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Full text of "Allgemeine Zeitschrift für Geschichte"

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I 


I 


AJIgemeine  Zeitschrift 


für 


Geschichte. 


Herausgegeben 


von 


Dr.  W.  Adolf  Scbniidt, 

ausserord.  Professor  der  Geschichte  an  der  UniversifKt  zu  Berlin. 


Fttnftei*  Band 

(der  Zeitschrift  ftir  Geschichtswissenschaft). 


Berlin,  1846. 

Verlag  von  Veit  und  Comp. 


*    •  » 


Heber  die  Versammlniiir  der  franxdstoelleii 

Wotabeln  Im  Jahre   ff 09 

fonehmUch  tu  bocIi  inl^MSlitoB  DocmMtot  itr 

Piriier  ArcUf  e 

VOD 

I^eepeld  Ranlie. 


Nach  dem  amerikacüschen  Kriege  befanden  sich  die  drei 
Mächte  die  ihn  hauptsächlich  geführt  hatten,  England,  Frank- 
reich und  Nordamerika  beinahe  in  gleicher  finaniielier  Ver- 
legenheit. 

In  England  war,  wenn  nicht  gradezu  die  öffentliche 
Schuld,  doch  die  Summe  der  Zinsen  die  dadurch  erforder- 
lich wurde,  um  das.Doppelte  angewachsen:  sie  überstieg 
den  ganzen  Betrag  der  bleibenden  Auflagen:  so  dass  man 
sich  für  die  regelmässigea  Kosten  der  Regierung  auf  ausser- 
ordentliche Einkünfte  angewiesen  sah,  die  aber  bei  weitem 
nicht  zureichten:  im  Jahr  1784  fielen  die  consolidirten  Stocks 
auf  55  Pc. 

Noch  bei  weitem  schlechter  standen  die  amerikanischen 
Geldangelegenheiten.  Der  Congress,  der  ansehnliche  Schul«- 
den  auigenömmen,  hatte  kein  Mittel  in  Händen,  um  ihre 
Verzinsung  zu  bewirken:  alle  seine  Vorschläge  hiezu  schei- 
terten an  den  wider  einander  laufenden  Interessen  der  ein- 
zelnen Staaten.  Daraus  erfolgte  aber,  dass  das  Papiergeld, 
das  diese  selber  erschufen,  im  ersten  Augenblick  entwer- 
thet  ward:  Gold  und  Silber  verschwanden:  der  Handel  halte 
seine  alten  Wege  verloren ,  und  konnte  noch  keine  neuen  fin^ 
den;  Congres>s,  Staaten  und  Privatleute  sahen  .sich  alle  in 
der  nemlichen  pecuniären  Hülflosigkeit. 

Allg.  Z«ilMllvill  r.  «•<cU«lil«.  T.  It4f.  1 


I 

2      Die  Veriommlung  der  französ.  Notabein  im  J.  1787, 

In  Frankreich  war  das  alte  Missverhältniss  zwischen 
Ausgabe  und  Einnahme,  das  sich  aus  den  früheren  Kriegen 
herschrieb,  ^urch  den  letzten  ungemein  vergrössert  worden. 
Eine  geschickte  Verwaltung  der  Finanzen  hatte  dem  Aus- 
bruch so  schreiender  Uebelstände  wie  in  den  beiden  an- 
dern Ländern,  glücklich  vorgebeugt,  aber  das  konnte  auch 
die  geschickteste  nicht  verhindern,  dass  nicht  die  Kosten 
der  laufenden  Jahre  den  folgenden  aufgebürdet  worden  wären: 
es  war  vielmehr  das  nothwendige  Resultat  der  Operationen 
Neckers;  als  der  Friede  zu  Stande' kam,  fand  sich  das  Ein- 
kommen der  nächsten  Jahre  schon  in  Voraus  aufgezehrt 
und  eine  unermessliche  schwebende  Schuld  war  zu  tilgen. 

Es  ist  nicht  allejn  characteristisch  für  die  drei  Länder,  wie 
man  sich  in  einem  jeden  aus  dieser  schwierigen  Lage  her- 
vorzuarbeiten suchte,  sondern  da  die  wichtigsten  Verhältnisse 
<ler  Innern  Politik  damit  zusammenhingen,  so  ist  es  für  ihre 
spätere  Entwickelung  entscheidend  geworden. 

In.  dem  Innern  von  England  war  ein  Gegensatz  der  ge- 
föhrlicbsten  Art  ausgebrochen,  zwischen  dem  König  aus  dem 
Hause  Hannover  und  derjenigen  Partei  welche  dieses  Haus 
hauptsächlich  zum  Throne  bef£lrdert  hatte,  den  Whigs  und  den 
Presbyterianern:  noc)^  einmal  machten  die  alten  Whigs  einen 
Versuch,  diu'ch  die  Vereinigung  der  ministeriellen  Macht  und 
des  Einflusses  auf  Ostindien  die  Gewalt  in  ihrer  Hand  zu 
befestigen;  allein  ihr  Vorhaben  ward  von  dem  König  durchschaut 
und  von  der  Nation  verworfen;  in  dem  jungen  Pitt,  der  sich 
auf  immer  von  ihnen  losriss,  stand  ihnen  ein  Gegner  auf, 
von  dem  ich  nicht  weiss  ob  er  sie  an  ursprünglichem  Talent 
'übertraf,  der  sich  aber  zu  einem  Standpunct  erhob,  auf  dem 
er  ihnen  überlegen  vnirde.  Sein  vornehmates  Augenmerk  rich- 
tete dieser  Staatsmann  auf  die  Herstellung  eines  Gleichge- 
wichts in  den  Finanzen.  Er  wagte  mit  kühner,  aber  tref- 
fender Berechnung,  die  ZöUe  herabzusetzen,  um  ein  grösse- 
res Einkommen  davon  zu  ziehen;  es  gelang  ihm,  den  Schleieh- 
handel  zu  erdrücken,  der  bisher  einen  so  beträchtlichen 
The9  desselben  verschlungen  hatte;  das  Geschrei  der  durch 
einzelne  neue  Auflagen  die  er  anordnete  verletzten  partieu- 


Die  V&rsmnmlung  der  framös.  Noiabeln  im  J.  1787.     3 

laren  Interessen  liess  er  sich  nicht  irren,  wenn  nur  der 
Haupigestefatspunet  gewahrt  blieb,  vorzugsweise  die  Wohl- 
habenden damit  zu  erreichen;  nachdem  er  durch  die  Arbeit 
einiger  Jahre  die  Einnahme  sogar  ein  wenig  ^kber  die  Ausgabe 
gebracht,  s6l»ritt  er  zu  der  ^grossen  Maassregei  die  dem  Credit 
^uf  immer  eine  feste  Grundlage  geben  soHte,  und  in  der 
That  gegeben  hat,  der  Festsetzung  des  Tilgungsfonds.  Dm 
Tag,  an  welchem  er  damit  durchdrang,  bezeichnet  er  mit 
Recht  als  den,  „wo  alles  Zagen  aufhöre  und  sich  die  Aus- 
sicht mit  fiofnung  und  Freude  erfülle  ^^  Es  war  zugleich 
der  Tag,  der  das  neue  System  der  Regierung  befestigte,  als 
dessen  Urheber  Pitt  betrachtet  werden  muss ,  ein  System  das 
in  den  schwersten  Stürmen  ausgehalten  hat,  die  je  ein 
Jahrhundert  erschüttert  haben. 

Indessen  erhob  sich  in  den  vereinigten  Staaten  aus  der 
allgemeinen,  zugleich  beschämenden  und  gefährlichen  Verwir- 
rung, worin  man  sich  sah,  die  Ueberzeugung  von  der  Nöth- 
wendigkeit,  eine  Unionsregierung  von  einiger  Kraft  zu  errich- 
ten. Die  einzdnen  Legislaturen  entschlossen  sich  endlich, 
ihr  Recht,  die  Einfuhr  der  fremden  Waaren  zu  besteuern,  dem 
Congresse  aller  Staaten  abzutreten.  Dieser  finanzi^e  Moment, 
der  dem  dringendsten  Bedürfhiss  entsprach,  wurde  die 
Grundlage  der  Staatsgewalt  und  Verfassung  die  nun  dort 
in  weiterer  Bildung  emporkamen. 

Diesseit  und  jenseit  des  Weltmeers  rief  die  Oefahr  vor 
Zerrüttung  und  Verfall  die  staatbildenden  Kräfte  auf  und 
führte  zur  Begründung  von  Einheit  und  Recht :  Männer  von 
Genius  und  grossem  Sinne  nahmen  sich  der  allgemeinen 
Dinge  an* 

Nach  grossen  Kriegen  wird  sich  immer,  und  zwar  f&fst  In 
demselben  Maasse  als  die  dadurch  verursachte  Eraohütlemng 
mächtig  und  durchgreifend  gewesen  ist,  die  Tbätigkelt  auf 
die  inii(dren  Verhältnisse  wenden;  sie  fordert  eine  tdcht  min- 
dere geistige  Kraft  und  vieUeidit  eine  noch  anhaltendere  An* 
sirengung  als  der  Krieg  sebst. 

Wenden  wir  denBUok  nadiFrankreich,  so  nahm  dort  die  Be- 
wegung der  Geister  die  Aufmerksamkeit  beinahe  noeh  mehr 


4     ßU  Versammlung  der  fran%ös.  Notabein  im  J.  i787. 

in  Anspruch  als  die  finanzielle  Schwierigkeit.  In  dem  einst 
so  gehorsamen  Königreich'  hatte  sich  eine  Opposition  der 
öffentlichen  Meinung  erhoben,  welche  Religion',  politisches 
und  sociales  Leben,  innere  und  äussere  Staatsverwaltung 
zugleich  ümfasste,  der  bestehenden  Oi*dnung  der  Dinge  gerade 
ihr  Gegentheil  als  ein  zu  erreichendes  Ideal  vorhielt,  und 
durch  den  Krieg,  der  aus  einer  ihr  verwandten  Sinnes  weise 
entsprungen  war',  Bestätigung  und  Aüsehn  gewonnen  hatte. 
Noch  war  sie  nicht  in  einer  durch  die  Gesetze  anerkannten 
Berührung  mit  der  Verwaltung  und  den  Angelegenheiten  4es 
Staates :  aber  von  Jahr  zu  Jahr  gewaltiger  anbrausend  strebte 
sie  darnach  auf.  ^  v^ 

Man  hätte  glauben  sollen,  die  Regierung  von'l^fankreioh, 
welcher  die  Gefahr  die  darin  für  sie  lag,  nicht  verborgen 
seyn  konnte,  werde  den  Frieden  benutzen,  um  die  unläug- 
baren  Uebelstände.  zu  beseitigen,  die  dieser  Gesinnung  ihre 
Nahrung  gaben;  -^  eben  wenn  sie  Hand  anlegte,  ihre  Fi- 
nanzen in  Ordnung  zu  bringen,  so  bot  sich  ihr  Gelegenheit 
genug  dar,  die  wirklich  gegründeten  Beschwerden  abzustel- 
len, und  die  Veränderungen  vorzunehmen  die  man  mit 
Recht  forderte,  ihr  ganzes  System  vielleicht  zu  modificiren, 
aber  zu  befestigen.  Es  Hess  sich  erwarten,  sie  würde  diess 
uin  ^0  eher  durchführen,  da  sie  noch  nicht  mit  populären 
Stürmen  zu  kämpfen  hatte,  sondern  eine  Gewalt  zu  besitzen 
schien,  wo  ihr  Wort  und  Wille  entscheiden  konnte. 

Allein  einmal  müssen  wir  bemerken,  dass  die  alte  fran- 
zösische Regierung  doch  so  vollkommen  unumschränkt  nicht 
war,  wie  sie  erschien. 

Zuvörderst  setzte  sich  ihr  in  einigen  der  wichtigsten 
Provinzen  eine  in  dem  Sinne  der  alten  Zeiten  ganz  gut  or- 
ganisirte  ständische  Verfassung  entgegen,  die  hie  und  da  so- 
gar eine  sehr- schroffe  Aussenseite  hatte;  z.  B.  in  der  Bre^ 
tagne,  wo  man  einen  förmlichen  Contract  mit  den  CU»nmis- 
sarien  der  Regierung  zu  schliessen  pflegte;  bei  der  näch- 
sten Zusammenkunft  untersuchte  man  alle  Mal  zuerst,  *  ob 
demselben  auch  nicht  entgegengehandelt  worden  sey. 

Ferner  hielt  der  Glerus  von  Frankreich  den  Grundsatz 


Die  Versammlung  der  franj&ös,  Notabetn  im  J.  1787.     5 

aafirecht,  dass  die  geistlichen  Güter  ein  ausscbliessendes  Be- 
sitzthum  der  allgemeinen  Kirche  seyen,  an  die  dem  Staat 
kein  anderes  Recht  zustehe,  als  das,  was  ihm  von  den  kirch- 
lichen Gewalten  selbst  eingeräumt  werde;  die  Versammlun- 
gen der  französischen  Geistlichkeit,  sowohl  die  provinciellen 
als  die  allgemeinen,  wurden  in  den  bestimmten  Zwischen- 
räumen regelmässig  gehalten;  noch  hatten  sie  von  ihren 
althergebrachten  Gerechtsamen  keines  aufgegeben;  dass  sie 
ihren.  Beitrag  zu  den  Staatslasten  von  Zeit  zu  Zeit  unter 
dem  Titel  eines  Don  gratuit  zu  bewilligen  hatten,  verschafiFtc 
ihnen  dem  Staate  gegenüber,  der  denselben  weder  entbehren 
konnte  noch  verzögern  lassen  mochte,  einen  nicht  gerin- 
gen  Grad  von  Selbständigkeit. 

Endlich  die  Parlamente,  wie  von  jeher  so  noch  immer 
hauptsächlich  Gerichtshöfe,  aber  von  Anfang  an,  zunächst 
zum  Behuf  eines  gesetzlichen  Widerstandes  gegen  die  üeber- 
griffe  von  Rom,  mit  politischen  Befugnissen  bekleidet, 
waren,  von  alten  Ständeversammlungen  und  einigen  mil- 
den Königen  begünstigt,  im  Laufe  der  Zeit  zum  Rechte  einer 
Revision  königlicher  Edicte,  unter  dem  Titel  der  Registrirung, 
aufgestiegen.  Die  Grenzen  ihrer  Gewalt  mochten  streitig 
seyn:  diese  selbst  hatte  sich  durch  grosse  Thatsachen  fest-» 
gesetzt.  Verdankte  doch  das  Haus  Bourbon  dem  Ausspruch 
der  Parlamente  über  die  angefochtene  Erbfolge  seine  Thron- 
besteigung. Nach  dem  Tode  des  mächtigsten  Böurbons  der 
Je  regiert,  Ludwigs  XIV,  cassirten  sie  dessen  Testament, 
und  ernannten  den  Regenten.  Ihnen  hauptsächlich  war  es 
zuzuschreiben j  dass  die  Bulle  Unigenitus  in  Frankreich  nicht 
zu  dem  Ansehen  gelangte  das  ihr  zugedacht  war;  sie 
haben  das  Meiste  zum  Sturze  der  Jesuiten  beigetragen.  In 
diesen  geistlichen  Streitigkeiten  geschah  es,  dass  die  ver- 
schiedenen Höfe  sich  zu  einer  grossen  Genossenschaft  ver- 
einigten. Nachdem  Ludwig  XV  in  seinen  letzten  Jahren  den 
Versuch  gemacht  ihre  Verfassung  zu  sprengen,  begann  Lud- 
wig XVI  seine  Regierung  mit  einer  Wiederherstellung  der- 
selben:  was  ihnen  ein  erhöhtes  Bewusstseyn   ihrer  Unent- 


6     Die  Versammlung  der  frannös.  Notabein  im  J.  1787, 

behrlichkeit  gab,  so  dass  sie  jeder  Beschränkung  spotteten, 
die  man  ihnen  darnach  auflegen  wollte. 

Darin  lag  in  der  That  der  Fehler  der  alten  Regierung 
nicht,  dass  sie,  den  geltenden  Formen  nach,  .zu  unumschränkt 
gewesen  wäre:  bei  jedem  aussergewi^hnlichen  Schritte  den 
sie  wagt,  finden  wir  sie  im  Kampfe  mit  den  mächtigen  sie 
umgebenden  Körperschaften:  sie  weiss  denselben  häufig 
nur  durch  Gewaltsamkeit  zu  entscheiden. 

Dazu  kam  nun  aber,  dass  sie  in  sich  selbst  nicht  die 
Stätigkeit  und  Energie  entwickelte,  welche  die  Regierung 
eines  grossen  Landes  haben  muss.  Die  Missbriluche  in  den 
untern  Kreisen  der  Verwaltung  waren  ohne  Zahl  und  Je- 
dermann kannte  sie.  In  den  obern  Regionen  fehlte  es  nicht 
allein  an  leitendem  Geist  und  Festigkeit  der  Gesichtspuncte : 
sondern  es  machte  sich  auch  ein  Einfluss  geltend,  der  nur 
auf  persönlichen  Interessen  beruhte')  der  Hof,  welcher  die 
Königin  umgab,  und  der  sich  lange  Zeit  nur  mit  Vergnü- 
gungen beschäftigt,  und  niit  dem  Antheil  an  der  Gnade, 
welche  ihm  der  erste  Minister  Maurepas  zufliessen  liess, 
begnügt  hatte,  fühlte  nach  dessen  Tode,  was  er  auch  in  wichti- 
gernDingen  erreichen  konnte;  dagegen  regte  sich  sofort  eine 
der  Königin  feindselige  Partei;  entgegengesetzte  Cabalen 
brachten  Alles  in  ein  unaufhörliches  Hinundwiedersphwanken. 

Wie  es  dann  herging,  —  auch  ohne  dass  man  mit  den 
grossen  Gorporationen  in  Streit  ^ralhen  wäre,  —  davon 
giebt  der  damalige  Augenblick  eine  Probe. 

Man  verbarg  sich  nicht,  dass  in  dem  verworrenen  Zu- 
stand  der  Finanzen  eine  ernstliche  Grefahr  liege ,  und  dass  zur 
Herstellung  des  Gleichgewichts  in  denselben  etwas  Durch- 
greifendes geschehen  müsse. 

Im  Frühjahr  1783  ward  eine  Finanzcommission  einge- 
richtet, bestehend  aus  dem  Generalcontroleur,  dem  Gross- 
siegelbewahrer, und  dem  Minister  der  auswärtigen  Angele* 
genheiten,  dem  Grafen  Vergennes,  welcher  nach  Maur 
repas  Tode  das  Vertrauen  |des  Publifi^ums  und  des  Königs 
noch  am  meisten  besass.  Von  dieser  Commissipn  sollten 
alle  Ausgaben  der  verschiedenen  Ministerien  untersucht  und 


Die  Versammhmg  der  fran%ä$,  NotabetnimJ.  1787.      7 

geprüft  werden:  GrafVergeimes  ward  mit  dem  Vorsitz  darin 
betraut.  Seine  Freunde  warnten  ibn,  sich  damit  zu  be-* 
fassen;  aber  das  Ueberge wicht,  das  er  auf  diese  Weise  in 
der  ganzen  Staatsverwaltung  erhielt,  vielleicht  auch  andere 
Gründe,  zu  denen  man  sich  noch  weniger  bekennen  mag, 
bewogen  ihn  die  Sache  zu  unternehmen. 

Yergennes,  dem  in  seinem  Leben  vieles  geglückt  war, 
z.  B.  die  Durchführung  der  schwedischen  Revolution  im 
Jahre  1772,  die  man  wenigstens  in  Frankreich  ihm  zuschrieb, 
obwohl  Gustav  Ill.es  nicht  Wort  haben  will,  hielt  sieh  für 
stark  und  einilussreich  genug,  um  auch  in  dem  Innern 
von  Frankreich  eine  der  Monarchie  vortheilhafte  Reform  her- 
vorzubringen. Im  Herbst  1783  erliess  er  ein  Edict,  durch 
welches  die  Generalpacht  aufgehoben  und  dafür  eine  Regie 
unter  königlicher  Administration  eingeführt  werden  sollte. 

'  Die  Generalpacht  umfasste  damals  das  Monopol  mit  Salz 
und  Tabak,  inneren  und  äusseren  Zoll,  und  die  Eingangs- 
Steuer  von  Paris,  die  zugleich  Zoll  und  Accise  war.  Indem 
Vergennes  sie  abstellte,  wollte  er  sich  vor  allem  freie  Bahn 
für  die  weitern  Veränderungen  machen ,  die  er  besonders  in 
Hinsicht  des  Zolles  beabsichtigte;  zugleich  aber  hoffte  er 
auch,  den  königlichen  Gassen  einen  unmittelbaren  Vortheil  zu 
verschaffen.  Man  hat  denselben  auf  60  Millionen  angeschla- 
gen, und  zwar  haben  dies  Leute  gethan  die  kein  per- 
sönliches Verhältniss  zu  Vergennes  hatten;  noch  höher  be- 
rechneten sie  die  Erleichterung  die  dem  Volke  durch  diese 
Maassregel  zu  Theil  werdea  durfte. 

Allein  Vergennes  hatte  seine  Kräfte  bei  weitem  über- 
schätzt. Sein  ganzes  System  brachte  ihm  nnr  Widerwillen 
und  Hass  ein.  Die  von  jener  Commission  ausgeschlossenen 
Minister  beschwerten  sich,  dass  ein  ihnen  Gleichstehender 
eine  Art  von  Vormundschaft  Über  siei  ausüben  wolle;. sie 
sahen  darin  eine  Belästigung  und  einen  Schimpf.  Der  innere 
Hof  war  ohnehin  über  die  Zurückhaltung  und  Ungefäl- 
ligkeit  des  damaligen  Gontroleurs,  Ormesson,  missver- 
g^ügt.  Die  Generalpächter,  denen  ihre  Reichthümer  und 
die  darauf  gegründeten  Famitienverbindungen   alle  Thüreo 


8      Die  VerHmmhng  der  franzö$.  Notabein  im  J.  i787. 

oröflheten,  fanden  mit  ihren  Klagen  Gehör  und  Wiederhall  Das 
Unglück  wollte,  dass  die  Diseontocasse,  sey  es  nun  weil  sie 
nicht  gehörig  beaufsichtigt  war,  oder  weU  sich  böser  Wille 
einmischte,  als  ein  plötzlich  erregter  Sehrecken  ihr  eine  un- 
erwartete Anzahl  voq  Papieren  die  sie  ausgegeben  zurück- 
führte^ diese  nicht  realisiren  konnte.  Die  ganze  Finanz- 
verwaltung gerieth  in  Misscredit:  und  nach  14  Tagen  sah 
sich  Vergennes  genöthigt,  die  Generalpacht  zu  erneuem.*) 
Wollte  er  seine  Stelle  behaupten,  so  musste  er  sich  die  Ent- 
fernung des  Generalcontroleurs  gefallen  lassen  der  bisher 
mit  ihm  gearbeitet,  und  einen  neuen  annehmen,  den  die  all* 
gemeine  Stimme  des  Hofes  bezeichnete. 

Dies  war  Herr  von  Calonne ,  damals  Intendant  von  Lille. 
Er  hatte  in  dem  Processi  gegen  La  Chalotais  —  seiner  Zeit 
einem  in  aller  Welt  besprochenen  Rechtshandel  —  eine  sehr 
^zweideutige  Rolle  gespielt,  die  man  noch  nicht  vergessen; 
auch  sein  eigenes  Vermögen  nicht  eben  sorgfältig  verwal- 
tet ;  aber  darüber  sah  man  hinweg  3  seitdem  hatte  er  sich 
in  der  Administration  in  den  Ruf  von.  Geschicklichkeit  und 
Arbeitsamkeit  gesetzt:  der  letztern  rühmt  er  sich  selbst 
mit.yielem  Nachdruck ,  und  die  erste  wird  ihm  Niemand  ab- 
sprechen, der  seine  Schriften  liest.  Sie  zeigen  eine  merk- 
würdige Gewandtheit  und  Dreistigkeit  des  Geistes;  eine  auch 
unter  Franzosen  ungewöhnlich  leichte  Auffassung  und  flüs- 
sige Darstellung;  freilich  ohne  alle  Tiefe  und  ohne  den 
Ernst,  welcher  es  sich  angelegen  seyn  lässt,  entgegenste- 
hende Schwierigkeiten  gründlich  zu  heben.  Von  den  gedruck- 
ten sind  die,  welche  sich  auf  seine  Verwaltung  beziehen, 
nicht  ohne  literarisches  Verdienst.  So  wusste  er  sich  auch 
im  Umgang  und  persönlichen  Verkehr  geltend  zu  machen. 
Er  trug  gern  gute  Grundsätze,  oder  die  glänzenden  alige- 
meinen halbwahren  l^een  vor,  die  nach  der  hohem  Ge.i$ell- 


*)  Diese  Dinge  verdienten  eine  viel  genauere  Erörterung ,  als 
ihnen  zu  Theil  geworden.  Auch  bei  Joseph  Droz  dürfte  man  sie 
nicht  suchen.  So  wohlgemeint  und  durchgearbeitet  dessen  Buch 
auch  ist,  SQ  beruht  es  doch  nicht  auf  Nacbforscbungen  wie  sie 
für  Angelegenheiten  dieser  Art  erforderlich  wären. 


Die  VerMommhmg  der  ftnmön,  NoiaMn  im  J.  1787.     9 

Schaft  emportauchien ;  mit  der  äussern  dSUe  eines  Hof- 
manns verband  er  einen  gewissen  Scharfsinn  in  dem  Ergrei- 
fen des  Unterscheidenden  und  der  kleinen  Beziehungep; 
Lebhaftigkeit  nnd  Anmuth  des  Ausdrucks.  Wer  es  leicht  mit 
den  Dingen  nahm,  ward  bald  überredet,  dass  Niemand  sie 
besser  verstehe  als  Calonne;  unterrichtete  Männer  hielten 
ihn  jedoch  von  seinem  ersten  Auftreten  an  ittr  einen  Empi« 
riker  und  Charlatan. 

Indem  Washington  und  Pitt  alle  Kräfte  des  ernsten,  sei- 
nes Gegenstandes  mächtigen  Geistes  und  alle  Energie  eines 
ehrenhaften  und  unerschütterlichen  Characters  entwickelten, 
um  jeder  an  seiner  Stelle ,  der  eine  in  Amerika,  der  andere 
in  England,  eine  feste,  politisch  und  finanziell  haltbare  Ord- 
nung der  Dinge  zu  gründen  ^  vertraute  man  die  Geschicke 
von  Frankreich  einem  Manne  wie  diesem  an,  ohne  sittliche 
Haltung,  dessen  vornehmstes  Verdienst  in  einer  gewandten 
Gefügigkeit  bestand. 

Mit  Recht  würden  die  verlacht  werden,  die  noch  heute 
von  Verbrechen  Ludwigs  XVI  reden  wollten:  moralisch 
ist  das  Andenken  das  er  hinterlassen  hat  fleckenlos.  Sollte 
man  aber  den  Fehler  bezeichnen,  der  ihm  am  verderblich- 
sten geworden  ist,  so  liegt  derselbe  hier  zu  Tage.  Eine  der 
wichtigsten,^  freilich  auch  schwersten  Obliegenheiten  eines 
Fürsten,  seine  Gewalt  zuverlässigen  und  fähigen  Männern 
anzuvertrauen,  wusste  Ludwig  XVI,  im  Gedränge  der  Intri- 
gue  um  ihn  her,  nicht  zu  verwalten. 

Als  Calonne  seinen  Eid  leistete,  was  noch  mit  einer  ge- 
wissen. Gerimonie  vor  der  Cour  des  aides  geschah,  be- 
zeichnete er  das  Vorhaben,  das  so  eben  im  Gange  ge- 
wesen,  die  Generalpacht  abzuschaffen,  als  das  Werk  einer 
strafbaren  Unwissenheit.  Er  seinerseits  War  entschlossen, 
sich  an  die  grossen  Geldbesitzer  anzuschliesseii ,  mit  deren 
Hülfe  er  alle  Schwierigkeiten  zu  beseitigen  gedachte. 

Eine  kurz  vorher  versuchte  Anleihe  war  nicht  zu  Stande 
gekommen.  Calonne  machte  so  vortheilhafte  Bedingungen 
und  wurde  so  gut  unterstützt,  dass  er  ohne  Verzug  100  Mil» 


M     EHe  Veriommlmg  der  framö$.  Notabeb^  im  J.  1787. 

lioDfii  zusamm^raehte,  die  zur  Tilgung  der  Schulden  der 
Marine  bestimmt  waren. 

Hierauf  schien  ihm  nichts  unmöglich:  er  verwarf  aus« 
drttcklich  die  mürrische  Zurückhaltung  seiner  Vorgänger} 
er  trug  kein  Bedenken,  den  Wünschen  der  hochgestellte- 
sten Personen,  namentlich  der  Königin  und  der  Prinzen, 
mit  freigebiger  Hand  entgegenzukammen. 

Wohl  wahr,  dass  man  dies  sehr  übertrieben  hat:  von  den 
geheimen  Ausgaben,  die  in  dem  rotben  Buch  erscheinen, 
lässt  sich  der  Ruin  der  französischen  Finanzen  nicht' herlei- 
ten;  aber  unläugbar  ist  es  auch,  dass  bei  der  misstiohen 
Lage  derselben,  welche  Ersparnisse  erheischte,  Vergeudungen 
>eder  Art  sehr  zur  Unzeit  geschahen,  und  nur  beitrugen 
die  aufgeregte  öffentlich^  Meinung  vollends  zu  erbittern. 

Jener  Ankauf  von  St.  Cloud ,  —  hinler  dem  Bücken  des 
Königs  begonnen,  von  diesem  ungern  gut  geheissen^  bei  dem 
Parlamente  nur  mit  Mühe  durchgesetzt,  so  dass  Galonne  selibst 
seine  Theilnahme  daran  zu  verbergen  suchte, —  kam  der 
Königin,  in  der  der  Wunsch  es  zu  besitzen  wahrscheinlich' 
erst  von  Andern  erregt  worden,  theuer  zu  stehn.  Dinge 
solcheir  Art  und  der  vorausgesetzte  östreichische  Einüuss  in 
diea  sUiissern  Angelegenbeilen  entfremdeten  ihr  zuerst  die  Ge- 
müther. Sie  hatte  keine  Ahnung  davon.  Von  einem  Einzug  in 
Paris,  wobei  sie  zum  ersten  Mal  die  Ehren  einer  gekrön^ 
ten  Königin  genpss,  hatte  sie  sich  Vergnügen  und  Ge- 
nugthuung  versprochen:  sie  sah  sijch  aber  schmerzlich  ge~ 
täuscht;  die  unzählbare  Menge  empfieng  sie  schweigend,  an 
den  öfifentlichen  Orten  sprach  man  nicht  vne  sich  geziemt 
von  ihr. 

Calpnne  blieb  aber  nicht  bei  Begünstigungen  des  Hofes 
stehn:  wir  finden  einen  Bureaudief  angegeben,  dessen  Bur 
raaukost^ner  aus  Gunst  um  mehr  als  das.  zehnfache  vergrösr 
sert  haben  sollte. 

In  der  Verschwendung  sah  Galonne  ein  Mittel  den  Cre- 
dit zu  behaiq)ten,  worauf  ihm  alles  ankam.  Er  rühmt  sich, 
selbst,  trot&  dem  dass  der  Credit  dec  ihm  gesßtzmässig  zur 
gestandenen  Anleiben  sich  nur  auf  300  Millionen  belaufen,  es 


• 

d^imocli  damil  möglich  gemacht  zu  haben,  mehr  als  eine 
Milliarde  ausserordentlicher  Ausgaben  zu  bestreiten.*)  Unter 
andiern  verschmähte  er  nicht,  die  Geldkräfte  des  Staates  mit 
einem  verderblichen  Actienschwindel  in  Berührung  zu  hrtn* 
gen.  Bald  sab  er  sich  in  der  Lage ,  in  welcher  sich  der  Vor- 
steher eines  Handelshauses  befindet,  der  den  herannahenden 
9aiik^rutt  noch  durch  gewagte  Combinationen  zu  verzögern 
sucht,  obgleich  er  überzeugt  ist  dass  dieser  bei  der  näch- 
sten Gelegenheit  nur  um  so  verderblicher  ausbrechen  wird. 

Was  in  Calonne  das  Bewusstseyn  hervorbrachte,  dass 
es  so  nicht  weiter  gehen  könne,  war  zunächst  ein  persön- 
liches Missverhältniss. 

Bei  überhandnehmender  Centralisation ,  wo  dann  die 
veirschiedenen  Zweige  der  Gewalt  in  ihren  Vorstehern  reprä- 
sentirt  sitid,  kann  es  nicht  anders  seyn  als  dass  die  wioh- 
Ijgfilt^n  Angelegenheiten  zuweilen  bein|be  wie  persönliche 
behandelt  werden. 

Schon  immer  hatte  es  in  Frankreich  als  eine  Maxime 
gegolten,  darauf  zu  sehen  dass  zwischen  dem  jedesmaligen 
Generalcottrpleur  und  dem  ersten  Präsidenten  des  Paria* 
meftts  ein  gutes  Verhältniss  bestehe.  Es  lag  am  Tage,  dass 
der  erste  nicht  einen  Schritt  thun  konnte  ohne  den  letztern. 
Zwischen  G^lonpe  nun  und  dem  damaligen  ersten  Präsidenten, 
d*Aligre ,  hatte  eine  Zeit  lang  ziemlich  gutes  Vernehmen  ob- 
gewaltet; schon  im  December  1785  aber  bei  einer  neuen 
Anleihe  Calonnes  zeigte  sich  der  Präsident  unbequem;  im 
Jiahre  1786  br-aoh  offene  Feindschaft  zwischen  ihnen  aus. 
Calonne  liess  den  Präsidenten  an  eine  Forderung  von  50000 
Frankep  erinnern,  welche  der  königliche  Schatz  an  ihn  habe: 


*)  Memoire  fiir  die  Königin.  J'etonnerai,  mais  je  ne  dirai  que 
ce  qui  est  prouv6  p^r  les  ötats  reinis  au  roi,  eo  disaol  qoe  dans 
Taspace  de  troUi  aonees  j'ai  trouv^  moyen  de  solder  plus  d'ua 
miiliiird  4^  dettei;  et  de  ct«pepses  e^traordinaires.  II  est  Evident 
qua  je  n'ai  pu  y  paryenir  que  par  les  ressources  du  credit;  Celles 
qni  ont  et^  ostensibles,  c'^st  k  dire  l^s  emprunts  pgbUcs,  n*ont 
produit  que  300  millionQ:  les  autres  ont  £t^  beaucoup  plus  consi« 
d£rables. 


12.     Die  Versammlung  der  firanzöa.  Notabeh  im  J,  i7S7. 

• 

er  bemdrkte/ dass  von  einer  lebenslänglichen  Rente  die  der- 
selbe geno«s,  das  ,Ciäpital  niemals  gezahlt  worden  sey; .  D'AIigre 
leitete  diese  Erinnerung  nicht  etwa  von  amtlicher  Gewissen- 
haftigkeit her:  er  erblickte  darin  nur  die  Absicht  ihn  zu  be- 
leidigen. Er  war  sehr  jung  zu  dieser  Stelle  gekommen ,  hatte 
schon  manchen  Generalcontroleur  abtreten  sehen  und  meinte 
auch  Calonne  noch  zu  überdauern.  Die  Feinde  eines  jeden 
sammelten  sich  um  den  Andern;  und  um.  so  offener  lo- 
derte der  Hass  zu  beiden  Seiten  auf.  Der  Siegelbewahrer 
und  Canzlerj  Miroroesnil.,  ein  guter  alter  Mann,  suchte  die 
Sache  beizulegen  und  wandte  sich  an  den  PräsidenCen  mit 
der  Ermahnung ,  nicht  dem  Dienste  des  Königs  zu  schaden, 
indem  er  einen  Minister  des  Königs  bekämpfe*);  allein  er 
richtete  damit  nur  wenig  aus.  Von  dem  Widerwillen  des 
Präsidenten  ergriffen,  wollte  <las  Parlament  nicht  so  lange 
warten,  bis  etwa  (^lonne  Anträge  mache,  die  man  dann 
verwerfen  könne,  sondern  vielmehr  einen  Angriff  gegen  ihn 
richten.  Der  Gedanke  war,  sich  die  Rentencontracte  vor- 
legen zu  lassen,  welche  auf  den  Grund  der  letzten  Anleihen 
seit  Necker  abgeschlossen  worden  waren,  und  diejenigen 
welche  den  Belauf  derselben  übersteigen  würden,  flir  null 
und  nichtig  zu  erklären;  auch  in  dem  Ministerium  hatte 
Calonne  Feinde,  welche  dies  Vorhaben  insgeheim  unterstützten ; 
es  bereitete  sich  ein  Sturm  gegen  ihn  vor,  dem  er  hätte 
unterliegen  müssen. 

Unter  diesen  Umständen  durfte  Calonne  nicht  hoffen, 
dass  man  ihm  eine  neue  Anleihe  gewähren  würde,  zumal 
da  er  jetzt  nicht  mehr  sagen  konnte,  dass  er  alte  Kriegs-' 
schulden  damit  decken  wolle:  hätte  er  es  in  Antrag  gebracht, 


*)  Schreiben  von  Miromesnil  an  Louis  XVI,  5  Aug,  U  ne  faut 
pas  se  dissimuler  qu'il  y  a  entre  Hr.  le  premier  pr^sident  et  Mr. 
1e  contr6leur  g^nöral  unjs  division  qu'il  n*est  gueres  possible  de 
se  flatter  de  faire  cesser.  Cela  seroit  moins  difficile  du  c6t6  de 
Mr*  le  contrdleur  g6n6ral,  outre  que  je  le  crois  d'nn  caractere' 
assez  facile,  qiioique  tout  vif,  —  s4l  croyoit  que  celui-ci  serviroit 
son  ministire.  Von  Aligre  wurden  200,000  Livres  gefordert.  Er 
sagte,  er  habe  geglaubt  sie  seyen  langst  bezahlt. 


Die  Versammlung  der  f^amös.  Notabeln  tm  J:  i787,     13 

so  hätte  er  damit  selber  das  Zeichen  zum  Angriff  gegen 
sieh  gegeben.  . 

Aber  dahin  war  es  nun  gekommen,  dass  er  ohne  eine 
solche  Aushülfe  die  Finanzen  nicht  weiter  verwalte»  konnte« 
Er  sah  sich  am  Ende:   alle  seine  Mittel  waren  erschöpft. 

Es  war  nicht  freier  Wille,  vorbereiteter  Plan,  sondern 
die  bittere  Nothwendigkeit  und  Bedrängniss  des  Augenblicks, 
was  Calonne  nöthigte,  auf  eine  andere  Auskunft  zu  denken. 

Und  da  fksste  er  nun  den  Gedanken,  sich  den  Ideen 
der  Opposition  anzunähern,  und  mit  ihnen  im  Bunde  eine 
durchgreifende  Reform  des  Finanzwesens  vorzunehmen. 

Von  alleü  Ideen  aber  die  in  den  letzten  Jahren  in  Um> 
lauf  gekommen,  'hatte  ihm  auf  seinem  Standpunct  keine 
mehr  eingeleuchtet,  als  diej  däss  der  Fehler  der  Verfassung 
von  I^rankreich  in  dem  Mangel  an  Zusammenhang  zwischen 
den  verschiedenen  Theilen  desselbeoi  liege;  in  den  Uebei^ 
bleibseln  der  Selbständigkeit  der  Provinzen ,  so  dass  man 
der  Monarchie  noch  allzusehr  ansehe  wie  sie  sich  allmählig 
aus  denselben  zusammengesetzt  habe"*);  er  stinoimte  Denen 
bei,  die  in  einer  allgemeinen  Uniformität  das  Heilmittel  aller 
Uebelstände  sahen  an  denen  man  leide.  Dies  grosse.  Prin« 
zip,  meinte  er,  müsse  man  auf  alle  Zweige  anwenden  und 
es  werde  überall  einen  rettenden  Einfluss  ausüben.  Bei  der 
Vertheilung  der  öffentUchen  Lasten  müsse  man  die  bis» 
herige  Ungleichheit  verbannen:  den  Ackerbau,  den  Handel 
und  das  Gewerbe  von  den  Fesseln  los  machen  die  noch 
drückender  seyen  als  alle  Abgaben:  auch  die  königlichen 
Domänen  müsse  man  demselben  •  unterwerfen  wenn  man 
Vbrth0il'  von  ihnen  haben  wolle.  Es  liegt  am  Tage ,  dass 
die  finanzielle  Reform,  so  gefas$i,  eine  Reform  des  ganzen 
Staates  in- sich  schloss;  aber  Calonne  erschrak  nicht  davor:  er 


*)  Memoire  für  die  Königin:  La  bigarrure,  Tincohörence  et  le 
d6faut  d'ensemble  de  toutes  les  parties  est  on  vice  radical  de 
la  Constitution.  —  Le  principe  d'uniformite  peut  seul  6carter 
toiHes.les  d^cuMs  de  detail  et  revivifier  leoorps  entier  de  la  mo- 
narchie. 


14     Die  Versammhmg  der  fmn»ös.  IfotaJMnim  X  i7S7. 

meinte,  die  bemerkenswerthestö  Epoche  der  Monarcht«  werde 
damit  anbrechen*). 

Da  erhob  sich  nur  die  vorläufige  Frage,  wie  ein  Hann, 
der  keine  Anleihe  mehr  durcfazubringen  vermochte,  sich  zu- 
trauen konnte,  eine  so  universale  Umwandlung  ins  Weii 
zu  richten.  So  stand  es  nicht,  dass  es  dabei  nur  auf  eine 
Reihe  von  Edicten  angekommen  wäre:  die  Parlamente,  von 
denen  sie  registrirt  werden  mussten,  wenn  sie  gesetzliche 
Kraft  haben  sollten,  hätten  sich  dazu  unter  keiner  Bedingung 
der  Weit  verstanden. 

Galonne  fühlte,  dass  er  eines  grossen  Beistandes  und  einer 
solennen  Form,  in  der  ihm  ein  solcher  geleistet  würde,  be- 
durfte ,  um  den  Parlamenten  Rücksicht  einzuflössen,  von  ihnen 
unabhängig  zu  werden,  und  den  Widerstand  zu  brechen 
der  sich  von  andern  Seiten  gegen  ihn  erheben  musste. 

Dazu  jedoch  was^sonst  am  nächsten  lag,  konnte  er  sich, 
wie  sich  denken  lässt,  nicht  entschliessen,  auf  die  Berufung 
allgemeiner  Reichsstände  anzutragen,  einmal  weil  diese  eine 
Autorität  in  Anspruch  nahmen,  welche  der  königlichen  nach- 
theilig werden  musste,  sodann  weil  bei  ihrer  Zusatnmen- 
Setzung  im  alten  Styl  sich  für  Reformentwürfe  wie  er  sie 
hegte,  wahrhaftig  keine  Gunst  erwarten  Hess. 

Nun  aber  hatte  man  in  den  letzten  Zeiten  der  Valois 
und  den  ersten  der  Bourbons  zuweilen  noch  andre  Ver- 
sammlungen berufen,  die  so  grosse  Ansprüche  nicht  gemacht 
und  der  Regierung  damals  gute  Dienste  geleistet  hatten. 
Als  ihr  Erfinder  ist  wohl  Heinrich  II  anzusehen,  der  im 
Jahre  1558  statt  der  drei  Stände  nur  einige  Hif^lieder  aus 
ihnen,  die  er  selber  ernannte,  berief,  und  djesen  königliche 
RUthe  hinzufügte.  Man  nannte  sie  die  Notabeln^  Zuweilen, 
wie  unter  Heinrich  lY,  hatten  sie  neue  Auflagen  gebilligt, 
wenn  «gleich  damals  nicht  gerade  im  Sinne  SuUys;  zuweilen, 
z.  B.  im  Jahre  1617,  sich  mit  grosser  Entschiedenheit  gegen 
die  obwaltenden  Missbräuche  erklärt,  als  gegen  den  Verkauf 


*)  Gelte  grande  Operation  va  faire  i'^oqtie  k  pli)8  mteeriMd 
de  la  monarchie,  (ibid.) 


Die  Versammlunp  der  framös.  Notabebt  im  J.  1787,     15 

der  Aemter,  die  Exemtionen  von  der  Taille,  und  Mittel  auf- 
geftinden  um  dem  unmittelbaren  Bedürfniss  abzuhelfen. 

Mirabeau  versichert,  er  sey  es  gewesen,  der  die  Auf- 
merksamkeit Calonnes  zuerst  auf  eine  Versammlung  dieser 
Art  gerichtet  habe.  Er  stand  damals  mit  dem  Generalcon- 
troleur  in  einem  Verhältniss  das  ihm  selbst  von  seinen  Freunden 
oit  zum  Vorwurf  gemacht  worden  ist.  Mirabeau  behauptet 
mit  grosser  Bestimmtheit,  von  ihm  stamme  die  Idee  die 
Notabein  zu  berufen,   er  habe  den  ganzen  Plan  angegeben. 

Sey  dem  wie  ihm  wolle,  genug  Calonne  ergriff  diesen 
Gedanken,   und  bildete  ihn  weiter  aus. 

Er  hat  ein  Memoire  verfasst  worin  er  den  Unterschied 
zvirischen  allgemeinen  Reichsständen  und  den  Notabelu  er- 
örtert. 

'  Die  Reichsstände,  heisst  es  darin,  werden  gewählt,  und 
sind  Repräsentanten  der  Nation:  sie  deliberiren  über  alles 
was  ihnen  beliebt;  sie  fordern,  reiqonstriren  und  bewil- 
ligen; nur  selten  jedoch  sind  si^  nützlich  gewesen;  öfters 
haben  sie  Vorschläge  gemacht,  die  man  hat  zurückweisen 
müssen,  oder  die  Forderungen  der  Regierung  sind  an  ihrem 
Widerstände  gescheitert.  —  Die  Notabein  dagegen,  fährt  er 
fort,  werden  ernannt;  die  Gegenstände  der  Berathung  werden 
ihnen  vorgelegt;  sie  sind  die  erleuchtetsten  Männer  des 
Reichs,  denen  der  König  seine  Absichten  mittheilt,  um  ihre 
Bemerkungen  darüber  zu  vernehmen,  ihren  Rath,  ehe  er 
als  Gesetzgeber  auftritt*). 

Man  nimmt  hier  die  Gründe  wahr,  aus  denen  er  sich 
für  die  Notabein  entschied.  Die  ganze  Fülle  der  legislativen 
Gewalt  war  er  entschlossen  in  den  Händen  der  Krone  zu 
behaupten;  er  wollte  nur  das  Gewicht  ihrer  Beschlüsse 
durch  die  Beistimmung  der  namhaftesten  Männer  des 
Reiehes  verstärken ,  und  zweifelte  nicht  dass  es  ihm  damit 
gelingen  werde.  Er  spricht  die  Ueberzeugung  aus,  die 
Gerechtigkeit  und  Wohlthätigkeit  der  Absichten  die  er  hege, 


*)  Observations  sur  la  diffiSrence  entre  les  assembl^es  des 
>^tats  g^n6raux  et  les  assembl^es  des  notables  du  royaumc. 


16     Die  Versammhmg  der  franaös.  Notabein  im  J.  1787, 

die  Verehrung  für  den  König,  ihr  eigenes  Interesse  selbst, 
nicht  umsonst  berufen  zu  seyn,  werde  die  Notabehi  zur  Bei- 
Stimmung  vermögen.  Da  werde  kein  Parlament  sagen  können, 
der  König  sey  durch  Ueberraschung  zu  den  Befehlen  gebracht 
die  er  erlasse.  . 

Eine  Schwierigkeit  lag  darin ,  dass  die  Parlamente  in 
einer  Versammlung  dieser  Art  auch  selbst  und  zwar  ziem- 
lich stark  repräsentirt  seyn  miissten.  Galonne  berechnete, 
wie  sie  zusammenzusetzen  sey,  um  dennoch  sowohl  die 
Parlamente,  als  die  mit  ihnen  verbündete  Geistlichkeit  in 
die  Minderheit  zu  bringen.  Das  war  der  Grund,  weshalb 
er  sie  zahlreicher  haben  wollte,  als  sie  jemals  bisher  ge- 
wesen war.  Er  rechnete  auf  die  Unterstützung  nicht  allein 
des  dritten  Standes,  sondern  auch  des  Adels*). 

Diesen  Plan  legte  nun  Calönne  im  August  1786  König 
Ludwig  Xyi  vor. 

Der  König  hörte  denselben  an,  ohne  ihn  zu  verwerfen, 
aber  auch  ohne  ihn  anzunelynen.  Er  erklärte,  die  Vorschläge 
seyen  so  umfassend  lind  wichtige  dass  er.  Zeit  brauche,  um 
sie  selber  zu  überlegen;  er  mü$se  sie  auch  Männern  mit- 
theilen, denen  er  jseiii  Vertrauen  schenke,  und.  sogar  die 
ölfentliehe  Meinung  über  einige  der  wichtigsten  Puncte  er- 
forschen. Er  begriff  voilkopmen  die  Wichtigkeit  des  Schrittes 
den  er  thub  sollte. 

Aber  Galonne,  der  die  Bedrängniss  vorajussah,  in  wel- 
cher er  sich,  zu  Ende  des  Jahres  befinden  würde,  und  di^ 
Unmöglichkeit,  noch  ein  Jahr  länger  auf  dem  gewohnten  Wege 
fortzugehn,  ward  von  Tage  zu .  Tage  dringender.'  Er  führte 
aus,  dass  man  eine  so  beträchtliche  Anleihe,  wie  man 
brauche;  gar  nicht  in  Vorschlag  bringen  könne:  manwürde, 
um  sie  zu  motiviren,  endlich  den  wahren  .Grund  der  Ver- 
legenheit gestehen  müssen,  der  in  dem  Missverhäitniss 
zwischen  Ausgäbe  und  Einnahme  liege ,  in .  dem  Deficit  der 
Einnahme,   und  dies  reiche  hin,  allen  Credit  zu  vernichten. 


*)  Id^es  soumises  ä  la  d^cision  du  roi  sur  la  necessit^,  l'^poque, 
la  composition  et  la  forme  de  l'assembl^e  des  notables. 


Die  Venammlung  der  fransiöe.  Notabein  im  J.  1787.     17 

Da  sein  Plan  auf  Naturalleistungen  und  zwar  schon  bei  der 
nächsten  Ernte  ging,  so  gab  er  mit  ängstlicher  Berechnung  an, 
in  welchem  Monat,  wo  möglich  noch  im  November  1786, 
die  Notabein  zusammenkommen  könnten,  wie  viel  Wochen 
sie  brauchen  würden  um  die  verschiedenen  Serien  seiner 
Entwürfe  zu  berathen,  wie  früh  im  künftigen  Jahre  sich 
dann  die  Vorbereitung  der  neuen  Finanzunternehmungen 
beginnen  lasse.  Gewiss  sey  deren  eine  kleine  Anzahl  die 
in  dieser  Sache  um  Rath  gefragt  zu  werden  verdienten 
und  denen  zugleich  das  Geheimniss  anvertraut  werden  könne; 
denn  daran  liege  unendlich  viel,  dass  das  Vorhaben  bis 
auf  den  letzten  Augenblick  geheim  bleibe.  Er  dürfe  ohne 
Schmeichelei  sagen,  der  König  habe  in  diesen  Dingen  mehr 
Tact  als  irgend  ein  anderer  Mensch.  Stimme  der  König 
nur  erst  im  Allgemeinen  bei,  so  könne  der  Entwurf  besser 
ausgearbeitet  und  in  allen  seinen  Theilen  vervollkommnet 
werden.  Er  sey  gern  bereit,  ihn  den  andern  Ministern,  be- 
sonders Vergennes,  dem  er  ohnehin  schon  davon  Kenntniss 
gegeben,  und  Miromesnil  mitzutheilen*). 

Calonne  versäumte  nicht,  auch  der  Königin  in  einem  Me- 
moire, das  besonders  leicht  und  lichtvoll  ausgefallen  ist,  die 
dringende  Nothwendigkeit  seiner  Auskunft  und  die  Erwar- 
tung die  sich  daran  knüpfe  auseinanderzusetzen**]. 

Es  dauerte  jedoch  bis  gegen  Ende  des  Jahres,  ehe  die 
Sache  in  ernstliche  Berathung  gezogen  ward.  Einige  Mini- 
sterialconferenzen  wurden  darüber  gehalten,  doch  finde  ich 
die  Klage,  dass  man  da  nicht  besonders  tief  eingegangen  sey; 
am27sten  Dezember  war  ein  Comit^  in  Gegenwart  des  Königs  des- 


*)  ObservatioDs  sur  l'6poque  k  fixer  pour  l'ex^cution  du  projet 
präsente  au  roi.  —  Si  je  dois  Stre  responsable  de  l'^v^nement  — 
j'aimerois  mieux  avoir  ä  garantir  les  risques  d'uoe  prompte  ex^cution 
que  ceux  du  retardement. 

**)  Motifs  qui  n^cessitent  l'ex^cution  du  plan  adopt^  par  le 
roi.  Dennoch  führt  der  oben  genannte  Autor  die  Verheimlichung 
des  Planes  als  einen  Grund  an ,  weshalb  die  Königin  gegen  Calonne 
gezürnt  habe.  In  der  französischen  Geschichte  liebt  man  aus 
Persönlichkeiten  herzuleiten;  wie  oft  ohne  alle  Bewährung! 

Allg.  Zeitschrift  f.  ««sehielito.  T.  184«.  % 


IB     Die  Versammlung  der  framös.  Notabein  im  J.  1787. 

halb  beisammen.  Der  König  erschrak  als  unter  den  Vorschlägen 
Calonnes  von  einer  Maassregel  die  Rede  war  die  das  Eigenthum 
der  geistlichen  Güter  in  Frage  stellte;  er  sagte,  er  denke 
nicht  ein  System  anzunehmen  das.  eine  andre  wiewohl 
achtungswerlhe  Macht  —  ohne  Zweifel  Oestreich ,  wo  Joseph 
damals  im  vollen  Zuge  seiner  kirchlichen  Neuerungen  begriffen 
war  —  befolge.  Miromesnil  brachte  seine  Einwendungen 
Tags  darauf  in  einem  Briefe  nach:  er  erinnerte  an  die 
Schwierigkeiten  auf  die  man  mit  einer  Veränderung  der 
Grundsteuer  in  den  verschiedenen  Provinzen,  mit  denen 
besondere  Abkommen  geschlossen  seyen,.  stossen  werde:  an 
die  Nothwendigkeit,  über  einen  oder  den  andern  Punct  die 
Meinung  der  Rechtsgelehrten  zu  vernehmen,  und  was  dem 
mehr  ist;  doch  erhob  er  keinen  ernstlichen  Widerspruch: 
er  bittet  am  Schluss  seines  Schreibens  schon  im  voraus  um 
die  HÜlfsarbeiter,  deren  er,  der  Grosssiegelbewahrer  bei 
der  Abfassung  dieser  Gesetze  bedürfen  werde*).  Am  29sten 
Dezember  erklärte  sich  der  König  in  dem  vereinigten  Con- 
seil  der  Depechen  und  der  Finanzen  dafür:  und  auf  der 
Stelle  ergingen  die  Berufungen  an  die  schön  im  Voraus  aus- 
ersehenen Notabein  des  Königreiches. 

So  drang  Calonne  mit  seinem  Entwürfe  durch.  Die 
Verlegenheiten,  in  die  er  geführt,  bahnten  seinem  Plane  den 
Weg.  Der  König  ergriff  ihn,  wie  ihn  der  Minister  ergriffen, 
nicht  nach  reiflicher  üeberlegung,  nicht  nachdem  er  sich 
auch  nur  überzeugt  hatte  dass  die  Sache  recht  ausführbar 
sey,  obwohl  die  mancherlei  wohlthätigen  Absichten  die 
dabei  vorkamen,  seinen  Beifall  erwarben,  sondern  weil  man 
mit  dem  bisherigen  Verfahren  nun  einmal  am  Ende  war,  ein 
neues  versucht  werden  musste  und  Niemand  etwas  Anderes 
und  Besseres  vorschlug. 

Noch  im  Januar  1787  trafen  die  Berufenen  ein:  an  ZM 
hundert  vier  und  vierzig.  Es  waren  die  Prinzen  von  Geblüt, 
die  ^änzendsten  Namen  aus  den  Reihen  des  Adels;  die  Prä- 
sidenten und  angesehensten  Räthe  der  Parlamente;  Bischöfe, 


*>  Lettre  au  roi    28  D^c. 


Die  Versammlung  der  fran%ö8.  Notabein  im  J.  i787.      19 

jedoch  nicht  sehr  zahlreich;  die  Maires  der  vornehmsten 
Städte.  —  Die  Regierung  hatte  Sorge  getragen,  Niemand  einzu- 
laden der  ihr  als  feindselig  bekannt  war,  aber  man  dürfte  ihre 
Wahl  darum  nicht  schlecht  nennen.  Wir  haben  darüber  das 
unverdächtigste  Zeugniss  das  es  geben  kann.  Lafayette  sagt 
in   einem  seiner  Briefe   nach  Amerika,    die   Auswahl  habe 

« 

wirklich  die  durch  Moralität,  Talent  und  persönliches  An- 
sehen geeignetsten  Männer  getroffen. 

Der  Tod  des  Grafen  von  Vergennes,  der  am  9ten  Februar 
eintrat,  verzögerte  den  Anfang  der  Verhandlungen  um  einige 
Wochen.  Man  empfand  diesen  Verlust,  da  Vergennes  noch 
immer  unter  den  damaligen  Ministern  den  begründetsten 
Credit  genossen  hatte.  Auch  sonst  waren  die  Auspicien  nicht 
sehr  erfreulich.  Einige  Bankrutte  brachen  aus,  eben  voo 
hochgestellten  und  bei  der  Verwaltung  betheiligten  Männern. 

Am  22sten  Februar  1787  ward  die  Versammlung  eröffnet: 
zu  Versailles,  in  dem  Hotel  des  menus  plaisirs,  das  hiezu 
zuerst  in  Stand  gesetzt  worden  so  wie  die  Strasse  die  dahin 
führte.  —  Gleich  als  müsse  alles  neu  seyn  in  dieser  Sache*). 

In  seiner  Thronrede  kündigte  der  König  an,  er  werde 
der  Versammlung  eine  Reihe  von  Entwürfen  mittheilen  lassen, 
die  er  zu  Verbesserung  des  Einkommens,  gleichmässigerer 
Vertheilung  der  Abgaben,  Hebung  des  Handels,  Erleichterung 


*)  In  der  Introduction  de  Tancien  moniteur  findet  sich  ein 
„Extrait  du  proc6s  verbal  de  I'assembl^e  des  notables 'S  der  mit 
dem  Original  des  Verbalprocesses  der  allgemeinen  Versammlungen, 
welches  in  den  Ärcbives  du  royaume,  von  den  beiden  Secre- 
tären  Hennin  und  Dupont  unterzeichnet,  aufbewahrt  wird,  meistens 
übereinstimmt;  nur  dass  man,  weil  es  eben  ein  Auszug  seyn  sollte, 
Manches  weggelassen  hat  was  sehr  wesentlich  ist.  Zu  eigentlichen 
Beratbungen  kam  es  aber  in  den  allgemeinen  Versammlungen  über- 
haupt nicht,  sondern  erst  in  den  Bureaus,  die  darüber  ihre  be- 
sondere ProtocoUe  hielten.  Auch  diese  finden  sich  noch  hand- 
schriftlich vor:  das  erste  unter  dem  Titel:  Procös  verbal  du  bu- 
reau  pröside  par  Monsieur,  contenant  les  observations  qui  y  ont 
€i^  faites  sur  les  diff^reos  m^moires  comrauniqu6s  aux  notables 
par  ordre  du  roi;  ahnlich  die  übrigen;  sie  sind  hier  unsere  vor- 
nehmste Quelle, 


20     Die  Versammlung  der  französ.  Notabeln  im  /.  1787. 

seiner  Unterthanen  gefasst  habe:  nach  reifer  Ueberlegung 
habe  er  sich  für  dieselben  entschieden;  aber  Über  ihre  Aus* 
führung  wolle  er  erst  den  Rath  der  nahmhaftesten  Männer 
seines  Reiches  aus  den  verschiedenen  Ständen  hören,  und 
dann  die  Bemerkungen  prüfen  die  sie  machen  würden. 
Er  sey  überzeugt,  keiner  von  ihnen  werde  sein  besonderes 
Interesse  dem  allgemeinen  Besten  vorziehen. 

Man  sieht,  sehr  sorgfältig  sucht  er  die  Befugniss  der 
Versammlung  auf  die  Berathung  allein  und  zwar  nicht  ein- 
mal über  die  Entwürfe  selbst,  sondern  nur  über  ihre  Aus- 
führung zu  beschränken.  Denselben  Standpunct  hielt  auch 
der  Siegelbewahrer  fest.  Dann  erhob  sich  Galonne,  den 
Zusammenhang  der  königlichen  Entwürfe  etwas  näher  zu 
erläutern. 

Die  Rede  ist  unzählige  Mal  ausgezogen.  Ihre  Summe 
ist,  dass  Galonne  erklärt,  ein  Deficit  sey  vorhanden  und  zwar 
ein  sehr  beträchtliches;  das  einzige  Mittel,  dasselbe  zu 
decken,  liege  in  der  Abstellung  der  Missbräuche  und  der 
Durchführung  des  Principes  der  Uniformität,  welches  dem 
Reiche  ein  neues  Leben  geben  werde. 

Er  Hess  den  Abgrund  erblicken,  an  den  man  in  der 
bisherigen  Verwaltung  gerathen  war,  und  eröffnete  dann  in 
den  Veränderungen  die  er  vorschlug  die  grössten  und 
glänzendsten  Aussichten. 

Den  folgenden  Tag,  in  einer  fernem  allgemeinen  Ver- 
sammlung, die  jedoch  ohne  den  Apparat  gehalten  ward 
welchen  die  königliche  Gegenwart  erforderte ,  legte  Galonne 
die  erste  Reihe  der  angekündigten  Entwürfe  vor:  —  es 
waren  ihrer  sechs,  sämmtlich  auf  die  Agricuiturverhält- 
nisse  bezüglich:  —  und  er  verfehlte  nicht,  das  geschriebene 
Wort  durch  mündliche  Erläuterungen  zu  verdeutlichen. 
Hierauf  trat  die  Versammlung  in  ihre  Abtheilungen  aus- 
einander. Man  hatte  sie  in  sieben  Bureaus  vertheilt,  deren 
jedes  von  einem  Prinzen  präsidirt  wurde,  die  beiden  ersten 
von  den  beiden  Brüdern  des  Königs  —  Monsieur  und  Graf 
Artois,  —  die  fünf  übrigen  von  dem  Herzog  von  Orleans, 


Die  Versammlung  der  framön.  Noiabeln  im  J.  1787.     21 

dem  Prinzen  von  Condö,  dem  Herzog  von  Bourbon,  dem 
Prinzen  von  Conti,  dem  Herzog  von  Pentfai^vre.  In  jedem 
Sassen  Mitglieder  der  verschiedenen  Stände:  ihre  Berathungen 
waren  unabhängig  von  einander.  Die  Prinzen  bezeichneten 
Zeit  und  Ort  wo  sich  ihre  Bureaus  bei  einem  jeden  verei- 
nigen sollten. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  zunächst  die  Entwürfe 
Galonnes,  mit  deren  Berathung  sich  die  Debatte  eröff- 
nete, die  seitdem  dort  über  ein  halbes  Jahrhundert  die 
Geister  beschäftigt  hat:  sie  waren  von  dem  umfassendsten 
Inhalt. 

Der  erste  betraf  die  Einrichtung  von  Provincialversamm- 
iungen. 

Um  der  Willkühr  der  Intendanten  ein  Ziel  zu  setzen 
und  den  Interessen  der  Provinzen  eine  gewisse  Repräsen- 
tation zu  geben,  hatte  man  schon  lange  darauf  gedacht,  und 
war  auch  hie  und  da,  namentlich  in  Berry  und  Ober- 
guienne,  dazu  geschritten.  Die  Regierung  hatte  jedes  Mal  die 
vornehmsten  Mitglieder  ernannt,  die  dann  durch  Gooptation 
ihren  Kreis  erweiterten;  sie  schienen  Vertrauen  zu  gewinnen 
und  Wurzel  zu  schlagen. 

Galonne  wollte  nun  überall  Provincialversammlungen  ein- 
führen wo  es  keine  alten  Stände  mehr  gebe. 

Er  schien  nicht  allein  vollkommen  zu  billigen,  dass  der 
Staatsgewalt  in  den  Provinzen  ein  wirksames  Gegengewicht 
gegeben  werde^  sondern  sogar  einen  grossen  Schritt  weiter 
thun  zu  wollen  als  seine  Vorgänger.  Er  verzichtete  auf  die 
erste  Ernennung,  auf  die  er  doch  als  Minister  den  grössten 
Einfluss  ausgeübt  haben  würde;  er  bewilhgte,  dass  die  Pro- 
vincialversammlungen durch  Wahl  zu  Stande  gebracht  wer- 
den sollten. 

Sein  Vorschlag  ging  dahin,  die  Pfarren  und  Ge- 
meinden zur  Grundlage  zu  machen:  aus  ihren  Deputirten 
sollte  sich  die  Districtversammlung  zusammensetzen,  Welche 
wie  jene  einige  eigenthümliche  kleine  Gerechtsame  auszu- 
üben,  hauptsächlich  aber  wieder  j^de  einen  Deputirten  zu 


2t     Die  VersamnUmg  der  framös.  Notabein  im  J,  1787. 

wählen  hatte,  die  dann  die  Provincialversammlung  ausmachen 

würden*). 

Indessen  war  seine  Meinung  niobJt,  allen  und  jeden 
Eigenthümern  Theilnahme  daran  zu  verleihen:  vielmehr  nur 
solche  sollten  Sitz  und  Stimme  haben,  welche  wenigstens 
600  Livres  Einkünfte  hätten;  nur  solche  aber  sollten  zur 
Provincialassemblöe  gewählt  werden  können,  welche  1000 
Livres  Revenuen  von  liegenden  Gründen  besässen. 

Calonne  ging  sehr  systematisch  zu  Werke.  Es  schien 
ihm  hauptsächlich  auf  eine  Repräsentation  des  Eigenthums 
anzukommen,  wenn  er  festsetzte,  es  könne  wohl  ein  grösserer 
Eigenthümer  zwei  Drittel  der  Stimmen  in  einer  Pfarre  in 
sich  vereinigen;  in  den  Provincialversammlungen  sollte  der 
Rang  der  Districte  nach  der  Summe  der  von  ihnen  bezahlten 
Gontribution  bestimmt  werden. 

Und  diese  Provincialversammlungen  sollten  nun  die  üm- 
legung  der  vom  König  festgesetzten  Abgaben,  die  hiezu 
nöthige  Classification  des  Landes^  die  Leitung  der  öffent- 
lichen Bauten,  der  Wege  und  Canäle,  der  Anstalten  der 
Wotüthätigkeit  haben.  Sie  sollten  alle  Jahre  einmal  berufen, 
in  der  Zwischenzeit  aber  durch  einen  Ausschuss  von  sechs 
Mitgliedern  vertreten  werden.  Beiden  sollte  das  Recht  zu- 
stehn,  dem  König  Vorschläge  zu  machen.  Nur  würde  der 
President  der  Versammlung  nicht  etwa  auch  der  des  Aus- 


*)  Les  assemblees  paroissiales  s'occuperont  des  charges  locales, 
des  travaux  publics  qui  peuvent  ^tre  utiles  ä  la  paroisse,  et  des 
moyens  de  soulager  les  pauvres  de  la  communaut^. 

Les  assemblees  des  villes  seront  composees  des  officiers  mu- 
nicipaux  et  notables  convoques  suivant  les  formes  qui  y  sont 
usitees;elles  enverront,  ainsi  que  les  assemblees  paroissiales,  chacune 
un  depute  Charge  de  leurs  Instructions  a  i'assemblöe  du  district 
dont  elles  feront  partie;  sauf  que  les  villes  ayant  plus  de  12  m. 
babitans  pourront  en  envoyer  deux. 

Les  districts  comprendront  au  moins  25   et  au  plus  30  pa- 

oisses  de  campagoe,   outre  les  villes   qui  se  trouveront  dans  le 

m^me  arrondissement.    L'ordre  des  seances  dans  les  assemblees 

da  district  se  röglera  en  raison  de  la  force  contributive  de  chaque 

communaute  que  les  depules  representeront. 


me  Versmnmhmg  der  framnös.  NoHAeh  im  J.  iJST.     SS 

Schusses  seyn,  keiner  von  beiden  länger  als  drei  Jahr  ftingiren 
dürfen.  Keine  Ausgabe  sollte  gemacht  werden,  ohne  Beistini- 
mung  der  königlichen  Intendanten. 

Ich  weiss  nicht,  ob  es  Eifersucht  der  revolutionären  Gen- 
sur  oder  was  sonst  es  war,  weshalb  man  in  dem  gedruckten 
Memoire  die  wichtigsten  Stellen  welche  erst  den  Gredanken  Ca- 
lonnes  enthalten,,  weggelassen  und  eine  ganz, fragmentarisohe 
Mittheilung  davon  gegeben  hat,  aus  der  Niemand  seinen  Sinn 
entnehmen  könnte. 

So  sehr  aber  auch  der  Plan  in  seiner  Form  an  Ideen  der 
Revolution  erinnert,  so  ist  er  doch  von  der  letzten  Tendenz 
derselben  noch  weit  entfernt.  Galonne  dachte  nicht  an  eiae 
Repräsentation  der  Kopfzahl,  sondern  nur  an  eine  Reprä«- 
sentation  der  Quoten  des  Bigenthums.  Hauptsächlich  aber 
wollte  er  nun  nicht  etwa  Abgeordneten  der  Provincialver^ 
Sammlungen  Einfluss  auf  die  Regierung  gestatten,  vielmehr 
der  königlichen  Macht  die  alte  Unabhängigkeit  vorbehalten. 
Nur  die  Provincialinteressen  selbst  würden  von  den  Provin- 
cialversammlungen  erwogen  worden  seyn. 

Das  nächste  und  grösste  von  allen  wäre  die  neue  An- 
ordnung und  Yertheilung  der  Grundsteuer  gewesen,  «die 
Galonne  in  seinem  zweiten  Memoire  in  Vorschlag  brachte. 

Er  beklagte  darin  dass  die  Grundsteuer  in  den  ver- 
sohiedenen  Provinzen  Überaus  ungleich  sey,  wie  man  denn 
niemals  habe  ^u  dem  Kataster  gelangen  können ;  dass  ganze 
Glassen,  auf  alte  Privilegien  oder  neue  Abonnemeats 
fussend,  sich  mehr  oder  minder  eximiren;  dass  die  Art  der 
Erhebung  den  Ertrag  aufzehre.  Wenn  nun  an  sich  noth- 
wendig  seyn  würde  hierin  eine  durchgreifende  Aenderung 
vorzunehmen,  wie  viel  mehr  sey  das  der  Fall,  da  darin 
zugleicb  die  letzte  Hülfsquelle  in  grosser  finanzieller  Qe- 
<kängniss  liege.  Der  vornehmste  Gedanke  Gabnnes  war 
nun  die  Erhebung  der  Grundsteuer  in  Natur.  Eine  solche,' 
sagte  er,  sey  für  den  Producenten  die  leichteste:  weil  sie 
im  Augenblick  der  Ernte  gefordert  werde  und  im  Ganzen 
nicht  mehr  als  einen  halben  Zehnten  betragen  dürfe;  sie  sey 
aber  auch  für  den  Staat  die  vortheilhaf teste,    wie  man  in 


24     Die  Versammhmg  der  fi^amös,  Notabeh  im  J.  1787. 

Corsika  und  einigen  proven^alischen  Gommunen,  die  sie  in 
Ausübung  gebracht  haben,  bemerke.  Um  aber  etwas  zu 
nützen,  müsse  sie  allgemein  seyn:  das  eximirte  Land,  vor 
allem  auch  die  geistlichen  Güter  umfassen.  Man  könne 
den  gesammten  Grund  und  Boden  in  vier  Classen  eintheilen: 
von  dem  besten  etwa  den  20sten,  von  dem  schlechtesten  den 
40sten  Theil  des  Ertrages  erheben;  worüber  die  Provincial- 
stände  zu  entscheiden  haben  würden;  so  werde  man  von 
selbst  zu  einem  guten  Kataster  gelangen  und  die  Kräfte  des 
Reiches  erst  kennen  lernen.  Alle  Jahre  im  Mai  müsse  das 
Product  in  den  gewöhnlichen  Formen,  nicht  ohne  Caution, 
an  den  Meistbietenden  verkauft  und  dieser  dann  in  den 
bestimmten  Terminen  zur  Zahlung  angehalten  werden. 

Auch'  hier  ist  das  Original  um  vieles  ausführlicher  als 
was  die  Einleitung  zum  Moniteur  und  andre  Sammlungen 
mitgetheilt  haben.  Die  Ueberzeugung  von  der  Untrüglicbkeit 
der  physiokratischen  Doctrin ,  die  diese  Entwürfe  beherrscht, 
„weil  darin  Vernunft,  Gerechtigkeit  und  das  nationale  Inte« 
resse  sich  begegnen'^  ^^^  ^^^  ^^^  unermesslichen  Vortheilen 
die  sich  weiter  daran  knüpfen  würden,  tritt  in  dem  ersten 
wo  möglich  noch  stärker  hervor*). 

Von  den  folgenden  Entwürfen,  wiewohl  sie  alle  sehr 
wichtige  Gegenstände  betreffen,  —  die  Aufhebung  der  TaiUe 
und  der  Wegefrohnde,  den  freien  Getreidehandel,  —  ist  doch 
der  dritte  der  merkwürdigste,  welcher  die  Angelegenheiten 
der  Geistlichkeit  berührt. 


*)  Z.  B.  la  Subvention  en  nature,  douce,  facilc,  exempte  de 
tout  abus  pour  le  propriötaire,  est  par  cela  m^me  plus  avanta- 
geuse  au  souverain.  Und  dann  weiter  über  einige  damit  zu  ver- 
bindende Einrichtungen.  La  röduetion  d'un  dixi^me  de  la  taille, 
un  vingti^me  affectö  sur  ce  ra^me  imp6t  au  soulagement  des 
pauvres,  la  suppression  absolue  de  la  taille  d'industrie,  la  sup- 
pression  de  la  capitation  en  faveur  du  clerge,  de  la  noblesse  et 
des  cours  souveraines  du  royaume,  plusieurs  sacrifices  qui  affran- 
chiront  le  commerce  et  la  circulation  des  g^nes  on^reuses  et  nui- 
sibles  k  ses  progr^,  voilä  les  fruits  d'un  regime  nouveau  quo 
S.  M.  veut  ^lablir  daos  ses  provioces. 


Die  Versammlung  der  fran»ö$.  Notäbeln  im  J.  i787.     25 

Calonne  wiederholt  darin  seine  Forderung,  dass  die 
Geistlichkeit  der  neuen  Grundsteuer  ebenfalls  unterworfen 
seyn  solle:  in  der  Gleichförmigkeit  liege  die  Garantie  der 
Gerechtigkeit;  aliein  die  Geistlichkeit  habe  bisher,  zum  Behuf 
ihrer  Dons  gratuits,  Schulden  gemacht:  um  sie  davon  zu 
befreien,  willige  der  König  ein,  dass  sie  ihre  Rechte  und 
Renten  zum  Theil  veräussere.  Die  mit  Grundrenten  für  den 
Glerus  Behafteten  sollten  dieselben  für  einen  sofort  zu  be- 
stimmenden Preis  ablösen  können*). 

Es  bedarf  keines  grossen  Scharfsinnes  um  wahrzuneh- 
men, dass  dies  einen  Hauptpunct  seines  ganzen  Planes  bildet 

Ich  will  nicht  etwa  läugnen,  dass  ihm  auch  an  der  Erleich- 
terung des  Volkes  und  an  der  Durchfuhrung  der  Reform- 
pläne von  denen  er  so  ganz  erfüllt  zu  seyn  schien ,  gelegen 
war:  aber  diese  Dinge  verschafften  ihm  nicht  das  Geld  das  er 
brauchte.  Um  dies  zu  erlangen,  bedurfte  er  neuer  Hülfs- 
quellen:  die  wichtigste  von  allen  war  die  Herbeiziehung  des 
Glerus  zu  den  allgetheinen  Lasten  ohne  irgend  eine  fernere 
Exemtion. 

Ohnehin  stand  seinem  Prineip  der  Uniformität,  auf  das 
er  ein  neues  Frankreich  zu  gründen  gedachte,  nichts  so 
schroff  entgegen  als  der  Glerus  in  seiner  corporativen  Hal- 
tung, mit  seinem  unermesslichen  Landbesitz  und  dessen 
abgesonderter  Verwaltung,  mit  dem  Recht  einer  freien  Be- 
willigung seines  Beitrags  zu  den  Staatslasten. 

Wenn  Galonne,  wie  wir  sahen,  die  kaum  eingerichtete 
Verfassung  der  Provincialversammlungen  wieder  verändern 
wollte,  so  lag  der  Grund  davon  darin,  dass  wo  sie  zu 
Stande  gekommen  waren ,  die  Geistlichen  in  denselben 
einen  überwiegenden  Einfluss  erlangt  hatten.'^''^) 


*)  Toutes  rentes  fonci^res,  soit  en  argent  soit  en  grains,  ou 
autres  denr6es  dues  aux  ögiises,  chapitres,  aumöneries  etc.  pourront 
Stre  racbetees  per  las  d^biteurs,  ii  rexception  des  cens,  renies 
seigneuriales  et  autres  redevances  feudales  servantes  k  desigoer  la 
seigneurie  directe. 

**)  In  einer  seiner  Eingaben  über  die  scbon  eingericbteiea 
Provincialadministrationen  heisst  es:  On  a  donnö  trop  de  perma* 


26     Die  Vermmmimg  der  französ.  Noiabeln  im  /.  1787. 

Sehr  mit  Absicht  haue  er  dem  Clerus  in  der  Versamm- 
lung der  Notabein  eine  verhältnissmässig  nur  geringe  Re- 
präsentation gegeben. 

Die  nächste  Einwendung  gegen  sein  Vorhaben,  die  geist- 
lichen Güter  allen  andern  gleich  zu  machen,  entsprang  ihm 
aber  aus  der  Schuldenlast  welche  die  Geistlichkeit  nach 
und  nach  zum  Behuf  jener  ihrer  Bewilligungen  aufgehäuft, 
und  fUr  die  ihre  Güter  in  ihrem  von  der  Exemtion  bedingten 
Werth  zur  Hypothek  dienten.  Es  war  nicht  anders:  in  seinen 
Schulden  sah  der  Clerus  eine  Gewähr  seines  Bestehens. 
Der  Vorschlag  Calonnes  zielte  dahin,  ihm  fürs  Erste  diesen 
Rückhalt  zu  entreissen. 

Er  rechnete  auf  die  öffentliche  Stimmung,  die  königliche 
Autorität  und  die  Ueberlegenheit  seines  Geistes. 

Sein  Unternehmen  gehört  in  so  fern  zu  den  Reactio- 
nen  gegen  das  frühere  Uebergewicht  der  geistlichen  Elemente, 
welche  das  achtzehnte  Jahrhundert  erfüllten  und  ihm  sei- 
nen Character  gaben.  Keine  theoretisclie  Umhüllung  konnte 
die  Tendenz  seiner  Entwürfe  verbergen. 

Wenn  wir  recht  unterrichtet  sind,  hätte  der  Clerus  lie- 
ber gesehen  und  eher  geduldet  dass  z.  B.  Klostergüter,  so  viel 
man  wollte,  eingezogen  worden  wären:  das  hätte  seiner  politi- 
schen SteUung  nichts  geschadet.  Calonne  aber  griff  seine  Selb- 
ständigkeit  als  Staatskörper  an:  das  war  ihm  unerträglich. 

Es  versteht  sich,  dass  der  Clerus  alle  seine  Kräfte  da- 
gegen anstrengte.  Die  Parlamente  hatte  er  ohnehin  auf  seiner 
Seite,  und  wenn  wirklich  der  Adel  jemals  für  Calonne  gewe- 
sen ist,  wie  dieser  sich  schmeichelte,  so  fragte  sich  sehr, 
ob  er  es  nun,  nachdem  dessen  Entwürfe  erschienen  waren, 
noch    bleiben  würde. 

Denn  auch  an  und  für  sich  gaben  diese  Raum  genug 
zu  gegründeten  Ausstellungen. 

Was  vor  allem   die    Provincialversammlungen    betrifft, 


nence  aux  membres  de  Tassembl^e:  on  leur  a  laissö  trop  de  pr6- 
texte  pour  s'arroger  une  autoritö  executrice,  on  a  surtout  attribuö 
une  trop  grande  influence  au  clergö  sar  toutes  les  Operations  de 
ces  assembMes. 


ie  Versamrnbmg  der  framöi,  NoUMn  im  J.  1787.     27 

über  die  zuerst  berathen  wurde,  so  kam  der  Minister 
zwar  mit  der  aUgemeinen  EiDfUhrung  derselben  einem  un- 
läugbaren  Bedürfhiss  und  oft  ausgesprochenen  Wunsche  ent* 
gegen.  Das  erste  Bureau  erklärte,  es  könne  dem  König  nicht 
genug  danken,  dass  er  auf  diese  Weise  die  Steuerpflichtigen 
zum  Antheil  an  einer  Administration  berufen  wolle,  die  fttr 
sie  so  wichtig  sey:  sie  wünschten  nur,  diesen  Antheil  noch 
bestimmter  festgesetzt  zu  sehen  als  es  in  dem  Entwürfe 
geschehen  war.  Wenn  man  nun  aber  weiter  auf  die  nähe- 
ren Bestimmungen  einging,  unter  denen  Calonne  die  Wah- 
len vollzogen  wisäen  wollte,  so  erhob  sich  der  lebhafteste 
Widerspruch.  Dass  in  den  Versammlungen  der  Gemeinen  der 
älteste  Eigenthümer,  wie  Calonne  vorgeschlagen,  dem  Edel- 
mann oder  dem  Geistlichen  vorangehen,  oder  dass  in  den 
Districtsversammlungen  die  reichere  Commune  den  Vortritt 
haben  sollte,  wollte  Niemand  billigen:  nicht  allein  dem  Adel 
und  dem  Clerus,  sondern  auch  der  angeseheneren  Classe  des 
dritten  Standes  werde  es  widerwärtig  seyn.  Calonne  hatte 
den  Grundgedanken  seiner  Vorschläge  von  Turgot  entnom- 
men: niemals  aber  war  dieser  so  weit  gegangen.  Turgot 
wollte  nur  die  Trennudg  der  verschiedenen  Stände  in  den 
Versammlungen  vermeiden ,  ihre  Gegensätze  daraus  verban- 
nen: sie  sollten  da  sämmtlich  als  Eigenthümer  erscheinen. 
Allein  er  sah  voraus,  dass  der  vornehmste  Einfluss  doch 
den  höheren  Ständen  zufallen  müsse,  eben  weil  diese  die 
meisten  Güter  hatten;  und  er,  selber  ein  alter  Edelmann, 
hatte  nichts  dawider:  in  seinem  Project  ist  von  einer  Erhal- 
tung der  Ehrenvorrechte  des  Adels  ausdrücklich  die  Rede. 
Ich  finde  sogar,  dass  Calonne  in  den  ersten  Aufzeichnungen 
seiner  £ntwüi*fe  denselben  Ideen  gefolgt  war.  Er  hatte  da 
Vorkehrungen  getroffen,  damit  der  dritte  Stand,  zu  dem 
er  auch  die  Städte  herbeizog,  nicht  etwa  Adel  und  Geistlich- 
keit unterdrücke.  Aber  bei  der  schliesslichen  Bearbeitung 
war  dies    weggefallen.*).    Das  rausste   dann   zur  Folge  ha- 


*)  Bemerkungen  im  ersten  Bureau.    On  a  jug6  qu'il  etoit  plus 
convenablo  que  les  deux  premiers  ordres  de  Tötat  conservassent 


28      Die  Ver$atnmlung  der  französ,  Notabein  imJ.  $787. 

ben  dass  die  ganze  Antipathie  auch  des  Adels  gegen  Ca- 
lonne  erweckt  wurde:  er  machte  gemeinschaftliche  Sache 
mit  dem  Clerus,  gegen  den  er  hatte  dienen  sollen.  Was 
man  auch  über  die  Nothwendigkeit  einer  Reform  und  den 
Werth  der  vorgeschlagenen  Maassregeln  an  sich  urtheilen  mag, 
so  war  das  nicht  der  Weg  damit  durchzudringen.  Sich  in 
finanzielle  Verlegenheiten  stürzen,  die  Reform  im  Augen- 
blicke der  Noth  ergreifen,  da  man  sie  allein  nicht  durch- 
zuführen vermag,  eine  Versammlung  berufen ,  auf  deren  Bei- 
stimmung alles  ankäme,  und  dann  doch  die  Vorschläge  so  ein- 
richten dass  sie  zugleich  das  Interesse  verletzen  und  die  Eigen- 
liebe beleidigen:  wer  hat  auf  diese  Weise  jemals  etwas  er- 
reicht! Bei  der  Berathung  über  den  zweiten  Entwurf  brach 
die  volle  Opposition  hervor. 

Jene  Perception  in  Natur  hielt  man  allgemein  für  un- 
ausführbar an  sich,  und  gefahrlich  auch  in  administrativer 
Hinsicht:  womit  nichts  weiter  beabsichtigt  werde,  als  dem 
Finanzminister  sobald  als  möglich  eine  grosse  Hypothek  zu 
verschaffen,  um  neue  Anleihen  darauf  zu  gründen,  möge 
dann  ferner  daraus  folgen  was  auch  wolle.  Die  Stimmung 
war  dafür  so  ungünstig,  dass  Galonne  bereits  im  Februar 
mit  der  nachträglichen  Erklärung  erschien,  es  liege  dem  Kö- 
nig nichts  daran,  ob  man  diese  Form  annehme  oder  ihm 
eine  bessere  angeben  wolle:  nur  daran  halte  der  König 
fest,  dass  die  Grundsteuer  allgemein  sey  und  sich  in  ihrem 
Belaufe  nach  dem  Maasse  der  jedesmaligen  Production  richte; 

leur  rang  dans  toutes  les  assembl^es  —  que  c'^toit  plutöt  la  na- 
ture  de  l'intör^t  que  sa  quotit^,  qui  devroit  r6gler  le  nombre  des  suf- 
frages:  —  11  a  ^t^  observ6,  qu'il  ^loit  indispensable  qu'll  y  eüt 
toujours  au  moins  un  tiers  de  lanoblesse  et  d'eccl^siastiques  dans 
les  assembl6es  provinciales  de  district  et  du  boreau,  que  toute 
autre  forme  seroil  contraire  aux  principes  d'une  monarchfe  dans 
la  quelle  les  ötats  ne  doivent  jamais  ^Ire  confondus.  Noch  ent- 
schiedener das  zweite:  On  considere  la  nation  comme  compos^e 
seulement  de  deux  ordres,  dont  le  Ir  est  la  noblesse,  qui  com- 
prend  le  cierg^,  et  le  second  est  le  peuple,  et  l'on  demande  que 
la  pr^sidence  soit  exclusivement  röserv^e  k  Tordre  sup^rieur  ei 
indistinctement  applicable  k  Tun  et  i  l'autre. 


Die  Versammlung  der  franaös.  Notabein  im  /•  1787.     29 

nicht  über  den  Grundsatz,  sondern  nur  Über  die  Art  und 
Weise  ihn  durchzuführen,  begehre  er  den  Rath  der  Notabein.*) 
Die  Versammlung  fühlte  sich  durch  diese  Beschränkung  in 
ihrer  Würde  gekränkt,  und  der  älteste  Bruder  des  Königs  be- 
gab sich  zu  diesem,  um  ihm  VorstelluDgen  deshalb  zu  machen*, 
Ludwig  XVI  gab  nach,  dass  man  nicht  allein  über  die  Form, 
sondern  auch  über  den  Grund  der  Sache  debattire.  Dahatte 
sich  nun  aber  weiter  die  Meinung  gebildet,  dass  es  gegen 
alle  Principien  laufe ,  eine  Auflage  einzurichten,  deren  Ertrag 
man  so  wenig  übersehen  könne:  man  müsse  erst  überhaupt 
wissen,  was  denn  wirklich  gebraucht  werde,  wie  hoch  das 
Deficit  sey,  das  man  decken  solle,  und  wie  es  sich  gebildet 
habe.  Am  2ten  März  ward  eine  allgemeine  Sitzung  bei  Monsieur 
gehalten,  an  welcher  die  Prinzen  und  von  jedem  Bureau 
fünf  Mitglieder  Antheil  nahmen,  bei  der  auch  Galonne  zugegen 
war.  Es  war  für  diesen  schon  von  schlechter  Vorbedeutung 
dass  sie  mit  jener  Erklärung  des  Königs  eröfifoet  wurde,  die 
einen  grossen  Rückschritt  gegen  die  früher  ausgesprochenen 
Ansichten  enthielt.  Als  man  dann  daran  ging  den  Entwurf 
über  die  Territorialabgabe  nochmals  zu  lesen,  erhoben  sich 
Unterbrechungen,  Anfragen,  Einwendungen  in  Menge:  über 
die  Unausführbarkeit  einer  Perception  in  Natur;  über  die 
Gründe  welche  die  Regierung  haben  könne,  Auflagen  unbe- 
stimmten Ertrages  einzuführen ;  die  Schwierigkeiten  ei- 
ner Classification  des  Bodens,  und  die  Erfordernisse  eines 
Catasters;  die  Entstehung  und  den  Betrag  des  Deficit.  Es 
war  eine  sehr  stürmische  Sitzung  von  fUnflehalb  Stunden, 
welche  eigentlich  über  Galonne  entschieden  hat. 

Die  verschiedenen  Bureaus  gaben  in  den  nächsten  Tagen 
ihreMeinung  einstimmig  dahin  ab,  dass  die Territorialauflage  auf 
die  vorgeschlagene  Weise,  möge  man  sie  in  Natur  oder  in  Geld 
einziehen  wollen,  nicht  statt  finden  könne:  es  lasse  sich  so- 
gar über  eine  solche  nicht  weiter  deliberiren,   wofern  nicht 


*)  Er  fügt  hinzu:  qu'elle  doit  6tre  röelle,  non  abonnöe,  pour 
qu'etle  puisse  servir  de  catastre  natural.  Ce  n'est  pas  sur  ces 
bases ,  c'est  sur  les  moyens  d'y  satlsfaire  quo  S.  M.  consulle  les 
notables  du  royaume. 


30     Die  Versammlung  der  fran%Ö8.  Notabein  im  J.  1787. 

zuvor  die  geforderten  Erläuterungen  mitgetheilt  würden. 
Die  Entwürfe  über  Taille  und  Frohnde  nahmen  sie  an ,  doch 
sollte  die  nähere  Bestimmung  den  Pro vinciaiassembleen , 
die  auf  eine  andre  als  die  Weise  Gaionnes  einzurichten 
seyen,  anheimgesteilt  werden.  Den  Anordnungen  derselben 
sollten  auch  die  geistlichen  Güter  unterworfen  seyn,  aber 
die  Versammlungen  des  Glerus  und  dessen  Reclamationen  zu 
Gunsten  seiner  bisherigen  Formen  und  gegen  die  Verletzung 
seines  Eigenthums  wurden  ausdrücklich  vorbehalten.*) 

Man  sieht:  einzelnen  Annäherungen  zum  Trotz  war  ihr 
Sinn  im  Ganzen  dem  des  Ministers  geradezu  entgegenge- 
setzt; Da  aber  ihre  Worte  doch  nicht  offenbar  feindselig  lau- 
teten, so  hielt  sich  auch  Galonne  noch  nicht  für  geschlagen^ 
Am  12ten  März  trug  er  eine  zweite  Serie  seiner  Entwürfe 
vor,  ebenfalls  von  dem  bedeutendsten  Inhalt,  —  wie  denn 
gleich  das  erste  Memoire  die  Verlegung  aller  Zölle  an  die 
Grenzen  des  Reiches  und  einen  gleichförmigen  Tarif  in  Vor- 
schlag brachte,  ein  anderes  die  Umgestaltung  der  bisherigen 


*)  R6sum6  de  ce  qui  s'est  passö  le  vendredi  9  mars  dans 
les  differeuts  bureaux: 

1.  Assembl^es  provinciales :  Bonnes  en  elles-m^mes,  mais  inad- 
missibles  dans  la  forme  propos6e. 

2.  Imposition  territoriale:  inex6cutable  par  une  perception  en 
nature  et  argent:  ne  peut  y  6ire  d^liberöe  qu'apr^s  la  remise 
de  toules  les  Communications  demandees. 

3.  Deltes  du  clerg^.  Les  biens  du  clerg^  soumis  ä  une  Opera- 
tion des  assembl^es  provinciales,  ainsi  que  les  biens  de  tous 
les  citoyens.  Liberty  lors  de  la  prochaine  assembl^e  da 
clerg6  de  r^clamer  pour  la  conservation  de  ses  formes  et 
contre  la  violation  de  la  proprietö  qu'entraineroit  une  vente 
forc^e  de  ses  biens. 

4.  Commerce  des  grains.  Le  memoire  fourni  k  l'assemblee  a 
^t6  accueilli  dans  toute  son  etendue. 

5.  La  taille.  Supplier  le  roi  de  donner  une  loi  qui  garanlira 
ses  peuples  de  Tinjustice  et  de  Parbitraire  d'apr^s  les  observa- 
tions  qui  seront  faites  dans  les  assemblees  provincielles. 

6.  La  corv^e.  Le  principe  de  la  supposition  et  la  conversion 
en  argent  adopt^ ,  mais  les  details  vus  jusqu'ä  präsent 
estimös  incomplets. 


Die  Versammlmtg  der  frOMöM.  NotabOn  im  J.  1787.     31 

so  Überaus  beschwerlichen.  Salzsteuer;  -^  in  der  Rede,  mit 
der  er  sie  einleitete,  drückte  er  sich  so  aus,  als  seyen  dke 
bisherigen  Einwendungen  der  Notabein  mehr  auf  die  Form 
als  auf  das  Wesen  der  ihnen  gemachten  Propositionen  ge- 
gangen. Wahrscheinlich  sagte  er  das  in  versöhnender 
Absicht:  er  wünschte  fürs  Erste,  den  offenen  Hader  zu  ver- 
meiden. 

Allein  die  Notabein  waren  trotziger  und  auch  wahrhafter 
als  die  Minister:  schon  fühlten  sie  ihr  Ueberge wicht;  die  Bu- 
reaus erklärten  eines  nach  dem  andern,  dass  ihr  Widerspruch 
dem  Wesentlichen  seiner  Vorschläge  gelte,  und  bewirkten, 
dass  die  Reclamationen  dem  Protoeoll  der  aligemeinen  Sit- 
zungen hinzugefügt  werden  mussten. 

Hierauf  war  nun  an  kein  weiteres  Verständniss  zwischen 
Calonne  und  der  Versammlung  zu  denken. 

Calonne  stand  in  diesem  Augenblick,  seitdem  er  aner«* 
kannte  Missbräuche  ernstlich  bekämpfen  zu  wollen  schien, 
ziemlich  hoch  in  der  Meinung  des  Königs:  er  beschloss  aber 
noch  eine  andre  Macht  für  sich  aufzurufen,  in  einer  Bro- 
chüre,  die  man  ihm  selbst  oder  doch  seinem  Einfluss  zu- 
schrieb, ward  die  Geistlichkeit  als  eine  Scfamarotzerpfianze 
geschildert,  welche  die  guten  Gewächse  verdränge  und  nur 
im  allgemeinen  Unglück  gedeihe.  Die  Notabein  hatten  einander 
das  Wort  gegeben,  ihreBerathuugen  geheim  zu  halten,  um  nicht 
etwa,  sagen  sie,  Einwirkungen  des  doch  nicht  hinreichend 
unterrichteten  Publicums  Statt  zu  geben.  Recht  im  Gegen- 
satz hiemit  machte  der  Minister  nicht  allein  die  beiden  er- 
sten Serien  seiner  Entwürfe  durch  den  Druck  bekannt,  son- 
dern in  dem  Vorwort  dazu  gab  er  zu  verstehn,  er  seiner- 
seits beabsichtige  damit  nichts  als  die  Erleichterung  des 
Volkes,  aber  eben  dies  sey  der  Grund  dass  er  bei  den  pri- 
vilegirten  Ständen  damit  nicht  durchdringe.  Ludwig  XVI, 
dem  es  an  aller  Voraussicht  fehlte,  hatte  diese  Bemerkung 
gelesen  und  in  den  klüglich  gewählten  Worten  nichts  Anstössi- 
ges  noch  Verletzendes  gefunden.  Um  so  heftiger  war  der  Sturm 
der  in  der  Versammlung  darüber  ausbrach.  Man  *  fand  es 
ungeziemend,  dass  der  Minister  Entwürfe  bekannt  mache,  über 


82     Die  VttBommtmg  der  framös.  Notäbgln  iffi  J.  1787. 

die  noch  nicht  entschieden  sey;  jene  seine  Andeutung  aber 
sey  ganz  verwerflich;  sie  laufe  der  Wahrheit  entgegen,  störe 
die  Eintracht  zwischen  den  verschiedenen  Glassen,  und  ent- 
halte eine  Berufung  an  das  Volk,  welche  die  gefährlichsten 
Folgen  haben  könne.*)  Man  gab  ihm  Schuld  er  gefährde 
die  Verfassung  und  das  Königthum. 

Ein  Zwiespalt,  mit  dem  der  Staat  nicht  länger  verwaltet 
werden  konnte.  Der  König  musste  entweder  Galonne  ent- 
lassen, oder  die  Versammlung  auflösen.  Einen  Augen- 
blick soll  er  doch  darüber  geschwankt  haben.  Galonne  for- 
derte wenigstens  eine  Anzahl  Lettres  de  cachet,  um  sich 
der  vornehmsten  Gegner,  von  denen  er  auch  einige  unter 
seinen  ministeriellen  Collegen  sah,  zu  entledigen.  Schon  hielt 
der  alte  Miromesnil  für  seine  Pflicht  den  König  vor  einem 
Manne  zu  warnen  der  ihn  gegen  Geistlichkeit  und  Adel, 
Magistrate  und  Minister  einzunehmen  suche.**)  Indess  wa- 
ren Partei  und  Intrigue  im  Schloss  erwacht;  die  Freunde 
derer,  die  zur  Leitung  der  Finanzen  emporstrebten,  obgleich 
unter  einander  nichts  weniger  als  einig,  arbeiteten  fürs  Er- 
ste alle  zusammen  gegen  Galonne;  auch  seine  persönliche 
Integrität  ward  jetzt  in  Zweifel  gezogen;  die  Königin,  die 
als  seine  Beschützerin  gegolten,  wollte  doch  den  Hass  nicht 
theilen  den  er  auf  sich  lud,  und  Hess  ihn  fallen;  man  ver- 
sichert, nachdem  Ludwig  XVI  den  Minister  noch  des  Tages 
zuvor  seines  Schutzes  versichert,    habe   sie   denselben  aus 

*)  Beschluss  des  zweiten  Bureaus:  Le  bareau  consid^rant  quo 
Sans  s'arr^ter  aux  inductions  qu^on  pourroit  tirer  de  cet  avertisse- 
ment  contre  las  notables,  aux  quelles  ils  se  sentent  trop  sup^rieurs 
pour  8*en  plaindre,  le  dit  avertissement  est  une  serte  d'appel  au 
peuple  capable  d'induire  ce  peuple  en  erreur,  contraire  aux  sai- 
nes  maximes  du  gouvernement,  ä  ['ordre  et  k  i'union  qu'on  doit 
cfaercher  ä  faire  r^gner  entre  toutes  les  classes  de  la  soci^tö,  eofin 
aux  int^r^ts  du  roi  meme  et  au  succes  de  ses  bienfaisantes  in- 
tentions ,  et  que  la  mani^re  dont  le  dit  avertissement  a  et^  publik 
et  r^pandu,  est  ögalement.insolite  et  dangereuse,  a  soppIi6  etc. 

**)  4  A{>ril.  H61as,  Sire,  ce  seroit  uoe  vöritable  douleur  que 
Ton  verseroit  dans  votre  ame,  si  Ton  parvenoit  k  vous  indisposer 
cootre  aucun  des  ordres  de  votre  royaume. 


JHe  Venammhmg  der  firoMÖs.  Noiabein  im  J.  1787.     88 

Besorgniss  vor  allgemeinem  Ungehorsam  umgestimmt:  am 
9ten  April  erhielt  Galonne  seine  Entlassung. 

Der  erste  Mann  der  es  wagte,  nach  so  langer  Zeit  eine 
berathende  Versammlung  in  Prankreich  zu  berufen:  freilich 
ohne  recht  zu  wissen  was  er  that,  durch  das  Bedürfniss 
gedrängt,  ohne  von  der  nöthigen  Vorbereitung  in  Bezug  auf 
die  Sachen  und  vornehmlich  die  Personen  einen  Begriff  zu 
haben;  in  blindem  Selbstvertrauen.  Er  unterlag  gleich  in 
der  ersten  Debatte:  nach  ein  paar  Wochen  sprach  man  nicht 
mehr  von  ihmj  allein  so  wenig  er  auch  in  sich  selbst  wie- 
gen mochte,  so  war  doch  die  Entwickelung  der  Dinge 
die  er  hervorgerufen  von  der  grössten  Bedeutung. 

Das  ganze  Verhältniss  der  Regierung  hatte  sich  wie  mit 
Einem  Schlage  zu  ihrem  Nachtheile  geändert. 

Die  Bureaus  fuhren  fort,  die  ihnen  vorgelegten  Entwürfe 
in  Berathung  zu  ziehen,  lieber  die  Aufhebung  der  Salzsteuer 
und  die  Mittel,  den  Ausfall  zu  decken,  der  dadurch  entste- 
hen werde,  gab  Monsieur,  später  Ludwig  XVIII,  selbst  einen 
Vorschlag  ein,  der  dem  ministeriellen  vorgezogen  wurde; 
viel  und  lange  beschäftigten  sie  sich  mit  dem  Plane,  die 
Domänen  zu  veräussern;  —  ganz  Europa  hatte  seine  Augen 
auch  hiebei  auf  sie  gerichtet:  in  den  Staatsanzeigen  von 
Schlözer  sind  einige  ihrer  Festsetzungen  mit  dem  grössten 
Beifall  begrüsst  worden;  —  auf  diese  Dinge  kam  es  aber 
jetzt  schon  so  sehr  nicht  mehr  an.  Aus  den  Debatten  wa- 
ren bereits  andere  Fragen  emporgestiegen,  welche  die  Con- 
stitution der  höchsten  Gewalt  im  Reiche  berührten. 

Die  Notabein  hatten  den  Anspruch  erhoben,  von  dem 
Zustande  der  Finanzen  Eenntniss  zu  nehmen,  um  zu  sehen 
was  sich  zur  Herstellung  des  gestörten  Gleichgewichts  thun 
lasse;  der  König  willigte  für  dies  Mal  ein  und  liess  ihnen  die 
Etats  der  letzten  Jahre  vorlegen. 

Die  Etats  waren  jedoch  ungenügend;  als  man  nach  der 
Generalcontrolle  schickte,  fand  sich  Niemand,  der  die  erfor- 
derlichen Erläuterungen  hätte  geben  können;  nur  so  viel 
s^h  man ,  dass  alle  Hülfsquellen  erschöpft  und  ein  grosses 
Deficit  vorhanden  war.    Einige  berechneten  es  auf  84,  an- 

AUg.  Z«itockrlCt  f.  GMcUcht«.  Y.  1846.  g 


dere  aber  sogar  auf  140  MillioaeB.  Im  Angesicht  dieser 
Verwirrung,  und  aufgefordert,  einem  auf  jeden  Fall  «ebr 
starken  BedUrfniss  abzuhelfen,  nahmen  nan  die  NoCabein 
eine  ttberaas  stoke  Haltung  an.  Sie  waren  nicht  zufrieden, 
als  der  König  eine  Ersparniss  von  15  Millionen  anbei.  Auf 
den  Grund  der  älteren  Etats,  welche  sie  hervorzogen,  er^ 
klärten  sie  eine  Ersparniss  von  43  Millionen  für  möglich. 
Ihre  Gedanken  und  Absichten  aber  gingen  noch  viel  weiter. 
Sie  sprachen  ihre  Missbilligung  über  die  ganze  Art 
und  Weise  die  Finanzen  zu  verwalten  aus:  wo  alles  in  Dun- 
kel  gehüllt  sey^  ein  einziger  Mann  über  die  Wohlfahrt  von  vie^ 
len  Millionen  Menschen  entscheide,  und  ein  unzuaammen- 
hängendes  convulsivisches  Wesen  herrsche.^)  Dem  zu  begeg»^ 
nen,  gebe  es  kein  anderes  Mittel,  als  den  Ständen  oder  weiügr 
siens  Mitgliedern  der  Stände,  denn  nur  vorsichtig  drückten 
sie  sich  aus ,  eine  Mitaufsicht  über  die  Verwaltung  aniuTor- 
trau^QL  Sie  schlugen  die  Errichtung  einer  Commission  vor^ 
au  der  ausser  dem  Finanzminister  und  dem  Generalcontro- 
leur  auch  noch  fünf  unabhängige  Mitglieder  von  den  veN 
schiedenen  Ständen  herbeizuziehen  seyen..  Ohne  deren  sehrift^ 
liehe  Beistimmung  soUe  keine  Geldoperation  vorg^ommeü 
werden;  aUe  sechs  Monate  sollen  sie  den  Zustand  der  Fi'- 
nanzea  untersuchen,  alle  Jahre  dem  Ei^nig  eine  Genefalbe* 
reohnung  darüber  vorigen;  und  diese  sogleich  durch  dett 
Druck  zu  jedermanns  Kenntniss  biingen  tassen.  Selbst  jedö 
Gttadenbezeigung  müsse  in  Zuku^nft  unter  öffentlicher  Gewähr 
geschehen.  Eise  Anleihe  dürfe  manniehti»efar  machen,  ohneVer* 
SAcherung  für  die  Zinsen^  ohne  Bezeichnung  des  Fonds  zur  Wie- 
flerbezablung,  und  ohne  Begistrirung  der  Parlamente.  Diese  Qom- 
mission  sollte  nun  aber  nur  für  das  erste  Mal  v<m  dem  K<$»ig  er* 
naoant  werden,  alsdann  auf  mimer  bestehen  und  bei  voriiLomni^i^ 
den  Vacanzen  das  Becht  haben,  die  Gandidaten  zu  präsentiren» 


'')  Protocoli  des  ersten  Bureaus  am  4ten  Mai:  Un  voile  perfide  a 
envelopp6  depuis  long-tems  loutes  les  Operations  des  finances;  un 
Systeme  incoh^reDt  et  convulsif  est  venu  de  lui-m4me  d^mentir 
toutce  qiii  avoit  ^t^  annonc^,  et  avertir  le  roi  et  la  nation  du  danger 
de  fa^  d^pendre  le  sort  de  24  millions  de  citoyens  £^^  et  fid^les 
d'un  seul  homme« 


JDte  Viritmmlttng  der  framös.  Notabein  im  J.  17S7.     SS 

Oesug,  sH  forderten  die  Aufsicht  einer  so  vid  wie  möglich 
nnabää'ngigeti  Behörde  und  die  fortlaufende  Gonlroile  die  in 
der  Publieitäi  liegi.'*')^  Es  war  ein  offenbarer  Angriff  auf  die 
bisherige    administrative   Unumschrä'nklheit   der  Regierung. 

Und  wurde  dann  ernstlich  daran  gedacht,  wie  das  nun- 
mehr an  den  Tag  gekommene  Bedürfniss  zu  decken  sey ,  so 
trat  noch  eine  andere  grosse  Frage  hervor. 

Der  König  hatte  wie  immer  sich  zuletzt  entschlossen, 
das  zu  thun  was  er  anfangs  nicht  wollte,  und  den  neuen  Fi- 
nanzminister aus  den  Mitgliedern  der  Notabelnversammlung 
erwählt,  einen  Geistlichen,  der  aber  die  neuemden  Ten- 
denzen des  Jahrhunderts  vollkommen  theilte,  besonders 
mit  d'Alembert  befreundet  war,  Lomenie  de  Brienne,  Erz- 
bischof von  Toulouse.  Er  hatte,  in  dem  .zweiten  Bureau, 
eben  an  der  Spitze  einer  Commission  gestanden,  welche 
die  Ersparnisse  angeben  sollte  die  im  königlichen  Dienst 
gemacht  werden  könnten.  • 

Fast  nach  constitutionellem  Gebrauch  stieg  der  neue 
Minister  aus  der  Opposition  auf. 

Am  9ten  Mai  erschien  er  als  Repräsentant  der  Staats- 
gewalt in  einem  Ausschuss  aller  Bureaus,  welcher  über  die 
Finanzangelegenheiton  berathen  sollte. 

Man  sagt  ihm  nach,  und  fast  hat  es  den  Anschein,  das« 
er  nachdem  er  es  aHe  seinen  Ehrgeiz  seyn  lassen,  Ca»- 
lonne  zu  stürzen,  deniaoch  nichts  anders  vorzubringen  ge^ 
wusst  habe  ah  eben  dieser. 

Aber  er  war  nun  Minister  geworden,  Vorsteher  der  Fi- 
nanzverwaltung,  und  es  war  eine  Lebensbedingung  fUr  ihOi 
Geld  herbeizuschaffen.  An  so  weite  Gombinalionen  wie  seiö 
Vorgänger  angegeben,  dachte  er  wohl  nie  im  Ernste:  er 
blieb  bei  dem  stehen ,  was  ihm  unbedingt  nothwendig  schien 
und  was  die  Notabein  doch  nicht  geradezu  verworfen  hatten. 


*)  La  plus  importante  disposition  de  toutes,  la  plus  f^conde 
en  effets  heureux,  c'est  la  publicalion  per  voye  d'impression  du 
compte  g^n^ral,  certifle  par  ce  comit^,  des  receltes  et  des  d^penses 
de  l'6tat.  Elle  est  seule  le  frein  le  plus  puissaot  contre  toute  d^- 
pr^datton,  la  sauve-garde  de  la  fid^lit^  aux  engagemens. 

3* 


M     DU  Yenmmlung  der  framös,  Nötabeh  im  J.  i7S7. 

Brienne  stellte  vor,  dass  sich  das  Deficit  auf  140  tfiltionen 
jährlich  belaufe,  und  dass  es  nicht  anders  gedeckt  werden 
könne  als  durch  die  Verbindung  von  drei  Mitteln,  Ersparniss, 
Anleihe  und  Auflagen. 

Er  gab  an,  die  Ersparniss  könne  vielleicht  auf  40  Mil- 
lionen gebracht  werden:  er  würde  mehr  sagen,  wenn  er 
nicht  fürchtete,  die  Nation  damit  zu  täuschen. 

Was  die  Anleihe  anbetrifft,  so  sprach  er  die  Hofnung 
aus,  sie  auf  50  Millionen  zu  bringen;  da  die  Theilnahme  der 
Notabein  und  der  Ernst  den  man  zeigte  den  Credit  nicht 
ganz  sinken  liess. 

Augenscheinlich  aber,  (fuhr  er  fort,)  bedürfe  der  König 
auch  einer  Vermehrung  seiner  Einkünfte.  Allen  Einwendun* 
gen  seiner  alten  Freunde  zum  Trotz  blieb  er  dabei,  man 
könne  einer  Erhöhung  der  Auflagen  um  50  Millionen  nicht 
entbehren,  es  bedürfe  selbst  noch  vieler  Arbeit  und  Sorge 
xltn  mit  einer  solchen  auszukommen;  sollten  ja  die  Einkünfte 
jemals  das  Bedürfniss  übersteigen,  so  werde  man  in  den 
lästigsten  eine  Erleichterung  eintreten  lassen. 

Diese  Summe  wollte  er  nun  allerdings  grossentheils 
durch  die  Grundsteuer  gedeckt  wissen,  die  jetzt  auch  die 
Bevorrechteten  treffen  sollte.  Doch  war  nicht  mehr  von  dem 
unbestimmten  Ertrag  einer  Naturalleistung  die  Rede,  sondern 
nur  von  einer  sehr  wohl  zu  übersehenden  Erweiterung  einer 
schon  bestehenden  Auflage.  Die  Vingtiemes,  welche  längst 
auf  Grundstücken  und  Häusern  lasteten,  und  55  Millionen  ein- 
trugen, sollten  auf  80  erhöht  werden.  Diese  80  Millionen 
Sollten  nach  dem  bisherigen  Fuss  auf  die  Provinzen  vertheilt, 
innerhalb  derselben  aber  von  den  Provincialversammlungen, 
die  man  nach  den  Vorschlägen  der  Notabein  einzurichten 
versprach,  auf  eine  gleichmässigere  Art,  als  es  bisher  ge- 
schehen, umgelegt  werden. 

Da  nun  aber  nach  dieser  Berechnung  die  Grundsteuer 
auch  nicht  hinreichte,  um  das  ganze  Bedürfniss  zu  decken, 
80  schlug  Brienne  noch  einige  andere  Auflagen,  eine  Kopfsteuer 
und  hauptsächlich  eine  Stempelabgabe  vor.  Es  bezeichnet 
den  Geist  der  Epoche,  dass  er  meint,  man  werde  sich  diese 


Versammlung  der  framös.  Notabein  im  J.  1787,      37 

in  Frankreich  wohl  um  so  eher  gefallen  lassen ,  da  sie  auch 
in  England  bestehe.*) 

Die  Bureaus  wussten  nichts  besseres  anzurathen :  allein  eben 
hier  trat  nun  die  neue  Schwierigkeit  ein,  die  wir  angedeutet. 

Die  Versammlung  hatte  sich  eine  Ansicht  über  die  Fi- 
nanzen verschafft:  sie  erkannte  die  Noth wendigkeit  einer 
Abhülfe,  sogar  neuer  Auflagen  an:  hatte  sie  aber  auch  das 
Recht,  dieselben  zu  bewilligen?  Sie  hatte  es  nicht,  und 
maasste  es  sich  auch  nicht  an. 

Das  war  der  grösste  Uebelstand  dieser  Notabein.  Sie 
waren  mächtig  genug,  Opposition  zu  machen,  aber  sie  hat- 
ten die  rechtliche  Befugniss  nicht,  zu  Bewilligungen  zu  schrei- 
ten: dazu  erschien  vielmehr  noch  eine  ganz  andere  Ver- 
sammlung nothwendtg.  Es  ist  merkwürdig  wie  die  verschie- 
denen Bureaus  sich  in  dieser  Hinsicht  vernehmen  lassen. 

Das  erste,  des  ältesten  Bruders  des  Königs,  berührte 
die  constitutionelle  Frage  nicht  eigentlich:  es  vdederholte  i^ 
aufs  dringendste  und  im  Gegensatz  gegen  einen  indess  ein- 
gelaufenen Bescheid  der  ihm  nicht  genügend  schien,  die  For- 
derung, dass  ein  Finanzrath  nach  den  früheren  Vorschlä- 
gen errichtet  werden  sollte. 

Das  zweite  machte  zur  Bedingung,  dass  die  Regierung 
sich  verpflichten  müsse,  alle  Jahr  den  Etat  der  Ausgabe 
und  Einnahme  bekannt  zu  machen,  und  dass  sie  die  Re- 
form der  Missbräuche,  die  Reduction  der  Ausgaben  vorlege, 
ehe  sie  sich  mit  den  Auflage-Edicten  an  die  Parlamentshöfe 
wende.  Auf  Beschlussnahme  derselben  ward  demnach  alles 
verschoben.  Man  rühmte  hier  die  Geneigtheit  des  Glerus,  sich 
den  allgemeinen  Lasten  zu  unterwerfen,  forderte  aber  die 
Erhaltung  seiner  verfassungsmässigen  Rechte. 

*)  Sitzung  des  ersten  Bureaus  vom  18ten  Mai.  Le  plus  grand 
nombre  des  voix  a  regard6  l'impöt  du  timbre  comme  un  des 
moitts  on^reux,  puisqu'il  ne  tomberoit  pas  sur  la  classe  la  plus 
pauvre  du  peuple  et  que  sa  perception  est  le  moins  ch^re.  Die 
Grundsteuer  soll  höchstens  zu  25  Millionen  bewilligt  werden,  „en 
faisant  payer  les  deux  vingtiemes  au  clerg^  et  aux  privil6gi6s  et 
en  supprimant  les  abonnemens.^' 


3S     DU  VerMmmbmg  der  fran%ö$.  Notabein  ün  J.  1787. 

Dasdpitte,  das  unter  dem  Herzog  von  Orieans  gasessen, 
wiederholt  ausführlich,  wie  wenig  werth  die  Vorschläge  seyen, 
die  man  eingebracht  habe :  Provincialversamnalungen  ohne 
Macht  f  eine  neue  Auflage,  für  alle  Glassen  gleich  drückend;  eine 
Ermässigung  der  Taille,  wobei  aber  alle  Willkührliehkeitea  be- 
stehen geblieben,  u.  s.  w.,  und  wie  sie  dies  zu  verbessern  ge^ 
sucht  Was  die  Auflagen  anbetrifft,  so  sagt  dies  Bureau  zwar 
nieht  gradezu,  nur  die  allgemeinen  Stände  könnten  dieselben 
bewilligen;  aber  es  giebt  das  sehr  deutlich  zu  erkennen« 
,jWir  sind  der  Meinung,  beginnt  das  Gutachten,  dasa  eine  Ver- 
sammlung der  Notabein,  ohne  Vollmacht  und  Auftrag,  die 
nicht  von  den  Provinzen  deputirt  ist  und  nichts  gemein 
hat  mit  allgemeinen  Ständen,  keine  Auflage  bewilligen  dUrfe/^*) 

Es  ist  für  die  Folge  nicht  ohne  Bedeutung,  wenn  das 
vierte  Bureau,  von  Cond^  präsidirt,  darauf  zurückkommt,  das$ 
das  Befielt  ungenügend  ermittelt  sey :  da  man  das  Bediirfoiss 
QtÜit  kenne,  nach  welchem  doch  allein  sich  das  Maass  der 
Auflagen  bestimme ,  so  könne  man  auch  über  die  Ausdehnung 
und  Dauer  derselben  sich  nicht  aussprechen. 

Das  fünfte,  das  des  Prinzen  von  Bourbon,  weist  jede 
Theilnahme  an  der  Festsetzung  einer  neuen  Auflage  von 
9iob,  und  fordert  den  König  in  Worten  die  mehr  als  Eine 
Deutung  zulassen,  auf,  durch  legale  und  anerkannte  Formen 
die  Rechtmässigkeit  der  Hülfe  die  er  unglücklicherweise  for« 
dem  müsse  zu  sanctioniren.**) 

Das  sechste  und  siebente  Bureau,  die  unter  Conti  und 
Penthiivre  deliberirt  hatten ,  kommen  auf  den  Mangel  an  hin- 
reidiendem  Nachweis  zur  Berechnung  des  Deficits   zurilok, 


^i^«4lwa 


*)  Nous  n'avons  pens6  qu'une  assembl^e  des  notables,  qui 
n'a  rien  de  commun  avec  les  ötals  gen^raux,  peut  voter  un  imp6t. 

**)  Wetanl  revdtu  d'aucun  po«voir  pour  delib^rer  sur  l*6tablis- 
aement  de  rimp6t,  la  nation  ne  lui  (h  rassamblee  des  notabied) 
ayant  donnä  aucune  autorisation  pour  consenUr  ä  des  lev^es  de 
deniers,  les  diff^rents  membres  qui  la  composent  n'ay^nt  ^(e  appel^ 
\i»  qu9  par  ie  ohoix  du  souveraia,  c'e$t  au  souveralo  de  oonsaerer 
par  des  formes  legales  et  reconnues  la  legitimite  du  secours  quil 
se  voit  dans  la  triste  necessite  de  demander  h  ses  p^uples. 


Die  Verstmmlkmg  der  frmmöM.  ATotaMH  mi  J.  i787.     » 

ttfid  fordani  vor  allein  dass  dies  gtfiau  bekannl  gemacht 
werde,  um  alsdann  die  Mittel  su  untersuchen,  es  zu  heben.*) 

ßo  wenig  ist  es  wahr,  was  man  gewöhnlieh  liest,  dass 
die  Notabeln  die  neuen  Auflagen  gebilligt  oder  die  Sache  dem 
Emessen  des  Königs  überlassen  hätten. 

Dahin  hatte  es  die  Regierung  keineswegs  gebracht. 

Die  Regierung  hatte  gemeint  sich  durch  die  Reistimmung 
der  Notabeln  zu  verstärken  und  damit  den  Widerstand  su  ver* 
niehten  den  sie  bei  ihren  finanziellen  projecten  von  den 
Parlamenten  schon  erfuhr  und  weiter  zu  erwarten  hatte;  statt 
dessen  sah  uie  sich  damit  an  eben  diese  Gerichtshöfe  verwiesen« 

Oaionne  hatte  sich  eingebildet,  die  Selbständigkeit  and 
Macht  des  Glerus  brechen,  dessen  Gikter  der  allgemeinen 
Administration  unterwerfen  zu  können:  seine  darauf  hin-» 
zielenden  Projecte  waren  aber  von  ferne  ericannt  und  we- 
sentlich beseitigt  worden.  Zu  dieser  ungeheuren  Operationi 
welche  den  Eintritt  einer  neuen  Aera  in  Frankreich  bezeiobnan 
musstCy  gehörten  ganz  andre  Kräfte  als  welche  er  ehnzu« 
setzen  hatte. 

Seine  Verbesserungspläne  waren  keineswegs  alle  vor» 
werfen  worden:  man  hatte  ihnen  aber,  so  zu  sagen,  die  de* 
mokratische  Spitze  abgebrochen.  Provincialversammluagen, 
wie  er  sie  vorgeschlagen,  waren  eher  das  Gegentheil  von  denoi 
welche  nun  zu  Stande  kommen  sollten:  in  diesen  war  das 
Uebergewidit  des  Adels  und  der  Geistlichkeit  aufs  neue 
festgesetzt,  und  das  hatte  um  so  mehr  zu  bedeuten,  da  die 
meisten  andern  Verbesserungsvorschläge  an  sie  verwiesen 
wurden. 

Ueberhaupt  aber  stieg  in  den  ständischen  Corporationen 
der  Anspruch  auf,   Einfluss  auf  die  Regierung  zu  gewinnen. 


*)  Das  Bureau  Gonti's  drückt  sich  jedoch  ebenfalls  sehr  lebhaft  aus. 
L^assembl^e  n'ayant  aucun  carsctöre  pour  voter  des  imp6ts  nl 
n^mepour  donner  nne  sorta  d'aequiesesmeat  k  des  M%  qiii  selon 
la  constituUon  4^  )a  monarohie  na  peuvenl  reeevoir  War  siActieo 
que  par  la  verificatioa  des  tribunaiix  d^h^aos,  doU  9e  rsnfer- 
mer  dans  les  bornes  de  sa  mission  et  pr^scoter  simplemeot  ä  S. 
M.  des  observations. 


A     Die  Versammlung  der  frm%ö$\  Notabein  imJ,  1787: 

Er  zeigte  sich  in  jenem  Entwarf  finanzieller  Aufsicht,  auf 
weiche  sie  unaufhörlich  drangen;  und  dann  in  dem  weit- 
aussehenden Gedanken,  den  sie,  wenn  sie  ihn  nicht  wörtlich 
aussprachen,  doch  unverkennbar  hervortreten  liessen,  dass 
eine  Bewilligung  wie  die  geforderte  nur  von  allgemeinen 
Ständen  ausgehen  könne. 

So  wunderbar  und  neu  ist  es  wahrhaftig  nicht,  wenn 
dann  später  das  Parlament,  nachdem  die  entscheidenden 
Edicte  ihm  vorgelegt  worden,  sie  zurückweist,  weil  das  De- 
ficit, auf  das  man  sich  dabei  bezog,  noch  nicht  gehörig  ermittelt 
sey,  und  endlich  zur  Genehmigung  neuer  Auflägen  die  Be- 
rufung von  Generalständen  fordert.  Es  liegt  darin  nur  eine 
Entwickelung  dessen,  was  die  Bureaus  gesagt  oder  beab- 
sichtigt hatten. 

Niemand  wird  glauben,  ihr  Sinn  sey  auf  eine  Natio* 
naUassembl^e  gegangen,  wie  sie  später  zu  Stande  ge- 
kommen ist.  Was  sie  verlangten,  waren  die  alten  Gene- 
ralstände des  Reiches,  wie  sie  in  frühem  Jahrhunderten 
zusammengetreten,  deren  Berechtigungen  um  so  grösser 
erschienen,  da  sie  niemals  genau  bestimmt  worden.  Man 
rief  das  Beispiel  von  England  an,  aber  keineswegs  in 
populärem  Sinne.  Man  kannte  das  aristokratische  Element 
der  englischen  Verfassung  sehr  wohl,  das  so  stark  ist,  dass 
das  heutige  junge  England  behauptet  hat ,  sie  sey  eine  Nach- 
ahmung des  venezianischen:  man  wollte  die  Regierung  be- 
schränken wie  sie  dort  beschränkt  ist. 

Die  Gründung  einer  ächten  Monarchie,  welche  die  all- 
gemeinen Interessen  umfasst,  fördert,  beschützt  ist  ein 
Werk  das  nur  die  mächtigsten  Geister  vollbringen;  aber 
auch  die  Erhaltung  und  Fortbildung  derselben  erfordert 
geistige  Ueberlegenheit  und  moralische  Kraft.  Hier,  wo  das 
Verderben  schon  lange  begonnen,  war  es  durch  die  Ver- 
geudungen und  Gedankenlosigkeiten  der  *  letzten  Jahre  so 
weit  gekommen,  dass  eine  Fortsetzung  der  Monarchie  auf 
dem  gewohnten  Wege  fast  nicht  mehr  möglich  erschien. 

Auch  das  aber  war  noch  eine  grosse  Frage,  ob  die  Versamm- 
lung der  Generalstände,   in  den  Formen  wie  sie  vor  Jahr- 


Dk  Versammlung  der  fraimös.  Notabdn  im  J.  i79T.     41 

hunderten  üblich  gewesen,  bei  denen  sie  jedoch  immer 
etwas  Tumultuarisches  behalten  hatte,  nach  so  langer  Zeit 
wieder  genügen  werde. 

Wir  wollen  hier  nicht  den  Gegensatz  der  Gesinnung 
erörtern,  die  das  Jahrhundert  beherrschte,  von  der  ja  Edel- 
leute  und  Geistliche  —  in  ihrem  Herzen  —  grossentheils 
selbst  ergriffen  waren:  es  sey  genug,  wenn  wir  an  unserm 
Standpunct  festhaltend  eine  Schwierigkeit  bezeichnen,  auf 
welche  durchgreifende  Maasregeln  auch  von  Generalständen 
nothwendig  stossen  mussten. 

Es  gab  einige  Provinzen  die  den  Entschluss  kund 
gaben,  von  ihren  wohlerworbenen  Rechten  unter  keiner 
Bedingung  abzulassen.  Merkwürdig,  dass  es  hauptsächlich 
die  waren,  welche  einst  von  Deutschland  abgerissen  worden. 
Die  Entwürfe  welche  bei  den  Notabein  vorgekommen,  setzten 
sie  in  allgemeine  Aufregung. 

Im  Eisass  reclamirte  man  gegen  den  Plan  eine  Stern« 
pelauflage  einzuziehen:  nachdem  sich  die  Provinz  einst  von 
derselben  ausdrücklich  losgekauft  habe.  Selbst  durch  die 
Rückgabe  der  damals  gezahlten  Summe  könne  die  Sache 
nicht  ii^s  Gleiche  gebracht  werden:  da  ihr  z.  B.  die  Instand- 
haltung der  Ufer  des  Rheins  und  als  einem  Grenzlande, 
das  zum  Kriege  eingerichtet  sey,  gar  manche  andere  beson- 
dere Last  obliege:  sie  würde  ganz  unverhältnissmässig  be- 
steuert seyn. 

Lothringen  gerleth  über  die  Absicht,  ein'e  Aenderung 
mit  den  Domänen  zu  treffen,  in  Bewegung.  Die  altherzog- 
lichen Domänen  waren  dort  nach  verwüstenden  Kriegen  an 
Colonisten  ausgetheilt  worden,  die  nur  einen  geringen  Zins 
zahlten  und  sich  sonst  als  Eigenthümer  betrachteten.  Man 
brachte  in  Erinnemng,  dass  nur  unter  Anerkennung  dieser 
Verhältnisse  das  Land  einst  an  Stanislaus  abgetreten  worden 
sey,  von  dem  es  dann  an  Frankreich  übergegangen.  Man 
wollte  hier  nicht  warten,  bis  man  verletzt  werde,  sondern 
verlangte  sofort  eine  feierliche  Sicherstellung  der  Besitzer 
von  Domänen  und  Domanialrechlen,  unter  welchem  Titel 
sie  dieselben  auch  erworben  haben  mochten. 


41     Ok  WeFsmmtOHttff  der  frm»ö$.  NotßhOm  im  J.  i787. 

Am  DMiBten  aber  wurden  alle  diese  firüherhin  dentsehcn 
Frovinzen  vea  dem  Entwürfe  betreten,  die  Zölle  an  die 
Grenzen  des  Reichs  zu  verlegen.  Nooh  waren  sie  einem 
sehr  massigen  Zolle  unterworfen :  wie  sie  denn  ausdrücklich 
ak  Provinzen  gleich  dem  wirkUfifaen  Ausland  bezeichnet 
wurden.  Noch  bestanden  auch  die  alten  HandeJszüge,  aus 
Italien  und  der  Schweiz  durch  den  Elsass  nadi  den  Frank- 
ftirter  Messen;  Lothringen  und  die  Bisthtimer  bezogen  die 
Steffe  zu  ihren  Manufooturen  aus  den  Niederlanden:  eine 
vollkommene  commercielle  Vereinigung  mit  Frankreich  hieltea 
sie  für  das  sohwerste  Unglück  das  sie  betreffen  könne*). 

Sie  riefen  die  Besitznahmepatente  Ludwigs  XIV,  und 
die  Reiehs^edenssehlüsse  an.,  nach  welchen  die  Krone  nur 
an  die  Stelle  der  Erzherzoge  von  Oestreiefa  getreten,  aber 
Städten  und  Corporationeo ,  den  fremden  so  wie  den  ein* 
heimischen  Fürsten  und  Herrn  ihr  altes  Verhfiltniss  und 
Recht  gewährleistet  worden  sey^). 

So  hatten  auch  die  zu  den  Notabein  zugezogenen  Bre^ 
tagner  erklärt,  dass  nur  den  Ständen  und  Pariamenten  der 
Provinz  das  Recht  zukomme,  über  eine  Abänderung  des 
Systems  der  Auflagen  zu  beschliessen***). 

Es  iiess  sich  nicht  denken^  dass  eine  Versammlung  der 
allgemeitten  Stände  stark  genug  seyn  werde,  diesen  Wider- 
stand zu  brechen. 

Eben  so  wenig  aber  Hess  sich  auch  erwarten,  dass  die 


*)  Observations  pour  la  province  d'Alsace:  —  Sous  tous  les 
rapperta,  oonstitntion,  commerce,  localll^,  on  ne  peut  regarder  le 
reoulement  des  barri^res  quo  comme  le  malbenr  le  plos  irreparable. 

"**)  L,e  roi  joqit  de  tous  i^s  droit«  qui  oompeloient  aux  ar^i- 
ducs  d' Au  (riebe  dans  leur  domaine  d'Alsace  et  sur  \^  prefecturoi 
les  Corps,  les  villes,  les  princes,  les  seigneurs,  soit  ^trangera  ^oit 
domiciliös  en  Alsace,  qui  relev^rent  imm6diatement  de  fempire, 
ont  6t^.  mainteoos  par  les  träit^s  de  pars  et  les  lettres  patentes 
de  S.  M.  dans  leur  constHulion  particuli^e,  tt^me  peur  Iteeroioe 
de  la  religion. 

***)  que  c'est  aux  etats  seuls  de  la  provino^  assemblee  et  aux 
cours  souveraines  qui  y  sont  stabiles  de  d61ib6rer  sur  Tadoption  ou 
le  refus  de  toute  Innovation  dans  le  Systeme  des  imposHlons. 


Die  Fersammltmg  der  firamöe.  NetßMn  im  J.  179t,     4t 

Regierung  sich  den  Demttihigungen  aussetzen,  den  Besobfän- 

kungen  unterwerfen  werde,  die  ihr  von  einer  solchen  Ver- 
sammlung ohne  Zweifei  bevorstanden. 

Und  wie  dann,  wenn  sie  nochmals  auf  den  Weg  Ca« 
lonnes  zurückkam  5  sich  an  die  Ideen  des  Jahrhunderts  %vl 
wenden,  und  auf  die  Interessen  der  Mehrzahl  zu  stützen, 
und  wenn  sie  diesen  alsdann  einen  grösseren  Einfluss  zu 
verschaffen  selber  für  gerathen  hielt? 

Dann  mussten  die  grössten  Conflicte  enlstehep:  die 
durch  die  eingefilbrte  Ordnung  der  Dinge  gehanaien  Kräfte 
mussten  sich  entbinden,  wie  ein  Kampf  der  Naturgewalten 
zwischen  ihnen  ausbrechen:  dem  Stärksten  war  der  Sieg 
beschieden,  und  neue  Geschicke  standen  der  Welt  bevor* 

Die  Versammlung  der  Notabein  ist  nicht  deshalb  meric- 
würdig,  daas  sie  etwas  Bleibendes  gestiftet  oder  veranlasst 
hätte,  sondern  deshalb,  weil  sie  die  ganze  Schwierigkeit 
und  Bedeutung  der  Lage  an  den  Tag  brachte,  in  der  sich 
Frankreich  befand. 


Beilage. 

Das  Verhältnlss  der  Notabein  zu  den  Vorschlägen  Calonues 
ergiebt  sich  aus  folgendem  Actenstück  besonders  deutlich. 

On  doit  distinguer  dans  les  mömolres  remis  ^xx\  notables  les 
vues  g^o^rales  et  les  moyens  de  les  remplir. 
Les  vues  g^nörales  sont: 

la  tenue  des  assembl6es  proviociales, 

une  imposition  territoriale  mieux  repartie  que  tes  ving- 

li^mes, 
la  liböration  des  dettes  du  clerg^, 
quelques  $oulagemens  sur  la  taille, 
la  libert^  du  commerce  des  grains, 
l'abolition  de  la  conröe, 
Te  reculement  des  traits  k  T^xtröme  fronti^re, 
l'adoucissement  de  la  g^belle  etc. 
On  doit  applaudir  h  |a  sagesse  du  roi  qui  lui  a  fait  adqpter 
ces  vues,  qui  bien  rempUes  pourroient  procurer  au  royaume  Ae^ 
biens  infinis. 

Mals  t>our  les  proposer  au  roi,  lo  roinistre  n'a  eu  besoin  que 
de  recueillir  quelques  r^sultats  d'ouvrages  connus  et  de  presque 
toutes  les  conversations ;  ces  vues  ne  sont  pas  ^  lui;  elles  sont 


44     Die  Versammlung  der  frawiös,  Notabein  im  J.  1787. 

leg  titres  de  cbapitres  excellens;  et  en  ies  prenant  dans  cettegö« 
n^ralit^,  il  n'en  est  aucuDe  qui  n'ait  ^tö  adopt^e. 

Ge  qui  est  propre  au  ministre  et  qui  iui  appartient,  c'est  la  ma- 
niöre    de    remplir  ces  vues,   et  c'est  cetle  maniöre   qu'il  a  6t^ 
question  d'eiaminer. 
1*  La  forme  des  assembl^es  provinciales  dans  )es  m^moires  a 

et^    trouvöe   contraire   ä    la    Constitution  de  la  monarchie  et 

m^me  k  i'inlör^t  du  roi  comme  h  celui  de  ses  sujets. 
2*  L'imp6t  territorial  auquel  Ies  m^moires  donnent  la  pröf^rence, 

n'a  ni  T^galilö  ni  ia  proportion  d^siree,   et  est   süjet  h  mille 

inconv^niens. 
3*  Le  moyen  propose  de  lib^rer  Ies  dettes  du  clerge  porte  6yi- 

demoient  atteinte  k  la  propriel^. 
4*  Les  soulagemens  aunonces  sur  la  taiile  retombent  sur  Ies  pro- 

priötaires  et  pourroient  leur  devenir  Ires-onöreux. 
5^  Le  tarif  des  traits  a  besoin  de  röformation ,   il  favorise  la  nou- 

veile  compagnie  des  Indes,  occasioune  des  agiotages,  et  on  ne 

peut  concilier  avec  la  culture  du  tabac  au  moins  en  Alsace 

les  prdcautions  qu'il  exige. 
6*  Enfin  la  r^forme  de  la  gabelte  teile  quelle  est  dans  les  me- 

moires,   offre  tant  de    contradictions  qu'il  est  impossible  de 

l'admettre  malgr6  la  rigueur  du  regime  actuel,   qui   ne   peut 

cesser  que  par  sa  d^struclion  totale. 

Ainsi,  ä  l'exception  de  la  libertö  du  commerce  des  grains  et 
l'abolitiou  de  la  corvee,  aucun  des  moyens  propos^s  ne  peut  et 
ne  doit  6tre  admiS;  et  encore  faut  il  remarquer  que  les  m^moires  sur 
ces  deux  objels  ne  presentent  presque  que  le'titre,  et  qu'on  ne 
peut  juger  des  d^tails  dans  lesquels  ils  n'entrent  pas. 

On  pr^voit  d^jä  qu'on  en  dira  autanl  des  m^moires  sur 
les  domaines  et  sur  les  for^ts;  il  paroit  qu'il  n'en  restera  que  la 
necessit^  d'amöliorer  ladministration  sans  que  les  moyens  soient 
approuves. 

On  doit  aussi  ajouler  que  tous  ces  moyens  ne  sont  pas  mSme 
expos6s  dans  les  memoires  d'une  mani^re  r6Q6chie  et  combinöe. 
Ce  ne  sont  que  des  apper^us  auxquels  on  a  fait  des  changemens 
successifs  et  qui  ne  montrent  aucune  suite. 

On  voit  par-lä  qu'on  ne  peut  confondre  les  vues  des  m^ 
moires  avec  les  moyens  qu'ils  proposent.  Les  premi^res  sont  au 
roi  et  k  tous  les  gens  sens6s  qui  les  ont  congues  et  les  notables 
j  ont  applaudi;  les  moyens  sont  au  ministre,  et  tous  out  €i6  re- 
jettös,  et  presque  par  l'unanimite  des  sufifrages;  ce  qui  seroitdonc 
k  d^sirer,  c'est  de  remplir  les  m^mes  vues,  mais  avec  d'autres 
moyens* 


Bin    Blick   In    die    ttltere   prensslsche   tte« 
schlclite,   mit  Bezug*  auf  die  »tündlsehe 

Entwicklung* 

Hach  drei  ongedrackten  Chroniken. 


Die  für  Preussen  so  bedeutungsvolle  Zeit  der  Reformation 
und  des  Krakauer  Friedens  sind  zwar  schon  pfl  der  Gegen- 
stand ausführlicher  Darstellungen  geworden,  aber  ein  Mo- 
ment hat  in  keiner  einzigen  die  nöthige  Beachtung  gefunden, 
ich  meine  die  eigenthümliche  Entwickelung  der  ständischen 
Verhältnisse,  welche  eben  damals  nach  einer  langen  Zeit 
der  Abspannung  die  eigentliche  Lebensfrage  des  Landes  ge- 
worden war.  Baczko  scheint  davon  Ahnung  gehabt  zu 
haben,  und  traf  auch  die  Quellen,  aus  welchen  hier  zu 
schöpfen  war,  liess  es  dann  aber  bei  einzenlen  ganz  abge- 
rissenen und  deshalb  kaum  verständlichen  Notizen  bewenden 
und  irrte  in  oberflächlichen  Reflexionen  weit  von  der  Wahr- 
heit ab;  Voigt  aber  hat  nicht  nur  jene  Quellen  keiner  wei- 
tern Beachtung  gewürdigt,  sondern  auch  das  von  Baczko 
schon  mitgetheilte  Material  wieder  fallen  lassen  und  durch 
einige  wenige  Berichte  aus  officiellen  Briefschaften  kaum  auf- 
wiegend ersetzt.  Ich  glaubte ,  dass  diese  bedeutende  Lücke 
endlich  ausgefüllt  werden  müsse. 

Die  Hauptquellen  für  diese  Darstellung  sind  drei  zeit- 
genössische Chroniken,  deren  wesentlicher  Inhalt,  so  oft 
die  Namen  ihrer  Verfasser  genannt  sein  mögen,  doch  fast 
ganz  unbekannt  geblieben  ist.  Der  Grund  davon  scheint 
kein  anderer  gewesen  zu  sein,  als  die  Schwierigkeit  ihrer 
Benutzung;  denn  neben  dem  Brauchbaren  und  Nothwen- 
digen  enthalten  sie  alle  viel  Gleichgültiges;  mühsames  Quel- 
lenstudium aber  ist  keine  so  alte  Erfindung  und  nicht  die 
Sache  vieler.    Da  ich  vor  allem  auf  den  genannten  Chroniken 


46         Ein  Blick  in  die  ältere  preussische  Oeschichte 

baue,  und  was  ich  mittheile)  den  hauptsächlichsten  Inhalt 
derselben  beinahe  erschöpft,  so  sei  es  erlaubt,  in  kritischem 
und  literaturhistorischem  Interesse  einige  Worte  über  die- 
selben  vorauszuschicken. 

Sifiaen  Grünau  ist  in  Verruf  jgekom&ien  and  fabdh«, 
wo  er  die  ältere  Geschichte  Preussens  erzählt,  allerdings. 
Aber  man  muss  diesen  Theil  seiner  Chronik  von  demjenigen 
unterscheiden,  in  welchem  er  die  Zeitgeschichte  erzählt. 
Er  scheint  seil  dem  Jahre  1510  geschrieben  zu  haben  und 
endet  mit  dem  Jahre  1529.  Ich  läugne  nicht,  dass  er  auch 
filr  diese  Zeit  mit  Vorsicht  zu  benutzen  ist,  da  ihm  eitie 
Helere  Einsicht  in  öffentliche  Verhältnisse  abgeht,  und  be- 
sonders für  die  letzten  Jahre  seit  Einführung  der  Reformation, 
welche  dem  Mönche  von  Tolkemit  alle  Besinnung  raubte 
und  ihn  zu  den  sonderbarsten  Vermuthungen  und  Verdre- 
hungen führte*.  Nichtsdestoweniger  enthalten  die  letzten 
Tractate  Originalnachrichten,  an  deren  Wahrheit  zu  zweifeln 
kein  Grund  vorbanden  ist,  deren  Richtigkeit  sogar  durch 
Vergleich  mit  andern  hin  und  wieder  bewiesen  werden  kann. 

Die  beiden  andern  Chroniken  wurden  ohne  Zw^fel 
durch  den  polnischen  Krieg  von  1519  hervorgerufen.  Daniel 
Freiberg  fügte  wie  Grünau  die  ältere  Ordensgeschicfate  bei; 
die  Begebenheiten  der  Jahre  1517  — 1519  beschrieb  er  aus 
der  Erinnerung,  den  Krieg  selbst,  wie  ^r  von  den  Ereig- 
tiissen  Nachricht  erhielt,  oder  wie  er  sie  in  Königsberg  als 
Augenzeuge  beobachtete.  Für  die  nächsten  Jahre  finden 
sich  nur  vereinzelte  Notizen;  dann  folgen  die  Acten  des 
Thorner  Waffenstillstandes  und  des  Krakauer  Friedens;  vom 
Jahre  1525  an  giebt  er  kurze  aber  bündige  Nachrichten,  die 
nicht  blos  die  Geschichte  der  Hauptstadt  betreffen,  obwoU 
er  sich  auf  diese  immer  mehr  und  mehr  beschränkt.  Um 
1544  scheint  er  seine  ganze  Chronik  überarbeitet  zu  habe», 
doch  machte  er  auch  für  die  folgenden  Jahre  noch  einige 
Nachträge.  Es  ist  eine  sehr  gediegene,  interessante  Arbeit, 
lür  uns  auch  insofern  wichtig,  als  wir  in  derselben  die 
Stimme  des  in  jener  Zeit  so  bedeutenden  Rathes  der  Alt- 
stadt Königsberg^  zu  welchem  Fretberg  selbst  vieUeicbl  ge^ 


)  vemehmen.  Das  Original  dieser  Ghtoirik  befindet 
skk  auf  der  fatesigea  Magistraisbiblioihek  und  von  zweien 
Abschriften  die  eine  ebenda,  die  andre  in  der  Wallearodi* 
sehen  Bibliothek,  In  beiden  ist  die  frühere  Ordensgeschichte 
und  die  Berichte  von  1525  ab,  in  der  letztern  auch  die  Be- 
richte über  dte  Jahre  1517 -—1519  weggelassen.  Beide  Ab* 
Schriften  enthalten  aber  allerlei  Zusätze,  von  welchen  die 
nach  dem  iahre  1521  !und  die  ausführliche  (im  erläuterten 
Preussen  abgedrackte)  Darstellung  des  Bauernkrieges  in 
der  letatern  die  wichtigsten  sind. 

Johann  Beler  ging  doch  wenigstens  bis  auf  den  Tod 
des  Kaisers  Maximilian  zurück,  beschränkte  sich  aber  vor- 
züglich auf  die  Stadtgfeschichte,  und  so  auch  sein  Fortsetzer 
Caspar  Platner.  Beide  waren  Stadtschreiber  der  Altstadt 
Königsberg,  Beler  wurde  Ratbsherr  und  scheint  eben  des- 
kB\h  die  Fortsetzung  seiner  Chronik,  die  er  bis  gegen  das 
Ende  des  Jahres  1523  führte,  beinern  Nachfolger  im  Amte 
übeiiassen  zu  haben.  Platner  kam  bis  1527.  Ihre  Chronik 
ist  schon  als  Ergänzung  zu  der  zwischen  1521  und  1525  so 
mangdhaflen  von  Freiberg  sehr  erwünscht,  und  auch  des- 
halb von  Bedeutung,  weil  in  derselben  manche  interessante 
Actenstücke  mitgetbeät  werden,  steht  aber  jener  an  Werth 
bei  weitem  nach.  Platner  zumal  konnte  d»e  Verhältnisse 
nicht  übersehn  und  fand  kein  Maass  der  Ausführltchkieit: 
er  ist  verworren  und  unverständlich ,  Beler  ist  übersichtlicher 
und  verständlicher,  weiss  aber  nicht  zu  unterhalte«  wie 
Freiberg. 

Zu  diesen  Chroniken  habe  ich  aus  den  Papieren  des 
geheimen  Archivs  nvir  wenig  hinzuzusetzen.  Einiges  aus 
4ienselben  hat,  wie  gesagt,  Voigt  mitgetheilt;  doch  musste 
auch  hier  hin  und  wieder  berichtigt  und  verbessert  werden. 


Das  Hauptübel,  welches  Preussen  besonders  seti  der 
Schlacht  hei  TaiHienberg  drückte,  war  des  Missverhäitnfss 
zwischen  dem  Orden  und  der  Landschaft,  fls  halte  iih  Lav^ 
des  Ainfzebnten  Jahrhunderts  z«  den  trauriigsien  Resultaten 


iS        Ein  Blick  in  die  ältere  preussische  Oeechiehte 

geführt  und  drohte  auch  den  geretteten  Theil  des  Ordens- 
staates so  wie  den  im  Thorner  Frieden  abgetretenen  in  eine 
polnische  Provinz  zu  verwandeln.  Es  bedurfte  einer  durch* 
greifenden  Reformation,  wenn  dieses  Schicksal  abgewandt 
werden  sollte;  die  Hochmeister  beschäftigten  sich  mit  diesem 
Gedanken  in  der  That  eine  lange  Zeit,  allein  sie  wandten 
ihre  Aufmerksamkeit  viel  mehr  auf  die  Verfassung  des  Ordens 
als  auf  die  des  Landes  und  auf  diesem  Wege  konnte  nicht 
geholfen  werden,  selbst  wenn  ihre  Ideen  zur  Ausführung 
gekommen  wären.  Die  Lösung  der  Frage  kam  von  einer 
Seite,  von  welcher  der  Orden  selbst  sie  am  wenigsten  er- 
wartete. Man  wählte  Hochmeister  aus  fürstlichen  Geschlech- 
tern, um  durch  deren  Familienverbindungen  dem  Orden 
von  aussen  her  Unterstützung  zu  verschaffen.  Aber  so  ge- 
ring auch  der  Vortheil  war,  den  er  aus  dieser  Maassregel 
zog,  so  theuer  musste  er  doch  erkauft  werden.  Der  Orden 
glaubte,  was  er  durch  eigne  Kräfte  nicht  vermochte,  durch 
fremde  zu  erreichen ,  und  die  Welt  ist  nun  einmal  eigennützig. 
Herzog  Friedrich  von  Sachsen  und  Markgraf  Albrecht 
von  Brandenburg,  die  beiden  letzten  Hochmeister,  gedachten 
auch  in  dieser  Würde  als  Fürsten  aufzutreten.  Hierdurch 
geriethen  sie  sofort  in  Spannung  mit  dem  Orden:  die  mäch- 
tigsten Häupter  desselben,  die  Landmeister  in  Liefland  und 
Deutschland  erlangten  um  so  grössere  Selbstständigkeit,  je 
mehr  die  Hochmeister  die  allgemeinen  Beziehungen  des 
Ordens  aus  den  Augen  verloren;  die  Ritter  in  Preussen  aber 
sanken  zu  desto  grösserer  Ohnmacht  und  Bedeutungslosigkeit 
herab:  denn  jene  Fürsten  regierten  das  Land  vielmehr  nach 
dem  Rathe  ihrer  weltlichen  Räthe  als  der  Ordensbrüder, 
und  zweitens  bedurften  sie  zur  Unterhaltung  eines  fürst- 
lichen Hofes  so  viel,  dass  die  Ordensbrüder  viel  weniger 
für  sich  behielten,  als  sonst,  indem  theils  die  einträglichsten 
Aemter  unbesetzt  blieben,  andere  schlechter  dotirt  wurden. 
Seitdem  den  letztern  so  Unterhalt,  Genuss  und  Herrschaft 
geschmälert  waren,  erfüllte  der  Eintritt  in  den  Orden  die 
Wünsche  der  Edelleute  weit  weniger  als  sonst.  Nach  Fried- 
richs Tode  erhob  sich  eine  starke  Partei  gegen  die  aber'-^ 


mU  BeAug  tmf/He  ständiscke  Enkeiekhmg.  49 

malige  Berufung  eines  Fürsten  zum  Hochmeisteramte,  aber 
Wilhelm  van  Eisenberg ,  bisher  Marschall  und  Statthalter, 
der  in  der  veränderten  Regierungsform  auch  seinen  Vortheil 
fand ,  brachte  die  stärkere  zusammen;  durch  welche  Albrecht 
von  Brandenburg  gewählt  wurde.  Es  scheint,  dass  die  Zahl 
der  Ordensbrüder  seitdem  beträchtlich  abnahm. 

So  weit  ist  man  auch  frUherbin  mit  den  Ereignissen 
bekannt  gewesen.  Nun  fehlte  aber  ein  Mittelglied  für  die 
fernere  Entwickelung.  Denn  man  musste  doch  fragen,  wel- 
ches die  Stütze  eines  Hochmeisters  gewesen  sei,  der  über 
einen  Theil  der  früheren  Kräfte  des  Ordens  nicht  mehr 
verfügen  konnte,  bei  dem  andern  Abneigung  und  Wider- 
stand finden  musste?  Einem  Kriege  gegen  Polen  waren  die 
Stände  immer  abgeneigt  gewesen,  wie  ja  noch  der  Hoch«- 
meister  Martin  Truchses  von  Wetzhausen,  der  unter  schein* 
bar  günstigen  Auspicien  Polen  anzugreifen  Anstalten  machte, 
den  Frieden  herstellen  musste,  weil  die  Stände  darauf 
drangen.  Wie  konnte  Albrecht  bei  seiner  viel  ungünstigeren 
Stellung  gegen  den  Orden  dennoch  Polen  den  Fehdehand- 
schuh hinwerfen?  Schon  aus  dieser  einfachen  Betrachtung 
kann  man  entnehmen,  dass  sich  die  ständischen  Verhält- 
nisse damals  wesentlich  verändert  hatten. 

