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Dtto Julius Bierbaum / Gefammelte Werke
in zehn Bänden herausgegeben von
Michael Georg Conrad und
Hans Brandenburg
Zweiter Band
@®
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Otto Julius Bierbaum
Gefammelte Werke
Zweiter Band
1921
Münden bei Georg Müller
Dtto Julius Bierbaum
Pankrazius Graunzer
Stilpe
1921
Muͤnchen bei Georg Muͤller
Copyright 1921 bp Georg Müller Verlag Akt.Geſ., Münden
Inhalt
Pankragus Sauer . .. 2. 2er nennen ı
Silo. 22200 231
372773
Digi
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Die Freierdfahrten und
Treiersmeinungen
des weiberfeindlichen Deren
Pankrazius Graunzer
der Schoͤnen Wiſſenſchaften Doktor
nebſt einem Anhange
wie ſchließlich alles ausgelaufen
L
Kurzer Vorbericht über Herrn Pankragius Graunzers
Leibes⸗ und Seelenzuftände ſowie einiges aus feinem
früheren Leben
DH: in dieſer Geſchichte der Mann, um den fie ſich dreht (ich
möchte nicht gerne fagen: der Held), zumeift felber Das Wort
hat, wird es gut fein, wenn ich, bevor wir feinen Meinungen lau ·
ſchen, einiges über ihn verlauten laſſe, denn ic) glaube faum, daß er
ſich felber in aller Form vorſtellen wird.
Ob Sie freilich) ein Mares Bild erhalten werden, wenn ich in
feinem Signalement feftftee, daß er blond, blaudugig und etwas
furgbeinig, Dazu ſpitzbaͤuchig und mit einem fehr mäßigen Schnurr-
barte behaftet it? Diefe Gaben hat er mit fehr vielen Gefchlechts-
und Zeitgenoffen gemein. Aber einiges in feinem Leib- und Seelen»
weſen ift Doch mehr abfonderlicher Natur, und es verhilft vieleicht
au einer ungefähren Vorſtellung, wenn ich dies Einige anführe.
Bas zuerft an ihm auffänt, iſt feine etwas wunderliche Naſe.
Bon vorn, nun ja, von vorn ift fie einfach Fartoffelig, Die üb»
liche Miſchnaſe wendo · germaniſchen Typs, aber ihre Merkwuͤrdig ·
keit beginnt, wenn Ste die Güte haben wollen, ſich Herrn Pan-
krazius von der Seite anzuſehen. Stellen Sie ſich zu ſeiner Rechten,
und Sie haben ein kurzes, gedrungenes Naſenbild mit abwaͤrts ge»
bogener Richtung vor ſich, ein Rafenbild, das auf männliche Energie,
Kurzangebundenheit, Beftimmtheit, ja, ich möchte faft fagen,
Stoͤrriſchkeit ſchließen läßt, — alles In allem ein Naſenbild, das
ſich unter Brüdern fehen laffen fann. Nun treten Sie aber, bitte,
mal links von ihm. „Himmel! Iſt das dieſelbe Naſe?“ werden
Sie voll Verwunderung rufen, und Sie haben ein Recht u er-
faunen. Denn das linfe Naſenbild it fo fehr Das ausgeprägte
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Gegenteil des rechten, wie in einem Parlamente bie linke Seite der
Gegenpart der rechten ift. Sie werden nicht sögern, zu erflären, daß
dieſe Naſe direkt länger ift als jene, daß ihre Richtungstendem ent-
ſchieden aufwärts geht, daß fie etwas Stuppfiges, etwas Trälern-
des hat, möcht’ ic) fagen, und daß fie auf einen weichmuͤtigen Be⸗
fiter ſchließen läßt, der ganz und gar nicht muͤrriſch, abfolut nicht
kurzangebunden und feineswegs fehr beftimmten ober ſtoͤrriſchen
Charakters iſt. Diefe linfe Nafe deutet vielmehr auf eine paffive,
nachgiebige, wohllebige, friedliche, etwas ſchwankende Seele hin,
man fönnte fie einem Melancholiker oder einem Humoriften zu:
fprechen, und man kann ſich in Anfehung ihrer Des greulichen Ber-
dachtes nicht entſchlagen: Der Mann reimt!
Ich halte mich nicht ohne Grund bei Heren Pankraziuſſens
beiden Naſen auf. Ich win nichts weiter fagen . . . aber das ſcheint
mir gewiß: bebeutungslos tft dieſe Doppelnafigkeit nicht! Ich würde
es unerhört von der Natur finden, wenn fie folde Merkwuͤrdig ·
feiten ganz bebeutungslos infzenierte.
Eine weitere aͤußerliche Eigentlmlichfeit an Heren Graunger,
die aber nur denen auffäht, bie ihn öfter zu fehen Gelegenheit ha ⸗
ben, liegt in feinen Augen.
Sie find blau. Run ja. Gut. Das iſt nicht merkwürdig. Aber
merkwuͤrdig iſt, daß fie von einem mechfelnden Blau find. Zumel-
len find fie ganz leer blau, heiler als Vergißmeinnicht, ich möchte
fagen verſchoſſen blau, fo, wie unecht blaugefärbtes Kattunzeug
nad) der ſechſten Waͤſche und Bleiche ausficht; aber ein andermal
ſtrahlen fie, der Kuckuck weiß, aus was für Tiefen und Gründen,
ganz bunfelblau, fo, wie Die Maler die Grotte von Capri malen,
und wie der Simmel im Süden an feinen ſchoͤnſten Tagen ausfieht;
und ein anbermal wieder haben fie gar einen ſchwarzen Unterglang,
fo mas ganz Inneraͤugiges, wofuͤr ich mich vergeblich bemühen
würde, einen Vergleich zu finden.
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Auch dies mit der Farbe von Panfrastuffens Augen ift nicht
ohne! Ich will ausdruͤcklich darauf hingewieſen haben. Dan fol
mir nichts vorwerfen!
Von ſeiner Stirne iſt zu ſagen, daß ſie ſtark gewoͤlbt und recht
hoch iſt. Er hat die Gewohnheit, mit der Hand darüber himu ·
fahren und dabei zu feufzen oder auch zu föhnen. Je nad) Laune.
Die Hände felbft deuten auf keineswegs adlige Herkunft. Sie
find breit, aber nicht fett. Ich, der ich meinen Pankrazius fehr gut
fenne, brauche nur feine Hände anzufehen, und ic) weiß ſchon, wie's
in feiner Seele ausfieht. Panfrastus bekommt nämlich ſogleich fal-
tige und bleiche Kranfenhände, wenn fein Gemuͤt auch nur ein we»
nig aus der Harmonie gekommen iſt.
Alfo nicht einmal charaktervolle Hände hat er! Dan wird feine
Schluͤſſe daraus ziehen.
Pankraziuſſens Mund dürfte eher ein Maul geheigen werben,
wenn e8 erlaubt wäre, den Sprachſchatz der Deutfchen gebuͤhrend
auszunugen. Da aber, wie biig, Die gute Sitte derlei Malofig-
feiten verbietet, muß ich mich damit Behelfen, zu fagen, daß dieſer
Mund die äfthetifchen Maße überfchreitet und jenen Gefegen des
Goldenen Schnittes hohnſpricht, die ein gewiſſes Maßverhält-
nis der menſchlichen Körperteile untereinander bedingen. Selbſt,
wenn Pankrazius „Böhnden“ fagen würde (mas aber bei feiner
Abneigung gegen Diminutive durchaus unwahrſcheinlich if), fo
würde dieſer Mund noch immer unbillig viel Gefichtsraum ein»
nehmen.
Hätte nun die Borfehung wenigftens dafür geforgt, daß das
Pankraziſche Lippengeſchwiſter von einem ausreichend großen
Schnurrbart verdeckt würde! Aber juft dieſer Schnurrbart, in ſei⸗
ner bürftigen Ode und Kuͤmmerlichkeit, gibt der extravagant lan-
gen Eippenlinte noch eine gewiſſe Betonung. Jedes diefer wenigen
farren, blonden Haͤrchen ift ein Ausrufezeichen: Seht, meld) ein
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Maul! (Nichts für ungut! Das „Maul“ geht nicht auf meine
Rechnung.)
Auch auf dem Haupte iſt Pankraziuſſens Haarwuchs unvol-
kommen und von jedem uͤberſchwang weit entfernt.
Zwar hat er, für einen afademifch gebildeten Deutſchen ein
merfwürbiger Fall, trog feiner viersig Jahre noch Feine Glatze,
aber die Haare feldft ftehen ganz ungemein weit auseinander, faft
als ob fie ſich gegenfeitig nicht trauten, und da fie obendrein fehr
duͤnn find, macht das Ganze den Eindrud eines fehr windigen
Ackers.
Panftaztus ſelber pflegt Darüber folgendes Gleichnis zu erzählen,
das ich im Intereſſe der heute fo hoc gehaltenen Pfychologte mit
befonderer Andacht anzuhören bitte: Als der Genius meines Ichs,
ein Atherifches Wefen, bitte ich zu bemerfen, geboren aus Leichtfinn
und Angftlichfeit, über mein kindliches Haupt fehritt und Die
Haare fäte, fiehe, Da warf er die Körner bald in fo leichtfertigem
Schwunge, daß fie über den Kopf und die Wiege weg fielen, um
als Sonnenftäuschen sum Fenfter hinaussufptelen, bald sielte er in
pedantifcher Angft mit jedem Koͤrnchen auf die einzelnen Poren.
Wo er traf, blieben fie bumsfeft figen, aber den Haaren, bie Daraus
wuchſen, fieht man es nun leider an, daß ihre Körner nicht gefät,
fondern gegielt worben find. Denn darum eben find fie gar fo duͤnn
und hat jedes mehr individuellen Ausbrud, als gut iſt. Die Kör-
ner aber, die daneben fielen, — du lieber Gott! ich weiß nicht,
was für Voͤgel fie gefreffen, was für Winde fie genommen haben.
Indes der brave Genlus zielte, flogen fie auf und Davon in bie
Welt, und wenn ic) einen lockenſchwingenden Dichter oder Srifeur
fehe, greift es mir heiß ans Hera: ob er nicht von deinen fortger
flogenen was abbefommen hat?
Ich habe den fehr verehrten Lefer zu befonderer Aufmerffam-
keit auf dies Panfrazifhe Gleichnis ermahnt, und ich hoffe, Daß ich
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nicht umfonft den Singer erhoben habe. Gleichniſſe fann man nie
tragifch genug nehmen.
Ob man fid) nun einen ungefähren Eindrud Davon wird machen
koͤnnen, wie Panfrasiuffens Kopf ausfieht, — ber Himmel mag’s
wiſſen. Ich füge nur noch hinzu, daß feine Gefichtsfarbe feines»
wegs an Rembrandt, dagegen lebhaft an Rubens erinnert, fo po-
ſaunenengeliſch munter fieht fie aus, — fehr zu feinem Nrger, da
er nie wohler zu fein feheint, als wenn er über Krankheit klagt.
Man wird nicht gerne von feinen eigenen Baden dementiert.
Aus Herrn Graunzers Lebensgang bis zu feinem vierzigften
Jahre ift nicht viel zu erzählen. Er hat ven Einbrud des Eltern-
haufes fo gut wie entbehrt und ift in einem Inſtitute erzogen wor ·
den. Dann das übliche Gymnaſium, Die übliche Univerfität, die
übliche Pertode der Anwartſchaft auf eine Stelung, dann das
wohleingehegte Einerlei dieſer Stellung ſelbſt, — das tft feine
Vergangenheit, von der er übrigens vielleicht felber zuweilen ſprechen
wird.
‚Hören wir nun, was er fagt! Hören wir ruhig und, ich möchte
es vorſchlagen, wohlwollend zu. Ich meine: wir wollen nicht gleich
auffahren, wenn der Dann biefer Geſchichte einmal anderer An-
ſicht fein ſollte, als wir. Gönnen wir ihm feinen Kopf, auch wenn
er eig if. Der unfere verliert dadurch nichts an anmutiger
Rundung.
Und noch eins: Machen Ste fi auf feinen Roman gefaßt.
Ich habe es ſchon angedeutet: Diefer Panfraztus ift fein Held.
Weder ein altmobifcher in Kanonenftiefel mit Säbel und Piftol
noch ein neumobifcher in Lackſtiefeln mit dem Seziermeſſer und
nad Wundts Pſychologie. Er iſt auch Fein intereffanter Schwere
nöter, und es wiberfährt ihm nichts, mas ein Anrecht Darauf hätte,
unter „Bermifchtes" in die Zeitung eingerüickt zu werben. Wenn ich
es recht bedenke, iſt er eigentlich ein ziemlich gewöhnlicher Burſche.
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um Gottes willen: laufen Sie nur nicht gleich davon! Ber
denfen Sie Dies: er mag die Weiber nicht. Diefer eine Punkt
erhebt ihn über den Durchſchnitt feines Geſchlechtes. Sehen wir au:
wohin.
I.
Ein Brief des Herren Pankrazius Graunger an feinen
Freund den Gymnaſiallehrer Peter Kahle. Handelt von
einer verftorbenen Tante
Kiebighof, am zo. Januar.
Mein alter Peter!
Das alte Frauenzimmerchen tft nicht mehr . . . Nebenan liegt
fie, in der blauen Stube, Du weißt ſchon: wo al das kleine
Krimsframszeug aus Porzelan herumfteht, und iſt ganz ſtill und
tot. Ste hat ihr ſchwariſeidenes Brautfleid an mit den langen
Hängeärmeln und der großen, fteifen Krauſe; um ben Hals hat
fie Die große goldene Erbfenfette; und das alte dicke Geſangbuch
mit dem quittengelben Schnitt hat fie in der Hand. Sie fieht
wunderſchoͤn friedlich aus, ganz untantifch; nur ihre weißen Schlä-
ſenloͤckchen haben mir etwas Unheimliches, denn ich befinne mich
nicht, fie je in fo ruhiger Lage gefehen zu haben. Weißt Du noch,
wie fie immer sitterten, wenn das gute Ungetuͤmchen sornwetterte?
Es iſt mir eigentlich -unfaßbar, daß fie nun auf einmal tot fein
fon. Kaͤme fie jegt plöglich herein und riefe mich an: „Ra, Grauns
ser, was fuͤr Narrheiten fpufen anjegt in deiner fchönen Mannes ⸗
ſeele?“, ich fände das viel natuͤrlicher, wie daß ich denfen ſoll, fie
liegt da, ſtarr und fteif und kalt im Bett und wird nimmer aufs
ſtehen.
Ja, kannſt Du Dir das vorſtellen? Es iſt geradezu, was ſoll
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ich gleich fagen, ja: ſtilwidrig. Der Tod paßt nicht zu ihr. Ich ber
greife es nicht.
Noch zu Weihnachten ſchrieb fie mir nach Berlin: „Gr 7
ich ſchicke Dir hier ein Dugend wollene Soden, einen anftänbigen
Schlafrock, einen Fußſack flr unter den Schreibtiſch, fünf richtige
Pfefferkuchen, hausbadene, und das, mas in der Schlafrodtafche
fledt. Denn da Du immer noch derfelbe Rarr bift und feine Fran
haft, muß Deine alte Tante, die fonft Beſſeres zu tun hätte, für
Did) forgen. Verlebe den Heiligen Abend fo gut, als es einem alten
Junggeſellen und Hageftols möglich tft. Ich beneide Dich nicht um
Deine philofophifche, verhockte Einfamfeit und wuͤnſchte fehr, daß
Du bald vernünftig wuͤrdeſt. Aber glauben tu ich nicht daran.
Wo der Wurm fit, ift Mehl ſtatt Holz, und wenn fi) ein &e-
lehrter was in den Kopf gefegt hat, ſitzt was im Kopf, wenn’s
auch manchmal zum Gotterbarm ift. Ich bin gefund und munter
und mache eine große Beſcherung für die Kinder im Dorf. So ein
verwaiſtes Mütterchen, wie ich, muß ſich mit Surrogaten helfen.
Wenn fie mir nur nicht wieder die Dielen fo zerfragen mie voriges
t.
J Deine alte Tante
ulrife,
Der Rotfchedligen mußte e8 gerabe jest einfallen zu falben. Es
ift ewig was Io."
Wie fie den Brief ſchrieb, hat fie ficher nicht ang Sterben ge»
dacht.
Überhaupt: wie alles, fo hat fie auch das ſchnell und glatt ere
ledigt. Der alte Hans Jörg erzählte mir, am fünften Januar hätte
fie ſich plöglich nachmittags um Drei niedergelegt, dann ift fie am
fechften wieder aufgeftanden, war aber fehr blaß, augenränderig
und auffällig ruhig, ſchrieb auch viel. Am fiebenten hat fie ihre
alten Dienftboten fommen laffen und ihnen Die Briefſachen gezeigt,
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die beſorgt werden müßten, wenn fie früh nicht mehr nad) der
alten Ehriftiane Plingele. Auch das Telegramm an mid: „Die
gnädige Fran ift geftorben. Hans Jörg in Kiebighof" war dabei.
Wie die Leute gefammert haben, hat fie ihre großen Augen gemacht
und fie fofort hinausgeſchickt. Aber dann hat fie fie surhdgerufen
und jedem die Hand gegeben. Am achten hat fie vormittags viel
herumgeframt und ſchließlich Die Sterbegarberobe neben Das Bett
auf die alte Brauttruhe gelegt. Am neunten hat fie der alten
Ehrifttane nicht mehr geflingelt.
Ich kann Dir nicht fhildern, mas ich empfand, wie id) das
Telegramm erhielt. Sonderbarermeife mußte ich laut Hm! fagen
und das linke Auge zufneifen, wie wenn ich recht objeftin und be ·
daͤchtig über eine zweifelhafte Sache nachdenken wollte. Und immer
wieder fam mir das Wort herauf: Merkwuͤrdig! Merkwuͤrdig!
Merkwuͤrdig!
und dann, mit einem Male, war es wie ein warmer Anhauch,
und das liebe alte Frauenzimmerchen erſchien faſt ſichtbar vor mir,
und id) wurde, ich weiß nicht, wie ich ſagen ſoll, ich wurde jämmer-
lich gerührt und ſchluchzte beinahe. Mir war, als würde etwas
Leeres noch leerer, ettvas Kaltes, Hartes noch fälter, noch härter,
und auf einmal fam mir das Wort Mutter in den Sinn.
Ad Gott, ja, das gute Tantchen war ja meine Mutter ges
weſen ... Ja freilich ... ja freilich... Mutter! ...
Dann bin ich alſo hingefahren. Bis Roſenau, Du weißt, mit
der großen Bahn, dann auf der Sekundaͤrbahn nach Kitzberge und
ſchließlich in Tantchens uraltem Landauer (dem Sichelwagen des
Königs Darius, wie wir ihn nannten) hin zum Kiebitzhof.
Die Fahrt ging langfam, denn es war Nacht und flodfinfter;
und der alte Hans Jörg erzählte und erzählte unaufhoͤrlich und
traurig und mit fehr langen und niemals zu Ende geführten Sägen.
Meinft Du nun, daß ich von dem, was er fagte, berührt wor»
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den wäre? Richt im geringften! Ich lauerte nur immer, wenn er
aus der Konftruftton fallen, wenn er wieder einen neuen Wort«
Pfahl einrammen würde, um eine neue Sasleine daran zu binden,
und wenn er ſich ganz verfigt hatte und hilflos abſchnappend mit
der Peitfche knallte, hatte ich das Gefuͤhl einer wunderlihen Ge
nugtuung, Triumph beinahe. Es fehlte nicht viel, und ich hätte
Siehſte wohl!“ gerufen.
Das Bild dann bei der Ankunft auf Kiebitzhof, — ja, wer das
malen koͤnnte! Das große ſchwarze Haus in dem weiten, ſchwarzen
Garten, in dem es raufchte und raunte; die dicken gelben Eicht-
heine, erft unbeweglich, dann wandernd, und hinter ihnen die
froſtroten Gefichter und das Hin und Her in den Gängen, alles
befliſſen leife, wie wenn ein „Pſt!“ in der Luft drohte ...
Und dann: dieſer fonderbare Geruch des Landhaufes im Win-
ter... Etwas Anheimelndes, halb Friſches, halb ein bißchen
Stockiges.
und ich wußte nun, wenn ich die Treppe hinaufgehe und links
die erſte Tuͤr aufmache — da liegt fie. Das Zimmer wird kalt fein,
und ic} werde mir Die Hände am Lichte der gelben Wachskerzen
erwärmen muͤſſen, und ich werde nicht imſtande fein, fie anzu
fehen ... Ob mir Tränen kommen werden? Oder — um Gottes
mitten, wenn ich plöglich lachen müßte? Verzerrt lachen, wie es
mir manchmal gerade in den ernfthafteften, ſchrecklichſten Augen-
blicken zuſtieß! ... Was müßte Chriftiane von mir denfen!
Ich ging wirklich in Angft hinauf, und ich zitterte.
Aber es war fo wie meift im Leben: der Eindrud des Wirf-
lichen hatte gar nichts gemein mit der Vorſtellung vorher. Wie ich
fie fo ſtill und, ja, wirklich, fo ſchoͤn daliegen fah, Die mundergute,
wunderfame Alte, da wurde mir ganz heimlich) und warm sumute,
und mir famen Tränen einer gehobenen, mehr freubigen als ſchmerz⸗
lichen Rührung, und ich nahm ihre ſchmale rechte Sand und füßte
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fie, und mir war wie einem, der etiwas Seltenes, Schönes erleben
durfte,
Ich ging ins Bett und ſchlief gut.
Heut fruͤh, wie ich aufwachte, hatte ich fehler vergeffen, mes»
halb ich diesmal in Kiebighof Bin. Ich ſtreckte mich im Bett mit
dem Wohlgefühl „fern von Berlin“ und Dachte an bie gute But ·
ter, bie nun zum Kaffeebrote fommen würde. Da, auf einmal, gab
mir's einen Ruck inwendig, und ich erlebte jest erfi den Schreck
über Tante ulrikens Top.
Herrgott, Herrgott: bie Tante iſt tot! Die Tante! Ich hab’ fie
ja brüben in der blauen Stube liegen fehen! Wie fann man fo mas
vergefien! Wo bin ich denn eigentlich geweſen mit meinem Kopf!?
So was müßte fi) doch einbohren tie mit eisfalten, frofibrennen»
den Stacheln!
Diefes verfluchte Herumſtochern im eigenen Gehirn! Dadurch
unterſcheiden wir uns von ben früheren Menſchen. Nur in faus
ligen Zähnen ftochert man.
Hol’ mic) doch der Kuckuck! Was quatſch' ich da! Ich will doch
bei Gott feine „wigigen” Bemerfungen machen. Ober Doch?
Peter! Es ift zum Ausverhautfahren! So geht mir's heute
wieder mal den ganzen Tag. Ich fomm’ mit meinen Gedanken nicht
zurecht. Ste fpringen wie die jungen Pferde und fchmeißen die
Beine. Der Teufel weiß, aus was für einem vertradten Geftüt fie
find,
tümlihe Unruhe ritt mich, und ich wäre unter meiner verfluchten
Reiterin fiher durchgegangen, wenn nicht der Paftor gefommen
te.
Da fieht man, wozu Paſtoͤre gut find.
Aber es war ein unangenehmes Kolloquium, Das ich mit ihm hatte.
ı2
Diefer wunderbare Bäffchenträger hatte nämlich die Güte, mir
einige Zweifel darüber zu dufern, ob Tante Ulrike fo ohne mei-
teres in den Himmel eingehen werde. Sie ſei doch eigentlich eine
etwas ftörcifche Seele geweſen, meinte er, und ihr Hochmut hätte
ſich einen eigenen Heiland gebildet ftatt des, ich hätte Beinahe ger
fagt, ſtaatlich approbierten.
Der Baͤffchentraͤger: Es hat meinem ſeelſorgeriſchen Herzen zu
öfteren Malen wehe, fehr, fehr wehe getan, wenn ich hören mußte,
was die nun Verblichene im irren Wandel zu Gott (denn fie wollte
au Gott) für Worte ſprach, Worte .. . oh!
Ich: Was fhr Worte, Herr Paftor?
Der Bäffchenträger: Blasphemifche Worte!
Ich: Sapperlot, Herr Paftor.
Der Bäffchenträger: Ja, Herr Doktor, blasppe—mifche Worte.
Ih: Nehmen Sie Sahne in den Tee, Herr Paftor?
Der Bäffchenträger: Wenn Sie Araf hätten? Over auch Rum.
So. Ja. Rur ein bißchen! So! Ya, Die Verblichene war ein irren-
des Schaf.
Ich: Wir find alzumal Suͤnder, Herr Paftor, und ermangeln
des Ruhms, den wir haben folen.
Der Bäffchenträger: Gott weiß es. Oh!
Und fo ging die Rede hin und her, ber und hin, mit Achs und
Ohs und Geftöhn und Gefeufs und einem gewiſſen butterig vanzi-
gen Tonfall feinerfeits, und der Dann Gottes nahm ſichtbarlich
u an Mifvergnügtheit und Unbehagen, daß man hätte meinen
mögen, Tante Ulcife ſei eine ganz gottlofe und teufelbefeflene Per-
fon geweſen. Die gute Tante mit ihrem ſchoͤnen, ſtarken, ſtillen,
hershaften Glauben, ver fo koͤſtliche Ausdruͤcke fand, daß ein Fluger
Pfarrer feine Predigten damit geſchmuͤckt hätte!
Ich win Dir ein paar Stenen aus ihrem Teftament an mich
hierher ſetzen. Hätte ich fie dem Paftor vorgelefen, er hätte bie
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Schoͤße feines langen Bratenrockes hochgehoben und wäre Davon
gerannt wie weiland die Schriftgelehrten vor denen, die in frem-
den Zungen tebeten.
Denn die reine, ftarke, heragrlindige Menfchennatur eines Wer
fens, das an ſich felber gebaut hatte ſechzig Jahre lang, fpricht
Daraus.
„*ieber Graunger, ich weiß, Du bift ein hartgefottener Heide.
Du trägft den Namen eines Ehriften nur wie ein Kleid, das Du
gerne ablegen würbeft, wenn Du nicht das Auffehen fürchteteft,
das entfiehen würde, wenn fo ein fleiner dicker Doftor der Philo-
fophie plöglich nackt fpazieren ginge, Viel Courage bedeutet dag
nicht. Ich bin bloß eine Frau, nad) Deiner Überzeugung alfo ein
fehr mindermertiges Wefen, um das Du einen fehr großen Bogen
machen würdeft, wenn ich nicht Die Schwefter Deiner guten Mut«
ter wäre, aber Du Fannft Dich drauf verlaffen: wenn ich nicht an
unfern Heiland Jeſus Ehriftus glaubte, ganz richtig und ehrlich
glaubte, weil ich gar nicht anders kann, weil ich gar nicht ich wäre,
wenn ich nicht diefen Glauben in mir hätte, — dann würd’ ich
hingehen und vor allen Leuten fagen: Seht, es tut mir fehr leid,
aber ich muß den Namen, daß ich eine Chriftin wäre, abtun, denn
ic) bin feine. So tät’ ich, und ich fäme mir wahrhaftig wie eine
Diebin vor, wenn ich nicht fo täte.
Nun gut: Du hältft das nicht flr nötig. Du bift ein Doftor
der Philofophie und ein Dann, und in diefen beiden Eigenſchaften
fühlt Du Dich berechtigt, fremde Kleider zu tragen, wenn Du fie
auch mit allerlei nicht dazu paffendem Zeug aus ich weiß nicht mo-
ber behängft und bebaumelſt. Ich mug Dir nur einmal den Stand»
punft auch darüber Plarmachen, und Deshalb ſchreib' ich das.
Wenn Du dies lieſt, bin ich Dort, wo ich mein Lebtag gewußt
habe, daß ich fein würde, wenn es auf Erden für mich vorbei fein
mird. Ob ich dort eine gute Figur machen werde, das weiß ich
14
freilich nicht, aber ich weiß, Daß es mir gut gehen wird, denn ich
habe genug hriftliches Leid gehabt hier, und meine chriftlichen
Freuden hab’ ich nicht mit den Schmerzen anderer erfauft. Der
‚Here Paftor meint, bie priftliche Demut gebiete, anders zu reden,
und wer ein Chriſt fein wolle, muͤſſe ſich einen Sünder heißen. Aber
ich bringe das nicht fertig, denn ich kann mich nicht eigentlich be-
finnen, gefündigt zu haben, es fei denn, Daß man Dummbheiten bes
gehen fündigen nennen muß.
Ich habe aleseit danach getrachtet, in meinem Umfreife Das zu
wecken, was ich einfältige Perfon (Das fag’ ich ohne Demut, bloß
weil's wirklich fo iſt) Gottfeligfeit nenne. Gottfeligfeit aber nenne
id), wenn eins mit fic) felber in Srieben lebt. Das kann aber nur
fein, wenn man in feinem Abendgebete zu Gott alfo fprechen kann:
Ich habe Dich, Vater, nicht beleidigt heute den Tag, denn ich habe
niemand wiſſentlich wehe getan, und tat ich's unmiffentlich, hab’
ich's gutzumachen verfuchtz und ich habe verfucht, Dich in mir deut-
licher zu fühlen, und das Haͤßliche und Niedrige, das Du mir, ich
weiß nicht warum, mit aufgeladen haft, hab’ ich getrachtet, weg»
merfen ober fein nicht zu achten, und ich danke Dir von Herzen,
daß es in mir deshalb chriſtlich hen und heiter geworben ift und
daß ich gern in Dir gelebt habe. Halleluja!
Ich weiß nicht, Graunzer, ob Du auch fo beten Fannft, aber
wenn Du es kannſt, oder wenn Du wenigftens fo zu fühlen ver-
magft, dann fommt es mir auf den Titel nicht an, den Dir Deine
Philoſophie beilegt, und ich glaube, Daß auch Du nicht gottlos biſt.
Nur das Dumpfe, Blöde, mas an ſich felber frißt und in ſich ſel⸗
ber verfinft, fatt aus fich herauszuſtroͤmen in Licht und Klarheit,
nur das tft eigentlich gottlos. Aber man fo es nicht aufgeben wie
einen unheilbaren Kranken, fondern wecken, klaͤren fol man es.
Aber nicht duch Anfchreien oder gar Rütteln und Stofen, ſon ⸗
dern durch freundlichen Zuſpruch und mit leifer Hand.“
15
Wenn ich diefe Worte Iefe, lieber Peter, muß ich wirklich
fagen: Daß gerade ich, der Neffe einer folchen Tante, einen Pief
auf das Weibliche habe, iſt eigentlich unerhört. Und hätt’ ich nicht
fo meine eigenen Gedanken, ich müßte mir faſt monſtroͤs vor ·⸗
kommen.
Das liebe Srauenzimmerchen hat natürlich nicht unterlaſſen, mir
auch im Teftament den Tert Darüber zu lefen, Daß ich es vorsiehe,
einſchirrig Durch Diefes Leben zu ziehen, flatt als Appendirx irgend»
einer Dame, die meinen Namen trägt und unter der Vorgabe,
mich zu lieben und meinem Stamme zur Fortpflanzung zu ver-
helfen, mic) unausgefegt verführen würde, das Einzige aufzugeben,
mas Wert hat: die männliche Selbſtaͤndigkeit. Daß ich ben
Spaltungsprozeß, den die Menſchen Ehe nennen, nicht durch-
machen win, behagte ihr gar nicht, Die Darin ganz Weib, will fagen:
ganz Herdenſelbſtſucht war, wie jede andere.
Deshalb heißt es in Ihrem Teftament wie folgt:
„Eigentlich iſt es fündhaft, daß ich Dir unfern alten Kiebighof
vermache, auf dem, bei Gott, fo alt er ift, noch fein Junggeſelle
geſeſſen hat. Ich win Dir auch ganz offen geftehen, Daß ich eine
Zeitlang fo Falfuliert habe: ich werde den Graumer einfach zur
Vernunft, d. h.“ (0 weibliche Sypnonymif!) „sum Heiraten zwin ·
gen; ich werbe ihm einfach ins Teftament fegen: entweder eine
Srau ber ober draußen geblieben, in Berlin geblieben; ein fpinti«
fierender Weiberfeind kann meinetwegen in feiner täbtifchen Stu-
dierſtube ſaure Gloſſen aus feiner ungluͤckſeligen Gemütsverfaffung
herausdeſtillieren, aber in meinen Kiebitzhof kommt er mir nicht
uſw. uſw. Aber ſchließlich hab’ ich mir doch geſagt: Nein, fo
machſt du's nicht! Das wäre unanſtaͤndig, und Graunzer ſoll wie-
der einmal unrecht haben mit feiner Lieblingsluͤge vom weiblichen
Kaupel- und Kuppelgeſchlecht. Rehm’ er den Kiebighof, ohne Ver-
pflichtung, unbeweibt in au feiner blühenden Narrheit. Und meinen
16
Segen dazu. Denn er wird ben brauchen, der wunderbare Doftor
und Gutsherr ohne Frau...
um Gottes willen, Sraunzer, — was wirft Du flır eine Wirt-
ſchaſt Ioslaffen, Du Dfonom mit bem Seberhalter!
Ich bin nicht ſchadenfroh, — aber den Kiebitzhof möcht" ich
wirklich in einem Jahr fehen, wenn Du ihn in einfamer Mannes»
größe wirft bewirtſchaftet haben. Ra! Ehriftiane wird mir Rapport
erftatten, wenn fie ſich su Tode geärgert haben wird über ‚Die
Bucht‘. Hoffentlich ärgert fie Dich auch ein bißchen.
Und wer weiß. Ich habe fo meine Gedanken. Vielleicht blaͤſt
Dir die frifche Luft Draußen doch die mifogynen Grillen aus dem
Kopf, und du fiehft ein, Daß es nicht gutift, Daß der Menſch allein
fei. Zumal auf dem Lande nicht. Als Witwe, wie ich, fo viele, viele
Jahre, — ja, das geht, wenn auch ſchlimm und in Schmerzen,
aber das Aft Fügung, über die wir nicht wegfommen. Aber ‚aus
Prinzip‘, — nein, Graunzer, das geht eigentlich wirklich nicht.
Zumal Du aud) das bedenken mußt: Wer foQ denn nad) Dir fie»
bitzen ? Graunzer! Wenn Du es Über Dich geminnft ohne Not,
bloß aus Doftorfeper Grundfagerei und Berfchrobenheit, den, Kie«
bighof einmal Fremden zu hberlaffen . . . aber nein: ich habe mir
vorgenommen, feinen Zwang auf Dich auszuüben. Mach's wie Du
willſt. Aber die Verfiherung geb’ ih Dir: Staat wirft Du nicht
machen als Hageſtolz auf dem Kiebitzhofe.“
Wie nannten wir doch die Reben unferes guten Tantchens,
Peter? Tantationes, nicht wahr? Diefe Tantatio ultima ift eine
der fehönften, find’ ich,aber Überzeugen kann fie mich nicht, fo über-
ſchlau fie auch angelegt ift.
Wie fie mich bei allen Zipfeln meiner Seele hernimmt! Wie fie
für jeden Winfel, wo eine männliche Dummheit liegen koͤnnte, ei-
nen eigenen weiblichen Befen hat!
Tante! Tante! Mich uͤberſchlaͤuſt du nicht! Ich berufe mich auf
2 Bierbaum II 17
dich felber und auf dein Wort von der Gottfeligfeit, „wenn eins
mit ſich ſelber in Srieden lebt”. Das kann ich bloß folo, und ber
Gedanke an eine Frau bedeutet flr mich ſoviel wie Speftafel,
Serappel, heillofes Hin- und Hergezerre und zänfifche Unlogit,
kurz alles, nur nicht Frieden und Sammlung. Wenn ich mir eine
Frau, oder reden wir einmal wie die gebildeten Zeitgenoffen: eine
„Frau Gemahlin” im Haufe vorftele, fo habe ich die über alle
Magen unangenehme Serudshallusination von fpigem, uͤberall ſich
bineinborenbem, alles Weiche, Seine, Disfrete entzweiſchneidendem,
hartkantig machendem Effiggeruch.
Diefer Geruch mag in der Küche ab und an nicht zu umgehen
fein. Fürs Wohnzimmer sieh’ ich mir aber reine Luft vor.
Damit verbleibe ich
Ein zweiter Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an
feinen felben Freund Peter Kahle. Handelt von allerlei
ländlichen und feelifchen Dingen
Kiebighof, Ende Februar.
!
Dies iſt der erfte Brief, den ich Dir als Gutshefiger ſchreibe.
Ich fange nämlich an mich zu fühlen. Donnerwetter noch mal:
Jetzt bin ich doch mas! Ich habe ein Dach uͤber meinem Kopfe,
und das ift mein Dach; ich habe Wald und Feld und Wiefen im
umkreis meines Blickes, und das Ift mein Land. Sogar ber Schnee,
der jest darauf liegt, bild’ ich mir ein, ift mein Schnee, und der
graue Himmel daruͤber her ift mein Simmel, und wenn der Sturm
in mein Gebiet fegt, tu’ ich fehr pifiert und drohe mit Der Gutspoliget.
18
Es iſt ein wunderbares Gefühl, auf Eigenem zu ſtehen. Das
allein ift fefter Stand. Und wenn ich in einem Prachtpalaft wohne:
ich habe doch das Gefühl, nur der Geduldete zu fein. Aber im ee
genen Haufe, das im eigenen Garten fieht, der im eigenen Gelan ·
de liegt, — Du, da friegt man ein Wohlgefühl, ein Freiheits ·
gefühl, da ift es, als wuͤrde alles ſtark und ſtolz und ſicher in uns,
und mir fpielen innerlich ein bißchen mit Zepter und Krone und
Stern, wenn’s and) bloß die Miftgabel, der Dungeimer und Die
Kuhfette ift.
Wem bin id Vaſal? Der Erde, die ic) beackere. Wem beuge
ich mich? Dem Himmel, bei dem die Hertſchaft über mein Land
if. Woran glaube ih? An den Keim, der im Korne ift. Was ift
mein Geſetz? Daß ich mich rühren muß. Was ift meine Luft und
mein Lohn? Dasfelbe!
Halt! Daß Du mir dieſen Brief feinem Landwirt zeigſt! Er
wuͤrde ſich den agrariſchen Bauch halten vor Lachen und würde
von den neuen Beſen reden, bie gut fegen, und würde Dir eine
Kehrfeite meiner Medaille zeigen, daß Du zuruckſchaudern wuͤrdeſt.
Denn das habe ich auf Befuchen bei meinen Nachbarn bemerkt:
Ber nit ald Gruͤnling in der Dfonomie gelten iQ, muß brav
ſchimpfen auf die Okonomie. Das iſt fo eine Art Gefundheits-
regel, glaub’ ich, und man ſcheint ſich fehr wohl dabei zu Befinden.
Bei mir ift der uͤberſchwang wohl erflärlich. Ich, ein Bibliotheks ·
beamter, ſchuͤttle plöglich den Buͤcherſchimmel von mir, Lüfte meine
pergamentifch angeſtockte Seele und blafe mit jedem Atemftoße
meine Lunge rein von Moberftaub. Da läßt ſich's denken, wie hoc)
mir die Bruſt geht. Anfangs war mir’s, als flögen die gelbgrauen
Bazitien der Buchſtabenwelt fichtbarlid von mir, wenn der Hauch
ans meinem Munde ging, und mir war es voͤllig zumute wie einem
Nefonvalefzenten, der sum erften Male die dumpfe Kranfenftube
verlaſſen und reine Luft atmen barf. Mir wurde fogar etwas
2* 19
ſchwach davon, und ich fragte mid: Wirft du foniel Gefundheit
auch aushalten?
Die Krankheit wird den Stadtmenfchen ja faft sum Beduͤrfnis,
und es ift fein Zufall, daß ſich fo viele Leute mit Krankheiten inter»
effant zu machen verfuchen und mit dieſem Verſuche Erfolg haben.
Und im Grunde bin ich Doch noch Stadtmenfch, natürlich. Das
zeigt ſich vor allem in der ſtark ſtingenhaften Art, tie ich die Lands
wirtſchaft betreibe. Wenn nicht Das tüchtige Paar Hans Jörg und
Ehriftiane wäre, es fähe fehr Übel aus um den Kiebighof. Ich
throne swar, aber bie beiden regieren. Gottlob, Daß es Winter ift.
Hätte ich die Herrfchaft von Kiebishof im Frühjahr oder Som-
mer antreten müffen, — ohpopoi, fagten die Griechen.
Ehriftiane ſcheint übrigens von der Tante auf den Mahnpoften
kommandiert zu fein. Wäre fie klaſſiſch gebildet, fie würde mir
aum Morgenfaffee feierlich surufen: Herr, gedenfe der Heirat.
So fleidet fie denfelben Gedanken etwa in folgende Worte: „Io,
do wär nu mingftens a Frau gutt!" oder: „Später gitt's wuhl
beffer, wenn a Frau do is“. Wenn ich dann fage: „'s kommt fel-
ne Frau, Chriſtiane!“ dann zieht fie Bloß ihren Mund breit und
grinſt verfchmigter, als ich es ihr jemals zugetrant hätte.
So viel ift gewiß: für voll werde ich in meiner Unbeweibtheit
nicht angefehen, und es fieht ganz fo aus, als duldete man dieſen
Zuftand nur in der ganz beftimmten Vorausſetzung, daß ich ihm
über kurz oder lang ein Ende machen werde.
Ich brauche Dir nicht zu fagen, Daß mich das nicht im mindeften
berührt. Ich werde den Leuten zeigen, Daß es auch fo geht und
daß ich niemand beige, auch wenn ich feine Frau habe. Denn das
iſt ganz befonders merfwürdig: weil ich feine Frau habe, betrach ·
ten mich Die Leute in erfter Linie auch mit ſcheuen Augen und als
ein bedenfliches Stuͤck Menſch. Ich habe mas Monftröfes flır fie,
und es fehlt ihnen die rechte Brücke zu mir. Aber das wird ſich
20
ſchon geben. Es iſt nur Das Ungewohnte. Du fiehft: mo die Macht
beginnt, und habe fie aud nur ein ganz kleines Bereich, wie in
meinem Falle, da beginnt aud) ein gemiffer Zwang von unten nach
oben. Ich bin den wenigen Leuten auf Kiebishof der „Herr“, und
diefe guten Leute, Die ganz unberührt von den Emanzipationsideen
ihrer Standesgenoffen in den großen Städten find, erblicken in
mir ohne Widerſpruch denjenigen, der ihre Geſchicke leitet; fie ge»
hören mir, find mir in ihrer Seele noch hörig, ohne daß das ver»
brieft und verfiegelt wäre; fie wiſſen Das gar nicht anders. Aber
ich gehöre aud) ihnen. Das empfinden fie natürlich nicht klar, und
das formulieren fie ſich nicht als eine rechtliche Forderung, die fie
an mich haben, aber das fteht bei ihnen als felbftverftändliche Bor-
ausfegung feſt.
Ein patriarchaliſches Verhältnis ift auch tatfächlich anders gar
nicht zu denfen. Wo bie gegenfeitige Zugehörigfeit ein Loch friegt,
fängt das Verhältnis von „Arbeitgeber" und „Arbeitnehmer” an,
dasjenige Verhältnis, aus dem, wie mir ſcheint, das fosaldemo-
fratifche Begehren ganz von felbft ermächft. Deshalb . . . aber um
Gottes willen, wo gerate ich hin! Ich wollte doch wahrhaftig feine
fostalpolitifchen Ideen zum beften geben. Ich fege mich nur hin,
mit Dir zu plaudern, weil ich mich, offen geftanden, ſchon ein biß⸗
hen langweile, und weil ih Dir gerne einen kleinen Einblick in
die Empfindungen geben wollte, die mic) jest, wenn nicht beherr-
ſchen, fo doch beichäftigen. Ich bin, es furz auszudruͤcken, in einer
Art von Maufer. Halb noch Stadt: und Bibliotheksmenſch, halb
aber auch ſchon Landmenſch, Sreiluftmenfch. Biel weniger Gruͤbler
und Kritifer als bisher, aber Doch noch nicht ganz Zugreifer, Schaffer,
— Bauer.
Dreierlei liegt vor mir: entweder zuruͤck in Die Stabt, natürlich
nicht mehr als Gelehrfamfeitsbeamter, aber vieleicht als eine Art
lebendiger „Beobachter an der Spree” (Du verftehft mich); oder:
21
finbefcheiden bier geblieben, Kiebitzhoſbauer, Schollenſaſſe (wobei
ich aber nicht Die Perfpeftive geiftigen Stinftandes und die Ber-
abſchiedung aller literarifchen und kuͤnſtleriſchen Neigungen vor
Augen habe); und ſchließlich: ein Leben auf der Gremſcheide: bald
Beſuch hier, bald Befuch da, Commis-Voyageur einer zwieſpaͤltigen
Lebenskunſt zwiſchen zwei Stationen.
Ich werde mich für Nummer zwei, fuͤr das gute Mittelſtuͤck
entſcheiden, ich werde kiebitzen. Berlin mit feinem greulichen, flil-
loſen, unorganiſchen Parvenuͤcharakter, dieſe Stabt des groß-
ſchnauziigen Talmitums und des ſchnellfertigen Abſprechens, in der
ſich die paar wirklichen Berliner (ein praͤchtiger Schlag) am un⸗
wohlſten fühlen, lockt mich nicht. Dort wohnen muͤſſen, iſt ein Un«
glüd, dort wohnen wollen, eine unbegreifliche Verirrung. Bon
Zeit zu Zeit einmal in feinem Getriebe unterzutauchen, ſich die
Sturzwellen feines vielgeftaltigen Lebens Über Bruſt und Kopf ge-
ben zu laffen, während man ſich fonft dem lauten und leeren &e-
triebe kluͤglich fernhält und feine Seele procul negotiis ausföm-
mert, wäre vieleicht ein annehmbarer Kompromißvorfehlag, aber
doch nur für ſolche, Die von Natur aus halb und halb find und an
der modernen Sahrigfeit leiden, die man Nervoſitaͤt heißt. Ich
babe den kleinen Verdacht, daß ein ſolches Nomadenleben ohne
rechten Heimpunft eine Seelenunftätigfeit erzeugt, Die faum geeig«
net ift einen Charakter zur richtigen Neife zu bringen, aus ber
allein was Rechtſchaffenes werben kann. Dos mot pu flo, — das
gilt nicht bloß für Die Mechanik, das gilt aud) fuͤr die Lebenskunſt.
Wenigſtens flır uns, bei denen das Zuͤnglein der Lebenswage ſchon
hinuͤberſchwankt in bie ſtille Gegend, wo langfam ver Pfad ſich ins
Dunfel verliert.
Hola! Peter, gib mir einen Nippenftoß! Nimm mich bei den
Ohren, Peter, wie einen Sertaner! Seg’ mich einen runter in
Deiner Wertſchaͤtung.
22
Du haft’s doc) gemerft? —:
u= vu [vv- [vu=|
... wo langfam der Pfad ſich ins Dunfel verliert... Er»
kennſt Du das Paradigma:
Denn der Hund mit der Wurſt übern Spucknapf fpringt ... .?
Peter — es verfelt!
Das ift, beim Himmel, bedenklich, und Du wirft lange Dein
ersteherifhes Haupt fhütteln, wenn Du vernimmft, daß ich jegt
des Öfteren von ganzen Schwärmen zappeliger Daftylen, Anapäfte,
Trochaͤen und ähnlichen Gelichters uͤberfallen werde, Das ich längft
aus meiner reinen Seele vertrieben mähnte, ſeitdem ich zum letzten
Male mit brandfuchſiſchem Fanatismus ffandiert hatte:
Ach eines, eines weiß ich nur gewiß:
Es iſt mein Herz voll citel Bitternis.
Du hatteft Damals die Güte, baranf „Verfhjiß" zu reimen und
mich einen Ganzen trinfen zu laſſen.
Beim Hohen Köfener! — es waren doc) ſchoͤne Zeiten, als mir
die bunfelroten Muͤtzen trugen und jeden Finken flr ein zweifel ·
baftes Subjeft hielten. Was flr wundervolle dumme Jungen find
wir getvefen! Wie koͤſtlich indifferenziert, lebfriſch aus einem Guffe,
— ein bißchen landsknechtshaft roh und bedenklich alkoholbefliſſen,
aber jedennoch: fo gluͤclich, fo derb gluͤcklich ... Ich fürchte,
heute ſieht's in den Korps nicht mehr fo glüchaft aus.
Nun aber Schluß! Ich, fo gerne ich mich als überzeugten lan-
dator temporis acti befenne, wi denn doch nicht vergeſſen, Daß ich
jest eigentlich erft zu leben beginne, denn jest erft bin ich ja frei
geworben.
Wollen fehen, was mit feiner Freiheit anfangen wird
Dein
flets getreuer
Panfray.
23
W.
Ein Kapitel, das einige Tagebuchblätter enthält, die
Herr Pankrazius Graunger im Februar des Jahres
gefehrieben hat, in dem dieſe Gefchichte fpielt
Den 5. Sehruar.
Heute fand ich in den alten Papieren, die Die gute Tante von
mir aufgehoben hat, einen Auffag, den ich als Duartaner gefchrie-
ben habe. Er handelte vom „Lobe des Landlebens“.
Wie fo ein altes Stuͤck befchriebenen Papieres einem doch an
die Nieren gehen fann! Ich fah mit einem Male die ganze brave
Quarta, Coetus B., vor mir, dieſe Welt voN Cornelius Nepos,
die doch den Zuckerſtengel noch nicht ganz überwunden hat. Noch
ein paar Jahre weiter, und mir hatten ſchon ein literariſches
Kränzhen und lafen „Sturm und Drang” von Klinger...
Beim Lob des Landlebens erinnere ich mich, daß der Fleine Iſidor
Meyer, der jest fo ernfihaft und Mitglied des Proteftantenver-
eins iſt, Damals wegen eines genialen Einfals ins Karzer gefperrt
wurde. Er lieferte nichts ab, als ein Blatt mit folgenden Worten:
„Ich, Iſidor Meyer, Quartaner aus Berlin, bin in Berlin ge-
boren worden, lebe in Berlin und bin niemals aus Berlin heraus:
gefommen, denn der Grunewald gehört auch zu Berlin. Berlin
aber befigt fein Landleben. Deshalb fann ich nichts zum Kobe Die»
fer Beſchaͤftigung fagen.” Schade, daß unfer guter Orbinartus fo
wenig Humor hatte, Er hätte Iſidorn nicht ins Karzer fperren,
fondern um feiner Ehrlichfeit willen, Die obendrein Big befaß, be-
lobigen ſollen. Sein Prägeptorenzorn aber erblidte in dieſem Fury
bündigen Aufſatz nur Die Huferung feivoler Faulheit, und Iſidot
mußte ſchmachten. Das beftärkt mich in meiner alten Forderung,
Daß zu Pädagogen nur Beute von Humor augelaffen werden folten.
24
Aber Panfrasi! Dann muͤßten ja wohl auch die Schulräte Hu-
mor haben! Oh! und ſchließlich gar bie Kultusminiſter! Biſt du
Bei Sinnen!?
Mein Auffas war ein einziger Tritler auf der bufolifhen Floͤte:
„Wie herrlich, wenn des Morgens der mit vielen Federn ausge
ftattete Hahn fräht und uns mit feinem Heblichen Befange hin-
auslockt in das frifche Grün der Wieſen, wo bie Schafe blöfen,
und wovon bie Dichter fingen! Ob, wie rein iſt Da die Luft! Wie
buften bie Blumen!” (Dazu Bemerfung des Ordinarius: „Welche
Blumen? Es genügt nicht, in Algemeinheiten zu reden; min«
deſtens hätte ein Adjektiv zu ‚Blumen‘ hinzugefügt werden
möffen.”) Der Schluß des Auffages aber it direkt hymniſch:
„Nur auf dem Sande fühlen wir uns frei und erhoben zu Gott,
ber alles diefes gefchaffen hat und in feiner Güte erhält. Nur hier
find wir Denfchen, wie die alten Germanen!" (Dazu Bemerfung
des Ordinarius: „Unſinn!“)
Id) kann wiederum dem Ordinarius nicht recht geben. Ich fin-
de, daß Panfrazius Graunger da als guter Quartaner gut quare
tanerifch geſchwaͤrmt hat, und daß es ganz richtig ift, was feine
Seele in Quarta fehrieb, menigftens für Quarta. Ich wäre fehr
gluͤcklich, wenn ic) heute noch fo unmittelbar und idealifch empfände.
„Menſchen wie die alten Germanen!“ ... Bravo, fleiner
Graunzer! Recht haft du! Pfeif auf den alten Ordinarius und
halt's mit Hermann, dem Eherusfer!
Und ich fehe mic) im Geifte als ferienfühnen Gymnaſiaſten, ich
fehe mich mit der grünen Botanifiertrommel und der ſcharlach⸗
roten Schülermüge, wie ich Durch das Gebiet von Kiebighof ga-
loppiere, wie id) mich als großen Herrn fühle und endlos Phan ⸗
tafien fpinne, während ich über die Wiefen renne. Dort hinten am
Krebswafler, wo bie alte Weide mit dem gefpaltenen Stamme
fteht, da war mein Sinnierplägchen. Da war die Höhle der Fabel-
25
winde, auf denen ich hinausritt ins Unmoͤgliche. Daß ich ein ver-
wunſchener Prinz war, das ſtand ganz feſt. Ich und bloß Quar ·
taner? Haha! Laßt nur erſt mal Tag und Stunde kommen, wo der
alte Mann im weißen Barte erfcheint, der nach dem Leberfledt auf
meinem linken Schulterblatt fragt und ber dann, wenn er Ihn ges
fehen hat, ein altes Pergament herauszicht und ber erftaunten
Ehriftiane verkuͤndet, daß ich jegt auf einem großen Schimmel ins
Schloß meiner Väter reiten werde! Ehriftiane wird's bereuen, daß
fie mich fortwährend einen dummen Jungen nennt! Aber ich bin
gnaͤdig. In fönnte fie an einen Baum binden und, mit Honig bes
ſchmiert, den Bienen zum Fraße laffen, oder ich koͤnnte fie röften
laſſen, und es ftände mir auch frei, Daß ich fie fiebentaufend Fuß
unter die Erde in eine Höhle verbannte, in der fie von Kröten miß -
handelt würde, Aber nein: Ich nehme fie mit ins Schloß, und da
fol fie Augen machen, wenn fie die goldenen Türme fieht und
meine Leibmohren! Dem Ordinarius aber werde ich einen Brief
auf Golbpapier fehreiben: Hiermit tun mir fund und zu wiffen,
Ihnen, Herr Profeflor, daß Ste ung hinfhro nichts mehr zu far
gen haben! Sie Jammerpeter, Sie! Ste Blindfchleihe! Wenn
Sie gefcheiter wären, hätten Ste längft entdeckt, wer wir eigent»
lich find. Aber Ste find ein ahnungslofer Efel!
Ach Gott, ja, es war ſchoͤn! Schön! Schön! Schön! Schade,
daß die Seelen fo kuͤmmerlich werben, wenn man älter wird.
Wann hab’ ich eigentlich aufgehört, zu fabulieren? Wann be
gann ich, mich dabei zu beruhigen, Daß ich ein ganz gewöhnlicher.
Panfraz fei, ein Panfraz der Hunderttauſendſte, ein Dännlein
Packedich?
Es iſt nicht fo ſchnell gekommen, dieſes ſchnoͤde Tatſachenbegrei⸗
fen. Viel Wind mußte vorher an der ſchoͤnen grünen Fahne mei»
ner Hoffnung reißen, bis ich fchlieglih nur den Schaft in der
Hand hatte, den ich dann auch zerbrach. Bis auf ein Stüd. Und
26
Daraus hab’ ich mir eine Flöte gemacht, die Flöte meiner einzigen
Melodie:
Sch an der Weit vorüber, es iſt mies!
Anfangs biies ich Diefe ſchoͤne Weife in einem duͤſteren Tone,
dann ward er melancholiſch · gelaſſen, dann gleichnrütig mit einem
feinen Anfage von Gaſſenhauer, und ſchließlich trillert ſich's ganz
behaglich:
ach’ au der Welt vorüber, es ift nichts!
Und das iſt der Humor davon.
* *
”
Den 12. Februar.
Age diefe Tage hin hat mir was an der Seele gefogen, fo ein
unbeftimmtes Gefhhl des Suchens in mir felber, als muͤſſe da ir⸗
gendwo irgendwas Liegen wie ein Schlüffel, der eine koͤſtlich ge»
heime Kammer auftun fönnte, in der's einem fehr wohl fein müßte,
Suche ich vieleicht eine Erinnerung?
Oder eine Hoffnung?
Oder etwas, das beides zugleich wäre?
Was Fönnte das fein?
Ich bin doch Panfrastus Graunzer, das Männchen Packedich mit
der einmelfigen Flöte? Der Dann mit dem abgeſchloſſenen Se
müte? Ich habe Doch alle derartigen Schlüffel weggeworfen, weil
ihre fraufen Bärte mich genugfam genarrt haben?
Wäre ich nicht hier mir ganz allein gegenuͤber, ich würde mich
ſchaͤmen, es auszufprechen, daß ih auf laͤcherlichen Serpentinen
mich immer und immer wieder in jene ſchoͤne Gegend begebe, von
der die gefchäftigen Berfemacher wuͤnſchen, daß fie ewig grünen
bliebe.
Der Teufel hole mich; ich muß an bie jammervolle Epifobe mit
Ya, der jegt verehelichten Kunze denken.
27
Die jest verehelichte Kunze... .
Beſtie!
Pfui! Pfui! Ruhiges Blut! Blamier' dich nicht, Pankraz!
Auch nicht vor dir ſelber!
Kalkuliere: Die jetzt verehelichte Kunze iſt ein Frauenzimmer
von der ſchlechten Mittellage. Ihr Dann hat, ſeit er fie geheira-
tet, die Gelbſucht. Ihre Kinder (acht!) find boshafte Dumme
Rangen mit mangelhaft gepusten Naſen. Sie wechſelt ale vier
Wochen das Dienſtmaͤdchen. Sie ift, höflich gefprochen, nicht ge ·
rade eine von den Reizendſten ...
Alfo: Nimm an, die verehelichte Kunze wäre eine verehelichte
Graunzer ...
Es fleigt das Haar, kalt firömt der Schweiß ... .
Run?
Gewiß! Ich habe im Grunde Gluͤck gehabt mit meiner ungluͤck ·
lichen Liebe.
Aber?
Kein Aber, wenn ich bitten darf!
Was abert ſich hier! Einfältig!
Aber das ift ja das ſchlimme, daß mic) ewig ein Aber beheiligt!
Ich muß diefem Aber Die Wurzel abbrehen! ch muß dieſes
feige, klettige, klebrige, ſchleimige Monftrum, das in mich hinein«
kriecht und fi in meiner Seele herummälzt wie eine haarige
Raupe, ausſchwefeln!
Ausſchwefeln!
Den 20. Februar.
Axiom: Das Weib iſt ein jammervoller Notbehelf der Natur,
die vom Werdewahnſinn beſeſſen iſt und im Delirium ...
Da bin ich alſo wieder mal im ſchoͤnſten Fahrwaſſer.
28
Wo ift meine Flöte? Warum ſchimpfe ich denn auf einmal wie ·
der? Was geht mich denn „das Weib" an.
Ariom: Ein Mann, der ans Weib überhaupt nur denkt, ift
ſchon befubelt. Hoͤllenſtein her, wenn dieſe Stelle beit!
Nein! Bloß Lachen hilft. Die ganze Geſchichte dieſes jappenden
Kampfes zwiſchen Ran und Rh, mie die alterfahrene fchligäugige
Großvaternation im Often fagt, tft wohl tragiſch, aber alle Tragik
läge fich mit Humor überwinden. .
Floͤte her!
Lach’ auch am Weib vorüber! Es ift nichts!
Den 25. Februar.
Ehriftiane bringt mich zur Verzweiflung. Seit drei Tagen paradiert
fie mit der alten Familienwiege von Kiebishof. Erſt mußte fie ge-
waſchen werden. Schon Überflüffig. Dann mußte fie gar neu ge-
malt werden. Rofen und Tulpen darauf, in der huͤbſchen altmo
diſchen Art. Meinetwegen, weil's ein altes gutes Kunſigewerbe ·
ſtuͤck iſt. Nun aber ſtellt fie mir den Kaſten in meine Schlafſtube,
„weil's ſchade drum iſt auf dem Boden“.
Das ift alles tantifche Anftiftung, und bloß aus Pietaͤt ſchmeiß
ich das Dings nicht zum Tempel hinaus.
Bin Überhaupt ärgerlich die ganze Zeit. Dan fommt in ber
Einfamfeit bloͤdſinnig ins Grübeln.
Geradesu langweilig.
Und dabei hinten und vorne Dinge, Die ich beftimmen fol und
"nicht verfiche. Die Leute fangen an, ſich Luftig über mich zu machen.
Voran natuͤrlich Ehriftiane, Die wahrhaftig ein bißchen zu fehr auf
ihr Altersrecht pocht.
Und — unglaublich! — Ruͤckfaͤlle in die Kinderfranfheit des
Verſemachens. Das kommt vom Bufolifieren.
29
Und ewig das unbehagliche Gefühl mit dem Suchen nach mas.
Es iſt Die reine Maufer, in ber ich mid) befinde,
Pi Jahre alt und noch immer ſolch eine ſchwabbelige
e!
Ich kann mich auf dem Jahrmarkt fehen laffen oder uner-
ſchrockenen Romanſchreibern als pſychologiſches Modell fichen.
unerquicklich!
* *
Den 28. Februar.
Mein Zuftand wird bedenklich. Es iſt feine Frage mehr: Ich
befinde mic) in einer Krife.
Es ift ein pſychiſches Sieber von fehr hartnädiger Art. Wech ·
felfieber. Bald ift meine verehrte Seele heiß, Bald ift fie kalt. Ir-
gendwas zerrt an ihr, wie böfe Buben am Maifäferbein.
Wer ift der böfe Bube? Wenn ich ihn erwiſche, nehme ich ihn
an ben Ohren und beutle ihn, daß er genug haben fol.
Aber erſt haben!
Erſt haben!
Ich Bin hinter ihm her wie der Bauer hinter den Ippelbieben.
Aber nicht einmal feinen Hembdatpfel frieg’ ich au fehen.
Den 29. Februar.
Hat ihm fon! Der Bengel heißt Sehnfucht und ift aus der
Samilie Langeweile.
Schaͤm' dich, Panfraz! Biſt du ein Wortefänger geworden?
Tote Käfer auffpießen iſt mehr wert, als das.
Jawohl! Ja, freilih! — Sehnfuht! Das will wohl was
heißen! Aber fage mir doch, mein biebrer Kaͤſcherſchwinger: wo ⸗
nach fehnt ſich Deine allerliebſte Seele?
30
Wonach?
Da kraut ſich der Luͤmmel hinterm Ohr.
* *
Ih uf ſyſtematiſch und eraft vorgehen.
Wenn die Ärzte fo weit find, daß fie den Magen beleuchten
koͤnnen, dann follten wir Pſychologen (mie ſtolz Das Flingt!) doch
gefänigft fo weit fein und bie Seele beleuchten koͤnnen.
Alfo leuchten wir!
Hm! Das Ding hat viele Runzeln ... Und wiſchen den
Rumꝛeln ſteckt viel Staub ... Und der Staub ift von mancherlei
Art .. . Und es ift Bewegung in dem Staube ... Und auch die
Nunzeln liegen nicht ſtille, ſondern gehen auf und gehen ab, reiben
fi), rühren fi, zucken, zitteru ... Es ift, als od fie nad) Luft
ſchnappten ...
Das Ding ſieht bedenklich aus. Sicherlich: Normal iſt das
nit!
Eine normale Seele, ſollte ih meinen, iſt fehr glatt, ſehr ftin
und ſtaubfrei.
Bas muß ih alfo tun?
Sehr klar. Erſtens: glatt machen; zweitens: auskehren; drit ·
tens: Ruhe!
Koͤſtlich! So verſchreibt der Herr Doftor dem Bettelweib
Madeira.
Wo fon ich alter Kerl die Eourage hernehmen und meine Seele
erſt glatt buͤrſten, dann reinfegen und am Ende zur Beruhigung
eindlen!
Schließlich geht fie mir dabei in die Brüche, meine Seele, und
dann fit? ic) da mit Buͤrſte Beſen und DI...
Verſtuchte Geſchichte!
V.
Eine parlamentariſche Standrede des Herrn Pankrazius
Graunzer an ſich ſelber. Handelt von einem ſehr wichtigen
Entſchluß und darf durchaus nicht uͤberſchlagen werden
Verehrteſter! Wir haben nicht oft das Vergnuͤgen, einerlei
Meinung zu fein, aber darin werdet Ihr mir, deſſen bin ich ſicher,
beiftimmen, daß es fo nicht fortgehen kann.
Die Situation, in der wir ung befinden, ift unerquicklich im
hoͤchſten Grade, und es wäre, parlamentarifdh zu reden, ein Zeichen
von mangelhafter Inteligenz, wenn mir nicht darauf fännen,
Mittel und Wege su finden, wie wir Diefer bebränglichen Situation
ein Ende bereiten und fie durch einen Zuftand ablöfen, der unferm
Befinden zuträglicher, unferer Entwickelung heilfamer und des
Namens Graunger wuͤrdiger ift. (Zuftimmung auf allen Seiten.)
Es ift feine Frage, daß ein Etwas in ung rumort, daß auf den
Umfturz der beftehenden Verhaͤltniſſe hintreibt, und das mir, in
Ermangelung eines beflimmteren Ausdrudes, Sehnfucht nennen.
(„Sehr richtig!" links, in der Herzgegend. „Unfinn! Langeweile!"
im Gehirnszentrum.) Diefe Sehnſucht nun, — woraus entfpringt
fie? Fürdten Ste nicht, daß ich vorhabe, Sie durch lange und
eingehende Unterfuchungen über den Grund dieſer p. p. Sehnſucht
zu langweilen. Ich begnüge mi, ganz kurz Die Behauptung auf
auftellen, Daß biefe Sehnfucht Die Folge eines gewiſſen Unbefriedigt ⸗
feins iſt.
Es muß etwas faul fein im Staate Graunzer, fonft hätten wir
dieſe bedenfliche Unruhe nicht in unferm Innern! (Oho! im Ger
bienzentrum,)
Nun denn, mein Lieber: Was ift faul?
Ich ſchmeichle mir damit, eine Antwort auf dieſe nicht ganz
32
leichte Stage zu haben, aber ich muß bitten, daß Ihr mir Die Aus ·
ſprache diefer Antwort geftattet, ohne mir nad) Eurer hblen Ange
wohnheit übers Maul zu fahren.
Die Faͤulnis, an der mir leiden, und an der wir zugrunde ge»
ben werben, wenn wir nicht ſchleunigſt antifeptifch eingreifen, das
tft die Zweckloſigkeit unferes ganzen gegenwärtigen Dabinlebens,
der Mangel an einem feft und freudig begriffenen Ziele. Wir vege ·
tieren, Verehrteſter, aber wir leben nicht!
Als wir noch in Berlin faßen und Bücher regiftrierten, — nun
wohl: das war fein ſchoͤner Zweck und fein hohes Ziel; aber wir
hatten uns darein gefunden, wir hatten abgefchloffen mit allem
anderen, wir hockten, nicht fehr dekorativ vielleicht, aber doch mit
einer gewiſſen raumausfuͤllenden Sicherheit im Mittelpunkt unferes
feinen Kreifes, deſſen Pflichten wir erfüllten, und der ung immerhin
eine gewiſſe, wenn auch fpärlihe Zufriedenheit bereitete. (Me⸗
lancholiſche Zuftimmung.)
Nun hat ſich das geändert. Wir find aus unferem Bücherfreife
herausgelockt und in eine viel fchönere, viel frifchere, viel reichere
Belt gefegt worden. Das gütige Schidfal, unfere liebe Tante
Ulcife, hat ung die unverbiente Ehre angetan, uns zum Seren und
Befiger eines zwar nicht fehr großen, aber fehr ſchoͤnen, fehr ge
orbneten, fehr ergiebigen und völlig fhulbenfreien Gutes zu machen.
Wir find feine Buͤcherfreſſer mehr, wir find ein Gutsbeſitzer!
Gravo auf alen Seiten.)
Aber! Aber! —: Fünen wir unfern Plag auch wirklich aus?
Haben wir uns unferen neuen Pflichten, fo wie es fidh gesiemt,
angepaßt? CPaufe.) Euer Schweigen antwortet mit mir: Nein!
Nein! Wir haben das nicht getan! Wir find ein Bihliothefar
a. D., der ſich befuchshalber auf einem Gute aufhält und über-
Khffig macht, aber wir find fein Gutsherr!
Ich will gar nicht Davon reden, Daß wir von der Landwirtſchaft
3 Bierbaum II 33
nichts verftehen. Das tft erflärlih und entſchuldbar. Aber wir
haben auch nicht den rechten Eifer etwas zu lernen. Wir bum-
meln auf unferm fhönen Gute herum und halten Maulaffen feil.
Wir langweilen ung, wo wir arbeiten folten. Wir machen ung
zum Gefpötte nicht bloß von Philemon und Baucis, den maderen
imelen, Hansjörg und Ehriftiane, fondern wir find auch ein ſchlech ⸗
tes Beifptel allen unferen Leuten bis herunter zu Traugott, dem
Kuhjungen.
Und marum das? An fid) find mir doch fein Nichtsnug, fein
Saulenzer! Beweis: Diefes Bummeln bedruͤckt ung, dieſe Lange»
weile liegt ung fehmershaft auf Seele und Leib.
Alfo warum?
Ich win es Euch fagen, auf die Gefahr hin, daß Ihr mir die
fauerften Apfel Eures Braungerfhen Geiftes an den Kopf werft: So
ein Gut, das einem gehört, ift feine Bibliothek, in der man von Amts ·
wegen fist. So ein Gut, das einem gehört, muß einem in Die Seele
wachfen, mug einem fehr lieb und innerlich eigen werben, ſonſt iſt man
entweber Schmaroger ober Tagelöhner auf ihm. In der Bibliothek
iſt man im Grunde geiftiger Tagelöhner, au) wenn man fein
Stückchen Pergament mit Liebe beadert, und dieſe geiflige Tages
löhnerel auf einem Spezialgebiete mag recht wohl einen ganzen
Menschen ausfuͤllen, zumal wenn er von ganzem Herzen und gans
zer Seele und ganzem Gemüt Speialift ift, was sumellen vor ·
fommt, fo wunderlich es flingt. Aber beim Landbeſitz gibt's ſolcher ·
lei Spegialliebe nicht, abgefehen von der induſtriellen Landwirt»
ſchaft, Die uns nichts angeht. Hier gilt es, im ganzen liebevoll aufs
augehen, ein Bauer werben, ber feinem Hofe gehört, wie der Hofihm.
Dazu aber, Graunzer, gehört ein Ding, das ung fehlt, und das
wir uns anſchaffen muͤſſen. Dazu gehört, ih kann mir nicht hel ⸗
fen, eine Eigentumsperfpeftive In bie Zufunft. (Unruhe auf allen
Seiten.)
34
Ihr ahnt, was ich meine? Ihr ſchuͤttelt Euch vor Entfegen,
aber ich muß es Euch noch deutlicher fagen: Dazu gehört die Aus ·
fit, Daß auch nad) ung das Gut uns gehört, dag wir das Gut
auch für eine Fortfegung unfees Selbft bebauen. Kurz und gut:
Dazu gehört, daß wir einmal einen Sohn haben müffen. (Tumult
auf allen Seiten. Der Redner verſchwindet unter einem Negen von
Pfuirufen und faulen AÄpfeln.)
Und wenn Ihr mich eine Stunde lang bepfuit und mit faulen
Apfeln bemerft, — feiner diefer Apfel fann fo fauer fein, wie der,
in den ich biß, als ich dieſe Notwendigkeit erfannte, die ih laut
nochmals ausfprechen muß: Graunzer, wir müffen einen Sohn
haben!
Das ift im Grunde die Sehnfucht, die uns peinigt. Wir find
unbefriebigt, weil wir nicht mit ganzer Liebe In unferem neuen
Wirfungsfreife aufgehen, und wir gehen nicht mit ganzer Liebe in
ihm auf, weil er, als der natüuͤrlichſte und alfo primitinfte aller
Wirfungsfreife, Die Familie zur Borausfegung hat. (Stürmifcher,
gellender Ruf: „Pfui Teufel! Ein Weib! Da haben wir's!“)
Ya, Graunzer, es iſt wahr: es wird ſich nicht umgehen laffen,
Daß wir zu dieſem Zwecke ein Weib nehmen. ( Ohrenbetaͤubender
Lärm.)
Aber nur zu dieſem Zwecke! Ich verwahre mich mit Entſchie⸗
denheit Dagegen, daß ich Nebengebanfen habe, denn darin bin ich
voͤllig eins mit Euch: ich denfe nicht an all das verworrene Zeug,
das gemeinhin den Zweck der Erzeugung eines Erben verſchleiert.
Aber es gibt fchlechterdings Fein anderes Diittel, zu unferm Zwecke
iu gelangen. So jammervon es ift: wir brauchen eine Frau dazu.
Geklommene Paufe.)
Ich erlaube mir, den Antrag zu formulieren, den ich für ange ·
nommen anfehe, wenn fidh fein ausdruͤcklicher Widerſpruch erhebt:
Wir beſchließen, zwecks Erlangung eines männlichen Erben eine
” 35
Frau zu nehmen, der wir uns aber buͤndigſt vorher zu erflären
verpflichten, daß wir von al dem nicht zu unfern Anſchauungen
paffenden Brimbortum ausdrücklich abfehen, das man flr die Ein ·
gehung einer Ehe als Borausfegung anzunehmen pflegt. Tritt der
Effeft, auf den es erft anfommt, nämlich die Geburt eines Knaben,
innerhalb zweier Jahre nicht ein, fol die Ehe augenblicklich aufs
gelöft werden. (Dumpfe Paufe.)
Da fid) fein Widerſpruch erhebt, erfläre ich den Antrag für
angenommen und werde das Weitere veranlaffen.
Nachſchrift: Ein wunderbares Mittel, über böfe Gemütsqualen
wegiufommen, dies Farcieren feiner Unbehaglichfeit. Ich möchte
wiſſen, ob das andern Leuten auch fo geht.
Aber die Farce ift ernfthaft! In einer Woche gedenfe ich auf
Sreiers Süßen Iosgureifen. O Tante uUlrike!
am ı5. März (diefen Tag will id mir hellila anſtreichen,
als in der Farbe, die die frauenzimmerlichſte und mir fa⸗
talfte if).
VI.
Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an ſeinen
Freund, den mehrfach genannten Gymnaſiallehrer Peter
Kahle. Gibt einen Kommentar zu der eben vernommenen
Standrede, den ich jungen Mädchen nicht zu leſen rate
Kiedighof, am 25. März.
Magiſter Kable!
Ihr habt mich, beim Himmel, ſchwer geärgert mit Eurem Briefe.
36 ö
Ich habe Euch Bis jetzt für einen ernfthaften Menſchen und Staats»
buͤrger gehalten und mußte nun mit nicht geringem Bedauern wahr ·
nehmen, daß Ihr ein Spötter von jener geringen Sorte feld, bie
heutzutage von den Zeitungen täglich ſchockweiſe auf den Markt
gebracht werden, und fuͤr die ich nicht ſechs Dreier gebe, felbft
wenn fie Doftoren der Philoſophie und ſtaatlich geeihte Knaben»
erzieher find.
Pro dolor, Peter, — wie fannft Du bis zu der Srivolität
hinabtauchen, zu reimen:
Was dann gefhicht im Maien?
Schämft Du Die nicht, Peter? Das Deinem Freunde und
Korpsbruder?
Aber ich hab’ es immer gefagt: die Schulmeiſterei verdirbt den
Eharafter; und: auf dem Katheder waͤchſt das Bluͤmlein Bosheit
am uͤppigſten; und: wer mit dem Bakel hantiert, fieht an jedem
Menſchen nur das Sitzfleiſch. (U propos: Du kennſt doch die Ge
ſchichte von jenem Schulmonarchen, der in einem Muſeum die
Venus Kallipigos fah und mit Zungenfchnalz ausrief: „Wie muͤß ⸗
ten bier fünfundzwangig fleden! . . .2) — Weld ein Narr ich
mar, daß ich Dir Mitteilung von dem Entfehluffe machte, der mir
wahrhaftig ſchwerer gefallen iſt als irgendeiner in meinem ganzen
geben! Über fo mas machſt Du Wige!? Und fogar gereimte?!
Iſt denn das ganze Maͤnnergeſchlecht eine einzige Clique, ver»
eint zur Verhöhnung ber wenigen, bie fi) vom Weibe emanzipiert
haben? Habt ihr denn alle die Objektivität verloren in dem laͤcher ·
lichen Ringelringelrofenfrang, den ihr mit Uufopferung eures Ber-
37
ftandes, eurer Freiheit, eurer Würde, eures Wohlbehagens, eurer
feelifchen Reinheit mit dem von Schopenhauer fattfam in feiner
ganzen Gefährlichfeit und Elendigfeit gefennzeichneten Geſchlecht
tanzt? Iſt e8 euch denn ganz und gar unmöglich geworden, wirklich
maͤnnlich und nicht bloß als Schürzenanhängfel zu denken?
Dh, ihr Schuͤrzenbandknoten! Ob, ihr belämmerten Ritter vom
Unterrod! Ob, ihr Karpfen, die ihr an der Zopfnadel hang!
Du fannft Dir alfo abfolut nicht vorftehen, Daß man wirklich
bloß um des Grundes willen, den ich Dir in meinem Briefe anges
geben habe, heiraten fann, Du fühlt ſchlechterdings den Anreiz zu
der liebenswuͤrdigen Infinuation in Dir, ich ließe mich da nur von
einem maskierten Inftinfte leiten, und biefer Inftinft tendiere ganz
froͤhlich und beftimmt auf Das hin, was ihr ſchamhaft Erotif nennt,
weil euch felber der Ausdrud „Liebe blümerant, weibfenhaft und
Ipriferig vorfommt?
Nun mil ich Dir aber mal was fagen: Eure ganze vielgerhihmte
„&ebe" iſt im Gegenteil nur eine Maske, die fich der Wunfch auf
Nachkommenſchaft vorbindet, um auf glatteren Wegen zu feinem
Ziele zu gelangen. Der Schwindel, den der Auerhahn der Auer-
henne vortanzt, und der Schwindel, den ihr euren Gänfen vor»
fingt, vorwimmert, vorflötet, Das iſt alles dieſelbe Sache, Die da ⸗
durch nicht anftändiger wird, daß fie Die allergemeinfte auf Gottes
Erdboden ift. Der Auerhahn aber ift gefcheiter als Die zweibeinigen
Freier um Fräulein Gans. Er fegt das zappelige Getanze re facta
wenigſtens nicht fort. Im Gegenteil, er begibt ſich fchleunigft mög-
lichſt weit weg, auf die allerhoͤchſten Baumwipfel, und ift von nun
an ein fehr gemeffener und ernfthafter Herr. Ihr dagegen, — daß
Gott erbarm’! Wenn euch bie „Liebe losgelaſſen hat, friegt euch
das noch kuͤnſtlicher angemachte Ehegefühl in die Krallen, und bie
richtige Komödie beginnt jest erſt. Ihr ſchaͤmt euch, durch die
naturnotmendig eintretende Kälte zuzugeſtehen, daß ihr vorher bloß
38
die obligate Balstomödie aufgeführt habt, und ihr wißt euch nicht
anders zu helfen, als dadurch, dag ihr nun Die Komoͤdie der che-
lichen Liebe beginnt. Diefe Komoͤdie endigt aber immer tragifch,
gleichviel, ob es Die Welt merft oder nicht. Denn fhr einen Teil,
und, wie ich fuͤrchte, meift für den männlichen, wird fie Ernft.
Will fagen: der Komoͤdiant glaubt ſchließlich felber an das, was
er mimt, und das Ende ift die Entfelöftung, die Verweibſung.
Die Ehe ift ſchuld daran, daß es feine Maͤnner mehr gibt, d. h.
Die Ehe, wie Ihr, die Verweibſungsſuͤchtigen, fie begreift.
Es muß aber aud) noch eine andere Ehe moͤglich fein, Die na-
thrliche Ehe naͤmlich, Die Ehe ohne Goldpapieremballage, die Ehe,
die lediglich und ganz ausſchließlich den Zweck der Erzielung von
Nachkommenſchaft hat, und die weder vom Manne noch von der
Frau die Aufgabe der Perfönlichfeit durch die „Liebe“ fordert.
Monftröfer Unfug, diefe „Liebe“, bie die Verkruͤppelung der
einen Individualität ohne weiteres zur Borausfegung und meiftens
die Vernichtung beider Individualitaͤten zur Folge hat. Wie fol
aus ſolchen Verhaͤltniſſen eine gefunde Nachkommenſchaft hervor-
gehen? Was ift Diefe Sorte Ehe anderes, als der Faktor, mit dem
Das bißchen Perfönlichfeit aus der Menfchheit hinausdividiert wird!
Mir graut davor, wenn ich denke, was ſchließlich Daraus werden
fol, aus diefem Rührei von Mann und Weib.
Und darum ſag' ich für meine Perfon allen Ernftes: nein! Ich
will eine Ehe gründen, ohne die Siftion, daß, um ein neues In-
dividuum zu zeugen, es nötig fet, entweder die eigene oder eine an»
dere Individualität zu opfern oder zwei Individualitaͤten bis zur
Unfenntlichfeit ineinander zu manfchen. Eine ſolche Ehe, wie ich
fie mir denfe, mag Eurer Sentimentalität nicht behagen. Daflır
entfpricht fie um fo mehr der Natur. Die Ehe ift nun 'mal Feine
lyriſche Angelegenheit.
Mein Entſchluß fteht feft. Ich fere Hansjörg zum Verwalter
39
ein und begebe mich auf die Suche. Erſt nad) Berlin, mo ich, dem
genius loci entfprechend, die Sache auf die geſchwindeſte und ge»
ſchaͤftsmaͤßigſte Weiſe per Annonce zu erledigen fuchen werde. In
meldhen Lotterietopf man greift, iſt ſchließlich gleichehltig.
Gehab Dich wohl und geh’ in Dich!
Panfraz.
Bemertung des Adreſſaten zu dieſem Briefe:
Krazi Graunzer, oder der Miſoghn aus Naturwiſſenſchaft.
Auch gut! Man ift heute ale aus Raturwiffenfhaft.
Fruͤher war man alles aus Religion. Auch Miſogyn. Siehe
Kirenväter. Die Welt ift rund und dreht fi um. K.
VI.
Ein ganz kurzer Brief des Herrn Pankrazius Graunzer
an diefelbe Adreſſe. Handelt von dem vorigen Brief
Kiebighof, den 26. Mär.
Sieber Peter!
Unter meinem vorigen Briefe wirſt du eine radierte Stelle ge
fehen haben. Ich geſtehe Dir, Daß das Wegradierte, Nachſchrift
geheißen hat. Ich habe es aber vorgezogen, einen eigenen Brief flatt
einer Nachſchrift zu ſchreiben, Damit ich mich nicht eines fpesififch
weiblichen Sehlers ſchuldig mache.
Was id Dir nachſchriftlich ſchreiben wollte, ift aber Dies: Mein
voriger Brief hat einen etwas grätigen und dozierenden Ton, der
mir felber nicht gefänt. Um fo weniger, als ſich al das, mas ich
darin fage, in ruhiger Entwidelung plaufibler geftalten Hefe.
Trogdem habe ich Dir den Brief geſchickt. Erſtens, weil es nötig
40
mar, daß ich Dir für Deine üblen Witze die Leviten las, und dann,
weil Du gerabe auch aus dem Tone erfennen magft, in welcher
ſeeliſchen Verfaſſung ich mich befinde.
Sobald der Gedanke ans Weib Beſitz vom Gehirne eines Mannes
nimmt, ſchlaͤgt ſich der Humor in die Vuͤſche.
Saft hätt’ ich Luft, mir Die Sache doch noch ’mal zu überlegen,
aber ich fürchte, es fäme nur zu einem Auffcyieben, und da will
ich denn doc) lieber gleich in den Apfel beißen, mo er am ſauer ·
ſten iſt.
Dein
Panfray.
Bemerkung bes Adreflaten:
Armer Kraji! Entſchuldigt ih! Aber er tut mir led. Dir
fun immer die Leute Leid, Die gute Kerle find und ſchimpfen
müffen, Das hatte die Religion vor der Raturwiffenfchafe
voraus, daß fie die Leute nicht brummig machte.
VL
Aus einem Briefe des Amtsgerichtsrates Kropfer an
feinen Korpsbruder Herrn Peter Kahle. Handelt von
Herrn Pankragius Graunzer
Berlin, den 10. April.
... Ja, richtig, noch eins! Geſtern hab ich Graunzern geſehen.
Mir ſcheint, daß der Gute voͤllig am uͤberſchnappen iſt. Von
Lebensart gar feine Spur mehr und ein Exterieur wie ein Hinter»
mäldler. Ganz der Vetter vom Lande: Inſpektormuͤtze, Joppe,
knallende Rindslederſtiefel.
Was machſt du denn in Berlin?“ fragte ich ihn.
Ich fege Heiratsannoncen in den Lokalanzeiger“, antwortete er.
Darauf ih: „Fuͤr einen Weiberfeind ift das ein graufamer
Und er: „Gar fein Scherz! Wer gibt dir das Recht, mir ſcherr—
bafte Gedanken unterzufchieben?! Wie fommft Du Dazu, mich wie
eine fomifche Perfon zu behandeln?! Nief doch in dein eigenes
Taſchentuch!“
Und eh’ ich noch beguͤtigend „na! na!“ fagen konnte, war er
weg, quer über Die Straße, in einen Omnibus hinein.
Und ein Geſicht machte er, — ich fage Dir: ein Geſicht ...!
Jedes Schnurrbarthaar war gefträubt, und feine Augen funfelten
dunfel. Du weißt, mas das bei ihm zu bedeuten hat.
Dein
Kropfer.
R.
Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an feinen
Freund Peter Kahle. Handelt von einer dezidiv modernen
Dame
Berlin, den 10. April.
Mein guter Peter!
Nachdem ich Dir im vorigen Monat den Brief mit den Leiten
und bann den Nachſchriftbrief geſchrieben hatte, Hab’ ich mich bald
von Kiebitzhof aufgemacht und bin gen Berlin gefahren.
Mein Plan fteht feſt: ich mi eine Frau ſuchen. Zuerft in Ber-
in. Zwar lieb’ ich das Berliner Volk nicht, und fo opponierte
aud) etwas in mir gegen den Plan, juft am unliebenswürbigften
Drte von Deutfchland zu beginnen, aber ſchließlich fagte ich mir,
daß es ſich hier nicht um eine liebenswuͤrdige, viel weniger um eine
verliebte Sache handle, und daß gerade mein Geſchaͤft fich in Ber ·
42
fin vielleiht am ſchnellſten abwickeln koͤnnte, wo man ohnehin zu
einer geſchaͤftsmaͤßigen Behandlung aller Angelegenheiten des
menfchlichen Lebens neigt.
Subr alfo nad Berlin.
Ich ließ Kiebighof ungern hinter mir. Jetzt, wo es Frühling
werden mil, tft es ſchwer, aus der Natur heraus in bie Stadt zu
gehen. Aber da es gefchehen mußte, geſchah es, und ich brummelte
vor mic hin:
Iq reit’ auf Abenteuer aus,
Vorwärts, Schimmel, vorwärts!
Einen Rattenfhtwanz, den bring’ ich nach Daus,
Dorwärts, Schimmel, vorwärts!
Und wär? das Abenteuern dumm,
Treibt es mic) doc) ins Weite um,
Vorwärts, Schimmel, vorwärts!
Du fiehft, ich ſchackte ganz vergnüglic) los, mit fo einem ge⸗
wiſſen, burchgegerhten Humor: Nur zu, die Sache mird
ſchief gehen.
Und richtig!
Aber das muß ich Dir huͤbſch im Schritte erzählen.
Alfo: ic) hatte mir in den Kopf gefest, sundrverft mal ſchlecht
und modern zu operieren — mit einer SHeiratsannonce in der
Voſſiſchen Zeitung:
Die Annonce fah fo aus!
Ernithaft.
Ein DVierziger, Dr. phil. und Gutsbefiker,
wuͤnſcht ſich zu verehelichen. Damen mit
gleichem Borpaben wollen ſich brieflich unter
Chiffre P. G. 40 ausſprechen.
43
Ich hatte die Annonce fo farblos und ohne jede Andeutung
meiner perfönlichen Anforderungen gewählt, weil es mir unzweifel ·
haft verwehrt worden wäre, auszudruͤcken, daß ich mich lediglich
weis Erzeugung von männlicher Nachkommenſchaft au verche
lichen wünfche. Denn ein folder Wunſch, ausgefprocdhen, erregt
Argernis, während er, wie ich glaube, gehegt fogar von Staats ·
anwaͤlten und Paftorstöchtern wird. Das tft fo eine der profunden
Tatfachen unferes Moralfoder, über die es gut iſt zu ſchweigen,
denn fobald man ing Reben davon fäme, würde man einen Stil
fprechen, der wiederum das Intereſſe des von Staats wegen
berufenen Huͤters der befiehenden Inſtitutionen erregen wuͤrde.
Das ift die befannte Schlange, die fi) In den Schwanz beißt.
Symbol der Emigfeit fagt man. Symbol der Emigfeit der Dumm ·
heit — fönnte man fagen. Ich aber fage es nicht, fondern lache
inwendig. (Wobei ich Die Bemerfung nicht unterdruͤcken fann, daß
augenblicklich fehr viel inwendig gelacht wird in Deutfchland, und
es gehören sur Sefte der inwendigen Lacher Leute, Die auswendig
einen geradezu penetranten Ernſt ur Schau tragen, — nicht von
Geſchmacks, fondern von Amts wegen.)
Aber ich mil nicht davon zu Dir fprechen, denn davon fprichft
Du felber wahrſcheinlich manchmal zu Dir, inwendiger Lader, der
Du biſt. Sondern ich mid Dir erzählen, mas auf meine Annonce
in der Voſſiſchen erfolgt iſt.
Eine Sturmflut von Briefen in den befannten unangenehmen,
fpinnefhigen, weiblichen Schriftzügen ſturzwellte über mich her.
In meiner Briefmappe, in den Schubfächern meines Schreid-
tifches, überall, in meinem ganzen Zimmer erhob ſich ein Krieg von
hunderterlei Geſtaͤnken, wie fie in der Damenmelt, die nicht ein«
mal den Mut ihres eigenen Geruches hat, unter den Namen von
Parfuͤms graffieren. Erſt nachdem ich etwas Jodoform verſtreut
hatte, ward ic) dieſes widerlichen Mißduftes Herr.
44
Länger dauerte es, bis ich Die fatalen Duͤnſte aus meinem &e-
bien getrieben hatte, Die von dem Inhalt jener Briefe in mir er»
reugt worden waren. Ich hatte ein Gefühl von Verbreiung meines
Zerebralſyſtems, als ich dieſe unglaublichen Briefe gelefen hatte,
und id) befam einen Begriff, wie es im Gehirn eines unferer weib-
feligen Lyriker ausfehen mag, die noch immer nicht aufhören, zu
behaupten, daß bie Liebe der ſchoͤnſte aler Triebe fei. Ein paar
Kapitel Schopenhauer taten gute Dienfte gegen biefe zeitweilige
Verſeuchung, aber im Grunde danke ich es Doch wohl hauptſaͤchlich
meiner guten Mannesgehirnstonftitution, daß ich Diefes Gefühl
hoͤchſter Elendigfeit und Kraftlofigkeit verhältnismäßig ſchnell über-
wunden habe.
Ich würde als ein ſchlechter Freund und auch gegen mich wie
ein Flagellant handeln, würde ich Dir hier aus diefen Briefen
einen Seflihlsertraft geben. Ich habe fie verbrannt, und ich will fie
au vergeffen fuchen.
Unter der ganzen gräßlichen Menge war ein einziger, der mir
ein gewiſſes nicht mit Direftem Unmohlfein verbundenes Intereſſe
abgewann. Es war in derben, ſteifen Schriftzigen gefchrieben, nicht
parfümiert und lautete wie folgt:
Herrn P. G. 40!
Das trifft ſich gut! Sie find vierzig, ich fünfunddreifig.
Sie find Gutsbefiger (den Doktor ſchenk' ich Ihnen), und
id) habe das Stadtleben fatt.
Sie wollen heiraten, ich auch.
Ich sweifle demnach nicht, daß wir harmonieren werben.
Wenn es Ihnen recht ift, ſprechen wir uns einmal perfün-
lich aus.
Ich werde morgen abend 7 Uhr im Reftaurant Pfchorr,
Ede Friedrich» und Behrenſtraße, an dem Tiſch in der Edle,
45
gerade gegenliber der Eingangstür von der Friedrichſtraße her,
figen.
Sollte der Tisch beſetzt fein, mas aber um dieſe Zeit nicht
anzunehmen ift, fo werd’ ich mich dem Speiſebuͤfett gegenüber«
fegen und die Kreugeitung lefen.
Ich warte bis 8 Uhr.
K. K.
Dieſer Brief gewann nicht allein dadurch, daß er ſich von der
allgemeinen Limonade der uͤbrigen ſcharf abhob, er hatte auch für
ſich allein genommen etwas, das mir, ich will nicht ſagen impo ⸗
nierte, aber doch einen gewiſſen vertrauenerweckenden Eindruck
machte.
Da er von einer Perſon jenes Geſchlechtes kam, deren Außer
rungen man gut tut, ſtets auf Bakterien genau zu unterſuchen,
ſah ich ihn mir fehr genau an. Ich kam dabei zu folgendem Re⸗
fultate:
1, Keine Anrede.
Das läßt fi) gut und übel auslegen, denn man fann daraus
vielleicht auf eine gewiſſe gerade Wefensart ſchließen, die an
einen Unbefannten auch nicht die üblichen Höflichfeitsflosfeln
verſchwenden win, vielleicht aber läßt es auch einfach den Schluß
auf eine ſalva venia Rauhbeinigfeit zu, Die für mich beim mweib-
lichen Geſchlecht nicht eben dekorativ wirkt.
2. Die Antitheſen des Eingangs.
Nicht ohne eine gewiſſe kurzbuͤndige Kraft. Die Frau, dacht'
ich mir, häfelt ihre Neden nicht, wie es Weiberart, noch
ſtrickt fie gar jene langen Redeſtruͤmpfe, in denen der gefunde
Verftand erſtickt. Sie mird vielleicht eher ein bißchen zu wenig
fagen. Aber das iſt weitaus Das geringere Übel,
3. „Ich ameifle demnach nicht."
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Ecce mulier! Da haben mir auch bei der Furgrebigen bie
Schnatterlogit. „Demnach !" Es ift unerhört! Indeſſen: auf
logiſche Gebrechen war ich ja für ale Faͤlle vorbereitet.
4. „Im Reftaurant Pſchorr.“
Sie alſo gibt mir ein Rendezwous, und zwar ohne weiteres,
ohne jeden Vorſchlag irgend welcher weiteren brieflichen Prä-
liminarien.
Und dann: nicht Joſty, nicht Kranzler, ſondern Pſchorr; Fein
Zuderbäder, fein Kaffee, fondern Bier, und zwar echtes. Das
läßt auf eine gewiſſe ſichere und fräftige Art des Entſchließens
und des Geſchmackes fchließen.
Gefaͤllt mir.
5. Genaue Kenntnis der Örtlicpfeit und der Beſuchsfrequen;
im Pſchorr.
Sollte fie Stammgaft fein?
6. Die Kreuggeitung.
Die Dame ift ſchlau, man wird ſich alfo vorfehen müffen. Sie
kalkuliert fo: Der Mann ift Gutsbeſitzer, folglich wird er Agrarier
fein, folglich wird er es gerne hören, daß ich Die Kreuneitung lefe.
Madame, Reſpekt! Aber Sie werben fi) Daran gewöhnen
muͤſſen, daß ih Ste durchſchaue.
7. „I warte bis 8 Uhr.”
Das weiſt wieder auf Entſchiedenheit hin und auf einen ge»
wiſſen Stolz.
Nicht übel.
8. „Den Doftor (hen ich Ihnen.“
Eine merkwuͤrdig fühne Parenthefe. So viel pſychologiſchen
Spürfinn fann ich der Dame nicht zutrauen, daß fie aus mei-
ner Annonce die geringe Schägung hätte erfennen follen, mit
der ich meinen afademifchen Grad anfehe. Ste muß alfo wirf-
lich die Doftorei perſoͤnlich gering achten.
47
A Ia bonne heure! Das gefällt mir fehr gut!
Freilich müßte man den Grund biefer Geringachtung wiſſen.
Vielleicht hat fie ſchlechte Erfahrungen mit Doftoren gemacht?
Vielleicht auch, daß fie mit Diefem Ausnahmsftandpunft bioß
totettiert.
Denn womit fofettieren Weiber nicht?
Ich denke, Du fiehft, daß ich gründlich und ganz gewiß objef-
tin zu Werke ging. Das ſchließliche Ergebnis meiner Speslalunter-
ſuchung war, daß ich befchloß, mir das Doppel-R in Perfon an-
aufeben.
Mir war nicht ganz wohl zumute, als ich mic) auf den Weg
machte.
Du weißt, wie ſchwer es mir fänt, mit Weibern zu reden. Die-
fes fremde Bolt fpriht eine Sprache, die nur fcheinbar biefelbe
iſt, die ich beherrſche. Und dann haben fie ae fo mas verwirrend
Mimiſches an fi), eine fo vertrafte Art, Die Worte mit Blicken,
Geften, Bewegungen zu begleiten, bie ganz willkuͤrlich und zu ·
fammenhanglos find. Ich möchte ihnen Immer in den Arm fallen
und fragen: Bitte, warum jest der fleine Finger fo in Die Höher
Der: Um Gottes willen, warum nun Die Blicke auf meine Stie-
fel? Oder: Gerechter Himmel, mas ift Ihnen, dag Sie fo ma-
donnenſchmerzlich den Kopf nad) rechts neigen?
Es ift aber nicht Furcht, was mid) fo bange macht, denn
ſchuͤchtern bin ich nicht. Es iſt nur Widerwille. Und dieſen mußt’
ich natuͤrlich diesmal unterdruͤcken.
Ich ging alſo in das Pſchorr. An dem Tiſch gegenuͤber der Thr
faß fie nicht. Der war befegt von Studenten.
Alfo nicht Stammgaft! dacht’ ich mir.
Und nun der Blick das Eofal lang hinab zum Speifenbhfett.
Richtig! Mitten gegenüber eine Dame hinter einem großen
Zeitungsblatt. Ich erfannte deutlich das Kreuz und hol’ mic) der
48
Kudud, mein Herz flopfte, daß ich mich coram publico hätte be
maulſchellen mögen.
Bon ihr fah ich nur ein Toupet ſchwarzer Haare. But! dacht’
ich mir, fie hat den Hut abgenommen! Das Ift fein ſchlechtes
Zeichen!
Und nun los auf den Tiſch und eine Verbeugung gemacht und:
nP. ©. 44."
Als Antwort eine fonore Stimme: K.! K.! (Wirklich: hinter
jedem X ein akuſtiſch deutliches Ausrufezeichen.)
Ih: Mein Name ift Panfrasius Graunzer. Sie geflatten?
&. 8.: Katharina Kolbe. Bitte!
Dabel fahen mich zwei ſchwarze Augen groß und inquiſitoriſch
an. Nur als Soldat, wenn unfer Feldwebel den Anzug prüfte,
habe ich ſolche Augen an mir auf» und abwandern fehen.
Ich fand faum die nötige Unbefangenheit, gleichfalls zu muftern;
als ich mir aber den nötigen Ruck gegeben hatte, fah ich folgendes:
unterfegte Figur, ein bißchen zur, fagen mir Breite, neigend, mit
ſtarker Bruſtausladung; das Geficht ſcharfzuͤgig, im Profil an ger
wiſſe Bourbonengeſichter erinnernd; die Haare fein Toupet, wie
es von weitem erfchien, fondern in natuͤrlicher uͤppiger Kräufelung
a la Titus gehalten, — entſchieden zu viel Haarwerk; die Hände
von gefunder Farbe, fehr fleifehig; das Kleid knapp anliegend,
ſchwarz, einfach, stemlich viel vom ſpeckigen Nacken freilaffend, um
den eine goldene Kette hing. Gefamteindrud: nicht fehr lebens»
wuͤrdig, aber auch nicht abſtoßend; wenn man ſich Daran gewöhnt
haben wird, wird man das Enfemble ganz anftändig finden.
Sie begann das Geſpraͤch fofort, nachdem ich abgelegt und Bier
befommen hatte.
8.8: Run alfo, Herr Graunzer, Ste wollen heiraten! Darf
ich da erſt 'mal ein paar ragen an Sie richten? (Ein Blick, der
mir wie nichts Gutes in die Seele fuhr. Es war Eraminatoren-
4 Bierbaum II 49
firenge darin. Ich fühlte mic) beengt, wie wenn ich im Kandidaten»
frac? fäße, und unwillkuͤrlich fuhr ich mit dem Finger am inneren
Rande meines Hemdkragens entlang.)
Ich: Bitte, Fräulein... . oder Frau.
KR. K. (gebieterifh): Fräulein!
Ich: Hm!
K. 8.: Run alfo, erſtlich, Herr Graumer, — ja, apropos: Sie
legen doch feinen Wert auf den Doftor?
Ich: Gewiß nicht.
K. 8.: Das iſt gut. Ich hätte es fir Schwaͤche gehalten, wenn
Sie's täten. Alfo: weshalb wollen Sie heiraten?
Ich: Gut, Daß Sie fragen! Ich mil heiraten, um einen gie
au befommen.
K. K. (mit zuruͤckgeworfenem Kopfe): Ah!
Ich (in einer Art Erbitterung, denn ich fing an, mid)
fes weibliche Wefen zu ärgern, das mid) hier am Wirth
ausfragte und mufterte wie einen Kutfcher, den fie mieten
Jawohl! Um einen Sohn zu befommen oder aud) mehrere
aber feine Töchter. Aus diefem Grunde.
K. 8.: Vortrefflich, ganz vortrefflich ! Ah!
Ich: Es freut mich, Daß Sie meinen rund, der der ein
gutheißen. Ich hätte kaum gehofft, daß ſich dieſer Karbina
fo überaus ſchnell erledigen wuͤrde.
8. 8.: Wofuͤr halten Ste mich ?
Paufe.
Ich der id) das anfangs für eine rhetoriſche Frage geh,
hatte): Für eine Dame alfo... .
K. 8.: Alſo?
Ich: Verzeihen Ste, aber es wird mir etwas ſchwer, Ih
jetzt, nachdem ich Sie erſt ſeit funf Minuten etwa kenne, ber
meine Meinungen über bie unter dem Namen Dame begriffe
so
Gattung Menſch vorzutragen. (Ich ſprach wirklich in biefem Do+
aentenftile. Es ging von K. K. etwas fo Ungemöhnliches aus, daß
ich auf Zeiten wirklich das Gefuͤhl hatte, ich befände mich einem
Demonftrationsobjefte und nicht einem lebendigen Drenfchen ge»
genhber. Der Gedanfe, daß ic) eines jener nad) unferen Gefel-
ſchafisſatzungen mit ganz befonderen Fineffen und Ruͤckſichten zu
behandelnden Wefen vor mir hätte, die mir eben „Dame‘ nennen,
tam mir gar nicht.)
K. 8.: Warum?! Warum?! Bitte, feine Gene! Nur das nicht!
Ich vertrage alles! Ich bin auch auf alles gefaßt! Ich bin fein
Backfiſch mehr! Ich fehe Mar!
Ich: Klar? Sie irren ſich vermutlich. Keine Dame fieht klar.
Nicht einmal ein Weib, das Feine Dame ift, fieht klar.
K. 8.: Hm! Sie denken alfo gering von uns? Wie?
Ich: So ift es. Ya. Im allgemeinen und bis jegt auch im be»
fonderen.
K. 8.: Vortrefflih! Ganz vortrefflih! Sie find mein Dann!
Ich: Noch nicht! Aber ih muß geftehen, Daß ich ſchon wieder
erftaunt bin, Sie fo ſchnell auf meine Intentionen eingehen zu
fehen.
K. 8.: Inmiefern ift das erflaunlih? Warum fohte ſich eine
Frau nicht zu derſelben Seelen» und Geiſtesſtaͤrke aufſchwingen
wie ein Mann? Warum follte ich nicht begreifen, daß ein Dann
niedrig vom Weibe denkt? Nichts iſt erfläclicher!
Ich: Gewiß! Aber wie fielen Ste ſich die Stellung der Frau
eines ſolchen Mannes in der Ehe vor? Würden Ste ſich getrauen,
eine ſolche Stellung einzunehmen? Das ift doch nicht fo einfadh!?
Da gilt es doch, auf alles mögliche zu versichten!? Die Liebes. 3.1?
8. 8.: Das findet fih!
Ich: Bitte recht fehr, Das findet ſich nicht! Ganz und gar nicht!
Darauf laß ich mic) nicht ein! Das eben will Ich vermeiden!
4 sı
„Ich ſetze Hetratsannoncen in ben Lokalanzeiger“, antwortete er.
Darauf ih: „Sr einen Weiberfeind iſt das ein graufamer
Shen.”
Und er: „Gar fein Scherz! Wer gibt dir Das Necht, mir ſcherr⸗
hafte Gedanken unterzufchteben?! Wie kommſt du dazu, mich wie
eine fomifche Perfon zu behandeln?! Nieſ' doch in dein eigenes
Taſchentuch!“
Und eh’ ich noch beguͤtigend „na! na!" ſagen konnte, war er
weg, quer über die Straße, in einen Omnibus hinein.
Und ein Geficht machte er, — ich fage Dir: ein Geſicht ... .!
Jedes Schnurrbarthaar war gefträubt, und feine Augen funfelten
dunfel. Du weißt, was das bei ihm zu bedeuten hat.
Dein
Kropfer.
R.
Ein Brief des Heren Pankrazius Graunzer an feinen
Freund Peter Kahle. Handelt von einer dezidiv modernen
Dame
Berlin, den 10. April.
Mein guter Peter!
Nachdem ich Dir im vorigen Monat den Brief mit den Leviten
und dann den Nachſchriftbrief gefchrieben hatte, Hab’ ich mich bald
von Kiebighof aufgemacht und bin gen Berlin gefahren.
Mein Plan fteht feft: ich win eine Frau fuchen. Zuerſt in Ber-
lin. Zwar lieb’ ich das Berliner Volk nicht, und fo opponterte
auch etwas in mir gegen den Plan, juſt am unliebenswuͤrdigſten
Drte von Deutfchland zu beginnen, aber ſchließlich fagte ich mir,
Daß es ſich hier nicht um eine liebenswuͤrdige, viel weniger um eine
verliebte Sache handle, und daß gerade mein Geſchaͤft ſich In Ber ·
42
lin vielleicht am ſchnellſten abwickeln fönnte, wo man ohnehin zu
einer gefhäftsmäßigen Behandlung aler Angelegenheiten des
menſchlichen Lebens neigt.
Fuhr alfo nad Berlin.
Ich ließ Kiebitzhof ungern hinter mir. Jetzt, mo es Frühling
werden win, if es ſchwer, aus der Natur heraus in Die Stadt zu
gehen. Aber da es gefchehen mußte, gefchah es, und ich brummelte
vor mich hin:
Ich reit? auf Abenteuer aus,
Berwärts, Schimmel, vorwärts!
Einen Nattenſchwan, den bring’ ich nad) Daus,
Vorwärts, Schimmel, vorwärts!
Und wär? das Abenteuern dumm,
Treibt es mic) doch ins Weite um,
Vorwärts, Schimmel, vorwärts!
Du fiehft, ich ſchackte ganz vergnuͤglich los, mit fo einem ge
wiſſen, durchgegerbten Humor: Nur zu, die Sache wird > fie
ſchief geben.
Und richtig!
Aber das muß ih Dir huͤbſch im Schritte erzählen.
Alfo: ich hatte mir in den Kopf gefest, zuvoͤrderſt mal ſchlecht
und modern zu operieren — mit einer NHeiratsannonce in der
Voſſiſchen Zeitung:
Die Annonce fah fo aus!
Erntthaft.
Ein DVierziger, Dr. phil. und Gutsbeſitzer,
wuͤnſcht ſich zu verchelihen. Damen mit
gleichem Vorhaben wollen ſich brieflich unter
Chiffre P. G. 40 ausfprehen.
43
Ich hatte Die Annonce fo farblos und ohne jede Andeutung
meiner perfönlichen Anforderungen gewählt, weil es mir unzweifel ·
haft verwehrt worden wäre, auszubräden, daß ich mich lediglich
zwecks Erzeugung von männlicher Nachkommenſchaft zu verche
lichen wuͤnſche. Denn ein folder Wunſch, ausgeſprochen, erregt
Argernis, während er, wie ich glaube, gehegt fogar von Staats ·
anmälten und Paftorstöchtern wird. Das ift fo eine der profunden
Tatſachen unferes Doralfoder, über die es gut iſt zu ſchweigen,
denn fobald man ins Reden davon fäme, würde man einen Stil
fprechen, der wiederum das Intereſſe des von Staats wegen
berufenen Huͤters ber befiehenden Inſtitutionen erregen wuͤrde.
Das tft die befannte Schlange, die fi in den Schwanz beift.
Symbol der Emigfeit fagt man. Symbol der Emigfeit der Dumm-
heit — fönnte man fagen. Ich aber fage es nicht, fondern lache
inwendig. (Wobei ih Die Bemerfung nicht unterdrücken Fann, daß
augenblicklich fehr viel inwendig gelacht wird in Deutfchland, und
es gehören zur Sefte der inwendigen Lacher Leute, die auswendig
einen gerabezu penetranten Ernſt zur Schau tragen, — nicht von
Geſchmacks, fondern von Amts wegen.)
Aber ich will nicht davon zu Dir fprechen, denn davon fprichft
Du felber wahrſcheinlich manchmal zu Dir, inwendiger Lacher, der
Du biſt. Sondern ich win Dir erzählen, was auf meine Annonce
in der Voſſiſchen erfolgt tft.
Eine Sturmflut von Briefen in den befannten unangenehmen,
fpinnefhfigen, weiblichen Schriftzuͤgen ſturzwellte über mich her.
In meiner Briefmappe, in den Schubfächern meines Schreib ⸗
tifches, überan, in meinem ganzen immer erhob ſich ein Krieg von
hunderterlei Geftänfen, wie fie in der Damenmwelt, die nicht ein-
mal den Mut ihres eigenen Geruches hat, unter den Namen von
Parfuͤms graffieren. Erſt nachdem ich etwas Jodoform verftreut
hatte, ward ich diefes widerlichen Mißduftes Herr.
44
Länger dauerte es, bis ich die fatalen Dünfte aus meinem &e-
bien getrieben hatte, Die von dem Inhalt jener Briefe in mir er⸗
zeugt worden waren. Ich hatte ein Gefühl von Verbreiung meines
Zerebralſyſtems, als ich dieſe unglaublichen Briefe gelefen hatte,
und ich befam einen Begriff, wie es im Gehirn eines unferer weib ·
feligen Lyriker ausfehen mag, bie noch immer nicht aufhören, au
behaupten, daß die Liebe der ſchoͤnſte aller Triebe ſei. Ein paar
Kapitel Schopenhauer taten gute Dienfte gegen dieſe zeitweilige
Verſeuchung, aber im Grunde danke ich es doch wohl hauptſaͤchlich
meiner guten Mannesgehirnstonftitution, daß ich dieſes Gefuͤhl
böchfter Elendigfeit und Kraftlofigfeit verhältnismäßig ſchnell über-
wunden habe.
Ich würde als ein ſchlechter Freund und auch gegen mid) wie
ein Flagellant handeln, würde ich Dir hier aus biefen Briefen
einen Sefhhlsertraft geben. Ich habe fie verbrannt, und ich win fie
au vergeffen fuchen.
Unter der ganzen graͤßlichen Menge war ein einziger, der mir
ein gewiſſes nicht mit Direftem Unmohlfein verbundenes Intereſſe
abgewann. Es war in derben, fteifen Schriftzuͤgen geſchrieben, nicht
parfümiert und lautete wie folgt:
‚Seren P. G. 40!
Das trifft fi) gut! Ste find vierzig, ich fünfunbbreißig.
Sie find Gutsbefiger (den Doftor ſchenk' ih Ihnen), und
ich habe das Stadtleben fatt.
Sie wollen heiraten, ich auch.
Ich zweifle demnach nicht, daß wir harmonieren werben.
Wenn es Jhnen recht ift, ſprechen wir uns einmal perſoͤn ·
lich aus.
Ich werde morgen abend 7 Uhr im Neftaurant Pſchorr,
Ede Friedrich und Behrenſtraße, an dem Tiſch in der Edle,
45
gerade gegenüber der Eingangstür von der Friedrichſtraße her,
figen.
Sonte der Tiſch befegt fein, was aber um dieſe Zeit nicht
anzunehmen iſt, fo werd’ ic) mich dem Speifebüfett gegenüber»
fegen und bie Kreugeitung lefen.
ch warte bis 8 Uhr.
RR.
Diefer Brief gewann nicht allein Dadurch, daß er ſich von der
allgemeinen Limonade der Übrigen ſcharf abhob, er hatte auch für
ſich adein genommen etwas, Das mir, ih win nicht fagen Impo-
nierte, aber doch einen gewiſſen vertrauenerwedenden Eindrud
machte.
Da er von einer Perſon jenes Geſchlechtes kam, deren Äuße⸗
rungen man gut tut, ftet auf Bakterien genau zu unterfuchen,
ſah ich ihn mir fehr genau an. Ich kam dabei zu folgendem Re»
fultate:
1. Keine Anrede.
Das läßt ſich gut und übel auslegen, denn man fann daraus
vielleicht auf eine gewiſſe gerade Wefensart ſchließen, Die an
einen Unbefannten auch nicht die üblichen Höflichfeitsflosfeln
verſchwenden win, vielleicht aber läßt es auch einfach den Schluß
auf eine falva venta Rauhbeinigkeit zu, Die für mich beim weib ⸗
lichen Geſchlecht nicht eben dekorativ wirft.
2. Die Antithefen des Eingangs.
Nicht ohne eine gewiſſe Fursblindige Kraft. Die Fran, dacht'
ich mir, häfelt ihre Reden nicht, wie es Weiberart, noch
ſtrickt fie gar jene langen Redeſtruͤmpfe, in denen ber gefunde
Verftand erſtickt. Sie wird vielleicht eher ein bißchen zu wenig
fagen. Aber das ift weitaus das geringere Übel,
3. „Ich sweifle demnach nicht.”
46
Ecce mulier! Da haben wir auch bei der kurzredigen bie
Schnatterlogif. „Demnach!“ Es ift unerhört! Indeſſen: auf
logiſche Gebrechen war ich ja für ale Faͤlle vorbereitet.
4 „Im Reſtaurant Pſchorr.“
Ste alfo gibt mir ein Rendezvous, und zwar ohne weiteres,
ohne jeden Vorſchlag irgend welcher weiteren brieflichen Prä-
liminarien.
Und dann: nicht Joſty, nicht Kanzler, ſondern Pſchorr; fein
Zuderbäder, fein Kaffee, fondern Bier, und zwar echtes. Das
läßt auf eine gewiſſe ſichere und fräftige Art des Entſchließens
und des Geſchmackes ſchließen.
Gefaͤllt mir.
5. Genane Kenntnis der Örtlicpfeit und der Beſuchsfrequen
im Pſchorr.
Sollte fie Stammgaft fein?
6. Die Kreuggeitung.
Die Dame ift ſchlau, man wird fich alfo vorfehen muͤſſen. Ste
kalkuliert fo: Der Mann ift Gutsbeſitzer, folglich wird er Agrarier
fein, folglich wird er es gerne hören, daß ich Die Kreuneitung lefe.
Madame, Nefpeft! Aber Sie werden ſich Daran gewöhnen
mögen, daß ich Ste durchſchaue.
7. „Ich warte bis 8 uhr.”
Das weift wieder auf Entſchiedenheit hin und auf einen ges
toiffen Stolz.
Nicht übel.
8, „Den Doftor ſchenk' ich Ihnen.“
Eine merkwuͤrdig fühne Parenthefe. So viel pſychologiſchen
Spürfinn kann ic) der Dame nicht sutrauen, daß fie aus mei»
ner Annonce die geringe Schägung hätte erkennen follen, mit
der ich meinen akademiſchen Grad anfehe. Sie muß alfo wirf-
lich Die Doftorei perſoͤnlich gering achten.
47
A la bonne heure! Das gefänt mir fehr gut!
Freilich müßte man den Grund diefer Geringachtung willen.
Vielleicht hat fie ſchlechte Erfahrungen mit Doftoren gemacht?
Vieleicht auch, daß fie mit Diefem Ausnahmsftandpunft bloß
tofettiert.
Denn womit fofettieren Weiber nicht?
Ich denke, Du fiehft, daß ich gruͤndlich und ganz gewiß objef-
tiv zu Werke ging. Das fchließliche Ergebnis meiner Spesialunter-
ſuchung war, daß ich beſchloß, mir Das Doppel-R in Perfon an-
aufehen.
Mir war nicht ganz wohl zumute, als ich mic) auf den Weg
machte.
Du weißt, wie ſchwer es mir faͤllt, mit Weibern zu reden. Die
fes fremde Volt fpriht eine Sprache, die nur ſcheinbar dieſelbe
iſt, Die ich beherrſche. Und dann haben fie ade fo mas vertwirrend
Mimiſches an fidh, eine fo vertrafte Art, die Worte mit Blicken,
Geften, Bewegungen zu begleiten, die ganz willkuͤrlich und zu-
fammenhanglos find. Ich möchte ihnen Immer in den Arm fallen
und fragen: Bitte, warum jegt der kleine Finger fo in die Höhe?
Der: lm Gottes wien, warum nun bie Blicke auf meine Stie-
fel? Oder: Gerechter Himmel, was tft Ihnen, dag Sie fo ma-
donnenſchmerzlich den Kopf nach rechts neigen?
Es iſt aber nicht Furcht, was mich fo bange macht, denn
ſchuͤchtern bin ich nicht. Es iſt nur Widerwille. Und biefen mußt’
id) natuͤrlich diesmal unterbräden.
Ya) ging alfo in das Pſchorr. An dem Tiſch gegenüber der Tür
faß fie nicht. Der war befegt von Stubenten.
Alfo nicht Stammgaft! dacht’ ich mir.
Und nun ber Blick das Lofal lang hinab sum Speiſenbuͤfett.
Richtig! Mitten gegenüber eine Dame hinter einem großen
Zeitungsblatt. Ich erfannte deutlich das Kreuz und hol’ mich der
48
Kudud, mein Herz flopfte, daß ich mich coram publico hätte be ·
maulſchellen mögen.
Von ihr fah ich nur ein Toupet ſchwarzer Haare. Gut! dacht'
ich mir, fie hat den Hut abgenommen! Das ift fein ſchlechtes
Zeichen!
Und nun los auf ben Tiſch und eine Verbeugung gemacht und:
„P.G. 44
Als Antwort eine fonore Stimme: K.! K.! (Wirklich: hinter
jedem X ein akuſtiſch deutliches Ausrufezeichen.)
Ich: Mein Name ift Panfrazius Graunzer. Sie geftatten?
K. 8.: Katharina Kolbe. Bitte!
Dabei fahen mic zwei ſchwarze Augen groß und inquiſitoriſch
an. Nur ald Soldat, wenn unfer Feldwebel den Anzug pruͤfte,
habe ich ſolche Augen an mir auf- und abwandern fehen.
Ich fand faum die nötige Unbefangenheit, gleichfalls zu muſtern;
als ich mir aber den nötigen Ruck gegeben hatte, fah ich folgendes:
unterfegte Sigur, ein bißchen zur, fagen wir Breite, neigend, mit
ſtarker Bruftauslabung; das Geſicht fcharfslgig, im Profil an ges
wiſſe Bourbonengeſichter erinnernd; Die Haare fein Toupet, wie
es von weitem erſchien, ſondern in natürlicher uͤppiger Kräufelung
a la Titus gehalten, — entſchieden zu viel Haarwerk; die Hände
von gefunder Farbe, fehr fleifchig; das Kleid knapp anliegend,
ſchwarꝛz, einfach, ziemlich viel vom fpedigen Nacken freilaffend, um
den eine goldene Kette hing. Geſamteindruck: nicht fehr lebens»
wuͤrdig, aber auch nicht abftoßend; wenn man fi) Daran gemöhnt
haben wird, wird man das Enfemble ganz anftändig finden.
Sie begann das Geſpraͤch fofort, nachdem ich abgelegt und Bier
befommen hatte.
K. K.: Run alfo, Herr Graunzer, Ste wollen heiraten! Darf
ich da erfl ’mal ein paar Fragen an Sie richten? (Ein Blick, der
mir wie nichts Gutes in die Seele fuhr. Es war Eraminatoren-
4 Bierbaum II 4
frenge darin. Ich fuͤhlte mich beengt, mie wenn ich im Kandidaten ·
fra fäße, und unwillkuͤrlich fuhr ich mit dem Finger am inneren
Rande meines Hembfragens entlang.)
Ich: Bitte, Fräulein... . oder Frau.
R. 8. (gebieterifh): Fräulein!
Iche Hm!
K. K.: Run alfo, erfilih, Herr Graunzer, — ja, apropos: Sie
legen doch feinen Wert auf den Doftor?
Iqh: Gewiß nicht.
K. 8.: Das iſt gut. Ich hätte es für Schwäche gehalten, wenn
Sie's täten. Alfo: weshalb wollen Sie heiraten?
Ich: Gut, daß Ste fragen! Ich will heiraten, um einen Sohn
au befommen.
K. K. (mit zuruͤckgeworfenem Kopfe): Ah!
Ich (in einer Art Erbitterung, denn ic) fing an, mich über Die»
fes weibliche Wefen zu ärgern, das mich hier am Wirtshaustiſche
ausfragte und mufterte wie einen Kutfcher, den fie mieten wollte):
Jawohl! um einen Sohn zu befommen oder aud) mehrere Söhne,
aber feine Töchter. Aus diefem Grunde,
K. 8.: Vortrefflich, ganz vortrefflih ! Ah!
Ich: Es freut mich, daß Sie meinen Grund, der der einzige ft,
gutheißen. Ich hätte faum gehofft, daß fich dieſer Kardinalpunkt
fo überaus ſchnell erledigen würde,
K. 8.: Wofuͤr halten Ste mich?
Paufe.
Ich (der ih das anfangs für eine rhetoriſche Frage gehalten
hatte): Für eine Dame alfo .. .
K. 8.: Alſo?
Ich: Verzeihen Sie, aber es wird mir etwas ſchwer, Ihnen
jest, nachdem ich Ste erft feit fünf Deinuten etwa fenne, bereits
meine Meinungen über bie unter dem Namen Dame begriffene
zo
Gattung Menfch vorzutragen. IIch ſprach wirklich in dieſem Do»
sentenflile. Es ging von K. K. etwas fo Ungewöhnliches aus, daß
ich auf Zeiten wirklich das Geflhl hatte, ich befände mic einem
Demonftrationsobjefte und nicht einem lebendigen Deenfchen ger
genüber. Der Gedanke, daß ic) eines jener nach unferen Gefell-
ſchaftsſatzungen mit ganz befonderen Fineffen und Ruͤckſichten zu
behandelnden Weſen vor mir hätte, Die wir eben „Dame nennen,
tam mir gar nicht.)
R.R.: Warum?! Warum?! Bitte, Feine Gene! Nur das nicht!
Ich vertrage alles! Ich bin auch auf alles gefaßt! Ich bin fein
Backfiſch mehr! Ich fehe Mar!
Ich: Klar? Sie irren fi vermutlich. Keine Dame fieht klar.
Nicht einmal ein Weib, das feine Dame ift, fieht klar.
K. 8.: Hm! Sie denfen alfo gering von ung? Wie?
Ich: So ift es. Ya. Im allgemeinen und bis jetzt auch im bes
fonderen.
K. 8.: Vortrefflih! Ganz vortrefflich! Sie find mein Dann!
Ich: Noch nicht! Aber ich muß geſtehen, daß ich ſchon wieder
erftaunt bin, Ste fo ſchnell auf meine Intentionen eingehen zu
fehen.
8. 8.: Inwiefern ift das erftaunlih? Warum ſollte ſich eine
Frau nicht zu derſelben Seelen» und Geiſtesſtaͤrke aufſchwingen
wie ein Mann? Warum fohte ich nicht begreifen, daß ein Dann
niedrig vom Weibe denkt? Nichts ift erflärlicher!
Ich: Gewiß! Aber mie fielen Ste ſich Die Stellung der Frau
eines ſolchen Mannes in der Ehe vor? Würden Ste ſich getrauen,
eine ſolche Stellung einzunehmen? Das ift Doch nicht fo einfach! ?
Da gilt es Doch, auf alles mögliche zu versihten!? Die Liebe z. 3.1?
K. 8.: Das findet ſich!
Ich: Bitte recht fehr, Das findet ſich nicht! Ganz und gar nicht!
Daranf laß ich mich nicht ein! Das eben min id) vermeiden!
4 sı
8. 8.: Gut! Dann vermeidet man’s! Man muß fi nur ver-
ftehen!
Ich: Bitte recht fehr! Das beanſpruche und erwarte Ich nicht!
Wozu auch?! Die Ehe ift doc) Feine intellektuelle Angelegenheit,
ebenfomwenig wie fie eine fentimentale Angelegenheit ift. Ich be
trachte fie lediglich als eine Art phyſiologiſchen Kontrakt, einge
gangen zur Erzielung einer Nachkommenſchaft.
K. K.: Aber das iſt ja ausgezeichnet! Das iſt ja wundervoll!
Das ift ja das, was ich mir immer vorftele! Das iſt 'mal wirf-
lich ein moderner Begriff von Ehe!
Ich: Modern oder nicht: Es iſt mein Begriff!
K. R.: Und meiner auch! (Flammend): Ya, ganz gewiß! Me-
ner auch!
Ich: Schön, alfo darin find wir einig. Es gälte nur noch die
einzelnen Punfte des Kontraktes zu formulieren.
K. K. (ein Notizbuch heraussiehend, mit hochgezogenen Augen-
brauen, höchft gefpannt und mit einer gemiffen Buchhalterinnen«
miene): Alfo $ ı!
Sch: Nicht fo gerade! Es gilt ja eigentlich nur einen Punkt.
K. K. (einfalend): Das mit dem Sohne!
Ich: Jawohl, das mit dem Sohne.
K. K.: Hm! Wenn nun aber zuerft ein Mädchen...
Ich: Zuerft oder zuzweit oder zuletzt: Das gibt's nicht! Das
wäre Scheidungsgrund!
K. K. (einen Augenblick perpler): Sapperlot! Das iſt ſchwierig.
Ich: Ja, das iſt ſchwierig.
K. K.: Sagen Sie mal... aber nein! Ich habe ja ſelbſt
darüber gelefen! Gewiß! Dan kann es ja fo einrichten, daß es ein
Knabe...
Ich: Wie beliebt?
K. K.: Aber Sie willen das ja beffer, als ih! Die Wiffen-
52
ſchaft Phyſiologie (Ich, für mich: ecce Mantegaua)) gibt uns ja
die Verhaltungsmaßregeln zur vorherigen Beftimmung in dem von
Ihnen berührten Punkte an bie Hand.
Ich: Ich weiß das nicht, Fräulein Kolbe!
K. K.: Gewiß! Gewiß! Ih brauche nur nachzuſchlagen zu
Hauſe. Es gibt da was.
Ich (nun ſchon feſt im Sattel und beide Schenkel dicht am
Saul): Wenn dem fo ift: famos! Dann wären wir ja im kla⸗
ren, vorausgeſetzt, daß nicht etwa uͤberhaupt Die Konſtellation
Kolbe · Graunzer, wenn Sie mir geftatten, eine ſolche anzunehmen,
die Ausficht auf Nachkommenſchaft vereitelt.
K. 8.: Wie meinen Sie das?
Ih: Sie willen, es gehört eine gewiſſe Kongruenz der phufio>
logiſchen Bedingungen dazu, um in einer Ehe jenen gewuͤnſchten
Effekt (ganz abgefehen von unferm noch ſpeziell komplizierten Fall)
au erzeugen.
K. 8.: Ach fo! Ja, das muß ausprobiert werden. Ich für mein
Zeil bin unbeſorgt. Nur ift nicht viel Zeit zu verlieren.
Ich: Wie das?
K. K.: Ich meine: Sie find vierzig, Here Graunzer .. .
Ich: Gewiß, gewiß. Wenn alles Flappt, koͤnnen wir gleich ab-
ſchließen. Eile tut not. Die Phyſiologie laͤßt nicht mit fich fpafen.
Schlimmſten Falles fönnen Ste mal nachſchlagen.
* *
*
Peter! Peter!! Peter!!! Was war das für ein Frauenzimmer!
Die hätt’ ich Tante Ulrifen gewuͤnſcht, wenn fie über die heutige
Zeit loszog. Herrgott, Himmel und Paradies: dieſe Spesies hätte
nicht mal ich für möglich gehalten. Ein Rattenfönig von Hunde»
nafigfeit, Berechnung, Oberflaͤchlichkeit, Eingebildetheit und —
gelinde geſagt — Dummheit und Roheit, und fo 'was renom ⸗
53
ı miert mit dem Worte, das Leben und Aufmärtsentwidelung ber
| deutet: modern!
Du wirft mir in Deiner unheilbaren Güte fagen, daß ich nur
das Pech gehabt habe, einer jener Karikaturen in die Hände zu
fallen, wie fie von Übergangsjeiten gerne geboren werden, — mei⸗
netwegen magft Du recht haben. Ich für meine Perfon werde
mich hüten, auch noch den weiblichen Problemen nachzulaufen; ich
babe an den weiblichen Tatfachen genug.
Der Tatfahe K. K. habe ich meine Meinung fhlieplich nicht
verhohlen, und ich wundere mich augenblicklich, daß ich heiler
Haut davon gefommen bin. Zum Ende unferer Disputation Elirr«
ten die Armbänder der phyſiologiſchen Erperimentierdame bebenf-
lich nahe vor meinem Geficht Hin und her, dann ward es plöglich
fine. K. K. war davongeraufeht, und ich hatte noch vier Glas
Bier flr fie zu sahlen. Als Lehrgeld immerhin billig.
Dein
Panfraz.
x
Herr Pankrazius Graunzer faßt Reifepläne und berichtet
darüber feinem Freunde Peter Kahle
Berlin, den 15. April.
Mein guter Peter!
Es iſt nichts mit dem Öffentlichen Verfahren in Freiersange ·
legenheiten. Ich fehe von dem Gedanken ab, auf dem Wege des
mit Druckerſchwaͤtze verunreinigten Papieres zu einer Frau zu
fommen. Ich werde perfönlich fuchen.
Aber nicht in Berlin. Ich habe an einer K. K. genug.
Ich werde Die Orte auffuchen, mo ich irgendwelche Besichungen
54
babe, die mir Gelegenheit geben koͤnnten, das zu finden, mas ich
fuche. Gott verläßt befanntlich feinen Deutſchen, ich werde mich
alfo auf ihn verlaffen. Hilft er mir nicht, fo iſt vieleicht auch Das
Gnade, und ich danfe ihm eines Tages auf den Knien. Ich bin
etwas refigniert, wie Du fiehft. Haͤtteſt Du K. X. gefehen, fo
würdet Du Did) wundern, daß ich noch den Federhalter Halten
kann. Ich muß doch eine gute Konftitution haben.
Zuerft fahre ich nad) Dresden. Dein
Krasi.
XL
Einiges aus Herrn Pankrazius Graunzers Reiſetage⸗
buche. Handelt von einer Karoline, von einem Schwimm:
mddchen und von Dresden
Im Eiſenbahnwagen von Berlin nad) Dresden.
16. Apri
Ich habe Pech: die Eofomotive meines Zuges heißt Karoline.
Aber: ich bin allein im Kupee.
Zuerft will ich eine halbe Stunde die Augen zutun; find mir
außerhalb Berlins, fo ſollen fie wieder aufgemacht werben.
AH! Ah! Felder rechts und links! Felder! Wie ſchoͤn das if!
Und das junge Grün darauf! Und der unverqualmte blaue Him ⸗
mel daruͤber! Und alles, wenn’s auch nicht gerade beunruhigend
maleriſch ift, doch fo anheimelnd naturartig; — jedenfans nicht
mehr Berlin! ...
Gott fei getrommelt und gepfiffen!
Miürge hoch, Graumer, und nu jodel mal!
Juchurhuchuchunn! Tria-duliöh-haha!
*
Schoͤnchen, ſchoͤnchen, ſchoͤnchen! Ich leſe an den Stationen bie
Kilometer ab, die wir und von Berlin entfernen, und entzuͤcke mich
daran, wie hurtig mic) Die wackere Karoline von Berlin megträgt.
Ein gutes Mädchen, ein liebes, ein dides, ein ſcharmantes
Mädchen!
Hochwerehrte Karoline!
Ratta-fufchta! Natta huſchta !
Shhienenklirrende Dafgine!
Ratta⸗huſchta : Ratta / huſchta
Raßle, raſe
Deine Straße,
Schnaube Dampf aus deiner Naſe,
Friß dir Feuer in den Wanſt,
Renne, renne was du kannſt.
Sich, wie ſcon zu beiden Seiten
Geld und Wald ſich drehn und gleiten,
Und die ſtile Heide tanjt.
Ratta⸗ huſchta Ratta⸗ huſchta :
Den Galopp, den mag id) leiden!
Ah! wie deines Dampfes graue
Fahne, allerlichfte Graue,
Uber unferm Saufe weht!
Schön! Schön! Schön! Und ſchneller immer!
Dh, du gutes Srauenzimmer!
Vorwärts! Borwärts! Fortgedreht!
Natta⸗ huſchta ! Ratta-hufhta!
* *
Dresden, den 17. April, früh.
Ad, mas ich wundervoll geträumt habe dieſe Nacht.
Ich träumte, ich wäre wie vor dreißig Jahren hier in Dresden
s6
im Stelmaurerinftitut. Und ich hatte Sonntags meinen Urlaubs»
zettel und ging in aller Frühe hinaus aus dem Kaften, bummelte
Die Weißeritz hinunter, Dann Über die Brüde und in die Stabt
hinein. Üiberan, mo es Pfannkuchen gab, Fauft’ ich mit einen, mit
Pflaumenmus gefhlt, und mit Aprifofen, und einen fogar mit
Apfelfinenmarmelade.
Und ic} ging, wie ich immer zu gehen pflegte, in den Zwinger.
Erſt die ſchoͤne Mittelallee hinauf, dann wieder bis zur Mitte
zuruͤck und dann links quer durch und die Stufen hinan, da hin»
auf, wo die Baffins find.
Kein Waffer darin. Niemand in der Nähe. Ich in das Baſſin
hinein.
