hegemonie  herabgestiegen  auf  die  Ebene  einer  sehr 
respektablen,  jedoch  nicht  überragenden  Bündnis- 
macht. Und  dies  bei  einem  in  der  Geschichte  der 
Welt  unerhörten  Verteidigungsaufwand  von  nahezu 
zwei  Milliarden. 

Sodann  gibt  es  wohl  kaum  ein  zweites  Land,  in 
dem  jede  Vakanz  leitender  Stellen  so.  peinliche, 
schmerzhafte  Verlegenheiten  bereitet,  wie  bei  uns. 
Schon  sind  die  letzten  Kapitäne  aus  Bismarcks 
alter  Garde  aufgeboten;  nun  findet  sich  kein,  aber 

229 


auch  kein  einziger  Staatsmann  in  der  Reserve,  dem 
eine  große  Partei,  geschweige  das  ganze  Volk  die 
Geschäfte  anzuvertrauen  wünschte.  Mit  Aus- 
nahme des  jeweiligen  Kanzlers  erregt  kein  Politiker 
außerhalb  seiner  Gruppe  oder  Umgebung  Interesse, 
am  meisten  vielleicht  noch  der  Berliner  Polizeipräsi- 
dent, weil  er  kurze  Sätze  macht.  Wo  leitende 
Männer  fehlen,  da  fehlen  aber  auch  leitende  Ideen : 
und  so  ist  im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Mächten, 
die  mit  gewaltigen  Schritten  ausgreifen,  unsre 
Lage  nach  innen  und  außen  im  bildlichen  und  wört- 
lichen Sinne  defensiv. 

Wir  leben  nicht  in  einer  Zeit  der  Eroberung, 
sondern  des  Wettbewerbes.  Alle  Mitbewerber 
stellen  uns  ihre  bewährtesten  Talente,  ihre  er- 
fahrensten Kämpfer  gegenüber.  Können  auch  wir 
unsere  stärksten  geistigen  Potenzen  in  Bewegung 
setzen,  so  haben  wir  keinen  Kampf  zu  fürchten; 
können  wir  es  nicht,  so  besteht  ein  Schwachpunkt 
von  jener  grundsätzlichen  Art,  welche  schon  manch- 
mal Schicksale  besiegelt  hat. 

Des  ferneren  könnte  man  fragen:  Lassen  sich 
nicht  „Maßnahmen  treffen",  um  mit  geringen 
Mitteln  die  preußische  Praxis  echten  Selektions- 
methoden anzupassen  ?  Schwerlich.  Es  gibt  zu- 
weilen unscheinbare  Symptome,  die  äußerer  Be- 
handlung leicht  zugänglich  scheinen  und  dennoch 
nur  durch  tiefgreifende  Behandlung  des  Organis- 
mus sich  heilen  lassen,  weil  sie  die  innersten  Wurzeln 
des  Körpers  angreifen.  Wollen  wir  fernerhin  mit 
einigen  östlichen  Staaten  die  überlebende  Gruppe 
halbkonstitutioneller  Länder  bilden,  so  müssen  wir 
den  Mut  haben,  mit  den  Bequemlichkeiten  dieses 
Systems    auch    seine    Gefahren    zu    verantworten. 

230 


Es  ist  leicht  zu  verstehen,  daß  Preußen 
selten  und  niemals  freiwillig  seine  Grund- 
sätze ändert.  Die  Vorzüglichkeit  derDurch- 
schnittsleistung  ist  Ursache  dieser  Behar- 
rung slust.  Es  geht  wie  in  eine  mehr  würdigen 
Handelshause:  Prinzipal  und  Angestellte 
tun  vor  Gott  und  Menschen  ihre  Pflicht, 
sind  fleißiger  und  solider  als  die  Konkurrenz, 
haben  ihr  gutes  Auskommen  und  wollen 
nichts  davon  hören,  daß  durch  die  Welt 
ein  frivoler  Ruf  geht,  der  Rohrzucker  werde 
durch  das  elende  Kunstprodukt  der  Rübe 
ersetzt. 

Es  kommt  hinzu,  daß  in  Deutschland  seit 
fünfundzwanzig  Jahren  die  Geschäfte  gut 
gehen.  Kein  Mensch  will  beim  Geldver- 
dienen gestört  sein;  noch  zehn  Jahre,  so  ist 
er  reich,  solange  wird  es  halten,  alles  andere 
später.  Politik?  Mögen  Fachleute  und  Ar- 
beitslose sich  drumkümmern,  wennnurdie 
Konjunktur  bestehen  bleibt.  Krieg?  Wir 
haben  vierzig  Jahre  Frieden  gehabt  und 
wollen  keine  Abenteuer.  Verfassung?  Die- 
jenige ist  die  beste,  welche  die  Geschäfte 
nicht  gefährdet,  gute  Polizei  übt,*die  Ar- 
beiter im  Zaum  hält  und  wohlhabenden 
Bürgern  verdiente  Ehren  zugänglich  macht. 

Kommt  es  einmal  anders,  verflauen  die  Geschäfte, 
wachsen  die  Lasten,  treten  politische  Rückschläge 
ein,  so  wird  auch  in  Preußen  der  Bürger  kritisch, 
denn  er  steht  auf  der  Seite  des  Erfolges.  Heute 
fürchtet  er  Gott  und  den  Sozialismus,  über  Nacht 
lernt  er  andere  Ängste. 

Nicht  von  der  Arbeiterschaft  drohen  uns 

231 


Gefahren,  denn  dem  heutigen  Sozialismus 
fehlt  die  Kraft  positiver  Ideen.  Zwei  andere 
AngriffskräftewerdendiepreußischeStaats- 
auffassung  erschüttern:  Mangel  an  führen- 
den Geistern  und  ungleiche  Verteilung  der 
Lasten;  beide  entspringend  aus  dem  einst- 
mals so  bewährten  Aristokratismus  der  Ver- 
waltung. Die  Zeitläufte  ähneln  in  seltsamer 
Weise  der  Epoche  Friedrich  Wilhelms  IL 
Möge  es  diesmal  keiner  schweren  Erschütte- 
rungen bedürfen,  um  das  innere  Gleichge- 
wicht herbeizuführen. 

1912 


232 


PARLAMENTARISMUS 


Die  Grenzscheide  zwischen  zulässiger  und  unzu- 
lässiger Gesinnung  liegt  in  Preußen  beim  Parla- 
mentarismus. 

Es  ist  gestattet,  Aufgeklärtheit,  ja  Vorurteils- 
losigkeit zur  Schau  zu  tragen  und  über  Einrich- 
tungen und  Personen  frei  zu  urteilen ;  jedoch  beim 
Parlamentarismus  wird  zum  Sammeln  geblasen. 
Wer  dann  nicht  zum  Bestehenden  einschwenkt, 
bleibt  endgültig  draußen,  er  ist  nicht  viel  besser 
als  ein  Freihändler,  Republikaner,  Sozialdemokrat. 
Eine  Grenze  gibt  es  und  muß  es  geben. 

Wer  sich  überhaupt  auf  weitere  Erörterung  ein- 
läßt, sagt  zweierlei:  erstens  „Parlamentarismus  ist 
möglich  in  einem  Lande  mit  nur  zwei  Parteien", 
zweitens   „sehen  Sie  unseren  Reichstag  an". 

Wird  das  Spiel  mit  der  Frage  fortgesetzt :  „Glauben 
Sie  nach  Ihrer  inneren  Überzeugung,  daß  wir  noch 
in  fünfzig  Jahren  unparlamentarisch  regiert  wer- 
den ?"  so  entsteht  vielfach  ein  sichtbarer  Gewissens- 
konflikt. 

Regieren  hieß  vor  hundert  Jahren  verwalten; 
das  ist:  eine  meinungslose  und  bildungslose  Menge 
mit  oder  gegen  ihren  Willen  befrieden,  schlichten, 
lenken,  erziehen  und  schützen.  Heute  heißt  re- 
gieren: Gesetze  durchführen,  Ziele  schaffen  und 
Geschäfte  machen. 

In  jenen  unkomplizierten  Zeiten  der  verteidigten 
Landwirtschaft  war  zum  Regieren  erforderlich  Ge- 
sinnung und  überlieferte  Praxis,  heute  bedarf  es 
daneben  eines  durchdringenden  Systems  organi- 
sierter wirtschaftlicher,  technischer  und  sozialer 
Kenntnis  und  entschiedener  Geschäftstüchtigkeit. 

Damals  waren  die  Oberschichten  der  führenden 
europäischen  Staaten  intellektuell  ziemlich  ausge- 

23s 


glichen;  es  entschied  somit  der  Wohlstand  des 
Volkes  und  die  Gewissenhaftigkeit  der  Führer. 
Im  Heimatbezirk  hat  Friedrich,  im  Weltbezirk 
Napoleon  dies  Gleichgewichtssystem  durchbrochen 
und  die  Gewalt  der  Begabung  an  die  Stelle  der 
Tüchtigkeit  gesetzt.  Seitdem  liegt  der  Erfolg  der 
Regierung  auf  der  Seite  der  stärksten  Geister,  somit, 
unter  Voraussetzung  gleicher  Nationalbegabung 
und  gleicher  physischer  Grundlage,  bei  denjenigen 
Staaten,  die  selbsttätig  'ihre  wirksamsten  geistigen 
Potenzen  in  die  Verwaltungs-  und  Verteidigungs- 
linie berufen. 

Den  Beweis  liefern  die  letzten  Jahrzehnte  der 
französischen  Politik.  Ein  Staat,  niedergeworfen, 
zerrissen,  entblutet,  zittert  in  den  siebziger  Jahren 
vor  erneutem  Angriff  der  Deutschen  und  beschwört 
durch  seinen  Botschafter  den  Kaiser  um  Frieden. 
Wirtschaft  und  Volksvermehrung  dieses  Staates 
stocken,  unerhörte  Skandale  erschüttern  das  Ver- 
trauen zur  Industrie,  zur  Regierung  und  zum  Heer, 
Advokaten,  Journalisten  und  Generale  teilen  sich 
in  die  Herrschaft,  die  alle  elf  Monate  wechselt,  die 
Kirche  wird  vertrieben,  der  Sozialismus  und  Syndi- 
kalismus bemächtigt  sich  der  Kommunen  und  zeit- 
weise der  Ministerien.  Und  währenddessen  be- 
festigt dieses  Land  seine  Herrschaft  in  Algier  und 
seine  Vormacht  in  Syrien,  gewinnt  Madagaskar, 
Tunis,  Cochinchina,  Marokko,  erwirbt  die  beiden 
mächtigsten  Bündnisse  zu  Wasser  und  zu  Lande, 
entscheidet  den  Kongreß  von  Algeciras  und  übt 
auf  die  Entschlüsse  Europas  durch  seinen  Spruch 
und  durch  seine  Legationen  den  gleichen,  zeit- 
weilig größeren  Einfluß  als  irgendeiner  der  Nach- 
barstaaten. 

236 


Deutschland  hingegen  beginnt  zur  gleichen  Zeit 
mit  dem  Besitz  der  kontinentalen  Hegemonie,  bleibt 
von  inneren  Stürmen  verschont,  erringt  durch 
Bürgerkraft  die  zweite  Stelle  der  Weltv^irtschaft, 
überflügelt  den  Wohlstand  Frankreichs  um  fast  das 
doppelte,  verbraucht  an  öffentlichen  Umlagen  all- 
jährlich das  zweieinhalbfache  der  französischen 
Kriegsentschädigung  —  und  bleibt  ausgeschlossen 
von  zwei  Weltteilungen,  zuwachslos  außer  durch 
private  Tatkraft,  und  sieht  seinen  Einfluß  bis  an 
die  Grenze  der  Mächte  ersten  Ranges  sinken. 

Vor  Jahresfrist  habe  ich  an  dieser  Stelle 
vom  Wesen  der  selbsttätigen  Selektion  ge- 
sprochen, einem  Begriffe,  den  Preußen- 
Deutschland  nicht  kennt,  obwohl  er  in  allen 
führendenStaaten,  in  jedemaufseine  eigene 
Weise,  längst  zurunausgesprochenen, selbst- 
verständlichen Übung  geworden  ist.  Dieser 
Übung  verdankt  Frankreich,  das  kräfte- 
ärmste Land,  ein  ständiges  Arsenal  von 
führungsgewohnten  und  führungsbereiten 
Menschen.  Hier  wird  ein  Organisator  ge- 
braucht, hier  ein  Parlamentsminister,  hier 
ein  Kenner  der  Flotte,  ein  Russenfreund, 
ein  Finanzpraktiker,  ein  Budgetkünstler, 
ein  Aller  weit  s  mensch,  einVertrauensmann, 
ein  Idealist:  die  Jahrgangslisten  der  abge- 
dankten Ministerien  sind  mit  jedem  Stoff 
versehen.  Bei  uns:  vor  der  Besetzung  des 
Postens  Verzweiflung,  nach  der  Besetzung 
Enttäuschung;  „wie  kommt  es  nur,  daß  wir 
so  wenige  leitende  Männer  haben?"  Dazu 
die  altfränkische  Fiktion,  daß  jeder  Verab- 
schiedete als  ein  Verungnadeter  gilt:  unter 

237 


keinen  Umständen  darf  er  wiederkommen. 
Unsere  Wirtschaft,  die  keine  Anciennität, 
keine  Standesrechte,  keine  Examina,  wohl 
aber  die  selbstwirkende  Auswahl  kennt, 
deren  der  Staat  entbehrt,  findet  jahraus, 
jahrein  führende  Kräfte,  um  die  sie  die 
Welt  beneidet;  unsere  Politik  und  Regie- 
rung   findet   sie   nicht. 