Adel  und  Städte  sind  der  Landesregierung  gegenüber 
vielleicht  nirgend  so  einig  gewesen,  als  in  Preussen  vor  die* 
ser  Zeit  Der  grosse  Städtebund  z.  B.  umfasste  auch  den 
grössten  Theil  der  landsässigen  Ritterschaft.  Wie  aber  das 
Hochmeisterthum  immer  mehr  zum  Fürstenthum  hinneigte, 
in  demselben  Maasse  schwand  diese  Einigkeit.  Der  Adel 
hatte  seit  dem  Thorner  Frieden  an  Bedeutung  sichtbar  zu* 
genommen:  die  Zahl  seiner  Mitglieder  ward  durch  Beloh- 
nung der  für  ihre  Kriegsdienste  unbefriedigten  Söldnerfüh- 
rer ansehnlich  vermehrt;  selbst  einzelne  Privilegien  hatte  er 
von  den  Hochmeistern  erzwungen,  wie  das  über  die  Verer« 
bung  der  magdeburgischen  Güter  von  Martin  Truchses. 
Durch  eine  Art  von  Wahlverwandtschaft  neigte  er  zum  Für- 
sten, bis  endlich  auf  dem  Landtage  zu  Heiligenbeil  1516  der 
Bruch  zwischen  ihm  und  den  Städten  vollkommen  enlschie*- 

Allg.  Z«itoekrift  r.  GeseUeht».  T.  1146.  4 


50         £m  BUck  in  dk  äUere  premsisohe  Geschichte 

den   wurde.    Es  ist  dies  eines  der  wichtigsten  Ereignisse, 
doroh  welche  die  Entstehung  des  Herzogihums  vorbereitet 
wurde.     Die    Stellung,  welehe   der  Adel  damals  einnahm, 
hat  er  mit  geringen  Unterbrechungen  auch  späterhin  beibe- 
halten.  Die  nächste  Folge  seiner  Verbindung  mit  dem  Hoch- 
meister war  der  erhöhte  Steuerdruck.    Zuerst  wurden,  was 
vorher  nicht  geschehen  war,  fast  jährUch  neue  Steuerbewil- 
Itgungen,   dann  1518  zum  ersten  Mal  eine  Steuer  auf  drei 
Jahre  erzwung^i,  woran  sich  dann  die  ganze  folgende  Fi* 
nanzgeschichte  Preussens  knüpft:    1525  wurde  schon  eine 
Steuer  auf  fUnf  Jahre,  1528  eine  andere  für  die  ganze  Dauer 
der  Regierung  Anrechts   und  seiner  Leibeserben  bewilligt. 
Durch  diese  Steuerbewilligungen  sah  sich  Albrecht  zu  dem 
Kriege  mit  Polen,  der  das  endliche  Schicksal  Preussens  her- 
beiführte, in  den  Stand  gesetzt.    Der  ungünstige  Erfolg  des- 
selben machte  ihm  den  Adel  auf  einen  Augenblick  abtrün- 
lug;  er  bedurfte  einer  anderen  Stütze  und  fand  sie  in  den 
niedern  Glassen  in  den  Städten.    Hiedurch  stieg  wieder  der 
fiinfluss  der  letzteren,  was  auf  die  Art  der  Einführung  der 
Reformation  und  auf  den  Gang  des  Bauernkrieges  von  gros- 
sem Einfluss  war.   Bald  kehrte  der  Adel  zu  seinem  frühern 
Yerhältniss  gegen  den  Hochmeister  zurück,. und  dieses  Yer- 
hUtniss   so  wie  die  innere  Zwietracht  der  Städte  sicherten 
die  Einführung  der  weltlichen  Herrschaft  eines  Eii)fürsteo. 
Endlich  musste  gerade  der  so  drohende  Bauernkrieg  dazu 
beitrage»,   die  Macht  des  Herzogs   so   zu  befestigen,  dass 
einer  seiner  Günstlinge  daran  denken  konnte,  seine  Gewalt 
unumschränkt  zu  machen.    Dieses  ist  das  Bild  jener  so  er- 
gebnissreidien  Periode,  einer  Periode  der  Gährung,  Revolu- 
tion und  Gewalt.    Wenn  das  Urtbeil  über  Albrechts  Regie- 
rung bisher  zweifelhaft  war,  wenn  ein  älterer  Biograph  des- 
selben sich  sogar  angelegen  s^n  lässt,  ihn  als  das  Muster 
eines  Fürsten  darzustellen,  so  wird  der  Verfolg  hierüber  be- 
stimmtere Aufeohlüsse  geben. 

Ich  gehe  auf  Herzog  Friedrich  zurück,  unter  welchem 
Adel  und  Städte  im  Ganzen  noch  im  Einverständnisse  biie» 
ben.   Friedrich  erhöhte  schon  die  Anforderung  an  die  Stände 


mt  B^ug  auf  die  ständische  Enimchlnng,  51 

md  musste  um  zu  sainam  Zweck«  zu  gelangen,  sich  unge- 
wöhnlicher Mittel  bedienen.  Einmal  wurde,  wahrscheinlich 
ohne  sein  Zuthun,  bei  der  Berathung  über  die  Bierzeise 
der  Zwiespalt  zwischen  den  drei  Städten  Königsberg  so 
gross,  dass  grobe  Excesse  nur  mühsam  unterdrückt  werden 
könnten."^)  Auch  wussle  er  bereits  schon  den  Adel  näher 
an  sich  zu  ziehen.  Johann  von  Tiefen  hatte  nur  zwei  Steu«- 
am  erhoben,  deren  Ertrag  nicht  bedeutend  gewesen  zu  sein 
seheint.**)  Friedrich  versuchte  zuerst 'manches  andere  Mit- 
tel zur  Erhöhung  seiner  Einkünfte;  dann  aber  fand  er  „mit 
seinen  neugebraehten  Bäthen  (als  Niklas  und  Caspar  Pflug, 
Doctor  Werther,  Schönberger  und  andre  mehr)  einen  Weg, 
der  Geldes  die  Fülle  tragen  würde,  nämlich  die  Zeise  von 
einem  jeglichen  Bier  drei  Mark  zu  geben,  welche  nach  dem 
grossen  Kriege  abgekommen  war/'  Diese  Bierzeise  wurde 
ihm  dreimal  bewilUgt  1501,  1506  und  1508.  Die  näheren 
Bestimmungen  derselben  waren  diese:  in  Königsberg  wer- 
den für  das  Gebräu  drei  Marie,  in  den  kleinen  Städten  zwei 
Mark,  airf  dem  Lande  und  zwar  nur  von  Krügern  und  den- 
jenigen, weiche  Krüge  mit  ihrem  Bier  versorgen,  nach  dem 
Verfaältniss  von  einer  Mark  zu  20  Scheffeln  gezahlt.  Da 
diese^  Steuer  die  Landschaft  und  besonders .  den  Adel  weni- 
ger beschwerte,  als  die  Städte,  so  wurde  mit  derselben  je- 
desmal eine  Yiehsteuer  verbunden,  zuerst  von  einem  Schil- 
ling, dann  von  zwei  Schillingen  für  die  Nacht,  d.  h.  für  die 
Steuereinheit,  welche  bei  grösserem  Vieh  ein  einzelnes  Stück, 
bei  kleinerem  zwei  oder  vier  Stücke  ausmachten.  Der  Er- 
trag dieser  Steuer  stieg  jedesmal  über  90,000  Mark.***)  Sie 
war  ungewöhnlich,  aber  nicht  unerträglich.  Herzog  Fried- 
rich blieb  im  Lande  in  gutem  Andenken,  und  unter  der  drük- 
kenden  B/egierung  seines  Nachfolgers  erinnerte  man  sich 
oft  der  bessern  Zeit  unter  der  sßinigen. 

Denn  die  Regierung  des  Markgrafen  Albrecht   war   in 

*)  Platner  fol.  202  spricht  davon  beiläufig. 
**)  Gronau  S.  1296.    Ob  nicht  fiaczko  Bd.  4.  S.  73  trotz  sei- 
nes Citates  Irrt? 

*''')  Fit»iberg  fol.  74  und  249.  Grünau  S.  1323. 

4* 


52        Ein  Blick  in  die  ältere  preussische  Geschichte 

seinen  jungem  Jahren.,  ehe  der  Umgang  und  die  Lehre  der 
Reformatoren  seinen  Sinn  gemildert  hatten,  und  dann  wie- 
der in  seinen  spätem  Jahren,  als  er  an  den  religiösen  Be- 
wegungen persönlichen  Antheil  nahm,  ausserordentlich  ge- 
waltsam und  um  so  drückender,  da  lieben  ihm  seine  Günst- 
linge mit  despotischer  Willkür  schalten  durften.  Viele  ha- 
ben sich  die  gröbsten  UngerlBchtigkeiteu  zu  Schulden  kom- 
men lassen;  die  meisten  haben  sich  ohne  Scheu  vor  den 
empörendsten  Mitteln  bereichert  und  in  Zeiten  der  Noth  und 
Bedrängniss  das  Land  verlassen;  vor  allen  Dittrich  von 
Schönberg,  später  Hans  von  Besenröde  und  nach  den  Zeiten 
Osianders  Paul  Skalich  luden  den  Hass  und  die  Verwün- 
schungen des  VQlks  auf  sich. 

Schon  auf  dem  Landtage  von  1514  verlangte  Markgraf 
Albrecht  eine  sehr  bedeutende  Ausfuhrsteuer,  verbunden 
mit  der  Viehsteuer,  und  einer  dritten  von  den  Getränken, 
nämlich  einen  Pfennig  von  einem  Stof  Bier  oder  Meth  und 
zwei  Pfennige  von  einem  St(A  Wein.  Während  der  Adel 
die  Viehsteuer  wie  unter  Friedrich  bewilligte,  widersetzten 
§ich  die  Städte,  welchen  die  beiden  anderen  vorzugsweise 
zur  Last  gefallen  wären,  und  zwar  mit  solchem  Erfolge,  dass 
der  Hochmeister  vorerst  von  denselben  abstehen  musste. 
Nichts  weiter  bewilligten  sie  als  eine  Abgabe  wie  sie  unter 
dem  Hochmeister  Johann  von  Tiefen  gegeben  war,  nämlich 
eine  Wohnungssteuerj  vier  Skot  für  das  Haus,  und  eine  Ver- 
mögenssteuer, zwei  Pfennige  von  der  Mark.  Auch  darein 
musste  Albrecht  willigen,  dass  die  Vermögensschätzung  nicht 
Ordensbeamten ,  sondern  den  Städten  selbst  überlassen 
wurde;  doch  gab  er  zu  verstehen,  dass  er  eine  neue  Bewil- 
ligung erwarte,  wenn  diese  nicht  zulange.  Aus  diesem 
Grunde  berief  er  die  Stände  schon  1515  nach  Königsberg: 
der  Adel  bewilligte  die  Viehsteuer  abermals;  die  Städte  aber 
konnten  zu  keiner  Einigung  gelangen,  angeblich  weil  sie 
nicht  mit  hinlänglichen  Vollmachten  versehen  seien.  Als  der 
Hochmeister  bald  nach  dem  Schlüsse  des  Landtags  die  ein- 
zelnen Städte  befragen  Hess,  was  sie  zu  thun  gesonnen 
seien,  antworteten  diese,  sie  würden  geben,  v^^as  Königsberg 


mU  Bezug  auf  die  ständische  Ent^^hbtng,  53 

bewillige;  Königsberg  aber,  welches  der  Hochmeister  nun 
um  so  dringender  aufförderte,  entzog  sich  jeder  Auflage  hart- 
näckig, unter  dem^  Vorwande,  es  könne  ohne  die  Landschaft 
nichts  bewilligen,  wie  die  Landschaft  nicht  ohne  sie  habe 
handeln  wollen.  Ueberhaupt  erkannte  der  Hochmeister  bald, 
dass  Königsberg  bei  jeder  neuen  Auflage  die  grössten  Schwie- 
rigkeiten machen  würde.  Königsberg  war  seil  dem  Thorner 
Frieden  bei  weitem  die  bedeutendste  Stadt  im  Lande;  die 
kleinen  oder  Hinterstädte  gelangten  nur  selten  zu  einigem 
Einfluss;  der  Hochmeister  musste  also  vor  allem  darauf  be- 
dacht sein,  den  Widerspruch  Königsbergs  unschädlich  zu 
machen.  Eins  der  wirksamsten  Mittel  hierzu  schien  ihm  die 
Verlegung  des  Landtages  von  Königsberg,  wo  er  es  immer  mit 
der  ganzen  Bürgerschaft  zu  thun  hatte,  nach  Heiligenbeil, 
wo  jene  durch  wenige  Deputirte  vertreten  wurde.  Die  drei 
Städte  hatten  dann  vor  den  übrigen  nur  den  Vorzug,  dass 
sie  die  doppelte  Zahl  von  Deputirten,  zwei  voln  Rath  und 
zwei  von  der  Gemeine,  absandten.  Dies  war  schon  1514 
und  so  viel  ich  sehe  ohne  Widerspruch  geschehen.  Als  der 
Hochmeister  1516  den  Kunstgriff  erneuerte,  erinnerten  sie: 
„Die weil  Land  und  Städte  bisher  alle  drei  Städte  Königs- 
berg für  ihre  Hauptstadt  gehalten,  ist  vollkommene  Macht 
von  ihnen  anderswohin  zu  bringen  Inhalt  löblichen  alten 
Herkommens  nie  in  Gebrauch  gewesen,"  und  verlangten, 
dass  er  den  Landtag  nach  Königsberg  verlege,  aber  verge- 
bens« 

Zwar  hatte  der  Adel  schon  im  vorigen  Jahre  eine  Steuer 
bewilligt,  während  die  Städte  zu  keinem  Schluss  kamen, 
aber  eine  solche,  die  nur  ihn  selber  traf.  Jetzt  Hess  er  es 
sich  aber  beikommen,  die  Biersteuer  zuzusagen,  von  welcher 
er  frei  war.  Dies  veranlasste  einen  Bruch,  den  erst  das 
tiefste  Elend  des  Landes  heilen  konnte.  Es  sollte  die  Zeit 
kommen,  da  die  Edelleute  als  Hülfeflehende  bei  den  Räthen 
von  Königsberg  erschienen.  Die  Vorwürfe,  die  man  ihnen 
damals  machte,  mögen  zeigen,,  welche  Bedeutung  dieser 
Landtag  für  die  Geschichte  Preussens  gehabt  hat.  „  Ge- 
strenge und  ehrbare  günstige  Herren,'*  sagte  der  Bürgermei- 


54        Ein  BHck  in  die  ältere  preu3sisehe  Geschichte 

ster  ddr  Allstadt,  „ihr  trägt  gut  Wissen,  wie  sieh  zu  Heili* 
genbeil  auf  jenes  die  Sachen  in  gemeiner  Tagfahrt  verlaufen, 
also  dass  ihr  euch  von  uns  getheilt,  welches  eure  Yä* 
1er  nie  getban,  und  euern  Huth willen  mit  uns  gebraucht, 
mit  spöttischen  Worten:  uns  hätte  die  preussische  Sonne 
beschienen;  item  da  läuft  die  alte  Sau^  die  Ferkel  gehn  her- 
nach/^ Sie  mussten  hören,  dass  das  Elend,  welches  der 
polnische  Krieg  über  das  Land  brachte,  nicht  herbeigezogen 
wäre,  wenn  sie  die  Zeise  nicht  wider  der  Städte  Gutdünken 
bewilligt  hätten:  „denn  hätte  der  Hochmeiser  nicht  Geld 
erlangt,  und  die  Landschaft  von  den  Städten  getrennt,  viel 
Uebermuth  wäre  nachgeblieben."*) 

Es  half  den  Städten  nichts,  dass  sie  eine  urkundliche 
Zusicherung  des  Hochtneisters  Friedrich  hervorbrachten,  dass 
die  unter  ihm  erhobene  Zeise  nur  auf  ein  Jahr  und  in 
Zukunft  nie  wieder  erhoben  werden  sollte.  Vom  Adel  un- 
terstützt  glaubte  Albrecht  diesen  Widerspruch  nicht  beach- 
ten zu  dürfen.  Er  sah  die  Bierzeise,  wie  sie  unter  Fried- 
rich, gegeben  war,  und  mit  welcher  noch  eine  Mühlensteucr, 
ein  Vierdung  von  jedem  Rade  verbunden  wurde,  als  be- 
willigt an,  und  entliess  den  Landtag. 

Schon  im  folgenden  Jahre,  obwohl  unter  Entschuldigun- 
gen, wie  schwer  es  ihm  falle,  das  Land  von  neuem  zu  be* 
lästigen,  ging  er  die  Stände  an,  die  Bierzeise  von  N^uem 
auf  ein  Jahr  zu  bewilligen.  Obwohl  der  Landtag  nun  in 
Königsberg  gehalten  wurde,  war  es  bei  der  Wendung,  welche 
die  Dinge  einmal  genommen  hatten,  doch  nicht  möglich,  die 
Forderung  abzuschlagen.  Auf  demselben  Landtage  erreichte 
Albrecht  noch  einen  anderen  Vortheil.  Während  nämlich 
seit  dem  Thorner  Frieden,  in  weichem  auch  die  Stadt  Gulm 
an  Polen  fiel,  der  Rath  der  Altstadt  Königsberg  als  der  ober- 
ste Gerichtshof  für  die  Städte  angesehen  wurde,  wie  auch 
der  Orden,  obgleich  nicht  urkundlich  und  nur  auf  die  Zeit, 


*)  Beler  fol  17.  b.  Freiberg  beim  Jahre  1520.    Für  die  Ge 
schichte  dieser  ersten  Landtage  ist  Voigt  zu  vergleichen,  der  die 
archivaliscbeki  Quellen  anfuhrt.  ^ 


UMl  BMMg  mf  dk  sitMinke  EMwiekkmg.  AS 

bis  Wesipreusseoi  wieder  erobert  würde,  anerkaimie,  so  hai- 
tan  es  doch  die  Bürger  bisweilen  vorgezogen,  sich  mit  Ueber* 
gehung  dieses  Gerichtshofes  lieber  an  des  Hochmeisters 
Kammergerichl  zu  wenden.  Dies  benutzte  Albrecht,  um 
„das  Gericht  des  Ueberkoims  auf  das  Schloss  in  das  Kam- 
mergericht  zu  nehmen/'*) 

Dass  der  Hochmeister  nun  Jahr  für  Jahr  die  Bierzeise 
forderte,  war  unerhört,  allein  dies  genügte  ihm  nicht.  Man 
war  erstaunt,  als  er  zu  dem  Landtage,  welchen  er  am  Tage 
Fabiani  und  ßebastiani  (20«  Januar)  1518  in  Königsberg  zu 
halten  gedachte,  aus  jeder  der  drei  Städte  Königsbei^  zehn 
Personen  von  Rath,  Schöffen  und  Gemeine,  welchen  unbe- 
dingte Vollmacht  ohne  Hintergang  mitgegeben  werden  sollte» 
zu  sich  beschied.  Denn  er  habe  da  vorzugeben  und  mitzu* 
theilen,  was  in  der  Zeit  seiner  Abwesenheit  —  er  hatte  eben 
eine  Reise  nach  Deutschland  gemacht  —  dem  Lande  zum 
Besten  mit  andern  Herren  und  Fürsten  gehandelt  sei.  Auch 
der  Adel  und  die  kleinen  Städte  erhielten  Befehl,  die  dop- 
pelte Anzahl  von  Deputirten  zu  diesem  Landtage  abzusen* 
den.  Früher  waren  aus  jedem  Amte  (deren  es  einige  dreis- 
sig  gab)  in  der  Regel  vier  Deputirte  erschienen,  zwei  vom 
Adel  und  zwei  voii  den  Städten;  jetzt  sollte  jener  so  wie 
diese  je  vier  erwählen.  Man  konnte  erwarten,  dass  ein 
Gegenstand  von  besonderer  Wichtigkeit  vorgelegt  würde. 
Die  Königsberger  gaben  aber  diese  unbedingte  Vollmacht 
immer  nur  im  äussersten  Falle,  und  wenn  sie  es  nicht  um« 
gehen  konnten,  wenigen  in  die  Hände.  Die  Gemeine  er- 
suchte daher  den  Rath,  sich  bei  dem  Hochmeister  zu  be- 
mühen, „worauf  und  was  Sachen  wären,  dass  er  volle  Macht 
allein  auf  zehn  Personen  begehrte,"  der  Rath  versprach  es, 
fand  aber  nicht  für  räthlich,  es  auszurühren  und  antwortete 
der  Gemeine,  als  diese  wieder  anfragte:  ;,Sie  sollen  anmer- 
ken des  Hochmeisters  Fürnehmen,  in  welcher  Meinung  er 
das  Land  meinte,  auch  in  was  Furcht  er  die  Gebietiger, 
seines  Ordens  Mitbrüder  hielte;  auch  seine  nächste  Nach- 


*)  Freiberg  beim  Jahre  1517. 


56        Ein  BUck  in  die  äUere  preu$iifche  Oe$ckiekte 

barn,  als  der  Herr  König  von  Polen,  der  Bischof  von  Heils- 
berg, Danzig,  Elbing,  Braunsberg,  in  welcher  grossen  Be- 
kümmerniss  er  sie  aufhielte,  und  auch  betrachten  bei  sich, 
wie  s.  G.  mit  den  geistlichen  Prälaten,  als  mit  dem  Bischof 
von  Samland  und  Thumherrn  des  ganzen  Kapitels  im  ver- 
gangenen Jahre  gehandelt  hätte;  wäre  wohl  zu  bedenken, 
so  wir  uns  gross  wollten  gegen  s.  G.  setzen,  auch  solch 
eins  zu  widerfahren."  So  sehr  also  waren  die  Städte  da- 
mals schon  eingeschüchtert. 

Der  Antrag   des  Hochmeisters ,    welchen   Dittrich  von 
Schönberg  dem  versammelten  Landtage  vortrug,  rechtfertigte 
ihre  Befürchtungen.   In  demselben  wurde  auf  den  lange  vor- 
bereiteten Krieg  gegen  Polen  deutlicher  als  je  hingewiesen; 
es  wurde  den  Ständen,  so  weit  es  sich  thun  Hess,  darge- 
than,   wie   nachtheilig   der   ewige  Friede  nicht  nur  für  das 
fernere  Bestehen  des  Ordens,  sondern  auch  für  die  Freiheit 
und  den  Wohlstand  der  Unterthanen  sei;   auch  wurde  be- 
merklieh gemacht,   dass   die  Aussichten  für  das  Land  sich 
jetzt  ungleich  besser  stellten  als  früher;  das  eigentliche  Ge- 
such an  die  Stände  aber  war:  ., damit  s.  f.  G.  jährlich  sie 
zu  mühen   und   anzusprechen  nicht  geursacht  vsilrde,  und 
dennoch  wüsste,   was   er  sich   zu  bezahlen  für  das  Erste 
gewisslich    trösten    dürfte,**    sollten   sie,    „die   Zeise,   wie 
die    zwei    Jahre    lang   gegeben,    nachmals    eine    benannte 
Zeit  von  etlichen  Jahren  lang  consentiren  und  geben,    die- 
weil  Gott  Lob  dieselbe  niemand  sonderlich  beschwerlich  und 
dennoch  s.  f.  G.  und  dem  Orden   hoch   hilflich  und  ihnen 
allen  zu  Vorkommen  künftigen  Schadens  erspriesslich.^^ 

Gegen  eine  solche  Neuerung  nahmen  die  Abgeordneten 
der  Städte  noch  einmal  alle  Kraft  zusammen.  Sie  bewillig- 
ten die  Steuer  zunächst  nur  wieder  auf  ein  Jahr  und  for- 
derten, um  über  die  Zusage  derselben  auf  noch  mehrere 
Jahre  berathen  zu  können,  den  Hintergang  an  die  Ihrigen. 
Der  Hochmeister  konnte  diesen  nicht  verweigern,  berief  aber 
schon  auf  den  Montag  nach  Cantate  eine  neue  Zusammen- 
kunft, auf  der  man  sich  seinem  Wunsche  nun  doch  nicht 
entziehen  konnte.   Er  verlangte  diesmal,  dass  man  die  Zeise 


I 

L 


mü  Besug  auf  die  ständische  Entwicklung.  57 

auf  fünf  Jahre  zusage.  Der  Adel  bedachte  sich  nicht  lange 
einzuwilligen,  denn  er  sehe  die  Mühe  und  Arbeit  des  Hoch- 
meisters  und  könne  nicht  anders  verstehen,  als  dass  er  es 
getreulich  meinte.  ,,  Welches  die  Städte  klein  und  gross 
herzlich  erschrocken,  denn  der  Adel  der  Städte  Beschwe- 
rutigen  nicht  zu  Herzen  fiehmen  wollten.^'  Endlich  erklär- 
ten auch  sie  sich  bereit,  die  Zeise  auf  drei  Jahre  zuzusagen, 
forderten  aber  Brief  und  Siegel ,  dass  nach  diesen  drei  Jahren 
diese  Beschwerde  nicht  mehr  auf  die  Städte  gelegt  werde, 
und  das  Versprechen,  sie  bei  gutem  Frieden  zu  behalten. 
Das  erstere  versagte  der  Hochmeister,  weil  solche  Verstrik- 
kung  ihm  und  dem  ganzen  Hause  Brandenburg  schimpflich 
wäre,  das  Versprechen,  den  Frieden  zu  erhalten,  welches 
er  schon  am  Tage  seiner  Huldigung  abgelegt  hatte,  scheint 
er  wirklich  wiederholt  zu  haben.*)  Die  Städte  haben  ihm 
später  oft  den  Vorwurf  gemacht,  dass  er  dennoch  den  Krieg 
begonnen  habe. 

So  war  auf  diesem  Landtage  der  erste  Schritt  gemacht 
zu  der  Einführung  einer  stehenden  Auflage.  Aber  es  war 
nur  der  Anfang;  worauf  sich  die  später  oft  wiederholten 
Klagen  über  den  unter  Albrecht's  Regierung  vermehrten 
Steuerdruck  beziehen,  soll  noch  deutlicher  werden. 

Die  Summen,  welche  Albrecht  sich  schon  verschafl't 
hatte ,  setzten  ihn  in  den  Stand ,  nicht  blos  in  Preussen  die 
nöthigen  Sicherheitsmassregeln  vorzukehren,  sondern,  da 
der  Ausbruch  des  Krieges  immer  näher  drohte,  auch  in 
Deutschland  Söldner  werben  zu  lassen.  Der  Krieg  begann 
im  December  des  Jahres  1519.  Obwohl  der  Orden  im  Bunde 
mit  dem  Zar  von  Russland  stand,  auch  auf  die  deutschen 
Fürsten  und  die  Tataren  einige  Hofi'nung  baute,  so  war  er 
im  Ganzen  doch  sehr  unglücklich.  Zwar  eroberte  der  Hoch- 
meister am  Neujahrs  tage  1520  Braunsberg  durch  Ueberfall, 
aber  dieses  war  auch  seine   glücklichste  Unternehmung  in 


*)  Freiberg  beim  Jahre  1518,  der  nur  den  Fehler  begeht,  iie 
beiden  VersammlaDgen  in  eine  zusammenzuziehen,  und  die  von 
Voigt  angeführten  Stellen. 


58        Em  Bkck  in  die  äliere  preussiiche  Qeichiokie 

dem  ganzen  Kriege.  Die  in  Deutschland  angeworbenen 
Söldner  erschienen  über  alle  Erwartung  spät,  und  so  (Über- 
schwemmten die  Polen  schnell  das  ganze  Oberland,  nahmen 
einen  festen  Platz  nach  dem  andern,  raubten  und  brannten 
und  mordeten  in  Dörfern  und  Städten  und  fanden  selbst  in 
Natangen  so  geringen  Widerstand,  dass  sie  bis  vor  die 
Thore  von  Königsberg  drangen  *) 

Was  Königsberg  dem  Lande  sei,  konnte  man  in  diesem 
Kriege  recht  deutlich  erkennen.  Nicht  genug,  dass  es  die 
Unternehmungen  des  Hochmeisters  durch  Stellung  von  Mann- 
schaft, Geschütz  und  Pferden  unterstütze,  dass  es  Samland 
gegen  die  Angriffe  der  Danziger  und  die  von  Hafstrom  her 
drohenden  Polen  durch  eigene  Söldner  vertheidigte,  dass  es 
wiederholentlich  Schiffe  gegen  die  Danziger  rüstete,  alles  das 
blieb  gering  im  Verhältniss  zu  den  Summen,  die  es  über 
die  früheren  Bewilligungen  hinaus  zur  Führung  des  Krieges 
hergeben  konnte  und  musste.  Wenngleich  sein  Handel  schon 
Jahre  lang  darniederlag,  so  darf  man  doch  mit  ziemlicher 
Sicherheit  annehmen,  dass  es  in  dieser  Hinsicht  eben  so  viel 
geleistet  hat,  als  das  ganze  übrige  Land  zusammengenom- 
men. Dazu  kam,  dass  der  Feind  in  den  Mauern  von  Königs- 
berg zuerst  einen  Widerstand  fand,  der  seinen  Eroberungen 
ein  Ziel  setzte.  Dadurch  wurde  nicht  nur  Samland,  sondern 
die  ganze  Hoffnung  des  Landes  gerettet. 

Wie  änderte  sich  die  Scene,  als  bei  dem  immer  wach- 
senden Elende,  dem  der  Hochmeister  zu  steuern  nicht  ver- 
mochte, Adel  und  Hinterstädte  auf  dem  Ratbhause  der  Alt- 
stadt Königsberg  Rath  und  Hülfe  suchten.  Welche  Sprache 
führte  Königsberg  da  gegen  den  Adel  und  den  Hochmeister. 
Wir  hörten,  welche  Vorwürfe  der  Adel  hinnehmen  musste. 
Ganz  denselben  Ton  durfte  die  Hauptstadt  nun  gegen  den 
Hochmeister  selbst  annehmen.  Sie  Hess  ihm  durch  Augustin 
Bartein  vorstjßllen:  „g.  H.,  so  e.  f.  G.  hätte  die. alten  Herren 
des  Ordens,  die  des  Landes  Weise  und  Gewohnheit  wUss- 


*)  Dieses  und  das  Folgende  nach  den  sehr  ausführlichen  Uit< 
tbeilungen  Freiberg's  über  das  Jahr  1520. 


mü  Betug  auf  die  $tändische  EniwkUung.  59 

ien,  Lande  und  Städte  zu  Raihe  genommen,  ehe  man  sol« 
elien  Widerwillen  anhub,  wäre  der  erlittene  Schaden  nicht 
von  Nöthen  gewesen.  Wo  sind  nun  die  ausländischen  Räthe, 
die  e.  G.  dazu  gerathen,  die  einem  jeden  das  Seine  zu  ngkk- 
men  Hath  wussten,  von  denen  wir  arme  e.  f.  6.  Untersassen 
unser  Recht  haben  müssen  kaufen?  Nun  sie  ihre  Beutel  ge- 
fllUt,  sind  sie  zum  Lande  ausgerissen.  Die  sollen  auch  nun 
Rath  wissen  und  geben,  dem  grossen  Jammer  und  Schaden 
zu  widerstehen.^^  Der  Hochmeister  glaubte  beschwichtigen 
EU  können,  wenn  er  vorschlug,  von  Landen  und  Städten 
zwölf  Personen  zu  wählen,  mit  denen  er  sich  über  die  nö- 
ihigen  Maassregeln  besprechen  wolle.  Aber  man  liess  sich 
dadurch  nicht  blenden,  man  drang  so  lange  in  ihn,  bis  er 
sich  „darein  gab,  Lande  und  Städte  sollten  sich  unterstehen, 
hinter  dem  Orden  ein  christlich  Geleit  zu  werben  bei  den 
Hauptleuten  des  Heeres  und  bei  dem  Könige  mit  K.  M.  zu 
handeln  auf  einen  andern  Tag,  auf  dass  das  Land  nicht  in 
weitern  Verderb  gedeihe.*' 

Je  glänzender  die  Stellung  war,  die  Königsberg  in  die- 
sem Augenblicke  einnahm,  um  so  eifriger  musste  der  Her« 
zog  dara\if  bedacht  sein,  die  Opposition  unschädlich  zu  ma- 
chen. Die  Friedensunterhandlungen  waren  durchaus  nicht 
nach  seinem  Sinn  und  er  hoffte  noch  auf  eine  günstige 
Wendung  des  Krieges,  sobald  nur  erst  die  Söldner  angekom- 
men wären.  Aber  er  konnte  jene  um  so  weniger  hindern, 
weil  der  polnische  Feldherr  Königsberg  selbst  zur  Ergebung 
aufforderte  und  es  an  Vorspiegelungen  und  Versprechungen 
nicht  fehlen  liess.  Es  stand  zu  fürchten,  dass  der  lieber- 
gang  der  Hauptstadt  ähnliche  Folgen  nach  sich  ziehen 
möchte  als  etwa  sechzig  Jahre  früher  die  Verbindung  Polens 
mit  dem  Preussischen  Städtebunde.  Dies  scheint  der  Zeit- 
punot  gewesen  zu  sein,  in  welchem  der  Hochmeister  sich 
durch  Heranziehung  einer  Partei  in  der  Stadt  selbst  gegen 
den  Vorstand  derselben  9  gegen  den  Rath,  zu  stärken  ernst- 
lich bemüht  war. 

Es  gab  in  Königsberg,  wie  in  den  meisten  grossen  Städ- 
ten, seit  langer  Zeit  zwei  Parteien,  die  nicht  immer  in  dem 


60         Ein  BUck  in  die  ältere  preusmche  Geschichte 

besten  Vernehmen  zu  einander  standen,  Patricier,  die  sich 
in  den  sogenannten  Artus-  oder  Junkerhöfen  zusammenfan- 
den, und  Plebejer,  deren  Versammlungsörter  die  Gemeinde« 
gärten  waren.  Zu  jenen  gehörten  besonders  altadelige  oder 
durch  Handel  reich  gewordene  Geschlechter,  in  deren  Hän- 
den die  Regierung  der  Stadt  lag;  diese  waren  ihrem  Her- 
kommen nach  zum  Theil  Leibeigene,  Hörige,  Flüchtige  ge* 
wesen,  die  sich  glücklich  schätzten,  wenn  sie  in  den  Städ- 
ten Schutz  und  Erwerb  fanden.  Es  gehörten  dann  zu  ih- 
nen besonders  die  Handwerker.  Ihre  Ansprüche  erhöheten 
siish  mit  ihrer  Anzahl  und  ihrer  Wohlhabenheit;  in  Innungen 
und  Gilden  vereint  konnten  sie  denselben  Nachdruck  geben ; 
so  waren  denn  Beibungen  unter  den  Bürgern  der  einzelnen 
Städte  sel^bst  nichts  Seltenes.  Im  zweiten  Decennium  des 
sechszehnten  Jahrhunderts  war  die  innere  Gährung  in  den 
deutschen  Städten  fast  allgemein.  Hier  in  Königsberg  zeig- 
ten sich  verwandte  Bestrebungen.  Sie  sind  besonders  des- 
halb einer  näheren  Betrachtung  würdig,  weil  sie,  ebenso 
wie  in  Deutschland,  von  grossem  Einfluss  auf  die  Entwicke- 
lung  und  den  Charakter  gewesen  sind,  welchen  die  Refor- 
mation bei  ihrer  ersten  Ausbreitung  nehmen  musste. 

Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dass,  wenn  eine  Par- 
tei, die  der  Patricier  und  des  Raths  für  die  Anträge  der 
Polen  empfänglich  war.  Die  Antwort,  mit  der  man  diesel- 
ben erwiderte,  zeugt  keinesweges  von  Entrüstung;  aber  man 
wollte  doch  nicht  ohne  die  andern  Städte  handeln.  Mit  die- 
sen sei  aber  eine  Zusammenkunft  bis  dahin  nicht  möglich 
gewesen;  wollten  die  Polen  deren  Abgeordnete  nach  Kö- 
nigsberg geleiten,  so  würde  man  sich  mit  ihnen  berathen 
und  dann  gute  Antwort  geben»  Auf  der  andern  Seite  musste 
der  Gemeine  jede  Unterstützung,  besonders  aber  die  des 
Landesherrn  gegen  den  Rath,  wünschenswerth  sein.  Wenn 
der  Hochmeister  sie  noch  nicht  in  ihrer  Gesammtheit  ge- 
wann, so  kam  dies  daher,  weil  das  demokratische  Element 
in  Königsberg  noch  nicht  stark  genug  war.  Indessen  er  ge- 
wann doch  Einzelne,  die  sich  ein  Ansehen  zu  geben  wuss- 
ten  und  für  ihn  das  Woit  führten. 


mit  Bezug  auf  die  ständische  Enttoickhing.  61 

Man  wurde  es  deutlich  gewahr,  als  endlich  für  den 
Hochmeister  ein  freies  Geleit  vom  Könige  erwirkt  war.  Er 
hatte  in  einem  besonderen  Schreiben  die  einschränkende 
Bedingung  hinzugefügt,  das  freie  Geleit  sei  dem  Hochmeister 
nur  bewilligt,  um  den  ewigen  Frieden  zu  beschwören,  und 
es  fragte  sich,  ob  der  Hochmeister  auch  auf  diese  Bedingung 
hin  von  dem  Geleitsbriefe  Gebrauch  machen  solle.  Er  berief 
Ratb,  Schöffen  und  Gemeine  auf  das  Schloss  und  legte 
ihnen  die  Frage  vor.  Hier  trat  nun  der  Zwiespalt  der  Mei- 
nungen zuerst  deutlich  heraus,  und  mit  solcher  Hartnäckig- 
keit wurden  sie  verfocbteD,  dass  die  Käthe  der  drei  Städte 
beschlossen,  ihre  Meinung  ohne  Rücksicht  auf  die  Andern 
auszusprechen.  „Könnte  jemand  von  der  Gemeine  einen 
bessern  Rath  linden,  sollten  sie  selber  ihre  Meinung  son- 
derlich antragen."  Die  Antwort  der  Räthe  war:  wisse  der 
Hochmeister  ein  Mittel  wenigstens  das  noch  Gerettete  zu 
erhalten 4  so  möge  er  es  anwenden,  wo  nicht,  sich  mit  dem 
Könige  vertragen.  Als  der  Hauscomthur  noch  weiter  in  sie 
drang  und  sie  fragte,  ob  es  ihre  Meinung  wäre,  dass  s. 
f.  G.  dem  Könige  schwören  sollte,  antworteten  sie,  er  habe, 
die  Meinung  wohl  verstanden.  Für  die  Fortsetzung  des 
Krieges  erhoben  sich  mehrere  Stimmen  in  der  Gemeine  der 
Altstadt,  einige  auch  in  der  Löbenichtschen  Gemeine.  Aber 
ihre  Partei  war  noch  zu  schwach ,  als  dass  der  Hochmeister 
sich  gegen  das  Verlangen  des  Raths  hätte  setzen  können. 
Als  er  sich  auf  den  Weg  nach  Thprn  machte,  wo  die  wei- 
teren Verhandlungen  mit  Polen  gepflogen  werden  sollten, 
trat'  Gregor  Eger,  der  auch  später  noch  mehrmals  unter 
den  Volksführern  genannt  wird,  aus  der  Menge  derer  her- 
vor, die  gegen  diese  Unterhandlungen  gestimmt  hatten,  und 
bat  den  Hochmeister  um  Sicherstellung  gegen  die  Verfoi* 
gungen  der  Rathspartei  für  die  Zeit  seiner  Abwesenheit, 
und  der  Hochmeister  nahm  sich  dieser  räudigen  Schafe,  wie 
der  streng  rathsherrlich  gesinnte  Chronist  sie  nennt,  aus 
dem  ich  diese  Data  entnehme,   mit  Theilnahme  an. 

Ganz  ähnliche  Erscheinungen   kehren  in  der  nächsten 
Zeit  mehrmals  wieder.    Das  Bestreben  der  Regierung,  sich 


62         Em  BKck  in  die  äUere  preusHsehe  6$$chidiie 

durch  die  Gemeine  gegen  dieRäthe  zu  stärken,  tritt  iiminer 
deutlicher  hervor;  doch  war  die  städtische  Verfassuag  noch 
nicht  so  weit  aufgelöst,  dass  die  Bäthe  niofat  noch  einen 
bedeutenden  Etnfluss  auf  die  Gemeinen  geübt  hätten.  Di^ 
zeigte  sich  besonders  in  der  Abwesenheit  des  Hochmeisters, 
als  die  erste  Abtheilung,  etwa  2,500  Mann  der  lang  erwar- 
teten Söldnerschaaren  in  Königsberg  Quartier  genommen 
hatten.  Der  damalige  Regent,  der  Bischof  von  Samlandi 
hatte  ^versprochen,  dass  sie  nicht  länger  als  drei  Tage  in 
der  Stadt  bleiben  sollten,  und  doch  dauerte  es  Wochen  lang, 
ehe  auch  nur  einzelne  Haufen  abgeschickt  wurden.  Hierüber 
beschwerten  sich  die  Räthe.  Ferner  verlangten  die  Söldner 
einen  Bund  zur  gemeinschafüichen  Bewachung  der  Stadt 
und  ausserhalb  derselben  für  einen  Mann  zu  stellen.  Dies 
schlugen  die  Bäthe  aus.  Obwohl  die  Gemeinen,  die  schon 
einmal  in  dieser  Sache  auf  das  Schloss  entboten  waren, 
und  zwar  „Nachbar  bei  Nachbar ^^  sich  ebenso  eiilärt 
hatten,  so  Hess  sich  xler  Btsdiof  doch  vernehmen,  „die 
Gemeine  wäre  gutwillig  und  erfreut  der  Knechte,  allein  die 
Aeliesten  die  riethen  der  Gemeine  ab,^'  und  der  Herr  von 
Hindeck  fügte  hinzu:  „Was  dürften  wir  (der  Ratb)  viel 
sagen?  er  wüsste  der  Gemeine  Gemüth  sehr  wohl;  es  wär^ 
ihre  Meinung  nichi,  als  wir's  vorbrächten*,  die  Gemeine  wäre 
es  erfreut,  dass  ihnen  die  Knechte  zu  Trost  gekommen 
wären/'  Kurz  die  Räthe  wurden  entlassen  mit  der  W^sung, 
die  Gemeinen  auf  das  Schloss  zu  entbieten.  Diese  erschie- 
nen und  der  Bischof  mit  den  Seinen  führten  sie,  faeisst  es 
in  der  Rathschronik,  „mit  bequemen  Worten  darein,  dass 
sie  vermeinten,*  den  gemeinen  Mann  wider  den  Bath  Zwie- 
tracht^ zu  machen/'  Dies  gelang  Ihnen  aber  nicht  so  voll- 
ständig, als  sie  wünschten.  Die  Gemeinen  wandten  sieb 
vielmehr  gerade  an  die  gekränkten  Räihe  und  nach  neuen 
Berathungen  wurde  dann  nur  in  die  gemeinsame  Bewacirang 
der  Mauern  durch  Bürger  und  Knedite  gewilligt. 

Die  Unterhandlungen  zu  Thorn  brachten  dem  Hoch* 
meister  wenigstens  den  Vortheil,  dass  das  Land  während 
dieser  Zeit  von  den  Polen  mit  mehr  Schonung  behandelt 


mii  Beemg  auf  die  ttänd/Uehe  Bniwiekbing.  68 

wurde,  und  dass  er,  als  dieselben  zur  Ausgleichung  nichi 
Ahrten,  den  Krieg  mit  neuen  Kräften  wieder  eröAnen 
konnte.  Obwohl  er  bei  seiner  Rückkehr  nach  Königsberg 
erist  jene  eine  Abtheilung  von  2,500  Mann  fand,  so  konnte 
er  doch  einer  besseren  Zukunft  entgegen  sehen.  Seine 
Boflfaongen  schienen  nun  doch  gerechtfertigt  zu  werden. 
Er  erneute  den  Krieg  ohne  Bedenken  und  die  Rfithe  von 
Königsberg  konnten  sich  nun  theils  wegen  ihrer  früheren 
Aeusserungen,  theils  weil  'der  Hochmeister  über  eine  s<^ohe 
Macht  gebot,  nicht  mehr  entgegensetzen.  In  der  That  erfocht 
dieser  einzelne  BrfoJge.  Von  der  Seeseite  her  —  auch  die 
erste  Abtheilung  war  aus  Dänemark  übergesetzt  worden  — 
langten  noch  2,000  Mann  über  Memel  und  700  Mann  über 
Pülau  an  imd  za  Lande  näherte'  sich  von  den  Marken  her 
eine  Schaar  von  14,000  Söldnerp.  Dass  nun  aber  doch  kein 
entscheidender  Schlag  ausgeführt  werden  konnte,  lag  theüs 
in  dem  Mangel  an  Geschütz,  .besonders  bei  dem  grossen 
Heere,  theils  in  der  Planlosigkeit  der  Unternehmungen,  vor- 
züglich  aber  in  dem  Mangel  an  Gelde. 

Wie  der  Hochmeister  dem  letztem  durch  Verschlech» 
tenmg  der  Münze  abzuhelfen  suchte,  ist  in  Büchern  aller 
Art,  die  auf  die  Preussische  Geschichte  Bezug  haben,  bis 
zum  Ueberdruss  wiederholt  und  ausgeführt  worden.  Ich 
beschränke  mich  hier  auf  dasjenige,  was  einen  Blick  in  die 
ständischen  Yeriiätnisse  überhaupt  und  in  die  Verhältnisse 
Kdnigsbergs  im  Besondem  verstattet. 

Die  Leistungen,  zu  denen  Königsberg  in  der  ersten  Zeit 
des  Krieges  angezogen  war,  blieben  auch  jetzt  nicht  aus. 
Nun  machte  der  Hochmeister  aber  noch  wiederholentlioh 
Geldforderungen;  als  die  erste  grosse  Schaar  der  Süldner 
in  Königsberg  lag,  verlangte  er  von  der  Stadt  eine  Anleihe 
von  12,000  Hark  zu  deren  Besoldung,  und  später  zur  Be- 
sokking  der  zweiten  von  der  Altstadt  allein  4,000.  Diese 
Summen  konnten  nur  zu  einem  kleinen  Theile  zusammen^ 
f^ehraefat  werden.  Ein  Landtag  wurde  in  der  ganzen  Zeit 
des  Krieges  nicht  berufen ,  doch  verlangte  der  Hochmeister 
vmi  Kteigsberg  aOein  die  Bewillignng  einer  Steuer.    Er  war 


64         Ein  Blick  in  die  ältete  preussische  Geschichte 

gerade  auf  einem  Zuge  gegen  Heilsberg  abwesend  und  iiess 
daher  den  Antrag  durch  seinen  Bruder,   Harkgraf  Wilhelm, 
machen,    der  als  stellvertretender  Regent  zurückgeblieben 
war»    Diesem  widersetzte  sich  die  Stadt   mit  solcher  Ent- 
schlossenheit,  dass  er  die  Sache  bis  zur  ZurÜckkunft  des 
Hochmeisters  selbst  liegen  lassen  musste.    Der  Hochmeister 
kam  und  erneuerte  den  Antrag  auf  eine  Vermögens- Steuer 
von  zwei  Prozent,  welchen,  seiner  Instruktion  gemäss,  schon 
Markgraf  Wilhelm  gemacht  hatte.  *  Nun  ging  die  Stadt  auPs 
Neue   zu  Rathe.    Aus  dem  Gange   der  fierathungen  sehen 
wir,   dass  die  Gemeinen  nicht  übergangen  wurden.    „Sind 
die  ganze  Gemeine/'   heisst  es   in   unserer  Chronik,    „mit 
sammt  dem  Rathe  jede  in  ihre  Stadt  entwichen,    und  ein 
Gutdünken   bei  sich   beschlossen.    Darnach  Nachmittag  um 
Ein  Uhr  an  die  Schöffenmeister  alier  dreier  Städte  getragen, 
welche  fortan  in  der  Aeltesten  Gegenwärtigkeit  an  die  Räthe 
gebracht  und  mit  den  Räthen  beschlossen,   an  s.  1  G.  zu 
tragen/'    Die  Antwort  war  diese:  man  könne  in  solche  Be- 
schwerung hinter  Landen  und  Städten  nicht  willigen,  man 
bitte  daher  gar  demüthig  undfleissig,  der  Hochmeister  möge 
die  andern  Städte  und  den  Adel  zu  einem  Landtage  berufen. 
E  ist  derselbe  Vorwand,  von  dessen  Anwendung  ich  oben 
schon  ein  Beispiel  anführte.    Damals  hatte  der  Hochmeister 
seine  Forderung  vielleicht  fallen  lassen,  jetzt  an  der  Spitze 
der  Söldner  glaubte   er   auf  diesen   Widerspruch  weniger 
Gewicht  legen  zu  dürfen.    Auch  vergass  er  seiner  Verbin- 
dung mit  den  Gemeinen  nicht:  „er  könne  wohl  abnehmen,'' 
entgegnete  er,   „dass  diese  Sperrung  allein  bei  dem  Rathe 
hinge,  und  nicht  bei  der  Gemeine,  nachdem  es  den  Armen 
so  gross  nicht  beschwerte;  darum  bäte  er  noch,  sie  wollten 
es  bas  bedenken  und  geben  eine  bessere  Antwort."   In  der 
That  scheint  die  Gemeine  den  Wünschen .  des.  Hochmeisters 
nicht  bedeutende  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt  zu  haben, 
aber  d^r  Rath  gab  nur  zögernd  nach.    Man  bot  zuerst  ein 
Prozent  an  und  musste  dann  doch  die  verlangten  zwei  Pro- 
zent der  Vermögenssteuer  bewilligen.   Als  der  Rath  dann  am 
Ende  die  städtischen  ausstehenden   Gelder  und  liegenden 


mii  Be%ug  auf  die  ständische  EntwiMung.  65 

Gründe  von  dieser  Besteuerung  befreit  wissen  wollte,  gab 
es  noch  so  viel  Rede  und  Widerrede,  „dass  s.  G.  auch  in 
grossem  Zorne  sprach:  die  Gemeine  gutwillig  in  diesen  Zu- 
sagen gewesen,  und  von  allen  liegenden  Gründen  die 
Schätzung  zu  geben  bewilligt;  nun  könnte  er  verstehen,  der 
Rath  sich  dawidersetzte  und  solches  zu  geben  widerte.  — 
Was  die  Räthe  sich,  fügt  unser  Chronist  hinzu,  ihrer  grossen 
Armuth  und  Ausgaben  beklagten,  mocht  nichts  helfen;  und 
schieden  in  grossen  Ungnaden  von  u.  g.  H." 

Was  Königsberg  bewilligt  hatte,  wurde  ohne  Zweifel 
auch  von  den  kleinen  Städten  gefordert,  sofern  sie  sich 
noch  vor  dem  Feinde  gehalten  hatten  und  überhaupt  zahlen 
konnten.  Das  flache  Land  war  durch  Raub  und  Brand  so. 
fürchterlich  verheeret,  dass  eine  Steuerauflage  nur  dem  noch 
geretteten  Samlande  zugemuthet  werden  konnte.  Der  Hoch- 
meister versammelte  den  Adel  dieser  Provinz  bald  darauf  in 
Grünhoff  und  verlangte  eine  sehr  bedeutende  Abgabe  in 
Naturalien,  die  aber  nicht  dem  Adel  selbst,  der  dafür  viel- 
mehr von  einer  schon  beschlossenen  Unternehmung  ent- 
bunden wurde,  sondern  seinen  Hintersassen  zur  Last  fiel 
Die  Schulzen  und  Krüger  sollten  eine  halbe  Last,  die  Bauern 
drei  Scheffel  Getreide  aller  Art  einliefern;  nur  wer  des  Ver- 
mögens nicht  sei,  sollte  davon  befreit  bleiben.  Der  Adel 
sagte  zu. 

Fasst  man  die  Unterhandlungen  mit  Königsberg  über 
die  Vermögensteuer  und  die  zu  Grünhoff  über  die  Natural- 
lieferungen  zusammen,  so  könnte  man  sagen,  sie  hätten  die 
Stelle  eines  Landtages  vertreten.  Diese  Theilung  der  Land- 
tagsgeschäfle  war  vielleicht  nur  zufallig  und  durch  den  Drang 
der  Umstände  geboten,  vielleicht  absichtlich  und  poUtisch 
berechnet,  um  die  noch  keines weges  aufgehobene  Verbin- 
dung des  Adels  und  der  Städte  — >  denn  der  Adel  hatte  es 
zu  schwer  gefühlt,  in  welche  Falle  er  gegangen  sei  —  un- 
schädlich zu  machen.  War  diese  Verbindung  der  frühern 
Gewohnheit  und  Geschichte  gemäss,  so  traten  dagegen  die 
untern  noch  kaum  selbstständig  vertretenen  Klassen  in  ein 
sehr  eigen thümhches,  merkwürdiges  Verhältniss:   man  hätte 

Allg.  ZütMhrift  r.  6«M]iiebU.  T.  1816.  5 


66        Ein  BHck  in  die  ältere  preusHsche  Geschichte 

glauben  sollen,  ihre  Interessen  müssten  ziemlich  dieselben 
sein,  aber  nein,  sie  standen  einander  gerade  gegenüber. 
Man  kann  leicht  denken,  welche  Unzufriedenheit,  welche 
Klagen  die  neue  Auflage  unter  den  Bauern  veranlasste,  da* 
gegen  waren  die  Gemeinen  der  Stadt,  wie  wir  sahen,  den 
Forderungen  des  Herzogs  eher  förderlich  als  hinderlich.  Ich 
denke  man  erkennt  darin  ziemlich  deutlich  ein  nur  durch 
vorübergehende  Gombinationen  hervorgerufenes,  an  sich  un- 
natürliches Verhältniss,  das  noch  seiner  Lösung  wartete. 
Diese  Lösung  führte  der  bekannte  Bauernaufstand  von  1525 
herbei.  Damals  war  es  schon  so  weit  gekommen,  dass  sich 
in  den  Gemeinen  starke  Sympathien  mit  den  Wünschen  der 
Bauern  gegen  die  Aristokratie  überhaupt  zeigten,  und  seit- 
dem war  die  Begierung  bemüht,  die  Bewegung,  die  sie  in 
ihrem  Entstehen  selbst  gefördert  hatte,  in  ihre  Schranken 
zurückzuweisen.   Wie  es  dahin  kam,  wird  der  Verfolg  zeigen. 

Noch  hatten  die  Reibungen  zwischen  den  Räthen  und 
Gemeinen  zu  keinem  eigentlichen  Bruch  geführt.  Sie  hatten 
bisher  sich  doch  noch  verständigen,  und  bei  Berathungen 
einigen  können.  Aber  der  Einfluss,  den  die  Gemeinen  auf 
diese  Berathungen  gewannen,  musste  immer  bedenklicher 
werden,  znmai  in  einer  Zeit,  in  welcher  es  den  Räthen 
auch  aus  andern  Gründen  schwer  wurde,  ihre  Autorität, 
wie  sie  es  wünschten,  geltend  zu  machen. 

Wir  müssen  auf  die  Söldner  zurückkommen ,  deren  lang 
dauernder  Aufenthalt  in  Königsberg  in  dieser  Rücksicht  von 
hoher  Bedeutung  ist;  nicht  als  ob  ihre  Hülfe  unmittelbar  den 
Bestrebungen  der  Gemeinen  zu  Gute  gekommen  wäre;  auch 
könnte  man  darauf  kein  Gewicht  legen,  dass  die  reicheren 
und  vornehmeren  Familien  in  dieser  Zeit  sehr  empfindliche 
Einbussen  erlitten ,  viele  von  den  Handwerkern  dagegen  an- 
sehnlichen Gewinn  zogen:  denn  die  Klagen  über  die  An- 
maassung  und  Raubsucht  der  Söldner  waren,  wie  im  Lande 
überhaupt,  so  auch  in  der  Hauptstadt  ziemlich"  allgemein: 
aber  die  Unordnungen  und  Verwirrungen,  welche  diese 
Fremden  überall  anrichteten  und  welche  den  Hochmeister 
selbst   in   die  ärgsten  Verlegenheiten  brachten,    versetzten 


mii  Besiug  auf  die  ständische  Entwicklung.  67 

vonUglich  in  Königsberg  dem  Gesetz  und  dem  Herkommen 
die  empfindiiehsten  Stösse.  In  dieser  Zeit,  in  welcher,  wie 
die  Chronik  sagt,  alle  Rechte  damiederlagen,  und  Gewalt 
regierte,  fanden  die  Räthe  auch  da  nicht  so  unbedingten 
Gehorsam,  wo  er  sonst  nicht  verweigert  wäre.  Die  Frech- 
heit der  Söldner  blieb  natürlich  nicht  ohne  Nachahmung^ 
zumal  da  auch  von  den  Königsbergern  selbst  und  zwar  aas 
der  Mitte  der  Handwerker  oft  mehrere  Hunderte  zu  Kriegs* 
untemehmungen  aufgeboten  wurden.  Wenn  diese  Hand- 
werker, die  Waffen  in  der  Hand,  vielleicht  vereint  mit 
einem  Söldnerhaufen  in  die  Stadt  zurückkehrten,  hätte  man 
da  erwarten  dürfen,  dass  sie  ihre  Werkstätten  aufsuchen 
würden,  während  die  Söldner  nun  der  Beute  nachgingen, 
die  sie  im  Felde  nicht  hatten  gewinnen  können? 

Noch  ein  anderer  Grund  kam  hinzu,  wodurch  die  Au- 
torität der  Räthe  geschwächt  wurde,  nämlich  dieser,  dass 
die  drei  Räthe  der  Stadt  untereinander  nicht  immer  einig 
blieben,  und  dass  die  drei  Gemeinen  in  nähere  Verbindung 
traten.  Besonders  zwischen  der  Altstadt  und  dem  Kneip- 
hofe gab  es  immer  Veranlassung  zum  Hader,  und  wäre  es 
auch  nur  die  Erhöhung  eines  Thurmes,  oder  die  Ausbesse- 
rung des  Bollwerks  gewesen;  ein  Prozess  wegen  des  Baues 
der  neuen  Brücke  über  den  linken  Arm  des  Pregels,  durch 
welchen  die  Altstadt  dem  Kneiphof  grosse  Vortheile  zu  ent- 
ziehen drohte,  dauerte  schon  lange  Jahre.  So  auch  jetat. 
Als  über  die  Aufnahme  und  Vertheilung  des  ersten  Söldner- 
haufens in  den  Städten  gerathschlagt  wurde,  hatte  der  Kneip- 
hof, während  die  Altstadt  und  der  Löbenicht  sich  fügsam 
zeigten,  nur  300  Mann  aufnehmen  wollen.  Diese  Aniahl 
war  aber  ganz  unverhältnissmässig,  da  die  Leistungen  der 
drei  Städte  in  dieser  Zeit  gewöhnlich  so  vertheilt  wurden, 
dass  die  Altstadt  so  viel  als  die  beiden  andern  zusammen- 
genommen und  der  Kneiphof  doppelt  so  viel  als  der  Löbe- 
nicht auf  sich  nehmen  musste.  Ob  der  Kneiphof  darauf  be- 
stand und  ob  er  es  durchsetzte,  ist  zwar  nicht  bekannt, 
aber  schon  durch  die  Forderung  war  Ursache  zu  Aergerniss 
gegeben.    — •   Als   die  Söldner   und    der   ärmere   Tfaeil   der 

5* 


68        Em  BHck  in  die  altere  preussUche  Ge$chichte 

Bürger  sich  beklagten,  „dass  die  Fleischer  ihr  Fleisch  nach 
ihrem  Willen  verkauften  und  die  Räthe  da  kein  Einsehen 
hätten",  und  der  Hochmeister  gewisse  Maassregeln  zur  Be- 
schränkung jener  Willkür  anbefahl,  stimmte  ihm  der  Rath 
vom  Eneiphof  bei,  aber  die  beiden  andern  Räthe  setzten 
sich  dagegen  und  da  sich  die  Gemeinen,  in  denen  doch 
jene  Armen  keines weges  die  entscheidende  Stimme  hatten, 
für  diese  letzteren  erklärten,  so  musste  es  beim  Alten 
bleiben.  —  Sehr  beleidigend  war  das  Verhalten  des  Kneip- 
höfschen  Rathes  auch  in  folgendem  Falle.  Da  die  in  Na- 
tangen  und  Ermeland  postirten  Söldner  oft  ohne  Erlaubniss 
von  ihren  Posten  nach  Königsberg  zurückkamen,  und  der 
Hochmeister  den  Befehl  gegeben  hatte,  diese  nicht  einzu- 
lassen ,  so  mussten  die  Thore  des  Kneiphofs  besetzt  werden. 
Zu  dieser  Wache  stellten  auch  die  Altstädter  und  Löbenichter 
eine  Zeit  lang  einige  Bürger.  Der  Nutzen  war  aber  gering, 
da  die  Söldner,  wenn  sie  sich  in  grösserer  Anzahl  zusam- 
menfanden, auch  wohl  mit  Gewalt  eindrangen.  Den  Alt- 
städtern wurde  es  endlich  lästig,  ihre  Bürger  zu  dieser 
Wache  herzugeben  und  sie  beschickten  deshalb  den  kneip- 
höfischen Rath.  Dieser  klagte  beim  Hochmeister.  „Was  wir 
gütlich  bei  ihnen  suchten",  sagt  der  Chronist,  „wandten  sie 
in  einen  Hader  und  Klage,  wie  sie  allezeit  vor  und  nach 
g»than  haben".  Es  wurde  jedoch  von  der  Regierung  erkannt, 
die  Altstädter  seien  zu  jenem  Dienste  nicht  verpflichtet. 

Allerdings  hätten  diese  Reibungen  unter  den  Räthen 
unter  anderen  Umständen  weiter  keine  Wirkungen  gehabt. 
Aber  in  dieser  unruhigen  Zeit  konnten  sie  der  ohnehin 
sinkenden  Autorität  nur  nachtheilig  sein.  Auf  die  Verbin- 
dung der  Gemeinen,  von  der  ich  sprach,  wurde  in  jener 
Zeit  eigentlich  erst  hingedeutet;  indess  die  Maassrege],  in 
welcher  diese  Hindeutung  lag,  regte  doch  einen  Gedanken 
an,  der  schon  nach  wenigen  Jahren  zu  einer  förmlichen 
Berathung  über  die  vollkommene  Vereinigung  der  drei 
Städte  führte  und  dieses  Resultat  unfehlbar  herbeigeführt 
haben  würde,  wenn  die  Gemeinen  die  Gewalt,  welche  sie 
wirklich  erreichten,    hätten  behaupten  können.    Und  diese 


mit  Beswg  auf  die  ständische  Enitoickbing.  89 

Maassregel  wurde  noch  nicht  einmal  vollständig  ausgefübrt 
Die  Söldner  und  in  ihrem  Namen  der  Regent  verlangten 
nämlich,  dass  die  Thore  zwischen  den  drei  Städten  gebflFnet 
bleiben  sollten;'  die  Räthe  erboten  sich  nur  dazu,  dafür  zu 
sorgen,  dass  die  Thore,  wenn  es  nöthig  sei,  auch  in  der 
Nacht  schnell  geöflhet  werden  könnten.  Mehr  erlangte  der 
Regent  auch  von  den  Gemeinen  vorerst  nicht;  doch  lässt 
sich  annehmen,  dass  die  Thore  zwischen  den  Städten  den 
Söldnern  kein  grösseres  Hindemiss  entgegensetzten,  als  die 
äusseren. 

Ich  habe  mich  bei  der  Entwickelung  dieser  Verhältnisse, 
wie  sie  im  Jahre  1520  allmählig  hervortraten,  so  lange  auf- 
gehalten, weil  sie  die  Basis  aller  folgenden  Ereignisse  bil- 
deten. Es  bedurfte  nur  noch  eines  Funkens  der  die  zünd- 
baren Stoffe  in  Flammen  setzte.    Und  dieser  Funke  fiel  bald. 

Bei  der  damaligen  Verfassung  der  Handwerks-Innungen 
war  es  etwas  ganz  gewöhnliches,  dass  man,  um  der  Theu* 
rung  abzuhelfen,  oder  ihr  zuvorzukommen,  die  Preise  «für 
allerlei  Waaren  und  Arbeiten  festsetzte.  Man  musste  diese 
„Satzung  und  Ordnung '',  wie  man  es  nannte,  häufig  ein- 
schärfen oder  erneuern,  da  sie  sehr  leicht  übertreten  wur- 
den und  in  Vergessenheit  geriethen.  Es  war  während  des 
polnischen  Krieges  einige  Mal  und  ohne  Widerrede  der  Ge- 
werke  geschehen;  denn  dass  sich  die  Fleischer  einmal,  wie 
ich  berührte,  widersetzten,  hatte  seine  besonderen  Gründe. 
Eine  solche  Ordnung  sollte  auch  im  Anfange  des  Jahres  1521 
gemacht  werden;  da  man  sich  diesmal  in  den  Städten  nicht 
einigen  konnte,  stellte  man  die  Sache  den  Regenten  — 
denn  der  Hochmeister  war  wieder  abwesend  —  anheim. 
In  Folge  dessen  wurden  einige  von  den  Regenten  und  deren 
Räthen,  einige  vom  Add  und  einige  \otk  den  Städten  ge- 
wählt, die  jedesmal  die  Aeltesten  des  Gewerkes,  Über  dessen 
Waaren  sie  verhandelten,  zuziehen  sollten.  So  kam  nun 
wohl  nach  vieler  Mühe  und  Arbeit  eine  Satzung  zu  Stande, 
„aber  es  wurde  wenig  oder  gar  nichts  davon  gehalten,  aus 
einer  geringen  Ursache,  welche  Ursache  den  drei  Städten 
und  dem  ganzen  Lande  einen  merklichen,   unvermeidlichen 


70        Em  BHok  in  die  ältere  preussisehe  GeschicMe 

Schaden  zugebracht  ^^  Der  Bischof  hatte  nämlich  befohlen, 
dass  in  dieser  Satzung  nicht  vergessen  bliebe  das  Unter- 
brechen der  Kleidung  der  Frauen  und  der  Handwerker. 
Dieser  Kleiderluxus,  der  im  fünfzehnten  und  sechzehnten 
Jahrhundert  wie  in  allen  Handeisstädten  so  auch  in  Königs- 
berg in  der  That  einen  ausserordentlichen  Grad  erreichte, 
wurde  aligemein  als  ein  Hauptgrund  der  Theuerung*  ange- 
sehen. Die  Gommission  fand  den  Befehl  durchaus  zweck- 
mässig und  so  fand  sich  denn  in  der  Ordnung  auch  der 
Artikel,  dass  kein  Handwerker  Marder  tragen  sollte,  „weder 
unter  dem  Rock  noch  am  Barrett  gefüttert^^  Zugleich  wurde, 
was  uns  ebenso  unbedeutend  erscheint,  verboten,  Schweine 
in  der  Stadt  zu  halten:  es  sollte  nur  in  den  Ställen  und 
Speichern  vor  der  Stadt  erlaubt  sein. 

Die  Folgen  dieser  Verordnungen  mögen  Freibergs  Worte 
schildern:  „diese  beiden  Artikel,'^  sagt  er,  „brachten  dem 
gemeinen  Manne  so  grossen  Verdruss,  dass  in  nächstfolgen- 
den Jahren  bei  ihnen  nicht  könnt  in  Vergessenheit  gebracht 
werden.  Auch  von  der  Zeit  an  hub  sich  die  Zwietracht 
und  Aufruhr  von  der  Gemeine  auf  den  Rath,  dass  in  den 
andern  Jahren  nachfolgend  genug  zu  thun  war,  und  sind 
nirgend  anders,  denn  aus  einem  bösen  unbedächtigen  Rath 
der  Regenten  hergeflossen.  Aus  diesem  Widerwillen  der 
Gemeine  begannen  etliche  von  der  Gemeine  mit  der  Ober- 
herrschaft und  etlichen  von  den  Regenten  heimlich  zu  rath- 
schlagen  wider  die  Räthe,  dass  alles,  was  die  Räthe  den 
Städten  zum  Besten  berathschlagten ,  für  gut  ansahen  und 
beschlossen,  taugt  nicht,  wollte  bei  ihnen  nicht  gelten  und 
viel  weniger  gehalten  werden.  Wie  oft  man  sich  bei  den 
Regenten  beklagte,  war  nichts  ausgerichtet,  allein  in  allen 
Stücken  hatten  die  Räthe  bei  den  Regenten  als  bei  der  Ge- 
meine Unrecht  und  lag  aller  bürgerlicher  Gehorsam  nieder."  *) 
Die  Gemeine  hatte  den  Rath  in  Verdacht,  jene  Verordnun- 
gen ausgewirkt  zu  haben,  und  es  liegt  am  Tage,  dass  die 
vornehmen  Herren  ihre  Freude  über  dieselben  zu  verbergen 


*)  Freiberg  fol  365  ff. 


mit  Bezug  auf  die  ständieche  Entwicklung.  71 

nicht  eben  bemüht  gewesen  sein  werden;  daher  richtete  sich 
der  Unwille  nicht,  wie  man  hätte  erwarten  sollen,  gegen  die 
Regierung,  sondern  gegen  den  Rath.  Allein  die  Wirkungen 
desselben  konnten  fUr's  Erste,  so  lange  der  Adel  und  die 
Stadträthe  eine  feste  Vereinigung  bildeten,  noch  nicht  her- 
vortreten. Untersuchen  wir  also  zunächst  die  Ursachen, 
welche  diese  Vereinigung  schwächten. 

Während  des  Krieges  und  auch  in  den  ersten  Zeiten 
nach  dem  Abschluss  des  vierjährigen  Waffenstillstandes  mit 
Polen  (5ten  April  1521),  den  der  Kaiser  und  der  König  von 
Ungarn  bei  der  Erschöpfung  der  beiden  den  Krieg  führen* 
den  Theile  vermittelten,  war  an  diese  Trennung  nicht  zu 
denken.  Vielmehr  suchte  der  Adel  nach  demselben  —  er 
fürchtete  vielleicht  die  Rache  des  Herzogs  —  die  Vereinigung 
mit  den  Städten  noch  näher  zu  knüpfen.  Der  Hochmeister 
berief  auf  Himmelfahrt  1521  einen  Landtag  nach  Königsberg,*) 
nicht  sowohl  um  die  Klagen  der  Stände  zu  vernehmen  und 
zu  beseitigen,  als  vielmehr  um  ihre  fernere  Hülfe  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Er  sprach  die  Hoffnung  aus,  dass  der  Kaiser, 
der  sich  jetzt  sehr  für  die  Sache  des  Ordens  interessire, 
demselben  das  Verlorene  wieder  zusprechen  und  Ersatz  des 
Schadens  erwirken  werde.  Er  selbst  werde,  um  darauf  hin-* 
zuarbeiten,  eine  Reise  nach  Deutschland  unternehmen.  Er 
ermahnte  sie  deshalb,  während  seiner  Abwesenheit  in  kei- 
nerlei Verbindung  einzugehen,  ihm  zu  100  Rossen  und  100 
Trabanten  einen  Schoss  zu  geben,  damit  er  nach  Standes 
Gebühr  auftreten  könne,  und  den  Regenten,  die  er  ans  dem 
weltlichen  Stande  wählen  werde,  zu  gehorsamen.  Aber  die 
glatten  Worte  des  Hochmeisters  verfehlten  ihre  Wirkung. 
Der  Bürgermeister  aus  dem  Kneiphofe  Martin  Roseler  ant- 
wortete ihm  im  Namen  des  Adels  und  der  Städte:  die 
Sprüche  des  Kaisers  hätten  schon  grosse  Summen  verschlun- 
gen, aber  nicht  den  geringsten  Vortheil  gebracht.  Die  Ver- 
bindung  des   Adels   und  der  Städte  sei   „von  Anbeginn  in 


*)  Ueber  denselben   findet  sich  nur  bei  Grünau  S.  1611  ff. 
einige  Nachricht. 


72         Em  BHck  in  die  ältere  preussisehe  Geschichte 

Gebrauch  gewesen '';  sie  sei  nicht  gegen  ihren  Herrn,  son 
dem  gegen  seine  Ungerechtigkeit  gerichtet,  auch  hätten  die 
Städte  jetzt,  da  der  Adel  die  unbegreiflicher  Weise  gebro- 
chene  Einigkeit  mit  den  Städten  herzustellen  suche,  keine 
neue  oder  ungewöhnliche  Zusagen  gemacht.  Den  Schoss 
könnten  sie  nicht  bewilligen:  denn  sie  seien  durch  die  frü- 
heren Abgaben  und  noch  mehr  durch  die  böse  Münze  zu 
sehr  heruntergekommen.  Weltliche  Regenten  wollten  sie  nicht: 
denn  sie  seien  Geschworne  des  Ordens  und  würden  nur 
dem  Orden  gehorsam  sein.  Als  er  geendet  hatte,  fragte  er 
die  Landschaft  und  die  Städte,  ob  das,  was  er  gesprochen, 
ihr  Befehl  gewesen  wäre.  Sie  schrieen:  ja,  ja.  Es  ist  noch 
viel  zu  wenig  geredet. 

Das  einzige  Resultat  dieses  Landtages  war,  dass  der 
Hochmeister  den  Städten  Königsberg  das  Privilegium  gab, 
unter  seinem  Namen  und  Wappen  zehn  Jahre  läng  zu  mün« 
zen  nach  dem  Schrot  und  Korn  der  Münze,  wie  sie  vor  dein 
Kriege  geschlagen  sei.  Dies  Privilegium  brachte  den  Königs- 
bergern kbinen  grossen  Vortheil,  entledigte  aber  den  Hoch* 
meister  einer  schweren  Sorge;  und  da  der  Rath  der  Alt- 
Stadt,  der  die  neuen  Münzen  schlagen  Hess,  nun  eben  so 
sehr  wie  vorhin  der  Hochmeister,  eigennützige  Interessen 
verfolgte,  so  gab  es  eine  neue  Veranlassung  zu  Unzufrieden'^ 
heit  und  Hader  zwischen  Rath  und  Gemeine. 

Nach  der  Ertheilung  dieses  Privilegiums  entliess  Albrecbt 
den  Landtag,  um  sich  auf  ihr  Wort  weiter  zu  bedenken  und 
sie  darnach  zu  unterweisen. 

Eine  noch  entschiedenere  Sprache  führten  die  in  ihrer 
Vereinigung  starken  Stände  auf  dem  Landtage  zu  Bartenstein, 
der  auf  Bartholomäi  desselben  Jahres  berufen  wurde.*)  Die 
Anträge  des  Hochmeisters,  welche  Heinrich  von  Heideck  vor- 
legte, waren  zum  Theil  dieselben,  wie  vorher.  Man  hörte 
da  wieder  von  der  Reise  nach  Deutschland,  die  der  Hoch- 
meister zum  Besten  des  Landes  unternehmen  wolle,  von  der 
Steuer,  ohne  welche  jene  nicht  möglich  sei,  und  von  dem 


*)  Uauptqueile:  Grünau  S.  1621. 


mU  Bemg  auf  die  »tänditcke  Entteiekbing.  73 

Gehorsam,  den  man  den  zurttckgelassenen  Regenten  leisten 
solle.  Ausserdem  aber  forderte  der  Fürst  von  den  Ständen 
freies  Geleit  für  Dittrich  von  Schönberg,  dem  man  die  Schuld 
gab,  den  Krieg  veranlasst  zu  haben,  damit  er  von  Lochstädt 
nach  Bartenstein  kommen  tmd  sich  verantworten  könne. 

„Aber  die  Landschaft  hatte  sich  bei  Treue  und  Ehre 
verbunden,  keine  Ungerechtigkeit  zu  leiden,  sollte  man  sie 
auch  alle  erwürgen.^'  Die  vom  Hochmeister  beabsichtigte 
Reise  wurde  auch  jetzt  fär  unnütz  erklärt,  die  Steuer  ver- 
sagt, eine  fürstliche  Regentschaft  energisch  zurückgewiesen: 
„Denn  die  fürstlichen  Regenten,^^  sagten  sie,  „haben  uns 
geschunden,  und  sie  haben  es  mit  allerlei  Dieben,  Mördern, 
Räubern  und  Verräthern  gehalten,  uns  aber  alle  Gerech« 
tigkeit  versagt."  Das  Geleit  für  Dittrich  .von  Schönberg 
verweigerten  sie,  doch  wären  sie  zufrieden,  wenn  er  vor 
sie  kommen,  auf  Klage  Antwort  geben,  und  „vom  Ueberzeu- 
gen  Recht  leiden"  sollte.  Diese  Geleitsverweigerung  war 
ohne  Zweifel  der  kühnste  Schritt,  den  die  Stände  wagten, 
aber  es  gab  kein  anderes  Mittel  sich  jener  landverderben- 
den Günstlinge  zu  erwehren.  Heideck  drohte,  der  Hoch* 
meister  werde  den  Angeschuldigten  ihnen  zum  Spott  gelei- 
ten. Die  Stände  antworteten >  „so  ihn  f.  G.  uns  zum  Spott 
geleitet,  da  mögen  wir  nicht  wider,  sondern  wo  wir  ihn  er- 
greifen, wollen  wir  ihn  erbauen  (?),  obgleich  drei  Fürsten 
über  ihm  ständen."  Eine  schriftliche  Rechtfertigung  Schön- 
bergs  wurde  kaum  beachtet. 

Diese  Haltung  der  Stände  hatte  den  Erfolg,  dass  der 
Hochmeister  seinen  Bruder,  Markgraf  Wilhelm,  den  er  vier 
Jahre  in  Königsberg  in  fürstlichem  Glänze  gehalten  hatte, 
und  von  dem  man  sagte,  er  solle  nach  seinem  Tode  Hoch- 
meister werden,  mit  Dittrich  von  Sehönberg  heimlich  aus 
dem  Lände  schickte.  Markgraf  Wilhelm  war,  wie  es  scheint, 
zum  Regenten  für  die  Zeit  der  Abwesenheit  des  Hochmei- 
sters  bestimmt,  wie  er  ihn  schon  vorher  hin  und  wieder 
vertreten  hatte.  Man  halte  ihm  nichts  Besonderes  vorzu- 
werfen, vielmehr  war  er  ausdrücklich  ausgenommen  wor- 
den,  als   den  weltlichen  Räthen  nach  jeuer  ersten  Verbin- 


74        Ein  BUek  in  die  aUere  preussisohe  QescMekie 

düng  des  Adels  mit  den  Städten,  von  Augustin  Bartein  das 
Verderben  des  Landes  zur  Last  gelegt  wurde;  aber  sein 
Aufenthalt  in  Preussen  fiel  dem  so  erschöpften  Lande  schwer, 
und,  was  wohl  den  Ausschlag  gab,  man  konnte  nichts  an- 
deres erwarten,  als  dass  er,  schon  aus  eigenem  Interesse, 
des  Hochmeisters  schon  so  lange  verfolgte  Pläne  nicht  aus 
dem  Auge  verlieren,  und  die  verhassten  Räthe  beibehalten 
•werde.  Vom  Orden,  dem  Albrechts  Regierung  selber  zur 
Last  fiel,  war  das  nicht  zu  befürchten,  daher  suchte  man 
dem  Ordens-Kapitel  das  Regiment  zu  erhalten,  und  als  der 
Hochmeister  seine  Reise  antrat,  überwies  er  die  Leitung 
desselben,  diesem  Wunsche  ganz  entsprechend,  dem  Bischof 
von  Samland. 

Den  Klagea  der  Stände,  besonders  über  die  Münze  und 
über  die  Fortdauer  der  Feindseligkeiten  zwischen  Polen  und 
Preussen  und  die  Unsicherheit  der  Landstrassen,  konnte 
nicht  abgeholfen  werden.  Der  Werth  der  in  Kriegszeiten 
geschlagenen  Münze,  den  Albrecht  bei  der  Ertheilung  des 
Münzrechts  an  Königsberg  auf  den  dritten  Thcil  herabgesetzt 
hatte,  musste  noch  bedeutend  verringert  werden,  und  eben 
dadurch  geriethen  viele  in  immer  grössere  Armuth.  Der 
Handel  nach  dem  Auslande  und  im  Binnenlande  lag  darnie- 
der. Die  Polen, ^  die  während  des  WafiTenstillstandes  einen 
Theil  des  Landes  noch  besetzt  hielten,  schalteten  rücksichts- 
los über  die  Fischereien  und  über  die  lang  geschonten  Wal- 
dungen und  führten  die  tüchtigsten  Bauern  fort  auf  ihre  Gü- 
ter. Die  Vergeltung,  die  der  Hochmeister  in  Braunsberg 
und  einigen  anderen  Orten  üben  konnte ,  war  sehr  ungleich. 

Diese  tro&t-  und  hoffnungslose  Lage  des  Landes  begün- 
stigte nun  vielleicht  doch  die  Wünsche  des  Hochmeisters. 
Er  liess  durch  den  Grosskomthur  und  einige  andere  Gebie- 
tiger einzelne  vom  Adel  und  aus  den  Städten  auf  die  Seite' 
nehmen  und  ihnen  vorstellen,  dass  man  doch  endlich  — 
denn  schon  sei  fast  ein  Jahr  des  WaffenstiUstandes  verflos- 
sen —  an  den  Abschluss  des  Friedens  denken  müsse;  man 
müsse  bei  den  für  denselben  bestimmten  Vermittlern  solli- 
eitiren;  man  habe  vprher  durch  Gesandte  unterhandelt,  aber 


mit  Be%ug  auf  dU  ständische  Enitricklung.  75 

nichts  erreicht.;  von  des  Hochmeisters  eigenen  Bemühungen 
habe  man  mehr  2U  erwarten.  Diese  Vorstellungen  waren 
nicht  ganz  fruchtlos;  von  einem  Theiie  der  Versammelten 
wenigstens  wurde  der  Hochmeister  aufgefordert,  sich  den 
Beschwerden  der  Reise  selbst  zu  unterziehen/) 

Auf  ein .  solches  Gesuch  konnte  sich  der  Hochmeister 
nun  schon  berufen,  wenn  er  die  Stände  von  neuem  um  die 
zur  Reise  nothwendige  Unterstützung  anging.  Es  war  dies 
ein  grosser  Gewinn  für  ihn :  denn  eben  deshalb  bekam  nun 
auch  die  Parteiung  zwischen  den  Räthen  und  Gemeinen 
grössere  Bedeutung  für  den  Landtag.  Nicht  ohne  Grund 
wurde  also  der  nächste  Landtag,  der  auf  Fabiani  und  Seba- 
stiani  1522  gehalten  werden  sollte,  vneder  nach  Königsberg 
verlegt.**) 

Der  Hochmeister  verlangte  diesmal  sehr  viel,  angeblich 
auch  deshalb,  weil  er  kaiserlichem  Befehle  gemäss  an  dem 
bevorstehenden  Türkenkriege  Theil  nehmen ,  und  so  dem 
Kaiser  und  Preussen  dienen  müsse.  Fassen  wir  kurz  zu- 
sammen, was  ihm  dazu  verhalf,  so  war  es  nicht  eigentlich 
wie  früher  energische  Unterstützung  des  einen  der  beiden 
Stände,  sondern  der  Einfluss  der  partikulären  Interessen, 
die  in  beiden  durch  Einwirkung  auf  einzelne  rege  gemacht 
wurden.  In  einer  Zeit  der  Verwirrung,  wie  die  damalige, 
in  der  alles  aus  den  Fugen  gewichen  war,  konnte  ein  sol- 
ches Mittel  mit  Erfolg  angewandt  werden. 

Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dass  der  Hochmei- 
ster, wenn  er  nicht  durch  entschiedene  Zuneigung  des  einen 
Standes  auf  den  andern  einwirken  konnte,  wie  vorhin  durch 
den  Adel  auf  die  Städte,  lieber  mit  jedem  einzeln  unterhan- 
delte, als  mit  beiden  zugleich.  Wollte  er  sie  aber  ausein- 
ander halten,  so  musste  er  es  vermeiden,  eine  solche  Steuer 
vorzuschlagen,  die  von  beiden  zugleich  bewilligt  werden 
musste,   wie  etwa  die  Bierzeise,  und  die  Auflage  vielmehr 


*)  Collect,  des  Camerarlus  fol.  114  —  116.  Beler  fol.  60.  73. 
**)  Hauptstellen:  Grünau  S.  1633  und  Beler  fol.  73. 


76         Ein  Blick  m  die  ältere  pretissische  Geschichte 

so  iheilen,  dass  jeder  der  Stände  auf  eine  besondere  Weise 
angezogen  wurde.    Man  verfuhr  wie  1514  und  1520. 

Es  war  schon  früher  nicht  selten  vorgekommen,  dass 
der  Adel  statt  seine  persönlichen  Dienste  zu  leisten  Geld 
gab.  lieber  ein  solches  Dienstgeld  unterhandelte  der  Hoch- 
meister auch  jetzt  mit  ihm.  Er  wandte  sich  zuerst  aa  die- 
jenigen unter  dem  höheren  Adel,  die  er  vorher  als  Verrä- 
thor  bezeichnet  hatte  und  die  nun,  um  sich  wieder  einen 
gnädigen  Herrn  zu  machen,  ganz  und  gar  für  seine  Meinung 
stimmten;  durch  diese  wurde  der  übrige  Adel  mitgezogen. 
Er  bewilligte  ein  Dienstgeld  von  anderthalb  Mark  auf  zwei 
Jahre*)  nicht  nur  für  sich,  sondern,  auch  für  die  Freien, 
Schulzen  und  Krüger,  für  den  Bauer  eine  halbe  Mark;  doch 
sollte  von  den  verarmten  Bauern  auf  Natangen  nur  ein 
Vierdung  gefordert  werden  Die  Krüger  wurden  der  Mahl- 
steuer, von  der  sogleich,  mitunterworfen. 

Mehr  als  vom  Adel,  wurde  von  den  Städten  verlangt 
Sie  glaubten  zuerst  mit  einer  Mühlensteuer,  einem  Schilling 
vom  Scheffel  abzukommen,  aber  dies  war  dem  Hochmeister 
viel  zu  wenig.  Dann  fügten  sie  noch  eine  Salzsteuer,  eine 
halbe  Mark  von  der  Last,  und  eine  Verkaufssteuer,  einen 
Schilling  von  der  Mark  auf  ein  Jahr  und  mit  der  ausdrück- 
lichen Einschränkung  hinzu,  dass  die  fremden  Kaufleute  von 
der  letztern  unbeschwert  bleiben  und  die  in  Königsberg 
aufgestapelten  Güter  nur  dann  verschosst  werden  sollten, 
wenn  sie  wirklich  zum  Verkauf  kämen.  Auch  dies  genügte 
dem  Hochmeister  nicht.  Er  verlangte  nicht  nur  einen  hö- 
hern Betrag,  sondern  wollte  denselben  auch  so  lange  zie- 
hen, als  er  es  für  nöthig  halten  würde.  Obgleich  nun  die 
Käthe  in  nichts  weiter  willigten,  so  erreichte  der  Hochmei- 
ster  dennoch  seinen  Zweck. 

Denn  schon  hatte  er  für  diesen  Fall  seine  Maassregeln 
getroffen.  Die  Bürger  der  Hauptstadt  waren  durch  einen 
Graumönch  bearbeitet,  der  in  seinen  Predigten  die  Bewilli- 
gung der  Auflage  empfahl:   sie  sei  gottgefälliger  als  Almo- 


•)  Beler  fol.  97. 


mit  Bezug  auf  die  ständi$che  Entwicklung.  77 

sen.  Den  gewaodien  Bürgermeister  vom  Kneiphof  Martin 
Boseler,  der  den  Städten  manchen  Dienst  geleistet  und  dem 
Hochmeister  manches'  Hinderniss  in  den  Weg  gelegt  hatte, 
entfremdeten  ehrenvolle  und  vortheilhafte  Anträge  dem  Inter- 
esse der  Bürger.  Er  wurde  Rath  des  Hochmeisters  und  er- 
hielt, da  er  arm  und  verschuldet  war,  das  Privilegium,  dass 
ihn  niemand  Schulden  halber  mahnen  dürfe. 

Was  aber  die  Hauptsache  war,  die  ganze  Masse  der 
Handwerker  erklärte  sich  für  den  Hochmeister.  Sie  hatten 
Anfangs  die  Miene  angenommen,  als  seien  sie  zu  arm,  um 
die  Steuer  bewilligen  zu  können,  wie  sie  ja  bereits  alle 
kostbare  Kleidung  und  allen  Sehmuck  abgelegt  hätten.  Der 
Hochmeister  verstand  sehr  wohl,  was  sie  sagen  wollten.  Er 
wird  es  an  Versprechungen  nicht  haben  fehlen  lassen.  Die 
Handwerker  aller  drei  Städte  hielten  gemeinschaftlich  eine 
Zusammenkunft,  stellten  ihre  Beschwerden  gegen  den  Rath 
in  eine  Supplication  zusammen,  erhielten  die  erwünschte 
Antwort  und  waren  nun  die  eifrigsten  Anhänger  des  Hoch- 
meisters. Als  die  Kaufleute,  welche  die  erhöheten  Forde- 
rungen des  Hochmeisters  besonders  zu  fürchten  hatten,  und 
die  daher  durch  keine  Vorspiegelungen  vom  Rathe  gelrennt 
werden  konnten,  die  Handwerker  wenigstens  dahin  zu  ar- 
beiten aufforderten,  dass  die  Dauer  der  Auflage  festgesetzt 
würde,  erwiederten  diese:  man  habe  sie  15  Jahre  nicht  hö- 
ren wollen,  so  möge  es  auch  jetzt  so  bleiben. 

Im  Einverständniss  mit  den  Gewerken,  mit  denen  wohl 
die  Gemeinen  überhaupt  ziemlich  übereinstimmten,  nahm 
der  Hochmeister,  der  überdies  die  Einwilligung  der  kleinen 
Städte  erhalten  zu  haben  glaubte,  auf  den  Widerspruch  der 
Räthe,  Kaufleute  und  Mälzenbräuer  in  der  Hauptstadt,  die 
allein  noch  zusammenhielten,  keine  Rücksicht.  Er  durfte  es 
sogar  wagen,  seine  Forderungen  in  Form  eines  Mandats 
durch  Anschlag  an  die  Kirchenthüren  anzukündigen. 

Da  fanden  sich  nun  vor  cillen  die  Kaufleute  sehr  ge- 
drückt: die  bewilligte  Verkaufssteuer  war  in  eine  viel  um- 
fassendere Handelssteuer  verwandelt:  alle  Waaren,  die  von 
der  Land-  oder  Seeseite  eingeführt,   oder   durch   das  Land 


78         Em  BHek  in  die  ätiere  preussische  Oeichickte 

geführt  werden,  sollen  mit  [einem  Schilling  von  der  Mark 
versteuert  werden,  und  nur  die  aus  Hasovien,  Litthauen 
und  Samaiten  zugefllhrten  Lebensmittel  von  dieser  Steuer 
frei  sein.  Die  Salzsteuer,  die  von  den  Räthen  nur  auf  den 
Verbrauch  bezogen  war,  wurde  auf  den  Handel  ausgedehnt: 
für  jede  Tonne  Salz,  die  von  Königsberg  nach  dem  Aus- 
lande geführt  wird,  sollen  zwei  Schilling  genommen  werden« 
Nur  die  Mahlsteuer  blieb  unverändert.  Es  kann  aber  aus- 
serdem noch  ein  neuer  Zoll  hinzu,  der  bei  Königsberg  von 
allen  Schiffern,  gleichviel  ob  sie  den  Pregel  hinauf  oder 
hinabführen,  gezahlt  werden  sollte,  und  zwar  nach  der 
Grösse  der  Schiffe,  von  der  Last  zwei  Schilling. 

Der  Schild,  welcher  dieses  ungewöhnliche  Mandat  deckte, 
waren  die  Verordnungen,  welche  die  Supplication  der  Hand- 
werker hervorrief.  Das  Verbot  Marder  zu  tragen,  welches 
sie  so  empfindlich  verletzt  hatte,  wurde  auf  ein  Jahr  aufge- 
hoben, sie  erhielten  die  Erlaubniss  zum  Kaufschlagen  „neben 
gemeinem  Kaufmann, <^  nur  sollten  sie  den  gemeinen  armen 
Mann  nicht  übersetzen.  Die  schlechte  Münze  des  altstädt- 
schen  Rathes,  die  Pflaumengroschen,  wie  man  sie  nach  dem 
Bürgermeister  Pflaum  nannte,  die  wohl  nicht  allein  von  dem 
gemeinen  Pöbel,  wie  Freiberg  sagt,  geschmäht  wurde,  —  denn 
der  Hochmeister  hatte  durch  dasselbe  Versprechen  die  Kauf- 
leute zu  gewinnen  gesucht  —  *)  sollte  in  einem  gewissen 
Zeitraum  bei  Strafe  von  1000  rheinischen  Gulden  wieder  ein- 
gewechselt und  umgeprägt  werden.  Endlich  hatten  die  Ge- 
werke  Theilnahme  an  den  Berathungen  verlangt,  wenn  etwas 
zum  gemeinen  Besten  beschlossen  würde,  und  das  Mandat 
besagte:  „es  sollen  hinfort  zwei  aus  der  Gemeine  der  Werke 
in  einer  jeden  Stadt,  so  sich  dem  gemeinen  Nutzen  zum  Besten 
hinfort  etwas  begeben  würde,  also  dass  neue  Aufsatzung  oder 
anderes  vorfallen  würde,  dabei  verordnet  werden,  solches 
Thuns  ein  Mitwissen  zu  haben,  und  in  solchem  mit  im  Rath 
allenthalben  zu  beschliessen.'^ 

Obwohl   die  Käthe   gegen  dieses  Mandat  noch  einmal 


*)  Freiberg  fol.  311.  Grünau  S.  1636. 


mit  Bes&ug  auf  die  ständUche  Entwiekking.  79 

Einspruch  erhoben  und  den  Hochmeister  um  „eine  kleine 
Unterredung^^  baten,  so  fanden  sie  doch  weiter  kein  Gehör 
Die  Steuer  wurde  „ohne  BewiUigung  der  Städte  mit  Gewalt^' 
genommen« 

Die  lange  vorbereitete  Parteiung  in  der  Hauptstadt  war 
in  dieser  Weise  endlich  zum  Ausbruch  gekommen,  und  er- 
füllte dieselbe  seitdem  eher  steigend  als  nachlassend.  Gleich 
in  den  ersten  Wochen  waren  die  Reibungen  so  heftig,*) 
dass  die  Gewerke  einen  förmlichen  Bund  abschlössen  ^  ein 
zweiter  Schritt  zur  Vereinigung  der  drei  Städte  —  und  da 
sie  von  der  Gunst  des  Hochmeisters  noch  grössere  Vortheile 
erwarteten,  als  sie  bereits  erreicht  hatten,  einen  Ausschuss 
zu  demselben  nach  Tapiau,  wo  er  sich  gerade  aufhielt,  ab- 
sandten, ihm  ihre  ferneren  Gebrechen  zu  klagen.  Allein  sie 
täuschten  sich  doch,  wenn  sie  von  demselben  rücksichtslose 
Begünstigung  auf  Kosten  des  Raths  erwarteten.  So  weit 
konnte  der  Hochmeister  seine  landesherrliche  Stellung  nicht 
vergessen;  so  weit  liefen  seine  Interessen  und  die  der  Ge- 
meine nicht  neben  einander;  so  theuer  endlich  wollte  er  die 
Dienste  der  Gemeine  nicht  bezahlen.  Es  war  vielmehr  vor- 
auszusehen, dass  sie  ebenso  wie  der  Rath,  wenn  sie  sich 
des  Ruders  bemächtigt  hätte,  in  Opposition  gegen  ihn  treten 
würde.  Die  Parteiung,  wie  sie  war,  ein  gewisses  Gleichge- 
wicht der  Kräfte,  führte  ihn  am  leichtesten  zu  dem  Ziele, 
seine  Pläne  durch  den  Widerspruch  der  Städte  nicht  gehin- 
dert zu  sehen.  Die  Gesandtschaft  der  Gewerke  erregte  na- 
türlich grosses  Aufsehn.  Um  daher  ungegründeten  Argwohn 
nicht  aufkommen  zu  lassen,  schrieb  der  Hochmeister  sogleich 
den  Bürgermeistern  und  Räthen,  was  ihm  vorgetragen  sei, 
und  dass  er  in  Kurzem  zur  Beilegung  des  Streites  eine  Ver- 
sammlung von  Gebietigern,  Adel  und  Städten  zusammenbe- 
rufen  wolle. 

In  dieser  Versammlung,  am  Tage  Judica,  trug  der  Aus- 
schuss der  Gewerke  (Hans  Schief,  ein  Kupferschmid,  dessen 
Name  den  Rath  in  der  Folge  noch  in  Schrecken  setzen  sollte. 


*)  Das  Folgende  nach  Beler  fol.  87fif. 


80         Ein  Blick  in  die  ältere  preussische  Geschichte 

und  Ronefeld,  ein  BeuUer  aus  der  Altstadt.  MerteO)  ein  Rie- 
mer aus  dem  Kneiphof,  Lorenz  Matern,  ein  Schmid  und 
Schöffenmeister  aus  dem  Löbenicht)  ihre  Beschwerden  vor. 
Man  hatte  ihnen  vorgeworfen,  sie  allein  hätten  die  erhöhte 
Steueranlage  bewilligt  und  geäussert,  sie  sollten  dieselbe  nun 
auch  allein  bezahlen.  Man  bezeichnete  sie  mit  dem  Spitz- 
namen Bundherrn.  Wie  die  den  Gewerken  ertheiite  Erlaub- 
niss  zum  Kaufschlagen  die  Kaufleute  beeinträchtigte,  so  suchte 
die  Gegenpartei  ihnen  dadurch  den  Verdienst  zu  verküm- 
mern, dass  sie  Gesellen  in  ihre  Häuser  nahm  und  diesen  ihre 
Arbeiten  übertrug.  Zu  der  Theilnahme  der  nach  dem  Mandat 
des  Hochmeisters  aus  dem  Handwerkerstande  verordneten 
Beisitzer  in  den  Rathsversammlungeu  war  es  nicht  gekommen. 
Alles  dieses  kam  nun  zur  Sprache,  aber  der  Rath  wusste 
sich  so  zu  verantworten,  dass  er  den  Hochmeister  befriedigte. 
Zugleich  stellte  der  Ausschuss  aber  auch  neue  Forderungen. 
Die  eine  ist  mir  nicht  ganz  verständlich;  sie  bitten:  „man 
wolle  sie  erlassen  des  Eides,  gleich  wie  em  Schöffe  oder 
Notarius  thun  muss,  und  sie  nicht  in  die  Bank  noch  in  Rath 
kiesen."  Der  Rath  antwortete,  dies  geschehe  nach  kölni- 
schem Rechte,  und  verweigerte  die  Aenderung,  Der  Aus- 
schuss verlangte:  „es  sollen  zwölf  gewählt  werden  von  der 
Gemeine,  die  da  mitwissen  sollten,  wenn  Geschäfle  die  ganze 
Gemeine  belangend  kämen,  und  rathschlagen."  Der  Rath  er- 
wiederte:  die  erwählten  und  vereideten  Abgeordneten  der 
Gemeine  seien  nach  allem  Gebi^uch  immer  zugelassen,  und 
um  Rath  gefragt,  wenn  etwas  den  Hochmeister  oder  eine 
ganze  Gemeine  zufällig  belangte.  Sie  soUe  ihre  zwölf  Ab- 
geordneten nur  schicken,  man  könne  das  leiden.  Ferner 
wünschten  die  Gemeinen  ungehinderte  Gommunication  zwi- 
schen den  Städten,  dass  die  Thore  also  geöffnet  bleiben 
oder  auch  ihnen  Schlüssel  übergeben  werden  sollten;  aber 
der  Ausschuss  konnte  dies  nicht  geradezu  aussprechen;  er 
beklagte  sich  nur,  dass,  wenn  Feuer  auskäme,  einer  dem 
nndern  nicht  Beistand  leisten  könne,  weil  die  Thore  ge- 
schlossen seien,  und  bat,  dass  dies  abgestellt  würde.    Der 


mit  Bezug  auf  die  siändische  Entwicklung,  Hi 

Ratb  erinnerte,  dass  die  nöthigen  Löschgeräthe  jederzeit  aus 
einer  Stadt  in  die  andere  gelassen  seien. 

So  gewannen  die  Gemeiüen  diesmal  also  nichts,,  und 
wenn  wii*  Freiberg  Glauben  schenken  'dürfen,  mussten  sie 
von  Miliitz,  der  im  Namen  des  Hochmeisters  sprach,  sogar 
die  Zurechtweisung  erfahren:  dass  sie  ihn  in  diesen  Sachen 
zur  tfnbiUigkeit  gesucht  und  dass  es  ihnen  wohl  angestan- 
den  hätte,  einen  ehrsamen  Rath  in  solchen  Gebrechen  zuvor 
zu  besuchen.  Miltitz  forderte  zuletzt  alle  auf,  während  des 
Hochmeisters  Abwesenheit  in  Einigkeit  zu  leben  und  der 
vorigen  Artikel  nicht  zu  gedenken.  Wer  dieses  ülfertrete, 
solle  von  den  verordneten  Regenten  gestraft  werdea. 

Donnerstag  nach  Judica   reiste    der   Hochmeister  nach 

Deutschland  ab.    Georg  von  Polentz ,   Bischof  von  Samland, 

'         •  ■     '  *     *. 

übernahm  die  Reeentschaft. 

>  Ö.  ;  ,  -  .  .  .  . 

Die  Gewerke  und  die  Gemeinen  waren  dem  Hochmeister 
nur  so  lange  gefällig  und  dienstbar,  als  er  sie  förderte.  Nun 
war  der  Punkt  erreicht,  auf  welchem  er  seine  Unterstützung 
versagte.  Die  Folge  davon  war,  dass  die  Gemeinen,  obwohl 
sie  ihre  Machinationen  gegen  die  Räthe  keinesweges  aufga^ 
ben,  sich  mit  diesen  dennoch  verständigten,  wenn  es  sich 
um  Steuern  und  andere  Lasten  handelte.  Und  ()a  auch  der 
Adel  bei  der  letzten  Steuer -Bewilligung  mehr  verlockt  als 
gewonnen,  war,  und  sich  erst  sehr  allmählig  wieder  näher.an 
den  Herzog  anschioss,  so  entwickelte  die  Opposition  be« 
deutende  Kräfte.  Wir  müssen  die  Erfolge  dieser  Opposition 
berühren,  ehe  wir  die- weiteren  Fortschritte  der. besonders 
durch  die  Reformation  angeregten  Gemeinen  verfolgen. 

Die  Handelssteuer,  hatte  von  Seiten  Polens  ein  Verbot 
aller  Ausfuhr  nach  Pxeussen  zur  Folge.  Die  Preise  stiegen 
aiisserocdentlich  und  der  Zustand  würde  unerträglich  ger 
wesen  sein,  wenn  tiicht  eigenes  Interesse  die  Polen,  selbst 
die  £)lbinger  und  Danziger,  welche  jenes  Verbot  ausgebracht 
hatten,  zu  fast  öfTentlichem  Schleichhandel  getrieben . hätte« 
Da  musste  es  den  Gemeinen  wohl  klar  werden,  wie  sehr 
sie  sich  selbst  geschadet  hatten.  Wie  wenig  man  auf  si^ 
rechnen  konnte,  zeigte  sich  schon  in  einer  Angelegenheit;) 

Allg.  Ztitsckrifk  f.  Gtschiolitt.  V.  1846.  Q 


82         Ein  Blick  in  die  äliere  preussische  Geschichte 

die  Liefland  betraf.  Der  Landmeister  von  Liefland  -  versagte 
die  Beihülfe,  die  der  Hochmeister  ihm  auferlegte,  und  soWe 
duroh  eine  Botschaft,  die  zugleich  Vollmacht  von  Landen 
und  Städten  hätte,  nochmals  zur  Leistung  derselben  aufge- 
fordert werden.  Diese  Vollmacht  verweigerten  nicht  nur  die 
Bürgermeister,  sondern  auch  die  Räthe  und  Gemeinen,  welche 
jene  selbst  dem  Befehle  des  Hochmeisters  gemäss  zu  be- 
fragen riethen.  Der  Bischof  wusste  zuletzt  keinen  andern 
Rath,  als  Marlin'  Roseler  im  Namen  der  Städte  zu  schicken; 
die  welche  den  Adel  vertreten  sollten,  waren,  wie  es  scheint, 
mit  keider  bessern  Vollmacht  von  den  Ihrigen  versehen.*) 
Bald  darauf  beschlossen  die  drei  Städte,  wenn  das  erste 
Jahr  des  Zolles  um  sei,  denselben  weiter  nicht  zu  zahlen 
und  zeigten  dies  dem  Regenten  an.  Dieser  berief  die  Stände 
auf  Fabiani  und  Sebastiani  1523  nach  Königsberg,  stellte 
ihnen  vor,  in  welche  Verlegenheit  der  Hochmeister  dadurch 
gerathen  und  welchen  Schaden  das  ganze  Land  davon  haben 
würde,  ermuthigte  durch  Nachrichten  vom  Stande  der  Unter- 
handlungen des  Hochmeisters,  rügte  das  ganz  ungesetzliche 
Verfahren  der  Städte  und  forderte  sie  auf,  von  ihrem  Vor- 
haben abzustehn.  Die  Deputirten  der  Städte  wollten  hierauf, 
ehe  sie  sich  mit  den  Gemeinen  yon  Neuem  berathen  hätten, 
nicht  antworten.  Dieses  wurde  ihnen  gestattet.  So  versam- 
melten sich  denn  am  folgenden  Tage  die  Gemeinen  und  Räthe 
aller  drei  Städte  in  der  Pfarrkirche  der  Altstadt. 

Ihre  Antwort  war  diese:  „Sie  verhohlen,  dass  sie  dies 
Beginnen  nicht*  allein  ihnen,  sondern  einem  würdigen  Orden 
und  dem  ganzen  Lande  zum  Besten  vorgenommen,  und  dass 
nach  aller  Nothdurft  wohl  berathschlagt  und  befunden*  kurz, 
dass  sie  diesen  Zoll  und  Zeise  länger  in  keinem  Weg  nicht 
tragen  können:  denn  in  dem  vergangenen  Kriege  haben  ihnen 
weder  Klippen  noch  Knechte  noch  andere  Beschwerungen 
zu  so  merklichem  Verderb  gereicht:  und  sollten  sie  diesen 
Zoll  und  Zeise  länger  tragen,   müssten  sie  Weib  und  Kind 


*)  Beler  fol.  94.  95.    Die  Geschichte  des  folgenden  Landtages 
foT.  96  fF.  vgl.  Grünau  S.  1676.  16T7. 


mit  Besing  auf  die  ständische  Enhrickbmg.  8S 

nehmen,  und  mii  ihnen  zu  den  Städten  hinauslaufen;  mit 
unterthäniger  Bitte ,  ihro  Gnaden  und  Würden  wollten  6olch 
eine  Antwort  von  ihnen  auf  diesmal  in  Gnaden  annehmen/' 

Der  Bischofy  derb  wie  er  war,  hatte  sich  nicht  gescheut, 
ihr  Vorhaben  dumm^  grob  und  unbesonnen  zU  nennen;  da 
man  diese  Worte  mit  Unwillen  wiederholte,  sagte  er,  „seine 
Rede  hätte  man  ihm  übet  ausgelegt,  er  hätte  nicht  ge- 
sprochen: es  solchen  elenden  dummen  Abschlagens,  sondern 
er  hätte  gesprochen:  eines  dummen,  groben,  unbesonnenen 
Abschlagens.  Da  hub  die  Gemeine  an  laut  zu  reden:  hört, 
er  redet  es  noch  einmal  iq  unserer  Gegenwärtigkeit  I  da 
war's  anders  nicht,  weder  wie  es  vor  gelautet  hat!  Da 
sprach  der  Bischof,  man  sollte  ihm  nichts  vor  Übel  halten; 
er  wäre  ein  Mensch,  und  bliebe  in  der  Zeit  also  bestehen." 

Auf  diesem  Wege  erreichte  der  Bischof  doch  aber  nichts, 
und  es  blieb  nicht  bei  der  blossen  Versagung  der  Steuer. 
Es  ist  noch  eine  Eingabe  an  die  Regierung,  unterzeichnet 
von  Bürgermeistern,  Rathmannen,  Richtern,  Schöffen  und 
Gemeinen  der  drei  Städte  Königsberg  und  der  Abgeordneten 
der  Hinterstädte,  erhalten,  in  welcher  nach  Auffilhfung  der 
im  Kriege  gebrachten  Opfer,  nach  mancherlei  neuen  Be- 
schwerden, z.  B.  über  den  Krugverlng  durch  den  Adel,  ober 
die  Beeinträchtigung  des  Getreidehandels  durch  die  Specu- 
latfonen  der  Schlosshauptleute,  über  Eingriffe  in  alte  Rechte 
und  Privilegien,  über  Parteilichkeit  der  Räthe  die  Worte  vor- 
kommen: aus  dem  allen  und  dergleichen  sei  „geschwinde 
Regierung,  darnach  eigen  Thun  nur  ihnen  nicht  allein  uner- 
trägHch  und  beschwerlich,  sondern  auch  bei  männiglich 
verächtlich  und  nachtheilig  hergeflossen.^^  Nach  sol- 
chen Ausdrücken  befremdet  die  Erklärung  nicht,  man  wolle 
nicht  mehr  belästigt  sein;  möge  der  Bischof,  die  Herrschaft, 
die  Glieder  des  Ordens  und  wessen  Lage  sich  sonst  nach 
dem  Kriege  schon  gebessert  habe,  Ra^th  suchen  zur  Unter- 
stützung des  Hochmeisters.*) 

*)  Faber  im  Preuss.  Archiv  Bd.  2  S.  83  erwähnt  eineh  Land- 
tag, fifm  Tagd  Apollonia  gehalten.  Dies  ist  woM  ein  IrrChum.  ßi^ 
zum  Tag«  Apdlionia  wurde  die  Steuer  gezahlt.    Grünau  S.  1634. 

6* 


84         Ein  Blick  in  die  ältere  preussische  Geschichte 

Wie  dringend  auch  der  Hochmeistef  der  Unterstützung 
des. Landes  bedurfte,  er  erhielt  von  jetzt  an  bis  auf  seine 
Zurückkunft  nichts.  Zwar  liess  es  der  Regent,  der  den  näch- 
sten Landtag  schon  Dienstag  nach  Galli  1523  hielt,  und  der 
Bischof  von  Riesonburg,  Erhard  von  Queis,  der  zweimal  vom 
Hochmeister  nach  Preussen  kam,  wodurch  die  beiden  Land- 
tage zu  Jacobi  und  zu  Nicolai  1524  veranlasst  wurden,  nicht 
aa  Ermahnungen  fehlen,  aber  theils  das  Uii vermengen  des 
Lanäes,  theils  die  Stellung  der  Parteien,  vereitelten  jede 
Hoffnung, 

Der  meiste  Widerstand  ging  in  dieser  Zeit  von  den  Ge- 
meinen aus,  welche  noch  vor  Kurzem  dem  Hochmeister  einen 
so  grossen  Dienst  geleistet  hatten.  Am  willigsten  zeigte  sich 
der  Adel,  der  sich  mehr  und  mehr  der  Stellung  näherte,  die 
er  vor  dem  KHege  eingenommen  hatte.  Die  Räthe  der  Haupt- 
stadt standen  zwispjien  beiden  in  der  Mitte;  sie  suchten  den 
Widerspruch  der  Gemeinen  zu  mildern  und  thaten  doch 
selbst  dem  Adel  nicht  immer  Genüge»  — 

Dieser  Zustand  der  Dinge  musste  sich  wohl  immer  wie- 
der herstellen,  so  oft  die  Stände  sich  durch  zufällige  Gombi- 
nationen  nicht  verblenden  Hessen.  Die  Steuern  drücken  ja 
wohl  immer  am  meisten  die  grosse  Menge,  die  also  vor  allem 
das  Interesse  hat,  sie  fernzuhalten,  zumal  in  jener  Zeit  der 
Verärn^ung,  deren  sich  z.  B.  die  kleinen  Städte  so  schmerz- 
lich zu  beklagen  hatten,  dass  isie  auch  den  Zusagen  der  Kö- 
nigsberger  f^r  eine  bessere  Zukunft  nur  zögernd  und  weil 
sie  es  nicht  abwenden  konnten^  beistimmten.  Ausserdem 
stand  der  Frieden  und  die  Rückkehr  des  Hochmeisters  nahe 
bevor;  man  sprach  bereits  in  dieser  Zeit  von  Aufhebung  des 
Ordens  und  Verehelichung  des  Hochmeisters;  es  liess  sich 
erwarten,  dass  er  seine  früheren  Bestrebungen,  den  Ständen 
gegenüber  picht  werde  aufgeben:  das  AUes  musste  wohl 
den  Adel  umstimmen,  dessen  äusseres  Wohl  vom  Hoch- 
meister so  unmittelbar  abhing.  Endlich  trug  die  Reformation 
zur  Entwickelung  dieser  Verhältnisse  sehr  wesentlich  bei. 
Denn  bald  fanden  sich  fanatische  Prediger,  welche  unter 
.  dem  grossen  Haufen   in  den  Städten  wie  auf  dem  Lande 


mU  Besug  auf  die  ständische  EnttticUung.  85 

« 

Ideen  der  Freiheit  verbreiteten,  die  sowohl  der  städtischen 
als  der  Landesregierung  gefährlich  wurden;  und  die  Glau- 
bensveränderung selbst  machte  Einrichtungen,, besonders  in 
Hinsicht  der  Kirchengüter  nothwehdig,  durch  welche  die 
Menge  übervortheilt  zu  werden  glaubte.  Von  Solchem  Hasse 
gedrängt,  flüchtete  sich  die  städtische  Regierung  unter 
den  Schutz  des  Regenten.  Nur  durch  diese  Stellung  des 
Adels  und  der  städtischen  Regierung  wurde  der  Plan  der 
Säcularisirung  des  Landet  ausführbar. 

Aber  nicht  sogleich  trat  diese  Wirkung  der  Reformation 
hervor.  Auf  dem  ersten  der  eben  genannten  Landtage  er- 
klärte sich  noch  die  Majorität  der  Gemeine  der  Hauptstadt 
gegen  die  Begünstigung  der  Ketzerei.  Simon  Grünau,  ein 
altgläu^ger  Mönch,  der  hiervon  allein  Nachricht  giebt,  mag 
nicht  in  jedem  Worte  zuverlässig  sein,  aber  im  Ganzen  mag 
man  ihm  doch  wohl  trauen.  Die  Gemeine  soll  nämlich  ihre 
Verweigerung  der  Steuer  auch  mit  folgendem  Grunde  mo- 
tivirt  haben:  „Ueberdas  wüssten  sie  niclit,  wie  siö  im  Glau- 
ben Gottes- ständen:  denn  alle  Ding  im  christlichen  Glauben 
wandelte  sich;  auch  müssten  sie  leiden,  dass  in  ihrem  An- 
hören Gottes  Mutter  geschändet  würde  etc.  Sie  auch  den 
Bischof  fUr  einen  Verheger  solcher  Lästerer  anzogen.  Auf 
solches  ward  ihnen  sehr  übel  geantwortet.  Sie  ihrer  her- 
gegen  auch  nicht  vergassen.  Indem  kam  ein  Schreiben  vom 
Hochmeister  an  die  Regenten,  darinnen  er  ihnen  bei  grosser 
Strafe  verbot,  dass  sie  Luthers  Lehre  mit  nichten  sollten  lei- 
den: denn  sie  wäre  in  viel  hundert  Stücken  wider  die  hei- 
lige Schrift  und  zöge  sich  nur  zu  eigenem  Willen  und  Frei- 
heit der  Sünder.  Von  dem  hingen  die  Lutherischen  die  Nase 
nieder  und  zogen  also  von  einander.  Der  blindeste  unter 
ihnen  war  Bischof  George  ihr  Herr;  der  liess  alles  gehen, 
wie  vor,  nur  dass  er  die  heiligen  Tage  wieder  gebot  zu 
feiern.  Ihrer  viele  Tausend  dankten  dem  Hochmeister  für 
seine  Biriefe.  Dem  waren  etliche  Lutheristen  zuwider  und 
sprachen:  o  ihr  tollen  Leute,  er  meint  nicht  eure  Seelen, 
sondern  er  meinet  euer  Geld;  er  will  euch  nur  locken,  da- 
rum hat  er  geschrieben,  was  ihr  gerne  höret,  denn  niemand 


86         Em  Bück  in  dk  äUere  prwsßkchß  G/nchidite 

ist  so  gut  lutbecisch  als  er  etc.  Diese  Worte  machten  wahi^ 
lieh  nicht  eiaen  kleinen  Neid,  jedoch  man  sähe  das  Spiel  an/' 

Halten  wir  die  angegebenen  Gesichtspunkte  fest,  so  wer- 
den sich  die  ihrem  Aeussei*en  nach  etwas  zerstreuten  Bera«- 
thungen  auf  den  drei  genannten  Landtagen  ungefähr  über- 
sehen  lassen«  , 

Auf  dem  ersten  (1523)*)  erklärte  sich  der  Adel  bereit, 
eip  Dienstgeld  von  einer  Mark  zu  geben,  wenn  die  Städte 
auch  zahlen  wollten.  Itiese  schlugen  es  aber  aus:  denn  sie 
hätten  vorher  gegeben,  was  sie  gehabt  hätten*,  die  Büchsen, 
die  von  ihrem  Gelde  angeschaft  wären,  seien  in  andern  Lan- 
den (der  Hochmeister  hatte  sie  dem  König  von  Dänemark 
geschickt),  sie  müssten  nachsehen;  über  das  wüssten  sie 
nicht,  wie  sie  im  Glauben  Gottes  ständen.  Wegen  4pr  herr- 
schenden Theuerung  wurde  von  einem  Ausschüsse  der  Ab- 
geordneten mit  Zuziehung  der  ältesten  der  einzelnen  Ge- 
werke  wieder  eine  Ordnung  und  Satzung  festgestellt.  Der 
Sischof  vergass  dabei  nicht,  dem  Ausschuss  wieder  die  viel- 
besprochenen Artikel  über  den  Kleiderluxus  und  über  das 
Halten  der  Schweine  in  der  Stadt  in  Erinnerung  zu  brlo^n 
-*-  vielleicht  in  der  Hoffnung,  dass  die  Spaltung  zwischen 
Bdth  und  Gemeine  endlich  wieder  zum  Besten  des  Hoch- 
meisters benutzt  werden  könne.  Allein  dies  Mittel  war  nun 
abgenutzt  und  wirkte  nicht.  Vielmehr  einigte  sich  die  Haupt- 
stadt über  eine  Beschwerdeschrift,  in  welcher  sie  sehr  nach- 
drücklich auf  Erhaltung  des  Herkommens  und  der  Privilegien 
und  auf  Abstellung  der  Unordnungen  in  der  Gerechtigkeits- 
pflege drang  und  den  Regenten  „unterrichtete",  dass  er  ein 
Verbot  der  Getreideausfuhr  nur  mit  Beistimmung  von  Lan- 
den und  Städten  ertheilen  dürfe.  Alles  das  scheint  auf  grosse 
Schwäche  der  Begentschaft  zu  deuten.  Noch  weniger  als 
im  Innern  vermochte  sie  gegen  den  äussern  Feind :  der  pol- 
nifiche  Hauptmann  von  Mohrungen  hatte  Liebstadt  beritten 
und  in  der  Umgegend  geraubt  Der  Bischof  wollte  auch 
daniber  den  Rath  der  Stände   einholen^  wie  man  ihm  ent- 


*)  Grünau  S.  1709.  i7i0.    Player  fol.  ^IS. 


mi  Besug  auf  die  siämUfche  Enimekhtng.  87 

gegentreten  solle.    Bs  wird  nicht  gesagt,  was  ihm  die  Stände 
rieihen,  aber  wahrscheinlich  geschah  nichts. 

Auf  dem  erstem  Landtage  von  1524*)  forderte  der  Bi- 
schof von  Riesenburg,  da  der  vieijährige  WaffensÜIlstand 
sich  dem  Ende  näherte  und  der .  Hochmeister  jetzt  seine 
Thätigkeit  für  den  Frieden  verdoppeln  musste,  „in  dieser  be- 
drängten letztern  Noth'^  die  Bierzeise.  Wir  können  den  Gang 
der  Berathungen  Über  diesen  Antrag  etwas  näher  verfolgen. 

Ohne  die  Beistimmung  der  Gemeine  durfte  der  Rath 
schon  nicht  mehr  wagen,  im  Namen  der  Städte  zu  handeln. 
Er  musste  also  den  Antrag  zuerst  den  Gemeinen  vorlegen. 
Diese  aber  beriethen  schon  nicht  mehr  gesondert  in  den 
drei  Städten,  sondern  gemeinschaftlich  und  versammelten  sich 
zu  diesem  Zwecke,  wie  in  jener  Zeit  als  die  bei  der  Abreise 
des  Hochmeisters  verwilligte  Steuer  aufgesagt  wurde,  in  der 
Pfarrkii^che  der  Altstadt.  Ihre  Meinung  war,  die  Bierzeise 
rund  abzuschlagen;  sie  gedächten  auch  eine  andere  Httlfo 
mit  Nichten  mehr  zu  geben,  und  derhaiben,  wie  sie  schon 
auf  der  letzten  Tagfahrt  erklärt  hätten,  nicht  mehr  zusam- 
menzukommen. Die  Räthe  empfahlen  ihnen  eine  etwas  ge- 
fükgigere  Antwort:  man  möge  an  das  Versprechen  des  Hoch- 
mdsters  erinnern,  das  Land  in  Frieden  zu  erhalten  und  fttr 
den  Fall,  dass  ein  beständiger  Friede  zu  Lande  und  zu  Was- 
ser hergestellt  würde,  eine  Unterstützung  wenigstens  in  Aus- 
sicht stellen.  Die  Gemeinen  gingen  hierauf  ein,  auch  die 
Hinterstädte  schlössen  sich  an,  obwohl  sie  am  liebsten  selbst 
diese  Verpffichtung  für  die  Zukunft  vermieden  hätten.  Der 
Adel  hatte  zwar  ebenfalls  gegen  die  Bedingung,  dass  dem 
Lande  erst  der  Frieden  wiedergegeben  werden  solle,  nichts, 
allein  sie  wünschten  doch  eine  Wendung,  welche  die  Stände 
für  diesen  Fall  bestimmter  verpflichtete.  Hierüber  konnte  er 
sich  mit  den  Städten  nicht  vereinigen.  Während  diese  nur 
versprachen,  unter  der  angegebenen  Bedingung  sich  als  ge- 
treue Unterthanen  zu  erzeigen,  verhiess  er  unter  derselben, 
den  Hochmeister  mit  Hülfe  nicht  zu  verlassen. 


«)  Platner,  fol.  141. 


88        Ein  Blick  in  die  ältere  preus$ische  Geschichte 

Was  ihn  zu  dieser  grössern  Bereitwilligkeit  bewog, 
sprach  er  auf  demselben  Landtage,  wenn  auch  verhohlen 
aus.  Er  schlug  nämlich  vor,  einen  Ausschuss  zu  bilden,  in 
welchem  Adel  und  Städte  ihre  Gebrechen  einander  mittheilen 
sollten,  und  mit  Fleiss  dahin  zu  arbeiten,  dass  dieselben  von 
der  Regierung  abgestellt  würden.  Man  kann  wohl  nicht  an- 
nehmen, dass  er  hierin  ohne  Erlaubniss  oder  Auftrag  des 
Regenten  handelte.  Aber  die  Gemeine,  welche  durch  einen 
solchen  Ausschuss  beeinträchtigt  zu  werden  fürchtete,  war 
dagegen  und  fügte  sich  erst  dann,  als  der  Bürgermeister  ihr 
die  Versicherung  gab,  dass  der  Ausschuss  nur  vprberathen 
und  ihr  seine  Meinung  zur  Bestätigung  vorlegen  sollte.  !Nach 
dieser  Verwilligung  erschien  der  Adel  auf  dem  Rathhause. 
Man  erwartete  nun,  dass  von  den  Gebrechen  der  Stände  die 
Rede  sein  würde,  aber  unter  mancherlei  Umschweifen  legte 
der  Adel  den  Städten  die  Frage  Tor:  ob  der  Hochmeister 
sollte  ein  Weib  nehmen. 

Erklärte  sich  die  öffentliche  Meinung  in  Preussen  für 
diesen  Plan,  so  war  zur  Ausführung  desselben  ein  bedeuten- 
der Schritt  gethan;  und  würde  er  ausgeführt,  so  war  der 
Adel  dem  Fürsten,  von  welctem  ihn  bis  jetzt  der  Orden 
noch  trennte,  der  nächste.  Die  Räthe  willigten  nicht  ein, 
wahrscheinlich  weil  sie  vor  der  Neuheut  und  den  Gefahren 
eines  Unternehmens,  das  ihnen  keinen  Vortheil  bringen 
konnte,  erschraken.  Sie  legten  den  Gemeinen  die  Frage  gar 
nicht  vor. 

Auch  übrigens  kam  man  in  dem  Ausschusse  zu  keinem 
Resultat.  Doch  gelangten  mancherlei  Beschwerden  der  Städte 
auf  anderem  Wege  wieder  zu  den  Ohren  des  Regenten,  und 
durch  den  Bischof  von  Riesenburg,  der  wieder  nach  Deutsch- 
land abging,  zur  Kenntniss  des  Hochmeisters. 

Erhard  von  Queis  ,wurde  noch  einmal  in  das  Land  ge- 
schickt, um  bei  dem  nahe  bevorstehenden  Ablaufe  des  vier- 
jährigen Waffenstillstandes,  da  alles  auf  dem.  Spiele  stand, 
die  Stände  doch  noch  zu  irgend  einer  Unterstützung  zu 
überreden  und  zugleich  zur  Absendung  vollmächtiger  Depu- 
tirten  nach  Pressburg  aufzufordern:    denn  hier  sollte   nun 


mit  Bezug  auf  die  ständische  Entwicklung.  89 

endlich  eine  Tagfahrt  zur  definitiven  Entscheidung  über 
Preussens  Zukunft  gehalten  werden.  Die  Stände  wurden 
auf  Nicolai  1524  berufen,  zum  letzten  Mal  vor  der  Rückkehr 
des  Hochmeisters.  Die  Gebietiger  erschienen  grösstentheils 
ohne  ihr  Ordenskleid.  Queis  schilderte  die  Noth  des  Hoch- 
meisters und  das  Bedürfniss  für  das  allgemeine  Beste.  Er 
stellte  vor,  dass  der  Friede  mit  den  benachbarten  Seestaaten 
nun  durch  Vermittelung  Lübecks  hergestellt  sei;  der  Friede 
mit  Polen  nun  auch  in  Kurzem  erwartet  werden  könne. 
Denjenigen,  die  noch  an  der  erschrecklichen  Ketzerei  An- 
stoss  nahmen,  sagte  er,  dass  den  Hochmeister  dieser  Zv^ie- 
spalt  tief  betrübe;  aber  hülfe  Gott,  so  sollte  es  in  Kurzem 
gebessert  werden,  in  PreusSen  nur  eine  Heerde  sein.  Er 
forderte  zur  Wahl  der  vollmächtigen  Gesandten  und  zur  Be- 
willigung der  Geldunterstützung  auf.  Weigere  man  sich  auch 
jetzt,  so  werde  der  Hochmeister  gezwungen  sein,  in  seiner 
äussersten  Noth  Geld  und  Silber  aufzuleihen  und  sie  da- 
gegen zu  verschreiben.  * 

Der  Gang  der  Berathungen  war  derselbe,  wie  vorher? 
Der  Rath  befragte  die  Gemeine.  Diese  hielt  in  Rücksicht 
auf  die  Steuer  die  frühere  Bedingung  fest.  Ihre  Vollmacht, 
die  sie  nur  unigern  bis.  auf  das  Schloss  mitgab,  wollte  sie 
noch  weniger  auf  eine  so  weite  Reise  ertheilen.  Sie  küm- 
merte sich  uiu  die  Bedingungen  *dcs  Friedens  nicht,  sondern 
verlangte  nur,  dass  er  weder  zur  „Beschwerung  des  J^andes 
noch  einigem  Einbruch  ihrer  Privilegien'*  gereiche.  Uebrigens 
hatte  sie  nichts  dagegen  und  wollte  selbst  zu  den  Zehrungs- 
kosten  beitragen,  wenn  der  Rath  aus  seiner  Mitte  zwei  oder 
drei  dazu  Verordnete  absenden  wolle. 

Dann  kam  der  Rath  mit  den  kleinen  Städten  und  mit 
dem  Adel  zusammen.  Jene  bewilligten  nichts,  dieser  aber 
erklärte  es  fiir  seine  Pflicht,  irgend  etwas  zuzusagen,  wenn 
er  sich  auch  noch'  nicht  entschieden  hatte,  was.  Da  der 
Raih  diese  Verpflichtung  auch  anerkannte,  so  wurde  noch 
einmal  bei  der  Gemeine  angefragt,  aber  vergebens:  sie  blieb 
bei  ihrer  Bedingung.  Nun  verlangte  der  Adel,  dass  unter 
dieser  Bedingung  wenigstens  eine  bestimmte  Steuer  festge* 


90         Ein  Blick  in  die  ältere  preu^siseht  Oeichiehte 

setzt  würd«.  Aber  auch  dazu  war  die  Gemeine  nicbt  zu 
bewegen.  Kurz  was  der  Adel  auch  für  Mittel  anwandte,  er 
erhielt  keine  günstigere  Antwort,  und  so  war  des  Hoch- 
meisters Gesuch  abermals  fruchtlos. 

Die  Vollmächtigen  nach  Pressburg  zu  schicken,  entsohloss 
^ich  sowohl  der  Adel  als  auch  der  Rath,  da  sie  sich  ver- 
sichert hatten,  dass  es  wirklich  der  Befehl  des  Hochmeisters 
und  keine  Erfindung  der  Bischöfe  sei.  Im  Namen  des  Adels 
zogen  Friedrich  Herr  von  Kitlitz,  Freiherr  Georg  von  Kun- 

« 

heim,  im  Namen  der  Städte  Nicolaus  Richau,  Bürgermeister 
der  Altstadt,  und  Crispinus  Schönberg,  Compan  des  Bürger- 
meisters im  Kneiphof. 

Sie  gingen  in  den  letzten  Tagen  des  Decembers  1524 
von  Königsberg  ab  und  gelangten  im  Anfange  des  Januar 
1525  nach  Olmütz  in  Mähren.  Dort  erfuhren  sie^  dass  die 
Tagfahri  zu  Pressburg  vom  Könige  von  Polen  nicht  ange- 
nommen sei,  und  blieben  nun  drei  Wochen  lang  ohne  allen 
Bescheid,  bis  der  Hochmeister  sie  nach  Breslau  zurückgehen 
Ibiess:  denn  es  blieb  ihm  nun  nichts  übrig,  als  sich  auf  jede 
Bedingung  hin  mit  dem  Könige  zu  versöhnen.  Georg  von 
Brandenburg  und  Friedrich  von  Liegnitz  übernahmen  die 
Vermittelung.  Der  Hochmeister  übergab  ihnen  die  Vollmacht 
zur  Unterhandlung,  ohne  auf  die  Abgeordneten  von  Land 
und  Städten  Rücksicht  zu  nehmen.  Erst  als  sie  den  Vor- 
schlag des  Königs,  dass  Albrecht  Preussen  als  Herzogthum 
von  ihm  für  sich  und  seine  Erben  zu  Lehn  nehmen  solle, 
aus  Krakau  zurückbrachten,  wurden  auch  diese  Abgeordne- 
ten befragt.  Sie  waren  auf  diesen  Vorschlag  nicht  gefasst 
und  verlangten,  dass  der  Anstand  noch  erst  auf  einige  Zeit 
verlängert  würde,  damit  sie  für  diesen  Fall  neue  Vollmacht 
einholen  könnten.  Die  Vermittler  stellten  vor,  vvie  sehr  sie 
dadurch  blossgestellt  und  der  König  erbittert  werden  müsse. 
Es  sei  nur  die  Wahl  zwischen  dreien  Dingen  übrig,  Krieg 
zu  gewarten,  den  ewigen  Frieden  zu  beschwören,  oder  die 
Belehnung  anzunehmen.  Die  Abgeordneten  der  Stände  in 
dieser  Verlegenheit  wandten  sich  an  den  Hochmeister  selbst, 
der  seine  Meinung  aber  nicht  eher  erklärte,  als  bis  sie  ihr 


mt  Bezug  auf  die  ständische  Entwicklung,  91 

Gutachteo  über  die  proponirten  Friedens -Bedingungen  ge- 
stellt halten.  So  liessen  sie  geschehen,  was  sie  doch  nicht 
hätten  hindern  können  und  was  ihnen  auch  keinen  Naehlheil 
brachte;  sie  stellten  vorzüglich  nur  die  Bedingung,  dass  die 
ständischen  Freiheiten  und  Privilegien  unverletzt  erhalten 
und  von  neuem  bestätigt  würden.  Von  zweien  anderen 
Forderungen  mussten  sie  doch  nachlassen:  es  war  stipulirt, 
dass,  wenn  Albrecht  ohne  männliche  Leibeserben  abginge, 
seine  Brüder  in 'der  Regierung  nachfolgen  sollten:  dies  woll- 
ten die  ständischen  Depulirten  noch  von  weiterer  Verhand- 
lung des  Hochmeisters  mit  den  Ständen  abhängig  machen. 
Und  dann:  man  fürchtete  mit  der  Bückkehr  des  Hochmeisters 
zugleich  die  Rückkehr  seiner  Günstlinge,  wie  des  mehrge- 
nannten Dittrich  von  Schönberg  und  des  Pfaffen  Herrmann, 
der  eine  Zeitlang  zu  eigenem  Vortheil  Seeräuberei  gegen  die 
Schiffe  feindlicher  und  befreundeter  Nachbarn  getrieben  und 
dadurch  dem  Lande  grossen  Schaden  zugefügt  hatte.  *)  Schon 
auf  dem  vorletzten  Landtage  hatte  man  Unzufriedenheit  und 
Befürchtungen  wegen  ihres  dauernden  Aufenthalts  bei  Al- 
brecht ausgesprochen  und  auf  dem  letzten  sich  ängstlich 
über  dessen  Fortdauer  in's  Klare  zu  setzen  gesucht.  Hierauf 
besonders  bezog  sich  die  Bitte  der  ständischen  Abgeordnet 
ien,  künftig  die  Regierung  mit  seinen  getreuen  Unterthanen 
und  nicht  mit  Fremden  zu  führen,  damit  das  Land  mehr 
als  bisher  zu  Gedeihen  und  Aufwachs  kommen  möchte.  Den 
ersten  Punkt  wollte  der  Hochmeister  ganz  auf  sich  beruhen 
lassen,  über  den  zweiten  bemerkte  er,  er  werde  die  aus- 
ländischen Räthe  nicht  entbehren  können,  wolle  aber  keinen 
dulden,  als  fromme  christliche  Biederleute.  Hierauf  wurde 
der  Frieden  ohne  ihr  weiteres  Zuthun  abgeschlossen  (8.  April); 
drei  Tage  darauf  bestätigte  der  neue  Herzog  sämmtliche  Pri- 
vilegien und  Freiheiten  seines  Landes.**)  Friede  war  des 
Landes  dringendstes  Bedürfniss:  als  der  Hochmeister,  unge- 
wiss  über  den  Ausgang  der  Friedens-Unterhandlungen,  dem 


««■ 


)  Platner  fol.  47.  102.  250. 

)  Privilegien  der  Stande  fol.  156. 


92        Ein  Blich,  in  die  untere  prenssische  Geschichte 

Adel  und  den  Städten  durch.  Quirin  von  Schlick  ansagen 
liess,  sie  sollten  sich  gerüstet  halten,  war  ein  heftigefr  Aus- 
bruch des  Unwillens  zu  befürchten.  Der  Adel  erwiederte: 
„das  soll  ihm  Lücifer  und  alle  bösen  Geister  danken,  er  hat 
uns  bei  seiner  Treue  gelobet,  er  will  uns  Frieden  schaffen. 
Vor  vier  Jahren  brannte  man  uns  das  Unsrige  weg,  so  haben 
wir  auf  seine  Vertröstung  wieder  gebauet;  sollten  wir  es 
denn  nun  wieder  verlieren?  Seitdem  ihr  uns  nicht  euer« Wort 
haltet,  so  dürfen  wir  auch  nicht  uniser  Wort  halten.  Nun 
ihr  uns  das  Gut  ausgesogen  habt,  woUet  ihr  uns  auch  um 
das  Leben  bringen.  Sintemal  ihr  denn  mit  Worten  und  Wer- 
ken bewiesea  habet,  dass  man  billig  Pfaffen  und  Mönche 
verjagen  mag,  darum  dass  sie  mit  armer  Leute  Seh  weiss  und 
Blut  übel  handeln:  so  seid  ihr  aber  auch  Mönche  und  habet 
unser  Schweiss  und  Blut  mit  üebermuth  in  allem  Unflath 
schändlich  weggebracht,  derhalben  ist  es  biUig,  eben  wie  ihr 
Mönche  und  Pfaffen  vertrieben  habt,  dass  wir  euch  auch  :5.u 
allen  Teufeln  jagen  und  uns  selber  Friede. schafften,  auf  dass 
wir  dasselbige  wenige  noch  behalten,  denn  in  euch  ist  kein 
Trost  noch  W^ahrheit."*) 

Die  Nachricht  von  dem  Abschluss  des  Friedens  erfüllte 
das  Land  mit  Freude.  Am  9.  Mai  hielt  der  neue  Herzog 
seinen  feierlichen  Einzug  in  Königsberg.  Bald  darauf  am 
24.  und  25.  Mai  erschienen  auch  die  polnischen  Commissarien 
Georg  von  Baysen,  Achatius  von  Zemen,  Johann  von  Wyetz- 
wna.  Noch  am  28sten  desselben  wurde  der  Huldigungs- 
Landtag  gehalten,  **)  Der  Herzog  eröffnete  ihn  mit  einer  Dar- 
stellung seiner  Bemühungen  um  den  Frieden  während  seiner 
Abwesenheit.  Dann  wurde  der  Process  der  Friedens-Unter- 
bandlüng  gelesen.  Darauf  erschienen  die  Königlichen  Bot- 
schafter; Georg  von  Baysen  erinnerte  daran,  wie  das  Land 
während  der  Herrschaft  des  Ordens  nie  habe  zu  einem 
dauernden  Frieden  gelangen  konrieh.  Jetzt  da  Markgraf  Al- 
brecht sich  vor  Königlicher  Majestät  zu  Polen  gedemüthigt. 


*)  Grünau  S.  1830. 

**)  Einige  zerstreute  Papiere  über  denselben  im  geheimen  Ar- 
chiv.   Plalner  fol.  ITl  ff;    Grünau  S.  1875.    Freiberg  fol.  402. 


mit  Bezug  auf  die  ständische  Entwicklung.  93 

ihn  als  Schutzherrn  anerkannt  und  das  Land  zu  Lehen  von 
ihm  genommen  habe,  sei  eine  bessere  Zukunft  zu  erwarten. 
Sie  wären  erschienen,  um  der  Ablegung  des  Eides,  den  sie 
detn  Markgrafen  als  ihrem  rechten  Erbherren  leisten  würden, 
und  der' Beschwörung  des  Krakauer  Vertrages  beizuwohnen. 
Am  folgenden  Tage,  Sonntag  den  29.  Mai,  leisteten  zuerst 
die  beiden  .Bischöfe  Georg  von  Polenlz  und  Erhard  von  Queis 
den  Eid  auf  die  Verträge  und  dem  Herzoge  den  Eid  der 
Treue,  dann  vor  der  grossen  Treppe  des  Schlosses  die  De- 
putirten  der  Stände.  Der  Widerspruch,  den  einige  Brüder 
des  Ordens  einlegten ,  wurde  nicht  beächtet.  Dem  Ordens- 
ritter Caspar  Blumenau  wurde  öffentlich  vor  Land  und  Städ- 
ten  unmittelbar  nach  der  Huldigung  von  einem  Edelmann 
das  Kreu2  vom  Rock  geschnitten.  Er  'und  fünf  andere  Or- 
densbrüder verweigerten  den  Eid,  baten  aber  schon  nach 
wenigen  Tagen  um  Gnade.  Der  Herzog  hatte  vielleicht  auch 
von  den  Städten  einige  Opposition  befürchtet,  wenigstens 
scheint  darauf  die  Zahl  der  eingeladenen  Deputirten  (vier 
aus  den  Städten  jedes  Amtes,  aber  nui*  zwei  vom  Adel  jedes 
Amtes)  hinzudeuten,  allein  diese  Furcht  war  ungegründet. 
Die  Städte  handelten  mit  dem  Adel  völlig  übereinstimmend. 
Sie  gaben  vor  der  Huldigung  zwar  zu  verstehen,  dass  sie 
raimche  Beschwerden  vorzubringen  hätten;  wollten  dieselben 
abfer  gegenwärtig  noch  zurückhalten  und  nur  die  eine  Bitte 
wiederholen  j  dass  der  Herzog  „  das  Regiment  so  führe  und 
bestelle,  dass  sie  hinfort  mit  fremden  und  ungebührlichen 
Regimentsyerwaltern  frei  und  unbelastet  blieben."  Der  Her- 
zog hatte  auch  an  die  Versprechungen  des  letzten  Landtages 
erinnert,  doch  wurden  die  Finanzangelegenheiten  auf  den 
nächsten  Landtag  aufgeschoben. 

Königsberg  i.  P.    '  Dr.  Max.  Toppen. 


ingelegenfaeiten  der  historisclteii  Terefaie. 


Einleitung. 

Nachdem  wir  in  dem  Nachwort  zum  zweiten  Jahrgang  das 
Vorhaben  angezeigt,  mit  dem  gegenwärtigen  die  obige  Rubrik  er- 
öffnen zu  wollen,  liegt  uns  zunächst  wohl  die  Pflicht  ob,  allen  un- 
sern  Lesern  hierüber  Rechenschaft  zu  geben. 

Kann  kein  Unternehmen  ins  Leben  treten,  das  nicht  schon  in 
den  nächsten  Momenten  seines  Daseins  und  fortwährend  der  Re« 
formen  bedürftig  wäre:  so  kann  auch  keines  gedeihen,  das  aus 
Liebe  zur  Behaglichkeit  dieser  Reformen  sich  entschlägt. 

Wir  sind  dem  frisch  dahinströmenden  Leben  zu  sehr  zugethan 
der  Stagnation  mit  der  überall  nur  der  Todeskrampf  beginnt  zu 
sehr  abgewandt,  um  nicht  auch  bei  unserm  Unternehmen  die  Nolh- 
wendigkeit  einer  steten  Wandlung  und  Bildung  zu  «begreifen. 

Unsere  Zeilschrift  hat  nun  zwei  Jahre  ihrer  Entwickelung  zu- 
rückgelegt. Da  lässt  es  sich  wohl  übersehen  was  an  der  Zeit  ist, 
welcher  Reformen  sie  zu  fernerem  Gedeihen  und  zu  lebendigerer 
Wirksamkeit  bedarf.  Denn  stets  wird  es  ihr  mehr  frommen,  wenn 
wir  im  Rückblick  auf  das  was  sie  geleistet  nicht  ihrer  Vorzüge, 
sondern  ihrer  Mängel  eingedenk  sind.  « 

Man  hat  uns  mancherlei  Ausstellungen  gemacht  und  Wünsche 
vorgetragen,  denen  die  Anerkennung  nicht  versagt  werden  durfib. 
Aber  zuweilen  erschienen  sie  auch  ungerecht,  weil  sie  mefu*  ver- 
langten als  Raum  und  ZeR  gewähren  konnte.  Ja  nicht  selten  stan* 
den  sie  mit  einander  im  schrofifsten  Widerspruch,  insofern  dem 
Einen  roissfiel,  was  dem  Andern  vorzugsweise  genehm  war.  Un- 
sers  Amtes  ist  es  nun,  Alles  zu  beherzigen  und  nach  bester  Ein- 
sieht unsere  Wahl  zu  treffen,  indem  wir  auch  für  die  Zukunft  nicht 
auf  allgemeine  Beistimmung,  wohl  aber  auf  allgemeine  Nachsicht 
rechnen.  ■ 

Es  kann  nicht  dar<iuf  ankommen  von  solchen  Plänen  zu  reden, 
mit  denen  wir  für  spätere  Zeiten  umgehen.  Man  thut  immer  am 
besten  damit  zu  warten  bi3  sie  zur  Ausführung  reif  sind.  Auch 
dürfte  wer  alles  auf  einmal  erzielt,  leicht  am  wenigsten  errei- 
chen. Für  jetzt  kommt  es  uns  auf  eine  Neuerung  an ,  die  wir, 
wenn  auch  nicht  .als  einen  höheren  Reiz,  doch  als  eins  der  nach« 
sten  Bedürfnisse  unserer  Zeitschrift  erachten. 


T 


Angelegenheiten  der  hütorisehen  Vereme.  95 

Gleich  bei  ihrer  Begründung  hegten  wir  den  Wunsch,  sie  zu 
einem  kritisohen  Organ  aller  historischen  Vereine  und  Gesettscbaf« 
ten  unsers  Vaterlandes,  soweit  sie  productive  oder  refn'oductire 
Zwecke  verfolgen,  gestalten  zu  können.  Umstände  mancherlei  Art, 
Zweifel  über  das  Gelingen,  Hessen  für  den  Augenblick  diesen  Wunsch 
unterdrücken.  Schon  nach  dem  Erscheinen  der  ersten  Hefte  wurde 
er  indessen  von  anderen  Seiten  her  wiederholt  ausgesprochen,  und 
durch  den  Aufsatz  „die  historischen  Vereine  und  Zeitschriften 
Deutschlands'^  regte  ibn  der  Bibliothekar  Dr.  Klüpfel  in  Tübingen 
auf  umfas/sende  Weise  in  unserer  Zeitschrift  selber  an  (Bd.  I.  S. 
518—559).  Der  letztere  Umstand  veranlasste  uns  damals  in  einem 
Nachworte  (S.  560  f.)  zur  Kundgebung  unsers  ursprünglichen  Pla- 
nes, und  wiewohl  wir  noch  immer  überzeugt  waren,  dass  einer 
Ausführung  desselben  sich  zahllose,  ja  zum  Theil  vielleicht  unbe* 
siegbare  Schwierigkeiten  entgegenstellen  würden,  vorzüglich  des- 
halb,  weil  die  Möglichkeit  eines  einmülhigen  kraftigen  Wollens  in 
Deutschland  überall  noch  in  den  Windeln  der  Unwahrscheinlichkeit 
gebettet  liegt,  so  versprachen  wir  doch  freudig  zu  thun,  was  un- 
sererseits zu  einer  glücklichen  Lösung  der  Frage  beitragen  künne, 
und  keine  Mühe,  kein  Ungemach,  keine  Widerwärtigkeit  dabei  zu 
scheuen.  Zugleich  aber  glaubten  wir  vor  Uebereilung  uns  hüten 
zu  müssen,  damit  nicht  um  so  sicherer  misslinge,  was  mit  der  Zeit 
vidleicbt  reifen  möge.  Während  wir  daher  vor  der  Hand  nur  zu 
gelegentlichen  kritischen  Berichten  über  die  Leistungen  ein- 
zelner Vereine  un^  anheischig  machten,  überhaupt  nur  allgemach 
und  leise  aufzutre^p  entschlossen  waren,  versäumten  wir  doch 
keine  nur  irgend  günstige  Gelegenheit,  um  dem  fernen  Ziele  wirk- 
lieb näher  zu  kommen.  Ging  also  auch  die  Angelegenheit  nur 
laaagsam  vorwärts,  so  fand  sie  desto  freieren  Spielraum  zu  einer 
natürlicien  und  organischen  Entwickelung.  Darauf  rechneten  wir, 
als  wir  bei  Eröffnung  der  Zeitschriit  sagten  (Bd.  L  Vorwort  p.  XL): 
„Nicht  alles  kann  auf  einmal  errungen  werden;  auch  lasst  nicht 
jegliches  sich  machen,  vieles  muss  die  Zeit  erst  werden  lassen.'^ 

Zwei  Umstände  haben  nun  unser  Bestreben  Wesentlich  ge- 
fördert 

Einmal  das  freiwillige  Entgegenkommen  verschiedener  Vereine. 
Die  Schleswig-Holstein -Lauenburgische  Gesellschaft  für  vaterländi- 
sche Geschichte  zu  Kiel,  die  Gesellschaft  för  Pommersche  Ge- 
schichte, Alterthümer  und  Kuiist  zu  Stettin,  der  sächsische  Alter- 
thumsverein  in  Dresden,  sandten  zunächst  ihre  sammtlicben  Publi- 
cationen  und  versprachai  ein  gleiches  für  die  Zukunft.  Ferner 
gelangten'^  an  uns  die  Berichte  und  das  Archiv  des  historischen 
Verems  für  Oberfranken  zu  Bayreuth  und  Bamberg,  die  Zeitschrift 
des  historischen  Vereins  der  fünf  Orte  Lucern,  üri,  Schwyz,  Unter- 


I     • 


96^  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine, 

waideu  liöd  Zug,  das  Archiv  des  Vereins  für  siebenbürgische  Lan- 
deskunde zu  Hermannsladt,  üpd  die  Zeitschrift  des  erst  kürzlich 
constituirten  Vereins  für  Erforschung  der  rheinischen  Geschichte 
lind  Alterthümer  in  Mainz,  mit  einem  Schreiben  des  Vorstandes^ 
worin  es  heisst':  „Wir  sehen  Ihre  Zeitschrift  als  ein  wahres  Gen- 
tralbiatt  für  Geschichte  an,  und  hallen  es  daher  für  durchaus 
angemessen,  dass  jeder  Geschichts verein  Sie  mit  dem  Ziel  und 
Erfolge  seiner  Bestrebungen,  seien  diese  auch  noch  st)  vereinzelt, 
fortdauernd  bekannt  macht.^*  Wiv  führen  diese  Worte,  an  als  ein 
Zeugniss  .  des  im  Schoosse  der  Vereine  selbst  unabhängig  sich  fe- 
genden Wunsches  nach'  einem  gemeinsamen  Organe  ihrer  Th'atig- 
keit;  denn  lum  so  weniger  wird  es  zweifelhaft  dünken,  ob  die 
Heranbildung  eines  solchen  gei^enwartig  zeitgem'äss  sei  oder  nicht. 

Andrerseits  ermuthigten  die  Erfolge  der  mündlichen  Riick- 
sprache,  die  wir  mit  den  Vorständen  und  thätigsten  Mitgliedern 
mehrer  Vereine  neuerdings,  zu  nehmen  Gelegenheit  hatten.  Sphon 
im  ersten  Jahre  des  Erscheinens  der.Zeitschrift  leitete  eine  persön- 
liche Zusammenkunft  mit  Herrn  Prof.  L.  Giesebrecht  in  Stettin  die 
Anfänge  der  Ausführung  des  Planes  ein,  und  im  vorjährigen  Som- 
mer, gestaltete  uns  eine  grössere  Reise  durch  die  deutschen  Staa- 
ten eine  desfallsige  mündliche  Berathung  mit  dea.  Herren  Waitz  in 
Kiel,  LappenJ^erg  in  Hamburg,  Bernhardi  und  Landau  in  Cassel, 
Erbard  in  Miinster,  Böhmer  in  Frankfurt  a.  M»,  Knapp  und  Wei- 
ther in  Darmatadt,  Zeuss  in  Speier,  Mone  in  Karlsruhe,  Bauer  in 
Stuttgart^  Klüpfel  in  Tübingen,  Föringer  in  München,  Chmel  in 
Wien,  Palacky  in  Prag,  von  Langeun  in  Dresdei;^  Haupt  in  Leipzig, 
und  Förstemann  in  Halle.  .  Es  ist  hier  nicht  möglich  jedes  einzelne 
Resultat  dieser  Beralhungen  darzulegen;  sie.  werden  sich  alle. mit 
der  Zeit  herausstellen.  Nur  des  entscheidendsten  Umstandes  ist  zu 
gedeijken.  i«. 

Der. Herr  Geheime  Staatsratht)r.. Knapp  in  Darmstadt,  Präsi^ 
dent  des. dortigen  Vereins,  kam  uns  mit  Eröffnungen  entgegen, 
deren  Durchführung  ein  Gelingen  der  Sache  zu  verbürgen  schien. 
Seine  Ansicht  war:  „durch  das  nunmehr  erschienene  systematische 
Repertorium  üi?er  die  Schriften  sämmtlicher  historischen  Gesell- 
schaften Deutschlands  von  dem  Bibliothek-Secretär  Herrn  Dr.  Wal- 
ther daselbst,  sei  die  Hauptschwierigkeit  gehoben ,  welche  bisher 
der  Benutzung  des  in  den  Vereinsschriften  niedergelegten  reichen 
Materials  für  Geschichte  und  Alterthqmskunde  entgegenstand.  Es 
sei  aber  auch  dadurch  der  Weg  angebahnt  worden,  welcher  zur 
Bildung  eines  Centralorgans  für  die  Vereine  führen  könne,  das  fort* 
laufende  Berichte  über  die  Wirksamkeit  der  einzelnen  öesellschaf- 
ten;  Üebersichten  über  den  Stand  und  die  Richtungen  der  For- 
schungen im  Allgemeinen  zu  erstatten  und,  durch  wissensohafl- 


Angelegenheiten  der  hietorischen  Vereine.  97 

liehe  Kritik  auf  die  Thäligkeit  der  Vereine  einzuwirken  balle,  um 
diese  mil  den  Bedürfnissen  und  Forderungen  der  Wissenschaft 
mehr  in  Einklang  zu  bringen  und  für  dieselben  nutzbarer  zu  ma- 
chen/' Nachdem  ich  mich,  den  eigenen  Absichten  entsprechend, 
bereit  erklärt  hatte,  die  vorliegende  Zeitschrift  in  der  angedeuteten 
Weise  als  Cenlralorgan  der  historischen  Vereine  dienen  zu  lassen, 
entwickelte  derselbe  in  einem  am  6.  October  v.  J.  in  der  Haupt- 
versammlung des  historischen  Vereins  für  das  Grossherzogthum 
Hessen  gehaltenen,  nunmehr  gedruckten  und  versandten  Vortrage 
„über  das  Wirken  der  historischen  und  antiquarischen  Vereine  in 
Bezug  auf  die  Wissenschaft"  jene  Ansichten  näher,  die  darin  ent- 
haltenen Vorschläge  in  Betreff  der  vorliegenden  Zeitschrift  wurden 
einstimmig  angenommeh,  und  demgemäss  durch  ein  Circularschrei- 
ben  des  Ausschusses  vom  16.  October  die  sammtlichen  historischen 
Vereine  eingeladen,  zu  dem  angegebenen  Zwecke  auch  ihrerseits 
mitwirken  zu  wollen. 