Da, wie ich drin bin, auf einmal ſchließt ſich über mir das Baffin,
und es ifl eine grüne Kuppel ausgefpannt, dunkelgruͤn, und in
diefem Grün ſchwimmen goldene Fiſche, — aber beileibe feine von
den gewöhnlichen Golfifchen, wie fie in Mutter Schügens Fiſch ⸗
glas find. Nein, ganz merkwuͤrdige goldene Fiſche, mit langen blau-
glänzenden Sloffen, Die gebogen waren wie die Federn des Para»
diesvogels. Aber Augen hatten fie, ganz, ganz gelbe, richtige Teller-
augen, wie große Schilde rechts und links.
Die alfo ſchwammen über mir.
Aber es mußte wohl nicht Waffer fein, worin fie ſchwammen,
denn ich felber land ja in dem grünen Weben, in dem fie waren,
und mas um mic) mar, Das mar eine liebe, warme, Duftende Luft,
die freilich ſichtbarlich in Wellen ging, und Die mic) auch beneste,
wie wenn fie etwas wäre, Das zwiſchen Luft und Waffer ift.
Es war unbefchreiblich angenehm, und mich genierte es nur, Daß
ih meinen gräßlichen Freimaurerinſtitutsmantel anhatte, mit ben
goldenen Knöpfen.
Aber gud mal nur, da fam ein kleines Maͤdchen auf mich zu»
geſchwommen, das griff an mir herunter, und mit einem Dale
57
mar der entfegliche Mantel weg, und ich fland in einer allerliebſten
rofigen Nacktheit da, ein Buͤbchen von den angenehmſten Kons
turen, nicht zu mager und nicht zu Dick, gerade recht.
Was denn aber nun? dachte ich mir.
Da fagte das kleine Schwimmaͤdchen, das ganz in meinem
Alter zu fein fehlen und eben fo huͤbſch und nackt war, wie ih
(mas mir unendlich mohlgefic): „Du, Fleiner Graunzer, das ift
aber nett, daß du endlich gefommen bift! Run wollen wir aber
gehn und Schofolade trinfen! Haft du aud Pfannkuchen mitge-
bracht?
„pfannkuchen? Oh! Dit Apfelſinenmarmelade fogar! In mei-
nem Mantel fteden fie!"
„Mantel? Was ift denn das flr ein Ding?"
Da überfiel mich ein gräßlicher Schred. Herrgott, der Mantel!
Der Mantel! Dit dem Urlaubszettel! Herrgott, wenn ich den
Urlaubsgettel heute abend nicht habe!
Und ich fuhr im Baſſin herum und fuchte und fuchte, und die
gruͤne Luft fing an zu wirbeln, und Blaſen fliegen in ihr auf, und
bie goldenen Fiſche erfhrafen und rannten an mid) an mit ihren
bieten Köpfen, und ihre gelben Telleraugen wurden ſchwarz vor
Schred. Und auch die Kleine fing an zu sittern und zu sappeln,
und ſchließlich, ach Gott, ſchließlich war fie auch verſchwunden.
Die grüne Kuppel Über mir zerging, der blaue Himmel war
mieber da, und ich fand, um Gottes willen, ich ftand ganz nadt
in dem Baffin, und rundherum ale meine Lehrer, ale meine Lehrer
mit gelben Rohrſtoͤcken.
„Ra wart’! Ra wart’! Komm du nur heut abend ins Inſtitut!
Das find ſchoͤne Geſchichten! Schöne Geſchichten!“
Bor Schreck machte ih auf.
Da ſchien die helle Sonne ins Zimmer, und mie ich mich auf«
richtete, fah ich die alte, gute, gelbe Elbe unten ihre Wellen wmäl«
58
sen, nad) deren Farbe die Dresdener fo farbenfiher ihren Milch ⸗
kaffee su mifchen wiſſen, und ich mußte laut lachen.
Alfo vierig Jahre alt und träumen wie ein Buͤbchen mit gehn!
Gott fei Dank! Das ift herrlich! Das freut mich! Alfo iſt
meine Seele noch nicht ledern gemorden!
Und ich ftand mit Pfeifen und Singen auf und beſchaute mich
lange Im Spiegel.
Ganz fo ſchoͤn bin ich nicht, wie das Buͤbchen im Baſſin. Rein,
wirklich, und wenn ich es mir antun und mich jegt nubifigieren
wollte (ein ſchamhaft Wort), — ic) glaube, ich fiele ruͤcklings um
und lalte: Schöne Gedichten! Schöne Geſchichten!
Aber gleichviel: Wenn man nur noch fo nadt träumen fann!
Das tft die Hauptfache! Die Waden find Nebenwerf.
Koͤſtlich, wie aufgeregt ich war.
Ich wußte, wenn ih da auf den Knopf an der Tuͤr drücke, wird
ein fächfifcher Keiner fommen und mich fragen, ob ich Gaffeh oder
Deeh ober Gaggao will, aber trog dieſer Wiſſenſchaft meinte ich,
es könnte vielleicht doch mal anders gefchehen, und es kaͤme nicht
der Schwargeſchoͤßte, fondern die Fleine Prinzeffin Fiſch, Die fo
reizende rote Haare hatte.
Wunderlich! Wunderlich! Mein Herz pumperte, und mir war
Jungenhaft feig, ach, fo angenehm feig zumute, daß ich mich in Die
Sonne ſtellte, um in ihr Mut zu faſſen, wenn fie hereinſchwoͤmme
did...
Graunger . . . genug! Nachts mögen fie hingehen, die Allotria,
aber bei tagshellen Zeiten bitt' ic) mir etwas Biersigjährigfeit aus.
Und der Keiner fam, und feine wehenden Schöfe trieben ben
Reſt des nächtlich angenehmen Spufs hinaus, und ich gab mich
nad) langer Zeit wieder einmal dem Genuſſe eines Dresdener
Dreierbrötdhens hin.
Zieh ich den Schluß aus dem Traum und feiner Nachſtimmung,
9
fo werd’ ich fagen muͤſſen: Es werben Irgendwo Schlingen im Ges
muͤt gelegt. Auf der Hut fein und in feine Nege tappen! Am
wenigſten, wenn fie aus roten Haaren geflochten find. Denn ich
weiß wohl, von welchem Bilde aus füßer Dummerjungengeit Prin«
aeffin Paradiesfiſch der Refler war.
Apage diabolina! Adelheid hat fie geheifen.
Dresden, 18. April.
Das liebe gruͤnweiße Neſt ift zu fchön, als daß man Luft und
Zeit flr Geſchaͤfte fände, wie ich fie vorhabe.
Geſtern und heute bin ich den ganzen Tag herumgebummelt. Zu
Fuße, in einer der ehrmürbigen ortsühlichen Drofchfen und ſchließ ·
lich zu Schiffe.
Anfangs flörte mich die übermelodifche Ausdrucksweiſe der Eins
geborenen etwas, aber ſchließlich ſchwang ich mich zu objeftiver
Auffaffung auf mit dem Spruche des Dichters: Singe, men Ge⸗
fang gegeben, und id) fand es zuweilen fogar ganz huͤbſch, beharr ·
lic) angefungen zu werden.
Diefes Singen gehört bier wirklich zum Lofalfolorit, und ein
Dresden, in dem die viel ſchoͤnere Mundart der Münchener etwa
geſprochen würde, wäre für mich etwas ungeheuerlich Stilmidriges.
Nein, nochmals: Singe, wen Gefang gegeben! Die langen Bo+
kale und der dünne Kaffee; möge ſich Die Hauptſtadt des König«
reichs Sachſen niemals dieſe unveräußerlichen Reſervatrechte raus
ben laſſen!
Schade, daß ſich Dresden ſo moderniſiert. Die Art der ihm
innewohnenden, der fpesififch dresdneriſchen Schönheit, erfordert
eigentlich ein gewiſſes Altmodiſches. Chaiſentraͤger z. B. wuͤrden
ſich hier gut ausnehmen, aber es muͤßten Rokokochaiſen ſein.
60
Bon jegt ab win ich aber doch planmäßig vorgehen und im
Auge behalten, wozu ich hier bin. Ich Kin Doch fein Vergnuͤgungs ·
zeifenber! Ad) du liebes Gottchen, — nee, nee!
Alfo: morgen zur alten; guten Mutter Schügen! Wird die
Augen machen!
Xu.
Bei Mutter Schügen. Von Pankragius Graunzer
felber aufgezeichnet
Wunderlich, wunderlich, wunderlich!
Ich gehe hier fortwährend wie in einer Wolfe fpazieren. Und
dieſe Wolfe hat goldene Ränder. Deorgenrotsränder. Und ein leiſer
Wind, ein lieber Wind, ein Iuftiger Wind weht mich an, ftreichelt
mich, liebkoſt mich. Und aus meinem Herzen antwortet ein Gefühl
von Zutraulichfeit und reiner, dankender Freude, wie ich es ach
wie lange nicht mehr gehabt habe.
Da ſteh' ih 3. B. auf der Bruͤhlſchen Terrafe oben, flüge
meine Hände aufs Geländer, lege mic) ein wenig vor und fehe
hinab auf die Elbe.
Wie das alles koͤſtlich ift, fo mir wohlvertraut, ein Stuͤck von
mir. Ich habe es lange mit mir herumgetragen und nicht gewußt;
jest feh’ ich's außer mir, und in mir auch wird nun Dasfelbe Bild
lebendig, nur, daß ich felber mit in dem Bilde Bin, und zwar als
Mittelpunft.
Ich fehe mich. Den kleinen Jungen feh? ich mit der ſchottiſchen
Müge und der Gürteljoppe, wie er neben dem alten Dann im
grauen Schufterfraufenbart hergeht und den braunen Kober trägt.
Wohin gehen die beiden? Ei! Zum koͤniglichen Kuͤchenſchiff, das
dem König Johann Fourage nad) Pilinig bringt.
6
Und ber alte Dann, der alte Schuͤtze, erzählt mit einem merf«
würdigen Stolge, daf des Königs Lieblingegericht Kartoffelſtuͤckchen
mit Schöpfenfleifch fei. Und der Pleine Junge denkt fi: Wenn
ich König wäre, aͤß' ich was anderes am liebſten.
Was denn 3. 3.2. Na, doch gewiß Mohrenkoͤpfe mit Schlag»
fahne! Oder, ja, vielleicht auch Nindfleif mit Rofinenfauce.
Aber viel Mandeln müffen drin fein. Oder... .
Aber da ift ſchon wieder ein anderes Bild.
Da iſt das Schloß Pillnitz felber und der erſte Schritt auf glat-
tem Parfett, und der Junge faͤllt hin, und eine fehöne, junge Dame
in einem rofafeidenen Kleide lacht, und der Junge, erft beſchaͤmt,
wird jegt wütend und ballt der Primeß die Faͤuſte. Graͤßlich, der
alte Schuͤtze Friegt ihn an den Ohren. Jammer, Jammer! Und
das Prinzefchen lacht . . .
Wohin ich nur komme, überall regnet’ wie in goldenen Fäden
auf mic) ein: Erinnerungen . . . Erinnerungen.
Es iſt fonderbar, wie fie wach werden.
Da gehe ich an einem Haufe vorbei. Ein fleiner arten davor,
gehn, buſchig; wie iſt mir nur? Ein Name will mir auf Die Zunge,
ein Name... Auf einmal if er da: Nierig?! Warum gerade hier
Nierig? Habe ich vor dieſem Haufe vielleicht als Knabe einmal in
einem Nieritzſchen Buche gelefen? Was iſt's? Gleichviel: plöglich
tauchen mir ad diefe fromm-fpannenden Geſchichten auf, mit deren
Jugendhelden ich mich identifizierte, ohne doch flets mit der Art
zufrieden zu fein, wie immer alles in Milchreis mit Zucerbutter
verlief.
Zumeilen ift es, wie wenn Blafen in meiner Seele auffiegen.
Nätfelhafte Namen, längft vergeffene. Und ich muß mitten auf der
Straße fiehen bleiben und nachbenfen. Da, plöglich, an der katho ·
liſchen Kirche, ftößt mir das Wort Rammer ins Gehien.
Rammer! Ja, um Gottes willen, was ift das?
62
Ich ſuche und ſuche und fuche. Keine Spur.
Ich tafte meine ganzen Kinderjahre ab, horche in mich hinein,
fongentriere mich mit Gewalt auf dies eine Wort... . Es will fi)
nicht Mlären.
Ich laufe um die Kirche herum. Win mich ablenfen. Stift nichts;
es rammert weiter.
Und immer um die Kirche herum; ich muß, ich muß. Der Ram ·
mer jagt mich. Ya, wer denn, mer denn!
Himmeldonnerwetter, wer ift dieſer Kerl!?
Da, pardau, fehe ich ihn vor mir: ein kleiner, Dinner, fommers
fproffiger, gelbhaariger Burfch, den ich hier vor dem Gruftfenfter
der Wettiner fennen gelernt habe.
Es war ein Sommerfonntag, und er berebete mich zu einem
Spaziergang in die Oſtraallee.
Jetzt habe ich alles deutlich vor mir: gruͤne Augen hatte er
und ganz merkwuͤrdig feine, Durchfichtige Hände, Und es ging etwas
Eigentüimliches von ihm aus, das mich ganz befangen machte... .
In einem Geblifch, weitab vom Wege, brachte der liebenswuͤr ⸗
dige, grünäugige Burſch mir eine Kunft bei, der ich den Verluſt
meines halben Gedaͤchtniſſes verdanfe .. . Im Inftitut hab’ ich
mic) dann meiter darin ausgebildet... Das ganze Inſtitut war
eine hohe Schule dieſer Kunſt ...
Beim Himmel, ich ſchwoͤr' es: wenn mir ein Sohn wird, ich
werde ihn niemals in ein Inſtitut geben. Rein, er ſoll feine Kämpfe
mit der Natur wenigſtens felber ausfämpfen.
Aber bei dem Namen Rammer — was faͤllt mir da num nicht
alles ein! Bor mir taucht auf jenes Ungetüm mit toten, wie von
Blutduͤnſten verfehleierten Augen, das Ungetuͤm jener Zeit, in der
der Menſch Über die fatale Schwelle muß, bie zwiſchen der Kind»
beit und dem Wachfen und Werben des Geſchlechtes liegt. Ich
weiß mich noch der Träume zu erinnern, die mich damals quälten.
63
Ein ſchwammiges, lauliches Wefen mit hunderttauſend Brüften,
die wie Arme nad) mir griffen, war naͤchtlich bei mir. Es fam und
wich und martete und kam wieder, watend wie in Bluthreiz es
hob ſich über mir und floß über mich aus in einen klebrigen war⸗
men Regen; es breitete fi) vor mir am Boden aus und rollte ſich
au mir wie eine breite Welle und umſchloß mich und ftieg an mir
empor; und es wurde eine heiße Luft vol dumpfer, ſchwuͤler Stim-
men, und aus dieſer Luſt fpien mich grüne Zungen an, und Das
heiße Gebrodel fuhr in mich ... Furchtbares Monftrum, furcht ⸗
bare Zeit, Pubertaͤt.
Die Natur, ja, ja, — eine grauſame Dame. Singt nur das:
„ie groß iſt des Allmaͤchtigen Guͤte“, meine guten Freunde, die
ihr lutherchriſtlich ſeid, aber am ſchoͤnſten werdet ihr es erſt fingen,
wenn ihr den Mut habt, das Geſchlecht von euch zu nehmen.
Nur Mut, das Meffer ift gelinder als die Sucht! Die Päpfte, oh,
diefe Augen Gottesknechte mit der dreifachen Krone, haben ganz
recht: bie Kaſtraten find die einzig wahren Kirchenfänger. Denn
fiehe, auch die himmlifchen Chöre find ohne Geſchlecht.
Im Himmel, im Himmel die Engelein
Nicht Männer und nicht Weiber fepn,
Don Leib und Seele find ganz rein.
Gloria in erceifis!
* *
*
Am hoͤchſten flieg die Flut der Erinnerungen in mir, als ich
mich auf den Weg zu Mutter Schhgen machte, da ward es direkt
balluzinatorifh.
Es iſt fein Wunder, denn ales, was mir hier begegnet, weckt
in meinen Sinnen ein Stuͤck der Jugend auf, die in mir begraben
liegt und fehnfhchtig darauf wartet, Bis ihr ein guter Zufall das
angenehme Pofaunenlied blaͤſt:
64
Steh’ auf, o Seel’, und ſchreite,
Auf ſteht fperrangelmeite
Der Sarg; der Tag ift da,
Da du aud) follft mit Beten
Bor deinen HERREN treten
Umd fingen laut Halleluja!
Sonderbar! Sind wir nicht wandernde Särge? Nein! Ambu ⸗
Iante Sargmagazine mit dem beftaffortierten Lager von der Welt?
In unferm Gehirn (oder ſonſtwo, meinetwegen in der Zirbelbräfe)
liegt eingebettet alles, alles, alles, was wir je felber getan, ober
mas ung gefchah; alles, alles, alles, Das auch nur an ung voruͤber ⸗
ging, jeder Käfer, der ung einmal umflog, jeder Floh, der ung ein-
mal biß, jede Dummheit, die wir einmal ſprachen, jede Gemein.
heit, die wir einmal dachten, Gutes und Böfes und Gleichgültiges,
ob es in uns war und hinausging aus ung, oder ob es außen ung
gegenüberftand und in ung einging — alles liegt in ung, begraben
wohl, aber auferftehlich, und zuweilen gibt es ein Gemimmel in
den Zellen und einen Auferftehungsrumor, ein Joſaphatgedroͤhne
m Rechts die Schafe, uͤnks die Bike,
Sürger Himmel, fende Pflöke,
DaS id) das Geſindel Binde,
Überbiit und Ruhe finde!
Es ift unerhört, was für ein Amelfenhaufen heute mein Buſen
war (um das gebenedeite Wort der deutſchen Lyra au brauchen).
Ich hätte ſchreien mögen, fo fribbelte es. Sogar meine wei erſten
Lieben tauchten auf.
Die allererſte in Begleitung einer Maulſchelle, die ich erhielt,
weil ic) mic) zu aktiv gebärbete, und die zweite in Begleitung einer
Waulſchelle, die ich austeilte, weil ein Rival unbequem werden
wollte.
5 Blerbaum II 65
Dort war es, dort; in diefer Haustür, auf den ausgeſcheuerten
Sandfteinftufen des Flurs.
Ich muß hineingehen. Richtig: da hinten die Glastuͤr mit dem
Blick in den ſchwarzen Hof. Und auch jest wird dort Wäfche
getrocknet.
Es iſt der ewigen Waſche Hof,
Der Hof der ewigen Waͤſche,
Und wer da durch die Waͤſche kriecht,
Kriege von der Wäfgerin Dreſche.
fang ich damals, und ſelbſt diefer Vers wird wieder munter wie ein
Gaffenjunge.
Ob die Frau, die eben die Treppe herunterfommt und mid
mißtrauiſch muftert, jene Berta iſt?
Hinaus Graunzer! Und einmal Auge und Ohr inwendig zu»
gemacht.
Stopp! Kuſcht euch, werte Leihen!
* R .
Mutter Schhgen wohnt noch in demfelben Haufe, im felben
Stodwerf, auf demfelben Flur, und noch fteht auf dem großen,
grhnladierten Schilde mit weißen, aber nun faft ganz ſchwarz ge ·
mordenen Buchftaben der alte Name „Gottlieb Schlige, Kol.
Kuͤchenmann“, obwohl das alte Großvaterchen laͤngſt feinem Koͤ⸗
nige gefolgt ift, der die göttliche Komoͤdie hberfegt und Kartoffel-
ſtuͤckchen geliebt hat.
Wie Id vor dem Schilde ftehe, uͤberlaͤuft mich dasſelbe bang ·
frohe Gefuͤhl wie damals Immer, wenn ich Sonntags auf Urlaub
aus dem Inſtitute zu meinen alten ehemaligen Pflegeeltern kam.
Ich mußte, es wird allerlei Gutes zu ſchnabulieren geben, aber
auch an gefalgenen Leviten wird's nicht fehlen.
66
Und nun an der Klingel gezogen. Gott, wie dünne die jet
flingt, und hinterher raffelt der Draht, wie ber Atem nad) den
leifen Worten eines Bruftfranfen.
Niemand öffnet. Noch einmal das Klingelftimmchen und der
Raffeldraht. So ... Jetzt Schritte, Die richtigen Dresdener Filz.
latſchenſchritte.
Ich bin geſpannt, wer aufmachen wird.
Na? eine Kinderſtimme? Hoͤchſter Fluͤſterdis kant: „Wer iſt
Draußen?"
Ich nenne meinen Namen.
„Gleich!“ (faſt gefungen das) und die Schrittchen filglatfchen
aurhd.
Lange Paufe. Türe auf. Zu. Ein Huͤſteln. Andere Schritte
fommen. Die Flurtür Öffnet fih. Eine junge Frau fteht im
Dunfeln.
„Die Großmutter ſchlaͤft, aber kommen Sie nur ’rein, Herr
Doftor.”
Sie geht voran.
Ja! Wer ift denn das?
In der Stube Flärt fih’s auf. Das iſt nun ſchon Die Enfelin
ber Alten, mein Patenkind, und bie Kleine, die zuerft gefragt, iſt
ihre jüngfte Tochter. Diefe Generationsperfpeftive! Ja, es heiratet
fi) was zuſammen auf dieſer Welt.
Großmutter ift in ihrem Zimmer. Dean darf fie nicht ſchnell
weden.
„Sie fommt aber von ſelber zu fih, wenn jemand in der
Stube iſt.“
Gut, fo gehen wir alfo leife hinein!
Die Enkelin mit ihrer Tochter voraus, dann ich. Wir dürfen
nicht reden. Gam ſtill ſetz' ich mich aufs Sofa. Die junge Frau
führt das Kind an den Stuhl der Alten, wo es ſich ganz artig
5” 67
und leis auf die Huͤtſche fest. Sie ſelbſt bleibt neben dem Stuhle
ſtehen.
Ich muß ſagen: es ſieht eigentlich unheimlich aus. Mutter
Schuͤtzen ſchlaͤft, wie fie immer tat, mit offenem Munde, und jetzt,
da biefer Mund bei der über Neunzigiährigen gar feine Zähne
mehr hat, auch das Rote an den Lippen ganz eingegogen und völlig
im Mundinnern verſchwunden ift, gibt Das einen Anblid von
Mumienhaftigfeit, der nicht gerade anheimelt. Noch toller wird
das dadurch, daß auch Die Augen, ganz glafig und faft weiß, offen
ftehen.
Mir geht es eisfalt durch und Durch, und wenn Ich mich, ohne
mich zu rühren, nur mit umhergewandten Augen im Zimmer ums
fehe, fuͤrcht' ich ſchon ein Geraͤuſch zu machen und al dieſe alten
Gegenftände von ihren Plägen zu bewegen, biefe Porzelanfiguren
und Bildchen, diefe Gardinen und Glasvaſen, dieſe Sträuße aus
altem Zittergras und Papier und zumal den alten Mahagoniglas-
ſchrank. Ich freife nur ales mit den Augen, und es ift, als ob
Schleier über allem lägen. Und dazu it es Dämmerzeit, und Die-
fes Sinterhaussimmer liegt ganz wie in grauem Aſchenſtaub. Auch
wird es zuſehends dunkler, Daß ich bald die lilaen Haubenſchleifen
von Mutter Schuͤtzen nicht mehr ſehen kann.
Da hebt ſie ihre rechte Hand. Mumienhaft. Ich muß wegſehen.
Der Zeigefinger iſt ſtarr auf mich gerichtet.
Und mir tft, als müßte jest auch das eben erwachte Leben ihrer
Augen auf mid) gerichtet fein.
Aber es iſt ein Irrtum. Sie hat mich noch nicht bemerft, Ste
bat niemand um fi) bemerkt. Ste murmelt nur fo vor fid bin:
uͤberall — uͤberall die Menſchen beieinander. Ya, Ja, eener wie
der andere, eener wie ber andere.”
Eine Paufe. Ich fehe hin. Jetzt hat fie die Kleine entdeckt.
„Berta! Biſt du da? Da, ſieh 'mal Mädchen.”
86
Und die Kleine faft ganz leife: „Großmutter, der Herr Doktor
aus Berlin iſt da!"
Und bie junge Frau fegt ebenfo leife hinzu: „Der Doftor
Graunger!”'
„Der Öraunzer!? Ih, ſieh ’mal eener an! Nee, nee, mei’ Pum⸗
perhen? Na, Pumperchen! Na, fo komm doch her, Pumperchen!
Wo ſteckt er denn?!"
Das mit ganz veränderter Stimme, ziemlich klar und heil, ob
auch fehr dünn; und alles Gefühl von Tod und Unheimlichfeit
ſchwand mir. In dieſer Stimme war noch Wärme.
Ich ging hin zu ihr, und fie kuͤßte mich mit ihren falten Lippen;
aber diefer Kuß war nichtsdeftoweniger warn, denn es floffen
Tränen hber ihn hin, und mir felber Fam das Schluchzen.
Daswifchen die Stimme der Kleinen: „Deutter, warum weint
denn ber Onfel?"
Und bie junge Srau d’rauf: „Komm, Berta, wir wollen 'nüber
gehen.”
Die beiden gingen.
* *
Wie mir allein im Zimmer waren, Mutter Schügen und ich,
wurde es mir fo heimlich und fiher zumute, daß ich mich der Al-
ten u Süßen auf Die Huͤtſche fegte und meine Hände in Ihren Schoß
legte. Sie liebkoſte mich, wie fie zu mir als Kind getan hatte, und
ſprach fo eb und Aug und muͤtterlich zu mir, wie nur je.
Es war eine andere Zeit und eine andere Welt, die zu mir
ſprach. Ich hatte nur zu lauſchen und gab mich dieſem eigenen
Zauber hin mie ein Kind, das auf Märchen horcht.
Es ward almählid ganz finfter im Zimmer, erft Abend, dann
Nacht, Mutter Schligen aber hörte nicht auf, mir von mir zu er»
zaͤhlen aus ber Zeit, da fie meine Pflegemutter geweſen war. Wenn
69
meine Seele jest auf eine Weile glatt ift, fo hat fie es getan, fie
hat mir ale Falten und Runzeln herausgeglättet mit leiſen, be-
hutfamen Strichen.
Es war wunderbar ſchoͤn.
Schade, daß bie Frauen erft neungig Jahre alt werden müffen,
um fo etwas zu vermögen.
Als fie ſich aber genug getan hatte an Erinnerung, machte fie
eine kleine Paufe, und dann begann fie mich auszufragen.
Du lieber Gott — nun fam meine Beichte,
Es war ein bißchen peinlich, denn fie fagte durchaus Fein Wort
dazu, und ich mußte nur immer berichten, und wenn ich glaubte,
fertig zu fein, Fam immer wieber ihr Wort: „So, fo, nu erzähle
nur weiter.”
Schließlich, als ich nötig fertig war und gefagt hatte: „Das ift
alles, Mutter Schligen, und nun weiß ich gar nichts mehr,” fam
erſt eine befonders lange Paufe und dann das:
„Aber du erzaͤhlſt mir ja gar nichts von deiner Frau, Pum-
perchen!?"
Ich: Ich habe feine Frau, Mutter Schügen!
Mutter Schhgen: Du haft feine Frau?
Ich: Nein, Mutter Schhgen, ich habe Feine.
M. Sh.: Ja, Pumperchen, nu hör” aber, nee, nee, du: du
biſt nu doch vierzig? Nich?
Ich: Ja, Mutter Schuͤtzen, vierzig.
M. Sch.: Viersig! Naͤrr'ſch! Und keene Frau! Hat dic) denn
gar feene gewollt?
Ich: Aber, Mutter Schuͤtzen, wo denfen Ste hin? Ich habe
feine gewollt.
M. Sch.: Putz'ges Kerlchen! Pumperchen! Mir kannſte's
doch ſagen!
Ich: Rein, wirklich! Wirklich! Ich Hab’ nicht heiraten wollen.
70
M. Sch.: Ru fag’ aber bloß: Warum denn nich! Ernähren
kannſte doch eene.
Ich: Ja, ja, ſchon, aber wiſſen Sie, Mutter Schuͤtzen, ich mag
die Srauensleute nicht.
M. Sch.: Pumperchen: bu biſt verruͤckt! Gott nee, der Junge!
Ich: Aber, Mutter Schuͤtzen, Ste wiſſen Doch felber, wie heut:
autage Die Frauensleute find!
M. Sch.: Heitzutage oder nicht heitzutage, ob fe nu fo fin, oder
ob fe fo finz ganz eegal, Heiraten mußte doch, Pumperchen,
naͤrr'ſches Sticke!
Ich: Aber warum denn, Mutter Schuͤtzen?!
M. Sh.: Warum? Nee fo e Junge! Warum? Nu fag’ bloß:
warum hat denn dei Vater geheirat’? Warum heirat'n denn de
Leite uͤberall, wie du fe fiehft? Höre ’mal: vorhin hatt’ ich ’n
Troom. Da fah ich Über de ganze Erde weg, fo groß mie fe te,
und ic) fah alle Menſchen, mie viele ’s fin, unzählige viele, Keenige
und Kalfer und arme Leite, und Preißen und Sachfen, und ooch
Schwarze waren drunter — aber fe waren ſich alle gleich, alle
glei. 's war bei allen ganz dasfelbe. Erſcht wurden fe geboren,
und dann Friegten fe Kinder, und dann flarben fe. Und das ging
überall gang egal. Und wenn ooch der eene oder andre nic) wollte:
es kam doch überall fo.
Weeßte, Pumperchen, ich bin ene alte Frau, und wenn ich was
treime, is e8 wahr! Der Troom aber hat ooch feine Bedeitung,
denn warum hab’ ich’n gehabt? Weil du da warft. Siehfte: der
liebe Gott hat'n mir für dich geſchickt. Denn ich felber: ich hab’
das lange gewußt. Ich habe Kinder gehabt, und meine Kinder
haben wieder Kinder gehabt, und die haben wieder Kinder. Wozu
ſollen wir denn fonft leben? Da drum rum dreht ſich ales. Ohne
das ginge alles aus’m Keime,
Und nun rückte ich mit meinen Heiratsgedanken heraus. Es war
71
ſtockfinſter, wie ich erzählte, mas ic) vorhätte, und Mutter Schhigen
fchenfte mir nichts, ich mußte haarklein meine Pläne auseinander»
legen.
Als ich geendet hatte, erfolgte feine Entgegnung von Mutter
Schügen, fondern fie rief (genau In der Tonfteigung, die ich vor
dreißig Jahren an ihr fennen gelernt habe): Lina!
Die Tür öffnete ſich, ein breiter gelber Lichtftveifen fiel herein,
und die junge Stau fragte: Soll ich Licht bringen, Großmutter?
Dee, fee Licht, Lina, de weeßt, ich habe genug an der Helligfeet
am Tage. In der Nacht Fee Licht. Das Dufter is fo ſcheene, un
m’r ſchlaͤft ooch, wenn m’r wach is derbei. (Zu mir): Das fin fo
Alteweibergrillen, Pumperchen, weeßte! — — Aber Lina, ja, beine
Sreindin, Schmidts Marichen, fage mal: beſtelle die doch mor⸗
gen abend her!"
„Ja, Großmutter!"
Die Türe zu, der gelbe Lichtſchein weg, Mutter Schhgen und
ich wieder im Dunfeln.
Mutter Schhgen: Weeßte Pumperchen, Schmidts Mariechen,
das wär ’ne Frau für dich! Komm morgen abend wieder und fieh
fe Dir an.
Ich: Aber Mutter Schügen, ih... .
Mutter Schügen: Komm morgen abend wieder, Pumperchen!
Und jegt laß mic) ſchlafen. So! Na, geh nu! Komm gut nad
Haufe! Gute Naht! Du, Pumperchen! Weeßte noch, wie m’r
immer gefagt ha'm? Komm nich unter de Dampffchiffe!
Und das alte Weiblein lachte ganz vergnügt.
* *
*
Axiom: Nicht einmal mit alten Frauen fol man ſich einlaffen.
Auf dem Heimmege aber Dichtete ich nach berühmten Muſter
ein erhebendes Lieb:
72
Here Schmidt! Herr Schmidt!
Was Eriegt Mariechen mit?
Nadel, Faden und Fingerhut,
D’raus flidt fie zwei Pantoffeln gut,
Damit fie iprem Ehemann
Die Hühneraugen wärmen kann.
Das kriegt Mariechen mit,
Spricht Schwiegervater Schmidt.
Periculofa res eft defperatio, fagt ein alter Spruch.
XIII.
Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an ſeinen
Freund den Gymnaſiallehrer Peter Kahle. Handelt, wie
der geneigte Leſer ſchon zu erraten die Guͤte hatte, von
Schmidts Mariechen.
Dresden im — Mat....
Das ift der Mai!
Aus eins wird zwei
Aus zwei wird mehr,
Ein ganzes Deer.
lich’ aus dem Mai!
Aus eins wird zwei...
Du greifft Dir an den Kopf, Peter? Du fhüttelft ihn? Du
denfft an losgegangene Schrauben?
Greife, ſchuͤttle und denke, — Du haft tet.
Aber in der Tat: der Holunder bluͤht, und die Stare pfeifen.
Es fruͤhlingt hier in einer Weiſe, daß man ſich wundert, ſelber
keine gruͤnen Blaͤtter zu treiben.
73
Die Welt blüht in Gottſeligkeit,
Der Himmel hänge voll Geigen,
I ſuch einen Fiedelbegen.
Daß ich fie konne ſtreichen
Jetzt ſchlaͤgſt Du aber mit der Fauſt auf den Tiſch, nicht wahr?
Jetzt wird Peter wild?
Aber ich frage Dich: Iſt es nicht beffer, Die Voͤgel fliegen zu
laſſen, als daß fie Dir im Haufe Stuhl und Tifch bekleckſen?
So dent’ ih mit den Verfen. Purr! find fie weg, und meine
Seele bleibt rein. Sela!
Der Mai ift und bleibt der eigentliche Kuppelmonat, vielleicht
ſchon deshalb, weil er kalt, naß und mindig, einen Kuppelpels
wohl vertragen koͤnnte. Es ift der Mai in ung, der rumort, und
wenn er, tie heuer, auch außen ausfchlägt (Föftliches Wort), dann
Iſt die Wieſe junger Böcklein voll
Und in gertretenen Blumen wälze ſich wild
Die nackte Schnfucht, die in Verſen ſchreit.“
Hol’ mid) der und jener! Seit heute morgen verfelt’s mich, und
der Reimhaber fticht mic) wie einen Obertertianer.
Diefer verfluchte Frühling! Man fann feinen Verftand nicht
behalten. Das heiße Sünfgefpann muß durchgehen. Denn bie
Augen werden mild vor eitel Licht und Sonne, und die Nafe
«gönne mir das hippifche Bild) baͤumt ſich, da es fo füß in der
Luft violt, und das Gehör zittert im Schwalle des jungen Bogel-
fangs, und die Fingerfpigen werben efftatifch, da fie den holden
Weidenfägchenpels wieder fühlen dürfen. Die Zunge aber fhnalgt
das hohe €, denn fie wird vom Matwein Fareffiert.
Aus diefen Gründen und aus ein paar anderen noch, Die ich juft
nicht detaillieren will, bitt' ich Dich, ein Auge ober auch zwei zu-
uudruͤcken über meine matpreislichen Anwandlungen.
74
Daß mic) der Kuppeliunfer nicht voͤlllg untergefriegt hat, wirft
Du gleich fehen.
Ein fehlauer Herr iſt er, Das muß man ihm ſchon laffen. Heut’
zeigte er’s. Nicht genug, daß er biefe merkwuͤrdig kuͤhlwarme
Fruͤhlingsſonne und ad das befannte Fruͤhlingsrequiſit zur Ver-
fügung hatte, das fi) Die Dichter in den Ruckſack ſtecken, wenn
fie den Berg Parnaffos befteigen wollen, — er hatte ſich auch noch
mit Mutter Schügen verbindet. Durchaus wollte er mid) Dies-
mal zum Pantoffel-Unter machen.
Eine ganze Garde angenehmer Genten hatte er gegen mich mo-
biliſiert: Häusliche Behaglichkeit, Ordnung, Befcheidenheit, Unter-
tänigfeit, Milde, Nettigfeit und, nicht zu vergeffen, den guten
Geiſt des Suppentopfes, der eine ftetige Güte des Mittagstiſches
gewaͤhrleiſtet. Kurz: er hatte es an nichts fehlen laffen, und der
Inbegriff feiner holden Gaben hieß Schmidts Mariechen.
Kannft Du Dir vorfteen, wie ſich der deutſche Durchſchnitts-
backfiſch die deutſche Hausfrau vorſtellt?
Du ſchauderſt.
Nun denn! Glaͤtte deine Gaͤnſehaut, nimm einen Kognak und
einen Stonsdorfer, guͤrte Deine Lenden mit Leder vom Krokodile
und hänge daran den beften Oliven-Bafel, denn ich will Dich zu
diefer deutfchen Hausfrau führen,
Ich höre Dich ſtammeln, und ich vernehme den klaſſiſchen Ruf
Deiner Angft: Heu, heu et iterum heu et prob dolor! Aber, Peter,
ich bin hart, und ich ſchleppe Dich hin in Das Gehäufe der femmel-
blonden Vollkommenheit.
Steh, mie nett ſchon der Fußabſtreicher It! Wie finnig! Ein
Vers fteht darauf:
Ueber Saft, tritt herein,
Skreife dir die Stiefel rein!
75
Du denfft Dir „wie ſuͤß!“, und die erſte Träne rollt Dir in
den Bart. Laß rofen dahin! Es wird bie einzige nicht bleiben.
Gottchen, Gottchen, Gottchen, wie ſchoͤn die gute Stube ift!
Ein Mufeum von Häfeldeden!
Ein Mufterlager von Stickarbeiten!
Eine faubere Stätte befcheidener Muſen!
Da fteht das Pianino mit dem Kopfe des jungen Mozart, zu dem
der eine Engel auf der Sirtinifchen Das Modell war.
Was ift aufgefchlagen?
Janorant! Die Kloftergloden find’s!
Und dort der wohlgenährte Kanarienvogel!
Und an der Wand, ad) Gott, wie füß, aus blonden Haarzoͤpfen
kuͤnſtlich gewunden und unter Glas und Rahmen der Spruch:
An Gottes Segen
If alles gelegen!
Weshalb denn aud der Geſangbuchsgoldſchnitt alle Bücher
hold überfirahlt, gerade fo abgegriffen, mie es recht if, um
gleichzeitig Froͤmmigkeit und vorfichtiges Umgehen mit wertvollen
Sachen zu Dofumentieren.
Welche Bücher außerdem?
Aus melden Gefilden trogiger Barbarel bit Du, daß Du
fragſt?
Es if das Kochbuch, das fi an den „Beruf der Jungfrau”
lehnt, und „Goldelſe“ ſchmiegt ſich zaghaft an „Blüten, Perlen
und Juwelen deutſchen Sinns und Geiſtes“.
Beim guͤtigen Himmel: es lebe das Kochbuch!
Ich denke: Du biſt im Bilde.
Stell' Dir weiter noch vor: einen ausgeſtopften weißen Pudel
mit blauen Glasaugen, einer rotſamtenen Zunge und einem rot ⸗
feidenen Halsbande; ein Didrudsild: „Deutſchlands Stolz"
(man fieht darauf fämtlidhe bis zum Jahre 1803 geborenen faifer-
76
lipen Prinzen); zwei Gipsbliften (grüngolden bronziert), die, wie
es ſcheint, den Stumpffinn, einmal in einer männlichen und ein-
mal in einer weiblichen Figur perfonifiieren follen (das Mädchen
fieht beſonders ſtupide aus, was nicht ohne Feinheit ift); einen Vogel ·
bauer mit einem lächerlich gemäfteten Ranarienvogel, der in einer
unangenehmen Weiſe aſthmatiſch ſchreit und boshafte Augen hatz
einen Photographieftänder mit unglaublich viel gewoͤhnlichen Ger
fihtern, die alleſamt inſipide lächeln („feiren“ fagt der Sachſe
fehr huͤbſch), — kurz: el? Dir eine „gute Stube“ in des Wort-
fians furchtbarſter Fe vor, und Du haft das Milieu, in das
mich heute Mutter Schügen verfegt hat.
urſpruͤnglich wollte fie, daß ich die Dame, die in Züchten den
verlodenden Namen Schmidts Mariechen trägt, bei ihr fehen
ſollte, gewiſſermaßen vorgeritten von ihr felber, aber heute in
aller Frühe wurde ich benachrichtigt, daß es beffer ſei, ich ginge
ſelber „au Schmidts”, und zwar einfach zum Deittagefien. Es
wäre ales In Ordnung. Vater Schmidt und Mutter Schmidtn
freuten fi, Schmidts Mariechen ditto. Punft zwölf würde ge-
geffen. Als Stüge für mich würde Mutter Schuͤtzens Enfelin Ida,
bie ich geftern kennen gelernt habe, augegen fein.
Mutter Schügen war ftets refolut, aber das war mir denn
doch ein bißchen verwunderlich. Lädt mich einfach bei Leuten ein,
die mich abfolut nicht kennen! und gleich zu Mittag! Ganz ficher-
lich hat fie den unglüdlihen Schmidt? aud das Menü vorge
ſchrieben, dacht' ich mir, und richtig: ich erfuhr, daß fie mein
ſaͤchſiſches Leibgericht, Rindfleiſch mit Rofinenfauce, befohlen
hatte.
Ich habe bereits verfucht, Dir das Haͤkeldeckenheim der wir-
digen Schmidts in großen Zügen zu ſchildern, wenigſtens ihr Aller
heiligftes, bie gute Stube. In diefe war ich geführt worden, und
bier erwartete ich mutvoll und gefaßt des Schickſals Stoͤße.
77
Ich hatte neben dem Sofa Pofto gefaßt, deffen drei nebenein-
ander gelagerte Bäuche In ihrer fabelhaften Schwellung mir bie
entfegliche Phantafie einflößten, dag im naͤchſten Augenblick drei
junge Sofas geboren werden müßten, ferfelhaft feifte, und meine
Singer verloren ſich ratlos in der kunſtvollen Haͤkeldecke, Die Die
Korpulenz dieſes hoffnungsvollen Möbels uͤberdeckte. Da tat fi)
die Türe auf, und es erfchien das lebendige zweibeinige Gegen»
ſtuͤck des dickbaͤuchigen Vierfüßlers, es erſchien der zu dieſem Ka-
napee gehörige Menſch: Herr Schmibt.
Wieviel Bäuche er fein eigen nennt, vermag ich nicht zu fagen,
da er einen blauen gefteppten Schlafrod um die Fuͤlle feiner Leib⸗
baftigfeit geſchwungen hatte. Es mögen aber nicht wenige Baͤuche
fein, die unter dem blaugefteppten wohnen, denn jeder Schritt,
den Herr Schmidt tat, erzeugte eine Art ſchuͤtternder Wellenbe ⸗
megung unter dem gefteppten Blau, und nervöfe Leute koͤnnten
bei dieſem Anblick feefranf werden. An Stelle des Kopfes trug
Herr Schmidt eine rofafarbene Maſſe von zahlreichen glänzenden
Wuͤlſten, swifchen denen man bei genauerem Zufehen indes unbe
inveifelbare, wenn auch auffällig fleine Augen bemerkte. Wenn ich
imftande wäre, die Farbe dieſer Augen mit einem Worte wieber-
augeben, wuͤrde ich mich für dieſes Wort um ein Patent be
werben. Der ſchuͤchterne Anfag zu einer Naſe verfhwand hilflos
in dem welligen Sleifchterrain der Backenmaſſen und der Lippen»
boͤſchungen.
Dieſer Herr Schmidt alſo, dieſes Phaͤnomen von Wohlbeleibtheit,
rollte fi auf mich zu (ſchon der Luftdruck, den dieſe Bewegung
erzeugte, konnte Beforgnis erregen), und mein erfter Gedanke vor
diefem Gebilde einer verſchwenderiſch üppigen Natur mar ber:
wenn Here Schmidt ein Kuͤrbis wäre, würde er auf der Garten⸗
bauausſtellung ben erſten Preis kriegen. Schade, daß er bloß ein
Rentier iſt.
78
Aber: was für ein Rentier? Nur drei Möglichkeiten: 1. Bäder,
2. Fleiſcher, 3. Wirt.
Ich vente: Bäder. Der Dann hat etwas Teigiges an fich, was
Semmelmildes, Milchbroͤtiges, — richtig: da find auch die Knet ·
bände von ehedem mit ben breiten Singerfuppen. Das klaſſiſche
Bein · O der Backſtube verbirgt ſich mir unter dem Wogenfpiele ber
Bäuche unter der Blaugeſteppten.
Herr Schmidt alfo rollte fi) keuchend an mic) heran, gab mir
beide Hände und ſprach, nicht ohne Drühe, aus der Tiefe feines
Settes herauf Die Worte: „Meine Srau wird gleich kommen.“
Sprach's und ſetzte fih auf den Mittelbauch des Kanapees, fo
daß die Seitenbäuche des beflagensmerten Moͤbels gequält auf-
fuhren und nun wie zwei feifte Thronpaladine neben des figenden
Bauches Majeftät aufragten.
Mich herameterte es und ich fprach zu meinem Heben ‚Herzen:
Sieh’, in das Kanapee ſank der Leib des würdigen Rentners,
Sage mir, Mufe: Wohin ſank doch die Seele dem Mann?
Eine Minute verging, und durch bie Türe trat, nein: ſpießte
ſich herein eine unglaublich dire, ich möchte fagen: raſchelnd
bürre Dame in einem ſchwarzſeidenen Kleide, auf dem Kopfe eine
drohende Haube mit violetten Bändern.
Alle Wetter! dacht’ ich mir: wenn die Ehe auch im Himmel
geſchloſſen worden ift, wo hat der himmlifche Standesbeamte dann
das Prinzip des goldenen Schnittes gelaffen!
Aber ich hatte nicht lange Zeit zu denfen, denn von nun ab be
fand ich mich in einem Braufebad, und Madame Schmidt war es,
die mich duſchte.
Dente Dir, ohne Interpunftion zwanzig Säge nach dem Mufter
des folgenden hintereinander im ſchnellſten Tempo, aber mit über-
aus ficherer Lungendfonomie geſprochen: „Schön willkommen fie
ber Herr Doftor das ift aber ſchoͤn daß Sie gekommen find und
79
wir find Frau Schügen wirklich ſehr dankbar da fie Sie zu ung
hergeſchickt hat, denn mir freuen ung immer fo fehr mit gebildeten
Leuten zuſammenzukommen und da Ste gerabe heiraten wollen
und unfer Mariechen nun im Auguſt fünfundswanzig wird und
mir feine Herrenbefanntfchaften leiden ach Gott ja und wer kaͤme
denn in Betracht wenn man auf Bildung fieht ac) Gott ja es iſt
ein vechtes Elend na aber Gott ſei Danf wir haben es nicht nötig
den erften beſten.“ Ohne Übertreibung, Peter: die Kaskade war
etwa swanzigmal fo lang, als das Bruchſtuͤck von ihr, das ic) hier
gegeben habe. Glaub's oder glaub's nicht: es ift fo. Diefe alte
dire Dame, gefelelt an den nur mühfelig redenden Fleiſchkloß,
dem nächft dem Gehen ficher Das Sprechen das Unangenehmfte ift,
litt offenbar an einer Art von Schleuſenbruch. Der Schliegmusfel
am Kiefer funktionierte nicht, oder was weiß ich.
Kurz und gut: fie uͤbergoß mich dermaßen mit Worten, daß,
wenn ic) in berfelben Zeit mit einem mäßig flarfen Strahle
Waflers wirklich gebufcht worden wäre, Das Waffer ficher längft
die Dede erreicht hätte. Ich wundere mich noch, daß die Wände
diefem Schwalle ftandgehalten haben und nicht geborften find.
Ich meinerfeits verzichtete, nachdem Ich Das erfte Drittel zu hören
verfucht hatte, Darauf, dieſes Wortgeftäuber auf feinen Sinn hin
anzuhören und ließ es wie ein Elementarereignis, wie Wolkenbruch
mit Schloßen etwa, über mich ergehen und rieb mir nur ab und
iu die Stirne, wenn der Schleufendrud einen zu dicken Strahl
auf mich ließ.
Im übrigen behielt ich den Dann zwiſchen den beiden Kanapee ·
baͤuchen im Auge und bemerkte, daß fein Ausdrud immer erge-
bungsvoller wurde, bis er ſchließlich etwas Safichaftes gewann,
einen Zug von profundefter Schnuppigteit.
Als ſchließlich Die unermuͤdliche Dame aber doch geendigt hatte
(ein ſchrilles Gottſeidank war der Schlußftein, den fie mit trium-
80
phierender Kraft vor mich hinfegte, als wollte fie fagen: Ich fönnte
noch, aber vorderhand mag’s genug fein), da hob fi) aus dem
Meere feines Fettes die Stimme der Erlöfung: „Ru ja!"
Für mid) war die Lage nicht ohne Schwierigkeit. Hätte ich
Einſpruch gegen meine Freierſchaft erhoben, fo würde mich Ma ⸗
dame Schmidt unzweifelhaft mit ebenfoniel fiedenden Worten
übergoffen haben, wie fie es jest mit lauen getan hatte, und ich
wäre in der Blüte meiner Mannheit zu Hummerroͤte verbrüht.
Alfo gab ich mic) ſchweigend dem preis, was im Reihe Schmidt
mit mir gefehehen ſollte.
Hätte ich nicht das himmliſche Untergrundsgefühl gehabt:
„Sterum iterumque demonftratum: das Weib ift bitter,” ich märe
in Baͤnglichkeit vergangen. Denn nach des Vaters koloſſiſch-
keuchendem Schweigen und nad) der Mutter knochigem Wortge-
raſſel, — was fland mir von der Tochter bevor?
Ich wagte kaum hinzufehen, wie die Tür aufging. Als meine
Augen aber Mut befamen, da fahen fie neben Ida ein Mädchen
von vecht huͤbſchen Verhältniffen, guten Bewegungen, nettem Ger
fihte, und meine Ohren hörten eine ganz ſympathiſche Stimme.
Ste ſprach weder viel noch wenig, fie hielt Die richtige Mitte,
aber, mein Lieber —: mas ſprach fie! Ich win mich auf der Stelle
mit ihr und mit ihrer Mutter gleichzeitig verheiraten, wenn ein
einziges gefühltes, ein einziges gedachtes Wort aus ihrem Munde
gefommen iſt.
Nichts, nichts, fage ih Dir, als die Redensarten, wie fie den
jungen Mädchen beftimmter Kreife, ich weiß nicht von welchem
gottverfluchten Katheber der Wohlanftändigfeit und Schicklichkeit,
eingetrichtert werden. Nichts, nichts, nichts als fliegende Spreu,
fein einzig Koͤrnchen. Züchtiges Geplapper, fein tuͤchtiges Geſpraͤch.
Und dieſes ewige Augen auf — Augen zu, bald der befannte
Stiefelbli, dann der obligate Deckenwurf, und das Muͤndchen
6 Bierbaum II 81
fpig gehalten, und die Finger in der Luft herumgesiert und ein
Getäte und Getate, — freß mid) die Peft: es iſt unausſtehlich!
Ich hätte das Maͤdchen zumeilen anbrüflen mögen: Natur, zum
Donnertvetter, Natur! Woꝛu haſt du deinen ſchoͤn gebauten, gefunden,
lebendigen Leib, wenn du hier ſitzt wie ein gedrechſelter Olgoͤtz
mit ein bißchen Ziehmechanismus zwiſchen den Beinen. Und: red'
doch um Himmels willen, wie der Schnabel dir gewachſen iſt.
Plappre fein ungedachtes, ungefuͤhltes, langweiliges, ausgedroſche ·
nes, gebildet klingendes und doch ſo bumsdummes Zeug, ſondern
red’ aus bir felber raus aus deinen Sinnen, aus deiner Seele,
aus einem Gehirne. Mag’s dumm fein! Meinetwegen! Aber es
wird wenigſtens irgendwas fein. Das da aber, dieſes Gefiftel, ift
gar nichts, abfolut gar nichts. Froſchquaken und das Gekraͤchz
junger Raben ift gottlobefames Gebet Dagegen, denn es fommt aus
der Natur, ja, eine quitfchende Türangel Flingt lieblicher und er ·
quicklicher als dieſes, dein leeres Gehauche. Denn, Mädel, es ift
alles Lüge, was du von bir gibft, unbewußte Lüge wohl, aber
darum nicht weniger fatal. Und wenn es wenigſtens ſchoͤne Lüge
wäre! Die koͤnnte meinetwegen fogar gefährlich und Lafterhaft fein,
denn das Schöne tut man gut, nicht ethiſch anzufehen. Aber was
du redeſt, find ja gefprochene Haͤkeldecken, und es iſt geradeu
ſchauderhaft, su denfen, wieviel ſchoͤne Jugendzeit Du damit ver-
bracht haft, dieſes Lhgengehäfele Dir anzulernen, das fo durch und
durch unintereffant und gewöhnlich ift.
Alles dies hätt’ ich wirklich gefagt, wenn ich nur die geringſte
Hoffnung hätte haben dürfen, daß es was genugt hätte. Aber Die»
ſes bedauernswerte Gefchöpf von dit und duͤnn war unheilbar
verfeucht von einem falfhen Ideal, und diefe Seuche, die bei ung
leider epidemiſch it, laͤßt ſich nie wieder vertreiben, wo fie einmal
feſtſitzt.
Ich fraß alſo meine Medizinmannrede in mid) hinunter, warf
82
auch das auffteigende Mitleid zum Tempel hinaus und betrachtete
mir das Trio, dick, duͤnn und verbilbet mit der falten Objektivi⸗
tät, aus der am häufigften der Humor blüht.
Ich date mir: Wir find alzumal Wise der Schöpfung.
Selbſt die Größten unter uns find mutmaßlich nichts als Ges
ſchoͤpfe der Einbildungskraft von jenen graufamen Künftlern, die
wir Götter nennen.
Demnach muß es unter den Göttlihen auch einen Stinde ge»
ben, der Leute wie die Samilie Schmidt an bie Stripe feiner
Komik hängt.
Urteilen mir milde: Die Strippe zuckt, und die Hampelmaͤnner
und Hampelweibchen tanzen. Denen, bie über den Wolfen find,
und zur Verdauung hinunterguden auf das Strampeltheater,
denen mag es wohl Spaß machen. Uns, die wir auch an der Strippe
hängen, mit pathetifhem Geftus vielleicht, ſcheint das Rüpelfpiel
zumeiſt doch tragiſch.
Ad, wir armen Hampler! So jammervoll find wir, daß wir
ung an biefe Elendsſtrippe noch mit Verzweiflung Flammern und
uns vor dem Augenblid fürchten, da die einzige Mildherzige des
göttlichen Theatermobs, Frau Atropos, kommt, fie mit der Parien-
here au durchſchneiden.
Ausgepampelt, ausgehampelt!
Pidelpering liegt im Grafe,
Seine himmelblaue Rafe
Bohrt ſich in das Erdreich cin.
Weh! und Ad! Aus taufend Schleufen
Stießen Tränen und begeußen
Das geftreifte Dampelbein.
Miferere! Diferere!
Pitelperings legte Ehre
IR der Poffe wöfter Schluß,
Und die fatten Goͤttergaͤuche
6 83
Halten lachend ſich die Baͤuche:
Bravo deus ſtindicus!
* *
*
Du fiehft, lieber Peter, Diesmal iſt mir aus ber falten Dbjet-
tivitaͤt fein vechtfchaffener Humor erblüht.
Die Unnatur macht peſſimiſtiſch. Sie ift die triftefte aller Er.
ſcheinungen, und man ſollte eher mit dem leibhaftigen Teufel
Brůuͤderſchaft trinken, als ihr auch nur mit der Fingerſpitzennaht
bes Handſchuhs zu nahe zu fommen.
Darum floh id denn auch fo ſchnell, als es die Schicklichkeit
nur irgend geftattete, aus dem Haufe Schmidt, und ich will ed mir
fhenfen, Dir zu ersählen, wie dieſer Beſuch weiter su feinem
ſchnellen Ende gediehen iſt.
Als ich aus dem Haufe ber gehäfelten Lebensführung heraus-
trat, holte ich Dreimal tief Atem und pumpte aus mir heraus, was
an Schmidtſcher Atmofphäre noch in mir war. An Stelle dieſes
Stickſtoffs aber nahm ich den friſchen Atem der Natur in mid),
den koͤſtlichen Maiwind, den beſten Seelenausfeger, den ich weiß.
Aei! apei!
Vagt iſt der Mat,
Trägt Kleider nicht am geibe,
Blumen umblühen feine Scham,
Sein Mund der fingt gottlobeſam:
Treibe, du geben, treibe!
Dein
Graumer.
84
w
XIV.
Herr Pankrazius Graunger fährt von Dresden nach
Leipzig, fteigt in Wurzen aus und berichtet darüber aus-
führlich in feinem Reifetagebuche
In der Eifenbahn zwiſchen Dresden und Leipsig.
Nachtfſahrt.
Ich habe immer noch die Naſe voll odeur de Schmidt. Es iſt
eine Art penetranter Weichlichtkeit, was Muffiges, Traniges, Nan-
siges; ſitzt In allen Poren. Die Reife wird's ausruͤtteln.
Die Reife als eine Art Ruͤttelbad iſt überhaupt noch nicht ge-
nug gewuͤrdigt.
Sep’ deinen alten Adam ing Kupee, und dieſer alte Modertopf
fommt rein geſchwenkt am Ziele an. Das Außerliche vielleicht ein
bißchen verbeult und viffig, aber inwendig iſt es wieder rein, und
du kannſt bie beften Gedankenſuppen in ihm kochen. Bei einem
richtigen Kochtopf kommt's aufs Epterieur nicht an.
* *
*
Ich bin nicht alleinz das ift unangenehm. Ich bin mit Mufter-
koffer- Nomaden zufammenz das tft ſchlimm.
Dan fo feinen Stand ſchlechthin geringfchägen, gewiß. Alle
refrutteren fi aus Menſchen, — o ja. Aber manchmal ift das
Rekrutenmaterial doch bedenklich, und mancher Beruf ift fhon an
ſich ein uͤbel, das alles ruiniert, mas unter feine Fuchtel kommt.
Furchtbar, diefe Heimatlofen unter der Glanzlackleinenflagge. Sie
find unferer fahrigen Zeit unerquicklichſte Symptome. Halbbildung,
Halbeleganz, Halbwitz, Halbgemuͤtlichkeit. — Alles halb und tal-
mi. Ob, diefe infame Zeit! Diefes Eommis-voyageur-Zeitalter!
85
Wehe, wenn nur eine der Handlungsreiſenden ⸗Anekdoten auf bie
Nachwelt fommt! Wir find blamiert vor der Ewigkeit.
Gottlob, meine Nachbarn find nicht in der Gebelaune. Sie ge-
hören wohl feinblihen Warenwigwams an. Aber ich fühle, wie
fie muͤhſam an ſich halten, daß fie nicht Doc ploͤtzlich herausplagen:
„Ste fennen doch den neueften . . ."
Ob man dann die Notleine siehen darf?
* *
- Schlafen, — das wird das befte fein. Schlafen . . . Vielleicht
aud) träumen? Von Schmidts Mariehen ... O Hamlet! O!
Ich habe wirklich geträumt:
Iqh war ein grüner Nir und ſchwamm
Im tiefen, tiefen Meere,
Naͤhrte mich von Auftern lobeſam
Und mander Hummernſchere.
Mein Bauch war rot wie der vom Lurch,
Quall quapplich und geſchwollen,
Quer über ihn ging ein Gefurch
Don Runzeln, warzenvollen.
Ich war ein ſchoͤner Nir und galt
Sehr viel bei den Kollegen,
Denn mein Talent war mannigfalt,
Ging bis zum Eierlegen.
Mann war und Weib in einem id,
Das war fehr auferbaulich,
Ic) fraß vor Liebe ſelber mich
Und bruͤtete beſchaulich.
86
Donnerwetter, was ift denn los? Wie riecht denn das hier? Da
„dichtre“ der Teufel weiter!
Richtig! Während ich fehlief, oder während ich meinen Traum
verfifizierte, ift ein Srauenzimmer eingeftiegen. Dort in der Ecke
figt fie. Zwölf Augen feh’ ih an ihrem Körper auf und nieder
klettern.
Graͤßlich, dieſe maͤnnliche Augenghmnaſtik; ekelhaft. Das arme
Tierchen wagt kaum aufzublicken. Die Kerls bekleckern fie gerade⸗
zu mit ihren Blicken.
hmal iſt das maͤnnliche Geſchlecht doch noch
bliche.
ich wulſten! Dem einen Kerl da beben ſchon
ei hab’ ich nur noch bei der Raubtierfuͤtterung
Zuſchlagbillett und ſteig' in die erfte Klaſſe.
* *
*
fein! Manchmal iſt es doch ein ſchwerer Be⸗
n. und gar Zeitgenoſſe! Das iſt ſchon der
— zuweilen.
* *
*
dieſe Fahrt als Kind gemacht. Gott, Gott,
fo fahren wie Damals in der vierten Klaffe,
unter mir.
die Welt!
In war da mein Auge, mie flar war da mein
Das war es. Damals regte mid) fein Com⸗
yerlihen Diatriden auf. Damals nahm ich
voch fo ſchnellem Herzen hin.
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Alles Sein ging in mic) ein durch ein bergkriſtallen helles Auge
und fiel in eine Kamera, in ber fein Staub, fein Fleck, fein Hauch
von böfen Dünften war, Drum gab es Bilder von eitel Helle und
Gluͤck.
Jetzt aber! Ich ſehe viel zu ſcharf und hart. Ich zerlege, was
ich ſehe, und mein Herz ſcheidet, was in ſeine Kammer faͤllt. Keine
Empfänglichfeit mehr, feine aufnehmende Ruhe mehr, fein Pflan-
zenglüc mehr. Das Nashorn der Moral figt in mir und rennt
alles nieder, was in mid) win. Ein ewiges, unvertreibliches Krit-
teln in mir bringt mi) um allen Genuß. Es iſt ein infamer Trieb,
au forrigieren, ein rechter Schulmelftertrieh.
Ruhig ſchauen, ades harmoniſch begreifen, nichts betaften: das
iſt Königlich.
Wer fann das heute?
Wir find alzumal Pöbel,
Wären wir ichſtill und ichſtolz, erſt dann koͤnnten wir fagen,
daß es eine Gattung homo faptens gibt. Vorderhand find wir bloß
defabente Beſtien, entgleifte Affen.
* *
*
Gut gegraunzt, Graunger! Laß dich bei Peter Squenzen enga»
gieren! Schuͤttel' die Hobelfpäne, mit denen bu dich beflebt haft,
und glaub’, es fei Die Mähne des föniglichen Löwen!
Puh! Der Graunger ift ein Ding, das überwunden werben
muß.
* *
*
Es it ſchoͤn, durch die Nacht zu fahren. Dort, vor dem Wäld-
hen liegt ein Dorf. Acht Lichter zaͤhl' ich in ihm.
Wie das friedlich it — von weiten. Es fieht idylliſch aus, und
um fo idylliſcher, je weiter wir uns davon entfernen. Wenn ich
88
die Augen zumache und das Bild in meine Seele projistere, wird's
gar ein Gedicht.
Schlußfolgerung: fi die Welt von weitem anfehen! Nicht
überall mit der Naſe daraufftogen! Und vor allem: das Herz
dichten laſſen!
Bon weitem fehen fogar die Weiber erträglich aus. Aber nicht
in ihren Dunſtkreis!
Zweihundert Schritt vom Seibe,
Und du ſiehſt Delenen in jedem Weibe.
.
Wir nähern ung Wurzen, und vor meinen Augen taucht bie
Perfonififation der geblähten Borniertheit auf, unter der ih jahre
lang leiden mußte: Bimsftein-Pafcha, der Konrektor.
Wie ſchade, daß Die Jugend feinen Humor hat. Wie leicht hätt?
ich fonft diefen Kathederheuler ertragen, der ohne Frage eine fo-
miſche Figur war, und deffen Bafelantengehäffigfeit ich doch fo
tragifch empfand.
Diefes leere Stuͤck Menſch, Diefe Klapperhülfe, in der ein paar
fremde Körner fo laͤrmhaft raſchelten, hat mich um ein paar der
ſchoͤnſten Jugendjahre gebracht. Ich hätte gut Luft, auszufteigen
und ihm heute noch Die Fenſter einzumerfen, wenn er noch da wäre,
Solche unbill vergißt man nie. Raub an der Jugend ift ein Kapi ·
talverbrechen. Boshafte Schulmeifter find die gefährlichften aller
Biedermänner.
* *
*
Ich bin wirklich in Wurzen ausgeſtiegen, und jetzt ſchreib' ih
hier im Goldenen Löwen.
Es gab mir einen Ruck, ich mußte heraus. Und ich bereue es nicht.
Diefer Nachtgang durch Die Stadt war mir ein Feſt.
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Bor einem Haufe blieb ih wohl eine Viertelſtunde ftehen.
Ida!
Alſo hier wuchs mir der Baum der Erkenntnis.
Dh, ich weiß es noch, als wär” es geſtern geſchehen. Wie ich den
ſchmalen Gang hinuntertappte ... . dann bie Lattentlr auf... dann
die zweite, und nun zum erftenmal die heißen Wellen über mich.
Schön war es, fhön! Befreiung und Sieg. Hurra! Jetzt bin
ich erft ein rechter Kerl! Was? Gewiſſensbiſſe? O Here Pro:
felor! Hat die Sonne Gewiſſensbiſſe, weil fie ſcheint? Unſinn!
Hurra! Das Leben beginnt!
Und nun jeden Abend den Gang hinunter, und jeden Abend
das heiße Wellenbad. Oh, müßtet ihr, wie's wohlig iſt dem Fiſch ·
lein in der Flut!
Damals ftiegen die erften Raketen aus meinem Herzen, ynd es
maren Verſe, die nicht bloß einen Teufel im Leibe hatten.
Gott, wenn Bimsftein-Pafcha davon eine Ahnung gehabt hätte!
Ich wuͤnſchte wohl, ich koͤnnte Ida wiederfehen. Es war ein
richtig ſaͤchſiſch Mädel, ſchlank, aber von, und hatte fo liebe blaue
Augen, und die harten Arbeitshände fonnten fo ſchoͤn ſtreicheln.
Wie hat fie mich bemuttert! Und lieb mich gehabt!
* *
*
Wurzen, im Goldenen Löwen, früh.
Da fteht’s, ein Lieb:
Düfte aus dem Roſenbuſche
Meiner Jugend, füße Düfte,
Endlich feld ihr wicderfommen,
Wiederkommen in der Wolke
Dort.
Seht, ich mußt” ca, daß ihr kamet;
Meine Seele fagte heute -
90
Grüß zu mir: Wach auf, Gefelle,
Deine Jugend mil dic) grüßen,
Die.
Und fie nahm von meinen Augen
Alle Schleier meiner Dumpfheit,
Und fie nahm von meinen Sinnen
Ale Härten, alle Hüllen
Sort.
Darum ſeh' ich. darum fuͤhl ich
Heut in jeder hellen Wolke
Düfte aus dem Roſenbuſche
Meiner Jugend, füpe Düfte
Bier und dert.
Nun feh’ ’mal einer an! Schimpfte ich nicht geftern noch in
diefem felben Hefte hier auf Bimsftein-Pafcha, meiner Jugend
greulichen Verkuͤrzer? Und heut’:
Düfte aus dem Roſenbuſche
Meiner Jugend, füße Düfte...
Dasift nun aber fo: Eine Ida macht Hundert Bimsftein-Pafchas
wett... Schade, daß ich nicht mehr für die Idas bin,
Wirklich, es ift ſchade. Die fogenannte Liebe ift wirklich ein gut
Narkotikum. Unter Umftänden, wie man fieht, vertreibt fie fogar
die Wangen
„und rufee die Mufen, die Mufen herbei“,
* *
*
Wieder im Eiſenbahnwagen.
Rattapım, rattapum, rattapum, pum, pum.
Deine Seele iſt gerade, die Welt ift frumm,
Das ift ein Ding zum Lachen,
Doch) als ih) ein junger Knabe war,
Da wolle ich, ach, wie dumm ic) war,
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Das Krumme grade machen.
Rattapum, rattapum, rattapum, pum, yum,
Das ift ein Ding zum Lachen.
Und nun, fomm her, Bimsftein-Pafcha meiner Seele: hiermit
kuͤff' ich den krummen Buckel deiner Borniertheit mit dem faftigen
Kuffe des Humors. Ich will dich nimmer ſchelten.
Auch Schmidts Mariechen habe ich verziehen. Ich Bin in der
Abfolutionslaune heute,
Abſolvo te,
Run, Schäfgen, geh
Im Wiefengrund fpagieren.
Die Welt ift bunt,
Es lacht mein Mund,
Wohltut das Abfolvieren.
* *
*
Übrigens: es fängt nachgerade an, bedenklich zu werden, wie's
wieder bei mir verfelt.
Aber auch mid, felber win ich heute nicht ſchlecht behandeln,
gratia Idae.
Hei, der Verſehaber ſticht,
&ben iſt in ſchdn Gedicht,
Wer’s verſteht zu reimen.
Froͤblichteit, Leidſchleimigkeit,
Ast mir Berfefeimigkeit
Sid zufammenleimen,
Es Hält aber nicht immer.
92
XV.
Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an ſeinen
Freund Peter Kahle. Handelt vom Stammtiſch zum
Ring in der Weſtentaſche
Leipzig, Ende Mai.
Dein Peter!
Kennft Du die alte Bauernregel:
Der Mai ift felten fo gut,
Cr bringe dem Zaunpfahl nad) einen Hut?
Und, wenn Du fie fennft, verftehft Du fie auch, Mann in der
fteinernen Stabt?
Bas für einen Hut bringt der Mat dem Zaunpfahle?
‚Hier in dieſem ſchauderhaften Rußneſte, über dem aber noch
immer bie Glorie des jungen Goethe ſchwebt, ſeh' ich's nicht, aber
ich fehe im Geifte meinen lieben Kiebighof und den alten Zaun
um den Kohlgarten, und da ftehen gravitätifch die angemooften
Zaunpfähle, und jeder hat feinen Schneehut auf, dieſen Kotilon-
hut, den der Winter dem Frühling zum Andenken ſchenkt. Aber
die naͤchſte Morgenſonne kommt und leckt ihn weg.
Nichtsdeſtoweniger fühl’ ih mich ein wenig blamiert mit mei-
nem Ahei!. Liede vom nadten Mai. Wenn ich recht damit hatte, —
wie muß der Armſte jetzt frieren.
Es ſchneit ganz derbe. Zwar, es find bie großen Matfehfloden,
denen es an ber richtigen, grimmigen Konzentrationgfraft fehlt,
fie haben (jegt fan’ mir nicht um, Philologe) mas Schmetterling-
liches an ſich, wie fie fo breit und behutſam nieberwehen, — aber
jedennoch: es ift Schnee.
Indeſſen, die Sachſen fagen: „Das is doch Ihr Ernft nich?“
Und: „SI nee dochel” antwortet der Alte, greift noch ’mal in
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den Sad, fehmeißt noch eine Hampfel rund um ſich herum, und
nun trollt er ſich und fappt ab.
Warum dieſe Einleitung vom Wetter?
Weiß felber nicht.
Vielleicht ift ein bißchen Schadenfreude meines unlyriſchen Ichs
Dabei, das meinem Iyrifchen Ich die Hohnrübe ſchabt und grinft:
„Atſch! Das ift nun Euer Hochmohlgeboren berühmter Mai.
Mic) duͤnkt: es ſchneit. Wont Ihr nicht ein Gedicht verzapfen?“
Aber das lyriſche Nebenſeelchen ärgert ſich nicht im geringften
über Bruder Rauhbein, und es zwitſchert:
Scne’, Himmel, ſchnei'!
Es iſt doch Mai;
Der Schnee will nichts bedeuten.
Er liege nur dünn,
Und unter ihm hin
Hr’ ich den Frühling läuten.
Du wirft Dich wundern, Daß ih jegt fo ungeniert Drauflos
tange mit allerhand Versfüßen, und ich muß geftehen, daß ich
felbft einige Beängftigung darüber empfinde, aber es ift nun 'mal
fo, und ih fann’s nicht ändern: feit einiger Zeit ffandiere Ich nicht
unbetraͤchtlich.
Ich habe alles moͤgliche dagegen verſucht.
Zuerſt einfache phyſiſche Mittel: ich kniff mich zornig ins
Bein, wenn mich's dichterte. Reſultat: meine ſchwache Seele
fühlte ſich Märtyrerin und dichtete glutvoll weiter.
Dann das Mittel der Ertötung des Geiftes nach dem Rezepte
der asketiſchen Heuſchreckeneſſer (4. 3.: „der heutige Effeftenmartt
zeigte dasſelbe Geſicht wie geftern, nicht faner und nicht Faß"),
wenn's über mich Fam; aber es ging mir nicht beffer, als den gu⸗
ten Asfeten: Die Teufelinne erzeigte ſich nur noch lockender.
Schließlich verfiel mein antilyrifhes Ich darauf, das lyriſche
94
zu parobieren. Aber Diefes war charakterlos genug, ſich darüber zu
amuͤſieren und unentwegt weiter zu harfen.
Kurz und gut: es hilft nichts. Nur die Zeit Fann hier heilen.
Sie wird ihre Schuldigkeit tun. Fieber wollen ausgeſchwitzt fein.
Punftum.
Aber das ift es eigentlich nicht, wovon ich Dir fhreiben wollte.
Wovon ich Dir fehreiben will, dasift der Stammtiſch zum Ring
in der Weſtentaſche.
Unfer guter Stilpe hat mic) diefer Tafelrunde des Gottes Dio«
mus zugeführt. Er durfte es um fo mehr, als ein gutes Drittel
biefer Tafelrunde Korpsbrüder von uns find. Ich bin ihm auch
recht dankbar dafür, denn der Ring in der Weftentafche hat mich
mancherlei gelehrt, was wertvoll zu wiſſen ift für einen, ber aus-
309, su freien, ohne Damit feine Freiheit verlieren zu wollen.
Ich laffe alles Unmefentliche weg und gebe Dir nur den Eptraft
bes Abends an diefem momifchen Tiſche.
- Stilpe, in feiner alten, hyperboliſchen Art, die wir ſchon an
ihm beftaunten, als er feine Gabe hauptſaͤchlich an Menſurdetails
und Tingeltangeleufen-Intimitäten übte, gab mir zuvoͤrderſt eine
Erflärung diefes Tifches.
„Wiſſe,“ ſprach er, „es ift gut, daf der Dann zumeilen einen
nadten Soldfinger habe. Zu dieſem Behufe beſitzt er eine Welten»
taſche, die nämlich auf der linfen Seite Über der Urtafche, Nie
mand hat noch den Zweck dieſer von allen Schneidern der zivili-
ſierten Welt wie infolge eines Meiſtereides unfehlbar und aus-
nahmslos angebrachten Tafche ergrünbet, bis unfer kleiner Piepgras,
ber fchon zur Zeit feiner Aftivität ein ſcharfſinniger und problem-
waͤlzeriſcher Kopf geweſen iſt, dahinterfam: Diefe Taſche ift
Dazu da, daß man zumellen den Ehering in ihr verſchwinden laſſe.
Kaum, daß er dies dem Gehege feiner Zähne (du weißt, es iſt et»
was lattenfchief) entlaffen hatte, umgrunzte ihn eine Ovation, in
9
der jedes Wort ein Borbeerfrang, jedes Ausrufezeichen ein Ehren»
ſaͤbel war."
Ich: Bitte, wer brachte Piepgraf’n diefe Ovation dar?
Stilpe: Ra, wir doch! Wir!
Ich: Bitte, wer wir!?
Stilpe: Na, die gefamte Alte-Herrei, was hier ein Bein hat,
und noch ein paar andere Staatsbürger von derſelben Obfervanz.
Heißen Doktoren, Magifter gar! Auch Richter und des Staates
Profuratoren! Kurz und gut: lauter Wohlbeſtallte und Ehrenfefte,
Vielgelehrte und Eingeeichte. Dein Auge wird ſich fenfen vor
dem Schimmer ihrer lagen, und beine Naſe wird es ein üppig
Bad heißen, ihren Atem zu faugen.
Ich: Stilpe! Haft du noch immer diefe Grammatik am Leibe?
Stilpe: Mehr denn je fpredhe ich die Sprache derer, die mit
Frucht in den Büchern der Alten gelefen haben, denn es iſt ge-
nug, daß ih die ſchwarze Livree dieſer graugreulichen Zeit am
Leibe tragen muß. Prob pudor, daß ih auch mauluniformiert
waͤre!
Schließlich ſprach er aber doch ernſthaft uͤber dies alles, und
ich brauchte nicht erſt angeſtrengt zu lauſchen, um ein innerliches
Unbehagen heraussuhören: „Gott ja, es hat was Fatales, das
Leben ohne Perfpeftive nad) außen ober nad) innen. Wir adern
faſt ade fremdes Land. Da ift der Würz. Arzt ift er, aber er paßt
dazu wie der Igel zum... Du weißt ſchon. Er wäre ein tuͤch⸗
tiger Landwirt. Dann der Burgkmayr. Amtsrichter. Du lieber
Gott! Was ift ihm Juſtitia? Er hatte Luft und Zeug zum Offizier.
Prederhahn! Ich bitte Dich: der Mann ift Staatsanwalt! Mit
feiner inwendigen Guͤte, mit feinem aufs Aſſthetiſche gerichteten
Sinn! Ein feiner Kunfigelehrter wäre aus ihm geworben. Das
find Die Perfönlichfeiten, und bie find eigentlic) bedauernswert.
Die übrigen... na ja: „Profit, die Blume“ und „Zangen
96
wir einen Lachs!“ Gerade, wie damals, als noch der Biersipfel
baumelte.
Ich: Aber fie find doch alle verheiratet?
Stilpe: Das will ich meinen! Gruͤndlich! Bol und ganz! Aber
das iſt ja eben der Kitt des Stammtiſches.
Ich: So, f0!? Dann bin ich allerdings gefpannt.
Stilpe: Wieſo das?
Ich: Weil ich nämlich auch heiraten wid.
Stilpe: Mann! Mann!!.. . Lern’ ſchleunigſt unfer Lied vom
Korps Suovia:
Sus Heißt das Schwein,
Ovum das Ci,
Suovia drum Schweinerei.
Ich: Ich verfteh” dich nicht.
Stilpe: Du wirſt ſchon.
und ich habe.
Peter, es war traurig.
Ich will nicht viele Worte machen. Es widerſteht mir, die al
ten Kameraden zu Fritifieren. Aber ich ann mir nicht helfen, einen
Ausruf muß ich wenigftens von mir geben: Was hat das Leben
aus dieſen Korpsburfchen gemacht! Sie find fo kuͤmmerlich ges
worden, fo, ich weiß nicht, fo ſtier vor fi) bin, ohne Zud und
Ruck, fo mit der Naſe nach der Erde, fo graͤßlich anſpruchslos
hinſichtlich ihrer ſelbſt.
Vielleicht ſag' ich am kuͤrzeſten: fo philiſterhaft, fo ſpießerlich.
Und doch mar auch ihnen das Leben einmal bunt wie ein Karten»
fpiel, und die Muͤtze faß ihnen im Nacken, und fie ſchlugen mit
ber Fauſt auf den Tiſch, wenn es hieß: Frei iſt der Burſch!
Daß Gott erbarm', wie hat ſich das geändert.
Alt getvorden,
Kalt geworden,
7 Bierbaum II 97
Schmer geworden,
Leer geworben.
Da figen fie num allwoͤchentlich an diefem Stammtiſche und
tragen ihren Ehering in der Weftentafche und reißen Zoten, daß
ein Unteroffigier erroͤten koͤnnte.
Freilich, fie find fonft um fo wuͤrdiger und gemeffener, und der
Abend ohne den Ring, das ift nur fo Das Ventil, das 'mal auf-
gemacht wird, Damit Die gefährlichen Dünfte aus dem Keffel fönnen.
Gewiß, gewiß: Ein Zötlein in Ehren fon niemand wehren.
Aber ... aber... Nein! Das ift eine blamable Art, unanftän-
dig zu fein. Und, wenn menigftens hershaftes Vergnuͤgen dabei
waͤre. Aber Prinz Sauertopf figt auf dem Praͤſidentſtuhl. Als fie
jung waren, und mir fangen im Ehore:
Auf der Luͤneburger Heide ging ich auf und ging ich unter,
Bruder, pump’ mir deine Liebſte, denn die meine iſt nicht munter,
Valleri, vallera,
Schatz, du weißt es ja.
worauf ich heute bloß „et caetera‘' reimen will, da lag Kern und
Gefundheit in der lockeren Art. Aber heute, während die „Grau
Gemahlin fi) daheim im ſtaatlich gefegneten Bette dehnt?
Was geht’s mich an! Sehe jeder, wie er’s treibe,
Aber, nicht wahr, die Srage wird mir doch wohl geftattet fein:
wo bleibt der fittigende Einfluß der Frau? Ich hörte, irr' ich nicht,
doch immer fagen: „Laßt nur den Moft jleigen und ſchaͤumen!
Es wird die Frau fommen und mit dem Schaumlöffel der Weib
lichkeit den ſchmutzigen Giſcht wegſchoͤpfen.“ Die guten Damen
haben wohl geruͤhrt, ftatt zu ſchoͤpfen.*)
*) Peter Kahle bemerkt am Rande zu diefer Stelle: Der gute Graunzer hat
wieder einmal die ſchwarze Brille auf. Ih werde fie ihm ein wenig pugen
muͤſſen. Was fällt ihm doc) cin, hier fo en groß ſpitzig zu werden. Er iſt wert,
daß feine Zufünftige den Schaumiöffel zuerft an ihm probiert.
98
Den Gipfelpunft erreichte mein Arger an biefem Abende, ale
der Stammtifch zum Ring in der Weftentafche ganz unvermittelt
anfing, moraliſch zu werben, wie es denn eine Eigentuͤmlichkeit der
Deutſchen überhaupt zu fein ſcheint, daß unter der Sauglode
gefitteprebigt wird, — vermutlich zur Stärfung der unruhigen
Gewiſſen.
Prellerhahn begann naͤmlich aus heiterem Himmel von moderner
Kunft und Literatur zu reden, und nun erhob fi) ein Hin und
‚Her der Meinungen, ein Auseinanderfalten und Ausklopfen alter,
uralter äfthetifcher Schlafroͤcke, daß ich förmlich den Moder roch.
Ich konnte mich nicht enthalten, dem wuͤrdigen Stammtifche
au fagen: „Fruͤher war’t ihr fhr dies Thema überhaupt nicht zu
haben. Das war 568. Jetzt aber bequatfcht ihr es, meine Freunde,
— das iſt graͤßlich. Denft an das heilige Schweigen eurer Ju-
gend und redet nicht von Dingen, für die euch der Sinn fehlt.”
Prellerhahn lächelte fein ſauerſtes Lächeln. „Dein guter Graun-
ser," fogte er, „wir behandeln dies Thema in dem Stile, wie er
uns geläufig iſt. Wir find deutfche Patrioten und fennen unſre
Pfücht. Es war ein Mann, der lebte in Weimar, hieß Goethe und
übte das Gefchäft des Dichtens aus. Der hat uns unfern Weg
geielgt:
Und weidlich (impfen;
Endlich darf nicht fehfen
Heimlich beſtehlen. )
Anmerkung Peter Kahles: Der Vers iſt dem Sinne und den Redeten-
dungen nad) allerdings von Goethe. Im Verſe hat die böfe Sentenz aber Wil⸗
helm Welgand gebracht, mas ein Bibliothekar a. D. wiſſen ſollte.
7
9”
Sprach's und tranf, und an der Tafelrunde war ein Staunen.
Bas hatte er denn, der Prellerhahn? Sprach) er nicht eben in
Verfen? Und war er nicht auf dem Umwege über Goethe etwas
grob?
Stilpe war es wieder einmal, Dem das Wort der Rettung kam.
Er erhob fi) und ſprach: „Mein lieber Bruder z. R. i. W.! Ein
guter Freund von uns hat es focben gewagt, unfer heiligftes
Recht anzutaften, das Recht aufs Quatſchen. (Wahr! Wahr!
Leider!) Ein Genoffe unferes engeren Kreifes und, was den Fall
noch kraſſer macht, ein Staatsanwalt fogar, hat biefe Rechtsbe ⸗
leibigung geradezu fanftioniert, indem er fi unqualifiierbarer
Versäußerungen eines Mannes bedient hat, ber durch feinen
lockeren Lebenswandel ebenfo hiſtoriſch geworden iſt wie durch
ſeine nicht viel wuͤrdigere Poeſie. Dies Unterfangen, das des
Freundes und das des Bruders, iſt einfach unmoraliſch. Macht»
mittel dagegen haben wir nicht, aber wir haben ein Mittel, den
uͤblen Eindruck dieſes Attentates wegzuſchwemmen Durch den Geiſt
des R. 1. W.! Auf, meine Bruͤder, laßt uns fingen das Lied nom
Korps Suovia!
Sus Heißt das Schwein,
Ovum das Ei,
Suovia drum Schweinerei!
Und feierlich brauſte der Jubelgeſang . -
*
Ih ing mit Preuerhahn und Stilpe zuſammen nach Haufe.
„Bott ja," fagte Stilpe, „wenn man einen Stein In einen Sumpf
wirft, gibt's bloß Meine Ringe.”
„Und um den Stein iſt's Dabet ſchade,“ meinte Prellerhahn dazu.
* *
Als ich am naͤchſten Morgen aufwachte, hatt’ ich feit vielen
Jahren zum erfienmal wieder moralifhen Katzenjammer für an»
dere Beute.
Hente noch reif? ich weiter. Nach Altenburg. Sind’ ich dort
feine San, fo bin ich doch ficher, den beſten Ziegenfäfe der Welt
U Dei
in
Pankraztus.
XVI.
Herr Pankrazius Graunzer macht eine Reiſe ins Alten⸗
burgſche, wo er nach dem Prinzip der Zuchtwahlausleſe
eine mit beſonders ſchaͤtzbaren Vererbungsfaktoren aus⸗
geſtattete Gattin zu finden hofft. Was ihm dabei wider⸗
fahren iſt, meldet er ſeinem Freund, dem Staatsanwalt
Dagobert Prellerhahn, in verſchiedentlichen Briefen
Erſter Brief an Dagobert
Altenburg, im Juni.
Staatsanwalt meiner Seele!
Lebt Du noch oder hat Dich der Ring in der Weftentafhein Die
Pleiße gervorfen fir Deine Srivolität, in goethifchen Zungen zu
reden?
Armer, lieber Dagobert! Warum hängft Du nicht den Talar
bes Staatsanwalts an den Nagel und wirft ein Anwalt des deut:
ſchen Geiftes?
Staatsanwälte, fo win es mir ſcheinen, haben wir ausreichend,
Geiſtesanwaͤlte viel zu wenig, wenn ſich auch jeder keitartikelaus⸗
101
walger daflır hält, Und babe wird der deutſche Geiſt in Diefen
Zeiten beleidigt, befubelt und verunftaltet, daß es ein Jammer tft.
Du hättet das Zeug dazu, die Sünder wider dieſen heiligen
Geiſt mores zu lehren. Aber flatt daß Du ihnen, die gemürbet und
gewappelt und bie lauteſten Maͤuler im Tempel ber herrſchenden
Gottheit find, den Prozeß machſt, mußt Du allerhand Fleinen are
men Teufeln das Fell laufen und mußt ein wichtig Geſichte noch
gratis dazu machen. Bei der klappernden Wage der Gerechtigkeit:
Wunderlich am hohen Dimmel
Durch der Sternchauſſee Gewimmel
Lentt das Fatum fein Karrisl ..
Fatum fatalitatum! Im Grunde find air ale Stoß Steine-
flopfer am Straßenrande, und die Karoſſen des fhaffenden Lebens
tafen an ung vorbei.
Sollen wir mit unferen Steinen nad) ihnen werfen?
Das ift bedenklich, und uns Heutige Dilettiert’s juſt nicht, ben
Vorhang der Revolution aufusiehen.
So foden wir alfo krummruͤckig und mit klammer Hand die
Straße fiiden?
Das wollen wir eben nun auch nicht. Dazu find mir nun Doch
u waͤhleriſch geworden, wir hinaufgefommenen Mittelftändler.
Revolution ſowohl wie Fronde überlaffen wir dem Bruder
Proletarier, dem wir übrigens bloß im Geifte die Hand druͤcken.
Dffen geftanden: die Situation iſt nicht fehr edel, und zu
unferer Entſchuldigung haben mir das Wort Defabenz er-
funden. Lieber frank, als verfommen. Das ift der Reft unferes
Ehrgefühls.
Was mic) perfönlich betrifft, fo hab’ ich auch in dieſem Punfte
das Vergnügen, zwei Seelen zu befigen, die ſich nicht ohne Leiden»
haft in den Haaren liegen. Manchmal begehrt die eine auf und
ſchreit nach Barrikaden, aber die andere dreht fi müde um
102
im warmen Bette und brummelt: „Laß mir mei’ Ruh’! J mag
net!“
„Vorwärts! fehreit die eine. — „Quieta von movere!“
bismardt die andere, Worauf die eine ſich folgenden Ders ge»
macht hat:
Was ruhig filg, das ſtͤre nicht,
&aß ruhig weiter filgen,
Es iſt durchaus nicht förderlich
Die Reinlichteit den Pilgen.
und jede von beiden führt gewichtige Gruͤnde ins Feld, zwiſchen
denen zu entfcheiden feine leichte Aufgabe meines innerſten Ichs
it, von dem ich durchaus nicht genau weiß, wo feine Sympathien
liegen. Saft glaub” ich, es ift mehr fuͤr ben konſervativen Part,
denn ſchließlich: Barrikaden hab’ ich noch Feine gebaut, aber daflır
wirft mein Qutetismus Bollwerk nad Bollwerk auf, ſich abzu-
ſchließen vom Lärm des Werbens.
Möglich, daß Hinter ihnen der Streit in mir erft recht ent-
brennen wird, und ſoviel iſt ficher: ich bilde mir wenigſtens ein,
daß ich ein inwendiger Evolutionift bin:
Tragt Stein auf Stein zum Bau der Zeit:
Ich bau’ mich;
Tuͤrmt Türme für die Ewigkeit:
Iqh bau’ mid);
Schleife ſpiegelblank die Menſchheit glatt:
I bau’ mid;
Ich bin der blauen Pläne ſatt:
34 bau mid.
Was flr ein Bau das wird? Wom find die Götter da! Ich
glaube faum, daß ich felber den Turm darauffegen werde. Viel»
leicht gelingt das dem, dem ich jetzt die Mutter fuche.
Du Fenuft ja den Zweck meines fombinierten Rundreiſebilletts,
103
und, wie Du dardber nicht lachſt, wirft Du auch nicht fiber den
Spesialgrund dieſes altenburgifchen Abſtechers lachen.
Höre: eine Stunde ſuͤdlich von der Stadt Altenburg hat mir
der zumeilen guͤtige Himmel einen Sreund beſchieden, ber ein veri-
tabler Baron ift. Denke!
Diefer Freund und Baron nun weiß gleichfalls von meinem
Plane, und feine Freundſchaft hat beſchloſſen, mir bei feiner Voll⸗
führung behilflich zu fein. Er ſchrieb mir nach Leipzig in einem
Briefe folgendes:
„Vielleicht, daß ich das mir Angenehme mit dem Dir Nüitz-
lichen verbinden kann, wenn ich Dich einlade, mich hier zu bes
fuchen. Nicht nur, daß Ih Dir wahrſcheinlich einige landwirt ⸗
ſchaftliche Ratſchlaͤge werde geben können, deren Du ſicherlich
bedarfft (denn man fattelt nicht fo leicht vom Schreibtifchfeffel
auf den Adergaul um), fondern ich hoffe auch, Dir vielleicht
dazu verhelfen zu koͤnnen, wonach Du augenblicklich aus biſt.
In meiner Nachbarſchaft nämlich iſt eine Fran v. 3. anfäffig,
die eine Tochter von jegt fünfundzmanzig Jahren hat, von der
man ſich in den Kreifen meiner Bekanntſchaft nur Gutes zu er»
sählen weiß, fo daß ich mich wundere, Daß fie noch nicht unter
der Haube ift. Der Grund liegt vielleicht darin, daß ihr ver-
ſtorbener Vater aus einem befimmten Grunde, den ich Dir
perſoͤnlich mitteilen werde, fehr unbeliebt war. So was bleibt
manchmal lange hängen. Hierzu kommt, daß beide Damen durch ·
aus zuruͤckgeogen leben. Ich felbft Habe auch feinen eigentlichen
Verkehr mit ihnen, aber ich fönnte es leicht arrangieren, daß
mir einmal bei ihnen einfielen.
Jedenfalls: fomm! Ich bilde mir ganz beftimmt ein, daß ich
mir hier den Kuppelpelz verdienen werde. Komm!"
Du wirft den Gedanfen vermutlich etwas phantaſtiſch finden
und meinen guten Baron für eine Art altenburgifhen Don
104
Quijote halten. Ich muß geftehen, daß mir die Sache felber ein
bißchen nebulos vorfommt. Aber dieſe merkwuͤrdige Beſtimmtheit
feiner Zuverficht frappiert mich, und dann iſt mir dieſe ganze Idee
überhaupt fehr ſympathiſch.
Und nun fommt der Punkt, bei deſſen Traftierung ich mich
Deines Ernftes verfihern möchte, weshalb ich denn vorhin ſchon
meine Zuverficht ausſprach, daß Du nicht darüber lachen wirft.
Nämlich: der Gedanke, eine Adlige zu heiraten, befticht mich.
Es if heraus: wenn mir morgen früh um die Zeit Deiner
Morgenpoft die Ohren flingen, weiß ich, woran id) bin, und Dein
Gelächter hat Dich um meine Freundſchaft gebracht.
Das glaubt Du nun freilich nicht. Aber höre! IA kalkuliere
fo: es if, was auch die Freiheit ·Gleichheit · Bruͤderlichkeit · Leute
Dagegen fagen mögen, fein ſchlechtes Ding um die gute Abftam-
mung. Gewiß, es läuft mand) zweibeiniges Argument gegen biefe
Behauptung herum, und es fehlt unter Leuten von unzmelfelhaft
guter Abftammung und tadellofer Kinderftube nicht an ungweifel-
haften Hundsföttern und Schafsföpfen. Aber im ganzen wäre es
finnlos, zu leugnen, daß die Vorteile einer befferen Auslefe doch
beim Adel find. Mag auch hier und da ein Kutſcher ober fonft
mas Iendenftramm Yntertäniges mit eingeftreut fein in die Ahnen»
reihe: das andauernd gute Milten, die höhere Freiheit, Das ge»
wiſſe Maß von Herrſchaftsbefugnis, bie Übung der Waffen, dann
auch das engere Zufammengehörigfeitsgefühl mit einem Stüd ei ⸗
gener Erde, das höhere Bauerngefühl alfo, — all das muß, fo
mein? ich, wenn nicht überwiegende Gegenmächte, wie das Be
dientenleben bei Hofe, das Klettern an ber fhlüpfrigen Protef-
tionsftange, die Einbreiung in den Bureaufratismus, die allzu
große Verleitung zum Außerlichen und zu leerer Duͤnkelhaftigkeit,
ſchaͤdigend eingewirft haben, doch einen gewiffen Fonds guter Ga⸗
ben in einem abeligen Geſchlechte anfammeln.
105
Auch der Geift Darf im ganzen als wenigſtens nicht unter pari
fundiert angefehen werden, denn wenn auch der heutige Adel im al
gemeinen mehr die Waben, als das Gehirn fultiviert, fo war Das
doch nicht immer fo, und wir haben Zeiten gehabt, in denen bie
Ariftofratie wenigftens im zweiten Treffen ber geifligen Kämpfer
fland.
Gut alfo. Dies angenommen (und ich muß nochmals fagen:
mir ſcheint diefe Annahme durchaus berechtigt zu fein, fo ſchwer
es uns auch fänt, uns aus dem Banne ber fozialdemofratifchen
Eyrif: „Alle Menſchen, glei) geboren, find ein adelig Geſchlecht
losumachen), alfo: Dies angenommen, wirft Du mir recht geben,
wenn ich fage: verfuchen wir's wenigſtens ’mal mit dem Bon.
Fuͤhrt's zu nichts, ſchadt's auch nichts. Schen wir uns das Burg ·
fraͤulein ’mal an!
Und in dieſem Sinne bin ich denn hierhergefahren.
Zunaͤchſt in die Haupt und Nefibenzftadt, die ich ſchon von
früher her fenne, und die mir fehr wohl gefänt. Es ſteckt Hiftorie
drin, und Reichtum ift um fie herum, und es fehlt auch nicht an
Schönheit der Natur, wenn es auch mehr eine nahrhafte Schön»
beit ift, mil fagen eine foldhe, die den Hauptton auf das Futter
tüchtige legt und eigentlich malerifche Ertranaganzen verfchmäht.
Vorderhand feh’ ich mir Die Stadt von allen Seiten, am lich»
fien aber von oben, vom Schloßberg, an und warte nur auf mei»
nen Baron, der mid) im Wagen hier abholen wird.
Ich werde Dir weiter berichten, was mir im Lande Altenburg
geſchieht.
Heilige Felicitas, bitt' fuͤr mich!
Dein
Panfras.
106
Erftes Zwiſchenſtuͤck, aus welchem der Lefer einiges von
dem erfährt, was der Staatsanwalt Dagobert Preller⸗
hahn über Heren Pankragens zuchtwählerifche Pläne
denkt
keipꝛig, den 6. Juni.
Meinen beften Dank, lieber Pankraz, für Deine gute Meinung,
aber Deine fchmeichelhaften Bemerfungen koͤnnen mich nicht da-
von abhalten, Dir zuzurufen: Panfraz, Du bift im Begriff, auf
einen Leim zu kriechen, der zwar parfuͤmiert, aber darum nicht we ·
niger aus alten Knochen gemacht iſt, wie jeder andere,
Auf das Sumpfgefrorene Deiner Vererbungstheorie win ich
Dir nicht folgen.
Ich fage Dir bloß das eine: entweber iſt das altenburgifche
Sräulein aus der Deelange, d. h. aus dem Adel, der aus irgend»
welchen Gründen fehon teilweiſe verbuͤrgerlicht ift, und dann iſt es
ſchon beſſer, Du ſuchſt Dir eine richtige Bürgerliche, oder aber:
fie ift aus dem flarren Adel, und dann rat’ ih Dir: nimm bie
Beine untern Arm und flich.
Mit diefen Leuten fi) verſchwaͤgern, heißt auswandern. Das
iſt eine andere Welt. Andere Gefühle, andere Sprache, ander Blut,
Sie fönnen fi) noch fo fehr anftellen, als wären fie unfersgleichen,
aber es ift nur Maske. Die Eindildung der Kaſte iſt der Kern
ihres Wefens, um den wir fie nicht beneiden wollen, der aber ihr
Stolz ift und bleibt.
Ohne ihn wären fie auch nichts oder wenigſtens nicht viel, mit
ihm find fie mas, — aber das Was ift unfer Feind.
Seh mir doc mit folchen Plänen! Das ift ataviftifches Zeug
und, nimm mir's nicht übel, auf dem Mifthaufen gewachſen. In
der Stadt fliegt einem derlei kaum mehr an, und das iſt ein Bor»
107
Aber Dagobert!
Bas if Dir in die Buͤrgertrone gefahren?
Ein Staatsanwalt, der wider den chriftlichen Adel beutfcher
Nation den flammenden Geberhalter zit — ecce miraculum.
Jetzt glaub’ ich wirklich an Zeichen und Wunder.
Aber seht haſt du trotzdem nicht.
Ich win Dir nicht langſchuͤrig erzählen, warum Das nicht recht
haft, denn da Du von Berufs wegen an Replifen gewöhnt bift,
miırden wir nie fertig werden. Ich fage nur ſoviel: mas anf dem
Miſte, d. h. auf dem Lande, waͤchſt, ift beffer, als was auf ben
Gteinen, d. h. In der Stadt waͤchſt, — das Miſtwachſene ift mir
Heber, als das Mißwachſene. Und: wenn der Adel, wie nicht ge»
leugnet werden fon, zum fehr großen Teile nicht mehr die Bluͤte
am Baume der Menſchheit darſtellt, fo iſt juſt der Umſtand ſchuld
daran, daß er vielleicht entbauert, d. h. entwurzelt iſt. Die Leute,
von denen Du ſprichſt und uͤber die ich nicht viel anders denke,
wie Du, das ſind die Parallelerſcheinungen zu dem Ackerknecht,
der in die Stadt steht und Dienſtmann wird. Draußen ein freier,
herrlicher Schlag, drinnen verfümmertes Zeug.
108
Hier mein Baron Birficht, das ift ein Edelmann nach meinem
Sinne. Landjunfer, amtlos, frei und herrlih — ein abeliger
Menſch.
Mit Mutter Kunſt ſteht er auf demſelben guten Fuße, wie mit
Mutter Erde. Sie geben ihm beide das Beſte, was ſie haben.
Sein Korn iſt fo gut, wie feine Thoma's, und feine Bibliothek
kann fi) gerade fo fehen laffen, wie fein Kuhſtall.
Sein Leib lebt nad) der alten brav probaten Landadelregel:
Sie Körner Agidi,
Haber, Gerfte Benebikti;
Sie Flachs und Hanf Urbani,
Wicken, Rüben Kilian,
Viti Kraut,
Erbfen Gregori,
Einfen Philippi Jarobi;
Grab Rüben Vincula Petri;
Schneid Kraut Simonis und Judaͤ;
Fang Wachteln Bartholomäiz
Bleib Stuben Kalirti;
Trag Sperber Sirti;,
Heiz warm Natali domini;
IE Lammsbraten Blafit;
Guten Hering Oeuli mei;
Heb an Martini,
Trinf Wein per cireulum anni.
Daneben aber hat er andy einen Kalender für feine funftfröh-
liche Seele, und Sanftus Apollo Drufagetes hat bei ihm ver-
ſchiedene Altäre, — nur daß er, gottkob, nicht felber in ſchlechten
Verfen oder uͤblen Bildern opfert.
Wirſt Du glauben, daß diefer Junker alljaͤhrlich nah Menden
109
fährt, Bilder zu faufen, und daß er allvierteljaͤhrlich große Buch-
haͤndlerrechnungen zu begleichen hat?
Du machſt ſchon den Mund auf zur Replik. Mach ihn nur
wieder zu. Laß mir meine Freude an diefer einen Schwalbe, wenn
fie auch noch feinen Sommer macht.
Morgen fahren wir nad) Prarhaufen zu den 3.fchen Damen.
Dein
Graunger.
Zweites Zwifchenftüch, in dem der merkwuͤrdige Staats:
anmalt Prellerhahn wiederum am Adel Fein gutes
Haar läßt
Leipsig, am 9. Juni.
Jetzt wird mir’s zu bunt, Krazi! Alfo auch in diefe Schlinge
geht Du? Der Adel, der ſich fr Kunſt, intereſſiert“! Na, ich danke!
Weist Du, Deinen altenburgfchen Junker win ih Dir nicht
nehmen, ich win mich nicht lächerlich machen und beftreiten, daß
auch hier Ausnahmen möglich find.
m allgemeinen aber fage ih Dir Das: Der deutſche Adel heu-
tiger Zeit hat zur Kunft überhaupt fein Verhältnis, hoͤchſtens das
minervaverfluchte des Dilettanten.
Möglich iſt nur das eine, Daß er wieder 'mal eine Rolle fpielen
will auf Koften der Kunſt. Er fann nichts weiter, als begönnern,
aber auch das nur in einem ſchwaͤchlichen Sinne. Auch iſt feine
Gunſt nichts mehr wert, denn er hat feine Macht. Und das iſt
gut. Denn eine adelbegoͤnnerte Kunft, eine von dieſem Adel ber
gönnerte Kunft, wäre eine Kunft für höhere Hausknechte, eine
Kunſt zwifhen Trennfeilen, eine fluͤgelbeſchnittene Kunft für den
Salonfäfig.
Weist Du, wie der Kammerherr von Seckendorff am ı2. April
110
1776 über die Weimarer Dichter an feinen Bruder fehrieb, da-
mals, als unfere große Literatur im Werden war? „Ees meſſieurs
paraiffent ſaugmenter chaque jour — „Diefe Herren“, — darin
liegt's: Die da, die Eindringlinge!
Ad, geh mir mit dem Intereſſe unferer Apeligen fuͤr Kunft.
Das hätte nur Wert, wenn unfere Adeligen Potenzen wären. Es
ift, wenn es einmal in die Erſcheinung tritt, nur die angeborene
Dreiftigfeit, uͤberal mittun zu wollen. Vielleicht langweilt's den
einen ober andern einmal, Nefruten zu fommandieren, und fo
wollen ſie's mit Dichtern, Künftlern verfuchen. Ich finde das im-
pertinent, denn biefes Unterfangen fteht zu den Fähigkeiten dieſer
Leute in einem zu großen Gegenſatze.
Ya, wenn fie beſcheiden wären, wie es fich fuͤr fie geblihrt, wenn
fie fagten: Seht, wir fönnen zwar nichts, aber wir haben Gelb,
Namen, Anfehen und wollen damit der Kunft dienen, ohne ihr
befehlen zu wollen, — a la bonheur! Dann feien fie wilfommen,
wie jeder Kunfifreund, aud wenn er bloß Lehmann heißt; aber
mit ihren unverfchämten Afpirationen foll man fie zum Tempel
binausjagen auf ihre Epergierpläge, in ihre Landratsſtuben, mo
ihrer Aufgaben harren, denen fie gewachſen find.
So, da haſt Du meine Meinungüber Deinenfunftförbernden Adel,
vor dem ale neun Mufen unſre Kunft in Gnaden [hüten mögen.
Ich bin Dein
Dagobert.
Der dritte Brief an Dagobert
Birkicht, den 10. Juni.
Mein lieber Dagobert!
Nun höre, mein Freund, die Geſchichte,
Wie ich fe Dir treulich berichte
111
Die Mär vom Beſuche bei Grau v. 3.
Und was für ein End’ er genommen hätt’.
Alfo ... aber nein: Zuerft ein Hymnus auf Birfichts Fruͤh ·
ſtuͤckstiſch. Freilich, ich kann nur lallen:
Gottlicher Kaffee, Himmlifcer Sahne
Selig gepaart,
Goldener Donig auf blond⸗ weicher Semmel,
Schmelzend und zart,
und nun, weil die Verſe 'mal laufen, gleich weiter im Tert:
eis In der Linde
Harfen die Winde,
Über die Gräfer ftreichele ein Wehn,
Waldvogelrufe,
Scharrende Hufe,
Heute, mein Derz, will ich freien gehn!
Nimm das als Ouvertüre. Ich hätt’ es aud in Profa fagen
fönnen, aber wenn mir die Dinge gar fo liebenswuͤrdig um den
Bart gehen, wie geftern fruͤh (ſolche Sahne gibt’s uͤberhaupt nur
im Altenburgfehen!), dann kann ich mir nicht helfen, Dann muß
ich mit geprägten Worten zahlen. Es ift mein Pech, wenn die Praͤ⸗
gung zu wuͤnſchen übrig läßt.
Du meinft, es wär? Dein’s, weil ich Dir Das Geprägte in Die
Hand drüde?
Ih, fo ſchmeiß' es doch weg, aber ſchimpf nicht!
Aber nun ungepraͤgt und ruhig im Trabe auf Schuſters pro+
ſaiſchen Rappen: wirklich Himmlif war Die Fahrt durch Birkichts
Reich. Der wachſende Segen rechts und links machte ung fröhlich,
und wir fangen fogar, — ein ſchoͤnes Lied:
Yuhjafup!
Die Pferde laufen immerzu,
Huhjahuh!
112
Sie laufen immerzu.
Der Gottlieb auf dem Bocke
Blaͤht ſich in feinem Rode,
Der Roc, der iſt ihm viel zu groß,
Im Winde flappe der rechte Schoß.
Huhjahub.
Er flattert immerzu.
Gottlieb fühlte ſich etwas geniert durch dieſen anzuͤglichen Ge-
ſang in ſeinem Ruͤcken, aber richtig war's doch: Sein rechter
Rockſchoß flog im Winde, und da er rot gefuͤttert war, nahmen
wir das als ein gutes Omen.
„Du wirft fehen, Panfrazt, ich) bringe Dich heute unter die Haube.
An einem ſolchen Tage gelingt ſo mas immer," fagte Birkicht.
„Nee, nee, du, ich finde, das Wetter ift zu ſchoͤn für fo was.
Da liegt fein Stil drin. Es müßte Packſtrippen regnen, dann hätt”
ich Mum dazu. Aber fo: das ift bie reine Suggeftion von oben:
Gehet hin und mehret eudy. Es fehlte Bloß, daß heute Der Tag der
heiligen Felicitas wäre.”
„Was für 'ne Dame ift denn das wieder?"
„Das ift Die heilige Fürbitterin für Leute, bie einen Sohn ha»
ben wollen. Alſo meine eigentlichfte Patronin.“
„Heute brauchſt du fie nicht. Heute geht's auch fo."
Dee, nee. Aber na ja: wenn’s heute fein fol: gut! Sag’ ’mal,
du kennſt alfo Fräulein von Zurmenfen nicht perfönlich?"
„Paar ’mal gefehen. Ich fage bir ja: Zwei Einfiedelweiber. Ihr
Gut ift ihre Welt.”
„Hm. Alfo wohl fo 'n bißchen fehr duſter? Du verftehft mich:
nicht gerade übermäßig gefcheit?"
„Bas fat dir ein! Beſte Erziehung! Damenſtift. Da fehlt
nichts! Auch nicht etwa ungefellig, unangenehm! Gar nicht! Bloß
... na, ich will dir's erzählen.”
8 Bierbaum II 113
„Das ift wohl was Grausliches?"
„J nein doch! Alſo: der alte Zurwenken hat es, ein richtiges
Driginal, wie er war, verftanden, fich mit aller Welt in Unfrieden
au fegen. War ein wunderlicher Kauz, Progefhengft, laudator tem-
poris act. Die Welt war ihm nicht mehr recht, Die Nachbarn erft
recht nicht. Und furchtbar adelſtolz war er. ‚Nur nicht das Blut
verbinnen!“ war fein Wort.”
„Und in fo ’ne Familie führft du einen pp. Graunzer als Frei⸗
ersmann? Ich bin ja die Verduͤnnung in Perſon.“
„Du ſollſt ja aud nicht den feligen Herrn Water heiraten.
Dem hätteft du allerdings nicht genuͤgt, felbft wenn du mit einem
tabellofen Bon behaftet wärft. Fuͤr ihn gab es nur etwa drei Fa⸗
milien im Altenburgfchen, die er fuͤr zweifelsohne hielt. In allen
übrigen war nad) feiner Meinung, die er leider auch ausſprach,
‚Verbiinnung von unten‘. Und das iſt der Grund geweſen, wes«
bald er ſich mit aller Welt verfeindete.
Der gute Gneomar — Gneomar hieß er! — mußte naͤmlich
von jedem Haufe was. Dort war im ſiebzehnten Jahrhundert 'mal
was mit einem Kutfcher gemefen, da hatte um bie Mitte des fech-
sehnten ein Stanfnecht verduͤnnend gemirft, und wieder mo an»
ders war ein Komoͤdiant nachweisbar als derjenige welcher.”
„Na: hatte Gneomar denn recht?"
„Hier und da wohl, aber meiftens waren es doch bloß alte, un⸗
beweisbare Gefchichten.
Es mar geradezu fein Sport, ſolche zu fammeln. Und hatte er
eine, fo forgte er ſchleunigſt dafür, daß man fie erfuhr. Und zwar
auf draftifche Weiſe.“
„Schieß los!"
„3. B.: Er trifft einen Herrn von &. Zufänig. In der Reſiden;
vielleicht. Auf dem Markte.
Fünf Schritte vor ihm bleibt er in feiner ganzen Länge ftehen,
114
sieht fein Stiellorgnon, hebt's langſam an die Augen, nimmt’s
wieder ab, fehüttelt den Kopf und fagt nichts als: ‚Mert—
wuͤrdig!·
Der andere natuͤrlich auf ihn los. ‚Was iſt merkwuͤrdig!·
Gneomar nimmt wieder die Stielbrille hoch, fieht fih den Dann
wieder an, fehlittelt wieder den Kopf und fagt wiederum: ‚Mert—
wuͤrdigl·
Nun der andere, ſchon ſehr wuͤtend, nochmals: ‚Was, wenn's
beliebt! Was!?
D’rauf Gneomar: ‚Die Hände! Diefe Hände! Oh! Oh! Sind
das abelige Haͤnde?
Run der &. wieder: ‚Was unterftehen Sie fih! Wollen Sie
wohl belieben, deutlicher zu fein?“
Und nun Gneomar aufs gelaffenfte: ‚Das find Kutſcherhaͤnde,
mein Herr, rote, Dicke, ungeſchlachte Kutfcherhände in der fünften
Generation.“
‚Sie find verruͤckt!
‚Nein, ich bin unterrichtet!‘
‚Zum Teufel, wovon find Ste unterrichtet!“
‚Daß Ihr Urgroßvater ein Kutſcher war und Leberecht Lampe
hieß."
„Gottvoll! Gottvoll!“ Ich mußte lachen.
„Jawohl, gottvoll, aber das Ende war natuͤrlich ein Hin- und
Hergeſchieße und fpäter die voͤllige In-die-Acht-Erflärung Gneo⸗
mars. Mein Vater war zulegt der einzige, der noch mit ihm ver ·
fehrte, und aud ber fat es nur, weil er den Alten für hberge-
ſchnappt hielt.“
„Und fo ging’s bis ans Ende Gneomars?“
„Bis ans Ende. Und bis fiber fein Ende hinaus. Denn auch
Die Witwe und Die Tochter find mie in Geſellſchaftsacht. Der Alte
hat zu viele beleidigt."
z· 115
„Hm. Und du meint nun aber, daß Fran und Fräulein v. 3.
nicht denen, wie der Alte gedacht hat?"
„Ja, das mein’ id). Und ich meine weiter noch, daß fie fehr froh
fein werben, wenn ein Sreier fommt. Eben, weil feine Hoffnung
befteht, daß von hier einer kommt.“
„Dante beftens. Pranfraz als faute de mieur. Du bift doch ein
Baron!"
„Du!! Aber du verfiehft mich ja doch! Du fonk ja auch nur
’mal bineinfehen. Kein Menſch zwingt dich, auch nur einen Ton
von deinen Plänen zu reden. Ich denfe einfach: fo ein Mädchen
aus alter Srundbefigers Familie müßte nicht übel als Frau für
einen fein, der ein bißchen zu wenig Bauernblut in ſich hat, und der
doch ein Bauer werden mil.”
„Du haft recht. Das beftärft mic) ja in dem Plane, und es
wäre mir fogar ganz vecht, wenn das Fräulein ein bißchen bie
Stebenzinfige fühlte. Ich verlange gar nicht allzuviel Annaͤherungs ·
trieb. Du weißt ſchon. Wir wollen getrennt Hof halten. Und ge
tabe auch das wird eine Adelige eher verfiehen, denn das ift ja ein
Vorzug der Ariftofraten, daß fie weniger an Sentimentalität, am
Beduͤrfnis nach Geflhlen leiden, als wir von der Bourgeoifie, Die
mir juft darum ſowohl gegen oben wie gegen unten im Nachteil
find. Die gemiffe Gefuͤhlsbreiigkeit, die das deutſche Bürgertum
auszeichnet, das iſt feine Hauptſchwaͤche.“
„Du möchteft einen 2eitartifel veden, Alter, aber es wird dir
nicht gelingen. Dort, das alte Dad) mit der Mooſdecke, da, hin»
ter den ſchoͤnen Buchen, das iſt Das Zurwenkenſche Haus. Wir
werden gleich am Parftor fein.”
* *
*
Ich habe meiner alten Gewohnheit, zu tagebuͤcheln, ein bißchen
arg gefrönt, indem Ih Dir das ganze Geſpraͤch hier wiedergegeben
116
habe; ich tat es, weil ih Dir Damit am beften auf Deinen Brief
au antworten glaubte, und weil es mir als eine fehr heilfame Dia»
nier erfeheint, fi den hinabgerollten Tag noch einmal im Worte
feft au halten. Ob ich's in einem Brief tue, oder in einem Tage:
buche, das bleibt fi) gleich. Das Bild fteigt noch ’mal auf, Du
uͤberblickſt es ruhig und kritiſch (mas Du der Wirklichfeit gegen-
über faft nie fannft), und nun weht es langſam fort von Dir,
wird kleiner und leiner, jegt in den Konturen verwaſchen, dann
auch in der Farbe fehleirig, und num iſt es weg.
Ich werde meinem Sohn das Tagebliheln angewöhnen. Es ift
eine Haus und Kammerfunft, feiner und wertvoller als Laub- '
fägen und Holsbrandmalerei — fogar dem Klavierfpielen iſt es
vorzugiehen.
* *
*
Und nun zu unferem.eigentlichen Beſuche im Haufe der beiden
Damen von Zurwenfen.
Das Parktor (ein altes ſchoͤnes fhphiebeeifernes Tor mit einem
fehr feinen Eittenornamente, hoch vornehm, reich) war verfhloffen.
Der Glodenzug war adgeriffen. Gottlieb klatſchte daher gebieterifch
mit der Peitſche.
Nach einer guten Weile erft fam ein alter Diener in fehr abge:
tragener, ganz altfränfifher Livree und in Kanonenftiefeln (!) den
Buchengang herunter auf das Tor zu, blieb sehn Schritt vor dem
Tor ftehen und rief unwirſch aus: „Wer iſt Da? Wer will hier was?"
Gottlieb antwortete Darauf mit Würde: „Der Herr Baron von
Birkicht ift da mit dem Herrn Dr. Graunzer aus Berlin!"
Darauf der Alte in den Kanonenftiefeln kehrt und langfam
den Buchengang hinauf. Langfam!
Wir fahen ung an und lachten, Gottlieb huftete vor Empoͤrung
und murmelte was vor fid hin.
117
teil der Stadt. Wir haben die Herren hier aus der Nähe kennen
gelernt und gefehen, daß ihre Adelsſchilde heutzutage von eitel
Pappe find. Und die Gefcheiteren unter ihnen wiſſen das und fiel»
ten das ‘Pappenwerf in die Edle. Dein
Dagobert.
Der zweite Brief an Dagobert
Birkicht im Altenburgfchen,
am 8. Juni.
Aber Dagobert!
Was Ift Dir In bie Buͤrgerkrone gefahren?
Ein Staatsanwalt, der wider den hriftlichen Adel deutſcher
Nation den flammenden Federhalter sit — ecce miraculum.
Jetzt glaub’ ich wirklich an Zeichen und Wunder.
Aber recht haft du trogdem nicht.
Ich win Die nicht langſchuͤrig erzählen, warum Du nicht recht
haft, denn da Du von Berufs wegen an Replifen gewöhnt biſt,
würden mir nie fertig werben. Ich fage nur foniel: was auf dem
Mifte, d. h. auf dem Lande, waͤchſt, ift befer, als was auf den
Steinen, d. h. in der Stadt waͤchſt, — das Miftwachfene iſt mir
lleber, als das Mißwachſene. Und: wenn der Abel, mie nicht ge
leugnet werben fol, zum fehr großen Teile nicht mehr die Bluͤte
am Baume ber Menſchheit darſtellt, fo ift juſt der Umſtand ſchuld
daran, daß er vielleicht entbauert, d. h. entwurzelt iſt. Die Leute,
von denen Du ſprichſt und Über die ich nicht viel anders denke,
wie Du, das find bie Paralelerfcheinungen zu dem Ackerknecht,
der in Die Stadt sieht und Dienftmann wird. Draußen ein freier,
herrlicher Schlag, drinnen verkuͤmmertes Zeug.
108
Hier mein Baron Birkicht, Das iſt ein Edelmann nach meinem
Sinne. Landjunfer, amtlos, frei und herrlich — ein abeliger
Menſch.
Mit Mutter Kunſt ſteht er auf demſelben guten Fuße, wie mit
Mutter Erde. Sie geben ihm beide das Beſte, was ſie haben.
Sein Korn iſt ſo gut, wie ſeine Thoma's, und ſeine Bibliothek
kann ſich gerade ſo ſehen laſſen, wie ſein Kuhſtall.
Sein keib lebt nach der alten brav probaten Landadelregel:
Sie Körner Agidi,
Haber, Gerfte Benebifti;
Se Flachs und Hanf Urbani,
Widen, Rüben Kilian,
Viti Kraut,
Erbſen Gregori,
infen Philippi Jakobi;
Grab Rüden Vincula Petri;
Schneid Kraut Simonis und Judaͤ;
Fang Wachteln Bartholomäiz
Bleib Stuben Kalixti
Trag Sperber Sirxti;
Heiz warm Natali bomini;
Iß Lammsbraten Blafül;
Guten Hering Oeuli mei;
Heb an Martini,
Zrinf Wein per circulum anni.
Daneben aber hat er auch einen Kalender für feine fanftfröh-
liche Seele, und Sanftus Apollo Mufagetes hat bei ihm ver-
ſchiedene Altäre, — mur daß er, gottlob, nicht felber in ſchlechten
Verſen oder uͤblen Bildern opfert.
Wirſt Du glauben, daß diefer Junker allaͤhrlich nach Münden
109
fährt, Bilder zu faufen, und daß er aflvierteljährlich große Buch»
haͤndlerrechnungen zu begleichen hat?
Du machſt ſchon den Mund auf zur Replik. Mach ihn nur
wieder zu. Laß mir meine Freude an dieſer einen Schwalbe, wenn
fie auch noch feinen Sommer macht.
Morgen fahren wir nad) Prorhaufen zu den 3.fchen Damen.
Dein
Sraunzer.
Zweites Zwifchenftück, in dem der merkwürdige Staats:
anwalt Prellerhahn wiederum am Adel Fein gutes
Haar läßt
Leipzig, am 9. Juni.
Jetzt wird mir's zu bunt, Krazt! Alſo aud in dieſe Schlinge
seht Du? Der Adel, ver ſich fur Kunſt, intereſſiert“! Na, ich Danfe!
Weißt Du, Deinen altenburgfchen Junker min ih Dir nicht
nehmen, ich will mich nicht lächerlich machen und beftreiten, daß
auch hier Ausnahmen möglich) find.
Im allgemeinen aber fage ich Dir das: Der deutſche Adel heu-
tiger Zeit hat sur Kunft hberhaupt fein Verhältnis, hoͤchſtens das
minerpaverfluchte des Dilettanten.
Möglich iſt nur das eine, daß er wieder 'mal eine Rode fpielen
will auf Koften der Kunft. Er kann nichts weiter, als begönnern,
aber auch das nur in einem ſchwaͤchlichen Sinne. Auch ift feine
Gunſt nichts mehr wert, denn er hat feine Macht. Und das iſt
gut. Denn eine adelbegoͤnnerte Kunſt, eine von biefem Adel ber
sönnerte Kunſt, wäre eine Kunf für höhere Hausknechte, eine
Kunft zwiſchen Trennſeilen, eine fluͤgelbeſchnittene Kunſt für den
Salonfäfig.
Weißt Du, wie der Kammerherr von Sedenborff am ı2. April
110
1776 Über die Weimarer Dichter an feinen Bruder ſchrieb, Da-
mals, als unfere große Literatur im Werden war? „Ees meffieurs
paraiſſent ſ'augmenter haque jour” — „Diefe Herren", — darin
liegt's: Die da, Die Eindringlinge!
Ad, geh mir mit dem Intereſſe unferer Apeligen für Kunſt.
Das hätte nur Wert, wenn unfere Adeligen Potenzen wären. Es
if, wenn es einmal in Die Erſcheinung tritt, nur Die angeborene
Dreiftigfeit, uͤberall mittun zu wollen. Vielleicht langweilt's den
einen ober andern einmal, Nefruten zu fommanbdieren, und fo
wollen ſie's mit Dichtern, Künftlern verſuchen. Ich finde das im ⸗
pertinent, denn biefes Unterfangen ſteht zu den Fähigkeiten biefer
Leute in einem zu großen &egenfage.
Ja, wenn fie beſcheiden wären, tie es ſich für fie gebührt, wenn
fie fagten: Seht, wir fönnen zwar nichts, aber wir haben Geld,
Namen, Anfehen und wollen damit der Kunft dienen, ohne ihr
befehlen zu wollen, — a la bonheur! Dann felen fie willkommen,
wie jeder Kunftfreund, auch wenn er bloß Lehmann heißt; aber
mit ihren unverfchämten Afpirationen fol man fie sum Tempel
binausjagen auf ihre Erersierpläge, in ihre Landratsſtuben, wo
ihrer Aufgaben harten, denen fie gewachſen find.
So, da haſt Dumeine Meinung uͤber Deinen kunſtfoͤrdernden Adel,
vor dem alle neun Muſen unſre Kunſt in Gnaden ſchuͤtzen mögen.
Ich bin Dein
Dagobert.
Der dritte Brief an Dagobert
Birficht, den 10. Juni.
Mein lieber Dagobert!
Nun höre, mein Freund, die Gedichte,
Wie ih fie dir treulich berichte,
111
Die Mär vom Beſuche bei Grau v. 3.
Und was für ein End’ er genommen hätt’.
Alfo . . . aber nein: Zuerft ein Hymnus auf Birfichts Fruͤh ·
ſtuͤckstiſch. Freilich, Ih kann nur lallen:
Goͤttlicher Kaffee, himmliſcher Sahne
Selig gepaart,
Goldener Honig auf blond-weiher Semmel,
Schmelgend und zart,
und nun, weil Die Verſe 'mal laufen, gleich weiter im Tert:
reis in der Linde
Harfen die Winde,
Über die Gräfer ſtreichelt ein Wehn,
Waldvogelrufe
Sqarrende Hufe,
Heute, men Herz, will ich freien gehn!
Nimm das als Ouvertüre. Ich hätt’ es auch in Profa fagen
fönnen, aber wenn mir die Dinge gar fo liebenswärbig um den
Bart gehen, wie geftern fruͤh (ſolche Sahne gibt’s überhaupt nur
im Altenburgfchen!), dann kann ich mir nicht helfen, dann muß
ic) mit geprägten Worten zahlen, Es ift mein Pech, wenn Die Praͤ⸗
sung zu wuͤnſchen übrig läßt.
Du meinft, es wär? Dein’s, weil id) Dir das Geprägte in Die
Hand drüde?
Ih, fo ſchmeiß' es doch weg, aber ſchimpf nicht!
Aber nun ungepraͤgt und ruhig im Trabe auf Schuſters pro+
fatfchen Rappen: wirklich himmliſch war Die Fahrt durch Birkichts
Reich. Der wachſende Segen rechts und links machte uns froͤhlich,
und wir fangen ſogar, — ein ſchoͤnes Lied:
Supjahup!
Die Pferde laufen immerzu,
Huhjahuh!
112
Sie laufen immerzu.
Der Gottlieb auf dem Bocke
Blaͤht ſich in feinem Rode,
Der Ro, der iſt ihm viel zu groß,
Im Winde flappt der rechte Schoß.
Huhjahub,
Er flattert immerzu.
Gottlieb fühlte ſich etwas geniert Durch dieſen anzuͤglichen Ge-
ſang in ſeinem Ruͤcken, aber richtig war's doch: Sein rechter
Rockſchoß flog im Winde, und da er rot gefuͤttert war, nahmen
wir das als ein gutes Omen.
„Du wirft ſehen, Panfrast, ich bringe Dich heute unter Die Haube.
An einem folden Tage gelingt fo was immer,“ fagte Birkicht.
Nee, nee, du, ich finde, Das Wetter ift zu fchön für ſo was.
Da liegt fein Stil dein. Es müßte Packſtrippen vegnen, dann hätt?
ich Mum dazu. Aber fo: das iſt bie reine Suggeftion von oben:
Gehet hin und mehret euch. Es fehlte bloß, daß heute der Tag ber
heiligen Felicitas wäre."
„Bas fhr 'ne Dame ift denn das wieder?"
„Das ift bie heilige Fürbitterin für Leute, bie einen Sohn ha»
ben wollen. Alfo meine eigentlichſte Patronin.“
„Heute brauchft du fie nicht. Heute geht’s auch fo."
„Dee, nee. Uber na ja: wenn’s heute fein ſoll: gut! Sag’ ’mal,
du kennſt alfo Fräulein von Zurwenken nicht perfönlich?""
„Paar ’mal gefehen. Ich fage Dir ja: Zwei Einſiedelweiber. Ihr
Gut ift ihre Welt."
„Hm. Alfo wohl fo 'n bißchen fehr duſter? Du verftehft mich:
nicht gerade uͤbermaͤßig geſcheit?
„Was faͤllt dir ein! Beſte Erziehung! Damenſtift. Da fehlt
nichts! Auch nicht etwa ungefellig, unangenehm! Gar nicht! Bloß
... na, ich will dir's erzählen.”
8 Bierbaum II 113
„Das ift wohl was Grausliches?“
„J nein doch! Alſo: der alte Zurwenken hat es, ein richtiges
Driginal, wie er war, verfianden, ſich mit aller Welt in Unfrieden
au fegen. War ein wunderlicher Kauz, Prozeßhengſt, laudator tem ⸗
poris act. Die Welt war ihm nicht mehr recht, die Nachbarn erft
recht nicht. Und furchtbar adelſtolz war er. ‚Nur nicht das Blut
verbünnen!“ war fein Wort."
„Und in fo 'ne Familie führft du einen pp. Graunger als Srei-
ersmann? Ich bin ja bie Verdünnung in Perſon.“
„Du ſollſt ja auch nicht den feligen Herrn Water heiraten.
Dem hätteft du allerdings nicht genügt, felbft wenn du mit einem
tabellofen Bon behaftet wärft. Für ihn gab es nur etwa drei Fa⸗
milien im Altenburgfchen, die er für zweifelsohne hielt. In allen
übrigen war nach feiner Meinung, die er leider auch ausſprach,
‚Verdünnung von unten‘, Und das iſt der Grund gemefen, wes ⸗
halb er ſich mit aler Welt verfeindete.
Der gute Gneomar — Gneomar hieß er! — mußte nämlich
von jedem Haufe was. Dort war im fiebzehnten Jahrhundert ’mal
mas mit einem Kutfcher gemwefen, da hatte um die Mitte des fech-
sehnten ein Stallknecht verduͤnnend gemirft, und wieder wo an-
ders war ein Komoͤdiant nachweisbar als derjenige welcher.”
„Ma: hatte Gneomar denn recht?"
„Hier und da wohl, aber meiftens waren es doch bloß alte, un«
beweisbare Geſchichten.
Es mar geradezu fein Sport, ſolche zu fammeln. Und hatte er
eine, fo forgte er ſchleunigſt dafuͤr, daß man fie erfuhr. Und swar
auf draftifche Weiſe.“
„Schieß os!"
13. 3.: Er trifft einen Herrn von X. Zufänig. In der Nefidenz
vielleicht. Auf dem Markte.
Fünf Schritte vor ihm bleibt er in feiner ganzen Länge ftehen,
114
sieht fein Stiellorgnon, hebt's langſam an die Augen, nimmt's
wieder ab, ſchuͤttelt den Kopf und fagt nichts als: ‚Mert—
würdig!‘
Der andere natuͤrlich auf Ihn Los. ‚Was it merfmürdig!‘
Gneomar nimmt wieder Die Stielbrine hoch, fieht fich den Mann
wieder an, fehlittelt wieder den Kopf und fagt wiederum: ‚Mert—
märdig!‘
Nun der andere, ſchon ſehr wuͤtend, nochmals: ‚Was, wenn’s
beliebt! Was !?·
D’rauf Gneomar:, Die Hände! Dieſe Hände! Oh! Oh! Sind
das adelige Hände?
Nun der xX. wieder: ‚Was unterftehen Sie fih! Wollen Sie
wohl belieben, deutlicher zu fein?“
Und nun Gneomar aufs gelaffenfie: ‚Das find Kutſcherhaͤnde,
mein Herr, vote, dicke, ungeſchlachte Kutfcherhände in der fünften
Generation.“
‚Ste find verruͤckt!·
‚Nein, ich Bin unterrichtet!‘
‚Zum Teufel, wovon find Ste unterrichtet!“
‚Daß Ihr Urgroßvater ein Kutſcher war und Leberecht Lampe
hieß."
„Gottvoll! Gottvoll!“ Ich mußte lachen.
„Jawohl, gottvoll, aber das Ende war natuͤrlich ein Hin- und
Hergeſchieße und fpäter die voͤllige In-Die-Acht-Erflärung Gneo-
mars. Mein Vater war zulegt der einzige, der noch mit ihm ver
fehrte, und auch der tat es nur, weil er den Alten für uͤberge⸗
ſchnappt hielt."
„Und fo ging’s bis ans Ende Gneomars ?“
„Dis ans Ende. Und bis über fein Ende hinaus. Denn auch
die Witwe und bie Tochter find wie in Geſellſchaftsacht. Der Alte
hat zu viele beleibigt."
z · 115
„Hm. Und du meinft nun aber, Daß rau und Fräulein v. 3.
nicht denfen, wie der Alte gedacht hat?"
„Ja, das mein’ ich. Und ich meine weiter noch, daß fie fehr froh
fein werden, wenn ein Sreier kommt. Eben, weil feine Hoffnung
befteht, daß von hier einer kommt.“
„Dante beftens. Pranfraz als faute de mieur. Du bift doch ein
Baron!’
„Du!! Aber du verſtehſt mich ja doch! Du fonft ja auch nur
’mal hineinfehen. Kein Menſch zwingt did, auch nur einen Ton
von deinen Plänen zu reden. Ich denfe einfach: fo ein Mädchen
aus alter Grundbefigers Familie muͤßte nicht übel als Frau für
einen fein, der ein bißchen zu wenig Bauernblut in ſich hat, und der
doch ein Bauer werben till.”
„Du haft recht. Das beftärft mid, ja in dem Plane, und es
märe mir fogar ganz recht, wenn das Fräulein ein bißchen die
Siebenzinfige fühlte. Ich verlange gar nicht allzuviel Annäherungs-
trieb. Du weißt ſchon. Wir wollen getrennt Hof halten. Und ge
rade auch das wird eine Adelige eher verfiehen, denn das tft ja ein
Vorzug der Ariftofraten, daß fie weniger an Sentimentalität, am
Beduͤrfnis nach Gefühlen leiden, als wir von der Bourgeoiſie, Die
mir juft Darum ſowohl gegen oben wie gegen unten im Nachteil
find. Die gewiſſe Geflhlsbreiigfeit, die Das deutſche Bürgertum
auszeichnet, das ift feine Hauptſchwäche.“
„Du möchten einen Leitartikel reden, Alter, aber es wird Dir
nicht gelingen. Dort, das alte Dad) mit der Moosdede, da, hin»
ter den ſchoͤnen Buchen, das iſt das Zurwenkenſche Haus. Wir
werben gleich am Parftor fein.”
