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Full text of "Gesammelte Schriften .."

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3c. 

WALTHER  RATHENAU 

GESAMMELTE  SCHRIFTEN 

IN  FÜNF  BANDEN 


Vierter  Band 

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A  19  18 

S.  FISCHER  .  VERLAG  •  BERLIN 


Alle  Rechte  vorbehalten,  besonders  das  der  überscttung. 
Copyright  S.  Fischer,  Verlag,  Berlin. 


AUFSÄTZE 


VON  SCHWACHHEIT,  FURCHT  UND  ZVJECK 


DIE  BEIDEN  WURZELN  DES  WOLLENS 

Wenn  man  die  Vielgestaltigkeit  menschlicher 
Naturen  und  Charaktere  betrachtet,  so 
zweifelt  man,  ob  es  möglich  ist,  eine  Ordnung 
zu  erkennen,  an  der  die  verworrene  Erscheinung  sich 
aufreiht,  oder  gar  ein  Grundgesetz  zu  finden,  aus 
dem  sie  sich  entwickelt. 

Und  doch  bekräftigt  das  Gefühl  und  verlangt  die 
Vernunft,  daß  eine  Gesetzmäßigkeit,  ja  eine  Polarität 
erkennbar  sei,  aus  deren  Gegensätzlichkeit  das  schein- 
bar Willkürliche  Sinn  erhalte;  gleichwie  aus  dem  mut- 
willigen Wirbel  der  Schneeflocken  doch  zuletzt  die 
erden wärts  gerichtete  Bewegung  als  das  Wesentliche 
hervortritt  und  jedes  widerspenstige  Element  zu 
seinem  Ziele  führt. 

Denn  uns  allen  ist  bewußt,  daß  gewisse  Gruppen 
scheinbar  unverwandter  Seelenqualitäten  stets  ver- 
schwistert  auftreten,  wie  bei  manchen  Tieren  weiße 
Haare  mit  roten  Augen,  während  andre,  scheinbar 
wesensgleiche  Eigenschaften  sich  nie  verbinden. 
Auch  die  äußere  Erscheinung  in  ihrem  fühlbaren 
Zusammenhang  mit  den  inneren  Attributen  weist 
auf  das  Vorhandensein  einer  Polarität;  alle  Menschen, 
die  bei  ausgesprochenen  eigenen  Gesetzen  eine 
starke  Empfindung  für  Individualität  besitzen,  sind 
imstande,  unmittelbar  zu  empfinden,  ob  eine  Persön- 
lichkeit, die  ihnen  neu  gegen  übertritt,  der  eigenen 

II 


Geistesgattung  oder  der  einen,  einheitlichen,  ihnen 
entgegengesetzten,  angehört. 

Die  alten  Kategorien  der  vier  Temperamente  oder 
der  sieben  planetaren  Influenzen  teilen  das  Gebiet, 
aber  sie  ordnen  es  nicht.  Ihre  Elemente  sind  es  nicht, 
aus  denen  die  Gesamtheit  der  menschlichen  Eigen- 
schaften in  klarer  Folge  sich  aufbaut.  Auch  die 
Werte  der  Energie,  der  Lebenskraft  und  der  Ge- 
schlechtlichkeit sind  es  nicht;  noch  weniger  die  der 
Begabung,  der  Züchtung,  der  Kultur,  der  Erzie- 
hung. Alle  diese  Kategorien  schaffen  willkürliche 
Gebietstrennungen,  wie  daraus  erhellt,  daß  entweder 
die  wichtigsten  Qualitäten  gleichzeitig  in  verschie- 
denen Begriffsprovinzen  auftreten,  oder  daß  dieselbe 
Provinz  widerstreitende  und  sich  ausschließende 
Qualitäten  beherbergt. 

Süll  die  endgültige  Trennung  geschehen,  so  muß 
der  Schnitt  tief  hinabdringen,  bis  auf  den  unbewuß- 
ten Untergrund  menschlicher  Stimmung,  bis  in 
jene  Schichten,  in  denen  menschliches  Wesen  auf  der 
Grundfeste  der  organischen  Schöpfung  ruht.  Hier 
ist  das  Wollen  und  Denken  noch  indifferenziert  ver- 
schmolzen, hier  schlummern  die  Keime  der  Persön- 
lichkeit und  Individualität  noch  unbefruchtet. 

Die  Bezeichnungen,  die  für  diese  Grundstim- 
mungen die  Sprache  herleiht,  sind  unzulänglich. 
Denn  was  wir  Mut  und  Furcht  zu  nennen  gewohnt 
sind,  das  kann  ein  bewußter  Affekt,  zuzeiten  gar  ein 
Ergebnis  des  Denkens  sein.  Nicht  diese  Bedeutung 
soll  hier  gezeichnet  werden,  sondern  vielmehr  die 
mutvoll  oder  furchthaft  gefärbte  Willensstrebung, 
die  Neigung  zum  Angriff,  zum  Hervorbrechen,  und 
die  Neigung  zur  Abwehr,  zur  Flucht.  Mit  andern 
Worten  die  gewaltige  Gegensätzlichkeit,  welche  die 

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gesamte  Schöpfung  durchquert,  die  den  Granit  gegen 
den  Ton,  den  Dornstrauch  gegen  die  Mimose,  das 
bewehrte  Tier  gegen  das  flüchtige  Tier  in  Kontrast 
setzt.  In  diesem  Sinne  sind  Mut  und  Furcht  die 
gegensätzlichen  Urelemente  der  menschlichen  Seelen- 
stimmung; unbeeinflußt  vom  Erlebnis,  unabhängig 
vom  Denken  und  Wollen,  vom  Glauben  und  Wissen. 
Die  Stimmungen  beherrschen  von  der  Geburt  bis 
zum  Tode  das  Leben  der  Menschen,  Völker  und 
Rassen;  und  könnte  sich  der  Geist  mit  Deutlichkeit 
in  frühere  tierische  oder  vegetative  Existenzen  ver- 
setzen, so  würde  er  die  gleiche  Polarität  des  Grund- 
empfindens in  diesen  einfacheren  Seelen  wiederer- 
kennen. 

Es  ist  das  Wesen  aller  Polaritäten,  daß  sie  nicht 
zum  Ruhepunkt  eines  absoluten,  äußersten  Begriffes 
führen,  sondern  Relativitäten,  Richtungsgrößen 
bleiben.  Wärme  und  Kälte,  Härte  und  Weichheit, 
positive  und  negative  Ladung  sind  relative  Begriffe; 
und  wenn  die  Polarität  der  Mut-  und  Furchtstim- 
mung auch  ihrerseits  nicht  absolute  Werte  erreicht, 
vielmehr  zwischen  einer  Höchst-  und  Mindestgrenze 
der  Erfahrung  eingeschlossen,  alle  Abstufungen  und 
Mischungen  einer  Skala  aufweist,  so  bleibt  sie  den- 
noch ein  Richtgesetz  —  und  zunächst  das  einzige  — 
dieses  Denkgebictes,  denn  unser  Denken  ist  polar, 
und  Erkennen  heißt  Polaritäten  aufdecken. 

DIE  KINDER  DER  FURCHT 

Mut  kommt  aus  Stärke,  Furcht  aus  Schwäche. 
Die  Wehr  des  Starken  ist  Kraft  und  Zuver- 
sicht, die  Wehr  des  Schwachen  ist  Furcht  und  Flucht. 
Die  Furcht  lehrt  ihn  Gefahren  verhüten,    indem 

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sie  seinen  Blick  vorschauend  in  die  Zukunft  richtet. 
Vorschauende  Furcht  ist  Sorge;  auf  Sorge  und  Hoff- 
nung gründet  sich  der  Aufbau  des  Geistes,  der  die 
Gegenwart  verläßt,  um  in  der  Zukunft  zu  leben. 
Da  nun  aber  der  Geist  seine  Stimmungen  und  Emp- 
findungen verwirklichen  muß,  um  sie  zu  begreifen 
und  zu  besitzen,  so  schafft  der  Sorgen-  und  Hoff- 
nungsvolle sich  Vorstellungen,  die  im  Künftigen 
liegen,  denen  er,  als  vermeintlichen  Ruhepunkten 
seines  Wollens,  mit  allen  Kräften  des  Denkens  zu- 
strebt. Diese  Vorstellungen  heißen  Zwecke,  und  so 
wird,  im  Stande  des  Denkens,  aus  dem  Furchtmen- 
schen der  Zweckmensch:  Schwachheit,  Furcht  und 
Zweck  ist  die  Stammtafel  seines  Geistes. 

Indem  nun  der  Zweckmensch  im  voraus  alle  Gefahr 
zu  erledigen  und  alle  Not  zu  beseitigen  strebt,  um 
sich  von  den  Qualen  der  Furcht  zu  befreien,  schafft 
er  sich  die  gegenwärtigste  Not  und  Gefahr.  In  der 
Hand  des  schützenden  Gottes  fühlte  er  sich  nicht 
sicher:  nun  ergreift  ihn  der  Dämon  und  treibt  ihn 
aus  der  sprießenden  Gegenwart  in  die  fruchtlose 
Zukunft,  die  mit  jedem  Schritt  ihm  abermals  die 
gleiche  unverstandene  und  verschmähte  Gegenwart 
entgegenträgt. 

ZWECK  UND  VERSTAND 

Blick  und  Sorge  ins  Künftige  gewandt,  wird  er 
sich  seiner  Verstandeskräfte  bewußt,  die  das 
Dunkel  zerteilen.  Er  sinnt  und  sorgt,  strebt  und  be- 
gehrt, forscht  und  grübelt.  So  schmiedet  er  sich  zu  der 
Wehr  der  Furcht  die  neue  Waffe  des  Verstandes. 

Noch  tritt  er  dem  Starken  nicht  gerüstet  entgegen, 
noch  muß  er  ducken,  wenn  jener  tobt,  sammeln, 

H 


wenn  jener  genießt.  Aber  er  lernt  lauern  und  spähen, 
warten  und  dulden,  schmeicheln,  lügen  und  ver- 
sprechen, arbeiten  und  schaffen,  handeln,  tauschen, 
verbünden  und  verfeinden.  So  wirbt  er  ein  Rüst- 
zeug, das  angesammelt,  vererbt  und  vermehrt  ihm, 
dem  Schwachen,  dereinst  das  Mittel  verleiht,  selbst 
zum  Angreifer  und  Eroberer  zu  werden,  obzwar 
nicht  im  offenen  Kampfe,  und  den  ihm  zum  Herrn 
gesetzten   Feind  zu  verdrängen  und  zu   vertilgen. 

DER  ZWECKMENSCH 

Der  Zweckmensch  ist  ein  Geschöpf  des  Leidens. 
Seufzend  beginnt  er  sein  Tagewerk,  denn  die 
neue  Sonne  leuchtet  Gefahren  und  Sorgen.  Der 
Peitschenhieb  des  Schreckens  ist  ihm  gewohnt;  was 
den  Starken  lachen  macht,  macht  ihn  beben.  Sein 
Herz  klopft  vor  unerbrochenen  Siegeln  und  ver- 
schlossenen Türen.  In  Ketten  der  Angst  geschmiedet 
kennt  er  nicht  die  Ruhe  der  Seele,  die  heiter,  frei 
und  selig  macht. 

Selbst  im  Genuß  gibt  er  sich  nicht  dahin.  Seine 
Stirn  entrunzelt  und  sein  Herz  entfaltet  sich  niemals 
ganz;  und  wenn  der  Mensch  des  Augenblickes  aus 
weiter  Brust  singt  und  jubelt,  so  ist  des  Zweck- 
menschen Antwort  ein  gequältes  Lachen. 

Er  kann  nicht  Feste  feiern.  Sein  Auge  erblickt 
das  Gespenst  des  Kommenden  an  der  Mitte  der 
Tafel  und  die  Gäste  scheinen  ihm  wahnsinnige 
Toren.  Er  genießt  im  Taumel,  in  der  Betäubung, 
schuldbewußt    und  reuevoll. 

Dem  Schmerz  frönt  er  unersättlich,  würdelos, 
mit  Wollust.  Denn  der  Schmerz  verlöscht  einen 
Teil  seiner  Angst;    mehr  noch:  er  gibt  ihm  recht. 

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Nur  wenn  hinter  dem  vorhandenen  Übel  das  größere 
hervorlugt,  krampft  er  sich  regungslos  zusammen  und 
verharrt  in  scheinbarer  Größe.  Dann  wird  er  als 
Märtyrer  erfunden  und  bisweilen  gepriesen. 

Das  Lachen,  dem  lebenskräftigen  Menschen  ein 
Naturlaut  der  Freude,  ist  dem  Klugen  eine  Reaktion 
auf  Witzempfindung.  Das  heißt:  auf  schnell  er- 
kannte Unstimmigkeit  in  der  Maske  der  Überein- 
stimmung; eine  halbe  Schadenfreude.  Für  das 
Verkehrte,  Törichte,  Schwache,  vor  allem  das  Un- 
zweckmäßige ist  sein  Blick  geschärft;  deshalb  ist 
er  ein  mißtrauischer  Pessimist,  ein  satirischer,  kri- 
tischer Zweifler.  Bewunderung  ist  ihm  ein  ver- 
haßtes Gefühl,  denn  ihn  erhebt  sie  nicht,  sondern 
wirft  ihn  zurück;  darum  zollt  er  sie  allenfalls  Ver- 
storbenen: am  liebsten  Gott. 

Gott  fürchtet  er  und  sucht  ihn  für  seine  Zwecke 
zu  gewinnen.  Hat  er  die  Furcht  Gottes  aber  über- 
wunden —  das  ist  ihm  Befreiung,  denn  die  Gottheit 
ahnend  zu  lieben,  ist  sein  Bedürfnis  nicht  — ,  so 
ist  Zynismus  seine  Rache  am  gestürzten  Idol. 

Wie  die  Dinge,  die  der  Zweckmensch  fürchtet, 
tatsächliche  und  greifbare  sind,  so  muß  sein  Geist 
sich  unablässig  mit  Tatsächlichkeiten  mühen.  Er  ist 
lernbegierig,  lüstern  nach  Wißbarem,  neugierig. 
Neben  den  Tatsachen  läßt  er  einfache  Zusammen- 
hänge gelten;  eine  mechanische  Klarheit  und  hand- 
greifliche Tlieorie  scheint  ihm  zweckdienlich.  Die 
Freude  am  Gedanken,  das  Denken  als  Selbstzweck  ist 
ihm  fremd.  Die  Welt  als  Schöpfung  frommt  ihm 
nicht.  Bewältigung  der  Erscheinung  durch  den  Geist 
ist  ilim  gespenstige  Spekulation.  Kein  Wunder; 
denn  alles  reine  Denken  nährt  sich  aus  Kräften  der 
Seele.    Phantasie,  Liebe  und  Begeisterung  müssen 

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auf  ihren  Schwingen  den  Geist  emportragen,  wenn 
er  über  der  Schleierwelt  des  Geschehens  ruhen  soll. 
Begeisterung  aber  ist  dem  Zweckmenschen  schlecht- 
hin eine  Torheit,  der  erspähenswerte  Schwachpunkt 
des  Gegners. 

Da  nun  alles  schöpferische  Denken  visionär  sein 
muß,  also  im  gemeinen  Sinn  unklar,  anfechtbar  und 
unplausibel,  so  sind  auch  seinem  Erfassen  Grenzen 
gesetzt.  Der  plausible  Gedanke,  die  überzeugende 
Trivialität,  der  erhärtete  Beweis  behagt  seinem  Geist, 
und  Kompliziertheit  und  Paradoxie  ersetzt  ihm  Tiefe 
und  Wahrheit. 

Wer  gesenkten  Blickes  und  voreingenommenen 
Geistes  über  die  Erde  zieht,  begreift  nicht,  daß  das 
bloße  Dasein  ein  Quell  der  Seligkeit  ist.  Er  kennt 
nicht  die  Freude  an  eigener  Kraft  und  Schönheit, 
noch  an  Kraft  und  Schönheit  der  Welt.  Hat  er  aber 
keine  Freude  in  sich  selbst,  so  muß  er  an  Freude 
spendende    Dinge    glauben    und    ihrer    begehren. 

So  lechzt  er  nach  dem,  was  ihm  Ersatz, der  Freude 
ist:  nach  Genüssen.  Ja,  mehr  noch,  seiner  ins  Künftige 
gerichteten  Sinnesart  gemäß,  nach  Anwartschaft 
und  Anrecht  auf  Genüsse.  Und  da  er  die  höchsten 
Freuden  ungekostet  verschmäht,  so  strebt  er, 
unbefriedigt  und  aufgeregt,  nach  den  seltenen. 
Die  Schuld  seiner  Organe  den  Dingen  aufbürdend, 
erhofft  er  vom  schwer  Erreichbaren,  was  seine  im 
Genuß  versagende  Natur  ihm  verwehrt.  Das 
fremdartige  Land,  die  seltene  Speise,  der  künstliche 
Duft,  die  verwegene  Kunst,  das  verfeinerte  Weib  ist 
sein  Traum  und  Begehr.  Und  indem  er  bei  jedem 
neu  Errungenen  knirschend  gesteht,  daß  dies  auch 
nichts  ist,  bleibt  er  ein  Opfer  des  Dämons,  der  ihn 
dem  Luftbild  entgegen  in  die  Wüste  treibt. 


IV,   3 


17 


Der  Kraftlose  beneidet  den  Starken  um  seine  Ge- 
walt. In  dem  Bewußtsein,  daß  er  aus  eigenem  Wesen 
Gewalt  nicht  üben  kann,  trachtet  er,  Kraft  durch 
Macht  zu  ersetzen.  Aus  Sklaverei  erstanden,  will  er 
Sklaven  befehlen,  von  Furcht  gepeinigt,  will  er 
Furcht  erwecken.  Das  Schwert,  das  sein  Arm  nicht 
heben  kann,  sollen  Stärkere,  Zahlreichere,  Zahllose, 
durch  Klugheit,  List,  Vertrag  und  Recht  Gefesselte 
für  ihn  schwingen.  Nicht  die  Freude  am  Schaffen 
und  Walten  beseelt  ihn;  unpersönliche  Macht  sagt 
ihm  nichts.  Denn  das  innere  verantwortungsvolle 
Wesen  des  Herrschens  bleibt  ihm  fremd;  die  äußere 
Gebärde,  Wink  und  Kniefall  ist  ihm  alles.  Und 
schließlich  begnügt  er  sich  mit  dem  Schein  der 
Macht,  sofern  noch  dieser  Furcht  oder  Neid  er- 
wecken kann. 

Aber  befangen  in  unablässigem  Ermessen  und  Er- 
wägen seiner  Kräfte  und  seines  Wesens,  ist  er  im 
Besitz  dem  Zweifel,  in  der  Macht  der  Verzagnis 
hingegeben.  Er  braucht  unablässig  Trost  und  Ge- 
wißheit ;  und  die  er  in  dem  erschöpften  Schrein  seiner 
Brust  nicht  findet,  heischt  er  vom  Nächsten.  Das 
Urteil  andrer  ist  ihm  wichtig.  Er  ist  sich  selber  nur, 
was  er  andern  scheint.  Er  begehrt,  fordert  und  bettelt 
Anerkennung.  Und  die  ist  ihm  die  liebste,  die, 
gleichviel,  ob  in  pergamentner  oder  metallischer 
Fassung,  dauernd  und  weithin  sichtbar  ein  für  alle 
Male   quittiert   und   der   Nachprüfung   enthebt. 

So  ist  das,  was  Menschen  Eitelkeit  und  Anmaßung 
zu  nennen  pflegen,  der  Bescheidenheiten  tiefste, 
denn  sie  ist  wahrhafte  Unterwürfigkeit.  Der  Eitle 
spricht  zur  Welt :  Ihr  seid  meine  Richter  und  Gebieter. 
Erst  wenn  Ihr  mich  anerkennt,  bin  ich  mir  selbst 
ein  Mensch;  deshalb  flehe  ich  Euch  an  (am  liebsten 


zwänge  ich  Euch) :  lobt  mich,  bewundert  mich,  redet 
von  mir,  damit  ich  Euch  glaube,  was  ich  mir  selbst 
bezweifle.  Und  so  v\ird  er  den  Menschen  zum  Ekel. 
Denn  er  verlangt  beides  von  ihnen,  das  sie  niemals 
zugleich  geben:  Bewunderung  und  Knechtsdienst. 
Er  wall  sie  betrügen,  daß  sie  erst  zu  ihm  aufblicken 
und  dann  von  ihm  getreten  werden.  Er  bedarf 
ihrer,  damit  sie  ihm  Lebenskraft  schenken,  und  will 
sie  doch  verachten  dürfen.  Deshalb  ist  er  als  Herr 
unmöglich. 

Also  steht  dem  Furchthaften  der  Sinn  nach 
Dreierlei :  nach  Genüssen,  IVIacht  und  Anerkennung. 
Daß  Reichtum  seine  Sache  ist,  mag  man  ermessen. 

Einige  Striche  mögen  das  Bild  ergänzen  und  den 
Zügen  des  neueren  Menschen  angleichen. 

Kein  Tiefgang.  Wer  fürchtet,  muß  Opportu- 
nist sein  können,  denn  neue  Gefahren  fordern  neue 
Abwehren.  Innige  und  w^ahrhaftige  Überzeugung, 
die  dem  starken  Menschen  aus  der  Liebe  zur  Sache 
quillt,  ist  hier  Beschwernis;  auch  Hebt  der  Zweck- 
mensch die  Sache  nicht ;  sie  ist  ihm  ein  gleichgültiges 
Werkzeug.  Wer  aber  nicht  überzeugt  ist,  der  kann 
nicht  überzeugen,  und  wer  nicht  die  blasse  und 
Schwere  der  Persönlichkeit  in  sich  trägt,  der  kann 
die  Trägheit  der  Geister  nicht  überwinden.  Da  nun 
dem  Zielbewußten  alles  daran  liegt,  auf  andre  zu 
wirken,  so  wird  er  schwatzhaft,  eindringlich  und  auf- 
dringlich. Er  ist  Erfinder  der  Superlative  und  Hy- 
perbeln. Denn  nach  Sklavenart  ist  er  gewohnt  und 
einverstanden,  daß  ihm  ungern  und  nur  zur  Hälfte 
geglaubt  wird. 

Menschensucht.  Einsamkeit  nährt  Furcht. 
Deshalb  flüchtet  er  unter  Menschen,  zumal  seines- 
gleichen, die  ihm  zu  allerlei  dienen.    Sie  betäuben 

a'  19 


durch  Geschwätz,  füttern  seine  Neugier,  lassen  sich 
Wirkung  gefallen  und  gewähren  den  Trost  gleicher 
Artung  und  Interessen.  So  groß  ist  bei  einzelnen 
die  Menschensucht,  daß  sie  kaum  ihren  Nächsten 
erblicken,  ohne  seiner  im  Geist  zu  begehren.  Sie 
wollen  wissen,  wer  er  ist  und  was  er  treibt ;  sie  wollen 
einen  Eindruck  irgendwelcher  Art  auf  ihn  machen, 
ihm  gefallen,  imponieren  oder  auffallen  und,  wenn 
alles  versagt,  wenigstens  in  ihrer  Art  ihn  dadurch 
überwinden  und  besitzen,   daß  sie  ihn  kritisieren. 

Das  Gespräch  der  Menschensüchtigen  ist  nicht 
Mitteilung,  sondern  Kampf,  aus  dem  sie  gestärkt 
hervorgehen,  wenn  sie  den  Gegner  durch  Kenntnis, 
Argumente  oder  Übertreibung  zum  Nachgeben  ge- 
zwungen haben. 

Natürlich  bilden  im  Auge  des  Zielbewußten  die 
Menschen  dieser  Zeit  eine  Staffel  des  Wertes  und 
der  Vorzüglichkeit.  So  versucht  er,  mit  gierigem 
Arm  von  Sprosse  zu  Sprosse  zu  klettern,  und  vergißt, 
daß  den  Oberen  seine  Gegenwart  verhaßt,  den 
Zurückgebliebenen  seine  Unteransicht  lächerlich  ist. 

Denkweise.  Seinen  Gedanken  ist  er  selbst  der 
einzige  Mittelpunkt.  Wie  an  einen  elastischen  Faden 
geheftet,  schnellt  jede  seiner  Vorstellungen  auf  das 
eigene  Ich  zurück.  Seine  Gedanken  machen  Aus- 
flüge, keine  Forschungsfahrten;  deshalb  kommen 
ihre  Läufe  über  einfache  Bewegungsformen  und  kleine 
Entfernungen  nicht  hinaus.  In  der  unmittelbaren 
Denknähe  seines  Ich  freilich  kennt  er  Weg  und  Steg; 
deshalb  ist  er  Meister  der  Begründungen,  Ausflüchte 
und  dialektischen  Künste. 

„Wie  stehe  ich  zu  dieser  Sache  und  Tatsache  ? 
Was  kann  ich  damit  anfangen?  Was  ist  sie  wert?" 
Dies  sind  die  Denkformen  seiner  egozentrischen  Auf- 

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fassung,  die  sich  unablässig  in  Bewertungen  und  Kri- 
tiken äußert. 

Selbst  wenn  der  Geist,  mit  lockerem  Zügel  sich 
selbst  überlassen,  seine  Straße  wählen  darf,  träumt  der 
Zweckhafte  höchst  persönliche  und  praktische  Dinge: 
„Gesetzt,  dies  und  das  passiert :  was  werde  ich  ant- 
worten ?  Wie  werde  ich  mich  benehmen  ?  Wie  werde 
ich  wirken?"  Und  so  wird  er  zum  Schauspieler 
seiner  selbst. 

Kein  Wunder,  daß  er  bald  jede  instinktive  Regung 
seiner  Seele  kennt  wie  den  Mechanismus  einer  Uhr 
und  mit  indiskretem  Vergnügen  sich  selbst  über  die 
Schulter  blicken  lernt.  Dieser  Kunst,  auf  der  ein 
gut  Teil  Wirkung  unsrer  heutigen  Literatur  beruht, 
verdankt  er  den  unbegreiflich  intimen  EinblicLin  die 
Seelen  der  andern  und  ihre  zartesten  Äußerungen. 
Freilich  vernichtet  solche  Unzucht  des  Geistes  die 
letzten  Spuren  unbefangener  Naivität;  und  so  steht 
der  Zweckmensch  ratlos  vor  den  momentanen,  kraft- 
vollen Entschließungen  des  Starken,  die,  wie  von 
einem  Gotte  diktiert,  unantastbar  wie  die  Wahrheit 
selbst  hervorbrechen,  ohne  daß  es  des  Denkens 
bedarf.  Denn  nur  der  reine,  selbstvertrauende  In- 
stinkt ist  solcher  Sicherheit  des  Anspruches,  der! 
Abwehr  und  des  Urteiles  fähig,  die  unbeirrbar  ist 
durch  geschwätzige  Rabulistik. 

Schadenfreude  und  Mitleid.  Gleichheit  aller 
Menschen  ist  der  Wunsch  des  Geängsteten.  Glück, 
Verdienst  und  Größe  der  andern  bedrückt  ihn ;  deshalb 
sieht  er  sie  gern  auf  die  eigene  Ebene  herabsinken. 
Aber  wie  die  Höhen,  so  sind  ihm  die  Tiefen  zuwider; 
er  will  keine  Unglücklichen;  denn  sie  sind  ein  böses 
Beispiel  und  eine  schlimme  Vorbedeutung.  Er  ist 
schadenfroh  und  mitleidig  zugleicli.    Mitleid  aber 

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ist  eine  Abart  der  Furcht,  Gattungsfurcht.  Die  Grie- 
chen kannten  diese  Einheit;  und  zu  der  Zeit,  da  ihre 
Kultur  blühte,  hatten  sie  die  Gewohnheit,  sich  durch 
Kunstübungen  „von  solchen  Leidenschaften"  zu 
entlasten. 

Naturempfinden.  Nur  dem  Wunschlosen  läßt 
die  Natur  ihr  Antlitz  leuchten.  Den  König  beschenkt 
sie,  nicht  den  Bettler.  Dem  Zweckmenschen  ist  die 
Ehrfurcht  vor  der  Gesetzmäßigkeit  des  Organischen 
fremd.  Das  Geheimnis  des  keimenden  Blattes,  die 
Schönheit  des  Tieres,  das  Gefieder  der  Wolken,  die 
Glorie  des  Lichtes  ist  ihm  eitel.  Er  verlangt  von  der 
Wiese  Sträuße  und  von  der  See  Schätze;  von  fremden 
Städten  Seltenheiten,  die  man  in  Taschen  und  Säcken 
fortträgt.  Er  will,  was  er  Sehenswürdigkeiten  und 
Merkwürdigkeiten  nennt ;  Ungewöhnliches  und  Über- 
triebenes, das  sich  besitzen  und  verwerten  läßt; 
das  Gewohnte  ist  ihm  nicht  würdig,  gesehen  und  ge- 
merkt zu  werden.  Ihm  ist  Natur  nur  dann  Erlebnis, 
wenn  sie  ihn  bereichert.  Selbst  auf  friedlichen  und 
beschaulichen  Gängen  und  Wegen  plagt  ihn  das 
Zweckbewußtsein,  so  daß  er  seinem  Fuß  willkürliche 
Schrittgesetze  vorschreibt  und  gleichgültige  Dinge 
bald  aus  abergläubischem,  bald  aus  neugierigem 
Zielinstinkt  abzählt  oder  sonst  zu  bändigen  sucht. 

Sklaverei.  Alle  Sklaverei  ist  freiwillig.  Denn  ihr 
Wesen  besteht  nicht  in  der  Macht  des  Unterdrückers 
noch  in  irgendeiner  Not,  die  unabwendbar  wäre,  wie 
Krankheit,  Greiseiitum,  Tod,  sondern  in  dem  stets 
erneuten  willfährigen  Gehorsam  des  Unterdrückten, 
der  aus  Furcht  geleistet  wird.  Aus  Furcht  vor  an- 
scheinend Schlimmerem,  vor  Leiden,  die  doch  fast 
immer  nur  Leiden  des  Leibes  und  Lebens  sein  können. 

Deshalb    ist    Sklaverei   nur   möghch,    wo    Furcht 

22 


herrscht;  sie  ist  die  eigenste  Not  des  Furchtmenschen 
und  deshalb  als  Ausübung  seine  eigenste  Begierde. 
Der  Furchtlose  übt  weder  noch  duldet  Sklaverei. 
„Lieber  tot  als  Sklav"  ist  der  Wahlspruch  starker 
Menschen. 

Freilich  kennen  auch  Starke  die  Abhängigkeit, 
die  aber  nicht  Knechtschaft  der  Furcht,  sondern 
Gefolgschaft  der  Treue  ist.  Hier  führt  Achtung  und 
Neigung,  Überzeugung  und  Pflicht  zu  einem  edlen 
Verhältnis,  das  nicht  einseitige  Rechte  gestattet. 
So  entsteht  als  vornehmste  Form  des  Menschendien- 
stes die  Königstreue  germanischer  V^ölker,  die  im 
Gegensatze  zur  Proskynese  des  Orients  auf  freier 
und  selbstbewußter  Schätzung  eigener  und  fremder 
Kraft  beruht. 

Die  beiden  Kardinaltugenden.  Die  Tugend 
der  Zweckbehafteten  ist  Barmherzigkeit;  die  Tugend 
der  Zweckbefreiten  ist  Mut,  dessen  Spiegelbild  Ehre 
heißt. 

Daß  die  Werturteile  der  Zweckfreien  —  Mut  als 
Tugend ;  Furcht  und  ihr  Gefolge  von  Lug,  Heimlich- 
keit und  Arglist  als  Laster  —  noch  heute  das  Funda- 
ment des  tatsächlichen  westeuropäischen  Sitten- 
empfindens bedeuten,  und  daß  an  dieser  Schätzung 
die  Einführung  christlicher  Lehren  nichts  Wesent- 
liches geändert  hat,  ist  an  andrer  Stelle  ausführlicher 
erörtert. 

Zwar  ist  die  Barmherzigkeit  der  Schwachen  so 
sehr  mit  Unlust  gepaart  und  von  wahrer  Güte  des 
Herzens  verschieden,  daß  man  sie  nur  eine  Tugend 
wider  Willen  nennen  kann.  Dennoch  war  ihre 
Erfindung  und  Einführung  in  alle  Gebiete  des  Lebens 
eine  gewaltige  Sendung,  gewaltiger  noch  als  die 
Erfindung  der  Kunst,  wovon  später  die  Rede  sein 

23 


soll.  Ja,  vielleicht  bedeutet  diese  Sendung  die  Recht- 
fertigung der  Schwachen  in  der  sittlichen  Ökonomie 
der  Welt. 

DAS  KAINSZEICHEN 

Die  Dichter  haben  Kain  zu  rechtfertigen  gesucht, 
gleich  als  habe  der  stolzere  Bruder  den  behäbigen 
Gottesknecht  in  edler  Empörung  erschlagen.  Mit 
Unrecht;  Kain  war  vor  der  Tat  ein  Neidhart,  nach 
der  Tat  ein  Lügner;  sein  Verbrechen  war  vorbe- 
dachte Tücke;  er  war  ein  Meuchelmörder.  Deshalb 
strafte  ihn  Gott  mit  dem,  was  ihn  sündigen  machte: 
mit  dem  Fluche  der  Furcht.  „Unstet  und  flüchtig 
sollst  du  sein  auf  Erden." 

So  ward  er  der  Stammvater  der  von  Furcht  Ge- 
quälten, und  bis  auf  den  heutigen  Tag  tragen  seine 
Kinder  den  Stempel,  den  der  Gott  ihm  auf  die  Stirn 
brannte.  Das  Kainszeichen  ist  das  Zeichen  der  Furcht. 
Die  Schrift  weiß  über  dies  Zeichen  nichts,  und  die 
Schriftgelehrten  schweigen.  Wer  aber  die  Schrift- 
züge des  Menschlichen  Antlitzes  zu  lesen  versteht, 
dem  flammt  das  Mal  entgegen;  er  kann  es  deuten 
und  beschreiben. 

Was  ist  dies  Zeichen  ?  Nicht  auf  der  Stirn,  sondern 
dicht  unter  ihrem  Aufstieg  ist  es  zu  suchen.  Mit 
seinem  Finger  berührte  Gott  die  Stelle  zwischen  den 
beiden  Augen  und  drückte  sie  nieder.  So,  daß  die 
Nase  nicht  mehr,  in  kühnem  Bogen  der  Stirn  ent- 
springend, die  Augen  trennte,  sondern  wehmütig 
hangend  ihre  Wurzel  tief  in  der  Verbindungslinie 
der  beiden  Augenwinkel  befestigte.  Aus  dem  Nasen- 
ansatz des  Löwen,  der  breit  und  wuchtig  aus  der 
Stirn  hervorquillt,  wurde  die  spitze,  dünne  Nasen- 
mündung des  Affen,  die  ängstlich,  weit  hinter  der 

24 


Stirnfläche  aus  der  Nachbarschaft  der  Tränendrüsen 
herabläuft. 

Die  Künstler  haben  dies  längst  gewußt.  Michel- 
angelos Brutus  und  alle  Köpfe  der  Heroen  tragen  die 
Züge  derLövvenstirn,alleFratzcn und  Masken  gemeiner 
Menschennatur  den  Stempel  der  Affen  und  Neger. 

Ist  dieses  wahr:  daß  ein  sichtbar  physiognomisches 
Zeichen  den  Furcht-  und  Zvveckmenschen  vom 
Furcht-  und  Zweckfreien  scheidet,  so  müssen  sich 
zahllose  Fragen  von  Abstammung  und  Zusammenge- 
hörigkeit lösen,  muß  manches  Rätsel  von  verflos- 
senen Völkern  sich  offenbaren. 

Hier  sei  nur  eine  —  jüngst  erneute  — Streitfrage, 
die  nach  dem  wahren  Wesen  der  Griechen,  von  unge- 
fähr gestreift.  Ihren  Göttern  und  Heroen  geben 
die  hellenischen  Künstler  die  reinen  Züge  mut- 
vollen Adels.  Auch  die  älteren,  idealisierten  Men- 
schenbildnisse weisen  die  götterähnliche  Form.  Als 
aber  in  späterer  Zeit  man  häufiger  vom  Künstler  die 
landläufige  Ähnlichkeit  des  Bildnisses  verlangte,  da 
begannen  die  naturalistischsten  Abbildungen  das 
Kainszeichen  zu  verraten,  so  daß  es  scheinen  möchte, 
als  habe  das  Volk  der  Griechen  in  seiner  Mehrzahl 
den  Charakter  des   Furchtmenschen  getragen. 

Woher  stammten  nun  die  Götterzüge  ?  Waren  sie 
eine  Erinnerung  an  ein  entschwundenes,  durch 
Mischung  aufgezehrtes  Volk  von  olympischer  Bildung  ? 

Ein  Weiteres.  Satyre  und  ihre  Sippe  von  Wald- 
und  Flurwesen  wurden  von  jeher  als  Stirngezeich- 
nete gebildet.  Was  bedeutet  dies?  Sollte  neben 
jenem  göttlichen  Stamm  ein  alter  tierisch  gearteter 
von  Furchtmenschen  Berg  und  Dickicht  bevölkert 
haben  ?  Und  waren  diese  Satyrmenschen  wirklich 
die  Erfinder  der  Pansflöte  und  musikalischer  Kunst  ? 


Liebten  sie  Tänze  bei  Abendschein,  wie  die  nordi- 
schen Zwerge,  und  waren  sie  die  ersten,  die  sich  an 
„tragischen"  Spielen  erfreuten  ?  War  Marsyas 
Apolls  Rival  ?    Oder  gar  sein  Lehrer  ? 

Es  ist,  als  habe  die  ahnende  Weisheit  des  Volkes 
das  physiognomische  Gesetz,  von  dem  wir  handeln, 
längst  empfunden.  Man  spricht  im  Deutschen  von 
„hochnäsigen"  Menschen;  und  die  Meinung  ist, 
daß  dies  sonderliche  Wort  solche  bezeichnet,  die  den 
Kopf  hochmütig  zurückgelehnt  und  somit  die  Nase 
als  höchste  Bekrönung  tragen.  Dagegen  scheint,  daß 
der  Volksmund  von  den  hochhinaufreichenden  Nasen 
der  Furchtlosen  spricht,  und  in  diesem  Sinne  sei  das 
Wort  gedeutet. 

Den  alten  Adelsgeschlechtern  des  Abendlandes  ist 
die  hochnäsige  Gesichtsbildung  eigentümlich ;  bei  den 
unterworfenen,  dienenden  und  arbeitenden  Stäm- 
men findet  sie  sich  selten.  Noch  seltener  vielleicht 
bei  den  Völkern  des  Ostens  und  Südens,  bei  Gelben 
und  Schwarzen.  Sollen  Rassenhypothesen  ausge- 
sprochen werden,  so  muß  man  an  einen  nordischen 
Stamm  denken,  der,  durch  epochale  Verhältnisse 
zum  Hauptträger  dieser  Bildung  gezüchtet,  sein  Ab- 
zeichen auf  einige  von  ihm  befruchtete  Menschen- 
arten vererbt  hätte.  Und  so  wäre  man  wieder  bei 
jenem  wunder-  und  geheimnisvollen  Urvolk  des 
Nordens  angelangt,  dessen  blonde  Häupter  wir  so 
gern  mit  aller  Herrlichkeit  des  Menschentums  krönen. 

ENTSTEHUNG  DER  KUNST 

Der  sorgenvoll  Voreingenommene  findet  die  Welt 
arm.  Wer  im  Geist  den  morgigen  Tag  durchlebt 
und  durchforscht,  dem  geht  die  heutige  Sonne  nicht 

26 


auf  und  nicht  unter.    Natur  öffnet  ihre  Arme  nur 
dem  Selbstvergessenen. 

Nicht  immer  liegen  die  Schönheiten  der  Welt 
zutage,  und  die  sinnfälligen  sind  nicht  die  edlen. 
Dem  flüchtigen  Auge  sind  die  Regenwolken  nur 
graue  Fetzen,  die  Hügelketten  ein  ödes  Gewelle 
und  die  Bäume  des  Waldes  ein  grünes  Einerlei 
Die  unendlichen  Gesetzmäßigkeiten,  die  von  dem 
Geäder  des  Blütenblattes  bis  zu  den  granitenen 
Rippen  des  Felsenleibes  alles  Geschaffene  durch- 
quellen und  zur  Schönheit  beleben,  offenbaren  sich 
nur  der  willenlos  empfangenden  Seele. 

Und  doch  dürstet  die  Seele  des  gefangenen  Men- 
schen heißer  als  andre  nach  Genüssen  der  fühlbaren 
Welt ;  und  mehr  noch  als  die  Seele  dürsten  die  Sinne. 
So  bedarf  er,  der  den  reinen  Hauch  und  Duft  der 
Dinge  nicht  spürt,  der  starken,  sinnfälligen  Reize,  der 
Surrogate  und  Extrakte. 

Er  beginnt,  künstlich  zu  verschönen,  zu  schmücken, 
seinen  Leib,  sein  Haar,  sein  Gerät.  Das,  was  die 
Natur  scheinbar  nicht  hat  und  kann,  wie  etwa  gleich- 
mäßige, lebhafte  und  unvergängliche  Färbung,  ge- 
rade Linie,  vollkommene  Symmetrie,  reinen  Ton 
und  Klang,  begehrt  er  festzuhalten,  dauerhaft  zu 
machen  und  zu  besitzen.  Er  will  über  die  Natur  hin- 
aus, will  reicher  sein  als  sie  und  diesen  Reichtum 
sichern,  so  daß  er  nicht  hinwegschmelzen,  verblühen, 
verwehen  kann,  wie  die  reinen  Gaben  des  Himmels 
und  der  Erde. 

Ein  Schritt :  und  er  bemächtigt  sich  der  einfachen, 
leicht  faßbaren  Gesetzmäßigkeiten.  Die  Umrißlinie 
eines  Tieres,  der  Aufbau  eines  Baumes,  eine  har- 
monische Tonfolge,  ein  Rhythmus  wird  sein  Eigen- 
tum.   Er  schreitet  fort  von  uranfänglichen  Gesetz- 

27 


mäßigkeiten  zu  den  schwierigeren  des  körperlichen 
Aufbaus,  des  Gleichgewichtes,  der  Bewegung,  des 
Ausdruckes;  ein  Geheimnis  nach  dem  andern  wird 
sein  eigen,  —  und  es  entsteht  die  Kunst. 

Dem  Sorgenfreien,  Unbefangenen  ist  alles  dies 
eine  Torheit.  Was  sollen  ihm  Spielzeuge  ?  Die  Natur 
ist  in  ihrer  Unbeständigkeit  reicher  und  in  ihrer 
Ungleichmäßigkeit  prächtiger  als  aller  Tand.  Der 
vierfach  machtvolle  Schritt  des  Jahres  und  sein  hei- 
liges Sinnbild  von  Blüte  und  Reife,  Tod  und  Wieder- 
geburt ergreift  seinen  Sinn  tiefer  als  leblose  Blumen, 
Tiere  und  Menschen  aus  Stein  und  Erde.  Eine 
Behausung,  und  wäre  sie  mit  den  Goldblechen  Salo- 
monis  bekleidet,  bedeutet  einen  armseligen  Flecken 
am  Ufer  und  Waldrand.  Wenn  die  Natur  ihre  Stim- 
me erhebt,  so  verstummen  alle  Gebilde  zu  Götzen. 
Das  Ohr  des  Starken  vernimmt  ihre  brausende 
Sprache:  denn  all  seine  vielen  müßigen  Stunden 
sind  Lauschen,  Betrachten,  Empfinden  und  Erinnern. 
Gibt  es  nicht  heute  noch  Menschen,  denen  man 
vergeblich  klar  zu  machen  versucht,  daß  sie  einer 
farbigen  Kruste  an  den  Wänden  eines  Gemaches 
oder  auf  den  Maschen  einer  Leinwand  die  gleiche 
Andacht  schulden  wie  einem  blühenden  Baum,  und 
daß  ein  geformtes  Metallblech  oder  ein  geschnitztes 
Holz  köstlicher  ist  als  ein  Felsblock  oder  ein  Zweig  ? 

Wenn  vor  alten  Zeiten  ein  Seefahrer  zu  seinen 
friesischen  Küsten  heimkehrte  und  den  Frauen  einen 
italischen  Glaskrug  wies,  die  zerbrechliche  Ware  mit 
harten  Händen  behutsam  fassend,  so  erregte  er 
Staunen,  aber  keine  Sehnsucht.  Der  Dichter  der 
griechischen  Ilias  erwärmte  sich  an  der  Pracht  gött- 
lichen Waffengerätes;  vom  Schatz  der  Nibelungen 
aber  wissen  wir  nicht,  wie  er  aussah;  niemand  hat  es 

28 


der  Mühe  für  wert  gefunden,  davon  zu  sprechen. 
Wir  wissen  nur,  daß  nicht  Götter,  sondern  unter- 
irdische Furchtwesen  ihn  schufen;  Götter  gaben  ihn 
preis;  im  übrigen  war  sein  Wert  Zauberei  und  sein 
Besitz  Verderben. 

Tote  Helden  und  ihre  Ehren  lebendig  zu  erhalten 
und  geheime  Mächte  durch  Bild,  Wort  und  Klang  zu 
bannen:  damit  war  für  das  Kunstbedürfnis  der 
Starken  genug  geschehen;  und  was  in  ihren  Sagen 
und  Liedern  uns  heute  Kunstgenuß  schafft,  der  Ein- 
klang des  klaren  Wortes  und  des  lauteren  Gedankens : 
Das  war  ehedem  nicht  Kunst  im  Sinn  unsrer  Zeit; 
so  wenig  wie  heute  das  Ebenmaß  der  Rede  des  ge- 
meinen Mannes,  das  unsrer  Schriftsprache  nicht 
gelingen  will. 

Für  sich  allein  hätten  die  Starken  niemals  begehrt 
und  vermocht,  der  Welt  das  Spiel  der  Kunst  zu 
schenken.  Für  die  Entwicklung  der  Kunst  zum  Stolz 
der  Menschheit  aber  geschah  Gewaltiges,  wenn  eine 
Sturzwelle  freigesinnter  Stämme  über  die  Dämme 
eines  Zweckvolkes  hereinbrach  und  das  ruhende 
Gewässer  aufwühlte.  Dann  erblühte  der  Kunst  ein 
Frühling  und  dem  Stil  eine  Epoche. 

Nicht  durch  Kritik,  sondern  durch  Herrschgewalt 
zwang  das  frische  Blut  die  alte  Zunft,  gewohnte 
Formen  zu  zerbrechen,  ererbte  Fertigkeiten  in  die 
Bahnen  seines  Willens  zu  lenken.  Sein  Wille  aber 
war:  Natur,  Gleichmaß  und  Adel.  Und  der  neue 
Wille  schuf  neue  Meister;  Adelsherrschaft  war  das 
Staatswesen,   und   Adelsdienst   war   die    Kunst. 

Dann  aber,  wenn  das  zähe  alte  Geblüt  das  hellere 
und  jüngere  aufzuzehren  begann,  wenn  Mischung 
den  Fluß  beruhigt  und  die  frühere  Färbung  empor- 
gekehrt hatte,  dann  floß  auch  Kunst  in  altem  Laufe 

29 


bergab,  abgelenkt  zwar,  aber  von  neuem  dem  Gesetz 
und  Wesen  des  Zweckmenschen  folgend. 

Welcher  Art  ist  nun  das  Ziel  und  Gleichgewicht, 
dem  das  Empfinden  dieser  Menschen  immer  wieder 
zustrebt?  Es  ist  die  Kunst  der  Sinne  und  der  Sen- 
sation. Denn  wie  sie  auch,  benommen  und  befangen, 
die  beseelte  Architektonik  und  Organik  der  Erschei- 
nung, den  Kosmos  nie  erfassen  und  begreifen:  ihre 
Sinne  sind  nicht  stumpf  und  ihre  Leidenschaften 
nicht  tot. 

Drei  Elemente  kennzeichnen  die  Kunst  der  Schwa- 
chen. Zum  ersten:  Das,  was  die  Sinne  liebkost  und 
berauscht ;  Zauber  des  Klanges  und  der  Farbe,  Pracht 
und  Dekoration.  Dann,  was  die  Leidenschaften 
der  Furchthaften  aufbäumen  macht  —  die  sind 
Furcht,  Mitleid,  Grauen,  Zorn,  Ekstase  — :  das 
Sensationelle.  Zum  dritten,  was  den  Verstand 
reizt,  kitzelt  und  betreten  macht:  Kontraste,  zuge- 
spitzte Charakteristik,  Witz  und  Esprit. 

Vor  der  Form,  dem  Ausdruck  innerer  organischer 
Gesetze,  hat  diese  Kunst  keinen  Respekt.  Innigkeit, 
Gemüt  und  Frömmigkeit  des  Herzens  kennt  sie 
nicht.  Größe,  Einfachheit,  Ebenmaß  läßt  sie 
kalt. 

So  bedarf  es  weniger  Worte,  um  an  den  Weg  zu 
erinnern,  den,  sich  selbst  überlassen,  Zweckmenschen- 
kunst durchlaufen  mußte. 

Beginnend  von  majestätischer  Vision  und  heiliger 
Andacht,  gelangte  Malerei  zur  Darstellung  bedeu- 
tungsvoller, dann  schöner,  dann  dekorativer  Dinge 
und  Vorgänge.  Immer  mehr  befreite  sie  sich  von 
außersinnlichem  Inhalt,  und  immer  entschiedener 
erklärte  sie  das  vom  Geist  unbehindertere  Auge  zum 
einigen   Richter   und   Herren   ihrer  Kunst,   so  daß 

30 


sie  zuletzt  in  der  Anordnung  der  Flächen,  im  Schät- 
zen der  Helligkeiten,  im  Ausgleich  der  Farben,  im 
Aufspüren  des  materiell  Charakteristischen  und  der 
unzähligen  Minimalwirkungen,  die  halb  unbewußt 
auf  das  Gesicht  als  Stimmung  wirken,  die  höchste 
sinnliche  Gewalt  erlangte. 

Die  Dichtung  begann  mit  Göttern  und  Heroen. 
Anbetung  und  Verherrlichung  tönte  von  ihren 
Saiten.  Die  sich  einst  rühmte,  die  ethischste  aller 
Künste  zu  sein,  sie  hat  sich  bis  zum  heutigen  Tage 
aller  außersinnlichen  Zutat  so  völlig  entkleidet,  daß 
greifbarste  Darstellung  der  umgebenden  Welt  und 
flüchtigste  Auflösung  der  Reize  und  Empfindungen 
nun  ihre  meisterliche  Fertigkeit  geworden  ist.  Selbst 
die  Tragödie,  ehemals  die  Schule  der  Schuld,  Sühne 
und  Erlösung,  lernt  auf  die  transzendenten  Trieb- 
werke verzichten.  Von  den  jüngeren  Meistern 
dieser  Kunst  sind  Werke  ausgegangen,  deren  Kraft, 
unabhängig  von  aller  Ethik,  im  naturgeschichtlichen 
Vorgang  sozusagen  und  in  der  bloßen  Tragik  der 
Situation  zu  ruhen  scheint,  so  daß  diese  Dramen  mehr 
eine  Reihe  tragischer  Bilder  denn  Tragödien  im 
früheren  Sinn  genannt  werden  müssen. 

Von  den  Künsten  der  Musik  und  Architektur  sei 
hier  nur  im  Vorübergehen  Erwähnung.  Die  eine 
hat,  gleichen  Gesetzen  gehorchend,  den  Weg  von 
palestrinischer  Strenge  zu  den  Zuckungen  sinnlicher 
Leidenschaft  durchlaufen;  die  andre  ist  denselben 
Gesetzen  —  daneben  gewissen  technischen  Verhält- 
nissen —  so  gänzlich  erlegen,  daß  sie  den  Namen  einer 
Kunst  nicht  mehr  verdient,  wenn  sie  die  tragenden, 
stützenden  und  lastenden  Glieder  aller  Zeiten  zu 
malerischem  Wandschmuck  erniedrigt. 

So  ist  die  Kunst  empfangen  und  geboren  worden 

31 


und  der  ärgeren  Hand  gefolgt.  Es  steht  nicht  an, 
diesen  Vorgang  zu  bedauern  oder  zu  verlästern ;  denn 
jede  Entwickelung  in  der  Natur  fordert  Ehrfurcht, 
auch  da,  wo  sie  menschliche  Dinge  ordnet. 

HISTORIE 

Alle  Geschichte  ist  ein  Kampf  der  Klugen  gegen 
L  die  Starken.  Wo  die  Starken  auftraten,  da 
wurden  sie  Herrscher,  und  wo  sie  herrschten,  da 
mußten  sie  langsam,  unmerklich  und  unausbleiblich 
der  Maulwurfsarbeit  ihrer  schwachen  und  klugen 
Hörigen  erliegen.  Zähigkeit,  schmachvolle  Geduld, 
stets  neu  sich  erzeugende  Überzahl  auf  Seiten  der 
Schwachen.  Herrscherkraft,  Zusammengehörigkeit, 
Adelsgefühl  und  Erblichkeit  der  Tradition  war  die 
Rüstung  der  Starken.  Wo  die  Starken  herrschen,  da 
gilt  Zucht,  Tüchtigkeit  und  Unkultur;  wo  die 
Schwachen  regieren,  wuchert  Schwätzer-  und  Tri- 
bunenherrschaft, Korruption  und  Genußsucht.  Das 
Regiment  der  Starken  stürzt,  sobald  es  den  Unter- 
drückten gelungen  ist,  die  Atmosphäre  des  Geistes 
mit  ihrem  Hauch  zu  erfüllen :  so  fiel  Rom  nach  dem 
Aufstieg  des  Christentumes,  Frankreich  nach  dem 
Zeitalter  der  Aufklärung.  Daher  ist  es  die  Aufgabe 
der  Starken,  den  öffentlichen  Geist  im  Rückstand 
zu  erhalten. 

Heutzutage  ist  die  Welt  der  Abenteuer  und  Ge- 
fahren, der  Kämpfe  und  Eroberungen,  der  Tapfer- 
keiten und  Herrschgewalten  zerronnen.  Unsre  Welt 
ist  eine  Produktions- Vereinigung,  eine  Werkstatt, 
ein  Mechanismus.  Die  Kraft  des  Armes  vermag  nichts 
mehr  gegen  Schwungräder  und  Panzerplatten;  den 
Ausgang    politischer    und    wirtschaftlicher    Trans- 

32 


aktionen  entscheidet  nicht  Tapferkeit  und  Gesinnung; 
Herrschertugend  und  Gewalt  findet  in  Kurien  und 
Märkten  keine  Gefolgschaft.  Die  Macht  unsrer 
Zeit  ist  die  Zahl;  wir  kennen  keine  Siege,  sondern 
Erfolge;  selbst  im  Krieg  bedeutet  Arbeit  mehr  a.U 
Bravouren.  Die  übliclien  Mittel  des  Erfolges  sind: 
Kenntnisse :  das  ist  Geduld ;  Arbeit :  das  ist  Knecht- 
schaft; Umsicht:  das  ist  Furcht;  Streben:  das  ist 
Zweckhaftigkcit.  Lohn  des  Erfolges  sind  Genüsse 
und  Auszeichnung.  Daher  ist  diese  2^it  das  Goldene 
Alter  der  Zweckmenschen. 

Die  neue  Epoche  brach  an,  als  der  Boden  Europas 
von  befreiten  Rassen  und  emanzipierten  Hörigen  zu 
wimmeln  begann.  Die  erschreckend  in  der  Zahl, 
maßlos  in  den  Ansprüchen  wachsende  Gesellschaft 
mußte  mit  neuen  Mitteln  genährt,  bekleidet  und 
unterhalten  werden.  Verkehr,  Industrie  und  Tech- 
nik brauchten  Millionen  Hände  und  verteilten 
Millionen  Glückslose.  Da  mußte  alle  Autorität  ver- 
blassen, und  es  triumphierte  der  liberale  Gedanke  mit 
dem  Wahlspruch:  „Wir  können's  auch"  und  „Wir 
sind  nicht  schlechter".  Und  zu  derselben  Zeit,  als 
der  Demos  die  Legitimität,  das  Kapital  den  Feudalis- 
mus überwand,  um  die  Wende  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  das  das  bürgerliche  heißen  könnte,  war 
der  Sieg  der   Klugen   über  die  Starken  vollendet. 

1904 


'# 


^v-  3  33 


EIN  TRAKTAT  VOM  BÖSEN  GEWISSEN 


Auf  der  vergoldeten  Armlehne  des  Präsidenten- 
L  Sessels  saß  der  Erste  Konsul,  Napoleon  Bona- 
parte, und  zerstach  mit  seinem  Federmesser  die 
Tischdecke,  die  wie  ein  grüner  See  mit  zwei  langen 
Buchten  sich  vor  ihm  ausbreitete. 

„Ich  bitte,  meine  Herren,"  sagte  er  mit  dem  fremd- 
artig harten  Tonfall,  den  seine  Umgebung  fürchtete, 
„bleiben  wir  bei  der  Aufgabe.  Sie  haben  vor  zwei 
Jahren  für  die  Beratungen  des  Code  Civil  einige 
Arbeitslust  mitgebracht;  vielleicht,  weil  die  Begriffe 
Ihnen  mehr  Schwierigkeiten  machten.  Hier,  beim 
Strafgesetz,  wird  zu  viel  philosophiert.  Für  sechs- 
tausend Franken  im  Jahr  halte  ich  Ihnen,  wenn  Sie 
wollen,  einen  Professor,  der  zweimal  wöchentlich 
alle  Systeme  widerlegt  und  noch  Zeit  findet,  seinem 
Verleger  jedes  Jahr  ein  Buch  zu  machen.  Wir  arbei- 
ten nicht  genug.  Es  ist  zwei  Uhr,  und  wir  haben  noch 
nicht  zehn  Paragraphen  erledigt." 

Die  sechzehn  Herren,  die  in  neuen  Uniformen  um 
den  Hufeisentisch  saßen,  fingen  an,  müde  zu  werden. 
Seit  acht  Uhr  früh  dauerte  die  Sitzung.  Alle  Glas- 
türen des  Saales  waren  geötfnet,  die  Julisonne  brannte 
auf  die  gelben  Markisen,  und  die  Luft  roch  nach 
Papier  und  Leder. 

„Auf  Ihre  Distinktionen  von  Schuld  und  Sühne 
lasse  ich  mich  nicht  ein,"  fuhr  der  Konsul  fort. 
„Die  Strafe  ist  dazu  da,  die  Zahl  der  Verbrechen 
zu  mindern.  Deshalb  muß  sie  richtig  abgewogen  und 
qualifiziert  sein.  Das,  was  Sie  das  Schuldbewußtsein 
des  Verbrechers  oder  gar  sein  Sühnebedürfnis  nennen, 
ist  mir  gleichgültig.  Genug,  wenn  er  weiß,  daß  ein 
Rückfall  ihm  ernste  Verlegenheiten  bringen  kann. 
Maleville  kennt  meine  Ansichten  über  Schuld  und 
Schuldbewußtsein.   Er  mag  Ihnen,  wenn  Sie  wollen, 

37 


ein  paar  Gedanken  entwickeln,  während  ich  Sie  auf 
zwei  Minuten  verlasse.  Sie  hörten,  daß  Augereau 
sich  um  Zwölf  melden  ließ.  Mir  ist,  als  hielte  er  sich 
noch  immer  im  Nebenzimmer  auf;  dieser  Mensch 
hat  die  Leidenschaft  des  Wartens." 

Alsbald  erhob  sich  am  Ende  der  rechten  Tisch- 
bucht die  hohe  Gestalt  des  Herrn  von  Maleville  in 
dunkler  Ziviluniform,  deren  goldgestickter  Kragen 
Hals  und  Kinn  wie  ein  Verband  einzwängte.  Er 
verneigte  sich  zuerst  nach  dem  Platz  des  Konsuls  hin, 
dann  nach  dem  linken  Flügel;  dabei  führte  er  mit 
einer  abgerundeten  Bewegung  den  Arm  zur  halben 
Höhe  des  Oberkörpers. 

„Der  Befehl  des  Konsuls,"  sagte  er,  „seinen  Ge- 
danken als  Dolmetsch  zu  dienen,  setzt  mich  in  Ver- 
legenheit. Selbst  unter  der  Deckung  seiner  Autori- 
tät fühle  ich  mich  beunruhigt,  ja,  eingeschüchtert  in 
einer  Versammlung,  die  an  die  Meisterschaft  seiner 
Erklärungen  und  Beweise  gewöhnt  ist." 

Diese  Worte  konnte  Napoleon  noch  vernehmen; 
er  hatte  mit  hastigen  Schritten  den  Saal  durchmessen 
und  verschwand  hinter  einer  grüngoldenen 
Flügeltür,  deren  Füllungen  mit  Fackeln,  Leiern  und 
Lorbeerzweigen  geschmückt  waren. 

„Unterstützen  Sie  mich,  meine  Herren,"  fuhr  der 
Redner  fort,  „durch  die  Erlaubnis,  aller  Theorie  zu 
entsagen  und  ein  Erlebnis  zu  erzählen,  das  dem  Kon- 
sul einiges  Interesse  erweckt  und,  wie  er  zu  ver- 
sichern die  Huld  hatte,  ihm  seine  eigene  Anschauung 
vom  Truge  des  Schuldbewußtseins  versinnlicht 
hat. 

Wenige  Jahre  vor  der  Umwälzung,  der  wir  unsern 
politischen  Zustand  verdanken,  starb  mein  Vater. 
Nlir,  dem  älteren  Solin,  hinterließ  er,  nach  damaliger 

38 


Sitte,  seinen  Landsitz,  der  stark  verschuldet  war, 
meinem  Bruder  eine  kleine  Rente  und  uns  beiden 
einen  Namen,  der  in  jener  Zeit  große  Rechte  und 
Pflichten  in  sich  trug.  Herkommen  mehr  als  Nei- 
gung wies  meinen  Bruder  auf  das  Waffenhandwerk; 
und  so  diente  er  in  Versailles,  in  naher  Umgebung 
des  Königs.  Der  Anblick  des  zur  Statistentruppe 
fürstlicher  Unterhaltungen  entwürdigten  Heeres 
verdroß  ihn,  und  er  träumte  davon,  der  jungen 
Römerrepublik,  die  jenseits  des  Meeres  sich  erhob, 
seinen  Arm  zu  leihen. 

Inz%vischen  kämpfte  ich  um  mein  Eigentum. 
Alte  Prozesse  wurden  beglichen,  das  System  gewissen- 
loser Pächter  und  diebischer  Intendanten  verworfen, 
Besserungen  und  Reformen  eingeführt;  und  nach 
Jahren  harter  Arbeit  sah  ich  das  Erbe  entlastet, 
ja  schließlich,  durch  meine  Vermählung  mit  einer 
benachbarten  Grundbesitzerin,  zu  einem  Umfang 
abgerundet,  der  in  der  Familie,  so  weit  die  Über- 
lieferung reichte,  nicht  erhört  war. 

„In  dieser  Zeit  der  Tätigkeit  und  des  Gedeihens 
besuchte  mich  mein  Bruder,  um  Abschied  zu  nehmen. 
Nicht  ohne  Unruhe  hatte  ich  die  Begegnung  erwartet, 
denn  ich  erwog,  daß  der  Gegensatz  heimatlichen 
Behagens  und  seines  eigenen  VVanderschicksals  ange- 
tan sein  müsse,  ihm  neuen  Zwiespalt  zu  schaffen. 
Auch  hatte  meine  Frau  mir  vertraut,  er  habe  in 
ihrer  frühen  Mädchenzeit  mit  allen  Zeichen  schüch- 
terner Jugendneigung  sich  um  sie  bemüht.  Ich  fand 
ihn  äußerlich  gealtert,  innerlich  scheinbar  durch 
Selbstbeherrschung  gebändigt.  Mich  begrüßte  er 
mit  rückhaltloser  Herzlichkeit,  meine  Frau  freund- 
schaftlich und  ohne  Mitklingen  eines  'Gefühles, 
das  ich  befürchtet  hatte;  und  so  war  in  geschwister- 

39 


lichem  Zusammensein  bald  alle  Besorgnis  aufgelöst 
und  geschwunden." 

Bei  diesen  Worten  vernahm  man  im  Nebengemach 
Stühlerücken  und  lautes  Sprechen.  Wie  unter  einem 
Windhauch  erscliauerte  das  Kollegium,  als  in  der  auf- 
gerissenen Tür  der  Konsul  erschien,  schnaufend,  mit 
geröteter  Stirn,  auf  der  die  dünne,  vom  Scheitel 
herabgestrichene  Haarsträhne  klebte. 

„Belehren  Sie  diesen  General,  meine  Herren,  wie 
viele  Batterien  wir  auf  den  Forts  von  W'imereux 
haben!  Er  weist  mir  nach,  daß  es  nicht  mehr  als 
sechs  sind  .  .  .  Bitte,  äußern  Sie  sich,  Pernichon, 
der  Sie  als  Statistiker  gelten  wollen;  oder,  wenn  Sie 
nichts  wissen,  so  laufen  Sie  und  schaffen  Sie  die 
Zahlen!" 

Pernichon,  ein  schwächlich  grauer  Ingenieur  des 
Ponts  et  Chaussees,  der  sich  einiger  Kenntnisse  auf 
dem  Gebiete  des  Verkehrswesens  rühmte,  zur  Zeit 
aber  mit  der  Regelung  des  Gefängniswesens  betraut 
war,  erwog  eine  Sekunde,  ob  er  daran  erinnern  solle, 
daß  er  mit  der  Artillerie  nicht  das  mindeste  zu  tun 
habe.  Aber  unter  dem  Bann  der  Gewissensangst 
schmolz  ihm  die  Rede  zu  einer  murmelnden  Laut- 
folge zusammen,  und  er  beeilte  sich,  mit  einer  Ver- 
beugung den  nächsten  Ausgang  zu  erreichen,  wäh- 
rend die  goldbeschlagene  Degenscheide  in  großen 
Schwingungen  ihm  an  die  Absätze  schlug. 

Napoleons  grünschimmernde  Augen  waren  hinter 
der  Tür  verschwunden,  als  Maleville,  seines  Un- 
behagens nicht  ganz  Meister,  wieder  zu  reden 
begann. 

„Die  vorübergehende  Beklemmung,"  sagte  er, 
„in  die  des  Konsuls  Mißstimmung  einige  von  uns  — 
um  beim  Thema  zu  bleiben :  schuldlos  — ^^  versetzt  hat, 

40 


benutze  ich,  um  Ihre  Teilnahme  an  dem  Seelenzu- 
stand  zu  heischen,  den  ich  Ihnen  darzustellen  wünsche. 
Ohne  durch  Steigerungen  Ihre  Spannung  zu  er- 
wecken, sage  ich  Ihnen:  am  Abend  des  Tages,  von 
dem  ich  Ihnen  berichtete,  habe  ich  meinen  Bruder 
getötet." 

Hier  machte  der  Erzähler  eine  kurze  Pause  und 
blickte  mit  geschlossenen  Lippen  auf  die  Mappe  aus 
Maroquinleder,  die  vor  ihm  lag  und  die  Aufschrift 
Ministere  de  Justice  trug.  Die  hochgezogenen 
Stirnen  und  leicht  gehöhlten  Wangen  der  Anwesen- 
den waren  ihm  zugewandt. 

Maleville  fuhr  fort :  „Wie  soll  ich  Ihnen  eine  Tat 
motivieren,  die  in  der  Sekunde  später  mir  so  unfaßbar 
war  wie  Ihnen  ?  Mein  Bruder  hatte  in  Paris  viel  in 
den  Salons  der  großen  Damen  verkehrt,  die  Ihnen 
aus  den  siebenziger  Jahren  erinnerlich  sind.  Bei 
diesen  Bufetieren  des  Esprit  galt  ein  geschliffenes 
Wort  mehr  als  heute  ein  Seesieg  über  England;  und 
jede  höhnische  Spitze  traf  das  Bestehende,  das  Her- 
kommen, die  Autorität. 

Daß  mein  Bruder  schon  vor  dem  Tag  der  Bastille 
Revolutionär  war,  konnte  mir  nicht  entgehen,  als 
ich  ihn,  vielleicht  allzulange,  vielleicht  auch  allzu 
selbstbewußt,  durch  Äcker,  Forsten  und  Vorwerke 
des  väterlichen  Besitzes  führte.  Sein  freundlich 
offenes  Wesen  kehrte  sich  in  Mißmut  und  Bitterkeit; 
und  manches  scharfe  Wort  wurde  gewechselt.  Als 
er  jedoch,  seinem  Offizierskleid  zum  Hohn,  sich 
rühmte,  er  selbst  werde  nächstens  das  Volk  der  Ent- 
erbten gegen  die  Ausbeuter  führen  helfen,  da  be- 
ging ich  das  Verbrechen,  ihn  des  Neides,  der  Un- 
dankbarkeit, des  Verrates  zu  zeihen. 

Die  folgenden  Sekunden  kann  ich  nicht  schildern. 


I 


41 


Wie  ich  Schmerz  und  Schmach  des  Faustschlages  im 
Antlitz  brennen  fühlte,  wie  ich  zweimal  mit  dem 
Metallknauf  meines  Rohres  ausholte  und  schlug: 
in  meiner  Erinnerung  knäult  es  sich  in  eine  unauflös- 
bare Zuckung  zusammen.  Aber  mit  nüchterner 
Deutlichkeit  sehe  ich  noch  den  lebendigen  Menschen 
niederbrechen  und  in  der  krampfhaften  Stellung  des 
gewaltsam  Verendenden  sich  auf  dem  Boden  strecken. 

Ich  blickte  um  mich.  Es  war  ein  entlegener  Teil 
des  Parkes,  wo  die  Kieswege  enden  und  kleine  über- 
wachsene Pfade  im  Grün  der  Waldwiesen  sich  ver- 
lieren. In  der  Nähe  stand  von  Väterzeiten  her  als 
Jagddenkmal  ein  steinerner  Hirsch ;  dahinter  lag  ein 
Weiher.    Es  war  neun  Uhr  abends. 

So  mußte  es  sein,  sagte  ich.  Ich  bin  schuldlos. 
Ruchbar  kann  es  nicht  werden.  Jetzt  Ruhe  und  Über- 
legung! Da  plötzlich  stieg  es  in  mir  empor  wie  eine 
brennende  Woge,  die  mir  die  Eingeweide  hob,  über 
meinem  Kopf  zusammenschlug  und  alle  Besinnung 
fortriß.  Ich  lag  am  Boden  und  grub  Stirn  und  Zähne 
in  den  Morast  des  Weges.  Ich  wagte  nicht  mehr,  den 
Toten  anzublicken.  Ich  wagte  nicht,  ihm  die  Augen 
zu  schließen,  —  die  Augen,  die  lachend  und  weinend 
mir  aus  Kindertagen  vertraut  waren.  Ich  wagte 
nicht,  die  Hände  zu  berühren,  die  mich  tausendmal 
begrüßt  hatten;  diese  nachdenklichen  Hände,  deren 
Züge  mir  befreundet  waren  wie  liebe  Gesichter. 
Mir  graute,  das  Haar  von  dieser  feingeaderten  Schläfe 
zu  streichen,  die  von  meinem  Schlage  blutete.  Ein 
Teil  meines  Leibes,  meines  Lebens  lag  neben  mir,  — 
besudelt,  vernichtet,  der  Fäulnis  hingeworfen  durch 
die  Tat  meiner  Hände. 

Nie  hatte  ich  bis  zu  dieser  Stunde  den  Namen  des 
Herrn  angerufen  als  zu  frivolen  Beteuerungen;  jetzt 

42 


schrie,  nein,  heulte  meine  gajize  Seele  empor :  Gott, 
du  mußt  diese  Schuld  von  mir  nehmen,  du 
mußt  dies  Blut  von  mir  waschen,  du  mußt 
mich   retten !" 

Malevillcs  mit  starker  Empfindung  gesprochene 
Worte  schienen  von  den  Wänden  des  schweigenden 
Saales  widerzuhallen.  Niemand  rührte  sich.  Eine 
kurze,  etwas  unbehagliche  Bewegung  der  Hörer 
wurde  erst  merkbar,  als  er  fast  unvermittelt  sich  in 
den  höfischen  Ton  der  Rede  zurückfand. 

„Ich  hoffe,  meine  Herren,  daß  ich  Ihre  Geduld 
nicht  mißbrauchte,  indem  ich  Ihnen  dies  Erlebnis, 
das  als  Traum  endete,  in  den  Formen  der  Wirklich- 
keit vortrug.  Ich  sage:  ,endete*;  denn  es  gibt  Augen- 
blicke, wo  es  mich  tröstet,  an  Wunder  zu  glauben. 
Und  warum  sollte  der  allmächtige  Gott,  der  über 
Gegenwart  und  Zukunft  Herr  ist,  nicht  die  Gewalt 
haben,  die  Maschen  des  Geschehenen  aufzulösen, 
die  Zeit  rückwärts  zu  zwingen.  Vergangenes  unge- 
schehen zu  machen  ?  Es  gibt  Erlebnisse,  die  man 
zu  träumen  glaubt,  und  wiederum :  in  allen  Träumen 
weht  ein  zarter  Schleier  über  den  Dingen,  den  man 
nach  dem  Erwachen  erst  erinnernd  wahrnimmt: 
dieser  Traum  hatte  nichts  Traumhaftes;  er  trug  alle 
Merkmale  des  Lebens." 

Hier  unterbrach  den  Sprecher  ein  Mitglied  der 
Versammlung,  der  Generalprokura tor :  „Und  wo  war, 
wenn  ich  fragen  darf,  Ihr  Herr  Bruder,  als  dieses 
zweifelhafte  Ereignis  sich  zutrug?" 

„Ohne  mein  Wissen,"  erwiderte  Maleville,  „war 
er  kurze  Zeit  vorher  tatsächlich  nach  Amerika  ausge- 
wandert. Er  erlag  später  in  New  Orleans  dem  Fieber. 
Den  genauen  2^itpunkt  seines  Todes  habe  ich  nie- 
mals festzustellen  vermocht...    Aber  bleiben  wir 

45 


bei  der  Sache,  meine  Herren !  Die  Frage,  ob  Wunder 
oder  Wirklichkeit,  Traum  oder  Tat,  hat  uns  hier 
nicht  zu  beschäftigen.  Wir  sprachen  vom  Schuldbe- 
wußtsein. Meine  Schuld  war  wirklich,  denn  ich 
hatte  die  Tat  mit  allen  Fasern  meiner  Nerven  be- 
gangen, mit  aller  Notwendigkeit  meiner  Natur,  mit 
allem  Bewußtsein  meiner  Seele.  Mein  Geist  konnte 
nicht  wacher  sein,  als  er  war;  und  stünde  ich,  ohne 
diese  schreckliche  Erfahrung,  noch  einmal  auf  dem- 
selben Fleck:  wachend  oder  träumend,  ich  fürchte, 
ich  beginge  sie  wieder. 