Von  der  Auswahl  will  ich  heute  nicht  sprechen, 
sondern  von  der  Richtung.  Wenn  zwei  Banken, 
zwei  Industriewerke  oder  zwei  Staaten  mit  gleichen 
Kräften  untereinander  konkurrieren:  welcher  von 
beiden  Organismen  wird  siegen  ?  Derjenige,  der 
die  bessere  Richtung  hat  und  diese  Richtung  ein- 
hält. Die  Überlegenheit  im  Wettstreit  besteht  darin, 
heute  das  zu  tun,  was  andere  in  zehn  Jahren  tun 
werden;  sie  besteht  ferner  darin,  jedem  kleinen, 
noch  so  nebensächlichen  Schritt  eine  Orientierung 
zu  geben,  die  dem  Endziel  um  einen  Bruchteil 
näherführt;  sie  besteht  endlich  darin,  jedes  von 
außen  hinzutretende  Ereignis  nach  seinem  Wert 
für  das  Endziel  einzuschätzen  und  es  ihm  wenn 
möglich  dienstbar  zu  machen. 

Hierfür  aber  ist  erforderlich,  daß  man  sein  Ziel 
oder  wenigstens  seine  Richtung  kenne.  Selbst  eine 
schiefe  Richtung  ist  besser  als  keine.  Wenn  ich  nach 
Paris  will  und  nach  Metz  komme,  so  ist  das  besser, 
als  wenn  ich  auf  der  Ringbahn  um  Berlin  kreise  oder 
^  das  Einsteigen  vergesse.  Politik  ohne  Richtung 
und  Ziel  ist  Opportunismus  und  Wurstelei; 
sie  beschränkt  sich  auf  eine  verlegene  Ab- 
wehr und  unwilliges  Abarbeiten  der  Tages- 
schwierigkeit; sie  gleicht  der  planlosen 
Schachführung,  die  Figur  um  Figur,  Stel- 

238 


lung  um  Stellung  opfern  und  schließlich 
in  verzweifelter  Lage  unfreiwillig  und  ver- 
hängnisvoll handeln  muß.  Der  konzentrisch 
und  plansicher  verfügende  Kämpfer  hingegen  fühlt 
sich  beständig  von  einer  fast  heiteren,  souveränen 
und  humorvollen  Stimmung  getragen;  er  sieht  sich 
auf  unbestrittenem  Gebiete  tätig,  wo  jeder  mühelose 
Schritt  eine  nur  ihm  erkennbare  Näherung  zum 
Erfolg  bedeutet. 

In  jedem  parlamentarischen  Staat  ist  Träger  der 
politischen  Richtung  das  Volk,  und  zwar  durch  die 
sichtbare  Vermittlung  seiner  politischen  Parteien. 
Das  Ich  des  Volkes  ist  so  wenig  eine  Einheit  wie  das 
Ich  des  Menschen;  Partei  ist  der  Name  seiner  poli- 
tischen Wunschkomplexe,  und  die  Diagonale  der 
Kräfteparallelogramme  ergibt  die  Richtung  seines 
Handelns.  Wie  alles  irdische  in  übertriebener 
Beobachtungsnähe,  ist  auch  diese  Richtung  geome- 
trisch nicht  ganz  rein  und  stetig;  aber  wie  alles 
organisch  Erzeugte  ist  sie  notwendig,  organisch, 
angepaßt  und  sicher,  und  aller  Willkür  und  Besser- 
wisserei gegenüber  von  natürlicher  Unangreifbar- 
keit und  Überlegenheit. 

Die  Wissenschaft  beginnt  heute  zu  erkennen,  daß 
es  nicht  ihres  Amtes  und  ihrer  Fähigkeit  ist,  Ziele 
zu  setzen.  Sie  kann  Zusammenhänge  aufdecken, 
Ursachen  ermitteln  und  Folgen  voraussagen,  sie 
kann  mit  manchem  ärmlichen  Wenn  und  Aber  er- 
klären :  Wenn  du  so  und  so  handelst,  geschieht  das 
und  das;  aber  was  im  letzten  Sinne  geschehen  soll 
und  geschehen  muß,  was  für  den  Einzelnen,  für  das 
Volk,  für  die  Menschheit  das  Ziel  bedeutet,  was 
gut  und  schlecht,  heilig  und  profan,  hoffenswert 
und  furchtbar  ist,  das  überläßt  sie  schweigend  dem 

239 


Gericht  der  menschlichen  Wertung,  der  Weltan- 
schauung, des  Glaubens ;  sie  appelliert  an  den  höheren 
Areopag,  der  in  den  Herzen  aller  Einzelnen  und 
somit  im  Herzen  der  Gemeinschaft  tagt.  Fehlt  die 
Zuversicht,  daß  Menschen  und  Völkern  ein  Sinn  ein- 
gepflanzt  sei,  der  sie  von  innen  zur  Erfüllung  ihres 
Daseins  führt,  so  bleibt  alles  Politisieren  nur  Kampf 
mit  Tagessorgen,  Nützlichkeitsdienst,  Polizeiwerk. 
Besteht  sie,  so  muß  bei  gebildeten  Völkern  im  Kampf 
der  großen  Meinungsgruppen  das  Schauspiel  des 
Kollektivgeistes  erblickt  werden,  der  mit  sich  selber 
ringt  und  der  in  seinem  Lebensstreit  zeugend  wirkt. 

Verläuft  der  Kampf  ungestört,  geordnet  zwar, 
doch  sich  selbst  überlassen,  so  wird  durch  seine 
Langatmigkeit  und  Ergiebigkeit  die  Gefahr  der  Ver- 
wechslung mit  dem  Gekräusel  der  öffentlichen 
Tagesmeinung  ausgeschlossen.  In  keinem  Lande  so 
selten  wie  in  England,  in  kaum  einem  so  häufig  wie 
bei  uns  entstehen  grundlegende  Gesetze  und  Maß- 
nahmen als  Ausfluß  einer  Stimmung,  einer  Kon- 
stellation, einer  Verlegenheit. 

Bleiben  die  Grundverhältnisse  eines  parlamen- 
tarischen Staatswesens  stetig,  so  wird  die  Richtungs- 
diagonale der  Parteikräfte  jahrzehntelang  in  nahezu 
gerader  Linie  verlaufen  und  der  Politik  eine  unge- 
heure Stoßkraft  verleihen;  ändern  sich  die  Bedin- 
gungen, so  wird  die  Einbiegung  der  politischen 
Richtung  langsam  und  ohne  gewaltsame  Bremsung 
erfolgen.  Denn  die  Komponenten  der  Richtkräfte, 
die  Parteien,  sind  in  sich  wiederum  organische 
Geistesgebilde,  freie  Nationen  im  kleinen,  in  denen 
abermals  unter  Kämpfen  und  dennoch  unbeeinflußt, 
objektive  Willenskraft  sich  entbindet;  sie  bleiben 
Träger  eines  aus  der  Zusammenarbeit  der  Genera- 

240 


tionen  herrührenden  Urvermächtnisses ;  dieses  Ver- 
mächtnis wird  durch  Hieb  und  Stoß  nicht  gebrochen, 
aber  es  formt  sich  bildsam  unter  dem  Druck  lang- 
anhaltender Kräfte. 

Nun  könnte  man  einwenden,  daß  auch  in  halb- 
parlamentarischen Ländern  politische  Parteien  be- 
stehen: warum  sollten  sie  nicht  Träger  beharrlicher 
und  wirksamer  Richtkräfte  und  positiver  Ziele  sein  ? 

Nichtregierende, lediglich  überwachende 
und  gesetzgebende  Parlamente  sind  nicht 
produktiv;  denn  kein  natürlicher  Organis- 
mus leistet  mehr  als  man  von  ihm  verlangt 
oder  mehr  als  er  verwerten  kann.  Sie  sind 
nicht  produktiv,  weil  es  ihnen  an  Interesse, 
an  Kenntnis  des  Sachverhalts  und  an  Ver- 
antwortung fehlt. 

An  Interesse:  denn  was  könnte  es  ihnen 
nützen,  Ziele  zu  beschließen,  deren  Erreich- 
barkeit nicht  vom  Entschluß,  sondern  von 
der  großen  und  kleinen  Regierungsarbeit 
jedes  laufenden  Tages  abhängt? 

An  Kenntnis  des  Sachverhalts:  denn  wer 
ein  Geschäft  betreiben  will,  m.uß  zu  jeder 
Stunde  die  volle  Nachricht  über  den  Stand 
der  Dinge  haben,  die  .ihn  betreffen.  Keine 
noch  so  eingehende  und  noch  so  vertrauliche 
Mitteilung  an  eine  Kommission  kann  den 
dauernden  Einblick  in  die  Geschäfte  er- 
setzen. Wer  ihn  besitzt,  kann  handeln  und 
vorschlagen,  wer  ihn  entbehrt,  dem  bleibt 
das  Nachsehen  und  die  Kritik. 

An  Verantwortung:  in  Frankreich  oder 
England  muß  jede  Partei  täglich  vorbereitet 
sein,    die    Regierung   zu   übernehmen.     Sie 


I.  i6 


241 


muß  brauchbare  Menschen  und  durchführ- 
bare Programme  bereit  halten.  Sie  darf 
nichts  Unentbehrliches  verweigern,  nichts 
Unerreichbares  fordern.  Sie  muß  darauf 
gefaßt  sein,  die  Probe  aufs  Exempel  zu  ma- 
chen. Sie  kann  der  herrschenden  Partei  als 
Feind  gegenüberstehen;  der  Regierungsge- 
walt selbst  und  dem  Lande  kann  sie  nicht 
feindlich  sein.  Regierende  Parlamente  sind 
Versammlungen  von  verantwortlichen  In- 
teressenten; kontrollierende  Parlamente 
ähneln  Gläubigerversammlungen  eines 
schwer  zu  fassenden  Gemeinschuidners. 

Daher  bewegen  sich  die  p  oliti  sehe  n 
Kämpfe  halbparlamentarischer  Länder  vor- 
wiegend  um  den  einen  Ausgleich  örtlicher, 
beruflicher,  ständischer  und  religionsge- 
meinschaftlicher Interessen,  das  heißt,  um. 
innere  Reibung,  nicht  um  gemeinsamen 
Fortschritt.  DieFragen  der  äußerenPolitik, 
der  Kolonisation,  der  Kultur,  der  Gemein- 
wirtschaft werden  zu  Nebensachen,  zuGeld- 
fragen, manchmal  zu  Tauschhandelsgütern. 

Sind  die  Halbparlamente  unfruchtbar,  so 
sind  es  um  so  mehr  ihreParteien.  InDeutsch- 
land kann  das  Zentrum  oder  die  Volkspartei 
zum  Kolonial-  oder  Verteidigungswesen 
jede  beliebige  Stellung  nehmen,  ohne  durch 
die  Kritik  der  Parteigenossen  vernichtet  zu 
werden;  bewilligt  man  hier  eine  Ordensnie- 
derlassung, dort  ein  Vereinsgesetz,  so  läßt 
sich  über  manches  andre  reden. 

Naturgemäß  sinkt  mit  dem  Anteil  der 
Nation  der  Wert  der  Erörterungen  und  das 

242 


DuTchschnittsmaß  der  Landesvertreter. 
Vorwiegend  kritische,  dem  Interessenaus- 
gleich dienende  Institutionen  bedürfen 
nicht  der  schöpferischen  Ideen,  und  so 
wenden  sich  produktivere  Geister  frucht- 
bareren Arbeiten  zu.  Nirgends  hört  man  so 
häufig  von  Parlamentsmüdigkeit  sprechen 
als  in  Deutschland,  das  ein  eigentliches 
Parlament  noch  nicht  kennt.  Unfähig,  sich 
vorzustellen,  was  ein  echtes  Parlament 
könnte  und  sollte,  empfinden  viele  das 
höchste  Vorrecht  eines  Volkes,  so  wie  es 
heute  zutage  tritt,  als  eine  Last. 

Stetigkeit  der  Politik,  Richtlinien  des  Handelns, 
endgültige  Ziele  sind  von  unverantwortlichen 
Parteien  und  Halbparlamenten  nicht  zu  verlangen, 
die  ihr  Höchstes  leisten,  wenn  sie  innere  Spannungen 
ausgleichen  und  gutwilliger,  als  man  erwarten 
könnte,  an  vorgelegten  gemeinsamen  Aufgaben 
mitwirken.  Darf  nun  diese  wichtigste,  leider 
protestierte  Forderung  an  die  Ministerien  giriert 
werden  ? 

Die  Minister  halbparlamentarischer  Staaten  be- 
finden sich  in  einer  seltsamen  Lage,  deren  Konflikte 
bisweilen  eine  Neigung  zur  Komik  zeigen.  Sie 
sind  dem  Namen  und  der  Sache  nach  Diener  des 
Monarchen  und  haben  unter  pf  licht  mäßiger  Ver- 
antwortung seine  Befehle  auszuführen.  Doch  jede 
Ausführung  erfordert  Mittel,  und  um  Mittel  zu 
schaffen,  bedarf  es  des  Parlaments.  Indem  nun 
neben  der  Ungnade  des  Monarchen  der  Widerstand 
des  Parlaments  droht,  werden  sie  in  Wirklichkeit 
zu  Dienern  zweier  Herren,  und  es  braucht  ein  fort- 
laufendes  Paktieren   mit   Parteien   und    Kommis- 


16* 


H3 


sionen,  um  bald  mit  dem  einköpfigen  bald  mit  dem 
vielköpfigen  fertig  zu  werden. 

Dies  System  der  täglichen  Reibungen  fördert  nicht 
den  Drang  zu  fernen,  außerhalb  der  Jahresaufgabe 
liegenden  Zielen.  Noch  weniger  fördert  ihn  die 
ressortmäßige  Teilung  der  Verantwortlichkeit,  und 
schließlich  wird  er  fast  endgültig  aufgehoben  durch 
die  Kürze  der  Amtsdauer. 