* *
*
Ich habe meiner alten Gewohnheit, zu tagebuͤcheln, ein bißchen
arg gefroͤnt, indem ich Dir das ganze Gefpräch hier wiedergegeben
116
habe; ich tat es, weil ih Dir damit am beften auf Deinen Brief
zu antworten glaubte, und weil es mir als eine fehr heilfame Ma ⸗
nier erfcheint, ſich den hinabgerollten Tag noch einmal im Worte
feft zu halten. Ob ich's in einem Brief tue, ober in einem Tage-
buche, das bleibt fid) gleich. Das Bild fteigt noch 'mal auf, Du
uͤberblickſt es ruhig und kritiſch (mas Du der Wirklichkeit gegen»
über far nie kannſt), und nun weht es langfam fort von Dir,
wird kleiner und kleiner, jegt in den Konturen verwaſchen, dann
auch in der Farbe fehleirig, und nun iſt es weg.
Ich werde meinem Sohn das Tageblicheln angemöhnen. Es ift
eine Haus: und Kammerkunſt, feiner und wertvofer als Laub: '
fägen und Holbrandmalerei — fogar dem Klavierfpielen ift es
vorzustehen.
* *
*
Und nun zu unferem. eigentlichen Befuche im Haufe der beiden
Damen von Zurmenfen.
Das Parktor (ein altes ſchoͤnes fhpöiedeeifernes Tor mit einem
fehr feinen Eittenornamente, hoch vornehm, reich) war verfchloffen.
Der Glodenzug war abgeriffen. Gottlieb klatſchte Daher gebieteriſch
mit der Peitſche.
Nach) einer guten Weile erft fam ein alter Diener in fehr abge
tragener, ganz altfränfifcher Livree und in Kanonenftiefeln (!) den
Buchengang herunter auf das Tor zu, blieb sehn Schritt vor dem
Tor ftehen und rief unwirſch aus: „Wer iſt da? Wer win hier was?"
Gottlieb antwortete darauf mit Würde: „Der Herr Baron von
Birkicht it da mit dem Herrn Dr. Graunger aus Berlin!"
Darauf der Alte in den Kanonenftiefeln fehrt und langſam
den Buchengang hinauf. Langſam!
Bir fahen uns an und lachten, Gottlieb huftete vor Empörung
und murmelte was vor fi) hin.
117
Nach wieder einer guten Weile famen die Kanonenſtiefel das zweite ⸗
mal auf das Tor zu. Diesmal famen fie bis an das Tor heran, und
ber kleine Alte, den fie, fo fehlen es, vermöge eines finnreichen
Mechanismus vorwärtsbemegten, zielte mit einem alten großen
Schluͤſſel auf das Schlüffelloch.
Kein leichtes Ding das, hat man den Tatterich! Und der Alte
hatte ihn,
Sünfmal zielte er vergeblich, Das fechftemal traf er ins Loch.
Aber, wenn damit die Partie gewonnen gemefen wäre! Run galt
es den Schlüffel zu Drehen.
Der Altfräntifche gab fich redliche Mühe, Erſt mit der rechten
Hand afein, dann unter Zuhilfenahme der linken, ſchließlich hing
er feine ganze Leiblichfeit, inklufive der Kanonenftiefel, an den
Schluͤſſel. Vergeblich.
„Gottlieb, hilf!“ fagte Baron Birkicht, und Gottlieb kletterte
vom Bock. Nachdem es gelungen war, den Schluͤſſel wieder heraus⸗
zuziehen, galt es, ihn herauszureichen. Pech! Sein Bart war zu
Did, das Gitter zu eng. Der Altfränfifche mußte ihn übers Tor
werfen. O ja, das ift leicht gefagt, aber, mein Lieber, das Ding
mar ſchwer, und das Tor war hoch. Der unfelige Lafai fprang und
nahm Anlauf, was weiß ich, kurz, es gelang nicht.
Da, eine fehride Stimme aus dem Hintergrunde: „kLeberecht!“
„Bottegotte, Gotte nee!“ Feuchte der Alte, „Die Gnaͤdige ruft! Ih,
ber verfluchteSchlüffel! 3b, das verdammte Tor! Ih, du kuder, du!”
„eberecht!“
Es war, als gäbe dieſe Stimme dem Alten uͤbernatuͤrliche Kräfte.
Er ſchwang zweimal den rechten Arm, der Schlüffel flog hoch und
richtig: er blieb oben an der oberften Lilie Hängen.
Gottegottegottegotte,“ jammerte ber Alte, machte kehrt und
ließ fi) von feinen wildgewordenen Kanonenftiefeln den Gang
hinauftragen.
118
Da aber riß unferm Gottlieb der durchgeſcheuerte Faden ber
Geduld. Er fiuchte, grunzte, zog feinen Rotgefütterten aus, ſpuckte
in Die Hand und begann, an den fehmiedeeifernen Lilien emporzus
klettern.
Es wirkte beluſtigend und ſymboliſch auf mich. So kletterte,
ein philologiſcher Lakai, unſer Konrektor einſt am hohen Gebaͤude
einer Sophokleiſchen Tragoͤdie empor.
Er, naͤmlich Gottlieb, war juſt oben angelangt, da rauſchte was
Seidenes den Gang herunter, und es erſchien eine lange, duͤrre
Dame in einem gebluͤmten Seidenkleide. Spitz den Zeigefinger auf
Gottlieb gerichtet, die Augen aber auf Birkicht, rief fie: „Was
macht der Luͤmmel da 2"
Virkicht entſchuldigte ſich, Gottlieb erreichte gluͤcklich dasSchluͤſſel⸗
monſtrum, aber nun war auch feine Kontenance zum Teufel, er
ließ fich los und rutſchte mit feiner ganzen Vorderſeite (ein ſchmerz⸗
licher Anblich) die ſchmiedeeiſernen Lilien herunter. Ein Gluͤck, daß
nur ein paar Knöpfe plagten, es hätte auch feine Naſe draufgehen
koͤnnen. Indeſſen: den Schlüffel hatte er, und nun war etwas
immerhin gewonnen.
Gottlieb ſchloß auf, wir fchritten Durchs Tor.
Srau von Zurwenken (denn das war die Seidene) zeigte ſich
gnädiger, ald wir nad) ihrem Entree erwartet hatten.
Dem Baron gab fie fogar die Hand.
Der ersählte nun eine Geſchichte, Daß ich Über feine Erfindungs-
gabe ſtaunte. Ich hörte mit Verwunderung, dag ich ein berühmter
Hiſtoriker ſei, der augenblicklich Altenburg bereifte, um Spestal-
forfhungen anzufteilen, und er, Birficht, hätte mich hier einführen
wollen, weil im Familienarchiv derer von Zurmenfen wichtige
Dofumente auch von algemeinem Intereſſe fein möchten.
Die Gnädige fehüttelt das Haupt: „Unſere Dofumente, lieber
Baron, koͤnnen nicht eingefehen werden. Die Geſchichte unferer
19
Familie tft Die Geſchichte unferer Familie, und nur unfere Familie
fo diefe Geſchichte leſen!“
Alberne Schachtel! dachte ich, und ich fah in Birfichts Augen,
daß er dasſelbe Dachte.
In Worten aber drüdte ſich dieſer Gedanfe bei ihm fo aus: „Ob,
ob, wie ſchade, gnäbigfte Frau. Aber natuͤrlich: Die Anfchauungen
Shrer Familie gehen vor. Ich bitte vielmals um Verzeihung, dag
wir ſoviel Störung verurfacht haben, wie wollen ..“
„Aber, lieber Baron, ich bitte fehr! Sie fiehen auf unferm
Grund und Boden! So ſchnell dürfen Sie nicht fort, Sie, der
Sohn des einzigen Freundes meines Gneomar. Rein! Nein! Wenn
wir auch leider nicht in der Lage find, Ihrem gelehrten Freunde
unfer Archiv zu öffnen, fo wollen mir doch nicht ermangeln, Sie
und ihn freundlichft in unferm Haufe zu bewillkommnen.“
Iſt denn Feine Verſenkung bier, dachte ich bei mir felber; ift
denn feine Flucht möglich? Som ich bei lebendigem Leibe aufge
redet werden?
Und Birkicht dachte dasfelbe, aber er ſprach mie folgt: „Zu
gnaͤdig, gnädigfte Fran, wir fürchten inbeffen, laͤſtig...“
„Nicht doch, nicht doch. Sie wiffen, meine Tochter und ich find
flets erfreut und werben ſtets erfreut fein, wenn Sie, der Sohn
des einzigen Sreundes meines Gneomar, unfer Haus beſuchen,
und mit Ihnen jeder, der fih Ihrer Freundſchaft erfreut und
dadurch auch unferer freundlichen Gefinnungen ftets ſicher fein
kann.“
„Reberecht!""
Die Kanonenftiefeln galoppierten herbei.
„Geh dem da zur Hand!"
„Der da’ war Gottlieb.
Klothilde wird fich heralich freuen, lieber Baron, wenn fie fieht,
wen ic} bringe. Ste malt eben.”
120
Es war, wie wenn eine elferne Hand plöglic aus den Riefen-
mipfeln herabführe und mir eine ſchallende Ohrfeige verfegte.
Sie malt! Klothilde malt! Hörft du, Birficht! Klothilde malt!
Und in Diefen Abgrund haft du mich gelockt! An dieſem herrlichen
Tage! Pfui! ſchaͤme dich, Birficht!
Schließlich ſchlaͤgt fie noch Die Harfe und ſingt dazu Hausmacher ⸗
balladen!
Dooo!
Birficht mußte mir meine Verzweiflung anfehen, denn er beeilte
ſich, mir zu zeigen, wie voͤllig unbefannt er mit dieſer kuͤnſtleriſchen
Neigung Klothildeng fei, indem er im Tone des höchften Erſtaunens
ſprach: „Wie, fie malt? Mir voͤllig neu! Oh, ich bin geſpannt.“
Ich auch! grunzte meine Seele. -
Na, mein Lieber, wir fahen, was fie malte!
Die Gnädige führte ung geradewegs in das jungfräuliche Ate-
Bier, und wir hatten die Ehre und das Vergnügen, Fräulein Klo»
thilde zu erbliden, noch ehe fie felbft unferer Gegenwart gewahr
geworden war.
Wir fahen alfo zuvoͤrderſt eine Lange (fehr lange), ſchmale (fehr
female) Ruͤckſeite eines weiblichen Wefens, das in verſchoſſen
blauen Samt gefleivet war und fi) eines lang hinabwallenden
Haupthaares erfreute, wie weiland Abfalom, der Königsfohn.
Aber während jener Prinz, ſchaͤtz ich, hebraͤiſchſchwarzhaarig
geweſen ift, war Fräulein Klothilde eine von jenen Blondinen, für
deren Haarfarbe man das Prädifat „impertinent»blond“ geprägt
Weist Du, fo ein roftiges Rot, Das man fich fürchtet anzugreifen,
weil man bangt, es koͤnnte eleftrifche Schläge austeilen.
Ich win nichts gegen dieſes Not fagen. Es Fann eine ſchoͤne
Sache fein. Unzweifelhaft. Aber aufdem verfchoffenen blauen Samt
ſah es himmelfchreiend aus. Wie eine Milchſtraße von Sommer
121
fproffen auf einem blaugefottenen Wal. Und dabei ſchaute es her,
wie wenn es vom Theaterfrifeur bezogen wäre.
Es führte mir ſogleich die Aſſoziation zu: Klothilde hat auch
vorn Sommerfproffen. Und richtig! Wie fie fich ummenbete, war
das erfle, was ich fah, Daß ihre Haare gewiſſermaßen durchgefaͤrbt
hatten, durch den ganzen Kopf durch, bis vorn auf Stirn und Baden.
Sie wandte ſich alfo um. Die Gnädige hatte die Glastuͤr, durch
die wir das Sarbenduen Verſchoſſenblau fontra Roſtrot gefehen
hatten, aufgeflinft, und diefer Ton hatte Fräulein Klothilde einen
Nud gegeben.
Alle Wetter, mas machte das Malmaͤdchen fr ein paar wuͤtende
Augen. Ich wollte gewettet haben, daß fie etwas Unliebenswür«
Diges fagen wollte, aber, wie fie neben der Gnaͤdigen ung zwei fah,
verfüßte fi) das gefprenfelte Antlig, und es floffen die aflerholde-
ſten Worte von ben Lippen, bie eben noch das Sprungbrett für
ärgerliche Töne fein ſollten.
Daß id) es nun mit einem Worte fage, welchen Eindrud Sräu-
lein Klothilde auf ung machte: Sauer.
Wäre ihr Wappen nicht alt genug, ich gäbe ihr einen Holzapfel
hinein. Vielleicht einen Fandierten Holzapfel, denn fie gebärbete ſich
füß genug. Aber man merfte zu ſchnell, daß das bloß Überzug, Zuf-
ferbäderarbeit, nicht Natur war.
Übrigens: ſchlechte Zuckerbaͤckerarbeit war auch ihre Malerei.
Alle guten Geiſter! Eine Ritterdame mit einem Falken hatte fie
hingefteichelt, daß man hätte um Gnade flehen mögen.
Siehſt Du, Alter, wie ich das fah, da fagte Ich mir: Das gute
Dresdener Gaͤnschen mitihren Häfelgreulichfeiten und dieſes federn»
arme Wappenpfauweibchen mit feinen Pinfelgreueln, das ift im
Grunde biefelbe unvornehme Spezies moderner Weiblichkeit; ober:
Beide find gleichwertige Nuancen auf dem fatalen Bilde deſſen,
mas man heute Weib nennt,
122
AN das Gemächte, was fie hervorbringen, hat den gemeinfamen
Zug des abfolut Gemöhnlichen. Dort der Sumpf der Gemuͤtlich ·
feit, hier ein Gänfegefchnatter in Farben.
Und mit fo mas fon ich Das glorreiche Geſchlecht der Graunzer
fortgeugen?
Eher Eunuch!
Jetzt wirft Du wohl befriedigt fein, Staatsanwalt mit dem
Buͤrgerſtolze.
Aber es war wirklich keine Gefahr vorhanden, daß die Haͤuſer
Graunjer und Zurwenken ſich vereinigten. Denn ſobald Dame
Klothilde vernommen hatte, daß ich vonlos war, ward ich fuͤr ſie
weſenlos.
Es war, als wenn jede einzelne ihrer Sommerſproſſen mir ent»
gegenflammte: Geh’ Er in die Gefindeftube!
Nicht fo, daß man mich unartig behandelt hätte, — gewiß nicht.
Aber im Tone der Worte, im Lächeln der Lippen, in den Bes
megungen des Kopfes mar mir gegenüber ein gemiffes Etwas
von Abfchägigkeit, das nur ein Dickhaͤuter nicht hätte fühlen
koͤnnen.
Dem guten Birkicht war das ſichtlich fatal, denn er hatte wohl
eine Weile die Empfindung, ich möchte mich daruͤber ärgern, aber
ſchließlich genoß er wie ih nur den Humor Davon.
Freilich! es gibt beffere Humore. Diefer da war halt auch —
feuer, und das fo der Humor nicht fein. Es mar ihm zu viel Dit-
leid beigemengt.
Mein Gott, dacht’ ich mir, Effig ftatt Blut in den Adern zu
haben, muß doc) recht unangenehm fein, und fei es immerhin —
blauer Effig.
Ürgerlich war mir nur, Daß wir den fehönen Srühlingstag fo
ſchnoͤde verloren hatten.
Als wir heimfuhren, fangen wir nicht mehr Hu — ja — juh,
123
fondern vebeten tieffinnig und nicht ohne Melancholie von dem
Thema Adelsmenfch.
Als ich aber einmal gefagt hatte „Das Adelsmenſch“, da bat
ich den herrlichen Baron doch um Verzeihung und machte mir
felber Vorwürfe darüber, dag, wie ich num merfte, wirklich der
Buͤrgerliche in mir ſich hatte beleidigt fühlen fönnen, während ich
doc anftändigermeife immer bloß Menſch hätte bleiben und als
ſolcher lächeln und verzeihen follen.
Die armen Zweie!
Es hat mich maulhenkoliſch gemacht.
Dein
Graunjer.
uͤbrigens! Du biſt ja der leibhaftige Feuerſpeier wider den chriſt ·
lichen Abel deutſcher Nation. Dir muß 'mal ein ganz infamer
Burſche mit einem Pappetvagen über den Weg gelaufen fein, denn,
weißt Du, fehr objeftin klingt Dein Gezeter nicht. Da grollt irgend ·
ein böfes Erlebnis heraus, das noch nicht in Humor mariniert ift.
Staatsanwalt! Menſch! Philoſoph! Wie kann man fo ungerecht
fein! So kleinlich ungerecht! Geh, laß den Burſchen laufen, der
Did) geärgert hat. Lach? hinter ihm her und ſchimpf' nicht auf alle,
die feines Standes find. “
Ich hab’ 'mal einen „Nat an einen Rieſen“ gelefen, der hieß fo:
Sie machen die Luft dir dumpf und ſchwer,
Die zeternden Zwerge?
rach ihnen Abſchied! Fahr' über das Meer,
Steig’ über die Verge!
Doch che du gehft, nimm einen am Ohr
Und ſchůttel ihn leiſe.
Weh, Rieſe, der den Humor verlor!
Gluͤc auf die Reife!
Beutel’ den, der Dich ärgert, aber fei gerecht! ne
124
XVII
Ein Stuͤck aus Heren Graunzers Reifetagebuche, wun⸗
derlich überfchrieben: Pas de deug getanzt von meinen
verehrlichen beiden Seelen.
Die eine: Unfer guter Graunzer macht ein uͤbel Geſicht die letzte
Zeit her. Was fehlt ihm wohl?
Die andere: Rh, — du machſt ihm Kopfweh!
Die eine: Alfo ih! Sehr fhön! Ich! Wäre der Mann nicht
fo unklar, ich würd’ ihn fragen, wer von ung beiden ihm beſchwer ⸗
licher fänt: ich, Die Wünfcherin, oder du, der Sandfad, du, ber
Geift der Schwere, du mit dem ewigen Lelerliede: Laſſen wir's
beim alten!
Die andere: Sagten Sie was? Bitte: Schimpfen Sie ruhig
meiter! Ich weiß, mas ich weiß; ich weiß, mas Ich fol; ich weiß,
was ich witz ich tu’, mas ich muß!
Die eine: Und das wäre?
Die andere: Ich weiß, daß Graunzer ein Sitzfleiſchmenſch ift;
ich weiß, Daß ich ihn am Herumgehupf hindern ſoll, wozu Ste ihn
gern verleiten möchten; ich weiß, daß ich deshalb feinen hoͤchſt⸗
ehrenwerten Trieb nad) dem Kanapee fräftigen win; ic) tu’, was
mir dies Wiffen, Sollen und Wollen gebietet.
Die eine: Und ich werde mein moͤglichſtes tun, Euch entgegen-
zuwirken, Verehrtefte, und wenn ich Raketen abbrennen folte un-
ter dem pp. Sraungerifchen Siefleifh. Springen fon er, wie ein
blutluſtiger Floh, der Brave, und fein Sie ſicher, ich werde für
Stecknadeln in dem Kanapee forgen, auf das er ſich etwa nieder
laſſen forte. Ih!
Die andere: Haͤhaͤl Mir gehört er, der Panfraz! Und wenn er
erft eine Frau hat, wird er noch mehr mir gehören.
125
Die eine: Aber er wird feine Frau haben!
Die andere: Wetten?
Die eine: Ich wette bloß mit anftändigen Leuten.
Die andere: Das nehmen Sie zuruͤck!
Die eine: Faͤllt mir nicht ein!
Die andere: Sie find ein... .
Die eine: Was bin ih?
(Sie geraten fid) in Die Haare und walten einander. Aus dem
Unterbemwußtfein droͤhnt ein gewaltiges Duos ego! Panfrazius be:
gibt fich in eine Weinftube und ertränft feine beiden Seelen in drei
Flaſchen Burgunder Nuits.)
*
Regiebemerkung zu dieſem Ballett: So darf nicht weiter getanzt
werben! Bei Diefer Kampelei geht alles in die Brüche. Dan muß
eine neue Prima Ballerina anftellen. Das Weibsvolf hat feine
Zucht mehr.
* *
*
Nein, auch ohne Bild geſprochen, ſo geht's nicht weiter! Dieſe
unſelige Idee mit dem Heiraten hat mich aus Rand und Band
gebracht.
Das beſte waͤre, ich geb' ihr den Abſchied. Es iſt ja ein Unſinn!
Ich finde ja doch nicht, mas ich ſuche.
Und, zum Teufel, braucht man zu einem Sohne denn eine fo-
pulierte Srau? Tut's nicht auch eine andere?
Put, Graunzer! Du biſt Doch ein Gutshefiger! Wie kann man
fo wenig Stilgefühl haben! Eine milde Ehe, ein bloßes Dulti-
plicaminiverhältnis, Das geht in der Stadt, bei Literaten, Künft-
lern und anderen Anarchiſten, aber auf dem Lande, nein, da geht’s
nicht, — wenigſtens doch nicht fo offisiel coram Hansjoͤrg und
Ehrifttane! Abgelehnt! Wir bleiben bei der Stange der Moral.
126
Ha, wie das wohltut! Ya, ja, gute Taten wirken belebend wie
Magenbitter!
Alfo nun weiter herumgefahren in der Welt und eine Frau
geſucht?
Scheußlich! Scheußlich!
In was fuͤr ſchmierige Toͤpfe werd' ich noch greifen muͤſſen!
Wie waͤr's, wenn ich bloß führe und nicht ſuchte?
Vielleicht fänd’ ich gerade dann?
Sehr ſchoͤn gefagt, Panfrazi! Sehr fhön gefagt und leidlich
parabor!
Alle Achtung!
Aber es bleibt bei der neuen Prima Ballerina?
Es bleibt dabei... .
Hol's der Teufel!
XVII.
Herr Pankrazius Graunger reift nach Nürnberg, badet
ſich in Deutſchtum, lernt eine feelenfefte Witwe Eennen
und berichtet über all dies feinem Freunde Herrn Peter
Kahle in mehreren Briefen
Der erfte Brief aus Nürnberg
Mein vielgeliebter Peter!
Du bift ſchwarnweiß · rot, und ich bin ſchwarnweiß · rot, und
wenn uns beide jemand Reichsfeind nennt, ſo bismarcken wir ihm
eins, daß er ſich's fünftig überlegt, einem teutoniſchen Teufel auf
den Schwanz zu treten.
127
Denn, nicht mahr, wir waren beide fünfehn Jahre alt, wie
der große Rummel Iosging, su dem der glorreiche Junker die Pauke
flug, und wir haben es als Fühlende miterlebt, wie der Sturm
die deutfchen Völker sufammenfegte, und fo mas bleibt in ber
Seele figen.
Alfo: wir lieben das Reich, und mir wollen nicht von ihm
laſſen.
Aber, wenn wir und recht auf Herz und Nieren prüfen, ich
glaube, wir müffen ung dann geftehen, daß ein recht Dider Boben-
fag von Nichtbehagen am Grunde diefer Liebe liegt.
Du lieber Gott, bei feftlichen Gelegenheiten, wenn die Flaggen
wimpeln, da fieht e8 ja recht luſtig aus, Das Reichsgebaͤude, aber
wenn bie Fahnen eingesogen find, hol’ mich der Teufel: wie nüch-
tern und riffig dann die Faſſade herſchaut. Schießfcharten find ihr
hauptfächliher Schmuck, und die Bedeutung des Bajonetts als
Drnament wird uns recht bligend ab oculos demonftriert. Aber
eigentlich deutſch fieht mir das nicht aus.
Ich möchte wiſſen, was Goethe fagen würde, ſahe er dieſe
Unteroffistersardhiteftur. Und wenn er gar hinter die Faſſade ſaͤhe ...
Gott behuͤte mich vor Nörgelei, aber mein Deutfchgefühl fommt
nicht ganz auf feine Koften in dieſem Deutfchen Reiche.
Mir fommt das alles fo ohne deutſche Seele vor, es iſt ales
fo über einen Leiften gefchlagen, alles fo abgerichtet und nad) der
Parabelinie gesogen, ich fehe zu wenig perfönliche Kanten, zu viele
Uniformen und zu wenig Menfchen.
Sieh Dir ’mal, bitte, Berlin an. Ein Allerweltsneſt, aber feine
Hauptftadt des Deutſchtums.
Und unfre Kunft, zumal die angewandte, Die Kunft im Leben,
und unfre Literatur (ich fürchte mich, Dichtung zu fagen), ſoweit
fie in irgendeinem Grade populär ift, unfer Theater, — Gott ſteh'
mir bei: iſt das nicht alles eine Karikatur der deutſchen Art?
128
Nein, wer heute Deutfchtum genießen will, muß aus der Gegen ·
wart und möglichft weit von Berlin weg fliehen.
In alten Städten, mo deutfches Weſen einmal reich lebendig
geweſen it, fehen mir mit Staunen, was flr Kerls unfere Vor ·
fahren geweſen find, und was für einen Abrutſch wir gemacht ha ·
ben, wir, die mir mehr als die Deutfchen irgendeiner anderen Zeit
das Wort deutſch im Munde führen. Mauldeutſch find wir, nicht
berzbeutfch.
Nirgends aber wird ung der nationale Abfutſch fo deutlich, wie
in Nürnberg, nirgends anderswo meitet ſich fo Dein Herz im
Stolsgefühle, einer großen Nation, wenn auch nur als verkruͤp⸗
pelter Enkel, anzugehören, wie hier. Aber die Scham iſt der Schat-
ten, ben biefer Stolz wirft, und ein Schubbejad wäre, wer in
biefem Schatten ruhen wollte.
Darum hat ein Aufenthalt in diefer alten, herrlichen Burg-
ſtadt deutfcher Großart etwas Aufpeitfchendes, fo angenehm er
ung aud mit Träumen umgibt, und fo wohl er es ung in biefem
Träumen fein läßt.
Wir müfen nieder auf eine folche Volkshoͤhe, wie es die war,
auf der eine ſolche Kunft, ein folches Leben, eine ſolche Stärke,
Echtheit und Klarheit gedieh.
Das war beutfche Kultur, das war Wohnen in deutſchem
Geifte, das war deutsches Leben.
Diefe Leute, die das hinterlaſſen haben, waren nicht ſchneidig,
die waren mannhaft, aber fein dabei, ganze, freie, fehaffende
Menſchen, ihrer felbft bewußt, Herren aus eigener Art, Herren
auf eigenen Wegen, Kerls mit Gefihtern, nicht Puppen mit
Larven.
Jeder Erkerſaͤulenknauf hier ſpricht, wo im Neudeutſchen ganze
Straßen nur eine geſchwollene Phraſe ſind.
Ich glaube, jeder Schuſter, auch wenn er nicht Hans Sachs
9 Bierbaum II 129
rl
hieß, fühlte zu jener Zeit hier mehr deutfche Kunft, als heute ein,
fagen wir ’mal, um ung nicht zu vergaloppieren, Geheimrat.
Wird’s beffer? Es gibt gläubige Seelen, die's behaupten, und
ich habe von ferne allerlei Kunde vernommen, als rege es fidh in
der jüngeren Generation, nachdem fie Durch mancherlei Suͤmpfe,
deren Namen immer auf ⸗ismus endigen, gefchritten iſt, wieder zu
einem fchaffenden Leben im Heiligen Geifte der alten beutfchen
Kunſtkraft, die die Welt verftand, aber ſich felbft nie vergaß.
Wenn dem fo ift, dann Heil Diefen Jungen!
Es wäre herrlich, wenn unfern alten Tagen eine neue Wieder
geburt, eine beutfche Renaiffance modernen &epräges beſchieden
wäre.
* *
*
So. Da hätt? ich) mein alt’ Stedenpferd wieder ’mal galoppen
laffen.
Set mir nicht böfe drum!
Zumeilen muß ich mir Luft machen, und wenn ich Dürer fehe,
möcht? ich am liebſten fehrelen und vor Freuden um mich fchlagen.
Schreiben aber wollt' ich Dir eigentlich von mas anderem.
Naͤmlich ...
Ja, naͤmlich!
Hoͤre!
Ich glaube, ich habe fie!
Du fragft Doch hoffentlich nicht: Wen?
Es wäre über die Maßen ſcheußlich von Dir, wenn Du fo su
fragen vermoͤchteſt.
Wenn ic) „fie” fage, fo meine ich jetzt ſtets meine Zufünftige,
genauer gefagt, die Mutter meiner zukünftigen Kinder. (Gott,
Du, wenn das mütterlicherfeits Rürnberger, quafi Duͤrerſche Kin-
der wären, — es wäre herrlich! Ein bißchen krank' ich Doch noch
130
am Glauben an die Vererbungstheorie, Die mic) in die Nähe der
roſtrot Säuerlihen geführt hat, von der ich Dir kurz berichtet
babe.)
* *
*
Ich war natürlich nicht nad) Nürnberg gefahren, um hier eine
Frau zu ſuchen.
Im Gegenteil, ich wollte mic) auf ein paar Tage von biefer
ſchrecklichen firen Idee befreien, die mich furchtbarerweiſe in Klau'
und Krallen hat.
Und ich dachte auch richtig an nichts Schlimmes die ganze Zeit,
war vielmehr rechtſchaffen glücklich im Anfchauen dieſer altjungen
deutſchen Herrlichkeiten, bie ſich um fo koͤſtlicher ausnehmen, da
der Fruͤhling ſie umwoben und in gruͤnen Banden hat.
Mit jungem Grün ſchmuͤdt ſich der Mat;
Das blicke fo zag
In den hellen Tag,
Als 0b es fremd auf dieſer Erde ſei.
Nun iſt es freilich ſchon Juni, aber wenn es mir recht frühling-
lich zumute ift, mai't mich's. Das muß ein lyriſcher Atavismus
ſein, und ich empfehle es ſtrebſamen jungen Literarhiſtorikern als
ergiebiges Thema, nachzuforſchen, worauf ſich die Malwut der
deutſchen Dichter und Eyrifpilettanten zuruͤckfuͤhrt.
Übrigens hindert mich mein Maigefuͤhl nicht, mit befonderer
Freude zu beobachten, wie aus einem Senfter der alten Kaiſerburg
ein ſalva venta Nachttopf in den Wallgraben entleert wurde, mich
mutete biefer fonnenbeftrahlte Guß vielmehr angenehm charakteri-
ſtiſch, mittelalterlich ungeniert an, gerabefo, wie es mir ein fräftt-
ges Bild der Vergangenheit gab, als ich auf einem Teile der alten
Burgmauer die koͤniglich bayriſchen Artideriepferde das Gras ab-
rupfen fah, das aus den alten Mauerrigen herausgrünt. Die gu-
g 131
ten bayrifchen Jungen in ihren Drillichjacken fahen zwar weder
wie Ritter noch wie Kappen aus, aber doch gut deutfch derbe,
und, je nun, ich tat dazu, mag fehlte, und freute mich des Bilbchens.
Das iſt uͤberhaupt fo koͤſtlich hier, daß das Leben ſchoͤne Bilder gibt.
. Wie wunderbar ſich der alte Turmwaͤchter auf der Burg machte,
ber, feine Pfeife ſchief im Mundwinkel, durch feine Luke herunter»
ſah auf die giebelige Stadt.
Er winfte mir.
Ich fon hinauf und auch mit auf die Dächer gucken ? Aber na-
thrlih! Warum denn nicht?
Und nun eine halbe Stunde oben durch die Luken geſchaut.
Wie das alles ſchoͤn if, da unten. Das Rot der Giebel, das
Grün des Frühlings, die ſchoͤnen Formen der reicheren unter den
alten Gebäuden, das Turmmerf da und bort, dann ein Blick in
die wimmelnden Gaſſen, — nah und ferne ſchoͤnes Bild an ſchoͤ⸗
nem Bilde.
Nur eins förte mich: auf einem Giebel eine wunderlich un-
ſchoͤne, ſchwarz berußte Statue. Alfo auch unfere Altvorderen
waren nicht ganz frei von jenem ruppigen Naturalismus, der es
"nicht verfteht aufammenzuflgen, der bloß au fopieren, nicht zu
ſchaffen weiß... Wie ich näher hinfah, war's ein lebendiger
Effenfehrer, der nur eben ſtille ftand. Mir fiel, wie ich diefen Irr⸗
tum gewahrte und mich freute, daß ber Kerl lebendig und fein
ſchlechtes Stuͤck Kunft war, einiges über Naturalismus ein, diefe
Stimmmwechfelpertode der Kunft, die mit den Rüpeljahren zuſam ⸗
menfänt. Deine Gedanken verdichteten ſich in einem kleinen Spruch,
deffen Mitteilung ich in Hulden hinzunehmen bitte:
Ein jeder Dann hat feine Rüpeljapr’:
Der wird kein ganzer Kerl, der nie ein Rüpel war.
Nur freilich, daß es geht, fo wie man’s treibt:
Mancher fein Lebtag bloß cin Rüpel bleibt.
132
Wie ich den Turm wieder hinunter und dann hinab in die
Stadt ging, hatt’ ich mich fo in die Einbildung des alten Nürnberg
hineingelebt, daß ich mich fehler wunderte, einen Spazierftod und
nicht einen Spieß in der Hand zu tragen:
Mit meinen Speeren
DIL ich did) ehren,
Mit meinen Schwerten
DIL id) dich werten,
Mit Stehen und Dauen
Will ic) dir trauen,
Dar Feind!
Ein guter Zufall wollt' es, Daß ich in der Senſenſchmiedgaſſe
an einem kleinen alten Hanfe vorlberfam, in deſſen Erbgefchoß-
ſtube fi) zwei junge Jonglenre übten. Sie hatten abgeſchabte
Trifots an und machten erftaunlich ernſte Gefichter, während fie
fi die Meffingfugeln zuwarfen.
Da hatt’ ich nun auch fahrende Leute zu meinem Bilde.
Ich wurde unglaublich vergnügt, ich fühlte mich fo herahaft
fröhlich deutſch, und ich ging ins Bratwurſtgloͤckle und tranf mit
Dürer und Hans Sachs Brüderfchaft.
Was wunderbar Heimlihes hat die Schenke, die fi) an die
Kirche anfchmiegt. Sie klebt an dem großen Gebäu, wie Die Balg-
treterftube an der Orgel, und wenn ich das Glas an den Mund
feste, tat ich's mit Bälgetreterwichtigfeit.
* *
*
Hm, ja: Mit dem Glauben faͤngt's an windig zu werben im
Reiche, aber der Durft ift der alte geblieben.
Stimme aus dem Kruge: Das macht, weil ihn fein Geiſtlicher
teformieren hat mol’n.
133
Hm, ja: Wenn mit dem Glauben nur nicht auch die Kunft flöten
gegangen wäre.
Stimme aus dem Kruge: Hat eine Religion die andere mitgehen
heißen.
Hm, ja: Vielleicht muͤſſen wir aufs nene glauben, um aufs neue
eine richtige Kunft aus dem Grunde wieder zu befommen?
Stimme aus dem Kruge: Mathematif tut's freilich nicht.
Hm, ja: Ob es dazumal, als das deutſche Wefen blühte, in
Deutſchland wohl auch das gab, was man heute vergeblich fucht:
Weiber, die wirflich Weiber find, Weiber aus dem Grunde, blog
Weiber und ganz und gar nichts anderes als Weiber?
Stimme aus dem Kruge: Dan moͤcht's wohl glauben, wenn
man „Das große Gluͤck“ des großen Albrecht fieht. Aber ficher
ift: e8 gab Maͤnner dazumal, wirkliche Deänner.
Hm, ja: So find denn alfo aud mir in der Defadenz, wir
Deutſchen .. .?
Stimme aus dem Kruge: Mumpig! Neurafthenif ſeid Ihr,
aber Pfarrer Kneipps Gießfanne wird euch wieder auf den Damm
bringen, fie und ein bißchen Willensſtaͤmmigkeit. Die Defadenz iſt
bloß ein Iiterarifcher Trick. Übrigens feiner von den unamlfan«
ten. Er mußte kommen, nachdem euch der Naturalismus abge
lauft hatte.
Hm, ja: Ich daͤchte, wir gingen hindber ins Poſthoͤrnlein, zum
Wein?
Stimme aus dem Kruge: Das woll'n wir. Hoho! Auf und an!
Willensſtaͤmmig!
* *
Ja, mein lieber Peter, das find fo Balgtreterſtubengeſpraͤche.
Ich hätte fie im Pofthörnlein, diefer uralten und urgemütlichen
Weinftube, fiherlich fortgefest, maßen der Rappott zwiſchen mir
134
und dem Dann im Kruge ganz außergewöhnlich gut war, aber ich
traf dort, ganz wider Erwarten, meinen alten Inſtitutskameraden
Paul Poffer, der in dieſer ſchoͤnen Stadt das ſchoͤne Gewerbe eines
Pinfeldilettanten betreibt, und mit dieſem mir fehr lieben Manne
hatt? ich vielzuviel zu erzählen und zu berichten, als dag ich flr-
der mit dem Krügler hätte Zwieſprach pflegen koͤnnen.
Da das Gefpräch mit Poffer für meine augenblicklichen Pläne
gang befonders wichtig geworben ift, möcht’ ich Dir gerne ſogleich
darüber berichten, zumal, da Du wahrſcheinlich begierig Bift, den
Kommentar zu meinem „Ich glaube, ich habe fie” au erfahren;
aber diefer Brief ift bereits fo über alle Maßen in die Breite ge
gangen, daß ich ihn billig fchliegen muß, denn meine Singer fehnen
ſich vom Federhalter weg
Zum Kruge, dem blanken,
Dem Baud) voll Gedanken.
Und was für eine fhöne Nacht heut über dem alten Nürnberg
liegt! Sch muß zur Burg hinauf, mir anzufehen, was der Mond
zu Nürnberg fagt, und dann ins Pofthörnlein wiederum hinab, zu
laufchen, mas ber im Kruge zu meinen legten Erlebniffen meint.
uͤber diefe felbft morgen.
Ich bin Dein froͤhlicher
Krai.
Der zweite Brief aus Nürnberg
Alfo nun, mein lieber Peter, das Eigentliche! Du mußt mir bie
lange Einleitung dazu im vorigen Briefe ſchon nachfehen. Wer kaͤme
bier nicht ins Schwärmen!
Heute win ich aber nach Möglichkeit an mich halten und blog
135
sur Sache, will fagen: zur Frau verwitweten Matthaͤi, geb. Franke ·
beil reben.
Das ift nämlich fie.
Ah, eine Witwe! Ich fehe Dich grinfen, mein Beſter, aber laß
nur, es iſt nichts Grinferliches an dieſer Witib.
Mein guter Freund Pofler alfo hat das Verienft, mich auf
diefe vortrefflihe Witfran aufmerffam gemacht zu haben.
Ich hatte ihm natuͤrlich erzählt, aus welchem Grunde ich augen»
blicklich Die Welt befahre, und fo fam es, daß er plöglich mit der
flachen Hand auf den Tiſch ſchlug, mich mit den befannten Augen,
die was offenbaren wollen, anfah und dann fchier feierlich fagte:
„Mannmenfch, den Pelz verbien’ ich mir!"
„Bas für einen Pelz, wenn ich bitten darf?” ermiberte ich.
„Den Kuppelpels,” fagte er.
Darauf wiederum ich: „Paul, Die Sache ift penetrant ernfthaft!
Es koͤnnte fein, Daß ich fehr grob würde, wenn bu in dieſer Ange-
legenheit ein Späßchen mit mir machen wollten!"
Nun aber Poffer ganz feierlich: „Menſch und Dann, ich ſchwoͤre
dir, ich bin ernfter als ein Marabu in dieſem Augenblicke. Ich habe
wirklich was am Baͤndel, das ich dir an den Bettpfoften binden
‚ kann.” (Mein guter Paul hat eine etwas wunderliche Redeweiſe,
wie Du fiehft. Ich fühle mich aber nicht berechtigt, feine Art, ſich
auszubrüden, zu forrigieren. Ich liebe Die Querſchnaͤbel.)
Du fannft Dir denfen, wie ich ihm nun aufs Fell ruͤckte.
Er lieg fi) auch feineswegs lange bitten, fonbern erzählte mir
fogleich ausführlich wer, wie und wo.
Alfo eine Witwe. Dreifig Jahre alt. Keine Kinder. Etwas
Vermögen. Etwas „Bildung“, Haupteigenfhaft: gute Hausfrau.
Alles in allem alfo wohl: eine Biederfrau.
Das war nad) der Schilderung mein erfter Gedanke.
Aber: „erſt mal ſehen!“
136
Das war nicht ſchwer, denn Witib Matthäi ift die Befigerin
des Haufes, in dem Poſſer wohnt. Außer Ihm und ihr wohnt nie»
mand weiter dort. Sie hat das Erdgeſchoß und den erften Stock,
ex den zweiten inne.
Es ift ein huͤbſches altes Haus hinter der Stadtmauer. Ober
beſſer: Häuschen. Recht ſchmal und, ich möchte fagen, eingemiedert
mie eine binne Dame fteht es da, rechts und links flanfiert von
robuſteren Nachbarshaͤuſern.
Aber es iſt entzuͤckend ſchoͤn, wenn man eintritt. Alles blitzeblank,
trotz des Alters. Dan fühle ſich gleich heimiſch. Ein bißchen win⸗
telig, ja; aber es ift fein Schmug in den Winkeln, und für Luft
wird wohl geforgt. Nichts Muffiges.
Ich ſchloß fofort auf Die Witib und fagte ſtill flr mich: fie iſt
gefund und hat heile Augen, fie fehlurft nicht auf Pantoffeln, fon-
dern hat einen guten, hurtigen gefttefelten Gang.
Da hörten wir fie au) fhon. Klapp-flapp-Flapp, — ein gutes
Tempo. Und dann bie Stimme: „Ehriftel! Dem Herrn Poffer den
Kaffee!"
Ehriftel kam. Sauber, rotbadig, den Kopf hoch, Die Augen leben»
dig. Natuͤrlich ſchloß ich wieder auf Die Witib, und jest kriegte fie
mas Streng: Mildes, und ich Dachte mir: gut Regiment!
Poſſer ließ uns anmelden. Er ſtellte ihr alle feine Säfte vor.
Alfo hatte es nichts Auffätiges.
Wir ftiegen hinunter.
Angeflopft;drinein reſolutes, Herein“; Türe auf — ah: Samos!
Die richtige deutfche Frau; mittelgroß, mittelftark, ſchlicht gefcheis
teltes blondes Haar; eine gerade Naſe; zwei heile, blaue Augen;
gefundfarbenes volles Gefichtz Die Kleidung einfach, aber fo, daß
der Gedanfe an Armlichfeit nicht auffommen fann.
Ste kam ung freundlich entgegen, ſicher im Auftreten, ohne viel
Gick und Sad und Geknix. Alles gut bürgerlich mit einem unaus
137
gefprochenen Selbftbemußtfein: wie ich gemachfen bin, fo bin ich;
ich Hab” mich nicht gemacht, aber ich bin zufrieden, wie ich gemacht bin.
Natüuͤrlich zuvoͤrderſt die üblichen Verlegenheitsgeſpraͤche: ob's
dem Herrn in Nürnberg gefaͤllt, woran ſich dann das uͤbliche Lob
der Stadt fnüpfte. "
Aber all das hatte doch einen mehr perſoͤnlichen Ton, als er
fonft bei ſolchen Gelegenheiten aufgemandt wird. Und je mehr wir
ing Geſpraͤch famen, um fo friſcher und bemegter ward die Atmo-
ſphaͤre.
Sie konnte gut erzaͤhlen und hatte eine huͤbſche Art, von ihrer
Vaterſtadt zu reden. Man fühlte Heimatston heraus, und der
klingt Immer gut.
Alſo: fie iſt ein richtiges Nürnberger Kind. Ihre Familie ift
nuͤrnbergiſch, ſoweit man von ihr weiß. Alles, was Nuͤrnberg heißt,
iſt ihr innerlich bekannt. Nur das Modernwerden an der Stadt
iſt ihr was Fremdes. Sie nennt es — Preußifchwerden.
Das gefiel mir nun eigentlich) befonders gut, denn es bemeift
Inſtinkt.
Kurs: als wir gingen, ſagte ich mir: Dieſe Witib if nicht un-
geeignet,
Befonders angenehm war mir dabei, daß ich abfolut fühl blieb,
und Daß auch nicht eine Spur von eigentlichen Gefühl dabei flackerte.
Das fönnte eine wirkliche Verftandesheirat werden! Alles, was
nad) kiebe“ ausfieht, huͤbſch beifelt’, aber Reſpekt und Wohlge-
fallen.
Das erſte, was Poſſer fagte, als wir oben bei ihm wieder an»
sefommen waren, war: „Ma?! Du weißt, diefes „Ma?! der
großen Sicherheit, die ſich in die Bruſt wirft und den Dankes ·
händedrud in wuͤrdiger Stellung erwartet.
Das Kompliment dazu pflegt ein ausdrucksvolles „Hm!“ zu
fein, ein „Hm!“, das fagen wid: „Jawohl, jawohl, du biſt ein
138
Teufelskerl und haft wieder ’mal den Nagel auf den Kopf ger
teoffen, aber, daß ich eine Hymne fingen fol, erwarteft du wohl
gefättigft felber nicht!"
Diefes vielfagenden Hms bediente auch ich mich, und das ges
nügte vonfommen, Poffern in ein Gefühl behaglicher Zufrieden»
heit zu verfegen.
Bon nun an war er aber auch ganz Befliffenheit und Kuppler.
Ich wollte, fein Pinfel koͤnnte fo malen, wie es feine Worte
taten. Er wurde fo eifrig in Der Befingung der Witib, daß ich ei⸗
nen Augenblick ſchier glaubte, eigentlich fei er felber maßlos in fie
verliebt, aber als ich eine Bemerkung in dieſer Richtung fallen
ließ, wurde er grob.
Ob ich ihn für einen Debaucheur hielte?
Ob ich glaubte, er ſei ein Vieh?
Wenn er verliebt wäre, fo wuͤrde er doch nicht bei der Witib
wohnen?!
Er fei doc, wenigſtens in dieſem Punfte, ein anftändiger Menſch!
Ich aber ſei ein Berliner, ganz einfach: ein Berliner! und
leide an Moral infanity, wie alle Einwohner diefer infamen Stadt.
Hier aber, in Nürnberg, herrfchten, gottlob! noch die alten
deutfchen Sitten! ...
Er war fo wütend, daß er „teutſch“ fagte, und ich hatte nicht
wenig Muͤhe, ihn wieder gut zu machen.
„Nein, fagte er befänftigt, „ich denfe an fo mas nicht. Ich
habe das hinter mir. Ich — male jetzt.“
„Wie? Du bift alfo gemiffermaßen ein Pinfelcoelibatair, dem
die Malerei die Liebe erſetzt?
„Sehr richtig bemerkt. Ich habe in der Liebe meinen Knacks
weg und benuge die Kunſtliebhaberei ald Surrogat.“
Eigentlich ſchaͤmt' ich mich. Der Dann war doc) meiter als ich.
Aber die Nachtommenſchaft?
139
„Es iſt mir ganz ſchnuppe, wer meine Bilder erbt.“
„und du haſt gar keinen Trieb, Kinder zu kriegen.“
„Komiſch! Ein Dann kriegt nie Kinder.”
„Dummbeiten! Sagen wir: zeugen.“
Da grinſte er: „Das Zeugen iſt ein Gebiet fhr fich, und auf
dem fann man mildern.”
„Ah, das find alfo deine teutfchen Sitten, mein biederer Paul?
Put! Schlecht und modern, Sardanapal!"
Darauf er: „Ich win dir was fagen, mein Junge: Der Deut-
ſche if} fein Moͤnch, fondern vielmehr ein Dann. Die Liebe zwar,
die richtige, die einweibige, die mit dem Ring am Singer, die iſt
ihm heilig, — aber wenn er die nicht haben fann, dann geht er
noch lange nicht hin zum Bader und fucht fic Das Meſſer, wel-
ches am fehärfften it, fondern vielmehr, er geht zu einem gefänigen
Sräulein und macht vor der Natur feine Verbeugung.“
„Werde mir einer ans den Deutfchen flug!’ hat der Herrgott
gefagt, als er fi einmal eingehender mit ihnen befchäftigte.
„Selbſt der Teufel fann aus dieſen Burfchen nicht Flug werben.
Sie find halt — ausbündig."
Aber zuruͤck zu unferer Witib.
Da Du meine Meinung Über das Weibtum fennft, da Du
weißt, daß ich Im ganzen mehr Geſchick dazu habe, an einer Frau
das Unangenehme zu fehen, als jene Eigenfchaften zu entdecken,
mit deren profeffioneder Versimtung das Gros der Eyrifer feine
Tage ausfuͤllt, fo kannſt Du Dir ohne weiteres vorſtellen, daß
Witwe Matthäi fein ganz gemöhnliches Weib fein kann, wie fie
augenblicklich gang und gäbe find.
Nein: fie hat wirklich was Duͤreriſches an fi), was Unzeitge-
mäßes, was —, ich bin ums richtige, ums eigentliche Praͤdikat
verlegen. Esift das, mas die Srauenlobferiche „echt weiblich” nen-
140
nen, aber ich fann mich mit dem beften Willen nicht dazu ent ⸗
ſchließen, diefe Melodie mitzufingen, denn die Weiber zeigen das,
was dieſe glorreiche Witwe auszeichnet, juft am menigften. Das
iſt freilich richtig: um das Praͤdikat zu verdienen, nad) dem ich
fuche, muß man ein Weib fein — aber ein Weib, das den übrigen
moͤglichſt wenig ähnlich iſt.
Doc gleichviel, wie ich's nennen fol: es iſt mas Treffliches,
Tuͤchtiges.
Nun denn alſo, daß ich es Dir bekenne: ich habe mich ent ⸗
ſchloſſen, hier das Wagnis zu begehen.
Poſſer ift Feuer und Flamme und unerfhöpflih darin, mir
auszumalen, wie wundervoll ſich ales entwickeln wird.
Ich habe natuͤrlich meine Einwände,
Ad 1 beftehe ich ſelbſtverſtaͤndlich auf der abfoluten Reinheit
von jeglicher Liebesfentimentalität und Fonftatiere Damit:
Ad 2 die Schwierigkeit, die Witwe geneigt zu machen.
Denn, fo fürchte ich: wenn Witwe Matthät aud ein Weib iſt,
für die es im Lexikon der Weiblichfeit an dem richtigen Praͤdikate
gebricht, fo wird fie Doch nicht gänzlich frei fein von dem weiblichen
Untergrundsverlangen nad) Schnäbelet in Worten und Werfen,
worauf ich mich durchaus nicht einlaffen kann.
Sie wird um fo weniger frei bavon fein, als dieſes Verlangen
in ihrer erften Ehe unbefriedigt geblieben iſt.
Diefe erfte Ehe nämlich ift ein mehr als Faltes Kontraftver-
hältnis gewefen. Der Dann, viel älter als fie, ihr in fehr jungen
Jahren durch die Eltern anfgenötigt, kraͤnklich, graͤmlich, Dabei
aufbraufend eiferfüchtig und argwoͤhniſch. Und nad) zwei Jahren
diefer kinderlos gebliebenen Ehe die Witwenfchaft. In ihr, fo
ſcheint es, hat fie fich erft zu dem entwickelt, was fie jegt ift. Sie
hat ſich ſelbſt gebaut, fie ift in harten Erfahrungen das geworden,
mas fie ft, Das ausgeglichene, ruhige, bewußte Weſen.
141
Vielleicht kann ic) gerade darum hoffen, daß fie auch in puncto
puncti reif geworden iſt und nun jenfeits jenes Verlangens fteht,
das meinen Plänen hinderlich fein müßte.
Ihre großen blauen Augen, die mich fo unintereffiert anfahen,
deuten darauf hin. Diefe Augen, das fah ich, gehörten nicht zu
den wollenden, fondern zu den beim weiblichen Geſchlechte überaus
feltenen, die unbegehrlich ſchauen.
Aber, du lieber Gott, was liegt nicht alles hinter Weiberaugen.
Wer darauf traut, kann mit derfelden Sicherheit auf Sumpf:
wieſen reiten wollen.
Diefe Ungerwißheit ift gräßlich. Und wer weiß, wie lange es dau⸗
ern wird, bis ich Klarheit habe. Wir müffen ung an unfer Ziel
bheranfchleichen, wie Indianer. Ich felbft würde ja einen richtigen
Artillerieangriff vorziehen, aber Poffer, der die Witwe fennt, rät
durchaus davon ab.
Es ift eine infame Situation, und heute nacht hatt’ ich glück
lich den Traum wieder, den ich immer habe, wenn meine innerfte
Seele aͤngſtlich iſt.
Ein graͤßlicher Traum! Ich ſitze dann wieder auf der engen
Gymnaſiumsbank, bin ſchlecht praͤpariert und zittere vor Den Kalbe»
augen des Konreftors, der mich ploͤtzlich anbrünt: Hoͤh, mein
Luͤbber, welche Verba regiern den Genitiv? Und ich erhebe mic)
in entfegtem Schred und fehe mic) flehentlich um, ob mir’s nie»
mand einblafen wird, aber ich fehe nichts als ſchadenfrohe Geſich ⸗
ter, kleine Buͤbchen mit dicken Köpfen und großen Brillen, die alle,
alle wiſſen, welche Verba den Genitiv regieren, während ich allein,
id), der alte Graunzer mit dem Dickbauche und den vierzig Jahren,
jammervoll baftehe und fein Wort hervorzubringen vermag. Und
der Konrektor bläht ſich in paͤdagogiſchem Triumphe ochſenfroſch ·
artig, daß er mich wieder erwiſcht und als phaͤnomenalen Dumm ·
topf Öffentlich nachgewieſen hat, und er ſtreicht fi) den Schnurr ⸗
142
bart, daß die Haare krachen, und er glogt mid) hoͤhniſch an, bis
die Augen, zwei wafferblaue, graͤßliche Kugeln, aus den Höhlen
treten und langfam, ſcheußlich langſam auf mic) zuronen, immer
größer werdend, Immer größer, zwei greuliche, feuchte Deonde. In
Schweiß gebabet wach' ih auf...
Daß ich dieſen furchtbaren Traum wieber geträumt habe, ber
weiſt mir, wie verängftigt ich innerlich bin.
Hab Mitleid, Peter, mit
Deinem
Panfrazio.
Der dritte Brief aus Nürnberg
Mein lieber Peter, Die Sache macht fi.
Poſſer it ein unglaublich geſchickter Kundſchafter auf dem
Kriegspfade wider die Witib.
Wir find ſchon gute Freunde, fie und ich.
Zeufel nein: ich und fie; denn fo weit find wir denn doch noch
nicht, daß ich Die galante Mlfanzerei mitmachte und irgendein Weib
mir voranfegte. Dit dieſen verdammten Höflichfeiten haben wir
die Weiberherrfchaft bisher ungebührlich gefördert. In fo gefähr-
lichen Dingen muß man auch auf Kleinigfeiten achten.
Aber wirklich: die Witih iſt ein. tlchtiger Kerl. Das ift eigent-
lich ein Wort, das nur Männern zufommt, aber biefe geborene
Frankebeil verdient e8, daß man fie mit einem Dännernamen ehrt.
Wir trinken jegt jeden Nachmittag den Kaffee bei ihr.
Als Vorwand dient ihre Eigenfchaft als eingeborene Rürn-
bergerin, als melde fie mir, fo will's unfere Kriegslift, allerlei
Intereffantes ans dem Nürnberger Bürgerleben erzählen fol,
denn ich bin ihr gegenüber ald — Kultuchiftorifer hier anweſend.
143
Auf diefe Weife nähern wir ung wirklich ganz nett. Sie erzählt
gern von Nürnberg und ich höre ihr gern au. Freilich: dem eigent-
lichen Ziele nähern wir ung nicht eben, und es wird mir fchließ-
lich doch Bloß die große Kanonade übrig bleiben. Aber C'eſt Ie
premier coup de feu qui coute. Aufgeprogt hab’ ich ſchon ein paar-
mal, aber sum Schießen komm' ich nicht.
Kanonenfieber?
Man moͤcht's faft glauben. Mir ift aumute, wie vor der erfien
DMenfur. Sehr mutige Gebärden, aber unter ihnen eine gewiſſe
Baͤnglichteit.
Es iſt eigentlich ſehr blamabel. Nicht?
Ich halt's auch nicht mehr lange aus fo. Poſſer rät unausge-
fegt zum Schleichkriege, aber ich werde doch naͤchſtens die Taftif
ändern.
Denn: ſchließlich verlieh’ ich mich noch, und dann iſt es natür-
lich zu allen guten Dingen zu fpät.
Was ſchrieb ich eben? „Verlleb' ich mich?“ Ich flehe Dich an,
Peter, nimm das für einen Witz! Und für einen ſehr ſchlechten!
Es wäre beleidigend, wollteſt Du es anders nehmen.
Nein: davon fann gar feine Rede fein. Ich bin zwar ängftlich,
wie ein liebesfeiger Verliebte, aber meine Angft hat feine Hitze,
fondern fie iſt ganz Falt, — fchlotterfalt.
Morgen, wenn ſchoͤnes Wetter ift, wollen wir drei einen —
Ausflug machen. Nah Schmaufenbud. Der Name hat was an-
genehm Kompaktes, und wenn der Ort halbwegs fo tuͤchtig wie der
Name ift, fo werd’ ich der Witib wohl endlich Frupp’fch kommen.
Schmaufendud — das Wort IR felber eine Kanonenkugel.
. Dein P.
144
Der vierte und legte Brief aus Nürnberg
” *
Diefe Zurufe, mein Bielgeliebter, die Dich) ein wenig erftaunen
werben, richten ſich nicht an Dich, fondern an mich.
Ich hatte fie nötig, denn es fiel mir nicht leicht, dieſen Brief zu
beginnen, und bie Götter wiſſen, ob es mir leicht werden wird, ihn
au beenbigen.
Naͤmlich ...
Aber nein, ich will den „Kelch“ nicht umſtuͤrzen, ſondern ihn
Dir langſam zutrinken, bis auf die Magelprobe leer, und wenn ich
früher bei fotanen feftlichen Taten eine dunkelrote Muͤtze auf hatte,
fo habe ic} diesmal einen roten Kopf auf, ih... .
Du merkſt, daß ic) etwas übler Laune bin?
E freilich, Du merfft recht, mein Guter, Sehr fiel bin ich
nicht gerade.
Du weißt doch noch, was die Fuͤchſe für Gefichter machten,
wenn fie auf der Deenfur „umgebreht‘ wurden?
Viel fröhlicher feh” ich nicht aus, augenblicklich.
Ich werde wohl von vorne o afangen müffen, oder, um im Bilbe
von vorhin zu bleiben: zuerft von Ganzen, den ich Dir trinfe, kommt
die Blume. Die ſchmeckt fo Übel nicht.
Denn es war geftern ein herrlicher Tag, als wir losfuhren,
wir Drei,
10 Bierbaum II 145
Nach Mogeldorf ging die Fahrt.
Gott, was war der Junitag ſchoͤn! Ich war in gottlobefamfter
Stimmung und ließ in mir Wort und Weiſe von des alten Hans
Haßler, des Kaifers Rudolfs des Zweiten Kapellmeiſters, ſchoͤnem
Liede fummen:
Nun fanget an ein gut's liedlein zu ſingen,
laſt inſtrument und lauten auch erklingen.
Lieblich zu muſiciren
will ſich jetzund gebuͤren.
Drum ſchlaget und ſingt
das alles erklingt,
helfe unfer feft auch zieren.
Der Himmel hing wirklich voller Geigen und Baſettl'n, und
ich hatte Die Ehre und das Vergnügen, die Frau verwitwete Mat ·
thät, geborene Frankebeil, auf ein paar rofige Hinterpausbaden
von unzweifelhaft echten Thoma · Engelsbuͤbchen aufmerffam zu
machen, die, offenbar von Frankfurt her, auf einer Wolfe ritten,
juſt über einem zartgruͤnen Birkenhain, der gegen den blauen Him ⸗
mel ftand wie ein leibhaftig Bild des fproffenden Lebens.
Die Witib war fehr fruͤhlinglich und huͤbſch angetan mit einem
beten, ſchoͤnfaltigen Kleide und trug einen breiten, weißen Stroh ⸗
hut von der Art, Die wir in unferer Jugend Slorentiner Schwinger
nannten.
Eigentlich gehören zu ſolchen Hliten lange, hinten hinunterhän-
gende Bänder aus ſchwarzem Samt, aber die Witib meinte, ſolch
Flottierwerk steme der ſchnellfuͤßigen Jugend, aber nicht ihr, die
fie, mas die Beine anlange, mehr für ein gefegtes Tempo ſei.
Es muß auch gefagt werben, daß fie en plein air betrachtet und
nicht mehr im Schleier des deckenden Interieurlichtes, entſchieden
nicht den Eindrud eines jungen Mädchens machte.
Diefen Sag bitt? ich aber nicht mißguverftehen. Ich win mit ihm
146
nicht gefagt haben, daß die Witwe mir haͤßlicher erſchlenen wäre.
Nein. Gar nicht. Ich betrachtete fie vielmehr mit einem Wohlge-
ſallen, das die Grenzen der Objektivität ſtark uͤberſchritt.
Ich fand: ein bißchen reif zwar, aber — allerliebſt. Rubens und
Jordaens hätten ihre Freude daran gehabt.
Und: wie nett fie ſprach! Kein albernes „ach wie reigend", „Gott
wie ſuͤß“, feine Naturbeleidigung Durch abgegriffene Phrafen, fon»
dern ein ruhiges Ausfprechen, vielleicht ein bißchen au ruhiges Aus-
ſprechen der Freude über Die Schönheit, wo fie eine empfand.
Bloß: fie baedekerte ein bißchen zuviel. Das kam aber Daher,
da fie glaubte, fie muͤſſe auch im Freien fortfahren, den „Kultur«
biftorifer“ in mir zu kultivleren.
Ich Meß mir das ruhig gefallen, denn ich hatte mir vorgenommen,
ploͤtzlich und mit einem großen Slanfenangriff biefes Geplaͤnkel
aufzuheben.
Nur: wann, mo und bei welcher Gelegenheit?
So ploͤtzlich Zieten-aus-dem-Bufch fpielen, Das läßt fich ja recht
huͤbſch anhören, aber man muß es ſich nicht vornehmen. Es macht
font elend nervös, wenn man immer wieder auf neue lauern
muß.
Diefe Nervofität, in die ich nach und nad) trotz der Schönheit
des Junitags geriet, will ich Dir nicht ausmalen. Ich bin nicht
für das Nervoͤſe in der Malerei. Auch Fönnte es anfteden. Ich
befaß leider gar nicht den Nervenhumor, diefen mobernften und
feltenften aller Humore, mic) Darüber hinwegzuſetzen.
Kein Wunder, daß unfere Schmaufendudpartie dadurch, wenig:
ftens fhr mich, aber auch für Poffer, einen etwas fatalen Anſtrich
kriegte.
Der arme Poſſer, das merkte ich bald, litt geradezu unter meinem
Kanonenfieber, und als wir in die Nähe des großen Ausſichtstur ⸗
mes gelangt waren, dulbete ihn die Angft nicht mehr in unferer
10* 147
Nähe, und er entfernte fi unter dem Vorwande, daß er eine
Skiue im Walde machen wollte.
Nun fagte ich mir, Daß es die hoͤchſte Zeit ſei.
Stieß er wieder zu ung, bevor ich losgeſchoſſen hatte, fo war Ich
grenzenlos blamiert.
Alfo: hurtig!
Meine Gedanken rannten Wette nad) dem Ziele, daß fie einen
Anfang fhr meine Kanonade fänden.
Und alfo ſprach meine Angft, die fich als Mut gebärdete: „Der
gute Poſſer hat ſich entfernt wie Die Duenna im fpanifchen Luft-
fpiel. Wär’ ich der Don Amorofo, fo müßt’ ich jegt in bie Knie
finfen und fagen, Donna ich liebe Euch."
Die Witib: Oh, dabei plagen die Trifots zu leicht. Gottlob,
daß Sie fein Don Amorofo find, Herr Doktor.
Ich: Gottlob? Meinen Sie das wegen der imaginären Trikots,
Frau Matthät, oder — wie meinen Ste das?
Die Witib: Aber Herr Doftor! Wir zwei Leute aus dem Mit-
telalter! Wir und amorofe Jronien!
Ih: Warum nicht? Wenn nur die Ironie dichte genug iſt.
Ste wiſſen doch, die Ironie ift die Stiefſchweſter des Humors,
und alles, was mit dieſem braven Burfehen verwandt iſt, Ift von
guten Eltern.
Die Witib: Nur, daß er unmodern ift, der Humor.
Ich: um fo beſſer paft er für ung Leute aus dem Mittelalter.
Alfo, gefegt: ich risflerte meine Trifots. Was mlrden Sie
fagen?
Die Witib: Ich? Gott, ich würde fagen, daß ich nicht Spanifch
verſtehe.
Ich: Wenn ich aber dann deutſch redete?
Die Witib: Das waͤre grob!
Ich: Was? Bon lebe? Grob?
148
Die Witib: Laffen wir den Humor, Doktor!
Mauſe.)
Ich: Hm, Fran Matthätz — wenn id nun in die Knie fiele,
ohne von Liebe zu reden?
Die Witib: Das verfteh’ ih nicht.
Ich: Ich meine fo: wenn ich nun fagte: Keine Angft, Donna,
ich liebe Euch nicht, ganz gewiß nicht, aber — Ihr gefallt mir.
Wie wär's, wenn wir ung heirateten?
Die Witib: Sie haben wunderliche Einfäne. Sie fonten Operet-
tenterte ſchreiben.
Paufe.)
Ih: Frau Matthaͤi —: ic) ſalle wirklich in Die Knie.
Die Witib (etwas unfiher): Aber Here Doktor: was ift denn
108 mit Ihnen? Ein Kultuchiftorkfer wie Sie?
Ich: Ah mas, Kulturhiftorifer! Ich bin gar fein Kultur
hiſtoriker. Ich bin ein Gutsbefiger, der eine Frau fucht.
Die Witib (erft fprachlos): Ich weiß wirklich nicht... Ich
glaube, Sie. . . Wo bleibt nur Herr Poller?
Ich: Wir brauchen Herrn Poſſer nicht, Er ift tief im Walde
und macht Studien. Übrigens ift er ganz eingeweiht. (Ich wurde
wirklich mutig.) All das war bloß Komödie, ja, das mar wirklich
Dperette. Aber jetst kommt der Ernft, die Wirklichkeit. Ich ſtelle
wirklich Die Srage an Ste...
Die Witib: Une Heiligen! Doftor! Nein, diefer Poſſer! Und
Sie! Offen geflanden ...
Ich: Nur nicht böfe werden, Frau Matthaͤi. Hören Ste mich
ruhig an...
Wie ich fo weit war, waren wir am Ausfichtsturm angelangt.
Bir nahmen uns Karten und fingen an, bie Wendeltreppe hin»
aufsufteigen. Das war eine ganz günftige Situation für mich, auch
149
die heiflen Punkte meines Antrags vorzutragen. Denn es war et»
mas dunfel im Turme, und ic) flieg voran. Ich ließ das Heifle
von der Spule. Hinter mir klang es von allerlei Interjeftionen;
vornehmlich regiftrierte ich fehr lange „Ahhs“, auch einmal etwas
wie „Unglaublich!
Als wir oben angelangt waren, hätt? ich mich, offen geftanden,
am liebſten ven Turm hinabgeſtuͤrzt, denn es war mir gar unbe ·
haglich sumute. Ich traute mich kaum, die Witib anzufehen.
Die aber, hochrot von der Anftrengung des Steigens, hatte
ſich auf eine Bank gefegt, den Schwinger abgenommen und fah
mich ganz ruhig mit ihren klaren Augen an.
Dann fagte fie: „Laſſen Sie mic) erft ausfchnaufen, Doftor,
dann will ich Ihnen Die Umgegend zeigen."
und richtig: wie wenn ſie ein Fremdenfuͤhrer waͤre, fuͤhrte ſie
mich im Kreiſe herum und erklaͤrte mir dag ganze Gebiet der che
mals freien Reichsſtadt Nuͤrnberg, das wir unter ung in aller
Fruͤhlingepracht liegen fahen. Sie vergaß fogar die verſchiedenen
ehemaligen Papiermühlen und ihre Waſſerzeichen nicht.
Diefe Ruhe machte mic) wild.
Wollte das Weib mic zum Narren haben? Mich? Was führt
fie mich da im Kreife und redet hiftorifche Reden! Zum Teufel!
Antwort wi ih!
und ich ſprach, fehr dezidiv: „Ruͤhrend, mas Sie alles wiſſen,
Frau Matthaͤi! Aber was ich wiſſen möchte, ift, ob Ste eine Ant»
wort auf meinen Antrag haben?"
Die Witib: Gewiß! Freilich, Herr Doktor!
Ich: und?
Die Witib: Ich denke gar nicht daran, Ihren Antrag anzu»
nehmen! Nicht im entfernteften dent” ich daran!
Ich: So! So! Das ift klar geredet. Hm! Köftlih! Ein Korbl
Aber Frau Matthäi, warum?
150
Die Witib: Weil Sie mir leid tun, Herr Doktor. Und heira-
ten fol man nicht aus Mitleid, fondern aus Liebe.
Ich: Ah, ah, da haben wir’s! Die mit Recht fo beliebte Liebe!
Frau Matthäi, — das hätt’ ich von Ihnen nicht erwartet! Ich
hatte geglaubt, Sie wären ....
Die Witib: Bitte, fogen Ste das lieber nicht, woflr Sie mich
su halten geneigt waren. Es war nichts Gutes.
Ich: Im Gegenteil, das Anerbefte, ih...
Die Witib: Nein, wirklich: Ich mag's nicht hören. Ich möchte
gerne ganz einfach fuͤr eine normale Frau gehalten werben und
nicht flr 'was Konſtruiertes. Und, fehen Sie, mas eine normale
Frau iſt, die fpintifiert ſich nicht in Die Ehe, fondern fie fänt ent-
weder aus Dummheit und Unerfahrenheit, wie ich Damals, oder
aber aus Liebe hinein. Ob fie hart ober weich fänt, das iſt ihr
Gluͤck oderihr Ungluͤck, aber daß fie bloß aus den genannten Gruͤnden
hineinfaͤllt und nicht etwa mit jämmerlichem Bedachte hineinfteigt,
das iſt Ihre Ehre.
Ich machte vor Wut und Bedeppertheit eine Berbeugung und
wollte etwas erwidern, aber bie Witib fuhr fort: „Das müffen
Ste nun aber nicht für große Worte halten, und Ste muͤſſen nicht
glauben, daß ich etwa beleidigt und aͤrgerlich bin. Nein, nein.
Ein bißchen verftehe ich Ihre Konftruftion, und, wie gefagt, Sie
tun mir leid deshalb. Herrgott, zu was für merkwuͤrdigen Dingen
ein Menſch fommen kann, wenn er anfängt, fi unnatuͤrlichen
Empfindungen hinzugeben. Guter Herr Doktor, ich rate Ihnen:
Probieren Sie es Doc) lieber mit der Liebe. Halten Sie fi) mehr an
die jungen Mädels! Da wird ſchon eine fein, Die Ihnen das dumme
Zeug wegtaut. Aus lauter Dankbarkeit werden Sie ſie ſchließlich
fogar gluͤcklich machen, — fo unwahrſcheinlich das auch ausſieht.“
Gott fei Dank, in diefem Augendli tauchte Poffers Kopf in
ber Wenbeltreppenwindung auf.
151
Ra!" fagte er, „gut unterhalten?"
„Sehr gut," fagte die Witib.
Den Reſt des Tages fuͤllten wir wieder mit Kulturhiſtorie aus.
Morgen fahr’ ih nach Münden.
Die Abfuhr genuͤgte aber, — nicht wahr?
D Ja, Schmauſenbuck Ift ein Kanonenkugelwort.
Dein rumgebrehter
Panfrastus.
XLR.
Einige Seiten aus Herrn Pankrazius Graunzers Reiſe⸗
tagebuch, aus denen hervorgeht, daß er philoſophiſche un!
andere Anmandlungen wunderlichften Charakters ha
Von ++ + Nürnberg nah Münden.
Wenn wir ganz verfatert waren, wir in den bunfelroten Drüg«
dazumal, dann fangen wir Das ſchoͤne Lieb:
Hin und her, hin und her
Sehe der Pendelſchwengel
Auf und ab geht er nicht,
Sag, du biſt ein Engel.
Danderlei, mancherlei
Dreht ſich hier im Kreiſe,
Ranqhes geht auch gradeaus
Sprach der alte Weiſe.
Dieſer alte Weiſe war
Kluͤger, als man dachte;
Daqte fein Gehirn zu ſchnell
Sprach er: „Sacte! ſachter ·
Litt der alte Weiſe an
Welthaͤmorrhoiden,
152
Sucht’ und fand bei Dannden er
Seinen Seelenfrieden.
Dannchen, das war ein Juwel,
Und der alte Weiſe
Kniff fie, wo fie Dicke war,
Und er fummte leife:
‚Din und per, Hin und her
Seht der Pendelſchwengel.
Auf und ab geht er nicht,
Schar, du bift ein Engel,
Ya, ja, dieſe Philofophen! Es ift Feine Frage, daß fie's hinter
den Ohren haben. Sein Hanndhen hat ein jeder, und er weiß wohl,
wo fie am kniffigſten iſt.
Db aber ein jeber diefer Weltweiſen (das ift eine Doftorfrage)
mit feinem Hannchen verheiratet ift?
Pfui, Pankrai, wer wird ſolche Fragen ftellen?
Was hat die Weltweisheit mit dem Standesamt zu tun?
Das Hannchen in jenem Liebe iſt ein Symbol, mein Freund,
und honny foit, qui malypenfe! Oder ...2... Ach! Was gehen
mic) die Hannchens der Weltweisheit an! Wie komm' ich über»
haupt drauf?
Ach fo: der Katzenjammer, das Kagenjammerlieb:
Katerblas, Katerblas, du mein Vergnügen,
Katerblas, Katerblas, du meine Luft,
SAb’s feine Katerblas, gäb’s kein Dergnügen,
Gat's Keine Katerbias, gab's kahaine Luft!
Das heißt den Teufel mit Deelsehub austreiben, der Teufel
Oberſten. Und das Rezept iſt nicht fo ſchlecht, als man's macht.
Welches beffere Mittel gibt's gegen das Leben, als ſich totzu-
fehleßen? Und: Was hilft beſſer gegen den Wurm bes Inneren
, als die fanfte Pine philoſophiſchen Stumpffinns?
153
Auf dieſe Weife nähern wir uns wirflic) ganz nett. Ste erzählt
gern von Nürnberg und ich höre ihr gern zu. Freilich: dem eigent-
lichen Ziele nähern wir ung nicht eben, und es wird mir fehließ-
lich doch bloß die große Kanonade übrig bleiben. Aber E’eft le
premier coup be feu qui coute. Aufgeprogt hab’ ich ſchon ein paar-
mal, aber zum Schießen komm’ ich nicht.
KRanonenfieber?
Dan möcht’s faſt glauben. Dir ift zumute, wie vor der erften
Menfur. Sehr mutige Gebärden, aber unter ihnen eine gewiſſe
Baͤnglichkeit.
Es iſt eigentlich ſehr blamabel. Nicht?
Ich halt's auch nicht mehr lange aus fo. Poſſer rät unausge⸗
fegt sum Schleichfriege, aber ich werde doch nächftens die Taktik
ändern.
Denn: ſchließlich verlieh’ ich mid) noch, und dann iſt es natür-
Lid) zu aden guten Dingen zu fpät.
Was ſchrieb ich eben? „Werlieb ich mich?" Ich flehe Dich an,
Peter, nimm das für einen Wig! Und für einen fehr ſchlechten!
Es wäre Beleidigend, wollteſt Du es anders nehmen.
Nein: davon fann gar feine Rede fein. Ich bin zwar ängftlich,
wie ein liebesfeiger Verliebter, aber meine Angſt hat feine Hige,
fondern fie ift ganz Falt, — ſchlotterkalt.
Morgen, wenn ſchoͤnes Wetter iſt, wollen wir drei einen —
Ausflug machen. Rah Schmaufenbud. Der Name hat mas an-
genehm Kompaftes, und wenn der Ort halbwegs fo tlichtig wie der
Name ift, fo werd’ ich der Witib wohl endlich Frupp’fch Fommen.
Schmauſenbuck — das Wort IK felber eine Kanonenkugel.
* Dein P.
144
Der vierte und legte Brief aus Nürnberg
Run denn! ...
Hopp! ...
Will Er wohl? ...
Na?! ...
Alſo los!...
Dieſe Zurufe, mein Vielgeliebter, die Dich ein wenig erſtaunen
werden, richten ſich nicht an Dich, fondern an mich.
Ich hatte fie nötig, denn es fiel mir nicht leicht, dieſen Brief zu
beginnen, und Die Götter wiffen, ob es mir leicht werden wird, ihn
au beendigen.
Naͤmlich ...
Aber nein, ich win den „Kelch“ nicht umſtuͤrzen, ſondern ihn
Dir langfam zutrinken, bis auf Die Nagelprobe leer, und wenn ich
früher bei fotanen feftlichen Taten eine dunkelrote Muͤtze auf hatte,
fo habe ich Diesmal einen roten Kopf auf, ich ...
Du merfft, daß ich etwas übler Laune bin?
E freilich, Du merfft recht, mein Guter. Sehr fidel bin th
nicht gerade.
Du weißt doch noch, was die Fuͤchſe für Geſichter machten,
wenn fie auf der Denfur „umgebreht" wurden?
Viel froͤhlicher feh” ich nicht aus, augenblicklich.
Ich werde wohl von vorne oafangen muͤſſen, ober, um im Bilde
von vorhin zu bleiben: zuerft vom Ganzen, den ih Dir trinfe, fommt
die Blume. Die ſchmeckt fo Übel nicht.
Denn es war geftern ein herrlicher Tag, als wir losfuhren,
wir drei,
10 Bierbaum II 145
Nach Mogeldorf ging die Fahrt.
Gott, was war der Junitag ſchoͤn! Ich war in gottlobeſamſter
Stimmung und ließ in mir Wort und Weiſe von des alten Hans
Haßler, des Kaiſers Rudolfs des Zweiten Kapellmeiſters, ſchoͤnem
Liede ſummen:
Nun fanget an ein gut's liedlein zu ſingen,
daft inſtrument und lauten auch erklingen.
&cblich zu muſiciren
will ſich jegund gebüren.
Drum fhlaget und fingt
das alles erklingt,
helfe unfer feft auch zieren.
Der Himmel hing wirflich voller Geigen und Bafettl’n, und
ich hatte Die Ehre und das Vergnügen, Die Fran verwitwete Mat ·
thät, geborene Sranfebeil, auf ein paar rofige Hinterpausbaden
von unzweifelhaft echten Thoma · Engelsbuͤbchen aufmerffam zu
machen, die, offenbar von Sranffurt her, auf einer Wolfe ritten,
juſt über einem zartgruͤnen Birfenhain, der gegen ben blauen Him-
mel fand wie ein leibhaftig Bild des ſproſſenden Lebens.
Die Witib war fehr fruͤhlinglich und huͤbſch angetan mit einem
heiten, ſchoͤnfaltigen Kleide und trug einen breiten, weißen Stroh
hut von der Art, die wir in unferer Jugend Slorentiner Schwinger
nannten.
Eigentlich gehören zu ſolchen Hüten lange, hinten hinunterhän-
gende Bänder aus ſchwarzem Samt, aber die Witib meinte, fol)
Flottierwerk sieme der ſchnellfuͤßigen Jugend, aber nicht ihr, Die
fie, was Die Beine anlange, mehr für ein gefegtes Tempo fel.
Es muß auch gefagt werden, daß fie en plein air betrachtet und
nicht mehr Im Schleier Des deckenden Interieurlichtes, entſchieden
nicht den Eindrud eines jungen Mädchens machte.
Diefen Sag bitt' ich aber nicht mißzuverſtehen. Ich will mit ihm
146
nicht gefagt haben, daß die Witwe mir häßlicher erſchienen wäre.
Nein. Gar nicht. Ich betrachtete fie vielmehr mit einem Wohlge-
fallen, das die Grenzen der Objektivität ſtark uͤberſchritt.
Ich fand: ein bißchen reif zwar, aber — allerliehft. Rubens und
Jordaens hätten ihre Freude daran gehabt.
Und: wie nett fie ſprach! Rein albernes,ach wie reijend“, „Gott
wie flß"", feine Naturbeleidigung durch abgegriffene Phrafen, fon-
dern ein ruhiges Ausfprechen, vielleicht ein bißchen zu ruhiges Aus⸗
ſprechen der Freude über die Schönheit, wo fie eine empfand.
Bloß: fie baedekerte ein bißchen zuviel. Das kam aber daher,
daß fie glaubte, fie muͤſſe auch im Freien fortfahren, den „Rultur-
biftorifer“ in mir zu kultivieren.
Ich ließ mir das ruhig gefallen, denn ich hatte mir vorgenommen,
ploͤtzlich und mit einem großen Flanfenangriff dieſes Geplänfel
aufzuheben.
Nur: warn, wo und bei welcher Gelegenheit?
So ploͤtzlich Zieten-aus-dem-Bufch fpielen, das läßt fich ja recht
huͤbſch anhören, aber man muß es ſich nicht vornehmen. Es macht
font elend nervös, wenn man immer wieder auf neue lauern
muß.
Diefe Nervofität, in die ich nach und nad) trog der Schönheit
des Junitags gertet, will ich Dir nicht ausmalen. Ich bin nicht
für das Nervöfe in der Malerei. Auch Fönnte es anſtecken. Ich
befaß leider gar nicht den Nervenhumor, biefen modernften und
feltenften aller Humore, mich daruͤber hinwegzuſetzen.
Kein Wunder, daß unfere Schmaufendudpartie dadurch, wenig:
ftens für mich, aber auch für Poffer, einen etwas fatalen Anſtrich
kriegte.
Der arme Poſſer, das merkte ich bald, litt geradezu unter meinem
Kanonenſieber, und als wir in die Nähe bes großen Ausfihtstur-
mes gelangt waren, duldete ihn die Angft nicht mehr in unferer
10* 147
Nähe, und er entfernte fi unter dem Vorwande, daß er eine
Skiue im Walde machen wollte.
Nun fagte ich mir, daß es die hoͤchſte Zeit ſei.
Stieß er wieder zu ung, bevor Ich losgeſchoſſen hatte, fo war ich
grenjenlos blamiert.
Alfo: hurtig!
Meine Gedanken rannten Wette nach dem Ziele, daß fie einen
Anfang fr meine Kanonade fänden.
Und alfo ſprach meine Angft, Die fi) als Mut gebärvete: „Der
gute Poſſer hat ſich entfernt wie die Duenna tm fpanifchen Luft-
fpiel. Wär’ ich der Don Amorofo, fo müßt? ich jegt in die Knie
finfen und fagen, Donna ich liebe Euch.“
Die Witib: Ob, dabei plagen die Trifots zu leicht. Gottlob,
daß Sie fein Don Amorofo find, Herr Doktor.
Ich: Gottlob? Meinen Sie das wegen der imaginären Trikots,
Frau Matthät, oder — wie meinen Sie das?
Die Witib: Aber Herr Doktor! Wir zwei Leute aus dem Mit-
telalter! Wir und amorofe Jronien!
Ih: Warum nicht? Wenn nur die Jronie Dichte genug if.
Sie wiſſen doch, die Ironie ift Die Stieffchmefter des Humors,
und alles, was mit dieſem braven Burſchen verwandt ift, iſt von
guten Eltern.
Die Witib: Nur, daß er unmobern iſt, ber Humor.
Ich: um fo beffer paßt er für ung Leute aus dem Mittelalter.
Alfo, gefegt: ich risfierte meine Trikots. Was wuͤrden Sie
fagen?
Die Witid: Ich? Gott, ich würde fagen, Daß ich nicht Spaniſch
verſtehe.
Ich: Wenn ich aber dann deutſch redete?
Die Witib: Das waͤre grob!
Ich: Was? Bon Eiche? Grob?
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Die Witib: Laſſen wir den Humor, Doktor!
Mauſe.)
Ich: Hm, Frau Matthaͤi; — wenn ich nun in die Knie fiele,
ohne von Liebe zu reden?
Die Witib: Das verſteh' ich nicht.
Ich: Ich meine fo: wenn ich num fagte: Keine Angft, Donna,
ich Liebe Euch nicht, ganz gewiß nicht, aber — Ihr gefallt mir.
Wie wär's, wenn wir ung heirateten?
Die Witib: Sie haben wunderliche Einfäne. Ste fonten Operet-
tenterte ſchreiben.
Paufe.)
Ih: Fran Matthät —: ich falle wirklich in bie Knie.
Die Witib (etwas unfiher): Aber Herr Doftor: was ift denn
108 mit Ihnen? Ein Kulturhiftorifer mie Sie?
Ich: Ah was, Kulturhiftorifer! Ich bin gar Fein Kultur»
hiſtoriker. Ich bin ein Gutsbeſitzer, der eine Frau fucht.
Die Witib (erſt ſprachlos): Ich weiß wirklich nicht ... Ich
glaube, Sie ... Wo bleibt nur Herr Poſſer?
Ich: Wir brauchen Herrn Poſſer nicht. Er ift tief im Walde
und macht Stubien. Übrigens ift er ganz eingeweiht. (Ich wurde
wirklich mutig.) All das war bloß Komödie, ja, Das war wirklich
Dperette. Aber jet kommt der Ernft, die Wirklichkeit. Ich ſtelle
wirklich Die Frage an Sie...
Die Witib: Alle Heiligen! Doftor! Nein, diefer Poffer! Und
Sie! Offen geftanden .. .
Ich: Nur nicht böfe werden, Frau Matthät. Hören Sie mid)
rubig an...
Wie ich fo weit war, waren wir am Ausfichtsturm angelangt.
Bir nahmen uns Karten und fingen an, bie Wendeltreppe hin»
aufsufteigen. Das war eine ganz günftige Situation flr mich, auch
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die heiflen Punkte meines Antrags vorzutragen. Denn es war et»
mas bunfel im Turme, und id flieg voran. Ich ließ Das Heikle
von der Spule. Hinter mir klang es von allerlei Interjektionen;
vornehmlich regiftrierte ich fehr lange „Ahhs“, auch einmal etwas
wie „Unglaublidh”!
Als wir oben angelangt waren, hätt’ ich mich, offen geftanen,
am liebften den Turm hinabgeftärzt, denn es war mir gar under
haglich zumute. Ich traute mich kaum, die Witib anzufehen.
Die aber, hochrot von der Anftrengung des Steigens, hatte
fi) auf eine Bank gefegt, den Schwinger abgenommen und fah
mich ganz ruhig mit ihren klaren Augen an.
Dann fogte fie: „Laſſen Ste mich erſt ausfchnaufen, Doftor,
dann will ich Ihnen die Umgegend zeigen.”
Und richtig: wie wenn fie ein Fremdenfuͤhrer wäre, führte fie
mich im Kreife herum und erflärte mir Das ganze Gebiet der ehe-
mals freien Reichsſtadt Nürnberg, das wir unter ung in aller
Srühlingspracht liegen fahen. Ste vergaß fogar Die verſchiedenen
ehemaligen Papiermühlen und ihre Waſſerzeichen nicht.
Diefe Ruhe machte mich wild.
Wollte das Weib mic zum Narren haben? Mich? Was führt
fie mi) da im Kreife und redet hiftorifche Reden! Zum Teufel!
Antwort win ih!
Und ich ſprach, fehr dezidiv: „NRührend, mas Sie alles willen,
Frau Matthät! Aber was ich wiffen möchte, iſt, ob Ste eine Ant»
wort auf meinen Antrag haben?"
Die Witib: Gewiß! Freilich, ‚Herr Doktor!
Ich: und?
Die Witib: Ich denfe gar nicht daran, Ihren Antrag anzu»
nehmen! Nicht im entfernteften denk' ich daran!
Ich: So! So! Das tft Flar geredet. Hm! Koͤſtlich! Ein Korb!
Aber Frau Matthäi, warum?
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Die Witid: Weil Sie mir leid tun, Herr Doktor. Und heira⸗
ten fo man nicht aus Mitleid, fondern aus Liebe,
Ich: Ab, ah, da haben wir’! Die mit Recht fo beliebte Liebe!
Frau Matthät, — das hätt’ ih von Ihnen nicht erwartet! Ich
hatte geglaubt, Sie wären...
Die Witib: Bitte, fogen Ste das lieber nicht, woflr Sie mich
au halten geneigt waren. Es war nichts Gutes.
Ich: Im Gegenteil, das Allerbeſte, ich . -
Die Witid: Rein, wirklich: ich mag's nicht hören. Ich möchte
gerne ganz einfach für eine normale Frau gehalten werden und
nicht flr ’was Konftruiertes. Und, fehen Sie, mas eine normale
Frau ift, Die fpintifiert ſich nicht in Die Ehe, fondern fie fänt ent-
weder aus Dummheit und Unerfahrenheit, wie ih Damals, oder
aber aus Liebe hinein. Ob fie hart ober weich fänt, das iſt ihr
Gluͤck oder ihr Ungluͤck, aber daß fie bloß aus den genannten Gründen
hineinfaͤllt und nicht etwa mit jämmerlichem Bedachte hineinfteigt,
das iſt ihre Ehre.
Ich machte vor Wut und Bedeppertheit eine Berbeugung und
wollte etwas erwidern, aber bie Witib fuhr fort: „Das müffen
Sie num aber nicht für große Worte halten, und Sie muͤſſen nicht
glauben, daß ich etwa beleibigt und aͤrgerlich bin. Rein, nein.
Ein bißchen verſtehe ich Ihre Konftruftion, und, wie gefagt, Ste
tun mir leid deshalb. Herrgott, zu was für merfwürbigen Dingen
ein Menſch fommen kann, wenn er anfängt, ſich unnatürlichen
Empfindungen hinzugeben. Guter Herr Doftor, ich rate Ihnen:
Probieren Sie es doch lieber mit der Liebe. Halten Sie ſich mehr an
die jungen Mädels! Da wird ſchon eine fein, Die Ihnen Das dumme
Zeug wegtaut. Aus lauter Dankbarkeit werden Ste ſie ſchließlich
fogar gluůͤcklich machen, — fo unwahrſcheinlich das auch ausſieht.“
Gott ſei Dank, in diefem Augenblick tauchte Poffers Kopf in
ber Wendeltreppenwindung auf.
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Ma!" fagte er, „gut unterhalten?"
„Sehr gut," fagte die Witib.
Den Reft des Tages fuͤllten wir wieder mit Kulturhiſtorie aus.
Morgen fahr” ich nach Münden.
Die Abfuhr genügte aber, — nicht wahr?
D Ja, Schmauſenbuck iſt ein Kanonenkugelwort.
Dein rumgebrehter
Panfrasius.
XI.
Einige Seiten aus Herrn Pankrazius Graungers Reife:
tagebuch, aus denen hervorgeht, daß er philofophifche und
andere Anmandlungen wunderlichſten Charakters hat
Bon + ++ Nürnberg nach München.
Wenn wir ganz verfatert waren, wir in ben dunfelroten Muͤten
dazumal, dann fangen wir das ſchoͤne Lied:
Hin und her, hin und er
Sehe der Dendelſchwengel.
Auf und ab geht er nicht,
Sqat. du bift ein Engel.
Mancherlei, mancherlei
Drehe ſich Hier im Kreiſe
Mandys geht auch grabeaus,
Sprach der alte Weiſe.
Diefer alte Weife war
Kluͤger, als man dachte;
Dadıte fein Gehirn zu ſchnel,
Spraqh er: „Sachte! ſachter·
Litt der alte Weiſe an
Welchämsrrpoiden,
152
Sucht und fand bei Dannchen er
Seinen Seelenfrieden.
Hannchen, das war ein Juwel,
Und der alte Weiſe
Kniff fie, wo fie dicke war,
Und er ſummte leiſe:
Hin und per, pin und her
Sehe der Pendelſchtwengel.
Auf und ab geht er nicht,
Scan, du bift ein Engel,
ga, ja, biefe Philofophen! Es ift feine Frage, daß ſie's hinter
den Ohren haben. Sein Hannchen hat ein jeder, und er weiß wohl,
mo fie am fniffigften iſt.
Ob aber ein jeder biefer Weltweifen (das ift eine Doftorfrage)
mit feinem Hannchen verheiratet ift?
Pfut, Panfraz, wer wird ſolche Fragen ftellen?
Was hat die Weltweisheit mit dem Standesamt zu tun?
Das Hannchen in jenem Liebe ift ein Symbol, mein Sreund,
und honny foit, qui mal y penſe! Ober ...? ... Ah! Was gehen
mich die Hannchens der Weltweisheit an! Wie komm' ich uͤber ⸗
haupt drauf?
Ad) fo: der Katzenjammer, das Katzenjammerlied:
Katerblas, Katerblas, du mein Bergnügen,
Katerblas, Katerbias, du meine Luft,
Gips Feine Katerblas, gAb’s kein Vergnuͤgen,
Gab's Feine Katerblas, gäb’s kahaine Luſt!
Das heist den Teufel mit Beelzebub austreiben, der Teufel
Oberſten. Und das Rejept iſt nicht fo ſchlecht, als man's macht.
Welches beffere Mittel gibt's gegen das Leben, als ſich totzu>
ſchießen? Und: Was hilft beffer gegen den Wurm des inneren
Ärgers, als die fanfte Pine philoſophiſchen Stumpffinns?
153
Ich fannte einen Mathematiker, der, wenn ihn feine Frau recht
ehegeſpoͤnſtiſch beliebfraut hatte, fich hinfegte und mit allen Regeln
dieſer greulichen Kunft ausrechnete, daß zwei mal zwei fehsund-
awanzigundeinhald fei. Sobald er mit der Rechnung fertig war,
war er aud) von jeglichem Bodenſatz des Ürgers frei.
Schade, daß ich fein Mathematiker bin. Deir bleibt nichts an-
deres uͤbrig, als Verſe zu machen oder zu philofophieren.
‚Halt, da Hab? ich mich: ich bin alfo ärgerlich?
Wundervoll!
Ad 1. Was iſt Ärger?
Ärger iſt Die Seefranfheit der Seele, Ungleichgewicht, Mangel
an feftem Boden, Schaufelmeh.
Ad 2. Auf welchem Meere hat meine Seele das Gleichgewicht
verloren?
Bitte: es war fein Meer, es war ein Tuͤmpel.
Schön, — aber, mein Befter, das ift eine blamable Seele, die
auf einem Tuͤmpel ſeekrank wird.
Ja, aber es war ein beſonders gefährlicher Tuͤmpel.
Alle Wetter: ein gefährlicher Tuͤmpel! Das iſt ein Wort! Deine
Seele faß vermutlich auch in einem hoͤchſt gefährlichen Kaften von
Schiffe, wie? Und, mein Gott! vielleicht fiel eine Sans ins Waſſer,
und es gab Wellen auf dem Tuͤmpel!
Baffen wir das Tuͤmpelthema!
*
*
Wenn ich mir’s recht überlege: die Witib hat vielleicht ganz recht
gehabt.
Nicht freilich fo, wie ſie's meinte!
E Das mit der Liebe, du lieber Gott, — den Speck Fennen wir
Mäufe! Die Jungen, die Schledrigen, die mögen dran lecken und
154
immerhin dann zwiſchen den Drähten piepen, daß es von weitem
wie Halleluja flingt. Wir alten, klugen, ſchon etwas angegrauten
Maͤuſeriche aber, wir nicht mehr Spederigen und Schlederigen,
bie wir von biefer ausgezeichneten Welt keineswegs mehr das ſo⸗
genannte Gluͤck, Diefe glänzende, aber fehr problematifche Schwarte,
verlangen, wir, bie wir vielmehr mit dem hausbadenen, harten
Brot der Ruhe zufrieden find, wir, weber Gluͤcks · noch Liebesritter,
fondern ganz einfach Lebenswanderer ober Lebensbummler, ober,
wenn wir ben Tick des Feierlichen haben, Lebenspilger —: wir
stehen nicht ’mal die Naſe mehr hoch, wenn wir die Düfte diefes
Lockbratens riechen. Die kluge Witib an der Falle freilich erflärt,
nur durch den Speck gelange man zum Heil. Je nun, feien mir
gelaffen und verzichten wir auf dieſes Heil.
Laſſen wir die Idee mit der Ehe ſchwimmen, Panfraz.
Poffer, das ift der Held! Der hat die Wahrheit intus. Wie
wohl fühlt er ſich in feiner Ehe mit der Palette!
Wir werden ſchon auch fo ein Behelfchen finden.
Wie wär's, Panfrazl, wenn wir ung aufs Dichten verlegten?
Wir fommen zwar nicht in die befte Gefenfchaft dadurch, aber
beffer als die einer Frau ift fie immer noch. Und wenn bie Leute
auch Über die Kinder lachen, die wir mit Frau Lyrik zeugen, fo
wird das unfern Baterfreuden ebenfowenig Abbruch tun, wie es
den ehenäterlichen Freuden Abbruch tut, wenn die Welt die pp.
Kinderchens nicht ganz fo entzuͤckend findet, wie der Herr Papa.
Alſo, topp: ſchlagen mir die Leier!
unmöglich, Panfrazt, unmöglich! Zu altmodiſch und aufbie Dauer
degoutant. Die Reimwieſe ift zu abgegraft, und bie blaue Blume
bat jeder Kommis im Knopfloch. Es muß was Exkluſiveres fein.
Irgendwas fammeln?
Rabierungen, Briefmarken, Zeitungsausſchnitte, Zigarrenab-
faͤlle, Exlibris, Korfftöpfel, Autogramme, Porzelan, Käfer, japa-
155
niſche Buntdrude, Parifer Plakate, alte Theaterzettel, Drängen,
Medaillen, Buͤcher, Petrefarten? — Alles zu gewöhnlich.
Man müßte was Abominables finden: Korfette berühmter Ko»
fotten etwa; aber Das paßt ſich wieder nicht für mic.
Alle erſten Hefte von Zeitfehriften, Die nad) dem erfien Heft ein»
gegangen find; — zu umfangreiches Gebiet, unmöglich ohne Staats ·
hilfe.
Wie waͤr's mit einem Negifter aller Schlagworte, politifcher,
fünftlerifcher, wiſſenſchaftlicher?
Dazu müßte man einen Verein von Gelehrten gruͤnden.
Wie wär's mit einem Sport? Rollſchuhlaufen oder Spiritis ⸗
mus etwa!
Der legtere wäre nicht ohne, wenn er nicht fo verteufelt femi-
nint generis wäre.
Halt: die Politik! Neichstagsfandidat! Auf den Tiſch hauen,
die Lungen vollpumpen, die Backen blähen, die Stirn rungeln, Die
Augen rollen, und nun los: Meine Herren!
Unzweifelhaft: diefe Emotion erfegt volfommen jede Zimmer»
gymnaſtit.
Aber auf die Dauer?
Und auch hier: die Geſellſchaft, in die man gerät...
Schließlich würde man Anarchiſt aus Afthetifcher Dmoften
und fäme in Ungelegenheiten mit der Poltel.
Das iſt dann auch nicht viel angenehmer als verheiratet fein.
Ich bin wirklich in einer üblen Lage.
Wenn das bie Tante wüßte!
* *
*
O ich unglaubliches Schreibetier. Da fig’ ich Hier und ſchmiere
unter Rattern und Nudeln mein Notizbuch voll, und draußen fauft
der Srühfommer vorbei in allen feinen Praͤchten.
156
Da: Gärten mit nidenden Rofenbäumenz die Haͤuſer dahinter
umflettert von Grün, und der Simmel drüber hoch aufgewoͤlbt in
tiefer, fatter, feliger Blaͤue.
Es dreht fi) die Schönheit um mich wie ein Reigen von Goͤt ⸗
tern, und ich fige im Mittelpunkte des Kreifes und Preifche mich
an und bewerfe mich mit Sronien und beſpicke meine Seele mit
Selbſtinveltiven.
Warum leb' ich nicht einſach? Warum mach’ ich nicht einfach
meine Augen auf, weit auf meine Augen und ale meine Sinne
und laffe in mich einftrömen Gerechtes und Ungerechtes, alles, was
da lebt und weht, alles, ohne Kritik, ohne Gefperr und Geerr!?
Barum fag’ ih immer und immer nein? Warum hab’ ich’s
ewig mit dem Gehirn und nie mit den Sinnen?
Warum verjioittere ich mein bißchen Dafeln zu einem Donftrum,
das weder gibt noch nimmt?
Zum Teufel mit dem Spintifieren und Noͤrgeln! ’mal losgelebt!
Keinen Zweck aufgerichtet! Keine Zukunft aufgepflanzt! Augenblick
sefügt an Augenblid und ruhig hineinwachfen in Zeit und Welt!
Da fiehen Blumen. — Nimm fie!
Da glänzt ein Licht auf dem fehleßenden Gruͤn des Stroms. —
Nimm's, es ift dein!
Da harft der Wind durch die Telegraphendrähte.
— Horch' Dir feinen Ton In die Seele, wenn er dir gefänt!
Was dir aber nicht gefaͤllt, laß es ruhig fein und ſchimpf es nicht!
Was geht dich deines Nachbars ſchiefe Naſe an? Und der Witib
fpigige Bemerfungen, — was haben fie mit dir zu tun? Und al
das Weibsvolk, das dir fo lange fatal war, — was haft bu mit
ihm zu fhaffen?
Steund, fapere ande! Geh’, wenn du nad Muͤnchen fommft,
ins Hofbräuhaus, oder, wenn jegt der Yuguftiner beffer ift, in den
Auguftinerkeler.
157
Geh' aber nicht hin, um eine Frau zu fuchen, mein Lieber!
Denn das ift die Hauptſache: bau’ Dir feinen Zweck auf! Die
Zweckmeſſerei iſt ebenfo dumm mie Die Beckmeſſereil.
Was fagt’ ih? Sapere aude! Nicht doch! Vivere aude!
Los! Leben, hurra!
* *
Sobald ich im Hotel fein werde, werde ich der Witib folgenden
Brief ſchreiben:
Gnaͤdige rau, Ste haben recht! Die Liebe iſt Die Hauptfache.
Aber nicht bloß fürs Heiraten, fondern überhaupt.
Denn die Liebe ift das Gedankenloſe.
Meinen verbindlichften Dank, daß Sie mich das gelehrt haben.
Ich hätte es eigentlich ſchon wiſſen follen aus dem Worte: Dem
Gerechten ſchenkt's der Herr im Schlafe.
Ich win mit machen Augen fehlafen. Ob mir dabei mas ge
ſchenkt wird oder nicht, fon mir gleich fein.
Dankharft der Ihrige
Pankrazius Graunger,
meer Kulturhiftorifer noch Freiersmann.
RX.
Herr Pankrazius Graunger trinkt in München Bier, fieht
fih Bilder an, fühlt fih wohl und berichtet über all dies
feinem Freunde Poffer in Nürnberg
„So du nach Münden kommſt, Dann aus Berlin, ziehe
deine Stiefel aus und wirf fie hinter dic), denn ſiehe, Hier
iſt gelobtes Sand.
158
Zu’ von dir, was berliniſch iſt, Mann und forge dafür,
daß deine Seele blau / weiß werde, das iſt: fröhlich.
Du ſollſt niche auf den Straßen rennen und deine Nach⸗
barn anſtoßen mic ſpitzigen Ellenbogen, fondern ſollſt fein
behäbtg deines Weges wandern und Feine Eile haben.
Sollſt auch nicht ſchnarren mit deiner Stimme und
Quetſchlaute laffen aus deinem Munde, wie bie jungen
geutnants tun, die von der Garde find, fondern ſollſt reden
wie ein Menſch, und zwar nicht in der Ziftel und nicht zu
laut und nice zu viel, Denn fo du ſprichſt, kannſt du nicht
trinken.
Denn alſo ſpricht das Muͤnchener Kindl: Dei Ruah
mecht' it“
Das Heil iſt eingekehrt beim Auguſtiner, mi Poſſere! Kein
Zweifel: das beſte Bier trinkt man heuer im Auguſtinerkeller.
Ich wuͤrde das nicht mit ſolcher Beſtimmtheit behaupten, wenn
ich nicht die Meinung ganz Münchens auf meiner Seite hätte.
In diefem Punkte darf man fi) auf das Urteil der Menge ver»
laffen. Befonders hier, wo in punkto Bier Durch Generationen ein
Urteil gezüchtet worden iſt.
Dieſes Bier ift wert, befungen zu werben. Es hat richtigen
Schmel;. Nur die beften Verſe Goethes Laffen fih damit verglei-
hen. Es gibt Feine beffere Syntheſe von Kraft und Geiſt, als fie
der Auguftiner-Bräumelfter hier geleiftet hat. Refpeft!
Ich fige jeden Abend im bufchigen Auguftinerfeler und unterhalte
mich mit dem Maßkruge. Erfpöpfendere Diskuffionen find nie
abgehalten worden. Der Geſchlagene bin aber immer id. Wenn
ich auch anfangs ein bißchen aufmucke, am Ende neige ich mich
doch ſtets dem erleuchteteren Seifte, der aus Malz und Hopfen iſt.
Es ift der Münchener Geiſt, der Daraus fpricht, der Geift der
Lebfriſche, der Sinnentuͤchtigkeit, der Geiſt, der hier fogar die Phi-
liſter erträglich macht.
Aus dieſen Maßkruͤgen kann man was lernen, und wenn ich
159
Das nötige Geld dazu hätte, ich gründete Ferienkolonien für die
Berliner und ließe einen jeden der wackeren Reichshauptftabtblirger,
vom Tiergartenviertel bis zur äußerten Muͤllerſtraße, einen Maf-
krugkurſus hier durchmachen. An Schneidigfeit und Schnoddrig ·
feit Comindfe Antteration!) wuͤrden fie freilich einbuͤßen, aber fie
würden an Liebenswuͤrdigkeit und Lehensfunft zunehmen.
Lebenskunſt — das iſt's. Wie für alle Künfte, fo tft auch für
fie eine gewiſſe innerliche Naivitaͤt, ein gewiſſes Naturburſchentum,
das aber recht wohl Fultiviert fein fann, die Borausfegung. Dan
muß fi) vor alem feiner Natur nicht fhämen. Dan muß den
Mut feiner ſelbſt und die Luft an ſich felber haben. „So bin ich;
ich fann nicht anders; ich werde mir ſchon felber helfen! Amen!“
Lebenskuͤnſtler von diefem etwas groben Schrot und Korn findet
man bier mehr als anderswo, und deshalb findet man hier mehr
als anderswo Lebensfreude und Lebenskraft. Das ift der Grund,
weshalb es den Fremden hier fo wohl gefällt. Sogar die Durd+
ſchnittsreiſeenglaͤnder befommen hier etwas Menſchenaͤhnliches.
Dabei ift es doch nicht eigentlich Das fpesififch deutfche Wefen,
das einem hier fo lippenrot entgegenlacht. Davon iſt nur ein Teil
hier zu finden. Es ift fchon mas Suͤdlicheres hier lebendig, was
Romanifches. Aber Romanentum ohne Gezappel, wie es anderer»
feits Germanentum ohne zuviel innere Schwerfätigfeit ift. Eine
gute Miſchung.
Es ift ein wahres Gluͤck, daß das die Hauptftadt der deutfchen
Kunſt ift, — zum mindeſten ift es fehr gut, daß Berlin das nicht
iſt. Es ſteckt hier ſowohl an Natur wie an Kultur mehr als dort.
Selbſt Drenzel, wie famos er auch ift, hat doch was preußiſch Ver»
früppeltes, während hier felbft der Mleinfte Pinfelmann und das
kleinſte Pinfelmädchen was Friſches, gerade Gewachſenes hat. Nur
das Intime, die Kunft des Laufchens fehlt. Das iſt mehr die Sache
des Mitteldeutfchen und des deutſchen Nordrandlaͤnders.
160
Fram Stud, das ift der Typus diefer muͤnchneriſchen, Diefer ro ·
maniſch · germaniſchen Kunſt. Jtalienifher Geſchmack und deutſche
Tatzigkeit, Sinn fürs Dekorative, aber doch ab und an 'mal eine
Priſe von Idee, — nur Innerlichkeit ſucht man vergebens, jenes
Inwendige der Kunft, das ihr Tiefftes und Hoͤchſtes ift. Der viel
deutſchere Uhde hat das, diefer unmuͤnchneriſchſte aller Münchner
Kuͤnſtler, diefer wunderbare Meifter des Schlihten, der ohne Jüu-
minationgeffefte und ohne ſtiliſtiſche Ateliergymnaſtik groß ift, aber
noch größer wäre, wenn ihn die fächfifche Unruhigfeit nicht am
Kragen hätte.
Ich komme ins Kunſtgeſchreibe und verleugne bie gute Erziehung,
die mir der Maßkrug im Auguftinerfeler gegeben hat. Er wird
mich heut’ abend ſchoͤn anfahren daflır, aber ich kann mir nicht
helfen.
Ich will, wenn ich von Kunſt rede, ja auch nicht nörgeln und
win feine Proflamationen erlaffen. Mir ift Die Kunft nur Aus ·
löferin von Empfindungen und Gedanken, wie es alles Gute, Kräf-
tige iſt. Ich erhebe nicht den Anſpruch, daß meine Gedanken bie
richtigen, daß meine Empfindungen die allein wahren find, aber ich
finde, Daß ich meinen Danf der Kunft gegenuber nicht beffer zum
Ausdrud bringen fann, als Indem ic) das von mir gebe, was fie
in mir aufgedeckt hat. Ein fehr fpärlicher Dank, — gewiß, aber
ein armer Teufel hat bloß fein „Wergelt’s Gott!" Und ein Schelm
iſt bekanntlich, wer mehr gibt, als er hat. Es gibt aber ziemlich viel
ſolcher Schelme, zumal unter den Kunftfchreibern.
Der Haupteindrud‘, den ich hier von der zeitgenoͤſſiſchen Kunft
babe, iſt der: es wird wieder ’mal mas, „es regt ſich was im Oden ⸗
wald“,
Die bildenden Kuͤnſtler haben In außerordentlich Furzer Zeit ei ⸗
nen außerordentlich weiten Weg zuruͤckgelegt. Erſtens haben fie Die
Kunft des perfönlichen Schens wieder gewonnen, dann die Kunft
ıı Bierbaum II 161,
des perfönlichen Ausdrucks, und jegt find fie Drauf und dran, unter "
die Dichter zu gehen, dorthin alfo, wohin jeder wirkliche Künftler
gehört, der nicht bloß Fingerfer ift.
Und welch ein Reichtum in diefer Welt der neuen Kunft, —
von Liebermann bis Klinger, von Uhde bis Boͤcklin ...
Freund, wär’ ich ein Künftler, ich fpräche heute mit dem alten
Hutten: Die Geifter werden wach, es ift eine Luft zu leben. Ja,
ich fpreche fogar fo, obwohl ich fein Künftler bin. Ich armer, lah⸗
mer Schlachtenbummler auf der Walftatt der Kunft freue mich
doch unbaͤndig, wie Iuftig hier gefochten wird, und mie ſich Die Sieges-
zeichen türmen. Auch für ung Nichtfombattanten fänt vieles und
Köftliches ab. Auch unfer Lehen gewinnt an Licht und verflärter
Bedeutung durch das, mas bier gewonnen wird. Auch wir
werden, wenn auch nur anfchauend, aus dem Alltag erhoben,
denn ung erhebt die Mitfreude, dag Gefchöpfe unferer Art im-
ftande find, noch einmal Leben, noch einmal Ratur zu fchaffen, ein
neues Leben, eine neue Natur, diejenige, In der Menſchen Die Herr-
götter find.
Du fiehft, ich Bin nicht faul, mir überanher Material zu holen,
aus dem ich mir ein Kapellchen der Lebensfreude bauen kann.
Dies aber fei Dir gefagt: eine Priefterin, Die Darin zu zelebrieren
hätte, fuche ich nicht mehr! Ich finde: es ift huͤbſcher fo, mit feinen
Göttern alleine zu fein. Es heißt: Taceat mulier in ecclefia. Da es
aber den Weibern fehwer fänt, ſtille zu fein, laſſen wir fie lieber
draußen.
Gruͤß mir die Witib!
Ich bin Dein
Yanfrastus.
162
XXI.
Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an ſeinen
Freund Peter Kahle. Handelt von idylliſchen Plaͤnen
Dießen, am Ammerſee, im Roſenmond.
Lieber Peter!
München ift eine herrliche Stadt, aber es wird zu viel Kunft-
fimpelei dort getrieben. Das Kunftfhaffen iſt ein koͤſtlich Ding,
aber das Kunſtſchwatzen ift ein greulicher Unfug.
Schlimm ift es, wenn dieſer Unfug von Künftlern begangen wird,
ſchlimmer, wenn ihn die Philifter treiben, am ſchlimmſten, wenn
ihm Kunftgelehrte obliegen.
Denn, wie fagt doch ſchon der göttliche Sterne in Triſtram
Shandys brittem Teile? Dort ſteht im zwoͤlften Kapitel alfo ge-
ſchrieben: „Bon allem Geſchwaͤtze, das In Diefer geſchwaͤtzigen Welt
geſchwatzt wird, iſt das Kennerkunſtrichtergeſchwaͤtz das unausfich-
lichſte.“ Set mir gepriefen, Dann aus Elonmel!
Ich hatte das Unglüc, mit einem befonbers degoutanten Erem-
plar diefer Spezies hier in Berührung zu fommen, mit einem vom
Jungen Nachwuchs, daß Gott erbarm’! Ein langer, duͤrrer Kerl
mit ſauren Lippen und Augen wie aus ranzigem DI. Sprach von
nichts als von Kunft, aber in einem Tone, als beflagte er ſich, daß
es ihm vom Schickſal beſchieden fe, über derlei Zeug zu reden.
Ich hätt’ ihn immer an den Schultern paden, ſchuͤtteln und
ihm Ins Geficht fehreien mögen: Menſch, warum handeln Sie nicht
Hieber mit Perleberger Glanzwichſe, wenn Ihnen die Sache doch
fo ſchnuppe ift?
Thoma war ihm baͤuriſch, — und das fagte er megwerfend.
uhde „machte ihm zu viel mit Empfindung”, und „bei Bödlin
muß man ben Sabuliften vom Maler trennen“.
1 163
Kein Bild, das er nicht beſchleimte, fein Maler, den er nicht
mit Vergleichen beflederte, — die ganze Kunft war ihm bloß eine
Gelegenheit, um prätentiöfe Fadheiten zu fagen. Nur fein Enthu-
fiasmus! Nur feine Hingabe! Nur nicht das Land der Schönheit
mit der Seele fuchen!
Haupterforbernis für einen derartigen Kunftgelehrten ift, und
daran kannſt Du ihn erfennen: ftets mit halb zugefniffenen Augen
ein Bild betrachten und dabei die Mundwinkel fallen laffen. Nur
die geldteren wagen dazu ein unausdeutbares „Hm".
Der meine war einer von den Vorgefchrittenen. Er operierte
mit einem Riefenapparat von Atelierredensarten, — ich möchte
ihn einen Daulmaler nennen.
Apage monftrum! Der Kerl hat mir die Luft an Münden ver-
gänt, ich nahm meinen Ruckſack und ſchob ab.
Nach dem Ammerfee.
Du! Der it ſchoͤn! Schöner als der Starnberger, fand ich.
Der ift ſchon ein bißchen Baffin geworden, „umfrängt von Bitlen“,
Ich danfe fhr dieſen Kranz.
Der Ammerfee dagegen hat noch viel Natur. Item: es gefaͤllt
mir bier.
Ich habe mic) in Dießen eingeniftet. Vorerſt im Kloſter oben,
das jegt ein Gaſthaus ift. Aber ich bin auf der Suche nad) einem
Bauernhaus, in dem ich wohnen koͤnnte. Dich geluͤſtet's nad)
Idylle. Ich möchte 'mal ein bischen Unfultur foften, 'mal bloß
naturbeſchaulich Ieben, ohne Wonen, ohne Ziel.
D6’8 geht?
Retournons a la nature, d. h. auf beutfch: fehen wir ung 'mal
in uns felber um.
Dazu fommt man in der Kultur nicht. Die beficht aus Lauter
Verhältniffen und läßt feinen ſich felber haben. Da wird man
nur gehabt. Es ift eine ewige feelifche Proftitution, und das Beſte,
164
was die Kultur hervorbringt, die Kunft, iſt aller Proftitutionen
tragifchfte. Gottlob, daß ich Fein Kuͤnſtler bin. Es muß etwas
Graͤßliches fein, fi) von aller Welt befingern und fennerhaft ab»
taften laffen zu muͤſſen.
Wie ich hier lebe? Ganz ſchaͤferlich. Wandre hin, wandre her
und weide meine Schafe.
Id hin Herr von einer großen Herde,
Und die ganye Welt iſt meine Weide,
Meine Schafe weiden ſelbſt im Himmel.
Es iſt doch fein Kritiker in der Nähe? Wie würde der witzig
den Bleiſtift fpigen, wenn er IAfe, daß ich meine Gedanken und
Gefühle Schafe nenne.
Man wird fo angenehm müde bei dieſer Befhäftigung, fo ruhig,
fo abwartend, fo haflos. Das Vegetieren ift bie gefünbefte Be-
ſchaͤftigung.
Nerven? Was iſt das für ein Wort?
Ärger? Wo hab’ ich doch dieſes Subſtantivum ’mal gehört?
Die größte Aktualitaͤt find mir jegt Rofen.
Wunderbare gibt es davon hier.
Und dann das DBauernblumenzeug, das in den Gärten blüht.
Welch eine Pracht!
„Baͤuriſch!“ wuͤrde das wandelnde Pergqment ſagen. Fahr' ab,
Greuel!
Du ſollteſt einmal hier zu meinem Fenſter hinausblicken koͤnnen.
Grün ringsum, aber in der Weite vorn der blaue See und brüber
her der Himmel mit weißen Flaumwolken.
Auch die Menſchen gefallen mir hier im ganzen. Es ift eine gute
Mifhung: Schwabbayern. Befonders gut gefänt mir Die Sprache,
dieſes mit Schwaͤbiſchem durchſetzte Altbayriſch.
165
Leim Gingalatoirt,
Beim Gangalawirt,
Da kehra d Schwabe di’
Und trinken ’s Stäsle Branntewei
und ſchiewe ’6 Släsle ei.
Schwaben und Oberbayern ftoßen bier hart aneinander, und
es if, obwohl fie eigentlich ineinandergefloffen find, immer noch
mancher Reſt von früherer Gegnerſchaft vorhanden, jegt nur in
Redensarten und leichten Spöttereien.
Man Fönnte faft verfucht fein, „Stublen‘ zu machen. Aber da
fet Gott vor! Ich fang’ mir nur hier und da ein alt Liedel ein und
freu’ mich d’rhber.
Was ſagſt Du zu biefem ſchwaͤbiſchen Schnapphahnlied:
3 bin dei un dei,
Und du biſcht mei un mei,
I geh Ins Scheaͤdela nei
Und du in Tenne,
I ſchtiehl a Schtrimpfla mehr
Und du a Henna,
Iſt das nicht wunderhuͤbſch?
Solcher Lieder fliegen bier viele durch bie Luft.
Weiß der Himmel, welcher Brandfohlenläufer fie einmal ers
funden hat, aber wenn ich die Wahl hätte, wem ich den Kranz
geben fon: ihm oder einem der reputierlichen Neimfrifeure von
heute, ich würde mich nicht lange befinnen.
Verliebt ift aber das Volk hier, — es iſt um Hinwerden! Ich
würde Div noch eine ganze Reihe von Liedern auffchreiben, wenn
fie nicht ausſchließlich von der Perfon eingegeben wären, bie Fiſch ⸗
art „Das feberlinde Töchterlin‘ nennt.
Hans und Grete,
Grete und Dans,
166
Überall derfelbe Tan.
Immerfort derfelbe Kreis.
Don Adam her im Paradeis
Zielt alles auf denfelben Strich, —
Das Ding iſt unabaͤnderlich.
Panfraz.
XXI.
Haren Pankrazius Graunzer parabelt es, und er erzählt
feinem Tagebuche eine Hirtengeſchichte
Iqh Hin Herr von einer großen Derde,
Umd die ganze Welt iſt meine Weide,
Meine Schafe weiden felbft im Himmel.
IE da eins, cin Bock, cin ſchwarzer, großer,
Dit gewundenen Hörnern, zottelhaarig,
Seine Augen find nicht liebenswuͤrdig
Und er renne mit feinem dien Schädel
Gern an jeden Baum und jede Mauer.
Diefer Bock nun, heute, da der Dimmel
Voller Geigen hing und Schaͤfchenwolken,
Sprach zu mir: „Ich moͤchte oben weiden.“
Vitte r ſprach ih, „tu', was dir genehm iſt,
Schwarjer Bor, doch ſei nicht unmanierlich,
Wenn du oben etwa jenen Alten
Treffen ſollteſt, den du gerne leugneſt.“
„Wen denn?“ ſprach der Bo. „Du wirft ſchon fehen,“
Sprach ich, und der Schwarze fagte „MAp!“ und
Hopfte fort.
Rad) einer langen Weile,
Während ic) die weißen meiner Ammer
Über grüne Wiefen trieb um Klange
167
168
Meiner gelben. Schilfropeflöte, Bam er
Wieder.
„Run, mein fehr verehrter Schmarger,
Was iſt dir begegnet, oben, ſage!?.
„Unerhoͤrt! Der Alte iſt Fein Drärden!
Lelbhaft hab’ ich ihn gefehn und felber
Zwiefprad)” Habe id) mit ihm gehalten.
Wundergütig ift er und gelaffen,
Selbſt mic) ſchwarzen Bock. der ihn geleugnet,
Dat er vaͤterlich und gut behandelt.
Nimmermehr, folang’ ich meine Hörner,
Die getvundenen, trage auf dem Kopfe,
Komme mir’s wieder bei, daß ich Ihn leugne.“
„Donnerwetter, Schwarzer meiner Seele,“
Sprach ich, „biſt du etwa fromm geworden?
Einmal nur an Dimmelsgänfeblumen
Dat dein Maul gerupft, und apoſtatiſch
Biſt du ſchon? Das ift fehr ſchnell gegangen.
Ale meine weißen &Ammer werden
Schr vergmügt fein, wenn fie das erfahren,
Und in Mäp-Eporäten werden laut fie
Preiſen, daß ein Wunder ſich ereignet.“
„aß mir,“ ſprach der Schwarze, „bitte. deine
Weißen Laͤmmer gütigft aus dem Spiele.
Ihretwegen bloß hab’ id bis Heute
Jon geleugnet, den in Veißkredit fie
Dit den vielen Mäf-Chorälen bringen.
Rein, ein Lammerhirte iſt der Alte
Nicht, obwohl er milde und gelaffen.
Er iſt größer. Oh, er iſt gewaltig.
Schafe find und Voͤce feinem Auge
Gleich, er iſt kein böfer Stallverwalter,
Der dem einen Stroh gibt, jenem Hafer.
‚Siebe Eennt er nicht und Haß nicht, alles
Lebende hat teil an ihm, in meinem
Scywarzen Auge iſt er und Im weißen
Wollpaar deiner mähvergmügten Laͤmmer.“
„Weiter weißt du nichts mir zu berichten?
Diefer Pantpeitmus, gutes Bädkhen,
Iſt in angejahrter Wein. Ic Eenn’ ihn.“
„Nenn' es, wie du Luft haft, und datier’ «6
Meinetwegen bis zu Dlims Zeiten,
Aber richeig if es doch nicht minder.
Das ich es erkannt, des bin ich Fröplid,
Und ich will von nun ab darnach leben,
Das ich es erkannt.“
Cr hob die Hörner,
Straffte feine Beine noch um etwas
Steifer, als gewöhnlich, und ftoizierte
Feierlich von dannen.
Sachen mußt’ ich
Meines ſchwarzen Pantheiften. Selig
Maͤhten meine diefen weißen Laͤmmer.
XXID.
Einige Stücde aus Heren Pankragius Graunzers
Serfchle-Pepi- Buch. Man wird erfahren, mas dies für
ein Buch ift
25. Juni,
Gott verläßt feinen Junggeſellen: ich habe mein Bauernhaus
gefunden.
‚Hier fie ich auf meiner Altane zwiſchen heilen Weinblattiwän-
den und blicke hber Wiefe und Bufch weg sum See.
Geſegnet feift du, o Gerfehle-Pept, die du zwar nicht fchön biſt
169
unter den Jungfrauen, aber bu haft mir gegeben, mas ich gefucht habe,
und dafür preift Dich meine Dankbarkeit. Dir sum Ruhme ſei dies
Buch genannt, in das ich meine einfamen Freuden eintragen will.
Ich fange an, zuzunehmen an jener Weisheit, Die zugleich eine
Kunft if. Lebensweisheit: Lebensfunft.
Das iſt Die Weisheit, an Gott zu glauben, und bie Kunft, ſich
wohl zu fühlen.
In ein Kompendium kann man fie nicht faffen, und auf Akade .
mien läßt fie fich nicht lehren. Zu ihr wie su allen Weisheiten und
Künften muß man Talent haben. Auch ſchenkt fie ſich ung erft in
einem getviffen Alter, denn fie liebt bie Strubelföpfe nicht. Es iſt
Alte· Leut · Weisheit und Alte-keut-Kunft. Drum machen fi) die
Jungen boͤs luſtig über fie.
Ad, die armen jungen Schnäbel! Solange man noch Kiffen
will, ift man dumm; die Weisheit wohnt nicht bei Frau Venus.
Daher find die Eyrifer ihr Leibgefinde — nämlich der Frau Venus.
Man braucht übrigens deswegen fein Weiberfeind zu fein. Dan
muß nur das Weib nicht mehr wollen. Das ift das Kunſtſtuͤck.
Ich hab’s Bisher verfehrt angefangen. Ich hab’ mich über das
Volk geärgert und bin doch drauf angemwiefen, mich mit ihm ein»
äulaffen. Das war die legte Lockung. Sie wollten mic) mit meiner
Abneigung födern, und ich hab’ wirklich ein paarmal augebiffen.
Aber jegt bin ich fiher. Ich haſſe fie nicht mehr, alfo find fie
mir nicht mehr gefährlich.
Ein ſchoͤnes Gefühl das, — es hat was von Srömmigfeit.
Du biſt wieder eine Suͤnde los, Panfrast!
* . *
26. Juni,
Wundervoll: ich bin jegt fo frei vom Weibe, daß ich fogar eine
Freude an ihm haben fann.
170
Es iſt alfo wahr: Srömmigfeit hat ihren Lohn.
Fruͤher, wenn ich eine huͤbſche Larve fah, war mein nächfter
Gedanke: Hüte dich! Laß dich nicht fangen! Das bißchen Schön-
heit iſt Bloß der Speck fur Mäufe, und Dahinter lauert der Reinfall.
Und ich machte ein ſchief Geficht, wie der + + + Kunftgelehrte
vor einem fehönen Bilde.
Wie anders jest! Sah ich da heute ein huͤbſches Kind im Bor-
übergehen da unten — richtig: ich kann das Haus von hier aus
fehen, dort war's, hinter den Nußbaͤumen! — fah es und — freute
mid! Sagte fogar Grüß Gott! Sie aber wurde rot und ſchoß ins
Dunfel der Hausflur zuruck.
Ein reijendes Ding! Augen wie, — ja, wie denn? Gleichviel:
ſchoͤne Augen! Und Bewegungen wie eine Eibechfe, fo, fo — fur
um: fhöne Bewegungen!
Beinah' waͤr' ich umgefehrt, fie noch einmal zu fehen. Es war
eine Art onfelhaftes Intereffe. Aber ich ließ es doch bleiben.
Man muß feine Sreiheit nicht mißbrauchen, und aud) feine Froͤm ⸗
migkeit nicht,
*
*
27. Juni,
Die Kleine iſt wirklich allerliebſt. Ich habe fie durch Zufan
miedergefehen. Im Klofter oben.
Es war da fo eine Art Tonleiterfletteribung von einem Geſang ·
verein. Und während die waderen Mannen bafgründig und tenor-
vermegen zum Himmel riefen:
„Beil dir, o König, Heil!
Heil, Heil, Heil, Heil, Beil, Heil!“
mehr ift mir von dem Terte nicht geblieben), ftand fie auf einmal
fchräg vor mir neben einem Fliederbuſch.
Guter Himmel: wie reigend fah u fie aus!
Ja, ja: Jugend!
171
Und irgendein Reim · Fluͤgelbubchen mit rofaroten Hinterbaͤckchen
hieß ſich von der blühenden Afazie herab auf meine Schulter und
ffandierte mir ins Ohr:
Ein Mädel, gedrechſelt fein wie ein Figurchen
Auf Rokokotiſchen galanter Marquiſen ..
Nun ſag' mir aber eins: wie kommt fo mas Feines hierher?
Eine Städterin ift fie nicht. Geftern fah ih fie ja, mie fie mit
der Wäfche hantierte.
Aber ſchon da fiel es mir auf, wie ihre ganze Art im Gegenfage
war zu ihrer Hantierung.
Und mieber das Reimgottchen:
Prinzeffin halb, halb Zofe,
Ein reigend Wunderden . . .
Wenn id) fie nur einmal veden hören koͤnnte. Das Schwaͤbeln
muß... . aber ich win ſchon wieder „allerliebſt“ ſchreiben.
Wenn id) jegt nicht fo gewiß müßte, Daß ich frei bin, wuͤrd' ich
denen, ic) wäre verliebt.
* *
28. Juni.
Es regnet.
Wundervoll, dieſes naſſe Geſpinſt vom Himmel zur Erde. Man
fuͤhlt ſich ſo ſicher hinter dieſer grauen Gardine.
Gam leiſe rauſcht fie, und in ihren Falten find friſche Geruͤche.
Es ift eine liebliche Muſik zum Träumen.
Was ſteckt alles hinter dem Vorhange?
Du lieber Gott: ich kenne das Theater. Laß ihn unten, Meifter
vomSchnärboden, laß ihn unten! Ich will ihn nicht, den Krawall der
‚Helden und das Kiebesgegader der Heroinen. Die Komoͤdie ift mir
fade geworden. Nüpelfpiel und Tragödie, — fie wiffen alle beide
nichts weiter, als Hunger und Liebe.
Es wird zuviel gewollt hinter dem Vorhange. Als ob's nicht
172
genug wäre, ba zu fein. Das Wollen muß man fid) ausfaftrieren
laſſen. Das Wollen ift aller Lafter Anfang.
Ab, wie ift es Föftlich, mit allen Wuͤnſchen fertig zu fein!
Das fleine Mädchen da unten mit den braunen luſtigen Augen,
— mas wäre fie mir jegt für ein unbequemes Möbel, wenn ich fie
wollte.
Ewig wuͤrde ih mich an ihr ftoßen, es wäre ein Gezerre an ihr,
ein unausgefestes Unbehagen.
So aber genieß' ich fie wie einen ſchoͤnen Vers, eine liebe Melo-
die, ein Stuͤckchen Morgenhimmelbrand. AU derlei lernt man erft
genießen, wenn man die Jugend hinter ſich hat, die im Grunde
eine große Kinderfranfheit ift.
Merfwürdig ift es, wie mein lächerlicher Wunſch nad) einem
Sohne von mir abgefalten ift, wie eine morfche Rinde vom Stamme.
Ich denfe gar nicht mehr daran. Ich denfe nicht einmal an Kie-
bitzhof.
Wenn das bie gute Tante wüßte...
Herrgott! Vieleicht aftralt fie hinter dem Regenvorhang und
guckt mir zu, wie ich hier fige und auf ale Nachkommenſchaft
pfeife.
Der Windſtoß eben kam ſicher von ihr.
Ich kenne dich, Tante! Moͤchteſt mich ein bißchen ausſchimpfen?
Wart', ich werde dich wegaͤrger.
Kannſt du dic) auf den „gräßlichen Scheerbart” erinnern? Auf
den „Phantaften“? Auf den „Bureauvorſtand des Verlags deut-
ſcher Phantaften”? Der aus dem Tee immer Grog machte und
dann zu ſchwaͤrmen anfing, daß du fchrieft: „Die Milh wird
fauer! Die Mild wird fauer!"
Diefer Dann, Tante, den ich nicht umbin fann für einen Dich ⸗
ter zu halten, obwohl von feinen Phantafien nicht allein die Milch,
fondern auch die deutſche Kritif fauer wird, dieſer Mann hat mir
173
heute eine große Freude gemacht, indem er mir ein Gedicht (bleib”
da, Tante!) gefhiett hat.
Und das font du hören! Warum haft du mir das Blumenglas
vorhin umgemorfen mit deinem Geblafe,
Höre! Es heißt „Lofcha” und lautet wie folgt:
„Weitab vom Gefilde der langweiligen, eflen, ftumpfen Quark»
gewalten raufcht ein bunfelgrünes großes Meer — bas bunfel-
grüne Meer des ewigen Vergeſſens.
Am Geftade dieſes Meeres ragen wilde fchroffe Gebirge hoch
in den Dunfelblauen Himmel hinauf.
Und am Fuße Diefer Gebirge lagern weiße Paldfte.
Die Palaͤſte glänzen, denn fie find aus weißem Milchglaſe gebaut;
fie Haben nur glatte Flächen an den Wänden und viele ſcharfe recht-
winklige Kanten — aber nur rechtwinklige Kanten — nicht andere.
Glatt und regelmäßig wie das Durcheinander von vielen großen
Treppenftufen Legen die Paldfte da — — — nur ein paar vier⸗
eckige Türme mit Burgsinnen ftreben zwiſchen den Dachterraffen
empor. Die Dachterraſſen find aud mit Burgsinnen gefrönt.
Adgeglättete Ruhe fpiegelt fi in den weißen Paldften am
Geſtade der dunfelgrünen See, in ber alles — alles vergeffen
wird...
Die Märchenengel ſchweben herbei... . in langen weißen &e-
waͤndern — ein langer Zug. "
Sie haben kleine Paufen in den Händen — und lange dünne
Poſaunen, alte Geigen und alte Flöten.
Und die Sonne geht auf — drüben im grünen Meer.
Eine filberne Sonne geht auf.
Silberne sierliche Wolfen umfrängen die filberne Sonne.
Es fieht feierlich aus — der Himmel, die See und das Geftabe.
174
Und Lofcha, die fine Priefterin, figt jest hoch oben auf einem
Zurm.
Die blanfen Burginnen glänzen und blenden.
Das dunfelgrüne Meer rauſcht.
Aber unten zwifchen den Paläften raufcht noch ein anderes
Waſſer — das firubelt und brandet und gurgelt jo — denn es
fommt vom Gebirge herunter — von ben höchften Bergfpigen
ſtroͤmt es hernieder ... .
Und dieſes Waſſer ift Dunfelrot, fo rot wie Das Blut wilder Tiere.
Das rote Waffer umfpüilt die fämtlichen weißen Paldfte.