Uli  Bezugnahme  auf  dieses  Schreiben ,  von  dessen  Erlass  wir 
durch  den  Herrn  Geh.  Staatsrath  Knapp  unterm  30.  Oct.  in  Kennt- 
niss  gesetzt  wurden,  haben  wir  nun  auch  unsererseits  mittelst  ei 
Des  gedruckten  Circularschreibens  vom  1.  December  (|en  Vereinen 
über  die  Ausführung  des  Planes  nähere  Eröffnungen  zugehen 
lassen. 

Danach  soll  die  vorstehende  Rubrik  den  Zweck  verfolgen,  sich 
zur  Vermittlerin  zwischen  den  sammtlichen  Vereinen  heranzubil- 
den, zur  Trägerin  alles  dessen,  was  die  Thätigkeit  oder  die  Interes- 
sen derselben  fördern  kann.  Dergestalt  würde  sie  einerseits  den 
Vereinen  nicht  nur  die  lästige  Corrcspondenz  unter  einander  gros- 
sentheils  ersparen,  sondern  vermöge  der  leichtern  Communication 
auch  überhaupt  zu  einem  häufigeren  Ideenaustausch  Anlass  geben 
als  dies  bisher  trotz  des  inneren  Bedürfnisses  möglich  war;  an- 
dererseits aber  dürfte  sie,  und  eben  hierdurch  zu  einem  perma- 
nenten Berührungs-  und  Vereinigungspunkle  sich  entwickeln,  von 
dem  aus  ein  gemeinsames  Zusammenwirken  in  dieser  oder  jener 
Richtung  und  nach  gleichen  Grundsätzen  sowohl  angeregt  als  ver 
mittelt  werden  könnte.  Wir  räumen  auch  hier  ein ;  dass  nur  die 
Praxis  und  nur  im  Laufe  der  Zeit  die  Einsicht  dessen,  was  noth- 
iwendig  oder  erreichbar  ist,  gewähren  kann.  Da  inzwischen  jedoch 
auf  die  eine  oder  die  andere  Weise  ein  Anfang  gemacht  werden 
muss,  so  beabsichtigen  wir,  die  Erreichung  des  Gesammtzweckes 
zunächst  durch  folgende  Mittel  anzubahnen.  *) 

1)  Durch  kritische  Berichterstattungen  und  Anzeigen  über  die 


*)  Wir  führen  im  Folgenden  die  Andeutung  unseres  Circulars  näher  aus. 
Allg.  Zeitsclirift  f.  Gesckicbtc.  V.  1816.  7 


98  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 

Thätigkeit  aller  historischen  Vereine  Deutschlands  und  der  Nach- 
barstaaten, soweit  deren  Publicationen  in  deutscher  Sprache  er- 
scheinen, also  namentlich  auch  der  Schweiz,  Siebenbürgens  und 
der  russischen  Ostseeprovinzen.  Schon  haben  wir  unter  den  vor- 
genannten, meist  selbst  den  Vorständen  von  Vereinen  angehörigen 
.Männern  eine  Anzahl  von  Mitarbeitern  hierfür  gewonnen,  und  dür- 
fen hoffen,  auch  die  noch  vorhandenen  Lücken  baldigst  ausgefüllt 
zu  sehen.  Im  Allgemeinen  werden  wir  den  Grundsatz  aufrecht 
erhalten,  dass  keinem  Referenten  die  ßeurtheilung  des  eigenen 
Vereines  zufalle;  doch  dürften  einzelne  Ausnahmen  und  zumal  für 
den  Anfang  unabweisbar  sein.  Dass  die  Anonymität,  die  jederzeit 
etwas  Gehässiges  an  sich  trägt,  gänzlich  verbannt  bleibt,  versteht 
sich  ebenso  von  selbst,  wie  dass  der  Zweck  dieser  Berichte  nicht 
der  sein  kann  und  wird,  sich  gegenseitig  Complimente  zu  sagen. 
Ausstellungen  aber  können  Niemanden  verwunden  der  es  mit  sich 
redlich  meint;  denn  die  Absicht  alles  Tadels,  selbst  des  ungerech- 
ten, ist  der  Antrieb  zum  Besseren;  und  das  Besserwerden  ist  ja 
die  Aufgabe  selbst  des  Besten  unter  Allen. 

2)  Durch  vollständige,  wissenschaftlich  geordnete  Jahresüber- 
sichten des  Zuwachses  der  Vereinslileratur,  im  Anschluss  an  das 
Walther'sche  Repertorium,  so  dass  sie  als  regelmässige  Ergänzun- 
gen desselben  das  Bedürfniss  eines  ähnlichen  mühevollen  Werkes 
für  die  Folge  nicht  wieder  aufkommen  lassen  würden.  Ob  es 
zweckgemäss  und  ausführbar  sein  wird,  diese  systematischen  üeber- 
sichten  auch  auf  die  von  Walther  ausgeschlossenen  Vereine  aus- 
zudehnen, und  zwar  entweder  nur  über  deren  künftige  Publica- 
tionen oder  noch  nachträglich  auch  über  die  früheren,  müssen  wir 
vor  der  Hand  dahingestellt  sein  lassen. 

3)  Durch  allgemeine  leitende  Artikel,  deren  Bestimmung  es  ist, 
in  mannigfaltigen  Kreuz-  und  Querzügen  die  Aufgaben  des  Vereins- 
wesens zu  immer  grösserer  Klarheit  zu  erheben,  das  von  sämmt- 
liehen  Vereinen  in  bestimmten  Richtungen  ur,d  zumal  für  die  ver- 
schiedenen Zeitalter  der  Deutschen  Geschichte  Geleistete  sachlich 
und  chronologisch  zu  sichten,  auf  Lücken  und  Bedürfnisse  aufmerk- 
sam zu  machen,  neue  Saiten  der  Thätigkeit  anzuklingen,  und  über- 
haupt auf  ein  innigeres  Ineinandergreifen  aller  Bestrebungen  und 
von  allen  Seiten  her  hinzuwirken;  sowie  ferner  durch  besondere 
Vorschläge,  Anträge  und  Anfragen,  welche  auch  von  Seiten  der 
Vereine  ausgehen  können,  durch  Millheilung  von  Preisaufgaben 
und  von  sonstigen  Notizen,  welche  für  die  Mitglieder  der  Vereine 
von  Interesse  sein  dürften. 

So  soll  denn  die  Zeitschrift  auf  diesem  Gebiete  nicht  sowohl 
meistern,  als  vielmehr  helfen,  nicht  ein  Tribunal  einseiligen  Wol- 
lens  und  Drängens  sein,  sondern  der  Ort^ gegenseitiger  Verslandi- 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  99 

guDg  und  Förderung,  das  Organ  eines  allseitigen  Ideentausches  und 
lebendiger  Wechselwirkung,  die  Brücke,  die  da  herüber  und  hinüber 
zu  leiten  hat,  was  hier  oder  was  dort  als  wünschenswerth  erschei- 
nen mag.  Aber  auch  der  übrige  Inhalt  unserer  Zeitschrift  wird  zu 
dem  Wirken  der  Vereine  in  wesentlicher,  wenn  auch  dem  minder 
geübten  Auge  minder  erkennbarer  Beziehung  stehen;  denn  insofern 
es  dessen  Hauptaufgabe  ist,  das  Besondere  mit  dem  Allgemeinen 
zu  vermitteln,  oder  die  Einzelheit  nicht  sowohl  an  sich,  als  unter 
dem  Reflex  grösserer  Zusammenhänge  zu  beleuchten,  dürfte  er 
wohl  bei  glücklicher  Lösung  dieser  Aufgabe  am  ehesten  geeignet 
sein,  das  Bewusstsein  des  Verhältnisses,  in  welchem  die  besondere 
Thätigkeit  der  Vereine  zu  den  allgemeinen  Forderungen  der  Wis- 
senschaft steht,  jederzeit  wach  zu  erhalten  und,  dergestalt  auch 
eine  innigere  Annäherung  beider,  eine  immer  reichere  Befruchtung 
der  einen  durch  die  andere  zu  vermitteln. 

Mit  dem  Bekennlniss,  dass  wir  das  Gelingen  des  Planes  nicht 
sowohl  von  unserm  Eifer,  als  von  dem  freundlichen  Entgegenkom- 
men und  der  allgemeinen  Theilnahme  der  Vereine  abhängig  glau- 
ben, haben  wir  demnächst,  um  jene  Mittel  mit  Aussicht  auf  Erfolg 
ins  Werk  richten  zu  können,  an  sie  sämmtlich  das  dreifache  Ge- 
such gestellt:  1)  um  ihre  Zustimmung  und  ihren  Beitritt  zur  Aus- 
führung des  Planes  im  Allgemeinen;  im  Besonderen  aber  2)  um 
Mittheilung  aller  ihrer  Publicatioucn,  sowohl  der  früheren,  soweit 
solches  nicht  schon  geschehen  oder  noch  zulässig  erscheint,  als 
auch  und  vornehmlich  alier  künftigen;  denn  ohne  jene  würden 
etwanige  Rückblicke  uns  wesentlich  erschwert,  ohne  diese  aber 
die  beabsichtigten  Jahresübersichten  gänzlich  unausführbar  sein; 
endlich  3)  um  ihre  Mitwirkung  in  Rath  und  That,  um  jegliche  Un- 
terstützung, welche  die  gemeinsamen  Zwecke  fördern  könnte,  ohne 
die  besondern  zu  beeinträchtigen;  sowie  uns  denn  auch  Ausstel* 
lungen  hinsichtlich  der  Haltung  des  Unternehmens,  oder  Wünsche 
und  Rathschläge  in  Betreff  der  ferneren  Gestaltung  desselben  zu 
allen  Zeiten  willkommen  sein  würden. 

Das  Circular  ist  um  die  Mitte  des  December  durch  den  Buch- 
handel versandt  worden;  über  die  Erfolge  desselben  werden  wir 
von  Zeit  zu  Zeit  Auskunft  ertheilen  und  bemerken  hier  nur,  dass 
einige  Vereine,  unserer  Aufforderung  zuvorkommend,  ihre  Bereit- 
willigkeit zur  Unterstützung  der  Sache  uns  schon  jetzt  durch  Zu- 
schriften bezeugt  haben,  namentlich  der  Verein  für  Hessische  Ge- 
schichte und  Landeskunde  in  Cassel  und  der  Verein  für  Meklen- 
burgische  Geschichte  und  Alterthumskunde  in  Schwerin. 

Wir  schliessen  mit  der  Absicht,  die  vorstehende  Rubrik  in 
Zukunft  so  oft  als  tbunlich  mit  einem  allgemeinen  Artikel  zu  er- 
öffnen, dann  die  kritischen  Referate  über  einzelne  Vereine,  cudlicb 

7* 


100  Angelegenkeiten  der  historischen  Vereine. 

Vorschläge,  Anfragen  oder  sonstige  Notizen  folgen  zu  lassen. 
Zugleich  aber  wollen  wir  dem  Leser  durch  das  nachstehende  Ver- 
zeichniss  Gelegenheit  geben,  von  vorn  herein  den  weiten  Horizont 
unsers  Standpunktes,  wenn  auch  nur  annähernd,  zu  ermessen. 

Teneichniss  der  bistorischen  Vereine  nnd  Gesellschaften 
DentscUands  nnd  der  Nachbarstaaten. 


I.  Deutschland.*) 

1.  Die  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Geschichtskunde. 

Baden. 

2.  Die    Gesellschaft    für   Beförderung   der   Geschichtskunde   zu 
Freiburg. 

3.  Die  Sinsheimer  Gesellschaft  zur  Erforschung  der  vaterländi- 
schen Denkmale  der  Vorzeit. 

4.  Der  archäologische  Verein  in  Baden. 

•5.  Der  Alterlhumsverein  in  Baden. 

Baiern. 

6.  Der  bist.  Verein  von  und  für  Oberbaiern  zu  München. 

7.  „        „         „        „     Nicderbaiern  zu  Passau. 

8.  „        „         „      für  Oberfranken  zu  Bayreuth  und  Bamberg. 

9.  jy        „  „      in  Mittelfranken  zu  Ansbach. 

10.  Die  Gesellschaft  für   Erhaltung   der   Denkmäler  älterer  deut- 
scher Geschichte,  Literatur  und  Kunst  zu  Nürnberg. 

11.  Der  bist.  Verein    von    Unterfranken    und    Aschaffenburg   zu 

Würzburg. 

12.  „        „         ,,        für  Schwaben  und  Neuburg  zu  Augsburg. 

13.  ,,        „  „        für  die  Oberpfalz  zu  Regensburg. 

14.  „        „         „        der  Pfalz  zu  Speyer. 

Frankfurt  a.  M. 

15.  Der  Verein  für  Geschichte  und  Kunst  in  Frankfurt. 

Hamburg. 

16.  Der  Verein  für  Hamburgische  Geschichte. 

Hannover. 

17.  Der  bist.  Verein  für  Niedersachsen  in  Hannover. 

Kurfürstenthum  Hessen. 

18.  Der  Verein  für  Hessische  Geschichte  u.  Landeskunde  zu  Cassel. 

Grossherzogthum  Hessen. 

19.  Der  bist.  Verein  für  das  Grossherzogthum  Hessen  in  Darm- 
stadt. 


*)  Die  mit  einem  Stern  versebenen  sind  im  Waltherschen  Repertorium 
nicht  verzeicbnet. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  101 

20.  Der  Vercio  zur  Erforschung  der  rheinischen  Greschicfate  uod 
Alierthümer  in  Mainz. 

Lübeck^ 
*21.  Die  Geseilschaft  für   gemeinnützige  Thatigkeit.     Section   für 
Geschichtsforschung. 

Mecklenburg. 

22.  Der  Verein  für  Mecklenburgische  Geschichte  und  Alterthums- 
künde. 

Nassau. 

23.  Der  Verein  für  na^sauische  Alterthumskunde  und  Gescbichts* 
forschung  zu  Wiesbaden. 

Oesterreich. 

24.  Das  Johanneum  zu  Gratz. 

25.  Das  Ferdinandeum  zu  Insbruck. 

26.  Die  Gesellschaft  des  vaterländischen  Museums  in  Böhmen  zu 
Prag. 

27.  Die  böhmische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Prag. 

28.  Der  Verein  für  vaterländische  Geschichte,  Statistik  und  Topo- 
graphie zu  Wien. 

29.  Der  Musealverein  des  FranciscoCarolinuros  zu  Linz. 

Preussen. 

30.  Der  Verein  für  die  Geschichte  der  Mark  Brandenburg  zu  Berlin. 

31.  Die  berlinische  Gesellschaft  für  deutsche  Sprache  und  Alter- 
thumskunde. 

*32.  Die  numismatische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

33.  Die  königliche  deutsche  Gesellschaft  zu  Königsberg. 

34.  Die  schlesische  patriotische  Geseilschaft.     Historische  Section. 
*35.  Der  Geschichtsverein  für  Schlesien.*) 

36.  Der  altm'ärkische  Verein  für   vaterländische   Geschichte  und 
Industrie  zu  Salzwedel. 

37.  Der  thüringisch-sächsische  Verein  für  Erforschung  des  vater- 
ländischen Alterlhums  zu  Halle. 

38.  Die  Gesellschaft  für  pommersche  Geschichte,  Alterlhümer  und 
Kunst  zu  Stettin. 

39.  Die  oberlausitzische  Gesellschaft  zur  Beförderung  der  Natur- 
und  Geschichtskunde  zu  Görlitz. 

40.  Der  Verein  für  Geschichte  und  Alterlhumskundo  Westphalens. 

41.  Die  bist.  Section  der  westphälischen  Gesellschaft  zur  Beför- 
derung der  vaterländischen  Cultur  zu  Minden. 

42.  Der  Verein  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  in  Wetzlar, 

43.  Der  Verein  von  Alterthumsfreunden  im  Rheinlande  zu  Bonn. 


*)  Durch    Herrn   Geh.   Arcbivrath   Dr.  Slenzel   in    Breslau   gegründet, 
laut  brieflichor  MlUheilung  desselben  vom  29.  Oct.  4844. 


102  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 

44.  Der  bistoriscb-antiquariscbe  Verein  für  die  Städte  Saarbrücken 
und  St.  Johann. 

45.  Der  bist.  Verein  für  Erforschung  und  Sammlung  von  Alter- 
Ihümern  in  den  Kreisen  SC.  Wendel  und  Oltweiler. 

Reussische  Fürstenthümer. 

46.  Der  voigtlandiscbe  alterthumsforscbende  Verein  zu  Hohen- 
leuben. 

Königreich  Sachsen. 

47.  Der  sächsische  Alterthumsverein  in  Dresden. 

48.  Die  jablonovische  Geseilschaft  in  Leipzig. 

49.  Die  deutsche  Gesellschaft  zur  Erforschung  vaterländischer 
Sprache  und  Älterthümer  zu  Leipzig. 

Sachsen -Altenburg. 

50.  Die  geschichts-  und  alterthumsforscbende  Gesellschaft  des 
Osterlandes. 

Sachsen-Meiningen. 

51.  Der  Hennebergische  alterthumsforscbende  Verein  zu  Meiningen. 

Schleswig- Holstein -Lauenburg. 

52.  Die  Schleswig -bolstein-lauenburgiscbe  Gesellschaft  für  vater- 
ländische Geschichte  zu  Kiel. 

53.  Die  königliche  Schleswig -holstein-lauenburgiscbe  Gesellschaft 
für  Sammlung  und  Erhaltung  vaterländischer  Älterthümer  zu 
Kiel. 

Würtemberg. 

54.  Der  würtembergiscbe  Verein  für  Vaterlandskunde. 

55.  Der  archäologische  Verein  von  Rottweil. 

56.  Der  würtembergiscbe  Alterthumsverein  in  Stuttgart. 

57.  Der  Verein  für  Kunst  und  Altertbum  zu  Ulm  in  Oberschwaben. 
*bS.  Der  literarische  Verein  in  Stuttgart. 


II.  Nachbarstaaten.*) 
Dänemark. 

59.  Die  Gesellschaft  für  nordische  Alterthumskunde  in  Kopenhagen. 

60.  Der  historische  Verein  in  Kopenhagen. 

Kussische  Ostseeprovinzen  (Liv-  Esth-  und  Kurland). 

61.  Die  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  der  rus- 

sischen Ostseeprovinzen  in  Riga. 

62.  Die  gelehrte  esthnische  Gesellschaft  zu  Dorpat. 

Sieben  bürgen. 

63.  Der  Verein  für  siebenbürgische  Landeskunde  zu  Hermannstadt. 


*)  Diese  sind  vom  Waltherschen  Repertorium  ganz  ausgeschlossen.  Wir 
gedenken  später  die  Bubrik  nameuUich  auch  auf  die  Niederlande  auszu- 
dehnen. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  103 

Schweiz. 

64.  Die  allgemeine  schweizerische  geschichtsforschende  Gesellschaft 
(Vorstand:  Rathsherr  Heusler  zu  Basel). 

65.  Die  historische  Gesellschaft  zu  Zürich  (Vorstand:  Dr.  Bluntschii). 

66.  Die  antiquarische  Gesellschaft  in  Zürich  (Vorstand  F.  Keller). 

67.  Die  historische  Gesellschaft  zu  Basel  (Vorst.  Prof.  W.  Vischer). 

68.  Der  historische  Verein  der  fünf  Orte  Luzern,    üri,   Schwyz, 

Unterwaiden  und  Zug  (Vorst.  Prof.  Kopp  in  Luzern). 

69.  La  sociele  Romande  zu  Lausanne  (Vorst.  Prof.  Vuillemain.) 

70.  La  societe  d'histoire  et   d'arch^ologie   ä   Gen^ve   (Vorst.  Fre- 

d6ric  Sorel). 


miscelle« 


Ausschluss  vom  Abendmal  und  Ohrenbeichte. 

Es  dürfte  manchen  Lesern  interessanl  sein  zu  vernehmen ,  ^ie  sich 
ein  früherer  Landesherr  von  Preussen,  der  Kurfürst  Johann  Siegmund,  in 
einem  Mandat  an  drei  lutherische  Geistliche  der  Stadt  Brandenburg,  wel- 
che lieber  das  Abendmal  verweigerten  als  von  der  Reichte  dispensirten 
und  ihren  andersdenkenden  Superintendenten  öffentlich,  selbst  von  der 
Kanzel  herab,  angriffen  und  verfolgten,  über  jene  Punkte  aussprach.  Das 
Mandat  beginnt:  „Wo  jemand  in  allen  Standen  ist,  der  sich  des  Friedens 
und  der  Einigkeit  wenig  befleissigt,  so  seid  ihr  es  und  andere,  die  da 
geistlich  geheissen  werden  wollen;  gewissüch,  ihr  habt  eine  Zeil  lang  in 
der  Kirche  zu  Brandenburg  weidlich  tumultuirt  und  einen  Lärmen  nach 
dem  andern  angefangen,  und  das  hat  darnach  alles,  heissen  müssen:  Euer 
Amt  und  Gewissen  brächte  solclies  mit  sich;'^  —  ungeachtet  doch  „ein 
Thell  unter  euch  solche  geraumige  Gewissen  haben,  dass  ein  wohlbela- 
dener  Wagen  mit  vier  Pferden  wohl  hindurchfahren  könnte.''  Dann  heisst 
es  weiter:  „Damit  ja  kein  Friede  zu  Brandenburg  in  der  Kirche  würe, 
habt  ihr  für  eure  friedenstörigen  Köpfe  und  ohne  jemands  Erlaubniss, 
gleichsam  als  wäret  ihr  des  Landes  absoluti  domini,  euch  angemasst, 
wann  und  wie  es  euch  gerällig,  die  Leute  von  dem  heil.  Abendmalo 
auszuschliessen,  um  der  liederlichsten  und  nichtswürdigslen  Ursachen 
willen,  da  doch  laut  der  Schrift  und  der  ersten  wahren  Kirchen  Gebräu- 
chen, hievon  niemand  als  der  in  offener  Todsünde  gelebet  aus- 
geschlossen worden.'^  Der  Kurfürst  nennt  dies  Verfahren  „eigenmächtig," 
mit  dem  Zusatz:  „und  hei  nach  soll  es  alles  mit  dem  Deckmantel  des  Am- 
tes und  Gewissens  bedecket  und  verhüllet  werden;"  aber  sie  wären 
„Heuchler",  die  nicht  ^,bedacht  halten  was  Gott  durch  die  Apostel  sagt: 
Ich  will  Barmherzigkeit  haben,  und  nicht  die  Opfer."  —  Ueber  die  Ohren- 
beichte sagt  er:  „Stolz,  Hoffarlh,  Rachgier,  Geiz  und  die  Erhaltung  — 
nicht  der  Beichtenden  (darum  ist  es  euch  wenig  zu  thun),  sondern  des 
hochgeehrten,  sehr  geliebten,  hochwürdigen  Beichtpfennigs  steckt  da- 
runter.    Auch  macht  ihr  neue  Glaubensartikel  und  da  eure  Allväter  allzeit 


104  Miscelle, 

gelehrt  und  geschrieben,  die  Ohrenbeicbt  sei  nur  ein  MiUelding,  so  macht 
ihr  ein  nothwendig  StUcl^  zur  Seiigl^eit  daraus/'  —  ,,Ja,  die  rech^ 
runde  Wahrheit  zu  sagen:  was  ist  die  Obrenbeichte  in  dieser  jetzigen 
Kirche  an  vielen  Orten  anders  gewesen,  ais  eine  wahre  Officin  aller  sce- 
lerum  et  flagitiorum;  in  welcher  Orflcin  manch  ehrlich  Weib  eben  durch 
euch,  die  Geistlichen  oder  vielmehr  Geistlosen,  um  ihr  Ehr  und  Redlich- 
keit  gebracht  worden,  ohne  andere  BubenslUcke  die  vieirallig  daselbst  ge- 
schmiedet sein  worden."  —  Schliesslich  ladet  er  die  gedachten  drei  Geist- 
lichen, nachdem  er  ihrem  „Widerloben  und  Dominiren  in  der  Kirche 
über  die  Gewissen  der  Menschen  eine  Zeit  zugesehen, ''  zur  Verantwor- 
tung vor  seinen  „Geheimen-  und  Consisiorial  •  Räthen,"  und  gebietet  ih- 
nen „bei  höhester  Strafe  und  Ungnad''  das  ,, Gezanke  mit  dem  Super- 
intendenten (L)r.  Garcäo)  nicht  auf  der  Kanzel  zu  gedenken  und  da* 
durch  den  Riss  in  der  Kirchen  noch  grösser  zu  machen."  —  „Geben  zu 
Göln  an  der  Sprew  am  96.  Juny  anno  4  649."  gez.  „Adam  Puttlitz. 
Frieder.  Brücken/'  (s.  Schuegraf:  Altes  Pfenning  Kabinet.  Stadtamhof, 
4  845  bei  J.  Mayr;  Magin:  bist.  Beschreib,  d.  Reichsgräfl.  Residenzstadt 
Sorau.     Leipzig  474  0). 

Nachwort. 

In  der  Schlussbemerkung  zum  Vierten  Bande  hatie  ich  die  Mo 
difScationen  angekündigt,  welche  mit  dem  gegenwärtigen  Jahrgange 
eintreten  würden.  Ihren  wesentlichen  Inhalt  giebt.  nun  der  Um- 
schlag des  vorliegenden  Heftes  wieder.  Nur  in  Betrefif  des  Titels 
glaube  ich  noch  eine  Erläuterung  nachtragen  zu  müssen.  Wenn 
die  „Greschichtswissen schaff'  in  „Geschichte''  und  die  „Zeit- 
schrift" in  eine  „Allge meine''  verwandelt  wurde:  so  liegt  der 
Grund  einmal  darin,  dass  der  erstere  Ausdruck  theils  begriffliche 
Missverständnisse,  theils  verschiedenartigere  Ansprüche  hervorrief, 
als  die  Zeitschrift  ihrem  Raum  und  Zwecke  nach  befriedigen  kann ; 
der  letztgedachte  Zusatz  aber  schien  erforderlich,  um  den  zahlrei- 
chen provinciellen  Zeitschriften  für  Geschichte  gegenüber,  die  weit 
enger  begrenzte  Zwecke  verfolgen,  die  vorliegende  auch  durch 
ein  äusseres  Merkmal  zu  unterscheiden.  Mit  dieser  Umgestaltung 
ist  nun  zugleich  liio  Aenderung  verknüpft,  dass  nicht  mehr  wie 
bisher  einige  der  Mitwirkenden',  nämlich  die  Herren  A  ßöckh, 
J.  und  W.  Grimm,  G  H.  Pertz  und  L.  Ranke,  als  diejenigen  weiche 
dem  Unternehmen  mit  höchst  dankenswerlher  Bereitwilligkeit  zuerst 
sich  angeschlossen,  auf  dem  Titel  namhaft  gemacht  werden ,  son- 
dern statt  dessen  das  Verzeichniss  der  sämmtlichen  Mitwirken- 
den auf  dem  Umschlage  mitgetheilt  wird.  Dies  konnte  nicht  eher 
zulässig  erscheinen,  als  bis  sich  im  Fortgang  der  Entwicklung  erst 
eine  gewisse  grössere  Summe  von  factisch  mitwirkenden  Kräften 
herausgestellt  hatte.  Mit  dieser  Aenderung  soll  indess  keinesweges 
gesagt  sein^  als  ob  die  oben  genannten  Gelehrten  nicht  nach  wie 
vor  geneigt  wären,  der  Zeitschrift  ihre  Theilnahme  und  Unter- 
stützung zu  widmen,  vielmehr  glauben  wir  versichern  zu  dürfen, 
dass  die  thatsächlichen  Beweise  derselben  auch  in  diesem  Jahre 
eher  sich  mehren  als  vermindern  werden.  Da  der  Kreis  der  Mit- 
arbeiter kein  abgeschlossener  ist,  so  geben  wir  uns  überdies  der 
Zuversicht  hin,  dass  namentlich  auch  die  Mitwirkung  der  süddeut- 
schen Historiker  sich  immer  entschiedenor  nhd  kräftiger  entfalten 
werdo.  Adolf  Sclimidl. 


Die  liandeftverfassungr  In  Kurliesseii* 

Im  Vergleich   mit   den   Staatsgrundgesetzen   der   übrigen 

deutsehen   Staaten. 


Erster    Artikel. 
Entstebong,   Cbarakter  und  Yerhältnlss  xom  deatschen  Bnnde. 

llie  kurhessische  Verfassungsurkunde  vom  5ten  Januar  1831 
ist  keineswegs  ein  ohne  Rücksicht  auf  bestehende  Verhält* 
nisse  neu  geschaffenes  Staatsgrundgesetz,  sondern  ist,  vor- 
zugsweise hinsichtlich  des  Systems  der  Volksvertretung,  dem 
Princip  der  Reform  folgend,  auf  die  frühere  landständische 
Verfassung  gegründet,  welche  sie  —  nach  dem  Ausdruck 
des  mit  der  Eröffnung  des  Landtags  im  Jahre  1831  vom 
Landesherrn  beauftragten  Ministers  (Verh.  des  Landtags  von 
1831  p.  3.)  —  in  einer  dem  Bedürfnisse  der  Zeit  und  des 
in  ihr  waltenden  und  unaufhaltsam  fortschreitenden  Geistes 
angemessenen  Weise  abgeändert  und  festgestellt  hat.  Seit 
Jahrhunderlen  halten  in  Hessen ,  mit  Ausnahme  des  FUrsten- 
thums  Hanau  und  der  neu  erworbenen  Provinzen,  landstän- 
dische Einrichtungen  bestanden  (ofr.  Geschichte  der  land- 
ständischen Verfassung  in  Kurhessen  von  Pfeiffer),  welche 
auf  dem  Feudalsystem  beruhten,  wonach  die  Stände  des 
Landes,  —  getrennt  für  Allhessen  und  für  die  Grafschaft 
Schaumburg  —  unter  einander  in  Curien  abgesondert,  durch 
die  Prälaten,  die  Ritter  und  die  Städte  gebildet  wurden. 
Diese  Verfassung  wurde  verdrängt,  als  der  grösste  Theil 
Rurhessens,  in  Verbindung  mit  einigen  andern  Ländern,  zu 
dem  Königreich  Westphaien  umgewandelt  und  für  dasselbe 
eine  neue  Constitution  am  15ten  November  1807  ertheilt 
wurde.  Mit  Auflösung  des  Königreichs  Westphaien  hörte 
diese  von  selbst  wieder  auf.  Nach  Wiederherstellung  des 
Kurfürstenthums  Hessen  wurde  „auf  ausdrücklichen  Befehl^^ 
des  Kurftirsten  am  29sten  August  1814  „die  ausdrücklichste 
Zusicherung^^  über  die  Fortdauer  der  kurhessiseben  Land« 

AU«.  Z«itotkvift  f.  OMohickU.  T,  1§4«.  g 


106  Die  Landesverfassung  in  Kurhessen. 

stände  eriheiit,  denselben  jedoch  durch  eine  kurfürstliche 
Verordnung  vom  27sten'December  1814  ein  neues  Element 
beigefügt^  indem  dem  Stande  der  Bauern  das  Recht  einge- 
räumt wurde,  zu  dem  bevorstehenden  Landtage  Depntirte 
zu  wählen  und  abzusenden,  welche  auch  von  den  übrigen 
Curien  zugelassen  wurden.  Während  diesesLandtags  wurde 
von  den  Ständen  auf  die  Ertheilung  einer  für  alle  Landes- 
theile  geltenden  Constitution  gedrungen,  die  jedoch  nicht 
zu  Stande  kam,  obwohl  ein  Entwurf  dazu  durch  landes- 
herrliche Gommissare  vertraulich  den  Ständen  mitgetheilt 
wurde,  welche  ihre  Bemerkungen  darüber  jenen  Commissaren 
zugehn  liessen.  Seit  dem  Jahre  1816,  wo  dieser  Landtag 
endete,  schlummerte  die  landständische  Verfassung,  bis  im 
Jahre  1830  der  Kurfürst  die  Landslände  Althessens  zu  einem 
neuen  Landtage  berief,  an  welchem  auch,  mit  Einwilligung 
jener  Abgeordnete  aus  der  Grafschaft  Schaumbnrg  und  den 
bisher  nicht  vertreten  gewesenen  Provinzen  Antheil  nahmen. 
Jedem  einzelnen  Mitgliede  dieses  Laqdtags  wurde  schon  vor 
dessen  Erdflriung  mit  einem  besonderen  Schreiben  der  kur- 
fürstlichen Landtagscommission  die  landesherrliche  Propo- 
sition vom  7ten  October  1830  mitgetheilt.  Dieselbe  enthielt 
Vorsehläge  zu  den  Bestimmungen,  welche,  nach  geschehener 
Berathung  auf  dem  LatKitage,  in  einen  allgemeinen  Land- 
tagsabschied als  Staatsgrundgesetz  gebracht  werdM 
sollten.  Die  Landstände  wählten  nach  Eröffnung  des  Land>- 
tags  einen  besonderen  Ausschuss  zur  Prüfung  jener  Präpo- 
sition (s*  g.  Verfassungsausschuss),  zu  welchem,  neben  dem 
Abgeordneten  der  Landesuniversität,  zwei  Mitglieder  aas 
ieder  der  drei  Curien  genommen  wurden,  firsterer  lieferte 
als  Referent  einen  selbständigen  Entwurf  zu  einer  Verfassungs- 
urkunde, begleitet  von  einem  denselben  begründenden  Be- 
richte, welcher  bei  der  Berathung  des  Ausschusses  über  die 
landesherrliehe  Proposition  demselben  vorgetegen  hat  (Ver- 
fassungsentwurf !.).  Dieser  Ausschuss  trug  dem  Landtage 
seine  Ansichten  vor,  indem  er  „gutachtliche  Bemerkungen 
und  Anträge  zur  landesherrlichen  Proposition  vom  7ten  Oc- 
tober 1830  das  zu  errichtende  Staatsgrundgeseta  für  Kur-* 


Die  Landesperfa$$ung  in  KyrimHn.  Wl 

• 

hessen  betreffend,  in  Form  einzelner,  zu  einem  Ganzen  ver- 
bundener Sätze''  der  Ständeveraammlung  zur  sobliessUohen 
Erörterung  vorlegte,  ohne  von  seinen  Arbeiten  der  landes- 
berrlicben  Gommission  Mittheilung  gemacht  zu  haben.  Nach- 
dem der  letzteren  durch  die  Stände  Versammlung  zwei  Exem- 
plare vertraulich  mitgetheilt  waren,  auch  die  Beratbung 
darüber  in  Plenarsitzungen  aller  Gürien  begonnen  hatte,  an 
welchen  die  Landtagscommission  in  Folge  einer  besonderen 
Einladung  der  Ständeversammlung  Theil  nahm ,  wurde  zur 
vorbereitenden  Vermittelung  der  (sowohl  von  mehren  Mit-» 
gliedern  der  Ständeversammiung  als  Seitens  der  Landtags-* 
commissarien^  geäusserten)  verschiedenen  Ansichten  über 
die  Arbeiten  des  mit  der  Begutachtung  der  landesherrlidien 
Proposition  vom  7ten  October  1830  erwählten  Ausschusses 
ein  weiterer  Ausschuss  der  Ständeversammlung  unter  zu 
erbittendem  Hinzutritte  eines  der  Landtagscommissarien  (s.  g. 
Vermittlungsausschuss)  gewählt,  zu  welchem  der  Verfassungs* 
ausschuss  zwei  seiner  Mitglieder ,  das  Plenum  der  Stände- 
versammlung aber  vier  Mitglieder  ernannte.  Mehre  Theile 
der  gutachtlichen  Bemerkungen  etc.  (Verfassungsentwurf  IL) 
wurden,  noch  ehe  dieselben  zur  Berathung  in  den  Plenar- 
sitzungen kamen,  unter  Mitwirkung  des  Yermittlungsaus- 
schusses  veränderL  Nach  den  von  der  Ständeyersammlung 
sodann  gefassten  Beschlüssen  wurde  eine  „Verfassungs- 
urkunde" als  „Entwurf  in  Folge  landständischer  Berathung" 
zusammengestellt.  Dieser  Entwurf  (Verfassungsentw^urf  IIL) 
wurde  vom  Staatsministerium  begutachtet  und  mit  den  von 
demselben  in  Antrag  gebrachten  Aenderungen  (Verfassungs- 
entwurf IV.)  nochmals  von  der  Ständeversammlung  in  Be- 
rathung genommen,  nach  deren  Beschlüssen  dann  ein  wei- 
terer Entwurf  (Verfassungsentwurf  V.)  im  Einverständnisse 
mit  der  landesherrlichen  Gommission  angefertigt  und  dem 
Landesherrn  zur  Genehmigung  vorgelegt  wurde.  Diese  er- 
folgte mit  einigen  nach  vorgängiger  Begutachtung  durch  das 
Staatsministerium  beliebten  Aenderungen  ( Verfassungsent- 
wurf VL),  welche  von  der  Stäudeversammlung  sämmtlich 
gebilligt  vnurden,   so  dass  jener  letzte  Entwurf  am  5ten  Ja- 

8» 


108  JHe  Landesverfassung  in  Kurhessen. 

nuar  1831  als  Verfassungsurkunde  vollzogen  und  den  8len 
Januar  1831  feierlich  promulgirt  wurde. 

Darzustellen,  wie  die  einzelnen  Bestimmungen  derselben 
nach  und  nach  entstanden  sind,  daraus  eine  Ableitung 
ihrer  wahren  Bedeutung  zu  versuchen,  die  kurhessische 
Verfassungsurkunde  in  ihren  wesentlichsten  Bestandtheilen 
mit  den  Constitutionen  anderer  deutschen  Staaten  zu  ver- 
gleichen und  nach  Maassgabe  der  späteren  landständischen 
Verhandlungen  zu  zeigen,  in  welchem  Sinne  das  Staats- 
grundgesetz Kurhessens  aufgefasst  wurde,  welche  Anwen- 
dung demselben  gegeben  ist  und  wie  sich  solches  entwickelt 
hat  —  das  möchte  für  ein  in  mancher  Beziehung  nicht  un- 
wichtiges Werk  zu  halten  sein,  was  aber  freilich  sehr  um- 
fassend werden  würde.  Dennoch  findet  vielleicht  jemand 
einige  Aufmunterung  dazu,  wenn  in  dieser  Zeitschrift  ver- 
sucht wird,  auf  jene  Weise  einzelne  Artikel  der  kurhes- 
sischen Verfassungsurkunde  zu  behandeln,  was  deshalb  zu- 
nächst hinsichtlich  des  ersten  Artikels  und  der  an  die  Spitze 
des  Ganzen  gestellten  Einleitung  vergönnt  sein  mag*). 


*)  Sie  lautet:  Von  Gottes  Gnaden  Wir  Wilhelm  11.,  Kurfürst 
von  Hessen,  Grossherzog  von  Fulda,  Fürst  zu  Hersfeld,  Hanau, 
Fritzlar  und  Isenburg,  Graf  zu  Catzenelnbogen ,  Dietz,  Ziegenhain» 
Nidda  und  Schaumburg  etc.  etc.  haben ,  durchdrungen  von  den 
hohen  Regentenpflichten ,  Uns  stets  th'äligst  bemüht,  die  Wohlfahrt 
Unserer  verschiedenen  Landestheile,  sowie  aller  Klassen  Unserer 
geliebten  Unterthanen  zu  befördern  und  sind  daher  mit  aufrieb' 
tiger  Bereitwilligkeit  den  Bitten  und  Wünschen  Unseres  Volkes 
entgegengekommen,  welches  in  einer  landständiscben  Mitwirkung 
zu  den  inneren  Staatsangelegenheiten  von  allgemeiner  Wichtigkeit 
die  kräftigste  Gewährleistung  Unserer  landesherrlichen  Gesinnungen 
und  eine  dauernde  Sicherstellung  seines  Glücks  erblickt.  Nach- 
dem Wir  sodann  zur  Ausführung  Unserer  deshalbigen  Absiebten 
mit  den  getreuen  Ständen  Unserer  althessiscben  Lande,  zu  welchen 
noch  Abgeordnete  aus  den  übrigen  bisher  nicht  vertretenen  Ge- 
bietstbeilen  und  aus  der  Grafschaft  Schaumburg  hinzugezogen 
worden  sind,  über  ein  Staatsgrundgesetz  haben  Beralhung  pflegen 
lassen ,  erlheilen  Wir  nunmehr  in  vollem  Einverständnisse  mit  den 
Ständen,  deren  Einsicht  und  treue  Anhänglichkeit  Wir  hierbei  er- 
probt haben ;  die  gegenwärtige  Verfassungsurkunde  mit  dem  herz* 


Die  Landesterfa$$ung' in  Kurhesim.  109 

Obwohl  in  dieser  Einleitung  der  Regent  redend  aufge- 
führt  wird  und  man  daher,  zugleich  in  Erwägung  der  Unter- 
schrift der  Yerfassungsurkunde,  zu  dem  Glauben  geleitet 
werden  könnte,  als  sei  solche,  wenn  gleich  nach  vorgängiger 
Berathung  mit  den  Ständen ,  doch  einseitig  vom  Landesfürsten 
gegeben,  so  ist  dennoch  gerade  jene  Einleitung  zwar  der 
einzige,  aber  auch  vollständige  in  der  Verfassungsurkunde 
selbst  enthaltene  Beweis,  dass  letztere  die  Form  eines  zwei- 
seitigen Vertrages  zwischen  Fürst  und  Volk  an  sich  trage. 
Sie  kommt  zuerst  bei  dem  Verfassungsentwürfe  lll  vor,  in- 
dem die  beiden  früheren  alsbald  mit  dem  Materiellen  ohne 
allen  Eingang  anfangen,  und  ist  auch  in  den  späteren  Ent- 
würfen  unverändert  geblieben,  ausser  einer  Verschiedenheit 
in  der  Titulatur  des  Regenten  und  einer  von  dem  Staats- 
ministerium in  den  Verfassungsentwurf  IV.  aufgenommenen 
unbedeutenden  Veränderung,  welche  darin  besteht,  dass, 
während  ursprünglich  der  Wunsch  ausgesprochen  wurde, 
der  Inhalt  der  Verfassungsurkunde  möge  die  Staatsregierung 

lieben  Wunsche,  dass  dieselbe  als  festes  Denkmal  der  Eintracht 
zwischen  Fürst  und  Unterthanen  noch  in  spatem  Jahrhunderten 
bestehen  und  deren  Inhalt  sowohl  die  Staatsregierung  in  ihrer 
wohltbätigen  Wirksamkeit  unterstützen,  als  dem  Volke  die  Bewah- 
rung seiner  bürgerlichen  Freiheiten  versichern  und  dem  gesamm* 
ten  Vaterlande  eine  lange  segensreiche  Zukunft  verbürgen  möge. 

S.  1.  Sämmtliche  kurhessischen  Lande,  namentlich 
Nieder-  und  Oberhessen ,  das  Grossberzogthum  Fulda,  die  Fürsten- 
thümer  Hersfeld,  Hanau,  Fritzlar  und  Isenburg,  die  Grafschaften 
Ziegenhain  und  Schaumburg,  auch  die  Herrschaft  Schmalkalden, 
so  wie  Alles,  was  etwa  noch  in  der  Folge  mit  Kurbessen  ver- 
bunden werden  wird,  bilden  für  immer  ein  untheilbares  und 
unveräusserliches,  in  einer  Verfassung  vereinigtes.  Ganzes,  und 
einen  Bestandtheil  des  deutschen  Bundes. 

Nur  gegen  einen  vollständigen  Ersatz  an  Land  und  Leuten, 
verbanden  mit  anderen  wesentlichen  Vortheilen,  kann  die  Ver- 
tauschuug  einzelner  Tbeile  mit  Zustimmung  der  Landstande  Statt 
finden.  Von  dieser  Zustimmung  sind  jedoch  die  mit  auswärtigen 
Staaten  dermal  bereits  eingeleiteten  Verträge  ausgenommen.  $.  2.  etc* 

Urkundlich  Unserer  eigenbändigen  Unterschrift  und  des  beige- 
druckten Staatssiegels  gegeben  zu  Wilhelmsböhe  den  5ten  Januar  1831. 

Wilhelm,  Kurfürst  ct.  Br.  v.  Meysenburg. 


110  Die  Lande9f>effa9mng  in  Kurhessen. 

in  ihrer  wohlthötigen  WirkSÄinkeit  unterstützen,  das  Volk 
über  die  Bewahrung  seiner  bürgerlichen  Freiheiten  beruhigen 
und  dem  gesammten  Vaterlande,  eine  lange  segensreiche  Zu- 
kunft verbürgen,  späterhin  gewünscht  wurde,  ihr  Inhalt 
möge  sowohl  die  Staatsregierung  —  unterstützen,  als  das 
Volk  —  beruhigen  u.  s.  w,;  eine  Aenderung  aus  weldier, 
wenn  überhaupt  derselben  eine  Bedeutung  beigelegt  werden 
kann,  nur  die  Absicht  zu  erkennen  ist,  auch  in  diesem 
Ausdrucke  eine  grössere  Gleichstellung  der  Staatsregierung 
und  des  Volkes  zu  bewirken  und  gewisserroaassen  mehr 
noeh  den  Standpunkt  beider  als  zweier  contrahirenden  Theile 
hervorzuheben.  Dieser  leuchtet  übrigens  unverkennbar  schon 
aus  dem  ganzen  Inhalte  der  Einleitung  hervor.  Denn  es 
wird  darin  anerkannt,  *(Jass  zuerst  das  Volk  Bitten  und 
Wünsche  in  Beziehung  auf  die  landständische  Mitwirkung 
zu  den  inneren  Staatsangelegenheiten  von  allgemeiner  Wich- 
tigkeit an  den  Tag  gelegt  habe,  und  dass  darauf  diesen 
Bitten  und  Wünschen  des  Volkes  der  Begent  mit  aufrichtiger 
Bereitwilligkeit  entgegengekommen  sei.  Weiter  wird  dann 
geäussert,  dass  der  letztere  zur  Ausführung  dieser  seiner  Absicht 
mit  den  Ständen  Berathung  über  ein  förmliches  Staatsgrund- 
gesetz habe  pflegen  lassen,  und  dass  diese  ein  volles  Ein- 
verständniss  zwischen  dem  Regenten  und  den  Ständen  her- 
beigeführt habe.  Derselbe  nennt  endlich  die  Verfassungsurkunde 
ein  festes  Denkmal  der  Eintracht  zwischen  Fürst  und 
ünterthanen,  —  lauter  Merkmale  einer  zweiseitigen  durch 
Uebereinkunft  der  Betheiligten  zu  Stande  gekommenen  Ur- 
kunde, welche  noch  dadurch  bestärkt  werden,  dass  die 
landesherrlichen  Commissare,  ihrer  eignen  Erklärung  zufolge, 
'  an  der  Berathung  der  Stähdeversammlung  zum  Zwecke  des 
nunmehr  erforderlichen  Anfertigens  eines  gemeinschaft- 
lichen Entwurfs  einer  vollständigen  Verfassungsurkunde 
Antheil  nahmen.  Zur  Gewissheit  wird  ausserdem  die  Form 
des  Vertrags  durch  die  Unterschrift  der  Verfassungsurkunde, 
die,' wenn  gleich  nicht  bei  dem  in  die  Gesetzsammlung  auf- 
genommenen Abdrucke,  doch  unter  dem  Original,  niobt 
Wos  vom  Regenten,   sondern  auch  von  den  Landständen 


JNe  Landes0erfa9sung  m  kurhes$en.  111 

erfo]gt  ist,  welche  dabei  die  Giausel  hinzufügten:  Der  Inhalt 
der  verstehenden  Verfassungsurknnde  wird  als  dem  daria 
erklärten  landständischen  Einverständnisse  .yellkomaien  ent- 
sprechend hierdurch  anerkannt.  Diese  Glausel  trägt  das 
Datum  des  9ten  März  1831,  an  welchem  Tage  der  denLand^ 
tag  von  1830  scbliessende  Landtagsabschied  vollzogen  wurde. 
Auch  in  diesem  Landtagsabschiede,  welchem  unbezweifeH 
die  Eigenschaft  eines  Vertrages'  i;^eizulegen  ist,  wird  erwähnt, 
dass  die  Ständeversammlung  die  Verfassungsangelegenheit 
und  die  damit  in  Verbindung  stehenden  Gesetze  unter  steter 
Theilnahme  der  kurfürstlichen  Landtagscommission  berathen 
habe,  so  dass  in  vollem  Einverständnisse  der  Staatsregierung 
und  der  Landstände  die  Verfassungsurknnde  als  ein  Grund- 
gesetz zu  Stande  gekommen  sei,  dessen  Verbindlichkeiten 
fiir  den  Regenten,  wie  für  die  Regierten  in  allen  Zeiten 
feststehe  und  niemals  durch  irgend  ein  die  Thronfolge  oder 
den  Staat  betreffendes  Ereigniss  erschüttert  werden  aolte. 
Hierdurch  widerlegt  sich  die  Folgerung,  welche  in  Pölitz' 
Jahrbüchern  der  Geschichte  und  Staatskunst  (April  1831)  Ak* 
die  Form  einer  octroyirten  Verfassung  aus  der  Unterschrift 
des.  Kurfürsten  gezogen  wird.  Selbst  die  am  Sten  Januar 
1831  Statt  gefundene  Feierlichkeit  einer  förmlichen  üeber- 
gabe  der  Verfassungsurkunde  durch  Kurfürst  Wilhelm  L, 
der  solche  eigenhändig  vor  versammelten  Landständen  dem 
Erbmarschall,  als  deren  damaligem  Präsidenten,  überlieferte, 
von  weichem  letztern  sie  darauf  als  Namens  der  Stände 
empfangen  erklärt  wurde,  deutet  die  Vertragsform  an  (Mur- 
hard  kurh.  Verf.  Urk.  Th.  1.  p.  43.).  Auch  in  einer  officiel- 
lenRede,  die  im  grossen  Hörsaale  der  Landesuniversitat  vom 
Professor  der  Geschichte  gehalten  wurde,  ist  die  Verfassungs- 
uriLunde  ein  Bundesvertrag  zwischen  Herrscher  und  Be- 
herrschten genannt  (Murhard  Th.  1.  p.  46.).  Die  Stellung, 
welche  bei  den  Verhandlungen  über  die  Verfassungsurkunde 
Fürst  und  Volk  gegenseitig  einzunehmen  hatten,  war  nicht 
etwa  eröt  während  der  Berathung  zur  Sprache  gebracht, 
sondern  schon  in  der  landesherrlichen  Proposition  vom  7ten 
October  1830  hervorgehoben,    welcher  die  Einleitung  der 


112  Die  Lande$f^erfa$iung  in  Kurhessm. 

Verfassungsurkunde  f^st  wörtlich  entlehnt  ist.  Denn  bei  der 
genauen  Uebereinstimmung  des  ersten  Satzes  der  Einleitung 
mit  jener  Proposition  und  bei  der  völligen  Gleichheit  der  in 
letzterer  enthaltenen  Schlussworte,  mit  denen  in  dem  Ver 
fassungsentwurfe  IIl.^  kann  man  nur  in  der  Verschiedenheit  der 
Zeit  und  der  veränderten  Sachlage  den  Grund  finden,  wenn 
der  Mittelsatz  der  Proposition  vom  7ten  October  1830  lautet: 
„Um  nun  über  unsre  Absichten  in  gedachter  Beziehung 
keinen  Zweifel  zu  lassen  und  zugleich  eine  angemessene 
Vorbereitung  zu  den  Arbeiten  des  durch  unsre  Verordnung 
vom  19ten  v.  M.  auf  den  16ten  d.  M.  berufenen  Landtags  zu 
erleichtern,  ertheilen  wir  schon  jetzt  hierdurch  unsern  für 
diesen  Landtag  ernannten  Commissaren  den  allergnädigsten 
Auftrag,  den  getreuen  Ständen  unsrer  althessischen  Lande, 
zu  denen  noch  Abgeordnete  aus  den  übrigen  bisher  nicht 
vertretenen  Gebietstheilen  und  aus  der  Grafschaft  Schaum^ 
bürg  hinzuzuziehen  sind,  die  nachstehenden  aus  freiem 
Entschlüsse  getroffenen  Bestimmungen  vorzulegen,  da- 
mit sie  vor  allen  andern  Angelegenheiten  berathen,  dem- 
nächst aber  im  Einverständnisse  mit  den  Ständen, 
deren  Einsicht  und  treuer  Anhänglichkeit  wir  gern  vertrauen, 
in  einen  allgemeinen  Landtagsabschied  gebracht  werden  und 
als  Staatsgrundgesetz  das  schönste  Denkmal  der  Eintracht 
zwischen  Fürst  und  Unterthanen  bilden,  die  Staatsregierung 
etc.  verbürgen  mögen.^' 

Die  Proposition  unterscheidet  sich  durch  diese  Andeu- 
tung des  Standpunktes,  auf  welchen  bei  den  Berathungen 
über  die  Verfassungsurkunde  Fürst  und  Volk  sich  zu  ein- 
ander stellten,  sehr  wesentlich  von  der  Ansicht,  welche  der 
Regent  auf  dem  im  Jahre  1816  für  Althessen  gehaltenen 
Landtage  geltend  machte.  Damals  wurde  nämlich  einem  der 
ritterschafllichen  Deputirten  die .  neue  Landesconstitution  zu 
einer  confidentiellen  Mittheilung  an  die  hohe  Stände  Versamm- 
lung zugefertigt.  Diese  Art  der  Mitiheilung  geschah,  wie 
dabei  bemerkt  wurde,  um  deswillen,  um  dadurch  officiellen 
Bemerkungen  vorzubeugen ,  als  welche  Sr.  Königlichen  Hoheit 
empfindlich  sein  würden,  indem  AUethÖchst  Dieselben  wünsch- 


Die  Landesverfassung  in  Rurhessen.  113 

ten,  anerkannt  zu  sebn,  aus  Allerhöchst  eigner  Bewegung 
gehandelt  zu  haben,  wohingegen  confidentielle  Aeusserungen 
in  persönlichen  Gonferenzen  wohl  Platz  greifen  dürften. 
Noch  mehr  trat  jene  Ansicht  hervor,  als  der  landesherrliche 
Gommissar  die  Meinung  äusserte,  dass  die  Constitution  keiner 
Discussion  unterworfen  werden  könne ,  indem  Se.  Königliche 
Hoheit  den  Ständen  mehr  Rechte  eingeräumt,  als  sie  schon 
gehabt  hätten  und  es  am  räthlichsten  sei,  sie  nur  anzu- 
nehmen, weil  leicht  eine  Alles  vereitelnde  Veränderung  da- 
zwischen kommen  könne,  ohnehin  die  versammelten  Par- 
ticularstände  keine  Abänderung  fordern  könnten,  indem  dar- 
über auch  die  stände  der  hinzutretenden  Provinzen  gehört 
werden  müssten,  wenn  dergleichen  Statt  finden  sollten;  und 
zuletzt  nur,  als  die  Stände  erwiederten,  dass  nicht  von  Ab- 
änderungen, sondern  von  Bemerkungen  die  Rede  sei,  die 
vielleicht  zu  Verbesserungen  Aulass  gäben,  solche  anzuhören 
nachgab.  Zwar  erklärte  die  Curie  des  Bauernstandes,  es 
wäre  zu  wünschen,  dass  diß  Verfassungsurkunde  als  Vertrag 
zwischen  Regenten  und  Ständen  zu  Stande  käme,  weil, 
wenn  sie  als  Gesetz  erschiene,  kein  Nachfolger  daran  ge- 
bunden sei;  zwar  verlangte  auch  die  Städtecurie,  die  Con- 
stitution müsse,  um  hinsichtlich  der  Successoren  eine  Ga- 
rantie für  deren  Befolgung  zu  erhalten,  nicht  einseitig  als 
Gesetz,  sondern  durch  Vertrag  zwischen  dem  Regenten  und 
den  Volksrepräsentanten  und  zwar  dergestalt  ihre  Existenz 
erhalten,  dass  jeder  Nachfolger  zugleich  vermöge  dieser 
Constitution  und  durch  dieselbe  succedire;  zwar 
wurde  endlich,  als  ein  ritterschaftlicher  Deputirter  ebenfalls 
erklärt  hatte,  dass  eine  Staatsconstitution  da,  wo  reichs- 
oder  landständische  Verfassung  existirt,  als  Vertrag  zwischen 
dem  Regenten  und  den  Regierten  hergestellt,  nicht  als  Gesetz 
aufgedrungen  werden  müsse ,  von  der  rittersphafllichen  Curie 
beschlossen,  dass  in  dem  Begleitungs-Promemoria  zu  den 
Bemerkungen  über  den  Entwurf  der  Constitution  zu  be- 
rühren sei,  wie  man  von  der  bekannten  Weisheil  und  Ge- 
rechtigkeit Sr.  Königlichen  Hoheit  erwarten  dürfe,  dass  die 
Constitution  dem   Vaterlande  in  der  Form   eines  Vertrags 


114  Die  Lmde$terfä$sung  in  Kurheisen. 

tverde  gegeben  werden,  welche  ttbtigens  nach  der  Meinaog 
des  Abgeordneten  der  Landesuniversität  schon  durch  die 
förmliche  Annahme  des  vom  zeitigen  Regenten  aus- 
zustellenden Reverses  über  die  Angelobung  delr  Constitution 
oder  durch  eine  beiderseitige  Unterzeichnung  der 
letztern  entstehn  würde.  Allein  auch  nachher  erklärte  der 
landesherrliche  Gommissar  in  einer  Conferenz  mit  den  dazu 
ausersehenen  StSndemitgliedern,  die  Constitution  wäre  ver- 
traulich mitgetheilt  worden  und  Stände  könnten  darüber 
gar  nichts  sagen;  was  freilich  die  s{ändischen  Mitglieder 
nicht  haben  zugeben  können,  weil  die  vertrauliche  llitthei- 
lung  Bemerkungen  auf  eben  diesem  Wege  gestatte  und  der- 
gleichen noch  besonders  von  Sr.  Königlichen  Hoheit  wären 
nachgegeben  worden;  wie  denn  auch  noch  in  einer  spätem 
Conferenz  ständischer  Seits  unter  den  Hauptpunkten,  worauf 
es  dermalen  ankomme,  die  dem  Vaterlande  zu  ertheilende 
mit  den  Bemerkungen  der  Stände  begleitete  Staats- 
constitution  aufgeführt  wurde,  wenn  gleich  auf  die  etwas 
mildere  Erklärung  des  landesherrlichen  Commissars,  es  wäre 
auf  die  Berücksichtigung  sämmtl icher  von  den  Ständen 
zum  Constitutionsentwurf  gemachten  Bemerkungen  wohl 
nicht  zu  bestehn,  indem  Se.  Königh'che  Hoheit  alle  und 
jede  aufzunehmen  nicht  vermöchten,  ständischer  Seits  er- 
wiedert  wurde',  dass,  sofern  nur  die  Hauptbemerkungen 
berücksichtigt  würden,  es  auf  die  übrigen  nicht  ankomme. 
Dessenungeachtet  aber  beharrten  die  Stände  auf  einer  „dnrch 
Debereinkunft  zwischen  dem  Regenten  und  den  versammel- 
ten Landständen  und  mit  Zustimmung  der  zur  Landstand- 
schafl  hinzutretenden  Provinzen  vertragsmässig  zu  verfas- 
senden Constitution";  und  selbst  als  die  Landtagscommission 
erwiederte,  es  sei  nicht  von  einer  neuen  Gründung  des 
Staates,  nicht  von  efner  vertragsmässig  einzugehenden  Re- 
gierungsform die  Rede,  sondern  der  Kurfürst  wolle  nur  aus 
Zuneigung  für  das  Wohl  seiner  ünterthanen  dem  ständischen 
Mitwirkungsrecht  eine  grössere  Ausdehnung  als  es  bisher 
gehabt  geben,  worüber  jedoch  nicht  vorerst  zu  tractiren 
stehe,  indem  die  partiellen  Stände  einzelner  Provinzen  sich 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen,  115 

Tiieht  ihrem  Regenten  gegenttbefsteHen,  niobt  mit  ihm  han* 
dein,  nicht  verlangen  dürften,  dass  er  ztir  SchmXlemng  der 
Regierungsrechte  noch  ein  Mehres  einräumen  solle,  als  das 
Interesse  des  Staates^  wie  die  Handhabung  der  Gereebiig^ 
keit  und  Ordnung,  unter  Entfernung  aller  willküriichen 
Maassregeln,  erfordere,  —  selbst  da  noch  erklärten  zulettt 
die  Stände,  die  Form  der  Constitution,  die  sie  begehrt 
hätten,  sei  durch  den  Regriff  eines  Landesgrundgesetzes 
unabänderlich  bestimmt,  indem  nur  in  ihr  dasselbe  für  ewig 
verbindliche  Kraft  erhalte,  nur  durch  sie  die  Erfüllung  der 
ersten  Forderungen  einer  zweckgemässen  Staatseinrichtung 
für  immer  gesichert  werde. 

Kurfürst  Wilhelm  IL  mag  ebensowohl  durch  das  da- 
malige Festhalten  der  Stände  an  der  Idee,  dass  nur  ver- 
tragsmä«sig  eine  neue  Constitution  dem  Lande  gegeben 
werden  könne,  zu  dem  Gedanken  geführt  sein,  abweichend 
von  der  Ansicht  des  verstorbenen  Kurfürsten  Wilhelm  L, 
alsbald  das  neue  Staatsgrundgesetz  für  ein  im  wechselsei- 
tigen Einverständnisse  zu  Stande  zu  bringendes  Werk  zu 
erklären,  als  durch  die  üeberzeugung,  dass  bestehende 
Verfassungen  nur  auf  verfassungsmässigem  Wege,  also  nur 
mit  Zustimmung  der  Betheiligten  geändert  werden  können. 

Doch  entsteht  die  Frage,  ob  wirklich  die  auf  dem  Land- 
tage von  1830  erschienenen  Personen  befugt  waren,  Samens 
des  kurbessischen  Landes  in  die  Gründung  einer  neuen  Ver- 
fassung zu  willigen.  Nach  der  Eröffnung  des  durch  die  Ver- 
ordnung vom  19.  Sept.  1830  einberufenen  althessischen  Land- 
tags ist  von  den  Landtagscommissarien  proponirl,*  ob  nicht 
die  Deputirten  der  neuhessischen  Stände  bei  der  dringlichen 
Lage  der  damaligen  Verhältnisse  ohne  weitere  Förmlichkeiten 
in  die  Gemeinschaft  der  althessischen  Stände  aufzunehmen 
seien,  um  an  den  Berathungen  sogleich  Theil  nehmen  zu 
können;  welcher  einstimmig  gebilligte  Antrag  zur  Folge  hatte, 
dass  die  Deputirten  der  neuhessischen  Stände  in  die  Ver- 
sammlung eingeladen  und  ihnen  ihre  Aufnahme  bekannt  ge- 
macbf  wurde,  worauf  sie  ihre  Sitze  einnahmen.  Dieser  Act 
ist  in  dem  Landtagsabschiede  vom  9.  März  1831  $.  1.  so  dar- 


116  DU  Landeiterfa$sung  in  Kurhesien. 

gestelli,  dass  die  Versammlung  der  althessischen  Stände  mit 
den  Abgeordneten  aus  der  Grafschaft  Schaumburg  und  aus 
den  übrigen  Landestheilen  sich  zu  einem  Landtage  für  die 
sdmmtlicben  kurhessiscben  Lande  und  zur  gemeinschaitlichen 
Berathung  der  Landes -Angelegenheilen  vereinigt  habe,  dass 
die  Abgeordneten  der  übrigen  Lande  zu  dieser  Vereinigung 
sämmttich  ihre  Zustimmung  gegeben  und  dass  diese  Versamm- 
lung somit  zur  Vertretung  des  ganzen  Eurfürstenlhums  Hessen 
befähigt  worden  sei.  Es  kann  aber  gefragt  werden,  ob  die 
Personen,  welche  hier  gehandelt  haben,  ermächtigt  waren, 
für  den  Landestheil,  den  sie  repräsentiren  sollten,  eine  solche 
Maassregel  zu  treffen.  Man  muss  hierbei  die  verschiedenen 
Landestheile  unterscheiden,  weil  die  frühere  Verfassung  der* 
selben  von  einander  abwich.  Althessen  halte  eine  eigne 
ständische  Vertretung,  indem  dasselbe  herkömmlich  durch 
einen  sogenannten  engeren  Landtag  repräsentirt  wurde, 
welcher  sich  durch  den  Erbmarschail ,  einen  Obervorsteher 
der  Stifter,  einen  Deputirten  der  Landesuniversität,  fünf  von 
der  allhessischen  Ritterschaft  gewählte  Deputirte,  die  Bürger- 
meister von  Cassel,  Marburg  und  Homberg,  so  wie  vier  aus 
den  Stadträthen  der  übrige*  zur  Wahl  berechtigten  Städte 
ernannte  Deputirte,  desgleichen  seit  dem  Jahre  1814  aus 
fünf  Deputirten  des  Bauernstandes,  bildete.  Ein  solcher 
engerer  Landlag  halte  die  Befugniss,  für  die  allhessischen 
Lande  verbindliche  Handlungen  vorzunehmen  (vergl.  Berl, 
pol.  Wbchenblall  1834  Nr.  18.  19.  GasseL  allg.  Zeit.  1834 
BeibL  26.  p.  1.).  Ein  Landtag  dieser  Art  war  es,  welcher 
durch  die  kurfürstliche  Verordnung  vom  19.  September  1830, 
ganz  auf  die  Weise,  wie  solches  noch  zuletzt  1815  Statt  ge- 
funden hatte,  zusammenberufen  wurde. 

Die  Fürstenlhümer  Hanau  und  Jsenburg,  desgleichen  das 
Grossherzogthum  Fulda  hatten  bisher  einer  landsländischen 
Verfassung  ganz  entbehrt.  Gesetzliche  Vertreter  ders  Volkes 
in  jenen  Gebielslheilen  existirten  nicht.  Für  diese  Lande 
war  es  daher  keine  Beschwerde,  als  durch  einen  Beschluss 
vom  19.  Sept.  1830  vom  Regenten  den  Unterthahen  in  dem 
Grossherzogthum  Fulda,  so  wie  den  Fürstenthümern  Hanau 


Die  Landeiverfanung  in  Kurheigm.  117 

und  Isenburg  eine  landständiscbe  Vertretung  aus  höchst- 
eigner Bewegung  allergnädigst  zugesichert  wurde.  Bei  dem 
Mangel  einer  landständischen  Verfassung  konnte  eine  solche 
jenen  Gebietstheilen  octroyirt  werden.  Deshalb  stand  es 
auch  in  dem  Ermessen  des  Regenten,  zu  bestimmen,  wel« 
ches  die  Personen  der  erwähnten  Landestheile  sein  sollten, 
mit  denen  er  über  ein  neu  einzuführendes  Staatsgrundgesetz 
Berathung  pflegen  lassen  wollte.  Daher  wird  man  es  unbe- 
denküch  finden  müssen,  wenn  in  Folge  landesherrlicher  Be- 
stimmung als  solche  Personen  ein  von  der  ehemaligen  un- 
mittelbaren Reichsritterschafl  in  Fulda  zu  wählendes  Mitglied, 
der  Bürgermeister  der  Stadt  Fulda,  der  Bürgermeister  der 
Stadt  Hanau,  ein  von  den  Städten  Gelnhausen,  Salmünster, 
Schlüchtern,  Soden,  Steinau  und  Wächtersbach  Erwählter, 
ein  von  den  Ortsvorstehem  der  Landgemeinden  in  dem 
Kreisamtsbezirke  Hanau  und  ein  von  den  Ortsvorstehern  der 
Fuldaischen  Landgemeinden  Erwählter  bezeichnet  wurden. 

Dadurch  wurde  zugleich  der  Bestimmung  der  deutschen 
Bundesacte  Art.  14  genügt,  wonach  dem  ehemaligen  Reichs- 
adel Antheii  der  Begüterten  an  der  Landstandschaft  zuge« 
sichert  worden  war.  . 

Nicht  so  unzweifelhaft  ist  es,  ob  die  Vorschrift  der 
Bundesacte  hinlänglich  gewahrt  wurde,  dass  die  Häupter  der 
im  Jahr  1806  und  seitdem  mittelbar  gewordenen  fürstlichen 
und  gräflichen  Häuser  die  ersten  Standesherrn  in  dem  Staate 
sind,  zu  dem  sie  gehören,  sofern  hiernach  jedem  Haupte 
eines  standesherrlichen  Hauses  für  seine  Person  die  Land« 
slandschafl  gebührt,  indem  zu  dem  Landtage  von  1830  nur 
ein  gemeinschaftlicher  Vertreter  sämmtlicher  Standesherrn 
vom  Regenten  einberufen  wurde.  Da  jedoch  diese  einer 
solchen  Aufforderung  sich  fügten  und  wirklich  gemeinsam 
einen  BevoUmächtigten  bestellten,  so  haben  sie,  was  ihnen 
offenbar  freistand,  jenes  Verfahren  gebilligt,  ohne  dass  des« 
halb  von  einer  Verletzung  ihrer  Rechte  noch  die  Rede  sein 
könnte. 

Die  Grafschaft  Schaumburg  hatte  von  jeher  eine  von  Alt* 
bessen  gesonderte  landständische  Vertretung  gehabt,  welche 


US  Die  L(mdei9€rfa$smg  in  Ktirh^s^m, 

sich  auf  Landlagen  äa&serte,  die  dureh  die  Prälaten,  die  RiW 
ier,  die  Städte  so  ^yie  seit  dem  Landtagsabschiede  von  1816 
dttrch  zwei  aus  dem  Bauernstande  des  ehemaligen  Amtes 
Schaumburg  und  durch  einen  aus  dem  .Bauernstande  des 
Amtes  Rodenberg  gewählten  Deputirten  gebildet  wurden. 
Nur  ein  solcher  Landtag  war  ermächtigt,  jenen  Landestbeil 
XU  verpflichten  und  in  die  Aenderung  der  altherkömmlichen 
Verfassung,  insbesondere  in  eine  Incorporation  dieses  Ge- 
bietstheiies  mit  den  übrigen  Landen  zu  willigen.  Statt  dessen 
wurde  durch  einen  Beschluss  des  Ministeriums  des  Innern 
vom  7.  October  1S30  verfi^t,  dass  zu  dem  am  16.  October 
18M  in  Cassel  zu  eröffnenden  Landtage  die  .in  der  landes- 
herrlichen PropositioQ  vom  7.  Oct.  1830.  §.  14.  15  und  16 
erwähnten  Abgeordneten  zeitig  erscheinen  sollten.  Dies  war 
ein  Abgeordneter  aus  der  Ritterschaft  der  Grafschaft  Schaum- 
burg^ gewählt  von  derselben  unter  Mitstimmung  des  Ver- 
treters des  ehemaligen  Stiftes  Möilenbeck,  so  wie  der  ade- 
Itcfaen  Stifter  Fischbeck  und  Obernkirchen,  der  Bürgermeister 
der  Stadt  Rinteln  und  ein  von  den  Vorstehern  der  Landge- 
meinilen  in  der  Grafschalt  Schaumburg  erwählter  Grundbe-. 
sitzer..  Diese  drei  Personen  erschienen  ;5war,  erklärten  jedoch 
sowohl  mündlich  als  schriftlich  der  Landtagscommission  und 
dem  Erbmarschall,  als  Präsidenten  des  Landtags  für  Althessen, 
dass  es  in  der  Natur  der  Sache  liege^  wie  durch  ihre  Theil- 
nahme  an  der  Berathung  über  die. in  ein  Staatsgrundge- 
setz aufzunehmenden  Bestimmungen  so  wenig  eine  Incorpo- 
raiion  der  Grafschaft  Schaumburg  in  Althessen  geschefan 
könne,  als  dadurch  die  Rechte  und  Freiheiten  der  schaum- 
burger  Landstände  aufgehoben  würden^  dass  ihr  Beitritt  zu 
der  Versammlung  der  Landstände  allein  zum  Zweck  ihrer 
MitwiriLung  zu  einer  allgemeinen  landständischen  Verfassung 
für  Kurhessen  und  ihrer  Theilnahme  an  der  Berathung  über 
die  in  eine  neue  Verfassungsurkunde  aufzunehmenden  Be- 
stimmungen gesehehn  sei,  unter  dem  einstweiligen  ausdrück- 
lichen Vorbehalt  aller  der  Grafschaft  Schaumburg  und  deren 
F^ndständen  zustehenden  Freiheiten  und  Gerechtsame.  Hier- 
mach konnten  also  die  erwähntea  drei  Personen  nur  als 


solche  betracbtet  werden,  weloÜe  xurVorbereiiuag  einer 
VeifasauDgsurkunde  diisersebeD  seien ,  die  nach  ihrer  Voll* 
endung  einem  auf  hergebrachte  Weise  zu  versammelnden 
schaumburger  Landtage  hätte  vorgelegt  werden  müssen,  um 
den  Beitritt  zu  derselben  Namens  der  Grafschaft  Schaum« 
bürg  zu  erklären.  Diese  Procedur  ist  jedoch  nicht  einge- 
schlagen und  man  würde  deshalb  hinsichtlich  jenes  Gebiets- 
theiles  behaupten  können,  dass  für  denselben  die  Verfassungs« 
Urkunde  keine  rechtliche  Verbindlichkeit  habe,  wenn  nicht 
dieselbe  nachher  von  jedem  männlichen  Bewohner  der  Graf- 
schaft Schaumburg  beschworen  wäre  und  so  dieser  Landes- 
theil zwar  nicht  durch  einen  verfassungsmässigen  Landtag, 
wohl  aber  durch  den  gesammten  Volksstamm  die  Verfassungs- 
urkunde als  für  sich  verbindlich  anerkannt  hätte. 

Auf  die  Vertragsform  der  Verfassungsurkunde  ist  später 
von  dem  Finanzministerium  provocirt  worden.  Passelbe 
theilte  nämlich  zur  Begründung  seiner  Ansicht,  dass  die 
rotenburger  Quart  beim  Rückfalle  derselben  nicht  als  zum 
Staatsgut,  sondern  zum  fideicomi^issarischeu  Hausgute  des 
Kurhauses  Hessen  gehörend  zu  betrachten  sei,  den  Ständen 
ein  rechtliches  Bedenken  mit,  in  welchem  erklärt  wurde,  die 
kurhessische  Constitution  vom  5.  Januar  1831  gehöre  aner- 
kannter Maassen  zu  den  sogenannten  pactirten  Verfasaun* 
gen,  830  sei  ein  Staalsgrqnd vertrag  zwischen  Sr.  König- 
lichen Hoheit  dem  Kurfürsten  einer  Seits  und  den  Land"- 
ständen  anderer  Seits,  unterliege  also  auch  den  allgemeinen 
Grundsätzen  von  den  Wirkungen  dier  Verträge  überhaupt 
(Landt.  Verh.  von  18S4--35  Anl.  360.  pag.  38.). 

Nicht  ohne  wesentlichen  Einfluss  auf  die  Wirkungen  der 
Verfassungsurkunde  (cfr.  Murhard  Th.  1.  p.  95.),  auf  die  Aus* 
legung  derselben  und  auf  die  Art  der  damit  vorzunehmetH 
den  AenderuBgen  ist  jene  Eigenschaft  des  Vertrages,  welche 
den  Grundgesetzen  vieler  deutschen  Staaten  fehlt.  Sie  findet 
sich  nur  in  dem  Landesvertrage  ftlr  das  FUrstenthum  Wal- 
deck vom  19.  April  1816,  wodurch  im  Einverständniss  mit 
ien  Landständen  vün  Ritterschaft  und  Städten,  der  bisherig 
ffifOL  Landes-  und  ständiaefaen  Verfassung  eine  nähere  Ein- 


120  Die  Landuterfa$$ung  in  Kurheum, 

richtung  gegeben  wird ;  sodann  in  dem  Grundgesetz  für  das 
Grossherzogthum  Sachsen- Weimar-Eisenach  vom  5.  Mai  1816, 
welches  unter  Zustimmung  der  landschaftlichen  Deputirten 
der  alten  Lande  und  unter  Beirath  der  berufenen  Abgeordne«* 
ten  der  zugefallenen  neuen  Gebiete  festgestellt  ist;  auch  in 
der  Verfassungsurkunde  für  das  Königreich  Würtemberg  vom 
25.  September  ldl9,  Über  welche  durch  Entschliessung  des 
Königs  und  Gegenerklärung  der  von  der  Ständeversammlung 
hierzu  besonders  erwählten  Mitglieder  eine  vollkommene 
beiderseitige  Vereinigung  zu  Stande  gekommen  ist;  femer 
in  dem  Grundgesetz  für  das  Herzogthum  Sachsen-Altenburg 
vom  29.  April  1631,  welches  nach  erfolgtem  Beirath  der  Land- 
schaft und  mit  deren  Zustimmung  verliehen  ist;  desgleichen 
in  der  Verfassungsurkunde  für  das  Königreich  Sachsen  vom 
4.  September  1831,  wonach  die  Verfassung  des  Landes  mit 
Beirath  und  mit  Zustimmung  der  Stände  geordnet  ist;  auch 
in  der  Landschaftsordnung  für  das  Herzogthum  Braunschweig 
vom  12.  October  1832,  welche  als  das  Grundgesetz  des  Lan-> 
des  nach  beendigter  Beratjiung  und  getroffener  Uebereinkuilfi 
mit  der  Landschaft,  mit  Zustimmung  der  Stände  erlassen  ist; 
endlich  in  der  landständischen  Verfaasungsurkunde  für  das 
FUrstenthum  Lippe  vom  6.  Juli  1836,  welche  mit  den  Land- 
siänden  sorgfältig  berathen  und  unter  deren  Zustimmung  als 
Landesgrundgesetz  erlassen  ist.  Bei  allen  übrigen  Verfassun- 
gen der  deutschen  Staaten  ist  mehr  oder  weniger  scharf  von 
den  Regenten  hervorgehoben,  dass  sie  als  ein  Ausfluss  ihres 
alleinigen  Willens  und  lediglich  als  octroyirte  Charten  zu  be- 
trachten seien.  So  heisst  es  in  dem  landesfürstlichen  Patent 
für  das  Herzogthum  Nassau  vom  2.  September  1814,  unter 
Erwähnung  der  nach  dem  Rathschlusse  der  göttlichen  Vor- 
sehung anvertrauten  unbeschränkten  Regierungswirksamkeit, 
„hiernach  haben  wir  beschlossen  und  verordnet,  wie  nach- 
folgt" etc.  In  der  Verordnung  für  das  Fürstenthum  Schwarz- 
burg-Rudolstadt  vom  8.  Januar  1816  wird  gesagt:  „finden 
wir  gut.  Folgendes  anzuordnen^*  etc.  Die  Bestimmungen  der 
Verfassungsurkunde  für  das  Königreich  Baiern  vom  26.  Mai 
1818  erklärt  der  König  fttr  eine  aus  freiem  Eutschlusse  ge- 


Die  Landesverf€usung  in  Kurhessen.  121 

gebene  Verfassung  des  Königreichs.  Eben  so  erscheint  die 
Verfassungsurkunde,  für  das  Grossherzogthum  Baden  vom 
22.  August  1818  lediglich  als  eine  Gabe  des  Landesherm. 
Dasselbe  ist  riicksichtiich  der  Verfassung  für  das  Filrstenthum 
Lichtenstein  vom  9.  November  1818  der  Fall.  Vor  Ertheilung 
der  Verfassungsurkunde  für  das  Grossherzogthum  Hessen 
vom  17.  December  1820  sind  nur  die  Wünsche  der  Stände 
über  die  constitutionelien  Bestimmungen  vernommen.  Eben 
so  hal  im  Herzogthum  Sachsen- Coburg -Saalfeld  der  Regent 
die  Wünsche  der  Stände  über  die  landständische  Verfassung 
vernommen,  dann  aber  in  möglichster  Berücksichtigung  der- 
selben seine  Entschliessung  gefasst  und  sich  bewogen  ge- 
sehn, die  landständische  Verfassung  in  die  Verfassungsur- 
kunde vom  8.  August  1821  zusammenzufassen.  Genau  auf 
die  nämliche  Weise  ist  bei  dem  Grundgesetz  für  die  ver- 
einigte landschaftliche  Verfassung  des  Herzogthums  Sachsen- 
Meiningen  vom  23.  August  1829  verfahren.  Nach  dem  Patente 
womit  das  Grundgesetz  des  Königreichs  Hannover  vom  26.  Sep- 
tember 1833  publicirt  wurde,  hat  der  König  auf  den  Antrag 
der  allgemeinen  Ständeversammlung  beschlossen,  die  inneren 
Verhältnisse  des  Königreichs  durch  die  Erlassung  eines  neuen 
Staatsgrundgesetzißs  genauer  festzustellen  und  die  Grundsätze 
zu  denselben  in  einer  an  die  Ständeversammlung  erlassenen 
Declaration  vorgeschrieben,  darauf  die  Resultate  der  statt- 
gehabten Berathung  der  Stände  sich  vorlegen  lassen,  deren 
Anträge  in  allen  der  Zustimmung  derselben  bedürfenden 
Punkten  zu  bestätigen  sich  bewogen  gefühlt,  solche  auch 
übrigens  zum  grössten  Theile  den  von  ihm  ertheilten  Vor- 
schriften entsprechend  und  nur  in  einigen  wenigen  Punkten 
zur  Sicherstellung  der  landesherrlichen  Rechte  und  zum 
Besten  der  Unterthanen  von  ihm  einer  Abänderung  bedürftig 
gefunden,  sich  dann  veranlasst  gesehn,  in  Beziehung  auf  die 
deshalb  nothwendig  gefundenen  Veränderungen  des  aus  den 
Beralhungen  der  Stände  Versammlung  hervorgegangenen  Grund- 
gesetzentwurfs eine  Erklärung  abzugeben  und,  nachdem  die 
von  ihm  nothwendig  erachteten  Veränderungen  des  von  der 
Ständeversammlung  vorgelegten  Gesetzentwurfs  gemacht  wor- 

AI%.  ZciUchrift  f.  Qeschielittf.  V.  1846.  9 


in  Die  Landesterfastung  in  Kurhe$$etL 

den  sind,  demselben  die  landesherrliche  Bestätigung  eribeitt, 
auch  befohlen,  dass  das  auf  solche  Weise  zu  Stande  ge- 
brachte Grundgesetz  des  Königreichs  Hannover  in  Kraft  tre- 
ten solle.  Ungeachtet  der  Statt  gehabten  Mitwirkung  der 
Stände  triit  doch  bei  diesem  Grandgesetz  mehr  als  bei 
irgend  einer  anderen  Constitution  der  einseitige  Wille  des 
Regenten  hervor,  dem  es  völlig  freisteht,  dasselbe  nach 
seinem  Ermessen  beliebig  zu  deuten.  Wie  kurze  Zeit  sich 
solches  Geltung  zu  verschaffen  vermocht  hat,  ist  bekannt. 

Was  die  an  der  Spitze  der  kurhessischen  Verfassung«- 
Urkunde  stehende  Titulatur  des  Regenten  betrifft,  so  war 
solche  in  der  landesherrlichen  Proposition  vom  7.  October 
ISdO  nicht  vollständig  aufgeführt.  In  dem  Verfassungsent- 
würfe 1  und  II  war  sie  übergangen,  in  dem  Verfassungs- 
eoiwurfe  llf,  also  dem  von  den  Ständen  ausgegangenen, 
lautete  dieselbe:  KurfUrst,  Grossherzog  von  Hessen  und  Fulda, 
Fürst  zu  Hersfeld  etc.  In  dem  Verfassungsentwurfe  IV,  weU 
eher  die  Billigung  des  Staatsministeriums  erlangt  hat^e,  war 
dies  unverändert  geblieben.  In  dem  Veifassungsentwurfe  V, 
welcher  darauf  im  Einverständnisse  der  ^'ndeversammlung 
und  der  Landtagsoommission  angefertigt  war,  ist  der  erste 
Theil  der  Titulatur  unausgefüllt  geblieben,  indem  es  daselbst 

heisst:  Kurfürst Fulda^  Fürst  zu  Hersfeid  etc.,  so  dass 

gewissermaassen  die  Bestimmung  dem  Regenten  überlassen 
wurde.  In  dem  Verfassungsentwurfe  VI,  der  vom  Lahdes- 
herrn  selbst  ausging,  war  der  Titel:  Kurßirst  von  Hessen, 
Grossh^zog  zu  Fulda  etc.  eingerückt.  Diese  Titulatur,  wakfae 
die  Stände  Versammlung  genehmigte,  weicht  von  der  früher 
übiicbeii  ab.  Nach  Wiederherstellung  des  Kurfürstenthums 
Hessen  gebrauchte  Kurfürst  Wilhelm  I,  namentlich  bei  der 
zuerst  erlassenen  Verordnung  vom  4.  Januar  1814  den  Titel: 
„des  heiligen  römischen  Reichs  Kurfürst,  souverainer  Land- 
graf zu  Hessen,  Fürst  zu  Hersfeld"  etc.,  der  sich  von  der 
Titulatur,  welche  ^eit  dem  Erwerbe  der  Kurwürde  im  Jahre 
1803  angenommen  wurde,  nur  durch  die  in  dieser  fehlende 
Bezeichnung  „souverain"  unterschied.  Auffallead  hätte  der 
Gebrauch  jenes   Titels   im   Jahre  1814   erseheieen   können. 


Die  LandemDerfoiiung  in  Kurhesien.  128 

nachdem  das  heilige  römische  Reich  sich  im  Jahre  1806  durch 
die  Erklärung  des  Kaisers  aufgelöst  hatte;  doch  erkennt  dies 
die  kurhessische  Regierung  nicht  an,  die  noch  jetzt,  im  Jahre 
1845,  der  Ansicht,  dass  das  heilige  römische  Reich  bis  zur 
deutschen  Rundesacte  fortgedauert  habe,  practische  Gel- 
tung zu  verschaffen  sucht,  namenthch  in  Beziehung  auf  die 
Wirksamkeit  der  während  des  Königreichs  Westphalen  von 
dem  Inhaber  der  Staatsgewalt  vorgenommenen  Handlungen, 
und  in  Beziehung  auf  die  Lehnsabhängigkeit  mehrer  deut* 
scher  Fürsten,  welche  durch  die  Auflösung  des  Reichs  die 
Souverainität  erlangten.  Diese  Idee  von  der  Fortdauer  des 
Reiches  lässt  sich  indess  nicht  wohl  mit  der  den  Reichs- 
ständen  offenbar  mangelnden  Souverainität  vereinigen,  welche 
seit  1814  auch  für  Hessen  angesprochen  wurde.  Schon  vor 
der  deutschen  Bundesacte  ward  durch  ein  Regierungsaus- 
schreiben vom  5.  Mai  1815  bekannt  gemacht,  dass  der  Sou- 
verain  beschlossen  habe,  ungeachtet  der  veränderten 
Zeitumstände,  den  Titel  eines  Kurfürsten  beizubehalten, 
welcher  durch  sein  Alter  eben  so  sehr,  als  durch  die  da* 
von  abhängende  hohe  Würde  ausgezeichnet  sei.  Nach  Ab- 
Schliessung  des  deutschen  Bundesvertrages  bediente  sich 
derselbe  in  Gemässheit  eines  Auszugs  eines  auswärtigen 
Protocolls  vom  11.  Juli  1815  des  Titels:  Kurfürst  und  sou- 
verainer  Landgraf  zu  Hessen,  Fürst  zu  Hersfeld  etc.  Nach 
der  Erwerbung  des  Grossherzogthums  Fulda  nahm  Wilhelm  I. 
den  Titel  an:  Kurfürst  und  souverainer  Landgraf  von  Hessen, 
Grossherzog  von  Fulda,  Fürst  zu  Hersfeld  etc.  Diesen  Titel 
gebrauchte  auch  Wilhelm  IL  in  der  kurfürstlichen  Verkündi- 
gung vom  27.  Februar  1821,  seinen  Regierungsantritt  be- 
treffend. Die  durch  die  Verfassungsurkunde  vorgenommene 
Aenderung  besteht  also  darin,  dass  die  Bezeichnung  eines 
Landgrafen  von  Hessen  weggefallen,  dagegen  die  in  dem 
bisherigen  und  mehr  noch  in  dem  bei  dem  Verfassungsent- 
wurfe III  und  IV  gebrauchten  Titel  als  etwas  Personelles 
betrachtete  Würde  des  Kurfürsten  auf  das  Land  über- 
tragen ist,  ohne  dass  die  eines  Grossherzogs,  wie  es  d«r 
Vorschlag  der  Stände  war,  neben  Fulda,  auch  auf  Hessen 

9* 


124  Die  Landesi^erfassung  in  Kurhessen, 

angewendet  wurde;  so  wie  darin,  dass  das  von  der  Souve- 
rainitöt  entlehnte  Beiwort  ausgelassen  wurde.  Da  die  Ver- 
fassungsurkunde durchaus  nicht  auf  die  Verhältnisse  des 
Fürsten  und  des  Staates  zu  auswärtigen  Mächten  sich  be- 
zieht, sondern  lediglich  bestimmt  war,  die  inneren  Ange- 
legenheiten des  Landes  zu  ordnen,  so  kann  jener  Auslassung 
nur  die  Bedeutung  beigelegt  werden,  dass,  wegen  der  in 
der  Einleitung  der  Verfassungsurkunde  erwähnten  landstän- 
dischen Mitwirkung  zu  den  inneren  Staatsangelegenheiten, 
für  die  Benennung  des  Fürsten,  den  Staatsbürgern  gegen- 
über, der. Ausdruck  eines  Souverains  nicht  mehr  passend 
gehalten  wurde,  ohne  dass  die  Unabhängigkeit  des  Fürsten 
und  des  Staates  gegenüber  andern  Mächten  irgend  dadurch 
habe  alterirt  werden  sollen. 

Durch  den  ersten  Artikel  der  Verfassungsurkunde  wird 
die  Untheilbarkeit  und  Unveräusserlichkeit  des  Staatsgebietes, 
die  Eigenschaft  desselben  als  Bestandtheil  des  deutschen  Bun- 
des, die  Vereinigung  aller  Landestheile  unter  einer  Verfas- 
sung und  die  Bedingung  einer  Vertauschung  ausgesprochen. 

Der  Constitutionsentv^urf  von  1816  zählte  im  Capitel  2. 
§.  1.  auf,  was  „das  Kurfürstenthum  Hessen  in  seinem  gegen- 
wärtigen Umfange  begreift"  und  nennt  dabei  zuerst  unter 
Litt,  a,  die  Landgrafschaft  Hessen,  worauf  dann  die  übrigen 
Bestandtheile  unter  den  Buchstaben  b  bis  Ä,  wie  in  der  Ver- 
fassungsurkunde, folgen,  jedoch  ohne  das  damals  noch  nicht 
erworbene  Fürstenthum  Isenburg.  Im  §.  2.  heisst  es  weiter 
„diese  Länder,  desgleichen  auch  die  in  der  Folge  hinzukom- 
menden, bilden  ein  uhtheilbares  unveräusserliches  Ganzes." 
Die  Stände  hatten  damals  gegen  diese  Fassungen  nichts  ein- 
zuwenden. 

Ein  vom  4ten  März  1817  datirtes  Haus-  und  Staatsge- 
setz drückt  sich, im  §.  1  aus:  „ sämmtliche  kurhessische  Pro- 
vinzen, namentlich  Nieder-  und  Oberhessen,  das  Grossher- 
zogthum  Fulda,  die  Fürstenthümer  Hersfeld,  Hanau,  Fritzlar, 
der  uns  in  Ansehung  der  Souverainität  zugefallene  Antheü 
des  Fürstenthums  Isenburg,  die  Grafschaften  Ziegenhain  und 
Schaumburg  nebst  der  Herrschaft  Schmalkalden,    sowie  AI- 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  125 

les,  was  etwa  noch  in  der  Folge  mit  Kurhessen  verbunden 
werden  wird,  bilden  für  immer  ein  untheilbares  und  unver- 
äusserliches Ganzes/*  Hier  also  kehrt  der  Ausdruck  der 
Landgrafschaft  Hessen  nicht  wieder,  sondern- ist  in  die 
Benennung  Nieder-  und  Oberhessen  verwandelt.  Die 
Mediatisirung  des  Fürstenthums  Isenburg,  welches  seit  Auf- 
lösung des  deutschen  Reiches  bis  zur  Vereinigung  mit  Hes« 
sen  die  Souverainität  genossen  hatte,  ist  als  die  Ursache  der 
Weise  zu  betrachten,  in  welcher  seiner  erwähnt  wird.  In 
der  Proposition  vom  7  ten  October  1830  ist  auf  dieses  Ver- 
hällniss  nicht  mehr  Rücksicht  genommen,  vielmehr  lautet  die 
betreffende  Stelle:  „Die  Fürstenthümer  Hersfeld,  Hanau, 
Fritzlar  und  Isenburg.**  Sonst  stimmt  der  §.  1  jener  Propo- 
sition genau  mit  dem  Haus-  und  Staatsgesetze  überein,  aus- 
ser dass  die  irp  letzteren  vorkommende  Benennung  „Pro- 
vinzen** mit  dem  Ausdruck  „Lande**  vertauscht  ist.  Die 
Unveräusserlichkeit  des  Staatsgebiets  ist  hierdurch  keines- 
wegs neu  eingeführt,  indem  das  Verbot  der  Veräusserungen 
schon  seit  Jahrhunderten,  namentlich  seit  dem  Brüderver- 
gleiche von  1568  und  seit  dem  Testamente  des  Landgrafen 
Wilhelm  IV.  vom  26sten  März  1576  bestanden  hatte.  Auch 
die  Untheilbarkeit  des  Landes  war  schon  seit  Einführung 
der  Primogenitur  unter  Landgraf  Moritz  im  Anfange  des 
17  ten  Jahrhunderts  in  Hessen  grundgesetzlich  geworden 
(Verh.  d.  Landt.  von  1834  Anl.  360).  Beides  ist  auch  im- 
mer in  der  Ausdehnung  auf  künftige  Erwerbungen  verstan- 
den worden,  wie  es  in  dem  Haus-  und  Staatsgesetze  vom 
4  ten  März  1817  ebenfalls  angeführt  ist. 

Die  Untheilbarkeit  und  Unveräusserlichkeit  des  Staats- 
gebiets wird  gleicherweise  vorgeschrieben  in  der  badischen 
Verfassungsurkunde  §.  3  und  in  der  Braunschw.  LandschaftSr 
Ordnung  §.  1.  In  dem  sachsen-altenburgischen  Grundgesetz 
findet  sich  nur  das  Veräusserungsverbot.  Die  Verfassungs- 
urkunde für  das  Königreich  Sachsen  dehnt  dies  auf  die 
Rechte  der  Krone  aus,  was  jedoch  auch  in  der  kurhessischen 
liegt,  zumal  noch  besonders  darin  (§.  142)  die  Veräus- 
se^rung  des  Staatsvermögens  verboten  ist.    Das  Sachsen- wei- 


126  Die  Landesverfassung  in  Kurhessen. 

marsche  Grundgesetz  §.  2  verbietet  nur  die  Abtrennung 
eines  staatsrechtlichen  Gebiets  von  dfer  Staatserbfolge  zu 
Gunsten  eines  Allodialerben  unter  dem  Verwände  der  AUo- 
dialqualität,  was  die  wohlthätige  Folge  haben  muss,  dass 
Streitigkeiten  zwischen  den  Ständen  und  einzelnen  Gliedern 
des  Regentenhauses  über  den  Heimfall  von  GUterstUcken 
vermieden  werden.  Nach  der  würtembergischen  Verfassungs- 
urkunde §.  2  soll  als  ein  neuer  in  die  Gemeinschaft  der 
Verfassung  des  Staates  aufzunehmender  Landeszuwachs  Al- 
les angesehen  werden,  was  der  König  nicht  blos  fUr  seine 
Person,  sondern  durch  Anwendung  der  Staatskräfte  oder 
mit  der  ausdrücklichen  Bestimmung,  dass  es  einen'  Bestand- 
theil  des  Königreichs  ausmachen  soll,  erwirbt.  Weiter  geht 
die  baiersche  Verfassungsurkunde  III.  §.  1 ,  indem  nach  der- 
selben auch  alle  neue  Erwerbungen  aus  Privattiteln 
an  tinbeweglichen  Gütern,  sie  mögen  in  der  Haupt-  oder 
Nebenlinie  geschehen,  wenn  der  erste  Erwerber  während 
seines  Lebens  nicht  darüber  verfügt  hat,  als  der  untheil- 
baren  und  unveräusserlichen  Gesammtmasse,  welche  das 
Königreich  bildet,  einverleibt  angesehen  werden.  Dies  ist 
auch  der  Grundsatz,  welchen  das  ältere  hessische  Staatsrecht 
kennt  und  welcher  seine  Begründung  in  dem  Brüderver- 
gleiche von  1568  findet.  Obwohl  die  kurhessische  Verfas- 
sungsurkunde darüber  schweigt,  kann  man  doch  nicht  an- 
nehmen, dass  dadurch  jener  ältere  Grundsatz  aufgehoben 
sei,  wenn  man  auch,  bestände  er  nicht,  eine  Einführung  des- 
selben durch  die  Verfassungsurkunde  nicht  würde  annehmen 
können. 

In  dem  Verfassungsentwurfe  II.  war  vor  das  Wort  Gan- 
zes noch  hinzugesetzt:  „durch  eine  Verfassuiig  vereinigtes^^ 
was  auch  die  Genehmigung  der  Ständeversammlung  erhielt 
und  so  in  den  Verfassungsentwurf  IIL  übergegangen  ist,  je- 
doch in  dem  vom  Staatsministerium  aufgestellten  Verfassungs* 
efttwurf  IV.  die  Redaction  erhielt:  „in  einer  Verfassung 
vereidigtes^^  wobei  es  geblieben  ist. 

Beide  Passungen  können  nur  die  Bedeutung  haben,  dass, 
wie    sich   Gap.  2  $.  3   des  Constitutionsentwurfs  von  1816 


Die  LandesPerfiuiung  in  Kmhe$$en.  127 

ausdrückte,  eine  sätnmtliohe  Provinzen  umfassende  landsUhi- 
dische  Verfassung  dadurch  eingefiihrt  werde  und  demnach 
die  Repräsentationen  einzelner  Provinzen  durch  besondere 
Landslände  von  selbst  aufhören.  Dass  für  alle  LandestheHe 
die  nämliche  Verfassung  bestehen  solle,  hat  noch  besonders 
durch  die  schon  in  dem  Verfassungsentwurf  II.  vorkommende 
Sperrung  des  Wortes:  „einer"  hervorgehoben  werden  sol- 
len. Es  ist  dies  um  so  erheblicher,  als  jenes  Wort  das  ein- 
zige im  ersten  Abschnitte*)  der  Verfassungsurkunde  ist,  für 
welches  durch  den  Verfassungsentwurf  li.  eine  Sperrung 
vorgeschlagen  wurde,  während  alle  übrigen  in  der  Verfas- 
sungsurkunde §.  1  bis  8  gesperrt  gedruckten  Worte,  diese 
Auszeichnung,  ohne  dass  solche  auf  einem  Beschlüsse  be- 
ruhte, nur  durch  den  Vermittlungsausschuss  erhalten  haben, 
der  mit  der  Redaction  der  Verfassungsurkunde  d.  h.  des 
Verfassungsentwurfs  III.  beauftragt  wurde,  welcher  letztere 
hinsichtlich  der  in  den  $.  1  bis  8  vorkommenden  Sperrun- 
gen mit  der  Verfassungsurkunde  übereinstimmt.  Man  kann 
daher  nur  annehmen,  dass  jener  Ausschuss  durch  diese 
Sperrungen  den  Inhalt  eines  jeden  Artikels  habe  augenfällig 
machen  wollen,  da  es  nicht  in  seiner  Befugniss  stand,  ein- 
zelnen Worten  durch  die  Sperrung  eine  nicht  beschlossene 
besondere  Bedeutung  zu  geben.  Will  man  der  Verschie- 
denheit, welche  hinsichtlich  der  Redaction  zwischen  dem 
Verfassungsentwurfe  111.  und  IV.  besteht,  einen  besonderen 
Sinn  unterlegen,  so  vermag  dies  wohl  nur  der  zu  sein,  dass 
die  einzelnen  Gebietstheile  nicht  erst  durch  die  Verfassung 
vereinigt  seien,  da  sie  schon  vorher  in  einer  gewissen  Ver- 
bindung standen,  auch  vielleicht  nicht  in  jedem  Betracht 
völlig  eins  geworden,  sondern  nur  in  einer  Verfassung 
d.  h.  rücksichtlich  der  Gleichheit  politischer  Rechte,  was  im- 
mer- noch  Abweichungen  in  den  sonstigen  Verhältnissen  des 
einen  oder  des  andern  Gebietstheiles  von  denen  der  Ge- 
sammtheit   zulässt,    selbst   in  Ansehung  der  Gesetzgebung, 


*)  Ueberscbrieben:    Von  dem  Staatsgebiete,  der  Regierungs- 
form, Regierungsfolge  und  Regentschaft,  und  die  §•  1  —  9  umfassend. 


128  Die  Landewerfasiung  in  Kurhessen. 

obwohl  schon  1816  die  Curie  des  Bauernstandes  die  Be- 
stimmung verlangte,  dass  alle  Gebietstheile  nach  gleichen 
Gesetzen  regiert  werden  sollten.  Am  angemessensten  möchte 
wohl,  um  dieses,  auszudrücken,  die  in  der  Yerfassungsur- 
künde  für  das  Königreich  Sachsen  §.  1  gewählte  Fassung 
sein,  wonach  das  Königreich  ein  unter  Eine  Verfassung  ver- 
einigter Staat  ist.  Uebrigens  ist  das  Nämliche  in  den  ver- 
schiedenartigsten Wendungen  wiedergegeben  in  dem  sachsen- 
weimarschen  Grundgesetz  §.  1,  in  der  bayerschen  Ver- 
fassungsurkunde I.  §.  1,  in  der  würtembergischen  $.  1, 
in  der  für  das  Grossherzogthum  Hessen  §.  3  und  in  der 
braunschweigischen  $.  1;  so  wie  in  dem  sachsen-meiningi- 
sehen  Grundgesetz  $.  1,  welches  ganz  zweckmässig  sich 
dahin  ausdrückt,  dass  das  Herzogthum  ein  staatsrecht- 
liches Ganze  bilde,  während  das  sachsen-altenburgische  $.  1 
diesen  Ausdruck  mit  einer  Tautologie  adoptirt  hat,  indem 
es  die  Wendung  gebraucht:  ein  staatsrechtliches  zur  Theil- 
nahme  an  einer  und  derselben  Verfassung  vereinigtes  Gan- 
zes. Als  eine  Folge  der  Vereinigung  sämmtlicher  kurhessi- 
scher Gebietstheile  zu  einem  Ganzen  ist  übrigens  die  Theil- 
nahme  derselben  an  den  althessischen  Activen  betrachtet 
worden,  was  namentlich  hervorgehoben  wurde,  als  die  zu 
dem  einmaligen  kurmainzischen  Oberamte  Amöneburg  gehö- 
rigen Gemeinden  um  Erstattung  der  von  denselben  seit 
1814  bezahlten  Landesschuldensteuer  bei  der  Ständeversamm- 
lung aus  dem  Grunde  baten,  weil  die  Schulden  von  ihnen 
nicht  hergerührt  hätten  (Verh.  d.  Landt.  v.  1831  pag.  961). 

Der  von  dem  Staatsministerium  ausgegangene  Verfas- 
sungsentwurf IV  enthält  zuerst  hinter  dem  Worte  „Ganzes" 
den  Zusatz  „und  einen  Bestandtheil  des  deutschen  Bundes," 
wogegen  ständischer  Seits  nichts  erinnert  worden  ist.  Auf^ 
fallend  ist  es,  weshalb  diese  Worte  sich  nicht  schon  in^  der 
Proposition  vom  7ten  October  1830  finden,  da  sie  wenig- 
stens nicht  durch  die  Emeiidation  hervorgerufen  sein  kön- 
nen, welche  J.  1  der  letzteren  bei  der  ersten  Berathung 
der  Stände  erhielt. 

Die    Verfassungsurkunde    für    das    Königreich  Sachsen 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen,  129 

$.  1  ist  die  einzige,  welche  gleich  der  kurhessischen,  die 
Thatsache  aufführt,  dass  das  Reich  ein  Staat  des  deut- 
schen Bundes  ist.  Alle  übrigen  deutschen  Staatsgrundge- 
setze lassen  entweder  das  Verhältniss  zum  Bunde  ganz  un- 
berührt, oder  sie  erwähnen  es  mit  den  nämlichen  Worten 
wie  das  kurhessische,  stellen  aber  zugleich  die  Grundsätze 
auf,  .welche  sich  als  die  Folgen  desselben  ergeben  sollen. 
So  erklärt  die  badische  Verfassungsurkunde  $.  2,  dass  alle 
organischen  Beschlüsse  der  Bundesversammlung,  welche  die 
.  verfassungsmässigen  Verhältnisse  Deutschlands  oder  die  Ver- 
hältnisse deutscher  Staatsbürger  im  Allgemeinen  betreffen, 
einen  Theil  des  badischen  Staatsrechts  ausmachen  und  für 
alle  Glassen  von  Landesangehörigen  verbindlich  werden, 
nachdem  sie  von  dem  Slaatsoberhaupte  verkündet  worden 
sind.  Dasselbe  enthält  die  würlembergische  %.  3  mit  dem 
Zusätze,  dass  in  Ansehung  der  Mittel  zur  Erfüllung  der  hier- 
durch begründeten  Verbindlichkeiten  die  verfassungsmässige 
Mitwirkung  der  Stände  eintritt;  desgleichen  die  Verfassungs- 
urkunde für  das  Grossherzogthum  Hessen  $.  2,  sowie  die 
sachsen-coburg-saalfeldische  $.  2.  und  die  sachsen-altenbur- 
^ische  $.  12.  Letztere  nennt  $.  11.  nicht  das  Land  einen 
Bestandth^il  des  deutschen  Bundes,  sondern  den  Herzog 
ein  Mitglied  desselben,  was  sie  mit  der  braunschweig. 
Landschaftsordnung  $.11  gemein  hat,  und  erkennt  an,  dass 
der  Herzog  nach  den  Bundesgesetzen  Rechte  und  Pflichten 
habe,  woran  durch  die  innere  Liandesgesetzgebung  nichts 
geändert  werden  könne.  Genereller  als  die  schon  erwähn- 
ten Staatsgrundgesetze  ist  die  braunschweig.  Landschafts- 
ordnung §.  12  gehalten,  wenn  sie  erklärt,  allgemeine  An- 
ordnungen und  Beschlüsse  des  deutschen  Bundes  sollten 
dadurch  Gesetzeskraft  für  das  Herzogthum  erhalten,  dass  sie 
von  dem  Landesfürsten  verkündigt  werden;  wozu  denn  noch 
die  weitere  Bestimmung  $.  7  kommt,  dass  der  Landesfürst 
den^  Staat  in  allen  Verhältnissen  zum  deutschen  Bunde  ver- 
tritt, die  auch  wohl  in  der  würtembergischen  Verfassungs- 
urkunde §.  85  entdeckt  werden  könnte. 

Alle  diese  aus  der  Eigenschaft  der  Staaten  als  Bestand- 


130  Die  Landesterfassung  in  Kurhessen. 

theile  des  deutschen  Bundes  oder  aus  der  Eigenschaft  der 
Fürsten  als  dessen  Mitglieder  abgeleiteten  Folgerungen  kön- 
nen in  Kurhessen  nicht  eintreten,  weil  dieselben  in  der  * 
kurhessischen  Verfassungsurkunde  weder  positiv  vorgeschrie- 
ben sind,  noch  sich  aus  jener  Eigenschaft  als  etwas  Noth- 
wendiges  ableiten  lassen,  da  ein  Staat  recht  gut  der  Be- 
standtheil  des  deutschen  Bundes  sein  kann,  ohne  dass  die 
Beschlüsse  der  Bundesversammlung  durch  die  Verkündigung 
von  Seiten  des  Landesfürsten  sofort  für  die  Staatsbürger 
verbindliche  Kraft  erlangen  müssen.  Inzwischen  ist  eben- 
sowenig anzunehmen )  dass  die  Eigenschaft  Kurhessens  als 
Bestandtheil  des  deutschen  Bundes  in  der  kurhessischen 
Verfassungsurkunde  blos  habe  wie  eine  Thatsache  ohne  * 
alle  rechtlichen  Folgen  erzählt  werden  sollen.  Vielmehr  lei- 
tet die  Anführung  derselben  zu  einer  zweifachen  Folge.  Es 
ist  üämlich  dadurch  als  ein  verfassungsmässiger  Grundsatz 
ausgesprochen,  dass  Kurhessen  einen  Bestandtheil  des  deut- 
schen Bundes  bilden  soll;  dasselbe  darf  also  aus  diesem 
Verhältnisse  nicht  heraustreten,  so  lange  nicht  die  Verfas- 
sungsurkunde in  jener  Beziehung  geändert  wird.  Hierdurch 
unterscheidet  sich  die  kurhessische  Verfassungsurkunde  von 
denjenigen  Staatsgrundgesetzen,  welche  den  deutschen  Bund 
gar  nicht  erwähnen,  indem  die  Staaten,  in  denen  dies  der 
Fall  ist,  wenigstens  nicht  durch  ihre  Verfassungsurkunde 
gehindert  sind,  die  Verbindung  aufzugeben,  in  welche  sie 
zum  deutschen  Bunde  getreten  sind.  Sodann  ist  nicht  zu 
bestreiten,  dass  Kurhessen  die  Rechte  zu  üben  und  die 
Pflichten  zu  erftillen  hat,  welche  aus  seiner  Eigenschaft  als 
Bundesstaat  entspringen,  oder  —  wie  sich  das  hannoversche 
Grundgesetz  von  1833  §.  2  ausdrückt  —  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Glied  des  deutschen  Bundes  alle  aus  diesem  her- 
fliessenden  Rechte  und  Verpflichtungen  thellt;  worunter  na- 
türlich, wie  auch  in  der  Ständeversammlung  geäussert  wurde 
(V.  d.  L.  v,  1832  p.  2373.),  nur  solche  Rechte  und  Michtefi 
verstanden  sein  können,  welche  zur  Zeit,  wo  die  Verfessungs- 
urkunde  Kurhessens  verkündigt  wurde,  aus  den  damals  be- 
stehenden Bundesgesetzen  abgeleitet  werden  konnten,  weil 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  181 

eine  durch  eine  spätere  Bundesgesetssgebung  oder  eine  spS^ 
tere  Auslegung  der  früheren  eintretende  Erweiterung  der 
Rechte  und  Pflichten  einzelner  Staaten  den  ganzen  Bundes- 
zweck verändert  oder  erweitert  und  dadurch  gewisser- 
maassen  einen  neuen  Bund  gebildet  haben  würde,  dessen 
in  der  Yerfassungsurkunde  §.  1  nicht  gedacht  war  (Gass.  ailg. 
Zeit.  Beibl.  53.  p.  4).  Es  ist  vollkommen  richtig,  was  der 
Landtagscommissar  bei  Berathung  über  das  Pressgesetz  in 
der  Ständeversammlung  erklärte  (V.  d.  L.  v.  1833.  Nr.  48, 
p.  35X  dass  diejenigen,  welche  darauf  dass  die  Staatsregie- 
rung ihren  Bundespflichten  genügen  will  den  Vorwurf  der 
Verfassungswidrigkeit  gegen  sie  gründen  wollen,  sich  von 
dem  Boden  der  Verfassung  entfernen,  welche  im  §.  1  das 
Bundesverhältniss  des  kurhessischen  Staats  ausdrücklich  an- 
erkenne. Aber  die  Ausübung  der  Rechte  und  die  Erfül- 
lung der  Pflichten,  die  sich  hieraus  ableiten  lassen,  muss 
auf  die  nämliche  Weise  geschehn,  wie  überhaupt  Rechte  des 
Staates  ausgeübt  und  Pflichten  desselben  erfüllt  werden,  da 
eine  Ausnahme  zu  Gunsten  der  bundesmässigen  Rechte  und 
Verbindlichkeiten  nicht,  wie  es  in  andern  Verfassungsurkun- 
den  der  Fall  ist,  gemacht  wurde;  auch  da  nicht  vorgeschrie- 
ben ist,  dass  alle  oder  gewisse  Buudesbeschlüsse  durch  ihre 
Verkündigung  von  Seiten  des  Landesherrn  alsbald  verbind- 
liche Kraft  für  die  Staatsbürger  erlaogen  sollen,  noch  auch 
bestimmt,  dass  wie  in  dem  hannoverschen  Grundgesetz  $.  7 
und  in  der  braunschweig.  Landschaftsordnung  $.  7  geschah, 
der  Regent  den  Staat  in  allen  Beziehungen  zum  deutschen 
Bunde  vertrete.  Der  Staatsregierung  allein  steht  nach  der 
kurhessischen  Verfassungsurkunde  §.  95.  die  Handhabung 
und  Vollziehung  der  bestehenden  Gesetze  zu.  Dieselbe  kann 
daher  auch  allein  bei  der  Bundesversammlung  für  eine  Maass- 
regel stimmen,  in  deren  Ausübung  nur  eine  Handhabung 
oder  Vollziehung  der  bestehenden  Gesetze  Kurhessens  zu 
erkennen  sein  würde.  Sie  hat  aber  die  Zustimmung  der 
Ständeversammlung  einzuholen,  wenn  sie  bei  dem  Bundes- 
tage für  eine  Maassregel  stimmen  will,  welche  die  Freiheit 
der  Person  und  des  Eigenthums  beschränken  würde,   weil 


132  Die  Landest^erfassung  in  Kurhessen. 

dies  nach  der  Verfassungsurkunde  $.31  nur  durch  Gesetze 
geschehen  kann,  solche  aber  nach  $.  95  nicht  ohne  Einwil- 
ligung der  Landstände  erlassen  werden  können.    Hiernach 
hat  auch  die  Staatsregierung  verfahren,  als  der  Vorstand  im 
Ministerium  des  Innern  der  Stande  Versammlung,  um  die  An- 
sicht derselben  zu  vernehmen,   den   Entwurf  eines   Feld- 
Verpflegungsreglements  für  die  deutsche  Bundesarmee  vor- 
legte, da  es  sich  in  dieser  Angelegenheit  von  Leistungen  der 
Unterthanen   und  Gemeinden   und   zwar   von   bedeutenden 
unentgeltlichen  Leistungen  handele,  wobei  er  bemerkte,  dass 
ausserdem  darin  nur  wenige  Punkte  vorkämen,  welche  ein 
durch  die  Stäudeversammlung   wahrzunehmendes  Interesse 
beträfen  (V.  d.  L.  v.  1832.  p.  1551.  cfr.    V.    d.   L.    v.    1833. 
Beil.  GX.  p.  6.  Nr.  4.    V.  d.  L.  v.  Juli  und  März  1833  Beil. 
L  A.  p.  4.  Sp.  2.  Nr.  3.  p.  27.  S.  2.  Nr.  43.).  —     Ein  hier- 
von abweichendes  Verfahren  kann  nicht  darin  erblickt  wer- 
den, dass  der  Beschluss  der  Bundesversammlung  vom  9ten 
Novbr.  1837  über  den  Nachdruck  ohne  Mitwirkung  der  Land- 
stände durch  Verordnung  vom  28.  Decbr.  1837  bekannt  ge- 
macht wur^ie,  weil  in  Eurhessen  schon  vorher  der  Bücher- 
nachdruck durch  ein  Landesgesetz  vom  16ten  Mai  1829  ver- 
boten war  und  ausdrücklich  mit  Beziehung  hierauf  jene  Be- 
kanntmachung erfolgte,    die   daher  lediglich  als  Erinnerung 
an  die  Befolgung  jenes  Gesetzes  oder  als   eine   Maassregel 
zur  Vollziehung  desselben  erscheint.    Den  letzteren  Gharak- 
ter  tragen   namentlich   auch    die  Ministerialausschreiben  an 
sich,  durch  welche  ein  nach  jenem  Gesetz  zulässiger,  ausser- 
gewöhnlicher  Schutz  gegen    den   Nachdruck  für  die  Werke 
von  Schiller,    Göthe,  Jean  Paul,  Friedrich  Richter,  Wieland 
und  Herder  ertheilt  wurde,   indem  darin,   wenn  auch  die 
Verleihung  dieses  Schutzes  auf  einer  am  Bundestage  getrof- 
fenen Vereinbarung  beruhte,  doch  nur  eine  vom  Landesherrn 
ausgehende  Beschützung  des  Eigenthums  enlhülten  ist,    bei 
welcher  die  Landslände  verfassungsmässig  nicht  mitzuwirken 
hatten,    deren    Zustimmung    nur    bei   ausschliesslichen 
Handels-  und  Gewerbs-Privilegien  oder  bei  Patenten 
erforderlich  ist,   die  auf  mehr  als  10  Jahre  für  Erfind un- 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  133 

gen  erfheill  werden  (cfr.  Yerfassungsurkunde  $.  36.).  An- 
ders möchte  es  sich  mit  dem  Beschluss  der  Bundesversamm- 
lung vom  22  Sien  April  1841  über  den  Schutz  musikalischer 
und  dramatischer  Werke  verhalten ,  der  jedoch  in  Kurhessen 
nicht  ^ur  Verkündigung  gekommen  ist. ' 

Willigen  die  Stände  nicht  in  eine  vom  Bundestage  beab- 
sichtigte Maassregel,  durch  welche  die  Freiheit  der  Person 
und  des  Eigenthums  beschränkt  werden  soll,  so  wird  dem 
Bundestagsgesändten  nicht  die  Instruction  ertheill  werden 
dürfen,  für  dieselbe  zu  stimmen,  die  Staatsregierung  vielmehr 
ve/'pflichtet  sein,  bei  dem  Bundestage  gegen  die  Maassregel 
zu  wirken,  und  der  betreffende  Minister,  welcher  eine  ent- 
gegengesetzte Instruction  ertheilte,  wird  dieserhalb  verant- 
wortlich werden.  Wird  aber  eine  Maas^regel,  gegen  welche, 
übereinstimmend  mit  der  Ansicht  der  Ständeversammlung, 
die  kurh^ssische  Staatsregierung  beim  Bundestage  stimmte, 
dessenungeachtet  von  der  Bundesversammlung  gebilligt,  be- 
trifft sie  also  einen  Gegenstand,  bei  welchem  nicht  Stimmen- 
einhelligkeit zur  Gültigkeit  eines  Beschlusses  erforderlich  ist, 
so  hört  dadurch  die  Verpflichtung  Kurhessens  zur  Befolgung 
der  Maassregel  nicht  auf,  vorausgesetzt  dass  überhaupt  der 
Bundestag  zur  Anordnung  derselben  befugt  war,  weil  in 
einem  solchen  Falle  der  einzelne  Bundesstaat  sich  der  Stim- 
menmehrheit fügen  mus».  Aber  es  mag  nun  mit  oder  ohne 
Zustimmung  Kurhessens  auf  eine  an  sich  gültige  Weise  eine 
Maassregel,  welche  die  Freiheit  der  Person  und  des  Eigen- 
thums beschränkt,  vom  Bundestage  beschlossen  sein,  so  muss 
sie,  ehe  sie  die  einzelnen  Staatsbürger  zu  verbinden  vermag, 
zu  einem  Landesgesetz  durch  Einholung  der  landständischen 
Zustimmung  erhoben  werden,  weil  nur  ein  solches,  nicht 
ein  Bundesbeschluss  an  sich,  Becbte  und  Pflichten  für  die 
Staatsbürger  nach  der  kurhessischen  Verfassungsurkunde  be- 
gründet. Nur  liegt,  dem  Bundesbeschluss  auf  solche  Weise 
eine  Wirksamkeit  zu  geben,  den  Landständen  die  nämliche 
Verpflichtung  ob,  welche  in  dieser  Beziehung  die  Staats- 
regierung haben  könnte,  da  beide  gleichmässig  die  Folgen 
anzuerkennen  haben,    welche  aus  der  verfassungsmässigen 


134  Die  LandeiterfasBung  in  KurhesMen. 

Vorschrift  entspringen,  dass  Kurhessen  einen  Besiandtheil 
des  deutschen  Bundes  bilden  soll.  Der  nämliche  Grundsatz 
ist  auch  in  der  Ständeversammiung  aufgestellt,  indem  da- 
selbst erklärt  wurde,  jede  Bestimmung  des  Bundestags,  welche 
in  Zukunft  erfolgen  würde,  müsse  zunächst  den  Landständen 
vorgelegt  werden,  um  sie  in  Bezug  auf  die  kurhessische  Ver- 
fassung zu  einem  Gesetz  zu  erheben,  indem  bekanntlich  die 
BundesbeschlUsse  als  solche  die  Völker  an  und  für  sich  nicht 
bänden,  sondern  erst  dann,  wenn  sie  von  den  Regierungen 
auf  verfassungsmässigem  Wege  zu  bindenden  Normen  er- 
hoben würden  (V.  d.  L  v.  1832.  p.  2370.  2370  *.)• 

Es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  nach  diesen  Grund- 
sätzen der  Beschluss  der  Bundesversammlung,  wonach  jedes 
Unternehmen  gegen  die  Existenz,  die  Integrität,  die  Sicher- 
heit oder  die  Verfassung  des  Bundes  in  den  einzelnen  Bundes- 
Staaten  ebenso,  wie  eine  gleiche  gegen  den  einzelnen  Bun- 
desstaat begangene  Handlung,  als  Hoch-  oder  Landes verrath 
beurtheilt  und  bestraft  werden  soll,  um  in  Kurhessen  die 
Eigenschaft  eines  Landeegesetzes  zu  erlangen,  im  Einver- 
ständnisse mit  den  Landständen  hätte  verkündigt  werden 
müssen,  während  derselbe  ohne  deren  Mitwirkung,  durch 
Verordnung  vom  5.  November  1836  mit  der  V^eisung  bekannt 
gemacht  worden  ist,  dass  danach  die  Gerichtsbehörden  und 
Alle,  die  es  angeht,  sich  zu  achten  haben.  Es  dürfte  dies 
mit  jenem  von  der  Bundesversammlung  in  ihrer  16.  Sitzung 
von  1836  gefassten  Beschlüsse  selbst  schwer  in  Einklang  zu 
bringen  sein,  da  derselbe  gerade  auf  der  Voraussetzung  be- 
ruht, dass  die  Verfassung  des  Bundes  ein  nothwendiger  Be- 
standtheil  der  in  den  einzelnen  Bundesstaaten  bestehenden 
Verfassungen  sei,  woraus  von  selbst  folgen  dürfte,  dass  auch 
die  durch  die  letzteren,  welche  also  selbst  die  Bundesver- 
fassung in  sich  schliessen  und  diese  für  einea  Theil  der 
Landesverfassung  erklären,  vorgeschriebenen  Formen  zur 
Anwendung  kommen  müssen,  wenn  es  sich  darum  handelt, 
einem  bundesverfassungsmässigen  Beschluss  der  Bundesver- 
sammlung gesetzliche  Wirksamkeit  in  einem  einzelnen  Bun- 
desstaate beizulegen.     Inwiefern  etwa  vorkommenden  Falls 


Die  Land€Sverfas$uHg  in  KurbeMaen»  135 

die  Gerichte  die  Yerordnuag  vom  5.  November  1886  ihren 
Aussprüchen  zu  Grunde  legen  können,  da  sie  durch  §.  123 
der  Yerfasjtungsurkunde  angewiesen  sind,  nach  den  bestehen- 
den Rechten  und  den  verfassungsmässigen  Gesetzen  zu  ent- 
scheiden, steht  dahin.  Jordan  hat  in  der  gegen  ihn  anhängig 
gemachten  Untersuchung  wegen  angeschuldigter  Theilnahme 
an  dem  Frankfurter  Attentat  vom  3.  April  1833  die  Frage  in 
Anregung  gebracht,  ob  auch  durch  einen  Angriff  gegen  die 
Existenz  oder  die  Integrität  des  deutschen  Bundes  ein  Hoch- 
verrath  begangen  werden  könne;  allein  der  Criminalsenat 
des  Obergerichts  zu  Marburg  hat  in  seinem  Urtheile  vom 
14.  Juli  1843  (p.  37.)  erklärt,  dass  es  auf  eine  Entscheidung 
dieser  Frage  deshalb  nicht  ankomme,  weil  jenes  Attentat  als 
eine  Unternehmung  anzusehn  sei,  welche  auf  den  Umsturz 
der  kurhessischen  Verfassungsurkunde  gerichtet  war,  daher 
hiasiohtlich  der  kurhessischen  Unterthanen  unzweifelhaft  un- 
ter den  Begriff  des  Hochverraths  falle. 

Da  die  Landstände  nach  der  Verfassungsurkunde  nur 
für  diejenigen  Ausgaben  die  nöUugen  Summen  aufzubringen 
haben,  deren  Nothwendigkeit  und  Nützlichkeit  denselben 
nachgewiesen  ist,  so  ist  auch  ihre  Einwilligung  dazu  einzu- 
holen, wenn  bei  dem  Bundestage  Seitens  Kurhessens  für 
eine  Maassregel  gestimmt  werden  soll,  mit  welcher  ein 
Kostenaufwand  für  das  Land  verknüpft  sein  würde,  indem 
ohne  eine  solche  Einwilligung  Kurhessen  gegen  eine  der- 
artige Maassregel  zu  stimmen  haben  würde.  Dieser  Grund* 
satz  ist  auch  nicht  blos  von  einem  landständischen  Aus- 
schüsse ausgesprochen,  indem  derselbe  nicht  daran  zweifelte, 
dass  von  Seiten  des  Ministeriums  der  auswärtigen  Angelegen 
heiten  vermöge  seiner  verfassungsmässigen  Verantwortlichkeit 
der  kufhessische  Bundestagsgesandte  nicht  werde  instruirt 
und  ermächtigt  werden,  zu  einer  Erweiterung  der  bundes- 
gesetzlichen Verpflichtungen  in  Beziehung  auf  die  Unterhalt 
tung  eines  Truppencontingents  mitzuwirken  ohne  vor- 
gängige laudständische  Zustimmung  (V.  d.  L.  v.  1832  Beil. 
LXXUL);  sondern  auch  von  der  Staatsregierung  bethätigt 
worden.    Ais  nämlich  beim  Bundestage  die  Befriedigung  der 


136  Die  Landesverfassung  in  Kurhessen, 

Personen  zur  Sprache  gekommen  war,  welchen  Forderungen 
an  die  ehemalige  Reicbsoperationscasse  zustanden  und  die 
einzelnen  Bundestagsgesandtschaften  aufgefordert  wurden 
zu  erklären,  ob  ihre  Regierungen  bereit  seien,  jene  Forde- 
rungen, zu  deren  Berichtigung  dem  Bunde  keine  rechtliche 
Verbindlichkeit  obliege,  aus  Billigkeit  nach  dem  Matricular- 
fusse  zu  übernehmen,  wurde  von  der  kurhessischen  Staats- 
regierung der  Ständeversammlung  eröffnet,  dieselbe  beab- 
sichtige, die  von  ihr  über  die  noch  unbefriedigten  Forde- 
rungen an  die  ehemalige  Reicbsoperationscasse  dem  deutschen 
Bundestage  abzugebende  Erklärung  dahin  richten  zu  lassen, 
dass  Kurhessen  bereit  sei,  seinen  nach  Verhältniss  der  Bun- 
desmatrikel zu  bestimmenden  Beitrag  zur  Befriedigung  dieser 
Forderungen  zu  leisten  und  in  drei  nach  einander  folgenden 
Jahren  jährlich  mit  einem  Drittheile  zahlen  zu  lassen^  mit 
dem  Ersuchen,  dass  die  Stände  darüber  ihre  Meinung  äussern 
möchten  (V.  d.  L.  v.  1831.  p.  720.).  Nachdem  beim  Bundes- 
tage die  rückständigen  Abstimmungen  in  Erinnerung  gebracht 
waren,  w^urde  die  Ständeversammlung  von  dem  Ministerium 
der  auswärtigen  Angelegenheiten  angegangen,  baldigst  über 
die  ihr  hinsichtlich  dieser  Forderungen  gemachte  Eröffnung 
einen  Beschluss  zu  fassen,  ohne  welchen  also  die  Staats- 
regierung sich  nicht  ermächtigt  hielt,  bei  dem  Bundestage 
eine  Abstimmung  abzugeben.  Das  Ministerium  der  auswärti- 
gen Angelegenheiten  ,  wiederholte  seine  Erinnerung  wegen 
baldigster  Fassung  eines  Beschlusses  in  dieser  Angelegenheit 
nach  zweifachen  weiteren  Mahnungen  Seitens  des  Bundes- 
tags. Darauf  erfolgte  der  der  Staatsregierung  eröffnete  Be- 
schluss der  Ständeversammlung  vom  22.  März  1832  (V.  d.  L. 
V.  1832  p.  1657.),  dass  man  die  Leistung  des  matricular- 
mässigen  Beitrags  Kurhessens  zur  Befriedigung  der  Gläubiger 
der  ehemaligen  Reicbsoperationscasse  nur  unter  Voraus- 
Setzung  der  vorgängigen  vollständigen  Erstattung  der  von 
Kurhessen  im  Jahre  1831  auf  Requisition  des  Bundes  aufge- 
wandten Kosten  der  Mobilmachung  eines  Theiles  des  Con- 
tingentes  genehmigen  könne  (ibid.  p.  1660.),  ohne  dass  der 
Landtagscommissar  dagegen  irgend  etwas  eingewendet  hätte, 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  187 

während  der  Ausschuss  den  weiteren  Antrag,  die  Staats- 
regierung darauf  aufmerksam  zu  machen,  ob  nicht  Beiträge 
zu  den  gewöhnlichen  Bundeskosten  bis  auf  erfolgte  Erstat- 
tung }ener  Mobilmachungsgelder  auszusetzen  seien,  zurück- 
nahm als  der  Landtagscommissar  dies  bedenklich  hielt 
und  ein  Ständemitglied  (Jordan)  die  Aussetzung  jener  Lei- 
stungen tür  unthuhlich  erklärte  (ibid.  No.  1657.). 

Wird  nun,  nachdem  sich  die  kurhessische  Staatsregierung 
mit  den  Ständen  benommen  hat,  eine  die  Belastung  des  Lan- 
des  mit  Ausgaben  zur  Folge  habende  Maassregel  vom  Bundes- 
tage beschlossen,  so  muss  dann  von  der  Staatsregierung  den 
Ständen  der  Antrag  gemacht  werden,  die  zu  deren  Aus- 
führung nöthigen  Kosten  zu  bewilligen.  Von  dieser  Ansicht 
hat  die  Staatsregierung  sich  ebenfalls  leiten  lassen.  Denn 
als  vom  Bundestage  beschlossen  war,  dass,  um  die  Ruhe 
und  Autorität  des  Königs  der  Niederlande  im  Grossherzog- 
thum  Luxemburg  wieder  herzustellen,  ein  Truppencorps,  zu 
welchem  auch  ein  Theil  des  hessischen  Contingents  gehören 
sollte,  schlagfertig  aufzustellen  sei,  dessen  Kosten  dem  Könige 
der  Niederlande  zur  Last  fallen  würden,  wofür  das  Land  den 
betreffenden  Bundesgliedern  Gewähr  leiste  (V.  d.  L.  v.  1833 
No.  41.  p.  6*),  trug  die  Staatsregierung  bei  der  Ständever- 
sammlung darauf  an,  zu  den  Mobilmachungskosten  für  das 
zum  Marschieren  bestimmte  Contingent  und  zur  Unterhaltung 
desselben  einen  Credit,  unter  Beistimmung  zu  der  ausser- 
ordentlichen Beschaffung  des  nöthigen  Fonds,  zu  bewilligen. 
Als  nun  der  landständische  Ausschuss  vorschlug,  der  Staats- 
regierung den  Consens  zu  einer  Anleihe  im  Allgemeinen  zu 
ertheilen,  um  damit  den  ausserordentlichen  Staatsbedarf  zu 
decken,  äusserte  der  Landtagscommissar:  der  Unterschied 
zwischen  Credit  und  Anlehn  dürfe  nicht  übersehn  wer- 
den; der  Credit  ermächtige  die  Staatsregierung  eine  Ausgabe 
bis  zu  einer  gewissen  Summe  eintreten  zu  lassen;  das  An- 
lehn sei  bei  der  Ermanglung  von  Zahlungsmitteln  die  letzte 
Ressource.  Wenn  von  Ausgaben  die  Rede  sei,  welche  auf 
Rechtsgründen,  auf  früheren  gesetzlichen  Bestimmungen  u.  dgL 
beruhten,  so  bedürfe  die  Staatsregierung  keines  Credits;  denn 

Allg,  ZntMclitlh  r.  Offsebwlite.  T.  1846.  JQ 


188  Die  Landesverfoisimg  in  Kurhesten. 

was  schon  an  sich  in  ihrer  Befugniss  liege,  daru  habe  sie 
keine  Ermächtigung  nölhig.  Er  fügte  dann  hinzu,  dass  durch 
Bewilh'gung  eines  Gredits  zu  Beschaffung  der  durch  die  Mo- 
bilmachung und  Unterhaltung  des  Gontingents  nothwendigen 
Ausgaben  die  Stände  auf  alle  nachherigen  Einreden  gegen 
diese  Ausgaben  verzichteten,  dagegen  bei  Bewilligung  eines 
Anlehns  nichts  riskiren  würden;  dass  aber  das  betreffende 
Ministerium  sich  hinsichtlich  jener  ausserordentlichen  Aus- 
gaben mit  einer  Anlehnsverwilligung  nicht  begnügen  könne, 
indem  sich  dasselbe,  insofern  demnächst  die  Stände  die  da- 
von bestrittenen  Ausgaben  nicht  genehmigen  sollten,  einer 
Verantwortlichkeit  aussetze;  dass  ihm  daher,  um  hiergegen 
gesichert  zu  sein,  die  Ausgaben  näher  bezeichnet  werden 
müssten,  zu  weichen  das  Anlehn  bestimmt  werden  solle 
(V.  d.  L.  V.  1831.  p.  106.).  Es  liegt  jedoch,  sogar  bei  einer 
gegen  die  Meinung  Kurhessens  vom  Bundestage  beschlossenen 
Maassrege],  wenn  die  Sache  von  solcher  Beschaffenheit  ist, 
dass  ungeachtet  des  Widerspruchs  von  Seiten  Kurhessens, 
also  durch  Stimmenmehrheit  dieselbe  gültig  beschlossen  wer- 
den kann,  den  Ständen  die  Verpflichtung  ob,  die  zu  deren 
Ausführung  nöthigen  Suromen  aufzubringen,  well  die  Noffa- 
wendigkeit  der  Ausgabe  durch  den  Bundesbeschluss  »eVsat 
nachgewiesen  wird.  Denn  wenn  auch  die  Stände  die  Aus- 
gäbe  an  sich  für  nutzlos  oder  unnöthig  halten,  so  wird  sie 
doch  in  Folge  des  Gebots  der  Verfassungsurkunde,  dass  Kur- 
hessen  einen  Bestandtheil  des  deutschen  Bundes  bilden  soll, 
zu  einer  notbwendigen,  weil  sie  vom  Bunde  auf  eine  gültige 
Weise,  wenn  gleich  gegen  den  Widerspruch  E^urhessens,  be- 
schlossen worden  ist.  In  diesem  Sinne  sprach  sich  der  per« 
manente  Ständeausscbuss  aus,  als  er  dem  Finanzministerium 
eröffnete:  in  der  Voraussetzung,  dass  die  Stellung  des  Gon* 
tiogents  (zur  Occupation  Luxemburgs)  als  nojthwendig  zur 
Erfüllung  der  Bundespflichten  des  kurhessiscfaen  Staates 
verfassungsmässig  unter  Verantwortlichkeit  des  beireffenden 
Ministerlaldepartements  anerkannt  sei,  könne  er  nicht* be- 
zweifeln, dass  dem  Lande  die  Aufbringung  des  zur  Vt>ll- 
Bi^iung  einer  solchen  Maassregel  erforderliehen  Bedarfs  ob« 


Die  LaniemoerfoiMung  i«  Kurhesien.  189 

liege.  Ob  aber  ein  Beschluss  der  Bundesversammlung  die 
Erfordernisse  an  sich  trage,  welche  dessen  Gültigkeit  be- 
dingen, insbesondere  ob  demselben  die  Stimmeneinhelligkeit 
zur  Seite  sieht,  wo  diese  bundesverfassungsmässig  nöthig 
wird,  oder  ob  solcher  wegen  Mangels  dieser  Erfordernisse 
nichtig  sei,  das  hängt  von  der  Beurtheilung  des  einzelnen 
Bundesstaates  und  in  diesem  von  der  Prüfung  der  Behörden, 
welche  zur  Ausführung  des  Beschlusses  thätig  werden  sollen, 
mithin  auch  von  der  Beurtheilung  der  Landstände  in  den 
geeigneten  Fällen,  in  denen  ihre  Mitwirkung  zu  jenem  Zwecke 
verfassungsmässig  nothwendig  erscheint,  ab.  Denn  wenn 
gleich,  wie  Jordan  sich  in  dem  Berichte  über  den  Entwurf 
eines  Pressgesetzes  (Verh.  d  L.  v.  1832.  Beil.  89  )  ausdruckt» 
die  Bundesversammlung  keinen  Richter  über  sich  hat,  vor 
weldiem  ein  einzelner  Bundesstaat  gegen  dieselbe  eine  solche 
formale  Nichtigkeit  geltend  machen  könnte  und  deshalb  aller- 
dings derselbe  keine  Behörde  zu  finden  vermag,  bei  welcher 
auf  Wegräumung  eines  derartigen  Beschlusses  gedrungen 
werden  könnte,  so  ist  doch  kein  Bundesstaat  verpflichtet, 
einem  nichtigen  Beschlüsse  der  Bundesversammlung  Folge 
zu  geben,  eben  weil  dies  kein  wirklicher  Beschluss  des  Bun* 
des  ist.  Was  nützte  auch  die  Bestimmung,  dass  in  gewissen 
Fällen  zur  Gültigkeit  eines  Beschlusses  Stimmeneinhelligk^ 
erforderlich  ist,  wenn  dessenungeachtet  in  einer  solchen  An- 
gelegenheit ein  Beschluss  durch  Stimmenmehrheit  mit  der 
Wirkung  gefasst  werden  könnte,  dass  die  in  der  Minderzahl 
sich  befindenden  Staaten  denselben  doch  als  verbindlich  an- 
erkennen und  befolgen  müssten. 

Nur  auf  diese  Weise  dürfte  der  §.  1.  der  kurhessischen 
Verfassungsurkunde  zu  erklären  sein,  wenn  er  mit  den  sehr 
bestimmten  Vorschriften  anderer  Staatsgrundgesetze  zusam- 
mengehalten wird,  welche  doch  für  ganz  überflüssig  zu  er- 
achten wären,  wenn  man  glauben  wollte  dass  die  in  ihnen 
liegenden  Grundsätze  auch  in  Kurhessen  gelten  müssten,  ob- 
gleich sie  daselbst  nicht  vorgeschrieben  sind. 

inzwisdien  sind  nicht  blas  von  dem  Criminalsenate  def 
Oberg€iricht3  zu  Hanau,    sondern  auch  von  dem  Griminal- 

10* 


140  Die  Landesterfoisung  in  Kurhessm. 

Senate  des  OberappcUationsgerichts  zu  Cassel  in  einer  Unter- 
suchungssache wegen  £ntwerfung,  Vervielfältigung  und  Ver- 
breitung einer  Schrift  ohne  Regierungsgenehmigung  und 
gesetzwidrigen  Inhalts  dieser  Schrift,  so  wie  wegen  Grün- 
dung eines  verbotwidrigen  politischen  Vereins  zur  Verfol- 
gung strafbarer  Zwecke,  ganz  andere  Grundsätze  angenom- 
men (Cass.  allg.  Zeit.  1835  Beil.  z.  Nr.  59.).  Ersteres  stellt 
die  Behauptung  auf,  dass  nach  Artikel  32.  der  wiener  Schluss- 
acte  die  Bundesregierungen  die  Obliegenheit  haben,  auf 
Vollziehung  der  Bundesbeschlüsse  in  ihren  Ländern  zu  hal- 
ten, die  Bundesversammlung  nach  Artikel  31.  dieser  Acte 
die  Vollziehung  derselben  von  jenen  durch  Executionsmaass- 
regeln  erzwingen  könne,  dieser  Zwangspflicht  der  Regie- 
rung nothwendig  ein  Zwangsrecht  derselben  gegenüber  ihren 
Unterthanen  entsprechen  müsse,  und  das  auf  diese  Weise 
begründete  Zwangsrecfat  der  Staatsregierung,  dessen  Aus- 
übung nach  Artikel  58.  der  wiener  Schlussacte  an  eine 
landständische  Mitwirkung  nicht  gebunden  sein  könne,  durch 
die  in  der  kurhessischen  Verfassungsurkunde  enthaltene  aus- 
drückliche Anerkennung  des  Bundesverhältnisses  selbst  als 
landesverfassungsmässig  erscheine.  Es  dürfte  dabei  aber 
der  Artikel  58.  der  wiener  Schlussacte  irrig  aufgefasst  sein. 
Denn  wenn  gleich  daselbst  festgesetzt  ist,  dass  die  im  Bunde 
vereinten  souverainen  Fürsten  durch  keine  landständische 
Verfassung  in  der  Erfüllung  ihrer  bundesmässigen  Verpflich- 
tungen gehindert  oder  beschränkt  werden  dürfen,  so  ist 
doch  keineswegs  dadurch  verboten,  bei  der  Erfüllung  der 
bundesmässigen  Verpflichtungen  sich  der  in  der  Landesver- 
fassung begründeten  Formen  zu  bedienen  und  jene  Ver- 
pflichtungen mit  Hülfe  derjenigen  Corporationen  und  Behörden 
zu  erfüllen,  deren  Mitwirkung  bei  der  Erfüllung  der  Re- 
gentenpflichten überhaupt  in  Gemässheit  der  Landesver- 
fassung erforderlich  ist.  Will  man  aus  dem  Artikel  58  der 
wiener  Schlussacte  ableiten,  dass  die  Fürsten  bei  der  Er- 
hebung eines  Bundesbeschlusses  zum  Landesgesetze  an  die 
Einwilligung  der  Landstände  nicht  gebunden  sind,  wo  diesen 
ohne  Beschränkung  eine  Theilnahme  an  der  Gesetzgebung 


ie  Landesf^erfoisung  in  Kurhesim.  141 

misteht,  so  kann  man  auch  behaupten,  dass  der  Regent  in 
der  Erfüllung  seiner  bundesmässigen  Verpflichtungen  durch 
die  Bestimmung  der  kurhessischen  Yerfassungsurkunde  ge- 
hindert oder  beschränkt  werde,  welche  die  Glaubwürdigkeit 
und  YoUziehbarkeit  der  landesherrlichen  Anordnungen  und 
Verfügungen  an  eine  Gontrasignatur  des  betreffenden  Mi- 
nisters bindet  (§.  108.),  welche  den  Ständen  die  Beschluss- 
nahme  über  die  möglichst  beste  Aufbringung  und  Verthei- 
lung  der  nöthigen  Abgabenbeträge  überlässt  (§.  145.),  nach 
welcher  das  Eigenthum  Air  Zwecke  des  Staates  nur  gegen 
Entschädigung  in  Anspruch  genommen  werden  kann  (§.  32.) 
u.  s.  w.  Man  könnte  ferner  behaupten,  dass,  weil  eine 
solche  Beschränkung  nach  dem  Artikel  58.  der  ^wiener 
Schlussacter  nicht  Statt  finden  dürfe,  die  Anordnungen  und 
Verfügungen,  des  Fürsten,  welche  zur  Vollziehung  eines 
Bundesbeschlusses  dienen  Sollen ,  auch  ohne  Gontrasignatur 
eines  Ministers  glaub würdfg  und  vollziehbar  seien;  dass 
nicht,  von-  den  Ständen ,  sondern  von  dem  Fürsten  zu  be- 
schliessen  sei,  wie  die  zur  Erfüllung  der  Bundespflichten, 
z.B.  zur  Erhaltung  des  Bundescoütingents  nöthigen  Summen 
aufgebradht  und  vertheilt  werden  sollen;  dass  das  Eigen- 
thum der  Privaten,  welches  gebraucht  werden  soll  um  den 
Bündeszwecken  zu  genügen,  z.  B.  bei  Anlegung  oder  Er- 
weiterung ^iner  Bundesfestung,  den  Einzelnen  ohne  Ent- 
schädigung entzogen  werden  könne  u.  s.  w.  '  Man  würde 
endlich  auch  behaupten  müssen,  dass  die  würtembergische 
Verfassung  §.  3.,  wonach  in  Ansehung  der  Mittel  zur  Er- 
füllung der  gegen  den  deutschen  Bund  begründeten  Ver- 
bindlichkeiten die  verfassungsmässige  Mitwirkung  der  Stände 
eintritt,  den  Grundgesetzen  des  deutschen  Bundes  zuwider- 
laufe. Es  sind  dies  nothwendige  Gonsequenzen  der  vom 
Obergericht  zu  Hanau  dem  §.  58.  der  wiener  Schlussacte 
gegebenen  Auslegung,  die  dasselbe  doch  wohl  schwerlich 
beabsichtigt  haben  kann,  die  aber  das  Irrige  jener  Aus- 
legung klar  machen  dürften. 

Das  Oberappellationsgericht  geht  in  der  erwähnten  ünter- 
suchungssache  von  der  Ansicht  aus,   dass  das  kurhessische 


142  Die  Landesverfassung  in  Kttrhessen. 

StaatÄgrundgesetz   nur   diejenigen   staatsrechtlichen  Verhält- 
nisse  ordne,    welche   sich   nicht   auf  die    VerhSltnisse   des 
Staates  zum  deutschen  Bunde   und  die  aus  diesem  Verhäll- 
niss  entspringenden  Rechte  und  Pflichten  beziehen,  so  dass 
diese   letzterwöhnten  Rechtsverhältnisse   ganz  getrennt  von 
denjenigen  bestehen,   welche   durch   das  Staatsgrundgesetz 
geordnet    sindj   dass  demnach    auch    in   dem    §.    95.    nur 
von  solchen  Gesetzen    die    Rede    sein  könne,    welche  nach 
Maassgabe   der  Verfassungsurkunde   im   Bereich  der  Staats- 
gewalt,   so    weit   diese    nicht    durch    das   Verhältoiss   zum 
deutschen  Bunde  beschränkt  ist,   liegen;    die  Bestimmungen 
des   erwähnten  §.    aber   auf  Beschlüsse    und   Anordnungen 
nicht   angewendet   werden   könnten,   welche   in   Folge   der 
Fundamentalgesetze  des  Bundes  von  der  Bundesversammlung 
ausgehen,    und    die   vielmehr,    sobald   sie    von    der   Staats- 
regierung auf  gehörige  Weise  verkündet  worden,  sind,    für 
die  Unterthanen   eben    die   verbindende   Kraft   hätten,   wie 
Gesetze  welche  in  Gemässheit  der  Verfassungsurkunde  mit 
Zustimmung   der  Landstände   ertheilt   und    von   der  Staats- 
regierung auf  die  erwähnte  Weise    zur  allgemeinen  Kennt- 
niss  gebracht  werden.     Auch    dieser  Grundsatz  führt  noth- 
wendig  zu  der  Folge,    dass,   wenn  vermöge  eines  Bundes 
beschlusses  eine  Geldsumme   aufgebracht  werden  soll,    die 
Mitwirkung  der  Stände  wegen  der  Art  der  Aufbringung  und 
Vertheilung  derselben  ganz  ausgeschlossen  würde;    denn  so- 
gut   der   §.  95.   bei   der   die  Erfüllung  der  Bundespflicfaten 
betreffenden  Gesetzgebung  beseitigt  werden  kann,    ebenso 
gut  kann  man  sich  auch,   so  oft  es  sich  von  Erhebung  der 
Abgaben  zu  jenen  Zwecken  handelt,   über  den  §.  145.  und 
andere  einschlagende  Bestimmungen  hinaussetzen.   Das  Ober- 
appellationsgericht  hat   aber   wojil   eine   Verwechslung   des 
Subjects  eintreten  lassen,    welches  die  Bundespfltchten  zu 
erfüllen  hat.    Als  solches  scheint  es  blos  die  Staatsregierung 
anzuerkennen,  worunter  es  nur  das  Ministerium  verstanden 
haben   kann.    Allein    nach   der   eignen   auf   Artikel  2.    der 
wiener  Schlussacte  gegründeten  Behauptung  des  Oberappel- 
lationsgeriohts  ist  der  deutsche  Bund  ein  Verein  selbststän* 


Die  Lande9terfauung  ifi  Kwrhes$eH.  148 

diger  und  unter  sich  unabhängiger  Staaten.  BundesgUed 
ist  daher  der  kurhessische  Staat.  Der  Staat  also  ist  es, 
der  die  Bundespflichten  zu  erfüllen  hat.  Welches  die  Organe 
des  Staates  sind,  durch  die  derselbe  diese  Pflichten  erfüllen 
lässt,  das  muss  sich  nach  der  Landesverfassung  des  betref- 
fenden Staates  richten.  Wenn  also  in  einem  einzelnen 
Staate,  wie  in  Kurhessen,  nach  der  Landesverfassung  zu 
gewissen  Staatsacten,  z.  B.  zur  Legislation,  die  Mitwirkung 
der  Stände  erforderlich  ist,  so  muss  sie  auch  bei  der  zur 
Erfüllung  der  Bundesbeschlüsse  nötbigen  Gesetzgebung  ein- 
treten; es  sei  denn,  dass  letztere  von  der  Gonciirrens  der 
Landstände  durch  eine  positive  Vorschrift  der  Verfassungs- 
urkunde des  betreffenden  Staates  eximirt  wäre,  wie  solches 
allerdings  nach  einigen  Staatsgrundgesetzen,  z.  B.  dem  ba- 
dischen, der  Fall  ist.  Will  das  Oberappellatiousge rieht  den 
Landständen  jede  Theilnahme  an  der  Vollziehung  der  Bun- 
desbeschlüsse absprechen,  so  ist  auch  kaum  einzusehen, 
weshalb  dasselbe  deren  Verkündigung  durch  die  Staats- 
regierung nöthig  erachtet,  um  ihnen  verbindende  Kraft  für 
die  Unterthanen  zu  verschaffen;  vielmehr  würde  zu  diesem 
Zwecke  die  Verkündigung  der  Bundesbeschlüsse  dem  Bundes- 
tage  selbst  haben  überlassen  bleiben  können,  oder  es  brauchte 
eine  solche  —  was  freilich  die  Selbstständigkeit  des  Fürsten 
nicht  blos  nach  Aussen  sondern  selbst  den  Behörden  des 
Landes  gegenüber  ganz  vernichten  und  so  mehr  als  irgend 
etwas  dem  monarchischen  Prinzip  zuwider  sein  würde  — 
gar  nicht  für  nöthig  erachtet  zu  werden,  da  das  Oberappel- 
lationsgericht erklärt,  dass  die  deutsche  Bundesacte  und  die 
wiener  Schlussacte  zu  ihrer  Bechtsverbindlichkeit  einer  be- 
sonderen Verkündigung  in  den  einzelnen  Bundesstaaten 
nicht  bedurften,  weil  sie  als  Verträge,  die  zwischen  unab- 
hängigen Staaten  abgeschlossen  waren,  ihre  verbindende 
Kraft  in  der  Uebereinkunft  der  contrahirenden  Staaten  fänden, 
alle  Bundesbeschlüsse  aber,  selbst  die  nach  der  Bundesver- 
fassung mit  Stimmenmehrheit  gefassten,  gleichfalls  den  Gha- 
racter  einer  Uebereinkunft  zwischen  unabhängigen  Staaten 
an  sich  tragen,  wodurch  dieselben  sich  verbindlich  machen, 


144  Die  Landeseerfassung  in  Kurhessen. 

gewisse  Maassregeln  einzuführen.  Doch  so  lange  noch  ein 
besonderer  Act  des  Bundesstaates  erforderlich  gehalten  wird, 
um  den  Bundesbeschlüssen  Wirksamkeit  zu  geben,  muss 
derselbe  auch  von  den  nach  der  Landesverfassung  com- 
petenten  Staatsgewalten  ausgehen.  Wenn  daher  zur  Voll- 
ziehung eines  Bundesbeschlusses  eine  Anordnung  nöthig  ist, 
welche  die  Kraft  eines  Gesetzes  äussern  soll,  z.B.  die  Wei- 
sung  dem  Inhalte  eines  Bundesbeschlusses  bei  Vermeidung 
einer  Strafe  Folge  zu  leisten,  so  kann  man  nicht  annehmen, 
dass  der  Staat  seiner  Verbindlichkeit  gegen  den  deutschen 
Bund  genügt  iiabe,  sofern  jene  Anordnung  ohne  Concurrenz 
der  Landstände  getroffen  ist,  indem  sie  dann  nicht  von  den 
zuständigen ,  in  ihrem  Zusammenwirken  den  Staat  repräsen- 
tirenden  Staatsgewalten  ausgegangen  ist.  Sollte  auch  der 
nämliche  Zweck,  Ausführung  des  Bundesbeschlusses,  durch 
die  blosse  Verkündigung  von  Seiten  .  der  Staatsregierung 
d.  h.  im  Sinne  des  Oberappellationsgerichts  von  Seiten  des 
Ministeriums  erreicht  werden,  so  bleibt  dies  doch  immer 
nur  ein  factischer  Zustand,  der  vielleicht  dem  Bundestage 
genügen  kann,  aber  es  erlangt  derselbe  keine  rechtliche 
Beschaffenheit. 