Das  ministerielle  Dasein  währt  wenige  Jahre. 
Ist  in  parlamentarischen  Staaten,  abgesehen  von  der 
Hoffnung  auf  eigene  Wiederkehr,  die  Sicherheit  ~ 
gegeben,  daß  jede  Initiative,  Vorarbeit  und  einge- 
leitete Aktion  eines  Staatsleiters  von  der  Partei 
wieder  aufgenommen  werden  wird,  so  muß  der 
halbparlamentarische  Minister  damit  rechnen,  daß 
seine  weitreichenden  Gedanken  vom  Nachfolger 
nicht  geteilt,  möglicherweise  bekämpft  werden, 
daß  mühsame  Vorarbeiten  die  Sache  nicht  nur  nicht 
fördern,  sondern  vielleicht  vernichten.  Es  gehört 
mehr  als  normaler  Optimismus  dazu,  um  unter 
solchen  Bedingungen  nach  einem  schwerbelasteten 
Tagewerk  den  Zielen  einer  fernen  Zukunft  nachzu- 
hängen, und  es  bedeutet  eine  blühende  Utopie,  in 
den  Ministerialinstanzen  die  Schöpfungsstätte  poli- 
tischer Ideen  zu  erblicken. 

So  wird  die  Verantwortung  für  die  Stetigkeit  der 
Politik,  für  Richtung  und  Ziel  der  Krone  zuge- 
schoben. Warum  auch  nicht  ?  Hat  sie  nicht  bis 
tief  ins  neunzehnte  Jahrhundert  hinein  diese  und 
schwerere  Verantwortung  getragen  ? 

Die  Aufklärungszeit  fand  vor :  zersplitterte  Terri- 
torien, verkümmertes  Landvolk,  Söldnerheere,  unzu- 
längliche Justiz  und  Verwaltung,  Mangel  an  Ver- 
kehr, Technik  und  Gewerbe.    Die  einfache  Sorge 

244 


des  Hausvaters,  auf  ein  Staatswesen  übertragen, 
mußte  aus  dem  Vergleich  mit  andern  Ländern, 
früheren  Zeiten,  aus  dem  nur  von  höchster  Warte 
möglichen  Überblick  über  die  Ereignisse,  aus  echtem 
Gefühl  für  Billigkeit  und  Recht,  Aufgaben  und 
Ziele   finden,   die   für  Menschenalter  ausreichten. 

Unsre  Zeit  wirkt  ohne  Präzedenzien  in  tausend- 
fältiger Verwicklung.  Der  Überblick  über  ein 
winziges  Gebiet  des  Lebens,  etwa  das  Versicherungs- 
wesen, erfordert  mehr  Kenntnis,  Arbeit,  Rech- 
nung und  Statistik  als  der  Staatshaushalt  vor  hun- 
dert Jahren.  Wissen,  Technik,  Wirtschaft  ist  Ge- 
meingut; das  Vorrecht  der  Warte  testeht  nicht, 
und  selbst  die  geniale  Intuition  vermag  nicht  mit 
Sicherheit  auch  nur  die  Entwicklung  eines  einzigen 
Lebenszweiges  auch  nur  auf  ein  Jahrzehnt  hinaus 
zu  überblicken. 

Eine  vermessene  Zumutung  an  Menschenkraft 
würde  es  bedeuten,  wollte  man  auf  den  Monarchen 
und  sein  Haus  unter  Verleihung  sakraler  Unfehlbar- 
keit die  Verantwortung  für  Schicksal  und  Zukunft 
aller  Gebiete  der  inneren  und  äußeren  Existenz 
seines  Volkes  bürden.  Diese  Last  aber  wäre  um  so 
schwerer,  als  das  halbparlamentarische  System  die 
verhängnisvolle  Neigung  zeigt,  dem  Monarchen  ein 
heiliges  Gut  zu  gefährden:  seine  Unbefangenheit 
und  Unparteilichkeit.  Denn  dieses  System  muß 
allmählich  in  jedem  Herrscherhause  eine  Vorstel- 
lung erwecken,  die  in  parlamentarischen  Staaten 
unbekannt  ist,  daß  nämlich  die  wachsende  Selbst- 
verwaltung des  Volkes,  wie  die  unübersehbare  Viel- 
fältigkeit des  öffentlichen  Lebens  sie  bringt,  den 
Rechten  der  Krone  Abbruch  tue,  daß  somit  die 
Krone  gezwungen  sei,  dauernd  in  einer  Stellung 


der  Verteidigung,  ja  selbst  des  Kampfes,  der  Volks- 
mehrheit  gegenüber  sich  zu  bewegen.  Indem  sie 
nun  in  dieser  Stellung  nach  verbündeten  Kräften 
ausblickt,  bietet  sich  naturgemäß  der  angesessene 
Adel  dar,  der  durch  Jahrhunderte  in  Gefolgschafts- 
treue erwachsen,  im  Vertrauen  auf  die  Fürsorge  der 
Lehnsherrschaft  und  im  Gegensatz  zu  den  Standes- 
genossen des  Auslandes  in  das  Wirtschaftsleben  der 
neuen  Zeit  nicht  eingetreten  ist  und  somit  abermals 
sein  Schicksal  ganz  in  die  Hände  der  Krone  gelegt 
hat.  Ist  es  somit  menschlich  zu  verstehen,  daß  die 
Krone  ihren  landsässigen  Adel  als  eigentliche  Leib- 
wache im  militärischen  und  staatlichen  Dienst  vor- 
zugsweise verwendet  und  gegen  Wettbewerb  schützt 
—  ein  Prinzip,  das  die  selbsttätige  Auslese  der 
geistigen  Landeskräfte  nahezu  aufhebt  — ,  so 
wird  ein  Grundsatz  von  höchster  politischer  Trag- 
weite dadurch  geschaffen,  daß  der  piivilegierte 
Stand  zugleich  die  Verkörperung  der  agrarischen 
Wirtschaftskraft  und  der  konservativen  Staatsten- 
denz bedeutet.  In  gleichem  Maße,  wie  die  Krone 
der  halbparlamentarischen  Staatsform  den  beson- 
deren Schutz  und  die  Garantie  dieses  Einzelstandes 
übernimmt,  erwächst  die  Gefahr,  daß  sie  selbst 
Partei  werde,  und  zwar,  wie  es  die  Sache  mit  sich 
bringt,  herrschende,  ja  allmächtige  Partei. 

Hiermit  aber  ist  die  richtunggebende  Kraft  aus 
der  Eigenbewegung  des  Volkskörpers  genommen  und 
ganz  und  gar  einem  peripheren  Willensgebiet  anver- 
traut ;  die  Verantwortung  für  die  Richtung  wird  bei 
jeder  unvorhergesehenen  Erschütterung  zur  Gefahr. 

Wer  in  ausgesprochen  monarchischer  Gesinnung 
die  Stetigkeit  der  politischen  Ordnung  erstrebt, 
wird  daher  wünschen,  daß  nicht  eine  menschliche 

^46 


Instanz,  und  sei  sie  auch  noch  so  eng  mit  dem  Volks- 
geschick verwachsen,  die  Verantwortung  für  jede 
Einzclrichtung  des  objektiven  Willens  trage,  son- 
dern daß  diese  Verantwortung  durch  das  einzige, 
bisher  der  Welt  bekannte  Mittel  in  die  Hände  des 
schöpferischen  Geistes  der  Nation  gelegt  werde, 
nämlich  durch  die  parlamentarische  Regierungsform. 

Wer  behaupten  wollte,  daß  auch  unter  dieser 
Voraussetzung  die  Parlamente  im  Sinne  der  Pro- 
duktivität unzulänglich  bleiben  oder  durch  Partei- 
zersplitterung an  der  Arbeit  gehemmt  werden 
würden,  dem  läge  die  Beweislast  ob,  daß  germani- 
sche Völker  unreifer,  ungebildeter  und  unpolitischer 
sind  als  angelsächsische,  romanische  und  südsla- 
wische Zeitgenossen.  Der  Beweis  aber  würde  zer- 
splittern an  der  nachweislichen  Tatsache  unsrer 
wirtschaftlichen,  kommunalen,  disziplinaren  und 
theoretischen  Überlegenheit  über  unsere  Wettbe- 
werber. Noch  niemals  hat  eine  Versammlung  intel- 
ligenter Menschen  aus  mangelnder  Homogenität 
versagt,  wenn  sie  zu  einer  Beschlußfassung  durch 
Notwendigkeit  gezwungen  war.  Jedes  Konklave, 
jedes  Schwurgericht,  jede  Stadtverordnetenver- 
sammlung und  jedes  Parlament  kommt  zu  einem 
Schluß,  zu  einer  Wahl,  einer  Verständigung.  Das 
Menschenmaterial  unsrer  Parlamente  aber  wird 
sich  verwandeln  und  die  wahren  Geisteskräfte  der 
Nation  in  sich  schließen,  sobald  örtlicher  Ehrgeiz, 
Redebedürfnis  und  Freude  an  Publizität  zurück- 
treten und  nationale  Verantwortung  allein  gefor- 
dert und  gewährt  wird. 

Stellt  man  nun  die  Frage,  ob  diese  Erwä- 
gungen gegenwärtig  in  Deutschland  prak- 
tisch sind,  soistzuerwidern,  siesindesnicht. 

H7 


Trotz  Depression  und  Geburtenrückgang 
ist  das  deutsche  Vo'lk  so  ausschließlich  mit 
seiner  Wirtschaft  beschäftigt,  daß  es  nicht 
daran  denkt,  sich  mit  seiner  politischenZu- 
kunft  zu  befassen.  Gelegentliche  Enttäu- 
schungen lösen  die  charakteristische  Reak- 
tion der  inneren  Teilnahmlosigkeit  aus: 
Kritik  an  Personen.  Die  Schwierigkeit  der 
Beschaffung  verantwortlicher  Menschen 
wird  als  selbstverständlich  hingenommen. 
Das  Absinken  unserer  Machtlage  wird  be- 
stritten; unser  vierzigjähriger  Verzicht  auf 
Zuwachs  gilt  als  Friedensliebe.  Das  sym- 
bolische Bild  der  gesättigten  Volksindolenz 
spiegelt  die  Partei  des  gebildeten  Bürger- 
tums; sie  ist  forderungslos  geworden,  weil 
ihre  besitzende  und  kontrollierende  Hälfte 
dem  gesellschaftlichen  Aufstieg  hingege- 
ben, jede  Unliebsamkeit  scheut.  Derliberale 
Reichstag,  dem  sie  den  Ausschlag  schuldet, 
hat  außer  einer  wertlosen  und  schnell  be- 
reuten Demonstration  keine  kennzeichnen- 
de Spur  eines  Eigenlebens  hinterlassen. 
Praktisch  ist  die  Erwägung  zu  diesem 
Zeitpunkt  nicht,  aber  sie  wird  es  werden. 
Die  Erschütterungen,  denen  wir  entgegen- 
gehen, wenn  unsre  ummauerte  Wirtschaft 
ihre  Einengung  zu  spüren  beginnt,  wenn 
die  Willkür  der  Lastenverteilung  empfun- 
den wird,  wenn  die  politische  Kräftever- 
schiebung die  Handlungsinitiative  und  die 
Zeitwahl  unsern  Gegnern  überliefert  hat, 
diese  Erschütterungen  werden  die  öffent- 
liche Fragestellung,  die  heute  eine  übcr- 

^48 


wiegend  ökonomische  ist,  wiederum  zur 
politischen  gestalten.  Es  wird  die  Wahrheit 
wiederum  zutage  treten,  daß  esdiehöchste 
und  reinste  Aufgabe  des  Machthabers  ist, 
ein  rohes  Volk  gebildet,  ein  gebildetes  Volk 
mündig  zu  machen,  und  ein  neues  Stein- 
HardenbergschesZeitalterwirddieseWahr- 
heit  verwirklichen.  Wem  aber  die  Kraft  des 
Reiches  und  die  Erhaltung  seiner  Autori- 
täten am  Herzen  liegt,  der  wird  wünschen 
und  hoffen,  daß  der  Satz  erkannt  werde: 
gesicherter  im  Sturme  als  das  verankerte 
Schiff  ist  jenes,  das  im  Vertrauen  auf  die 
Stärke  seiner  Flanken  furchtlos  dem  beweg- 
ten und  dennoch  tragenden  Element  sich 
hingibt. 

1913 


249 


DAS  EUMENIDENOPFER 


Das  Deutsche  Reich  verlangt  von  seinen  Bürgern 
eine  Milliarde  und  die  Rente  von  einigen  wei- 
teren, um  seine  Rüstungen  gegen  den  Osten  und  seine 
Heermacht  gegen  den  Westen  zu  stärken.  Man 
sagt,  es  gilt  ein  Schicksal  abzuwenden,  und  erinnert 
an  den  Opferwillen  vor  hundert  Jahren.  Vierzehn 
Millionen  für  -Spezialtruppen.  schienen  vor  s^chs 
Monaten  unerschwinglich;  tausend  Millionen  er- 
klären sich  selbst.  Es  ist  die  Psychologie  der  General- 
versammlungen :  Die  ärmliche  Unterschlagung  eines 
Kassenboten  erregt  Stürme;  der  Verlust  des  halben 
Gesellschaftskapitals  begegnet  mutvoll  gefurchten 
Mienen,  die  sagen:  Gottlob,  es  ist  nur  die  Hälfte. 

Die  Geldschranktüren  knarren;  Münzen  und 
Zettel  strömen  zum  Kassenherzen  der  Hauptstadt, 
und  es  bleibt  kaum  die  Zeit,  zu  fragen:  Warum 
und  wieso  ? 

Das  letzte  Menschenalter  sah  in  aller  Stille  und 
ohne  Erstaunen  zwei  Welten  aufteilen:  die  afri- 
kanische und  die  islamitische  Welt.  England  nahm 
Zypern,  Ägypten,  Rhodesien,  das  freie  Südafrika 
und  erhob  Anspruch  auf  das  halbe  Persien.  Frank- 
reich erhielt  Tunis,  Tongking  und  Marokko.  Ruß- 
land verlor  einen  Krieg  und  gewann  dennoch 
wachsende  Macht  in  der  Mandschurei,  Mongolei 
und  Persien;  Japan  wurde  Großmacht  und  besetzte 
Korea;  Italien  eroberte  Tripolis;  die  Vereinigten 
Staaten  legten  die  Hand  auf  Kuba,  die  Philippinen 
und  Zentralamerika ;  Österreich  annektierte  Bosnien, 
die  Balkanstaaten  teilten  sich  in  die  europäische 
Türkei. 