Loſcha figt hoch oben auf ihrem Turm, ſchaut die filberne Sonne
nachdenklich an, fährt mit der Hand Über die Stirn, ſteht auf —
berührt einen runden filbernen Knopf, der aus dem weißen Milch-
glafe der Burgsinne hervorragt, drüdt ihn — und horcht ...
Da flingen in allen Paläften heile, feine Glocken Durcheinander
— mie taufend Spieluhren klingen bie Glocken — wunderſame
luſtige Lieber hallen in Glockentoͤnen durch Die weißen Palaͤſte.
Lofcha weckt die Tollkoͤpfe — die Tollkoͤpfe, die jetzt weitab vom
Gefilde der langweiligen, eflen, ſtumpfen Quarfgewalten ihr eben
verträumen —
Gierige, heiß und haftig aufftrebende Denfchen find’s, die Lo»
ſcha wet — Ihnen will fie zeigen, wie ale wilden, feurigen Wuͤn ⸗
ſche — bie blutroten Wafler — im Meere des Vergeſſens —
fpurlos verfinfen. Ob die Wünfche gut oder ſchlecht genannt wer-
den, ganz gleich.
Diefes ewige Verfinfen ſchauen fi nun die trogig begehrenden
Menſchen an — fie ſchauen ſich Das jeden Tag an — — —
Durch diefes Anſchauen erzieht Die ftile Lofcha Die unbändigen
Krafengeifter zur Ruhe — zur ewigen Ruhe im Glanze der fil-
bernen Sonne, bie im bunfelblauen Himmel von hodhgeftiegenen
Silberwolken umfränzt wie eine alte Weltuhr dahängt.
175
Ade die guten und böfen Tollkoͤpfe, die's auf Erben gab und
gibt, ftehen nun auf den Dachterraſſen der Milchglaspalaͤſte, fte-
hen ba in ihren verſchiedenen Trachten — in guten und ſchlechten
Kleidern — mit freundlichen und mit verzerrten Zügen — ftehen
da und ſchauen in bie roten Waffer und in die grünen Waſſer.
Die Glocken klingen nicht mehr.
Aber die Pauken und Pofaunen ber Märchenengel tönen jest
milde heruͤber — mit Geigen- und Flötenfpiel.
Die Maͤrchenengel fliegen langſam immer um die Paläfte herum,
fo daß ale die heißblutigen Menſchen, die Da oben auf ben Dad»
terraffen ftehen und ſchauen — auch die feine Maͤrchenmuſik hoͤ ·
ren — die bald feierlich — bald Iuftig klingt . .
Waͤhrenddem kommt Lofchas Page zu feiner Herrin und meldet
einen Menſchen, der ganz befonders wild ausfieht, einen ſchaͤbigen
Rod trägt und Loſcha durchaus und durchum zu ſprechen wuͤnſcht.
Longulano heißt der Fremde.
Loſcha, die ſtille Priefterin, hat nichts Dagegen, daß ber Fremde
näher kommt.
Sie empfängt ihn hoch oben auf ihrem Turm.
kLongulano ſtuͤrzt der Lofcha zu Füßen und füßt ihr Die Hand.
Sie entzieht ihm ihre Hand.
Er aber begehrt die Loſcha, Die ſtille Priefterin, zum Weihe —
ungeftim — rauh — fehnfüchtig.
Sie fon fommen mit ihm in bie Welt.
Sie ſoll mit ihm sufammen ale Menſchen in der Welt glücklich
machen — alle Menſchen — alle Menſchen.
Doc) Loſcha lacht den Schwärmer aus.
Sie fagt:
‚Du bift nicht der erfte, biſt auch nicht der letzte, der mich zum
Weibe begehrt. Doch ich werde weber dem erften noch dem legten
noch einem andern die Hand zum. Ehebunde reichen. Ich bleibe
176
bier hoch oben auf meinem Turm. Ich bin ans Geliebtwerden
ſchon gemöhnt. Komm’! feg’ dich fin hier neben mich auf meine
meiße Banf. Du fonft nicht traurig von Dannen gehen.‘
Longulano gehorcht.
koſcha fährt fort:
‚Sieh, aud) der Wunſch, mich als Eh’frau heimguführen, ſtru⸗
belt dort unten mitten unter ben anderen heißen Wuͤnſchen ganz
gemütlich weiter. Er wird auch wie die andern gleich ins grüne
Meer ſtuͤrzen und dort fpurlos verfinfen. Du winft, daß ich mit
Dir aufammen alle Menſchen auf der Erbe gluͤcklich machen fol —
aber iſt das nicht auch Bloß ein Wunſch, der im roten Strubel«
waſſer dahinbrauft? Du wit die Menſchen glüdlih machen?
Muft nicht fo viel wonen — du weißt ja gar nicht, ob die Men»
ſchen auch glücklich werden möchten. Die meiften Menſchen wiſſen
gewoͤhnlich gar nicht, warn fie gluͤcklich und wann fie unglüdlicd
find. Wenn fie aber legteres zu fein glauben, dann koͤnnen fie ja
ftets hierher fommen und von meiner Dachterraffe aus nieder»
ſchauen in die roten Stuten, in Denen auch Die heißen Wuͤnſche der
Unglüdlichen weiterfirömen — dem Deere des ewigen Vergeſſens
entgegen — — immerfort. Unaufhaltfam ftrudelt’s da unten —
fieh nur, wie ſchnell Die roten Waffer an den weißen Paläften vor»
uͤberſchaͤumen —. Longulano, willſt du nun noch, daß ich Ya und
Amen zu deinem fo vergänglichen Wuͤnſchen fage?
Longulano ermiberte:
‚Du feheinft nur Freude am Meinfagen zu haben.‘
Loſcha, die flifle Priefterin, nict und meint:
Ja — Neinfagen zu allem und figen bleiben, mo man gerabe
figt — das ſcheint mir das befte zu fein — — fo geht's, wenn
man alt wird. Sieh! Und hier fann man bei Maͤrchenklang ohne
Arger fehen, wie auch das Wildeſte, und mie auch das Größte in
ung fpurlos vergeht — fpurlos!"
12 Bierbaum II 177
Da ruft Eongulano:
‚Lofcha, du Bift alt und faul!“
Und er ſtuͤrmt raſch Davon.
Und er verſchwindet unten in ber Menge, die jegt, da bie fil-
berne Sonne untergeht, auch wieder verſchwindet; Die Tatmenfchen
tauchen nieber durch große Eufen — verfinfen da — ſpurlos —
fo mie die heißen roten Wünfche fpurlos im grünen Meere ver-
finfen.
Die fine Loſcha iſt wieder allein, wird nicht mehr von Longulano
geſtoͤrt.
Longulano hat Draußen in der Welt ſchon wieder andere Wuͤnſche.
Die roten Wafler aber ftürzen unaufhoͤrlich ins grüne Meer und
kuͤmmern ſich nicht darum, ob Die Menfchen und Geifter alt find
oder jung, faul ober fleißig, gut und ſchlecht ...
Loſcha figt ruhig hoch oben anf ihrem Turm, den bie blutroten
Strudel wildſchaͤumend umrauſchen.“
* *
Ein Donnerſchlag.
Wie meinſt du, Tante? Die Milch wird ſauer?
Aber recht hat ſie doch, die gute Loſcha. Nur glaub' ich nicht
recht an dieſes milchglaͤſerne Maͤdchen, denn der Weiber Art iſt es
gar nicht, reſigniert auf einem Turm zu ſitzen und ſtuͤrmiſche Lon ·
gulanos abzumeifen.
Die Kleine da unten fieht ſicherlich nicht danach aus. Donner»
metter, was hat fie mir geftern flr ein paar braune Blicke zu⸗
fpebiert!
Befcher’ ihr Gott einen rechtfchaffenen Longulano!
Ich denfe: das ift onfelhaft und wuͤrdig geſprochen.
* *
178
39. Yun.
Sie hat eine Tante, und dieſe Tante ift Did. Sie hat einen Bru-
der, und das ift ein ungeſchlachter Patron. Sie hat eine jüngere
Schweſter, und bie ift paffabel. Ihr Name aber ift fehr huͤbſch
und lautet Brigitte,
Bon wenn ich das weiß? Don ihr weiß ich es.
Ich habe nämlich mit ihr geſprochen.
Mein Gott, ich bin ein älterer Herr . ..
Es fam aber fo: Im Klofter war Schuͤtzenball, und ih fah
nicht ein, warum ich nicht einem Schuͤtzenball in einem Kloſter
beiwohnen follte. Es hat das unleugbar was Merfwürdiges. In
dem Saal, in dem er abgehalten wurde, haben die Väter Benedif
tiner ehemals ihr Eoenaculum gehabt. Es ift ein ſchoͤner, heller
Raum mit großen, hohen Senftern, die auf den wundervollen Klo⸗
fergarten hinausgehen. Ein italienifches Gemälde aus ber Raf ⸗
faclgeit, ganz angeſchwaͤrzt von Tabaksqualm, hängt dort. Es ſtellt
die Fußwaſchung dar, und Jefus Ehriftus ift fo pompoͤs angezogen,
daß man meinen möchte, fein irdiſcher Vater ſei nicht ein Zimmer»
mann geweſen zu Galilaͤa, fondern ein Zoflpächter in Jerufalem.
Die mächtigen Wirtstifche, auf denen derbe Bauern- und Ader-
bürgerfäufte emfig mit Maßfruglupf und anderen nicht eben heilt
gen Dingen befchäftigt find, find noch Diefelben, von benen bie
Chorherren gefpeift haben.
Alfo da ein Schuͤtzenball. Ein bißchen zu pfeubohonoratiorenhaft,
um wirklich luſtig zu fein. Aber die kleine Braune, die hatte, was
den andern fehlte: Natur und Grazte.
Schon wie fie hereinfam, verfelte es mich:
Wie ficht das Mädchen reizend aus
Am großen Tantenbufen,
Die Tante aber verführte mic) zu dem gewagten Bilbe einer
ſchwitzenden Eule.
12* 179
In des Mädels Nähe machte ſich ein Juͤngling mit verliehten
Gebärden und bachſtelzenſchwippigen Bewegungen bemerfbar, ber
als Hauptzierde einen uͤberaus wohlgerundeten Popo in fnapp an»
liegender Umhoſung foͤrmlich kokett zur Schau trug. Der Herr
Apotheferlehrling, wenn ich Bitten darf!
Auch die iteratur des Ortes war vertreten: der Buchbinder»
meifter und Nebafteur des Lofalblattes, ein fehr ſchuͤchterner jun-
ger Dann, der beftändig an feinem Halsfragen ruͤckte, als hege er
die Sehnſucht, ihn mit der Schlipsfeite auf den Nacken zu placieren,
und ein Rahmfäfegeficht hatte, — womit ich ihm nicht zu nahe
treten mil. Ich wüßte aber nicht, wie ich feinen Teint beſſer kenn ·
zeichnen ſollte.
Dann waren noch eine Anzahl hoͤchſt abſonderlich haͤßlicher Leute
da, wie ich mit yhyſiognomiſchem Intereſſe bemerkte, haͤßlicheGeſichter
mit vertauſchten Geſchlechtern, vor denen man ſich die Frage ſtellte:
Sahſt du je ein fo haͤßliches Frauenzimmer wie dieſes Mannsbild,
eine fo wuͤſte Mannsperſon wie dieſe ausgerutſchte Weiblichkeit?
Aber ich ſtellte dieſe Fragen ohne Bosheit. Es waͤre ſchnoͤde von
mir, wollte ich boshaft ſein. Ich fuͤhlte mich ja ſo wohl auf dieſem
Schuͤtzenball.
Ich habe ſogar getanzt.
Bas? Jawohl: mit Brigitten!
Aber richtiger wäre zu ſagen, fie hat mit mir getanzt. Ich wurde
getsiffermaßen getanzt.
Und, merfwürbig, e8 machte mir Vergnügen. O himmliſche Ri-
Katharina, wie mein Pennaltanzlehrer zu feufsen pflegte, wenn ich
den Walzer verpolfate. Ihre achtzehn Jahre ſchwangen meine vier-
sig in dem alten Eoenaculo herum, daß es eine Luft war, und mein
verehrter Leichnam fragte meine Seele: Werben wir ſchon vom
Teufel geholt? O du törichter Leichnam, wann wirft da Himmel
und Höfe unterſcheiden lernen?
180
Bei der Gelegenheit erfuhr ich ihren Namen und das uͤbrige. Das
Schwaͤbeln fteht ihr wirflich gut Ju Deunde. Wenn fih’s nur
mwiebergeben ließe.
Eine Friſche geht von dem Dinge aus! Ich habe derlei noch
nicht erlebt.
Ein weibliches Wefen, Das ganz und gar Natur if, — Wunder!
unnatuͤrlich ſcheint mir an ihr nur, daß fie Spaß daran findet,
ſich mit einem angegriefelten Doftor der Philoſophle abzugeben, mie
ich bin, einem Menſchen, der zum Tanzen nicht viel mehr Geſchick
hat, als ein Sad vol Mehl, und der wahrhaftig in puncto Schnaͤ ⸗
bein von jedem, auch dem melancholiſchſten, Kettenhunde uͤber ⸗
troffen wird. Der Apothekerlehrling und der Buchbinder ſind ja
gewiß keine Adoniſſe, wenn ſie's auch ſicherlich glauben, aber im
Vergleich mit mir find fie einer achtzehnjaͤhrigen Brigitte gegenüber
doch Potenzen, font’ ich meinen.
Es muß das Onkelhafte fein, das mir fo gut fteht.
XXIV.
Herr Pankrazius Graunzer ſitzt zwiſchen zwei wieſigen
Huͤgeln am Bach und konfrontiert ſich. Ein hochnot⸗
peinliches Kapitel aus dem Gerſchle⸗Pepi⸗Buch
Es rumort was in mir. Es ift irgendwo was nicht richtig.
Ich habe nicht mehr vöNig die Ruhe des Onfeltums.
Es wäre Unfinn, es zu leugnen.
Wenn überhaupt noch Rettung möglich ift, fo nur dadurch, daß
ich flar erfenne und handle, d. h. ausreiße, ganz ſchnell, auf der
Stelle, weit weg.
Koͤſtlich!
181
Ich! IH! Der Pankranus! Ich!
Und das ganze Monſtrum tft neunzehn Jahre!
Mehr als noch einmal fo alt bin ich, — ich, der Pankrazius.
Es ift zum Lachen, — aber mit ſchiefem Maule.
Ich habe verfucht, fie grob anzufahren und mich fo zu Benehmen,
daß fie mir vielleicht a Watſch'n geben wuͤrde.
Fiel ihr gar nicht ein. Ausgelacht hat fie mich.
Und fo herrlich fah fie Dabei aus, daß ich fie am Kopf genommen
und zweimal abgekuͤßt habe, Dub es eine Luft gewefen wäre, wenn
ich nicht der Pankranus wäre .
ga, um Gottes willen, was tft Denn das eigentlih? Ich bin
doch fein Primaner?
Da ift Diefes verfluchte Wort: Johannistrieb.
Nein, meine Teuern, ih danke. Im Johanni gibt's Hirſchkaͤfer.
Wenn id) nur wüßte, genau, woran ich bin.
Kurz gefagt: Iſt's der Onfel ober der Adam?
Ra, und wenn’s der Adam wäre?
Ta... „Was Fannfcht da mach'n?!“ würde Brigitte fagen,
biefe ausgezeichnete Philofophin.
Ich hab’ mich mit meinem Gerfchle-Pept-Buch, Hinansgemaht
an den Krebſenbach und mir vorgenommen, dieſem Unſinn mit dem
Bleiſtift auf den Leib zu ruͤcken und mir gu beweiſen, daß ich der
afchgrauefte alte Efel bin, den der Mond noch je verſilbert hat.
Aber ich fomme, fo gut mein Wine auch ift, nicht Dazu.
Das erfte war — ich hatte mich faum niedergeſetzt — daß ich
losreimte:
182
Zwiſchen zwei wiefigen Hügeln am Bach
Sir’ ich und finne dem Leben nad).
Diefer Zug inn iſt eigentlich ſchon Beweiſes genug. Es iſt ger
tabezu unverſchaͤmt:
Sir’ ich und ſinne dem Leben nach ...!
Unglaublich! Bloß, weil ſich „nach“ fo ungefähr, wenn auch
falſch, auf „Bach”' reimt, luͤge ich Iuftig darauf [os und werfe den
Mantel des Philofophen um mich.
„bem geben nad‘!
Ich win mir dieſe Schwindelhaftigfeit denn doch austreiben!—
Wem finnft du nach?!
Einer Meinen dummen Gans finnft Du nah!
Was finnft du ihr nah?
Daß du fie haben möchten, finnft du ihr nach!
Weshalb finnft du ihr Das nach?
Weil du ein alter el biſt, finnft Du ihr das nach.
Aber es wird nicht deſer wenn ich mich angrobſe.
Vielleicht iſt es beſſer, milde mit mir ins Gericht zu gehen.
Irgend etwas wie mildernde Umſtaͤnde muß es doch geben!
Gewiß, es iſt Die Nachwirkung der unglüdlichen Sreierfahrts-
idee. Sie hat ſich bloß aus dem Bewußten ing Unbewußte umge»
fest. Erſt hatte ich fie, jegt hat fie mic.
„Was kannſcht da machen.”
Das Richtigfte wäre, Die Idee felbft endlich mit Stumpf und
Stiel auszurotten.
Du lieber Gott! Womit rottet man Ideen aus? Wieder mit Ideen!
Wenn aber eine Idee ein Trieb iſt?
Herrgott: wenn biefe Idee ein Trieb wäre?
Wieder das verfluchte Wort Johannistrie.
Niet mir nicht Die Witib, ich ſollte mich In ein junges Mädel
verlieben?
Wenn ich nicht fo verdammt Fultiviert wäre, — jetzt glaubte Ich,
die Witib hat mic) verhert.
Sovtel ift ohne meiteres ſicher: fie hat mir Diefe Neigung zu
Jungem Gemuͤſe fuggeftio beigebracht. Das Wolf nennt das: je
mandem einen Floh ins Ohr fegen.
Ein ganz infamer Floh!
Wie fingen die luſtigen Geſellen in Auerbachs Keller?
Dir fniden und erſticken
Doch gleich, wenn einer ſticht.
Na, alfo? Knicke doch, Graumer!
Es geht nicht.
Ich kann mir nicht helfen: das Maͤd'l hat mich am Baͤnd'l.
Was tu ich jegt jeden Abend?
Ich geh’ ins Martonettentheater.
Was tu ih am Tag?
Ich fpiele felber Marionettentheater, ih Pankrazius, ih, und
bin das duͤmmſte Kafperle, das je die Beine fchlenferte und
vie:
u DI!
O MI!
Es waͤre zum I wenn das Mädel nicht gar fo reigend,
nicht gar fo...
Ich klappe mein — u.
Auch zwiſchen zwei wiefigen Hügeln am Bach komme ich nicht
weiter.
Laſſen wir's halt gehen, wie's geht.
„Was kannſcht da mach'n,“ ſagt's Brigittele,
184
XXV.
Noch ein Kapitel aus dem Gerſchle⸗Pepi⸗Buch. Es
ſcheint danach, daß Herr Pankrazius Graunzer an Phan⸗
tasmagorien leidet
Friefg! Prauſci
Kralewaiſch
Jetzt mag i nimmer g'ſcheit fen! Hol’ der Teifi die G'ſcheitheit!
Wie? Hab’ ich nicht links ein rotes Hofenbein und rechts ein
gelbes? Und hat meine Wefte nicht vorn eine blaue Schnebbe, die
glödelt?
Und meine Sogelhaube! Wenn bie nicht fiebenhundert Farben
hat und drei, win ich Panfrasius heißen, wie jener Graunger, den
ich früher ’mal gefannt habe, ich, Kaſchperle, Kapaſchperle!
Hut, wie ich ſchoͤn fteif gehen kann und mit den Beinen fäbeln
und mit den Armen drefchflegeln und Dabei Die Naſe, Die feuerrote,
aum Fenſter gerichtet, zum Fenfter, aus dem das Baͤndel hängt,
an dem ich hänge.
Priefg! Pratſch
Kralewatih 1
Sie zieht, und ich laufe. Wo ih auch bin, — au! iind es geht
los, ſteifbeinig und beharrlich. Die Arme faufen, und die Naſe glüht.
DA I!
O Waah — de leh!
Hup! Da ſteht ſie neben mir.
Dh! Oh! Oh!
Oh, ich armes Kaſperl, ich viersigjähriges.
Ich halt’ ja deinen Blick nicht aus, Madel, deinen jungen,
Maren Blick, ich alter bunter Efel ich, ich Narr, ih — Graunzer.
185
Da lacht fie, und mir ift, als fielen Blumen, bene, rote Blumen
von ihren Augen mir zu Süßen, und ich möchte mich buͤcken und
fie aufnehmen und mir an die Narrenjacke fteden.
Sie aber wehrt mir’s, und — gerechter Gott! — gibt mir einen
Kuß und legt ihren Kopf auf meine Schulter und fagt: „Schau Doch,
alt's Kafperle, in mein junges Hera, ſchau Doc), wie's da pumpert
und framoit und gluͤcklich iſt, gluͤcklich zu Dir, du alt's Kafperle,
du lieb's!“
‚Hert«, Herr, Herr ⸗Gott! Iſt das nicht sum Naͤrriſchwerden?
Ruck! Sie ift weg.
Und es iſt Abend. Ich hänge feft am Baͤndel und folge ihr, Die
gelaffen vor mir hergeht. Kein Menſch iſt in der Meinen Straße.
Der Mond fieht grlin ang. Der Himmel ift halb heit. Die Rofen
riechen fo ftarf. Ste geht ganz langſam und rudt nur manchmal,
dag mir Die Beine fliegen.
Born oben am Ende der Gaſſe glüht’s rot herunter vom Licht
am Deuttergottesbilbe ihres Haufes. So ruhig rot, fo gütig rot,
fo muttergätig, mutterbiutgätig vot. Dir wird ſchier aͤngſtlich.
Iſt denn niemand mit einer Schere da, daß er mid losſchnitte
von biefem Bändel, an dem ich hänge?
Barmbersiger Gott, fie hat fi umgedreht und mich bei der
Hand genommen. Und fieht mic) groß und feldftvergeffen an.
Ba... ma... mas? Ich möchte in die Knie finfen vor ihr
und ihr Die She füffen, aber Da iſt etwas Inwendiges, was Spitzi ·
ges, Entgegengefegtes, Scharfes in mir, und ich stehe die Hand
zuruͤck, fehe Das Mädel kalt an, drehe mic) um und gehe fort, —
nichtmehr Kafperle, nicht mehr am Baͤndel, fondern frei und onfel»
haft, der freien Kuͤnſte Doftor Pankrazius Grauner.
186
XXVI.
Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an ſeinen
Freund Peter Kahle. Unnoͤtig zu ſagen, wovon er handelt
Lieber Peter!
Das haͤtteſt Du Dir auch nicht traͤumen laſſen, daß Du Dich
noch einmal wuͤrdeſt bemühen müffen, mic) vom Weibe lossumachen,
Du Prediger in der Wuͤſte.
Zeichen und Wunder, mein Guter! Ich veruͤble es Dir aber
nicht, daß Du mir raͤtſt, fotanen Wundern nicht zu trauen.
Jedennoch: ich erlebe fie eben, fie werben mir tägliches Er»
eignis.
Kein Zweifel: der neunzehnjaͤhrige reizende Balg mit den hurti-
gen Augen liebt mich, mich, den viersigjährigen Haufen Sauer-
ampfer.
und ih?
Ja, lieber Peter, ich wuͤnſchte wohl, ich koͤnnte Dir fagen, was
ich fühle,
Sonderbar iſt's. Bor alem dies: mir iſt fortwährend gehoben
mute.
" Das mußt Du Dir nun aber nicht fehr angenehm vorſtellen.
Es hat vielmehr was Schwindliges, und es wird einem ſchwach
dabei um bie Beine.
Aber trogdem: es iſt fchön. Ja, kitzlig ſchoͤn Ich komme mir
dor wie eine friſchgefuͤllte elektriſche Batterie, und Ich Bilde mir ein,
au allem fähig zu fein.
So geht der Held zur Schlacht, gefpannt find feine Waden.
Es ſchlotterbebt der Feind! mög’ ihm der Herr genaden !
Wen aber will ich maffafrieren?
Dich, mit Verlaub, Dit, d. h. diefen alten Grieſebart und
187
Grieſegram, diefen Schmollenden und Grollenden, der Welt und
Weibern uͤbelwollenden.
Dieſen alten Pankrasium, der zuviel gefeffen und gegrübe!* rr+
nehme ic} bei den Ohren, häng’ ihm alle bie dicken Schm
den Hals, mit denen er fo viele Jahre lang ben lieben S
feine Baterfreuden und fi um den Srhhling betrogen E
werf ihn in den See, mo er am tiefften iſt. Und daflır sich”
nenen, von Brigitten ausgebluͤmten Panfrasius an, der etn
undswanzig Jahre alt, von freundlicher Sinnesart und fa
ſchem Temperamente iſt.
Zeichen und Wunder, mein Alter, Zeichen und Wunder!
Aber ernſthaft: das kleine Maͤdchen haͤutet mich. Du g
gar nicht, was ſie alles kann.
D. h., eigentlich kann fie bloß eins: unendlich lieb und u,
lich natuͤrlich fein. Damit dringt fie alle Kunſtſtuͤcke fertig.
Es gibt viel Gefcheitere als fie, vor allem foldhe, die viel
gelernt haben, — fie aber hat die große Gabe des verſtehe
Inſtinktes, ja fie hat felbft Das, was ich das Genie des He
nennen möchte, dieſe wunderbare Fähigkeit, mit dem Gefühl
Wahrheit nahe zu fommen.
Sie fpricht und fchreibt ungrammatifch und unorthograr
aber in allem, was fie ſpricht und ſchreibt, iſt eine innerlich
tabheit und Tiefe, Die mich beglädt.
Kurz formuliert kann man fagen: fie tft eine unverbildet
begabte Natur.
Darum ift nichts Mißwachſenes, nichts Verfrüppeltes,
Saftſtockiges an ihr. Darum hat fie etwas blühend Ruhiges, vun»
hend Unbefangenes.
Wie fommt fie in Diefe Umgebung? Sie mit ihrem feinen Gefühl,
ihrem zarten Takt, ihrer heilen Heiterfeit, ihren leichten Bewegun ·
gen, ihrer geraden Schlichtheit, ihrer herzlichen Wärme?
188
Es ift ein Wunder, glaubet nur! Es ift dasſelbe Wunder, wie
menn unter einer Schar höchft gewöhnlicher Buben und Maͤdchen
ein Genie tft.
Der Teufel mag wiffen, welcher Urahn in Brigitte lebendig ge>
morben iſt.
Ich bilde mir ein, daß romanifches Blut in ihr ift, Diefe Gegend
bat jahrhundertelang roͤmiſche Offupation gehabt. Der Ort felbft
wird auf die Römer zuruͤckgeführt.
Im Grunde ift fie aber doch ein Schwabenmäbel, ein deutſcher
Schatz.
Nein, Du: was fie für Augen hat. Augen wie das deutſche
Volkslied, — fag’ aber den Vergleich nicht weiter. Ihr Vater,
ber feier tot iſt (daflır lebt Die Mutter um fo merfbarer), hat fie
nicht mit Unrecht Gugeline genannt.
Außerdem führt fie in ihren Kreifen noch die folgenden, Dir
myſterioͤſen, mir aber ganz verftänblichen Namen:
Krawaunerle
Woltenſchieberle
Sqnadberle
Krautiwautinußzwack.
In dieſen Spitznamen haben die Leute nur den Teil von Bri⸗
gittes Weſen niedergelegt, der ihnen am verwandteſten und ſym⸗
pathifchften ift: Das Droflige, Koboldhafte.
Aber das ift nur ein Teil. Der andere Teil läßt ſich mit Spig-
namen nicht ausdrücen.
Ich laſſe Brigitte mit allen Seiten ihres Wefens auf mic)
wirken — ich habe auch für ale Namen. Aber die wend' ich nur
im direkten Berfehr mit dem lieben Wunder an. Wir haben ſchon
fo eine Art Geheimfprache miteinander.
Wenn ich ein Sefundaner wäre, ich koͤnnte nicht mutwilliger
fein.
189
Griefegram, dieſen Schmollenden und Groflenden, der Welt und
Weibern Übelmolenden.
Diefen alten Panfrastum, der zuviel gefeffen und gegrübelt hat,
nehme ich bei den Ohren, häng’ ihm ale die dicken Schmöfer an
den Hals, mit denen er fo viele Jahre lang den lieben Gott um
feine Vaterfreuden und fi um den Srühling betrogen hat, und
werf ihn in den See, wo er am tiefften tft. Und dafuͤr sieh” ich den
neuen, von Brigitten ausgebluͤmten Pankrazius an, der etwa fünf-
undzwanzig Jahre alt, von freundlicher Sinnesart und fanguint-
ſchem Temperamente iſt.
Zeichen und Wunder, mein Alter, Zeichen und Wunder!
Aber ernſthaft: das kleine Maͤdchen haͤutet mich. Du glaubſt
gar nicht, was fie alles kann.
D. h., eigentlich kann fie bloß eins: unendlich lieb und unend-
lich natürlich fein. Damit bringt fie alle Kunſtſtuͤcke fertig.
Es gibt viel Geſcheitere als fie, vor allem foldhe, die viel mehr
gelernt haben, — fie aber hat die große Gabe des verfiehenden
Inſtinktes, ja fie hat felbft Das, mas ich das Genie des Herzens
nennen möchte, dieſe wunderbare Faͤhigkeit, mit dem Gefühl aller
Wahrheit nahe zu fommen.
Sie fpricht und fchreibt ungrammatifh und unorthographifch,
aber in allem, was fie ſpricht und fchreibt, ift eine innerliche Ge⸗
rabheit und Tiefe, Die mic) beglüͤckt.
Kurs formuliert kann man fagen: fie iſt eine unverbildete, aber
begabte Natur.
Darum tft nichts Mißwachſenes, nichts Verfrüppeltes, nichts
Saftſtockiges an ihr. Darum hat fie etwas blühend Ruhiges, blü ⸗
hend Unbefangenes.
Wie kommt fie in dieſe Umgebung? Ste mit ihrem feinen Gefühl,
threm zarten Takt, ihrer heilen Heiterkeit, ihren leichten Bewegun ·
gen, ihrer geraden Schlichtheit, ihrer herzlichen Wärme?
188
Es ift ein Wunder, glaubet nur! Es iſt dasſelbe Wunder, mie
wenn unter einer Schar hoͤchſt gewöhnlicher Buben und Mädchen
ein Genie iſt.
Der Teufel mag wiſſen, welcher Urahn in Brigitte lebendig ge-
worden iſt.
Ich bilde mir ein, daß romantfches Blut in ihr tft, Diefe Gegend
hat jahrhundertelang römische Offupation gehabt. Der Ort felbft
wird auf die Römer surhefgeführt.
Im Grunde ift fie aber dod ein Schwabenmaͤdel, ein Deutfcher
Schatz.
Nein, Du: was fie für Augen hat. Augen wie das deutſche
Volkslied, — fag’ aber den Vergleich nicht weiter. Ihr Vater,
der leider tot iſt (daflır Iebt Die Mutter um fo merfbarer), hat fie
nicht mit Unrecht Gugeline genannt.
Außerdem führt fie in ihren Kreifen noch die folgenden, Dir
mfteriöfen, mir aber ganz verſtaͤndlichen Namen:
Krawaunerle
Woltkenſchieberle
Sqnadberle
Krautiwautinußzwack
In dieſen Spitznamen haben die Leute nur den Teil von Bri⸗
gittes Weſen niedergelegt, der ihnen am verwandteſten und ſym⸗
pathiſchſten ift: Das Droflige, Koboldhafte.
Aber das iſt nur ein Teil. Der andere Teil läßt ſich mit Spig-
namen nicht ausdruͤcken.
Ich laffe Brigitte mit allen Seiten ihres Wefens auf mich
wirken — ich habe auch fuͤr alle Namen. Aber Die wend' ich nur
im bireften Verkehr mit dem lieben Wunder an. Wir haben ſchon
fo eine Art Geheimſprache miteinander.
Wenn ich ein Sekundaner wäre, ich koͤnnte nicht mutwilliger
ſein.
189
So ftedt Die Jugend att.
Ich habe Dir aber, glaube ich, noch gar nicht erzählt, wie ich
fie fennen gelernt habe. Das fommt davon, weil es mir mit einem
Male ift, als kennt' ich fie ſchon jahrelang.
Es war aber fo (natuͤrlich in Kürze erzählt, denn, ließ' ich mich
in einzelnes ein, wuͤrde ein Buch Daraus — womoͤglich ein Buch
in Verfen): ich habe mich, wenn ich's recht uͤberlege, fofort in fie
verliebt (das ſchreib' ich nun fo hin!), wie ich fie sum erſten Dale
sefehen habe. Und fie tat desgleichen.
Punktum.
Eine ſehr kurze Geſchichte — was?
und Du moͤchteſt mehr wiſſen.
Nun ja: fie fand im Hausflur und hatte ein Stuͤck Waͤſche in
der Hand — ein Unterrödlein, ein weißes, wenn Du es wiſſen
willſt, eine echte Pfingftfahne, und fie fam juft aus dem ſchattigen
Flur hervor in die helle Sonne, Die vor der Thr lag, wie ich durch
dieſe Sonne ging, die Hände auf dem Rüden, den Strohhut in
der Stirn. Erftaunt blieb fie ſtehn und fah mich an, und ich hob
meinen Kopf und fah zwei braune Augen, aus denen es wie in
alten Volksliedweiſen ſprach, vertraut, lieb, ruhig und vol Sehn-
ſucht.
Groß ſah ſie mich an. Erſtaunt.
Dann lachte ſie, wurde rot, flammig rot, und rannte in den
Schatten zuruͤck.
Ich aber ging in einer ſeltſamen Betroffenheit fort.
Damals wußte ich nicht, daß ich mich in dieſem Augenblick ver ·
llebt hatte, Ich, und fo was ahnen! Ich, der große, ftandhafte
Graunzer. Ich huͤllte mich in eine Art feelifchen Schlafrock, in bie
Onfelhaftigfeit, und bildete mir ein, daß ich jenfeits von Dann
und Weib in dieſe braunen Sonnen, die das Mädel im Kopf hat,
190
gefehen hätte. „Ja, — Schnecken!“ Wie das Brigifteslein (auch
einer ihrer Spignamen) fagen würde,
Jetzzt weiß ich’ beffer. Es hat ſich ausgeonfelt,
Gut. Es ift eigentlich nichts Verwunderliches daran, daß ich
mic) verliebt habe . . .
Hola! Sind wir ſchon fo weit? Ich wundere mich ſchon nicht
mehr über mich?
Groß find deine Wunder, o Eros, groß und
Unbegreiflich.
Doch ich wollte damit ſagen: verwunderlich iſt nur, daß auch
fe...
Aber Du willſt Tatſachen.
Alfo: ich faß num an der Peripherie der Spinnmebe, halb frei,
bald gefangen, und wie die dicken Fliegen tun, proßig halb, halb
widerwillig, promenierte ich den Außerften Faden entlang zu wieder»
holten Malen um das Net herum, nicht merfend, daß der Weg
ſpiraliſch zum Dittelpunft führt. Ohne Bild geſprochen: ich ging
öfter, als direft vonnöten war, an ihrem Hans vorbei, Um mir
fuͤr dieſes Gebaren Genugtuung vor mir felber zu verfchaffen, hielt
ich mir in meinem Gerfchle-Pept-Buche herzliche Onkelreden.
Diefes Gerſchle. Pepi · Buch, — auch ein menſchliches Dofu-
ment. Man koͤnnte ein Bild dazu machen: Amor auf Graunzern
ſchießend. Aber der Kerl mit der Binde vor den Augen iſt hier
Panfrasius.
Dann gab es der Zufall, daß ich fie einmal auf einem Tanze
ſprach — und fiehe, nun faß ich längft ſchon nicht mehr an ber
Peripherie des Netzes. Denn nun fam der Beſuch im Haufe,
Du lieber Gott!
Verſtehſt Du den Seufier?
Diefes Haus! Diefe Familie!
Ein graͤßliches Gemengfel aus den verſchiedenſten Unfulturen.
191
Zuerft eine halb daͤmoniſche Aite: die Mutter. Dann eine kleine
verfettete und verbolarte Amerifanerin: die Schwägerin. Dann
ein teils ober, teils perfider Burſche: der Dann dieſer Yankeeſe,
ber Bruder. Schließlich eine jüngere Schwefter — ganz nett, aber
gewöhnlich.
Und in diefer Umgebung das Maͤdel.
Sonderbar, nicht wahr? Die brave Bererbungstheorie, fo plau-
fibel fie ift, ſcheint ganz fo einfach, wie fie von fingerfertigen Pro»
blemdramatikern behandelt wird, doch nicht zu fein. Auch bier be
liebt Madame Natur gemiffe Schliche, hinter die die Vielzufiren
noch nicht gefommen find.
Vielleicht zerbredh” ich mir fpäter 'mal den Kopf daruͤber, wenn
ich mehr Einblick in die Samiliengefchichte habe.
Einftweilen nehm’ ich Die Dinge, wie fie liegen, und frene mich
des Guten in ihnen.
Mit anderen Worten: ich bin häufiger Gaſt in dem Fleinen
gruͤnen Haufe unten am See und fige recht oft und ſtill in meinem
Gotte (mertft Du was, alter Pfychologe?) mit Brigitten auf der
weißen Gartenbank vor der Türe.
Am Tag freut uns die Sonne,
Daß fie fo golden blinkt,
Und nächten iſt der Mond uns lich,
Der in den See verſinkt.
Es iſt um uns ein Weſen,
Das uns verſchwiegen madıt,
In ung iſt Mond- und Sonnenſchein
Und auer Sterne Pracht.
Es fheint, man fann fo was nur in Verfen fagen — noch
beffer nur in Tönen,
Aber Du willſt Tatfachen. Alfo: bei fotanen Beſuchen, bei ger
192
meinfchaftlichen Ausgängen (mit der gräßlichen Familie und ohne
fie) find wir uns nahe genug gefommen, daß ich wirklich fagen
Fann: wir haben uns.
Nun muͤſſen wir ung aber auch friegen.
Und das ift nicht fo einfach.
Ja, wenn es bloß auf das Brigifteslein ankaͤme.
Aber ... ed gibt Mütter,
Ich fuͤrchte, ich fürchte: es wird noch allerlei Kämpfe geben,
fatale Kaͤmpfe.
Die Mutter naͤmlich ...
Aber nein! Was ſoll ich mir den Brief vergaͤllen! Wir werden's
ſchon machen, die Kleine und ich. Hat fie Das Wunder fertig ges
friegt, ſich in mic) au verlieben, wird fie aud) das andere vermögen
und Die Alte überzeugen, daß ich einer bin, mit dem man's wagen
fann — obwohl ich aus Berlin bin und nicht in die Beichte gehe.
Die Yankeefe geht auch nicht in Die Beichte.
Den Teufel auch! Ich habe viersig Jahre lang warten muͤſſen,
bis fi) Srau Venus auf mich befonnen hat — nun mil ich mich
’mal erft ein bißchen in ihrer Sonne dehnen und nicht gleich den
großen Sorgenfarren siehn. Die Kleine fo alles vorbereiten, Die
Kleine mit den flinfen Augen, dem flinfen Munde und dem flinfen
‚Herzen. Hat fie das Feld Mar gemacht, dann komm' ich, der Kano⸗
nier von Schmaufenbud,, aber Diesmal, bei der heiligen Barbara,
der Artullerey Patronin, vermef ich mich zu ſchwoͤren: Diesmal
laſſ' ich mich nicht vom Plane hauen, auch nicht von einer wider»
willigen Schwiegermutter,
Ich krieg' ordentlich Courage, Mann! Bin ich nicht jung ge⸗
morden? Bin ich nicht ein Kerl, ben ein junges Maͤdel liebt? Ein
Kerl, der fenfterlt? Senfterlt, wie ein Bauernburſch in Kniehoſen,
fag’ ich Dir! Ein Kerl, ver Küffe gibt und nimmt, der einen jungen,
heißen, lieben, ſchmiegebangen Leib an ſich preßt, und zu dem Die
13 Bierbaum II 193
amvel ſchoͤnſten Augen der Welt fagen: ich vertraue auf dich, bu
wirſt's wohl machen!
Dh! Eine ganze Leibgarde des Teufels, beſtehend aus lauter Di»
monifhen alten Weibern, wit ich zum Fruͤhſtuͤck mit aufeffen, und
ich tanze, wenn’s fein muß, mit des Teufels Großmutter felber
Cancan, fo lange, bis fie am Boden liegt und nimmer ſchnaufen kann.
So ſtehen die Sachen.
*
*
Ich wollte aber, Du koͤnnteſt mich jetzt 'mal ſehen, wenn ich
mit den beiden Maͤdeln ausziehe und, etwa nach St. Alban, fpastere.
An der einen Hand Brigitten,
An der andern Hand Babetten
Schreit ich wie in Roſenketten
Liebespfingſtochsfeierlich.
Wenn Du aber gar ſaͤheſt, wie ich mit Brigitte allein gehe —
Du wuͤrdeſt Dich auf Deine große Praͤzeptorenſtirn klopfen und
fagen: Das der Graunzer? Graunzer, der Miſoghn? Graunger,
der Wärbebär?
Denn, ſiehſt Du, alter Peter: Wenn ein junger Mann mit ei⸗
nem jungen Maͤdchen, das er liebt, und das hinwiederum ihn liebt,
ſpazieren geht, fo macht er nicht ein Geficht wie ein Pintfcher, der
fpanifche Fliegen gefreffen hat, und er wirft auch feine grimmigen
Blicke um fi), wie ein haͤmorrhoidariſcher Bibliothekar oder Ger
heimrat, fondern, erftens, was feine Beine anlangt: er hat einen
fehr fröhlichen und Iuftigen Gang, als wollt’ er fagen: gebt mir
ein Sprungbrett, und ich fpring’ in den Himmel, Gottvatern bie
rekt auf den Schoß; und zweitens, was fein Geſicht anlangt: er miß-
braucht deffen Muskeln nicht zu ſenkrechten Falten des Argers,
fondern er benugt fie vielmehr au den wagerechten Salten, auf
denen fich die Froͤhlichkeit lagert, und feine Augen liebfofen Die Welt.
194
Die Welt, das heißt: fein Mädchen.
Und das auch nicht bloß mit den Augen, fondern aud) mit den
Händen und mit den Lippen.
Und dabei begibt es fi denn wohl zu manchen Dalen, daß
diefer junge Dann und dieſes junge Maͤdchen ſich im Schatten
einer Linde niederlaſſen.
Hoch auf einem Berge fteht fie, Die Linde, wie ein Tempelpoften,
groß, ruhig, herrlich; fteht vor einem raufchenden Walde. Dunfel
iſt der und voller Heimlichfeiten. Zwiſchen hohen Buchen iſt in
ihm ein Plas, ein großer, runder, grüner Wiefenplan — das ift
ein Garten der Seligen, und die Seligen, das find meine lieb-
gewordenen Gedanken. O Peter, wenn ich Dir erzählte, in was
für ſchoͤnen Kleidern die Iuftwandeln, und wie hold fie von Ant-
litz find! Es lacht der blaueſte Himmel über ihnen und freut ſich
diefer ſchoͤnen, fröhlichen Geſchoͤpfe. Vor der Linde aber, diefer
großen, reichen, in deren ÄAſten taufend Bienen fummen und ſich
beraufchen, breitet ſich eine andere Wiefe, eine blumige, mollig um⸗
buſcht und legt ſich hinab, den Berg hinunter wie ein grüner
Teppich.
Nun fieh: die beiden liegen im Schatten diefer Linde und kuͤſſen
fi) und fehen bald hinauf in die Blaͤtterwelt, in der die Bienen
find, Bald auch hinüber in den Wald, wo die Heimlichfeit der Se
ligen wohnt, bald auf die Wiefe hinab ins Tal zum See, zu aller»
meift aber ſich in die Augen, lange und tief. Du, in ſolchen Maͤd⸗
chenaugen, die voN Liebe find, iſt auch mehr, ald Eure Schulmeis-
heit ſich träumen läßt, Herr Doftor.
Als ich ein kleiner Knabe war, ſollt' Ich mich einmal photo»
graphieren laſſen. Dan ſtellte mich auf einen Stuhl und verlangte,
ich ſollte ſtille ſtehen, aber ich fürchtete mich und sappelte. Da
ſprach der kluge Mann hinter dem Gucklochkaſten: paß auf, Junge,
aus dem ſchwarzen Loche hier werden gleich Soldaten marſchiert
13° 195
fommen! Und id) fland fin und fah, — wirklich, ich fah Sol-
daten.
Dasfelde paffiert mir, wenn ic) in Brigittes Augen fehe.
Zwar Soldaten ſeh' ich nicht, aber Dinge, die mir heute fo lieb
find, wie Soldaten Damals.
Zum Zeifpiel, wieder unter der Linde: Ich feh’ in ihrem Auge
die Wiefe, Die zum Tale geht, aber auf der Wiefe dreht fich ein
Zar um fie:
Umd fie ſchweben und fie Heben
Ihre Arne, ihre weißen,
Die [hönen runden Arme
Gegen das Blau des Sommerhimmels.
Wie von bunten Schmetterlingen
Wehen Farben durch den hellen
Tag, es find die feidenbunten
Tanggewaͤnder diefer Holden.
Ihre Füße find dem Raſen
Linde, leiſe Neferinnen;
AG, die ſchoͤnen nadten Füße!
Gerne haͤtt ich fie zum Küffen.
Gern’, ad) gerne, hätt? ich alle
Diefe holden Tänzerinnen,
Doc) ich weiß, wolle’ ich fie greifen,
Wehten fie in Blatt und Blüten,
Nur ein leifer Duft von Rofen,
Gelben Rofen, bleibe zurück, und
Tief im Buſch verklingen leife,
Windverwehte Walzerhaudk ... .
Siehft Du, fo mas fehen junge Leute in jungen Mädchenaugen.
hr Alten glaubt es natürlich nicht. Natürlich! Wie fonten alte Leute
fo was glauben! Brummt nur! Brummt! Wir Jungen verdenten’s
Euch nicht, wenn Ihr nichts Dazu zu fagen wißt, als: Schwindel!
196
Iſt aber feiner. Noch ganz andere Sachen fieht unfere heil-
ſichtige Jugend, Sachen, daß einem das Herz ſchier fpringen
möchte vor Gluͤck.
Vielleicht erzähl’ ih Dir auch von diefen noch einmal,
Ich bin fehr sum Emählen aufgelegt, und es fönnte fein, daß
ich noch zum Dichter wuͤrde gratia Brigittae.
Was nicht alles aus einem Bibliothekar werden kann, wenn er
in der Venusſonne liegt.
Aber ich bin nicht ſtolz, ſo jung ich geworden bin, und
bleibe
Dein
Krai.
Anmerkung des Adfeſſaten: Es hat ihn.
XXVIL
Herr Pankrazius Graunzer verfucht, hinter fich felber
herzugehen und die Ähren zu Iefen, Die aus dem Breviario
Brigittae fallen, gibt es aber als unfruchtbar auf und er-
mannt ſich flatt deffen zu einem wichtigen Entfchluffe
Ich glaube, wir befinden ung gegen Ende des Juli. Es ift eine
himmliſche Hige, und die Sonnenftrahlen quiclen die Luft, daß fie
wie's Wafler im Kloßtopfe weit.
Ich fige gut auf meinem Balfon zwifchen den Weinranfen.
Unten muht Gerſchle⸗Pepis Kuh; ganz ferne, Irgendwo bonnert’s,
als wäre es des Kuhmuhs Echo; drüben auf Andechs bligt ein
Fenſter in der Sonne.
Sitzt wohl ein fluger, alter Benebiftiner dahinter und finniert be⸗
haglich in die Landſchaft hinab und denkt ſich: Schabt mir die lage!
197
Geftern war ih drüben.
Was das fhön war!
Erſtens, weil's überhaupt ſchoͤn ift, und sweitens, weil ich mein
Brevier mithatte,
Ich lefe fonft nicht gerne draußen. Nur den Vogelweiden⸗
Walter und das Brevier — die beiden koͤnnen die Konfurrenz
der Natur aushalten. Denn fie find feldft Natur.
Das DBrevier noch mehr als der Walter. Denn das Brevier
ift Brigitte, Mein, bloß ein Teil von ihr. Ach, Bloß ein ganz, ganz
kleines Teilen, — ein paar Briefe.
Sie ſchickt fie mir mit einem kleinen Maͤdelchen, die ich, nicht
fehr zart, die Rotznaspoſt nenne, und die durch diefe Botengänge
noch zur Kapitaliftin werden wird. Denn ic) gebe ihr — Liebe
macht generds — für jeden Brief einen großen Nickel.
Ein ganzer Haufen von den Briefen liegt vor mir.
Ich mag fie nicht chronologifd ordnen. Anordnen, das paßt
nicht zu ihnen. Es find Feldblumen, die man nicht an Drähte
ſpießt und zu Buketts malträtiert.
Wenn ich mit ihnen fpasieren gehe, mach' ich's fo: ich nehme
fie, wie fie mir gerade in die Hände fommen, und ftede fie in
die rechte Bruſttaſche. So. Nun los. Welchen werd’ ich zuerft
greifen?
Und ich fange an auszuraten. Das ift eine gute Voruͤbung, der
ich obliege, folange ich in der Nähe menſchlicher Wohnungen bin.
Dann aber, fobald ich rings um mic) nichts fehe, als Wiefen,
Felder und Himmel: dann der Griff ins Gluͤcksrad und ftehen
geblieben und gelefen . ..
Jeder gelefene Brief kommt in die linke Brufttafche, und wenn
dieſe voll, Die rechte aber leer ift, wende ich mich um und trete den
Ruͤckgang an, waͤhrenddeſſen Die Briefe wieder langfam von links
nad) rechts wandern.
198
Daß ich mich dabei nicht felten verlaufe, — was Wunders?
Ad, ich verlauf mich immer, — in den Himmel.
* «
*
Ich moͤcht's 'mal verfuchen, hinter mir felber hergugehen bei
einem ſolchen Spaziergang, 'mal die Ühren zu Iefen, die ich habe
fallen laſſen, mir ’mal felber zu erzählen, wie ſchoͤn es gemefen ift,
das Wandern mit dem Breviario Brigittae.
Was fiel mir geftern zuerſt in Die Hand, da oben, hinter St.
Georgen?
Ah, der da war's:
u «+ Wenn ich in der Früh aufwache, fo denf ich gleich an Di
und fann mid ärgern, weil es mir von Dir nicht träumt hat.
Aber gar nicht, nicht mal bloß fehen, gar nichts. Komm, nehm
mich und halt mi recht fer in Deinen flarfen Armen. Haft Du
mich lieb? Ja! Ich kuͤß Dich fo, daß Du tot biſt, und dann füg
ich Di wieder lebendig. Nein, ich Füß Dich nur, bis Du ſchlafſt.
Gell? — — —
Wenn Du kommſt, fo nimmt Dich Miezi und tragt Dich über:
allhin ...“
Ach, du Aff', du, ſchreibſt es hin und weißt gar nicht, wie
mahr es iſt! Wo haft du mich ſchon uͤberallhin getragen!
Dann, hinter der Kapelle mit dem Weidenbaum, fam mir der
in die Hand:
„Ein kleiner Spag figt vor meinem Fenſter und fchaut zu mir
rein. Grüß Di Gott, Spaget, ich liebe Dich! Prr fliegt er weg,
nauf zum Gerfchle-Pepi-Haus. 3 glaub, der Spas warft Du!
Nicht böfe fein, daß ich fo dummes Zeug fchreib! Es ift mir
aber immer beffer, wenn ic) das Geſindel los bin.
Und da figt auf einem Male wieder einer da, aber ein ganzer
199
fleiner jegt, und piepft jämmerlich und fiercht ſich, daß er runter
fant. Ich glaub, 's is a junger.
Ad, mir iſt fo ſchwerherzig, Du. Ich hab dich fo lieb.“
Merkwuͤrdig, dieſe Briefe, fo lieb fie mir find, wenn ich fie fehe,
— fie verändern fi), wenn ich fie abſchreibe. Plöglich fehen fie
dann fahl und dürftig aus.
Umgefegte Pflangen!
Barum tu’ ich es Überhaupt?
Will ich mir vielleicht Über etwas klar werden?
Über Brigitte? uͤber mich? Über uns Beide,
Ach! Das Blatt mag ich drehen und wenden, wie ih will: es
zeigt nur den einen Tept:
Und wenn du die Welt abliefeft im Kreife
Und liefeſt die Kreuz und Quer,
Du fändeft in Nord, Süd, Oſten und Weſten
Keine, die beffer wär’,
Sie ift die eine, dir vorbeſtimmte,
Daß ſie das Wertzeus fel,
Daf du das Wunder mit ihr verübteft:
Eins und eins iſt — drei,
Und fiehe: damit bin ich wieder zu der Fahne zuruͤckgekehrt,
unter der ich auszog, ein Weib zu fuchen: der Fünftige Junker des
Kiebighofes lacht mid) an mit Brigittes braunen Augen.
Oh, was das für ein Lachen iſt!
Es ift, als wäre al meine Seele nichts als ein Lächeln der Zu:
verficht und Begnadung.
Das ift es, wodurch meine Liebe fi) von ber zutappenben Liebe
der Jahrjungen unterſcheidet: in mir iſt nicht bloß der Wunſch,
au befigen; in mir ft aud) der Wunſch, zu fchaffen.
Darum ift etwas von Schwarmgeifterei in meiner Liebe, und
200
in manchen Aurgenblicen komm' ih mir gar ſupranaturaliſtiſch vor
ga, 1 ja... Arme, liebe, Fleine Brigitte, was du für
—* auspergamentierfen Due daft Es iſt doch eigentlich ſtilwidrig
Wie? unſinn! 36 märe wahrhaftig imftande und machte im
legten Augenblick Dummbheiten aus Mitleid, diefe duͤmmſten
Dummheiten.
Gottlob, daß ich jemand habe, der es verſteht, mir den Tert zu
leſen mit Augen, die in jedem Nebel einen Lichtfern finden.
* *
*
Aber es ift Zeit, su handeln. Gott hat mir ein Korn gefchenft,
das bald gefchnitten fein wi. Ich waͤr' ein fhlechter Bauer,
wollt' ich es auswachſen laffen, das arme, liebe, ungebuldige gol ⸗
dige Korn.
Auf, Fauſte, ins Reich der Muͤtter!
XXVII.
Ein Buͤndel Briefe des Herrn Pankrazius Graunzer an
ſeinen Freund Peter Kahle, genannt die Briefe vom
Kriegsſchauplatze
Skt. Georgen, am 4. Auguſt.
Lieber Peter,
es wird mobil gemacht. Brigitte hat genug geplänfelt. Das arme
Kind ift ſchon marode. Die Sache liegt ſchlimmer, als ich gedacht.
Die Mutter win nicht.
Das ſteht feſt.
201
Ich habe daher den Bruder und die Yanfeefe als Bundesge-
noffen geworben. Beim Himmel: feine ſaubere Alliam. Aber es
mußte fein.
Sie bohren nun zu zweit an der Alten, und Die Angebohrte läßt
ihren Zorn Über Die Operation an Brigitte ans.
Verweinte Augen. Verweinte Briefe.
Ich felber venne hin und ber und frage und bitte und tröfte
und, wenn ich zu Haufe bin, fluch' ich und halte grimmige Mo-
nologe,
In wweierlei Eigenſchaft, fo ſcheint's, bin ich der höre-möre
unlieblich: einmal als Preuß’ und dann als Keger.
Ich beteure, daß meine Seele nicht preußifcher und tutherant-
ſcher ift, als die Seele eines Stanpintfchers.
Hilft nichts: der Taufſchein beweift, Seele ift Nebenſache.
Ich weiſe darauf hin, daf die Dame aus den Vereinigten
Staaten aud) nicht in Bayern geboren und auch nicht mit fatho-
liſch geweihtem Waſſer getauft if.
Hilft nichts: bei einer Frau iſt das ganz was anderes. Die wird
halt das, was der Mann iſt.
Darauf verſuch' ich, mich auf allerlei tiefgruͤndige Entwicklun ⸗
gen einzulaſſen (eine Heidenſchinderei, kann ich Dir fagen).
Hilft nichts: Die Alte kapiert fein Wort.
„Son id) vielleicht katholiſch werden?"
Nein! Dan Fennt das! Ich würde halt fo katholiſch, wie ich
jest lutheriſch bin. Das waͤr' ein fauberer Katholisiemus.
Und fo dreht und dreht und dreht fid) Die Scheibe, aber ein
Topf wird nicht draus.
Beim hohen Himmel: man könnte vablat werden und drehkrank
bei dem Gefchäft.
Aber dann treff’ ich mich auf ein paar liebe Minuten mit Bri⸗
gitte anf dem Anger, und es iſt alles wieder gut.
202
Soldene Wellen, die die Sonne tragen,
Kommen mir aus ihren Augen her.
Wirf, du dummes Herz, Grimm und Klagen
Tief hinab in diefes goldene Meer.
Dein
Panfraz.
* *
*
Skt. Georgen, am zo. Auguft.
Lieber Peter!
Da bin ih und trag’ auf der Spige meines Schwertes den
Kranz des Siegers aus heißer Schlacht.
Ah, mein Lieber, derber Durchgemalft ift noch fein Ritter heim-
gefehrt aus dem Kreunuge.
Vielleicht findert Du das Bild ein bißchen fühn (ich tue des ·
gleichen), aber ich muß es Doc) ausfprechen, denn es tut mir wohl,
es zu fagen: Deine Seele ſchwitzt von dieſem Kampfe.
Nicht umfonft wohn’ ich In Skt. Georgen, denn es war mir befchie-
den, mit einem Drachen zu fämpfen.
‚Höre und bewundre mich!
Geſtern erflärten mir meine Antierten, der Plan ſei bereit, und
ich fonte ausziehen und mein Heil verfuchen. Freies Geleite ſei mir
gewährt, und hinausgemworfen würde ih hoͤchſtens am Schluß.
Ich ſchaͤme mich nicht, zu geftehen, daß mir bei dieſer Eröffnung
ein wenig baͤnglich zumute ward.
Brigitte zitterte am ganzen Leibe, und ihre Angft war fo groß,
daß fie weder meinen noch fprechen fonnte. Wortelos begleitete fie
mic) zu dem Haufe hinauf, in dem die Mutter tagsüber meilt.
Ad, ihre Augen zu fehen, wie fie vol Liebe und Sorge waren!
und mie fie ſich an mich ſchmiegte, Daß ich ihr Hera flopfen fühlte.
Ich hatte Luft, diefer Mutter vorher die Senfter einzumerfen,
eh’ ich fie um Die Hand ihrer Tochter bat.
203
Kehr' jest um, Maͤdi, und hab’ Feine Angft. Sie wird ſchon
ja ſagen.“
Ste ließ den Kopf hängen und lief, Tief ſchnell den Berg her⸗
unter.
Unten blieb fie einen Augenblick ftehen, wandte mir ihr Geficht
au und rief nur das eine Wort: „Du!“
Wer das Wort in Mufif fegen Fönnte!
Ale Kunft it Geſtammel.
* *
*
Ich trat ins Haus.
Und nun ging mir’s, wie mir’s immer geht in ſchweren Lagen.
Vorher bin ich Feiner von den Mutigften, aber, fobald ich der
wuͤſten Frau Gefahr direft Ins Auge fehe, fommt Ruhe und Zu ⸗
verſicht über mich. So ging mir's im Eramen, fo ging mir’s, als
ich Damals mit dem laͤchelnden Biedermann Piftolen knallte, und fo
alfo auch jest, als es ſich um viel Wichtigeres handelte, um das
liebe Brigittenwunber.
Alfo: ih war heroiſch kuͤhl.
Die Alte faß in einer rauchigen Werfftatt und goß sinnernes
Spielzeug, das, in Verkleinerung, aderlet Aitargeräte der fatho-
liſchen Kirche darſtellte. (Das ift nämlich das Gefchäft, das fie nach
dem Tode ihres Mannes fortfegt, obwohl fie es „nicht nötig" hat.)
Ich dachte an den Kugelguß in der Wolfsſchlucht, und es war
alles fehr ſtimmungsvoll und ungewöhnlich.
„Parbleu‘ fagte ich zu mir felber (wirklich: „Parbleu“ fagt’ ich,
— es war darin wohl ein bißchen Renommierfuchfigfeit), „par
bleu, es ift mir doch lieber, als wenn ic) in irgendeiner ‚Berliner
Stube‘ zwifchen Ausſtattungsſtuͤcken preußifchen Tapeziergeſchmacks
diefen Tang tanzen müßte”, und ich freute mich, wie der grüne
Garten in biefe rauchige niedere Bude hineinſchien.
204
Alfo: Auf die Menfur! Bindet die Klingen! Sind gebunden! Los!
Huppdich! Da hatt? ich ſchon einen Sauhieb weg.
Madame war nämlich liebenswärdig und ſprach alfo:
„So, das is ſchee, daß der Herr Doktor ſich 'mal das Zinn.
siegen anſchaugn win! Gen, fo was haben’s in Berlin net?"
„Nein, wirklich nicht! Sehr intereffant! Ah! So fieht fo eine
Form aus? Hm! Und das iſt ein Gießlöffel? Ja, ja, das will ge»
lernt fein!"
„Ach, 18 net ſchwer. Wollen’s ebet 'mal verſuchen?“
Und richtig: ich mußte erft lernen, eine Deonftranz zu gießen.
Am liebſten hätt’ ich alles sufammengefehmiffen, aber ich hielt
an mid) und goß, daß mir der Schweiß in Perlen die Baden hin-
unterrann.
„So! Recht ſchee! Recht ſchee! Ja, ſo a Doktor, der lernt
halt alles gar ſchleuni.“
„Zumal ein preußiſcher Doktor, nicht wahr?"
„Ja, die Preißen. Doͤs fann halt Malefizi ... Ra, na, nir für
ungut. Sie wiſſen ſcho. 3 moan’s net fo ſchlimm.“
„Wirklich nicht? Aber dann iſt's ja gut! Dann koͤnnen Sie
mir ja aud) Brigitten geben!"
„'s Brigittle? Was wollen S' denn mit dera? Die is ja viel
yſchlecht für fo an noblichten preißifchen Doftor! So a dumm's
Maͤdl! Viel zu ſchlecht is!
„Das muß ich ſchon beſſer wiſſen. Ich glaube, daß es in der
ganzen Welt nichts fo Liebes und Gutes gibt, und, ſehen Ste, ich
bin doch nicht bloß ein Doktor, fondern auch ein siemlich alter
Knabe. Vierzig."
„Hm. Ya. Dis is grad. J moan halt: Doͤs fann net recht
fe’. Sie is H’jung no!"
Darauf war ich nicht gefaßt. Denn das war ja eigentlich nicht
unvernönftig.
205
Aber über diefen vernünftigen Einwurf, der ihr, wie ich bald
merkte, durchaus nicht ernft war, famen wir ſchnell weg.
Nicht fo ſchnell leider über anderes.
Der „Preiß“ und der „Ketzer“ waren auch ſchnell abgetan,
eigentlich faum berührt, fo daß ich die Empfindung hatte, bisher
von meinen Aftierten ganz falſch berichtet worden zu fein. Die
Alte fpielte ſich vielmehr eher als Freigeiſt auf und tat fo, als
kuͤmmere fie Die Religion gar nicht.
Dagegen verlegte fie fi) mit einem wuͤtenden Eifer Darauf, mir
flar zu machen, wie unendlich tief Brigitte unter mir ftehe. Ich
babe noch nie einen Menſchen ſo ſchlecht machen hören, wie es
bier einer Tochter durch ihre Mutter geſchah.
Du kannſt Dir denfen, in welden Zorn mic) das verfehte.
Schließlich ſchrien wir uns rechtſchaffen an, und die Alte fprang
wie im Veitstanze um mich herum, eine Schlechtigkeit nad) der
andern auf ihre Tochter häufend.
Ich bring’ es nicht über mich, die Worte und Bilder zu wieber-
holen, die fie gebrauchte. Ihr ganzes Gebaren machte einen patho ⸗
logiſchen Eindrud, und ich hatte zuweilen direkte phyſiſche Angft
vor diefer fuchtelnden, mortefpeienden Aufgeregtheit.
Aber ich hielt ftand und behauptete das Feld. Ste fonnte nicht
halb fo viel ſchimpfen, wie Ich pries, und ſchließlich fiel fie erfchöpft
in ihren Stuhl und läcyelte bloß noch bloͤde zu der großen Schluß-
rede, die ich auf Brigitte hielt.
Und fiehe: aus dem blöden Lächeln wurde ein befriebigtes Lau-
ſchen, und ein ganz anderes Lächeln gewann Macht über dies gelbe,
harte Geſicht, das langſam weich und ſreundlich wurde, und ich
merkte: Das ganze Geſchimpfe war nur Scheingefecht, die ftärffte
ihrer Taftiten, meinen Angriff abzufchlagen und das zu behaupten,
mas die Alte in mütterlihem Egoismus für ſich felber behalten
wollte: Brigitte, das Scheufal.
206
Du fannft Dir vorſtellen, Daß mich das um fehr viel milder gegen
fie fimmte, obwohl ich deshalb nicht nachlaſſen fonnte, meine Sache
au verfechten, bie zugleich Brigittes Sache war. Auch muß ich ge:
ftehen, daß dieſe Gattung mütterlicher Liebe mir nicht ſonderlich
behagt. Verftieg fie ſich Doc) fo weit, daß fie es als ihr Ziel erflärte,
Brigitte in ein Altjungfernftift einzukaufen, um ihrer vönig ficher zu
fein. und dabei fam eines heraus: die Alte meinte, nicht aus müt-
terlichem Egoismus zu handeln, fondern aus mütterlicher Sürforge:
„Ich weiß, mas es mit dem Berheiratetfein is: Nix als Sorg’n
und Wehtum. Und ’s Ende is das Witfrauentum, das aller»
ſchlimmſt·.
Wie fie Das fagte, uͤberkam mich fuͤr eine Weile dieſe verfluchte
Dpbjeftivität, die uns Deutfche ſchon manchmal im kritiſchen Mo-
mente in die Hand unferer Gegner gefpielt hat, unſre vermalebeite
Erdtugend, an der wir wahrſcheinlich noch zugrunde gehen werben.
Sie trieb's fo ton mit mir, dag mir — Antigone einfiel! Der
Srauen Schickſal ift befammernswert . . .
Ja, ja, Leben und Lieben ... Lyriſch macht ſich's recht füge,
aber...
Nein doch! Ich weiß, daß ich fein Hundsfott bin, gottlob, und
Brigitte wird nicht zu Flagen haben und wird nicht klagen.
Das fagte ich denn auch ihr, und ich fagte es fo, daß es fie
überzeugte, und fo kam es, daß fie mir die harte, knochige Hand
gab und ja zu meinem Wunfche fagte.
Vier Stunden hatte der Kampf gedauert, während deſſen aus
einem Drachen eine swar nicht fehr liebenswuͤrdige, aber doch eine
nad) ihrer Art lebende Mutter wurde, — wenigftens für mic),
ber ich ihr abbitte, daß ich fie fo haͤßlich beurteilt habe.
Ich rannte hinaus. Ich rannte den Berg hinab. Ich rannte in
Brigittes Arme, und, weiß Gott, wir smele haben gemeint mit
einander vor Gluͤck.
207
Jetzt ift bloß die Frage: wann wird Hochzeit fein?
Denn ich habe Eile, Peter! Mir wird Angft, dag, wenn ich
nicht ganz fir mache, irgend etwas Plumpes, Dummes, Graͤßliches
tommt, das da fagt: „Weg da, Glüc!"
Alfo: Laufſchritt! Marſch! Marſch!
Dein
ſehr gluͤcklicher
Pankrasius.
*
Skt. Georgen, am 20. Auguſt.
Eicher Peter!
Das Schiff hat ein Loch
‚Aber ans Sand kommt's doc.
Höre: Nachdem die Alte Handſchlag und Jawort gegeben, bin
ich, verſchiedenes, 1. 3. ein DBrautfleid (ein hold weißſeiden Ger
dicht), zu kaufen, nach München gefahren. Ic) lief dort wie auf
Samt, fo leicht und gluͤcklich war mir zumute, da, plöglich, heute,
als täte ſich flammend der unbewölfte blaue Simmel auf, kommt
mir die ſchauderhafte Nachricht: Die Deutter nimmt alles zuruͤck,
win nimmer, alles ift aus. Und flehentlich bat Brigitte: „Komm!
Komm!"
Ich fuhr fofort nach Dießen. In einem Gemitterguß lief ich
von Wilshofen, bis ih am Haustor ftand. Durchs Fenſter ſah ih
Brigitte gang verweint in der Ede figen. Ich laͤute; fie fpringt
heraus, mir an bie Bruft und weint und weint. Drängt mic) aber
fort. Ich dürfe nicht hinein, fie werde nachts fommen und mir
alles ſagen.
Oh, diefes Warten nun!
Endlich fam fie. Es war elf Uhr. Stoddunfel die Nacht und
gießender Regen.
208
Die arme naffe Maus! Und fonnte wohl eine halbe Stunde
nicht reden vor Weinen.
War fortgelaufen, obwohl fie fiher glaubte, daß es bemerft
werden würbe. So, mitten in ber Nacht, erzählte fie mir, es wäre
wie Raferet über Die Mutter gefommen, die fie nun mißhandelte
in ihrer Wut. Ja, fie ſollte nur zu mir laufen, immer zu! Aber
nicht mit ihrem Witten! Wählen follte fie zwiſchen dem Hergelau-
fenen und der Mutter, die ihr als Segen einen Tritt geben wolle,
daß fie nur recht weit megflöge, recht weit.
Und die ganze Familie fofort im Einflange mit diefer Tonart.
Bon allen Seiten war man auf das arme Kind losgefahren.
Wie ein verprügeltes Fleines Huͤndchen fam fie mir vor, und
wenn fie mir jetzt gefagt hätte: „Ih muß dich laſſen,“ — ich hätte
nicht das Herz gehabt, fie zu ſchelten.
Welches Mädchen hätte nicht fo getan?
Aber in ihr war von Diefem Gedanfen nicht ein Hauch.
Ihre Arme langten nad) mir, ihr Herz war ſchon fort aus dem
Haufe, in das mir der Zutritt verwehrt fein ſollte.
Haͤtte ich jegt, im Sturm der Regennacht, gefagt: „Komm, wir
wollen gehen !"" — ohne Befinnen hätte fie meinen Arm genommen,
Ich dachte einen Augenblick daran, fo zu handeln, aber ſchließ⸗
lich überlegte ich, Daß das zwar romantifch, aber auch unklug und
unrecht wäre. Ich brachte fie alfo zuruͤck an ihr Haus und half
ihr zum Senfter hinein. Eine Weile blieb ich und lauſchte, ob ſich
fein Lärm erheben würde. Aber es blieb ruhig. Es war nichts be»
merft worben.
Das war ein Tag, heute!
Aber da feh’ ich, daß ſchon der Morgen graut, und daß alfo auch
biefer böfe Tag bereits vorüber ift. Jetzt heißt es nun ſchnell die
andern böfen folgen laffen, damit wir auf bie guten, bie ſchon auf
dem Wege zu uns find, nicht zu lange warten muͤſſen.
14 Bierbaum II 209
Wie fang unf're rotmirige Jugend?
‚Depp, hurra, voran!
Es ſchleiche der Wiche, es fpringt der Mann;
Und ging es in die Sperre!
Cin Ende mad) dem Sauermut,
Das Stüd iſt bloß dem Raſchen gut,
Das Stöf und auch die Ehre!
Jettzt noch drei Stunden aufs Ohr gelegt, dann dieſen Brief
auf die Poft und dann, mas fann da fein, hopp, hurra, in die
Sperre!
Dein
Krai.
*
St. Georgen, den 21. Auguſt.
Lieber Peter!
Gottlob, das Feld ift flar. Ich hatte ſchon Angft, daß wiederum
diplomatifiert werben müßte.
Nein. Ich bin kurzweg hinausgeworfen, will fagen gar nicht
eingelaffen worden; und nun, mein Lieber, fonft Du eine Fleine
romantifche Entführung erleben und ſtolz auf Deinen alten Korps-
bruder fein, daß er raſch mie ein Junger das Gluͤck am goldenen
Schopfe padt.
Brigitte und ich haben heute das Kunſtſtuͤck fertiggebracht, trotz
aller Belauerung zufammenzufommen, und wir haben befchloffen,
auf und davon zu gehn. Jetzt, wo feine Wahl mehr ift, iſt es ung
beiden, als hätt’ e8 gar nicht anders fommen fönnen, und wir ber
ratſchlagen unfer Werf mit einer Art von Fühler Heiterfeit.
Gott, wer das mir prophezeit hätte!
Tante, Tante, mas fagft du nun! Oh, ich weiß, du gibſt mir
techt, fo wenig du von allem wiſſen wonteft, das nad) billiger Ro»
210
mantif ausfieht. Wir handeln in der Notwehr. Dan min ung
unferes Rechtes auf uns berauben. Freilich greift man uns mit
den Waffen des formalen Rechtes an. Ei freilich! Aber mir sichen
das Recht vor, das mit ung geboren tft.
Du runzelft die Prägeptorenftirn, Peter? Ra, warte nur, wenn
ich Dir Brigitte geigen werde, wirft Du fie wieder glätten.
Dein ftaatsgefährlicher
Pantrasius.
* . *
Augsburg, In den Drei Mohren,
am 30. Augufl.
Mein teurer Peter mit der Rungelftirn!
Es iſt wirklich wahr, man ift in den Drei Mohren ausgezeidh-
net gut, und wenn Du mir's nicht glauben willſt, fo frag’ Deinen
Kodegen, den Gymnaſiallehrer Dr. Peter Kahle aus Pommern,
der augenblicklich mit feiner Nichte Sophroſyne in Diefem fehr vor-
trefflichen Gaſthaus abgeftiegen ift und es fi) über die Maßen
wohl fein läßt bei altem Burgunder Nuits und Schweinsbraten
nebft Bauchſtecherlen, einem ſchwaͤbiſchen Gerichte von großem
Liebrein.
Ich habe mir naͤmlich, um Dich fuͤr Deinen ſauerkloßigen Brief
wenigſtens etwas, wenn auch viel zu gelinde, zu beſtrafen, Deinen
vielwerten Namen beigelegt, da ich Urſache habe, den meinen hier
nicht zu nennen, denn Deine Nichte Sophroſyne iſt meine liebe
Brigitte, und wir zwei beiden befinden uns fröhlich auf dem Pfade,
vor dem Du fo eindringlich und in unverfennbaren Anflängen an
den Stil der lateinifchen Aufſaͤtze abgeraten haft.
Ich fehe Dich erbleichen, Alter, und fo min ich Dich denn
gleich tröften.
Alfo: Unfere Flucht (das klingt) hat ſich nicht ganz fo freir
14* 211
willig und vorbedacht geftaltet, als mir eigentlich vorhatten. Das
Schickſal, das es fo gut mit ung meint, hat uns vielmehr im legten
Augenblick noch einen milbernden Umſtand geftiftet.
Spige die Ohren, mein Freund, paß auf und laß mich erzäh-
ln! —:
Brigitte und ich Ighten fo heiter und zuverſichtlich, wie Leute
leben, bie einen guten, ftarfen Vorſatz gefaßt haben und Dabei find,
ihn in allen Einzelheiten der Ausführung zu überbenfen. Wir fonn-
ten ung nur heimlich fehen, aber Das machte unfere Zufammen-
fünfte nur noch reizvoller. Freilich, kurz waren fie, zu kurz, und
das wollte ung nicht behagen.
Deshalb beſchloſſen wir, einmal fühn zu fein und ung einen
ganzen Sonntagnachmittag zu fchenfen, einfach fo, daß Brigitte
mit einer Freundin, die nun natuͤrlich ins Vertrauen gezogen wer-
den mußte, ſcheinbar ſpazieren ginge, in Wahrheit aber zu mir
fäme, während die Freundin in ihrer Guͤte allein weiterfpasierte.
Und fo geſchah's. Alles ging nach Wunſch, wir taten ung guͤtlich
aneinander, und, wie es in dem alten hinefifchen Roman vom
ſchoͤnen Maͤdchen von Pao heißt: „Die Freude der Fiſche im
Waſſer zu ſchildern, iſt uͤberfluͤſſig.“
Als der Abend kam, ſtellte ſich die Freundin wieder ein und
holte Brigitte mit ſpitzbuͤbiſchem Lächeln ab. Es ſah huͤbſch aus,
wie Die beiden Mädchen miteinander heimmärts ſchritten Durch bie
Dämmerung. Oft wandte Brigitte das liebe Geficht zuruͤck, und
immer, wenn fie es tat, war mir’, als leuchte die Sonne im
grauen Dämmer.
Wie der Abend dichter ward, ging ich auch in den Ort, in ein
Wirtshaus, das dem Vater des Mädchens gehört, durch deſſen
einfamen Spaziergang ung bie Möglichfeit, allein miteinander zu
fein, gegeben worden war. Ich war etwa fünfzig Schritte vor dem
Tore des Haufes, da hör’ ich im Dunkel mas Lelfes, Rauſchendes
212
hinter mir ber, und mie ich mich umbrehe, legt mir auch ſchon
Brigitte am Hals, ſchluchzend, feucht Die Backen von Tränen.
Es war lange nicht möglich, ein Wort aus ihr herauszubefom-
men. Erſt, als ich fie weit hinaus, den Huͤgelweg hinauf, geführt
hatte, der nad) Landsberg geht, rang ſich's langfam los aus ihr.
Was fon ich Dir’s weitläufig ersählen: es war bemerft worden,
10 fie gemefen war, und, da fie es auch ruhig und feft geftanden
und erflärt hatte, fie werde fih nimmer von mir losreißen laſſen,
hatte die Mutter, vafend vor Wut, fie zur Thr hinausgemiefen
mit den Worten: fie folle zu mir gehen und bei mir bleiben und es
nicht wagen, ſich wieder vor ihr fehen zu laffen. Es hatte auch
nicht an handgreiflichen Hinzufhgungen gefehlt.
Und da hatt’ ich fie nun, meine liebe fleine Srau.
Anfangs flogen mir die Pulfe vor Aufregung und Zorn und
Schmerz, aber juft als der Mond herhbertrat Über den Burgwald
und filberfhön das Mädel beglänzte, da kam mir's wie ein Ge»
fühl ruhigen Danfes, und ich nahm fie an den Hüften und hob
fie hoch und füßte fie lange und ſchwang fie dann herum im Kreife
und lachte fie an und fagte: „Herrlich, Maͤdi, fo brauchen wir
alfo nicht auszureißen, fondern gehen ganz friedlich miteinander
ab und laſſen die andern ung gern haben, allemiteinand.
Gent“
Da!" fagte fie leiſe und fah mich mit wehfrohen Augen an,
die fprachen: Wie du willſt!
Nun lagen die Dinge aber fo: die Mutter würde freilich feinen
Singer rühren, um ruͤckgaͤngig zu machen, was fie getan, und ginge
Brigitte jegt ins Haus zuruͤck, Die Alte würde fie mit einem Scheit
Holz hinaustreiben und nur bedauern, daß nicht Winter und
Sturm draußen iſt. Aber der Bruder und die Schwägerin — die
wuͤrden alles verfuchen, fie zuruͤckzuholen. Ste würden fie vielleicht
eine Weile vor der Alten verborgen halten, bis ſich deren Wut-
213
willig und vorbedacht geftaltet, als wir eigentlich vorhatten. Das
Schickſal, das es fo gut mit ung meint, hat ung vielmehr im legten
Augenblick noch einen mildernden Umſtand geſtiftet.
Spige die Ohren, mein Freund, paß auf und lag mich erzäh-
In! —:
Brigitte und ich Ighten fo heiter und zuverſichtlich, wie Leute
leben, die einen guten, ftarfen Vorfag gefaßt haben und dabei find,
ihn in allen Einzelheiten der Ausführung zu überdenken. Wir fonn-
ten ung nur heimlich fehen, aber das machte unfere Zufammen-
fünfte nur noch reizvoller. Freilich, kurz waren fie, zu kurz, und
das wollte ung nicht behagen.
Deshalb befchloffen mir, einmal kuͤhn zu fein und ung einen
ganzen Sonntagnachmittag zu fehenfen, einfach fo, daß Brigitte
mit einer Freundin, die nun natuͤrlich ins Vertrauen gezogen wer»
den mußte, ſcheinbar ſpazieren ginge, in Wahrheit aber zu mir
kaͤme, während die Freundin in ihrer Güte allein weiterfpagierte.
Und fo gefchah’s. Alles ging nach Wunſch, wir taten ung guͤtlich
aneinander, und, wie es in dem alten dhinefifchen Roman vom
ſchoͤnen Mädchen von Pao heißt: „Die Freude der Fiſche im
Waſſer zu ſchildern, iſt überflüffig.”
Als der Abend kam, ſtellte ſich die Freundin wieder ein und
holte Brigitte mit ſpitzbuͤbiſchem Lächeln ab. Es ſah huͤbſch aus,
wie die beiden Maͤdchen miteinander heimmärts ſchritten Durch bie
Dämmerung. Oft wandte Brigitte das liebe Gefiht zuruͤck, und
Immer, wenn fie es tat, mar mir’s, als leuchte die Sonne im
grauen Dämmer.
Wie der Abend dichter ward, ging ich auch in den Ort, in ein
Wirtshaus, das dem Vater des Mädchens gehört, durch beffen
einfamen Spaglergang ung die Möglichkeit, allein miteinander zu
fein, gegeben worden war. Ich war etwa fünfzig Schritte vor dem
Tore des Haufes, da hör’ ich im Dunkel was Leifes, Raufchendes
212
hinter mir her, und wie ich mich umdrehe, liegt mir auch ſchon
Brigitte am Hals, ſchluchzend, feucht Die Baden von Tränen.
Es war lange nicht möglich, ein Wort aus ihr herauszubefom-
men. Erft, als ich fie weit hinaus, den Hligelmeg hinauf, geführt
hatte, der nad) Landsberg geht, rang ſich's langſam los aus ihr.
Was fon ich Dir’s weitläufig erzählen: es war bemerft worden,
wo fie gemefen war, und, da fie es auch ruhig und feft geftanden
und erflärt hatte, fie werbe ſich nimmer von mir losreißen laffen,
hatte die Mutter, rafend vor Wut, fie zur Tuͤr hinausgemiefen
mit den Worten: fie ſolle zu mir gehen und bei mir bleiben und es
nicht wagen, ſich wieder vor ihr fehen zu laffen. Es hatte auch
nicht an handgreiflichen Hinzufligungen gefehlt.
Und da hatt’ ich fie nun, meine Liebe fleine Srau.
Anfangs flogen mir die Pulfe vor Aufregung und Zorn und
Schmerz, aber juft als der Mond herhbertrat hber den Burgwald
und filberfhön das Maͤdel beglänzte, da fam mir’s wie ein Ger
fühl ruhigen Danfes, und ic) nahm fie an den Hüften und hob
fie hoch und kuͤßte fie lange und ſchwang fie dann herum im Kreife
und lachte fie an und fagte: „Herrlich, Maͤdi, fo brauchen wir
alfo nicht auszureißen, fondern gehen ganz friedlich miteinander
ab und laffen die andern ung gern haben, allemiteinand.
Gen"
„Ja!“ fagte fie leiſe und fah mich mit wehfrohen Augen an,
die ſprachen: Wie du willſt!
Nun lagen die Dinge aber fo: Die Mutter würde freilich Feinen
Singer rühren, um ruͤckgaͤngig su machen, was fie getan, und ginge
Brigitte jegt ins Haus zuruͤck, die Alte würde fie mit einem Scheit
Holz hinaustreiben und nur bedauern, daß nicht Winter und
Sturm draußen ift. Aber der Bruder und die Schwägerin — die
wuͤrden alles verfuchen, fie zurhctzuholen. Sie würden fie vielleicht
eine Weile vor ber Alten verborgen halten, bis ſich deren Wut»
213
paroxyemus im etwas gelegt hätte, dann aber, zumal wenn ich fort
märe, würde ſich alles langfam wieder einlenfen.
Liebe, verftändige Verwandte, — nicht wahr?
Ad, Du Idealiſt! Was fi) Die wackeren zweie retten wollten,
war nicht Die Schwerter, nicht Die Schwägerin, — war einfach
der binige Dienſtbote, das treue, eifrige, wilige Arbeitstier, Das
feinen Cohn verlangte und mehr tat als ein Fremdes.
Du glaubſt das nicht?
Es ift aber leider fo. Der Bruder hat mir’s an jenem Abend,
geftern abend, felber gefagt.
Denn nun fam folgendes. Ich brachte Brigitte in einem Haufe
oben in St. Georgen unter, das ein mir befannter Maler mit ſei⸗
ner Frau bewohnte, machte alles Nötige mit ihr aus und ging Dann
in das Gafthaus, um mit Brigittes Freundin einiges zu befprechen.
Denn das arme Tierchen hatte ja natuͤrlich Feine Reiſekleider, feis
nen Hut, feine Schuhe,
Die Freundin war bald verftändigt und ſchnell bereit, zu helfen,
und ic} ging nun, mic) zu flärfen, ins Gaſtzimmer. Wunderlicher
Gegenfag! Da knallten die Zimmerfiugen, da flang’s von Zither
und Gitarre, und die Maßkruͤge bonnerten auf die Tifche.
Der wadere Bruder war auch bei den Schuͤtzen. Gerad, wie
ich eintrat, war er am Schuß. Er zielte lange, druͤckte ab und traf
Ins Schwarze. Algemeines Hallo, die Maßkruͤge Fangen zufam-
men, wohlgefänig laͤchelnd nahm er Die Komplimente feiner er
noffen entgegen.
Dann fam er langſam auf mich su, geinfte mich freundfchaft-
lich an, gab mir Die Hand, hieß fein Bier an meinen Tiſch bringen
und fing nun aufs gemütlichfte an, mit mir fiber die Sache zu reden.
Ich ſollte ihm fagen, wo Brigitte wäre; Das war das erfle.
Ich fagte ihm fehr ruhig und gleichfalls mit dem Biedertone
der Gemütlichfeit, daß mir Das gar nicht einfiele.
214
Dann werde er fie fuchen, — er!
Das möge er tun, wenn’s ihm Spaß made. Finden werbe er
fie aber nicht.
Dh! Wenn er nur wollte! Er fände fie ſchon! Er koͤnne ſich
ſchon denen, wo fie ſtecke. Aber nein: er werde ſich gar feine
Mühe geben und fi) das Zimmerſtutzenſchießen verhungen, jetzt
wo er wahrſcheinlich heut abend König fein werde. Nein: ich würde
ſchon ein Einfehen haben und dem Mädel den Kopf zurechtſetzen
und fie nad) Haufe ſchicken.
Wie er auf folche alberne Einfäne fomme?
Ra, mir ſei's doch nicht Ernft um das Mädel, mir, dem Stu-
bierten! Gott, er hätte ja gar nichts Dagegen, wenn ich mich mit
dem Mädel amüfierte. Ich würde ſchon dafür forgen, daß ihr
nichts paffierte ...
Ich hatte Luft, den Kerl zu maulſchellen, den infamen, aber ich
hielt an mic) und erflärte ihm ruhig, sum Amüfierverhältnis ſei
mir feine Schmwefter zu gut, aber ich würde fie heiraten, obwohl er
{hr Bruder ſei.
Jetzt wurde er aber wild. Nein! Dazu gebe er feine Einwinigung
nicht!
Darauf ih: Ich bäte ihn auch nicht darum, und er habe auch
feine zu geben.
Doc! Er hätte fie su geben.
Wieſo? Ob er ihr Vormund fei?
Nein, aber ihr — Dienftherr!
Donnerwetter!
Ich fah mir den Burfchen eine Weile fprachlos an, dann nahm
ic) meinen Hut und ging.
Er brüßte was hinter mir her.
Als ich in den Abend, der mittlerweile zur ſtockdunklen ftüre
215
Jetzt ift bloß die Frage: wann wird Hochzeit fein?
Denn ich habe Eile, Peter! Mir wird Angft, daß, wenn ich
nicht gan fir mache, irgend etwas Plumpes, Dummes, Graͤßliches
kommt, das da fagt: „Weg da, Glhe!"
Alfo: Lauffhritt! Marſch! Marſch!
Dein
ſehr glüdlicher
Pankrasius.
*
Skt. Georgen, am 20. Auguſt.
Lieber Peter!
Das Schiff Hat cin Loch
Aber ans Sand kommt's doch.
Höre: Nachdem die Alte Handſchlag und Jawort gegeben, bin
ich, verfchledenes, z. 3. ein Brautfleid (ein hold weißſeiden Ge
dicht), au Faufen, nach München gefahren. Ich lief Dort wie auf
Samt, fo leicht und glücklich war mir zumute, da, plöglich, heute,
als täte ſich flammend der unbewoͤlkte blaue Himmel auf, fommt
mir die fhauderhafte Nachricht: Die Mutter nimmt afes zuruͤck,
win nimmer, alles ift aus. Und flehentlich bat Brigitte: „Komm!
Komm!"
Ich fuhr fofort nach Dießen. In einem Gemitterguß lief ich
von Wilshofen, bis ich am Haustor ftand. Durchs Senfter fah ich
Brigitte ganz vereint in der Ecke figen. Ich laͤute; fie fpringt
heraus, mir an die Bruft und weint und meint. Drängt mic) aber
fort. Ich dürfe nicht hinein, fie werde nachts Fommen und mir
alles fagen.
Oh, biefes Warten nun!
Endlich) fam fie. Es war elf Uhr. Stoddunfel die Nacht und
gießender Regen.
208
Die arme naffe Maus! Und fonnte wohl eine halbe Stunde
nicht reden vor Weinen.
War fortgelaufen, obwohl fie fiher glaubte, daß es bemerft
werben würde. So, mitten in der Nacht, erzählte fie mir, es wäre
wie Raferei über die Mutter gefommen, die fie nun mißhandelte
in ihrer Wut. Ja, fie ſollte nur zu mir laufen, immer zu! Aber
nicht mit ihrem Witten! Wählen ſollte fie swifchen dem Hergelau-
fenen und der Mutter, die ihr ald Segen einen Tritt geben wolle,
daß fie nur recht weit wegflöge, recht meit.
Und bie ganze Familie fofort im Einflange mit diefer Tonart.
Bon allen Seiten war man auf das arme Kind losgefahren.
Wie ein verprügeltes kleines Huͤndchen fam fie mir vor, und
wenn fie mir jegt gefagt hätte: „Ich muß Dich laſſen,“ — ich hätte
nicht Das Hera gehabt, fie zu ſchelten.
Welches Maͤdchen hätte nicht fo getan?
Aber in ihr mar von dieſem Gedanfen nicht ein Hauch.
Ihre Arme langten nach mir, ihr Herz war ſchon fort aus dem
Haufe, in das mir der Zutritt vermehrt fein ſollte.
Haͤtte ich jegt, Im Sturm der Regennacht, gefagt: „Komm, wir
wollen gehen !" — ohne Befinnen hätte fie meinen Arın genommen.
Ich dachte einen Augenblick daran, fo zu handeln, aber ſchließ⸗
lich überlegte ich, Daß Das zwar romantifch, aber auch unflug und
unrecht wäre. Ich brachte fie alfo zuruͤck an ihr Haus und half
ihr zum Senfter hinein. Eine Weile blieb ich und laufchte, ob ſich
fein Laͤrm erheben wuͤrde. Aber es blieb ruhig. Es war nichts ber
merft worden.
Das war ein Tag, heute!
Aber da feh’ ich, daß ſchon der Morgen graut, und dag alfo auch
dieſer böfe Tag bereits vorüber ift. Jetzt heißt es nun ſchnell die
andern böfen folgen laſſen, damit wir auf die guten, die ſchon auf
dem Wege zu uns find, nicht zu lange warten muͤſſen.
14 Bierbaum II 209
Wie fang unf're rotmuͤtzige Jugend?
‚Depp, Hurra, voran!
Es ſchleicht der Wit, es fpringe der Mann;
Und ging es in die Speere!
Ein Ende mad’ dem Sauermut,
Das Gluͤck iſt bloß dem Raſchen gut,
Das Stüd und auch die pre!
Jetzt noch drei Stunden aufs Ohr gelegt, dann biefen Brief
auf die Poft und dann, was fann da fein, hopp, hurra, in bie
Speere!
Dein
Krasi.
* *
*
St. Georgen, den 21. Auguſt.
Lieber Peter!
Gottlob, das Feld iſt flar. Ich hatte ſchon Angft, daß wiederum
Diplomatifiert werden müßte.
Nein. Ich bin kurzweg hinausgemorfen, mil fagen gar nicht
eingelaffen worden; und nun, mein Lieber, fonft Du eine kleine
romantifche Entführung erleben und ftolz auf Deinen alten Korps»
bruder fein, daß er raſch wie ein Junger das Gluͤck am goldenen
Schopfe padt.
Brigitte und ich haben heute Das Kunſtſtuͤck fertiggebracht, trotz
aller Belauerung zuſammenzukommen, und wir haben befchloffen,
auf und davon zu gehn. Jetzt, wo feine Wahl mehr ift, ift es ung
beiden, als hätt? es gar nicht anders fommen koͤnnen, und wir be>
ratſchlagen unfer Werf mit einer Art von Fühler Heiterkeit.
Gott, wer das mir prophegeit hätte!
Tante, Tante, was fagft du nun! Ob, ich weiß, du gibſt mir
recht, fo wenig bu von allem wiſſen wollteſt, das nad) billiger Ro»
210
mantif ausſieht. Wir handeln in der Notwehr. Dan will ung
unferes Rechtes auf ung berauben. Freilich greift man ung mit
den Waffen des formalen Rechtes an. Ei freilich! Aber mir stehen
das Recht vor, das mit ung geboren iſt.
Du runzelft die Prägeptorenftien, Peter? Na, warte nur, wenn
id) Dir Brigitte zeigen werde, wirt Du fie wieder glätten.
Dein flaatsgefährlicher
Panfrastus.
*
Augsburg, in den Drei Mohren,
am 30. Auguft.
Mein teurer Peter mit ber Runzgelftirn!
Es ift wirklich wahr, man ift in den Drei Mohren ausgezeih-
net gut, und wenn Du mir's nicht glauben willſt, fo frag’ Deinen
Kollegen, den Gymnaſiallehrer Dr. Peter Kahle aus Pommern,
der augenblicklich mit feiner Nichte Sophrofyne in Diefem fehr vor⸗
trefflichen Gaſthaus abgeftiegen ift und es fi) über Die Maßen
wohl fein laͤßt bei altem Burgunder Nuits und Schweinshraten
nebft Bauchſtecherlen, einem ſchwaͤbiſchen Gerichte von großem
&el
breiz.
Ich habe mir nämlich, um Dich für Deinen ſauerkloßigen Brief
wenigſtens etwas, wenn auch viel zu gelinde, zu beftafen, Deinen
vielmerten Namen beigelegt, da ich Urfache habe, den meinen hier
nicht zu nennen, denn Deine Nichte Sophroſyne ift meine liebe
Brigitte, und wir zwei beiden befinden uns fröhlich auf dem Pfabe,
vor dem Du fo eindringlich und in unverfennbaren Anflängen an
den Stil der lateiniſchen Auffäge abgeraten haft.
Ich fehe Dich erbleichen, Alter, und fo win ih Dich denn
glei) tröften.
Alfo: Unfere Flucht (das Mingt!) hat ſich nicht ganz fo freie
14* 211
willig und vorbedacht geftaltet, als mir eigentlich vorhatten. Das
Schickſal, dag es fo gut mit ung meint, hat ung vielmehr im legten
Augenblic noch einen mildernden Umftand geftiftet.
Spige die Ohren, mein Freund, paß auf und lag mich erzaͤh⸗
ln! —:
Brigitte und ich Ighten fo heiter und zuverſichtlich, wie Leute
leben, bie einen guten, ſtarken Borfag gefaßt haben und dabei find,
ihn in allen Einzelheiten der Ausführung zu überdenfen. Wir fonn-
ten uns nur heimlich fehen, aber das machte unfere Zufammen-
fünfte nur noch reizvoller. Freilich, kurz waren fie, zu furz, und
das wollte ung nicht behagen.
Deshalb beſchloſſen wir, einmal fühn zu fein und ung einen
ganzen Sonntagnachmittag zu ſchenken, einfach fo, daß Brigitte
mit einer Freundin, die nun natürlich ins Vertrauen gegogen wer:
den mußte, ſcheinbar fpazieren ginge, in Wahrheit aber zu mir
fäme, während bie Freundin in ihrer Guͤte allein meiterfpasierte.
und fo geſchah's. Alles ging nach Wunſch, wir taten ung gütlic)
aneinander, und, wie es in dem alten chinefifchen Roman vom
ſchoͤnen Mädchen von Pao heißt: „Die Freude der Fiſche im
Waſſer zu ſchildern, iſt überflüffig."
Als der Abend kam, ſtellte ſich die Freundin wieder ein und
holte Brigitte mit ſpitzbuͤbiſchem Lächeln ab. Es ſah huͤbſch aus,
wie die beiden Mädchen miteinander heimmärts ſchritten Durch Die
Dämmerung. Oft wandte Brigitte das liebe Geſicht zuruͤck, und
immer, wenn fie es tat, war mir’s, als leuchte Die Sonne im
grauen Dimmer.
Wie der Abend dichter ward, ging ich auch in den Ort, in ein
Wirtshaus, das dem Vater des Mädchens gehört, durch beffen
einfamen Spaziergang ung die Möglichkeit, allein miteinander zu
fein, gegeben worden war. Ich war etwa fünfzig Schritte vor dem
Tore des Haufes, da hör’ ich im Dunkel was Leifes, Rauſchendes
212
hinter mir ber, und mie ich mich umbrehe, Hegt mir auch ſchon
Brigitte am Hals, ſchluchzend, feucht Die Backen von Tränen.
Es war lange nicht möglich, ein Wort aus ihr herauszubefom-
men. Erft, als ich fie weit hinaus, den Hügelmeg hinauf, geführt
hatte, der nad) Landsberg geht, rang ſich's langſam los aus ihr.
Was fon ich Dir’s weitlaͤufig erzählen: es war bemerft worden,
wo fie gemefen war, und, da fie es auch ruhig und feft geftanden
und erflärt hatte, fie werde fi) nimmer von mir losreißen laffen,
hatte die Mutter, rafend vor Wut, fie zur Tuͤr hinausgewieſen
mit den Worten: fie ſolle zu mir gehen und bei mir bleiben und es
nicht wagen, ſich wieder vor ihr fehen zu laffen. Es hatte auch
nicht an handgreiflihen Hinzufligungen gefehlt.
Und da hatt’ ich fie nun, meine liebe fleine ran.
Anfangs flogen mir die Pulfe vor Aufregung und Zorn und
Schmerz, aber juft als der Mond herhbertrat über den Burgwald
und filberfhön Das Mädel beglänzte, da kam mir's wie ein Ger
fühl ruhigen Danfes, und ich nahm fie an den Hüften und hob
fie hoch und füßte fie lange und ſchwang fie dann herum im Kreife
und lachte fie an und fagte: „Herrlich, Mädt, fo brauchen wir
alfo nicht auszureißen, fondern gehen ganz friedlich miteinander
ab und laffen die andern uns gern haben, allemiteinand.
Gent“
„Ja!“ fagte fie leife und fah mich mit wehfrohen Augen an,
die ſprachen: Wie Du willſt!
Nun lagen die Dinge aber fo: Die Mutter würde freilich feinen
Singer rühren, um ruͤckgaͤngig zu machen, was fie getan, und ginge
Brigitte jegt ins Haus zuruͤck, bie Alte würde fie mit einem Scheit
Holz hinaustreiben und nur bedauern, daß nicht Winter und
Sturm draußen tft. Aber der Bruber und Die Schwägerin — die
würden alles verfuchen, fie zuruͤckzuholen. Sie wuͤrden fie vielleicht
eine Weile vor der Alten verborgen halten, bis ſich deren Wut»
213
willig und vorbedacht geftaltet, als wir eigentlich vorhatten. Das
Schickſal, das es fo gut mit ung meint, hat ung vielmehr im legten
Augenblick noch einen mildernden Umſtand geftiftet.
Spige die Ohren, mein Freund, paß auf und laß mic) erzäh-
ln! —:
Brigitte und ich (ghten fo heiter und zuverſichtlich, wie Leute
leben, Die einen guten, ftarfen Vorſatz gefaßt haben und Dabei find,
ihn in allen Einzelheiten der Ausführung zu überdenken. Wir fonn-
ten ung nur heimlich fehen, aber Das machte unfere Zufammen-
fünfte nur noch reizvoller. Freilich, kurz waren fie, zu fur, und
das wollte ung nicht behagen.
Deshalb befehloffen wir, einmal kuͤhn zu fein und ung einen
ganzen Sonntagnachmittag zu ſchenken, einfach fo, Daß Brigitte
mit einer Freundin, Die nun natlrlich ing Vertrauen gezogen wer⸗
den mußte, ſcheinbar fpazieren ginge, in Wahrheit aber zu mir
fäme, während die Freundin in ihrer Guͤte allein meiterfpagierte.
Und fo gefhah’s. Alles ging nach Wunſch, wir taten ung guͤtlich
aneinander, und, wie es in dem alten hinefifhen Roman vom
ſchoͤnen Maͤdchen von Pao heißt: „Die Freude der Fifche im
Waſſer zu ſchildern, iſt uͤberfluͤſſig.“
Als der Abend kam, ſtellte ſich die Freundin wieder ein und
holte Brigitte mit ſpitzbuͤbiſchem Lächeln ab. Es ſah huͤbſch aus,
wie die beiden Mädchen miteinander heimmärts ſchritten durch bie
Dämmerung. Oft wandte Brigitte das liebe Gefiht zurück, und
immer, wenn fie es tat, war mir’s, als leuchte die Sonne im
grauen Dämmer.
Wie der Abend dichter warb, ging ich auch in den Ort, in ein
Wirtshaus, das dem Vater des Mädchens gehört, durch deſſen
einfamen Spaziergang ung die Möglichkeit, allein miteinander zu
fein, gegeben worden war. Ich war etwa fünfsig Schritte vor dem
Tore des Haufes, da hör? ich im Dunfel mas Leiſes, Naufchendes
212
hinter mir ber, und mie ich mich umbrehe, liegt mir auch ſchon
Brigitte am Hals, ſchluchzend, feucht die Baden von Tränen,
Es war lange nicht möglich, ein Wort aus ihr heraussubefom-
men. Erft, als ic) fie weit hinaus, den Huͤgelweg hinauf, geführt
hatte, der nad) Landsberg geht, rang ſich's langſam los aus ihr.
Was fol ich Dir’s weitläufig ersählen: es war bemerft worden,
wo fie geweſen war, und, da fie es auch ruhig und feſt geftanden
und erflärt hatte, fie werde ſich nimmer von mir losreißen laffen,
hatte die Mutter, rafend vor Wat, fie sur Tür hinausgemiefen
mit den Worten: fie folle zu mir gehen und bei mir bleiben und es
nicht wagen, ſich wieder vor ihr fehen su laffen. Es hatte auch
nicht an handgreiflichen Hinzufuͤgungen gefehlt.
Und da hatt? ich fie nun, meine liebe Fleine Frau.
Anfangs flogen mir die Pulfe vor Aufregung und Zorn und
Schmerz, aber juft als der Mond herübertrat Über den Burgwald
und ſilberſchoͤn das Maͤdel beglänzte, da fam mir's wie ein Ges
fühl ruhigen Danfes, und ich nahm fie an den Hüften und hob
fie hoch und Füßte fie Lange und ſchwang fie dann herum im Kreife
und lachte fie an und fagte: „Herrlich, Mädt, fo brauchen wir
alfo nicht auszureißen, fondern gehen ganz friedlich miteinander
ab und laſſen die andern uns gern haben, alemiteinand.
Gen“
„Ja!“ fagte fie leife und fah mich mit wehfrohen Augen an,
die fprachen: Wie du willſt!
Nun lagen die Dinge aber fo: die Mutter wuͤrde freilich feinen
Singer rühren, um ruͤckgaͤngig au machen, was fie getan, und ginge
Brigitte jest ins Haus zuruͤck, Die Alte würde fie mit einem Scheit
Holz hinaustreiben und nur bedauern, daß nicht Winter und
Sturm draußen ft, Aber der Bruder und die Schwägerin — die
würden alles verfuchen, fie zuruͤckzuholen. Ste würden fie vielleicht
eine Welle vor der Alten verborgen halten, bis ſich deren Wut»
213
paroxysmus in etwas gelegt hätte, Dann aber, zumal wenn ich fort
waͤre, würde ſich alles langfam wieder einlenken.
Liebe, verſtaͤndige Verwandte, — nicht wahr?
Ach, Du Idealiſt! Was ſich die wackeren zweie retten wollten,
war nicht die Schweſter, nicht die Schwaͤgerin, — war einfach
der billige Dienftbote, das treue, eifrige, willige Arbeitstier, Das
feinen Lohn verlangte und mehr tat als ein Fremdes.
Du glaubft das nicht?
Es iſt aber leider fo. Der Bruder hat mir’s an jenem Abend,
geftern abend, felber gefagt.
Denn nun Fam folgendes. Ich brachte Brigitte in einem Haufe
oben in St. Georgen unter, das ein mir befannter Maler mit fel-
ner Frau bewohnte, machte alles Nötige mit ihr aus und ging dann
in das Gafthaus, um mit Brigittes Freundin einiges zu befpredhen.
Denn das arme Tierchen hatte ja natuͤrlich feine Reiſekleider, fei-
nen Hut, feine Schuhe.
Die Freundin war bald verftändigt und ſchnell bereit, su helfen,
und ic) ging nun, mich zu fläcfen, ins Gaſtzimmer. Wunderlicher
Gegenſatz! Da knallten die Zimmerfiugen, da flang’s von Zither
und Gitarre, und die Maßkruͤge bonnerten auf Die Tiſche.
Der wackere Bruder war auch bei den Schlgen. Gerad, wie
ich eintrat, war er am Schuß. Er sielte lange, Drüdte ab und traf
ins Schwarze. Allgemeines Hallo, die Maffrüge klangen zufam-
men, wohlgefänig laͤchelnd nahm er die Komplimente feiner Ge
noſſen entgegen.
Dann fam er langſam auf mich zu, geinfte mich freundfchaft-
+ Di) an, gab mir die Hand, hieß fein Bier an meinen Tiſch bringen
und fing nun aufs gemütlichfte an, mit mir über die Sache zu reden.
Ich ſollte ihm fagen, wo Brigitte wäre; das war das erfle.
Ich fagte ihm fehr ruhig und gleichfans mit dem Biedertone
der Gemütlichkeit, daß mir das gar nicht einfiele.
214
Dann werde er fie ſuchen, — er!
Das möge er tun, wenn’s ihm Spaß mache. Finden werde er
fie aber nicht.
Dh! Wenn er nur wollte! Er fände fie fhon! Er fönne ſich
ſchon denfen, wo fie fede. Aber nein: er werde fi) gar Feine
Mühe geben und fi) das Zimmerſtutzenſchießen verhungen, jegt,
mo er wahrſcheinlich heut abend König fein werde. Nein: ich würde
ſchon ein Einfehen haben und dem Mädel den Kopf surechtfegen
und fie nach Haufe fehidten.
Die er auf ſolche alberne Einfäne fomme?
Na, mir ſei's doch nicht Ernft um das Mädel, mir, dem Stu-
dierten! Gott, er hätte ja gar nichts Dagegen, wenn ich mich mit
dem Mädel amfierte. Ich würde ſchon daflır forgen, daß ihr
nichts paffierte ... -
Ich hatte Luft, den Kerl zu maulſchellen, den infamen, aber ich
hielt an mich und erflärte ihm ruhig, sum Amüfierverhältnis ſei
mir feine Schwefter zu gut, aber ich wuͤrde fie heiraten, obwohl er
ihr Bruder ſei.
ent wurde er aber wild. Nein! Dazu gebe er feine Einwinigung
nicht!
Darauf ich: Ich baͤte ihn auch nicht darum, und er habe auch
feine zu geben.
Doc! Er hätte fie zu geben.
Wiefo? Ob er ihr Vormund ſei?
Nein, aber ihr — Dienftherr!
Donnerwetter!
Ich fah mir den Burſchen eine Weile ſprachlos an, dann nahm
ich meinen Hut und ging.
Er bruͤllte was hinter mir her.
Als ich in den Abend, der mittlerweile zur ſtockdunklen ftürs
215
mischen Nacht getoorden war, hinaustrat, und als mich nach dem
Gelaͤrm und Gequalm der Wirtsftube bie ſtille Reinheit der freien
Luft empfing, da ward es mir mit einem Male flar, wie das
Wunderbare gefhehen fonnte, daß ſich Brigitte fo fehnen und fo
fer an mich angeſchloſſen hatte. Ich war ber erfte gemefen, der
ihrem unbewußten Drange nad) etwas Beſſerem, Höherem ent»
gegengefommen war. Bon mir hatte fie zum erfien Male eine
Sprache, frei von Roheiten und Gemeinheiten, gehört, ih hatte
Ahr zum erften Male den Blick in eine reinere Welt aufgetan, in
eine Welt von Intereſſen, fuͤr Die fie zwar nicht Die Bildung, aber
die inftinftive Empfindungsfraft befaß. Unter jenen, obwohl fie ihr
verwandt waren, war fie die Fremde geweſen, wenn auch ihr fri-
ſcher Lebenshumor es verhinderte, daß Melancholie ihr Wefen
überfumpfte — mir war fie herzensverwandt, obwohl ich aus einem
ihr fernen Lande, aus einer ihr fremden Stadt fam und viel älter
als fie war. War es da ein Wunder, daß fie ſich mir erſchloß, sus
mal ihr weiblicher Inſtinkt bald bemerkte, daß ich fie keineswegs
mit Onfelaugen anfah?
Jet hatt’ ich die Löfung des Nätfels, das mir manche Bange
Stunde gemacht hatte, und da ich fie hatte, ward ich fo froh, daß
ich am liebſten gleich zu ihr hinausgelaufen wäre, fie noch einmal
in die Arme zu nehmen und nod) einmal im Kreife um mich zu
ſchwingen, ic} ganz verwanbelter Pankraztus, Juͤngling von ihren
Gnaden.
Ad, Peter, fo froh war ich, — es iſt nicht zu ſchildern.
Der Wind nahm mir den Hut und wehte ihn in die bunfle
Nacht, den Berg hinab.
„Hurra!“ ſchrie ich, wie ein Junger Leutnant, der hinterm Steg
ber ift, und lief ins Dunfel, dem Hute nad), den Brigitte um
feiner Farbe und Weichheit willen „die Fruͤhlingswolke“ getauft
hatte,
216
„Fruͤhlingswolke, wo bift du?!“ ſchrie ich und rannte ins
Dunkel.
„Frühlingswolke, biſt du in den Himmel gefahren?!" und da
lag ic) auf der Naſe.
„Fruͤhlingswolke, ich kriege Dich, fo gewiß ich Brigitte ſchon
habe!" und ic) turnte in einem dicken Bufchgehege herum.
„Fruͤhlingswolke! ...“, und da hatt’ ich ihn, der auf einem
Rofenbufche hing.
Ich sing fehr befriedigt nach Haufe, meine Srühlingsmolfe auf
dem Kopfe, den Frühling im Herzen und bloß von der Angſt ge-
plagt: du wirft es doch nicht verfehlafen?
Denn die Poft nad) Landsberg, mein Eicher, geht ſchon ums
Morgengrauen ab.
Wir hatten nämlich befchloffen, ganz einfach und unromantiſch
mit der Poft nach Landsberg und von dort mit der Bahn nach
Augsburg zu fahren. Das deshalb, weil wir fo falfulierten: wahr:
ſcheinlich wird die werte Familie gar nichts tun, weil fie von
unferer Seite gar nichts erwartet; wenn fie aber mas tut, fo wird
fie die Ausfanstore nach München öffnen,
Und, damit ich nun furz bin: wir hatten ung nicht verrechnet.
Verſchlafen hab’ ich's Gott ſei Danf nicht.
Als ich erwachte, prunfte der Himmel noch in ſchwarzem filber-
beſtickten Samt. Bon der großen Eiche vor meinem Senfter krall⸗
ten ein paar Krähen ab und kraͤchzten in die tintige Luft. „Abfit
omen“, beſchwor ich feierlich und fuhr in Die Hofen. Mit Gerſchle⸗
Pept war meiner Effeften wegen alles berebet, ich Fonnte alfo ruhig
wandern, und ic} tat's. Unten in der Poft zwei Binlette genommen
(„Zw0a?" — „Jamohl, oben in St. Georgen fleigt wer u!)
und nun in den Rumpelfaften.
Ein verzweifelter Trompetenlauf, wie wenn zwamig Froͤſche jaͤh
aus dem Schlafe erwachten und erſchreckt quaften, bis fie mitten
217
im beruhigter werdenden „Quarr“ wieder einfchlafen. Das war
der blauweiße Herr Poſtillion. Und nun bergauf durch die Haupt»
frage. Die deutfhe Sprache hat nicht Naturlaute genug, um
onomatopvetifch das Geraffel, Gerumpel, Geratter, Gefnatter, Ge
aͤchze, Gekraͤchze, Gequietſche, Geratſche, Geklirre, Geknurre, Ger
pumpre und Gedonnere dieſes koͤniglich bayriſchen Poſtfuhrwerkes
anſchaulich zu ſchildern. Wenn der Teufel ſeiner Großmutter zu
ihrem Namenstag ein recht hoͤlliſches Staͤndchen bringen will, ſo
laͤßt er ſicherlich vor den Fenſtern ihrer guten Stube einen Hoͤllen ⸗
korſo mit bayriſchen Poſtomnibuſſen fahren. Aber den rechten Ge⸗
nuß hätte Madame doch erft, wenn fie drin fäße.
Auf der Landftraße wurde es beffer, und wenn auch die Ohren
und die vielwerten vier Buchftaben weiterhin Fafteit worben wären,
jetzt hätte ich es nimmer gefühlt; denn den Augen widerfuhr ein
herrliches Schauen. Ich fah ein abenteuerliches Bild: gleich einer
großen, langen Raupe kroch ein heiler Nebelkegel Über den See.
Und dann der fieghafte Aufftieg der Sonne. Bor fi her warf
fie eine Handvoll flüffigen Goldes uͤber das Klofter Andechs und
den „heiligen Berg”, dann Fam fie in munderfamer Majeftät
empor, — ich kann es nicht fagen, wie ſchoͤn und wie gemaltig.
Aber daß mir andächtig sumute ward, das ftehe hier. Es war eine
jauchzende Andacht, ein innerliches Rufen, wie einem fiegenden
‚Helden entgegen, der mit legtem Lichtfpeer den geblähten Bauch
giftiger Gemeinheit teifft. Eia, du Ritter Sanft Juͤrg der Welt,
wie fuhr dein goldener Strahl in den Nebelwurm tiber dem See,
daß er auseinanderquoll und verendete. Und Far und glatt, fonnen-
übergligert lag in aller Helle und Morgenfrifche der große Waffer-
plan, daß die Blicke daruͤberhin ſich tummeln fonnten und fröh-
lich wurden in Gluͤck und Glanz.
Und fieh, da fland auch das Brigittele und winfte mit dem wei⸗
fen Tüchel. Stand unter einer Linde und fah aus mie ein leibhaf ·
218
tiger Engel, obwohl der Freundin Dina Kleider ihr viel zu weit
waren.
„Komm!“ rief ich und ſprang aus dem Wagen und nahm fie
bei der Hand und führte fie zu Poftinions maulaufreißendem Er-
ſtaunen in das Föniglich bayerifche Rumpampolium.
„Hoͤh!“ fagte der, „doͤs is ja's Kramaunerle!”
„Jawohl, 's Krawaunerle! Macht a Vergnuͤgungsreiſ'!“
Gottlob, daß wir alleine waren den ganzen Weg.
Zwar, geſprochen haben wir wenig, hatten uns aber doch viel
zu ſagen, das niemand — zu ſehen brauchte.
Und nun, Brigittele, ſchreib hier deinen Namen drunter zum
Gruße meinem lieben Peter Kahle, deinem würdigen Onkel.
Schau: da ſteht's: Brigitte Graunger.
Dein
bis zum Blaſen der Tuben
am Tage des jüngften Gerichts!
Pankrasius,
XXR.
Einige Briefe des Deren Pankrazius Graunzer an feinen
Freund Peter Kahle, genannt die fröhlichen Briefe
Septembris
Muͤnchen!
Lieber Peter!
Deine Nichte und ich, ihr Onkel, haben beſchloſſen, ͤber Muͤn⸗
hen nad) London au fahren, — aus Gründen der deutfchen Kolonial-
politif. Wir wären nämlich, wenn die Regierung Seiner Majeftät
nicht Helgoland gegen ein Stüd Afrika eingetaufcht hätte, nach
219
Helgoland gefahren, aber ſeitdem dieſes Eiland flr den Reſt feiner
glorreihen Tage dem Deutfchen Reiche einverleibt worden ift, hat
es die Vorzüge, Die es in puncto Standesamt befaß, eingeblift und
iſt auch in dieſer Hinficht fo regelrecht deutſch geworden, daß wir
ſchon Old England felber auffuchen muͤſſen, wenn wir in all unferer
Papierlofigkeit heiraten wollen.
Und das wollen wir.
E freilich! Was fonten wir fonft wollen? Emig kann ich un-
möglich als Gymnaſiallehrer Dr. Peter Kahle aus Pommern mit
feiner Nichte Sophrofgne ebendaher die Welt durchwandern, und
mas würden Hansjörg und Chriſtine fagen, wenn ich mit einer
ledigen Brigitte auf Kiebighof angezogen kaͤme?
Alfo: London!
Aber vorher: München!
Erſtens möchte ich dem furchtbaren Kunfigelehrten gerne unter
Danfestränen einmal um ben Hals fallen, daß er mich aus ber
Hauptftadt Biermaniens fortgegrault hat, da ich fonft faum auf
die Idee gefommen wäre, an den Ammerfee zu gehen, und dann
war es auch Brigittens Wunſch, einmal auf „Minga“ zu fahren,
bevor es in die Fremde geht. Die Oberbayern find naͤmlich gar
fehr in ihre Haupt» und Nefivensftadt verliebt, und Brigitte tft
nicht weit von der Meinung entfernt, daß fie auf der ganzen ihr
bevorftehenden Reife doch nichts fehen werde, das mit Muͤnchen
einen Vergleich auszuhalten imftande wäre.
Soviel it fiher: gemhtlicher wird's nirgends fein, und es wird
mir nicht leicht fein, von hier aufzubrechen.
Übermorgen geht's fort! Die Rundreifebidette find ſchon ge-
kauft, und Brigitte hütet fie wie einen Ehefontraft.
Beneideſt Du mich nicht? Ober haft Du noch immer feierliche
und moralifche Bedenken? Ich komme Dir wohl noch immer
bedenklich ſpaniſch, Don Juaniſch vor?
220
Haft Du eine Ahnung!
Wäre Brigitte eine wirflihe Sophrofgne und ich ein wirklicher
Kahle-Peter, wir fönnten nicht vernünftiger fein. Und das iſt es
Ja eben: was wir begehn, ift fein Leutnantsftreih, obwohl mir
hoͤchſt heiter und über die Maßen Iuftig find. Es ſteckt ein Föftlicher
Ernft hinter und in ung beiden, und daß auch dieſen Ernft Bri⸗
gitte hat, das macht mich fo glücklich, denn das gibt mir Die Gewähr,
dag wir uns nicht eines Tages auf der Sandbanf der Enttaͤuſchung
finden werben.
Ich entdecke täglich neue Seelenherrlichfeiten in ihr, Herrlich.
keiten, die mir um fo foftbarer find, als ich der erfte bin, der fie
erblickt. Sie find unberührt, unverbraucht. Meine Aufgabe wird
es fein, fie au erhalten und zu pflegen. Gott behlite mic davor,
daß ich an ihnen herumforrigiere, Daß ich auf Diefes Neuland, das
von aller Kraft treibender Natur ift, zu ſchnell und zu beflifen
Kultur aufpfropfe,
Mit einer unglaublichen Sicherheit nimmt dieſe feingefühlbe-
gabte Natur alles in ſich auf, was ihr an innerer und aͤußerer
Kultur zuträglich und gemäß ift. Jeden Tag ſtaun' ich aufs neue,
wie fie ſich in neue, ſchoͤne Formen ſchmiegt, ohne an Friſche und
Urfprünglichfeit einzubhgen.
Du fiehft: ich habe genug su tun, denn vor mir fpielt ſich ein
Entwicklungsſchauſpiel vom hoͤchſten Reise ab, und uͤbrigens, auch
ich mache eine heilfame und gute Dauferung durch. Wie ſich Bri⸗
gitte mir nähert auf ihre Art, nähere ich mich auf meine Art Bri ⸗
sitten. Ars amandi und Metamorphofen, — ich erlebe beides in
einem Zuge, Vergiß nicht, Deine Sefundaner, wenn Du Ovidium
Nafonem mit ihnen traktierſt, darauf aufmerffam zu machen. Gott,
wie hätt’ ich mich auf die ledernen Lektionen präpariert, hätt? ich
das Damals gewußt.
Aber das ift das Pech des menfchlichen Lebens, dag man auf
221
die beften Hintergründe der Dinge meift immer erft dann ftöft,
wenn es zu fpät iſt. Pir vel marima!
Deine Nichte und ich,
wir find
* « Deine Grauners.
.
Blcher Peter! London!
Wenn Dir einmal ein Arzt eine Kiefelfteindufche empfehlen
ſollte, fo fahr’ nach London. Richt anders ift mir zumute, als wie
wenn Ich tagelang in einem Brauſebade von Kiefeln wäre.
Diefe Stadt der Maffenhaftigkeit iſt etwas Unerhörtes. Das
iſt feine Stadt, das iſt ein Kropf von Menfchen, eine Schild-
drüfenermeiterung der Erde. Geduckten Kopfes lauf ich in dieſem
Menſchenwirricht herum, und hielt’ mich nicht Brigitte aufrecht,
ich würde davonlaufen.
tr find jest vier Tage hier und muͤſſen noch sehn Tage blet-
ben. Das ift die einzige Bedingung, bie man hierzulande denen
fteüt, die im Namen Ihrer Majeftät zufammengetan fein wollen.
Gar nichts Schriftliches wird verlangt?
Nein, gar nichts Schriftliches.
Wenn der Beamte aber doc) ein Papter verlangen folte?...!"
fragte ich einen Engländer.
„So ſchlagen Ste ihn einfach nieder,” erwiderte er entrüftet.
Das ift Das Land, in dem das feierlich abgegebene Wort hoch ⸗
geachtet wird. Wer freilich gelogen hat, wird um fo nachdruͤcklicher
aufs Maul geſchlagen.
Das paßt fo In den Stil des Ganzen, ber etwas durchaus Ge⸗
rades, Großes hat.
Ich muß fagen: anheimeln tut mich’s nicht, aber Reſpekt zwingt
mir's ab, Diefe Engländer bilden fich nicht ohne Grund was dars
auf ein, daß fie Engländer find.
222
Wenn doch in Deutſchland fo viel Charakter ſteckte wie In dies
ſem perfiden Albton! Ich meine, Sefamtcharafter, wie er ſich in
allen Erfcheinungen bes Öffentlichen Lebens, der Sitte, der Kunſt,
der Manieren ausdrüdt. Selbſt die Heuchelei hat hier Charakter,
der imponiert. Selbſt das Elend, wie es ſich geradeswegs um
Verbrechen ausſchwillt, hat Charakter. Daher denn hier eine Kunft
im Wachſen iſt, eine Kunft nicht bloß für Deufeen, fondern fürs
geben, vor der ich mit Andacht ſtehe.
Trogdem, um Gottes wien! möchte ich nicht hier leben. Und
das hängt eben auch mit dem ausgefprochenen Sonbermwefen bes
Englifchen zufammen. Dan muß Engländer fein, um fi hier
glücklich zu fühlen. Bet ung dagegen fühlt ſich alle Welt wohl, weil
wir ein Allerweltsweſen haben. Wir find halt complaifante Leute.
Dies, damit Du nicht denkſt, Brigitte und ich tun nichts als
ſchnaͤbeln.
Wir gruͤßen Dich
Pankrasius und Brigitte.
* *
London, am 25. September.
Lieber Peter!
Run ſei beruhigt! Die ffandaldfe Situation, daß ich mit Deiner
Nichte Sophrofyne Die Welt durchwandre, hat ein Ende, denn:
Ihre am 25. September
in Skt. Giles London
voll zogene Verehelichung beehren ſich
hierdurch anzuzeigen
Pankrazius Graunzer
Brigitte Graunzer
‚geb. Oberalmer.
223
Laß Dir den Tag, diefen großen Tag der Graunzer vom Kiebitz⸗
bofe, ſchildern! Ich benuge dazu die paar Deinuten, die ung noch
übrig bleiben vor der Abreife. Brigitte padt die Koffer und fingt
ven: & Dearndl geht um Holz in Wald
Gar zeitli in der Fruah,
und die Sonne blitzt auf ihrem Eheringe, den ich .. . aber Das ge⸗
hört fhon zur Schilderung der Kopulation.
Wir begannen den Tag mit eifrigem Stublum.
„Noch einmal, Brigitte, noch einmal! Alfo: 3 do folemniy
declare ...!“
„J bo folemnly declare ...!“
„Nicht deklahre! Defläre! Alfo: J do ...“
„J do ſolemnly declare, that J know not of any lawful impe ·
diment, why J Brigitte Graunger . . ."
„D du Schaf, du Schaf, du biähriefelweißes Schaf! Nir
Graunger! Wie heißt du?"
„Brigitte Graunger heiß 3!"
„Ich bitte Dich um Gottes willen, mad)’ feine Witze in biefer
ernften Stunde! Es geht um die Wurſcht! Alfo, brav fein: why
J Brigitte ...“
„Why J Brigitte Oberalmer may ...“
„Nicht: mai! Mi
„Alſo: may not be Joined in matrimony to my, lieber Aff' ...“
„Willſt du gefcheit fein, Bedenkliches!... Be joined in matri ⸗
mony to ...“
„To Panfrazius Graunzer, — muß ich den Graunzer auch
engliſch fagen?"
„Bott behuͤte mich, nein, das ſag' deutſch, vol und wohllautend
mit einem langhin fäufelnden Au!“
224
Gen, ich kann's ſcho! Pal’ auf, jetzt fag’ 1’ nochmal: J do
ſolemnly declare . . ."
„Alaͤre!“
Und fo noch eine halbe Stunde. Dieſes alte, brave Standes-
amtenglifh hat feine Mucken, wenn weder der Lehrer noch bie
Schuͤlerin Engliſch kann.
Daher kam's, daß wir ein bißchen mit der Angſt von Abc-
Schügen zum Office fuhren. Unfer Zeuge, ein liebenswuͤrdiger
Junger Landsmann namens Moͤder, Sekretär bei dem hiefigen
Vertreter einer großen deutfchen Zeitung, erwartete uns und flellte
ung dem zweiten Zeugen vor, dem Tuͤrhuͤter des Office, der ein
einträgliches Gefchäft daraus macht, als Trauzeuge zu fungieren,
und in feinem ſchwarzen Bratenrocke ganz würdig ausfah.
Noch wuͤrdiger fah freilich der Deputy Regiftrar Henry Hul-
ford aus, der ung bis zum Beginne der feierlichen Handlung aufs
anmutigftedamit unterhielt, daß er ung Schmeicheleien über Deutſch ·
land fagte und nachträglich ein Pfund Koptaturgebühren eintrieb.
Das gab den erfien Zwiſchenfall.
Ich hatte nämlich nur zehn Schilling im Portemonnate, und
Brigitte trug unfer Vermögen in einem Saffianledertaͤſchchen auf
der Bruſt.
unmoͤglich, das hier zu produgteren! Alfo wurde fie feierlich hin ·
ausbegleitet, verſchwand hinter einer Thr, um nad) furger Zeit fehr
würdig mit einer Pfundnote wieder zu erfcheinen,
Sehr würdig, aber Doc) ein wenig aus dem inneren Gleichge -
wicht gebracht, wie ſich fpäter zeigen folte.
Bis Schlag wwoͤlf uhr, ald um welche Zeit die Handlung bes
ftimmt war, wurde gewartet, dann, als der legte Schlag der Uhr
im Verflingen war, wurden bie Türen des Amtssimmers und das
Tor des Haufes geöffnet, um allen, die Einſpruch zu erheben ger
willt waren, freien Eintritt gu ermöglichen.
15 Bierbaum II 225
Sch ſchloß eine Sekunde die Augen und begrufelte mich mit
der Einbtldung, daß die freundliche Schwiegermama erfchlene und
im unverfälfehten Schwabbayeriſch erflärte: „I moag itten!” Aber
wie ich Die Augen wieder aufmachte, war ſchon des Deputy Ner
giſtrars Würde dabet, die Fragen an ung zu richten, und ich erhob
mic) zu der wohleinftubierten Erflärung „I do folemnly . . ."
Gut ging's.
Nun Fam Brigitte daran. Und fiehe: fie begann fehr ſchoͤn. Ste
vermied die Klippe der „Kläre” und ſchiffte um das Riff des
„Mal“, aber da fiel es dem galanten Deputy Negiftrar ein, zart
in die Hände zu klatſchen und „Bravo! zu liſpeln, und das war
der Beſcheidenheit Brigittes zu viel. Vorher rot vor Aufregung,
mar fie jegt violett vor Beſchaͤmung und las das Ende ohne jede
Ruͤckſicht auf die Tuͤcken der engliſchen Ausſprache Buchſtabe für
Buchſtabe fo, wie jemand, der einen engliſchen Tert deutſch lieſt.
Der phonifche Effekt war graufam, und ich erfehraf nicht wenig.
Aber der liebreiche Beamte erflärte: auch das fei englifch, und bie
Hauptſache, nämlich ihren und meinen Namen, habe fie richtig ge-
ſprochen.
Das war der zweite Zwiſchenfall.
Der dritte fuͤgte fih mit unanftändiger Eile an, nachdem wir
auch den gefährlichen zweiten Sat hinter uns hatten: J cal upon
thefe perfons here prefent to mwitneß that J (P. &. und 3. O.)
do tafe thee (B. O. und P. G.), to be my lamful wedded mife
(oder husband).
Jetzt fonte ich nämlich Brigitte und Brigitte folte mir ben
Ehering anfteden.
Vorzäglich! Aber, um aller Heiligen, hol’ mid) doch ... mo
find die unfeligen Ringe?
Ich taftete mich von oben bis unten ab und tat wie die Rage
im Liede der Studenten im Fauſt, ich fuhr in ade Löcher. Pein-
226
Hiches Gefuͤhl! Hoͤchſt unangebrachte Armbeweglichfeit des Braͤu ·
tigams, angſtvolle Brigittenaugen, gelaſſenes Warten des ſtets
wuͤrdigen praͤſidierenden Gentlemans.
Endlich! In der oberen Weſtentaſche! In dieſer verfluchten,
eigens für Eheringe beftimmten Weftentafche! Gottlob!
Daß ich ihr den Ring durchaus auf den Daumen ſtecken wollte,
rechne ich ſchon gar nicht mehr als Zwiſchenfall.
Nun noch) eine kleine Formalitätz auch nicht ganz leicht, und ich
hatte mit Angft auf fie gewartet; richtig: der Zeuge-Thrhäter, bis⸗
her unbeweglich, sufammengefunfen auf feinem Stuhle, fpaltete
plöglich fein Geficht durch eine von Ohr au Ohr gehende Lippen-
grinslinie, erhob ſich, ſchritt langſam und wohlwollend auf mich
u, gratulierte mit einem unendlich ſchmelzenden Gefuͤhlston in
der Stimme und reichte mir die Rechte. Das war der Augenblick,
vor dem ich gebebt hatte, denn es galt, dieſer Hand drei Schillinge
au applisieren und fie gleichzeitig mit herzlicher Wärme zu drüden.
Wohl mir! Es gelang! Mifter Humpfhley zeigte fich fehr gehbt
und virtuos, erwiderte den Druck meiner Hand, daß ich das Por-
trät Ihrer Majeftät vom Prägebild des oberften Schillingſtuͤckes
auf meine Hand Übertragen erhielt, und begab fich vol Würde zur
Türe hinaus.
Als wir das gleiche tun Fonnten, waren wir fehr froh, und wir
werben fehr froh fein, wenn wir nun heute abend in Queensbo-
rough das Schiff nach Vliffingen betreten werden. Denn ich fehne
mich ſchrecklich danach, Brigitte den Kiebighof und dem Kiebitz⸗
hof Brioitte zu zeigen.
Das ift unfer legter Brief aus London.
Wir find
Deine Sraungers,
Gutsbefigerscheleute,
15* 227
Kiebighof, am 30. September.
Lieber Peter!
Chriſtiane ift in Brigitte verliebt, Hansjörg iſt in Brigitte ver-
liebt, alle Pferde, Kühe und Schafe find in Brigitte verliebt, ich
bin in Brigitte verliebt, der ganze Kiebighof ift in Brigitte verliebt,
Reſolut ift fie, fag’ ih Dir! Schade, daß es die Tante nicht
mehr fehen fann.
Auch die Zeit des Leidens, die wir miteinander durhoemacht
haben (ſie war etwas bittrer, als Du es vielleicht aus meinen
Briefen haſt erſehen koͤnnen), iſt ihr gut angeſchlagen. Sie fuͤhlt
es ſelbſt mit ihrer wunderbaren Gabe der unbewußten Erkenntnis
durch das Herz, wie fie durch die Übel, die wir zuſammen aus«
halten mußten, erft eigentlich) reif und inmendig fertig geworden
iſt, und mir fingen Danf unferm Leiden, das ung die Liebe ber
anderen beſchert hat:
Du und id), wir zwei beiden,
Wir wiffen, was Leiden,
Wir wiffen, was Sieben und Leiden heißt.
Wir paben’s erfahren:
Mit Daut und mit Paaren
Hätte gern uns die Liebe der andern verſpeiſt.
Nun wir uns gerettet
Und weich ung gebettet
In Ruhe weitab vom Gelaͤrme der Welt,
Run wollen wir warten
Den blüfenden Garten,
Den Sieben und Laden in Früchten erhaͤlt.
Jetzt braucht nur noch Prinz Peter u fommen (denn Peter fol
er heißen), und unfer Glück ift vol.
Dein
Panfraztus,
der Ehemann.
228
XXX.
Kurzer Nachbericht über Herrn Pankrazius Graunzers
Kindstaufen nebft einigen Bemerkungen über feine Leibes⸗
und Seelenzuftände in der Ehe
„Ach, a Maikatzerl!“ fagte im Mai des Jahres, das auf die
Sreiersfahrten des Heren Pankrazius Graunzer gefolgt if, Frau
Brigitte, als fie nach den Schmerzen der Entbindung zu fih fam
und ein kleines Maͤdel neben ſich liegen fah.