Würde  die  Meinung  des  Oberappellationsgerichtes  von 
allen  Behörden  des  Landes,  namentlich  allen  Gerichtshöfen 
getheilt,  so  würde  d.urch  eine  solche  constante  Praxis  zu- 
letzt der  jener  Meinung  entsprechende  Zustand  einen  der 
rechtlichen  Beschaffenheit  gleichkommenden  Charakter  in 
seinen  Wirkungen  annehmen.  Allein  andere  kurhessische 
Gerichte  folgen  einer  von  der  "des  Oberappeliationsgerichts 
verschiedenen  Ansicht.  Nachdem  näiiilich  der  in  der  Sitzung 
der  Bundesversammlung  vom  Jahre  1832  gefasste  Beschluss 
wegen  der  Maassregeln  zur  Aufrechthaltung  der  öffentlichen 
Ruhe  und  gesetzlichen  Ordnung,  demzufolge  das.  Tragen 
von  Cocarden  in  anderen  Farben  als  denen  des  Landes, 
dem  der,  welcher  solche  trägt,  als  ünterthan  angehört,  un- 
nachsichtlich  bestraft  werden  soll,  durch  Verordnung  vom 
21steh  Juli  1832  ohne  Mitwirkung  der  Landstände  mit  der 
Weisung   bekannt  gemacht  war,    dass   diejenigen,    welche 


Die  Lande$f^erfas$ung  in  Kurhessen.  145 

unter  jene  Slrafbestimmung  fallen,  mit  angemessener  Strafe 
bis  zu  vierzehntägigem  Gefängniss  oder  20  Rthlr.  zu  ahnden 
seien,  wurde  ein  kurhessischer  Staatsbürger,  weil  er  eine 
schwarz  roth  goldene  Gocarde  getragen  habe,  auf  den  Grund 
jener  Verordnung  zu  einer  Geldbusse  von  .einem  Gulden 
verurtheilt,  ergriff  aber  dagegen  die  Berufung  an  das  Ober- 
gericht in  Rinteln.  Dieses  sprach  den  Angeklagten  von  der 
Anschuldigung  eines  Vergehens  frei  und  cassirte  das  Er- 
kenntniss  erster  Instanz,  weil  derselbe  ohne  Vorhandensein 
eines  rechtsgültigen  Strafgesetzes  zur  Untersuchung  gezogen 
und  bestraft  sei.  Das  Urlheil  zweiter  Instanz  ging  hierbei 
davon  aus,  dass  nach  §.  115.  der  Verfassungsurkunde  Nie- 
mand anders  als  in  deq  durch  die  Gesetze  bestimmten  Fällen 
bestraft  werden  solle;  dass  unter  Gesetzen  aber  nach  der 
Verfassungsurkunde  solche  Vorschriften  zu  verstehen  seien, 
welche  unter  Mitwirkung  der  Stände  erlassen  würden;  dass 
im  Eingange  der  Verordnung  vom  21sten.  Juli  1832  die  im 
§v  95.  der  Verfassungsurkunde  vorgeschriebene  Erwähnung 
der  landständischen  Zustimmung  mangele;  dass  somit  die- 
selbe als  Strafgesetz  nicht  angesehen  werden  könne;  dass 
der  Umstand^  wie  dieser  Verordnung  ein  Bundestagsbe- 
schluss  zum  Grunde  liegt,  keinen  Unterschied  mache,  indem 
dem  deutsche^  Bunde,  wie  schon  aus  der  Natur  des  Vereins 
folge,  keine  gesetzgebende  Gewalt  zusiehe,  mithin  ein  Bun- 
destagsbeschluss  nicht  schon  als  solcher  Gesetz  für  die 
Unterthanen  der  einzelnen  Vereinsstaaten  sei  (Wiener  Schluss- 
acte  Art.  32.);  ebensowenig  aber  ein  solcher  Beschluss  als 
vertragsmässige  Norm  in  den  Bundesländern  Gültigkeit 
habe,  da  der  Bund  nach  der  ausdrücklichen  Erklärung  des 
Art.  1.  der  Wiener  Schlussacte  und  in  der  Wirklichkeit«  nur 
in  einem  Vereine  der  deutschen  Fürsten  bestehe;  woraus 
folge,  dass  wenn  die  den  Bund  bildenden  Regierungen  eine 
Maassregel  beschliessen,  die  in  dem  Staate  der  einen  oder 
andern  nur  nach  der  Beistimmung  der  die  Regierten  ver- 
tretenden  Stände  Kraft  hat,  solche  in  diesem  Staate  vor  der 
Zustimmung  der  Landstände  nicht  verbindlich  für  die  Re- 
gierten sei;  da  ferner,  selbst  wenn  man  den  deutschen  Bund 


146  Die  Landewerfoimmg  in  Kurkessen. 

als  einen  Verein  deutscher  Staaten,  mit  der  Beschränkung 
dass  letztere  in  ihrem  Verhältnisse  zu  jenem  durch  die  Lan- 
desfürsten  vertreten  werden,  betrachte,  in  Kurhessen,  weil 
nach  §.  10.  der  Verfassungsurkunde  der  Landesfürst  alle 
Rechte  der  Staatsgewalt  auf  verfassungsmässige  Weise 
austibt  und  zufolge  der  Verfassung  kein  Gesetz  ohne  Zu- 
stimmung der  Landstände  gegeben  werden  kann,  ohne  aus- 
drückliche Ausnahme,  die  sich  nicht  vorfinde,  auch  zu  Ge- 
setzen, welchen  ein  Bundesbeschluss  zum  Grunde  gelegt 
werden  soll,  die  Zustimmung  der  Landstände  erforderlich 
sei;  hiermit  aber  stehe  nicht  im  Widerspruche,  dass  den 
Vereinsmitgliedem  die  Verpflichtung,  bundesverfassungs- 
massige  Bundestagsbeschlüsse  zur  Ausführung  zu  bringen, 
obliegt  und  dass  sie  darin  nach  Art.  58.  der  Schlussacte 
dureh  keine  landständische  Vrrfassung  gehindert  oder  be- 
schränkt werden  sollen,  da  hieraus  nur  die  Unzulässigkeit 
der  Versagung  der  Zustimmung  zur  Vollziehung  eines  solchen 
Bundestagsbeschlusses  von  Seiten  der  Stände,  nicht  aber 
das  Recht  der  Enlhörung  der  letztern  von  Seiten  des  Landes- 
fUrsten  folge,  weil  nach  §.  10.  der  Verfassungsurkunde  das 
Oberhaupt  des  Staates  in  der  Ausübung  der  Rechte  der 
Staatsgewalt  an  die  verfassungsmässige  Mitwirkung  der  Stände 
gebunden  sei  und  nach  Art.  56.  der  wiener. Schlussacte  in 
anerkannter  Wirksamkeit  bestehende  landständische  Verfas- 
sungen nur  auf  verfassungsmässigem  Wege  wieder  abge 
ändert  werden  könnten. 

Wenn  die  unteren  Gerichte  die  in  diesem  Erkenntnisße 
ausgesprochenen  Grundsätze  ihren  Entscheidungen  zu  Grunde 
legen,  so  kann  auch  nicht  der  Fall  eintreten,  dass  eine  ent- 
gegenstehende Meinung  vom  Criminalsenat  des  Oberappella- 
tionsgerichts zur  Anwendung  gebracht  werde,  weil  nach 
der  kurhessiscben  Gesetzgebung  die  Thätigkeit  der  höheren 
Gerichte  in  Strafsachen  nur  dann  eingreift,  wenn  gegen  d^ 
Erkenntnisse  der  unteren  Gerichte  ein  Rechtsmittel  ergriffen 
wird,  ein  solches  aber  der  Regel  nach  nur  dem  Verur- 
t heilten  zusteht,  mithin  nicht  verfolgt  werden  kann,  wenn 


Die  Landesverfasmng  in  Kurhe$$en.  147 

der  Angeschuldigte  in  einer  unteren  Instanz   ein   freispre* 
chendes  Urtheil  ausgewirkt  hat. 

Die  in  jenem  Erkenntnisse  angedeutete  Idee,  dass  der 
deutsche  Bund  ein  Verein  der  Fürsten,  nicht  ein  Verein  der 
Staaten  sei,  möchte  übrigens  zu  bezweifeln  sein;  auch  von 
der  Ständeversammlung  ist  die  letztere  Eigenschaft  desselben 
anerkannt  worden.  Nachdem  nämlich  ein  öffentliches  Blatt 
(Verfass.-Freund  1831  p.  367.  368)  angeblich  den  Wunsch 
des  ganzen  Volkes  dahin  ausgesprochen  hatte,  dass  die  Land- 
stände den  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  ver- 
anlassen möchten,  nicht  allein  durch  den  hessischen  Botschaf- 
ter in  Frankfurt  stets  so  stimmen  zu  lassen,  wie  es  den  un- 
veräusserlichen Rechten  der  deutschen  Nation,  dem  Geiste 
der  deutschen  Bundesacte  und  dem  Buchslaben  des  kurhes- 
sischen Grundgesetzes  gemäss  sei,  sondern  auch  alle 
constitutionelie  Regierungen,  Fürsten  und  Volksvertreter 
Deutschlands  auf  offlciellem  Wege  aufzufordern,  ein  Gle^ 
ches  zu  thun,  —  wurde  bei  der  Berathung  über  den  Etat 
des  Ministeriums  der  auswärtigen  Angelegenheiten  von  ei- 
nem Ständemitgliede  die  Ansicht  aufgestellt,  es  sollten  nicht 
die  einzelnen  deutschen  Staaten  jeder  für  sich  Gesandte  an 
den  übrigen  europäischen  Höfen  unterhalten,  sondern  die 
Gesammtheit  derselben,  der  deutsche  Staatenbund,  um 
Deutschland  zu  repräsentiren  in  seiner  Gesammtheit,  um 
Deutschland  wieder  die  Stellung  unter  den  europäischen 
Staaten  einnehmen  zu  lassen,  die  ihm  gebühre;  es  sei  zu 
beklagen,  dass  der  deutsche  Bund  in  dieser  Hinsicht  noch 
nicht  das  Gewicht,  das  Ansehen  sich  verschafft  habe,  wel- 
ches er  nach  den  für  ihn  gegebenen  grundgesetzlichen  Be- 
stimmungen haben  solle  und  es  sei  dahin  zu  wirken,  dass 
er  Realität  erlange,  dass  jene  grundgesetzlichen  Bestimmun- 
gen ins  Leben  treten.  Dabei  wurde  weiter  angeführt:  was 
in  neuer  Zeit  am  Bundestage  geschehen,  sei  nicht  bekannt, 
weil  er  seine  Verhandlungen  meist  der  Oeffentlichkeil  ent- 
zogen habe;  man  wisse  nicht,  ob  die  Bundestagsgesandten 
der  constitutionellen  Staaten  auch  im  constitutionellen  Sinne 
handelten ',  die  Ständeversammlung  sei  indess  befugt,   über 


148  DU  Landeiverfagiung  m  Kurhessm. 

alles,  was  das  Wohl  und  Wehe  des  Landes  betreffe,  Aus- 
kunft von  der  Staatsregierung  zu  begehren.  Daran  wurde 
der  Antrag  geknüpft,  vor  allen  Dingen  und  ehe  Über  die 
Gehalte  des  Gesandtschaitspersonals  etwas  bestimmt  werde, 
die  Staatsregierung  zu  ersuchen,  dass  sie  sich  darüber  Aus- 
kunft verschaffen  möge,  ob  nicht  die  einzelnen  deutschen 
•Staaten  durch  eine  Gesandtschaft  des  Bundestages  bei  den  üb- 
rigen europäischen  Mächten  repräsentirt  werden  würden,  dass 
sie  nöthigenfalls  mit  den  übrigen  constitutionellen  Staaten 
sieb  zu  vereinigen  suchen  möge,  um  beim  Bundestage  dabin 
zu  wirken,  dass  dies  geschehe,  der  Bundestag  überhaupt  im 
constitutionellen  Sinne  handle,  den  deutschen  Staaten- 
bund zu  einer  selbstständigen  deutschen  Macht  erhebe  und 
seinen  Verbandlungen  Publicität  verschaffe;  auch  möge  die 
StaatsregieruBg  der  Ständeversammlung  die  Bundestagsprö- 
tQColle  ihittheilen.  Gegen  diesen  Antrag  erklärte  sich  weder 
der  anwesende  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten, 
noch  irgend  eines  der  Ständemitglieder;  nur  wurde  er  von 
einem  der  letzteren  für  einen  frommen  Wunsch  erklärt,  und 
von  dem  Präsidenten  darauf  geäussert:  so  richtig  die  Bemer- 
kungen des  Antragstellers  a  priori  sein  lüöchten,  so  sei  es 
nach  der  Erfahrung  nicht  anzunehmen,  dass  es  Kurhessen 
gelingen  werde,  den  frommen  Wunsch,  wie  der  Antrag  sei- 
ner Meinung  nach  ganz  richtig  bezeichnet  sei,  in  der  näch- 
sten Finanzperiode,  für  welche  jetzt  auf  jeden  Fall  noch  Ge- 
sandtschaften unterhalten  werden  müssten,  zu  erreichen. 
Es  wurde  deshalb  die  Frage,  ob  der  Antrag  genehmigt  und 
das  deshalbige  Schreiben  in  einer  anderweiten  Sitzung  vor- 
gebracht und  darüber  beratben  und  beschlossen  werden 
solle,  bejaht,  worauf  der  Antragsteller  von  dem  Antrage  ab- 
strahirte,  dass  die  Bewilligung  der  Gehalte  für  die  Gesandt- 
schaften bis  zum  Erscheinen  des  Resultats  jenes  Hauptan- 
trags ausgesetzt  werde.  Der  Antragsteller  trug  nunmehr  am 
24sten  October  1831  den  Entwurf  eines  Schreibens  der 
Stände  Versammlung  an  die  Staatsregierung,  die  Verhältnisse 
des  deutschen  Bundes  betreffend,  der  Ständeversammlung 
vor  (V.  d.  L.  y.  1831.  p.  797),   welche  es  zur  Revision 


Die  Landesverfoisung  in  Kurhe$»en.  149 

einem  Ausschusse  äbergab  (ibid.  p.  798),  der  durch  drei 
vom  Präsidenten  vorgeschlagene  Mitglieder  gebildet  wurde 
(V.  d.  L  V.  1831.  p.  838).  Nach  geschehener  Revision  wurde 
das  Schreiben  am  31.  October  1831  ohne  Widerspruch  der 
Staatsregierung  genehmigt.  Der  Präsident  hatte  die  Bemer* 
kung  gemacht:  der  Schluss  desselben  enthalte  eine  Replik 
auf  eine  noch  nicht  vorgebrachte  Einwendung,  indem  man 
därzuthun  suche,  dass  der  Ständeversammlung  das  Recht  zu- 
stehe die  Auskunft  zu  fordern,  und  sich  deshalb  auf  die  Yerfas- 
sung  stütze,  ohne  dass  die  Staatsregierung  diesesRecht  bestrit- 
ten hätte,  so  dass  es  ihm,  der  gegen  die  Sache  selbst  nichts  zu 
erinnern  habe,  nur  scheine,  als  werde  hier  etwas  widerlegt, 
was  nicht  bestritten  sei;  doch  ward  von  Andern  darauf  er* 
wiedert,  dass  die  gen^ählte  Fassung  nicht  präjudiciren  könne 
(V.  d.  L.  V.  1831.  ibid.  843.  844.).  In  diesem  Schreiben 
wurde  eri^Iart:  .man  habe  sich  der  auf  Erfahrung  gegründe- 
ten UeberzeuguQg  nicht  verschliessen  können,  dass  die  bis- 
herige Wirksamkeit  des  Bundes  nur  von  sehr  geringem  prak* 
tischen  Erfolge  gewesen  sei,  sowohl  in  Bezug  auf  die  Be- 
gründung und  Behauptung  des  politischen  Ansehens  von 
Deutschland  als  einer  europäischen  Macht,  als  hinsichtlich 
derjenigen  inneren  Angelegenheiten,  welche  die  deutschen 
Völker  in  ihrem  Interesse  mit  Recht  für  die  wichtigsten  hal- 
ten, namentlich  hinsichtlich  der  Verwirklichung  der  densel- 
ben in  den  Artikeln  13.  18.  19.  der  Bundesacte  gegebenen 
Verheissungen.  Man  habe  sich  von  der  Nothwendigkeit  über- 
zeugt, dass  die  sämmtlichen  Bundesregierungen  dahin  stre- 
ben  müssten,  um  Deutschland  durch  einiges  und  inniges  Zu- 
sammenhalten und  Wirken  das  alte  Ansehn  wieder  zu  ver- 
schaffen und  es  auf  diese  Weise  zu  einer  pohtischen  Macht 
zu  erheben.  Man  habe  sich  dabei  nicht  bergen  können, 
dass  die  Erreichung  dieses  Zwecks  nur  von  den  Regierun- 
gen ausgehn  könne,  da  die  Gesandtem  der  einzelnen  Staa- 
ten bei  der  Bundesversammlung  von  ihren  Regierungen  ab- 
hängig und  denselben  verantwortlich  seien.  Durch  diese 
müsse  daher  den  Bundesgesandten  aufgegeben  werden,  die 
Wünsche  und  Bedürfhisse  der  deutschen  Völker,   sowohl  in 


150  Die  Landeseerftusung  in  Kurhesten, 

innerer  als  äusserer  Beziehung  allenthalben  mit  Umsieht  zu 
beachten,  stets  nur  im  constitutionellen  Sinne  und  Geiste  zu 
handeln  und  so  durch  ein  offenes  Benehmen  dem  Bundes* 
tage  zunächst  das  aligemeine  Vertrauen  wieder  zu  erwerben, 
welches  besonders  durch  das  seit  dem  Jahre  1824  beste- 
hende geheime  Verfahren  geschwächt  worden  sei.  Man  habe 
dieses  um  so  leichler  erreichbar  gehalten,  als  der  deutsche 
Bund,  zufolge  seiner  StifUingsacte ,  als  ein  Verein  von  Staa- 
ten erscheine,  zu  deren  Regierungsform  die  landständische 
Verfassung  grundgesetzltch  gehöre,  auch  die  meisten  Bundes- 
staaten mit  förmlichen  Verfassungen  versehq  seien  und  durch 
diese  die  schon  in  den  ProtocoUen  des  wiener  Congreases 
gegründete  Verantwortlichkeit  der  höheren  Staatsbeamten, 
somit  auch  der  Bundestagsgesandten  und  der  sie  instruiren- 
den  Minister  der  auswärligen  Angelegenheiten,  ausdrück- 
lich ausgesprochen  wäre.  Man  habe  sich  nicht  verhehlen 
können,  dass  es  vorzugsweise  den  Landständen  eines  jeden 
Bundesstaates  als  Vertretern  des  V<^kes  obliege,  ihre  Regie- 
rung zu  vermögen,  sowohl  bei  dem  Bundestage  als  bei  den 
übrigen  Bundesregierungen  dahin  zu  wirken,  dass  nicht  nur 
das  Bundesverhältniss  auf  die  angegebene  Weise  sich  ge- 
stalte und  kräftige,  sondern  auch  die  öffentliche  Bekanntma- 
chung der  Bundestagsverhandlungen  wieder  erlangt  werde, 
bis  dahin  aber  die  MiUheilung  der  bisher  gefiihrten  Sepa- 
ratprotocolle  an  die  Landstände  zum  Zwecke  der  Einsicht 
der  von  den  Bundesgesandten  ihres  Landes  abgegebenen 
Erklärungen  und  Abstimmun^gen  erfolge.  Die  Befugniss ,  hier- 
auf bezügliche  Anträge  zu  stellen,  wurde  hinsichtlich  der 
kurhessischen  Landstände  insbesondere  auf  §.  89  und  92 
der  Verfassungsurkunde  gegründet  und  dann  die  Staatsre- 
gierung ersucht:  der  Ständeversammlung  die  bisherigen  Se* 
paralprotocoUe  des  deutschen  Bundestags  zur  Einsicht  mit- 
zutheilen,  damit  sich  dieselbe  von  der  bisherigen  Wirksamkeit 
des  kuihessischen  Bundestagsgesandten  überzeugen  könne; 
zugleich  aber  sich  auf  diplomatischem  Wege  mit  den  übrigen 
constiUitioneUen  Staaten  Deutschlands  zu  einer,  dem  consti- 
tutiondlen  Wesen  in  jeder  Hinsicht  entsprechenden  Wirk- 


Dte  Landem^trfoMMmg  m  Kurhenm.  151 

samkeit  beim  deutschen  Bundestage  zu  vereinigen,  inabeson- 
dere auch  darauf  anzutragen  und  dahin  zu  wirken,  dass  wie- 
der sämmtliche  Protocolie  der  deutschen  Bundeaversammlttng 
durch  den  Druck  öffentlich  bekannt  gemacht  werden  möch- 
ten (V.  d.  L.  V.  1831  p.  850.  851.).  Es  wurde  also  von  der 
Ständeversammlung,  womit  auch  ein  Erkenntoiss  des  Ober- 
appeUaUonsgerichts  (Gass.  allg.  Zeit  1835.  Nr.  59.  Beil.  p.  S. 
litt  b.),  nicht  aber  ein  Journalist  der  damaligen  Zeit  (Gass. 
allg.  Zeit.  1832.  Beibl.  Nr.  14.  p.  2.  A.  Nr.  1.  p.  4.)  überein- 
sUmmt,  der  deutsche  Bund  für  einen  Verein  von  Staaten 
und  die  die  Bundesversammlung  bildenden  Gesandten  flir 
Staatsdiener  gehalten,  welche  zwar  von  der  Staatsregierung 
allein  zu  instruiren,  jedoch  ebeny  wie  der  die  Instruction 
erUieiteode  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  für 
ihre  Handlungen  den  Landständen  verantwortlich  seien,  die 
durch  Einwirkung  auf  die  Staatsregierung  mittelbar  einen 
Einfluss  auf  die  Verfabrungsweise  dar  Bundesversamm- 
lung äussern  könnten  und,  um  zu  pr Ulen  in  wie  weit  solche 
von  der  Staatsregierung  beachtet  sei,  die  Einsiebt  der  Proio« 
colle  zu  begehren  hätten ,  welche  nicht  zur  öffentlichen  Kunde 
S^ens  des  Bundestags  gebracht  werden. 

Nachdem  dieses  Schreiben  am  31  sten  Ociober  1831  er* 
lassen  war,  liefen  bei  der  Ständeversammlung  Dankadressen 
von  Seiten  der  Bürger  und  Einwohner  der  Stadt  Marburg, 
ferner  des  Stadtmagistrats,  des  Bürgerausschusaes  und  des 
Officiercorps  der  Bürgergarde  in  Fulda,  so  wie  der  Bürger 
und  Einwohner  von  Hanau  ein.  Die  Stände  versammhing 
beschloss  den  5ten  December  1831,  jenes  Schreiben  —  we- 
nigstens hinsichtlich  des  zweiten  sofort  zu  erledigenden 
Theiles  des  in  demselben  gestellten  Antrags  ^  in  Erinne- 
rung zu  bringen  und  machte  zugleich  eine  Anwendung  von 
den  darin  ausgesprochenen  Grundsätzen,  indem  sie  die 
StaatsregieruQg  um  schleunige  Auskunft  darüber  ersuchte, 
ob  und  aus  welchen  Gründen  sie  dem  kurhesäschen  Bun- 
destagsgesandten aufgegeben  habe,  für  die  Annahme  der 
vom  Präsidium  der  deuischen  Bundesversammluog  gethanen, 
auf  die    Beschränkung  der  Pressfreiheit   bezüglichen   Vor- 


152  DU  Landewerfoiiung  In  Kurhe$$en, 

schlage  zu  stimmen,  sowie  um  die  alsbaldige  Hittheilung 
desjenigen  Berichts  des  kurbessischen  Bundestagsgesandten, 
mittelst  dessen  dieser  den  Bundesbeschluss  vom  lOlen  No- 
vember 1831  eingesandt  habe  (V.  d.  L.  v.  18B1.  p.  1047. 
1162.).  In  diesem  Berichte  sollte,  zufolge  der  Angabe  eines 
Ständemitgliedes,  sicherm  Vernehmen  nach  über  das  Schrei- 
ben der  Ständeversammlung  vom  SlsCen  October  1831  ein 
Urtheil  vorkommen,  welches,  wenn  es  auch  das  der  Staats- 
regierung wäre,  eine  Beacihtung  der  landständischen  Wünsche 
nicht  würde  hoffen  lassen,  obgleich  dies,  wie  jenes  Stände- 
mitgUed  erwähnte,  mit  der  beifälligen  Aufnahme  seines  An- 
trags von  Seiten  des  Ministers  der  auswärtigen  Angelegen- 
heiten sich  nicht  vereinig^  lasse.  Letzterer  erwiederte  nun 
der  Ständeversammlung  auf  deren  Schreiben  vom  31sten 
October  1831  (V.  d.  L.  v.  1831.  pag.  1163.  Beil.  XXXIX, 
p.  1.)}  dass  die  Staatsregicrung,  wie  sie  nie  ausser  Acht 
lassen  werde',  es  könne  nur  durch  die  enge  Einigung  aller 
deutschen  Staaten  nicht  nur  deren  Selbstständigkeit  gesichert 
bleiben,  sondern  auch  Deutschland  denjenigen  Standpunct 
unter  den  europäischen  Mächten  behaupten,  auf  welchen  es 
so  gerechten  Anspruch  habe,  bereits  vor  dem  Empfang  des 
landständischen  Erlasses  darauf  bedacht  gewesen  und  es 
sich  auch  ferner  werde  angelegen  sein  lassen,  durch  ihre 
diplomatischen  Agenten  dahin  zu  wirken,  dass  die  Bundes- 
verfassung nicht  nur  aufrecht  erhalten,  sondern  auch  immer 
mehr  ausgebildet  und  vervollkommnet  werde,  namentlich 
auch  die  Art.  13.  18.  19.  der  Bundesacte  und  die  darin  ent- 
hältenen  Zusagen,  insoweit  es  noch  nicht  geschehn,  in  Erfül- 
lung gingen;  dass  jedoch  die  Mittheilung  der  Separatbundes- 
protocolle  nicht  geschehn  könne,  weil  solche  dem  einstim- 
mig gefassten  Bundestagsbeschlusse  vom  Isten  Juli  1824, 
von  welchem  man  einseitig  nicht  abgehen  könne,  zuwider 
sein  würde.  Bemerkenswerth  bei  dieser  Antwort  ist  das 
gänzliche  Schweigen  über  das  Begehren  der  Landstände, 
dass  der  Bundestagsgesandte  instruirt  werde,  stets  nur  im 
constitutionellen  Sinne  und  Geiste  zu  handeln,  und  dass  die 
Staatsregierung  sich  auf  diplomatischem  Wege  mit  den  übri* 
gen  constitutionellen  Staaten  Deutschlands   zu  einer  dem 


Die  Lan€ks0erfas3ung  in  Kurhessen  153 

eoQstitutionelien  Wesen  in  jeder  Hinsicht  entsprechenden 
Wirksamkeit  beim  Bundeslage  vereinigen  möge.  Auf  dieses 
Begehren  der  Landstände  war  nolhwendig  etwas  zu  erwie- 
dem;  nach  Lage  der  Sache  war  es  also  unvermeidlich,  dass 
man  Jn  jeder  Antwort,  sie  mochte  lauten  wie  sie  wollte, 
eine  Erwiederung  darauf  enthalten  glauben  musste.  Da  nun 
in  der  Mittheilung  nicht  versichert  wurde,  dass  dem  land- 
ständischen Begehren  entsprochen  werden  würde,  noch  dass 
dies  bereits  früher  geschehn  sei;  da  nicht  einmal  erwähnt 
wurde,  dass  das  landständische  Ersuchen  sieb  auf  ein  Ver- 
hältniss  beziehe,  dessen  Beobachtung  als  etwas  sich  von 
selbst  Verstehendes  vorausgesetzt  werden  müsse:  so  könnte 
aus  der  Antwort  des  Ministers  fast  gefolgert  werden,  dass 
er  den  Gesandten  nicht  instruiren  wolle  im  conslitutionellen 
Sinne  zu  handeln,  und  dass  er  mit  andern  Staaten  sich  nicht 
zu  einer  dem  constitutionellen  Wesen  entsprechenden  Wirk- 
samkeit beim  Bundestage  zu  vereinigen  gedenke.  Ja  man 
könnte  sogar,  da  der  Minister  doch  auf  eine  enge  Einigung 
aller  deutschen  Staaten  hinweiset,  versucht  werden,  in  der 
Antwort  die  Erklärung  zu  finden,  dass  derselbe  eine  solche 
Verbindung  im  anticonstitutionellen  Sinne  beabsichtigt  habe. 
Dieses  Antwortschreiben  wurde  zu  weiterer  Berichter- 
stattung einem  Ständemitgliede  abgegeben,  welches  die  mi- 
nisterielle Erklärung  als  völlig  ungenügend  bezeichnete,  weil 
die  Ständeversammlung  bei  ihrem  Antrage  Handlungen  iind 
bestimmte  Maassregeln  von  Seiten  der  Staatsregierung  be- 
absichtigt habe,  nicht  aber  blos  Versicherungen;  weil  kein 
Schritt  bekannt  geworden,  der  zur  Erreichung  des  Zwecks 
irgend  vorher  geschehn  wäre;  weil  die  Zustimmung  zu  den 
neusten  Bundestagsbeschlüssen  vom  lOten  und  19ten  Novbr. 
1831  mit  den  gegebenen  Versprechungen  nicht  in  Einklang 
zu  bringen  (ibid.  p.  2.  3.)  und  der  Antrag  auf  Veröffentli- 
chung sämmtlicher  Bundesprotocolle  gänzlich'  unerwähnt  ge- 
blieben sei  (ibid.  p.  4).  Sodann  wurde  entwickelt,  dass, 
wenn  auch  nach  dem  Bundestagsbeschlusse  vom  Isten  Juli 
1824  nicht  mehr  alle  Bundestagsverhandlungen  der  Publici- 
tät  übergeben,  sondern  blos  in  die  loco  dictaturae  zu  drok- 

A\lg,  Zeitschrift  f.  Gescliicble.  Y.  1816.  H 


1S4  Die  Lande»terfa$$ung  in  Kwrhenm. 

kendea  SeparaiprotocoUe  aufjgeQomtnen  werden  soUicni, 
aus  doch  nur  fUr  die  einzelnen  Bundesregierungen  die  POiobI 
folge )  diese  loco  dictaturae  gedruckten  ProtocoUe  nicht  öf- 
fentlich durch  den  Druck  bekannt  macbeü  zu  lassen,  ohne 
dass  darin  eine  Vorschrift  darüber  enthalten  wäre,  welchen 
Gebrauch  davon  die  Bundesregierungen  machen  sollten,  viel- 
weniger ein  Verbot,  sie  den  Landständen  zum  Zwecke  ihrer 
BerufserfUUung  mitzutheilen  (ibid.  p.  5.),  denen  ja  durch 
die  Vorenthaltung  solcher  Documente,  welche  tkber  das  Be- 
nehmen der  Staatsbeamten  Aufschluss  geben  könnten,  die 
Ausübung  des  Anklagerechts  gegen  dieselben  ganz  unmög- 
lich gemacht  werden  würde.  Zugleich  wurde  der  Vorschlag 
gemacht,  die  Anträge  voip  31.  Oct.  1881  zu  wiederholen 
und  dabei  die  Mittheilung  der  SeparatprotocoUe  entweder 
vollständig  oder  wenigstens  die  Abstimmungen,  Aeuaserun- 
gen  und  Anträge  der  kurhessischen  Buudesgesandten  in  be- 
glaubigten Abschriften  nochmals  zu  verlangen ;  auch  die  Staats* 
regierung  um  specielie  Angabe  der  Schritte  zu  ersuchen, 
welche  sie  zum  Zweck  der  Ausbildung  und  Vervollkomm- 
nung der  deutschen  Bundesverfassung,  sowie  zur  Erzielung 
einer  dem  constilutionellen  Wesen  in  jeder  Hinsicht  ent* 
sprechenden  Wirksamkeit  beim  Bundestage,  und  der  Erfül- 
lung der  in  den  Art.  13.  18.  19.  der  Bundesacte  enthaltenen 
Zusagen  bereits  gethan  habe  und  noch  zu  tbun  gedenke; 
endlieh  sie  um  Erklärung  darüber  anzugehn,  ob  und  in 
welcher  Weise  sie  auf  den  Theil  des  Antrags  eingehn  werde, 
welcher  die  öffentliche  Bekanntmachung  der  Bundestagspro- 
tocoile  betreffe,  oder  was  sie  in  dieser  Hinsicht  etwa  schon 
verfügt  habe  (ibid.  p.  6). 

Ais  die  Discussion  über  diesen,  den  22.  December  1831 
gestellten  Antrag  (V.  d.  L.  v.  1831.  p.  1150.)  eröffnet  werden 
sollte,  verlas  den  30.  Januar  1832  der  Landlagscommissar 
eine  Aeusserung  des  Ministeriums  der  auswärtigen  Ange» 
legenheilen  (V.  d.  L.  v.  1832.  pag.  1839.).  Darin  wurde  auf 
den  Grund  der  in  England  und  Frankreich  angeblich  gellen- 
den Grundsätze,  der  Natur  der  europäischen  Diplomalie,  der 
allgemeinen  Vernunft,  der  Lehre  der  deutschen  Pub)icislen, 


IHe  Landesterfasätmg  in  Kurhessen.  155 

d^r  Bestimmungen  der  wiener  Schfussacite  §.  57.  und  der 
kurhessiseben  Verfassungsurkunde  §.  10.  behauptet,  dass 
von  einer  landständiscben  Mitwirkung  bei  Ausübung  der 
äusseren  Hoheitsrechte,  namentlich  des  Gesandtschaftsrechtes 
in  den  monarchtscben  Staaten  Deutschlands  gar  nicht  die 
Rede  sein  könne,  weil  die  Gesandten  landesherrliche  Com« 
mtssare  oder  Bevollmächtigte  seien,  die  nur  nach  Maassgabe 
der  ihnen  ertheilten  Aufträge  und  Instructionen  handeln  dUr^ 
fen  und  daher  auch  wegen  ihrer  Geschäftsführung  nur  dem 
Landesherm  als  ihrem  alleinigen  Commitlenten  verantwort- 
lich seien;  dass  auch  auf  das  Klarste  in  der  wiener  Schluss- 
acte  Art.  8.  ausgesprochen  wäre,  die  Ständeversammlungen 
sollten  in  keinerlei  Weise  auf  die  Gesohäftsführung  der  Bun- 
deslagsgesandten  einwirken  oder  auch  nur  über  deren  Wirk- 
samkeit eine  aotenmässige  Aufklärung  verlangen  können,  was 
auch  aus  der  rechtlichen  Natur  und  dem  politischen  Charak- 
ter des  deutschen  Staatenbundes  folge,  indem  die  Be- 
vollmächtigten der  Bundesglieder  an  die  Bundesversammlung 
nicht  abgeordnet  würden,  um  die  besonderen  Interessen 
ihres  Landes  wahrzunehmen,  sondern  die  Rechte  auszuüben, 
welche  dem  Bunde  in  seiner  Gesammtheit  zukommen;  dass 
ferner  die  äussern  Hoheitsrechte,  insbesondere  das  Gesandt-» 
scbaftsrecht  nicht  zu  den  nach  §.  89.  der  Yerfassungsurkunde 
von  den  Landständen  geltend  zu  machenden  Rechten  des 
Landes  gehöre,  dass  dagegen  die  Garantie,  welche  die  Ver- 
fassungsurkunde für  die  gesetzliche  und  verfassungsmässige 
Verwaltung  der  auswärtigen  Staatsgeschäfte  gebe,  einzig  in 
der  Verantwortlichkeit  des  Ministers  der  auswärtigen  Ange-^ 
legenheiten  bestehe,  welcher j  falls  er  sich  bei  den  mit  aus- 
wärtigen Staaten  eingegangenen  Verträgen  irgend  einer  Ver«- 
letzung  der  Verfassung  schuldig  gemacht  haben  sollte,  gleich 
einem  jeden  anderen  Hinisterialvorstande  von  den  Landstän^ 
den  vor  Gericht  gestellt  werden  könne.  Sodann  wurde  noch 
erwähnt,  dass  durch  den  Beschluss  der  Bundesversammlung 
vom  1.  Juli  1824  jedes  Bundesglied  zur  Geheimhaltung  der 
loco  dictaturae  gedruckten  Protocolle  veriragsmässig  ver- 
pfliebfcet  sei  und  jedes  Zuwiderhandeln  ihm  den  Vorwurf  der 

11* 


156  Die  Landesterfassung  in  Kurhessen» 

Wortbrüchigkeit  zuziehen  würde;  auch  der  Antrag,  der 
Ständeversammlung  blos  die  Anträge,  Aeusserungen  und 
Abstimmungen  des  kurhessischen  Bundestagsgesandten  in 
beglaubigten  Abschriften  mitzutheilen ,  gar  keine  Aenderung 
in  der  rechtlichen  Beurtheilung  der  Sache  hervorbringen 
künne,  da  sämmtliche  Bundesglieder  ein  Becht  darauf  hätten, 
dass  die  Abstimmung  keines  einzigen  Bundestagsgesandten 
nicht  (?)  zur  Publicität  gelange.  Schliesslich  ward  erklärt, 
dass  die  Ständeversammlung  ihr  Becht  zur  Stellung  des 
ersten  in  ihrem  Schreiben  vom  31.  October  1831  enthaltenen 
Antrags  zu  bezweifeln,  und  rücksichtlich  ihres  zweiten  An- 
trags sich  bei  der  ihr  ertheilten  allgemeinen  Versicherung 
zu  beruhigen  haben  dürfte,  auch  steh  überzeugen  möge,  wie 
die  Staatsregierung  im  Falle  eines  etwa  erneuerten  Antrags 
der  fraglichen  Art  darauf  nicht  eingehn  könne  (V.  d.  L.  v.  1832« 
p.  1338.  Beil.  XXXIX  b.). 

Diese  ministerielle  Aeusserung,  welche  von  einem  da- 
mals schon  verstorbenen  Staatsbeamten  ausgearbeitet  sein 
soll  (V.  d.  L.  V.  1832.  Beil.  LXXVl.  p.  2.  Cass.  allg.  Zeit.  1832. 
Beibl.  No.  14.  p.  1.),  wurde  einem  Ständemitgliede  zum  Be- 
ferate  mitgetheilt  (ibid.  p.  1340.),  welches  den  6.  Mäfz  1832 
(ibid.  p.  1523.)  die  am  22.  December  1831  gestellten  An- 
träge wiederholte,  indem  in  der  ministeriellen  Aeusserung 
auch  nicht  *das  Mindeste  enthalten  sei,  welches  davon  abzu- 
gehn  bewegen  könne  (ibid.  Beil.  LXXVI.  p.  7.).  Es  wurde 
in  dem  Berichte  angeführt,  dass  das  Becht  der  Ständever- 
Sammlung  zu  solchen  Anträgen  nicht  mehr  in  Frage  sein 
könne,  da  solches  bereits  in  dem  landständischen  Schreiben 
vom  31.  October  1831  begründet  und  in  dem  Antwortschrei- 
ben des  Ministeriums  der  auswärtigen  Angelegenheiten  gar 
nicht  angefochten  sei  (ibid.  p.  1.).  Dabei  wurde  der  Unter- 
schied zwischen  der  formeilen  Ausübung  der  äusseren  Ho- 
heitsrechte und  den  materiellen  Zwecken  dieser  Ausübung 
hervorgehoben,  wonach  die  Stände  Kurhessens  das  auch  von 
der  Staatsregierung  bei  dem  Abschluss  des  Zoll-  und  Handels- 
vertrags mit  Preussen  und  dem  Grossherzogthum  Hessen  an- 
erkannte  (ibid.  p.  3.  7.)  Recht  der  Mitsprache  hinsichtlich 


Die  Landesverfassung  in  Kurheuen.  157 

der  durch  die  Ausübung  der  äusseren  Hoheiisrechte  realisir- 
baren  materiellen  Zwecke  verlangen  können,  zumal  im  §.  89. 
der  Verfassungsurkunde  für  die  auswärtigen  Verhältnisse 
keine  Ausnahme  gemacht  sei  (ibid.  p.  4.),  jedoch  ohne  dass 
sie  eine  Mitwirkung  bei  der  formalen  Ausübung  selbst  an- 
zusprechen hätten,  welche  unbedingt  dem  Regenten  unter 
Mitwirkung  des  verantwortlichen  Ministers  des  Aeusseren  zu- 
stehe (ibid.  p.  2.).  Zugleich  wurde  bestritten,  dass  die  Ge- 
sandten nur  dem  Landesherrn  verantwortlich  seien,  da  alle 
Staatsbeamten,  zu  denen  doch  die  Gesandten  ebenfalls  ge- 
hören, von  den  Landständen  angeklagt  werden  könnten  und 
die  wiener  Schlussacte  §.  8.  nur  die  Verantwortlichkeit  eines 
einzelnen  Bundestagsgesandten  gegenüber  der  Gesammtheit 
der  Bundesglieder  ausgeschlossen,  solche  vielmehr  blos  gegen 
den  Staat  vorbehalten  habe,  von  welchem  derselbe  gesendet 
sei;  so  dass  die  Landstände  die  Befugniss  hätten,  nicht  nur 
den  Minister  des  Aeusseren  welcher  eine  verfassungswidrige 
Instruction  contrasignirt,  sondern  auch  den  Gesandten  welcher 
dieselbe  befolgt  oder  einer  verfassungsmässigen  zuwiderge- 
handelt habe,  anzuklagen  und  zu  dem  Ende  die  Einsicht  der 
zur  Begründung  der  Anklage  erforderlichen  Documente  zu 
begehren  (ibid.  p.  4.  5.),  Bei  der  Discussion  hierüber  wurde 
noch  besonders  von  einem  Ständemitgliede  Bezug  auf  die 
Verhandlungen  des  wiener  Congresses  genommen,  denen 
zufolge  den  Landständen  das  Recht,  die  Bestrafung  schuldiger 
Staatsdiener  wegen  dienstpflichtwidriger  Handlungen  zu  be- 
gehren, zustehe,  letztere  also  in  ihrer  Dienstführung  den 
Landständen  verantwortlich  gemacht  sein  sollten,  und  daraus 
die  durch  den  Antrag  wegen  Mittheilung  der  Separatpro to- 
cojle  der  Bundesversammlung  geltend  gemachte  Befugniss 
der  Landstände  gefolgert,  von  dem  Minister  des  Auswärtigen 
genaue  und  vollständige  Auskunft  über  die  Wirksamkeit  des 
Bundestagsgesandten  zu  verlangen.  Uebrigens  wollte  dieses 
Mitglied  jenen  Antrag  auf  diejenigen  Protocolle  beschränkt 
wissen,  welche  mit  dem  innern  Landesinteresse  in  Be- 
ziehung stehn,  indem  dasselbe  zugleich  darauf  aufmerksam 
machte,   das$  die  Staatsregierung  durch  die  Mittheilung  der 


158  Die  Lanie9f>erfaMnng  in  Kurhesim. 

Pft)t<>Goll6  Ufoer  die  loxetnburger  Etrpedition  und  über  die 
tll&iohsopefatioiisiCdföe  schon  practisch  anerkannt  habe,  wie 
ihr  die  Zurückhaltung  solcher  Protocolie  nicht  unbedingt  zur 
Pflicht  gemacht  worden  sei  (V.  d.  L.  v.  1834.  p.  1748.). 
Diese  letztere  Itiatsache  steht  freilich  im  schroiFen  Wider- 
spruch mit  der  Aeusserung  des  Ministers  der  auswärtigen 
Angelegenheiten,  welcher  dergestalt,  wie  es  wenigstens  nicht 
anders  den  Anschein  hatte,  wegen  der  durch  den  damaligen 
Rriegsminister  bewirkten  Mittheitung  von  Separatprotocolien, 
auf  die  kurhessische  Staatsregierung  den  Vorwurf  einer  Worl- 
brUöhigkeit  lud.  Das  Recht,  die  Vorlegung  solcher  Protocolle 
zu  begehren,  möchte  sich  übrigens  nicht  auf  die  Befugniss 
stützen  lassen,  zum  Zweck  einer  Anklage  die  ndthige  AufUM- 
mng  sich  zu  verschaffen;  zwar  nicht  deswegen  weil,  wie  vor- 
gegeben ist  (Oass.  allg.  Zeit.  1832.  Beibl.  No.  14.  p.  2.),  der 
Beklagte  nicht  verpflieht'Ct  sei,  dem  Kläger  die  Beweise  seiner 
l^hutd  £u  liefern,  aber  doch  weil  aus^enem  Grunde  nur 
specielle  bestimmt  bezeichnete  Protocolle  begehrt  werden 
ki^nlen,  in  denen  man  den  Beweis  einer  Anschuldigung 
gegen  einen  gewissen  Bnndestagsgesandten  finden  zu  können 
^ai)t,  keineswegs  aber  alle  und  jede  Protocolle,  ohne  Rück- 
si<ohl  darauf  ob  eine  Veranlassung  vorhanden  ist  zu  glauben, 
dass  <darin  Pflichtwidrigkeiten  der  Bundestagsgesandten  zu 
^blicken  sein  würden*,  weshalb  auch  der  Antrag,  dass 
wenigstens  die  Aeusserungen  und  Abstimmungen  der  ktrr» 
bessischen  Bundestagsgesandt^i  abschriftlich  mitgetheilt  wür^ 
den,  nicM  ails  angemessen  zu  erachten  sein  dürfte.  £nt^ 
sdieidewd  möchte  vielmehr  der  Umstand  sein,  dass  die  tooo 
diotaturae  gedruckten  Protocolle  der  Bundesversammlung 
nidit  etwa  blos  zimn  Gebrauch  der  von  den  einzelnen  Bun^ 
desgKedem  bevoHmächtigtenOe sandten,  sondern  nat^Kch 
auch  zum  Gebrauch  der  Bundesstaaten,  voti  denen  die  Ge- 
sandten bevoilmächligt  werden,  dso  für  die  Gorporati<me& 
be^ittmt  sind,  welche  nach  der  inneren  Verfassung  ^eäves 
jeden  Staates  die  Befugniss  haben,  dergtoicben  Docamente 
«Ad  deren  Inhalt  kennen  zu  lernen.  Niemand  wird  woM 
bezwetf^n,  dass  die  tSes^^dlen  soiohe  Protocolle  ihren  Re- 


Die  Lami€$terfa$9img  •»  Kurhe$$en.  IM 

fieruBgen  zu  Überliefern  gehalten  sind.  Ist  dies  aber  der 
Fal],  so  scheint  auch  die  Befugniss  der  Landstände,  von  der 
Regierung  die  MiUheMung  der  ProtocoHe  zu  begehren,  deut- 
lich aus  den  §.  92  und  93.  der  Verfassungsurkunde  zu  folgen, 
weil  hiemach  die  Stände  Versammlung  über  alle  Verhältnisse, 
welche  nach  ihrem  Ermessen  auf  das  Landes  wohl  weseni- 
Ui^en  Einfluss  haben,  die  zweckdienliche  Aufklärung  fordern 
kann  und  sogar  jeder  von  den  Landständen  gewählte  Aus- 
sohuss  zur  Erlangung  von  Aufschlüssen  über  die  ihm  vor- 
liegenden Gegenstände  schriftliche  MittheHung  von  den  ein- 
schlägigen Behörden  einziehen,  auch  die  persönliche  Zu- 
ziehung der  dazu  sich  eignenden  Staatsbeamten  veranlassen 
kann.  Wenn  also  nach  dem  Ermessen  der  Ständever- 
sammlung die  Verhandlungen  des  Bundestags  auf  das  Lan- 
deswohl einSussreich  erachtet  werden,  so  kann  dieselbe  von 
der  Regierung  die  Aufklärung  begehren,  die  ihr  zweckdien- 
Meh  scheint,  also  auch  bestimmen,  dass  ihr  zur  Erreichung 
ihres  Zweckes  nur  durch  Einsicht  der  SeparatprotocoUe  die 
aöthige  Atcfklärung  über  die  -Bundestagsverbandlungen  ge- 
währt werde.  Ebenso  iässt  sieh  leicht  an  einen  Aus^ 
sehttss  zur  Beguiachtung  eine  Angelegenheit  verwiesen  den- 
ken, wdehe  ee  fl)r  denselben  nöthig  machen  würde,  von  dem 
Buadestagsgesandten  selbst  solche  schriftliche  oder  mündliche 
mtiheiiung  über  den  Inhalt  der  erwähnten  ProtocoUe  zu  be- 
gelu^en,  weiche  der  wirklichen  Voriegung  der  letzteren  gleich 
käme.  Freiiiefa  würde  es  nicht  zulässig  sein,  abgleichen  schrift- 
liche oder  mündliche  Mittfaeiiungen  von  dem  Buodestagsge- 
eandien  zu  fordern,  wenn  derselbe  nur  als  ein  Haus-  und 
flofbeami^  anzusehn  wäre.,  wie  in  einem  öffentlichen  Blatte 
(€as8.  a%  Zeit.  1832.  Beibl.  No.  14.  p.  8.  A.  No.  10.)  und 
^»ftau  genommen  auc^  In  der  ministeriellen  Aeusserung  i>e- 
jiaiqpAet  ist,  oder  wenn  gar  die  Leitung  der  auswärtigen  An- 
gelegenheiten kein  Hoheits-  sondern  ein  unbeschränktes  Haus- 
hund üofreefat  wäre  (€as8.  allg.  Zeit  1832.  Beibl.  No.  14.  p.  3.  B. 
Ko«  1.),  in  welchem  Falle  von  einem  Minister  der  auswärtigen 
Angelegenheiten  gso*  keine  Rede  sein  könnte;  allein  dass  die 
Sundestagsgesandt^n  wirküebe  Staatodiener  sind,  leidet  kei- 


160  DU  Landesverfoisung  in  Kuthessen. 

nen  Zweifel,    da  sie  ja  von  dem  Minister  der  auswärligen 
Angelegenheiten  abhängig  sind,  jene  Eigienschaft  auch  in  Er- 
kenntnissen des  Obergerichts  zu  Hanau  und  des  Oberappel- 
latibnsgerichts  ausdrücklich  als  vorhanden  ausgesprochen  ist 
(Cass.  alig.  Zeit.  1835.  No.  59.  Beil.  p.  2.  10.).    Eigenthümlich 
ist  es,  dass  die  ministerielle  Aeusserung  .eine  Verantwortlichr 
keit  des  Ministers   der   auswärtigen  Angelegenheiten  gegen 
die  Landstände  wegen  Leitung  der  in  sein  Departement  ge- 
hörigen Gegenstände  anerkennt  und  doch  den  Landsiänden 
jede  Mitwirkung  bei  der  Ausübung  der  äussern  Hoheitsrechle 
abspricht,    als  ob  nicht  der  höchste  Grad  einer  Mitwirkung 
der  Landstände  bei  gewissen  Angelegenheiten  in  der  bis  zur 
gerichtlichen  Anklage  geführten  Gontrole  über  den  Beamten 
läge,  welchem  die  Handhabung  jener  Angelegenheiten  anver- 
traut ist.     Durch   das  freilich   unvermeidliche  Zugeständniss 
dieses  Anklagerechts  in  Betreff  der  dem  Bundeslagsgesandten 
ertheilten  Instruction  hatte  auch  das  Ministerium  unzweifel- 
haft anerkannt,  dass  den  Landständen  die  Befugniss  zustehe, 
einen  Einfluss  auf  die  Verhandlungen  der  Bundesversamm- 
lung zu  äussern,  soweit  dies  überhaupt  durch  den  kurhessi- 
schen Gesandten  möglich  ist,  und  sich  Eenntniss  von  jeiien 
Verhandlungen  zu  verschaffen.    Die  Ständeversammlung  be- 
schloss  auch  am  3.  April  1832  (V.  d.  L.  v.  1832.  p.  1744.) 
die  früheren  Anträge  als  nicht  erledigt  zu  wiederholen  und 
genehmigte  die  den  22.  December  1831  gemachten  Vorschläge, 
beschränkle  jedoch  zugleich  das  Begehren  einer  Miltheilung 
der  Separatprolocoll^  auf  diejenigen,   welche  die  inneren 
Angelegenheiten  des  deutschen  Bundes  und  seiner  Glieder 
betreffen.    Die  Ständeversammlung  begehrte  also  nicht  weiter 
diejenigen  Protocolle,   welche  sich  auf  das  Verhältniss  des 
deutschen  Bundes  in  seiner  Gesammtheit  zu  andern  euro- 
päischen Mächten   elc.   beziehn.    Zu   dieser  Unterscheidung 
ist  eigentlich  kein  rechtlicher  Grund  aufzufinden,  sondern 
nur  der  factische,  dass  die  damalige  Ständeversammlung 
nach  ihrem  Ermessen  die  ausgeschlossenen  Protocolle  nicht 
einflussreich  für  das  Landeswohl  gehalten  hat.    Nach  gefass- 
tem  Beschlüsse  entspann  sich  noch  eine  Erörterung  mit  dem 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen,  161 

Landtagsdommissar  darüber,  ob  die  Proiocoüe  zur  landstäo- 
dischen  Bibliothek  abgegeben  oder  jedesmal  an  einen  Aus- 
schuss  zur  Begutachtung  verwiesen  werden  sollten,  was 
jedoch  von  keiner  Wichtigkeit  zu  sein  scheint,  da,  wenn 
auch  die  ProtocoUe  zur  Bibliothek  abgegeben  werden»  die 
Ständeversammlung  doch  vom  Inhalte  Kenntniss  erlangen 
und  dann  jeden  beliebigen  Beschluss  fassen  kann.  Obwohl 
nun  am  19.  Juli  1832  (ibid.  p.  2368  A.)  die  fraglichen  Anträge 
t>ei  der  Staatsregierung  in  Erinnerung  gebracht  und  diese 
mit  Beziehung  auf  §.  105.  der  Verfassungsurkunde  um  eine 
MHtfaeilung  ihrer  Beschlussnahme  ersucht  wurde,  so  ist 
solches  doch  ganz  erfolglos  geblieben,  was  um  so  mehr  auf- 
fallen kann,  als  der  nachherige  Minister  der  auswärtigen  An- 
gelegenheiten als  früherer  Präsident  der  Ständeversammlung 
die  Befugniss  der  letzteren  zu  solchen  Anträgen  völlig  ge- 
billigt hatte. 

Die  Ständeversammlung  suchte  bei  andern  Gelegenheiten 
auf  den  Gang  t]er  Verhandlungen  beim  Bundestage  mittelbar 
einzuwirken.  Will  man  hierhin  auch  nicht  den  Fall  rechnen, 
wo  der  Staatsregierung,  weiche  in  Bezug  auf  ein  Gesuch 
des  englischen  Fräuleinstifts  zu  Fulda  erklärt  hatte,  dass  sie 
wegen  der  von  dem  Königreiche  Baiern  und  dem  Gross- 
herzogthume  Sachsen-Weimar  in  Beschlag  genommenen,  den 
milden  Stiftungen  des  Grossherzogthums  Fulda  gehörigen 
Fonds  die  Hülfe  der  deutschen  Bundesversammlung  mittelst 
Herstellung  des  eigenmächtig  gestörten  Besitzstandes  und 
Entscheidung  über  die  Forderungen  jener  Staaten  in  An- 
spruch genommen  habe  (V.  d.  L.  v.  1831.  p.  476.  468.),  von 
-der  Ständeversammlung  ein  auf  dieselbe  Angelegenheit  sich 
beziehendes  Gesuch  des  jungfräulichen  Benedictinerconvents 
•zu  Fulda  als  SoUicitation  der  etwa  erforderlichen  Verfügung 
an  den  kurhessischen  Bundestagsgesandten  mitgetheilt  wurde 
(V.  d.  L.  V.  1832.  p.  1220.):  so  gehört  dahin  doch  der  Be- 
schluss, nach  welchem  die  Ständeversammlung  die  Staats- 
regierung ersuchte,  durch  den  kurhessischen  Bundestagsge- 
sandten mit  allem  Ernste  und  Nachdrucke  dahin  wirken  zu 
lassen,  dass  die  den  Bundesstaaten  vermöge  der  gesetzlichen 


16t  Die  Land€i9$rfä$$9mg  m  Kwrkesien. 

Kriegsrerftesufig  ihis  Bundes  obliegende  VerpAicfatitng  zur 
Unteriiattung  eines  bestimmten  MiKUiretats  atif  keine  Weise 
erschwert,  im  Gegentheil  so  viel  irgend  thnnlich  denselben 
erieichtert  werden  möge  (V.  d.  L.  t.1882.  p.2ft6l.  Beil.€XXIIL). 
Auch  wurde  auf  den  Antrag  eines  Ständemitgliedes  die 
Erwartung  ausgesprochen,  dass  ein  Vertrag  mit  den  zum 
9.  Armeecoqis  des  deutsdien  Bundes  concurrirendeii  Staaten 
tkber  die  Or^uiisation  der  Contingeiite  vor  seiner  follziehung 
der  Stilndeversfflnailung  v,orgelegt  werde  (V.  d.  L  v.  18S2. 
p.  2260.  2261,),  vm\j  wie  bei  einer  andern  Gelegenheit  wie- 
derholt benrorgeboben  wurde  (itHd  p.  2373.),  von  der  kur* 
hessischen  Staateregierung  dargleichen  Verträge,  von  denen 
<£e  Stärke  des  Heeres  und  die  Grösse  der  Kosten  abhänge, 
nicfal  anders  als  mit  Zustimmung  der  Ständeversammlüng 
abgesciilosseti  werden  ktonten.  Als  ein  Re^eruagscommis- 
sar  äusserte,  der  Staatsregierung  würde  es  leicht  gewesen 
sein,  alsbald  eine  Interpretation  der  Kriegsv^rfassung  des 
deutschen  Bandes  hinsichtlich  der  Verbincfficfakeit  fUr  die 
Beurtheilung  der  zu  stellenden  militairischen  StreitkräHe  im 
Frieden  «md  der  Art  ihrer  Aufstellung  fiir  den  £rieg  von  der 
Bundesversammlung  zu  erwirken,  wodurdi  die  Verpfliciitufli- 
gen  in  ihrem  wahren  Umteige  deutlich  zu  erkennnen  ge- 
wesen sein  würden  (V.  d.  L.  v.  1832.  p.  2870«.),  trug  «iü 
Ständemitglied  (ibid.  p.  2370  &.)  am  21.  JuJi  1632  darauf  an, 
dass  die  Ständeversammlüng  ihrer  Seits  gegen  aine  solche 
Aeusserung  w^igstens  Protestation  einlegen  möge,  als  kdnne 
4er  Bundestag  über  die  kurbessischen  Finanzea  dergestalt 
verfügen^  dass  Eurhessen  alle  financieUen  V^ortheüe  aufoi^ 
opfern,  AMem  zu  entsagen  genöthigt  sei,  blos  um  dn  Kriegs- 
heer herzusieäen,  wek^s  nur  dazu  bestimaart  «ein  würde, 
im  Interesse  d^  grösseren  Staaten  zu  T^erbhiten,  Die  Be^ 
ratbung  über  tHesen  Gegenstand  wurde  cu  einer  andern 
Sitzung  ausgesetzt  (ii»d.  p.  2370:ji,),  liat  iber  nicht  weiter 
Statt  gefanden,  wahrscheiiiiieh  weil  am  26.  Joü  1882  «i«e 
Auflösung  der  iStändeversammlung  erfolgte  <sfbid.  fx.  2414.). 
Inzwisdten  tthlte  sich  doch  die  folgende  Sttedeversamnikuig 
veranlasst,  1a  ftror  Antwort  auf  die  fifsöSmogsiede  -den 


Die  Landesf>erfa99nng  in  Kurhesten.  163 

15.  MMrz  1833  anzudeuten,  dass  die  Kosten  des  stehenden 
Heeres  auf  denjenigen  Betrag  vermindert  werden  mttssten, 
welcher  nicht  allein  den  Verpfliefatangen  gegen  den  deut- 
schen Bund,  sondern  auch  den  Kräften  des  Landes  ange- 
messen sei  (Verh.  d.  Ldt.  vom  Februar  und  März  1883  p.  28.); 
so  dass  sie  auch  letztern  bei  der  Erfüllung  der  Bundespffich- 
ten  zu  beachten  sich  vornahm,  obwohl  sie  eine  Belhätigung 
dieser  Absicht  nicht  weiter  an  den  Tag  legen  konnte,  weil 
sie  den  18.  März  1833  aufgelöst  wurde  (ibid.  p.  32.). 

Sollte  wiiiLlich  irgend  eine  Bestimmung  der  kurhessi- 
sehen  Yerfassungsurkunde  in  Coilision  mit  einem  Bundesge- 
setze, welches  als  ein  solches  von  Kurhessen  beachtet  wer- 
den müsste,  oder  mit  einer  auf  den  Grund  eines  derartigen 
Bundesgesetzes  zu  dessen  Vollziehung  von  der  Bundesver- 
sammlung beschlossenen  Maassregei  stehen,  so  würden  den- 
noch die  kurhessischen  Staatsgenossen  und  Staatsbehörden 
die  Vorschrift  der  Verfassungsurkunde,  als  Grandgesetz  des 
Landes,  zu  beobachten,  mithin  dieselbe  den  Bundesgesetzen 
und  Bundesbeschiüssen  vorzuziehen  haben,  werl  die  letzteren 
beiden  für  die  Staatsangehörigen  und  die  Behörden  des  Lan- 
des^ die  sich  nicht  in  einer  unmittelbaren  Abhängigkeit  zu 
dem  Bunile  befinden,  doch  nur  in  der  Eigenschaft  von  Lan- 
desgesetzen bindend  sind,  von  welchen  natürlich  das  spätere 
die  früheren  auFhebl.  Hiermit  ist  jedoch  die  Frage  nicht  zu 
verwechsein,  ob  nicht  die  gesetzgebenden  Gewalten  in  Kur- 
faessen  gehalten  sind,  zur  Beseitigung  der  Coilision  eine 
Aenderung  der  Veffassungsurkunde  vorzunehmen.  Man 
glaubte,  dass  die  BesdilQsse  des  Bundestags  vom  28.  Juni 
und  4.  Juh  1832  fß)er  die  Aufrechthaltung  der  gesetzlichen 
Ordnung  und  Ruhe  in  Deutschland  (Verordnung  vom  18.  Juli 
1882.  V«rerda.  v«an  21.  ivä  1<832.),  von  demen  <ler  letztere 
den  Landfitttadefn  am  23.  Juli  1*832  unter  dem  Bemerken  mit- 
getheilt  wurde,  dass  der  kufbessische  Bundestagsgesandte 
vor  der  gedachten  Beschlussnahmo  instruirt  worden  sei, 
deix\|emge&  in  den  fraglichen  1*0  Punetai,  was  mit  (ien  eia* 
sohtigigen  Bestninuiigea  der  kttrhessiscbefi  Verfassnngsur» 
kunde  vom  5.  Ituitmr  1831  im  Widerspruch  stehe,  nicht  mit 


164  Die  Landesverfassung  in  Kurhessen. 

beizustimmen,  —  mit  der  Verfassungsurkunde  unvereinbar 
seien.  Die  Berichterstattung  eines  landständischen  Aus- 
schusses darüber,  welche  in  der  Sitzung  vom  26.  Juli  1832 
bewirkt  werden  sollte,  musste  unterbleiben,  weil  beim  Be- 
ginn dieser  Sitzung  die  Auflösung  der  Ständeversaromlung 
erfolgte  (Verh.  d.  Landt.  v.  Febr.  und  März  1833.  Beil.  I. 
Anl.  A.  pag.  25.  No.  351.).  Der  darauf  in  Wirksamkeit  tre- 
tende permanente  AusschuSs  legte,  noch  ehe  eine  darauf 
hinzielende  Bittschrift  der  Bewohner  der  Grafschaft  Schaum- 
burg eingegangen  war,  gegen  die  jene  Beschlüsse  verkünden- 
den Verordnungen,  insoweit  dieselben  nach  Form  oder  Inhalt 
mit  Bestimmungen  der  Verfassungsurkunde  nicht  vereinbar 
seien,  in  Uebereinstimmung  mit  30  Mitgliedern  der  aufge- 
lösten Ständeversammlung*)  Verwahrung  ein,  der  künftigen 
Ständeversammlung  vorbehaltend,  dieselbe  im  verfassungs- 
mässigen Wege  geltend  zu  machen  (Verh.  d.  Ldt.  v.  Febr. 
und  März  1833.  Beil.  I.  p.  1.);  dies  veranlasste  den  Magistrat 
und  die  Bürgerschaft  der  Stadt  Marburg  zu  einem  Antrage 
auf  Veröfifentlichung  jener  Verwahrung,  Bewohner  von  Darm- 
Stadt  aber  zu  einer  Dankadresse.  Der  Ausschuss  hat  später- 
hin bei  dem  Ministerium  des  Innern  darauf  angetragen,  dass 
die  Staatsregierung  nicht  blos  auf  die  Zurücknahme  jener 
Beschlüsse  bei  dem  Bundestage  mit  mögliehstem  Eifer  hin- 
wirken,  sondern  solche  auch  dabin  erläutern  möchte,  dass 
dieselben  nur  insofern  zur  Vollziehung  kommen  könnten  und 
sollten,  als  solche  mit  der  vaterländischen  Verfassung  ver- 
einbar seien  (ibid.  p.  2.).  Obwohl  letzteres  nicht  geschah, 
hat  dennoch  die  folgende  Ständeversammlung,  ungeachtet 
mehre  Bürger  von  Cassel  bei  dem  Ausschusse  darauf  ange- 


*)  von  Baumbach  n  (Kammerrath,  nachher  Geheimer  Ober- 
Finanzrath),  Bach  (Anwalt),  Dedolph  (Obergerichts>Rath) ,  Duysing 
(nachher  Geb.  Ober-Finanzrath),  Eckhardt  (Anwalt),  Engel,  Fuchs, 
von  Ueydwolf,  Jordan,  Jungk,  Kaitz,'Kebr,  Krug,  König',  Michael, 
Manns,  Meier,  Scheuch  I ,  Scheuch  H.  (nachher  Landrichter),  Schmidt- 
mann, Schäfer,  Schauberger;  Strubberg,  von  Trolt  (Hauptmann), 
Vilmar  (nachher  Gymnasial-Direktor),  von  Warnsdorf  (Obergericbts- 
Direktor),  Wenthe,  Kraus,  von  Riedesel  (Erbmarschall), 


Die  Landesperfassung  in  Kttrkessen.  16$ 

tragen  hatten,  gegen  den  Poliz^eidirector  eine  Untersuchung 
einzuleiten,  weil  er,  dem  §.  35.  der  Verfassungsurkunde  zu- 
wider, auf  den  Grund  des  Bundesbeschlüsses  eine  öffentliche 
Versammlung  untersagt  habe  (ibid.  p.  7.),  keine  besonderen 
Schritte  zur  Verfolgung  jenes  Zweckes  unternommen.  Viel- 
leicht ist  dieselbe  dazu  durch  die  von  dem  Landesherrn  bei 
deren  Eröffnung  in  Person  abgegebene  Erklärung  bewogen 
worden,  dass  das  ernste  Bestreben,  die  Vorschriften  der 
Ländesverfassung  und  die  Verpflichtungen  gegen  den  deut- 
schen Bund  gewissenhaft  zu  erfüllen,  stets  die  Schritte  seiner 
Regierung  leiten  werde  (V.  d.  L.  v.  Febr.  u.  März  1833.  p.  3  ). 
Wenigstens  hat  die  Ständeversammlung  hierin  die  Erfüllung 
des  vom  Ausschusse  gestellten  letzten  Antrags  erblickt,  in- 
dem sie  in  ihrer  Antwort  auf  jene  Eröffnungsrede  erwiederte, 
sie  sei  mit  Freude  durch  den  Ausdruck  des  ernsten  landes- 
herrlichen Willens  erfüllt,  dass  den  Vorschriften  der  Landes- 
verfassung gewissenhaft  genügt  werde,  indem  sie  zugleich 
jene  beruhigende  Zuversicht  hieraus  wieder  schöpfe,  welche 
durch  die  neueren  Maassregeln  des  deutschen  Bundes  ge- 
trübt worden  sei  (ibid.  pag.  28.).  — 

Ueber  Vertauschungen  des  Staatsgebiets  schwieg  der 
Constitutionsentwurf  von  1816  gänzlich;  doch  schon  das 
Haus-  und  Staatsgesetz  von  1817  enthält  die  Bestimmung: 
nur  gegen  ein  vollständiges  Aequivalent,  verbunden  mit  an- 
dern wesentlichen  Vortheilen,  kann  eine  Vertauschung  ein- 
zelner Theile  Statt  finden.  In  der  Proposition  vom  7.  Oclo* 
ber  1830  fand  sich  die  nämliche  Anordnung,  doch  war  hier 
der  Ausdruck:  „ Aequivalent ''  in  die  Bezeichnung:  „Ersatz 
an  Land  und  Leuten"  verwandelt;  die  dann  ebenso  in  den 
Verfassungsentwurf  11.  übergegangen  ist  und  landständischer 
Seits  keine  Anfechtung  erlitten  hat.  Offenbar  ist  hierdurch 
angedeutet,  dass  das  Aequivalent,  welches  gegen  vertauschte 
Theile  des  Staatsgebietes  erworben  würde,  in  einem  andern 
Staatsgebiete,  verbünden  mit  der  Landeshoheit  über  dasselbe, 
bestehn  müsse,  nicht  etwa  blos  in  Geldentschädigungen,  oder 
in  Grundslücken  die  ohne  Landeshoheit  abgetreten  würden. 

Die  Bestimmung  an  sich  schliesst  übrigens  die  Einver- 


166  tHe  LanduiwfaBSHnp  in  Kurhesien. 

ieibung  des  ganzen  Siaats  in  einen  andern,  auch  wohl  die 
Loatrennung  ganzer  Provinzen  zum  Zweck  der  Vereinigung 
mit  andern  Staaten  aus,  indem  sie  eigentlioh  nur  gestattet, 
gjeringe  Parcelen  des  Staatsgebiets  abzutreten.  Worin  die 
wesentlichen  Vortheile  bestehn  sollen,  deren  Gewinnung 
noch  neben  dem  vollständigen  Ersatz  an  Land  und  Leuten 
eine  Vertauschung  rechtfertigen  müsse,  lässt  sich  nicht  im 
Allgemeinen,  sondern  nur  in  jedem  einzelnen  Falle  bestimmen. 
In  dem  Verfassungsentwürfe  IL  sind  die  Worte:  „mit 
Zustimmung  der  Landstände ^^  vor  den  Worten:  „Statt  fin- 
den" eingeschoben,  so  dass  alle  sonstigen  eine  Vertauschung 
bedingenden  Erfordernisse  vorausgesetzt,  die  Einwilligung 
der  Stände  doch  hinzutreten  muss.  Die  wUrtembergische 
Verfassungsurkunde  §.85.  untersagt  die  Veräusserungen  des 
Staatsgebietes  nicht,  bindet  solche  jedoch  an  die  Einwilli- 
gung der  Stände,  ist  also  im  Ganzen  milder  als  die  kurbes- 
sische,  fUgt  aber  ($.  2.)  die  für  die  Staatsbürger  sehr  beru- 
higende Glausel  hinzu,  dass,  sollte  ein  unabwendbarer  Noth- 
fall  (auf  welchen  demnach  die  Abtretung  beschränkt  sein 
dürfte)  die  Abtretung  eines  Landestheils  unvermeidlioh  ma- 
chen, wenigstens  dafür  zu  sorgen  ist,  dass  den  Eingesesse- 
nen des  getrennten  Landestheils  eine  hinlängliche  Zeitfrist 
gestattet  wird,  um  sich  anderwärts  im  Königreiche  mit  ihrem 
Eigenthume  niederlassen  zu  können,  ohne  in  Veräusserung 
ihrer  Liegenschaften  übereilt  oder  durch  eine  auf  das  mit- 
zunehmende Vermögen  gelegte  Abgabe  oder  sonst  auf  an- 
dere Weise  belästigt  zu  werden.  Bei  Berathung  der  kur< 
hessischen  Verfassungsurkunde  ist,  was  fi*eilich  noch  grössere 
Garantie  für  die  Betheiligten  gewesen  wäre,  zur  Sprache 
gekommen,  ob  nicht  bei  Abtretungen  vorzubehalten  sei,  dass 
die  Bewohner  der  abzutretenden  Gebielstheile  durch  den 
neuen  Regenten  keiner  ihnen  geringere  Vortheile  gewähren- 
den Landesverfassung  unterworfen  werden  dürften,  als  sie 
durch  die  kurhessische  erlangt  hätten;  doch  ist  diese  Idee 
nicht  weiter  verfolgt  worden.  Das  Sachsen -altenburgische 
Grundgesetz  §.  2.  gestattet  lediglich  zur  Ausgleichung  mit 
den  Nachbarstaaten  wegen  bestehender  Grenzstreitigkeiten, 


Die  Landeseerftuning  in  KurhesMm.  107 

Hobeiis--  und  anderer  IrruDgen  einen  Austausch  kleinerer 
Gebietstbeile,  diesen  aber  ohne  Einwilligung  der  Stände, 
blos  nach  Vernehmlassung  der  Landesdeputation,  wenn  da- 
bei Abtretung  von  Wohnsitzen  mit  Untertbanen  oder  von 
Domanialeigenthum  beabsichtigt  wird.  Die  Yerfassungsur- 
kunde  für  das  Königreich  Sachsen  $.  2.  enthält  nur  die  Vor- 
schrift, dass  zu  einer  Yeräusserung  Zustimmung  der  Stände 
erforderlich  sei.  Dasselbe  ist  in  dem  hannoverschen  Grund-» 
gesetz  von  1833.  $.  2.  und  in  der  braunschweig.  Landschafts- 
ordnung $.  1.  der  FalL  Doch  nehmen  diese  letzteren  drei 
Staatsgrundgesetze  davon  Grenzberichtigungen  aus,  das  ftkr 
das  Königreich  Sachsen  mit  der  Beschränkung,  dass  nicht 
dabei  Unterthanen  abgetreten  werden,  welche  unzweifelhaft 
zu  dem  Königreiche  gehört  haben.  Bei  solchen  Berichtigun- 
gen streitiger  Grenzen  hat  daher  die  Regierung  der  erwähn- 
ten drei  Staaten  ziemlich  freie  Hand,  indem  sie  weder  durch 
die  Zustimmung  der  Landstände  noch  auf  sonstige  Weise 
gebunden  ist. 

Nicht  so  ausgedehnte  Befugniss  hat  in  dieser  Beziehung 
die  kurhessische  Regierung,  indem  nach  der  Verfassungs- 
urkunde nur  die  bei  deren  Verkündigung  bereits  mit  aus« 
wärtigen  Staaten  eingeleiteten  Verträge  von  der  Zustimmung 
der  Landslände  ausgenommen  sind,  eine  Clause!,  die  man 
schon  in  dem  Verfassungsentwurfe  iL  wahrnimmt  und  die 
ihren  Ursprung  der  in  die  Proposition  vom  7ten  October 
1830  nicht  aufgenommenen  Bestimmung  verdanken  wird, 
dass  als  Regel  die  landständische  Zustimmung  zu  allen  Ab- 
tretungen erforderlich  sein  sollte,  wovon  man  eine  Ausnahme 
in  dem  Falle  gestatten  wollte,  dass  hinsichtlich  einzelner  be- 
absichtigter Abtretungen  Verträge  bereits  eingeleitet  seien, 
um  zu  vermeiden,  dass  nicht  die  dieserhalb  schon  zu  einem 
Resultat  gediehenen  Verabredungen  mit  andern  Staaten  in 
Folge  eines  landständischen  Beschlusses  alterirt  würden. 
Nach  diesem  Grunde  kann  man  die  erwähnte  Glausel  nicht 
auf  alle  Unlei^andlungen  ausdehnen,  welche  etwa  irgend 
einmal  eröffnet  gewesen  sind  und  wieder  geruht  haben^ 
ohne  dass  sie   schon  irgend  ein  Resultat  getiefert  hätten; 


168  Die  Landesverfassung  in  Knrhesien. 

n»au  muss  dieselbe  vielmehr  auf  diejenigen  Unterhandlungen 
beschränken,  welche  Anfangs  1831  so  weit  gediehen  waren, 
dass  bereits  die  Einleitung  eines  förinlichen  Vertrages- 
Statt  gefunden  hatte.  Es  muss  also  mit  den  betreffenden 
auswärtigen  Staaten  Über  eine  Abtretung  schon  eine  Ver- 
abredung wenigstens  in  ihren  GrundzUgen  getroffen  sein, 
die,  ohne  Veränderung  der  letzteren,  zu  einem  Vertrage 
fuhrt,  wenn  auch  das  Detail  desselben  noch  eine  nähere 
Erörterung  erheischen  sollte.  Diese  Ansicht  wurde  auch  in 
der  Ständeversammlung  ausgesprochen.  Nachdem  nämlich 
eine  Verkündigung  des  Regenten  vom  Uten  April  1832  er- 
folgt war  (Gass.  allg.  Zeit.  1832.  Nr.  134.  Beil.),  wonach  in 
Folge  eines  am  23sten  December  1831  abgeschlossenen  Ver- 
trags mit  Hannover,  gegen  die  Erwerbung  des  Gesammtdor- 
fes  Nieste,  des  Dorfes  Wahnhausen  und  des  Gutes  Nienfeld, 
das  Mengedorf  Mollenfelde,  das  Dorf  Laubach  und  das 
Mengedorf  Pohle  abgetreten  werden  sollte,  ohne  dass  land- 
ständische Zustimmung  zu  jenem  Vertrage  eingeholt  war, 
wurde  in  der  Stände  Versammlung  der  Landtagscommissar 
ersucht,  zu  bestätigen,  dass  die  deshalbigen  Verhandlungen 
schon  vor  dem  Erscheinen  der  Verfassungsurkunde  einge- 
leitet gewesen  seien  (V.  d.  L.  v.  1832.  p.  2029.).  Als  der- 
selbe erwiederte,  dass  diese  Gebietsausgleichung  der  Erfolg 
von  Unterhandlungen  sei,  welche  schon  in  früheren  Jahrhun- 
derten begonnen  hätten,  wurde  solche  Erklärung  nicht 
genügend  befunden,  vielmehr  geglaubt,  es  müsse  die  Erklä- 
rung des  Landtagscommissars  dahin  gerichtet  sein,  dass  die 
unmittelbaren  Verhandlungen  über  den  jetzt  abge- 
schlossenen Vertrag  schon  vor  der  Verfassung  begonnen 
hätten.  Wenn  auf  die  Ertheilung  einer  Erklärung  dieser 
Art  nicht  weiter  gedrungen  wurde,  so  mag  dies  darin  seine 
Ursache  haben,  dass  ein  Ständemitglied  erwiederte,  es  sei 
solches  wirklich  der  Fall  gewesen  und  bei  der  Djscussion 
des  %.  1.  der  Verfassungsurkunde  ausdrücklich  angegeben, 
was  dann  auch  in  dem  landständischen  Berichte  bestätigt 
wurde,  welcher  sich  auf  das  Gesetz  über  die  künftige  Rechts- 
verfassung der  durch  den  erwähnten  Staatsvertrag  an  Kur- 


Die  Landeieerfasmmg  in  Kurhessen,  169 

hessen  übergegangenen  Ortschaften  vom  SOsten  Juii  1832 
bezog  (V.  d.  L.  v.  1832.  p.  2368  p.). 

Obwohl  demnach  zu  jenem  Vertrage  landständische 
Zustimmung  nicht  erforderlich  war,  musste  dabei  doch  die 
nach  der  Verfassungsurkunde  weiter  nöthige  Bedingung  ei- 
ner Gebietsabtretung,  nämlich  vollständiger  Ersatz  an  Land 
und  Leuten,  verbunden  mit  andern  wesentlichen  Vortheilen, 
berücksichtigt  werden,  weil  die  Erfüllung  dieser  Bedingung 
nach  §.  1.  der  Verfassungsurkunde  nicht  gleich  der  landstän- 
dischen Zustimmung  bei  den  bereits  eingeleitet  gewesenen 
Verträgen  nachgelassen  ist.  Da  die  Stände  in  das  Gesetz 
vom  30sten  Juli  1832  gewilligt,  welches  zur  Vollziehung  je- 
nes Vertrags  dienen  sollte,  so  müssen  »ie  auch  die  Ueber- 
zeugung  gehabt  haben,  dass  die  fragliche  Bedingung  nicht 
ausser  Acht  gelassen  sei;  Der  vollständige  Ersatz  an  Land 
und  Leuten  ist  leicht  in  den  neu  erworbenen  Ortschaften 
zu  suchen;  die  damit  verbundenen  wesentlichen  Vortheile 
lassen  sich  dagegen  nur  in  der  durch  die  Verkündigung  vom 
Uten  April  1832  erwähnten  Beseitigung  mehrer  Territorial- 
und  Grenzstreitigkeiten,  sowie  verschiedener  gemeinschaftli- 
chen und  gemischten  Verhältnisse  entdecken.  Diese  Ver- 
hältnisse bestanden  darin,  dass  das  Dorf  Nieste  nach  einem 
Vertrage  von  1536  Kurhessen  und  Hannover  z\,  \eicher  Ge- 
rechtigkeit und  Nutzbarkeit  zustand,  dergestalt  dass  die  Gon- 
tribution  monatlich  zwischen  beiden  Staaten  getheilt,  auch 
die  ausgehobene  Rekrutenzahl,  die  jedoch  nur  ausnahms- 
weise gehoben  worden  ist,  gleich  getheilt  wurde,  Einquartie- 
rung gar  nicht  Statt  fand,  ebensowenig  eine  Publication  von 
Landesordnungen,  die  Gerichtsbarkeit  aber  von  einem  Sammt- 
gerichte  ausgeübt  wurde,  dessen  Directorium  jährlich  zwi- 
schen beiden  Staaten  wechselte,  womit  auch  zugleich  ein 
Wechsel  des  instanzenzugs  und  der  zur  Anwendung  zu 
bringenden  Gesetze  des  einen  und  des  andern  Landes  Statt 
fand;  sowie  darin,  dass  die  Feldmark  des  kurhessischen 
Dorfes  Vernawachtshausen  zu  einem  Theile  dem  Hoheitsge- 
biete Hannovers  angehörte  und  dessen  Besteuerung  unterlag. 

Der  Verfassungsentwurf  IL  und  HL  hatte  noch  die  Be* 

Allg.  ZeitMkrlfi  f,  Gescbieht«.  V.  1846.  12 


170  Die  Landest>erfasBung  in  Kurhessen. 

stimiDUDg-:  ^Jederneuerworbene  Landestheil  tritt  in  die  Gemein«^ 
Schaft  dieser  Staatsverfassung",  die  jedoch  in  dem  Verfassungs« 
entwürfe  IV.  weggelassen  wurde.  In  der  That  war  dieselbe 
iiberflUssig^  da  sich  schon  im  Anfange  des  $.  1.  die  Vor- 
schrift findet,  dass  auch  Alles ,  was  etwa  noch  in  der  Folge 
Inil  Rurhessen  verbunden  werden  wird,  ein  in  einer  Verfas- 
sung vereinigtes  Ganzes  mit  dendermaligen  kurhessischen  Lan- 
den bilden  soll.  Es  ist  übrigens  nöthig  erachtet,  die  Ein- 
verleibung der  durch  deu  Vertrag  mit  Hannover  erworbenen 
Ortschaften  mittelst  eines  eignen  Gesetzes  speciell  anauord 
nen,  obgleich  der  Regent  durch  die  Verkündigung  vom  Uten 
^ril  1832  davon  Besitz  ergriflfen  und  dieselben  von  dem 
Tage  der  Uebergabe  an  (lOten  Mai  1832)  mit  dem  KurfÜr- 
stenthum  vereinigt  erklärt  hatte.  Ja  man  begnügte  sich 
nicht  damit,  dass  der  Entwurf  des  Gesetzes  über  die  künf- 
tige Rechtsverfassung  jener  Ortschaften  (V.  d.  L.  v.  1832» 
Beil.  LXXIIa.)  blos  im  Eingänge  die  Einverleibung  dersel- 
ben mit  Kurhessen  erwähne,  weil  diese  gesetzlich  aus- 
gesprochen werden  müsse,  um  die  rechtliche  Nothwen- 
digkeit  ihrer  Anerkennung  und  die  rechtliche  Möglichkeit 
ihrer  Vollziehung  durch  die  Behörden  zu  begründen,  indem 
der  Slaatsvertrag  selbst  Rechte  und  Pflichten  nur  für  die 
Gontrahirenden  Theile  als  solche  zur  Folge  habe  und  sohin 
diese  blos  zur  thatsächlichen  Ausführung  der  Einverleibung 
auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  berechtige  (V.  d.  L.  v. 
1832.  p.  2368  o.  p.).  Es  ergiebt  sich  hieraus,  dass  auch 
die  Aufnahme  neuer  Gebiete,  also  der  Erwerbungen  welche, 
sei  es  mit  oder  ohne  Abtretung  anderer  Landestheile  z«  B. 
durch  Erbanfall,  gemacht  werden,  in  den  kurhessischen 
Staatsverband  nicht  ohne  Zustimmung  der  Landstände  ge- 
schehn  kann,  was,  wenn  auch  die  Einverleibung  nach  Vor- 
schrift der  Verfassungsurkunde  nicht  zu  verweigern  ist,  doch 
in  Beziehung  auf  die  dadurch  mögliche  VerSnderung  der 
Landes-Repräsentation  von  Wichtigkeit  erscheint.  Jenes  Prin- 
zip hat  eine  um  so  stärkere  Feststellung  erhalten,  als  ge« 
mäss  demselben  verfahren  wurde,  nachdem  schon  durch  die 
Verkündigung  vom  Uten  April  1832  in  eiaeffl  eoigegenge- 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  171 

setzten  Sinne  gehandelt  war,  späterhin  aber  dennoch  aner- 
kannt wurde,  dass  die  in  der  Proposition  zum  Eingange 
des  Gesetzes  vom  SOsten  Juli  1832  als  Thatsache  erzählte 
Einverleibung,  mit  Weglassung  dieser  Erzählung  erst  in  dem 
§.  1.  des  Gesetzes  selbst  ausgesprochen  werden  müsse.  Der 
von  der  Staatsregierung  proponirte  Eingang  zu  jenem  Ge* 
setze  unterscheidet  sich  in  Beziehung  auf  diesen  Theil  hin- 
sichtlich des  Materiellen  von  dem  durch  die  Ständeversamm- 
lung genehmigten  Vorschlage  des  Ausschusses  (V.  d.  L.  v. 
1832  p.  2368  o.  p.)  dadurch,  dass,  während  nach  der  Pro- 
positton  die  erworbenen  Ortschaften  „einen  Bestandtheil  des 
Kurstaates"  bilden  sollten,  dieselben,  dem  ständischen  Be- 
schlüsse gemäss,  „integrirende  Bestandtheile  des  Kurstaates 
mR  allen  in  Bezug  auf  den  Staatsverband  und  die  staats- 
bürgerlichen Rechte  und  Pflichten  sich  aus  dieser  Einverleibung 
ergebenden  rechtlichen  Folgen"  bilden  sollten.  Es  hat  dadurch 
eine  noch  innigere  Verbindung  der  neuerworbenen  Ort- 
schaften mit  den  bisherigen  Landen  ausgedrückt  und  ausser- 
dem zugleich  den  Bewohnern  derselben  der  Genuss  der  den 
Hessen  nach  der  Verfassungsurkunde  gebührenden  staats- 
bürgerlichen Rechte,  gegen  Uebernahme  der  Pflichten  hessi- 
scher Staatsbürger,  zugesichert  werden  sollen.  Nach  dem 
hannoverschen  Grundgesetz  von  1833  §.  1.  bilden  auch  Frie- 
densschlüsse eine  Ausnahme  von  der  Regel,  dass  Bestand- 
theile des  Staatsgebiets  nicht  ohne  Zustimmung  der  Stände 
abgetreten  werden  können.  Die  kurhessische  Verfassungs- 
orkifhde  kennt  eine  solche  Ausnahme  nicht.  Es  muss  da- 
her die  Ständeversammlung  auch  zu  solchen  Friedensschlüs- 
sen einwilligen,  durch  welche  Theile  des  Staates  abgetreten 
werden,  sei  es  nun,  dass  ein  Friedenstractat  dieser  Art  von 
Hessen  unmittelbar  oder  von  einem  Staatenverein  abgeschlos- 
sen würde,  welcher  Hessen  zu  seinen  Mitgliedern  zählt. 
Cassel,  Carl  Wilhelm  Wippermann. 


12* 


Macpherson*«  Osslan. 


Die  von  Macpherson  herausgegebenen,  dem  Ossian  zuge- 
schriebenen Gedichte  sind  schon  mehrfach  in  dem  Glauben 
an  ihre  Aechtheit  von  Geschichtsforschern,  die  mit  Untersu- 
chungen über  die  Wikingszüge  der  alten  Skandinavier  sich 
beschäftigt  haben,  einer  nähern  Betrachtung  unterzogen  und 
theiiweise  selbst  als  Quellen  benutzt  worden.  Es  hat  sich 
indess  mit  Sicherheit  herausgestellt,  dass  Macpherson  dem 
Ossian  diese  Gedichte  untergeschoben  hat.  Was  O'Connor, 
Drummond  und  O'Reilly  in  dieser  Rücksicht  nachgewiesen 
haben,  ist  dergestalt  überzeugend,  dass  ein  Zweifel  an  der 
Wahrheit  ihrer  Behauptungen  gar  nicht  mehr  zulässig  ist 
Ganz  besonders  aber  bestätigt  es  sich  auch  bei  einem  nä- 
hern Eingehen  in  das  Einzelne  der  Geschichte  der  Wikings- 
züge auf  westlichen  Wegen.  ^ 

Bei  Forschungen  über  diesen  zuletzt  angedeuteten  Ge- 
genstand bin  auch  ich  auf  Untersuchungen  über  Ossian  ge- 
führt worden.  Meinerseits  war  jedoch  hauptsächlich  nur 
die  Forschung  auf  jenen  anderen  Gegenstand  gerichtete  Die 
Ergebnisse  derselben  werden  sobald  sich  in  dieser  ZeiU 
Schrift  Platz  für  die  ziemlich  weitläu6g  gewordene  Abhand- 
lung findet,  durch  den  Druck  bekannt  gemacht  werden.  Die 
Untersuchungen  über  Ossian  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
die  Geschichte  der  Literatur  weiter  auszuführen,  hat  Herr 
Dr.  Fritz  Mayer  aus  Arolsen  übernommen.  Ehe  jedoch  die 
Ergebnisse  der  Forschungen  meines  jungen  Freundes  zur  voll- 
endeten Reife  gediehen  sein  werden,  dürfte  es  zweckmässig 
sein,  auf  die  Hauptpuncte,  auf  die  es  bei  der  gedachten 
Untersuchung  ankommt,   vorläufig  in  wenigen  Worten  auf- 


Maqpherson'g  Ossian.  173 

merksam   zu   machen.    In  der  Absicht,   diesem  Zwecke  zu 
genügen,  sind  die  nachstehenden  Zeilen  niedergeschrieben. 

Vor  Allem  zuerst  ist  nun  in  Rücksicht  auf  den  zu  be- 
trachtenden Gegenstand  das  Urtheii  der  zur  Untersuchung 
der  Aechtheit  der  Gedichte  Ossians  niedergesetzten  Gommis- 
sion  über  das  Ganze,  was  Macpherson  dargeboten  hat,  vor 
Augen  zu  stellen.  Die  Worte  lauten  im  Original,  wie  folgt*. 
„That  Ossianic  poetry  was  formerly  common,  general  and  in 
great  abundance  trough  the  Highlands;  but  that  they  could 
not  say,  how  much  of  his  collection  Macpherson  had  obtai- 
ned  in  the  form  he  had  given  it  to  the  public;  and  that  they 
had  not  been  able  to  obtain  any  one  poem,  Ihe  same  in 
title  and  tenor  with  those  he  had  published"  (The  genu- 
ine remains  of  Ossian  literally,  translated;  with  a  prelimi- 
nary  dissertatioA.  By  Patrik  Macgregor.  London  1841.  p.  26.). 
— -  It.  (The  Gommittee  of  the  Highland  Society)  is  inclined 
to  believe  that  he  (Macpherson)  was  in  use  to  supply  chasms, 
and  to  give  connection  by  insenting  passages  which  he  did 
not  find,  and  to  add  what  he  conceived  to  be  dignity  and 
delicacy  to  the  original  composition,  by  striking  out  passages, 
by  softening  incidenis,  by  refining  the  language;  in  short, 
by  changing  what  he  considered  as  too  rüde  for  a  modern 
ear*^  (The  transact  of  the  royal  Irish  academy.  Vol.  16. 
part*  2.    polit.  literat.  p.  313.). 

Schon  im  Jahre  1784  hatte  Young  Gedichte  Ossians,  die 
er  in  Schottland  gesammelt,  herausgegeben  (The  transact. 
of  the  roy.  Ir.  acad.  vol.  I.  1787.  antiquit  p.  43.)  und  da- 
bei bemerkt  „dass  Macpherson  keinesweges  ein  treuer 
üebersetzer  gewesen  wäre,  sondern  dass  er  sich  eigenmäch- 
tige Veränderungen  erlaubt  habe,  die  seine  Ossianischen 
Gedichte  zu  höchst  unzuverlässigen  Urkunden  über  die  Ge- 
schichte, Gebräuche  und  Denkungsart  der  Zeiten,  von  denen 
diese  Lieder  handeln,  machten. 

Später  trat  O'Connor  bei  Gelegenheit  der  von  ihm  be- 
sorgten Ausgabe  der  alten  irischen  Geschichtschreiber  ge- 
gen Macpherson  auf.  Sein  Hauptzweck  war,  im  Gegensatze 
gegen  die  Behauptungen  der  Schotten  darzuthun,  dass  Fin- 


174  Macphersan's  Ouian, 

gal,  Ossian  und  Osgar  nicht  in  den  schottischen  Hochlanden 
gelebt  bätien,  sondern  in  Irland;  demnächst  widersprach 
er  der  Behauptung  der  Schotten,  dass  die  dem  Ossian  zuge- 
schriebenen Gedichte  wirkh'ch  von  diesem  Sänger  wären« 
Er  läugnet  zwar  nicht,  dass  man  dergleichen,  in  älteren 
Handschriften  in  irischen  Bibliotheken  findet,  verwirft  aber 
aus  sprachlichen  Gründen,  wie  Andere  schon  vor  ihm  ge- 
than  haben,  die  Behauptung  von  deren  Alterthümlichkeit. 
Sie  sind  nicht  in  der  alten  reinen  Sprache,  deren  sich  die 
irischen  Barden  bedient  haben,  gescl^rieben,  sondern  zeigen 
die  bestimmtesten  Spuren  des  EinOusses,  den  die  Eroberung 
und  die  Herrschaft  der  Engländer  in  Irland  auch  auf  die 
Sprache  geUbt.  Mit  sicherer  Ueberzeugung  spricht  er  fd^ 
gende  Behauptungen  aus,  dass  kein  in  keltischer  Sprache 
geschriebener  Godeic  angeblich  Ossianischer  Gedichte  vorge- 
legt werden  könnte,  der  nicht  in  irischer  Sprache  und  mit 
irischen  Buchstaben  geschrieben  wäre*,  dass  bisher  kein 
solcher  Codex  gefunden  sei,  der  bis  an  das  dreizehnte  Jahr- 
hundert reiche;  d^ss  ferner  der  Codex,  den  man  in  das 
achte  Jahrhundert  zurückversetzen  wolle,  dem  vierzehnten 
angehöre  (Rerum  Hibernicarum  scripftres  veteres.  tom.  1. 
epistol.  nuncupat.  pag.  61.  127  — 129.  proleg.  2.  p.  76.). 

Aus  diesen  Gründen  behauptet  O'Connor,  da3s  die  un* 
ter  dem  Namen  von  Ossian  überlieferten  Gedichte  irischen 
Ursprungs  wären,  wenn  auch  vielleicht  Einiges  davon  nach 
Schottland  hätte  verpflanzt  worden  sein  können.  In  Rück* 
sieht  auf  den  gaelischen  Text  der  von  Macpberson  gegebe« 
nen  Gedichte  behauptet  er  aber,  dass  sie  ein  Machwerk  wä- 
ren. Er  gründet  seine  Behauptung  theils  darauf,  dass  in 
jenem  Text  fünf  Buchstaben  (k  w  x  y  z)  hier  und  da  vor* 
kämen,  die  von  den  irischen  Sängern  niemals  gebratt<^t 
worden  wären;  theils  bemerkt  er,  dass  in  jenem  Text  Worte 
vorkämen,  die  ganz  offenbar  neueren  und  zwar  lateinischen 
Ursprungs  wären.  Drese  Worte  sinä:  Houdir  Auetor,  ny- 
ceithnox,  englisch  night,  Spiorad  Spiritus,  Corp  Corpus, 
Beist  Bestiä,  Corn  Cornu,  Ros  Rosa,  Halla  Aula,  englisch 
Hall,  Roda  via^  englisch  read,  Arm  Arma,  Anam  Anima, 


Macpkerson's  Ossian.  175 

MuiDMclb  MonteS)  englisch  Mountains ,  Geir  Gera,  Libfaearn 
Liburna,  Stoirm  Tempestas,  englisch  Storm  (a.  a.  0.  epist 
nuncupat.  p.  121.  Vergl.  The  transact.  of  ihe  roy.  Ir.  Aca« 
demy.   Vol.  16.  part.  2.  pol.  liL  p.  104.). 

Was  aber  sonst  den  Ursprung   der   irischen   Gedichte, 
die  man  dem  Ossian  zuschreibt,  betrifft,  so  wird  der  Beweis 
dafür,  dass  sie  nicht  von  ihm  sein  könnten,  besonders  von 
der  Thatsache  hergenommen,   dass  fast  in  allen  diesen  Ge- 
dichten Ossian  im  Gespräch  mit  St.  Patrik  aufgeführt  wird, 
und  selbst  in  einem  angeführten  Ossianischen  Gedichte  der 
Verfasser  sich  als  einen  Christen  bezeichnet  (a.  a.  O.  epist. 
nunc.  p.  61.  126).    Nach  der  Zeitrechnung,  die  freilich  nicht 
sehr   bewährt  scheint,   nach  welcher  jedoch  Tigernach  im 
eilften  Jahrhundert  die  alte  irische  Sagengeschichte  chrono- 
logisch behandelte,  hätten  Fingal,  Ossian  und  Osgar  im  drit- 
ten Jahrhundert  gelebt;    St.  Patrik  aber  ist  als  christlicher 
Bekehrer  erst  im  fünften  Jahrhundert  nach  Irland  gekommen. 
Dass  der  Name  „St.  Patrik'^  von  Macpherson  Überall  ausge- 
merzt  und   statt  dessen  ein  Guide    eingeschwärzt   worden, 
ist  bekanntlich  schon  oft  bemerkt  worden.    Auch  der  Mac- 
phersonsche  Kukullin  gehört  nach  der  Zeitrechnung  des  Ti* 
gernach  nicht  in  das  Jahrhundert  von  Fingal,   da   er  schon 
im  zweiten  Jahre   unserer  Zeitrechnung  gestorben  sein  soll 
(O'Gonnor,  epistol.  nunc.   p.  61.    proleg.  2.  p.  12.  scriptor« 
rer.  bibern.  tom.  2.  p.  14.  49.  50.    The  transact.  of  the  roy. 
Ir.  Academ.    VoL  13.  antiquit.  p.  65.).    Wie  man  auch  über 
die  Zeitrechnung  des  Tigernach   mag   urtheilen   wollen,   es 
erhellt  aus  den  Nachrichten  dieses  Ghronisten,  dass  man  im 
eilften  Jahrhundert  in  Irland  Kukullin,  Ossian  und  St.  Patrik 
nicht  als  Zeitgenossen  hat  ansehen  können.    Die  irischen  Ge- 
dichte,  die  dem  Ossian  zugeschrieben  werden,   müssen  da- 
her aus  einer  jüngeren  Zeit  herstammen. 

Dass^  aus  Gedichten  solcher  Art  Macpherson  zum  Theii 
seinen  Stoff  hergenommen  habe,  wird  ihm  von  allen  seinen 
Gegnern  zugestanden.  Es  ist  nur  die  Frage  darüber  ent- 
standen, ob  die  Gedichte,  die  er  gegeben  hat,  reine  und 
einfache  Uebersetzungen  sind,    oder   ob  sie  ihm  nur  den 


176  Macpherson^s  Ossian. 

Stoff  dargeboten  haben  zu  eigenen  Dichtungen  in  englischer 
Sprache,  bei  welchen  er  in  einer  sehr  willkürlichen  Weise 
und  manches  verworren  untereinai^derwerfend  verfahren 
wäre»  Das  Urtheil  der  Gomraission  in  Rücksicht  auf  die 
Entscheidung  dieser  Frage  ist  schon  im  Vorhergehenden  bei- 
gebracht. Sie  hätte  ohne  Zweifel  gewünscht,  die  Aechtheit 
des  Macphersonschen  Ossians  beweisen  zu  können,  und 
doch  ist  ihr  Urtheil  in  einem  sehr  entgegengesetzten  Sinne 
ausgefallen.  Schärfer  noch  gegen  Macpherson  aufgetreten 
sind  Drummond  und  O'Reilly  in  zwei  von  der  irischen  Aka- 
demie gekrönten  Preisschriften  (The  transact.  of  the  roy. 
academy.  vol.  16.  part.  2.  polit.  literat.).  Sie  ergehen  sich 
in  weitläuftigen  Betrachtungen,  um  von  allen  Seiten  den 
Gegenstand  zu  beleuchten.  Hier  indess  kann  nur  auf  das 
Rücksicht  genommen  werden,  worauf  es  besonders  ankommt, 
auf  das  Sprachliche  nämlich,  auf  die  Ergebnisse,  die  aus 
den  Untersuchungen  über  den  gaelischen  Text  des  Macpher- 
sonschen Ossians  sich  herausgestellt  haben.  Drummond  frei- 
lich, der  sich  nicht  scheut,  mit  aller  Sicherheit  der  Ueber- 
zeugung  die  Behauptung  aufzustellen,  dass  jener  Text  erst 
nachträglich  aus  dem  Englischen  ins  Gaelische  übers<3tzt 
worden  sei  (a.  a.  0.  p.  107.  113.  114.),  ist  nicht  ganz  so 
gründlich  verfahren,  wie  O'Reilly.  Man  wird  daher  wohl 
thun,  mehr  diesem  Letzteren  sich  anzuschllessen. 

O'Reilly  ist  wie  O'Connor  ein  gründlicher  Kenner  der 
irischen  Sprache  und  Literatur,  und  als  solcher  greift  er 
den  Macphersonschen  Ossian  scharf  an.  Er  setzt  weitläuftig 
die  strengen  Regeln  der  alten  irischen  und  schottischea 
Dichtkunst  nach  Versmaass  und  Reim  auseinander,  und  hebt 
es  dann  ganz  besonders  hervor,  dass  in  den  Gedichten,  die 
von  den  Freunden  Macphersons  als  Ossianische  dargeboten 
worden  sind,  schlechthin  nicht  die  geringste  Spur  von  der 
Beobachtung  jener  alten  Regeln  vorkomme.  Z\yar  ist  es 
wahr,  dass  seit  etwa  hundert  oder  hundert  und  fünfzig 
Jahren  neuere  Formen  in  die  schottische  Dichtkunst  sich  ein- 
geschlichen haben,  und  dies  zum  grossen  Theil  in  Folge  der 
nicht  nach  den  alten  Regeln  abgefassten  Uebersetzungen  der 


Macpherson's  Ossian.  177 

Psalmen;  auch  ist  wahr,  dass  O'Connor  ein  älteres,  dem 
Ossian  fälschlich  zugeschriebenes,  nicht  nach  den  alten  Re« 
geln  der  irischen  Dichtkunst  abgefasstes  Gedicht  gekannt 
bat,  in  welchem  Ossian  und  St.  Patrik  auftreten,  mit  ein- 
ander im  Streit  begriffen  über  religiöse  Angelegenheiten 
(The  Transactions  of  the  royal  Irish  academy.  Vol.  16.  polit. 
lit.  p.  301 — 309.  scriptores  rerum  hibern.  tom.  1.  prol.  2* 
pag.  71.):  sollte  es  indess,  bei  dem  Verhältnisse,  nach  wel- 
chem grade  die  strengere  Regel  dem  Gedächtniss  zu  Hülfe 
kommt,  denkbar  sein,  dass  dieselbe  im  Munde  des  Volkes 
sich  abgeschliffen  hätte.  Dies  ist  nicht  anzunehmen  in  Rück- 
sicht auf  Heldengedichte,  die  Jahrhunderte  hindurch  gesungen 
sein  sollen.  Gegen  die  Aechtheit  des  neu  herausgegebenen 
Textes  spricht  daher  auch  ganz  besonders  dies,  dass  die 
älteren  Handschriften,  aus  denen  derselbe  herstammen  soll, 
nirgends  vorliegen.  Unbestimmte  Gerüchte  nach  mündlichen 
Ueberlieferungen  y  dass  irgend  Jemand  diese  oder  jene  ältere 
Handschrift  entweder  in  Schottland  oder  in  Amerika  oder 
in  Belgien  vor  zwanzig  oder  mehr  Jahren  gesehen  habe  (The 
genuine  remains  of  Ossian,  literaily  transJated  by  Patrick 
Macgregor  p.  34.  35.  41.),  können  bei  einer  so  wichtigen 
Sache  keinen  Beweis  geben.  Macpherson  hat,  obgleich  er 
im  Besitze  mehrer  älterer  Handschriften,  die  nicht  sein 
Eigentbum  waren  und  die  er  zurückzugeben  versprochen  hatte, 
gewesen  ist,  weder  dieselben  den  Eigenthümern  zurück- 
gegeben, noch  nach  seinem  Tode  eine  einzige  hinterlassen. 
Er  muss  die  Handschriften,  die  er  gehabt  hat,  absichtlich 
vernichtet  haben.  Dass  er  dies  getban  hat,  davon  hat  man 
freilich  die  Schuld  auf  seine  Eitelkeit  werfen  wollen,  und 
angegeben,  es  wäre  ihm  ganz  recht  gewesen,  wenn  er  den 
Schein  eines  grossen  Dichters  i^m  sich  hätte  verbreiten 
können  (Macgregor  a.  a.  0.  p.  40.).  Weit  wahrscheinlicher 
indess  ist  es^  dass  die  Vernichtung  der  Handschriften  in 
der  Absicht  geschehen  ist,  die  Entdeckung  der  vielfachen 
willkürlichen  Umänderungen  und  Verfälschungen,  die  er 
sich  erlaubt  haben  muss,  unmöglich  zu  machen. 

Zu  Macphersons  Rechtfertigung  hat  der  letzte,   der  aU 


178  Macpherson's  Ossian. 

sein  Vertheidiger  aufgetreten  ist,  Macgregor  nichts  Bedeu- 
tendes und  kaum  etwas  Neues  beigebracht.  Er  behauptet 
sogar,  dass  seit  dem  Jahre  1807  in  Bezug  auf  den  von  ihm 
behandelten  Gegenstand  Nichts  erschienen  wäre,  was  Er* 
wähnung  verdiente.  0*Connor  hat  1814  seine  einleitenden 
Bemerkungen  zu  seiner  Ausgabe  der  alten  irischen  Geschieht* 
Schreiber  herausgegeben*,  die  Abhandlungen  von  Drummond 
und  0*Reilly  sind  1831  erschienen.  Die  gründlichsten  und 
gelehrtesten  Gegner  Macphersons  hat  somit  Macgregor  keiner 
Erwähnung  würdig  geachtet.  Was  er  (S.  59.)  sagt,  um  ein 
geregeltes  Yersmaas  und  Reim  in  dem  gaelischen  Text  des 
neuen  Ossians  nachzuweisen,  werden  ihm  weder  O'Gonnor 
noch  O'Reilly  zugeben.  Ueberdies  auch  scheint  eine  Steile 
in  der  Vorrede  dem,  was  in  der  Abhandlung  selbst  gesagt 
wird,  zu  widersprechen.  Es  heisst  (p.  4.)  in  der  Vorrede: 
—  „The  disadvantage  of  the  absence  of  metre  and  rhyme, 
is  so  obvious  that  no  reader  will  fail  to  make  a  due  alio<i> 
wance  for  it.  1  might  easily  have  rendered  the  whole  into 
octosyllabic  blank  verse;  but  the  metre  would  not,  in  tbis 
case ,  compensate  for  the  loss  of  perfeot  fidelity  to  the  ori'^ 
ginal.^^  ^  [n  der  Abhandlung  (S.  59.)  heisst  es:  —  „Ossian's 
poetry  consists  throughout  of  octosyllabic  verse." 

Des  Vorwurfes  von  O'Connor  und  Drummond,  dass  die 
schon  im  Vorhergehenden  an  ihrem  Orte  angeführten  Worte 
neueren  Ursprungs  wären,  thut  Macgregor  gar  keiner  Erwäh- 
nung. Ueberhaupt  scheint  er  auch  nicht  grade  im  Stande 
zu  sein ,  sprachliche  Verhältnisse  mit  dem  gehörigen  Geschick 
zu  behandeln.  Laing  hatte  geäussert,  dass  das  Wort  Long 
in  der  Bedeutung  von  Schiff  in  der  gaelischen  Sprache  auf 
römischen  Ursprung  hinweise  und  von  navis  longa  abzu- 
leiten sei«  Um  ihn  zu  widerlegen,  stellt  Mdcgregor  (S«  102.) 
die  Vermuthung  auf,  dass  das  Wort  Longa  wahrscheinlich 
ein  punisches  in  der  Bedeutung  von  Schiff  gewesen'  und  von 
den  Puniern  auf  die  Römer  wie  auf  die  Gaelen  übergegangen 
sei.  Auch  meint  er  (S.  66.),  dass  die  irische  Sprache  in  der 
Zeit  vom  sechsten  bis  zum  achtzehnten'  Jahrhundert  keine 
bedeutenden  Veränderungen  erlitten  hätte. 


Angelegenheiten  der  kUtorischen  Vereine.  179 

Jeder  Unpartheiische  muss  eingestehen,  dad!f  der  neuere 
Versuch  Macgregors  zur  Vertheidigung  Macphersons  und  der 
Freunde  desselben  gescheitert  sei.  Welche  Ansicht  man  in- 
dess  auch'  sonst  noch  über  den  streitigen  Gegenstand  mag 
festhalten  wollen,  so  viel  steht  ohne  Zweifel  fest,  dass  kein 
Geschichtsforscher  auf  Ossianische  Gedichte,  in  welcher  Form 
sie  auch  besteben  mögen,  fernerhin  sich  noch  berufen  darf, 
wenn  er  auch  sonst  im  Allgemeinen  nicht  abgeneigt  ist,  die 
Sagengeschichte  eines  Volks  auf  historische  Erinnerungen 
2u  deuten.  P.  F.  Stuhr. 


Angelegenbeiten  der  historischen  Vereine. 


Referate.*) 

Archiv  für  Frankfurts  Geschichte  und  Kunst.  Mit  Abbildungen.  Drittes 
Heft.    Frankfurt,  4  844.     8. 

Dieses,  wie  seine  Vorgänger,  glänzend  ausgestattete  Doeoment 
der  Tbätigkeit  des  Frankfurter  Vereins  für  iocale  Geschichte  ent- 
hält lauter  Beschreibungen  architectonischer  Denkmale  der  frank- 
furter Vorzeit,  die  übrigens  in  der  Art  behandelt  sind,  dass  sie  ein 
wirklich  historisches  Interesse  haben  und  ein  Stück  Leben  aus  der 
deutschen  Geschichte  vergegenwärtigen. 

Krieg  von  Hocbfelden,  der  Geschicbtschreiber  der  Grafen  von 
Eberstein,  beschreibt  die  ältesten  Bauwerke  im  Saalbo^zu  Frank« 
furty  die  im  Jahr  1842  bis  auf  eine  kleine  Gapelle  abgebrochen 
wurden.  Der  Verfasser  unternahm  es,  diese  Denkmäler  einer  ganz 
anderen  Welt,  die  fremdartig  in  das  moderne  Frankfurt  berein- 
ragten,  noch  vor  ihrer  Zerstörung  zu  vermessen  und  zu  zeichnen, 
um  ao  doch  ihr  Andenken  zu  retten  und  zugleich  diese  räthseU 
haften  Zeugen  dunkler  Jahrhunderte  in  den  letzten  Momenten  ihres 
Daseins  über  Alter  und  Zweck  zu  befragen  und  zu  Aufschlüssen 
zu  zwingen. 

Die  ersten  Anfänge  des  Saalbofes,  ein  Stück  Ringmauern  und 
zwei  halbrunde  Flankenthürme  stammen  noch  aus  der  karolingi' 


*)  Die  beiden  zunächst  folgenden  sind  aus  dem  vorigen  Jahre  rück- 
Mündig.  I^ed, 


180  Ängekgenhriten  der  hi$iori$ehm  Vereme. 

sehen  Zeit  und  bildeten  Tbeiie  des  befestigten -Palatiams,  das  Lud- 
wig der  Fromme  ums  Jahr  822  in  Frankfurt  erbauen  iiess.  Nach 
dem  Abgang  der  Karolinger  hört  die  frankfurter  Königspfalz  auf, 
für  längere  Zeiten  eigentlicher  Wohnsitz  der  Kaiser  zu  sein,  doch 
nehmen  die  sächsischen  und  fränkischen  Kaiser  noch  zuweilen 
ihren  Aufenthalt  hier,  wie  man  schon  daraus  sieht,  dass  Otto  II. 
seinem  Kanzler,  dem  Bischof  Hildebald  von  Worms  im  Jahr  979 
ein  Pfortenhaus  auf  der  Westseite  des  Palatiums  schenkt,  um  bei 
kaiserlichen  Versammlungen  und  Reichtstagen  daselbst  zu  wohnen. 
In  der  hohenstauflschen  Zeit  scheint  der  Saalhof  einen  weiteren 
Zuwachs  bekommen  zu  haben  durch  den  Anbau  einer  Kapelle,  die 
muthmaasslich  vom  Jahr  1208—12  zu  Aufbewahrung  der  Reichs- 
kleinodien gedient  hat.  In  der  nachhohenstaufischen  Zeit  zerfiel 
die  frankfurter  Königspfalz  immer  mehr,  kam  in  den  Besitz  einiger 
Dynasten  und  sofort  an  wohlhabende  Bürger  und  Kau  Heute. 

L  D.  Passavant  giebt  aus  alten  Acten  eine  vollständige  Ge- 
schichte des  Pfarrkirchentburmbaus,  der  im  Jahr  1411  durch  den 
Werkmeister  Madern  Gertner  begonnen  und  bis  zum  Jahr  1512 
forlgesetzt  wurde,  wo  er  nach  mehren  Unterbrechungen  endlich 
ganz  in  Stocken  gerieth  und  unvollendet  stehen  blieb.  Interessant 
ist  eS;  aus  den  Rechnungen  zu  ersehen,  wie  viele  Privaten  sich 
beeiferten,  jeder  auf  seine  Weise,  der  eine  durch  Geld,  ein  anderer 
durch  Naturalleistungen,  sein  Scherflein  zum  Bau  beizutragen.  Selbst 
ein  verurtheilter  Missethäter  vermachte  vor  seinem  Ende  seine  Habe 
zum  Besten  des  Baus.  In  den  aufgestellten  Opferstöcken  sammel- 
ten sich  bedeutende  Summen.  Andächtige  Personen  zahlen  einmal 
20  Last  Miltenberger  Steine. 

Die  Idee  einer  Restauration  und  beziehungsweisen  Vollendung 
ist  auch  bei  dieser  Domkirche  aufgetaucht,  und  dies  hat  wohl  zu 
der  weiteren  Abhandlung  Professor  Hessemers  Veranlassung  ge- 
geben, der  eine  ästhetische  Würdigung  des  Pfarrthurms  versucht 
und  Vorschläge  zu  etwaigem  weiterem  Ausbau  macht,  wobei  über- 
haupt Betrachtungen  über  den  Charakter  des  damaligen  Baustils 
angeknüpft  werden.  Zur  Verdeutlichung  des  ursprünglichen  Bau- 
risses und  der  neueren  Vorschläge  sind  zwei  Zeichnungen  beige- 
geben, die  eine  nach  dem  im  Stadtarchiv  befindlichen  Original- 
entwurfe, die  andere  von  Hessemer  mit  neuentworfener  Spitze. 

Der  Abbruch  eines  alten  äusserlich  unansehnlichen  Hospital- 
gebäudes zum  heiligen  Geist,  das  aber,  näher  angesehen,  als  ein 
sehr  ausgezeichnetes  Denkmal  deutscher  Baukunst  sich  herausstellte, 
gab  dem  Dr.  Böhmer  Veranlassung,  es  durch  sorgfältige  Beschrei- 
bung wenigstens  für  die  Geschichte  gleichsam  zu  retten.  Eine  gute 
Zeichnung  giebt  eine  Ansicht  der  Hospitalhallen  im  Moment,  wo 
zu  ihrem  Abbruch  Hand  ans  Werk  gelegt  wird.     Schöfi'  Usener 


AngeUgenheiien  der  hiiiari$dm$  Verelm.  181 

giebt  eine  auf  Urkunden  gestutzte  €reschichte  der  Herren  von  Reiffen- 
berg,  erzählt  ihre  Fehden,  deren  eine  im  Anfang  des  16.  Jahrhun- 
derts zwischen  verschiedenen  Linien  des  Geschlechts  ausgebrochen, 
sich  spater  in  einen  Rechtsstreit  verwandelt  hat,  bei  dem  es  sich 
um  den  Besitz  der  zerfallenen  Burgtrümmer  (Stammschlosses)  und 
des  dabei  liegenden  Dorfes  gleichen  Namens  handelt,  und  der  bis 
auf  den  heutigen  Tag  noch  nicht  entschieden  ist.  Die  Ansicht  des 
Dorfes  und  der  Burgtrümmer  ist  etwas  gar  grob  ausgefallen. 

Eine  ehemalige  Tbüre  der  Barlholomäuskirche  in  Frankfurt  wird 
in  alten  Chroniken  die  rothe  genannt,  Böhmer  untersucht  nun, 
warum  sie  so  hiess,  und  kommt  zu  dem  Ergebniss,  dass  diese 
Benennung  daher  komme,  dass  ehemals  auf  dem  Platz  vor  dieser 
Thüre  Gericht  gehalten  worden  sei. 

Am  Schluss  beschreibt  Hessemer  mit  einigen  einleitenden  Ent- 
schuldigungen über  die  Geringfügigkeit  des  Gegenstandes,  das  so- 
genannte Holzpförtchen ,  ein  abgebrochenes  Ausgangsthor  gegen 
die  Mainseite. 

S'ammtliche  Abhandlungen  dieses  Beftes  enthalten  gerade  keine 
erheblichen  Resultate  der  Geschichtsforschung,  aber  in  allen  weht 
eine  alterthümliche  Luft,  alle  zeugen  von  liebevoller,  patriotischer 
Auffassung  der  frankfurter  Vorzeit,  und  dienen  dazu,  die  Phy- 
siognomie des  alten  Frankfurts  zu  vergegenwärtigen.  Arbeilen 
dieser  Art,  in  diesem  Sinne  ausgeführt,  haben  für  die  Geschichte 
immer  einigen  Werth,  sie  helfen  zu  lebendiger  Anschauung  deut- 
schen Alterthums.  Klüpfel. 

Mittheilnngeo ,  Neue ,  aus  dem  Gebiet  der  historisch  -  anUquarischen 
ForscbuDgeo.  Herausgegeben  von  dem  Thüringisch  -  sächsischen  Verein 
für  Erforschung  des  vaterländischen  Alterthums.    Bd.  VII,  4.  2.    Halle,  48|^. 

Diese  Mittheilungen  bewegen  sich  seit  ihrem  Bestehen  vorzugs- 
weise innerhalb  des  archäologischen  und  rechlsgeschicfatlichen  Ge- 
bietes. Auch  die  beiden  vorliegenden  Befte  sind  grossentheils  mit 
Beiträgen  angefüllt,  die  einem  von  jenen  Gebieten  angehören.  In 
Beft  1  ßnden  wir  eine  Sammlung  sphragistischer  Aphorismen  von 
Lepsius,  welche  um  so  werthvoller  sind,  da  sie  sich  nicht  auf 
Siegelkunde  beschränken,  sondern  auch  für  die  Sagengescbichte 
Ausbeute  gewähren.  Eine  Untersuchung  über  das  alte  Siegel  der 
Stadt  Bonn  fuhrt  zu  dem  Resultat,  dass  die  Stadt  Bonn  im  12.  und 
14.  Jahrhundert  auch  Verona  und  Bern  geheissen  habe,  nicht  so 
jedoch,  dass  Bonn,  Verona  und  Bern  ganz  gleichbedeutend  gewesen 
wäre,  sondern  dass  ein  Theil  der  Stadt,  das  königliche  palatium 
innerhalb  des  castrum  die  deutsche  Benennung  Berna,  die  glänzende, 
bekommen  und  Analogie  mit  der  Burg  des  lombardischen  Königs 
Dieterich  die  italienische  Form  Verona  hinzugefügt  hatte. 


18S  AngelegeiAeUm  der  hktoriichm  Vereine. 

Bemerkeoswerth  ist,  dass  beinahe  gieichzeüig  eine  AbbandHimg 
von  Dr»  Lersch  in  den  iahrbüciiern  des  Vereins  von  AÜerthums- 
freonden  im  Rbeiniande  erschien,  welche  sowohl  in  den  Beweis« 
initteln  als  in  den  Resultaten  mit  der  von  Lepsius  zusammentrifll, 
welcher  auch  in  einem  Nachwort  die  Untersuchung  Lerscb's  be- 
rücksichtigt.*) In  No.  6.  giebt  Lepsius  ein  Beispiel  von  dem  Nach- 
klingen der  Volkssage  in  der  Zeichensprache  der  Wappen  und 
Siegel.  Er  seigt  nämlich  eine  Spur  in  dem  Vl^appen  der  Herren 
von  Alzei  von  dem  Helden  des  Nibelungenliedes  Volker  von  Alzei 
dem  Fiedler  und  dann  in  dem  der  Sladt,  wo  sich  ein  Löwe  mü 
einer  Fiedel  beOndet.  Die  Frage,  ob  die  Sage  aus  dem  Wappen- 
bild oder  letzteres  aus  dem  Fiedler  in  der  Sage  abzuleiten  sei, 
glaubt  er  dahin  entscheiden  zu  müssen,  dass  die  Sage  dem  Wap- 
penbild zu  Grunde  liege,  indem  die  Ausbildung  der  Wappen  offen- 
bar später  als  die  Entstehung  des  Nibelungenliedes  gesetzt  werden 
muss.  Das  Wappen  der  Herren  von  Alzei  und  der  Stadt  finden 
wir  in  der  Beilage  abgebildet 

*  Die  Erinnerungen  von  Modems  an  eine  Reise  durch  Thüringen 
gehört  eigentlich  auch  in  das  Gebiet  der  Archäologie.  Man  findet 
zwar  auch  frische  Eindrücke  von  Naturanschauungen,  aber  die 
Schilderung  geschichtlicher  Alterthümer  ist  denn  doch  die  Haupt- 
sache; besonders  die  Beschreibung  der  Wartburg  und  ihrer  be- 
gonnenen Restauration  ist  für  den  AUerthumsforscher  von  Interesse. 
Die  hier  angelegte  Rüstkammer,  in  welcher  alte  Röstungen,  prächtig 
neu  aufgeputzt  glänzen,  giebt  dem  Verfasser  Veranlassung  ähnlicher 
antiquarischer  Sammlungen  zu  gedenken  und  den  Wunsch  auszu- 
sprechen, dass  historische  Vereine  die  beweglichen  Alterthümer 
ihrer  Heimath  sammeln  und  dass  die  betreffenden  Regierungen  da- 
bei ins  Mittel  treten  und  diesen  Vereinen  eine  sichere  von  der 
Discretion  ihrer  Mitglieder  unabhängige  Einnahme  gewähren,  auch 
für  taugliche  Locale  sorgen  möchten. 

Der  Verfasser  beklagt,  dass  in  keinem  deutschen  Bundesstaat 
genügend  für  diese  Angelegenheit  gesorgt  sei.  Es  sei  auch  nicht 
genug,  dass  man  in  der  Residenz  eines  grössern  Staates  wie  z.  B. 
In  Berlin  ein  Centralmuseum  gründe ,  da  solche  allgemeine  Samm- 
lungen, wenn  auch  noch  so  reichhaltig,  doch  immer  etwas  Ab- 
stractes,  Lebloses  an  sich  haben,  und  nie  die  frische  Anschaulichkeit 
kleiner  landschaftlich  abgeschlossener  Sammlungen,  die  vielleicht 
noch  von  einer  besonderen  Localität  belebt  werden,  gewähren 
können«  Dadurch  könnte  auch  dem  Unfug  vorgebeugt  werden, 
grossere  Alterthümer  in  verschiedene  Museen  zu  zerstreuen,  etwa 
das  Wichtigere  inCentralmuseen,  anderes  scheinbar  minder  wichtige 


*)  Vgl.  hierüber  das  Nttiere  im  folgendtn  Referat.  Red. 


ÄngelegenkeiteH  der  hUtoriMcheH  Vereine,  188 

den  ProvioEialmuseen  zu  überlassen.  Dwch  solche  Zersplitterung 
des  Zusammeogehörigen  wird  alle  Anscbaulicbkeit  zerstört  und  die 
richtige  Beobachtung  gehemmt. 

Zar  Archäologie  können  wir  gewissermaassen  auch  San  Hartes 
Bemerkungen  zu  des  Grafen  von  Villemarqu^  Sammlung:  Coates 
populaires  des  anciens  Bretons  und  dessen  Entwicklung  der  Arthur- 
sage  rechnen* 

Die  übrigen  Beiträge  gehören  dem  Gebiet  der  Rechtsgeschichte 
an,  wie  z.  B.  die  dritte  Fortsetzung  von  Stephan's  Geschichte  der 
Yogtei  Doria  vor  dem  Hainich.  Diese  Arbeit  war  ursprünglich  von 
dem  Verfasser  unternommen,  um  eine  historiscbe  Grundlage  für 
Provinzialrechtsarbeiten  zu  verschaffen,  und  enthält  die  Geschichte 
von  drei  Dörfern  in  dem  Regierungsbezirk  Erfurt,  deren  Einwohner 
unter  dem  EinQuss  einer  getheilten  Herrschaft  bis  auf  die  neueste 
Zeit  an  alten  Einrichtungen,  Rechten  und  Sitten  festgehalten  haben. 
Der  ehrenwerthe  Verfasser  entschuldigt  sich  selbst  darüber,  dass 
er  seinen  Aufsatz  vielleicht  zu  sehr  habe  in  die  Breite  gehen  lassen, 
und  fürchtet,  dass  aus  dem  historischen  Gesichtspunct  manches 
als  Spreu  erscheinen  möchte,  hofll  übrigens,  dass  doch  einige  gute 
Kömer  zu  finden  sein  möchten.  Es  muss  dies  auch  wirklich  mit 
Dank  anerkannt  werden,  und  wir  möchten  diesen  Aufsatz  keines- 
wegs zu  denen  rechnen,  welche  in  gutgemeintem  Eifer  gehaltloses 
Material  anhäufen.  Die  rechtsgeschichliichen  Beiträge  t>e6tehen  in 
No.  3.  einer  Fortsetzung  der  schon  im  dritten  Band  der  Mit* 
tkeikingen  begonnenen  Gesetzsammlung  der  Stadt  Nordhausen  im 
15.  und  16.  Jahrhundert.  Dass  solche  Gesetzsammlungen  für  die 
Rechts-  und  Sittengeschichte  von  grossem  Werth  sind,  unterliegt 
keinem  Zweifel;  da  aJ»er  die  Sache  doch  von  grösserer  Ausdehnung 
ist,  wäre  wohl  ein  besonderer  Abdruck  geeigneter  gewesen.  Mit 
ihm  hätte  dann  auch  das  in  No.  4.  mitgetheilte  Recbtsbuch  der 
Schwestersladi  Mühlhausen  verbunden  werden  können.  Ohnehin 
fragt  es  sieh,  ob  die  in  den  thüringischen  Miltheilungen  hin  und 
wieder  vorkommenden  Fragmente  von  mittelalterlichen  Gesetz« 
bächern  nicht  hesser  in  einer  besonderen  Gesetzsammlung  ver- 
einigt würden.  In  eine  periodische  Zeitschrift  wollen  ganze  Gesetz- 
bücher nun  einmal  nicht  passen. 

Im.  (olgenden  Heft  fällt  der  Erfurter  Zuchtbrief  vom  Jahr  1351 
ebenfelis  in  die  Rubrik  der  Rechts-  und  Sittengeschichte;  der  hi- 
storische Werth  ist  nicht  zu  bezweifeln,  aber  der  Wunsch,  den 
wir  oben  ausgedrückt,  findet  auch  auf  dieses  Stück  seine  An- 
wendung. 

Eine  interessante  MittheUung  von  Böhmer  ist  das  Schreiben 
Kaiser  Heinricb  V.  über  die  Gefangennehmung  des  Erabi6cho£s 
Adelbert  von  Mainz  im  Jahr  1112.    Der  Kaiser  ^pellirt  yer  m  49t 


184  AngelegenheUen  der  historischen  Vereine. 

Meinung  deines  guten  Rechtes  an  did  öffentliche  Meinung,  bei 
welcher  er  aber,  wie  der  Erfolg  zeigte,  keinen  Anklang  fand.  Die 
weltliche  Macht  musste  schon  damals  erfahren,  dass  Msiassregeln 
der  blossen  Gewalt  gegen  die  Kirche,  wenn  sie  nicht  mit  einer 
kräftigen  Bekämpfung  durch  geistige  Waffen  sich  verbinden,  nur 
das  Spiel  verderben  und  der  Hierarchie  liberale  Sympathien  er- 
wecken. Ueberdies  geschah  es  dem  Kaiser,  der  mit  Hülfe  der 
Kirche  seinen  Vater  gestürzt  und  des  Reiches  Einheit  an  die  fürst- 
liche Aristokratie  und  päpstliche  Hierarchie  verrathen  hatte,  recht, 
dass  er  von  den  Würdeträgern  der  Kirche  solchen  Dank  erntete. 

Das  merkwürdige  Actenstück  stammt  aus  einer  auf  der  vaticani- 
sohen  Bibliothek  in  Rom  befindlichen  Handschrift,  von  der  es  Böhmer 
abgeschrieben  und  zum  erstenmale  vollständig  mitgelbeilt  hat. 

Eine  palaographische  Mittheilung  macht  Dr.  Gustav  Schwetschke 
in  Halle  in  der  Abhandlung  No.  1.  des  zweiten  Heftes  durch  den 
Nachweis  der  Unächtheit  der  Kölner  Freimaurerurkunde  vom  Jahr 
1535,  worin  19  fiundesmitglieder,  darunter  sehr  berühmte  Namen, 
über  Geschichte  und  Tendenz  der  Verbrüderung  apologetische 
Nachricht  geben.  Die  Unächtheit  dieser  Urkunde,  die  sehen  früher 
aus  inneren  Gründen  erwiesen  wurde,  wird  hier  aus  äusseren 
dargethan  und  zugleich  ein  nicht  unwichtiger  Beitrag  zur  Paläo- 
graphie  gegeben. 

In  No.  2.  beschreibt  Heinr.  Otte  die  Kirche  des  ehemaligen 
Cisterzienser-  und  Mönchsklosters  zu  Zinna,  und  will  dabei  an 
einem  Beispiel  zeigen,  wie  die  in  seinem  „Abriss  einer  kirchlichen 
Kunstarcbäologie  des  Mittelalters"  aufgestellten  Grundsätze  auf  Be- 
schreibung von  Kirchen  angewendet  werden  könnten. 

In  No.  3.  beschreibt  und  erläutert  Domprediger  Augustin  zu 
Halberstadt  das  Diptychon  consulare  in  der  dortigen  Domkirche. 
Diese  Diptychen  sind  nämlich  kunstvoll  bearbeitete  Deckel  zu 
Schreibtafeln  meist  aus  Elfenbein,  welche  vornehme  Römer,  be- 
sonders Consularen,  ihren  Freunden  als  Neujahrsgeschenke  aus- 
zutheilen  pflegten. 

Dieses  Halberstädter  Diptychon,  das  seiner  Verwendung  zum 
Einband  eines  alten  Chorbuchs  seine  Erhaltung  verdankt,  hat  aller- 
hand eingegrabene  Figuren,  in  welchen  unser  Erklärer  Beziehun- 
gen auf  die  Geschichte  der  Königin  Zenobia  von  Palmyra  ver- 
muthet,  welche  im  Jahr  273  nach  Christi  Geburt  unter  der  Regie* 
rung  des  Kaisers  Aurelian  gefangen  nach  Rom  gebracht  wurde 
und  dort  den  Triumph  des  Siegers  verherrlichen  musste. 

In  No.  4.  berichtet  Fr.  Wiggert  über  einige  goldene  und  sil- 
berne Schmucksachen  aus  dem  14.  Jahrhundert,  die  im  Jahr  1826 
bei  Weissenfeis  gefunden  wurden,  und  in  einer  lithographirten 
Beilage  abgebildet  sind. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine,  18i 

In  No.  7.  stellt  Mooyer  in  Minden  zusammen,  was  sich  von 
einem  gewissen  Herzog  Ismael  von  Apnlien  in  deutschen  Nekro- 
logien  und  anderswo  findet.  In  No.  8.  stellt  J.  Schneider  eine 
neue  Ansicht  über  die  sogenannte  Langmauer  bei  Trier  auf,  wo- 
nach dieselbe  ein  Theil  eines  umfassenden  Verschanzungswerkes 
wäre,  das  die  Römer  während  ihrer  Herrschaft  in  Gallien  zum 
Schutz  gegen  die  einfalle  der  itberrbeinischen  Völker  errichtet 
hätten. 

In  No.  9.  giebt  Lcpsius  Bemerkungen  zu  einem  früheren  Auf- 
satz Niemeyers  über  die  Wesierburg,  worin  er  über  einige  in  jener 
Beschreibung  unklar  gebliebene  Punkte,  die  Construction  der  Burg 
betreffend,  einige  Fragen  aufwirft.  Beide  Hefte  enthalten  als  An- 
hang eine  Reihe  von  Berichten  über  andere  historische  Vereine 
und  deren  literarische  Leistungen.  Die  Vollständigkeit,  in  der  über 
diese  Vereinsschriften  berichtet  wird,  verleiht  den  Miitheilungeii 
einen  eigenthümlichen  Werth. 

Welche  wissenschaftliche  Bedeutung  dieser  thüringisch-sächsi- 
schen Vereinszeitschrifl  zukomme,  ergiebt  sich  aus  dem  angeführ- 
ten Inhalte  von  selbst.  Sie  leistet  das,  was  ihr  Titel  verspricht, 
und  giebt  historisch-antiquarische  Forschungen.  Die  Abhand- 
lungen sind  meistens  in  gründlicher  Weise  gehalten,  ohne  jedoch 
durch  umfassendere  Combinationen  oder  tiefere  Auffassungen  sich 
auszuzeichnen.  Auch  wollen  sie  nicht  in  sich  abgeschlossene  Dar- 
stellungen geben,  sondern  nur  dem  Forscher  für  weitere  Verarbei- 
tungen kritisch  gesicherte  Materialien  bieten.  Klüpfel. 

Jahrbücher  des  Vereins  von  Alterlhumsrreunden  im  Rheinlande. 

Niederrheinisches  Jahrbuch  fUr  Geschichte  und  Kunst.  Herausgegeben 
von  L.  Lersch. 

Beide  Schriften  können  fuglich  zusammengenommen  werden, 
da  beide  einzelne  Arbeiten  mehrer  Verfasser  enthalten,  beide 
vorzugsweise  die  Aiterthümer  und  Geschichten  des  Niederrheins 
berücksichtigen,  und  der  Herausgeber  von  No.  2.  auch  an  der 
Redactijon  der  Vereinsschriften  fortdauernd  Antheil  genommen  hat. 

Der  Verein,  im  Herbste  1841  gestiftet,  hat  bis  jetzt  acht  Hefte 
herausgegeben,  deren  Inhalt  unter  die  drei  Rubriken:  Chorographie 
und  Geschichte,  Monumente,  Literatur  —  ziemlich  gleichmässig 
vertheilt  ist:  dem  Zwecke  dieser  Zeitschrift  gemäss  ziehe  ich  hier 
nur  die  erste  in  Betracht. 

In  den  vorliegenden  Heften  erfreut  sich  in  chorograpiHSchcr 
Beziehung  die  Moselgegend  bei  weitem  der  häufigsten  Berücksich- 
tigung. Schneider  (früher  in  Trier,  jetzt  in  Emmerich),  Ch.  von 
Plorencourt  in  Trier,  Obristlientenant  Schmidt  in  Berlin,  Deycks 
in  Goblenz  haben  eine  grosse  Anzahl   sich  ergänzender,   unter- 

All^.  Zeitschrift  f.  Gescbiehte.   Y.  1846.  13 


186  Angelegenheiten  der  hietorischen  Vereine. 

stützender  oder  berichtigender  Abbandlangen ,  Böcking  eine  höchst 
sorgfältige  Ausgabe  der  Moselgedichle  des  Ausonius  und  Venantius 
mit  kritischen  und  erklärenden  Anmerkungen  voll  von  Erudition 
und  Scharfsinn  geliefert:  unbedenklich  kann  man  die  Leistungen 
des  Vereins  auf  diesem  Felde  als  einen  merkbaren  Fortschritt  der 
rheinischen  Geschichtswissenschaft  bezeichnen.  Es  wäre  sehr 
wünschenswerth,  von  den  übrigen  Gegenden,  über  welche  der 
Verein  seine  Wirksamkeit  erstreckt,  ein  Gleiches  sagen  zu  können, 
doch  flndet  sich  überhaupt  wenig,  und  was  vorkommt,  wie  z.  B. 
eine  Abhandlung  von  Oligschläger  in  Elberfeld  über  römische 
Niederlassungen  im  fiergiscben,  oder  ein  Aufsatz  von  Janssen  über 
eine  Hünenschanze  am  Hadeler  Meer,  ist  nicht  der  Art,  dass  be* 
sonders  Rühmliches  davon  zu  pradiciren  wäre.  In  hohem  Grade 
muss  man  bedauern,  dass  ein  von  Seiten  des  Vereins  in  Anre« 
gung  gebrachter  Plan,  eine  Karte  sämmtlicher  römischer  Antiqui- 
täten im  Rheinlande  entwerfen  zu  lassen,  bis  jetzt  wegen  ander- 
weitiger Hindernisse  nicht  zur  Ausfuhrung  gelangen  konnte. 

Die  eigentlich  geschichtliehen  Arbeiten  ordne  ich  nach  den 
Gegenständen. 

Römisches.  In  einer  weiterhin  anzurührenden  Abhandlung 
schlug  Lersch  vor,  in  der  bekannten  Stelle  des  Florus  IV.,  12, 
Bonnam  et  Gesoniam  in  Bonnam  et  Veronam  zu  ändern,  wor- 
unter dann  ein  Theil  des  jetzigen  Bonn  zu  verstehen  wäre.  Osann 
nahm  darauf  (Heft  2)  ausführlichst  die  Lesart  Bononiam  et  Ge* 
soriacum  in  Schutz ,  wogegen  Dederich  Heft  8  wieder  auf  Bonnam 
et  Gesoniam  zurückging  und  gegen  Lersch  die  Existenz  eines  Bonn 
gegenüberliegenden  Geusen  von  Neuem  behauptete.  Osann's  An- 
sicht ist  durch  ihn  wohl  für  beseitigt  zu  erachten;  über  Geusen 
ist  die  Frage  offen  zu  halten,  da  Lersch  eine  Widerlegung  der 
von  Dederich  angeführten  Gewährsmänner  ankündigt. 

Düntzer  giebt  in  drei  Abhandlungen  schätzbare  Beiträge  zur 
kritischen  Feststellung  der  römischen  Kaisei^escbichte.  In  der 
einen  (Heft  1)  wird  gegen  Vopiscus  die  Richtigkeit  der  Angaben 
dargethan,  welche  Aurelius  Victor  über  die  gallischen  WeinpQan- 
zungen  des  Probus  liefert.  In  der  zweiten  erfährt  die  Darstellung 
einiger  Gegenkaiser  des  Gallienus  durch  Trebellius  PoUio  eine  me- 
thodisch fortschreitende  Sichtung  (Heft  4).  Endlich  im  achten  Hefte 
wird  der  Bericht  Ammians  über  die  Ermordung  des  Silvanus  gegen 
die  Erzählung  Kaiser  Julians  vertheidigt,  die  Beschaffenheit  und 
Lage  des  Pallasies  Silvans  in  Cöln  ermittelt,  und  der  nähere  Zeit- 
punkt seines  Todes  festgestellt. 

Germanisches.  Dederich  und  Hermann  MuUer  führen  Heft 
5,  6,  7,  die  von  dem  letztern  in  den  Marken  des  Vaterlandes  an« 
geregte  GontroYerse  über  das  Local  der  Usipetenschlacht  fort    Je 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  187 

bestittimter  ich  mich  früher  (Heft  2)  gegen  Müllers  Ansicht  erklärt 
habe,  nm  so  weniger  k;inn  ich  jetzt  nnstehn,  seinen  vorliegenden 
Aufsatz  als  musterhaft  in  Form  und  Inhalt  anzuerkennen:  ich 
glaube  nicht,  dass  es  möglich  sein  wird,  in  dem  Gange  dieser 
Beweisführung  und  der  Bündigkeit  ihres  Ergebnisses  die  kleinste 
Lücke  nachzuweisen. 

Uebcr  die  Alamannenschlacht  des  Chlodovech  hat  Düntzer 
(Heft  3)  die  früher  gewöhnliche  Ansicht,  die  sie  nach  Zülpich  ver- 
legt, wieder  aufgenommen  und  in  Detaillirung  der  Quellenaussageci 
das  Mögliche  geleistet.  Warum  ich  nicht  beistimmen  kann,  habe 
ich  in  einem  Zusätze  zu  der  Abhandlung  angegeben:  die  unbe* 
dingte  Verwerfung  der  vita  Vedasti  und  Arnulfi  scheint  mir  nicht 
tu  rechtfertigen,  die  Identität  des  ripuarischen  und  saliscben  Krieges 
nicht  zu  erhärten.  —  Im  vierten  Hefte  habe  ich  selbst  die  Rechts- 
trerh'allnlsse  der  germanischen  Unterthanen  des  römischen  Reiches 
festzustellen  versucht,  und  ebendaselbst  über  Chlodovech  bemerkt^ 
dass  er  im  Jahre  408  nach  dem  Prologe  des  saliscben  Gesetzes 
den  Titel  nicht  eines  Consul  sondern  eines  Proconsul  erhatten  hat, 

Mittelalter.  Seiner  ersten  Bestimmung  nach  nimmt  der 
Verein  nur  gelegentlich  von  diesem  Gebiete  Notiz,  dafür  ist  das 
Jahrbuch  fast  ausschliesslich  mit  demselben  beschäftigt.  War  übri- 
gens im  Vorigen  beinahe  durchgängig  zu  loben,  so  wird  es  gut 
sein,  hier  auch  die  andre  Seile  in  Betracht  zu  ziehn.  Die  gewöhn- 
frchen  Mängel  der  Vereinsschriflen  zeigen  sich  auch  bei  dem  unsern 
in  häufigen  Fällen:  ich  wähle  zu  ihrer  Darlegung  einen  Repräsen- 
tanten, bei  dem  sie  In  besonders  charakteristischer  Art  hervor- 
treten. 

Lersch  handelt  (Heft  1)  über  Verona,  als  besondern,  ursprüng- 
lich $elbstständlgen  ThetI  der  Stndt  Bonn.  Er  bringt  einige  bisher 
übersehene  Urkunden  und  Münzen,  auf  denen  der  Name  vom 
10.  bis  zum  14.  Jahrhundert  sich  Verfolgen  lässt,  gelangt  jedoch 
in  der  Sache  nicht  über  Simrocks  Ausführung  hinaus,  dass' neben 
dem  römischen  Castrum  sich  in  der  Gegend  der  Münsterkirobe 
ein  neuer  Ort  Namens  Verona  gebildet  und  später  mit  Bonn  ver- 
schmolzen habe.  Ganz  abenteuerlich  ist  es,  wenn  Lersch  dies  Verona 
in  einer  Constitution  Valenlinians  von  366  vermutben  will,  während 
Ammian  ausdrücklich  sagt,  der  Kaiser  sei  damals  nur  bis  Rheims 
gekommen,  und  sonst  in  Gallien  mehr  als  ein  Verona  (gerade  bei 
Rheims  ein  Verna  in  der  vita  Remigii)  bekannt  ist.  Ebenso  wenig 
ist  der  Beweis  haltbar,  dass  die  beiden  Städte  noch  im  Vi,  Jahr- 
hundert getrennt  gewesen:  ein  gewisser  Roing  nennt  sich  einmal 
cWis  Bonnensis,  ein  andres  Mal  coacivis  Veronensis,  und  Lersch 
denkt,  er  sei  also  ansässiger  Bürger  zu  Bonn  und  Ehrenbürger 
zu  Bern  gewesen!    Eine  Anzahl  sehr  junger  Zeugnisse   für  das 

13* 


188  Angelegenkeiien  der  historischen  Vereine. 

hoho  Alter  Veronas  werden  dann  noch  beigebracht,  ihr  Unwerth 
anerkannt,  endlich  aber  doch  geschlossen :  .,es  ist  schwer  denkbar, 
dass  erst  im  Mittelalter  der  ganze  Name  entstanden  sein  sollte, 
wir  finden  keine  historische  Thatsache,  woran  wir  die  Gründung 
einer  neuen  Stadt  hier  anlehnen  könnten/'  ;Man  sieht,  welche 
Begriffe  der  Verf.  von  mittelalterlicher  Städtebildung  hat:  es  ist 
unmöglich,  seine  ganze  Arbeit  besser  zu  charakterisiren ,  als  er 
selbst  es  S.  214.  gethan  hat:  ^,die  Forschung  taucht  mit  tastender 
Hand  in  alle  diese  dunkeln  Schachten  und  Gänge ,  in  die  eine  ein- 
zige glücklich  gefundene  ätejle  eines  niittelalterliehen  Schriftstellers, 
ein  einziger  römischer  Ziegel  volles  Licht  bringen  kann/' 

Freilich  bleibt  dann  die  Forschung,  in  Erwartung  eines  solchen 
Fundes. oder  Ziegels,  völlig  unwissend  über  das  Licht,  welches 
reichlich  genug  aus  allgemeinen  geschichtlichen  oder  rechtsge- 
schichtlichen  Studien  zu  gewinnen  wäre.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  die  geschichtliche  Thatsache,  an  die  sich  die  Entstehung 
des  zweiten  Orts  anlehnt,  ist  die  Existenz  des  Münsterstiftes,  und 
da  dem  Verf.  immer  nur  der  Nachweis  eines  doppelten  Namens, 
nicht  des  doppelten  Ortes  gelungei!  ist,  so  mag  die  Bemerkung 
Platz  finden,  dass  ein  kundigerer  Forscher  (Lacomblet)  sich  im  Be- 
sitze bisher  unbekannter  entscheidender  Zeugnisse  befindet. 

lieber  drei  andere  Arbeiten  desselben  Verfassers,  sammtlich 
Bonn  oder  Cöln  betreffend,  ist  ein  ähnliches  Urtheil  zu  fällen.    Er 
findet  sich  auch  dort  auf  „einem  Felde  der  Vermuthungen  und 
Ahnungen,   das  sich  wie  ein  mit  Ruinen  und  Denkmälern  über- 
sätes,   in  das  der  Fuss  des  Wanderers  zum  Erstenmale  tritt, 
unübersehbar   vor  ihm  aofthut.''    In  der  That  auf  einem  ihm 
unbekannten  Gebiet  bewegt  er  sich  um  den  einzelnen,  zufällig  in 
Betrachtung  genommenen  Punkt,  sucht  emsig  die  Stellen  zusam- 
men, wo  er  ihn  ausdrücklich  genannt  findet,  und  führt  dann  auf 
diesen  frischen  Schätzen  ein  fi^sches  Conglomerat  von  Gombinatio- 
nen,  Wahrscheinlichkeiten,  „vielleicht  unsicbern,"  stets  aber  „höchst 
merkwürdigen"  Möglichkeiten  auf.     Wie  ein  Knabe,  der  im  Busche 
bunte  Blumen  gefunden,  versichert  er,  das  sei  schön  und  äusserst 
selten,  und  würde  sich  höchlich  wundern,  wenn  der  Botaniker  den 
interessanten  Strauss  gelassen  auf  die  Seite  legte.     Da  ist  eine 
weitläufige  Arbeit  über  einen  Ronner  Propst  Gerhard  (Jahrbuch  I), 
die  zu  dem  Ergebniss  kommt,   er  sei  ohne  Frage  einer  der  ge- 
wandtesten Köpfe,    der  bedeutendsten  Menschen  seiner  Zeit  ge* 
Wesen.   Die  Entdeckung  einer  solchen,  bisher  ganz  obscuren  GriJsse, 
wäre  freilich  ein  Verdienst.    Leider  weiss  man  nicht  das  Mindeste 
über  ihn,  als  den  Inhalt  einer  Anzahl  von  Urkunden  über  die  da- 
maligen Gütererwerbungen  des  Bonner  Stiftes,  Käufe,  Precarien, 
Wachs-  und  Weinzinsen  u,  dgl.,  Alles  in  den  bekannten^  feststehen- 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  189 

den  Formelo.  Der  Verf.  findet  das  Alles  besonders  und  wichtig, 
,,das  System  des  Erwerbs  von  Grundbesitz  wird  beharrlich  ver* 
folgt,'*  )}Ein  Streben,  Eine  Idee  durchdringt  Gerhards  Leben/* 
Eine  Schenkung  ad  opus  Bonnensis  ecciesiae  wird  zu  einer  Gabe 
zum  Bonner  Kirchenbau  etc.  Bäcker,  Koche  et  aliorum  officio- 
rum  artifices  verwandeln  sich  in  Bäcker,  Köche  und  andre  Künst- 
ler; bei  einer  Schenkung  in  arliculo  mortis,  ebenfalls  in  den  typi- 
schen Formein  dieses  Rechtsgeschäftes  vollzogen,  erhebt  sich  Ger* 
hard  „zu  einer  fast  furchtbaren  Gestalt." 

Das  Schülermässige  und  Dilettanten  hafte,  welches  hier  greJl 
genug  zu  Tage  liegt,  spricht  sich  überall  in  ähnlicher  Weise,  nicht 
aber  überall  in  bescheidenen  Formen  aus.  Eine  Biographie  des 
hl.  Anno  wird  mit  der  Versicherung  eingeleitet:  „in  der  Geschichte 
des  deutschen  Reichs  schwankt  sein  Charakterbild  von  der  Par- 
teiung  nicht  selten  entstellt,  in  den  Annalen  des  Rheinlandes  ist 
seine  Persönlichkeit  noch  immer  nicht  gehörig  erkannt  und  ge-- 
würdigt. '^  Nach  diesem  preliösen  Exordium  erfahren  wir  dann 
aus  der  Reichsgeschichte,  dass  der  Tod  Heinrich  III.  höchlich  zu 
bedauern,  die  Verwaltung  Anno's  aber  nicht  weniger  des  grössten 
Lobes  werth  sei.  Wie  dergleichen  neben  einander  bestehen  könne, 
begreift  sich  nur  aus  der  fernem  Wahrnehmung,  dass  in  dem 
ganzen  Aufsatze  der  Name  Hildebrands  nicht  genannt,  der  Kampf 
zwischen  Kaiser  und  Papst  nicht  erwähnt,  die  Opposition  der 
Aristokratie  auf  den  Unwillen  der  Sachsen  über  Heinrichs  Miss- 
handlungen reducirt  wird.  Fragen  wir  nach  dem  Gewinn,  den 
die  „Annalen  des  Rheinlandes*'  aus  diesen  Forschungen  gezogen, 
so  finden  wir  die  Angaben:  „die  Befugniss  Recht  zu  sprechen, 
stand  eines  Theils  dem  Stadtgerichte,  d.  b.  dem  Stadtvogte  und 
den  Schöffen  namentlich  in  Erbschaflssachen  zu  —  andern  Theils 
stand  wirklich  die  Befugniss,  Recht  zu  sprechen,  dem  Erzbischofe 
zu;  seit  welcher  Zeit  er  dort  das  weltliche  Schwert  geführt,  ist 
schwer  zu  ermitteln;  die  CÖlner  Chronik  leitet  diese  Befugniss  auf 
den  Bischof  Bruno,  Otto^s  Bruder  zurück;  so  viel  ist  sicher,  dass 
zu  Anno's  Zeil  das  ganze  Verhaltniss  schon  sehr  ausgebildet  war, 
ein  grosser  Theil  der  Rechtspflege,  und  namentlich  die  ganze  pein- 
liche war  förmlich  in  seine  Hand  übergegangen.**  So  kann  nur 
schreiben,  wer  von  der  Existenz  der  ganzen  durch  Eichhorn  her- 
vorgerufenen Literatur  über  Immunität  und  Stadtrecht  gar  nichts 
weiss,  der  Quellen  zu  geschweigen,  die  bekanntlich  ganz  bestimmt 
den  Vogt  gerade  aus  dem  Gerichte  über  Erbschaftssachen  aus- 
schliessen  und  dem  Bischof  gerade  den  Blutbann  absprechen.  Aber 
freilich,  diese  Quellen  sind  Urkunden  des  12.  und  13.  Jahrhunderts, 
und  da  der  Verf.  nicht  darüber,  sondern  über  den  hl.  Anno  schriA- 


100  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 

steuert,  so  hat  er  davon  etwas  zu  erfahren,  eben  keine  Gelegen- 
heit gehabt. 