Neun  Zehntel  dieser  Eroberungen  fielen  an  die 
Staaten  des  französischen  Bundes;  Deutschland 
erhielt    durch   private    Initiative   seine    Kolonien, 

2S3 


durch  politische  und  diplomatische  Ausnützung 
seiner  Machtstellung  —  wenn  man  von  dem  Tausch- 
objekt   Neukamerun   schweigen   will   —   nichts. 

Nichts.  Und  doch  trat  das  Deutsche  Reich  in  die 
Reihe  der  kontinentalen  Staaten  als  unbestrittene 
Vormacht,  als  Schiedsrichter  und  Garant.  Es  sah 
alle  seine  heutigen  Gegner  in  Kriege  und  Wirr- 
nisse verwickelt  und  deckte  ihre  Flanken;  seine 
Bundesgenossen  hat  es  in  Treue  verteidigt.  Mehr- 
mals hat  es  Frankreich,  einmal  Rußland  Halt  ge- 
boten; einen  Sicherungsvertrag  mit  Rußland  hat  es 
besessen,  ein  angebotenes  Bündnis  mit  England  zu 
Holsteins  Zeiten  verscherzt.  Eine  Kriegsmacht 
hat  es  auf  die  Füße  gestellt,  wie  dieser  Planet  sie 
nie  zuvor  erblickte,  und  einen  Verteidigungszins 
von  einunddreiviertel  Milliarden  aufgebracht, 
der  nie  erhört  wurde.  Keine  Kontinentalmacht 
hat  die  Größe  seiner  Flotte  je  erreicht;  keine  seinen 
Wohlstand  noch  die  Zahl  seiner  zivilisierten  Be- 
wohner. 

Und  das  Ergebnis  ?  Nichts.  Weniger  als  nichts : 
denn  Deutschlands  Stimme,  vor  dreißig  Jahren 
mächtiger  als  irgendeine  andre  in  Europa,  gilt 
heute  keinesfalls  mehr,  eher  weniger  als  Frankreichs, 
im  Völkerrat  sowohl  wie  an  den  Höfen  der  Mächte. 
Unsren  Ruf  des  stillsten,  treuen  und  wahrhaften 
Volkes  wagt  man  zu  bekritteln  und  uns  zu  verschreien 
als  Bluffer  und  Schaumschläger;  unserm  Urteil 
wird  ein  militärischer  Irrtum  zur  Last  gelegt  und 
Eilfertigkeit  vorgeworfen.  Von  der  Hegemonie  sind 
wir  herabgestiegen  und  Angriffsziel  geworden, 
während  Frankreich,  das  geschwächte,  entvölkerte, 
zerrüttete  Land,  durch  die  Politik  seiner  oft  ver- 
lachten bürgerlichen  Advokaten  Besitzungen,  Allian- 

254 


zen,  diplomatischen  Nachdruck  und  politische 
Aktivität  gewonnen  hat.  Das  uns  entglittene 
Schiedsrichteramt  über  die  Geschicke  der  alten 
Welt  aber  liegt  von  neuem  in  den  Händen  Englands. 

Wir  haben  nicht  das  Recht,  für  den  mangelhaften 
Nutzeffekt  unerhörter  Anstrengungen  böse  Nach- 
barn verantwortlich  zu  machen.  Gewiß  ist  es 
schlimmer  als  schlecht,  nämlich  unklug,  wenn  ge- 
sättigte Gegner  uns  jeden  Zuwachs,  dessen  ein 
Industriestaat  bedarf,  mißgönnen;  aber  Politik  be- 
steht nicht  darin,  Unrecht  zu  leiden ;  und  so  wenig 
wie  ein  Einzelner  darf  ein  Staat  sein  Mißgeschick 
andern  zur  Last  legen.  Glück,  Leben  und  Gestalt 
schmiedet  sich  jeder  selbst. 

Auch  genügt  es  nicht,  zu  sagen :  Wir  haben  den 
Frieden  erhalten.  Friedfertigkeit  ist  nur  dann  ein 
politisches  Verdienst,  wenn  sie  zugleich  das  stärkste 
Mittel  zur  Macht  ist.  Uns  war  sie  ein  Mittel  zum 
Reichtum,  nicht  zur  Macht,  und  wir  wären  vielleicht 
nicht  einmal  ärmer,  wenn  wir,  statt  zu  rüsten,  ge- 
kämpft hätten.  Aber  nicht  wir  haben  den  Frieden 
erhalten;  es  war  unser  gutes  Recht,  ihn  zu  stören, 
und  wir  haben  ihn  zweimal  gestört:  zu  Zeiten 
Delcasses  und  vor  Agadir.  Daß  seit  vierzig  Jahren 
zwischen  europäischen  Kulturnationen  kein  Krieg 
mehr  ausgebrochen  ist,  lag  nicht  an  uns,  sondern 
an  der  Indolenz  und  Verdauungsstimmung  der 
Völkergesellschaft.  Beweis  ist :  daß  seit  einem  Men- 
schenalter, mit  Ausnahme  der  unsren,  jede  rasche 
und  kühne  Unternehmung,  jeder  Handstreich 
glückte,  der  vordem  zur  Entflammung  geführt  hätte ; 
Marokko,  Bosnien,  Tripolis  und  die  Türkei  sind 
Zeugen. 

In    solcher    Lage,    politisch   ausgehungert,    mit 

^S5 


sinkendem  Selbstbewußtsein  und  innerpolitischer 
Verstimmung  erblicken  wir  die  Umlagerung  im 
Osten.  Die  englische  VerdrossenKeit  ist  kaum  ge- 
mindert, die  französische  gesteigert,  und  durch  die 
Abspaltung  der  europäischen  Türkei  werden  bisher 
gebundene  Energien  frei,  die  uns  nicht  dienen. 
Österreichs  Stoßkraft  ist  durch  neue  Polaritäten 
gehemmt,  Rußland  erstarkt  unter  gewaltigen  wirt- 
schaftlichen Reformen.  Ein  freundlicheres  Moment, 
die  ausgesprochene  Abwendung  Italiens  von  Frank- 
reich, soll  nicht  übergangen  werden,  bedeutet 
aber  nur  so  viel,  daß  im  Augenblick  der  Drei- 
bund vorübergehend  wieder  einmal  seinen  Namen 
verdient. 

Der  vierte  Akt  der  osmanischen  Aufteilung  geht 
unter  erbarmungswürdiger  Indolenz  der  Mächte 
zu  Ende,  und  weder  wir  noch  unsre  Freunde  sind 
beteiligt.  Wir  sind  es  nicht,  denn  unsrer  politischen 
Passivität  fehlen  Ideen,  Anknüpfungspunkte,  Eisen 
im  Feuer.  Österreich  ist  es  nicht,  denn  in  einer 
seltenen  Anwandlung  politischer  Einseitigkeit  hat  es 
seine  Forderung  erst  nach  Beendigung  des  Konkurses 
angemeldet  und  viel  Zeit  auf  Herrn  Konsul  Prochas- 
ka  verwendet.  Die  europäischen  Beratungen  gehen 
ihren  Gang,  man  hört  uns  aufmerksam  zu,  solange 
unsre  Ansichten  von  denen  der  andern  nicht  allzu- 
sehr abweichen,  gibt  uns  in  Kleinigkeiten  recht  und 
beschließt,  was  man  will  und  kann. 

Niemals  hatte  sich  bisher  der  französische  mit 
dem  deutschen  Dreibund  gemessen;  heute  blickten 
sich  beide  in  die  Augen,  und  siehe  da,  wir  haben  die 
Sonne  gegen  uns.  Einstweilen  nur  die  Sonne.  So 
mustern  wir  denn  rasch  unsre  Kräfte,  Menschen 
und  Mittel  und  machen  die  Rechnung;  es  fehlt  eine 

256 


Milliarde,  sie  wird  ausgeworfen,  und  die  Rechnung 
stimmt.  Die  dunkle  Regung  absinkenden  Lebens- 
gefühls ist  aus  dem  Unterbewußtsein  des  Volkes 
in  die  Denksphäre  des  Staatshirns  gedrungen;  der 
Augenblick  ist  günstig,  denn  die  innere  Sorge  um 
die  uneinlösbare  Besitzsteuer  verlangt  eine  Ab- 
lenkung; und  so  tritt  die  Maßnahme  ans  Licht, 
die  diesmal  die  streng  versöhnlichen  Züge  des  natio- 
nalen Opfers  trägt. 

Das  Opfer  soll  und  wird  gebracht  werden. 
Deutschland  ist  reich  und  freidenkend  genug,  um 
sich  den  leisesten  Vorwurf  der  Knauserei  zu  er- 
sparen, wenn  es  sich  um  den  Schutz  seiner  Söhne 
handelt.  Vermessen  aber  ist  es,  die  bundes- 
rätliche Steuervorlage  mit  den  Volksopfern 
der  Zeit  um  1813  zu  vergleichen. 

Das  Herrlichste  jener  großen  Zeit  war 
nicht  das  Opfer  und  nicht  der  Sieg,  sondern 
die^Einkehr,  die  beiden  voranschritt.  Nie- 
mals seit  den  Prophetentagen  des  Jesaias 
hat  ein  Volk  so  tief  den  Blick  ins  Innerste 
gewandt  und  in  der  innersten  Tiefe  so  glü- 
hend seineGottheit  gesucht.  Das  zerschmet- 
terte Land  klagte  nicht  Schicksal  noch  Sie- 
ger, nicht  König,  Heer  und  Waffen  an, 
sondern  erkannte  das  Unrecht.  Der  Hörige 
wurde  frei,  der  Bürger  verantwortlich, 
die  Söldnertruppe  zum  Volksheer.  Die 
Regierung  gewann  Selbständigkeit,  das 
Land  selbstverwaltetes  Leben.  Indem  man 
Universitäten  und  Akademien  stiftete,  ent- 
fernte man  sich  scheinbar  unendlich  weit 
von  den  Wirklichkeiten  des  Lebens  und 
bezwang  dennoch  in  transzendenter  Größe 

I,  ir  257 


diese  Wirklichkeiten  so  sicher,  wie  stets 
der  Geist  das  Leibliche  bezwingt.  Da  nun 
die  Zeit  des  Opfers  und  der  Erhebung  kam, 
konnte  dem  tief  gereinigten  Volke  kein 
Schicksal  und  keine  Gottheit  den  Sieg  ver- 
sagen. 

Nicht  um  Geld  und  Rüstungen  war  und 
ist  es  zu  tun,  wenn  ein  Schicksal  abgewendet 
werden  soll.  MaterielleKräfte  rufenGegen- 
kräfte  wach;  die  übertriebene  Emphase 
und  Schroffheit  des  neuen  Mittels  hat  wie 
ein  Blitzschlag  die  Vogesen  durchwittert, 
unddasgeängstete  Nachbarvolk  drängt  sich 
inKetten,  die  ihmdiegeschwächtenGlieder 
zerschneiden.  Wird  die  Verlängerung  der 
Dienstzeit  in  Frankreich  ausnahmsloses  Ge- 
setz, so  ist  der  Krieg  besiegelt,  und  zwar 
als  ein  Werkzeug  in  den  Händen  Englands, 
das  ihn  nicht  heute  und  nicht  morgen,  doch 
zu  dem  Zeitpunkt  entfesselt, der  ihm  gefallt. 
Die  doppelteSpannung,  die,  gefährlicher  als 
ausgesprochen,  zwischen  England  und  uns, 
ausgesprochener  als  gefährlich  zwischen 
Frankreich  und  uns  bestand,  gewinnt  jetzt 
ihre  volleExplosionskraft,  verschärft  durch 
Rußlands  Empfindlichkeit,  das  die  Milliar- 
densaat im  Festungsgürtel  längs  seiner 
Grenzen  aufsprießen  sieht.  Durch  jenes 
Eumenidenopfer,  das  uns  verkündet  wird 
nach  dem  Gesetz  hundertjähriger  Wieder- 
kehr, wird  nicht  ein  Schicksal  gewendet, 
sondern  beschleunigt. 

Vielleicht  wäre  es  noch  nicht  zu  spät,  die 
wahren    Lehren    jener    großen    Epoche    zu 

258 


befolgen  und  das  Unrecht  abzutun.  Das 
reifste  Unrecht  unsrer  Zeit  aber  besteht 
darin,  daß  das  fähigste  Wirtschaftsvolk 
der  Erde,  das  Volk  der  stärksten  Gedanken 
und  der  gewaltigsten  Organisationskraft, 
nicht  zugelassen  wird  zur  Regelung  und 
Verantwortung  seiner  Geschicke.  Abge- 
speist mit  kommunaler  Verwaltung  und 
wirtschaftlicher  Gesetzgebung,  erblickt  es 
die  StaatsgewaltindenHänden einerkleinen 
aber  mächtigen  Klasse,  die  zugleich  das 
wichtigste  der  einzelstaatlichenParlamente 
beherrscht;  gewöhnt  es  sich  zwangsweise 
an  den  Gedanken,  daß  eine  Regierung  nicht 
anders  als  konservativ  sein  darf. 