Herr Panfrasius aber hatte ganz vergeffen, daß er einen Sohn
gewollt, und gebärbete ſich unbeſchreiblich glücklich.
Und er lud Frau verwitwete Sranfebeil in Nürnberg ein, daß
fie Pate ftlnde, und es ging hoch her auf Kiebighof, als bie erfte
Kindstaufe gefeiert wurde. Die Witib hielt eine Rede, und Herr
Panfrazius hielt eine Rede, — bloß Frau Brigitte ſchwieg, aber
fie fonnte bloß nicht reden vor lauter Gluͤck.
Diefes erfte Mädchen erhielt in der Taufe den Namen Katha-
tina, zum Undenfen an die Gefahr, die Herr Panfrasius Graunger
im Pfchorr zu Berlin fo fiegreich uͤberſtanden.
* *
*
Ein und dreiviertel Jahr fpäter hatte es Herr Panfrasius
Graunger wiederum fehr wichtig mit Trippeln und Leifegehen um
die Wochenbettftube, und als er endlich hineingelaffen wurde, da
rief er: „Haben wir's Mariechen?
Denn das zweite Maͤdchen ſollte natuͤrlich Marlechen heißen,
um ewigen Gebächtniffe an bie gehäfelten Fallſtricke von Dresden.
Und wahrhaftig, es war ein Maͤdchen.
Mutter Schügen ſollte Pate fiehen, aber fie ließ fchreiben, es
ginge nicht mehr mit ben alten Beinen, aber fie wuͤnſchte, daß ber
229
alte, verrhefte Junge ein halbes Dugend Maͤdchen kriegte zur
Strafe dafuͤr, Daß er fo ein naͤrr'ſches Luderchen wäre.
* *
Und Mutter Schuͤtzen hat ihren Kopf durchgeſetzt.
Es find wirklich ſechs Mädel hintereinander gefommen auf
Kiebitzhof.
Sechs! Man kam in Verlegenheit um die Namen.
Auf die gute Laune und bie Entfaltung ber Leiblichkeit des
Herrn Panfrazius Graunger hat das aber nicht unglinftig einge»
wirft. Er nimmt fletig zu an Heiterfeit der Seele und Rundlich ·
keit des Leibes.
Freilich, aͤußerlich kann er das Brummen nicht immer ganz
laſſen. Aber Frau Brigitte hat fhr ſolche Fäne ein gar fiegreiches
Lächeln zur Verfügung, das ihn ſchnell Dazu vermag, feine Sraun-
serifchen Monologe, wenn er fie durchaus vom Stapel laffen muß,
in dem ſchoͤn ſchweinsledern gebundenen Folianten abzuladen, der
genannt ift: Der Seelenwaͤlzer von Kiebighof, und auf defien erfter
Seite die Fiſchartworte ftehen: „Rurgumb wer fein Ehegelibete
bat, iſt Halb tobt, mangelt ein ſtuͤck def Leibe, weiß fein feßhafft
Haͤußlich mohnunge wie die Tartarifche Heerkaͤrch, iſt nirgends
daheim. Dann ob er ſchon ein Obtach hat, ift ihm, als wer er
drein gelehnet, und ſitzt wandersweiß wie ein anderer Landftreiffer
im Gaſthauß, niemand kocht für feinen Mund, niemand heit ihm
das fein zufammen, weder Das groß noch das kleineſt Haußraͤtlein,
weder das täglich noch das nächtlich, alles verſchwind ihm unter
den Händen, hat niemand, dem er fein noht flaget, der ihm fein
anligen abnimmt oder mit gleichen Achfeln leichter, Feiner eyffert
vmb fein Heyl, niemand warnet jhn mit treiven, vnd wann ber
Han tobt ift, kreht fein Henne nach Ihm."
230
Stilpe
Ein Roman aus der Frofchperfpeftive
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Erftes Buch
Der Knabe Willidard
Cine ſchlechte Kinderflube wird durch Fein Vegraͤbnis
erfter Klaffe wettgemacht.
Aus Stilpes zerfireuten Papieren.
Erſtes Kapitel
18 mein Freund Stilpe geboren worden war, herrfchte, wie
das fo uͤblich ift, viel Sreudein der Familie. Dies um fo mehr,
als die Sache anfangs gebroht hatte, 668 auszugehen.
Tante Pauline, die nachgesählt hat, win es beſchwoͤren, daß
Stilpe-VBater an jenem fehweren Tage dreiundachtzigmal: Um
Gottes willen! gefagt hat, wobei er fich, sornig halb, halb mit der
Miene eines zerfnirfcht auf alles Gefaßten In den Achſelausſchnitt
der Werte fuhr und mit fämtlihen Fingern, außer den Daumen,
die eben hinten fledten, auf beide Seiten der Weftenbruft trom ⸗
melte. Und dabei war Stilpe-Bater eigentlich ein fehr ruhiger
Mann, feines Zeichens Lepidopterologe, und fonnte von ſich fagen,
daß er Die Welt mit Gelaffenheit betrachtete.
Aber dieſer Fall mar zu fehr außerhalb der Erfahrungen feines
Metiers. Das Kind lag nämlich ſchief, und Doftor Schagheber,
ſchon durch diefen Namen zum Geburtshelfer prädeftiniert, ſah
ſich genötigt, mit der Zange einzugreifen.
Um Gottes willen! Mit der Zange! Dem Lepivopterologen, ber
an die gelinde Art dachte, wie ſich die Schmetterlinge auf dieſe
Welt bringen, hätte fi) Das Haar gefträubt, wenn es nicht ſchweiß ·
naß am Schädel geflebt wäre.
— „Nu, nu!” ſagte Tante Pauline, „basift das Schlimmſte noch
nicht. Die Hebamme hat mir erzählt . . ."
— „Um Gottes willen, Pauline, verſchone mich! Du bift nie in
der Lage gemwefen. Alfo fonteft bu auch nicht ...“
Tante Pauline rauſchte ab. Es muß gefagt werben, daß die
ganze aufregende Gefchichte ihr eine gemiffe Genugtuung ber
teitete.
Das Berheiratetfein hat alfo auch feine Schattenfeiten! Ja,
ja, ja!
235
Das verföhnte fie auf eine Weile mit der Welt.
Schließlich lief alfo alles gut ab, nur daß ber kleine Stilpe eine
Meine Eindoͤlung am Hinterfopfe aufwies. Tante Pauline hatte
die Guͤte, fragend zu bemerfen, ob derlei nicht Bloͤdſinn zur Folge
haben fönnte?
— „Rein!“ ſchnaubte Doftor Schatheber, „aber wenn Die Wöch-
nerin nicht bewußtlos wäre, würde ich Sie ...“; dann wuſch er
feine Zange in Karbol.
*
Tante Paulines Benehmen ift ſchuld daran, daß ich vergeſſen
habe, den Schauplag von Stilpes Geburt zu nennen. Es vollzog
ſich Diefer Aft in Leißnig, einer kleinen fächfifchen Stadt, über Die
ich in Kuͤrſchners Quartlerifon nichts weiter finde, als Daß fie an
der Sreiberger Mulde und nicht weit von dem Schloß Mul-
denftein liegt. Ich habe auch feinen Anlag, mich dei Diefem Ge-
meinmefen länger aufzuhalten, denn, wenn ich auch au Beginn
meiner Geſchichte eine Fleine Stilpopädie zu liefern gedenke, fo bin
ich doch meit entfernt, mich nach dem preiswuͤrdigen Muſter des
lieben Meifters Rabelais auch mit den Windelerlebniſſen meines
Sreundes zu befchäftigen. Selbft Die erfie Hofe und die Schul-
audertüte bringt mich nicht von dem Vorſatz ad, erft in dem Augen ⸗
blick einzufegen, wo mein Sreund in das verfandfähige Alter ein-
tritt, da man ihn von Haufe weg und in fremde Hände gab, ge⸗
nauer gefprochen, da man ihn aus Leißnig nad Dresden, und
zwar in die Königliche Erziehungsanftalt für Knaben in Sriedrich-
ſtadt · Dresden gab, die unter dem Namen Sreimaurerinftitut be>
kannt iſt.
236
Zweites Kapitel
as Sreimaurerinfitut in Dresden-Sriebrichftabt verfolgt
nicht, wie man aus dem Namen fchließen fönnte, den Zweck,
Freimaurer zu zuͤchten, fondern es erblickt feine Beftimmung darin,
aus jungen Knaben, die zu Haufe ſchwer zu glätten find, mohl-
polierte Juͤnglinge zu machen. Es führt fie aber nicht bis zu jenen
Höhen der Bildung, deren Erflimmung die Tore einer Univerfität
öffnet, fondern es begnügt ſich mit der befcheideneren, aber sumel-
len doch recht mühereichen Aufgabe, feine Pflegebefohlenen nur
bis zum Vorhofe des Tempels zu bringen. Dort gibt es ihnen eis
nen leifen Schlag auf die Schulter (fo, wie es den jungen Sohlen
geſchieht, wenn man fie aus dem Stade läßt) und befiehlt fie der
fördernden Gnade deffen, der aus Tertianern nach und nach Priv
maner und weiterhin im fanften Gleisgange Studenten, Doftoren,
Paftoren, Profefforen, Geheime Raͤt, Wirfliche Geheime Räte,
kurz allerhand Lichter oder auch wohl bloß Leuchter macht.
Mein Freund Stilpe, von dem ich hoffe, daß ich ihn einft un-
fern Freund werde nennen dürfen (aber man hofft manchmal vers
wegen), wurde aus zweierlei Gründen in Die Obhut dieſer wiffen»
ſchaftlichen und moralifchen Brutanftalt gegeben. u
Einmal gefhah es deshalb, weil der Vater notwendig nach
Südamerifa reifen mußte, um dort auf irgendwelchen befonders
begnabeten Wiefen irgendwelche Schmetterlinge zu fangen, die ſich
darauf Faprisieren, juft und nur dort ihr Dafein hinzubringen,
und bie deshalb noch immer nicht in bie ihnen geblhrende Klaſſe
der wiſſenſchaftlichen Schmetterlingsordnung eingetragen waren.
Stilpe-Vater hätte aber nicht mit der Seelenruhe, bie zu einem
ſolchen Geſchaͤfte nötig ift, in das ferne Land siehen koͤnnen, wenn
er feinen Sohn nicht in männlicher firiegelnden Händen gewußt
hätte, als es Die der guten Stilpe · Mama waren. Denn es muß
237
gefagt werden, daß Mama Stilpe fein eigentliches Talent für
Knabenersiehung befaß. Sie war eine liebe, nette und huͤbſche
Frau übrigens, zu fanftlebig Dazu und hatte das, flr andere Kin-
der vielleicht recht paffende, auf Winibald angewandt aber nicht
gang richtige Prinzip, lediglich mit Bonbons zu erziehen.
Sie handelte Dabei nicht nad) irgendeiner pädagogifchen Schul-
meinung, fondern ganz inflinftmäfig. Da fie naͤmlich felber eine
Liehhaberin von Konfithren aller Art war, fo hatte fie die Bemer-
fung gemacht, daß nichts auf ihre Pfhche fo beruhigend, beguͤtigend,
ja im eigentlichen Sinne beffernd und, wenn die Bonbons ber
fonders auserlefen waren, erhebend wirfte, als die Linde ſich Id-
fende Suͤßigkeit dieſer Konditorerzeugniffe, und fie meinte nun, es
muͤſſe das bei dem noch naiveren Kontakt zwiſchen ber kindlichen
Zunge und Seele im Kindesalter erft recht fo fein.
In den einzelnen Faͤllen hatte es auch Immer den Anfchein, als
ob fie recht hätte. Der kleine Wintbald, fo hatte man ihn In der
Taufe benannt, reagierte wie ein Engel auf Bonbons. Uber von
der höheren Betrachtungswarte der väterlichen Kritif aus machte
es fich bald bemerfbar, daß das Allgemeinbild der Willibaldſchen
Entwicelung ſich nicht vönig fo füß ausnahm mie bie einzelnen
Reattionserſcheinungen. Kurs gefagt: Winibald war außerhalb
der jeweiligen Bonbonmirfungen eine beträchtliche Range.
Der andre Grund zur Überführung des jungen Knaben ins
Freimaurerinſtitut lag mehr auf wiſſenſchaftlichem Gebiete.
Wenn jemand einen Sohn befommen hat, fo meldet ſich, faum
daß die erfte Windel trocken geworden ift, die ernfte Srage: Was
fol der Junge werden? Iſt es erſtaunlich, dag Stilpe-Baters
Antwort darauf mit ber Sicherheit einer Reflexbewegung lautete:
EinLepidopterologe? Diefe Antwort Ift durchaus begreiflich. Stilpe
fenior empfand mie jeder Bater feinen Sohn als eine Sortfegung
feiner ſelbſtz was lag da näher, als daß er in ihm auch den zu-
238
Künftigen Sortfeger feiner Lebensaufgabe fah? Und nun fonnte er
fi) zwar fagen, daß er felbft ſchon manchen Schmetterling zur
Ehre der Wiſſenſchaft aufgefpießt hatte, aber die fattfam befannte
Beſcheidenheit unferer eraften Wiſſenſchaftler erfuͤllte ihn doch zu
fehr, als dag er nicht auch hätte hinzufhgen muͤſſen: Es gibt im»
mer noch unaufgefpießte Schmetterlinge genug, ja Übergenug.
Welch ein Heblicher Gedanke aber, daß der Sohn die Schmetter-
linge einregiftrieren wird, bie einzuregifteieren dem Vater von ei ⸗
nem neidifchen Schickſale verfagt geweſen!
Indeſſen: Stilpe-Bater war ein farfer Geift und mußte die
Subjeftivität des vaͤterlich Angenehmen von der Objeftivität der
Pflichten zu trennen. Er fagte fih: Man muß alle Türen offen
laſſen unb bis zu dem Zeitpunft warten, mo man aus den Schrit»
ten des jungen Menfchen ungefähr erfehen fann, zu welcher er
ſich am fügfamften leiten laffen wird. Mur nicht ſchieben und
flogen! Er war durch feinen Beruf an zartere Hantierung ger
woͤhnt.
Daher gab er denn feinen Sohn, als der im lateinſaͤhigen Al-
ter war (ad), wie bald iſt das ein Deutſcher!), nicht mit plumper
Haft auf ein Gymnaſium, fondern richtete fen Augenmerf auf
eine Anftalt, die beide Wege, den In bie Humaniora, und ben in
die Realiftife, offen ließ. Eine ſolche Anftalt war das Freimaurer»
inſtitut. Im allgemeinen mehr den realifiifchen Difsiplinen des
menſchlichen Wiſſens gewidmet, befaß es doch auch eine Selefta
fuͤr die unter feinen Zöglingen, die es nad) den Reisen des Flaffi»
ſchen Altertums ober wenigſtens nad) den Laufbahnen geluͤſtete,
die nur der lateiniſch und griechiſch geeichte Jungling betreten darf.
So ward Winibald, als er acht Jahre alt war, in Die Zög-
lingsabteilung des Sreimaurerinftitutes eingereiht.
Acht Jahre alt! Dit Bonbons erzogen! Sehr eigenfinnig!
Sehr zart! Sehr blaß! Und nun plöglic unter dem Glasftur
239
särtlichfter Bemutterung hervorgezogen und einer Knabenſtriege ·
lungsanſtalt uͤberantwortet, Die geradezu ſpartaniſchen Erziehungs ·
grundſaͤtzen huldigte ...!
O mein kleiner Willibald, was wirft du erleben müffen! Wehe,
die Zeit der Bonbons ift vorliber.
Winibald erhielt die Nummer hunderteinundfiebjig, als er ins
Inftitut eintrat. Man fehrieb fie ihm mit Tinte in die Wäfche,
nähte fie ihm in Die Kleider, klebte fie ihm in Stiefel und Muͤtze
fie fand auf feinem Kleider und Buͤcherſchrank, fie ftand auf fet-
nem Bette, fie fand auf feinem Wafchbeden, feinem Stiefelwiche-
plas, feinem Seifenfaften, und auch auf dem hölzernen Gewehre
fand fie, mit dem er exerzierte. Denn es wurde ererziert in dieſem
Inſtitute, egerstert unter der Leitung zweier ſchnauzbaͤrtiger ehe-
maliger Unteroffistere, die auch fonft als Knabendreffeure einen
wichtigen Plag im Ersiehungsplane diefer martialifchen Anftalt
hatten.
Man fann daraus erfennen, wie eminent modern die Anlage
diefes paͤdagogiſchen Inflitutes war. Sie ging nicht aufs Senti-
mentale, fondern aufs Robuſte aus, fie wollte nicht Romantiker
erstehen, fondern Nealiften, fie wuſch die jungen Hänte nicht mit
Mandelmilch, fondern mit Bimsfteinfeife. Wie in den meiften bie
fer Internate, fo lebte auch in ihr das bemährte Staffelprinzip
des Lebens, das ſich in Kürze fo darſtellen läßt: Die Unteren find:
die Zußfchemel der Oberen, und feiner fommt ungetreten in bie
Höhe. So erfuͤllen diefe Anftalten aufs volfommenfte den er⸗
sieherifhen Zweck, aufs Leben vorzubereiten. Denn fie nehmen es
in feiner ganzen Roheit vorweg. Der Spaltpils des Illuſionismus
wird mit fräftiger Hand ausgemerzt, und die bedenfliche Neigung
mancher jungen Seelen Ins Optimiſtiſche wird durch reichlich und.
konſequent applisierte Blitzguſſe weggeſchreckt.
So redet unſere erwachſene Philoſophie. Aber, liebe Leute, ſo
240
ein fleiner Junge von acht Jahren... Mein Gott, woher fol
der erwachſende Philofophie haben? Er begreift mitnichten die
Hellfamfeit des lebensvorbildlichen Getretenwerdens, er verfteht
ganz und gar nicht, wie wertvoll es ift, fich die junge Haut durch
Schinden abhärten zu lafen, ihm fehlt jeder Sinn für das rea-
luſtiſch Tüchtige Diefer ganzen Methode. Er fühlt ſich einfach freus-
unglüdlich. Er denft an Muttern und weint.
So auch Winibalv.
Was hat der arme fleine Kerl geheult unter feiner Bettdecke!
Und wie hat er manchmal mit den Zähnen geknirſcht vor Ingrimm,
wenn ihn die Oberen Drangfalten, ihn, den „Battling”. So wur-
den nämlich die Kleinen genannt.
Die Battlingſchaft war bitter wie die Refrutenzeit. Ach nein:
wohl bitterer noch. Denn, mas fo eine junge Seele empfindlich
iſt, Das fann fi) ein erwachſenes Gehirn manchmal gar nicht mehr
vorſtellen.
Deshalb wird es gut fein, ich laſſe den Battling ſelber reden.
Drittes Kapitel
Die Briefe des Battlings
Liebſte Mamma!
Du haft mir gefagt, Das ich dir gleich fehreiben fol, wie mir es
gefent im Inſtitut. Es geſellt mir gar nicht. Die Jungens find
furchbar grob und haun mic) immer und nenen mic) Badling. Ste
fagen, ich wär ein dumes Geſcheeche. Ich mag nicht mer Dableiben
und mil wieder nad) Leisnig. Ach, liebſte Drama, ich meine die
ganze Nacht und dan fommen fie und haun mit einem Rohrſtock
auf die Bettdecke, Die dinne iſt. Und früh läßt mich der Schuͤſſel⸗
oberftden Zucker farleren beim Kaffe und Mittags Die Schiffelniceden
16 Bierbaum II 241
Braten, wen’s welchen gibt, aber’s giebt blos einmal melden. Ach
Hiebfte Mamma fom doch glei) und hol mich ab. Sonft lauf ich
bervon.
Mit herzliche Grüße
Did liebender Sohn
R Winibald Stilpe.
Meine liebe gute Mamma!
Du denfft, ich liege Dir mas for, aber es iſt Doch ales war mas
ich Dir geſchrieben habe. Geftern haben fie mich wieder das Fleiſch
wollen farieren laſſen. Da hab ich gefagt, ich ſags dem Lehrer, da
haben fie mich untern Tifch geſteckt und gefagt ich foll die Wacht
am Rhein fingen und fie wollen den Taft treten mit den Beinen,
und haben mid) auch getreten. Aber gefungen hab ich nicht. Ach
meine liebe gute befte Drama, ſchick mir doch eine Kifte mit Wurft
und Sänfefett, Daß ich auch was hab auf die trockenen Dreierbrotchen,
die wir zum Frihſtick friegen, und ich dem Schiffeloberft mas ab»
geben fann, daß er mich nicht immer den Zuder frih farieren läßt.
Mit herzlichen Grüßen
Dein Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe,
Ich hab einen Freund, der heißt auch Win, er figt neben mir
in der Klafe. Dem mil ich auch Wurft geben, weil er mir auch
Wurſt gibt.
. j *
Meine alerliebfte gute Mamma!
Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor. Wenn Ich in die Serien
fomme, wid ich Dir ſchon zeigen, mas ich flr blaue Flecke hab,
242
und einen ganzen Bifchel Haare hat mir Einer ausgeriffen, mo ich
gar nichts gemacht hatte. Blos, meil ich ihm die Stieweln nicht
bugen mollte. Und ben Lehrern darf man nichts Degen, dan krigt
man blos noch mehr Keile, und die Lehrer thun den Großen doch
nichts. Wenn ein Battling begt, miffen ihn aud) die andern Batt-
linge mit verhauen, und er Darf auch nicht mitfpielen.
Die andern Jungens rigen ade Taſchengeld fuͤr wenn die Obſt ·
frau fommt. Die fommt zweimal in der Woche und hat viele ſchoͤne
Sachen, Johannisbrot und Apfel und Birn und Mifpeln, aber
Blockzucker darf fie nicht haben. Du darfft mir aber das Geld nicht
ſelber ſchicken, ſondern dem Herrn Infpeftor Teurig, der giebt mir
dann jede Woche amansig Fenge.
Es gruͤßt Dich Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.
Mein Freund Rammer laͤßt Dich auch grüßen.
* *
*
Liebe, gute, allerliebſte Mama!
Ich bedanke mich fehr ſchoͤn für Die große Kiſte. Ich habe der
ganzen Schiffel Leberwurft und Pfannkuchen gegeben und ftehe
jest fehr gut beim Schiffeloberften und den andern. Du ſchreibſt,
ich fon Die ſchreiben, was ich ben ganzen Tag mache. Das win
ich thun. Alfo paß auf: um fünf uhr frih klingelt eine Klingel
am obern Schlaffaal und dann ſchreien Die beiden Herrn Infpef-
toren: Aufſtehn! Aufftehn! Die erfte Abteilung ſich da suhalten!
Die erfte Abteilung find nämlich) Die Battlinge, Wir fpringen nun
fehnen aus den Betten raus und rennen in den Stiefelwichsſaal
und wichſen unfre Stiefel an den Beinen ohne Ausziehn fehr blanf.
Dann rennen wir in den Wafchfaal, mo jeder fein Waſchbecken
bat, aber nicht aus Borzelan, fonbern zum Umkippen aus Blech.
16* 243
Die Herren Infpeftoren paffen auf, daß mir die Hemden runter»
ziehn und nicht fo fprigen. Das Waffer ift wie Eis, und die Seife
bat jeder in einem Schiebefaften bei fidh, mo ſich auch der Wafch-
lappen und die Rämme aufhalten. Dann rennt jeder in den Kamım-
faal und fämmt feine Haare. Ich hab einen Scheitel machen mif-
fen linfs, aber ohne Bomade, mit Waſſer. Wenn Einer Läufe hat,
fo nennen fie ihn Lauſewenzel. Es kommt beim Haareſchneiden raus
und ift eine große Schande und mird mit Effig gemafchen. Ich
dachte ſchon, ich hätte welche, weil michs immer picken that, aber
ich hatte feine, Dein Freund Rammer hat mal melde gehabt,
aber dann hat er beim Haarefchneiden immer gebetet Lieber Gott
gieb das ich feine Läufe hab, und dann hat er feine mer gehabt.
Ich muß nun ſchließen, weil es gleich zum Bettegehn klingelt.
Es grüßt und kuͤßt Dich
Dein Dic) treu liebender
Sohn
Willibald Stilpe.
*
Meine gute liebe allerbeſte Mama!
Der Herr Inſpektor hat mir geſagt, das Du Taſchengeld fir
mich geſchickt haft. Das hat aber der Schiſſelvice gehehrt, und da
hat er mir gefagt, ich ſolls keim fagen und fon ihm finf Pfenge
borgen. Das ift aber verboten; aber ich muß ihm doch borgen,
meil er mic) fonft am Sonntag das Apfelmus farieren läßt und
felber ißt.
Nun win ich fortfahren, was ich thu, wenn ich meine Haare
gekaͤmmt hab. Dann gehts nauf in die Arbeitszimmer und wird
die Schulfadhen nochmal durchgegangen. Wenn alle Abteilungen
mit Wichfen und Waſchen und Kämmen fertig find wird angetreten
und die Herren Inſpektoren fehen einen an, ob man reine gewaſchen
244
iſt und auch die Stieiwelfohlen ganz find, befonders hinter den
Ohren, wo ſich manchmal Schmutz befindet:und man dann karieren
mug. Dann fingen wir in der Aula Run danfet ale Gott oder
andere ſchoͤne Sefangbuchslieder und ein Herr Lehrer betet ein
Gebet, mas er gerabe auswendig kann. Dann gehts zum Kaffe:
trinfen, wo immer jede Schiffel, welche aus vier jungens befteht
und einen Schiffeloberft, Schiffelvice, Schiffelters und Schiſſel⸗
ſchund hat, eine Kanne Kaffe Frigt und jeder drei Eckchen Semmel
und zwei Stifchen Zuder. Der Zuder wird gewoͤhnlich in die
Semmel nein gebohrt und dann gedunft, das ſchmeckt wie Kuchen.
Die Schiſſelſchunds frigen aber nicht immer alle zwei Stifchen Zucker,
weil manchmal welche fehlen. Wenn Kaffe getrunfen ift, ift eine
Arbeitsftunde, mo Schularbeiten gemacht werden. Ein Herr Lehrer
paßt auf, das feiner abfchreibt. Manche Jungen fhreiben aber
doch ad. Ich wage mirs nicht.
Nun lebe wol meine liebe gute Mamma, mein Nachbar ſchubt
mich immer, daß ich Mefferfpiegen fon mit ihm. Das ift ein fehr
ſchoͤnes Spiel, Auch Febertippens wird gefpielt. Ich habe drei
Soldhahnfedern gemonn, eine ganz neue dabei.
Es grüßt und kuͤßt Dich Dein
treuer Sohn
Willibald Stilpe,
*
Liebe Mama!
Du weißt nicht, was Blockzucker iſt? Ich werde es Dir erklaͤren.
Das find rote oder gelbe oder weiße Tafeln, und die roten ſchmet ⸗
fen nad) Himbeer, Die gelben nad) Apfelfine und die weißen nad)
Eitrone. Die roten ſchmecken am fehönften. Wenn man eine Tafel
kauft, das Foftet sehn Pfennige, und jede Tafel hat fünf Abteilun-
gen zum Abrechen. Richt mar, jede Abteilung müßte doch blos zwei
245
Pfennige foften? Koftet aber einen Dreier. Rammer fagt, im Died»
hen draußen foftet eine Tafel überhaupt blos fünf Pfennige. Aber
die Jungens, bie blos in die Schule kommen hier und zu Haufe
wohnen, die bringen fie mit und fagen, fie foften zehn Pfennige.
Wenn ein Junge fein Geld hat, fo fann er auch feinen Braten
dervor geben. Bor Schweinebraten Frigt man zwei Stuͤckchen, aber
vor Rinderbraten blos eins, das heißt, weißt Du, das ift blos bei
den Battlingen. Die Großen friegen ſchon mehr. Nun meist Du,
was Blodzuder ift.
Ich win Dir nun ſchreiben, was nach der Arbeitsftunde frih
fommt. Da fommt die Schule. Rechnen ift fehr ſchwer hier, weil
der Eehrer, den die Jungens Bufchflepper nennen, fo ein eflicher
Fritze iſt. Das fagen ale, Bibliſche Geſchichte ift fehr ſchoͤn, aber
im Sateinifchen find die Verba ſchwer zum abwandeln. Ich wi
aber doc) in die Selefta. Die Selefta darf abends eine Stunde
länger aufbleiben. Geographie ift fehr ausgedehnt. In der Geſchichte
gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut. Aber die Römer
fiegen immer. Naturgeſchichte iſt fehr mies, weil fie auch ber Bufch+
klepper hat. Nicht wahr liebe Drama, die Menfchen legen feine
Eier. Rammer fagt, fie legten melde. Dann fommt das Mittag-
effen. Erſt betet einer Komm Herr Jeſu ſei unfer Saft und fegne
mas Du ung befcheret haft, und wenns ale ift, betet wieder einer
Wir danfen Dir Herr Jeſu Ehrift, das Du unfer Gaft geweſen
biſt. Aber er iſt natuͤrlich nicht wirklich da, fondern man muß fich ihn
felber denfen. Es giebt meiſtenteils Rindfleifch mit Gemiefe, und
Brot kann fid jeder nachholen, wenn er noch nicht fatt iſt. Ih
hole mir immer welches. Bier giebts feins, blos Waſſer. Wir ha-
ben einen neuen Schüffeloberft. Das ift der ſchoͤnſte Junge im
ganzen Kaften und ein Serbe. Er ift fehr gut und macht feine
Witze. Geftern fagt er zu mir: „Du, Schund, jegt laß ich dichs
Waſſer karieren.“ Da haben mir aber alle gelacht. Er heift Diios
246
kovitſch. Iſt das nicht ein fchöner Name? Wenn ic) groß bin, geh
ich mit ihm nad) Serbien. Er fann den Ball übern Thurm prit
ſchen. Auch Die Rieſenwelle kann er. Er hat aber aud) fhon bei
nah einen Schnurrbart. Ich hab ihn furchtbar gern. Liebe Mama,
die Kifte ift ſchon lange ade.
Es grüßt und füßt Dich
Dein Dich vielmals lebender Sohn
Willibald Stilpe Ro. 171.
* *
*
Liebe gute Mamma!
Der Schiſſeloberſt hat geſtern dem Terz eine Schelle neinge-
haun, weil er mich gefnufft hat. Schick mir doch Pfannkuchen in
der Kifte. Er ißt fie furchtbar gerne. Denfe Dir nur: fein Vater
ift Feldherr der Serbier. Ich hab ſein Bild geſehen. Es iſt keine
Sohle. Überhaupt: Miokovitſch ſchwindelt nicht. In feinem Ph»
tographiealbum hat er auch viele furdtbar ſchoͤne Bilder von
Mädchens. Die Großen nennen ihn alle den ſchoͤnen Mio. Dem
feine Muskeln ſollteſt Du mal fehen, liebe Mamma! Sie find fo
Diet wie meine Waben. Er braucht ſich auch feinen Scheitel zu
machen, weil er Locken hat. Niemals läßt er mich Farieren, denn
er ift uͤberhaupt fehr edelmuͤtig. Seine ferbifchen Briefmarten frieg
ich ale. Er fann furchtbar turnen. Geftern ift er in der Nacht
ausgeftiegen und am Bligableiter nunter geflettert. Weil ich ge
rade an dem Senfter liege, hab ichs gefehen. Daß Du nicht pet,
hat er gefagt, und ich fons auch feinem Jungen fagen; ich fags
gewiß feinem. Er ift erft nach einer Stunde miebergefommen, und
da war er fo Inftig, daß er mir einen Kuß gegeben hat. Ich weiß
auch, warum er nunter geflettert iſt. Er hat ſich einen Strauß ge»
holt. Den ganzen Tag hat er ihn immer in feiner Tafche gehabt.
247
Mir gefellts jetz gam gut hier. Liebe Mamma, ſchick doch ja recht
viele Pfannfuchen.
Es grüßt Dich Dein treier
Sohn Winibald Stilpe.
* *
Liebe Mamma!
Weil Du ſchreibſt, daß ich Dir nicht geſchrieben habe, was wir
nach dem Eſſen thun, fo mil ich es ſchreiben. Da wird erejiert.
Das ift fehr muͤhſam und mit Grobheit verbunden, weil die Herren
Inſpektoren fo fehreien muͤſſen und ſich ärgern, wenn Die Jungens
alles falfch machen, was natürlich if, denn wenn man es noch
nicht fann, fo iſt es fehr ſchwer. Ich möchte Lieber bei den Trom ⸗
lern fein, und Miokovitſch will ſchon daflır forgen. Dann werden
die Kleider ausgefloppt und vorgezeigt. Der Inſpektor Floppt auf
die Hofen, und wenn Staub fommt, fo wirds aufgefchrieben, und
mer drei Mal aufgefchrieben iſt, ber darf nicht mit fpielen fpäter.
Bei manchen Floppt der Inſpektor aber Ieife und bei manchen derb.
Dann ift wieder Schule. Hernach aber giebts Vefperbrot und
dann bürfen wir drei Stunden fpielen. Räuber und Dragoner
iſt das Schönfte. Ich hab einen Verſteck, den feiner rauskriegt.
Da fönnen fie lange fuchen, wenn ich durchs Fenfter in den
Badebaſſin Frauche. Pritſchball ift auch fehr ſchoͤn, aber bie
Pritſchen find fo lang, daß man oft vorbeihaut, und dann
brien die andern. Die Seite, mo Miokovitſch ift, geminnt immer.
Er hat die ſchwerſte Pritfche, aber er macht felten mit. Überhaupt
iſt er oft nicht da, wenn gefptelt wird. Ich hab ihn mal gefragt,
warum er Immer nicht da if. Da hat er gefagt: Du bift neugies
rig Schund, aber wenn du's niemand fagft, will ich Dir’s ver-
raten. Aber er hat mich blos verulfen wollen, denn es iſt doch
248
Unfinn, dag er auf dem Mond fpazieren geht. Solche Witze macht
er immer.
Liebe Mama, warum [hit Du die Pfannkuchen nicht.
Es grüßt Dich Dein
teurer Sohn
Winiwitfh.
. J
Liebe, gute Mama!
Ich habe furchtbar lachen muͤſſen, weil Du ſchreibſt, od es nicht
recht mehtut, wenn der Herr Inſpektor auf die Hofen kloppt.
Du denkſt wol, wir haben fie an, wenn er kloppt? Nein, das find
die andern, die erfte Garnitur, die gefloppt werden. Nun mill ich
aber endlich ſchreiben, was abends gemacht wird. Da wird erſtens
Abendbrot gegeffen, wobei auch Biertrinken ftattfindet. Es ift aber
natürlich blos einfaches. Dazu giebt e8 Brot und Butter oder Fett.
Fett iſt mir lieber, denn Die Butter ift fehr häufig ranzig. Diele
Jungens fehmieren fie dann untern Tiſch oder fehnippen fie mit
dem Meffer an die Dede. Dann fänt fie manchmal nächften Tag
in die Suppe. Weshalb es ein Unfug ift und man Schellen kriegt,
wenns gemerft wird. Natuͤrlich wagen ſichs blos die Großen. Im
Winter fol die Butter auch von vielen Jungens gefammelt wer-
den, und fie machen dann abends auf dem Ofen im Arbeitssimmer
Butterbaͤbe draus mit geriebenen Brot. Das muß fein ſchmecken.
Dann gehts wieder naus zum Spielen und dann ift Arbeitsftunde
oder Selbfibefhäftigung, wobel Briefe gefehrieben werden oder
fonft welcher Unfinn gemacht wird, weil fein Infpeftor dabei iſt.
Dann gehts um Neune fchlafen, wobei das Schnarchen durch
Anfprigen befeitigt wird. Miokowitſch klettert jegt egal zum Fen ⸗
fter nunter. Mit Rammern bin ich ſchiech, weil er fagt, Mioko ⸗
witſch wär ein Schlowake. Ich brauch Überhaupt feinen Freund,
249
Mir gefellts jetz ganz gut hier. Eiche Mamma, ſchick doch ja recht
viele Pfannkuchen.
Es grüßt Di) Dein treier
Sohn Winidald Stilpe.
* *
*
Eiche Mamma!
Weil Du ſchreibſt, daß ich Dir nicht gefchrieben habe, mas wir
nach dem Effen thun, fo win ich es fhreiben. Da wird erestert.
Das ift fehr muͤhſam und mit Grobheit verbunden, weil Die Herren
Inſpektoren fo fehreien muͤſſen und fi) ärgern, wenn Die Jungens
alles falſch machen, mas natuͤrlich ift, denn wenn man es noch
nicht kann, ſo ift es fehr ſchwer. Ich möchte lieber bei den Trom-
lern fein, und Miokovitſch win fhon dafür forgen. Dann werden
die Kleider ausgefloppt und vorgezeigt. Der Inſpektor Floppt auf
die Hofen, und menn Staub fommt, fo wirds aufgefehrieben, und
wer drei Deal aufgefchrieben tft, der Darf nicht mit fpielen fpäter.
Bei manchen Floppt der Inſpektor aber leiſe und bei manchen berb.
Dann ift wieder Schule. Hernach aber giebts Vefperbrot und
dann dürfen wir drei Stunden fpielen. Räuber und Dragoner
iſt das Schönfte. Ich hab einen Verſteck, den Feiner rausfriegt.
Da koͤnnen fie lange fuchen, wenn ich durchs Senfter in ben
Sadebaffin krauche. Pritſchball ift auch fehr ſchoͤn, aber die
Pritſchen find fo lang, daß man oft vorbeihaut, und dann
brifen bie andern. Die Seite, mo Miokovitſch ift, gewinnt immer.
Er hat die ſchwerſte Pritſche, aber er macht felten mit. Überhaupt
iſt er oft nicht da, wenn gefpielt wird. Ich hab ihn mal gefragt,
warum er immer nicht da iſt. Da hat er gefagt: Du biſt neugies
rig Schund, aber wenn du's niemand fagft, win ich Dir’s ver-
taten. Aber er hat mich blos verulfen wollen, denn es ift doch
248
Unfinn, dag er auf dem Mond fpazieren geht. Solche Wige macht
er immer.
Liebe Mama, warum [hit Du die Pfannkuchen nicht.
Es grüßt Did Dein
teurer Sohn
Winiwitſch.
Liebe, gute Mama!
Ich habe furchtbar lachen muͤſſen, weil Du ſchreibſt, ob es nicht
recht wehtut, wenn ber Herr Infpeftor auf die Hofen kloppt.
Du denfft wol, wir haben fie an, wenn er kloppt? Nein, das find
die andern, die erfte Garnitur, die gefloppt werden. Nun will ich
aber endlich fehreiben, was abends gemacht wird. Da wird erſtens
Abendbrot gegeffen, wobei auch Biertrinfen ftattfindet. Es ift aber
natuͤrlich blos einfaches. Dazu giebt es Brot und Butter oder Fett.
Fett ift mir lieber, denn Die Butter ift fehr häufig ranzig. Viele
Jungens ſchmieren fie dann untern Tiſch oder ſchnippen fie mit
dem Meffer an die Dede. Dann fänt fie manchmal nächften Tag
in Die Suppe. Weshalb es ein Unfug ift und man Schellen Friegt,
wenns gemerkt wird. Natürlich wagen ſichs blos die Großen. Im
Winter fol die Butter auch von vielen Jungens gefammelt wer:
den, und fie machen dann abends auf dem Dfen im Arbeitszimmer
Butterbaͤbe draus mit geriebenen Brot. Das muß fein ſchmecken.
Dann gehts wieder naus zum Spielen und dann ift Arbeitsftunde
ober Selbftbefchäftigung, wobei Briefe geſchrieben werden oder
fonft welcher Unfinn gemacht wird, meil fein Infpeftor Dabei iſt.
Dann gehts um Neune fhlafen, wobei das Schnarchen durch
Anfprigen befeitigt wird. Miokowitſch Flettert jegt egal zum Sen-
fter nunter. Dit Rammern bin ich ſchiech, weil er fagt, Mioko⸗
witſch wär ein Schlowake. Ich brauch überhaupt feinen Freund,
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Mir gefellts jeg ganz gut hier. Liebe Mamma, ſchick doch ja recht
viele Pfannfuchen.
Es grüßt Die) Dein treier
Sohn Willibald Stilpe.
* *
iebe Mamma!
Weil Du ſchreibſt, daß ich Dir nicht geſchrieben habe, was wir
nach dem Eſſen thun, fo win ich es ſchreiben. Da wird eresiert.
Das ift fehr muͤhſam und mit Grobheit verbunden, weil Die Herren
Inſpektoren fo fehreien muͤſſen und fi) ärgern, wenn Die Jungens
alles falfch machen, was natüuͤrlich if, denn wenn Man es noch
nicht fann, fo iſt es fehr ſchwer. Ich möchte Lieber bei den Trom-
lern fein, und Miokovitſch will ſchon dafuͤr forgen. Dann werden
die Kleider ausgefloppt und vorgezelgt. Der Inſpektor Floppt auf
die Hofen, und wenn Staub fommt, fo wirds aufgefehrieben, und
wer drei Dal aufgefhrieben iſt, der darf nicht mit fpielen fpäter.
Bei manchen Floppt der Inſpektor aber leife und bei manchen derb.
Dann ift wieder Schule. Hernach aber giebts Vefperbrot und
dann dürfen wir drei Stunden fpielen. Räuber und Dragoner
iſt das Schönfte. Ih hab einen Verſteck, den feiner rauskriegt.
Da koͤnnen fie lange ſuchen, wenn ich durchs Fenſter in den
Badebaffin krauche. Pritſchball ift auch fehr ſchoͤn, aber die
Pritſchen find fo lang, daß man oft vorbeihaut, und dann
briden die andern. Die Seite, mo Miokovitſch ift, gewinnt immer.
Er hat die ſchwerſte Pritſche, aber er macht felten mit. Überhaupt
ift er oft nicht da, wenn gefpielt wird. Ich hab ihn mal gefragt,
warum er immer nicht da if. Da hat er gefagt: Du bift neugie-
rig Schund, aber wenn du's niemand fagft, will ih Dir's ver-
raten. Aber er hat mich blos verulfen wollen, denn es ift doch
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Unfinn, daß er auf dem Mond fpazieren geht. Solche Wige macht
er immer.
Liebe Drama, warum ſchickſt Du die Pfannkuchen nicht.
Es gehft Di Dein
teurer Sohn
Winttnitfch.
* *
*
Liebe, gute Mama!
Ich habe furchtbar lachen müffen, weil Du ſchreibſt, ob es nicht
recht mehtut, wenn der Herr Infpeftor auf die Hofen kloppt.
Du denkſt wol, wir haben fie an, wenn er floppt? Nein, das find
die andern, bie erfte Garnitur, die gefloppt werden. Nun mil ich
aber endlich fehreiben, was abends gemacht wird. Da wird erſtens
Abendbrot gegeffen, wobei auch Biertrinfen ftattfindet. Es ift aber
natürlich blos einfaches. Dazu giebt es Brot und Butter oder Fett.
Fett iſt mir lieber, denn die Butter iſt fehr häufig ranzig. Viele
Jungens ſchmieren fie dann untern Tiſch oder fehnippen fie mit
dem Meſſer an die Dede. Dann faͤllt fie manchmal nächften Tag
in die Suppe. Weshalb es ein Unfug ift und man Schellen friegt,
wenns gemerft wird. Natürlich wagen ſichs blos die Großen. Im
Winter fol die Butter auch von vielen Jungens gefammelt wer-
den, und fie machen dann abends auf dem Ofen im Arbeitsgimmer
Butterbaͤbe draus mit geriebenen Brot. Das muß fein ſchmecken.
Dann gehts wieder naus zum Spielen und dann iſt Arbeitsſtunde
oder Selbftbefhäftigung, wobei Briefe geſchrieben werden oder
fonft welcher Unfinn gemacht wird, meil fein Infpeftor dabei iſt.
Dann gehts um Neune fÄhlafen, wobei das Schnarchen durch
Anfprigen befeitigt wird. Miokowitſch flettert jegt egal um Fen⸗
fler nunter. Dit Rammern bin ich ſchiech, weil er fagt, Mioko⸗
witſch wär ein Schlowake. Ich brauch überhaupt feinen Freund,
249
weil mich Miokowitſch au feinem Leibfhund ernannt hat. Deshalb
heiß ich auch Williwitſch.
Dein Dich lebender
Sohn
W. St.
« j *
iche Mama!
Schiech fein Ift, wenn man mit Einem nicht mehr Freund iſt.
Leibſchund ift fein Schimpfname fondern fehr ehrenvon.
Wie's am Sonntage zugeht, das iſt fehr langweilig, wenn man
niemand in der Stadt hat, zu dem man Urlaub friegt. Weißt Du
denn gar niemand, wo ich hingehen kann? Früh gehen wir in die
Kirche. Da haben mir einen befondern Plag und alle Bänfe find
furchtbar befrigelt, wo Die Freimaurer figen. Die meiften Jungens
nehmen ſich Bücher zum Lefen mit. Ich fige aber fo nahe beim
Infpeftor. Zu Mittag gibts Kompot und abends Tee und Käfe.
Wenn ſchoͤnes Wetter iſt wird Spagtergang gemacht. Es iſt aber
ledern, weil man fo zwei und zwei in einer Reihe geht. Und ich
muß mit Rammern gehn, mit dem ich ſchiech bin. Er will immer
iu reden anfangen, aber faͤllt mir gar nicht ein. Er fol erft fagen,
dag Miokowitſch fein Schlowake iſt.
Siebe Mama, ich danke recht ſchoͤn für die Pfannkuchen, aber
es waren ſechs ungefuͤllte dabei.
Es grüßt und kuͤßt Dich
Dein teurer Sohn
Williwitſch.
250
Diertes Kapitel
‚an hat, denf ich, aus den Briefen des Battlings erfehen,
daß Klein · Willibald, nicht ohne inftinftive Lebenskunſt, es
verſtanden hat, aus dem ſauren Apfel, in den zu beißen er gezwun ·
gen war, nach Möglichfeit Suͤßes zu fangen. Er hat unbemußt
nad) einem Rezept gehanbelt, Das auch Erwachſenen häufig probat
erſcheint zur Aufhöhung des Lebens: er hat fih einen kleinen
Heroenkult eingerichtet. Und, mie Flug der kleine Burſche doch
mar! Er blieb nicht in der Ferne ftehen und ſchwaͤrmte platoniſch,
fondern er begab fih frohgemut und entfchloffen in die Klientel
feines Idols.
Die Gelegenheit, jest ſchon zu konſtatieren, wohin ſich Das Häf-
hen kruͤmmen win, wäre guͤnſtig, aber ich möchte dem Lefer auch
etwas zu tun geben und uͤberlaß es alfo ihm, nachzumeſſen. Nur
bitte ich, ſich nicht gleich ein Schema zu machen. Des Menſchen
Seele ift manchmal ſchwankender als der Gang eines Betrunkenen
durch einen Sturzader. Aber: wie Sie wollen!
An mir ift es, weiter zu erzählen und zu fagen, daß Jung-Stilpe
allmaͤhlich aus dem Stande eines Battlings in den naͤchſt höheren
eines Quarfs emporruͤckte. Das heißt: er wurde nun nicht mehr
bloß gefunden; er durfte auch felber ein bißchen mitſchinden.
Es wäre nur menſchlich geweſen, wenn er ſich in biefem Zu»
ftande wohler befunden hätte, als in dem vorigen. Aber es war
nicht fo. Am Selberfhinden fand er wenig Geſchmack, und fo
entging ihm bie tröftliche Genugtuung, die nicht bloß im Frei
maurerinſtitut in Dresden · Friedrichſtadt den meiften Menſchen
das Geſchundenwerden ertraͤglicher macht. Er hatte keinen Sinn
für das Wohltuende, das in ber Moͤglichkeit liegt, von oben emp-
fangene Pffe nad) unten weitersugeben.
Es tut mir leid, aber ich muß es feftftelen: er Dofumentierte da ·
ası
mit einen betrüblichen Mangel an Begabung für realiftifchen Le⸗
bensverftand. Die Strafe flr dieſen Defekt konnte nicht ausblei⸗
ben: er fühlte ſich jegt elender als frhher. Denn, während er ſich
Die jegt offenftehende Gelegenheit ber Ableitung nach unten entgehen
ließ, verringerte ſich doch nicht feine Empfindlichkeit fhr die Stöße
von oben. Im Gegenteil: er empfand fie viel peinlicher. Denn er
hatte an Kritif zugenommen. Die Großen ftanden ihm jest näher,
und fo erfannte er, daß allerlei Dinge an ihnen waren, bie fie eis
gentlich nicht berechtigten, die Kleinen ſtolz und ſchlecht zu behan-
dein. Er fah, Daß es feinesmegs alle Helden waren wie der geprie-
fene Mio, es entging ihm vielmehr nicht, daß es unter ihnen Bur-
ſchen von unzweifelhaft gemeinen Qualitäten gab. Bon diefen ſich
ſchinden zu laffen, das hielt ſchwer und tat ungemein weh.
Es kam für Jung-Stilpe die Zeit der erften Zweifel an ber
weckmaͤßigen und gerechten Einrichtung dieſer Welt. Zehn Jahre
erſt alt, und ſchon mußte er an allerlei Warums nagen.
Warum darf mich Börner knuffen, Da er Doch unter den Großen
als Feigling verachtet ift?
Warum darf mich Roſcher Dummer Quark nennen, da es doch
allgemein befannt ift, daß er der Duͤmmſte in feiner Klaffe iR?
Barum darf ih den Bodemann nicht wieder ohrfeigen, da er
doch ſchwaͤcher ift als ich?
Alles bloß, weil ich noch ein Quark bin?
Ja, zum Teufel, warum tun fi die Quarks nicht zuſammen
und wehren fih? Wenn fie alle zuſammenſtuͤnden und vielleicht
noch die Battlinge heranzögen, fo müßten fie bie Großen, bie ja
viel weniger find, unterfriegen!
Aber auf diefes Warum mußte er die Antwort. Die Quarks
waren, bis auf wenige, zu denen er gehörte, Demmen, Gefindel.
Sie machten es mit den Battlingen nicht beffer, ald die Großen
mit ihnen, und untereinander fnufften und pufften fie ſich noch
252
mehr, als fie von den Großen gefnufft und gepufft wurden. Ganz
ſicher, wenn er es fi) etwa einfaden ließe, gegen die Großen auf-
aumuden: die meijten Kelle würde er von den Quarks friegen.
Das war eine böfe Situation für den Fleinen Stilpe, um fo
böfer, als Mio ing Land feiner Väter zurückgefehrt war.
Die Umftände, unter denen ſich dieſes Ereignis vollzogen hatte,
waren nicht ganz normaler Natur: Herr Mio war gefhaßt
worden,
Barum? Der kleine Stilpe hörte was laͤuten, aber nicht zu ·
fammenfchlagen. Es ging ein Munkeln Durch die Jungens, als ob
ganz Unerhörtes fich begeben hätte. Mio hatte etwas voͤllig Un-
fagbares getan, etwas, wofür den Quarfs und gar den Battlingen
die Begriffe fehlten.
Gewiß etwas Großartiges, dachte fi Stilpe, und fein Held
erſchien ihm nun Im Zauber des Geheimnisvollen noch gemaltiger.
Ihn felber hatte er wohl gefragt, aber es war ihm wieder Die Ant-
wort vom Monde geworben:
— Die Paufer wollen nicht, daß man auf dem Mond fpaseren
geht, und vorzüglich nicht mit ihren Töchtern.
Mit ihren Töchtern? Auf dem Monde? Welche furchtbaren
Seheimniffe! Dem Heinen Stilpe rollte es grufelig, aber warm
übers Rüdenmarf.
Er fühlte: der Mond war bloß ein Symbol, fo wie der Herr
Jeſus Ehrift als Mittagsgaſt, aber die Töchter der Paufer, bie
waren reell gemeint.
Himmel, wer das Symbol vom Monde ergruͤnden koͤnnte?
Eine Panferstochter fragen?
Pfut, wer wird ſich mit Mädchen einlaffen!
Jung · Stilpe war noch im Alter des Yungenftolges, der im
Mädchen etwas befledend Untergeorbnetes fieht. Mädchen! Das
kam noch weit hinter den Battlingen. Was das für jämmerlihe
253
Dinger find! Hoͤchſt feige Geſchoͤpfe. Alſo Fein ftandesgemäfer
Umgang für ritterliche Enkel der alten Germanen.
Aber Mio war trogdem mit ſolchen Dingern „auf dem Mond
fpagieren gegangen"? Konnte Mio, der Held, etwas Unritter-
liches tun? Nie! Es mußte vielmehr etwas hoͤchſt Ritterliches ge-
wefen fein.
Wer weiß; vielleicht war eben das Spazterengehen auf dem
Monde das einzig Nitterlihe, das man mit dieſen Wefen tun
fonnte,
Wenn man nur erft wuͤßte, was es wäre!
Mio hatte, als der Meine Wintbald durchaus wiſſen wollte, mas
unter dem Dondfpazterengehen zu verftehen fei, Die Schonung fel-
nes Schnurrbartes geftrichen und mit einem fonberbaren Lächeln
gefagt: „Williwitſch, wenn ich Dir das erfläre, ſchaſſen fie dich
auch. Warte noch, bis dir fo was waͤchſt, und dann wirft du's von
ſelber erfahren.”
Mein Gott, wie geheimnisvoll! Es hing alfo mit dem Schnurr-
bart zufammen! Fuͤr Quarks war demnach der Mond durchaus
unerreichbar, denn ein Quarf mit einem Schnurrbart war undenf-
bar. Dan mußte mindeftens ein Strunf werden. Aber auch unter
den Strunfs war ein Schnurrbart, d. h. Die erfte Andeutung eines
Anfluges davon, ein unerhörtes Wunder. Fliezek war der einzige
unter den Strunfs, der fo etwas wie einen Slaum auf der Ober»
lippe hatte.
So wurde Fliege das Idol.
Willlbald machte ſich an ihn heran. Er opferte Hefatomben von
möütterlichen Pfannkuchen, ihn zu gewinnen. Schließlich gelang es
ihm mit einem Ofterflaben. Aber Fliczek war fein Held, fein Mio.
Er aß den Oſterfladen und würdigte Winibald feines Umgangs,
aber es fiette fih heraus, daß dieſer ſchnurrbaͤrtige Strunf vom
254
Monde einfttveilen nicht viel mehr wußte al der ſchnurrbartloſe
Quark.
Alſo hing es vom Schnurrbart allein nicht ab.
* *
Da wurde Willibald ſelber ein Strunk. Zwoͤlf Jahre war er
num alt. Die Periode der weſentlich Förperlihen Schindung mit
Dhrenlangsiehen, Andenhaarenreißen, Schellenkriegen war im all-
gemeinen voruͤber. Die Drangfale fingen an, hauptfächlich ſeeliſcher
Natur zu werden. Die Strunfs, die nur die Großen noch über
fi) hatten, wurden von biefen nicht geprägelt, ſondern verhöhnt.
So ein Strunf, das ift wohl was! Bildet ſich vielleicht ein,
daß er ſchon ein Großer it? So ein Jammerling! Hat noch kurze
Hoſen an und tut ſich dicke! Vielleicht, weil er Seleftaner ift?
Weil er feinen Namen mit griechifchen Buchſtaben in alle Bücher
ſchreibt? Iſt was Rechtes! Iſt Doch noch ein Fleiner Junge, mit
dem man lange noch nicht Über alles reden kann.
Aber immerhin famen die Seleftaner unter ben Strunfs ſchon
mit den Großen in einige Berührung. Da fie mehr Schularbeiten
su machen hatten, als die übrigen, durften fie mit den Großen eine
Stunde länger aufbleiben. Diefe Arbeitsftunde wurde, ba bie In⸗
fpeftoren im Schlaffaal fein mußten, nicht ſtaͤndig überwacht. Es
kam nur zumellen der Direftor, um nachzuſehen, ob die Stunde
nicht etwa ausgedehnt wurde, und um nachzuriechen, ob nicht ges
raucht worden war. Aber, wenn der Direktor Kegelabend hatte,
war man fiher. Dann tauchte alles, auch die Strunfs. Es gab
fogar eine Waflerpfeife! Und wer gut turnen fonnte, Fletterte bie
Mauer hinan, ließ ſich auf den Briefkaſten hinab, fprang auf die
Straße, lief ins Böhmische Brauhaus und holte Bier.
Ha, was für Gelage: Richtige, große Deckelglaͤſer ſchwang man,
und Lagerbier war drin! Da wurden bie Großen vertraulicher.
255
Aber alles durften die Strunfs doch nicht mitmachen. So, wenn
ein Nachtſcheuern war und die Dienftmäpchen in den Korridors
herumficherten. Dann fiherten die Großen draußen mit, aber bie
Strunfs mußten im Hofe und Garten Poften ftehen.
Zweifellos: Das hing mit dem Monde sufammen. Freilich nicht
im hohen Sinne des Miokowitſch! Der hätte nie mit Dienſtmaͤd ·
hen gefichert, Die den Scheuerlappen in den Händen hatten.
* *
*
So fam Jung · Stilpe ins breigehnte Jahr, und feine Sehn-
fucht war vergeblich hinter dem Monde her und, was deffen tief-
fer Sinn eigentlich wäre.
In der Schule ging alles paffabel, bis aufs Rechnen; feine Mit-
ſtrunks achteten ihn als einen, der alles Verbotene kuͤhn und heiter
mitmachte und nie pegte, aber enge Freunde hatte er feine, weil
er, wie Die andern fagten, zu eingebilbet war. In der Tat hielt er
fi für reichlich dreimal fo geſcheit wie alle hbrigen, wenn auch
nicht gerade in den Fächern, die auf dem Stundenplane flanden.
Daß er fi) auch in die fpesififche Geheimfunft der Knabenin-
ſtitute einführen ließ, bedarf nicht befonderer Erwähnung. Er übte
fie aber noch ohne jene Perfpeftive, die erft aus ber Erkenntnis
vom Wefensunterfchiede der Geſchlechter erwaͤchſt. Indeflen: es
liegt in der Natur diefer bevenflihen Kunft, daß fie den Hunger
nad) jener bedenklichen Erfenntnis weckt. Ob, die Augen Willi-
balds damals! Was wollten fie nur, Daß fie zuweilen fo weit offen
und ſtarr waren, glühten und gloſteten, flackerten und ſich meiteten?
Wirklich, meine werten Herren Pädagogen, es genuͤgt nicht,
menfa abzufragen und den Jungens auf ben Zahn zu fühlen, ob
der Peloponnefifche Krieg feftfigt, — Sie müßten ihnen auch
manchmal in die Augen fehen. Ste, Die Sie mit unfehlbarer Sicher ⸗
heit jedes Jota fubferiptum aufftöbern, Das zuviel gefehrieben wird,
256
fehen Sie denn nicht, daß ba tinten in dieſem Auge ein haͤßlicher
Wurm figt? Um Gottes willen, rotten Sie Diefen Wurm aus, Herr
Profeſſor, er ift viel bedenklicher als sehn falfche Jota fubferipta.
Aber es iſt mehr dazu nötig, als rote Tinte, und ber Rohrſtock
tut's freilich nicht. Denfen Ste bloß an ſich, und was alles Ihnen
ber Wurm weggefreſſen hat! Wie? Sie verbitten fi) dieſe Ver-
daͤchtigung? Ja, dann freilich!
Jung⸗Etilpe alfo, Dreisehn Jahre alt, war bereits wurmftichig.
Werden wir uns wundern, daß er in puncto puncti frühreif ward?
Nun, es gibt viele folhe Wunderfinder. Wir wollen uns nicht
anſtellen, als fänden mir das fo verwunderlich. Oder wollen wir
do? Schön, wem es wuͤrdig duͤnkt, der tue feinem Herzen feinen
Zwang an und entrüfte ſich. Hier ſtehe ich mit meiner ganzen Breit
feite; es haben viele faule Apfel Play.
Alfo: Jung-Stilpe fuchte mit fonderboren Blicken nad) jener
Perfpeftive, die ihm noch fehlte. Da fam das, mas wir den Zu-
fall nennen, und was unfere Vorvordern den Teufel genannt haben,
riß den Nebel entzwei und fagte leife und mit infam Kinder Stim-
me: „Bitte, da!"
Es fam fo: Der Direktor hatte wieder einmal Kegelabend, und
bie Seleftaner taten fi gütlih an Alkohol und Nifotin. Sie
waren ‘alle beieinander, nur einer fehlte, der mit dem Schnurt-
bart, Wenzel Sliczef.
Ste figen ale recht forglos und im füßen Genuffe des Berbo-
tenen beieinander, da tut fi) die Türe auf, und Fliczek ſchreit
herein: „Senfter auf! Lichter aus! Der Alte kommt uͤbern Hof!"
Dann, wie die Lichter ausgeldfcht find, fluͤſtert er leiſe zu je
mand Unfihtbarem hinter ihm: „Schnell, da nein, unters Ka-
theder!"
Willibald war gerade daran, als Letzter zum Senfter hinausm ·
fpringen. Da, aber, wie eigen Das war, drehte es ihn um.
17 Bierbaum II 257
Was denn nur? Unters Kathever!
Er duckte fi) dort in die Ecke.
Da, wie e8 raſchelt! und neben ihm, hart neben ihm druͤckt ſich
mas Weiches.
Gott, o Gott! Was mag das fein! Wie warm! Oh, und wenn
taufend Direftoren kämen! Die füße Angft!
— „Ber bift denn du?"
— „Sei doc) flite! Der Direktor . . „1
Herrgott, wie weih und warın!
— Rem! Hm! Rem! — Es fommt den Gang berauf. Die
Türe ſchlaͤgt.
— Rem! Hm! Rem! — Jetzt iſt er wohl im Zimmer? Ja,
man hört ihn ja fehnaufen.
Willibald fühlte zwei Arme an feinem Hals und an feiner Seite
ein drängendes Klopfen.
Gott, mas iſt Das! Was iſt das! Er kann nicht anders, er muß
feinen Mund darauf drüden. Oh, ift das ſchoͤn!
— Rem! Rem! Hm! Rem! — Die Thre wieder zu. Schritte
... ſort ...
Das Warme neben ihm bewegt ſich. Die Arme laſſen ihn los.
— „Ber bit du denn?‘
— „Ber bift denn du?"
— „Ich bin Stilpe aus der dritten Klaſſe.“
— „Laß mich doch los!
— „Rein. Wer biſt Du denn?“
— „Die Jofephine.”
— „Bufchfleppern feine?"
— „Ja doch! Laß mid doch!“
— „Du! Du!”
Und er hängt ſich feft an fie, und es ift ihm, als wenn er fhwe-
ter und größer würde,
258
— „Aber fo laß mich doch, ich muß fort.’
Nein, er kann nicht Ioslaffen. Er wähle ſich mit feinem Kopf
in al das Weiche, Warme, was um ihn ift.
Da, jest hat er ihren Kopf in den Händen und druͤckt ihn mit
aller Kraft.
— „Du, das tut ja weht"
Aber fie geht nicht. Ste läßt ſich noch eine Weile fo halten.
Dann fommen auch ihre Hände an feinen Kopf, und nun fühlt
er ihr Geſicht an feinem.
Ad, wie die Lippen weich find.
— „Du beißt mich ja!"
Himmel, was ift das! Ste füßt ihn.
Gott! Gott! Gott!
Jetzt iſt fie fort.
Noch eine Weile Liegt er unterm Katheder. Dann taumelt er auf
und rennt in den Schlaffaal. In feinem Bette weint er. Und
ſtammelt ihren Namen. Schläft, naf von Tränen, ein.
Wie er am Morgen aufwacht, iſt alles verändert um ihn herum.
Er möchte ſchreien vor Gefhhl. Joſephine! Jofephine! Das ift der
Mond! Das ift er!
Dann wird ihm angft. Er möchte fort. Ausreißen. Nach Haufe.
Sich verfteden.
Gottlob, daß Sonntag iſt. Er fingt in der Kirche fo laut, daß
der Snfpeftor ihn anrhffelt. In fein Geſangbuch, auf feinen
Kirchenplatz, uͤberallhin ſchreibt er Joſephine.
Und das Wort ſchiebt fi in ihm hin und her, und nach dem
Schema von „Nun danfet alle Gott” ſchreibt er in unbeholfenen
Verſen die Erlebniſſe Diefer Nacht.
Das war die erſte Regung.
Denn von nun ab wollte er — ein Dichter werden.
17° 259
Fünftes Kapitel
o ein kleiner Junge, der Dichter werden will, ift ein merf-
wuͤrdiges Phänomen. Es verlohnt fih wohl, es näher zu
betrachten.
Es ift feineswegs dasfelbe, wie wenn etwa einer in Prima an-
fängt, die Papierleyer zu ſchlagen. Da pflegt meift Nachahmungs ·
trieb und Ehrgeiz ber Hauptgrund zu fein, und die Säle find fel-
ten bemerfenswert. Schon, weil fie, felbft in unferer Zeit noch,
gar zu häufig find.
Aber wenn bie Verfe fo früh flügge werden, wie bei unferm
Stilpe, dann Liegt Die Sache tief und verdient Beachtung. Bloße
Nachahmung ift es nicht, Ehrgeis ftedkt gar nicht dahinter, — was
alfo ift es wohl?
Es wird das befte fein, wir ſtudieren die wunderliche Erſchei⸗
nung an dem Knaben Willibald.
Zuerft Die Bemerkung, daß vor der Szene unter dem Katheder
ſich nichts in ihm geregt hat, was als Hinweis auf das plögliche
Versweſen ausgelegt werben koͤnnte. Hoͤchſtens, daß er fehr gerne
im Geſangbuch las, ohne dab ihn Srömmigfeit dazu veranlaft
hätte, Er las, weil es ihm gut Mlang. Aber es Fam ihm dabei
durchaus nicht der Gedanke, auch mal fo was Klingenbes zu machen.
Er dachte überhaupt nicht daran, daß das etwas Gemachtes fel. Er
nahm es wie eine Blume, wie einen Baum und freute ſich dran.
Und nun, nicht wahr, es ift doch fonderbar: faum, daß er
eine Mleine Jofephine neben fich gefühlt hat, fegt er fich hin und
ſchreibt Verſe. Und nicht Dies bloß, er empfindet plöglich, wenn auch
verworren und wie aus draͤngenden Nebeln: dies, das Verſe⸗
ſchreiben, iſt ein unerhoͤrtes Glück, ein Ziel uͤber allen Zielen.
Etwas Schwellendes ift in ihm, etwas, das fi) nur mit dieſem
unfagbaren Gefühle unterm Katheder vergleichen laͤßt. Und er
260
huͤtet das Geheimnis dieſes Schwellens mit demfelben Gefühle
von Scham, wie das Geheimnis feines Abenteuers mit Joſephine.
Vielleicht find dieſe beiden Geheimniſſe nur eines? Vielleicht iſt
es nur ber Biß in den verbotenen Apfel der Erfenntnis?
Aber er hat an diefem Apfel doch fürs erſte nur geleckt, wenn
auch zugegeben werden muß, daß er eine unbeftimmte Luft empfin ·
det, nun auch hineinzubeißen.
Nein, man fann nicht fagen, daß Jofephine und bie Verſe ein
und dasfelbe find. Es find zwei Offenbarungen auf einmal, von
denen die eine die andre mit ſich gebracht hat, und fie find, ob⸗
wohl fie fcheinbar diefelben Erſcheinungen zur Folge haben, doch
verſchieden voneinander. Daß fie einander auch feindlich fein koͤn⸗
nen, wird gerade dieſes Lehen Stilpes bemeifen.
* «
*
Der Teufel sieht gerne Unterrdde an. Das wiffen wir aus der
Geſchichte mancher heiligen Männer. Manchmal hat er aber auch
ein „hoͤlun Roͤcklin“ an und „legt beim Wirt im Keller". Es gibt
ein paar lehrreiche Seiten der Literaturgeſchichte, wo ſich Belege
dafür finden.
Heilige und Dichter haben mehr mit dem Teufel zu tun, als
“ gute Ehriften und ſchwaͤrmeriſche junge Mädchen glauben.
Wer nicht mit anerhand Teufeln den Tanz beftanden hat, fann
meber eine Gloriole noch den Lorbeerkram erhalten.
Und die Teufel, Die aderhand Teufel, — es ift erftaunlich, was
fie tanzen fönnen. Zu Anfang wiſſen fie fo fanfte su walzen, und
es geht lieblich dahin mit ihnen, aber auf einmal ift der Wirbel
da, der in den Hoͤllentrichter fegt.
Guter Gott, ich ſchreibe doc feine Daͤmonologie! Aber mein
Held mil (0 Winibald!). Dichter werden.
* *
.
261
Der kleine Wintbald ſchied fich jegt von feinen Kameraden noch
mehr ab, als früher. Einesteils fühlte er fi) hoch erhaben ber
fie, und andernteils hatte er Furcht vor ihnen. Er empfand, daß es
feinen unter ihnen gäbe, dem er feine Geheimniſſe verraten dürfte,
ohne furchtbar ausgelacht zu werben, und er hätte auch feinen für
würdig gehalten, fein Mitwiſſer zu fein. Auch war er viel zu fehr
mit ſich beſchaͤftigt, als daß er Luft hätte haben fönnen, ſich an fie
anzufchließen.
Er fing an, mit ſich au phantafieren. In den Schul: und Ar ·
beitsftunden ſowohl wie in der freien Zeit ließ er feine Gedanken
nach unbefannten Dingen fllegen und machte grotesfe Ungetlime
von Berfen daraus. Nebſtbei fing er auch an, auf alles Gedruckte
zu fahnden, mas fein Schulbuch war. Der Hauptinhalt an feiner
Phantafien war aber Bufchfleppers Joſephine.
Er trug die Wärme von ihr, die er unterm Katheber gefühlt
hatte, mit fich herum, und zumellen war es Ihm, wie wenn er in
einer lauen Wolfe ginge. Manchmal mußte er die Augen sumachen,
fo flarf überfam es ihn.
Wenn er fie nur einmal fehen koͤnnte, ihr ein Zeichen geben,
dachte er ſich. Aber es ſchien, als ob fie gar nicht mehr da wäre.
Jede Minute, die er allein fein Fonnte, verwandte er darauf, ihr
aufzulauern.
Es war im Herbft, und fo durfte er hoffen, fie einmal im Lehrer-
garten zu fehen, der, in verſchiedene Parzellen geteilt, für jeden
Lehrer ein Sondergärtchen enthielt. Aber immer war es mur der
alte Bufchflepper in feinem grauen Ziegenbarte, den er botani-
fierend dort wandeln fah, oder die Frau Buſchklepperin, von der
unter den Jungen die Rede ging, fie prügele ihren Dann jede
Woche mindeftens einmal. Das machte fie unter den Jungens
amar fehr beliebt, aber für Willibalds Zwecke genuͤgte es doch nicht.
Etwa vier Wochen lang lauerte Winibald auf Jofephine, Da
262
kam twieber fo ein Seleftanerabend, der mit des Direftors Kegel»
vergnügen sufammenfiel.
Diesmal waren Alfohol und Nikotin in den Hintergrund ge-
drängt durch ein großes und heroifches Unternehmen. Einer von
den Großen hatte fi ven Schlüffel zur Küche verſchafft, neben
der ein Keller von Apfel lag. Und es war die Lofung verteilt mor-
den, daß jeder Seleftaner feinen Reifetoffer bereit halten ſollte zu
einem Naubguge auf biefe Apfel. Nur ein paar Strunfs waren
ausgewählt, Poftendienfte zu leiften. Es war ein Beweis für das
Vertrauen, das man Willibald entgegenbrachte, daß auch er der
Vorpoſtenkette eingereiht wurde. Der Poftenfommandant aber war
Fliczek. Er hatte fi) war Dagegen gewehrt und das verantwor-
tungsvofle Amt durchaus nicht annehmen wollen, aber bie übrigen
Großen hatten ihn beim Ehrenpunfte gefaßt und erflärt, er, als
der Schlauefte, muͤſſe unbedingt die Poften leiten, wenn er nicht
für einen elenden Feigling gehalten fein wollte.
So ruͤckten die Poften, Fliczek an der Spige, aus. Leife, auf den
Zehenfpigen, obwohl Dies eigentlich nicht nötig war, ſchlich man
durch die langen dunkeln Korridore, Dann ging es eine enge Treppe
hinunter in das Soutertain, und von hier aus follte der Kuͤchen⸗
bau umftelt und eine Spähfpige bis vor an das Direftorhaus ge
ſandt werben. liczef verteilte Die Poften, Willibald behielt er zuruͤck.
— „Du mußt bis ans Direftorhaus, Stilpe. Ich seh’ an
Buſchkleppern feins. Wenn alles ruhig ift, pfeifft du, daß Nine in
die Klaffe läuft und die andern ruft. Wenn ber Direftor kommt,
klatſchſt du und reißt aus.”
— „Was willſt du denn an Buſchkleppern ſei'm Haus? Da
fommt doch niemand her!?"
„Halt'n Rand und mad), was ich Dir gefagt habe.”
Willibald ging über den Hof geradeaus und hörte, wie fi)
Fliczek nach links entfernte.
263
Bas wollte der zum Teufel denn dort? Winibald begriff Durch:
aus nicht, weshalb man ſich gegen den alten Buſchkleyper durch
einen Hauptpoften ſchuͤtzen wollte, vor diefem alten Dann, der
ganz gewiß nicht in der Nacht revidierte.
Aber er ging, doch ein wenig fol; Darauf, daß er den gefähr-
lichſten Poften erhalten hatte, bis zum Direftorhaufe und dachte
einſtweilen nur an feine Pflicht. Als er aber den vorſchriftsmaͤßigen
Pfiff getan hatte und ringsum nichts Verbächtiges zu bemerfen
mar, da fam ihm plöglich der Gedanke an Joſephine.
Wenn ich durch den Lehrergarten hinten herumginge, dachte er
fi), fo fäme ic) an bie Hintertüre von Bufchfleppers Haufe. Dort
mird mich Sliczef nicht merfen, der natuͤrlich an der Vordertuͤre
aufpaßt. Vielleicht iſt hinten noch Licht, und ich fehe fie.
Kaum, daß er fi das gedacht hatte, mar er auch ſchon auf
dem Wege. Der war zwar unbequem, denn er mußte immer über
die Zäune fteigen, bie zwiſchen den einzelnen Lehrergärtchen waren,
auch fließ er ſich bald an einen Baum, bald fam er in ein Gebuͤſch,
bald fanf er in ein Beet, aber er wäre ja Durch Deere geſchwom⸗
men, um in Jofephinens Nähe zu fommen.
Er zählte die Stafete ab. Fünf hatte er nun, nach dem fechften
mar er in Buſchkleppers Garten.
Herrgott, wie ihm das Herz ſchlug!
Da eben, als er überfleigen wollte, hörte er was flüflern.
Himmel! Wer ift das! Er ſchlich fih nahe an das Stafet, um
genau zu hören, mo das Geflhfter herfam. Rechts hinten war's,
drüben in der Laube.
Er ſchlich das Stafet entlang nad) rechts, der Laube zu.
Das Geflüfter wurde vernehmlicher. Ploͤtzlich hörte er:
pie
— „Bas denn?"
— „Da fnadte was!"
264
— „A, nee"
Winibald wurde es ſiedendheiß. War das nicht . . .?
Aber er ging näher. Und er hörte:
— „Bleib doch noch e bißl!
— „Rein, nein, ich muß zu den andern, fonft merfen ſie's.“
„A, du!
Du, an biefem Ach du! merkte Winibald, daß die eine Stimme
Joſephinens war, und mit einem Male mußte er, daß bie andre
die Fliczeks fein mußte.
Eine jagende Wut uͤberkam den Fleinen Burſchen. Mit einem
Sprunge war er Übers Stafet, mitten In die Sinfternis hinein.
Ein Aufſchrei rechts vor ihm. Nur ein paar Schritte.
Noch ehe Fliczek Davon Fonnte, war Willibald dort und droſch
auf den Fliehenden mit feinen kleinen Faͤuſten wie rafend los.
Dann wandte er fi um und blieb vor Sofephine ftehen:
— „Du, du, du uber, du, du Luder!“
— „Ja, du, was winft denn du hier?"
— „Ich, ich, ich ...“ Und nun heulte der arme Junge los,
daß das Mädchen feinen Schreck und feinen Zorn über ihn vergaß
und ihn tröftete.
Er war ganz befinnungslos und legte feine Hände auf ihre
Achſeln und lehnte feinen Kopf darauf und fhludhste: „Du. . .
mußt... mir... nicht boͤſe fein, ich, ich... ach ...“ Under
heulte wieber.
— „Rein, nein, ih bin bir ja nicht böfe, ich ... ich bin Dir
wirklich nicht boͤſe ... nein, aber nu geh doch, geh!”
Da war der kleine Junge wieder ganz ſelig und fiel dem Maͤ
bel um den Hals und drückte fie, preßte fie, quetfchte fie, da fie
ihre Not hatte, ihn von ſich abzuftreifen. Ihr Geſicht war gam naf
von feinen Tränen, und bie offenen Haare hingen ihr über Die Bruft
vor, Sie fahen einander nicht, aber ihre Blicke hingen ineinander.
265
Schließlich verfette ihr Winibald einen Kuß, fo laut und ſchal ·
lend, daß fie nun, ob aud ungern, es flr unumgänglich nötig
hielt, ein Ende su machen.
— „Mu geh, du, mach, fonft kommt noch jemand. Aber fo geh
we
Willibald ließ fie nicht los.
— „Du, id) ſchreie nu aber! Und wenn mei Vater kommt!"
Der Gedanke an den alten Buſchklepper brachte Winibald zur
Befinnung.
— „3a, ja, aber nicht mehr mit Slicgef’n!"
— „Nee, nee, geh nur!"
Winibald ließ fie los und lief davon. Er lief, als hätte er feiner»
let urſache, leife und vorfichtig aufzutreten, er fprang quer uͤber
den Hof, nad) dem Klaffenzimmer zu. Plöglich siwang Ihn etwas,
ftehen zu bleiben.
Herrgott, wenn jegt die andern geflappt find! Und ih Bin
ſchuld daran!
Ih? Nee: Fliczek!
Und jest kam die Wut nochmals uͤber ihn, und ſtatt durch bie
Türe zu gehen, fprang er durchs Fenſter in den Korridor.
Da roch es mundergut nach Apfeln.
Das befänftigte ihn. Leiſe ſchlich er fich hinauf in den Schlaffaal.
Nr. 172, auch ein Seleftaner, lag noch wach und faute an ei⸗
nem Apfel:
— „Bas fommft du denn fo fpäte?"
— „Ich hab’, ich hab” gedacht, ich muß noch Poften ſtehen.
— „3, Unfinn. Wir find ſchon lange oben. Deine Appel und
Fliczetn feine hat der lange Ayrich. Winft du een’? Ich hab's
ganze Bette vol."
— „Sib nur!"
Und auch der Apfel ſchmeckte gut.
266
Sechſtes Kapitel
18 Winibald am nächften Morgen erwachte, war fein erfter
danke Jofephine, fein zweiter Fliczek. Bei dem erſten war
ihm Ende und gut sumute, bei dem zweiten ballte er die Fäufte,
Er hatte die Empfindung, daß er ſich heute feiner Haut zu
wehren haben werde. Aber er hatte feine Furcht.
Er fon nur fommen, der Boͤhmake, dachte er fi), und bei die:
fer Gelegenheit regte fic in ihm zum erſten Dale der Rauf⸗—
deutſche. Er fon nur fommen und mir was fagen! Eine Schelle
kriegt er! Und er erfchauberte nicht vor dem Gedanken, daß er,
der Strunf, einen Großen ohrfeigen wollte! So verruͤckt das
Weib die Standesunterfdjiebe.
Aber es fam anders. Der Tag wurde zwar reich an Aufres
gungen im Inſtitute, aber juft Winibald wurde nicht Davon bes
troffen.
Fliczet wußte offenbar nicht, von wem er geprhgelt worden war.
Er mar fehr niedergeſchlagen und bla, die einzige Farbe in feinem
Geſicht war ein blauer Fleck unterm rechten Auge; er ließ den
Kopf hängen und fehlen es nicht zu wagen, aufsublicen.
Willibald merfte fofort, wie es ftand, und es figelte ihn, den
gehaften Böhmen zu reizen.
— „Du, was haft du denn da flr einen Fleck im Gefihte?"
— „Was dich nir angeht, Strunf dummer."
— „Bift wohl hingeplaugt bei Buſchkleypern geſtern?
— „Halt'n Rand, Strunf, oder ich ...“
— „Ra, was denn? Wenn ic) doch bloß frage . . . Überhaupt:
Warum bift du denn fo gerannt?
— „Haft du mich gefehen, Stilpe? Wo haft du mic) denn
gefehen?"
— „Nu, du bift ja im Hofe an mir vorbeigerannt wie beſeſſen.“
267
Das war fühn fombiniert von Yung-Winibald. Wenn nun
Fliczet gar nicht Aber den Hof gerannt wäre? Aber er hatte rich-
tig fombintert.
— „Ich, ich habe was fommen hören, und da hab’ id) Leine
gesogen. Ich Dachte ſchon, ih wäre geklappt."
— „Und da bift du wohl hingefallen?“
— „Ja, da, an ber Mitteltuͤre, auf die Treppe hin. Was haft
denn du aufm Hofe zu fuchen gehabt? Du haft doch ſollen durch
das Souterrain zuruck? !
— „Ich hab’ dir mas fagen wollen.“
— „Mir? Was denn? Warum denn? Du: Haft du was
gehört?"
— „Ja, eben, ich hab’ was gehört bei Buſchkleppern hinten,
und da hab’ ich gedacht: das muß ich dir ſagen.“
— „Du haft was gehört... . War’s laut? Haft du aud was
sefehen?"
— „Nee, 's war ja ganz dunkel, aber ich hab’ jemand fehreien
gehört."
— „Du, Strunf, das fag’ ich dir: Daß du niemand mag Davon
ſagſt. Sonft ſetzt's Kelle!”
— „Bas fon ich denn fagen? Ich weiß ja gar nichts. Haft du
denn etwa gefhrien, Slicgef?""
— „3? unſinn! Ich hab’ auch nichts gehört. Du haft wohl
geträumt vor Angft, feiger Strunk.“
Da hätte ihm Willibald von Herzen gerne alles durch eine Ohr»
feige klar gemacht, aber er war doc) zu Flug dazu. Nur das fonnte
er fi) nicht verfneifen, daß er fagte:
— „Ich weiß beffer wie du, wer feige iſt.“
Worauf Fliczek nichts zu erwidern mußte, als ein verächtliches:
Strunf!
* *
*
268 N
Diefes Gefpräd fand nach dem Fruͤhſtuͤck ſtatt, als ſich die
Klaffen zur Arbeitsftunde in ihre Zimmer verteilten.
Die Arbeitsftunde felber hatte ein anderes Ausfehen, als fonft.
Es war ein merkwuͤrdiges Geflüftere unter den Jungen, zumal in
den Oberflaffen. Unter den Baͤnken wurden Üpfel herumgegeben,
und häufig hörte man das Schnirpfen, wenn einer in einen Apfel
biß. Dazu ein Geftcher und Blicke hin und her. Ein Triumph ⸗
gefuͤhl ging durch alle, und wenn fie den beauffihtigenden In-
fpeftor anfahen, fo fonnte man aus den Blicken lefen: Der dum ⸗
me Kerl weiß von nichts.
Auch während der Andacht hielt dies Weſen an. Ale Hofen-
taſchen der Seleftaner ftafen voller Apfel, und man griff ſich
gegenfeitig an die Taſchen und Ficherte dazu. Als einer mitten in
dem fehr langen und feierlichen Gebete des Wigedireftors, der mit
Vorliebe Sprüche aus Jeſuch Sirach einflocht, zu feinem Nachbar
fagte: „Ich hab” ſchon Bauchkneipen“, ba ſetzte ſich Die Mittel»
kung im Fluͤſtertone durch die ganze erſte Reihe fort, und der Bize-
direftor mußte in feinen Sirach ein grollendes: Ruhe! einfchieben.
Aber ſchon nach der weiten Unterrichtsftunde, als die Körbe mit
Dreierbrötchen eben an die Türe geflellt waren, meldete fi das
Verhängnis. Die dicke Kuͤchenmeiſterin erſchien, ohne angeflopft
au haben, in der zweiten Seleftaflaffe, wo der Direktor gerade
Cornelius Nepos traktierte.
Enträftet blickte der Scholiarch die Frau an, und ein aufge:
brachtes Rhm! fuhr ihr entgegen. Ste aber, ohne eine Spur von
dem Nefpefte, der fie fonft nie verließ, ſchwappte bis an das Ka»
theber vor und rief mit erregter Stimme: „Deine Appel hamſe
gemauft! Deine ſcheenen Appel, die nifchtnuggen Jungen!"
— „Was behaupten Ste!?"
— „Ich behaupte niſcht, Herr Derekter, ich behaupte Se gar
niſcht, ich fage bloß: Gemauſt ham fe fe, ade ham fe fe gemauſt!“
269
— „Mäfigen Ste fih! Gehen Ste in Ihre Kuͤche! Hier wird
Schule gehalten!"
— „Aber, wenn fe doc) meine Appel alle gemauft ham, Herr
Deretter!"
In dieſem Augenblide hörte man etwas fallen, und ein großer
rotbackiger Apfel rollte langſam aus der erfien Bankreihe vor das
Katheder.
Es war, als ob fi) der Apfel feiner Wichtigkeit fhr dieſen
Augenblick bewußt wäre, mit fo viel Ausdruck, ja Würde rollte er:
Als er zulegt noch ein paarmal hin und her ſchwankte, war es
wie der Schlußappell in der Rede eines Staatsanwalts.
Aber es iſt Staatsanmwälten nur felten beſchieden, fo überzeu-
gend zu wirken, mie es diefer ſchweigend beredte Apfel tat.
Sämtliche Seleftaner machten eine unbewußte Bewegung, als
mollten fie unter die Bänfe kriechen, die Augen des Direktors
traten aus ihren Höhlen und hatten ganz offenbar die Tendenz, in
aller Körperlichfeit unter die ſchuldbeladene Schuͤlerſchaft zu fahr
ven, die Kuͤchenmeiſterin aber warf fi) mit dem Aplomb eines
trächtigen Elefantenweibchens auf den Apfel und fhrie: „Hammer
nu den Beweis, Herr Derefter? Hamm den Beweis? Ob das
nich eener von mein Appeln is? Na? Oh, Die verfluchte Jungens,
die Maufehafen! Nee, fo e Voll! Fui Teifel, fag 'ch, und noch
emal: Fui, ſchaͤmt eich!"
Und fie ſetzte den Apfel.mit der Wucht des Triumphes auf das
Katheder und firierte bald die Schuͤler, bald den Direktor.
Der ſprach: „Rhm! Hm! Das iſt ... Ich fage: Das iſt un-
erhört! Das iſt eine Schmach ohnegleichen! Wer von euch ...!
Hm! Geſteht! Ich fage: Geſteht auf der Stelle, oder ... .! Rhm!
Ich werde ein Exempel... Rhm!...."
Möglich veränderte fi fein Blick, und er wandte ſich zornes ·
voll zur oͤchin: „Sehen Ste in Ihre Kuͤche, ſag' ih! In Ihre
270
Kücye! In... Ihre... Kuͤche!!! Hier wird Schule gehalten!
Sehen Ste an Ihre Arbeit! Alles andere wird ſich finden. Rhm!“
Die Kuͤchenmeiſterin fah den Direktor erſchrocken an und floh
hinaus.
Jetzt aber verließ der Direftor das Katheber.
Niemand durfte zweifeln, daß etwas Fuͤrchterliches nahe be-
vorftand.
Es beʒweifelte es aud) niemand.
Gaͤnſe beim Gewitter ducken fich nicht ſcheuer, als die braven
Seleftaner es taten, während ber Direftor Rampfend und feuchend
auf und ab lief.
So tat er immer, wenn er einen am Ohr nehmen wollte.
Dan fannte das.
Er hatte eine eigene Art, einen am Ohr zu nehmen; fo eine
gewiſſe Drehung, als wollte er eine Tuͤr aufſchließen und der
Schluͤſſel ging nicht.
Die in der vorderften Reihe bereiteten fi) ſchon vor, die Ohren
au ſchuͤtzen.
Aber es fam anders. Der Fall war zu ausgebehnt. Denn der
Direftor hätte viersig Ohren drehen muͤſſen.
Eine Mafchine wäre nötig geweſen.
Er plante Schlimmeres.
Ploͤtzlich donnerte er: „Rhm! Sämtliche Schlüffel auf die Bank
gelegt!"
Die Schluͤſſel klapperten herauf.
— „Rhm! Primus, die Schläffel einſammeln!“
Es geſchah.
— „Rhm! Hat die erſte Selekta auch geftohlen?”
Kein Atemzug im ganzen Raume.
— „Rhm. Ich frage: Hat ...“
— „Jal!“ (Die guten Jungen liſpelten das wie kleine Mädchen.)
271
— „Ach, rhm, das ift ja wirklich... . ich fage: Das iſt ... in
der Tat ... chm! Primus!"
Der Primus erhob fi) und neigte das lilienblaſſe Haupt.
— „Geh in die erfie Selefta und bitte den Heren Doftor Bor,
er fon die Schläffel einfammeln laſſen.“
Der Primus fegte davon, froh, aus dem Bannkreis dieſer vol»
lenden Augen zu fommen.
Bir folgen Ihm.
Doftor Bor, ein Pädagoge von Humor, hatte eben einen Witz
zum beften gegeben, und die großen Seleftaner wollten fi) vor
Lachen ausſchuͤtten, als der Abgefandte des Zorns feine Botſchaft
ausrichtete.
Rups, wie brach da das froͤhliche Gelaͤchter ab.
Nur Doftor Bor blieb froͤhlich, und er ſprach: „Die adole ⸗
feentuli ſollen ihre werten Schlüffel auf die Bank der Wiffen-
ſchaften und ſchoͤnen Künfte legen! Tut’s, meine Lieben, tut’! Mir
ſcheint, es ftinft in irgendeinem Schranfe? Oper in allen?"
Da flingelte es, und ſchon erſchien aud der Direftor auf der
Schiele.
— „Haben Sie die Schlüffel, Herr Kollege?"
— „Hier find fie. Was ift denn gefchehen, Herr Direftor?"
— „Ste haben, rhm, Diebe zu Schülern, Herr Kollege!"
— „Na, ich danke!“
— „Es verläßt niemand das Zimmer! Beide Selekten haben
Zimmerarreft bis auf weiteres."
« *
In der zweiten Selefta wurde ber Zimmerarreft damit einge
leitet, dag man den Unglädlichen, der den Apfel hatte fallen laffen,
gemeinſchaftlich durchpruͤgelte.
Das iſt die Art, wie fich Die Verzweiflung des Volkes gerne entlaͤdt.
272
In der erften Selefta ging ein Gemunfel von Verrat, und man
hatte natürlich die zweite Selefta im Verdacht. Schon war man
Daran, über die Strafen zu beratfchlagen, die hier am Plage waren,
da wurde Fliczek durch den Infpeftor herausgerufen.
— „Der Hund! Die Pege! So ein Schuft! Alfo der Tſcheche!
Natürlich: der Tſcheche!“
Die enträftete Schar ahnte nicht, daß ihnen in dem beſchimpften
Böhmen ein Blitzableiter erftanden war.
*
Die Lehrerkonferenz, vor deren Beſchluß die beiden Selekten
äitterten, befaßte fi) einftweilen gar nicht mit dem Raubzug auf
Die Apfel, fondern mit einem viel greulicheren Saftum: mit „ber
unglaublichen fittlihen Verworfenheit diefes entarteten Burſchen
da“, wie der Direftor fi) in gehobener Rede ausdruͤckte, indem
er auf Fliczelk wies.
— „Bir werden uns nachher mit einer Vergehung zu befaſſen
haben, die leider den beiden Seleften, mie es allen Anfchein hat,
ausnahmslos zur Laſt fänt, mit einer Vergehung, die ſchlimm,
rhm, fehr ſchlimm if, Die wir aber im Vergleich mit der Buͤberei
diefes Menſchen noch gelinde anfehen dürfen. Wir koͤnnen viel-
leicht, rhm, ich fage: vielleicht, annehmen, daß dieſes Vergehen der
Seleftaner mehr ein uͤbermuͤtiger Jungenſtreich als ein Beweis
fuͤr boͤſe Luſt iſt. Aber hier, chm, hier, meine Herren Kollegen, hier
iſt fittliche Verlumptheit! Hier ift, chm, Seuchenſtoff gefaͤhrlichſter
Art! Hier ift geil wucherndes Unfraut!"
Der Bizedireftor, der die Steigerungstendenz im Stile des
Direftors kannte, erlaubte fich, einzumerfen, ob es nicht wohl an«
gebracht fei, den Fliczek einſtweilen hinauszufchiden.
— „Rhm, ja, jawohl, hinaus mit dieſem Burſchen! Aber unter
Bedeckung! Hinaus, fag’ ich, Fliczek!“
18 Bierbaum II 273
Fuizet ging.
— „Es ift feine Frage, meine Herren, dag wir, chm, daß wir
diefen gefährlichen Buben entlaffen müffen. Danf der Anzeige des
Kollegen Wippe, der nicht bloß als echter Vater, fondern auch als
pflichtbewußter Pädagoge gehandelt hat, und von dem mir nie
etwas anderes erwartet haben,-ift die Unzucht, rhm, ich fage die
umzucht ...“
— „Bitte, Herr Direktor, nicht wohl eben dies, denn fo weit
wage ich meine Tochter nicht mit angufchuldigen . . .“, wimmerte
Herr Wippe.
— „Ich fage doch: Unzucht, ohne daß ich das Graͤßlichſte an-
zunehmen verzweifelt genug wäre. Denn ſchon der Gedanke, naͤcht ⸗
licherweile ... aber genug! Wir haben, rhm, die Pflicht, auch den
Gedanken zu töten, der ... Aber genug und gleichviel! Wir wiſ⸗
ſen, daß dieſer Bube auf Schleichwegen geweſen iſt, und nicht zum
erſten Male, auf Schleichwegen, ſage ich, rhm, die keinesfalls un ·
ſchuldiger Natur waren. Er ſelbſt hat es nicht zu leugnen gewagt.
Sein Auge — ob, aber, rhm, genug! Wir müffen ihn dimittieren.
Kollege Wippe hat ſich in rühmenswerter Aufwallung entfchloffen,
feine Tochter, über deren Anteil an dem Entfeglichen nicht wir zu
befinden haben, noch heute aus dem Haufe zu tun, und es muß
auch dieſer Burſche heute noch das Inſtitut verlaffen. Wir fehen-
fen unfer ganzes Bedauern dem ſchwer getroffenen Bormund des
Verworfenen, aber, chm, wir müffen das Intereſſe unferer Ans
ftalt über alles ſtellen. Ich zweifle nicht, daß Ste alle einer Mei»
nung mit mir find."
Sie waren ale einer Meinung.
* *
*
Shr die Entſcheidung über den Raubzug der Seleftaner war
diefer Fall Fliczek ungemein glinfig. Zum größten Erſtaunen ber
274
.
Delinquenten erfolgte nur ein vierwoͤchiger Zimmerarreft und
die Beftimmung, daß die Seleftanerarbeitsftunden nicht mehr
abends, fondern fruͤh Rattzufinden hätten. Das war freilich recht
bitter, aber, da man fi) natürlich auf fehr viel Schlimmeres ge-
faßt gemacht hatte, fo durfte man es mit einem halbwegs ange:
nehmen Gefühle tragen.
Gruſelig und unheimlich wirfte das Verſchwinden Fliczeks.
Aber am unheimlichften auf Willibald. Es muß gefagt werben:
ex hatte eine fuͤrchterliche Angſt.
Er war ja ber einzige, der den Zufammenhang ahnte. Aber:
bing denn nicht er felber auch damit zufammen?
Kein Zweifel: Jofephine war erwiſcht worden und hatte Fliczek
genannt.
Und ihn nicht?
Das tat ihm einesteils wohl, aber anbernteils hatte er die
Empfindung, als ob er da nicht ganz als voll betrachtet worden
fel. Doch das Schlimmſte war: Jofephine war fort.
Und jegt fing er erſt recht an, Verſe zu machen.
Siebentes Kapitel
m allgemeinen fühlte ſich der kleine Wintbald doch recht wich ⸗
tig mit feinen Geheimniſſen, und den alten Bufchflepper fah
er von nun an immer nur fo mit einem gewiſſen hohen Bedauern an.
Aber fatal war es ihm, daß er gar niemand hatte, den er ins
Vertrauen ziehen fonnte.
Auch wie er mit feinen Altersgenoffen in die Reihe ber Großen
kam, mo denn ſchon manchmal ein wuchtig Wort geredet wurde,
fand er feinen, dem er hätte fagen mögen, was jetzt feine Anficht
vom Monde fei. Er war ja auch, ohne dag man’s ihm gefagt hatte,
18° 275
dahinter gefommen, was barunter zu verftehen fel, wenn einer, dem
der Schnurrbart erſchienen IR, naͤchtlicherweile auf dem Monde
fpasiert. Nur fand er, daß es aud) ohne Schnurrbart ginge.
Denn er mit allen feinen Erfahrungen befam ſicherlich noch
lange feinen.
Überhaupt, Die Natur meinte es nicht gut mit ihm. Er, ber nun
ſchon fonfirmiert werben ſollte, in die Gemeinde der Gläubigen
aufgenommen, fah um drei Jahre jünger aus, als er warz und
das will in dieſen Jahren fehr viel bedeuten, zumal bei einem, ber
ſich innerlich etwa drei Jahre Alter fühlt, als er in Wirklichkeit
zaͤhlt, alfo ſechs Jahre älter, als er ausfieht.
Das machte feine Stelung unter al den Jungen noch fataler.
Die Großen hänfelten ihn, weil er fie Durch fein Fleinjungenhaftes
Ausfehen gewiſſermaßen fompromittierte, die Jüngeren ließen es
ihn zuweilen fapt merfen, daß fie ihn nicht ganz für groß anfahen,
und er felbft fühlte fich dabei im Inneren fehr viel größer, als die
Groͤßten unter den Großen.
Er zernagte ſich förmlich vor Ingrimm und fing an, ſich gegen
alle Welt hochfahrend zu betragen.
Die meifte Zeit las er. Wahllos alles, mas ihm unter bie
Hände geriet. Die Gedichte des Leſebuchs fannte er auswendig,
und es war fein Triumph, fi) Darin auf Die Probe ſtellen au laffen.
Sonft fand er feine Luft in einem wuͤhlenden Fabulieren. Während
bie andern Ihre Ballſpiele trieben, lief er im Korridor auf und ab
und machte fi) zum Helden unmöglicher Verhaͤltniſſe. Ein un-
glaublicher Ritter war er, auf einem ganz unglaublichen Pferde.
Wenn dies Pferd micherte, fielen die Wälder um, und wenn er
bloß fein Schwert hob, fielen die Köpfe von ganzen Armeen in
den Sand. Aber, wenn die Obfthöferin fam, fo ſchwanden alle
Phantafien, und folange er mas Suͤßes swifchen den Zähnen hatte,
waren ihm feine Heldentaten ganz gleichghltig. -
276
In der Schule taugte er wenig und am wenigſten im Rechnen.
Aber Deutſch und Religion, das waren feine Gebiete. Er ſchrieb
unorthographifcher, als es den Anſpruͤchen feiner Klaffe gemäß
mar, aber in feinen Auffägen war eine gewiſſe Art von Liebe am
Ausdrud.
ungemein oft fam bei ihm das Wort Gott vor. Gleichviel, was
er au fhildern hatte: den Bau des Maifäfers, die Schlacht bei
Salamis, die Pflicht, fleißig zu fein, Die Serienreife, — immer lief
alles auf Gott hinaus.
Gott, das war ihm jest, mas Ihm Miokowitſch geweſen war,
das ſchlechthin Große, Sabelhafte. Den alten Paftor, der ihm den
Konfirmandenunterricht erteilte, fegte er in ewige Verlegenheiten.
„Was ift Gott?" fragte Paftor Schulze.
— „Ein koloſſales Weſen.“
— „Mit doch, Stilpe. Wie heißt es im Katechismus ?
Nun, das wußte er wohl auch. Aber das genuͤgte ihm nicht.
— „Here Paftor: If Gott größer als das Königreich Sachfen?”
— „Gott ift fo groß, daß ihn menfchliche Worte nicht aus»
druͤcken koͤnnen.“
— „Herr Paſtor: Kennt mich Gott?"
— „Freilich, denn er fennt alle Dinge.”
— „Wenn ic) bete, hört er mid?"
— „Freilich, freilich, uud er freut ſich, wenn bu beteſt.“
— „Wenn nun aber Rammer auch betet, wem hört er denn
da au, Rammern oder mir?"
— „Dir und Rammern und Mifionen anderen!"
— „Aber vergißt er denn nicht manchmal was?"
— „Nie, Stilpe, er weiß jeden Laut und jeden Gedanfen, felbft
das Summen der Biene verfteht er.” ö
— „Merkt er es auch, wenn ich nicht bete?"
— „Er merft es und zuͤrnt.“
27
— ‚Barum denn?"
— „Weil es Ehriftenpflicht Ift, zu beten. Erinnere dich doc,
was ich euch über das Beten gefagt habe.“
— „Sa, ja, ich weiß. Aber wenn er mir nun nicht erfüllt, was
ich bete?
— „Schweig endlich und frag nicht unnuͤtz. Du haſt mir fel-
ber vorige Stunde ganz genau und gut geantwortet. Bleibe feft
bei dem, was ich Dich lehre. Gott liebt die unnuͤtzen Frager nicht.”
Aber Winibald fonnte es nicht laffen, menigftens für ſich zu
fragen. Zwar glaubte er felfenfeft, was er im Katechismus gelernt
hatte, denn es gereichte ihm zu großer Genugtuung, daß er durch
ſolchen Glauben fähig werben follte, in Die Gemeinde der Glaͤu⸗
digen, mas fo viel wie der Erwachfenen hieß, aufgenommen zu
werden, aber das war eine Sache für fi), das mar etwas Feſt ·
fiehendes mie die Katechismusſtunde im Stundenplan, das ging
bie Fragen eigentlich gar nicht an.
Er glaubte, weil es ja eine Schande geweſen wäre, nicht zu
glauben, und weil er zudem in der Religion der Erfte war.
Das Fragen war mehr ein Spiel mit Gott. Es ging ihm
feineswegs tief. Es lief nicht auf Zweifel hinaus, wollte nicht et ⸗
ma dahin fommen, daß plöglich mal feine Antwort mehr da wäre.
Nein, es geſchah in der wunderbaren Zuverficht, daß man über
Gott das Unmöglicäfte erfragen dürfe, und es würde doch immer
eine Antwort fommen. Überdies war Willibald trog aller Worte
bes Paſtors davon überzeugt, daß er gerade durch feine Fragen
Gott fehr intereffant werben muͤſſe, und er fing einen foͤrmlichen
Sport damit an, alles in Beziehung zu Gott zu fegen.
— „Wenn id) jegt der Fliege ein Bein ausreiße, fo ärgert ſich
Gott.”
— „Halt! Jetzt werde ich fo tun, als wollte ich ihr ein Bein
ausreißen ... Was für ein Geſicht wird er da machen!"
278
— „Aber nein: ich laffe fie fliegen. Jetzt freut er fi.”
— „Heute werde ih bei jedem Biſſen, den ich in den Mund
ftede, inmendig fagen: Ich danke bir, Gott! Und wenn ich's ein-
mal vergeffe, fo will ich nicht weiter eſſen.“
Aber er führte es nur bei der Suppe durch. Beim Braten ver»
gaß er's bald und af doch meiter: die andern haben’s ja nicht ein»
mal bei der Suppe gefagt!
Chriſtus intereffierte ihn viel weniger, und der Heilige Geiſt
gar nicht, obwohl er im Katechismus über fie ebenfogut ber
ſchlagen war, wie über Gott. Es wäre ihm nie eingefallen, Ehri-
flus etwa zum Orakel zu machen, wie er's mit Gott unzählige
Male tat, dem er die Entſcheidung über bie geringfhgigften
Dinge lieh.
— „Son ich meine Iateinifchen Vokabeln noch einmal durch ·
gehen? Ich zähle bis zwanzig, und wenn der Infpeftor fid auf
dem Katheder rührt, fagt Gott: ja."
Aber, wenn fi) der Infpeftor ruͤhrte, fo galt Dies doch nicht
fogleih, denn es mußte ein deutliches Rühren fein, und wenn er
etwa bloß eine Hand erhob, fo hatte Bott ſchon nein! gefagt, und
das Vokabularium wurde zugeflappt.
Es gab unter den Zöglingen auch einige Katholifen. Die ver-
achtete Willibald unſaͤglich. Der Paflor hatte durchaus nicht ei⸗
gentlichen Anſtoß dazu gegeben, aber es genhgte ſchon das wenige,
was er gefagt hatte, um Stilpe mit der Überzeugung zu erfüllen,
daß fie mit feinem Gott nichts gemein hatten.
Unter den Jungen fehlte es nicht an Schimpfnamen gegen
die Fatholifche Minderheit. Die gebrauchte Stilpe felten oder
gar nicht. Aber „fo ein Katholiſcher“ fam ihm innerlich wie aus ·
fägig vor.
Da die meiften Katholifen unter den Schhlern Ausländer wa-
zen, fo erhielt dieſes Gefühl der ſtillen Verachtung noch einen Bei ⸗
279
ton von Deutſchgefuͤhl. Darin war er auch fonft fehr ſtark. Ein
Bardenlied“ von Willibald begann mit den Worten:
Wir Germanen ſchleudern mit Speeren
Nach Römern und nad) Bären
Und trinken Met!
Unter Met ftelte fi Stilpe etwas ungemein Suͤßes vor, Das
‚aber doch mie Lagerbier wirkte.
Ades in allem hatte Gott nebft den allerlei anfliegenden Ideal ·
empfindungen von germanifhen Urwaͤldern, Bluͤcher, Kaiſer
Wilhelm, Moltke den Sinn Winibalds vom Monde etivas ab»
gelenft. Es war nur noch etwas fo mie eine heiße Dehnung in
ihm, ein Gefhhl, gemifcht aus unfagbarer Sehnſucht und augen»
irrender Furcht.
Er hätte jegt nicht mehr den Mut gehabt, wie damals, als er
Fliczek davonpruͤgelte. Er fhrdhtete fi vor den Mädchen, ſobald
er einmal eine zu fehen befam, und empörte fi) Dann über dieſe
Furcht.
Aber manchmal geſchah es doch noch, daß er an Buſchkleppers
Garten ging und ſeine Haͤnde auf das Gartengelaͤnder lehnte,
ſtarr nad) der Laube hinuͤberlugend voll heißeſter, wirreſter Wal-
lungen. \
Das flammelte er dann alles in Verſen über Thusnelda aus,
die Gattin Armins des Befreiers.
289.
Zweites Buch
Das Fünglinglein
Id rate dir, mein Junge,
Bewahre deine Zunge
Und huͤte deinen Magen
Vorm Obſte, wenn’s noch grün.
Schwer iſt es zu vertragen,
Es made Verdauungsmähn
Und anderweite Plagen.
Aus Stilpes Marimen und Reflerionen.
Erfies Kapitel
as ift denn Das? Schämt ihr euch nicht? Obertertianer, die
„ fich mie die Quartaner balgen! Laßt los, ſag' ich! Stilpe,
wenn du noch einmal zuſchlaͤgſt!“
Der ftämmige Turnlehrer Stuͤrz fam in muftergültigen Sägen
hinter den Kletterftangen hervorgefprungen zum zweiten Reck, mo
die Obertertianer ber Leipsiger Thomasfchule mit Kennermiene um
einen lebendigen Knaͤuel herumſtanden, der fi) bei den gellenden
Rufen des Turngewaltigen langfam entwickelte, und als deſſen
Beſtandteile ſich unfer Freund Stilpe nebft feinem Klaffengenoffen
Girlinger präfentierten.
— „Was hat's gegeben? In einem Vierteljahr fol man euch
figgen, und jegt waͤlzt ihr euch in der Lohe wie die Fleinen Jungen.
Wollt ihr euch nicht wenigftens gefänigft entſchuldigen? Wer hat
angefangen?”
— „Stilpe. Er hat mich geohrfeigt. Da hab’ ich ihm einen
Magenftoß verabreicht."
Girlinger fagte das mit der Ruhe eines Statiftifers, obwohl
ihm die Mafenflügel noch vor Zorn bebten. Es war ein fhmäc-
tiger, ſchwarzhaariger Burſche mit ungemein lebhaften Augen,
einer reichlich großen, aber ſchmalruͤckigen und ſchoͤn geſchwungenen
Nafe und einem Anflug von Schnurrbart.
Stilpe machte ſich nicht gut neben ihm. Er war dicker, fläm-
miger und hatte etwas von einem Bulldogg. Seine Lippen waren
aufgeworfen wie bei einem Kalmuͤcken, feine Naſe hatte gleichfalls
Die Tendenz nad) oben, feine Augen waren klein und waͤſſerig blau.
Dazu ſchwarꝛes, ftarred Haar, das zu weit in die Stirn ging und
ein paar Wirbel zuviel hatte, und Pockennarben übers ganze Geſicht.
Der Meine Willibald hatte fid betraͤchtlich verändert, bis er's
sum Hbertertianer gebracht hatte. Selbſt feine gute Mutter fand,
283
daß er ein bißchen „au charakteriftifch” geworden waͤre, wie fie
fagte. Auch ohne bie Pockennarben wäre er fein Adonis ge-
wegen.
Dazu trug er fi) recht fonderbar. Etwas wildweſtartig und
nicht eben forgfältig. Ein ſchwarz karierter Anzug, deſſen Grund»
farbe ein Ichmiges Gelb war; dazu ein flatternder grüner Hänge»
ſchlips. Alles in einem liederlichen Zuftande, ber jegt noch befon-
ders zur Geltung kam, wo bie Jade Durch die Balgerei einen Riß
befommen hatte.
— „So, Stilpe, alfo du ohrfeigſt den Primus deiner Klaffe.
Natürlich, wer faſt der Legte Ift, muß feinen Zorn an ben befferen
Schülern auslaffen. Willſt du bie Guͤte haben und fagen, wie bu
au biefer Luͤmmelei gekommen bit?‘
Stilpe fräufelte feine Oberlippe noch etwas nad) oben und
fegte ein fehr verächtliches Geſicht auf. Dabei zuckte er Die Achſeln
und wiſchte fi) Die Lohe von ben Kleidern.
— „Alſo wird's bald!?“
— „Ich mag nicht denumieren.“
— „Was magft bu nicht? Denumieren fagft bu? Hört mal,
leiht euerm Kameraden doch Heyſes Fremdwoͤrterbuch; er ſcheint
nicht zu wiſſen, was denungteren heißt.“
Jetzt ftampfte aber Stilpe mit dem Fuße auf:
— „Ich weiß fehr wohl, was denungteren bebeutet, und gerabe
darum fage ich nicht, weshalb ich den Herrn Primus verbienter-
maßen geohrfeigt habe.“
— „Höre, Stilpe, jet wird mir's zu bunt. Dit Frechheiten
kommſt du bei mir nicht Durch. Wenn du nicht auf der Stelle Ant⸗
wort gift, melb’ ich Die Sache, und dann Läuft fie uͤbel fuͤr Dich
ab, das weißt bu.“
— „Das weiß ich. Aber ich fann nicht antworten... d. h.,
wenn Girlinger mich vielleicht ermächtigt? . . ,"
284
— „a, um Donnerwetter, ihr feld wohl nicht recht. . . Gir ⸗
linger, mas ift!?"
Girlinger machte eine bedeutende Geſte und fagte mit kuͤhler
Selaffenheit: „Stilpe hat meine Ermächtigung.” .
Diefe ironiſche Ruhe brachte Stilpen ganz außer fih. Das war
es ja überhaupt, was ihm am Primus fo widerwärtig war, biefe
infame Ruhe und Gleichmütigfeit. Girlinger war ber einzige in
der Klaſſe, der ihm imponierte, der einzige, mit dem er „Über
Dinge‘ ſprach, aber Immer endete es auf feiner Seite mit Wut»
ausbruͤchen, weil biefer ſich nie Dazu herbeilaffen wollte, warm zu
werden. Er, Stilpe, fuhr immer mit Kanonen auf, und Girlinger
tat fo, als könne er alles mit feinem Taſchentuch wegwedeln.
Alfo Stilpe brach wütend los:
— „Gut! Wenn er mir's ſchon geſtattet ... Gut! Ich habe
ihn geohrfeigt, weil er Bismarck beleidigt hat!“
Ein ſchallendes Gelächter brach los. Auch ber rotbärtige Stuͤrz
lachte.
— „Ah, eine politifhe Ohrfeige! Ja dann, meine Herren,
bin ich nicht fompetent. Das gehört vor den Reichstag. Wir wollen
einftweilen im Klimmzug fortfahren.“
Stilpe hätte in die braune Lohe greifen und fie dem Turnlehrer
ins Geſicht ſchmeißen mögen. Jede Strafe wäre ihm willkommen
gemefen, aber dieſer Hohn traf ihn ſchmerzlich. Er wurde blaß vor
Zorn und ballte die Faͤuſte.
Aber auch Girlinger mar blaß gemorben. Diefes Gelächter traf
ihn mit. Er fühlte ſich ploͤtzlich mit Stilpe auf der einen und alle
anderen auf ber andern Seite.
Als die Turnftunde aus war und bie Soiiler truppweiſe nach
Safe gingen, trat er auf Stilpe au.
„Du, Stilpe, wenn bu wieder mal roh werben winft, dann
ug ı Dir wenigſtens eine Gelegenheit, wo wir alleine find. Ober
285
gefaͤut dir’s, wenn Die Bande fich uͤber dich amuͤſtert? Mir gefdnt
fo mas nicht."
— „Mir and) nicht. Ich möchte ihnen allen in den Bauch tre⸗
ten. Elende Hunde ae miteinander, und zumal biefer Turnpaufer.
Herrgott, na ...! Übrigens, was willſt denn bu bei mir? Ich
bene, ich bin ein befolater Reaftionär?""
— „Ach, laß doch das. Wir können uns doch unterhalten,
menn wir auch verfchiedener Meinung find. Wir find ja doch bie
einzigen, bie Überhaupt Meinungen haben. Ober willſt bu dich
vielleicht mit Pahlmann über Bismard unterhalten? Oder mit
Schirmern? Oder mit Eohn? Die drei haben vorhin am lauteften
gewiehert.“
— Ad) was, Ich geh’ kneipen.
— „So. Ic) geh’ nach Haufe.“
— „Das mußt’ ich vorher. Du biſt ja der folide Knabe Pri«
mus. Weißt Du, wie eine Kellnerin ausfieht?""
— „Das intereffiert mich nicht.”
— „Dafuͤr intereffiert dich dieſer Schweinehund, der Laſſalle.“
— „Gott, Stilpe, der Mann iſt hoͤchſtens ein Schweinehund
geweſen. Er it nämlich ſchon feit einer ganzen Reihe von Jahren
tot.“
— „Ach! Wink du mir nicht die Jahreszahl nennen? Weißt
du, was bu bift? Ein Prog biſt bu! Bildſt bir Wunder mas en,
daß du ein bißchen mehr von ſolchen Sachen weißt wie ih. Wenn
mein Bater Staatsanwalt wäre und ſolche Bücher hätte, koͤnnte
ich auch Soslaldemofrat fein, d. h., wenn mir bas nicht zu nieder»
traͤchtig wäre.”
— „36 fann dir fie ja zu lefen geben. Das iſt gefcheiter, als
mit ſechzehn Jahren in Bumskneipen zu gehen.”
— „Bumstneipen? Du fagft Bumsfneipen? Du meinft alfo,
diefe Mädchen find gemeine Srauenzimmer? Wahrhaftig bu, ich
286
fage dir, es gibt nichts Reineres und Schöneres ale z. B.
Martha."
— „Bas geht mich denn deine Martha an."
— „Du haft doch Bumskneipe gefagt! Wie fommft du denn
dazu, jemand zu beleidigen, den bu nicht fennft? Aber du siehft
eben alles Edle in den Staub. So machſt du's mit Bismard und
fo mit allem. Du fannft nichts als Fritifieren und nörgeln. Alles
Ideale ift für dich bloß Dazu da, es ironifch ſchlecht au machen.
Man könnte dich für einen Juden halten, und du Heft aud) bloß
Juden. Ewig mit deinem Boͤrne und Laſſalle und dieſen andern
Mauſchelmeiern, diefen efelhaften Kerlen, die eine Schande für
das deutſche Vaterland find! Pfui!“
— „Aber du fennft ja nicht ein Wort von Börne und Laſſalle!
Kies fie doch mal! Lies doch mal Börne! Schimpf' doch nicht über
das, mas du nicht Fennft. Das find ja alles bloß Phraſen.“
— „Haft du nicht Bumskneipe gefagt? Kennft du denn bie
Martha? Kennft du denn das Lokal? ... Weißt bu was: Komm
jest mit hin, und dafuͤr will ich dann Boͤrne leſen.“
— „Ach Gott, das iſt mir fo unangenehm, ganz abgefehen da ⸗
von, wenn wir geflappt werden.”
— „Herrlich, da haben wir den Revolutionär! Geige bift du,
wie dieſe ganze Judenbande, bie auch bloß Das große Maul haben.“
— „Mad dich nicht lächerlich. So mutig bin ich fchließlich
auch, abends, wenn’s dunkel ift, in fo ein Loch zu Friechen, mo doch
fein Pauker hinkommt.“
— „Alſo komm mit!“
— „Bloß damit du ſiehſt, daß ich nicht feig bin. Aber Dann
Heft du auch Börne!"
— „Mein Ehrenwort, Girlinger, meine rechte Hand! Komm!
Es find Bloß ein paar Schritte. Paß auf, du wirſt ein Maͤdel
fennen lernen ...!“
287
Zweites Kapitel
ieſe Martha war eine ſchoͤne, ſchlank uͤppige Perfon von et
wa zwanzig Jahren mit bunfelblauen Augen, zwei langen
blonden Zöpfen und fehr blaffer Geſichtsfarbe. Ste hätte zu irgend
etwas fehr Unfehuldigem Moden ftehen fönnen, und wie fie aus-
ſah, fo ſtellen ſich ſaͤmtliche Backſiſche Fauſts Gretchen vor. Dazu
hatte fie eine ſehr liebe, linde Stimme und die allerweichſten, runs
deſten Bewegungen. Profefor Thumann hat dieſen Typus in die
Seele der deutfchen Bourgeoifie gemalt, und wir begegnen Ihm
noch immer auf Wäfchefartons, Zigarrenfiften und Glaube-Eiche-
Hoffnung-Buntdruden.
Damit wird es begreiflich erſcheinen, daß der ſechrehneinhalb ·
Jährige Stilpe, Öffentlicher Obertertianer und heimlicher Dichter,
Vaterlandsſchwaͤrmer und Idealiſt, unendlich täppifch verliebt in
biefes Mädchen war. Ste erſchien ihm als der Inbegriff deſſen,
mas er früher in dem Idealbilde der Thusnelda verehrt hatte.
Nur fam nun noch das Gretchen aus dem Fauſt, das Kaͤthchen
von Heilbronn und bie Lindenwirtin, bie Seine, dazu. Dies, ſoweit
es fi in feinen Verfen ausſprach, die er ausgiebig sum Lobe Die»
ſes Mädchens hervorbrachte, und deren Idealismus ihm bitter
ernft war.
Aber e8 gab auch noch einen andern Gefihtswinfel, unter dem
er diefe Martha anfah. Jener Idealismus war mehr das Gefuͤhl
aus ber Entfernung, eine Diſtanzſchwaͤrmerei, eine bewegte An»
dacht hinter blauen Weihrauchnebeln. Zumeilen aber geriet ber
ſchwaͤrmeriſche Beter durch diefen duftenden Nebel hindurch und
kam auf weiches Fleiſch. Und, ſiehe, mit einem Ruck war bie Si»
tuation verändert. Die Gefuͤhle befamen ein anderes Tempo und
einen anderen Thermometergrad; irgend etwas in ihm fehlen ſich
au uͤberſchlagen, irgend etwas pochte von Innen an bie Wände fei-
288
nes Leibes, — es wurde ba etwas lebendig, das nicht Idealismus
war. Der gute Junge hatte böfe Tage und böfere Nächte dabei.
Es warf ihn gewaltig hin und her, und Durch feine ſchwaͤrmeriſchen
Verſe quollen sumeilen abfonderliche Toͤne eines unheimlichen Draͤn ·
gens aus der Tiefe.
Ich glaube, für die Augen der Götter fah feine Seele damals
aus wie ein Glas vol Federweißem, in dem die Gaͤrſchichten
durcheinanderwallen und die Blafen fteigen. Vielleicht richten die
Götter derlei bloß an, weil ihnen biefes Federweiße der menfh-
lichen Pubertät befonders ſchmeckt. Für den Menſchen felber aber
iſt Diefer Zuftand feine ungemifchte Freude.
Stilpe verfam fichtlich dabei. Er war beim Austragen eines
weſentlichen Stückes feiner felbft: er ging mit feiner Mannheit
ſchwanger. Vielleicht war es zu früh, daß es ihm fo viel Qualen
machte?
Da war es ein großes Gluͤck für ihn, daß er nun als Adlen-
fung Ludwig Börne fennen lernte. Er ſtuͤrzte ſich auf dieſen viel«
beweglichen blendenden Geift, wie eine Srau, der es in der Hoff:
nung nad) Dingen gelhftet, die ihr vielleicht ſchaͤdlich find, im
Augenblide aber wohltun. Es verging fein Monat, und er war
wuͤtigerer Revolutiondr als fein Freund Girlinger. Selbſt feine
deutfchen Auffäge in der Schule brachten ÄAußerungen zutage, die
über das erlaubte Maß der Lobpreifung antifer Sreiheitshelden
wie Harmodios und Ariftogeiton hinausgingen.
Aber in feinen Tageblichern rumorte ſich die Empörung feines
Wortſchatzes am wildeſten aus. Dort fanden fi) in wunderlichem
Nebeneinander die Namen von Gajus und Tiberius Gracchus,
Catilina, Marat, Danton, Robespierre, Auguft Bebel und Eugen
Richter. Für Majeftätsbeleiigungen hatte er ſich eine eigene Ge
heimſchrift erfunden. Der vor vier Wochen noch angebetete Name
Bismarcks war von nun an durch das Zeichen eines Doldes
19 Bierbaum II 289
tolebergegeben, wofuͤr bie Erklaͤrung lautete: „Dan kann das
nehmen, wie man wid. Entweder als den Dolch, mit dem dieſer
hochfahrende Strunt junker bie Freiheit Drutſchlande hingemordet
bat, oder als den Dolch, mit vemer....?...
Die Freiheit Deutfhlands hatte una auch Ihr Geheim ·
zeichen (,denn fie iſt ganz und gar verboten‘), naͤmlich ein Epſilon
und Gamma, was heißen ſollte: Eleutheria Germanias. Diefes
Epfilon Samma ſchnitt ſich der entflammte Demokrat fogar auf
feinen Iinfen Unterarm ins Fleiſch; aber nicht fehr tief.
Es verfteht ſich, Daß auch der Herrgott uͤbel wegkam in biefem
Tagebuche:
„Was tft denn Gott? Ein Subſtantivum generis masculini.
Der ein Eigenname? Aber mas für ein Wefens damit gemacht
wird! Wozu denn nur? Das gute Lumen (das war der Religions:
lehrer) fieht nie fo Dumm aus, als wie wenn es Gott fagt. Liegt
das nun an diefem Subftantivum oder am Lumen? Ich muß Sir»
linger fragen."
* . *
„Übrigens ſollen ja aud große Leute an Gott geglaubt haben.
Girlinger behauptet fogar, fie hätten ihn erfunden. Wer weiß, wo
er das ber hat. Er lieſt jegt viel Philofophifches. Wenn nur Kant
nicht fo dunfel wäre. Diefe verfluchten langen Perioden, Schopen-
bauer geht eher. Aber es ift entfeglich, wie er uͤber die Weiber
ſchimpft. Ich glaube, man muß ein alter Knacks fein, um dieſe
Philofophen leſen zu koͤnnen.“
* «
*
„Das Lumen (man ſollte es die Funzel nennen) ſagt, Gott ſei
wie die Luft, Die man auch nicht ſieht, aber ſpuͤrt, und ohne die
man nicht leben koͤnne. Dann ift die Philofophie wohl eine Luft«
290
pumpe. Man ſetze bie Funel hinein, und fie wird verlöf—hen. Dis-
halb hat fie auch fo einen Abſcheu vor der Philofophie.”
* *
Zuweilen gab es aber auch Verzweiflungsausbrüche in dieſem
Tagebuch, ſo ſehr Stilpe auch bemuͤht war, in ihm den ſcharfen
Geiſt zu poſieren, deſſen Atheismus uͤber jeden Zweifel und jede
Angſt erhaben war. Dann tuͤrmte er bedenkliche Jamben · Quadern
aufeinander:
I bin cin Menſch, und, hat mid, Gott gemacht,
So ſoll er einſtehn auch für das Gemachte
Und fol nicht Sünde heißen, was id tu’,
Und feiner Pfaffen ekeihafte Schar
Auf mid) lotlaffen wie cin Deer von Geiern.
Iq bin vol Wolluſt, und ic) ſchreie laut
Rad) Woltuft, wie der Hirſch nad) Waſſer ſchreit.
So gebt fie mir, denn Gott hat’s fo gewollt,
Und wenn ihr Sünde fagt, fo fündige Gott.
Nein, nein und nein, ihr kennt ihn nicht, den Gott,
Don dem ihr ſprecht; er iſt Bein lieber Gott:
Ein böfer Gore! — Ach Gott, er iſt ja nicht!
* *
Jeden Sonntag kam Girlinger zu Stilpe und ließ ſich von ihu
das Tagebuch zeigen. Er war, bei aller eigenen Unreife, doch viel
reifer als jener, denn er hatte viel mehr Verſtand und mar wirklich
fleißig hinter der Literatur her, die er Stilpen zutrug. Bor allem
fam ihm zuſtatten, Daß er alle die zu frühe Gedankenkoſt fühl in
fi aufnahm, während fie Stilpe heiß verfchlang. Auch ließ er
fi), trog feiner Jugend, nicht fo leicht Blenden, und wenn er auch
merkwuͤrdig viel Sinn fir Das Brillante in Stil und Gedanfen
hatte, fo nahm er das doch ſchon mit einer Art von Kenner⸗
ſchnalzen hin, während Stilpe fofort wie uͤberſchuͤttet und über»
19* 291
glänzt war und alles am liebſten gleich fubfeftiv fr ſich zur Tat
gemacht hätte.
Der Fleiß fehlte ihm, wie In der Schule, fo auch hier. Keines
der Buͤcher, Die ihn wild begeifterten, las er fertig, und Sitzfleiſch
hatte er nur In der Kneipe bei Martha.
* *
Eines Tages kam er auf Girlingers Wohnung gefhrit.
— „Biſt du allein?"
— „Meine Schweftern find im Vorzimmer.“
— „Können fie hören, was wir fprechen?”
— „Wenn fie nicht horchen: nein!"
— „Aber fie werden horchen, natuͤrlich!“
— „Unfinn, fie machen ihre deutfchen Aufſaͤtze.“
— „Mein, ich kann das hier nicht ſagen.“
— „Bas denn?"
— „Es ... es ... Komm nur! Komm! Ins Freie!"
— „a, was haft du denn nur?"
— „Ach, es iſt ſchrecklich! Schredlich!"
Sie gingen zuſammen in den Garten, den Stilpes Pflegeeltern
vor der Stadt hatten.
— „Alſo, was iſt denn los? Du ſiehſt ja ganz blaß aus!“
— „Wie? Sicht man mir's an? Nicht wahr, ich bin furchtbar
bloß?"
— „Ja, blaß bift du... Und außerdem ſtinkſt du nach
Sprit."
— „Ja, ich habe ſechs Glas Bier getrunken.“
— „Put Teufel, und natürlich dieſes graͤßliche Lagerbier in
der Auſtria.“
— „Ja, aus Verzweiflung, Girlinger. Denfe bir nur ...
Martha ...! Ach Gott!"
292
— „3% fann mir's wirklich nicht denfen. Daß der Engel einen
Bräutigam hat, der Unteroffister iſt, weißt du ja fchon feit vier
Boden."
— „Ach, ich Bitte Dich, ſei nicht fo ſpoͤttiſch jetzt. Es if zu
furchtbar."
Er war wirklich wie zerſchmettert. Girlinger fühlte Mitleid
mit ihm, und wie fie im Garten angefommen waren, rebete er ihm
fehr teilnahmsvoll zu, ſich Ihm auszuſchuͤtten.
Es war ein fleiner Mietsgarten zwiſchen anderen von ber glei-
hen quadratiſch angelegten Art. Selbft in der ſchoͤnen Jahreszeit
fah er troftlos oͤde aus mit feinen fleinen, nach der Schnur ge»
pflanzten Baͤumchen, den kuͤmmerlichen Sträuchern und den har-
ten gelben Kieswegen. Jetzt, da ed Spätherbft war, die fahlen
Bäume wie Beſen aufragten, verfaultes Laub in den ſchwarzen
Beeten lag und ein alter Wind unter grauem Himmel ging,
machte er einen völlig Jämmerlichen Eindruck.
Da fie feinen Schlüffel hatten, fprangen fie über das Staket.
Ploͤtzlich rief Stilpe: „Wo ift denn bie Banf?I Nicht einmal eine
Banf iſt da!"
Wütend rannte er im Garten herum. Es kam ihm unbewußt
fehr gelegen, daß er Urfache zu einem Wutausbruch fand.
— „Wir fönnen ja hin und her gehen!"
— „Nein! Ich will eine Bank! Ich bin wie zerſchlagen! Ich
muß figen!"
— „Aber wenn doc) feine da In?"
— „Inder Barade find ſie. Wart'! Ich werde fie gleich haben!“
Und er ftürzte sum Gartenhaus, rüttelte erft mit den Händen
an der Thr und trat diefe Dann mit den Füßen ein.
— „Hd! Banke genug!"
Und er fchleppte eine heraus und ſtellte fie mitten auf den Weg.
— Da, feg di!"
293
— „Ih brauche nicht zu figen. Ich bin nicht serfeplagen‘ wie
du, denn ich Bin nicht betrunken. Übrigens werde ich gleich wieder
nach Haufe gehen, denn ich habe Beſſeres su tun, als deine Rohei—
ten mit anzufehen.“
Jegt wurde Stilpe wieder weinerlich.
„Set dic) Doc), ich Bitte Dich, fer dich. Ich muß . . . ad) Gott,
fei mir nicht boͤſe ... Ich bin ja ſo ...“
Girlinger feste ſich auf die Banf und fah vor fi auf den Bo-
ben. Stilpe ſtellte einen Fuß auf die Banf und fügte den Kopf
in die rechte Hand. Große Tränen rannen ihm aus den Augen.
Lange fonnte er nicht fprechen. Dann fagte er ganz leife:
— „Kennt du das Haus mit den weißen Fenſterſcheiben gegen»
über der Auftria ?“
— „Der Puff?"
Stilpe ſchlug ſich mit der Fauſt aufs Knie und ſchrie: „Da
drin iſt fiel"
Girlinger fah auf und pfiff durch die Zähne. Dann fagte er
ſehr bedaͤchtig: „So, fo! Ja, ja!"
Da padte ihn Stilpe an beiden Schultern und ſchuͤttelte ihn
wuͤtend:
— „Du biſt ein Vieh! Ein Amphibium! Geh aus dem Garten,
ober ich ſchmeiße Dich naus!“
— „Bift du denn verruͤckt geworden? Jetzt hör’ aber auf! Was
fänt dir denn ein? Glaubſt du, ich bin für beine Grobheiten da?
Das war das legte Mal!"
Er wollte gehen.
Aber nun hielt ihn Stilpe wieder feſt und drückte feine Hände,
und indem ihm Träne auf Träne Über die Baden lief, vief er aus:
— „Ich weiß ja nicht, was ic) fage, ich weiß ja nicht, was ich
tue, Ih bin bir ja fo dankbar; du mußt mir alles verzeihen, was
ich fage, ich bin ja ganz zerſchlagen.“ .
294
Sirlinger befam jegt Angft vor ihm. Diefes Weinen war graͤß ·
lich, und af dies Gehaben war ihm fo fremd. Er glaubte im Ernſte,
daß fein Freund verruͤkt geworden wäre, und fing an, ihn wie
einen Kranfen zu behandeln.
— „Sei nur rublg, Stilpe, Ich bring” Dich jegt nach Haufe. Du
bift fo aufgeregt. Du mußt ins Bett gehen... Und übrigens:
Iſt es denn auch fiher?"
— „Sie hat mir's ja gefchrieben; fie hat mich ja eingeladen, ich
fon fie in ihrer neuen Stellung befuchen . . ."
Girlinger hatte was Ironiſches auf den Lippen, aber er ber
wans ſich·
— „Ach Gott, wer weiß, was dahinter ſteckt. Es iſt vielleicht
gar nicht fo ſchlimm. Überhaupt: Was iſt denn ſchließlich Dabei?
Erinnere dich, was Laſſalle uͤber die Proftitution fagt. Es ift mehr
ein Opfer als eine Schande. Und die fehlimmften Huren find
nicht in ben Bordells.“
So, mit vielen Zitaten, abgeflärten Sentenzen und ein paar
hiſtoriſchen und ethnographifchen Erfurfen ins alte Griechenland
und nad) Japan, tröftete er feinen zerfchmetterten Freund nach
Haufe.
Drittes Kapitel
t Tange nad) Diefer herbftlichen Bartenfsene wurde Wili-
bald Stilpe, im Alter von fechzehndreiviertel Jahren, von
feiner Mannheit entbunden.
Damit ging eine merkliche Veraͤnderung in ihm vor. Er bekam
etwas Renommiſtiſches, uͤberhobenes und trug eine Verachtung ſei ⸗
ner Klaſſengenoſſen, Girlinger eingeſchloſſen, zur Schau, die ſich
von der, die er ſchon immer gezeigt hatte, deutlich unterſchied.
Früher war darin etwas Erzwungenes geweſen, als fei er ſich Doch
295
nicht voͤllig klar uͤber feine Berechtigung dazu, jegt hatte fie etwas
fehr Entſchiedenes, fehr Selbſtbewußtes. Er tat diefen Ober»
tertianern gegenüber, wie ein Mann, der von einer Reife in un»
befannte Länder nach Haufe zu Leuten kommt, die noch nicht den
Aquator uͤberſchritten haben:
— „Iſt es ſehr heiß in den Tropen?"
— „Es macht ſich.“
— „Sind die Schlangen wirklich fo lang und dick und giftig?“
— „Ach ja."
— „Sie find doch nicht gebiffen worden?"
— „Ein bißchen.”
— „Wie? Und wieder kuriert?“
— „So ziemlich.“
— Schade, daß er nur mit Girlinger darüber reden fonnte.