Zum  Schlüsse  ein  historisches  Curiosum.  Wie  der  Verf.  in 
aileo  diesen  Aufsätzen  überhaupt  eine  sehr  uukirchliohe  Gesinnung 
zeigt  (k>ei  dem  Schisma  von  t062  nennt  er  den  schismalischen 
Gegenpapst  stets  Papst  Honorius,  Alexander  H.  aber  fortdauernd 
nur  Anselm  von  Lucca):*)  so  legt  er  jener  Zeit  ,,die  wärmste 
Heiligen»  und  Reliquienverehrung  bei,  die  in  eine  wahre  Schwär- 
merei ausartete,  wenn  sie  nicht  etwa  zuweilen  ein  klug 
berechnetes  Geheimniss  der  Baumeister  im  romani- 
schen Style  war/*  Leider  erfahren  wir,  ausser. einer  geheim- 
nissvollen Hindeutung  auf  die  thebäische  Legion  nichts  weiter« 

Die  beiden  Bände  des  Jahrbuchs  enthalten  neben  diesen  Er* 
Zeugnissen  des  Herausgebers  noch  Mehres  von  ähnlichem  Schlage, 
sonst  aber,  unter  Andern,  sorgfältige  Arbeiten  Aschbachs  über  ein- 
.zelue  Cölner  Brzbischöfe,  so  wie  ausgezeichnete,  wenn  auch  im 
Resultate  nicht  immer  unzweifelhafte  Untersuchungen  von  Bock 
in  Brüssel  über  Albert  von  Aachen  und  die  karolingische  Pfalz  in 
Ingelheim. 

Fasst  man  Alles  zusammen,  so  wird  man  dem  Vereine  das 
Zeugniss  nicht  versagen,  dass  seine  Mitlheilungen  an  allgemeinem 
Interesse  und  wissenschaftlicher  Bedeutung  hinter  den  Leistungen 
keiner  andern  Gesellschaft  ähnlicher  Art  zurückstehn.  Auf  der 
andern  Seite  werden'  am  Rheine  die  competenten  Urtheiler  wohl 
tbun,  wenn  sie  auf  dem  Felde  ihrer  geschichtlichen  Wissenschaft 
aufmerksame  Polizei  halten.  Bekanntlich  ist  in  früherer  Zeit  kaum 
in  einer  deutschen  Specialgeschichte  so  wenig  geleistet  worden 
wie  in  der  niederrheinischen:  jetzt  liegen  die  Umstände  günstiger 
als  irgend  wann  seit  langer  Zeit,  aber  gerade  dort  ist  die  Zahl 
derer  recht  ansehnlich,  die  es  nicht  wissen  oder  nicht  wissen  wol- 


*)  Wunderbar  genug  publiclrte  er  etwas  frttber  in  der  Aachner  Zei- 
tung Bruchstüclte  „aua  dem  neuen  Hannolied,''  die  aus  ganz  andern  Tönen 
sangen.     Dort  wird  dem  Könige  gemeldet  (icli  citire  das  jetzt  selten  {ge- 
wordene Werk  aus  deu  relclien  Sammlungen  eines  Freundes  sur  Geschichte 
rheinischer  Poesie):  der  Cölner  Bischof  hat  sich  gegen  dich  verbunden  — 
worauf  der  König  den  Bischof  zur  Rechtfertigung  ladet.     Der  sagt: 
Ich  habe  dein  Gesetz  aufrecht  gehalten 
Als  treuer  Unterlhan. 
Der  Kirche  goltgespendete  Gewalten: 
Rein  König  soll  daran  mit  List  gestalten, 
Kein  Kaiser  rühre  dran.  ^ 

Und  stumm  mit  Stolz  hebt  Hanno  sich  verneigend, 
Den  Segen  gibt  die  Hand,  -^ 
Der  König  eilt  vom  Throne  niedersteigend, 
Er  fasst  den  Saum  und  beugt  dann  schweigend 
Pio  Knieo  in  den  Sand. 


AngekgekiMim  der  hktorischen  Vereme,  191 

len,  dass  Technik  selbst  za  jedem  Handwerke,  und  zu  geschicht- 
lichen Arbeilen  noch  etwas  Anderes  als  Patriotismus,  Philologie 
oder  Aestbetik  gehört. 

Marburg,  Januar  1846.  v.  Sybel. 

Archiv  des  VereiQS  für  siebenbörgische  Landeskunde.  4.  Band.  9. 3.  Heft. 
3.  Band.  4.  Heft.  4  845.  8. 

Ueber  das  1.  Heft  dieses  Archives  haben  wir  schon  in  unserm 
Aufsatze  „die  historische  Thätigkeit  in  Siebenbürgen^'  (Zeitsehr.  für 
Gesch.  Wissensch.  2.  p.  377  —  80.)  Nachricht  gegeben,  jetzt  ist  uns 
die  Möglichkeit  und  das  Vergnügen  gegönnt,  dasselbe  über  die 
seit  1843  erschienenen  3  Hefte  zu  thnn.  Aber  die  ganze  Thätigkeit 
und  was  noch  wichtiger  ist  die  Tendenz  dieses  Vereins  ist  uns 
seitdem  klarer  geworden ;  durch  die  Güte  des  Herrn  Gustav  Seivert, 
unsres  lieben  Freundes,  der  jetzt  nach  Uermannstadt  zurückge- 
kehrt ist,  um  seinem  Vaterlande  ein  charaktervoller  und  Fähiger 
Bürger  zu  sein,  sind  wir  es  im  Stande;  wir  wissen  die  histori- 
schen Bestrebungen  in  Transilvanien  zu  würdigen  und  wir  hoffen, 
dass  die  vortrefflichen  Grundsatze,  von  denen  er  sich  leiten  lasst, 
nicht  blos  ausgesprochen  und  gedruckt  sind,  sondern  dass  sie  von 
jedem  Mitgliede  desselben  ganz  und  gar  aufgenommen,  namentlich 
aber,  was  bei  dergleichen  Consociationen  nicht  immer  geschieht^ 
dass  jegliche  kleinliche  Eifersucht  und  philisterhafte  Persönlichkeits- 
rücksicht ganz  und  gar  verbannt  sein  werden. 

Die  Herren  Senatoren  A.  und  S.  Gräser  aus  Mediasch  und  der 
Pfarrer  J.  Fabius  waren  es,  welche  den  alten  Gedanken  eines  Ver- 
eins für  siebenbürgische  Landeskunde  aufnahmen  und  durch  eine 
öffentliche  Aufforderung  alle  Freunde  siebenbürgischer  Landeskunde 
zu  einer  beratbenden  Versammlung  auf  den  8.  October  1840  nach 
Mediasch  einluden.*)  Auf  diese  Aufforderung  versammelten  sich 
76  Theilnehmer  in  Mediasch  persönlich,  13  andere  zeigten  ihren 
Beitritt  schriftlich  an:  die  in  dieser  Versammlung  entworfenen  Sta* 
tuten  erhielten  schon  am  11.  Mai  1841  die  Bestätigung  der  höch- 
sten Behörde.  In  der  zweiten  Generalversammlung,  die  zu  Schäss- 
burg  den  19.  Mai  1842  sich  versammelte,  und  in  der  sich  der 
Verein  um  127  Mitglieder  vermehrte,  ward  der  Hofrath  und  sieben- 
bürgische Gubernialrath  und  Oberlandescommissär  Joseph  Bedeus 
von  Scharberg  zum  lebenslänglichen  Präsidenten  ernannt  und  ein 
Vereinsausscbuss  von  12  Männern  gewählt.  Es  bescbloss  die  Ver- 
sammlung die  Aussetzung  eines  Preises  von  100  Gulden  Silber- 


*)  Aas  dem  Vereins- Album.  DenkblfiUer  der  vierten  Versammlung 
des  Vereins  (ttr  siebenb.  Landeskunde.  Herausgegeb.  von  Benigni,  Edlen 
v.  IftUdenberg.    Bermannstadt,  48fc5.  fc. 


192  Angelegenheiten  der  hiitorisdien  Vereine. 

möDze  für  die  Abfassung  einer  Gescblcbte  der  Siebenbürger  Sacbsen 
für  das  Volk,  den  Druclw  der  Vereinsstaluteu  und  des  Mitglieder- 
verzeichnisses und  die  Gründung  einer  in  zwanglosen  Heften  er- 
scheinenden Zeilscbrift  unter  dem  Titel  „Archiv  des  Vereins  für 
siebenbürgiscbe  Landeskunde/*    Die  Versammlung  war  zu  einem 
Fest  für  die  Stadt  geworden;  die  Wissenschaft  und  die  Vaterlands- 
liebe hatten  lange  in  Siebenbürgen  kein  solches  gefeiert.    Am  12, 
und  13,  Sept.  1842  hielt  der  Präsident  in  Hermannstadt  eine  Aus- 
schussversammlung ab.    Hier  ward  zum  Sekretär  und  Redakteur 
des  Archivs  Herr  Feldkriegs-Sekretar  v.  ßentgni  erwählt  und  damit 
so  bald  als  möglich  das  erste  Heft  erscheinen  könne,   ein  Aufruf 
um  Arbeiten  an  die  Gelehr^ten  Siebenbürgens  erlassen.    Am  8.  u, 
9.  Juni  1843  war  in  Kronstadt  die  dritte  Versammlang.    Hier  wurde 
schon  das  1.  Heft  dem  Vereine  vorgelegt.    Für  die  5  Gymnasien 
Siebenbürgens  Hess  man  durch  Herrn  Ackner  kleine  geognostiscbe 
Sammlungen  anschaffen;  die  Ausarbeitungen  zu  dem  Werke  Flora 
transilvanica  von  Dr.  Baumgarten  in  Schässburg  wurden  als  4.  Tbeü 
dazu  zu  drucken  beschlossen.    An  242  Alitglieder  waren  hinzuge* 
tretea    Am  30.  Mai  1844  ward  die  vierte  Generalversammlung  in 
Hermannstadt  eröffnet.    Es  war  dies  die  bedeutendste  der  bisher 
abgehaltenen.    Bedeus  erschien  selbst.   Unter  den  vielen  Beschlüs- 
sen derselben   hebe  ich  folgende  hervor.    Sie  setzte  drei  Preise 
von  60,  50  und  40  Gulden  auf  die  besten  Ausarbeitungen  zu  neuen 
Regesten  aus;   man  trug  ferner  dem  Ausschusse  auf,  Abschriften 
von  ihnen  zugänglichen  Urkunden  anfertigen   zu  lassen;    Joseph 
v.  Kemeny  wollte  seine  Urkundensammlung  dazu  leihen,  aber  man 
bestimmte  nur  die  anderswo  nicht  enthaltenen  und  unzugänglichen 
aus  derselben  zu  copiren.    Alles  Vorarbeiten  für  einen  Codex  di- 
plomaticus.    Ebenso  wurde   für  die  beiden  besten  Monographien 
eines  siebenbürg.  Gomitats   ein  Preis   von  60  Gulden  festgesetzt. 
An  Capitalien  war  der  Verein  viel  reicher  geworden.    Das  dispo- 
nible Vermögen  allein  betrug  au  1061  Flor.  42  Kreuzer.    In  der- 
selben Versammlung  wurden  Vorträge  abgehalten,  von  denen  einige 
im  Archiv  abgedruckt  sind.     Grosse  Festlichkeiten   folgten   dem 
Schlüsse   der  wissenschaftlichen  Verhandlungen.     Man  sang  und 
trank,   ass    und  sass   in  fröhlicher  Gesellschaft  zusammen;    dort 
nimmt  noch  die  ganze  Bevölkerung  an  Unternehmungen  Theil,  die 
ihre  Besten  zu  Führern  haben 

Am  20.  Mai  v  J.  ward  die  5.  Versammlung*)  in  Bistritz  eröffnet. 
Bedeus  begann  mit  einer  interessanten  Rede,  die  auch  für  die  Bio- 
graphie des  Redners  wichtig  ist.  Auch  die  Rede  des  Oberrichters 
Job.  Emanuel  Regius  enthielt  über  Bistritz  historische  Anspielungen, 


*)  Aus  der  Transüvania  4  8ib.  n.  48  —  47. 


AmgelegeiAeUen  der  AurlomcAefi  Veremt.  193 

Die  alle,  von  vielem  Leid  getroffene  Stadt  war  der  Gegenstand 
vieler  Betrachtungen.  Die  im  Jahre  1842  ausgestellte  Preisfrage 
über  die  ^^Beschreibungen  der  Mineralien  Siebenbürgens  aus  geogno- 
stiscbem  Standpunkt'*  ist  von  Herrn  Ackner  glückHch  beantwortet 
worden;  er  erhielt  den  Preis  von  100  Rhein.  Gulden  C.  M.  Auch 
eine  Arbeit  über  die  Regesten  bis  zum  Jahre  1300  ist  eingelaufen 
und  wird  beurlheilt  werden.  Neue  Preisfragen  wurden  ausgegeben 
und  zwar  folgende:  Aus  dem  Gebiete  der  Geschichte,  die  Aus- 
arbeitung von  Regesten  von  1301  —  1526  in  zwei  Abschnitten;  der 
erste,  der  bis  1437  gehen  soll,  muss  den  1,  Mai  1846,  der  zweite 
den  31.  Dec.  1846  eingeliefert  sein.  Für  jeden  Abschnitt  beträgt 
der  Preis  60,  50  und  40  Gulden.  Aus  dem  Gebiet  der  Naturge- 
schichte, die  Beschreibung  der  Wirbelthiere  oder  Fauna  Sieben- 
bürgens, worauf  ein  Preis  von  100. Gulden  gesetzt  ist. 

Die  Tendenz  der  kurz  und  pracis  abgefassten  Statuten  con- 
centrirt  sich  in  $.  1.  u.  2.,  die  so  lauten: 

§.  L  Der  Zweck  des  Vereins  ist:  1.  Unterstützung  von  Forschun* 
gen  in  allen  Zweigen  der  Vaterlandskuode.  2.  Ausarbeitungen  über 
sämmtliche  Zweige  der  Vaterlandsknnde  und  Veröffentlichung  der- 
selben durch  den  Druck.  $.  n.  Durch  dieses  rein  wissenschaftliche 
Streben  ist  jedem  Mitgliede  alles  Politisiren  und  Debattiren  über 
Ereignisse  der  Gegenwart  untersagt.  — 

V^as  nun  diesen  Verein  vor  allen  Andern  unterscheidet,  das 
ist  erstens  die  volksthümliche Bedeutung.  Es  ist  ein  nationales  Unter- 
nehmen ,  was  sich  hier  manifestirt.  Die  deutsche  Wissenschaft  in 
Siebenburgen  bekundet  sich  hier  in  ihrer  entfernten  uralten  Golonie. 
Jedes  Produkt  derselben  ist  der  Theilnahme  der  ganzen  Golonie 
sicher,  aller  Augen  schauen  auf  die  Vertreter  und  die  Vertretenen. 
Je  mehr  erst  die  wahre  Kenntniss  und  Wissenschaft  sich  des  ganzen 
siebenbürgisch-deutschen  Geistes  bemächtigen  soll,  desto  wichtiger 
erscheint  eine  solche  Vereinigung  in  den  Augen  der  Nation;  es 
giebt  auch  nichts  Heilsameres  für  eine  solche,  als  dieses  volks- 
thümliche Anschlingen  an  jede  That  des  Geistes  in  der  Nation. 
Durch  die  öffentlichen  Spiele  Griechenlands,  denn  das  sind  die 
wahren  Vorbilder  unserer  Vereine  oder  sollen  sie  werden,  ist  die 
Nation  der  Griechen  eben  die  geistig  grosse,  die  wir  bewundem 
geworden.  Der  zweite  unterscheidende  Punkt  hangt  mit  dem  Obi- 
gen zusammen;  es  ist  die  Aufmerksamkeit  nicht  blos  auf  das  Ge- 
schichtsleben, sondern  auf  die  ganze  Landeskunde,  die  also  die 
Naturwissenschaft  miteinschliesst.  Eben  weil  der  Verein  die  geisti- 
gen  Bestrebungen  der  Golonie  in  sich  vereinigen  und  von  sich 
ausgeben  lassen  will,  eben  weil  der  Verein  ein  nationales  Erzeug- 
niss  einer  in  sich  abgeschlossenen  Menge  ist,  deshalb  widmet  er 
sich  der  Geschichte  und  der  Natur;   die  Kenntniss  beider  ist  die 


194  Angekgenheiten  der  hi$tori$ehen 

wahrhaft  bildende;  die  Vereioigung  beider  das  wahrhaft  Nothwen- 
dige,  nur  aas  beiden  schöpfen  wir,  was  unsere  Zeil  an  gerechten 
Ansprüchen  an  diese  Kenntniss  fordert;  die  Pedanterie  vergange- 
ner Jahrhunderte  hat  diese  Kenntniss  so  streng  gesondert.  Im 
Alterthume,  wo  man  den  Pedantismus  nicht  Isannte  und  niclit  stu« 
dirte,  war  die  Verschmelzung  der  Naturwissenschaft  mit  der  Ge- 
schichte eine  natürliche;  sie  sind  auch  in  ihrem  Wesen  so  ver- 
bunden, wie  es  Raum  und  Zeit,  heute  und  gestern  nach  dem 
Raum,  zu  den  längst  versunkenen  tausenden  Heute  und  Gestern 
des  Gedächtnisses  sind. 

Der  Verein  wirkt  also  national  für  die  Bildung  der  Nation;  das 
Archiv  ist  sein  Organ  und  der  Abdruck  seiner  Thätigkeit.  Kurz, 
nachdem  wir  vor  1^  Jahren  darüber  gesprochen,  erhielt  er  auch 
in  den  österreichischen  Blättern  für  Literatur  und  Kunst  (Jahr- 
gang 1845.  No.  6.  7.)  eine  Besprechung;  den  Siebenbürgen  gegen* 
über  bespricht  ihn  namentlich  die  Transil venia,  die  vom  Prof« 
Friedrich  Hann  redigirt  wird  und  als  Beiblatt  zu  dem  Siebenbürger 
Boten  erscheint.*) 

Wir  gehen  nun  an  den  kurzen  Bericht  über  den  Inhalt  oben 
genannter  Hefte.  2.  Heft«  1.  Reisebericht  über  einen  Theil  der 
südlichen  Karpathen,  welche  Siebenbürgen  von  der  kleinen  Wa- 
lachei trennen,  aus  dem  Jahre  .1838  (Schluss  desselben  Artikels  in 
Schuller's  Archiv  2.  Heft).  2*  Politischer  Zustand  der  Siebenbürger 
Sachsen,  unmittelbar  vor  der  engern  Vereinigung  der  drei  ständi- 
schen Nationen.  Eine  Skizze  von  J.  K.  Bder.  Herr  Job.  Putsch 
(Oheim  des  genannten  Herrn  G.  Seivert  und  Verf.  einer  Dissertatio 
de  Romanorum  in  Dacia  coloniis  Gibinii  1808.  8.  cf.  Scbuller  Um- 
risse p.  3.),  der  Besitzer  mehrer  interessanten  Handschriften  hat 
diesen  Aufsatz  des  alten  Eder  dem' Vereine  zur  Veröffentlichung 
übergeben.  3.  Die  antiken  Münzen,  eine  Quelle  der  altern  Ge- 
schichte Siebenbürgens  (Schluss).  Gegen  diesen  Aufsatz  ist  eine 
Kritik  des  Grafen  Kem^ny  gerichtet,  die  in  Kurz's  Magazin  im  1.  Heft 
enthalten  ist.  4.  Der  ZoUstreit  der  Sachsen  mit  dem  Grosswardei- 
ner Kapitel  in  dem  letzten  Viertel  des  15.  Jahrhunderts.  Ein  Bei- 
trag zur  Sachsengeschichte  jener  Zeit«  Von  G.  D.  Teutsch.  Mit^ 
ungedruckten  Diplomen.  Es  ist  Schade,  dass  der  Verf.  seine  Ar- 
beiten in  einzelne  Aufsätze  zerstückelt,  die  eben  als  einzelne  einen 
nur  secundären  Werth  haben  müssen.    5.  Höhenlage  einiger  Berge 


*)  Benign!,  der  diese  Zeitschrlll  redigirt,  giebl  noch  das  deutMAe  Volka» 
blatt  heraus  fUr  Landwlrtbscbafl  und  Gewerbe.  Der  SiebenbUrger  Bote  ist 
mehr  politisch,  die  Transilvanla  wissenschaftlich.  Auch  unser  Aufsatz  war 
aus  der  Zeitschrift  dort  abgedruckt  No.  43.  45.  49.  54.  in  ausserordent- 
lichen Beilagen.  Was  wir  tiber  den  Verein  gesagt  No.  30,  vom  e.  Mai. 
Eine  KrHIk  desselben  ist  versprochen. 


Angelegenhdtm  der  hiatori$ekm  Vereine.  195 

und  Städte  Siebenbürgens  von  Anton  Kurz.  Der  Verf.  verdankt 
die  Notizen  dem  Freiherrn  v.  Gorizuttij  er  hat  sie  in  der  Kron- 
stadter Versammlung  1843  vorgelesen  und  der  Verein  bat  dem 
Freiherrn  für  seine  Güte  ein  Dankschreiben  zugesandt  (Album  p.  8.). 
6.  Ueber  den  Namen  der  Siei>enburger  ,,Sachsen*'  von  6.  D.  Teutsch. 
In  den  ältesten  Urkunden  der  Deutschen  in  Siebenbürgen  erschein 
nen  diese  unter  dem  Namen  Flandrenses,  Teutonici  und  am  häufig- 
sten als  Saxones.  Letzteren  Namen  tragen  die  Colonisten  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Woher  sie  zu  demselben  gekommen,  ist  frag- 
lich. Herr  Teutsch  übergeht  die  alten  Meinunge^p  und  will  eine  neue 
IMeinung  dargelegt  haben;  Warnkönig  in  seiner  flandrischen  Staats- 
und Rechtsgeschichte  erwähnt,  dass  der  pagus  Flandrensis  aus  dem 
von  den  Römern  so  genannten  litus  saxonicum  bestanden  und  er« 
klärt  diesen  Namen  durch  sächsiche  Ansiedler,  die  ihn  bevölkert 
und  zu  den  Urbewohnern  herzugekommen  sind.  Warnkönig  er- 
wähnt ferner,  dass  Karl  der  Grosse  viele  Tausende  von  Sachsen 
nach  Flandern  versetzte.  Und  so  meint  Herr  Teutsch,  dass  die 
Fiandrenses,  die  nach  Siebenbürgen  gekommen,  sich  selbst  Saxones 
genannt  hätten.  Diese  nicht  ohne  Sinn  ausgesprochene  Conjectur 
möchten  wir  nicht  anerkennen.  1.  Wie  kommt  es,  dass  die  Fian- 
drenses sich  erst  in  Ungarn  und  Siebenbürgen  Saxones  und  nicht 
schon  im  Lande  genannt  haben.  Hat  denn  Herr  Teutsch  Beweise, 
dass  sich  die  Flandrer  oder  ein  Theil  von  ihnen  noch  in  Flandern 
Saxones  genannt  haben.  Und  gerade  die  altsächsisoben  Bewohner 
wären  ausgewandert?  2.  Nach  Marienburg's  Aufsatz  ist  Flandrensoa 
gewiss  nur  Colonistenname.  Aus  dem  Niederrhein  ist  gewiss  ein 
grosser  Theil  ausgewandert.  Nun  sind  zwar  auch  dabin  im  9.  Jahr* 
hundert  Sachsen  vertheilt  worden ;  es  gab  auch  da  einen  Sachsen* 
gau,  aber  dass  gerade  die  Bewohner  in  grösserer  Zahl  sich  Saxones 
genannt  hätten,  ist  nicht  historisch  begründet  3.  Die  Gründe,  die 
er  gegen  die  alte  Meinung,  dass  Saxones  in  Ungarn  und  Sieben* 
bürgen  Colonistenname  gewesen  und  ihn  die  Deutschen  daher  ge* 
nommen  hatten,  angiebt,  sind  nicht  sicher.  Wenn  auch  dieselbea 
in  alten  Diplomen  Fiandrenses,  Teutonici,  Saxones  genannt  werden, 
so  hat  das  gar  nichts  zu  sagen.  Die  verschiedenen  Notarien  nann- 
ten sie  nach  ihrem  Wissen  bald  Fiandrenses  als  Colonistenname 
im  Allgemeinen,  bald  Teutoniei  als  Deutsche,  bald  Saxones  als  Na* 
men  der  Deutschen  in  Ungarn.  Die  Annahme  eines  Namens  für 
Einwanderer  eines  Grades  ist  allen  Nationen  eigenthümlich  ge* 
wesen,  noch  heute  nennen  ja  die  Ungarn  alle  Colonisten  aus  Deutsch- 
land „Schwaben^*  wie  die  Türken  alle  Europäer  Franken  nennen;*) 


*)  Die  Siebenbürger  Sachsen  nenaen  ja  die  andern  Deutschen  Mouso 
Mauser  cf.  Zeitschrift  für  Oeschicbts Wissenschaft  S.  p.  367.  not.  8. 


196  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine, 

w^nn  Dan  beute  in  einer  Schrift  „Schwaben**  und  Deutsche  (an- 
geblich  die  alten  Bewohner)  zusammenständen,  wer  würde  das 
nicht  erkl'arh'ch  finden  und  daher  ist  auch  die  Stelle  in  einem  Di* 
plom  aus  1231,  wo  Teutonici  und  Saxones  zusammenkommen, 
nicht  so  wichtig.  4.  Wenn  gesagt  wird,  es  sei  unwahrscheinlich, 
dass  eine  Nation  sich  mit  dem  Namen  bezeichne,  den  sie  von  An- 
dern erhalten,  so  ist  das  nicht  richtig.  Es  giebt  eine  Menge  Ana- 
logien. Im  Mittelalter  nannten  die  Juden  im  Westen  die  östlich 
slawischen  Staaten  mit  dem  biblischen  Namen  Aschkenas;  in  späte« 
rer  Zeit  und  heut  nennen  die  östlichen  umgekehrt  die  westlichen 
mit  diesem  Namen  und  die  Juden  nennen  sich  selbst  so.  Die  deut- 
schen Waräger  in  Konstantinopel  hatten  von  dem  slawischen  Namen 
für  Deutschland  „Nemcy**  den  Namen  Ntfin^ot  erhalten,  was  schon 
Thunmann  hat  (Untersuch,  über  die  östl.  Völker  p.  348.  n.  X.), 
obschon  mit  Unrecht  noch  Schlosser  daran  zweifelt  (Weltgeschichte 
2.  640.  not.)  und  es  war  ihr  privilegirter  Name  geworden  (cf.  WiU 
ken  Gesch.  der  Kreuzzüge  1.  p.  106.  n.  7.).  —  Mit  dem  Namen 
Russland  ist  es  ein  ähnlicher  Fall  gewesen.  Die  Schweden,  denn 
dies  waren  die  Waräger,  wurden  von  den  Finnen  und  werden 
noch  Russen  genannt  und  Geijer  (Gesch.  v.  Schweden  1.  36.)  bringt 
sehr  glücklich  die  Stelle  der  Annal.  Bertiniani  hierher  (Prudentius 
Trecensis  bei  Pertz  1.  434.  ad  859.),  wo  Gesandte  sich  selbst  Rhos 
nannten  und  man  denn  erfuhr  eos  esse  gentis  Sueonum.  Selbst 
der  Name  Transilvania  ist  doch  von  Andern  gegeben,  da  man  in 
Siebenbürgen  das  Land  nicht  ,jenseits  der  Berge*'  nennen  konnte. 
Auf  eine  ähnliche  Weise  hat  man  Unterwaiden  in  der  Schweiz 
Transilvania  genannt  cf.  Remig.  Meyer:  die  Waldstätte  vor  dem 
ewigen  Bunde  von  1291.  Basel  1844.  p.  41»  not.  107.  Dass  aber 
die  Deutschen  in  Siebenbürgen  den  Namen  Saxones,  den  ihnen 
Ungarn  gaben  in  Privilegien  und  Urkunden  annahmen,  ist  sehr 
natürlich.  1.  Die  Bevölkerung  von  Siebenbürgen  durch  Deutsche 
geschah  nicht  aus  einem  Distrikt  Deutschlands;  es  müsste  der  Fall 
eingetreten  sein,  dass  Colonisten  sich  nicht  Sachsen,  sondern  an- 
ders genannt  hätten.  2.  Eben  weil  sie  in  Privilegien  und  Urkunden 
Saxones  hiessen  und  sie  in  diesen  Privilegien  von  ihren  Gegnern 
genug  angegriffen  waren,  nahm  man,  um  die  Identificirung  mit 
diesen  Saxones,  welche  da  erwähnt  wurden,  festzuhalten,  auch 
den  Namen  an.  Man  musste  sich  eben  so  nennen,  wie  man  bei 
dem  Ungar  hiess,  um  immer  der  zu  sein,  dem  dieses  und  jenes 
gewährt  war.  Weü  aber  nirgends  dieses  Staats-  und  Privilegien- 
leben so  in  das  Volk  eingedrungen  war,  wie  in  Siebenbürgen,  so 
ward  der  Name  eben  aus  dem  Privilegium  heraus  ganz  volksthüm- 
lich  und  natürlich,  ohne  dabei  bei  anderer  Erklärung  auf  historische 
Binzelnheit  recurriren  zu  müssen«   Es  ist  nichts  einfacher,  als  dass 


AngelegenheUen  der  historischen  Vereine.  197 

wie  der  Europäer  dem  Türken  gegenüber  sich  als  Franken,  so  der 
Bistritzer  und  Mediascher  und  Kronstädter  dem  Unger  und  Szekler 
gegenüber  sich  als  Sachsen  zu  erkennen  gegeben  bat.  Etwas  Anderes 
ist  es  zu  beweisen,  wie  es  gekommen,  dass  die  Ungarn  die  deut* 
sehen  Ankömmlinge  Sachsen  genannt  haben.  Der  Grund  ist  wahr* 
scheinlich  ebenso  einfach  und  schreibt  sich  aus  der  grossen  Zahl 
sächsischer  Ankömmlinge  unter  den  ersten  Arpaden  her,  w4e  eben 
der  heutige  Name  Schwabe  von  der  Zahl  wirklicher  Schwaben,  die 
einwanderten,  gekommen  ist.  7.  Das  Echo  am  Königstein  von  An- 
ton Kurz.  Das  3.  Heft  enthält:  1.  Abhandlungen  über  Monumente, 
Steinschriften,  Münzen  und  Itinerarien  aus  der  Römerzeit  mit  be- 
sonderer Hinsicht  auf  Dacien.  2.  Ueber  das  Verbältniss  der  sieben- 
bürgisch-sächsischen  Sprache  zu  den  niedersächsischen  und  nie* 
derrheinischen  Dialekten.  Der  Aufsatz,  der  sogar  in  der  hiesigen 
Vossischen  Zeitung  eine  Erwähnung  fand,  ist  interessant  ^ind  scheint 
das  Rechte  getroffen  zu  haben.  Namentlich  scheint  mir  das  An« 
treffen  des  Nasenlautes  im  niederrheiniscben  Dialekt  eine  der 
schlagendsten  Aehnlichkeiten,  denn  gerade  er  ist  ein  echt  Volks- 
thümliches,  das,  weil  es  nur  in  der  Sprache,  nicht  in  der  Schrift 
lebt,  eben  in  gebildeteren  Tagen  verdrängt  und  nicht  mehr  gewusst 
wird.  Der  Nasenlaut,  den  das  y  Ain  noch  heute  in  der  vulgären 
Aussprache  der  Juden  hat,  schreibt  sich  wohl  noch  aus  der  doppei- 
ten  Aussprache  dieses  Buchstabens  im  Alterthume  her,  wo  er  bald 
wie  das  arabische  Ghain  ausgesprochen,  bald  einfacher  betont  ward. 
So  ist  auch  der  französische  Nasenlaut  nur  aus  der  Vulgärsprache 
in  die  feine  übergegangen ;  einen  Fehler  begebt  aber  Herr  Marien- 
burg wieder,  wenn  er  von  der  siebenbürgisch- sächsischen  Sprache 
im  Allgemeinen  spricht ;  es  rouss  da  unter  jeder  Bedingung  geson- 
dert werden;  namentlich  der  Bistritzer,  der  ganz  andern  Ursprunges 
ist,  wie  ja  auch  Bedeus  in  seiner  Rede  darauf  hindeutet  (Transil- 
vania  1845.  n.  45.);  wir  kennen  ihn  nur  aus  einem  Gedichte,  das 
in  Schuller's  Gedichten  siebenbürgisch- sächsicber  Mundart  p.  27. 
steht  und  woraus  allein  der  grosse  Unterschied  herausspringt.  Er 
hat  nämlich  keinen  Nasenlaut  und  scheint  uns,  da. wir  ihn 
weit  besser  als  die  andern  verstehn  und  auch  anderer  Umstände 
wegen,  Aehnlichkeit  mit  dem  schlesischen  Dialekt  zu  haben.  Be- 
deus' Rede  bestätigte  uns  dies,  der  die  alten  Traditionen  wieder- 
giebt,  dass  sie  über  Schlesien  nach  Ungarn  gekommen.  3.  Kritische 
Beiträge,  zur  Reformation  des  Hermannstädter  Kapitels  in  Sieben- 
burgen vor  der  Reformation  (Fortsetzung).  4.  Die  Dechanten  des 
Hermannslädter  Kapitels.  5.  Beiträge  zur  Staatskunde  von  Sieben- 
bürgen von  G.  Binder,  Lehrer  in  Schässburg.  Der  zweite  Band, 
dessen  1.  Heft  auch  schon  erschienen  ist,  enthält  bis  jetzt  folgen- 
des: 1.  Die  Archive  Siebenbürgens  als  Quellen  vaterländischer  Ge* 


198  AngelegenheUen  der  hiitorischen  V^äne, 

schichte  von  Eugen  v.  Friedenfeis.  Wir  miissen  hier  auf  das  zu 
rückkomroen,  worauf  in  den  literarischen  Berichten  über  Lanz  und 
Spiegel  (voriieg.  Zeitsch.  Bd.  4.  Decemberheft  1845.)  aufmerksam  ge- 
macht worden  ist.  Zuvörderst  sind  Verzeichnisse  der  Schätze  noth, 
bevor  man  drucken  lässt.  Eher  ist  zuviel  Reichthnm  als  das  Ge* 
gentheil  zu  fürchten.  Was  er  angiebt,  ist  grösstentheils  aus  Ke- 
mdny  Notitia  geschöpft,  über  die  wir  schon  früher  (Bd.  2.  p.  369« 
n.  1.)  ein  Wort  sprachen.  2.  Aus  den  handschriftiichen  Denkwür- 
digkeiten eines  Sachsen  des  17.  Jahrhunderts.  Mitgelheilt  von  6.  D. 
Teutsch.  3.  Beiträge  zur  Geschichte  Siebenbürgens  unter  dem  König 
Karl  Robert  von  G.D.  Teutsch  (noch  nicht  vollendet).  4.  Das  Wieder- 
aufleben der  evangelisch-lutherischen  Kirche  in  Klausenburg.  Von 
loh.  Georg  Schaser,  ev.  Pfarrer  zu  Thalheim.  5.  Die  Bandscbrifteo 
der  k.  k  Hofbibliothek  in  Wien,  in  Bezug  auf  die  Geschichte  Sieben- 
bürgens. 6.  Eine  angeblich  im  Archiv  der  königl.  ungarischen 
Hofkammer  in  Ofen  befindliche  Urkunde.  Die  Urkunde  ist  sehr 
verdächtig.  Wir  zweifeln  um  nur  eines  anzugeben  sehr,  dass  Wa- 
ladio  in  einer  Urkunde  von  1413  vorkommt.  7.  Beiträge  zur  Staats* 
künde  von  Siebenbürgen  (Schluss).  8.  Uebersicbt  der  Josephini« 
sehen  Grundausmessung  in  Siebenburgen  in  den  Jahren  1786—90« 

9.  Verzeicbniss    veralteter   Namen    siebenbürgischer   Ortschafleilv 

10.  Mittheilungen  des  Pf.  J.  Putsch  an  den  Verein  für  Siebenbürgi* 
sehe  Landeskunde.  (Brief  von  Eder  an  die  sächsische  Universität 
bei  der  Herausgabe  von  Felme^rs  siebenbürg.  Geschichte.)  11.  Alt6 
Namen  des  Kronstädter  oder  Burzenländer  DIstricts  und  seiner 
Ortschaften,  aus  Urkunden  verzeichnet  von  J.  Trausch.  12.  Comi- 
tes  de  Bestercze,  de  Megyes  et  de  Brasso  (Bistritz,  Mediascb,  Kron- 
stadt) e  literis  coaevis  eruti.  13.  Die  Witterungsbeobacbtungen 
auf  der  Karlsburger  Sternwarte  im  Jahr  1843. 

Die  Hefte,  besonders  das  dritte,  sind  durch  den  Patriotismus 
der  Buchdrucker  und  Buchhändler,  die  sie  auf  ihre  Kosten  er-, 
scheinen  lassen,  anständig,  wenn  auch  nicht  gleichmässig  im  For- 
mat ausgestattet.  Ob  der  Inhalt  jedoch  bei  aller  Mannigfaltigkeit 
und  allem  guten  Willen  den  Ansprüchen  ganz  entspreche,  isl 
doch  noch  fraglich.  Wenn  man  über  den  Zweck  des  Vereins 
ganz  im  Reinen  ist,  so  ist  doch  das  weniger  mit  dem  des  Archivs 
der  Fall.  Wenn  es,  was  freilich  nicht  ausgesprochen  ist,  eben  ein 
Archiv  sein  soll  für  jegliches,  was  Tür  &(iebenbürg.  Landeskunde 
gearbeitet  und  gesammelt  wird  und  sonst  kein  Unterkommen  findet, 
so  bat  es  allerdings  seinen  Zweck  erfüllt;  es  nimmt  dann  keine 
Rücksicht  auf  den  qualitativ  grössern  oder  geringern  Werth  der 
Arbeiten  und  es  dient  nur  zur  Aufmunterung  der  Arbeitenden. 
Pann  aber  muss  man  immer  noch  an  den  Arbeiten  und  Arbeitern 
(den  geringen  Grad  der  Nothwendigkeit  rügen,   der  an  ihnen  ist; 


AngelegenheUen  der  historischen  Vereine.  199 

es  sollen  Vorarbeiten  sein  zu  einer  künftigen  grossen  Geschiebte, 
aber  als  solche  sind  nur  die  wenigeren  von  Bedeutung;  selbst  die 
Aufsatze  des  fleissigen  Teutsch  würden,  ständen  sie  unter  sich  in 
einer  Verbindung  und  träten  sie  in  einer  gewissen  yorm  und  Ab- 
rundung,  nicht  immer  als  Beiträge  etc.  auf,  mehr  Verdienst  haben. 
Hiemit  soll  keinesweges  das  Streben  des  Vereins  verkannt  und 
geringgeschätzt  sein.  Wahrscheinlich  ist  das  Archiv  selbst  mit 
seinen  Mängeln  noch  ein  unausweichbares  Bedürfniss.  Mag  es 
nur  innerhalb  des  Landes  denselben  Eifer  sich  bewahren  und  die 
thätige  Anerkennung;  das  ferne  Mutterland  wird  stets  bereit  sein 
die  Bestrebungen  seiner  Colonie  zu  würdigen. 

Selig  Cassel. 

Notizen. 

Literarischer  Verein:    Bericbtigaogen. 

Der  Stuttgarter  literarische  Verein  hat  im  Jahre  1844  aus  einer 
Brüsseler  Handschrift  des  dreizehnten  Jahrhunderts  ein  Bruchstück 
einer  Erzählung  von  dem  Kreuzzuge  Friedrichs  des  ersten  ab- 
drucken lassen ,  deren  unbekannter  aber  als  Augenzeuge  berich- 
tender Verfasser  dem  Freiberrn  von  Reiffenberg,  dem  wir  die  Mit 
theilung  dieses  Bruchstückes  verdanken ,  noch  vor  Friedrichs  Tode 
geschrieben  zu  haben  scheint.  Herr  von  Reiffenberg  gründet  seine 
Vermuthung  auf  die  Worte  mit  denen  S.  20.  Kaiser  Friedrich  ge» 
priesen  wird,  eins  strenuit^s,  praesertim  in  annis  vigentibus,  non 
minus  stupenda  quam  laudanda  (^t.  nam  cum  senior  esset  et 
fiiios  haberet  quibus  et  aetas  et  virtus  ad  miütandum  aptior  Yide- 
batur,  eos  tamen  tanquam  insufficientes  reputans  ipse  priocipis 
christianissimi  negotium  procurandum  suscepit.  Er  meint,  wenn 
diese  Stelle  nicht  verderbt  sei,  so  könne  in  annis  vigentibus  nur 
so  viet  als  in  annis  praesentitiys  bedeuten.  Aber  gewiss  ist  die 
Stelle  verderbt:  der  Zusammennang  lehrt,  dass  man  in  annis  ver- 
genttbus  schreiben  muss.  Statt  quibus  im  folgenden  Satse  wäre 
quorqm  besser.  S.  6.  Z.  4.  v.  u.  giebt  abiecto  erubescente  velo 
keinen  Sinn:  mit  erubescentiae  ist  geholfen.  --  S.  23.  Z.  15.  wird 
in  den  Worten  in  votum  eximiae  tam  peregrinationis  prociamant 
nicht,  wie  der  Herausgeber  meint,  etwas  fehlen,  sondern  nur  tam 
verstellt  sein.  —  S.  15.  in  der  lezten  Zeile  ist  interrium  wohl  nar 
Druckfehler  für  interitum.  Moriz  Haupt. 

Reformen  der  bessiseben  Vereine. 

Der  Verein  Tür  hessische  Geschichte  und  Landeskunde  zu 
Cassel  hat  seit  dem  Juli  v.  J.  die  Herausgabe  „Periodischer 
Blätter"  eingeführt,  welche  die  Stelle  der  bisherigen  Jahres- 
berichte ersetzen  sollen.  Sie  erscheinen  in  kürzeren  etwa  2  bis 
3monatlichen  Fristen,  sind  nur  für  die  Mitglieder  bestimmt  und 
bezwecken,  indem  sie  neben  der  den  wissenschaftlichen  Arbeiten 
gewidmeten  Zeitschrift  als  ein  besonderes  Organ  einhergeben,  die 
Entwicklung  eines  regeren  Verkehrs  im  Innern  des  Vereines  selbst. 


200  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine, 

Sie  sollen  Nachricht  geben  über  die  Zusammenkünfte  und  Sitzun- 
gen, über  die  Erwerbungen  des  Vereins,  über  den  Zu-  und  Ab- 
gang der  Mitglieder,  über  literarische  Unternehmungen  welche  sich 
auf  hessische  Volks-  und  Landeskunde  beziehen,  über  Ausgra- 
bungen und  Entdeckungen,  sowie  über  Wünsche  und  Anträge 
einzelner  Mitglieder;  zugleich  wird  damit  eine  fortlaurende  Ueber- 
sicbt  der  neuesten  die  Interessen  des  Vereins  berührenden  Literatur 
verbunden  sein.  Der  Ausschuss  hoOl  mit  Recht,  dass  diese  Blätter 
einen  wesentlich  fördernden  Einfluss  auf  die  Lebensth'ätigkeit  der 
Gesellschaft  ausüben  werden. '  Die  bisher  ausgegebenen  Nummern 
1 — 4  (Juli,  September,  November),  jede  im  Durchschnitt  zu  |Bg.8., 
entsprechen  ganz  dem  beabsichtigten  Zwecke  und  lassen  diese 
Einrichtung  auch  für  andere  Vereine  als  nachahmungswerth 
erscheinen;  nur  müssten  dann  die  bisher  üblichen  Jahresberichte, 
als  überflüssig  verschwinden.  Der  Vortheil  liegt  klar  vor  Augen: 
das  ganze  Vereinswesen  würde  dadurch  innerlich  und  ausserlich 
mehr  Flüssigkeit  bekommen,  während  es  jetzt,  wie  sich  nicht 
läugnen  l'ässt,  in  beiden  Beziehungen  an  einer  gewissen  Erstarrung 
leidet. 

Mit  jener  Einrichtung  des  Casseler  Vereins  ist  aber  zugleich 
ein  zweiter,  noch  wichtigerer  Zweck  erstrebt  und  erreicht  worden. 
Die  „Periodischen  Blätter*'  werden  nämlich  von  diesem  Jahre  an  ein 
gemeinschaftliches  Organ  für  die  beiden  hessischen  Vereine, 
zu  Gassei  und  zu  Darmstadt,  bilden.  Hierdurch  bahnt  sich  also 
zum  erstenmal  eine  derartige  Annäherung  oder  Verschmelzung 
von  Vereinen  an,  wie  sie  unsere  Zeitschrift  schon  früher  als  im 
Interesse  der  Wissenschaft  und  des  Vereinswesens  gleich  wün- 
schenswerth  dargestellt  hatte.  Nur  müsste  dieses  Verschmelzungs- 
princip  mit  der  Zeit  noch  weiter  greifen,  auch  auf  die  wissen- 
schaftlichen Publicationen  stammverwandter  Vereine  in  An- 
wendung gebracht  werden.  Ad.  Schmidt 

BeUrittserklärangen  der  Vereine. 

Ihre  Zustimmung  und  Mitwirbiug  zu  dem  von  uns  eingelei- 
teten Unternehmen  haben  bis  jetzt  uns  zugesagt:  1)  ausser  dem 
bist.  Verein  f.  d.  Grossherz.  Hessen  in  Darmstadt,  von  dem  die 
erste  allgemeine  Anregung  dazu  ausging,  2)  der  Verein  f.  hes- 
sische Gesch.  u.  Landeskunde  in  Cassel.  3)  Der  V.  f.  Mecklenb. 
Gesch.  u,  Alterthumsknnde.  4)  Der  V.  f.  d.  Gesch.  der  Mark  Bran- 
denburg zu  Berlin.  5)  Die  geschicbts-  u.  altertbumsforschende  Ge- 
sellsch.  des  Osterlandes  in  Altenburg.  6)  Die  bist.  Section  der  west- 
phäl.  Gesellsch.  z.  Beförderung  der  vaterl.  Cultur  zu  Minden.  7) 
Der  Museal  verein  des  Francisco -Carolinums  zu  Linz.  8)  Der  Ver- 
ein zur  Erforschung  der  rheinisch.  Gesch.  u.  Alterthümer  in  Mainz. 
9)  Die  Schleswig« holstein-lauenburgische  Gesellsch.  f.  vaterländ. 
Gesch.  zu  Kiel.  —  Auch  dem  Darmstädter  Verein  sind  auf  sein 
Circularschreiben  eine  etwa  gleiche  Zahl  von  beistimmenden  Ant- 
worten zugegangen.  Um  Wiederholungen  zu  vermeiden ,  enthalten 
wir  uns  der  Mittheilung  dieses  zweiten  Verzeichnisses.  Die  mehr- 
fachen Abweichungen  lassen  der  Hoffnung  zu  wachsendem  An- 
klänge Raum. 

Januar  1846.  Ad.  Schmidt. 


Eine   deutoehe   Colonle    und   deren  Abfall« 


Ls  ist  uns  Deutschen  hä'ußg  vorgeworfen  worden,  dass  wir 
es  versäumt,  Golonieen  zu  grUnden,  die  Vortheile  uns  an- 
zueignen^ welche  für  die  Rhederei,  den  KunstQeiss,  dadurch 
zu  erzielen  sind,  und  —  was  gar  nicht  hätle  ausbleiben 
dUrfen,  war  es  doch  schon  zur  Behauptung  des  Erworbenen 
erforderlich  —  uns  in  die  Reihe  der  grossen  Seemächte  zu 
stellen.  Als  ob  nicht  auch  wir  einstmals  unsere  Handels- 
colonie  gegründet  und  besessen  —  besessen  und  ausgebeutet 
und  so  ziemlich  durch  dieselben  Fehler  wieder  eingebüsst 
hätten,  wie  es  andern  Nationen  mit  ihren  überseeischen 
Pflanzungen  ergangen.  Freilich,  es  ist  eine  verschollene,  fast 
vergessene  Sache.  Denn  am  frühesten  gingen  wir  ans  Werk: 
als  noch  kaum  ein  Denker  oder  Dichter,  und  nie  ein  Schiffer 
(wenn*s  nicht  der  Nordmann  war  —  denn  auch  er  kürzt 
mit  der  Erzählung  spurlos  verschwundener  Thaten  seine 
Winternächte)  —  als  noch  kein  Segler  unsrer  Zone  den 
Schleier  gelüftet,  unter  dessen  Umhüllung  die  westliche  Welt 
im  Arm  ihres  Hüters,  des  alten  Oceans,  schlummerte.  Es 
ist  lauge  her,  sehr  lange:  aber  es  ist  gewesen:  wir  waren 
,den  andern  Völkern  vorangegangen ,  und  unsre  Colonie  war 
Liefland. 

An  dies  Yerhältniss  ist  jüngst  von  E.  Herrmann,  in 
dem  ersten  seiner  dankenswerthen  „Beiträge  zur  Geschichte 
des  russischen  Reiches"*),  erinnert  worden.  Manche  wesent- 
liche Gesichtspunkte  ßndet  man  daselbst  trefflich  erörtert, 
wenn  man  auch  bei  der  Auffassung  andrer  seine  Bedenken 


*)  Leipzig,  1843. 

AHg.  Zeiteekrift  f.  GtUkUhU.  T.  1846.  14 


202  Eine  dfui$che  Colonie  und  deren  AhfaiL 

nicht  unterdrücken  kann.  So  z.  B.  wenn  er  in  dem  russi- 
schen Besitz  der  Ostseeprovinzen  eine  Art  von  moraüscher 
Nothwendigkeit  zu  erblicken  scheint,  einen  Stand  der  Dinge, 
ohne  welchen  eine  gedeihliche  Berührung  deutscher  und 
russischer  Nationalität  (gedeihlich  für  die  letztere)  nicht 
möglich  wäre,  und  wenn  er  den  Beherrschern  Russlands 
den  Entschluss  einer  religiösen  Schonung  deutscher  Eigen- 
thümlichkeit  leiht,  um  einen  nahen  und  lauteren  Quell  zu- 
strömender Gesittung  nicht  zu  gefährden.  Es  wird  immer 
misslich  bleiben,  wenn  man  die  Gulturmomente  von  den 
politischen  Interessen  abgesondert  betrachten  will.  Bei  dieser 
Art  zu  sehen,  wo  bleiben  die  unabänderlichen  Tendenzen 
der  russischen  Politik,  seit  Abwerfung  des  Tartarenjochs? 
Es  soll  unten  nachgewiesen  werden,  wie  man  in  Deutsch* 
land  schon  im  sechszehnten  Jahrhundert  darüber  urtheilte. 
Wo  bleiben  die  „geographischen"  Nothwendigkeiten,  von 
welchen  in  Tilsit  und  Erfurt  die  Rede  war?  Wo  die  unab« 
weisbare  Parallele  zwischen  den  Ostseeprovinzen  und  den 
Erwerbungen  am  schwarzen  Meere,  zwischen  den,  dem 
Namen  nach  selbstständigen  Dardanellen  und  dem  Sunde? 
Und^  bei  dem  offenkundigen  Charakter  der  Staatsform  und 
der  Politik,  wo  ist  die  BürgschafL  für  die  so  stete  als  zarte, 
präsumirte  Schonung  des  deutschen  Wesens,  wenn  eine 
andre,  sei's  moralische  oder  politische  Nothwendigkeit  in 
den  Weg  zu  treten  scheint? 

Doch  ist's  nicht  die  nähere,  sondern  die  entferntere  Ver. 
gangenheit  der  Ostseeprovinzen,  mit  welcher  der  gegen- 
wärtige Aufsatz  sich  beschäftigen  wird.  Da  ist  vor  Allem 
das  Verdienst  der  Darstellung  Herrmanns  anzuerkennen.  Er 
entwickelt  in  festen  und  sicheren  Zügen,  wie  die  Vereinigung 
der  deutschen  Kaufleute  auf  Gothland,  und  der  daher  ab- 
geleitete Hof  in  Nowgorod  ursprünglich  auf  der  breitesten 
nationalen  Grundlage  beruhte;  wie  im  Bunde  der  Hanse- 
städte allmählig  die  Sonderinleressen  ein  beunruhigendes 
Uebergewicht  erlangten;  wie  endlich  diese  Sonderinteressen 
die  Auflockerung,  die  Auflösung  des  grossen  Bundes,  und 
den  Verlust  Lieflands,   gutentheils  Herbeigeführt  haben. 


Eme  deutsche  Colome  und  deren  AhfaU,  203 

Das  Alles  ist  nur  zu  wahr;  es  wird  in  den  Einzeln- 
heilen  des  nachfolgenden  Versuchs  vielleicht  noch  schärfer 
hervortreten.  Wenn  Herrmann  Etwas  vermissen  lässt,  so 
ist  es  die  Erwa'gung  derjenigen  Verhältnisse,  die  zur  Wür- 
digung des  Auftretens  der  Hansestädte  nicht  wohl  übersehen 
werden  dürfen.  Der  bewährteste  Führer,  dem  er  in  Bezug 
auf  den  Ursprung  der  deutschen  Hansa  gefolgt  ist,  hat  die 
Erwähnung  jener  Verhältnisse  gleich  an  die  Spitze  seiner 
Untersuchungen  gestellt.  „Es  ist^S  sagt  Lappenberg  in 
seinem  Vorwort  zum  Sartorius,  „es  ist  vor  Allem  der 
Mangel  an  Einheit  der  Nation  gewesen,  welcher  die 
Städte  des  nördlichen  Deutschlands,  wie  früher  Italiens, 
gross  gemacht  hat,  und  jene  zu  der  Entstehung  der  Ver* 
fassungen  und  Vereine  führen  musste,  welche  den  kräftigen 
Sinn  der  Bürger  nährten,  und  den  vollen  Genuss  des  Er 
worbenen  ihnen  zu  sichern  vermochten/^  Hier  ist  der 
Schlüssel  zum  Verstand niss  des  Ganzen.  Oder  giebt  es  eine 
andre,  zugleich  einfachere  und  erschöpfendere  Erklärung? 

Der  Schutz,  den  der  Verkehr  im  Vaterlande,  den  die 
Sicherheit  der  Meere,  den  die  Gerechtsame  des  gemeinen 
deutschen  Kaufmanns  in  überseeischen  Niederlassungen  nich| 
fand^  wo  man  ihn  hätte  erwarten  sollen,  nicht  bei  Kaiser 
und  Reich  —  der  musste  ersetzt  werden,  so  gut  es  anging, 
durch  Bündnisse  der  Einzelnen  unter  einander.  An  Er* 
mahnungen  freilich,  an  Verwendungen,  an  Intercessionaion, 
sogenannten  „Vorschreiben"  abseiten  der  Kaiser  hat  es  nicht 
ganz  gefehlt.  Aber  wenn  die  nicht  fruchteten,  was  erfolgte 
dann  weiter?  Die  Fälle  sind  zu  zählen,  in  weichen  ein 
Reichsstand,  der  eine  Lebensader  des  Verkehrs  durchschnitt, 
zu  befürchten  hatte,  dass  es  zur  Execution  gegen  ihn  kom- 
men würde.  Und  wann  hätte  wohl  ein  auswärtiger  Monarch 
besorgen  müssen,  dass  ihm  der  Reichskrieg  deshalb  würde 
erklärt  werden,  weil  er  die  wohlerworbenen  Rechte  deutscher 
Reichsbürger  verletzte?  Unter  solchen  Umständen  war's  für 
das  Ganze  ein  Gewinn,  eine  Wohlthat,  dass  die  Städte  zum 
Bündniss  zusammentraten.  Was  sie  für  die  deutschen  Inter- 
essen und  für  die  forlAhreitende  Cuitur  unsres  Welttbeils 

14» 


204  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall. 

überhaupt  damals  geleistet,  das.  hat  die  Geschichte  bereit- 
willig anerkannt.  Kein  Schriftsteller  ist  verblendet  genug, 
es  zu  leugnen.  Wir  verlangen  keinen  Dank:  die  Rolle,  die 
wir  damals  übernahmen,  war  uns  geradezu  aufgenöthigt 
durch  die  Unthätigkeit  von  Kaiser  und  Reich,  durch  den 
„Mangel  an  Einheit  der  Nation*^. 

.  Eben  darum  hatte  diese  Rolle  auch  ihre  Unzuträglich- 
keiten  für  das  Ganze.    Die  erhöhte  Kraftentwickelung  ein- 
zelner Theile  mochte  über  den  kränkelnden  Zustand,   über 
die   gestörte  Lebensthätigkeit   des   Reichskörpers   täuschen: 
das  Uebel    zu  heilen  vermochte  sie  nicht.     Der  Geist   der 
Association,   mächtig  wie  er  war,   konnte  das  Unheil  nicht 
beschwören,   welches  das  Erschlaffen  der  Gentralgewalt  in 
der  Reichsverfassung  bereitete.     War   das  Bündniss   durch 
äussere  oder  innere  Stürme  bedroht,   so  blieb  dem  Reich 
Nichts,  was  dessen  Stelle  vertreten  konnte.    Der  grosse  Zoll- 
verein wird  seine  Euthanasie  finden,   in  def*  Erfüllung  des 
19ten  Artikels  der  Bundesakte.    Kein  so  günstiges  Loos  war 
der  grossen  Hansa  beschieden.    Die  Eifersucht  der  Fürsten, 
die   Religionsspaltung,    die    erstarkende    Gentralisirung   der 
auswärtigen   Staaten,    bedrohten    zugleich    den   Hansabund 
und  das  Reich.    Jener  ward  das  erste   Opfer.    Die  Lücke, 
die  er  zurückliess,    ward  nur   durch   thatenlose  Sehnsucht 
bezeichnet.   Es  wird  unten,  aus  einem  ungedruckten  Akten- 
stück,  gezeigt  werden,   dass  noch  auf  dem  Reichstage  zu 
Speier  1570  der  Kaiser   die   Aufstellung   eines   Reichsad- 
mirals  vorschlug.   Warum  ist  es  beim  Vorschlag  geblieben? 
Unsre  gebietenden  Kriegsflaggen,   in  der  Ostsee  und  West« 
see  entfaltet,    mochten  das  Stillsitzen  des  Reichsadlers  be- 
schämen;  seinen  kühneren  Flügelschlag  konnten  sie  auf  die 
Dauer  nicht  ersetzen. 

Allerdings  auch  das  Hervortreten  der  Sonderinteressen 
im  Bunde  selbst  hat  dem  Ganzen  Unheil  gebracht.  Bei  dem 
Verlust  Lieflands  hat  eg  entscheidend  mitgewirkt.  Auch  dies 
Missverhältniss  erklärt  sich  aus  der  Entstehung  des  Bundes 
und  ays  der  Art,  wie  er  seine  Aufgabe  zu  erfüllen  ange- 
wiesen war.    Einzelne  mussten  an  die  Spitze  treten;   ihnen 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall.  205 

ward  selbst  verstanden  jede  äusserste  Anstrengung  zugemuthet, 
Lübeck  zumal  mit  den  übrigen  ,, wendischen  Städten^';   auf 
ihren  Schultern  ruhte  die  Last  des  Kampfes  mit  den  drei 
nordischen  Kronen.     Sie  suchten  für  die  Mühen  und  Auf- 
wendungen sich  zu  entschädigen.    Die  Grossmuth  haben  sie 
nicht  geübt,  die  vor  dem  Ideal*)  die  Probe  hält.    Den  ersten 
Stein  mag  auf  sie  werfen,  wer  darthun  kann,  dass  das  Ge^ 
meinwesen,  dem  er  selbst  angehört,  Zug  für  Zug  dem  Ideale 
gleicht.    Kamen  Unbilligkeiten,   Verletzungen  vor,   wo  war 
die  höhere  Einheit,  welche  Alles  hätte  ausgleichen  können? 
Die  Zeiten  waren  vorüber,   wo  Kaiser  Friedrich  IL  (1226) 
auf  die  Aufnahme  einer  willkürlich  ausgeschlossenen  Stadt 
in  die  Gemeinschaft  berechtigter  Genossen  dringen  konnte. 
Also  die  Fehler  des  Hansabundes  sollen  nicht  beschö- 
nigt, sie  sollen  nur  in  ihre  richtige  Beziehung  zu  denjenigen 
Mängeln  gesetzt  werden,    für  welche   die  ganze  Nation  auf- 
zukommen hat.    in  der  That,  es  ist  Keiner  schuldlos,  auch 
nicht  Einer. 

Vattel  zählt  unter  den  Pflichten  einer  Nation  auch  die- 
jenige auf,  dass  sie  sich  selber  kennen  lerne.  Dies  Bedürf- 
niss  der  Selbstken ntniss  ist  für  die  Deutschen  sehr  lebhaft 
erwacht.  Sie  kann  nicht  unwesentlich  gefördert  werden 
durch  die  Bekanntschaft  mit  dem  Verlauf  der  hansischen 
Geschichten.  Eben  das  Verhältniss  zu  Liefland  enthüllt  eine 
eigensüchtige  Colonialpolitik,  deren  Folgen  empfunden  wur- 
den, während  man  die  Ursache  kaum  ahnte.  Auch  in  den 
Schiffahrtsacten  sind  die  Hansen  die  Lehrmeister  der  Engländer 
gewesen.  So  gehören  denn  diese  Begebenheiten  zu  den 
lehrreichsten,  nächst  dem  Verhältniss  Deutschlands  zu  England 
im  sechszehnten  Jahrhundert,  wo  zu  der  unwürdigen  Stel- 
lung unsres  Vaterlandes,  der  englischen  Handelsherrschaft 
gegenüber,  der  erste  Grund  gelegt  ward. 


*)   Geläutertem  Gemülhe  Vom  Leben  nur  das  Heute, 

Genügt  der  Schönheit  Btüihe,      Vom  Feinde  keine  Beute: 
Vom  Golde  schon  der  Glanz.      Vom  Siege  nur  der  Kränzt 

Gustav  Pfizer. 


206  Eine  deutBcke  Colome  und  deren  ÄbfiM. 

—  Mein  Beruf  briogl  die  Verpflichtung  mit  sich  (mir 
eine  der  willkommensten),  jene  Geschichten  einem  Kreise 
von  Bürgern  einer  freien  Hansestadt  vorzutragen.  Ich  wider-- 
stehe  der  Versuchung  nicht,  aus  dem  Material,  das  ich  für 
diesen  Zweck  aus  gedruckten  und  ungedruckten  Schrift- 
quellen  gesammelt«  und  aus  den  Betrachtungen,,  die  in  der 
mtlndlichen  Rede  am  natürlichsten  sich  anreihen,  diese  oder 
jene  Partie  auch  der  Beachtung  eines  weiteren  Kreises 
deutscher  Leser  zu  empfehlen. 

1.   Die  GrftndiiBg. 

Drei  Elemente  lassen  sich  unterscheiden »  welche  die 
Colonisirung  jener  fernen  Ostseeküsle  bewirkt  haben:  Kauf- 
leute, Priester  und  Ritter. 

In  grosser  Uebereinstimmung  berichten  die  Quellen*), 
dass  deutsche  Kaufleute  in  der  zweiten  Hälfte  des  12ten 
Jahrhunderts  von  Gothland  aus  (also  vom  damaligen  Mittel- 
punkt des  ostseeischen  Verkehrs)  an  die  liefländische  Küste 
verschlagen  worden.    Sie  liefen  in  die  Düna  ein,  vertrugen 


*)  Unter  den  Quellen  steht  obenan  die  lateinische  Chronik 
der  Bischöfe  Lieflands,  die,  im  Jahr  1225  verfasst  uud  von  Gruber 
(Origines  Livoniae)  1740  zuerst  herausgegeben,  seitdem  unter  dem 
Namen  Heinrichs  des  Letten  geht.  Sodann  eine  Reimchronik» 
welche  die  Thalen  der  Ritter  darstellt,  „geschriben  in  der  Ku- 
mentur  zu  Rewal  durch  den  DiÜeb  von  Alupeke  im  mcclxxxxvj 
jar*^,  und  zum  erstenmal  edirt  von  L.  Bergmann  (Riga  1817). 
Ein  überraschendes  Zeugniss  dafür,  dass  die  Einwanderung  nicht 
aus  Njederdeutscbland  allein  vor  sich  ging,  bietet  die  Mundart 
dieser  so  tief  im  Norden  geschriebenen  Reime  dar:  es  ist  die 
Sprache  der  Minnesinger,  der  Nachhall  der  Töne,  die  Conradin 
auf  Hohenschwangau  „scheidend  hold  in  die  Harfe  sang'^  6er- 
vinus,  in  seiner  National- Literatur,  bat  die  liefländische  Reim- 
chronik  der  Erwähnung  werth  gehalten;  Franz  Pfeiffer  bat  sie 
jüngst  (in  der  7ten  Publication  des  Stuttgarter  Vereins)  aus  einer 
heidelberger  Handschrift  vollständig  abdrucken  lassen:  ein  doppelt 
verdienstliches  Werk,  weil  dadurch  die  grosse  Lücke  in  Berg- 
manns Handschrift  ergänzt  ist,  und  wegen  der  Seltenheit  der  frü- 
heren Ausgabe  (auch  ich  habe  von  dieser  nie. ein  andres  Exemplar 
gesehen,  als  dasjenige,   das  Bergmann  unsrer  Stadtbibliotbek  ge- 


Eme  deuUeke  Cehme  md  deren  AbfiM.  20? 

sioh  bald  mit  dem  Heidenvoik,  machten  ein  gutes  Tausoh- 
geschäft,  und  wurden  zur  baldigen  und  häufigen  Wieder- 
kehr eingeladen.  Auf  einer  späteren  Reise  brachten  sie  den 
Augustiner  Meinbard  mit  (aus  dem  holsteinischen  Kloster 
Segeberg),  der  eine  Kirche  in  Ixkull  erbaute,  viel  Volkes 
taufte,  und  zum  ersten  Bischof  in  Liefland  geweiht  ward. 
Es  war  eine  streitende  Kirche;  Kreuzfahrer  bald  in  grösserer, 
bald  in  geringerer  Anzahl  kamen  aus  Deutschland  herbei; 
der  Zug  nach  Liefland  ward  der  Fahrt  nach  Jerusalem,  was 
die  Busse  der  Sünden  und  das  Anrecht  auf  geistlichen  Schulz 
anlangt,  gleichgestellt.  Und  es  that  Noth;  denn  die  Heiden 
liefen  schaarenweise  ins  Wasser,  um  die  Taufe,  wie  sie 
sagten,  wieder  abzuwaschen;  das  Kirchlein  selbst  hatten  sie 
mit  Stricken  umzurcissen  gedacht,  waren  aber  mit  Wurf- 
geschoss  zurückgetrieben  worden.  Der  staatskluge  Blick  des 
dritten  Bischofs,  Albert,  erkannte,  dass  der  Eifer  der  Kreuz- 


schenkt  hat).  Dazu  kommt,  dass  wir  nicht  überreich  sind  an 
deutschen  Geschichtsdenk malen  aus  dem  13ten  Jahrhundert.  — 
Ein  Bruchstück  der  von  Anton  Matth'äi  im  lOlen  Bande  seiner 
Analekten  abgedruckten  niederdeutschen  Bochmeisterchronik  hat 
Gruber  wiederholt;  die  Erzählung  der  liefländischen  Dinge  wird 
daselbst  eingeleitet  durch  den  naiven  Uebergang  ,,uun  sol  man 
von  Pruyssen  wat  swigen  ende  scriven  von  Lieflant  ende  Goer- 
lanl'S  —  Zu  den  Urkundensammlungen,  aus  deren  Studium  man 
ein  sehr  viel  reicheres  und  iebhafieres  Bild  der  Zustande  gewinnt, 
als  irgend  eine  Chronik  gewähren  kann,  ist  jetzt  das  Lübeckische 
Urkundenbuch  (erster  Theil  1139-1300)  herausgegeben  von  dem 
Verein  für  Lübeckische  Geschichte,  hinzugekommen,  dessen  In- 
halt auch  für  Liefland  manche  Ausbeute  gewahrt,  indem  mehr  als 
70  Nummern  auf  Liefländische  Verhältnisse  Bezug  nehmen.  Ein 
Beispiel,  wie  man  aus  Urkunden  erzählen  muss,  um  auch  Den- 
jenigen nützlich  zu  werden  und  sie  anzuziehen,  welche  etwas 
Andres  zu  thun  haben,  als  sich  mit  Urkunden  zu  befassen,  hat 
so  eben  einer  der  Herausgeber  des  Urkundenbuchs,  mein  ge* 
schätzter  Freund  Ernst  De  ecke,  im  ersten  Buch  seiner  Ge- 
schichte Lübecks  geliefert.  Wann  wird  Bremen  dem  Vorgang  der 
Schwesterstädte  folgen,  und  seine  archivalischen  Schätze,  die  es 
dem  Einzelnen  so  freundlich  öffnet,  durch  eine  ähnliche  Samm* 
lung,  unter  Mitwirkung  vereinter  Kräfte,  der  gemeinnützigen  Oef* 
fentlichkeit  übergeben  t 


208  Eine  deiOscke  Colome  und  deren  Abfall. 

fahrer,  die  nur  ein  Jahr  auszuhallen  pfleglen,  nicht  genUge; 
er  belehnte  einige  Kämpfer  edeln  Geschlechts  mit  Land- 
gütern, und  errichtete  (1202)  den  Orden  der  SchwertbrUder. 
Es  bedurfte  einer  fortwährend  kampfgerUsleten  Schaar,  um 
das  ohne  Unterlass  fortgehende  gedoppelte  Werk  der  Veiv 
theidigung  und  der  Eroberung  zu  vollbringen.  Heinrich  der 
Lette  wird  nicht  müde ,  ein  Jahr  nach  dem  andern  in  seiner 
Chronik  in  dieser  kläglichen  Weise  zu  eröffnen:  es  war  das 
26ste  Jahr  des  Bischofs  Albert,  und  noch  immer  keine  Ruhe 
vorhanden  für  die  Kirche  in  Liefland.  Die  Reimchronik, 
von  welcher  gleichfalls  unten  die  Rede  ist,  geht  70  Jahre 
weiter;  sie  erschöpft  sich  in  Abwandelungen  über  ihr  Thema 
„beide  stich  unde  slac  was  da  wolfeile'^;  sie  endet  so  krie- 
gerisch wie  sie  begonnen.  Auch  hat  sie  kein  Hehl,  dass 
das  Rauben,  Morden  und  Brennen  neben  dem  Werke  der 
Bekehrung  herging"").  Ueberall  aber  waltet  das  lebendigste 
Bewusstsein,  dass  es  ein  heiliger  Krieg,  dass  eine  unver- 
gängliche Krone  den  Kämpfern  beschieden  sei'"*). 

Fragen  wir  nun,  indem  wir  von  den  Motiven  der  Ein- 
zelnen auf  den  Erfolg  im  Ganzen  hinUberblicken:  welchen 
Gewalten,  welchen  Interessen  sind  jene  Anstrengungen  zu- 
nächst dienstbar  geworden?  Die  Antwort  ist:  der  Macht  der 
Kirche;  der  Ehre  des  Reiches;  dem  Bürgerthum,  in  dessen 
Händen  die  PQege  des  Welthandels  lag,  und  das,  *  noch 
bevor  das  Jahrhundert  abgelaufen,  als  politische  Macht  durch 
den  Bund  der  deutschen  Hansa  sich  gestaltete. 

Die  römische  Kirche  hat  mit  der  ihr  eignen  Wachsam- 
keil   und    Gonsequenz    eine    so    willkommene  Erweiterung 

*>  Z.  B.  auf  einem  Zug  gegen  die  Kurländer:  ,,ln  der  glute 
man  sie  sluc,  Das  her  euch  us  dem  vuere  truc  Roubes  vil,  das 
ist  wahr;  Was  Kuren  was  über  eilf  jar,  Die  wurden  alle  tot  ge- 
slagen  Und  wider  in  das  vuer  getragen''  (Bei  Bergmann  76).     , 

**)  Heinrich  der  Lette  scbliesst  mit  der  Betrachtuog,  was 
grosse  Könige  nicht  vermocht  (ein  Seitenblick  auf  Dänemark),  das 
habe  die  h.  Jungfrau  durch  ihre  Knechte,  die  von  Riga,  zu  ihres 
Namens  Ebre  vollführt.  Und  aus  der  Reimcbronik  eine  Probe  von 
vielen:  „Mutter  maget  Marie,  Edele  unde  vric,  hilf  siner  sele  us 
aller  not:  Er  bleib  in  dine  dienste  tot^'  (109). 


Eine  deutsche  Cohme  und  deren  Abfall  209 

ihrer  Grenzen  zu  fördern  und  zu  leiten  verstanden.  Papst 
Clemens  III.  hatte  (1188)  dem  Erz^ischof  von  Bremen  das 
neue  Bisthum  Itkull  untergeordnet.  Der  Umstand  ward 
hervorgehoben,  dass  der  erste  Bischof  Meinhard  aus  dem 
bremischen  ErzsUft  entsendet  und  von  dorther  vielfach  unter- 
stützt worden.  Aber  als  Riga  aufblühte,  und  die  neue  Kirche 
dahin  verlegt  war,  erklärte  Innocenz  IIL  (1213)  das  Bisthum 
Riga  unabhängig  von  jedem  andern,  und  dem  päpstlichen 
Stuhl  unmittelbar  unterworfen.  Da  enthüllt  sich  denn  (aus 
den  tbeils  neuen,  theils  nach  den  Urschriften  berichtigten 
Miltheiiungen  im  hamburgischen  Urkundenbuch)  ein  Streit, 
.den  man  nicht  ganz  auf  Rechnung  der  vielberufenen  Herrsch- 
sucht der  Priesterfürsten  schreiben  mag.  Es  scheint  (wenig« 
stens  ward  von  Liefland  her  Klage  darüber  gefuhrt),  dass 
der  Erzbischof  von  Bremen  die  Pilger,  die  sich  der  lieflän- 
dischen  Heerfahrt  geweiht,  jetzt  unfreundlich  behandelte, 
sie  von  der  Ausführung  ihres  gottgefälligen  Vorhabens  zu- 
rückzuhalten trachtete.  Gewiss,  es  war  nicht  schön  von 
dem  geistlichen  Herrn,  dass  er  auf  diese  Weise  geltend  zu 
machen  suchte,  was  ihm,  nach  Clemens'  III.  feierlicher  Zu- 
sage, freilich  als  sein  gutes  Recht  erscheinen  musste.  Ho- 
norius  III.  bedräut  wiederholt  und  noch  ernstlicher  zum 
dritten  Mal  (1218—1223)  den  Erzbischof  und  das  Capitel, 
von  ihren  unchristlichen  Maassnahmen ,  und  von  jedem  Ver* 
such  abzulassen,  ihrer  Botmassigkeit  die  liefländische  Kirche 
zu  unterwerfen';  er  selbst,  der  Papst,  habe  diese  Kirche, 
und  jegliche  die  in  jenen  Landen  noch  ferper  gegründet 
werden  möge,  seinen  Händen  besonders  vorbehalten.  Doch 
mochte  dem  bremischen  Kirchenfursten  die  ursprüngliche 
Bedeutung  des  (von  Hamburg  herüber  verpflanzten)  Erz- 
stiftes, ibm  mochte  der  Gedanke  Karls  des  Grossen  vor- 
schweben, welcher  an  der  Niederelbe,  neben  dem  starken 
Bollwerk  der  neuen  Reichsgrenze,  einen  Mittelpunkt  für  jede 
künftige  Entwickelung  der  kirchlichen  Dinge  im  gesammten 
Norden  hatte  gründen  wollen.  Mag  der  Wandrer,  wenn  er 
von  der  Anhöhe  über  Blankenese  (wir  nennen  sie  in  der 
Genügsamkeit  unsrer  Herzen  einen  Berg,   den  Süllberg) 


210  Eine  deuisd^  Cohtrie  und  deren  AhfaU. 

luederschaui;  wenn  er  die  Breite  des  Eibstroms  misst,  und 
die  Masten,  die  Segel,  die  bunten  Wimpel  zu  zählen  ver- 
gebens sich  bemüht;  mag  der  deutsche  Wandrer  sich  er 
innern,  dass  von  dieser  selben  Höhe  einst  zwei  Augen 
niederschauten,  vor  deren  Blick,  inmitten  eines  reichen  und 
stolzen  Lebens,  eine  noch  grössere  Zukunft  aufstieg.  Dort 
war  der  Lieblingssitz  jenes  Erzbischofs  Adalbert,  den  die 
Jugendgeschichte  Heinrichs  IV.  so  vielfach  nennt,  und  von 
dem  die  Zeitgenossen  bald  lobend  bald  scheltend  berichten, 
er  habe  das  Erzstifl  zum  Patriarchat  des  Nordens  umzu- 
schaffen  .und  mit  dem  römischen  Bischof  zu  wetteifern  ge-^ 
dacht.  Ihn  ereilte  über  solchen  Entwürfen  der  Tod.  Unsern. 
Kaisern  wäre  die  Demüthignng  vor  den  fremden  Priestern, 
den  Gewissen  das  Aergerniss,  unsrem  Vaterland  das  wüste 
Zwischenreich  erspart  geblieben,  hätte  der  kühne  Traum  in 
Erfüllung  gehn  können.  Es  war  anders  bestimmt;  und  auch 
jene  liefländische  Angelegenheit,  anderthalb  hundert  Jahre 
nach  Adalbert,  bekundete  Roms  Uebergewicht  aufs  Neue, 
fiiga  war  und  blieb  von  der  Mutterkirche  losgerissen.  Die 
Sendung  eines  päpstlichen  Legaten,  des  Wilhelm  von  Mo- 
dena,  versinnlichte  (1224)  den  Neubekehrten  und  ihren 
Hirten  die  Beziehung  zu  dem  fernen,  geistlichen  Oberherm; 
sie  bot  zugleich  die  Gelegenheit  zu  einem  Schritt,  der  ohne 
Folgen  geblieben,  aber  von  den  Päpsten  öfters  erneuert  ist: 
Honorius  HI.  lud  (1227)  die  russischen  Fürsten  in  Nowgorod 
und  anderwärts  ein,  in  den  Schooss  der' römischen  Kirche 
zurückzukehren.  Zum  Einschreiten  in  inneren  Angelegen- 
heiten der  Kirchenprovinz  gaben  die  Streitigkeiten  zwischen 
den  Bischöfen  und  den  Rittern,  über  Besitz  und  Vorrecht, 
schon  seit  12i3  nur  zu  häufigen  Anlass. 

So  unzweifelhaft  deutsch  der  Charakter  der  Golonie,  so 
hat  doch  das  deutsche  Reich,  als  solches,  mit  dem  Namen 
einer  Erweiteruug  seiner  Herrschaft  sich  begnügt,  ohne  die 
neue  Erwerbung  selbst  irgendwie  auszubeuten.  Das  drei- 
zehnte Jahrhundert  brachte  so  schwere  innere  Wirren,  die 
Macht  der  Hohenstaufen  verzehrte  sich  so  gänzlich  in  den 
italischen  Stürmen,  dass  an  die  energische  Behauptung  neuer 


Eine  dMlfcfte  Cokmie  und  d$rm  Abfall.  211 

Rechte  im  fernen  Nordosten  in  der  Tbat  am  wenigsten  zu 
denken  war.  Es  wird  angeführt,  dass  der  Bischof  Albert 
1206  Uefland  vom  König  Philipp  zu  Lehn  genommen;  dass 
König  Otto  iV.  den  Besitzungen  der  Bischöfe  und  der  Ritter 
1211  seinen  Schutz  zugesagt;  dass  König  Heinrich  in  Ab- 
wesenheit seines  Vaters  Friedrichs  11,  die  Bischöfe  von  Riga 
und  von  Dorpat  1224  zu  ReichsfQrsten  erhoben.  Wenn  auch 
der  urkundliche  Beweis  für  diese  Verhältnisse  nicht  in  aller 
Schärfe  dasteht;  wenn  eine  Theilnahme  der  genannten  Bi- 
schöfe an  den  deutschen  Reichstagen  vor  dem  16ten  Jahr- 
hundert überall  nicht  nachgewiesen  ist;  so  ist  auf  der  an- 
dern Seite  ausgemacht,  dass  Liefland  als  ein  Theil  des  rö- 
mischen Reiches  betrachtet  ward.  Entscheidend  ist  z.  B. 
eine  Erklärung  Rudolfs  von  Habsburg,  welche  das  Lübecki- 
sche Urkundenbuch  liefert.  Die  Bürger  Lübecks  hatten  um 
die  Erlaubniss  nachgesucht,  in  Preussen,  Uefland  und  andern 
dem  Reich  unterworfenen  Orten,  welche  sie  des  Handels 
wegen  besuchen,  in  ihren  Angelegenheiten  ordentliche  Zu- 
sammenkünfte und  Morgensprache  ungestört  zu  halten.  Der 
König  in  seiner  Antwort  (1275)  findet  das  Gesuch  überflüs- 
sig-, da  solches  ihnen  nach  gemeinem  Rechte  schon  zuzu- 
stehen scheine;  auf  ihren  Wunsch  indessen  bestätigt  er 
ihnen  ausdrücklich  jene  Befugniss,  und  zwar  „fUr  Preussen, 
Liefland  und  alle  andern  Orte,  weiche  unter  die  Botmäs- 
sigkeit  des  römischen  Reiches  gehöran.'' 

Wie  eng  aber  oder  wie  lose  die  Verbindung  mit  dem 
Reich  gewesen  sein  mag,  sie  war  die  Folge  einer  Eroberung 
des  Landes  durch  die  Deutschen.  Die  Frage  liegt  sehr  nahe: 
welchen  Rechten,  welchen  Ansprüchen  ist  die  Eroberung 
entgegen  getreten?  Dass  die  Einwohner  Lieflands  zur  Zeit 
der  deutschen  Ansiedelung  den  benachbarten  Russenfürsten 
zinsbar  gewesen,  wird  sich  um  so  weniger  leugnen  lassen, 
da  der  Bischof  Albert  1209  sieh  anheischig  machte,  für  seine 
neue  Heerde  den  Tribut  zu  entrichten.  ludessen  scheinen 
die  Russei^  um  die  innereu  Verhältnisse  Lieflands  sich  wenig 
gekümmert  zu  haben.  Heinrich  der  Lette  sagt,  es  sei  die 
Gewohnheit  der  russischen  Fürsten,  ein  Volk,  das  sie  unter- 


212  Eine  deuiscke  Colome  und  deren  Abfall. 

worfen,  nicht  zum  Christenthum  zu  bekehren,  sondern  dem* 
selben  nur  einen  Tribut  aufzulegen.  Auch  den  Tribut  liess 
der  FUrst  von  Plozk  bald  (1211)  schwinden.  Aber  wäre 
der  Tribut. auch  von  grösserer  Bedeutung  gewesen,  wäre  er 
durch  den  Vortheil  der  Verbindung  mit  aufblühenden  See- 
städten nicht  mehr  als  aufgewogen  worden,  so  war  Russ- 
land nicht  in  der  Lage,  einen  Anspruch  gellend  zu  machen. 
Die  Kraft  des  Reiches  war  zersplittert  durch  die  TheiJung  in 
kleine  Lehnfürslenthümer,  und  bereits  begannen  die  Einfälle 
der  Tartaren,  welche  bald  nachher  das  gesammte  Gebiet 
überwältigten  *). 

Sehr  viel  bedenklicher  war  es,  dass  die  deutsche  An- 
siedelung mit  den  Entwürfen  der  Dänen  und  Schweden  sich 
kreuzte,  welche  früher  schon  mit  den  seeräuberischen  Be- 
wohnern von  Oesel  gekämpft,  und  an  der  Küste  Ehstlands 
verkehrt  hatten.  Die  Dänen  hatten  bereits  am  Ende  des 
eilften  Jahrhunderts  eine  Abtei  am  Eingang  des  finnischen 
Meerbusens  gegründet  Waldemar  11.  begann  1218  die  Stadt 
Reval  zu  bauen:  er  war  der  zwölfte  König  von  Dänemark, 
der  sich  Herzog  von  Ehstlaud  nannte.  Es  konnte  nicht  aus* 
bleiben,  die  beiden  erobernden  Mächte,  von  entgegengesetz- 
ten, nicht  sehr  entfernten  Punkten  her  sich  ausbreitend, 
mussten  bald  zusammentreffen.  Liefländische  und  deutsche 
Berichte  sind  voll  von  Beschwerden  über  das,  was  sie  die 
Anmaassungen  der  Dänen  nennen.  Die  Dänen,  sagt  Hein- 
rich der  Lette,  sandten  ihre  Priester  in  eine  fremde  Aernte. 
Der  päpstliche  Legat  predigte  auf  Gothland  einen  erneuerten 
Kreuzzug  gegen  die  Heiden  in  Liefland:  die  Dänen  hörten 
nicht  auf  Gottes  Wort,  fassten  es  nicht;  nur  die  deutschen 
Kaufleute  waren  begierig,  himmlisches  Gut.  zu  erwerben. 
Albert  hatte  seinen  Bruder  Hermann  zum  Bischof  von  Reval 


*)  Es  beisst  einem  früheren  Jahrhundert  die  Erfahrungen  und 
die  Besorgnisse*  eines  späteren  leihen ,  wenn  ein  Reichsgutachten 
von  1570  (in  der  weiterhin  anzuführenden  Handschrift  der  Hamb, 
Stadtbibh'othek)  davon  spricht,  dass  ,,dic  Ritterschaft  deutscher 
Nation  solche  Lande  als  ein  veste  Vormauer  gegen  die  Moscowiter 
gewalligUch  erhallen  und  regirel'^  habe. 


Eine  deutsche  Colanke  und  deren  Abfaü.  213 

geweiht}  die  Dänen  wollten  ihn  gar  nicht  nach  seinem  Sitze 
hin  gelangen  lassen.    Albert  führte  Klage  in  Rom;  aber  am 
römischen  Hofe  war  Waldemar  gar  wohl  gelitten;   hatte  er 
doch,  wie  Honorius  IIL  behauptet,  „sich  und  sein  Reich  dem 
heiligen  Peter  übergeben.'^  Albert  wandte  sich  an  den  Kaiser, 
fand  aber  auch  hier  wenig  Trost  für  sich,  und  mehr  Freund- 
schaft für  Dänemark.  Es  ist  einer  der  Flecken  in  Friedrichs  If. 
Regierung,  dass  er,  gleichgültiger  gegen  den  Norden  unsres 
Vaterlandes,  ganz  Nordalbingien  dem  König  von  Dänemark 
überlassen  —  in  einer  Urkunde  von  1214,  die  nur  nach  be- 
glaubigten AbschriHen  gedruckt  ist,   denn  das  Original  hat 
eine  deutsche  Frau  (Mechtild,  die  Wittwe  des  Herzogs  Abel) 
vernichtet, —  doch  erst  nachdem  Nordalbingien  in  der  Schlacht 
von  Bornhörd  seine  Deutschheit  bewährt  hatte.    Albert  aber, 
in  einer  Anwandlung  von  Kleinmuth,  wie  sie  den  geistes- 
kräfligen  Mann  selten  beschlich,   war  endlich  bereit,   dem 
König  von  Dänemark  ganz  Liefland  und  Ehstland  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  vorausgesetzt,   dass  seine  Prälaten  und 
Mannen  und  alles  Volk  in  Stadt  und  Laüd  einwilligen  wür- 
den.   Es  braucht  nicht  gesagt  zu  werden,  dass  diese  Ein- 
willigung nicht  erfolgt  ist.     Nach  einigen  Jahren  fand  sich 
der  König  auf  Oesel  bedrängt;   der  Bischof  und  die  Ritter 
kamen  ihm  zu  Hülfe;    zum  Dank  erkannte  er  des  Bischofs 
geistliche  Rechte  an;   auch  hat  er  dem  Orden  einen  Land- 
strich eingeräumt.    Die  Reimchronik  ist  die  einzige  deutsche 
Quelle,  welche  die  Verstimmung  gegen  Dänemark  nicht  theilt: 
sie  ist  in  Reval  geschrieben,  zur  Zeit  als  Reval  unter  Däne- 
mark stand.    Die  Hochmeisterchronik  spricht  gar  von  einem 
falschen  Legaten   mit  falschen  Bullen,    der  im  Namen  des 
Papstes  verboten,  die  Heiden  ferner  zu  beeinträchtigen,  es 
sei  denn,  dass  sie  in  der  €hristen  Land  Schaden  anrichten. 
Der  Teufel  säete  diese  Saat,  sagt  die  Chronik,  und  erklärt 
sich  dahin,  die  Dänen  haben  den  Betrug  angestiftet,  um  die 
Fortschritte   der  Deutschen   zu  hemmen.     Das  Lübeckische 
Urkundenbuch  bringt  uns  zuverlässigere  Kunde  über  die  Mittel, 
deren  Dänemark  zur  Erreichung  seiner  Zwecke  sich  bedient. 
Papst  Gregor  IX.  fand  sich  veranlasst,  lin  einer  eignen,  fei^« 


214  JSine  deui$eke  Colome  und  deren  Abfäll. 

liehen  Erkltfrung  (15.  Febr.  1234)  den  Hafen  Lübecks  und 
die  von  dort  nach  Liefland  segelnden  Pilger  in  seinen  be- 
sondern Schutz  zu  nehmen.  Es  ist  die  Sorge  um  die  junge 
Kirche  Lieflands,  die  den  Papst  bewegt  Der  böse  Feind  ist 
bemüht,  unter  der  auflceimenden  Saat  Unkraut  auszustreuen. 
Dep  Papst  ist  vorgestellt  worden,  dass  für  die  Pilgrime,  die 
nach  Liefland  gehn  wollen,  kein  Hafen  so  geeignet  ist,  wie 
der  von  Lübeck:  dass  aber  gewisse  Leute,  welche  nachdem 
Besitz  des  Landes  selbst  trachten,  eben  diesen  Hafen  zu 
zerstören  suchen,  um  desto  eher  Liefland  sich  unterwerfen, 
und  die  Pilger  von  der  Einschiffung  zurückhalten  zu  können. 
Der  Hafen,  die  Pilger,  die  zu  ihrer  BeftSrderung  bestimmten 
Seeleute,  werden  deshalb  unter  des  heiligen  Peters  und  des 
Papstes  apostolischen  Schutz  gestellt.  Gleichlautend  und  un- 
ter demselben  Datum  überträgt  der  Papst  dem  Bischof  von 
Ratzeburg,  dem  Abt  des  St.  Johannisklosters  zu  Lübeck  und 
dem  Dekan  des  Stiftes  die  Aufrechthaltung  des  Schutzbriefes, 
mittelst  Androhung  kirchlicher  Strafen  für  die  Zuwiderhan- 
delnden. Noch  siiid  aber  die  „gewissen  Leute"  nicht  nam- 
haft gemacht.  Am  30.  August  desselben  Jahres  schreibt 
Gregor  IX.  an  den  Propst  und  Dekan  von  Halberstadt:  der 
König  von  Dänemark  habe  den  Lübecker  Hafen  durch 
Versenkung  von  Schiffen  unbrauchbar  gemacht;  der  Bischof 
von  Ratzeburg  und  die  andern  geistlichen  Herren,  die  in  der 
vorigen  Urkunde  genannt  worden,  seien  Über  die  Gebühr 
bange  und  wollen  gegen  den  König  nicht,  wie  sie  ange- 
wiesen seien,  vorschreiten:  deshalb  werde  der  Schutz  des 
Hafens  von  Lübeck  den  Stiftsherren  von  Halberstadt  über- 
tragen. Würde  der  König  in  seines  Herzens  Härte  den  Vor-- 
Stellungen  sich  qicht  fügen,  so  mögen  sie  seinen  Hof  und 
jeglichen  Ort,  wo  er  sich  befinde,  mit  dem  Interdikt,  seine 
Käthe  aber  mit  dem  Bann  belegen,  und  nicht  ablassen,  bis 
er  in  sich  gegangen  und  Alles  wieder  gut  gemacht.  Am 
10.  März  des  folgenden  Jahres  1235  schreibt  Gregor  IX.  dem 
Erzbischof  von  Bremen,  dem  Dekan  zu  Schwerin  und  dem 
Abt  von  Reinfeld:  der  König  von  Dänemark  habe  ihm  vor- 
g^cllt,   der  Hafen  Lübecks  sei  jetzt  wieder  eröffnet,  auch 


Eme  demiiche  Cohme  imd  derm  AbfiM.  215 

sei  er,  der  König,  bereit,  die  Pilger  ungestört  sich  einschiflen 
zu  lassen.  Wenn  diese  seine  Aussage  der  Wahrheit  gemäss 
befunden  werde,  so  mögen  sie,  die  geistlichen  Herren,  Sorge 
tragen,  dass  alle  in  Folge  der  früheren  Aufforderung  ge- 
troffenen Maassregein  gegen  den  König  iron  Dänemark  ein- 
gestellt werden. 

Es  scheint  eine  Art  von  Gompromiss  zwischen  dem 
päpstlichen  Stuhl  und  dem  König  von  Dänemark  eingetreten 
zu  sein,  welche  sich  erklärt,  wenn  man  die  Ereignisse  mit 
der  römischen  Politik  zusammenhält  In  Liefland  hatten  die 
Bitter  und  die  Bischöfe  sich  mit  Gewalt  in  den  Besitz  von 
Beval  zu  setzen  gewusst.  Um  die  Eroberung  festzuhalten, 
und  auch  in  Zukunft  den  dänischen  Entwürfen  gegenüber 
sich  zu  behaupten,  erschien  es  noth wendig,  an  eine  be- 
freundete, deutsche  Kriegsmacht  sich  anzulehnen.  So  fasste 
der  Meister  in  Liefland,  Yolkwin,  ohne  Zeifel  in  Verbindung 
mit  dem  Bischof  Albert,  den  Entschluss,  den  Orden  der 
Schweriritter  dem  Deutschorden  einzuverleiben,  welcher  mit 
der  Eroberung  und  Colonisirung  Preussens  beschäftigt  war. 
Was  an  Selbstständigkeit  geopfert  ward,  das  wurde  wieder- 
gewonnen durch  die  Kraft  und  Einheit  eines  Bündnisses  von 
gesicherter  Grundlage.  Zugleich  war  zu  erwarten,  dass  den 
Ostseeküsten  von  der  Nogat  bis  zur  Narwa  ein  gleichförmi- 
ger Charakter  deutscher  Gesittung  werde  aufgeprägt  werden. 
Dies  Verhältniss  ist  für  das  Städtewesen  und  den  Handels* 
verkehr  dieser  Gegenden  wirklich  von  dem  grös^ten  Einfluss 
gewesen.  Die  Unterhandlung  über  die  Vereinigung  hatte  eine 
Zeitlang  hingezögert;  bald  erschien  der  Abschluss  als  Be- 
dürfniss,  als  einziges  Betlungsmittel;  denn  der  Meister  Volk- 
win  war  in  einem  unglücklichen  Treffen  durch  die  Litthauer 
erschlagen.  Gregor  IX.  bestätigte  (1237)  die  Vereinigung 
der  beiden  Orden,  jedoch  unter  der  Bedingung,  dass  Reval 
an  Dänemark  zurückgegeben  werde.  Dadurch  war  flreüioh 
wohl  einer  der  Hauptzwecke  Volkwins  vernichtet.  Aber  die 
Besetzung  Revals  war  eine  eigenmächtige  Handlung  gewesen; 
man  hatte  den  Papst  nicht  gefragt,  und  der  Papst  wollte  ge- 
fragt sein.    Schon  zuvor  (1224)  hatte  sein  Legat,  mit  einer 


2X6  Eine  deiUsche  CoUme  und  deren  Abfall 

Politik,  welche  an  die  des  alten  Roms  erinnert,  Deutsche 
und  Dänen  bewogen,  einen  Landstrich,  um  welchen  sie  sich 
stritten,  in  seine  Hand  zu  übergeben.  Nun  entschied  sein 
Machtspruch  zwischen  den  Parteien,  stärkte  das  deutsche 
Element,  ohne  sich  der  Möglichkeit  zu  berauben,  das  däni- 
sche gelegentlich  als  Gegengewicht  zu  handhaben.  Auch 
hier,  welche  Ueberlegenheit  Roms,  im  Vergleich  mit  der 
Schwäche  des  deutschen  Reiches!  Wenn  später  einmal 
(1249)  durch  den  Krieg  zwischen  Lübeck  und  Dänemark 
das  „Werk  des  Glaubens'^  in  Liefland  und  Preussen  ge- 
fährdet schien,  so  stand  Innocenz  IV.  nicht  vergebens  auf 
der  hohen  Warte:  sogleich  beauftragt  er  den  Erzbischof  von 
Bremen  und  den  Bischof  von  Schwerin,  den  König  von  Däne- 
mark zum  Frieden  zu  ermahnen. 

Die  dänische  Herrschaft  in  Ehstland  dauerte  bis  gegen 
die  Mitte  des  vierzehnten  Jahrhunderts.  Ein  Bauernaufstand 
brachte  alle  inneren  Verhältnisse  in  Verwirrung;  und  Däne- 
mark, während  des  siebenjährigen  Zwischenreiches  nach 
Christophs  IL  Tode  (1333)  war  offenbar  nicht  im  Stande,  die 
Ordnung  in  der  Provinz  herzustellen.  So  verzweifelt  war 
die  Sache  der  dänischen  Herrschaft,  dass  der  Statthalter  von 
Reval  die  Stadt,  die  er  nicht  behaupten  konnte,  1334  den 
liefländischen  Rittern  antrug.  Darauf  war  nun  allerdings 
weder  ein  rechtmässiger,  noch  ein  faktisch  gesicherter  Besitz 
zu  gründen«  Das  Zusammentreffen  einer  Reihe  von  Umstän- 
den führte  endlich  dahin,  dass  Ehstland,  das,  wenn  nicht 
der  Anarchie  preisgegeben,  so  doch  jeder  fremden  Herr- 
schaft thatsächlich  entledigt  war,  abseiten  Dänemarks  in  alier 
Form  dem  deutschen  Orden  abgetreten  wurde.  Herr  von 
Bray  *)  hat  zuerst  aus  den  Urkunden  des  geheimen  Ordens- 
Archivs  in  Königsberg  diese  Verhältnisse  ins  rechte  Licht 
gesetzt.  Für  unsern  Zweck  ist  etwa  das  Folgende  zu  be- 
merken.   Margaretha,  die  Tochter  Christophs  IL   von  Däne- 

T    -  I 

*)  Essai  critique  sur  Ihistoire  de  la  Livonie.  Per  L.  C.  D.  B. 
Drei  Bände.  Dorpat,  1817.  Ein  Werk,  das  besonders  über  die 
Geschichte  der  inneren  Verhältnisse  sehr  viele  neue  Aufschlösse 
enthält. 


Eine  deutsche  Colome  und  deren  Abfall.  217 

mark,  war  vermählt  an  den  Markgrafen  Ludwig  von  Branden- 
bui^,  den  Sohn  Kaiser  Ludwig  des  Baiern.  Margarelhens 
BrUder  waren  sehr  verlegen  um  die  Aufbringung  des  zuge- 
sagten Heirathsgutes.  Woher  sollte  es  kommen,  wenn  nicht 
aus  Ehstland?  Und  wie  aus  Ehstland,  unier  den  besagten 
traurigen  Umständen?  Ludwig  der  Baier  war  bei  der  Sache 
inieressirt;  er  sann  auf  Mittel  und  Wege.  Die  ostseeischen 
Wirren  waren  ihm  nicht  ganz  fremd  geblieben.  Schon  ein- 
mal hatte  er  sich  aufgefordert  gefunden,  den  Rigaischen 
Sühnebrief  (1332)  zu  bestätigen,  und  dadurch  der  Schlich- 
tung eines  langen  Streites  zwischen  der  Stadt  Riga  und  dem 
Orden  sein  Siegel  aufzudrücken.  Nun  rief  er  aus  kaiser- 
licher Machtvollkommenheit  (1339)  den  deutschen  Orden  auf, 
Ehstland  für  Dänemark  wieder  zurückzuerobern.  Weder  der 
Befehl,  noch  die  verheissene  Erstattung  der  Kriegskosten 
scheint  den  Orden  in  Bewegung  gesetzt  zu  haben;  die  Sache 
nahm  eine  andre  Wendung.  Von  den  dänischen  Prinzen 
hatte  Waldemar  (der  Dritte)  den  Thron  seiner  Väter  be- 
stiegen; sein  Bruder  Otto  halte  in  der  Einsamkeit  einer  lan- 
gen Haft  seinen  Sinn  auf  ein  „geistliches  Leben <^  gestellt, 
und  den  Entschluss  gefasst,  in  den  deutschen  Orden  zu  tre 
ten.  Um  die  Ansprüche  des  Schwagers,  vielleicht  auch  das 
Drängen  von  dessen  Vater,  zu  befriedigen,  beschlossen  beide 
Brüder,  Ehstland  an  den  deutschen  Orden  zu  verkaufen. 
Die  Sache  ward  so  geheim  betrieben,  dass  Hrilfeld  versichert, 
dem  dänischen  Reichsrath  sei  vor  1570  kein  Document  über 
die  Angelegenheit  vorgelegt  worden.  Schon  1341  waren  die 
ersten  Urkunden  ausgefertigt;  aber  erst  1347  am  24.  Juni 
ward  die  letzte  unterzeichnet,  wodurch  gegen  eine  Summe 
von  19,000  Mark  Silber  alle  Rechte  der  dänischen  Krone  auf 
Ehstland  an  den  Deutschmeister  abgetreten  wurden.  Diese 
Abtretung  bestätigte  Ludwig  der  Baicr  im  September  dessel- 
ben Jahrs,  und  der  Papst  Clemens  VL  im  folgenden  Februar. 
Der  Papst,  dessen  Sanction  auch  hier  als  wesentlich  be- 
trachtet ward,  verwahrt  die  ganze  Verhandlung  ausdrucklich 
gegen  jedes  Missverständniss:  durch  die  geringe  Kaufsumme 
möge  Niemand  sich  verleiten  lassen,   eine  Täuschung  oder 

All^.  ZeiUcbrift  f.  GescbicbU.  V.  lBi6.  15 


218  Eine  deuUeke  Colame  und  deren  Äbfaü. 

Erschleichung  zu  argwohnen:  Alles  sei  mit  rechten  Dingen 
zugegangen.  Von  dieser  Zeit  an  war  ausschliesslich  deutsche 
Herrschaft  an  jenen  Küsten  begründet  *).  Der  Deutschmeister 
übertrug  gegen  Zahlung  von  20,000  Mark  Silbers  seihe  neuen 
Rechte  auf  Ehstland  an  den  Heermeister  in  Liefland  *,  ein 
Zeichen  mehr  für  den  genauen  Zusammenhang  der  beiden 
Provinzen  f  wie  denn  auch  die  ganze  Halbinsel  früher  unter 
dem  gemeinsamen  Namen  Lieflands  zusammengefasst  zu  wer- 
den pflegte. 

Unter  den  auswärtigen  Verbindungen  aber,  in  welche 
Liefland  getreten,  war  keine  so  innig,  so  nachhaltig  und  an 
gegenseitigen  Beziehungen  so  reich,  wie  das  Yerhältniss  zu 
den  Bürgern  der  deutschen  Handelsstädte.  Glaube  man  doch 
nicht,  dass  diese  deutschen  Kaufleute  erst  die  geregelte  Ord- 
nung, den  gesicherten  Rechtszustand  abgewartet  haben,  um 
dann  die  gewinnverheissende  Geschäftsverbindung  anzu- 
knüpfen. Nein,  sie  waren  unter  den  Vorkämpfern  des  deut- 
schen Wesens.  Sie  haben  mitgestritten  und  Gut  und  Blut 
dran  gesetzt,  dass  am  wüsten  Strand  die  deutsche,  die 
christliche  Pflanzung  erstehn  möge.  Bei  Heinrich  dem  Letten 
sind  es  wieder  und  wieder  die  Kaufleute,  die  Bürger,  die 
mit  den  Schwertrittern  gegen  das  Heidenvolk  ziehen.  Die 
Reimchronik  kennt  ihren  Eifer,  und  rühmt  ihren  Muth,  im 
Gegensatz  zu  den  Geistlichen.**)  Das  redendste  Zeugniss 
geben  aber  auch  hier  die  Urkunden,  in  welchen  die  geist- 
lichen und  weltlichen  Häupter  der  Colonie  das  Verdienst 
der  Bürger  deutscher  Städte  anerkennen.  ,;Durch  das  Blut", 
schreibt  der  Vicemeister  des  Ordens  1261  an  die  von  Lübeck, 
„durch  das  Blut  eurer  Väter  und  Brüder,  eurer  Söhne  und 


*)  Meine  Hoffnung,  im  Jobann  von  Victring  oder  den  übrigen, 
von  Böhmer  jüngst  eröffneten  Geschichtsquellen  ferneres  Licht 
über  diese  Verhandlungen  zu  gewinnen,  ist  nicht  erfüllt  worden. 
Auch  weiss  ich  nicht,  welche  Bewandtniss  es  mit  der  daselbst 
(S.  438)  vorkommenden  Pilia  regis  Livoniae  haben  mag. 

**)  „Die  Pfaffen  vurchten  sere  den  tot;  bas  war  ja  ir  alder 
Site,  Und  wonet  in  noch  vil  vaste  mite"  (S.  86.).  Dagegen  (S.  91.): 
„die  bürgere  durch  der  sele  gewinn  Qaomen  zu  der  brudere  schar." 


Eine  deui^he  Colonie  und  deren  Abfall,  219 

Freunde,  ist  das  Feld  des  Glaubens  in  diesen  Landen,  ^ie 
ein  auserwähller  Garten,  oftmals  benetzt."    Und  der  Bischof 
von  Dorpat  (1274):  „Durch  die  Mühen,  die  Schätze  und  das 
Blut  der  Kaufleute  ist  die  junge  Kirche  in  Liefland  und  Ehst- 
land  zur  Erkennlniss  ihres  Schöpfers,  unter  göttlicher  Gnade, 
erstmals  geführt."    Mit  denselben  Worten   beinahe   schreibt 
der  Erzbischof  von  Liefland  (1275),  und  fügt  hinzu:  deshalb 
ist  billig,  dass  alle  Eaufleute  tn  diesen  Landen  steter  Gunst 
sich  versichert  halten,    Rathmänner  und  Gemeinde  von  Riga, 
durch  den  Orden  bedrängt,  wenden  sich  an  die  von  Lübeck 
um  Schutz  für  ihre  ererbte  Freiheit:  ,,haben  doch  ehrenhafte 
Männer,  Herren,  Ritter  und  Knappen,  Kaufleute  und  Pilger, 
einst  ihr  Blut  vergossen  um  dies  Land  frei  zu  machen."  Um 
dieselbe  Zeit  (1299)  rUhmt  der  Landmeister  von  Liefland  „dio 
unverdrossene  Treue  der  Freundschaft,  welche  die  Bürger 
Lübecks  nicht  allein  in  dieser  letzten  Zeit,  sondern  alibercits 
bei  unsres  Ordens  Ursprung  gegen  uns  an  den  Tag  gelegt/* 
Bekanntlich  lässt  der  gangbare  Bericht  einzelne  Bürger  von 
Bremen  und  Lübeck,  welche  dem  Grafen  Adolf  in  Barbaros- 
sa's  Kreuzzug  gefolgt,   bei  dem  Ursprung  des  Deutschordens 
in  der  Art  mitwirken,  dass  sie  die  Segel  ihrer  Schiffe  ge- 
nommen, Zelte  daraus  gemacht,  und  darin  die  Kranken  und 
Verwundeten  vor  Acre  verpflegt;  Friedrich   von  Schwaben 
habe  dafür  gesorgt,  dass  ein  Haus  mit  einer  Gapelle  daselbst, 
2U  Ehren   der  Jungfrau    erbaut,    und    zur  Fortsetzung   des 
frommen  Werkes  der  Orden  der  Brüder  des  Hospitals  vom 
deutscheu  Hause  durch  den  Papst  errichtet  worden  —  der- 
selbe Orden,  der  später  dem  geistlichen  Ritterdienst  an  den 
OslSeekÜsten  sich  weihte,  und  dessen  schwarzem  Kreuz  auf 
weissem  Schilde  das  Schwert  der  Brüder  von  Liefland  sich 
unterordnete.    Albert  Granz  versichert,   dass  Lübecker  und 
Bremer,  in  Anerkennung  ihrer  frühen  Theilnahme,  und  sonst 
keine  Bürger,   in  den  Orden  aufgenommen  seien;    und  der 
wackere  Rüssau,  in  dessen  liefldndischer  Chronik  jede  deut- 
sche Erinnerung  kräftig  wiederklingt,  ruft  in  der  Zueignung 
seines  Werkes  (1578)  dem  Rath  von  Bremen  ins  Gedächt- 
niss«  dass  anfänglich  nicht  allein  die  vom  Adel  des  deutschen 

15* 


220  Eine  deuUeke  Colonie  und  deren  AbfaU. 

Ordeus  in  Liefland  würdig  oder  mächtig  gewesen,  sondern 
auch  „Börgerkinder  ulh  den  Steden",  insonderheit  aber  von 
Bremen  und  Lübeck,  welche  Lieflands  halber  nicht  weniger 
als  die  vom  Adel,  ja  auch  viel  mehr,  gethan}  und  nachdem 
die  Reisigen  von  Bremen  sich  wohl  gehalten,  seien  sie  von 
den  Bischöfen,  ihren  Landsleuten,  vor  allen  Anderen  beför- 
dert und  mit  stattlichen  Verlehnungen  begabt,  daraus  denn 
Viele  des  liefländischen  Adels  enisprossen.  Denn,  fährt  er 
fort,  Diejenigen  billig  für  edel  zu  achten  sind,  die  mit  männ- 
lichen Thaten  dazu  verhelfen  haben ,  dass  solche  mächtige 
heidnische  Lande  gewonnen,  der  Christenheit  einverleibt,  und 
dem  heiligen  römischen  Reiche  unterthan  ge;cvorden. 

Hag  es  vergönnt  sein ,  hier  auch  die  ferneren  Spuren 
nachzuweisen,  wie  bei  der  Colonisirung  Lieflands  grade  die- 
jenigen Städte  hervortreten,  weiche  das  Bündniss  unter  ein- 
ander (wohl  zu  unterscheiden  von  der  Hansa  der  deutschen 
Kaufleute  im  Auslande)  am  frühesten  geknüpft,  und  welche, 
nachdem  den  übrigen,  den  einst  verbündeten  allen  bestimmt 
war,  der  Fürstenmacht  zu  verfallen,  allein  bis  auf  diesen  Tag, 
mit  Gott,  die  Freiheit  behauptet  haben.  Bremische  Eauf- 
leute  waren  es,  welche  1157  zuerst,  von  Gothiand  her,  in 
die  Dünamündung  einliefen*).  Das  Bremer  Erzstift  entsen- 
dete die  ersten,  die  eifrigsten  Diener  des  Wortes.  Wohl 
mag  Rüssau  ausrufen:  die  löbliche  Stadt  Bremen  ist  wahr- 
haftig eine  Mutter  vieler  liefländischer  Städte  und  Schlösser, 
und  die  auch  fast  ganz  Liefiand  aus  der  Taufe  ge- 
hoben (vth  der  dope  gehauen)!  Die  Chronik  des  bre- 
mischen Domvicars  Gerhard  Rynesberch  meldet:  der  Bischof 
Albert  bauete  die  Stadt  zu*  Riga  mit  den  Bürgern  von  Bre- 


*)  Man  hat  es  wahrscheinlicher  zu  machen  versucht,  dass  von 
Lübeck  aus  die  Entdeckung  slattgefanden  habe,  als  von  Seiten 
nordseeischer  Seefahrer.  Aber  das  ausdruckliche  Zeugniss  der 
Chroniken  wird  dadurch  unterstützt,  dass  Lübeck  damals  noch 
nicht  war,  was  es  durch  Heinrichs  des  Löwen  und  Barbarossas 
Fürsorge  bald  darauf  geworden.  Nennt  doch  Adam  von  Bremen 
noch  Schleswig  und  (das  wagrische)  Oldenburg  als  die  gewöhn- 
lichen Ausgangspunkte  für  grössere  oslseeische  Fahrten. 


Bitte  deutsche  Colome  uiui  deren  Abfall.  221 

men  und  mit  den  Pilgrimen.   Für  die  Theilnabme  Hamburgs 
spricht,  dass  der  Graf  Adolf  von  Holstein  in  liefländischen*) 
Heerfahrten  mitgekämpft;  dass,  ausweise  des  hamburgischen 
Urkundenbuches,  bereits  1251  den  Rigaern  in  Hamburg  Zoll- 
freiheit gewährt  war;    und  dass  hamburgisches  Recht,    mit 
gewissen  Abänderungen,  in  Riga  sich  wiederfand ♦♦).  Lübeck, 
einmal  erstarkt,    ward  sofort,  wie  wir  gesehen  haben,   von 
der  grössten  Bedeutung  schon  als  der  geeignetste  Einschif- 
fungsort für  die  Kreuzfahrer  ♦♦♦).    Riga  räumte  bereits  1231 
den  Lübeckern  einen  Hof  innerhalb  der  Ringmauern  —  eine 
Factorei  —  ein,   als  ewigen  Besitz  —  zum  Zeichen  wahrer 
Freundschaft  und  beständiger  Treue.     Dorpat   ersucht  ums 
Jahr  1250  den  Rath  zu  Lübeck,   er  möge  seine  Bürger  auf- 
fordern,  ihre  Stadt  mit  milden  Gaben  und  Vermächtnissen 
zu  bedenken:   sie  bedürfe  derselben  gar  sehr,   um  ihre  Be- 
festigung  zu   vollenden.    Reval,   mit  lübischem  Rechte   be- 
widmet,  schreibt  noch  als  dänische  Stadt  (1274)  die  zärt- 
lichsten Briefe  an  Lübeck:   „Wir  müssen  zu  einander  halten 
wie  die  beiden  Arme  des  Gekreuzigten".   Manche  letzlwillige 
Verfügungen  von  Bürgern  Lübecks,  die  uns  erhalten  sind,  be- 
zeugen die  Theilnahme  theils  für  Individuen,  theils  für  fromme 
Stiftungen.    Kamen  die  ersten  Bischöfe  Liefiands  aus  Bremen, 
so  war  der  erste  Erzbischof  Riga's  früher  Bischof  von  Lübeck 


*)  Auch  in  chsllandischeu ,  wie  Einige  berichten,  unter  dä- 
nischen Fahnen.  Im  Heergefolge  des  Dänenkönigs  in  Ehstland 
waren  stets  sehr  viele  Deutsche.  Lappenberg  in  einer  Anzeige 
von  F.  G.  v.  Bunge's  Beiträgen  u.  s.  w.  (Gölt.  Gel.  Anz.  1833. 
a  1,  ff.) 

**)  Lappenberg  a.  a.  0. 

***)  Lübeck  blieb  lange  ein  Sammelplatz  für  Kreuzfahrer.  Im 
Jahr  1375  fand  man  uötbig,  in  einem  hansischen  Recess  festzu- 
setzen:  „die  Kreuzsignaten ,  die  das  Zeichen  darum  empfahen, 
dass  sie  privilegia  ecciesiastica  geniessen  mögen,  sollen  in  keiner 
Hansestadt  gelitten  werden";  und  noch  1463  schifl^en  sich  in  Lübeck 
200  Personen ,  zum  Zuge  wider  die  Türken ,  nach  Venedig  ein.  Sie 
fanden  in  Venedig  unfreundliche  Aufnahme.  Siebenzehn  Jahre  später 
begnügte  man  sich,  in  Lübeck  für  die  Ritter  auf  Rhodos  Geld  zu 
sammeln. 


222  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Äbfalk 

gewesen.  Der  deutsche  Orden  wandte  sich  vorzugsweise 
an  Lübeck,  um  zur  Colonisirung  verschiedener  Punkte  an 
der  Ostsee  aufzufordern,  wenn  er  auch  seine  Eifersucht 
gegen  das  liibische  Recht  und  gegen  wohlbegrUndetes  Selbst- 
gefühl des  Bürgers  nicht  immer  zurückhalten  mochte.  Elbing 
(seit  1237)  war  eine  Pflanzung  Lübecks;  über  eine  ähnliche 
im  Samland,  an  der  Bernsteinküste,  ward  seit  1242  vielfach 
verhandelt;  auch  wurden  1246  durch  lübecker  Kämpfer  die 
Angesehensten  des  Samlandes  gefangen,  in  Lübeck  unter- 
wiesen und  getauft,  und  dann  in  die  Heimalh  entlassen,  um 
ihre  vorigen  Güter  zinsfrei  zu  besitzen.  Im  Jahr  1261  schreibt, 
nach  schweren  Verlusten  im  Kriege,  der  Landmeisfer  Lief- 
lands an  Rath  und  Gemeinde  von  Lübeck,  es  sei  seine  Ab- 
sicht, Deutsche  aufs  Neue  heranzuziehen,  und  mit  liegenden 
Gründen  zu  belehnen;  er  gelobt,  wie  viel  Landes  er  einem 
Ritter  oder  ehrbaren  Bürger  anweisen  wolle,  wie  viel  dem 
Knappen,   wie  viel  dem  Landbauer. 

2.   Die  haiuiflclie  Colonialpolitik;  die  hansisdien  SchillUirtsgesetie. 

Herrmann,  in  der  oben  angeführten  Abhandlung,  be- 
zeichnet die  Gründung  Lieflands,  sofern  die  Städte  Nord- 
deutscblands  dabei  mitwirkten,  als  eine  grossartige  Erwei* 
terung  des  Hofes  zu  Nowgorod.  Ausser  der  Newa  und  Narwa 
war  im  Süden  ein  dritter  Wasserweg  eröfi^net,  um  die  Stapel- 
plätze des  russischen^ Handels  zu  erreichen;  und  die  Mün- 
dung dieses  dritten  Stromes  war  ausschliesslich  in  deut- 
schen Händen. 

Es  kam  vor  allen  Dingen  darauf  an,  der  deutschen 
SchitTahrt  den  sichern  und  begünstigten  Zugang  gesetzlich 
zu  erwerben.  Befreiung  vom  Strandrecht  und  vom  Zoll 
ward  von  der  Dankbarkeit  der  ersten  Herren  des  Landes 
den  befreundeten,  den  verbündeten  deutschen  Kaufleuten 
gerne  gewährt.  Auch  Dänemark  befreite  sie  an  der  Küste 
von  Ebstland  wenigstens  vom  Strandrecht,  um  sein  Reval 
zu  heben.  Es  war  nur  nicht  ganz  leicht,  eine  Bürgschaft 
für  die  Aufrechthaltung  dieser  Privilegien  zu  erhalten.  Galt 
auch  der  gute  Wille  der  dänischen  Regierung  für  unzweifei- 


Eme  deutiche  Cohme  und  deren  Äbfalt.  22S 

haft  (wie  er  denn  in  manchen  Befehlen  zu  Gunsten  gestran- 
deter und  geraubter  Guter  an  den  Tag  gelegt  ward),  so 
musste  man  es  doch  erleben,  dass  der  Stadthauptmann  Re- 
vals  ( 1287 ,  Lüb.  U.  fi.  473.)  den  Gesandten  den*  tröstlichen 
Bescheid  ertheilte:  „wenn  Ihr  jemals  durch  Bitten  oder  durch 
Briefe  (wie  viele  und  grosse  Briefe  auch  anher  gelangen 
mögen)  eure  Güter  wieder  erhaltet,  so  will  ich  mir  das 
rechte  Auge  ausstechen  lassen ^^  Seitdem  vollends  Finnland 
der  schwedischen  Herrschaft  verfallen  (1293) ,  und  bis  Reval 
vom  dänischen  Staatsverband  abgelöset  war,  musste  den 
Deutschen  der  überwiegende  Vorzug  des  Dünabusens  vor 
dem  finnischen  gar  sehr  einleuchten. 

Aber  die  Fahrt  im  Innern?  Man  suchte  sie  vorerst  durch 
ein  Abkomihen  mit  den  Fürsten  zu  schützen,  welche  die 
Vortheile  des  Verkehrs  auch  nicht  gerne  verscherzten.  Schon 
1228  findet  sich  ein  Handelsvertrag  zwischen  dem  Fürsten 
von  Sroolensk  und  den  deutschen,  oder  wie  sie  dem  Grie- 
chen hiessen,  den  lateinischen  Kaufleuten  zu  Riga  und  auf 
Gothland.  An  der  Stirn  trägt  das  Document  den  an  dieser 
Stelle  fast  zweideutigen  Spruch:  was  auf  der  Zeit  beruht, 
das  vergeht  mit  der  Zeit.  Uebrigens  ist  es  ein  ordentlicher 
Reciprocitätsvertrag.  Die  Dünaschiffahrt  wird  freigegeben, 
natürlich  jusqu'  ä  la  mer  (von  oben  bis  unten  zum  Meere, 
faeisst  es);  und  „wer  nur  ein  wirklicher  Kaufmann  ist,  dem 
wird  männiglich  die  Freiheit  gegeben,  die  Düna  herauf  und 
hinab  zu  fahren '^ 

Was  indessen  diese  Verhältnisse  ausserordentlich  er- 
schwerte, das  war  der  langdauernde  Kriegszustand.  Die  Ur- 
kunden lassen  uns  auch  hier  einen  Blick  in  den  Wechsel 
der  Dinge  und  den  beginnenden  Widerstreit  der  Interessen 
thun.  Häufig  warnen  die  Rigaer,  die  Fahrt  sei  unsicher« 
Lässt  sich  dann  Einer  nicht  warnen,  und  verunglückt,  so 
entschuldigen  sie  sich  bei  den  Lübeckern  (1274):  sie  haben 
sich  gemüssigt  gefunden,  die  DUnafahri  zu  hemmen,  und 
einstweilen  die  Strasse  nach  Nowgorod  zu  empfehlen,  bis  es 
auf  der  Düna  wieder  geheuer  sein  werde*,  sie  wünschen 
aber,    dass    man  Leute   hinsende,    welche  guten  Rath  zu 


%U  Eine  deuische  CoUmie  und  deren  Ab  fall 

schätzen  wissen.  Dann  warnen  sie  noch  eindringlicher  (1278): 
die  Russen  küssen  das  Kreuz,  und  verrathen  doch  die  Deut- 
schen in  die  Hände  der  abgefallenen  Letten.  Hat  der  ge- 
meine Kaufmann,  der  die  Ostsee  befährt,  einmal  den  Be- 
schluss  gefasst,  allen  Verkehr  mit  den  Russen  abzubrechen, 
um  sie  zur  Vernunft  zu  bringen,  so  bedanken  sich  der  Erz* 
bischof  von  Rig^,  der  Landmeister,  der  Vogt  zu  Reval  (1278), 
als  fUr  eine  ganz  besondere  Gefälligkeit:  die  Bischöfe  von 
Dorpat  und  Oesel  kommen  nachträglich  noch  mit  einer  apar- 
ten Dankadresse.  Endlich  ist  Alles  auf  denjenigen  Punkt  ge- 
diehen, wo  der  gemeine  Kaufmann  es  haben  will:  inmitten 
der  Kämpfe,  durch  welche  der  Orden  mit  den  Russen  ent- 
zweit ist,  wird  der  neutrale  Charakter  des  Handels  an- 
erkannt Der  grosse  Freibrief  des  Deutschordens  an  die  Lü- 
becker (1299)  besagt:  wenn  zwischen  uns  und  den  Russen 
Feindschaft  ist,  sollen  nichtsdestoweniger  die  Lübecker  mit 
ihren  Gütern  in  unserm  Schutz  und  auf  eigne  Gefahr  hin- 
fahren durch  unser  Land  und  ausserhalb  desselben,  und  was 
sie  nicht  im  Namen  der  Feinde,  sondern  im  Namen  der 
Kaufmannschaft  mit  sich  führen,  das  mögen  sie  frei  ver- 
kaufen: kein  Gebot  unsrerseits  soll  sie  daran  verhindern. 
Gilt  dies  zunächst  nur  für  Lübeck,  so  weiss  der  gemeine 
Kaufmann  denselben  Vortheil,  wie  billig,  sich  anzueignen. 
In  dem  Vergleich  zwisphen  den  Abgeordneten  Lübecks  und 
Gothlands  einerseits,  und  Nowgorods  andrerseits  (1338)  heisst 
es:  haben  die  Nowgoroder  Krieg  mit  Schweden,  Dänemark, 
Dorpat,  Riga  oder  Oesel,  so  soll  der  deutsche  Kaufmann 
Nichts  damit  zu  thun  haben,  er  soll  einen  reinen  Weg  haben, 
beides  zu  Wasser  und  zu  Lande,  sonder  Hinderniss.  Wäh- 
rend man  auf  diese  Weise,  gewiss  mit  Recht,  bemüht  war, 
den  Handel  von  den  Wechselfällen  der  nicht  seltnen  Einzel- 
fehden möglichst  unabhängig  zu  erhalten,  so  fehlte  viel,  dass 
man  ein  Gleiches  dem  Handel  fremder  Nationen  zugestanden 
hätte,  sobald  man  selbst  im  Kriege  begriffen.  Es  ist  ein  nur 
zu  wohl  bekannter  Grundsatz  der  hansischen  Politik,  dass 
sie  im  Kriege  Niemanden  den  freien  Verkehr  mit  ihren 
Feinden  verstatten   wollte.     Ein  Beispiel  mag  zeigen,  wie 


Eine  deuUche  Colonie  und  deren  Abfall  225 

frlihe  schon  in  diesem  Sinn  verfahren  wurde.  Während  der 
grossen  Fehde  mit  Dänemark  ward  auf  dem  Hansatag  zu 
Stralsund  1369  beschlossen:  allen  Städten,  die  in  diesem 
VerbanXie  sind,  zu  verbieten,  dass  Niemand  Dänemark  be- 
suche, bei  Strafe  an  Leib  und  Gut,  Land  und  Leute  zu 
stärken  mit  Speise,  mit  Wasser,  oder  mit  irgend  Etwas  sonst. 
Soweit  ist  Alles  in  Ordnung.  Ferner  aber  heisst  es:  segelte 
auch  Jemand  nach  Dänemark  von  denen,  die  ausser 
unsrem  Verbände  sitzen,  was  dem  widerfährt,  das  soll 
ohne  Strafe  sein  (sunder  broke  wesen):  darüber  soll  man 
Briefe  senden  nach  Norwegen,  nach  Flandern,  nach  England, 
nach  Schottland  und  Schweden,  damit  ein  Jeder  die  Seinigen 
warne,  dass  sie  sich  davor  hüten.  Man  würde  die  Inconse- 
quenz  der  Gewalt,  die  hier  zum  erstenmal  auftritt,  noch 
härter  zu  verklagen  berechtigt  sein,  hätte  nicht  Aehnliches 
in  den  spätem  Zeiten  sich  wiederholt,  als  die  Wissenschaft 
des  Völkerrechts  sich  des  Einflusses  zu  rühmen  begann,  den 
sie  auf  die  Politik  erlangt.  Eine  Seemacht  nach  der  andern  *) 
hat.  die  Rechte  der  Neutralität  für  sich  in  weitem  Umfang 
in  Anspruch  genommen,  wenn  sie  neutral,  und  hat  sie  An- 
dern geweigert,  wenn  sie  selbst  im  Kriege  begrifien  war. 
Die  Holländer  halten  Jahrelang  unterhandelt,  um  das  Princip 
„frei  Schiff,  frei  Gut^'  für  ihre  Frachtfahrt  eingeräumt  zu  er- 
halten; und  bei  erster  Gelegenheit  Hessen  sie  sich  von  dem 
Oranier  hinreissen,  im  Bunde  mit  England  den  Neutralen- 
(1689)  allen  Handel  mit  Frankreich  verbieten  zu  wollen. 
Russland  hat  zweimal  an  der  Spitze  der  bewaffneten  Neu- 
tralität gestanden:  in  der  Zwischenzeit  hat  es  dem  Aus- 
hungerungssystem gegen  das  revolutionnirte  Frankreich  das 
Wort  geredet. 

Wir  haben  gesehen,  wie  für  die  Sicherheit  des  neuen 
Handelsweges  nach  Russiand,   mittelst  der  Niederlassungen 

*)  Man  muss  England  das  Zeugniss  geben,  dass  es  eine  Aus- 
nahme macht,  und  seinen  Grundsätzen  treu  bleibt.  Aber  freilich 
seine  Grundsätze  sind  die  härtesten  für  die  Neutralen;  und  Eng- 
land selbst  wird  bei  obschwebendem  Seekriege  kaum  in  den  Fall 
kommen,  sich  neutral  zu  halten. 


2t6  Eine  deiOseke  Colome  und  dtrm  AbfaU. 

in  Liefland,  gesorgt  war.    Was  waren  die  nächsten  Folgen 
der  neuen  Ordnung  der  Dinge? 

Lübeck  hebt  sich  ungemein  rasch  und  kräftig.  Andre 
Slädte  sind  in  kürzerer  Frist  reich  und  blühend  geworden; 
so  mächtig  «in  so  kurzer  Zeit,  keine.  Bald  steht  es  neben 
Wisby,  gleich  bevorzugt,  in  jener  Art  von  Stellung,  nach 
deren  Berechtigung  von  d^n  Wenigsten  gefragt,  die  von  den 
Meisten  als  vollendete  Thafsache  anerkannt  wird.  Bald  ist 
Wisby  überflügelt.  In  den  jungen  Städten  Lieflands  kehrt 
reges  Leben,  bedeutender  Wohlstand  ein;  aber  zu  einem 
namhaften  Einfluss  im  Rath  der  Hansa  können  sie  es  nicht 
bringen;  ihre  Interessen  scheinen  ihnen  nicht  genugsam  ver- 
treten; sie  fühlen  sich  gedrückt,  zurückgeselzt,  den  Zwecken 
Andrer  untergeordnet.  Sie  wissen  es  wohl,  dass  sie  eben 
eine  Colonie  sind;  sie  wollen  mehr  werden;  wer  mag  es 
ihnen  verdenken? 

Sind  Beschlüsse  vorzubereiten,  durchzusetzen/  auszu- 
führen, man  wendet  sich  vor  Allen  an  Wisby  und  Lübeck« 
Die  beiden  Üben  die  SchiflTahrtspoIizei.  Ein  Rigaer  ist  mit 
einer  Ladung  Asche  an  Gothland  vorbeigesegelt,  ohne  auf 
des  Vogts  Anrufen  die  vorschriftmässige  Declaration  zu 
machen;  von  Wisby  wird  nach  Lübeck  geschrieben  (1286), 
man  möge  den  Schiffer  anhalten,  bis  er  für  seinen  Muth- 
willen  genug  gethan  habe.  Das  ist  heilsam  und  löblich. 
Aber  Wisby  und  Lübeck  beherrschen  den  Hof  zu  Nowgorod. 
Im  Jahr  1346  ward  zu  Nowgorod  beschlossen:  des  Hofes 
Aelleimann  soll  man  kiesen  das  eine  Mal  von  Lübeck,  das 
andre  Mal  von  Gothland.  Dass  dies  ausgesprochen  wird,  ist 
eine  Neuerung;  in  der  Praxis  hatte  es  sich  längst  so  ge- , 
staltet,  freilich  im  Widerspruch  mit  der  ältesten  geschriebe- 
nen Ordnung  des  Hofes,  worin  es  noch  geheissen  hatte,  zu 
Aelterleuten  sollen  gewählt  werden,  die  da  am  geeignetsten 
(rechtest)  dazu  sind,  aus  welcher  Stadt  sie  sein  mögen. 
Aber  eben  diesen  letzten  Salz  halte  schon  aus  der  nächsten 
vorhandnen  Skra  vermuthlich  der  überwiegende  Einfluss 
Wisbys  und  Lübecks  entfernt.  Darüber,  dass  dieser  Einfluss 
nun  gesetzlich  anerkannt,  für  die  Folgezeit  festgestellt  wer- 


deuiMcke  Colome  und  deren  Abfall.  227 

den  sollte,  scheint  Riga  vornebrolioh  Klage  geführt  zu  haben. 
Wenigstens  berichten  darüber  die  Beamten  des  Nowgoroder 
Hofes  nach  Lübeck:  die  ältesten  Leute  wissen  sich  nicht  zu 
erinnern,   dass  jemals  ein  Rigaer  zum  Aeltermann  gewählt 
sei.     Wahrscheinlich  nichi;   aber  weshalb  sollt'  er  es  nicht 
werden  können?  Als  Concession  besonders  für  die  liefländi- 
sehen  Städte  erscheint  es  daher,  wenn  im  Lübecker  Recess 
von  1363  beschlossen  ward,   der  Aeltermann  in  Nowgorod 
möge  stammen,  wober  er  wolle,  wenn  er  nur  zur  deutschen 
Hansa  gehöre;  nur  der  Secretair  (clericus)  solle  von  Lübeck 
oder  Gothland  sein.    Zögernd  ward  nun  den  Rigaern  auch 
ihr  Anspruch   auf  das   eine  Drittel   des  Hofes   eingeräumt, 
unter  allerlei  Clausein,  namentlich  „sofern  sie  ihre  Schuldig- 
keit thun  werden/^    Es  mag  ihr  Einfluss  in  Nowgorod  nach 
und  nach  sich  erweitert  haben;  doch  Hess  man  es  nicht  auf- 
kommen,  wenn  sie  eine  Tendenz  verriethen,   selbstständig 
aufzutreten.    Im  Recess  von  1418,   bei  Gelegenheit  einiger 
Irrungen  mit  den  Russen,   ward  den  liefländischen  Städten 
geboten,  sich  dieser  Sache  halber  keiner  Unterhandlung  zu 
unternehmen,  sondern  solche  denen  von  Lübeck  und  Goth* 
land  zu  überlassen;  und  da  man  die  Deutschen  in  Naugard 
nicht  leiden  wollte,  so  sollten  auch  die  Russen  in  den  liefländi- 
schen Städten  nicht  geduldet  werden,  bei  Strafe  100  Mark  Silbers. 
Für  Lübeck  bildete  sich,   durch  das  hohe  Ansehen,   in 
welchem   sein   heimisches  Recht  stand,    unter  dek  Städten 
frühe  schon  eine  Art  von  fester  ClienteL    Wie  viele  Städte 
haben  sich   um   die   Mittheilung   dieses  Rechtes   beworben, 
oder  es  als  Wohlthat  anerkannt,   wenn  ihre  Herren,  geist- 
liche oder  weltliche,  sie  damit  belehnt;   wie  oft  war  Anlass 
vorhanden,  bei  denen,  welche  an  der  Quelle  sassen,  Rechts* 
belehrung  einzuholen.    Schwerlich  hat  ekie  Stadt  des  griechi- 
schen Alterthums,  wenn  auch  Andre,  wie  die  Sage  berichtet, 
das  Werk  eines  weisen  Gesetzgebers  gerne  herübernahmen, 
um   ihre  Bürger   dadurch   heranzubilden  —  schwerlich  hat 
irgend  eine  griechische  Stadt  die  Genugthuung  gehabt,  in  so 
manchem  aufblühenden  Gemeinwesen   das  Bild  der  eignen 
Jugend  sich  verjüngen  zu  sehen. 


228  Eine  deuUche  Colonie  und  deren  Abfall. 

Diesen  Einfluss  zu  fördern,  welcher  so  tief  in  alle  bür- 
gerlichen Verhältnisse  eingriff,  diente  gar  sehr  ein  Beschluss, 
der  gegen  das  Ende  des  13ten  Jahrhunderts  schon  zu  Stande 
kam,  dass  nämlich  von  den  Entscheidungen  des  Hofes  zu 
Nowgorod  nur  nach  Lübeck  sollte  appeliirt  worden  dür- 
fen.*) Die  Härte,  die  "darin  lag,  blieb  nicht  unbemerkt. 
Auch  ist  es  nicht  ohne  Widerspruch  abgegangen.  Es  existirt 
ein  Schreiben,  worin  Wisby  den  Osnabrückern  dankt,  dass 
sie  nicht  in  die  Anforderungen  Lübecks  wegen  der  Appel- 
lation gewilligt.  Man  sieht,  Wisby Tuhlt,  dass  es  sich  um 
sein  eignes  Ansehen  handelt.  Es  hebt  die  alten  guten  Ge- 
wohnheiten hervor,  die  alten  Freiheiten,  zu  deren  Gründung 
auch  die  Osnabrücker  (Binnenländer,  wie  sie  waren,  aber 
durch  das  enge  Verhältniss  zu  den  Seestädten  selber  an  die 
See  gerückt)  einst  das  ihrige  beigetragen.  Es  weiset  auf 
die  Nachtheile  hin,  die  Tür  den  Kaufmann  entstehn  würden, 
wenn  er  sich  jedesmal  an  das  ferne  Lübeck  zu  wenden  hätte, 
während  die  Waare,  um  die  es  sich  handelt,  in  Nowgorod 
zurückbleibt.  Wisby  spricht  endlich  im  Namen  der  öst- 
lichen Städte;  wohl  wissend,  dass  diese  in  seiner  Macht 
für  ihre  Interessen,  der  Politik  Lübecks  gegenüber,  ^inen 
Stützpunkt  nicht  ungerne  finden  werden.  Und  doch,  auf  der 
Liste  der  24  Städte,  welche  im  Laufe  weniger  Jahre  mit  den 
Wünschen  Lübecks  sich  einverstanden  erklärt,  sind  auch  drei 
östliche  Städte  verzeichnet:  Riga,  Danzig  und  Elbing.  Aus 
derselben  Zeit  findet-  sich  ein  Schreiben  Riga's  an  Lübeck. 
Die  Rigaer  entschuldigen,  dass  in  den  Statuten  —  der  Skra  — 
des  Nowgoroder  Hofes  ein  Artikel,  welcher  den  Namen  Lü- 
becks berühre,  getilgt  worden;  es  thue  ihnen  leid,  es  sei 
ohne  ihren  Willen,  ohne  ihr  Vorwissen  geschehen;  sie  wer- 


*)  Im  folgenden  Jahrhundert  verlangt  Lübeck  auf  dem  Stral- 
sunder flansatage  von  1365:  die  Handelsrichter  am  Hofe  zu  Bergen 
müssen  aus  solchen  Slädten  sein,  in  welchen  lübisches  Recht  gilt, 
upd  nur  an  solche  Städte  kann  die  Appellation  von  den  zu  Bergen 
gesprocbnen  Urtheilen  geheu.  Der  Streit  zwischen  Lübeck  und 
Wisby  über  die  Appellation  von  Nowgorod  wird  noch  im  Lübecker 
Recess  von  1366  als  obschwebend  erwähnt. 


Eine  deuticbe  Colome  und  deren  AbfaU.  229 

den  sieh  an  die  Beschlüsse  halten,  wie  sie  gelautet,  bevor 
jene  Stelle  ausgelöscht  worden.  Dies  Alles  ist  in  einer  ziem* 
lieh  submissen  Weise  zur  Sprache  gebracht.  Es  bezieht  sich 
ohne  Zweifel  auf  dieselbe  Verhandlung.  Man  kann  daraus 
entnehmen,  dass  der  Widerstreit  der  Interessen  zwar  sich 
schon  regte,  dass  aber  die  östlichen  Städte  noch  nicht  hin- 
länglich erstarkt  waren  (Riga  insbesondere  war  durch  Dank- 
barkeit und  SchutzbedUrfniss  noch  zu  eng  an  Lübeck  ge- 
kettet), um  einen  nachhaltigen  Widerspruch  gegen  bedenk- 
lichere Wünsche  Lübecks  zu  versuchen. 

Das  Widerstreben  trat  erst  recht  offen  und  entschieden 
heraus,  nachdem  Gothland  gesunken  war.  Unter  den  Ur- 
sachen von  Gothlands  Sinken  pflegt  man  die  Plünderung 
Wisby's  durch  den  dänischen  Waldemar  (1361)  obenan  zu 
steilen,  als  einen  Schlag,  den  es  nicht  verwinden,  von  dem 
es  sich  nicht  wieder  erholen  konnte.  Allerdings  ist  diese 
grosse  dänische  Fehde  ein  Prüfstein  der  Macht  und  ein 
Wendepunkt  geworden.  Aber  gewiss  war  es  nicht  dieser 
Schlag  allein,  dem  Gothland  unterlag.  Durch  den  verändere 
ten  Gang  des  ostseeischen  Handels  war  Gothlands  Fall  vor- 
bereitet. Hören  wir  die  einfache  Erklärung,  die  ein  Danzi- 
ger  Beobachter  im  siebenzehnten  Jahrhundert  über  den 
Verlauf  der  Sache  sich  zurechtgelegt  hat.  „Da  die  Reussen 
nicht  mehr  nach  Gothland  Überfuhren,  sondern  ihre  Waaren 
in  Liefland  begunden  zu  verhandeln,  haben  Riga  und  Reval 
zugenommen,  Wisby  ist  zu  Boden  gangen."*)    Hier  sind  so 


*)  In  einer  Handschrift,  in  der  Hamburgischen  Commerzbiblio- 
thek, unter  dem  Haupttitel:  ,, Hanseatica ,  oder  kurzer  Auszug  der 
hansischen  Recesse.'*  Der  erste  Theil  dieses  starken  Foliobandes 
enthält,  wie  ich  mich  bald  überzeugte,  dieselbe  Arbeit,  welche 
Sartori  US  in  einer  andern  Abschrift  benutzt  und  in  seinem  2ten 
Bande  S.  745  f.  beschrieben  bat.  Sartorius  hielt  für  wahrscheinlich, 
dass  die  Arbeit  von  dem  brauuschweigischen  Syndicus  Cammann 
herrühre,  unter  dessen  Namen  er  sie  durchweg  citirt.  Die  vor 
mir  liegende  Abschrift  nennt  als  Verf.  Wessel  Mittendorp,  wei- 
land Secretair  der  Sladt  Danzig;  eine  fernere  Notiz  lautet:  „trac- 
talus  hie  descriptus  est  ex  autographo  manuscripto  originalis,  quod 
asservatur  Gedani  in  archivo  Senatus,  anno  1673.^'    Für  den  ost- 


290  Eine  deuiiche  Colonie  und  deren  Abfall 

ziemlich  alle  Umstände  berührt,  auf  weiche  es  anliommt.' 
Dass  vorerst  die  Russen  ihren  Activhandel  (sie  waren  schon 
1188  durch  Barbarossa  in  Lübeck  mit  der  Zollfreiheit  begabt 
gewesen),  in  Folge  der  Colonisirung  Lieflands  allmählig  auf- 
gaben, dass  die  Deutschen  den  Alteinhandel  mit  den  nordi- 
schen Produkten  an  sich  zogen,  leidet  keinen  Zweifel.  Eben 
diese  commercielle  Entwickelung  Lieflands  aber  brachte 
weitere  Veränderungen  mit  sich.  Je  reger  der  Verkehr  der 
westlicher  gelegenen  baltischen  Seestädte  mit  den  östlich- 
sten, Lübecks  zumal  mit  Riga,  desto  ^her  ward  Gothland 
entbehrlich  in  seiner  früheren  Bedeutung,  als  Hauplniederr 
läge.  Man  bedurfte  Gothlands  nicht  mehr,  um  zwischen  den 
westlichsten  Märkten  und  den  östlichsten  zu  vermitteln.  Lü- 
beck schickte  längst  sich  an,  in  die  Erbschaft  Gothlands 
einzutreten.  Es  war  eine  Verlängerung  der  graden  Linie, 
welche  der  Verkehr  aufzusuchen  liebt,  wenn  er  nicht  durch 


seeischeu,  und  gradezu  für  den  Danziger  Ursprung  der  Arbeit  reden 
auch  innere  Zeugnisse.  Aus  dem  j: weiten  Tbeil,  den  Sartorius  nicht 
gekannt  zu  haben  scheint  (denti  er  führt  nur  die  Deberscbriften 
der  9  Capitel  an,  welche  den  ersten  Theil  ausmachen),  ersieht  man, 
dass  Mittendorp  1604  als  Danziger  Gesandter  nach  England  ging. 
Auf  die  Zeit  der  Abfassung  lasst  sich  daraus  schliessen,  dass  es 
bei  Erwähnung  der  spätesten  vorkommenden  Jabrszabl  heisst 
„neulich  anno  164S  bei  Krönung  Königs  Friderici  Jü.**  (von  Däne- 
mark), üeber  den  Werth  der  Sammlung  hat  S.  sich,  gewiss  nicht 
zu  rühmend,  ausgesprochen.  Bei  den  obigen  Miltheilungen  hansi- 
scher Beschlösse  aus  dem  15ten  bis  17ten  Jahrhundert  liegt  vor- 
zugsweise Mittendorp  zu  Grunde.  Wer  sich  die  Mühe  nehmen 
will,  die  bei  S.  zerstreuten  Notizen  zu  vergleichen,  wird  finden, 
dass  mir  eine  Nachlese  übrig  geblieben.  Der  zuverlässige  Gewährs« 
mann  war  mir  so  erwünschter,  da  die  alteren  hanseatischen  Samm- 
lungen unsres  Archivs  grossentheils  durch  das  Feuer  zerstört  sind. 
;—  Voigt  hat  bei  seiner  Geschichte  Preussens  eine  Sammlung  hansi- 
scher Akten  benutzt,  welche  zu  den  reichhaltigsten  (nächst  der' 
des  Archivs  von  Wismar)  zu  gehören  scheint.  Aus  dem  letzteren 
Archiv  sind  die  meisten  der  neuen  und  trefflich  bearbeiteten  Ma- 
terialien geschöpft,  weiche  der  leider  frühe  verstorbene  B ur- 
ineist er  mitgelheilt  hat,  in  seinen  „Beiträgen  zur  Geschichte 
Europa's  im  16ten  Jahrhundert,  aus  den  Archiven  der  Hansestädte." 
(Rostock,  1S43.) 


deutsehe  Colonie  u$ul  deren  AbfaU.  231 

Hemmnisse  zurückgehaUen,  oder  durch  ungewöhnliche  Vor- 
theile  gefesselt  ist.  Diesem  Streben  aber,  das  Alle  theilten, 
war  kein  Stillstand  zu  gebieten.  Wir  werden  sehen,  wie 
bald  den  Uebrigen  auch  Lübecks  Yermlttelung  lästig  zu  wer- 
den begann. 

Wie  überhaupt  die  Formen  des  Hansabundes  nur  nach 
und  nach  einen,  dem  Auge  nicht  mehr  verschwimmendeu 
Halt  gewinnen,-  so  sind  wir  auch  auf  einzelne  Notizen  be- 
schränkt, um  das  Yerhältniss  der  östlichen  Städte  insbesondre 
zur  Anschauung  zu  bringen.  Bereits  1282  Urkunden  Vogt, 
Rathmänner  und  Gemeinde  von  Riga  über  ein  Bündniss,  das 
sie  mit  „den  ebrenwerthen  Männern,  ihren  besondern  Freun- 
den, den  Bürgern  Lübecks  und  allen  Deutschen  zu  Wisby^' 
geschlossen.  Es  ist  ein  Schutz  bündniss  auf  acht  Jahre,  gegen 
„Alle  und  Jede,  Hohe  und  Niedrige,  jeder  Würde  und  jeden 
Standes,^'  welche  den  Ostseeverkehr  beeinträchtigen.  Sobald 
dann  die  Reibe  der  ordentlichen  (bei  Sartorius  abgedruckten) 
Recesse  beginnt,  treten  auch  die  liefländischen  Städte  auf. 
Im  Jahr  1362  übernimmt  Stralsund  es,  Riga  von  den  Be- 
schlüssen in  Kenntniss  zu  setzen;  dasselbe  geschieht  durch 
Köln  1367,  und  das  Jahr  darauf  durch  Lübeck.  Auf  dem 
Lübecker  Tage  1363  erscheinen  zum  erstenmal  Deputirte  von 
Riga,  Reval  und  Dorpat.  *)  Von  da  an  erscheinen  sie  ziem- 
lich regelmässig,  wenigstens  einmal  des  Jahres.  Aber  gleich 
bei  der  ersten  Gelegenheit  zeigt  sich,  dass  die  östlichen 
Städte  mit  den  kriegerischen  Anstrengungen  des  Bundes 
nicht  gleichen  Schritt  hallen.  Die  liefländischen  Städte  sol- 
len (1363)  sechs  Schiffe  und  sechshundert  Bewaffnete  stellen; 
sie  erklären,  ihr  Land  sei  nicht  volkreich  genug  dazu,  aber 
gerne  wollen  sie  Zoll  geben  und  Geld  zum  Kriege  beisteuern, 
Das  konnten  sie  auch,  denn  wenn  auch  der  Sund  gesperrt 
war,  so  sollte  doch  der  Handel  zwischen  der  Trave  und 
den  östlichen  Städten  nicht  gestört  werden,  Man  lässt  ihnen 
nun  die  Wahl,  ob  sie  2000  Mark  reinen  Silbers  oder  200  Be^ 


"WI»»«»W" 


*)  Auch  Parnau  und  Lemsal  werden  1368  als  coDtribuirende 
Stfidte  genannt. 


232  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall. 

waffnete  mit  drei  Schiffen  geben  wollen*,*)  die  DepuUrien 
werden  zu  Hause  darüber  anfragen.  Die  preussischen  Städte 
schreiben  im  selben  Jahr,  sie  haben  mit  den  Heiden  zu 
kämpfen  und  leben  sonst  noch  in  andern  Fehden;  ob  sie 
Menschen  und  Schiffe  missen  können,  wissen  sie  noch 
nicht;  **)  den  Zoll  aber  wollen  auch  sie  gerne  erheben ,  so 
lange  es  den  Städten  gefeillt.  Kein  Wunder,  wenn  im  folgen- 
den Jahr  die  Frage  aufgeworfen  wird,  ob  im  Frieden  die- 
jenigen mit  begriffen  werden  sollen,  welche  zum  Kriege 
nicht  mitgewirkt  haben.  Indessen  erklären  Riga,  Reval,  Dor- 
pat  ihren  Beitritt  zum  Waffenstillstand  (1365).  Die  preussi* 
sehen  Städte  aber  waren  wirklich  im  Frieden  nicht  mit  ein- 
geschlossen, und  da  Dänemark  ihre  Güter  nicht  schonte,  so 
fand  1367  mehr  als  eine  peinliche  Verhandlung  statt,  wie  es 
denn  werden  sollte,  wenn  sie  mit  Dänemark  sich  nicht  ver- 
gleichen könnten.  Die  übrigen  Städte  zeigen  alle  Bereitwil- 
ligkeit, das  Bündniss  aufrechtzuhalten,  wenn  es  nur  unter 
leidlichen,  die  Ehre  nicht  gefährdenden  Bedingungen  ge- 
schehen könne.  Die  Verstimmung,  der  Riss,  machte  sich  so 
bemerkbar,    dass   die   oben   erwähnte  Danziger  Uebersicht 


*)  Zur  Beurtheilung  der  Bedeutung,  welche  den  einzelnen 
Städten  zukam,  geben  vielleicht  die  folgenden  Notizen  einen  An- 
haltpunkt. An  Pfuudgeld  war  1368  erhoben  in  Lübeck  1400  Mark, 
in  den  liefländiscben  Städten  581  (darunter  Riga  mit  261,  Reval 
mit  221),  in  den  preussischen  1494.  Gegen  die  Vitalienbruder 
stellte  1398  Lübeck  2  Schiffe  mit  200  Mann,  ebensoviel  die  preussi- 
schen Städte,  Hamburg  1  Schiff  mit  50,  die  lieffandischen  Städte 
1  Schiff  mit  100  Mann.  In  einer  späteren  Matrikel  sind  Lübeck 
und  Cöln  angesetzt  mit  je  100  Rlhlr.,  Hamburg  und  Danzig  mit  80, 
Bremen,  Lüneburg,  Königsberg  mit  60,  Riga,  Reval,  Rostock,  Stral- 
sund mit  50  Rthlr. 

**)  Thorn  hatte  schon  1280  sich  einmal  entschuldigt,  wenn 
aus  den  gegen  Flandern  eingeschlagenen  Maassregeln  Krieg  ent- 
stehe, so  könne  es  nicht  daran  theilnehmen,  „wegen  unserer  Obe- 
ren, unter  deren  Herrschaft  wir  stehen."  Eine  so  bedenkliche 
Erklärung  hätte  später  leicht  die  Ausschliessung  zur  Folge  haben 
können.  Mussten  doch  die  Stetliner  1518  sich  sagen  lassen,  man 
habe  aufgehört  sie  einzuladen,  „weil  sie  der  Herrschaft  so  gar 
unterworfen." 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall.  Ttii 

diese  Recesse  anführt  ziim  Zeichen,  wie  es  damals  mit  der 
Eintracht  unter  den  Städten  bestellt  gewesen. 

So  frühe  war  der  Grund  zu  schweren  Irrungen  gelegt. 
Vergessen  wir  nicht,  dass  die  liefländischen  Städte  mit  den 
preussischen  nicht  allein  wegen  der  östlichen  Lage,  sondern 
auch  wegen  des  gemeinsamen  Verhältnisses  zum  Deutsch- 
orden unter  einem  und  demselben  Gesichtspunkte  sich  dar- 
stellen. 