Dieses  doppelte  Übel  schwächt  Preußen- 
Deutschland  jahraus,  jahrein  mehr,  als 
Dutzende  von  Brigaden  gutmachen  können. 
Den;i  die  enge  Auswahl  der  Herrenkaste,  die  dem 
alten  Kleinstaat  genügend  Verwaltungstalente  lie- 
ferte, kann  nicht  mehr  die  Zahl  hervorragender 
Geschäftsleute  schaffen,  die  der  gewaltigen  Kon- 
kurrenz fremder  Millionenauslese  standhält.  Des- 
halb leidet  die  politische  Geschäftsführung  und 
vermindert  sich  der  wirksame  Nutzeffekt  unsrer 
Gesamtmacht  derart,  daß  wir  das  Handicap  nicht 
auf  die  Dauer  tragen  werden.  Nicht  die  physische 
Kraft  der  Bataillone  für  sich,  sondern  diese  Kraft, 
multipliziert  mit  dem  Maße  der  Geschäftskur  st, 
entscheidet  über  die  Weltstellung. 

Zugleich  aber  drängt  der  mächtige  und.  eng  ver- 
kettete Konservatismus  der  Regierung  die  Ge- 
samtheit aller  administrativen  Volksinteressen  auf 
das  Gebiet  wirtschaftlicher  und  religiöser  Kämpfe. 

IT*  259 


Hier  verschärfen  sich  die  Gegensätze  bis  zur  atomi- 
stischen  Zerspaltung  in  Tages-,  Geld-  und  Partei- 
konflikte; schon  ist  der  Gedanke  kaum  mehr  faßbar, 
daß  andere  als  materielle  Interessen  das  Wesentliche 
eines  Volkswillens  ausmachen,  und  es  wird  durch  das 
gewaltsam  zerrüttete  Fraktionswesen  den  Regieren- 
den täglich  der  erwünschte  Scheinbeweis  erbracht, 
daß  dieses  Volk  zur  Selbstbestimmung  nicht  reif  sei. 
In  gleichem  Maße  aber,  wie  die  materiellen  Interessen 
zur  Herrschaft  gelangen  und  gemäß  einer  Machtver- 
teilung geregelt  werden,  die  nicht  dem  wahren  Auf- 
bau des  Volkskörpers  entspricht,  kommt  eine  un- 
gleiche Verteilung  der  Lasten  zustande,  die  früher 
oder  später  den  Bestand  des  Staates  erschüttern  muß. 

Klassenherrschaft,  ausgedrückt  durch  mangel- 
hafte Selektion  und  schwache  Politik;  Konservatis- 
mus der  Führung,  ausgedrückt  durch  Ungleichheit 
der  Lasten:  das  ist  das  doppelte  Unrecht  und  die 
doppelte  Gefahr  unsres  Landes.  Und  das  Unrecht 
wiegt  um  so  schwerer,  als  es  nicht  unbewußt  ge- 
schieht. Denn  von  den  konservativen  Vertretern  der 
herrschenden  Ordnung  wissen  die  meisten  und  be- 
kennen viele,  daß  ein  sittlich  und  geistig  erwachsenes 
Volk  nicht  lange  unmündig  gehalten  werden  kann, 
daß  Naturgesetze  stärker  sind  als  Menschenwille  und 
daß  in  abermals  hundert,  ja  in  fünfzig  Jahren  keine 
der  bürgerlichen  Schranken  mehr  bestehen  wird. 
Aber  es  genügt  ihnen,  wenn  sie  und  ihre  Kinder  als 
Herren  des  Landes  geachtet  werden,  das  ihre  Väter 
—  hierin  liegt  der  versöhnlichste  Punkt  dieser  Ein- 
seitigkeit —  beherrscht  und  verteidigt  haben. 

Das  Natürliche  wäre  nun,  wenn  das  Volk 
spräche:     Wir,    deren   Arbeitskraft   allein, 
die   Aufwendungen    dieser    Rüstungszeit 

260 


ermöglicht,  wir  sind  bereit,  dies  Opfer 
und  spätere  größere  zu  tragen.  Aber  wir 
erwarten,  daß  das  Unrecht  abgestellt 
werde,  beginnend  zunächst  mit  der  Än- 
derung der  ungesetzlichen  Wahlkreisgeo- 
metrie im  Reiche  und  des  ungerechten 
Wahlgesetzes  in  Preußen. 

Nichts  dergleichen  wird  geschehen.  Unser  Volk  ist 
politisch  nicht  unreif,  doch  indolent  in  hohem  Maße. 
Die  Mehrzahl  der  Menschen,  die  das  Pflaster  nord- 
deutscher Städte  betreten,  zählt  Leibeigene  unter 
ihren  Vorfahren.  Und  dieser  Tropfen  unfreien  Blutes, 
der  noch  immer  über  die  Unvcrletzlichkeit  des  Leibes 
staunt,  der  selbst  im  Gefolge  des  Sozialismus  sich  mit 
der  Wonne  der  Disziplin  begnügt,  entschließt  sich 
schwer,  die  praktischen  Forderungen  des  Staats- 
bürgertums mit  Entschiedenheit  zu  wollen. 

Im  mittleren  und  höheren  Bürgerstand  aber 
steigert  sich  vielfach  die  Indolenz  zur  politischen 
Apathie.  Die  Geschäfte  gehen  gut,  man  bereichert 
sich.  Unermeßliche  Stadtgebiete,  in  denen  kein 
Haus  älter  ist  als  zwanzig  Jahre,  beherbergen  den 
neuen  Wohlstand.  Zehntausend  merkantile  Gesell- 
schaften von  weit  geringerem  Durchschnittsalter 
haben  Legionen  von  hochbesoldeten  Direktoren, 
Prokuristen  und  Oberbeamten  geschaffen.  Das 
Geschäft  blüht,  aber  nicht  von  selbst,  man  hat  seine 
Sorgen.  Soll  man  sie  durch  politische  Ängste  ver- 
mehren, die  nichts  bringen  ?  Kaum  hat  man  Zeit, 
die  Vergnügungen  zu  genießen,  die  das  schöne  Geld 
beschert.  Und  ist  nicht  alles  gut  gegangen  ?  Warum 
soll  es  nicht  weiter  gut  gehen  ?  Noch  zehn,  noch 
zwanzig  Jahre,  und  man  ist  reich,  solange  hält  es. 
Kurz  und  gut,  das  Geschäft  geht  vor. 

261 


spricht  man  mit  denen,  die  sich  gern  als  einfluß- 
reich und  maßgebend  bezeichnen  lassen,  so  geben 
sie  vielfach  dem  Monarchen  die  Schuld.  Erwidert 
man,  daß  ein  wohlmeinender  Herrschei  als  Expo- 
nent seines  Volkes  nur  den  Gesamtwillen  vollzieht 
und  vollziehen  kann,  so  werden  sie  nachdenklich 
und  sagen,  es  sollte  jemand  darüber  schreiben. 
„Und  würden  Sie  einem  Aufruf  oder  einer  Petition 
beitreten,  wenn  es  sich  um  diese  Dinge  handelt  ?" 
—  „Ja,  warum  nicht  ?  Unter  Umständen  ganz 
gern  .  .  .,"  und  dabei  denken  sie,  was  die  Gattin 
dazu  sagen  würde,  wenn  die  Einladung  des  Ober- 
präsidenten oder  der  neue  Titel  ausbliebe. 

Rückhaltlos  muß  es  ausgesprochen  wer- 
den: am  Unrecht  ist  niemand  so  schuldig 
wie  das  Volk  selbst,  das  aus  Indolenz  und 
Geschäftslust  gramlos  es  duldet;  aber  ge- 
duldetes Unrecht  wird  nicht  zum  Recht 
und  verkannte  Gefahr  nicht  zur  Posse. 
Von  Unrecht  und  Gefahr  aber  kauft  kein 
Opfer  uns  los. 

Völkerkriege  und  Schicksale  werden  nicht 
vom  Willen  geschaffen;  sie  entspringen 
Naturgesetzen,  die  in  den  Kontrasten  des 
Bevölkerungsdruckes,  der  Aktivität,  aes 
Physikums  ihren  Ausdruck  finden.  Doch 
über  den  mechanischen  Schicksalsgesetzen 
stehen  die  ethischen  und  transzendenten. 
Wenn  innere  Kräfte  stocken,  wenn  Formeln, 
Sitten  und  Gedanken  sich  überleben,  so 
ergreift  ein  äußeres  Geschick  das  Wort  und 
die  Führung.  Nicht  äußere  Verhältnisse 
und  politische  Konstellationen,  sondern 
innere  Gesetze,  sittliche  und  transzendente 

262 


Notwendigkeiten  führen  mit  Gewalt  unser 
Schicksal  herbei.  Unser  zähes  Volk  ist  mit 
dem  gleichen  Mittel  erzogen  worden,  mit 
dem  es  seine  Kinder  zu  erziehen  liebt,  mit 
Schlägen.  Früher  hat  der  Trotz  der  Herr- 
schenden die  Schicksalsschläge  herbeige- 
zogen, nun  gesellt  ^ich  zu  diesem  Trotji  die 
Indolenz  des  Landes,  das  nicht  um  seine 
Verantwortungen  kämpfen  will  und  daher 
um  seine  Sicherheit  wird  kämpfen  müssen. 
Tritt  aber  die  Schicksalsstunde  heran,  so 
wird  man  begreifen,  daß  alle  Unternehmung 
ein  Spiel  der  Winde  bleibt,  wenn  sie  nicht 
in  der  Tiefe  auf  doppelt  gefestigtem  Funda- 
ment beruht:  auf  starker  Politik  und  ge- 
rechter Verfassung.  Die  Leidenschaft,  die 
heute  deninteressen  des  materiell enLebens 
frönt,  wird  dannderSorgeumdieDingeder 
Gemeinschaft  und  des  Staates  weichen,  und 
zugleich  mit  der  Erschütterung  des  über- 
reichen Gebäudes  unser  er  Wir  tschaft  werden 
morsche  Rechte  undMächtedahinsinken.  In 
einer  Stunde  stürzt,  was  auf  Äonen  gesichert 
galt;was  heut  vermessene  Forderungscheint, 
wird  selbstverständliche  Voraussetzung.  In 
solcher  Zeit  der  echtenOpfer  und  der  wah- 
ren Entäußerung  verschmelzen  die  Mächte 
des  Volkes,  der  Verwaltung  undderKronezu 
engerer  Einheit  und  verjüngter  Kraft:  sei 
es  im  Dienste  der  Abwehr,  des  Ansturms 
oder  der  Vergeltung.  Bis  dahin  aber  mögen 
wir  das  Jahr  1813  feiern  und  des  Jahres  1806 
gedenken.  1913 


263 


DEUTSCHE  GEFAHREN  UND  NEUE  ZIELE 


Ein  Engländer,  der  in  einer  wohlgemuten  Schrift 
alle  Ursache,  Berechtigung  und  Möglichkeit 
künftiger  Kriege  abtut,  und,  wie  zu  erwarten  war, 
mehrere  hunderttausend  Leser  fand,  verbreitet  sich 
eingehend  über  die  wirtschaftliche  Wertlosigkeit 
aller  Kolonien  für  ihre  Mutterländer;  und  da  ihm 
schließlich  die  Frage  auf  den  Hals  rückt,  warum 
denn  Großbritannien  so  eifersüchtig  an  den  seinen 
festhalte,  so  bleibt  ihm  der  humoristische  Aus- 
weg der  Empfindungsargumente. 

In  einem  gesättigten  Lande,  das  im  Drange  seiner 
guten  Geschäfte  jeden  Aufblick  vermeidet,  kann 
es  geschehen,  daß  solche  Beschwichtigungen  ernst 
genommen  werden;  deshalb  verlohnt  es  sich,  von 
Zeit  zu  Zeit  eine  ernstere  Frage  an  das  wirtschaft- 
liche Gewissen  zu  stellen. 

Deutschlands  Einfuhr  beläuft  sich  auf  jährlich 
10  Milliarden.  Das  ist  kein  willkürliches  Geschäft, 
das  sich  abstellen  oder  einschränken  ließe;  denn 
eine  Bevölkerung  von  65  Millionen  braucht  Nah- 
rungsstoffe und  Rohprodukte,  und  was  sie  nicht 
im  Lande  findet,  das  muß  sie  kaufen.  Was  sie  aber 
kauft,  muß  sie  bezahlen. 

Ein  Privatmann  zahlt  in  Geld;  eine  Nation  zahlt 
in  Waren.  Wollte  Deutschland  seine  Einfuhr  in 
Gold  bezahlen,  so  würde  schon  in  den  ersten  sechs 
Monaten  das  letzte  Goldstück  das  Land  verlassen 
haben,  und  wenige  Wochen  später  wäre  die  letzte 
Silber-,  Nickel-  und  Kupfermünze  ausgegeben. 
Unsere  Rechnungszahlung  heißt  somit  Ausfuhr; 
wir  exportieren  Erzeugnisse  unserer  Arbeit,  um 
Nahrungsmittel  und  Rohstoffe  kaufen  zu  können; 
wir  sind  ein  Lohnarbeiter  unter  den  Völkern.  Des- 
halb ist  es  sinnlos,  mit  verächtlicher  Betonung  von 

267 


unserer  Exportindustrie  zu  reden,  wie  es  von 
agrarischen  Rednern  zuzeiten  geschah;  wir  ex- 
portieren nicht  aus  Willkür,  sondern  aus  Not- 
wendigkeit. 

Wer  mit  Waren  handelt,  unterliegt  einer  dop- 
pelten Gefahr:  wenn  er  zu  teuer  kaufen  muß,  und 
wenn  er  zu  billig  verkaufen  muß,  geht  er  zugrunde. 
Wenn  die  Welt  unsere  Waren  nicht  mehr  haben 
will  oder  sie  uns  unter  dem  Wert  abnimmt,  so  ist 
es,  als  ob  wir  keine  oder  eine  entwertete  Münze 
zum  Zahlen  hätten;  wir  sind  beim  Kauf  übervor- 
teilt und  können  überdies  nicht  zahlen.  Wenn  die 
Welt  uns  das,  was  wir  nötig  brauchen,  widerwillig 
und  verteuert  liefert,  so  werden  wir  konkurrenz- 
unfähig, wir  setzen  beim  Verkaufe  zu,  auch  wenn 
man  uns  die  Ware  wertgerecht  abnimmt,  und  unsere 
Wirtschaft  ist  vernichtet.  Unsere  gewaltige  Eisen- 
industrie lebt  heute  großenteils  von  fremdem  Erz. 
Wird  uns  die  Erzeinfuhr  durch  fremde  Ausfuhr- 
zölle oder  die  Stahlausfuhr  durch  fremde  Schutz- 
zölle unterbunden,  so  ist  unser  stärkstes  Fabrik- 
gewerbe untergraben. 