Dem fette er aber dafür auch tuͤchtig zu, und es machte ihm un-
verhohlenen Spaß, daß dieſer fo wißbegierig war. Er flunkerte
auch ein bißchen und gab mehr tropiſche Abenteuer zum beften, als
er erlebt hatte.
Aber auch ohne die Slunferei hätte er dem Freunde impontert.
Es gab jegt etwas, worin er dem weiſen Primus über war.
— „Weißt du, ba helfen bir afle deine Bücher nicht hin. Und
übrigens: wie winft du denn ohne das deinen Schopenhauer
verfiehen ? Und dann die Dichter!"
Er dachte dabei vornehmlich an Heine und den Tannhaͤuſer in
Rom, der zu feinem Brevier und Muſter wurde.
Denn jest fing er an, aus dem vollen zu Dichten, und zwar mit
dem Bewußtſein, ein Dichter werben zu wollen, und nichts anderes.
Die Schule wurde ihm dabei Immer widerlicher, und er ſchwaͤnzte
fie mit großer Frechheit.
Seine Pflegeeltern, denen er von Stilpe-Bater übergeben wor»
den war, weil biefer deutlich fühlte, daß jeder andere ein befferer
296
Pädagoge ſei, ald er, waren gute Leipziger Mittelſtandsleute, die,
mit Stilpes Mutter entfernt verwandt, den jungen Gymnaſiaſten
aus Gefänigfeit, aber nicht mit der Meinung aufgenommen hatten,
daß bier befonbere Auffiht und Wachfamfeit nötig fei.
Der alte Wiehr hatte einen Porzellanladen am Markte, der
ihn ausſchließlich befchäftigte, und feine Srau ging in der Haus«
wirtſchaft und zahlreichen Kaffeefränzchen auf. Ihr einziger Sohn
mar ein sarter junger Menſch gemefen, bleichſuͤchtig und folibe,
nicht fehr begabt, aber fleißig; er war geftorben, als er in Stilpes
Alter geweſen war. Die Alten fahen in Willibald deſſen Fort:
ſetzung und behandelten ihn mie jenen, naͤmlich mit vollendetem
Zutrauen und volfommener Ahnungslofigfeit. Dies wurde duch
Stilpes mimiſche Kunft, ſich wie ein Lamm zu benehmen, unterſtuͤtzt.
So hatte er eigentlich vollfommene Freiheit, und es fehlte ihm,
um mit diefer Freiheit fo viel anfangen zu koͤnnen, wie er wünfchte,
nur an Gelbe,
Leider machte fich dieſer Mangel, feit fi Martha „verändert
hatte”, viel fühlbarer als früher.
Ein geradezu lächerlicher Gedanke, jegt mit den fünf Mark
monatlichen Taſchengelde auszufommen. Dan mußte, da eine
regelrechte Erhöhung des Budgets außerhalb jeder Möglichteit
lag, auf Ertraorbinaria finnen.
Da fing denn der junge Mann sunächft Mein und beſcheiden an.
Er durchmuſterte feine Bibliothek.
Nun, da fanden ſich ja einige Saͤchelchen, die vom Überflufe
waren: alle die uͤberwundenen Standpunkte der durchlaufenen
Klaffen, wie fie fi) in alten Srammatifen, Lehrbüchern, Schul
ausgaben, Geſangbuͤchern verförperten, und dazu des Knaben
Willibald Belletriſtik Der Leberftrumpf, verſchiedene Walter
Scott-Romane, „für die Jugend“ bearbeitet, ein „ausgewählter
Goethe" (fahr hin, Kaſtrat! rief Winibald) und anderes mehr.
297
Diefe Literatur überlieferte Stilpe einem alten verwachfenen
Antiquar, der in einem Durchgange von ber Petersfiraße zum
Neumarkt feine Bude hatte.
Here Wopf war ein wunderlicher alter Burſche, ausgeftattet
mit einer fehr ſchoͤnen Meerfchaumpfeife, einer fehr großen, üp-
pigen und noch jungen Gattin und einer eminenten Runbfchrift,
mit der er die Neuerwerbungen feines Lagers in gewaltig großen
Zügen auf Pappendecel ſchrieb, Die wie Die Ahnentafeln vor hir
nefifchen Tempeln rechts und links feiner Labenthre ſtanden. Außer ·
dem befaß er nod) eine verworrene Menge von Literaturfennt-
niffen und eine erſtaunlich tremolierende Stimme, mit ber er
Paſſagen aus feinen Buͤchern vorlas, um diefe feinen Kunden be»
gehrenswert erſcheinen zu laffen. Wegen dieſer Gabe des rofenden
Nesitiereng nannten ihn Stilpe und Girlinger den Deflamator.
Stilpe liebte ihn direft und fah in ihm den Helden feines erften
Dramas. Inwiefern Herr Wopf den Anforderungen an einen
dramatifchen Helden entfpradh, Das war ihm freilich unflar, ging
ihm aber auch nicht nahe. Sicher war nur, daß die üppig blühende
Gattin, die früher feheuern gegangen war, die Rolle der Ehe
brecherin haben mußte. Sich felbft Dachte Stilpe als den Galan,
doch ſtellte er fich in dieſer Tätigkeit etwas Alter und als beruͤhm ·
ten Journaliften vor. Die Hauptfsene, der Drehpunft des Ganzen,
ſtand ſchon fer, aber nur im Kopfe, denn, und dies gilt für die
meiften bichterifchen Pläne Stilpes in dieſer und fpäterer Zeit: er
kam felten dazu, feine Entwürfe in Tinte umzufegen.
Schade Übrigens, daß Stilpe dieſe Szene nicht ausgeflihrt hat.
Ste war höchft vermegen naturaliſtiſch gedacht und fehr geeignet,
Ärgernis zu erregen, — ein poetifcher Zweck, Der dem revolutionaͤ
ven Obertertianer ziemlich deutlich vorſchwebte, obwohl feine Ber»
megenheit nicht bis zur Phantasmagorie einer Druclegung ging.
Sie fonte ſich direkt in Wopfs Ehebette abfpielen,
298
Girlinger hatte Einwendungen dagegen, vornehmlich vom
Standpunkte der Buͤhnenmoͤglichkeit aus. Aber da fam er bei
Stilpe übel an:
— „Bühne!? Du fagft Bühne! Was geht mic) denn die Bühne
an? Ich pfeife auf Die Bühne. Glaubſt du, ich will mich neben
‚Herrn Blumenthal fteden?"
— „Nein, aber neben Schiller.“
— „Ach, Schiller!“
Dieſes „Ach, Schiller!“ iſt um die Zeit, in der Stilpe ſein
Wolf· Drama plante, auch ſonſt noch manchmal ausgeſprochen
worden. Wer es mit dem Phonographen aufgefangen haͤtte, koͤnnte
ſich heute damit auf den Jahrmaͤrkten hoͤren laſſen.
uͤbrigens war der Deklamator Stilpen in erſter Linie doch nicht
als dramatiſcher Held, ſondern als zahlungsfaͤhiger Buͤcherkaͤufer
wichtig. Zwar, er zahlte niedertraͤchtige Preiſe und verdiente ſchon
deshalb, dramatiſch als Hahnrei angemacht zu werden, aber er
nahm wenigſtens alles, und in ſchwierigen Augenblicken gab er
auch Vorſchuͤſſe auf ſpaͤter zu verfaufende Buͤcher.
— „Naͤchſte Oſtern brauche ich meinen alten Cicero nicht
mehr; koͤnnen Sie mir eine Mark fuͤnfzig drauf geben?"
Der Deflamator durchblätterte Das dicke Bud) und blies feinen
Tabaksrauch mie desinfisterend hinein.
— „Quousque tandem, Catilina, abutere patientia noftra! Ha-
ben wir auch gelefen! Wie lange nod), Herr Liebknecht, wollen Sie
ung mit Ihren Reden mopfen? Fuͤnfundſiebzig Fenge, Herr Stilpe.“
— „Nee, mein Lieber, eine Marf doch mindeftens. Der Schmoͤ⸗
fer foftet neu ja fünfe, und er ſieht Doch noch ganz jungfraͤulich
aus,"
— „Fuͤnfundſiebzig Fenge, Herr Stilpe! Und Übrigens: wenn
Sie nu figen bleiben und die Eatilinarifchen noch ein Jahr Iefen
mögen?"
299
— „Na, hören Sie mal, das find’ ich far! Ste halten mich
wohl für ein Kamel? Alfo gut, der mit den flnfundfiehiig, Sie
Der Deflamator zog feinen Beutel und fiſchte das Geld her«
aus. Dann notierte er ſich Das Gefchäft in fein Notizbuch, mo eine
Seite in tabellofer Rundſchrift überfchriehen war: Herr Stilpe.
Leider hielt die Bibliothek der Jugendzeit nicht lange vor, und
es war das Buͤcherverkaufen überhaupt ein etwas bedenkliches Ge ·
ſchaͤft, weil Stilpe dabei Doch zuweilen den Deflamationen des
Herrn Wolf unterlag und für feine alten Bücher andre mit in
Zahlung nahm. Zwar verfaufte er die gemöhnlich ein paar Wochen
fpäter zuruͤck, aber es verſteht ſich, daß ihm der Deflamator nicht
fo viel zahlte, wie er ſich hatte zahlen laſſen.
— „Se machen ze viel Randbemerkungen in de Bücher, Herr
Stilpe. Und, fehn Se, wenn de Marginalien auch fehr geiſtreich
fin, wie 3.3. hier gleich zweimal hinterenander: Quatſch! Quatſch!
fo verliern Se de Bücher doc) dadurch an Wert."
— „Bas!? Warten Sie nur, Herr Wopf, warten Ste nur!
Wenn ich mal berühmt bin, dann verdienen Ste ein Vermögen
mit meinen Autogrammen. Ich fage Ihnen: Heben Ste ſich die
Buͤcher auf!“
— „Sie naͤrrſcher Kunde! Wenn Se nu aber nich berihmt
ml.
Sqhon manchen ſah id) mit erhobnem Daupt
Im Lenz der Jugend mit den Sternen ſpielen,
Der, als das Alter ihm den Kranz entlaubt,
Froh war, nah Kegeln auf der Bahn zu zielen.
, Schie'm Se Kegel, Herr Stilpe? Das is enne fehr gefunde
Übung!"
— „Nee, aber fünf Mark fönnen Sie mir pumpen.”
Der Deflamator zog fein Notizbuch: „Sehn Se mal her, Herr
300
Stilpe, jetzt ha'm Se ſchon acht Mark und fuffi'g Fenge prae!
Jede Nacht treim ich, Se blei’m m'r fig'n. Nee, pumpen kann ich
Se niſcht.“
Alfo mußte Stilpe auf anderes denken. Ein Gluͤck, daß er nicht
ohne Erfindungsgabe war.
Bald wurde fuͤr ein Ehrengeſchenk zum Doftorjubiläum des
Ordinarius gefammelt.
Dann hatte er eine Fenſterſcheibe in der Klaſſe zerſchlagen.
Sehr oft drängte es ihn, eine Klaſſikervorſtellung im Theater
au befuchen.
Ein Kamerad war geftorben, ein fehr guter Freund von ihm:
da mußte ein Kranz ber.
Unendlich häufig mußten Buͤcher gebunden, Hefte gefauft, neue
Schulausgaben angefhafft werden.
Aus Verſehen hatte er Tinte über den Atlas feines Nach-
bars gegoffen. Ein efliger Kerl, mie der war, wollte er ihn erfegt
haben.
Es war erfaunlich, wie leicht ihm die Luͤgen fielen. Ex ſchmuͤckte
fie fogar mit erſichtlichem Vergnügen novelliſtiſch aus. Erzählte
3 3. die ganze Lebensgefchichte Des jubilanten Ordinarius, ahmte
ihn nad), führte eine ganze Komoͤdie von ihm auf — alles freiefte
Erfindung; und das Ehepaar Wiehr wollte ſich ausſchuͤtten vor
Laden.
Aber auch diefe Fleinen Mittel halfen nicht auf die Dauer.
Stilpe ſtarrte ins Leere und fand nichts.
Da überfiel ihn ein Gedanke, vor dem er felber erfehraf: die
Ladenkaſſe ...
— Aber nein, pfut Teufel, das if ja eine Gemeinheit! Weg
damit! Lieber dieſe Sumpfereien da fein laſſen. Es iſt überhaupt
widerlich ... Lieber arbeiten! ... Wieder mehr mit Girlinger die»
putieren! ... Ja, und endlich das Drama fepreiben!!. . .
301
Und gleid holte er cin Heft aus dem Schubfaften und ſchrieb
daruͤber:
Der Hahnrei
Sittentragoͤdie
in...
Ja, wieviel Akte mache ich!? Natuͤrlich nicht flnf! Denn das
iſt banal, Vielleicht vier? Vier? Bei dem Stoff? Mein! ſechs
Akte! Alfo:
in 6 Aften
Und nun die Perfonen:
Schopf, ein buckliger Antiquar,
Klara, feine Frau,
Walter Wild, ein berühmter Journaliſt,
Ben denn noch? Girlinger? Ja!:
Wirlinger, ein Agitator,
Das ift famos! Sozial! Und nun:
Volk, Arbeiter, Studenten, . . .
Nein! Erſt noch eine Hauptperfon!:
. Martha, eine Proftituierte,
Ah! Das gibt mas! Da haben wir den Konflft! Ganz von
felber fommt immer das Befte. Natürlich: Martha! Das ift die
Retterin! Sie opfert ih! Am Schluß bricht eine Revolution aus!
Er Fam ganz ins Fieber. Die Proflituierte als Retterin! Schopf
als Typus des Främerifchen Bourgeois. Walter Wild der Idealiſt.
Klara das verführerifche Weib. Wirlinger der daͤmoniſche Volks⸗
tribun. Und am Schluß die Revolution!
Er ſchrieb gleich Die Schlußfsene; ungeheuer mild und natürlich
bloß fo in Umriffen hingeklitſcht mie mit der Maurerkelle. Glocken ·
laͤuten. Kanonenfchläge. Barrikaden. Brand. Marſeillaiſe. Ear-
magnole. Martha im ſchwarzen Hemd mit der roten Sahne.
Aber auf einmal war alles aus. Der Strom war vorbeige
302.
ſchoſſen. Es wollte nicht mehr fitehen. Fortwaͤhrend draͤngte ſich,
ſchon bei dieſem gewaltigen Hinpatzen der Farben, das Gefuͤhl
ein: Aber der erſte AA? Wieſo denn Revolution? Natuͤrlich muß
fie fommen. Freilich! Aber: Wiefo denn? Es muß doc) irgend»
mie motiviert werben?! Und da blieb er ſtecken und fam nicht
heraus.
Das ſchlimmſte war, daß er ſich in feinem dichterifchen Tu-
multe zu lebhaft mit Martha beſchaͤftigt hatte.
— „Ad, hol's der Teufel! Ich geh hin! . . .“
— „Haha! Ich, mit meinen swanzig Pfennigen! ...“
— „Öirlinger anpumpen? . . ."
— „Ach der! Schöne Redensarten! Und dabei hat er Geld!"
Kennen Die Eadenkaffe ...2...2...!
.. Es ginge ganz leicht ... Ich brauche bloß munter
u. Wiehr figt auf dem Stupl an ber Tür... . Hinten
auf dem gaben ſteht die Kaffe, offen ... Ich fomme durch die
Pintertiz und ſtelle mid) vor den Laden und ſpreche mit dem Als
. Und, während ich mit ihm fpredhe, halte ich Die Hände
auf dem Rüden und greife ganz einfad) in Die Kaffe . .. . Immer,
mährend ich mit ihm fpredhe ... Ich muß bloß was Komiſches
ersählen ... Oder, nein, fire, ich fage: Sehen Ste, Vater
Wiehr, da wird einer arretiert drüben, vor Aeckerleins Keller!
Da ftlırzt er ficher gleich vor die Tür...
Es wurde ihm unbehaglic) heiß.
— „ber das ift ja doch niedertraͤchtig! Das iſt ja Diebflahl!
Put Teufel! . . ."
— „And, wenn ſie's beim Abrechnen merfen? . . ."
— „Anfinn! ... Sie rechnen ja gar nicht ab, Philemon und
Bands! ..
— „und ſchließlich, drei oder meinetwegen fuͤnf Mark...
Das fühlen fie ja gar nicht ...“
303,
— „Überhaupt: Diebſtahl! Mumpitz! Ich ſoll's ja fo mal erben!
eahhaft! .
50 fans ja auch fpäter wiedergeben, wenn ich felber
Geld habe
_ eig: das verſteht ſich von feldft. Mit Zinfen! ...“
Und er ftüfpte ſich feinen Hut auf und rannte hinunter.
Viertes Kapitel
tilpe war nach Unterfefunda verfegt worden, aber nur ver⸗
fuchsweife und mit Nachpruͤfung in der Mathematif nad)
einem Bierteljahr. Zudem fand fih in feinem Zeugnis eine Der
merfung, für die er nur Die Bezeichnung Infam! hatte. Es war
da die Rede von „Zerfahrenheit“, „unaufmerkſamkeit“, „Allotria“.
„Wiſchiwaſchi!“ fagte Stitpe, kaufte ſich eine Flaſche Eau de
Javelle und mwifchte Die Bemerfung weg. Er tat es in der Haupte
fache wegen der alten Wiehrs, denn es lag ihm daran, daß dieſe
nicht irre an ihm wurden.
In fein Tagebuch fehrieb er mit Geheimfchrift pathetifch ein:
„Nachdem ich wöchentlich und Fonfequent einige Diebftähle be ·
sehe, kommt es auf eine Urkundenfaͤlſchung nicht mehr an.
Ich bin alfo ein Verbrecher!? Ha! Das ift ausgezeichnet!
Wenn ich wöchentlich, wie Sirlinger, sehn Mark Tafchengeld
hätte, brauchte ich nicht zu fehlen, und wenn die Paufer feine
überflüffigen Bemerkungen ſchmierten, brauchte ich fein Eau de
Javelle.
Alſo? Logik? Schluß? Die Hauptſache iſt: ſich nicht erwiſchen
laſſen!“
An Girlinger verriet er von ſeinen Streichen nichts. Er wußte,
daß dieſer „unfähig war, derlei zu verſtehen“.
304
Und doc) hätte er gerne jemand gehabt, dem er’s fagen koͤnnte.
Einmal hatte er bei Martha den Verſuch gemacht, indem er
fie fragte, fehr feterlich, mas fie dazu fagen würde, wenn jemand
ihretwegen ein Verbrechen beginge. Es grufelte Ihn angenehm, wie
er das fagte.
Sie aber antwortete Bloß: „Den wuͤrd'ch anzeigen.“
Das gab ihm einen Stoß, und er fand von jest ab, daß „Diefe
Perfon fehr gewoͤhnlich! ſei.
* *
*
Er war ihrer uͤberhaupt uͤberdruͤſſig und warf ſich mehr ins
Ideale, Heroiſche. Es kam ihm ein Wulſt Gedanken wie: Neues
Leben! Freiheit! Selbſtaͤndigkeit!
Je näher die Mathematiknachpruͤfung ruͤckte, um fo dringlicher
wurden dieſe Gedanken.
Wenn er nun dieſe Prüfung nicht beſtunde? Die Perfpeftive
war ſcheußlich, aber das ſcheußlichſte an ihr war der Gedanfe, daß
er, der jest in Unterfefunde mit Sie angeredet wurde, in Ober-
tertia wieder gedutt werden wuͤrde. Alfo: das Symbol ber
Knechtſchaft!
Aber auch, wenn er beſtuͤnde! Wie graͤßlich war dieſe ganze
Schule überhaupt! Und fo noch vier Jahre bis zur Freiheit, bis
zur Univerfität!
Und in diefen vier Jahren immer diefes leere Stroh, das einem
vorgemorfen wurde: ba, driſch, aber im Taft!
Und mas waren das fhr Beute, Die Die Aufficht Dabei führten!
Dh, diefe Drufchmeifter! Herrgott, Diefe Profefforen!
Ein paar waren ihm ja „intereffante Knaben“, ein bißchen
fteifleinen und fteifbeinen, aber man fonnte ihnen gut fein, denn,
nun ja eben: fie waren Intereflant und hatten zuweilen menſchliche
Töne.
20 Bierbaum II 305
Aber die andern! Diefe Falten Pedanten! Die Iangmweiligen
Schablonenmeifter! Kalbskoͤpfe ae miteinander!
Er würde einmal eine artfiophanifche Komoͤdie ſchreiben: Die
Kaulquappen. Dazu, als Modelle, ſeien fie zu brauchen, fonft zunichte.
Ob wohl einer von dieſen Plaͤrrern eine Ahnung davon hätte,
mas hinter ihm, dem Stilpe, ſteckte?
Und ſolchen Leuten war er untertan, er, ber Ziele vor fich hatte,
an bie fie ebenſowenig achten, mie der Igel an ein Himmelbett!
Nein, er mußte fort aus diefer Sflaverei und fort aud aus
dieſem Sumpf mit der Perfon da, die wirklich feine Hetäre war,
wie Aſpaſia.
Ja, eine Aſpaſia, das wäre feine Retterin! Ein Weib, bimm-
liſch ſchoͤn und von freier Nacktheit Leibes und der Seele, und von
Poefie! Bon Ideal!
Ah! Hellas! Hellas! Helas!
Pfui Teufel, was da auf feinem Arme fand, dieſes blödfinnige
Epfilon Gamma!
Bas ging Ihn diefes Deutfchland an, ihn, den Kosmopoliten!
Er ſchrieb mit roter Tinte in griechifchen Lettern Hellas auf
eine Papptafel und hing dieſe über feinem Bette auf.
Griechenland, ja, das war ein Wort und ein Ruf, und fein
Schrei! .
Aber nicht das, was biefes Lehrergefindel im Munde führte,
fondern das, von dem Heine fchrieb als dem Gegenfag zum
Ehriftentum.
Denn mit dem Ehriftentum mar er nun aud) im reinen. Er
nannte es die Weltmafern und tat ſich auf das Wort nicht wenig
zugute.
* *
306
Eines Tages ging er mit Girlinger ins Rofental.
Girlinger war fehr niedergefchlagen. Sein Vater war hinter
feine Lektüre gefommen und hatte ihn vor der ganzen Familie als
„unreifen Zufammenlefer unverſchaͤmter Dummheiten“ laͤcherlich
gemacht und zugleich Maßregeln getroffen, die ſeine Lektuͤre unter
eine ſtrenge Aufſicht ſetzten.
— „Der Herr Staatsanwalt hat ein Ausnahmegeſetz uͤber
mich beliebt. Aber er fon ſich irren. Ich bin nicht der unreife
Knabe, fr den er mich Hält. Ich habe es deutlich bemerkt, daß er
von den Sachen, die er verdammt, fo viel verfteht, wie ich von
feinem Buͤttelamte. Ich laſſe mich nicht knechten! Ich werde es
ihm zeigen!"
— „So? Du? Weißt du, dein Vater kennt dich fehr gut. Der
weiß, daß du wie ein Pudel Über den Stock fpringft, wenn du auch
vorher bellſt.“
— „Das wirft du fehen! Ich habe zwar nicht das große Maul
wie du, aber ich handle!"
— „Da bin ic} geſpannt. Wirft du es mir nicht verraten?"
— „Nein! Der Tag wird fommen, mo du's ſiehſt.“
— „Dann muß er bald kommen!“
— Wieſor⸗
— „Ich verrate auch nichts.”
Sie gingen ſchweigend nebeneinander her, und Stilpe hieb nit
feinem Spagterftod in die Buͤſche. Endlich fagte er:
— „Rein, und wenn du mir auch nichts fagft, ich win offen
fein! Aber gib mir deine rechte Hand, daß du's niemand ſagſt.“
— „Ja doch.“
— „Nein, die Hand! und das iſt wie geſchworen!“
— „Sa doch. Hab’ ich ſchon was verraten?"
— Alſo gut!"
und er blieb ſtehen und ſagte leiſe, aber mit feierlichem Tone:
20* 307
— „Ich gehe nach Griechenland.“
Girlinger fah ihn groß an:
— „Sa, fannft du denn Neugriechiſch?“
Die Frage kam Stilpen unerwartet. Daran hatte er noch nicht
gedacht. Er biß die Lippen Ärgerlich aufeinander.
— „Natürlich nicht.”
— „Ja, was flr eine Sprache wirft du denn da reden?
— „Es gibt eine deutſche Kolonie in Athen.”
Stilpe wußte davon eigentlich nichts, es war eine feiner retten»
den Improviſationen, aber Girlinger fand fie plaufibel.
— „&o, nun ja, aber was willſt du in Diefer deutfchen Kolonie
mahen?"
— ,Irgend was: Schreiber, Kopiſt, Sekretär, irgend fo was!“
Girlinger ſchwieg eine Weile. Dann meinte er:
— „Haft du denn Geld zur Reife?"
Stilpe, langſam:
— „Ja.“
— „Wieviel denn?"
— „Weiß ich noch nicht.“
— Ach fo... Ich habe hundertunddreiundfünfsig Dart.”
— „Bas? Hundertunddreiundfünfsig! Das iſt Ja koloſſal!“
— „Das iſt viel zu wenig. Ich habe gedacht, bu wuͤrdeſt min⸗
deſtens taufend haben.”
— „Ja, woher denn?"
— „Das ft einerlei.
Giringer fagte das etwas Im Tone des entfeploffenen Böfe-
wichts der Buͤhne, dumpf, tremolo.
— „Mein, ſoviel kann ich nicht ... bekommen.“
— „Bas denfft du denn, was die Reiſe koſtet?“
— „Ich laufe natürlich."
— „Da werden fie dich bald einhaben.“
308
— „Jh werde fie auf eine falſche Spur locken. Natuͤrlich
denken fie ade: Amerika. Übrigens: Dis willſt doch nicht etwa nach
Amerika?
Girlinger laͤchelte fpöttifch:
— „Du haͤltſt mich fhr ſehr dumm. Rein, ich denke an Eng
land.“
Und er fegte nun fehr fühl und eingehend auseinander, welche
Vorzüge England habe: Feine polizeilichen Anmeldungen, Nach ⸗
frage nad) deutfchen Kräften flr kaufmaͤnniſche Korrefpondenten»
ftenungen ufw. uſw. Er hatte alles, nach feiner Weiſe, praftifch
bedacht und ſich über alles in Büchern Gewißheit verfchafft. Eng ·
liſch und Die Doppelte Buchführung hatte er ſich auch nach Mög:
lichkeit beigebracht.
Aber Stilpe übergoß ihn mit ganz anderen Argumenten für
feine Idee:
— „Was? England? Diefes große Krämernefi? Diefes Land
des Nebels und der Kommis? Diefe Infel der Pfefferfäde? Wo
fie die Seigenblätter en gros fabrisieren aus Weißblech mit Ol⸗
farbenanftrih? Wo man Sonntags nicht niefen darf? Ya, Menfch,
kennſt du denn Byron nicht? Byron, fiehft Du, der wollte lieber
in Griechenland fterben, als in England leben. Nur Griechenland!
Nur Griechenland! Denfe doch: diefer Himmel! Diefe Erinne-
rungen! Und diefe Weiber! Ich fage dir: ehe diefe Bande hier
ihr Abiturienteneramen gemacht hat, find wir berühmt."
— „Ach mas, ich will frei fein und nicht Dichten.”
— „In Griechenland wirft du frei fein! Und warum verſtellſt
du dic) denn? Ich weiß doch, daß du noch viel ehrgeisiger bift als
ich. Und dann die Schönheit! Die alte Kunft! Die Akropolis!
Denfe: wenn wir da hinaufſchreiten! nd alles das Südliche über»
haupt! Hlbaͤume, Orangen, Zitronen, Rhodobendren !"
Girlinger hatte allerlei praftifche Bedenken, aber ſchließlich legte
309
auch er es ſich zurecht. Seine Phantafie war nicht fo ſchnell los⸗
gelaffen, wie die Stilpes, und fie ſchwaͤrmte nicht ins Blaue, aber
gerade dieſe Sehnfucht nad) dem Süden war in ihm, und um fo
ftärfer, als er ſich wirklich ein Bild vom Süden machte, während
Stilpe nur den Abreiz von Worten fplirte.
Sie gingen mit dem Verſprechen Girlingers auseinander, daß
er am naͤchſten Sonntag, in zwei Tagen, feinen endgültigen Ent-
ſchluß fundtun wolle.
Girlinger benutzte Die Zeit, um gruͤndlich über den Plan nach ·
zudenken und nad) Möglichkeit zu fludieren, was ihm über das
Griechenland von heute zugänglich war.
Stilpe aber ſchwamm in einem heißen Entzuͤcken bei dem Ge-
danfen, die große Tat im Verein mit Girlinger zu vonführen, und
weidete fich an der Vorſtellung, welchen Eindruck es machen würde,
wenn nicht bloß er, der „smeifelhafte Schüler“, durchgebrannt
und verſchwunden war, fondern mit ihm der gepriefene Mufter-
fnabe und Primus. Mit befonderem Genuſſe ftilifierte er ſich im
Geiſte Die Notizen, Die über dieſes Ereignis in den Blättern fiehen
würden. Er fam fogar auf die Idee, eine „Rechtfertigung“ abzu⸗
faffen, die er auf irgendeine Weife (das Wie uͤberließ er fpäterer
Überlegung) drei Tage nach ihrer Flucht (Flucht!) von Leipzig
aus dem Leipziger Tageblatt zufommen laffen wollte. Bielleicht
dur den Deflamator? Oder durch Martha? Diefe Stage be
ſchaͤftigte ihn am meiften.
Am Sonntag enthülte ihm Girlinger in furgen Worten, aber
fehr ernft, Daß er bereit fe, mitzugehen, aber nicht vor viersehn
Tagen. Denn es fet noch viel zu ordnen und zu bedenken. Er
fönne, ales in allem, zweihundertundfünfsig Mark sufammen-
bringen, teils durch Buͤcherverkauf, teils durch feine Schweftern.
Mindeftens fo viel müffe aber Stilpe befcpaffen. Die Summe
werde für jeden zur Hinreife genuͤgen (er hatte das Hendſchelſche
310
Kursbuch bei ſich) und außerdem Lebensunterhalt fuͤr zwei Wochen
ſichern.
— „Natuͤrlich werden wir in dieſem Klima vegetariſch leben.“
— „Selbfiverftändlid."
Eine ganze Anzahl praftifcher Notizen hatte er auf einem Zettel
zuſammengeſchrieben, und Stilpe mußte ſich verpflichten, Diefe auch
für fi) anzuerkennen. Da hieß es:
Es find mitzunehmen
pro Perfon: ein Koffer
mit: einem Anzug,
ein Paar Stiefeln,
awei Hemden,
drei Paar Strümpfen,
(RB. Aus der Waͤſche find Die Namenzeichen auszutrennen!!)
ſechs Taſchentuͤchern,
sei Kragen.
Die Koffer werden in St.s Gartenhaus in der Verfenfung,
wo jegt Das Gartengerät aufbewahrt ift, niedergelegt.
Stilpe muß zwei Koffer ftellen, da es für G. unmöglich iſt,
ſich mit einem Koffer aus dem elterlichen Haufe zu entfernen.
Ein Revolver, wenn binig zu haben, iſt wuͤnſchenswert.
Stilpe fand den Revolver in alererfter Linie für notwendig und
machte fi) anheifchig, einen su beforgen.
— „Natuͤrlich einen, den man in die Brufttafche fteden kann!“
— „Ya, aber doch nicht alu klein!“
Bereits am Dienstag brachte Stilpe den Revolver mit in bie
Schule und zeigte ihn Girlinger auf der Retirade.
— „‚Bift du verrückt! Steck ihn fofort ein! Und er iſt ja viel
au groß!"
— „Ich werde doc) fein Spielzeug mitnehmen!"
Girlinger entfernte ſich eilig, und als fie nach Haufe gingen,
311
fagte er fehr ſcharf: „Wenn du’s fo machſt, nehme ich mein Wort
zuruck! Überhaupt, wie benimmft du dic) denn? Alle Augenblicke
nimmft du mic auf Die Seite und machſt mir Zeichen. Jeder
Menſch muß merken, daß wir mas vorhaben.“
— „Bring lieber deine Waͤſche ins Gartenhaus, ſtatt dag du
mir Moral ſchwingſt. Meine Sachen find alle Draußen.”
— „Bei mir geht das nicht fo mie bei Dir. Hier (er fah ſich
nad) allen Seiten um) find zwei Kragen. Ich muß jeden Tag ein-
zeln was bringen. Wenn ich nur müßte, wie ich's mit dem Anzug
mache. Ich kann doch nicht mit ein Paar Hofen uͤberm Arm in die
Schule gehn."
— „Zieh den Mantel an und nimm fie untern Mantel! Oder,
halt: ich komme und hole fie!"
— „Rein, nein, ich werde ſchon alles felber bringen.”
* *
Während fo bei Girlinger die Schwierigkeiten mehr ins ein-
zelne gingen, hatte Stilpe nur ein großes Problem zu bewältigen:
das Geld.
So viel war fiher: die Ladenkaſſe reichte nicht. Dan konnte
fie höchftens mit fünfsig Marf anſetzen.
Alfo denn erft mal alles verfaufen, mas in Griechenland uͤber ·
flüffig war an Kleidern, Wäfche, Büchern.
Geſchah. Bon Büchern entgingen nur Börnes Werte, Tanıı-
bäufer in Rom und Byrons Don Juan dem Deflamator.
Aber alles in allem kamen nur viersig Mark heraus.
Wie wär’ es mit ein paar Anzligen Vater Wichrs? Ein Ger
danfe! Der Dann hatte ja feine ganze Vergangenheit noch im
Kleiderſchranke hängen,
Aber Vorſicht! Vorficht! Und erft in den legten Tagen. Auf
fünfsig Mark fonnte man das aber Immerhin anfegen.
312
Sünfsig und fünfsig find hundert, und vierzig find hunbertund-
vierzig ... Wenn ihm nur irgendein Coup einfiele! Das Geplem-
pere mit kleinen Poften gefiel ihm gar nicht.
Hm! Im Glasſchrank fand fo allerlei herum, auch Schmuck ·
zeug ... Aber da verging ja fein Tag, an dem nicht Mutter
Wiehr den Kram beftreichelte.
Halt! ... Aber nein... nein...!... Freilich, wenn gar
nichts übrig blieb. ..?....: Die Paten» und Konfirmationsge-
ſchenke des verftorbenen Filius.. .2...!... Die waren in dem
verſchloſſenen Schranfe in feiner Stube, und die Alten hatten eine
große Scheu vor Diefen Erinnerungen. Ste hatten fie verſchloſſen,
um fie nicht zu ſehen; nie machten fie den Schranf auf. Da muß ·
ten ja wohl auch noch Bücher fein und fonft was...
Das war aber Doc) ein verfluchter Eoup! Das mar ſchon nicht
mehr bloß, pfui Teufel, Diebftahl, das mar fo mas wie Srevel.
Oder?
Stilpe verſuchte, den Gedanken mit Gewalt Iosgumerden und
erging ſich, um ihn beifeite zu ſchieben, dafuͤr in den abenteuer»
lichſten Plänen.
Sogar der fehmierige Beutel des Deflamators tauchte auf und
eine verbrecherifche Intrige mit der rofigen Gattin.
Hatte fie ihm nicht kuͤtzlich hinter dem Ruͤcken des Alten zu»
gelächelt?
Wie, wenn er mit ihr im Bunde den Alten... .? Aber, du
lieher Gott, das mar ja eine Kriminalnovelle und fein Coup!
immer wieder der verfchloffene, große, braune Schranf .. .
Was da mohl alles drin ftedte ... Natüuͤrlich zuerft ſaͤmtliche
Hoſen und Höschen, Jacken und Jaͤckchen des gepriefenen Filtus,
von ber Wiege bis zur Bahre.
Verdammt nochmal: auch noch Ruͤckſicht auf Sentimentali-
täten, wo es feine Freiheit und Zufunft galt! Da gab’s doch fein
313
Befinnen! Dort der Tod! Hier das Leben! Hie Mottenfraß! Hie
1
Er ging an den Schrank und verſuchte feine Schlüffel am
Schloß. Ging nicht.
Alſo: eintreten! Einfach: eintreten!
Er ſchlug mit der Fauſt auf die Schranktuͤre. Aber wie er das
Poltern hörte, Tief er gleich weit weg und fah zum Senfter hinaus,
Wogu Überhaupt diefe Menge Geld? Hundertfünfsig waren
aud) genug.
Er ſtellte das Girlinger vor. Aber der progte feine ganze wider»
liche Konfequenz auf:
— „Wie wir's ausgemacht haben, fo bleibt’s. Du haft mein
Wort, und ich habe deins.
Stilpe empfand eine kochende Wut über dieſes Benehmen.
Nicht einmal fagen kann ich's dem Kerl, was ich vorhabe. Na ⸗
tuͤrlich er: jede feiner Schweftern gibt ihm fünfiig Mark. Und
ich muß ſolche Gemeinheiten ausheden.
Aber wart' nur: dieſe Erfahrungen, dieſe Kaͤmpfe, die werden
aus mir was Ganzes, Eigenes machen, wo bu bloß eine Molluske
biſt und Bleibt! Ich bin der Kämpfende! Ich werde den Sieg
haben! Und dann, oben auf ber Afropolis will ich dir's ing Ger
ſicht ſchuͤtteln mit meinen Fäuften: Ich habe ftehlen muͤſſen für
meine Freiheit und unendliche Frevel auf mic) geladen für meine
Ideale! Du aber bift Bloß der Pudel, der hinter mir herlief, auf»
gefüttert und vofgeftopft, ohne Darf und Entfhluß!
In diefem Auffud ſtuͤrmiſcher Gefühle fiel ihm Karl Moor ein,
und er fühlte ſich nun nicht Bloß gerechtfertigt, fonbern gerabezu
verpflihtet, den Schranf aufzubrechen.
Aber Vorfiht! Vorſicht! Und: nicht zu früh!
314
Jetzt waren es noch ſechs Tage bis zu dem Sonnabend, wo fie
ſich nachmittags im Gartenhaufe treffen wollten, um abends ab»
zureiſen.
Von Girlinger fehlte immer noch die Hoſe und ein Hemd im
Koffer, aber er konnte ihn nicht einmal mahnen, denn der Primus
blieb aus der Schule weg und hatte ihm verboten, ihn zu be⸗
ſuchen.
Er ſtellte ſich krank, hatte er ihm geſchrieben, um nicht unnoͤtig
durch ihn aufgeregt zu werben, auch habe er einen beſonderen Trick
vor mit dieſer Krankheit. Im Übrigen folle er nur alles genau nach
Verabredung beforgen und tun. Sonnabend um brei Uhr am
Gartenhanfe!
Stilpe hatte einen grenzenlofen Reſpekt vor Girlingers Fühler
Klugheit, und er ſtellte fich irgend etwas unerhört Schlaues vor,
das hinter biefer Kranfheit ſteckte.
Wer weiß: er bringt vielleicht fünfhundert Darf mit!
Wenn man’s nur wüßte! Nur wüßte! Dann märe auch biefe
infame Ehofe mit dem Schranf nicht nötig.
Schon das Verfaufen von Vater Wiehrs Garderobe war eine
verdammt ſchwierige Sache gemefen, und es war bloß Dufel, wenn
es nicht zur Unzeit bemerkt wurde.
Nun aber der Schrant!
Das Heiterfte wäre, wenn mich Deutter Wiehr angeſchwindelt
hätte, und es gäbe da drin gar nicht dieſe koſtbaren Konfirmations ·
kleinodien und Taufbecher.
Ob ich ſie nochmal frage?
Er nahm wirklich einen Anlauf dazu, brachte es ſchließlich aber
doc) nicht übers Her. Dafuͤr machte er ſich im ftillen einige mo-
raliſche Komplimente über diefe Feinfuͤhligkeit und fand, daß er
eigentlich fein Gewiſſen dadurch für beruhigt anfehen fönnte:
Denn, wäre ich wirklich ein gemeiner Kerl, fo hätte ich gefragt;
315
aber ich handle eben bloß unterm Zwang ber Verhaͤltniſſe und
ſchone dabei nad) Möglichkeit, mas zu ſchonen ift.
Unter diefen Erwägungen brad) er faltblätig den Schranf auf,
nachdem er die Kammertuͤr verſchloſſen und das Schluͤſſelloch ver ·
bangen hatte.
Schau, ſchau, gepfropft vom! Aber ift es nicht ſuͤndhaft, alle
biefe Sachen von den Motten freien zu laſſen? Es fcheint, bie
guten Wiehrs willen nicht, mieniel arme Jungens Feine ganzen
Kleider am Leibe haben. Natuͤrlich! Die Sentimentalität geht bei
biefen Bourgeois vor alem vor . . .
Der uͤberneher da iſt noch wie nen...
Herrgott, wieviel Hüte hat denn der Filius gehabt? .. .
Sogar feine erften Hofen find noch da ...
Übrigens: Inſektenyulver haben fie doch geftreut . . . Donner»
wetter: Das fann mic) ja verraten! Die ganze Kammer wird ftinfen!
Er lief und öffnete die Fenſter. Unten ging gerade ein Schug
mann vorbei. Stilpe machte eine Verbeugung:
Das Auge des Gefeges wacht! Sie, Schugmann, hier wird
geſtohlen! Ja, das möcht’ er wohl, der Gute, Daß ich ihn rauf»
winkte. Wird nicht verzapft!
Nun aber die Kleinodien!
In der Pappſchachtel? Nein: feidene Tücher. Da könnt’ ich
übrigens eins... . Unfinn! ...
Aber es feheint wirklich fein Edelmetall ...
Er holte ſich einen Stuhl und flieg darauf, um beffer fehen zu
fönnen, was auf dem oberen Schranfbrett ftand.
Siehfte won? Der Kaften ift ſchwer. Und: er Flappert.
Er nahm ihn langſam herunter.
Es war eine alte Schatulle aus eingelegtem Mahagoniholze mit
zopfigen Ornamenten. Ein Feiner Schluͤſſel mit herzfoͤrmigem
Griff ſteckte im Schloß.
316
Er trug die Schatulle auf den Tiſch und ſchloß fie auf.
Donnerwetter, was für 'ne Menge!
Zwei Uhren! Eine filberne und eine goldene! Und bitto zwei
Ketten. Diefer Filius iſt verzogen worden! !
Und goldene Ringe gar dreie. Was? Auch goldene Manſchetten ⸗
knoͤpfe? Das ift ja Blödfinnig!
Am Ende hat der Junge auch noch eine Buſennadel gehabt.
Richtig! ...
Efelhaft, das! So einer muß ja ein Prog werben. Und dabei war
er bumm wie ein Heuroß.
Gut! Gut! Klappe au!
Er ſtellte Die Schatulle wieder an ihren Plag, lehnte Die Schrank ·
tuͤre feſt an, klemmte ein bißchen Pappe ein und hatte eine deut-
liche Empfindung von Zufriedenheit, wie er fah, daß äußerlich
nichts an dem Schranke zu merfen war.
Was aber nun anfangen mit dem Zeug? Er beſchloß, es erft
in Athen zu verfaufen. Troͤdler gibt's dort fiher auch ...
« «
*
Nun Fam ber große Tag heran. Das legte, mas Stilpe ins
Gartenhaus getragen hatte, waren feine Tagebücher und Manu-
ffripte gemefen. Die legten Worte in feinem Tagebuche lauteten
ſchwungvoll fo:
Und nun, mein ſtolzes Schiff, fih aus ins Meer!
Du trägft mein Alles, und dein Zeichen heiße:
Freiheit, Hoffnung und Zufunft, Meine Dand,
Mit der ich num die Ankerkette ſchnell
Aufwinde, iſt befimune, doch waſch / ich fie
Im Meer der Schoͤnheit, und id) ſchwoͤre: Ric,
Bei allen Goͤttern, die ich ſuche, nie
Soll wieder Schmug an diefe heiße Hand!
* «
*
317
Die legte Schulftunde, zu der er ſich herabließ, war Griechiſch.
Es wurden unvegelmäßige Verba abgefragt, und da er ſich nicht
vorbereitet, auch nicht einmal in der Borpaufe, wie er fonft zu tun
pflegte, in der Grammatik nachgeleſen hatte, blieb er jede Antwort
ſchuldig.
— „Barum haben Sie Ihr Penſum nicht gelernt?"
Er lächelte und Dachte bei fih: Freiheit, Hoffnung und Zukunft.
— „Wollen Ste wohl antworten? Warum haben Ste Ihr
Penfum nicht gelernt?"
— „Es war mir zu langweilig.”
Der Profeffor ſchnappte nach Luft. Das war der Gipfelpunft
der Frechheit. Das war jenfeits aller Bezeichnungsmoͤglichkeit.
Nur das eine Wort: Karzer! mühlte ſich aus dem verſtopften
Sprachſchatze empor.
— „Wieviel Stunden, Here Profeffor?" fragte Stilpe mit
unterwürfigem Lächeln.
— „If der Menſch verrückt geworden?"
Die ganze Klaſſe hatte mit dem Profeffor nur dieſen einen Ges
danken und flarrte auf den laͤchelnden Stilpe. Sein Nachbar
ruͤckte ein Stuͤck von ihm ab.
Er aber feste fi gelaffen und tat, als ob Die Sache für ihn
erledigt wäre.
Der Profeffor, eben noch violett, wurde weiß wie weicher Käfe
und rief, indem er fein Buch von ſich warf:
„Verwegener Bube! Ah! Ah! Am Montag werden Sie er
fahren, was Ste ſich augesogen haben.“
Bei dem Worte Montag hätte Stilpe laut auflachen mögen,
aber es Fam ihm der Gedanke, dag man ihn gleich heute am Nach ⸗
mittag einſperren koͤnnte, und fo hielt er fich ſtille.
ALS die Stunde vorher war und bie Sehundaner ihre Bücher
vum Heimgehen packten, bildete ſich ein Kreis um Stilpe:
318
— „Na, die unverſchaͤmtheit kommt dir teuer gu fiehen, mein
Soͤhnchen ... Du haft wohl Luft, geſchwenkt zu werben? ...
Du bift wohl nicht bei Trofle? ...“
Stilpe lächelte bloß geringfchägig. Gerne hätte er jegt irgend»
eine Meine Andeutung gemacht. Es wurde ihm fehr ſchwer, fie su
verbeißen. Aber er uͤberwand ſich.
Und nun fam er in Aufregung. Wenn er nur nicht noch zu
Tische zu gehen brauchte! Aber das mußte er natürlich, ganz abge ·
fehen Davon, daß er recht gut bei Appetit war.
* *
Kaum aber, daß er ſich vom Tiſch erhoben und geſegnete Mahl ·
"zeit gewuͤnſcht hatte, ef er aus dem Haufe und rannte durch bie
Straßen.
Es war ein unfreundliches Spät-Frühlingswetter, Regen und
Wind. Da er feinen Schirm hatte, war er bald ganz durchnaͤßt.
Aber er lief, fo unangenehm ihm dieſe eindringende Feuchtigkeit
war, immer auf und ab und immer benfelben Weg: Grimmaiſche
und Petersftraße. Er wollte nicht eine Deinute früher als Punft
drei Uhr am Gartenhaufe fein, aber er wollte auch nirgends vor-
ber einfehren, denn er fühlte, Daß er nicht figen koͤnnte.
Sein einziger Gedanke war: Wenn mir nur erft Im Zuge figen.
Und dann bis Trieft in einem Saus! Ah! Nacht und Tag und
Nacht! Und dann das Schiff! ...
Freilich: die Seekrankheit ... Unfinn! Wenn erft die ſchim ⸗
mernde Küfte Griechenlands auftauchen wird! . . . Venus Ana-
dyomene! ... Und biefe Hellenen in ihren bunten Trachten; auch
Türfen, Armenter! und herrliche Weiber mit Krügen auf den
Köpfen! Großäugig! Glutaͤugig! Und brongene Brüfte ſchimmern
durch paphifche Gemänder! . . . Und Marmorpaläfte, ſüdliche
Gärten und fengende Sonne!
319
Und nun, mein ſtolzes Schiff, fi aus Ins Meer!
Möglich fam ihm feine Mutter in Sinn. Es fam fo unver
mutet und grell, daß er mitten im Nennen ftehen blieb.
Herrgott, wie wird fie weinen... Es iſt Doch eigentlih ....
Ab, aber nein: wenn ich ſicher bin, ſchreib ich ihr alles, und wenn
fie fieht, mie gluͤcklich ich Bin, Dann wird fie ſtolz auf mich fein! Ste
verfteht mid) ja! Sie weiß, daß aus mir mas Großes werben wird!
Wůͤtterchen, weine nicht, weine nicht fo,
Sieh, ic) bin in der Fremde frop
Und dene dein,
Er hoffte, es wuͤrde ein ganzes Gedicht werden, aber es blieb,
wie gewöhnlich, beim Anfang.
Endlich dreiviertel drei Uhr! Run zum Gartenhaus!
Er lief im Trabe mitten durch Pfügen und ohne aufsufehen,
wie ein Junge neben dem Reifen.
Jetzt am Garten. Run die Allee hinauf.
Ob Girlinger ſchon da It?
Nun den Seitengang. Gott ſei Dank, daß es regnet und nie
mand im Garten iſt.
Aber der Drei! Der Dre! Ganz befprigt!
Das wird doch auf der Eifenbahn nicht auffallen?
So, jegt bei Kuͤrners Garten vorbei und nun mit Barriere ·
fprung Übers Stafet. Teufel! Mitten in eine Pfüge! So ein
Blödfinn!
Punkt drei!
Aber Strlinger ift noch nicht da. Natuͤrlich; der macht ſich's
bequem und fommt ſicher in Gummigaloſchen und muß um jede
Pfüge einen Bogen machen und womöglich bei jedem Buchladen
ftehen bleiben. Efelhaft diefe Hundsſchnauꝛigkeit.
Er ging sum Gartenhaus und griff in feine Tafche nach dem
Schluͤſſel.
320
Möglich fuhr er zuſammen und flarrte auf etwas Weißes, das
in der Türfperre klemmte. Sein Geficht verzerrte fih: Ah, du
Hund, du!
Er riß das eingeflemmte Papier heraus. Herunter Das Kuvert.
Da ftand mit den fchönen, fo oft in der Schule belobten Schrift-
zuͤgen unter Einhaltung des Höflichfeitsrandes uſw. folgendes:
Lieber Stilpe!
Nachdem ich mir unfern Plan noch vielmals und reiflich über-
legt habe, bin ich au der unumftößlichen Überzeugung gelangt,
daß es im Grunde bloß ein etwas perſoͤnlich draplerter Dummer-
jungenſtreich wäre. Wenigſtens mas mich angeht. Du biſt ja
anders, und Dein Temperament berechtigt Dich gewiſſermaßen
au einem ſolchen Schritt, der ins Ungewiſſe führt. Aber ich bin
nicht zu dergleichen fühnen Entſchluͤſſen geeigenfchaftet.
Alfo: ich kann nicht mittun.
Verachte mich, ſoviel Du winft, und nenne mich einen Feig⸗
fing und Wortbrüchigen. Ich fann nichts Dagegen tun. Hoͤch ⸗
ftens, daß ich auch Dir rate: Stehe aud) Du von dem Plane ab.
Selbſtverſtaͤndlich biſt Du firengfter Geheimhaltung von
meiner Seite aus ficher. Aber ich erwarte aud von Dir, daß
Du nicht etwa In einem Deiner Wutausbruͤche mid) als Deinen
Komplicen nennft. Das wäre keineswegs honorig.
Indem ich Dir, fir den Fall, daß Du den Plan zur Aus-
führung bringft, alles Gluͤck aufrihtig wuͤnſche, bin ich, auch
wenn Du mich verachteſt,
Dein Freund
Robert Girlinger.
P. S. Deine Sachen nimm, wenn Du gehft, mit. Sie mer»
den Dir nuͤtzlich fein.
Stilpe geriet in maßloſe Wut,
a1 Bierbaum II 321
Auerft lleß er fie an dem Briefe aus, den er mit den Sähnen jer-
riß und in das matſchige Erdreich hineinftampfte. Dann warf er
feinen Hut auf die Erde und ſchlug mit den geballten Faͤuſten an
die Gartenhaustuͤr. Er war aſchfahl im Geſicht und biß ſich fort ⸗
waͤhrend auf die Lippen, als wenn er das Beduͤrfnis haͤtte, etwas
au zerfleiſchen.
Dann ſchloß er die Tuͤr auf und ging ins Gartenhaus. Mit
einem Fußſtoße öffnete er die Decktuͤr u der Verſenkung, wo die
Koffer fanden, und fpuckte auf diefe. Dann warf er Die Dedtär
au, daß es frachte, und fegte ſich auf einen Gartenſtuhl. Ein Wind»
ſtoß warf Die Türe zu, und nun war er im Dunfeln allein mit
feiner fochenden Wut,
Was tun?! Was tun?!
Ah, vor allem eins: Rache an biefem felgen Hund! Hin zu
Girlinger und ihm laut ing Geſicht ſchreien, was fürein erbärmliches
Subjekt er ift. Das ganıe Haus sufammenfchreien! Ihm den Koffer
vor die Süße, nein, vor den Bauch werfen. Und ihn prügeln!
Prügeln! Unfäglid und lange prügeln!
Ad was, erſchießen müßte man ihn!
Erſchießen! Das ift ein Gedanke! Ah, und da iſt ja auch der
Nevolver! Gott fei Dank, daß er fo groß ift!
Aber das mar ſchon mehr bloß pathetifche Zierleifte. Er merfte
das felber, und ben Gebanfen, fi) hinterher etwa felber au er-
fihteßen, lleß er nur ganz von ferne vorbeidrohen.
Überhaupt nein: weder Prügel noch Revolver, nur Verach⸗
tung! Ein einziges Wort auf eine Poſtkarte gefchrieben: Lump!
und dann fort!
Sort! Fort! Sort! Er rüttelte Das Wort in ſich hin und her.
Sort! Sort! Aber es geſchah halb mechaniſch, wie er ſich das In
plumpen Stößen immer wiederholte.
Fort! Fort! Natuͤrlich: Sort!
322
Ich werde doch wohl megen diefer Canaille nicht hier bleiben!?
Aber diefe Beftie hat ja das Kursbuch! Der ganze Reifeplan
ftand ja bei ihm!
Ich Wickelkind habe ihm ja alles uͤberlaſſen!
Sonderbar: der Gedanke, ſich nun felbft ein Kursbuch anzu-
ſchaffen und einen Reifeplan zu machen, fam ihm nicht,
Dafür entivarf er bereits den Brief, den er nach feiner Ankunft
in Athen „Diefem Elenden“ ſchicken wollte: „Hier bin ich, auf der
Afropolis, und gottlob ohne den Pintfcher, der mir folgen wollte...
Ich habe eine fehr angenehme Stelle als Sefretär eines deutſchen
Privatgelehrten . . . Meine Adreffe teile ich Dir nicht mit, um
vor Deiner Verräterei ſicher zu fein. Denn es gibt feine Gemein»
heit, Die ih Dir nicht zutraute ...“
Diefer Brief, den er vielmal in fi hin und her wandte und
mit zahlreichen vergifteten Spigen verfah, beruhigte ihn ungemein.
Als er ihn auswendig wußte, war er fo weit, Die „Jammerhaf-
tigfeit dieſes Staatsanwaltsfprößlings" für ein Gluͤck anzufehen.
Wäre ic) denn in feiner Gegenwart frei geweſen? Hätte er mich
nicht in meinen beften Entſchluͤſſen geftört? Was für eine unglaub ·
liche Verirrung dieſer Gedanfe Überhaupt geweſen ift, mit dieſer
Hundefchnauze sufammen nad) Griechenland gehen zu wollen. Aber
eine gute Lehre das! Immer und alles alein! Jedes Vertrauen ift
Wegwurf!
Er ſchrieb ſich diefe Darime in fein Notizbuch und empfand
das ganze differenzierte Wohlgeflhl des Peffimiften.
Er wurde fogar übermätig. Warte, mein braver Knabe, dachte
er ſich und nahm bie Girlingerſchen Sachen aus dem Koffer, hing
fie, nachdem er fie serriffen hatte, auf eine Bohnenftange und ſtellte
das Ganze nad) Art einer Vogelſcheuche in ein Beet. Daran ber
feftigte er ein Stuͤck Papier mit der Auffchrift: Siegeszeichen des
Wohlverhaltens.
21° 323
Dann nahm er den Koffer mit feinen Habfeligfeiten und ſchlug
den Weg zu bem Haufe ein, in dem Martha waltete.
* *
*
Es war felten, daß dort ein Menſch männlichen Geſchlechtes mit
einem Koffer erſchien, denn, wenn auch viele Sandlungsreifenbe in
dieſem gaftfreien Haufe verfehrten, fo ließen fie Ihre Muſterpakete
doch gewöhnlich im Hotel. Und fo erregte er ein gelindes Auffehen.
— , Ja, Schnutchen, kleines, winft du denn verreifen?" rief ihm
Martha entgegen, die, mit einem fehwarsfeidenen Hembe befleibet,
nicht mehr an bie Gemälde Profeffor Thumanns erinnerte.
— „Ich bin auf dem Wege zum Bahnhofe und will bir nur
Lebewohl ſagen,“ erwiberte Stilpe etwas ernfter, als es im Stile
dieſes Milteus war.
— „Nam, doch nicht ganz fort, Schnutchen? Dann muß ich
ja weinen!?"
— „Ganz fort. Weit weg. Aber frage nicht. Wir wollen noch
einmal fröhlich fein.“
Er gab ſich hier fonft gerne frivol, weil er flrchtete, im andern
Falle feine Jugend zu verraten, die ihn in dieſem Haufe immer
etwas genierte, aber Diesmal konnte er bie jugendliche Feierlichkeit
nicht verleugnen.
— „Set wird mir's aber aͤngſtlich, Schnutchen. Wer fon mir
denn dann Verſe vorleſen?
— „Du brauchſt nicht fo ſpoͤttiſch au fein.“
— „Aber nee, Ich mein’s ernft, auf Ehre. Ich kann fie ja aus«
wendig!"
Und fie deflamierte mit unverftelter Genugtuung:
Wie jene Ritter in der alten Zeit,
Die fir die Siehe ſtritten eodbereit,
Streit” ich für dich und deine Edeiheit.
324
I4 liche dich und glüße mich dir an,
Bor deinen Füßen lieg ich, fich mic an,
Ein Knabe bin ich, Füffe mid zum Mann!
Rein, bin fein Knabe! Denn ich weiß durch Did,
Was Liebe if, dein Blick ermerfte mich,
Drum fing’ ich Danf dir Heut’ und ewiglih!
— „Stehft du, ich kann's ganz auswendig!"
Stilpe war ſelig. Seine Verſe klangen ihm aus dieſem Munde
wie der Inbegriff aller Poefie, und er fiel dem Maͤdchen heiß um
ben Hals.
— „Rotwein! Ehampagner! Und Zigaretten!"
— „Aber Schnutchen, haft du denn ſoviel Geld?"
— „Ja, ja, maffenhaft! Laß nur kommen.”
— „Nee, Schnutchen, laß das doch die alten Onkels machen. Ein
paar Glas Bayriſch tut’s bei Dir ſchon.“
— ‚Rein, nein! Heute muͤſſen wir Wein trinfen! Weißt du, eine
Orgie fetern! Eine Orgie! Weißt du, mas das iſt?“
— 9a, ja, fo was Verruͤcktes. Aber wozu denn?"
— „Mad! Mad! Ich habe nicht lange Zeit. Ich muß fort. Be
ſtelle nur! ... Ach fo, vorausbezahlen? Da, da iſt Geld.”
Er gab ihr fein ganzes Portemonnaie.
— „Gehört das ganz meine?"
Stilpe erſchrak fehr. Aber er faßte ſich und fogte mit edlem
Anftande:
— „Wie du willſt. Aber dann kann ich nicht reifen.”
— „Gott, biſt du ein anftändiger Junge!“ fagte das Mädchen
und gab ihm das Portemonnaie zuruͤck.
Diesmal ärgerte Ihn das Wort Junge nicht.
Der Wein nahm feiner Stimmung den Reft von Gedruͤcktheit.
Zwar wollte ſich durchaus nicht Das entwideln, was er eine Orgie
nannte, denn das Mädchen bemutterte ihn heute noch mehr als
325
font, aber wenn er auch nicht tamte, fo Tief er doch reiht lebhaft
in dem Fleinen Zimmer, ſoweit es nicht Bett war, auf und ab.
— „Wenn du wüßteft, was ich vorhabe! Wenn du wuͤßteſt,
wohin ich reife!"
— „Ma, fo fag’s mir doch.“
Er blieb ſtehen und fah fie efftatifch an.
— „Ja! wenn du mir verfprichft, mit mir zu reifen!"
— „Ja, wenn du bei Mutter Zanfen meine Schulden bezahlſt.“
— „Wieviel find es!"
— „Na, bloß fo dreihundert Maͤrker.“
— „Herrgott! Dreihundert! Nein, das kann ich nicht. Oder!
Halt! Warte mal!"
Und er ſtuͤrzte ſich auf feinen Koffer und brachte die Uhren und
Ninge ang Bett.
— „Da, was kriegt man dafuͤr?“
Martha kniete fi im Bett auf und breitete die Tauf- und
Konfirmationsgefchente von weiland Wiehr junior vor fi aus,
huͤbſch eins neben das andere; es gab eine Iuftige Reihe, die im
Lichte der roten Bettampel verftohlen blinfte,
— „Das kann fon zweihundert Darf geben, wenn bu dich
nicht beſchummeln laͤßt.“
Sie ſah die Sachen verliebt an, ſteckte ſich die Ringe an die
Singer, ſchuͤttelte die Uhren und hielt fie ans Ohr und ließ die
Diamanten der Buſennadel leuchten.
Ploͤtzuch warf fie den Kopf zuruͤck, daß bie langen blonden Haare
von den Brüften weg Über die Schultern fielen, und fragte erflaunt:
„Ja, wo haft du denn die Sachen her?"
Stilpe überlegte. Sollte er's fagen? Hatte fie ſich Damals nicht
fo verdammt moraliſch gehabt? Aber jetzt fteht Die Sache doch
anders. Das Zeug liegt auf dem Bette und gehört beinahe ſchon
ihr. Ob fie da nicht ...2...
326
Aber er sögerte doc) und fagte bloß: „Alte Taufe und Konfir-
mationsgeſchenke.“
— „und das willſt du verkaufen? Das iſt aber nicht ſchoͤn von
die"
Was? Schon das fand fie unrecht? Das empörte ihn förmlich,
es fam ein Gefühl von Zorn über ihn, und zugleich regte ſich etwas
wie Zucht. Er wurde mit einem Dale irre,
Aber, wart’, nun gerade ſoll fie’s wiſſen, dieſe elende Duckmaͤu⸗
ferin. Das wird einen Effeft geben!
Ob fie das Zeug aus dem Bette und mir vor die Füße wirft?
Und er erzählte ihr ganz fühl, daß er Die Sachen geftohlen habe,
und wen fie gehörten.
Sie fah ihn bloß erflaunt an und ſchuͤttelte den Kopf.
Dan fagte fie langfam und wie ungläubig: „Mein... .!...
du ...!... Das ...? ...
BE mad) kein ſolches — Es ift fo, und Ich finde gar
nichts Dabei.’
Jetzt fprang fie aus dem Bette und faßte ihn an den Schultern:
— „Aber, Junge! Was iſt denn mit Dir 08? Du biſt doc) fein
fo gemeiner Kerl! Herr du mein Gott, wie fommft du denn auf
fo mas!"
Sie fagte das faft tonlos und mit einer ganz anderen Stimme,
als er an ihr gewöhnt war.
Es ging ihm durch und durch. Dit einem Male fhhlte er, daß
er etwas Gemeines getan hatte. Hätte fie nur im Geringften mas
Pathetifches gefagt oder getan, er würde ihr ins Geſicht gelacht,
und, wenn fie etwa Miene gemacht hätte, Lärm zu ſchlagen, alles
geleugnet haben. So aber war's wie ein Urteil, wie eine Verdam ⸗
mung.
Er mußte auf den Boden fehen und fühlte ſich gedemditigt, ohne
ſich dagegen aufzulehnen,
327
Was fie nun noch fagte, war eigentlich überfläffig und ſchwaͤchte
den Eindrud der erſten Worte eher ab. Aber er ließ alles uͤber ſich
ergehen und fagte nichts dazu.
Sie legte durchaus den Hauptton darauf, daß er den alten Len-
ten das genommen hätte, was ihnen das Liebſte war. Sie fagte
das nicht in feinen und gefuͤhlvollen Worten, fondern fat roh und
ungeſchickt.
Immer wieder kam das Wort: „So eine Suͤnde, und gar nichts
dabei zu fühlen!"
Er wagte nicht ein einziges Mal aufzufehen, und ihre Hände
auf feinen Schultern fühlte er wie eine unerträgliche heiße Laft.
— „Bas fol ich aber num tun?" fagte er ganz verzweifelt, wie
fie ſchwieg.
Gleich alles wieder hintragen? Alles ſagen!“
— „Das geht nicht!"
Und nun erzählte er ihr, ſchluchzend und unfähig, feine Tränen
zuruͤckzuhalten, alles, was er vorhatte, alles, was ihm gefchehen
mar, alles, was ihn drückte,
Das machte weniger Eindruck auf fie. Sie verftand es nur un-
Mar, aber das Davonlaufen begriff fie.
— „Fahr hin, mo du willſt, wenn du nicht mehr in Die Schule
gehn magft. Sie erwiſchen dich doch bald. Aber Das Zeug da nimmt
du nicht mit... Nein... So ein Junge! Gott fe Dank, daß
du zu mir gefommen bift! Denke bloß: Später! Wenn du's ges
fühlt hätte, was du getan haſt ...
‚Herr du mein Gott, fo ein Ungluͤck! Du waͤrſt ja ein Lump ge
worden, Junge! Gott weiß, was du noch alles angerichtet hättet!
Mord und Totſchlag! Wahrhaftig ein Gluͤck, daß der andere
Bengel nicht gefommen iſt. Sonft hätt’ ich dich nicht hier.”
Es beleidigte ihn gar nicht, daß fie ihn fo in aller Deutlichfeit
als Junge uſw. traftierte. Er war vollkommen muͤrbe.
328
Nach langen Beratungen kamen fie ſchließlich überein, daß er
die Nacht noch hierbleiben ſollte (denn er fühlte ſich nun unfähig
au jedem anderen Borhaben, als eben hier zu fein); am naͤchſten
Tage möge er dann getroft nad) Griechenland oder Kamerun fah-
ten; fie aber werde bie Sachen einpacken und mit einem rief, den
er fehreiben müffe, an Die Adreffe der alten Wiehrs ſchicken.
Der Brief lautete:
Lieber Vater und liebe Mutter Wichr!
Seien Sie mir nicht boͤſe, Daß ich ohne Abſchied von Ihnen
fortgegangen bin und nahe daran mar, eine große Schlehtig-
feit au begehen. Ich hoffe, alles gut machen zu fönnen, und
bitte Sie, meinen Eltern nichts von dem zu fagen, was ich bei⸗
nahe begangen hätte. Laſſen Sie mich nicht verfolgen und mel»
den Sie mich in der Schule ab. Es dankt Ihnen für alles
Gute, was Sie ihm, dem Unwuͤrdigen, getan haben,
Ihr Pflegefohn
W. St.
Die Schlußfäge des Briefes waren eigenfte Hinzufligung Stil-
pes. Sonft war der Brief nicht eigentlich nad feinen Intentionen.
Er hatte ihn zerknirſchter und umfangreicher angelegt, mit einer
große Diatribe gegen das Geſchlecht der Gymnaſiallehrer als
Mittelftück, aber das Mädchen wollte nichts davon wiſſen.
Als aber der Brief geſchrieben war, fingen beide an, vergnügter
u werben, als vielleicht bie Leute glauben, die da nicht wiffen,
amifchen welch fernen Gegenden bie Schaufel in ber Seele mancher
Menſchen hin und her ſchwingt.
Denn Himmel und Höfe, Reue und Wolluſt legen zumellen
nicht weiter voneinander entfernt, als Die Lippen zweier Menſchen,
die ſich Küffen.
329
Fünftes Kapitel
te Oberprima des Königlichen Gymnaſiums einer Pleinen
ſaͤchſiſchen Induſtrieſtadt mar ausnahmsweiſe Sonnabend
nachmittag in die Schule berufen worden, weil der Geheimrat
Ammer, der als Koͤniglicher Kommiſſarius die bevorſtehende Abi -
turientenpruͤſung zu überwachen hatte, mit dem Wunſche hervor»
getreten war, bie Kandidaten ſchon zuvor perſoͤnlich kennen zu
lernen. Er hatte ſich mit ihnen in einer fehr freundlichen und
ſchmeichelhaften Art unterhalten, naͤmlich gar nicht fo, wie es
die Art der Lehrer war, fondern in der geminnenden Manier
eines Älteren Freundes etwa, der feinen Vorfprung an Jah ·
ren und Reife als nebenfädhli behandelt und ein Berhält-
nis von Vertraulichkeit zu ſchaffen ober wenigſtens voraus
täufchen fucht, ſoweit dies möglid iſt. Er hatte fogar „Deine
Herren!" gefagt. Und ftatt der Vorpräfung, die man befuͤrchtet
hatte, war es wirklich bloß eine Art Unterhaltung geweſen, bei
der ber Geheimrat jeden Anſchein von Eraminieren vermieden
hatte,
Die Oberprimaner verliefen das Schulgebäude alfo mit ſtolz
erhobenen Häuptern, auf benen hellrote Drügen meift ſehr weit
nad hinten gerheft faßen. Diefe Mügen hatten die Form von
umgebrehten kleinen niebrigen Naͤpfchen, nur Drei der jungen Leute
trugen folhe von anderer Faſſon, nämlich breite, hinten etwas
nad) abwaͤrts gedruͤckte Deckel.
Dieſe drei Schlappdeckel, wie bie anderen fie nach ihren Muͤtzen
nannten, gingen in fehr eifrigem Geſpraͤche abgefondert.
— „Eigentlich war's etwas gemagt von Schaunard, ausgerech ·
net die beiden Gracchen als feine Lieblings · Roͤmer zu nennen,
nachdem der Hohe Rat ihn wegen Sosialismus und Atheismus
ſchon mal hat ſchwenken wollen," fagte der eine, ein unterſetzter
339
Burſch mit fhläfrigen, aber nicht geiftlofen Augen und einem be ·
reits fehr dichten Schnurrbart.
— „Aber mein füßer Rodolphe! Du geruhft immer noch, dich
um brei Gramm dummer zu ſtellen, als wofuͤr du ung hältft. Du
weißt fo gut wie wir, daß Schaunard ein Pſychologe von vielen
Graden ift. Er hat dieſen fürtrefflihen Geheimrat bloß fehr gut
erkannt. Denn fiehe da: ſchon iſt er zu einer Privataudienz zuruͤck ·
behalten worden!”
Der das fagte, war ein duͤrrer bruͤnetter Menſch mit einer fehr
ſchoͤnen Nafe und munderfhönen braunen Augen, die leider hin«
ter fehr ſtarken Klemmergläfern faßen. Er ging etwas gebuͤckt,
aber nicht aus irgendeinem förperlichen Grunde, fondern aus phi ⸗
loſophiſcher Kofetterie. Es wäre ihm ein Vergnügen geweſen,
buckelig zu fein.
— „Marcel hat recht. Schläue und‘ abermals Schläue!
Heute hat Schaunard fein Abitur gemacht, ſag' ich! Das Bad-
pflaumenmännchen hat fi) in ihn verliebt und wird ihn trotz allen
fonreftoralen Gefrähes und Geheules durchſchleppen. Wetten?"
Der fo ſprach, war ein fehr Jung und zart ausfehender Juͤng ·
ling, der ſich aber ein bißchen renommiſtiſch gebärdete und damit
den fnabenhaften Eindrud feiner Perfon au vermifchen ſuchte.
Auffänig an ihm mar feine Haarfrifur, die etwas an Die Napo ⸗
leoniſche Zeit erinnerte, wo man es liebte, nach dem Vorbilde des
Eäfaren die Haare ins Geſicht und über die Ohren zu ftreidhen.
Wer Mürgers Bohome⸗Buch kennt, wird, nachdem die Na⸗
men Nobolphe, Marcel und Schaunard gefallen find, ohne
weiteres wiſſen, daß fi) diefer Juͤngling des Spignamens Eofine
erfreute. -
Diefe Spignamen waren übrigens In der Schule nicht allgemein
gültig, fondern ein Reſervatrecht des „Eenacle" oder ber Ver ·
einigung der vier Schlappdedel unter fi, die, als zukünftige
331
Dichter und Kuͤnſtler, wie fie ſich fühlten, fi das Zenakel in
Muͤrgers Vie de Bohöme zum Muſter genommen hatten und fo»
gar nach Moͤglichkeit die Ausdrucksweiſe ihrer Vorbilder nach ⸗
ahmten. Ste hielten ſich, im Gefühle ihrer Zukunft, ſehr exkluſiv
gegenuͤber den anderen Primanern, die eingeſtandenermaßen bloß
Paſtoren, Lehrer, Ärzte, Juriſten, Offtiere werden wollten, und
wurden baflır wieder von dieſen als uͤberſpannt und laͤcherlich ab ·
getan. Ihre buͤrgerliche Nomenklatur war dieſe:
Rodolphe: Bruno Wippert,
Marcel: Mar Stöffel,
Eoline: Ludwig Barmann,
Schaunard: Willibald Stilpe.
Stilpe mar der Gruͤnder des Zenafels und fein anerfanntes
Haupt. R .
Er war damals, nachdem er ſich von Martha getrennt hatte,
nicht gar weit gefommen. In Halle, das doch nicht auf der Route
Seipsig-Athen liegt, hatte man ihn in einem Tingeltangel feftge-
nommen, weil er In der Betrunkenheit unabläffig laut und rhyth ·
miſch geſchrien hatte:
(a+b)?=a?+2ab+b?
Auf die Poltzei gebracht und nad) dem Grunde biefer mathe
matiſchen Resitation gefragt, hatte er auf bie ihm drohende Rad»
prhfung in der Mathematit als einen hoͤchſt triftigen Grund hin-
gerviefen und überdies gebeten, man möge ihm feine Logarithmen ·
tafel holen, die in der Unterſekunda der Leipgiger Thomasſchule
Zoͤtus B auf feinem Plage liege, unten auf der legten Bank rechts.
Damit hatte er fi) sur Genuͤge als der durchgebrannte Symnaflaft
aus Leipzig legitimiert, deſſen Signalement auch auf der halleſchen
Poltget eingetroffen war.
332
Was ſich Dann begeben hat, bleibe im Schatten der Vergeſſen ·
beit, wie aud) Stilpe felbft nie mehr daran dachte. Denn er liebte
unangenehme Erinnerungen wenig und befaß ein ausgeſprochenes
Talent baflır, fatale Dinge zu vergeffen.
Es fehlte nicht viel, daß er Damals wirklich, aber nicht in Athen,
die Stelle eines Sekretär, aber nicht bei einem Privatgelehrten,
erhalten hätte. Der verzweifelte Lepibopterologe wollte ihn durch ·
aus als Schreibgehilfe bei der Magiſtratskamlei in Leißnig an-
fetten. Aber den Bitten der Mutter und ben guten Urteilen über
Willibalds Begabung, die einer feiner Leipsiger Lehrer abgab, gelang
es, ben Vater zu einem legten Verſuche zu bewegen. So fam
Stilpe an das eben begruͤndete Königliche Gymnaſium der Fleinen
Stadt, in dem er es jegt wirklich bis zum Oberprimaner gebracht
hatte.
* *
Auch bier war fein Studiengang nicht ohne Faͤhrlichkeiten ab ·
gelaufen, denn die Lehrerfonfereng bebachte Ihn mit ausgeseichnetem
Mißtrauen, indem fie ihn bald flr einen Freund wuͤſter Zechge ·
lage und bedenklicher Mädchen, bald für einen Propagandiften
gemeingefährlicher Ideen anfah.
Aber er war Flug geworden. Ohne nad) dem Ruhme eines
Muſterſchuͤlers zu geisen, aber auch ohne ſich irgend etwas ab-
gehen zu laffen, was er zu feinem Wohlbefinden fr nötig hielt,
Ienfte er das ſcharf beobachtete Schiff feiner Schuͤlerexiſtenz ge»
ſchickt zwiſchen allen Prägeptorenflippen hindurch, Indem er aufs
genauefte die Taftif befolgte, fi aller offenfundigen Dreanifefta-
tionen feiner Privatvergnügen zu enthalten. Er war, wie er es
ſelber einmal in feinem Immer uͤppiger werdenden Tagebuch aus ·
drückte, „au Höhe eines vorſichtigen Zyniters emporgeftiegen“,
Was er feine Orgien nannte, feierte er im Leipsig, und ben ver»
333
botenen Ideen frönte er U für ſich, ohne etwa In deutfchen Auf-
fägen, wie Damals als „biederer Sekundaner“, davon etwas mer ⸗
ken zu laffen. Bielmehr Pultivierte er jegt in feinen Schulauffägen,
deren Gewandtheit und Schwung fogar anerfannt wurde, eine
virtuoſenhafte Jongleurfunft mit mohlgebauten Phrafen, in Die er
nur die befiaffrebitierten Meinungen filbern und golben einfpann,
Zum Gluͤck lernte er in den Drei bereits genannten Kameraden
Leute von ähnlichen Neigungen kennen. Zwar achtete er fie nicht
für feiner ebenbürtig, ja er hatte fogar ein ſtilles Mitleid mit
ihnen, weil fie, wie er bemerfte, noch „einige biedere Züge von
Wopltöblicgfeit" hatten, aber er fühlte es doch als einen fehr ans
genehmen Zufall, daß er in ihnen „Inftrumente fand, auf denen
er fpielen fonnte". Eofine-Barmann war feine Bafgeige, Marcel»
Stoͤſſel fein Fagott, Rodolphe · Wippert feine Trommel, Natüuͤrlich
empfanden ſich die drei ſelber als beträchtlich mehr, und er feiner»
feits ließ es ihnen nur felten merken, daß er „auf ihnen ſpielte“.
Auch liebte er fie in einem gemiffen Sinne wirklich. Einer ganz
bingebenden Freundſchaft war er zwar nicht fähig, aber bie Fri
volität feines zur Schau getragenen Zynismus gegenüber biefen
Sreunden war doc) zum guten Teile bewußt angeſchminkt.
* *
*
Zuerft begann die Vereinigung der vier mit einem literarifchen
Zirkel, „Lenz“ genannt.
Diefer Titel galt in zweierlei Bedeutung. Einmal in der, wie
ihn die Lyriter als Synonym für Frühling verbrauchen, und dann
in der des Namens ihres literariſchen Hauptheiligen. Denn fie
lafen damals ausſchließlich Dichtungen der Sturm- und Drang
periode.
Dann ſchoben ſich Ibſen und die Ruſſen, dann Zola und der
Naturalismus ein, und nun wurde aus dem Leſezirkel, mo man
334
mit verteilten Rollen, Die Kindesmörberin”, „Sturm und Drang",
„Der Hofmeiſter“ gelefen hatte, ein Debattierflub, mo man vor
allem „Heren Schillinger“, den Dichter „bes pp. Wallenftein”,
vernichtete und Worträge folgender Art hielt: „Die Wahrheit als
einziges Prinzip der Kunſt“, „Inwiefern Naturalismus und So
Haldemofratie Parallelerſcheinungen find“, „Smile Zola und Hen-
rif Ibſen: die Tragefäulen der neuen Literatur”, „Worin liegt
die Gemeingefährlichfeit des fogenannten Idealismus ?
Zu biefer Zeit waren bie vier fehr rablat.
Ihr zweites Wort war: Konfequenz. Gewiſſe Namen burften,
bei hohen Strafen, bis zu 1wanzig Pfennigen, unter ihnen nicht
genannt werben, fo Paul Heyfe und Julius Wolf. Wer es magte,
„Schiller und Goethe” zu fagen, fatt „Goethe und Schiller“,
mußte, da gab es fein Erbarmen, Tabaf für ade vier auf einen
Monat kaufen. Aber auch Goethe galt nur für vol, „Infoweit er
nicht Geheimrat war". Das war fogar ftatutenmäßig fefigelegt.
Sphafefpeare wurde fortwährend und mit befonderer Ehrerbietung
genannt, aber doch mehr als „merkwuͤrdiges Phänomen eines
frühen Naturalismus“. Denn es fand ihnen feft, Daß die eigent ·
liche Literatur jegt erſt begänne, und Stilpe fhhrte den Gedanken
mit Vorliebe aus, daß man jegt in dem wirklichen Sturm und
Drang ftehe, aus dem ber „neue und ganze Goethe" hervorgehen
werde.
Wenn man ihn dann höhnifch fragte, ob er vielleicht Luft habe,
dieſe Role zu übernehmen, fo grinfte er mit fichtlicher Anftrengung
und fagte: „Vorderhand find mir ale Bloß Teig. Das Leben wird
ung erft fneten und baden."
— „Du aber haft die großen Roſinen,“ entgegnete ihm barauf
Stöffel.
— „Und dir fehlt es an Salz,“ revanchierte ſich Stilpe.
Barmann aber ließ etwas von „aufhnftigen Dreierhroten”
335
—— und Wippert meinte, auch Hundekuchen ſei ein Bad-
— dieſem Stile bewegten ſich die Verhandlungen des Debat-
tierflubs, wenn man aufs Perfönliche fan. Sonft war bie Aus:
drucksweiſe trog der naturaliftifhen Tendenz mehr auf höhere
Tropen bedacht.
* *
Aber eines Tages, es war ganz au Anfang bes Oberprima ⸗
Jahres, begann Stilpe in einem neuen Stile und von anderen
Dingen zu reden. Er baute fuͤrchterliche und ſchnoͤde Hyperbeln,
fand den „Naturalismus in Worten“ lachhaft, fragte, ob e# „in
biefem Neſte“ nicht ein Tricktrack gebe, und erflärte, die famofefte
Mädchenfigur der Weltliteratur fei Mamſell Dehfette. Dazı
kamen Die Worte: Nafenwärmer, Bohoͤme, Cönacle und eine große
Denge franzöfifcher Fluͤche. Auch trug er fortwährend ein Fleines
Buch aus der Reclambibliothek mit fi herum, das er fein Dres
vier nannte, Eine Woche fpäter fah man aber an deſſen Stelle ein
anderes, frangbfifches. Er fagte: „Ich lefe jegt meine Bibel im
Urtert."
Durch diefe Geheimtuerei von herablaſſend abgegebener Ans
deutungen fühlten fi) bie anderen beleibigt, und es wäre faſt zu
einem Bruch gefommen, denn Stilpe behanbelte fie im Grunde
wie kleine Knaben, die nicht wiſſen, was ein Maͤdchen iſt, da
ruͤckte der Adept endlich mit feinem Myſterium heraus, indem er
eine Berfammlung mit einem Schreiben einberief, das folgenden
Wortlaut hatte:
Die ehrenfeften und rühmlichft befannten Säulen des koͤnig ·
lich ſaͤchſiſchen Gymnafialnaturalismns zu . . . werden hiermit
fo höflich wie dringend eingeladen, in der beſcheidenen Der
hauſung des unterzeichneten Renegaten und Müfettiften Schau«
336
nard, weiland Stilpe, zu erſcheinen und außer zwei Steingut-
tellern mit Zwiebelwurſt und Muldekaviar einen Vortrag ent-
gegenzunehmen, beffen Titel und Thema ift:
Der Müfettismus
als einzige und eigentliche Künftlerreligion, nachgemiefen an dem
klaſſiſchen Werfe wahrer Künftlerfreiheit und Laune:
Stones de la Vie de Bohome
par
Henry Murger.
(RB.! Das Werk wird auch In einer Überfegung herumgereicht,
und im urtert find die ſchwierigeren Vokabeln in deut-
fer uͤberſetzung beigeſchrieben.)
Nach beendigtem Vortrag wird ber Unterzeichnete ſich bie
Freiheit nehmen, zu beantragen was folgt:
Der naturaliſtiſche Debattierklub wird aufgehoben, und an
ſeine Stelle tritt
Das Eönacle
der vier Schlappbedkel.
Zur Leitung der unausbleiblichen Debatte wird der ehren-
werte Naturalift Barmann berufen, fans er ſich fur die Dauer
biefes Ehrenamtes feiner ihm angeborenen Grobheit zu enthalten
verſpricht, die vielleicht einem Naturaliften, nicht aber einem
aufhnftigen Eönackter angemeffen if.
NRB.! Vier Parifer Nafenmärmer find heute eingetroffen und
ſtehen, aber erſt nad) Konftituierung des Cönacles, zur
Verfügung.
RB.! Der Unterzeichnete hat ſich in Anbetracht des ungewoͤhn ·
lichen und wichtigen Ereigniffes in Unfoften gefthrzt und
vier Slafchen Pontet Eanet (Marke: Le petit bien) her ·
beigeſchleift. Doch wird man gebeten, Weingläfer mit:
22 Bierbaum II 337
aubringen, ba es ſtilwidrig waͤre, Rotwein aus Bier⸗
ſeideln oder Kaffeetaſſen zu trinken.
N2.! Petita Molinarina wird die Honneurs der Schaunard⸗
ſchen Huͤtte machen, falls der gute Zufall, der Gott des
kuͤnftigen Eönacles, es fo einrichten ſollte, Daß die (haus
derhafte Mutter des erfreulichen Mädchens sur Zeit der
Feierlichkeit nicht au Haufe wäre.
NB.! Da die Schildfröte des Unterfertigten, deren Intelligenz
fo häufig als Überlegenes Gegenſtuͤck zu der des Hüh ⸗
WührKonreftors anerfannt worden ift, ſich leider ent»
ſchloſſen hat, feit vergangener Nacht als Leiche zu eri-
ftieren, fo erſcheint es angemeffen, fie Fünftig als Sym ·
bol des verewigten naturaliftifhen Debattierflubs in
pietaͤtvollen Ehren zu halten. Ste wird in einer rofa aus ·
wattierten Zigarrenfifte als Tafelſchmuck funktionieren.
NB.! Man fpanne feine Erwartungen hoch!
Schaunard.
Da man das Mufter diefer Einladung nicht kannte und uͤber⸗
haupt lauter Rätfeln gegenhberftand, fo wirkte das Schriftſtuͤck
auf die Drei ungewöhnlich ftarf.
Voͤllig verblüfft war man aber, als man, ber Einladung fol-
gend, Stilpe erblidte. Er präfentierte fi naͤmlich in Unterhofen
und Frack. Im Munde hatte er eine Furagebiffene rotbraune Ton»
pfelfe, und fein ganzes Benehmen war ungemein zeremoniell und _
feierlich.
— „petita Molinarina kann leider nicht gereicht werben. Diefe
beflagenswerte Bourgeoife hat fi) an meinen Unterhofen geftoßen
und mar nicht dahin au bringen, au begreifen, Daß dieſe nur als
Surrogat fir weiße Ranfingpantalons anzufehen und damit nicht
nur entſchuldigt, fondern geradezu In die Sphäre des Schönen
und Wohlanftändigen erhoben find. Dafuͤr iſt die Schildkroͤte mit
338
der ganzen Würde eines amphibifchen Leichnams zur Stelle. Sie
darf betrachtet werben, und ich bitte zu bemerken, wie fie im Tode
noch mehr ben rührenden Zug einer Familien und Inteligenz-
verwandtſchaft mit Sr. Bruͤllenz Huͤh ⸗· Wuh hat.“
Da auch der Rotwein feine Fiktion war, fo ſtand einer froͤh⸗
lichen Sitzungseroͤffnung nichts im Wege.
Barmann übernahm mit einem geharnifchten Protefte gegen den
Vorwurf der Grobheit den Vorfig. Seine Eröffnungsanfprache,
die er ohne Zmeifel auswendig gelernt hatte, ſchloß ſchwungvoll fo:
— „And nun möge Stilpe, den wir einſtweilen noch fo und
nicht anders nennen wollen, feinen Vortrag halten, an ben fid ein
fo wichtiger Antrag knuͤpfen ſoll. Ich bin beauftragt, ihm au er»
flären, daß mir ernftlich Imdigniert fein werden, wenn fid feine
Machination (Stilpe: Oho!) als Srivolität entpuppen follte.
Wir find bereit, uns uͤberzeugen au laffen, aber wir werben ent«
ſchieden und ſcharf Front machen gegen jeden Verſuch, unfere
augenblidlichen Prinzipien (Stilpe: Sehr gut!) nur mit den billi«
gen Waffen feihten Witzes (Stilpe: Tautologie!) anzugreifen.
(Stöffel und Wippert: Bravo!) Stilpe hat das Wort!"
Stilpe erhob ſich und machte jedem einzelnen, zuerft dem Bor»
figenden, eine tiefe Derbeugung, wobei er beide Hände auf den
Bauch legte. Dann fuhr er fi mit entſchloſſenen Singerfamm-
ſtrichen durch die Haare, ſchleuderte feinen Zwicker (ſaͤmtliche
Schlappdeckel trugen ſchwarze Hornzwicker mit ſehr breiten Bän-
bern) mie etwas uͤberaus Läftiges von ſich und begann:
Meine Herren Naturaliften!
Gleich vier Edelauftern unter unzähligen Maſſen niebrigen
Kümmeltäfes, harter Picklinge, zerkruͤmmter Sardellen und an-
derer Mobdelikateſſen verwandter Art befinden mir ung in dieſer
ſchaͤbigen Induſtrieſtadt und verſuchen es, wenigſtens unter ung
den Sinn für Geiftiges zu fultivieren.
22° 339
Wir haben zuerft Das denkwuͤrdige Befefränzchen „Lenz“ gegruͤn ·
bet und unterhalten, indem mir uns an ben fühnen, wenn auch Fünfte
leriſch mangelhaften Beftrebungen der Sturm uud Drangbichter
erbauten, bie unter dem Rouſſeaurufe „retournons & Ia nature”
den Limonadenteich der bamaligen Mobeliteratur mit riefigen
Klumpen Edelmetans aus dem Schachte Ihrer Seelen ausfhüten
und damit befeitigten. (Wippert: Iſt das Bild von Dir? Stilpe:
Ich gebe nur eigene Münze aus und verbitte mir im uͤbrigen
Zwiſchenrufe von beleibigender Fraglichkeit. Barmann: Die Kri-
tit der Zwiſchenruſe fteht bei mir. Stilpe macht Drei Verbeugungen
vor der Perfon des Vorſitzenden.)
Nachdem mir Damit su Ende waren und feine Luft verſpuͤrten,
die deutſchen Klaffifer, die im Pennal ohnehin genug malträtiert
und zu Popanzen ber Langenweile mumifiziert werben, auch unſerer ·
feits privatim zu traftieren, haben wir uns, mitgeriſſen von ber
modernen Sturm» und Drangbewegung, entſchloſſen, den keſe ⸗
siefel Lenz durch einen natwraliftifchen Debattierfiub abzulöfen.
Wir haben die Hauptwerke der norbifchen, franzöfifchen, ruſſiſchen
und deutſchen Naturaliften nicht allein gelefen, fondern aud) in
heißen Debatten eingehend beſprochen, und wir haben fo, während
unfere biebere Lehrerſchaft von der Eriftenz einer ſolchen Literature
bewegung nicht viel mehr weiß, als eine Hebamme von unferer
lieben Frau Afpafia (Allgemeines Bravo! Ausgezeichnet! Samos!),
in ung alles aufgenommen, was heute in ber Literatur aller Böl«
fer bewegend iſt. Wir Fönnen, wenn uns auch bei Diefer Gelegen ·
heit einige unregelmäßige Verba im Griechiſchen entfallen fein
fonten (Stöffel: Dan denke!), auf dieſe Tatſache ftols fein, denn
wir haben nad) dem ewig sitierten, aber fonft nie befolgten Sage
gehandelt: Non ſcholae, feb vitae discimus. (Barmann, fehr laut:
Jawohl! Haben wir auch! Stilpe: Gewiß haben wir!)
Wem aber fol unfer Leben dienen?
340
Irgendeinem biefer ſackleinenen „wiſſenſchaftlichen Broter ·
werbe, als da find: Die Lehre, den Menſchen juriſtiſch zu verbloͤ⸗
den, bie Lehre, den Menſchen theologifch su kaſtrieren, Die Lehre,
den Menſchen mebizinifch zu vergiften, die Lehre, den Menſchen
philoſophiſch zu benebeln, die Lehre, den Menſchen philologiſch zu
verſchweinsledern?
Bei allen ſchoͤnen Maͤdchen und guten Geiſtern, wir rufen: Nein!
Sapriſti! Nein! (Tofender Beifall. Barmann ſchwingt Die Arme.)
unſer eben ſoll der Kunſt dienen! Wir wollen Dichter werben!
(Stäferflingen. Hörbare tiefe Schlude. Stilpe lächelt.)
Aber eben darum, meine lieben Debattiernaturaliften, muͤſſen wir
jest unferen Debattierklub auflöfen, dem Naturalismus Lebewohl
fogen und den Muͤſettismus proflamieren! (Ale möglichen Rufe
durcheinander: Wiefo!? Was iſt das!? Nur nicht fo fir!? Wo
haft du denn das her?) "
Und nun erging fi Stilpe in einer Schilderung der Mürger-
ſchen Bohöme, als eines Muſters für ale kuͤnſtleriſchen Seelen,
die nicht bloß von Kunft reden, fondern Kunft leben wollten.
Natürlich fe „Diefer Haufen Steine hier” nicht Paris, und
fie felber ſeien ja noch flr elf Donate „Seifteigene verſchiedener
patentierter Knabenersteher”, aber der Grundgedanke dieſes vor-
bilblichen Lebens: die Verbindung von Kunft und Genuß, von
revolutionaͤrem Streben und „Ladhefinn” (das Wort wurde be-
anflandet), furz das, was er Müfettismus nenne, der muͤſſe und
koͤnne gepflegt werben.
um praftifch au reden: man muͤſſe, flatt über Naturalismus
au debattieren, in fröhlichen Zufammenfünften brav trinken und
eigene Sieber fingen, man muͤſſe ſich entfprechende Maͤdchen bei-
legen, kurz man muͤſſe nicht bloß in Worten, fondern in Werfen
„bald zwanzig” fein. So erft werde man ſich dem zufünftigen Be»
rufe recht vorbilden:
341
Et nous chanterons & la ronde,
St vous voule,
Due je l'adore, et qu'elle eft blonde
Eomme les blos!
Stilpes glutvole Rede und zumal die Zitate aus dem Zigeuner»
leben wirkten abfolut überzeugend, und der Antrag auf Gründung
bes Zenafels wurde mit ungewöhnlicher Begeifterung durch Affla-
mation angenommen,
— „Vie le cönacle! Bine le cönacle!”'
Stilpe fonnte die eigentliche Sigung mit der Verteilung der
„Nafenwärmer" fliegen, aus denen innerhalb einer Biertelftunde
ſolche Maſſen von Tabafraud produziert wurden, daß man Die Not ·
wendigkeit einfah, morgen in die Schule andere Röde anzuyiehen.
— „Bie le cönacle! Bine le cönacle!""
*
Das Zenafel ſchloß die vier Schlappdeckel noch viel enger an»
einander, als es die früheren Vereinigungen getan hatten.
In diefem Muͤſettiſtenklub lagen denn doch noch ganz andere
Reize und Hilfsmittel der Freundſchaft als in jenen Deflamter-
und Debattiersicfeln.
Zwar waren auch jene unerlaubter und baher verführerifdher
Natur gemwefen, aber ihr Fehler war Einfeltigfeit. Sie hatten die
firogende Fuͤlle des Unerlaubten nicht kuͤhn genug erfhöpft. Stilpe
hatte das fehr Mar erfannt und mit den an feine Lektüre von
Buͤchners Kraft und Stoff erinnernden Worten ausgedruͤckt: Wir
haben an einer Hypertrophie der Zerebralbebtirfniffe gelitten: be
finnen wir uns auf die — Niederlande, (hier hatte er gewartet,
ob man feinen Witz verftinde;, da es nicht den Anſchein hatte,
fügte er erflärend hinzu) —: wir muͤſſen unferen werten Sinnen
auch was zukommen laffen.
342
Aber das war es nicht allen.
Eine Hauptfuggeftion lag in dem Worte: Paris.
Die vier Oberprimaner fphrten das Komifche, das in ihrer
Imitation lag, nur wenig (bisweilen nämlid doch, anflugweiſe),
aber fie empfanden es als etwas verteufelt Keckes und Linder
ſchaͤmtes, den Ausbund der franzoͤſiſchen Kuͤnſtlerſchaft su Fopie-
ten. Natuͤrlich fonnte die Kopie nicht fehr treu fein, aber das mar
ein Rein mehr, daß fie Ihre Muſter in vielen Beziehungen menden
und drehen mußten.
Sie trieben den verruͤckteſten Unfug.
Die tote Schildfröte wurde allmaͤhlich ihr Wahrzeichen, Indem
fie fi daran erinnerten, daß eine Schildkroͤtenſchale Das Urmate ·
rial zur griechiſchen Lyra abgegeben hatte.
Da fie, was Tricktrack fei, nicht ausfindig machen fonnten, und
es ihnen hoͤchſt notwendig erſchien, auch ihrerfeits etwas zu fpielen,
das nicht an den üblichen Stat der deutſchen Primaner erinnerte,
fo legten fie ſich ein japaniſches Brettſpiel bei, Das „die Gabe
hatte, jeden, ber im Verdauen mar, unfehlbar und angenehm zu
idiotiſieren“, wie Stilpe behauptete,
Mit Eifer frequentierte man die fonntägigen Tanzvergnligungen
auf den benachbarten Dörfern, die Kuhſchwoͤfe“, doch ſtellte es
fi) bald heraus, daß ſich dort nichts fände, was auch nur mit
„Phomie Teinturlöre” verglichen werden fonnte, geſchweige denn
mit Mimi oder der voͤllig goͤtzendieneriſch verehrten Muͤſette.
Dafuͤr verliebte ſich Stoͤſſel in die Tochter eines Gerbers, Wips
pert in die eines Viktualienhaͤndlers und Barmann, der immer
was ganz Ausgefallenes haben mußte, in das boshafteſte und haͤß ⸗
lichſte Maͤdchen der Stadt, die Toter eines Arztes.
Diefe Liebſchaften fand Stilpe alleſamt blamabel, denn, fo fagte
er, ſelbſt ein blindes Huhn fieht, daß fie irreparabel platonifcher
Natur find.
343
Daftr ging er felber ein vofommen und zelbewußt unplato-
niſches Verhältnis mit dem Dienſtmaͤdchen feiner Wirtsleute ein,
einem ſtaͤmmig liebenswuͤrdigen Weſen, das ſich flr ihn hätte vier ·
teilen laſſen, ſo verliebt war es in ihn.
Er machte ganz heilloſe Gedichte auf dieſes Verhältnis, und es
gehörte mu ben ſtuͤrmiſchſten Augenblicken der Zenatelufammen-
tünfte, wenn er dieſe freien Rhythmen losließ, Die an uͤberſchweng ·
lichkeit alles in den Schatten ſtellten, was den Schlappvedeln an
erotifcher Lyrik befannt war. Im übrigen wurden die Zenafel-
aufammenfünfte mit Teetrinfen (doch war viel Rum dabei) und
den ungeheuerlichften Geſpraͤchen ausgefünt.
Es durfte von allem geſprochen werden, nur nicht von ber
Säule. Hauptſaͤchlich ſprach man von zukünftigen dichteriſchen
Plänen. Stöffel, der zugleich Muſiker war, wolte Opern dichten
und fomponieren, „wißt ihr, Opern moderner Art, von fabel-
hafter Siunenfreudigfeit, ungeheuer umfaſſend, allegoriſch, aber
"lebendig!"
Mehr war daruͤber nicht zu erfahren, und wenn er am Klavier
faß, fam’s immer auf bie ungariſchen Rhapſodien von Eifst heraus.
Wippert hatte vornehmlich ſatiriſche Pläne. „Suvenatia” ſollte
fein erftes Werf heißen mit dem Untertitel: Ein Hechelepos in ſie ·
ben Zinken. Jede Zinke folte „einen Hauptftand der gegenwärtigen
Ordnung gerfirählen". Die erfte Zinke, in gereimten Herametern,
behandelte die Sippe der Gymnaſiallehrer und begann fo:
Straͤhle mir, Zinke, den Mann, der ſchwitzend auf dem Katheder
Mit pöhfteigener Hand verteilt fein eigenes Leder!
Barmann hatte noch viel vom alten und neuen Sturm und
Drang. Obwohl er am wenigſten von ber wirklichen Welt wußte
(wie denn ale, mit Ausnahme Stilpes, ziemlich unwiſſend in bie
fem Punkte waren), haßte er dieſe Welt doch mit einem fehr grim-
migen Haffe und wollte ihr „In machtvoll wahren, meinethalben
344
fraffen Dramen einen Spiegel vorhalten, daß fie ſich vor Selbſt⸗
etel übergeben ſollte.
Stilpe aber hatte fo viel Pläne, Daß niemand recht wußte, was
er eigentlich vorhatte.
Manchmal fühlten fie ihm hoͤhniſch auf den Zahn: ob er viel-
leicht immer bloß feine jeweiligen Betthafen befingen wone?
Er aber antwortete gelaffen: „Wohl möglich! Jedenfalls wird
immer mein Prinzip fein: Erſt leben und dann dichten! Ich heiße
doch nicht Muͤller von der Werra, faprifti! Ich bin doc nicht
bloß zum Sfandieren da! Das Dichten tft bloß Wiederkaͤuen des
Genuſſes. Aber um mieberfäuen zu koͤnnen, muß man vorgefäut
haben. Verlaßt euch drauf: ich werde enorm vorfäuen!"
Die anderen fühlten inftinftio, daß er ber einzige unter ihnen
war, der fein Programm ficher durchführen würde, und fie hatten
deshalb viel Nefpeft vor ihm, obwohl fie auch nicht ohne Reid
waren.
« «
”
So rollte das Jahr bis an Die Schwelle der Abiturientenprüfung.
Dis auf Stilpe waren die Schlappdeckel fo siemlich fidher, daß
fie das Epamen beftehen würden. Was aber ihn anging, fo hatte
Barmann recht gehabt, als er fagte, daß auch er jegt fo gut wie
durchgekommen fei, da der Königliche Kommiffarius ein fo aufs
fäniges Intereffe flr ihn an den Tag legte.
Der alte Geheimrat Ammer hatte ſchon aus den deutſchen Auf-
fägen dieſes zwar begabten, aber fonft in mehr als einer Ber
aehung bebenflichen Schuͤlers“, wie er ihm bezeichnet worden war,
gefehen, Daß Stilpe in der Tat ein merfwürdig fruͤhreifer Kopf und
überhaupt ein ungewoͤhnlich angelegter Juͤngling fei. Die Probe-
ftunde mit den Abiturienten hatte ihm das noch deutlicher gezeigt.
Er hatte die Primaner aufgefordert, ihm zu fagen, welche Maͤnner ·
345
geftalten ihnen aus dem Altertum am nächften ftünden. Die Ant-
worten lauteten durchgängig fo, daß er fidh über die voͤllige Gleich
gültigfeit, Die Die jungen Herren gegenüber den antifen Maͤnnern
empfanden, fehr klar wurde.
Wie oft war Odyſſeus genannt worden, fogar Eicero dreimal!
Nur dieſer Stilpe hatte die Eourage gehabt, Die beiden Gracchen
au nennen und „mit ſchoͤner Offenheit“, wie der Kommiſſarius
meinte, zu erflären, fie ſeien ihm deshalb beſonders Lieb, weil fie ihn
faft modern anmuteten in ihren fostalpolitifhen Forderungen“.
Der Geheimrat machte ſich fogleih ein Bild von der Ent»
wickelung dieſes ungewöhnlichen Juͤnglings, wie fie fich geftalten
würde, wen man ihn rechtzeitig und früh auf bie richtigen Bah ·
nen Ienfte. Unzweifelhaft: ein zukuͤnftiger Publiziſt! Jetzt natuͤr ·
lich noch unreif und verworren, eines Tages wahrſcheinlich fozlal-
demokratiſcher Idealiſt, aber dann, immer eine geſchickte Beein ⸗
fluſſung vorausgeſetzt, wahrſcheinlich einmal eine glänzende und
fefte Stüge der ftaatserhaltenden Infitutionen!
Diefer alte Geheimrat war ein fehr kluger Herr und ärgerte
fi) im ſtillen rechtſchaffen über die Plumpheit, mit der fidh Die
kehrerſchaften der verſchiedenen Symnafien die Gelegenheit entgehen
ließen, Talente für den Staat zu erziehen, die den ſtaatsfeindlichen
Gewalten in der Hauptfache beshalb zum Opfer fielen, weil fie
ſich ſchon auf der Schulbant zu Revolutiondren geftempelt fahen.
Sein Beſtreben war, wenigftens im legten Augenblide gutju-
machen, was noch gutzumachen war. Daher auch fein Verhal⸗
ten Stilpen gegenüber.
Er behielt ihn, als die anderen Schhler fortgingen, zuruͤck und
machte den Weg In fein Hotel mit ihm sufammen. Dabei verhehlte
er ihm nicht, daß feine Ausfihten, das Eramen zu beftehen, nicht
eben glänzend wären, aber er ließ auch deutlich durchblicken, daß
mancherlei zu feinen Gunften in die Wagſchale fiele.
346
— „Nehmen Ste beim deutfchen Auffag ade Kräfte sufammen!
Gelingt der Ihnen fo gut wie die häuslichen Auffäge, fo haben
Sie viel gewonnen. In der mündlichen Prüfung hoffe ich mir
eine gute Leiftung im uͤberſetzen aus dem Griechiſchen und Eatel-
niſchen ins Deutfche. Zeigen Sie, daß Ste den Geift der Alten
ſchnell erfaffen fönnen! Daß Sie fo manches, zumal Mathematif
und ales Grammatitalifche, fo vernachläffigt haben, ift ſchlimm,
fehr ſchlimm, aber, wenn Sie zeigen, daß Sie dafuͤr anderen Din-
gen um fo mehr Liebe entgegenbringen, dann wird fi) das gelin-
der anfehen laffen. Und nun noch dies: Was Sie auf der Schule
in Hinſicht der fittlichen Fuͤhrung gefehlt haben, machen Ste das
auf der Univerfität gut! Wenn Sie, wie ich hoffe, auf unferer
Eandesuntverfität ftudieren werden, fo wird es mir eine liebe Auf ·
gabe fein, Ste in den Augen zu Behalten. Vergeffen Ste das
nicht!"
Stilpe antwortete mit edler Offenheit und in gut autage ge»
förderten Sägen, die eine heiße Dankbarkeit und tiefe Vorſatz⸗
nahme alles Guten ſchoͤn erfennen ließen.
Der Kommiffartus: „So ſei es! Ich hoffe, wir werben ung auch
in veränderten Verhältniffen noch fehen und fprechen. Meine
Anteilnahme für Ste gründet ſich auf eine gute Meinung und
wird fo lange andauern wie diefe. Denken Sie immer daran! Es
handelt fi um mehr als die Reifeprüfung.“
Stilpe (ſehr leife und mit einer faft zaͤrtlichen Tonfärbung):
Ich werde immer an biefe gütigen Worte denken und beſtrebt fein,
mich ihrer würdig zu erweiſen.“
Händebrud und ein tiefer Abwaͤrtsſchwung der Schlappmuͤtze.
« “
Als der Geheimrat verfhmwunden war, ſetzte Stilpe feine Muͤtze
nicht wie fonft auf den Hinterkopf, fondern tief in bie Stirne, Er
Br 347
Fam ſich unendlich brav vor und ſtieß feine Vergangenheit ener-
Süd von fi.
Kein Zweifel: er würde das Eramen beftehen! Und mehr noch:
feine Zufunft war gemacht.
Diefer Geheimrat hatte erfannt, was in ihm fledte, und es
waͤre ein Frevel, fein Vertrauen zu täufchen. Wer weiß, mas er
mit ihm vorhatte! Offenbar ganz hohe Poften!
So etwa als literariſcher Negierungsfefretär oder . . . aber
gleichniel: irgend etwas fehr Angefehenes. Natuͤrlich: erft fiu«
dieren, und zwar neben Kunſtgeſchichte und Literatur auch Juris
Seine alten Pläne waren durchaus verfunfen. Hier winfte Au:
Berordentliches! War nicht auch Goethe Gcheimrat und Miniſter
geweſen?
Das war's, was winkte! Die Verbindung von Staatsmann
und Poet.
Sollte er etwa wie Lenz untergehn? Nein: feine Sturm» und
Drangperiove war vorher. Endguͤltig.
Hinter ihm Nebel des Wuͤſtſeins, vor ihm die breite, fonnen-
helle Drarmortreppe zu Einfluß und Ruhm und Reichtum.
Dh, dieſe Efelhaftigfeit, su vergeſſen, daß ohne Reichtum Ge
nuß undenfbar ifl.
Was wär’ ich geworden? Ein genialer Lump! Eine hungrige
Beruͤhmtheit, nein, pfui Teufel, ein Literat!
Was hätt’ ich gehabt? Nichts zu effen und mebiofre Weiber,
Naͤhmaͤdchen, höchftens Ehoriftinnen.
Nun aber: Stelung und Anfehen! Mitten in den hoͤchſten
Kreifen!
Ah, diefe ariftofratifchen Damen! Alles an ihnen Schönheit
und Eleganz, rauſchende Seide, feinfter Geiſt!
Er fah einen ganzen Hoſball vor ſich von nadten Schultern
348
und Brüften, Diademe in duftenden Haaren, heiße Slide hinter
Straußfederfächern. Und er fing gleich zu bialogifieren an:
— „Ab, Errelenz, Ihr legtes Drama, wie herrlich!"
— „Hat es Em. Hoheit Beifall?
— „Ach, ich bin hingeriſſen!“
Und die Herzogin ſah ihn gluͤhend an, dieſe Herzogin, bie geift
reichſte Frau des Hofes, und fo jung und ſchoͤn! Ah!
Ein ganger Roman entzuͤndete fih in ihm. Zulegt lag er ber
Herzogin zu Füßen und kuͤßte ihr bie Knie, und fie neigte ſich über
ihn, und er füßte fie auf die ...
— „Höh! Schaunard! Mufterfnade! Favorit! Prima-Notar
Juͤngling!
Die drei Schlappdeckel! Ekelhaft!
Er machte ein aͤrgerliches Geſicht:
— „Was wollt ihr!!!“
— „Ra! Ra! Ra! Stolz und grob mie ein Guͤnſtling!
— „Ich verbitte mir dieſe Albernheiten.
— Foͤſtlich! Er verbittet fh!"
— „Er ver—bit—tet fh!"
— „Unglaubli! Weil ihm der Geheimrat die Hand gedruͤckt
hat, ift er übergefchnappt."
— „Das ift ein Zeichen von ſchwacher Zerebralfonftitutton.”
— „Affen!“
— „Hahahaa!
— „Er ſieht förmlich friſiert aus.“
— „Gudt nur, wie er bie Muͤtze aufhat!"
— „Er hat ja einen Heiligenſchein !
— „Sogar swele, einen um den Kopf und einen um ben Hin ·
tern.’
— „Aber ein bißchen verblöbet fieht er aus."
— „Man könnte faſt ftupid ſagen.“
349
Stilpe machte ein Zeichen der Verachtung, und zwar fo: er fuhr
über die duͤnn ftehenden ſchwarzen Haare feines Schnurrhartes und
huftete dann in die Hand.
— „Der reine Geſandtſchaftsattachoͤ!“
— „Ich glaube, der Geheimrat hat ihm einen Schwur abge»
nommen, Juriſt zu werden.”
— „Habe wenigftens die Gnade, uns zu fagen, ob du noch mit
ung verfehren willſt.“
Das fagte Stöffel. Aber Barmann fuhr hinterdrein:
— „Bas! Er! Ob er win! Ob wir wollen! Das iſt die
Frage! Ein Menſch, der offenbar zu Kreuze gefrochen if! Ein
Renegat!
Wippert: „Ein Feigling!
Barmann: „Pater peccavi hat er gemacht!“
Stöffel: „Höre mal, mein Lieber, du haft wohl bie Beiden Grac-
hen zuruͤckgenommen?
Barmann: „Ja, und Eicero als Lieblingsroͤmer proflamiert, wie
diefer Stint, der brave Müfer-Emil!”
Das war Stilpen zuviel. Diefer Vergleich wählte feine ganze
Natur auf, und er ſprach:
— „So! Alfo bis zu Diefer Niedertraͤchtigkeit depraviert euch
ein jämmerlicher Neid! Wißt ihr, was ich getan habe? Ich habe
biefem Biedermann gefagt: Nicht die beiden Gracchen verehre Ich
am hoͤchſten, denn das find die Nationalliberalen des alten Rom,
und fie fommen mir vor, wie zwei rot angemalte Zuckerſtengel...“
— „Das haft du nicht gefagt!"
— „Beim Momus, das hab’ ich gefagt! Und noch mas hab’ ich
gefagt: Mir imponiert uͤberhaupt gar feiner in der ganzen Toga-
Gefenfchaft mit Ausnahme von ...“
— „Von ...18...00...?
— „Bon Katilina!
350
— „Donneretter! Iſt der Kerl nicht in Ohnmacht gefallen?
— „Ach der! So ein Amphibium! Habt ihr nicht bemerkt, daß
er ausfieht, ald wenn er einem Aquarlum entfprungen wäre? Wenn
man ihn grün anfteiche, Fönnte man ihn von einem Laubfrofch nicht
mehr unterfcheiden.”
So ſprach Schaunard.
Sechſtes Kapitel
tilpe kam, während er ſich auf das Abiturienteneramen vor»
bereitete, noch manchmal auf feine Hofbihterphantafien,
wie er es nun nannte, zuruͤck. Die Vorſtellung, einmal eine Rolle
in der großen Welt zu fpielen und dabei Verhältniffe mit Hero»
ginnen anzufnüpfen, tat ihm zu wohl, als daß er endgültig auf fie
versichten ſollte. Aber im ganzen erwies fich Henry Mürger doch
färfer als Geheimrat Ammer.
Wenn ſich beides vereinigen ließe! war fein Lieblingsgedanke.
Und er verfabulterte ſich auch dieſen Gedanken.
Barum fonte es nicht möglich fein? Es fam lediglich auf den
Potentaten an, mit dem er es zu tun haben wuͤrde.
War nicht Karl Auguf anfangs ein fehr fideler Bruder gewe ·
fen? Hatte er nicht auch mit der Neitpeitfche geknallt? Daß er
ſchließlich fo gräßlich ernfthaft geworden ift, wer war daran ſchuld,
wenn nicht Goethe felber, der eben in fi den Geheimratsfeim
ſchon geerbt hatte von feinem Vater?
Goethe und Lenz in einer Perfon zu fein, das mar das Problem,
das war das deal! Indeſſen Dachte er dabei doch mehr an Lenz,
als an Goethe.
Auch Günther, dem „fein Leben wie fein Dichten zerrann“, fiel
ihm zuweilen ein, doch fannte er von biefem nichts. Aber er ver»
351
ehrte ihn fehr und nannte ihn oft, nur eben, weil Goethe fo von
ihm gefprochen hatte.
— Ein fabelhafter Kerl, dieſer Günther! dachte er bei fih, und
ex las oft, was Goethe über ihn gefchrieben hat. Dan fonte ihn
eigentlich leſen. Na, fpäter!
Überhaupt, er ſchob jetzt noch mehr auf, als es ohnehin feine
Art war.
Das Eramen bedruͤckte ihn doch, obwohl er nicht mehr daran
ameifelte, daß er durchkommen würde. Aber es blieb eine unange ·
nehme Perfpeftive und fatal wie alles Unvermeidliche.
Sein Haupttroft war Berta, das Dienfimädchen.
In deinen blauen Augen, Schaf,
Sind keine Wolken,
Alſo fage ich: Es gibt
Keine Bolten.
Stöffel machte eine Parodie auf diefe freien Rhythmen:
Unter deinen tümpelbraunen Augen, Schaunard,
Sind (hwwarzegrüne Wolken.
Alſo fage ich: du biſt
Cine ſchwarygruͤne Wolke,
Und das war richtig · Stilpe ſah fehr ſchlecht aus, fo ſchlecht,
daß man wirklich glauben konnte, er uͤberarbeite fi wegen des
Eramens.
Er fand das riefig Interefant und gemöhnte fi) überdies an,
bie Lippen nad) unten zu siehen, um Das Anfehen beftänbiger Welt ·
verachtung zu haben. Freilich flimmte das nicht ur Heiterkeits ⸗
deviſe bes Zenafels, aber eben das war wieder parador, und das
Paradore hielt Stilpe damals fhr die Hauptfache.
“ x
.
Das Eramen fam heran. Alle Vorbereitungen waren getroffen.
352
Die Überfegung ins Griechiſche abonnierte er bei Wippert, die ins
Lateiniſche bet Barmann, die Mathematifaufgabe bei Stöffel. Es
mar fehr gut, daß fhr jedes Manko feiner Schultuͤchtigkeit im Ze-
nafel Rat gefchafft werben konnte.
— „Wir find Die reinen Sreimaurer,” fagte Stilpe, „wir laffen
feinen „*,Bruber banferott gehen. Es lebe Müfette! Es lebe der
Kommunismus der Überfläffigen Kenntniffe! Schade, Daß ich euch
gar nichts Dagegenbieten Tann. Hoͤchſtens, daß Barmann von mei-
nem frangöfifchen Stile sehren koͤnnte.“
Aber Barmann verzichtete und meinte, er koͤnne feine gramma-
tikaliſchen Fehler alleine machen.
*
*
Und es ging alles gut voruͤbet, obwohl Stilpe die Dathematif-
aufgabe fogar falſch abſchrieb. Daflır errang er einen Triumph im
deutſchen Auffag, der das tiefe Thema behandelte: Wie befreite
fi) Goethe von den Fehlern der Sturm» und Drangperiobe?
Hei, wie da Stilpe ins Zeug ging! Er war ganz Hofpoet, ganz
Harmonie, ganz „Weltauge". Ohne es ſich merfen zu laſſen, na⸗
tuͤrlich, identifizierte er fich während ber fünf Stunden, da er feine
Perioden baute, voͤllig mit Goethe und endete mit einem feierlichen
Panegyrikus auf Karl Auguſt, der gleichfalls, aus Sturmund Drang
emporgedieh zur fuͤrſtlichen Ruhe ſchoͤnheitbeſchirmender Macht".
So gut hatte er den Koͤniglichen Kommiſſarius verſtanden.
Auch im mündlichen Examen ging alles vortrefflich, und Das
Ende war, daß Stilpe mit Rote 25 Das Zeugnis der Reife zum
Univerfitätsftubium erhielt.
* *
*
Eine große Zenatelfeier ſchloß ſich der Verkuͤndigung der Era-
menergebnifle an.
23 Bierbaum II 353
Man tranf lediglich deutſchen Schaummein und Stilpe vet ·
wahrte fi) gegen ae literariſchen Geſpraͤche. Daflır wurde leb⸗
haft daruͤber debattiert, 06 ein Zenaflier in ein Korps oder in
eine Burſchenſchaft einfpringen muͤſſe. Man fam aber zu feinem
Entſchluß, fondern fegte feft, Daß daruͤber endgültig in einer letzten
Zenafelfigung gu befinden fei, Die man im Freien, Draußen an den
Ufern der Mulde, abhalten wollte.
Im übrigen waren alle vier vollkommen betrunfen, als dieſer
Beſchluß gefaßt wurde, Stilpe aber immerhin noch mehr als bie
anderen. Ex wollte durchaus ein Korps „Berta” gründen und
rief beharrlich mit lallender Stimme: Berta fei’s Panter!
* *
Der Abiturientenball war voruͤber, ber Abiturientenkommers
war vorhber. Nun Fam am legten Tage ihres Aufenthaltes in der
Gymnaſialſtadt die Schlußfigung des Zenafels.
Bedecdt mit großen ſchwarzen weichen Filzhuten (aber Stilpes
Hut war der breitefte) wanderten fie zu einem an der Mulde ger
legenen Dorfe. Jeder trug einen dicken Spagterftodt, jeder trug ein
rotes Klemmerband. Jeder lächelte fouverän, wenn Bürgerin und
Buͤrgersmann mauloffen fiehen blieb. Aber Stilpe lächelte am fou-
veränften, denn er trug in der Iinfen Hand bie Schilbfröte.
Als fie dem Polisiften begegneten, der fie einmal abends beinahe
arretiert hätte, Lhftete Stilpe mit großem Schwunge feinen Hut
und fragte. ihn:
— „Sagen Sie, Buͤrger Rationalgardift, ft Das der Weg ins
Bois de Boulogne?"'
— Quatſch!“ antwortete der Poltzeibiener, worauf Stilpe
den Kopf ſchuͤttelte und bemerkte:
— „Diefer Sunftionär fpeicht ein ungewöhnliches Sranzöfifch.
Er ſcheint das hiefige Gymnaſium frequentiert zu haben.”
354
— „Der Fruͤhling ſcheint mir noch nicht ganz fertig zu fein,”
fagte Stöffel, als fie außerhalb der Stadt waren.
— „Es ift der richtige Mulus · Fruͤhling,“ erwiderte Wippert.
— „Der Religionslehrer an der höheren Bildungsanſtalt dieſer
Stadt würde fagen: Mit ein wenig mehr Eifer hätte der Schuͤler
fein Ziel vollkommener erreichen koͤnnen!“ fügte Wippert hinzu.
Stilpe aber fang, indem er Fechthiebe phantaftifcher Natur in
die Euft ſchlug:
Der Fruͤhling iſt ein Mädden,
Das Berta Linke heißt
D weh, daß aus dem Städeden
Sqaunard, der Knabe, reiſt,
Ein Knabe fonder Makel.
Der Knabe Schaunard,
Der treu dem Zenakel
Und Sräulein Berta war.
h! Obeh
Das Leben iſt cin Kuhſchwof.
Und Shheiden tue nicht weh.
Sofort ſchwangen bie drei gleichfans ihre Stöde und fangen
mit Übereugung:
Oheh! Oheh!
Das sehen iſt ein Kuhſchwof,
Und Sceiden tut nicht weh.
Stilpe aber fang weiter (es hatte ben Anfchein einer forgfamen
Vorbereitung):
23°
Der Tacitus
IM kein Genuß,
Wenn man ihn präparieren muß.
Dagegen lieh” ic) ſeht
Den Vater Domer,
Denn ich lefe, denn’ ich leſe
Denn ich leſ ihn nimmermeßr!
355
Stuͤrmiſcher Kehrgeſang der Drei, ſechsmal wiederholt.
Und wieder Stilpe:
Und die Mathematik
Date? ich lange ſchon die,
Saft wär's ihr gelungen, und fie brad) mir’s Genick.
Da fangen die drei nicht mit, denn in biefem Punkte fühlten
fie ſich Stilpen überlegen.
Aber das hielt ihn keineswegs ab, weiter zu fingen:
Wer weiß mir zu raten,
Do finde id), wo
In Schobern und Schwaden
Das trocenſte Strop?
Uebwerte Kameraden,
Ach, ſagt «6 mir: We?
Als wenn er auf Antwort wartete, ſchwieg er einen Augenblick,
dann geilte er in höchfter Fiſtel:
Im Ei—cenn!
Und ae Kehlen ftimmten kraͤhend bei:
Im Cicero!
Im Eier!
Stilpe ober, in ber Melodie des Poftintons von Lonjumeau!
Hoho! Hohe!
Das fteiffte Stroh
Verzapft Derr Konful Cicero!
Unter biefen und ähnlichen anmutigen Gefängen erreichten fie
das Dorf an der Mulde, das das Zenafel flr würdig befunden
hatte, um Schauplag feiner legten Sitzung zu ernennen.
Nun, es ging hoch ber, und vorzüglich in Verſen. Eigentlich
hatte man vorgehabt, hier, mit freier Benugung des Hambacher
Feftes als Vorbild, ſaͤmtliche Schulbhcher zu verbrennen, aber
Stilpe hatte ſich rechtzeitig des Deflamators in Keipsig erinnert,
356
mo man dieſe nichtswuͤrdigen Schwarten gewinnbringender anle-
gen fönnte, und fo unterblieb dieſer Teil des urſpruͤnglichen Pro»
srammes. Dafür wurde die Schildkroͤte des Zenafels, „in ihrer
Eigenſchaft als Symbol einer in Unfreiheit befangenen Bereinigung
und um ihrer nachgerade örend wirfenden Ahnlichteit mit jenem
pp. Pädagogen willen", in bie Mulde geworfen, wozu man fang:
Sebemwopl! Lebewohl.
Nicderträdkiges !
Sqwimm vorbei! Schwimm vorbei,
Schauderhaftes Konterfäi!
Dann aber hub Stilpe feine große Schlußrebe an, bie mit ben
beifadumtoften Worten endete: Le cönacle eft mort! Vive le ce»
nacle!
Und man ſchwur ſich, in Leipzig „keinesfalls den ataviſtiſchen
Farbenbloͤdſinn jener klaͤglichen Juͤnglinge mitzumachen, die einer
bunten Muͤtze beduͤrfen, um ſich als Studenten und freie Bürger
einer Univerſitaͤt zu fühlen, ſondern fofort ein neues, das eigent ·
liche Zenafel zu gründen als die erſte fünftleriiche Studenten»
verbindung mit neuen Bräuchen und neuen Zielen"!
Eine unendliche Debatte knuͤpfte ſich an dieſen Schwur. Stilpe
entwickelte Das größte Programm:
1) Jeder muß ein Maͤdchen haben (aber richtig haben, nicht
etwa Bloß in dieſer fnabenhaft bilimeranten Manter!).
2) Jede Ahnlichteit mit beftehenden Verbindungen muß ver»
mieben werben. Keine Düsen! Sondern graue Zylinderhüte!
3) Dan geht nur auf Säbel los! Die Schläger find pur enfan-
tillage. (Das Wort war ihm aus der Vorrede zur deutſchen Über-
fegung der Vie de Bohoͤme geläufig.)
4) Man muß eine Zeitſchrift gründen.
5) Man muß fi) einen Barbemuche zu verſchaffen fuchen, d. h.
einen ehrgeisigen Efel, der für „beilere Bowlen“ forgt.
357
Diefes Programm wurde im allgemeinen angenommen; eine fehr
genaue Beratung und Ausarbeitung jedoch vorbehalten.
Als man fid) dann zum Heimgehen anſchicken mußte, weil das
Dorf eine „geradezu mittelalterliche” Poltzeiftunde hatte, mar
Stilpe fo betrunfen, daß bie drei ihn fchleppen mußten. Unaufs
hoͤrlich ſtellte er den Antrag, für Zenakel kuͤnftig Bertakel zu fagen
und ihn zum Geheimrat Ammer zu bringen, wo er ſich durchaus
vorfteßen möffe.
Die anderen aber fangen unabläffig, faft paufenlos:
Auf in den Kampf, Tor —t—ero!
358
Deittes Buch
Bir Juvenis Dominus Stilpe
Im Gottes Apotheke gärt
Ein Stoff, der iſt mir Herzlich wert,
Ihm Hab” ich mic) ergeben.
Wär’ er nicht da, die Welt wär? Hohl;
O du viellicher Alkohol, |
Don dir lerne’ ich das Schweben.
Jawohl!
Jawohl!
Das Schweben zwiſchen den Polen,
Das iehrte mid) der Alkohol;
Dil mir einmal der Teufel wohl,
Soll er mic; alkoholen.
Aus Stilpes zerſtreuten Verſen.
Erfies Kapitel
enn ein neues Semefter begonnen hat, pflegen die farben»
tragenden Studentenforporationen in Leipsig mit beſonderem
Eifer das zu fultivieren, was fie den Grimmſchen Bummel nennen.
Es iſt das eine Art ſtolz gefehrittenen Korfos auf der Grimma»
iſchen Straße, wobei ſich die au einem größeren Gefamtverbande
gehörigen Verbindungen fehr feierlich nad} der gerade im Schwange
befindlichen Mode begrüßen.
Denn die Art, die Müge abzunehmen, iſt unter Couleur ·
ſtudenten gemiffen ayflifchen Schwanfungen unterworfen.
Auch hier iſt das Walten harmoniſcher Geſetze erfennbar. Alte
Semefter haben darüber fulturhiftorifch bedeutfame Aufzeichnungen
gemacht, aber das Verdienſt, das Geſetz des Zyklus erfannt zu
haben, gebührt der Pleinen Anna, einem Mädchen von fehr aus:
gedehnten Bekanntſchaften in forpsftudentifchen Kreifen.
Wie die Muſe der Geſchichte hat fie Die Semefter an ſich vor»
— (a, ſtreifen) ſehen und dabei dies beobachtet:
18 Beginn eines Zyklus iſt allemal die primitive Zeit zu be⸗
trachten, wo man die Düse ganz einfach) vorn beim Schild ergreift
und fie in leichtem Bogen ziemlich ſenkrecht nach unten ſchwingt.
Dann folgt:
Die Periode des rechten Randgriffs, bie in zwei Unterabtei-
lungen zerfänt:
a) man ergreift die Muͤtze am rechten Rande und führt fie mit
gebogenem Arm langfam nad) vorn,
5) man ergreift fie wie unter a, führt fie aber nicht nach vorn,
fondern ftößt fie rechtsſeitig ſteif nach oben.
Sodann folgt die Periode des hinteren Randgriffs, bei ber Die
Müge alfo am hinteren Rande ergriffen wird.
Sie hat drei Unterabtellungen:
361
a) weiter Bogen nad) vorn,
6) fteifer Stoß nad) oben,
©) ganz furze Lhpfung, wobei das Schild und der vordere Rand
feft aufliegen bleiben. Diefe Phafe, als gewöhnlich legte des Zyklus,
hat etwas marode Defabentes.
Zumeilen flgt ſich als vierte Periode noch der vordere Rand ·
griff an, der fi) als Pendant zu 30 fennzeichnet. Gewöhnlich in-
defien beginnt der Zyklus nad) der furzen Lhpfung aufs neue.
Natlirlich find in dieſem kurzen Abriß alle Nuancen, deren es
fehr feine gibt, beiſeite gelaffen worden.
* *
*
Man befand ſich wieder einmal in der Periode 3b, als das
weiland Wurzener Zenafel die Leipziger Univerfität bezog, und es
gab feinen Fuchs, der die Düse fo energiſch nach oben ſtieß, wie
der ſtud. phil. et jur. Willibald Stilpe oder, wie er auf der Ma-
trifel feierlich und lateinifch hieß: vir junenis dominus Stilpe
leiſſnigenſis.
Die Muͤtze, die er in dieſer Weiſe handhabte, ſah gelb aus, ge»
nauer gefagt, Fanariengelb, und zeigte außerdem einen weißen und
einen ſchwarzen Streifen.
Stilpe war, uneingedenk des Schwurs an ber Mulde, einer
Verbindung beigetreten, einer Verbindung ſchlechthin, die nicht
Korps, nicht Burſchenſchaft, nicht Eandsmannfchaft war.
Das Kanariengelb war ſchuld daran.
Stilpes koloriſtiſcher Blick hatte fofort bemerkt, Daß dieſe Farbe
au feinen glänzend ſchwarzen Haaren eminent (das Wort liebte er
jest) ſtehen muͤſſe, und es lag überhaupt etwas Schmetterndes,
Verwegenes in ihr, etwas, das zu feiner augenblidlichen Stim ·
mung genau paßte,
362
— Bitte, was koſtet dieſe Handelsſtadt? Nur feine Bange!
Nur den Preis genannt! Ich zahle ohne Feilſchen.
Ein Triumphatoren., ein St. Georgsgefuͤhl! Hinter ihm, ein
widerlich geſchwollenes Grau, lag der übermundene Drache Gym ⸗
nafium, vor ihm breiteten taufend junge ſchoͤne Maͤdchen glän-
sende Teppiche aus, weit ins Land hinein, wo rechts und links die
angenehmften Dinge als rotgoldene Ahren auf gelbgoldenen Hal»
men fchaufelten.
Bloß mitnehmen! Bloß einſcheuern! Sklaven wimmeln ringe»
um und ſchielen aus tiefer Verbeugung nad) Seiner Herrlichfeit
gelaffenen Winken ...
Und dieſe vielen Reſtaurants! Und keins verboten! Kühn darf
man mitten in Damenbebienung figen und das Taſchentuch be»
haglicher Paſchawuͤnſche werfen.
In dieſer Stimmung hatte er ſich ohne viel Beſinnen die kana ·
riengelbe Drüge aufgefegt. Und nun faß fie feft und fah gut aus.
Nachdem er fich für fie einmal entſchieden hatte, erbaute er ſich
aber and ein Spftem von Gründen dafür, daß er juft in eine
fimple Verbindung, nicht in ein Korps, nicht in eine Burfchen-
ſchaft, nicht in eine Landsmannſchaft eingetreten war:
Das Korps: ruͤckſtaͤndige Inſtitution aus unfrelen Zeiten, Daher \
Suchfenfflaverei, Burſchentyrannis, ſtarrer Sormelnfram; bie
Burſchenſchaft: entweder ruͤckſtaͤndige Romantik, Tugendbund und
Keuſchheit bis sum Ehebette oder Form ohne Inhalt; die Lands⸗
mannſchaft: traditionslofe Neugründung, bemäntelt mit einem
alten Ramen, ohne Wurzeln im Alten, ohne Greifranken ing Rene:
Zwitter. Die bloße Verbindung Dagegen, nun ja: das mar eben
eine Sache für fidh, etwas mehr Improvifiertes, Das daher auch
nicht fo umflammerte und abforbierte. Zweifellos bot fich hier auch
bie leichtere Möglichkeit, eine Beeinfluffende Stellung zu erhalten.
Und das ift doch wohl das wichtigſte!
363
So verteidigte ſich Stilpe vor ſich felber. Erſt hinterher fam
ihm der Gedanke: Aber warum benn Überhaupt eine farbige Müge?
Das war ja doch wohl eigentlich eine Kinderei, — wie? Ein Ata-
vismus? Ein teftimonium paupertatis animi? Hatte er nicht das
Wort gefchliffen: Ein freier Kopf braucht feine bunte Muͤtze?
Gewiß, gewiß! Aber: St duo fachunt idem, non eft idem! (Seits
dem er nicht mehr Latein treiben mußte, zitierte er viel Lateiniſches.)
Für jene anderen iſt Die Muͤtze eine gewiſſe Notwendigkeit und ein
Ziel, fir ihn aber nichts als ein in fouveräner Laune frei gewähltes
Mittel.
Mittel, — woru?
Erſtens zur Erstelung gewiſſer landsknechthafter Empfindungen!
Denn es ſteckt Hiftorie in dieſer Inftitution des wehrhaften deut»
ſchen Rauf- und Saufftudenten, und ein rechter Kerl zeigt feine
Raſſe; und zweitens zur Kenntnis eben diefes Milieus für feine
aufünftige kuͤnſtleriſche Verwertung, denn: wie follte er einmal
den deutſchen Studenten darſtellen, wenn er nicht auch dieſe Spe ⸗
dies ftubiert hatte?