Es  wird  hier  der  Ort  sein,  einer  Sage  zu  gedenken, 
welche  oftmals  wiederholt  und  lange  geglaubt  war,  bis 
Sartorius  gezeigt  hat,  dass  sie  vor  der  historischen  Kritik 
nicht  Stand  hält.  Es  hiess  nämlich  in  vielen  gangbaren 
Schriften,  der  Hochmeister  des  Deutschordens  sei  der  Schutz- 
herr der  deutschen  Hansa  gewesen.  Sartorius  wird  ohne 
Zweifel  Recht  behalten,  wenn  er  behauptet,  die  sogenannte 
Schutzherrschaft  sei  weiter  Nichts  gewesen,  als  eine  „laxe 
Allianz.^'  Indessen  wird  es  für  unsern  Zweck  nicht  ganz 
unfruchtbar  sein,  diejenigen  Auszüge  hansischer  Recesse 
hier  durchzugehen,  welche  man  für  die  Begründung  jener 
Vorstellung  von  einer  Schutzherrschaft  anzuführen  pflegte. 
So  heisst  es  denn  (bei  Mittendorp)  zum  Jahr  1398:  weil  das 
ganze  Land  zu  Preussen  mit  in  die  Hanse  gehöret,  ist 
allhie  ein  Exempel,  dass  unter  eines  preussischen  Ordens- 
herrn Insiegel  Schreiben  nomine  totius  Hansae  von  einem 
Hansetage  ausgesandt.  Ferner  1430:  dem  Lande  zu  Preussen 
und  Liefland  ist  erlaubt,  dass  ein  jedes  Land  mit  zwo  Abge- 
sandten die  Hansetage  beschicken  möge.  Im  Jahr  1434  haben 
die  Städte  ihre  Gesandten  zu  dem  Hochmeister  und  den 
Städten  in  Preussen  geschickt,  und  sich  beklagt,  dass  die 
preussischen  Abgesandten  nicht  in  gebührlicher  Anzahl  auf 
die  fiansetage  kommen,  auch  wann  man  Etwas  schliessen 
soll,  aus  Mangel  Befehlichs  zuvor  Alles  dahin  referiren  wol- 
len, u.  s.  w.  Darauf  sind  etliche  Deputirte  von  Danzig  mit 
gebührlicher  Vollmacht  des  Ordens  und  aller  Städte  auf 
den  Hansetag  gen  Lübeck  mit  zurückegezogen.  Im  Recess 
von  1449,  heisst  es  ferner,  wird  zum  erstenmal  gedacht, 
dass  die  von  Lübeck  sollen  den  Herrn  Hochmeister  und 

Ailg.  Zeitschrift  r.  «eaebicbt*.  T,  1616.  16 


234  Eine  deutsche  Colome  und  deren  Ab  fall 

das  ganze  Land  zu  Preussen  auf  den  Hanseiag  vorschrei- 
ben, auch  zugleich  die  Artikel,  da  man  von  handeln  soll, 
mit  überschicken. 

Dies  Alles  beweist  nun  freilich  Nichts  weniger,  als  eine 
Schutzherrschafl  des  Hochmeisters.  Aber  es  ist  doch  wohl 
nicht  so  ganz  bedeutungslos.  Vorerst  ist  es  offenbar  etwas 
ganz  Andres,  als  die  Vertretung  der  einzelnen  Städte,  um 
die  es  sich  handelt,  wenn  von  dem  „ganzen  Lande  zu 
Preussen  und  Liefland ^^  die  Rede  ist*  Es  ist  keine  leere 
Phrase,  wenn  das  ganze  Land  als  zur  Hansa  gehörig  be- 
zeichnet wird.  Es  liegt  darin  das  Bewusstsein  der  Art  und 
Weise,  der  Kämpfe  und  Anstrengungen  deutscher  Städte, 
wodurch  das  Land  einst  erworben  worden.  Dass  dies  Be- 
wusstsein sich  geltend  macht,  erklärt  sich  vollständig  aus 
den  Daten  der  obigen  Auszüge.  Sie  fallen  in  die  Zwischen- 
zeit nach  den  ersten  bedenklichen  Absondeningsversuchen 
der  östlichen  Städte  und  vor  den  Ereignissen,  durch  welche 
der  Riss  unheilbar  geworden.  Es  galt,  sich  der  östlichen 
Städte  zu  versichern.  Diese  Städte  gehörten  zum  Reich  — 
dem  Namen  nach;  der  Sache  nach  gehörten  sie  nur  zur 
deutschen  Hansa.  Ward  dies  Verhäitniss  aufgelockert,  so 
war  das  letzte  Band  zerrissen,  durch  welches  die  Verbin- 
dung mit  dem  Reich  etwa  erneuert  werden  konnte.  So 
mögen  wir  nach  dem  Erfolg  urtheilen.  Gewiss  aber  leihen 
wir  den  Führern  der  hansischen  Politik  keinen  fremden  Ge- 
danken,  wenn  wir  sagen,  für  die  Hansa  selbst  standen  die 
grössten  Interessen  auf  dem  Spiel. 

Unter  diesen  Umständen  nähert  die  Hansa  sich  dem 
deutschen  Orden.  Sie  wendet  sich  an  diejenige  Gewalt, 
welche  das  Land  beherrscht,  und  die  Einheit  des  Gebietes 
repräsentirt,  in  welchem  die  einzelnen  Städte,  mit  ihren 
freien  Verfassungen,  der  Vortheile  einer  gewissen  Selbst- 
ständigkeit und  freieren  Bewegung  sich  erfreuen.  Gar  leicht 
täuscht  man  in  solcher  Lage  sich  Über  die  Gefahr,  die  nicht 
ausbleibt,  wenn  nicht  einBundesverhältniss  (die  sicherste 
Schulz  wehr  der  Freiheit,  die  Krone  aller  menschlichen  Ein- 
richtungen) schirmt  und  rettet.    Wird  der  Orden  diesen  Er- 


JSina  deutsche  Colome  und  deten  AbfaU^  235 

i^SguDgen  6ebör  geben?  Wird  der  Hochmeister  die  darge- 
botene Hand  fassen? 

Es  war  Grund  vorbanden ,  das  zu  glauben.  Auch  dem 
Orden,  gedrängt  wie  er  war  durch  die  Nachbareo,  hätte  ein 
Bündniss  willkommen  sein  müssen.  Für  ein  Bündniss  mit 
der  Hansa  insbesondere  sprachen  die  alten  Erinnerungen. 
Hier  gewinnt  denn  Alles  seine  volle  Geltung,  was  oben  über 
das  ursprüngliche  Yerhältniss  des  Ordens  zu  den  Städten 
ausführlicher  beigebracht  ist.  Sartorius  hat  in  seiner  ersten 
Ausgabe  (den  zweiten  Theil  konnte  er  bekanntlich  nicht  wie- 
der überarbeiten)  diese  Dinge  zu  wenig  beachtet.  Der  Ge- 
danke eines  engeren  Bündnisses  war  ein  durchaus  richtiger. 
Missverständnisse  aber  und  mehrfaches  Unheil  haben  verschul- 
det, dass  die  Erwartung  hansischer  Staatsmänner  nicht  in  Er* 
fdliung  ging,  dass  es  bei  der  „laxen  Allianz^^  geblieben  ist. 

Allerdings  die  einzige  sichtbare  Frucht  der  Annäherung 
war  eine  angelegentlichere  Verwendung  des  Hochmeisters  an 
fremden  Höfen  (England,  Dänemark,  Burgund)  zu  Gunsten 
der  hansischen  Interessen.  In  England  traten  seine  Gesandt 
ten  in  der  Weise  auf,  dass  englische  Privilegien  des  fünf* 
zehnten  Jahrhunderts  auf  „das  ganze  Land  zu  Preussen  und 
die  übrigen  zur  Hansa  gehörigen  Orte*^  gestellt  sind.  Neu 
war  übrigens  der  Vorgang  seiner  unterstützenden  Maass- 
regeln nicht.  Schon  1374  war  der  Hochmeister  ersucht  wor- 
den, in  England  durch  Gesandte  zu  sollicitiren,  damit  eine 
Neuerung  im  Zoll  abgethan  werde.  Die  preussischen  Städte 
berichten,  weil  so  viele  Schreiben  vergeblich  nach  England 
geschickt,  wolle  ihr  Herr,  der  Hochmeister,  nunmehr  wegen 
selbigen  Schadens  Gegenarreste  verhängen.  Nachdem  Alles 
in  Ordnung  ist,  wird  dem  Hochmeister  (1381)  geschrieben, 
es  möge  nun  mit  Arresten  nicht  weiter  verfahren  werden. 

Die  Lage  des  Ordens  gestaltete  sich  immer  mehr  in  der 
Art,  dass  eine  Erreichung  des  beabsichtigten  Zweckes  —  eine 
nachhaltige  Bückwirkung  auf  den  von  den  östlichen  Städten 
einzuschlagenden  Gang  —  auch  beim  besten  Willen  der  Hoch- 
meister schwieriger  wurde.  Fielen  doch  im  Laufe  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts  manche  der  angesehensten  preussischen 

16* 


236  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  AbfatL 

Städte  vom  Orden  ab,  und  wandten  sich  der  polnischen 
Hoheit  zu.  Die  Polenkönige  scheinen  später  die  Idee  der 
Schutzherrschaft  aufgenommen  und  so  ausgebildet  zu  haben 
(denn  sie  wünschten  diese  Rolle  sich  anzueignen),  dass  auch 
ihren  Vorgängern  den  Hochmeistern  in  der  Vorstellung  des 
Zeitalters  eine  Gerechtsame  beigelegt  ward,  von  welcher  die 
Geschichte  Nichts  weiss.  Im  Jahr  1511  versicherte  der  pol- 
nische Gesandte  in  Lübeck,  sein  Herr,  der  König  in  Polen, 
sei  von  Alters  her  der  Hanse  Schutzherr  gewesen,  und 
habe  auf  allen  Hansetagen  seine  Bolschaft  gehabt  —  „mit 
nochmals  wiederhoUem  gnädigstem  Erbieten.^' 

Der  Abfall  preussischer  Städte  war  sicherlich  ein  Haupt- 
grund, weshalb  die  Wirkung  des  Bündnisses  verfehlt  wurde. 
Indessen  auch  abgesehen  davon  mag  es  schwer  genug  ge* 
Wesen  sein,  über  die  Ansprüche,  die  von  einem  Verbünde- 
ten, wie  der  Deutschorden,  erhoben  werden  mochten,  sich 
zu  verständigen.  Der  Zeitraum,  in  welchen  die  obigen  Be- 
schlüsse fallen,  zeigt  mehre  Spuren  davon.  Man  hat  der 
ostindischen  Compagnie  vorgeworfen,  dass  sie  in  der  einen 
Hand  das  Schwert,  in  der  andern  das  Hauptbuch  habe  hal^ 
ten  wollen.  Die  Hdnsa  hat  beides  trefflich  zu  führen  ver- 
standen. Aber  wie,  wenn  auch  der  Hochmeister  nach  dem 
Hauptbuche  die  Hand  ausstreckte?  In  Lübeck  erschien  1381 
der  Schaffner  des  Ordens,  und  warb  unter  Andrem,  dass 
man  dem  Orden,  wenn  er  sein  Geld  auf  Nowgorod  führen 
wolle,  gleiche  Rechte  mit  den  hansischen  Eaufleuten  zuge- 
stehn  möge.  Man  half  sich  zuerst  mit  einer  ausweichenden 
Antwort.  Als  man  endlich  eine  entscheidende  geben  musste^ 
ward  (1388)  den  preussischen  Städten  ausdrücklich  unter- 
sagt, beim  Verkehr  mit  Nowgorod  sich  des  Capitals  eines 
geistlichen*)  oder  weltlichen  Herrn,   oder  überhaupt  eines 

*)  Zugleich  ward  beschlossen,  kein  Hanse  soll  von  einem  Pfaffen 
russisches  Gut  kaufen.  Darin  war  man  strenger  geworden.  Hun- 
dert Jahre  früher  (1284  —  Lüb.  ü.  B.)  weiset  der  Bischof  Friedrich 
von  Dorpat  zwei  Löbeckische  Bürger  an,  sein  Wachs  (ceram 
nostram),  das  sie  von  ihm  in  Händen  haben,  in  seinem  Namen 
an  den  Markt  zu  bringen,  wenn  sie  Gelegenheit  haben,  es  zu  acht 
und  einer  halben  Mark  loszuschlagen. 


Eine  deutsche  Colonie  utid  deren  Abfall.  237 

Fremden  zu  bedienen,  der  in  das  gemeine  Kaufniannsrecht 
nicht  gehöre.  Dieser  Scbluss  ward  auch  dem  HochiTieister 
mitgetheilt. 

Aehnliche  Irrungen  ergaben  sich,  als  der  Hochmeister  in 
das  Zollwesen  der  Städte  sich  einmischte,  um  seine  eignen 
Zwecke  dabei  zu  verfolgen.  Mittendorp  sagt  darüber:  zu  Be* 
huf  der  Kriegsrilstung  (gegen  die  Vitalienbrüder,  1398)  ward 
ein  Pfundzoll  in  den  Seestädten  aufgerichtet,  daher  der  Hoch- 
meister in  Preussen  ein  Exempel  genommen,  dergleichen  Zoll 
für  sich  Selbsten,  und  zu  des  Ordens  eigenem  Nutz,  in  den 
Seestädten  seiner  Lande  anzurichten,  und  also  ein  ewiges 
Eigenlhum  daraus  machen  wollen.  An  einer  andern  Stelle 
heisst  es,  1395  haben  die  preussischen  Städte  proprio 
motu  begehret,  dass  man  möge  einen  Pfundzollen  wieder 
anordnen,  und  ist  ihnen  solches  abgeschlagen.  Der  Hoch- 
meister mochte  also  darüber  mit  seinen  Städten  einig  sein. 
Um  so  schlimmer,  wenn  er  mit  ihnen  einig  war,  gegen  die 
Beschlüsse  gesammter  Hansa.  Hier  ist  nun  die  ursprüng- 
liche Bestimmung  und  das  Wesen  dieser  Abgabe  ins  Auge 
zu  fassen.  Mittendorp  belehrt  uns:  dass  der  Pfundzoll  zu 
Erhaltung  der  freien  Schiffahrt  und  Abwehrung  der  Plackerei 
und  Unfriedens  auf  der  See,  anfänglich  von  den  Städten  ist 
gesetzt  worden  auf  dieWaaren,  die  aus  den  hansischen  See- 
städten in  andre  derselben  Verwandtnuss  Seestädte  zu  Markt 
geführet  werden,  davon  der  Pfundzoll  nur  einsten  gegeben 
ward,  und  war  ein  teraporarium  und  arbitragum,  wie  her- 
nach der  Schoss  und  andre  Conlributionen*);  wird  auch 
nach  Gelegenheit  der  Zeit  wieder  abgesetzt  (abgeschafft); 
dasPfahlgeld  aber  ist  ein  stetiger  und  ewiger  Zoll  bei  den 
Seestädten  insgemein  gewesen,  wie  auch  auf  alle  Waaren, 
welche  aus-  und  eingehen,  auf  hansische  und  fremde,  welche 
der  Städte  Havenungen  gebrauchen,  zu  Unterhaltung  der 
Porten  und  Ströme.  Man  sieht,  wie  sehr  das  Beginnen  des 
Hochmeisters  den  Grundsätzen  widerstrebte.    Nun  hätte  er 

•)  Der  Erlrag  des  Pfundzolis  ward  in  der  Art  verwaltet,  dass 
man  zuerst  den  einzelnen  Städten  ihre  Aufwendungen  für  die 
KriegsrüsluDg  ersetzte,  und  den  Ueberschuss  repartirte, 


238  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall. 

freilich  im  Cicero  lesen  können  (aber  dazu  hatte  er  offenbar 
keine  Zeit),  es  zieme  sich  nicht,  dass  der  Yölkerhirt  und 
Vorkämpfer  zugleich  zum  Zöllner  sich  aufwerfe.  Die  Köler* 
sehe  Sammlung  berichtet  den  Ausgang  der  langen  Vorhand- 

*  

lung.  Die  Antwort  ist  bemerkenswerh ,  welche  der  Hoch- 
meister (1421)  den  Lübeckischen  Gesandten  ertheilt.  Er  sei 
schon  der  vierte  Hochmeister,  der  den  Pfundzoll  eingehoben, 
und  könne  sich  unmöglich  entschliessen,  dasjenige  abzu- 
schaffen, was  er  nicht  aufgebracht;  er  habe  unstreitig  so  ein 
freies  Land^  als  irgend  ein  andrer  Fürst,  und  sei  also  ver- 
bunden, zu  erhalten,  was  von  seinen  Vorfahren  auf  ihn  ge- 
kommen; Nichts  aber  sei  ihm  unmöglicher,  als  von  denjeni- 
gen Geldern  Rechenschaft  zu  tfaun,  die  er  nicht  eingenom- 
men. Endlich  so  sei  es  auch  nicht  zum  Besten  seiner  Lande, 
sondern  auch  den  Stadien  zum  Vorlheil  aufgewandt  worden. 
Und  weil  es  bekannt  genug,  wie  vielen  Schaden  er  leiden 
müssen,  so  halte  er  Ursach,  um  Mitleiden  zu  bitten,  und 
durch  seinen  Marschall  anhalten  zu  lassen,  dass  man  auf 
einige  Zeit  wenigstens  in  Betrachtung  des  vielen  Schadens, 
welchen  sein  Land  erlitten,  den  Pfundzoli  bewilligen  möchte. 
Insonderheit  zweifle  er  nicht,  dass  die  Herren  Lübecker  sich 
seiner  annehmen  werden,  weil  sie,  nebst  den  Bremensern, 
die  ersten  Stifter  seines  Ordens  gewiesen.  Gewiss,  das  ist 
nicht  die  Sprache  eines  Schutzherrn;  sondern  Alles  führt 
sich  auf  das  natürliche,  oben^  von  uns  entwickelte  Verhält* 
niss  zurück.  Wie  sollte  man  nun  mit  diesem  gepanzerten 
Supplicanten  fertig  werden?  Er  war  endlich  damit  friedlich, 
den  Pfundzoli  abzuthun,  wenn  er  von  dem  vorigen  keine 
Rechnung  abzulegen  brauche.  Bei  Köler  heisst  es  ferner: 
hiebei  versprach  er,  dass  inskünftige,  wenn  die  Städte  einen 
andern  Pfundzoll  wieder  errichten  würden,  das  Geld  nicht 
mehr  von  dem  Orden  sollte  untergeschlagen  werden;  er 
verwilligte  ferner,  wenn  seine  Städte,  sowohl  in  Preussen 
als  in  Liefland,  Etwas  mit  den  Hansestädten  ausmachen 
würden,  so  wolle  er  alle  Artikel,  die  dem  Comtoir  und  dem 
gemeinen  Kaufmann  nutzbar  wären,  gelten  lassen,  wenn 
sie  nur  nicht  gegen  ihn,  seinen  Orden  und  seine  Län« 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall.  239 

der*),  wären.  Richtig  hat  auch  1442  ein  neuer  Hochmeister 
wiederum  einen  Pfundzoll  aus  eigner  Machtvollkommenheit 
aufgesetzt;  er  vermeinte,  sagt  Mittendorp,  durch  seine  und 
des  Ordens  Privilegien  dazu  befugt  zu  sein  *♦). 

Ist  dies  Alles  nun  eine  Abschweifung  von  der  Betrach- 
tung der  hansischen  Colonialpolitik?  Keineswegs;  sondern 
es  ist  eine  der  Spuren,  dass  eine  solche  wirklich  vorhanden 
war.  Dass  die  Hansa  sich  in  diesem  Fall  an  die  Landes- 
regierung wandte,  das  eben  beweiset,  dass  man  die  öst- 
lichen Städte  doch  in  andrem  Lichte  betrachtete,  als  die 
übrigen,  gleichberechtigten  Genossen.  Wann  hätte  wohl 
sonst  die  Hansa,  wo  es  darauf  ankam,  einem  Beschluss  b^ 
ihren  eignen  Mitgliedern  Geltung  zu  verschaffen,  an  deren 
Obere  sich  gewendet?  Aber  das  ganze  Land  zu  Preussen 
und  Liefland  stand  in  einem  eigenthümlichen  Verhältniss. 
Liefland  zumal  erschien  wirklich  als  Erweiterung  des  Hofes 


*)  Eine  faassliche  ClauseL  Sie  erinnert  an  die  Reservate  der 
Stuarts,  oder,  naher  zur  Hand,  sie  erinnert  an  die  Bedingungen, 
unter  wejchen  dieselben  Ordensritter  den  Eibingern  (10.  April  1246) 
lübiscbes  Recht  verwilligt  hatten:  es  soll,  was  gegen  Golt  (man 
denke,  raftDeecke  aus,  im  lubischen  Stadirecht  gegen  Gott!)  gegen 
den  Orden  und  gegen  Stadt  und  Land  sein  könnte,  nach  der  Or- 
densritter  und  andrer  weiser  Männer  Rath  durch  andres  Recht  er« 
setzi  werden. 

**)  Nichts  ansteckender,  als  das  Beispiel  von  Willkürlichkeiten 
bei  der  Erhebung  und  Verwendung  indirekter  Abgaben.  Während 
man  in  Preussen  über  eigenmächtige  Erhebung  Beschwerde  führte, 
verwies  man  <i402)  den  liefländischen  Städten  die  eigenmächtige 
Abschaffung  eines  Pfundzolls.  Später  war  ein  Pfundzoll  in  Re- 
val  angeordnet,  zu  Behuf  der  Zehrung,  wenn  aus  überseeischen 
Städten  Gesandle  künftig  in  die  Aloscau  wieder  sollten  geschickt 
werden;  1476  fragte  man  die  von  Reval,  wieviel  etwa  davon  im 
Vorrath;  sie  erklärten,  dass  die  liefländischen  Städte  ad  partem 
Tagfahrten  mit  den  Reussen  zu  mehrmalen  gehalten,  darauf  das 
Geld  verzehrt,  mit  welcher  Antwort  die  Städte  nicht  friedlich.  — 
Im  Recess  von  1507  scheint  zuerst  den  preussischen  Städten  eine 
Concession  gemacht  zu  sein:  ihnen  ist  nachgegeben,  dass  sie  ihre 
contributiones  hanseaticas,  die  zuvor  jährlich  gen  Lübeck  einge- 
schickt worden,  mögen  bmnen  Landes  zusammenlegen  (Mitten- 
dorp). 


240  Eine  deutsche  Colome  und  deren  Abfall, 

zu  Nowgorod.  Wie  hier,  so  wollte  man  dort  unbedingt  das 
Gesetz  geben.  Man  halte,  nur  im  grösseren  Maassstabe,  mit 
einer  Facto rei  zu  thun. 

Sehr  ins  Einzelne  gingen  die  Beschlüsse.  Viele  dersel- 
ben waren  unverfänglich,  und  der  Grund  einleuchtend.  Aber 
es  waren  Vorschriften,  Beschränkungen  der  freien  Be- 
wegung. In  Liefland  selbst  hätte  man  schwerlich  ein  Motiv 
gehabt,  eben  diese  Einrichtungen  alle  zu  wünschen.  Geben 
wir  Einiges  zur  Probe.  Kein  Schiffer  soll  nach  Michaelis 
mit  köstlichen  Gütern  auf  Liefland  zufahren  (beschlossen  1470) 
bei  Strafe  einer  Mark  Goldes.  Durchaus  kein  Silber  soll 
nach  Russland  geführt  werden  (1388,  erneuert  1401  und 
noch  1507).  Man  soll  keine  schweren  Güter  aus  Liefland  ins 
Niederland,  oder  von  dannen  in  Liefland  zu  Lande  führen 
(1470  und  öfters  erneuert).  Zu  verwundern  ist  nicht,  dass 
dies  verboten  ward,  wohl  aber,  dass  man  es  zu  verbieten 
brauchte;  ein  dringender  Beweggrund,  irgend  einer  Controle 
siöh  zu  entziehen,  musste  vorhanden  sein,  um  mit  schwe- 
ren Gütern  den  Landweg  einzuschlagen.  Mit  den  Russen 
soll  Keiner  auf  Borg  handeln,  sondern  allein  baar  um  baar 
(rede  umme  rede);  diese  uralte  Vorschrift  ist  immer 
wieder  erneuert*),  und  erst  1511  ist  die  angedrohte  Leibes- 
strafe in  Einbusse  des  Gutes,  Ausstossung  von  der  Hansa 
und  Ehrlosigkeit  verwandelt.  Für  den  weither  Gereiseten 
war  es  wohl  heilsam,  wenn  gradezu  ein  Verbot  ihn  davon 
zurückhielt,  sich  Streitigkeiten  und  Verlusten  im  fernen  bar- 
barischen Lande  auszusetzen.  Aber  wenn  nun  ein  Lief- 
länder wagen  wollte,  was  er  bei  der  Nachbarschaft,  bei 
der  Kenntniss  der  Personen  und  der  Umstände,  weit  eher 
wagen  konnte?  Jedenfalls  ein  Beispiel,  wie  man  Gesetze 
nicht  machen  muss;   denn  wie  sollte  es  aufrecht  gehalten 


•)  Noch  im  Jahr  1542  suchte  Lübeck  die  Aufnahme  Narwas 
den  andern  Städten  durch  die  Bemerkung  plausibel  zu  machen, 
die  von  Narwa  möchten  auch  wohl  zu  bewegen  sein^  den  Borge- 
kauf mit  den  Russen  abzustellen,  wenn  sie  in  die  Hansa  aufge« 
nommen  würden.  (Acten  des  Hansatages  zu  Lübeck,  auf  Jnvo- 
cavit  1542  —  im  Lüb.  Archiv.) 


Eine  deutiche  Colonie  und  deren  Abfall.  241 

werden?  oder  wie  wäre  es  sonst  so  häufig  erneuert?  Die 
preussiscben  Städte  beklagten  sich  schon  1382,  dass  ihnen 
nicht  verstattet  werde,  polnische  Tücher  nach  ^ussland  zu 
führen;  sie  konnten  die  gewünschte  Erlaubniss  nicht  er- 
langen. Was  aber  konnte  den  Liefländern  an  der  Aufrecht- 
haltung des  Verbotes  gelegen  sein,  wenn  die  Russen  auch 
solche  Tücher  kaufen  wollten?  Wieder  ward  1470  beschlos- 
sen, dass  nach  Liefland  und  Russland  keine  andre  Tücher 
geführt  werden  sollten,  als  flämische  und  englische,  die  auf 
flämische  Art  gemacht  sind.  Uebrigens  hat  Sartorius,  aus 
einer  Göttinger  Urkunde  von  1423,  nachgewiesen,  dass  gute 
Leute  (vrome  lüde)  auch  deutsche  Tücher  (die  nur  nicht 
zu  kurz  fallen  mussten)  nach  Russland  zu  führen  pflegten. 
Kam  denn  einmal  Streit  mit  England,  so  wurden  englische 
Tücher  verboten,  und  die  preussiscben  Städte  (1453)  be- 
gehren umsonst,  dass  man  erlaube,  solche  wenigstens  durch: 
führen  zu  lassen. 

Ein  neuer,  nur  allzu  fruchtbarer  Keim  der  Zerwürfniss 
mit  den  östlichen  Städten  entsprang  aus  dem  veränderten 
Yerhältniss  der  Hansa  zu  den  Niederländern.  Zum  Verständ- 
niss  dieser  Dinge  ist  es  nöthig,  an  die  dänischen  Fehden 
der  Hansen  zu  erinnern.  Die  Sache  scheint  verwickelt;  aber 
nur  auf  den  ersten  Blick.  Zollordnungen,  Handelsstatuten, 
Scbiffahrtsgesetze  kann  nut  Derjenige  vorschreiben,  der  die 
Macht  in  Händen  hat.  Die  Geschichte  der  Hansa  ist  nicht 
eine  Handelsgeschichte;  es  ist  eine  politische  Geschichte. 
Jahrhunderte  hindurch  ist  sie  mit  den  grossen  Veränderungen 
im  Staatensystem  Europas  innig  verflochten.  Nun,  die  dä- 
nischen Fehden  Lübecks  und  seiner  engeren  Genossen,  der 
„wendischen  Städte*^,  diese  Fehden  von  der  zweiten  Hälfte 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  bis  gegen  die  Mitte  des  sechs- 
zehnten, bedeuten  nichts  Anderes  als  den  Kampf  um  die 
Ostseeherrschaft.  Und  diese  Ostseeherrschaft,  von  den 
wendischen  Städten  einmal  erkämpft,  ward  bald  für  die 
Preussen  und  Liefländer  und  für  die  Niederländer  kaum 
weniger  drückend ,  als  für  die  scandinavischen  Reiche.  Dieser 
Verlauf  und  Zusammenhang  ist  nun  historisch  nachzuweisen. 


242  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall, 

Die  erste  grosse  Fehde  endete  im  Frieden  1370  überaus 
glücklich  und  glorreich  für  die  Hansen.  Sehr  schwer  hat 
der  Dänenköüig,  der  dritte  Waldemar,  für  jene  unziemlichen 
Reime  gebüsst,  in  'welchen  er  die  „sieben  und  siebenzig 
Hanse,  sieben  und  siebenzig  Gänse^^  verhöhnt.  Kopenhagen 
und  Helsingör,  dazu  mehre  feste  Plätze  auf  Schonen,  hatten 
die  Hansen  erobert.  Sie  waren  Meister  des  Sundes,  und 
dictirten  den  Frieden.  In  diesem  blieben  ihnen  die  Plätze 
und  Landstrecken  in  Schonen  auf  fünfzehn  Jahre  verpfändet, 
und  zwar  so,  dass  der  König  versprechen  musste,  falls  die 
Plätze  ihnen  entrissen  würden,  wolle  er  selbst  sie  dem 
Feinde  wieder  abnehmen  und  ihnen,  den  Hansen,  zurück- 
steilen; als  Unterpfand  für  diese  Zusage  erhielten  sie  noch 
ein  Schloss  in  Hailand.  Zwei  Drittheile  der  königlichen  Ein- 
künfte aus  den  ihnen  dergestalt  überlassenen  Gebieten  ver- 
blieben ihnen  gleichfalls  auf  fünfzehn  Jahre.  Zur  Bewilligung 
ausgedehnter  Handelsvorrechle  kam  endlich  noch  die  grössto 
aller  politischen  Goncessionen:  die  Reichsrälhe,  welche  den 
Vertrag  ausgestellt,  verpflichten  sich,  weder  bei  Waidemars 
Lebzeiten,  falls  dieser  das  Reich  abtreten  wollte,  noch  nach 
Waidemars  Tode,  irgend  Einen  zum  Herrn  anzunehmen,  es 
sei  denn  mit  dem  Rath  der  Städte,  und  dass  er  mit 
den  Bischöfen,  Rittern  und  Knappen^  welche  sie  dazu  aus- 
ersehen, den  Städten  zuvor  ihre  Freiheiten  besiegelt  habe. 

Lübecks  Name  insbesondre  war  in  diesen  Verhandlungen 
zu  solchem  Glänze  gelangt,  dass  die  Stadt  noch  spät  sich 
rühmte,  ohne  ihre  Zustimmung  dürfe  Keiner  in  Dänemark 
König  sein.  Auf  dem  Hansatage  von  1535  —  in  jenen  letz- 
ten Zeiten,  als  Lübeck  unter  WuUenwebers  Leitung  kühner 
als  je  den  nordischen  Kronen  den  Fehdehandschuh  hinge- 
worfen, und  als  Lübecks  Hegemonie  auch  den  nächsten 
Bundesgenossen  beschwerlich  geworden  —  sind  über  diesen 
Gegenstand  merkwürdige  Reden  gefallen.  Dem  Kanzler  des 
Herzogs  Ernst  von  Braunschweig,  der  mit  dem  Kanzler  des 
Landgrafen  Philipp  von  Hessen  auf  dem  Tage  anwesend 
war,  hatte  der  Bürgermeister  von  Cöln  das  nicht  eben  an- 
genehme Geschäft  übertragen,   den  Lübecker  Abgeordneten 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall,  243 

die  Meinung  der  versammelten  Städte  auseinanderzusetzen. 
Es  habe,  sagte  er,  bei  kaiserlicher  Majestät  und  andern  ho* 
hen  Potentaten  einen  „wunderlichen  Verstand^,  sich  um  so 
hohe  Dinge  zu  bekümmern,  Könige  zu  setzen  und  zu  ent- 
setzen; sonderlich  werde  auch  den  Städten  zugemessen, 
dass  sie  ihren  Nutz  und  Vortheil  suchten,  mehr  denn  ge- 
bührlich. Die  von  Lübeck,  mit  den  nächsten  Verbündeten, 
Rostock  und  Stralsund,  entschlossen  sich  zu  einer  kurzen 
und  freundiichen  Antwort.  Dass  auf  die  Stadt  Lübeck  von 
ihren  Missgönnern  ein  Argwohn  geworfen,  als  wollte  man 
Könige  und  Fürsten  reformiren,  ,Ja  wohl  umbringen",  das 
habe  man  wohl  erfahren;  Gott  wolle  es  Denen  vergeben, 
die  es  verschuldet.  Bekannt  sei  es  aber  auch,  und  nichts 
Neues,  dass  die  von  Lübeck  und  ihre  „Verwandten"  mit 
den  Ständen  in  Dänemark  Vertrag  und  Bündniss  aufgerichtet. 
Nichts  Neues  sei  ferner,  dass  durch  ihre  vertragsmässige 
Mitwirkung  (byplichtinge)  Könige  entsetzt  und  wieder 
eingesetzt  worden  —  nicht  aus  Gewalt  Derer  von  Lü* 
beck,  sondern  weil  zwischen  Dänemark  und  Lübeck  eine 
so  natürliche,  so  innige,  so  nothwendige  Beziehung  (vor- 
wantenisse)  bestehe,  dass  das  Reich  ohne  die  Städte, 
und  wiederum  die  Städte  ohne  das  Reich  nicht  im  Frieden 
sein  können.  Es  sei  auch  an  dem,  dass  die  Städte  sich  des 
Reiches  nicht  könnten  noch  möchten  begeben,  noch  sich 
davon  ausschliessen  lassen.  Auch  seien  glaubwürdige  Nach- 
richten, dass  kein  König  in  Dänemark  erwählt  werden  solle, 
ohne  Derer  von  Lübeck  Mitwissen ,  und  es  sei  stets  also  ge- 
halten worden.  Offenbar  setzten  die  Abgeordneten  hier,  um 
die  Missgunst  zu  mildern,  an  die  Stelle  der  Macht  Lübecks 
die  Grundlage  der  gemeinsamen  Interessen.  Geht  man  auf 
die  Verhandlungen  von  1370  zurück,  so  fehlt  allerdings  nicht 
viel  (wie  auch  Dahlmann  andeutet)  dass  diese  als  ein  Bund 
der  Städte  und  der  dänischen  Reichsrälhe  gegen  die  Gewalt 
des  Königs  sich  darslellten:  der  Vertrag  sollte  gelten,  selbst 
wenn  der  König  ihn  nicht  besiegeln  würde,  also  musste  er 
wohl  den  Interessen  des  Reiches  so  gut  wie  denen  der 
Städte  entsprechen*    Das  Argument  war  geläufig  und  noch 


244  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall 

jüngst*)  von  den  Lübecker  Gesandten  in  Kopenhagen  ent- 
wickelt worden:  Denen  von  Lübeck  sei  an  dem  Reich  so- 
viel, wie  dem  Reich  an  Denen  von  Lübeck  und  den  Städten 
gelegen,  der  Eine  könne  des  Andern  nicht  entbehren,  man 
werde  sie,  die  vom  Reich,  nicht  verlassen.  Als  Lübeck  an 
jene  früheren  Vorgänge  in  der  eben  angeführten  Weise  er- 
innert hatte,  erwiderten  die  übrigen  Städte  ziemlich  trocken: 
es  möge  wohl  sein,  dass  die  von  Lübeck  die  angezogene 
Gerechtigkeit  hätten,  sie  (die  Uebrigen)  könnten  Nichts  da- 
von sagen;  gewiss  aber  sei,  dass  Herren  und  Fürsten  ein- 
gebildet worden,  dass  die  von  Lübeck  Könige  setzten  und 
entsetzten,  welches  an  Fürstenhöfen  seltsam  gedeutet  werde. 
Die  Discussion  ward  von  Lüneburg,  wo  sie  begonnen,  nach 
Lübeck  vertagt,  und  hier,  in  einem  Augenblick  des  Unmuths 
und  zur  Abwehr  wiederholter  Vorwürfe,  liess  Lübeck  das 
beschönigende  Argument  der  beiderseitigen  Interessen  fallen, 
erhob  sich  im  Bewusstsein  der  alten  Macht,  und  erklärte 
rund  heraus:  wenn  ihnen  Etwas  vorzuwerfen  sei,  so  hätten 
sie  nur  darin  es  versehen  (vorseen  unde  vorsnappet), 
dass  sie  den  Königen  von  Dänemark  und  Schweden  unver- 
dient in  den  Sattel  geholfen,  und  sie  gross  gemacht,  wel- 
ches  ihnen  jetzt  übel  gelohnt  werde**).  Es  war  das  letzte 
Aufblitzen  des  Zornes  gegen  die  Könige  von  Lübecks  Gnaden. 
Aber  die  Niederländer?  Burmeister  bemerkt  treffend: 
„ein  König  von  Dänemark,  Waldemar  IIL,  hat  die  hollän- 
dischen Städte  dem  Hansabunde  genähert,  und  ein  König 
von  Dänemark,  Erich  XL,  hat  sie  demselben  wieder  ent- 
fremdet". In  jener  ersten,  grossen  Fehde  nämlich  hatten 
die  Holländer  gegen  Dänemark  mitgekämpft.  Aus  dem. ge- 
meinsamen Siege,  aus  den  eroberten  Privilegien,  zogen  sie 
geringen  Vortheil.  Ihre  Strebsamkeit  liess  sie  den  Versuch 
machen,  auch  ihrerseits  den  Ostseehandel  —  die  neue  Do- 
maine  der  Hansen  —  auszubeuten.     Lübeck  sah  diese  Be- 


*)  Acten    der  Gesandtschaft   nach   Kopenhagen   1532   (Lüb. 
Archiv). 

**)  Acten  dos  Hansatages  1535  (Brem.  Archiv). 


Eme  deutsche  Colonie  und  deren  ÄbfalL  245 

strebungen  mit  Missbehagen,  und  gab  auf  ihr  und  des  Her- 
zogs von  Holland  freundliches  Werben  und  Erbieten  eine 
ziemlich  schnöde  Antwort '^).  Burmeister  fügt  hinzu,  man 
scheine  ihnen  die  directe  Schiffahrt  nach  der  Ostsee  nicht 
verstattet  zu  haben,  die  holländischen  Schiffer  haben  ihre 
Waaren  nur  nach  Hamburg  bringen  und  von  dort  ihre  Rück- 
fracht einnehmen  sollen.  Einen  Beweis  dafür  giebt  er  nicht; 
und  es  ist  mir  nicht  bekannt,  auch  nicht  wahrscheinlich, 
dass  vor  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  darüber  in  Bezug 
auf  die  Holländer  ausdrücklich  Etwas  festgestellt  gewesen* 
Vermuthlich  war  es  aber  auch  nicht  früher  erforderlich.  Yer* 
muthlich  war  bis  dahin  das  Erscheinen  der  Holländer  in  der 
Ostsee  nicht  sowohl  etwas  Ungesetzliches,  als  vielmehr  etwas 
Ungewohntes.  Nicht  ein  Statut,  sondern  die-  Mühen  der 
Fahrt  durch  den  Skind,  die  nur  allmählige  Gewöhnung  län- 
gerer Seereisen,  und  im  Gegensatz  dazu  die  kurze,  durch 
Verträge  und  wachsame  Hüter  sichere  Landstrecke  zwischen 
der  Elbe  und  der  Trave  —  diese  Verhältnisse  sind  es,  durch 
welche  Lübeck  und  Hamburg  als  unbestrittene  Stapelplätze 
so  lange  sich  behauptet.  Anders  schien  es  jetzt  werden  zu 
können.  Was  konnte  einladender  für  die  Holländer  sein, 
als  die  Bedingungen  des  Friedens  von  1370,  an  der  Ostsee- 
fahrt auch  ihrerseits  theilzunehmen?  Aber  so  war  es  nicht 
gemeint.  Als  die  Holländer  häufiger  nach  der  Ostsee  kamen, 
machte  man  ihnen  Schwierigkeiten,  was  daraus  erhellt,  dass 
sie  sich  (laut  einer  Klage  im  Recess  von  1417,  bei  Bur- 
meister) nach  ungewohnten  Häfen  wendeten,  nicht-han- 
sische Orte  aufsuchten,  um  daselbst  Getreide  zu  verschiffen. 
Derselbe  Recess  aber  verfügte:  bei  Strafe  der  Confiscation 
soll  kein  Getreide  aus  dem  Sunde,  der  Elbe  oder  Weser 
verschifft  werden,   es  komme  denn  aus  einer  Hansastadt. 

Genug,  die  Holländer  fanden  ihre  Rechnung  nicht  beim 
Bunde.  Da  kamen  neue  Irrungen  mit  Dänemark.  Sollte 
man  den  wendischen  Städten  wieder  beistehn,  sollte  man 
(wieder  vielleicht  auf  eigene  Kosten)  sie   noch  mächtiger 


*)  Recess  von  1387,  bei  Burmeister  105. 


246  Eine  deuUehe  Cölonie  und  deren  Abfall 

werden  lassen?  Die  Holländer  konnten  in  der  Tbal  um  so 
weniger  sich  dazu  aufgefordert  finden,  wenn  sie  den  Ur* 
Sprung  der  Fehde  erwogen.  Lübeck  und  Hamburg  hatten 
ein  augenföliiges  Interesse,  den  holsteinischen  Grafen  die 
Belehnung  mit  dem  Herzoglhum  Schleswig  zu  Wege  zu 
bringen.  Hamburg  schloss  bereits  1417  ein  Bttndniss  mit 
den  holsteinischen  Herren  gegen  Dänemark.  Das  Interesse 
war  nicht  ganz  so  particülaristisch,  wie  es  scheinen  mochte. 
Will  man  sich  auf  den  deutschen  Standpunkt  erheben,  so 
ist  es  Nichts  weniger  als  gleichgültig,  ob  Schleswig  der  dä- 
nischen Herrschaft  ohne  Mittel  unterworfen  ist.  Doch  möch- 
ten wir  nicht  verbürgen^  dass  die  Städte  daran  gedacht; 
noch  weniger  war  von  den  Holländern  zu  erwarten,  dass 
sie  dafür  eine  Lanze  brechen  sollten.  Waren  es  doch  von 
sämmtlichen  Städten  nur  die  wendischen,  die  sich  zur 
Fehde  ernstlich  entschlossen,  und  darüber  das  Bündniss 
mit  den  Herzogen  und  Grafen  (Lübeck,  27.  September  1426) 
besiegelten. 

Die  Holländer  waren  auf  die  Seite  des  Königs  getreten, 
noch  bevor  es  dazu  kam.  Schon  1423  waren  sie  mit  dem 
König  dahin  einig,  die  hansischen  Schiffe  auf  Schonen  zu 
überfallen.  Also  der  Riss,  die  offene  Feindschaft  zwischen 
den  Bundesgliedern  war  entschieden.  Der  grossen  Marga- 
relha,  der  „Semiramis  des  Norden",  war  es  nicht  gegeben, 
für  die  Einheit  der  scandinavischen  Reiche  eine  Form  zu 
erfinden,  unter  deren  Bürgschaft  die  Schlüssel  der  Ostsee 
aus  der  mächtigen  Hand  der  wendischen  Städte  hätten  zu- 
rückerobert werden  können.  Dagegen  ist  es  dem  wenig 
politischen  Erich  gelungen^  den  grossen  Hansabund  zu  tren- 
nen. Denn  die  meisten  holländischen  Städte  schieden  für 
immer  aus  der  Gemeinschaft.  Zur  rechten  Freundschaft 
zwischen  den  Hansen  und  den  Holländern  ist  es  nicht  wieder 
gediehen,  bis  zu  dem  (allzuspäten)  Bündniss  von  1615  mit 
den  Generalstaaten« 

Sofort  waffnet  sich  die  Politik  der  Hansa  mit  Verboten; 
Man  soll  keinen  niederländischen  Schiffer  auf  LieHand  be- 
frachten, bei  Verlust  der  Güter,  die  man  ihm  eingethan  (1425). 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall  247 

Keinem ausserhansischen  (buten hansischen) Handelsmann, 
insonderheit  keinem  Holländer,  soll  verstailel  werden 
in  Liefland  die  reussische  Sprache  zu  lernen.  Das  Verbot 
im  Allgemeinen  war  schon  in  den  alten  Statuten  des  Nau- 
gardischen  Hofes  verzeichnet;  eifersüchtig  war  darüber  ge- 
wacht worden,  und  um  die  Mitte  des  vierzehnten  Jahr« 
hunderts  hatte  Rostock  dem  Meister  in  Liefland  einen  langen 
Brief  darüber  geschrieben,  dass  ein  Lombarde  sich  in  Nau- 
gard  eingeschlichen;  mit  der  speciellen  Anwendung  auf  die 
Holländer  ist  est  1426  ausgesprochen,  und  oft  (noch  1517) 
erneuert.  Ein  andrer,  allgemein  gefasster  Beschluss  verräth 
durch  die  gleiche  Jahreszahl  (1426)  dieselbe,  besondere 
Tendenz:  man  soll  mit  keinem  ausserhansischen  SchilTspart, 
Gesellschaft  oder  Matschapey  halten,  bei  Verlust  der  Hanse, 
einer  Mark  Goldes,  und  der  Güter,  damit  die  Matschapey 
gehalten. 

Mittend orp  hat  diese  Beschlüsse  ganz  richtig  da  ein* 
getragen,  wo  er  von  ausserhansischen  überhaupt  handelt. 
Es  waren  so  viele  Anwendungen  eines  Princips  auf  Die* 
jenigen,  die  nun  nicht  mehr  zur  Hansa  gehörten.  Unter 
demselben  Gesichtspunkt,  als  nicht  zum  Bunde  gehörend 
(und  dies  ist  hierbei  das  Wesentliche)  suchte  man  dann  die 
Holländer  von  der  Ostseefahrt  ganz  auszuschlies^en. 
Man  stellte  sie  auf  eine  Linie  mit  den  Flamländern  und 
Friesen,  welche  niemals  zum  Bunde  gehört,  und  welchen 
von  Alters  her  die  Ostseefahrt  untersagt  war*). 

Hier  kommt  nun  ein  lehrreiches  Actenstück  (aus  dem 
Lübeckischen  Urkundenbuch  S.  446.)  in  Betracht,  das  auch 
fernerhin  uns  dienen  wird,  eine  dunkle  Frage  aufzuhellen. 
Ums  Jahr  1285   danken  Richter,   Schöffen  und  Bürger  der 


*)  Der  Gegensatz  zwischen  dem  factischen  und  dem  recht- 
lichen Verbaitniss  war  auch  dem  Bewusstsein  der  Niederländer 
nicht  fremd.  Eine  seltsam  klingende  Spur  davon  habe  ich  in  ei- 
nem ,,Recessiis  in  causa  Hollandinorum  factus  Bremis  anno  xiiij 
(1514)  Nativ.  Mariae"  (im  Lüb.  Archiv)  angetroffen.  „Die  Ant- 
werpeoer  Depntirten  haben  in  dem  Concept  nicht  wollen  leiden 
das  Wort:  Freiheit,  sie  sagten,  dass  sie  viel  lieber  wollten  fünf 


248  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall. 

Stadt  Zwoll  den  Lübeckern,  dass  diese  für  ibr  (deren  von 
Zwoll)  altes  Recht,  das  durch  Lässigkeit  und  Nichtachtung 
fast  in  Abgang  gekommen  (fere  abolita),  so  treulich  und  er- 
folgreich sich  bemüht.  Was  ist's  denn,  was  Lübeck  ihnen 
wiederum  verschafft  hat?  Nichts  anders,  als  dass  hinfort 
weder  den  Friesen  noch  den  Flamländern  verstattet  sein 
soll,  irgendwie  durch  die  Ostsee  nach  Gothland  zu 
schiffen,  wie  sie  bisher  gegen  das  alte  Recht  gethan. 
Ebensowenig  soll  den  Gothländern  erlaubt  sein  (was  auch 
sie  lange  Zeit  gegen  das  alte  Recht  gethan),  die  Westsee 
(Nordsee)  zu  besuchen.  Was  die  Lübecker  ferner  in  die- 
sem so  löblichen  und  nützlichen  Werk  beschliessen ,  soll 
durch  die  von  Zwoll  auf  alle  Weise  gefördert  werden.  Zum 
Zeichen  ist  Gegenwärtiges  besiegelt.  —  Ein  wörtlich  gleich- 
lautendes Schreiben  in  dieser  Sache  hat  die  Sladt  Campen 
an  Lübeck  erlassen.  Es  fehlt  nur  Eins,  damit  ihrer  Reider 
Freude  vollkommen  werde:  „im  Uebrigen  bitten  wir  instän- 
digst, Ihr  wollet  Euch  auf  alle  Weise  bemühen,  dass  auch~ 
den  Engländern  allen  die  Schiffahrt  auf  der  Ostsee  gänzlich 
untersagt  werde  ^^ 

So  strenge  Satzungen  zu  erneuern,  solche  Ausschlies* 
sung,  zumal  gegen  früher  Re;*echtigte,  im  Namen  eines  noch 
früheren  „alten  Rechtes ''  geltend  zu  machen,  war  kein 
leichtes  Unternehmen.  Gelingen  könnt'  es  hur,  wenn  man 
der  freiwilligen  oder  erzwungenen  Mitwirkung  Dänemarks, 
und  dazu  noch  der  aufrichtigen  Zustimmung  sämmtlicher 
Ostseestädte  sicher  war. 

Es  fehlte  viel,  dass  Dänemark  an  der  Revorzugung  der 
Hansen  seine  Freude  gehabt  hätte.  Vielmehr  sah  es  sehr 
natürlich  sein  Interesse  in  einer  für  die  Holländer  eröffneten 


Jahr  gefangen  sitzen  ^  als  das  Wort  mit  nach  Hause  bringen.  Und 
ist  darnach  in  dem  Goncepte  statt  der  Worte:  auf  ihre  alte 
Freiheit  und  Gerechtsame  gesetzt:  wie  sie  von  Alters 
her  gethan  haben  (so  se  von  oldinges  gedan  hebben), 
und  ist  es  darnach  allenthalben  einträchtiglich  beliebt''.  —  Ob  sie 
wohl  ausserdem  noch  besorgten,  Lübeck  wolle  ihre  alte  Freiheit 
und  Gerechtsame  als  eine  Sache  der  Gunst  und  Gnade  darstellen? 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Ah  fall.  249 

Hilbewerbung.  Die  Holländer  werden  nicht  unterlassen  ha- 
ben, ihrem  neuen  Bundesgenossen,  dem  König,  dies  mög- 
lichst einleuchtend  vorzustellen.  Die  Zeiten  waren  nicht 
mehr,  wo  die  Hansen  den  Sund  vollkommen  beherrschten, 
ihn  hermetisch  verschliessen  konnten.  Die  Bestätigung  ihrer 
alten  Privilegien,  wenn  sie  auch' verheissen  war,  sahen  sie 
durch  Ausflüchte  verzögert.  König  Christoph  liess  es  sich 
wohl  gefallen,  wenn  die  wendischen  Städte  ihm  (1441)  Bei- 
stand thaten  gegen  die  Holländer,  die  noch  für  den  abge- 
setzten Erich  standen;  aber  wenn  von  den  Privilegien  die 
Rede  ward,  so  verlangte  er  die  Originalurkunden  zu  sehen, 
worauf  die  Städte  (gleichfalls  1441)  erwiderten,  es  sei  kein 
Gebrauch,  Privilegien  über  See*)  zu  führen,  ein  Vidimus 
wollten  sie  aber  beibringen.  Am  liebsten  hätte  er  der  Un- 
abhängigkeit Lübecks  ein  Ende  gemacht,  und  als  die  Stadt 
ihren  Argwohn  über  den  Zweck  seiner  mehrfachen  Besuche 
nicht  unterdrückte,  ward  er  zornig,  und  verbot  (1447)  Korn 
und  Ochsen  dahin  auszuführen;  was  doch  (sagt  Detmar) 
Gott  der  Herr,  der  alle  Dinge  zum  Besten  kehrt,  anders 
fügte,   denn  in  die  Städte  kam  Alles,  was  man  bedurfte. 

Mit  Privilegien  ist  es  wie  mit  Gesetzen:  je  häufiger  sie 
erneuert  werden,  desto  weniger  lässt  sich  schliessen,  dass 
sie  gehalten  werden.  Eine  solche  Bewandtniss  wird  es  denn 
auch  mit  den  beiden  Freibriefen  Christians  I.  haben,  von  1469 
und  1471,  welche  Willebrand  abdruckt.  Beide  sind  zu 
Gunsten  der  Hansa,  und  gegen  die  ungewöhnliche  Kauf- 
mannschaft Derjenigen,  die  nicht  im  Bunde  begrifi'en,  na- 
mentlich der  Holländer,  gerichtet.  Nach  Bergen  (denn 
überall  nur  von  Norwegen,  nicht  von  der  Ostsee,  ist  die 
Rede)  sollen  die  Holländer  „allein  mit  einem  Schiff  oder 
zweien <'  kommen.  Dabei  ist  aber  bekannt,  dass  es  Chris- 
tians Politik  war,  auch  wieder  die  Holländer  gegen  die 
Hansen   auszuspielen.     Dänemark   fügte   sich   dem   Einfluss, 


*)  Ebenso  Lübeck,  bei  ähnlichem  Anlass,  ein  Jahrhundert 
später:  „de  rechten  Originalia  were  nicht  radt  aver  sehe  und  sandt 
iho  eventuren*^  ^  Acten  des  Hansatags  auf  Invocavit  1542  (Lüb. 
Archiv). 

All«.  Z«iUchrift  f.  €!*scLirbte.  T.  1846.  J7 


250  Eine  deiäsche  Colonie  und  deren  Abfall 

der  augenblicklich  vorherrschte;  es  fUgle  sich  dem  Bedürf- 
niss,  und  benutzte  wieder  die  gute  Gelegenheit;  im  Voraus 
liess  sich  niemals  sagen,  weicher  Maassregeln  man  von 
dieser  Seite  her  sich  zu  versehn  habe. 

In  den  Augen  der  Hansa  galt  jedenfalls  der  Ostseever- 
kehr der  Holländer  als  Schleichhandel.  Man  suchte  ihn  zu 
unterdrücken,  wo  man  ihn  antraf.  Um  so  mehr  musste  man 
auf  feindseliges  Begegnen  gefasst  sein.  Daher  denn  Be- 
schlüsse, wie  der  folgende  (1447  und  1470):  ein  jeder  han- 
sische Schiffer  soll  allewege,  auf  jede  100  Last  die  er  führen 
kann,  20  Mann  Harnisch  mit  sich  führen ,  ■  bei  Verlust  einer 
Mark  Goldes. 

Vor  Allem  kam  es  darauf  an,  dass  man  einig  war,  die 
Ausschliessung  der  Holländer  durchzusetzen.  Das  mag  den 
Gegenstand  mancher  Berathung  ausgemacht  haben.  Ein  lü- 
becker  Schreiben  von  1461  (bei  Willebrand)  fordert  die 
Kieler  auf,  den  Hansatag  zu  beschicken.  Unter  den  ange- 
kündigten Punkten,  welche  zur  Sprache  kommen  sollen,  ist 
auch  der  von  wegen  der  Befrachtung  der  Holländer, '„die 
nun  zur  Zeit  mehr  Geschäft  und  Betrieb  in  Kaufmannschaften 
haben,  als  die  Kaufleute  von  der  Hansa ^^  Mag  diese  Klage 
Übertrieben  sein,  immer  sieht  man  daraus,  wie  ernst  Lübek 
die  Sache  nahm,  wie  wenig  bis  dahin  die  Maassregeln  ge- 
fruchtet hatten;  und  man  kennt  die  Thätigkeit,  das  zähe  Be- 
harren der  Holländer. 

Ein  Widerspruch  kommt  von  der  Seite,  von  welcher 
Lübeck  schon  gewohnt  wai^,  seine  Politik  mit  Misstrauen 
betrachtet  zu  sehen.  lai  Jahr  1487  beschloss  man,  kein 
burgundischer  Unterthan  solle  in  den  Städten  geduldet  wer- 
den. Dem  widersetzten  sich  die  Preussen.  So  wenig 
wurden  Beschlüsse  dieser  Art  respectirt,  dass  man  ein  eignes 
Verbot  für  nöthig  fand:  den  Holländern  soll  nicht  gestattet 
werden,  in  den  (Istlichen  Städten  Schiffe  zu  bauen*). 


*)  Wieder  eine,  durch  die  Umstände  veranlasste,  specielle 
Anwendung  eines  allgemeinen  Grundsalzes.  Seit  1434  war  jede 
Stadt  verpflichtet,  zu  verhüten,  dass  nicht  von  Lombarden,  Eng* 
ändern,  Flamländeru,  Holländern  neue  Schiffe  erbauet  würden; 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall  251 

Nun  hatten  grade  die  östlichen  Städte  unter  den  Feind- 
seligkeiten mit  Holland  sehr  gelitten.  Schon  1435  hatten  die 
Holländer  23  preussische  und  liefländische  Schiffe 
weggenomraen.  Welchem  Interesse  zu  lieb  sollten  sie  sol 
eher  Einbusse  noch  ferner  sich  aussetzen?  War  es  etwa 
ihrem  eignen  Interesse  gemäss,  die  Mitbewerbung  der  Frem- 
den auf  ihren  heimischen  Märkten  zu  beschränken,  oder 
vielmehr  Käufer  und  Verkäufer  aus' allerlei  Volk  heranzu 
ziehen?  Sie  meinten  das  Letztere.  Demnach  war  hier  auf 
keine  Unterstützung  der  beliebten  Maassregeln  gegen  die 
Holländer  zu  zählen.  Zweifelhafte  Verbündete  —  im  Herzen 
den  Holländern  nicht  abgeneigt:  in  diesem  Licht  erschienen 
fortan  die  östlichen  Städte^ 

Nach,  geraumer  Zeit  tritt  Lübeck,  auf  dem  Hansatage 
1521,  mit  der  Behauptung  auf;  die  Liefländer  seien  nicht 
berechtigt,  durch  den  Sund  zu  fahren;  sie  dürfen  mit 
ihren  Schiffen  nur  auf  die  Trave  kommen:  das  sei  von 
Alters  her  Sitte  gewesen. 

Sartorius  giebt  an  zwei  Stellen  in  seinem  Werk*) 
diese  Nqtiz;  beide  Male  nur  im  Vqrbeigehen;  ihre  überaus 
grosse  Bedeutung  scheint  ihm  nicht  aufgefallen  zu  sein, 
wenigstens  ihn  zu  genaueren  Nachforschungen  nicht  aufge- 
fordert zuhaben.  Herrmann  hat  jene  Bedeutung  sehr  wohl 
begriffen)  aber  hanseatische  Quellen  standen  ihm  nicht  zu 
Gebot;  so  könnt'  er  die  Notiz  nur,  unvermittelt  und  uner- 
klärt, wie  er  sie  vorfand,  wiedergeben. 

So  viel  ist  klar:  wenn  die  Sache  sich  bestätigt,  wenn 
die  Liefländer  so  wenig  in  die  Nordsee,    als  die  Holländer 


wenn  eine  Stadt  es  doch  zuliess,  so  war  sie  den  übrigen  Städten 
in  eine  Strafe  von  10  Mark  Goldes  verfallen.  Der  Recess  ist  ge- 
druckt bei  Pardessus,  Collection  des  lois  maritimes  2,  473.  — 
Die  Particulargesetzgebung  der  einzelnen  Städte  hat  das  Verbot, 
Schiffe  für  Fremde  zu  bauen,  noch  lange  festgehalten.  Hambur- 
gische Recesse  von  1483,  Art.  47.;  1529,  Art.  107.;  1603,  Art.  52. 
Erst  1618  fand  man  für  gut,  die  Execution  obiger  Artikel  aus  be- 
wegenden Ursachen  eine  Zeitlang  zu  suspendiren. 

*)  Gescb,  d.  hans.  Bundes  2,  293  in  der  Note,  und  3, 196  im  Text. 

17* 


252  Eine  deutsche  Colonie  and  deren  Abfall 

in  die  Ostsee  kommen  sollten,  so  blieb  der  Gewinn  des 
Zwischenhandels  und  der  Frachtfahrt  den  Lübeckern  und 
ihren  engeren  Genossen  vorbehalten.  Der  Leser,  der  uns 
bis  hieher  gefolgt  ist,  wird  es  nicht  verschmähen,  auch  den 
Gang  der  ferneren  Untersuchung,  die  Gombination  der  zer- 
streut liegenden,  abgerissen  sich  darbietenden  Beweisstücke, 
und  den  auf  diesem  Wege  möglichen  Aufschluss  über  das 
Wesen  der  hansischen  Schiffahrtsacte  zu  iheilen. 

Zuerst  gehört  hieher  ein  Aufsatz,  der  im  Lübeckischen 
Archiv  bei  den  Papieren  Über  das  Brüg^esche  Gomtoir  liegt, 
mit  der  Ueberschrift:  „Artycle  der  gebreke  der  Vlanderfarer, 
dath  Gunter  tho  Brügge  bedrepend,  avergegewen  den  herren 
Raden  Wendescher  Steder  Anne  1519  Epyphanie  dni".  Eins 
der  Gebrechen,  oder  vielmehr  der  dadurch  hervocgerufenen 
Postulate,  geht  dahin:  der  Kaufmann  von  Lübeck  begehrt, 
dass  die  von  Reval  und  Riga  alles  Wachs  und  Wergk  auf 
Lübeck  führen  wollen,  nach  alter  Weise,  ohne  um  ^en 
Skagen  zu  schiffen;  desgleichen  sollen  von  Westen  alle 
Laken  von  Brügge  über  Lübeck  geführt  werden*). 

Von  der  Ausfuhr  Lieflands,  welche  den  Weg  auf  Lübeck, 
nicht  um  den  Skagen,  also  nicht  durch  den  Sund,  neh- 
men soll,  sind  hier  nur  zwei  Artikel  namhaft  gemacht:  Wachs 
und  Wergk.    Eben  diese  Artikel  stehn  an  der  Spitze  eines 

*)  Item  de  copmann  von  Lubek  begeret  dat  de  von  Reuall 
vnnd  Righe  willen  Schepenn  vp  Lubek  als  Wass  Werck,  sunder 
vmme  denn  Schagenn  to  Schepenn  na  older  Wisse  vnnd  derge* 
liken  vonn  Westeo  to  Schepenn,  alle  liflandiscbe  lakenn  vonn 
Brügge  by  Lübeck,  dat  wyli  de  copmann  also  hir  holden  vnnd 
begeren  vonn  den  anderen  datsulve  ock  gelik  one  to  holdenn.  — 
Liefl'andische  Laken  heissen  doch  wohl  (uneigenllich  zwar,  aber 
durch  den  Zusatz  von  Brügge  verdeutlicht)  diejenigen,  die  in 
Brügge  eingekauft  werden,  um  über  Liefland  den  Russen  zuge- 
führt zu  werden.  Es  ist  bekannt,  wie  streng  der  Hof  zu  Naugard 
über  die  untadelige  Lieferung  dieses  Einfuhr-Artikels  wachte;  und 
man  ersieht  aus  den  Zusätzen  zur  alten  Skra  (Sartorius*  Urkun- 
denbuch  288,  289),  dass  die  Beschlüsse,  welche  gewissen  schlech- 
ten oder  verdächtigen  Tüchern  den  Eingang  untersagten,  in  Brügge 
selbst,  mit  Rücksicht  auf  die  Bestimmung  der  Waaren  für 
den  russischen  Handel,  vor  allen  Dingen  verkündigt  wurden. 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall.  253 

^^Verzeichnisses  etlicher  Güter,  die  man  für  Stapelgut 
achtet/'  das  in  dem  Aufsatz  vorkommt  und  das,  seiner  Yoll« 
siändigkeit  wegen,  in  der  Note*)  wiederholt  w^erden  mag, 
während  seine  Bedeutung  aus  dem  nachfolgenden  Postulat 
erhellt:  Item  so  begehrt  der  Kaufmann  von  Lübeck,  dass 
alle  Bürger,  Einwohner  und  „Gesellen,"  in  den  Hansestädten 
gesessen,  die  im  Reiche  Dänemark  verkehren  oder  sonst 
anderswo  einige  Stapelgüter  kaufen,  dass  sie  dieselben  Güter 
in  die  Hansestädte  bringen  oder  zum  Stapel  führen  sollen, 
ohne  Schleichwege  (bywege)  zu  suchen  in  einige  west- 
wärts belegene  Städte,  anders  als  zu  Brügge. 

Diese  Bemühungen  um  die  Aufrechthaltung  des  Stapels 
zu  Brügge  hängen  viel  genauer,  als  man  denkt,  mit  unsrem 
Gegenstande  zusammen.  Es  ist  der  Kampf  der  alten  mit  der 
neuen  Zeit,  welcher  darin  zur  Anschauung  kommt. 

Altmeyer**)  hat  nachgewiesen,  wie  die  Hansa-Acten 
der  ersten  Hälfte  des  sechszehnten  Jahrhunderts  erfüllt  sind 
von  dem  langen  Streit  um  die  Beibehaltung  der  Factorei  in 
Brügge  oder  deren  Verlegung  nach  Antwerpen.  Allerdings 
war  der  äussere  Anstoss  gegeben  durch  die  Rückwirkung 
des  Seeverkehrs  mit  Ostindien,  durch  den  Umstand,  dass  die 
Portugiesen  Antwerpen  zur  Niederlage  jener  werthvollfen  Er- 
zeugnisse des  fernen  Morgenlandes  auserkoren.  Staunend 
sahen  die  Oberdeutschen  aus  Niederland  herbeiführen,  was 
sonst  Venedig  ihnen  geliefert.  Brügge  ward  zunächst  und 
sehr  schwer  betroffen;  es  sank  und  musste  sinken,  im  sel^ 
ben  Maasse,  wie  Antwerpens  Stern  heraufstieg. 

Aber  dies  war  ein  äusserer  Anstoss  und  in  Bezug  auf 


*)  Ilem  so  ys  gelogel  .  .  .  eyne  czedele,  worynne  vortekent 
ellicke  guder  de  men  vor  slapelgudt  achtet  Als  Wass,  Werck, 
allerleye  ropp  (Reep?  Tauwerk),  Tynn,  Buckuelle,  tzegenuelle, 
Saltenhude  (flämisch:  gesoutene  Hude;  gesottene,  gegerbte  Häute), 
allerley  vell,  Wergk  (noch  einmal),  Wulle,  traon,  ozemunt  (Eisen- 
klumpen  —  s.  Sartorlus'  Glossar),  allerley  iserwerck,  victryell, 
Botter,  tallicb,  Flomen,  allerleye  Getterwar  (gegossene  Waare?), 
Vlass,  Hemmp,  lynnwant. 

**)  Des  causes  de  la  decadence  du  comptoir  hans^atique  de 
Bruges.    Brüssel,  1843, 


254  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall 

BrUgge  ein  zufälliger.  Das  Wichtigere  war  das  Streben  der. 
Zeit,  von  dem  allen  Handelssystem,  von  den  Fesseln  der. 
Factorei,  des  Stapels,  des  Monopols,  sich  zu  befreien.  Man 
hatte  drei  Jahrzehente  frUher,  als  es  geschah,  die  Factorei 
nach  Antwerpen  verpflanzen  können,  und  man  würde  Das- 
selbe erlebt  haben.  Die  Unordnungen  in  der  Factorei,  die 
Umgehung  des  Stapels,  die  verbotenen  Fahrten,  die  Miss- 
achtung der  alten  Satzungen,  berechtigten  nicht  unbedingt 
zur  Anklage  Derer,  welche  die  Aufsicht  zu  führen  hatten. 
Die  Zeit  der  Factorei  war  vorüber,  die  Zeit  der  Börse  be- 
gann —  der  Börse,  die,  im  Gegensalz  zu  der  Abgeschlossen- 
heit und  Eifersucht,  das  bezeichnende  Motto  führte:  „zum 
Gebrauch  der  Handelsleute  jeglicher  Nation  und  Zunge."  *) 

Der  Kampf  um  den  Stapel  zu  Brügge  war  ein  Kampf 
um  den  Leichnam  des  Patroklus.  Lübeck  konnte  wohl  an 
den  Strom  hintreteu  und  seine  Wellen  übertönen  und  selbst, 
unbe wehrt,  die  Gegner  einen  Augenblick  schrecken  durch 
den  Klang  der  gebietenden  Stimme:  aber  den  Entseelten 
wieder  ins  Leben  rufen  —  nimmermehr. 

Das  kann  uns  nicht  überraschen,  dass  die  Gegner  vor- 
zugsweise unter  den  östlichen  Städten  zu  suchen  sind,  deren 
Missvergnügen  über  die  Ausschliesslichkeit  der  strengen 
Satzungen,  deren  Hinneigen  zu  den  Holländern  wir  längst 
kennen  gelernt  haben.  Im  Streit  um  den  Stapel  zu  Brügge 
sind  die  östlichen  Städte  auf  der  äussersten  Linken,  wohin 
das  Interesse  nicht  minder  als  das  gekränkte  Selbstgefühl 
sie  geführt.  Schon  1507  proteslirten  (laut  Mittendorp) 
Danzig  und  andere  Städte:  es  sei  ihnen  unmöglich,  alle 
Stapelgüter  gen  Brügge  zum  Stapel  zu  schicken.  Im  Becess 
von  1511,  den  AUmeyer  excerpirt  hat,  ward  an  alle  Städte, 
auch  an  die  liefländischen  und  preussischen,  eine  kräftige 
Ermahnung  erlassen,  gegen  die  Holländer  und  Brabanter,  die 
Verächter  der  alten  Privilegien,  sich  zu  einigen. 

Nach ,  solchen   und   ähnlichen   Vorgängen    drangen   die 


*)  Kirchenpauer:  Programm  z.  Einweihung  d,  n,  Bö;-s«  in 
Hamburg,  1841.    S.  3,  6. 


Eine  deutsche  Colome  und  deren  Abfall  255 

Flanderfahrer  Lübecks  auf  geschärfte  Vorschriften,  welche 
die  ostseeische  Ausfuhr  au  den  Stapel  in  Brügge,  die  lief- 
ländische  Ausfuhr  zunächst,  anstatt  der  unmittelbaren,  einer 
Controle  sich  entziehenden  Versendung  durch  den  Sund,  an 
den  Stapel  zu  Lübeck  fesseln  sollten. 

Das  Begehren  der  Flanderfahrer  blieb  nicht  ohne  Ein- 
üuss  auf  die  EntSchliessungen  der  Städte.  Als  Beilage  des 
Recesses  von  1530  (im  Bremischen  Archiv)  findet  sich  ein 
„Appunctament^^  vom  21.  August  1520,  zwischen  den  Send- 
boten der  Städte  einerseits,  und  Bürgermeistern,  Schöffen 
und  Rath  der  Stadt  Brügge  andrerseits.  Leider  ist  der  hie- 
hergehörige  Hauptsatz  durch  die  Nachlässigkeit  des  Schreibers 
heiilos  entstellt.  Deutlich  genug  aber  enthält  auch  der  ent- 
stellte Wortlaut  die  Vorschrift,  dass  die  ostseeische  Ausfuhr 
nach  dem  Westen,  anstatt  aus  Liefland,  Preussen  oder  Schwe- 
den durch  den  Sund  zu  gehen,  vielmehr  zunächst  auf  die 
Trave^  von  da  auf  die  Elbe,  endlich  zum  Stapel  nach  Brügge 
verwiesen  wird.*) 


*)  Ich  würde  nicht  den  Schreiber,  sondern  meinen  eignen 
Mangel  an  Verständniss  anklagen,  wenn  nicht  Jenec  zwei  (unten 
mit  [  ]  bezeichnete)  Zeilen  offenbar  wiederholt,  oder  wenn  ein  ge- 
übteres Verständniss  alle  Einzelnheiten  der  nachstehenden,  übri- 
gens in  äusserst  deutlicher  Schrift  verzeichneten  Stelle  hätte  ent- 
ratbseln  mögen.  Auch  meine  Hoffnung,  in  Lübeck  eine  Ausfertigung 
des  Appunctamenls  aufzufinden,  ist  nicht  in  Erfüllung  gegangen, 
sondern  hat  mich  nur  auf  die  Spur  der  obenerwähnten  Artikel  der 
Flanderfahrer  geleitet.  —  „Erst  dat  die  van  der.vorschreven  Natie 
coopmannen  vrunde  geszellen  ingesethen  ende  poorters  in  prussen 
l^yfflandt  Szweden  ende  westwaerts  hauterende  alle  hyrludeu  ge- 
dinghe  efiHe  dar  sie  pareth .  efite  deel  ahn  hebben  vuth  Lyfilandt 
Szweden  ende  [westwärts  hanlerende  alle  hyrluden]  prussen  in  de 
traveu  van  dar  up  de  Elve  ende  vorth  tot  unsser  daghe  alfi'ongst 
in  ende  up  tzwyn  ther  Sluss  befrachten  bringhen  ende  voren  sul- 
len  ende  nerchens  eil  vthgenhamen  mercklycke  nothsake  Ende 
nhar  den  vorsc:  alffongst  zo  zullen  [Ende  nhar  den  vorschreven 
alfifongst  zo  zullen]  sie  buer  stapelgudt  In  ende  upt  tzwyn  the  be- 
frachtende onverbonden  wesen  Meth  solcken  beschedo  in  dien  dat 
sie  in  Zeelandt  ofile  Eiders  angenhomen^dath  men  nochtans  goeth 
nhar  Brügge  bringhen  szoll  ende  van  dar  vuthschepen  nhar  der 
markede/'  —  Die  Erwähnung  der  Eingesessenen  in  Schweden 


256  Eine  deutsche  Colome  und  deren  Abfall 

Ward  diese  Vorschrift  nun  gehalten?  Konnte  sie  gehal- 
ten werden?  Der  erste  Hansatag  des  Jahres  1521  *)  mag 
die  Antwort  geben.  Die  Aclcn  (im  Bremischen  Archiv) 
weisen  die  folgende  Debatte  nach. 

Es  wird  von  Seiten  Lübecks  angezeigt,  dass  im  vorigen 
Sommer  mit  Denen  von  BrUgge  ein  freundlicher  Handel,  eine 
Ordinantie,  wie  zu  segeln  und  die  Märkte  zu  halten, 
angestellt  worden.  Das  ist  denn  das  Appunctament,  das  wir 
so  eben  kennen  gelernt.  Lübeck  verwahrt  sich:  es  könne 
für  sich  allein,  und  wie  bisher  mit  eignem  Schaden,  das 
Gomtoir  in  Brügge  nicht  erhalten.  Bremen  bemerkt,  in 
Antwerpen  sei  der  Kaufmann  bequemer  (gefueglicher)  und 
mit  geringeren  Kosten,  auch  seien  Die  von  Danzig  in  Brügge 
zu  residiren  nicht  geneigt.  Riga:  wenn  die  Städte  alle 
wollten  das  Gomtoir  zu  Brügge  unterhalten,  wären  ihre  Aeite- 
sten  dess  auch  wohl  geneigt;  dass  sie  aber  auf  die  Trave 
segeln  sollten,  wäre  beschwerlich  (beswerich)  und  würde  zu 
merklichem  Schaden  gereichen.  Dorpat:  wie  Riga.  Reval: 
dass  sie  nicht  wollen  verpflichtet  (vorstricket)  sein,  ihre 
Güter  auf  die  Trave  zu  senden,  wollten  sich  auch  den 
Sund  nicht  verschlossen  haben,  sondern  ihre  Stapel- 
güter führen,  wie  von  Alters  gewöhnlich  (wo  van  oldiogs 
wontlich).  Nun  kommen  die  niederländischen  Städte  an  die 
Reihe,  die  noch  im  Bunde  waren,  und  die  durch  die  jüngst 
eingeschärfte  Vorschrift  Über  das  Slapelwesen  mitbetroffen 
wurden.  D eventer:  protestirt,  sich  keiner  Segellation  zu 
verbinden;  die  von  Hamburg  hätten  die  Eibe,  die  von  Bre- 
men die  Weser,  sie  hätten  die  Issel,  könnten  sich  also  nicht 
verpflichten,  auf  die  Zwyn  zu  segeln.  Gampen:  auf  die 
Trave  zu  segeln  sei  ihnen  nicht  füglich  (fuchlich).  Gampen 
also,  dem,  wie  wir  oben  gesehn  haben,  der  Sund  nicht  ver- 
schlossen war,  wollte  den  Stapel  zu  Lübeck  (für  Ladungen, 

in  diesem  Znsammenhang  erinnert  an  die  Willküren  gem.  Kauf- 
leute zu  Brügge  von  1347,  und  an  die  Bemerkung  von  Sartorius, 
Urkundenbuch  395 '). 

*)  Zu  Himmelfahrt;  der  zweite  Hansatag  desselben  Jahres  be* 
gann  am  Sonntag  nach  der  Ereuzerhöhuog. 


Eine  deutsche  Colonk  und  deren  Abfall  257 

die  nach  östlicheren  Plätzen  bestimmt  waren)  so  wenig  ein- 
halten, als  Deventer  für  die  Rückfracht  aus  der  Ostsee  den 
Stapel  zu  Brügge.  Weiterhin,  als  die  Anliegen  der  einzelnen 
Städte  zur  Sprache  kommen,  wird  von  Riga  und  Reval 
noch  einmal  als  besondre  Beschwerde  vorgebracht,  dass  sie 
den  Sund  meiden  und  auf  die  Trave  segeln  sollen. 

Das  Schicksal  der  jüngsten  Vorschrift  Hess  sich  voraus- 
sehn. Lübeck  erklärt  endlich,  wenn  man  das  Gomtoir  von 
Brügge  nach  Antwerpen  verlegen  wolle  und  müsse,  so 
möge  es  doch  nur  nach  und  nach,  und  unmerklich  —  upt 
alder  unvormerglikeste  —  vorbereitet  werden.  Die  wahre 
Lage  der  Dinge,  die  Ahnung  mindestens  der  Unmöglichkeit 
des  bisherigen  Systems,  enthüllt  der  bedeutungsvolle  Zusatz: 
„der  Kaufmann  sei  zu  Brügge  oder  wo  er  sein  mag,  ist  kein 
Gehorsam,  so  kann  das  Gomtoir  nicht  unterhalten  werden/' 
Auf  dem  Hansatag  1530  erschienen  Gesandte  von  Brügge: 
sie  wurden  zwischen  die  Ehrsamen  von  Colin  und  Hamburg 
gesetzt  (geioceret)  und  mit  gewöhnlichen  Geschenken  von 
„Kraut  und  Wein"  verehrt:  ihre  Werbung  war,  anzufragen, 
ob  man  eigentlich  gemeint  sei,  das  Appunctament  von  1520 
zu  halten,  oder  nicht?  So  sehr  war  es  ein  todter  Buchstabe 
geblieben. 

Die  Verhandlungen  von  1521  enthalten  noch  eine  ge- 
waltige Disputation,  wie  es  in  der  von  Sartorius  benutzten 
Kopenhagener  Handschrift  heisst,  oder,  wie  die  Bremische 
Ausfertigung  es  nennt,  viele  und  mancherlei  Altercalion,  we- 
gen des  Gomtoirs  zu  Nowgorod.  Darauf  werden  wir  weiter 
unten  (in  der  Geschichte  des  Abfalls)  zurückkommen  müssen. 
Hier  mag  nur  eine,  von  Sartorius  ausgezogene  Stelle  den  Ton 
der  Bitterkeit  bezeichnen,  in  welchen  man,  den  Liefländern 
gegenüber,  verfallen  war.  „Die  Liefländer  baten,  die  übrigen 
Städte  sollten  ihnen  rathen,  wie  zu  verhindern  sei,  dass  die 
Edelleute  des  Landes  nicht  Handel  trieben,  worauf  man  Ihnen 
kurz  antwortete:  in  ihrer  Städte  Rath  sässen  treffliche  Leute, 
sie  möchten  sich  selbst  rathen." 

Wie  lässt  sich  nun  die  Behauptung  Lübecks  begründen, 
dass  es  von  Alters  her  den  Uefländern  nicht  verstattet  ge- 


258  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall. 

wesen,  durch  den  Sund  und  um  den  Skagen,  sondern  nur 
bis  auf  die  Trave  zu  schiffen?  Sartorius  meint  es  sei  ,,doch 
gewiss  nicht  ausschliessend  so^<  gewesen.  Die  Hauptsache 
bleibt,  zu  welcher  Zeit  denn  jene,  von  den  lübeckischen  Plan- 
derfahrern  sogenannte  ,,aUe  Weise^^  mag  bestanden  haben? 

Es  liegen  die  Beweise  vor,  dass  sehr  frUhe  schon  die 
Liefländer  durch  den  Sund  in  die  Nordsee  herausgesegeU. 
Riga  ist  unter  den  neun  Stadien,  welchen  „nebst  allen  an- 
dern Kaufleuten,  die  das  deutsche  Meer  besuchen,^'  Phi- 
lipp IV.  von  Frankreich  1294  am  3.  März  einen  Freibrief 
ausgestellt  hat.  Er  giebt  ihnen  zu  Land  und  zu  Wasser,  in 
Häfen,  Städten  und  anderen  Orten  seines  Reiches  freien  Ver- 
kehr,  ausgenommen  mit  englischen,  schottischen  und  irischen 
Waaren,  und  unter  dem  Vorbehalt,  im  Kriege  mit  England 
ihrer  Schiffe,  jedoch  gegen  eine  durch  beiderseitig  ge- 
wählte gute  Männer  abzuschätzende  Miethe,  sich  zu  bedienen. 
Am  21.  März  desselben  Jahres  giebt  er  einige  der  Fahrzeuge 
frei,  die  zu  diesem  Zweck  bereits  in  Anspruch  genommen 
waren.  Ferner  wird  schon  1366  (im  lübecker  Recess  vom 
24.  Juni)  ein  Streit  erwähnt  zwischen  Wisby  und  den  öst- 
lichen Städten  in  Liefland  „über  ihr  Driltheil,  welches  sie  in 
Brügge  haben. ^^  Also  halten  damals  schon  die  Liefländer 
Antheil  am  niederländischen  Gomtoir.  Sollen  wir  nun,  nach 
diesen  Thatsachen,  die  denn  doch  wirklich  der  Zeit  „vor 
Alters  ^^  angehören,  die  Behauptung  Lübecks  als  eine  willkür- 
lich ersonnene^  oder  rein  irrthümliche  betrachten? 

Keins  von  beiden.  Das  oben  angeführte  Schreiben  der 
Städte  ZwoU  und  Campen  (im  lübischen  Urkundenbuch)  wird 
uns  auch  hier  Aufschluss  geben.  Die  Gothländer,  hiess  es 
dort,  sollen  nicht  die  Westsee  besuchen  dürfen:  das  sei  das 
alle  Recht.  Wie,  und  was  dem  mächtigen  Gothland  versagt 
war,  das  hätte  den  lief  ländischen  Gemeinden  sofort,  beim 
ersten  Eintritt  in  die  Welt,  vergönnt  sein  sollen?  Aber  das 
alte  Recht  war  bereits  um  1285  fast  in  Vergessenheit  ge- 
rathen.  Die  Gothländer  kehrten  sich  nicht  mehr  daran, 
segelten,  wie  es  ihnen  beliebte,  durch  den  Sund  in  die  West- 
see.   Die  Liefländer  werden  es  vermulhlich  ebenso  gemacht 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall  259 

haben.  Sie  waren  noch  sehr  jung;  ihre  Hitbewerbung  weckle 
noch  keine  Besorgniss,  eher  vielleicht  ihre  Rührigkeil  den 
Beifall  der  älteren  Städte,  die  sie  ja  „aus  der  Taufe  gehoben/^ 
So  Hess  man  das  alte,  strenge  Recht  wohl  auf  sich  beruhen, 
und  verfuhr  säuberlich  mit  dem  Knaben  Absalom. 

Andre  Zeiten  kamen.  Die  östlichen  Städte  hatten  eine 
bedenkliche  Hinneigung  zu  den  Holländern,  und  auch  sonst 
eine  gewisse  Unbotmässigkeit ,  eine  Gleichgültigkeit  zumal 
gegen  Lübecks  Interessen  und  Wünsche  an  den  Tag  gelegt. 
War  es  nun  nicht  an  der  Zeit,  sie  einmal  wieder  an  ihren 
Ursprung  zu  erinnern?  Wem  verdankten  sie,  was  sie  waren 
und  was  sie  hatten?  Ihren  Gründern:  denn  die  Städte 
waren  Kolonieen. 

Uebrigens  vergesse  man  nicht,  dass  die  alten,  wendi- 
schen Städte  —  Lübeck  und  seine  engeren  Genossen  — 
wenn  sie  die  Frachtfahrt  durch  den  Sund  den  Andern  auch 
nicht  ganz  verwehren  konnten,  doch  immer  in  diesem  Ver- 
kehr Etwas  voraus  hatten.  Sie  waren  im  Sunde  privile- 
girt.  Der  Vorzug  der  wendischen  Städte  in  dieser  Beziehung 
datirt  weit  früher,  als  der  bekannte,  zu  Odenso  1560  ge- 
schlossene Vertrag.  Entscheidend  für  das  Vorhandensein 
dieser  Ungleichheit  ist  eine  Aeusserung  von  Danzig  im  Jahr 
1487,  welche  bei  Mittendorp  und  Köhler  gleichlautend 
zu  lesen  ist.  Die  von  Danzig  begehren,  man  möge  dazu 
helfen,  dass  sie  ebensowohl  als  die  wendischen 
Städte  im  Sunde  frei  werden,  oder  sie  müssen  dero 
Behuf  auf  andre  Mittel  gedenken.  Dass  die  gegenseitige 
Stimmung  durch  das  Andauern  einer  solchen  Zurücksetzung 
nicht  verbessert  worden,  braucht  nicht  gesagt  zu  werden. 
Auf  dem  Hansatag  1556  zeigt  Lübeck  an,  zu  Verhütung 
grosser  Weitläuftigkeit  und  Nachlheils  sei  nicht  zu  gedulden, 
dass  die  Kaufleute  (natürlich  hansische,  wozu  sonjBt  die  An- 
zeige auf  dem  Hansatag?)  die  im  Sunde  nicht  zollfrei, 
zu  Bergen  Güter  in  lübische  Schiffe  mit  einschiffen.  Nach 
dem  Odenseer  Vertrag  erneuern  sich  die  Beschwerden.  Aus 
dem  zweiten  Recess  von  1584  merkt  Mittendorp  an:  die 
von  Bremen  repetiren  ihre  Klage,  dass  die  ihren  nicht  mögen 


260  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall 

lübische  Schiffe  zu  Bergen  schiffen  (was  wohl  heissen  soll, 
befrachten). 

Soll  man  nun  sagen,  die  wendischen  Städte  bedienten 
sich  selber  des  Sundzolls,  den  Dänemark  festhielt  und  aus- 
dehnte, als  einer  Waffe  in  ihrem  Interesse?  Oder  war  es 
Dänemark,  das  unterschied  und  trennte,  das  die  Eifersucht 
der  Einen  weckte,  indem  es  die  Andern  bevorzugte,  um  Alle 
unter  sich  uneins  zu  machen?  Die  letztere  Ansicht  wird  in 
den  meisten  Fällen  die  richtigere  sein.  Doch  hatte  Lübeck 
den  Gedanken  der  Ostseeherrschaft,  mittelst  der  directen  oder 
indirecten  Meisterschaft  im  Sunde,  noch  nicht  aufgegeben. 

Die  nordischen  Wirren,  in  den  20er  und  30er  Jahren 
des  sechszehnten  Jahrhunderts,  führten  endlich  die  Entschei- 
dung herbei.  Niemals  war  Lübecks  Politik  Ihätiger,  kühner, 
und,  wie  es  bis  zum  letzten  Augenblick  schien,  glücklicher; 
recht  im  Angesicht  des  Hafens  ward  sie  vom  Schiffbruch  er* 
eilt.  Niemals  ist  das  deiche  Interesse  der  Niederländer  und 
der  östlichen  Städte  (Danzig  mit  eingeschlossen),  und  die 
Unvereinbarkeit  desselben  mit  den  Ansprüchen  Lübecks,  so 
ins  volle  Bewusstsein  getreten.  Einen  eignen  Reiz  hat  die 
Geschichte  dieser  nordischen  Kämpfe.  Altmeyer  hat  es 
auch  empfunden:  sie  lässt  Den  nicht  wieder  los,  der  sich 
einmal  lebendig  hineinversetzt  hat;  in  drei  Schriften  nach 
einander  ist  er  darauf  zurückgekommen.  Wie  reich  und 
abenteuerlich  ist  nicht  die  I^ärbung  des  Einzelnen  —  und  die 
Wirkung  des  Ganzen,  wie  tragisch  und  gross!  Für  unsern 
Zweck  aber  sind  wir  auf  die  bescheidenste  aller  Aufgaben 
angewiesen,  auf  die  Analyse  der  wichtigsten  Actenstücke. 

Schon  auf  dem  ersten  Hansatage "")  des  Jahres  1521  (zu 
Himmelfahrt)  klagt  Lübeck,  in  Dänemark  werde  Nichls  ge- 
halten. Es  war  die  Regierung  Christierns  IL;  und  Jedermann 
weiss,  dass  seine  Vermählung  mit  der  burgundischen  Fürsten- 
tochter, der  Schwester  Karls  V.,  und  noch  mehr  die  Rath- 
schläge  der  klugen  Sigbrit,  der  Mutter  seiner  Düweke,  den 


*)  Dies  und  das  Folgende  nach  den  hanseatischen  Recessen 
im  bremischen  Archiv. 


Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall.  261 

König  für  die  Niederländer  sehr  günstig  gestimmt.  Es  ge- 
hörte zu  den  nicht  alltäglichen,  aber  auch  nicht  allzuklaren, 
durch  Leidenschaft  oft  umdiisterten  Reform-Ideen  Ghristiems, 
dass  seine  Regierung  der  Anfangspunkt  einer  neuen  Zeit 
für  die  Handelsmacht  der  nordischen  Reiche  werden  sollte. 
Land  und  Volk  wollt*  er  von  der  Handelsherrschaft  der 
Hansen  emancipiren,  die  Erträgnisse  des  Sundzolls  durch  die 
Theilnahme  der  Holländer  an  der  Ostseefahrt  anschwellen, 
Kopenhagen  zur  Stapelstadt,  zur  kaufmännischen  Metropole 
des  Norden  erheben. 

Bedenkliche  Tendenzen,  wenn  Besonnenheit  und  Aus- 
dauer ihnen  zur  Seite  stand.  Man  begreift,  dass  Lübeck 
dabei  nicht  still  sitzen  konnte.  Der  Klage  über  Nichtachtung 
der  Privilegien  fügt  es  die  Aeusserung  bei:  ungern  wolle 
man  zur  Fehde  schreiten,  wenn  man  davon  Umgang  nehmen 
könne)  aber  Frieden  länger,  als  der  Nachbar  wolle,  könne 
man  nicht  halten.  Köln:  man  müsse  sich  an  kaiserliche 
Majestät  wenden,  als  das  Haupt;  er  müsse  die  Städte  ja 
billig  handhaben.  Lübeck:  an  den  Kaiser  sei  bereits  ein 
Bote  abgegangen;  es  komme  jetzt  darauf  an,  sich  zu  einer 
kräftigen  Maassregel  zu  einigen,  und  die  Fahrt  auf  Dänemark 
für's  Erste  gänzlich  einzustellen.  Da  zeigt  sich  sogleich,  wie 
schwer  für  einen  energischen  Beschluss  Einstimmigkeit  auch 
selbst  nur  unter  den  wendischen  Städten  zu  erreichen  war. 
Lüneburg  wendet  klüglich  ein:  sie  hätten  Nichts  von  Pro- 
ducten  (in  ere  opkumpst)  als  nur  Salz;  hielten  sie  da- 
mit ein,  so  würden  die  Holländer  dem  Dänen  Salz  zuführen, 
und  grosser  Nachtheil  würde  „miserabeln  Personen,  Bene- 
dictinern,  Jungfrauen  u.  s.  w.^^  daraus  entstehen. 

Im  September  (am  Sonntag  nach  Kreuzerhöhung)  sind 
die  Sendboten  von  Rostock,  Stralsund,  Wismar,  Bremen  und 
Hamburg  in  Lübeck  versammelt.  Was  hat  sie  so  bald  nach 
dem  Hansatage  wieder  zusammengeführt?  Einzig  nur  der 
dänische  Handel.  Der  Herzog  von  Holstein  .hat  zu  Gunsten 
der  Städte  nach  Dänemark  gesandt,  aber  der  Bote  hat  den 
König  nicht  im  Lande  getroffen  —  er  war  bei  seinem  Schwa- 
ger, dem  Kaiser — ;  die  Königin  wusste  Nichts  von  den  Be-> 


262  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall 

schwerden,  bat  zu  verziehen  bis  zur  Rückkehr  ihres  Gemahls; 
keine  weitere  Antwort  war  von  ihr  zu  erlangen  als  diese: 
die  Kaufleute  mögen  das  Reich  besuchen  auf  ganz  gleichen 
Fuss  (lykenst)  mit  den  burgundischen  und  andern 
Städten,  so  unter  kaiserlicher  Majestät  stehn.  Ein  schlechter 
Trost,  den  Burgundern  gleichgestellt  zu  sein!  Und  die  Reise 
des  Königs  zum  Kaiser  war  ein  Grund  zu  neuer  Besorgniss. 
Man  kennt  die  Anekdote,  dass  Ghristiern  seinen  Schwager 
um  die  Gefälligkeit  ersucht,  er  möge  ihm  Lübeck  schenken 
—  eine  kleine  Stadt,  und  ihm,  dem  König,  ganz  gelegen, 
um  Station  daselbst  zu  machen,  und  von  der  Meerfahrt  aus- 
zuruhn,  wenn  er  einmal  nach  Deutschland  herüberkomme. 
Da  hl  mann  bemerkt  mit  Recht,  das  kaiserliche  Schreiben 
vom  21.  Juli  1521,  bei  Altmeyer,  sei  allgemein  gehalten, 
wenn  auch  manche  Absicht  des  Königs  auf  Vcrgrösserung 
hervorleuchte.  Aber  auch  die  Hansa-Acten  reden  von  einer 
speciellen  Absicht  auf  Lübeck.  Der  König  von  Dänemark, 
berichtet  Lübeck,  habe  den  Kaiser  „mit  Bitten  angefallen, 
um  Lübeck,- Delmenhorst,  auch  das  Land  zu  Holstein  zu  er- 
langen/^ Ein  Rathmann  sei  deshalb  bereits  nach  Westen 
entsendet  Mit  den  Ditmarsen  (denn  auch  auf  diese  und  die 
„beibelegenen  Städte'^  sei^des  Königs  Augenmerk  gerichtet) 
bestehe  bereits  ein  Bündniss;  mit  Leib  und  Gut  seien  die 
Ditmarsen  bereit,  denen  von  Lübeck  Beistand  zu  thun.  Fer- 
ner habe  der  König  eine  Commission  auf  Acht  und  Aberacht 
gegen  Hildesheim  und  Lüneburg  ausgebracht:  er  meine  aber 
eigenlhch  andre  Städte,  die  mit  den  Geächteten  hantieren. 

So  ernst  nimmt  Lübeck  die  Sache,  dass  es  vorschlägt, 
die  Städte  mögen  sich  mit  einem  Fürsten  verbünden,  und 
ihn,  wenn  er  mit  Reitern  und  Volk  Beistand  thun  wolle, 
als  Schutzherrn  nehmen.  Der  Zusatz  „jedoch  nicht  anders 
den  to  dusser  grünt  und  meninge*'  scheint  anzudeuten, 
dass  kein  bleibendes,  sondern  nur  ein  vorübergehendes  Ver- 
häUniss  gemeint  ist.  Einen  geeigneten  Fürsten  zu  nennen, 
war  nicht  leicht.  Der  Bischof  von  Münster  (an  kriegerischen 
und  staatsklugen  Herren  hat  es  diesem  Stuhl  nie  gefehlt) 
wird  in  Vorschlag  gebracht.    Ferner  lässt  der  Rath  von  Lü* 


Eine  deuische  Colonie  und  deren  Abfall  263 

beck  sich'bedUnken,  dass  es  ,, nicht  ungelegen  wäre,  die 
Herren  von  Mecklenburg  gegen  den  König  von  Dänemark  zu 
gebrauchen;"  auch  vom  Herzog  von  Holstein  wird  die  Rede, 
als  von  einem  guten,  friedsamen  Nachbar.  Bremen  findet 
ein  jedes  Bündniss  mit  fürstlichen  Personen  bedenklicheres 
erinnert  an  die  Nachtheile  aus  früheren  Verbindungen  mit 
Fürsten,  die  den  Feinden  blutsverwandt.  Die  Uebrigen  sind 
ohne  Instruction.  Endlich  trägt  Lübeck  darauf  an,  es  würde 
nicht  unnütz  sein,  mit  Danzig  sich  zu  vergleichen  (to  vor- 
weten),  und  den  alten  Zwist  in  Vergessenheit  zu  stellen; 
sei  doch  auch  Danzig  vom  dänischen  König  merklich  be- 
schwert. 

Als  Folge  dieser  Berathungen  haben  wir  es  zu  beirach- 
ten,  wenn  im  Jahr  darauf  das  Schutz-  und  Trutzbündniss 
zwischen  Lübeck  und  Danzig  *)  geschlossen  wird,  und  wenn 
Lübeck  1523  am  15.  Februar  ein  ähnliches  Bündniss  mit  dem 
Herzog  Friedrich  von  Holstein  eingeht,  dessen  glückliche  Er- 
höhung (lyckelig  forhyelse)  in  Dänemark  der  Text  des  Ver- 
trages, nach  Hvilfeld,  bereits  in  Aussicht  stellt. 

Wer  kennt  nicht  die  grosse  Umgestaltung  der  nordischen 
Dinge,* und  den  überwiegenden  Einfluss,  den  die  vereinte 
Macht  Lübecks  und  Danzigs  dabei  geübt?  Am  20.  April  1523 
verliess  Christiern  seine  Hauptstadt ,  am  6.  Juni  desselben 
Jahrs  xuahm  Gustav  Wasa  die  Huldigung  der  Schweden  an, 
und  der  Herzog  Friedrich  von  Holstein  ward  am  7.  August 
1524  als  König  von  Dänemark  gekrönt. 

Gustav  Wasa  war  nicht  im  Stande,  den  Städten  die 
Kriegskosten  zu  erstatten:  er  zahlte  mit  Privilegien,  die  mehr 
werth  waren  als  klingende  Münze.    Der  König  und  die  Räthe 

*)  Zu  den  Rosten  soll  Danzig  je  10  Mark  beitragen,  wo  Lübeck 
12  Mark  übernimmt;  SchiGfe  und  Söldner  in  demselben  Verh'ällniss. 
Brederlow:  Gesch.  d.  Handels  u.  d.  gewcrbl.  Gnltur  d.  Ostsee- 
reiche, mit  bes.  Bezug  auf  Danzig  (Berlin,  1820),  S.  255.  Auf  dies 
Werk,  das  mir  erst  im  Verlauf  dieser  Arbeit  bekannt  geworden, 
beziehe  ich  mich  mit  um  so  grösserem  Vergnügen,  da  ich  in  der 
Vorrede  (S.  XX)  den  Gesichtspunkt  angedeutet  Gnde,  die  Ge- 
schichte der  Hansa  könne  als  Prolog  angesehn  werden  zu  der 
künftigen  Geschichte  der  Colonieeo, 


264  Eine  deuiiche  Colanie  und  deinen  Abfall 

des  Reiches  erkennen,  dass  es  billig  ist,  die  Gunst,  die  ihnen 
widerfahren,  mit  Gleichem  zu  vergelten;  für  sie  und  ihre 
Nachkommen  in  Ewigkeit  geloben  sie,  was  der  Freibrief 
Denen  von  Lübeck,  von  Danzig,  und  deren  Bundesverwandten, 
verheisst.  Die  politische  Abhängigkeit  Schwedens  von  der 
Hansa  wird  besiegelt  durch  die  Verpflichtung  (der  keine 
Gegenseitigkeit  entspricht)  mit  Königen,  Fürsten  und  Herren 
keinen  Bund  oder  Frieden  zu  machen,  ohne  der  Städte 
Wissen  und  Willen.  Die  commercielle  Abhängigkeit  zieht 
sich  durch  das  ganze  Document.  Namentlich  werden,  zu 
Gunsten  der  Lübecker  und  ihrer  Verbündeten,  die  ausländi- 
schen Nationen  von  der  Gewinnung  des  Bürgerrechts  (der 
Bedingung  kaufmännischen  Geschäfls-Betriebes),  und  von  der 
Fahrt  durch  den  Oeresund  oder  Belt  ausgeschlossen. 

Dass  solche  Bedingungen  lästig  werden  mussten,  ist  so 
begreiflich,  als  die  Klage  Lübecks  über  den  Undank  der 
Könige.  Diese  Dinge  erinnern  in  Wahrheit  sehr  lebhaft  an 
das  Verhältniss  Napoleons  zu  den  Königen,  seinen  Brüdern, 
insbesondre  zu  Ludwig,  dem  er  nie  vergeben  konnte,  dass 
er,  kaum  eingesetzt,  als  Holländer  sich  zu  fühlen  begann. 
Gustav  Wasa  wäre  ohne  die  Lübecker  sowenig  König  von 
Schweden  geworden,  als  Ludwig  Bonaparte  König  von  Hol- 
land ohne  Napoleon  3  die  angesonnene  Vasallenscbafl  aber, 
die  Verleugnung  der  National -Interessen  war  und  blieb  ia 
beiden  Fällen  unnatürlich. 

Der  neue  König  von  Dänemark  war  vorsichtiger  gewesen; 
nur  das  Bündniss  von  1523  erneuerte  er,  welches  die  Wieder- 
einsetzung Lübecks  in  die  alten  Privilegien  in  sich  fasste. 
Die  wendischen  Städte  üblen  noch  einmal  (zu  Malmoe,  1.  Sept. 
1524)  das  hohe  Schiedsrichter-Amt  zwischen  den  nordischen 
Monarchen*,  auf  einem  Gongress  zu  Lübeck  sollten,  im  Mai 
1525,  die  rückständigen  Punkte  erledigt  werden.  Die  däni- 
schen Bevollmächtigten  fanden  in  Lübeck  rechtzeitig  sich  ein, 
harrten  auf  die  Schweden;  als  diese  endlich  anlangten,  war 
die  Geduld  der  Däaen  erschöpft,  sie  reisten  ab,  ohne  dass 
Etwas  verhandelt  worden.  Die  Schweden  aber,  so  berichtet 
Dalin,  trafen  in  Lübeck  niederländische  Gesandte,  und  vcr- 


Eine  deutsche  Colanie  tmd  deren  Abfall.  265 

^tändigten  sich  mit  diesen  Über  die  Grundlage  eines  Handels- 
bUndnisses.  Wenn  in  Lübeck  selbst  diese  Verhandlung  vor 
sich  ging,  so  mochte  man  daraus  abnehmen,  wie  wenig  der 
Schwede  gesonnen  war,  die  Privilegien  zu  halten.  Das  JocI]t 
abzuschütteln,  war  in  der  That  sein  eifriges  Bestreben. 
G^ljer  hat  einen  Stockholmer  Reichstagsschluss  von  1526 
aasgezogen,  worin  es  heisst:  „die  Lübecker  wollten  die  Ost- 
see allein  behalten  und  nur  ihren  eigenen  Vortheil  bedenken/' 
Dal  in  hat  gleichfalls  1526  die  merkwürdige  Notiz:  Gustav 
habe  Lödese  am  Göta-Elf  zur  Stapelstadt  ausersehen,  weil 
von  da  aus  mit  allen  westlichen  Ländern  verkehrt  werden 
könne,  ohne  durch  den  Sund  oder  die  Belte  zu  fahren,  „als 
welches  nach  dem  lübischen  Handelsvergleich  unterbleiben 
sollte/'  Er  habe  geglaubt,  dass  von  Lödese  die  Waaren  über 
das  ganze  Land  und  nach  Stockholm  hin  durch  den  Wäner- 
Hjälmer  und  Mälar-See  verfiahren  werden  könnten,  wenn  die 
dazwischen  laufenden  Seen  und  Flüsse  dazu  bequem  gemacht 
würden.  Also  schon  Gustav  Wasa  halte  den  grossartigen 
Gedanken  gefasst,  der  theilweise  wenigstens  durch  den  Göta- 
Oanal,  und  durch  die  staunenswjsrthen  Werke  am  Trollhätta 
verwirklicht  ist.  Wie  wir  neuerdings  in  den  öffentlichen 
Blättern  einen  Entwurf  gelesen  haben,  der  in  noch  grösserem 
Maassstabe  darauf  berechnet  ist,  den  dänischen  Sundzoll  zu 
umgehen,  so  galt  es  damals,  dem  Monopol  der  Lübecker 
und  ihrer  Genossen  sich  zu  entziehen.  Der  Handelsvertrag 
zwischen  Schweden  und  den  Niederlanden  kam  wirklich  zu 
Stande,  und  schon  am  20.  April  1526  konnte  Gustav  Wasa, 
wie  Geijer  aus  dem  Reichsarchiv  meldet,  an  Land  und 
Städte  tröstend  schreiben,  es  seien  holländische  Schiffe  mit 
Salz,  Tuch,  Wein  und  andern  Waaren  in  Stockholm  ange- 
langt, das  Volk  möge  guten  Muthes  sein,  allmählig  werde  die 
Theuerung  aufhören.  Sehr  erfreulich  für  Land  und  Leute  in 
Schweden;  aber  wo  blieben,  nach  der  kurzen  Ewigkeit  von 
zwei  Jahren,  die  besiegelten  Privilegien? 

In  die  Zwischenzeit  fallt  der  Hansatag  von  1525  (7.  Juli  u.  ff.). 
Lübeck  tritt  auf  und  berichtet  dem  weiteren  Kreise  der  ver- 
bündeten Städte,  wie  man  den  eignen  Nutzen  und  Vortheil 

Allg.  Zeitoebrift  f.  GMcUebt«.  T.  184«.  18 


266  Bne  deui$i^  Colame  und  deren  Abfall. 

Dicht  angesehen,  treflliche  Kosten  aufgewendet,  mit  Herrn 
Ghristiern,  etwan  König  zu  Dänemark,  in  offenbare  Fehde 
sich  gesetzt,  sammt  den  „Verwandten*'  mit  des  Allmächtigen 
Hülfe  mit  gewaltiger  Hand  Jenem  gewehrt,  wie  man-  Mühe 
und  Verlust  von  Fürsten  und  Herren,  als  welche  den  Städten 
allezeit  nachstellen  (persequeren)  vermuthen  und  erwar- 
ten müsse  —  wie  man  deshalb  zu  wissen  begehre,  wessen 
man  zu  den  Städten  sich  zu  versehen  habe.  Ob  man  erst- 
lich Über  Erstattung  der  Kosten  reden,  oder  zuvor  die  er- 
langten Privilegien  hören  wolle?  Bremen  bemerkt:  bei  ihnen 
zu  Hause  werden  die  Einkünfte  nicht  vom  Bath  allein,  son- 
dern auch  mit  durch  Etliche  von  der  Gemeinde,  ausserhalb 
des  Ralhes,  in  Macht  und  Bewahrung  gehalten  —  sie  bitten 
daher  um  Copie  der  Privilegien,  den  Kaufmann  damit  zu  er- 
freuen. *)  Danzig:  wer  der  Privilegien  zu  gemessen  denke, 
der  habe  auch  mit  .,zu  leiden/^  Colberg:  auch  die  Abwesen- 
den müssten  taxirt  werden.  Im  selben  Sinn  hatte  Lübeck 
schon  erinnert,  der  Beschluss  sei  den  Ausgebliebenen  zu 
übersenden;  wenn  sie  Bundesglieder  (ladematen)  sein 
wollten,  müssten  sie  thun,  was  Bundesglieder  scWdig;  sonst 
können  sie  des  Schutzes  der  gemeinsamen  Privilegien  nicht 
iheilhaftig  sein.  Die  Sendboten  zweifeln  sämmtlich  nicht, 
ihre  Aeltesten  (soviel  sie  auch  alle  gethan  und  gelitten,  so 
schwer  es  ihnen  fallen  möge)  werden  sich  billig  finden  lassen. 
Wer  sich  mit  hansischen  Acten  aus  diesem ,  und  aus 
früheren  Jahrhunderten  beschäftigt  hat,  der  weiss,  wie  es 
mit  dem  Kostenpunkt  abzulaufen  pOegle.  Lübeck,  etwa  mit 
den  wendischen  Städten  zusammen,  machte  die  ausserordent- 
liebsten  Anstrengungen*,  an  Ersatz,  nach  billigem  Maassstab, 
war  nicht  leicht  zu  denken.  Ist's  nun  ein  Wunder,  oder  ist 
es  gross  zu  tadeln,  wenn  auch  der  Genuss  der  werth voll- 
sten Privilegien   auf  den   engsten   Kreis  beschränkt  blieb? 


*)  Den  Czedei  der  unkost,  den  Lübeck  vorgelegt,  haben 
die  bremischen  Sendboten  nicht  für  nöthig  erachtet,  ihrem  Bericht 
einzuverleiben.  Die  Lücke  ist  nicht  für  uns  allein  schmerzlich;  sie 
vcrhiess  wenig  Gutes  für  die  Beiheiligung  Bremens  an  der  Wieder- 
erstattung. 


£ifi6  deutsche  Colome  und  deren  Abfall,  267 

Die  folgende  Discassion  wird  zeigen,  dass  selbst  Danzig  dem 
Argwohn  verfiel,  dass  es  sich  wieder  isoliren  wolle« 

Lübeck  bespricht  die  Verhältnisse  in  Dänemark  >  die 
Räthe  des  Reiches  seien  ganz  undankbar:  wenn  ferneres 
Gezanke  mit  Dänemark  entstehe,  so  müsse  Lübeck  in  der 
That  wissen,  wessen  es,  weg^n  seiner  Unkosten,  zu  den 
Städten  sich  zu  versehen  habe?  Bremen  räth  zum  Frieden: 
es  seien  eben  die  Menschen,  nach  dem  Worte  Davidis,  wan- 
delbar. Danzig  hält  dem  grossen  Verstand  des  ehrbaren 
Rathes  zu  Lübeck  eine  Lobrede  —  um  daran  die  Über- 
raschende Mittheilung  zu  knüpfen :  ihre  Aeltesten  hätten  sich 
wenig  um  die  Sache  gekümmert,  es  habe  in  ihrem  Vermögen 
nicht  gestanden,  ihre  Bürger  seien  unwillig  und  ungehorsam; 
zudem  seien  immer  noch  etliche  Beschwerdepunkte  (ge* 
breke)  zwischen  dem  ehrbaren  Rath  zu  Lübeck  und  ihren 
Aeltesten.  Mao  sieht,  Danzig  ermattet  auf  der  Bahn  der 
ungewohnten  Anstrengung;  auch  dies  enger  geschlungene 
Bündniss  erschlafTl.  Um  indessen  die  Bundestreue  (die  noch 
nicht  in  Zweifel  gezogen  war)  zu  beweisen,  heisst  es  weiter: 
Severin  Norby  (der  kühne  Abenteurer,  recht  eigentlich  ein 
Meer  wunder  des  sechszehnten  Jahrhunderts,  Übrigens  un- 
ter allem  Wechsel  des  Geschickes  dem  entthronten  Christiern 
unverbrüchlich  zugethan)  Severin  Norby  habe  den  Danzigern 
Gothland  angetragen,  wenn  sie  ihn  schützen  wollten,  Danzig 
aber  habe  das  Anerbieten  ausgeschlagen.  Diese  Probe  von 
Uneigennützigkeit  entwaffnet  nicht  den  Verdacht,  den  Lübeck 
in  die  Bemerkung  legt:  Danzig  habe  mit  den  Holländern  in 
Besonderheit,  vielleicht  der  Segellation  und  andrer  gemeinen 
Sachen  wegen  Unterhandlung  gepflogen.  Danzig  erwidert 
sehr  kühl:  der  holländische  Handel  sei  nicht  das  gemeine 
Beste  belangend. 

Von  jetzt  an  sehen  wir  Danzig  den  Bestrebungen  ent- 
fremdet, die  es  im  Verein  mit  Lübeck  entwickelt  hatte:  bald 
genug  wird  auch  Lübeck  der  Rücksicht  auf  die  Interessen 
Danzigs  sich  gänzlich  entschlagen. 

Wie  das  Verhältniss  zu  Dänemark  sich  stellt,  hat  schon 
die  Klage  über  den  Undank  der  Reichsräthe  gezeigt.    Severin 

18* 


268  Eine  deui$ehe  Colonie  und  deren  Ab faU. 

Norby,  der  gemeinsame  Feind,  werde  von  dem  Reichsralb, 
Herrn  Andreas  Bilde,  „in  seiner  Untreue  verhärlel.^^  Stral- 
sund sagt  gradezu,  er  werde  von  Dänemark  „gebandhabei/^ 
bänische  Gesandte  erscheinen  auf  dem  Hansatage:  Wulf 
I'oggewisch,  und  Hinrich  Ranzau,  der  Amtmann  von  Rends«- 
bürg.  Sie  erzählen,  und  machen  offenbar  ihrem  König  ein 
Verdienst  daraus,  wie  sich  königliche  Majestät,  dem  gemeinen 
Besten  zu  Gut,  zur  Erhaltung  der  Privilegien  kaiserlicher 
und  andrer  Hansestädte,  und  um  das  unchristliche,  harte, 
geschwinde  Vornehmen  Herrn  Ghrislierns,  etwan  Königes 
zu  Dänemark,  zu  stillen  und  zu  kränken,  in  seiner  könig« 
liehen  Würden  alten,  betagten*)  Jahren  und  Zeiten  in  eine 
offenbare,  nimmer  endende  (unsterfflicke)  Fehde  begeben. 
Unangesehen  nun,  dass  Herr  Ghristiern  mit  treflflichen,  grossen, 
mächtigen  Kaisern  und  Königen  verschwägert  und  besippet, 
und  von  grossem  Anhang,  wollten  sich  seine  königlichen 
Würden  zu  Erhaltung  gemeiner  Wohlfahrt  mit  den  obenge- 
dachten Städten  gerne  zu  einem  Bündniss  und  Vertrag  ver- 
einigen: die  Räthe  mögen  es  an  ihre  Aeltesten  berichten 
(thorugge  draghen). 

Das  neu  angetragene  Bündniss  wird,  ohne  Debatte,  ad 
referendum  genommen. 

Endlich  erscheinen  noch  Gesandte  von  der  Statthallerin 
der  Niederlande  und  dta  Staaten  von  Holland,  Seeland  und 
Friesland.  Sie  werden  mit  Vorwürfen  empfangen:  in  Kopen- 
hagen, ruft  Lübeck  ihnen  entgegen,  sei  jüngst  verabschiedet, 
dass  man  Herrn  Ghristiern  aus  den  vorbenannten  Landen 
keine  Hülfe  thun  solle;  wie  dem  nachgekommen,  sei  offen- 
bar. Der  Rentmeister  von  Seeland  habe  Vorschuss  für  Knyp- 
hoffs  Gallion  bezahlt,  u.  s.  w.  Knyphoff  war  Einer  von 
Denen,  die  in  Christierns  Interesse  den  Hansen  und  den 
Dänen  das  Heer  unsicher  machten;  er  suchte  mit  Norby 
sich  zu  vereinigen,   ward  aber  später  von  Hamburgern  ge- 


*)  Zu  wissen  dient,  dass  Friederich  eben  damals  im  55.  Jahr 
seines  Altera  stand. 


Eine  deui$che  Colome  und  deren  Abfall.  269 

fangen  und  als  gemeiner  Seeräuber  gerichtet*).  Die  nieder* 
ländischen  Gesandten  haben  einen  schweren  Stand.  Doctoir 
Hermann  Suderhusen  bringt  die  Entschuldigung  seiner 
guten  Frauen  Margaretben- vor:  Alles,  was  also  geschehn, 
sei  ohne  ihrer  Gnaden  Wissen  und  Willen;  die  Gallion  sei 
in  der  Meinung  erkauft,  dass  Herr  Ghristiern  damit  in  His- 
panien  segeln  sollte.  Sein  College  Bopard  ergänzt,  ein  an- 
dres von  Enyphoff's  Schiffen,  der  ,Jlegende  geyst  von 
Amstelredam^^  (siehe  da  das  Original  des  fliegenden  Hol- 
länders) sei  vor  zwei  Jahren  schon  verkauft.  Lübeck  findet 
die  Entschuldigung  nicht  ehrhaftig;  der  Bürgermeister  Sals- 
berg  von  Hamburg  versichert,  in  Briefen  sei  gelesen,  dass 
Knyphoff  von  Frauen  Margarethen  und  Herrn  Ghristiern 
Markbriefe**)  haben  solle.  Was  Frau  Margaretha  anlangt, 
so  wollen  wir  gern  zu  ihrer  Ehre  glauben,  dass  ein  Irrthum 
obwaltet;  dass  in  Bezug  auf  Chrisliern  (trotz  dessen  Ab- 
leugnen) der  Bürgermeister  nur  zu  sehr  Recht  hat,  ist  durch 
Altmeyer  erwiesen.  Sehr  glaublich  ist,  dass  die  Holländer 
mit  der  Ausrüstung  von  Kaperschiffen  in  ihren  Häfen  ernst- 
lich unzufrieden  waren.  Das  dynastische  Interesse  war  ihnen 
Nichts,  das  Handelsinteresse  Alles.  Und  Über  das  letztere 
—  das  hatte  die  Erfahrung  bereits  gelehrt  —  konnte  man 
mit  dem  sinnigen  Friedrich  mindestens  eben  so  leicht  sich 
verständigen,  als  mit  dem  unsinnigen  Ghristiern. 

Das  Jahr  vorher  nämlich  war  eine  stattliche  Zusammen'' 
kunft  in  Hamburg  gewesen  von  Sendboten  vieler  gekrönten 
Häupter  (selbst  der  heilige  Vater  hatte  den  Bischof  von  Ratze- 
burg geschickt);  die  sollten  entscheiden,  ob  Friederich  das 
Reich  Dänemark  mit  Recht  oder  mit  Unrecht  innehabe.  Ver- 
mittelungsversuche  zwischen  Friederich  und  Ghristiern  wur- 
den gemacht;  aber  der  Gongress  lief  ganz  fruchtlos  ab.  Nur 
Eins  ist  bei  dieser  Gelegenheit  beschafft:  die  Dänen  verstau- 


*)  Ueber  Knyphoff  s.  Lappenberg  in  derZeitschr.  d.  Vereins 
für  hamb.  Gescb,  2,  118-140. 

**)  Stehlbriefe  —  Stelbreue  —  nannte  sie  das  unverfälschte 
völkerrechtliche  Bewusslsein  jener  Zeit. 


270  Eine  deutsche  Colonie  und  deren  ÄbfalL 

digten  sich  nämlich  mit  den  Niederländern ,  dass  die  Letz^ 
leren  im  Oeresund  ihrer  Segellalion  sich  gebrauchen  mögen, 
unbeschadet  dem  Zollrecht  der  dänischen  Krone ,  und  unler 
der  Bedingung,  dass  sie  Ghristiern  nicht  stäri^en,  und  gegen 
das  Reich  nichts  Feindliches  unternehmen  solHen*). 

Das  war  nun  der  Erfolg  von  LUbccI^s  Mühen.  Wozu 
denn  hatte  man  einen  König  entthront,  und  zwei  Könige 
eingesetzt,  wenn  die  Niederländer  dennoch  durch  den  Sund 
fahren  sollten? 

Der  Hansatag  von  1530  (zu  Himmelfahrt)  bietet  wenig 
oder  Nichts  Air  unsern  Zweck.  Den  Grund  erräth  man;  Lü- 
beck hatte  keine  Mittheilungen  über  eine  Angelegenheit  zu 
machen,  für  ^welche  die  Uebrigen  zu  keiner  Anstrengung 
sich  entschhessen  konnten.  Es  wird  in  Bezug  auf  Däne- 
mark nur  angezeigt,  es  sei  ein  Brief  von  König  Friederieh 
eingelaufen,  man  möge  auf  Johannis  einen  Tag  zu  Kopen- 
hagen beschicken.  Stralsund  bemerkt,  das  werde  nicht  viel 
helfen,  „man  wisse  wohl,  ein  Jeder  sei  König".  Danzig  hat, 
fast  möchte  man  glauben,  absichtlich,  nur  durch  einen  Syu- 
dicus  und  einen  Secretair  sich  vertreten  lassen.  Da  es  nur 
Gebrauch  ist,  Rathspersonen  Sitz  und  Stimme  zu  bewil- 
ligen, so  wird  beschlossen,  den  Syndicus,  wiewohl  derselbe 
nicht  ungeschickt,  nicht  zuzulassen,  sondern  nur  anzuhören, 
was  er  etwan  anzubringen  hätte.  Reval  und  Riga  sind 
entschuldigt. 

Dagegen  liegt  im  lUbecker  Archiv  eine  Instruction  für 
Herrn  Herman  Plönnies  und  Herrn  Joachim  Gercken,  Bür- 
germeister, als  Abgesandte  der  wendischen  Städte  zu  einer 
Tagfahrt  mit  den  Niederländern,  die  in  Bremen  auf  Maria 
Heimsuchung  (2.  Juli)  1530  anberaumt  war.  Wenn  man  zum 
ewigen  Frieden  kommen  kann ,  so  ist  man  geneigt,  Schaden 
gegen  Schaden  aufgehn  zu  lassen^  und  alsdann  kann  davon 
die  Rede  werden,   dass  aus  den  Hauptstädten  der  Wasser- 


*)  Hrilfeld  1269  ist  dafür  unser  einziger  Gewährsroconn.  Nä- 
heren Aufscbluss  bot  ohne  Zweifei  das  bamburgischo  Archiv  — 
vor   dem  grossen  Brande. 


Eine  deutsche  Colotne  und  deren  AhfoiL  271 

lande,   aber  auch   nur  aus  diesen,   in  die  Oslsee  gesegelt 
werde  *). 

Die  Tagfahrt  ist  gehalten  worden,  und  eine  summariq^ 
Vernotulinge  enthält  den  Bericht.  Den  Holländern  ward 
vorgestellt,  sie  seien  mit  kaiserJichem  Mandat  (noch  zu  Kaiser 
Maximilians  Zeit)  aufgefordert,  auch  durch  Schrift  eines  ehr- 
baren Rathes  zu  Lübeck  aufs  Freundlichste  gewarnt  (ge- 
warschuwet),  sich  der  Segellation  durch  den  Oeresund 
zu  enthalten.  Die  Antvyort  zeigt  uns  die  Holländer  in  ihrem 
eigensten  Element.  .  ,,  Kaiser  Maximilian  habe  das  Mandat 
als  ein  Kaiser  gegeben,  und  sie  wären  seiner  Majestät  nicht 
unterworfen  gewesen  als  einem  Kaiser,  wie  sie  auch  jetzige 
kaiserliche  Majestät  als  einen  Kaiser  für  ihren  Herrn  nicht 
erkennten".  Es  braucht  kaum  gesagt  zu  werden,  dass  die 
Sache  „ohne  Frucht  abgegangen". 

War  denn  nun  auch  Lübeck  selbst  ermattet?  Nach  der 
grossen  Concession,  die  des  Friedens  wegen  die  Abgesandten 
anzubieten  beauftragt  waren,  möchte  man  es  fast  glauben. 
Aber  in  Lübeck  führte  eine  Volksbewegung  (es  war  die  Zeit 
der  Reformation)  eine  andre  Partei  ans  Ruder;  und  der 
König  von  Dänemark,  von  einer  neuen  Gefahr  bedroht, 
suchte  wiederum  Hülfe  bei  Lübeck. 
Hamburg.      *  Prof.  Wurm. 


*)  Item  wo  man  thom  ewigen  Frede  mochte  kamen  is  man 
genagt,  schaden  tagen  schaden  afTloslande  und  alsdenne  tho  be- 
sprekan,  de  Zegelatie  in  der  Ostze  vth  den  waterlanden  nicht  tho 
donde,   den  vth  den  howetsteden. 

(Fortsetzung  und  Schluss  in  einem  spatern  Heft.) 


272  Aniiquit^  de  Bei- Air,  prds  LauMtme, 

Antiqnitte  de  Bei -Air,  prte  Lausanne,  de  Hordendorf^  prte 
ingsbonrg  et  de  Lens,  dana  le  dipartement  du  Pa8•d^Galai8. 


Au  miiien  des  aotiquit^s  qu'oo  d^ouvre  eo  si  graod  nombr» 
de  DOS  jours,  il  en  est  quelques -unes  qui,  apr^s  avoir  M  n^li- 
g^es  pendant  assez  long  temps,  viennent  eofiu  d'aitirer  rattention, 
de  plusieurs  archöologues.  Ce  o'est  ni  Tart  classlque,  dont  Ics 
restes  sout  k  juste  tftre  recoeillis  avec  tant  de  sorns,  ni  la  simp?i- 
cit^  et  la  rudesse  des  temps  priinitifs  qui  les  distinguent.  Des  61^ 
mens  de  civilisations  diverses,  cooime  nous  le  verrons  plus  tard, 
caract^risent  ces  d^bris  sur  l'origine  desquels  ont  ^16  ömises  des 
opinioDs  fort  differentes.  Si  nous  revenons  sur  ce  sujet^  du  reste 
encore  peu  connu,  c'est  que  nous  sommes  en  possession  de  faits, 
propres  k  apporter  quelque  jour  dans  la  discussion ,  et  que  nous 
ferons  connailre  en  d^crivant  les  antiquit^  de  Bei -Air,  Nous 
ajouterons  anssi  la  description  de  Celles  de  Nordendorf  et  Leus, 
afin  de  donner  une  idee  exacte  de  ces  restes,  provenant  essen- 
tieliemenl  d'anciens  tombeaux. 

Depuis  plusieurs  annees,  on  trouvait  ^a  et  \k  dans  la  Suisse 
occidentale  des  d^brls  d'armure  qo'on  attribuait  tantdt  aux  Geltes, 
aux  Romains  ou  aux  Sarrasins,  quand  arriva,  au  printemps  de 
183S,  la  decouverte  d'un  vaste  cimeti^re,  dans  le  domaine  de  Bei- 
Air,  pres  Cbeseaux  sur  Lausanne.  Des  fouilies  faites  avec  soin 
ne  tard^rent  pas  k  montrer  que  plusieurs  g6n^rations  d'hommes 
avaient  eii  inhum^es  dans  ce  Heu,  comme  i'indique  entr'autres  la 
superposilion  de  trois  coucbes  de  tombeaux.  A  une  profondeur 
de  6  pieds  depuis  la  surface  du  sol,  reposaient  des  squelettes 
nombreux,  qui  formaient  des  alignemens  plus  ou  moins  r^ullers. 
Ce  fut  Sans  doute  lorsque  l'enceinte  consacr^e  eut  ^ii  remplie, 
qu'on  d^posa  au  dessus  des  anciens  tombeaux  une  seconde  couche, 
profonde  de  4  ä  5  pieds.  Enfin,  ä  2  ou  3  pieds  de  profondeur 
seulement,  uue  troisi^me  couche  donne  Tage  le  plus  r^ent  de  ces 
inhumations,  mais  encore  ces  derniers  sarcophages,  coustruits 
pour  la  plupart  en  dalles  brutes,  furent-ils  souvent  rouverts  afin 
d'y  placer  un  mortnouveau,  ainsi  qu'on  peut  s'en  convaincre  par 
les  d^bris  de  squelettes  humains  jetös  p^le-m^le  dans  un  coin 
de  la  tombe. 

Dien  que  ces  fouilles  ne  soient  pas  encore  acbev^es,  et  que 
les  agriculteurs  aient  boulevers6  un  nombre  cpnsid^rable  de  ces 
tombeaux,  ä  la  fin  du  si^cle  passö  et  au  commencement  de  celui- 
ci,  le  nombre  de  ceux  qui  ont  ete  ouverts  depuis  1838  s'^t^ve 


de  Nordendorf,  prh$  Augeboürg  eic,  273 

k  246*).  Quoiqae  les  objeU  trouves  ä  travers  ces  diff^renles 
coQches  r^v^lenl  un  möme  art,  ils  t^moignent  cependani  du  deve- 
loppement  graduel  de  la  civilisation  chez  le  peuple  dont  dous 
poss^doDS  ces  restes.  Ce  sont  entr'aulres  des  armes,  des  agrafes, 
des  boucles,  d«s  bagues,  des  Colliers,  des  vases,  des  m^dailles  ei 
d'aulres  objets  en  m^tal,  en  terre  cuite  ou  eD  verre. 

Les  armes,  lootes  en  fer  sauf  Irois  pointes  de  flache  dont 
deux  en  silex  et  une  en  os,  consistenl  surtout  en  coutelas,  longs 
de  20  ä  25  pouces,  qui  se  distinguent  des  anciennes  ^p^es  en 
bronze  par  la  longueur  de  leur  poignöe,  rev^tue  autrefois  de  bois, 
et  par  la  largeor  de  leur  iame,  trancbaute  d*un  seul  c6l6  et  ter- 
mio^e  en  pointe.  Ils  reposent  ordinairement  le  long  du  femur 
droit  sur  la  Iame  beaucoup  plus  petite  d'un  couteaU;  dont  la  gaine 
a  du  ^tre  annex6e  au  fourreau  du  coutelas. 

Souvent  on  Irouve,  k  la  hauteur  de  la  ceinture,  une  petite 
boucle  de  fer  ou  de  bronze,  d'une  forme  ovale  ou  carr^e  et  munie 
d'un  fort  ardillon.  Gbez  le  guerrier,  une  grande  ägrafe  repose  en 
outre  sur  le  c6t6  droit  du  bassin  et  est  accompagn^e  de  plaques, 
ornemens  du  ceinturon.  Montfaucon,  dans  son  Histoire  de  la  mo- 
narcbie  fran<^aise**),  donne  le  dessin  d'une  ancienne  repr^sentation 
de  Charlemagne,  qui  explique  parfaitement  l'usage  de  ces  pieces 
et  montre  que  la  petite  boucle  appartenait  ä  In  ceinture  destin^e 
ä  resserrer  les  v^temens'  au  bas  de  la  taille,  tanüisque  l'agrafe  re- 
tei)ait  le  ceinturon  de  l'öp^e  fix6  en  dessous  des  banches.  D'an- 
ciennes  statues  de  Chevaliers  prösentent  encore  le  m^me  fait, 
comme  on  peut  s'en  convaincre  en  visitant  les  cath^drales  de  Bäle 
et  Fribourg  en  Brisgau.  Ces  agrafes***),  partie  importanle  de  nos 
decouvertes,  sont  compos^es  d'une  plaque,  d'une  boucle,  d'un 
ardillon  et  du  lien  qui  unit  ces  trois  pieces.  Les  plaques,  dont 
les  plus  grandes  ont  jusqu'ä  5  pouces  de  long  sur  3  de  large,  lo 
plus  souvent  carrees  ou  triangulaires,  sont  ornees  dans  leurs 
angles  de  rosettes  ou  tdtes  de  clous,  qui  pr^entent  en  dessous 


*)  Voir  notre  Description  de  4  6S  de  ces  tombeaux ,  accompagode  de 
7  planches  gr.  4to,  daos  les  „llUttieilungea  der  Antiquarischen  Gesell- 
schaft in  Zürich.    4.  Band.    1844/' 

**)    Tome  1.    Fl.  XXV.   fig.  8. 

***)  U  Importe  de  ne  pas  confondre  la  boucle,  Tagrafe  et  la  fibule.  — 
Par  boucle  nous  entendons  tout  anneau  rond,  carrö  ou  ovale,  muni 
d'un  ardillon.  L'agrafe,  outre  la  boucle  h  ardillon,  possäde  une  plaque 
deslinöe  ä  ötre  flxöe  sur  I'une  des  extr^mil^s  du  ceintaron.  La  fibule, 
dont  les  formes  varieut  ä  Tinflni,  se  distingue  des  pieces  prdcödeiites  en 
ce  que  l'ardillou  est  remplacö  par  une  öpingle  ä  cbarniöre  ou  ä  ressort 
dont  Textrömitö  acör^e,  apr^s  avoir  saisi  le  vdtement,  se  fixe  k  un  tenon. 
La  fibule  n'est  gu^re  autre  chose  que  la  broche  qui  sert  encore  uujourd'hui 
d^omement. 


274  AntiquUi$  de  Bei ^  Air,  pr^  Lausanne^ 

de  forts  tenons  destin^  ä  entrer  dans  le  cuir  du  ceinturou.  Des 
ciselures  profondes  recouvrent  las  agräfes  en  bronre  qui  sembleDt 
parfois  rappeler,  par  les  sujels  graves  d'une  main  inhabile,  des 
el^mens  du  culte  de  Mithra,  dont  plusieurs  contröes  de  TEurope 
prösentent  tant  de  traces.  D'aulrefois  c'est  une  syrubolique  chrö- 
tienoe,  le  triorophe  du  Chmlianisme,  qu'il  faut  voir  par  les  sujets 
du  proph^te  Daniel  dans  la  fosse  aux  iions  et  par  l'aUilude  d'hommes 
priant  devant  la  crotx  et  tournant  le  dos  k  des  esp^ces  de  griffons*). 
Plusieurs  des  agrares  en  fer  ofTrent  un  genre  d'art  ötranger  ä  Tan- 
tiquile  classique  par  leurs  incruslations  de  lamelies  d'argent  ou  de 
ßlets  de  metaux  precieux  d'une  finessc  extreme**),  formant  des 
entrelacs  divers  sur  le  milieu  de  la  plaque,  et  disposes  pour  les 
encadremens,  en  lignes  drpites,  paralleles,  obliques  ou  brisees, 
L'oxidation,  qui  recouvre  ordinairement  une  partie  de  ces  dessins, 
pourrait  faire  croire  au  premier  coup  d'oeil  que  ces  traits  6pars 
qui  se  rencontreut  et  se  croisent  en  sous  divers  appariiennent  ä 
quelqu'  aiphabet  ignor6  ou  ä  quelques  chiffres  magiques  dont 
le  sens  nous  estinconnu,  mais  en  y  regardant  de  plus  pr^s  et  en 
enlevant  16görement  Toxidatiön  qui  recouvre  le  prolongement  des 
filets  et  la  symötrie  generale  de  ces  incrustations  on  peut  se  con- 
vaincre  qu'il  n'est  queslion  ni  de  leltres,  ni  de  magie***).  Plusieurs 
Plaques  sans  boucle,  ni  ardillon,  etaient,  comme  nous  l'avons  dit, 
des  ornemens  de  ccinturon,  et  entouraient  parfois  la  taille  du 
guerrier,  ainsi  qu'on  peut  s'en  con vaincre  par  la  position  de  quel- 
ques unes  de  ces  pi^ces  sous  le  bassin  du  squeleltef). 

Les  bagues  sont  de  fer,   de  bronze  ou  d'argent,  et  munies 
d'un  chaton.  ~  Des  grains  eu  6mail,   en  terre  cuite,  en  verre  de 


*)  Uoe  do  ces  plagues  porte  l'inscnption:  NASVALDVS  NANSA  VIVAT 
DEO.  VTERE  FELEX.  DANINIL.  Voir.  les  dessins  de  ces  pidces  dans  nolre 
Description  des  bracelets  et  agrafes  antiques  du  Ganton  de  Vaud,  ins6r6o 
dans  le  „Zeitschrift  der  Antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich.  3.  Ben.   4  849/' 

**)  Nous  disons  que  ces  filets  ont  6tö  incrustös,  et  non  fondus 
comme  on  Ta  avancö,  ce  dont  il  est  du  resto  facile  de  se  con  vaincre  en 
examinant  ces  pieces  uvec  soin.  11  serait  dailleurs  impossible  de  couler 
ces  filels  dont  quelques -uns  ont  la  t^nuitö  du  cheveu  le  plus  fln« 

***)  Mr.  Matthias  Koch  dans  son  „Aufklärung  über  die  Sclilacht 
zu  Fridolfing  durch  die  neuesten  antiquarischen  Funde 'S  ins^rö  dans 
r,, Oberbayrisches  Archiv  für  vaterländische  Geschichte,  herausgegeben 
von  dem  historischen  Verein  von  und  für  Oberbayern,  —  sechster  Rand. 
I.  Heft'',  —  a  cru  reconnallre  des  letires  dans  ces  traits  qui,  s'ils  n'eussent 
pas  M  interrompus  pur  l'oxidation,  lui  auraient  montrö  lout  simplement 
des  ornemens  sym^triques. 

t)  Dans  l'article  que  nous  venons  de  cilor  Hr.  M.  Koch  pr6lend 
que  ces  piaques  et  agrafes  ötaient  des  talismans  fixös  sur  les  bouciiers. 
Nous  ignorons  sMl  a  vu  des  boncliers  avec  de  telles  pioces,  mais  ce  que 
nous  savons  bien,  c'est  que  le  Kunstmuseum  de  Copenhague  renferme 
une  ceiDture  en  cuir,  postörleuro  ä  rintroduction  du  Christianisme  en  Da- 


de  Nordendorf,  pr^  Augebawrg  eie.  275 

cooieur  ou  en  ambre  composent  les  Colliers,  diff^rens  aiasi  du 
Collier  primitif,  form^  d'uoe  senle  pi^ce  de  m^ial,  avec  lequel  on 
trouve  ordinairement  les  bracelets  et  m^tne  les  anneaux  de  jambes, 
genre  d'ornemenl  absolument  ^trangcr  ä  nos  tombeaux. 

Le  plus  souvcnt,  c'^tait  aux  pieds  du  inort  qu'on  d^posail  le 
vase  sepuJcral,  dont  la  forn>e  et  les  ornemens  ne  sont  pas  sans 
rapport  avec  ceax  qa'on  decouvre  dans  les  tumuli.  L'argile  grise 
et  jaunätre  de  ces  vases  est  loin  d'atteindre  la  finesse  de  la  poterie 
romaine.  lls  sont  ^vas^s  au  sommet,  ä  moins  qu'ils  ne  portent 
une  anse  et  un  goulot.  Ceux  en  pierre  ollaire,  travaitl6s  au  lour, 
represenlent  un  cöne  Ironque  renverse;  et  deux  en  verre  ont  la 
forme  d'une  petite  bouteille  et  d'une  coupe  arrondie  k  sa  base. 

Ces  tombeaux  renfermaient  en  outre  un  coutre  de  charrue 
d^une  forme  analogue  ä  ceux  dont  on  se  sert  de  nos  jours  dans 
cette  contree ,  un  Operon  en  fu  sans  motette,  des  ciseaux  ä  rcssort, 
des  peignes  en  os,  des  ornemens  de  fourreau,  des  clefs,  une  fl- 
bule,  une  petite  mosaique  d'emaux  sur  bronze  dor^,  des  boucles 
d'oreilles,  un  croissant  en  argen t^  des  verroteries,  des  silex  in- 
formes  et  un  fragment  de  quarz. 

Tels  sont  les  debris  qui  caract^risent  la  döcouverle  de  Bei- 
Air,  mais  ii  est  ä  r^marquer  que,  soit  pour  Part,  soft  pour  le 
nombre  des  objets,  ils  suivent  une  marcbe  ascendante,  ensorte 
que  les  tombeaux  les  moins  anciens  sont  les  plus  riches  et  les  plus 
ornös.  Dans  la  couche  införieure,  ce  sont  les  boucles  en  bronzo 
qui  predominent.  tandisqne  les  coutelas,  les  agrafes  et  les  Colliers 
y  sont  rares.  La  couche  moyenne,  oü  se  trouvaient  deux  me- 
dailles  romaines  malheureusement  frustes,  offre  döjä  un  per- 
feolionnement  sensible  dans  le  travail  et  Tornementation  des  objets. 
Et  la  couche  superieure,  qui  reproduit  tous  l6s  d^bris  prec^dens, 
renfermait  au  milieu  des  pi^ces  les  plus  remarquabies  quelques 
moyen-bronzes  romains,  dont  l'un  est  de  Maxime,  et  deux  bagues 
portant  des  caract^res  gravis  sur  le  chaton.  La  seulement,  se 
rencontrent  les  vases  et  les  damasquinures  ou  incrustations  de  filels 
d'argent  sur  le  fer.  Enfin,  dans  Tun  des  tombeaux  les  moins 
anciens,  presque  ä  fleur  de  ierre,  et  qui  reposait  immediatement 
sur  deux  autres,  elaient  dix  monnaies  de  Charlemagne. 

Enfans,  jeunes  gens,  femraes,  guerrlers,  vieillards  ont  6t6 
coucbes  dans  ce  vaste  cimetiere.  Sur  le  sein  d'une  jeune  mere, 
reposaienl  les  restes  d'un  enfaut.    Sur  la  (^te  d'une  jeune  fille, 

nemarc,  parfatlemenl  cooserv6e  et  roonio  d'une  agrafe  et  d'une  plaque 
d'une  forme  toute  pareüle  ä  Celles  que  nous  poss^dons.  Nous  ne  com«- 
prenons  dailleurs  pas  comment  ces  piaques,  si  elles  appartenaient  ä  des 
boudiers,  pourraient  se  retrouver  dans  le  möme  sarcophage,  les  unes 
sur  le  bassin  et  les  autrea(  entre  le  squelelte  et  le  fond  de  Ja  tombe. 


276  Aniiquit^s  de  Bei- Air  ^  pris  Lausanme, 

des  brillaos  et  des  flijgranes  paraissaieni  Ätre  les  döbris  d'une 
couronoe.  Les  objets  prös  du  mort  diseot  parfois  sa  profession 
et  les  regrets  qtii  l'ont  accompago^.  Le  vieillard,  dont  la  t^cbe 
est  regardöe  comme  accompiie,  offre  g^D^ralement  moins  de  (ö- 
moigDages  de  deuil.  Des  crAnes  porlent  des  traces  de  blessures; 
des  ossemens  monlreot  des  fractures  r^duites  du  vivant  de  rindi* 
vidu.  Deux  sarcopbages  nous  ont  m^me  pr^enlö  deux  cas  de 
letbargie  par  raltitude  des  squelettes,  qui  indiquait  d'ioutües  efforts 
pour  se  dögager  de  la  tonibe*).  En  un  mot,  toute  une  peinlure 
de  la  \ie  nous  est  rövöljse  par  ces  toinbeaux. 

Une  döcouverte  importante  daos  la  question  qui  nous  occupe 
est  Celle  qui  a  eu  Heu,  sur  la  fio  de  1843,  ä  Nordendorf,  pr&s 
d'Augsbourg**).  Les  tombeaux,  döposös  par  alignemens  r^guliers, 
renfermaient  ä  c6te  d^ossemens  d^hommes,  de  femmes  et  d'enfaus, 
des  objets  d'un  grand  rapport,  soit  avec  les  antiquil^s  de  Bei- Air, 
soit  avec  Celles  decouvertes  dans  des  cimeliöres  analogues  de  la 
Suisse  occidentale.  Un  trait  caract^ristique  des  armes  offensives 
trouvöes  prds  d'Augsbourg,  c*est  qu'elles  sont  aussi  toutes  en  fer 
et  que  le  bronze  n'est  employ^  que  pour  des  ornemens  et  usten- 
siles  particuliers.  A  part  les  coutelas,  les  petites  lames  et  les 
debris  de  fourreaux,  dont  la  description  que  nous  avons  donnee 
repond  parfaitement  ä  ceux  de  Nordendorf,  on  y  a  trouve  de 
nombreux  fers  de  flache  et  de  lance  et  des  epöes  k  deux  tran- 
chans,  de  3  pieds  de  long  sur  2^  pouces  de  large,  pareilles  ä 
Celles  de  Lavigny,  Lonay  et  Severi,  dans  le  canton  de  Vaud. 
Nordeudorf  poss^de  en  outre,  comme  debris  d'armes  defensives, 
trois  um  bonos  en  fer« 

Les  pelites  boucles  de  ceinture  et  les  grandes  agrafes  en  fer 
du  cimeti^re  bavarois  sont  surtout  importantes  dans  ce  rappro* 
chemenL  M6me  genre  de  ciselures  sur  bronze,  seulement  dies 
ne  sont  pas  employ6es  ä  des  sojels  religieux;   m^me  incrustation 


*)  Au  milieu  de  la  position  göndrale  des  squelettes,  couchös  sur  le 
dos,  les  bras  röguli^reroent  ^tendus  le  long  des  c6l68,  ceux  dont  nous 
parlons  ötaient  remarqUables  par  leur  altitude«  L'un  entr^aulres,  ayant  les 
jambes  un  peu  reploy^es,  s'appuyail  des  genoux  et  des  pieds  conlte  les 
parois  de  la  tombe ,  comme  sMl  eül  voulu  les  faire  cöder.  L'öpine  dorsale 
contoumöe  semblait  indiquer  un  effort;  la  main  gaucbe  reposait  sur  la 
poitrine;  la  droile  apres  s'^tre  ^lev^e  contro  le  couvercle  ötait  retomböe 
sur  la  partie  sup^rieure  de  Tbumerus ;  et  la  töle  Mali  inclin^e  sur  Töpaule 
gaucbe.  Gelte  attitude  avait  quelque  chose  de  si  frappant  que  des  enfans, 
qui  croyaient  ne  pas  öire  enlendus,  direnl  en  voyant  le  squelette:  „Tiens, 
regarde,  U  a  rebougö!^' 

**)  Outre  les  noles  prises  sur  les  lieux,  nous  recourons  ä  la  De- 
scription dölaill^e  de  ces  tombeaux  par  JIr.  V.  R.,  insör^e  dans  le  ,;Jabr8- 
Beriebt  des  bistoriscben  Vereins  für  den  Reglerungs-Bezirk  voa  Scbwabea 
und  Neuburg.  -^  Für  die  Jabre  4  8 4S  — 4  843''. 


de  Nordendarf,  pr^  Augsbourg  etc.  277 

des  filets  de  m^taux  pr^cieux  sur  les  piaques  de  fer,  qooiqu'elles 
soieot  g^B^ralement  ici  moins  ricbes  et  moins  nombreuses.  M^oie 
ressemblance  dans  les  piaques  de  ceintaron,  dans  la  forme  des 
bagues  et  des  boucies  d'oreilles. 

Les  fibules  circulaires  ou  brocbes  en  mödaiilon,  en  argent  ou 
en  or,  oriiees  d^un  c6l4  de  verres  de  couleur  formanl  des  especes 
de  rosaus,  et  munics  de  Tautre  d'une  öpiogle  ä  charni^re  et  d'un 
tenon,  sont  des  pi6ces  que  nos  tombeaux  de  la  Suisse  occideDtale 
ne  reproduisent  pas  avec  la  m^oie  richesse.  11  en  est  de  m^me 
des  grandes  fibules  d'argenl  ciselö  et  dor^  et  des  petites  pi^ces 
en  or  de  formes  diverses,  munies  d'un  piton  et  desUn^es  ä  ^tro 
suspendues. 

Grande  est  aussi  la  riebesse  des  colliers  de  Nordendorf,  for* 
m^s  de  grains  applatis ,  allong^s,  arrondis,  cylindriques  ou  d'autrea 
formes  encore.  II  en  est  en  terre  cuite,  en  ^mail,  en  verre  blanc, 
vert  et  bleu ,  en  nacre ,  en  ambre,  en  corail  marin ,  en  am6lhyste, 
en  verre  noir  ^maill^  de  fleurs  et  en  grenats  tailles  k  facettes. 
Dans  le  nombre  des  m^dailles  romaines  qui  ont  öle  trouvöes  et 
appartlennent  entr'autres  aux  empereurs  Trajan,  Adrieu  et  Con- 
stantin,  quelques  unes^  percees  d'un  trou,  faisaient  partie  des  colliers. 

Les  vases  d'argile  sont  göneralement  plus  grands  que  ceux 
de  Bei -Air,  mais  de  formes  moins  variöes.  —  Enfin,  ciseaux  k 
ressort,  peigues  en  os,  eperons  sans  molette,  clefs,  silex  bruts, 
petits  anneaux  de  bronze  et  de  fer  sont  communs  aux  deux  de* 
couvertes.  D*entre  ces  anneaux  de  Nordendorf,  une  seule  pi^ce, 
brisee  en  deux,  est  indiquöe  sous  le  nom  de  bracelet.  Nous  de- 
vons  encore  mentionner  pour  complöter  ce  tableau,  de  longues 
öpingles  en  bronze,  des  disques  ä  jour,  des  coquillages  et  deux 
obaines,  composöes  cbacune  de  trois  cbainettes,  pareilles  ä  Celles 
qu'on  voil  dans  la  coUection  de  Mr.  Gh«  Bahr,  äDresde,  au  milieu 
d'autres  objets  trouvös  en  Livonie*). 

Si  nous  ajoutons  ä  notre  rapprochement  des  deux  cimeti^res 
precedens  la  döcouverte  archöologique  falle  ä  Leus,  dans  le  d6- 
partement.du  Pas-de*Calais,  c'est  afin  d'ötendre  le  champ  de  ces 
recberchßs  et  d'introduire  un  nouvel  ölöment  qui  nous  parait 
propre  ä  ^lairer  la  discussion.  Mr.  le  conseiller  Uoubigant 
nous  ecrit  de  Nogent-les-Vierges  qu'on  trouve  dans  les  ecvirons 
de  Leus  des  coutelas,  des  boucies  et  des  piaques  (c'est-ädire  les 
objets  caracteristiques  de  nos  antiquitös)  semblables  ä  ceux  des 
tombeaux  de  Bei -Air,  „mais  ce  qui  distingue  vos  säpultures  des 
Dötres,  ajoute-t-il,  c'est  que  vous  trouvez  de  longues  öpöes,  tan- 


*)  Le   possessear    de   celte  interessante  coUection,    produit  de  ses 
fouilles,  pense  qua  ces  piöces  ne  remontent  pas  au  delä  du  40me  si^cle. 


278  Antiqmt^  de  Bei  ^  Air  ^  pr^  Lausanne, 

disqne  nous  n'cn  trouvons  jamais ,  c'est  que  nous  trouvons  lou- 
jours  des  haches  en  fcr  (Trancisques),  semblabtes  k  celle  du  tom- 

beau  de  Tournay,   tandisque  vous  n'en  Irouvez  pas Les 

antiquiles  de  Leus,  au  milieu  desquelles  sont  des  verroteries 
nombreuses  onchass6es  dans  de  Tor,  appartiennent  k  Part  Gallo- 
romain,  ou  plul6t  Gallo -byzantin  des  rois  de  ia  premi^re  ^ace*^ 

Mainlenanl  que  nous  avons  d^lermin^  par  les  descripllons 
pr^cödentes  ie  genre  d*antiqui(^s  sur  lequel  nous  d^sirons  attirer 
Pattention,  abordons  Ia  question  historique  relative  an  peuple  et 
k  Tepoque  auxquels  appartiennent  ces  d^brts. 

Plusieurs  arch^ologues  attribuent  uniquement  aux  Celtes  tous 
les  roonumens  anaiogues  ä  ceux  de  Bei- Air,  Nordendorf  et  Leus. 
Celui  qui  k  notre  connaissance  s'est  exprim^  Ie  ^plus  exclusivement 
k  cet  6gard,  est  Mr.  M.  K.  dans  son  article  de  Ia  Gazelle  univer- 
selle d'Augsbourg,  du  20.  janvier  1845.  Les  Celles  (slreitmeissel), 
fibules,  bracelets,  anneaux  de  jambes,  6p^es  et  poignards  de  bronze 
et  de  fer  se  retrouvaut,  dit-il,  pr^s  de  Salzbourg,  dans  des  tom- 
beaux  des  localites  voisines,  pareils  k  ceux  de  Nordendorf,  et  dans 
les  collections  de  province  de  Ia  Bavi6re  et  du  midi  de  PAutriche, 
ainsi  que  dans  les  ouvrages  de  Dorow,  Klemm,  Wagner  et  des 
arcb^ologues  anglais,  il  en  conclut  que  ces  d^bris  de  Nordendorf 
n'appartlenuent  pas  seulement  aux  environs  de  Salzbourg  et  ä  Ia 
Baviere,  mais  encore  au  nord  de  TAllemagne,  k  Ia  Scandinavie, 
k  TEcosse,  k  Ia  principautö  de  Galles  et  k  l'lrlande.  Arriv^  k  celte 
conclusion,  il  essaie  de  montrer  que  les  Germains,  n'ayant  jamais 
p6netr6  dans  ces  derniers  pays,  ne  peuvent  dlre  Ie  peuple  du- 
quel  proviennent  ces  restes.  Dailleurs  il  ne  voit,  d'entre  les  po- 
pulations  ^trang^res  k  Ia  culture  classique,  que  les  Celles  qui  aient 
^le  capables  par  leurs  connaissances  m^tallurgiques  de  produire 
de  lels  objels  d'art,  tandisque  les  Germains,  longtemps  contens 
des  armes  en  pierre  et  ne  les  ayant  changees  qu'assez  tard  contre 
Celles  de  fer,  ^laient  toul-äfait  ötrangers  ä  cette  culture. 