Das,  wie  mir  scheint,  eigentlich  Wunderbare  und 
dennoch  Natürliche  des  Vorganges  will  ich  jetzt 
erst  erwähnen.  Solange  ich  die  Wirklichkeit  meiner 
Tat  vor  mir  sah,  war  meine  Verzweiflung  tiefer, 
als  Menschen  ermessen  können;  als  ich  erwachte, 
fühlte  ich  mich  frei  von  allem  Schuldbewußtsein, 
rein  und  glücklich.  Niemals  wieder  habe  ich  dieses 
Verbrechen  bereut;  niemals  mehr  hat  es  mir  auch 
nur  eine  Stunde  lang  Sorge  gemacht.  Es  bleibt  ein 
Traum ;  ein  Vorfall,  meiner  Verantwortung  so  fremd, 
als  wäre  «er  dem  Fremdesten  widerfahren.  Meine 
Seele,  die  diese  Ausgeburt  erzeugt  hat,  leugnet  alle 
Mutterschaft  und  stolziert  in  ihrer  Jungfräulichkeit. 
Meine  Schuld  bestand,  —  und  mein  Gewissen 
kümmerte  sich  nicht  darum. 

Ich  versage  mir,  diese  Seelenerscheinung  theore- 
tisch zu  erläutern,  denn  der  Konsul  hat,  wie  Sie 
gemerkt  haben  werden,  die  Audienz  beendet.  Die 
Darlegung,  die  den  2^itraum  seiner  Abwesenheit 
auszufüllen  bestimmt  war,  hätte  er  Ihnen  wahrschein- 
lich kürzer,   sicherlich  überzeugender  vorgeführt." 

In  der  Tat  hatte  die  ovale  Klinke  der  lackierten 
Tür  sich  schon  bewegt  und  der  Flügel  eine  winzige 

44 


Spalte  geöffnet.  Jetzt  wurde  er,  dem  die  Schluß- 
worte galten,  sichtbar.  Mit  breiten  Schritten  spa- 
zierte er,  sichtlich  guter  Laune,  über  die  Lorbeer- 
kränze und  fliegenden  Adler  des  Teppichs  nach 
seinem  Sitz  und  sagte,  indem  er  den  Kopf  auf  die 
Seite  neigte  und  die  Hände  in  die  Taschen  versenkte : 
„Ich  hoffe,  daß  Male\'ille  Sie  gut  unterhalten  hat. 
Wenn  hier  mit  Traumdeutung  gedient  ist,  so  hätte 
ich  vielleicht  darauf  verzichtet,  Ihnen  Geschichten 
zu  erzählen,  und  Sie  nur  auf  eine  sehr  triviale  Erfah- 
rung verwiesen,  die  jeder  von  Ihnen  schon  gemacht 
haben  wird.  Sie  träumen,  daß  Sie  sich  wegen  einer 
strafbaren  Tat  zu  verantworten  haben.  Sie  suchen  sich 
der  Verantwortung  zu  entziehen.  Man  verfolgt  Sie. 
Mangreift  Sie  auf  und  verhört  Sie.  Sie  leugnen,  führen 
Wahrscheinlichkeiten  an,  versuchen,  ein  Alibi  zu 
konstruieren.  Sie  erdichten  Tatsachen,  treten  psycho- 
logische Beweise  an,  beschuldigen  andre,  trachten,  das 
Verfahren  zu  verschleppen,  hoffen  auf  Zufälle,  suchen 
Zeugen  irrezumachen.  Sie  schließen  mit  einem 
glänzenden  Plaidoyer,  —  und  werden  verurteilt. 
Während  der  ganzen  Zeit  haben  Sie  von  Ihrem  Ge- 
wissen, Ihrem  Schuldbewußtsein,  Ihrer  Reue  und 
Zerknirschung  schwerere  Qualen  erlitten,  als  von  der 
Schikane  des  Verfahrens  und  der  Härte  der  Strafe. 
Sie  erwachen :  und  was  bemerken  Sie  ?  Sie  haben 
Ihre  Verfolgung,  Ihren  Prozeß  und  Ihre  Verurtei- 
lung geträumt.  Ihr  Verbrechen  haben  Sie  zu  träumen 
vergessen.  Es  war  eine  Voraussetzung  der  Komödie, 
aber  eine  Voraussetzung,  die  Sie  nicht  geprüft 
haben.  Eine  falsche  Voraussetzung.  Und  doch  fühl- 
ten Sie  sich  schuldig,  waren  Sie  schuldig  so  gut  wie 
einer,  der  das  Vergnügen  oder  den  Nutzen  des  Ver- 
gehens gekostet  hatte.    Sie  hatten  die  Indigestion 

45 


ohne  Mahlzeit,  den  Katzenjammer  ohne  Rausch. 
Ihr  Schuldbewußtsein  war  entstanden,  wie  ein  Jucken 
der  Haut,  ein  Schmerz  im  Finger,  —  ohne  sittlichen 
Anlaß. 

. . .  Genug  der  Philosophie,  meine  Herren ;  wir 
haben  zu  arbeiten.  Ich  wünsche,  daß  Sie  Schuld  und 
Strafe  ohne  metaphysische  Nebengedanken  betrach- 
ten, sozusagen  als  Spielregeln.  Das  Schuldbewußtsein 
ist  eine  Zwangsvorstellung,  die  man  sich  durch  unbe- 
dachtes Handeln  oder  durch  Unvorsichtigkeit  zu- 
zieht, und  die  Strafe  ist  keine  Sühne,  keine  Rache, 
kein  Sakrament,  sondern  einfach  eine  umgekehrte 
Belohnung,  —  weiter  nichts. 

Und  jetzt,  bitte  ich,  zum  nächsten  Paragraphen." 

1903 


4^ 


DAS   GRUNDGESETZ   DER  ÄSTHETIK 


Folgendes  Grundgesetz  der  Ästhetik  soll  aufge- 
stellt   und   erläutert  werden: 

Ästhetischer  Genuß  entsteht,  wenn  eine  ver- 
borgene Gesetzmäßigkeit  empfunden  wird. 

Dies  ist  der  Satz  von  der  latenten  Gesetzmäßigkeit. 

„Ästhetischer  Genuß"  bedeutet  die  vom  Zweck 
losgelöste  Freude  an  einer  wahrgenommenen  Er- 
scheinung; sie  umfaßt  somit  den  Naturgenuß  und 
Kunstgenuß. 

Die  Gcsetzm.äßigkeit  muß  eine  „verborgene"  sein: 
das  heißt  eine  solche,  die  nicht  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis geworden  ist. 

Die  Gesetzmäßigkeit  muß  „empfunden"  werden: 
das  heißt,  sie  muß  auf  die  unbewußten  Kräfte  der 
Seele  wirken.  Wird  sie  mit  Bewußtsein  erkannt,  so 
gehört  der  Vorgang  nicht  melir  dem  Kreise  der 
Ästhetik  an.  Hier  scheiden  sich  Kunst  und  Wissen- 
schaft: die  Kunst  läßt  uns  das  Gesetzmäßige  emp- 
finden, die  Wissenschaft  lehrt  es  erkennen. 

Ist  eine  Gesetzmäßigkeit  erkannt,  so  löst  sie  ästhe- 
tisches Empfinden  nicht  mehr  aus.  Hierauf  beruht 
die  Entwicklung  und  Geschichte  der  Kunst.  Denn 
aus  der  Unendlichkeit  der  Gesetzmäßigkeiten  der 
Natur  ergreift  die  Kunst  immer  neue,  um  sie  durch 
Darstellung  fühlbar  zu  machen,  bis  sie  jeweils  vom 
nachstrebenden  Geist  in  Erkenntnis  verwandelt  sind. 
Sie  können  dann  einer  eklektischen  Übung  noch  als 
Rezepte  dienen;  ihre  ästhetische  Kraft  ist  jedoch 
erschöpft. 

Deshalb  läßt  sich  das  Wesenliafte  der  Kunst  nicht 
lehren.    Lernbar  ist  nur  Kunstfertigkeit. 


IV.  4  49 


HISTORISCHE  ERLÄUTERUNG 

In  angenähert  historischer  Reihenfolge  sollen  einige 
Gesetzmäßigkeiten  aufgeführt  werden,  die  aus  der 
Betrachtung  der  Natur  durch  bildende  Kunst  ver- 
sinnlicht  worden  sind.  Die  meisten  dieser  Gesetz- 
mäßigkeiten sind  bereits  verstandesmäßig  erkannt 
und  somit  zu  Kunstrezepten  geworden. 

Gesetze  der  geometrischenLinie,  Symme- 
trie, geometrische  Ähnlichkeit.  Die  Empfin- 
dung, daß  gewisse  Linien  in  der  Natur,  etwa  gerade 
Linien  und  einfache  Kurven,  eine  ruhige,  wohltuende 
Wirkung  ausüben,  eben  weil  sie  eine  wahrnehmbare 
Gesetzmäßigkeit  enthalten,  daß  ferner  diese  Gesetz- 
mäßigkeit durch  Wiederholung  oder  symmetrische 
Spiegelung  klarer  hervortritt,  ist  urzeitlich.  Ebenso 
die  Wahrnehmung  des  Gesetzes  der  geometrischen 
Älmlichkeit  von  Figuren,  zumal  von  Umrißlinien. 

Hierauf  beruht  das  älteste  geometrische  Ornament 
und  die  Zeichnung  von  Umrißgestalten  von  Tieren 
und  Menschen. 

Gesetzmäßigkeit  der  Struktur.  Die  Natur 
formt  ihre  Geschöpfe  nach  unveränderlichen  Ge- 
setzen der  Zahl  und  Form.  Die  Zahl  der  Blätter 
und  Staubfäden  bei  einer  Blütenart  bleibt  stets  die 
gleiche,  ebenso  ihre  Form,  Anordnung  und  Struktur. 
Auf  dieser  Gesetzmäßigkeit  ist  das  Pflanzenornament 
mit  seiner  stilisierenden  Umbildung  erwachsen,  inso- 
fern als  diese  das  ZufäUige  und  minder  Wesentliche 
beseitigt  und  sich  nur  an  einige  hervorleuchtende 
Gesetze  des  Aufbaues  hält. 

Gesetzmäßigkeit  des  Materials.  Da,  wo  die 
Kunst  nachbildet,  schafft  sie  ein  Doppeltes :  sie  spie- 
gelt die  Gesetzmäßigkeit  der  Natur;  aber  um  das 

SO 


Spiegelbild  festzuhalten,  muß  sie  es  an  Materie 
heften.  Diese  Materie,  gleichviel  ob  Farbstoff,  Ton, 
Gewebe,  Erz  oder  Stein,  wird  gleichsam  zum  Gefäß 
des  Ewigen,  des  Gesetzes.  Der  beschauende  Blick 
soll  nicht  getäuscht,  sondern  verklärt  werden,  im 
Doppelgenuß  der  widergestrahlten  Natur  und  der 
widerstrahlenden  Materie.  Bild  und  Gebildetes 
werden  gleichzeitig  und  doch  getrennt  empfunden; 
der  Kristallbau  des  Marmors  und  die  bildliche 
Flächengestaltung  bleiben  gedoppelt  und  wirken  in 
eins.  Aus  dieser  Notwendigkeit  ergibt  sich,  wie  im 
Vorübergehen  bemerkt  sei,  das  Unerfreuliche  der 
materiellen  Nachahmung,  wie  etwa  der  Wachs- 
figuren oder  der  auf  Täuschung  gemalten  Bilder; 
denn  diese  unterdrücken  die  Gesetzmäßigkeit  des 
geformten  Materials  zugunsten  einer  mechanischen 
Nachalimung. 

Ist  nun  die  Materie  als  solche  zum  zweiten  Gegen- 
stand der  ästhetischen  Wirkung  geworden,  so  sind 
auch  ihre  innewohnenden  Gesetze :  Struktur,  Festig- 
keit, Oberllächenwirkung,  zur  künstlerischen  Bedeu- 
tung erhoben,  und  mit  ihnen  die  Art  und  Technik 
der  Bearbeitung.  Es  entsteht  somit  ein  reizvolles 
Wechselspiel  zwischen  der  Bearbeitungs-  und  Behand- 
lungsweise  und  der  beseelenden  Gestaltung;  so  zwar, 
daß  mit  denkbar  einfachen  und  der  Materie  ange- 
paßten Handwerksgriffen  das  Bild  der  Masse  einge- 
prägt wird,  während  umgekehrt  die  Gesetzmäßigkeit 
des  Bildes  gewissermaßen  durch  das  Mittel  des  Stof- 
fes empfunden  und  diesem  angepaßt  wird.  Aus  die- 
sem Zusammenhange  entsteht  die  Gesetzmäßigkeit 
der  künstlerischen  Technik. 

Es  ist  somit  künstlerisch  nicht  gleichgültig,  ob 
ein  Basaltblock  ebenso  bearbeitet  und  behandelt  wird 

51 


wie  ein  Marmorblock  oder  gar  ein  Erzguß.  Es  ist 
auch  nicht  gleichgültig,  ob  eine  Farbenwirkung  oder 
Formengebung  durch  ängstlich  kunstgewerbliche 
Kleinarbeit  erlistet  wird,  wo  ein  kühner  Pinselstrich 
die  gleiche  Wirkung  unter  kennzeichnendem  Aus- 
druck des  Mal  mittels  ergeben  hätte. 

Gesetzmäßigkeit  des  Typus  und  Ideali- 
sierung. Die  Griechen,  als  ein  zweischichtiges  Volk 
von  dunklen  Unterworfenen  und  hellen  Eroberern, 
empfanden  den  Kontrast  der  menschlichen  Typen 
aufs  deutlichste.  Der  kurznasige,  rundköpfige  Schlag 
der  Satyrn,  Silene,  Komödianten  und  Plebejer  trat 
dem  langnasigen,  schmalköpfigen  der  Eroberer  und 
Herrscher  entgegen.  Eine  übertreibende  Hervor- 
kehrung des  aristokratischen  Formgesetzes,  bei  wel- 
chem unbewußt  und  unfehlbar  alle  Kennzeichen  der 
Mutrasse  ins  Licht  traten,  schuf  den  Idealtypus:  hoher 
Nasenansatz,  langer  Nasenrücken,  tiefe  Augen,  kurze 
Oberlippe,  gewölbtes  Kinn,  breite  Brust,  schmale  Hüf- 
ten, flachgewölbte  Formen.  Dieses  Gesetz  des  Men- 
schenideals hat  jedesmal,  wenn  es  von  neuem  auf- 
tauchte, die  Bewunderung  arischer  Augen  erregt  und 
daher  lange  als  absoluter  Schönheitskanon  gegolten. 
Mit  einigem  Recht,  insofern  als  es  die  unbewußt  emp- 
fundene Gesetzmäßigkeit  des  Zusammenhanges  zwi- 
schen Körpcrgestaltung  und  Lebenskräften  der  Mut- 
rasse spiegelt.  Einen  Begriff  von  der  allmähh'chen  Ver- 
schmelzung der  beiden  Völkerschichten  gibt  die  all- 
mählich niedersteigende  Umbildung  des  Idealkörpers. 
Die  Leibesformen  werden  rundlich,  die  äußersten 
Gliedmaßen  klein,  die  Finger  spitz,  das  Joch  der 
Stirn  tritt  hervor. 

Gesetzmäßigkeit  des  Ausdrucks  und  de» 
Charakters.    Daß  der  Ausdruck  der  Gcmütsbe- 

52 


wegung  nicht  als  eine  unfaßbare  geistige  Strahlung 
dem  Haupte  entströmt,  sondern  körperlich  im  Muskel- 
spiel der  Stirn,  der  Wangen,  Lippen  und  Augenlider 
und  in  der  Bewegung  des  Augapfels  sich  verwirklicht, 
empfanden  wohl  ebenfalls  die  Griechen  als  erste. 
Von  der  erschütternden  Wirkung  dieses  fühlbar 
gewordenen  Geheimnisses  auf  das  Volk:  als  nämlich 
getünchte  Wände  durch  Farbe  und  Umriß  hindurch 
menschliche  Leidenschaft  und  Em.pfindung  dem 
Beschauer  entgegenstrahlten,  sind  uns  Zeugnisse  der 
Alten  aufbewahrt. 

Dagegen  der  gesetzmäßige  Zusammenhang  zwi- 
schen Form  und  Seele,  das  physiognomische  Gesetz, 
„Charakterisierung"  in  der  Wiedergabe  genannt, 
äußert  sich  schon  früher  in  orientalischen  Werken 
und  wirkt,  als  eines  der  unerschöpflichen  Geheim- 
nisse, bis  in  unsre  Zeit  fort. 

Gesetzmäßigkeitdes  Farbenspielsbeleuch- 
teter Flächen  und  der  plastischen  Schatten- 
wirkung. Daß  es  in  der  Natur  einfarbige  Flächen 
nicht  gibt,  daß  selbst  gleichmäßig  mit  einem  einheit- 
lichen Farbenton  bestrichene  Ebenen  auch  in  gleich- 
förmiger Beleuchtung  sich  farbig  abstufen,  daß  auf 
gerundeten  Flächen,  zumal  solchen  von  organischem 
Bau,  die  Tönung  sich  zum  lebhaften  Farbenflimmer 
erhöht,  ist,  wie  es  scheint,  der  älteren  Naturbetrach- 
tung und  Kunst  nicht  zu  Bewußtsein  gekommen. 
Empfunden  wurde  dies  Gesetz,  und  etwa  gleich- 
zeitig das  der  Darstellbarkeit  plastischer  Wirkung 
durch  das  Mittel  der  Schattierung,  zur  Zeit  des 
jüngeren  Griechentums.  Die  Erinnerung  an  diese 
Enthüllung  blieb  lebendig  und  schuf  die  Künstler- 
anekdote von  Parrhasios  und  Apelles.  Achtzehn 
Jahrhunderte  später  vertiefte  sich  Lionardo  in  die 

53 


Gesetze  der  Oberflächenwirkung  und  glaubte  in 
ihnen  das  Wesen  malerischer  Darstellung  zu  erblicken. 

Gesetzmäßigkeiten  der  Raumwirkung,  des 
Hintergrundes,  derPerspcktiveundderLuft- 
perspektive.  Auch  in  diese  Anschauungsge- 
setze, die  die  Renaissance  vollkommener,  die  Neuzeit 
im  innersten  sich  zu  eigen  machte,  drang  das  Alter- 
tum ein.  Freilich  war  die  Freude  am  Hauptgegen- 
stande noch  zu  jung  und  zu  stark;  die  Erweiterung 
zum  Räume  blieb  ein  Spiel,  das  in  leichter  Umrah- 
mung das  Werk  umgab.  Als  eine  große  Enthüllung 
—  von  der  sich  jeder  Rechenschaft  geben  mag,  der 
seiner  ersten  kindlichen  Zeichenversuche  sich  erin- 
nert —  wirkte  das  Aufleben  der  perspektivischen 
Zusammenhänge.  Hier  vollzog  sich  der  seltsame 
und  ungeheure  Vorgang:  daß  die  Gesetzmäßigkeit 
auf  den  naiven  Beschauenden  ihre  volle,  unbewußte 
Wirkung  tut,  während  der  Schaffende  nicht  in- 
stinktiv, sondern  reflektierend,  ja  berechnend,  also 
auf  dem  Wege  der  Wissenschaft  der  Natur  das 
Gesetz  entrungen  hat. 

Die  Enthüllung  der  Luftperspektive  beruht  auf 
der  erstmaligen  Befähigung  des  Blickes,  sich  nicht 
auf  den  Gegenstand,  sondern  auf  die  Bildfläche 
einzustellen.  Betrachte  ich  den  entfernten  Baum 
für  sich,  so  erscheint  er  grün,  betrachte  ich  ihn 
unter  Umfassung  des  Vordergrundes,  so  erscheint 
er  blau.  Das  Fühlbarwerden  dieses  Gesetzes  berei- 
tete die  Ergreifung  der  Landschaft  vor. 

Gesetzmäßigkeit  der  Flächenteilung  und 
des  Gleichgewichts  farbiger  Flächen.  Sie 
ist  nicht  im  betrachteten  Naturobjekt  ausgespro- 
chen, sondern  gründet  sich  auf  eine  physiologische 
Vorliebe   des   Auges   für   ein   proportioniertes,   in 

54 


seinen  Massen  und  Gegensätzen  klar  gegliedertes 
Gesichtsfeld.  Vornehmlich  architektonische  und 
auf  Fernwirkung  gestellte  Aufgaben  förderten  diese 
Gesetzmäßigkeit  zutage;  in  alten  Reliefs,  späteren 
Mosaiken  und  Glasbildern  fand  sie  Ausdruck,  neuer- 
dings, nach  langer  Vergessenheit,  japanischen  Ein- 
flüssen gehorchend,  auf  verschiedenen  Gebieten 
der  Malerei. 

Gesetzmäßigkeit  der  seelischen  Sugge- 
stion wurde  in  der  christlichen  Kunst  lebendig.  Daß 
einem  in  traditionellen  Vorstellungsformen  sich 
bewegenden  Geiste  gewisse  Geräte  und  Wesen, 
Symbole,  Gebärden  und  Vorgänge  überkommene 
Erinnerungsbilder  und  Empfindungen  auszulösen 
vermögen,  ist  ein  psychologisches  Gesetz,  dem  eine 
auf  das  Transzendente  gerichtete  Darstellung  ent- 
gegenkommen mußte. 

Zeichnerische  Gesetzmäßigkeiten.  Das 
Streben  nach  körperhafter  Wirkung  förderte  sub- 
jektiv-physiologische Gesetze  zutage.  Auf  der  Tat- 
sache, daß  gewisse  Systeme  gleichartig  verlaufender 
Kurven  einen  der  plastischen  Erscheinung  ähneln- 
den Eindruck  dem  Auge  hinterlassen,  beruht  der 
Effekt  der  Schraffierung;  auf  der  Tatsache,  daß  das 
zweiäugige  Sehen  mehrfach  gekrümmte  Flächen 
aufzufassen  vermag,  beruht  die  Kunstregel  der 
Überschneidung. 

Gesichtsfeld.  In  der  fortschreitenden  Ent- 
hüllung weiterer  Gesetzmäßigkeiten  bekräftigt  sich 
die  Neigung,  von  der  Erfassung  des  Gegenstandes 
zur  Erfassung  des  Gesichtsfeldes  zu  gelangen  und 
insofern  gewissermaßen  eine  künstliche  Naivität 
des  Sehens  sich  anzueignen,  als  das  Auge  des  Neu- 
geborenen oder  sehend  gewordenen  Blinden  gleich- 

55 


falls  nur  ein  farbiges  Gesamtbild  aufnehmen  kann, 
bevor  es  die  Trennung  in  Gegenstände  erlernt  hat. 
Die  Entdeckung  der  Gesetzmäßigkeiten  des  Gesichts- 
feldes kann  als  die  Grundlage  der  gesamten  neueren 
Kunstdarstellung  betrachtet  werden.  Auf  ihr  ruht 
zunächst  die 

Gesetzmäßigkeit  des  Landschaftsein- 
drucks. Dem  überblickenden  Auge  wird  die  orga- 
nische Struktur  der  Erdfeste  sichtbar,  der  Bau  der 
Gebirge,  die  Schwindung  der  Fernen,  die  Krüm- 
mung des  Himmelsglobus,  die  Ordnung  der  Wolken- 
bilder.  Durch  die  unsichtbare  einschließende  Linie, 
mit  der  die  Natur  alle  ihre  Organismen  zu  einheit- 
licher Formung  umhüllt,  sondern  sich  Massen  gegen 
Massen,  imd  es  entsteht  aus  Form,  Farbe  und  Licht 
die  Landschaft.  Zunächst  vorwiegend  in  ihrer 
physischen  und  geographischen  Gestaltung,  später 
vom  Stimmungsgchalt  erfüllt,  der  als  eine  weitere, 
im  Psychologischen  wurzelnde  Gesetzmäßigkeit 
sich  offenbart. 

}  Helldunkel.  Das  gegenständliche  Sehen,  auf 
Form  und  Farbe  des  Objekts  gerichtet,  empfand 
den  Schatten  als  eine  Störung,  als  ein  halbwegs  Zu- 
fälliges, das  als  Mittel  der  plastischen  Wirkung  allen- 
falls Geltung  behielt.  Die  Umfassung  des  Gesichts- 
kreises ließ  im  Wechsel  der  belichteten  und  be- 
schatteten Räume  ein  organisches  Gesetz  empfinden, 
das  mit  der  psychologischen  Gewalt,  die  allen 
Gegensätzen  eigen  ist,  den  Beschauenden  ergriff. 
Nun  war  der  Schatten  nicht  mehr  eine  dunkle  Be- 
fleckung, sondern  die  Atmosphäre  dunkelnder 
Räume,  die  nach  eigenartigen  Gesetzen  alle  Eigen- 
farben dämpft  und  abtönt.  Durch  die  Wirkung  des 
Gegensatzes  erhöhte  sich  der  Lichtstrahl  zur  be- 

56 


herrschenden  Stimme,  und  der  Beschauer,  der  bis 
dahin  am  bloßen  Farbenspiel  der  Sichtbarkeit  sich 
erfreut  hatte,  empfand,  daß  eine  Welt  des  Lichtes 
und  des  Dunkels  unter  dieser  kaleidoskopischen 
Erscheinung  ruhte. 

Ein  weiterer  Schritt  mehr  realer  als  phantastischer 
Richtung  war  der  neuesten  Zeit  vorbehalten,  die 
durch  vorsichtiges,  fast  verstandesmäßiges  Abwägen 
der  Lichtwerte  die  mechanische  Annäherung  des 
Impressionismus  an  das  alltägliche  Abbild  der  Wirk- 
lichkeit zuwege  brachte.  '^    '    rr    ■    :\^^'      v   : 

Gesetzmäßigkeit  der  Stimmung.  Sobald 
das  Weltbild  als  Gesichtskreis,  der  Gesichtskreis 
als  Landschaft  gefaßt  war,  mußten  die  Wechsel- 
wirkungen des  optischen  Erlebnisses  und  der  seeli- 
schen Verfassung  fühlbar  werden.  Die  Gesetze 
dieser  Wirkungen  breiten  sich  nach  mehrfacher 
Richtung  ins  Ungemessene;  denn  in  diesem  Punkt 
treffen  die  Mannigfaltigkeiten  der  Persönlichkeit, 
des  allgemein  Psychologischen  und  des  Sichtbaren, 
zusammen.  Daher  ist  das  Gebiet  der  Stimmungen 
seit  einigen  Jahrhunderten  zum  eigentlichsten 
Gebiet  der  Kunst  geworden. 

Im  Anfang  wurden  nur  die  äußersten  dieser 
Wirkungen  empfunden :  Groteskes,  Furchterregen- 
des, Sinnbelebendes.  Später  die  verweichlichten 
Formen  der  ursprünglichen  Reflexe:  Sehnsucht, 
Sentimentalität,  Schwärmerei,  Sensualität.  Zuletzt 
verkörperten  sich  jene  leichten  Regungen,  die  in 
ihrer  Vielfältigkeit  von  der  Sprache  nicht  bezeich- 
net werden  können,  die  von  einer  Stunde  des  Tages, 
von  einem  Wolkenzüge,  einer  Ahnung  des  Meeres, 
einem  Herbstblatt  oder  einem  Sonnenfleck  ausge- 
löst werden. 

57 


NOCHMALS  DAS  GESETZ 

Wenn  aus  der  Zahl  der  angeführten  Beispiele, 
die  durchweg  der  bildenden  Kunst  —  als 
einer  zwar  sonderhaften,  doch  der  Übersicht  und 
Erinnerung  besonders  zugänglichen  —  entnommen 
sind,  wenn  aus  dieser  Aufzählung  das  Wesen  der 
latenten  Gesetzmäßigkeit  noch  nicht  genügend 
deutlich  erhellen  sollte,  wenn  vielmehr  aus  der 
Gleichförmigkeit  der  Beispiele  mehr  eine  kunstge- 
schichtliche Rezeptehlehre  hervorzublicken  schiene 
als  eine  Theorie  enthüllter  Naturgeheimnisse:  so 
liegt  dieser  Widerspruch  in  der  Doppelnatur  des 
angeschauten  Gesetzmäßigen  selbst  begründet. 
UnenthüUt,  geahnt,  empfindend  wahrgenommen, 
ist  das  Gesetz  ein  Geheimnis,  das  die  Kraft  der 
ästhetischen  Wirkung  in  sich  schließt;  rückblickend 
betrachtet,  entdeckt,  erklärt,  ist  es  dieser  Wirkung 
bar,  eine  Erweiterung  zwar  der  Erkenntnis,  für 
die  Kunst  jedoch  ein  Werkstattmittel.  Die 
Besprechung  und  Aufzählung  selbst  aber  setzt 
voraus,  daß  irgend  jemand  das  Geheimnis,  von  dem 
die  Rede  ist,  bereits  erkannt  und  daher  vernichtet 
habe;  und  bestand  es  für  den  Leser  noch  als  ein  Ge- 
heimnis, so  ging  es  durch  das  Lesen  selbst  verloren. 
Nur  demjenigen  wird  es  möglich,  die  Doppel- 
gestalt des  Gesetzes,  des  verhüllt  Angeschauten  und 
des  erkannt  Entschleierten,  zu  erfassen,  der  im 
eigenen  Geiste  den  erschreckenden  Vorgang  dieses 
Erkennens  erfahren  hat.  Keinem  bleibt  er  erspart, 
der  die  Ereignisse  der  Natur  und  Kunst  mit  Heftig- 
keit erlebt;  und  wie  von  den  Übergewalten  der 
Natur  die  Produktion  befreit,  so  befreit  von  den 
Überwirkungen  der  Kunst  die  Erkenntnis. 

58 


In  einfachster  Form  geschieht  der  Erkenntnis- 
prozeß, wenn  man  ein  meisterliches  Zeichnungs- 
blatt zur  Hand  nimmt.  Was  liegt  in  diesen  wenigen 
Strichen,  die  ihren  Gegenstand  auszusaugen,  zu 
erschöpfen  scheinen  ?  Man  sagt :  das  Wesentliche. 
Gewiß,  aber  was  ist  hier  wesentlich  ?  Das  Gesetz 
aus  der  Werkstatt  der  Natur,  die  so  und  to  die  Mus- 
keln und  Sehnen  knüpft,  so  und  so  den  Boden  furcht 
oder  die  Wolken  treibt,  so  und  nicht  anders,  zu 
allen  Zeiten,  ein  für  allemal.  Und  ist  in  diesen 
Strichen  wirklich  eine  Gesetzmäßigkeit  fortempfun- 
den, so  wird  sie  sich  dem  Betrachtenden,  oft  wider 
seinen  Willen,  auch  geistig  erschließen. 

SCHÖNHEIT 

Auch  die  Frage,  die  vor  fünfzig  Jahren  den 
L  Ästhetikern  zu  denken  gab,  gehört  in  dieses 
Gebiet :  was  ist  schön  und  was  ist  häßlich  ?  Kann 
Häßliches  schön  und  Schönes  häßlich  sein  ?  Ist  das 
Schöne  ästhetisch  wertvoll  oder  das  Charakte- 
ristische ? 

Es  sind  Wortspiele.  Der  Begriff  des  Schönen  be- 
zeichnet ursprünglich  das,  was  durch  sein  Scheinen 
Freude  bringt  oder  verspricht.  Diese  Freude  aber 
muß  durchaus  nicht  notwendig  ästhetische  Freude 
sein.  Denn  die  ästhetische  Freude  ist  in  der  Wahr- 
nehmung, der  al'o&r,otq^  Selbst  beschlossen,  sie  geht 
nicht  darüber  hinaus,  sie  ist  zweckfrei.  Vom  ästhe- 
tisch Schönen  gilt  das  Wort  „selig  ist  es  in  ihm  selbst", 
nicht  vom  Schönen  schlechthin.  Ein  schönes  Ge- 
sicht, das  im  herkömmlichen  Sinne  ein  sinnlich  an- 
sprechendes Gesicht  bedeutet,  ein  schöner  Braten 
oder  ein  schönes  Stück  Seife,  diese  Gegenstände 

59 


werden  nicht  notwendig  selig  in  ihnen  selbst  genannt 
werden  müssen. 

Nun  hat  aber  die  Bezeichnung  „schön",  da  sie 
kein  einfaches  Synonym  besitzt,  sich  auf  das  ganze 
Gebiet  der  ästhetischen  Freude  erstreckt,  so  daß 
man  getrost  von  der  Schönheit  eines  Unwetters, 
einer  Katastrophe,  eines  Leichnams  reden  kann, 
obwohl  diese  Verbindungen  dem  ursprünglichen 
und  volkstümlich  erhaltenen  Begriff  des  Schönen 
widersprechen.  Aus  dieser  nothaften  Erweiterung 
des  Begriffes  hat  man  die  Ästhetik  geradezu  als  die 
Lehre  vom  Schönen  definiert,  während  sie  die  Lehre 
vom  ästhetisch  Erregenden  ist. 

Verlangt  nun  ein  Beliebiger,  im  Anspruch  dieses 
Irrtums,  die  Kunst  möchte  sich  mehr  als  bisher 
an  die  Darstellung  des  Schönen  halten,  so  kann  man 
sicher  sein,  daß  er,  den  Begriff  im  wahren  und  ur- 
sprünglichen Sinne  meinend,  sich  die  Abbildung 
reizender  Frauen  und  appetitlicher  Nahrungsmittel 
wünscht.  Erwidert  man  ihm,  im  Sinne  des  weiteren 
Begriffs,  auch  eine  Schweineherde  sei  von  Natur 
schön,  so  ist  einer  der  populären  Widersprüche  und 
Streitpunkte  geschaffen. 

Um  den  Zwiespalt  zwischen  dem  angeblichen 
Alleinrecht  des  Schönen  und  dem  Schutz  des  land- 
läufig Häßlichen  auszuweichen,  haben  manche  die 
ästhetische  Wirkung  im  Charakteristischen  finden 
wollen.  Gewiß  kann  die  Charakteristik  ästhetische 
Freude  erregen,  indem  auch  sie  ein  Gesetzmäßiges 
widerspiegelt:  aber  dies  Gesetzmäßige  muß  ein 
intuitiv  empfundenes,  nicht  erkanntes  sein.  Sonst 
müßte  jede  triviale  Charakterregel  zur  ästhetischen 
Wirkung  führen. 

Ästhetisch  wirkend  und  erregend  ist  allzeit  nur 

60 


eines   schlechthin:   das   fühlbar  gewordene   innere 
Gesetz. 

DICHTKUNST 

Hier  herrscht  die  geheime  Gesetzmäßigkeit  des 
menschlichen  Erlebens. 

Die  erzählende  Dichtung  versinnlicht  die  Gesetze, 
die  im  Wechselspiel  zwischen  Ereignis  und  Empfin- 
dung walten :  die  Persönlichkeit  schafft  sich  ihre 
Welt,  und  die  Welt  wirkt  rückgestaltend  auf  die 
Persönlichkeit. 

Auf  der  Wechselwirkung  zwischen  Affekt  und 
Schicksal,  soweit  sie  gesetzmäßig  ist,  beruht  die 
Dramatik.  Der  Mensch,  von  Leidenschaft  erhoben, 
greift  in  die  Speichen  des  Geschehens  und  wird  zer- 
malmt oder  gerettet. 

Aller  Dichtung  notwendig  ist  die  Einheit :  Einheit 
der  Figuren,  Einheit  der  Handlung  und  Einheit  — 
wenn  auch  nicht  Einförmigkeit  —  der  Stimmung; 
denn  nur  von  gleichbleibendem  Untergrund  kann 
das  Gesetz  wahrnehmbar  sich  abheben.  Notwendig 
ferner  ist  ihr  Objektivität;  denn  wenn  das  Gesetz 
erläyternd  ausgesprochen  wird,  tritt  nüchterne 
Erkenntnis  an  die  Stelle  des  dichterischen  Empfin- 
dens. 

Entgegengesetzt  aller  Dichtung  ist  das  Zufällige, 
weil  es  das  Gesetz  aufhebt.  In  den  Voraussetzungen 
der  Dichtungen  ist  es  freilich  nicht  zu  entbehren, 
weil  bestimmte,  persönliche  Menschen  aus  der 
Verworrenheit  der  Menge  hervortreten  sollen;  im 
Verlaufe  darf  es  nicht  mehr  entscheiden.  Glücks- 
und Unglücksfälle,  Maschinengötter  und  Wunder 
sind  nicht  im  Wesen  dieser  Kunst. 

6i 


Das  Epos  gestaltet  Ereignisse  und  Zustände, 
welche  auf  das  Einzeldasein  gesetzmäßig  einwirken, 
sein  Inhalt  ist  Erlebnis  und  Entwicklung;  daher 
bedarf  es  der  zusammenhängenden  Schilderung 
und  Erzählung.  Das  Drama  stellt  Affekte,  Hand- 
lungen und  Schicksale  zur  Schau;  und  da  Affekte 
und  Handlangen  —  sofern  man  diese  im  Gegensatz 
zu  Verrichtungen  nennen  darf  —  ihre  letzte  Äuße- 
rung im  Worte  finden,  so  ist  die  Kunstform  des 
Dramas  der  Dialog. 

Das  Wesen  des  Dichters  besteht  darin,  daß  in 
ihm  das  psychische  Gesetz  der  Welt  ein  erschautes 
Abbild  findet.  Seine  Werke  sind  groß  und  wahrhaft, 
wenn  es  ihm  gelingt,  in  seinen  Geschöpfen,  in  ihren 
Schicksalen  und  Erlebnissen,  Stimmungen  und  Lei- 
denschaften, Handlungen  und  Gedanken,  die  gleiche 
innere,  geheimnisvolle  und  notwendige  Gesetzmäßig- 
keit wirken  zu  lassen  und  alles  Zufällige  und  unor- 
ganische außerhalb  des  Gesetzes  Stehende  zu  bän- 
digen. 

Eine  Annäherung  und  Verschmelzung,  ja  Ver- 
wechselung der  Kunstformen  findet  bisweilen  statt; 
insbesondere  neigt  die  das  Beschauliche  liebende 
deutsche  Literatur  dazu,  in  dramatischer  Umklei- 
dung Vorgänge,  Erlebnisse  und  Entwickelungen 
zu  schildern,  somit  an  die  Stelle  des  Dramas  die 
dramatisierte  Novelle  zu  setzen. 

Die  lyrische  Dichtung  rührt  an  das  geheimnisvolle 
Kunstgebiet  der  Musik,  indem  sie  das  der  begriff- 
lichen Sprache  nicht  mehr  Zugängliche,  das  Unaus- 
sprechliche ausspricht.  Die  Ereignisse  des  Lebens 
werden  in  ihr  zum  verschleierten  Untergrund,  auf 
dem  die  Ereignisse  der  Seele  in  rätselhafter  und  den- 
noch klar  empfundener  Gesetzmäßigkeit  sich  abbil- 

6% 


den.  Ihr  Gegenstand  ist  das  Gesetz  des  Seelen- 
grundes, der  tiefer  liegt  als  die  Erkenntnis,  ihr  Kunst- 
mittel ist  die  Evokation,  wenn  so  die  psychische 
Gabe  bezeichnet  werden  darf,  aus  Worten,  Gedan- 
ken, Anklängen  und  Tonspielen  die  Stimmung  und 
Reminiszenz  erstehen  zu  lassen,  die  nicht  in  den 
Dingen  liegt,  sondern  um  sie  schwebt  und  dennoch 
wahrer  ist  als  die  Dinge  selbst. 

MUSIK 

Die  intuitivste  und  transzendenteste  aller  Künste 
ist  erfüllt  von  Gesetzmäßigkeit  und  Geheimnis : 
sie  ist,  so  möchte  man  sagen,  das  zur  sinnlichen  Wahr- 
nehmung gewordene  Gesetz.  Schon  ihre  Elemente 
verkörpern  geheime  Gesetzmäßigkeit. 

Unter  den  Lauten  der  tönenden  Welt  wählt  sie 
den  musikalischen  Ton,  die  Klangform,  von  der  die 
nachspürende  Wissenschaft  aussagt,  daß  sie  auf  den 
reinsten  Schwingungen  beruht.  Als  zweites  Element 
dient  ihr  die  Harmonie,  die  auf  dem  Gesetz  der 
einfachen  Verhältnisse  zwischen  den  Schwingungs- 
zahlen der  Töne  sich  aufbaut.  Zum  dritten  stellt 
die  Melodie  ihr  Tonreihen  her,  die  den  Tonfall  der 
Sprache  in  seinem  Gesetz  erfassen  und  ihn  verklären, 
indem  sie  ihn  auf  reine  Intervalle  stimmen.  Die 
Wiederholung,  das  zeitliche  Abbild  dessen,  was 
im  Räume  Symmetrie  heißt,  läßt  die  Gesetzmäßig- 
keit der  Melodie  hervortreten  und  rundet  sie  zur 
Einheit.  Als  viertes  Element  beschließt  die  Gesetz- 
mäßigkeit des  Rhythmus,  gehoben  und  gestützt  von 
Zeitmaß  und  Dynamik,  den  gewaltigen  Kreis  der 
musikalischen  Wirkung.  Stets  gegenwärtig,  doch 
keineswegs    dauernd  wahrgenommen,    durchdringt 

63 


dies  reine  Urgesetz  die  Schöpfung,  vom  Schritt  der 
Gestirne  zum  Atemzuge,  vom  Meeresrauschen  zum 
Pendelschlag;  in  ihm  begreifen  wir  die  Zeit  und 
alles  Zeitliche. 

Indem  nun  Klang  und  Harmonie  den  Sinn  erfül- 
len, Rhythmus  und  Zeitmaß  das  Temperament  er- 
greifen, Melodik  die  Phantasie  zur  unbewußten 
Erinnerung  und  Ahnung  erweckt,  nimmt  Musik 
kraft  ihrer  elementaren  Gesetzmäßigkeiten  die 
ganze  Seele  dahin.  Und  indem  ihr  alle  Gesetze, 
die  unerklärlichsten,  in  der  Verknüpfung  der  Seelen- 
kräfte preisgegeben  sind,  steigert  sie,  ein  Symbol 
des  transzendenten  Gesetzes,  ihre  Wirkung  über 
das  Maß  aller  Künste  fast  zur  Naturkraft. 

TECHNISCHE  KÜNSTE 

Die  konstruktiven  und  gewerblichen  Künste, 
vorfallen  die  Architektur,  erwachsen  aus  vier 
Gruppen  von  Gesetzmäßigkeiten: 

Gesetzmäßigkeit  des  Materials.  Seine  Festigkeit, 
Härte  und  Elastizität,  seine  Struktur  und  Bearbei- 
tungsfähigkeit, seine  Oberflächenwirkung  und  An- 
greifbarkeit werden  dem  Auge  und  Tastsinn  fühlbar 
gemacht,  und  so  entsteht  jene  behagliche  Empfin- 
dung,, die  man  als  Materialgefühl  bezeichnen  könnte. 

Gesetzmäßigkeit  der  Konstruktion.  Aus  den 
Gesetzen  des  Materials  erhebt  sich  die  Gesetzmäßig- 
keit des  Aufbaus,  der  Zusammensetzung  der  Teile, 
der  Grundform  und  Konstruktion.  Ein  inneres,  halb 
erlerntes,  halb  geahntes  Gefühl  läßt  uns  empfinden, 
wieweit  die  Form  den  Gesetzen  der  Standhaftigkeit 
und  Festigkeit  entspricht,  ob  sie  der  Anforderung 
des  Tragens  und  Ruhens,  der  Belastung  und  Hand- 

64 


habung  gerecht  wird,  ob  sie  den  Handgriffen  der 
Bearbeitung  und  Herstellung  sich  anpaßt. 

Gesetzmäßigkeit  der  Größenwirkung  und  Pro- 
portion, sowie 

Gesetzmäßigkeit  der  Ausgestaltung  und  Schmük- 
kung  stehen  mit  den  Materialgesetzen  in  Zusammen- 
hang, sprechen  aber  gleichzeitig  zu  Kräften  unsrer 
Seele,  deren  Zusammenwirken  schwerer  aufzu- 
decken ist. 

Wir  betrachten  eine  Kirche,  eine  Brücke,  ein 
Gerät  nicht  an  sich,  sondern  im  Rahmen  seiner 
Umgebung  und  seiner  Verwendung.  Wir  messen 
es  an  unsrer  Körperlichkeit  und  Kraft  und  an  den 
Naturkräften,  Licht,  Wetter,  Wasserdruck,  denen 
es  ausgesetzt  ist.  Eine  abschätzende  innere  Vorstel- 
lung sagt  uns,  daß  die  Größe  eines  Rundbaus  luftig 
und  dennoch  sicher  uns  umschließt,  daß  die  Fenster 
einer  Front  in  schöner  Teilung  den  Raum  mit  Licht 
erfüllen,  "daß  ein  Gefäß  in  gutem  Gleichgewicht 
und  rechter  Schwere  sich  handhabt. 

Zuletzt  entsprießt  dem  kunstgeschaffenen  Werk 
das  zum  Schmuck  gestaltete  Glied  und  das  Orna- 
m.ent,  damit,  gleichwie  in  der  Blüte  des  Baumes, 
Element  und  Struktur  des  Organismus,  zur  fein- 
sten und  klarsten  Form  erhoben,  sich  mikrokosmisch 
offenbare  und  der  Überschuß  der  Schöpferkraft 
nach  überwundener  Mühsal  des  mechanischen 
Schaffens  im  Spiel  ausströmend  sich  befreie. 

ZUR  LEHRE  VON  DEN  GENJESSENDEN 

Nochmals  muß  daran  erinnert  werden,  daß  Kunst- 
und  Katurgcnuß   nicht  aus  der  erkennenden, 
sondern  aus  der  empfindenden  Wahrnehmung  eines 

IV.  5  es 


Gesetzmäßigen  hervorgehen.  Ist  das  unbewußte 
Erlebnis  zur  Erkenntnis  geworden,  so  ist  die  ästhe- 
tische Empfindung  erstorben;  ein  andres,  ein  ver- 
standesmäßiges, historisches,  vergleichendes  Be- 
hagen kann  an  seine  Stelle  treten,  und  dieses  ist  es, 
was  von  ästhetisch  nicht  veranlagten  Naturen  oft 
mit  dem  ursprünglichen,  naiven  Genießen  verwech- 
selt wird;  die  Freude  an  kunsthistorischer  Erkenntnis, 
die,  in  ihrem  Zerstören  des  Geheimnisvollen,  künstle- 
rischem Vollbringen  und  Genießen  geradewegs  ent- 
gegensteht,ist  vielfach  eineFolge  dieser  Verweclislung. 

Ist  das  Geheimnis  des  Gesetzes  aufgespürt,  so 
wird  dieses  zum  erlernbaren  Kunstmittel,  zum 
Handwerks-  und  Kunstgriff,  zum  Rezept.  Alle 
Zeiten,  die  der  Kunst  verlorengingen,  waren  solche, 
in  denen  sie  als  ein  Erlernbares  galt,  und  in  denen 
die  Regel,  das  anerkannte  ,Gesetz,  das  Kunstmittel, 
also  die  der  ästhetischen  Wirkung  widerstreitenden 
Prinzipien,  galten.  Die  Entwicklung  der  Kunst 
dagegen  beruht  auf  der  Flucht  vor  der  Regel;  indem 
verlassen  wird,  was  seinen  Schleier  verloren  hat, 
und  verfolgt  wird,  was  sich  verhüllt. 

Von  der  Doppelnatur  des  erkannten  und  des 
unerkannten  Gesetzes  geht  aber  noch  eine  zweite, 
seltsame  Wirkung  aus :  die  Schichtung  der  Empfäng- 
lichen, des  Publikums. 

Vor  den  Raffaelischen  Stanzenbildern  treffen  sich 
drei  Gruppen  von  Menschen:  die  einen,  vorwiegend 
Künstler,  denen  die  Kunstmittel  der  Renaissance,  die 
Regeln  der  Anatomie,  des  Faltenwurfs,  der  Grup- 
pierung, der  Raumausfüllung  und  der  Farbenkon- 
traste geläufige  Kunstmittel  sind ;  sie  finden  nichts, 
was  ahnungsvoll  zu  ihrem  Herzen  spricht,  erklären 
die  Werke  als  virtuos  und  langweilig,  die  Enthusiasten 


als  unverständig  und  sich  selbst  als  naiv.  Ihnen  sind 
die  Geheimnisse,  die  einst  der  Genius  herabholte, 
entschleiert  und  daher  erschöpft. 

Die  andern  erfreuen  sich  an  den  Wirkungen, 
deren  Zustandekommen  ihnen  rätselhaft  sclicint, 
und  die  ihnen  die  heutige  Kunst  aus  angezweifelten 
Gründen  nicht  mehr  oder  nicht  genügend  entgegen- 
zubringen scheint;  nennen  die  Tadlcr  blasiert  und 
sich  selbst  Idealisten. 

Die  dritten  lächeln  über  die  beiden  ersten,  weil 
sie  ihnen  gleichermaßen  abwegig  erscheinen.  Sie 
selbst  vergleichen  im  Geiste  die  Werke  des  Meisters 
mit  denen  seiner  Vorgänger,  ermessen  seine  Geniali- 
tät am  Fortschritt  und  freuen  sich  dieser  Erkenntnis. 
Sie  bezeichnen  sich  als  kunstverständig  und  die 
übrigen  als  unwissend. 

So  schichten  sich  die  Menschen  eines  Zeitalters 
nach  ihrer  Fähigkeit  des  künstlerischen  Genießens, 
die,  abgesehen  von  jeder  Veranlagung,  durch  einen 
nüchternen  Erfahrungsfaktor  bestimmt  wird.  Ihr 
Genießen  ist  rückwärts  oder  vorwärts  gewandt,  je 
nachdem,  was  sie  ästhetisch  erfahren  und  erlebt 
haben,  und  ob  ihnen  ein  geheimes  Gesetz  als  ver- 
borgen oder  enthüllt  entgegentritt.  Es  entsteht  eine 
Ästhetik  der  Zurückgebliebenen  und  eine  Ästhetik 
der  Vorschreitenden. 

Der  beständig  wachsende  Zwiespalt  unsrer  Zeit, 
die  allzuviel  gesehen  hat  und  nichts  vergessen  kann : 
die  wechselseitige  Abneigung  zwischen  Kunst  und 
Volk,  beruht  auf  dieser  doppelten  Ästhetik.  Er  ver- 
schärft sich  dadurch,daß  unsre  Epoche  zwarder  Kunst 
in  niemals  dagewesenem  Maße  bedarf  und  dennoch 
nicht  in  ihr  lebt, da  ihre  Kräfte  vom  Mechanismus  einer 
übervölkerten  Lebensgemeinschaft  verzehrt   sind. 

67 


KUNST  UND  ERKENNTNIS 

Natur-  und  Kunstempfindung  ist  Ahnung  des 
Unbewußten,  des  Gesetzmäßigen  und  also  des 
Göttlichen ;  ihr  Wesen  ist  transzendent.  Erkenntnis 
ist  dem  Wesen  der  Kunst  entgegengesetzt;  daher 
kann  Kunst  niemals  lehrhaft,  mitteilend  oder  mora- 
lisierend sein.  Ihr  Kampf  liegt  in  dem  Verhältnis 
zum  Zufälligen,  dessen  sie  bedarf,  um  sinnlich  und 
körperhaft  zu  werden,  und  dessen  sie  sich  erwehren 
muß,  um  göttlich  zu  bleiben. 

Kunst  schafft  und  beseligt,  Erkenntnis  ordnet 
und  besänftigt.  Der  Wissenschaft  ist  Ahnung  mit 
Unklarheit  gleichbedeutend  und  daher  zuwider, 
sie  verlangt  deutliche  Frage  und  entschiedene  Ant- 
wort. Sie  verflüchtigt  das  Sinnliche  zum  Begriff 
und  erledigt  das  Zufällige  als  Sonderfall.  Sie  schmilzt 
den  Reichtum  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Welt 
nieder  zu  löslicher  Einförmigkeit  und  kristallisiert 
daraus  die  farblose  Formel.  Auch  sie  betrachtet  das 
Gesetz;  aber  ihr  Anschauen  der  Gottheit  ist  zweck- 
haft, denn  sie  will  ihr  Geheimnis.  Das  Wesen  der 
Kunst  aber  ist,  wie  das  der  Natur  und  der  Gottheit 
selbst,  zweckfrei. 

1900 — 1908 


68 


WIDMUNGEN 


FRANK  WEDEKIND 

ZUM   FÜNFZIGSTEN  JAHR 

Natur  und  Wille 

In  einem  seiner  Romane  findet  der  große  Balzac 
sich  genötigt,  einen  Park  zu  schildern.  Mit  lässiger 
Hand  teilt  er  an  Wiesen,  Baumgruppen,  Teiche 
schmückende  Beiwörter  aus,  dann  wendet  er  sich 
erleichtert  dem  Herrenhause  zu,  um  es  mit  einer 
vergleichenden  Würdigung  des  italienischen  und 
des  Mansartschen  Dachbaus  zu  bedenken.  Die  Natur 
interessiert  ihn  nicht.  Ihm  gilt  nur  der  Mensch, 
seine  Sitten,  Gesellschaft  und  Einrichtungen.  Jede 
menschliche  Hülle,  Leib  und  Gesicht,  Haus,  Gerät 
und  Kleid,  von  seinem  Auge  geformt,  lebt  unver- 
geßlich; doch  die  Hülle  der  Gottheit,  die  blühende 
Welt,  ist  nur  ein  Bühnenteppich  zu  Füßen  des 
Experimentalobjekts. 

Dagegen  in  Shakespeares  und  Goethes  Garten 
fehlt  kein  Kraut,  kein  Insekt  und  kein  Gestein; 
der  Mensch  tritt  auf,  geschaffen  in  Paradiesen  und 
Höllen,  ein  lebender  Teil  der  Welt,  niemals  ein 
Schaustück  vor  einem  Hintergrunde. 

Balzacs  Welt  ist  die  ursprüngliche.  Beginnend 
von  der  Bibel,  kennen  die  Romane  des  Ostens  nur 
Willen,  Freuden  und  Leiden,  Gutes  und  Schlech- 
tes. Diese  lapidare  Betrachtung,  angewendet  auf 
das  schillernde  Paris  der  Restauration,  schuf  die 
Historiographie  der  werdenden  Neuzeit;  Beamten- 
tum und  Halbwelt,  Aristokratie  und  Jobberei, 
Geschäft  und  Militär,  Tribunal  und  Presse  sind 
fünfzig  Jahre  lang  das  geblieben,  wozu  Balzac  sie 
gemacht  hat,  und  jede  künftige  Zeit  wird  diese 

71 


Welt  begreifen,  indem  sie  ihren  Schöpfer  ver- 
nimmt. 

Wedekinds  Welt  ist  enger,  nicht  ärmer.  Sozial 
betrachtet  beginnt  sie  beim  besseren  Kunstunter- 
nehmer  und  Impresario  und  endet  beim  Klein- 
bürger und  der  Dirne;  ethisch  betrachtet  umfaßt 
sie  die  letzte  bürgerliche  Insel  berufener  Romantik, 
die  der  Flut  unsrer  Zeit  widersteht  und  von  Flücht- 
lingen aller  Lager  bevölkert  wird.  Gleichviel  welche 
Verkleidung  das  Szenarium  vorschreibt:  diese  Welt 
bleibt  gleichförmig,  und  in  ihrer  Geschlossenheit 
umfaßt  sie  eine  gewählte  und  doch  nicht  willkürliche 
Mustersammlung  des  wirren  menschlichen  Univer- 
sums. 

Seinen  Geschöpfen  nähert  sich  der  Dichter  mit 
jenen  urzeitlichen  Mitteln  der  Betrachtung.  Gut 
und  schlecht,  dumm  und  klug,  Polizei,  Öffentlich- 
keit, Besitz  und  Macht  sind  ihm  unbestrittene 
Realien.  Seine  ethische  Freiheit  zeigt  sich  nicht 
darin,  daß  er  die  Erscheinung  über  alle  Wertung 
hinweghebt,  auch  nicht  darin,  daß  er  ein  einiges 
göttliches  Urgesetz  zur  Achse  der  Welt  macht:  es 
genügt  ihm,  zu  erläutern,  daß  in  richtiger  Deutujig 
der  herrschenden  Betrachtungsweise  manches,  das 
sittlich  erscheint,  unsittlich,  manches,  das  unrecht 
gilf.  Recht  ist. 

Diese  ethische  UmJagerung  ohne  Gewaltsamkeit 
und  Aufdringlichkeit  reizt,  verwirrt  und  interessiert; 
die  innerliche  antike  Behandlung  des  neuzeitlich- 
sten Stoffes  überrascht  durch  Paradoxie.  Eine 
lapidare  Behandlung  des  Gewohnten,  zum  voll- 
kommenen Kunstmittel  ausgebildet,  eine  eiserne 
Folge  des  Gedankens  und  Dialogs,  eine  furchtlose 
Kenntnis  heimlicher  Dinge  gibt  dem  Werk  Fcstig- 

7^ 


keit  und  Männlichkeit;  ja  in  glücklichsten  Momen- 
ten bricht  aus  den  ethischen  Notwendigkeiten  eine 
Schicksalsphantasie  von  einfaclier  Größe. 

Die  altertümliche  Wcltbetrachtung  neigt  zur 
Schaffung  von  Typen;  denn  in  der  Auswahl  von 
Einzelzügen  aus  der  Unendlichkeit  des  Mannig- 
faltigen folgt  sie  nicht  so  dem  unbewußten  Triebe 
der  Reminiszenz  wie  dem  bewußten  Willen  zum 
Wesentlichen.  Dieser  Wille  aber  ist  nicht  frei  von 
einseitiger  Willkür,  und  so  beschränken  sich  die 
dichterischen  Motive,  die  schließlich  mit  Sinnlich- 
keit und  Macht  sich  behclfen  können. 

Der  künstlerischen  Gefahr  aus  dieser  erzwungenen 
Vereinfachung  ist  Wedekind  nicht  erlegen.  Nie 
ist  seine  Produktion  zum  erklügelten  Typen-  und 
Maskenspiel,  zur  lieblosen  Karikatur,  zur  kalten 
Wit'/blattsatire  herabgesunken;  stets  blieb  sie  Kunst 
und  Dichtung.  Denn  in  einem  Punkte  ruhen  seine 
Geschöpfe  mit  dem  Mittelpunkt  der  seelischen 
Schöpfung  verbunden :  in  der  Tiefe  ihres  Schmerzes. 
Deshalb  sind  sie  Menschen,  deshalb  ist  ihr  Erlebnis 
Schicksal.  Über  alles  intcllektuale,  naturfremde, 
konventionelle  Streben  hinweg  erhebt  sich  Wede- 
kinds schmerzvolles  Werk  zur  absoluten  Schöpfung 
und  somit  zum  Anspruch  auf  Dauer. 

7.  Mai  1914 


n 


HERMANN  STEHR 

ZUM  FÜNFZIGSTEN  JAHR 

A  üch  das  Echte  kann  in  unsrer  Zeit  populär  sein : 
jt\  nämlich  aus  Mißverständnis.  Dies  Mißver- 
ständnis knüpft  sich  zumeist  an  Autorität  oder  an 
gefällige  Nebendinge. 

Die  Zeit  begreift  nicht  sich  selbst ;  wie  sollte  sie  das 
Echte  aus  seinen  eigenen  Kräften  begreifen  ?  Es  eilt 
der  Zeit  voraus,  es  bleibt  hinter  der  Zeit  zurück,  es 
fügt  sich  nicht  in  ihre  Formeln,  Lehren  und  Grimassen. 

Hermann  Stehr,  unsres  Landes  größter  Epiker, 
lebt  unbekannt;  seine  Werke  sind  in  den  Händen 
weniger  Hundert,  das  Ausland,  das  sich  Indiens 
erbarmt,  hat  seinen  Namen  nie  vernommen.  Auto- 
rität schützt  ihn  nicht;  für  die  Mächte,  die  Autori- 
tät verleihen,  Bühne,  Wissenschaft,  Presse  und 
Frauen,  hat  er  nicht  geschrieben.  So  wenig  wie 
die  Werke  der  Natur  sind  seine  Werke  gefällig;  die 
verborgenen  Quellen  in  den  Tiefen  der  Gesteine  und 
der  Herzen  hat  er  angeschlagen;  die  Dinge  unter 
Tage,  jenseits  des  WoUens,  die  Labyrinthe  der  Brust 
sind  ihm  vertraut.  Seine  Menschen  reden  mit  dem 
Herzen  und  atmen  mit  der  Seele;  wer  sie  hört,  ver- 
nimmt Laute,  die  für  das  Ohr  der  Gottheit  bestimmt 
sind.  Seine  Welt  ist  deutsch-schlesisches  Licht  und 
Land,  wolkenbeschattet,  von  Himmelsstrahlen  durch- 
zogen, wie  in  Jakob  Böhmes  Schusterkugel  es  sich  spie- 
gelt ;  sein  Gott  brennt  in  der  Liebeskraft  der  Kreatur. 

Hermann  Stehr,  dem  Volksschullehrer,  Edelmann 
und  Dichter  steht  es  an,  auf  Fahnen  und  Kränze 
der  Menge  zu  verzichten;  unser  Land  schuldet 
ihm  den  Dank,  die  Verehrung  und  die  Liebe  derer, 
die  sich  im  Geist  verantwortlich  fühlen. 

16.  Februar  1914 

74 


MAX  LIEBERMANN 

ZUM  SIEBZIGSTEN  JAHR 

Sein  Großvater,  dessen  lebensgroßes  Bildnis,  von  un- 
bekannter Meisterhand  gemalt,  in  seinem  Arbeits- 
zimmer hängt,  ist  mein  Urgroßvater.  Der  war  unter 
Friedrich  Wilhelm  III.  einer  der  frühen  preußi- 
schen Großindustriellen;  wie  die  Züge  seines  Bildes 
es  weisen  und  wie  sein  seltsamer  Name  es  will, 
ein  milder,  heiterer  und  lieber  Mann.  Seine  Frau 
gebar  ihm  sieben  Söhne  und  drei  Töchter;  die 
Söhne,  riesenhafte  und  leidenschaftliche  Männer, 
sind  hochbetagt  gestorben,  von  den  Töchtern  lebt 
die  jüngste  als  Ahnin  erwachsener  Urenkel.  Jene 
zehn  Kinder  haben  ihre  Mutter  nie  lachen  sehen; 
sie  war  von  starkem,  eiferndem  Willen,  der  in  ihrem 
Testamente  fortlebt;  sie  ging  auf  in  der  Liebe  zu 
ihren  Kindern,  deren  Stärken  und  Schwächen  sie 
genau  bezeichnete,  und  zu  ihrem  Mann,  dessen 
Lebenslust   ihr   eine   harmlose   Narrheit   war. 

Das  Wesen  dieser  beiden  Vorfahren  spüren  wir 
Nachkommen  im  Blut:  im  Wechsel  von  W^illens- 
stärke  und  Heiterkeit,  verantwortlichem  Ernst  und 
Leidenschaft. 

Vor  nun  etwa  dreißig  Jahren  war  Max  Lieber- 
mann aus  der  Fremde  heimgekehrt,  jung  vermählt 
mit  einer  der  schönsten  und  liebenswertesten 
Frauen,  die  das  jugendlich  gewordene  Berlin  auf- 
wies; er  schenkte  mir  die  freundliche,  fast  kamerad- 
schaftliche Neigung  des  Älteren,  im  Kampfe 
Stehenden,  die  ich  mit  dem  unverbrüchlichen  Glau- 
ben   an    seine    Sendung   und    Zukunft    erwiderte. 

Ähnlich  wie  er  zu  mir  hatte  ein  Menschenalter 
zuvor  mein  Vater  zu  ihm  gestanden  und  ihm  ge- 

75 


holfen,  die  Abneigung  der  Familie  gegen  den  Maler- 
beruf zu  brechen.  Mich  wiederum  ermutigte  Max 
zum  gleichen  Beruf,  doch  ts  zog  mich  stärker  zu  den 
Natur-  und  Geisteswissenschaften,  und  während 
ich  den  Verzicht  auf  ein  Doppeldasein  langsam  ver- 
schmerzte, stärkte  es  mich,  schöne  Stunden  in 
seiner  Werkstatt  am  Landwehrkahal  zu  verbringen 
und  Werke  entstehen  zu  sehen,  die  meiner  Vorstel- 
lung von  einer  werdenden  Kunst  entsprachen. 

Die  großen  Gestirne  des  französischen  Impressio- 
nismus waren  uns  allen  noch  unbekannt;  wir  hatten 
eine  Vorstellung  von  erloschenen  Sternen  und  klei- 
neren Satelliten,  etwa  von  der  Art  Courbets  und 
Bastien-Lepages;  gelegentlich  vernahm  man  von 
Abseitigeren,  etwa  Israels  und  Leibl.  Menzel  war 
sehr  berühmt;  auch  unsre  störHge  Familie  hatte 
diesem  Ruhm  gehuldigt,  indem  einer  der  Ver- 
wandten sich  um  ein  großes  Bild  bewarb;  er  erhielt 
die  Laurahütte,  und  man  war  bei  aller  Bewunderung 
enttäuscht,  weil  man  den  rußigen  und  qualmigen 
Gegenstand  nicht  schön  fand.  Menzel  war  der 
große  preußische  Meister,  aber  man  sah  ihn  anders 
als  heute.  Man  liebte  die  prickelnde  Farbigkeit 
der  spitzesten  kleinen  Guaschbilder,  den  Pomp  der 
dargestellten  Hofszenen  und  abendlichen  Säle,  die 
physiognomischen  Überraschungen  der  Gesichter, 
die  minutiöse  Gewissenhaftigkeit  der  Einzelheiten. 
Mit  diesen  materiellen  Vorzügen,  die  man  reali- 
stisch nannte,  schien  gelegentlich  die  heute  vergessene 
breite  und  leere  Pinselvirtuosität  Gussows  erfolg- 
reich zu  wetteifern.  Es  war  viel,  wenn  der  Begriff 
einer  Malwcise  überhaupt  erörtert  wurde.  Gewöhn- 
lich erfreute  man  sich  im  Publikum  an  einer  nach- 
ahmenden, optisch  täuschenden  Wirkung  auf  Grund 

76 


einer  gemeinsam  gewordenen  konventionellen  Seh- 
weise; in  den  Ausstellungen  am  Kantian platz  bewun- 
derte man  das  rührende  Schicksal  der  schuldlos  ent- 
lassenen Gouvernante  und  die  verwerfliche  Pracht 
der  römischen .  Kaiserzeit. 

Liebermanns  Bilder  fand  man  häßlich.  Sie  zeig- 
ten weder  ungebrochene  Farben,  noch  appetitliche 
Lebensmittel,  weder  schöne  Gerätschaften  noch  klas- 
sische Gliedmaßen.  „Warum  muß  er  gerade  das 
Häßliche  malen  ?"  fragte  man. 

In  diesem  Widerstand  vereinigte  sich  Kritik  und 
Autorität,  Publikum  und  Familie.  Urisre  Zeit,  die 
aus  Furcht,  durch  eine  verkannte  Genialität  bla- 
miert zu  werden,  die  verdächtigste  Sonderlichkeit 
skrupelhaft  ernst  nimmt,  und  jedes  Vokabular,  das 
ein  Schalk  bei  der  Lampe  ersann,  auswendig  lernt, 
unsre  2^it  kann  solche  Kämpfe  des  einen  gegen  alle 
nicht  mehr  ermessen,  obwohl  sie  noch  heute,  bei 
andern  Menschen^  in  der  Stille,  mit  veränderten 
Anonymitäten  fortdauern.  Sichtbar  und  furchtbar 
werden  diese  Konflikte  in  allen  Zeiten  homogener 
Gemeinschaftsurteile,  wie  die  bürgerliche  Salonzeit 
seit  1850  eine  war. 

Wille  und  Charakter  waren  die  Kräfte,  die  sich 
mit  einer  großen  spezifischen  Begabung  des  Auges 
und  der  Hand  verbinden  mußten,  um  ein  Schicksal 
und  eine  solche  Zeit  zu  bezwingen. 

W^äre  Liebermann  als  ein  Naturkind  und  Träu- 
mer geboren  worden,  mit  jener  intellektfreien,  welt- 
fremden und  himmelnahen  Begabung,  die  von  der 
romantischen  Betrachtung  als  die  einzige  gepriesen 
wird,  und  die  auf  dieser  Erde  nie,  selbst  in  der  Musik 
nicht,  das  Große  vollbracht  hat,  so  hätten  die  Hebel 
der   Kampfeskräfte  ihn  zerbrochen.     Er   war   der 

77 


Naturkindschaft  fern,  vielleicht  ferner  als  er  wünschte. 
Er  war  getränkt  mit  dem  Geiste  und  der  Ladung  der 
drei  großen  kontinentalen  Kunststätten,  geschult 
in  Beobachtung,  Prüfung  und  Urteil.  Dem  Städter 
war  die  Natur  eine  Entdeckung;  eine  Entdeckung 
war  ihm  auch  die  westliche  Sehweise  und  Gestal- 
tungsart, vor  allem  die  der  beginnenden  Epoche 
charakteristische  Betrachtung.  Diese  Betrachtung, 
die  dem  literarischen  und  malerischen  Naturalismus 
zugrunde  lag,  könnte  man  als  die  objektiv  willenlose 
bezeichnen:  man  achtete  auf  das,  was  die  Dinge 
unterschied  und  sie  in  Beziehung  zueinander 
brachte;  man  suchte  dies  darstellend  so  objektiv  und 
kennzeichnend  wie  möglich  zu  registrieren  und  jede 
gefühlsmäßige  Nebenwirkung,  jede  Möglichkeit 
einer  mittelbaren  Deutung  auszuschalten.  Die 
vorangegangene  Epoche  hatte  die  enthusiastischen 
Momente  arg  mißbraucht,  und  man  war  gegen  die 
scheinbar  billigen  Wirkungen  der  Rührung,  der 
Sehnsucht,  des  Sinnenreizes,  der  Begeisterung  und 
ähnlicher  Affekte  mißtrauisch  geworden.  Daß  in 
dieser  willenlosen  und  gewollten  Objektivität  einer 
der  typischen  Einseitigkeitsirrtümer  liegt,  die  jede 
Kunstepoche  wertvoll  und  überwindbar  machen; 
indem  auch  das  anscheinend  objektiv  Charakteri- 
stische schließlich  nur  ein  gefühlsmäßig  Bevorzug- 
tes ist,  betrifft  uns  hier  nicht. 

Es  ist  reizvoll  und  unerschöpflich  problematisch, 
wie  im  Menschenwesen  Naivität  und  Bewußtsein 
sich  durchdringen,  ohne  sich  aufheben  zu  müssen. 
Liebermann  kannte  sich  und  die  andern,  seine  Stel- 
lung zur  Welt  und  ihre  Stellung  zu  ihm;  seine 
Kunst  war  zur  Ars  militans  geworden,  er  maß  sie  an 
der    Vergangenheit    und    wußte,    was    er    wollte. 

78 


Und  dennoch :  wußte  er  es  ?  Weiß  es  einer  von  uns, 
was  er  will  ?  Unsre  Naivität  strebt  zum  Absoluten, 
und  aus  diesem  Streben,  gebrochen  an  unsrer  End- 
lichkeit, entsteht  das  Persönliche. 

Sicherlich  war  ihm  deutlich,  was  er  nicht  wollte. 
Ob  er  es  in  eine  Formel  gefaßt  hat,  weiß  ich  nicht; 
fast  möchte  ich  es  glauben. 

Eines  Abends  saß  ich  in  seinem  Arbeitszimmer,  das 
neben  dem  Brandenburger  Tor  liegt  und  weit  über 
den  Tiergarten  blickt.  Er  hatte  in  seiner  formvollen, 
bildhaften  Art  einen  Aufsatz  über  Israels  geschrie- 
ben und  las  mir  das  Manuskript  vor.  Am  Schlüsse 
fragte  er  in  dem  gehackten  Berliner  Tonfall,  den 
er  mit  einiger  Absichtlichkeit  liebt :  „Na,  wat  sagste 
dazu  ?*' 

Ich  sagte:  „Famos;  aber  ich  habe  immer  auf 
ein  Wort  gewartet,  und  das  kam  nicht." 

?  - 

„Das  Wort:  Gemüt." 

Im  Druck  las  ich  später  ein  andres  Wort,  das  mir 
aus  der  Verlesung  nicht  erinnerlich  war,  das  kühlere 
und  auf  Israels,  wie  ich  glaube,  weniger  zutreffende 
Wort:  Phantasie.  Aber  ich  verstand,  daß  Lieber- 
mann den  wärmeren  Klang  vermeiden  mußte:  er 
schien  ihm  sentimental. 

Bewußt  oder  nicht;  wenn  seine  Gefühlseinstel- 
lung sich  in  eine  Formel  fassen  ließ,  so  war  es  diese : 
Flucht  vor  der  Sentimentalität. 

Darin  lag  die  Abkehr  von  einer  überalteten  Epoche, 
von  der  totgesagten  Romantik,  die  nicht  sterben 
wollte  und  in  der  deutschen  Familienkunst  nistete. 
Die  alte  Handwerkerkunst  war  stark  und  fromm 
gewesen,  die  jüngere  Hofkunst  virtuos  und  glänzend, 
die  Kunst  des  erwerbenden  Bürgertums,  des  Salons, 

79 


der  bourgeoisen  Dame  und  des  Pensionats  wurde 
sentimental.  •; 

Darin  lag  ein  Selbstschutz  gegen  eigene  Weichheit ; 
eine  Härte  gegen  sich  selbst,  wie  starker  Wille  sie  liebt. 

Darin  lag  ein  kernhaftes  Erfassen  der  neuen  west- 
lichen Kunst;  ein  so  inneres  Erfassen,  daß  alles  Um- 
gebende, Technische  nebensächlich  und  beweglich 
blieb;  deshalb  konnte  der  ideenhafte,  übernationale 
Kern  zum  Inhalt  einer  neuen  deutschen  Kunst 
werden.  Ein  Nachahmer  hätte  das  Äußere  ergriffen 
und  wäre  unschöpferisch,  abhängig  und  fremdlän- 
disch geblieben. 

Darin  lag  vor  allem  die  Selbstverkündung  einer 
werdenden  deutschen  Epoche.  Die  Mechanisierung 
und  mit  ihr  die  Großstadt,  ihre  Schöpfung,  eilte 
zu  ihrem  Gipfel,  die  kleinstaatliche  Gemessenheit 
und  Gelassenheit  war  abgesunken,  das  Denken  war 
eilig,  sachlich,  interessiert  und  spröde  geworden, 
das  Seelenhafte  schien  zu  verebben. 