Nordamerika  ist  im  Sinne  der  Materialbeschaf- 
fung heute  das  glücklichste  Land,  denn  es  findet 
fast  alle  Rohstoffe  in  seinem  Schöße;  Deutschland 
ist  im  Verhältnis  zur  Ausdehnung  seiner  Industrie 
das  unglücklichste.  Je  mehr  die  Industrie  zur  Welt- 
wirtschaft neigt,  je  mehr  die  fernsten  Küsten  zum 
Markt  der  Rohstoffe  beitragen  müssen,  desto  ge- 
fährlicher wird  die  Geringfügigkeit  unseres  Anteils 
am  Landbesitz  der  Welt. 

In  frühem  Zeiten  glaubte  man,  Kolonien  seien 
nützlich  als  Tributstaaten  oder  als  Abladestätten 
der  Übervölkerung  oder  als  Absatzgebiete.    Heute 

268 


erkennen  wir,  daß  sie  meist  mehr  kosten  als  bringen, 
daß  Auswanderung  unerwünscht  ist,  und  daß  kolo- 
nialer Absatz  umstritten  ist,  wie  jeder  andere  Ab- 
satz; deshalb  sind  wir  leicht  geneigt,  wie  jener 
Engländer,  den  Wert  überseeischen  Besitzes  zu  un- 
terschätzen. Bald  werden  wir  erkennen,  daß  jedes 
Stück  der  Erde  als  Substanz  wertvoll  ist;  denn  auch 
das  geringste  besitzt  oder  erzeugt  irgendein  Roh- 
material ;  und  ist  es  nicht  das  unmittelbar  verwend- 
bare, so  dient  es  zum  Austausch. 

Die  letzten  hundert  Jahre  bedeuteten  die 
Aufteilung  der  Welt.  Wehe  uns,  daß  wir  so 
gut  wie  nichts  genommen  und  bekommen 
haben!  Nicht  politischerEhrgeiz  und  nicht 
theoretischer  Imperialismus  rufen  diese 
Klage  aus,  sondern  beginnende  wirtschaft- 
licheErkenntnis.  DieZeit  naht  eilendheran, 
in  der  die  natürlichen  Stoffe  nicht  mehr 
wie  heute  willige  Marktprodukte,  sondern 
heiß  umstrittene  Vorzugsgüter  bedeuten; 
Erzlager  werden  eines  Tages  mehr  gelten 
als  Panzerkreuzer,  die  aus  ihren  Gängen 
geschmiedet  werden. 

Schon  heute  wäre  die  Hoffnung  irrig,  als  könnten 
fremde  Kolonien  uns  so  gut  bedienen  wie  eigene; 
als  könnten  Deutsche  in  Marokko  so  gut  Bergbau 
treiben  wie  Franzosen.  Jeder  Kenner  auswärtiger 
Industrien  weiß,  was  fremde  Landesaufsicht,  fremde 
Gesetzgebung,  fremde  Transportbahnen,  Häfen, 
Finanzen  und  Konkurrenzen  bewirken  und  verhin- 
dern können.  Wir  werden  Käufer  bleiben  statt 
Produzenten  eigenen  Rechts  zu  sein,  und  es  wird 
kaum  einer  Periode  künftiger  Exportzölle  bedürfen, 
um  uns  diese  Schwäche  fühlbar  zu  machen,  sobald 

269 


die  steigende  Konsumkraft  der  Welt  beginnt,  die 
ersten  Rohstoffe  einzuengen. 

SeitBismarcks  Scheiden  betreibtDeutsch- 
land  nicht  mehr  aktive  auswärtige  Politik, 
weil  Preußen  nicht  von  staatsgeschäft- 
lichen Talenten,  sondern  von  verdienst- 
vollen Beamten  geführt  wird,  und  weil 
das  Volk,  im  Gewinnen  befangen,  seine 
Staatssorgen  nicht  ernst  nimmt.  Wir  be- 
mühen uns,  der  Welt  klarzumachen,  daß 
wir  gesättigt  sind,  daß  wir  keine  Wünsche 
haben,  und  je  mehr  wir  reden,  desto  mehr 
mißtraut  man  uns  und  schiebt  uns  ver- 
wegene Pläne  unter,  weil  man  nicht  be- 
greifen kann,  daß  wir  unsere  eigene  Not- 
durft und  unser  eigenes  Begehren  nicht 
kennen.  Es  wird  Zeit,  daß  wir  es  kennen- 
lernen und  daß  wir  unumwunden  bekennen 
und  aussprechen:  ja,  es  ist  wahr,  wir  haben 
Nöte  und  Bedürfnisse.  Wir  können  nicht 
in  einem  Menschenalter  hundert  Millionen 
Deutsche  mit  den  Produkten  einer  halben 
Million  Quadratkilometer  einheimischen 
Bodens  und  einer  afrikanischen  Parzelle  er- 
nähren und  beschäftigen,  und  wir  wollen 
nicht  der  Gnade  des  Weltmarktes  anheim- 
fallen. Wir  brauchen  Land  dieser  Erde. 
Wir  wollen  keinem  Kulturstaat  das  seine 
nehmen,  aber  von  künftigen  Aufteilungen 
muß  uns  so  lange  das  nötige  zufallen,  bis 
wir  annähernd  so  wie  unsere  Nachbarn 
gesättigt  sind,  die  weit  weniger  Hände 
und  unendlich  mehr  natürliche  Güter 
haben. 

270 


Auf  diese  Sprache  kann  nichts  erwidert 
werden,  denn  das  Argument  der  Rohstoffe 
ist  unwiderleglich  wahr.  Gelingt  es  uns, 
glaubhaft  zu  machen,  daß  wir  unsereNach- 
barn  nicht  expropriieren  wollen —  und  von 
unserer  Friedensliebe  dürfte  man  nachge- 
rade bis  zu  den  Eskimos  überzeugt  sein  — 
so  erwächst  den  Kulturnationen  die  ernste, 
wohlverstandene,  eigene  Sorge,  uns  aus 
einer  Verlegenheit  zu  helfen,  die  ungestillt 
zu  einer  dauernden  europäischen  Gefahr 
werden  müßte.  Es  ist  einfach  unmöglich, 
daß  man  uns  fernerhin  von  allen  Geschäften 
mit  jenem  Sarkasmus  ausschließt,  der  nicht 
unberechtigt  war,  solange  wir  uns  in  soge- 
nanntemDesinteressement  nicht  genugtun 
konnten. 

Zu  den  künftigen  nützlichen  Unterhaltungen  in 
dieser  Richtung,  die  vor  allem  mit  England  zu 
führen  sind,  gehört  ein  Gegenstand,  der  nur  schein- 
bar abseits  von  diesen  Erwägungen  liegt,  und  ver- 
schiedenen europäischen  Nationen  gleichmäßig 
nahegeht:  er  betrifft  das  beispiellose  Kuriosum  der 
internationalen  Politik,  die  Monroedoktrin.  Eine 
mißverstandene  Präsidentenbotschaft  sperrt  nach 
hundert  Jahren  ohne  Gegenleistung  und  ohne 
Gegenpflicht  einen  Südkontinent  zugunsten  nord- 
amerikanischer Einwirkung,  während  es  den  Ver- 
einigten Staaten  gestattet  bleibt,  sich  in  aller  Welt 
festzusetzen.  An  die  Stelle  dieser  engen  Kasuistik 
muß  in  gegebener  Zeit  die  wirtschaftlich  notwen- 
dige und  gerechtfertigte  Lehre  treten:  daß  kein 
Territorium  der  Erde  von  einer  Macht  dauernd 
und  selbständig  sequestriert  werden  darf,  die  nicht 

271 


imstande  ist,  seine  Boden-  und  Oberflächenschätze 
im  Dienst  der  Allgemeinheit  nutzbar  zu  machen. 
Die  Erde  ist  nicht  groß  und  nicht  reich  genug,  um 
den  Luxus  selbständiger  Halbzivilisationen  auf 
Kosten  der  Wcltproduktion  zu  gestatten. 

Aber  wie  dem  auch  sei;  selbst  wenn  eine 
künftige  Zeit,  eine  glücklichere  Politik 
und  ein  klareres  Erkennen  uns  einen  ge- 
rechteren Anteil  an  der  Erbschaft  der  Welt 
gewährt  als  unser  jetziger  Pflichtanspruch: 
die  Zeit  der  großen  Erwerbungen  ist  für 
Deutschland  verpaßt.  Da  wir  eine  gewalt- 
same Neuverteilung  der  Lose  nicht  erseh- 
nen dürfen,  so  müssen  wir  mit  dem  Ge- 
danken rechnen,  daß  wir  auf  absehbare  Zeit 
und  in  weitem  Umfang  eine  zwangsweise 
kaufende  und  notgedrungen  handelndeNa- 
tion  bleiben. 

So  besteht  die  Verdopplung  der  Gefahr:  neben 
der  Erschwerung  des  Kaufs  die  Erschwerung  der 
Zahlung,  die  Entwertung  des  Zahlungsmittels,  des 
Ausfuhrguts. 

Mit  Ausnahme  von  England,  das  in  glänzender 
Isolation  die  Irrtümer  der  Jahrhunderte  zu  über- 
dauern pflegt,  frönen  alle  Wirtschaftsstaaten  dem 
Hochzoll.  Das  Prinzip  der  Warenhemmung,  das 
in  Form  der  Binnenzölle  vernichtet  werden  mußte, 
um  vor  hundert  Jahren  den  Landeswirtschaften 
Raum  zu  schaffen,  beherrscht  heute  die  Weltwirt- 
schaft. Wenn  der  Deutsche  dreimal  so  billig 
Strümpfe  wirken  kann  wie  der  Amerikaner,  wenn 
der  Amerikaner  dreimal  so  billig  Strohhüte  flechten 
kann  wie  der  Deutsche,  so  muß  dennoch  jeder  in 
seinem  Lande  beide  Produkte  herstellen;  ihr  Aus- 

272 


tausch  ist  zoUteclmisch  verboten.  In  dem  Sinne, 
daß  die  Welt  ein  Interesse  daran  hat,  jede  Ware 
dort  machen  zu  lassen,  wo  sie  mit  dem  geringsten 
Aufwand  an  Arbeit  in  vollkommenster  Ausführung  er- 
zeugt werden  kann,  sind  Phöniker  und  Zentralafrika- 
ner  uns   an  wirtschaftlicher  Erkenntnis  überlegen. 

Eine  Periode  des  Schutzzolls  war  für  die  Jüngern 
Wirtschaftsländer  nötig;  in  einzelnen,  vor  allem  in 
Amerika  nach  der  Gesetzgebung  Mc  Kinleys,  hat 
sie  Wunder  gewirkt.  Mit  Recht  hat  man  diese 
Wirkung  dem  Schutz  der  Treibhausscheiben  ver- 
glichen :  die  zarte  Pflanze  erstarkt,  der  Baum  sprengt 
die  Enge.  Unsere  Industrie  entwächst  von  Tag  zu 
Tag  dem  Bedürfnis  des  Schutzes:  aber  in  dem 
Maße,  wie  sie  nach  außen  wirken  will,  wird  ihr 
fühlbar,  daß  nicht  sie  allein  aus  dem  Mittel  der 
Hegung  Nutzen  zog. 

Von  uns  und  Amerika  haben  die  Völker  gelernt; 
Zollmauern  sind  längs  jeder  Landesgrenze  getürmt 
und  erhöhen  sich  alljährlich,  und  im  Innern  der 
Staaten  werden  nationalistische  Kräfte  in  den 
Dienst  des  Geschäftes  gezogen,  um  den  letzten 
Zufluß  von  Auslandsgütern  abzudämmen. 

Von  allgemeiner  Ungeübtheit  im  wirtschaftlichen 
Denken  zeugt  die  häufige  Behauptung:  der  Zoll 
werde  vom  Käufer  getragen.  Das  geschieht  nur 
insoweit,  als  die  Inlandsware  des  Käufers  in  ihrer 
Herstellung  teurer  ist  als  der  Auslandspreis.  So 
werden  unsere  Landwirtschaftsprodukte  tatsächlich 
nahezu  um  den  vollen  Zoll  verteuert;  die  meisten 
Industrialprodukte  dagegen  haben  mit  einer  aus- 
gebildeten Erzeugung  des  Einfuhrlandes  zu  kon- 
kurrieren, die  nicht  gestattet,  auch  nur  einen  Teil 
des  Zolls  aufzuschlagen. 


I.  i8 


273 


Dieser  friedliche  Krieg  derNationen  bie- 
tet der  Zukunft  Deutschlands  schwerere 
Gefahren  als  irgendeine  Waffendrohung. 
Er  entwertet  unser  Zahlungsmittel,  er 
zwingt  uns  auf  die  Dauer,  teuer  zu  kaufen 
und  billig  zu  verkaufen,  und  somit  unent- 
geltliche  Arbeit  für  das  Ausland  zu  leisten. 
Es  ist  kein  Zweifel,  daß  unsere  Gegner 
Kenntnis  dieserLage  haben,  denn  sie  unter- 
stützen jede  nationalistische  Importhetze 
und  verengern  so  das  Netz  der  wirtschaft- 
lichen Einkreisung,  nachdem  die  politische 
Einkreisung  zur  Unzerreißbarkeit  gediehen 
ist.  Um  so  weniger  würden  sie  erstaunt 
sein,  wenn  wir  es  wagten,  die  Lage  anzu- 
erkennen und  durch  gerechte  Ansprüche 
ihre  Folgerungen  zu  ziehen. 