L'une  des  erreurs  fondamentales  de  celle  maniöre  de  voir  est 
Ia  confusion  Evidente  des  deux  genres  d'anliquil^s ,  bien  distiucts, 
röunis  dans  Ia  m^me  Enumeration.  Les  celtes,  les  Ep^es  de 
bronze,  les  bracelets  et  les  anneaux  de  jambes,  auxquels  on 
peut  ajouler  les  Colliers  massifs  et  les  cercles  de  melal  en  forme 
de  diad^mes  döposös  sur  Ia  t^le,  sont  pr^cisement  les  pi6ces  que 
nous  n'avons  jamais  relrouv6es  dans  aucun  des  246  sarcophages 
de  Bei- Air,  mais  que  nous  avons  rencontr^es  dans  une  foule  de 
cimeli6res  plus  anciens,  oü  n'etaient  en  revanche  ni  coulelas  de 
fer,  ni  agrafes  damasquinöes.  C'est  que  ces  anneaux  caracterisent 
en  effet  en  France,  en  Suisse,  en  Allemagne  et  dans  Ie  Nord,  les 
antiquiles  des  Celtes  et  d'autres'  peuples  arrivös  k  un  degrö  de 


de  Nordendorf,  prH  Augtbourg  etc,  279 

culture  analogue,  avant  d'avoir  öprouv6  i'influence  des  Romaios 
et  du  Cbrislianisme,  A  celte  epoque  r6cul^e,  un  grand  nombre 
d'objets  sont  simplemenl  jeles  eo  moule  et  non  forges;  la  gravure 
dont  ils  sont  ornös  s'expriine  par  des  rayures  fines,  peu  profondes, 
oü  predominent  d'abord  la  ligne  droile,  les  disques  et  quelques 
sujets  qui  revelent  l'eufaDce  de  Tart;  plus  tard,  ce  sont  des  courbes 
diverses,  des  entrelacs  et  les  serpeiitemens  bien  coniius  des  der- 
niers  temps  payens  de  la  Scandinavie.  Le  contenu  des  tombeaux 
de  fiel -Air  indique  un  usage  moins  fr^quent  du  moule;  la  ciselure 
sur  bronze  ne  ressemble  plus  ä  ce  fin  tatouage,  mais  est  grav^e 
en  trails  larges  et  profonds;  on  n'y  voit  plus  Tancienne  Image  du 
vaisseau,  mais  des  figures  representant  des  sujets  chretiens;  enfin 
rincrustation  des  filels  d'argent  sur  le  Ter  est  un  fait  tout  nouveau. 
De  ce  quo  des  sarcophages  de  localites  voisines  ont  produit  la 
damasquinure  et  raoneau  grave  ä  la  raani^re  des  Geltes  ^  oa  ne 
peut  nullement  en  conclure  avec  certitude  qu'ils  apparliennent  ä 
la  memo  epoque.  11  est  plus  d'une  contr^eoü  le  pass^  a  döpos^ 
necessivemeot  ses  debris  dans  un  memelieu,  et  nous  connaissons 
plus  d'un  temple  chretien  dont  les  fondemens  reposent  sur  des 
conslructions  romaines*).  A  plus  forte  raison,  la  r^union  de  ces 
pieces  diOerentes  dans  les  musees  mentionn^s  n'a-t<elle  d'autre 
valeur  que  de  montrer  les  divers  debris  arch^ologiques  de  la 
contröe**). 

Ce  n'est  que  par  cette  confusion  que  nous  pouvons  com* 
prendre  qu^on  ait  cru  relrouver  dans  les  ouvrages  indiqu6s  et 
dans  les  collections  du  nord  de  l'Allemagne,  de  la  Scandinavie« 
de  PEcosse,  de  la  principaule  de  Galles  et  de  l'Irlande,  des  anti- 
quites  toutes  pareilles  ä  Celles  de  Nordendorf,  vu  que  nous  n'avons 
rencontr6,  malgrö  nos  recherches  dirigees  dans  ce  but,  qu'un  fort 
petit  nombre  de  ccs  pieces  et  qui  encore  s'en  ^loignent  loujours 
par  quelques  traits  dislinctifs***).    Quant  ä  Tabime  qu'on  se  plait 


*)  Lors  m^me  qu^un  lombeau  aurait  pr^sentö  le  celte  (streit meissel)^ 
le  bracelet  ou  le  coUier  de  bronze  avec  l'agrafe  damasquin6e  et  le  cou- 
telas  de  fe.r,  on  ne  pourrait  y  voir  d'apr^s  les  faits  gön^raux,  conslans 
en  plusieurs  lieux,  qu^une  exc«ption  et  uoe  survivance  plus  pcolongöe 
des  anciens  usages  ä  c6t6  d'une  noavelle  culture. 

**)  II  est  d'un  grand  prix  pour  ce  genre  de  collections  que  les  anti* 
quitös  soient  exactement  class^es  d'aprös  les  lieux  de  leur  d^oouverte  et 
autant  que  possible  d'apres  leur  Age. 

***)  C'est  ä  Gopentiague  que  nous  avons  retrouv^  les  pieces  les  plus 
analogues,  mais  le  coutelas  de  fer  k  un  tranchant  et  l'agrafe  damasquinöe 
n'y  sont  pas  du  tout.  Les  savans  arch^ologues  Rafn  et  Thomson  n^ont 
pas  bösitö  k  reconnaltre  dans  nos  monumens  de  Bei -Air  un  genre  d'anti- 
quitös  dislinct  de  Celles  du  Nord.  —  En  revanche  le  celte,  le  bracelet, 
le  coUier  massif,  etc.  appartiennent  bien  aux  divers  pays  indiqu^s  par  M.  K« 


280  Antiquar  de  Bei ^  Air,  prä$  Lausanne, 

ä  creuser  entre  les  Geltes  et  les  Germains,  il  noas  paralt  ^tre 
assez  gratuit,  bten  que  nous  ne  pensioDs  poiot  ä  les  placer  ab* 
solument  au  m^me  degrö  de  culture.  On  est  trop  souveot  dis- 
pos6  ä  faire  relomber  sur  la  civilisation  d'un  peupie  toute  Tobsca- 
rii6  qui  Tcntoure  k  dos  yeux  par  le  manque  de  documens  histo- 
riques.  Trop  souvent  Von  conclut  aassi  k  cette  graade  inferiorit^ 
de  la  Germanie  par  des  faits  sp^ciaox,  sans  avoir  de  ses  monu- 
mens  une  connaissance  assez  generale.  Pour  le  moment,  nous 
nous  borneroDs  ä  citer  les  debris  de  Tun  des  peuples  sortis  de 
son  sein,  et  qui  ont  ^tö  retrouv^s  ä  Tournay,  dans  le  tombeau 
de  Cbild^ric  p^re  de  Clovis*),  döbris  qui  ne  sont  pas  sans  ana- 
logie  avec  ceux  de  Nordendorf,  bien  qu'ils  nous  paraissent  indi- 
quer  un  äge  un  peu  ant^rieur**). 

Nous  ne  nous  arröterons  pas  ä  Topinion  qui  a  vu  dans  nos 
antiquit^s  des  restes  des  Romains.  £lles  diff^rent  trop  de  Fart 
g^n^ral  de  ces  derniers  et  renferment  trop  d'ölemens  ^trangers 
k  ses  productions,  trop  de  t^moignages  d^une  civilisation  naissante, 
pour  n^^tre  pas  obiige  de  recourir  ä  un  autre  peupie.  II  snffiraii 
du  reste  d'opposer  le  d^veloppement  progressif  k  travers  les 
coucbes  de  Bel-Air,  k  ia  d^gen^rescence  successive  de  l'art  romain 
k  partir  du  si^cle  d' Auguste.  Nous  nous  arr^terons  encore  moins 
k  röfuter  Topinion  de  ceux  qui  prenant  nos  damasquinures  pour 
des  arabesques,  les  ont  attribu^es  aux  Arabes***).  Nos  monumens 
se  retrouvent  dans  trop  de  localites  oü  ceux-ci  n'ont  jamais  p4- 
n^trö,  pour  qu'il  soit  nöcessaire  de  recourir  k  d'autres  argumens. 

A  qui  donc  altribuer  les  antiquit^s  qui  nous  occupent?  A 
quelle  ^poque  la  faire  remonter?  Les  tombeaux  de  Bel-Air  peuvent 


*)  J.  J.  Scbifflet,  Anastasis  Cbilderici.  —  Montfaueoo,  Histoire 
de  la  Monarchie  fran^aise,    T.  I. 

**)  L'agrafe  n'y  präsente,  par  exemple,  ni  le  döveloppement  qu*elle 
moDtre  ailieurs ,  ni  l'incruslation  des  fllels  d^argent. 

***)  Peut-6tie  n*est-il  pas  inutile  d'ajouler  que,  si  quelques  personnes 
ont  attribuö  aux  Sarrazins  les  damasquinures  de  la  Suisse  occideutale, 
elles  ne  se  sont  du  moins  pas  tromp^es  en  admeltanl  la  prösenco  de  ce 
peupie  dans  ce  pays.  Dans  le  4  0me  siöcle^  ils  occupaient  en  effet  la 
plupart  des  passages  ölev6s  des  montagnes,  d'oü  ils  ran^onnaient  les 
Yoyageurs  et  faisaient  de  rapides  incursions  dans  les  plaines,  jusqu'ä  ce 
que  Conrad,  roi  de  Bourgogne,  les  d^fit  en  bataille  rangle  dans  une 
vall^e  voisine  du  saint  Bernafd.  Les  Sarrazins  ne  reparurent  plus  en 
Helvdtle  depuis  la  nouvelle  d^faite  qu'ils  ^prouvörent  en  973  pr^s  d'Arles.  -— 
Un  marbre  dans  l'öglise  du  village  de  saint  Pierre,  en  Valais,  roentionne 
leurs  ravages.  Le  peupie  n'a  pas  de  traditions  plus  nombreuses  que 
Celles  qu'ii  raconte  des  Sarrazins.  Liutprand  et  Frodoard  attestent 
aussi  la  prösence  des  Arabes  en  Suisse.  —  Voir  en  outre  l'intöressant 
travail  de  Mr.  le  professeur  Vulliemln  de  Lausanne  sur  la  reine  Berthe 
(femme  de  Rodolphe  lU.,  roi  de  Bourgogne),  et  l'Histoire  des  Invaslons 
des  Sarrazins  par  Ralnaud,  Membre  de  l'Institut. 


de  Nordendorf,  prhs  Augsbourg  etc.  281 

nous  mettre  sur  )a  voJe  d^une  r^poDse  satisfaisante.  Pour  cela 
examinons  dabord  les  pi^ces  qui  servent  ä  d^termider  ODe  öpoqae. 
La  couche  moyenue  et  la  couche  sup^rieure,  avoDs  nous  dit,  ren- 
fermaient  quelques  medailles  romaines,  dont  Tune  est  de  Maiume, 
Dans  celte  derni^re  couche ,  deux  bagues,  provenant  de  deux  tom- 
beaux  diff^rens,  portent  sur  leur  cbaton  deux  monogrammes  par- 
faitement  pareils  ä  ceux  qu'on  voit  sur  le  revers  de  plusieurs 
monnaics  merovingiennes*).  Une  bague  avec  les  mSmes  caracl^res 
a  aussi  ete  retrouvöe  ä  Mons,  au  milieu  de  tiers-de-sols  mörovin* 
glens**);  et  des  cimeti^res  de  la  Francbe-Comtö,  du  m^me  genre 
que  celui  de  Bei- Air,  conlcnaient  aussi  de  ces  pi^ces***)*  Enfin, 
dans  un  tombeau  reposant  imm^diatement  sur  deux  autres  et  pa* 
raissaiüt  appartenir  au  dernier  lige  de  ces  inbumations,  ötaient 
pr^s  du  bassin  du  squelette  dix  monnaies  de  Cbarlemagne.  Ces 
diff(6rentes  pi^ces  prouvent  d'une  maniöre  incontestable  que  ces 
sarcophages  de  la  Suisse  occidentaie  sont  un  peu  moins  auciens 
qu'on  ne  Ta  souvent  cruf).  D'un  autre  c6i6,  la  succession  des 
couches,  la  diff^rence  de  döcomposition  des  squelettes  et  la  gra- 
dation  sensible  de  l'art  disent  assez  que  les  inhumations  ont  6i6 
poursuivies  dans  ce  lieu  durant  un  long  espace  de  temps.  Aussi 
croyons-nous  ne  pas  nous  tromper  beaucoup  en  fixant  ces  limites 
depuis  les  derniers  temps  de  la  domination  romaine  en  Helv6tie, 
jusqu'au  neuvi^me  siecle.  —  Durant  cette  Periode,  il  n'est  qu'ua 
seul  peuple  qui  ait  pu  poursuivre  paisiblement  ces  inbumations, 
et  ce  peuple  ne  peut  ^tre  que  les  Burgondes ,  qui  s'^tablirent  dans 
THeivetie  occidentaie  dans  la  premi^re  moitid  du  cinqui^me  si^clef f), 
et  non  les  Allemani,  qui  n^y  söjourn^rent  que  fort  peu  de  temps 
apr6s  la  premi^re  destruction  d'Aventicum,  dans  le  troisi^me 
si^cle,  et  n'y  reparureut  plus  tard  que  par  des  incursions  rapides.  — 
Le  cimeti^re  de  Bel-Air  est  loin  de  präsenter  un  fait  isole,  puisque 
21  autres  localil^s,  dans  le  canton  deVaud,  renferment  les  mdmes 
pieces  qui  se  retrouvent  aussi  k  NeuchAtel  et  dans  les  parties 


*]  Lelewel,  Numismatique  du  moyen-dge,  Vol.  I.  pag.  36  —  40. 
PI.  lil.    flg.  456. 

**)  Revue  numismatique  beige,  1849.  No.l.  pag.  4  45-— .4  49.  pl.  II.  flg.  5. 

***)  Annnaire  du  Departement  du  Jura,  4  844.  —  Congrös  scientiflque 
de  France,  Session  8me.,   BesanQon  4  840.  pag.  4  58.  et  sqq. 

t)  Avant  nos  dernidres  fouilles,  nous  pensions  aussi  que  les  tombeaux 
de  Bel-Air  ne  pouvaient  provenir  que  des  Belv6tiens  sous  la  domination 
romaine,  mais  la  ddcouverte  des  monnaies  de  Cbarlemagne,  la  pr^sence 
de  ces  monumens  en  divers  lieux  d^Ailemagne  et  de  France,  et  une  ^tude 
plus  gdnörale  de  iVchäologie  nous  ont  conduit  ä  la  maniäre  de  voir 
^mise  dans  ce  travail. 

tt)  Es^ai  sur  r^tablissement  des  Burgondes  par  M.  le  baron  de  Gin- 
gins-la- Sarraz. 

Allg.  ZeiUclirift  f.  Geschichte.  Y.  1846.  19 


282  AntiquitSs  de  Bei -Air,  prts  Lausanney 

occfdentales  de  Berne  et  de  Solcare.  Ces  cimeliöres  se  rencon- 
treot  en  outre  dans  la  Pranche-Corol6  et  la  Bourgogne  en  g6n6ral, 
ce  qui  he  saurait  confirmer  Topinion  de  ceux  qai  ont  regard^  nos 
tombeaux  comme  all^maniques. 

Attribuerons-nous  mainlenant  am  Bürgendes  toos  les  monu- 

mens  anale gues  qui  ont  6t^  d^couverts  dans  la  Suisse  Orientale, 

dans  les  contr6es  que  baigne  le  Rhin,   de  Bäle  k  Wisbaden,   en 

Wurtcmber^  et  en  Bavi^re?   Loin  de  le  faire,  nous  croyons  que 

la  cause   des  erreurs  dans   lesquelles   plusiears  sont  tomb^s,    a 

6tö  pröcisement  de  vouloir  accorder  ä  on  seul   penple  ce  qui 

appartient  ä  plusieurs.     Lorsqu'on  examine  de  pr^s  ces  d^cou- 

verles  faites  en  divers  pays,  si  Pon  ne  se  bome  pas  ä  les  com- 

parer  pi^ces  par  pi^ces,   mais  qu'on  les  ötudie  aussi  dans  leur 

ensemble,  on  ne  tarde  pas  ä  apercevoir  assez  de  rapports  pour 

constater  un  mSme  genrc,   et  assez  de  traits  distinctifs  pour  con- 

clure  k  des  penples  parens.    C*est  alnsi  que  le  cimetiöre  d^cou- 

vert  par  Mr.  Schmidt,   pr^s  d*Augst  (Augusta  Rauracorum), 

dans  le  canlon  de  Bäle,  se  rattache  plus  ä  Nordendorf  qu*^  Bei* 

Air,  malgr^  la  diff^rfence  d'^loignement.   Äugst  et  Nordendorf  offrent 

la  möme  richesse   de   m^taux  pr^cieux,    de  Colliers,    de  fibulesj 

tandisque  *les  tombeaux  de  la  Bourgogne    se   distinguent  par  le 

nombre  et  la  beaut^  de  la  damasquinure,   la  grandeur  de  leurs 

agrafes  et  la  symbolique  cbr^tienne,  grav^e  sur  le  bronze.    L*äge 

du  cimeti^re  d' Äugst  ne  saurait  s^6loigner  beaucoup  de  celui  de 

Bei- Air '^).    Ses  sarcophages  sont  construits  avec  des  marbres  en- 

lev^s  aux  ruines  de  la  cit^  romaine.    Quelquefois  les  morts  ont 

6t6  depos6s  dans  des  bassins  recouverts  de  dalles  taill^s.   D'autre-. 

fois,  sur  des  couverclcs  d'une  seule  pi^ce,  est  sculptee  une  grande 

eroix  latine**).  La  diff^rence  du  contenu  de  ces  sarcophages  avec 

les  antiquites  romaines  d'Augst ,  les  ruines  utllis^es***),  la  pr^sence 

du  Chhstianisme  nous  fönt  remouter  au  peuple  qui  s*assit  dans 

cette  contr^e  lors  des  invasions  des  premiers  siöcles  de  notre  ^re, 

c'est  ä-dire  aux  Allemani.   De  savans  archöologues  ont  döjä  avanc6 

celte  opinion  pour  les  monumens  du  midi  de  l'Aliemagnef),   et 


*)  Mr.  Schmidt  d'Aogsl  noas  a  dit  y  avoir  trouvö  une  moDDaie  des 
rois  francs  de  la  premiöre  race. 

**)  Ces  sarcophages  en  pierre  ne  peuvent  ötablir  une  difförence  es- 
sentielle  avec  le  cimetidre  de  Nordendorf,  parceque  le  peuple  qui  les  em. 
ploya  ä  ces  söpuluires  ne  fit  que  les  tirer  des  ruines  d'Augusta  Bau- 
racoruro. 

*•*)  Plusieurs  dalles  employöes  pour  ces  tombeaux  portent  encore 
des  restes  d^nscriptions  romalnes. 

t)  Voir  entr'autres  les  arttcles  de  Mr.  le  Prof.  Thiersch,  dans  les 
supplömens  de  la  Gazette  universelle  d'Augsbourg,  No.  !«7.  «8.  et  28r. 
Janv.   4  844. 


de  Nordendorf,  pr^  Äugsboutg  eic.  283 

nous  la  partageons  pleioement,  aussi  long-temps  qo^on  ne  ratend 
pas  sur  eeux  de  Tancienne  Bourgogoe. 

Apr^s  C8  qui  pr^c^de,  il  est  facile  de  pr^voir  ce  qui  nous 
resle  ä  dire  sur  las  anliqoitös  du  departement  du  Pas-de  Calais  et 
Celles  de  m^me  genre  des  environs  de  Gaen  et  de  Versailles.  Les 
Alteraani  et  les  Bürgendes  ne  s'ötant  jamais  dtablis  dans  le  nord 
de  la  Gaule,  et  le  tombeau  de  Tournay  servant  de  point  de  com- 
paraison  ä  ces  debris,  nous  devons,  avec  Mr.  Houbigant,  les 
faire  remonter  aux  Francs,  sous  les  rois  de  la  premi^re  race,  et 
les  distinguer  surtout  des  antlquit^s  de  la  Bourgogne  et  du  midi 
de  rAllemagne  par  leurs  nombreuses  francisques,  dont  Tusage 
^tait  familier  aux  compagnons  de  Merov^e  et  de  Child^ric. 

L^un  des  points  sur  iequel  il  est  iroportant  d'insister,  c*e$t 
que  ces  tombeaux  entrent  plus  avant  qu'on  ne  l'a  dit  dans  la  pre- 
mi^repartie  du  moyen-äge.  Les  tiers«de-sols  merovingiens  qui  les 
accompagnent  en  France  et  les  monnaies  de  Cbarlemagtie  k  Bei- 
Air  ne  peuvent  laisser  aucun  doule  k  cet  ^gard.  Si  les  tombeaux 
de  Nordendorf  n'ont  pas  encore  ofifert  ces  t^moignages  irr^cusables, 
on  n*en  peut  nullement  conclure  ä  un  äge  beaucoup  plus  ancien, 
car  les  pieces  carlovingiennes  ne  se  soiit  pr^sent^es  ä  nous  qu'a- 
pr^s  avoir  ouvert  plus  de  200  sarcophages,  qui  ne  nous  avaient 
donne  jusque  \k  que  quelques  medailles  romaines.  D'un  autre 
c6t6,  OB  ne  peut  admettre  que  Tart  ait  fait  des  progr^s  plus  ra^ 
pides  dans  le  midi  de  TAUemagne,  que  dans  la  France  et  PHel- 
vötie  occidentale.  L'^lude  generale  des  monumens  nous  le  dit,  et 
si  nous  nous  avan^onsr  vers  le  nord,  nous  voyons  les  anciens 
nsages  s*y  prolonger  d'autant  plus  que  Pinfluence  romaine  s'y  fit 
moins  ressentir,  et  que  le  Ghristianisme ,  ce  grand  r^novateur  des 
societes,  y  penetra  k  une  ^poque  plus  tardive.  Aussi,  d'entre  les 
piÄces  qui  nous  occupeut,  Celles  en  fort  petit  nombre  que  nous 
avons  retrouvees  dans  le  riebe  musöe  de  Copenhague  n^appar- 
tiennenl-elles  qu'aux  premiers  temps  oü  le  culte  du  vrai  Dieu  fut 
introduit  dans  le  Danemarc.  Ce  sont  des  agrafes  dont  le  travail 
indique  la  derni^re  p6riode  de  ces  anliqukes,  et  dont  quelques 
unes  portent  sur  leurs  plaques  en  os  les  ciselures  de  sujets  cbrö- 
tiens.  L^introductlon  de  ces  pieces  en  m^me  temps  que  le  Chris* 
tianisme,  c'esl-ä-dire  vers  le  dixi^me  si^cle,  montre  que  ieur  usage 
deTait  exister  encore  k  cette  6poque  dans  d^aulres  pays,  et  Ieur 
rarete  peut  s'expliquer  en  ce  qu'elles  furent  bientdt  remplac^es 
par  une  armure  plus  compl^te  qui  ne  tarda  pas  k  devenir  celle 
du  Chevalier. 

En  attribuant  aux  Burgondes,  aux  Allemani  et  aux  Francs, 
les  trois  cimeti^res  d^crits,  nous  ne  pensons  point  epuiser  la  liste 
des  peuples  qui  peuvent  avoir  produit  des  monumens  analogues. 

19* 


284  Antiquitis  de  Bei ^ Air,  pres  Lamafme. 

Ed  refusant  d'y  reconnaitre  des  Geltes,  nous  admettons  la  possi- 
biIU6  qu*ils  aient  laissö  des  resies  pareils  dans  teile  autre  contröe 
encore  k  nous  inconnue.    C'est  que  nous  ne  pensons  pas  qu'au- 
cun  des  peuples  indiqa^s  soH  rinventeur  et  le  possesseiir  exclusif 
de  ce  genre  d'antiqoil6s.    Nous  y  voyoDS  en  effet  moins  une  ia* 
▼ention  que  le  döveloppement  naturel  de  Tart   plus  aocien  des 
Geltes,  des  Germalos,   des  Scandinaves,   dont  les  coUections  ren- 
ferment  de  nombreux  d^bris,  et  que  nous  avons  ^tä  surpris  de 
retrouver  si  semblables  depuis  les  Alpes  jusqu^ä  la  mer  du  Nord, 
Les  Bürgendes,  les  Alleroani  et  les  Francs  n'apport^rent  certaine- 
ment  pas  avec  eux,   d^s  leurs  premi^res  migrations,   les  pi^ces 
qui  les  caract^rlsent  plus  tard.    Ge  d^veloppemeni  plus  complei 
ne  se  manifeste,   comme   le   montrent  les  couches   de  Bei -Air, 
qu*apres  leur  etablissement  dans  les  contr^es  qu'ils  cboisirent  de- 
finitivement   fi^r  patrie.    Ge    Tut  lä   surtout  qu*ils  subirent  l'in- 
fluence  de  la  ci^lKsation  du  midi.    Mais,  libres  du  joug  de  Rome, 
ils  copi^renl  biens  moins  Tart  classique  qu'ils  ne  le  firent  servir 
k  exprimer  leur  goüt  national,  ils  lui  emprunterent  bien  moins 
ridee    que    l'ex^cution   pour   r^aliser    ce    qu'ils  croyaient   beau. 
L'ornement  de  dötails   continua  de  prevaloir  sur  Tensemble  des 
formes  et  la  grkce  des  contours.    Un  goüt  peii  exercö  et  la  re- 
cberche  de  rornementatton  produisirent  k  la  fois  ces  pieces  lourdes 
et  massives,   cbargees  dMncrustalions  ou  de  gravures.    Une  nou- 
velle  direction  cependant  fut  impriD^ee   ä  ce  d^veloppement  par 
la  puissante  influence   du  Ghristianisme.    Celui-ci  dut  travailier  ä 
combattre  ce  qui  dans  Part  du  nord  ^tait  lAh^rent  k  la  foi  payenne* 
Peut-^tre  aussi  conserva-t-il  plus  d^nne  image  dont  il  s'appropria 
la  signißcation*).    QuoiquMI  en  seit,,  il  ne  tarda  pas  k  se  cr^er  sa 
symbolique,  dont  il  nous  reste  des  traits  analogues  dans  le  canton 
de  Vaud  et  les  catacombes  de  Rome.    Sur  les  debris  de  l'ancieu 
monde,   une  ^re  nouveile  venait  de  s'ouvrir  pour  Thumanite,   et 
avec  eile  une  nouveile  culture  qui  ne  put  ^tre  inherente  k  un  seui 
penple. 

Les  d^couvertes  qui  nous  fönt  assister  ä  la  naissance  de  ce 
nouvel  äge  m^ritent  Taltention  de  Tarch^logue  et  de  Tbistorien. 
Les  couches  superpos^es  qui  nous  montrent  les  premlers  pas  de 
notre  civilisation  röclament  une  place  dans  l'6tude.  Les  ciselures 
de  divers  sujets  qui  nous  r^v^lent  parfois  des  id6es  dont  la  gran- 
deur  n'appartient  qu'au  Ghristianisme,  demandent  qu'on  rechercbe 


•)  C'est  ce  que  firenl  parfois  les  premiers  chröliens,  en  introdaisant 
dans  leurs  lemples  des  allögdries  «da  paganisme  romain,  auxquelles  Ils 
donnaient  un  nouveau  sens  conforme  ä  leur  foi. 


Angelegenheiten  der  historiscken  Verein^.  285 

le  sens  cach^  sous  ces  figures  d'un  travail  grossier.   Les  lombeaux 
de  Bei -Air  et  les  moDumens  analogues  ofTrent  ainsi   uo  nouveaa 
cbamp  ä  l*archeologie  et  un  nouveau  document  ä  Thistoire  sur  les 
Premiers  si^cles  du  moyen-äge. 
BerliD,  Avril  1845.  "  Fred6ric  Troyon. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 


Referate. 

Der  Geschichlsfreund.  Mittbeilungen  des  historischen  Vereins  der 
fünf  Orte  Lucern,  Uri,  Schwyz^  Unterwaiden  und  Zug,  I.  Bd.  Erste  und 
Zweite  Lieferung«     Einsiedeln  4  843  und  4  844, 

Der  Entwurf,  die  geschichtliche  Aufhellung  der  obgenannten 
fünf  Orte  an  die  Thätigkeit  eines  selbstständigeu  Vereins  zu  knüpfen, 
ist  in  der  allgemeinen  geschicbtsforschenden  schweizer  Gesellschaft 
entsprungen.  Von  der  B^denklichkeit,  hiedurch  eine  Zersplitterung 
der  eignen  Kräfte  hervorzurufen,  ward  abgesehen,  indem  man 
eine  fortgesetzte  Theilnahme  an  den  gemeinsamen  Bestrebungen 
bei  den  Angehörigen  der  neuen  Verbindung  nicht  aufgab. 

Die  letztere  trat  somit  am  lOlen  Januar  1843  ins  Leben  und 
bezeichnete  zuvörderst  in  den  „Grundlagen  des  Vereins^*  die  Ge- 
biete näher,  denen  ihre  Aufmerksamkeit  zu  widmen  sei.  Kirch- 
licher Seits  soll  auf  die  innere  und  äussere  Geschichte  des  Bis- 
tbums  Constanz  und  in  politischem  Betracht  auf  die  historischen, 
sittlichen  und  rechtlichen  Verhältnisse  der  fünf  Orte  das  Absehen 
gerichtet  sein.  Demnächst  wird  ins  Besondere  als  Hauptmittel  dem 
Ziele  treffend  näher  zu  kommen,  die  Herbeischafifung  archiva- 
lischen  Stoffes  zur  vorzüglichsten  Aufgabe  der  Theilnehmer  er- 
hoben. Urkunden  in  weitester  Ausdehnung,  Chroniken  und  Nekro- 
logien  sollen  aus  den  Archiven  und  Bibliotheken  der  heimischen 
Pfarreien,  Stifte,  Klöster,  Ritterhäuser,  so  wie  aus  denen  zu  Cou' 
stanz  und  Karlsruhe,  zu  Rom  und  Mainz  und  vornehmlich  Oest- 
reichs  zusammengebracht  und  mitgetheilt,  ferner  die  Alterthums- 
künde  durch  Sammlung  von  Inschriflen ,  Waffen,  Münzen  u.  dergl. 
aus  christlicher  und  vorchristlicher  Zeit  erweitert  werden. 

Zudem  unterzog  sich  ein  Mitglied  der  Gesellschaft,  J.  E.  Kopp, 
der  sehr  dankenswerthen  Mühe,  in  dem  Vorworte  des  als  Probe 
ausgegebenen  ersten  Heftes  der  Vereinszeitschrift  einige  Haupt- 
punkte der  mittelalterlichen  Zustände  zu  beleuchten,  um  hieran 


286  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 

za  gleicher  Zeit  belehrende  Winke  darüber  anzulehnen ,  worauf 
der  Verein  innerhalb  des  ihm  zustehenden  Bezirkes  sonderlich  sein 
Augenmerk  zu  wenden  habe.  Anhebend  mit  der  Frage  über  die 
früheste  Yertheilung  von  Grund  und  fioden  und  dem  allmahligen 
Uebergang  desselben  aus  den  Händen  der  Grafen  und  Freien  in 
die  der  Bürger  und  Gemeinden,  nimmt  er  Gelegenheit,  darauf  hin- 
zudeuten, dass  die  hierherbezüglichen  Verhaltnisse  der  Grafen  von 
Kyburg  und  Habsburg  bisher  noch  unzureichend  erörtert  seien, 
berührt  sodann  die  Stellung  zum  deutschen  Könige,  als  der  eigent- 
lichen Quelle  der  Freiheiten  und  Rechte,  empGehlt  der  Forschung 
in  kirchlicher  Ansehung  zumeist  die  Anfänge  und  Schicksale  der 
Kirchen  und  Klöster,  ihre  innern  Einrichtungen  nebst  ihren  Be- 
ziehungen zu  den  geistlichen  wie  welllichen  höhern  Mächten  und 
gelangt  endlich  zu  einer  Hinweisung  auf  die  Bündnisse  während 
der  Kriege  mit  Oesterreich. 

Hieran  scbliesst  er  die,  will  uns  nur  scheinen,  ein  wenig  zu 
ausgedehnte  Aufforderung  an  sammtliche  Mitglieder  des  Vereins, 
den  herangeförderten  urkundlichen  Stoff  in  besonderen  kritischen 
Aufsätzen  zu  verarbeiten,  vergisst  indess  mit  rühmlichem  Bedacht 
die  Mahnung  nicht,  dass  dabei  nicht  sowohl  Schmuck  der  Fassung, 
als  vielmehr  Gediegenheit  des  Inhalts  zu  erzielen  sein  möge.  Es 
ist  von  der  Gesellschaft,  die  in  einer  spätem  Versammlung  ge* 
Sunden  Sinnes  sich  zu  den  von  Kopp  entwickelten  Grundsätzen 
bekannt  hat,  wohl  zu  gewärtigen,  dass  sie  dessen  stets  eingedenk 
bleiben  und  einen  ungedeihlichen,  Maculatur  schaffenden  Eifer 
unter  sich  nicht  aufkommen  lassen  werde.  — 

Finden  wir  demzufolge  den  Zweck  der  Vereinigung  klar  er- 
wogen und  festgesetzt,  Mittel  und  Wege  ihn  zu  erreichen,  deut- 
lich und  sachgemäss  angedeutet,  so  erhärten  gleicher  Weise  die 
beiden  uns  vorliegenden  Lieferungen  des  Geschichtsfreundes  zur 
Genüge,  dass  der  Verein  seiner  aufgestellten  Regel  auch  entspre- 
chende Anwendung  zu  bieten  im  Stande  ist. 

Die  vorwiegende  Beachtung  erwirbt  sich  der  höchst  beträcht- 
liche, zum  Theil,  wo  bereits  Abdrücke  vorhanden  oder  künftighin 
erfolgen  sollen,  in  Regesteuform ,  zum  grösseren  Theil  jedoch  mit 
unverkürztem  Texte  dargebotene  Urkundenvorrath,  der  dem  Zeit- 
raum vom  9len  bis  zum  sechszehnlen  Jahrhundert  entnommen  ist 
und  die  Anzahl  von  200  wohl  überschreiten  mag.  Er  ist  nach 
mehrfachen  Gesichtspunkten  gesondert  und  angeordnet.  Zu  An- 
fang begegnen  wir  I,  den  Reichssachen,  innerhalb  deren  a» 
die  Regesten  kaiserlicher  und  königlicher  Urkunden  des  Stadt- 
archivs zu  Lucern  und  6,  den  Reichszoll  zu  Fluelen  angehende 
Stücke  von  einander  getrennt  werden;  darauf  sind  11,  die  eben- 
falls einige  Scheidungen  erfahrenden  kirchlichen  Sachen  (unter 


Angelegenheiten  der  historuchen  Vereine.  287 

denen  einige  Beitrage  zur  Geschichte  der  Kreuzzöge  gegen  die 
Mongolen  im  13ten  Jahrhundert  besonders  hervorgehoben  za 
werden  verdienen),  nicht- minder  reichlich  bedacht;  und  schliess- 
lich m,  Hofrechte,  Stadirechte,  Burg-  und  Landrechte, 
Voigtei  und  Lehen,  Bündnisse  und  Urfehden,  Eidge- 
nössisches und  Oesterreichisches  enthaltende  Urkunden 
zusammengeschaart. 

An  dieser  rücksichtlich  des  mitgetheilten  Materials  unbedingt 
preiswurdigen  Darbringung  hätten  wir  nur  in  formeller  Beziehung 
die  eben  angedeuteten  Theilungen  derselben  auszusetzen.  Obschon 
das  dem  zweiten  Hefte  beigegebene  chronologische  Verzeichniss 
aller  in  beiden  Lieferungen,  die  zusammen  den  ersten  Band  der 
Zeitschrift  bilden,  veröffentlichten  Urkunden  den  Ueberblick  der- 
selben für  einen  allgemeinern  Gebrauch  erleichtert;  so  möchte  doch 
die  Frage,  ob  andererseits  durch  die  stoffliche  Sonderung  das  da- 
mit beabsichtigte  Ziel  wahrhaft  erreicht  werde,  sich  bei  näherer 
Würdigung  kaum  bejahen  lassen.  Unleugbar  hat  das  Letztere 
seinen  Bestand  darin,  dass  eine  schnelle  Gesammtanschauung 
dessen  gewonnen  werde,  was  eine  bestimmte  Seite  des  zu  erfor- 
schenden Gebietes  in*s  Licht  zu  setzen  geeignet  ist.  Kann  sich 
aber  streng  genommen  bei  der  stets  wechselseitigen  Durchdrin- 
gung der  geschichlUcheu  Bezüge  einer  nicht  allzu  erweiterten 
Oertlichkeit  überhaupt,  und  in's  Besondere  der  Im  Obigen  erwähn- 
ten Verhältnisse,  eine  solche  Auseinauderhaltung  auch  wirklich 
immerdar  durchführen  lassen?  Man  denke  sich  z.  B.  den  Fall, 
dass  das  Reichsoberhaupt  über  die  rechtliche  Lage  einer  Bürger- 
schaft zu  ihrer  kirchlichen  Behörde  Festsetzungen  treffe.  Hier  sind 
alle  drei  oben  geschiedenen  Punkte  betheiligt;  wo  könnte  dann, 
ohne  zweien  Titeln  Abbruch  zu  thun ,  die  Urkunde  eingefügt  wer- 
den? Ohnehin  ist  ja  das  Geschäft,  das  Zusammengehörige  zu 
vereinen ,  an  die  Bearbeiter  des  rohen  Materials  gewiesen  worden. 
Und  so  möchte  die  rein  der  Zeitfolge  sich  anschmiegende  Anord- 
nung aller  in  einem  Hefte  abgedruckten  Urkunden,  anderer  Vor- 
theile  zu  geschweigen ,  schon  deswegen  als  die  passendste  zu  er« 
achten  sein,  weil  dabei  zum  Mindesten  ein  Bestreben  aufgegeben 
wäre,  das  doch  immer  hinkend  seinen  Zweck  —  verfehlen  muss. 

Eine  andere  gleichfalls  sehr  schatzbare  Mittheilung  des  Ge- 
schichtsfreundes ist  die  des  sogenannten  über  Heremi.  Laut  der 
Erklärung  seines  Herausgebers,  P.  Gall  Morel's,  hat  Tschudi  im 
Jahre  1550  von  den  zur  Zeit  in  Ginsiedeln  vorhandenen  wichtig- 
sten Geschichtsdenkmalon,  die  1577  durch  den  grossen  Kloster- 
brand vertilgt  wurden,  Abschrift  genommen  und  da  im  Über  He- 
remi Tschudi^s  Handzüge  sich  offenbar  erkennen  Hessen,  so, 
scbliesst  er,  sei  nicht  zu  zweifeln,  dass  darin  jene  Nachricl>ten 


288  Angekgenheiten  der  historischen  Vereine. 

UDS  bewahrt  worden  siDd.  Sie  bestehen  in  zweierlei  Annalen,  ge- 
nannt Einsidlenses  majores  und  minores,  zweien  einsiedelscheo 
Nekrologien  und  einem  Verzeichniss  der  dem  Kloster  nach  und 
nach  zugefallenen  Schenkungen.  Bei  der  Erwägung,  ob  im  über 
Heremi  die  ursprüngliche  Form  der  einsiedelschen  Denkmale  getreu 
von  Tschudi  beibehalten  worden,  oder  ob  darin  nur  eine  Ton  ihm 
yeranstaltele  Sammlung  verschiedener  historischer  Bemerkungen 
zu  erkennen  sei,  entscheidet  sich  Morel  für  das  Erste.  Doch 
möchten  wir,  unbeschadet  des  Werthes  der  im  über  enthaltenen 
Angaben  für  Geschichte  und  Ortsbeschreibung,  doch  dieser  Ansicbl 
beizupflichten  Anstand  nehmen.  Die  Annaies  majores  berufen  sich, 
was  dem  Herausgeber  auch  nicht  entgangen  ist,  zu  1020  und  1027 
ausdrücklich  auf  andere  Quellen :  die  gesta  Murensia  und  die  gesta 
monasterii  Novientensis;  ausserdem  spricht  die  alphabetische  Auf» 
Zählung  der  Dotationes  entschieden  gegen  die  Annahme  anfäng- 
licher Aufzeichnung. 

Von  bearbeitenden  Darstellungen  bringt  die  Zeitschrift  eine 
rechtshistorische  Untersuchung  Segesser's  unter  der  Aufschrift  „Lu- 
cern unter  Murbach'';  worin  der  Verfasser  zunächst  das  letztge- 
nannte Kloster  in  seiner  Lage  zu  Reich  und  Kirche,  dann  sein 
oberherrliches  Verhältniss  zum  lucerner  Kloster,  sowie  des  letz- 
tern Besitzungen  betrachtet  und  sich  darauf  genauer  über  den 
frühesten  Rechtszustand  der  Stadt  Lucern  selbst  verbreitet.  Noch 
sind  Schnelleres  Erläuterungen  zu  einem  Briefe  des  Bruder  Klaus 
an  Bürgermeister  und  Rath  zu  Konstanz  vom  SOsten  Januar  1482 
zu  erwähnen;  und  der  Wunsch  auszusprechen,  dass  die  Arbeiten 
des  fünfdrtlichen  Vereines  sich  fernerhin  ebenso  erspriesslich  fort- 
entwickeln mögen,    als  sie  begonnen.     >  Philipp  Jaff^. 

Die  antiquarische  Gesellschaft;  in  Zürich. 

Die  Bracteaten  der  Schweiz.  Nebst  Beiträgen  zur  Renntniss  der 
schweizerischen  Miinzrechte  während  des  Mittelalters.  Von  Dr.  H.  Meyer, 
Direct.  des  Miinzkabinets.  Mit  drei  Münztafeln.  Aus  den  Mittheilungen 
der  Antiq.  Gesellsch.  besonders  abgedruckt.  Zürich,  Meyer  und  Zeller. 
4  845.    XII.    76.    S.  4. 

Die  historisch  antiquarischen  Vereine  sind  auf  dem  Gebiete 
der  Numismatik  von  jeher  sehr  thatig  gewesen;  die  des  eigent- 
lichen Deutschlands  allein  haben  bis  jetzt  nicht  weniger  als  200 
numismatische  Arbeiten  oder  Aufsätze  geliefert.  Es  kann  nicht 
zweifelhaft  sein,  dass  die  Münzkunde  die  Rechte  einer  selbstst'an- 
digen  Wissenschaft  beansprucht,  auch  dazu  berechtigt  und  befä- 
higt ist;  soll  sie  aber,  wie  man  sich  öfters  dieses  Ausdrucks  be- 
dient hat,  zur  Würde  einer  Wissenschaft  sich  erheben:  so  sind 
dazu  Vorbedingungen  erforderlich,    die  grossentheils  noch  nicht 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine*  289 

gelöst  sind.  Es  genügt  nicht  einzelne  Münzfunde  auf  das  Ge- 
naueste zu  beschreiben:  vollständige  Kataloge  der  vorhandenen 
Münzsammlungen,  sowie  zuverlässige  Bearbeitungen  der  Münz- 
geschichte der  einzelnen  Länder  und  Geschlechter  sind  noch  we- 
sentlichere Bedürfnisse.  Wie  manches  noch  bis  auf  die  neueste 
Zeit  hierfür  zu  wünschen' blieb,  hatte  im  Isten  Bande  der  vorlie- 
genden Zeitschrift  (1844.  S.  356  ff.)  Herr  Dr.  B.  Köhne  in  dem 
Aufsatz  „der  jetzige  Zustand  der  münzkundlichen  Wissenschaft'* 
ans  Licht  gestellt.  Seitdem  ist  in  beiden  Beziehungen  auf  deut- 
schem Boden  manches  Erfreuliche  geleistet  worden,  wodurch  der 
Umblick  vervollständigt  und  ausgedehnt  ward.  Wir  erinnern  nur 
an  Stickel's  Handbuch  zur  morgenländischen  Münzkunde  (1845. 
Erstes  Heft),  welches  eine  Beschreibung  und  Erläuterung  der 
Sammlungen  des  orientalischen  Münzkabinets  zu  Jena  gewährt, 
nnd  an  Albrecht's  Münzgeschichte  des  Hauses  Uohenlohe  vom  13ten 
bis  zum  19ten  Jahrhundert  (1844),  welche  von  wissenschaftlichem 
Geist  und  geschichtlichem  Sinn  getragen  ist.  Ueberhaupt  wird  die 
Numismatik  nie,  soll  sie  von  wissenschaftlichem  Hauche  beseelt 
sein,  von  der  Geschichte  sich  emancipiren,  ihr  als  eine  unabhän* 
gige  Potenz  gegenübertreten  dürfen;  es  wird  immer  ihre  Aufgabe 
bleiben,  aus  dem  Studium  der  Geschichte  die  zahlreicbsten  und 
vornehmsten  Mittel  ihrer  Erkenntniss  zu  schöpfen,  und  nur  wenn 
sie  auf  dieser  Grundlage  sich  erbaut,  vermag  sie  auch  befruch- 
tend auf  die  Geschichte  wijederum  zurückzuwirken.  Die  Fülle  des 
numismatischen  Materials  ist  auf  der  einen  Seite  so  ungeheuer 
gross,  und  doch  sind  auf  der  andern  die  Fälle  wo  die  Geschichte 
der  Numismatik  eine  wirkliche  Bereicherung  verdankt  verhältniss- 
mässig  so  ungemein  selten,  dass  man  mit  Recht  daran  zweifeln 
darf,  ob  die  Mehrzahl  der  heutigen  Münzkenner  von  einem  echt 
wissenschaftlichen  d.  h.  historischen  Bewusstsein  und  von  der 
Nothwendigkeit  jenes  Wechselverhältnisses  zwischen  Geschichte 
und  Numismatik  durchdrungen  sei.  Nirgend  mehr  als  auf  dem« 
letztern  Gebiete  waltet  die  Gefahr,  dass  der  Gehalt  der  Wissen- 
schaft in  Gehaltlosigkeit  sich  verflüchtige,  ihr  Stoff  zu  einem  Ob- 
ject  blosser  Unterhaltung  herabsinke;  denn  nur  zu  leicht  wird 
grade  hier  die  eigentliche  Basis,  der  historische  Gesichtspunkt, 
durch  die  mehr  beiläuflgen ,  durch  rein  technische  oder  ästhetische 
verdrängt. 

Das  Hauptverdienst  der  vorliegenden  Arbeit  erkennen  wir 
nun  darin ,  dass  Hr.  Meyer  an  dieser  so  nothwendigen  Basis  streng 
festgehalten  und  daher  nicht  nur  der  Numismatik,  sondern  zu- 
gleich auch  der  Geschichte  einen  wesentlichen  Dienst  geleistet  hat. 
Die  Münzgeschichte  Zürichs  im  Mittelalter,  welche  der  Verf.  im 
Jahre  1840  herausgab,   bewegte  sich  schon  in  dieser  Richtung, 


290  Angelegenheiien  der  historüchm  Vereine. 

und  wenn  die  jetzige  Frucht  seiner  ailm'ählig  erweiterten  Unter- 
suchungen auch  noch  Icein  vollständiges  Bild  der  Münzgeschichte 
der  gesammten  Schweiz  darbietet,  so  liefert  sie  doch  fruchtbare 
und  deshalb  willkommene  Beiträge  zur  Geschichte  aller  derjenigen 
Münzstätten,  welche  gleich  der  zürcherischen  Bracteaten  geschla- 
gen haben.  Bedenkt  man,  dass  dies  die  einzige  Geldsorte  war, 
welche  vom  12.  bis  15.  Jahrhundert  dort  Kurs  und  Geltung  hatte, 
dass  Alles  darin  berechnet  und  bezahlt  wurde:  so  ersieht  mau 
leicht >  wie  in  ihren  Schicksalen  sich  die  ganze  ßiünzgescbichte  der 
Schweiz  während  dieses  Zeitraumes  concentrirt.  Der  Verf.  be- 
handelt nach  einander  die  Münzrechte  von  Zofingen,  der  Grafen 
von  Kyburg  zu  Burgdorf  und  Wangen ,  der  Städte  Bern  und  Solo- 
thurn,  der  Grafen  von  Habsburg- Laufeuburg,  der  Abtei  und  der 
Stadt  St.  Gallen,  der  Städte  Schaffhausen  und  Basel,  der  Bischöfe 
von  Konstanz,  des  Stilles  Peterlingen^  der  Stadt  Diessenhofen 
(Kt.  Thurgau),  der  Abtei  St.  Georg  zu  Stein  am  Rhein  (Kt.  Schaff- 
hausen), der  Abtei  Rheinau,  der  Abtei  Fischiugen,  der  Abtei  En- 
gelberg (Kt»  Unterwaiden),  der  alemannischen  Herzoge,  der  Grafen 
von  Saugern,  der  Grafen  von  Bargen,  der  Städte  Luzern,  Uri, 
Freiburg  (im  üechtland)  und  Zug.  Die  Bereicherung,  welche  die 
Geschichte  dieser  Arbeit  verdankt,  ist  eine  doppelte:  eine  kritische 
und  eine  politische.  Denn  ist  es  an  sich  von  entschieden  histo- 
rischem Interesse,  zu  wissen  wann  und  wie  da  oder  dort  ein 
Münzrecht  entstand  oder  erlosch:  so  müssen  wir  die  Umsicht  und 
den  Scharfsinn  anerkennen,  womit  der  Verf.  grade  derartige  Dun- 
kelheiten aufzuhellen,  .Schwierigkeilen  hinwegzuräumen  und  be- 
gründete Verxnuthungen  zu  erhärten  bemüht  ist;  dahin  gehören 
namentlich  Abschnitte  wie  die  über  Zofingen,  Solothurn,  Luzern 
und  Engelberg:  in  den  kritischen  Resultaten  derselben  darf  die 
Geschichte  mit  Recht  eine  Förderung  ihrer  selbst  erblicken;  manche 
kommen  zu  einer  definitiven  Entscheidung,  andere  ihr  wesentlich 
näher.  Dass  Luzern  kein  Münzrecht  vor  dem  Jahre  1418  besass, 
wird  wohl  nun  als  ausgemacht  gelten  dürfen;  ebenso  dass  auch 
Engelberg  im  Mittelaller  gemünzt  habe,  worauf  der  gleiche  Typus 
einiger  unbekannten  Bractäaten  mit  dem  Wappen  dieser  Abtei  hin- 
führt. Bildet  das  Münzrecht  den  Kern  der  Münz ge schichte: 
so  zeigt  die  Arbeit  auch  andrerseits,  und  in  anschaulicherer  Weise 
als  dies  sonst  in  numismatischen  Werken  der  Fall  zu  sein  pflegt, 
eine  wie  bedeutende  Stellung  die  Munzgeschichte  in  der  poli- 
tischen Geschichte  eines  Landes  einzunehmen  geeignet  ist;  zu- 
mal allerdings  in  einem  vielgetbeilten  oder  mannigfaltig  geglieder- 
ten Lande  wie  die  Schweiz.  An  die  Streitigkeiten  über  die  Münze 
knüpfen  sich  zum  guten  Theil  die  Fäden  der  politischen  Entwick- 
lang Luzerns  an;   und  fast  nur  an  ihren  Wandlungen  spinnen  sie 


Angekgenheiten  der  historUcken  Vereine,  291 

eine  laogere  Zeit  hindurch  sich  ab.  Wir  können  nicht  umhin, 
Schriften  wie  die  in  Rede  stehende  als  Muster  einer  Wissenschaft* 
lieben  Behandlung  der  Numismatik  zu  bezeichnen  und  zu  empfehlen. 
Auf  ein  materielles  Erschöpfen  kommt  es  so  wenig  an,  wie  auf 
ein  Abwickeln  aller  auch  der  entferntesten  Zweifel;  ist  doch  das 
eine  so  unmöglich  wie  das  andere,  auch  dem  unermüdlichsten 
Streben  beides  unerreichbar.  Die  Bracteaten  der  Schweiz  theilen 
sich  übrigens  äusserlich  in  zwei  Hauptklassen:  runde  mit  dem  Per- 
lenrand und  viereckige  mit  hohem  Rande.  Ad.  Schmidt. 


Notizen. 

KenntDiss  des  Auslandes  von  den  historischen  Vereinen  in  Deutschland. 

Von  dieser  Renntniss  darf  man  nichts  anders  erwarten,  als 
dass  sie  sich  als  U  n  kenntniss  offenbare.  Der  berühmte  italienische 
Geschicbtschreiber  Cesar  Cantu,  der  grade  sonst  durch  eine  aus- 
gedehnte literarische  und  bibliographische  Gelehrsamkeit  in  seinen 
Schriften  sich  auszeichnet,  sagt  in  seiner  Histoire  universelle  T.  VDL 
discours  pr^liminaire  sur  le  moyen  äge,  p.  30.  (Paris  1845):  des 
soci6t^s  chargees  de  recherches  historiques  se  sont  formöcs  dans 
plusieurs  (!)  pays  de  TAllemagne.  U  y  en  a  pour  la  Thuringe 
saxonne,  pour  la  Pomöranie,  pour  (?!)  les  £tudes  Baltiques, 
pour  la  Westphalie,  pour  je  haut  Mein,  pour  Fribourg,  pour  Lau- 
sanne, pour  la  Suisse  romane,  pour  la  Boheme  etc.  Es  versteht 
sich  von  selbst,  dass  wer  ausserhalb  der  Pommerschen  Gesellschaft 
noch  eine  besondere  für  baltische  Studien  zu  kennen  meint,  in 
der  That  weder  von  jener  noch  von  diesen  das  mindeste  weiss.  — 
Das  Magazin  für  Gesch.,  Liter,  etc.  Siebenbürgens,  von  Kurz  zu 
Kronstadt  herausgegeben,  eröffnet  das  erste  Heft  (1844)  mit  der 
Behauptung,  dass  jetzt  eine  besondere  Rührigkeit  in  ganz  D'eutsch- 
land  herrsche  in  Beireff  des  Forschens  nach  Geschichtsquellen, 
und  führt  zum  Beweise  dafür  (mit  einem  „denn  es  erscheint  etc.'*) 
nichts  anders  an  als  —  in  höchst  bunter  und  wunderlicher  Zusam- 
menstellung —  1)  Uaupt's  Zeitschrift,  2)  Kruse's  Necrolivonica,  3) 
Bülau's  Jahrbücher,  4)  die  vorliegende  Zeitschrift,  5)  Heeren  und 
Uckert's  Staatengescbichte  und  —  mitten  darunter  6)  den  Verein 
für  Kunst  und  Alterlhumskunde  in  Ulm.  —  Es  ist  klar:  das  Aus* 
land  weiss  von  unsern  histor.  Vereinen  gar  nichts  und  von  ihren 
Arbeiten  noch  weniger.  Um  so  mehr  Bedeutung  gewinnt  die 
gegenwärtige  Rubrik  unserer  Zeitschrift,  deren  Verbreitung  im  Aus- 
lande dafür  bürgt,  dass  dasselbe  mit  unsern  Vereinen  und  ihren 
Leistungen  nunmehr  eine  vertraulere  Bekanntschaft  schliessen 
werde.  Der  bisherige  Mangel  derselben  darf  aber  keinem  Auslander 
zur  Last  gelegt  werden;  die  Schuld  liegt -vielmehr  in  dem  Orga*» 
nismus  des  Vereins wesens  selbst,  in  der  unendlichen  Zersplitte- 
rung der  Publicationcn  wie  sie  leider  aber  sicher  noch  lange  Zeil 
fortdauern  wird,  und  in  dem  bisherigen  Mangel  an  centraler  Ver- 
tretung ihrer  Interessen.  Könnten  die  zahllosen  Zeitschriften,  Ar- 
chive und  Berichte  der  Vereine  (ein  sehr  frommer  revolutionärer 
Wunschi)  zu  einer  einheitlichen,  nur  in  verschiedene  Serien  zer 


292  Allgemeine  LUeraturberiehte. 

fallenden  grossartigen  Sammlang  unter  gemeinsamer  Redaction 
vereinigt  werden:  nimmermehr  würde  diese  der  Aufmerksamkeit 
des  Auslandes,  geschweige  xler  des  Inlandes  entgehen  können. 
Denn  —  diese  Wahrheit  dürfen  wir  uns  nicht  verhehlen  —  auch 
für  die  einheimischen  Fachgelehrten  war  bis  dahin  das  Terrain 
des  Vereinswesens  so  ziemlich  eine  terra  incogniCa,  aus  der  nur 
dunkle  Vorstellungen,  zusammenhanglose  Traditionen  in  mythischer 
Unbestimmtheit  zu  ihnen  herüberflossen.  Was  Alle  drückt,  das  druckt 
nicht  schwer.  Darum  wurde  die  Unkenntniss  auf  diesem  Gebiete 
selbst  dem  Fachgelehrten  nie  übel  angerechnet.  Künftig  wird  das 
anders  werden.  Hat  es  sich  erst  für  das  allgemeine  Wissen  her- 
ausgestellt, dass  der  uberflutbende  Strom  der  Vereinspublicationen 
doch  auch  manche  goldhaltige  Bestandtheile  mit  sich  führt,  woran 
man,  um  die  eigene  Unkunde  zu  beschönigen,  so  gern  noch  zwei- 
feln möchte:  dann  wird  auch  eine  fernere  Unkunde  der  Art  zur 
Schmach  gereichen  und  aus  Scheu  davor  der  Fachgelehrte  zu  wär- 
merer Theilnahme  und  schärferer  Beobachtung  sich  angetrieben 
fühlen;  während  andrerseits  die  Vereine  selbst  dieser  wachsameren' 
Controle  gegenüber  dann  um  so  sorglicher  den  Vorwurf  scheuen 
und  verhüten  werden,  als  ob  sie  nicht  anständen  auch  schlechte 
und  verdorbene  Waare  auf  den  Markt  zu  bringen.  In  den  Trieben 
dieser  zwiefachen  Scheu  wurzeln  demnach  unsere  Hoffnungen  auf 
eine  bedeutsamere  und  einilussreichere  Gestaltung  des  Vereiuswesens. 


AUgfemelne  liiteratarberlehte« 


Deutschland. 

Fürsten  und  Städte  zur  Zeit  der  Hohenstaufen ,  dargestellt  an  den 
Reichsgesetzen  Kaiser  Frtedrich's  H.  Von  Franz  Löher,  Oberlandesgericlif s  • 
Referendar.  Halle,  Ed.  Anton,  4846.  4  48  S.  8.  —  Ist  der  erweiterte 
Bestandtheil  eines  nahe  in  Aussicht  gestellten  grössern  Werkes 
über  die  Geschichte  der  staatsbürgerlichen  Freiheit  der 
Deutschen,  wurde  vorgetragen  in  der  Paderborner  Section  des 
Vereins  f.  Gesch.  u.  Alterthumskunde  Westfalens,  und  bezweckt, 
den  Kampf  zwischen  der  Fürstengewalt  und  der  freien  Genossen- 
schaft, wie  er  sich  durch  die  ganze  Geschichte  hindurchzieht,  auf- 
zufassen innerhalb  der  Grenzen  des  Hohenstauf.  Zeitalters  und  auf 
dem  Grunde  von  Gesetzesurkunden.  Den  Mittelpunkt  bildet  dio 
Entwicklung  der  Städte,  ihr  Ringen  mit  der  Fürstengewalt,  und 
die  Stellung  des  Kaisers  zwischen  den  Parteien.  Die  Veranlassung 
zu  den  städtefeindlichen  Gesetzen  der  Hohenstaufen  wird  weder 
in  Städtehass  noch  in  verwandten  Motiven  gesucht,  sondern  im 
Wesentlichen  mit  Raumer  in  der  eigenthümlichen  Stellung  der 
Kaiser,  welche  sie  eher  dem  Gange  der  rechtsgeschichtlichen  Ent- 
wicklung zu  folgen,  namentlich  gewaltsame  Aenderungen  der- 
selben zu  unterdrücken  nöthigte,  als  ihnen  selbstständig  in  die- 
selbe hineinzugreifen  erlaubte.  Von  HÖfeler^s  Friedrich  U.  wird 
gesagt,  das  Buch  sei  den  Worten  nach  ein  Verdammungsurtheii 
und  der  Darstellung  der  Thatsachen  nach  die  bündigste  Ehrenrede 
des  Kaisers.    Der  Verf.  bat  seinen  Stoff  in  18  Paragraphen  3ehr 


Allgemeine  Literaturberickte,  293 

anschaulich  gegliedert  und^  um  so  erfolgreicher  zu  fast  populärer 
Klarheit  erhoben,  als  zugleich  auch  die  Form  gewandt,  anziehend 
und  weder  durch  Noten  noch  durch  überflüssige  Gelehrsamkeit 
innerhalb  des  Textes  selbst  belästigt  ist.  So  berechtigt  diese  in- 
teressante Probe  zu  den  besten  Erwartungen  für  das  Gesammt- 
unternehmen,  macht  darauf  gespannt. 

Lulher  von  seiner  Geburt  bis  zum  Ablassstreite.  4483  — 1517.  Von! 
Karl  Jürgens.  Bd.  I.  Lpzg.  F.  A.  Brockhaus.  4  846.  —  Es  ist  dies  sichCl^ 
das  bedeutendste  Denkmal,  das  dem  Reformator  in  den  Tagen  ge- 
stiftet ward,  da  die  protestantische  Welt  das  Andenken  seines 
Hinscheidens  feierte.  Es  ist  aber  auch  an  sich  von  grösser  Bedeu- 
tung, nicht  ein  Erzeugniss  augenblicklicher  Erregung,  sondern  die 
Frucht  langer  Jahre  und  Studien;  und  es  tritt,  in  einer  Zeit  der 
Bewegung  ans  Licht,  die  ihm  eben  so  sehr  ein  grosses  Publicum 
wie  mittelbar  eine  grosse  Einwirkung  auf  die  streitenden  Richtun- 
gen verbürgt.  Der  Verf.  (Pfarrer  zu  Stadtoldendorf)  will  nicht 
sowohl  ein  Porträt  des  Reformators  liefern,  als  vielmehr  ein  Ge- 
mälde aufrollen,  das  ihn  zugleich  als  nothwendiges  Product  und 
als  Führer  seiner  Zeit  darstellt,  deren  Zustände  deshalb  meist  den 
Hintergrund  der  Schilderung,  oft  aber  auch  den  unmittelbaren 
Vordergrund  bilden  während  die  Gestalt  des  Reformators  nur 
perspectivisch  uns  entgegentritt.  Er  will  zeigen,  wie  Luther  ganz 
mit  seiner  Zeit  sich  bildete,  mit  ihr  wurde  was  er  geworden  ist, 
mit  ihr  that  was  er  gethan,  fast  in  ihr  stehen  bleibend  sie  weiter 
führte  soweit  sie  zu  folgen  vermochte,  ihre  Richtungen  in  sich 
aufnahm,  durchbildete,  zur  Reife  brachte  und  eben  dadurch  neue 
Wege  bahnte,  so  dass  er  dasteht  als  Vertreter  und  Werkzeug  des 
Gebots  der  Verhältnisse,  des  Wollens,  der  Vernunft  seines  Zeit-^ 
alters,  sofern  es  auf  ihn  und  er  auf  die  Zeitgenossen  eingewirkt*  * 
bat.  Nur  so  kann  der  ganze  Mann  aus  seinem  innersten  Wesen 
vorurtheilsfrei  erkannt  und  dem  Missbrauch  gesteuert  werden,  den 
man  gegenwärtig  mit  einzelnen  seiner  Aeusserungen  oder  Schritte 
zii  Gunsten  willkürlicher  Ansichten  und  Urtheile  treibt.  Der  Stand- 
punkt des  Verf.  ist  der  kirchliche  und  nationale,  auf  den  er  sich 
stelle,  wie  er  sagt,  um  eben  nicht  befangen  zu  urtheilen.  Die 
Objectivil'ät,  in  sofern  darunter  Mangel  an  theilnehmender  Wärme 
una  an  eigener  fester  Ansicht  verstanden  werde,  weist  er  zurück; 
die  geschichtliche  Wahrheit  aber  erkennt  er  als  höchstes  Gebot, 
und  will,  obwohl  philosophische  Geschichtschreibung  anstrebend, 
doch  sowenig  Philosoph  als  Theolog  oder  Kosmopolit  sein,  und 
sowenig  über  oder  ausser  der  Kirche  als  im  lutherischen  Bekennt- 
nisse oder  gar  bis  zum  Buchstaben  in  der  Dogmatik  stehen,  wel- 
che Luther  als  ewige  Wahrheit  mit  der  seine  Stellung  und  Wirk- 
samkeit bedingenden,  im  Einzelnen  fehlgreifenden  Leidenschaft 
festzustellen  suchte;  denn  die  Reformationszeit  ist  noch  keine  ab- 
geschlossene,  sie  reicht  mit  dem  was  sie  gegründet,  angefangen 
und  angedeuiet,  in  die  unsrige  herein.  —  Leider  müssen  wir  uns 
jedes  weitere  Eingehen  auf  den  Inhalt  versagen;  aber  die  ganze 
Erscheinung  ist  in  ihren  Grundlagen  und  Mitteln ,  in  ihren  Absich- 
ten und  Erfolgen  zu  bedeutungsvoll,  als  dass  wir  nicht  später 
wenn  auch  in  anderer  Form  darauf  zurückkommen  sollten;  hier 
kam  es  nur,  und  aus  denselben  Gründen  darauf  an,  die  Aufmerk- 
samkeit unverweilt  auf  ein  Unternehmen  hinzulenken,  welches  die- 
selbe in  dem  ausgedehntesten  Maasse  verdient«    Sollten  wir  ein 


294  Miscellen. 

Bedenken  kund  geben,  so  betrifft  dies  die  weite  Anlage  des  Werkes, 
wie  sie  selten  dem  Eindruck  und  der  Verbreitung  zum  Förderniss 
gereicht.  Dem  vorliegenden  Bande,  der  die  Entwicklung  Luthers 
und  seiner  Zeit  bis  auf  das  Jahr  1507  schildert  und  700  Seiten 
umfasst,  werden  noch  zwei  andere  folgen ,  um  bis  zum  Jahre  1517 
zu  gelangen  und  dergestalt  die  erste,  freilich  innerlich  bedeute 
samste  Bildungsperiode  Luthers  abzuscbliessen.  Hoffen  wir,  dass 
CS  dem  Verf.,  wie  es  der  Doppeltilel  (Luthers  Leben.  Erste  Ab- 
theilung) andeutet,  vergönnt  sein  werde,  den  Reformator  auch  in 
der  Periode  seines  Wirkens  uns  vorzuführen.  Je  mehr  indessen 
grade  dieser  letztern  das  Studium  bisher  sich  zugewandt,  um  so 
dringender  und  dankenswerther  ist  die  tiefere  Ergründung  der 
ersteren,  welche  der  Verf.  für  jetzt  uns  bietet,  woran  er  sein 
Alles  gesetzt,  und  worin  unbedenklich  keiner  seiner  Vorganger 
an  erschöpfender  Allseitigkeit  den  Vergleich  mit  ihm  aushält. 


MIscellen. 


Gustav  Adolf.     Erinnerung  am  Todestage  Luthers. 

Im  Jahre  4632,  kurz  vor  der  verbängnissvollen  Lutz ener  Schlacht, 
erschien  in  Deutschland,  ohne  Ortsangabe  folgende  merkwürdige  Schrift 
in  4to.  ,,Der  Newe  Römerzug,  Das  ist  Discurs,  Ob  die  Königliche 
Majestät  zu  Schweden,  vnd  die  Protestirende  Churfiirsten  vnd  Stönde  in 
Deutschland,  als  die  GOTT  dem  Allmächligen  seiner  Christlichen  Kicchen 
gegebenen  Defensores  nicht  alleine  gar  wol  können,  sondern  auch  schul- 
dig seyn.  Seiner  Majestät  alleine  von  Göttlicher  Allmacht  verliehenen  Vic- 
torien,  auch  weiter  den  Päbstlichen  Stuel  zu  Rom,  sampt  seinem 
Anhang  des  Welschlandes  zu  prosequiren  Ohnferlich  auffgesetzt 
durch  Virich  von  Hütten  den  Jungern  zu  Vfferew,    Im  Jahr  4632, 

Wie  einst  die  deutschen  Kaiser  ihren  Römerzug  (ihre  römvart) 
hielten,  sich  dort  krönen  zu  lassen,  so  räth  diese  ziemlich  umfangreiche 
Schrift  Gustav  Adolf  (vielleicht  als  er  schon  bis  München  vorgerückt 
war,  das  er  am  47.  Mai  einnahm),  sich  nich^  länger  aufzuhalten^  sondern 
grades  Weges  auf  Rom  loszugeben  und,  nachdem  auch  die  Möglichkeiten 
und  Mittel  umsichtig  betrachtet  worden  sind,  schliesst  die  besonnene,  ja 
kluge  Schrift   wörtlich: 

,,Wann  Königliche  Majestät  (möchte  Gott  gnädiglich  verleihen  wollen) 
jhr  intent  in  Italia  erlanget  hat,  so  ist  kein  zweifei,  es  werden  dieje- 
nigen, welche  sie  an  sich  aller  Orten  gezogen,  vnd  aus  der  vtiterschied- 
liehen  Tyranney  hin  vnd  wieder  errettet,  mit  beneficiis  cumuliret,  der 
Königlichen  Majestät  wobl  zugethan  vnd  gewogen,  verbleiben,  bevorab, 
wenn  sie  Ihrer  Majestät  Lindigkeit  in  der  that  verspüren  vnd  sehen, 
dass  er  nichts  andres,  denn  wahre  Gottesfurcht  vnd  Tugend 
liebet,  vnd  die  Justitz  handzuhaben  wündschet.  Vornemlich 
aber  wird  die  Königliche  Majestät  allen  Widerwillen  dadurch  ver- 
hüte n,  wann  sie  diejenigen  Italiener,  so  sich  jhr  Trew  jederzeit  er« 
zeiget,  vnd  vor  andern  erhoben  worden,  zu  Reg-imentssachen  ziehen 
wird,  wodurch  sie  denn  vmb  so  vielmehr  die  andern  zu  gleicher  Trew 
anreitzet,  vnd  diese  auch  vmb  so  vielmehr  trew  zu  bleiben  Terbindet, 
Wiewol  hierbey  grosse  Prudentz  von  nöthen,  dass  man  dei» 
Italienern  von   den  Regimentssacben  nicht  zu  viel^vnd  nicht  zu 


MisceUen.  295 

wenig  In  die  Htfnde  gebe.  Gibt  man  zu  viel  PreThelt,  wie  etzlicbe 
4  00  Jahr  hero  geschehen,  so  werden  sie  bald  rebelliren,  gibt  man 
:]hnen  ganz  nichts,  ergreilTen  sie,  darzu  sie  ohne  das  naturaliter 
inclinirt,  die  Desperation,  vnd  machen  so  denn  mit  solchen  molibus 
grosse  MUhe.  Vnd  aber  desshalben  wird  Königliche  Majeslttl  zu  Schweden 
in  enderong  der  Religion  bey  den  Itaiis  grosse  Auffsicht  vnd 
Prudentz  haben,  vnd  mit  freundlicher  LIndigkeit  sie  zu  allem 
sittsamen  stillen  humor  disponiren,  vnd  solche  Sachen,  die  Re* 
ligiou  betreffend,  nicht  auff  einen  sturtz  endern  vnd  verbessern.  Der 
Anfang  were  zu  machen  an  der  Policey  des  Römischen  Hofes, 
vnd  nicht  an  dem  genere  doctrinae,  denn  das  guberno  des  Römischen 
Hofes,  wann  solches  ab  geschaffet  wird,  dem  gemeinen  Mann  mehr 
Freybeil  In  Religionssachen  bringen  wird^S 

„Es  ist  ohne  das  wider  Gottes  Wort,  die  Gewissen  mit  dem 
Schwerde  zu  zwingen,  dannenhero  wird  dem  gemeinen  Mann  seine 
superstition  so  lange  zu  lassen  seyn,  als  es  jhm  gefallet,  vnter  dess  wird 
die  Königliche  Majesiat  das  jhrige  ihun,  vnd  das  reine  vnverfelschte 
Wort  Gottes  predigen  vnd  anfangs  demonstriren  lassen,  dass  bey  dem 
Pabstihumb  allmehlich  etzlicbe  Missbräuche  eingeschlichen,  manche 
Mis»brfiuche  von  Menschentand  jhren  Vrsprung  genommen,  die  rechte 
Religion  aber  nicht  seyn,  noch  darzu  dienen,  derohalben  müsse  man 
solche  fahren  lassen.  Item  bey  den  Literatis  können  sittsame  dlFpula- 
tiones  angesiellet  werden,  dass  man  also  zuvor  die  Gemülher  ge* 
winne,  ehe  man  die  Religion  zu  endern  vnd  abzuschaffen  an- 
fahe.  Wie  denn  kein  Zweiffei,  GOTT  der  Allmächtige  werde  vieler  Her- 
tzen  erleuchten,  dass  sie  der  Menschenlehre  vberdrüssig  werden,  vnd  zu 
dem  Evangelio   einen  Hunger  vnd  Durst  tragen". 

,, Gleicher  weise  wird  sich  Königliche  Majestät  in  acht  nehmen, 
Klöster  vnd  Kirchen  ad  usus  prophanos  &  privates  zu  verwen- 
den, zum  wenigsten  werden  in  usus  publlcos  der  Juslitz  zu  verwenden 
seyn,  denn  dergleichen  Verwendung  in  usus  privatos  ganlz 
viele  alternationes  macht". 

„Derohalben  so  lasse  man  das  Evangelium  nur  öffenilich  lehren^ 
allen  die  es  hören  wollen,  es  kan  ohne  Frucht  nicht  abgehen, 
das  Pabstihumb  wird  auch  nicht  anders,  denn  mit  dem  Geist- 
lichen Schwerdt  getödtet". 

,.ln  Summa,  wie  vor  Zeiten  die  Longobardi  vnd  Gothi  gantze  regna 
In  Italia  stabilirt,  also  ist  auch  nicht  vnmöglich,  das  jetzige  Schwedisehe 
Königl.  Majestät  mit  seinen  newen  Longobardis  vnd  Gothis  gleichfals  sich 
Italien  werden  bemächtigen  können,  zumal  desshalb  Königliche  Majestät 
Göttlichen  Beruff  vor  sich  hat,  dahero  sie  sich  auch  dessen  zu  trösten, 
dass  wie  sie  von  Gott  dem  Allmächtigen  nicht  zur  Straffe  in 
diese  Orte,  sondern  die  Tyrannen  zu  verfolgen  vnd  die  Kir- 
che zu  schützen,  ge schicket,  Ihr  Reich,  so  denn  nicht  nur  etzlicbe 
Jahre,  sondern  biss  an  der  Welt  Ende  wären  vnd  bleiben  werde,  welches 
denn  die  jetzige  Christenheit  vor  Königliche  Msjestät  zu  Schweden  von 
Hertzen  von  Gott  dem  Allmächtigen  wündschen  vnd  bitten  thut".  — 


Die  nachstehende  „  Einladung ''  ist  zugleich  in  der  Augsb.  Allg. 
Zeitung  und  in  der  Tübinger  Zeitschrift  für  deutsches  Recht  un4 
deutsche  Rechtswissenschaft  abgedruckt. 


296  Einladung. 

Einladniig  an  die  fiemanisteii  zu  einer  Gelehrten-Tenamm- 

Inng  in  Frankflirt  a.  H. 

Naturforschung  und  classische  Philologie  haben  es  eine  Reihe 
von  Jahren  her  empfunden,  wie  grosser  Gewinn  aus  Zusammenkünf- 
ten, wo  Bekanntschaften  gemacht,  Gedanken  gesammelt  werden,  zu 
ziehen  ist.  Drei  Wissenscnaflen,  aufs  Imiigste  unter  sich  selbst  zu- 
sammenhängend und  im  letzten  Menschenalter  wechselseitig  durch 
einander  erstarkt  und  getragen,  wollen  jener  Vortheile  gleichfalls 
theilhaft  zu  werden  suchen.  Allem  inneren  Gehalt  ^  dessen  sie  fähig 
erscheinen,  tritt  noch  ein  eigenthümlicher  vaterländischer  Reiz  hinzu. 

M^uer,  die  sich  der  Pflege  des  deutschen  Rechts,  deut- 
scher Geschichte  und  Sprache  ergeben,  nehmen  sich  vor,  in 
einer  der  ehrwürdigsten  Städte  des  Vaterlandes,  zu  Frankfurt  am 
Main,  vom  24.  September  1846  an  einige  Tage  mit  einander  zu  ver- 
kehren, und  da  sie  wünschen  mit  andern  Gleichstrebenden  dort 
zusammen  zu  treffen,  so  wählen  sie  diesen  öffentlichen  Weg,  um  ihr 
Vorhaben  zur  Kunde  Aller  zu  bringen. 

Wissenschaftliches  Anregen,  persönliches  Kennenlernen  und  Aus- 
gleichen der  Gegensätze,  soweit  aiese  nicht  innerhalb  der  Forschung 
Bedürfiiiss  sind,  werden  Zweck  unserer  Versammlung  sein,  ein  Ziel, 
worin  sich  auch  sonst  abweichende  Bestrebunf^en  vereinigen  können, 
vorausgesetzt  nur,  dass  es  ihnen  um  Wahrheit  zu  thun  ist. 

Ueber  die  Art  und  Weise  ihrer  Besprechungen  und  künftiges 
Wiederholen  nach  zwei,  drei  Jahren  wira  die  Versammlung  selbst 
beschliessen.  Vorläufig  angenommen  sei,  dass  freie  Rede  und  unge- 
zwungenes (besprach  iiberwiegen,  abgelesene  Vorträge  ftir  die  Regel 
ausgeschlossen  sein  sollen.  Sondening'  in  mehrere  Abtheilungen 
hängt  theils  von  Zahl  und  Neigung  der  Besuchenden  ab,  theils  von 
den  Gegenständen  der  Verhandlung,  deren  manche  sich  jedenfalls 
.für  Gemeinsitzungen  eignen  werden.  Hierbei  sind  wir  nach  dem  Bei- 
spiel anderer  Versammlungen  davon  ausgegangen,  dass  die  Zusam- 
menkunft zwar  öffentlich,  thätige  Theiluahme  aber  auf  den  Kreis  der 
Männer  eingeschränkt  sei,  welche  ihre  Betheiligung  am  Fortschritte 
der  deutschen  Wissenschaft  durch  ihre  Arbeiten  oder  im  Amte  dar- 
gelegt haben. 

Es  wäre  zu  viel  erwartet  von  einer  Gelehrten -Zusammenkunft, 
wenn  sichtbares  Fördern  einzelner  Lehren  oder  unmittelbares  Ein- 
greifen in  das  Leben  ihr  zur  Aufgabe  gestellt  würde;  aber  nicht  Gre- 
ringes  versprechen  wir  uns  von  unserer  Versammlung,-  wenn  sie, 
wie  nicht  zu  zweifehl  steht,  auf  dem  Boden  wissenschaftlicher  Unter- 
suchung festhaltend  sowohl  den  Werth  als  audi  den  Ernst  der  Zeit 
würdigen  und  jeden  Einzelnen  von  dem  Eifer,  der  das  Gfanze  be- 
seelt, erfüllen  wird. 

Neujahr  1846. 

E.  M.  Arndt.  Beseler.  Dahlmann.  Falk.*  Ger- 
vinus.  J.  Grimm.  *W.  Grimm'.  Haupt.  Lach- 
mann. Lappenberg. -Mittermaier.  Pertz.  Ranke. 
Reyscher.    Kunde.  A.  Schmidt.   Uhlaiilä:   Wilda. 

Aus  Frankfurt  haben  sich  dieser  Einladung  angeschlossen  und 
die  dortigen  Vorbereitungen  übernommen: 

Schöff  Dr.  Souchay.    Dr.  Euler. 


lieber  die  Qesclilclite  dev  neuesten  Zelt* 

vom  Wiener  Congreue  bis  auf  muere  Tage, 

mit  Rücksicht  auf  die  neuesten,    insbesondere  deutschen 

Bearbeitungen  derselben. 

Von 
Dr.  Karl  II«iren, 

Professor  d«r  Gssekieht«  in  Heid*ll»er||. 


Erster  Artikel:    Einleitung. 
Ueber  Ctnellen  und  Behaadlang  der  neuesten  (teschtchte. 

Heber  die  Wichtigkeit  der  Geschichte  unserer  Zeit  ist  man 
jetzt  im  Reinen:  man  hat  die  Ueberzeugung  erlangt,  dass  sie 
uns  ebenso  nöthig,  ja  weit  nöthiger  ist,  als  die  Geschichte 
des  himmlischen  Reiches,  des  alten  Aegyptens  und  Bactriens, 
ja  selbst  des  alten  Griechenlands  und  Roms,  Gegenstände, 
auf  welche  unsere  Gelehrten  von  jeher  so  erstaunliche  Mühe 
und  Arbeit  verwendet  haben.  Ich  sehe  diese  Erscheinung 
als  ein  höchst  charakteristisches  und  zugleich  erfreuliches 
Zeichen  der  Zeit  an:  denn  offenbar  spricht  sich  darin  ein 
bedeutendes  Selbstbewusstsein  der  Gegenwart  aus  oder  zum 
Mindesten  das  Bestreben,  sich  über  die  jetzige  Epoche,  ihre 
Ansichten  und  Tendenzen  zu  orientiren,  was  unzertrennlich 
ist  von  dem  Interesse  an  den  Bewegungen  derselben,  das 
wohl  auch  zu  Thaten  führen  könnte.  Gräme  man  sich  des- 
halb nicht  allzusehr  darüber,  wenn  unsere  solide  gelehrte 
Literatur,  welche  die  gründlichsten  notenbespicklesten  For- 
schungen über  längst  entschwundene  Zeiten  und  Völker  an- 
gestellt, allmählig  in  Decadence  geräth.  Hat  man  uns  doch 
oft  genug,   und  nicht  mit  Unrecht,   vorgeworfen,    dass  wir 

Ailg.  Zeit«chriri  f.  GesebickU.  T.  iSi6.  20 


298  Veber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit, 

vor  lauter  Wissenschaft  und  Gelehrsamkeit  es  nicht  zum 
Handeln  brächten.  Und  doch  wäre  es  einmal  an  der  Zeit, 
dass  die  deutsche  Nation,  die  eine  so  gründliche  Schule 
durchgemacht  wie  kein  anderes  Volk,  endlich  auch  eine  ge- 
wisse Selbstständigkeit  in  politischen  Dingen  erwürbe.  Freuen 
wir  uns  daher  darüber,  dass  das  Publikum  den  Geschmack 
an  jener  gelehrten,  in  der  Studierstube  entstandenen  Lite- 
ratur nachgerade  verliert  und  sich  lieber  zu  denjenigen 
Büchern  wendet,  welche  die  unmittelbarste  Wirklichkeit,  die 
Gegenwart  bebandeln  und  die  Mitwelt  am  allerbesten  über  den 
Boden  zu  orientiren  vermögen,  auf  welchem  sie  wirken  soll. 
Aber  freilich  die  Geschichte  unserer  Zeit  ist  mit  vielen 
Schwierigkeiten  verbunden.  Zunächst  wegen  der  Quellen. 
Es  fehlt  allerdings  nicht  an  Stoff.  Denn  in  keiner  Periode 
sind  diese  so  zahlreich  geflossen:  namentlich  was  die  jour- 
nalistische Literatur  betrifft.  Allein  die  Quantität  macht  es 
nicht  aus,  sondern  der  Gehalt.  Und  da  müssen  wir  denn 
gestehen^  dass  uns  gerade  über  die  wichtigsten  Verhältnisse^ 
Verhandlungen  und  Bestrebungen  die  Quellen  absichtUcli 
vorenthalten  oder  sogar  verfälscht  worden  sind.  Um  nur 
Einiges  anzufUiren ,  so  wurde  das  Publikum  über  die  eigent- 
lichen Verhandlungen  des  Achner  Congresses  im  Jahre  1818 
gänzlich  getäuscht:  die  geheimen  Beschlüsse,  die  daselbst 
zwischen  den  drei  absoluten  Mächten  verabredet  worden 
sind,  und  welche  die  Grundlage  für  die  Garlsbader  Minister- 
conferenzen  im  Jahre  1819  bildeten,  kamen  nicht  zur  Oef- 
fentlichkeit.  Ebenso  wenig  war  dem  Publikum  die  Veröfient- 
lichung  der  letzteren,  nämlich  der  eigentlichen  Verhandlun- 
gen zugedacht.  Die  Sitzungen  der  Bundesversammlung  in 
Frankfurt,  deren  Aufgabe  für  das  gesammte  deutsche  Vater- 
land doch  eine  so  höchst  wichtige  ist,  und  wobei  die  Rich- 
tungen der  einzelnen  Regierangen  und  zum  Tbeil  auch  die 
Motive,  von  denen  ihre  Handlungsweise  geleitet  ist,  sieb 
deutlich  herausstellen  könnten,  sind  ebenfalls,  wenigstens 
seit  dem  Jahre  1824  der  Oeffentlichkeit  und  somit  der  Zeit- 
geschichte entzogen.  Diese  Heimlichkeit  wird  sogar  bei 
solchen  Regierungsbandlungen   angewendet,    welche  öffent^ 


üeber  die  Geickichfe  der  neneiim  ZeU.  209 

liebe  Normei)  abgel>en  sollen,  wie  denn  maocbe  fieigieriiagen 
solche  Verordüimgen,  von  denen  sie  lUrchteB,  dass  sie  b^ses 
Blut  machen  könnten,  nicht  mehr  durch  den  Druck  uod 
durch  die  Zeitungen  bekannt  machen  lassen,  sondern  litlio* 
graphirt  den  betreffenden  Behörden  mittheiien,  welche  sich 
blos  darnach  zu  richten  haben,  ohne  jedoch  die  VerordauBg 
veröffentlichen  zu  dürfen.  Durch  dieses  Verfahren  werden 
aber  dem  Geschichtschreiber  höchst  schätzbare  MaieriaJiett 
zur  Cbarakterisirung  der  Begierungen  entzogen.  — 

Während  man  nun  auf  der  einen  Seite  sich  bemüht, 
das,  was  in  Heimlichkeit  geboren  worden,  sorgsam  vor  dem 
Liebte  zu  bewahren,  und  um  dasselbe  einen  so  dicblen 
Schleier  als  möglich  zu  ziehen,  sucht  man  zugleich  dasjenige, 
was  nach  Oeffentlichkeit  und  nach  dem  Tageslicfale  drän^ 
und  nur  darin  sein  wahres  Element  erblickl,  gewaltsam  da- 
von zurllckzuhaUen:  nümlich  die  öffentliche  Meinung.  Diese 
ist  nicht  minder  wichtig,  wie  die  Regierung^i:  beide  bilden 
zusammen  die  Faktoren  der  Zeit.  Die  (Iffentiiche  Meinung 
ist  aber  im  Ganzen  viel  zugänglicher,  ich  möchte  sagen,  de- 
mokratischer, als  die  Diplomatie;  während  die  letztere  sich 
in  die  Gabinete  verschliesst,  treibt  jene  so  zu  sagen  sich 
auf  den  Strassen  und  in  den  Wirihshäusem  herum,  und 
kann  von  jedem  angegangen  und  befragt  werden,  der  sich 
dafür  interessirt  —  vorausgesetzt  nämlich,  dass  dies  die 
Polizei  erlaubt.  Das  ist  aber  nicht  überall  der  Fall.  In  den 
Ländern,  wo  das  beklagenswertbe  Institut  der  Censur  existirt, 
ist  nämlich  auch  die  öffentliche  Meinung  verfälscht  worden: 
sie  kann  sich  weder  in  Zeitungen,  noch  in  Broschüren,  noch 
auch,  wenigstens  in  manchen  Ländern,  in  dicken  Büchern 
aussprectien:  entweder  werden  die  betreffenden  Artikel  von 
dem  Gensor  zerstückelt,  oder  der  Verfasser  muss  mit  Rück- 
sichtnahme auf  jene  seinem  Geistesprodukte  bevorstehende 
Scbeere  so  verhüllt,  zahm  und  in  allgemeinen  Redensarten 
schreiben,  dass  alles  Gharakteristische  hinwegfälit  und  im 
Grunde  doch  nur  ein  Schatten  von  der  öffentlichen  Meinung 
zurückbleibL  Manchmal  werden  übrigens  selbst  blosse  That- 
Sachen,   ohne  alles  Raisonnement  von  Seiten  des  Bericbter« 

20* 


300  Üeber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit. 

stdtterS;  von  der  Censur  gestrichen,  wenn  dieselben  ganz 
prägnant  und  entschieden  eine  Ansicht  repräsentirten,  die 
mit  der  des  Censors  oder  der  Regierung  nicht  überein- 
stimmte. So  ist  Manchen  noch  im  guten  Gedächtniss,  wie 
bei  den  Demagogenverfolgungen  die  schreiendsten  Ungerech- 
tigkeiten begangen  wurden,  ohne  dass  es  den  Angeklagten 
verstattet  war,  die  in  Bezug  auf  sie  verbreiteten  Unwahr- 
heiten in  Zeitungen  zu  berichtigen  und  vor  dem  Publikum 
die  Dinge  so  hinzustellen,  wie  sie  sich  wirklich  verhielten. 
Man  sieht  daher:  die  Censur  verfälscht  die  Geschichtsmate- 
rialien, indem  sie  einerseits  der  öffentlichen  Meinung  nicht 
erlaubt,  frei  und  unumwunden  sich  zu  äussern,  während 
sie  andererseits  der  herrschenden  Partei  die  vollkommenste 
Willkür  gestattet. 

Wie  nun?  könnte  man  fragen,  ist  unter  solchen  Um- 
ständen überhaupt  nur  eine  Geschichte  unserer  Zeit  möglich? 
Auf  der  einen  Seite  Mangel  an  den  wichtigsten  Aktenstücken, 
wodurch  man  höchst  wahrscheinhch  die  Fäden  der  gesamm- 
ten  Thätigkeit  eines  Theils  der  europäischen  Cabinete  er- 
kennen würde:  auf  der  andern  nicht  einmal  die  Möglichkeit, 
sich  genau  über  die  öffentliche  Meinung  und  somit  über  den 
Geist  der  Zeit,  das  Streben  der  gegenwärtigen  Menschheit 
zu  unterrichten  —  wie  kann  auf  diese  Weise  die  Geschichte 
unserer  Zeit  etwas  anderes  sein,  als  traurige  Halb  Wahrheit 
oder  Entstellung? 

Indessen  beim  Lichte  besehen,  gewährt  uns  die  Sache 
doch  einen  ganz  andern  Anblick.  Was  zunächst  die  Heim-  ' 
lichkeit  der  Cabinete  betrifft,  so  hat  es  ihnen  trotz  aller  Be- 
mühungen doch  niemals  vollständig  gelingen  können,  sie 
ganz  und  gar  zu  bewahren.  Die  Zeit,  welche  in  allen  Stücken 
nach  Oeffentlichkeit  hinarbeitet,  weiss  auch  solche  Dinge  an 
das  Tageslicht  zu  ziehen,  die  gleich  bei  ihrem  Entstehen 
auf  die  Heimlichkeit'  berechnet  waren  und  nur  auf  ihrem 
Boden  gedeihen  konnten.  So  sind  uns  die  geheimen  Ver- 
handlungen des  Achner  Gongresses  mitgetheilt,  so  sind  die 
Protokolle  der  Karlsbader  Ministerconferenzen  erst  neuerdings 
durch  Welcker  der  Geschichte  übergeben,    so   hat  Kombsf 


Veber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit.  301 

durch  seine  Aktenstücke  die  späteren  Ereignisse  in  Deutsch* 
land  aufgeklärt,  so  sind  die  Wiener  geheimen  Beschlüsse 
von  1834  zu  allgemeiner  Kunde  gelangt,  so  hat  zu  seiner 
Zeit  das  Porlfolio  die  interessantesten  Aufschlüsse  über  die 
russische  Politik  und  was  damit  zusammenhängt  gegeben. 
Kurz:  es  ist  kaum  möglich,  dass  irgend  eine  Verhandlung 
oder  Beschlüsse,  welche  von  ganz  entschiedenem  Einflusise 
auf  die  allgemeine  Entwicklung  gewesen  sind,  Geheimniss 
bleiben  können:  früher  oder  später  gelangen  sie  an  das  Licht. 
Auch  würde  ein  aufmerksamer  Beobachter  dergleichen  Ur- 
kunden nicht  einmal  nöthig  haben,  um  den  Zusammenhang 
der  Dinge  zu  erkennen:  wie  denn  z.  B.  die  heller  Sehenden 
durch  die  Veröffentlichung  der  Wiener  Ministerconferenzen 
vom  Jahre  1834  nichts  Neues  gelernt,  sondern  nur  einen 
Beleg  für  das,  was  sie  schon  längst  gewusst^  erhalten  haben. 
Denn  da  das  Charakteristische  von  dergleichen  Beschlüssen, 
welche  geheim  gehalten  werden  sollen,  darin  besteht,  dass 
sie  realisirt  werden  müssen,  und  zwar  so  bald  und  so  um- 
fassend als  möglich,  so  darf  man  nur  die  ungewöhnliche 
Uebereinstimmung  der  Thatsachen  in  verschiedenen  Ländern 
ins  Auge  fassen,  um  daraus  den  Schluss  zu  ziehen,  dass 
eine  Verabredung  vorhergegangen  sein  müsse.  Auch  liegt 
gerade  in  der  Heimlichkeit  ein  ungewöhnlicher  Reiz  für  den 
Verstand  und  Scharfsinn  des  Menschen:  man  kennt  Ja  den 
alten  Spruch,  dass  wir  uns  zu  dem  Verbotenen  hinneigen: 
dieser  hat  noch  eine  edlere  Bedeutung:  die  Hindernisse, 
welche  sich  dem  Forscher  entgegenstemraen,  reizen  seine 
Wissbegierde  und  sein  Talent,  wie  denn  gerade  solche  Männer, 
die  mit  den  grössten  Hemmnissen  kämpfen  mussten,  es  in 
der  Wissenschaft  am  Weitesten  gebracht  haben.  So  wird 
die  gegenwärtige  Menschheit,  wenigstens  die  Gebildeteren, 
welche  sich  mit  den  Fragen  der  Politik  beschäftigen ,  durch 
das  geheimnissvolle  Dunkel,  das  um  die  Diplomatie  der  Ca- 
binete  verbreitet  ist,  weit  mehr  angereizt,  in  das  Innere  des 
Getriebes  zu  dringen,  als  dies  sonst  der  Fall  wäre,  wenn 
man  sich  nicht  recht  auffallende  Mühe  gäbe,  das  Licht  der  Oef- 
fentlichkeit  im  fliehe».  Peun  Alles,  w?is  das  belle  TagösUcbt 


302  Vebw  dn  Qe$ckiehte  der  neueiien  Zeit 

mdbX  vortragen  k«in,  imiss  —  dies  Ist  der  gewdhDKcke 
SehlüftS  des  gesuDden  Menschenverstandes  —  etwas  ganz 
Biorbitanies  sein,  und  darum  verlohnte  es  sich  wohl  der 
MUhe,  ihm  auf  die  Spur  t\x  kommen.  Daher  wird  jedes 
grosso  politische  Geheimniss  gegenwärtig  sich  immer  in  der 
Lage  sehen,  von  allen  Seiten  aafgespürt  zu  werden,  und 
wie  es  sich  atfch  winden  und  drehen  mag,  es  moss  am 
Ende  doch  den  unermüdlichen  Jägern  seine  Fährte  verratheor 
Mit  dem  einen  Punkte  sähe  es  demnach  nicht  so  ttbel 
aus.  Was  aber  den  anderen  betrifft,  nämlich  die  Verf^l« 
•chung  der  öffentlichen  Meinung  durch  die  Ceosor,  so  hat 
finan  auch  dagegen  ein  Auskunftsmittel  gefunden.  Wer  weiss 
nicht,  dass  alle  politische  Schrift&telierei,  welche  in  den 
Journalen  beschnitten  und  verkürzt  wird^  zu  den  21  Bogen 
ihre  Zufiucbt  nimmt ,  wo  man  wenigstens  für  die  erste  Zeit 
der  Polizei  entgeht,  und  selbst  dann  wenn  ein  Verbot  er- 
folgen sollte,  die  Aussicht  hat,  trotz  dem  oder  vielmehr 
eben  deshalb  nur  noch  mehr  gelesen  zu  werden?  Wem  ist 
es  unbekannt,  um  ein  eclatantes  Beispiel  anzuführen,  dass 
in  dem  vorsichtigen  Oestreich ,  welches  die  ganze  Monarchie 
mit  dem  dichtesten  Geistescordon  umzogen  hat,  über  die 
Hälfte  der  eingeführten  Bücher  zu  den  verbotenen  gehören 
und  dass  gerade  für  diese  dort  verhältnissmässig  der  grösste 
Markt  zu  finden  ist?  Dicke  Bücher  werden  allerdings  we- 
niger gelesen  und  wirken  eben  darum  weniger,  als  Journale: 
aber  nur  dann,  wenn  diese  interessant  und  kurzweilig  sind. 
Wenn  sie  aber  durch  die  Scheere  der  Censur  so  zusammen- 
gearbeitet werden,  dass  man  in  ihnen  tagtäglich  nichts  wei- 
ter, als  immer  nur  das  Nämliche  findet,  und  wenn  man  da*- 
gegen  die  Erfahrung  gemacht  hat,  dass  gerade  in  den  dicken 
Büchern  über  20  Bogen  das  sich  findet,  was  die  Journalistik 
bieten  soll,  so  wendet  sich  das  nachgerade  gescheid  gewor- 
dene Publicum  von  dieser  weg  zu  jenen,  und  die  Tages* 
literatur  pflanzt  allmählig  ihr  Schild  auf  der  geschlosseneren, 
weniger  verfolgten  Presse  auf.  Dadurch  hat  eines  Theils  die 
öffentliche  Meinung  wieder  einen  Ausweg  gefunden,  sich 
rttoksicbtslos  und  unumwunden  zu  äussern ,  und  es  ist  ihr 


Ueber  die  Geichichte  der  tieue^ten  Zeit.  303 

Gelegenheit  genug  geboten,  um  Alles  wieder  einzubringen, 
,was  sie  dort  hat  aufgeben  müssen:  andern  Theiis  ist  dadurch, 
was  auch  der  Engländer  Urquhart  schon  bemerkt  hat,  die 
Möglichkeit  gegeben,  die  politischen  Fragen  viel  tiefer,  IgrUnd- 
licher  und  umfassender  zu  behandeln,  als  Journale  gestatten 
würden:  und  wir  Deutsche  gewinnen  hiemit  den  ungemeinen 
Vortheil,  uns  weit  besser  und  vielseitiger  in  den  staatlichen 
Dingen  zu  unterrichten,  als  diejenigen  Völker,  welche  ihre 
politische  Bildung  lediglich  aus  den  Zeitungen  schöpfen. 

Uebrigens  ist,  genau  betrachtet,  die  Censur  im  Ganzen 
doch  unwirksam.  Es  ist  zwar  richtig,  was  wir  oben  be« 
merkt  haben,  verfälscht  wird  die  öffentliche  Meinung  durch 
sie:  aber  doch  nur  in  einzelnen  Fällen,  in  einzelnen  Punkten, 
und  nur  momentan:  aber  weder  kann  die  öffentliche  Mei- 
nung gänzlich  unterdrückt  werden,  noch  vermag  sie  es  auf 
lange  Zeit:  sie  hat  ein  zu  tiefes,  in  dem  ganzen  Volksbe- 
wusstsein  wurzelndes  Leben,  als  dass  man,  so  viel  einzelne 
Glieder  man  auch  abschneiden  möge,  sie  völlig  tödten  könnte: 
sie  ist  vielmehr  gleich  jener  Schlange  in  der  Fabel,  die  statt 
des  einen  abgehauenen  Kopfes  sofort  eine  Menge  anderer 
zum  Vorscheine  bringt.  So  wird  sie  durch  die  Censur  zwar 
abgehalten,  sich  rücksichtslos  und  unverhülU  zu  zeigen: 
aber  ihr  innerstes  Wesen  bricht  doch  durch  alle  Fesseln, 
die  man  ihr  anlegt,  hindurch:  und  wenn  man  sich  nur  ein 
Bischen  auf  die  Kunst  versteht,  zwischen  den  Zeilen  zu  le- 
sen, insbesondere  zwischen  den  weitgedruckten,  wo  der 
Gensor  seine  Verwüstung  angerichtet  hat,  so  vermag  man 
selbst  aus  unseren  gegenwärtigen  Blättern  die  öffentliche 
Meinung,  die  Stimmung  und  die  Tendenzen  der  Zeit  zu  er- 
kennen. Früher,  bis  zum  Jahre  1834,  wo  noch  die  Censur- 
lücken  existirten,  war  das  viel  leichter:  hier  konnte  die 
Phantasie  mit  Leichtigkeit  nachhelfen.  Seitdem  diese  ver- 
boten sind,  ist  es  aUerdings  schwerer  geworden,  weil  da- 
durch der  Gewaltact  des  Censors  auf  die  Rechnung  der  Un- 
geschicklichkeit des  Schriftstellers  kam,  indem  man  nicht 
mehr  unterscheiden  konnte,  wem  der  Unsinn  eines  durch 
die  Censur  verstümmelten  Satzes  zugerechnet  werden  musste, 


304  Veber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit, 

ob  dem  Schriflsteller  oder  dem  Gensor?  [ndessen  sind  wir 
durch  die  Länge  der  Zeit  auch  dafür  feinfühlender  geworden, 
und  haben  allmählig  die  Ueberzeugung  erlangt,  dass,  wo 
offenbarer  Unsinn  sich  findet,  dieser  durch  den  Gensor  ge- 
macht worden  ist,  keineswegs  durch  den  Schriftsteller. 
Schwieriger  ist  dadurch  allerdings  die  Aufgabe  des  Histo- 
rikers geworden:  denn  während  er  bei  Pressfreiheit  nichts 
weiter  zu  thun  hätte,  als  blos  zu  lesen,  was  geschrieben 
worden,  muss  er  jetzt  gleichsam  mit  dem  Geiste  jedes  cen- 
sirte  Blatt  betasten,  um  herauszufühlen,  was  etwa  unter  den 
gedruckten  Buchstaben  noch  für  ein  Sinn  stecken  möge. 
Jedoch  wird  diesem  Uebelstande  wieder  ^uf  einer  anderen 
Seite  abgeholfen.  Durch  die  ausserordentliche  Erleichterung 
der  Gommunication  vermittelst  Dampfschiffahrt  und  Eisen- 
bahnen nämlich  kann  sich  Jeder  von  dem  wirklichen  Stande 
der  Dinge  selber  unterrichten:  und  überhaupt  sind  durch 
diese  Erfindungen  die  Menschen  persönlich  einander  wieder 
80  nahe  gekommen,  dass  die  mündlichen  Mittheilungen  be- 
reits anfangen,  die  schriftlichen  zu  verdrängen,  so,  dass 
man  die  Zeitungen,  zumal  die  censirten,  fast  entbehren 
könnte,  und  doch  wüsste  wie  es  in  der  Welt  stände.  Die 
Sachen  sind  nun  schon  "So  weit  gediehen,  dass  das  Ver- 
bieten sämmtlicher  Zeitungen,  ja  dass  selbst  das  gänzliche 
Verbot  der  Buchdruckerkunst  nichts  mehr  helfen  würde: 
denn  die  Menschen  würden  dann  nur  desto  häufiger  per- 
sönlich zusammenkommen  und  sich  gegenseitig  ihre  Mitthei- 
lungen machen.  Die  Eisenbahnen  aber  kann  man,  schon 
aus  finanziellen  Rücksichten,  doch  nicht  eingehen  lassen.  — 
Die  Quellen  für  die  neueste  Geschichte  also,  so  unzu- 
länglich sie  uns  beim  ersten  Anblicke  erschienen  sind,  sind 
doch  nicht  schlechter,  als  die  für  jede  andere  Epoche:  ja, 
sie  sind  vielleicht  noch  besser:  denn  ausser  den  gedruckten 
Quellen  giebt  es  noch  lebendige  Zeugen,  welche,  wenn  sie 
sich  auch  scheuen,  etwas  von  dem,  was  sie  wissen,  der 
Oeffentlichkeit  zu  übergeben,  doch  in  vertrautem  Gespräche 
nicht  hinter  dem  Berge  halten:  eine  Quelle,  wie  man  sieht, 
VW  ßusserprdentjicher  Bedeutung,   wodurch  sich  die  Ge- 


lieber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit,  305 

schichte  der  neuesten  Zeit  vor  allen  anderen  auszeichnet, 
die  sich  nur  mit  todten  begnügen  müssen. 

Wie  aber?  Gesetzt  auch,  die  Quellen  seien  hinreichend 
gut,  der  Geschichtsforscher  besässe  ferner  genug  Scharfsinn 
und  kritisches  Talent,  um  den  wahren  Zusammenhang  der 
Dinge  zu  ergründen ,  die  objective  Geschichte  könne  also  in 
Wahrheit  gefunden  und  herausgestellt  werden  —  wird  sie 
nun  nicht  an  der  Subjectivität  des  Geschichtschreibers  schei- 
tern? und  macht  es  diese  nicht  überhaupt  unmöglich,  die 
Geschichte  der  eigenen  Zeit  wahrhaftig  zu  beschreiben? 
Dies  ist  eine  Frage,  die  oftmals  aufgeworfen  und  beant- 
wortet worden  ist.  Auch  verdient  die  Wichtigkeit  derselben, 
dass  wir  bei  ihr  ebenfalls  etwas  länger  verweilen. 

Dass  die  Geschichte  der  eigenen  Zeit  seilen  wahrhaft 
beschrieben  worden,  ist  leider  nur  zu  wahr.  Furcht,  Wohl- 
dienerei,  Rücksichten  aller  Art  haben  sehr  häußg  den  Ge- 
schichtschreiber abgehalten,  seine  Pflicht  zu  erfüllen.  Leider 
findet  man  diese  unlöblichen  Eigenschaften  auch  heut  zu 
Tage  oft  genug  in  dem  Stande  unserer  Gelehrten.  Die  Wis- 
senschaft, welche  in  ihrer  rechten  Bedeutung  erfasst,  sich 
selber  genug  sein  muss,  hat  sich  neuerdings  gar  zu  sehr 
mit  fremdem  Prunke  und  Schimmer  umgebens,  als  dass  sie 
die  ursprüngliche  Reinheit  ihres  Wesens  hätte  bewahren 
können.  Nicht  dadurch  aber  wird  der  Priester  der  Wissen- 
schaft eine  bedeutendere  Stellung  einnehmen  können,  dass 
er  den  Mächtigen  schmeichelt  und  sein  Talent,  das  ihm  die 
Natur  zum  Schutze  der  Wahrheit  verliehen,  nur  dazu  an- 
wendet, um  unhaltbare  Theorien  zu  vertheidigen  oder  That- 
sachen  zu  entstellen  und  ihnen  einen  andern  Zusammenhang 
unterzubreiten.  Nur  den  wird  die  Nachwelt  als  echten  Jünger 
der  Wissenschaft  anerkennen,  der  ohne  Menschenfurcht, 
ohne  Rücksicht  auf  zeitliche  Vorlheile  nur  der  Stimme  in 
seinem  Busen  folgt  und  nicht  ermüdet,  nach  bester  Ueber- 
zeugung  die  Wahrheit  zu  ergründen.  Wohl  ist  es  nicht  so 
leicht,  auf  dem  Pfade  der  Tugend  und  der  Wahrheit  zu 
wandeln:  denn,  wie  wir  schon  aus  der  Bibel  wissen,  eben 
solche  sind  den  Pharisäern  und  Zöllnern  ein  Aergernis^, 


^ 


306  üeber  die  Geschichte  dei*  t^uesten  Zeit 

und  werden  van  ihnen,  so  gut  es  geht,  verfolgt.  Aber  es 
ist  auch  etwas  Schönes  und  Erhabenes,  in  einer  Zeit  der 
Demoralisation ,  wo  das  Schlechte  noch  so  viel  Mittel  besitzt, 
um  ehrenwerthen  Charakteren  zu  schaden  oder  sie  gar  zu 
vemichten,  mit  männlichem  Trotze  da  zu  stehen  und  den 
Wellen,  die  gegen  uns  anschlagen,  muthig  die  Stirne  zu 
bieten.  Ein  schönerer  Lohn  ist  doch  wohl  das  Bewusstsein, 
unter  den  Wenigen  gewesen  zu  sein ,  die  selbst  im  Unglücke 
treu  geblieben,  als  zu  dem  charakterlosen  Trosse  gerechnet 
zu  werden  y  die  aus  Feigheit  und  Egoismus  nur  dem  grossen 
Haufen  und  dem  Glücke  nachgegangen. 

Aber  die  Unwahrheit  des  Geschichtschreibers  seiner 
eigenen  Zeit  kann  noch  einen  anderen  Grund  haben,  als 
Furcht  oder  Feigheit.  Sie  kann  aus  einer  edleren  Quelle 
fliessen:  der  Geschichtschreiber  kann  ja  mit  ganzem  Herzen 
und  aus  voller  Ueberzeugung  Partei  nehmen  für  eine  der 
sich  bekämpfenden  Richtungen.  Dies  gilt  besonders  von  der 
Gegenwart.  Denn  heut  zu  Tage  ist  es  kaum  mehr  möglich, 
nicht  Partei  zu  nehmen,  so  sehr  haben  sich  die  verschie- 
denen streitenden  Richtungen  der  Gemüther  der  Zeitgenossen 
bemächtigt.  Wie  nun?  könnte  man  fragen,  wenn  auch  der 
Historiker,  wie  doch  wohl  anzunehmen,  einer  der  sich  be- 
kämpfenden Parteien  angehört,  wie  ist  sodann  von  ihm  jene 
Objectivilät  zu  erwarten,  die  doch  ein  wesentliches  Erfor- 
derniss  des  Geschichtschreibers  ist?  Wird  er  nicht  vielmehr 
Alles  im  Sinne  der  Richtung,  zu  der  er  sich  bekennt,  dar- 
stellen, und  blind  sein  gegen  die  Fehler  derselben,  so  wie 
gegen  die  Vorzüge  der  anderen? 

Ich  gestehe,  dass  mich  diese  Frage  nicht  gar  zu  sehr 
incommodirt.  ich  verlange  vom  Historiker  mehr,  als  von 
irgend  einem  anderen  Manne  der  Wissenschaft,  Charakter. 
Wo  ich  diesen  finde,  wiU  ich  gerne  mit  in  den  Kauf  nehmen, 
dass  der  Mann  einer  Partei  angehört:  ja  gerade  in  einer  Zeit 
des  Kampfes  wird  der  charaktervolle  Mann  sicherlich  Partei 
nehmen:  vorausgesetzt  nämlich,  dass  der  Gegenstand  des- 
selben nichts  Kleinliches  und  Persönliches,  sondern  etwas 
Grosses  unä  Gewaltiges,  mit  Einem  Worte  Ideen  silid.  Der 


Ueber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit.  307 

cbaraktervolle,  wenn  auch  einer  Partei  angeh^^rende  Ge- 
scbicbtschreiber  wird  mir  gewiss  ein  besseres  Bild  der  Zeit 
geben,  als  derjenige,  welcher,  indem  ersieh  der  Gesinnnngs^ 
iosigkeii  und  Zahmheit  befleissigt,  uns  weiss  machen  möcbte, 
dass  er  nach  Unparteilichkeit  und  Objectivität  gestrebt  habe. 
Aber  gar  zu  häufig  wird  Höfiscbkeit  und  ängstliches  Zurück- 
ballen  seiner  eigenen  Meinung  mit  jenen  Eigenschaften  ver- 
wechselt, die  allerdings  die  schönste  Zierde  des  echten 
Historikers  sind. 

Wir  glauben  indess,  dass  diese  dem  Historiker  inne- 
wohnen können,  auch  wenn  er  einer  Partei  angehört.  Denn 
beim  echten  Historiker  nniss  die  Liebe  zur  Wahrheit  so  über« 
wiegen,  dass  jede  andere  Neigung  vor  ihr  zurücktritt  und 
mit  ihr  gar  nicht  in  Conflict  kommen  kann,  oder,  wenn 
auch,  doch  so,  dass  jene  unzweifelhaft  den  Sieg  davon  trägt. 
Die  Gewissenhaftigkeit  muss  ihm  angeboren  sein ,  nicht  etwa 
erzeugt  durch  Reflexion  und  Ueberlegung:  sie  muss  ein  we- 
sentliches Element  seines  Natureis  ausmachen.  Ist  dies  der 
Fall,  so  darf  der  Historiker  getrost  einer  Partei  angehören, 
und  er  wird  sich  doch  nicht  gegen  die  Geschichte  versün- 
digen. 

Die  wahre  historische  Treue,  das  Hauptziel  des  Ge-> 
Schichtschreibers,  besteht  jedoch  nach  unserer  Ansicht  nicht 
blos  in  jener  Unparteilichkeit,  welche  mit  Wissen  nichts 
Unwahres  und  Entstelltes  berichtet,  vielmehr  das  Gute  auf 
gleiche  Weise  vom  Feinde,  so  wie  das  Schlechte  vom  Freunde 
erzählt,  eine  Eigenschaft,  welche  uns  mehr  oder  minder 
einen  blos  negativen  Charakter  zu  haben  scheint,  sondern 
sie  besteht  vorzugsweise  in  dem  Talente,  in  die  verschieden- 
sten Richtungen  und  Bestrebungen,  selber  in  solche,  mit 
denen  wir  eigentlich  nicht  übereinstimmen,  einzugehen,  sie 
in  ihrem  Wesen  und  in  ihrem  Kerne  aufzufassen  und  mög* 
liehst  getreu  wieder  darzustellen.  Man  sieht:  wir  verlangen 
Vielseitigkeit  vom  Historiker,  und  zwar  nicht  blos  diejenige, 
welche  durch  Kenntnisse  erworben  wird,  sondern  welche 
das  Resultat  des  ganzen  inneren  Menschen  ist  und  immer 
einen  Reicbthum  voa  Anlagen ,  zum  wenigsten  von  Phantasie 


308  Uebef'  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit. 

voraussetzt.  Er  muss  fähig  sein,  den  höchsten  Flug  der 
Ideen  zu  verfolgen  und  zugleich  in  dem  gemüthlichen  Spiele 
des  Seelenlebens  sich  heimisch  finden.  Er  muss  di&  gewal- 
tige Natur  eines  zum  Herrschen  Geborenen  ebenso  verstehen, 
wie  die  zarlere  Seele  eines  zur  stillen  Wirksamkeit  berufenen 
Geistes.  Weder  die  Leidenschaft  eines  thatkräftigen,  Willens- 
stärken Menschen,  noch  die  Consequenzen  des  scharfen, 
klaren  Verstandes,  noch  die  Welt  einer  gemüthlichen  wohl- 
wollenden Phantasie  dürfen  ihn  überraschen:  er  muss  so  zu 
sagen,  zu  allen  Modificationen  der  menschlichen  Natur  eine 
verwandte  Ader  in  sich  verspüren.  Dies  Alles  ist  aber  nicht 
möglich  ohne  eine  entsprechende  Eigenschaft  des  Herzens, 
nämlich  nicht  ohne  eine  gewisse  Milde.  Diese  verlangen 
wir  vom  Historiker  so  gut  wie  festen  Charakter  und  Wahr- 
heitsliebe. Auch  widersprechen  sie  sich  keineswegs.  Denn 
die  Milde  ist  keineswegs  Schwäche,  sondern  mit  Billigkeit 
und  Gerechligkeitsliebe  identisch,  Eigenschaften,  welche  mit 
der  Wahrhaftigkeit  auf  das  Innigste  zusammenhängen.  Denn 
unter  der  Milde,  die  wir  vom  Historiker  verlangen,  verstehen 
wir  natürlich  nicht  Mangel  an  Entschiedenheit,  Furcht  vor 
jeder  kühnen  oder  excentrischen  Natur,  sittlichen  Indiffe- 
rentismus,  selbst  der  Niederträchtigkeit  und  Erbärmlichkeit 
gegenüber,  Fehler,  welche  gar  zu  häufig  mit  den  schönen 
Namen  von  rechter  Mitte,  Besonnenheit,  Unparteilichkeit 
und  dergleichen  ausgestattet  werden,  die  aber  alle  in  die 
Kategorie  der  Halbheit  und  der  moralischen  Dürftigkeit  ge- 
hören, sondern  jene  wohlwollende  Gesinnung,  welche  Men- 
schen und  Richtungen  nicht  beim  ersten  Anblicke  und  ohne 
Weiteres  aburtheilt  und  verdammt j  sondern  in  Allem,  was 
von  Menschen  ausgeht,  so  lange  die  edlere  Natur  derselben 
vermuthet,  bis  die  kritische  Forschung  das  Gegentheil  da- 
von dargethan  hat.  Man  sieht  daher:  Milde  verträgt  sich 
recht  gut  mit  Charakterfestigkeit.  Aber  nicht  selten  haben 
Diejenigen,  welche,  wie  wir,  vom  Geschichtschreiber  Cha- 
rakter forderten,  denselben  mit  einer  ausgeprägten  Subjec- 
tivilät  verwechselt,    welche   freilich  sowohl   mit  der  Milde, 


Üeber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit,  309 

wie  mit  der  wahren  Objectivität  der  Geschichtschreibung 
unvereinbar  ist. 

Denn  die  Subjectivität  will  weniger  den  Gegenstand, 
den  sie  behandelt,  als  vielmehr  nur  sich  selber  und  be- 
trachtet jenen  nur  als  Folie,  um  sich  an  ihm  gleichsam  zu 
allgemeiner  Beschauung  auszustellen.  Sie  hat  daher  auch 
nicht  den  Zweck,  den  der  echte  Historiker  immer  verfolgen 
muss,  die  Geschichte  selber  reden  zu  lassen,  sondern  sie 
muss  gleichsam  wie  der  Cicerone  in  der  Bildergalterie  immer 
dabei  stehen  und  den  Lesern  das  und  jenes  expliciren:  aber 
wie  gesagt,  weniger,  um  den  Gegenstand  in  das  rechte 
Licht  zu  setzen,  als  vielmehr  um  sich  selber  in  dem  vortbeil- 
haftesten  Lichte  zu  zeigen.  Die  Subjectivität  kennt  daher 
kein  Eingehen  in  Persönlichkeiten  und  Richtungen,  die  von 
ihr  selber  wesentlich  verschieden  sind,  sondern  sie  raisonnirt 
blos,  meistert,  verurtheilt  und  verdammt  oder  lobt  und  er- 
hebt: sie  vermag  sich  daher  auch  nicht  leicht  zu  einer  echt 
künstlerischen  Form  zu  erheben,  weil,  je  vollkommener  diese 
ist,  desto  weniger  das  Subject  hervortritt;  sie  erfordert  also 
eine  gewisse  Selbstverläugnung  und  Aufopferung,  zu  welcher 
sich  die  Subjectivität  unmöglich  entschliessen  kann.  So  lange 
daher  die  Subjectivität  vorherrscht,  so  lange  kann  von  einem 
vollendeten  Historiker  nicht  die  Rede  sein:  ohne  Vielseitigkeit 
und  ohne  jene  Milde,  die  wir  eben  geschildert,  (|ie  aber  zu- 
gleich von  Charakterstärke  getragen  sein  muss,  wird  er  es  nie. 

Die  Vielseitigkeit  muss  natürlich  angeboren  sein:  aber 
das  Leben  muss  nachhelfen  und  entwickeln.  Ohne  das  Leben 
würde  das  angeborene  Talent  bald  verkümmern.  Der  His- 
toriker muss  daher  eben  so  sehr  in  den  höchsten  wie  in 
den  niedersten  Kreisen  der  Gesellschaft  zu  Hause  sein,  und 
nur  durch  eine  gleichmässige  Kenntniss  der  verschiedensten 
Sphären  des  Lebens  und  der  Politik  kann  es  ihm  gelingen, 
das  Ganze  zu  umfassen  und  ein  wahres  anschauliches  Bild 
davon  zu  entwerfen.  Denn  wer  den  Kreisen  der  höheren 
Gesellschaft  gänzlich  fremd  geblieben,  der  wird  sich  von 
dem  eigentlichen  Hergange  der  Begebenheiten  und  von  dem 
wirklichen  Zusammenhange  der  Thatsachen,   deren  knoten 


310  üeber  die  G€$ckiehte  der  »euesien  Zni. 

dont  geschürzt  worden  sind ,  eine  falsche  Vi^rstelluag  machen, 
die  je  nach  dem  Naturelle  des  Historikers  eine  bald  rosigere, 
bald  schw^zere  Färbung  erhalten  wird.  Nur  wem  dieser 
Schauplatz  Lein  unbekannter  Boden  ist,  der  wird  sich  auch 
auf  ihm  auszukennen  und  manche  schwachen  Andeutungen 
in  ihrem  eigentlichen  Wesen  aufzufassen  vermögen.  Eben 
so  sehr  aber  ist  dem  Historiker  die  Kennlniss  des  Volks- 
lebens nöthig.  Es  genügt  nicht,  dass  er  in  seiner  Studier- 
stube sitzen  bleibe,  dass  er  daselbst  philanthropische  Ideen 
aushecke  und  dergleichen.  Er  muss  sich  auch  unter  dem 
Volke  bewegen:  er  muss  es  erlauschen  in  seinen  Ansichten, 
wünschen,  Hoffnungen,  selbst  Begehrlichkeiten  und  sich  hier 
so  wenig  einer  Täuschung  hingeben,  wie  dort.  Aber  unsere 
Gelehrten  haben  das  in  der  Regel  versäumt:  sei  es,  dass  sie 
es  wirklich  für  überflüssig  hielten,  mit  dem  Volke  zu  ver- 
kehren, oder,  was  der  Hauptgrund  war,  aus  einer  gewissen 
Vomebmthuerei.  Denn  selbst  die  Besten,  Freisinnigsten  und 
Wohlwollendsten  unserer  Gelehrten  können  sich  doch  selten 
eines  Anflugs  von  Hochmuth  erwehren,  wenn  sie  in  irgend 
eine  Beziehung  zum  Volke  kommen.  Sie  betrachten  dasselbe 
in  der  Regel  als  in  der  Lage ,  von  ihnen  Belehrung  annehmen 
zu  müssen,  und  machen  sich  daher  äusserst  schwer  von 
dem  Tone  des  Schulmeisters  los.  Wer  aber  schulmeistert, 
der  wird  sich  zu  denen,  welchen  er  Lehren  ertheilt,  in  kein 
genaueres  Verhällniss  zu  setzen  für  ndthig  finden.  Und  doch 
könnte  der  gesunde  Sinn  des  Volks  manchem  verschrobenen 
Bücherwurme  eine  bei  Weitem  bessere  Belehrung  geben, 
als  er  selbst  zu  ertheilen  vermöchte.  Aber  wir  vermissen 
unter  den  Gelehrten  so  häufig  die  Liebe  und  jene  Hingebung, 
welche  nicht  sich  selber  ^ucht  und  am  Wenigsten  auf  die 
eigene  Stellung  eifersüchtig  ist,  sondern  nur  die  Wahrheit 
und  das  Wohl  der  Mitmenschen  im  Auge  hat.  Denn  nur 
eine  solche  unegoistische  Gesinnung  vermag  sich  selber  zu 
verläugnen  und  zu  Wesen  herabzusteigen,  die  wir  in  eine 
niedere  Klasse  zu  verweisen  gewohnt  sind. 

Also   Wohlwollen  und   Empfänglichkeit  für   das  Volks- 
massige  >  ebenso  wie  feinere  Bildung,  die  ihn  befähigt,  sich 


Ueber  die  Geschichte  de$*  neuesten  Zeit.  Sil 

in  den  höheren  Kreisen  der  Gresellschaft  zu  bewegen,  und 
hier  seine  Beobachtungen  anzustellen,  verlangen  wir  vom 
Geschichtschreiber  unserer  Zeit.  Denn  durch  diese  Eigen- 
schaften wird  er  die  beiden  Endpunkte  der  Gesellschaft, 
von  denen  die  Bewegung  der  Gegenwart  ausgeht,  zu>er£ass^i 
und  ^cfa  auf  dem  Terrain  des  Kampfes  auszukennen  ver- 
mögen. In  einem  gewissen  Sinne  wird  er  sich  schon  da- 
durch die  Möglichkeit  erwerben,  historische. Gerechtigkeit 
zu  üben. 

Aber  er  muss  zu  diesem  Resultate  noch  von  einer  an« 
deren  Seite  bsr  gelangen.  Der  echte  Historiker  nämlich  wird 
keine  Epoche  als  etwas  Vereinzeltes  betrachten,  sondern  in 
Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  Geschichte  der  Mensch^ 
heit.  So  wird  ihm  auch  die  Gegenwart  nicht  als  für  sich 
bestehendes  Bruchstück  erscheinen,  sondern  als  ein  aller- 
dings höchst  bedeutender  Abschnitt  in  der  allgemeinen  Ent- 
wicklung. Hierdurch  verliert  in  seinen  Augen  die  Gegen- 
wart alle  jene  kleinlichen  persönlichen  Momente,  welche 
menschlichen  Verhältnissen,  und  handelte  es  sich  auch  um 
die  höchsten  geistigen  Güter,  niemals  fehlen:  alle  Bittericeit, 
Ungerechtigkeit  und  Härte,  welche  der  unmittelbare  Kampf 
nothwendtg  erzeugt,  alle  menschlichen  Leidenschaften  und 
unedleren  Motive,  welche  allen  Zeiten  und  selbst  der  besten 
Sache  anzukleben  pflegen,  und  die,  in  ihrer  Nacktheit  be- 
trachtet, den  Dingen  oft  einen  ganz  anderen  Charakter  auf- 
zuprägen scheinen,  die  aber  im  Ganzen  doch  mehr  zufällig, 
als  wesentlich  sind ,  all'  diese  Schlacken  treten  in  den  Hinter* 
grund  und  nur  die  grossen  Resultate,  die  Ideen  und  die 
geistigen  Bewegungen  bleiben  Übrig.  Diese  erhalten  aber 
dann  erst  ihre  wahre  Bedeutung  und  ihre  Berechtigung  für 
Gegenwart  und  Zukunft,  wenn  sie  mit  den  Bestrebungen  der 
Vergangenheit  in  Beziehung  gesetzt  werden:  indem  diese 
dem  Historiker  ihre  Blätter  entrollt,  deutet  sie  ihm  zugleich 
die  künftige  Entwicklung  an.  So,  den  gewaltigen  Bau  ver- 
gangener Jahrhunderte,  die  gesammten  bisherigen  Bestre- 
bungen des  menschlichen  Geistes  vor  seinen  Blicken,  wird 
er  es  am  Ersten  vermögen ,  die  Tendenzen  des  Jahrhunderts 


312  Ueber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit. 

in  ihrer  Reinheit  zu  erfassen  und  den  Kern  ausfindig  zu 
machen,  welcher  nach  Abstreifung  der  Auswüchse  und  der 
Schlacken  als  feuerfester  Edelstein  noch  übrig  bleiben  muss. 
In  der  höchsten  Bedeutung  des  Worts  wird  er  dann  zugleich 
Staatsmann  und  Yolksmann  sein.  Er  wird  die  politische 
Richtung,  welche  der  Genius  der  Menschheit  für  das  jeweilige 
Jahrhundert  verlangt,  zu  erkennen  und  zu  beurtheiien  wissen, 
welche  Institutionen  dem  Geiste  seiner  Nation  und  der  Ent^ 
Wicklung,  die  sie  bisher  durchlaufen,  gemäss  seien.  Ueber 
diesen  grossen  Resultaten  aber  wird  und  muss  die  Klein- 
lichkeit des  Parteigeistes  verschwinden:  und  deshalb  kann 
beim  echten  Historiker  von  Eni  Stellung  der  Wahrheit  zu 
Gunsten  einer  Partei,  von  absichtlicher  Verfälschung  der 
Thatsachen  oder  Verdrehung  des  Ganges  der  Geschichte 
keine  Rede  sein. 

Wir  können  daher  getrost  den  Einwurf  von  der  Un^ 
möglichkeit,  die  Geschichte  der  eigenen  Zeit  wahrhaft  zu 
beschreiben,  zurückweiseh.  Wenn  das  Bild,  welches  wir 
vom  Historiker  entworfen,  Überhaupt  realisirt  werden  kann, 
so  ist  auch  ein  getreuer  Geschichtschreiber  der  neuesten 
Zeit  keine  Unmöglichkeit. 

Nun  aber  drängt  sich  eine  andere  Frage  auf:  wie  soll 
die  Methode  sein?  Hier  mehr,  wie  bei  irgend  einer  anderen 
Periode,  muss  man  von  den  Ideen  ausgehen.  Die  Persön- 
lichkeilen treten  ganz  entschieden  zurück,  und  es  ist  schon 
manchmal  gesagt  worden,  dass  der  Charakter  unserer  Epoche 
sich  gerade  in  dem  Mangel  hervorragender  Individuen  be- 
merklich macht.  Selbst  die  ausgezeichnetsten  unter  ihnen 
dienen  doch  nur  den  Massen  d.  h.  dem,  was  die  Massen 
wollen  und  erstreben,  und  würden,  wenn  sie  etwas  anderes 
wollten,  sofort  der  Vergessenheit  anheimgegeben  werden. 
So  ist  unsere  Zeit  recht  eigentlich  die  Zeit  der  Massen,  aber 
keineswegs  der  rohen,  sondern  der  durch  Ideen  und  Stre- 
bungen geklärten ,  und  unterscheidet  sich  dadurch  sehr  vor- 
theilhaft  von  manchen  früheren  Epochen.  —  Auch  die  Völker- 
individuen spielen  nicht  von  einander  abgesonderte  Rollen. 
Das,  wovon  sie  bewegt  werden,  ist  vielmehr  fast  das  Näm- 


üeber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit.  313 

liehe:  es  sind  dieselben  Ideen,  Richtungen,  Bestrebungen, 
mit  nur  wenigen,  durch  den  Nationalcharakter  bedingten, 
Modificationen:  so  dass,  was  in  dem  einen  Ende  Europas 
vorgeht,  fast  in  dem  anderen  gefühlt  und  mitempfunden 
wird.  Die  gegenseitigen  Einwirkungen  der  Nationen  auf  ein- 
ander sind  jetzt  vielleicht  bedeutender,  als  je,  und  manche 
Erscheinungen  in  dem  einem  Lande  wären  ohne  den  Vor- 
gang in  einem  anderen  gar  nicht  zu  erklären.  Man  dürfte 
daher  keinesfalls  die  ethnographische  Darsteliungsweise  be« 
folgen,  weil  diese  nothwendig  das,  was  zusammen  gehört, 
aus  einander  reissen  würde. 

Was  sind  das  aber  für  Ideen,  die  wir  bei  der  Geschichte 
der  neuesten  Zeit  vorzugsweise  im  Auge  behalten  müssen? 
Zunächst  tritt  uns  der  politische  Kampf  entgegen.  Es  ist 
schwer,  diesen  mit  ein  Paar  Worten  zu  charakterisiren,  weil 
er  verschiedene  Gesichtspunkte  zulässt.  Einmal  nämlich  ist 
der  Gegensatz  der  strengeren  monarchischen  Verfassungs- 
formen oder  des  Absolutismus  und  der  freieren,  wie  der 
constitutionellen  Monarchie  oder  der  Republik  ins  Auge  zu 
fassen.  Zweitens  das  Verhältniss,  in  welchem  die  Staatsge- 
walt, rein  als  Idee  betrachtet,  ohne  Rücksicht  auf  Monarchie 
oder  Republik,  zu  ihren  Untergebenen  steht,  d.  h.  ob  den 
Individuen  und  den  Corporationen  mehr  oder  weniger  Frei- 
heit und  Selbstständigkeit  der  Staatsgewalt  gegenüber  ein- 
geräumt ist.  Drittens  endlich  der  Widerspruch  zwischen 
der  nationalen  und  der  kosmopolitischen  Richtung,  oder 
zwischen  den  Interessen  der  Nationen  als  solcher  und  den 
aligemeinen  Tendenzen  der  Epoche.  Dieser  Widerspruch 
bildet  eines  der  bedeutendsten  Momente  in  der  neuesten 
Geschichte.  Aus  ihm  erklärt  sich,  wie  die  Regierungen 
mancher,  selbst  grosser  Staaten  gewissen  politischen  Ten- 
denzen zu  Gefallen  die  höchsten  Interessen  ihrer  Völker  an- 
deren zum  Opfer  bringen,  und,  während  sie  bei  dem  Ein- 
schlagen der  entgegengesetzten  Richtung  eine  der  ersten 
Rollen  hätten  spielen  können,  es  vorziehen,  als  das  fünfte 
Rad  am  Wagen  der  europäischen  Diplomatie  zu  erscheinen. 
Aus   ihm   erklärt   sich  ferner,    wie   eine  Zeitlang   auch  die 

Allg.  Zeittclirift  f.  Geschichte.  Y.  1846.      .  21 


^    I 


314  lieber  die  Geschichte  der  nene$ten  Zeit. 

Völker,  dem  Beispiele  ihrer  Oberhäupter  folgend,  die  eigenen 
Interessen  aufs  Spiel  setzten,  in  der  Hoffnung,  dadurch  die 
Realisirung  ihrer  politischen  Wünsche  zu  erreichen.  Andere 
Völker  und  Hegierungen  wiederum  berücksichtigten  fast  nur 
die  eigenen  nationalen  Interessen,  und  stiessen  eben  darum 
bei  dem  Geiste  des  Jahrhunderts  an  Nur  ein  Staat  wusste 
seine  Tendenzen  in  Hinsicht  auf  die  innere  Politik  vortreff- 
lich mit  den  nationalen  Interessen  zu  vereinigen,  nämlich 
der  russische:  welcher  in  allen  Fragen  der  inneren  Politik, 
namentlich  Deutschlands,  seine  Hände  mit  im  Spiele  hatte 
und  eine  Zeitlang  selbst  die  mächtigsten  deutschen 'Staaten 
nach  seinem  Willen  lenkte,  zugleich  aber  die  Interessen 
Russlands  gegen  Aussen  hin  auf  keine  Weise  vergass,  ja 
schon  dadurch  der  künftigen  Vergrösserung  desselben  vor- 
arbeitete ,  dass  er  die  deutschen  Regierungen  schlauer  Weise 
vermochte,  ihren  eigenen  Interessen  entgegenzuhandeln.  Nie 
ist  die  Intrigue  auf  eine  grosaartigere  und  erfolgreichere 
Weise  apgelegt  worden:  aber  nie  war  sie  auch  von  einer 
grösseren  Verblendung  begünstigt. 

Ist  es  aber  nur  der  politische  Kampf,  den  wir  zu  be* 
rücksichtigen  haben?  0  nein!  Von  nicht  minderer  Wich- 
tigkeit ist  der  religiöse  und  der  kircUiche.  Aber  auch  hier 
gibt  es  verschiedene  Gesichtspunkte.  Erstens  der  Streit 
zwischen  Ejrche  und  Staat.  Zweitens  der  Kampf  zwischen 
Eatholicismus  und  Protestantismus.  Drittens  der  Gegensatz 
der  freieren  Religionsansicht  sowohl  innerhalb  des  Katholi- 
cismus,  als  des  Protestantismus^  neuerdings  auch  des  Juden- 
thums,  wider  die  noch  im  Besitze  der  Gewall  sich  befindende 
reactionäre  Richtung  der  privilegirten  Kirchen. 

Zu  diesen  kommt  nun  noch  als  drittes  Element  das  so- 
ciale, das  sich  ebenfalls  auf  dreifache  Weise  ausspricht« 
Nämlich  in  der  industriellen  und  merkantilischen  Entwick- 
lung, sodann  in  dem  Punkte  des  Vermögensunterschiedes, 
endlich  in  den  Zuständen  der  büi^erlichen  Gesellschaft,  na- 
mentlich in  den  sexualen  Verhältnissen. 

Dies  wären  die  Hauptpunkte,  die  wir  ins  Auge  zu  fassen 
hätten.    Nach  ihnen  könnte  man  die  Eintheilung  der  Ge- 


lieber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit,  315 

schichte  treffen.  Offenbar  nämlich  mUssen  wir  drei  Perioden 
annehmen.  Die  erste  gebt  von  dem  Sturze  Napoleons  und 
dem  Wiener  Gongresse  bis  zur  Julirevolution  oder  von  1814 
bis  1830.  Die  zweite  von  der  Julirevolution  bis  zur  Thron* 
besteigung  Friedrich  Wilhelms  IV.  von  Preussen,  oder  von 
1830  bis  1840.  Die  dritte  geht  von  da  an  bis  auf  die  Ge- 
genwart,  ist  aber  noch  nicht  geschlossen. 

Diese  Perioden  sind  ziemlich  von  einander  verschieden. 
Was  zunächst  das  Yerhältniss  der  kämpfenden  Parteien  be- 
trifft ^  so  ist  in  der  ersten  die  Bewegungspartei  im  Ganzen 
intensiver,  tüchtiger  an  Gesinnung  und  Wollen,  aber  nicht 
so  zahlreich  und  weniger  klar  über  die  eigentliche  Lage  der 
Dinge,  über  das  zu  Erstrebende  und  die  praktische  Aus^ 
führung  desselben.  In  der  zweiten  Periode  ist  die  Bewe- 
gungspartei massenhafter,  so  ziemlich  verständigt  über  ein- 
zelne Hauptpunkte  und  Richtungen,  aber  nicht  so  tüchtig 
und  sittlich  bedeutend  wie  in  der  ersten,  deshalb  im  Ganzen 
flachet*  und  weniger  nachhaltend.  In  der  dritten  ist,  so  viel 
wir  sehen  können,  die  Bewegungspartei  noch  massenhafter 
wie  in  der  zweiten,  aber  auch  die  Gesinnungstüchtigkeit  hat 
zugenommen  und  nicht  minder  die  Klarheit  über  die  Zustände 
der  Gegenwart  und  die  Bedürfnisse  der  Zukunft.  Man  könnte 
sagen:  in  der  ersten  Periode  geht  die  Bewegung  von  den 
Gebildeten  aus,  in  der  zweiten  von  einem  Theile  der  Volks- 
massen,  in  der  dritten  von  beiden  zugleich. 

Man  kann  auch  noch  von  einem  anderen  Gesichtspunkte 
ausgehen.  In  der  ersten  Periode,  wenigstens  anfänglich,  ist 
das  Nationale  vorherrschend.  In  der  zweiten  tritt  die  na- 
tionale Richtung  zurück,  um  mehr  oder  minder  der  kosmo- 
politischen Platz  zu  machen.  In  der  dritten  kommt  die  na- 
tionale Richtung  von  Neuem  zur  Geltung,  aber  klarer  und 
durchgebildeter,  wie  in  der  ersten. 

In  religiöser  und  kirchlicher  Beziehung  ist  ebenfalls  eini- 
ger Unterschied.  In  der  ersten  ist  das  religiöse  Element 
von  grosser  Bedeutung:  die  Kirche  sucht  ihren  verlorenen 
Einfluss  wieder  zu  gewinnen ,  und  es  gelingt  ihr  dieses  Stre- 
|t)en  mannigfach.  In  der  zweiten  wird  das  religiös-kirchliche 

21* 


316  lieber  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit. 

Element  vom  politischen  grossentheils  verschlungen,  und 
wenn  auch  die  Entwürfe  der  hierarchischen  Partei  keines- 
wegs aufgegeben  werden,  so  scheint  doch  ein  aligemeiner 
religiöser  Indifferentismus  eingerissen  zu  sein.  In  der  dritten 
kommt  der  religiöse  Kampf  wieder  mit  aller  Kraft  zum  Vor- 
schein, und  zugleich  mit  einer  Klarheit  und  logischen  Strenge, 
wie  noch  niemals  vorher. 

Was  die  socialen  Bestrebungen  betrifft,  so  haben  die- 
selben zwar  in  den  ersten  beiden  Perioden  bereits  ihre  An- 
fänge, jedoch  noch  ziemlich  untergeordnet.  Erst  in  der  drit- 
ten erringen  sie  eine  nicht  mehr  zu  verkennende  allgemeine 

« 

Bedeutung:  auch  sie  werden,  wie  Alles  in  dieser  Periode, 
massenhaft,  und  gehen  augenscheinlich  einer  Lösung  ent- 
gegen. 

Es  versteht  sich  jedoch  von  selbst,  dass  wir  diese  Cha- 
rakteristik der  einzelnen  Perioden  nur  cum  grano  salis  be- 
trachtet wissen  wollen,  wie  denn  jede  allgemeine  Bemer- 
kung ihre  Ausnahmen  erleidet.  Denn  in  jeder  Periode  selber 
ist  wiederum  Fortschritt  unverkennbar,  so  dass  am  Schlüsse 
derselben  der  Geist  der  Zeit  schon  ein  ganz  anderes  Gepräge 
'^dngenommen  hat,  wie  im  Anfange,  während  umgekehrt  in 
eine  neue  Periode  noch  Reste  von  dorn  Charakter  der  frü- 
heren herüberkommen.  Jede  Periode  hat  daher  wieder 
ihre  Unterabtheilungen,  die  sich  von  einander  obngefahr 
ebenso  unterscheiden,  wie  die  Perioden  selber.  Den  Gang 
der  letzten  können  wir  noch  nicht  bestimmen,  weil  sie,  wie 
gesagt,  noch  nicht  geschlossen  ist;  von  den  beiden  ersten 
aber  können  wir  ihn  angeben.  Jede  derselben  hat  nämlich 
wiederum  drei  Unterabtheilungen.  Diese  sind  in  der  ersten 
folgende.  Die  erste  geht  von  dem  Wiener  Congresse  bis  in 
das  Jahr  1820  und  enthält  die  Restaurationen  in  den  ein- 
zelnen Ländern  Europas,  den  Widerspruch  der  öffentlichen 
Meinung  gegen  die  Maassregeln  der  Regierungen  und  die 
dadurch  nur  noch  gesteigerte  Reaction  von  Seite  des  absolut 
monarchische!^  Princips.  Die  zweite  Abtheilung  g^ht  von 
1S20  bis  1824,  und  enthält  die  revolutionären  Bewegungen 
in  Europa,  die  anfänglichen  Erfolge  derselben  und  die  bald 


Weifen  und  Gibelinye.  .317 

darauf  siegreiche  Reaclion.  Die  dritte  Abtheilung  von  1824 
bis  1830  wendet  sich  mehr  zur  äussern  Politik,  indem  die 
griechisch-türkisch-russische  Frage  so  ziemlich  alle  andere 
Thätigkeit  absorbirt:  sie  enthält  jedoch  bereits  die  Vorberei- 
tungen zu  der  Katastrophe  im  Jahre  1830.  —  Die  ünterab- 
theilungen  der  zweiten  Periode,  von  1830  bis  1840,  sind 
folgende.  Dio  erste,  von  1830  bis  etwa  1833 ,  enthält  die 
revolutionären  Bewegungen  in  Europa,  die  mit  der  Julirevo- 
lution beginnen  und  dann  die  Runde  fast  durch  alle  Länder 
machen.  Die  zweite,  von  1833  bis  1836,  enthält  den  theil- 
weisen  Sieg  der  Reaction.  Die  dritte  wendet  sich  wiederum 
vorzugsweise  zur  äusseren  Politik,  indem  die  orieutalische 
Frage  und  die  Verwicklungen  auf  der  pyrenäischen  Halb- 
insel, die  allerdings  bereits  in  der  zweiten  angefangen,  sich 
immer  mehr  einer  Lösung  entgegendrängen. 

In  eine  noch  nähere  Charakteristik  können  wir  jetzt 
noch  nicht  eingehen,  weil  wir  sonst  späteren  Artikeln  vor- 
greifen würden.  Einstweilen  möge  das  Gesagte  genügen, 
um  unsere  Ansicht  von  dem  Gegenstandie,  wenigstens  im 
Allgemeinen,  erkennen  zu  lassen  und  den  Standpunkt  anzu- 
deuten, den  wir  bei  der  Beurtheilung  der  dahin  einschla- 
genden Werke  einzunehmen  gedenken. 


H^elfeii    und  Gibelinge. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Reiches  und  der 

deutschen  Heldensage. 


Uer  Versuch  den  Ursprung  dieser  beiden  so  vielfältig  ge- 
brauchten Benennungen  zu  ermitteln,  ist  schon  vor  Jahr- 
hunderten und  seither  Öfters  gemacht  worden,  aber  nie  mit 
befriedigendem  Erfolg.  Ihn  zu  erneuern  darf  schon  darum 
kein  Bedenken  erregen,  weil  sich  an  diese  Frage,  obwohl 
sie  zunächst  nur  der  Sprachforschung  angehört,  doch  aufs 
engste  mehre  Betrachtungen  schliessen ,  die  Lichl  über  einen 


318  Weifen  und  Gibetinge. 

der  wichtigsten  Zeiträume  der  deutschen  Dichtkunst  und  des 
deutschen  Reiches  werfen.  Ausserdem  hängt  sie  zusammen 
mit  wichtigen  Angelegenheiten  der  Gegenwart.  Der  Kampf 
der  beiden  Kräfte  die  sich  eine  Zeit  lang  unter  den  Namen 
der  Weifen  und  Gibelinge  gegenüberstanden,  ist  nicht  nur 
älter  als  sie:  er  hat  sie  auch  Überdauert,  und  wird  fort- 
währen so  lang  es  eine  deutsche  Geschichte  giebt.  Diese 
nämtich  bewegt  sich  seit  1400  Jahren,  d.  h.  seitdem  das 
Schwert  der  Franken  angefangen  hat,  den  grösseren  Tbeil 
der  germanischen  Stämme  zu  verbinden,  in  einem  unauf- 
hörlichen, oft  höchst  gewaltsamen  Schwanken  zwischen  Ein- 
heit und  Auflösung.  Die  Kriege  der  älteren  Franken  gegen 
Alemannen,  Baiem  und  Sachsen  3  der  Könige  von  sächsischem 
Stamm  gegen  Franken,  Baiern,  Schwaben  und  Lothringer;;: 
der  späteren  Franken  gegen  Sachsen  und  Schwaben;  der 
Staufen  gegen  die  Weifen;  der  Habsburger  gegen  Baiern, 
Böhmen  und  Preussen:  sie  alle  bedeuten  das  nämliche,  den 
Kampf  zweier  Wagschalen,  von  denen  keine  das  Ueberge- 
wicht  erlangen  darf,  wenn  nicht  entweder  das  Königthum 
auf  Kosten  der  Freiheit  allmächtig  werden,  oder  die  Selbst« 
ständigkeit  der  einzelnen  Stämme  der  Einheit,  die  dem  rings 
gefährdeten  Volke  so  nöthig  ist,  zum  Verderben  gereichen 
soll.  Vom  Ende  des  11.  bis  in  den  Anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts waren  die  Feinde  der  Königsgewalt,  alle  die  für 
Geltung  der  Stämme  kämpften,  allerdings  mit  Unterbrechun- 
gen, unter  dem  Banner  der  Weifen  vereint.  Ob  sie  auch 
so  genannt  wurden,  ferner  ob  für  ihre  Gegner  eine  gemein- 
same Benennung  da  war,  und  welche,  das  sind  bestrittene 
Fragen,  deren  Lösung  mir  im  Verlauf  dieser  Arbeit  vielleicht 
wenigstens  annähernd  gelingt. 

Wenn  nach  Ursprung  und  Sinn  jener  beiden  Benen- 
nungen gefragt  wird,  so  rührt  die  Schwierigkeit  einer  Ant- 
wort vornehmlich  daher,  dass  Parteinamen  immer  aus  kleinen 
Anfängen  hervorgehn,  häufig  sogar  Schimpfwörter  sind.  Des- 
wegen bleiben  sie  in  der  Zeit  wa  jedermann  ihren  Ursprung 
kennt,  von  den  Geschichtschreibern  unbeachtet;  und  wenn 
die  Zeit  kommt  wo  sie  sich  zu  allgemeiner  Bedeutung  aus- 


Weifen  und  Gibelinge.  319 

gebreitet  haben,  so  ist  das  Andenken  an  ihre  Herkunft  er- 
loschen. Daher  sagt  Papst  Gregor  X.  schon  im  Jahr  1273 
mit  vollem  Rechte,  die  Bedeutung  der  Namen  Weif  und  Gi- 
beling  sei  völlig  unbekannt,  selbst  bei  denen  die  sie  führen  i). 
£s  könnte  scheinen,  wenn  am  päpstlichen  Hof,  einem  Haupt* 
sitze  für  europäische  Wissenschaft  und  Staatskunst,  schon 
damals  keine  Lösung  der  Frage  möglich  war,  so  könne  man 
jetzt,  beinahe  600  Jahre  später,  noch  weniger  hoffen  etwas 
erkleckliches  ans  Licht  zu  bringen.  Indessen  darf  nicht  ver- 
gessen werden  dass  die  mittelalterliche  Wissenschaft,  gleich 
der  des  Alterlhums,  in  Sachen  der  Wortforschung  überaus 
unglücklich  gewesen  ist,  und  dass  dagegen  wir  in  unserer 
weit  vorgeschrittenen  Sprach-  und .  Geschichtskunde  die 
Mittel  besitzen,  selbst  aus  der  Ferne  über  vieles  klar  zu 
werden,  was  den  damaligen  aus  ziemlicher  Nähe  dunkel 
bleiben  musste. 

Die  WelfDn  und  ihr  Name. 

Das  Geschlecht  der  Weifen,  einheimisch  in  der  Gegend 
von  Ravensburg  und  Altdorf  (Weingarten),  nach  welchen 
Orten  es  auch  später  zuweilen  genannt  wird,  war  reich  be- 
gütert im  südöstlichen  Schwaben,  sowie  in  den  angrenzenden 
Theilen  von  Baiern,  Tirol  und  Graubünden  (Ghur-Rätien); 
und  schon  im  9.  Jahrhundert  dadurch  geehrt,  dass  zwei  ka- 
rolingische  Könige,  Ludwig  der  Fromme  (819)  und  sein 
Sohn,  Ludwig  der  Deutsche  (827)  Gemahlinnen  aus  ihm 
wählten,  beide  Töchter  Eines  Mannes,  desselben  der  zuerst 
nachweisbar  den  Namen  Weif  trug  2).  Er  starb  ums  Jahr 
824.    Ein  zweiter  geschichtlich  sichrer  Weif  (Welfo)  wird 


0  Guelphus  aut  Gibellinas,  nomina  ne  Ulis  quidem  qui  illa 
proferuDt  nota;  inane  nomen,  quod  quid  signißcet  nemo  intelligit» 
Muratori,  Scriptores  XI,  178.  —  Nach  dem  Zusammenhang  will  er 
durch  diese  Vorstellung  die  Parteien  zum  Frieden  bewegen,  weil 
sie  eigenitich  um  etwas  Leeres  entzweit  seien. 

>)  Die  Angaben  über  die  Geschichte  der  Weifen,  in  der  Sicher- 
heit und  Kürze  wie  sie  für  Untersuchungen  dieser  Art  nicht  ent- 
behrt werden  können,  verdanke  ich  der  trefilicben  Würtember- 


320  Weifen  und  Gibelinge. 

um  850  mehrfach  als  Graf  dos  Argen-  und  Linzgaues  genannt; 
doch  lässt  sich  seine  Verwandtschaft  mit  dem  ebengenann- 
ten, dessen  Enkel  er  sein  könnte,  nicht  urkundlich  darthun. 
Von  ihm  an  vernehmen  wir  den  Namen  beinah  zweihundert 
Jahre  lang  nicht  mehr:  die  Männer  des  Geschlechtes,  so  weit 
wir  sie  kennen,  heissen  Konrad,  Eticho,  Rudolf,  Heinrich. 
Erst  ums  Jahr  lOOÖ  tritt  wieder  ein  Weif  (H.)  auf,  der  Er- 
bauer von  Ravensburg  (t  1030);  von  ihm  an  geht  der  Name 
nun  fort,  indem  sich  Weif  III.  IV.  V.  VI.  und  VII.  ohne  Un- 
terbrechung folgen.  Er  vererbte  sich  in  dieser  späteren  Zeit, 
wenn  der  Vater  Weif  hiess,  auf  den  ältesten  Sohn;  hatte 
der  Vater,  als  nachgeborener,  einen  andern  Namen,  so  über- 
trug er  diesen  auf  seinen  ältesten,  nannte  aber  den  zweiten 
Weif:  die  beiden  Söhne  WelfsIV.  z.B.  (f  1101)  sind  WelfV. 
und  Heinrich  der  Schwarze;  die  beiden  Söhne  Heinrichs  des 
Schwarzen  (f  1126)  sind  Heinrich  der  Stolze  und  Weif  VI. 
So  konnte  sichs  begeben,  dass  von  diesem  weit  überwie- 
genden Namen  das  ganze  Geschlecht  seine  Benennung  empfing. 
Die  Form  Weif  (althochdeutsch  Welfo,  in  mittelalterlich 
lateinischer  Form  Guelfus,  Guelfo)  ist  nicht  die  ursprüng- 
liche. Unter  den  Verkürzungen  zusammengesetzter  Manns- 
namen war  eine  der  beliebtesten  die,  welche  einfach  den 
zweiten  Theil  wegwarf  und  dem  ersten  die  Endung  —  o 
der  sogenannten  schwachen  Masculinen  gab.  So  findet  man 
Kuonrad  verkürzt  in  Kuono,  Berngar  oder  Bernhart  in  Benno, 
Eberhart  in  Eppo  3);  so  ist  auch  Welfo  nachweisbar  aus 
Welf-hart  gebildet.  Eckehard  IV.  z.  B.  nennt  Weif  den  II. 
(t  1030)  wiederholt  geradezu  Welf-hart  ^). 

gischen  Geschichte  von  Stalin.  Dns  wichtigste  für  die  altere  Zeit 
findet  sich  im  ersten  Band,  vornehmlich  S.  251  und  556;  die  spä- 
tere wird  im  zweiten  Bande  geschildert,  dessen  handschriftliche 
Benutzung  mir  die  zuvorkommende  Güte  des  Verfassers  gestattet  hat. 

»)  Vergl.  Schmellers  Bay.  Wörterb.  2,  82. 

^)  Die  Stelle  nebst  manchen  andern  hieher  gehörigen  giebt 
Stalin  1,  557.  —  Wohl  im  Zusammenhang  mit  dem  Haus  der  Wei- 
fen oder  Welfharte  steht  der  S.  Gualfardus,  confessor  augustanus, 
dessen  Lebensbeschreibung,  aus  einem  Druck  von  1596,  Pfeiffer 
in  seinen  deutschen  Mystikern  (Stuttgart  1845,  S.  XXI)  erwähnt. 