Es  wäre  lohnend,  die  alte  Schillersche  Unter- 
suchung zu  erneuern.  Unser  Sprachgebrauch  würde 
sein  berühmtes  Kräftepaar  klassisch  und  romantisch 
benennen  und  das  Sentimentale  nicht  dem  Naiven, 
sondern  dem  echten  Urgefühl  entgegenstellen. 
Denn  was  wir  heute  sentimental  nennen,  ist  nicht 
das  reflektierend  Abgeleitete,  sondern  das  Falsche. 
Die  mechanische  Gefühlserregung  durch  Surrogate 
und  Requisiten,  das  hysterische  Einschnappen  auf 
seelisch  unvertiefte  Reizungen,  die  kalte  Erpressung 
der  Affekte  des  Mitleids,  der  Rührung,  des  En- 
thusiasmus und  der  Schwärmerei  und  ihre  lüsterne 
Hergabe  ohne  innere  Ergriffenheit,  ja  ohne  echten 
Anteil:  das  ist  es,  was  uns  vorschwebt,  wenn  wir 
uns  des  mißbrauchten  Begriffs  der  Sentimentalität 

80 


bedienen.  Wir  kennen  die  Billigkeit  der  sentimen- 
talen Erregungsmittel,  wir  wissen,  daß  eine  VVasser- 
fahrt  bei  Mondschein  oder  eine  beliebige  Erzählung 
vom  kranken  Kinde  zum  unvermittelten  Gefühlser- 
guß mißbraucht  werden  kann,  und  verachten  solche 
apothekerhaften  Kunstmittel  aus  Respekt  vor  echtem 
Natur-  und  Menschlicl.keitsgefühl. 

Dies  aber  ist  die  Grenze.  Wird  jenseits  des  bil- 
ligen und  falschen  GelüLls  auch  nur  um  eines 
Schrittes  Breite  das  Echte  und  Menschliche  ange- 
zweifelt, so  entsteht  Sk(  ptizismus,  der  alle  Kunst 
und  alles  Leben  erstarren  macht. 

Nicht  immer  hat  die  objektivierende  Kunst  des  Na- 
turalismus die  Grenze  bewahrt.  In  der  Literatur  blieb 
sie  zurück;  sie  nahm  die  Mißgeschicke  der  Krankheit, 
Armut  und  dumpfen  Leiderschaftlicl.keit  als  etwas  so 
unwiderleglich  Objektives,  daß  sie  im  Jammer  senti- 
mental wurde;  in  der  Malerei  ging  sie  oft  so  weit,  daß 
sie  sich  vor  einem  Gesichtsausdruck  oder  vor  einer 
Stimmung  ängstigte  und  aus  Enthaltsamkeit  e:  kältete. 

Liebermanns  Kunst  erkaltete  nicht,  obwohl  sie 
mit  der  Tendenz  der  Sentimentalitätsfeindschaft 
in  den  Kern  der  entstehenden  Epoche  drang  und 
ihre  Gefahren  teilte.  Denn  er  war  ein  leidenschaft- 
licher Mensch;  und  wenn  er  manches  verhüllte, 
was  er  empfand,  so  schimmerte  das  Blut  der  Empfin- 
dung durch  die  Hülle  der  Objektivität. 

Diese  Hülle  aber  war  gewoben  aus  der  dauerhaften 
Kette  der  Selbstkritik  und  dem  schimmernden  Ein- 
schlag des  Geschmacks.  Denn  seine  willensstarke 
Abneigung  gegen  das  Verstiegene  meisterte  und 
begrenzte  auch  seine  Form. 

Von  der  Kunst  einer  berühmten  Stadt  hat  er  ein- 
mal gesagt:   „Wissense,  det  sieht  alles  jut  aus,  aber 

IV,  6  8l 


et  is  nich  jut."  Ich  habe  ihn  oft  das  Wort  gut,  selten 
das  Wort  schön  aussprechen  hören. 

Inhalt  und  Form  sind  relative  Begriffe,  aber  inner- 
halb der  Relativität  auf  die  Kunstschaffung  anwend- 
bar. Der  sentimentalen  Falschheit  des  Inhalts  ent- 
spricht die  dekorative  und  billig-sinnliche  Leerheit 
und  Geschwollenheit  der  Form :  die  Aufmachung,  der 
Vortrag,  der  Schick,  der  Schmiß,  der  Pomp  und  der 
Prunk.  Doch  auch  hier  liegt  im  Willen  zur  Enthaltsam- 
keit eine  Gefahr;  denn  die  Natur  ist  nicht  puritanisch: 
auf  einen  Schmetterlingsflügel  verschwendet  sie  mehr 
Sinnenreiz,  als  eine  Palette  zu  fassen  vermag. 

Liebermanns  Malerei  verzichtet  nachdrücklich 
auf  dekorativen  Linienschwung,  auf  architektonische 
Flächenteilung  und  auf  feurigen  Schmelz;  ungebro- 
chene Farben  erscheinen  nie,  lebhafte  selten  und  in 
kleinen  Flecken,  starkes  Rot  und  Blau  sind  vermie- 
den. Dennoch  sind  seine  Werke  niemals  trocken, 
selten  schwankend  oder  zerrissen;  stets  waltet  in 
ihnen  ein  diskreter  Reichtum,  eine  selbstsichere 
Vornehmheit,  die  sich  bisweilen  zur  Größe,  ja 
zur  Monumentalität  erhebt. 

Denn  die  Beschränkung  ist  bei  ihm  nicht  Karg- 
heit der  Natur,  sondern  Sinnlichkeit, ''durch  Willen 
und  kritischen  Geschmack  gezügelt.  Diese  Willens- 
kraft bändigt  die  Natur,  indem  sie  sich  selbst  bändigt. 

Menschen  des  Willens,  der  Leidenschaft  und  der 
Sinnlichkeit,  unter  die  Pressung  äußeren  und  inneren 
Kampfes  gesetzt,  verschäumen  nicht  in  unbewuß- 
tem und  ungemessenem,  naturgewolltem  Gestalten. 
Aber  sie  erzeugen  in  sich  selbst  die  höchste,  ja  dä- 
monische Individualität,  die  Kraft  der  unaufhör- 
lichen Jugend,  der  Wandlung  und  Erneuerung  im 
selbstgeschaffenen  Bereiche. 

82 


Wir  kennen  im  Werke  Liebermanns  eine  Reihe 
von  Perioden:  keine  ist  eine  Periode  der  Jugend, 
keine  des  Alters.  Alle  sind  organisch,  geschlossen  und 
reif;  alle  bewegen  sich  im  Zirkel  einer  Persönlichkeit, 
Physiognomie  und  Handschrift.  Nur  eines  wächst, 
belebt  sich  und  löst  sich  los:  die  Meisterschaft. 

Für  immer  hat  sich  die  Kunst  vom  Handwerk 
getrennt.  Ihr  Wesen  ist  subtil  geworden;  alte 
Täuschungslust  ist  geschwunden,  es  soll  nur  noch 
der  Hauch  der  Empfindung  vermittelt  werden; 
der  Ballast  der  Materie,  der  vordem  alle  handwerk- 
lichen Reize  der  Kunstarbeit  trug,  verflüchtigt  sich. 
An  die  Stelle  der  kalligraphischen  Mühsal  tritt  die 
lockere  Handschrift ;  das  Füllen,  Runden  und  Glät- 
ten bleibt  dem  Gewerbe.  Meisterschaft  läßt  sich 
nicht  mehr  lehren  und  lernen;  der  letzte  gelernte 
Meister  war  Menzel;  zwischen  ihm  und  Lieber- 
mann liegt  die  Kluft  einer  Zeit. 

Es  gibt  farbige  Felshänge,  an  denen  die  Abendröten 
von  Jahrhunderten  zu  haften  scheinen;  so  ist  die 
Meisterschaft  Liebermanns  der  Abglanz  des  Unermeß- 
lichen, das  sein  Auge  erfaßt  und  seine  Hand  gestaltet 
hat.  Sie  ist  Lebenswerk  und  gibt  Zeugnis  von  einem 
Blick,  der  sich  mildert,  und  einem  Griffel,  der  leicht 
wird. 

Popularität  ist  gemeinhin  Mißverständnis.  Bei 
Liebermann  ist  sie  es  nicht.  Er  ward  bekämpft  und 
verfolgt,  solange  die  neue  Zeit,  die  er  in  sich  trug, 
jung  und  verdächtig  war;  er  wurde  populär,  indem 
er  die  alte  2^it,  Mann  um  Mann,  Werk  um  Werk, 
in  selbsterneuter  Jugend  überlebte. 

In  Menzel  hatte  das  alte  Preußen  sich  sein  Denk- 
mal gesetzt;  freilich  blieb  alles  unzeitlich  offen- 
barte, das  der  Genialität  anhaftet,  den  Zeitgenossen 


6« 


83 


unbemerkt.  In  Liebermann  malt  das  neue,  groß- 
städtisch mechanisierte  Preußen  sich  selbst.  Nicht 
seine  Bauten  und  Säle:  das  wäre  oberflächliche 
Spiegelung;  sondern  seinen  Geist,  projiziert  auf 
Natur,  Menschen  und  Dinge. 

Der  Sohn  der  Stadt,  des  jüdischen  Patriziats,  der 
übernationalen  Bildung  wurde  zu  diesem  Dienst  aus- 
ersehen ;  ein  Mensch  des  Geistes  und  Willens,  des  Kam- 
pfes, der  Leidenschaft  und  Reflexion  mußte  es  sein. 

Selbstgebändigt,  voll  verhaltener  Lebenskraft, 
scharf  zugreifend  und  abweisend,  sachlich  und  inner- 
lich bewegt  mußte  eine  Kunst  sich  gestalten,  durch 
die  ein  Volk  der  Tat,  ein  Geschlecht  von  Offizieren 
und  Ingenieuren,  von  Arbeitern  und  Forschern 
sich  seines  Schauens  bewußt  werden  sollte. 

Nicht  unbewußter  Hang  zur  Natur,  nicht  Träu- 
merei, Sehnsucht  und  Lyrik,  nicht  Mystik  und  Ek- 
stase, nicht  Pathos  und  Sinnenlust  konnte  der  ge- 
waltigen Betriebsamkeit  des  neupreußischen  Geistes 
frommen.  Diese  Kunst  mußte  beobachten,  nicht 
deuten,  sie  mußte  darstellen,  nicht  ersinnen;  sie 
charakterisierte  durch  Auswahl  und  Weglassung, 
nicht  durch  Übertreibung. 

In  allen  kommenden  Zeiten  wird  diese  preußische 
Kunst  Max  Liebermanns  leben,  und  bieten,  was  der 
stärksten  zeitlichen  Kunst  zu  bieten  obliegt :  das  Bild 
ihrer  Zeit.  Sie  wird  nicht  Stürme  der  Liebe  und  des 
Hasses  erregen,  sie  wird  mehr  zum  Auge  des  Kenners 
als  zum  Herzen  des  Enthusiasten  sprechen.  Aber  sie 
wird  dem  Menschen  das  bedeutende  Bild  eines  Men- 
schen enthüllen,  ein  Bild  der  Beherrschtheit  und  Be- 
herrschung, der  Vornehmheit  und  Meisterschaft. 

20.  Juli  19 17 


84 


I 


GESCHÄFTLICHE   LEHREN 


J 


VOM  ZIEL  DER  GESCHÄFTE 

Daß  Geschäfte  gemacht  werden,  um  Geld  zu  ver- 
dienen, scheint  vielen  ein  selbstverständlicher 
Satz.  Dennoch  habe  ich  noch  niemals  einen  wahr- 
haft großen  Geschäftsmann  und  Unternehmer 
gesehen,  dem  Geldverdienen  die  Hauptaufgabe 
seines  Berufes  war,  und  ich  möchte  behaupten,  daß, 
wer  am  persönlichen  Geldgeuinn  hängt,  ein  großer 
Geschäftsmann  überhaupt  nicht  sein  kann. 

Der  Händler  und  Krämer,  der  von  der  Arbeit 
des  Tages  lebt,  will  und  muß  in  erster  und  letzter 
Linie  an  sein  Einkommen  denken,  denn  er  setzt 
seine  leibliche  und  geistige  Kraft  in  gleicher  Weise  in 
Lebensunterhalt  um,  wie  der  Fabrikarbeiter  und 
Beamte;  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  er  eine 
gewisse,  meist  scheinbare  Selbständigkeit  der 
Verfügung  und  Arbeitseinteilung  sich  erhält. 
Doch  wenn  er  auch  eigene  Waren  gegen  Kredit 
erwirbt  und  auf  Kredit  verkauft,  so  macht  er  im 
eigentlichen  Sinne  ebensowenig  eigene  Geschäfte 
vne  ein  Chausseehauspächter,  ein  Warenhausver- 
käufer oder  ein  Telegraphenbeamter.  Er  arbeitet 
als  Beauftragter  und  im  Akkord  seiner  Gläubiger; 
es  fehlt  ihm  die  Freiheit  eigener  Verfügung. 

Durchaus  nicht  jeder  Kaufmann  ist  ein  Geschäfts- 
mann, sowenig  wie  jeder  Dienstmann  ein  Kommis- 
sionär, jeder  Kutscher  ein  Fuhrmann  und  jeder 
Bierzapfer  ein  Gastwirt  ist.  Zum  Geschäftsmann 
gehört  zweierlei :  ausreichendes  eigenes  oder  fremdes 
Kapital  im  Verhältnis  zum  Umfang  seiner  geplan- 
ten Geschäfte,  und  eine  natürliche  Begabung,  die 
weder  durch  Lehrzeit,  noch  Akademie,  noch  Praxis 
ersetzt  werden  kann. 

87 


Der  Gegenstand,  auf  den  der  Geschäftsmann  seine 
Arbeit  und  seine  Sorgen,  seinen  Stolz  und  seine 
Wünsche  häuft,  ist  sein  Unternehmen;  es  heiße 
wie  es  wolle:  Handelsgeschäft,  Fabrik,  Bank,  Ree- 
derei, Theater,  Eisenbahn.  Dies  Unternehmen 
steht  ihm  gegenüber  wie  ein  körperlich  lebendes 
Wesen,  das  durch  seine  Buchführung,  Organisation 
und  Firma  ein  unabhängiges  wirtschaftliches  Da- 
sein führt:  es  schuldet  ihm  Geld  oder  leiht  ihm 
welches,  es  verdient  oder  verliert,  es  wächst  oder 
kränkelt,  es  besoldet  Angestellte,  schreibt  Briefe, 
wirbt,  bittet,  droht  und  verklagt;  es  feiert  Jubiläen, 
vermählt  sich  und  pflanzt  sich  fort,  verzieht,  wan- 
dert aus,  stirbt  und  ersteht  von  neuem. 

Der  Geschäftsmann  kennt  kein  andres  Trachten, 
als  daß  dieses  Geschöpf  zu  einem  blühenden,  starken 
und  zukunftsreichen  Organismus  erwachse;  ding- 
liche Wünsche  außerhalb  des  Bereiches  seiner  Unter- 
nehmung hegt  er  nicht.  Denn  er  weiß,  wenn  sie 
zu  genügender  Tragfähigkeit  erstarkt,  daß  alle  Be- 
lastungen gesteigerter  Lebensführung,  standesge- 
mäßer Entfaltung,  ja  selbst  vorstrebenden  Ehr- 
geizes ihr  auferlegt  werden  können,  und  in  gleichem 
Maße  wie  diese  scheinbaren  Güter  ihm  erschwing- 
lich werden,  verlieren  sie  an  Wert. 

Und  zwar  schwindet  zuerst  die  Freude  an  käuflichen 
Dingen.  Denn  wie  die  Fähigkeit  des  Menschen  zu 
extensivem  Genießen  beschränkt  ist,  so  ist  seine  Kraft 
zu  besitzen  eng  begrenzt.  Wenn  einer  zwölf  Landsitze 
eignete  und  verurteilt  wäre,  auf  jedem  der  zwölf  einen 
Monat  zu  verbringen,  so  besäße  er  von  allen  nicht 
ein  einziges,  sondern  wäre  überall  ein  Fremdling. 

Was  von  werbender  Tätigkeit  verbleibt,  ist 
Macht  und  Maclitzuwachs.    Macht  aber  bedeutet 

88 


die  Fähigkeit,  Gedanken  in  Wirklichjceit  umzusetzen; 
sie  kann  nur  den  befriedigen,  der  Gedanken  hat, 
und  zwar  verständige  Gedanken.  Denn  nichts 
kommt  dem  geistigen  Ekel  gleich,  den  einer  empfin- 
det, der  eine  Torheit  oder  Abgeschmacktheit  ver- 
wirklicht hat,  so  daß  sie  unzerstörbar  erstarrt,  ihm 
und  jedem  des  Weges  Kommenden  in  ihrer  Unge- 
schlachthcit  vor  Augen  steht. 

Seltsamerweise  erträumen  diejenigen,  die  von 
ferne  nach  Reichtum  und  Macht  streben,  etwas 
ganz  andres,  als  was  die  Verwirklichung  ihnen  ge- 
währen kann,  die  nämlich  Verantwortung  und  Arbeit 
ist :  sie  träumen  von  üppigem  Leben,  maßloser  Frei- 
heit und  äußeren  Ehren.  Und  so  zeigt  sich  hier 
abermals  Natur  in  ihrer  Rätselhaftigkeit,  wde  sie 
Wesen  und  Erscheinung  zu  unfaßbaren  Gegensätzen 
kuppelt:  was  nach  außen  Assoziation,  ist  nach  innen 
Individuum;  was  nach  außen  Bewegung,  ist  nach 
innen  Empfinden;  was  nach  außen  Kunst,  ist  nach 
innen  Leidenschaft  —  und,  bei  dem  vorliegenden 
ärmlicheren  Beispiel:  was  nach  außen  Glanz  und 
Freiheit,  ist  nach  innen  Arbeit  und  Verantwortung. 

Ich  komme  zum  Ausgangspunkt  zurück  und  be- 
merke, daß  man  von  einem  Manne,  der  mit  dem 
Werkzeuge  seines  Unternehmens  einer  ideellen 
Macht  nachstrebt,  schwerlich  annehmen  wird, 
daß  er  seine  Einzelhandlungen,  die  man  Geschäfte 
nennt,  nach  dem  Profit  bemißt.  Ebenso  wie  die 
Einzelhandlungen  eines  Politikers  nicht  darin  be- 
stehen, die  Landesgrenzen  ständig  zu  verschieben, 
vielmehr  darin,  seine  allgemeine  Stellung  auf  dem 
Schachbrett  der  Welthändel  zu  stärken,  so  wird  der 
Geschäftsmann  die  Machtstellung  seines  Unter- 
nehmens im  Auge  haben  und  oftmals  auf  Gewinn, 

89 


zuweilen  auf  Besitz,  verzichten,  wenn  er  das  Feld 
seines  Einflusses  glaubt  erweitern  zu  können.  Er 
wird  kaum  am  Ende  des  Jahres  wissen  wollen,  ob 
und  wieweit  sein  Vermögen  sich  vergrößert  hat; 
es  genügt  ihm,  wenn  alle  seine  Unternehmungen 
in  Ausdehnung  und  innerer  Stärkung  begriffen  sind. 

VON  DER  GRUNDLAGE  DER  GESCHÄFTE 

Bedürfnisse  erkennen  und  schaffen  ist  die  Grund- 
lage aller  Geschäfte. 

Wer  den  Anspruch  stellt,  daß  die  Nation  ihm 
einen  Teil  der  Verwaltung  ihrer  Interessen  anver- 
traue und  ihm  einen  Teil  ihres  Vermögenszuwachses 
überlasse,  darf  nicht  glauben,  daß  es  als  Gegenlei- 
stung genüge,  wenn  er  den  Entschluß  faßt,  in  einer 
Großstadt  die  Zahl  der  tausend  vorhandenen  Galan- 
teriegeschäfte um  eines  zu  vermehren.  Fällt  es  ihm 
nicht  bei,  dem  Publikum  eine  neue  Bequemlichkeit, 
eine  neue  Ware  oder  eine  neue  Anregung  zu 
schaffen,  so  bedeutet  seine  wirtschaftliche  Leistung 
nur  eine  versuchte  Besteuerung  seiner  Mitbe- 
werber. Die  Klage  über  Schärfe  des  Wettbewerbs 
ist  in  Wirklichkeit  meist  nur  eine  Klage  über  Mangel 
an  Einfällen. 

Des  ferneren  sollte  ein  Geschäftsmann  bedenken, 
daß  die  Interessen,  die  er  erregen  und  sich  dienstbar 
machen  will,  entweder  sehr  starke  oder  sehr  allge- 
meine sein  müssen.  Wer  eine  Million  umzusetzen 
wünscht,  muß  tausend  Menschen  zu  dem  schweren 
Entschluß  zwingen,  je  tausend  Mark  bei  ihm  gegen 
Waren  einzutauschen,  oder  er  muß  seinen  Einfluß 
so  stark  über  die  Menge  verbreiten,  daß  hundert- 
tausend Menschen  sich  gedrängt  fühlen,  mit  ihm 

90 


um  zehn  Mark  zu  handeln.  Freiwillig  suchen  ihn 
weder  die  Tausend  noch  die  Hunderttausend  auf, 
denn  sie  alle  empfinden  längst  andre  Bedürfnisse 
der  Anschaffung,  die  zurückgedrängt  werden  müssen, 
wenn  der  neue  Geschäftsmann  Erfolg  haben  soll. 
Also  fordert  die  Ökonomik  der  Welt  mit  Recht  von 
ihm,  daß  er  sie  durch  seine  Gedanken  und  Vorkeh- 
rungen bereichere,  wenn  er  sich  selbst  bereichem 
will. 

In  diesem  Zusammenhang  sind  die  Anforderun- 
gen der  Bevölkerungsklasse  zu  betrachten,  die  sich 
Mittelstand  nennt.  Als  ein  bedeutendes  und  schaf- 
fendes Glied  des  wirtschaftlichen  Körpers  verdient 
diese  Klasse  Dasein  und  Förderung;  wieweit  ihre 
einzelnen  Angehörigen  Selbständigkeit  verdienen, 
hängt  von  der  Selbständigkeit  ihrer  Entschlußkraft, 
ihrer  Erfindungsgabe  und  ihres  Urteilsvermögens 
ab.  Jeder  individuellen,  künstlerischen  oder  örtlich 
notwendigen  Tätigkeit  wird  diese  Selbständigkeit 
zuzusprechen  sein;  fehlt  sie,  so  ist  der  goethische 
Rat  zur  Stelle:  Immer  strebe  zum  Ganzen,  und 
kannst  du  selber  kein  Ganzes  Werden,  als  dienendes 
Glied  schließ  an  ein  Ganzes  dich  an. 

Aus  dem  Gegensatz  wird  diese  Notwendigkeit 
ersichtlich:  wollte  man  heute  die  Armeen  mittlerer 
und  kleiner  Beamten  der  Industrie  und  des  Handels 
auflösen  und  aus  ihren  Elementen,  rückwärts  orga- 
nisierend, selbständige  Krämer,  Handwerker,  Gast- 
wirte und  Vermittler  machen,  so  wäre  mit  einem 
Schlage  unsre  Leistungsfähigkeit  vernichtet,  und 
in  einem  fruchtlosen  Wettkampf  müßten  diese  Eii- 
itenzen  sich  aufreiben,  sofern  sie  sich  nicht  zu 
den  früheren  Gebilden  wieder  zusammenschlössen. 
Weder  ist  es  für  den  einzelnen  eine  Erniedrigung, 

9^ 


noch  für  die  Gesamtheit  ein  Anstoß,  wenn  wirt- 
schaftliche Kräfte  sich  einer  Leitung  unterwerfen, 
sofern  sie  der  Initiative  ermangeln,  oder  der  Aufsicht, 
sofern  es  ihnen  an  Verantwortungsfähigkeit  gebricht. 
Die  wirtschaftliche  Gemeinschaft  sollte  danach 
trachten,  jedem  einzelnen  seine  Existenz  und  Ver- 
wendung zu  gewährleisten ;  eine  Gewähr  der  Unab- 
hängigkeit kann  sie  nicht  übernehmen. 

VOM  AUFBAU  DER  GESCPIÄFTE 

Ist  im  Vorangegangenen  der  Wert  des  geschäft- 
lichen Gedankens  zum  Ausdruck  gekommen,  so 
soll  dennoch  nicht  behauptet  werden,  daß  mit  der 
„großen  Idee"  allein  etwas  Erhebliches  geleistet 
oder  gar  erreicht  sei.  Große  Ideen  im  Sinne  ge-, 
schäftlicher  Phantastik  liegen  auf  der  Straße;  jeder 
berufsmäßige  Prüfer  und  Beurteiler  sogenannter 
Zeitfragen  mag  sie  auflesen.  Zwei  Meere  durch 
einen  Kanal  verbinden,  einen  unerschlossenen  Kon- 
tinent mit  einer  Bahn  durchkreuzen,  Seen  aus- 
trocknen, die  Kohlenwerke  der  Welt  zu  einem 
Syndikat  vereinen,  die  Petroleum  quellen  dreier 
Erdteile  monopolisieren,  ein  Land  mit  dem  Kupfer- 
netz elektrischer  Kraftübertragung  umspannen  — 
welche  Schwierigkeit  liegt  darin,  ein  Dutzend  solcher 
Probleme  auf  weißes  Papier  zu  zeichnen  ?  Der- 
jenige, der  sie  ausführt,  und  dessen  Namen  sie 
dereinst  tragen,  ist  selten  derselbe,  der  sie  zum  ersten- 
mal nannte.  Das  Wolkenschiff  des  Gedankens  durch 
feste  Taue  im  Erdreich  verankern,  die  Notwendig- 
keit der  Verwirklichung  ermessen,  die  Mittel  erfin- 
den und  die  Widerstände  besiegen,  das  ist  das  Werk 
des  großen  Geschäftsmannes. 

92 


Zunächst  muß  geprüft  werden,  ob  die  Notwen- 
digkeit der  Durchführung  so  zwingend  ist,  daß 
die  kapitalistische  Energiemenge,  deren  die  Welt 
zur  Bezwingung  des  Problems  bedarf,  ausgelöst 
werden  kann.  Sodann  ist  die  technische  Frage  zu 
prüfen  und  durch  bedeutende  Vorarbeiten  in  Über- 
einstimmung mit  dem  Finanzplan  zu  bringen.  Nun 
sind  politische  Widerstände  zu  beseitigen  oder  zu 
brechen ;  dann  muß  die  richtige  Auswahl  der  wahren 
und  hinreichend  starken  Interessenten  folgen.  Der 
Aufbau  der  Finanzierung  wird  vereinbart,  so  daß 
er  den  Geldmärkten  und  der  Zeitlage  entspricht, 
und  es  entsteht  die  verantwortungsvollste  Aufgabe, 
eine  von  denen,  die  über  das  Gelingen  des  Unter- 
nehmens entscheiden:  die  geeigneten  Menschen 
zu  entdecken  und  zu  gewinnen,  denen  die  Leitung 
der  Geschäfte  übertragen  werden  darf. 

Die  Ausführung  beginnt;  der  mühsam  entfachte 
Enthusiasmus  der  Beteiligten  verrauscht,  denn  un- 
vorhergesehene Schwierigkeiten  —  so  nennt  man  sie, 
obwohl  jeder  weiß,  daß  sie  niemals  ausbleiben  — 
gefährden  die  Arbeit.  Neue  Rechtsfragen  erheben 
sich,  unbeachtete  technische  Hindernisse  wachsen 
empor,  die  Zeitverhältnisse  wechseln  und  ver- 
treiben die  skeptischeren  Mitarbeiter.  Konkur- 
rierende Unternehmungen  sind  im  Schatten  der 
Werkschöpfung  entstanden  und  drohen,  mit  leicht- 
fertigerem Aufbau  den  Meister  zu  überflügeln. 
Umwälzungen  der  Weltwirtschaft  bereiten  sich  vor 
und  stellen  die  anfängliche  ökonomische  Berechnung 
in  Frage.  Daneben  erschöpfen  sich  die  Mittel.  Denn 
allen  Sicherheitsfaktoren  zum  Trotz  sind  die  Kosten- 
anschläge überschritten,  während  unabsehbare  neue 
Neben-  und  Hilfsarbeiten  als  dringlich  bezeichnet 

93 


werden,  die  von  den  Bearbeitern  des  Projektes 
übersehen  waren. 

Dies  ist  der  Augenblick,  der  in  dämonischer  Vor- 
bestimmung irgendeine  Katastrophe  zu  bringen 
pflegt,  die  außer  dem  Rahmen  aller  Voraussicht 
sich  ereignet :  Krieg,  Erdbeben,  Hochwasser,  Feuers- 
brunst, Aufstand  und  Krisen  haben  auf  diesen  Zeit- 
punkt gewartet.  Nun  sieht  sich  der  Schöpfer  von 
allen  verlassen ;  die  Mitarbeiter  werfen  ihm  die  Ver- 
antwortung vor  die  Füße  und  lassen  ihn  so  allein 
und  vereinsamt,  wie  er  vor  der  Geburt  seines  Ge- 
dankens nie  gewesen.  Die  öffentliche  Meinung  be- 
mitleidet ihn,  nicht  ohne  seine  Unvorsichtigkeit 
und  seinen  Größenwahn  ernst  zu  rügen.  Er  aber, 
der  geglaubt  hatte,  einen  lebendigen  Organismus 
aus  Menschen,  Kapital  und  Rechten  geschaffen  zu 
haben,  welcher  sich  selbst  bewegen  und  verteidigen 
würde,  muß  nunmehr,  abermals  ein  einzelner  Mensch, 
sich  in  die  Speichen  des  ermatteten  Schwungrades 
hängen  und  mit  neuentfachter  Kraft  seiner  Ideen 
die  Arbeit  von  neuem  beginnen. 

Sie  gelingt;  das  Werk  ist  vollendet,  aber  die  Er- 
folge stellen  sich  nicht  sogleich  ein.  Die  Errichtung 
erforderte  ein  Jahrzehnt,  die  Einarbeitung  verlangt 
ein  zweites,  oft  mühsameres;  denn  jetzt  erschöpft 
den  Gealterten  die  Kleinarbeit,  die  immer  wachsa- 
mere Kontrolle,  die  Erfindung  neuer  Propaganda,  die 
Aufsuchung  weiterer  Ersparnisse,  der  sich  verzwei- 
gende Ausbau  der  Organisation.  Sehr  spät,  längst 
vorausgenommen  durch  vertagte  Hoffnung  und 
Versprechung,  naht  der  Erfolg.  Und  wenn  nun  die 
neue  Generation  bei  mannigfacher  Kritik  die  Tat- 
sachen gelten  und  dem  alten  Faust  das  bedingte 
Lob  widerfahren  läßt,  daß  er  doch  immerhin  recht- 

94 


zeitig  die  Bedeutung  seines  eigenen  Werkes  erkannt 
habe,  so  trifft  die  Anerkennung  einen  Hartgewor- 
denen, der  sich  um  die  Meinung  der  Menschen 
nicht  mehr  kümmert. 

Nicht  die  schmerzlose  Empfängnis  des  Gedankens 
bedeutet  somit  die  wirtschaftliche  Tat;  das  Gedachte 
an  das  Wirkliche  zu  knüpfen  und  durch  diese  Ver- 
kettung es  zur  Wirklichkeit  erstarren  zu  machen, 
ist  die  seltsame  Not  geschäftlichen  Handelns,  die 
geistige  Berufe  nicht  kennen. 

Wollte  man  aber  folgern,  daß  dingliche  Klugheit, 
Geschicklichkeit  der  Mache,  rechnerisches  Erfassen 
und  diplomatische  Schlagfertigkeit  das  Wesen  des 
Geschäftsmannes  umschreiben,  so  träfe  diese  Kenn- 
zeichnung nicht  die  Größten  ihres  Schlages.  Klug- 
heit und  Energie  werden  zu  Erfolgen  führen,  aber 
diese  Erfolge  werden  stets  überflügelt  durch  andre, 
die  man  dem  Glück  beimißt,  oder  den  Zeitumstän- 
den, oder  rücksichtsloser  Freibeuterei :  mit  Unrecht, 
denn  sie  gehören  der  Phantasie.  Es  gibt  divinato- 
rische  Naturen,  die  auf  jenen,  zwar  materiellen, 
doch  aller  Rechnung  sich  entziehenden  Gebieten 
die  Entwicklung  kommender  Jahrzehnte,  ihre  Be- 
dürfnisse und  ihre  Behelfe  überschauen.  Ohne 
Nachdenken,  aus  einer  Geistesverfassung,  die  das 
Bestehende  und  Werdende  in  einem  zweiten,  abge- 
bildeten Schöpfungsvorgang  nachschafft,  erblicken 
sie  den  Zustand  des  Verkehrs,  der  Produktion,  des 
Austausches,  so  wie  ihn  die  inneren  Gesetze  bestim- 
men und  ändern,  und  richten  unbewußt  nach 
diesem  Gesicht  ihr  Urteil  und  ihre  Pläne.  So  sind 
sie  beständig  beschäftigt,  neben  der  Arbeit  des 
Tages  eine  vorschauende  Tätigkeit  zu  üben,  die 
viele  mißbilligen,  keiner  ihnen  streitig  macht;  und 

95 


sind  die  Zeiten  gereift,  so  erstaunt  man  kaum,  sie 
da  als  Führer  zu  finden,  wo  scheinbar  der  Zufall 
die  Ereignisse  ihren  Launen  entgegengetrieben  hat. 


LEITSÄTZE 

illine  Organisation  soll  ihr  Gebiet  bedecken  wie 
ein  Spinnennetz:  von  jedem  Punkt  soll  eine  gerade 
und  gangbare  Verbindung  zur  Mitte  führen. 

* 

lJu  sollst  die  Organe  kennen  und  beständig  beob- 
achten, aber  niemals  das  selbst  verrichten,  was  die 
Organe  ausführen  können.  Denn  die  wichtigste 
Arbeit  ist  solche,  die  kein  andrer  machen  kann; 
und  deren  gibt  es  stets  genug. 

rline  Verwaltung  sollte  so  beschaffen  sein,  daß  jede 
Fußbreite  des  Gebietes  von  einer  Verantwortlich- 
keit gedeckt  ist,  besonders  auch  der  Bezirk,  den  du 
selbst  dir  vorbehältst.  Deshalb  vermeide  Geschäfts- 
geheimnisse —  scharf  betrachtet,  gibt  es  keine  — 
und  halte  mindestens  einen  Mann,  der  alle  deine 
internsten  Dinge  erfährt  und  kennt. 

V  erlange,  daß  jeder  deiner  Leute  einen  Stellver- 
treter, keiner  einen  Adjutanten  halte. 

Unfähige  Menschen  erkennst  du  daran,  daß  sie 
ihre  Nachfolger  zu  unterdrücken  suchen. 


96 


Der  Militarismus  erzielt  große  Wirkungen  da- 
durch, daß  von  jedem  der  unteren  Organe  mehr  ver- 
langt wird,  als  geleistet  werden  kann.  Hüte  dich, 
im  Wirtschaftsleben  diesen  Drill  nachzumachen, 
selbst  wenn  du  die  Gewalt  hättest,  ihn  zu  erzwingen: 
denn  er  entbindet  deine  Leute  von  der  Pflicht  der 
Initiative. 

Oei  stets  um  das  Wohl  deiner  Leute  besorgt,  nie 
um  ihren  Beifall. 

iJei  Streitigkeiten  haben  beide  unrecht. 

vJeschäfte  müssen  monarchisch  verwaltet  werden. 
Kollegien  arbeiten  selten  schlecht,  aber  im  besten 
Fall  mittelmäßig. 

Uer  Mann,  den  du  an  die  Spitze  eines  Geschäftes 
stellst,  mag  sein,  was  er  will,  Jurist  oder  Techniker: 
bewährt  er  sich,  so  ist  er  Kaufmann. 


Ivollegialität  heißt  Feindschaft. 

Als  Beamte  kommen  zwei  Sorten  von  Menschen 
in  Betracht:  Solche,  die  ein  großes  Maß  von  Spezial- 
kenntnissen und  Schule  besitzen,  und  solche,  die 
das  haben,  was  die  Briten  common  sense  nennen. 
Leider  schließt  die  eine  Qualität  fast  immer  die 
andre  aus.  Charakter  und  Erziehung  führen  den 
Deutschen  zur  ersten,  den  Engländer  zur  zweiten 


IV.  7 


97 


Geistesdisziplin;  und  hieraus  ergibt  sich  die  Über- 
legenheit der  einen  Nation  in  technischer  Spezial- 
arbeit,  der  andern  in  Unternehmungen  des  Handels 
und  der  Kolonisation. 

r  rivatverwaltungen  gegenüber  ist  der  Staat  in 
dreifachem  Nachteil :  er  arbeitet  ohne  Wettbewerb, 
also  ohne  vergleichenden  Ansporn;  er  kann  sich 
untauglicher  Menschen  nicht  entledigen;  und  er 
leidet  am  Aberglauben  des  Dienstalters. 

Flast  du  einen  Menschen  ungeeignet  für  seinen 
Posten  gefunden,  so  setze  ihn  lieber  mit  vollem 
Gehalt  zur  Ruhe,  als  daß  du  ihn  in  seiner  Stellung 
behältst,  denn  er  wird  nicht  nur  dir  und  sich  selbst, 
sondern  ungezählten  andern  schaden. 


W  enn  du  Menschen  beurteilst,  so  frage  nicht  nach 
den  Wirkungen,  sondern  nach  den  Ursachen  der 
Fehler,  die  sie  machen. 

Wenn  zwei  Dritteile  aller  deiner  Entschlüsse  rich- 
tig sind,  so  sei  zufrieden.  Versteife  dich  nicht  darauf, 
alles  richtig  zu  machen,  sondern  handle  nach  den 
Grundsätzen,  an  die  du  glaubst.  Nicht  alle  Wege 
führen  nach  Rom;  Zickzackwege  bestimmt  nicht. 

* 

JL/aß  der  Geschäftsmann  nur  nach  dem  Erfolg 
beurteilt  wird,  ist  vielleicht  seine  beste  Erziehung. 

98 


Der  Staatsbeamte  und  Soldat  wird  für  Einzellei- 
stungen belobt  und  findet  hierin  eine  Tröstung  und 
Stärkung  seines  Selbstbewußtseins.  Der  Wert  des 
Handelns  liegt  aber  nicht  in  einer  Reihe  von  Bra- 
vouren,  sondern  in  der  Durchführung  des  Großen 
und  Ganzen. 

briefliche  Verhandlungen  führen  in  verwickelten 
Dingen  nie  zum  Ziel.  Das  geschriebene  Wort 
macht  mißtrauisch :  den  Schreiber,  weil  es  unwider- 
ruflich verbindet,  den  Empfänger,  weil  es  nüchtern, 
berechnet  und  verklausclt  klingt.  Hierzu  kommt  das 
unlösbare  Problem  alles  Schreibens :  so  zu  stilisieren, 
daß  der  Leser  nicht  anders  lesen  kann,  als  der  Schrei- 
ber sprach. 

Daher  sagt  sich  beim  ersten  Zusammentreffen 
nach  schriftlichem  Verkehr  jeder  der  beiden :  „Ich 
hatte  mir  den  andern  schlimmer  vorgestellt."  Ist 
das  nicht  der  Fall,  so  ist  die  Begegnung  vergeblich. 


Im  Vorteil  ist  der  Unterhändler,  der  vom  andern 
unterschätzt  wird.  KJeine  Schwächen  der  Auf- 
fassung und  des  Benehmens  haben  schon  man- 
chem genützt,  der  es  nicht  ahnte,  und  viele  haben 
sich  um  den  Erfolg  gebracht,  weil  sie  zu  wenig 
Fehler  begingen. 

Olaube  nicht,  etwas  dadurch  zu  erreichen,  daß 
du  alle  Einwände  vorwegnimmst  und  widerlegst. 
Niemand  läßt  sich  ad  absurdum  führen. 


99 


ilis  ist  nicht  möglich,  einen  Menschen  zu  über- 
zeugen, geschweige  zu  überreden.  Führe  neue  Tat- 
sachen und  Gesichtspunkte  an,  aber  insistiere  nie- 
mals. Die  beste  Stärke  liegt  darin,  neue  Vorschläge 
zu  ersinnen,  sobald  starke  Einwände  erhoben  werden. 


Wenn  du  Vorschläge  machst,  so  schicke  alle 
schwachen  Punkte  voraus.  Rechne  nie  darauf,  daß 
dein  Gegner  etwas  übersehen  könnte. 

Setze   stets   voraus,    dein    Gegner   sei   der   Ge- 
scheitere. 

* 

Uenke  dich  beständig  an  die  Stelle  deines  Gegen- 
über. Proponiere  nur,  was  du  selbst  in  seiner  Lage 
annehmen  würdest,  und  erwäge  bei  allem,  was  man 
dir  sagt,  die  Interessen,  die  dahinterstecken.  Denke 
nicht  nur  für  dich,  sondern  auch  für  den  andern. 


tLine    besondere    Geschicklichkeit    besteht    darin, 

von   vornherein   zu   erkennen,   welche   Punkte   die 

größeren  Schwierigkeiten  machen  werden,  und  diese 

Punkte  von  Anfang  an  in  den  Vorverhandlungen  zu 

klären. 

* 

rls  ist  eine  nützliche  Gewohnheit,  vor  allen  noch 
so  ernsten  Verhandlungen  ein  paar  Minuten  allge- 
meine Unterhaltungen  zu  führen.  Man  erkennt 
im  voraus  die  Stimmung,  die  Absichten  und  oft  das 
Ergebnis. 

* 

100 


Bei  gescheiten  Menschen,  die  in  Verhandlungen 
erfahren  sind  und  sich  kennen,  genügen  wenige 
Worte,  um  wichtige  Dinge  zu  entscheiden.  Ein 
unerfahrener  Zuhörer  würde  kaum  erkennen,  daß 
sie  mit  der  Frage  in  Zusammenhang  stehen,  und 
oft  nicht  einmal  fühlen,  ob  eine  Ablehnung  oder 
Zustimmung  erfolgt  ist, 

* 

In  letzter  Instanz  entscheidet  die  Ansicht,  die  die 
Menschen  voneinander  haben.  Ungemessener  Auf- 
wand von  Studien,  Vorarbeit  und  Mühwaltung 
sachkundiger  Kräfte  wird  vergeudet,  —  und  schließ- 
lich erkennen  zwei  Führer,  daß  die  Sprechweise  des 
einen  dem  andern  unsympathisch  ist. 

* 

Im  allgemeinen  lege  auf  Verhandlungen  keinen  zu 
großen  Wert.  Ist  deine  Geschäftspolitik  —  mit 
andern  Worten:  deine  Voraussicht  der  zukünftigen 
Entwicklung  —  richtig,  arbeitest  du  mit  geeigneten 
Mitteln  und  in  zutreffender  Schätzung  deiner 
Kräfte,  so  werden  die  Geschäfte  dich  aufsuchen  und 
die  Verhandlungen  werden  nebensächlich  werden. 
Die  größte  geschäftliche  Stärke  —  und  eigentlich 
die  einzige  —  ist  der  Vorsprung.  Im  Gegenstand, 
in  Beziehungen,  in  technischen  Erfahrungen,  in 
Organisation,  in  Arbeitsweise.  Befasse  dich  heute 
mit  den  Geschäften,  die  andere  in  einem  Jahr  machen 
werden,  und  du  bedarfst  keiner  Kunstgriffe,  keiner 
Diplomatie    und    keiner    Verhandlungskunst. 

♦ 

nL'm  schwieriger,  verwickelter  oder  spitzfindiger 
Gedanke  taugt  in  Geschäften  so  wenig  wie  im  Leben, 

lOI 


Jede  große  geschäftliche  Idee  läßt  sich  in  einem  Satz 
aussprechen,  den  ein  Kind  versteht.  Hier  wie  über- 
all liegt  die  Kunst  in  der  Vereinfachung. 

hiine  Schwierigkeit  besteht  darin,  das  Gleichge- 
wicht zu  finden  zwischen  umfassender  und  ein- 
dringender Arbeit.  Denn  der  Tag  hat  nur  vierund- 
zwanzig Stunden,  und  jede  Stunde,  die  der  Verant- 
wortliche der  Einzelarbeit  widmet,  läßt  das  Werk 
führerlos.  Dies  verkennen  häufig  die  Techniker 
und  sonstigen  Spezialisten,  die  aus  Liebhaberei  oder 
Eitelkeit  die  elegantesten  Aufgaben  nicht  ihren 
Hilfskräften  überlassen  wollen.  Ein  Direktor,  der 
konstruiert,  ist  unbrauchbar;  als  Direktor  sicher, 
meist  auch  als  Konstrukteur. 

Den  entgegengesetzten  Fehler  begehen  ober- 
flächliche Naturen,  die  der  Schulung  entbehren: 
sie  treiben  beständig  hohe  Politik  und  wissen 
nicht  einmal,  welche  Massen  und  Kräfte  sie  in 
Bewegung  setzen.  Sind  sie  gescheit  genug,  ihre 
Schwäche  zu  empfinden  und  zu  rechtfertigen,  so 
beschwichtigen  sie  sich  mit  dem  Gedanken,  daß  sie 
nicht  alles  einzelne  übersehen  können  und  daß  die 
eindringende  Vertiefung  ihnen  nur  gelegentlichen 
Einblick  schaffen  würde. 

Das  letzte  ist  wahr;  aber  der  gelegentliche  Einblick 
wird  für  den,  der  Symptome  abzuschätzen  weiß, 
zum  umfassenden.  Ein  großer  Geschäftsmann  liebt 
die  Einzelheit;  er  sucht  sie  in  freien  Stunden  auf 
und  erblickt  sie  hinter  jeder  grundsätzlichen  Ver- 
fügung. Wie  denn  jeder  noch  so  abstrakte  Ge- 
danke nur  dann  stark  ist,  wenn  durch  seinen  durch- 
scheinenden Körper  das  bewegliche  Leben  schim- 

102 


mert.  Jeder  Einblick  in  die  Einzelheit  bedeutet 
ein  wichtiges  Experiment;  ein  gleiches  wie  die  Boh- 
rung für  den  Geologen,  der  zwar  die  Decke  der 
Erde  nicht  lüften  kann  und  dennoch  die  Falten  und 
Schichtungen  der  Gebirge  durch  örtliche  For- 
schung aufdeckt. 

Den  Zeitpunkt  erkennen,  den  xaioog,  den  die 
Griechen  dem  Glücke  gleichstellten,  bedeutet  eine 
Kunst,  die  darin  besteht,  daß  man  von  jedem  neuen 
Ereignis  sich  die  großen  und  kleinen  Folgen  bis  ins 
letzte  klarzumachen  sucht. 

Dem  Blick  für  den  Zeitpunkt  ist  zu  vergleichen 
der  Blick  für  das  Gebiet.  Mit  der  gleichen  Tatkraft 
und  Einsicht,  die  einen  Handlungsgehilfen  zum 
Prokuristen  befördert,  wird  der  Kleinkaufmann,  der 
sich  im  Goldlande  ansiedelt,  zum  Weltunternehmer. 

V  erschwendung  auch  im  kleinsten  zu  bekämpfen, 
ist  nicht  kleinlich,  denn  sie  ist  eine  fressende  Krank- 
heit, die  sich  nicht  lokalisieren  läßt.  Es  gibt  große 
Unternehmungen,  deren  Bestehen  davon  abhängt, 
ob  die  mit  Erde  gefüllten  Kippwagen  rein  entleert 
werden,  oder  ob  eine  Schaufel  voll  Sand  darin 
zurückbleibt. 

Das  Bewußtsein  eines  Unternehmens  ist  seine 
Statistik.  Sie  ist  richtig  aufgebaut,  wenn  jedes  Glied 
einen  empfindlichen  Nerven  ins  Gehirn  sendet, 
der  Spannung  und  Temperatur  getreulich  anzeigt. 


lo^ 


Wer  sich  beklagt,  daß  er  zuviel  zu  tun  hat,  be- 
weist, daß  er  nicht  organisieren  kann.  Napoleon 
hätte  nie  abgelehnt,  Spanien  zu  erobern  mit  der 
Begründung,  er  sei  überlastet. 

Wer  dagegen  zu  wenig  zu  tun  hat,  beweist,  daß 
er  überflüssig  ist. 

* 

Von  nicht  monopolistischen  Unternehmungen 
pflegen  nur  solche  Bestand  zu  haben,  die  auf  dem 
Grundsatz  der  Masse  beruhen,  nämlich  auf  der 
Summierung  einer  großen  Zahl  kleiner  Wirkungen. 
Diesen  Aufbau  haben  sie  mit  jedem  Organismus 
der  Natur  gemein,  der  gleichfalls  aus  der  Häufung 
zahlloser  Zcllenwirkungen  sein  Leben  summiert. 
Ein  Baum  saugt  durch  die  feinsten  Verzweigungen 
seiner  Wurzeln  die  Nahrung  des  Bodens,  läßt  sie 
durch  die  Zellenketten  seines  Stammes  zur  Krone 
emporsteigen  und  verteilt  sie  auf  die  Blätter  und 
Früchte  seines  Geästs. 

Unternehmungen,  die  den  mühseligen  und  lang- 
wierigen Ausbau  dieses  Organismus  verschmähen, 
sind  als  vorübergehende  Erscheinungen  anzusehen 
und  sollten  demgemäß  verwaltet  und  bewertet 
werden.  Geschäftsleute,  die  ihre  Stärke  in  Einzel- 
leistungen und  Geschicklichkeiten  sehen,  denen  der 
Aufbau  und  die  Pflege  von  Organisationen  nicht 
zusagt,  finden  ihren  eigentlichen  Beruf  als  Vermitt- 
ler und  Akquisiteure. 

Da.  auch  die  innere  Verwaltung  der  Unterneh- 
mungen insofern  Massen wirkung  ist,  als  ähnliche 
Einzel  Vorgänge  und  Erscheinungen  sich  täglich  und 
stündlich  wiederholen,  so  ergibt  sich,  daß  kleinste 

104 


Mißstande  in  der  Leitung  oder  Organisation  sich 
zu  bedeutenden  Wirkungen  häufen  müssen.  Die 
Vorliebe  oder  Abneigung  eines  verantwortlichen 
Beamten  für  oder  gegen  einzelne  Gebiete  oder 
Gepflogenheiten,  die  Gleichgültigkeit  oder  Über- 
empfindlichkeit des  Organisationskörpers  gegen 
Anforderungen  des  Marktes  oder  des  Publikums, 
fehlerhafte  Zeiteinteilung  oder  Duldung  kleiner 
Vergeudungen:  alle  diese  kleinen,  aber  organischen 
Mißslände  können  große  Unternehmungen  aus  der 
Reihe  der  Mitbewerbenden  entfernen,  ja  vernichten. 
Aus  der  Kenntnis  des  Geschäftsgebietes,  der 
Organisation  und  der  leitenden  Personen  läßt  sich 
die  Zukunft  eines  Unternehmens  mit  großer  Wahr- 
schcinlichlceit  vorhersagen. 

1902.  1908 


105 


VOM  WESEN  INDUSTRIELLER  KRISEN 


Die  Erfahrung  zeigt,  daß  während  der  Dauer 
wirtschaftlicher  Krankheiten,  die  wir  Krisen 
nennen,  der  Absatz  stockt,  obwohl  genügend  viele 
Verbraucher  der  Waren  bedürfen :  sie  können  eben, 
weil  sie  beschäftigungslos  sind,  diese  Waren  nicht 
kaufen.  Auch  die  Erzeugung  stockt,  obgleich  sich 
viele  Hände  nach  Arbeit  ausstrecken.  Das  Geld  ist 
verschwunden,  obgleich  der  Besitz  der  Erde  an 
Gütern  nicht  vermindert  ist,  und  obgleich  das  Me- 
tall nach  wie  vor  umläuft.  Der  Unternehmungsgeist 
schwindet,  obgleich  Kaufleute,  Industrielle  und 
Finanzleute  nach  Gelegenheit  spähen,  wirtschaft- 
liche Aufgaben  zu  stellen  und  zu  lösen.  Es  gibt  keine 
Verkäufer,  weil  es  keine  Käufer  gibt;  es  gibt  keine 
Käufer,  weil  es  keinen  Verdienst  gibt;  und  es  gibt 
keinen  Verdienst,  weil  nichts  zu  verkaufen  ist. 
Es  ist,  als  wäre  der  Blutumlauf 'des  ökonomischen 
Körpers  plötzlich  gehemmt;  und  da  man  keine 
physische  Ursache  wahrnimmt,  möchte  man  eine 
psychische  Erkrankung  vermuten.  Tatsächlich  ist 
die  Krankheit  zum  Teil  auch  psychischer  Art; 
aber  sie  stammt  aus  körperlichen  Schäden. 


Das  Vermögen  einer  Nation  erscheint  in  zweierlei 
Form:  als  Ware  und  als  Anlage  wird  es  sichtbar. 
Waren  sind  beweglich,  Anlagen  sind  unbeweglich. 
Dennoch  wird  von  beiden  verlangt,  daß  sie  ihr  Zu- 
gehörigkeitsverhältnis zu  einem  Besitzer  jederzeit 
ändern  können:  über  das  natürliche  Bewegungs- 
system der  Güter,  das  sie  von  der  Gewinnungsstelle 
zur  Verarbeitung,  von  dort  zum  Verbrauch  oder 

109 


zur  Verwendung  führt,  lagert  sich  ein  zweites  Be- 
wegungssystem, das  des  Eigentumsanspruchs,  das 
unsichtbar  in  einem  zweiten  Reiche  sich  vollzieht, 
in  welchem  nicht  die  Dinge,  sondern  ihre  Abbilder 
kreisen. 

Wer  einen  Sack  Mehl  kauft,  um  zu  backen,  der 
nimmt  eine  Ware  mit  sich,  die  er  sieht,  greift  und 
verwendet;  wer  ein  Landgut  kauft,  ergreift  Besitz 
durch  Auflassung,  Handanlegung,  übernimmt  das 
Besitztum  und  richtet  sich  ein.  Hier  fällt  der  Er- 
werb des  sichtbaren,  individuellen  Dinges  mit  dem 
des  unsichtbaren  Machtanspruches  zusammen. 
Die  Güterbewegung  ist  differenziert. 

Wer  tausend  Wagen  Mehl  zur  Lieferung  an  einem 
bestimmten  Tage  kauft,  das  er  nicht  verbacken  kann 
noch  will,  das  er  vielleicht  nicht  einmal  einlagern 
könnte,  sondern  das  er  weiterzugeben  oder  aufzu- 
teilen gedenkt;  wer  einen  Pfandbrief  kauft,  der 
einen  Grundwertanspruch  darstellt,  jedoch  nicht 
auf  eine  bezeichnete  Liegenschaft,  sondern  auf  den 
gesamten  Pfandbesitz  einer  Bank,  der  erwirbt 
einen  unpersönlichen,  undifferenzierten  Besitz, 
einen  Machtanspruch,  der  mit  der  natürlichen  Be- 
wegung des  Gutes  nicht  zusammenfällt.  Das  Mehl, 
das  er  gekauft  hat,  lagert  in  Speichern,  die  er  nicht 
kennt,  bewegt  sich  auf  Bahnen,  von  denen  er  nichts 
weiß,  zu  Verbrauchern,  die  er  nicht  bestimmt.  Das 
verpfändete  Grundstück  wird  bebaut,  vermietet, 
ausgetauscht,  ohne  daß  er  es  erfährt. 

In  der  sichtbaren  Ebene  der  realen  Wirtschaft 
bewegen  sich  die  Güter,  in  der  unsichtbaren  Ebene 
der  Machtansprüche  bewegen  sich  die  Besitzrrechte. 
Diese  Doppelheit  ist  der  Ausdruck  unsrer  Univer- 
salwirtschaft, die  nur  dadurch  bestehen  kann,  daß 

HO 


jeder  einzelne  seinen  Besitz  der  Wirtschaft  zur 
Verfügung  stellt  und  daß  die  gemeinsame  Wirt- 
schaft im  Verhältnis  gedachter  Ansprüche  jedem  die 
Güter  zur  Verfügung  stellt,  die  er  verlangt';  daß  der 
Produktionsprozeß  seinen  eigenen  Gesetzen  folgt, 
die  unabhängig  sind  von  der  Verteilung  der  An- 
sprüche und  Anrechte. 

Nicht  durch  bewußte  Einrichtung  und  Verein- 
barung, sondern  durch  selbsttätige  Umgestaltung 
des  Wirtschaftslebens  auf  dem  Wege  der  Substi- 
tution des  Grundes  sind  in  der  zweiten  Ebene,  der 
des  Besitzanspruchs,  getreue  Abbilder  entstanden, 
die  den  Realien  der  ersten  Ebene  entsprechen. 
Ich  nenne  diese  Abbilder  Zirkulationsformen. 

Die  Zirkulationsform  des  undifferenzierten  Be- 
sitzes, des  Besitzes  schlechthin,  der  seinen  Anspruch 
noch  nicht  gewählt  hat,  ist  das  Bankguthaben,  das 
Sparkassenbuch,  der  Scheck;  Besitzformen,  deren 
Gegenwert  freilich  im  stillen  Einverständnis  des 
Eigentümers  seitens  der  Bank  zum  Teil  in  differen- 
ziertere Formen  geleitet  wird,  insoweit  er  in  Wech- 
seln, Anleihen  oder  Hypotheken  Unterkunft  findet. 

Die  Zirkulationsform  des  Staatsbesitzes  und  des 
freien    Nationalvermögens    ist    die    Staatsanleihe. 

Die  Zirkulationsform  der  undifferenzierten  Ware 
ist  der  Wechsel,  die  der  differenzierten  Ware  der 
Lieferschein  und  das  Konnossement. 

Die  Zirkulationsform  der  Detailware  und  der  per- 
sönlichen Dienstleistung  ist  das  Bargeld  und  die  Bank- 
note. Hieraus  ergibt  sich  im  Vorübergehen  die  Sinn- 
losigkeit der  Metalldeckung;  eine  Wechseldeckung 
genügt,  sofern  sie  einen  ausreichenden  Betrag  an 
Auslandswechseln  einschließt,  um  die  Valuta  zu 
schützen.   Das  Gesetz  der  Umlaufsmittel  ist  nicht : 

III 


Goldschatz  mal  drei,  sondern :  nicht  mehr  und  nicht 
weniger,  als  Detailwaren  und  Dienste  in  erfah- 
rungsmäßigem Umlauf  sind. 

Die  Zirkulationsform  des  Grundbesitzes  ist  der 
Pfandbrief;  in   differenzierter  Art  die  Hypothek. 

Die  Zirkulationsform  der  gewerblichen  Anlage 
ist  die  Obligation  und  Aktie.  Bei  der  Ungleichartig- 
keit  des  gleichzeitigen  Erträgnisses  verschiedener 
Wirtschaftsgebiete  hat  sich  eine  gänzlich  undifferen- 
zierte Zirkulationsform  des  Gesamtgewerbes  nicht 
herausgebildet.  Bei  verändertem  Wirtschaftsaufbau 
ist  sie  denkbar. 

Die  wenig  ausgebildete  Zirkulationsform  des 
Kleingewerbes  ist  der  Genossenschafts-  und  Perso- 
nalkredit. 

Der  Wert  der  Realgüter,  die  eine  Zirkulations- 
form nicht  gefunden  haben,  ist  im  nationalen  Haus- 
halt unbedeutend.  Es  sind  vornehmlich  die  unbe- 
lasteten Restbeträge  der  Grundwerte  und  Privat- 
geschäfte, bezahlter  und  benutzter  Hausrat,  Kunst- 
werke und  Sammlungen.  Mit  andern  Worten: 
fast  jeder  Wert  der  nationalen  Wirtschaft  hat  sein 
Abbild  und  seinen  Gegenwert  in  irgendeiner  Zirku- 
lationsform, und  umgekehrt  ist  jeder,  der  besitzt, 
gezwungen,  seinen  Besitz  in  eine  dieser  Zirkulations- 
formen zu  kleiden,  und  somit,  mag  er  wollen  oder 
nicht,  an  der  nationalen  Wirtschaft  mitzuwirken. 
Selbst  wenn  er  Banknoten  aufspeichert,  hat  er  nichts 
andres  getan,  als  der  Reichsbank  ein  zinsloses  Dar- 
lehen gegeben.  Eine  Entziehung  von  der  National- 
wirtschaft findet  nur  dann  statt,  wenn  Kapital 
mitsamt  seinen  Erträgen  dem  Auslande  überlassen 
wird,  oder  wenn  wirtschaftlich  wertlose  Stoffe  — 
Juwelen  und  andre  Luxusgüter  —  erzeugt  oder  vom 

112 


Ausland  bezogen  werden,  oder  wenn  brauchbare 
Stoffe  mit  der  Absicht  der  Einsperrung  dem  Ver- 
brauch vorenthalten  werden.  Da  das  letztere  in 
Friedenszeiten  nachweislich  in  keinem  irgendwie 
nennenswerten  Umfange  geschieht,  fallen  jene 
neueren  Theorien  dahin,  die  auf  der  Annahme  eines 
Kapitalstreiks  beruhen.  i 

Wollte  man  bei  wirtschaftlichen  Betrachtungen 
sich  daran  gewöhnen,  den  Begriff  der  Zirkulations- 
formen anzuwenden  und  hiermit  gewissermaßen 
eine  doppelte  Buchführung  der  Vorgänge  zu  schaf- 
fen —  indem  nämlich  das  Endergebnis  aller  Güter- 
bewegung mit  dem  Ergebnis  der  Bewegung  der 
Abbilder  übereinstimmen  muß  —  so  würde  manche 
Verwirrung  beseitigt,  die  heute  sich  mit  den  Be- 
griffen des  Geldes  und  Kapitals  verknüpft.  So 
würde  zum  Beispiel  eine  Lehre  nicht  mehr  ernst 
genommen  werden  können,  die  aus  einer  Umge- 
staltung einzelner  Zirkulationsformen,  etwa  der 
Banknoten,  eine  Beschleunigung  des  realen  Güter- 
umlaufs erhofft,  der  in  Wirklichkeit  ausschließlich 
von  technischen  Gegebenheiten  abhängt.  Ebenso 
würde  manche  Spekulation  über  Geldentwertung 
und  Geld  Überwertung  sich  erledigen,  wenn  man 
sich  klarmacht,  daß  ebensoviel  an  Umlaufsmitteln 
geschaffen  werden  darf  und  muß,  als  dem  Noten- 
institut   an    echten    Warenwechseln    zufließt. 

Die  Ware,  soweit  sie  nicht  vom  Gebrauch  ver- 
zehrt wird,  strebt  beständig  nach  Immobilisation. 
Alles  Eisen,  das  heute  dem  Hochofen  entströmt, 
wird  morgen  als  Schiene,  Brücke,  Bedachung, 
Maschine  oder  Werkzeug  wirtschaftlich  erstarren. 
Das  Getreide,  das  heute  in  der  Scheune  oder  im 
Bauch  des  Schiffes  ruht,  wird  morgen  in  Muskel- 


IV,  • 


113 


kraft  verwandelt,  die  sich  wiederum  in  Ware  oder 
in  Anlage  umsetzt. 

Die  Anlagen  dienen  dazu,  als  Wohnstätten,  Hei- 
zungs-,  Beleuchtungs-,  Transportmittel,  als  Heil- 
anstalten, Lehranstalten,  Vergnügungsstätten,  Ka- 
sernen, Waffen  das  Leben  zu  erhalten,  zu  fördern, 
zu  beschleunigen  und  zu  schützen;  oder  sie  dienen 
dazu,  als  Fabriken,  Bergwerke,  Äcker  von  neuem 
Waren  zu  erzeugen.  Wenn  auch  auf  diese  Weise  ein 
Teil  des  Anlagevermögens  wieder  nach  Mobilisation 
strebt  (indem  es  nämlich  Ware  erzeugt),  so  vermehrt 
sich  doch  unaufhörlich  der  feste  Rückstand  unbeweg- 
licher Werte  und  erreicht  im  Lauf  der  Jahrhunderte 
gewaltige  Größen.  Man  wird  daher  guttun,  beim 
Vergleich  des  Wohlstandes  zweier  Nationen  nicht 
sowohl  ihren  Besitz  an  Waren  in  Rechnung  zu 
ziehen  als  (abgesehen  von  ethischen  Werten)  ihr 
produktives  Vermögen,  mit  andern  Worten:  die 
Umgestaltung  ihres  Erdinnern  und  ihres  Erdäußeren. 

Der  Vorgang  der  Immobilisierung  ist  nicht  um- 
kehrbar. Zwar  erzeugen  neugebaute  Fabriken 
wiederum  Warengüter,  jedoch  in  jährlich  begrenz- 
tem Ausmaß;  die  Mauern,  Dächer,  Maschinen 
lassen  sich  mit  einigermaßen  erträglicher  Ausbeute 
in  Waren  nicht  zurückverwandeln. 

Würden  mit  einem  Schlage  alle  Güter  der  Erde, 
mit  Ausnahme  der  in  weiterem  Sinne  verzehrbaren, 
immobilisiert,  so  wäre  in  diesem  Augenblick  der 
Produktionsprozeß  erstarrt,  denn  es  fehlte  ihm  an 
Betriebsstoffen,  Halbfabrikaten,  Zwischenproduk- 
ten, Fert!gwaren. 

Da  nun  der  Sinn  der  unverzehrbaren  Ware  die 
Immobilisierung  ist,  und  da  wiederum  die  restlose 
Immobilisierung  den  Wirtschaftsvorgang  vernich- 

114 


tet,  so  muß  es  eine  obere  Grenze  geben,  bis  zu  der 
die  jährliche  Immobilisierung  vorschreiten  darf, 
während  ihre  Überschreitung  kritisch  ist. 

Diese  obere  Grenze  ist  gegeben  durch  die  natio- 
nale Ersparnis,  soweit  sie  nicht  ins  Ausland  wandert. 
Den  genauen  Gegenwert  dieser  heimbehaltenen 
Ersparnis  erblicken  wir  am  Ende  des  Jahres  in 
zweierlei  Form:  in  Anlagen  und  Verbesserungen 
einerseits,  in  vergrößerten  Warenlagern  andrerseits. 
Da  die  Aufspeicherung  in  Lägern  und  die  Kapital- 
ausfuhr sich  nicht  sprunghaft  ändert,  finden  wir  so- 
mit in  Bauten,  Anlagen  und  Meliorationen  das 
sichtbare  Maß  der  nationalen  Ersparnis.  Wer  die 
Reichsgrenze  überschritt,  erblickte  ohne  die  Eisen- 
bahn zu  verlassen  in  der  verminderten  Zahl  der 
Neubauten,  Bahnhofserweiterungen,  Wegebauten, 
den  auffälligen  Gegensatz  zur  deutschen  Sparkraft. 

Immobilisiert  eine  Nation  in  einem  Jahre  mehr 
als  sie  erspart  hat,  so  kommt  sie  in  ähnliche  Lage 
wie  ein  Landmann,  der  zuviel  verbaut.  Es  fehlt  ihr 
an  Betriebsmaterialien;  sie  muß  ihre  ausländischen 
Besitztümer  angreifen,  um  die  fehlenden  Waren  zu 
erhalten,  sie  muß  vom  Auslande  Waren  leihen,  sie 
muß  ihren  Immobilisa tionsprozeß,  ja  schließlich 
ihren  Produktionsprozeß  aus  Alangel  an  eigenem 
Material  verlangsamen. 

Dies  ist  der  Punkt  der  industriellen  Krisis,  wie 
er  sich  auf  der  Ebene  der  Realien  ausdrückt.  Auf 
der  Ebene  der  Zirkulationsformen  müssen  wir  die 
Abbildung  des  Vorganges  erblicken. 

Die  Unumkehrbarkeit  des  Immobilisations Vor- 
ganges spiegelt  sich  folgendermaßen: 

Beim  Verbrauch  von  Waren  zur  Herstellung  von 
Anlagen  verschwinden  Wechsel — durch  Rückzahlung 


8» 


"5 


— und  es  entstehen  Aktien,  Obligationen  und  Hypo- 
theken, im  schlimmsten  Fall  auch  Finanzwechsel. 
Diese  Werte  sind  nicht  rückverwandelbar. 

Der  Sättigungsvorgang  spiegelt  sich  so:  Käufer 
von  Aktien,  Obligationen  und  Hypotheken  ist  der 
Sparer.  Die  Tatsache,  daß  das  Land  nicht  mehr 
verbauen  kann  als  es  erspart,  drückt  sich  dadurch 
aus,  daß  der  Kapitalist  nicht  mehr  von  diesen  Zirku- 
lationsformen aufnehmen  kann,  als  sein  Vermögens- 
zuwachs beträgt.  Sein  Betriebskapital  kann  und 
darf  er  nicht  in  Anlagewerte  verwandeln.  Geschieht 
es  dennoch,  so  müssen  zunächst  die  Banken  stand- 
halten; ihre  Behälter,  die  für  flüssige  Mittel  be- 
stimmt sind  —  Wechsel,  Kasse  und  tägliche  Guthaben. 
—  füllen  sich  mit  Aktien,  Obligationen,  Grund- 
werten und  gelegentlich  Finanzwechseln;  der  Stand 
der  Banken  versteift  sich. 

Selbsttätig  wirkt  der  steigende  Bankdiskont  der 
Entstehung  von  Wechseln  entgegen,  zieht  vielleicht 
zunächst  auch  einiges  ausländische  Kapital  herbei ; 
dann  aber  fehlt  es  dem  Gewerbtreibenden  an 
Betriebsmitteln,  er  muß  seine  Tätigkeit  einschränken 
und  gleichzeitig  hohe  Zinsen  zahlen.  Seine  Erträg- 
nisse verschlechtern  sich,  der  Wert  der  Aktien  sinkt, 
das  Überangebot  an  Werten  tritt  hinzu;  nun  ist 
auch  der  Entstehung  neuer  immobiler  Zirkulations- 
formen Halt  geboten:  das  Gründen  und  Erweitern 
hört  auf  und  somit  das  Bauen. 

Hier  betreten  wir  wieder  die  Ebene  der  Realien. 
Der  Produktionsprozeß  ist  verlangsamt,  das  Bauen 
und  Immobilisieren  hat  aufgehört;  ja  selbst  der 
Verbrauch  hat  sich  durch  die  Ungunst  der  Zeit- 
läufte vermindert.  Die  verkleinerte  Produktion 
kommt  nun  der  Erzeugung  beweglicher  Waren  zu- 

ii6   . 


gute,  zunächst  solcher,  die  zur  Rückerstattung  der 
geliehenen  Auslandsgüter  dienen.  Die  Volksersparnis 
wächst  wiederum  an,  sie  dient  zunächst  zur  Beschaf- 
fung von  Betriebsstoffen  und  zur  Anfachung  des  Pro- 
duktionsprozesses, die  Wirtschaft  kommt  in  Gang. 

In  der  Ebene  der  Zirkulationsformen  haben  die 
Auslandsforderungen  sich  vermindert;  die  Kapita- 
listen beginnen,  bei  gesteigerten  Erträgnissen  und 
gesunkenen  Kursen  die  Banken  von  ihren  Anlage- 
werten zu  entlasten;  diese  werden  aufnahmefähig 
für  Wechsel,  der  Diskont  sinkt,  Geld,  wie  man  sagt, 
wird  angeboten;  der  Wert  der  Anlagen  vermehrt 
sich  dreifach :  durch  steigenden  Ertrag,  durch  höhere 
Kapitalisierung  und  durch  wachsende  Nachfrage; 
CS  werden  wiederum  neue  Anlagewerte  geschaffen  — 
und  abermals  ist  die  Spiegelwirkung  auf  der  Ebene 
der  Realien  das  verstärkte  Bauen. 

Hiermit  sind  die  Bedingungen  für  die  wirtschaft- 
liche Hochkonjunktur  gegeben,  die  wiederum  an- 
hält, über  das  Ziel  schießt,  indem  sie  mehr  verbaut, 
als  das  Land  erspart  hat,  und  somit  den  Kreis- 
prozeß erneuert. 

Die  Kenntnis  dieser  Zusammenhänge  führt  ohne 
weiteres  zu  Beobachtungsformen,  die  jede  be- 
ginnende Krisis  voraussehen  lassen  und  zur  Mil- 
derung, ja  zur  Vermeidung  überleiten,  sobald  das 
allgemeine  Bewußtsein  dämpfend  in  den  Gang  ein- 
greift. Das  sicherste  Vorzeichen  der  Krisis  ist  das 
Steigen  des  Zinsfußes  im  Verfolg  einer  Hochkon- 
junktur. 

Kurz  zusammengefaßt:  die  Umwandlung  des 
Warenvermögens  in  Anlagevermögen  schreitet  fort, 
bis  ein  gewisser  Sättigungspunkt  überschritten  ist; 
ein  rückwärtiger  Austausch  von  Anlage  gegen  Ware 

"7 


ist  unmöglich;  die  weitere  Immobilisation  der 
Ware  ist  gehemmt  und  somit  ein  Teil  der  Produk- 
tion seiner  Verwendung  beraubt. 

Wo  der  Sättigungspunkt  liegt,  läßt  sich  leicht 
ermessen. 

Ein  Land  von  ergiebiger  Erdkruste  ist  in  der 
Warenerzeugung  und  im  Warenumlauf  fast  nur 
gebunden  an  die  Leistungsfähigkeit  und  Arbeits- 
kraft des  einzelnen,  der.  um  so  mehr  verbrauchen 
kann,  je  mehr  er  zutage  fördert  und  verarbeitet. 
Der  Güterumlauf  läßt  sich  daher  theoretisch  ins 
Ungemessene  steigern.  Investieren  jedoch  kann  ein 
Land  nur  so  viel,  wie  es  erspart.  Das  heißt;  die 
Differenz  zwischen  Erzeugung  und  Verbrauch. 
Investiert  es  mehr;  so  geschieht  das  auf  Kredit  des 
Auslandes :  also  ist  auch  dieser  Sättigungspunkt  inso- 
fern ein  psychologischer,  als  es  von  der  Meinung  des 
Kreditgebers  wie  des  Kreditnehmers  abhängt,  wie 
weit  es  ihnen  wünschenswert  erscheint,  ein  Ab- 
hängigkeitsverhältnis, das  in  der  Natur  des  Produk- 
tionsprozesses nicht  liegt,  zu  gewähren  oder  zu  er- 
dulden. 