So rechtfertigte er, der nicht gern etwas bereite, aber noch
weniger gern etwas unterließ, was ihm Luftig duͤnkte, vor ſich felber
den improvffierten Schritt, und er legte ſich damit auch gleich Die .
Säge zurecht, mit denen er den Zenafliers entgegentreten wollte,
wenn fie ihm mit den Einwendungen fommen wuͤrden, die ja
eigentlich aus der Ruͤſtkammer feines Intellekts flammten. Er
hatte fogar vor, fie fhr feine Verbindung zu Feilen.
Indes, er Fam zu fpät.
Eines Tages, als er mit feiner Muͤtze und feinen Verbindungs ·
bruͤdern leuchtend den Grimmſchen Bummel abfolvierte, gewahrte
er, obwohl er regelrecht und ſtolz geradeaus ging und ſcheinbar fein
Ange fuͤr andere Couleuren hatte, unter den fuͤnf Mitgliedern
eines rotmägigen Korps — Stöffel.
364
Es gab ihm einen Ruck, und ſchon wollte die Hand zum hin«
teren Rande ber gelben Muͤtze zucken, da fam ihm noch rechtzeitig
die Kluft zum Bewußtſein, Die zwiſchen diefem ſchmetternden Gelb
und jenem trüben Rot lag.
Und er lächelte nur ein wenig und dachte bet fich:
— Schau, ſchau, — Korpfier! Diefer Knabe Marcel war
immer ein bißchen eitel, Run, mögen fie ihn pieſacken, Die Herren
C. B. C. 2. Übrigens fah er ſchon verpieſackt genug ans. Natuͤrlich
wird er mich verachten... . Wie? Er? Mich? Er möge ſich's ge
fänigft unterftehen! Diefes Knickebein! Sad er nicht aus wie ein
feifiertes Meerſchweinchen? Welch ein üppiger Knabe!
Im Grunde war es ihm hoͤchſt ärgerlich, daß Stöffel Korps»
findent geworben war, und er bemerkte plögli), daß feine Ver ⸗
binbungsbräder an äußerer Eleganz einiges zu wuͤnſchen übrig lie
fen. Er nahm fidh vor, da Wandel zu ſchaffen.
Kaum, daß er feinen AÄrger ein bißchen verwunden hatte, fah er
Barmann als hellrotmuͤtzigen Burſchenſchafter vorhbersiehen.
Diesmal dachte er ſchon nicht mehr ans Gruͤßen und verfolgte
mit innerlihftem Wohlgefühl die Hand des wackeren Eotline,
die ſchon an der Muͤtze ſaß, um dann freilich ſchuͤchtern herabau-
ſinken.
Und Stilpe dachte dies:
— Bas man nicht alles erlebt! Diefer Colline, der einen Vor ·
trag im Zenafel hielt Über „Die Epoche der patriotifchen Phrafe“,
als Fahnenſchwinger für Ehre! Freiheit! Vaterland! . . .! Gut!
Gut! Allerliebſt und fehr niedlich! Die Haare haben fie ihm aber
ſchon nach hinten gefämmt. Und wie er ervötötöte! Jetzt ſieht er
ſich ſicher nach mir um. Rein, mein Lamm, ich nicht! Ich habe
ſchon genug gefehen.
Über biefen Fall ärgerte er ſich Übrigens weniger. Burſchen ·
ſchaft — bah! Aber gefpannt war er num, „in welcher Eouleur
365
So verteidigte fih Stilpe vor ſich felber. Erft hinterher kam
ihm der Gedanke: Aber warum denn uͤberhaupt eine farbige MuͤtzeN
Das mar ja doch wohl eigentlich eine Kinderei, — wie? Ein Ata-
viemus? Ein teſtimonium paupertatis animi? Hatte er nicht das
Wort gefhliffen: Ein freier Kopf braucht feine bunte Düse?
Gewiß, gewiß! Aber: Si duo fachunt idem, non eft idem! (Seit ·
dem er nicht mehr Latein treiben mußte, zitierte er viel Lateiniſches.)
Fuͤr jene anderen iſt Die Muͤtze eine gewiſſe Notwendigkeit und ein
Ziel, fuͤr ihn aber nichts als ein in ſouveraͤner Laune frei gewähltes
Mittel,
Mittel, — wo?
Erſtens zur Erzielung gewiſſer landsknechthafter Empfindungen!
Denn es ſteckt Hiſtorie in dieſer Inſtitution des wehrhaften deut»
ſchen Rauf · und Saufſtudenten, und ein rechter Kerl zeigt feine
Raſſe; und zweitens zur Kenntnis eben diefes Miltens für feine
aufünftige kuͤnſtleriſche Verwertung, denn: wie follte er einmal
den deutſchen Studenten barftellen, wenn er nicht auch dieſe Spe ·
nes ſtudiert hatte?
So rechtfertigte er, der nicht gern etwas bereute, aber noch
weniger gern etwas unterließ, was ihm luſtig duͤnkte, vor ſich ſelber
den improviſierten Schritt, und er legte ſich Damit auch gleich die
Säge zurecht, mit denen er den Zenafliers entgegentreten wollte,
wenn fie ihm mit den Einwendungen fommen wuͤrden, die ja
eigentlich aus ber Rüffammer feines Intellekts ſtammten. Er
hatte fogar vor, fie fhr feine Verbindung zu Feilen.
Indes, er kam zu fpät.
Eines Tages, als er mit feiner Muͤtze und feinen Verbindungs ·
brüdern leuchtend den Grimmſchen Bummel abfolvierte, gewahrte
er, obwohl er regelrecht und ſtolz geradeaus ging und ſcheinbar fein
Ange fuͤr andere Couleuren hatte, unter den fhnf Mitgliedern
eines rotmlgigen Korps — Stöffel.
364
Es gab ihm einen Ruck, und ſchon wollte die Hand zum hin
teren Rande ber gelben Muͤtze zucken, da fam ihm nod) rechtzeitig
die Kluft zum Bewußtſein, die zwiſchen dieſem fehmetternden Gelb
und jenem trüben Rot lag.
Und er lächelte nur ein wenig und Dachte bei ſich:
— Schau, f hau, — Korpfier! Diefer Knabe Marcel war
immer ein bißchen eitel. Nun, mögen fie ihn pieſacken, die Herren
C. B. €. 3, Übrigens ſah er ſchon verpieſat genug aus. Rathrlich
wird er mic) verachten... . Wie? Er? Mich? Er möge ſich's ge
faͤlligſt unterſtehen! Diefes Knickebein! Sah er nicht aus wie ein
feifiertes Meerſchweinchen? Welch ein üppiger Knabe!
Im Grunde war es ihm hoͤchſt ärgerlich, daß Stöfel Korps»
ſtudent geworden mar, und er bemerkte ploͤtzlich, daß feine Ver ⸗
Binbungsbräber an Auferer Eleganz einiges zu wuͤnſchen uͤbrig De
gen. Er nahm fidh vor, da Wandel zu fchaffen.
Kaum, daß er feinen Arger ein bigchen vermunben hatte, ſah er
Barmann als heirotmäsigen Burſchenſchafter vorübersiehen.
Diesmal dachte er ſchon nicht mehr ans Gruͤßen und verfolgte
mit innerlichſtem Wohlgefühl die Hand des wackeren Eofline,
die ſchon an ber Muͤtze ſaß, um dann freilich ſchuͤchtern herabzu-
finten.
Und Stilpe Dachte dies:
— Bas man nicht alles erlebt! Diefer Eofline, ber einen Bor»
trag Im Zenafel hielt uͤber „Die Epoche der patriotifchen ur
als Fahnenſchwinger für Ehre! Freiheit! Vaterland! ...!
Gut! Allerliebſt und fehr niedlich! Die Haare haben fie Fe aber
ſchon nach hinten gefämmt. Und wie er errötötöte! Jetzt fieht er
ſich fiher nad mir um. Nein, mein Lamm, ich nicht! Ich habe
ſchon genug gefehen.
Über dieſen Fall ärgerte er ſich Übrigens weniger. Burſchen ·
ſchaft — bad! Aber gefpannt war er nun, „An welcher Eouleur
365
ber tuͤchtige Robolphe eidbruͤchig geworben fein möchte". Er tarierte
ihn voll Zorn auf akademiſchen Turnverein:
Dir refen den Arm, wir firefen das Rein,
Wir find der akademiſche Turnverein.
Aber nein: Wippert war Landsmannſchafter geworden und trug
eine dunkelblaue Muͤtze ſtolz an Stilpes gelber vorüber.
— Sp wären wir denn alfo glücklich nach allen Windrichtungen
auseinanbergefahren. Das ift eigentlich eine Direftionslofigfeit.
Barum haben es dieſe Knaben denn nicht fuͤr nötig gehalten, mich
aufzuſuchen, ehe fie fo weitgehende Entſchlůſſe faßten? Kein Zwei.
fel: fie wonten fi) meinem Einfluffe entziehen! Sie mußten, daß
ihr Wine verloren war, fobald fie ſich in die Zerreibungszone mei»
ner Beredfamfeit begaben, und felg flohen fie davon. Krapuͤle!
Dabei trug diefer. Nobolphe eine Art von nafenfteifem Selbſt ·
bemußtfein zur Schau, die mir nicht gefallen hat. Run, im
Walde pfeifen die Handwerksburſchen, wenn ihnen die Hofen
ſchlottern ... Eine erftaunliche Sippſchaft. Wie bring’ ich fie zur
Raͤſon?
Es war ihm doch fatal, daß die drei ſich ſo ohne weiteres von
ihm emanzipiert hatten. Hätte er nur nicht ſelber ſchon bie gelbe
Muͤtze aufgehabt! Das fompliierte feine Stedung den Abtruͤnn ·
lingen gegenüber ſtark. Es war, als wenn er mit vernagelten Ka»
nonen ſchießen folte.
Aber es dauerte nicht lange, und er hatte feine volle Sicherheit
wiedergewonnen. Er ſchrieb in drei gleichlautenden Stuͤcken fol ·
genden Brief und ſandte ihn an die drei.
Landerirette!
Farben find ſtaͤrker als Eide, und was die Mulde gehört
bat, braucht die Pleife nicht zu wiſſen. Sela.
366
Indeſſen: Son gelb ober blau ober dunkel · oder hellrot auch
ſtaͤrker fein als Herz und Intenigens? Son die Pleife völlig
entbehren muͤſſen, was die Mulde fuͤllereich genoß?
Nein! unſre Düsen find gelb, blau, bunfel» oder hellrot,
aber unſre Herzen ſchlagen noch im Takte des momifchen Aler-
anbriners:
D l'Amour! O l'Amour! Prince de la jeuneffe!
Der? Schmach dem Frageꝛeichen!
Wir haben nicht aufgehört, Menſchen zu fein, Indem wir
unfre refpeftiven Drügen auffegten, und fo haben mir auch nicht
aufgehört, Zenafliers zu fein.
Und alfo darum fage ich End, ich, der ich Schaunard war,
bin und fein werde: Wir müffen die farbigen Schranfen und
Planfen, hinter die wir ung, jeder nach freier Wahl und geift-
voller Erwägung, begeben haben, wenigſtens aller zwei Wochen
einmal mit dem Elan unfter Zenakelherzen überfpringen und
einander in die Arme eilen! Eine Jammerlende, die biefen
Sprung nicht wagt, eine Grofchenfeele, Die ſich vor dem Kom ⸗
ment mehr fürchtet als ehemals vor dem Konrektor, ein Kaftrat
bes Herzens, wer nicht wenigſtens aller zwei Wochen einmal
fingen wit:
Der Freude Deiligenfihrein
SR einzig das Zenatel
Und wird «8 eig fein.
Sanderirette!
Man trifft mid) Sonntag abend in meiner Wohnung, die
ben Kopf biefes Briefes siert.
Schaunard. -
367
Zweites Kapitel
tilpe hatte ſich nicht getäufcht: die Gründung bes „Geheim-
Zenakels“, fo fehr fie gegen den Verbindungsfomment der
einzelnen war, geſchah, und die vier Zenafliers, die fich, wenn fie
ihre Muͤtzen auf hatten, nicht einmal grüßen durften, fanden ſich
amelmal des Monats an Sonntagen zu Vergnügungen zufammen,
die jedem viel Lieber waren, als die Pflichten Ihrer Verbindung.
Zwar feiner geftand das zu, denn jeder bemlihte fich aufs hoͤchſte,
den Anfchein zu erwecken, als fühle er ſich unter feiner bunten
Muͤtze über Die Maßen wohl. In Wahrheit fühlten fi) ale fehr
elend darunter, bis auf Stilpe, der auch in dieſem Verhaͤltniſſe
mit Hingabe aufging.
Er war faft nie nuͤchtern und wurde von feinen Berbindungs:
brübern fehr bald als eine phänomenale Kraft ſowohl auf der
Kneipe wie auf dem Fechtboden erfannt. Seine Zügellofigfeit, bie
ihn in einer Korporation von fefterem Gefhge unmöglich gemacht
hätte, war ihm bier, mo er fehr bald anfing, bie Rolle bes liber-
fegenen zu fpielen, nur wenig hinderlich.
Schon im zweiten Semefter hatte er „feine Leute" ungefähr auf
feinen Ton geftimmt, Er pflegte au den Zenafliers zu fagen: Die
Bären tanzen ſchon ganz wacker bie ſchwierigſten Sachen; naͤch⸗
ſtens werde ich Ihnen das Dichten beibringen.
Aber er dachte felber nur wenig ans Dichten. Mur „mas er fo
für die Liebe und das Zenafel brauchte”, fonft:
Wie Bann ic) fingen, da id faufen muß?
Die heikle Mufe meldet meinen Kuf,
Put, fagt fie, pful, du ſintſt nach Spiritus!
Das war Seldfterfenntnis, aber keineswegs Selbftanklage. Im
Gegenteil, er tat fich innerlich fehr viel Darauf zugute, daß er „in
368
den Wolfen des Altohols taumelte, wie nur ein Exforener der neun
Grundraͤuſche taumeln fan“. Die neun Grundraͤuſche waren
1) das braune Bier,
2) die blonden Maͤdchen,
3) der rote Wein,
4) die braunen Mädchen,
5) der weiße Wein,
6) die ſchwarzen Maͤdchen,
7) die Schnäpfe jeglicher Obfervanz,
8) die edle Kunſt rafender Reime,
9) die große Ewigkeit gewaltigen Ruhmes.
Er pflegte zu fagen:
— Huͤtet euch vor Dichtern, die nicht faufen! Sie bedeuten für
die Eiteratur dasfelbe, was die alten Jungfern für die Fortpflan»
ung des Menſchengeſchlechtes bedeuten. Sie find ein Greuel und
eine große Gefahr. Wehe, wenn fie die Welt mit ihrem Lafter
ſtrohtrockener Verſe anſtecken. Dann tft das Ende nahe herbeige-
kommen. Selbft Schiller tranf Lifdr, aber, wenn er nicht tranf,
ſchrieb er dieſe bedenklichen Sachen, an denen heute noch fänt-
liche Gymnaſiallehrer leiden. Shafefpeare dagegen foff wie ein
Loch. Wie? Ihr frage nach den Belegen? Ja, wenn ihr's nicht fühlt!
Ich mache mich anheifchig, bet jedem feiner Stücke zu fagen, was
er damals gerade getrunfen hat. Im Hamlet fteckt viel Porter.
Daher dieſe etwas ſchwermuͤtige, aber immerhin fublim betrunfene
Grundfiimmung. Bon Whisfy- Brandy iſt Othello, doch mit einem
Schuß Sherry. Ale, Ale, und abermals Ale ift King Lear. Es ift
das hohe Lied Wles. Immer, wenn ich's gelefen habe, muß ich zum
alten Krauſe gehen, der Diefes blondefte aller Biere am beften fchenft.
Ein paar Sommerfproffen Porter auf biefen weißen Teint gefprigt,
und man verfieht die Lieber des Narren und weint in großer Selig:
keit. Auch Knickebein hat Shafefpeare getrunken, und zwar viel.
24 Bierbaum II 369
Seine Komödien find der Beweis dafuͤr. Wie vermaͤhlt fih da
überall das Ei dem feimigen Eiföre! und da hat irgend fo ein Fünf»
grofchenphantaft behauptet, Andreas Hofer habe den Knickebein
erfunden. Wie fümmerlih! Schon bie alten Juden Fannten ihn.
Das Prinzip der Paralelität der Verſe in den Pfalmen iſt geradezu
ein Symbol des Knidebeins ... Die ganze Literaturgeſchichte,
wohl gemerkt, ſoweit es fich um Verſe handelt, iſt nichts ala eine
große Tafel der Getraͤnke. Ich werde meine Doftorbifiertation über
diefes Thema ſchreiben.
In diefem Stile ſprach er überhaupt oft, und manche feiner
Dita gingen in den Schat der geflhgelten Worte der Stubenten»
fneipen uͤber. Auch war er der fruchtbarſte Vermehrer jener un-
geſchriebenen Kiteratur, die ſich um Die Figur der Wirtin an ber
Lahn gebildet hat. Er konnte ſich ftundenlang damit abgeben, aus
einer Zote einen Reim oder aus einem Reim eine Zote zu locken.
Herausfigeln nannte er das.
Zuweilen, aber keineswegs oft, fam ihm der Gedanke, daß er
eigentlich etwas Beſſeres tun follte. Dann gruppierte er feine Ge
danken um die Worte „hal und unerquicklich“ und bewarf fi)
„mit den faulen Eiern des moralifchen Katzenjammers“. Aber es
mar auch nur eine Art Stiluͤbung.
Einmal empfing er die Zenafliers in folder Stimmung und hielt
zehn Deinuten einen Monolog in Jamben an
Diefes Lotterfleiſch vol Alkohol
Und niedertraͤchtiger Verſe, Die wie Schmeer
Don trihindfen Schweinen blau gedert find
Und übel riechen wie Die Peflitenz
Des gang bebreiften Refts des Wichehopfs.
Aber als er zu Ende war, ganz aufgeregt und, wie es ſchien, bie
rekt vor einem ſtuͤrzenden Traͤnenausbruch, fo daß niemand imftande
war, zu entſcheiden, ob hinter biefen burlesken Selbftanflagen nicht
37°
doch eine Spur von Ernft ſteckte, ba rief er: Aber das kommt von
der Abftinenz! Seit fuͤnfundſiebzig Deinuten habe_ic) feinen Al-
kohol gefehen. Auf! Laßt ung in ein Gebaͤrhaus tröftlicher Gedan ·
fen wallen, und wenn es eine Goſenſtube wäre. Kennt ihr mein
Ritornen?:
Molkige Goſe!
Vegeugte nicht dein Rauſch fehr hohen Rang,
Rene’ id; dich Sauce,
Mit einziger Ausnahme des Brechweines gab es fein altoho-
liſches Getränk, dem fi Stilpe nicht mit Hingabe widmete.
Aber die „ſchweren Sachen“ bevorzugte er. Das Keipsiger La-
gerbier war bald nicht mehr imftande, ihm irgend etwas anzuha-
ben. Er nannte es „ſchlechterdings Waſſer“ und fonnte es durch»
aus nicht begreifen, daß man „es noch immer in Brauereien her-
fteßt; man ſollte Doch merfen, daß es aus dem Schofe ber Erde
quillt, denn es ift im eigentlichen Sinne Fulturlos". Dagegen sollte
er bireft Ehrerbietung der oftpreußifchen Bowle, die aus Bur ⸗
gunber, Porterbier, Sekt und Kognaf befteht. Diefes Getränf, fo
fagte er, hat die Kraft und das heilige Raufchen des germanifchen
Urwaldes. Dan fühlt direft Speere in der Fauſt, wenn man es
teinft. Seine Hauptgnabe aber befteht darin, daß es wunſchlos
macht. Es iſt das Katholifon der Getränke. Ausermählten ift es
‚gegeben, au fehen, Daß dieſe Bowle eine tiefgoldene Gloriole hat.
In dieſer Weife charakterifierte er Im Kreife bes Zenafels „bie
gefamte Ariftofratie der Spirituoſen“, und er lehnte es durchaus
nicht ab, wenn man ihn den Homer des Alfohols nannte,
Aber die Getraͤnke, die er liebte, waren Foftfpielig, und weder er
noch die anderen brei Zenafliers waren auf die Dauer imſtande,
das Geld dafür aufzubringen. Deshalb befchloß man, einen „Bar-
bemuche zu etablieren“, d. h. nach dem Mufter des Muͤrgerſchen
Zenakels jemand ausfindig zu machen, ber „alfo geeigenfchaftet wäre:
24* 371
de,
Ein bißchen dumm und deffen dumpf bewußt,
Demütigen Herzens
und
Angenehm lächerlich“,
Stilpe war es, der einen ſolchen Juͤngling entdeckte: — Herrn
ſtud. phil. Lehmann aus iegnig.
Er hatte ihn in „fo einem" Haufe der Dagazingaffe aufgelefen.
Dort, in einem Salon, war ihm der blaffe, etwas angefettete junge
Mann dur) eine fehr dicke Brieftafche und ſchwermuͤtiges Be»
tragen aufgefallen.
— „Sie fühlen ſich nicht mohlindiefer Umgebung,” hatte Stilpe
au ihm gefagt, als fie ſich einander vorgeftent hatten. „Ich begreife
das. Dan geht hierher, um ſich nicht wohl su fühlen. Man min ſich
kaſteien. Sie peitfchen fi) lieber mit blonden Ruten, Ich lieber mit
braunen. Das tft der ganze Unterſchied. Temiperamentsfache.”
— „Ach ja, es ift ſchrecklich,“ antwortete der Philologe Lch-
mann; ich verabſcheue Diefe Säufer, aber, fehen Sie, ich finde ja
draußen nichts, und Dabei bin ich Doch fo... fo... ſinnlich. Ach,
leider!"
— „Wie? Leider? Ste fagen: Leider? Sie haben doch leider
gefagt? Hm, hm, hin!“
— „Aber natürlich: leider! Es ift doch ſchredlich, fo direktions ·
los zu fein!"
— „Direftionslos nennen Sie das, wenn alles fo deutlich ins
Schwarze zielt? Das nennen Sie di... ., aber Herr Lehmann!
Ste find beneidenswert um dieſe gerade Tendenz Ihres Wefens!
Seien Sie fröhlich, Herr Lehmann! Es fehlt Ihnen bloß die
rechte Geſellſchaft. Ste find ein Einfiedel-Eehmann, und das iſt
für ſolche Raturen eine Gefahr."
372
— „Freilich iſt es Das. Ich fühle es felber. Aber ich ſchließe
mich ſchwer an. Willen Sie, Die meiften Studenten find fo banau-
ſiſch, fo entfeglich Intereffelos, und ich möchte doc jemand haben,
der auch noch etwas mehr will, als Doftor werden. Sechs Tage
ochfen und einen Tag fumpfen, das mag Ich nicht mitmachen!"
— „Das ehrt Sie, Herr Lehmann! Sie ſuchen den Einklang
von Lebenskunſt und Wiſſenſchaft. Ste wollen Streben und Ger
nuß vereinen. Sie wollen, mit einem Worte, aber verſtehen Sie
mich recht und nehmen Sie das nicht etwa als einen Wig: Sie
wollen ein runder Menfch werden!"
— „Ich ahne, was Sie meinen, und es iX wahr, Das deckt ſich
wohl mit dem, was ich ſuche.“
— „Rund fein ift alles, Herr Lehmann! Wiffen Sie, mie dieſe
indifchen Götter: rund um den Leib herum taufend Arme, und
immer zwiſchen zwei Armen eine Göttin. Aber Gott bleiben! Ein
runder Gott bleiben mit taufend Armen und fünfhundert Göt-
tinnen dazwiſchen! Ober, weniger erotifch gefprochen: Goethehaft!"
‚Herr Lehmann lächelte höchft bitter:
— „Sie wollen mic) wohl verfpotten. Goethe und — IH! Ich
mit meiner klaſſiſchen Philologie. Ich ſtudiere nämlich klaſſiſche
Philologie. Aber Ste müffen da nicht gleich denken, daß ich Gym ⸗
nafiallehrer werden möchte. Rein, ich möchte mich der afademifchen
Karriere fuͤrs Griechiſche widmen. Es ift da noch viel zu holen,
fag’ ich Ihnen! Mein Fach iſt im Niedergange. Es fehlt an Ka⸗
pasitäten. Ein neues Alerandeinertum ift eingeriffen!"
— „So reißen Sie es um, Herr Lehmann! Schmeißen Sie die
Peruͤcken zum Tempel hinaus! Der Moder ſtinkt! Hygiene tut
not! Sort mit den Schwartenfchmenfern! Das reine Hellas siehe
ein! Und mas iſt der Helene des Altertums? Der runde Menſch!
Bas it Hellas? Die Syntheſe von Genuß und Erkenntnis! .. .
Kürzlich ſtellte ich für einen Meinen Kreis von Freunden, der ſich,
373
ganz in Ihrem Sinne, Herr Lehmann, zu einem Zirfel Der Lebens⸗
kunſt und Kunftliche vereinigt hat, eine Mamenstafel der Spezial:
heiligen unfrer Religion auf. Ste iſt noch unvollſtaͤndig, aber es
fiel mir gleich auf, wieviel Hellenen dabei find."
— „Ad, das intereffiert mich, der ganze Birfel ſowohl als die
Namenstafel. Sch möchte nicht aufbringlich erfcheinen, aber viel-
leicht darf ich Sie Bitten, mir Näheres daruber zu fagen?"
Herr Lehmann fagte das mit bem Tone ernftefter Anteilnahme
und zog Die Augenbrauen hoch.
Stilpe lachte wieder einmal „mit den Eingemeiden“ und zog fein
Notubuch.
— „Über den Zirkel iſt nichts weiter zu ſagen, als was ich ſchon
andeutete. Zur Kunft erhöhtes Leben in jedem Betracht. Die Na»
menstafel aber, nun, wie gefagt, fie ift noch unvonftändig, aber ich
kann Ihnen das Fragment ſchon mitteilen. Alfo:
L
Maͤnnlichen Geſchlechts:
Anakreon,
Ariſtophanes,
Alkibiades,
(es geht gleich griechiſch an, wie Sie ſehen)
Bir
Georg Büchner,
(um Gottes wien: Georg, nicht Ludwig!)
Gottfried Auguft Bürger,
& 2
Eatuf,
(aber der hat ein Fragezeichen)
Michael Georg Conrad.“
— „St das der preußifche Prinz, der die Dramen ſchreibt?“
fragte Here Lehmann beſcheidenen Tones,
374
— „Gott behüte und Bott bewahre! Machen Sie immer ſolche
Witze?“ rief Stilpe. „Daflir müßten Sie ſchon eine Bomle ſchmei ·
sen, Herr Lehmann. Sind Sie bereit?"
Der Philologe Lehmann errötete und fagte: „Es wird mir ein
Vergnügen fein, denn Damit werde ich ja Das Vergnuͤgen haben,
auch die anderen Herren kennen zu lernen.”
— „Gut! fagte Stilpe ſchon im Tone des Zenafel-Präfiden»
ten. „Daflr werden Sie dann auch erfahren, welches unfer Eon-
rad iſt. Weber Prinz noch Preuße. Alfo nun in der Lifte der Hei»
ligen weiter:
Danton,
Demofritos,
(chon wieder ein Grieche!)
Devrient,
(Sie wiffen: Eutter und Begeners Weinſtube in Berlin!)
Fiſchatt,
Sranz der Erſte von Frankreich.“
— „Barum der?" fragte Herr Lehmann.
— „keſen Sie im Rabelais nach!
Grabbe,
Meifter Gottfried von Straßburg,
Der junge Goethe,
(Sie miffen doch, daß es drei verſchiedene Goethes gibt?)
Eduard Griſebach,
Johann Chriſtian Günther,
Horai,
(hat aber zwei Srageseichen)
Theodor Amadeus Hoffmann,
Heinrich Heine,
375
Mirabean,
Momns,
(unfer Wirt mit der langen Kreide)
Mirger,
Marat.“
— „pardon,“ ſagte Herr Lehmann, deſſen Vater Fabrikbeſitzer
war, „warum eigentlich dieſe Revolutionsmänner?"
— „Sie tranfen ſaͤmtlich gern und waren fehr verliebte Leute.
Daß wir feine Sosialdemofraten find, fehen Sie an Stanz dem
Erſten.
a Rabelais,
Rembrandt,
Sofrates,
Sullwan,
Tſchang · hſien · tſchung.
— „Ber ift das?"
— „Das ift ein chineſiſcher Pelshändler, fpäter Gegentaifer,
der einmal an einem Tage fhnfsigtaufend Gelehrte hat koͤpfen
laſſen. Ich werde ein Epos auf ihn machen.”
— „Ach, dichten Ste?" rief Herr Lehmann eifrig.
— „In der Tat, bisweilen. Sie natuͤrlich auch 2"
— „Ach ... nein ... ich ... nen... ich ann nicht fagen,
daß ich ... Aber ...“
— „Sie moͤchten gern?"
— „Ich ... weiß ... nicht ...“
— „Diefe Schuͤchternheit iR ein ſchoͤnes Zeichen. Übrigens:
Dichten, — na ja. Das is nu fo 'ne Sache. Notwendig iſt es nicht,
Herr Lehmann. Es ... aber: genug! Wir find mit dem männ-
lichen Geſchlecht fertig, und es folgt
376
IL
Weiblichen Geſchlechts:
Aſpaſia,
(alfo auch hier Griechenland an der Tete!)
Die kleine Anna,
Anna mit den gewuͤrfelten Strümpfen,
Anna Ah — gehn Se· weg.
— 13a... aber ...2...“ fagte Herr Lehmann.
— „Ich verſtehe: Sie kennen diefe drei Annas nicht. Es find
vorberhand noch Privatperfonen, und fie kommen auf mein Konto.
Die mit den gemürfelten Struͤmpfen ſchlaͤgt, glaub’ ich, in Ihren
Geſchmack. Ich ſchenke fie Ihnen.”
‚Herr Lehmann war ganz verblüfft.
— „Ma, wollen Sie nicht menigftens ‚Dante!‘ fagen? Das
Maͤdchen kommt noch in die Eiteraturgefhichte! Ich habe fogar
ein Sonett auf ihre Strümpfe gemacht! Aber weiter!
Berta,
(hat zwei Ausrufegeichen. Es ift aber nicht jene Berta mit den
großen Füßen, Die Uhland befungen hat, fondern auch dieſes Mäd-
hen geht mic) an. Ich habe fie immens geliebt. Und fie liebt mich
heute noch, obwohl fie einen Gelbgießer gehetratet hat. Achten Sie
die Treue des meiblichen Gefchlechts, Herr Lehmann, aber fehen
Sie zu, daß der andre ber Lackierte ift. Übrigens werde ich jet bie
Privatmaͤdchen weglaſſen, weil ich Ihnen fonft fortwährend Kom-
mentare geben müßte; ich werde alfo nur die hiftorifchen Damen
nennen, nämlich):
Mimi Pinfon,
Die Königin Pomare,
Möfette,
Lais
377
Ninon de l'Enclos,
George Sand,
Berangers Eifette,
Päpftin Johanna,
Fraͤmichen mit dem Duff,
Margarete von Navarra,
8a bee heaulmiöre,
Marion Delorme,
Die ſchoͤne Seilerin,
Roswitha von Gentersheim.
Die Eifte iſt noch ſchrecklich luͤckenhaft. Bielleicht Könnten Ste ung
noch ein paar tüchtige Griechinnen empfehlen. Wie hieß doch gleich
die, Die ſich aussog?"
— „Sie meinen Phryne?"
— „Richtig! Phryne! Diefes ganz vorzügliche Mädchen! War⸗
ten Sie, ich werde fie gleich einfügen. Es ift eine Schande, daß ich
fie vergeffen habe. Aber Sie fehen, wie gut wir Sie brauchen fün«
nen. Im Mlaffifchen Altertum find wir doch ein bißchen ſchwach.“
Herrn Lehmann war es gar fonderbar zumute. Diefe Welt war
ihm neu, aber er hatte die Empfindung, daß es fehr luſtig in ihr
augehen muͤſſe. Vor allem fühlte er, daß er im Zenatel Anſchluß
an „Weiber" finden würde, und daran lag ihm viel, denn er hatte
es nachgerabe bemerkt, daß er von ſich allein aus diefen Anſchluß
nie erreichen würde. Und bei alledem doc) dieſe vielen literariſchen
Afpirationen, alfo die Gewähr des Höheren! Kein bloßer Sumpf!
Sondern, wenn ſchon Sumpf, fo doch von ganz ungewöhnlicher
Art! Ein origineler Sumpf. Ach, danach hatte er ſich ja gefehnt!
Er wollte originell, geiftreich fumpfen. Da bot ſich die Möglich»
feit! Alfo zugegriffen!
Er verließ am Arme Stilpes das Haus in ber Mogasingafie
mit dem angenehmen Geflihl, es fürder nicht mehr nötig zu haben.
378
Als er am naͤchſten Morgen erwachte, lag er auf feinem Sofa
und Stilpe in feinem Bette. Da dieſer ihn duzte, mußten fie wohl
Bruͤderſchaft getrunfen haben.
Auch einen anderen Namen hatte er erhalten: Barbemuche, und
auf feinem Nachttiſch lag ein völlig mit Porterbierfledten bedeckter
Zettel biefes Inhalts:
Quittung.
Fuͤr weiland Heren Lehmanns Aufnahme ins niedere Barbe ·
muchiat 50 Mark erhalten zu haben beftätigt
i. N. d. 3.
Schaunard.
Drittes Kapitel
bwohl das Zenafel feine moraliſche Anſtalt war, fo bedeutete
es für Stilpe doch einen Haltepunft und eine Verbindung
wenigſtens mit der Siftion „ertra-alfoholifcher Tendenzen”.
Stilpe führte Damals fein Tagebuch mehr, denn er hatte über-
haupt das „unglchtige Verhältnis mit Büchern“ aufgegeben, aber
aumeilen, wenn er fi) übel fühlte, ergriff er, wiederum in feinem
Stil von damals zu reden, den „Stecken und Stab des Bleiſtiftes
und wanderte gedanfenvon über die ausgebleichte Wuͤſte weißen
Papiers". .
Einige diefer Notizen find geeignet, ein Sthe feiner Seele von
damals erfennen zu laffen:
Die Gelbmuͤtzelei ift ein ſcheußlicher Unfinn und meiner un»
würdig. Aber ich feldft bin meiner unwuͤrdig, denn ich werfe die
gelbe Muͤtze diefen Idioten nicht vor die Füße, fondern ich trage
fie noch immer mit einer lachhaften Würde. Heiße jest Erſter Ehar-
gierter gar. Kann man Hiefer finfen?
*
379
Ich tyrannifiere dieſe gelbmuͤtzigen Banauſen mit vollenbeter
Kunſt und einigem Genuß, und keiner von ihnen erfreut ſich mehr
eines intakten Magens. Nie wurde fo geſoffen mie unter meiner
Was fol man auch mit diefen Knaben anderes anfangen?
Froͤſche muß man In den Sumpf treiben.
* *
*
Ich fange an, unzufrieden mit mir zu werden, und ermäge den
Plan, diefe gelbe Blafe zu fprengen. Wenn ich fie nur nicht alle
fo tiefgrlindig angepumpt hätte . .
Und außerdem: Was fon ich denn fonft anfangen? Noch ſcheint
bie Zeit nicht erfuͤllt zu fein, wo ich mich dieſem Herrn Geheimrat
Ammer, fans er ſich nicht ſchon zu feinen Vätern verfammelt hat,
als Stüge des Staates anbieten Tann. Oder follte ich tatſaͤchlich
ſtudieren? Welch eine Idee!
* *
Nicht ’mal für Liebe habe ich genügend Zeit. Wann, frage ih,
wann kann ich mit Hingabe und Hinnahme Heben?
Um zehn uhr jerrt mich der Leibfuchs aus dem Bett und Fre»
denzt mir das Antidotum gegen den Datterich, die liebliche Lafe
von Kulmbacher Biers.
Dis zwölf uhr pauke ich der Fuͤchſe fummende Herde für die
Menfuren ein.
Dann falbt mic) der Srifeur, und bis um drei Uhr treib' ich
die braven Knaben in die Lichtenhainer Schwemme.
Hol’ fie der Teufel, ich beneide fiet Denn felbft dieſes Lehm ·
waſſer macht fie betrunfen.
Auch mein Mittagsmahl erledige ih um dieſe Zeit. Es ift
erſtaunlich, wie mäßig ich darin bin. Rohes Fleiſch und Kaviar,
etliche Eier und Bouillon erhalten diefen ſchwachen Leib.
380
Bon drei bis fünf der Kaffeelachs; doch iſt das ein leerer Name,
denn ich habe laͤngſt den Kaffee durch Liköre erfegt, und flatt des
States herrſcht der Lederbecher mit den Knobelknochen. Das iſt
meine palaeftra mufarum, denn erftens erfinde ich neue Knobel-
touren, und zweitens muß ich beim Mogeln immerhin aufpaffen.
Das erfhöpft mich fehr, und ich begebe mich nun auf das
ſchwarze Lederfofa in der Kneipe, mo ich der Ruhe pflege, bis das
Gas angebrannt wird und bie werten Knaben anrhden, um big
fruͤh amel, drei Uhr von mir voflgeplumpt zu werden.
Mir fcheint, das ift fein Leben nach dem Geſchmack Apollos
und der neun Muſen, — oder find es zwoͤlf? Emig verwechſle ich
die Apoftel mit den Muſen.
Und die Liebe? Sie muß hungern!
Liebe und Alkohol find feindliche Mächte, Tragiſches Geſchick,
beiden hold zu fein.
Zumellen gibt es Menſuren. Ich leugne nicht, daß dieſe kleine
Aufregung mich amuͤſiert.
Trinkt man vorher fünf Kognats, fo iſt man erſtaunlich moder
und ließe fi mit Heroismus den Schädel fpalten. Nein, lieber
bloß Die Bade, denn das iſt's ja, was den Menſchen siert, und
dazu ward ihm der Verftand: der Durchrieher.
Ich glaube, jegt etwa ein ſchockmal gefochten zu haben, wenn
man dieſen mathematifchen Wechſel von Schlag und Parade fehten
nennen fann. Dan gewöhnt fi) daran wie der Pudel ans Baden.
Das Schönfte dabei ift der Geruch, dieſe allerliebſte Miſchung
von Jodoform, Karbol, Kognak und ein bißchen Schweiß. Es
wirft wie ein Aphrodiſiacum auf mich. Aber es iſt möglich, daß
ich ein bißchen pervers bin. Blutdurſt und Wolluſt! Gib mir dein
‚Herz au faufen, Laura: ich liebe dich!
381
Die ſchweren Sachen meid’ ich. Meine Säbelmenfur war nicht
eigentlich prima nota. Ich hatte den Kognaf Überfchägt. Man
muß entſchieden Porter dabei zur Hand haben. Porter und Kognaf
zuſammen macht ficher fehr fäbelmutig. Dan muß nur auch Die
Dofis richtig bemeſſen.
Ich halte es nicht für ausgeſchloſſen, daß ich ohne Alkohol mehr
borazifchen als achilleiſchen Deut bewähren würde.
Dies unter ung gefagt.
* *
*
Kürzlich focht ein Juͤngling auf unſre Waffen, der entſetzliche
Angft hatte, ſich aber doch nicht eher umbrehen ließ, als bis er
einen ausgewachfenen Durchsieher hatte. Später geftand er mir,
daß er „aus Lebe" gefochten hätte,
— „Wie?“ rief ich, „hat Ihr Gegner ſich erfrecht, Ihr Fraͤu⸗
lein Braut zu betaften?‘
— „Ah nein,“ fagte er, „meine Braut wuͤnſcht nur, daß ich
einen ſchoͤnen Schmiß habe.”
So heroiſch find die Töchter Thusneldas angelegt.
— Hört du nicht den Eichwald rauſchen?
* *
Als ich noch Buͤcher las, habe ich irgendwo das Diktum ge»
funden, daß der Menſch nie verzweifeln koͤnne, denn es Bleibe ihm
auch beim ſchlimmſten Zahnweh Immer die tröftliche Möglichkeit
bes Selbftmordes.
Ich habe ein Analogon dazu; ich fage mir: du kannſt zwar
verfumpfen, aber es bleibt Dir immer noch die Möglichkeit, Jour ·
nalift zu werben.
382
Diefe Verachtung des Jonrnalisums gehörte zum Repertoire
bes Zenafeks, aber Stilpe fing doch bereits an, ſich mit dem Ge⸗
danten fehr vertraut zu machen, daß ihm ſchließlich Die Laufbahn
bes Zeitungsliteraten blühen möchte,
Zwar war er keineswegs an feiner Dichterifchen Bedeutung irre
geworden; der Nagel faß feft. Aber der Umftand, daß er jetzt im
Grunde nicht einmal mehr Pläne zu künftigen Werfen machte,
kam ihm doch manchmal zum Bewußtfein, und dann fagte er fih:
Ich bin eine zerfplitterte Natur, der Fluch des modernen Den»
ſchen laftet auf mir, daß wir ung nicht fammeln Fönnen; gut alfo,
fo siehe ich ohne Wehleidigfeit den Schluß daraus und ſchlage
mich zu jenen, Die ihre Goldbarren taͤglich ſtuͤckweiſe und halb aus ⸗
geprägt vor die Maſſe werfen muͤſſen.
Und fofort malte er ſich eine vonfommene Ummälzung der deut ·
ſchen Zeitungsliteratur aus, die vor ſich gehen würde, wenn er zu
ihr gehörte, .
Aber, als ihm ein Artikel, den er einmal in den Serien gefehrier
ben hatte, zuruͤckgeſchickt wurde, erfaßte ihn gleich wieder der große
Ekel vor diefen „Öffentlichen Männern, die ſich zeilenweiſe profti-
tuieren und ſich von ihren weiblichen Berufsgenoffinnen nur da-
durch unterfcheiden, daß fie nicht gutmuͤtig wie jene find“. Und
die Zeitungen nannte er nun wieber „Holspapierbordene".
* *
um dieſe Zeit war es, daß Girlinger wieder vor ihm auftauchte.
Girlinger hatte in Zuͤrich und Genf ſtudiert, trug ſchwarze Ko-
teletten, einen Zylinder und Immer Handſchuhe. Er war fehr ge
fegt und durchaus folid. Sein Plan war eigentlich gemwefen, roma ⸗
niſche Philologie zu flubieren, und er hatte Diefem Fach, wofuͤr er
Fleiß und Talent in fehr hohem Grade beſaß, auch wirklich mit
Eifer odgelegen, aber, da fein Vater darauf beftand, er müle ſich
383
ber Jurisprubeng widmen, fo hatte er ſich ſchlleßlich dazu ver»
ſtanden und trieb nun auch Jurisprudenz mit Eifer und Ziel-
bemußtfein. Ein gewiſſer Zug von echter Nefignation ftand ihm
dabei fehr gut. Hußerlich erlebt hatte er fo gut wie nichts, aber er
hatte viel an fich gearbeitet.
Als er Stilpe zum erftenmal in feiner gelben Muͤtze ſah, nahm
er feinen Zylinder fehr tief und zeremoniell ab und made fogar
eine Berbeugung dabei.
Stilpe empfand das als Hohn und ſtuͤrzte ſich auf ibn:
— „Ad, der Herr Neferendar! Welch ein Zylinder! Wo haft
du die Sammetblirfte, Freund meiner Jugend?"
Girlinger erwiderte: „Ih ſchlage einen anderen Stil vor, wenn
mir uns unterhalten wollen. Übrigens bin ich meinem Eramen
ferner als du, denn ich ftehe im erften juriſtiſchen Semeſter.“
— „Ich ſchlage vor, dag wir weder von Semeftern noch von
Eramen reden, wenn wir ung unterhalten wollen. Ich fpreche nicht
gern von gleichgliltigen Dingen. Nur zu deiner Orientierung ber
merke ich, daß ich immer noch als ſtud. jur. et phil. immatrifuliert
bin, ohne indes von dieſen Würden Gebrauch zu machen. Ich fahre
noch immer fort, mir das Leben anzufehen. Auch trinfe ich gern
Spirituofifches. Du ſcheinſt mir Dagegen ein buveur d'eau zu fein."
— „So, Mürger kennſt du auch?“
— „Es gibt feinen beſſeren Kenner biefes Klaffiters. Schade
übrigens, Daß Die Stelle eines Barbemuche in unferm Zenafel ſchon
beſetzt ift, ich würde fonft dir meine Fuͤrſprache nicht vorent-
halten.”
— „Dante. Ich bin nicht für gelbe Muͤtzen.“
— „Röftlih! Nein, Diefe Biermuͤtze hat mit dem Zenafel nichts
u tun. Dein Zylinderhut läuft feine Gefahr, wenn du ung bie
Ehre und das Vergnügen machen winft, der definitiven Aufnahme
des Heren Lehmann in das höhere Barbemuchiat beizumohnen.
384
Morgen abend um acht auf meiner Bude, wenn ich bitten darf.
Oder fuͤrchteſt du dich vor oftpreußifchen Bomlen . . ."
— „Herr Lehmann ift wohl ein Idiot?"
— „Rein, ein Idealiſt, aber mit Barmitteln. Du wirft deine
Menfchenfenntnis bereichern, wenn du fommft, und außerdem
einige Chorgefänge vernehmen, die ſich meiner Verfaſſerſchaft rüh+
men. Wenn du aber nicht kommſt, fo werde ih mi aus Gram
betrinfen und in der Betrunfenheit dem Zenafel deine Flucht nach
Griechenland erzählen.”
— „Barum fo ich nicht fommen? Da Herr Lehmann die
Zorvle bezahlt, bin ich ja ſicher.“
— „Schön, aber Zigarren kannſt du wenigſtens mitbringen."
— „Ich rauche nicht."
— „Um fo beffer, fo wirft du ung nicht berauben. Aber merfe
bir die Marke: Henry Elay. Schreib dir's ins Notibuch. Eine
Kifte genügt. Schreib aber Elay richtig, nicht wie Das Kubfutter,
fondern fo: ©... 1...0...9. So iſt's richtig. Du wirft mohl
empfangen fein!"
— „Sind Weiber Dabei?"
— „Mu! So einer biſt du? Daher der Zylinderhut und bie
Koteletten? Kalipfichore verhuͤllt ihr Haupt.”
— „Bert
— „Kalipfihore, Die Muſe der epifchen Tanzkunft, wenn's ge-
färtig iſt. Sie wird perſoͤnlich da fein. Im Zivil heißt fie Hulda
Ranker. Du fennft doch das Zeitwort rankern ?"
— „Ich glaube, du bift betrunken.“
— „Bleibe feſt und glaube getroft, Du wirſt nicht Irre gehen.
Aber vergiß die Zigarren nicht! Du Fannft auch Hulda ein Kor»
fett mitbringen. Ich hab's ihr ſchon lange verfprochen. Doch von
Seide muß es fein!" "
Girlinger hielt es für gut, ſich nun zu verabſchieden.
25 Bierbaum II 385
— Total verfumpft! dachte er bei fidh. Und mie der Menſch
ausfah! Diefes angeſchwemmte Fett unter faſt gelber Haut! Diefe
unftäten, ſchwimmenden Augen! Und falopp! In einem Korps
ſcheint er nicht zu fein. Sogar die Wäfche nicht fauber. Und die
Hand feucht. Wie er dahin geht, der richtige Gewohnheitsſaͤufer,
der wwar nicht direft ſchwankt, aber doch auch nicht richtig gerade»
aus gehen kann. Natuͤrlich auch Gedankenflucht. Er fann fiher-
lic) feine sehn Zeilen logiſch ſchreiben. Delicantenphantafie. Ein
Nagout im Hirnkaſten. Wieviel Schulden mag der Menfch
haben!
Sirlinger hatte ein ſchoͤnes pſychologiſches Thema flr fein
Tagebuch.
*
Stilpes Wohnung lag im Durchgang der großen Feuerkugel
(einft wohnte Goethe bier — jetzt wir!) drei Treppen hoch und
beftand aus einem mäßig großen Zimmer und einem Alfoven.
— Der einzige Fehler diefer Bude ift, pflegte Stilpe su fagen,
daß fie gerade Wände hat. Schiefe Wände wären ſtimmungsvoller.
Aber man beachte die charaktervolle Schäbigfeit der Ausftattung!
Wer angefichts diefes pöbelhaften Sofas, dieſer fontraften Stühle,
dieſes ewig wackelnden Tifches und diefes immer aufflaffenden
Kleiderfarges, von dem infamen „Napoleon in der Schlacht bei
geipsig"' ganz zu ſchweigen, daran dächte, hier die Miete nicht
ſchuldig zu bleiben, müßte ein gefühllofer Barbar genannt werben.
Was aber das Bett anlangt, meine Lieben, fo gibt es feine vor»
lautere Beftie als dies. Es quietfeht ſchon, wenn man es anfieht,
geſchweige denn . . „ aber Das iſt ein rein mufifalifches Thema,
In diefer Wohnung alfo, die wirklich abſcheulich war, verfam-
melte ſich am folgenden Sonntag das Zenafel zur Geier der end»
gültigen Aufnahme des Philologen Lehmann, der fo viel Geſchmack
386
am Zenafel genommen hatte, daß er ſich felber an den groͤbſten
Verhoͤhnungen feiner Perfon beteiligte.
Stilpe erfchien eine halbe Stunde vor Beginn der Feſtlichkeit.
Mit ihm betrat Hulda Ranker das Zimmer. Sie tat es mit der
Sicherheit einer Perfon, die mit den Lofalitäten vertraut ift. Huͤbſch
war fie eigentlidy nicht, aber fie hatte das gewiſſe Puffelig-Srasiöfe
der Leipzigerin, an ber der Kenner noch heute die Erbreſte aus
jener galanten Zeit bemerft, in der, wie bie Kultuchiftorifer fagen,
„die geipsigerinnen an loderer Moral mit den Pariferinnen um
die Palme rangen“.
Die Moral Huldas war wohl nie fehr feft geweſen, aber Stilpe
hatte fie, obwohl er erf vor vier Wochen dem Mädchen „das
Taſchentuch zugemworfen” hatte, derart gelockert, daß fie voffommen
durchſichtig geworden war. Aber das ftand Fräulein Hulda ge
rade gut. Sie gehörte zu den Mädchen, die an Eharafter geminnen,
indem fie an Moral verlieren.
Im übrigen war fie ſchlank, von guter Taille, brünett und pafr
fabel angezogen. Tagsuͤber verfaufte fie Krawatten. Diefem Um-
fand verdanfte bie geiftfprühende Scherzfrage Stilpes ihr Dafein:
„Welcher uUnterſchied beſteht zwiſchen Hogarth und mir?" Ant-
wort: „Jener malte ein Krevettenmaͤdchen, ich bebichte ein Kra-
wattenmädchen.”
Aber mit dem Dichten fah es auch in dieſem Safe winbig aus.
Außer dem verwegenen Ritornell:
O holde Dulda!
Ganz ohne Matel wärft du, reimteſt du did) nicht
Auf Ludwig Fulda!
exiſtierte Feine Zeile, zu der Fräulein Ranker Pate geftanden hätte,
und aud) diefes zierliche Stachelpoem verdankte feine Entftehung
mehr Stilpes Antipathie gegen „biefen fehreibenden Kapitaliſten“,
als feiner Liebe zu der braunen Verfäuferin, ganz abgefehen da»
25* 387
von, Daß es eine von den auch fonft nicht feltenen Improvifationen
feiner Skandierkunſt war, bie fi) auf einen Reimzufan zuruͤck ·
führen ließen.
— „Laß die Rollfahnen runter, Mädchen, und mad’ Licht!“
fommanbierte Stilpe. „Es gibt bier in der Umgegend keuſche
Augen, die fehr luͤſtern find. So! Die Beleuchtung ift mangel-
haft, aber das fommt deinem Teint zugute. Im Schummerigen
wirken bie Weiber uͤberhaupt am beften. Daher die vielen Render
vous bei der Gaslaterne. Das elektriſche Licht wird die Render⸗
vous ftarf redusieren, und Herr Siemens ift für die Moral fehr
viel wichtiger als der Sittlichfeitsnerein.”
— „Quatſch' nich, Käfer. Heute wird ſowieſo wieder furcht ·
bar geredet werben.“
— „Sehr richtig! Aber auch getrunfen, meine braune Taube,
Ja fogar gegeffen, und zwar feineswegs Schweinsfnochen mit KId-
sen, fondern fabelhafte Sachen. Außerdem wirft du drei neue
Männer fennen lernen, und zwar ı. jenen Lehmann, 2. einen
Herrn im Zylinder und 3. einen Zylinder mit einem Herrn.“
— „Mit del'm naͤrrſchen Zeig!" (Huldas Ausfprüche müffen
immer leipꝛigeriſch gelefen werben, auch wenn fie deutſch wieder«
gegeben find.)
— „Ich rede ernft wie immer. Der dritte Dann ift nämlich
der Meine Auguft, den Kenner trotzdem Auguft den Starken
heißen.“
— „Barum denn?"
— „Richt bloß im Bizeps liegt die Kraft des Mannes! .. ."
— „Komm, fag’ mir, warum er Auguft der Starfe heißt!"
— „Ich werde mich hüten, denn ich liebe dich. Nur fo viel:
dieſer fleine Dann, der fi) durch einen hohen Zylinder zu reden
trachtet, ift ein fulminanter Muſikus und würde ſchon viele Opern
geſchrieben haben, wenn er nicht immer trinfen müßte. Zwar be+
388
hauptet er, ich wäre ſchuld daran, weil ich ihm den Tert nicht
ſchreibe, den ich ihm verſprochen habe. Aber das ift eben jene
Schlange, die ſich in den werten Schwanz beißt: Ich dichte nicht,
weil er nicht fomponiert, und er komponiert nicht, weil ich nicht
Dichte. Ergo muͤſſen wir beide ſaufen.“
— „Sag’ doch nicht faufen, das klingt fo ruppig.“
— „Kann ih daflır, daß die Wahrheit ein Rauhbein tft?"
— „Du Bft eins!"
— „Und dennod) liebt mich deine Sanftheit! Aber es klingelt!
Schwing did) hinaus, Mädchen!"
Es war Herr Lehmann mit drei Padträgern. Er machte eine
tiefe Verbeugung, der man bie Tanzftunde anfah, vor Hulda und
begrüßte Stilpe ehrerbietig.
— „Schön, mein Engel,“ fprad) biefer, „id) fehe, du haft alles
gut in Die Wege geleitet. Nun laß mich das Auspaden uͤberwachen.
Ser’ dich zu dieſem ſchlanken Mädchen, aber halte dic in den
Grenzen der Wohlanftändigfeit. Noch biſt du nicht in der Ge-
meine derer, denen alles erlaubt iſt.“
Und nun fommanbierte er:
— „Der die Flaſchen hat, vortreten! ..... Ah! Ste! Gut ger
waͤhlt, der Dann. Er tft würdig, volle Flaſchen zu tragen! leben
Sie Nordhaͤuſer? Schon gut! .. . Nun paden Sie aus! Vorne
ran bie dien Flaſchen! Gut! ... Wieviel? Schs? Gut!...
Jegt die kleinen fämmigen! Das müffen vierundzwanzig fein!
Stimmt’s? Gut! Sehr gut! ... Jetzt die rothalfigen! Suͤße Kerl-
hen, was? ... Zehn? Da fehlen mei! Menſch, Ste werden doch
nicht? Ah, da ſtrecken fie ja die roten Hälfe vor. Zu den anderen!
Schön ausrichten! Gut! Ganz gut und wader!... Sie waren
gewiß Unteroffizier. Natuͤrlich! Es lebe der Nefernemann! .. .
Aber jet die Gelbkapſeln, die feierlichen und fteifen Gelbfapfeln!...
Drei! Ja, ja, es werben nicht mehr. Aber reichen Sie mir 'mal
389
eine. Schön. Ich bin zufrieden. Laſſen Sie fi) auszahlen bei dem
Herrn dort. Er wird Ihnen auch ein paar Zigarren geben.
— Jetzt der zweite mit dem Sreßfober und dem Geſchirr! .. .
um Gottes wien vorfihtig! Den Bowlenbauch mitten auf den
Tiſch. Die Gläfer wie ein Kranz herum. ... So! Sie haben Ta-
Ient, alter Herr ... Run die Teller. Aber da fol dieſes Fräulein
helfen ... Hulda, arrangiere das Telerwefen. Und nimm dich
auch der Meſſer und Gabeln an. Und nun: mas ruht im werten
Shrein!? Gut!... Gut!... Es iſt alles In rechtem Verhältnis,
ſowohl das, was dem Meere entftammt, wie Das vom feften Lande.
Die ganze Geographie ift vertreten, von ber Adria bis zum Schwar ·
gen Meere ... Ja, die Eifenbahnen find ein rechter Segen, nicht
wahr, Miſter? ... und nun laffen Sie ſich gleichfals von dem
verehrten Gaftgeber auslohnen. Auch Sie haben drei Zigarren
extra verdient.
— Und nun ber Däftere in der Ecke mit dem ſchwarzen Sarg!
Heran und ausgepadt!... Wie? Ein Eelo? Seit wann zählt
das zu den Biftwalien? ... Ab, du willſt kniegeigen? Schön!
Placet! So fann ich mir mein Bettduo ſparen.“
Die Padkträger traten ab.
Kaum waren fie Draußen, fo hörte man in einer Art Baßfiſtel
freifchen: „Infames Rindvieh! Haben Sie feine Augen? Das
Luder hat mir Die Galoſchen abgetreten!"
Und herein ſtuͤrmte ein Meiner Menſch mit kurzem weißen Stop»
pelbart, faum einen Meter hoc), aber mit einem hohen Röhren-
hut bedeckt. Er ſchrie immer noch und fuchtelte dabei mit feinem
Regenſchirm herum: „Meine rechte Galoſche! Diefes Trampel«
tier! Wie? Ochfe! Direft auf die Galoſche! Ich gehe fofort!"
— „Aber Auguft! Siehft du die Dame nicht?" klagte Stilpe.
Und fofort war der kleine Mann friedlich.
— „Hehe! Warten Sie, mein Sräulein, gleich komm' ich und
390
lege mich Ihnen zu Fuͤßen. Bloß den Hut und Schirm und Man«
tel, pub, dieſen zentnerſchweren Mantel, diefe Ruͤſtung, Luder,
Das..."
‚Herr Lehmann ſtuͤrzte herbei und nahm dem Kleinen die Garde ·
robe ab.
— „Sehr nett, Herr ...?
— „keh ... Barde ...“ (Herr Lehmann wußte im Zenafel
bis jegt noch nicht, wie er hieß.)
— „Sehr freundlich, Herr Lehbarb!""
Stilpe wieherte vor Entzuͤcken.
— „Gottverbammich, was henlft du wie eine Lofomotive! Willſt
du mich mahnfinnig machen? Kennt du feine Rüdficht? Ich gehe
fofort!"
— „Aber Auguft! Du haft dich dem Mädchen immer noch
nicht zu Fuͤßen gelegt."
— „Dh, oh, oh, oh, dein Geſchrei! Dein Gefchrei! Aber jest
Biege ich ſchon!“
Und er fuhr auf Hulda los und ergriff ihre Hände und machte
dabei eine Verbeugung, fo daß er fie niederzog wie einen Pumpen ⸗
ſchwengel.
— „Ach, die reijenden warmen Händchen! uh, uh, uh, fi, fi,
ti, fo warme kleine Patfchen! Dem, mm, mm! Helfen?"
— „Hulda heist das Mädchen," bemerfte Stilpe.
— „Hab' ich dic) gefragt? Weg! Weg! Kommen Sie, Hul-
dachen, zu mir aufs Kanapee, Huldachen.“
Er ſchleppte fie förmlich zum Sofa, auf das er ſich nach tür-
tiſcher Art fegte, weil er europäifch figend mit ben Süßen nicht
sum Boden gereicht hätte.
Das Zimmer war jegt eigentlich ſchon von, aber es kamen noch
fieben Perfonen, nämlich:
1. Girlinger, ber ſich überaus ſchuͤchtern und mit der ganzen Nat:
391
Iofigfeit eines ſtark kurzſichtigen Menſchen benahm, dem bie
Brille angelaufen ift. Die Zigarren hatte er mitgebracht;
2. Stöffel, der disfret den Korpsftudenten zu markieren bemuͤht
war und übrigens etwas blafiert ausfah. Dit ihm
3. Fräulein Grete Gramm, genannt das afiterierende Maͤdchen,
eine etwas üppige Blondine, phlegmatiſch, aber unendlich) ver-
liebt. Übrigens eine „Bhrgerstogter";
4. Wippert, Der jest einen fehr fehönen dichten Schnurrbart hatte
und nicht ganz geſchickt den ungezwungenen Weltmann fpielte.
Mit ihm
s. Sräulein Klara Winkler, ein fehr lebhaftes rotblondes Ding,
das draußen am Earolatheater Choriftin war und den braven
Wippert ein bißchen tyrannifierte ;
6. Barmann, der immer noch wie ein Knabe ausfah, obwohl er
eine Menge Schmiſſe auf der Iinfen Bade hatte und ungemein
ſelbſtbewußt auftrat. Diefer mit
7. Sräulein Anna Obersdorfer. Das war eine fehr Kleine, flinke
Perfon mit großen lebhaften ſchwarzen Augen und braunen,
Iodigen Haaren, die die Stirn ganz verdediten. Sie hatte etwas
Späginnenhaftes in ihrer hupfigen Hurtigfeit. Auch, Buͤrgers ·
tochter", aber ſchon eigentlich nicht mehr ganz.
Die elf Perfonen wurden folgendermaßen placiert:
Sofa, linke Lehne: Stöffel. Rechte Lehne: Barmann. Neben
Stöffel das aliterierende Mädchen. Neben Barmann bie fleine
Anne. Mittelplag: Der eine Auguft mit Hulda.
Dem Sofa gegenhber, auf Stilpes Koffer Ceinft war er, mit
Schmetterlingen angefuͤllt, in Südamerifa gemwefen), Wippert und
bie rote Klara.
An ber linfen Schmalfeite des Tifches Girlinger, an der rechten
Stilpe.
392.
Herr Lehmann ftand, gelehnt an fein Eelogehäufe, zwiſchen
Tiſch und Alfoventhr.
* . *
Wenn vier Leipsigerinnen mit ſechs jungen Maͤnnern und einem
alten Herrn von der Art des Meinen Auguft zuſammen find, fo
geht es nicht leiſe zu, fondern fehr ſchnabellaut, wie in einem
Spatzenſchwarm, der ſich auf einem vollen Kirſchbaume nieder ·⸗
gelaſſen hat. Als ob fie vier Wochen in ein Trappiſtenkloſter ein-
gefperrt geweſen wären, ſchwatzten die Mädchen, und bie Zena-
kliers taten das gleiche. Aber der Quetſchdiskant des kleinen Auguſt
dominierte deutlich. Auen Maͤdchen gleichzeitig galante Kompli-
mente zu fagen, aber zugleich Die jungen Herren mit Großheiten
au regalieren, ſchien ſein Programm zu fein. Die anderen fpielten
nur ihr Inſtrument, er, der Kapellmeiſter, beherrſchte Die Partitur.
Es war wirklich eine Leiftung. Sirlinger, neben Herrn Lehmann
der einzig Schweigende, duckte ſich unwillkuͤrlich etwas in Diefem
Geſtoͤber von Worten.
Da erhob ſich Stilpe mit der gelaſſenen Eleganz eines Hof-
marſchalls und ſprach:
— „Maͤdchen und Freunde! Der Wohllaut eurer Stimmen
iſt lieblich, und ich moͤchte ihm gern noch ſtundenlang lauſchen.
Aber die Pflicht hebt ihren ernſten Zeigefinger. Wir haben heute
eine Sache von Wucht und Wichtigkeit vorz laft uns ſogleich
daran gehen! Es gilt, dieſen Herrn (treten Sie vor, Novize)), ber
fi in den niederen Probegraden nicht ganz übel benommen hat,
nun endlich und formel zu entlehmannen. Seht ihn euch noch ein-
mal prüfend an und Laßt euch nicht den Blick durch dieſe Flaſchen
und Biftualien trüben, indem ihr euch die Frage vorlegt: Darf
er der Schwelle bittend nahen?"
— „Er darf!" riefen Die Drei dumpf.
393
— „Aber natüuͤrlich!“ fagte die Meine Anne. „Warum fo er
denn nicht dürfen? 's is ja 'n ganz netter Herr!"
— „Eoine, bind deiner Göttin Das Gehege der Zähne zuſam ·
menz fie macht den Novizen eitel. Wir aber wollen beginnen!
— Novize! Beherrfhen Ste die glänzenden Verſe, in denen
Sie zu ung zu reden haben?"
‚Herr Lehmann verbeugte ſich und fagte: „Ja!“
— „Movie! Schwören Sie, demuͤtig und ohne Murten alles
u vernehmen, was man Yhnen jest fagen wird?"
Herr Lehmann verbeugte ſich und fagte: „Ja!“
— „Novize! Fangen Sie an!"
Herr Lehmann trat einen Schritt vor, legte beide Hände kreuz⸗
weis über bie Bruft, machte in diefer thrfifchen Haltung eine gang
tiefe Berbeugung, ließ dann die Hände an den Seiten herabfinfen
und deklamierte, wirklich nicht übel, was folgt:
Wie Runkelrübenzudernahgefhmaf
Liegt mir im Innern ſchlammig ſchwappelig
Ein ekelhaftes je ne fais quoi.
D welch ein Bandwurm quält mic, Unglüdstwurm?
Ic frug herum in manchem braven Daus,
Des Fenſter aus beſtrichenem Glaſe find
Und deffen Dausflur rot beleuchtet iſt,
Da rief die Fleine Anna: „Schämen Sie fidh, Herr Lehmann!"
Stilpe war empört:
— „Eoline! Wenn dein Ideal nicht den Schnabel hält, mußt
du die Bomle .. . Aber ich win nicht vorgreifen. Weiter, Novize!"
‚Herr Lehmann fuhr fort:
Ich fragte manche blonde Ppthia
(Aud) manche braune, wie «8 grade Bam):
394
„Ser auf den Dreifuß dich und fage mir:
Wie heißt der Vandwurm der mich fo erſtöet ·
Doc) da kein Dreifuß gegenwärtig war,
Ward kein Orakel mir. Ich zahle’ und ging.
Barmann mußte, während Herr Lehmann eine Paufe machte,
der fleinen Anna eine Serviette um den Mund binden. Aber der
fleine Auguft war aufer ſich vor Vergnügen, und er ſchrie: „Er
sahlte und ging! Hehehe! Warum war auch fein Dreifuß gegen»
waͤrtig!? Hulda! Warum?"
Stilpe machte: „PR!
Herr Lehmann fuhr fort:
Da fuhr aus grauer Wolke breit und ſchraͤg
Ein Balken Licht in mein gequältes Derj,
Und eine linde Stimme ſprach: „Ramel!
‚Zu viel des Leders fraßeft du, darum
Biſt du fo ledern felber ganz und gar —:
&eh Hin, purgiere dich des Pergaments,
Stoß aus den Wuſt von Chi und Phi und Pfi
Und zähle fürder keine Kommas mehr
In alten Schwarten, denn id) fage dir,
Das ift der Wurm, der did) zum Wurme made.“
Und id) purgierte mid. Das Seminar
Mied id} wie boͤſer Gaſe üblen Stank
Und wälgte keine Folianten mehr
Und laufchte nicht mehr mit gedehntem Ohr
Dem Dberfommazäpler, und id ward
Veinah ein Menſch.
So ſteh ich Hier am Tor
Und Elopfe mit gekruͤmmtem Finger an:
raßt mid), nicht in den Tempel, fag’ ich, op,
Rein laßt mid) in den Vorhof bloß hinein,
Das, ein beſcheidner Wandler, rund herum
Um des Zenakels wunderbaren Bau
IA) leiſe ſchreiten darf und fie und da
395
— „Aber natuͤrlich!“ fagte die Fleine Anna. „Warum fol er
denn nicht dürfen? 's is ja 'n gang netter Herr!"
— „Eotine, bind deiner Göttin das Gehege der Zähne zuſam ⸗
menz fie macht den Novizen eitel. Wir aber wollen beginnen!
— Novize! Beherrſchen Sie die glänzenden Verſe, in denen
Ste zu ung zu reden haben?"
‚Herr Lehmann verbeugte ſich und fagte: „Ja!
— „Movie! Schwören Sie, demütig und ohne Murten alles
iu vernehmen, was man Ihnen jest fagen wird?"
Herr Lehmann verbeugte fi und fagte: „Ja!“
— „Mopize! Zangen Sie an!"
‚Herr Lehmann trat einen Schritt vor, legte beide Hände kreuz⸗
weis über die ruft, machte in dieſer türfifchen Haltung eine ganz
tiefe Verbeugung, ließ dann die Hände an ben Seiten herabfinfen
und deflamierte, wirklich nicht übel, was folgt:
Wie Runkelrübenzufernahgefhmad
Liegt mir im Innern ſchlammig ſchwappelig
Ein ekelhaftes je ne fais quoi.
D welch ein Bandwurm quält mid, Unglüfswurm?
Ich frug herum in manchem braven Daus,
Des Genfter aus beſtrichenem Glaſe find
Und deffen Dausflur rot beleuchtet iſt,
Da rief Die Mleine Anna: „Schämen Sie ſich, Herr Lehmann!"
Stilpe war empört:
— „Eofine! Wenn dein Ideal nicht den Schnabel hält, mußt
du bie Bowle ... Aber ich win nicht vorgreifen. Weiter, Novize!“
Herr Lehmann fuhr fort:
Iqh fragte manche blonde Pythia
Auch manche braune, wie es grade kam):
394
„Setz auf den Dreifuß dich und fage mir:
Wie heißt der Bandwurm, der mid, fo gerftöre?“
Doch da fein Dreifuß gegenwärtig war,
Ward kein Orakel mir. Ich zahlt? und ging.
Barmann mußte, während Herr Lehmann eine Paufe machte,
ber fleinen Anna eine Serviette um den Mund binden. Aber der
fleine Auguft war aufer ſich vor Vergnügen, und ee ſchrie: „Er
zahlte und ging! Hehehe! Warum war au) fein Dreifuß gegen-
waͤrtig!? Hulde! Warum?"
Stilpe machte: Pſt!“
Herr Lehmann fuhr fort:
Da fuhr aus grauer Wolke breit und ſchrag
Ein Balken Licht in mein gequältes Herz,
Und eine linde Stimme ſprach: „Ramel!
Zu viel des Leders fraßeſt du, darum
Biſt dus fo ledern felber ganz und gar —:
Geh Hin, purgiere Did) des Pergaments,
Stoß aus den Wuſt von Chi und Phi und Pfi
Und zaͤhle fürder Eeine Kommas mehr
In alten Schwarten, denn ic) fage dir,
Das iſt der Wurm, der did zum Wurme made.“
Und id) purgierte mid. Das Seminar
Mied ich wie böfer Gaſe üblen Stank
Und waͤlzte keine Folianten mehr
Und laufchte nicht mehr mit gedehntem Ohr
Dem Dberkommazäpler, und id) ward
Beinah ein Menſch.
So ſteh ich hier am Tor
Und Elopfe mit gefrümmten Ginger an:
aaßt mich, nicht in den Tempel, fag’ Ich, ob,
Rein laßt mic) in den Vorhof bloß hinein,
Das, ein beſcheidner Wandler, rund herum
Um des Zenakels wunderbaren Bau
I leife ſchreiten darf und fie und da
395
Dinfegen auf der Schwelle Marmerweiß
Ein eines Opfer der Ergebenfeit.
Herr Lehmann ſchwieg und machte wieder eine ganz tiefe Der-
Stilpe erhob ſich mit Prieſterwuͤrde und ffandierte:
Die ihr Adepten feld, ſprecht euern Doppelvers:
Und Barmann brummte:
Ein fehr verwegener Knabe, in der Tat!
Weinreben nehmt und ſchlagt ihn auf den Steif!
‚Herr Lehmann erſchrak und trat einen Schritt zuruͤck. (Denn
er hielt alles flr möglich.)
Wippert aber rief:
Legt mir den Jüngling in ein Lexikon
Als Sefeglhen, Happt das Buch dann zu!
Herr Lehmann ſchuͤttelte betroffen das Haupt.
und Stöfel in H-bäh-Tone:
Es müffe der Menſch. Er riecht nach Waſſerflec.
Desinfiziert ihn mir mit Bibergeil!
Herr Lehmann wollte beinahe ärgerlich werben, er erhob ſchon
die Arme. Aber Stilpe fah ihn durchdtingend und zornig an.
Dann fprad) er felbft:
Zu firenge feld ihr, und ich tadle euch.
Sehe ihr die Flaſchen nicht, das Roaſtbeef nicht?
Dh, lenkt von diefer bangen Menſchlichkeit
Den firengen Blick zu diefem Kaviar
Und fehe der Sprotten goldne Enge an,
Der Slundern breite Liedenswuͤrdigkeit.
Und ad, den Rollmops, wie er zärtlich blinkt
Im Zwiebelfrang, pfeffereingekörnt.
Seid milde, milde, milde, fag” id) euch
Wie diefer Tpunfifch, der im Ole ſchwimmt,
Denn wiſſet, was in Silber rundlich Hier
396,
Priapiſch leuchtet, iſt kein Ierer Wahn,
Ren: Echt Straßburger Gaͤnſeleberwurſt!
Und alſo ſag id: Wer kein Unmenſch if,
Entlehmannt dieſen Lehmann, und mein Wort
Heißt: Heil Barbemuche, tritt in den Vorhof ein
Und nimm aus deiner Weſtentaſche das Rezept,
Wie man die Bowle, die Immanuel
Der große Kant erfunden, weislih miſcht!
Bei dieſen Worten erhoben ſich die drei Zenafliers mit ihren
drei Maͤdchen und riefen ſelbſechſt fehr laut und ſtuͤrmiſch:
„Es lebe Barbemuche! Er mache die Bomle!
Heil! Hurra! Landerirettel“
Der Meine Auguft aber fehrie: „Komm Se her, Herr Barber
muche, gam Se mir ’n Kuß! Nee, warten Se ’mal, lieber nich! Gaͤm
Se Huldan 'n Kuß! Und Hulda gibt mir 'n wieder, wenn Stilpe
niſcht drwider hat."
Und jegt ging's los. Stilpe fang mit feiner grauſamen Stimme
das Lied von ber Königsberger Bowle:
Braun, braun, braun,
Braun iſt die Bowle, wie was?
Die was? Die was?
Ad, Kinder, feid moraliſch,
Die Bowle, die iſt naß
Die Vowle, die iſt naß
— „Heda,“ rief Wippert, „Die Mädchen beengen uns. Sie ſollen
hinter den Stühlen ſtehen und ung bedienen. Wir find die Herren
mit dem Peitfhenftiel!"
— „Du bift wohl verrückt," rief feine rote Klara, „wie er ſich
maufig macht!"
— „Mein, er hat recht!“ ſchrie der kleine Auguſt. „Ude Maͤd⸗
hen raus! Raus! Mädchen find gut, aber erft trinken! Dann koͤnn
fe wieder rein! Zu enge! Zu enge!"
397
Er hatte ſchon fünf Glas getrunfen.
Stilpe ſchlichtete das Problem ſalomoniſch:
— „Es iſt zu enge, das iſt Mar. Aber die Mädchen in den Al⸗
foven zu fperren, wäre graufam und gefährlich. Ich ſchlage dies
Arrangement vor: Barbemuche und mein Sreund Girlinger ſchie ⸗
ben dieſen koͤſtlich beladenen Tiſch in die Ecke, und wir legen ung
in den Lichtfreis dieſer Petroleumampel auf Die Erde. Hulda, hol’
die Kiffen rein! So wollen wir fchlemmen und ſchlampampen nach
griechiſcher Art, lang liegend wie Schläuche, immer ein männlicher
neben einem weiblichen.”
— „3a, liegen, liegen!“ rief der kleine Auguſt. „Hulda, kennſte
Hamletn?"
Und fie lagerten ſich griechiſch, wie Schläuche.
Das alliterierende Maͤdchen nahm ſich beſonders gut aus.
— „Sie find das ſchoͤnſte Kanapee im Möbelmagauine des
Herrn,“ fagte der Meine Auguſt.
‚Herr Lehmann mußte anftatt eines Mädchens fein Cello neben
ſich legen und die wichtigſten Reben, zumal, wenn fie rhythmiſch
wurden, mit leifem Saitenrupfen begleiten.
Es entwickelte fi) ein unbeſchreiblicher Lärm, zumal dann, als
bie Delifateffen, von denen Stilpe übrigens einige beifeite gebracht
hatte, aufgegehrt waren und bie Henry-Elays dampften.
Der Pleine Auguft waͤlzte fih von Mädchen zu Maͤdchen und
aͤchzte nur noch, wenn er nicht trank. Achzend entwarf er verführe-
riſche Schilderungen feines Schlafrodes, den ihm Richard Wag-
ner geſchenkt haben fonte: —, Beſucht mid) Doch 'mal, Kinder, mein
Echlaftock ift aus Seide, hehe, fo mollig, und meine Badewanne
iſt auch nicht aus Pappe, nee!"
Wenn aber jemand zur Unzeit lachte, wurde er ungeheuer wild
und brüfte Schimpfworte der unerhörteften Art. Manchmal fang
398
er aud) Melodien aus feinen vielen ungefehriebenen Opern, bie alle
hoͤchſt erotifcher Natur waren und im Driente fpielten.
— „Hehe, was hat. der Meifter gefagt? Gott fei Dank, hat er
gefagt, daß der kleine Auguft fäuft, fonft müßten wir ung einpaden
laſſen.“
— „And deshalb ſaͤufſt du ja bloß, Auguſt,“ ſagte Stilpe.Er
fäuft aus Liebe zu Wagner, weil er den nicht umbringen will. Es
lebe Auguft der Großmütige!"
— „Halt’s Maul, Stilpe,“ aͤchzte Auguft, „u bift Die frechſte
Canaille, die ich kenne, aber ich Liebe Dich, ich liebe ale frechen Ea-
naillen. Hulda, Flopf mir den Buckel ab!"
* *
Es dauerte nicht lange, und ale waren betrunken, ſogar Gir
finger, der ſich abwechfelnd einen Rabuliften nannte und proven-
zaliſche Minnelieder fang.
Barmann hielt Volksreden, wobei er fortwaͤhrend wiederholte,
nicht Bebel ſel Praͤſident, ſondern Bismarck.
Auch der kleine Auguſt ſchrie, daß er Bismarck liebte, nur wäre
es ſchade, daß er fein Sachſe wäre.
Wippert lag ſehr lange auf den Knien und kuͤßte der roten Klara
die Schuhe. Dazu fang er:
‚gang, lang iſt's her.
Stöffel entwickelte Ideen uͤber das Salondrama, das nur ges
flüftert werden dürfte, und wobei man, wie jest Operngudker, Hör»
rohre im Theater verleihen wuͤrde.
— „Das Slüftertheater ift Das Theater der modernen Nerven,
das Theater der intimften Seelendüfte, Seelengefäufel! Wolluſt ⸗
gewiſper! Sanft! Ganz fanft! Hauch!“
Und er flhfterte felber nur noch fo leife, daß ihn fein Menſch
mehr verſtand.
399
Aus reiner Oppofition ſtellte Stilpe das Ideal eines „Schmet-
tertheaters· auf.
— „Nur noch Verfe, lang hinhallende Verfe wie Sanfaren,
Pofaunenftöße, die wie lange Donner machtvoll ausrollen. 3. B.
fo, und er bruͤllte mit voller Lungenfraft:
Ein Meer von Bowle, dir, Natur, gebracht, in langen, langen Zügen, ohhh!
Sonft ſprach man mehr von unliterarifchen Dingen, und Stilpe
ftente fogar die Behauptung auf, es fe eine Schande, an Literatur
auch nur zu denken, folange der Magen noch geſund fei.
— „Nur Magenfranfe dichten. Wer gefund ift, fäuft. Und das
iſt der Grund unfres Saufens. Wir faufen, um auf dem Ummege
über eine Magenfranfheit einmal Dichter werden zu koͤnnen.“
Unendlich oft fanf man ſich in die Arme, zumal, als die Maͤd⸗
hen eingefchlafen waren. Die dicke Grete hatte fih mit Hulda
bireft ind Bett gelegt, und bie kleine Anna glaubte offenbar, fie
wäre zu Haufe, denn fie zog ſich bis aufs Hemd aus und legte ſich
aufs Sofa. Herr Lehmann durfte ihr ein Schlummerlieb auf
dem Cello geigen, und fie Füßte ihn dafuͤr recht herzlich, wenn auch
im Schlafe. Die rote Klara hatte fi) nur die Haare aufgemacht
und lag dem fleinen Auguſt im Schofe, der aber feinen Sinn mehr
dafür Hatte und ein paarmal rief: „Nehmt doch bie Apfelfine weg!"
* *
*
Fruͤh um drei ſchlief ales. Nur Stilpe flieg swifchen den Schla-
fenden hin und her und tranf Die Bowle leer. — Die Betrunfen-
heit hob und fenfte fi) in ihm. Ihm war, als führe Ihn et etwas
im "reife herum. Zuweilen lallte er:
„Wie diefer Lehmann ſchnarcht!
Diefer Idiot ift ganz felig. Warum? Er hat feine Kniegeige.
und diefer Iafterhafte Greis! Gluͤcklich ift der Halunfe. Warum?
Er glaubt an Richard Wagner.
400
Und dieſe lieben Knaben, eingefchloffen Sielinger. Unbeſchreib .
lich zufriedene Burſchen! Warum? Sie haben ihre Srauenzimmer
ober ihren Zylinder.
Dahingegen Ih!
Ich muß über ihre ſchnarchenden Leichen fteigen und kann nicht
ſchlafen.
Ach, was bin ich elend! Ach! Ach! Ach! Heulen! Heulen!
Warum iſt mir ſo uͤbel? Warum geht alles in mir auseinander?
Die Schulden! Die Schulden! uͤberall Schulden! Und, aͤh,
ich weiß nicht vecht, verlohnt ſich denn Das anes? Ich. . . rutfche
ja ... ich ... rutſche ia..."
Ploͤtzlich gab er Girlingern einen Stoß mit dem Fuße,
Girlinger lallte: „Druͤck' mich nicht fo, Johanna!"
Stilpen erfaßte ein wuͤtender Zorn: „Alſo auch diefer Hering
feufst!" und er ftieß ihn noch einmal: „Sirlinger!"
— „Bas denn?"
— „Was haͤltſt du eigentlich von mir! He? Nicht wahr, ich
bin ein Lump und kuhdumm!?“
— „Berfumpft, ganz verfumpft, total.”
— „So, ſo? Reisend? Haft du gar feinen Nefpeft vor mir
mehr? Wie?"
— „2aß mic) fhlafen, ich muß fehlafen. Die Zigarren find fehr
teuer."
— „D5 du mich für dumm haͤltſt!“
— „Sa, ja doch, meinetwegen, bu biſt ja natürli) dumm. Das
ewige Saufen . . . bu mußt ja verblöben. Und außerdem . . . ge⸗
ſchmacklos ... Ah ... Ich muß ſchlafen.“
„Natüurlich: dumm! ... Ja, ja, das Saufen! ... Gefhmad-
los ... Freilich ... Blöde... Hm... Mir ift felber fo...
Ah, wie die Maͤdchen ſchnarchen ...“
Er ſtellte ſich vor die kleine Anna hin: „Wie rund ſie iſt. Hm.
26 Bierbaum II 401
Feſt. Warm. Und ich ftehe da wie in Klotz. Ich ... ich ... habe
nicht ’mal mehr Luft an dem. Ich ... Gott! Gott! ...“
Er ſah ſich ſcheu um und fuhr ihr mit der Hand über Die Bruſt,
aber wie angeefelt zog er die Hand ſchnell zuruͤck.
Ploͤtzlich warf er ſich mitten ins Zimmer.
— „Ein Sauleben! Ein Sauleben! Anes hin! Alles leer! Fer»
tig! Fertig! Jetzt ſchon fertig! ...“
Er lachte laut auf und tranf den Neft der Bomle aus dem
eöffel.
— „Und was für eine Art Befoffenheit das ift. Ich werde
jest motaliſch, wenn ich beseht Bin. Köftlich! Über alle Begriffe
toͤſtlich! Das it der Finger Gottes! Ich fol in mich gehen! Ein
ausgezeichneter Singerwinf! Eine fublime Ironie!:
Halt ein mit dem Suff, fonft friegft du Die Moral!
Dan fann nicht deutlicher fein. O ja, es gibt eine Vorſehung,
meine Herrſchaften!
Ah, pfui Teufel.“
Viertes Kapitel
ine kalte Maͤrmacht; Regen, Wind und zerfegt jagende Wol ·
fen. Das Theater iſt aus. Karl Haͤuſſer aus Muͤnchen hat
den Salftaff gegeben, und trotz des abſcheulichen Wetters ift es
den Leuten, Die aus bem Theater fommen, behaglich zumute. Auch
Girlinger ift Darunter. Eben fpannt er den Regenſchirm auf, um
feinen Zylinder und den neuen langen engliſchen uͤberzieher zu
folgen, da tritt Stilpe an ihn heran. Er hat feinen Überzieher,
und flatt der gelben Düse figt Ihm ein alter Schlapphut auf dem
Kopfe. Seine Hofen find unten ausgefranft, feine Stiefel zerriffen,
ſtatt Kragen und Schlips trägt er ein wollenes Halstuch.
402
Girlinger erſchrickt, mie er ihn fieht, und macht eine Bewegung,
als wolle er Davon.
— „Aber es ift ja Dunkel, Herr Neferendar! Du wirft Dich nicht
tompromittieren, und ich werde dich nicht einmal anpumpen, denn
bie zwei Marf, die du mir fpenden wuͤrdeſt, helfen mir nichts.
Aber reden möcht? ich ’n bißchen mit bir. Mir ift, als hätten wir
uns eine gute Weile nicht geſehen.“ "
— „Ich mußte nicht, Daß du noch hier biſt. Ich glaubte . . ."
— „Bas glaubteft Du? Gentere Dich nicht!"
— „Run, id) dachte, du wäreft vielleicht . . ."
— „Nach Amerita? Oder sur Schugtruppe?"
— „Ich meinte, du wäreft fort."
— „Sort! Sehr gut! Aber fiche, noch Ift er da! Ja: Bleibe
im Lande und nähre dich redlich, wenn bu fein Reifegeld haft, mein
Sohn... Wo gehft du hin?"
— „Nach Haufe."
— „Ah ſo! Nach Haufe. Das klingt ungemein nett. Sag’ mal,
du daft doch einen Hausſchluͤſſel?
Gewiß.“
— Shin. Den fannft du mie wohl ein paar Viertelſtunden
ſchenken?
— „Eigentlich habe ich feine Zeit, da ich morgen Sitzung habe
und mic) nod etwas in den Akten umfehen muß.”
— „Sigung! Aten! Rein, daß ich mit foldhen Würdenträgern
umgehen darf! Wenn Leipsig ruffifch wäre, waͤrſt du fiher ſchon
Beamter ber achten Nangflaffe."
— „Ja, wenn du mich verhöhnen winft . . ."
— „Rein, Girlinger, wirklich nicht. Nee. Ich bin fo matſch...
Weißt du, meine Stiefeln haben nur nominell Sohlen, und Abend»
brot hab’ ich auch nicht gegeflen. Da fonte ich höhnen? Nein, ih
Höhne nicht."
26* 403
— „Aber Menſch, wovon lebſt du eigentlich!"
— „Sei unbeforgt, Louis bin ich nicht, obwohl... na, gleich»
viel. Du warſt im Theater?"
— „Ja.“
— „Ich au.“
— „Wie? Obwohl du fein Gelb zum Abendbrot ...“
— „Ja, die Kunſt, mein Lieber! Die Kunſt! Ich bin nämlich
Aushilfsftatift. Haft du mich nicht bemerft? Gelbe Schlappftiefel
und einen grünen Buſch. Ho! Wenn nur die Wämfer nicht fo
ſtaͤnken ... Uber, was: Der Häuffer, das ift ein Kerl! Wie? Es
ift gemein von Heinrich, dieſen Falſtaff am Schluffe fo zu behan-
dein... . man fönnte heulen! Überhaupt das ganze Sthe wird
ur Tragödie durch dieſen Schluß. Und diefe Parkett: und Galerie-
tanzen fühlen das gar nicht. Ober etwa du? O nein! Welch eine
Genugtuung, daß das fette Lafter fein Teil friegt. Widerlich. Auch
Shafefpeare war ein fluger Herr und verſtand das Geſchaͤft wie
Ludwig Fulda. Ah! Mich hat's gejudt, laut aufzuſchreien und
dieſem grlinen Tugendprotz von Heinrich meine Schlappftiefel an
den Kopf zu werfen."
— „Ein angenehmer Effekt.“
— „Ja, aber er hätte mic) meine kuͤnſtleriſche Pofition gefoftet.
Nein, ich darf Shakeſpeare feine Gemeinheit vorwerfen. Ich bin auch
ein rechnendes Schwein. Mangelnde Abendbrote demoralifieren.”
Girlinger fing an, einen pſychologiſchen Biſſen zu ahnen. Es
mußte wohl intereffant fein, Das Problem der Berlumptheit an ei⸗
nem fonfreten und babei einigermaßen vertrauten Fall zu ſtudieren.
Er liebte ſolche Stubien, wenn fie bequem gemacht werden fonnten.
Alfo lud er Stilpe ein, mit ihm in ein Lokal zu gehen und Abend»
brot zu effen.
Stilpe nahm dieſe Einladung mit Lebhaftigfeit an:
— „Menfeh, wie ſchoͤn find deine Gedanken! Und ich hielt dich
404
feines Schwungs für fähig! Verzeihe mir! Aber du mußt das Lo»
kal mich beftimmen Laffen. Nur ift es ſchwer, denn bein Zylinder
paßt nicht in meine Milieus . . . Aber es geht ſchon. Die Gofen-
ſtube in der Kloftergaffe ift ein Rahmen, der für dich und mic)
paßt. Auch gibt es dort wunderbare Sooleier und einen Nordhaͤu·
fer, der die Seele mit feurigem Beſen fegt. Du haft das ja nicht
nötig; beine Seele ift rein; dafuͤr kannſt du dic) ja an bie milde
Goſe halten. Ich aber werde mich auf beine Koften gewaltig aus:
fegen.“
Sie gingen in die Goſenſtube und fanden einen leeren Tiſch.
Stilpe aß mit Heißhunger und ſehr viel, die Goſe aber benutzte er
nur als Vorwand für eine große Anzahl von Nordhaͤuſern, die er
mit „Kutſcherſchwung“ zu ſich nahm, wobei es ſtets den Anſchein
hatte, als wolle er das Glas mit verſchlingen.
Im Lichte der Gasflammen ſah Girlinger, wie ihm die legten
drei Jahre zugefegt hatten. Das unrafierte Geficht fahl und auf-
gedunſen, die Lippen bläulich, Die Augen ſcheinbar fleiner geworden
und fehr unfät. Eine zuckende Unruhe im ganzen Wefen, zumal in
ber Bewegung ber Hände etwas ziellos Fahriges. Aber der Nord»
haͤuſer ſchien su beruhigen. Zulegt befam Stilpe fogar feinen alten
Zug von fouveräner Ironie und die gewiſſe, etwas zu deutlich mar»
fierte vornehme Läffigfeit der Geſten. Zumal den Rauch der Zi⸗
garte blies er ganz wie früher fo grandios und Dabei mit Genuß-
miene von fi). Auch feinen alten Stil gab ihm der Nordhaͤuſer
ungefähr wieder.
— „a, mein Teurer, bis auf diefe etwas Plederige Bank da
habe ich mich gluͤcklich hinabavanciert, ſeitdem dieſe lieblichen Idi ·
oten mit den gelben Muͤtzen mich hinausgetan haben. Wie heißt
es doch: c. i., das iſt eum infamia. Nun ja, eine reizende Phraſe.
Ich hätte die ganze Sache mehr von dieſem aͤſthetiſchen Stand⸗
punfte anfehen follen. Und mie nett Das eigentlich war, ich meine,
405
wie gut es dieſes brave Schickſal eigentlich gebeichfelt hat, wie
muͤtterlich vorbereitend. Erſt diefe Juͤnglinge mit ihrem Difro-
fosmos von Bierjubifatur, und brei Donate fpäter dieſer Mafro+
kosmos des Senats ber freundlichen Alma mater. Nochmal c. t.
So find die Naturgefege. Du verftehft mich doch?"
— „Sa, aber fag 'mal: haft du denn wirklich? ...“
— „In der Tat: ich habe wirklich."
— „Aber Menſch, du mußteft doch bedenken ...“
— „Was mußte ich bedenfen? Daß bie Kaffe der gelben Muͤtzen
nicht meine Kaffe war? In der Tat! Diefer Umſtand war mir
nicht verborgen. Aber ab 1: eine andre Kaffe hatt? ich leider nicht
und ad 2 ſchwang mid) die Wiege der Zuverficht, Das biedere Ze⸗
nafel, influfive die beiden fapitalfräftigen Barbemuches, würden
mid) momento quo (das iſt mein Privatlatein) nicht in der Gall⸗
äpfelfauce figen laſſen. Ein falſches Kalkul, mein Holder, und
wenn du ein bißchen in der Weltgeſchichte blaͤtterſt, wirft du bie
Erfahrung machen, daß fo was ſchon manchmal mehr als eine
gelbe Muͤtze und eine Matrifel gefoftet hat. Übrigens wäre ich
wirklich beinahe der honorigen Studentenſchaft erhalten geblieben.
Aber nicht immer vermögen bie Unterröde zu retten, was bie Hofen
verfehen haben.”
— „Das verftehe ich nicht."
— „zröfte dich; ich werde es dir gleich erzählen. Erinnerft du
dich an meine erfte Liebe?"
— „Welche?“
— „Die chronologiſch erſte ... Ich habe es dir wie jedem
andern damals unfehlbar erzählt. Joſephine hieß fie.”
— „Ad fo, die, wo bu erft acht Jahre alt warft, in dem Dres ·
dener Inftitut?"
— „praͤzis die. Jofephine. Buſchkleppern feine. Diefer Engel
hat mid) retten wollen. Es iſt zweifellos rührend.”
406
— „Aber wiefo denn?"
— „Sehr einfach. Du erinnerft dich, wie ich euch Damals bie
ganze Sache Mar machte. Nicht wahr? Ich fprach doch mie Eicero
und Eatilina in einer Perfon. Es war einer meiner Höhepunkte,
Ein paar Anafoluthe hab’ ich noch in der Erinnerung. Nun, ihr
wart mit Talg gepanzert. Es rollte alles ruhig ab. Befonders du
warſt ein großes Achſelzucken. Hehe, famos haft du das gemacht,
mein &iebling! Prof! Dafür ſollſt du heute noch viele Nordhaͤuſer
bezahlen. Alfo ſchoͤn. Ich rafte ab. Du mußt dic) daran erinnern.
Ich habe in meinem Leben das Wort Schweinehunde nie wieder
fo ſchoͤn tremoliert. Und überdies warf ich bir ja ein Bierſeidel an
den Bauch. Nicht wahr, du erinnerft dich deutlich?"
— „Sa, du warft noch unflätiger als ſonſt.“
— „Das ift mir lieb, zu hören. Aber fela! Als ich draußen
mar, fagte ich mir: So, die Sache ift nun fir; wo tröf ich meine
Seele? Und da befuchte ich denn, aber du darfſt nicht rot werben,
Neferendar, jene Hausbefigerin, von der mir manchmal gefungen
hahen: Warum if deine Laterne wie Blut fo rot, Amalie?
Du haft das fehr ſchoͤn fingen fönnen, mein Engel, und oft
babe ich dich im Scheine dieſer Laterne ftehen fehen, hberglüht wie
von ber Morgenröte. So magiſch wirft du nie wieder ausfehen,
nie! Und Darum proft und fela! Apropos: du bift doch verlobt?"
— „Das gehört wohl nicht hierher.”
— ‚Mein, es fiel mir in dieſem Zufammenhange bloß fo ein.
Weißt du, mir faͤlt immer das Ungehörige ein, hehe. uͤbrigens
fange ih an, in Stimmung su fommen, und da rutfchen mir im ·
mer die Gedanken aus. Wart’ mal, wovon ſprach ih doch? Rich ⸗
tig: von deiner Braut! Iſt fie wieder geſund?
— „Set nit albern. Du ſprachſt von dem Haufe biefer alten
Vettel, diefer Amalie."
401
— Ama —i— ch! Richtig! nd, daß ich damals hinging,
mie ihr mich verſtoßen hattet. Richtig! Ich bin im Gleiſe wie die
Pferdebahn. Run geradeaus! Hüh! Ber! ulrichsgaſſe! Alles aus-
felgen! Ah! Was gibt's Neues, Mutter der Hourie? Wa—as?
Wer ift denn Das da? Ruhe! Na ja, is gut ...“
— „WMenſch, du phantafierft ja.“
— „Ro mir ein paar Sooleier her, und ich fteige auf bie
Erde.”
Er af ein paar Sooleier und kam zu ſich.
— „Alſo denke dir: ich gehe mit einem Mädchen hinauf und
unterhalte mich mit ihr. Sie gefiel mir nicht etwa. Nein, fie gefiel
mir gar nit. Sie war fo, ich weiß nicht, fo fatal duͤrr und, ja,
gläfern. Sie hatte entſchieden grüne Augen und unendlich, viel
Sommerfproffen. Aber um den Mund rum hatte fie fo mas Ver-
aͤchtliches, als ob er ſchon oft vor Efel ausgefpuct hätte. Weißt
du, wer fo einen Mund gehabt hat? Unfer alter Freund Boͤrne.
Alfo, fie fegt ſich aufs Bett und fagt: ‚Na
— „Hm, fag’ ih, ‚fchenfen wir ung das!“
Sie gudt mid) groß an.
— ‚Weißt du mas,‘ fage ih, ‚bu fannft mir daflır deine erfte
Liebe ergählen.“
— Ich? fagte fie, ‚ih habe gar feine erſte Liebe gehabt. Ges
rade, wie's anfing, war's aus!“
— Mee,‘ ſage ih, ‚fo was! Das mußt du mir nun gerade
erzählen.‘
Sie wollte durchaus nicht, aber ich hatte Die Gabe der Eindring-
lichkeit, weißt du, mit ein bißchen Schaufptelerei und ein bißchen
Gefühl neben dran. Denn ich war ja immer gefühlvof neben dran,
hehe. Und fo erzählt fie mir denn .. . aber das war wirklich ...
hol mid) der Teufel noch einmal! . . . ich dachte, ih wäre endlich
wieder "mal betrunfen . . . ja, benfe bir: fie erzählt mir meine
408
Geſchichte von damals! Ganz genau! Unterm Katheber und dann
im Garten!
Ich Friegte direkt Angft. Ich padte fie an den Handgelenken
und fah fie fo fuͤrchterlich an, daß fie aufſchrie. Und da nannte ich
ihren Namen, den richtigen, und dann meinen.
Nordhäufer! Rordhäufer!”
Er war ganz aufgeregt.
— „Wie fie mich da anfah! Die grünen Augen wurden tiefblau
und ftrahlig. Und mit einem Dale lag fie mir am Halfe und heulte,
Daß ich denfe, fie läuft aus. Und ſtammelt und flottert und klap⸗
pert mit den Zähnen. Herrgott! In meinem Leben habe ich ein
fremdes Leben nie wieder fo gefühlt. Dir war's, als hätte ich ihr
Herz leibhaftig und blutend und ftoßend in meiner Hand, und es
roͤnne mir über die Singer.
— Du Windelband! Gloge gefcheiter. Hehe! Diefer Nefe-
rendar ift ergriffen!"
Er lehnte ſich zuruͤck und blies den Zigarrenraud) lachend von
ſich.
— ,Komiſch! Furchtbar komiſch! Was? Das keben iſt talentvoll.
Es macht die ſchwierigſten Sachen ohne allen Apparat. Schmeißt
da zwei Zerſchmiſſene aufeinander und ſagt: Da habt ihr euch!“
Er ſah Girlinger blinzelnd an:
— „Nicht wahr, die Geſchichte iſt ein paar Nordhaͤuſer mit
Sooleiern wert? Aber mir wird ſie langweilig. Was kam auch
noch? Ich hatte das Stichwort und goß nun meine Geſchichte von
mir: So, na und dann biſt Du alfo gefaͤlligſt Bald dorthin gefom-
men, wo du jest bift, mein teures Mädchen; bon! Des Herrn
Wege find unerforfchlih, und: wer weiß, wozu es gut ift, ſagt
der Chriſt. Ich aber ... Ach, ich mag nicht mehr erzählen! Kurz
und gut, wie fie erfuhr, was mir bevorſtand, wollte fie Das Geld
aufbringen. Biel Gefuche in allen Kaften, dann Geſchrei und
409
Gebettel bei Madame Amalie... . Satis fupergue, es langte
nicht,”
Die beiden ſchwiegen eine Weile.
Dann Sirlinger: „Und, was haft du dann eigentlich geftiehen?"
— „Ich? Betrieben? Welch ein Tropus! Ich habe mich treiben
laſſen. Ad fo, du willſt wiſſen, mas ich ‚gervefen‘ Bin? Hoͤh!
Reichskamler nicht!"
— „Haben denn beine Eltern . . .?"
— „Ich habe eine Schmetterlingsfammlung geerbt. Es waren
ein paar reizende Kerle Darunter. Das andre hat beinahe für die
Schulden gelangt.“
— „Barum bift du nicht unter die Journaliften . . ."
— „Du fiehft doch, daß ich noch unter Die Jonrnaliften gegan-
gen bin.”
— „Aber, Menſch, du haft doch Talent!”
— „Uber das Leben hat noch mehr, wie ich mir ſchon einmal
zu bemerfen erlaubte. Übrigens, mein Sohn, irrſt du dich, wenn
du denfft, ich bin unter den Raͤdern. Ich bin bloß zwiſchen dem
Roßmiſt. Du brauchſt mir nur das Reiſegeld nach Berlin zu leihen,
und ih flürge Herrn Bleibtreu. Ob, es fommt ſchon noch bie Zeit,
wo ihr mit einigem Stolge fagen werbet: ‚Den beruͤhmten Stilpe
kenn' ich! Das ift ein Freund von mir.‘
Deinen Nordhaͤuſern von heute wirft bu es zu verbanfen haben,
wenn ich dich dann nicht verleugne.”
410
Diertes Buch
Ecce poeta
Reh” mir einen Lorbeerkranz, Schickſal,
oder aber
einen Bund voll Haber.
Aus Stilpes zerfireuten Weisheiten.
Erftes Kapitel
in junger Lyriker und ein noch jüngerer Dramatifer faßen im
Cafe Kaiferhof in Berlin und erdrterten bie Zufunft der Deut»
ſchen Literatur. Da ging ein Herr an ihrem Tifd vorüber, und
der Lyriker hielt mitten in der Bemerkung, daß erft nad) voͤlliger
Austilgung der Tagespreſſe wieder an eine anftändige Literatur zu
denken fei, inne, um biefen ‚Herrn, ber fehr elegant gekleidet war
und ein etwas blafiertes Wefen zur Schau trug, mit tiefer Ber-
beugung zu begrüßen. Der Herr, an dem eine Fuͤlle ſchwarzer, weit
in bie Stirn gefämmter Haare und ein Klemmer mit fehr breitem
ſchwarzem Bande beſonders auffiel, fagte mit einem ſchiefen Lächeln:
Naͤchſte Woche fommen Ste dran! Die freien Rhythmen habe ich
ſchon Mein gehadt. Man tut, was man kann.“
Der Eyrifer machte noch eine Verbeugung und wollte etwas
fogen, aber da war der Herr mit dem ſchwarzen Klemmerbande
ſchon weiter gegangen. An einem Ecktiſch, wo der Keiner bereits
den Abſinth filterte, ließ er ſich nieder.
— „Ber war denn das?" fragte eifrig der Dramatiker.
— „Kennſt du denn den nicht!" antwortete erftaunt der Lyri⸗
fer: „Stilpe!“
— „Was!? Den Kerl grüßt du? Dem ſchickſt du Deine Bücher?
Das tft ja der infamfte Hund, der je kritiſch gebent hat!“
— „Schrei doc nicht fo! Mit dem ift Sreundfchaft beffer als
Feindſchaft. uͤbrigens hat er wirklich Beift.“
— „Ach was: Geiſt! Ein Molch ift er! Eine nieberträchtige
Beſtie! Ein impotenter Neidbold, der ſich einbildet, mit Schnobb»
rigkeit alles totmachen zu koͤnnen. Die Reitpeitſche gehoͤrt ihm!
Eine Wigwanze iſt er!"
— „Was hat er bir denn getan?"
— „Mir wird er erft noch was tun, aber ich haffe ihn föon
413
vorher. Diefes Gezuͤcht muß ausgerottet werben, bu haft es ja vor ·
bin felber gefagt!""
— „Bitte recht fehr! Ich war noch nicht fertig! Leute wie
Stilpe nehme ich aus. Er iſt freilich ein Pamphletift, aber, zum
Zeufel, er hat einen alten Hut vol Talent."
— „3 pfeife auf dieſe Art von Talent, hinter dem fein Cha»
tafter ſteckt. Galle, Neid und Groͤßenwahn, nichts weiter! Den
alten Hut haben hier viele auf."
— „Du ireft Dich, es ſteckt mehr dahinter. Stilpe iſt eine der
intereſſanteſten Erſcheinungen in der Berliner Literatur. Ein gif
tiges Nas, meinetwegen! Aber: unerfchroden! Kennft du denn
feine Karriere?"
— „Ach was! Er wird ſich durchgebohrt haben wie alle dieſe
Holpapierwuͤrmer.“
— „urteile doch nicht ſo ins Blaue! Ich ſage dir offen: ich
habe Reſpekt vor dem Mann!"
— „Oder Angſt.“
— „unſinn! Reſpekt fage ich."
— „Auch Hohahtung?“
— „Ach, Hochachtung! Vor einem Kritiker hat man nie Hoch»
achtung. Aber er impontert mir. Die Art, wie er fich durchgeſetzt hat,
gefäut mir, weil fie beweiſt, daß Ihm der ganze Journalismus nur
eine Gelegenheit zu Stiluͤbungen ift. Vor drei bis vier Jahren iſt
er bier in einem Coupe vierter Klaffe angefommen, ganz abgeriſſen,
ohne die geringften Verbindungen. Als Reporter hat er angefangen,
d. h. eigentlich Bloß als Hilfsreporter, und bei was für Blättern!
Es heißt übrigens, daß er Damals in verſchollenen modernen Re-
vůen Gedichte veröffentlicht hat. Jedenfalls hat er, während er
bier beim literariſchen Troß mitſchuftete, nach auswärts in Litera-
turblätteen die unerhörteften Brandartifel gefdhrieben, als wäre
er ber heimliche Kaifer der deutfchen Literatur. Ich fage dir: Dreck
414
und Feuer, aber angemacht mit Flammpunſch! Durch eine Serie
von Obrfeigen, die er von einem Schaufpieler Friegte, wurde er
berühmt."
— „In der Tat: impoſant!“
— „It es auch! Denn diefe Obrfeigenferte mar nichts meiter
als ein abgefarteter Eoup, mie fich fpäter herausftete. Er und
der Schaufpieler prügelten fi programmäßig nad) gemeinfam
aufgeftelltem Regieplan, und zwar mit nachdruͤcklichſter Naturtreue.
Wie der Streich gegluͤckt und ihr Name in allen Zeitungen war,
fuhren fie sufammen in einer offenen Droſchke Durch Die Friedrich ·
ftraße, und Stitpe ließ eine hoͤchſt amlıfante Ehrenerflärung, die
von Wis fprühte, durch Die Blätter laufen, und die Aufmerffam-
keit der Redaktionen galt nun nicht mehr feinen Obrfeigen, fon»
dern feinem offenbar großen journaliftifchen Talent. Er fam an
einem konſervativ · antiſemitiſchen Blatte an und fehrieb nun das
boshaftefte Zeug, was fi) nur denfen läßt, gegen bie „koſchere
Literatur". Er hat geradezu den antifemitifchen Knuͤppelſtil erfun-
den. Und auf einmal, wie mit einem Krach, faß er auf der anderen
Seite und draſch auf die Antifemiten los, daß es nur fo knackte.“
— „Ma, das iſt doch der Zynismus ber Eharafterlofigfeit in
frechſter Form!"
— „Aber es hat Stil, mein Junge, und, übrigens: denfft du
heute noch uͤber Armintus fo, wie in Serta?"
— „Erlaube’mal, damit läßt fich jede Käuflichkeit entſchuldigen.“
— „Ich behaupte ja nicht, daß er ein moralifches Erempel iſt.
Er ift ein Landsknecht der Feder, jedem zu Dienften und in jedem
Dienfte ein Draufgänger. Wie ein General zur Zeit der italieni⸗
ſchen Renaiffance, der feinem Feldherrnſtab bald das, bald jenes
Wappen als Knauf auffeste, fo ſchwang er bald diefe, Bald jene
Sahne. Aus dem Nadau-Antifemiten und fortfehrittlichen Los⸗
gänger wurde erſt noch eine Art Iiterarifcher Volkstribun der So-
415
naldemokratie, und es ſchien, als würde er dabei fiehen bleiben.
Er ſchrieb damals mit einer merkwuͤrdigen nüchternen Härte und
hieb befonbers auf ben ‚Bourgeois-Anarchiemus‘ der jungen Li
teratur los. Aber ploͤtzlich ein wilder Querfprung, und er enthuͤllte
die Kunftfeindlichfeit der Sozialdemokratie mit einer ſolchen Un-
erbittlichfeit und befannte fo flammend feinen Irrtum, daß man
wirklich glauben mußte, er ſei vom Geiſte aller freien Künfte apol-
luniſch befeffen. Seitdem datiert fein Ruf als literarifcher Kritiker.
Er verließ die Politif und wurde der Schreden der Belletriften.
Er fing an, fein zu werben, du verftehft mich: fein im Berliner
Sinne, alfo witzig und ſcharf. Natuͤrlich muß er infolgedeffen mehr
verreißen, als loben. Kritif iſt Scheidefunft, fagt er; alfo Scheider
waſſer her! Aber gerade deshalb liebt ihn fein Leſerkreis.“
— „Und das findeft du alfo impoſant!“
— „Nein, das gerade nicht, aber dieſe ganze Schamlofigfeit,
mit ſoviel Witz und frechem Mute vertreten, zwingt mir fehr viel
mehr Nefpeft ab, als die langweilige Leifetreterei der furchtbar ernſt ·
haften Leute, die fonfequent und reputierlich find, weil ihre Be—
ſchraͤnktheit es nicht anders geftattet. Sie ſchulmeiſtern die &itera-
tur, er macht ſich über fie luſtig. Nenne ihn einen Lump, aber er
iſt es in Großfolio, und wenn du etwa fagen willſt, daß er Scha⸗
den anrichtet, fo behaupte ich, daß er das Intereſſe flr Literatur
hundertmal ſtaͤrker anregt als die anftändigften kritiſchen Regie
firatoren. Übrigens intereffiert er mich im Grunde als Deenfch. Ich
bin zwar bloß Eyrifer, aber ich wittere hier einen tragiſchen Fall."
— „Koͤſtlich! Wenn ein Eprifer es mit der Pſychologie hält!
Ja, ja! Ich fage dir, diefer Menſch fühlt fid in feinem Salon-
rock unendlich wohl und verachtet die geſamte ſchoͤpferiſche Liter
tatur, wenn er nur Immer genügend hohes Zeilenhonorar Friegt,
um gut effen und trinfen zu koͤnnen. Die Abſinth ⸗Flaſche hat er
ſchon bald leer.”
416
— „Ja, man fagt, daß er fäuft, und das ftügt wieder meine
Meinung von der Tragif, die hinter Diefem Menſchen ſteckt.“
— „Du biſt wirklich ein Eyrifer.“
Dann ſprachen fie wieder von ber Zufunft der deutſchen kite⸗
ratur.
* *
*
Der pſychologiſche Lyriker hatte recht: Stilpe fühlte fi) in
feiner bevorzugten Lage fehr unglüdlic.
Er lebte allerdings fehr gut, ſeitdem er „in der Feuilletonmanege
die Paufen durch ſchwierige Scherse ausfuͤllte“, wie er fein kriti⸗
ſches Amt umſchrieb. Er aß bei Kempinsky, ließ bei einem eng»
liſchen Schneider arbeiten, tranf nur ausgefuchte Spirituofen und
hatte, wenn auch fein ftändiges, fo doc) eine Art von Wander:
harem, „twohlaffortiert".
Daß darunter feine eigentliche Geliebte war, empfand er nicht
als Mangel. Diefes Beduͤrfnis hatte er nicht, wenn ihn auch
mandmal fo etwas mie Sehnfucht danach anwandelte.
— „Bielleicht wäre es gut, wenn ich mich einmal richtig ver-
liebte," fagte er fihz „Das märe doch wenigſtens ein Surrogat für
das andere.’ Aber es gelang ihm nicht.
Was aber war „Das andere"?
Ein paar Stellen feines „Heftes der Aufrichtigfeiten'‘ geben
darüber Aufſchluß.
Diefes Heft legte er zu dem Zeitpunfte an, als feine Stellung
anfing, geſichert zu werden; und das war biefelbe Zeit, um bie er
begann, ſich unzufrieden zu fühlen.
Auf der erſten Seite fand dies:
Jede Pfuchtgewohnheit ift gemein, alfo auch das Lügen, als
welche Kunft ich jegt gewerbsmaͤßig und, wie ich mir fagen barf,
nicht ohne Begabung, aber ich win ja hier ehrlich fein, alfo: mit
27 Bierbaum II 417
ungewoͤhnlichem Talente betreibe. Deshalb wit ic) wenigſtens zu»
weilen dieſe Gewohnheit brechen und auf Diefen Blättern Die Wahre
heit fagen.
Daß id) auch Dabei Lügen werde, verſteht ſich am Rande. Aber
diefe Lügen werben eine eigene und amlıfante Nuance haben.
Ich flelle es mir fehr anmutig differenziert vor: Lügen, die
Wahrheiten fein wollen, aber nicht daran glauben, und Wahre
heiten, Die ſich felber keineswegs trauen, aber ihrer Luͤgenhaftigkeit
immerhin nicht ganz ficher find und fih manchmal im ſtillen zwei ·
felnd fagen: Wer weiß, am Ende find mir wirflid wahr?
Eine liebliche Sorte Schlinggemächs alfo, — mein Gehirn mag
eine ähnliche Struftur haben.“
* *
*
„Es ſcheint wirklich: Der Menſch lebt nicht von Brot allein
und auch nicht von dem, was beffer ſchmeckt; er braucht ein Ziel,
mas er lieb hat, um „qluͤcklich“ zu fein. Aber er muß dran glauben.
Beiſpiel: Ich war glücklich, als id) das Ziel lieb hatte, ein —
Dichter zu werden, obwohl id) Damals lauter Schulden und Feine
Ausficht hatte, fie zu zahlen.
Oder: Ach war gluͤcklich, als ich das Ziel lieb hatte, ganze Stie-
feln zu befommen. uUnd ich hatte Doch nichts zu eſſen.
Nun aber: Bitte, mo ft das Ziel, das ich lieb hätte? Ganze
Stiefeln hab ich, und ein Dichter mag ich einftmeilen nicht wer-
den ... Alles wuͤſte und leer ...
Das Ziel, einen Rauſch zu befommen . . .!....?
Ach, wie erbärmlich find jegt meine Raͤuſche! Ach trinfe, weils
ſchmeckt, und das ift niedrig neben dem eigentlichen Ziel des Trins
fens, dem großen Rauſch.
Vielleicht Morphium? Aber ich fürchte den Selbfimord ....
418
Meine Krankheit heißt überhaupt Feigheit ... Ich habe mich zu
fehr an Kempinsky gewöhnt... .
Halt! Ich werde nad) Dreffel ftreben! Jede Woche zwei Feuille⸗
tons mehr, und es geht! ...
Ach, wie kuͤmmerlich und einfältig! Bin ich denn ſchon ganz
verblödet? Jeder Tag Dreffel, das wäre ja eine Roheit und uns
fagbar ftümperhaft. Ich würde mir ja felbft die Möglichkeit zu
Magenidealen rauben ...
Alfo: Joealefehlenmir? Schau, (hau, wietugendhaft ich bin...
Unfinn: Ideale! Schon das Wort ift die verförperte Maul-
fperre: J... €... a! Pfeifen wir licher darauf! .. .
Aber das ſchweiß⸗ und luſtlockende Ziel... Sollte es Die Liebe
fein, Die i—a—bee? D nee!
Indeffen ... mandhmal...2...hm...!.
Kuͤrzlich liebte ich fehr ſtark in der Gegend des Veddings. Ich
zog mich ſchlecht an (wie ſchade, daß ich meine letzte Leipziger Gar⸗
derobe nicht mehr habe!) und entzuͤndete den Scharlachſeuerbrand
bei einem recht füßen Ding von Mantelnäherin.
D ja, es hatte mas. Die Armeleutliebe hat ihre Neize wie die
Armeleutmalerei, und ich fam mir vor wie der Dide Kommerzien-
rat Kat, der einen Uhde in feinem Speifesimmer hängen hat. Er
vertritt ihm die Stelle des Tiſchgebets. Aber ich bin wohl nicht fo
chriſtlich veranlagt wie der Kommerzienrat. Ich zog mich wieder
in Die Nähe des Wintergartens zurüd .. .
Nein, die Liebe ift es nicht... . Zur Liebe bin ich jest entſchieden
au aͤſthetiſch geworden ... Ober zu niederträchtig? Nur feine
Gone, werter Freund! Den Sport will ich mir menigftens be
wahren, daß ich mich felber beim rechten Namen nenne.
Und jegt win ich zu Emmy gehen, die mich „Kaviarbroͤtchen“
nennt.
* *
*
27 419
„Ich nähre mich jest hauptſaͤchlich von Eyrifern, und was ich
dann von mir gebe, iſt das Entzuͤcken meines reigenden Publikums.
Nichts erfreut es fo von Grund aus, als wenn man ihm einen
gerupften Dichter vorfegt.
Es befteht alfo in dieſer deutſchen Welt von heute immer noch
eine Art Neid gegen diefe Profeffion?
Und, wenn ich mir felber auf die Plombe fühle: beneibe ich das
Geflügel nicht auch im Grunde ein bißchen? Zumal bie, die fich
fo verdorben ſtellen und fo felig in der Einbildung find, gewaltige
und verruchte Sünder zu fein, — find fie nicht wirklich beneidens-
mert? Kerle, Die ſich noch geißeln fönnen, muß man bie nicht be»
neiden?
Und überhaupt Diefes Behagen, ſich in Verſen auszuſchwemmen.
Es ift ganz fiher eine ejafulative Wolluft.
Und der Rhythmus ift das geben,
Und die Profa iſt der Tod...
Hol fie der Teufel! Ste genieren mich. Sie erinnern mid) an
Zeiten, da ich gerade fo dumm und pueril war mie fie, und ich
finde, es ft ungerecht, daß ich leiden muß, weil ich Mlger wurde...
Alfo: ich leide? Sehr ſchoͤn gefagt. Ein dekoratives Wörtchen.
Schon die Stimmgabel zum Igrifchen Gefang.
Ich werde mir auch fo eine dicke ſchwarze Halsbinde faufen,
die einem fo was Biedermeierifhhalbabgemürgtes gibt und zur
Igrifchen Livree von heute gehört.”
* *
„Im Grunde genommen, werter Herr, find Ste den Idealen
Ihrer Jugend ein wenig untreu geworden. Fanden Ste nicht der-
maleinften, daß es die Gemeinheit der Gemeinheiten fei, ein Dich»
ter fein zu koͤnnen und um ber befferen Speife- und Weinfarte
willen ein Journalift zu werden?
420
Ganz richtig. Nur erlaubt fi) irgendwer die Frage: Kann id
denn ein Dichter fein?
Laͤcherlich! Höchft laͤcherlich! Sind Ste ein Lump, daß Sie ſich
verftelen? Wiſſen Sie nicht ganz genau, daß Sie ein Dichter
mären, wenn Sie nit, leider, es für bequemer hielten, ein Schu-
biaf zu fein? .
Hm; vielleicht nehmen wir bloß ein Schlammbad! . . . So zur
Austreibung böfer Säfte, wiffen Sie...
Aber wer hat es Ihnen denn verſchrieben?
Meine Natur, meine fehlechte, niederträchtige, gemeine Natur.
Durch Schlamm zum Roſenoͤl! fagt fie.
Reisend, in was für Tropen Ihre Natur lügt. Aber, Sie glau⸗
ben ihr doch nicht?
J wo! Ich fenne fie ja.“
« *
*
Es fängt an, gefhmadlos zu werden, wie unwohl ich mich
fühle.
Mein Ruhm finft zum Himmel, daß Pietro Aretino vor Neid
ſemmelblond wird, meine Honorare fönnten einem Zirkusklown
den Schlaf rauden, mein Stil, dieſes Gemächte aus Sprachnot ⸗
sucht und Drehfranfheit, wird mehr kopiert, als die Sixtiniſche
Madonna, — und id) bin der Gelbfucht nahe.
Was, zum Teufel, fist mir In der Leber!?
Dh, ich fuͤhls! Es ift ein Efel an Diefer Komödie, die ich aus
mir gemacht habe mit dem Vorſatz, fie vom Repertoire zu ftreichen,
ſoodbald ic) genug an ihr hätte, und die ich nun Tag für Tag feit
Jahren fpielen muß, weil ich fonft hinter die Kuliſſen gefchmiffen
wuͤrde.
Ein ſchundgemeines Kaſſenſtuͤck, aber wehe, wenn ich ein ande»
res gaͤbe!
421
Es gilt nur die Frage: Verlohnt die Einnahme wirklich den
Ekel? Wäre es nicht beffer, ich träte endlich einmal vor und fpiee
dem werten Publifum ins Geficht?
Hollah! Am Ende gäbe das erft recht einen Erfolg, und ich wäre
obendrein die Efelplage 108?
Wie, wenn ih Va—banque ſpielte?“
« *
*
„Ich fehne mid) nad) Unordnung, nad) Verrüdtheit, nach dem
Gelächter derer, Die nichts au verlieren haben.
AH, du altes, treues Wort: Bohöme! Ein gelangmeilter Lump
au fein, ein Lump in Wohlfein und Angſten vor dem bißchen Da⸗
feinsgefahr, — wie ſchaal und ſchaͤbig! Aber ein lachender Lump,
ein koͤniglich ſelbſtherrlicher Lump mit leerem Beutel und den
Taſchen voll Hoffnung, ein dichtender Lump, ein Lump voll Laune
und naͤrriſchen Plänen, ein freier Lump mit Der Grazie des felbft-
bewegten Lebens, — mie föftlich und groß!
Bohöme! Boheme! Der Gedanfe läßt mich nicht mehr los:
Heraus aus dieſem behäbigen Lumpentum und hinein in freche
Abenteuer!
Ich muß mich wieder beraufchen fönnen und nicht bloß trinfen.
Ich muß wieder einen Kreis um mid) haben, in dem man be-
trunfen wird an fic) felber.
Diefe ſchweren Weine machen faul, dieſe Champagner Lügen bloß
von Raͤuſchen, diefe koſtbaren Likoͤre find mie Seivenpolfter, in
denen man verfinft, ohne dag man glaubt, Hourl-Arme ſchlingen
ſich um Nacken und Bruſt.
Was iſt das für ein Leben! Kein Ruck und Zuck, fein Taumeln
und Drehen. Geradehin, auf Gummiraͤdern, hinter verſchloſſenen
Kalefchenfenftern, allein.
Diefe „Kollegen“! Wie ernft! Bie bedeutend! „Beamte der
422
Öffentlichen Meinung. Richter im Neiche des Schönen. Staats-
anmälte des Geiftes. Pioniere des Fortſchritts. Enfel Leffings.
Verantwortliche Redakteure der Moral.” Ob, ihr... .!
Na! Ich kenne euch Dodh? Ihr Habt doc) aderhand Refpeft vor
mir? Ich unterftehe doch annoch mafellos eurem Ehrengerihte?
Wißt ihr denn nicht, Daß ich täglich Unzucht mit afen Laſtern des
Witzes treibe? Warum werft ihr mich denn nicht hinaus?
Solltet ihr... aud...? Bloß nicht mit ſoviel Srehheit...?...
Wie, wenn ic) einmal meine Komoͤdie, Die ja ein Stuͤck der euren
if, ohne Schminke auf eure Papierbühne brächte? Wenn ich die
literarifchen Hungerleider, die von Gnaden des Elends noch an⸗
ſtaͤndig find, aufriefe gegen die gewuͤrdeten literariſchen Beutel-
ſchneider und Gaudiebe? Wenn ich zeigte, was für Waͤſche unter
den fehönen Nöden der Würdenträger der Öffentlichen Meinung
fedt?...
Halt! Das iſt Stil für die Öffentlichkeit; ic) kann Die Paſſage
in meiner Broſchuͤre verwenden, Die ich wie einen Klog in den Tin ·
tenfumpf werfen will.
Ah! Da haben wir ja fhon Plan und Titel: Eine Broſchuͤre:
Der Tintenfumpf. Schon bin ich infpiriert!
Aber hier wollen wir doc) lieber nach Möglichkeit ehrlich fein, —
mas habe ich alfo vor!? Wenn ich es mir recht überlege: ich will
mir, da ic) von dieſer Bühne abzutreten gefonnen bin (bin ichs
wirflih?) einen guten und womöglich praftifhen Abgang ver-
schaffen. Ich will fenfationen abtreten, um — drüben ein anderes
gutes Engagement zu befommen?
Nein, das nicht.
Aber es wäre vieleicht möglich, daß mir dieſer Abgang die Mög-
lichfeit gäbe, eine eigene Bühne, eine Proteftbühne zu gründen ..?...
Hm. Die Perfpeftive iſt gut ... Geht die Broſchuͤre, fo findet fich
wohl ein fpefulativer Herr, der mir meine eigene Zeitung gründet:
423
Die Zeitung der Zurücgeiviefenen, das Blatt der Bohoͤmes auf
jedem Gebiete... .
Und; fein Zweifel, Daß die Brofchtire gehen wird! Welcher Stan-
dal ginge nicht? Aber ih muß ruͤckſichtslos fein, wie ein Wilder
und bodhaft wie ein Affe.
Sagen wir ruhig: es muß ein braves Pamphlet fein.
Machen wir! Iſt nicht der Tintenfumpf unleugbar? Bin ich mir
nicht das ſchoͤnſte Moden? Hat mic) dieſer Sumpf nicht ruintert?...
Der Teufel, ich komme immer in den Stil für Die Dffentlichfeit.
Ich bin wirklich allerliebſt eingeſeucht; es ſcheint, ich fann mir
ſchon ſelber nicht mehr die Wahrheit ſagen. Aber für dieſen Zweck
iſt dag eigentlich ausgezeichnet! Sch werde teilweiſe unbewußt Lügen,
und eine unbewußte Lüge knattert viel ſtaͤrker als zehn bewußte
Wahrheiten.
Ehen rieb ic) mir die Hände. Es ſcheint, Die Boͤſewichter auf
dem Theater find echter, als wir glauben.
Voͤſewicht! Ich möchte jegt mal in den Spiegel fehen.
Wie fonderbar aufgeregt ich bin. Rein mie betrunfen. Ob, ich
ahne Raͤuſche! Wenn ich jest ſchon fo außer mir gerate!
Und nun hab ich endlich das Wort für mich: Ich will wieder
außer mir geraten fönnen!
Komme! was win: ich muß aus mir heraus, heraus aus dieſem
meinen Sumpf, und ich will mit getvaltigem Speftafel ans Land
fpringen! Platſchen fon es.“
Zweites Kapitel "
leid) nad) dem Erſcheinen des Tintenfumpfs hatte Stilpe fein
Quartier aus dem Karlsbad, das ihm längft su ſtill gewefen
mar, in die Nähe der Weidendammer Brüde verlegt. Da haufte
424
er nun vier Treppen hoch nach feinem Gefchmad wie ein Student,
nur, daß es feine kuͤmmerliche Bude nach dem Hof hinaus war,
fondern groß, hei, mit dem Blick nach der Spree und meithin
über einen guten Teil Berlin. Und laut war fie, umbrobelt vom
Laͤrm der Friedrichſtraße, den man mie ein rollendes Raufchen
hörte. Dazu das Rattern der Züge, die in den Bahnhof Friedrich»
ſtraße einfuhren, und von den Arbeiten am Neubau der Weiden ⸗
dammer Brüde her Die droͤhnenden Schläge des Rammwolfs, der
bie Notpfeiler in das Flußbett trieb.
Da aber gefiel es Stilpe gut. Hier fühlte er ſich zu Haufe.
Das war nad) feinem Geſchmack: ein ſchmuckloſes Zimmer mit
abgenugten Möbeln, die er nicht mit befonderer Schonung zu be
handeln brauchte; zu Nachbarn Bargons wie er, Studenten, Künft-
fer und ein „beſſeres Mädchen“; Die Hausordnung dementſprechend
liberal, Die Wirtin desgleichen.
— „Ein guter Dunſtkreis,“ hatte er gefagt, wie er die Woh⸗
nung bezogz „hier laßt ung die Götter Ioden mit Pfeifen und
flingenden Glaͤfern.“
Er hatte gleich feine alte Frechheit wieder, die er fo lange unter
einer anderen hatte verbergen muͤſſen. Es fehlten ihm nur noch Die
Genoffen.
Aber fein Aufruf am Schluß des Tintenſumpfs: An das bif-
hen Bohöme in Berlin! hatte bald gegogen. Es famen fogar fehr
viel mehr, als er gewuͤnſcht hatte, und vor allem kamen fehr viele
falfche Bohömeleute, unglaublihes Volk von innerliher Philiftro>
fität, Theorienaushecker, Weltverbefferer, Pſeudoanarchiſten, auch
einige lebendige Beifpiele aus Krafft-Ehings Pſychopathia feru-
alis: alles, was irgendwie in der Welt nicht zurechtfam, glaubte
sur Bohöme zu gehören uud im Verfaſſer des Tintenfumpfs den
Mann gefunden zu haben,.der ihnen in einer neuen Zeitfehrift
weißes Papier bogenweiſe zur Verfuͤgung fleilen wuͤrde.
425
Dagegen blieben anfangs die aus, an die allein er gedacht hatte:
die Dichter und Künitler. Nur einige Jünglinge, denen der Dilet-
tantismus mit jenem befannten Strohfeuer aus den Augen leuch⸗
tete, waren als Vertreter der Kunft bei dieſer erften Flutwelle.
Erſt nad) ein paar Wochen, wie Stilpe von der gefamten Preſſe
mit Einmütigfeit und ganz kurz als Schandfled des Journalis-
mus abgetan worden war, fanden ſich Die Rechten ein. Stilpe merkte
es ſogleich daran, daß fie ihn unverzüglich anpumpten, und dann
beim „Drafel der Buttelje“. Sie tranfen ungefähr mit derſelben
Zechnif wie er.
Nach etwa vier Wochen hatte er wieder ein „Cenacle“ beifammen,
und diesmal war es ein echtes.
Eine Masterade mit franzoͤſiſchem Namen war hier nicht mehr
am Plage. Seine neuen Freunde waren felber Originale, kantig
geblieben in der großen Rührbüchfe eines derb gugreifenden Lebens,
und gaben den Freunden Mürgers nichts nach. Es waren Föftliche
Kumpane für ihn und dabei entfchiedene Talente für feinfte Kunft
und freieftes Leben. Nur ein paar von ihnen waren ſchon mit Wer-
fen an Die Dffentlicpfeit getreten, und es war nun eine Quelle ge»
meinfamer herzlicher Freude, wenn fie und Stilpe die niederträd-
tigen Kritifen zitierten, mit Denen „Der gefürchtete Krititer W. St."
fie einft an den Pranger geftelt hatte. Die Mehrzahl war fo gut
wie ungedrudt, denn es gab fein Blatt, das erzentrifch genug flr
fie geweſen wäre.
Nun folte Stilpe natürlich dieſes Blatt gründen.
Bei allen Zufammenfünften, foweit fie nicht bloß mit Trinfen
oder Rezitationen der „neueften Sachen von Rang“ ausgefüut
wurden, war dieſe Gründung das Hauptthema. Aber nun waren
ſchon zwei Monate feit dem Erfcheinen des Tintenfumpfes verfiri-
hen, das Intereſſe für dieſe Broſchuͤre ebbte nad) der Provinz hin
ab, und man war nod) zu feinem Entfchluffe gefommen.
426
Da erließ Stilpe an den „inneren Kreis der Eigentlichen“ eine
Einladung, die unter dem Hinweis Darauf, daß „mit den ſchwin⸗
denden Monden auch Die Moneten verrollten“, zu einer letzten und
endgültigen Sigung „in punfto Blatt“ sufammenrief. Poſtſkrip⸗
sum: „Um nuͤchternes Erfcheinen wird gebeten . . . Der Peripate-
tifer fol die unmündige Tochter des Regenſchirmhaͤndlers zu
Haufe laſſen.“
« *
.
Stilpe erwartete Die Geſellſchaft ganz mit der Heiterfeit, dieihn
immer leife hob, wenn ihm Gelegenheit zu Trinken und Reden in
Ausſicht ftand.
Das hatte ihm in feiner „fundierten Periode‘ vornehmlich ge-
fehlt: geſpraͤchsweiſe trinten zu fönnen. Im Raufche die Welt mit
Worten aus den Angeln zu heben, das war ihm immer Bebürf-
nis gemefen, und das war ihm nicht erfüt worden, als er das Da-
fein des gefürchteten Kritifers führte. Denn damals fehlten die
rechten Geburtshelfer für feine Worte. Diefe Art, fi dem Rauſche
des improvifierten Wortes hinzugeben, war fein Teil Produftivität,
und er hatte fi) im Grunde deswegen fo ungluͤcklich damals ge-
fühlt, meil er zur Unfruchtbarkeit verurteilt war, weil ihm Die Wol-
luſt, ſich auszugeben, nicht wurde.
‚Hätte er die Fähigkeit und Freiheit beſeſſen, fo su fchreiden,
wie er ſprach, hätte er nicht im Grunde wider fein Wefen und wider
feinen Stil fchreiben müffen, fo wäre die Gemaltaftion des Tinten-
fumpfes kaum in dieſer bruͤckenabbrecheriſchen Art vor ſich ge-
gangen.
Er ſelber ahnte dies nur dunkel, in den ſeltenen Stimmungen,
wo er ſich einmal vor die Seele fuͤhrte, was er eigentlich getan
hatte mit ſeinem Schritt, den niemand begriff, und hinter dem man
in den betroffenen Kreiſen allerlei weitgehende Abſichten vermutete,
427
weil man es ſich nicht vorftellen konnte, Daß ein fo „geriflener Kunde‘
wie Stilpe, der bisher ein Lager Immer nur verlaffen hatte, weil
in einem anderen weichere Polfter winften, fich ohne beftimmte Aus ·
ſichten eine ausgezeichnete Pofition verfcherzt haben fonte.