Es  ist  weder  durchführbar  noch  wünschenswert, 
daß  wir  zum  sogenannten  Freihandel  zurückkehren; 
vor  allem  können  und  dürfen  wir  nicht  ohne  Gegen- 
seitigkeit der  Leistung  uns  zolltechnisch  entblößen. 
Aber  die  Blütezeit  der  Hochzölle  ist  in  der  Welt 
vorüber;  das  werden  über  lang  oder  kurz  alle  wirt- 
schaftlich tätigen  Nationen  empfinden.  Ein  Abbau 
der  Mauern  wird  geschehen,  sonst  fallen  alle  Vor- 
teile dem  Lande  zu,  das  nichts  zu  kaufen  und  nichts 
zu  zahlen  braucht:  Amerika. 

Ein  schweres  Hemmnis  wird  die  Tendenz  der 
freiem  Bewegung  in  Deutschland  finden,  denn  hier 
ist  das  Gebäude  des  Hochzolls  in  der  Agrarpolitik 
verankert,  die  gleichzeitig  eine  der  Grundlagen  des 
preußischen  Feudalismus  bildet. 

Man  geht  bei  uns  von  der  Ansicht  aus,  daß  der 
hegemonische  Staat  die  Kräfte  seiner  Führung  und 

274 


Verteidigung  nur  aus  den  Schichten  des  Grund- 
besitzes ziehen  könne,  und  stellt  sich  daher  die  Auf- 
gabe, den  landwirtschaftlichen  Großbetrieb,  der  in 
seiner  heutigen  Konstituierung  und  Belastung  mit 
der  Weltkonkurrenz  nicht  Schritt  halten  kann,  auf 
gesetzgeberischem  Wege  seinen  Besitzern  zu  erhal- 
ten. Dies  geschieht  durch  eine  weitgreifende  Zoll- 
und  Einfuhrregelung,  die  sich  auf  alle  Agrarprodukte 
erstreckt,  und  manche  um  nicht  viel  weniger  als  die 
Hälfte  des  Auslandpreises  belastet. 

Der  Zweck  ist  für  den  Augenblick  erreicht.  Die 
Einkommen  der  Großwirtschaft  haben  sich  gewaltig 
gehoben,  der  Wert  vieler  Güter  hat  sich  innerhalb 
zweier  Jahrzehnte  verdoppelt,  die  Durchschnitts- 
verzinsung, auf  den  Wert  der  sechziger  Jahre  be- 
zogen, beläuft  sich  auf  mindestens  zehn  bis  zwölf 
Prozent,  während  die  Erwerber  industrieller  Werte 
seit  jedem  beliebigen  Zeitpunkt  innerhalb  dieser 
Periode  eine  Rente  von  höchstens  acht  Prozent  im 
Durchschnitt  erlangt  haben,  die  sich  materiell  noch 
reduziert,  wenn  alle  Aktienemissionen  über  Nenn- 
wert in  Rechnung  gezogen  werden. 

Der  Zweck  ist  erreicht,  für  den  Augenblick. 
Denn  der  Mehrertrag  wird  kapitalisiert;  die  Le- 
bensführung, der  Erbanspruch  und  die  Belastung 
schließen  sich  dem  Mehrwert  an.  Noch  bevor  ein 
Menschenalter  vergeht,  werden  wiederum  die  Land- 
wirte über  geringes  Erträgnis  und  hohe  Zinsen- 
lasten klagen,  nachdem  sie  sich  mit  der  Wert- 
steigerung des  Bodens  stillschweigend  abgefunden 
haben. 

So  steht  der  Gefahr  der  wirtschaftlichen  Er- 
stickung ein  Hochzollsystem  zur  Seite,  das  in  den 
Interessen    des    Großgrundbesitzes,    somit   in    der 


i8« 


275 


mächtigsten  Quader  des  preußischen  Regierungs- 
baus verankert  ist.  An  einer  Gesetzgebung,  die 
ihren  Urhebern  Kopf  für  Kopf  Renten  von  Tau- 
senden, Zehntausenden  und  Hunderttausenden  be- 
deutet, ist  nicht  zu  rühren.  Mithin  ist,  selbst  für 
den  Fall,  daß  der  Abbau  der  industrialen  Hoch- 
zölle sich  allmählich  vollzieht,  eine  wirtschaft- 
liche Freundschaft  mit  allen  Ländern  überwiegen- 
den Agrarexportes  in  absehbaren  Zeiten  ausge- 
schlossen. 

Es  bleibt  eine  letzte  Möglichkeit:  die  Er- 
strebung eines  mitteleuropäischen  Zoll- 
vereins, dem  sich  wohl  oder  übel,  über 
lang  oder  kurz  die  westlichen  Staaten  an- 
schließen würden.  Früher  als  wir,  beginnen 
einzelne  unserer  Nachbarstaaten,  die  nicht 
über  unsern  gewaltigen  Binnenkonsu  m  ver- 
fügen, die  Unbilden  der  wirtschaftlichen 
Isolation  zu  spüren.  Ihre  Industrien  fristen 
ihr  Dasein  auf  der  engen  Grundlage  natio- 
naler Syndikate,  die  sich  durch  Preisver- 
teuerung im  Inland  für  den  Mangel  an  Aus- 
dehnungskraft und  selbständiger  techni- 
scher Entwicklung  entschädigen.  Die  in- 
dustrielle Zukunft  gehört  der  schöpfe- 
rischen Technik,  und  schöpferisch  kann  sie 
nur  da  sich  betätigen,  wo  sie  unter  frischem 
Zuströmen  menschlicher  und  wirtschaft- 
licher Kräfte  sich  dauernd  im  Wachstum  er- 
neu e  r  t.  So  wie  die  einstmals  vorbildliche  Maschinen- 
industrie der  Schweiz  die  Führung  an  die  Länder 
großem  Konsums  abtreten  mußte,  so  folgen  heute 
zahlreiche  Industrien  der  deutschen  Vormacht; 
aber   wir   werden   dieser   Erbschaften   nicht   froh; 

276 


auch  uns  wäre  es  besser,  wenn  wir  manche  Natur- 
kraft, manche  begünstigte  Produktionsstätte  und 
manchen  unerschlossnen  Verbrauchskreis  unsrer 
Nachbarschaft  in  das  Netz  einer  allgemeinen  Wirt- 
schaft einbeziehen  dürften. 

Die  Aufgabe,  den  Ländern  unserer  europäischen 
Zone  die  wirtschaftliche  Freizügigkeit  zu  schaffen, 
ist  schwer;  unlösbar  ist  sie  nicht.  Handelsgcsetz- 
gebungen  sind  auszugleichen,  Syndikate  zu  ent- 
schädigen, für  fiskalische  Zolleinnahmen  ist  Auf- 
teilung und  für  ihre  Ausfälle  Ersatz  zu  schaffen; 
aber  das  Ziel  würde  eine  wirtschaftliche  Einheit 
schaffen,  die  der  amerikanischen  ebenbürtig,  viel- 
leicht überlegen  wäre,  und  innerhalb  des  Bandes 
würde  es  zurückgebliebene,  stockende  und  unpro- 
duktive Landesteile  nicht  mehr  geben. 

Gleichzeitig  aber  wäre  dem  nationalis- 
tischen Haß  der  Nationen  der  schärfste 
Stachel  genommen.  Denn  wenn  man  sich 
fragt,  warum  die  Staaten  zur  Erbitterung 
ihrer  VVettkämpfe  getrieben  werden,  war- 
um sie  sich  Kräfte,  Rechte,  Bündnisse  und 
Besitztümer  neiden,  warum  das  Glück  des 
einen  der  Schaden  des  andern  ist;  es  sind 
längst  nicht  mehr  Religionen,  Sprachen, 
Kulturen  und  Verfassungen,  die  sie  ent- 
fremden. Kulturformen  und  Zi  vilisationen 
vereinigen  sich  friedlich  innerhalb  aller 
bekannten  Landesgrenzen;  Verfassungen 
lösen  sich  ab  und  hinterlassen  leichtbe- 
sänftigte Spuren.  VV^as  dem  Engländer  un- 
möglich macht,  in  Deutschland  heimisch 
zu  werden,  was  dem  Deutschen  einen 
längern  Aufenthalt  in  Frankreich  verleidet, 

277 


sind  Formen  niederer  Verwaltungspraxis, 
Polizei-,  Sttuer-  und  Aufsichtsfragen. 
Was  aber  die  Nationen  hindert,  einander 
zu  vertrauen,  sich  aufeinander  zu  stützen, 
ihre  Besitztümer  und  Kräfte  wechselweise 
mitzuteilen  und  zu  genießen,  sind  nur  mit- 
telbar Fragen  der  Macht,  des  Imperialis- 
mus und  der  Expansion:  im  Kerne  sind  es 
Fragen  der  Wirtschaft.  Verschmilzt  die 
Wirtschaft  Europas  zur  Gemeinschaft,  und 
das  wird  früher  geschehen  als  wir  denken, 
so  verschmilzt  auch  die  Politik.  Das  ist 
nicht  der  Weltfriede,  nicht  die  Abrüstung 
und  nicht  die  Erschlaffung,  aber  es  ist  Mil- 
derung der  Konflikte,  Kräfteersparnis  und 
solidarische  Zivilisation. 

1913 


278 


1813 

EIN  FESTGESANG  ZUR 
JAHRHUNDERTFEIER 


BEDRÜCKUNG 


Die  Stimme  des  Propheten 

Uu  Menschenkind,  so  spricht  der  Herr:  das  Ende 
kommt,  das  Ende  über  alle  vier  Örter  des  Landes. 
Das  Ende  kommt,  es  kommt  das  Ende,  es  ist  er- 
wacht über  dich,  siehe:  es  kommt. 

Hesckiel,  7,  2. 


Die  Stimme  der  Not 

Brecht  auf,  ihr  Herzen,  ungewohnt,  zu  klagen, 

Ihr  Stirnen,  lernt  euch  neigen, 

Ihr  Knie,  lernt  in  Staub  euch  beugen, 

Lernt,  stolze  Schultern,  Joch  und  Lasten  tragen. 

Zu  frecher  Jugend  schielt  empor,  ihr  Alten! 
Die  einst  so  flink  im  Flüchten, 
Sie  halten  euch  in  Knechteszüchten, 
Um  königlich  auf  eurem  Erb  zu  schalten. 

Errötet  eures  Wortes  und  Gewandes, 

Übt  kauderwelsche  Bitten, 

Liebt  fremde  Ehre,  fremd  Gesetz  und  Sitten, 

Vergeßt  den  Namen  eures  Vaterlandes. 


283 


Die  Stimme  des  Grams 

Tages  unbarmherzige  Sonnen 
Schütteln  ihre  Feuerbrände, 
Ginge  alles  Licht  zu  Ende, 
Blieb  uns  ewige  Nacht  gewonnen. 

Nacht  des  ruhelosen  Schlummers, 
Jammer  schreitet  durch  die  Gassen, 
Nacht  durchzuckt  von  Feindes  Prassen, 
Dämmrung  schreckcrwachten  Kummers. 

Blasses,  übernächtiges  Sehnen, 
Menschen  bitte,  nichtige  Worte, 
Schließt  sich  des  Gebetes  Pforte, 
öffnet  sich  das  Tor  der  Tränen. 


284 


Die  Stimme  der  Verzweiflung 

Du  harter  Gott,  der  vom  metallnen  Turme 
Das  All  bewachst, 

Der  trunken  von  des  Schaffens  Wirbelsturme 
Des  Fleisches  lachst, 

Wir  Knechtsvolk  dienten  deiner  Himmelsehre 
Ach,  allzugern; 

Sie  stampften  lästernd  deine  Hochaltäre 
Und  sind  die  Herrn. 

Hast  du  dem  eitlen  Cäsar,  uns  zu  richten, 
Dein  Schwert  verliehn  ? 
O  laß  durch  deinen  Donner  uns  vernichten, 
Doch  nicht  durch  ihn. 

Geschändet  stirbt  dein  Volk.    Und  keine  Spende 
Des  Himmelsborns 

Verwäscht  die  Schmach.  Vollende,  Herr,  vollende 
Das  Werk  des  Zorns. 


285 


Die  Stimme  der  Rache 

Vom  Schwerte  gerichtet, 

Geblendet,  vernichtet. 

An  Felsen  geschmiedet,  verblutet  die  Kraft, 

Die  andern  im  Glänze 

Erproben  im  Tanze 

Die  schmeidigen  Glieder,  vom  Siege  gestrafft. 

Empor  nun  zu  Göttern, 

Gerechtesten  Rettern 

Die  Zeugen  der  Unbill,  des  Frevels  und  Mords : 

Ihr  blutigen  Splitter, 

Ihr  Tränen  der  Mütter, 

Zerreißet  den  Frieden  des  himmlischen  Orts. 

Cheruben  erbleichen, 

Gestirne  entweichen; 

Das  Haupt  in  blauendes  Düster  gehüllt. 

Sitzt  schweigend  der  Zeuger, 

Titanenkraftbeuger, 

Bis  Stunde  und  Urteil  und  Schicksal  sich  füllt. 

Der  Stundenpfeil  steiget. 

Die  Schale  sich  neiget, 

Trompeten  erzittern,  schon  reckt  sich  der  Strahl; 

Zerflattert,  ihr  Schleier, 

Das  Heer  der  Befreier, 

Es  stürzet  und  wettert  und  donnert  zu  Tal. 


286 


Die  Stimme  des  Schicksals 

Erbarmen  nicht  noch  Göttergunst  noch  Bitten 
Versöhnen  dein  Geschick; 
Uralter  Stempel,  aus  Demant  geschnitten, 
Prägt  Leid  und  Glück. 

Wie  lange  trübt  der  dunkle  Quell  der  Trauer, 
Der  Lust  den  Lebensstrom  ? 
Nur  Dumpfheit  malt  auf  leere  Nebelmauer 
Ihr  Schreckphantom. 