Ist  nun  der  Sättigungspunkt  erreicht,  die  Krisis 
eingetreten,  so  ist  alsbald  der  Kreis  der  Lähmungen 
geschlossen.  Die  verringerte  Produktion  verschlech- 
tert die  Einträge  der  Anlagen  und  vermindert  ihren 
Kapitalswert,  die  Bevölkerung  sieht  ihren  Gesamt- 
besitz, durch  Kapitalsverlust,  Rentenverlust  und 
Arbeitslosigkeit,  dreifach  geschmälert  und  verliert 
ihre  Kaufkraft:  und  dieser  Ausfall  wirkt  abermals 
zurück  auf  das  ohnehin  geschwächte  Erzeugungs- 
vermögen. 

Therapie  und  Diätetik  der  Krisen  sind  bekannt: 
Hunger  und  Laxative.    Nach  einer  gewissen  Zeit 

Ii8 


haben  sich  wieder  Kapitalien  angesammelt,  die  Ver- 
wendung suchen,  neue  Investitionen  fordern  und 
den  Prozeß  der  Warenimmobilisierung  erneuern; 
gleichzeitig  hat  die  Technik  unter  dem  Kesseldruck 
der  Not  störrische  Verfahren  geläutert,  unbeachtete 
Rückstände  verkocht  und  die  leichter  flüssige  Ware 
in  neue  Kanäle  gepreßt.  Die  Stirn  des  Rentners  hat 
sich  geglättet,  neue  Unternehmer  haben  die  abge- 
spielten von  der  Bühne  vertrieben  und  modernere 
Stücke  und  Namen  angeheftet;  und  vor  allem  hat 
die  Menschheit  einige  drängende  Bedürfnisse  ent- 
deckt, die  nach  dem  Paradies  materieller  Glückselig- 
keit weisen. 

So  sind  alle  Vorbereitungen  für  die  Wiederholung 
des  Kreislaufes  getroffen. 

1907 


119 


VIER  NATIONEN 


X.. 


Drei  Begriffe  bestimmen  die  wirtschaftliche  Be- 
deutung eines  Landes:  Physik,  Historie  und 
Psychologie. 

Der  physische  Begriff  umfaßt  Luft  und  Boden, 
geologische  Bildung,  geographische  Lage  und  Ge- 
stalt, inneren  und  äußeren  Verkehr,  Bevölkerungs- 
zahl. 

Der  historische  Begriff  bedeutet  die  Ansamm- 
lungen vergangener  Zeitläufte:  an  Kapital,  an  Ver- 
kehrseinrichtungen, an  gemeinnü'tzigen  Anlagen 
und  geistiger  Überlieferung. 

Der  ethische  Begriff  ergibt  sich  aus  der  Veran- 
lagung und  den  sittlichen  Werten  der  Bevölkerung. 

Alle  drei  Begriffe  sind  veränderlich.  Der  erste 
wird  vornehmlich  durch  Politik  und  Technik  beein- 
flußt oder  umgewertet,  der  zweite  durch  zeitliche 
Entwicklung,  der  dritte  durch  Rassengestaltung 
und  Kultur.  Außerdem  ist  jeder  von  den  beiden 
übrigen  abhängig. 

Die  beiden  ersten  Begriffe  sind  statistischen  und 
wissenschaftlichen  Vergleichen  nicht  unzugänglich, 
der  dritte  bleibt  subjektiver  Bewertung  unterworfen. 
Für  die  Beurteilung  der  wirtschaftlichen  Weltbilanz 
bedeutet  er  viel;  deshalb  sollte  der  Versuch  einer 
vergleichenden  psychologischen  Wertung  der  haupt- 
sächlichen werbenden  Nationen  von  Zeit  zu  Zeit 
gewagt  werden. 

ENGLAND 

Wenn  mehrere  Jahrhunderte  guter  Einkochung 
eine  gewisse  Gleichförmigkeit  oder  gar  Reinheit 
der  Rassen  bewirken  können,  so  ist  England  eine  der 
bevorzugten  Nationen  der  Welt.  Die  Gleichförmig- 

123 


keit  wird  sichtbar  nicht  nur  in  der  übereinstimmen- 
den Schönheit  und  Tüchtigkeit  der  Körper,  sondern 
auch  in  einem  seltenen  Gleichklang  der  Interessen 
und  in  dem,  was  aus  beidcm  folgt. 

Durch  Lage  und  Geschichte  sind  die  Briten  Händ- 
ler ujid  Verwalter;  Händler  als  Inselbewohner, 
Verwalter  als  Inhaber  einer  Weltherrschaft.  Hierin 
erscheinen  sie  als  die  Erben  der  Römer,  als  die  über- 
lebenden Rivalen  der  Venezianer  und  Holländer, 

Aus  der  Gleichförmigkeit  der  Rasse  und  der  In- 
teressen entsteht  eine  seltene  Einheitlichkeit  der 
Politik.  Man  kann  sagen,  daß  die  beiden  gegensätz- 
lichen Parteien  sich  kaum  erheblicher  unterscheiden 
als  zwei  liberale  Schattierungen  unsres  Reichs- 
tages, etwa  Nationalliberale  und  Freisinnige.  Die 
wechselnde  Regierung  der  beiden  Parteien,  die  auf 
diese  Weise  patriotische  Verantwortung  teilen, 
verleiht  der  englischen  Politik  die  Stetigkeit  eines 
Mittelwertes. 

Eine  weitere  Folge  ist  die  Gleichartigkeit  des 
Geschmackes  und  der  Sitten,  die  durch  ungestörte 
Überlieferung  sich  steigert.  In  den  gleichförmigen 
Straßen  Londons  birgt  jede  Fassade  das  gleiche 
Heim,  und  man  möchte  meinen,  daß  an  einem 
bestimmten  Tage  zur  selben  Stunde  neun  Zehntel 
aller  Engländer  dasselbe  erleben  und  verrichten. 

Endlich  ergibt  sich  eine  Übereinstimmung  des 
Urteils,  der  Zuneigung  und  Abneigung,  die  nach 
außen  sich  als  eine  der  stärksten  öffentlichen  Mei- 
nungen darstellt,  stärker  vielleicht  und  zugleich  ver- 
ständiger als  die  französische,  und  die  nach  innen  eine 
Kräftigung  der  Überzeugung  des  einzelnen  hervor- 
ruft, die  durch  den  germanischen  Optimismus  des 
Volkes    zu  selbstbewußtester  Sicherheit  anwächst. 

124 


Vielleicht  gibt  es  kein  Land  der  Erde,  in  dem  aus 
freiem  Bewußtsein  so  viel  gebilligt  und  so  wenig 
gemäicelt  wird;  tritt  zeitweilig  ein  witziger  Mann 
kritisch  und  mit  Sonderlingsansprüchen  dem  eng- 
lischen Geist  entgegen,  so  erweist  er  sich  meist  als 
fremdartiger,  enterbter  Kelte. 

Das  politische  Imperium  Englands  bekunden  die 
Atlanten;  das  wirtschaftliche  erkennt  jeder,  der 
in  den  Straßen  der  City  die  Messingschilder  der 
Haustüren  betrachtet.  Was  in  fernfremden  Län- 
dern an  Finanz-  und  Verkehrsunternehmungen,  an 
Betrieben  und  Industrien  geschaffen  wurde,  ist 
zum  großen  Teil  England  zinsbar.  Dies  politisch- 
wirtschaftliche Doppelreich  hat  der  Heimatinsel 
im  Lauf  der  letzten  Menschenalter  große  Reichtümer 
geschenkt  und  einen  beispiellos  umfassenden  und 
wohlhabenden   Mittelstand  geschaffen. 

Wohlhabenheit,  verbunden  mit  der  Kraft  des 
Stammes,  führte  zu  einem  Gleichgewicht  des  Wol- 
lens  und  Könnens,  das  uns  nur  aus  fernen  Zeiten 
bekannt  ist.  Durch  Übung  und  Landleben  ist  der 
Leib  gekräftigt,  durch  mäßige  Arbeit  der  Geist 
angeregt.  Durch  Überwissen  nicht  beengt,  bewegt 
sich  die  Phantasie  in  den  ruhigen  Bahnen  einer 
Denkart,  die  sie  common  sense  nennen;  Angst, 
Sorgen,  verwickelte  Gedanken  und  Eifer  lehnen 
sie  ab  und  lassen  nur,  wo  es  nötig  wird,  eine  gewisse 
Eile  und  Raschheit  der  Entschließung  zu.  Viel- 
seitigkeit wird  ebensowenig  geübt  wie  äußerste 
Vereinzelung;  jeder  wählt  seinen  Lebens-  und  In- 
teressenkreis, seinen  Verkehr  und  seine  Strebung 
nicht  zu  eng  und  nicht  zu  weit,  füllt  dieses  sein 
Gebiet  aus,  läßt  die  umliegenden  gelten  und  strebt 
weder  nach  dem  Absoluten  noch  nach  dem  Origi- 

125 


nalen.  Selten  findet  man  sie  in  Experimenten  oder 
schiefen  Lagen;  einfach  deshalb,  weil  keiner  sich 
freiwillig  auf  ein  zweifelhaftes  Gebiet  begibt. 
Selbst  das  Verbrechen  ist  eher  Beruf  und  Sport  als 
angstvolle  oder  leidenschaftliche  Zwangestat.  Als 
ein  Mittelding  von  Sport  und  gewerblicher  Be- 
lustigung gilt  ihnen  Kunst,  die  mit  allen  zulässigen 
Mitteln,  aber  ohne  Innerlichkeit  und  Leidenschaft 
mehr  verrichtet  als  geweiht  wird.  Ähnlich  der 
Gottesdienst.  Kirchenbesuch  ist  eine  gesellschaft- 
liche Pflicht;  es  ziemt  sich,  bei  seinem  Könige  und 
bei  seinem  Gott  vorgestellt  zu  sein  und  zu  ver- 
kehren. 

Diese  innere  und  äußere  Verfassung  erzeugt  emi- 
nente Politiker,  Gubernatoren  und  Berufsleute. 
Auch  Geschäftsmänner;  aber  mit  der  Einschränkung, 
daß  sie  nur  in  klaren  und  reichlichen  Verhältnissen, 
bei  guten  Preisen  und  mildem  Wettbewerb  fort- 
kommen. 

Hier  liegt  die  Begrenzung  englischer  Erwerbs- 
fähigkeit. Der  Verkehr  hat  die  Produzenten  der 
Welt  sehr  nahgerückt;  das  Zeitmaß  des  technischen 
Fortschrittes,  der  Bemühung,  der  Ersparnis  und  der 
Ausdehnung  wird  von  den  Vorgeschrittensten  be- 
stimmt; wer  sich  besinnt  oder  rastet,  wird  über- 
rannt. 

Dem  technischen  Fortschritt  steht  entgegen  der 
Wunsch,  eine  frohe,  begüterte  und  sportfreudige 
Jugend  mit  lexikographischer  Kenntnis  nicht  zu 
überlasten;  steht  ferner  entgegen  die  Abneigung 
gegen  experimentelle  und  nicht  nachweisbar  ge- 
winnbringende Anlagen. 

Das  Arbeitsmaß  des  einzelnen  ist  begrenzt  durch 
die    Gewohnheit    eines    erholungsreichen    Lebens; 

126 


die  Neigung,  über  Ersparnisse  nachzusinnen,  liegt 
nicht  im  Wesen  eines  Gentleman.  Starke  Konzen- 
tration und  Ausdehnung  der  Unternehmungen 
wird  nicht  angestrebt,  wo  sie  sich  nicht  durch  die 
Verhältnisse  aufdrängt;  das  Herkommen  erfordert, 
das  Bestehende  zu  erhalten  und  in  Ruhe  zu  ent- 
wickeln. 

England  beginnt  zu  empfinden,  daß  es  der  ameri- 
kanisch -  deutschen  Strömung  des  Erwerbslebens 
nicht  mehr  dasselbe  Kraftmaß  entgegenträgt,  das 
den  größten  Teil  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hin- 
durch vorhielt.  Verschiedene  Neuerungen  werden 
besprochen,  aber  keine  kann  die  Eigenschaften  der 
Nation,  die  nur  an  den  Schwächen  ihrer  Vorzüge 
leidet,  umgestalten.  Und  vielleicht  ist  sie  dieser 
Umgestaltung  auf  unbestimmte  Zeit  enthoben: 
so  lange  nämlich  ihre  Aufgabe  mehr  auf  der  Seite 
des  Erhaltens  als  auf  des  Erwerbens  liegt. 

FRANKREICH 

Dieses  Land,  so  erklärte  einer  seiner  Gelehrten, 
wurde  ehemals  von  blonden  Franken  beherrscht, 
während  es  jetzt  dunklen  gallolatinischen  Südrassen 
gehört.  Die  Verehrung  des  Herkommens  und  der 
Gesinnung  wurde  durch  die  Revolution  vernichtet; 
seitdem  herrschen  die  bürgerlichen  und  plebejischen 
Talente :  Advokaten,  Journalisten  und  Unternehmer. 
Das  Land  versüdlicht  sich,  seine  Ideale  nehmen  den 
Weg  vom  Glück  zum  Genuß,  von  der  Ehrfurcht 
zum  Beifall,  von  der  Erkenntnis  zur  Sensation,  vom 
Geist  zum  Witz.  Große  Tugenden  sind  noch  immer 
vorhanden :  Tapferkeit,  Ehrliebe,  Ritterlichkeit ;  aber 
sie  wollen  sich  nur  noch  vor  Zuschauern  sehen  lassen. 

127 


In  diesem  Lande  entscheidet  die  allgemeine 
Meinung,  also  der  Schein.  Und  da  wenig  der  Sache 
wegen,  viel  des  Zweckes  wegen  geschieht,  so  ist  der 
Schein  höchster  Zweck.  Schon  die  Menschen 
Corneilles  sprachen  beständig  von  „ma  gloire", 
„ma  renommee";  und  in  der  heutigen  Literatur 
bildet  neben  der  Liebe  die  Geltung  fast  die  einzige 
Triebkraft. 

I  Frankreich  konnte  im  öffentlichen  und  wirt- 
schaftlichen Leben  dem  modernen  Aufbau  sich 
nicht  entziehen,  der  auf  Organisation,  somit  auf 
Hierarchie  und  Beamtentum  beruht.  Aber  der 
Franzose  ist  Beamter  wider  Willen;  er  mag  nicht 
für  ein  andres  einstehen  und  wirken,  sondern  nur 
für  sich  selbst.  Weder  Lehre  noch  Arbeit  beglückt 
ihn  an  sich,  sie  sind  ihm  Mittel  zum  Zweck.  Des- 
halb lernt  er  am  liebsten  Formelhaftes,  also  Prüf- 
bares, und  arbeitet  am  liebsten  in  sich  Geschlossenes, 
das  sich  darbieten  läßt.  Die  unbenannte  Tagesarbeit 
des  Angestellten  wird  gern  verkürzt;  sie  beginnt  mit 
der  Erinnerung  an  den  vergangenen  Abend  und 
verläuft  in  Erwartung  des  kommenden.  Fährt  man 
in  Frankreich  über  eine  der  altmodisch  konstruier- 
ten Eisenbahnbrücken,  so  erstaunt  rrian,  daß  wirk- 
lich ein  französischer  Zivilingenieur  sich  die  lang- 
weilige Arbeit  gemacht  hat,  Spannungen  und  Quer- 
schnitte durchzurechnen;  und  geht  man  der  Sache 
nach,  so  erfährt  man  denn  oft  genug,  daß  es  ein 
Schweizer  war. 

Da  nun  Bedürfnisse  und  Aufwand  diese  Menschen 
sehr  beschäftigen,  so  wird  die  Laufbahn  eine  be- 
deutende Frage,  an  der  auch  die  Frauen  teilnehmen. 
Und  so  prüft  sich  jeder  beständig,  ob  er  nicht  eigent- 
lich größerer  Beachtung,  höherer  Bezalilung  und 

128 


beträchtlicheren  Einflusses  würdig  wäre,  findet  sich 
vielfach  zurückgesetzt,  gibt  der  Intrige  schuld  und 
sucht  Abhilfe  durch  Protektion. 

Wo  die  öffentliche  Meinung  herrscht  und  der 
Wunsch,  zur  Geltung  zu  kommen,  da  wird  geredet. 
Selbst  in  Sitzungen  nachdenklicher  Geschäftsleute, 
die  nicht  erwarten,  einander  über  ihre  Interessen 
belehren  zu  können,  liebt  man  das  eigene  Wort; 
und  bei  inneren  Beratungen  rollen  die  Tiraden  „la 
grandeur  de  la  nation"  und  „le  developpement  de 
l'industrie".  Wo  aber  viel  geredet  wird,  da  be- 
kommt man  wenig  Auskunft.  „On  reflechira  serieu- 
sement*';  „etudes  approfondies" ;  „examiner  de  tres 
pres" :  Das  sind  die  Antworten  von  Leuten,  die  sich 
nicht  entschließen  können.  Manchmal  gelingt  es 
dann  dem  Fragenden,  einen  unscheinbaren  Mann 
zu  finden,  der  abseits  in  der  Verwaltung  sitzt  und 
bescheiden,  in  schlechtem  Französisch  (denn  er  ist 
aus  dem  Elsaß  oder  aus  Frankfurt  am  Main),  einen 
klaren  Bescheid  gibt:  Ja  oder  Nein. 

Nüchtern  und  geschäftig  ist  der  kleinere  Ge- 
werbetreibende. Auch  ihm  ist  das  Geschäft  nur 
Mittel;  es  soll  dem  Vierzigjährigen  die  Rente 
schaffen,  mit  der  er  behaglich  lebt,  seinen  Sohn  zum 
Beruf,  seine  Tochter  in  garnierter  Jungfräulichkeit 
zur  Heirat  präpariert.  Aber  bis  zur  Ruhezeit  leiht 
er  dem  Geschäft  seine  ganze  Kraft,  ein  überlebender 
mittelalterlicher  Handwerker  und  Gewerbler,  dem 
die  hundertjährige  Überlieferung  und  Lehre  nicht 
durch  Heimatkriege  zerrissen  wurde.  Freilich  ist 
er  im  Zeitenlauf  gealtert;  seine  Arbeitskraft  reicht 
für  ein  ganzes  Menschenleben  nicht  mehr  aus,  und 
seine  karge  Nachkommenschaft  kann  die  Bevöl- 
kerung des  Landes  nicht  vermehren. 


In  den  Händen  dieses  Bourgeois  liegt  die  Ver- 
waltung des  großen  französischen  Nationalver- 
mögens, das,  gleichaltrig  mit  dem  Stande  des  Be- 
sitzers, in  fast  ungestörtem  Zuwachs  gewuchert 
hat.  In  fruchtbarem  Kulturland  und  Weinbergen, 
in  Bauten,  Kanälen,  Bahnen  und  Kolonialwerken 
liegt  es  erstarrt,  in  Metallen,  Rentenansprüchen  und 
VerSchreibungen  ruht  es  flüssig  in  den  Banken. 
Aber  der  Eigentümer,  gewinnsüchtig  als  Geschäfts- 
mann, geizig  als  Rentner,  wagt  nicht,  sein  flüssiges 
Vermögen  zu  beleben;  er  begnügt  sich  lieber  mit 
kleinsten  Erträgen,  als  daß  er  Unternehmungen 
fördert,  die  Reichtümer  versprechen.  Nicht  mit 
Unrecht;  denn  so  oft  der  französische  Sparer  durch 
landesüblich  pomphafte  Versprechungen  sich  be- 
wegen ließ,  den  Beutel  zu  öffnen,  wurde  er  schmäh- 
lich betrogen  und  verlor,  was  er  hatte.  Und  so  redet 
unter  der  Decke  der  nationalen  Phrase  die  Handlung 
ein  aufrichtiges  Zeugnis  des  unausgesprochenen 
Bewußtseins:  Mißtrauen  dem  Finanzmann,  Miß- 
trauen dem  Unternehmer,  Mißtrauen  dem  Beamten. 
Robert  Macaire  geht  um. 

Frankreichs  wirtschaftliche  Bedeutung  liegt  in 
seinem  liquiden,  aber  trägen  Reichtum  und  wird 
so  lange  bestehen,  als  ihn  das  tätigere  Kapital  der 
übrigen  Wirtschaftsländer  nicht  ebenso  überflügelt, 
wie  die  persönlichen  Vermögen  der  französischen 
Reichen  A'on  den  Dollarmächten  überflügelt  worden 
sind.  Die  Bedeutung  der  französischen  Industrie 
und  Unternehmung,  die  noch  zur  Zeit  von  Euge- 
niens  großer  Weltausstellung  den  ersten  Platz  des 
Kontinentes  behauptete,  erlahmt  aus  Mangel  an 
Menschen  und  an  Vertrauen.  Frankreich  spielt  in 
der   Weltwirtschaft   die    Rolle    des    verdrossenen, 

130 


vorurteilsvollen  Rentners,  der  in  der  Fremde  sich 
nicht  zurecht  findet,  in  der  Heimat  sich  nicht  wohl- 
fühlt. Und  wenn  er  durch  das  Fenster  seiner  Gren- 
zen den  Völkerkessel  Deutschlands  erblickt,  der  un- 
ter einem  Druck  von  sechzig  Millionen  Menschen 
zittert,  so  fragt  er  sich  sorgenvoll,  ob  das  westliche 
Vakuum  noch  genügend  geschützt  sei. 

VEREINIGTE  STAATEN 

Wer  zum  erstenmal  mit  Amerikanern  sich  unter- 
hält, bekommt  leicht  den  Eindruck  von  außer- 
gewöhnlichen Menschen.  Eine  klare  Sachlichkeit 
tritt  ihm  entgegen,  ein  abgewogenes  und  doch 
kühnes  Urteil,  ein  selbstverständliches  Bewußtsein 
der  eigenen  Meinung  und  Person  und  eine  über- 
raschende Sicherheit  und  Objektivität  in  dem,  was 
sie  wollen.  Die  Gedanken  tragen  ein  lebhaft  bild- 
liches Kleid,  denn  die  Sprache  ist  in  schöpferischer 
Bewegung;  die  Ausdrucksweise  liebt  eine  gewisse 
Souveränität,  mit  der  sie  das  Ungewöhnliche  in 
faßliche  Grenzen  verweist  und  hochfahrende  Mei- 
nungen durch  praktische  Vorschläge  verkörpert 
und  bekräftigt.  Auch  bei  Frauen,  selbst  bei  Kindern 
findet  man  den  freigearteten  Ton  sicherer  Ent- 
schiedenheit, der  alle  Phrase  und  Unklarheit,  Ängst- 
lichkeit und  Zurückhaltung,  Sentimentalität  und 
Kritiklust  abweist. 

Gewöhnt  man  sich  an  amerikanisches  Wesen,  so 
erkennt  man  die  Einförmigkeit  dieser  schönen  Eigen- 
heiten. Denn  auch  die  Einförmigkeit  des  Landes  ist 
groß;  man  sagt,  weil  die  rassebildende  Kraft  der 
Luft  und  des  Bodens  mit  ungeschichtlicher  Ge- 
schwindigkeit die  zuwandernden  Völkerbrocken  zur 


9» 


131 


Einheit  verschmilzt.  Diese  Einheit  ist  nicht  in  slci- 
chem  Maße  wie  die  englische  eine  Übereinstimmung 
der  Interessen  und  Gewohnheiten,  wohl  aber  des  Kör- 
perlichen und  des  Intellektes,  der  Ideen  und  der 
Sprache.  So  haben  es  die  Amerikaner  leicht:  in 
jedem  von  ihnen  denkt  und  spricht  der  universale 
Geist  des  Landes,  und  dem  Fremden  erscheint  der 
Mangel  an  Individualität  als  Stärke  des  einzelnen. 
Er  ist  es,  sofern  die  Betrachtung  die  Gesamtheit 
einer  Bevölkerung,  nicht  das  Individuum  als  Einheit 
sich  wählt. 

Tritt  man  diesem  Geist  näher,  so  erkennt  man: 
er  ist  natürlich  und  gesund,  aber  seelenlos.  In  diesem 
Lande  gibt  es  kein  großes  Glück  und  keinen  großen 
Schmerz,  wenig  Leidenschaft,  keine  Sehnsucht, 
keine  Phantasie  und  keine  Transzendenz.  In  diesen 
Menschen  ist  etwas  Knabenhaftes.  Ohne  starke 
Sinnenfreude  ist  all  ihr  Denken  auf  das  Materielle 
gerichtet;  die  Tatsache  beherrscht  das  Land,  und 
ihre  Übertreibung,  die  Sensation.  Rein  materiellen 
Menschen  erscheint  dies  Denken  und  Tun  phan- 
tastisch. Das  ist  es  nur  in  der  handgreiflichsten 
Richtung,  im  Dienst  der  Dimension.  Menge  und 
Größe  ist  den  Amerikanern  das  Wichtigste,  wie  bei 
uns  den  Kindern;  der  Superlativ  ist  ihr  Inbegriff. 
„The  biggest  boat  in  the  world",  „the  highest  tree", 
„the  quiekest  train",  „the  most  expensive  picture" : 
Das  sind  ihnen  Dinge,  die  keiner  Erläuterung  be- 
dürfen. Fast  alle  ihre  Schriftsteller  verehren  mate- 
rielle Zahlen  und  Maße,  und  selbst  die  Religion 
nähert  sich  den  materiellen  Formen  des  Geschäfts- 
oder Sanitätsbetriebes. 

So  ist  der  Verstand  der  Yankees  klar  und  folgerecht, 
aber  banal.  So  wenig  wie  Individualität  des  Wesens, 

132 


kennen  sie  Persönlichkeit  der  Denkform.  Auch  ihre 
größten  und  kühnsten  Unternehmungen  und  Trans- 
aktionen, wie  die  meisten  ihrer  Erfindungen  und 
Konstruktionen,  beruhen  auf  herkömmlichen  Re- 
zepten. Allen  Schwierigkeiten  gehen  sie  aus  dem 
Weg;  kommt  eine  Fabrik  technisch  in  Rückstand, 
so  läßt  man  sie  zugrunde  gehen,  arbeitet  sie  eine 
Weile  mit  Schaden,  so  setzt  man  sie  außer  Betrieb. 
Auch  Zusammenhänge,  Kenntnisse  und  Naturge- 
setze, wenn  sie  dem  Geist  zu  verwickelt  werden, 
läßt  man  beiseite.  Deshalb,  und  weil  die  demütige 
Tätigkeit  des  Lernens  den  Amerikanern  nicht  zu- 
sagt, ist  der  Bildungsstand,  mit  wenigen  Ausnahmen, 
gering. 

Seltsam  kontrastierend  mit  der  Verehrung  des 
Dinglichen  und  Tatsächlichen,  nicht  auf  Unwahr- 
haftigkeit,  sondern  auf  Größenfreude  beruhend,  ist 
eine  Neigung  zum  Übertreiben.  Wer,  aus  der  posi- 
tiven Mitteilungsweise  folgernd,  alle  Angaben  der 
Amerikaner  ernst  nimmt,  gerät  leicht  in  Irrtum. 

Man  hat  Amerika  das  Land  der  unbegrenzten 
Möglichkeiten  genannt;  eine  Bezeichnung,  die  zu- 
trifft, wenn  man  den  Erdteil  mit  Blicken  betrachtet, 
die  auf  das  Handgreifliche  gerichtet  sind.  In  Wahr- 
heit ist  in  diesem  Land,  solange  die  Rasse  sich  gleich- 
bleibt, alles  Wichtige  unmöglich :  unmöglich  ist  eine 
amerikanische  Kultur,  unmöglich  eine  amerikanische 
Geistesführung,  unmöglich  eine  amerikanische  Philo- 
sophie, Wissenschaft,  Kunst  oder  Religion,  unmög- 
lich selbst  eine  amerikanische  Geschichte.  Möglich 
ist  lediglich  Erwerb,  Technik  und  Politik;  diese  drei 
in  großen,  selbst  größten  Abmessungen,  aber  ohne 
Individualität  des  Gedankens. 

Die  großen  Erfolge  Amerikas  auf  dem  Gebiet  des 

133 


Erwerbes  beruhen  weder  auf  der  Stärke  der  Bil- 
dung noch  des  Fleißes  noch  der  Zucht.  Dennoch 
sind  sie  zum  größten  Teil  Verkörperungen  ideeller 
Werte  von  hoher  Bedeutung.  Jeder  Amerikaner 
ist  ein  geborener  Unternehmer.  Er  fürchtet  Ver- 
antwortung nicht,  sondern  sucht  sie  auf;  er  strebt 
nicht  nach  Universalität,  sondern  nach  Speziali- 
sierung; er  ruht  nicht,  bis  er  ein  für  ihn  geeignetes 
Projekt  gefunden  hat,  hängt  ihm  an  mit  Konsequenz, 
Rücksichtslosigkeit,  fast  mit  Leidenschaft;  er  handelt 
entschlossen,  kühn,  kraftvoll  und  optimistisch.  Unter- 
nehmer ist  er  als  Stiefelputzer  und  als  Arbeiter,  als 
Kellner,  Pastor,  Arzt  oder  Künstler.  Er  dient  nie 
und  will  sein  eigenes  Schicksal  führen.  Bricht  er 
nieder,  so  ist  er  weder  erstaunt  noch  entmutigt:  er 
beginnt  von  neuem.  Auch  fürchtet  er  weder  Nieder- 
bruch noch  Ruin;  und  dieser  Mut  (der  freilich 
tausende  Existenzen  vernichtet),  trägt  Früchte,  die 
kein  zweites  Land  kennt.  Spezialkonstruktionen 
wie  die  Setzmaschine,  die  registrierende  Kasse,  die 
Schreibmaschine,  die  ein  Menschenleben  zur  Aus- 
arbeitung erforderten,  konnten  nur  in  einem  Lande 
gelingen,  wo  Menschen  jahrzehntelang  ihr  Alles 
auf  eine  Karte  setzen.  Dieser  Mut,  dem  es  denn 
auch  oft  gelingt,  gleichgesinnte  Teilnehmer  zu 
erwärmen,  schafft,  gleichsam  auf  dem  Wege  des 
Experimentes,  große  Unternehmungen  und  Ord- 
nungen, .die,  wenn  sie  mißlingen,  keine  Verzweifelten 
hinterlassen,  wenn  sie  glücken,  das  Wirtschaftsleben 
gewaltig  fördern.  Man  kann  sagen,  daß  in  den  Ver- 
einigten Staaten  jeder  wirtschaftliche  Gedanke 
Anhänger,  und  jede  Vereinigung  Kapital  findet. 
Und  das  Land  rechtfertigt  diese  Zuversichtlich- 
keit.   Auf  abgesondertem  Erdteil,  gegen  feindliche 


Rivalität  geschützt,  birgt  es  in  seinen  Flanken  jede 
Materie  und  Kraft,  deren  der  Haushalt  der  heutigen 
Welt  be<3arf.  Und  diese  Schätze,  unter  gemäßig- 
tem Himmelsstrich,  in  unerschöpflicher  Fülle  ange- 
staut, sind  leicht  zu  heben,  fließen  auf  natürlichen 
und  künstlichen  Straßen  ohne  Reibungsverlust  in  die 
Riesenstädte,  die  Behälter,  wo  man  sie  sammelt,  zu- 
bereitet und  verwandelt,  und  erreichen  den  Welt- 
markt so  mühelos  und  wohlfeil,  daß  Sorglosigkeit, 
Verschwendung  und  Zwischengewinn  sie  nicht 
hindern  können,  die  Waren  andrer  Länder  zurück- 
zudrängen. Daher  ist  Amerika  das  Land  der  großen 
Spielräume  und  der  Wirtschaft  aus  dem  Vollen;  der 
Sparsamkeit  bedarf  es  bei  so  reichen  Quellen  nicht, 
und  von  dem,  was  Amerika  vergeudet,  könnte 
Deutschland  leben. 

Deshalb  erträgt  Amerika  viel  höhere  Löhne, 
Gehälter  und  Gewinne  als  die  alten  Länder,  und 
während  die  erhöhte  Lebensführung  einen  intelli- 
genten und  gutgelaunten  Mittelstand  schafft,  wird 
das  Land,  das  nicht  die  Not  des  Spatens  kennt,  der 
größte  Verbraucher  der  Erde.  Hierdurch  aber 
bessern  sich  abermals  die  Bedingungen  der  Produk- 
tion; denn  Amerika  kann  seine  Erzeugungsmethoden 
aufs  äußerste  spezialisieren  und  durch  Massenher- 
stellung verbilligen,  während  die  übrigen  Länder 
ihre  Werkstätten  mit  verschiedenartigen,  oft  wider- 
sprechenden Fabrikaten  füllen  müssen,  um  den  not- 
wendigen Umsatz  zu  erreichen. 

Die  Spezialisierung  der  Produktion  gestattet 
die  höchste  Ausnutzung  der  menschlichen  Arbeits- 
kraft; sie  gestattet  aber  auch  die  umfangreichsten 
Einrichtungen  zur  Arbeitersparnis.  Und  hierin 
sind  die  Amerikaner  unermüdlich ;  der  hochbezahlte 

135 


und  zum  Gentleman  entwickelte  Arbeiter  verrichtet 
nicht  stumm  und  stumpf  sein  mechanisches  Tage- 
werk, sondern  sinnt  nach,  die  ihm  anvertraute  Ma- 
schine zu  verbessern,  und  erreicht  es  oft,  seinen 
eigenen  Handlangerdienst  als  Erfinder  überflüssig 
zu  machen. 

So  schließt  sich  der  Kreis  der  Wechselwirkung 
zwischen  den  Kräften  des  Landes  und  den  Eigen- 
schaften seiner  Bewohner:  der  Reichtum  des  Bodens 
und  der  Tiefe,  die  Mühelosigkeit  seiner  Gewinnung 
richtet  den  Geist  der  Menschen  auf  materielles 
Schaffen  und  rechtfertigt  jedes  kühne  und  ver- 
ständige Unternehmen.  Kühnheit  und  Optimis- 
mus der  Menschen  schafft  täglich  neue  Gewinn- 
quellen, und  der  Gewinn  wird  durch  keine  innere 
Reibung,  Enge  der  Bedingungen  und  erzwungene 
Sparsamkeit  beeinträchtigt.  Diese  Freiheit  gestattet 
günstige  Lebensbedingungen  und  fördert  durch  diese 
die  Intelligenz;  sie  macht  zugleich  das  Land  auf- 
nahmefähig und  befruchtet  damit  die  Güterer- 
zeugung aufs  neue. 

Daß  in  diesem  selbsterregend  sich  steigernden 
Kreislauf  nicht  menschliche,  sondern  physische 
Gegebenheiten  die  ursprüngliche  Triebkraft  be- 
deuten, bestätigt  sich,  wenn  man  betrachtet,  wie 
alle  Volksgattungen  in  Amerika  zur  erfolgreichen 
Tätigkeit  sich  entwickeln,  während  die  Amerikaner 
außerhalb  ihres  Landes,  in  den  engeren  Verhält- 
nissen Europas,  nichts  mit  sich  anzufangen  wissen. 
In  ihrem  Lande  selbst  sind  sie  ausersehen,  die  reich- 
sten und  mächtigsten  Unternehmer  der  Welt  zu 
werden.  Hätten  sie  nicht  die  Gewohnheit,  alle  paar 
Jahre  einmal  durch  mutwillige  Krisen  ihr  Gebäude 
gleich  Kindern  zu  zertrümmern,  so  wäre  das,  was 

136 


man  die  amerikanische  Gefahr  nennt,  schon  jetzt, 
nach  kaum  einem  Menschenalter  amerikanischen 
Aufstiegs,  den  alten  Völkern  empfindlich  fühlbar. 
Die  amerikanische  Vorherrschaft  der  Wirtschaft, 
besiegelt  durch  den  weltgeschichtlichen  Akt  der 
Gesetzgebung  Mac  Kinleys,  besteht,  und  kann  nur 
von  Unkundigen  bezweifelt  werden.  Wie  weit  sie 
für  die  europäischen  Nationen  eine  Gefahr  be- 
deuten wird,  hängt  davon  ab,  ob  diese  Nationen  ge- 
gezvioingen  sein  werden,  für  alle  Zeit  die  wirtschaft- 
liche Entwicklung  als  Maß  der  Volkskräfte  gelten 
zu  lassen. 

DEUTSCHLAND 

Die  Grenzen  zu  lang  und  ohne  natürlichen 
Schutz,  von  rivalisierenden  Völkern  umgeben 
und  eingebuchtet,  ein  kurzer  Strand,  die  Boden- 
schätze im  Norden  mäßig,  im  Süden  null,  die  Scholle 
von  mittlerer  Fruchtbarkeit,  die  wirtschaftliche 
Entwicklung  alle  hundert  Jahre  durch  Kriege  und 
Einbrüche  zertreten:  so  bildet  Deutschland  den 
rechten  Gegensatz  zu  Amerikas  glücklicher  Grund- 
lage. Nicht  diesen  Voraussetzungen  verdanken  wir 
es,  daß  Deutschland  heute  um  den  zweiten  Preis 
der  Weltwirtschaft  ringen  darf,  sondern  dem  Geist : 
ethischen  Werten. 

I  Das  Erbteil  der  germanischen  Stämme  ist  Indivi- 
dualität, Idealismus,  Transzendenz,  Treue  und  Mut. 
Die  slawische  Mischung  brachte  Gehorsam,  Zucht 
und  Geduld.  Der  jüdische  Einschlag  gab  eine  Fär- 
bung von  Skeptizismus,  Geschäftigkeit  und  Unter- 
nehmungslust. 

Der  Deutsche  lernt  um  der  Erkenntnis  willen. 
Bis  in  die  Tiefen  des  Volkes  hinein  herrscht  der 

137 


Drang,  zu  lernen,  zu  lesen,  sich  zu  bilden.  Die 
deutschen  Schulen,  trotz  großen  Unvollkommen- 
heiten,  die  Hochschulen  und  Universitäten  in  voll- 
kommenerer Wirksamkeit,  entlassen  ihre  Zöglinge 
mit  einer  Wissensmenge,  die  fast  zu  schwer  für  junge 
Schultern  ist;  so  daß  man  sich  fragen  mag,  ob  nicht 
in  den  Räumen  des  Gehirns  die  Bibliothek  den  Fecht- 
saal einengt  und  Urteil  und  Entschließung  verküm- 
mert. Der  Hang  zum  Individualismus  aber  fügt 
es,  daß  jeder  Gelehrte  sich  auch  als  Forscher  ver- 
antwortlich fühlt  und  ein  Gebiet  seiner  Wahl,  ob 
groß  oder  klein,  mit  Treue  bearbeitet  und  verwaltet. 
Hierauf  beruht  die  deutsche  Wissenschaft  und 
Technik,  die  nicht  wie  ein  fremder  Geist  über  dem 
Volke  schwebt,  sondern  kräftig  seine  Lebensfunk- 
tionen durchdringt.  Kaum  der  kleinste  industrielle 
Betrieb  arbeitet  ohne  einen  wissenschaftlich  ge- 
schulten Techniker.  Fast  möchte  man  sagen:  Wo 
ein  Schwungrad  sich  dreht  und  eine  Retorte  kocht, 
da  steht  ein  Ingenieur  oder  Chemiker  daneben; 
und  seltsam,  wenn  dieser  Mann  in  seinen  Muße- 
stunden nicht  über  das  Problem  seines  Tagewerkes 
sich  Gedanken  macht. 

Der  Deutsche  arbeitet  um  der  Sache  willen. 
Einerlei,  ob  es  seine  oder  die  Sache  eines  andern  ist : 
hat  er  sich  ihr  vermählt,  so  dient  er  ihr;  nicht  des 
Lohnes  und  der  Anerkennung  wegen,  sondern  aus 
Hingebung  und  Liebe.  Gewissenhaft  und  beschei- 
den fügt  er  sich  gern  der  Organisation  und  Diszi- 
plin. Er  will  befehlend  gehorchen.  Hierauf  beruht 
unser  Beamtenstand. 

Wissenschaft  als  Technik  und  Beamtentum  als 
Organisation  haben  unser  neueres  Wirtschaftsleben 
geschaffen.   Es  gibt  heute  kein  Land,  das  so  wissen- 

138 


schaftlich,  so  straff  organisiert,  so  forschungslustig 
und  so  sparsam  seine  Produktion  betreibt  wie 
Deutschland.  Bewundernswert  ist  diese  Sparsam- 
keit; ohne  sie  könnten  die  kargen  Rohstoffe  des 
Landes  die  Herde  der  Industrie  nicht  erwärmen. 
Außer  Asche  und  Rauch  gehen  wenige  Produkte 
in  Deutschland  verloren,  und  es  ist  vielleicht  hart, 
aber  nicht  zuviel  gesagt,  wenn  man  behauptet,  daß 
wir  von  Rückständen  leben. 

Da,  wo  ein  kühnes  und  gesundes  Unternehmer- 
tum die  Führung  übernahm,  sind  aus  den  Elementen 
Technik  und  Organisation  Erwerbsgemeinschaften 
erwachsen,  die  fast  über  das  Maß  unsrer  wirtschaft- 
lichen Berechtigung  hinausragen.  Denn  unser 
Wohlstand,  obgleich  in  zwei  Jahrzehnten  verdoppelt, 
ist  jung  und  nicht  also  gefestigt,  daß  wir,  wie  Eng- 
land zuvor,  als  Unternehmer  für  die  Welt  uns  auf- 
tun dürfen.  So  ist  denn  Deutschland  im  Aufschwung 
seiner  Kohlen-  und  Eisenindustrie,  seines  Maschi- 
nenbaues, seiner  Schiffahrt,  Chemie  und  Elektrizi- 
tät bis  an  die  Grenzen  seiner  Mittel  vorgedrungen 
und  befindet  sich  heute  in  der  unbequemen  Lage 
eines  Landwirtes,  der  in  sein  gedeihendes  Gut  für 
Besserungen  mehr  als  den  Ertrag  seines  Jahres  hinein- 
gesteckt hat. 

Daß  ein  Unternehmertum  in  Deutschland  sich 
gebildet  hat,  zumal  ein  so  mächtiges,  wie  unsre 
finanziellen  und  industriellen  Gebilde  es  aufweisen, 
ist  seltsam  genug.  Zum  Teil  hat  Wettbewerb  und 
Vorbild  des  Auslandes  beigetragen,  zum  Teil  der 
mit  dem  Wohlstand  steigende  Wagemut.  Da- 
neben ist  ein  fremder  Einfluß  zu  spüren,  der  der 
Genügsamkeit  und  Zurückhaltung  des  Deutschen 
wenig  zusagt:  der  Einfluß  des  Judentums.    Diese 

139 


Auswirkung  eines  an  sich  vielleicht  einseitigen  und 
übermäßigen  Geschäftsdranges  hält  einer  Schwäche 
unsres  Volkscharakters,  die  vielleicht  aus  Zeiten  der 
Leibeigenschaft,  der  Armut  und  Bedrückung  her- 
rührt, die  Wage.  Gemeint  ist  eine  gewisse  Kleinlich- 
keit, die  nützlich  sein  kann,  wenn  sie  sich  im  Sinn 
der  Sparsamkeit  äußert,  die  aber,  wenn  sie  sich  zur 
häßlichen  Eigenschaft  der  Engherzigkeit  und  des 
Neides  verdichtet,  manches  gute  und  große  Werk 
verdirbt. 

Beruht  die  Entwicklung  unsrer  deutschen  Wirt- 
schaft auf  ethischen,  nicht  auf  physischen  Qualitäten 
auf  dem  Wesen  der  Menschen,  nicht  des  Landes, 
so  scheint  hier  ein  altes  und  großes  Verhängnis 
zum  Guten  gewendet.  Der  transzendente  und  indi- 
vidualistische Sinn  der  Deutschen,  der  sich  vor- 
zeiten in  inneren  Kämpfen,  Religionszwist  und 
fruchtloser  Spekulation  aufrieb,  hat  in  den  wissen- 
schaftlichen, organisatorischen  und  kampfgerechten 
Aufgaben  des  Wirtschaftslebens  ein  Gebiet  gefun- 
den, das  ihn  zu  einem  Wert  von  hoher  Realität  er- 
hebt. So  ist  aus  der  einstigen  Schwäche  eine  Stärke 
erwachsen,  die  auch  bei  uns,  in  einem  mäßig  begü- 
terten Lande,  dem  politischen  Imperium  ein  wirt- 
schaftliches an  die  Seite  stellt. 

1907 


140 


ENGLANDS  INDUSTRIE 


Die  englische  Großindustrie  ist  die  älteste  der 
Erde.  Bis  in  das  dritte  Viertel  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  hat  sie  die  Führung  und  Meisterschaft 
der  Welt  behauptet.  Wer  in  Deutschland,  Frankreich 
oder  Amerika  eine  Industrie  begründen  wollte, 
mußte  sich  Vorbilder,  Werkzeuge,  Maschinen  und 
Organisation  von  England  leihen.  Eine  englische 
Spezialmaschine  zu  kaufen,  war  ein  industrieller 
Gedanke  von  solcher  Seltenheit  und  Ergiebigkeit, 
daß  oftmals  drei  Generationen  Existenz  und  Wohl- 
stand diesem  simpel  scheinenden  Entschluß  ver- 
dankten. Man  erzählt,  daß  die  Maschinenfabrik, 
die  dem  preußischen  Staat  alle  Lokomotiven  lieferte, 
jahrelang  dasselbe  englische  Modell  nachahmte  und 
sich  nicht  entschließen  konnte,  das  veraltete  zu  er- 
setzen, bevor  nicht  die  beabsichtigte  Zahl  von  Ab- 
zügen hergestellt  war. 

Die  Ursachen  für  Englands  hundertjährige  Führer- 
schaft waren  begründet  in  dem  Wohlstand  des 
Landes,  in  der  Größe  des  Eigenverbrauchs,  in  der 
Mächtigkeit  der  Bodenschätze,  in  der  Intelligenz 
der  Bewohner  und  in  der  Leichtigkeit  des  auswärti- 
gen Absatzes,  die  der  Bedeutung  des  Kolonial- 
reiches entsprach. 

Die  industrielle  Kraft  Großbritanniens  ist  in  sich 
seitdem  nicht  gemindert;  ihr  Wachstum  dauert  an. 
Aber  der  absolute  Fortschritt  ist  ein  relativer  Rück- 
gang im  Vergleich  zu  dem  beispiellosen  Aufschwung 
der  Vereinigten  Staaten  und  Deutschlands,  ja,  selbst 
im  Vergleich  zu  der  ruhigeren  Entwicklung  der 
übrigen  kontinentalen  Länder.  Die  Ursachen  dieser 
Verschiebung   scheinen    in    folgendem    begründet. 

Zunächst  ist  der  Vorsprung  Englands  im  allge- 
meinen Wohlstand  kein  so  unvergleichlicher  mehr 


wie  früher,  als  kontinentale  Kriege  periodisch  die 
Ersparnisse  der  Völker  verzehrten.  Auch  die  Be- 
wohner des  Kontinentes,  mehr  noch  aber  Amerikas, 
sind  heute  konsumfähige  Menschen,  gewöhnt  an 
Bedürfnisse  und  Bequemlichkeiten,  verwöhnt  in 
Luxus  und  Qualitäten.  Daneben  ist  das  angesam- 
melte Vermögen  unternehmend  geworden.  Man 
wartet  nicht  mehr  auf  englisches  Kapital,  um  Häfen 
und  Bahnen,  Wasserwerke  und  Gasanstalten  im 
eigenen  Lande  zu  bauen,  sondern  man  finanziert 
solche  Unternehmungen  selbst,  oft  in  fernen  Län- 
dern. Der  Unternehmer  aber  ist  der  Pfadfinder  und 
Beschützer  des  Industriellen,  denn  einheimisches 
Geld  geht  nicht  in  die  Fremde,  um  sich  in  auslän- 
dische Ware  zu  verwandeln. 

Rasch  mit  fortschreitendem  Wohlstand  und  Kon- 
sum, Schritt  vor  Schritt  mit  Forschungen  und  Ent- 
deckungen der  Wissenschaft  entwickelte  sich  die 
Technik.  Nach  wenigen  Jahrzehnten  schon  beruhte 
sie  nicht  mehr  auf  einer  beschränkten  Zahl  von 
Grunderfindungen  und  Grunderscheinungen.  Bald 
verzweigte  sich  der  Stamm  so  vielfach  und  so  dicht, 
daß  nur  äußerste  Spezialisierung  der  Disziplinen 
vereinigt  mit  umfassender  Übersicht  über  den  ge- 
samten Wissensaufbau,  erfolgreich  an  der  Weiter- 
bildung arbeiten  durfte.  Die  wissenschaftlich- 
technische Schulung  wurde  zu  einem  Lebensgebiet, 
das  umfassende  Einrichtungen  und  Gelehrsamkeits- 
apparate erfordert,  denen  der  starke,  aber  gern  aufs 
Unmittelbare  gerichtete  Verstand  des  englischen 
Volkes  abhold  blieb. 

Überhaupt  begannen  bei  den  Briten  die  Fehler 
ihrer  Tugenden,  bei  den  Kontinentalen  die  Tugen- 
den ihrer  Fehler  in  die  Entwicklung  des  industriellen 

144 


Vorgangs  einzugreifen.  Der  Engländer,  wohlhabend, 
gesund  und  muskelfroh,  liebt  die  Arbeit,  aber  er 
opfert  sich  ihr  nicht.  Er  verlangt  freie  Wochen- 
tage, freie  Tagesstunden,  Landleben  und  Sport. 
Der  Deutsche  liebt  seine  Arbeit  über  alles,  ist  uner- 
sättlich im  Wissen,  und  wo  die  Liebe  nachläßt,  da 
steht  unerbittlich  die  Gewissenhaftigkeit  und  ver- 
doppelt seine  Pflicht.  Auch  ist  er  anspruchslos, 
insofern  er  vom  materiellen  Leben  eigentlich  nur 
Getränk  verlangt.  x\lte  Kultur,  ruhmvolle  Tradi- 
tion und  Gewöhnung  weist  den  Engländer  zum 
Konservativismus  und  warnt  ihn  vor  Abenteuern 
und  Versuchen  im  täglichen  Leben.  Den  Ameri- 
kaner dagegen  begeistert  das  Risiko;  er  stürzt  sich 
in  jedes  neue  Wagnis,  in  dem  Bewußtsein,  daß  auf 
hundert  Opfer  ein  Erfolg  entfällt,  der  tausendfach 
entschädigt.  Selbst  die  besonnenere  deutsche  In- 
dustrie ist  heute  schnell  entschlossen,  Neuerungen 
einzuführen,  wenn  Rechnung  und  Wahrscheinlich- 
keit sie  befürworten,  ohne  die  mathematische  Sicher- 
heit abzuwarten,  die  erst  sich  meldet,  wenn  es  zu 
spät  ist.  Ja,  so  weit  ist  man  bereits  yankisiert,  daß 
Zahlen  nicht  mehr  schrecken;  Aktienwesen  und 
eine  freiere  Auffassung  des  Bankgebarens  haben 
hier  im  ausbreitenden  Sinn  gewirkt.  Der  Engländer 
aber  ist  konservativ,  ist  nicht  durch  Armut  genötigt, 
sich  auf  gefährliche  Wagnisse  einzulassen,  und  da  er 
gern  im  eigenen  Geschäft,  mit  eigenem  Geld  arbeitet, 
fragt  er  vor  jeder  Neuerung  so  lange :  „Will  it  pay  ?" 
bis  sein  Betrieb  veraltet  ist. 

Eine  schwere  Belastung  der  englischen  Industrie 
sind  endlich  die  Gewerkvereine.  Der  englische 
Arbeiter  träumt  nicht  von  Zukunftsgesellschaft 
und  internationaler  Herrlichkeit,  sondern  von  der 


IV,  lo 


HS 


Verbesserung  seiner  .Lebensbedingungen.  Und  er 
-hat  es  vermocht,  diesen  Träumen  solche  Nachwir- 
kung zu  geben,  daß  heute  der  Fabrikant  sein  willen- 
loses Werkzeug  geworden  ist.  Die  Gewerkschaft 
schreibt  ihm  vor,  wieviele  und  welche  x\rbeiter 
er  zu  beschäftigen  hat;  welche  Tagelöhne  er  zahlt, 
welche  Stücke  er  im  Stücklohn  vergeben  darf,  und 
welche  Stücklohnsätze  gelten.  Sie  genehmigt  oder 
verbietet  die  Aufstellung  arbeitsparender  Maschinen, 
die  Ausdehnung,  Spezialisierung  und  Erweiterung 
des  Betriebes.  Vielleicht  wären  auch  die  deutschen 
Sozialisten  mit  solcher  Machtbefugnis  nicht  unzu- 
frieden; sie  werden  dergleichen  aber  schwerlich  ge- 
winnen, solange  sie  nach  scheinbar  Höherem  streben, 
nämlich  nach  eindrucksvollen  Wahlziffern  und  dem 
Schatten  politischen  Einflusses.  Denn  ebensolange 
werden  sie  gezwungen  sein,  populäre  und  allgemein 
gehaltene  Versprechungen  ohne  Fälligkeitstermin 
auszuschreiben,  während  nur  ein  pragmatischer 
Arbeitsplan  die  innere  Stärke  verdichten  könnte,  — 
freilich  auf  Kosten  der  äußeren  Breite. 

So  wäre  denn  der  in  einer  seltsamen  Lage,  der 
heute  in  England  eine  neue  Industrie  begründen 
sollte.  Rohstoffe  und  Verkehrsmittel  findet  er  in 
ausreichender  Menge.  Beim  Techniker  beginnt  die 
Schwierigkeit.  Deutsche  Schulung,  Gelehrsamkeit 
und  Praxis  ist  nicht  zu  haben.  Was  zu  haben  ist, 
kostet  so  viel  wie  unsre  beste  Qualität.  Der  Kauf- 
mann arbeitet  um  den  fünften  Teil  kürzer  und  kostet 
um  ein  Drittel  mehr  als  in  Deutschland.  Er  ist 
tüchtig,  aber  er  schafft  nur,  was  alltäglich  und  in 
landläufiger  Übung  zu  erledigen  ist.  Verwickeltes 
und  Anormales  bezeichnet  er  als  unmöglich  und 
läßt  es  heiter  und  ohne  Bedauern  liegen.  Zweifellos 

146 


freut  er  sich,  wenn  das  Geschäft  gut  geht;  doch  sieht 
er  den  Mißerfolg  als  eine  nicht  weiter  zu  erörternde 
Privatangelegenheit  des  Chefs  an.  Die  hier  er- 
wähnten Eigenschaften  bedeuten  übrigens  keines- 
wegs Lässigkeit;  sie  entsprechen  der  Tatsache,  daß 
das  reine  Handelsgeschäft  noch  immer  in  England 
das  Normale  bleibt,  und  daß  dieses  große  und  ganz 
in  überlieferten  Bahnen  bearbeitete  Erwerbsgebiet 
jeden,  der  sich  ihm  mit  herkömmlichen  Fähigkeiten 
widmet,  ohne  Schwierigkeit  ernährt.  Von  dem, 
was  der  Industrielle  auf  dem  Arbeitsmarkt  zu  erwar- 
ten hat,  war  bereits  die  Rede;  so  braucht  nur  noch 
erwähnt  zu  werden,  daß  die  allgemeinen  Unkosten 
jedes  Geschäftes  kaum  erschwinglich  sind  und  daß 
Verwaltung  und  Vorstand  und  der  Manager  in 
vielen  FäUen  das  aufzehren,  was  von  der  Ertrags- 
kraft des  Unternehmens  übrigbleibt. 

Diesen  Erwägungen  entsprechende  Tatsachen 
beobachtet  jeder,  der  England  heute  industriell 
betrachtet.  An  mustergültigen  Anlagen  erfreut 
man  sich  selten.  Auch  die  gewaltigen  Gebilde,  wie 
sie  heute  die  deutsche  und  amerikanische  Technik 
aus  Einzelindustrien  vereinigt,  um  die  Erzeugung 
des  Endproduktes  aus  seinen  Urbestandteilen  unter 
einer  Obhut  zusammenzuhalten,  wird  man  ver- 
gebens suchen.  Die  Textilindustrie  ist  noch  immer 
vorbildlich,  aber  mehr  aus  handelsgeschäftlichen 
als  aus  industriellen  Ursachen.  Die  gewaltige  Kohlen- 
förderung geschieht  mit  zurückgebliebenen  Ein- 
richtungen, die  Metalltechnik  ist  der  amerikanischen 
und  deutschen  nicht  ebenbüitig,  obwohl  ihre  wirt- 
schaftlichen Voraussetzungen  nicht  übertroffen 
werden  können.  Die  chemische  Industrie  ist  von  der 
unsern  weit  überflügelt,  weil  die  englische  Wissen- 

147 


Schaft  nicht  die  Kraft  hat,  die  verzweigten  Quellen 
dieser  schwarzen  Kunst  in  den  Strom  der  Technik 
zu  leiten,  und  weil  das  Gewerbe  die  Gelehrten- 
armee nicht  aufzutreiben  vermag,  die  sich  jährlich 
aus  unsern  Hochschulen  rekrutiert.  Ähnlich  häufen 
sich  die  Schwierigkeiten  in  der  Elektrotechnik. 

Als  diese  Disziplin,  um  deren  wissenschaftliche 
Grundlagen  englische  Gelehrte  sich  hohes  Ver- 
dienst erworben  haben,  begann,  eine  Industrie  zu 
werden,  lag  sie  in  den  Händen  von  abenteuernden 
Empirikern,  die  durch  unwissendes  Tasten  der 
Wissenschaft  kühnlich  Vorgriffen.  So  lange  hielt 
England  fast  mit  Amerika  Schritt.  Dann  wurde  die 
Praxis  zur  vielwissenden,  rechnenden  Technik: 
und  England  mußte  aus  Mangel  an  geeigneten 
Kräften  die  konstruktive  Führung  abtreten,  ob- 
wohl noch  immer  hervorragende  Spezialisten  die 
Forschung  vertiefen  halfen.  Bald  waren  die  wich- 
tigsten Fabriken  Eigentum  ausländischer  Kapitalien 
oder  Personen;  aber  die  vorhin  geschilderten 
Schwierigkeiten  englischer  Fabrikation  hinderten 
die  internationale  Ausdehnung.  Die  Industrie 
blieb  auf  die  Heimat  beschränkt.  Hier  fand  sie  frei- 
lich für  Beleuchtung  und  Bahnen  einen  unvergleich- 
lichen Absatz;  aber  sie  mußte  ihn  mit  ausländischen 
Eindringlingen  teilen  und  mühte  sich  im  Wichtig- 
sten, im  Kraftübertragungswesen,  über  ein  Jahr- 
zehnt lang  gegen  den  starren  Konservatismus  der 
englischen  Industriellen.  Ein  schnell  erblühtes 
Unternehmergeschäft  mußte  dieselben  verdrieß- 
lichen Erfahrungen  machen  wie  bei  uns,  weil  die 
massenhaft  entstandenen  Unternehmungen  mit 
dem  Erträgnis  zögerten,  und  konnte  doch  wiederum 
nicht  im  selben  Maß  sich  mit  der  Industrie  wechsel- 

148 


seitig  befruchten,  weil  diese  in  sich  nicht  die  genü- 
gende Reife  besaß.  Ein  eigenartig  englischer  Miß- 
stand trat  schließlich  hinzu,  um  den  geplagten  Fabri- 
kanten das  Leben  unleidlich  zu  machen.  Der  eng- 
lische Realismus  war  sich  stets  seiner  Grenzen  be- 
wußt und  stets  bereit,  auf  alle  Erkenntnis  jenseits 
dieser  Grenzen  zu  verzichten.  So  hatte  er  bald  die 
Schwierigkeit  der  elektrotechnischen  Wahrheiten 
und  ihrer  Anwendung  für  seine  persönlichen  Zwecke 
erkannt ;  und  fest  entschlossen,  sich  mit  den  Begrif- 
fen von  Volt  und  Ampere,  von  Ein-,  Zwei-  und  Drei- 
Phasenstrom  nicht  zu  befassen,  tat  er  dasselbe,  was 
deutsche  Familien  tun,  wenn  sie  sich  ein  neues 
Eßzimmer  wünschen  und  an  ihrem  Geschmack 
zweifeln:  er  schuf  sich  einen  Mittelsmann,  der  die 
Einrichtung  zu  besorgen  hatte,  und  nannte  ihn 
Beratender  Ingenieur.  Diese  Fachleute  sind  doppelt 
unbequem:  erstens  schmälern  sie  den  Warengewinn, 
um  ihre  nach  kontinentalen  Begriffen  ungeheuren 
Gebühren  dem  Besteller  wiederzugewinnen;  dann 
verlangen  sie  beständig,  kraft  technischer  Auto- 
rität, Maschinen  und  Apparate,  die  es  nicht  gibt. 
Will  der  Fabrikant  ihnen  zur  Zufriedenheit  dienen, 
so  muß  er  fort  und  fort  neue  Typen  schaffen,  sozu- 
sagen auf  Maß  arbeiten,  also  gegen  den  elemen- 
tarsten   Grundsatz    der    Großindustrie   verstoßen. 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  die  Engländer  sich 
über  die  Lage  ihrer  Industrie  im  internationalen 
Rennen  klar  sind.  Der  Groll  gegen  Deutschland 
hat  seinen  Urgrund  in  der  Nebenbuhlerschaft 
der  Werkstatt  und  des  Arsenals. 

Die  Voraussetzungen  des  industriellen  Rück- 
ganges sind  zu  ernst  und  liegen  zu  tief,  als  daß  sie 
jemals  ausgeglichen  werden  könnten,  solange  In- 

149 


dustrie  mit  den  heutigen  geistigen  und  wirtschaft- 
lichen Mitteln  betrieben  wird.  So  hat  man  es  denn 
in  Erwartung  größerer  bisher  mit  kleineren  Mitteln 
versucht. 

Zuerst  kam  das  Made  in  Germany.  Wie  man  weiß, 
ein  Fehler;  denn  dieser  Apothekertotenkopf  wurde 
zur  Ehrenmarke,  und  die  englischen  Kolonien  lern- 
ten zum  erstenmal  ihre  Lieferanten  kennen. 

Dann  erfand  man  eine  Art  von  ideellem  Schutzzoll. 
Man  erweckte  auf  wirtschaftlichem  Gebiet  das 
„National  feeling"  und  erreichte,  daß  das  englische 
Publikum  heute  für  einheimische  Waren  ungefähr 
dieselbe  Vorliebe  hegt,  wie  das  deutsche  Publikum 
für  ausländische  sie  immer  gehegt  hat.  Staat  und 
Gemeinden  schützen  diese  Empfindungen  und 
haben  sich  gewöhnt,  bei  Ausschreibungen  das  billi- 
gere ausländische  Angebot  zugunsten  des  teueren 
englischen  zu  verwerfen.  Hieraus  mag  man  ent- 
nehmen, welches  Interesse  die  Industrie  Englands 
daran  hat,  politische  Zwischenfälle  mit  Deutsch- 
land hervorzuheben  und  in  so  und  so  vielen  Pounds, 
Shillings  und  Pence  wirtschaftlichen  Nationalge- 
fühles umzusetzen.  Durch  diesen  ökonomischen 
Patriotismus  finden  sich  manche  Industrien  wesent- 
lich gestärkt,   manche  in  ihrer  Existenz  erhalten. 

Dennoch  kann  der  ideelle  Schutz  den  Industriel- 
len Großbritanniens  auf  die  Dauer  nicht  genügen. 
Er  ist  vom  subjektiven  Errnessen  abhängig  und 
erschlafft  mit  der  fortschreitenden  industriellen 
Distanzierung.  So  scheint  es  unabwendbar,  daß 
irgendeine  Regierung,  sei  es  die  nächste,  sei  es  die 
übernächste,  vom  Windstoß  erfaßt  und  gezwungen 
werden  wird,  die  große  englische  Überlieferung  des 
Freihandels  zu  brechen  und  das  Land  zum  Schutz- 

150 


zoll  zu  führen.  Dieser  Entschluß  wird  die  größte 
handelspolitische  Maßnahme  seit  Einführung  der 
Goldwährung  und  seit  der  Gesetzgebung  Mac 
Kinleys  bedeuten. 

Mit  Recht  würden  unsre  englischen  Freunde 
belustigte  Gesichter  machen,  wenn  wir  uns  ein- 
fallen ließen,  ihnen  einen  Rat  zu  geben.  Denn 
keine  Nation  hat  jemals  besser  gewußt,  was  sie  zu 
tun  hatte.  Aber  sie  können  uns  nicht  verwehren, 
ihnen  etwas  zu  prophezeien  und  zu  erwägen,  was 
passiert,  wenn  die  Prophezeiung  eingetroffen  ist. 
Denn  hiemach  haben  auch  wir  unsre  Entschlüsse 
einzurichten,  die  uns  etwa  vor  die  Frage  stellen 
könnten,  ob  zur  Zeit  eines  Schutzzolles  deutsch 
organisierte  Industrien  in  England  von  Nutzen  sein 
könnten. 

Dies  wird  schwerlich  der  Fall  sein;  denn  ein 
englischer  Schutzzoll  kann  nicht  dauern.  Zunächst 
deshalb  nicht,  weil  Treibhausschutz  zwar  ein  junges 
Pflänzchen  kräftigt,  einen  Waldbaum  aber  ver- 
weichlichen und  zerstören  muß.  Auch  eine  ge- 
schützte englische  Industrie  wird  den  Weltmarkt 
nicht  wiedererobern.  Der  Kampf  um  den  Welt- 
markt aber  ist  es,  der  die  Technik  frisch  und  schöp- 
ferisch erhält.  Schreitet  die  Technik  nicht  fort, 
so  werden  sich  die  Kolonien  für  die  Waren  des  Mut- 
terlandes bedanken  und  schweren  Zwiespalt  herauf- 
beschwören. 

Vor  allem  aber  fordert  die  Handelsmetropole  und 
das  Handelsmonopol  der  Erde  den  Freihandel. 
Was  wir  Deutsche  an  englischem  Industrieexport 
verlieren,  würde  allzureichlich  aufgewogen  durch 
den  Zuwachs  des  hanseatischen  Handels.  Und 
wenn  nicht  auch  dann  noch  immer  unsre  Regierung 


Märkte  und  Börsen  als  eine  Schmach  empfindet, 
so  könnte  es  sehr  wohl  sein,  daß  die  eine  oder  andre 
der  Weltbörsen,  etwa  die  der  Metalle,  sich  in  sol- 
cher Zeit  von  England  freimacht. 

Wie  also  ?  Kann  England  seine  Industrie  dem 
Handel  opfern  ?  Ich  glaube:  Ja.  Die  geographische, 
wirtschaftliche  und  kulturelle  Sendung  Englands  ist, 
das  Meer  zu  regieren  und  Marktplatz  und  Messe 
aller  Länder  zu  sein,  der  Rialto  der  Welt.  Diesem 
Monopol  ist  die  Landwirtschaft  zum  Opfer  gefallen; 
und  mit  Recht.  Die  Industrie,  richtiger:  die  indu- 
strielle Weltstellung,  wird  ihr  folgen.  Und  England 
wird  nur  um  so  mächtiger  in  seinem  alten  Beruf 
dastehen. 

Es  gibt  Leute  bei  uns  und  anderswo,  die  glauben, 
England  sei  ein  Weltstaat,  so  stark  etwa  wie  Frank- 
reich und  ebenso  dicht  bevölkert.  Nein:  dieses 
Inselreich  ist  der  Markt  der  ganzen  und  das  Ver- 
waltungsgebäude eines  vollen  Dritteiis  der  bewohn- 
ten Erde.  Ob  in  diesem  Riesenpalast  irgendwo  ab- 
seits ein  wenig  gehämmert,  gegossen,  gekocht  oder 
gesponnen  wird,  ist  im  größeren  Sinn  ohne  Bedeu- 
tung. Wir  andern  sind  Handwerker,  die  von  ihrer 
Arbeit  leben.  Diese  aber  leben  vom  Regieren  und 
vom  Beschützen. 

1906 


152 


MASSENGÜTERBAHNEN 


Das  Problem 

Alle  Erzeugung  materieller  Güter  besteht  in 
L  planvoller,  der  Materie  aufgezwungener  Orts- 
veränderung. 

Gleichviel  ob  ein  Eisenstück  bearbeitet,  ein  Erz 
gefördert,  eine  Maschine  montiert,  ein  chemisches 
Produkt  erzeugt  oder  eine  Pflanze  gezüchtet  wird; 
allemal  handelt  es  sich  um  das  Heranführen,  Ver- 
teilen, Trennen  oder  Vereinigen  chemischer  Sub- 
stanz zu  gewollter  Verbindung,  Masse  und  Gestalt. 
Richtet  sich  das  Augenmerk  auf  den  geregelten 
Hergang  der  Trennung  und  Vereinigung,  so  spricht 
man  von  Manufaktur  und  Fabrikation;  betrachtet 
man  die  Überwindung  der  Entfernungen,  so  ergibt 
sich  der  Begriff  des  Transports.  Die  Industrie  stellt 
sich  die  Aufgabe,  beide  Verrichtungsarten  in  immer 
weiterem  Umfang  zu  mechanisieren;  die  Fabrikation 
durch  Ausbildung  des  Maschinenwesens,  den  Trans- 
port durch  Vervollkommnung  der  Verkehrsmittel. 

Auf  diesem  Wege  ist  sie  zur  Massenerzeugung 
gelangt.  Sie  will,  daß  jeder  Produzent  nicht  mehr 
nach  Maßgabe  seines  Einzel-  und  Eigenbedarfs 
an  Gütern  tätig  sei,  sondern  nach  Maßgabe  des 
Bedarfs  aller  übrigen;  es  soll  keiner  für  sich  und 
jeder  für  alle  arbeiten.  Wenn  also  im  Stande  der 
älteren  Güterproduktion  jeder  Haushalt  sein 
eigenes  Vieh  schlachtete,  seinen  eigenen  Flachs 
spann  und  webte,  seine  eigenen  Kerzen  zog  und  sein 
eigenes  Bier  braute,  so  verlangt  der  Grundsatz  der 
Arbeitsteilung,  daß  aus  zentralen  Werkstätten  bei 
möglichst  ausgedehnter  und  ausgebildeter  Produk- 
tion ganze  Landesteile,  ja  Länder  und  Erdteile  mit 
spezialisierten  Waren  versorgt  werden. 

155 


Welche  Grunderscheinungen,  sei  es  Übervöl- 
kerung, sei  es  wachsender  Einzelbedarf,  die  Welt 
zur  Uniformierung  ihrer  Erzeugung  zwingen,  bei 
welcher  alle  Individualität  der  Erzeugung  durch  die 
Individualität  der  Auswahl  nur  unvollkommen 
ersetzt  wird,  ist  hier  nicht  zu  erörtern.  Dagegen  ist 
zu  betrachten,  wie  durch  diesen  Vorgang  alle  Güter 
der  Erde  in  gewaltige  Bewegung  geraten :  denn  von 
den  entfernten  Gewinnungsstätten  strömen  die 
Urstoffe  zu  den  Zentralstellen  der  Verarbeitung, 
von  diesen,  nach  mannigfachem  Hin  und  Her  durch 
die  Werkstätten  der  Veredelung  und  Verfeinerung, 
verzweigen  sie  sich  nach  den  Orten  der  "Hauptver- 
teilung, um  schließlich,  in  kleine  Partikel  aufgelöst, 
nach  den  Einzelstellen  des  Verbrauchs  zu  rinnen. 
Der  Kreislauf  des  Wassers  ist  das  natürliche  Vorbild 
dieser  Bewegungserscheinung,  die  sich  in  dreifacher 
Stufenfolge  steigert;  indem  sie  nämlich  wächst  mit 
der  Zunahme  des  Konsums,  mit  der  Zunahme 
der  Spezialisierung  und  der  Verarbeitungsstätten 
und  mit  der  Zunahme  der  Zahl  und  Entfernung 
der  Gewinnungsstellen. 

So  fordert  die  vorschreitende  Industrialisierung 
immer  zahlreichere  und  weitergestreckte  Trans- 
porte, während  zugleich  jede  neue  Transportmög- 
lichkeit eine  weitere  Verzweigung,  Unterteilung 
und  Zusammenfassung  der  industriellen  Arbeit  her- 
beiführt. Der  industrielle  Gedanke  kann  nicht 
ruhen,  solange  nicht  alle  auffindbaren  Gewinnungs- 
stellen der  Erde  nach  dem  Maße  ihrer  Ergiebigkeit 
und  ohne  irgendwelche  andre  Rücksicht  ihre  Stoffe 
liefern;  solange  nicht  diese  Stoffe  an  möglichst 
einer  und  zwar  der  denkbar  günstigsten  Stätte  ver- 
arbeitet werden,  und  solange  nicht  jeder  noch  so 

156 


entfernte  oder  unbemittelte  Verbrauchsfähige  zum 
Konsum  herangezogen  ist.  Diese  Aufgabe  macht 
den  Industrialismus  zu  einem  Transportproblem. 
Wie  weit  von  diesem  Endzustand  die  gegenwär- 
tigen Gestaltungen  entfernt  sind,  ergibt  sich  aus  der 
Betrachtung  der  Einzelprodukte.  Die  bedeutend- 
sten Rohmaterialien,  Kohle,  Eisenerz,  Kalk,  Zement, 
Bausteine,  Holz,  Kochsalz,  Schwefelsäure,  können 
kaum  einige  hundert  Kilometer  zurücklegen,  ohne 
ihren  Wert  um  ein  so  Beträchtliches  zu  erhöhen,  daß 
ihre  konkurrenzfähige  Verw^endbarkeit  aufhört. 
Der  Radius,  den  das  Produkt  im  Bahntransport  nicht 
überschreiten  kann,  ohne  seinen  Preis  zu  verdoppeln, 
beträgt  für  Schwefelsäure  500  km,  für  Steinkohlen 
300  km,  für  Braunkohlen  44  km.  Vereinigen  sich 
Rohmaterialien  im  Zustand  hoher  Verteuerung  an 
Orten  noch  so  billiger  Arbeitskraft,  so  ist  die  Ent- 
stehung einer  gesunden  Industrie  unmöglich.  Tritt 
an  die  Stelle  dieses  Mißverhältnisses  ein  andres: 
die  übergroße  Entfernung  vom  Mittelpunkt  des 
Absatzes,  so  ist  abermals  jede  industrielle  Anstren- 
gung vergeblich.  So  ist  Industrie  in  heutiger  Zeit 
in  wahrem  Sinne  ein  Bodenprodukt.  Sie  ist  ge- 
zvningen,  den  wirtschaftlichen  Schwerpunkt  zu 
suchen  zwischen  den  Gewinnungsstellen  ihrer  ver- 
schiedenen Rohstoffe,  den  Hauptstellen  des  Ab- 
satzes, den  Orten  billiger  Naturkräfte.  Ist  dieser 
Schwerpunkt  nicht  benutzbar,  sei  es,  weil  es  an 
Arbeitskräften  oder  an  Transportmitteln  fehlt, 
oder  aus  irgendeinem  andern  Grunde,  oder  sind  die 
Stellen  der  Gewinnung  zu  entfernt,  die  Stellen 
des  Verbrauchs  zu  wenig  dicht,  so  sagt  man,  das 
Land  sei  für  die  in  Frage  kommende  Industrie  nicht 
geeignet.  Anderseits  kann  die  Entdeckung  und  Aus- 

157 


nutzung  eines  ausgezeichneten  industriellen  Schwer- 
punktes auf  Jahrzehnte  hinaus  wahre  Monopole  schaf- 
fen. Dies  ist  vornehmlich  der  chemischen  Industrie 
geschehen,  die  in  einem  ihrer  wichtigsten  Zweige  noch 
heute  ausländischen  Unternehmern  tributpflichtig 
ist,  weil  diese  durch  ein  unangreifbares  Monopol 
der  Lage  die  eingeborene  Konkurrenz  beherrschen. 