Gerade jest, wie er Die neuen Freunde erwartete, bedachte er
"einmal feine Lage. .
Die Hände unterm Kopf sufammengefchlagen, die furze eng-
liſche Pfeife mit Old Judge im Munde, lag er auf dem breiten
Lederdivan und betrachtete ein großes, rot, grün und ſchwarz ges
haltenes Plafat, das an der Wand gegenüber befeftigt war. Die
Worte darauf, in riefigen ziegelroten Buchftaben, lauteten:
1! Senfationell !!
Der Tintenfumpf
Enthüllungen
und
Selbſtbekenntnifſe
von
Willibald Stilpe
Dazu ſah man in ſtiliſierten ſchwarzen Wellen einen aufgeregten
Tuͤmpel, aus dem hoͤchſt entſetzte gruͤne Froſchgeſichter und die
Schwimmfuͤße nad) unten tauchender Froͤſche herausragten, wäh-
rend ein herkuliſch gebauter Froſch, von dem das ſchwarze Sumpf ·
waſſer abfloß, große Ziegelſteine mit Aufſchriften, wie: Heuchelet,
Proſtitution, Beſtechlichkeit, Plagiat, Feigheit in den Tuͤmpel warf.
Eine große, rote, aufgehende Sonne fehlte nicht.
Stilpe lächelte. Der herkuliſche Froſch war alfo er, und die
andern faßen in der Tinte.
Gut ſoweit! Aber was nun?
Wenn die Zeitfehrift den Erfolg hätte, wie die Broſchuͤre, fo
märe die Sache glatt. Aber: wenn nicht?
428
Er mar ja ausgefpertt, und es war faum Ausficht vorhanden,
dag man ihn in Gnaden wieder aufnehmen würde. Denn er hatte
fie alle beſchimpft, von rechts nach links, ausnahmslos:
„ber es gibt doch auch anftändige Elemente in der Preſſe!
rufen Ste, mein werter Mitbürger. Ei jawohl. Dan hört es fagen.
Aber das Element felber ift unanftändig.”
Stilpe überlegte: Da iſt eine Nebefigur mit mir Durchgegangen,
ſcheint mir. Hm. Das war wohl ein taktifcher Fehler... . Aber
es fang! ...
Ad was! Wenn nur die Figur gut war. Das liegt fo-in der
Technif des Pamphlets. Dan muß Stil haben... .
Das Pamphlet liegt mir überhaupt. Jedes Jahr bloß eins, und
ich fann auf ale Redaktionen pfeifen... .
GH, was für Ideen! Das wäre eine neue Schweinerei .. .
Bin id) denn ganz verfommen?.. . Warum denk ich immer wie ⸗
der an fo was!... Warum denf ich nicht wie meine vier Eigent«
lichen? Warum hab ich nicht bloß Verfe, Phantafien, Burlesten,
Träume im Kopfe? . ..
Es ift ſchauerlich, wie serfahren ich bin. Da ſteckt nun mas in
mir; ich hoffe doch, — oder?... Nein, ed ſteckt ſchon mas irgend-
mo, aber immer wieder hundsfoͤttiſche Anwandlungen.
Zwei Seelen, ah? Aber die andern haben ja zwei Dugend!
Nur fahren fie nicht fo auseinander ... .
Ein Ziel! Ein Ziel! Herrgott nochmal, endlich ein Ziel!...
Alfo die Zeitfhrift! Ja, ja, ja! IR das nicht eine Tat? He?
Die neue Literatur machen? Die freie Kunft zum erfien Male
ruͤckſichtslos proflamieren! Zum erften Male fagen: Wir find bie
Herren, kuſcht euch, Gefindel! ...?...
Ah, im Grunde ift mir Das wohl auch nicht gerade „Herzblut". ..
Diefe ganze Schreiberei überhaupt: Geplaͤrr . .
Kann man zeitlebens feine Freude daran haben, Leſefraß zu
429
neten? ... Iſt denn Schreiben Leben? Handlangerei fir den
befferen Mob! Kellnergewerbe.
Er laͤchelte nicht mehr. Eine ſcharfe, ſteile Falte kette feine
Stirn. Seine Heiterfeit war verſchwunden.
So ging es ihm Immer, wenn er alein Über fi) nachdachte. Des-
halb brauchte er Leute um fi), Die Das wegſchwemmten.
— „Kommt denn bie Bande nicht?"
Die Dämmerung kroch ins Zimmer, fie, Die der „Bärenführer‘
den „Teppich der behaglichen Eyrifer” nannte. Dazu Dröhnten von
unten her die Dampframmen.
— „Der Bärenführer ift der gluͤcklichſte aller Menſchen. Zwar
hat er fein Portemonnaie, aber er hat Weisheit. Zwar liebt er Die
Weiber, nicht, aber er liebt feinen lieben Gott, der ihm täglich von
sehn bis zwoͤlf Uhr zwanzig Quartfeiten Phantafien ſchenkt. Hat
er die niedergelegt und hat ihm fein Kochbaͤr ein tuͤchtiges Mittag-
effen mit Grobheiten gewürzt, fo wandert er los wie ein tanzender
Derwiſch, und die Welt ift ihm eine Erömeftange mit Kognafs
fuͤllung. Er macht ſich felb zum Narren und lacht Doc) alle aus,
denn feine Narrheit iſt ihm fein Spiel. Er mil nichts; das ift fein .
Seheimnis und feine Heiterkeit."
Stilpe dachte das nicht ohne Neid.
Der „Bärenführer” mar der „Erfte der Eigentlichen“, ein
munberlicher Menſch, der mitten in Berlin mit dem Gleihmut
eines orientaliſchen Weifen lebte und, arm mie ein perfifcher Bet:
telmoͤnch, ſich mit einer föftlichen Grazie des Geiftes aushalten
ließ. Sein Reich war nicht von diefer Welt, aber wer fein Reich
fannte, dieſe weiten kosmiſchen Räume vol unerhörter Phantas
fien und diefe bunten Fabelftäbte mit den intimften Winkeln ges
nießender Ruhe nad) rafenden Räufchen, der wußte, daß feine
Welt beträchtlich ſchoͤner war als unfere. Ein Fatir mit Humor.
In der Heimat feines Geiftes, in Indien, wäre er wohl auch ohne
430
Alfohol weife und heiter gewefen; in Berlin aber mußte er fehr
viel trinfen. Doc) ſelbſt im Alkohol blieb er harmoniſch. Es ſchien,
als ob er wirklich die Fakirkunſt befäße, ſich durch ſeeliſche Kräfte
gegen alles Giftige immun zu machen.
Befonders darum beneidete ihn Stilpe, der zuweilen felber
merkte, wie der Alfohol an ihm zehrte, und mie er Immer ab«
hängiger von ihm wurde.
Der zweite der Eigentlihen war der „Peripatetifer“. Auch er
repräfentierte Weisheit in einem ganz unmodernen Sinne. Stilpe
behauptete, er fei die Reinfarnation des alten Diogenes, und dieſe
Meinung traf das Wefen des Peripathetifers im ganzen mohl.
Nur fam ein gut Teil weicher Verträumtheit hinzu. Er übertraf
den Bärenführer noch an ſozialer Lintergrundslofigfeit, denn er
befaß feinen weiblichen Bären, der ihm fochte. Es fam vor, daß
er im Tiergarten uͤbernachtete. Sonft wohnte er bei Freunden her»
um. Dabei war er von fehr edlem Anftande und fühlte die Würde
feines Geiftes. Traf es ſich, daß er in „bürgerlicher Geſellſchaft“
mar, fo trug er fofort, Doch ohne Pofe, ganz aus einem inneren
überlegenheitsgefühl, den Propheten zur Schau, der die Gemöhn-
lichen milde zum Handkuß auläßt. Er hätte einen guten, feinen
Moͤnch abgegeben, wenn er nicht etwas Dagantenhaftes gehabt
hätte. Sein ganzes Leben war ein unausgefegtes Denfen und
Dichten. Wo aud immer er war: er fehrieb, und ſtets trug er
Manuffripte mit fich herum, reich genug, fünf Nummern ber
„Times“ zu füllen. Nur fonnten fie nicht abgedruckt werden, da
fie niemand außer ihm lefen fonnte. In ſchwierigen Faͤllen war er
ſelber nicht Dazu imftande. Stilpe befaß ein Manuffript von ihn,
einen Konzeptbogen in Quart, der außer den erften Szenen zu
einem Drama zwei Kapitel aus verfchiedenen Romanen, ſechs
Gedichte in Profa, drei in Verſen und außerdem etwa fünf Dutzend
Aphorismen und verſchiedene Effay-Brouilons enthielt, alles
431
.
durcheinander gefehrieben, erft wagerecht, dann in ſenkrechten,
bann in diagonalen Zeilen dazu. Und man durfte mit Recht und
ohne Übertreibung fagen, daß ein geordneter, Öfonomifch diſpo⸗
nierender Literat von dieſem einen Bogen gut ein Jahr feine gel-
fligen Ausgabebeduͤrfniſſe hätte beftreiten koͤnnen.
Eeidenfdhaften fannte der Peripatetifer nicht, doch lichte er
kleine Mädchen, fo bis zum zehnten Jahre etwa, fehr. Für die
Seele des Kindes war er gerabesu henfeherifch begabt, und man
fonnte Kleinodien an Kinderfsenen von Ihm vernehmen.
Er konnte übrigens ohne Alkohol ausfommen.
Nicht fo der dritte der Eigentlihen: Kafimir, der Sugenorgler.
Es war ein gar wilder Pole vol von Dämonie und allen Kuͤnſten
der Blague. Er hatte als Dichter nur ein Thema, Stilpe nannte
es bie medinniſch· katholiſche Abgrundweis, aber dieſes beherrſchte
er mit der Meiſterſchaft bornierter Genies. Sein Dichten war
eine Art verzuͤckter Drehkrankheit, und man wußte nicht, ob er
fid) drehte, um zu dichten, oder ob er dichtete, um fich zu drehen.
Doch fonnte ſich Feiner der Macht diefer grandios wirren Ein»
tönigfeit entziehen. Es war ſchoͤpferiſche Beſeſſenheit, die indeſſen
manchmal mehr Beängfligung als Fünftlerifhen Genuß hervor
rief. Er wäre als Geſellſchafter unmöglich geweſen, menn er nicht
gleichzeitig ein unübertrefflicher Blagueur, geradezu ein Meifter
der Blague gemefen wäre. Stilpen, der felber in dieſer Kunſt viel
vermochte, fonnte er dadurch manchmal rafend machen. Nur der
Särenführer und der Peripatetifer ließen fich nie beirren, ber
Bärenfübhrer, weil er überhaupt aus allem nur inwendige Heiter»
keit ſchoͤpfte, und der Peripatetifer, weil fein Geift doch immer
noch ſchneller Tief, als Die Blague des Polen.
Dagegen ließ fi) der vierte der Eigentlichen, den fie ben
Zungenfchnalger nannten, nicht felten verführen, Kafimirn auf das
polnische Glatteis myſtiſcher Schnoddrigkeiten zu folgen. Er liebte
432
das Myſtiſche gar nicht, er mar ganz auf das Aſthetiſche und
Erotifche gerichtet. Stilpe nannte ihn Doftor der Erotologie. Er
beftritt der Menſchheit das Recht, in erotifchen Dingen irgend
etwas pervers zu nennen und machte aus dem, was er nun nicht
pervers, fondern fultiviert nannte, ein eifriges praktiſches Stu⸗
dium. Er waͤre gerne ein Don Juan der Perverſitaͤt geweſen, in⸗
deſſen entgleiſte ſeine Don Juanſchaft ſchon auf dem gewoͤhnlichen
Gebiete der Erotik. recht häufig. Aber er nahm alles fuͤr genoſſen
und ſchnalite mit der Zunge. Als Dichter pflegte er das Gebiet
des undruckbaren mit anerkannter feiner Meifterfchaft. Und: einen
ſachkundigeren Zirfusfritifer als ihn gab es nicht. Als Gefel-
ſchafter war er unter den Vieren weitaus der angenehmfte, denn
er war von einer entzuͤckenden echten Liebensmürdigfeit, voller Geiſt
und Laune. Nur mußte man früh um fhnf Uhr nicht ſchon nach
Haufe gehen wollen. Doc) trat diefer Wunſch unter den Eigent-
lichen nie auf.
— Es fann eine ganze nette Zeitſchrift geben mit den Vieren,
dachte ſich Stilpe, aber es iſt mir unflar, ob irgendeine Nummer
davon unverboten bleiben wird. Man wird fie als Brief verfenden
müffen und von vornherein barauf fepreiben: Nicht für Die Öffent-
uchkeit.
Hollah! Ein neuer Trick. Ein unoͤffentliches Blatt! Das iſt eine
unbezahlbare Idee!
Er war Feuer und Flamme dafür und entwickelte fie fofort
mit Leidenfchaft, als die Biere beieinander waren.
Koͤſtlich fahen der Bärenführer und der Peripatetifer aus,
die Stilpes abgelegte Kleider aus feiner Kritiferzeit anhatten. Er
felber trug ſich wieder mit einem Stich ins Saloppsfünftlerifche.
Die eleganten Koftlime aus dem englifchen Atelier waren ihm nie
fehr au pafle geweſen. Jetzt nahm ſich der Bärenführer in einem
braunen, unendlich langſchoͤßigen Gehrod mit hohem, breitem, ge-
28 Bierbaum II 433
ſchwungen gefehnittenem ſchwarzen Sammetfragen, eine ſeidene,
beſtickte Weſte dazu, fehr drollig aus, und der Peripatetifer in
einem feidenfragigen ſchwarzen Smofing nebft vieredig ausge-
ſchnittener Wefte war ein grotesfer Anblick. Der Pole fuchte eine
halbe Stunde lang in den weiten grauen Hofen nad) den bioge-
nifchen binnen Beinen.
* *
*
Dann begann aber die Debatte. Die Idee mit der Unöffent-
lichkeit ſchlug ein, doch hielt Das nicht ab, fie fofort auch ein biß-
hen lächerlich zu machen.
Der Bärenführer wollte, Daß das Blatt in einer Seheimſchrit
von arabiſchem Charakter und natuͤrlich von rechts nach Infs
gedruckt wuͤrde.
Kaſimir ſchlug vor, die Beiträge des Peripatetikers als Auto-
gramme drucken zu laffen, um jede Gefahr auszufchliegen, daß fie
geleſen werden fönnten.
Der Peripatetifer fchhttelte langfam den Kopf: „Aber ich
möchte fie doch leſen!“
Stilpe wurde ärgerlich und erflärte, er würde nicht eher etwas
au trinfen geben, als bis man anfinge, ernfihaft zu reden. Er fühlte
ſich beinahe ſchon als defretierenden Redakteur.
Es murde die parlamentarifche Form beftimmt, damit man
doch zu einem Beſchluſſe kaͤme.
— „Alſo, gut, wie gefagt, ſelbſtverſtaͤndlich: Eugen Richter;
wie geſagt: Ich bitte ums Wort!“ rief der Baͤrenfuͤhrer.
Stilpe, der natuͤrlich praͤſtdierte, erklaͤrte, Daß er ihn vormerken
wolle; zuvoͤrderſt aber muͤſſe Die Gefenfhaft ein paar Worte von
ihm entgegennehmen:
— „Erftens, meine Freunde, wollen wir ung geloben, heute
zu einem Entſchluß zu kommen. Ich ſchlage vor, daß wir Dies
434
nicht ohne Feierlichfeit tun. Laſſet ung ſymboliſch vorgehen! Wer
ſich verpflichtet, mitzumirfen zu einem endgültigen Entſchluſſe und
wer zu erflären bereit ift, daß er ſich jeder Entſcheidung, bie heute
faͤllt, unterwerfen win, aud) wenn fie gegen feine etwaigen Anträge
fein ſollte, der wähle mit mir aus biefen Flafchen eine gelöge-
fapfelte. Es ift Kognak. Die Weißkapfeln enthalten Gin.“
— „Ich proteftiere gegen diefen Wahlmodus!“ erflärte zum
größten Erftaunen aller der Peripatetifer. „Ich habe noch nie
Sin getrunfen und möchte deshalb eine weiße Kapfel wählen, ob ⸗
wohl ich zu jeder Verpflichtung bereit bin.“
— „Alſo gutz die Erflärung wird zu Protofoll genommen,
und deine weiße Kapfel gilt für gelb,“ erflärte Stilpe. „Im übrl-
gen fehe ich, daß das Sfrutinium allgemein fir gelb entfchieden
hat. Wir fönnen alfo beginnen. Um zu verhüten, daß wie bei allen
vorigen Sigungen ein Chaos der Meinungen durcheinander gährt,
ſchlage ich vor, daß jeder nur einmal das Wort erhält. Damit ift
gefagt, daß jeder fich genau überlegen muß, was er vorbringt, denn
er wird feine Gelegenheit haben, ſich fpäter su korrigieren.“
— „Wie gefagt, ich bitte ums Wort!“ rief der Bärenführer.
— „Du wirft es gleich befommen. Ich wid nur noch das
fagen: Die Reden follen fi) an folgende Punfte halten: 1) Wel-
her Art fol die Zeitfehrift fein? 2) Wie fol fie heißen? Ich denke,
dieſes Verlangen ift billig. Wolen wir es fo halten?"
— „Ich bitte ums Wort,” rief Kaſimir.
— „Bitte!
— „Sehr fhön! Ausgezeichnet! Aber: Muß man fo feierlich
fein, wie Stilpe, wenn man redet?"
— „Das wird fi) finden, aber ich bitte allerdings um eine
ernfte Behandinng des Gegenftandes. Wenn wir uns dazu zwin ·
gen, werden wir auch ſchnell zum Ziele kommen, denn es iſt frei⸗
lich nicht amüfant, Reden zu halten, wie in einer Generalver-
28* 435
ſammlung. Wenn nichts gegen meine Vorfchläge eingewandt wird,
koͤnnen wir wohl anfangen.“
Es wurde nichts eingemendet. Alle hatten das Bedürfnis, dieſer
ernften Sigung bald ein Ende zu machen. Dan rauchte ſtark und
trank Toddy dazu.
Der Bärenführer begann:
— „ie gefagt, ſelbſtverſtaͤndlich Kin ich für eine in — de⸗
—pen—bente Zeitfährift; wie gefagt. Ste muß anders fein. Wie
sefagt: anders. Ganz anders. Selbſtverſtaͤndlich, wie gefagt,
muß fie Honorare zahlen. Aber fchließlich, wie gefagt, iſt Das einer-
Id. Wenn fie nur viel Raum hat. Plafatformat, wie gefagt, gelbes
Papier und zinnoberrote Lettern, von rechts nach links gebrudt,
mie gefagt, in Lederrollen verfandt.“
Stilpe rungelte die Stirne und bemerfte: „Ich muß Dich wirt:
lic) bitten, ernfthafte Vorſchlaͤge gu machen.”
— „Aber er iſt doch ganz ernft, Bruder!” rief Kaſimir. „Ich
finde das entzudend!"' .
— „Wie gefagt, natürlid, das iſt mein Ernſt, felbftverftänd-
lich, wie gefagt. Das ift doch fehr fein und, wie gefagt: praftifch!
Die erfte Nummer laſſen wir an die Litfaßfäulen fleben, wie geſagt.“
— „Hehe, und ſolche nette Fleine Sandwichmänner laffen wir
laufen, die fie auf dem Rücken herumtragen, hehe, und fo werben
fie dazu immer ſchreien und rufen, hehe: ‚Deine Herren Berliner,
hehe, lefen Sie bloß, was der Bärenführer wieder gemacht hat!
Der reine Joethe! Hehe! Sie fennen doch Herrn Joethe, den
Verfaſſer der Farbenlehre? Hehe! Er ift auch ein bißchen pervers
geivefen, der gute Dann, hehe; fo ein paar niebliche Epigrämm-
lein hat er gemacht ... ah! er war nicht ohne Begabung!“
— „Bas verftehen Sie denn von Goethe, mein merter Pole,"
bemertte der Zungenſchnalzer. „Ste ſollen erft einmal an bie
Ahnungsgrenze der Erotif fommen . . ."
436
— „Ich bitte, feine Privatgefprädhe zu führen,” rief Stilpe.
„Goethe und die Erotif beifelte: Was will der Bärenführer no?"
— „Wie geſagt, ich bin für das Bitfaßfäulenplafatformat und
rot auf gelb, wie gefagt, und als Titel, wiegefagt, ſchlage ’ vor:
Die gefprenfelte Nachtigall.“
— „Pſchakreff, Aiferift, wallahei, Bruder, du haft vet: Aus
gezeichnet!" Kaſimir ſtuͤrzte ein Glas Toddy hinunter.
Die andern, außer dem Peripatetifer, lachten. Der Bären-
führer mifhte Gin in feinen Kognaf.
Der Peripatetifer aber erhob fi) im Tumulte des Ladens,
ſah gerade vor ſich hin und begann ganz leife:
— „Unfere Zeitſchrift folte: Dag Prisma heißen. Damit ift
für ale alles gefagt. Wie ein Prisma, das Strahlen fängt und
Sarben ſtrahlt. Nicht Spiegel des Körperlichen, fondern Licht:
fommler und Scheinwerfer. Nicht willkuͤrlich in Kanten und Flaͤ⸗
hen, nicht roh und rauh, nicht zufallſchoͤn oder zuſallwahr, fon
dern nad) Geſetzen gefehliffen, in reinen Linien verbunden und ab»
gegrenzt; nicht irgendwo liegend, nicht mit irgend einer Seite flach
auf dem Boden, fondern an goldenem Faden aufgehängt in freier
Luft, ſchwebend aus ſich bewegt in einem langſamen Schaufel«
ſchwunge oder einen Kreis beſchreibend, da einen roten, da einen
grünen, da einen gelben Strahl fangend und wieder von fid) ge»
bend, aber im Innern alles fammelnd, fernreich, keimheiß, in der
Tiefe das Auge Gottes, auf den Flächen der Schein der durch»
ſchwebten Lichtwelt ...“
Ploͤtzlich zog er ein Stuͤck Zeitungspapier aus ſeinem herrlichen
Smofing und ſchrieb emſig auf den Rand, fo weit er noch unbe ⸗
ſchrieben war.
Die andern läcyelten innig und tranfen.
Stilpe erflärte, Daß Ihm der Titel Das Prisma gut gefiele.
— „Dh,“ rief Kaſimir, „mir gefänt befonders der goldene
437
Faden. Das ift das Symbol des Honorars. Und dann: Wie es
im Kreife ſchwebt: Ausgezeichnet. Hehe: So angenehm ibiotifch,
immer im Kreife, hehe, mit dem Auge Gottes.”
Er flürste wieder ein Glas Toddy hinunter.
Der Bärenführer fand das Prisma aud) gut, aber er meinte,
als Untertitel muͤſſe Die gefprenfelte Nachtigall ſtehen: Wie gefagt:
Das Prisma, eine gefprenfelte Nachtigall! Aber natürlich, wie ge-
fagt, in Lederrofen verfanbt!
Jetzt Ichnte ſich der Zungenfhnaler in feinen Stuhl zuruͤck
und lächelte Stilpen überaus höflich mit einem fragenden Aus-
drud in den fÄhönen großen dunkelblauen Augen an.
Stilpe machte eine einladende Bewegung, und der Zungen-
ſchnalzer begann:
— „Meine Herren! Sie merden (er war ber einzige, ber ſich
mit niemand buzte) von mir nicht erivarten, daß ich Pläne und
Titel vorbringen werde, bie an Originalität und Erhabenheit mit
denen meiner Herren Vorredner gu wetteifern vermöchten. Ich bin
der Meinung, dag wir in erfter Linie volfstümlich fein muͤſſen.“
In diefem Augenblick ſchlug Kaſimir eine gräßliche Lache auf
und tranf mit einer ungemeinen Schnenigfeit zwei Glas Toddy
aus, dann kniete er vor dem Zungenſchnalzer nieder und füßte
deffen Stiefel.
Der Zungenfehnalzer ledte fi) den Schnurrbart, grinfte und
fuhr fort: \
— „Wir muͤſſen eine Kunft haben, die auf den Mittelpunft
alles Empfindens geht, auf das Geſchlecht. Nur eine Geſchlechts-
kunſt iſt echt, iſt Inflinft, iſt Genuß, it Leben, iſt Voltsfunft,
Eine ejafulative Kunft, orgaſtiſch, brünftig. Ein Hineinfnien in
die Urafforbe der Animalität, aber in allen Sineffen raffiniert,
bifferenziert bis in die Außerften Nervenenden. (Er ſchien feinen
Schnurrbart verſchlucken zu wollen, fo verzuͤckt bearbeitete er ihn
438
mit feiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend, peitfchen-
tnallend, fieberifch! Tanzmelodien und Hengftwiehern. Korfett-
frachen und die Melancholie des Leierfaftens. Blechmuſik und das
Rauſchen von feidenen Unterroͤcken. Pubertätsiwimmern und das
Schollern von Eisplatten in breiten, wälgenden Strömen. Einen _
Titel dafür weiß ich nicht. Das Unfagbare fann man wohl ftam-
meln, aber nicht benennen."
— „Hehe, fo fagen Ste doch: Der Stammler, werter Herr,
oder: Stimmmechfel. Das find ausgezeichnete Titel. Hehe, oder:
Der Hengſt des Volfes. Das ijt noch entzoͤckender! Ober: Der
vote Faden! Oder: Das Nadeloͤhr der Welt. Hehe! Ausgezeidh-
nete Titel!"
Der Pole fehien fich ein bißchen zu ärgern.
Der Zungenfchnalser lächelte verbindlich:
— „Dann wuͤrde ich ſchon lieber gleich Phauus oder Priapus
vorſchlagen, wenn es nicht fürs Wolf unverſtaͤndliche Fremdworte
waͤren, und die deutfchen Ausdruͤcke find leider zu Roheiten ge»
ſtempelt worden. Es verfteht fich, daß fie dadurch für mic) un-
möglich werden, denn das Rohe fchließe ich ja aus.“
Er lehnte ſich wieder vor und lächelte mit einem Ausdruck wie:
Ich bin fertig, Herr Präfident! Stilpen an.
Stilpe war mittlerweile betrunfen geworben und fonnte nicht
mehr an ſich halten; nun mußte er reden.
Er fand auf, jegte feinen Hornflemmer ab und ließ ihn an dem
breiten Bande ſchwingen. Dann begann er fehr laut: -
— „Die gefprenfelte Nachtigall! Gut! Bunt! Ornithologifh!
Alfo: Deutſch! Wir würden ſaͤmtliche Maͤdchen damit verführen.
Oder wie? Es ift fein Zweifel erlaubt! Denn es iſt ein befiederter
Titel... Jamohl! ... Indeffen! Ah!: Das Prisma! . .
Streng! Keuſch! Gläfern! Ideal! Mathematifh! Die Welt der
Gymnaſiallehrer wirde zu ung firömen!... Sehr gut! Im
439
deffen, mir ſcheint, ... aber nein: Schr gut! Nur... es blen-
det, es ſticht in die Mugen, und: es iſt falt, Fehr falt! überaus
talt! Außerdem weiß fein Menſch, was ein Prisma ift. Der Titel
erfordert ein Konverfationslertfon. Auch fann man feine Lyrik
“ unterbringen. Oder? Mein, man fann nicht, durchaus nicht! ...
Dagegen: Phanus! Ja: Hter ift Eyrit, ausgeſprochen Lytik. Sehr
warm. Winfend. Kraft und Saft und Sinnbeute der Welt... .
Aber warum nicht: Der Phaluswald? Hört doch nur: Der
Phanuswald! In ihm fingt bie gefprentelte Nachtigall mit ſuͤßem
Geſchluchz, in ihm auch fann man irgendwo das Prisma auf
hängen! Sinnend manbelt hier der Peripatetifer, anmutig lehnt
bier der Bärenführer und läßt aus feiner großen Zehe eine neue
Welt wachſen, neue Tänze übt zwiſchen ben fäuligen Stämmen
der Zungenſchnalzer nad) der Melodie des Bauchtanzes von Hawai,
tief bohrt ſich ins Wurzelgeflecht die Blutige Seelenſuchekralle Ka-
ſimirs, und auch ich werde in dieſem Schattenhain ber Urgefühle
die Lieber finden, die, mie ich mit Beſtimmtheit behaupten darf,
irgendwo in mir ſchlummern.
Lieben Freunde, trinft Kognak und Gin, machet ein Feuer in
euch) an, daß eure Augen glühende Kugeln werben, groß wie die
uhrſcheiben am Rathausturm, und eure Fäufte ſtark wie die Dampf ·
tammen der Weidendammerbrüde, trinfet Gin und Kognat,
Freunde, lieben Freunde und Genies, trinft und glaubt an meine
ſchlafenden Lieder, diefe feiften Murmeltiere, aus beren Fett ich
Elender Feuilletons gebaden habe, trinkt, trinft, trinkt, ſchlagt
euch rotgeränderte Wolfen um die Schultern als Regenmäntel
und fommt mit mir in ben Phalluswald!
Kommt, o fommt und feid nicht träge,
Sind auch glitſcherig die Wege:
Not wie Roſen lacht das Ziel,
Und wir wollen ins Behagen
440
Milde, gütig jeden tragen,
Der in eine Pfüge fiel!"
Er war unmäfig gerührt und legte fi) neben den Polen, der
fi mitten im Zimmer niebergelaffen hatte und nichts fagte als:
„Der Seelenfrebs, Bruder, der Seelenfrebs, hehe, das iſt der
Titel, das ift Das Programm!"
Der Peripatetiter ftand ſchweigend am Plafate des Tinten»
fumpfs und bedeckte deſſen unbedrudtte Flächen mit Hieroglyphen,
der Bärenführer ordnete die Kognaf- und Ginflafchen und fom-
mandierte: „Leibgarde des Sultans! Präddäfentiert! Prädäfen-
tiert!" Der Zungenfdpnalger leckte fich den Schnurrhart und tranf
weiter.
Da flingelte es, und furs darauf öffnete ſich die Thre. Herein
trat mit einem leichten Auffchrei eine uͤppig ſchlanke, theatermäßig
gefhminfte Dame mit einem weiten blauen Theatermantel und
einem riefigen Federhut.
Der Zungenfohnalzer ging ihr mit Anftand entgegen, Stilpe
drehte ſich bloß um und rief: „Suͤße Kamelie, leg dich an meine
Seite, wir haben Großes geleiftet!""
— „Das feh ih. Sag mal, wie finbeft du das eigentlich? Eine
halbe Stunde hab id) am Wintergarten gewartet. Is das nett?"
Sie ſprach mit einem Anflug von Hamburger Dialeft. Wie fie
ſich im Lichte ber Lampe auf Stilpes leeren Stuhl niedergelaſſen
hatte, fah der Zungenſchnalzer, daß fie fehr huͤbſch, wenn auch
nicht mehr gang jung war. Dan hätte fie wohl für eine Dänin
halten fönnen: Ganz hellblaue Augen mit großem Stern, flache»
blonde Haare, die Naſe ein klein wenig, aber fehr anmutig abge-
ſtumpftz dazu ein fehr Peiner, ſchoͤn geſchwungener Mund, ber
‚ganz befonders zu dem finblihen Ausdruck dieſes Gefichtes beitrug.
Die Haare trug fie in der Mitte gefcheitelt und, die Schläfen wie
einen großen Teil der Stirne ganz bedeckend, glatt über Die Ohren
441
gelegt; hinten bildete ihre Dichte Füne einen üppigen Zopffranz.
Diefe Friſur gab ihr etwas ſuͤß Frauliches zu dem Kindlichen.
Wenn man ihr aber genauer in die Augen fah, fo ſpuͤrte man, daß
eine heitere Energie der Grundzug diefes Weſens war.
Sie war, eine geborene Holfteinerin, dänifc:deutfche Lieder-
fängertn und trat jegt im Wintergarten auf. Stilpen hatte fie fehr
gerne, aber fie war nicht eigentlich fein Fall. Er liebte „Die Weiber
nicht fehr, vor denen man Reſpekt haben muß,“ und vor ihr hatte
er Reſpekt.
— „Ad Gott, du waͤrſt fo reijend, wenn du nicht im Grunde
fo anftändig waͤrſt,“ hatte er oft zu ihr gefagt. „Man fommt ſich
mit dir immer verheiratet vor.”
Der Refpeft, den er vorihr hatte, brachte es jegt auch suftande,
daß er fi) erhob und ein bißchen nüchtern wurde,
— „Siehft du, mein blondes Gewiſſen, ic) fonnte nicht fommen.
Erſt Die Literatur, Dann die Liebe. Wir haben foeben Die deutſche
Literatur mit einer neuen Zeitfchrift begnadet: Der Maftenwald
oder fo ähnlich, Drgan für gefprentelte Nachtigallen und Seelen-
frebs. Ja! Das wird eine Nummer, Madame!“
— „Ich fann mir den Unfinn ſchon vorftellen. Du bift nicht
mein erfier Dichter. Ich fenne das mit euren Zeitſchriften. Snar!
Dich hatt? ich eigentlich für kluͤger gehalten. Faͤllt euch denn gar
nichts Neues ein?"
Der Särenführer, der auch darin Orientale war, daß er die
Weider nur feruell nahm, und auch das nicht eben mit Leidenſchaft,
wurde ärgerlich. Er warf drei Flaſchen um und rief:
„Kattarattazambu! Plofjo tratuzupina! Pſchattu! Pſchattu!
Pfchattu!·
Dazu machte er ein ſehr zorniges Geſicht.
— „Mein Gott, was hat denn der Herr?" fragte lachend Die
Sängerin.
442
— „Ich fpreche, wie gefagt, die Affenfprache, mein Fräulein,
felöftverftändlich platt, wie geſagt.“
— „Bott, ift ber aber komiſch! Was hat denn das geheißen?“
— „Wie gefagt, felbftverftändlich gar nichts, das heißt, natüır-
lich: Sehr viel, wie gefagt, nämlich: Was verflehen denn die
Weiber von der Wortkochkunſt, wie geſagt.“
— „Aber ich verliebe mich Doch fortwährend in Dichter, wie
gefagt, da gehöre ich Doch mit dazu. Nich?“
Jetzt drehte ſich der Peripatetifer um und fehritt langſam auf
die Sängerin zu:
— „Guten Abend, Mathilde!"
Er fagte das fehr zärtlich.
Die Sängerin fah ihn groß mit lacyenden Augen an:
— „Ich heiße aber Martha!" F
— ‚Mein: Mathilde. Ihre Stimme flingt wie Mathilde.
Sans feraphimfiügelblau mit einem Kern von willefrohem Ultra-
violett, Auch Ihre Hände flüfern Mathilde. So lilienblattſchmal
und immer betend mit leis durchbluteten Adern,"
Er nahm ihre rechte Hand und hielt fie vor das Lampenlicht:
— „Kinderpatſcheten! Sie find ein guter Menſch, Mathilde!"
Die Sängerin fepüttelte ganz ernfthaft den Kopf:
— „Mein, fo was! Sind Sie der liebe Gott, Sie freundlicher
Herr?"
Dann lachte fie beluftigt:
— „Nein, was haft du denn da wieder für eine Menagerie?
Jetzt weiß ich ſchon gar nicht mehr, in wen ich mich verlieben muß.”
— „Bitte, in mich!" fagte der Zungenfchnalser in einem zaͤrt ·
Uch dringenden ernften Tone. — „Sehen Sie: ich fünnte auf
Ihnen fpielen! Seien Sie meine Liebesgambe! Sehen Sie in
meine Augen! Was fehen Sie!"
— „Ste haben fehr ſchoͤne Augen, wirklich.“
443
— „Bloß ſchoͤn? Nicht auch tief? Sehen Ste noch einmal
hinein!"
Es fah aus, als wollte er die Sängerin wie eine Aufter mit
den Augen verfhluden.
— „Aber Sie müflen meine Knie in Ruhe laffen. Wirflich:
fehr ſchoͤne Augen! Sind Ihre Gedichte aud fo ſchoͤn?“
— „Ach, laffen Sie meine Gedichte! Meine Gedichte find
nichts, aber meine Liebe iſt wie eine kigerbunte Orchidee. Kennen
Sie die Orchideen mit den gefrhmmten Piſtillen, die wie gelbge-
puderte Schlangen find?"
Die Sängerin fchob ein zweitesmal die Hände des Zungen»
ſchnalzers von ihren Knien, dann lachte fie:
— „gest tut mir's bloß leid, daß der da unten fhläft. Das
is gewiß auch ein Netter!"
Stilpe bemühte ſich fogleich, Kaſimirn su wecken, aber der war
endgültig fertig und fonnte bloß noch: Seelenfrebs! ſchluchten.
Die andern aber festen fi um die Sängerin herum und ver»
einigten fi), den Bärenführer nicht ausgefchloffen, in wohlausge ·
ſuchten Reden zu ihrem Preife. Die Sängerin amüfierte ſich fehr
und tat aud) jebem in Toddy Beſcheid.
Das rührte den Bärenführer, der nun immer betrunfener
wurde, ungemein, und er flüfterte:
— „Wie gefagt, Martha, ſelbſtverſtaͤndlich: Ste find ſchoͤn,
ſchoͤn mie mein Bär, wie gefagt. Ich umarme Sie mit meiner
Seele. Ich liebe Ste fabelhaft! Wie gefagt: Ste find mie ein
Buͤndel rofengelber Schlangen! Ste müffen die gefprenfelte Nach ·
tigall abonnieren!”
— „Und bas Prisma! flüfterte der Peripatetifer.
— „Und den Phallus!“ ftöhnte der Zungenfchnalzer.
— „Und den Phalluswald!“ rief Stilpe.
— „Machen wir!" fagte bie Sängerin.
444
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Da ſchrie Stilpe laut auf:
— „Eine Idee! Gründen wir vier, nein fünf Zeitfchriften!
Auch Kaſimir muß feine haben. Und jeder ſchreibt Immer feine
allein! Wie? Iſt Das nicht Die Löfung? Feder fein eigener Redat ·
teur! Iſt das nicht, ja, iſt Das nicht . . . Wie?"
— „Selbfiverftändlich, wie gefagt: Fünf Zeitfchriften in Pla-
Fatformat!"
Die Sängerin fehüttelte den Kopf:
— „ber, Kinder, feld ihr denn wirklich verrüct? Vorhin
wart ihr doc) bloß duhn. Wenn ihr durchaus was gründen wollt,
fo gründet doc) ein anftändiges Tingeltangel!“
„Huhu hu!" lachte der Baͤrenfuͤhrer; aber Die andern faßen da,
als hätte fie jemand von oben fallen laffen.
— „Ernfthaft! Ein literariſches Tingeltangel! Wirflih! So
mas fehlt! Wo gute Sachen gefungen werben. Sie fönnen ja auch
verrückt fein. Aber Sachen von Dichtern. Und dann überhaupt
alles geſchmackvoll, fo, wie die englifchen Balletts; überhaupt:
was Schönes!"
Stilpe und der Zungenfchnalger erhoben ſich gleichzeitig wie
zwei Ergriffene und riefen Durcheinander:
— „Herrgott! Donnerwetter! Natürlih! Das ift es! Das
möffen wir tun!"
— „Selbftverftändlich, wie gefagt: ein Afthetifches Tingeltan-
gel! Ah, Martha, Sie find das Sternbild des Großen Bären!
Wie gefagt, natürlich, felbftverftändlich ein Tingeltangel, wie
gefagt!"
Auch der Peripatetifer war in feiner patriardhenhaften Weife
von dem Gedanfen ergriffen: .
— „Eine Renatffance der Kunft, aller Fünfte! Leife Singe-
tänge in blauem Lichte. Die verruchte Holbheit der Bajabere. Der
Rhythmus griechenmeerplätfchernder Oden im Schmiegeſchwunge
445
nadter Bruͤſte. Sehen Sie, wie recht ich hatte, daß Ste Ma-
thilde heißen?”
Am lebhafteften aber waren Stilpe und der Zungenfchnalger;
Stilpe war durch Die Idee nüchtern geworben, der Zungenfchnalger
berauſcht.
Der Abend endete mit dem feften Beſchluſſe, feine Zeitſchrift,
fondern das Literatur-Bariete-Theater
MOMUS
m gründen.
Drittes Kapitel
tilpe faß an feinem Schreibtifc und arbeitete. Er machte
dazu ein Geficht wie der lachende Zola, unendlich zufrieden
und mit einem Blick, der auch noch im Lachen ein Ziel im Auge hat.
Die Pfeife faß im rechten Mundwinkel, von den Zähnen nach
oben geftemmt, fo daß es gar verwegen ausfah. Die Dampfwolken
fuhren mit Kraft aus dem vollen Munde mit den aufgeworfenen
Lippen.
Rechts und links tuͤrmten ſich neben verſchiedenen Likoͤrflaſchen
Papiere, Briefe, Druckproben zu Programmen, Zeitungen, Zeich ⸗
nungen, Manuffripte, Notenſtoͤße. Große offene Körbe ftanden
im Zimmer, aus denen blumig bedruckte Muffelinftoffe, duͤnne in⸗
diſche Seidengewebe in heilen fchönen Farben, ſchwere dunfle
Samte, Spigen, Soldfranfen hervorquollen. An den Wänden
hingen große bunte Koftümbilder im Geſchmacke der englifchen
Aſtheten, aber heiterer, frecher. Mit dem Geruch des Old Judge
miſchten fi Parfüms von der refoluten Art, wie man fie in den
Garderoben von Varietoͤdivas einatmet.
Stilpe war von Grund der Seele aus vergnügt. Wenn er an ·
446
mal die Feder meglegte, rieb er ſich die Hände und pfiff vor ſich
bin. Ja, er murmelte fogar zuweilen Worte erregter Befriedigung:
Hop! So! Tja, tja, tia, tia! Höh! Das reißt!
Und Doch mar der erfle Momus-Raufch, der Rauſch der Pläne
und Phantafien vorüber, ber Rauſch der Tage und Nächte, als
fie in täglichen Zufammenfünften Die Idee der Sängerin im Verein
mit ihr genauer durchgeſprochen hatten.
Wie hatten fie da Über die Zeitfchrift gelacht, wie hatten fie die
Sängerin gefeiert als Retterin aus dem ſchlimmſten aller Tinten-
fümpfe; wie war da Stilpe von Tag su Tag lebhafter, luſtiger ge»
worden.
— „Ha: Die Renaiſſance aller Kuͤnſte und des ganzen Lebens
vom Tingeltangel her! Oh, das ingeniöfe Mädchen aus Holflein!
Man wird fie preifen wie eine neue und größere Menberin, als bie
moderne Muſe in Perfon. Unter ihrem Zeichen werben wir das
neue, echte, ganze, das lachende Heidentum heraufführen mit Bod-
forüngen und hoͤchſt edlen Faltenwuͤrfen zaͤrtlicher Gewaͤnder. In
unferm Schlepptau wird alles hängen: Malerei, Poeterei, Mu⸗
fiferei und alles überhaupt, was Schönheit und genießendes Leben
mil. Was ift Die Kunft jegt? Eine bunte, ein bißchen gligernde
Spinnwebe im Winfel des Lebens. Wir wollen fie wie ein goldenes
Ne. über das ganze Volf, das ganze Leben werfen. Denn zu ung,
ing Tingeltangel, werden alle fommen, die Theater und Mufeen
ebenfo aͤngſtlich fliehen, wie Die Kirche. Und bei ung werben fie,
die bloß ein bißchen Bunte Unterhaltung fuchen, das finden, was
ihnen aden fehlt: Den heiteren Geift, das Leben zu verflären, die
Kunft des Tanzes in Worten, Tönen, Farben, Linien, Bewegun ⸗
gen. Die nadte Luft am Schönen, der Humor, der die Welt am
Ohre nimmt, die Phantafie, die mit den Sternen jongliert und
auf des Weltgeifts Schnurrbartenden Seil tanzt, die Philofophie
des harmonifchen Lachens, das Jauchzen ſchmerzlicher Seelen-
447
brunft, — ah, werft mir ein paar Feigenfränge vol Worten zu,
blaft mir Affosiationen ein, laßt mich in Infohärenzen lallen, Laßt
mich farbige Wortflutfäulen ausnüftern, groß wie Die Wafferwürfe
aus den Naſen verzuͤckter Walfiſche! Wir werden ins Leben wirfen
mie Die Troubabours! Wir werden eine neue Kultur herbeitangen!
Bir werden den Übermenfchen auf dem Brettl gebären! Wir
werben dieſe alberne Welt umſchmeißen! Das Unanftändige werben
wir zum einig Anftändigen frönen! Das Nadte werden wir in
feiner ganzen Schönheit neu aufrichten vor alem Volke! Luftig
und luͤſtig werben mir dieſe infame, moralflapprige Welt wieder
machen, luſtig und himmliſch frech! Leichtſinnig ſoll die Bande
wieder werben und fol bauchtanzen lernen! Ah, wir ahnen viel-
leicht gar nicht, was für raffinierte Sachen die Biedermaͤnner
Germaniens leiften werben, wenn unfer Geift über fie gefommen
iſt! ... Kinder, kuͤßt unfern blonden Engel bier und umarmt
mich, denn wir haben die Welt im Sade!"
In diefem Stile und tofer noch geberbete ſich die Wolluſt
Stilpes, endlich einmal ein Ziel gefunden zu haben, das feinem
Weſen gemäß war. Und die andern, der Zungenfchnalger voran,
waren nicht weniger außer ſich.
Dabei entwickelte Stilpe aber auch eine wirkliche Tätigkeit,
und, faum, daß ein Monat vergangen war feit dem erſten Auf-
tauchen der Momus⸗Idee, da hatte er auch ſchon „Kapital am
Baͤndel“, und die Aftiengefenfchaft Domus war gegründet, ein
verfrachtes Fleines Theater gemietet und er „artiftifcher Direktor“
des Ganzen. °
Seine Gabe, fi) auch Flug zu Benehmen, wenn es not tat, kam
ihm dabei fehr zuſtatten. Es war ein Schaufpiel, ihn zu fehen,
wie er in feinem Staatsrode und mit feinen läffigen Geſten bes
fideren Geſchaͤftsmannes bei „Leuten von Gelde” am Werte war,
die ausfichtsreiche neue Idee mit einem großen Aufwande von
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Zahlen aus dem Geſchaͤftsberichte der Londoner EmpiresGefel-
ſchaft au entwickeln, und wer ihn anhörte, wie er in gefegter Rede,
aber mit einem Grundton tiefer Fünftlerifcher Überseugung und
dabei geftüst auf entwicklungsgeſchichtliche Ideen originener Art
nachwies, Daß Das Unternehmen eines „kuͤnſtleriſch⸗literariſch be⸗
deutfamen Kunftinftitutes mit Varietö-Prinzip" geradezu eine
Forderung des Zeitgeiftes fet, der zweifelte nicht, daß hier eine
„Sache“ im Entftehen war.
— „Sehen Sie Die Theater an! Sie find leer! Gehen Sie in
den Wintergarten! Er it von! Dort Ableben, bier Aufleben!
Wer Die Kunft liebt, muß von Schmerz ergriffen werden bei dieſem
Anblicke, und Sie wiffen, wie fehr fi) kunſtfreundliche Kreife
bemühen, durch Gründung billiger Theater uſw. das Publikum,
zumal der breiteren Volksſchichten, dem Variets zu entziehen. Ein
lobenswerter Plan, aber’ eine falfche Methode, ein verhängnis-
voller Irrtum, entfprungen einem Mangel an Zeitpſychologie und
an Verſtaͤndnis für entwicklungsgeſchichtliche Refultate! Die Zeit
bes Theaters ift im Ganzen vorbei! In biefen alten Schlau, fünt
nur der Unverftand neuen Wein! Nein, wie das Theater, ehedem
ein Appendir der Kirche, fich von dieſer losmachte und ſich felber
eine neue, damals zeitgemäße Form gab, fo muß fi die Kunft
" heute vom Theater emanzipieren und entfchloffen Die Form an-
nehmen, für bie ſich der Zeitgeſchmack entfehieden hat: Die Form
des Varietss! Beides iſt reif zum Untergange: Das Theater, weil
feine ganze Struftur zu klotzig, ſchwer und unbeweglich iſt für Die
Genaͤſchigkelt des modernen Kunſttriebs, und das jegige Variete,
weil es feine überaus guͤnſtige, allen Wünfchen einer nernöfen Zeit
gemaͤße Form nicht mit wahrhaft Fünftlerifchem Inhalt zu erfuͤllen
verfieht. Laffen Ste uns ein Bartetö gründen als aͤſthetiſche An«
ftalt im weiteſten Sinne, als Trägerin und Berförperung all der
heute fo üppig ſich entfaltenden Richtungen in den Künften, als
29 Bierbaum II 449
Schaubühne des Schönen für Auge, Ohr und Gemüt, und Sie
werben fehen, daß Sie fi) an einer wahrhaft kulturellen und zu»
gleich eminent praftifchen Tat beteiligt haben!‘
Mit diefer Anrichtung feiner Ideen für den Geſchmack von
Leuten, die in Kunft fpefulieren wollen, hatte er um fo mehr Er-
folg, als er fich gleichzeitig den Anfchein des vorfichtig bedachten
Geſchaͤſtsmannes zu geben wußte, der es fuͤrs erſte ablehnte, ein Rieſen ·
inſtitut ing Leben zu rufen. Ganz von ſelbſt werde ſich aus beſcheidenen
Anfängen das große Etabliffement.der Zufunftsbühne entwideln.
Sein befannter Name, mit dem ſich Die Empfindung von „geift=
reicher Schriftfteler" verband, tat das übrige dazu, auch wirkte es
befonders überzeugend, daß er felbft als erſter fünftaufend Darf
allein zeichnete. So erfolgte Die Gründung der Gefenfchaft ſchnell,
und er erhielt einen Kontraft als artiſtiſcher Direftor mit voN«
fommener Selbftändigfeit.
Da er fo ug war, bei den erfien Anfündigungen des ent»
ftehenden Unternehmens feinen Namen, obwohl ihm das fehr
ſchwer fiel, beifeite zu laffen, fo nahm fich auch die Preffe, wenn
auch mit den üblichen Vorbehalten, der Sache an, und der Name
Momus tauchte in kurzen Zwiſchenraͤumen halb geheimnisvoll
immer wieder in den Blättern auf.
Es fonnte fein Zweifel mehr fein, daß das Berliner Publifum,
in erfter Linie die literariſch und kuͤnſtleriſch Intereffierten Kreife,
der neuen Sache mit Spannung entgegenfahen. Der Umfland,
daß die Witzblaͤtter das Schlagwort vom poetifchen Tingeltangel
aufbrachten, allerlei literariſche Chanfons vorſchlugen, Ernft von
Wildenbruch als Hausdichter des Momus, Menzel als Koftim-
zeichner und Karl Frenzel als Tanzmeiſter namhaft machten,
trug dazu bei, das Intereſſe wachzuhalten.
Indeſſen arbeitete Stilpe mit beiterer Ausdauer unausgefegt an
der Ausgeftaltung bes Unternehmens bis ins einzelne. Der Baͤ⸗
450
venführer und der Peripatetifer fchleppten täglich die unerhoͤrte ·
ſten Chanſons herbei, der Zungenfchnalger entwarf erotifche Sienen
von trifotlofer Kühnheit, Kafimir roͤchelte im Pfalmenjtile fchauer-
lich ſchoͤne Seelenmonologe von krebsgeſchwuͤrigen Abendröten
und fatanifhen Abfynthismen, geſtimmt und berechnet auf bie
Maultrommeldegleitung asteftiher Urmelodien, die gefamte
Junge Eyrif aller Schattierungen fandte nad Berlin NW 32,
„poftlagernd Domus’, Lieder jeder erdenklichen Art, Die Roms
poniften waren auch nicht faul, und Die jungen Maler und Zeich ·
ner ebenfowenig. Dazu wimmelten Ehanfonetten und Komiker,
Reckturner und Jongleure, Tierbändiger und Zauberfünftler,
- Knodabouts, Clowns, Gedankenleſer, Schlangenmenſchen, plafti»
ſche Pofeufen, Schnenmaler, Schnendichter, Schnellmodelleure,
Schnellrechner, Mimifer, Negertänzer, Skandalfhrftinnen, Anti-
fpiritiften, Bauchredner, Zwerg: und Niefenmenfchen, kurs alles
herbei, was nur auf den Namen Vartets hörte und das Literarifch-
Künftlerifche für Nebenfache erahtete. Sogar Herr Ahlwardt kam.
AU das bereitete Stilpen ein herzliches Vergnügen, und er bes
dauerte faſt, daß das Programm des Momus fo enge Grenzen
hatte. Dabei war er in Auslegung des Begriffes Aſthetiſch Feines
wegs enghersig und legte es im Grunde mit „Irgendivie angenehm‘
aus. Nur mit Aufgebot von außerorbentlicher Energie ließ er zu ·
mal weibliche Artiften stehen, wenn fie irgendwie angenehm auf
ihn wirkten, und gewaltig groß war bie „Lifte der für ſpaͤter no»
tierten Maͤdchen“, Die er zwar nicht fogleich Brauchen Fonnte, denen
er aber mit väterlichen Wohlwollen erflärte: Später peutötre!
Seine Haupthelfer waren der- Zungenfhnalger und Martha
die Muſe. Diefe beiden befaßen die eingehende Fachkenntnis, die
ihm, den Organifator und Neuſchoͤpfer, doch abging.
Der Zungenfhyalger wurde als „Ehoreograph”, Martha als
„Direftrice fr Ehanfon und verwandte Gebiete” engagiert. Der
29° 451
Därenführer, der Peripatetifer und Kaſimir Fonnten in feften
Stellungen nicht verwandt werden, doch übten fie das Amt Iyri-
ſcher Lektoren aus.
Kaſimir ſtoͤhnte am lauteſten unter dieſer Buͤrde:
— „Sauter Joethes, Bazidenfhmärme von Joethes; es iſt
ſehr ſcheußlich.
Und fortwährend zitierte er Die ihm verfallenen Lyriker mit dem
Zone ironifcher Ergeiffenheit.
Der Yeripatetifer mißbrauchte die ihm anvertrauten Gedicht ⸗
blätter zu Manuffeipten, und ber Bärenführer erflärte, dag er
nur über ſolche Lyrik objektiv urteilen koͤnnte, der deutſche Brief-
marfen als Ruͤckporto beigelegt felen. Im übrigen Intereffierte der
ganze Momus diefe drei nur infofern, als fie Durchaus wünfchten,
auf dem Programm der Premiere zu ſtehen. Stilpe war auch ganz
damit einverftanden, nur waren bie bis jest von ihnen vorgelegten
poetifchen Erzeugniffe nach feiner Meinung noch nicht momusreif.
— „Drudreif und momusreif iſt ein Unterſchied, meine Süßen!
Ihr feld noch nicht auf der Höhe des Brettls, ihr ſeid noch zu
papieren!“ rief er ihnen immer wieder zu.
Übrigens entſchied er nicht allein darüber, Martha die Mufe
hatte Das Hauptwort dabei.
Wie er mitten im vergnügteften Korrefponbieren war, trat fie
ein:
— „Na, haben mir endlich ein paar Dichter?"
— ,Nee, ich glaube nicht. Wir muͤſſen den Stil erft erfinden. Ent-
meber fehlt ihnen der Mut oder der Geſchmack zum Gaffenhauer.
Bloß der Zungenfchnalger hat ein paar gute Sachen produziert,
und das ſchoͤnſte ift, daß er fie auch felber fingen kann. Er ift über-
haupt unbezahlhar, und Ich werde ihn zum Konrektor des Momus
ernennen. Er kann bireft alles, nur muß may ihn eigentlich erft
ein bißchen Faftrieren. Himmelfchreiend dieſe Erotif! Die vier Tan
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mädchen hat er ſchon vollftändig verdorben, und fie wollen nun
ſchon gar nichts mehr anziehn. Er übt jegt ein Literaturballett mit
ihnen ein und iſt ſchon bei den Romantifern: pas de Tied. Dann
hat er mit den drei Pofeufen eine herrliche NRummer ausgehedt:
Das Heinevenfmal. Die Idee ift von mir, aber ich muß fagen:
er hat fie direkt mit Diamanten Überfät, Er wird Heine felber
darftellen, im Bett liegend, von anmutigen weiblichen Viſionen
ergögt. Auch einen breffierten Bären hat er als Atta Troll auf
getrieben. Ra, du wirft ja fehen! Es iſt eine unbeſchreibliche Num ·
mer! Damit die Antifemiten nicht Speftafel machen, laffen wir
darauf das Journaliſtiſche Trio‘ folgen mit den drei jübifchen
Komilern. Ste find zwar ein bißchen ruppig, aber ohne Ruppig-
feiten gehts nicht. uͤbrigens iſt mein Tert dazu um fo feiner. Die
Bande fons ſpuͤren! Jetzt, wo fie willen, daß ich Die Sache mache,
druckt Fein Menſch unfre Wafchzettel mehr. Na, dafür haben wir
bie Bitfaßfäulen! Totſchweigen gibts nicht! — Nur: dieſe verfluch⸗
ten Lyriker! Schließlich muß ich alle Couplets alleine machen. Wenn
ich nur mehr Zeit hätte! Und diefer Bärenführer, auf den ich fo
viel Hoffnung gefegt hatte! Der Menſch weigert fich, regelmäßige
Strophen zu bauen und fteift ſich fortwährend auf das, was er
Fineſſe‘ nennt. Der Peripatetifer tut auch nicht, was man will,
und Kafimir kennt feit zwei Wochen bloß noch ein Thema: Die
Blutſchande. Was fon man mit foldhen Leuten machen? Die Eiteras
tur figt ihnen im Schädel mie eine Riefentrichine. Keiner begreift,
daß wir Die Bühne der Zufunft gründen wollen! Sie werden heute
wieder anrücen und Vorſchuß verlangen. Ich zahle jest aber nicht
mehr in bar, fondern in Viktualien. Dabei hat ſich Kafimir in die
ameite Pofeufe verliebt und win für fie einen Seelenrhythmus Dich»
ten, natürlich) ohne Worte, bLoß ‚Gebärden einer profunden Idiotie
bes Sefhlechtszentrums‘. Das geht noch über den Zungenſchnalier!
Dafuͤr verlangt der Bärenführer — den antierotiſchen Bauchtanz!
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Naͤchſtens ſchmeiße ich ale drei Die Treppe hinunter. Sie haben
feinen Ernft, weil fie feine Verantwortung haben!“
— „Bott, vorhin haft du ſo'n fiveles Geſicht gemacht, und jegt
biſt du der richtige Direktor!"
— „Ach, ja, freilich! Weißt du: die ganze Geſchichte wäre
herrlich, wenn bloß nicht diefe verdammte Literatur dabei wäre.
Aatuͤrlich bin ich fidel! Ich habe ja was zu tun! Aber, wie gefagt:
die Literatur! Wenn wir bloß feine Literatur brauchten!"
In diefem Augenblide fehoben ſich die Drei zur Türe herein,
und ber Bärenführer rief, indem er Miene machte, fi in einen
Dufthaufen hellblauen Muſſelins zu fegen:
— „Berjeihe mir, Stilpe, vergeihe mir, wie gefagt, ich bin ber
trunfen, und du mußt mein Eouplet nehmen! Es tft ja fo ſchoͤn!
Der Drofchfenfutfcher Ar. 8715 hat mich dafür gratis fahren
wollen! Wirklich, wie gefagt, du mußt es als Prolog von mir
deflamieren laſſen!“
Und er ſchrie ganz mild, faft ſchaͤumend:
„Rum. mil ich! Uranusbraunen Rum win ih!
Keinen Tee! "
Denn ich wi betrunfen fein!
Gleich den tiefen Unken fein!
Froͤhlich wie ein Schnee:
König toill ich fein!"
Der Peripatetiker fang kindlichen Tones Im Refrain:
„Fröhlich wie ein Schnee-
König will ich fein.”
Der Bärenführer fuhr mit rollenden Augen fort:
„Arrak will ih! Sehnſuchtblonden Arrak win ich!
Keinen Tee!
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Denn ich min befeffen fein!
Gleich den rauchenden Effen fein!
Froͤhlich wie ein Schnee
König win ich fein.”
Der Peripatetifer fäufelte den Refrain dreimal nad. Der
Bärenführer aber, mit plöglich veränderter, fanft flehender Stimme
ſprach:
— „Ad, Stilpe, ſieh doch nur: Wie regelmaͤßig dieſe Strophe
iſt! Siehft du, ich folge dir, ich tue, was du winft! Ich mache,
wie gefagt, regelmäßige Strophen.”
Und nun wieder mit dem Inurrenden Zorn eines Ebers:
„Gin will ich! Gletſcherweißen Gin will ih!
Keinen Tee!
Denn ich will betuͤmpelt fein!
Lilagruͤn bewimpelt fein!
Froͤhlich wie ein Schnee
König will ich fein.”
— „ie gefagt, felbfiverftändlich führe ich die Strophe regel⸗
maͤßig durch alle Schnaͤpſe fort:
Abſinth win ih! Qualwolkigen Abſinth win ih!
Keinen..."
— „Benug!“ ſchrie Stilpe. „Viſt du verruͤckt!? Denkſt du, ich
win mir mein Publifum mit hoher Literatur verjagen? Du bift
ganz unbrauchbar! Du Fannft beim Domus bie Lichter putzen!“
Der Bärenführer war tief betruͤbt und fegte fich in die Sofaecke.
Der Peripatetiter aber ſchuͤttelte den Kopf:
— „Sa, aber, was willſt du denn haben? Diefes Schneefönig-
lied iſt Doch effenshaft tief und dabei heiter wie eine weiße fegelnde
Wolfe über Fabrikſchloͤten. Es hat etwas modern ⸗goliardiſches.
Nicht wahr, Mathilde: Es iſt ein ſchoͤnes Lied!?
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Die Mufe lächelte:
— „Ach ja, es iſt ganz nett, und man koͤnnte es fpäter fchon
mal fingen laſſen als Alkoholiſtenintermeno, aber für den An⸗
fang . . .? Rein: Ihr müßt euch mehr an den Brettlſtil anlehnen
vorderhand. Habt ihr denn gar nichts Verliebtes?""
Der Peripatetifer machte ein milb:ernfles Geficht und ließ feine
rechte Hand in der linfen Brufttafche des Smokings verſchwinden,
der jetzt ſchon ein bißchen fpedig geworden war. Dann entfaltete
er eine Nummer der Kreuneitung und las aus biefer, aber nicht
aus ihrem gedruckten Tepte, Died:
Gib mir deine Hände, Kind,
Deine fleinen weichen Hände,
Die wie Blütenblätter find,
Kühl und feucht.
Gib mir deine Hände leis,
Deine fühlen, feuchten Hände,
Denn die meinen find fo heiß
Wie mein Her.
Gib mir deine Hände, gib
Still fie mir in meine Hände,
Kleines Maͤdchen, Hab mich lieh,
Hab mich lieb!
Er las das mit einem feltfamen Flüftertone, flehend.
Stilpe ſchuͤttelte den Kopf:
— „Aber wer fon denn das fingen! Das ift ja Lyrik! Himm-
life Mächte: Was fon ich mit Eyrif anfangen? Das geht ja
nicht! Das iſt ja viel zu zart! Ein Tingeltangel iſt doch Fein Lefe-
kraͤnichen!“
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Der Peripatetifer fledte die Kreugeitung ruhig in die Hofen-
taſche und fagte bloß:
— „Ich dachte, es paßte. Ich fände das Gedicht ſehr paſſend,
wenn ‚ed ein junger müber Mann an ein kleines Maͤdchen hin-
fänge, und er nähme ihre Hand und Füßte ihr dann bie Füße,
Aber ich habe auch Fomifche Gefänge. Ein Lied vom gefchorenen
Pintſcher habe ich einmal gemacht. Ich werde es ſuchen.“
Er fegte ſich neben den Bärenführer und firich mit feinen ſchoͤnen
ſchmalen Händen den langen Apoftelbart.
Kafimir geinfte: ö
— „Hehe, du haft wohl genug, Direftor. Weißt du, meine pol-
niſche Nhapfodie werde ich dir auch hier laffen. Auf dieſem fehr
umfangreichen Schreibtifche da. Hehe, fie wird auch nicht paffen.
Du wirft natürlich, hehe, Humor! Und fo mußt du Herrn Stinde
engagieren oder dieſen, äh, wie heißt Doch ber ‚Herr, diefen dicken
deutfchen Biertrinfer, hehe, richtig: Hartleben, hehe; dieſer Pilfe-
ner · Bier · Joethe paßt für dich fehr gut. Das ift ein hernorragen-
„ber Dichter, hehe, geradezu der Onfel der deutſchen Poefie. Ich
liebe ihn, hehe! Er hat gerade fo einen ſchoͤnen Hornfneifer wie du.“
Stilpe lächelte. Gegen dieſe Manier fühlte er ſich gewappnet.
Aber wütend war er doch. Sie fingen alfo ſchon an, Ihn zu ver-
achten. Bloß, weil er Flug war. Weil er langfam vorgehen wollte,
Nicht mit diefer tolpatfchigen Haft junger Jagdhunde, fondern
mit der Ruhe bewußter Berantwortlichfeit.
Unter feiner Freude an der bewegten Arbeit eines Sprechftunde
abhaltenden Theaterdireftors hob fi mehr und mehr ein Ingrimm
. gegen bie Leute, mit denen zufammen er eigentlich gedacht hatte,
das MomussTheater zu machen. Ihre Unfähigkeit, für Die Zwecke
dieſes Theaters zu arbeiten, empfand er nicht als einen Mangel
ihrer Begabung, fondern er Ärgerte fich Darüber, daß fie auch in
diefem Sale feinerlei Konzeffionen an den Begriff des Zweckes in
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der Kunft machten, und er beneidete fie im Grunde darum, Zwar
fagte er ſich manchmal, dag fi) darin auch Schwäche und Zügel»
Iofigteit offenbarte, aber feine eigene Faͤhigkeit, gerade für Das
Momus-Theater zu arbeiten, erſchlen Ihm als ein Anzeichen feiner
kuͤnſtleriſchen Inferiorität.
Er fing mit einem Male an, die „Dichterei” zu Hafen, und es
war ganz ehrlich, wenn er der Mufe gegenüber es verwuͤnſchte,
daß die „Literatur“ ein Hauptprogrammpunkt ihrer Gruͤndung
mar. Und dabei hätte er doch auch um alles nicht ein bloßer Tingel-
tangelbireftor fein wollen. Der Gedanke, auf fo parabore Weife
der Kunft zu dienen, figelte ihn angenehm.
Aber gerade für das Eigentliche des Unternehmens, gerade für
die Verbindung des wertvoll Kuͤnſtleriſchen mit dem Tingeltangel-
haften, tat er am menigften. Dafuͤr mußten der Zungenſchnalzer
und die Mufe die Hauptarbeit leiſten. Er warf nur zuweilen
„Ideen hinter die Kuliſſen“, ſchrieb ein paar Eouplets von geiſt ⸗
reicher Srechheit und entfaltete im übrigen eine mehr fahrige als
uielbewußte Taͤtigkeit.
Beſonders groß war er in der Anſchaffung ſchoͤn bedruckter
Stoffe aus England und Belgien. Auch ließ er ausgezeichnete
Plafate lithographieren und druden. In Paris und London enga-
gierte er brillante Tänzerinnen und Sängerinnen zu fehr hohen
Sagen; das befte, was das Ausland an Varieto-Theaterkunſt
hervorbrachte, verpflichtete er dem Momus-Theater. In gemifen
Anferlicpfeiten war er fehr erfinderiſch und originell. So flefte
er anftefle von Logenſchließern huͤbſche junge Mädchen in allerliebſt
befolettierten Kleidern an, forgte fuͤr ſch öne Slumenverfäuferin-
nen und benugte feine vorzuͤglichen Verbindungen In der befferen
Berliner Halbwelt zu einer auf das Prinzip der Auswahl des
Beſten hin foftematifierten Verteilung der Freibilletts.
Der Pole harafterifierte das Ganze in feiner Weife fo:
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— „D Herr Direftor, du biſt geradezu dſchenial! Du eröffneft
Ausblicke in geradezu orientalifhe Kulturen! Du fonteft direkt
ein literariſches Bordell gründen! Weißt du, hehe, wo Die Mäd-
chen auch gleich dichten oder Joethe deklamieren. Hehe, was bu
da für reisende Divänchen in die Logen geftellt haft! und diefe
koͤſtlichen Rofa-Ampeln! Hehe, und daß man die Logentüren von
innen verriegeln und an der Bruͤſtung die Vorhänge zustehen
kann, — daran erfenn ich den Meifter! Und fo fonft du überhaupt
gar feine Vorſtellungen geben laſſen, fondern bloß, hehe, Eintritts-
preife verlangen; hehe: ‚Damen zahlen die Hälfte.”
— „Na, und wenn es fo wäre!" entgegneteStilpe unerſchrocken,
„waͤre das nicht auch ſchon Verdienft genug? So ein bißchen ange-
wandte Erotif iſt genau fo wichtig, wie eure ganze Schreiberel.
Und deshalb ärgert ihr euch eben: weil Ihr feht, daß ich ins
Leben wirken will mit dem Domus und nicht bloß in die Literatur.
Ihr feid die großen Geifter; gut, ſchoͤn, eminent: ich laß euch eure
Lorbeerkraͤnze. Ich bin ein einfacher Pionier des neuen Lebens.
Nur der Zungenfehnalger verfteht mich, weil er den Willen der
Zeit verfteht. Und denkt ihr denn, ich habe den alten Hut vol
Geld gefriegt, um eine Bouillonkultur Seelenfrebs anzulegen?
Ich habe das Amt erhalten, die Berliner in ein kuͤnſtleriſches
geben hinuͤber zu amlıfieren, nicht aber, fie mit Literatur zu mopfen.
Der Zweck des Momus ift Direft, eurer ganzen Literatur den Reft
von Intereffe zu nchmen, den fie etwa noch hat, Wir wollen Die
Berliner Afthetifch machen. Es gibt hier immer noch Menſchen,
die Bücher leſen. Das muß aufhören. In den Spigenunterhös-
hen meiner Pleinen Mädchen ſteckt mehr Lyrik, als in euren
ſaͤmtlichen Werfen, und wenn die Zeit erft ſoweit ift, daß ich ohne
Unterhöschen tanzen laffen fann, dann werdet fogar ihr begreifen,
daß es überfläffig if, andere Verſe su machen, als ſolche, bie bei
mir gefungen werden. Um Gottes willen, begreift doch bie Situation!
459
Schöne Kleider, ſchoͤne Friſuren, ſchoͤne Arme, Bruͤſte, Beine,
Bewegungen — darauf kommts an. Erfindet mir Tänze, dichtet
Pantomimen, öft mir das Problem der Emanzipationvom Trifot, —
das find Sachen, die ich brauchen kann. Und wenn ihr ſchon Durch =
aus Verſe machen müßt, fo vergeßt doch nicht, daß fie von fhönen
Maͤdchen gefungen werden, Die nicht mit leeren Korfetts auftreten.
Und feht euch mal die bunten, feinen Stoffe da an! Was mürfen
das für Verſe fein, die mit folchen Farben, folhen Muftern fon»
furrieren wollen! Zieht doch eure Verſe endlich mal aus! Ich
laſſe Rops tanzen, — habt ihr doch Die Kurafche, Rops zu Dich»
ten! Unfer Theater heißt doch Momus und nicht Stöder. Seid
ihr denn Predigtamtsfandidaten? Dein Gott, mas tät ich, wenn
ich auf euch angewieſen wäre!"
So polterte er ſich aus und genügte feinem Bebürfniffe, ab
und an vermegene Worte zu baden. Aus diefem Grunde waren
ihm die renitenten Dichter, obwohl er fich herzhaft über fie ärgerte,
doch unentbehrlich. Er fonnte „an fie hinreben“ und ſich bet Diefer
Gelegenheit klar machen, worauf hinaus er eigentlich) wollte. Diefe
Art, fih in Feuer zu reiben, tat ihm gute Dienfte. Er fand fi
mit feinem Iiterarifchen Gemiffen ab, indem er ſich mit den une
gebärdigen Poeten abraufte. Wären fie nicht Immer wieder aufge-
taucht, fo hätte er bie Literatur überhaupt vergeffen und twäre ganz
in Muflin und Seide aufgegangen.
Diertes Kapitel
a8 Leipziger Eenacle, das durch die „fatale Stilpe-Sache" _
damals gefprengt worden war, hatte ſich ſchließlich Doch
wieder zufammengefunden. Freilich ohne Stilpe. Diefer war um
die Zeit der neuen Bereinigung gerade in ben Vollgenuß feiner fri-
460
tifchen Berühmtheit getreten und hatte auf die Einladung, der
erften Sigung in Leipzig beigumohnen, eine ſchnoͤde Abſage erteilt.
Es war darin von Kinderfhuhen die Rede, bie er den Herren
gerne zur Verfügung ſtellen wuͤrde, wenn er nicht befürchten
müßte, Daß auch fie ihnen noch zu groß felenz Im Übrigen ſei er be⸗
reit, die poetifchen Werke der erlauchten Cönacliers mit derſelben
Objektivität zu tranchleren, mit der er bie übrigen Erzeugniffe des
dichterifchen Germaniens der Öffentlichen Meinung vorfegte.
Diefe Bemerfung war das Boshaftefte in dem Briefe, denn
die Herren Barmann, Stöffel, Wippert und Sirlinger hatten ihren
kuͤnſtleriſchen und Dichterifchen Jugendplaͤnen laͤngſt den Abſchied
gegeben. Barmann war Gymnaſiallehrer geworden, Stoͤſſel hatte
reich gehelratet und gab vor, muſikgeſchichtliche Studien zu treiben,
Wippert war auf dem Umwege tiber orientaliſche Philologie lang⸗
ſam zur Medizin gelangt und hatte eine Klinik für Srauenfranf-
heiten, Girlinger fteuerte auf Die Laufbahn eines koͤniglichen Staats-
anmalts zu. Wenn fie fic) trogdem zu einem neuen Aufguß des Cõ ·
nacles vereinigten, fo geſchah es in einer gemiffen melancholiſchen
Stimmung und in der Hoffnung, unter ſich wenigſtens eine Art
Aglanz jenes einbildungsvoflen Übermutes zu erzeugen, an den fie
ſich nicht ohne ein leiſes Hochgefühl erinnerten. Es mar ihnen im
Grunde doc) leid, daß jene überfhwänglichen Einbildungen einer
fünftlerifchen Zufunft nicht zur Wahrheit geworben waren. Ste
geftanden fih das zwar nicht ein, konſtruierten ſich vielmehr ein
Gefühl von ernfter Zufriedenheit’ darüber, Daß fie fich in bürgerlich
gefeftete Zuftände und in einen praftifchen Wirkungskreis hinüber»
gerettet hätten, aber es gewährte ihnen doch Genugtuung, daß fie
auf fo etwas wie eine geiftige Sturm- und Drangperiode zuruͤck⸗
ſchauen Fonnten. Auch hegten fie Die ſtille Hoffnung, daß fie viel⸗
leicht viribus unitis doch noch Die Faͤhigkeit befigen möchten, we⸗
nigftens unter ſich ein bißchen über Die Stränge zu fehlagen.
461
Da war nun die Abfage Stilpes, vor deffen literatiſcher Stel-
lung fie doch etwelchen Refpeft hatten und in dem fie den durch⸗
gebrungenen Esnacliers verehrten, fehr fatal gewefen. Ohne ihn
entwickelte fi) Das Eönacle ftarf ins hausbacken Solide, und eigent>
ich gabs eine Wiedergeburt jenes Debattierflubs auf dem Gym⸗
nafium, nur daß mit der Unreife auch der Enthuſiasmus fehlte.
Es wurde aus dem Eönacle eines der Fritifchen Konventikel,
wie fie ſich jegt gerne um bie Literatur und Kunft herumgruppie ·
ten, wo man ſich über Das Neue unterhält, die Entwickelung mit
bald mwärmerer, bald fühlerer Anteilnahme verfolgt, und wo der
heimliche Leffing diefer fritifch noch Immer nicht unter einen Hut "
gebrachten Zeit in vielen Eremplaren waͤchſt, blüht und gebeiht.
Ein Hauptfport dieſes zeitgemäß gewordenen Coͤnaeliers war die
Pſychologie, dieſe Lieblingsneigung aller unproduftinen Köpfe, Die
u klug und zu ſtolz find, um zu Dilettänteln. An Stoff gebricht es
diefem Sporte niemals, aber hier war er befonders Ippig und in«
tereffant, weil die Coͤnacliers in ihrem ehemaligen Sreunde, dem
Ex⸗Schaunard Stilpe, ein befonders ergiebiges Objekt hatten.
Die Debatte drehte ſich recht häufig um ihn, und befonders
Sirlinger ward nicht müde, ihn zu viviſezieren. Er ſprach es direkt
aus, daß Stilpe fhr ihn das intereffantefte Schauſpiel fe, und daß
er ihn ganz ficher niemals aus den Augen verlieren werde. Er
hatte natuͤrlich auch ſchon eine Prognofe bis ins letzte in Bereitfchaft,
huͤtete ſich aber doch, fie mit Beſtimmtheit verlauten zu laſſen.
Die Kuͤhnheit Wipperts, der im Geiſte ſchon Das Sterbebett Stilpes
in der Eharitö mit der Auffchrift del. trem. fah, befaß er doch
nicht. Daflır Dachte er feinem Metier zufolge mehr an Plögenfee.
Barmann, der in Sceunda deutſche Literaturgefchichte traftierte,
huldigte höheren Perfpeftiven; er fonfiruierte ſich einen modernen
Fan Günther. Stöffel war im Grunde vol phantaſtiſcher Er
wartungen:
462
— „pPaßt auf: Plöglih tritt er mit einem Werke hervor.
Jetzt iſt alles Schutt und Scherben. Aber mit einem Dale wird
er fih sufammenfaffen und aufraffen, und dann zeigt er erft feine
wahre Geſtalt, feine innerliche Kraft. Vielleicht muß er bloß erft
heiraten !"
So pſychologiſierte jeder nach feinen Erfahrungen, und Stilpe
ward nicht müde, in bunter Folge jeder Anficht neue Nahrung zu
geben.
Zu einer fonfreten Zufammenfaffung reefler Unterlagen für dieſe
pſychologiſchen Bemühungen kam es aber erft, als Girlinger nad)
Berlin verfegt wurde.
* *
*
Es war etwa über ein Jahr nad) der Gründung des Momus,
da fandte Girlinger folgenden
Bericht quad Stilpe
an das Leipziger Eenacle:
Endlich ift es mir gelungen, nicht bloß Authentifches über den
Fall Stilpe- Domus zu erfahren, fondern auch unfern ehemaligen
Schaunard felber aufzufinden. Ich hätte euch ſchon früher aflerlei
mitteilen fönnen, aber ich wollte mit Tatfachen aufwarten und
nicht bloß referieren, was ihr aus den Zeitungen von damals
ebenfogut wißt, mie ich, und mas doch durchweg mehr oder weniger
feindliche preßmache war.
Ich verfehre hier ab und zu mit Journaliſten und habe In biefer
Geſellſchaft zuweilen verfucht, das Gefpräc auf Stilpe su bringen,
aber es ift mir nicht gelungen, von dort her mehr zu vernehmen
als Außerungen einer fertigen Verachtung, die ſich nicht zur Dar ·
legung von Gründen herbeilaffen wollte. Stilpe gilt in diefen
Kreifen einfady als böte noire, und ſchon aus Korpsgeift ver-
einigt man ſich zu einftimmiger Berdammung des räudigen Schafes.
463
Nur einige geben noch zu, Daß der „Menfch ein „ſtarkes pam⸗
phletiftifches Talent befeffen habe’, aber auch fie fügen Die Be—
merfung daran, daß er „nicht einmal für einen Schmähfchreiber
genug Eharafter befige”. Den Momus⸗Krach ſtellen fie ald wohl⸗
verdiente Strafe hin, x) für Die Srivolität, die Das Gepräge dieſer
ganzen Gründung geweſen fei, und 2) für das „ans Gaunerhafte
grenzende“ Gebahren, das Stilpe in der ganzen Angelegenheit ge-
zeigt haben fol, und zwar ſowohl bei Aufsringung wie bei Ber-
menbung der Momusgelber.
Durch Zufa lernte ich Dann eine Gruppe von Dichten fennen,
die über jedem Verdachte journalififcher Verbindungen ˖ ſtehen,
weil fie es ſchon längft aufgegeben haben, ihre Erzeugniffe durch
bie periodifche Preffe zu verbreiten, und Die gerade Über den Mo—
musfall mitreden Fönnen, meil fie an ihm beteiligt gemefen find.
Da fie trogdem im Grunde von Stilpe nicht viel wiſſen wollen
(weil er, wie fie fagen, den Momusgedanfen proftituiert hat), fo
iſt es erlaubt, ihre Ausfagen wenigftens für inſoweit objeftiv zu
halten, als die Herren überhaupt einer objeftiven Betrachtung ber
Dinge diefer Welt fähig find.
Bon diefen Herren habe ich nun dies erfahren: Das Momus-
theater erlitt ein volfommenes Fiasko, weil es als Tingeltangel
„immerhin“ zu kuͤnſtleriſch, als Kunſtinſtitut aber viel zu fehr
Zingeltangel gemefen fe. Das Publifum lehnte „das bißchen Li⸗
teratur und Kunſt“, was dabei mitfpielte, ſchon als zuviel ab,
und die Prefle, die im Verein mit dem „Schod Berliner Kunft-
und Literaturfreunde” ſich „wenigſtens den Anfchein gab, etwas
Kuͤnſtleriſches erwartet u haben“, erflärte mit „der ganzen Ent«
rüftung ladierter Elitemenſchen“, daß fie von Literatur und Kunft
im Momus nicht mehr zu finden vermöchten, als im „Malepartus".
Das ſei nun freilich zuviel gefagt, meinten meine „Dichter“, und
fie führten zum Beweis der „Nuance von reeiler Literatur im
464
. Momus" jeder eine Progeammnummer an, die den Zitierenden
zum Verfaſſer hatte. Ich muß geftehen, daß ſchon die Titel diefer
Programmnummern mid in Staunen verfegten, und als mir eine
Probe „interpunftionsiofer Lyrik vorgetragen wurde, bie Im
Momus unter „Pisifatobegleitung von acht Bratſchen“ dekla⸗
miert worden ift, da begriff ich, Daß Das dem Publifum zu viel ge-
wefen war. Diefe merkwuͤrdigen Dichter amüfierten ſich übrigens
felber am nreiften über ihre Programmnummern, und ich vermochte
mir nicht darüber klar zu werben, ob fie Diefe Produfte ernft oder
als einen ulk nahmen, den fie fi) mit Stilpe erlaubt hatten.
Es war bei der Premiere fehr laͤrmhaft sugegangen, und zwar
hatten, wie meine Dichter behaupten, zwei Parteien „um die Palme
des Radaus gerungen“: In erfter Linie bie journaliſtiſchen Seinde
Stilpes und dann ein Aufgebot der priftlichen Juͤnglingsvereine.
Nach allem, was ic) zumal über Die Badettleiftungen des Domus
vernommen habe, muß ich erflären, daß ich die Oppofition derart
inforporierter Juͤnglinge verſtehe. Es it auch fehr bald Die Polizei
gegen den Schnitt der Ballettgeränder im Momustheater ein-
geſchritten.
Dieſer Umſtand in Verbindung mit dem einmuͤtigen Verdikte
der Preſſe, daß der Momus durchaus fein Kunſtinſtitut im hoͤ⸗
heren Sinne ſei, hat den Aufſichtsrat der Momus-Geſellſchaft,
alſo die Geldgeber, veranlaßt, ſich den Paragraphen in Stilpes
Kontrakt zunutze zu machen, der es geſtattete, den „artiſtiſchen
Direftor‘ zu entlaſſen, freilich unter Zahlung einer fehr beträcht-
lichen Entfhädigungsfumme für dieſen. Der leife unternommene
Verſuch, diefe Entſchaͤdigung durch allerlei Anſchuldigungen be-
denklicher Natur in puncto Geſchaͤftsgebarung zu umgehen, iſt
ſchließlich nicht gemacht worden, aber ſchon der Anfag dazu hat
genhgt, jenes von mir bereits erwähnte Gerücht von „Saunereien“
uſw. zu erzeugen.
30 Bierbaum IL 465
Das Momustheater ift fehr bald an einen regelrechten Tingel-
tangelbireftor übergegangen, und man hat eine Weile geglaubt,
daß Stilpe felbft mit feiner Entſchaͤdigungsſumme der Hinter»
mann diefes Variets · Mannes geweſen fei. Der Umſtand, daß
ſeine damalige Geliebte, eine Hamburger Chantantſaͤngerin, die
Diva des neuen Momustheaters wurde, deutete wohl darauf hin,
aber die Stellung eines Hintermannes ſcheint mir nicht im Cha⸗
rakter Stilpes zu liegen.
Zweifellos und leider in Stilpes Eharafter ſehr erſichtlich be»
gruͤndet iſt dagegen die Tatſache, daß er ſich nach ſeiner Entlaſſung
einem völlig verrückten Lotterleben hingegeben hat. In feiner Eigen ·
ſchaft als „Direktor“ hatte er eine unendliche Schar von Ar-
tiſten und Artiflinnen fennen gelernt, und er umgab ſich nun mit
einem wahren Heerbann von flellenlofen Sängerinnen und Taͤn⸗
aerinnen. Es wird euch genügen, das Faktum zu vernehmen, um euch
ein Bild Davon zu machen, in welchem Stile er eine Weile gelebt hat.
Meine dichteriſchen Gewaͤhrsmaͤnner machen ihm nicht ſowohl
dieſes Saftum, als den Umftand zum Vorwurf, daß er jede Ber
nehung mit ihnen und überhaupt mit dem, mag fie Literatur und
Kunft nennen, abgebrochen habe. Ste fagen in ihrem Stile fo:
„Er fumpfte wie ein Kapitalift, der ſich eine Leibgarde von Mit»
fumpfern aushalten muß, weil es ihm an Geift und Größe gebriht,
allein oder mit erlauchten Leuten fongenial zu fumpfen. Er fing
wieder an, ſchwere Getränfe nötig zu haben, wo dem Erlefenen
ſchon Gilka genügt, um den Kontaft mit dem Weltgeijte zu finden.
Auch bei ihm war es die Verzweiflung der Impotem, die ihn
atvang, für teures Geld wertlofe Raͤuſche zu faufen. Man brauchte
ſich ſchließlich tein Gewiſſen Daraus zu machen, ihn anzupumpen
wie einen Kunftfreund von hoher Steuerklaſſe.“
Diefe Verachtung von diefer Seite her befagte fuͤr mic) eigent-
lich den tiefften Stand der Stilpifhen Dinge.
466
Unfer ehemaliger Schaunard, fo fagte ih mir, hat alfo den
brutal finnlichen Zug feines Weſens vollkommen Herr über ſich
werben laffen und ift, da ihm mehr Geld zur Verfügung ftand,
als für ihn gut war, in gemeiner und geiftlofer Schwelgerei unter»
gegangen. Der andere Zug feines Wefens, und wenn es auch bloß
eine untergrundlofe Verblendung war: Das Hinaufbegehren in
freie, ſchoͤpferiſche Beiftigfeit, bie Zuverſicht, aus ſich etwas Großes, "
einen Poeten zu machen, das hat er ganz verloren. Aber ih fügte
in mir den Gedanken bei: Er muß, wenigftens in vorlberwehen-
den Augenbliden der Klarheit, wenn der Alkohol verfagt, fehr
unglüdlic) Dabei fel.
Deshalb gab ich mir Muͤhe, feiner habhaft zu werden. Aber es
gelang mir lange Zeit nicht. Solange er Geld hatte, wohnte er,
wenn er in Berlin mar, bald in diefem, bald in jenem Hotel, und
häufig war er offenbar von Berlin abwefend, vielleicht an den
Orten, wo bie eine ober andere feiner Favoritinnen gerabe ein
Engagement an einem Tingeltangel hatte. Jetzt aber haben ihn bie
Favoritinnen ganz ausgezogen, und — er hat felber ein Engage
ment an einem Tingeltangel hier.
Ich erfuhr, daß er in einem der Meinen Chantants draußen in
Berlin N, wo die Chauſſeeſtraße anfängt, ald Komifer auftrete,
und ich befchloß fofort, den naͤchſten Abend zu einem Beſuche in
diefem Lokal, das fi Zum Nordlicht nennt, zu benugen.
Das Milieu brauche ich euch nicht zu ſchildern; ihr kennt es
aus eigener Erfahrung und aus den Novellen der erfien Periode
unferes deutſchen Naturalismus. Ich muß fagen: Dit einer wahren
Angft fah ich dem Auftreten Stilpes auf diefer Bühne entgegen,
auf der fi) im übrigen nur Ehanfonetten legten Ranges produs
sierten. Auf dem Programm fand er ald — „Rudolf Schonaar” .
verzeichnet. Iſt das nun ein Stud‘ Seldftironie? dacht ich mir,
bat er wirklich noch den Humor, fich über fich ſelbſt Iuftig zu mar
30* 467
hen? Wie wird er bloß ausfehen!? Und, mein Gott, wie wirb
er fingen?! ö
Ich war auf afes mögliche gefaßt, aber nicht auf das, was
fam.
Daß ich es kurs fage: es war eine Leiftung! Ich bin ja freilich
fein Kenner auf dieſem Gebiete, aber Das getraue ich mir zu fagen:
In feiner Art war die Eharge, bie unfer Schaunard von ehedem
darftellte, ein drillantes Stuͤck grotesf-realififcher Tingeltangelfunft.
Es war im Grunde niederdrüdend für mich, mas ich fah, und Doch
ging ein Gefühl nebenher, das ich fo ausdrücken möchte: der Kerl
Ampontert mir doch! So ſich über ſich felber zu ftellen mit den
Mitteln einer zwar niedrigen, aber in ihrem ganzen Stile fabelhaft
erfaßten Kunft, fo das ganze traurige Ergebnis feines Lebens mit
grotesfer Laune tragifomifch dem Pöbel vor bie Füße zu werfen,
fo von oben herab auf fich felber herumzutreten und doch den Ein»
drud eines Mannes zu machen, der ſich dabei amlıfiert, — wißt
Ahr: das ift Fein gewoͤhnliches Stüd, da fledt trotz allem eine
kuͤnſtleriſche Perfönlichfeit dahinter.
Alfo ſtellt euch vor: Stilpe trat als verlumpter, verfoffener al-
ter Dichter auf. Lange graue Haare, zerknuͤllter Zylinder, Braten»
tod, flatternder Kuͤnſtlerſchlips, — dies alfo die alte fchablonen-
bafte Figur des idealiſtiſchen Dichters in uͤbler Vermögenslage.
Aber num hättet ihr fehen follen, wie Das Geficht, Die Bewegun ⸗
gen, bie Worte dazu paßten. Zum Geſicht hatte er freilich Feine
Kunſt nötig gehabt: Diefe aufgedunfenen Züge, dieſe alkoholiſch po ·
roͤſe, kupferige Naſe, dieſe ſchwimmenden, unfäten Augen, —
das war leider alles Natur. Auch die Bewegungen, dieſes Fallen⸗
laſſen der Arme, die dann an den Schenkeln herumſuchten und ta-
fteten, dieſes nervoͤſe Zucken der Schultern, dieſes zitternde Auf-
legen der rechten Hand auf die Stirne, dieſes langſame Auf · und
Niederneigen des Kopfes, dieſes Nachſchleifen der Füße beim ſchwan⸗
468
fenden Gange, — auch dies war im Grunde Natur, nur unter»
ftrichen, perſpektiviſch berechnet. Aber nun: was er ſprach und
fang!
Es mar fo eine Solofzene, wißt ihr: Monologe mit Geſangs ·
einlagen wechfelnd; man kennt das jaz dieſe Geſchichten find eigent-
lich nicht mehr modern; ein paar haben ſich indeſſen fogar auf der
großen Bühne erhalten. Aber Stilpe hat, ich fage es ohne Üüber-
ſchwenglichkeit, ein Kunftwerf daraus gemacht. Ich wäre auch er-
griffen zwiſchen Lachen und Graufen hin und her geworfen wor» ,
den, wenn fein perfönliches Intereſſe mitgewirkt hätte.
Er fam langfam, ruckweiſe ſchwankend aus der linfen Kuliffe
und bewegte ſich im Zickzack, ſcheu ſich umfehend, nad) einer Banf
rechts. Wie er ſich auf die hinfallen ließ, wie er den Zylinder
müde abnahm, ſich durch die Haare fuhr und nun mit einem
leeren, ängftlichen Blick rund im Zuſchauerraum herumfah, das
war für mich ſchon ein Eindrud, wie ich ihn felten von einer
Bühne herab gehabt habe. Ploͤtzlich Ficherte er, buͤckte ſich und
bob einen Zigarrenftummel auf, griff dann laͤſſig an fich herum,
fuhr ſuchend in Die Taſchen, zog Die Hände refigniert heraus und
fagte dann leife vor fi hin: Ya, Feuer! Is nich!
Wieder ein paar Blicke im Kreife, Dann ploͤtzliches Aufrichten
und im Vorwaͤrtsſchreiten das Bemühen, nicht zu ſchwanken,
fondern anftändig, mit Würde zu gehen. Und nun, an ber Rampe,
eine höfliche Verbeugung vor dem Bafgeiger und im Tone vollen»
deter Höflicpfeit mit gedrochener Stimme: „Dirfte ich Ste um
etwas Feuer bitten, werter Herr?"
Er erhält ein Streichholz, verbeugt ſich wiederum fehr höflich
und zuͤndet ſich den Stummel anz ftößt bie Tabafwolfen mit Ger
nuß von fi, betrachtet den Stummel mit Zärtlichkeit, laͤchelt und
fagt: „Ste muͤſſen nämlich wiſſen: Ich bin auch Künftler!”
Der Bafgeiger fieht ihn fragend an.
49
— „Ach nein, fo ſchoͤn geigen kann ich nicht. Nein. Aber —
dichten! Haben Ste Feine Kinbtaufe in Ausficht? Ich machs
binig. Wenn nur vom Efien was uͤbrig bleibt ...“ Dies fehr
demuͤtig, traurig.
Aber auf einmal wird er wild und fängt an zu ſchimpfen: Auf
das Gefindel, das Geld und fein Talent hat; auf ade, die ihn ver»
achten, weil fie Kamele find, während er ein Genie ift ufm. —
Ich fage euch: ein fabelhafter Ausbruch mitten in den johlenden
Mod hinein, der ſich Föniglich zu amüfleren anfängt, während
der Dichter an der Rampe hin und her rennend wie ein Eis-
bir im Käfig, Zorn, Wut, Verachtung nad allen Richtungen
ſchleudert.
Ich hatte die Empfindung, daß Stilpe dies alles improviſierte.
Dann fiel er wieder in den demuͤtigen Ton und bat um Ver⸗
seihung und ein Glas Gilka. Nachdem ihm dies hinaufgereicht
worden war und er es mit der Haft eines Berburftenden hinunter-
geſtuͤrzt hatte, erflärte er, nun wolle er auch nicht fo fein und
feinerfeits etwas zum beften geben. Und er begann im Schauer-
balladenſtil fein Leben, das Leben des verfommenen Genies, ber«
unterzufingen.
Es war einfach graufig, fag ich euch, wie er immer fi) felber
als zweite Perfon behandelte und gleichfam mit dem Stode auf
ſich wies, wie Die alten Jahrmarktsmoritatenfänger auf die war-
nenden Erempel. Dabei ftelte er in großen Zügen wirflich fein
eigenes Leben dar, natuͤrlich grotesf verzerrt und mit burlesfen
Beigaben. Aber ich habe diefes fein Leben nie mit fo greller Deut-
lichteit erfannt, wie während biefer Ballade, die uͤberdies als pa-
rodiſtiſche Leiſtung ein Leckerbiſſen zu nennen ift. Am Schluffe im-
mer der Kehrreim:
D lockert eure fleinernen Gebärden!
Ich bin ein Lump, und ihr koͤnnt Lumpe werden.
470
> Seht diefes Fleiſch und ſchlotternde Gehein,
Jene fauf ih Gilka und einft ſoff ih Wein.
Nachdem er Die Ballade zu Ende gefungen hatte, trat er unter
johlendem Beifall ab. Der Beifall hielt an, und er erſchien wieder
trat ganz an die Rampe vor und fagte: „Übrigens haben Ste
mich vorhin geftört. Ich Bin nicht hierhergefommen, Ihnen was
vorzuflöten.” Dann ganz leife: „Es iſt doch Fein Schugmann
unter Ahnen ...? ...“ Rufe aus dem Publifum: „Ih wo!’
Stilpe: „Ich ... ich ... möchte mich nämlich erhaͤngen.“
Ahr werdet es kaum glauben, aber Das wurde in einem Tone
gefagt, daß felbft Diefes Publifum erſchrak. Aber nun ſchlug Stilpe
eine Lache auf: „Ste denfen wohl, das ift unangenehm? Im
Goͤgenteil! Ich habe mir fagen laſſen, man erlebt da feine ſchoͤn⸗
ften Sachen alle noch einmal. Jotte nee, was ick mir auf Laura'n
freue!”
Und jest folgte ein bodiges Herumftolsteren mit vorgeſtrecktem
Bauche, eine lafsive Siene ohne Worte, die in mir direft den
Staatsanwalt wachrief. Gemein! Gemein!
Das Ppublikum wand ſich vor Entzuͤcken. Stilpe aber hielt
plöglich inne und rief: „Uber wiſſen Ste denn auch, warum ich
mich erhängen win?"
Und nun folgte, ic) fann es nicht anders nennen, eine Differ-
tation über den Selbftmord. Und swar fo, daß er erft alle mög-
lichen gemöhnlichen Selbftmordgrände ablehnte, um ſchließlich als
einzig zwingenden und berechtigten Grund den anzuführen: Es
gibt fein Getränf mehr, das mich umbringen fönnte, darum muß
ick mir felber umbringen.
Nun zog er den Strick hervor und fang ihn als „Schnaps der
Schnäpfe” an. Während der Schlußftrophe warf er den Strid
um einen Laternenhafen, und während ber Vorhang fiel, legte er
ſich den Strid um den Hals.
471
Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war. Das Publifum
aber Flatfchte wie befeffen. Nach einer Weile hob fi der Bor»
hang wieder, und id) fah, Daß Die Originalität unferes verfloffenen
Freundes auch als Tingeltangelfänger feine Grenzen fennt: Der
Dichter hing an der Laterne und fang, ungeachtet des Einfpruchs
der Naturgeſetze, in diefer Situation, roͤchelnd und nad Luft
fchnappend, fein Schwanenlied, eine ſchauerliche Miſchung von
Staufen, grotesfer Komik und Zynismus. Dann ein legtes Schlen?
fern mit den Beinen, die Zunge weit heraus, dem Publikum ent-
gegengefiredt, — der Vorhang fiel. Sooft er ſich wieder unter
dem Beifallgewieher des Publifums hob, fah man den Dichter
am Laternenpfahl hängen und mit herausgeſtreckter Zunge den
grinfenden Kopf dankend verneigen.
Scheußlich! Scheußlich! werdet ihr ſagen, und ihr habt ganz
gemiß recht, aber ich wiederhole es: Was in meiner Darſtellung
bloß widerlich wirfen fann, machte von ber Bühne herab, ih
muß es befennen, in der Hauptfache auf mich Doch den Eindruck
von ergreifender Kunſt, ſchauderhaft verirrter, gottfträflicher, in-
famer Kunft zwar, aber ich wäre nicht imſtande geweſen, etwa
nmitten dieſer ſchauerlichen Srivolitäten aufsuftehen und fort-
augehen. Alles in mir empdrte ſich, aber ich war gefeffelt.
In jedem anderen Sale wäre ich nun freilich jetzt weggegangen,
zumal da auf dieſe plöce de refiftance des Nordlichtes nur noch
bie ausgefungenfte aller Ehanteufen folgte, aber mich verlangte
es, Stilpe nun au) „in Zivil” zu fehen. -
Wie muß der Menſch, der aus feinem Leben einen foldhen graus
figen Clownwitz zu machen imftande iſt, ausfehen, wie muß er fih
benehmen, wenn er mir gegenhberfieht, der ihn aus Zeiten her
fennt, wo es trotz allem doch eine ſolche Perfpeftine auf das Ende
nicht gab! :
Ich ſchickte ihm meine Karte hinter die Bühne. Nach einer
472 ,
Biertelftunde erſchien er, die Vorſtellung war mittlerweile durch
den üblichen Galopp gefchloffen, an meinem Tiſche.
unglaublich! Er gebärdete fid) wenigftens ganz wie früher.
— „Willſt du mich verhaften, Staatsanwalt meiner Seele?
Wieviel Jahre fiehen auf den Bauchtanz meiner Prägung?"
Ich hatte Mühe, ihn von dieſem Stil abzubringen. Ganz hat
er ihn überhaupt nicht aufgegeben. Das Endrefultat, mas ich euch
zu vermelden habe, iſt dies: Stilpe erflärt, ſich recht wohl zu
fühlen, wenngleich es ihm nur in den feltenflen Fällen noch ge»
lingt, fi) zu betrinfen. Als Entfchädigung für dieſen beflagend-
werten Umſtand bezeichnet er bie „glorreihe Tatſache“, daß er
endgültig darauf verzichtet habe, In Die &iteraturgefchichte su fommen.
— „Literatur? Pf! Das Tingeltangel ift Die Kunft der Zufunft.
Übrigens hat meine Orgel bloß noch eine Pfeife. Sonft?...
Ra, mein Junge, wenn ale Pfeifen ſchweigen, — bie Heilsarmee
leckt ale Finger nad) mir. Ein bißchen religiös komm ich mir über»
haupt manchmal vor. Wer weiß...?... Wer fann wiſſen ...?
u... Überhaupt . . . der liebe Bott!... Ra... einſtweilen hal-
ten wir mal die Fahne hoch ... Aber nicht wahr: Deine Rum:
mer i8 gut!"
Schlußkapitel
twa drei Wochen nach dem Geſpraͤche Girlingers mit Stilpe
‚erhielten die Berliner neben anderen Fruͤhſtuͤcksbeilagen auch
dieſe Notiz vorgeſetzt:
(Seldfimord eines Chantantkomikers.) Die Be—
fucher der Barietöbühne „Zum Nordlicht“ waren geftern abend
Zeugen eines graufigen Schaufpiels. Der Komiker Schonaar
bat ſich auf offener Bühne vor den Augen des Publifums er»
473
hängt. Da der Schlußtrick in der Nummer dieſes Komifers C!)
darin beſtand, daß er fi an einem Laternenpfahl aufhängte,
fo gemahrte das Publikum es anfangs nicht, daß Diesmal das
an ſich ſcheußliche Schaufptel entfeglihe Wirklichfeit war. Es
applaubierte, Die fcheinbare Naturwahrheit der Darftellung bes
wundernd, anhaltend, fo daß fih der Vorhang dreimal über
dem zudenden Körper des Hängenden erheben mußte. Da erft
fiel eg den „Habituss“ dieſer Schauftelung auf, daß der Dar-
ftener nicht wie font feinen Kopf in der Schlinge gegen das
Publikum verneigte. Dan eilte über Die Rampe weg auf bie
Bühne und ſchnitt den Erhängten ad. Da es nicht möglich war,
ihn wieder ing Leben zu bringen, fo muß mit Beſtimmtheit an-
genommen werden, daß Schonaar, um ganz fiher zu geben,
ſich vorher vergiftet hat. Die poltzelärztlihe Unterfuchung wird
ameifellos die Richtigkeit diefer Mutmaßung ergeben. In den
Taſchen des Selbftmörbers fand man ein Pafet mit der Auf ·
ſchrift: An den Staatsanwalt Girlinger. Dies erweckt bie
Vermutung, daß dieſer Selbfimord vielleicht noch andermeites
Kg Intereſſe hat. Wir fommen auf den fraffen Fall
aurüd.
Schon zum Abendbrot hatten die Berliner, volle Aufflärung
über den Fall Schonaar. Sie lafen:
Gum Seldfimord im „Nord licht“.) Der fcheußliche
Seldftmord auf offener Bühne, von dem wir heute früh be⸗
richtet haben, hat fein meiteres Friminelles Intereſſe, wohl
aber ein pſychologiſches traurigfter Natur. Der Selbſtmoͤrder,
der unter dem Namen Schonaar ein elendes Dafein als Ko-
mifer nieberfter Gattung gefriftet hat, war ber ehemals viel
genannte und geflrchtete Kritifer Willibald Stilpe, der⸗
felbe, der ſich in der Literatur durch das berüchtigte Pamphlet
„Der Tintenfumpf” unmoͤglich gemacht und dann das bald
414
verkrachte „Eiteratur-Tingeltangel Momus“ gegründet hat.
Wieder einmal ein Talent, das an feiner eigenen Charakter
loſigkeit zugrunde gegangen ift! Über die Direften Motive zu
dieſem in fo ſchauerlicher Welfe in Szene geſetzten Selbſtmord
haben mir vom Herrn Staatsanwalt Girlinger, an den ber
Selbſtmoͤrder ein Bündel Manuffcipte gefchiett hat, nichts er»
fahren fönnen. Dan fann fie wohl in das eine Wort gufammen-
faſſen: Delirtum.
.
*
Das war das Amen · Wort der Öffentlichfeit zum Lebensabſchluß
Stilpes. "
Das Leipziger Cenacle hatte den Vorzug, Stilpes eigene Mei ⸗
nung darüber zu vernehmen. Sirlinger ſchrieb den Freunden:
... Nous allons, fi tu veur, chanter le dernier pfaume ...
‚Hier find die legten Worte Schaunards. Seine Leiche ift, wie
er wünfchte, in der Anatomie. Ich habe fie gefehen und flrchte,
daß ich den Anblick nie mehr los werde. Seid froh, dag ihr das
nicht gefehen habt.
Stilpes Brief an Sirlinger lautete fo:
Eanderirette!
Wie fehreiben Die Fleinen Mädchen (ad), ach, ach, wie nett das
elingt, — Maͤdchen ift ein liebes Wort), die kleinen Maͤdchen,
wenn fie fi) vergiften? So fehreiben die Fleinen Maͤdchen:
„Leber Emil! Wenn Du diefe Zellen Heft, dann bin ich tot!"
TOT
Das Wort hat rechts und links eine Peitfche und in der Mitte
ein Loch.
Graphologie! Sraphologie!
Iſt es nicht tieffinnig? Peitſche — Loch — Peitſche. Wie
witzig? Profund!
» 475
Und dann der Ton, wenn mans ein bißchen bumpf und gebehent
Sagt, — das D iſt ſublim. Wie wenn man Über einen Slafcyen-
hals hinpfeift. Heifere Sirenen.
Indeſſen! Höre mich! Höre mid! Ich fage Dir: Sterben iſt
ein dummes Wort. Man folte Schtärben ſchreiben. Da kaͤme bie
game breit ei uns min ent
Bürgen. Fufelaufi
Und quoad —* "0 mei ist reiht: de ee
ſchuld oder Die oſtpreußiſche Bowle von Damals .
Schuld? Schuld? Das Wort macht mir Wut. ze ein Brum ·
mer rennts an mich an. Bin ich eine Fenſterſcheibe? Fliegenklatſche
her! Fliegenklatſche!
Sei ruhig! Ich bin nicht betrunken. Wirklich nicht. Das iſt es
ja eben! Ich bin nicht betrunken, und ich werde es niemals mehr
fein. Blog manchmal verruͤckt. Entſchieden, Alter! Verrüdt, das
heißt: gefehttelt, gezerrt, geftoßen, an bie Wand geworfen, —
und dazu lacht einer. .
Das Lachen legt ſich Dir um den Hals wie eine Peitſchenſchnur
um ben Kreifel, einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, im-
mer nochmal, immer noch, immer noch, immer nochmal; — laf
los! laß los! — Jetzt: Wwwt! und Du drehft Dich mie ein Kreifel-
hen; Kreiſelchen, drehſt Dich mie ein Kreifelchen auf einem Nagel-
fopf, ſcheibum, ſcheibum, Ialalala, Ialalala, fheib—um . . . Hund!
Hund! Lache nicht, Peitſche, lache nicht! Wwwt! Wwwt!
Scheib ⸗um!
unwuͤrdig, Staatsanwalt, unwuͤrdig! Ein homo ſapiens! Wie
kann man nur!
Aber das iſt es nicht. Auch nicht die roten Maͤuſe und die
weißen Maͤnnerchen, und die lieben kleinen Drehdingerchen, die
immer ſo hin und her und hin und her, und oben an der Decke
und unten an der Diele, — tritt doch! tritt doch! rufen ſie —, du
476
Lieber Gott, an die Menagerie bin ich gewöhnt. Wie lange denn
fon?
Du, weißt Du noch, meine gelbe Müger Oh Yugendzeit! Ob
Porterbier!
kaͤſtig, wie fie fribbeln, Die Gedanken; laufen mir über die Bruft
wie Amelfen. Und die Springprogeffion der Flöhe: Meine Ideale.
In — der — Lat! J—de—ale! .
Mit Deiner gütigen Erlaubnis: ich habe wirklich welche.
Sie laffen fi nicht wegſaufen, die höheren Ziele. Wie lange
ſchon bemuͤh ich mich, durchaus ein Lump zu werden, — und es
iſt mir immer noch nicht gelungen.
Wenn id) doch nur klar denfen fönnte! Ich möchte Dirs fo
gerne auseinanderfegen, Jurift, der Du biſt.
Aber: diefe Blafen im Gehirn. Verſchlammter Grund. Gurgel-
safe, Sufelgafe. Ich weiß ſchon nicht mehr, mas ich Dir ausein-
anderfegen wollte. Es wird wohl eine Lüge gemefen fein.
Daran darf nicht gezweifelt werben! Immer hab ich gelogen!
Immer! Sieh nur meine Tagebücher durch.
Die Verfe! Die Berfe! Am liebſten hab ich mich felber belogen,
und rhythmiſch.
Wenn id) nur die Kraft gehabt hätte, das immer fo zu fühlen,
wie jest. Wenn ich mir nur über mein Talent nicht erft jetzt klar
würde, mo es zu fpät ift, wo ich nicht mehr die Kraft habe, es
foftematifch auszunugen! Ich hätte nie was wollen follen. Das
Wollen war flr mich eine ungefunde Luͤge.
Dichter wonte ich werden, weil ich Verſe machen fonnte. Das
war die Heckeratte, die infame. Wenn ich „Kritiker“ geblieben
wäre, — Du, mas wäre ich für ein ganzer Kerl geblieben, in
Sammet und in Seide, rund und aus einem Stüde, gar wohl-
getan.
Ein Lump von einem Kritifer, meinft Du und beſchwoͤrſt jenen
477
Gotthold Ephraim. Was tuts? Das find Nuancen. Sag Feuille-
toniſt ftatt Kritiker, ſag Pidelhering, Clown, Hanswurft der
Öffentlichen Meinung. Meinethalben. Aber das war mein Selb.
Da hätt ich weiter adern muͤſſen. Aber das behagte mir nicht.
Wonte obenhinaus, Die Hure, die Gouvernante fein möchte.
Hol dic) der Teufel! Huren ift auch ein Talent. Bleib im Bette
und nähe dich redlich!
Jetzt iſts wieder fo. Ich habe Dich legthin belogen. Mich
dichterts immer noch. Immer noch möcht ich auf den
Poetenberg. Immer noch hebt ſichs da drin und klingt und will.
Verſe überfanen mich und tönen mir gut, Oh, fie find gut! Höre!
Und hinter mir, dem ſchwarzen Adler gleich,
Dem feine Schwingen feucht find, weil er in Wolken war,
Sqhwebt ſchwer die Nacht . . -
Fuͤhlſt Du, fühlt Du, daß das Poefie it? Bon mir! Bon mir!
Bin ich ein Hund?! Nein: Diefe Verfe find von mir!
AH! Höre!
Sau, cin Bad von Rofenblättern,
Legt ſich Sehnſucht um mid, Sehnſucht;
Sinke, Haupt, ertrinke, Seele,
Stirb in dieſen lauen Duͤften
Und genieße die Erfuͤllung ...
Wie? Hat das nicht mas? Der Teufel auch: Das iſt ausge-
zeichnet, fag ih Dir, mi filt!
Dann:
Um mein Yaus herum
Schwirren die Fledermaͤuſe des Grams.
Zwei, fich, hängen am Drachenbalken,
Grau am Grau,
Und blinjeln in den roten Lichtdunſt meiner Sampe.
Ode Heißt die eine,
Gier heißt die andre;
Die Schwirrenden pfeifen . . -
478
Ich lefe mir das vor, mit leifer Stimme fprech ichs den Buch ⸗
ſtaben nach; mir ift es, als hörte ichs von tief unten mo her aus
Glockenmunde mit meiner Stimme; und ich fühle: Das iſt gut.
Nein, ich bin feiner von den Schweren, Klebenden, in mir find
Stimmen aus der Tiefe, es ift ein Reichtum in mir, Ich babe
mehr als ihr Almofenempfänger. Ich bin einer von den grande
aumönters des Herrgotts. Ich fann mich auftun, und es fließt
Leben in Die Welt. In meiner Seele umſchließen fi Zeugung und
Empfängnis. Wie jene Blume bin ich, die Phallus und Vulva
iftz fo fteh ic) da im Garten des HErrn und begatte mich:
‚Siebe dich und Löfe dich,
‚Siebe dich auf und gebier did) der Welt
Aug der bebenden Lotosblume deiner Fülle!
Ich höre Dich) lachen, Staatsanwalt! Lache! Lache! Spei mir
Dein Lachen ins Gefiht! Ich win mich nicht einmal abwifchen.
Ich weiß es ja, jede Zeile meines Wefen fühlt es ja: das alles
iſt früppelhaft. Ich, die erſtaunliche Lilie im Garten des Herrn,
ſtoße nichts als Halbgeburten aus, ich waͤlze mich in Zeugungs-"
wolluſt und fann nichts austragen. Und bie fragmentarifchen Ban-
kerte verrecken unter dem Hohngelaͤchter meiner Erkenntnis, daß
id) fürs Ganze impotent bin.
„Es fehlt dem Schüler an der rechten Ausdauer, feiner Ber
gabung alles Das abzugeminnen, was fie zu leiften vermöchte, wenn
fie von Fleiß, Beharrlichteit, Maͤßigung unterftügt würde . . ."
Diefe Worte, nebft einigen andern, habe ich einmal von einem
Schulzengnis weggewiſcht, aber, als wenn ich fie auswendig ge
lernt hätte, ftehen fie in mic feft und knarren ſich heute mir vor.
Sehr gut, Herr Doftor! Sie find ein guter Pſychologe ge ·
weſen. Uber, weiß Gott, ein ſchlechter Pädagoge. Warum haben
Sie mir ale die guten Dinge nicht beigebracht, Magiſter Ste?
419
Barum haben Sie mi) ſchon auf der Schule verlumpen laffen?
Bar id ein Talent, oh, Ste Halunfe, warum haben Sie mich
nicht gehütet? Warum haben Sie mic) verhöhnt, von fi weg⸗
getrieben, meinem Zorn und Trog in die Arme, daß ich num erſt
recht auf mir beftand? Warum habt ihr mich uͤberhaupt gequält
mit eurer Roheit, eurem Dünfel, eurer Gleichgültigfeit? Warum
habt ihr meine Seele, da fie jung war, mundgefiheuert, daß fie
ewig ſchmerzende Narben Davontrug und immer zudender, unftäter
murde? Freilich, die meiften unter euch waren nicht einmal Pfy-
chologen, hoͤchſtens, daß fie inftinftmäßig ahnten, daß In mir mehr
war, als in ihnen, und daflır mußte ic) geduckt werben. Geduckt,
ih! In mic) hinein frag ich einen Haß gegen alles, das nicht ich
war, meine ganze Jugend wurde ein Eitergeſchwuͤr, ad mein Blut
verdarb, weil ihr mich druͤcktet!
Wie das alles auf einmal vor mir fteht. Wie ein ſchwefelgelber,
brunftrot geäderter Sonnenuntergang.
Nie, feit Jahren nicht, fah ich fo klar. Nie, ſeit Jahren nicht,
mar ih fo bewegt. Die, feit Jahren nicht, fühlte ich mich fo frei,
wie In dieſem jegigen Augenblide.
Wird man henfeherif durch einen großen Entſchluß? Oder —
— — Bin ih endlich, endlich wieder einmal betrunfen? Dann —
— fünnte ich ja den großen Entſchluß wieder aufgeben?
Denn — Ruhe! Ruhe! nur noch einen Augenblick Ruhe! —
warum hat ſichs In mir eingeniflet, eingegraben wie mit tauſend
feuchten Klauen, daß ich ein Ende machen muß? Lauf mir nicht
fort, Bewußtſein! Bleib, daß ich mirs fage, klar, glatt, heil, daß
ich es wenigfteng einen Augenblick lang weiß. So! So! Ich habs!
Nur deshalb... Nein! Nebel! Kopffcütteln. Müde. Trinken!
Ich laufe den ganzen Tag im Zimmer herum wie ein Tier im
Käfig. Und ich merfe, daß mich das hypnotifiert, wie einen Fafir
480 .
das Kopforehen. Jetzt bin ich wunderbar ruhig. Das iſt fehr
ſchoͤn. Run weiß ih auch, warum...
Siehſt Du, Robert (hab Ich Dich je Robert genannt, Du Schd-
terd), fo iſts: Ich fühle, daß ich auch im Sumpf nicht ganz auf
gehe. Nein, nicht einmal im Sumpf. Und doch ift Aufgehen alles.
Worin, das bleibt ſich glei... -
Eine Weile ſchien alles gut, Ich — fühlte mich wohl und
afflimatifierte mich. Aber von dem Tage an, mo Du mit
mir fprachft, begann das Ziehen wieder, das Hinaufwollen. Ein
Taumel erſt. Verſe fprudelten auf, Sragment auf Fragment.
Hohes Entzliten! Phoͤnix aus der Aſche! Dann aus allen Höhen
herunter. Wirre Verzweiflung . . . Zudende Erfenntnis ... Hin
und her. Ich min! Ich kann! ... Nein! Nein! Hund! Lump!
Mac ein Ende!... Nein! Ich habe ja die volle Seele!
Ich muß nur ein einziges Mal mit aller Kraft mich gam faſſen! ...
Ad! Ich bin mit dem Schädel gegen Die Wand gerannt und habe
mir, ganz bibliſch, bie Haare ausgeriffen. Geheult und gefreifcht
in Weinen und Lachen! Unfinn! Unfinn! Noch mehr faufen!
Excce medicamentum. Vergeblich. Ich reagiere nicht mehr.
Ich habe nur noch Das Efelgefühl und eine marode Sehnſucht.
Sertig, weißt Du, mas man fo fertig nennt. Hin und wieder
angenehm verruͤckte Anſtoͤße, aber ich fühle: Die verdanfe ic) auch
bloß dem ... Entſchluß.
Der macht mir uͤberhaupt viele Freude. Ja. Ich finde doch,
daß ich nicht Abel adgehe.
Über den Geſchmadh der legten Szene kann man ja fireiten.
Natuͤrlich. Aber was geht das mich an? Ich finde, daß fie aus ·
drucksvoll ift. Dem Leben die Zunge herausftreden, eurem Leben,
meine Lieben, das Pläfier müßt ihr mir ſchon gönnen.
Ich bin nun mal auf die böfe Seite hinhbergerutfcht, wo bie
Nefpeftlofen, die Giftigen ftehn. Wie fann da mein Geſchmack
31 Bierbaum II 481
der eure fein, ihr Leute von der Harmonie? Wenn ih Bomben
wuͤrfe, würde die Gefchmadtsdivergens noch mehr Flaffen.
Genug! Kommen wir zu meinem Vermächtnis:
Meinen werten Leichnam, bitte, der Anatomie. Den Befund
über das Gehirn mögt ihr dem Eönaclearchiv einverleiben.
Meinen werten Feinden von ber Preffe wende ich Stoff für
mindeftens zwei Notizen zu. Wer fein Handwerk verficht, kann
am Ende gar ein Feuilleton herausſchlagen.
Dir gehören meine ſaͤmtlichen Werfe. Wenn Du zu den Verfen
immer einen Anfang und ein Ende ſchmiedeſt, fo fommt ein ganz
netter Band Lyrik und Spruchweisheit heraus,
Sonft hab ich wohl nichts zu vermachen.
Qualis poeta pereo!
„pankrazius Graunzer” und „Stilpe” erſchienen urſpruͤnglich im
Verlage von Schufter & Loeffler, Berlin, mit deren Einwilligung
fie in die „Sefammelten Werke” aufgenommen wurden.
"APR 141921
Drud von Mänide und Jahn in Rudolftadt
Und dann der Ton, wenn mans ein bißchen dumpf und gebehnt
fagt, — das O ift fublim. Wie wenn man Über einen Slafchen-
hals hinpfeift. Heifere Sirenen.
Indeſſen! Höre mich! Höre mich! Ich fage Dir: Sterben iſt
ein dummes Wort. Man fonte Schtärben ſchreiben. Da kaͤme bie
ganze breit hingeſchmierte Gemeinheit des Wortes zutage. Efel.
Würgen. Fuſelaufſtoßen.
Und quoad Fufel, ich weiß nicht recht: iſt der Fuſel von heute
ſchuld oder die oftpreußifche Bowle von Damals... .?
Schuld? Schuld? Das Wort macht mir Wut. Wie ein Brum-
mer rennts an mich an. Bin ich eine Senfterfcheibe? Fliegenklatſche
her! Fllegenklatſche!
Sei ruhig! Ich Bin nicht betrunken. Wirklich nicht, Das iſt es
ja eben! Ich bin nicht betrunfen, und ich werde es niemals mehr
fein. Blog manchmal verrückt. Entſchieden, Alter! Verruͤckt, das
heißt: gefchüttelt, gegerrt, gefiogen, an bie Wand geworfen, —
und dazu lacht einer. ‚
Das Lachen legt ſich Dir um den Hals wie eine Peitſchenſchnur
um den Kreifel, einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, im»
mer nochmal, immer noch, immer noch, immer nochmal; — laß
108! laß los! — Jet: Wwwt! und Du drehft Dich wie ein Kreifel-
hen; Kreifelhen, drehſt Dich mie ein Kreiſelchen auf einem Nagel:
kopf, ſcheibum, ſcheibum, Ialalala, lalalala (hei —um .. . Hund!
Hund! Lache nicht, Peitfche, lache nicht! Wwwt! Wwwt!
Scheib — um!
unwuͤrdig, Staatsanwalt, unwuͤrdig! Ein homo ſapiens! Wie
kann man nur!
Aber das iſt es nicht. Auch nicht die roten Maͤuſe und die
weißen Maͤnnerchen, und die lieben kleinen Drehdingerchen, die
immer ſo hin und her und hin und her, und oben an der Decke
und unten an der Diele, — tritt doch! tritt Doch! rufen fie —, du
476
lieber Gott, an die Menagerie bin ich gewöhnt. Wie lange denn
fhon?.
Du, weist Du noch, meine gelbe Müge? Oh Jugendieit! Oh
Porterbier!
Laͤſtig, wie fie fribbeln, Die Gedanken; laufen mir über die Bruft
wie Ameifen. Und die Springprogeffion der Flöhe: Meine Ideale.
In — der — Tat! J—de—ale!
Mit Deiner gütigen Erlaubnis: ich habe wirklich welche.
Sie laffen fi nicht wegfaufen, die höheren Ziele. Wie lange
ſchon bemüh ich mich, durchaus ein Lump zu werden, — und es
iſt mir immer noch nicht gelungen.
Wenn ic) dod nur klar denken koͤnnte! Ich möchte Dirs fo
gerne auseinanderfegen, Juriſt, der Du biſt.
Aber: diefe Blaſen im Gehirn. Verſchlammter Grund. Burgel-
safe, Sufelgafe. Ich weiß ſchon nicht mehr, was ih Dir ausein-
anderfegen wollte. Es wird wohl eine Lüge geweſen fein.
Daran darf nicht gegweifelt werden! Immer hab ich gelogen!
Immer! Steh nur meine Tagebücher durch.
Die Verfe! Die Verſe! Am liebſten hab ic) mich felber belogen,
und rhythmiſch.
Wenn ich nur Die Kraft gehabt hätte, das immer fo zu fühlen,
wie jest. Wenn ich mir nur uͤber mein Talent nicht erft jetzt klar
würde, mo es zu fpät ift, wo ich nicht mehr die Kraft habe, es
ſyſtematiſch auszunugen! Ich hätte nie was wollen follen. Das
Wollen war flr mich eine ungefunde Lüge,
Dichter wollte ich werden, weil ich Verſe machen fonnte. Das
war die Heckeratte, die infame. Wenn ih „Kritiker“ geblieben
märe, — Du, mas wäre ic) für ein ganzer Kerl geblieben, in
Sammet und in Seide, rund und aus einem Stüde, gar mohl-
getan.
Ein Lump von einem Kritifer, meinft Du und beſchwoͤrſt jenen
477
GSotthold Ephraim. Was tuts? Das find Nuancen. Sag Feuille⸗
toniſt ſtatt Kritifer, fag Pickelhering, Elomn, Hanswurſt der
oͤffentlichen Meinung. Meinethalben. Aber das war mein Feld.
Da hätt ich weiter adern muͤſſen. Aber das behagte mir nicht.
Wollte obenhinaus, Die Hure, die Gouvernante fein möchte.
Hol dic) der Teufel! Huren iſt auch ein Talent, Bleib im Bette
und nähre dich reblich!
Jetzt iſts wieder fo. Ich babe Dich legthin belogen. Mich
dichterts immer noch. Immer noch möcht ih auf den
Poetenberg. Immer noch hebt fihs da drin und klingt und will.
Verſe uͤberfallen mich und tönen mir gut. Oh, fie find gut! Höre!
Und hinter mir, dem ſchwarjen Adler gleich,
Dem feine Schwingen feucht find, weil er in ‘Wolken war,
Sqhwedt ſchwer die Nacht . -
Füuͤhlſt Du, fühlt Du, Daß das Poefie it? Bon mir! Bon mir!
Bin ich ein Hund?! Nein: Diefe Verfe find von mir!
Ah! Höre!
Sau, ein Bad von Rofenblättern,
Legt ſich Sehnſucht um mid, Sehnſucht:
Sinke, Haupt, ertrinke, Seele,
Stirb in dieſen lauen Duͤften
Und genieße die Erfüllung . . .
Wie? Hat das nicht was? Der Teufel auch: Das ift ausge-
zeichnet, fag ich Dir, mi fit!
Dann:
Um mein Haus herum
Schwirren die Fledermaͤuſe des Grams.
Zwei, ſieh, hängen am Dradenbalfen,
Grau am Grau,
Und blinzeln in den roten Lichtdunſt meiner Lampe.
Ode heißt die eine,
Bier Heißt die andre;
Die Schwirrenden pfeifen. - -
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Ich lefe mir das vor, mit leifer Stimme ſprech ichs den Buch ⸗
ſtaben nach; mir iſt es, als hörte ichs von tief unten wo her aus
Glockenmunde mit meiner Stimme; und ich fühle: Das ift gut.
Nein, ich bin feiner von den Schweren, Klebenden, in mir find
Stimmen aus der Tiefe, es ift ein Reichtum in mir. Ich habe
mehr als ihr Almofenempfänger. Ich bin einer von den grande
aumönters des Herrgotts. Ich kann mid, auftun, und es fließt
Leben in die Welt. In meiner Seele umſchließen ſich Zeugung und
Empfängnis. Wie jene Blume bin ich, die Phallus und Vulva
iftz fo ſteh ich da im Garten des HErrn und begatte mich:
Liebe dich und Löfe did),
‚Eiche did) auf und gebier dich der Welt
Aus der bebenden Lotosblume deiner Fülle!
Ich höre Die) lachen, Staatsanwalt! Lache! Lache! Spei mir
Dein Lachen ins Geficht! Ich win mich nicht einmal abwiſchen.
Ich weiß es ja, jede Zelle meines Weſen fühlt es ja: das alles
iſt früppelhaft. Ich, die erflaunliche Lilie im Garten des Herrn,
ſtoße nichts als Halbgeburten aus, ih waͤlze mich in Zeugungs⸗
wolluſt und fann nichts austragen. Und die fragmentarifchen Ban-
ferte verrecken unter dem Hohngelächter meiner Erkenntnis, daß
ich fürs Ganze impotent bin.
„Es fehlt dem Schüler an der rechten Ausdauer, feiner Ber
gabung alles das abzugewinnen, was fie zu leiften vermödhte, wenn
fie von Fleiß, Beharrlichteit, Maͤßigung unterftügt würde . . ."
Diefe Worte, nebft einigen andern, habe ich einmal von einem
Schulzeugnis weggewiſcht, aber, als wenn ic) fie auswendig ge
lernt hätte, ftehen fie in mir feſt und knarten ſich heute mir vor.
Sehr gut, Herr Doktor! Ste find ein guter Pfychologe ger
weſen. Aber, weiß Sott, ein ſchlechter Pädagoge. Warum haben
Sie mir ale die guten Dinge nicht beigebracht, Magifter Ste?
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Warum haben Sie mic ſchon auf der Schule verlumpen laffen?
War ich ein Talent, oh, Ste Halunfe, warum haben Sie mich
nicht ‚gehütet? Warum haben Sie mich verhöhnt, von fi weg-
getrieben, meinem Zorn und Trog in die Arme, daß ich nun erſt
recht auf mir beftand? Warum habt ihr mich uͤberhaupt gequält
mit eurer Robeit, eurem Dünfel, eurer Gleichgültigfeit? Warum
habt ihr meine Seele, da fie jung war, mundgefiheuert, daß fie
ewig ſchmerzende Narben Davontrug und immer zuckender, unftäter
murde? Freilich, die meiften unter euch waren nit einmal Piy-
chologen, hödhftens, daß fie inftinftmäßig ahnten, daß in mir mehr
war, als in ihnen, und daflır mußte ich geduct werben. Geduckt,
ich! Im mich hinein fraß ich einen Haß gegen alles, das nicht ich
war, meine ganze Jugend wurde ein Eitergefchmär, all mein Blut
verdarb, weil ihr mich druͤcktet!
Wie das alles auf einmal vor mir fteht. Wie ein ſchwefelgelber,
brunftrot geäderter Sonnenuntergang.
Nie, ſeit Fahren nicht, fah ich fo Mlar. Nie, feit Jahren nicht,
mar ich fo bewegt. Die, feit Jahren nicht, fühlte ich mich fo frei,
wie in Diefem jegigen Augenblicke.
Bird man hellſeheriſch durch einen großen Entſchluß? Oder —
— — bin ich endlich, endlich wieder einmal betrunfen? Dann —
— koͤnnte ich ja den großen Entſchluß wieder aufgeben?
Denn — Ruhe! Ruhe! nur noch einen Augenblick Ruhe! —
warum bat fihs in mir eingeniflet, eingegraben wie mit taufend
feuchten Klauen, daß id ein Ende machen muß? Lauf mir nicht
fort, Bewußtſein! Bleib, daß Ich mirs fage, klar, glatt, heil, daß
ich es wenigſtens einen Augenblick lang weiß. So! So! Ich habe!
Nur deshalb... Rein! Nebel! Kopffcütteln. Mübe. Trinten!
Ich laufe den ganzen Tag im Zimmer herum wie ein Tier im
Käfig. Und ich merfe, daß mich das bypnotifiert, wie einen Falit
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Das Kopfdrehen. Jetzt bin ich wunderbar ruhig. Das iſt fehr
ſchoͤn. Run weiß ich auch, warum...
Siehſt Du, Robert (hab ich Dich je Robert genannt, Du Schd+
fer?), fo ifts: Ich fühle, daß ich auch im Sumpf nicht ganz aufs
gehe. Nein, nicht einmal im Sumpf. Und doch iſt Aufgehen alles.
orin, das bleibt ſich gleich ...
Eine Weile fehlen ales gut. Ich — fühlte mid wohl und
atflimatifierte mich. Aber von dem Tage an, wo Du mit
mir ſprachſt, begann das Ziehen wieder, das Hinaufwollen. Ein
Taumel erſt. Verſe fprudelten auf, Sragment auf Fragment.
Hohes Entjuͤcken! Phoͤnix aus der Afche! Dann aus anen Höhen
herunter. Wirre Verzweiflung . . . Zudende Erkenntnis... Hin
und her. Ich win! Ich kann! ... Nein! Nein! Hund! Lump!
Mad ein Ende!... Nein! Ich habe ja die volle Seele!
Ich muß nur ein einziges Mal mit aller Kraft mich ganz faffen!...
Ad! Ich Hin mit dem Schädel gegen die Wand gerannt und habe
mir, ganz bibliſch, Die Haare ausgeriffen. Geheult und gefreifcht
in Weinen und Lachen! Unfinn! Unfinn! Mod mehr faufen!
Exce medicamentum. Vergeblich. Ich reagiere nicht mehr.
Ich habe nur noch das Efelgefühl und eine marode Sehnfucht.
Fertig, weißt Du, mas man fo fertig nennt. Hin und wieder
angenehm verrücte Anſtoͤße, aber ich fühle: die verbanfe ich auch
bloß dem ... Entſchluß.
Der macht mir Überhaupt viele Freude. Ja. Ich finde doch,
daß ich nicht übel abgehe.
Über den Geſchmack der letzten Siene fann man ja ftreiten.
Natuͤrlich. Aber mas geht das mic) an? Ich finde, daß fie aus ·
drucksvoll ift. Dem Leben die Zunge herausftreden, eurem Leben,
meine Lieben, das Pläfier müßt ihr mir fchon gönnen.
Ich bin nun mal auf die boͤſe Seite hinuͤbergerutſcht, wo die
Refpeftlofen, die Giftigen ſtehn. Wie fann da mein Geſchmack
z3ı Bierbaum II 481
ber eure fein, ihr Leute von der Harmonie? Wenn ih Demben
tohrfe, würde Die Gefhmadsbivergen noch mehr Mlaffen.
Genug! Kommen wir zu meinem Bermädtnis:
Deinen werten Leichnam, Bitte, der Anatomie. Den Defunb
uͤber Das Gehirn mögt ihr dem Conaclearchis einverleiben.
Meinen werten Feinden von der Preffe wende ich Stoff für
mindefiens zwei Notizen zu. Wer fein Hanbiwerf verficht, kauu
am Ende gar ein Feuilleton herausſchlagen.
Dir gehören meine fämtlichen Were. Wenn Du zu den Berfen
immer einen Anfang und ein Ende ſchmiedeſt, fo fommt ein ganz
netter Band Eyrif und Spruchmeisheit herans.
Sonſt hab ich wohl nichts zu vermachen.
Qualis poeta pereo!
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„Pankrazius Graunzer” und „Stilpe” erſchienen urfpränglich im
Berlage von Schufter & Eoeffler, Berlin, mit deren Einwilligung
fie in die „Sefammelten Werke“ aufgenommen wurden.
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Druf yon Mänide und Jahn in Audolſtade
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