Getrost  hinab  die  innertiefen  Schächte, 
Von  Finsternis  geschwellt; 
Im  IVIittelpunkt  vermählen  sich  die  Mächte : 
Recht,  Wille,  Welt. 


287 


II. 


ERLÖSUNG 


Die  Stimme  des  Propheten 

Oo  spricht  der  Herr:  ich  will  euch  ein  neu  Herz 
und  einen  neuen  Geist  in  euch  geben  und  will  das 
steinerne  Herz  aus  eurem  Fleisch  wegnehmen  und 
euch  ein  fleischern  Herz  geben. 

Hcsekiel,  36,  26. 


1, 19 


Die  Stimme  der  Reue 

Mensch,  gedenke  deiner  höchsten  Stunde, 
Heiße  alle  Erdenstimmen  schweigen, 
Blicke  einwärts,  gib  dem  Gotte  Kunde! 

Mensch,  bedenke!    Nichts  ist  dir  zu  eigen 
Als  der  einige  kristallne  Spiegel; 
Wehe !    Wessen  Antlitz  wird  er  zeigen  ? 

Mensch!   Vom  Herzen  lösen  sich  die  Siegel 
Und  Pandorens  wirbelnde  Gestalten 
öffnen  ihre  schillerbunten  Flügel. 

Mensch!    Des  trügerischen  Schleiers  Falten 
Hüllen  dir  den  Blick  mit  Eitelkeiten, 
Bergen  dir  der  Gottheit  ruhend  Walten. 

Mensch!   Vernimm  des  Geisterreiches  Schreiten! 
Mensch!    Vernimm  des  Paraklets  Befehle! 
Mensch!    Laß  Mut  und  Furcht  und  Hoffnung 

gleiten! 
Mensch,  o  Mensch,  gedenke  deiner  Seele! 


19»  ^  291 


Die  Stimme  des  Opfers 

Durch  des  Sommers  Sternennächte 
Lasset  Feuer:'ungen  schießen, 
Daß  der  Götter  VVeihestätte, 
Heiliger  Gipfel  Waldeskette, 
Freiheitsdämmrung  zu  begrüßen, 
Sich  zum  Sternenkranze  flechte. 

Flammender  Opferbrand, 

Lautre  mein  Vaterland. 

Himmelan,  du  dunkle  Säule, 
Spende  deine  Weihrauchdüfte, 
Scheuche,  Glut  von  reiner  Klippe, 
Lügengeister,  Teufelssippe, 
Saubre  Felder,  kläre  Lüfte, 
Töte  Pestilenz  und  Fäule 

Flammender  Opferbrand, 

Weihe  mein  Vaterland. 

Tilge,  Flamme,  was  uns  zehrte, 
Spieltand,  den  uns  Sklaven  preisen, 
Friß  Damaste  und  Geschmeide, 
Hoher  Frauen  Opferfreude, 
Brenne  Gold  und  gib  uns  Eisen, 
Wir  genesen  nur  am  Schwerte. 

Flammender  Opferbrand, 

Rette  mein  Vaterland. 

An  der  Glut  der  Eichenstämme 
Zündet  Fackeln,  schwingt  die  Gluten! 
Nie  mehr,  Männer,  Knaben,  schwört  es. 
Darf  ein  Feind,  der  Rächer  hört  es. 
Hochmutschwellend  überfluten 
Deutscher  Grenzen  heilige  Dämme. 

Flammender  Opferbrand, 

Schütze  mein  Vaterland. 


292 


Die  Stimme  der  Sehnsucht 

Blond  und  stahlblau  Korn  und  Lüfte, 
Himmelaugen  heiliger  Seen, 
Dunkler  Kiefern  Waldesgrüfte, 
Blasser  Dünen  Schaumes  wehen, 

Harter  Boden,  harte  Herzen! 
Mag  der  Feind  sich  Sieger  wähnen, 
Nie  gelingt  ihm,  auszumerzen 
Ahnensaat  von  Blut  und  Tränen. 

Mag  der  Feind  dich  frech  betreten, 
Adler  hissen  auf  den  Zinnen 
Über  schmachbedeckten  Städten: 
Nimmer  wird  er  dich  gewinnen. 

Mußte  sich  der  Mund  verschließen, 
Daß  das  Herz  umpanzert  bliebe. 
Endlich  darf  es  überfließen: 
Land,  mein  Land,  du  meine  Liebe! 


293 


Die  Stimme  der  Königin 

Ihr  zerbrochnen  Mutterherzen, 
Die  am  Kreuzesstamme  schauert, 
Schwestern  tiefster  Liebesschmerzen, 
Die  ihr  um  die  Knechtschaft  trauert. 
Junge  Seelen,  leidgeboren, 
Heimatfremd  in  bangen  Tagen, 
Kommt  zu  mir,  die  auserkoren, 
Dreifach  euren  Gram  zu  tragen. 

Laßt  uns  treu  dem  Gotte  danken, 
Der  uns  höchstes  Recht  gewährte. 
Der  aus  dumpfer  Kleinheit  Schranken 
Uns  durch  Marterglück  verklärte. 
Ja,  mit  Recht  sind  wir  geschlagen, 
Selbstsucht  darf  die  Welt  betören, 
Wenn  die  Besten  uns  verzagen; 
Doch  die  Willkür  kann  nicht  währen. 

Gott  folgt  ewigen  Gesetzen. 
Mochten  Cäsars  Friedenslügen 
Väterbrauch  und  Recht  verletzen; 
Keine  Erdmacht  konnte  fügen, 
Daß  das  Wort  sich  nicht  erfüllte: 
Demut  nur  soll  Herrschaft  erben. 
Da  mir  solches  Gott  enthüllte, 
Durfte  ich  getröstet  sterben. 


294 


III. 


ERHEBUNG 


Die  Stimme  des  Propheten 

1  röstet,  tröstet  mein  Volk!  spricht  euer  Gott. 
Die  auf  den  Herrn  harren,  kriegen  neue  Kraft,  daß 
sie  auffahren  mit  Flügeln  wie  Adler,  daß  sie  laufen 
und  nicht  müde  werden,  daß  sie  wandeln  und  nicht 
ermatten. 

Jesaias,  40. 


Die  Stimme  des  Gebets 

Unser  Vater,  Gott  der  Höhen, 
Lenker  aller  Himmelsheere, 
Siehe  Tausend  vor  dir  stehen 
Hart  gewaffnet,  dir  zur  Ehre. 

Gib,  daß  nicht  uns  Haß  und  Rache, 
Menschenfurcht  uns  nicht  entzweie, 
Gib,  daß  deine  Gottessache 
Unberührte  Seelen  weihe. 

Jeder  Strahl  aus  deinen  Sonnen 
Klingt  in  unsrer  Herzen  Stille, 
Alle  Wünsche  sind  zerronnen. 
In  uns  atmet  nur  dein  Wille. 

Gib,  daß  deines  Himmels  Feuer 
Falschheit,  Wust  und  Dunst  zerstiebe; 
Härte  uns,  du  Blitzestreuer, 
In  dem  Feuer  deiner  Liebe. 

Nicht,  um  Römerglück  zu  werben. 
Siehst  du  unsre  Heere  schreiten: 
Laß  uns  siegen,  laß  uns  sterben. 
Dein  der  Kranz  der  Ewigkeiten. 


297 


Die  Stimme  der  Jugend 

Standarten  und  Spiele, 
Wie  blitzen  die  Höhn! 
Der  Herbstwind  wie  kühle, 
Der  Morgen  wie  schön! 

Ihr  Brüder,  uns  bindet 
Ein  königlich  Band, 
Das  Nichtige  schwindet. 
Wir  schützen  das  Land. 

Wie  wuchsen  im  Frieden 
Wir  träge  heran ! 
Gefahren,  sie  schmieden 
Den  Knaben  zum  Mann. 

Nun  brausen  die  Wälder 
Dem  feurigen  Bund, 
Bald  dampfen  die  Felder, 
Bald  donnert  der  Grund. 

Frischauf!  Wenn  die  zweite 
Der  Sonnen  erwacht, 
Sie  leuchtet  dem  Streite, 
Der  herrlichen  Schlacht. 

Und  kauert  in  Gräben 
Und  lauert  der  Tod, 
Sprüht  Freiheit  und  Leben 
Aus  funkelndem  Rot. 


298 


Die  Stimme  des  Donners 

Im  Donner  stürzt  das  Schöpferwort  zur  Erde, 
Das  Weltall  atmet  schwer; 

Durch  Wirbel  zuckt  der  Flammenruf:  Es  werde! 
Das  Chaos  ist  nicht  mehr. 

Schon  schwingen  sich  zum  Feuerkranz  die  Sonnen 

In  Weißglutpracht, 

In  Schattentälern  ist  der  Tag  zerronnen, 

Es  blaut  die  Nacht. 

Gewaltge  Spannung  bannt  die  Firmamente, 
Es  sprüht  der  Streit, 
Urewiges  Hassen  sträubt  die  Elemente, 
Die  Windsbraut  schreit. 

Da  kracht  die  Feste,  flammt  die  Atmosphäre, 
Der  i\bgrund  stöhnt, 

Zurück  die  Welt  ins  Chaos  und  ins  Leere! 
Und  Satan  höhnt. 

Nun  brechen  blutige  Segensströme  nieder 
Aus  Götterbrust, 

Aus  höchstem  Opfer  trinken  Welten  wieder 
Sich  Werdens  Lust. 

Im  Rosenlicht  verklärt,  der  Himmelsbogen 
Besiegt  die  Nacht; 

Der  Heros  stürmt,  vom  Glanz  emporgezogen: 
Es  ist  vollbracht. 


299 


Vox  coelestis 

Gloria  in  Excelsis  Deo  et  in  terra  pax  hominibus 
bonae  voluntatis.  Amen. 


1913 


EIN  WORT  ZUR  LAGE 


Sechs   Mächte   verabscheuen    und   fürchten   den 
Weltkrieg  und  wissen  dennoch  nicht,  wie  sie 
sich  seiner  erwehren  sollen. 

Vier  von  diesen  Mächten  sind  sachlich  an  der 
Streitfrage  uninteressiert;  zwei  haben  ein  Interesse. 

Man  mag  über  den  panslawistischen  Anspruch 
denken  wie  man  will,  Rußland  ist  von  Serbien  als 
slawische  Vormacht  bisher  anerkannt  worden,  es 
verliert  diese  Stellung,  wenn  es  seinen  Schützling 
in  der  Gefahr  aufgibt. 

Das  österreichische  Interesse  besteht,  denn  der 
Krieg  gegen  Serbien  hat  begonnen.  Ob  ein  Krieg 
die  Kraft  hat,  chauvinistische  Wühlerei  im  besieg- 
ten Lande  verstummen  zu  lassen,  kann  nach  unsern 
Erfahrungen  mit  Frankreich  bezweifelt  werden; 
aber  diese  P'rage  steht  nicht  mehr  zur  Erörterung, 
wenigstens  nicht  bei  uns. 

Zwischen  Österreich  und  Rußland  bestehen  Ver- 
handlungen, von  denen  der  Weltfriede  heute  ab- 
hängt. Österreich  hat  durchblicken  lassen,  daß  der 
Landbesitz  Serbiens  nicht  versehrt  werden  soll. 
Will  man  die  politische  Unabhängigkeit  des  Landes 
vernichten  ?  Dann  würde  Rußlands  tatsächliche 
Machtsphäre  verringert,  und  der  Krieg  wäre  schwer 
vermeidbar. 

Das  Fortbestehen  der  Verhandlungen  läßt  ver- 
muten, daß  Österreichs  Absicht  so  weit  nicht  geht. 
Es  scheint  sich  um  Forderungen  zu  handeln,  die 
der  Gedankenreihe  des  Ultimatums  entsprechen. 

Die   Reichsregierung  hat  keinen   Zweifel  zuge- 
lassen,   daß    Deutschland    unerschütterlich    seiner 
alten    Bündnistreue    folgt.     Ohne    den    Schutz 
dieser    Treue     konnte    Österreich     seinen 
Schritt  nicht  wagen.    Deutschlands  Regie- 

1, 20  305 


rung  und  Volk  haben  den  Anspruch,  zu  wis- 
sen, welche  Wünsche  Rußland  ausspricht 
und  Österreich  ablehnt.  Eine  Frage,  wie 
etwa  die,  ob  österreichische  Kommissare 
bei  den  serbischen  Umtriebsermittlungen 
mitzuwirken  haben,  ist  keinAnlaß  für  einen 
Völkerkrieg.  Die  Politik  Metternichs,  in  allen 
erreichbaren  Staaten  Überwachungskommissionen 
unter  österreichischer  Führung  gegen  Umtriebs- 
gefahr  einzusetzen,  gehört  der  Vergangenheit  an 
und  kann  auch  in  der  Monarchie  nicht  mehr  beliebt 
werden. 

Verlangt  dagegen  Rußland  das  Arbitrium  über 
die  Entschlüsse  einer  Dreibundsmacht,  sich  bei  be- 
nachbarten Nationen  ihr  Recht  zu  holen,  so  ist  ein 
politisch  unerträglicher  Weltzustand  geschaffen, 
der  uns  das  Recht  und  die  Pflicht  gibt,  an  Öster- 
reichs Seite  für  ein  würdiges  Ziel  zu  fechten. 

Geschrieben  am  29.,  veröffentlicht  am  31.  Juli  1914. 


306 


INHALT 

ZUR  KRITIK  DER  ZEIT 7 

MAHNUNG  UND  WARNUNG 149 

1908  Über  Englands  gegenwärtige  Lage    .  .  151 

191 1  Politik,  Humor  und  Abrüstung  ....  171 
Staat  und  Judentum 183 

1912  England  und  wir 209 

Politische  Auslese 221 

19 13  Parlamentarismus 233 

Eumenidenopfer     251 

Deutsche  Gefahren 265 

1813 279 

1914  Zur  Lage 303 


Druck     der   Spamerschen    Buchdruckerei    in    Leipzig 


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