Der  Angriffspunkt 

Betrachtet  man  ganz  allgemein  den  wirtschaft- 
lichen Wettbewerb  der  Nationen,  um  sich 
zu  fragen,  auf  welchen  Faktoren  die  Entwicklung 
aller  produzierenden  Mächte  und  der  Vorsprung  der 
einen  gegenüber  den  andern  beruhte,  so  ergeben 
sich  folgende  Kategorien: 

1.  Ideelle  Werte.  Diese  bestehen  in  der  Arbeit- 
samkeit, der  Zuverlässigkeit,  der  Disziplin,  der 
Tatkraft,  der  Lernbegierde  und  der  Ausbildung  der 
Volksgenossen.  Diese  ideellen  Werte  sind  ein  für 
allemal  gegebene  Größen,  auf  dem  Physikum  der 
Rasse  und  des  Landes  beruhend,  und  nur  langsamen, 
gelegentlich  katastrophalen  Änderungen  unter- 
worfen. Einer  Einwirkung  durch  unmittelbare 
Maßnahmen  sind  sie  nicht  zugänglich. 

2.  Kapitalkraft.  Sie  ergibt  sich  aus  der  Ver- 
gangenheit des  Landes,  aus  seiner  geschichtlichen, 
politischen,  kulturellen  und  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung. In  ihr  vereinigen  sich  sämtliche  übrigen 
produzierenden  Faktoren,  soweit  sie  in  früheren 
Perioden  zusammenwirken  und  sich  ungestört  häu- 
fen konnten.  Die  Kapitalkraft  ist  eine  stetig  sich  be- 
wegende Größe,  die  abgesehen  von  Krieg  und  höhe- 
rer Gewalt  ruckweisen  Änderungen  nicht  unterliegt. 

158 


3.  Arbeitskräfte.  Hier  handelt  es  sich  in 
erster  Linie  um  Reichhaltigkeit;  bei  weitem  nicht 
so  sehr,  wie  man  annehmen  möchte,  um  Wohlfeil- 
heit. Ungewöhnhche  Billigkeit  der  Arbeitslöhne 
ist  nicht  das  Zeichen  eines  wohlhabenden,  sondern 
eines  wirtschaftlich  zurückgebliebenen  Landes. 
Immer  wird  bei  entwickelten  Arbeitsmethoden  der 
gut  bezahlte,  gut  ernährte  und  gut  ausgebildete 
Arbeiter  mit  dem  billigen,  notleidenden  und  abge- 
stumpften Nebenbuhler  erfolgreich  konkurrieren  — 
womit  freilich  nicht  gesagt  ist,  daß  durch  sprung- 
hafte Lohnerhöhung  die  Güte  im  Handumdrehen 
gehoben  wird.  Gut  belohnte  Arbeit  wird  aber  einen 
weiteren  Faktor  von  ausgezeichneter  Bedeutung  mit 
sich  führen,  nämlich: 

4.  Konsum.  Da  die  handelspolitische  Tendenz 
unsrer  2^it  die  Ausfuhr  erschwert  und  die  Export- 
ware zur  wenig  lohnenden  Auffüllung  der  Werk- 
stätten verurteilt,  so  entscheidet  der  Umfang  des 
inländischen  Verbrauchs  über  Größe  und  Zentrali- 
sation, Spezialisierung  und  Arbeitsmethoden  der 
Industrie.  Nordamerika,  ein  Land  hoher  Löhne 
und  großen  Verbrauchs,  befindet  sich  in  einer  weit- 
aus vorzüglicheren  industriellen  Lage  als  etwa 
Deutschland  mit  seinen  schlechter  bezahlten  und 
weniger  aufnahmefähigen,  wenn  auch  durchaus  in- 
telligenten Arbeitskräften. 

Daß  auch  diese  beiden  zusammengehörigen  Fak- 
toren: Arbeitskräfte  und  Verbrauch,  einer  will- 
kürlich umgestaltenden  Einwirkung  nicht  Raum 
geben,  bedarf  keiner  Erwähnung.  Anders  verhält 
es  sich  mit  dem  letzten  Kräftepaar: 

5.  Materialbeschaffung,  Kraftquellen  und 

6.  Transportverbindungen.    Auf  den  ersten 

159 


Blick  will  es  so  scheinen,  als  sei  keine  Produktions- 
bedingung so  sehr  mit  den  Grundeigenschaften, 
dem  wahrhaften  Physikum  des  Landes  verwachsen 
wie  die  Gewinnung  des  Rohmaterials,  denn  dieses 
bildet  einen  Bestandteil  der  Erdkruste  oder  ihrer 
Oberfläche.  Indessen  ist  zu  erwägen,  daß  gewisse 
Rohstoffe,  und  zwar  höchst  wichtige,  wie  Kohle, 
Kalk,  Sand,  Salz,  Ton,  Holz,  Erze,  Getreide,  in 
nahezu  allen  großproduzierenden  Ländern  vor- 
kommen, wenn  auch  nicht  in  gleichem  Reichtum 
und  vor  allem  nicht  immer  an  den  zur  Bearbeitung 
geeignetsten  Stellen ;  des  ferneren,  daß  fast  alle  diese 
Länder  Seeküsten  haben,  und  daß  sie  somit  die  ihnen 
fehlenden  Stoffe  zum  mindesten  bis  in  ihre  Häfen 
mit  geringen  Frachtaufschlägen  und  zollfrei  ge- 
langen lassen  können,  wobei  die  Weltkonkurrenz 
sie  gegen  Überteuerung  schützt.  So  ist  denn  nicht 
die  Beschaffung  der  Materialien  selbst  der  Gegen- 
stand der  Sorge,  sondern  vielmehr  die  Schwierigkeit 
ihrer  Vereinigung.  Gewaltig  bevorzugt  erscheinen 
daher  diejenigen  Länder,  die  durch  natürliche  Ver- 
kehrsstraßen und  enge  Benachbarung  der  Fund- 
stätten ausgezeichnet  sind. 

Dennoch  ist  die  Frage  der  Transporte,  deren  Be- 
deutung für  den  industriellen  Mechanismus  wir 
erkannt  haben,  selbst  für  frachtlich  mittelmäßige 
Länder  durchaus  keine  solche,  die  sich  grundsätzlich 
der  Ausgestaltung,  Förderung  und  Reform  durch 
bewußt  gewollte  menschliche  Unternehmung  ent- 
zieht. Hier  vielmehr  ist  der  Punkt  gegeben, 
und  zwar  der  einzige,  von  dem  aus  das  in- 
dustrielle Gleichgewicht  der  Welt  organisa- 
torisch bewegt  werden  kann;  sofern  es  nämlich 
gelingt,  Transportmethoden  zu  schaffen,  die  den 

i6o 


heutigen  wirtschaftlich  überlegen  sind.  Physikalisch 
betrachtet,  bedeutet  die  Lösung  dieser  Aufgabe 
die  Verminderung  des  Reibungsverlustes  beim 
Güterumlauf,  somit  eines  Faktors,  der  gegenwärtig 
einen  bedeutenden  Teil  der  menschlichen  Produk- 
tionskraft ohne  Gegenwert  zerstört.  Keine  Waren- 
gattung könnte  sich  der  Verbilligung  entziehen, 
die  aus  solcher  Widerstandsverminderung  hervor- 
ginge, ja  es  müßte  eine  selbsterregende  Steigerung, 
der  Wirkung  insofern  entstehen,  als  der  Konsum- 
anteil des  einzelnen  sich  unmittelbar  erhöht  fände 
und  hierdurch  vermehrte  Produktion  und  aberma- 
lige Verbilligung  erzielt  würde. 

Setzt  man  den  Fall,  daß  Deutschland,  trotz 
schlechter  Lage  und  mittelmäßigen  Materialreich- 
tums ein  Produktionsgebiet  ersten  Ranges,  in 
ost-westlicher  oder  nord-südlicher  Richtung  plötz- 
lich in  praktischem  Sinne  frachtfrei  gemacht  werden 
könnte,  so  wäre  die  wirtschaftliche  Wirkung  dieses 
Ereignisses  nicht  abzusehen.  Nicht  allein,  daß  alle 
bestehenden  Industrien  -sofort  unter  weit  ver- 
besserten Bedingungen  arbeiteten  und  ihren  Absatz 
auf  ein  Vielfaches  des  gegenwärtigen  Umkreises  im 
In-  und  Auslande  ausgebreitet  sähen;  daß  somit 
auch  ihre  Konkurrenzkraft  dem  Weltmarkt  gegen- 
über sich  gewaltig,  und  auf  den  Produktionsumfang 
rückwirkend,  steigerte:  es  wären  vielmehr  auch  die 
Existenzmöglichkeiten  für  zahlreiche  neue  Indu- 
strien gegeben,  die  jetzt  aus  geographischen  Grün- 
den versagen ;  und  gleichzeitig  wäre  die  Industriali- 
sierung derjenigen  gut  bevölkerten  Landesteile,  wie 
etwa  des  preußischen  Ostens,  gewonnen,  die  gegen- 
wärtig aus  Kargheit  an  Rohstoffen  und  Verbrauch 
unterbleibt.  Es  scheint  phantastisch  und  ist  dennoch 

IV.  II  i6i 


nicht  über  triebeiijWenn  ernstelndustrielle  dieProduk- 
tionsfähigkeit  in  einem  praktisch  frachtfreien  Lande 
auf  ein  Vielfaches  der  gegenwärtigen  veranschlagen. 
Wollte  man  diesen  Erwägungen  die  Besorgnis 
entgegenstellen,  daß  eine  so  wichtige  Einnahme  wie 
die  Eisenbahntransporte  auf  den  Hauptlinien  den 
Staaten  ungeschmälert  erhalten  werden  müsse, 
so  beträte  man  damit  einen  Standpunkt  ähnlich  dem 
der  Kellner  in  gewissen  französischen  Gasthäusern: 
sie  suchen  im  Frühjahr  den  Fremden  zum  Verbrauch 
von  Weintrauben  zu  bewegen,  damit  aus  einer 
Schädigung  des  Gastes  um  zwanzig  Franken  ein 
Gewinn  von  einem  Franken  in  ihre  Taschen  wandre. 
Beim  Übergang  zu  billigeren  Transportmethoden 
könnte  überdies  den  Staaten  auf  einigen  Hauptlinien 
wohl  ein  Bruttoausfall  erwachsen  (und  auch  dieser 
würde  durch  steigende  Frachtmengen  auf  Haupt- 
und  Nebenstrecken  bald  ausgeglichen  sein),  schwer- 
lich aber  ein  Gewinnausfall.  Denn  den  entgangenen 
Frachtgewinn  des  Staates  könnten,  selbst  bei  unge- 
steigerter Produktion,  Industrie  und  Handel  leicht 
durch  andre  Abgaben  aufbringen,  wenn  die  unfrucht- 
bare Steigerung  der  Selbstkosten  durch  teure  Trans- 
porte ihnen  erspart  bliebe. 

Das  Mittel 

Daß  Schiffstransporte  billiger  sind  als  Land- 
transporte, gilt  als  ein  ausgemachter  Grund- 
satz, der  durch  unvordenkliche  Erfahrung  bestätigt 
scheint,  und  der  durch  die  Einführung  der  Eisen- 
bahnen als  Haupttransportmittel  der  Erde  nicht 
erschüttert  wurde. 

Wo  daher  im  Binnenlande  abseits  von  schiffbaren 

162 


Flüssen  eine  bevorzugte  Verkehrsstraße  für  massen- 
hafte Güterbevvegung  eröffnet  werden  sollte,  da 
suchte  man,  wenn  die  geographischen  Bedingungen 
es  gestatteten, Kanäle  zu  schaffen  und  scheute  weder 
die  Höhe  der  Anlagekosten  noch  die  Langsamkeit 
der  Transporte,  noch  die  winterlichen  Unter- 
brechungen des  Verkehrs. 

Sucht  man  nun  sich  zu  vergegenwärtigen,  worin 
denn  die  grundsätzliche  Überlegenheit  der  Kanäle, 
etwa  im  Vergleich  gegen  Eisenbahnen,  bestehe,  so 
ergibt  sich  zunächst,  daß  flüssige  Bahnen  die  Fort- 
bewegung mit  gleitender  Reibung  gestatten,  wäh- 
rend metallene  Bahnen  die  Fortbewegung  mit  rol- 
lender Reibung  verlangen.  Unzweifelhaft  erfordert 
die  Überwindung  der  rollenden  Reibung  den  höheren 
Kraftaufwand  und  somit  größere  Kosten.  Aber  bei 
näherer  Prüfung  ergibt  sich,  daß  selbst  beim  Eisen- 
bahntransport die  reinen  Kosten  der  Traktion,  d.  h. 
die  Ausgaben  für  Kohle,  Wasser,  Schmiermaterial, 
Lokomotivlöhne,  nur  einen  sehr  kleinen  Betrag  des 
Gesamtaufwandes  ausm.achen,  und  daß  somit  eine 
Ersparnis  auf  diesem  Konto  so  gut  wie  nichts  be- 
bedeutet. In  der  Benutzung  der  gleitenden  Rei- 
bung kann  also  ein  entscheidender  Vorzug  der  Kanäle 
nicht  begründet  sein. 

Liegt  dieser  Vorteil  nun  etwa  in  dem  größeren 
Fassungsraum  der  Transportgefäße  ?  So  scheint  es, 
wenn  man  den  Laderaum  eines  Schiffes  mit  dem 
eines  Güterwagens  vergleicht.  Aber  abgesehen 
davon,  daß  nichts  die  Eisenbahntechnik  hindert, 
Wagen  von  erheblich  größerer  Leistungsfähigkeit 
als  bisher  in  Deutschland  gebräuchlich,  zu  ver- 
wenden: es  trifft  dieser  Vergleic^j  an  sich  nicht  zu. 
Die  Einheit,  die  mit  der  Schiffseinheit  in  Vergleich 

n»  163 


treten  kann,  ist  nicht  der  Wagen,  sondern  der  Zug. 
Und  hier  will  es  wenig  bedeuten,  immerhin  aber 
eher  zugunsten  des  rollenden  Systems  sprechen, 
daß  diese  Einheit  teilbar  ist.  Vor  allem  aber  ist  sie 
vermöge  ihrer  größeren  Geschwindigkeit  weit  grö- 
ßerer Ausnutzung  fähig  und  dabei  nicht  in  dem 
Maße  komplizierter  und  kostbarer,  daß  ihre  An- 
schaffung und  Unterhaltung  den  Kostenvergleich 
zugunsten   der  teureren   Wasserbauten  verschöbe. 

So  bleibt  als  letzte  Überlegenheit  des  Kanals  die 
Möglichkeit  einer  beträchtlichen  Dichte  des  Ver- 
kehrs, und  es  entsteht  die  einfache  Frage :  gestatten 
rollende  Transportsysteme,  also  etwa  Eisenbahnen, 
eine  den  Kanalsystemen  angenäherte  Frequenz  oder 
nicht  ? 

Daß  die  bestehenden  Bahnsysteme,  die  gleich- 
zeitig dem  Personen-  und  Güterverkehr  dienen 
müssen,  in  ihrer  Transportfähigkeit  eng  begrenzt 
sind,  da  sie  mit  verschiedenartigen  Geschwindig- 
keiten, mit  großen  Zugabständen  und  unter  ge- 
nauer Einhaltung  der  Fahrpläne  arbeiten  müssen, 
ist  einleuchtend.  Könnte  man  aus  der  Vogel- 
perspektive die  ganze  Länge  eines  stark  befahrenen 
Eisenbahngleises  überblicken,  so  würde  man  auf  der 
dunklen  Linie  in  großen  Abständen  die  Züge  als  kleine 
Punkte  sich  bewegen  sehen.  Auf  der  ungewöhnlich 
stark  belasteten  Strecke  Berlin — Halle  beträgt  in 
diesem  Augenblick  die  Gesamtlänge  aller  sich  fortbe- 
wegenden Züge  während  der  Zeit  des  stärksten  Ver- 
kehrs nur  ein  Dreißigstel  der  Länge  der  Bahn. 

Nun  wäre  aber  durchaus  der  äußerst  entgegen- 
gesetzte Zustand  denkbar,  daß  nämlich  nach  Art 
eines  Paternosterwerkes  die  ganze  Linie  von  be- 
wegten Transportgefäßen  derart  überdeckt  wäre, 

164 


daß  die  Zwischenräume  nahezu  verschwänden. 
Daß  in  diesem  Grenzfall  die  Transportfähigkeit 
einer  Eisenbahn  ins  Ungemessene  wachsen  müßte, 
liegt  auf  der  Hand;  des  ferneren,  daß,  um  sich  der 
Grenze  anzunähern,  die  Personenbefördeurng  aus- 
geschaltet, die  Geschwindigkeit  der  Züge  normali- 
siert und  die  Folge  beschleunigt  werden   müßte. 

Der  Wunsch,  diese  Erwägung  dem  praktischen 
Bedürfnis  nutzbar  zu  machen,  ergab  zunächst  den 
Gedanken,  Güterbahnen  und  Personenbahnen  zu 
trennen;  sodann  für  einen  Moment  die  phantastische 
Vorstellung,  ob  es  nicht  möglich  sei,  auf  einer 
Güterbahn  die  Benutzung  nach  Art  einer  Land- 
straße oder  eines  Kanals  einzuführen,  nämlich  in  der 
Weise,  daß  jeder  Interessent  das  Recht  erhielte, 
gegen  Erstattung  einer  Weggebühr  die  Bahn  mit 
eigenen  Zügen  zu  befahren,  wobei  geeignetes  Zug- 
personal, gleiche  Fahrtrichtung,  mäßige  Geschwin- 
digkeit und  gewissenhaftes  Einhalten  des  Abstandes 
ausbedungen  würde 

Schon  eine  vorläufige  Schätzung  erwies,  daß  es 
einer  vom  üblichen  Bahnwesen  abweichenden  Be- 
triebsweise nicht  bedürfe,  und  daß,  um  eine  der 
Kanalfrequenz  erheblich  überlegene  Verkehrsdich- 
tigkeit zu  erreichen,  eine  Bahnbelastung  genügt,  die 
sich  in  durchaus  praktischen  Grenzen  hält. 

So  war  denn  die  Wahrscheinlichkeit  gegeben, 
daß  ein  Eisenbahnsystem  sich  den  Kanälen  als  eben- 
bürtig, vielleicht  sogar  durch  Billigkeit  der  Erstel- 
lung und  des  Betriebes  und  durch  Leistungsfähigkeit 
als  überlegen  erweisen  könnte,  sofern  es  folgenden 
Bedingungen  genügte: 

I.  Trennung  des  Gütertransports  von  der  Per- 
sonenbeförderung, 

165 


2.  gleichmäßige  Fahrgeschwindigkeit, 

3.  dichte  Zugfolge, 

4.  Zugelemente  und  Züge  von  großem  Fassungs- 
vermögen. 

Wollte  man  über  diese  Wahrscheinlichkeit  hinaus 
zu  einer  Vertiefung  des  Problems  oder  gar  zum 
Versuche  eines  Beweises  gelangen,  so  reichte  die 
allgemeine  Erwägung  nicht  mehr  aus,  und  es  schien 
notwendig,  an  Hand  eines  der  Wirklichkeit  ange- 
paßten Vorprojektes  der  Aufgabe  praktisch  sich  zu 
nähern.  Da  nun  der  Gedanke  mich  nicht  verließ, 
daß  durch  die  Verfolgung  und  Erörterung  meiner 
Idee  der  Industrie,  wenn  auch  nur  in  späterer  Zu- 
kunft, ein  erheblicher  Dienst  geleistet  werden  könnte, 
bewog  ich  im  Jahre  1904  drei  befreundete  Gesell- 
schaften: die  Berliner  Handels-GeseUschaft,  die 
Allgemeine  Elektrizitäts- Gesellschaft  und  die 
Firma  Lenz  &  Co.,  ein  Studiensyndikat  für  die 
Bearbeitung  des  Güterbahnproblems  zu  bilden. 
Herr  Regierungsrat  Kemmann  fand  sich  bereit, 
sich  für  die  Leitung  des  Syndikats  mir  anzuschließen 
und  in  sehr  dankenswerter  Weise  die  Arbeiten  fördern 
zu  helfen. 

Es  gelang  uns,  Herrn  Professor  Cauer  für  die  Fort- 
führung der  Untersuchung  zu  gewinnen.  Seiner 
Arbeit  verdanken  wir  eine  nachhaltig  begründete 
Beantwortung  der  Frage,  ob  technisch  oder  ökono- 
misch die  Möglichkeit  besteht,  die  Kosten  der  Güter- 
transporte weit  unter  das  gegenwärtige  Maß  her- 
abzudrücken, ob  ferner  Kanäle  oder  Eisenbahnen 
hierfür  das  geeignetere  Mittel  bilden.  Die  Antwort 
lautet:  die  Tarife  lassen  sich  unter  nüchter- 
nen Voraussetzungen  auf  die  Hälfte  bis  ein 
Viertel    der   billigsten    bestehenden    Sätze 

166 


herabsetzen,  und  zwar  durch  den  Bau  be- 
sonderer Güterbahnen,  die  billiger,  lei- 
stungsfähiger und  rentabler  sind  als  Kanäle. 

Die  Anwendung 

Stellt  man  nun  die  Frage,  welche  praktischen  Er- 
gebnisse von  der  hier  unternommenen  Arbeit 
erwartet  werden  dürfen,  so  ist  zunächst  anzunehmen, 
daß  von  diesem  Augenblick  an  eine  Erörterung  be- 
ginnt, die,  ausgehend  von  der  elementaren  Wichtig- 
keit der  Transportverbilligung  und  von  der  unzweifel- 
haften Möglichkeit,  sie  durch  neue  Mittel  zu  er- 
reichen, das  Problem  aus  dem  Spruchbereich  einiger 
weniger  Berufsarbeiter  loslöst  und  es  in  die  Hände 
aller  urteilsfähigen  Beteiligten  legt,  die  zur  Er- 
wägung und  Mitarbeit  aufgerufen  werden.  Diese 
Diskussion  darf  nicht  aufhören,  bevor  auf  dem  einen 
oder  andern  Wege  die  Lösung  herbeigeführt  ist*). 
Sodann  sind  zwei  Möglichkeiten  zu  unterscheiden. 
Entweder  es  gewinnt  die  Ansicht  die  Oberhand  — 
gleichviel  ob  richtig  oder  falsch  — ,  bei  geeignetem 
Betriebe  oder  bei  richtigerem  Ausgleich  der  Kalku- 
lationen seien  auch  die  bestehenden  Eisenbahnen 
in  der  Lage,  auf  ihren  Hauptlinien  mit  ähnlichen 
Tarifen  zu  rechnen;  es  sei  somit  die  Errichtung 
besonderer  Güterbahnen  kein  wirtschafthcher  Fort- 
schritt. Dieser  FaU  wäre,  so  widerspruchsvoll  es 
klingt,  der  erfreulichste,  obwohl  er  der  vorliegenden 

•)  Die  Erörterung  kam  in  Gang;  lebhafter  freilich  im  Ausland, 
insbesondere  Österreich,  als  in  Deutschland.  Im  preußischen  Herren- 
hause stellte  der  Minister  v.  Breitenbach  die  Ergebnisse  der  Berech- 
oimgen  nicht  in  Abrede,  sprach  aber,  wie  zu  erwarten,  die  Besorgni* 
aus,  e«  könnten   die   fiskalischen  Transportgewinne  sich  Termindem. 

167 


Arbeit  den  Stempel  des  Mißlungenen  oder  Über- 
flüssigen aufzudrücken  schiene.  Denn  es  müßte  über 
lang  oder  kurz  eine  erhebliche  Herabminderung 
der  Tarife  puf  den  Hauptlinien  erfolgen,  gleichviel 
ob  hiermit  ein  vorübergehender  Gewinnausfall  der 
Bahnen  verbunden  wäre.  Mag  man  noch  so  ent- 
schieden den  Standpunkt  vertreten,  daß  Staats- 
frachten eine  Besteuerung  enthalten  sollen :  es  kann 
weder  diese  Besteuerung  auf  die  Dauer  ein  Viel- 
faches des  Wertes  der  Leistung  ausmachen,  noch 
kann  eine  Steuer  so  falsch  eingestellt  bleiben,  daß 
ihre  Saugapparate  um  den  empfindlichsten  Teil 
eines  Wirtschaftskörpers  sich  klammern  und  eine 
Entwicklung  hindern,  die  frei  entfaltet  ein  Viel- 
faches dieses  Steuerbetrages  aufzubringen  ver- 
möchte. 

Setzt  man  den  zweiten  Fall:  daß  die  Meinung 
durchdringt,  die  Güterbahnen  bedeuten  einen  wirk- 
lichen Fortschritt  im  wirtschaftlichen  Leben,  so 
ist  keine  Macht  imstande,  den  Bau  solcher  Bahnen 
dauernd  zu  hindern.  Während  Kanalbauten  grö- 
ßeren Umfangs  nur  unter  schweren  Opfern  des 
Staates  und  der  Provinzialverbände  zustande  ge- 
bracht werden  können,  würde  die  Finanzierung 
einer  Güterbahn  aus  privaten  Mitteln  möglich  sein, 
denn  sie  bietet  die  Wahrscheinlichkeit  eines  ge- 
sicherten Erträgnisses.  So  gering  die  Aussicht  sein 
mag,  daß  der  Staat  eine  konkurrierende  Privatunter- 
nehmung genehmigt,  so  wahrscheinlich  ist  es,  daß 
er  selbst  zu  einem  gewissen  Zeitpunkt  die  Initiative 
ergreifen  wird,  um  gleichzeitig  eine  lohnende  Unter- 
nehmung und  ein  volkswirtschaftlich  notwendiges 
Werk  zu  schaffen. 

Wann  dieser  Zeitpunkt  eintreten  könnte,  läßt 

j68 


sich  zwar  nicht  ermessen,  aber  vermuten.  Auch 
unabhängig  von  der  Frage  der  Güterbahnen  be- 
reitet die  Teilung  der  gegenwärtigen  Hauptbahn- 
linien in  Parallelsysteme  sich  vor :  denn  wie  der  Güter- 
verkehr nach  erhöhter  Dichte  verlangt,  so  ver- 
langt der  Personenverkehr  nach  Beschleunigung. 
In  durchaus  absehbarer  Zeit  wird  die  elektrische 
Fernbahn  sich  des  Personenverkehrs  bemächtigen 
und  die  zeitlichen  Entfernungen  halbieren.  Die 
elektrische  Fernbahn  aber  erfordert  eigene  Gleise 
ohne  Kreuzungen  sowie  die  Absonderung  vom 
Güterverkehr,  der  sich  somit  eigene  Bahnen  suchen 
muß. 

So  werden  voraussichtlich  die  beiden  größten 
Umwälzungen,  deren  der  Massenverkehr  fähig  ist, 
in  engster  Verknüpfung  und  zu  gleichem  Zeitpunkt 
erfolgen. 

Daß  das  Prinzip  der  Staatsbahnen  mit  seinen 
großen  und  anerkannten  Vorzügen  nicht  die  Eigen- 
schaften verbindet,  die  den  frei  konkurrierenden 
Industrien  anerzogen  sind:  Lust  zur  Initiative  und 
selbsttätige  Anpassung  an  die  Bedürfnisse  der  Ge- 
samtheit, ist  ersichtlich.  Die  Siebung  dieser  Be- 
dürfnisse durch  das  Ermessen  einer  Behörde  und 
durch  das  Verantwortlichkeitsgefühl  technischer 
Stellen,  die  nicht  unter  dem  Druck  wirtschaftlicher 
Nötigung  und  spekulativen  Antriebes  stehen,  ver- 
langsamt die  Verwirklichung  und  vermindert  den 
Nutzeffekt. 

Trotzdem  kann  ein  grundsätzlicher  Fortschritt 
des  Verkehrswesens  dauernd  nicht  zurückgehalten 
werden;  dafür  sorgt  die  Konkurrenz  der  Nationen 
und  die  erstarkende  öffentliche  Erkenntnis  des  wirt- 
schaftlich Notwendigen.  1909 

169 


PROMEMORIA  BETREFFEND  DIE  BEGRÜN- 
DUNG EINER  KÖNIGLICH  PREÜSSISCHEN 
GESELLSCHAFT 

Überreicht  am  14.  März  1910 


Ein  Jahr  vor  der  Überreichung  des  Promemoria  waren  die 
leitenden  Gedanken  den  maßgeblichen  Persönlichkeiten  mündlich  vor- 
getragen worden.  Die  Gesellschaft  trat  in  weniger  universeller  Form 
und  leider  mit  wesentlicher  Beschränkung  des  Umfanges  und  Arbeit»' 
gebietes  ins  Leben.  Sie  führt  den  Namen  „Kaiser-Wilhelm-Geseü- 
schaft  zur  Förderung  der  Wissenschaften". 


I. 


So  berechtigt  der  Wunsch  erscheinen  mag,  im 
Staatswesen  das  Zentralorgan  zu  erblicken,  das 
dem  gesamten  Fühlen  und  Wollen  des  Volkes  Aus- 
druck und  Verkörperung  schafft,  so  darf  nicht  ver- 
kannt werden,  daß  die  konstitutionellen  Gebilde 
in  ihrer  heutigen  Form  wichtige  Teile  dieser  Auf- 
gabe ungelöst  lassen. 

Die  Werke,  die  uns  vergangene  Völker  und  Ge- 
schlechter als  sichtbare  Verkörperungen  ihres  gei- 
stigen Lebens  hinterlassen  haben,  die  Bauten  Asiens 
und  Ägyptens,  die  Tempel  und  Skulpturen  Grie- 
chenlands, die  Monumente,  Paläste  und  Kirchen 
Roms,  die  Staatsgebäude  Venedigs,  die  Dome  und 
Schlösser  Frankreichs  und  Deutschlands,  fast  aus- 
nahmslos verdanken  sie  ihr  Dasein  monarchischem, 
aristokratischem  und  hierarchischem  Willen.  Was 
konstitutionelle  und  demokratische  Gemeinschaften 
diesen  Denkmälern  zur  Seite  gesetzt  haben,  ist 
geringfügig  und  mehr  auf  dem  Boden  der  Nützlich- 
keit und  des  Bedürfnisses  als  der  Idee  erwachsen. 
Fast  wird  man  geneigt  zu  glauben,  daß  das  geistige 
Leben  unsrer  2xjit  nur  noch  in  Einrichtungen  des 
Verkehrs,  der  mechanischen  Produktion,  der  Ver- 
teidigung und  Verwaltung  einen  sichtbaren  Ausdruck 
seiner  gewaltigen  Tätigkeit  sich  zu  schaffen  ver- 
möge. 

Warum  können  die  Staatswesen  der  Neuzeit  den 
Aufgaben  der  Verkörperung  ideeller  Mächte  nicht 
mehr  voll  genügen  ?  Das  Wesen  solcher  Aufgaben 
bringt  es  mit  sich,  daß  sie  überschwenglich  und  en- 
thusiastisch erscheinen,  wo  sie  die  Kunst  betreffen, 
daß  sie  abstrakt  und  weltfremd  bleiben,  wo  sie  der 

173 


Wissenschaft  angehören.  Eine  Mehrheit,  die  über 
Mittel  der  Gemeinschaft  verfügt,  wird  auf  dem 
Wege  der  geschäftsmäßigen  Behandlung,  wenn  sie 
wohlmeinend  ist,  sich  einer  wohlbegründeten  Nütz- 
lichkeit nicht  verschließen;  wohl  aber  wird  sie  jeder 
ausgesprochenen  Idealität  und  Abstraktion,  jeder 
fernsichtigen  Zukunftssorge,  jeder  Überschreitung 
des  notwendigen  Maßes  abhold  sein,  und  im  all- 
gemeinen schon  durch  den  natürlichen  Ausgleich 
der  entgegengesetzten  Meinungen  sich  gezwungen 
sehen,  den  Weg  des  Mittels,  des  Mittelmaßes,  der 
Mittelmäßigkeit  einzuschlagen.  Ein  Bau,  wie  der 
des  Kolosseums,  der  Peterskirche,  ein  Projekt  wie  das 
der  Nobelstiftung,  des  lenkbaren  Luftschiffs,  des 
Bayreuthei:  Festspielhauses,  wäre  von  keiner  Ver- 
waltungsmehrheit gebilligt  worden.  Wollte  man 
einwenden,  daß  vom  Standpunkt  der  mechanischen 
Nützlichkeit  ein  Volk  säkularer  Werke  nicht  be- 
darf, so  könnte,  falls  diese  enge  Betrachtungsweise 
überhaupt  zugelassen  werden  soll,  erwidert  werden, 
daß  bei  gegebenen  physischen  und  ethischen  Vor- 
bedingungen die  wissenschaftliche  Vertiefung  eines 
Volkes  über  seine  politische  Macht  entscheidet,  und 
daß  die  sichtbaren  Werke  des  höchsten  Idealismus 
in  gemeinstem  Sinne  als  eine  Quelle  des  Reichtums 
angesehen  werden  können.  Paris  wäre  nicht  die 
begehrteste  Fremdenstadt  der  Welt  ohne  seine 
Architekturen;  und  die  bedeutende  Rente,  die 
Italien  von  den  Besuchern  aller  Länder  bezieht,  wäre 
nicht  möglich  ohne  die  Aufwendungen  des  römi- 
schen Senats,  der  Päpste  und  der  fürstlichen  Ge- 
schlechter der  Renaissance. 

Wendet  sich  nun  angesichts  dieser  Unzulänglich- 
keit der  Blick  erwartend  zum  Monarchen,  so  wird 

174 


es  fühlbar,  daß  dieser  über  die  Mittel  des  Staates 
nicht  mehr  frei  verfügt.  Große  Aufgaben  sind  noch 
in  unsrer  Zeit  aus  souveränen  Vermögen  bestritten 
worden,  doch  gehen  die  Forderungen  eines  ganzen 
Landes  auch  über  königliches  Maß  hinaus.  In  allen 
Fällen  wird  es  einem  Souverän  gelingen,  für  ein 
Werk,  dem  er  seine  eigene  hohe  Sanktion  verleiht, 
Opferwilligkeit  im  Volke  zu  erwecken  und  so  die 
Unzulänglichkeit  der  öffentlichen  Einrichtungen 
auszugleichen;  doch  nicht  ein  jedes  Werk,  das  vom 
Herrscher  Hilfe  zu  erhoffen  berechtigt  ist,  darf 
beanspruchen,  daß  er  sich  dafür  mit  seiner  Person 
einsetze. 

An  dieser  Stelle  darf  eine  nicht  leicht  zu  behan- 
delnde psychologische  Frage  nicht unerörtert  bleiben. 
Der  Wert  und  das  Wesen  einer  schönen  und  opfer- 
willigen Handlung  liegt  darin,  daß  sie  um  ihrer 
selbst  willen,  nicht  im  Hinblick  auf  einen  außerhalb 
stehenden  Zweck  oder  Erfolg  geschieht.  Indessen 
wird  der  Kenner  menschlicher  Dinge  nicht  hart  dar- 
über urteilen,  wenn  in  Ländern,  die  eine  staatliche 
Anerkennung  öffentlicher  Verdienste  pflegen,  eine 
nicht  geringe  Zahl  sonst  sachlich  empfindender 
Menschen  sich  bedrückt  fühlt,  wenn  eine  Leistung, 
die  als  wünschenswert  betrachtet  und  von  ihnen 
gern  und  freiwillig  erfüllt  wurde,  im  Gegensatz  zu 
pflichtmäßigen  aber  immateriellen  Verdiensten, 
ohne  äußeres  Zeichen  öffentlicher  Anerkennung  von 
der  Gemeinschaft  hingenommen  wird.  So  ist  denn 
auch  der  Deutsche,  in  seiner  Neigung,  den  eigenen 
Wert  gering  anzuschlagen,  gern  bereit,  die  offizielle 
Anerkennung  über  sein  eigenes  Urteil  zu  stellen, 
woher  denn  auch  teilweise  der  oft  verspottete  Hang 
zu  Titulaturen   und  Auszeichnungen  rühren  mag. 

175 


Diese  offizielle  Anerkennung  aber  kann  im  eigent- 
lichen Sinne  für  materielle  Leistungen  nicht  erfol- 
gen; denn  unter  allen  Umständen  müssen  Ehren- 
zeichen und  Würden  dem  immateriellen,  rein  gei- 
stigen und  ethischen  Verdienst  vorbehalten  bleiben, 
sonst  ziehen  sie  den  Schein  der  Käuflichkeit  auf  sich 
und  werden  entwertet. 

In  diesem  Sinne  könnte  man  solche  Länder  glück- 
licher gestellt  nennen,  in  welchen  staatliche  und 
fürstliche  Anerkennungen  nicht  bestehen  oder  auf 
seltenste  Fälle  beschränkt  sind.  Vor  allem  dürfte 
man  die  Vereinigten  Staaten  als  ein  Land  der  Bür- 
gertugend preisen,  und  vielleicht  nicht  zum  wenig- 
sten deswegen,  weil  dort  die  Opferwilligkeit  mit 
keinem  andern  Verdienst  vor  der  Öffentlichkeit 
wetteifert  und  daher  sich  selbst  ihr  Maß  und  ihre 
Schätzung  bestimmt.  Tatsächlich  stellen  ameri- 
kanische Schenkungen,  Stiftungen  und  Vermächt- 
nisse weit  über  den  Rahmen  der  Kapitalansamm- 
lungen des  Landes  hinaus  alles  in  Schatten,  was 
die  übrige  Welt  an  Gemeinnützigkeit  dieser  Art 
kennt.  Aber  auch  England,  Holland,  die  Schweiz, 
selbst  das  neuzeitliche  Griechenland  sind  uns  in 
bürgerlicher  Betätigung  des  Gemeinsinns  überlegen. 

IL 

Diese  allgemeinen  Erwägungen  müssen  zu  der 
Frage  führen,  ob  bei  dem  hohen  Stande  intel- 
lektueller und  ethischer  Gesinnung,  bei  unvergleich- 
lich aufstrebendem  Volkswohlstand  und  National- 
vermögen, in  Deutschland  sich  Institutionen  schaffen 
lassen,  die,  auf  dem  Boden  der  Selbstverwaltung  auf- 
gebaut, bei  der  Erfüllung  weittragender  Aufgaben 

176 


in  Wissenschaft  und  Kunst  dem  Staate  sich  zur 
Seite  stellen  und  dem  Monarchen  eine  Handhabe 
zur  Förderung  des  kulturellen  Lebens  der  Nation 
bieten. 

Zur  Schaffung  eines  Organs  dieser  Art  bedarf  es 
nur  des  Willens  des  Monarchen;  seine  gegebene 
Form  ist  die  einer  staatlich  anerkannten  Gesellschaft, 
für  deren  Aufbau,  sofern  sie  den  höchsten  Forderun- 
gen gerecht  werden  soll,  folgende  Grundsätze  ent- 
scheidend sein  dürften. 

1.  Die  Ziele  der  Gesellschaft  müssen  sich  auf 
das  gesamte  Gebiet  der  Künste  und  Wissen- 
schaften erstrecken. 

Nur  auf  einer  so  weiten  Grundlage  kann  es  ge- 
lingen, einen  großen  Teil  der  verfügbaren  wirt- 
schaftlichen Kräfte  der  Nation  zu  einem  gemein- 
samen Werk  zusammenzufassen.  Die  Gesellschaft 
soll  fördern  und  unterstützen,  nicht  forschen,  ent- 
werfen und  ausführen.  Sie  hat  die  Aufgabe,  die 
bestehenden  und  zu  schaffenden  Institutionen  der 
Kunst  und  Wissenschaft  zu  ergänzen,  nicht  mit 
ihnen  in  Konkurrenz  zu  treten.  Sie  bleibt  frei  in 
der  Verwendung  ihrer  Mittel  und  frei  in  der 
Ausv/ahl  ihrer  Aufgaben;  die  Durchführung  über- 
läßt sie  den  berufenen  Korporationen,  Behörden, 
Künstlern  und  Gelehrten,  wobei  es  ihr  unbenom- 
men bleibt,  notwendig  erscheinende  Bedingungen 
an  ihre  Mitwirkung  zu  knüpfen.  Auch  wird  sie 
die  Ergebnisse  ihres  Wirkens  den  Mitgliedern  und 
der  Öffentlichkeit  zugänglicli  machen  und  so  erneutes 
Interesse  und  gesteigerte  Anteilnahme  erwecken. 

2.  Die  Gesellschaft  muß  eine  gegenüber  allen 
öffentlichen  Vereinen  weit  eximierte  Stellung 
einnehmen. 


IV,   13 


^n 


Ja  sie  muß  ein  Mittelglied  zwischen  einer  staatlichen 
Institution  und  einem  Verein  bilden.  Diese  Stellung 
kann  der  Gesellschaft  gesichert  werden  durch  die 
Protektion  des  Königs,  die  Mitgliedschaft  der 
Ministerien,  die  Auswahl  und  Rechte  ihrer  Mit- 
glieder und  Verwaltungsorgane,  durch  ihre  Ver- 
fassung und  durch  ihren  Namen.  Dieser  Name 
sollte  durch  Würde  und  Kürze  bei  weiter  Fassung 
des  Sinnes  Bedeutung  erhalten;  auf  eine  nähere 
Bezeichnung  der  Ziele  könnte  verzichtet  werden, 
da  bei  dieser  vereinzelt  dastehenden  Institution  die 
Kenntnis  ihres  Wirkens  sich  in  gleichem  Maße  ver- 
breiten und  einbürgern  wird  wie  etwa  bei  der 
Royal  Society  oder  dem  Institut  de  France.  So 
dürfte  als  geeignetster  Name  vorgeschlagen  werden: 
Königlich  Preußische  Gesellschaft. 

3.  Von  einer  übermäßigen  Zentralisation  in  der 
Wirkungsweise  der  Gesellschaft  ist  abzuraten. 

Wenn  erhebliche  Mittel  aus  allen  Landesteilen 
herbeigezogen  werden  sollen,  wenn,  ein  Teil  der 
Wohlhabenden  des  Landes  der  Gesellschaft  die 
Bestimmung  über  Einkünfte  überträgt,  die  bis  dahin 
auch  örtlichen  Bedürfnissen  zugute  kamen,  so  sollte 
nicht  der  Vorwurf  erhoben  werden  dürfen,  man 
habe  einzelne  Bezirke  zugunsten  einer  Zentralstelle 
bestehender  Hilfsquellen  beraubt.  Es  muß  daher 
Sorge  getragen  werden,  daß  ein  Teil  der  Einnahmen 
der  Königlich  Preußischen  Gesellschaft  für  örtliche 
Erfordernisse  von  vornherein  abgezweigt  werde, 
wobei  ein  Einfluß  auf  die  Verwendung  dieser  Teil- 
beträge immerhin  der  Zentralbehörde  vorbehalten 
bleiben  kann. 

Im  Sinne  dieser  Erwägung  sollte  davon  abgesehen 
werden,  von  Anfang  an  die  Königlich  Preußische 

178 


Gesellschaft  zu  einer  Reichsinstitution  auszudehnen. 
Wenn  auch  zu  hoffen  und  zu  erwarten  steht,  daß 
die  Gesellschaft  auch  außerhalb  des  Königreichs 
Zustimmung,  Anhänger  und  Unterstützung  findet, 
so  sollte  in  erster  Linie  der  Grundsatz  beachtet 
werden,  daß  die  Pflege  der  Künste  und  Wissen- 
schaften zu  den  schönsten  Vorrechten  des  Landes- 
fürsten gehört.  Vor  allem  aber  darf  die  notwendige 
Forderung  einer  gewissen  Dezentralisation  nicht 
zu  weitgehenden  Beschränkungen  der  Verfügungs- 
freiheit der  Zentralbehörde  führen,  wie  dies  der 
Fall  sein  würde,  wenn  verschiedene  Staaten  die  Ver- 
wendung der  Mittel  zu  kontrollieren  beanspruchen. 
4.  Eine  Institution,  die  große  nationale  Auf- 
gaben erfüllen  soll,  muß  ihre  Wurzeln  in  die  Tiefe 
der  Nation  erstrecken. 

;  Wenn  auch  begüterte  Staatsbürger  zum  Aufbau 
des  Werkes  berufen  sind,  so  soll  doch  das  Unterneh- 
men einen  möglichst  weiten  Kreis  von  Anhängern 
sich  erwerben.  Deshalb  sollte  außerhalb  des  Krei- 
ses der  Donatoren,  die  durch  erhebliche  Zuwen- 
dungen für  den  Wirtschaftsbedarf  der  Gesellschaft 
aufkommen,  einer  unbeschränkten  Zahl  von  ange- 
sehenen und  bemittelten  Persönlichkeiten  der  Bei- 
tritt als  ordentlichen  und  außerordentlichen  Mit- 
gliedern freigestellt  werden.  Es  sollte  ferner  im 
gleichen  Sinne  eines  groß  angelegten  und  nationalen 
Unternehmens  so  weit  als  tunlich  dem  Grundsatz 
der  Selbstverwaltung  Geltung  verschafft  werden. 
Es  können  lokale  Behörden  der  Gesellschaft  über- 
wiegend aus  Wahlen  der  Mitglieder  hervorgehen; 
auch  für  einen  Teil  der  Zentralbehörde  können 
Wahlen  bestimmend  sein.  Um  indessen  die  Einheit- 
lichkeit und  Kontinuität  der  Führung  zu  wahren, 

179 


sodann  um  das  Ansehen  der  Gesellschaft  zu  erhöhen, 
muß  die  Bestätigung  sämtlicher  Mitglieder  der 
Zentralbehörde,  die  Berufung  eines  größeren  Teiles 
derselben  und  die  Ernennung  des  Präsidiums  Vor- 
recht des  Königs  bleiben. 

III. 

A  uf  der  Grundlage  der  soeben  niedergelegten  Fun- 
l\  damentalsätze  darf  nunmehr  der  Aufbau  der  Kö- 
niglich Preußischen  Gesellschaft  entworfen  werden. 

1.  Die  Mitglieder  zerfallen  in  ordentliche  und 
außerordentliche.  Sie  sind  zu  Ortsgruppen  und 
Provinzverbänden  vereinigt.  Die  ordentlichen  Mit- 
glieder haben  aktives  und  passives  Wahlrecht  für 
Ortsausschuß  und  Provinzausschuß.  Die  ordent- 
lichen Mitglieder  verpflichten  sich  zu  einem  Jahres- 
beitrag von  IOC  M.,  die  außerordentlichen  zu 
einem  solchen  von  50  M.  Die  ersteren  erhalten 
das  Recht,  ein  Abzeichen  zu  tragen. 

2.  Die  Orts-  und  Provinzausschüsse  vertreten  die 
örtlichen  und  provinziellen  Interessen  der  Gesell- 
schaft; sie  verwenden  die  ihnen  überwiesenen 
Mittel  und  wählen  aus  ihrer  Mitte  einen  Teil  der 
Mitglieder  des  Senats.  Orts-  und  Provinzausschüsse 
tagen  unter  Vorsitz  eines  Regierungsbeamten,  sie 
können  vom  Senat  durch  Zuweisung  von  Mitgliedern 
ergänzt  werden.  Die  Mitglieder  der  Provinzaus- 
schüsse führen  den  Titel  Kurator  der  Königlich 
Preußischen  Gesellschaft. 

3.  Der  Senat  besteht  aus 

a)  den  von  den  Orts-  und  Provinzausschüssen 
erwählten  und  vom  König  bestätigten 
Mitgliedern, 

180 


b)  den  von  wissenschaftlichen  und  künstleri- 
schen Korporationen,  von  Universitäten 
und  Akademien  vorgeschlagenen  und  vom 
König  bestätigten  Mitgliedern, 

c)  den    vom   König    bestätigten    Donatoren, 

d)  den  vom  König  ernannten  Mitgliedern. 
Der  Senat  verkörpert  die  Gesellschaft.  Er  be- 
schließt über  die  Verwendung  der  Mittel  der  Ge- 
sellschaft, genehmigt  die  Rechnungslegung,  ernennt 
eine  wissenschaftliche,  eine  künstlerische  und  eine 
technische  Kommission  und  wählt  aus  seiner  Mitte 
die  Hälfte  der  Mitglieder  des  Senatsausschusses. 
Die  Mitglieder  des  Senats  führen  den  Titel  Senator 
der  Königlich  Preußischen  Gesellschaft  und  erhal- 
ten Rang  und  Amtstracht. 

4.  Der  Senatsausschuß  besteht  aus  Senatoren, 
die  zur  Hälfte  vom  König  ernannt,  zur  Hälfte  vom 
Senat  gewählt  werden.  Der  Senatsausschuß  führt 
die  Geschäfte  der  Gesellschaft,  bereitet  die  an  den 
Senat  gelangenden  Anträge,  sowie  die  Rechnungs- 
legung vor  und  bedient  sich  der  Mitwirkung  der 
drei  Kommissionen. 

5.  Das  Präsidium  wird  vom  König  ernannt. 
E^  besteht  aus  einem  Präsidenten  und  fünf  Präsi- 
dialmitgliedern, von  denen  je  eines  als  Vizepräsident, 
Wissenschaftlicher  Dezernent,  Künstlerischer  De- 
zernent, Geschäftsführer  und  Schatzmeister  desig- 
niert ist.  Das  Präsidium  leitet  die  Sitzungen  des 
Senats,  des  Senatsausschusses  und  der  Kommissionen. 
Es  ist  berechtigt,  einen  besoldeten  Geschäftsführer, 
der  nicht  Mitglied  der  Gesellschaft  zu  sein  braucht, 
zu  bestellen. 

6.  Das  Protektorat  übt  der  König  aus,  dem  neben  den 
erwähnten  Prärogativen  die  Genehmigung  aller  grö- 

181 


ßeren  Zuwendungen  sowie  die  Ernennung  der  Ehren- 
mitglieder und  Ehrenpräsidenten  vorbehalten  bleibt. 

IV. 

Die  Einkünfte   der  Gesellschaft   setzen  sich  zu- 
sammen 

a)  aus  den  Beiträgen  der  ordentlichen  Mitglieder, 

b)  aus    den    Beiträgen    der    außerordentlichen 
Mitglieder, 

c)  aus  den  Zuwendungen  der  Donatoren.   Diese 
bestehen  entweder 

in  einem  Jahresbeitrag  von  mindestens  3000  M. 

oder 

in  einem  einmaligen  Beitrag  von  mindestens 

30  000  M., 

d)  aus   den  Zuschüssen   des   Staates   bezw.  der 
Ministerien, 

e)  aus  Stiftungen,  Vermächtnissen  und  Zinsen. 
Die  Verteilung  der  Einkünfte  geschieht  wie  folgt: 
Aus  den  Einkünften  unter  a)  und  b)  (Beiträge 

der  ordentlichen  und  außerordentlichen  Mitglieder) 
dürfen  zunächst  Orts-  und  Provinzausschüsse  bis 
zu  5%  für  örtliche  und  provinzielle  Verwaltungs- 
kosten zurückbehalten.  Der  Überschuß  wird  an  die 
Senatskasse  abgeführt. 

Alle  übrigen  Einkünfte  gelangen  unmittelbar  in 
die  Kasse  des  Senats.  Hier  werden  sie  in  der  Weise 
alljährlich  verteilt,  daß  60%  zur  Verfügung  des 
Senats  verbleiben,  während  20%  an  die  Ortsgruppen 
und  20%  an  die  Provinzverbände  überwiesen  und  im 
Verhältnis  der  Mitgliederzahlen  aufgeteilt  werden. 
Stiftungen,  Vermächtnisse  und  Zinseingänge  bleiben 
von  dieser  Verteilung  ausgeschlossen  und  zur  Ver- 
fügung des  Senats. 


SCHULE   UND   BILDUNG 


¥ 


I. 


Der  Nutzeffekt  unsrer  Schulen  erscheint  mir 
in  manchem  Sinne  unzulänglich.  Es  ist  ein  Un- 
ding und  durch  kein  Gerede  vom  abstrakten  Wert 
des  Sprachstudiums  zu  beschönigen,  wenn  ein  junger 
Mensch  neun  Jahre  mit  Latein  geplagt  wird,  um  am 
Ende  dieser  Zeit  die  Sprache  weder  lesen  noch  schrei- 
be q  noch  reden  zu  können.  Diese  Unzulänglichkeit 
beweist  nicht,  daß  es  falsch  ist,  klassische  Sprachen 
zu  lehren,  sondern  vielmehr,  daß  man  sich  daran 
gewöhnen  soll,  sie  wirklich  zu  lehren,  anstatt  sprach- 
liche Übungen  mit  rein  theoretischen  Zielen  zu 
betreiben. 

Wenn  ich  mich  frage,  warum  in  meiner  Kindheit 
nicht  richtig  gelehrt  wurde,  so  habe  ich  nur  die 
eine  Antwort:  das,  was  man  damals  Lehren  nannte, 
war  eine  Verwaltungsmaßnahme,  aber  kein  Unter- 
richt. Das  sogenannte  Lehren  bestand  aus  drei 
Teilen : 

1.  dem,  was  man  durchnehmen  nannte, 

2.  dem,  was  der  Schüler  für  sich  zu  Hause  zu  be- 
sorgen hatte, 

3.  dem  Überhören  und  Kontrollieren. 
Nummer  i  trat  ziemlich  in  den  Hintergrund, 
obwohl  es  die  Hauptsache  hätte  sein  sollen :  in  mehr 
oder  mindei  geschickter  Weise  umschrieb  der  Lehrer 
den  Inhalt  eines  Lehrbuchkapitels  und  suchte  sich 
durch  Stichproben  zu  überzeugen,  ob  der  eine  oder 
andre  Schüler  es  für  notwendig  erachtet  hatte,  bei 
dieser  vorläufigen  Ausführung,  die  ihm  das  eigent- 
liche häusliche  Lernen  nicht  ersparte,  aufzumerken. 

Nummer  2  war  die  Hauptsache  und  derjenige 
Akt,  durch  den  wir  die  Kenntnisse  sammelten,  die 

18s 


uns  geblieben  sind.  Geblieben  sind  sie  freilich  nur 
wenigen  von  uns,  denn  wenn  ich  heute  ehemalige 
Mitschüler  treffe,  so  gestehen  mir  die  meisten,  daß 
sie  von  ihrem  Schulstudium  nur  einiges  Metho- 
dische, kaum  mehr  etwas  Tatsächliches  behalten 
haben.  Die  häusliche  Tätigkeit,  die  inzwischen  — 
ich  weiß  nicht  ob  zum  Vorteil  oder  zum  Nachteil 
des  Lernens  —  beschränkt  worden  sein  soll,  nahm 
damals  viele  Stunden  des  Tages  in  Anspruch;  ich 
erinnere  mich  an  Schüler,  die  bis  zu  acht  und  zehn 
Stunden  häusliche  Arbeiten  zu  machen  gewohnt 
waren. 

Nummer  3,  die  eigentliche  Verwaltungsmaß- 
nahme, verlief  seltsam.  Der  Lehrer  stand  vor  der 
Aufgabe,  fünfundvierzig  Schülern  am  Ende  des  Vier- 
teljahrs ein  Zeugnis  zu  erteilen.  Er  glaubte  sich  nun 
gezwungen,  andauernd  für  diese  Zeugnisse  Material 
zu  sammeln.  Jede  Antwort  bekam  eine  Zahlenbc- 
zeichnung.  Der  Schüler  wußte  in  jedem  Augenblick, 
wie  seine  Papiere  standen;  hatte  er  den  nötigen 
Gnadenschatz  angesammelt,  so  setzte  er  sich  zur 
Ruhe  und  verfocht  das  Dekorum  nur  noch  insoweit, 
als  er  sich  bemühte,  bei  Unaufmerksamkeiten  nicht 
ertappt  zu  werden.  Diese  Bemühung  war  die 
schrecklichste  Aufgabe,  deren  ich  mich  aus  meiner 
Schulzeit  erinnere.  Hunderte  von  Stunden  hatten 
wir  zuzuhören,  wie  das  Inquisitionsverfahren  bei 
mehr  oder  minder  begabten  Schülern  in  aktenmä- 
ßiger Form  fortgesetzt  wurde.  Der  Zeitverlust, 
der  hieraus  für  die  Begabteren  entstand,  war  uner- 
setzlich. Die  grotesken  Einzelheiten  dieses  jahraus, 
jahrein  fortgesetzten  Prüfungsaktes  zu  erwähnen 
gehört  nicht  hierher.  Daß  eine  gewisse  Kontrolle 
des  Lernens  erforderlich  ist,  verkenne  ich  nicht, 

186 


daß  aber  diese  Kontrolle  schließlich  die  ganze  Lehr- 
tätigkeit überwucherte,  halte  ich  für  einen  unein- 
bringlichen Schaden. 

Suche  ich  nun  festzustellen,  was  die  Ursache 
einer  so  verfehlten  Schultätigkeit  war,  so  komme  ich 
zu  noch  betrübenderen  Ergebnissen. 

Ich  habe  mit  drei  Schulen  zu  tun  gehabt,  zwei  Klas- 
sen gar  nicht,  zwei  in  je  einem  halben  Jahr  abgetan,  und 
im  Alter  von  siebzehn  Jahren  mein  Abiturientenexa- 
men gemacht.  Ich  war  also  nicht  eigentlich  ein  verär- 
gerter oder  vergrämter  Schüler  und  nicht  von  üblem 
Willen  gegen  meine  Lehrer  erfüllt.  Immerhin  muß 
ich  heute  rückblickend  mir  eingestehen,  daß  nicht  ein 
Zehntel  meiner  damaligen  Lehrer  den  Menschen 
ähnlich  sahen,  die  ich  nachmals  in  Leben  kennen- 
lernte. Erst  spät  habe  ich  begriffen,  von  wie  wenig 
geistig  bedeutenden  Leuten  wir  unterrichtet  wur- 
den. Ihre  teilweise  sonderlichen,  teilweise  grotesken 
Eigenschaften   beurteilten  wir  schon   als   Schüler. 

Auch  hier  unterlasse  ich  es,  Illustrationen  beizu- 
fügen. Als  ein  typisches,  durchaus  nicht  das  Maß 
durchschnittlicher  Absonderliclikeit  überschreitendes 
Beispiel  erwähne  ich  nur,  daß  einer  unsrer  Literatur- 
lehrer im  Laufe  des  Jahres  ein  paar  Dutzend  mal  die 
Frage  wiederholte :  „Non,  was  war  der  Unterschied 
zwischen  Schiller  und  Goethe  ?",  worauf  die  Ant- 
wort erteilt  werden  mußte:  „Schiller  sprach  von 
seinen  Arbeiten  in  der  2^it  der  Produktion,  während 
Goethe  es  nicht  tat." 

Es  ist  seltsam,  wie  vielfach  ehemalige  Schüler  in 
der  Beurteilung  der  Seltsamkeit  ihrer  Lehrer  über- 
einstimmen, und  es  ist  ein  schönes  Zeichen  für  die 
Gutartigkeit  des  deutschen  Humors,  daß  dieser 
Dinge  späterhin  nur  lächelnd  Erwähnung  geschieht, 

187 


indem  man  sich  der  überstandenen  Gefahren  und 
Sorgen  freut  und  niemand  etwas  nachträgt. 

Auch  ich  trage  niemand  etwas  nach,  aber  ich  kann 
den  schweren  Verlust  nicht  verkennen,  der  meiner 
Generation,  soweit  sie  unter  ähnlichen  Bedingungen 
stand,  durch  die  Eigenart  einzelner  Lehrerkollegien 
erwachsen  ist.  Ich  weiß,  daß  es  zu  meiner  Zeit  — 
und  vor  allem  früher  —  Lehrer  von  umfassendem 
Wissen,  von  großer  Arbeitsfreudigkeit,  Opferwillig- 
keit, hoher  Gesinnung  und  heißer  Liebe  zu  ihrer 
schönen  Aufgabe  gab.  Daß  ich  und  andre  so  wenige 
dieser  hervorragenden  Männer  kennenlernen  durften, 
ist  schmerzlich,  und  ich  kann  nur  hoffen,  daß  sich 
in  diesen  letzten  dreißig  Jahren  das  Verhältnis  ge- 
bessert hat. 

Frage  ich  mich  nun:  wie  konnten  aus  gutem 
deutschen  Material  so  viele  Sonderlinge  entstehen, 
so  muß  ich  zunächst  auf  eine  Erfahrung  aus  meiner 
Studentenzeit  zurückgreifen. 

Die  Philologen  waren  damals  nicht  sonderlich 
beliebt;  sie  kamen  aus  kleinen  Verhältnissen,  führten 
ein  unfrohes  Studium  und  waren  in  einem  ähn- 
lichen Konflikt  wie  die  Theologen :  sie  konnten  mit 
der  Würde  ihres  künftigen  Standes  die  Freiheiten 
des  studentischen  Lebens,  das  ihnen  überdies  viel- 
fach geschmälert  war,  nicht  in  Einklang  bringen. 
Denkt  man  sich  nun  einen  solchen  jungen  Menschen 
plötzlich  auf  ein  Katheder  gesetzt,  von  einer  Schar 
jugendlicher  Untertanen  (denn  so  faßten  sie  es  auf) 
umgeben,  so  kann  man  sich  vorstellen,  daß  eine  selt- 
same Gemütsstimmung  in  dem  Alleinherrscher  die- 
ser kleinen  Schar  entstand,  die  niemals  widerspre- 
chen und  nur,  wenn  sie  aufgerufen  wurde,  schüch- 
tern antworten  durfte. 

i88 


Auf  der  andern  Seite  setzten  die  schweren  Sorgen 
des  Tages  ein :  ein  jahrelang  gleichbleibendes  Pen- 
sum, Ärger  mit  Vorgesetzten,  Überlastung  mit 
Arbeit,  geringe  Bezahlung  und  Nöte  des  Haus- 
standes. Denkt  man  sich  ein  solches  Leben,  das  nie- 
mals im  äußeren  Kampf  wirken  durfte  und  sich 
dafür  im  wehrlosen  Kreise  der  Unterworfenen 
erholte,  so  ist  die  Erklärung  mancher  Absonderlich- 
keiten gegeben,  zumal  wenn  man  in  Betracht  zieht, 
wie  wenig  der  Gesundheit  förderlich  die  Lebens- 
weise des  damaligen  SchuUehrers  verlief. 

Wie  gesagt,  ich  weiß  nicht,  wieweit  sich  seither 
die  Verhältnisse  geändert  haben.  Eine  gründliche 
Gesundung  scheint  mir  nur  möglich,  wenn  der 
Beruf  des  Lehrers  zu  einem  so  begelirenswerten 
gemacht  wird,  daß  viele  der  Besten  des  Landes  sich 
zu  diesem  Berufe  drängen  und  eine  scharfe  Auslese 
der  geeignetsten  stattfinden  kann. 

Man  bedenke,  daß  die  ganze  junge  Kraft  und 
Zukunft  der  Nation  zwölf  Jahre  lang  wehrlos  den 
Händen  eines  Standes  überlassen  ist.  Kein  Erziehungs- 
problem übertrifft  an  Bedeutung  die  Aufgabe,  die 
denkbar  besten,  befähigtsten  und  edelsten  Lehr- 
kräfte des  Volkes  auszufinden  und  zu  verwerten. 

Einen  Willen  zur  praktischen  Verwirklichung 
solcher  Auffassungen  habe  ich  bisher  an  keiner  ver- 
antwortlichen Stelle  gefunden,  am  wenigsten  in  den 
gesetzgebenden  Körperschaften.  Ich  kann  mir 
denken,  was  die  Parlamente  sagen  würden,  wenn 
man  ihnen  vorschlüge,  die  Lehrergehälter  zu  ver- 
doppeln und  dafür  die  strengste  denkbare  Auswahl 
zu  üben.  Eine  allmähliche  Verwirklichung  dieses 
Idealprinzips  sehe  ich  daher  einstweilen  nur  in  der 
Privatschule. 

189 


Wenn  einmal  die  Überzeugung  durchdringt, 
welch  unermeßliche  Bedeutung  der  Erziehungs- 
frage innewohnt,  so  wird  vielleicht  ein  Stamm  von 
Vätern  schulpflichtiger  Söhne  sich  finden,  dem  die 
Frage  der  Erziehungskosten  eine  geringere  Rolle 
spielt  als  unwichtigere  Posten  des  Haushaltes.  Es 
werden  sich  Schulgenossenschaften  bilden,  die 
ohne  Besorgnis  vor  Erhöhung  des  Schulgeldes  sich 
ihre  Lehrkräfte  zusammenstellen,  sie  unter  die 
Leitung  eines  bedeutenden  Fachmannes  ordnen 
und  dafür  sorgen,  daß  der  Effekt  der  Lehrzeit  sich 
steigert,  ihre  Dauer  sich  vermindert,  körperliche 
Übungen  zu  ihrem  Rechte  kommen,  und  dem  heran- 
wachsenden Geschlecht  eine  lückenlosere  Bildung 
in  einer  Schulzeit  beschieden  wird,  die  nicht  wie  die 
unsre  eine  Zeit  der  Geistesqual,  sondern  eine  Zeit 
der  Jugendfreude  sein  würde. 


IL 


Junge  Leute,  die  sich  im  Wirtschaftsleben  betätigen 
sollen,  müssen  vorgebildet  sein  wie  alle  andern, 
wie  künftige  Offiziere,  wie  künftige  Gelehrte,  wie 
künftige  Künstler.  Die  Spezialisierung,  die  unser 
Leben  und  unsre  Bildung  zerstückelt,  darf  nicht  in 
die  Jugend  und  in  die  Schule  dringen.  Wer  kann 
wissen,  wie  ein  Junge  sich  entwickelt,  der  mit  sieben 
oder  acht  Jahren  das  Schulzimmer  betritt  ?  Sollen 
wir  Vorsehung  spielen  und  ihn  in  Fachschulen  auf- 
ziehen, damit  er  bei  erwachtem  Bewußtsein  alle 
Wege  bis  auf  einen  verschlossen  sieht  ?  Oder  soU 
es  gar  eine  universelle  Fachschule  geben,  die  darauf 
gestellt  ist,  nach  Automatenart  künftige  Juristen, 

190 


Bankiers  und  Landwirte,  jeden  mit  vorgearbeiteten 
Spezialkenntnissen,  herausspringen  zu  lassen  ? 

In  unsrer  höheren  Schulbildung  und  philoso- 
phischen Universitätsbildung  liegt  das  einzige  Band, 
das  die  auseinanderbrechende  Welt  der  Gedanken- 
sonderung  noch  zusammenfaßt.  Die  Schule  ist  keine 
Präparandenanstalt,  sondern  ein  Bildungsmittel.  Das 
Ziel  der  Schule  sehe  ich  nicht  in  Fachkenntnissen, 
nicht  in  Fachvorbereitung,  sondern  in  der  Er- 
ziehung des  Geistes  und,  soweit  es  möglich  ist, 
der  Seele. 

Diejenigen  Kenntnisse  sollen  in  der  Schule  gelehrt 
werden,  die  jeder  Mensch,  dem  eine  deutliche  Vor- 
stellung der  Bildung  zuteil  geworden  ist,  sich  rück- 
blickend wünschen  darf  und  die  man  ihm  wünschen 
muß.  Für  die  Spezialisierung  sorgt  die  eigene  Wahl, 
das  abgesonderte  Studium  und  die  Praxis  des  Lebens. 
Das  Material,  das  für  alle  Berufe  gleichmäßig  erfor- 
dert wird,  heißt:  gebildete  Menschen. 

Das  Ideal,  das  ich  aufstelle,  nähert  sich  dem  Ideal 
der  bekannten  humanistischen  Erziehung,  aber  es 
nähert  sich  nicht  dem  Ideal  der  Schulen,  die  ich 
vor  dreißig  Jahren  besuchte,  und  die  den  Namen  der 
Humanität    nicht  rechtfertigten. 

Bildung  entsteht,  wenn  Ideen  und  Kenntnisse 
aufgenommen  und  zu  eigen  gemacht  werden.  Sie 
entsteht  nicht,  wenn  das  Bildungsmaterial  Gegen- 
stand mnemotechnischer  oder  dialektischer  Übungen 
wird.  Eine  Vorstellung  der  gewaltigen  römischen 
Prosadichtung  erwirbt  ein  junger  Mensch,  wenn  er 
Tacitus  liest  und  mit  Hilfe  der  Erklärungen,  die 
man  ihm  gibt,  verstehen  lernt.  Er  erwirbt  sie  nicht, 
wenn  zehn  2^ilen  einer  taciteischen  Seite  auf  Satz- 
konstruktion oder  etymologische  Einzelheiten  hin 

191 


durchgeackert  und  dann  bis  zum  übernächsten 
Tage  auf  Eis  gelegt  werden. 

Den  Geist  der  lateinischen  Sprache  kann  der- 
jenige erben,  der  lateinisch  versteht,  nicht  derjenige, 
der  einen  unfruchtbaren  Besitz  an  sogenannten  Vo- 
kabeln und  Satzkonstruktionen  erworben  hat,  und 
dem  die  richtige  Verwendung  einer  Partikel  als 
höchstes    Sprachgesetz    eingeschärft    worden    ist. 

Die  Grunderfordernisse  des  Bildens  bestehen, 
wie  mir  scheint,  in  der  richtigen  Wahl  des  Stoffes, 
in  der  richtigen  Art  des  Lehrens  und  in  der  Ge- 
winnung derjenigen  Gemütsstimmung,  die  der 
erworbenen  Kenntnis  angemessen  ist. 

Was  die  Auswahl  des  Stoffes  betrifft,  so  ist 
das  Produkt  einer  jahrhundertelangen  humanisti- 
schen Tradition  hochzustellen.  Die  deutsche  Sprache 
ist  die  Grundlage  unsrer  wissenschaftlichen  Bildung. 
Ihr  farbiger  Reichtum,  ihre  seltsame  Geschichte, 
ihr  Wortschatz,  ihre  Kunst,  Gedanken  aufzubauen 
und  zu  gestalten,  muß  empfunden  werden.  Die 
Werke  der  Dichter  und  Denker  müssen  in  einem 
Umfange  bekannt  sein,  der  weit  über  das  Maß  jener 
Semestralarbeit  hinausgeht,  die  den  Egmont,  in 
sechzig  Portionen  zerspalten,  als  eine  Art  historisch- 
grammatischen Demonstrationsobjekts   betrachtet. 

Die  beiden  klassischen  Sprachen  erschließen  uns 
die  höchsten  Güter  des  antiken  Besitzes.  Aber  sie 
müssen  verstanden  werden.  Als  Übungsplätze  für 
mnemotechnische,  grammatikalische  und  etymolo- 
gische Gymnastik  sind  sie  zu  gut.  Es  ist  wichtiger, 
daß  ein  gebildeter  Mann  mit  vierzig  Jahren  einen 
Gesang  der  Ilias  lesen  kann,  als  daß  er  mit  siebzehn 
alle  Wörter  aufzählt,  bei  denen  ein  Digamma  ver- 
loren gegangen  ist. 

192 


Meine  Auffassungen  über  religiösen  Unterricht 
sind  subjektiv;  ich  lasse  sie  daher  unerwähnt.  Eine 
Grundlage  für  mathematische,  physikalische  und 
chemische  Kenntnisse  ist  erwünscht,  soweit  sie  in  die 
Denkformen  dieser  Fächer  einführt.  Naturwissen- 
schaft im  einzelnen  ist  Spezialgebiet  und  sei  spä- 
terem Interesse  vorbehalten.  Dagegen  ist  eine  ein- 
gehende Kenntnis  der  geschichtlichen  Entwicklung 
politischer  und  kultureller  Art  in  höchstem  Sinne 
wichtig.  Ich  wage  nicht,  dieses  Gebiet  oberflächlich 
zu  berühren.  Nur  so  viel  möchte  ich  sagen,  daß  mir 
eine  Anschauung  der  Epoche  erheblicher  erscheint 
als  Kenntnis  der  Kriege,  Dynastien  und  Daten. 
Bildliche  Vorführungen,  Besuche  von  Baudenkmälern 
und  Museen  lassen  eine  Epoche  anschaulicher  wer- 
den als  eine  aus  den  Namen  Franz  und  Ludwig  be- 
stehende Regentenliste. 

Kann  ich  der  Auswahl  des  Stoffes,  so  wie  sie  vor 
einem  Menschenalter  üblich  war,  im  allgemeinen 
zustimmen,  so  ist  dies  hinsichtlich  der  Lehrme- 
thoden nicht  der  Fall.  Ich  habe  gesagt,  daß  zu 
meiner  Zeit  erheblich  mehr  aufgegeben,  geprüft  und 
überhört  wurde  als  gelehrt.  Ich  habe  die  Gründe 
dieser  seltsamen  Erscheinung  berührt,  und  bin  zu 
dem  Schluß  gekommen,  daß  es  nicht  die  Schuld  der 
Schule,  sondern  die  Schuld  der  Lehrer  war.  Unter 
den  Verhältnissen,  die  ich  kennenlernte,  war  an  das 
Element,  das  ich  als  dritte  Grundlage  der  Bildung 
bezeichnet  habe,  nämlich  die  rechte  Erkenntnis  der 
Gemütsseite  aller  Bildung,  nicht  zu  denken. 

Grundbedingung  alles  geistigen  Wachstums  ist 
freudige  Begeisterung.  Wenn  der  unermeßliche 
Schatz  alter  und  junger  Kenntnis  vor  jugendlichen 
Menschen  ausgebreitet  wird,  so  bedeutet  dies  die 


IV,  13 


193 


Auslösung  eines  unaussprechlichen  Glückes.  Es  ist 
mir  heute  kaum  begreiflich,  wie  an  die  Stelle  dieses 
Glückes  eine  zwölfjährige  Periode  von  Angst,  Kum- 
mer, Not  und  Langerweile  treten  konnte.  Es  mag 
eine  schwere  Aufgabe  sein,  wenn  von  einem  Lehrer, 
der  sich  selbst  nicht  glücklich  fühlt,  verlangt  wird, 
daß  er  jahraus,  jahrein  das  Glück  des  Lehrens  in 
die  Herzen  seiner  Schüler  strahlen  lasse.  Nur  starke 
Menschen  werden  es  können,  und  nur  solche,  denen 
wohltätige  Lebensbedingungen  geschaffen  werden. 

In  Sorgen  und  Langerweile  aber  darf  der  Schatz 
unsrer  Kultur  nicht  zerbröckeln.  Besser  ist  es,  es 
werde  überhaupt  nicht  gelehrt,  als  es  geschehe  ver- 
drossen. Ich  habe  Menschen  kennengelernt,  denen 
die  Ilias  durch  die  Schule  so  verleidet  war,  daß  sie  das 
Buch  erst  in  späten  Jahren  oder  gar  nicht  mehr  öffne- 
ten. Es  hat  nichts  auf  sich,  die  Ilias  einem  jungen 
Menschen  vorzuenthalten;  sie  ihm  verderben,  be- 
deutet, ihm  seinen  Anteil  am  Weltbesitz  verkümmern. 

Es  ist  aber  nicht  allein  die  Stimmung  der  Be- 
geisterung, die  das  Gelernte  zu  seiner  wahren  Ver- 
wendung emporträgt:  Urteil  und  auch  Kritik 
werden  in  jugendlichen  Geistern  rechtzeitig  ausge- 
löst werden  müssen.  Es  sind  mir  Lehrer  vorgekom- 
men, die  den  Ausspruch  taten:  „Ein  junger  Mensch 
habe  nicht  zu  urteilen."  Ein  junger  Mensch,  der 
nicht  frühzeitig  in  aller  Bescheidenheit  und  mit 
allem  Respekt  vor  großen  Dingen  und  Menschen 
sich  ein  Urteil  bildet,  wird  auch  als  alter  Mensch 
kein  Urteil  gewinnen.  Hält  man  die  Jugend  tat- 
sächlich des  Urteilens  nicht  für  fähig,  so  hat  man 
nicht  das  Recht,  ihr  diese  Schätze  anzuvertrauen, 
denn  man  müßte  befürchten,  daß  sie  in  urteilslosen 
Geistern  bodenlose  Verwirrung  anrichten.  Durch  Ur- 

194 


teile  werden  Erfahrungen  eingereiht,  geordnet  und  in 
die  aktive  Sphäre  des  Geistes  getragen,  urteilslos  aufge- 
speichert bleiben  sie  auswendig  gelernte  Paradigmen. 

Ich  wiederhole:  An  der  Schule,  die  wir  besitzen, 
scheint  mir  wenig  änderungsbedürftig,  ausgenom- 
men die  Erfassung  des  Endziels,  das  nicht  in  gym- 
nastischer Fertigkeit  und  mnemotechnischer  Be- 
lastung, sondern  in  erworbener  Bildung  bestehen  soll. 

Viel  zu  ändern  wäre  nach  meiner  Erfahrung  an  der 
Art  des  Lehrens ;  und  diese  Frage  ist  eine  Frage  der 
Menschen. 

1912 


13»  195 


UNGESCHRIEBENE  SCHRIFTEN 


Alles,  was  in  der  Welt  unsre  Seele  und  unsre 
l\  Sinne  erhebt,  ist:  Aus  der  Verworrenheit  der 
Erscheinung  hervortretende  Gesetzmäßigkeit. 

Der  Inbegriff  aber  aller  Gesetzmäßigkeit  ist  die 
innere  Notwendigkeit. 

Je  mehr  wir  uns  der  Gottheit  nähern,  desto  mehr 
erscheint  uns  von  der  Welt  innerlich  notwendig. 
Denn  der  Gottheit  und  in  der  Gottheit  ist  alles 
notwendig;  in  ihr  und  durch  sie  vermählt  sich  Wille 
und  Schicksal,  Zufall  und  Gesetz. 

So  ist  in  der  Gottheit  die  Welt  zugleich  schön 
und  gut,  notwendig  und  verständig,  phantastisch 
und  wahr. 

* 

LJas  Gesetzmäßige  wird  vom  Geist  erkannt,  von 
der  Seele  empfunden.  Wahrnehmung  des  Gesetzes 
ist  Erkenntnis,  Em.pfindung  des  Gesetzes  ist  Kunst, 
Anwendung  des  Gesetzes  ist  Ethik,  Ahnung  des 
höchsten  Gesetzes  ist  Religion.  ^ 

JL/as  Gesetz  ist  das  einzige  Absolute,  das  sich  er- 
kennen und  empfinden  läßt,  gleichviel,  ob  es  sich 
in  der  Erscheinung,  im  inneren  Empfinden  oder  in 
den  Sinnen  äußert.  Das  Gesetz  eines  Rhythmus 
empfindet  der  Geist  ohne  Zutun  des  Ohres,  das 
Gesetz  eines  Baumes  nimmt  das  Kind  wahr,  das 
Gesetz  eines  Kreises  erkennt  und  wählt  der  Unge- 
schulte aus  einer  beliebigen  Zahl  von  Ovalen,  das 
Gesetz  der  Attraktion  fühlt  der  unbewußte  Leib. 
Das  Gesetz,  das  sich  scheinbar  als  Kausalität  äußert, 
beherrscht  unser  Denken. 


[99 


tLs  ist  unmöglich,  ein  räumlich  oder  materiell 
Unendliches,  also  Unbegrenztes,  zu  denken,  weil 
wir  jedes  räumliche  Ding  nur  unter  dem  Bilde 
seiner  Oberfläche,  also  seiner  Begrenzung,  er- 
fassen. 

Dagegen  ist  das  Zeitliche,  oder,  was  dasselbe  ist, 
das  zahlenmäßig  Unendliche  denkbar,  weil  wir  das 
Zeitliche  von  der  Gegenwart,  also  vom  Mittel- 
punkt aus  erfassen,  mithin  keiner  Grenze  be- 
dürfen. 

Unbewußt  haben  diejenigen  Philosophen  den 
Sachverhalt  zugegeben,  die  sich  bemühten,  aus  der 
Welt  eine  periodische   Funktion  zu   machen. 

Dagegen  haben  alle  diejenigen  gegen  den  Satz 
verstoßen,  die  in  scholastischer  Wortbefangenheit 
das  „Unendliche"  sozusagen  qualitativ  und  mora- 
lisch bewerteten,  als  etwas  Löbliches  hinstellten  und 
es  daher  für  die  göttliche  Majestät  beanspruchten. 

In  Wahrheit  kann  nur  etwas  Begrenztes  vollendet 
sein.  Vollkommenheit  aber  ist  im  Sinne  des  Anthro- 
pomorphismus  jedenfalls  das  wünschenswerteste 
göttliche  Prädikat 

Behält  man  den  ersten  Satz  bei,  so  erhält  man 
eine  unendliche  Reihe  ineinander  bestehender  end- 
licher Welten  und  eine  unendliche  Reihe  nebenein- 
ander bestehender  endlicher  Welten. 

-Alles  Abbild  des  Wesentlichen,  des  Transzendenten 
und  Ewigen  im  Spiegel  des  menschlichen  Geistes  ist 
unveränderlich  und  gleich,  von  Mose  bis  Plato,  von 
Lionardo  bis  Goethe:  hier  waltet  keine  Originalität. 
Originell  ist  nur  das  Menschliche ;  die  Trübung. 


?oo 


Im  englischen  Parlament  ist  es  Sitte,  daß  der 
Redende  nicht  an  die  Mitglieder  des  Hauses,  son- 
dern an  den  Sprecher  sich  wendet. 

So  ist  jede  geistige  Produktion  Zwiesprache,  An- 
rede an  den  Sprecher  der  Welt.  Das  Haus,  das  im 
Dunlcel  liegt,  mag  sie  vernehmen;  der  Sprecher  ver- 
steht, doch  erwidert  nicht. 


Wollte  man  ein  Geistesopfer  erfinden,  das  den 
Menschen  im  unmittelbaren  Verhältnis  seiner  Intel- 
ligenz belastet,  gewissermaßen  eine  progressive 
Besteuerung  des  Geistes:  so  konnte  man  nichts 
Wirksameres  erdenken  als  den  dogmatischen 
Glauben. 

Vv  er  die  Welt  an  Zwecke  bindet,  den  frage,  ob 
das  Allegro  einer  Symphonie  das  Adagio  zum  Zweck 
habe  oder  ob  das  ganze  Werk  des  Schlußakkordes 
wegen  da  sei. 

Wer  die  aufgehende  Sonne  begrüßt,  preist  und 
anbetet,  wird  sich  von  mürrischen  Gelehrten  nicht 
irr  machen  lassen,  die  ihm  beweisen,  das  Gestirn  sei 
ein  toter  Körper  ohne  Augen,  Ohren  und  Gefühl 
und  sein  Aufgang  wie  sein  Untergang  ereigne  sich 
in  jedem  Moment  auf  einem  andern  Erdstrich. 
Denn  die  Empfindung  und  Erhebung  ist  unend- 
lich wahrer,  realer  und  tiefer  als  das  Symbol,  das 
ihr  als  Richtpunkt,  Bote  und  Mittler  dient. 


201 


Die  Welt  ein  Strom,  ohne  Anfang  und  Ende, 
Ursache  und  Ziel.  Geschwellt  von  eigener  Kraft, 
wallend  in  eigener  Schönheit,  ohne  Entwickelung, 
aber  in  steter  Folge.  So  entstehen  Wirbel  und  Strö- 
mungen, Schnellen  und  Kaskaden;  jeder  Teil  wirkt 
auf  den  andern,  das  allgemeine  Gesetz  beherrscht 
das  Ganze. 

Aber  seltsam:  Vom  allgemeinen  Gesetz  lösen 
Teile  sich  los;  sie  enthalten  eigene  Gesetzmäßig- 
keiten: das  Individuum  schafft  sich  Zwecke.  Sind 
diese  Zwecke  gesetzmäßiger  Art,  wie  die  von  Natur 
erzeugten  Instinkte,  so  haben  sie  noch  eine  der  All- 
gemeinheit gleichgerichtete  Wirkung.  Aber  sie 
sondern  sich  weiter:  und  so  entsteht  Gesetz  gegen 
Gesetz. 

So  wird  der  Zweck  zum  naturfeindlichen  Prinzip. 

* 

Alle  menschliche  Denkung  und  Handlung  ist  ent- 
weder organisch  und  naturfördernd  oder  kompliziert 
und  naturfeindlich. 

Diese  Gegensätzlichkeit  ist  keine  absolute,  aber  der 
relative  Kontrast  läßt  sich  durch  Beispiele  abbilden. 

Zucker  ist  ein  reiner,  kristallinischer,  schätzbarer 
Stoff,  ebenso  Kochsalz  und  Quarzsand.  Vermische 
die  drei  Zutaten,  so  entsteht  ein  Gemisch,  das  frei- 
lich im  letzten  Sinn  auch  noch  gesetzmäßig  ist,  aber 
nicht  annähernd  in  dem  Maße,  wie  jeder  der  drei 
Bestandteile  für  sich. 

Oder:  wir  freuen  uns  an  der  hydraulischen  Ge- 
setzmäßigkeit eines  Springbrunnens.  Setze  dem 
Strahl  ein  rundes  Plättchen  wagerecht  entgegen, 
so  wird  eine  Glocke  aus  Wasserwänden  sich  bilden, 
die  allenfalls  noch  als  ein  fremdlich  Organisches  ange- 

202 


sprechen  werden  mag.  Laß  aber  den  Strahl  gegen 
eine  willkürlich  geformte  und  gestellte  Oberfläche 
spritzen,  so  zerteilt  er  sich  in  einen  gleichgültigen 
Zufallsregen,  in  dem  zwar  noch  alles  nach  hydrau- 
lischen und  Gravitätgesetzen  hergeht,  die  ursprüng- 
lich einfache  schöne  Gesetzmäßigkeit  dagegen  zer- 
splittert ist. 

* 

LJurch  alle  Adern  der  Natur  strömen  die  Wellen 
der  Urkraft  zu  jeder  Zeit  deiner  Seele  entgegen,  um 
in  ihrem  Brennpunkt  die  Welt  von  neuem  fort  und 
fort  zu  erzeugen.  Ob  sie  durch  Äther,  Luft  und  Erde 
ihren  Weg  genommen  haben,  empfängst  du  sie  als 
ein  fleckenloser  Spiegel.  So  trägst  du  die  Verant- 
wortung für  die  Welt  in  jedem  Augenblick. 


LJie  Naturforscher  staunen  über  gewisse  Phäno- 
mene von  scheinbar  höchster  teleologischer  Schlau- 
heit, denen  sie  bei  organischen  Wesen  begegnen, 
so  bei  Bienenschwärmen  und  Ameisenvölkern, 
deren  Gewohnheiten  und  Einrichtungen  bewußtem 
Denken  entsprossen  scheinen. 

Der  Darwinismus  mit  seinen  handgreiflichen 
Erklärungen  vom  Recht  des  Stärkern  und  Über- 
lebenden löst  solche  Rätsel  nur  unvollkommen,  in- 
dem er  Kampfspiele  veranstaltet,  die  nie  ein  Mensch 
gesehen  hat  noch  sehen  wird. 

Folgende  Erwägung  scheint  für  einzelne  Betrach- 
tungen anwendbar: 

Alles  Organisierte,  durch  die  Reihe  der  Genera- 
tionen verfolgt,  ja,  alles  Kontinuierliche  im 
unorganischen  Leben  ist  rhythmische  Bewegung, 

203 


Periodizität.  Die  mathematische  Funktion  eines 
Ameisenhaufens,  durch  Generationen  betrachtet, 
ist  eine  periodische. 

Es  ist  augenscheinlich,  daß  in  der  Unendlichkeit 
aller  möglichen  Bewegungsformen  alle  diejenigen 
periodischen  entstehen  mußten,  die  mit  den  ge- 
gebenen physikalischen  Gegebenheiten  vereinbar 
waren.  Es  gibt  auf  der  Erde  genau  so  viele  Organis- 
men wie  (durch  Generationen  betrachtete)  Lebens- 
möglichkeiten. Ändern  sich  die  Lebensbedingungen, 
so  werden  neue  Lebenskomplexe  möglich,  alte  un- 
möglich. 

In  den  Alpen  sind  weder  diejenigen  Wasserläufe 
übriggeblieben,  die  die  schwächeren  aufgefressen 
haben,  noch  hat  Gott  jedem  Talbewohner  einen 
eigenen  Bach  gemacht:  nein,  vielmehr  fließen 
genau  so  viele  Bäche  und  Flüsse,  wie  bei  gegebener 
Regenmenge  und  gegebenem  Aufbau  des  Gebirges 
möglich  sind,  und  jede  wichtige  Änderung  dieser 
Gegebenheiten  wird  neue  schaffen  oder  abschaffen. 

Oophisma  im  Sinn  des  Eleaten  Zeno.  Man 
sagt:  Hundert  Jahre  sind  für  Gott  ein  Tag.  Das 
ist  falsch:  ein  Tag  ist  ihm  so  lang  wie  hundert 
Jahre. 

Wäre  ich  so  klein,  daß  zwei  benachbarte  Holz- 
fasern für  meinen  Sinn  die  Entfernung  von  zehn 
Seemeilen  hätten,  so  würde  eine  menschliche  Hand, 
die  über  die  Tischplatte  streicht,  mir  mit  wahnsinni- 
ger Geschwindigkeit  zu  fliegen  scheinen:  denn  für 
die  zehn  Seemeilen  braucht  sie  ein  Tausendteil 
Sekunde.  -^ 

So,  wie  ich  bin,  scheint  mir  die  Bewegung  lang- 

204 


sam.  Die  Zeit  wird  mir  also  länger  als  meinem 
kleinen  Abbild;  und  dem  Gott  muß  die  Zeit  dem- 
nach unendlich  länger  werden  als  mir;  ein  Tag  muß 
ihm  wie  hundert  Jahre  vorkommen. 

Einzuwenden  wäre:  daß  die  Dauer  des  Lebens- 
prozesses das  Maß  für  die  Empfindung  der  Ge- 
schwindigkeitsgrade ist.  Wenn  also  das  kleinste 
Wesen  entsprechend  schnell  oder  kurz  lebt,  so  ist 
der  Begriff  seiner  2xiit  ein  andrer.  Hiergegen  ist 
anzuführen,  daß  die  Lebensprozesse  der  kleinsten 
Wesen,  die  wir  kennen,  nicht  in  dem  Verhältnis 
kürzer  sind;  ein  Insekt  dürfte  sonst  nur  einen  Tag 
und  ein  Bazillus  nur  eine  ^linute  leben. 

* 

v_xhemische  Weltanschauung.  Der  anorga- 
nische Kosmos  strebt  danach,  gesättigte  Verbin- 
dungen herzustellen.  Das  heißt:  alle  freien  Affini- 
täten zu  sättigen.  So  ist  unsre  Erde  ein  fast  neutra- 
lisiertes Gemenge;  ein  wenig  Sauerstoff  in  der  Atmo- 
sphäre läßt  ihr  einen  Rest  freier  Affinität. 

Ganz  im  Gegensatz  strebt  der  vegetative  Organis- 
mus danach,  mit  Hilfe  physischer  Energie  die  ge- 
sättigten Verbindungen  aufzuschließen,  um  hoch- 
konstituierte, zersetzungsfähige,  energiehaltige  Kör- 
per zu  schaffen,  die  dann  durch  spielende  Ein- 
wirkung des  freien  Sauerstoffes  hin-  und  herge- 
staltet werden. 

Das  organische  Leben  strebt  somit  danach,  den 
kosmischen  Prozeß  aufzuheben  und  umzukehren. 
Es  ist,  als  ob  das  Leben  aus  einer  andern  Welt 
stammte,  in  der  unsre  kosmischen  Vorgänge  umge- 
kehrt, also  regeneriert  werden. 


20; 


J_-/as,  was  den  oberflächlich  denkenden  Geist  vor 
der  Unfreiheit  des  Willens  zurückschrecken  macht, 
ist  die  Furcht,  kraft  seiner  Schwächen  verurteilt  zu 
sein,  ein  inneres  Leben  zu  führen,  das  er  nicht  führen 
will:  „So  mußt  du  sein,  dir  kannst  du  nicht  ent- 
fliehen!" 

Das  Goethewort  ist  wahr,  nicht  die  Folgerung. 
Weißt  du  denn,  wie  du  bist  ?  Ist  deine  Furcht  vor 
dir  selbst  stark  genug,  einen  starken  Willen  auszu- 
lösen, so  wirst  du  bis  in  die  innersten  Zellen  deines 
Körpers  und  deiner  Seele  wirken.  Was  hat  aus 
Fischen  Vögel  gemacht  und  aus  Tieren  Menschen? 
Doch  nicht  gar  Zuchtwahl  und  Recht  des  Über- 
lebenden ?  Furcht  und  Wille  haben  das  Wunder 
geschaffen,  die  heute  noch  stark  genug  sind,  Flügel 
wachsen  zu  machen  und  Dumpfheit  zu  beseelen, 
sofern  sie  sich  der  selbstzerstörenden  Eigensucht 

entringen. 

* 

Wie  das  Leben  die  Tendenz  hat,  das  Materiell- 
Anorganische  aufzuheben  und  umzukehren,  so  hat 
das  Seelenhafte  die  Tendenz,  das  Leben  und  das 
Organische  aufzuheben  und  umzukehren:  indem 
es  nämlich  imstande  ist,  entgegen  der  Entwicklung 
und  Erblichkeit  die  Grundvoraussetzungen  des 
Charakters  zu  modeln,  und  zwar  durch  Erkenntnis 
und  Willen. 

In  diesem  höchsten  Sinn  hat  der  Satz  der  Stoiker 
recht,  daß  Tugend  lernbar  sei. 


Was  trennt  dich  von  deinem  Nächsten  ?   Warum 
sind  seine  Gedanken  nicht  deine  Gedanken,  seine 

206 


Freuden  nicht  deine  Freuden,  sein  Schmerz  nicht 
dein  Schmerz,  sein  Glück  nicht  dein  Glück  ?  Euch 
trennt  die  Furcht  der  Seele.  Die  Furcht  schafft  das 
Individuum. 

Was  eint  dich  mit  deinem  Nächsten  ?  Was  macht 
dich  zum  Kind  und  Gatten,  zum  Menschen,  zur 
Natur,  zur  Gottheit?  Dich  eint  die  Liebe.  Sie 
schafft  aus  dem  Individuum  die  Welt. 

Kannst  du  noch  wagen,  an  die  Evngkeit  der 
Individualität  zu  glauben  ?  Kann  Natur  die  Furcht 
verewigen  und  die  Liebe  vernichten  ? 

Was  du  bist  und  warst,  bleibt  der  Ewigkeit  er- 
halten, aus  Liebe;  der  Schatten  deiner  Individuali- 
tät verbleibt  der  Welt. 


Individualität  ist  das,  was  dich  von  der  Welt 
absondert;  Liebe  das,  was  dich  ihr  verbindet.  Je 
stärker  die  Individualität,  desto  stärker  erfordert  sie 
Liebe. 

♦ 

Wir  lieben  an  Menschen  nicht  ihre  Vollkommen- 
heiten, sondern  ihre  Schwächen. 

Ein  vollkommener  Mensch,  der  in  seiner  Größe 
unter  uns  träte,  würde  uns  zu  kalter  Bevvoinderung 
erstarren  machen.  Er  besäße  weder  Persönlichkeit 
noch  Charakteristik,  weder  Tugend  noch  Laster. 

Wir  lieben  die  Schwächen,  und  zwar  diejenigen, 
durch  welche  die   Stärken   hindurchleuchten. 

So  lieben  wir  auch  an  der  Weltgottheit  die  Bedingt- 
heit und  Verhüllung.  Das  Absolute  ist  Entsetzen 
erregend. 


20: 


Wir  sehen  nicht  den  Spiegel,  sondern  das  Bild;  wir 
lieben  nicht  den  Menschen,  sondern  durch  den 
Menschen. 

Was  nach  außen  als  Individuum  erscheint,  das 
erscheint  nach  innen  als  Assoziation.  Und  was  zur 
Assoziation  zusammenfaßt,  das  ist,  kollektiv  betrach- 
tet,   Ichgefühl,    elementar    betrachtet,    Liebe. 

* 

LJer  Schöpfungsprozeß  als  Sammlungs- 
phänomen. Sie  Schöpfung  ist  ein  fortschrei- 
tender Aßsoziationsprozeß :  der  Atome  zum  Mole- 
kül, der  Zellen  zum  Individuum,  der  Individuen 
zum  Stamm.  Es  ist  eine  Addition  des  Gleichen  zum 
Gleichen,  der  Materie  zur  Materie,  des  Geistes  zum 
Geiste,  wie  wenn  nach  einer  Katastrophe,  einer 
babylonischen  Verwirrung,  einer  verlorenen  Schlacht 
die  versprengten  Teile  sich  sammeln. 

Deim  Prozeß  des  Denkens  sind  zwei  Vorgänge 
zu  unterscheiden.  Während  wir  nur  auf  die  Reihen- 
folge der  Gedankenbilder  zu  achten  pflegen,  weil  sie 
das  Tatsächliche,  sozusagen  den  Text  des  Denkens 
darstellen,  bewegt  sich  im  Untergrunde  des  Be- 
wußtseins, gleich  einer  leisen  Musikbegleitung,  eine 
Reihe  von  eigentümlich  gefärbten  Lust- und  Unlust- 
empfindungen. Die  Färbung  dieser  Unterempfin- 
dungen ist  vielfältig  und  wechselnd,  doch  so,  daß 
sie  für  verschiedenartige  Gedankenbilder  die  gleiche 
bleibt.  Die  Begleitung  ist  früher  da  als  der  Gedanke 
selbst,   den   man  oft  erst  herbeisuchen   muß;  sie 

208 


selbst  bildet  die  Kette  der  Verknüpfungen,  während 
die  Gedanken,  wie  die  Gefäße  einer  Paternoster- 
kette, unter  sich  unverbundcn,  an  den  Gliedern 
dieser  Kette  haften.  Hieraus  erklärt  sich  die  Bedeu- 
tung des  Unbewußten,  der  Phantasie,  für  das  pro- 
duktive Denken.  Die  äußerste  Klarheit  eines  Bildes 
bringt  an  sich  keine  Verknüpfung  zustande;  nur  der 
Gefühlswert  einer  Erfahrung  entscheidet  darüber, 
ob  sie  Kraft  genug  haben  wird,  um  als  überraschende 
Assoziation  hervorzutauchen,  sobald  ein  späteres 
Bild  den  Gleichklang  herausfordert. 

Daher  kommt  es,  daß  die  Eigenschaften  starken 
Gefühlswiderhalls  beim  Aufnehmen  neuer  Ein- 
drücke und  phantasievoll  starker  Produktivität 
stets  gepaart  auftreten. 

Will  man  ermessen,  was  die  Kunst  des  Gedankens 
bedeutet,  so  mag  man  sich  erinnern,  daß  alles  Epo- 
chale in  der  Geschichte  des  Menschengeistes  er- 
rungen wurde  nicht  durch  neue  Gedankeninhalte, 
sondern  durch  neue  Denkformen. 

Die  Erfindung  des  Problems  ist  ^/vichtiger  als  die 
Erfindung  der  Lösung;  in  der  Frage  liegt  mehr  als 
in  der  Antwort. 


L/icjenigen  irren,  die  sagen,  daß  wir  in  Worten 
denken,  daß  also  Denken  Reden  sei.  Wenn  du 
denkst,  so  reden  deine  Seelen  miteinander;  nicht 
in  unsrer  Sprache,  sondern  in  einer  einfachem. 

So  denkt  ein  Volk,  indem  die  Menschen  mitein- 
ander reden. 


IT,   14 


209 


Aller  Verstand  muß  sich  zuletzt  im  Unwesentlich- 
Wirklichen  verlieren:  die  träumende  Phantasie 
allein  findet  den  Aufweg  zum  Wesentlich-Wahren. 
Die  heutige  materiell-unternehmende  Welt  kann 
nur  bestehen,  wenn  sie,  von  ihrer  krassen  Wertung 
des  analytischen  Geistes  abkehrend,  sich  dem  Ide- 
alen beugt.  Nur  indem  er  sich  selbst  opfert,  kann 
der  Verstand  sich  erhalten. 

V-/äsar,    Karl    und    Napoleon    sind    vergessen. 

Aber  daß  zu  Römerzeiten  ein  junger  Landmann 
im  Osten  über  Gott  und  Menschheit  sich  Gedan- 
ken machte,  das  schwingt  nach  in  jedem.  Wort 
unsrer  Zeit,  in  jeder  Handlung,  jedem  Urteils- 
spruch, jeder  Staatsaktion  und  jeder  Sitte. 

Das  Bleibende  im  Weltbewußtsein  ist  nicht  Hand- 
lung, sondern  Gedanke. 

In  der  sichtbaren  Welt  bleiben  nur  die  Vorgänge 
unveränderlich;  alles  Materielle,  Gegenständliche, 
Individuelle  ist  dem  Verfall  und  dem  Wechsel  unter- 
worfen. 

Keine  Konstellation  und  kein  Bild  wiederholt  sich 
zwar  in  der  Ewigkeit  der  Zeiten.  Kein  Atom  kehrt 
an  seinen  früheren  Ort  zurück;  und  dennoch  ist  der 
bewölkte,  klare  oder  stürmende  Himmel  in  seiner 
Gesamtheit  unveränderlich  gleich  mit  dem  Himmel 
Homers.  Nur  eines  ist  im  Park  von  Sanssouci  seit 
Friedrichs  Zeiten  jung  und  unverändert  geblieben : 
die  Säule  des  Springbrunnens,  in  der  nie  der  gleiche 
Tropfen  zum  zweiten  Male  emporsteigt.  Im  Ur- 
wald wachsen  die  jungen  Bäume  heran,  die  alten 

210 


sterben,  brechen  nieder  und  modern,  die  Ranken 
steigen  empor  und  sinken  zu  Boden :  und  dennoch 
bleibt  alles,  Farbe  und  Duft,  Bild  und  Größe,  ja, 
selbst  das  Physische  der  Erscheinung,  Gewicht, 
Masse,   Zusammensetzung,   unveränderlich   gleich. 

So  in  einer  alten  Stadt,  einer  orientalischen  etwa. 
Die  Häuser  verfallen,  werden  neugebaut  und  sind 
dieselben;  die  Personen  sterben  und  werden  geboren, 
die  Menschen  sind  dieselben  und  leben  seit  sechs- 
hundert Jahren. 

Das,  was  die  Stetigkeit  des  Phänomens  verändert, 
ist  nichts  Innerliches.  Eine  neue  Verteilung  von 
Meer  und  Land  ändert  das  Himmelsbild,  eine  Be- 
schädigung des  Rohrs  den  Wasserstrahl.  Das  Phä- 
nomen ist  träge,  die  Materie  hinfällig.  Aus  schein- 
barem Leben  und  Sterben  setzt  sich  ein  höheres 
Leben  zusammen. 


iJei  der  Vererbung  wird  nicht  Materie  übertragen, 
sondern  Form.  Die  Materie  strömt  durch  die 
Generationen  wie  das  Wasser  im  Flußbett:  der 
Fluß  bleibt  der  alte,  auch  wenn  kein  Tropfen  wieder- 
kehrt. Neue  Materie  schöpft  der  Leib  beständig 
aus  Luft,  Erde  und  Wasser;  und  das  Stickstoffatom, 
das  heute  im  Hirn  des  weißen  Papstes  vibriert,  kann 
übers  Jahr  im  Blut  eines  Negersträflings  kreisen. 

Deshalb  ist  Vaterschaft  und  Blutsverwandtschaft 
nicht  nur  die  der  Zellenteilung;  denn  nicht  nur  die 
Zeugung  bindet  die  Form  und  Eigenschaft  der 
Zelle. 

Wer  durch  die  Kraft  seines  Geistes  den  Aufbau  des 
Generationenleibes  modelt  —  und  jede  neue  Denk- 
form, Lebensgewohnheic,  Lebensbedingung  schafft 

14'  211 


hier  Wirkung  — ,  der  übt  Zeugung,  Vaterschaft  und 
Vererbung. 

Dies  ist  rein  materiell  zu  verstehen:  so  materiell 
wie  die  Mitwirkung  eines,  der  dem  Zeichner  eine 
Linie  korrigiert. 

Zweifellos  ist  die  Vaterschaft  und  Vererbungs- 
kraft Jesu,  Luthers,  Spinozas  und  Goethes  auf  den 
germanischen  Volkskörper  stärker  als  diejenige 
irgendeines  ihrer  germanischen  Zeitgenossen,  dessen 
„Blut"  noch  heute  in  tausend  Individuen  weiter- 
lebt. 

Dies  ist  die  Grenze  aller  Rassentheorie. 


.Man  wird  sich  gewöhnen  müssen,  Seelener- 
scheinungen nicht  an  dem  zu  studieren,  was  wir 
Individuum  nennen,  sondern  an  dem,  was  tatsäch- 
lich Individuum  ist:    die  Ahnenreihe. 

Furcht  ist  atavische  Erinnerung  an  ausgestandene 
Leiden.  Mut  atavische  Erinnerung  an  siegreiche 
Kämpfe.  Eifersucht  Erinnerung  an  erzwungene 
Enthaltsamkeit.  Das  hat  Michelangelo  wundersam 
ausgesprochen:  Liebe  ist  die  Erinnerung  an  die 
Schönheit  des  Paradieses. 


b/S  gibt  Menschen,  bei  denen  die  Erfahrungs- 
reihe der  Ahnen,  die  sich  im  Instinktiven  äußert, 
plötzlich  aussetzt,  gleichviel,  ob  hier  in  der  Erblich- 
keit eine  Lücke  eintritt  oder  ob  der  überlieferte 
geistige  Vorrat  vernichtet  wurde,  ja,  durch  Selbst- 
zucht  vernichtet   werden  mußte. 

Solche  Menschen  gleichen  Heimatlosen,  die  ihre 
früh  verlernte  Muttersprache  im  späteren  Alter  neu 

212 


erwerben.  Diese  Enterbten,  denen  nichts  selbstver- 
ständlich ist,  erlangen  eine  unerhörte  Kenntnis  und 
Kritik  eigenen  und  fremden  Wesens.  Aber  indem 
sie  beständig  an  der  Kamera  herumschrauben,  ver- 
dirbt ihnen  jedes  Bild:  sie  sind  der  Fähigkeit  ver- 
lustig, in  den  Dingen  aufzugehen.  So  führt  bei 
hoher  künstlerischer  Veranlagung  ihr  Schaffen  zu 
keiner  Kunst  —  denn  diese  ist  reine  Erhöhung  und 
Vertiefung  des  Dinges  — ,  sie  schaffen  Ungeheuerlich- 
keiten. Wie  die  Schauspieler  machen  sie  das  unbe- 
wußte Selbst  zum  Werkzeug,  wodurch  es  vernichtet 
wird. 

Trotzdem  sind  diese  Emporkömmlinge  der  Emp- 
findung in  der  Ökonomie  der  Welt  nicht  ohne  Be- 
deutung. Sie  sind  die  Chronisten  und  Darsteller 
des  Geistes  ihrer  Zeit  und  oftmals  die  Verkünder 
des  Kommenden.  Großes  zu  leisten,  ist  ihnen  in  der 
Dramatik  vergönnt,  die  ja  in  höherem  Sinn  eigent- 
lich keine  Dichtung  ist,  sondern  sich  mehr,  als  man 
eingestehen    möchte,    der    Schauspielerei    nähert. 

Wollten  die  Menschen  nur  den  zehnten  Teil  der 
Mühe,  die  sie  auf  Menschen  und  Materie  zu  wenden 
gewohnt  sind,  daran  setzen,  in  ihr  eigenes  Innere 
hinabzusteigen,  so  wären  sie  mächtig,  glücklich, 
weise  und  reich.  Aber  sie  wollen  lieber  eine  Stunde 
im  Wasser  zappeln  als  einmal  in  die  Tiefe  tauchen. 
Im  Innern  ruht  alle  Macht.  Und  alle  Geschäftigkeit 
ist  Bettel. 

Uem  starken  Wollen  öffnen  sich  alle  Riegel; 
nichts  wollen  hebt  die  Welt  aus  den  Angeln. 


213 


Dei  allen  Menschen  ist  zu  wissen  wichtig,  ob  sie 
aus  Not,  aus  Eitelkeit,  aus  Langerweile  oder  aus 
Liebe  schaffen. 

LJas  olympische  Naturell  erbarmt  sich  der  Arm- 
seligen; das  dämonische  Naturell  erbarmt  sich  des 
Bösen. 

Hüte  dich  vor  Menschen  mit  rauher  Schale  und 
edlem  Kern  und  andern  Märtyrern  der  Tugend. 
Sie  sind  ehrlich  wider  die  Natur  und  täten  besser, 
wenn  sie  unehrlich  blieben,  wie  Gott  sie  geschaffen 
hat.    Sie  betrügen  Gott. 

Lim  unsrer  Laster  willen  werden  wir  durch  unsre 
Tugenden  vernichtet. 

* 

Jede   falsche    Situation    beruht    auf    einer    Lüge. 

* 

Wer     überzeugen    will,     bettelt    oder    schmäht. 

* 

J\us  Angst  schwatzen  die  Schwachen;  ihre  Rede 
ist  Gebettel.  Der  Gefestigte  spricht  aus  Notwendig- 
keit; seine  Rede  ist  Befehl. 

* 

Wenn  du  eines  Schmerzes  nicht  Herr  werden 
kannst,  so  frage  dich,  welche  deiner  Schwächen  er  traf. 

* 

ii^wei  Dinge  schließen  einander  aus:  wer  für  die 
Sache    ist,    kann    nicht    für    die    Wirkung    sein; 

214 


wer  für  die  Wirkung  ist,  kann  nicht  für  die 
Sache  sein. 

Nicht  der  Totschlag  schändet,  sondern  der  Hin- 
terhalt, nicht  die  Flucht,  sondern  die  Feigheit,  nicht 
die  Niederlage,  sondern  die  Sklaverei.  Niemals 
schändet  die  Tat;  das  Erdulden  schändet. 

Vornehniheit  ist  Entsagen. 

* 

Menschen,  die  eifriges  Denken  und  Handeln  lieben, 
vergessen  leicht,  wieviel  wir  dem  verdanken,  was  mit 
uns  geschieht.  Tätigkeit  fördert  unsern  Besitz,  Er- 
lebnis fördert  unsern  Zustand.  Deshalb  sollte  man  je- 
nen raten,  sich  zeitweilig  zu  vergessen  und  den  Mäch- 
ten hinzugeben,  die  denn  doch  einmal  uns  ergreifen 
und  dem  Widerstrebenden  doppelt  Gewalt  antun. 

* 

hluer  Denken  bleibt  ans  Ich  gekettet  und  rollt  im 
engsten  Kreis  gebunden.  Gebt  euren  Gedanken 
Freiheit!  Vergeßt  euch  selbst!  Laßt  euren  Geist 
frei  durch  alle  Welten  schweifen!  Und  je  seltener 
der  Träumende  zu  euch  zurückkehrt:  so  wird  er 
euch  die  Herrlichkeiten  aller  Sphären  zu  Füßen 
legen,  daß  ihr  sie  wunschlos  genießt. 

* 

1  antaliden!  Vom  Wollen,  Zweck  und  Begehr 
verzehrte !  Ihr  verschmachtet  nach  der  Frucht,  die 
in  euren  greifenden  Händen  zerrinnt,  die  nur  dem 
ruhig  Schlummernden  die  Lippe  kühlt! 

215 


Verliert  euch!  Streut  euer  Ich  hinweg  wie  ein 
Saatkorn:  und  es  wird  tausendfältig  zu  euch  zurück- 
kehren. 

Ooethe  wird  von  Tischbein  gescholten,  weil  er  im 

Anschauen   des    Kraters   die   vereinbarte   Vorsicht 

vergißt. 

Bei  edlen  Menschen  sind  auch  die  Verfehlungen 

schön.   Sie  entstehen,  wenn  eine  Tugend  die  andre 

verdunkelt. 

* 

Wenn  alle  Zweckhaftigkeit  gemein  ist,  so  könnte 
man  fragen:  Welches  Handeln  ist  dann  noch  edel 
und  handelnswert  ? 

Darauf  ist  zu  erwidern,  daß  alles,  was  Menschen 
an  Gutem  und  Großem  getan  haben,  um  seiner  selbst 
willen  geschehen  ist.  Und  wenn  ein  Mensch  so  ver- 
anlagt wäre,  daß  er  den  Schacher  und  Wucher  um 
seiner  selbst  willen  betriebe,  so  handelt  er  edler  und 
mit  der  Natur  in  höherer  Einheit,  als  wenn  er  Tra- 
gödien zum  Gelderwerb  schreibt  oder  die  Natur- 
gesetze aus  Eitelkeit  erforscht. 

Je  zweckfreier  ein  Handeln,  desto  gottähnlicher 

ist  es. 

* 

Wir  verachten  den  Verbrecher  der  Tat  und  sind 
umgeben  von  Verbrechern  der  Neigung  und  des 
Gedankens,  die  wir  achten,  weil  ihr  lasterhafter 
Hang  durch  ein  zweites,  schlimmeres  Laster,  die 
Feigheit,  gebändigt  wird. 


2l6 


Uas  Mißverständnis  der  Prüderie.  Eine 
Szene  menschlicher  Komödie: 

Zwei  Gruppen  ehrlicher  Menschen  stehen  sich 
gegenüber  und  halten  einander  wechselseitig  für 
Heuchler  oder  Wüstlinge. 

Der  Grund:  unsre  Unkenntnis  sexueller  Seelen- 
vorgänge. 

Man  muß  wissen,  daß  eine  große  Gattung  Men- 
schen von  starker  und  zurückgedrängter  Sexualität 
vor  jeder  Nacktheit  oder  Laszivität  heimgesucht 
werden  von  Reizen  und  Erregungen,  die  sie  nicht 
zu  bändigen  wissen.  Sie  können  nicht  anders  denken, 
als  daß  alle  übrigen  ihnen  gleichgeartet  sind;  und  so 
leiden  sie  in  jeder  ihnen  verfänglichen  Lage  dreifach. 
Die  eigene  unzeitliche  Erregung  empfinden  sie  als 
Ärgernis;  die  vermutete  der  andern  ist  ihnen  ein 
Greuel;  und  in  den  Augen  dieser  andern  glauben  sie 
selbst  sich  ein  Gespött. 

Allein  die  andre  Gruppe,  mehr  ästhetisch-sinn- 
lich als  sexual  veranlagt,  weiß  von  diesen  Vorgängen 
nichts  und  kann  sie  nicht  erraten.  Sie  hält  den  Un- 
mut ihrer  Brüder  für  Heuchelei  und  Lüge.  Sie  ist 
empört,  daß  man  ihre  harmlosen  Freuden  verküm- 
mert und  sie  selbst,  die  Unschuldigen,  als  Lüstlinge 
verschreit. 


Deherrschte,  Tiere  wie  Menschen,  wollen  ver- 
standen und  gehütet,  nicht  geliebt  sein. 

i-Jer  wahrhafte  Egoist.  Die  Furchtmenschen 
klagen  über  den  Egoismus  der  andern,  die  die  Dinge 
lieben  und  deshalb  über  menschliche  Schmerzen 

217 


und  Verluste  —  eigene  und  fremde  —  nicht  außer 
sich   geraten.     Sie   klagen   sie   der   Eigenliebe   an. 

Irrtum !  Egoisten  sind  die  Furchtmenschen  selbst, 
die  alle  Gedanken  an  unzerreißbare  Fäden  auf  sich 
selbst  beziehen  und  deshalb  für  die  Dinge  nichts 
übrig  haben.  Ihr  Denken  ist  zentrisch,  das  der 
andern  peripher.  Der  Zweckfreie  nimmt  teil  an  der 
Erscheinung,  der  Zweckhafte  reißt  sie  durch  Mitleid, 
Furcht,  Abneigung,  Vorliebe  an  sich,  um  sie  den- 
noch nicht  zu  besitzen. 

Der  einzig  denkbare  Nichtegoismus  ist;  die 
Dinge  mehr  Heben  als  sich  selbst. 


Stamm  des  Sklaventums 

l"*  eigheit. 

Lüge,  Heimlichkeit,  Schlauheit. 

Haß   gegen   den   stammverwandten   Herrn. 

Tierische  Liebe  zum  stammfremden,  götterglei- 
chen Herrn ;  sie  überschauen  ihn,  weil  ihm  die  Klug- 
heit fehlt,  sie  begreifen  ihn  dennoch  nicht,  weil 
er  tiefer  ist,  und  sie  glauben  an  ihn,  weil  er  wahr  ist 
und  instinktmäßig  handelt. 

Unter  sich  neidisch  und  ehrgeizig.  Das  gemein- 
same Überlegenheitsgefühl  der  Klugheit  hält  sie 
zusammen.  Ihre  Wünsche  sind  Schmuck,  Bevor- 
zugung, Talent.   Ihre  Träume :  tyrannische  Macht. 

* 

Diese  Eigenschaften  begleiten  den  Adel  der  Seele 
und  sind  identisch: 

Blick  fürs  Wesentliche, 

Bewunderung, 

218 


Vertrauen, 

Wohlwollen, 

Phantasie, 

Selbstbewußtsein, 

Einfachheit, 

Sinnenfreude, 

Transzendenz. 

Diese  Neigungen  verraten  Sklavenseelen  und  sind 
identisch : 

Freude  an  der  Neuigkeit, 

Kritiklust, 

Dialektik, 

Skeptizismus, 

Schadenfreude, 

Sucht,  zu  glänzen, 

Geschwätzigkeit, 

Verfeinerung, 

Ästhetizismus. 


Dogma  über  Transzendenz,  Geist  über  Begei- 
sterung, Kunst  über  Natur,  Bücher  über  Menschen, 
Eleganz  über  Schönheit  stellen :  alles  dies  ist  dasselbe. 

„Aktualität"  fesselt  nur  den  Neugierigen,  nicht 
den  Erkennenden.  Wie  könnte  ein  Phänomen  an 
Größe  und  Bedeutung  gewinnen,  weil  es  heute 
geschehen  ist  und  nicht  gestern  ?  Die  Welt  staunt 
vor  neuen  naturwissenschaftlichen  Entdeckungen 
und  ahnt  nichts  von  den  zehnmal  größeren,  die 
jedes  Lehrbuch  der  Physik  schildert.  Ja,  wäre  die 
mathematische  Weltformel  gefunden  und  in  der 

219 


Königlichen  Bibliothek  in  Folianten  aufgestellt, 
niemand  käme,  sie  nachzuschlagen;  und  nicht  allein 
ihrer  Kompliziertheit  wegen. 

Uer  Mutmensch  kennt  den  Zorn;  der  Furcht- 
mensch die  Wut,  den  Ärger  und  vor  allem  die  Ent- 
rüstung, den  Affekt^der  wehrlosen  Feigheit. 

JLüge  und  Neid  äußern  sich  im  Stande  der  Kultur 
als  Finesse  und  Kritik. 

rls  ist  psychologisch  falsch,  Grausamkeit  als  Freude 
am  Schmerz  des  andern  zu  betrachten  und  sie  so- 
mit, wie  Schopenhauer  will,  in  Gegensatz  zum  Mit- 
leid zu  setzen.  Der  Gegenpol  des  Mitleids  ist  viel- 
mehr die  Schadenfreude. 

Die  Freude  des  Grausamen  ist  nicht,  daß  der 
andre  leidet,  sondern  daß  er  selber  ihn  leiden  macht. 
Er  weidet  sich  nicht  am  fremden  Schmerz,  sondern 
an  eigener  Macht,  Schmerzen  zu  erzeugen.  Die 
Wollust  der  Grausamkeit  ist  verderbte  Herrschsucht, 
die  sich  nicht  anders  auslassen  kann,  als  indem  sie  die 
handgreiflichste  Wirkung  auf  Lebendes,  die  Peini- 
gung, erfindet.  Es  ist  durchaus  nicht  ausgeschlossen, 
ja  es  erhöht  dies  abscheuliche  Gefühl  des  Grau- 
samen, daß  er  ein  gewisses  Mitleid  mit  dem  Opfer 
verspürt,  woraus  denn  die  widerwärtige  Verbindung 
des  theologischen  „lieben  und  züchtigen"  erwächst. 

Auch  insofern  zeigt  sich  Grausamkeit  als  ent- 
artete Herrschsucht,  als  der  von  dieser  krankhaften 
Leidenschaft   Betroffene   häufig    schwankt,    ob   er 

220 


durch  überströmende  Güte  und  Liebe  oder  durch 
Peinigung  die  gewollte  seelische  Gewalttat  verüben 
soll.  Oft  ist  er  grausam,  weil  er  nicht  Liebe  erringen 
kann ;  der  Zwang,  nicht  der  Schmerz  ist  sein  inner- 
ster Wille. 

Als  Ausfluß  der  Herrschsucht  ist  Grausamkeit  eine 
Sklaveneigenschaft  und  daher  mit  Unterwürfigkeit 
gepaart.  Hieraus  ergibt  sich  ihre  häufig  beobachtete 
Verwandtschaft  mit  niederer  Frömmigkeit. 

Nicht  zu  verwechseln  mit  Grausamkeit  ist  Roheit; 
ein  Begriff,  der  zweierlei  aussagen  kann:  entweder 
stumpfe  Teilnahmlosigkeit  an  fremden  Leiden,  also 
eine  Eigenschaft  mangelnder  Einsicht,  die  fast 
außerhalb  des  sittlichen  Gebietes  liegt,  oder 
Fieude  an  fremden  Leiden,  also  Gleichlieit  mit 
Schadenfreude. 

Dem  Mutm^enschen  sind  die  Leidenschaften  des 
Mitleids  und  der  Grausamkeit  gleich  fremd.  Er  ist 
teilnehmend,  weil  jede  irdische  Erscheinung  in  ihm 
anklingt,  und  großmütig,  weil  er  nur  im  Starken  den 
Gegner  sieht.  Eine  Ethik,  die  Barmherzigkeit  und 
Mitleid  anpreist,  kann  für  ihn  nicht  bestehen,  weil 
er  ihre  Laster  nicht  kennt  und  ihre  Tugenden  nicht 
begreift. 

iliine  Tragikomödie  des  Geistes  ist  die  Unter- 
werfung Piatons  unter  Sokrates'  Einfluß.  Der  ritter- 
liche Phantast  lernt  Sitte  und  Zweck  von  dem 
schwärzlichen  Urbewohner,  dem  es  gelungen  ist, 
seine  schlechten  Instinkte  durch  Beharrlichkeit  und 
Klugheit  zu  meistern.  Siegfried  vom  frommen  ^'lime 
bekehrt ! 


221 


vJoethe  bemerkt  in  den  „Wanderjahren",  daß 
Kinder  eine  bedeutsame  Anlage  nicht  mit  auf  die 
Welt  bringen:  nämlich  Ehrfurcht. 

Dieser  Satz  läßt  sich  erweitern.  Kinder  sind 
furchtsam,  neugierig,  begehrlich,  zwischen  Schaden- 
freude und  Mitleid  geteilt;  sie  stehen  in  ethischer 
Beziehung  auf  dem  Boden  der  ursprünglichen  Rassen, 
der  Furchtmenschen. 

Sie  müssen  die  Stufen  einer  Art  von  biogene- 
tischem Gesetz  durchlaufen  und  die  Rassenent- 
wicklung von  der  Furcht  zum  Mut  im  kleinen 
wiederholen,  bis  sie  zur  Wahrheit,  zur  Ehrfurcht, 
zum  Selbstbewußtsein  und  zur  Selbstgenügsamkeit 
gelangen.  Daß  dieser  Gang  nicht  eine  Entwicklung 
der  Erfahrung,  sondern  des  Naturells  ist,  ergibt 
sich  wider  Erwarten :  denn  sonst  wäre  er  auch  klugen 
Rassen  gewohnt  und  nicht  allein  den  edlen  vorbe- 
halten. 

W  ehe  dem,  der  ein  Kind  in  Furcht  erzieht,  und 
wenn  es  die  Furcht  Gottes  wäre.  Denn  er  schändet 
Menschengeschlechter. 

Wenn  man  von  nordischem  Ursprung  der 
arischen  Rasse  ausgeht,  so  erweist  sich  diese  als  ein 
Ergebnis  der  schärfsten  auslesenden  Zuchtwahl. 
Denn  in  dem  klimatisch,  vegetativ  und  faunisch 
gefährlichsten  und  aufreibendsten  Landstrich  mußte 
sie  sich  angewöhnen,  standhalten,  überleben  und 
verdrängen,  bis  sie  ihn  beherrschte  und  lebenserträg- 
lich schuf.  Schwächere  Urbewohner  wurden  aufge- 
rieben und  vertrieben,  weil  sie  mit  den  Widerstän- 

222 


den  der  Natur  nicht  wuchsen;  so  haben  sie  zum  Teil 
bis  heute  ihre  vorzeitliche  Existenz  bewahrt. 

Und  diese  herkulische  Kinderzeit  währte  für  die 
Arier  noch  zwei  Jahrtausende,  nachdem  die  glück- 
licheren Stämme  im  Süden  und  Südosten  längst  mit 
Zivilisation  behaftet  waren. 

Sie  ereignete  sich  im  größten,  was  sich  später  im 
großen  vereinzelt  wiederholte:  bei  Römern  und 
Preußen:  Derjenige  herrscht,  der  auf  rauhstem 
Gebiet  Existenz  und  Herrschaft  erlernt  hat. 


Aus  den  Gesetzen  und  aus  den  Genialitäten  eines 
Volkes  sollte  man  auf  seine  Veranlagung  nur  im 
Gegensatze  schließen. 

Die  göttliche  Einheit  mußte  Israel  so  oft  und  so 
streng  eingeschärft  werden,  weil  das  Volk  unaustilg- 
bar zur  Vielgötterei  neigte.  So  läßt  die  übertriebene 
Elternverehrung  der  Furchtvölker  vermuten,  daß 
die  Gewohnheit  bestand,  die  Alten  zu  mißhandeln 
oder  zu  beseitigen.  Ein  Beispiel  der  Selbsterziehung, 
daß  diese  Neigung  bei  den  Juden  in  den  letzten  zwei- 
tausend Jahren  tatsächlich  in  ihr  Gegenteil  umge- 
schlagen ist. 

Auch  die  Genialitäten  spiegeln  den  Volkstypus 
nur  in  der  Umkehrung.  Denn  genial  ist  das  naive 
Auge,  das  frei  vom  Schleier  des  Herkommens  die 
Dinge  beschaut  als  ein  unsäglich  Neues,  Staunens- 
wertes, Unbegreifliches  und  sie  überwindet  ohne 
Erinnerung  und  Zweck. 

Deshalb  mußten  aus  materiell  gearteten  furcht- 
haften Völkern  die  Genialitäten  der  reinsten  Trans- 
zendenz erwachsen,  weil  diese  seherisch  das  wahre 
Wesen  ihrer  Umgebung  erkannten  und  sich  ihm 

223 


entgegensetzten.  Niemals  haben  Zweckfreie  aus 
Geburt  so  lautere  Transzendenz  gelehrt  wie  Zweck- 
freie aus  Gegensatz  und  Verneinung. 

Was  die  alten  Germanenstämme  zum  Wider- 
stand gegen  das  Christentum  trieb,  war  vielleicht 
die  Unritterliciikeit  des  Erlösungsgedankens.  Als 
freie  Männer  sollten  sie  einem  fremden  Erlöser  mit 
dem  Bekenntnis  der  Schuld  sich  zu  Füßen  werfen 
und  mit  Freude  und  Dankbarkeit  genießen,  daß 
ein  andrer  für  sie  litt.  Demut  und  Unterwürfigkeit 
sollten  sie  höher  stellen  als  Mut  und  Entschlossen- 
heit, gottselige  Feiglinge  und  fromme  Weiber  sollten 
im  Himmelreich  neben  ihnen  sitzen. 

So  begnügte  sich  denn  die  Gläubigkeit  des  deut- 
schen Mittelalters,  Christus  als  einen  ritterlichen 
Helden  zu  verehren  und  alle  Liebe  und  Andacht  der 
reinen  Gottesmagd  entgegenzutragen. 

* 

ibo  lange  wird  alle  Rassenlehre  von  Verzweifelten 
bekämpft  werden,  die  sich  vernichtet  wähnen:  bis 
die  Erkenntnis  sich  erhebt,  daß  die  freien  Stämme 
nur  dadurch  adelig  wurden,  daß  sie  die  Furcht 
und  das  Begehren  abtaten.  Das  mag  jeder  einzelne 
in  sich  vollbringen. 

Die  Schrift  konnte  nur  von  dicht  wohnenden 
und  zur  Lüge  geneigten  Völkern  erfunden  werden: 
wo  Rechtsverhältnisse  wesentlich  wurden  und  Über- 
lieferung nicht  ausreichte,  sie  zu  schützen. 


Ä24 


L/er  Privatberuf  der  Religionsstifter  war  fast 
immer  der  des  Wundertäters.  Noch  heute  ist  der 
gemeinsame  Glaube  an  ein  Wunder  das  einzige 
Geschehnis,  das  Massen  spontan  auf  die  Schmelz- 
temperatur zu  erhitzen  vermag,  die  zur  religiösen 
Schweißung  erfordert  wird. 

Uie  neuere  Kultur  läuft  darauf  hinaus,  seltene, 
dauernde,  einheitliche  und  tiefe  Freuden  durch 
häufige,  bescbJeunigte,  vielfältige  und  seichte  Freu- 
den zu  ersetzen,  und  ahnt  nicht,  daß  sie  die  Summe 
verkleinert,  indem  sie  die  Organe  abnutzt. 

hline  Sprache  bleibt  jahrhundertelang  unver- 
ändert, dann  plötzlich  gestaltet  sie  sich  neu,  ihre 
Laute,  ihre  Worte,  ihr  Satzbau,  ihre  Denkweise 
geraten  in  Gärung,  trüben  und  klären  sich,  und  eine 
neue  Sprache  entsteht  für  Jahrhunderte.  Dies  ist 
die  Tonerscheinung,  die  jede  Rassenumwälzung 
begleitet.  Vielleicht  ist  es  nicht  zu  kühn,  zu  folgern, 
daß  gemeinhin  die  Sprache  auch  für  langsam  ver- 
laufende Rassen-  und  Ständemengung  als  Maßbe- 
stimmung dienen  darf.  So  ist  die  gewaltige  Um- 
bildung des  Stils  zwischen  1740  und  1800  ein  Abbild 
des  Aufstiegs  bürgerlicher  Stände,  die  der  ver- 
kanzelten Nobilitätssprache  des  XVII.  Jahrhunderts 
den  Weg  zur  Natur  wiesen. 

Llnsre  Epoche  hebt  die  „Persönlichkeit"  auf  die 
höchste  Spitze;  dies  ist  folgerichtig,  weil  eine  Grund- 
erscheinung unsrer  Zeit   die   Rassenmischung  ist, 

IV,  13  225 


mithin  die  Verschwemmung  des  Charakters.  Wir 
setzen  Belohnungen  auf  denjenigen  Atavismus,  der 
eines  der  Mischungselemente  unsrer  Bevölkerungs- 
massen in  verhältnismäßig  reiner  Form  erneuert. 
Kämen  wir  wieder  zu  reineren  Rassen,  so  würde 
die  Aufhebung  der  Persönlichkeit  durch  das  Rassen- 
ideal erstrebt  werden.  In  dieser  Lage  befand  sich 
der  griechische  Adel  und  befinden  sich  einzelne 
Aristokraten  unsrer  Zeit. 


Vierfach   ist  die  Periodizität   der  Zeitstimmung: 

Herrschaft  des  Verstandes.  Sie  tritt  auf,  begleitet 
von  Rationalismus,  Skeptizismus,  Esprit,  Liberalis- 
mus. 

Herrschaft  der  Empfindung.  Schöngeisterei, 
Naturfreude,  Klassizität,  Patriotismus. 

Herrschaft  der  Leidenschaft.  Genialitätkult, 
Erotik,  Musik,  Schrankenlosigkeit. 

Herrschaft  der  Mystik.  Romantizismus,  Fröm- 
migkeit, Absolutismus,  Passivität. 

Uem  Zustand  geistiger  Auszeichnung  legte  man 
in  den  letzten  Menschenaltern  folgende  Namen 
bei,  die  in  ihrer  Reihenfolge  eine  Geschichte  des 
Geisteslebens  bilden: 

Empfindsamkeit, 

Aufklärung, 

Bildung, 

Geistesfreiheit, 

Europäertum, 

Kultur. 

226 


Die  nächsten  Namen  werden  Menschlichkeit  und 
Menschheit  heißen. 

r*ür  Geschäfts-  und  Staatsleute: 

Zeige  den  Menschen  deine  Schwächen:  sonst 
bekommen  sie  kein  Vertrauen,  und  du  wirst  ihre 
wahre  Gesinnung  nicht  erkennen. 

Verlange  keine  hundertprozentige  Zustimmung. 
Verzichte  auf  Gefolgschaft,  soweit  sie  eine  schwache 
Mehrheit  überschreitet;  denn  die  Gegenmeinung 
muß  zu  ihrem  Rechte  kommen. 

Wolle  nicht  dauernd  Recht  haben.  Es  genügt, 
wenn  zwei  Drittel  deiner  Handlungen  und  Mei- 
nungen zutreffen. 

* 

In  Deutschland  wählte  der  Patriotismus  die  aggres- 
sive Form.  Die  Liebe  zum  Heimischen  kleidete  sich 
in  den  Haß  gegen  Fremdes.  Mangel  an  Selbstge- 
fühl und  Sicherheit. 

* 

lltwa  um  1790  entstand  in  Deutschland  die  „Ge- 
sellschaft" in  der  Bedeutung  einer  Gemeinschaft 
der  Gebildeten.  Sie  war  bürgerlich,  denn  der  Adel 
bedurfte  keines  neuen  Bindemittels. 

In  Berlin  traten,  neusüchtig  und  wohlhabend,  die 
Juden  in  den  Vordergrund. 

Die  Kennzeichen  dieser  werdenden  Gesellschaft: 
Bespiegelung,  Kunstsucht,  Bildungsehrgeiz,  Geist- 
reichheit, finden  sich  noch  heute  in  den  Übergangs- 
gesellschaften, die  jetzt  peripherisch  geworden  sind, 
wie  aller  Zentralluxus  von  heute  zum  peripherischen 
Luxus  von  morgen  wird. 


lä' 


227 


In  den  unbekannteren  Vierteln  der  Großstadt  und 
in  den  Provinzen  findet  man  heute  die  Rahel 
Levin,  Henriette  Herz,  David  Veit  und  alle  Größen 
von  1820  wieder. 


Wirtschaftliche  Karikatur.  In  Genua, 
Marseille,  Antwerpen  und  Hamburg  sind  Schalter- 
häuschen errichtet,  in  denen  Eintrittskarten  ver- 
kauft werden.  In  Scharen,  mit  Fremdenführern  und 
Katalogen,  landen  amerikanische  Touristen,  um  die 
Alte  Welt  zu  studieren.  Sie  betreten  die  Städte, 
erscheinen  in  den  Häusern,  Fabriken  und  Läden, 
um  uns  bei  der  Arbeit,  beim  Vergnügen,  in  der 
Familie  zu  beschauen.  Wir  alle  müssen  unsern 
Tätigkeiten  obliegen,  als  sei  es  ernst;  die  Handwer- 
ker arbeiten,  Geschäftsleute  handeln,  Soldaten 
exerzieren,  Pastoren  predigen,  Schauspieler  tra- 
gieren,  Abgeordnete  beraten;  und  alle  erhalten  da- 
für Unterhalt  und  Löhnung.  Die  Yankees  gucken 
uns  über  die  Schultern,  die  Damen  lorgnettieren  uns 
und  sagen:  „Oh,  dear  old  Europe!  How  lovely 
grand-fathers  life  seems  to  have  been."  Schenken 
unsern  Kindern  etwas  und  ziehen  weiter. 

Europa  ist  von  den  Amerikanern  zum  National- 
park ernannt. 

* 

Alle  höchste  Kunst  ist  unbewußt  und  dämonisch 
in  die  Welt  getreten.  Ja,  man  darf  sagen  (was  uner- 
hört scheint),  daß  sie  in  ihren  vollkommensten 
Äußerungen  nur  eine  unbeabsichtigte  Nebenwir- 
kung war. 

Epik  war  Erinnerungsmittel   für  wichtige  Vor- 

228 


gänge,  denn  Rhythmen  und  Melodien  lassen  sich 
leichter  behalten  als  ungemessene  Rede.  Die  Schön- 
heit homerischer  und  biblischer  Darstellung  ist 
keine  Kunst,  sondern  unbewußte^Spiegelung  har- 
monischen Geistes. 

Plastik  ist  entstanden  als  Darstellungsmittel  für 
Fetische  und  Götterbilder.  Das  eigentlich  Künst- 
lerische war  Nebenwirkung:  auf  Deutlichkeit  und 
Glaubhaftigkeit  kam  es  an. 

Tragödie  war  Gottesdienst.  Die  Gottesfeier  war 
wichtig,  Kunst  ging  nebenlier. 

Malerei  —  bei  der  frühchristlichen  und  mittel- 
alterlichen wird  es  augenscheinlich;  Assisi  zeigt  es 
vor  vielen  —  war  Bildersprache. 

Das  neuere  Schauspiel  war  zuerst  Erbauungsmittel, 
dann  Unterhaltungsmittel.  Ein  Theaterstück  als 
Kunstwerk  hat  weder  Shakespeare  noch  Moliere 
geschrieben. 

Es  scheint,  als  ob  der  unbevnaßte,  halb  traum- 
hafte Geisteszustand,  der  im  Vorbeiblicken,  ge- 
wissermaßen in  der  Nebenwirkung,  das  kunsthaft 
Große  schafft,  gestört  würde,  sobald  das  Verstandes- 
und Zweckbewußtsein  seinen  Blendschein  auf  den 
Vorgang  wirft. 

So  etwa,  wie  der  nicht  einschläft,  der  seine  eigenen 
Träume  beobachten  will. 

* 

ilirdgebundene  Kunst  ist  immer  typisch,  denn  sie 
kann  das  Gesetz  der  Materie  nur  in  der  Abstraktion 
erfassen;  transzendente  Kunst  ist  individuell,  denn 
ihr  höchstes  Glück  ist,  daß  das  einzelste  des  Ge- 
schaffenen die  göttliche  Liebe  zurückstrahlt. 

229 


Nach  diesem  Gesetz  ist  alle  Kunst  des  Orients  von 
aller  Kunst  des  Okzidents  geschieden. 

* 

Alle  Kunst,  mit  Ausnahme  der  germanischen, 
verherrlicht  das  rein  Natürliche,  die  irdische  Er- 
scheinung. Deshalb  ist  ihre  höchste  Erhebung  die 
Idealisierung  und  Typik,  das  heißt :  die  Abstraktion 
der  irdischen  Gesetzmäßigkeit;  oder  die  materielle 
Symbolistik,  das  heißt :  die  Spiegelung  eines  höheren, 
aber  begreiflichen  Prinzipes.  Alle  orie;italische 
Kunst,  selbst  die  individuellste  ägyptische  und  ja- 
panische, ist  daher  typisch-idealisiert  oder  materiell- 
symbolisch. 

Nur  die  germanische  Kunst  erhebt  sich  zur  Trans- 
zendenz. Und  weil  sie  das  Unaussprechliche  wider- 
strahlt, darf  sie  gänzlich  individuell,  gleichnisartig 
das  Nur-einmal-Seiende  darstellen.  Denn  unsre 
Seele  faßt  das  Transzendente  nur  im  Bilde:  nicht 
der  Gegenstand,  sondern  die  Seele  des  Gegenstan- 
des spricht  die  Sprache  der  Ewigkeit.  Dem  Unsag- 
baren kommen  die  Dichter  näher  als  die  Philosophen, 
obwohl  sie  keine  abstrakten  Worte  kennen  und  nur 
von  Dingen  der  Welt  träumen  und  künden. 

* 

vJoethe  nannte  die  Romantik  „kranke  Kunst". 
Mit  Recht.  Denn  die  Romantik  entstammt  nicht 
dem  Drang  nach  Mittelalterlichkeit,  sondern  die 
Mittelalterlichkeit  wurde  gemacht  von  Menschen, 
die  für  ihre  trüben  Seelen  Verkörperungen  suchten. 
Am  Zweige  der  tristen  Kunst  wächst  die  Senti- 
mentalität, die  slawische  Schwermut,  die  Mystik,  die 
Satirik,  die    Kindelei. 

230 


Auch  starke  Menschen  können  schwermütige 
Stunden  erleben :  aber  diese  Stimmung  ist  bei  ihnen 
flüchtig,  verachtet,  zum  mindesten  gebändigt. 

* 

Mit  Unrecht  spricht  man  von  der  Phantasie  des 
Orientalen.  Der  Orientale  ist  nicht  phantasievoll 
oder  phantastisch:  er  ist  nur  ein  aufdringlicher 
Erzähler,  der  die  Teilnahme  des  Hörers  durch  Über- 
treibung erzwingen  will.  Aber  seine  Übertreibung 
ist  nicht  Vertiefung  des  Charaktistischen,  Gro- 
teske oder  Karikatur,  sie  besteht  in  der  nüchternen 
Mechanik  quantitativer  Steigerung.  Uns  mag  zu- 
weilen das  fremdartige,  an  sich  farbige  Wesen  in  über- 
triebener Darbietung  phantastisch  erscheinen :  dieser 
Reiz  ist  nicht  dem  Geist  des  Schöpfers  zu  danken. 
Phantasievoll  sind  die  stillen  Märchen  der  Okzi- 
dentalen,  die  ganz  im  Realen,  im  Lebensinnern 
wurzeln.  Der  geringfügige  Zauberspuk  ist  nur 
Rahmenwerk  und  wird  ohne  Erstaunen  hingenom- 
men, weil  er  immerhin  ein  Abbild  tieferer  Wahr- 
heiten bleibt. 

* 

iJie  Kunst  ist  von  Zweckmenschen  erfunden. 
Groß  und  befreiend  wurde  sie  erst,  seit  sie  von 
Zwecken  befreit  und  von  Zweckfreien  regiert  wurde. 
Deshalb  ist  jeder  Rückfall  ins  Zweckhafte  —  Moral- 
kunst, Lehrgedicht  — niederdrückend  und  barbarisch. 

Es  gibt  keine  Seite  französischer  Literatur,  auf 
der  nicht  wenigstens  einmal  die  Eitelkeit  als  mensch- 
liches Motiv  erscheint. 


231 


JUer  Misantrope  des  Moliere  ist  ein  falsch  ent- 
worfener Charakter.  Daß  ein  Mensch,  der  die  Auf- 
richtigkeit über  alles  stellt,  die  Menschheit  haßt,  ist 
logisch  denkbar,  physiologisch  falsch.  Menschen- 
haß ist  nicht  Sache  der  Überlegung,  sondern  des 
Temperamentes.  Mutmenschen  können  nicht 
Menschenhasser  sein. 


tLleganz  ist  die  unmäßige  Aufwendung  von  Mitteln 
und  Kräften,  um  einen  verhältnismäßig  einfachen, 
auf  anderm  Wege  nicht  erreichbaren  ästhetischen 
Effekt  zu  schaffen. 

Auf  dem  Gegensatz  der  unbeschränkten  Freiheit 
und  der  gewollten  Verleugnung  beruht  diese  Wir- 
kung, die  um  ihres  verzwickten  Wesens  willen  an  der 
Grenze  der  Ästhetik  steht  und  stets  Gefahr  läuft, 
affektiert  zu  werden. 

Prunk  und  Eleganz  schließen  einander  ebenso  aus 
wie  Eleganz  und  Sparsamkeit. 

/  * 

Jllleganz  ist  gemeisterte  Verschwendung. 

In  diesem  Sinne  kann  auch  Natur  elegant  sein, 
doch  mit  der  Beschränkung,  daß  sie  nicht  der  Wir- 
kung wegen,  sondern  aus  eigenem  Überschwang 
verschwendet. 


Uie  Kunstgeschichte  wird  nicht  müde,  mit  den 
Baukastensteinen :  „Entwicklung,  Höhepunkt,  Ver- 
fall einer  Kunst"  zu  spielen,  wodurch  denn  immer 
wieder    die    einleuchtende,    aber    höchst    alberne 

232 


Legende  von  der  Unbeholfenheit  der  Väter,  der 
Herrlichkeit  der  Söhne  und  der  Frivolität  der  Enkel 
sich  ergibt. 

Faßt  man  die  Kunst  im  Innern  und  in  der  Tiefe, 
so  wird  man  finden,  daß  jede  neue  Kunstepoche,  ja, 
jede  neue  Kulturepoche  in  vollkommener  Herrlich- 
keit dastand,  sobald  eine  neue  Rasse  siegreich  auf  den 
Schauplatz  getreten  war,  und  daß  sie  so  lange 
herrschte,  bis  die  neue  Rasse  sich  umformte,  ver- 
mischte oder  unterging. 

Vermischte  sich  die  Rasse,  so  zeigte  sich  jedes- 
mal das  Barockphänomen :  die  Form  blieb  erhalten, 
ja,  zum  Höchsten  gesteigert  und  übertrieben,  aber 
sie  umschloß  nicht  mehr  den  alten,  fremdgewor- 
denen Gedanken. 

Unsre  Zeit  des  unaufhörlich  gewordenen  Rassen- 
wechsels findet  ihr  Abbild  in  der  täglich  wechseln- 
den   Kulturform.     Die    Mode    ersetzt    den    Stil. 


Man  sollte  statt  des  Begriffes  der  Wiedergeburt 
(Renaissance)  den  Begriff  der  Befruchtung  in  die 
Sprache  der  Kunsthistorie  einführen. 

Die  äußere  Geschichte  der  Kunst  zeigt  eine 
Reihe  von  Befruchtungsprozessen,  deren  einer  nur 
als  Wiedergeburt  gewürdigt  ist,  und  zwar  der  des 
römischen  Klassizismus. 

Andre  Befruchtungen  der  letzten  Jahrhunderte 
können  genannt  werden :  die  italienische  der  ge- 
samten Baukunst,  die  französische  der  deutschen 
Dichtung,  die  chinesische  des  Rokoko,  die  englische 
der  deutschen  Dichtung  um  1750,  die  griechische 
und  ägyptische  der  Napoleonszeit,  die  mittelalter- 
liche der  Romantik,  die  englische  der  Landschafts- 

233 


maierei,  die  russische  des  Epos,  die  japanische  der 
neuesten  Malkunst,  die  englische  der  Raumkunst. 


LJ'ie  Wortverbindung  „Graue  Vorzeit"  recht- 
fertigt sich  durch  eine  psychologische  Wahrneh- 
mung. Erinnern  wir  uns  eines  längst  vergangenen 
Erlebnisses,  so  blicken  wir  wie  durch  einen  Schleier. 
Es  ist,  als  hätte  in  jener  Zeit  die  Sonne  minder  klar 
geleuchtet;  Bilder,  Umrisse  und  Farben  ver- 
schwimmen; der  Ausdruck  sagt,  die  Erinnerung  sei 
verblaßt.  Im  gleichen  Dämmerlicht  erscheinen  uns 
Vorgänge,  die  wir  nicht  selbst  erlebten,  die  uns  über- 
liefert sind ;  und  es  wird  uns  schwer,  zu  glauben,  daß 
die  Mauern  Roms  vor  Jahrtausenden  in  den  gleichen 
Himmel  ragten,  auf  der  gleichen  strahlenden  Erde 
ruhten,  von  denselben  Kräutern  umkränzt  waren, 
die  vor  unsern  Augen  im  Mittagslicht  spielen.  Auch 
dies  kommt  hinzu,  daß  wir  uns  gewöhnt  haben,  die 
Bilder  der  Zeiten  aus  Kunstwerken  zu  lesen:  und 
so  möchten  wir  am  liebsten  glauben,  der  Regent 
von  Frankreich  sei  unter  Watteaus  Bosketts  spaziert 
und  Rembrandt   sei   unter  braunen  Wolken   groß 

geworden. 

* 

Frühere  Epochen  schätzten  die  Meisterschaft; 
unsre  sucht  nach  Persönlichkeit.  Förderten  die 
früheren  die  Mittelmäßigkeit,  so  züchtet  die  heutige 
den  Dilettantismus. 


Die   Musik   ist    so  überirdisch,    daß  sie  da  noch 
Kunst  scheint,  wo  sie  zur  reinen  Sinnlichkeit  ge- 

234 


worden  ist.  Jede  andre  Kunst  würde  auf  dieser 
Stufe  vernichtet. 

Die  einfachste  Art,  eine  Gesetzmäßigkeit  der 
Form  wahrnehmbar  zu  machen,  ist  die  Wieder- 
holung, die  Verdoppehing.  Im  Raum  bewirkt  es  die 
Symmetrie,  in  der  Zeitfolge  der  Vers,  der  Reim,  die 

Melodie. 

* 

Linsre  Architektur  leidet  daran,  daß  sie  die  be- 
deutenden Kontraste  nicht  mehr  begreift :  große  Flä- 
chen, mäßige  Öffnungen ;  schwere  Massen,  leichte  Or- 
namente, kühnes  Vorspringen,  ruhiges  Zurücklehnen. 

liin  architektonisches  Ornament  muß  subtil  sein, 
so  daß  es  dem  aufs  Gesamtbild  gerichteten  Auge  nur 
als  leichte  Kräuselung  und  Blümung  erscheint,  dem 
fixierenden  Auge  erst  sich  auflöst. 

Der  alte  Architekt  verstand  dies,  weil  er  nicht  am 
Reißbrett  baute,  wo  die  Einzelheit  des  kleinen  Maß- 
stabes wegen  und  um  der  Deutlichkeit  willen  ab- 
scheulich übertrieben  werden  muß.  Überdies  be- 
währt sich  hier  ein  seltsames  optisches  Gesetz:  mit 
verkleinertem  Maßstabe  müssen  die  Glieder  im 
Verhältnis  zum  Körper  wachsen,  mit  vergrößertem 
Maßstabe  müssen  sie  sich  verkleinern. 


Intensive  und  extensive  Kunstanschauung. 
Alle  ästhetische  Betrachtung  ist  dimensionär  be- 
schränkt. Wer  ein  architektonisches  Mosaik  zoll- 
weise   betrachten    wollte,    wer   ein    neueres    Bild 

235 


unter  die  Lupe  zu  nehmen  oder  ein  vlämisches 
als  Gesamteindruck  zu  werten  versuchte,  der  würde 
keinen  Kunstgenuß  verspüren. 

Selbst  die  Natur  hält  nicht  immer  stand,  wenn 
etwa  jemand  einen  Ausschnitt  bleifarbigen  Himmels 
oder  weißgelben  Dünensandes  ohne  Kontrast  an- 
starrt, i 

Es  scheint,  daß  die  Gewohnheit  des  Schauens 
denselben  Weg  verfolgt  wie  das  gesamte  Kultur- 
leben :  vom  Intensiven  zum  Extensiven ;  Flüchtigkeit 
der  Einzelheit,  Beherrschung  den  Massen  zuweisend. 

So  kann  auch  der  Betrachtung  unsrer  Architek- 
turen, die  im  einzelnen  hoffnungslos  zum  Nieder- 
gang eilen,  dadurch  geholfen  werden,  daß  das  Ge- 
samtbild architektonischer  Landschaft  gesichtet 
wird.  Dann  wird  selbst  der  Verderb  des  einzelnen 
im  Strom  der  Lebensbewegung  wieder  zu  einer 
Art  Natur.  Bewegte  Straßenzüge,  vor  allem  in  der 
Verkürzung,  wirken  schön.  Trotz  der  Verderbtheit 
aller  einzelnen  Bauten. 

* 

Oobald  die  Industrie  sich  eines  Schaffensgebietes 
bemächtigt  hat,  das  zuvor  ideologisch  betrieben 
wurde,  kann  ethische  und  ästhetische  Belehrung  und 
Bekehrung  sich  nur  an  den  Konsumenten,  nicht  mehr 
an  den  Produzenten  halten.  Dies  vergißt  man  in 
Deutschland  häufig  gegenüber  dem  Journalismus, 
dem  Theater,  der  Architektur. 

JUem  Bildhauer  liegt  ob,  nicht  steinerne  Nachbil- 
dungen von  Gesell  öpfen,  sondern  geschöpf ähnliche 
Steinbilder  zu  machen. 


236 


Llfin  Dichtwerk,  das  „einen  Gedanken"  verkörpert, 
wäre  nichts  als  eine  elende  Charade.  Das  wahre 
Dichtwerk  ist,  wie  die  Natur,  ein  unendlich  viel- 
deutiges Gleichnis:  keine  Lösung  ist  gewollt,  jede 
ist  gestattet. 

* 

iL, war  gibt  es  neuerdings  Dichter,  die  sich  erinnern, 
daß  große  Werke  als  Symbole  von  Weltproblemen 
gedeutet  worden  sind,  und  daß  solche  Deutbarkeit 
geradezu  als  ein  Merkmal  höchster  Kunst  betrachtet 
wird. 

So  greifen  sie  nach  einem  handlichen  Weltproblem 
und  umbacken  es  mit  dem  Teige  ihrer  Dichtmittel. 

liumor  gehört  zu  den  höchsten  Formen  der  Be- 
trachtung und  Darstellung,  solange  er  souverän 
bleibt:  Teilnahme  am  Menschlich-Beschränkten 
ohne  Parteilichkeit  und  Bekümmernis. 

Mischt  sich  Sentimentalität  hinein  nach  der  Formel 
von  der  lächelnden  Träne,  so  wird  er,  wie  dies  be- 
rühmte und  treffende  Bild,zur  weinerlichen  Grimasse. 

Wenn  zugegeben  wird,  daß  die  Aufgabe  des 
Dramas  ist,  zu  ergreifen,  zu  bewegen  und  zu  er- 
schüttern, so  ergeben  sich,  wo  nicht  die  drei 
Einheiten,  so  doch  eine  Reihe  sonderlicher  Be- 
dingungen ;  und  Aristoteles  behält  im  meisten  recht. 
Ergreifen  kann  uns  nur  das  Schicksal  von  Men- 
schen, die  uns  nah  stehen,  bekannt  und  sympathisch 
sind.  Ferner  nur  ein  Schicksal,  das  groß,  gesetz- 
mäßig gegründet,  vorgeahnt  und  unabwendbar  ist. 

237 


Innerlich  gleichgültig  bleiben  uns  Fremde,  Ver- 
brecher, Schwächlinge.  Zum  Mitleid,  nicht  zur 
Erschütterung  führen  uns  Mißgeschick,  Unglücks- 
fälle, Misere  kleiner  und  beschränkter  Leute. 

Das  notwendige  Schicksal  kann  sich  daher  weder 
an  Verbrechen  noch  an  Fahrlässigkeit  knüpfen,  son- 
dern nur  an  sympathische  Verschuldung:  also  Lei- 
denschaft. 

Die  Leidenschaft  muß  in  der  Seele  exorbitanter 
Menschen  wurzeln:  also  gemischte  Charaktere, 
nicht  ohne  Größe. 

Die  Notwendigkeit  und  Unabwendbarkeit  muß 
fühlbar  werden:  also  Einheit  der  Handlung  und 
Beschränkung  des  Zufalls. 

Die  Menschen  müssen  uns  bekannt  sein :  also  Expo- 
sition und  einigermaßen  einheitliche  Zeit. 

Überflüssig  bleibt  die  Einheit  des  Ortes,  an  die 
sich  die  Alten  durchaus  nicht  immer  und  nur  im 
Interesse  des  Chores  gehalten  haben. 

* 

Uie  germanische  Tragik  beruht  darauf,  daß  je- 
mand an  sympathischen  Fehlern  mit  Notwendigkeit 
zugrunde  geht. 

Die  sympathischen  Fehler  sind  die  germanisch- 
heidnischen Tugenden;  das  verletzte  Sittenprinzip 
ist  die  fremd-orientalische  Ethik. 

Somit  beruht  die  Tragik  des  Germanen  auf  dem 
Zwiespalt  der  ererbten  und  der  erlernten  Moral. 

-X- 

W  ährend  in  der  Tragik  der  Germanen  überall  die 
christliche  Ethik  recht  behält,  zeigt  Hamlet  die 
heidnische  Umkehrung. 

238 


Hier  geht  der  Mensch  zugrunde,  weil  er  im  heid- 
nischen Sinn  sündhaft,  nämlich  schwach  ist. 

Heidentum  strahlt  durch  diese  ganze  Tragödie. 
So  mußte  auch  der  berühmte  Monolog  zum  heid- 
nischen Dokument  werden. 


Uem  Deutschen,  bei  seiner  Gewissenhaftigkeit 
und  seinem  Hang  zum  Absoluten,  wird  das  Schreiben 
schwer. 

Er  möchte  seinem  Gedanken  die  absolute,  die 
chemisch  reine  Form  geben;  es  soll  nicht  zu  viel 
und  nicht  zu  wenig,  vor  allem  nichts  Zufälliges 
gesagt  sein:  so  wird  er  abstrakt.  Er  sagt:  Das 
Hinauslehnen  des  Körpers  ist  wegen  der  damit  ver- 
bundenen Lebensgefahr  bei  Strafe  verboten. 

Auch  sollen  die  Ausnahmen,  die  Anwendungen 
und  gar  die  Beweise  des  Gedankens  nicht  fehlen: 
so  wird  ein  Buch  daraus.  Und  dieses  Buch  wiederum 
soll  so  absolut  und  so  voraussetzungslos  dastehen, 
daß,  wenn  es  nach  zweitausend  Jahren  gefunden 
würde,  dem  Leser  die  ganze  Sonderweisheit  der 
Epoche  daraus  entgegenstiege.  Am  liebsten  ent- 
schuldigte er  sich  wegen  der  Zufälligkeit,  daß  er  in 
der  ganz  besonderen  deutschen  Sprache  schreibt, 
und  man  möchte  fast  erwarten,  ein  Wörterbuch  im 
Anhang  beigefügt  zu  finden. 

Diese  lapidare  Neigung  war  selbst  den  abstrakten 
Lateinern  nicht  eigen,  die  ihre  ewigen  Inschriften 
ohne  Scheu  vor  zufälligen  Anspielungen,  ja,  selbst 
vor  familiären  Abkürzungen  abfaßten.  Sie  wider- 
spricht überhaupt  dem  Geist  und  Wesen  der  Spra- 
che, die  ganz  und  gar  kasuell,  bildlich,  greifbar  ge- 
artet ist. 

239 


Die  Kraft  der  Sprache  liegt  in  der  Suggestion;  sie 
denkt  in  Ähnliclikeiten.  Selbst  unsre  abstraktesten 
Worte  sind  verblaßte  Bilder. 

Deshalb  liegt  in  einem  Lied,  das  von  Mond, 
Busch  und  Tal  klingt,  mehr  des  Absoluten  als  in 
psychologischen  Abhandlungen ;  und  eine  Lustspiel- 
scene  kann  mehr  Welthistorie  bewahren  als  einFeld- 
zugsbericht. 


Üin  guter  Schreiber  drängt  nicht  auf;  er  schont 
das  Wort  „sehr".  Einzelne  Meister,  Keller,  zu- 
Vi'eilen  Goethe,  lassen  ein  stilles  Zeitwort  des  Haupt- 
satzes sein  Licht  über  den  bedeutsamen  Gedanken 
breiten,  den  sie  bescheiden  in  einen  Nebensatz 
hüllen, 

tis  gibt  Menschen  und  Autoren  von  hohem  Ta- 
lent, deren  Reinheit  und  Güte  wir  bewundern  und 
die  uns  im  Innern  kühl  lasseri,  ja,  die  uns  selbst  ein 
wenig  wie  Schönfärber  und  Heuchler  vorkommen, 
obwohl  wir  wissen,  daß  sie  aufrichtig  sind. 

Meist  sind  sie  von  frommen  Eltern  in  ländlicher 
Umgebung  geboren  und  liebevoll  auferzogen;  Ar- 
mut gab  ihnen  einige  Kümmernis  und  übte  in 
Entsagung,  Natur  entschädigte  sie  tausendfach. 
Zur  rechten  Zeit  meldete  sich  der  Beschützer;  ein 
ernsteres  Studium  begann  nicht  ohne  Entbehrung; 
Lebenserfahrung  brachte  der  Umgang  mit  städti- 
schen abstoßenden  Elementen.  Das  Talent  tritt 
nach  außen  hervor  und  erfreut  die  hinfällig  ge- 
wordenen Eltern  durch  Erfolg;  der  Jüngling  genießt 
ihn  nicht,  denn  durch  die  erste  Liebe  erleidet  er 

24Q 


schöne  Schmerzen.  Sie  verfliegt ;  auch  war  das  Mäd- 
chen eitel  und  seiner  nicht  würdig.  Die  zweite 
Liebe  tritt  heran  und  beschert  ihm  seine  treue  Lebens- 
gefährtin. Nun  folgt  ein  gemächliches  Familien- 
leben, die  Reihe  der  Kinder  und  Werke  und  ein 
beglücktes  Alter. 

Glück  läßt  sich  nachempfinden,  aber  nicht  mit- 
teilen. Mit  dem  Ausblick  auf  Glück  kann  ein  ethi- 
sches Dichterwerk  schließen,  sein  Gegenstand  ist  es 
nicht;  und  jedes  Idyll  bleibt  gleichgültig. 

Deshalb  sind  uns  auch  die  Geschöpfe  der  zufrie- 
denen Künstler  gleichgültig;  sie  sind  männliche 
und  weibliche,  alte  und  junge  Abbilder  ihres  Er- 
zeugers. Wie  denn  überhaupt  alles  Mittlere  und 
Wohlgedeihende  nur  der  Abstufung  fähig  ist;  Cha- 
rakter und  Leidenschaft  bleibt  exzentrisch,  fehler- 
haft, monoman  und,  wie  die  Flamme,  nur  in  der 
Verzehrung  beglückt. 

Denen,  die  sie  für  böse  halten,  treten  die  Glück- 
lichen mit  kaltem  Erbarmen  und  widerwilliger 
Nachsicht  entgegen.  Sie  sind  zufrieden,  wenn  sie  die 
Eitelkeit  und  Falschhheit  dieser  sündhaften  Seelen 
entblößt  haben;  dann  werfen  sie  ein  dünnes  Gnaden- 
mäntelchen  um  ihre  Nacktheit  und  wenden  sich 
mit  verdoppelter  Liebe  zu  den  Kindern  des  Lichtes. 

Dreierlei  fehlt  diesen  freundlichen  Naturen  und 
trennt  sie  von  den  Großen:  die  abgründige  Liebe, 
die  sich  nicht  begnügt,  edle  Verirrte  zu  erlösen, 
sondern  in  die  verlorensten  Herzen  hineinleuchtet; 
das  dämonische  Element,  das,  nach  dem  Bilde 
des  goethischen  Ursymbols,  der  auferstandenen 
Brahmanin,  zugleich  die  Seele  des  Unschuldvollen 
und  des  Schuldbeladenen  in  sich  fühlt;  endlich 
die  Götterfreiheit,  die,  der  waltenden  Natur  ver- 

IV.  I»  241 


gleichbar,  nicht  wertet,  lobt  und  klagt,  sondern 
begreift,  belebt,  erhält  und  tötet,  nach  eigenen, 
übermenschlichen  Gesetzen. 

Alle  große  Kunst  der  Erde,  ja,  alles  große  Schaffen 
war  liebevoll,  dämonisch  und  frei. 


In  unsrer  Zeit  der  breiten  Zivilisation  blühen  die 
bürgerlichen  Talente.  Junge  Menschen,  durch 
feinere  Artung,  schwächere  Lebenskraft  mehr  zum 
Empfangen  und  Betrachten  bestimmt  als  zum  Faust- 
dienst des  Lebens,  solche  etwa,  die  in  früheren  Zei- 
ten geistlichem  Beruf  zugeführt  worden  wären, 
erkennen  und  ermessen  früh  den  eigenen  Gegensatz 
zur  beschränkteren  Umgebung.  Selbstbeobachtung 
und  reichlicher  Kunstgenuß,  Anerkennung  oder 
Abweisung  ihrer  jugendlichen  Ansprüche:  alles 
trägt  sie  empor  an  die  Oberfläche  des  heimischen 
Elementes,  das  ihnen  gleichgültig  und  unedel 
scheint.  Aufgetaucht,  aber  des  Fluges  noch  nicht 
fähig,  erblicken  sie  jetzt,  von  allen  Seiten  herbeige- 
eilt, ihresgleichen  im  Schwärm;  zu  Dutzenden,  zu 
Hunderten,  und  einerlei  von  wie  weit  heran- 
geschwommen: an  allen  erkennen  sie  das  gleiche, 
ihr  eigenes  Gesicht.  Nun  ringen  sie  miteinander  um 
Eigenart  oder  Individualität,  weil  diese  ein  Merkmal 
großer  Kunst  ist.  Wie  ernst  ist  dieser  neue  Kampf! 
Haus  und  Heimat  hat  sie  ausgestattet  und  gerüstet, 
widerstrebend  und  hoffnungsvoll  und  in  Sorgen ;  so 
gilt  es  Rechenschaft  und  Verantwortung. 

Gewiß  haben  diese  Menschen  schwere  Stunden, 
wenn  sie  träumen,  ihr  Talismann  sei  unecht.  Aber 
zur  Zuversicht  erweckt  sie  der  Lärm  der  Waffen 
und  der  Zuruf    der   Freunde.     So    kämpfen  sie, 

242 


glauben  an  sich  und  fordern  von  uns,  an  sie  zu 
glauben. 

Das  sind  die  Menschen,  deren  Bücher  wir  lesen. 

Aber  wir,  die  Leser,  blättern  nachdenklich  in 
diesen  Büchern  und  fühlen  uns  in  dieser  Kunst  nicht 
heimisch.  Es  ist  eine  Welt  unter  der  Lupe,  ein 
Marionettentheater  als  Weltbühne.  Alles  ist  über- 
setzt, auf  die  Spitze  getrieben.  Kleine  Erlebnisse 
und  Empfindungen  zu  Problemen  und  Ereignissen 
aufgeblasen,  halbfertige  Charaktere  ins  Licht  gesetzt 
und  zergliedert,  schwankende  Interessen  zu  Kon- 
flikten erhoben;  selbst  die  Sprache  scheint,  Satz 
vor  Satz,  eine  Übertragung  alltäglicher  Redensarten 
in  priesterlich  gehobene  oder  abgerissen  saloppe 
Mundart.  Wir  fühlen,  daß  diese  Literatur  auf  zahl- 
reichen Voraussetzungen,  Abmachungen  v>nd  Ge- 
wöhnungen ruht,  die  den  Berufsgenossen  geläufig, 
uns  fremd  sind,  ja,  wir  müssen  vermuten,  daß  diese 
Leute  nur  für  einander,  nicht  für  uns,  die  Leser, 
schreiben  wollten,  daß  sie  vielleicht  nur  einen  neuen 
Beweis  ihrer  Individualität  zu  geben  gesonnen 
waren.  Und  trotz  aller  Individualität  ist  es  immer 
wieder  dasselbe  Buch. 

Wie  könnte  es  anders  sein  ?  Diese  Menschen  sind 
talentvoll  aus  Schwäche.  Die  Schwäche  macht  sie 
empfänglich,  feinfühlig,  wählerisch  und  geschmack- 
voll. Die  Schwäche  sondert  sie  von  der  teilnahm- 
losen Brutalität  ihrer  Nächsten.  Die  Schwäche 
macht  sie  mitteilsam.  Die  Schwäche  ist  ihr 
Talent. 

Ohne  es  auszusprechen,  vielleicht  unbewußt, 
suchen  wir  heute  nach  Begabung  aus  Kraft,  die 
selten  ist  wie  ehedem.  Denkwürdiger  als  Literaten- 
literatur sind  uns  die  Empfindungen  und  Erlebnisse 


l6» 


243 


derer,  die  still  und  ernsthaft,  mit  klaren  Augen, 
tätig  oder  leidend  das  Leben  durchschreiten  und 
deren  Schicksal  ungekünstelt  erwächst,  so,  wie  die 
Luft  und  der  Boden  und  das  Samenkorn  eigener 
Veranlagung  es  fügt.  Aber  diese  Menschen  werden 
schweigsam  geboren;  und  vor  allem  frei  von  litera- 
rischem Ehrgeiz.  Was  Beobachtung  und  Gestal- 
tungskraft in  ihnen  wirkt,  bleibt  verborgen,  wenn 
nicht  ein  Schwank  beim  späten  Schoppen,  eine 
Taufrede  oder  ein  Wortgefecht  gelegentlich  einen 
teilnehmenden  Zuhörer  findet.  Manchmal  gelingt 
CS,  auf  langer  Wanderung  oder  nach  gemeinsamer 
Arbeit  einen  der  Schweigsamen  lebendig  zu  machen. 
Dann  erstaunen  wir  über  die  Welt  seiner  Erinne- 
rungen, die  Kraft  seiner  Bilder  und  die  Völligkeit 
seiner  Gedanken.  Denn  die  Gedanken  ganzer  Men- 
schen haben  etwas  körperlich  Greifbares:  man 
glaubt,  man  könne  sie  in  die  Hand  nehmen,  wägen 
und  von  allen  Seiten  betrachten.  Aber  diese  Men- 
schen schreiben  nicht.  Und  so  bleiben  die  Bücher, 
die  wir  lesen  wollen,  ungeschrieben. 

Die  geistig  arbeitenden  Menschen  kann  man 
in  folgende  Gattungen  teilen:  Privatdozenten,  das 
sind  solche,  die  sammeln  und  beweisen ;  Professoren, 
die  aus  Tatsachen  und  Versuchen  Theorien  machen; 
Rechtsanwälte,  die  dialektisch  überreden;  Pastoren, 
die  für  ein  Vorausgesetztes  Bestätigungen  finden; 
Denker,  die  den  Dingen  Sprache  geben. 

* 

In  eben  dem  Gegenbegriff  von  Glück  und  Leid 
gibt   es   noch   eine   zweite   Polarität   des  Lebens- 

244 


Schicksals,  die  man  als  Glückspotential  bezeichnen 
kann.  Bei  gleicher  Glückssumme  würde  der  Weiße 
mit  dem  Schwarzen,  der  Grieche  mit  dem  Barbaren, 
der  Freie  mit  dem  Sklaven  nicht  tauschen.  Auf 
dieses  Glückspotential  trifft,  durch  Generationen 
betrachtet,    die   indische   Lehre   vom    Karma    zu. 

1907 


245 


PHYSIOLOGISCHES  THEOREM 


f. 


Seit  Jahren  hat  kein  neueres  Buch  mich  so  er- 
griffen und  erfüllt,  wie  Frances  botanische! 
Werk:  Das  Leben  der  Pflanze. 

Einen  katalogisierenden  Wissenszweig,  der,  trocken 
und  farblos,  wie  die  armseligen  Mumien  seiner 
Herbarien,  mir  von  der  Schule  her  verleidet  war, 
sah  ich  verwandelt  in  eine  blühende  und  phantasie- 
volle Wissenschaft.  Die  Pflanzen  hatten  Leben  ge- 
wonnen; und  nicht  dies  allein:  sie  gaben  sich  selbst 
ihre  Formen  und  Gesetze,  sie  paßten  sich  an,  schütz- 
ten und  verteidigten  sich,  wanderten,  kämpften 
mit  Verfolgern  und  Rivalen,  schlössen  Bündnisse 
mit  Freunden  und  Feinden,  luden  sich  Gäste  und 
Hausfreunde,  traten  in  Tausch-  und  Verkehrs- 
beziehungen. Aber  noch  mehr :  die  ganze  organische 
Welt  schloß  sich  mit  ihren  Arten  und  Forma- 
tionen zu  einer  Einheit  zusammen,  die  aus  äußern 
und  innern  Gesetzen  ein  höchstes,  alles  beherr- 
schendes Gleichgewicht  erfüllte.  So  war,  wie  im 
Zeichen  des  Erdgeistes  erschaut,  aus  organischem 
Leben  das  Kleid  der  Gottheit  gewoben. 

Daß  bei  dieser  Betrachtung  die  Gesetze  der  Sym- 
biose, der  Verbindung  der  Organismen  zu  gemein- 
samem Leben  und  wechselweiser  Unterstützung  den 
stärksten  Eindruck  machen  mußten,  ist  nicht  ver- 
wunderlich. Er  hat  dazu  geführt,  daß  ich  mich  ge- 
zwungen sah,  die  symbiotische  Vorstellung  eine 
Zeitlang  fortzuspinnen,  und  schließlich  dazu  kam, 
in  jedem  höheren  Organismus  einen  Vorgang  dieser 
Art  zu  erblicken. 

In  diesem  Zustande  traf  es  sich,  daß  ich  einem 
unsrer  bedeutendsten  Fachgelehrten  meine  Zwangs- 

249 


Vorstellung  entwickeln  konnte,  daß  manches  dieser 
bildlichen  Denkweise  mit  seinen  Erfahrungen  zu 
stimmen  schien,  und  daß  er  mich  bestärkte,  den 
Gedankengang  festzulegen,  was  nicht  ohne  einige 
Beklommenheit  geschah. 

Denn  als  Physiker  bin  ich  zu  einer  starken  Abnei- 
gung gegen  spekulative  Hypothesen  erzogen,  als 
Techniker  gegen  laienhafte  Eingriffe  in  wissen- 
schaftliche Bezirke  bedenklich.  Vielleicht  liegt  die 
Möglichkeit  einer  Entschuldigung  im  Begriffe  des 
Theorems:  indem  ein  solches  eine  Anschauungs- 
weise bedeutet,  die  ihrer  Bildlichkeit  zufolge  prüf- 
bare Schlüsse  und  Gedankengänge  herausfordert, 
welche  vielleicht  in  ganz  andrer  Weise  und  an  ganz 
andrer  Stelle  aus  dem  Labyrinth  des  Irrtums  zutage 
führen. 

IL 

Man  hat  von  höhern  Organismen  als  von  Zellen- 
staaten gesprochen,  indem  man,  der  physika- 
lischen Auffassung  gemäß,  die  organische  Materie 
atomisierte  und  jedem  dieser  untrennbaren  Partikel 
ein  Partialleben  zuwies,  aus  deren  Summierung  sich 
das  Gesamtleben  des  Geschöpfes  ergab. 

Auf  der  andern  Seite  hat  die  bakteriologische 
Wissenschaft  die  Kenntnis  massenhaft  auftretender 
einfacher,  aber  selbständiger  Organismen  aufs 
höchste  gesteigert,  deren  Auftreten  auf  nicht  leben- 
den organischen  Nährböden  Spaltungen  chemischer 
und  mechanischer  Art,  auf  lebenden  Nährböden 
parasitäre,  unter  Umständen  krankhafte  Prozesse 
hervorruft. 

Das  Theorem,  von  dem  ich  spreche,  stellt  sich 
dar  als  eine  Synthese  dieser  beiden  Anschauungs- 

250 


weisen,  von  deren  jeder  es  sich  doch  wesentlich 
unterscheidet. 

Es  erscheint  nämlich  denkbar,  jeden  höhern 
Organismus  aufzufassen  als  eine  Lebensgemeinschaft 
verschiedenartiger,  ja  wesensfremder,  in  gegebenen 
Verhältniszahlen  auftretender,  selbständig  lebender 
Organismen,  die  sich  wechselseitig  unterstützen, 
unter  Umständen  auch  bekämpfen;  die  zum  Teil 
an  diese  Symbiose  gebunden  sind,  zum  Teil  aber 
auch  unter  andern  Assoziationen  ein  selbständiges 
Leben  führen  können.  Auch  Bakterien  werden  im 
Lebensverbande  der  Organismen  wirksam  sein  — 
die  Wurzelbakterien  der  Leguminosen  legen  hierfür 
Zeugnis  ab  —  und  somit  nicht  nur  indifferente  und 
schädliche,  sondern  in  hohem  Maße  nützliche  und 
notwendige  Aufgaben  erfüllen. 

Aus  den  Einzel-  und  Gesamtinstinkten  dieser 
Elementarorganismen  würden  diejenigen  Lebens- 
vorgänge sich  erklären  lassen,  die  den  Charakter 
eines  scheinbar  sinn-  und  zweckbewußten  Körper- 
willens tragen :  die  Anpassungsfähigkeiten  der  Orga- 
nismen an  physikalische  Bedingungen,  ihr  individu- 
elles Wachstum  in  zweckentsprechender  Form  und 
Richtung,  die  Überwindung  von  Störungen  und 
Schädigungen,  die  Prozesse  der  Wundheilung;  ja 
selbst  gemeinhin  die  Vorgänge  allgemeinster  physio- 
logischer Art,  Stoffwechsel  und  Wachstum,  würden 
in  neuem  Lichte  erscheinen. 

Aus  der  Periodizität  im  Leben  der  Elementar- 
organismen wären  herzuleiten  die  Periodizitäten 
des  Pflanzen-  und  Tierlebens,  wie  man  bereits  heute 
die  Periodizitäten  von  Krankheitserscheinungen  aus 
den  Lebenskreisläufen  der  Erreger  herleitet.  Auch 
die   Gesetzmäßigkeiten    in    der    Begrenzung    des 

25  J 


Individuallebens  dürften  aus  der  Summierung  der 
Generationsfolgen  im  Elementarleben  sich  ergeben. 
Endlich  würden  die  Beständigkeiten  und  Wandel- 
barkeiten der  Gattungen  und  Arten  aus  gegebenen 
Zusammensetzungen  und  ihren  Abwandlungen  her- 
vorgehen. 

Endlich  wäre  die  Lebenssymbiose  als  ein  Gleich- 
gewichtszustand teilweise  entgegenstrebender  Ele- 
mente aufzufassen,  die  sich  hierdurch  wechselseitig 
ihr  Maß  und  ihre  Begrenzung  setzen.  Die  Annahme 
solcher  Gleichgewichtszustände  ließe  hoffen,  zum 
Verständnis  der  Frage  zu  gelangen,  weshalb  die 
Dimensionierung  der  Individuen  verhältnismäßig 
konstant  bleibt. 


III. 

Vergegenwärtigt  man  sich  den  Zustand  der 
Symbiose  oder,  bildlich  gesprochen,  des  Staates 
gemeinsam  hausender  selbständiger  Individualorga- 
nismen,  im  Hinblick  auf  die  Störungen,  denen  er 
unterworfen  sein  kann,  so  ergibt  sich  zunächst,  daß 
der  Normalzustand  durch  ein  gegebenes  Bevölke- 
rungsverhältnis aller  Bewohnerelemente  bestimmt 
sein  muß.  Abgesehen  von  allgemeiner  Übervöl- 
kerung und  allgemeinem  Bevölkerungsmangel  — 
wie  solche  z.  B.  bei  dauerndem  Ernährungsmangel 
entstehen  kann  —  müssen  daher  zwei  Arten 
von  Störungen  typisch  sein :  einmal  die  Bevölkerungs- 
verschiebung, die  durch  Eindringen  feindlicher, 
parasitärer  Elemente  hervorgerufen  wird,  sodann 
die  abnorme  Verschiebung,  die  durch  einseitige 
Vermehrung  einer  einzelnen  Bevölkerungsschicht 
aus  inneren  Gründen  erfolgt:  etwa  weil  die  Gegen- 

252 


kräfte  der  übrigen  Elemente  sich  als  unzulänglich 
erweisen. 

Die  erste  Art  stellt  sich  uns  unter  dem  Bilde  der 
Infektionskrankheiten  dar;  ihre  wissenschaftliche 
Erforschung  und  Behandlung  ist  grundsätzlich 
bekannt. 

Die  zweite  Art  wäre  dadurch  erkennbar,  daß  sie 
jeder  bakteriologischen  Erforschung  und  Behand- 
lung widerstände,  und  nur  dann  eine  Heilung  zuließe, 
wenn  es  gelänge,  dem  Organismus  solche  Hemmungs- 
bedingungen organischer  oder  chemischer  Natur  zu- 
zuführen, die  das  Überwuchern  des  stärkeren  Ele- 
mentarorganismus   zum    Stillstand    brächten. 

Hier  hätte  die  pathologische  Erfahrung  einzu- 
setzen, und  zwar  mit  der  Beantwortung  der  Frage, 
ob  nach  dem  Stande  der  Wissenschaft  auf  das  Vor- 
handensein von  Vorgängen  der  zweiten  Art  ge- 
schlossen werden  kann.  Ist  dies  der  Fall,  so  wäre  die 
Möglichkeit  gegeben,  daß  aus  der  Erhebung  des 
dargelegten  Theorems  zur  Hypothese  ein  Nutzen 
für  die  Auffindung  weiterer  Forschungswege  er- 
wachsen könnte. 

1912 


253 


FRÜHERE  SCHRIFTEN 


ZUR  PHYSIOLOGIE  DER  GESCHÄFTE 


IV,  17 


Diese  Aufzeichnungen  entstammen  dem  Nach- 
laß des  jüngst  verstorbenen  kaiserlich  russischen 
Etatsrates  Nikolaus  von  der  Mühl,  meines  Oheims 
von  mütterlicher  Seite.  Sie  wurden  verfaßt  zu  einer 
Zeit,  wo  Herr  von  der  Mühl  in  mir  seinen  natürlichen 
Geschäftsnachfolger  sah,  und  sollten  mir  einen  Teil 
der  geschäftlichen  Erfahrung  des  alten  Herrn  über- 
mitteln. Als  Regierungsbeamter  aber  glaube  ich 
solcher  Praxis  nicht  zu  bedürfen,  zumal  ich  als  Haupt- 
beteiligter der  nunmehrigen  Aktienbank  „Von  der 
Mühl,  Goldschmidt  &  Co."  in  Petersburg  die  Lei- 
tung der  Geschäfte  einem  Direktorium  überlassen 
konnte,  dessen  Sitzungen  mehrmals  im  Jahre  zu 
präsidieren  mir  genügt.  Dadurch,  daß  ich  die  Blätter, 
die  für  mich  den  Wert  einer  Erinnerung  haben,  der 
Öffentlichkeit  übergebe,  glaube  ich,  eine  Pflicht  dem 
Verstorbenen  gegenüber  zu  erfüllen.  Ob  die  darin 
niedergelegten  Meinungen  geeignet  sind,  Personen 
des  Handels-  und  Gewerbestandes  vorteilhaft  zu  be- 
einflussen, bleibe  dahingestellt.  Daß  ich  selbst  mit 
einer  Anzahl  der  Theoreme  mich  zu  identifizieren 
nicht  vermag,  ergibt  sich  aus  den  Voraussetzungen 
meines  Berufes.  Wenn  ich  trotzdem  mit  wenigen 
Auslassungen  und  Kürzungen  es  genügen  ließ  und 
den  oft  allzuleicht  geschriebenen  Text  im  wesent- 
lichen unverändert  beibehielt,  so  leiteten  mich  nahe- 
liegende persönliche  Empfindungen. 

Dr.  F.  W.  Schulze  von  der  Mühl, 
Reg.-Ass. 


17» 


259 


VON  GESCHÄFTEN  INSGEIVIEIN 

Wenn  ich.  solche  Handlungen  ausnehme,  die 
geradeswegs  auf  Befriedigung  der  Instinkte 
gerichtet  sind,  so  liegt  in  allem,  was  wir  mit  dem 
Blick  auf  ein  bestimmtes  Ziel  beginnen,  ein  Ge- 
schäft. Ich  verlasse  abends  mein  Bureau,  miete  einen 
Wagen  und  fahre  zu  Krestowskij  oder  nach  Arkadia : 
es  ist  ein  Geschäft.  Ich  bestelle  ein  Diner:  es  ist 
ein  Geschäft.  Ich  begegne  meinem  Freunde  Davi- 
dow  oder  meinem  Konkurrenten  Meyerstein  und 
lade  ihn  ein,  teilzunehmen:  abermals  ein  Geschäft 
(meist  ein  schlechtes).  Wif  fordern  ein  paar 
schwarz  gekleidete  Zigeunerinnen  auf,  uns  ein  Lied 
zu  singen,  oder  wir  kehren  nach  dem  Klub  zurück, 
um  eine  Partie  zu  machen:  immer  wieder  ein  Ge- 
schäft. Der  Schriftsteller,  der  einen  Roman  ersinnt, 
der  Maler,  der  ein  Bild  entwirft,  der  Sänger,  der 
eine  Arie  übt:  jeder  von  ihnen  fängt  ein  Geschäft 
an,  das,  wenn  es  gut  geht,  im  Kontor  des  Verlegers, 
des  Kunsthändlers  oder  des  Theaterdirektors  zum 
Abschluß  gebracht  wird. 

Man  macht  Geschäfte;  aber  man  scheut  sich, 
davon  zu  sprechen..  Ist  es  Schamhaftigkeit  ?  Man 
unterhält  sich  von  den  Eigenartigkeiten  der  Ver- 
dauung, von  körperlichen  Gebrechen  und  fleisch- 
lichen Gelüsten,  aber  man  verschweigt  die  Mitgift 
seiner  Frau  und  die  Höhe  seines  Einkommens.  Wir 
möchten  gern  menschlich  groß  erscheinen:  ganz 
Wille,  Geist,  physische  Kraft.  Der  Erfolg  unsers 
weltlichen  Tuns  soll  uns  wie  eine  unfreiwillige 
Aureole  umglänzen,  etwas,  das  eher  gegen  unsern 
Wunsch  als  durch  unser  Mühen  entstanden  ist, 
etwas,  unter  dem  wir  leiden.   Wir  möchten  das,  wo- 

260 


nach  wir  streben,  als  eine  Dornenkrone  bewundert 
sehen,  eine  Last,  die  uns  schmerzlich  von  den 
übrigen  Menschen  scheidet.  Nur  das  Altererbte, 
Vorzeit-  und  Sagenhafte  versöhnt  uns,  und  wir  selbst 
verzeihen  allenfalls  unsern  Großvätern  das,  was  wir 
selbst  nicht  gern  uns  vorwerfen  lassen. 

Ich  muß  gestehen,  daß  ich  mich  von  solchen  Vor- 
urteilen nicht  ganz  frei  fühle.  Den  Schlag  der  Self- 
mademen, zu  dem  ich  mich  zählen  muß,  liebe  ich 
nicht;  und  wenn  sich  einer  seiner  mangelhaften 
Erziehung  rühmt  und  mir  die  unveränderliche 
Geschichte  von  dem  Sack  und  den  zwei  Talern  er- 
zählt, mit  denen  er  vor  fünfzig  Jahren  in  die  Stadt 
einzog,  so  fühle  ich  die  Versuchung,  ihm  zu  erwidern : 
„Nun,  mein  Lieber,  und  was  hat  sich  geändert?" 

* 

Mein  Freund,  der  Bildhauer  Simon  Simonowitsch, 
wirft  mir  vor,  Geld  zu  verdienen,  sei  der  einzige 
Zweck  aller  Geschäfte.  Statt  zu  antworten,  pflege 
ich  ihn  zu  fragen,  wie  hoch  er  eine  seiner  meister- 
haften Schachpartien  spiele.  Dann  erklärt  er  mir 
entrüstet,  zwischen  Gewinnen  und  Gewinn  sei  ein 
Unterschied. 

Wenn  ein  Monarch  die  Grenzen  seines  Landes 
zu  erweitern  oder  ein  Staatsmann  oder  Militär  einen 
höheren  Rang  zu  erklimmen  strebt,  so  hat  er  den  Ver- 
dacht der  Gewinnsucht  kaum  zu  fürchten,  obwohl 
mit  dem  Zuwachs  an  Macht  auch  materielle  Vor- 
teile sich  einzustellen  pflegen.  Aber  ein  Geschäfts- 
mann mag  Unternehmungen  schaffen  oder  Kirchen 
bauen,  Kolonien  gründen  oder  Stiftungen  errichten: 
es  ist  außer  jedem  Zweifel,  daß  er  nur  die  Erhöhung 
seiner  Renten  im  Auge  hat. 

261 


Ich  denke  anders.  Ich  würde  neun  Zehntel 
meiner  Renten  opfern,  um  unbesoldeter  Leiter 
der  Bank  von  England  oder  Vermögensverwalter 
der  Rothschilds  zu  sein,  denn  mich  lockt  die  Auf- 
gabe, nicht  das  Ergebnis.  Bei  meinen  Geschäften 
habe  ich  stets  an  die  Stärkung  und  Erweiterung 
meiner  Unternehmungen,  nie  an  die  Folge  des 
Geldgewinnes  gedacht.  Den  habe  ich  mich  ge- 
wöhnt als  eine  selbstverständliche  und  nebensäch- 
liche Form  meines  Handelns  zu  betrachten,  als 
einen  gebührenden  Tribut  eroberter  Gebiete,  die 
aus  höhern  Gründen  unterjocht  werden  mußten. 
War  es  bloßes  Streben  nach  Macht?  Vielleicht; 
wenn  man  unter  Macht  die  Herrschaft  über  Dinge, 
nicht  über  Menschen  versteht.  Die  über  Menschen 
hat  mich  nie  beglückt,  denn  ich  liebe  Servilismus 
und  Schmeichelei  nicht  als  Zuschauer,  noch  weniger 
als  Betroffener.  Dagegen  hat  es  mir  jedesmal  eine  Art 
von  Befriedigung  gewährt,  wenn  ich  die  Gegenden 
am  Don  bereiste,  die  ich  einst  als  Steppen  und 
Wüsteneien  gekannt  hatte.  Wenn  ich  die  neu  ent- 
standenen Ortschaften  zu  Städten  anwachsen  sah, 
angefüllt  mit  Menschen,  die  aus  den  Tiefen  des 
kargen  Bodens  ihre  Kräfte  sogen,  wenn  tausend 
Maschinen  ihre  Räder  rollten  und  hundert 
Kaminsäulen  ihre  Rauchopfer  brachten,  dann  er- 
innerte ich  mich  gern,  daß  es  eine  gewagte  Idee  ge- 
wesen war,  in  dieser  verachteten  Gegend  Hütten- 
werke zu  errichten,  und  ich  freute  mich,  zurück- 
blickend, der  Sorgen  und  Ängste,  mit  denen 
jede  Handbreit  dieses  Landes  befruchtet  werden 
mußte. 


262 


Vierzig  Jahre  lang  habe  ich  mich  gefragt,  aus 
welchem  Grunde  die  Menschen  das  Geldverdienen 
als  Beruf,  oft  als  Leidenschaft  pflegen.  Die  Selbst- 
erklärungen der  pathologisch  Behafteten  haben  mich 
ergötzt;  ich  stelle  sie  in  eine  Reihe  mit  denen  der 
Briefmarkensammler. 

Die  einen  sagen:  Wir  wollen  unsern  Unterhalt 
sichern.  Dabei  sind  sie  sechzig  Jahre  alt  und  können 
ebensowenig  mehr  ihre  zwei  Millionen  ausgeben  wie 
die  dritte,  für  die  sie  sich  opfern. 

Die  andern  behaupten:  Wir  wollen  für  die  Zu- 
kunft unsrer  Kinder  sorgen.  In  Wirklichkeit  über- 
legen sie  sich  noch  auf  dem  Totenbett,  ob  es  nicht 
besser  sei,  ihr  Testament  umzustoßen  und  eine 
Stiftung  zu  bedenken  statt  ihrer  Söhne,  die  vielleicht 
das  Bluterbe  in  alle  Winde  streuen  werden. 

Ich  sehe  nur  zwei  Erklärungen  für  das  Scharren 
und  Kratzen :  zunächst  die  Sammelwut,  Ein  Samm- 
ler kann  sich  zu  jeder  Zeit  mit  jedem  andern  Samm- 
ler vergleichen  und  zahlenmäßig  sein  Wertverhältnis 
feststellen.  Ein  Mensch,  der  seinen  Wert  in  unwäg- 
baren Vorzügen  sucht,  kann  das  nicht.  Geld  aber  ist 
das  ideale  Sammelobjekt,  denn  es  ist  selbst  nichts 
andres  als  eine  Vergleichsgröße,  ein  Maß,  ein  Skalar. 
Ich  kannte  einen  geisteskranken  Finanzmann,  der, 
in  gesundem  Zustande  flach  und  unbedeutend,  wäh- 
rend seiner  Anfälle  ein  hervorragender  Geschäfts- 
mann war.  Oft  ging  ich  mit  ihm  über  den  Newski- 
Prospekt,  und  ich  erinnere  mich,  wie  er  mir  einmal  auf 
der  Polizeibrücke  sagte :  „Sehen  Sie,  heute  bin  ich  ver- 
gnügt. Unter  den  tausend  Menschen,  denen  wi?begeg- 
net  sind,  war  nicht  einer,  der  halb  soviel  Geld  hat  wie 
ich."  Ich  glaube,  es  war  einer  seiner  lichten  Momente. 

Die  zweite  Erklärung  ist  eine  Art  postumen  Ehr- 

263 


geizes.  Sind  doch  die  meisten  Besitztümer  postume 
Freuden,  die  zu  genießen  oder  vielmehr  vorauszu- 
schmecken  nur  mit  einem  guten  Schuß  Glauben 
und  Aberglauben  möglich  ist.  In  dieser  Hinsicht  läßt 
sich  neben  die  Hoffnung  der  Dichter,  Philosophen 
und  Künstler  auf  Anerkennung  späterer  Geschlechter 
die  Freude  an  einer  überraschenden  Testaments- 
eröffnung einordnen.  Eine  ältere  Dame  meiner 
Verwandtschaft  war  von  so  abschreckendem  Geiz, 
daß  ich  ihr  wider  Gewohnheit  Vorhaltungen  machte. 
Sie  widerlegte  mich  kurz,  indem  sie  mir  erklärte: 
„Von  Genüssen  des  Lebens  erwarte  ich  nichts  mehr. 
Wenn  aber  mein  Testament  einmal  zum  Vorschein 
kommt,  und  meine  guten  Freunde  sich  über  das 
ärgern,  was  ich  hinterlassen  habe,  so  werde  ich  zum 
letztenmal  ein  wirkliches  Vergnügen  empfinden." 
Ein  geistig  Freier  wird  das  Anwachsen  seines 
Vermögens  nur  als  eine  annehmbare  Nebenwirkung 
seiner  Tätigkeit  beobachten,  mit  demselben  Gefühl 
etwa,  mit  dem  ein  Gutsbesitzer  in  seinen  Nutz- 
forsten erquickliche  Spaziergänge  entdeckt;  und 
wenn  er  an  einem  Teil  seines  Vermögens  festhält, 
so  wird  es  der  Rest  sein,  der  ihm  gesellschaftliche 
Unabhängigkeit,  weiße  Wäsche  und  die  Erziehung 
seiner  Kinder  sichert. 

VON  GUTEN  UND  SCHLECHTEN  GESCHÄFTEN 

„Ehrlich  wihrt  am  längsten." 

Mein  verstorbner  Sozius  sagte:  „Es  gibt  nur 
gute  Geschäfte."  Das  ist  so  falsch  wie  alle  ein- 
leuchtenden Wahrheiten.  Keine  Meinung  hat  so  sehr 
zur  Entehrung  des  Handels  beigetragen  wie  die,  daß 
jedes  gute  Geschäft  auf  Kosten  und  zum  Schaden 

264 


eines  Partners  geYnacht  sein  müsse.  Ich  behaupte, 
daß  Geschäfte  dieser  Art  durchaus  nicht  gut,  son- 
dern schlecht  sind;  schlecht  schon  deshalb,  weil  sie 
sich  nicht  beliebig  wiederholen  lassen.  Ich  kann  bei 
ausreichender  Tüchtigkeit  einen  schwarzen  Filz 
und  einen  leinenen  Lappen  als  Hut  Napoleons 
und  als  Schnupftuch  der  Königin  Elisabeth  ver- 
kaufen, und  wenn  ich  Glück  habe,  kann  ich  den 
Versuch  zwei-,  dreimal  erneuern.  Ich  zweifle  aber, 
ob  es  möglich  ist,  auch  nur  die  Hälfte  sämtlicher 
Antiquare  Europas  mit  solchen  Kuriositäten  zu  ver- 
sorgen. Mit  gleichem  Aufwand  an  Intelligenz,  Ar- 
beitskraft, Überredungskunst  hätte  ich  ausgedehn- 
tere und  einträglichere  Absatzgebiete  schaffen 
können,  nämlich  dann,  wenn  ich  wirklichen  Bedürf- 
nissen wirkliche  Erfüllungen  gebracht  hätte.  Dai 
Geschäft  war  schlecht. 

Es  gibt  Geschäfte,  die  für  beide  Teile  ungün- 
stig sind,  wie  solche,  die  beiden  nützen.  Es 
ist  deshalb  ein  törichter  Aberglaube,  anzunehmen, 
daß  die  Interessen  beider  Parteien  einander  ent- 
gegengesetzt sein  müssen,  und  daß  dem  einen  nur  das 
von  Vorteil  ist,  was  den  andern  schädigt.  Zwei 
Beispiele:  Für  ein  Fabrikterrain  bietet  mir  ein 
Bauunternehmer  einen  reichlichen  Preis,  der  ange- 
messen scheint,  weil  die  Lage  für  sein  Unternehmen 
ungewöhnlich  günstig  ist.  Das  Geschäft  kommt  zu- 
stande, aber  die  Bahnhofsanlage  erweist  sich  als  ver- 
fehlt. Gleichzeitig  merke  ich,  daß  mir  für  eine 
Erweiterung  meiner  Fabrik  der  Platz  fehlt,  weil  ich 
das  Grundstück  leichtsinnig  weggegeben  habe.  Wir 
haben  beide  die  wahren  Bedürfnisse  verkannt  und 
das  Geschäft,  das  für  beide  Teile  eine  glückliche  Kom- 
bination zu  sein  schien,  ist  für  beide  Teile  schlecht, 

265 


Umgekehrt :  Ein  Kaufmann  sieht,  daß  sein  altein- 
gesessenes Ladengeschäft  zurückgeht.  Er  hat  es 
ererbt  und  ist  bereit,  es  zu  beliebigem  Preise  los- 
zuschlagen, weil  er  erkannt  hat,  daß  für  seine 
Ware  kein  genügender  Bedarf  mehr  vorhanden  ist. 
Ein  Konkurrent  glaubt,  unter  der  bewährten  Firma 
einen  neuen  Artikel  erfolgreich  vertreiben  zu  können, 
dem  er  bis  dahin  nicht  die  rechte  Beachtung  ver- 
schaffen konnte.  Er  erwirbt  das  Unternehmen ;  nach 
Ansicht  der  Zunftleute  viel  zu  teuer.  Trotzdem 
haben  beide  ein  gutes  Geschäft  gemacht :,  der  eine 
hat  sich  vor  dem  Ruin  bewahrt  und  einen  Betrag 
erhalten,  auf  den  er  nicht  rechnen  konnte;  der  andre 
hat  ein  an  sich  zu  teures  Anwesen  durch  eine  glückliche 
Kombination  in  ein  preiswertes  verwandelt.  Beide 
haben  vorhandene  Bedürfnisse  erkannt  und  befriedigt. 

* 

Bedürfnisse  erkennen  und  Bedürfnisse  schaffen, 
ist  das  Geheimnis  alles  wirtschaftlichen  Handelns. 
In  großen  deutschen  Städten  gibt  es  fast  in  jeder 
Straße  ein  Schreibwarengeschäft.  Angenommen, 
ich  empfinde  den  unbezwinglichen  Drang,  zu  den 
neunhundertfünfzig  bestehenden  das  neunhundert- 
einundfünfzigste  zu  fügen,  und  errichte  es  in  ange- 
messener Nähe  eines  tüchtigen  Konkurrenten,  ohne 
sonst  Neues  zu  ersinnen :  welches  Recht  habe  ich  mir 
erworben  und  welchen  Nutzen  habe  ich  gestiftet  ? 
Vielleicht  kann  ich  den  Gewinn  meines  Vorläufers 
schmälern  und  dem  Handlungsgehilfen  aus  dem 
Nebenhause,  der  alle  vierzehn  Tage  Stahlfedern  ein- 
kauft, zwei  Minuten  Weges  ersparen.  Sicherlich 
werde  ich  über  die  Not  des  Mittelstandes  klagen  und 
gesetzliche  Hilfe  fordern.    Das  ist  alles;  und  im 

266 


übrigen  tue  ich  gut  daran,  mir  rechtzeitig  ein  Exem- 
plar der  Konkursordnung  anzuschaffen.  Das  Gegen- 
teil dessen,  was  ich  versuchte,  war  Bedürfnis.  Der 
Handlungsgehilfe  aus  dem  Nebenhause  ist  durch 
mich  nicht  zufriedener  geworden,  denn  er  braucht 
eine  ganz  besonders  geartete  Sorte  (man  kann  nicht 
alle  Artikel  führen)  und  mußte  deshalb  ein  andres 
Geschäft  aufsuchen.  Gut,  daß  ich  ihm  wenigstens 
ein  paar  vorjährige  Neujahrskarten  aufschwatzen 
konnte.  Übrigens  mußte  er  an  jenem  Tage  noch 
zwei  längere  Wege  machen,  denn  er  wünschte  eine 
Bartbinde  und  eine  Zigarrenspitze  zu  erwerben,  mit 
denen  ich  ihm  nicht  dienen  konnte.  Hätte  ich  hin- 
gegen ein  Warenhaus  errichtet,  so  konnte  der  Hand- 
lungsgehilfe nicht  allein  Schreibfedern,  Bartbinden 
^nd Zigarrenspitzen,  sondern  aucli Stiefelwichse, ein- 
gemachte Früchte  und  seidene  Jupons  finden  — 
und  alles  ohne  Kaufzwang,  nasse  Füße,  Zeitverlust 
und  viermaliges  Pferdebahnfahren.  Allein  meine 
Phantasie,  Initiative  und  Kapitalkraft  reichten  nicht 
weiter  als  bis  zur  blöden  Nachahmung  einer  ab- 
gebrauchten Formel;  deshalb  hätte  ich  besser  getan, 
mich  beim  nächstbesten  Warenhause  um  eine  Stelle 
zu  bewerben  und  mich  einer  kräftigen  Organisation 
und  Willenskraft  zu  fügen,  statt  durch  das  Streben 
nach  unverdienter  Selbständigkeit  mich  und  den 
Wohlstand  des  Landes  zu  schädigen. 

Solange  die  Genüsse  des  Lebens  nur  einigen  Tau- 
senden gegönnt  sind,  solange  es  hungrige,  schlecht 
gekleidete,  mangelhaft  unterrichtete,  kranke  und  un- 
frohe Menschen  gibt:  so  lange  gibt  es  Bedürfnisse, 
die  Geschäfte  ermöglichen  und  Geschäfte  verlangen. 
Und  werden  nicht  neue  Bedürfnisse  täglich  ge- 
schaffen ?  Vor  zwanzig  Jahren  fiel  das  zweite  Empire 

267 


und  mit  ihm  sein  Symbol:  die  Krinoline.  Es  ist  be- 
kannt, daß  bedrängte  Händler  und  Fabrikanten  von 
Stahlreifen  sich  dadurch  aus  der  Not  halfen,  daß  sie 
ein  allerliebstes  Spielzeug  erfanden.  Es  hieß  Cricri 
und  befriedigte  das  neu  erwachte  Bedürfnis  nach. 
Mißklang  und  Unfug  so  gut,  daß  es  erst  von  der 
Erde  verschwand,  nachdem  alle  Stahlreifenmänner 
Millionäre  geworden  und  alle  nervenschwachen 
Europäer  gestorben  waren.  Und  wie  war  es  mit  den 
Ansichtspostkarten  ?  Und  dem  Rauchtabak  ?  Und 
den  Fahrrädern,  Schreibmaschinen,  Nähmaschinen, 
Photographien,  Petroleumlampen,  Kinderwagen, 
Telephonen,  Telegraphen,  Eisenbahnen,  Dampf- 
maschinen ?  Torheit  und  Genialität,  Trägheit, 
Genußsucht,  Mitleid  und  Eigennutz  reichen  ein- 
ander täglich  die  Hand,  um  uns  Bedürfnisse  zu 
schaffen,  zu  erneuern  und  zu  verwandeln.  Und  ihr, 
die  ihr  euch  rühmt,  jede  Lokalanzeige  und  jede 
Reporterneuigkeit  zu  kennen,  wollt  in  dem  unend- 
lichen Rädergetriebe  keine  Speiche  entdecken,  die 
ihr  packen  könnt? 

VON  GESCHÄFTSLEUTEN 

In  Romanen  findet  man  mitunter  die  Beschrei- 
bung des  Machthabers  der  Geschäftswelt.  Ein  vor- 
nehmer älterer  Herr  mit  grauem  Backenbart  und 
noblen  Gerätschaften :  Arbeitskabinett,  Ledersesseln, 
Eisbärenfell,  schweren  Havanas.  Der  Sekretär  er- 
scheint, berichtet,  und  blitzschnell  werden  Be- 
fehle und  Depeschen  diktiert.  Eine  Kreuzung  aus 
Diplomat  und  Feldherr. 

*-  Gewiß,  ich  kenne  einige  Vertreter  dieser  Art. 
Der  mit  dem  Diplomatengesicht  ist  in  der  Regel 

268 


ein  guter  Unterhändler  und  Agent,  der  mit  dem 
Feldherrnblick  ein  geschickter  Börsenjobber.  Große 
Geschäftsleute  sind  beide  nicht.  Ein  Geschäftsmann 
großen  Stils,  ein  Schöpfer  und  Erhalter  großer  Un-, 
ternehmungen  scheint  mir  eher  mit  dem  Bauern 
und  Landwirt  verwandt  zu  sein;  fast  immer  ist  er 
geringer  Abkunft  und  selten  als  Großstädter  geboren. 
Starker  Knochenbau,  starke  Hände,  schwere  Züge, 
ncrvenfreies  Temperament.  Einem  Menschen  mit 
spitzen  Fingern,  steiler  oder  liegender  Handschrift 
und  flackerndem  Blick  würde  ich  schwerlich  meine 
Interessen  anvertrauen.  Ebensowenig  einem,  der 
zu  schnell  und  zu  geschickt  spricht. 

Die  Eigenschaften,  die  verlangt  werden,  sind  Fleiß, 
Übersicht,  und  Gedächtnis.  Herzensgüte  schadet 
nicht,  Jähzorn  ist  gut.  Gefährlich  ist  allgemeine 
Bildung;  ich  kenne  nur  wenige,  die  über  den  Schatz 
ihrer  Kenntnisse  nicht  gestrauchelt  sind. 

Fleiß!  Ich  fühle  mich  beklommen  durch  die 
Banalität  der  Ansichten,  die  ich  über  diese  Tugend 
zu  sagen  habe.  Aber  in  unsrerZeit  der  trägen  Genies 
ist  es  nötig,  manchmal  daran  zu  erinnern,  daß  eine 
Meinung  nicht  wahr  zu  sein  braucht,  weil  sie  para- 
dox ist,  noch  falsch  sein  muß,  weil  unbefangene 
Menschen  daran  glauben. 

Ein  junger  Mann  aus  guter  Familie  lobte  mir 
leine  Begabung  und  fragte  mich,  was  er  im  kauf- 
männischen Beruf  verdienen  könne  unter  der  Be- 
dingung, daß  er  täglich  nur  fünf  Stunden  arbeite. 
Ich  antwortete  ihm,  daß  in  Geschäften  die  Arbeits- 
zeit nur  von  der  siebenten  Stunde  aufwärts  bezahlt 
wird,  und  veranlaßte  ihn,  in  den  Staatsdienst  zu 
treten.  Meine  Beamten  pflege  ich  darauf  hinzu- 
weisen, daß  ich  sie  für  ihre  Arbeit  bezahle  und  für 

269 


ihre  Mußestunden  avancieren  lasse.  Denn  alle  nutz- 
bringenden Gedanken,  alle  Neuerungen  und  Fort- 
schritte kommen  in  der  Abgeschiedenheit  der  Feier- 
zeit zur  Welt,  nicht  unter  dem  Scharren  der  Federn 
und  dem  Lärm  der  Verhandlungen ;  und  wer  mit  der 
Radlermütze,  der  Jagdjoppe  oder  den  Filzpantoffeln 
einen  neuen  Menschen  und  ein  frisches  Gehirn  an- 
zieht, der  darf  nicht  den  Ehrgeiz  haben,  neue  Wege 
zu  wandeln. 

Nein:  leider  genügt  es  nicht,  am  Schreibtisch 
zwischen  zwei  guten  Zigarren  große  Ideen  zu 
ersinnen,  die  nachher  durch  Sekretäre  und  Direk- 
toren ausgeführt  werden.  Dem  selbsttätigen  Ge- 
schäftsmann großen  Maßes  vergeht  der  Tag  zwischen 
Anfragen  und  Antworten,  Besuchen,  Verhandlun- 
gen, Akten  und  Statistiken,  Rechnungen  und  Be- 
richten, Beschwerden,  Streitigkeiten,  Personalien, 
Rechtsgutachten,  Besichtigungen  —  kurz,  im 
Suchen,  Forschen,  Fragen,  Prüfen,  Wägen :  und  ach, 
nur  ein  Tausendstel  von  dem,  was  er  tut,  ist  Handeln. 

* 

Ich  pfeife  auf  das,  was  man  die  großen  Ideen 
nennt.  Sie  liegen  auf  der  Straße.  Sie  kommen  zu 
Dutzenden,  dieses  Gesindel,  wenn  wir  träumen, 
wenn  wir  verdauen  oder  wenn  wir  Erholung  suchen. 
Und  das  ist  ihre  rechte  Zeit  und  ihr  rechter  Ort; 
am  Feierabend  mag  man  ein  paar  Stunden  ihren 
großen  Reden  und  hohen  Gebärden  verschenken. 
Es  ist  nichts  leichter,  als  zu  sagen :  bauen  wir  eine 
Bahn  quer  durch  Asien,  vereinigen  wir  alle  Petro- 
leumqu eilen  der  Erde,  lenken  wir  die  Goldflüsse 
Belgiens  und  Frankreichs  durch  russische  Industrie- 
kanäle,  erschließen  wir  ungemessene  Landgebiete 

270 


Amerikas  durch  Ansiedlung,  Verkehrsmittel  und 
Städtebau.  Ich  stelle  mir  vor:  ein  Industriekönig 
liest  in  seiner  eignen  Biographie,  wie  der  „große 
Gedanke"  Seines  Lebens  erklärt,  erläutert  und  ge- 
feiert wird.  Wie  muß  der  Ehrliche  über  die  Gläubig- 
keit der  Chronisten  lachen!  Denn  die  große  Idee 
war,  als  er  sie  aufgriff,  eine  zehnmal  breitgetretene 
Plattheit,  ein  Erbstück,  ein  Gemeingut  aller  Ver- 
nünftigen: was  gefehlt  hatte,  war  der  Mann,  der 
Wille,  der  Fleiß,  die  Ausdauer.  Und  war  Genialität 
dabei  nötig,  so  war  es  die  Genialität  der  tausend 
Mittel,  der  tausend  Auswege  und  Umwege,  der 
Überzeugungskraft    und    der    Halsstarrigkeit. 

Ich  hasse  die  geistreichen  Gedanken  und  miß- 
traue den  glänzenden  und  paradoxen  Worten.  Oft 
bekomme  ich  Briefe,  knapp  gefaßt,  lebhaft  ge- 
schrieben, die  im  voraus  alle  Einwendungen  wider- 
legen und  mathematisch  unantastbar  folgern — : 
Vorsicht !  Es  sind  Blumen  auf  Draht.  Ich  kenne  die 
Versuchung,  die  zumal  an  jüngere  Menschen  in 
leitender  Stellung  herantritt,  von  zwei  Entschei- 
dungen die  geistreichere  zu  wählen.  Du  leitest  eine 
Sitzung.  Ein  halbes  Dutzend  abhängiger  Leute  um- 
gibt dich,  verpflichtet  und  bereit,  auf  deinen 
Gesichtsausdruck  hin  zu  lächeln,  zuzustimmen,  die 
Köpfe  zu  schütteln  oder  sich  zu  entrüsten.  Natür- 
lich ist  es  unterhaltend,  eine  ernste  Frage  durch  ein 
Epigramm  zu  erledigen,  einen  Menschen  mit  einer 
Grimasse  zu  verurteilen,  und  du  erntest  den  Beifall, 
den  du  ersehnst,  auf  der  Stelle,  Zug  um  Zug.  Aber 
vergiß  nicht,  daß  die  Werkzeuge,  die  deine  Fehler 
in  die  Wirklichkeit  zu  übertragen  berufen  sind,  sich 
in  alle  Winde  zerstreuen,  wenn  die  Saat  deiner  Tor- 
heit aufgeht,  und  dir  allein  die  Verantwortung  vor 


271 


die  Füße  werfen.  Friedrich  der  Große  hatte  das 
Recht,  witzige  Randschriften  zu  machen,  denn 
er  war  ein  preußischer  und  absoluter  König.  Aber 
man  wird  beim  ersten  Blick  finden,  daß  die  geist- 
reichsten Entscheidungen  meist  die  unwichtigsten 
Sachen  betrafen,  und  bei  näherer  Prüfung,  daß  sie 
nicht  immer  die  gerechtesten  waren. 

Die  Freude  an  salomonischer  Geschäftsweisheit 
habe  ich  verloren  in  der  Schule  meines  ersten  Lehr- 
meisters und  Brotherrn,  der  ein  stiller  und  spieß- 
bürgerlicher Mann  und  einer  der  ersten  Finanz- 
männer seiner  Zeit  war.  Er  war  Bankier  und  sah 
einen  großen  Teil  des  Nationalvermögens  jahraus, 
jahrein  durch  seine  Hände  fließen;  aber  sein  Beruf 
hatte  ihn  mit  einer  solchen  Abneigung  gegen  Geld 
und  Reichtum  gesättigt,  daß  er  vermeiden  lernte, 
sich  ein  Vermögen  zu  schaffen,  und  seinen  Wunsch, 
mittellos  zu  sterben,  erfüllt  sah.  Er  war  das  Gegen- 
teil eines  Diplomaten.  Wenn  eine  große  grundsätz- 
liche Frage  ihn  beschäftigte,  so  zog  er  jeden  zu  Rat, 
der  ihm  in  den  Weg  kam.  Er  sprach  davon  mit  seinen 
Angestellten,  mit  seiner  Frau,  mit  seinen  Konkur- 
renten, womöglich  mit  seinem  Diener,  so  etwa,  wie 
es  den  Juden  vorgeschrieben  ist,  über  das  Gesetz  zu 
reden :  „Wenn  du  sitzest  und  wenn  du  gehest,  wenn 
du  dich  legest  und  wenn  du  aufstehst."  Er  ließ  nicht 
nur  alle  Einwendungen  gelten,  sondern  er  berichtete 
gewissenhaft  jedem  Nächstfolgenden,  was  der  Vor- 
hergehende gesagt  hatte.  Zuletzt,  oft  nach  Wochen, 
wenn  keiner  mehr  an  die  Sache  dachte,  kam  er  mit 
seinem  Vorschlag.  Ungeschickt  vorgetragen,  mit 
langen  Ausschweifungen  nach  rechts  und  links, 
machte  seine  Lösung  den  Eindruck  von  etwas  höchst 
Trivialem,  Uninteressantem,  Selbstverständlichem, 

272 


ähnelte  manchem,  was  lang  und  breit  besprochen 
war  —  und  war  doch  nicht  ganz  dasselbe.  Ohne 
Geräusch  wurde  die  Richtlinie  befolgt,  und  meist 
viel  später  erst  wurde  deutlich,  welche  Ausblicke  der 
neue  Weg  eröffnete,  dessen  Eigenart  anfangs  ver- 
borgen geblieben  war. 

Und  ist  es  nicht  ähnlich  mit  großen  Erfindungen 
und  neuen  Systemen  ?  Eine  feine  Gesteinspalte,  an 
der  Tausende  vorübergegangen  waren,  undurch- 
dringlichen Fels  vermutend:  dem  einen  wird  sie 
offenbar  — ,  und  mit  schlichtestem  Werkzeug  und 
wenigen  Hieben  sieht  er  zu  ungeahnten  Grotten 
und  verborgenen  Schätzen  den  Weg  gebahnt.  Und 
die  erste  Frage  jedes  Erfinders  und  Denkers, 
wenn  eine  neue  Erungenschaft  ihm  angekündet 
wird,  ist  die:  Wo  lag  bisher  die  bhnde  Stelle  in  mei- 
nem Auge   und  der  tote  Punkt  in  meinem  Gehirn  ? 

Als  ich  vorhin  von  Übersicht  und  Gedächtnis 
sprach,  erinnerte  ich  mich  der  Sätze,  mit  denen  Taine 
das  Inventarium  des  napoleonischen  Geistes  um- 
schreibt. ,, Atlanten"  nennt  er  die  aufgespeicherten 
und  enzyklopädisch  geordneten  Kenntnisse  dieses 
Weltenverstandes,  der  die  letzte  Kanone  seines 
Kaiserreiches,  das  letzte  Bataillon  seines  Feindes,  das 
letzte  Bankbillett  seines  Staatshaushalts  registrierte. 
Nur  solche  Atlanten  und  Bücher,  ungeschrieben 
und  ungedruckt,  aber  in  weiche  graue  Gehim- 
masse geätzt,  können  reden,  inspirieren  und  Wege 
weisen. 

Ich  hasse  Notizbücher.  Wer  viel  notiert,  ist  ein 
Subalterner  oder  ein  Dummkopf.  Der  Schädel  eines 
Kaufmanns  muß  einige  tausende  Zahlen  bcherber- 


IV.  i8 


273 


gen,  und  diese  Zahlen  müssen  leben  und  gehorchen. 
Er  muß  Gewalt  haben,  zu  merken,  und  Gewalt  haben, 
zu  vergessen;  vor  allem  aber  die  Gewalt,  zu  über- 
blicken. Wie  für  den  Künstler,  so  ist  für  den 
Schaffner  und  Händler  das  höchste  Erbtum:  der 
Bück  fürs  Wesentliche.  Bei  klugen  Menschen  liegt 
oft  mehr  im  Fragen  als  im  Antworten;  und  wenn 
ich  vernehmen  kann,  wie  ein  überragender  Mann  in 
kurzen  Worten  einen  verwickelten  Zusammenhang 
bloßlegt,  so  empfinde  ich  Freude  wie  an  einem 
Kunstwerk. 

Will  man  von  einer  Genialität  auf  diesem  Schau- 
platz menschlicher  Tätigkeit  sprechen,  so  mag  man, 
ausgehend  von  der  eben  erwähnten  Begabung  für 
das  Wesentliche,  sie  finden  in  einem,  ich  möchte 
sagen  divinatorischen  Überblick  über  die  Bedürf- 
nisse der  jetzigen  und  der  kommenden  Zeit  und  in 
der  Erkenntnis  der  zur  Erfüllung  möglichen  Mittel. 
Solche  Divination  besaß  der  Bankmann,  von  dem 
ich  vorhin  gesprochen  habe.  Sie  äußerte  sich  nicht 
in  apokalyptischen  Gesichten  und  tönenden  Sqher- 
worten,  sondern  in  gelegentlicher  Beurteilung  der 
Dinge  und  in  praktischen  Entschlüssen.  Ich  glaube 
nicht,  daß  mein  Chef  dieses  Blickes,  der  ihm  den 
Gang  der  Zeitenentwicklung  entschleierte,  sich 
bewußt  war.  Er  liebte  theoretische  Betrachtungen 
nicht  und  redete  nur  über  den  gerade  vorliegenden 
Fall;  wie  als  etwas  Selbstverständliches  enthüllte 
sich  in  einer  zufälligen  Andeutung  das  Bild,  das  er 
in  sich  trug,  in  einzelnen  Zügen  —  etwa  so,  wie 
wenn  eine  Spalte  im  Theatervorhang  uns  einen 
Ausschnitt  der  hell  erleuchteten  Bühne  zeigt. 


*74 


VON  ORGANISATION 

Als  Junge  bekam  ich  eine  winzige  Dampfmaschine 
l\  geschenkt.  Es  war  eine  Lokomobile;  man  goß 
unten  Spiritus  und  oben  Wasser  hinein,  steckte  den 
Docht  an,  und  das  Rad  drehte  sich  einehalbe  Stunde 
lang.  Nach  drei  Tagen  brach  ich  das  Ding  entzwei,  um 
zu  sehen,  welches  geheimnisvolle  Wesen  innen  sitze 
und  den  Kolben  bewege.  Es  war  leer;  und  ich  starrte 
enttäuscht  auf  ein  Häufchen  Eisenblech,  ein  Stäng- 
lein,  ein  Kölbchen  und  ein  Hähnchen  aus  Messing. 
Das  Geheimnis,  das  Spiritus  und  Wasser  zur  regel- 
rechten Arbeit  zwang  und  aus  dem  toten  Blech  ein 
lebendes  Geschöpf  machte,  saß  nicht  im  Innern; 
ez  war  etwas  Unfaßbares,  Abstraktes:  die  Gestalt 
und  Anordnung  der  Teile.  Ein  Heer,  eine  Fabrik, 
ein  Staat,  ein  Geschäft:  alle  sind  Maschinen  aus 
lebenden  Menschenleibern.  Von  dem  Haufen,  der 
auf  dem  Marktplatz  webt,  sind  sie  nur  durch  ein 
Unsichtbares  geschieden:  durch  Ordnung,  durch 
Organisation. 

Was  ist  eine  Zeitung,  eine  Bank,  eine  Fabrik,  ein 
Theater,  eine  Reederei  ?  Ist  es  das  Papier  oder  das 
Geschäftshaus,  sind  es  die  Maschinen  oder  die  Kulis- 
sen oder  die  Schiffe  ?  Ist  es  der  Name  ?  Sind  es  die 
Personen  ?  All  diese  Einzeldinge  sind  wechselbar 
und  ersetzlich.  Der  Zusammenhang,  der  Aufbau, 
die  Anordnung  sind  das  Wesentliche.  Arbeit,  Er- 
fahrung, Zeitaufwand  und  Geist  haben  eine  Organi- 
sation geschaffen;  und  sie  sind  die  Werte,  die  sich 
darin  kristallisiert  haben.  Ich  kann  ein  Gebäude 
errichten,  Werkzeugmaschinen  aufstellen  und  Arbei- 
ter werben.  Habe  ich  dann  eine  Maschinenfabrik? 
Nimmermehr!    Es  fehlt  der  Stab  von  Konstruk- 


ir» 


275 


teuren,  der  Pläne  und  Zeichnungen  liefert,  wie  sie 
den  Bedürfnissen  des  Ortes  und  der  Leistungsfähig- 
keit des  Werkes  und  der  Arbeiter  entsprechen.  Es 
fehlen  die  Werkmeister,  die  mit  den  Eigenschaften 
und  Fähigkeiten  der  Arbeiter,  der  Maschinen  und 
des  Materials  vertraut  sind.  Es  fehlen  Arbeiter,  die 
auf  gewissenhafte  und  exakte  Ausführung  geschult 
sind.  Es  fehlt  der  Stab  von  Vertretern  und  Ver- 
käufern, die  die  Vorzüge  der  Produkte  und  die  An- 
forderungen der  Käufer  kennen.  Es  fehlt  der  Name 
und  das  Ansehen,  das  dem  Käufer  Bürgschaft  bietet. 
Es  fehlt  endlich  der  Leiter,  der  sein  Fach,  seine 
Leute  und  sein  Geschäft  kennt  und  beherrscht. 
Ist  aber  einmal  der  Organismus  unter  Mühen  und 
Arbeit,  Kosten  und  Zeitaufwand  erwachsen,  so  er- 
trägt er,  ohne  zusammenzubrechen,  die  Umgestal- 
tungen, die  die  Vielfältigkeit  aller  Einrichtungen 
mit  sich  führt.  Neue  Erzeugnisse  werden  erfordert : 
Man  schafft  neue  Maschinen,  sie  herzustellen.  Ein 
Meister  altert  und  setzt  sich  zur  Ruhe :  eine  neue  Kraft 
wird  in  kurzer  Zeit  sich  einarbeiten.  Die  lebendige 
Kraft  des  Organismus  hält  die  Räder  in  Schwung, 
gleichviel,  ob  neue  Massen  und  Gewichte,  plötzlich 
angekuppelt,  die  Bewegung  zu  hemmen  suchen. 

VON  GELD  UND  VERMÖGEN 

Man  hört  oft :  Der  und  der  ist  durch  glückliche 
Spekulationen  reich  geworden.  Unter  den  Hun- 
derten von  großen  Vermögen,  deren  Geschichte  ich 
kenne,  ist  mir  kaum  ein  einziges  bekannt,  das  durch 
Börsenspekulation  oder  ähnliche  Manöver  entstan- 
den wäre.  Spekulation  ist  Spiel;  und  wenn  sich 
jemand  am  Spiel  bereichert  hat,  so  ist  es  entweder 

276 


das  Spiel  der  andern  oder  das  Falschspiel  ge- 
wesen. 

Die  Genußfähigkeit  der  menschlichen  Natur  wird 
überschätzt.  Ein  wirklich  reicher  Mann  kann  nur 
einen  verschwindenden  Teil  seiner  Einkünfte  in 
Genüsse  umsetzen;  und  je  mehr  Genußgüter  er  sich 
schafft,  desto  schwächer  werden  seine  Beziehungen 
zu  diesen  Dingen,  seine  Herrschaft  darüber  und  seine 
Besitzesfreude.  Angenommen,  jemand  besäße  so 
viele  Landhäuser,  daß  er  nur  einen  Monat  des  Jahres 
jedes  bewohnen  kann :  so  wird  ihn  der  immaterielle 
Gedanke,  Herr  und  Eigentümer  zu  sein,  schwerlich 
darüber  hinwegtäuschen,  daß  er  überall  nur  ein 
Gast  und  Fremder  ist. 

Hieraus  erklärt  sich  die  Abneigung  der  Reichsten 
gegen  die  Anhäufung  von  Genußgütern,  in  der 
minder  Begüterte  den  Inbegriff  der  Wünsche  sehen. 
Aller  Überschuß  des  Besitzes  über  die  zur  Befrie- 
digung der  Genußfähigkeit  dienende  Menge  be- 
deutet Macht;  Macht  jedoch  nur  in  den  Händen 
derer,  die  zu  herrschen  und  große  Gedanken  zu  ver- 
wirklichen wissen.  Die  Ausübung  dieser  Macht  er- 
fordert dieselbe  Arbeit  und  denselben  Kampf  wie 
ihr  Erwerb.  Deshalb  ist  es  ein  widerwärtiger  Anblick, 
die  Zügel  der  Besitzesherrschaft  in  den  Händen 
törichter  und  kraftloser  Erben  zu  sehen;  ziellos 
vergeuden  sie  tausendfältige  Kräfte,  die  zum  Dienst 
der  Menschheit  bestimmt  waren. 

Große  VermögMi  entstehen  nicht  durch  Spiel; 
sie  entstehen  aber  auch  nicht  durch  Arbeit.  Der 
Gesamtbesitz  der  Welt  an  Gütern  ist  so  gering, 
daß  tausend  und  tausend  unfreiwillige  Hände  bei- 
tragen müssen,  um  dem  Einen,  dem  Fronherrn,  die 
Goldhaufen  zu  türmen.    Das,  was  die  wunderbare 


Wirkung  herbeiführt  und  die  Massen  veranlaßt, 
einem  Fremden  zuliebe  ihre  Taschen  zu  öffnen, 
sind  Monopole.  Monopole,  durch  Gesetz,  durch 
Lage,  durch  Intelligenz  oder  durch  Priorität  be- 
siegelt. Ein  englischer  Herzog  besitzt  ackergroße 
Landstriche  in  der  Londoner  City:  das  Monopol 
der  Lage  zwingt  Tausende  von  Kaufleuten,  die 
nur  in  der  Nähe  der  Bank  hausen  können,  einen 
großen  Teil  ihres  Gewinns  dem  Besitzer  als  Miete 
zu  opfern.  Eine  Gesellschaft  erwirbt  das  gesetzliche 
Monopol  des  Zündhölzerverkaufs  in  einem  latei- 
nischen Staat;  und  jeder,  der  eine  Zigarette  anzün- 
det, zahlt  gezwungen  den  Bruchteil  eines  Pfennigs 
in  die  Kassen  der  Unternehmerin.  Ein  Hüttenmann 
entdeckt  eine  Eisenlegierung,  die  neue  und  wertvolle 
Eigenschaften  besitzt;  und  auf  jeder  Panzerplatte 
und  jeder  Messerklinge  lastet  ihm  ein  anteiliger 
Tribut,  solange  er  das  Monopol  der  Intelligenz  zu 
wahren  weiß.  Ein  Bankhaus  hat  seit  hundert  Jahren 
jede  Anleihe  seines  Staates  finanziert  und  das  Ver- 
trauen des  Publikums  bewahrt:  das  Monopol  des 
Vorsprungs  wird  dafür  sorgen,  daß  von  jedem  Taler 
Landesschulden  ein  Pfennig  an  den  Schaltern  seiner 
Zahlstellen  hängenbleibt. 

PLUTOKRATIE 

Zuweilen  scheint  es,  als  sollten  nicht  mehr  die 
Starken  und  Tapfern,  sondern  die  Klugen  und 
Reichen  herrschen.  Denn  was  soll  die  Stärke  ?  Es 
gibt  keine  Handgemenge,  keine  Ringkämpfe  und 
keine  Turniere  mehr.  Und  was  die  Tapferkeit  ? 
Unsre  Kriege  werden  nicht  mehr  mit  Blut,  sondern 
mit  Geld  genährt.   Maschinen  arbeiten  gegen  Ma- 

278 


schinen,  Panzer  gegen  Panzer.  Der  Ingenieur,  der 
Chemiker,  der  Finanzmann  sind  Feldherren.  Das 
neueste  Gewehr,  das  beste  Pulver,  das  schnellste 
Boot  fesseln  den  Sieg.  Unser  Herrgott  kämpft  nicht 
mehr  auf  der  Seite  der  stärksten  Bataillone,  sondern 
auf  der  Seite  der  modernsten  Gießerei. 

Und  das  Kapital!  Als  das  Blut  der  Welt  rollt  es 
durch  die  Adern  des  Verkehrs.  Es  schwemmt  den 
angestammten  Besitzer  von  seiner  Scholle,  es  be- 
fruchtet die  Sierren  und  Pampas,  es  erstarrt  zu 
Eisensträngen,  die  sich  durch  die  Völkergrenzen 
bohren,  es  berauscht  die  schwachen  Staaten  zur 
Knechtschaft,  es  wäscht  jeden  Flecken  und  beizt 
jeden  Schild  —  und  strömt  zurück,  tausendfach 
schwellend,   in   die   Behälter,   aus   denen   es   floß. 

Es  gibt  nichts  Betrübenderes  als  die  Erkenntnis, 
daß  wir  der  Plutokratie  rettungslos  verfallen  sind. 
Noch  widerstehen  ihr  drei  oder  vier  germanische 
Staaten;  auf  wie  lange? 

Unaufhaltsam  naht  das  goldne  Gespenst.  Das 
Volksbewußtsein  schnuppert  ängstlich  und  wittert 
seine  Geisternähe.  Aber  die  arme  Volksseele  hat 
außer  der  metaphysisch  scharfen  Nase  nur  grobe 
Organe.  Sie  denkt  in  unbeholfenen  Sammelempfin- 
dungen und  kennt  nur  zweierlei  Anschlag :  Vivat  und 
Pereat.  Die  Sammelempfindung,  die  das  Gespenst 
erweckt,  ist  Haß,  mit  etwas  Neid  gewürzt,  und  der 
Schreckensruf  hallt  wider  an  den  Stellen,  wo  nicht 
eben  das  Hirn,  wohl  aber  das  Mundwerk  der  Nationen 
arbeitet :  in  den  Werkstätten  der  Gesetzgebung. 

Die  wirkt  seit  Jahrzehnten  instinktiv.  Vielleicht 
ist  das  gut:  nicht  allein,  weil  es  den  Wünschen  der 
Wähler  und  der  Wühler  entspricht,  sondern  auch, 
weil  der  parlamentarische  Instinkt  immer  noch  zu- 

279 


verlässiger  ist  als  der  parlamentarische  Verstand. 
Man  wünscht,  dem  Kapital  zu  Leibe  zu  gehen. 
Das  ist  berechtigt  und  im  Sinne  der  plutokratischen 
Gefahr  notwendig.  Aber  man  schämt  sich  dieses 
gesunden  Instinkts  und  sucht  nach  „Auswüchsen" 
des  Handels  oder  irgendeiner  andern  Sache.  Das 
ist  fehlerhaft.  Ergebnis :  man  vernichtet  die  Börsen 
und  veranlaßt  durch  andauernde  Belästigung  die 
Warenhäuser,  ihre  Betriebe  erheblich  zu  erweitern. 

Es  wäre  mir  lieber,  wenn  an  die  Stelle  instink- 
tiver Abneigung  und  planloser  Verfolgung  klare 
Erwägung  und  bewußtes  Handeln  treten  könnte. 

Die  Bekämpfung  der  Geldherrschaft  ist  ein  Ziel, 
aber  kein  Programm.  Darum  zunächst:  was  soll 
erstrebt  werden? 

EUPLUTISMUS 

Sicherlich  wäre  es  das  Einfachste,  durch  das  be- 
kannte Rezept  der  Verstaatlichung  des  Kapitals 
neben  andern  Beschwernissen  auch  die  ganze  Frage 
der  Geldherrschaft  ihres  Inhalts  zu  entledigen. 
Ich  muß  diese  Hoffnung  Jüngern  überlassen ;  denn 
einem,  der  vierzig  Jahre  lang  sich  in  Menschenkennt- 
nis und  im  Einmaleins  geübt  hat,  fehlt  die  Un- 
befangenheit, die  solches  Glaubens  Würze  ist. 

Wenn  es  nun  doch  bei  der  Anhäufung  der  Schätze 
fürs  erste  sein  Bewenden  haben  muß,  so  gestehe  ich, 
daß  das  Szepter  des  Reichtums  in  den  Händen  von 
Männern,  wie  des  alten  Krupp,  PuUmans  oder 
Montefiores  mir  ungefährlicher  scheint  als  die  In- 
signien  politischer  Macht  bei  legitimen  und  kon- 
stitutionellen Fürsten  von  der  Art  Louis  Philippes 
oder  Friedrich  Wilhelms  IV. 

280 


Der  erträglichste  und  deshalb  erstrebenswerteste 
Zustand  der  Geldherrschaft  scheint  mir  daher  er- 
reicht zu  sein,  wenn  die  Tüchtigsten,  Fähigsten 
und  Gewissenhaftesten  auch  die  Begüterten  sind. 
Ich  möchte  für  diesen  Zustand  der  Kürze  halber  das 
Wort  „Euplutismus"  gebrauchen.  Nach  Euplutis- 
mus  strebt  in  dunklem  und  verworrenem  Drang  der 
Volkswille  und  die  Gesetzgebung  aller  Länder. 
Warum  sollte  dies  Streben  nicht  ehrlich  aus- 
gesprochen und  mit  geeigneten  Mitteln  verfolgt 
werden  ? 

Nur  annähernd  wird  der  Zustand  des  Euplutis- 
mus erreichbar  sein.  Mit  ähnlicher  Annäherung 
vielleicht,  wie  es  uns  heute  gelingt,  die  Weisesten  zu 
Volksvertretern,  die  Tapfersten  zu  Heerführern,  die 
Gerechtesten  zu  Richtern  und  die  Edelsten  zu 
Herrschern  zu  machen.  Ist  aber  das  Ziel  an  sich 
erstrebenswert,  so  ergeben  sich  die  Wege  von  selbst. 

Solcherlei  Wege  sind: 

Progressive  Einkommensteuer, 

Hohe  Abgaben  auf  Erbschaften,  Mitgiften  und 
Schenkungen, 

Besteuerung  des  nichtarbeitenden  Vermögens,  in 
erster  Linie  der  fremden  Anleihen, 

Verringerung  der  zufälligen  Monopole  durch 
Verstaatlichungsrechte  auf  Bergwerke,  Verkehrs- 
unternehmungen und  städtischen  Grund  und 
Boden, 

Vernichtung  der  Monopole  für  Staatslieferungen, 

Staatliche  Kontrolle  der  Konventionen,  Syndi- 
kate und  Trusts, 

Hohe    Dotierung    der    obren    Staatsbeamten, 

Reiche  Zuwendung  von  Staatsmitteln  für  Zwecke 
der  Wissenschaft  und  Kunst. 

28i 


BESCHLUSS 

Ich  merke,  daß  ich  bei  dem,  was  allgemein  als 
Zweck  der  Geschäfte  gilt,  dem  Reiclitum,  seiner 
Entstehung  und  seinen  Gefahren,  allzu  lange  mich 
aufgehalten  habe,  und  will  zum  Schluß  versuchen, 
die  Summe  dessen  zu  ziehen,  was  sich  aus  dem  Be- 
sprochenen als  Lehre  zusammenfassen  läßt.  Sie 
würde  lauten: 

Suche  die  materiellen  Bedürfnisse  deiner  2^it 
zu  erkennen, 

Suche  die  einfachsten  Mittel  zu  finden,  um  ihnen 
zu  genügen. 

Lerne  durch  Organisation  deine  Arbeitskraft  ver- 
vielfachen. 

Setze  von  deinen  Konkurrenten  voraus,  daß  sie 
gescheit,  fleißig  und  ehrlich  sind. 

Aber  ahme  ihnen  nicht  blindlings  nach,  fürchte 
sie  nicht  und  traue  ihnen  nicht. 

Und  bemühe  dich,  gescheiter,  fleißiger  und  ehr- 
licher zu  sein  als  sie. 

Ich  bitte,  zu  entschuldigen,  Leser,  wenn  diese 
Grundsätze  zu  einfach  und  der  bürgerlichen  Moral 
allzusehr  sich  nähernd  erscheinen.  Ich  bin  dieser 
Moral  niemals  aus  dem  Wege  gegangen  und  mut- 
maße von  dir,  dem  Jüngern,  trotz  kultureller  Vor- 
geschrittenheit dasselbe.  Auch  bleibt  es  deiner 
philosophischeren  Anschauung  freigestellt,  aus 
solcher  Annäherung  nicht  eine  Bestätigung  meiner 
Sätze,  sondern  ein  weiteres  Argument  der  Erfah- 
rung zur  Bekräftigung  eben  dieser  bürgerlichen 
Moralbegriffe  zu  entnehmen. 


282 


ANMERKUNG 

Anschließend  an  die  letzten  Worte  dieser  Auf- 
l\  Zeichnungen  erlaubt  sich  der  Herausgeber  darauf 
hinzuweisen,  daß  dem  leichten  Ton,  mit  dem  ernste 
Fragen  des  sittlichen  Bewußtseins  gestreift  werden, 
erfreulicherweise  die  vorwurfsfreie  Lebensführung 
des  Verfassers  gegenübergestellt  werden  darf.  Ob- 
wohl er  mit  Leib  und  Seele  dem  Handelsstande 
gehörte,  hat  der  Verstorbne  in  allen  Fragen  des 
Lebens  eine  sittliche  Anschauung  bekundet,  deren 
Wert  vertieft  worden  wäre,  wenn  ihr  die  Grundlage 
der  Religiosität  nicht  gefehlt  hätte.  Zur  Rechtferti- 
gung muß  ferner  betont  werden,  daß  mein  Oheim 
im  Herzen  eines  slawischen  Nachbarreichs  wohnte 
und  so  dem  unmittelbaren  Einfluß  germanischer 
Kultur  entrückt  war.  Vielleicht  aus  dieser  Tatsache 
erklärt  sich  seine  befangne  Furcht  vor  plutokra  ti- 
schen Zuständen,  die  in  Deutschland,  wo  die  Tren- 
nung der  gesellschaftlichen  Schichten  unter  vorherr- 
schend militärischem  Einfluß  gesichert  ist,  kaum 
jemals  sich  geltend  machen  dürften.  Unter  ähn- 
lichen Gesichtspunkten  ließe  sich  des  Verfassers 
idealisierende  Auffassung  von  den  Geschäften  des 
Handels  —  besser:  des  Zwischenhandels  —  be- 
urteilen, die  er  als  berechtigt,  nützlich,  ja 
selbst  als  wünschenswert  anzuerkennen  scheint. 
Denn  bei  aller  Rücksicht,  die  man  selbst  in  maß- 
gebenden Kreisen  auf  die  Bestrebungen  des  Kauf- 
mannsstandes zu  nehmen  gewohnt  ist,  wird  sich 
kaum  in  Abrede  stellen  lassen,  daß  „billig  kaufen 
und  teuer  verkaufen"  den  alleinigen  Grundsatz 
solcher  Geschäfte  bildet,  die  demnach  keine 
andre  Charakteristik  verdienen  als  die  kürzlich  von 

283 


kompetentester  Seite  erteilte:   eines  notwendigen 
Übels. 

Dr.  F.  W.  Schulze  von  der  MüU,  Reg.-Ass. 

1901 


284 


DIE  RESURRECTION  CO. 


Die  Begräbniseinrichtungen  der  Stadt  Necro- 
polis,  Dacota,  sind  die  besten  in  den  Vereinig- 
ten Staaten.  Eine  elektrische  Schmalspurbahn  führt 
mit  einer  Geschwindigkeit  von  35  Kilometern  die 
Leiche  auf  den  Kirchhof,  eine  Baggermaschine 
(U.  S.  Patent  Nr.  398  748)  gräbt  vor  den  Augen  der 
Leidtragenden  in  vier  Minuten  das  Grab,  der  Sarg 
wird  durch  einen  Drehkran  vom  Gleise  gehoben, 
und  die  Maschine  glättet  mit  großer  Genauigkeit 
den  viereckigen  Hügel.  Man  hat  es  vermieden,  die 
Leichenrede  durch  laut  sprechende  Phonographen 
verlesen  zu  lassen ;  dagegen  ist  dicht  bei  der  Begräb- 
nisstätte ein  Automatensaal,  in  dem  man  gegen 
Einwurf  eines  Zwanzig-Cent-Stückes  Trostsprüche 
der  berühmtesten  Kanzelrcdner  englischer  Zunge 
vernehmen  kann.  Eine  mechanische  Sargfabrik 
nebst  Grabsteinschleiferei  grenzt  an  das  Grundstück. 
Ihre  mustergültigen  Produkte  befriedigen  die  An- 
sprüche der  verwöhntesten  Kunden. 

Elihu  Hannibal  L  T.  Gravemaker  ist  der  Schöpfer 
des  Unternehmens.  Bei  seiner  Beerdigung  am 
17.  Mai  1894  wurde  der  Rekord  der  Bestattungs- 
technik in  den  Vereinigten  Staaten  erreicht.  Punkt 
12  Uhr  setzte  sich  der  Trauerzug  in  Bewegung, 
12  Uhr  IG  Minuten  begann  die  Beisetzung,  sieben 
Minuten  später  erfolgte  die  Rückfahrt  der  Leid- 
tragenden, und  12  Uhr  25  Minuten  vereinigte  man 
sich  zu  einem  Lunch  im  Fourty-sixth-Avenue- 
Hotel.  Um  l  Uhr  erschienen  gleichzeitig  im  Necro- 
polis  Sun  und  im  Dacota  Herald  die  Berichte  über 
das  Leichenbegängnis,  um  i  Uhr  30  begann  die 
Versteigerung  der  Hinterlassenschaft,  um  4  Uhr  ent- 
hüllte man  auf  dem  Central  Union  Square  ein 
Granitdenkmal  mit  dem  Bilde  des  Verewigten,  und 

287 


um  6  Uhr  abends  wurde  in  Gravemakers  Wohnhause 
gemäß  seinen  Testamentsbestimmungen  ein  neues 
Klublokal  eingeweiht. 

Es  drängte  mich,  meine  Bewunderung  über  die 
klug  durchdachte  Anlage  dem  Direktor  auszu- 
sprechen, der  die  obern  Stockwerke  des  freund- 
lichen Leichenhauses  bewohnte.  Aber  in  dem  Augen- 
blick, wo  ich  den  Aufzug  zu  betreten  mich  an- 
schickte, überraschte  und  verletzte  mich  ein  uner- 
freulicher Eindruck.  Ich  konnte  nicht  umhin,  den 
Direktor    über    diesen    Zwischenfall   zu    befragen. 

„So  sehr  ich  Ihre  Einrichtungen  zu  schätzen  weiß", 
sagte  ich  ihm,  „darf  ich  doch  nicht  verhehlen,  daß 
ich  durch  Zufall  auf  eine  Anordnung  aufmerksam 
geworden  bin,  die  mich  peinlich  berührt  hat.  Was 
veranlaßte  Sie,  diesen  immerhin  geweihten  Ort 
durch  eine  Telephonstation  zu  schänden  ?  Ich 
habe  bemerkt,  daß  eine  solche  in  der  Leichenhalle 
neben  der  Kapelle  untergebracht  ist.  Das  fort- 
währende Klingeln  wirkt  beunruhigend.  Was  be- 
zwecken Sie  damit  ?" 

„Ich  bedaure,  daß  die  Tür  offen  stand,"  ant- 
wortete der  Direktor  kurz,  „sonst  bemerken  unsre 
Besucher  gewöhnlich  nichts  davon.  Eine  weitere 
Auskunft    kann    ich    Ihnen    leider    nicht    geben." 

Die  Zeit  schien  mir  gekommen,  mich  eines  Tricks 
zu  bedienen,  den  ich  meinem  geschätzten  Freunde 
in  New  York,  dem  Rvd.  Tiberius  Q.  Lewisson,  ver- 
danke, eines  Tricks,  der  —  ich  bedaure,  es  sagen  zu 
müssen  —  mir  nicht  ganz  edelmütig,  wohl  aber 
durchaus  zweckentsprechend  scheint. 

„Ganz,  wie  es  Ihnen  beliebt,"  bemerkte  ich. 
„Jedenfalls  werden  Sie  nichts  dagegen  einwenden, 
wenn  ich  den  Blättern,  die  ich  zu  vertreten  die 

288 


Ehre  habe,  dem  New- York- Herald,  der  Times,  dem 
Figaro  und  dem  Berliner  Börsen-Courier,  einen 
Artikel  telegraphiere,  der  morgen  mit  der  Über- 
schrift , Leichenschändung  in  Dacota'  an  hervor- 
ragender Stelle  erscheinen  wird.  Sie  gestatten  mir, 
je  drei  Probenummern  Ihnen  zugehen  zu  lassen." 

Nach  einiger  Überlegung  erwiderte  er:  „Ich 
proponiere  Ihnen  folgendes  Abkommen.  Sie  ver- 
öffentlichen Ihre  Eindrücke  nicht  vor  dem  15.  Juni 
1898,  dem  Tage,  wo  unser  Kontrakt  mit  der  Resur- 
rection  Co.  abläuft.  Dagegen  gebe  ich  Ihnen  sofort 
voUen  Aufschluß.  Sie  können  sicher  sein,  daß  Sie 
mit  Ihrem  Artikel  noch  übers  Jahr  Sensation  machen 
werden." 

Bevor  ich  den  Bericht  des  Direktors  folgen  lasse, 
lege  ich  Wert  darauf,  festzustellen,  daß  der  vor- 
liegende Aufsatz  laut  Poststempel  des  Umschlages 
am  16.  Juni  1898  bei  dem  Herausgeber  dieser  Zeit- 
schrift eingelaufen  ist. 

Der  Direktor  führte  folgendes  aus: 

„Alle  unsre  Einrichtungen  sind  von  dem  Grund- 
satz bestimmt,  nach  Möglichkeit  den  peinlichen 
Zeitraum  zu  verkürzen,  der  zwischen  dem  Ableben 
eines  Mitgliedes  der  bürgerlichen  Gesellschaft  und 
dem  Augenblick  liegt,  wo  die  Hinterbliebenen  ihre 
Berufsgeschäfte  ungestört  wieder  aufnehmen  können. 
Dieses  gewiß  lobenswerte  Bestreben  birgt  eine 
Gefahr.  Am  24.  Juli  des  vorigen  Jahres  wurde  auf 
Befehl  des  Richters  die  Leiche  eines  hochangesehenen 
und  wohlhabenden  Mannes  exhumiert,  der  acht 
Tage  zuvor  bestattet  worden  war,  und  gegen  den 
sich  ein  dringender  Verdacht  wegen  Meineids, 
schwerer   Urkundenfälschung,   Betruges,    Kuppelei 


IV,  19 


289 


und  Selbstmords  erhoben  hatte.  Ein  Verdacht,  der 
sich  leider  als  begründet  erwies.  Der  Anblick  der 
Leiche  war  erschütternd.  Sie  lag  auf  dem  Gesicht, 
mehrere  Finger  waren  gebrochen,  die  Nägel  zer- 
rissen, an  den  Knien  und  Schultern  zeigten  sich 
Quetschungen  und  Wunden. 

Es  war  offenkundig,  daß  der  Mann  lebendig 
begraben  worden  war. 

Eine  nervöse  Erregung  verbreitete  sich  in  der 
Stadt,  als  der  Fall  bekannt  wurde.  Die  Geistlichkeit 
suchte  die  Menge  dadurch  zu  beschwichtigen,  daß 
sie  hervorhob,  dieses  Strafgericht  der  göttlichen 
Vorsehung  sei  hauptsächlich  durch  einige  Verbre- 
chen des  Verstorbenen  herbeigezogen.  Der  Erfolg 
war  entgegengesetzt :  die  Angst  stieg  nun  erst  recht 
bis  zur  Sinnlosigkeit,  und  einige  der  achtbarsten 
Bürger,  unter  ihnen  der  stellvertretende  Bürger- 
meister und  der  Vorsitzende  des  Kirchenrats, 
legten  Hand  an  sich.   Niemand  wußte  Rat. 

Während  die  Zeitungsschreiber  sich  monatelang 
von  den  abenteuerlichsten  Vorschlägen  nährten, 
konstituierte  sich  in  aller  Stille  ein  Unternehmen, 
das  den  fürchterlichen  Konflikt  mit  einem  Schlage 
zu  lösen  versprach :  die  Dacota-  and  Central-Resur- 
rection  Telephone  and  Bell  Co.,  eine  Aktiengesell- 
schaft mit  750  000  Dollar  Kapital.  Der  Prospekt 
brachte  einen  beispiellosenErfolg.  In  zwei  Stunden  war 
an  der  Börse  das  Kapital  vierzehnmal  überzeichnet, 
die  Lebensversicherungsgesellschaft  und  der  Waisen- 
rat beschlossen,  alle  verfügbaren  Mittel  in  Anteilen 
der  neuen  Gesellschaft  anzulegen,  und  die  Tochter 
des  Gymnasialdirektors  bedrohte  den  Vorsitzenden 
des  Syndikats  mit  einem  Revolver,  weil  sie  bei  der 
Zuteilung  nicht  genügend  berücksichtigt  worden  war. 

290 


Die  Idee  des  Unternehmens  schien  einfach  und 
überzeugend.  Jeder  beigesetzte  Sarg  sollte  durch 
eine  elektrische  Leitung  mit  dem  Verwaltungs- 
gebäude verbunden  werden.  An  die  Leitungen  wur- 
den Fernsprecher  und  Läutwerke  angeschlossen 
und  jeder  Kunde  (customer)  konnte  gegebenen- 
falls nicht  nur  augenblicklich  die  Verwaltung  be- 
nachrichtigen, sondern  auch  bezüglich  seines  Haus- 
arztes, seines  Bankiers  und  seiner  Familie  die  nö- 
tigen Verfügungen  treffen. 

Mit  großer  Mehrheit  wurde  von»  der  gesetz- 
gebenden Körperschaft  beschlossen,  die  Einführung 
dieser  Sicherung  sollte  obligatorisch  sein,  und  alsbald 
gewährte  die  Stadtverwaltung  auf  die  Dauer  von 
zwei  Jahren  der  Resurrrection  Co.  das  ausschließ- 
liche Recht,  ihre  Apparate  zu  installieren. 

Die  Beunruhigung  der  Bevölkerung  schwand 
nach  und  nach,  um  so  mehr,  als  während  nahezu 
eines  Jahres  kein  Fall  der  Bestattung  eines  Lebenden 
mehr  eintrat.  Im  selben  Maß  ermattete  aber  das 
Interesse  für  die  Resurrection  Co.,  und  der  Kurs  ihrer 
Aktien  sank  von  450  auf  11772« 

Da  ereignete  sich  eine  unerwartete  Begebenheit. 
Am  23.  Februar,  kurz  nach  Sonnenuntergang, 
benachrichtigte  man  mich,  daß  zum  ersten  Male 
eine  Glocke  in  kurzen  Zeitabständen  wiederholt 
angeschlagen  habe.  Die  Klappe,  die  herunterge- 
fallen war,  zeigte  die  Nummer  1 69.  Diese  Zahl  setzte 
mich  in  Erstaunen,  denn  wir  waren  damals  bereits 
bei  den  Nummern  um  1200  angelangt;  sofort  ließ 
ich  das  Kirchhofsjournal  kommen  und  stellte  als 
Inhaber  von  Nr.  169  einen  gewissen  Johnson  fest, 
den  ich  persönlich  gekannt  hatte.  Ein  magerer  alter 
Herr,  der  lange  Zeit  seinen  Mietern  große  Angst 

19*  291 


einflößte  und  endlich  einem  Nervenleiden  erlag. 
Zugleich  bemerkte  Ich  mit  Entsetzen,  daß  Mr. 
Johnson  bereits  seit  neun  Monaten  in  der  Erde 
ruhte. 

Ich  nahm  an,  daß  an  der  Leitung  etwas  nicht 
in  Ordnung  sei,  und  benachrichtigte  den  Elektriker. 
Der  sprach,  wie  es  bei  diesen  Leuten  die  Regel  ist, 
von  Kurzschluß  und  Erdströmen,  schraubte  alle 
Apparate  los  und  brachte  das  Haus  in  einen  un- 
glaublichen Zustand.  Nach  drei  Tagen  erklärte  er 
den  Schaden  für  beseitigt  und  berechnete  275  Dollar. 
Inzwischen  läutete  Nr.  169  jeden  Abend  in  ge- 
wohnten Zeitabständen  ruhig  weiter. 

Nun  erstattete  ich  meiner  vorgesetzten  Be- 
hörde Bericht.  Auf  Antrag  der  Resurrection  Co. 
beschloß  die  Kommission  die  Exhumierung.  Diese 
fand  statt,  aber  ohne  jedes  Ergebnis.  Mr.  Johnson 
zeigte  die  normale  Verfassung  eines  Mannes,  der 
seit  neun  Monaten  beerdigt  ist,  der  elektrische 
Apparat  arbeitete  tadellos,  und  nur  am  Sarge  war 
eine  kleine  Reparatur  erforderlich.  Sie  wurde  aus- 
geführt, das  Grab  zugeschüttet  — ,  und  Nr.  169 
ließ  sich  nicht  mehr  vernehmen. 

Die  Resurrection  Co.  scheute  sich  nicht,  trotz 
des  amtlich  festgestellten  Befundes  mit  diesem 
bedauerlichen  Vorfall  Reklame  zu  machen.  Sie 
erklärte,  durch  die  Schuld  meiner  Verwaltung  sei 
Mr.  Johnson  verhindert  worden.  Ins  Leben  zurück- 
zukehren, und  brachte  In  allen  Morgenblättern  mein 
Bild  mit  der  Unterschrift:  „Der  Kirchhofsmörder 
von  Necropolls."  Eine  Protestversammlung  von 
2500  Resurrection-Aktionären  und  Interessenten 
wurde  abgehalten,  und  ich  hätte  für  meine  Stellung 
nicht  fünf  Cent  gegeben,  wenn  nicht  der  Regierung 

292 


meine  Tätigkeit  als  Wahlagent  in  dem  Stadtviertel, 
wo  Mr.  Johnsons  Mieter  wohnten,  unentbehrlich 
gewesen  wäre.  Auch  erklärten  die  Hinterbliebenen, 
deren  Interessen  immerhin  als  die  nächsten  zu 
gelten  hatten,  auf  Mr.  Johnsons  Auferstehung  keinen 
Wert  zu  legen. 

Der  folgende  Fall  war  ernster.  Etwa  vierzehn 
Tage  nach  Johnsons  Wiederbestattung  läutete 
abends  zur  gewohnten  Stunde  Nr.  289,  eine  Miß 
Simms,  die  sich  zu  Lebzeiten  eines  besondren 
Rufes  nicht  erfreut  hatte.  Auch  sie  war  schon 
mehrere  Monate  bei  uns.  Gemäß  der  neuen  Dienst- 
anweisung der  Kommission  beauftragte  ich  meinen 
Inspektor,  Miß  Simms  telephonisch  anzurufen,  ob- 
v/ohl  ich  das  gegenüber  einer  Dame,  die  seit  ge- 
raumer Zeit  eines  bessern  Lebens  teilhaftig  war, 
für  eine  lächerliche,  wenn  nicht  frivole  Handlungs- 
weise hielt. 

Sie  hätten  sehen  müssen,  wie  der  Inspektor  zu- 
rückkam! Wachsgelb  und  hohlwangig;  die  Augen 
hingen  ihm  wie  Glaskugeln  im  Kopf;  ich  kann  nur 
sagen,  daß  sein  Anblick  an  Mr.  Johnson  erinnerte. 
„Well,  what's  the  matter?"  fragte  ich.  ,Well,  ich 
rief  an  und  hielt  den  Fernsprecher  ans  Ohr  — ,  und 
ich  will  verdammt  sein,  wenn  es  nicht  ganz  deutlich 
,Halloo*  aus  dem  Apparat  antwortete.  Aber  mit 
einer  Stimme  wie  aus  einem  hohlen  Brustkasten*.  .  .  . 
Ich  ging  selbst  hinunter  und  schrie  in  den  Apparat: 
,Zum  Teufel,  ja,  was  wollen  Sie  eigentlich  ?* .  .  . 
Und  wissen  Sie,  was  das  Frauenzimmer  antwortete  ? 
,Ich  möchte  mit  Nr.  197  verbunden  sein.** 

Diesmal  war  die  Resurrection  Co.  in  Verlegen- 
heit. Schon  früher  hatte  die  Geistlichkeit  im  Ver- 
ein mit  dem  theosophischen  Klub  die  Frage  auf- 

293 


geworfen,  ob  das  unterirdische  Telephonnetz  nicht 
geeignet  sei,  die  heilige  Ruhe  der  Toten  zu  stören. 
Wurde  dieser  Vorfall  bekannt,  so  hatte  die  Partei 
der  Frommen  gewonnenes  Spiel,  und  das  ist  bei 
uns  das  Gefährlichste. 

Es  kam  eine  Einigung  mit  der  Gesellschaft  zu- 
stande, wonach  diese  der  Presse  50  000  Dollar  zur 
Verfügung  stellte  und  sich  verpflichtete,  alle  Fern- 
sprecher innerhalb  vierzehn  Tagen  zu  beseitigen. 
Die  Läutwerke  zu  entfernen,  konnte  sie  sich  nicht 
verstehen,  denn  das  hätte  ihre  völlige  Auflösung 
bedeutet.  Unbegreiflicherweise  ließ  dagegen  unsre 
Verwaltung  sich  zu  dem  Zugeständnis  verleiten,  daß 
nach  wie  vor  bei  hoher  Vertragsstrafe  diese  verfluch- 
ten Klingeln  niemals  ausgeschaltet  werden  durften. 
Wir  sind  noch  heute  verpflichtet,  sie  von  einer  eigens 
angestellten  Person  bedienen  zu  lassen. 

Miß  Simms  hörte  auf  zu  läuten,  sobald  sie 
merkte,  daß  zu  mündlichen  Unterhaltungen  keine 
Gelegenheit  mehr  war.  Aber  bald  meldete  sich  ein 
neuer  Korrespondent,  und  zwar,  merkwürdig  genug, 
nur  bei  Regenwetter.  Einer  meiner  Leute  kam  auf 
den  Gedanken,  hinauszugehen,  um  zu  sehen,  was 
los  sei:  da  ergab  sich,  daß  infolge  eines  Fehlers  der 
Entwässerungseinrichtung  der  Hügel  unterspült 
wurde.  Der  Kunde  soll,  wie  ich  später  erfuhr,  stark 
rheumatisch  veranlagt  gewesen  sein.  Sofort  wurde 
der  Mißstand  beseitigt,  und  es  gab  abermals  Ruhe. 

Daß  es  ein  Fehler  gewesen  war,  auf  diese  Be- 
schwerde einzugehen,  stellte  sich  bald  heraus.  Denn 
nun  kamen  sie  von  allen  Seiten  mit  Privatwünschen 
und  Nörgeleien.  Der  eine  klingelte,  weil  seine 
Gittertür  nicht  schloß;  bei  einem  andern  war  die 
Bank  wacklig  geworden;  ein  Dritter  brauchte  fri- 

294 


sehen  Kies,  der  Vierte  hatte  Regenwürmer.  Die 
Tätigkeit  der  Kirchhofsverwaltung  hatte  sich  in 
einem  Vierteljahr  verdreifacht,  und  die  laufenden 
Ausgaben  waren  auf  das  Vierfache  gestiegen. 
Einzelnen  Kunden  genügte  die  Tätigkeit  einer 
Katze  aus  der  Nachbarschaft,  um  die  Beamten 
mitten  in  der  Nacht  zu  alarmieren. 

Das  letzte  Stadium  dieser  traurigen  Entwick- 
lung wurde  durch  einen  ganz  alltäglichen  Fall  her- 
beigeführt. Eine  ältere  unverheiratete  Person  signa- 
lisierte beständig  ohne  erkennbare  Veranlassung. 
Es  blieb  nichts  übrig,  als  auf  schonendste  Weise 
die  Hinterbliebnen  zu  verständigen,  und  diese 
fanden  heraus,  daß  eine  boshafte  Anverwandte  in 
verletzender  Andeutung  eines  frühern  Vorfalls 
auf  dem  Grabe  einen  Myrtenkranz  niedergelegt 
hatte.  Es  war  leicht,  die  alte  Dame  zu  beruhigen, 
aber  das  hatte  zur  Folge,  daß  nun  unsre  Kunden 
ganz  allgemein  das  Tun  und  Lassen  ihrer  Hinter- 
bliebnen in  den  Kreis  ihrer  Beschwerden  zogen. 
Eine  Dame  findet  z.  B.,  daß  ihre  .vier  Schwieger- 
söhne zu  früh  zur  Halbtrauer  übergehen.  Sie 
läutet  täglich  zwischen  6  und  8.  Ein  Schrift- 
steller ist  mit  der  Grabschrift  nicht  zufrieden.  Ein 
Telegraphenbeamter  läutet  mit  kurzen  und  langen 
Intervallen,  in  einer  Art  Morseschrift,  eine  Kritik 
seines  Nachfolgers.  Ein  Beispiel  besonders  an- 
stößiger Einmengung  in  die  Familienverhältnisse 
Hinterbliebner  gibt  jedoch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  ein  gewisser  Hopkins,  den  ich  aus  diesem  Grunde 
namhaft  zu  machen  mich  nicht  scheue. 

Mr.  Hopkins,  ein  fünfundsechzigjähriger,  sehr 
begüterter  Mann,  hinterließ  eine  Frau  von  etwa 
zweiunddreißig  Jahren.    Es  war  zu  erwarten,  daß 

295 


sie  Verehrer  finden  würde,  und  Hausfreunde  sind 
der  Ansicht,  daß  gerade  Mr.  Hopkins  am  wenigsten 
berechtigt  gewesen  wäre,  hieran  Anstoß  zu  nehmen. 
Kaum  drei  Monate  nach  dem  Begräbnis  ging  die 
Klingelei  los.  Als  Mrs. Hopkins  hiervon  Kenntnis 
erhielt,  war  sie  trostlos.  Das  Zusammentreffen  der 
Eifersuchtsanfälle  ihres  weiland  Gemahls  mit  den 
Besuchen  ihres  Liebhabers  war  augenfällig.  Manch- 
mal meldete  sich  der  Ehegatte  morgens,  manchmal 
nachmittags,  meist  aber  abends,  wie  denn  über- 
haupt die  Zeit  von  sieben  bis  elf  Uhr  bei  uns  die 
bewegteste  ist.  Und  jedesmal  rasselte  die  Klingel 
wohl  eine  Viertelstunde  lang  in  eigentümlich  kaden- 
ziertem  Tempowechsel.  Mehrere  Monate  lang 
entzog  sich  die  arme  Frau  durch  eine  Reise  über  den 
Ozean  ihrem  Verfolger.  Erst  gestern  früh  kam  sie 
zurück  — ,  und  wirklich  hat  dieser  infame  Hopkins 
in  der  letzten  Nacht  bereits  wieder  viermal  ange- 
rufen! ..  ." 

Die  Geschichte  fing  an,  mich  zu  ermüden.  Der 
Direktor  verlor»  sich  in  Einzelheiten. 

„Nun,  was  sind  Ihre  Ansichten  betreffs  der  Zu- 
kunft ?"  fragte  ich. 

„So  kann  es  auf  die  Dauer  nicht  gehen.  Wir  arbei- 
ten uns  auf.  Ich  habe  mit  meinem  Bruder,  dem 
Manager  des  Fourthy-Sixth-Avenue-Hotel,  ge- 
sprochen; er  suchte  mir  klarzumachen,  daß  seine 
Gäste  noch  anspruchsvoller  seien,  und  schlug  mir 
vor,  die  Preise  zu  erhöhen.  Aber  das  ist  schwierig. 
Meine  Hoffnung  besteht  in  der  Aufhebung  des 
Vertrags  mit  der  Resurrection  Co." 

„Aber  Sie  sagten  mir,  das  würde  die  Existenz  der 
Gesellschaft  gefährden  ?" 

„In   diesem  Augenblick   vielleicht   nicht   mehr. 

296 


Sie  steht  mit  drei  weitern  Städten  in  Unterhand- 
lung. Unsre  Kommission  stellt  ihr  glänzende  Emp- 
fehlungen aus.  Wir  sind  auch  bereit,  eine  Abstands- 
summe anzubieten.  Vor  allem  liegt  aber  ein  nahezu 
zwingender  Grund  vor.  Der  eine  der  Direktoren  ist 
hochgradig  schwindsüchtig  und  von  den  Ärzten 
aufgegeben.  Natürlich  wird  er  hier  begraben  werden. 
Mit  dem  Manne  konnten  seine  Kollegen  schon  zu 
Lebzeiten  nicht  fertig  werden  — ,  nun  denken  Sie: 
wenn  der  die  Klingel  in  die  Hand  bekommt !  .  .  ." 

Das  leuchtete  mir  ein,  und  ich  begriff,  warum  der 
Kirchhofs  Verwalter  mir  nur  bis  zum  15.  Juni  1898 
Schweigen  auferlegt  hatte. 

Aus  New  York  kabelt  man- mir,  daß  der  kranke 
Direktor  durch  den  Gebrauch  von  Dr.  Hamilton 
S.  Myerstines  Hämatose  (in  allen  Apotheken  erhält- 
lich) gerettet  worden  ist.  Er  hat  den  Weg  von  Necro- 
polis,  Dacota,  bis  Key  West  per  Rad  zurückgelegt 
und  stellt  jetzt  Beobachtungen  über  das  Gelbe 
Fieber  an. 

Die  Resurrection  Co.  ist  jetzt  damit  beschäftigt, 
acht  Kirchhofsinstallationcn  in  den  Vereinigten 
Staaten  auszuführen,  und  hat  ihr  Kapital  auf 
7'/«  Millionen  Dollar  erhöht.  Erste  Bankinstitute, 
die  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht  haben,  die  Interessen 
des  deutschen  Kapitals  in  Amerika  zu  vertreten, 
sollen  im  Begriff  stehen,  sich  einen  erheblichen  An- 
teil an  dem  Unternehmen  zu  sichern. 

Uner  diesen  Umständen  betrachtete  ich  es  vom 
wirtschaftlichen  Standpunkt  aus  als  eine  zeitgemäße 
Aufgabe,  über  die  Tätigkeit  der  Gesellschaft,  so 
weit  es  mir  möglich  war,  Aufschlüsse  zu  geben. 

1898 


297 


TALMUDISCHE  GESCHICHTEN 


VOM  SCHRIFTGELEHRTEN  UND  VON  DER 
WAHRHEIT 

Aus  dem  babylonischen  Talmud 

Ein  Schriftgelehrter  saß  in  seinem  Hause  und 
weinte  vor  Betrübnis.  Denn  er  forschte  im 
Gesetz,  und  war  vieles,  das  sein  Geist  nicht  er- 
faßte. 

2.  Da  trat  zur  Tür  herein  ein  Weib,  das  war  nackt ; 

3.  und  hub  an  und  sprach:  Erschrick  nicht  und 
schäme  dich  nicht  meiner  Nacktheit,  denn  da  ich  ge- 
kommen, will  ich  dir  das  V^ort  deuten. 

4.  So  deutete  sie  ihm  die  Schrift,  bis  daß  der 
Nachttau  sich  niederließ  und  der  Morgen  kam.  Da 
sprach  das  Weib:  Verschließe  deine  Bücher  und 
lege  dein  Festgewand  an, 

5.  denn  ich  bin  gekommen,  daß  du  mich  zum  Könige 
führest. 

6.  Der  Schriftgelehrte  aber  schrie:  Was  vnllst 
du  beim  Könige,  da  du  voll  Weisheit  bist  und  andern 
Weibern  nicht  ähnlich  ?  Weißt  du  nicht,  daß  vor 
dem  Stuhl  unsers  Herrn  die  Torheit  kniet  und  die 
Heuchelei  sich  spreizet  und  die  Lüge  redet  ?  Und 
bist  nackt  und  von  schöner  Gestalt  und  fürchtest 
dich  nicht  vor  der  Begierde  der  Höflinge  ? 

7.  Das  Weib  aber  sprach:  Führe  mich  zum 
König ! 

8.  Und  da  sie  in  den  Palast  traten,  ward  das  Weib 
kleiner  denn  zuvor  und  unansehnlich:  und  als  sie 
vor  dem  Thron  standen,  war  sie  alt  und  runzlig  und 
finstern  Blickes. 

9.  Der  Schriftgelehrte  erhob  sein  Antlitz  zum 
König  und  sprach :  Herr,  dies  Weib  ist  weiser  denn 
dein  hoher  Priester  und  mächtiger  des  Wortes  denn 

301 


deine  Propheten.    Sie  befahl  mir  aber,  daß  ich  sie 
vor  dein  Antlitz  führe. 

10.  Da  lachte  der  König  und  sagte:  Wohlan, 
so  will  ich  sie  prüfen.  Und  die  um  ihn  waren,  blick- 
ten voll  Hohn. 

11.  Der  König  fragte  also:  Welcher  Fürst  ist 
der  mächtigste  ?  Und  sie  antwortete :  Dein  Nach- 
bar von  Westen. 

Und  der  König  fragte  zum  andern :  Welcher  Fürst 
ist  der  weiseste?  Sie  antwortete:  Dein  Nachbar 
von  Osten. 

Da  ward  der  König  unwillig  und  hieß  seine  Höf- 
linge schweigen 

12.  und  fragte  zum  Dritten:  Was  kündest  du 
mir  von  meinen  Völkern  ?  Und  sie  sprach :  Sklaven 
sind  sie  und  Schlachttiere.  Sie  werden  getreten  wie 
Trauben  in  der  Kelter.  Und  geben  doch  nicht  Most, 
sondern  eitel  Tränen,  Schweiß  und  Blut. 

13.  Da  schrien  die  Weiber  des  Königs:  Steiniget 
sie!  Und  spien  sie  an.  Sie  aber  sprach  zur  einen: 
Schämst  du  dich  nicht,  daß  du  dich  schminkest  und 
purpurne  Seide  und  goldene  Schuhe  trägst,  da  dein 
Leib  vertrocknet  ist  und  die  Fülle  deiner  Brüste 
verwelkt?  Und  zur  andern:  Erdreistest  du  dich, 
daß  du  hintrittst  vor  den  König,  da  dein  Buhle  noch 
in  deiner  Kammer  liegt  ? 

Der  Schriftgelehrte,  aber  wandte  sich  und  floh 
von  hinnen,     i 

14.  Jedoch  der  König  erstickte  seinen  Grimm 
und  sprach:  Ich  will  sie  zum  letzten  fragen. 
Sprich:  Was  redet  das  Volk,  wenn  es  meiner  gedenkt? 

15.  Das  Weib  antwortete:  Sie  reden,  daß  du  ein 
Tor  seist.  Aber  sie  wissen  es  nicht.  Denn  ich  sage 
dir:   Du  bist  arm  und  elend.  , 

302 


i6.  Da  erglühte  der  König  vor  Zorn  und  hieß 
das  Weib  fesseln  und  kreuzigen.  Und  die  Weiber 
schlugen  sie  mit  Ruten,  und  die  Höflinge  höhnten 
sie  um  ihre  Nacktheit.  Die  Knechte  aber  führten 
sie  hinaus  und  schlugen  sie  ans  Kreuz. 

17.  Aber  das  Weib  wollte  nicht  sterben.  Und  da 
die  Nacht  hereinbrach  und  die  Wächter  schliefen, 
riß  sie  sich  los  und  entkam.  Und  schlang  einen  blut- 
roten Schleier  um  ihr  Haupt  und  nahm  ein  Schwert 
in  ihre  Rechte  und  stieg  auf  die  Dächer  der  Häuser 
und  rief: 

18.  Wachet  auf,  ihr  Schläfer,  erhebt  euch,  ihr 
Träumer !  Schande  über  eure  Feigheit  und  Schmach 
über  eure  Knechtschaft!  Errötet  um  euren  Hunger 
und  schämt  euch  eurer  Blöße!  Gürtet  euch  mit 
Schwertern,  ihr  Männer,  und  rüstet  euch  mit 
Fackeln,  ihr  Weiber!  Zerschmettert,  die  euch 
schlugen,    und    zermalmet,    die    euch    drückten! 

19.  Da  erhob  sich  das  Volk;  und  sie  erbrachen 
die  Tore  des  Palastes  und  erschlugen  den  König 
samt  seinen  Kindern  und  seinem  Gesinde. 

Und  da  sie  am  Raube  und  Brande  sich  sättigten, 
schritt  das  Weib  hinaus  aus  den  Toren  der  Stadt 
und  war  schöner  denn  je  zuvor. 

20.  Da  begegnete  ihr  der  Schriftgelehrte,  der 
hinweggeflohen  war,  und  sprach  zu  ihr:  Bist 
du  des  Wortes  kundig  und  säest  Haß  ?  Bist  du  von 
Gott  und  predigst  Aufruhr  ?  Sprich,  daß  ich  wisse, 
wer  du  seist! 

21.  Und  das  Weib  erhub  sich  und  wuchs  gen 
Himmel;  und  ihr  Leib  glühte  wie  das  Eisen  im 
Ofen  des  Gießers,  und  ihre  Rede  war  wie  die  Stimme 
des  Donners, 

22.  und  sprach:    Ich  bin  die  Leuchte  vor  dem 

303 


Throne  Jehovas  und  das  flammende  Schwert  in 
seiner  Reciiten  und  heiße  die  Wahrheit. 

Du  aber  stirbst,  denn  keiner,  der  geboren  ist, 
soll  mich  erkennen  und  leben. 

23.  Da  sank  der  Schriftgelehrte  zusammen  und 
verging  zu  Asche  und  Staub.  Und  war  niemand,  der 
ihn  begrub  noch  um  ihn  trauerte. 

Und  sein  Gedächtnis  ist  ausgelöscht  und  sein 
Name  vergessen  bis  auf  diesen  Tag. 


304 


RABBI  ELIESERS  VVEIB 
Aus  dem  jerusalemitischen  Talmud 

Zu  der  Zeit,  da  Rabbi  Elieser  ben  Josef  lehrte 
zu   Jabne,   geschah   es,   daß   er   sich   erzürnte 
wider  sein  Weib, 

2.  denn  sie  war  unfruchtbar  und  nahm  es  sich 
zu  Herzen,  und  ward  schwermütig,  und  ihre  Schön- 
heit begann  zu  welken, 

3.  und  er  schrieb  ihr  einen  Scheidebrief  und  ver- 
stieß sie. 

4.  Da  er  nun  allein  war  in  seinem  Hause,  sprach 
er :  Ich  will  kein  Weib  mehr  freien.  Denn  ich  habe 
diese  geliebt,  und  meine  Hoffnung  ist  zuschanden 
geworden. 

5.  Einen  Golem  will  ich  mir  schaffen  und  ihm 
einen  lebendigen  Odem  geben,  daß  ein  Weib  erstehe; 
und  sie  soll  schöner  sein  als  die  Töchter  Judas  und 
heitern  Sinnes;  und  soll  meine  Gedanken  denken 
und  meine  Worte  sprechen.  Kinder  soll  sie  mir 
gebären  und  mich  erfreuen  alle  meine  Lebenstage. 

6.  Und  er  machte  einen  Golem  aus  Lehm  und 
Erde  und  schrieb  an  seine  Stirn  den  vierfach  heiligen 
Namen  und  blies  ihm  lebendigen  Odem  ein  und 
beschwor  ihn,  daß  er  atmete  und  lebte.  Und  siehe, 
das  Weib  war  schöner  als  alle  Töchter  Judas  und  hei- 
tern Sinnes  und  der  Liebe  kundig;  und  ihre  Stimme 
war  süß,  und  ihre  Worte  waren  wie  seine  Worte,  und 
ihre  Gedanken  waren  wie  seine  Gedanken. 

7.  Und  er  nannte  sie  Adamah  und  freute  sich 
ihrer  alle  Tage  und  war  guten  Mutes.  Und  seine 
Werke  waren  gesegnet,  und  sein  Ruhm  mehrte  sich, 
also  daß  die  Heiden  kamen  von  fern,  um  sein  Wort  zu 
hören,  und  sein  Name  genannt  ward  bis  gen  Edom. 

IV.  so  305 


8.  Und  er  rühmte  sich  dessen  zu  dem  Weibe 
Adamah;  die  aber  hörte  ihn  an  und  schwieg.  Denn 
sie  war  unbewegt  einen  Tag  wie  alle  Tage,  und  es 
geschah  niemals,  daß  sie  lachte  noch  daß  sie  weinete. 
Nach  einem  Jahre  aber  gebar  sie  ihm  einen  Sohn. 

9.  Da  geschah  es,  daß  Rabbi  Ehesers  Mutter 
sich  niederlegte  und  verschied.  Elieser  aber  liebte 
sie  von  Herzen.  Und  da  er  in  sein  Haus  trat  mit 
schwerem  Herzen  und  voll  Kummer,  kam  das  Weib 
ihm  entgegen  mit  Trauerkleidern  angetan  und 
sprach:  Siehe,  deine  Mutter  war  alt  und  schwach 
und  grämlich.  Sollte  sie  länger  dahinsiechen  und 
uns  zur  Last  sein  ?  So  gedachte  sie  ihn  zu  trösten. 
Der  Trost  aber  war  ihm  bitterer  als  der  Schmerz. 

10.  Und  abermals  schlug  der  Herr  den  Rabbi 
Elieser,  daß  seinen  jungen  Sohn  ein  zehrendes  Fieber 
befiel;  und  der  Knabe  starb  in  der  dritten  Nacht. 
Da  nun  Elieser  in  seiner  Kammer  lag  und  weinte 
und  seine  Tage  verfluchte,  trat  das  Weib  zu  ihm 
und  sprach :  Rabbi,  hast  du  nicht  gelehrt,  daß  un- 
mäßiger Schmerz  den  Weisen  schändet  ? 

11.  Da  ergrimmte  er  vor  Zorn  und  schüttelte 
seine  Hände  und  schrie:  Habe  ich  dir  nicht  ein 
Herz  gegeben,  auf  daß  du  trauerst,  und  eine  Stimme, 
auf  daß  du  klagest,  und  Augen,  auf  daß  du  weinest  ? 
Du  aber  bist  nichts  als  toter  Lehm  und  Erde. 

12.  Und  ergriff  das  Weib  und  löschte  aus  mit 
seinem  Finger  das  Wort  an  ihrer  Stirn.  Da  entwich 
ihr  Leben,  und  der  Golem  zerfiel  in  Schutt. 

13.  Der  Rabbi  aber  machte  sich  auf  in  dersel- 
bigcn  Nacht  mit  allen  seinen  Jüngern 

14.  und  begab  sich  vor  das  Tor,  wo  sein  Weib 
wohnte  in  Armut  und  Kümmernis,  das  er  ver- 
lassen hatte,  und  klopfte  an  die  Tür. 

.306 


15.  Die  Frau  aber  erschrak  und  kam  hervor  und 
rief:  Rabbi,  bist  du's  ?  Kommst  du  bei  Nacht  mit 
Häschern  und  Fackeln,  daß  du  mich  umbringest? 

16.  Und  Rabbi  Elieser  kniete  vor  seinem  Weibe 
und  sprach  zu  seinen  Jüneern:  Sehet,  ich  bin  nicht 
wert,  daß  diese  die  Sünde  von  meinem  Haupte 
nehme. 

17.  Sein  Weib  aber  weinte  vor  Freude,  legte 
ihr  armselig  Gewand  ab  und  tat  ihre  Hochzeitskleider 
an  und  folgte  dem  Rabbi  in  sein  Haus. 

18.  Elieser  aber  hielt  sie  in  Ehren  und  liebte  sie 
wie  am  Tage  seiner  Vermählung  und  schenkte  ihr 
einen  goldnen  Schmuck  mit  feinen  Perlen  und 
Onyx;  auf  dem  war  geprägt  das  Bild  der  Stadt 
Jerusalem  und  des  Tempels  und  der  Burg  Zion. 

19.  Alle  Weiber  aber  neideten  ihr  den  Schmuck; 
und  unter  ihnen  war  die  Frau  des  Hohenpriesters. 
Der  Hohepriester  aber  schalt  sie  und  sprach  zu  ihr: 
Rabbi  Eliesers  Weib  allein  ist  würdig,  den  Schmuck 
zu  tragen  unter  den  Weibern,  denn  ihre  Liebe  war 
mächtiger  denn  die  Sünde. 


307 


DER  ENGEL  DES  TODES 

Und  es  geschah, daß  der  Ewige  heimsuchte  die  Stadt 
Jerusalem  mit  Pestilenz  um  ihrer  Sünden  willen. 

2.  Und  nächtens  zog  der  Engel  des  Todes  durch 
die  Straßen,  der  hielt  ein  schneidendes  Schwert  in 
seiner  Hand, 

3.  damit  rührte  er  die  Türen  der  Häuser,  und 
welche  Tür  er  traf,  da  starben  die  Kranken  bei 
Sonnenaufgang. 

4.  Und  die  Gassen  der  Stadt  waren  leer  und  die 
Märkte  verödet;  und  die  Wächter  machten  unter 
den  Toren  ein  Feuer  und  zechten  und  wurden  trun- 
ken. Denn  sie  sprachen :  „Was  soll  es,  daß  wir  über 
die  Leichen  straucheln  ?  Wen  Gott  ruft,  der  wird 
auferstehen.  Gestern  waren  wir  zwanzig,  heute 
sind  wir  sieben;  was  wird  morgen  sein?" 

5.  In  der  Straße  aber,  die  da  heißt  Gehennom, 
wohnte  eine  Buhlerin  mit  Namen  Thamar,  nahe 
dem  Südtor,  die  war  schön  von  Angesicht  und  wohl- 
gewachsen; 

6.  und  hatte  ihre  Haare  geflochten  mit  rosen- 
farbenen  Bändern  und  schminkte  ihre  Wangen  und 
trug  güldne  Spangen  und  Kettchen  von  Amethyst 
und  Jaspis. 

7.  Da  sie  nun  wachte  die  Nacht  über  an  ihrem 
Fenster,  kam  der  Engel  des  Weges,  der  glich  einem 
Manne  in  schwarzen  Kleidern  und  trug  in  seiner 
Hand  ein  geschliffnes  Schwert. 

8.  Thamar  aber  winkte  ihm  und  sprach:  „Tritt 
herzu,  Fremdling,  und  ruhe  vom  Wege.  Siehe, 
meine  Kammer  ist  geschmückt  und  duftet  von 
Myrrhen.  Draußen  aber  lauert  die  Pest,  und  der 
Tod  ziehet  einher." 

308 


9-  Und  der  Engel  trat  ins  Haus.  Sie  aber  sprach : 
„Ach,  Herr,  warum  führest  du  in  deiner  Hand  ein 
bloßes  Schwert  ?"  Und  er  erwiderte :  ,, Stehet  nicht 
geschrieben :  mit  dem  Schwerte  will  ich  euch  erlösen  ?" 
Und  sie  sprach  abermals:  „Herr,  warum  ist  dein 
Gewand  schwarz  wie  der  Abgrund  der  Nacht  ?" 
Und  er  antwortete  und  sprach:  „Stehet  nicht  ge- 
schrieben: die  Toten  will  ich  ehren  und  um  die 
Lebenden  will  ich  trauern  ?" 

10.  Und  er  setzte  sich  nieder  und  sprach :  „Singe 
mir  ein  Lied."  Sie  aber  tat,  wie  er  befohlen  hatte, 
denn  ihre  Stimme  war  lieblich,  und  hub  an  und 
sang : 

11.  „Saget  nicht,  meine  Freundinnen,  Töchter 
Israels,  daß  ich  schön  sei.  Mein  Geliebter  naht,  und 
ich  schäme  mich  meiner  Gestalt;  ach,  er  wird  mich 
verachten.  Schmücket  mich  mit  Ringen  und  gol- 
denen Gehängen  und  kleidet  mich  in  Purpurseide, 
daß  sein  Blick  auf  mir  ruhe;  salbet  mich  mit  Narden 
und  Ambrabalsam.  Komme,  mein  Freund,  und  ver- 
schmähe mich  nicht. 

12.  Lieblich  bist  du,  meine  Freundin,  wie  die 
Morgensonne,  und  schön,  wie  ein  Maientag.  Lege 
ab  die  Gehänge,  denn  deine  Brüste  sind  feiner  als 
Opale,  tue  weg  die  Spangen,  denn  deine  Lippen  sind 
leuchtender  denn  Rubine.  Meine  Hand  glättet 
deine  Haare,  und  sie  duften  lieblicher  als  Myrrhen; 
mein  Arm  liegt  um  deine  Hüfte,  und  dein  Leib  ist 
frisch,  wie  eine  köstliche  Frucht.  Dein  Haupt  ruhet 
an  meiner  Brust;  meine  Seele  erzittert,  und  mein 
Herz  entfliehet  vor  Sehnsucht." 

13.  Und  da  sie  also  gesungen  hatte,  sprach  der 
Engel  des  Todes:  „Bereite  das  Lager."  Und  sie 
bereitete  das  Lager  mit  weißem  Leinen  und  pur- 

309 


purner  Decke.  Da  blieb  er  bei  ihr  bis  eine  Stunde 
vor  Tagesanbruch,  da  der  Wind  sich  erhob  und  die 
Spatzen  begannen  zu  schreien. 

14.  Und  sprach  zu  ihr :  „Sprich,  was  ist  dein  Be- 
gehren ?   Siehe,  ich  gewähre  dir,  was  du  verlangest." 

15.  Thamar  aber  antwortete  und  sprach :  „Wohl- 
an, so  begehre  ich,  daß  du  ablassest  von  dem,  was 
du  begonnen  hast  in  dieser  Nacht,  ehe  daß  du  hier 
eintratest."  Er  aber  sprach:  „Weib,  kennest  du 
mich  ?" 

.  16.  Da  antwortete  sie:  „Habe  ich  dich  nicht 
gesehen  durch  die  Gasse  schreiten  ?  Dein  Gewand 
war  wie  Rabenflügel  und  dein  Schwert  wie  Wetter- 
leuchten. Bist  du  nicht  der  Engel  des  Todes  ?" 
17.  Da  erbebte  er  vor  Zorn  und  sprach:  „Nun 
wohl:  es  sei,  wie  du  gesprochen.  Aber  freue  dich 
nicht,  Dirne,  und  frohlocke  allzusehr.  Hast  du 
mich  überlistet,  so  will  ich  dich  überschreiten. 
Wisse,  daß  du  mich  abermals  erblicken  sollst;  doch 
nicht  eher  als  über  siebenzig  Jahre.  Bis  dahin  sollst 
du  leben  und  deines  Lebens  satt  werden."  Also 
ward  die  Buhlerin  gestraft. 

DER  FÜNFSÜNDER 

In  den  Tagen,  da  das  Volk  von  Juda  sich  erhoben 
hatte  wider  die  Knechte  der  Römer  und  ver- 
herrlicht worden  war  der  Name  des  Heerführes,  der 
genannt  war  Bar  Kochba,  das  ist:  Sohn  der  Sterne, 

2.  in  diesen  Tagen  geschah  es,  daß  die  Sohne 
Edoms  schlugen  mit  der  Schärfe  des  Schwertes 
das  Heer  der  Juden  und  töteten  mehr  denn  siebenzig 
Tausend. 

3.  Und  war  Klagen  und  Wehgeschrei  in  Juda, 

310 


wie  nie  zuvor,  weder  zur  Zeit  Nebukadnezars  noch 
jenes  Kaisers,  des  Missetäters,  des  Name  nicht  ge- 
dacht werde. 

4.  Denn  der  Statthalter  mit  Namen  Rufus  zer- 
trat das  Volk  Juda  mit  eisernem  Sohlen  und  schlug 
es  mit  ehernem  2^pter,  und  sein  Thronsitz  starrte 
von  Blut. 

5.  Und  er  ließ  ein  Verbot  ausgehen  bei  Todes- 
strafe über  das  ganze  Land,  daß  niemand  bestatte 
die  Leiber  der  Erschlagnen.  Da  hörte  man  viele 
das  Wort  im  Munde  führen :  „Lasset  die  Toten  ihre 
Toten  begraben",  und  die  also  sprachen,  entgingen 
dem   Gericht  und  nannten  sich  die   Lebendigen. 

6.  Zu  dieser  Zeit  geschah  es,  daß  Rabbi  Meir 
mit  seinen  Jüngern  über  Land  zog;  und  da  sie 
nahe  der  Stadt  Uscha  waren,  sahen  sie  einen  Men- 
schen am  Wege  liegen,  der  war  verwundet  und 
wollte  sterben.  Und  Rabbi  Meir  trat  zu  ihm 
und  sprach:  „W^er  bist  du  und  wer  hat  dich  ge- 
schlagen ?" 

7.  Der  aber  erwiderte  und  sprach :  „Herr,  wende 
von  mir  dein  Antlitz,  denn  ich  bin  ein  Sünder  vor 
Gott  dem  Herrn  und  unrein  vor  dem  Gesetz." 
Da  sprach  Meir  abermals :  „Was  hast  du  begangen  ?" 

8.  Und  der  Mann  erhob  seine  Stimme  und  schrie: 
„Wehe  mir!  Denn  ich  bin  der,  den  sie  den  Fünf- 
sünder nennen.  Ich  bin  Unterhändler  mit  Dirnen, 
ich  putze  das  Schauspielgebäude;  ich  trage  die  Ge- 
wänder der  Dirnen  ins  Badhaus;  ich  tanze  vor  ihnen 
und  schlage  die  Pauke." 

9.  Rabbi  Meir  aber  sprach:  „Hast  du  nie- 
mals Gutes  getan  in  deinem  Leben  ?"  Und  der 
Mann  erwiderte:  „Da  ich  einstmals  das  Schauspiel- 
haus säuberte,  fand  ich  ein  Weib.    Die  jammerte, 

311 


weil  ihr  Mann  gefangen  saß,  und  hatte  nichts,  daß 
sie  ihn  loskaufte.  So  wollte  sie  sich  den  Knechten 
der  Römer  hingeben,  daß  sie  ihn  lösete.  Da  ich 
dies  hörte,  verkaufte  ich  mein  Bett  und  gab  ihr 
das  Geld." 

10.  Und  Rabbi  Meir  fragte  zum  letzten:  „Nun 
sprich :  wer  hat  dich  geschlagen  ?"  Da  antwortete  der 
Fünfsünder :  „Die  Knechte  der  Römer  haben  mich 
geschlagen,  darum,  daß  ich  meinen  Sohn  bestattete." 

11.  Da  erhob  der  Rabbi  seine  Stimme  und  rief: 
„Fahre  hin  und  schlafe  über  Nacht.  Am  Morgen 
aber  wird  der  Herr  dich  erlösen.  Wo  nicht,  so  erlöse 
ich  dich."      Da  verschied  der  Mann  in   Frieden. 


^12 


DIE  STIMME  DES  VOLKES 
Aus  dem  jerusalemitischen  Talmud 

Um  diese  Zeit  geschah  es,  daß  der  König  von 
Juda  mächtig  wurde  über  viele  Völker.  Und 
seine  Macht  verblendete  ihn  also,  daß  der  Geist 
Gottes  von  seinem  Haupte  wich; 

2.  und  er  ward  wahnsinnig  und  deuchte  sich 
einen  Sohn  Gottes  und  einen  Gott  auf  Erden. 
Und  befahl  seinen  Knechten,  daß  sie  ihn  anbeteten, 
und  seinen  Priestern,  daß  sie  ihm  opferten  Zehnten, 
Erstlinge  und  Weihrauch. 

3.  Und  wenn  er  sich  auf  seinem  Throne  wälzte 
in  schamloser  Nacktheit,  so  sprachen  seine  Knechte : 
Siehe,  er  ist  bekleidet  mit  dem  Lichte  der  Sonne :  und 
wenn  er  auf  dem  Dache  seines  Hauses  tanzte,  so  re- 
deten sie :  Siehe,  er  steigt  auf  und  fährt  gen  Himmel. 

4.  Er  aber  verließ  seinen  Palast  nimmer  bei  Tage 
noch  bei  Nacht  und  verwahrte  die  Tore  mit  ehernen 
Riegeln.  Und  war  keiner,  der  sich  der  Burg  nahete 
denn  mit  Zittern  und  Zagen. 

5.  Und  befahl  die  Schriftgelehrten  zu  sich,  daß 
er  sie  lehrte  das  Wort  deuten ;  und  die  Saitenspieler 
hieß  er  spielen  und  die  Flötenbläser  blasen  nach  sei- 
ner Weise  und  Willkür. 

6.  Aber  das  Volk  seufzte  und  sprach:  Wehe  uns 
und  unsern  Kindern!  Auf  dem  Stuhle  Davids  sitzt 
ein  reißender  Löwe,  seine  Lefzen  triefen  vom  Blut 
unsrer  Söhne,  und  die  Wände  seines  Hauses  gellen 
von  dem  Geschrei  unsrer  Töchter.  Raben  und  Geier 
nisten  auf  dem  Berge  des  Herrn,  und  der  Engel  des 
Todes  schreitet  bei  Nacht  durch  die  Gassen. 

7.  Da  jammerte  den  Propheten  Maleachi  das 
Geschrei  des  Volkes. 

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8.  Und  er  machte  sich  auf,  begab  sich  nach  der 
Stadt  Jerusalem  und  schritt  zum  Palast.  Und  die 
ehernen  Tore  sprangen  auf  vor  dem  Propheten,  und 
die  Knechte  wichen  zur  Seite. 

9.  Und  er  trat  vor  den  König,  erhob  seine  Augen  zu 
seinem  Angesicht  und  blickte  ihn  an;  und  beschwor 
ihn  im  Namen  Gottes,  des  Herrn  (gepriesen  sei  er). 

10.  Und  alsbald  verließ  den  König  der  böse  Geist, 
und  es  ward  ihm  Friede.  Und  er  schämte  sich  seines 
Wahnsinns,  verschloß  sich  in  seine  Kammer  und 
weinte  in  Schmerzen. 

11.  Die  Knechte  aber  rissen  die  Tore  auf,  daß 
das  Volk  hereinströmte,  und  schrien: 

12.  Sehet,  zuvor  war  der  König  guten  Mutes 
und  stolz  und  voll  Freudigkeit,  jetzt  ist  er  zerbro- 
chen und  will  verzagen.  Er  hat  sein  Antlitz  von 
uns  gewendet,  und  wir  werden  das  Licht  seiner 
Augen  nicht  mehr  schauen. 

13.  Sehet,  der  König  weinet  in  seiner  Kammer, 
denn  dieser  hat  ihn  angefahren  und  ihn  beschworen 
als  wie  einen  Wahnsinnigen.  Die  Wahrheit  aber  ist, 
daß  ihn  gelüstet  nach  dem  Stabe  und  Diadem. 
Nun  richtet  ihr,  welcher  von  beiden  wahnsinnig  sei: 
der  gesalbte  Sohn  Davids  oder  dieser,  der  sich  einen 
Propheten  nennet. 

14.  Da  rief  das  Volk:  Wahnsinnig  ist  der  Pro- 
phet !  Und  sie  ergriffen  ihn,  schleppten  ihn  vor  die 
Tore  und  steinigten  ihn. 

15.  Da  aber  der  Prophet  tot  war,  verdüsterte  sich 
des  Königs  Geist  zum  zweiten  Male,  und  er  wütete 
ärger  denn  zuvor;  und  sein  Wahnsinn  ward  nicht 
von  ihm  genommen  bis  an  sein  Ende. 

Er  herrschte  aber  über  Juda  76  Jahre. 

1899 


INHALT 


AUFSÄTZE 

Von  Schwachheit,  Furcht  und  Zweck 9 

Ein  Traktat  vom  bösen  Gewissen 35 

Das  Grundgesetz  der  Ästhetik 47 

Widmungen 69 

Frank  Wedekind  zum  fünfzigsten  Jahr  ...  71 

Hermann  Stehr  zum  fünfzigsten  Jahr    ...  74 

Max  Liebcrmann  zum  siebzigsten  Jahr  .  •  •  75 

Geschäftliche  Lehren 85 

Vom  Wesen  industrieller  Krisen 107 

Vier  Nationen     121 

Englands  Industrie 141 

Massengüterbahnen 153 

Promemoria  betreffend  die  Begründung  einer 

königlich  preußischen  Gesellschaft 171 

Schule  und  Bildung 183 

Ungeschriebene  Schriften 197 

Physiologisches  Theorem 247 

FRÜHERE  SCHRIFTEN 

Zur  Physiologie  der  Geschäfte 257 

Die  Resurrection  Co 285 

Talmudische  Geschichten 299 


Druck   der  Spamerschen  Buchdruckerei   in  Leipzig 


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