Weifen  und  Gibelinge.  321 

Dieses  Weifhart  hat  etwas  auffallendes.  Sonst  nämlich 
ist  man  meistens  im  Stand,  jeden  der  beiden  Theile  die  den 
Namen  bilden  auch  anderwärts  nachzuweisen:  ein  Weif  ist 
mir  aber  nirgends  begegnet,  es  giebt  keinen  Welf-win,  Welf- 
ram,  Welf-goz  u.  s.  w.  Schmeller  macht  zwar  ein  Weifrat 
geltend  5),  allein  ich  vermuthe  dass  diese  Form,  wenn  sie 
wirklich  geschrieben  steht,  nur  durch  Tonlosigkeil  der  zwei- 
ten Silbe  aus  Weifhart  entsprungen  ist,  also  richtiger  Welf- 
ert  oder  Weifret  hiesse.  Auch  Gualfredus  zieht  Schmeller 
wohl  nicht  mit  Recht  herbei,  da  es  vielmehr  von  Walach- 
frid  herzukommen  scheint.  Rtbhtiger  nimmt  die  Sage  öin 
Wort  der  alten  Sprache  zu  Hülfe,  indem  sie  behauptet  Kin- 
der aus  diesem  Stamm  seien  einmal  als  Weife  Q'unge  Hunde) 
ausgesetzt  worden  6).  Daran  ist  wenigstens  so  viel  begrün- 
det, dass  Weif  (der,  das)  in  der  älteren  Sprache  das  Junge 
des  Hundes,  Wolfes,  Bären,  Löwen  u.  s.  w.  bezeichnet). 
Gern  w^ählten  die  alten  Deutschen  zur  Benennung  ihrer  Kna- 
ben die  Namen  tapfrer  Thiere;  z.  B.  Eber-hart,  Wolf-hart, 
Bern-hart,  Leon-hart  bedeuten  hart  (tapfer)  wie  der  Eber, 
Wolf,  Bär,  Löwe.  In  Welf-hart  scheint  ein  neues  Wort  die- 
ser Art  aufzutauchen:  tapfer  wie  ein  junger  Wolf  oder  Bär. 
Dass  die  Benennung  nicht  auch  in  andern  Namen  noch  vor- 
kommt, weist  vielleicht  auf  ihr  hohes  Aller  hin:  sonst  über- 
all scheint  sie  verloren  gegangen  zu  sein.  Dass  das  Haus 
der  Altdorfer  sie  bewahrte,  rührt  vielleicht  von  der  stolzen 
Erinnerung  her  die  sich  ihm  damit  verband:  sein  Ahnherr, 
der  erste  von  dem  wir  wissen  dass  er  ihn  trug,  war  der 
Vater  zweier  Königinnen,  und  es  könnte  deswegen  mehr 
als  ein  Zufall  sein,  dass  der  Name  seine  neue^  alles  über- 
wiegende Geltung  gerade  von  der  Zeit  an  erhält,  wo  das 
Geschlecht  anfängt  sich  in  einen  grossen  Kampf  mit  dem 
Königthum,  möglicher  Weise  schon  damals  sogar  um  das 
Königthum,  einzulassen. 

»)  a.  a.  0.  4,  67.  •)  Brüder  Grimm,  deutsche  Sagen  2,  233. 
')  Beweise  s.  bei  Schmeller,  Bay.  Wörterb.  4,  66;  und  in  GraflPs 
althocbd.  Sprachschatz  4,  1227.  Die  älteste  Form  ist  hwelf,  wie  auch 
das  Wort  im  Altsächs.  und  Angels.  hvelp ,  im  Altnord,  help-r  lautet. 


322  Weifen  und  Gibelinge. 

Denn  das  erste  feindiiche  Auftreten  der  Weifen  gegen 
die  Salier  fällt  in  die  Jahre,  wo  dieses  letztere  Haus,  das 
nicht  unter  die  vornehmsten  gehörte,  eben  erst  zur  Krone 
gelangt  war,  wo  also  manches  andere  von  gleich  hoher  und 
höherer  Bedeutung,  wohl  hoffen  konnte  sich  mit  Erfolg  ihm 
gegenüberzustellen.  Im  Jahr  1026  begann  Herzog  Ernst  IL 
von  Schwaben  Krieg  wider  den  ersten  Salier,  Kunrad  U., 
weil  er  auf  Burgund,  welches  dieser  zum  Reich  gezogen 
hatte,  näheren  Anspruch  zu  haben  glaubte.  Ihm  zur  Seite 
stand,  als  einer  der  heftigsten  Feinde  des  Kaisers,  der  mehr 
erivähnte  Herzog  Weif  IL  (i*1030),  vielleicht  weil  er,  als 
entfernter  Verwandter  des  burgundischen  Königshausos,  auf 
einen  beträchtlichen  Antheil  am  Gewinn  hofiTte.  Er  verlor 
zur  Strafe  die  Grafschaft  Botzen,  ward  aber  vom  Hofe  nach- 
her wieder  zu  Gnaden  angenommen.  Der  Sohn  dieses  Welfs, 
Weif  IIL,  erhielt  zwar  1047  von  Heinrich  III.  das  Herzog- 
thum  Kärnten  mit  der  Mark  Verona,  ward  jedoch  dadurch 
nicht  für  den  Kaiser  gewonnen. 

Mit  ihm  endete  (1055)  der  alte  Weifenstamm.  Aber  der 
Sohn  den  seine  Schwester  Kunigunde  dem  Markgrafen  Appo  U. 
von  Este,  einem  Hauptgegner  Heinrichs  IV.  in  Italien  (f  1097) 
geboren  hatte.  Weif  IV.,  erbte  nicht  nur  seines  Vaters  ita- 
lienische Besitzungen ,  sondern  auch  die  ausgebreiteten  deut- 
schen seines  mütterlichen  Oheims,  und  begründete  den 
zweiten,  zur  Stunde  noch  blühenden  Weifenstamm,  auf  den 
die  Gesinnungen  des  älteren  übergingen.  Weif  IV.  erlangte 
zwar  1071  von  Heinrich  IV.  das  Herzogthum  Baiern,  ward 
aber  nachher  (1076)  mit  Berchtolt  von  Zärlngen  eine  Haupt- 
stütze derer  die  jenen  Kaiser  vom  Thron  stossen  wollten, 
bis  er  1096,  alt  und  müde,  nachgab  und  sein  Herzogthum 
zugesichert  erhielt.  Im  Jahr  1101  starb  er  auf  Cypern,  vom 
Kreuzzug  heimkehrend. 

Seine  beiden  Söhne,  Weif  V.  (f  1119  oder  1120)  und 
Heinrich  der  Schwarze  (f  1126)  tbeilten  sich  in  das  Erbe 
des  Hauses:  Baiern  fiel  zuerst  jenem,  als  dem  älteren,  zu; 
nach  seinem  Ende  diesem.  Durch  Welfs  Heirath  mit  der 
berühmiien  Mathilde  von  Tuscien  (1089)  wäre,   worauf  sie 


Weifen  und  Gibelinge.  323 

berechnet  war,  das  welGsche  Haus  noch  fester  an  Rom  ge- 
bunden worden,  wenn  nicht  der  unnatürliche  Bund  zwischen 
einem  Jüngling  von  18  Jahren  und  einer  herrschsüchtigen 
Wittwe  von  43  sich  schon  1095  wieder  aufgelöst  hätte :  Weif 
wurde  bald  nach  seines  Vaters  Aussöhnung  mit  Heinrich  IV. 
(1096)  von  diesem  gleichfalls  wieder  zu  Gnaden  angenommen, 
und  erscheint  von  da  bis  an  seinen  Tod  als  treuer  Anhänger 
des  fränkischen  Kaiserhauses.  Mit  seinem  Bruder,  Heinrich 
dem  Schwarzen,  der  seit  1119  oder  1120  alle  weifischen 
Besitzungen  vereinigle,  ja  durch  seine  Vermählung  mit  der 
Sächsin  Wulfhild,  der  Erbtochter  des  Herzogs  Magnus,  noch 
die  Hälfte  der  biliungischen  bekommen  (1106),  und  dadurch 
in  Niederdeutschland  festen  Fuss  gefasst  hatte,  war  derselbe 
Fall.  Noch  1125,  nach  dem  Erlöschen  des  fränkischen  Kai- 
serhauses, wirkte  er  zuerst  für  die  Wahl  Herzog  Friderichs 
von  Schwaben,  der  den  Saliern  durch  Geburt,  ihm  als  Ei- 
dam verbunden  war.  Aber  unerwartet  gelang  es  den  Geg- 
nern ihn  für  die  Sache  der  Kirche,  für  die  Wahl  des  Sach- 
sen Lothar  zu  gewinnen:  Lothar,  der  keinen  Sohn  hatte, 
verlobte  seine  einzige  Tochter  Gertrud  mit  Heinrichs  gleich- 
namigem Sohn,  Heinrich  dem  Stolzen,  und  eröffnete  so  dem 
Weifenstamm  die  wohl  schon  lang  genährte  Hoffnung  auf 
die  Krone.  Vater  und  Sohn  waren  auch  in  dem  nun  begin- 
nenden ernsten  Kampfe,  der  mit  Unterwerfung  der  staufi- 
schen Brüder  endete,  Lothars  treueste  Bundesgenossen. 
Heinrich  der  Stolze  fand  nach  des  Vaters  Tod  (1126)  seinen 
einzigen  Bruder  Weif  (f  1191)  mit  den  schwäbischen  Gütern 
ab,  während  er  selber  die  bairischen  und  sächsischen  be- 
hielt. Eng  verbunden  mit  seinem  kaiserlichen  Schwieger 
vater,  erhielt  er  1136  und  1137  das  Herzoglhum  Sachsen. 
Bei  einer  solchen  Macht  war  für  ihn  viele  Hoffnung  da,  nach 
Lothars  Tod  (1137)  Kaiser  zu  werden,  aber  das  Glück  ent- 
schied sich  für  seinen  Gegner,  den  Hohenstaufen  Kunrad  111. 
Dieser  entriss  ihm  Baiern,  und  ein  unerwarteter  Tod  machte 
den  Bemühungen,  dasselbe  von  Sachsen  aus  wieder  zu  ge- 
winnen, ein  Ende*,  auch  der  Überlebende  Bruder,  Weif  VI., 
versuchte  das  Glück  der  Waffen  mehrmals  umsonst,    und 


324  Weifen  und  Gibelinge, 

fügte  sich  endlich.  Barbarossa  verlieh  ihm  1152  die  reiche 
Belehnung  mit  Spoleto,  Tuscien,  Sardinien  und  Gorsica. 
Mit  ihm  endete  1191  dieser  Seitenzweig  der  Weifen. 

Heinrichs  des  Stolzen  Schicksal  wiederholte  sich  an 
seinem  Sohne,  Heinrich  dem  Löwen  (geb.  1129,  gest.  1195). 
Kaiser  Friderich  der  Erste,  der  Sohn  jenes  Schwabenherzogs 
der  die  Tochter  Heinrichs  des  Schwarzen  geheirathet  hatte, 
aber  von  diesem  bei  der  Thronbewerbung  verrathen  worden 
war,  schien  durch  seine  Herkunft  berufen  den  Hass  der 
beiden  feindlichen  Geschlechter  zu  sühnen,  und  sein  Beneh- 
men gegen  den  Vetter,  Heinrich  den  Löwen,  war  voll  Ge- 
rechtigkeit und  Güte,  er  übertrug  ihm  sogar,  um  den  alten 
Groll  zu  sühnen.  Baiern  wieder  (1154),  so  dass  Heinrich, 
wie  sein  Vater,  zwei  Herzogtbümer  besass.  Drei  und  zwan- 
zig Jahre  lang  hielt  er  auch  treu  zum  Kaiser;  aber  die  beiden 
Helden  gingen  zu  sehr  auf  gleicher  Bahn,  als  dass  sie  sich 
hätten  auf  die  Dauer  vertragen  können.  In  einem  entschei- 
denden Augenblick,  1175,  als  es  sich  für  Friderich  darum 
handelte,  gegen  Rom  und  die  Lombarden  die  Früchte  der 
Anstrengungen  eines  ganzen  Lebens  zu  behaupten,  fiel  Hein- 
rich von  ihm  ab.  Er  wurde  zwar  geächtet  und  verjagt  (1180), 
aber  die  Kaisermacht  war  durch  ihn  der  päpstlichen  unter- 
legen und  erholte  sich  von  diesem  Schlage  nicht  wieder. 
Als  ein  Grund  welcher  zu  Heinrichs  Abfall  bedeutend  mit- 
gewirkt haben  mag,  darf  wohl  der  Aerger  über  den  Verlust 
einer  freilich  sehr  wichtigen  Erbschaft  angesehen  werden. 
Weif  VL  nämlich,  der  Oheim  Heinrichs  und  des  Kaisers, 
hatte,  wie  schon  erwähnt  ist,  bei  des  Vaters  Xode  die  schwä- 
bischen Güter  bekommen,  die  seine  Vermählung  mit  Uta, 
der  Erbtochter  des  rheinischen  Pfalzgrafen  Gotfrid,  und  die 
schon  erwähnte  Verleihung  italischer  Lehen  durch  Friderich 
Barbarossa  noch  sehr  bedeutend  vermehrten.  Der  Tod  seines 
einzigen  Sohnes,  Welfs  VH.,  welcher  1167  mit  einem  grossen 
Theil  des  kaiserlichen  Heers  in  Italien  von  einer  Seuche  hin- 
gerafft ward,  brachte  in  dem  Alten  eine  merkwürdige  Ver- 
änderung hervor.  Er  zog  sich  von  der  Welt  zurück,  aber 
nicht  in   klösterliche  Stille,   sondern   in   den  Taumel  eines 


Weifen  und  Gibelinge.  325 

genussreichen  Lebens,  als  ob  er  den  Reichthum  den  er  kei- 
nem Sohn  hinterlassen  konnte,  selbst  noch  so  viel  wie  mög- 
lich geniessen  wolle:  Lieder  aus  jener  Zeit  nennen  ihn  daher 
Weif  den  Milden  (Freigebigen).  In  der  Geldnoth  welche 
häufig  die  Folge  hievon  war,  fand  er  bei  dem  sparsamen 
Sohne  des  Bruders,  bei  Heinrich  dem  Löwen,  wenig  Gehör; 
wogegen    sich    der  Sohn  der  Schwester,    Kaiser  Friderich, 

• 

immer  bereitwillig  zeigte.  So  wandte  der  Greis  nun  sein 
Herz  und  sein  überaus  reiches  Erbe  vom  Weifen  ab,  dem 
Hohenstaufen  zu;  die  italischen  Güter  und  Rechte  fielen  als 
erledigte  Lehen  ohnehin  an  Friderich,   den  Kaiser,  zurück. 

Der  Kampf  welcher  zuerst  die  Väter,  dann  die  Söhne 
einander  gegenübergestellt  hatte,  entbrannte,  zum  dritten 
Mal,*  auch  zwischen  den  Enkeln.  Nach  dem  Tod  Kaiser 
Heinrichs  VI.  (1198)  stritten  Philipp  von  Schwaben,  der  Sohn 
Barbarossa's,  und  Otto  (IV.),  der  Sohn  Heinrichs  des  Löwen, 
um  die  Krone.  Als  Philipp  ermordet  war  (1208),  kam  Otto 
durch  die  Vermählung  mit  der  Tochter  seines  unglücklichen 
Gegners,  und  weil  kein  andrer  Bewerber  da  war,  empor; 
aber  schon  1212  erlag  er  dem  neu  erweckten  Gegenkönig 
aus  staufischem  Blut,«  Friderich  IL  Dieser  beendete  den  alten 
Hader  der  beiden  Geschlechter  durch  den  Frieden  den  er 
1234  mit  Olto  dem"  Kinde,    dem  Neffen  Otto's  IV.,  schloss. 

Seit  dieser  Zeit  kann  man,  was  Deutschland  betrifft, 
nicht  mehr  von  weifischen  Streitigkeiten  sprechen;  wohl  aber 
gingen  sie  in  Italien  wenigstens  dem  Namen  nach  fort,  weil 
daselbst  die  Kämpfe  von  Stadt  zu  Stadt  die  einmal  üblich 
gewordene  Benennung  zweckmässig  finden  Hessen. 

Fasst  man  zusammen  was  sich  aus  diesen  Hergängen 
als  Hauptergebniss  für  unsre  Namenfrage  darbietet,  so  ist  es 
folgendes.  Als  neue  Form  für  einen  Gegensatz  der  schon 
weit  früher  da  war,  finden  wir  im  11.  und  12.  Jahrhundert 
den  Kampf  des  weifischen  Hauses  gegen  die  königliche  Macht, 
die  zuerst  durch  die  fränkischen  Salier,  nachher  durch  die 
schwäbisch- fränkischen  Hohenstaufen  vertreten  ist.  Wie  die 
Salier  den  Sitz  ihrer  Macht  vornehmlich  am  Rheine  haben, 
so  die  Weifen  ursprünglich    am  Fuss  der  schwäbisch -tiro- 


326  Weifen  und  Gibelinge, 

liscben  Alpen.  Von  hier  aber  breiten  sie  sich  alimähiig  aus. 
Der  Besitz  Kärntens  und  Verona's  ist  zwar  nur  vorüber- 
gehend (1047 — 1055);  aber  durch  das  Aufkommen  des  Ne- 
benzweiges von  Este  fassen  sie  doch,  seit  1055,  festen  Fuss 
in  Italien.  Dazu  kommt  1071  die  bairische  Herzogs wUrde; 
seit  1100  reicher  Aliodbesitz  in  Sachsen,  seit  1131  desglei- 
chen am  Rhein,  seit  1136  eine  umfassende  Herrschaft  in 
Italien,  seit  1137  die  sächsisclie  HerzogswUrde.  Die  zweite 
Hälfte  des  12.  Jahrhunderts,  namentlich  die  Jahre  1180  und 
119i,  werden  für  diese  wahrhaft  königliche  Macht  verderblich: 
es  bleiben  blos  die  sächsischen  Erbgüter. 

Der  Kampf  der  Weifen  gegen  das  Königthum  beginnt 
unter  Kunrad  H.,  zwar  bitter,  aber  doch  nicht  in  seiner 
späteren  Stärke,  weil  noch  ein  andres  Geschlecht,  das  ba- 
benbergische,  die  Hauptrolle  spielt.  Auch  ist  die  Flamme 
nur  vorübergehend  (1027—1030). 

Um  so  heftiger  lodert  sie  auf  nachdem  das  weifische 
Blut  italisches  in  sich  aufgenommen  hat:  Weifen  und  Zäringer 
wetteifern  in  Hass  gegen  die  Salier.  Das  war  der  zweite 
Gang  (1076—1096). 

Die  Feindschaft  schien  entschlummert,  versöhnt:  da  er- 
wacht sie  beim  Erlöschen  des  fränkischen  Königshauses,  so- 
wie sich  Hoflhung  auf  die  höchste  Gewalt  zeigt,  heftiger  als 
je  zuvor:  die  Kämpfe  nach  der  Erwählung  Lothars  (um  1130) 
und  Kunrads  HI.  (um  1140  und  1150)  können  als  dritter 
Ausbruch  des  nun  schon  verjährten  Hasses  angesehen  wer- 
den, und  zugleich  als  der  heftigste,  weil  hier  die  beiden 
Geschlechter  entschieden  und  anhaltend  um  das  Reich  kämpfen 
(1125—1150). 

Ein  vierter  ist  Heinrichs  des  Löwen  Abfall  und  Sturz 
(1175—1180),  der  den  Sieg  völlig  für  die  Hohenstaufen  ent- 
scheidet. 

Den.Schluss  bilden  die  Kämpfe  des  schon  gebrochenen 
Weifenstammes  unter  Otto  IV.  gegen  Philipp  und  Friderich  H. 
(1198-^1212  oder  1234), 


Weifen  und  Gibelinge.  327 

Silier  und  Staufen  als  Walblinger. 

Das  BedUrfniss,  die  beiden  Geschlechter  die  von  1076 
bis  1234  an  der  Spitze  der  Kämpfenden  in  Deutschland 
standen,  und  eben  damit  die  Parteien  selber,  durch  schla- 
gende Namen  von  einander  zu  unterscheiden,  stellte  sich 
wohl  gleich  anfangs  ein.  Unsre  neueren  Geschichtschreiber 
brauchen  schlechtweg  Weifen  (oder  Guelfen)  und  Gibellinen, 
und  zwar  nicht  blos  wo  sich's  um  die  italischen  Kämpfe 
handelt,  in  denen  diese  Namen  unbestreitbare  Geltung  haben; 
sondern  auch  für  die  deutschen«  Andre,  denen  der  Name 
Gibellinen  für  Deutschland  willkürlich  scheint,  setzen  dafür 
dessen  vermeintliche  deutsche  Form  Waiblinger. 

Wie  viel  nun  jeder  hier  im  Rechte  sei,  das  kann  blos 
entschieden  werden ,  wenn  man  die  alten  Zeugnisse  zu  Hülfe 
nimm^  und  ich  will  sie  hier,  so  weit  ich  sie  habe  ausfindig 
machen  können ,  ihrem  Alter  nach  auf  einander  folgen  lassen. 

Das  älteste  hat  Bischof  Otto  von  Freisingen.  Wo  er  von 
der  Erwählung  und  Herkunft  Kaiser  Friderichs  I.  redet,  be« 
spricht  er  die  beiden  Häuser  denen  dieser  Fürst  seiner  Her* 
kunft  nacli  angehörte,  mit  folgenden  Worten:  „es  haben 
sich  bisher  im  römischen  Reich,  in  den  Grenzlandschaften 
gegen  Frankreich  hin,  zwei  Geschlechter  vornehmlich  be- 
kannt gemacht,  auf  der  einen  Seite  das  der  Heinriche  von 
Waiblingen,  auf  der  andern  das  der  Weifen  von  Altdorf  «)*<. 
Otto  war  ein  ganz  naher  Verwandter  des  Kaisers®),  und 
hat  dessen  Leben  zwischen  1150  und  1160  beschrieben. 
Nach  seiner  Zeit  und  seiner  Stellung  dürfen  wir  dem  was 
er  hier  sagt,  vollkommenes  Vertrauen  schenken.  Da  hienach 
die  Gegner  des  Köuigthums  unzweifelhaft  Weifen  genannt 
wurden,   nicht  Altdorfer,   so  müsste,   wenn  sein  Ausdruck 


*)  Duae  in  romano  orbe  apud  Galliae  Germaniaeve  6nes  fa« 
mosao  familiae  hactenus  fuere,  una  Henricorum  de  Gueibelinga^ 
alia  Guelforum  de  Altdorfio.    De  gestis  Friderici  II,  2. 

*)  Ein  Sohn  des  österreichischen  Markgrafen  Liutpold,  wel- 
chem Barbarossa's  Grossmutter,  die  Salierin  Agnes,  in  zweiter  Ehe 
die  Hand  gereicht  hatte.    Otto's  Tod  fallt  ins  Jahr  1158. 


328  Weifen  und  Gibelinge. 

logisch  ganz  genau  zu  nehmen  wäre,  die  königliehe  Partei 
den  Namen  der  Heinriche  gehabt,  das  Waiblingen,  als  dem 
Altdorf  entsprechend,  bei  Seite  bleiben.  Aber  jene  Zeit 
pQegte  nicht  mit  der  peinlichen  Begriffsschärfe  der  Neueren 
zu  verfahren,  und  es  findet  sich  keine  Spur,  dass  man  die 
Weifengegner  Heinriche  genannt  habe,  in  dem  Sinn  wie  die 
Weifen  selbst  ihren  Namen  trugen. 

Vielmehr  ist  alle  Wahrscheinlichkeit  vorhanden,  dass 
sie  die  Waiblinger  hiessen.  Schon  den  ersten  der  als  deut- 
scher König  einen  Weifen  zu  bekämpfen  hat,  Kunrad  II. 
(1024 — 1039),  nennt  eine  gleichzeitige  Nachricht  den  W^aib- 
]ingeri<^),  und  das  nämliche  thut  die  Lorscher  Chronik 'i). 
Desgleichen,  sagt  Gotfrid  von  Viterbo  —  ein  geborener  Ita- 
liener, der  aber  in  Deutschland  aufgewachsen  war,  von  den 
ersten  hoheustaufischen  Königen  zu  Staatsgeschäften  gebraucht 
worden,  und  1191  gestorben  ist  —  Kunrad  sei  au^  einer 
Stadt  Namens  WaibHngen  gewesen,  und  ein  ruhmvolles  Kö- 
nigshaus stamme  von  dort^^j.  Da  ferner  die  Hohenstaufen 
durch  Agnes,  die  Tochter  Kaiser  Heinrichs  IV.,  von  diesem 
waiblingischen  Haus  abstammten,  mit  ihm  gemeinsam  die 
heftigsten  Kämpfe  gegen  die  Weifen  bestanden,  mit  seinen 
Gutern  und  der  Köhigskrone  auch  den  Hass  der  Weifen 
erbten,  so  verdient  die  Chronik  des  Klosters  Ursperg  vollen 


l^)  Cunradus  de  Guebelingen  in  regem  unctus  est.  Strass- 
burger  Stiftsaufzeichnungen  zum  Jahr  1024,  bei  üfstisius  2,  83.  — 
In  Böhmer's  Fontes  (2,  97)  fehlt  die  Stelle:  hat  er  sie  für  verdäcb- 
tig  gehalten?  —  Die  Verschiedenheit  meines  deutschen  Ausdrucks 
vom  Lateinischen  ist  nur  scheinbar:  noch  jetzt  nennen  die  Land- 
leute von  Schwyz  die  Männer  aus  dem  Geschlecht  Ab  Yberg  (de 
Iberg)  schlechtweg  die  Yberger. 

")  In  Cunradum  regem,  quem  dicunt  de  Weibelingen, 
conveuit  regni  universalis  electio.  Cod.  Laur.  I,  S.  159.  Die  Nach- 
richt hat  freilich  keine  bindende  Glaubwürdigkeit,  da  diese  Stelle 
der  Lorscher  Chronik,  die  im  weiteren  Verlauf  Friderichs  n.  er« 
wähnt,  zweihundert  Jahre  später  geschrieben  scheint. 

*^)   Dux  erat  ex  villa  quam  rite  vocant  Guebelingam: 
Inclyta  nobilitas  regum  generatur  ab  illa. 
Godefrldi  Viterbieusis  Pantheon.  Bei  Muratori  Scriptores  7,  440,  E. 


Weifen  und  Gibelinge.  329 

Glauben,  wenn  sie  erzählt,  Barbarossa  habe  sich  der  Her- 
kunft aus  dem  königlichen  Stamme  der  Waiblinger  gerühmt  i'). 
Ob  schon  damals  das  Bedürfniss,  für  die  Anhänger  des 
Königthums  eine  Gesammtbenennung  zu  haben,  die  Namen 
der  Waiblinger  und  Weifen  zu  Parteinamen  gemacht  habe, 
muss  bei  dem  Mangel  an  Nachrichten  hierüber  dahingestellt 
bleiben;  wahrscheinlich  ist  es  jedoch  nicht,  weil  sich  sonst 
wohl  wenigstens  aus  späterer  Zeit  irgend  ein  Zeugniss  dar- 
über erhalten  haben  würde. 

Fragt  sich  nun  weiter  welches  das  Waiblingen  sei  das 
im  11.  und  12.  Jahrhundert  den  Namen  für  die  deutschen 
Könige  hergegeben  hat,  so  bieten  sich  zwei  dar,  beide  in 
Schwaben,  an  seiner  nördlichen  Grenze  gegen  Franken  hin 
gelegen:  das  eine  ein  kleiner  Weiler  am  Kocher,  unterhalb 
der  ehemaligen  Reichsstadt  Aalen;  das  andre  ein  Städtchen 
an  der  Rems,  zwei  Stunden  Wegs  von  Stuttgart.  Die  ein- 
zige Thatsache  die  für  jenes  sprechen  könnte,  dass  es  näm- 
lich Spuren  einer  Burg  besitzt,  tritt  völlig  in  den  Hinler- 
grund, wenn  man  dagegen  zusammenstellt  was  zu  Gunsten 
des  zweiten  vorzubringen  ist.  Die  Geschichte  des  Ortes 
reicht  noch  in  die  römische  Zeit  hinauf,  wie  aus  dem  Vor- 
kommen  zahlreicher,  nicht  unbedeuteitder  Alterthümer  und 
einer  Heerstrasse  hervorgeht  i^).   Die  Lage  auf  einer  gesicher- 


'3)  (Fridericus)  gloriabatur  se  de  regia  stirpe  Waiblingensium 
progenituii)  fuisse,  quos  constat  de  duplici  regia  prosapia  pro- 
cessisse,  videlicet  Clodovaeorum  et  Carolorum.  Chron.  Ursp.  S.  216. 
In  Christmanns  Ausgabe  (der  Historia  Friderici,  Ulm  1790}  S.  iL  — 
Licht  auf  die  hier  beigefügte  Behauptung  von  der  hohen  Herkunft 
der  Salier  fällt  durch  eine  andere  Stelle  des  ÜUo  von  Freisingen, 
nach  welcher  Kunrad  n.  mütterlicherseits  von  den  Merowingern 
abstammte,  seine  Gattin  Gisela  dagegen  ihr  Geschlecht  auf  die  Ka- 
rolinger zurückführte.  Die  Worte  lauten  in  Otto's  Annalen  (VI,  28): 
Conradus  ...  ex  parte  malris  ex  probatissimorum  Galliarum  prin- 
cipum,  qui  • . .  a  beato  Remigio  baptizati  fuerant,  originem  trahens, 
uxorem,  Gisilam  nomine,  de  anliquo  et  gloriose  Carolorum  san« 
guine  oriundam  habuit.  —  Ob  sich  die  Sache  wirklich  so  verhielt 
ist  zweifelhaft,  aber  hier  ganz  gleichgültig. 

> «)  Stalin ,  Würtembergische  Geschichte  I.  führt  S.  42,  No.  107 
einen  Altar,   Anticaglien,   Münzen   an,   S.  107  eine  aufgedeckte 

Allg.  Zeitschrift  f.  Geschieht«  T    1846.  22 


330  Weifen  und  GibeUnge, 

ten  Anhöhe  am  Fluss,  und  zugleich  den  bequemsten  Weg 
aus  der  wichtigen  Eannstatter  Gregend  ins  Remsthal  hinüber 
beherrschend,  macht  es  wahrscheinlich,  dass  hier  eine  rö- 
mische Burg  (castrum)  stand.  Daraus  ging  wohl  auch  hier, 
wie  an  so  vielen  andern  Stellen  eine  Burg  des  Mittelalters 
hervor,  und  zwar  erscheint  Waiblingen  in  der  karolingischen 
Zeit  als  eine  königliche  Pfalz:  885  wird  es  als  vorüberge- 
hender Aufenthalt  Karls  des  Dicken ,  887  als  der  Ort  erwähnt, 
wo  er  eine  Reichs  Versammlung  hielt*,  893  feiert  Arnulf  Weih- 
nachten, 907  weilt  Ludwig  IV.  (das  Kind)  daselbst;  auch 
nennen  die  Quellen  Waiblingen  ausdrücklich  als  einen  der 
Orte  wo  diese  Könige  Recht  sprachen  ^^).  Königliche  Pfarz 
war  es  bis  zum  Jahr  1080,  wo  es  Heinrich  iV.,  am  14.  Oc- 
tober,  also  am  Tage  vor  der  Schlacht  an  der  Elster,  in  der 
Rudolf  die  Todes  wunde  empfing,  dem  Bischof  Rüdiger  von 
Speier  schenkte  ^ß). 

Wie  es  kam  dass  Kunrad  II.  Waiblingen  schon  vor  der 
Königsw'ürde,  mithin  nicht  als  königliche  Pfalz  sondern  als 
Erbgut  oder  Lehen  besass,  darüber  ist  meines  Wissens  nichts 
bekannt;  nur  vermuthen  lässt  sich  dass  es  aus  dem  Reichs- 
gut an  die  schwäbischen  Herzoge  gekommen  sei,  aus  deren 
Erbe  Gisela  dasselbe' ihrem  zweiten  Galten,  eben  dem  rhei- 
nischen Grafen  und  nachmaligen  Kaiser  Kunrad,  zugebracht 
hätte,  denn  sie  war  eine  Tochter  Herzog  Hermanns  IL  von 
Schwaben  (t  1003)  und  nach  dem  kinderlosen  Tod  ihres 
Bruders,  Herzog  Hermanns  IIL  (11012)  mit  ihren  ächwestern 
Erbin  der  Hausgüter  i').   Dass  Kunrad  Waiblingen  schon  vor 

Töpferei,  S.  98  die  Strasse  die  von  Kannstatt  aus  über  Waiblingen 
an  deii  nicht  sehr  entfernten  Grenzwall  ging. 

^»)  Die  Nachweisungen  über  alle  diese  Thatsachen  s.  bei  Stalin 
1,  260.  261.  263.  265.  341. 

»•)  Ebenda  S,  580,  vgl.  521.  —  Sonderbarerweise  zieht  Gölt- 
ling  (Nibelungen  und  Gibelinen,  S.  24)  hieraus  den  Schluss  dass 
das  Geschlecht  nicht  nach  diesem  Waiblingen  genannt  sein  könne, 
weil  Heinrich  es  sonst  nicht  weggegeben  halte.  So  empfindsam 
dachte  damals  niemand:  wie  viele  Geschlechter  haben  die  fiurg 
veräussert  nach  der  sie  genannt  werden  oder  wurden ! 

>0  I>eQ  Stammbaum  s.  bei  Stalin  a.  a,  0.  S.  416,  —  Die  oben 


Weifen  und  Gibelinye.  331 

seiner  Königs  wähl  besass,  lüsst  sich  durchaus  nicht  bezwei- 
feln. Denn  wenn  es  ihm  erst  mit  andern  königlichen  Gütern 
zugefallen  wäre ,  so  hätte  gewiss  weder  er  noch  einer  seiner 
Nachkommen  den  Beinamen  davon  erhalten,  da  man  wohl 
einen  rheinischen  Grafen  Kunrad  nach  Waiblingen  benennen 
konnte,  niemand  aber  für  den  deutschen  König  eine  so  kleine 
Wahl  treffen  wird.  Dunkel  ist  freilich  und  wird  wohl  blei- 
ben, sowohl  wann  seit  der  karolingischen  Zeit  die  Pfalz  in 
Waiblingen  aufgehört  hat  ein  königliches  Eigenthum  zu  sein ; 
als  auch  warum  Kunrad  gerade  nach  Waiblingen  benannt 
wurde.  Hinsichtlich  der  letztern  Frage  Hesse  sich  vermuthen 
dass  man  den  nachmaligen  Kaiser  durch  den  Beinamen  des 
Waibling^rs  von  seinem  gleichnamigen  Vetter,  Herzog  Kunrad 
von  Kärnten,  habe  unterscheiden  wollen,  und  dass  die  Wahl 
des  Namens  von  den  Schwaben  ausgegangen  sei  weil  Waib- 
lingen vielleicht  der  Ort  war  wo  Kunrad  weilte,  wenn  er 
sich  in  diesen  Gegenden  aufhielt.  Wollte  man  darauf  Ge- 
wicht legen  dass  Gotfrid  von  Viterbo  sagt,  Kunrad  sei  „aus 
Waiblingen  gewesen",  so  müsste  man  es^  als  seinen  Geburts- 
ort ansehn  und  sich  die  Erwerbung  auf  andre  Weise  als 
durch  den  Ehebund  mit  Gisela  geschehen  denken. 

Aus  den  Formen  unter  welchen  der  Name  von  Waib- 
lingen an  der  Roms  in  den  Urkunden  auftritt,  lässt  sich  nicht 
nur  kein  Beweis  gegen  sein  Zusammenfallen  mit  dem  Na- 
menorte der  Salier  ziehen,  sondern  sie  bestätigen  dasselbe 
vielmehr  unwiderleglich.  Die  ältesten  bekannten,  aus  dem 
9.  und  10.  Jahrhundert,  sind  bereits- Weibilingon,  Weibilingua, 
Wehibilingua,  Waipilinga^^j,  und  Weibilingen,  wie  es  im 
Jahr  1080  heisst'»),  weicht  davon  kaum  ab.  Die  Diphthon- 
gen Ei   und   Ai   bezeichnen   denselben  Laut,   höchstens  in 


ausgesprochene  Vermuthung  über  die  Art  wie  Waiblingen  salisch 
geworden,  spricht  Haug  aus,  in  seiner  Untersuchung  über  „die 
älteste  Grafschaft  Würtemberg  als  Gaugrafschaft"  (Tübinger  Herbst- 
programm für  1831,  S.  31,  Anm.  61.). 

*•)  Stalin,  a.  a.  0.  261,  a.  6  und  341,  a.  1. 

*")  Praedium  in  pago  Ramesdal  (d.  i.  Remsthal)  situm,  Weibi 
lingen,  in  comitatu  Popponis.    Dümge  Reg.  Bad.  S.  112. 

22* 


332  Weifen  und  Gibelinge. 

mundartlicher  Abweichung ,  und  selbst  Ehi  stellt  nichts  an- 
deres vor,  indem  sein  H  keinen  wirklichen  Laut  ausdrücken 
sondern  nur  bezeichnen  soll,  dass  die  beiden  Vokale  mehr 
als  jetzt  in  der  Aussprache  getrennt  wurden.  Auch  -ingon 
und  'ingen  fallen  zusammen;  -inga,  mit  der  Nebenform 
-ingua,  ist  entweder  von  dem  lateinischen  Schrisiber  zur 
Anpassung  an  seinen  Text  willkürlich  gewählt,  oder  sie  ent- 
hält den  althochdeutschen  Nominativ  (Accusativ)  der  Mehr- 
zahl, WeibilingÄW). 

Nach  einer  andern  Seite  hin  weist  uns  die  Form,  welche 
drei  der  oben  angeführten  Quellen  anwenden:   Gueibelinga 


**)  Ich  füge  hier  meine  Yermuthung  über  die  Herkunft  des 
Namens  WaiblingeD  bei.  Das  ahd.  weibil  bedeutet  einen  Amts* 
diener^  wie  noch  jetzt  in  der  Schweiz,  z.  B.  bei  der  Tagsatzung 
die  Boten  cier  Lander  von  „Waibeln**  in  heraldisch  gestückten 
Mänteln  begleitet  sind,  und  wie  in  einigen  deutschen  Staaten,  z.  B. 
in  Würtemberg,  beim  Heer  der  Feld-wäbel  den  französischen  Ser- 
gent vertritt.  In  einer  ahd,  Stelle  (Graff,  Sprachschatz  1.  651.)  fin- 
det sich  Waibel  mit  Schultheiss  zusammengestellt,  und  es  bestätigt 
dies,  was  Schmeller -(Bayer.  WÖrterb.  4.  6.)  ausspricht,  dass  der 
ältere  Waibel  eine  bedeutendere  Person  gewesen  sei,  als  unser 
jetziger,  wie  einst  Grafen  mehr  waren  als  nun  mancher  Herzog; 
ferner  dass  dieses  Abnehmen  der  Bedeutung,  die  Schmeller  zu- 
nächst nur  von  dem  kriegerischen  Amte  behauptet,  auch  für  das 
friedliche  angenommen  werden  muss.  Ich  vermuthe  demnach  für 
das  Waibl  —  in  unsern  Ortsnamen  die  Bedeutung  eines  königlichen 
Beamten,  unter  den  Waiblingen  (Waibilingum)  setne  Untergebenen, 
von  welchen  die  Bewohner  der  Umgegend  den  Namen  des  Ortes 
hergenommen  hätten.  Dies  «summt  genau  zu  der  Thatsache,  dass 
Waiblingen  von  Alters  her  eine  nicht  unbedeutende  königliche 
Pfalz  war,  und  noch  in  späterer  Zeit  Wichtigkeit  genug  halte  um 
einem  vornehmen  Geschlechte'  den  Beinamen  zu  geben»  Dass  man 
das  Wort  Waibel  (im  Sinne  von  Beamter,  Verwalter)  auch  sonst 
wohl  zur  Ortsbezeichnung  brauchte,  sehen  wir  aus  dem  Namen 
Waibelhuob  (d.  i.  Gut,  von  einem  Waibel  verwaltet).  So  biess  ein 
Bezirk  der  um  Welzheim  her,  also  zwischen  unsern  beiden  Waib- 
lingen, lag,  und  noch  sehr  spät  ein  eigenes  Amt  bildete  (Prescher^ 
Limburg  2,  319.  413.).  Der  Name  Waibel  selbst  kommt  vermutb- 
lich von  weben  d.  i.  sich  hin  und  herbewegen,  was  auf  die  ver- 
schiedenen Bedeutungen  des  Wortes  und  auch  auf  die  hier  ange* 
nommene  des  Gutsaufsehers  ganz  gut  passt» 


Weifen  und  Gibelinge.  333 

(bei  Otlo  von  Freisingen).  Guebeling-en,  -a  (Strassburger 
Aufzeichnungen  und  Gotfrid  von  Yiterbo).  Das  E  statt  Ei, 
Ai,  macht  keine  Schwierigkeit.  Der  fragliche  Diphthong  wird 
von  der  fränkischen  Mundart  als  langer  Vokal  behandelt, 
entweder  als  ä,  weshalb  z.  B.  Lorsch  (d.  i.  Loresheim,  Lau- 
resheim)  in  der  Form  Laureshäm  erscheint;  oder  als  Ä,  wie 
z.  B.  Heidelberg  an  Ort  und  Steile  Heedelbörch  lautet.  Diese 
Ersetzung  des  ahd.  Diphthongen  durch  einen  langen  Vokal 
wurde  besonders  gerne  dann  vorgenommen,  wenn  sich's 
darum  handelte,  lateinisch  klingende  Formen  zu  bekommen, 
denen  allerdings,  da  dem  lateinischen  ae  (d.  i.  ai,  vergL 
Caesar  und  Kaiser)  seine  wahre  Geltung  genommen  war,  die 
Diphthongen  ai  und  ei  sehr  im  Weg  standen.  Ob  nun  mehr 
die  fränkische  Mundart  oder  das  Bedürfniss  lateinischen 
Klanges  vorgewaltet  habe,  genug  es  begegnen  uns  auch  statt 
Waibilingen  die  Formen  Wablingen^i)  und  Webelinge  ^), 

Schwieriger  ist  die  Verschiedenheit  des  Anlautes  auszu- 
gleichen; Gu  statt  W.  Ich  sehe  in  der  Anwendung  des 
ersteren  abermals  einen  Versuch  der  Schriftsteller,  den  deut- 
schen Namen  in  Einklang  mit  seinen  lateinischen  Umgebun- 
gen zu  bringen.  Denn  das  Lateinische  des  Mittelalters,  die 
romanische  Zunge,  verfuhr  überhaupt  so  mit  anlautendem 
W:  vadum,  vastum,  viare  werden  zu  guadum  (guado),  gua- 
stum,  guiare  (guidare,  guider);  und  ebenso  die  entlehnten 
deutschen  Wörter:  Wald,  Walther,  Wernher,  Weif,  Wide, 
Wilibelm  zu  gualdus,  Gualtarius  (Gaulier),  Guarniero  (Gar- 
nier), Guelfo,  Guido,  Guilielmus  (Guglieimo,  Guillaume) ^). 


*>)  Zu  lesen  Wdblingen.    So  die  Sindelfinger  Chronik. 

'')  Zu  lesen  WSbelingen.  So  die  Compilatio  chronologica  bei 
Leibnitz,  Scriptores  2,  65.  Die  Stelle  lautet:  Conradus,  dictus  prius- 
Cono  de  Webelinge  in  Suevia.  Die  Compilatio  ist  ein  spätes  Werk 
und  daher  bei  den  oben  angeführten  Steilen  von  König  KunradlL 
weggelassen;  als  grammalischer  Beleg  aber  kann  sie  immerhin  gel- 
ten, da  das  Wöbelinge,  auch  wenn  sie's  mit  Unrecht  auf  diesen 
König  anwendete ,  doch  einen  Beweis  für  die  üblich  gewesene  Er- 
setzung des  Diphthongen  durch  einen  langen  Vokal  abgeben  würde« 

^')  S.  Dufresne's  Glossar,  und  Diez^  Grammatik  der  romani- 
schen Sprachen  1,  187.  293.  —  Fälschlich  behauptet  Mono  (Helden« 


334  Weifen  und  Gibelinge. 

Salier  und  Stanfen  als  Gibelinge. 

Verfolgt  man  die  beiden  Parteinamen  weiter,  so  findet 
man  zwar  den  weifischen  fortdauern,  aber  statt  des  waib- 
üngischen  tritt  mit  dem  13.  Jahrhundert  der  der  Gibelinge 
auf,  der  in  italischer  Zunge,  und  auch  hier  nicht  sogleich, 
die  Form  Gibellinen  angenommen  hat>^). 


sage,  S.  24.)  —  vielleicht  verführt  durch  eine  Vermuthung,  welche 
Diez  S.  294.  ausspricht  —  Gueibeling  passe  nicht  auf  Waiblingen, 
weil  es  nie  mit  hw  geschrieben  worden  sei,  und  nur  hw  sich  bei 
den  Romanen  in  gu  verwandelt  habe.  Ich  mache  hiergegen  gel- 
tend, dass  von  den  oben  angeführten  deutschen  Wörtern  der  An- 
laut hw  sich  blos  für  Weif  wahrscheinlich  machen  lässt  (vergl. 
meine  Anmerkung  7.);  und  wer  vermöchte  vollends  ein  lateinisches 
hvadum  u.  s.  w.  nachzuweisen!  Indessen  kann  freilich  die  altüb- 
liche anlautende  Consonantenverbindung  hw  deutscher  Wörter  auf 
die  Erzeugung  jenes  romanischen  gu  (d.  i.  wohl  gw)  mitgewirkt 
haben,  und  mehr  will  Diez  in  der  ebenerwähnten  Stelle  (S.  294.) 
gewiss  nicht  behaupten,  wie  es  aus  den  Beispielen  hervorgeht,  die 
er  sofort  folgen  lässt. 

^*)  Vorgreifend  will  ich  hier  die  Formen  zusammenstellen,  wie 
sie  in  den  ältesten  Quellen  erscheinen.  Die  Italiener  bringen  optio 
(Partei)  gibolenga,  Gibolengi,  und  pars  gibellina,  Gibellini;  die 
Deutschen  Gibetingen,  Gibelinge,  Gibling(e);  und  nach  späterem 
italischen  Vorbild  Gibellini,  Gibilini.  Ebenso  lautet  der  Name  der 
Gegner  bei  den  Welschen  Guelfi,  Guelphi,  pars  guelfa;  einmal 
Gelfi,  pars  gelfa;  bei  den  Deutschen  Weifen,  im  lateinischen  Zu- 
sammenhang Guelfi,  einmal  auch,  nach  irrendem  italischen  Vor- 
bild, ^elfe.  Dieser  letztere  Fehlgrifi'  ist  übrigens  wohl  sehr  alt, 
wenigstens  scheint  Gelfrat,  der  Name  des  Baierherzogs  im  Nibe- 
lungenlied, Eins  mit  Welfhart:  der  Uebergang  wäre  vermittelt  durch 
das  altdeutsche  Wort  gelf  (gelpf)  d.  i.  glänzend,  keck,  prahlerisch, 
übermüthig;  ungefähr  wie  der  VValtharius  den  rheinischen  Helden 
eins  anhängt,  indem  er  den  Namen  der  Nibelungen  in  nebulones 
(Taugenichtse)  verkehrt.  Einen  weiteren  Zweig,  abermals  durch 
Entstellung,  scheint  der  Name  getrieben  zu  haben  in  der  Benen- 
nung, die  Hermann  von  Fritslar  (Pfeiffers  deutsche  Mystiker  1,  168, 
29.  und  169,  9.)  einer  spanischen  Stadt  beilegt.  Es  heisst:  er  ginc 
zu  deme  Gelferäten,  . .  vir  mile  von  deme  Gelferäte.  Diese  Stadt 
muss  bei  S.  Jago  di  Compostella.  und  vier  Meilen  von  „sancte  Do- 
mine" (?)  gesucht  werden;  ohne  Zweifel  ist  der  spanische  Name 
durch  die  Erinnerung  an  den  Gelfrat  des  Nibelungenliedes  auf  ahn- 


Weifen  und  Gibelinge.  335 

Ich  muslre  zuerst  wieder  die  Reihe  der  Zeugnisse.  Das 
älteste  mir  bekannte  ist  das  gleich  anfangs  erwähnte  Papst 
Gregorys  X.  vom  Jahr  1273. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  ihm  schreibt  die  Chronik  von 
Asti,  das  Werk  zweier  Zeitgenossen^):  „nach  Friderichs  IL 
Tode  spalteten  sich  die  Lombarden  in  zwei  Parteien,  von 
denen  die  eine  die  kirchliche,  die  andere  die  kaiserliche 
heisst;  seit  einiger  Zeit  aber  die  eine  die  weifische,  die  an- 
dere die  gibellinische.  Den  Anfang  machte  Verona,  indem 
Mastinus  von  Scala,  der  tapferste  der  Gibellinen,  alle  Reichen 
und  Grossen  aus  der  Stadt  verjagte  und  ihre  Häuser  zer- 
störte 2«)."  Weiter  wird  erzählt,  wie  sich  der  Streit  nsd  die 
Vertreibung  des  einen  oder  andern  Theils  über  Oberitalien 
ausgebreitet,  und  der  Reihe  nach  Mantua,  Cremona,  Bologna, 
Ferrara,  Modena,  Parma,  Brescia,  Grema,  Placentia,  Tortona, 
Alessandria,  Alba,  Turin,  Aqui,  Bergamo,  Asti,  Genua  er- 
griffen habe. 

Kurze  Zeit  nach  dön  Verfassern  der  Chronik  von  Asti 
sagt  Albertinus  Mussatus,  geboren  1261  zu  Padua,  in  seinem 
Leben  Kaiser  Ludwigs  des  Baiern,  zum  Jahr  1328:  „die 
Christenheit  war  in  zwei  Hälften  gespalten  und  nur  selten 
fiigte  sichs,  namentlich  in  unserem  Italien,  dass  man  jeman- 
den  traf,  der  von  der  Tbeilnahme  an  einer  der  beiden  Par- 
teien rein  geblieben  wäre,  der  sogenannten  gibolengischen 
und  der  gelfischen.  Denn  seit  Friderichs  II.  Zeit  haben  diese 
beiden  untrennbaren  Zweige  oder  vielmehr  unheilvollen  Spal- 


liche  Weise,  entstellt,  wie  die  Jakobsbrüder  aus  dem  Cap  Finisterre 
einen  ,, finsteren  Stern''  machten  (S.  Bibliothek  des  lii  Vereins  L, 
Georg  von  Ehingen,  S.  18.;  und  Münchener  gel  Anz.  von  1840, 
Nr.  55.  S.  443.). 

•*)  Sie  ist  geschrieben  vor  1294;  Ventura,  der  sie  überarbei- 
tet hat,  zählte  1310  schon  60  Jahre. 

'^)  Sciendum  est  quod  post  obitum  Frlderici  Lombardi  inter 
se  divisi  sunt  in  partes  duas^  quarum  una  vocatur  pars  ecclesiae, 
altera  vero  pars  iiuperii;  modo  vero  una  guelfa,  altera  gib  eil  in  a« 
Primi  quidem  fuerunt  Veronenses.  Mastinus  de  Scala,  fortissimus 
GibelUnorum,  expulit  omnes  ditiores  et  majores  de  Verona  et 
domos  eorum  diruit.  Chron.  Astense  17.  (Muratori  ScriptfXI.  176.) 


336  Wtlfen  und  OibeUnge. 

tungen,  durch  die  Italien  in  steter  Unruhe  gehalten  Witd^ 
gekeimt  und  gewuchert.  So  verabscheuten,  in  ihrem  Wahn 
und  Hass,  fast  alle,  bei  denen  Name  und  Gesinnung  der  Giel^ 
fen  galt,  diesen  Ludwig  und  seine  Handlungen,  wogegen  sie 
dem  Papst  Johannes  Lob  spendeten;  die  Gibolenge  aber 
stemmten  sich  hiegegen  mit  Worten  und  sonst  durch  jedes 
mögliche  Mittel  ^y- 

Bei  der  innem  UebereinsUmmung  dieser  beiden  iombar^ 
dischen  Zeugnisse  kann  kein  Zweifei  aufkommen,  dass  wirk- 
lich jene  Benennungen  sich  in  Oberitalien  ausbreiteten,  seit- 
dem der  Tod  Friderichs  IL  hier  die  Gewalt  vernichtet  hatte, 
welche  «bis  dahin  den  Städten  eine  gemeinsame  Feindin  und 
ein  Hinderniss  fUr  innere  Zwietracht  gewesen  war,  also  seit 
1250.  Das  Zeugniss  der  Chronik  von  Asti  wird  auch  da- 
durch noch  sehr  beachtenswerlh,  dass  es  den  seuchenähn- 
lichen Yerbreitungsgang  der  Sache  schildert.  Von  Verona 
aus,  das  schon  150  Jahre  früher  als  kaiserlich  gesinnte  Stadt 
erscheint  2«),-  und  nun  mit  Vertreibung  der  Gegner  beginnt, 
folgt  die  Parteiung  den  Wassern,  weiche  dem  Po  zuströmen 
(Maniua,  Gremona),  überschreitet  dann  diesen  (Bologna,  Per- 
rara)  und  zieht  sich  sofort  an  ihm  hinauf  (Modena,  Parma, 
Grema,  Piacenza,  Tortona,  Alessandria,  Alba,  Turin,  Aqui, 


'^)  Die  Schrift  des  Mussatus  beisst  Ludovicus  Bavarus,  und  ist 
zuletzt  veröffentlicht  von  Böhmer  in  den  Fontes  reram  germani- 
carum,  wo  die  oben  verdeutschte  Stelle  (1,  179.)  lautet  wie  folgt: 
In  duas  partes  secta  chrislianitas  erat  nostra,  et  paucos  invenisse 
conliogens  fuerit,  per  banc  precipue  nostram  Italiam,  quos  una 
ex  duahus  optio  non  inquioaverit,  aut  illa  quam  ajunt  gibolenga, 
vel  gelfa.  Hec  enima  tempore  Frlderici  H.  vocabula  dua  insepa- 
rabiiia  germioa  seu  potius  pestifera  Schismata  pullularont  alque 
invaluerunt,  que  semper  teuuere  Italiam  inquietam.  Sic  hoc  in 
errore  et  contentione  fere  omnes  qai  Gel  forum  nomen  animum- 
que  servabant  Ludovicum  bunc  detestabantur  et  actus,  Joannem 
papam  laude  commendabant.  Gibolengi  yero,  et  sermone  et  quo 
poterant  etiam  opere,  innitebantur  e  contra. 

**)  „Mit  Hülfe  seiner  getreuen  Bürger  von  Verona  zog  er 
(Heinrich  IV.,  im  Jahr  1095)  aus  und  belagerte  Malhildens  Burg, 
das  feste  Nogara/*  Stenzel,  Geschichte  Deutschlands  unter  den 
frank.  Kaitsern.  1,  554; 


Weifen  und  Gibelinge.  337 

Asti),  springt  hinüber  nach  Genua;  ist  auf  der  entgegenge- 
setzten Seite  an  den  Fuss  der  Alpen  zurückgekehrt,  wo  sich 
schon  früher  Brescia  und  Bergamo  angeschlossen  haben.  Soll- 
te man  bei  diesem  Gang  der  Sache  nicht  vermuthen  dürfen, 
dass  ihre  Heimat  sich  finden  la^e,  wenn  man  vom  Po  nach 
Verona  zurückkehre,  und  weiterhin  dem  natürlichen  Weg 
an  der  Etsch  folge,  auf  dem  ja  die  Weifen  in  die  Lombardei 
hinabgestiegen  sind?  Mit  andern  Worten,  dass  jene  Namen, 
wie  auch  schon  ihr  deutscher  Klang  muthmaassen  lässt,  aus 
Deutschland  stammen,  Italien  sie  blos  entlehnt,  allerdings 
aber  zu  grösserer  Bedeutung  ausgebildet  habe? 

Da  wäre  nun  freilich  zu  wünschen,  dass  man  aus  Deutsch- 
land selbst  ältere  Nachrichten  hätte.  Allein  die  älteste  für 
jetzt  nachweisbare  ist  sogar  beträchtlich  später  als  die  itali- 
schen die  ich  angeführt  habe.  Sie  findet  sich  bei  Konrad 
von  Ammenhausen,  der  um  1340  gelebt  hat  und  in  seinem 
Schachbuch  die  Bürgerkriege  des  alten  Roms  als  Kämpfe  der 
Gibellinen  und  Weifen  verständlich  macht  ^). 

Wenig  später,  um  1380,  bringt  auch  der  österreichische 
Dichter  Suchenwirt  gelegentlich  anführend  die  beiden  Namen 
Gfbling(e)  und  Gelfen  »>). 


^^)  Er  sagt  (Pfälzer  Handschrift  398.  El.  53,  b.  —  hier  anger 
führt  nach  JMone,  Heldensage  14.): 

—  zuo  einem  male  unfride  was 

under  Romern,  und  michel  hass 

von  Gelfen  und  von  Gibelin; 
ferner  ebenda: 

. .  men  die  Gibelinge  d6  sach 

die  Gelfe  slahen  üs  der  stat. 
Diese  erholten  sich  und  nahmen  einen  Hauptmann, 

— ^  der  hiess  Silla 

der  gewan  s6  grosse  macht 

dass  er  wider  die  Gibelioge  vaht. 
Neben  der  entstellten  Form  „Gelf  *  erscheint  bei  Konrad  ein  Schat- 
ten  der  richtigen  in  Gewelf  (Gwelf,  Guelf),  wie  er  einen  gewissen 
Quintus  nennt. 

*^)  ....  daz  Gibjing  und  Gelfe  im  muosten  manhait  jehen 
(S.29.).  —  D&  Gibling  unde  Gelfen  müe  und  arbait  litten  (S.  44.). 
Ich  habe  wieder  nach  Mone  ang^uhrt. 


338  Weifen  und  Gibelinge. 

In  diese  Zeit  fällt  auch  das  Zeugoiss  des  Chronisten 
Jakob  Twinger  von  Königshoven  (f  1420),  welcher  zum  Jahr 
1312  erzählt,  bei  der  Belagerung  von  Florenz  durch  Hein- 
rich VII.  seien  alle  Gelfe  der  Stadt  zu  Hülfe  gekommen,  und 
dann  sagt,  was  man  sich  unter  Gelfen  und  Gibelingen  zu 
denken  habe^^). 

Will  es  bei  diesem  Zeitverhäitniss  deutscher  und  wel- 
scher Quellen  beinahe  scheinen,  wir  in  Deutschland  haben 
jene  Namen  aus  Welschland  entlehnt,  so  spricht  hiege- 
gen  ausser  den  schon  angegebenen  Gründen  auch  das  be- 
stimmte Zeugniss  deutscher  Schriftsteller,  weiche  das  Jahr 
1140  als  die  Zeit  nennen,  wo  man  dieselben  diesseits  der 
Alpen  zuerst  gehört  habe.  Schlimm  ist  nur,  dass  diese 
Schriftsteller  von  der  Zeit,  über  welche  sie  zeugen,  so  weit 
entfernt  sind. 

Dasjenige  nämlich,  welches  als  das  älteste  gilt,  reicht 
nicht  über  das  Jahr  1425  hinauf.  Damals  schrieb  Andreas 
Presbyter,  ein  Chorherr  zu  Regensburg,  seine  bairische  Chfo- 
nik,  in  welcher  die  Entstehung  der  Namen  erzählt  ist  wie 
folgt:  „Weif  rüstete  sich  1140  in  der  Nähe  von  Weinsberg 
zum  TrefiTen  wider  Friderich,  wobei  er  erschlagen  ward.  ^) 
Der  Ruf  mit  welchem  man  sich  in  Welfs  Heer  zum  Wider- 
stand  und  tapfern  Kampf  ermuthigte,  war:  hie  Weif.  Daher 
liess  Friderich,  um  Welfs  Krieger  in  Verwirrung  zu  bringen, 
sein  Heer  rufen:  hie  Gibelingen.  Gibeling  ist  ein  Dorf  Aügs* 
burger  Sprengeis,  im  Gebirg  auf  dem  Herlfeld,  zwischen  der 
Burg  Hochburg  und  der  Stadt  Nereshejm.  In  diesem  Dorfe 
war  besagter  Friderich  von  seiner  Amme  gesäugt  worden; 
und  es  scheint  er  habe  durch  die  Wahl  des  Namens  be- 
zeichnen wollen,   dass  er  über  Weif  nicht  durch  die  könig- 


>')  ...alle  Gelfe  k6ment  den  Florenzern  ze  helfe.  Die  heis- 
sent  Gelfe  in  welschen  Landen  die  es  mit  dem  bdbeste  halten  wider 
den  keiser;  s6  sint  das  Gibelinge  die  mit  cime  keiser  sint  wider 
den  höbest.  Chronicke  v.  Jac.  y.  Königshoven.  Strassb.  1698.  S.  124. 

*')  Diese  Angabe  beruht  auf  einem  Irrthum:  Weif  (VI)  selbst 
entkam  aus  dem  Treffen  und  starb  erst  1191.  Sein  Gegner  ist 
Herzog  Friderich  der  Einäugige,  Barbarossas  Vater. 


Weifen  und  Gibelinge,  339 

liehe  Macht  oder  durch  das  Herzogthum  Schwaben  zu  sie- 
gen gedenke,  sondern  durch  die  Milch  seiner  Amme,  d.  h. 
durch  den  Beistand  und  die  Kraft  der  Bauernschaft,  wie  er 
es  auch  gelhan  hat.  Die  Italiener,  Franzosen,  Lombarden 
und  Sicilianer  aber,  ^)  welche  den  Sinn  von  hie  Weif  und 
hie  Gibelingen  nicht  verstanden,  verlangten  Auskunft  dar- 
über. Man  bedeutete  sie  Weif  bedeute  die  Päpstlichen,  Gi- 
belingen die  Kaiserlichen.  Daher  werden,  in  Folge  jenes 
Ereignisses,  bis  auf  diesen  Tag  die  Anhänger  des -Papstes 
Guelfen ,  die  des  Reiches  Gibelinen  genannt''  ^) 

Lassen  wir  einstweilen  die  Richtigkeit  der  Angabe,  dass 
die  Schlacht  bei  Weinsberg,  welcher  die  Sage  auch  noch 
durch  die  damit  verknüpfte  Erzählung  von  der  Weibertreue 


")  Andreas  hat  sich  unmittelbar  vorher  den  Bund  in  welchem 
Weif  mit  König  Konrads  Feinden ,  Roger  von  Sicilien  und  Papst 
Innocenz  IL  stand,  dahin  ausgemalt  dass  diese  beiden  Fürsten  den 
Weifen  zahlreiche  Hülfsvölker  über  die  Alpen  geschickt  haben.  Die 
Thatsache  wird  weder  gemeldet,  noch  ist  sie  wahrscheinlich;  der 
Erfinder  beabsichtigte  wohl,  auf  diese  Weise  begreiflich  zu  machen 
wie  die  Namen  nach  Italien  gekommen  seien. 

'*)  Die  Stelle  befindet  sich  in  des  Andreas  Presbyter  Chro- 
nica de  principibus  terrae  Bavarorum  S.  25  (bei  Schiller  Script, 
rer.  germ.  Strassburg  1702)  und  lautet  dort:  Welfo  .  .  se  contra 
Fridericum  ad  praeliandum  prope  Winsperg  .  .  praeparavit,  ubo 
Welfo  interfectus  est.  Clamor  vero  exhortationis  ad  resistendum 
et  fortiter  pugnandum  in  exercitu  Welfonis  fuit  talis:  hye  Weif  f. 
Unde  Fridericus  ad  coufusionem  Welfonis  praecepit  clamari  in 
exercitu  suo:  hye  Giebelingen.  Est  autem  Gibeling  villa  au- 
gustensis  dioecesis,  sila  in  montibus  dictis  Auff  dem  Hertfeld, 
infra  (intra?  inter?)  castrum  Hochburg  et  oppidum  Neresheim,  in 
qua  villa  nutrix  ipsum  Fridericum  infantem  lactaverat;  quasi  per 
hoc  volens  significare,  quod  non  regali  potentia  vel  per  Duca- 
tum  Sueviae  Welfonem  vellet  debeliare,  sed  lacte  nutricis  suae, 
i.  e.  auxilio  et  potentia  rusticali,  sicut  et  fecit.  Italici  autem,  Gal- 
lici,  Lombardi  et  Siculi,  non  intelligentes  quid  esset  „Hye  Welff' 
et  quid  „Hye  Giebelingen^',  quaesiverunt  sibi  exponi.  Quibus 
declaratum  fuit  quod  Papales  significarentur  per  Welfi',  et  Impe- 
riales per  Giebelingen.  Unde  usque  adhuc  per  orbem  totum,  ab 
illo  eventu,  papae  adhaerentes  vocantur  Guelfi,  et  imperio  adhae- 
renies  vocantur  Gibelini. 


340  Weifen  und  Gibelinge. 

höhere  Bedeutung  zu  leihen  gesucht  hat,  der  Anlass  zur 
Entstehung  der  fraglichen  Parteinamen  geworden  sei,  einst- 
weilen noch  unentschieden,  und  werfen  einen  Blick  auf  die 
von  Andreas  beigefügte  Deutung  der  Namen,  so  zeigt  sich 
diese  durchaus-  unhaltbar.  Geradezu  lächerlich  ist  der  Grund 
um  dessen  willen  Friderich  den  Ort  Gibelingen  ei*wähit  ha- 
ben soll.  Dem  stolzen  Schwabenherzog  fiel  sicher  nichts 
weniger  ein,  als  auf  ein  Nahrungsmittel  zu  pochen,  das  nach 
altdeutscher  Ansicht  sogar  dem  Adel  nachtheilig  war.  ^) 
Offenbar  trägt  hier  Andreas  die  Ansichten  des  15.  Jahrhun- 
derts, wo  durch  die  Städte  der  niedrigste  Stand  emporge- 
kommen war,  auf  eine  frühere  Zeit  über,  der  sie  gänzlich 
fremd  waren. 

Unhaltbar  ist  ferner  die  Berufung  auf  einen  Ort  Gibe- 
lingen ^),  der  ganz  ins  Reich  der  Träume  gehört.  Andreas 
ahnte  den  unleugbaren  Zusammenhang  des  königUchen  Hau- 
ses mit  Waiblingen,  rieth  aber  auf  das  oben  erwähnte  Waib- 
lingen am  Kocher,  das  wenigstens  in  der  Nähe  des  Hertfel- 
des,  nördlich  von  demselben  liegt.  Es  gehörte  höchst  wahr- 
scheinlich noch  zjim  Augsburger  Sprengel,  da  dieser  erst 
nordwestlich  von  EUwangen  und  Lorch  an  den  von  Würz- 
burg  stiess«  Die  Angabe  dass  es  zwischen  Neresheim  und 
Hohenburg  liege,  ist  an  der  ganzen  Sache  noch  das  rich- 
tigste. Unter  Hohenburg  haben  wir  wohl  nichts  andres  zu 
verstehen  als  Hohenberg  im  jetzigen  Oberamt  EUwangen, 
nordwestüch  von  der  Stadt  Ellwangen,  denn  die  Wörter 
Berg  und  Burg,  so  wie  Hohen  und  Hoch,  wechseln  in  Orts- 
namen beinahe  willkürlich.    Zieht  man  nun  von  diesem  Dorf 


'*)  Tacüus  sagt  von  den  alten  Deutschen:  sua  quemque  ma- 
ter  uberibus  alit,  nee  ancitlis  ac  notricibus  delegantur.  Germ.  20. 
—  Dadurch  erklärt  sich  ein  sagenhaftes  Ereigniss  aus  der  Haus« 
geschichte  der  Grafen  von  Bouillon.  Brüder  Grimm,  deutsche  Sa- 
gen n.,  S.  303. 

**)  Die  Form  Gibeling,  die  Andreas  als  die  eigentliche  zu  nen^ 
nen  scheint,  ist  Eins  mit  Gibelingen:  jenes  nach  bairischer,  dieses 
nach  schwäbischer  (unverkürzter)  Ausdrucksweise.  S.  Schmellers 
Bay.   Wb.  1,  81.  82. 


Weifen  ufid  GibeUnge,  341 

eine  gerade  Linie  nach  Neresheim,  so  lässt  dieselbe  jenes 
Waiblingen  nur  wenig  zur  Rechten,  und  es  ist  kaum  ein 
Zweifel,  dass  in  demselben  der  Ort  gefunden  sei  den  An- 
dreas gemeint  bat.  Wie  kam  er  aber  dazu  den  Namen  des- 
selben in  Gibelingen  zu  verkehren?  Gewiss  nur  weil  er 
fühlte  dass  die  echte  Form  sich  mit  dem  Schlachtrufe  Her- 
zog Friderichs  nicht  unter  Einen  Hut  bringen  lasse.  Der 
Uebergang  von  Waiblingen  auf  Gibelingen  ward  ihm  wohl 
erleichtert  durch  die  Erinnerung  an  einen  andern  Ort  im 
Augsburger  Sprengel ,  Wiblingen  bei  Ulm.  ®') 

Weniger  ungenau  als  die  Stelle  bei  Andreas  verfahrt 
eine  andre,  von  der  man,  obwohl  sie  nach  ihrer  jetzigen 
Fassung  einer  weit  späteren  Zeit  angehört,*  doch  glauben 
möchte  sie  hege  der  seinen  zu  Grund.  Sie  lautet:  „in  jenem 
Treffen  bei  der  Belagerung  von  Weinsberg  sind  nach  einigen 
die  unheilvollen  Namen  der  Weifen  und  Gibeliinen  entstan- 
den, aus  dem  Schlachtruf  zu  dem  man  in  Welfos  Heer  seinen 


'^)  Neben  diesem  ältesten  deutseben  Deutungsversuche  will 
ich  die  der  Italiener  nur  beiläufig  aufzählen,  da  sie  von  der  Wahr« 
helt  noch  viel  weiter  abirren,  und  mit  unsrer  Untersuchung  in 
gar  keinem  Zusammenhang  stebn.  Die  einen  erklären  ganz  me- 
chanisch und  überaus  lächerlich  Guelfo  aus  GUErra  Leonis  FOr- 
tis  (Krieg  des  starken  Löwen)  oder  noch  willkürlicher  aus  guarda- 
tore  dl  fe  (Glaubeos  wacht  er);  Gibelline  aus  Guldatoredi  BAtagLIa 
(Schlachtführer)  oder  aus  gibbifer  (Bucklichter).  Andre  haben  doch 
eine  Ahnung  von  der  Untrennbarkeit  beider  Namen,  der  duo  in- 
separabilia  germina  des  Albertinus  Mussalus,  indem  sie  9n  zwei 
Brüder  Guelphus  (Guelpho)  und  Gbibeliinus  (Gibellus)  denken; 
oder,  aufs  fernste  Alterlhum  zurückgehend,  an  heidnische  Götter 
(daemones,  falsi  Dei,  numina  tartarea)  Namens  Guelfus  (GualeQ 
und  Gibelus  (Gibel);  oder,  des  deutschen  Ursprungs  eingedenk, 
an  den  Streit  welcher  zwischen  zwei  deutschen  Edelleuten,  Guelf 
und  Grbelin,  um  einen  Hund  (Weif?)  entbrannt  sei;  oder  endlich 
an  zwei  deutsche  Städte,  Guelf  und  Gibellin.  In  letzlerem  Namen 
steckt  offenbar  das  Gibelingen  das  Andreas  Presbyter  sich  aus 
Waiblingen  und  Gibeling  (Gibelline)  zurecht  gemacht  hat;  die  aben- 
teuerliche Stadt  Guelf  erfand  man  wohl,  um  beide  Namen  gleich- 
massig  auf  Wohnorte  zurückführen  zu  können.  Die  fraglichen 
Stellen  findet  man  bei  Itlone  (Heldensage  S.  26.  27.)  un(i  Grässe 
(Lilerärgcschichte  des  Mittelalters  3,  1.  S.  74). 


342  Weifen  und  Gibelinge. 

Namen  wöblle;  bei  den  Königlichen  dagegen  Gibiingen,  ein 
Dorf  im  Sprengel  von  Augsburg,  wo  Herzog  Friderich  seine 
Kindheit  verlebt  halte."  ^)  Eine  Umschreibung  der  Stelle  die 
ich  aus  Andreas  angeführt  habe  ist  was  sich  in  den  Zu- 
sätzen der  dunzenheimischen  Handschrift  zu  der  Chronik  des 
Jac.  Twinger  findet.  Hier  heisst  es:  „Welfo  ward  im  Treffen 
vor  Weinsberg  erstochen.  Der  Schlachtruf  derer,  die  dem 
Papst  anhiengeu  war  damals:  hie  Weif;  dagegen  hatte  Fri- 
derichs  Heer  als  Schlachtruf:  hie  Gibling.  Derselbe  war 
von  einem  Weiler  hergenommen  aus  dem  die  Säug'amme 
Friderichs  stammte,  und  sollte  bezeichnen  dass  Friderich 
den  Sieg  über  die  Anhänger  des  Papstes,  die  Weifen,  davon 
tragen  wolle  durch  die  Stärke,  die  er  aus  der  Bauernmilch 
empfangen  hatte.  Von  jenem  Anlass  schreiben  sich  die  Par- 
teiungen  her  die  in  Italien  jetzt  noch  fortwähren;  die  An- 
hänger des  Papstes  heissen  noch  Weifen;  die  des  Kaisers 
werden  Gibeilinen  genannt.^'  ^9) 


3*)  In  isla  Winsbergae  obsidionali  pugna  quidam  ajunt  nata 
esse  Guel forum  et  Gibellinorum  perniciosa  nomina  ex  tes- 
sera  proeliari,  quae  in  Welfonis  acie  ejus  appellalionem  usurpa- 
vil;  apud  regios  vero  Giblingam,  villam  augustensis  dioecesis, 
in  qua  dux  Fridericus  fuit  educatus  ab  incunabulis.  —  Ich  kenne 
diese  Stelle  blos  aus  der  Anführung  in  Sattlers  Geschichte  von 
Würtemberg,  Graven  n.,  Vorrede.  Was  er  mit  den  „neuesten  An 
nales  Bavar.'^  meine,  wo  sie  lib.  21.  n.  2.  stehen  soll,  ist  mir  nicht 
bekannt.  —  Was  dieser  Nachricht  insbesondere  einen  Vorzug  vor 
der  des.  Andreas  Presbyter  sichert,  ist  die  Einfachheit  mit  welcher 
sie  von  Gibelingen  als  Jugendort  Friderichs  redet.  Die  Angaben 
des  Andreas  von  der  Bauernmilch  scheinen  daraus  nur  geistlos 
erweitert. 

3»)  Welfo  .  .  ward  .  ,  in  dem  slrit  vor  Winsberg  erstochen. 
Und  was  die  krei  des  heres  die  dem  bäbst  bigestuonden :  hie 
Weif.  Aber  des  heres  Friderichs  krei  was  in  dem  striten:  hier 
Gibling;  und  wart  die  krei  genomen  von  einem  wiler  darinn  die 
seigamm'  Friderichs  was,  und  wolt  damit  bezögen,  dass  er  durch 
sin  sterk,  die  er  durch  die  bürnmilch  entpfangen  het,  die  Weifen, 
die  dem  höbst  anbiengen  wolt  überwinden.  Därvon  ist  entsprun- 
gen dass  sie  noch  in  welschen  landen  partisch  sint:  welich  dem 
b^bst  anhangent,  noch  Weifen  heisseut;  und  welche  dem  kaiser 
anhangent;  G  ibil in i  werdent  genant.   Twingers  Chronik,  S.  424,  b. 


Weifen  und  Gibeünge.  343 

Eine  weitere  jedoch  nur  gelegentliche  Anfühning  der 
beiden  Namen  findet  sich  bei  einem  Dichter  des  15.  Jahr- 
hunderts, bei  Michael  Behaim  (um  1460),  der  von  Weifen 
und  Gebelinen  spricht.  **<>) 

Auf  die  Entstehungszeit  der  Namen  lässt  sich  wieder 
ein  die  Summula  de  Guelfis.  Ihr  Zeugniss  gehört,  äusserlich 
genommen,  unter  die  späteren;  wenn  aber  der  Verfasser, 
seiner  Quelle  misstrauend,  nur  als  Vermuthung  ausspricht 
dass  der  Ursprung  der  Parteinamen  in  die  Bürgerkriege  zu- 
rückreiche die  das  Emporkommen  der  Hohenstaufen  beglei- 
teten 41),  so  erinnert  dies  an  die  gemässigte  Darstellung  der 
bairischen  Jahrbücher,  und  lässt  schliessen  dass  auch  er  eine 
ältere  Quelle,  yielleicht  dieselbe  die  dem  Andreas  Presbyter 
diente ,  nur  mit  grösserer  Vorsicht  benutzt  habe.  Ja  sein 
Ausspruch  verdient  vor  dem  der  bajrischen  Jahrbücher  noch 
den  Vorzug,  weil  er  sich  gar  nicht  auf  die  unhaltbare  Deu- 
tung des  Parteinamens  aus  einem  Ortsnamen  einlässt. 

Was  dagegen  die  beiden  Stellen  gemeinsam  haben,  dass 
sie  die  Zeit  angeben  wo  die  Parteinamen  aufgekommen 
seien,  das  lässt  sich  mit  gutem  Grunde  nicht  'anfechten. 
Allerdings  wird  die  Thalsache  von  keinem  altern  Schrift- 
steller berichtet.  Dies  scheint  mir  aber  kein  giltiger  Vor- 
wand, ihr  die  Glaubwürdigkeit  abzustreiten.  Ein  innerer 
Grund,  welcher  sie  unwahrscheinlich  machte,  lässt  sich  so 
wie  man  die  Deutung  aus  einem  Ortsnamen  aufgiebt,  nicht 
geltend  machen,  und  was  das  verdächtige  Schweigen  der 
Zeitgenossen  betrifft,  so  ist  es  ja  sehr  wohl  möglich,  dass, 
so  lang  die  Namen  in  Uebung  waren,  kein  Geschichtschrei- 


—  Ueber  das  Alter  der  dunzenbeimischen  Zusätze  weiss  ich  nichts 
bestimmtes  anzugeben.  Aber  selbst  wenn  sie  noch  von  Twinger 
selbst  herrührten,  waren  sie  jünger  als  das  Jahr  1400,  vor  welchem 
seine  Chronik  zuerst  unter  die  Leute  kam. 

*•)  .  .  wie  Weif  und  Gebelin  hernach  sin  üfkomen,  Pfal- 
zer  Handschrift  335.  4S,  a.  (Nach  Moae,  Heldensage  14.) 

*')  Ego  credo  quod  sub  Heinrico  superbo  (f  1139),  Guelfone, 
ejus  fratre  (f  1191)  et  Friderico  duce  (f  1147)  nomina  hec  per- 
niciosissimae  faclionis  Guelforum  et  Gibeliinorum  indita  sunt. 
Hess,  monum.  guelf.  129. 


344  Weifen  und  Gibelinge. 

ber  sie  für  wichtig  genug  hielt  um  sich  mit  ihnen  zu  be- 
schäftigen; wie  ja  gar  manches  erst  von  dem  Augenblick 
an  beachtet  wird  wo  es  abzusterben  anfängt.  So  wie  sich 
die  bairischen  Jahrbücher  aussprechen  ^^),  scheint  es,  die 
Herkunft  der  Parteinamen  aus  den  BQrgerkriegen  um  1140 
habe  sich  in  mUndiicher  Ueberlieferung  so  lang  erhalten,  bis 
ein  Chronist  kam  dem  die  Sache  bedeutend  genug  schien 
in  die  Geschichtserzähiung  eingeflochten  zu  werden^  Man 
darf  jener  Nachricht  also  wobi  eine  geschichtliche  Geltung 
zweiten  Ranges  zugestehn;  darf  annehmen,  dass  die  Namen 
der  Weifen  und  Gibelinge ,  die  von  einzelnen  vielleicht 
schon  längere  Zeit  hindurch  gebraucht  worden  waren, 
bei  Weiosberg  zum  ersten  Mal  in  voller,  man  könnte  sagen 
amtlicher  Geltung  auftraten.  Das  Hisstrauen,  soll  allerdings 
den  Geschichtschreiber  nie  verlassen:  er  muss  die  Nach- 
richten einer  späteren  Zeit  mit  doppelter  Sorgfalt  prüfen; 
will  er  aber  seinen  Bau  nur  aus  solchen  errichten  die  von 
Gleichzeitigen  urkundlich  und  ausdrücklich  mitgetKeilt  sind, 
so  beraubt  er  sich  eines  unentbehrlichen  Hülfsmittels. 

*  „Gibeling"  vermeintÜGh  ans  „Waiblinger." 

Als  Ergebniss  aus  dem  Bisherigen  lässt  sich  einmal 
aufstellen,  dass  die  Salier  und  Hohenstaufen  von  Waiblingen 
bei  Stuttgart  den  Namen  Waiblinger  trugen,  welcher  viel- 
leicht sogar  das  Mittel  hergab  sie  und  ihre  Anhänger  den 
Weifen  gegenüber  zu  bezeichnen. 

Dass  ferner  in  einer  späteren  Zeit  der  Name  der  Gibe- 
linge (Gibellinen)  als  Benennung  ihrer  Anhänger  gebraucht 
ward,  ist  für  Italien  unzweifelhaft;  für  Deutschland  wenig- 
stens wahrscheinlich. 

Da  er  somit  auf  den  der  Waiblinger  folgte,  so  war  es 
verzeihlich,  ja  natürlich,  dass  man  ihn  von  diesem  herleitete. 
Aus  den  oben  beigebrachten  Angaben ,  die  ihn  auf  einen 
ersonnenen  Ortsnamen  Gibelingen  zurückführen,   und  dabei 


f^)  Ajunt  nata  esse  nomina.  S.  Anm.  38.  —  Vorausgesetzt 
wird  dabei  immer  dass  der  spätere  Schriftsteller  nach  einer  älte- 
ren Quelle  berichte. 


Weifen  und  ßibeünge.  345 

• 

an  Waiblingen  denken,  lässt  sich  maüimaassen,  dass  man 
schon  zu  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  jenen  Zusammenhang 
dunkel  voraussetzte.  Ausgesprochen  aber  wurde  die' Ansicht 
meines  Wissens  zuerst  von  Dufresne.  .Er  sagt  in  seinem 
Wörterbuch  für  mittelalterliches  Latein,  das  zuerst  im  Jahre 
1678  zu  Paris  erschienen  ist:  „die  Gibelinen  sind  nach  den 
Herzogen  von  Schwaben,  die  Guelfen  nach  den  Weifen,  den 
Herzogen  von  Baiern,  benannt.  Kaiser  Konrad  nümlich,  der 
In  der  Lorscher  Chronik  der  Waiblinger  heisst,  ^^)  beraubte, 
nachdem  er  im  Jahre  113d  zur  Krone  gelangt  war,  Weif 
den  VI.  des  Herzogthums  Baiern,  '*^)  worauf  Weif  mit  Unter- 
stützung Rogers  von  Sicilien  Krieg  wider  ihn  erhob.  Dieser 
dauerte,  wenn  gleich  zuweilen  durch  Verträge  unterbrochen, 
fort,  und  erhielt  zwischen  beiden  Häusern  eine  Feindschaft, 
welche  vornehmlich  über  Italien  Unheil  brachte,  wo  die  Na- 
men der  gibellinischen  und  der  weifischen  Partei  sich  sehr 
verbreiteten.  Also  nach  Konrad  von  Waiblingen  sind  die 
Gibelinge,  später  Gibelinen,  benannt;  nach  Weif  hingegen, 
dem  Haupte  des  bairischen  Geschlechtes,  die  Guelfen.^^ '") 


^')  Dufresne  meint  die  oben  angeführten  Stellen^  Anm.  10—12., 
verwechselt  aber  Kunrad  U.  (1024—1039)  von  dem  sie  reden,  mit 
Kunrad  HL  (1138  —  1152). 

**)  Kunrad  wurde  schon  im  Blärz  1138  gewählt  und  war  schon 
im  Mai  desselben  Jahres  ziemlich  allgemein  anerkannt.  Baiern 
entriss  er  nicht  dem  Weif,  der  überhaupt  gar  kein  Uerzogthum 
besass,  sondern  seinem  altern  Bruder  Heinrich  dem  Stolzen,  oder, 
da  dieser  schon  im  Oclober  1139  starb,  dessen  unmündigem  Sohne 
Heinrich  dem  Löwen. 

*')  Gibelini  et  Guelfi  factiones  binae  •  .  prior  a  Sueviae, 
altera  a  Welphis  Bajoariae  Ducibus  nomina  mutuata.  Nam  cum 
Conradus  Imperator,  de  Weibelingen  cognominatus  in  chronico 
Laurishamensi  p.  73,  Imperii  diadema  adeptus,  an.  il39  Welpho* 
jiem  VI,  Henrici  U.  Juniorls  Bavariae  Ducis  fratrem,  eodem  Ducatu 
privasset:  Welpho,  Rogerii  Siciliae  Regis  armis  adjutus,  in  Gonra- 
dum  bellum  movit:  quod,  etsi  non  semel  pactis  identidem  inter- 
venientibus  sedatum,  dissidiorum  semina  diu  inter  utramque  fami« 
liam  fovit,  quae  Italiam  potissimum  diu  afQxere,  ubi  Gibellina- 
rum  et  Guelfaruni  factionum  nomina  saepe  audita.« .  A  Gon- 
rado  igitur  de  Weibelingen  Gibellingi  ac  deinde  Gibellini:  a  Wel- 

AII«.  Zeitoekrift  f.  GcMkielito.  Y.  1846.  23 


34«  W^n  w»d  GibOngt, 

D^  Hauptoaob«  n«cb  el>aDso,  «ur  um  vieles  besttmmier 
i^^cb«a  «icb  um  1730  die  Verfo«ser  der  Cbroiiik  von  Goti* 
woifa  aus.  Sie  nenaeo  Waibliogen  eiae  SUidi  ,,im  ^ehvirliW- 
schen  Herzogibum  Wirtemberg,  im  Remslbai,  Mb  beim  Ne*- 
cluirfluss,  wo,  wie  allgemein  bekennt  isi|  des  Geaobleebt  der 
bobenstaufiscbeu  Herzoge  berstammt  ^^)  und  der  gibellu»^ 
sehen  Parteiung  ihren  unbeüvollen  Ursprung  gegeben  baL'<  ^7) 

Die  Sicberbeit  mit  weicher  diese  Stelle  auftriu,  rttbrt 
ohne  Zweifel  daher  dass  schon  damals  Gfufresne's  AnsiciA 
allgemein  angenommen  war.  Sie  ist  es  noch  gegenwürüg 
so  »emli'Cb,  and  bedarf  also  genauerer  Prü&uig.  Dass  der 
Name  der  Gibeiinge  ebenso  unmittelbar  von  Waibbigen  her* 
komme  wie  der  der  Guetfen  von  Weif,  bat  bei  einer  bl^M 
gesohicbtUcfaen  Auffassungsweise  viel  für  sieb,  weil  unleug«^ 
bar  dieselbe  Sache  die  später  di»  gibelingisobe  biess,  frUher 
vom  waibliogischen  Hause  vertreten  war. 

Aber  die  grammatischen  BedenklicfakeMen ,  welche  sieh 
diesem  angeblichen  Zusammenhang  entgegenstellen,  si^  no* 
besiegbar. 

Schon  der  Wurzelvocal  macht  Schwierigkeit;  denn  dem 
abd.  und  mhd.  ei  (ai)  de3  fraglichen  Ortsnamens  entj^richt 

phone  verO)  familiae  Bavariae  principe,  Gaelphi  appellnii  enni. 
d^^ar.  ad  seriptores  mediae  et  infimae  Jatinifatis.  Ueler  Gibelini. 
^Dem  A0(heH  Rogers  itfi  diesen  Kampfan  legi  Dulreane,  ohne 
Zweifel  irre  geleitet  durch  den  Bericht  des  Andreas  Pre^yler, 
viel  ZH  i^oseee  Gewichl  bei.  Den  Aoliss  zu  der  ErinduBg  des 
Andreas  gUuhe  ich  in  Anm.  U  aufgededct  eu  habieo. 

*')  Diese  Behauptung  entbehrt  alles  Grundes  s  der  Ort  war 
(ve«  1020?)  bis  1080  m  Beailze  des  flrän^iscben  Kaiserhauses  und 
von  da  an  in  tdem  der  S^sohöfe  von  Speier  <s.  oben.  A.  16$  ms 
deren  Bänden  er  wobi  unmittelbar  an  Würtemherg  öherging  (Vgl. 
Ba«g,  «e  MUesteGrafscbaa  Wiiriemberg,  &3t).  Für  eiAeo  hoben 
eljl^fiscbeo  StaomiaU^  ist  also  nirgesda  ftaum.  Vermlasaong  s« 
dem  Irrthum  gaben  wohl  die  Worte  des  Gotfrid  von  V^erho, 
die  in  der  U.  Aum.  stehen. 

«0  Waiblinga  ...  in  Ckiefiae  ducatu  wurtembei^ee,  ki 
valle  Beewfthal,  prepe  fluviom  Niemm,  ubi  iMihenstaufierun  i\mm 
(et)  augustam  Ismiliam  or^mm  sumsMse,  et  gibellioae  feoliem 
infausta  initia  dedisse,  notisaimam  est.    Gbren.  Ootwvc.  3,  h^ 


Wdfm  und  (Hbelinge,  847 

WBiA  ein  Miakifciias  ft  oder  A^  das  bei  einer  Uebertrafjang 
i&  vdschs  Fonn  den  Vorzug  erhalten  haben  würde;  nim» 
mermehr  aber  ein  i:  ans  Weibil ,  WAbii-,  Wftbil*  kann  bios 
Gnabil-,  Guebil-  werden,  auf  keine  Weise  Guibil-.  Das  war 
der  Grund  warum  sowohl  Andreas  Presbyter  Waiblingen 
in  Giblingen  verkehrte,  als  auch  einige  neuere  von  den  bei- 
den Waiblingen  absehen,  und  einen  der  Orte  die  Wiblin« 
gen  heissen  als  Grundlage  des  Namens  betrachtet  wiesen 
wollten.  ^>)  Hier  steht  aber  entgegen  dass  die  oben  ange- 
führten alten  Nachrichten  kein  Wibelinga  oder  Guibeiinga, 
sondern  immer  nur  Waiblingen,  Weibilingen,  Gueibelinga, 
Guebelinga,  als  den  Ort  nennen,  welcher  den  Beinamen  des 
fränkischen  Königshauses  hergegeben  habe. 

'Wollte  man  sich  aber  auch  über  die  Verschiedenheit 
des  Wurzelvocals  wegsetzen,  so  Hessen  sich  doch  zwei  an- 
dere Hindernisse  nicht  beseitigen:  der  Anlaut  des  Wortes 
Gibelinge  und  seine  Endung. 

Was  jenen  betrifilt,  so  mUsste,  da  deutsches  W  von  wel- 
scher Zunge  als  Gu  behandelt  wird,  und  auch  Waiblingen 
in  den  lateinischen  Texten  meistens  Gueibelinga,  Guebelinga 
helsst,  der  Parteinamen  offenbar  die  Wurzel  Gueb-  haben. 
Sie  lautet  aber  nie  so,  auch  nicht  Guib-,  sondern  immer 
Gib-.  Umgekehrt  ist  aus  Weif  in  welscher  Zunge  nicht  Gelf-, 
sondern  Guelf-  geworden,  und  wenn  jenes  ausnahmsweise 
z.  B.  bei  Albertinus  Mussatus  vorkommt,  so  scheint  es  will- 
kürlich, vielleicht  erfunden,  damit  sich  Gleichheit  des  Anlauts 
ergebe*,  wogegen  deutsche  Quellen,  die  es  annahmen,  sich 
hiezu  vielleicht  durch  angenommene  Herleitung  aus  dem 
deutschen  Worte  gelf  ^^)  bestimmen  Hessen. 

Den  bedeutendsten  Anstoss  und  der  eben  so  gut  bei 
Waiblingen  als  bei  Wiblingen  gilt,  ja  sogar  für  Giblingen 
gälte  wenn  es  eines  gäbe,  findet  Dufresnes  Erklärungsver- 
such an  der  Endsilbe.  Wenn  Otto  den  fränkischen  Ednigen 
statt  des  Beinamens  „von  Waiblingen''  einen  mehr  adjecti« 

^*)  Entweder  das  bei  Ulm,  an  welches  Andreas  Presbyter  ge* 
dacht  haben  könnte;  oder  das  in  der  Pfalz,  an  das  Uone  (Helden- 
sage 24)  erinnert.    ^*)  Vgl.  Anmerkung. 

23  ♦ 


848  Weifen  md  Gibelinge, 

vischen  hätte  geben  wollen,  so  hätte  er  nicht  sagen  können 
,,die  Waiblingen',  woraus  der  welschen  Zunge,  mit  Verach- 
tung des  Anlauts  und  des  Wurzelvocals,  vielleicht  „Gibelinge, 
Gibeliinen"  geworden  wäre,  sondern  als  einzig  mögliche 
Form  hätte  sich  Waiblinger  dargeboten,  altdeutsch  Wetbilin- 
gftri,  was  auf  Welsch  etwa  Guebelingaro,  Guebelinaro  lauten 
würde. 

«  ,,6ibeli]ig"  vermeintlich  ans  ,,Ribel!uiK.*' 

Den  richtigen  Weg  zur  Deutung  des  Namens  hat«Gölt- 
ling  geahnt,  indem  er  an  den  Einfluss  der  [deutschen  Helden- 
sage dachte.  In  seiner  Beweisführung  ist  freilich  ausser  dem 
Grundgedanken  kaum  etwas  Haltbares.  Denn  wenn  er  *•) 
behauptet  Eunrad  IL  sei  der  erste  Gibeling  gewesen,  d.  h: 
von  ihm  habe  man  die  Gegner  der  Weifen  Gibelinge  genannt, 
so  beruht  dies  auf  der  eben  widerlegten  Annahme  vom  Zu- 
sammenfallen des  Namens  mit  dem  der  Waiblinger  den  Kun- 
rad  allerdings  führte.  Da  nun  nach  Göttlings  Ansicht,  die 
ich  (Anm.  16)  schon  berührt  habe,  die  beiden  ihm  gleich- 
geltenden Worte  Waibling  und  Gibling  nicht  von  einem  Orts- 
namen herkommen,  so  sucht  er  einen  andern  Ursprung  und 
findet  denselben  in  dem  Worte  Nibelung.  Seine  Worte  lau- 
ten: „ich  denke,  es  soll  nun  niemand  wundern,  wenn  ich 
sage  dass  die  Nibelungen  die  Gibelingen  sind."  Nach  dem 
Zusammenhang  scheint  es,  Göltling  denke  hiebei  nur  an  ei- 
nen sachlichen  Zusammenhang,  so  dass  nach  seiner  Meinung 
das  Nibelungenlied,  in  dem  Streit  der  rheinischen  Könige 
gegen  die  Hünen  und  gegen  Dieterichs  Amelunge,  den  Kampf 
schildern  wolle,  »der  um  die  Zeit  seiner  Entstehung  zwischen 
Gibelingen  und  Weifen  entbrannt  war.  Allein  das  wäre 
ganz  gegen  das  Wesen  der  Heldensage,  denn  diese  lebt 
gläubig  blos  der  Vergangenheit,  und  erlaubt  den  Zeitereig- 
nissen höchstens  die  Darstellung  mit  einigen  Farben  anders 
auszuschmücken ;  nimmermehr  aber  hat  sie^s  auf  die  Gegen- 
wart abgesehen,   so  dass  sie  darauf  ausginge,   gleichsam  in 

•0)  Ueber  das  Geschichtliche  im  Nibelungenliede.    Von  K.  W. 
Göttling.   Rudolstadt  1814.  S.  36. 


Weifen  und  Gihelinffe.  349 

einer  Art  von  Geheimlehre  das  darzustellen  was  eben  vor 
aller  Augen  vorgeht. 

Ob  nun  Göttling  mit  jenen  Worten  blos  einen  sachli- 
chen Zusammenhang  habe  bezeichnen  wollen  oder  nicht:  in 
einer  zwei  Jahre  später  herausgegebenen  Schrift,  ^^)  spricht 
er  sich  so  aus  dass  man  annehmen  muss  er  wolle  wirklich 
den  Namen  Gibeling  auf  Nibelung  zurückführen.  Mit  Recht 
behauptet  er  von  dem  alten  Schwabenherzog  Nebi,  der  ums 
Jahr  720  lebte ,  ^')  er  zuerst  aus  seinem  Haus  habe  den 
Herrschern  des  Frankenreiches  wahre  Freundschaft  gehalten, 
denn  während  sein  Grossvater  Gotfrid  den  Argwohn  Pipins 
mit  Grund  erregte,  stand  er  selbst  mit  Karl  Martell  auf  gu- 
tem Fuss.  ^3)  Nach  ihm  nun,  meint  Göttling,  seien  alle  ka- 
rolingisch  (kaiserlich)  gesinnten  Schwaben  Nebilinge  genannt 
worden.  Das  lässt  sich  aber  durchaus  nicht  halten.  Da  sich 
nämlich  Nebi'»  Namen  auch  unter  der  Form  Hnabi  findet, 
mithin  das  £  in  demselben  mit  A,  nicht  aber  mit  I  zusam> 
menhängt,  so  ist  zwischen  Nebi  und  Nibelung  der  vermu- 
tfaete  Zusammenhang  unbegründet.  Noch  viel  willkürlicher 
ist  es  ferner  wenn  Göttling  eine  Nebenform  Webi  annimmt, 
und  hienach  die  Einheit  von  Nibelungen  (Nebilingen)  und 
Waiblingern  (Webilingen)  behauptet;  denn  weder  findet 
sich  jener  Herzog  irgend  Webi  genannt,  noch  wechselt  N. 
je  mit  W. 

Einen  Ableger  von  Göttlings  unhaltbarer  Yermuthung 
dass  Nibelung  mit  Waiblinger,  also  nach  der  älteren  Ansicht 
auch  mit  Gibeling  Ein  Name  sei ,  findet  man  bei  Mono,  s^) 
Sein  Versuch  die  Behauptung  sprachlich  zu  rechtfertigen, 
kann  aber  nicht  gelungen  heissen.  Wenn  mir  seine  Beweis- 
führung klar  geworden  ist,  so  hätten  die  Könige  fränkischen 
Stamms,  die  Salier,  aus  alter  i^eit  den  Namen  der  Nibelunge 
geführt,  und  durch  Heirathen  mit  dem  burgundischen  Ge- 
schlechte ,   zu  dem  allerdings  Eunrads  IL  Gattin  Gisela  ge- 


>')  Nibelungen  und  Gibelinen.    Von  D.  Karl  Wilhelm  Göttling, 
Professor  am  Gymnasium  zu  Rudolstadt.    Rudolstadt  1816.  S.  25.  ff. 
")  Stalin,  Wirt.  Gesch.  1,  180.    »»)  Stalin  ebd.  179. 
•*)  Heldensage,  S.  «6,  vgl.  mit  S,  7— i5, 


350  Weifen  und  GibeKnge. 

bbrte,  dessen  Namen  GibichiDge  angenommen;  dadurch  aber 
^äre  die  Benennung  Gibelung  oder  Gibeling,  ein  MiUelding 
von  Gibiebing  und  Nibelung,  herbeigeführt  worden.  Gibe- 
Ung  ist  nun  allerdings  gleichbedeutend  mit  einem  voraus- 
gesetzten  Gibelung  ^  da  sich  die  Endsilben  — ing  und  -— ung 
nur  mundartlich  unterscheiden*,  aber  wo  fönde  sich  ein  Be- 
weis oder  auch  nur  eine  Wahi^scheinlichkett  dafUr  dass  die 
Salier  Nibelungen  geheissen  haben,  und  ferner  dass  der 
Name  der  Gibichinge,  der  allerdings  für  Günther  und  seine 
Bruder,  die  geschichtlichen  Burgunderkönige  des  5.  Jahrhun- 
derts wahrscheinlich  ist,  auch  bei  dem  späteren,  ganz  neu 
emporgekommenen  burgundischen  Königshaus  in  Uebang 
gewesen  sei!  Endlich  darf  man  wohl  behaupten,  dass  die 
Annahme  einer  Vermischung  zweier  ganz  verschiedener 
Namen  dem  Geiste  des  Mittelalters  durchaus  widerspricht: 
es  entstellte  wohl  Namen,  und  schmiedele  neue  nach  dem 
Maasse  der  alten,  aber  gewiss  hat  es  nie  die  Benennung^ 
zweier  Geschlechter  zusammenfliessen  lassen,  um  ein  drittes, 
aus  beiden  entsprossenes  zu  bezeichnen.  Mono  zieht  zwar 
den  Namen  Maximilian  herbei,  den  Kaiser  Friderich  111.  för 
seinen  Sohn  aus  Maximus  und  Aemilius  zcsammengeselzt 
haben  soll.  Aber  wenn  man  auch  über  die  Verschiedenheit 
zwischen  einem  Tauf-  und  einem  weniger  der  Willkür  un- 
terworfenen Geschlechtsnamen,  desgleichen  über  die  zwi- 
schen dem  sonderbaren  Friderich  und  den  Volkssängern 
des  12.  Jahrhunderts  hinwegsehen  wollte,  so  wäre  der  Be- 
weis doch  ungültig,  weil  die  Nachricht  falsch  ist  Sie  findet 
sieh  zwar  schon  im  Weisskunig  und  bei  andern  Zotgenos- 
sen*,  ebenso  hat  eine  Stuttgarter  Steininschrift  von  1502  (mn 
Bebenhäuser  Bof)  die  Form  Maxaemilianus ,  und  vielleicht 
glaubte  sogar  Friderich  selber  daran,  dass  er  mit  jenem  Na- 
men seinem  Sohn  die  Ei^nscbaften  des  Fabsus  Maximus 
CuncCator  und  die  des  Siegers  von  Pydna  geweissagt  babe. 
In  Wahrheit  aber  ist  der  Name  viel  älter,  und  von  einem 
österreichischen  Landesheiligen  entlehnt,  der  im  Jahre  288 
als  Bischof  zu  Lorch  den  Christenglauben  mit  dem  Tod  be- 


Wdfm  und  Gib^mge.  »1 

siegelt  haben  soll.  ^)  TermuUilicb  stohl  in  dcmseibeB  falos 
L  für  N,  so  dms  der  Kaiser  und  sein  Heiliger  eigentlieh 
Maximinian  heissen  sollten. 

„«beling''  ais  der  Heltouege  geiemei. 

Wenn  auch  die  Art  ^ie  Göttling  und  Mone  ein  Zusam- 
menfallen von  Glbefing  und  Nibelung  behaupten,  unhaltbar 
gefunden  worden  ist,  so  liegt  doch,  wie  ich  schon  oben 
ausgesprochen  habe,  in  ihrer  Ansicht  ein  Keim  des  richtigen 
Terständnisses ,  insofern  sie  davon  ausgeht  dass  die  Namen 
und  Kämpfe  der  Heidensage  mit  den  geschichtlichen  zer- 
flossen seien. 

Wem  fiele  beim  Lesen  des  Nibelungenliedes  nicht  auf, 
dass  Baiern  und  Sachsen ,  die  von  1076^1150  also  zur  Zeit 
des  Ursprungs  der  jetzt  vorliegenden  Nibelungensage  dem 
salischhohenstaufischen  Hause  in  ernstem  Kampf  gegenüber- 
standen, feindlich  erscheinen*,  Oeslerreich  dagegen  und  das 
Rheinland,  königlich  gesinnte  Länder,  befreundetf  Man  kann 
keckfich  dem  Nibelungenlied  gibelingische  Gesinnung  zu- 
schreiben, insofern  wenigstens  als  die  Sage  die  zu  Grunde 
fiegf,  in  manchen  Theilen,  auf  der  Feindschaft  gegen  Baiem 
und  Sachsen  beruht.  Es  ist  aber  nicht  das  Nibelungenfied 
allein  das  in  dem  Kampf  zwischen  geistlicher  und  weltlicher 
Macht  Partei  nimmt:  ein  grosser  Theil  der  übrigen  Helden- 
gedichte (hut  es  gleichfalls.  Göttlings  Büchlein  über  Nibe- 
lungen und  Gibelinen  mustert  sie,  gegen  den  Scbluss  hin, 
in  dieser  Beziehung.  Als  gibelingisch  weiss  er  ausser  dem 
Nibelungenlied  nur  den  hörnernen  Sigfrid  und  Ecken  Aus- 
fahrt zu  nennen;  weifisch  sind  ihm  Olnit,  Hug-  und  Wolf« 
dieterich,  der  grosse  Rosengarten,  Rother,  Dieterichs  Flucht, 
die  Rabenschlacht,  Wallher  von  Aquitanien,  die  Heimonskin- 
der.     Es  wäre  verdienstlich  wenn  jemand  eine  genaue  Prü* 

fung  dieser  Frage  vornähme;  hier  liegt  sie  zu  weit  ab.   Im» 

^■.■a*— ■  ■  ■ 

<s)  Die  Nachweise  s.  in  Heinriche  teuUcber  Retebsgeechlcble, 
Leipzig  1787—1805.  IV,  641.  Anm.  —  Der  tJebergaog  von  N  in  L 
findet  sich  auch  sonst,  vgl.  z.  B.  das  golb.  himiNs  mit  de»  abd« 

hiflulL  (Hiffloiel),  da»  abd.  semaltdn  (von  zn*sämtaen}  ttit  unserm 
sammeiiD« 


352  Weifen  und  Gibelinge. 

mer  müs8te  dabei  festgehalten  werden  dass  nicht  alle  Hel- 
denlieder so  unterzubringen  sind :  die  Gudrun,  z.  B.  hat  gar 
keine  Parteifarbe.  Noch  viel  mehr  aber  muss  man  sich  vor 
den  grenzenlosen  Folgerungen  hüten  die  Göttling  aus  der 
in  Rede  stehenden  Thatsache  zieht.  Er  hat  allerdings  Recht, 
wenn  er  in  einigen  Heldengedichten,  wie  z.  B.  denen  vom 
Graal,  eine  christliche,  in  andern,  z.  B.  im  Nibelungenlied, 
eine  heidnische  Vorstellungsweise  herrschend  findet.  Wenn 
er  jedoch  weiter  annimmt,  diese  Verschiedenheit  rühre  da- 
her dass  die  Dichtungen  der  ersteren  Art  von  weifisch,  also 
kirchlich  gesinnten  Dichtern  ausgegangen  seien,  die  andern 
von  Anhängern  der  Salier  und  Hohenstaufen,  also  unkirch- 
lich, heidnisch  denkenden:  ^^)  wer  möchte  da  noch  folgen! 
wer  die  Spaltung  der  deutschen  Welt  ums  Jahr  1100  sich 
als  eine  solche  denken!  Aus  heidnischer  Zeit  stammen  alle 
Dichtungen  der  deutschen  Heldensage:  wenn  in  einzelnen 
das  Heidnische,  in  andern  das  Christliche  vorwiegt,  so  rührt 
dies  lediglich  daher  dass  sich  hei  jenen  der  ursprüngliche 
Geist  unter  den  Händen  späterer  Bearbeiter  nicht  so  stark 
verändert  hal  wie  bei  diesen.  Auch  der  Unterschied  gibe- 
lingischer  und  weifischer  Gesinnung  reicht  lange  nicht  bis 
an  den  Ursprung  der  deutschen  Heldengedichte  hinauf:  er 
ist  eine  Zuthat  jüngerer  Geschlechter,  dadurch  herbeigeführt, 
dass  die  Sänger  von  den  grossen  Bewegungen  der  Zeit  er- 
griffen, dieselben  unbewusst  in  ihre  Darstellung  einströmen 
Hessen,  ein  Recht  welches  die  Dichtung  zu  allen  Zeiten 
geübt  hat,  weil  sie  ohne  dasselbe  gar  nicht  bestehen  kann« 
Die  Heldensage  hat  aber  nicht  blos  den  Einfluss  der 
Zeitbegebenheiten  erfahren,  sie  hat  auch  einen  Gegenstoss 
ausgeübt  und  auf  dieselben  zurückgewirkt.  Obwohl  ur- 
sprünglich Göttersage,  ist  sie  doch  mit  geschichtlichen  Be- 
standtheilen  in  Menge  durchwoben,  weil  beim  Untergang 
des  heidnischen  Glaubens  an  die  Götter  und  ihre  Schicksale 
die  schönen  Gesänge  nicht  verloren  gingen,  sondern  sich 
auf  den  Boden  der  Geschichte  retteten,  die  Namen  berühm- 

*')  „Weil  Eifer  für  Welllichkeit  und  Heidenthum  im  Allgemein 
pen  zusammenzufallen  schien.''  Nibelungen  und  Gibelinen,  S.  34. 


Wolfen  und  Gibelinge.  853 

ter  Verstorbenen  entlehnten.  ^7)  Ist  nun  aber  damit  offen- 
bar dass  eine  kindlich  giaubenskröflige  Zeit  die  Grenze  zwi- 
schen Geschichte  und  Göttersage  verkannte,  jene  auf  das 
Gebiet  dieser  hineindrängte:  so  wäre  es  mehr  als  auffallend, 
wenn  nicht  auch  sie,  oder  die  aus  ihr  gewordene  Helden- 
sage sich  auf  dem  Boden  der  Geschichte  mächtig  bewiesen 
hätte.  Wie  der  Ostgothenkönig  Theodorich  im  Nibelungen« 
Hede  mit  Hagen,  einer  menschlich  gewordenen  Gottheit,  (^>) 
zusammenstiess,  so  reihten  sich  umgekehrt  ehemalige  Götter 
in  den  Stammbaum  der  Könige,  und  auch  die  Behauptung 
wird  nun  nicht  mehr  zu  kühn  erscheinen,  dass  ein  Kampf 
der  die  ganze  Gegenwart  erfüllte,  von  der  Heldensage  des 
12.  Jahrhunderts  an  die  Stelle  desjenigen  gesetzt  worden 
sei,  der  nach  der  alten  Göiterlehre  die  .Welt  in  zwei  feindli- 
che Lager  theilt,  an  die  Stelle  des  Kampfes  zwischen  Som- 
mer und  Winter,  zwischen  Licht  und  Nacht,  oder  sinnbild- 
lich (mythisch)  ausgedrückt  zwischen  Äsen  und  Jötunen 
(Thursen,  Riesen),  nach  griechischer  Bezeichnung  zwischen 
olympischen  Göttern  und  Giganten  (TTtanen). 

Das  Dasein  dieses  Kampfes  in  den  Vorstellungen  der  alten 
Germanen,  sogut  wie  in  denen  der  alten  Griechen,  ist  unleug- 
bar. Die  Ansicht  der  Edda  hierüber,  also  der  scandinavischen 
Germanen,  bat  am  schönsten  Uhland  zusammengefasst.  ^^)  Die 
Jötunen  stellen  die  Feindschaft  vor  gegen  alles  was  den  Him- 
mel mild  und  die  Erde  wohnlich  macht;  zurückgedrängt 
oder  gebunden,  rütteln  sie  unablässig  an  ihren  Schranken 
oder  Fesseln;   auch  wird  es  ihnen  einst  noch  gelingen  sich 


*^3  Ich  berühre  diese  Ansiebt  hier  blos;  umständlicher  findet 
man  sie  vertheidigt  in  meiner  Geschichte  des  Nibelungenliedes 
(deutsche  Vierteljahrsschrifl  Nr.  22,  S.  231);  in  meiner  Einleitung 
zur  Gudrun  (Ausgabe  von  Vollmer,  Leipzig  1845,  S,  XLVII)  und 
im  Anhang  zu  den  Walachiscben  M'ahrchen,  die  ich  mit  meinem 
Bruder  Arthur  herausgegeben  habe  (Stuttgart  1845.  S.  308  ff.). 

**)  S.  Einleitung  zur  Gudrun  S,  LI. 

**)  Sagenforscbungen  von  L.  Ubiand.  I.  Der  Mythus  von  Th6r 
nach  nordischen  Quellen.  Stuttgart  und  Augsburg  1836.  S.  15  ff. 
—  Vgl.  hiezu  W.  Müller,  Geschichte  und  System  der  altdeutschen 
Beligiop*  Göttingen  1844,  S.  175, 


354  Welfm  und  Oibelmge. 

frei  zu  machen  und  einen  siegreiebeft  Kampf  2u  erkeben.  ^) 
Im  Gegeogatze  zu  ihnea  wurden  als  Schöpfer,  Ordner  ond 
Erhalter  der  Weit  die  Äsen  gedacht.  Ihr  Leben  ist  ein  sie* 
ter  Kampf  gegen  die  Jötunen ;  wann  diese  dereinst  entfesselt 
hereinbrechen,  dann  werden  im  Untergange  der  Welt  aooh 
die  iäffipfenden  Aseu  verschlungen,  und  darum  beisst  das 
Ende  der  Dinge  Ragnarök  d.  i.  der  waltenden  Götter  Uii» 
lergang.  ^^  Doch  erliegen  sie  nicht  ohne  furchtbaren  Kampf, 
der  vornehmlich  den  hereinbrechenden  Göttern  der  Flanr« 
menwelt  gilt,  denn  durch  Feuer  soll  die  Erde  vergehn.  ^) 
Aber  aus  dem  aligemeinen  Untergang  steigt  eine  neue  WeU 
empor,  in  der  auch  die  Äsen  wieder  aufleben.  <^) 

Dass  die  südlichen  Germanen,  die  alten  Deutsebeii,  so 
gut  wie  ihre  Brüder  am  Sund  und  auf  Island,  von  diesem 
Kampfe  feindseliger  Gew^ten  gewusst  und  gesungen  haben, 
dass  sie  namentlich  ein  Feuerende  der  Welt  und  der  Gölter 
geglaubt  haben,  kann  man  freilich  nicht  aus  unmittelbar  er- 
haltenen Göttersagen  beweisen^  weil  bei  uns  das  Heidenthum 
untergegangen  ist,  bevor  die  Kunst  und  das  Bedtferfmss 
schriftlicher  Aufzeichnung  heimisch  wurden,  weil  uns  also 
blos  noch  Bruchstücke  vorliegen,  welche  die  neue  chria^ 
liebe  Bildung  theils  nicht  überwältigt,  theils  in  sich  au^e^ 
ßommen  hat.  Das  bedeutendste  derselben  für  den  vorlie- 
genden Zweck  findet  sich  in  dem  Gedieht  vom  Weltgericht 


'®)  Diese  Vorstellung  fehlt  im  griechischen  Götterglaoben, 
oder  vielmehr  sie  ist  dadurch  verduokett  dass  die  späteren  affes 
was  eine  frühere  Zeit  von  einem  WeHkampf  am  Ende  der  Tage 
gemeldet  zu  haben  scheint,  auf  die  Kämpfe  übertrugen  dfe  zur 
Begfündotig  der  6»lympf$oben  Herrschaft  nötbig  gewesen  Waren. 
Als  eine  Spur  des  früheren  Zostaddes  darf  wobt  das  Grsuen  be- 
trachte! werden,  in  dem  die  Otympter  durch  die  immer  neu  atrf- 
Uuchenden  feindseligen  Söhne  der  £rde  so  lange  ZeN  befangen 
blieben.  Eutt,  der  grfeehfisehe  Götterkrieg  und  die  germantscbefi 
Sagen  vom  Weiluntergang  sind  h^h^t  wabrscheinUoh  von  Anfang 
her  Eine  Sage. 

*  *)  Vgl.  J.  Grtrom,  deutsehe  Mythologie ,  ewette  Aosgahe,  Göt- 
fingen  1844.  S.  773.    •*)  Vgl.  ebend.  S.  774.  775. 

••)  Tgl.  ebend.  8.  Ttb,  wo  die  Yermuchcmg  bespAkihen  whtl, 

dass  hier  christliche  Vorstellungen  Wifitsrttn  gewesen  seien. 


Wetfen  und  GibeUnge,  S55 

(MuspSli),  das  termutblicb  aas  dem  achten,  JedesMIs  am 
den  Anfang  des  neunten  Jahrhunderts  stammt,  und  ohne 
Zweifel  in  Daiern  entstanden  ist.  Der  Name  Muspilli  bedeu* 
tet  Feuer,  und  zwar  dasjenige  weiches  den  Weltuntergang 
herbeiföbrt;  den  Inhalt  bildet  eine  Schilderong  des  jüngsten 
Tages,  welche  zwar  in  christlicher  Absicht  verfasst  ist,  näm- 
lich um  die  Menschen  zur  Busse  zu  ermahnen,  in  welcher 
sich  aber  unter  der  Hülle  von  christlichen  Vorstellungen 
mehrere  heidnische  ziemlich  rein  erhalten  haben.  Nameni- 
lich lassen  die  jötunischen  Mächte ,  die  als  Antichrist  und 
Satan:  es  lassen  die  Äsen,  deren  Haupt  Streiter,  Thor,  als 
Elias  aufgeführt  wird,  den  alten  Sinn  deutlich  durchscheinen« 
Noch  dürftiger,  zerbröckelter  sind  die  deutschheidoischen 
Vorstelltingen  vom  WeKuntei^ng ,  wie  sie  in  einzelnen  Ge- 
genden Deutschlands  noch  heute  leben,  und  wie  sie  z/  B. 
Hebel  in  seinem  Gedichte  von  der  Vergänglichkeit  einem 
Baaem  aus  der  Basler  Gegend  in  den  Mund  legi;  ^)  auch 
die  viel  verbreiteten  Weissagungen  von  einem  leteten  Kampf^^ 
der  nach  den  einen  auf  dem  WalserfeMe  bei  Satzburg,  «B') 


**)        .  .  mit  der  Zit  verbrennt  die  ganzi  Welt. 
Ss  goht  e  Wächter  us  um  MitCernacht, 
e  fremde  Ma,  me  weiss  nit  wer  er  isch, 
er  funkelt  wie-n-'e  Stern,  und  röefl:  ^^itadbt  auf 
wacht  auf,  es  kommt  der  Tag!**  — drob  rölbet  si 
der  Himmel,  und  es  dunderl  übcral; 

der  Bode  scliwaukl, 

der  Himmei  stoht  im  Flitz,  und  d'Welt  im  Glast. 


»  »  •  *  • 


und  endti  zündet's  a,  und  brennt  und  brennt 
wo  Boden  isch,  und  niemes  löscht. 

Der  fremde  Mann  den  niemand  kennt,  der  funkelt  wie  ein 
Stern  und  dessen  Ankunft  die  Wett  in  Brand  setzt,  entspricht  dem 
aftnordi^ehen  Surtr,  dem  Anführer  des  Heeres  aus  MuspeFheim. 
Hier  erscheint  er  in  Gottes  Aoftrag,  tm  Muspilli  als  Antichrist :  je» 
nes  nähert  sich  noch  mehr  der  heidnischen  Annahme  von  zwei 
ebenbürtigen  Kafxypfgewalien,  dieses  ist  sffrenger  chrfsfHdi,  sofera 
auch  der  Zerstörer  seine  Sendung  nur  von  Gott  hat, 

*•)  Brttder  Grimm  Dentselie  Sagen  I.  S.  99:  der  Bfrnbaum  auf 
dem  Walserfold,    Dana(Ai  ein  gleichnamiges  GedicM  ton  Chami^o» 


356  Weifen  und  GibeKnge. 

nach  den  ändern  auf  dem  Ochsenfeld  im  Oberelsass  ^  Statt 
finden  soll,  gehören  hieben  in  ihnen  hat  sich  auch  der  Bei- 
satz erhalten  dass  nach  beendigtem  Kampf  eine  neue  schö- 
nere Welt  erblühen  werde. 

Was  in  grauer  Vorzeit  bei  uns  lebendig  war,  und  zu- 
gleich lebendig  in  unsre  Gegenwart  hereinreicht,  das  kann 
in  der  Zwischenzeit  nicht  todt  gewesen  sein:  die  Vorstel- 
lung von  einem  grossen  Eampfe  feindlicher  Mächte  muss 
auch  im  Mittelalter  die  Geister  beschäftigt  haben.  Die  Hel- 
densage, das  bedeutendste  Zeugniss  von  einheimischer  Dich- 
tung soweit  sie  hieher  einschlägt,  hat  auch  wirklich  Spuren 
hieven.  Wenn  ich  mich  anheischig  mache  sie  beizubringen, 
so  muss  ich  nur  vorausschicken,  dass  man  nichts  weiter 
als  verdunkelte,  längst  nicht  mehr  verstandene  Reste  zu  er- 
warten berechtigt  ist.  Denn  es  können  sich  in  der  Helden- 
sage, eben  weil  sie  die  Göttersage  geschichtlich  nimmt,  v^e- 
der  der  heidnische  Gegensatz  zwischen  den  freundlichen 
und  feindlichen  Kräften  der  Schöpfung,  noch  der  später  da- 
rauf gebaute  von  Gut  und  Sündhaft  erhalten  haben:  es  han- 
delt sich  in  ihr  lediglich  um  Dinge  die  menschlichen  Krieg 
herbeiführen,  um  Besitz  und  Rache.  Natürlich  konnte  auch 
der  Blick  auf  eine  schönere  Zukunft,  die  aus  Blut  und  Braüd 
hervorgehen  soll,  bei  dieser  Auffassung  nicht  fortdauern. 

Die  zwei  bedeutendsten  Dichtungen  der  Heldensage, 
die  nach  meiner  Ansicht  mehr  oder  weniger  auf  den  alten 
Mähren  von  Götterkrieg  und  Weitende  beruhen,  sind  Gudrun 
und  Nibelungen.  Der  eigentliche  Kern  der  Gudrun,  die  That- 
sache  die  sowobl  im  zweiten  als  im  dritten  Theile  ^)  den 
Mittelpunct  bildet,  ist  der  Kampf  zweier  Volksstämme:  im 
zweiten  Theile  der  Iren  wi(ler  die  Friesen,  im  dritten  der 
Friesen  wider  die  Normannen.  Als  Ursache  wird  beidemal 
ein  Jungfrauenraub  angegeben;  da  jedoch  dieser  in  so  vielen 
Sagen  vorherrschende  Beweggrund  nach  den  ältesten  Dar- 

'*)  Dahin  verlegt  ihn  Runz  von  Eichstetten  (ums  J.  1740). 
Seine  Gesichte  sind  mir  nur  handschriflh'ch  bekannt. 

*0  Ueber  die  Einrichtung  des  Liedes  in  dieser  Hinsicht  vgl. 
meine  Einleitung  m  iemß^lbm  S.  XI.  XVI. 


Weifen  und  GibeUnge.  857 

atelluDgen  —  und  so  auch  im  ersten  Tfaeile  der  Gudrun  -*. 
nur  Einen  Helden  verlangt,  welcüer  als  drachentödtender, 
jungfraubefreiender  Perseus,  S.  Georg,  Sigfrid^  Tristan  u.  s.  w. 
immer  derselbe  ist,  so  darf  man  annehmen  dass  die  Vor- 
stellung von  einem  Kampfe  zweier  Ydlker  sich  nur  nach- 
träglich mit  der  ursprünglichen  einfachen  verknüpft  habe: 
die  Sage  vom  Götterkrieg  beim  Weltende  mit  der  von  dem 
Kampfe  den  der  Sonnengott  mit  dem  Wintergotte  besteht 
um  ihm  die  Bluraenjungfrau  zu  enireissen  ^). 

Die  Vermählung  der  beiden  Sagen  zeigt  sich  auch  im 
Nibelungenlied ,  nur  auf  merklich  andere  Weise.  Die  Ent-* 
'  führung  und  Befreiung  der  Jungfrau  sind  hier  völlig  in  den 
Schatten  gestellt,  indem  sie  nur  als  etwas  Vergangenes  bei 
läufig  erwähnt  werden^  auch  die  von  der  Ermordung  des 
Drachen tödters  hängt  mit  dem  Schlüsse,  welcher  eben  jenen 
Kampf  zweier  Völker,  der  rheinischen  Helden  wider  Hünen 
und  Gothen,  schildert,  so  lose  zusammen,  dass  dieser  in 
selbslständiger  Herrlichkeit  auftreten,  den  zweiten  Theil  des 
Gedichtes  fast  unentstelll  in  Beschlag  nehmen  kann.  Von 
dem  Augenblick  an  wo  die  Burgunden  nach  Ungarn  abzie- 
hen, vergessen  wir  alles  frühere:  Hagen,  bis  dahin  so  has- 
senswerth,  wird  uns  theuer,  seine  Gestalt  ist  nicht  mehr  die 
Nachfolgerin  der  jötunischen  Gottheit  welche  den  weiland 
Äsen  Sigfrid  (Balder)  gemordet  hat,  sondern  vertritt  nun 
selbst  eine  der  Asenmächte,  untergehend  im  herrlichen  Kampf 
gegen  die  treulosen  weltverderbenden  Gottheiten  ^  aus  der 
Feuerwelt.  ^^)    Sogar  die  Vorstellung   vom  Weltbrande  hat 


'*)  Ich  habe  den  Versuch,  dieses  als  den  ursprünglichen  Sinn 
zahlreicher  verwandter  Sagen  nachzuweisen,  an  mehreren  Orten 
gemacht:  in  der  Geschichte  des  Nibelungenliedes  (deutsche  Vier- 
teljahrsschrift 1843,  2.  S.  63),  in  der  Einleitung  zur  Gudrun 
(S.  XXXVI.)  und  im  Anhang  zu  den  walachischen  Mähreben  (S.  310). 

'*)  Diese  Doppelbedeutung,  die  sich  unter  Hagens  Namen 
birgt,  wird  klar,  wenn  man  bedenkt,  dass  dieser  ursprünglich  dem 
Retter  der  geraubten  Jungfrau  gegolten,  und  erst  allmählig  sich  an( 
den  Mörder  ihres  Retters  und  Gatten  hinübergespielt  hat.  Das  alte 
Verhältniss  überwiegt  im  ersten  und  zweiten  Tl\eile  der  Gudrun, 


3S8  Wdflm  $md  QiheUuge. 

sich  in  det  NÜMkuigeiisage  zu  erhaliea  fewussl,  freüefa  im<- 
verstiBden  und  nur  so  wie  es  eben  anging,  nadidem  die 
Erzählung  aus  den  Wolken  der  Götterweit  auf  den  feslea 
Boden  der  Geschichte  herabgestiegen  war:  der  Brand  wid^ 
ehen  Krimhildens  Mannen  in  den  Sasdbau  werfien,  um  die 
dort  eingeschlossenMi  Burgunden  2U  verderben,  ist  ein  Best 
von  den  Gluten  des  Muspilli. 

Mit  der  geschichtlichen  Auffossimg  haben  auch  neue  Na- 
men .fUr  die  beiden  Mächte  Fuss  gefasst.  Die  eine  trügt  den 
der  Nibelunge;  ihre  Gegner  heissen  Amelunge,  denn  der 
Held,'  weicher  eigentlich  den  Fall  der  Burgunden  entadiesdci, 
Dieterich  von  Bern,  wird  König  (Vogt)  der  Am^n^  ge« 
nannt.  Der  Name  der  Nibelunge  ist  jedoch  wieder  mcht  ge- 
schichtlich, sondern  noch  aus  der  Göttersage  hergenommen. 
Nibelunge  heissen  im  An&ng  der  Sage  die  zwerghafien  Her- 
i^n  des  Hortes,  welchen  Sigfirid  gleichzeitig  mit  der  Jung- 
frau  gewinnt,  unterirdische,  finstre,  nebelhafte  . GestaltiMi, 
welche  die  Geraubte  sammt  ihrem  Schatz  in  Haft  gehalten 
haben.  Zu  der  Zeit  wo  der  Hort  noch  den  Blumen-  vokd 
Blätlerschmuck  der  holden  Sommerzeit  bezeichnete  ?*),  stell* 
ten  also  die  Nibelunge  die  Unterwelt  vor,  in  der^i  Gewalt  sieh 
die  nordische  Persepbone,  die  Blumenjungfrau,  den  Winter 
hindurch  befindet  Später  verdichteten  sie  sich  zu  blossen 
Hittern  eines  eigentlichen  Schatzes,  mit  diesem  fällt  ihr  Name 
dem  Sieger  Sigfrid  und  seinen  Mannen  zu;  zuletzt,  wieder  mit 
dem  Horte,   Sigfrids  Mördern,  den  Burgunden  von  Wenns. 

Streng  geschichtlich  ist  hingegen  der  Name  der  Arne* 
lange,  wenigstens  insofern  als  das  Königsgeschlecht  der  Ost- 
gothen  nach  des  Volkes  eigenem  Glauben  den  Amala  zum 
Stammvater  hatte,  weswegen  es  den  Namen  der  Amaler 
(Amali)  und  vermulhlich  auch  schon  den  gleichbedeutenden 
der  Amelußge,  d.  i.  Amaia's  Nachkommen,  trug.  Indem  die 
Gestalt  irgend  eines  früheren  Gottes  in  die  des  grossen  Theo- 
doricb,  Dieterichs  von  Bern,  überging,  ward  auch  seine  ganze 

das  neae  im  ersten  des  Nibelungenliedes.  Vgl.  Einleitang  zar  Qu 
drun,  S.  XLIII.  LI. 

'*)  S.  Gescbicbte  des  Nibelungenlieds;  S.  236. 


Weifen  und  QibeUnge.  359 

GtnoflMfifiobafi,  vermuthlieh  die  ehemalige  der  As^i,  hioföri 
wii  dem  Namen  der  Amelunge  belegt;  uBd  wie  Theodorieli, 
sorgsam  wadiend  fttr  seines  Hauses  unbefleckten  Fortgang, 
in  den  Namen  serner  Toohter  Amala-swinUia  die  alte  Be- 
nennung verflocht,  so  kennt  die  Heidensage  als  den  Amelun- 
giSB  angdiörig,  mithin  den  Nibelungen  feindlich,  einen  Aoial 
riofaf  einen  Amal-ger,  einen  Amai-*olt,  ein^  Amal-gart;  ja 
Amal^ung  selbst,  das  eigentlich  Geschiechtsname  ist,  ersefaeint 
als  Benennung  eines  einzelnen  bestimmten  Helden  ">'). 

So  Straten  die  Gewalten,  die  sich  im  heidnischen  G($t* 
terglauben  als  Äsen  und  idtunen  bekämpft  haben,  in  der  Hel- 
densage der  christlichen  Zeit  fort  als  menschliche  Helden, 
obwohl  der  firlUieren  Hoheit  nicht  gänzlich  entkleidet^  wie 
die«  auch  bei  den  entsprechenden  Wesen  der  griechischen 
Dichtung,  bei  einem  Jason,  Perseus,  Herakles  und  Achill, 
keineswegs  der  Fall  ist.  Welcher  Name  die  guten,  welcher 
die  bösen  Mächte  bezeichne,  'darüber  lässt  sich  nichts  All- 
gemeines angeb<in:  jeder  Yolksstamm  nahm  sich,  indem  er 
die . Göttersage  geschichtlich  machte,  die  Freiheit  seine  Hei* 
den  als  Nachfolger  der  guten  Götter  darzust^en.  Nur  so 
konnte  es  dem  rheinischen  Nibelungenliede  begegnen,  dass 
Heiden,  die  den  unbeimlichen  Namen  der  Nibelunge  geerbt 
hatten,  von  ihm  an  der  Stelle  der  guten  Gölter  aufgeführt 
werden,  und  an  ihnen  die  Gewalt  der  asenfeindlichen,  dureh 
Feuer  verderbenden  Söhne  von.Muspelheim  sich  erprobt.  Im 
Südosten,  in  der  Heimatfa  der  Amelunge,  würde  sieh  das 
Vetrhältniss  umgekehrt  haben« 

Die  beiden  Namen  waren  jedoch  nicht  die  einzigen, 
welche  man  brauchte  um.  jenen  Gegensatz  zu  bezeichnen. 
Gleichbedeutend  mit  den  Amelungen  erseheinen  die  Wülßnge. 
Wie  Ameiung  (Aniaiung)  der  Sohn  oder  Enkel  eines  Amala, 
so  ist  Wülfiog  der  eines  Wulf  (Wolf)*,  denn  6v^  Sylben  -ing 
und  *ufl^  sagen  gleichmässig  die  Herkunft  aus.  Dieterichs 
Mannen  werden  Wiilfinge  genannt,   er  selber  der  Wölßnge 

^*)  Die  Nachweisung  der  hiehergehörigen  Stellen  ist  sehr  er- 
leichtert durch  das  genaue  Verzeidmiss  zu  W.  GHmm's  deutscher 
Heldensage, 


360  Welfm  und  Gibelmge. 

Trost,  Oberitalien  der  Wölfinge  Land.  Und  wie  wir  unter  den 
Amelungen  mehrere  gefunden  haben,  deren  Namen  aus  Amal 
gebildet  sind,  so  finden  sich  unter  den  WUlfingen  Namen  mit 
Wolf.  Vor  allem  ist  hier  Dieterichs  Grossvater,  nach  anderen 
Dichtungen  sein  Urahn,  zu  nennen,  Wolf-Dieterich,  von  dem 
jedoch  W.  Grimm  mit  vielem  Grunde  vermuthet,  dass  er  ei« 
gentlich  mit  Di^tericb  zusammenfalle  7^).  Wenn*  gleich  daher 
Dieterich  in  der  Heldensage  nicht  ausdrücklich  ein  Wölfing  ge- 
nannt, und  der  Name  nur  seinen  Mannen,  an  ihrer  Spitze  dem 
alten  Hildebrand,  gegeben  wird,  so  darf  man  daraus  doch  nicht 
scbliessen,  dass  er  nicht  unter  die  Wölfinge  gehört  habe, 
dass  unter  Amelungen  und  Wölfingen  zwei  verschiedene 
Heldengeschlechter  zu  verstehen  seien;  vielmehr  scheint  es 
Dieterich  stelle  als  Wolf- Dieterich  denselben  Wolf  dar,  von 
dem  sie  benannt  sind.  Wie  ferner  von  dem  alten  gotbischen 
Königsnamen  Amala  die  Personennamen  Amal-rich,  Amal-^lt 
u.  s.  w.  gebildet  sind,  so  heissen  hier  nach  dem  Anftthrer 
Wolf  die  Helden  Wolf-hart,  Wolf-win,  Wolf-brand,  Wolf-helm; 
ja  sogar  dem  Amal-ung,  das  oben  als  Einzelname  wohl  auf- 
fallen durfte,  entspricht  einWol^inge,  d.i. Wolfing oder  Wölfing. 
Dass  ein  Held,  welcher  aus  einetn  Gotte  hervorgegangen 
war,  deii  Namen  Wolf  trug,  darf  nicht  im  Geringsten  An^ 
stoss  erregen.  J.  Grimm  sagt  in  dieser  Beziehung ^3):  „des 
Wolfes  (oder  Raben)  Geleit  weissagte  Sieg.  Es  ist  wohl  nicht 
zufällig,  dass  Rabe  und  Wolf,  Wuotans  Lieblinge,  Sieg  und 
Heil  vorbedeulend,  hiebei  vorzugsweise  genannt  werden. 
Hervor  hebe  ich  auch,  dass  kein  anderes  Thier  mit  Gang 
zusammengefügt  wird  als  der  Wolf:  Wolfgang  bezeichnet 
einen  Helden,  dem  der  Wolf  des  Siegs  vorangeht.  Erst  der 
heidnische  Glaube  verständigt  uns  den  Sinn  alter  Eigennamen, 
die  kein  roher  Zufall  hervorbrachte.  Die  Serbinnen  nennen 
einen  ersehnten  Sohn  Yuk  (Wolf):  dann  können  ihn  die 
Hexen  nicht  aufessen.  Auch  den  Griechen  und  Römern  war 
AfhtHfxog^  Lyciscus,  guter  Vorbedeutung.'^ 


'>)  Heldensage  S.  234.  236.  357. 

**)  Deutsche  Mythologie,  zweite  Aufl.  (1844)  S.  1093. 


Weifen  und  Gibelinge.  361 

Wie  der  Name  der  Amelunge  zuweilen  durch  den  der 
Wdlfioge  vertreten  wird,  so  ist  es  nun  ferner  zwar  nicht 
nachweisbar,  aber  doch  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich, 
dass  man  für  den  der  Nibelunge,  d.  h.  zur  Bezeichnung 
derer,  welche  von  den  Amelungen  bekämpft  wurden,  den 
Namen  Gibelinge  verwendete,  wonach  sich  die  Gleichung 
aufstellen  lässt:  es  verhalten  sich  die  Gibelinge  zu  den  Nibe- 
lungen, wie  die  Wölfinge  zu  den  Amelungen.  Leider  giebt 
es  kein  deutsches  Denkmal,  welches  die  Gegner  der  Wölfioge 
geradezu  Gibelinge  benennte,  und  ich  sehe  mich  daher  gezwun- 
gen, die  Annahme,  dass  dieser  Name  da  gewesen  sei,  auf 
einem  Umwege  zu  erhärten. 

Gibeling  bedeutet  den  Nachkommen  eines  Gibilo,  wei- 
cher Name  sich  nicht  selten  findet ''^).  Er  ist  Verkleinerung 
aus  einem  der  vollständigen  Mannsnamen  Giba-hart  (Gebhart), 
Giba-rich,  Giba-hraban'^^),  und  ähnlichen.  Da  nun  das  Nie- 
derdeutsche nicht  mit  L,  sondern  mit  E  verkleinert,  so  muss 
es  an  der  Stelle  von  „ Gibilo ^^  ein  „Gibiko^^  haben,  und  da 
das  Mitteldeutsche  dieses  K  aspirirt,  so  muss  bei  ihm  ein 
„Gibicho,  Gibich  ^'  erscheinen.  Alle  diese  Formen  finden  wir 
nun  wirklich.  Gibica  —  in  noch  älterer  Form,  wie  das  An- 
gelsächsische sie  hat,  Gifica  —  ist  ein  geschichtlicher  £önig 
der  Burgunden,  und  vermuthlich  der  Vater  des  Gundicar 
(Günt-her)  der  435  gegen  die  Hunnen  das  Leben  verloren 
hat.  Der  deutschen  Heldensage  gilt  er,  unter  dem  mittel- 
deutschen Namen  Gibich,  als  Vater  der  burgundischen  Kö* 
nige  die  zu  Worms  wohnen,  und  ihrer  Schwester  Krimhild; 


''*)  Z.  B.  Patriarcha  hierosolymitanus,  Pisanus  natione,  nomine 
Ghibeiinus  (um  1110).  Murat.  Script.  VII.  739.  —  Mone  (Helden- 
sage 13.  14.)  bringt  noch  bei  Ghibi/inus  (9.  Jahrb.),  Gibelo, 
(Gipelo,  Gypelö)  und  das  weibliche  Gibelina  (v.  1060);  endlich 
GebUn  (14.  Jahrb.)  und  einen  hierauf  beruhenden  Ortsnamen  Ge- 
belingen (von  1302),  der  ohne  Zweifel  dem  Andreas  Presbyter 
sehr  willkommen  gewesen  wäre,  vielleicht  aber  Geh-  (aus  Gab«) 
und  nicht  Geh-  (aus  Gib-)  zu  lesen  ist. 

")  So  muss  Gib  rann  US  gedeutet  werden,  das  Mone  a.  a.  0. 
beibringt»  Aehnlich  ist  Wolfram  gebildet,  das  ursprünglich  Wolf- 
hrabaü  hies$  (Grimm,  deutsche  MytboL,  Ausg.  v.  1844.  S.  1093.  Anm.). 

AUg.  ZtitMkxift  t,  6«s«UcliU.  Y.  1S4«.  24 


m  WOfm  und  43ibeUH§0. 

msF  d«8  NiMun^alied  «etei  ^siatt  Gtbicb  i?«älk<ta*Ii<A  Pank 
rat,  «in  wiffallender  Tausch,  von  dem  apäler*  Ia  der  Edda, 
weiche  die  Sage  von  den  Nibelungen  aus  Deutschland  eni«» 
lehnt  hat,  lautet  Gibich  entstellt  Giuki,  und  sie  nennt  auch 
seme  Sdhoe  Giukunge.  Die  deutschen  Formen,  die  diesem 
nordtsohi^i  Wort  entsprechen,  nämlich  Gibidautig,  GibiefaiBg 
und  Gibelung,  Gibeling,  sind  eben  so  si<^er  da  gewesisn,  als 
ihre  Wurzel  Gibich:  aulTallend  bleibt  jedoch  immer,  dass 
deutsche  Denkmäler  sie  nicht  enthalten. 

Einen  mittelbaren  Beweis  Air  dte  einstige  Geitong  des 
Namens  Gibeltfig  in  der  Heldensage  kann  man  daraus  neb* 
men,  dass  er  wirklich  als  Taufn^sie  gebraucht  wurde:  um 
1160  wird  ein  <iibelattg  von  Wolfskeln  bei  Darmstadt  ge- 
nannt ^6),  gerade  wie  aus  der  südostgermanisohen  Heldea* 
sage  die  Namen  Amelung  <Amelang)  und  Wüling  (Witöi^) 
in  den  alltäglichen  Gebrauch  übergegangen  sind  ^7),  luod  aus 
^r  rheinischen  ebenso  Nibelung  od^  Nibeimg  '*^).  Die  Ver- 
eeit  ^rwendete  nämlich  die  Namest  der  Heldensage  gern  zur 
Benennung  der  Kinder.  So  hatte  der  Norsaaiinenberssog  Boe- 
mund,  der  eigenitirch  Marcus  getauft  war,  den  Betnamen 
Joemund  yoh  seinem  Valer  Robert,  freilich  nur  im  Scheree, 
«deswegen  bekommen  weil  „in  einem  Liede  beim  FestmaU 
vom  Biesen  Buamimd  die  Rede  gewesen  war;^'  von  ihm  aber 
ging  ider  Name  auf  viele  über,  die  er  wäbr^ad  seines  Auff- 
entbalts  in  Frankreidi  (1106)  am  ^m*  Taufe  hob  ^'9).    Nach 


J<  ■    II  II      I  I— >»— In**» 


»^)  Nach  Hone's  Heldensage  S.  18. 

''')  Die  reichliche  Verwendung  des  letzteren  als  Tauf-  und  Ge- 
«chleofatsnami^s ,  im  12.  IS.  14.  Jahrhfmdert  ^belegt  üone  S.  16, 
Bayer.  Wörlerb.  2,  690.     '«)  j^j^^  ^^   g  7  g 

'•)  Multi  nobiles  ad  eum  veniebant,  eique  Blies  infafites  eflfe- 
(fctont,  quos  ipse  de  sacno  ibnte  llbenter  snsei^siebait,  qt^bus  etfam 
eagudmen  siiism  imponebat.  Marcuis  qnippe  in  ibapttsmate  «nomi- 
lAitfis  est,  sed  a  patre  sao,  andlia  in  oonmie  jooolari  ftibula -de 
Snamundo  gigaate,  puero  jocunde  inpositam  est.  Quod  intofrom 
poslea  per  totum  mundum  personait  et  innomeris  in  iripertICo  eli- 
mate  orfois  alacriter  ionotcnt  Bog  cntfnde  nemen  eoiebr«  divulga- 
4tim  eät  »in  Galliis,  quod  antea  inusitatmn  erat  pewa  mnnftfls  ecei- 
duis.    Orderte.  Vital  XI.  (angefahrt  «ach  Wilkens  «esoychto  ^dar 


WOff»,  md  CUbelmge.  36S 

Sahitt^er  iSucbteii  aoch  unsere  näbaran  Viorlabrea  Uwe  Tauf 
vamem  gern  bei  4&r  Heldensaee,  nur  natürlicb  bei  defjenigeii 
die  m  ibr^v  Zeit  als  die  ediere  galt,  nämlich  bei  der  hliä- 
sd>aa  wetecbeo,  nod  ^^so  üadet  sieb  unter  Hundts«  hairi$chen 
Adelsleuten  mehr  aiß  £ia  Pareifel,  Wigules^  TrJMrao),  Gabain, 
Gamuret,  Gramofiaotz  u.  s.  w.,  wehr  9ls  Eiigie  Jtlelusina, 
Sjgaun,  Iselde,  Herzeloy  u.  s.  w/^ 

Geschichtlicher  Zusammenhang  zwischen  WaibUngem,  Cfibeüngen  nnd 

Nihelangen. 

Ich  habe  nun«  nachdem  alle  Thatsachen  erörtert  sind,  zu 
erklären,  wie  es  kam,  dass  die  Partei,  die  im  IL  und  12. 
Jahrhundert  vermuthiieh  die  waibUngische  bies3.;  im  13.  und 
14.  als  die  gibelingische  jerscheint 

Da  von  urkundlichen  Belegen  fi^  diesen  Uebergang  die 
Rede  nicht  &ejn  kann,  uod  auch  Angaben  der  Zeitgenossen 
fehlen,  so  ist  .man  auf  Jtfutbmaassungen  beschränkt,  welche 
schon  dann  einigen  Werth  ansprechen  dürfen,  wenn  sie  sich 
laicht  als  udfaaltbar  nachweisen  lassen.  Göttling  erinnert,  um 
einen  Zusammenhang  zwischen  der  kaiserlichen  Partei  und 
dem  Nibelujp^enHede  zu  erweisen,  glücklich  daran,  dass  der 
Hau|KtsUz  des  letzteren  in  derselben  Gegend  gedacht  ward, 
^au  welcher  der  Abnherr  des  fränkisch -hobenstaufischen 
Königshauses  herstammte  ^^).  Auch  das  darf  nicht  vergessen 
werden  und  hat  bei  den  Erklärern  des  Liedes  bis  jetzt  viel 


Kreuzzuge  2>,  830.). ---Die  fabula  joeularis  steht  ohneJKweifel  einer 
ernsten  Erzählung  wirklicher  Begebenheiten  gegenüber,  und  bezeich- 
net das  fietdenlied,  wie  es  die  Sänger  beim  festlichen  Mahle  vortrugen. 
**)  ,,Konrad,  der  Glbetinenkaiser,  stammt  von  Worms*  Nach 
den  nordisebea  "Sagen  haust  hier  König  Giuke  und  «ein  Oesehlecht, 
<4ie  Giukungen  ^ibetloDgen).  Dieser  Giuke  heisst  in  der  deuteohen 
Heldensage  Gibich;  sein  Geschlecht  würden  also  die  Gibechingen 
sein,  die  so  leicht  auf  Gibelingen  führen.^'  Nibelungen  und  Gibe- 
ünen,  6.  35.  —  Dieser  Zusammetihang  zwischen  GibeKngen  und 
Grakungen  ist  der  l>este  Fund  im  ganzen  Büchlein,  und  von  Gott* 
fing  wohl  ttur  darum  nicht  besser  ausgebeutet,  weil  die  falsche 
tteinmg  im  Wege  stand,  dass  Kytbeling  von  Walbiinger  kevnme, 
dieses  aber  mit  Nibelung  in  geheimem  Zusammenhang  stehe. 

24* 


364  Weifen  und  Gibetinge. 

za  wenig  Beachtung  gefunden,  dass  dieselbe  Stadt  Worin^ 
in  den  Zeiten,  die  um  ihres  grossartigen  Drängens  willen  den 
Sängern  der  Nibelungenlieder  vornehmlich  im  Gredächtniss 
waren '(1073  — 1150),  eine  ganz  ausgezeichnete  Bedeutung 
hatte.  Hier,  im  Lande  seiner  Väter,  fand  Heinrich  IV.,  zu 
Ende  des  Jahres  1073^  als  allgemeiner  Abfall  ihn  beinah  zur 
Verzweiflung  gebracht  hatte,  wo  alle  Städte  vor  dem  Ver- 
folgten die  Thore  schlössen,  Aufnahme  und  lebhaften  Bei- 
stand an  den  treuen  Bürgern  von  Worms.  Gewaffnet  zogen 
sie  dem  jungen  Könige,  der  eben  von  schwerer  Krankheit 
erstanden  war,  entgegen,  damit  er  sich  an  dem  Anblick  ih- 
rer KriegsrUstung  und  ihrer  zahlreichen  wehrhaften  Mann- 
schaft Überzeuge,  was  er  in  seiner  Bedrängniss  von  ihnen 
zu  hoffen  habe.  Willig  boten  sie,  jeder  nach  Vermögen,  Bei 
träge  zu  den  Kosten  des  Krieges  und  schworen  für  ihn  zu 
streiten,  so  lange  sie  lebten.  Das  hob  des  Königs  Vertrauen. 
Er  nahm  in  dieser  festen,  wohl  versehenen  Stadt,  in  der  so 
viele  treue  tapfere  Herzen  für  ihn  schlugen,  seinen  könig- 
lichen Sitz;  in  ihren  Mauern  sammelten  sich  seine  Getreuen 
um  ihn,  sie  ward  ihm  für  den  Krieg  den  er  sofort  begann 
und  bald  mit  glänzendem  Glück  führte,  ein  Waffenplatz,  eine 
sichere  Zuflucht  ^^).  Eine  solche  Begebenheit,  wie  sie  gleich- 
zeitig durch  Europa  widerhallte  und  noch  jetzt  jedes  fühlende 
Herz  innig  rührtj  blieb  auch  den  unmittelbar  folgenden  Jahr- 
hunderten sicher  im  lebendigsten  Andenken,  und  dem  ist  es 
zuzuschreiben  dass  die  rheinische  Sage  vom  Kampf  der  Ni- 
belunge  wider  die  Amelunge  Worms  als  den  Sitz  der  erstem 
bezeichnet.  Nicht  als  ob  nun  die  Sänger,  gleichsam  den 
Hörer  hintergehend,  sich  unter  dem  Sigfrid  welcher  die  Sach- 
sen besiegt,  Heinrich  den  IV.;  unter  den  Burgunden  welche 
siegreich  Baiern  durchziehen,   die   hohenstaufiscben  Brüder 


*^)  Stenzel,  Geschichte  Deutschlands  unter  den  fränkischen 
Kaisern  1,  303.  —  Diese  Bedeutung  des  Rheinlandes  in  den  dama- 
ligen Kämpfen  ist  auch  Ursache,  dass  Otto  von  Freisiogen  die  west- 
lichen Grenzlandschaften  des  Reiches  als  Schauplatz  der  Zwietracht 
nennt  (s.  Anm,  8.). 


Weifen  und  Gibelinge.  365 

gedacht  hätten  ®3);  sondern  weil  alle  Heldensage  bei  ihrem 
Hervorgehen  aus  der  Göttersage  einer  örtlichen  Anknüpfung 
bedarf  und  sie  da  gewinnt,  wo  es  nach  den  herrschenden 
Ansichten  des  Volkes  von  dem  sie  herrührt,  am  natürlichsten 
ist,  an  Orten  die  diesem  Volk  vorragende  Wichtigkeit  habiBn. 

Auf  ganz  entsprechende  Weise  hat  die  Sage  von  den 
Amelungen  oder  Wölfingen  ihre  Heimath  im  Südosten  Deutsch- 
lands, an  Inn  und  Etsch,  weil  hier  die  Weifen  in  der  Zeit, 
welche  für  Bildung  der  Heldensage  von  besonderem  Werth 
ist,  nämlich  seit  der  Mitte  des  11.  Jahrhunderts,  festen 
Fuss  fassen. 

Denken  wir  uns  nun  in  die  Geistesverfassung  und  in 
die  äussere  Lage  der  damaligen  Träger  des  deutschen  Volks- 
gesanges hinein,  so  werden  wir  ohne  Mühe  zugeben  können, 
dass  sie  eiuestheils  zu  strenger  Sichtung  der  geschichtlichen 
Verhältnisse  weder  fähig  noch  aufgelegt  sein  konnten,  ande- 
restheils,  dass  für  sie  unendlich  viel  darauf  ankam,  ob  es 
ihnen  gelang,  die  Gunst  der  Grossen  zu  gewinnen.  Wir 
werden  hienach  als  möglich  und  wahrscheinlich  annehmen 
können,  dass  solche,  die  in  welfischeu  Landen,  an  weifischen 
Höfen  sangen,  sich  durch  den  Gleichklang  der  Namen  Weif 
und  Wölfing,  so  wie  durch  die  gleiche  Lage  der  Besitzungen 
der  beiden  Geschlechter,  bewegen  Hessen,  das  weifische  Ge 
schlecht  als  Eines  mit  dem  wölfingischen  anzunehmen,  und 
in  ihren  Liedern  seine  Kämpfe  wider  die  Könige  die  vom 
Rhein  her  kamen,  mit  den  alten  Sagenkämpfen  so  zerfliessen 
zu  lassen,  dass  diese  gewissermaassen  weissagend  für  jene 
wurden,  mit  ihrem  Geist  sich  färbten,  mit  einem  Theil  ihrer 
Aeusserlichkeiten  sich  zierten.  Daher  zeigt  sich  in  einzelnen 
Dichtungen  jener  Gegenden,  z.  B.  im  Waltharius,  im  grossen 
Rosengarten,  der  Rhein  ebenso  als  feindliches  Land,  wie  im 


*>)  Wenngleich  der  eine  derselben,  Friderich,  der  Vater  Bar- 
barossa's,  einäugig  war  wie  Hagen,  der  im  Kampfe  gegen  (den 
weifisch  besungenen)  Walther  von  Aquitanien  das  rechte  Auge  ver- 
loren hat.  Waltharius  1393.  Lateinische  Gedichte  des  10.  und  11 
Jahrh.  Herausgegeben  von  Grimm  und  Scbmeller.  Göttingen  1838. 
S.  51.  vgl.  die  Bemerkung  S.  1^5. 


35§  Weifen  und  OibeHnge. 

NifeelungenRed  Baiern;  daihep  nahmen,  wie  der  Baier  Aven- 
linus  (1477—1534)  bezeugt,  auch  Ge^cbichlscbreibcr  Weifen 
ond  Wölßflge  gleichbedeulend  und  machten  den  Wolf  Diete- 
rich  zum  Stammvater  der  Weifen«*). 

Indem  nun  die  Heldensage  den  Weifenstamm  als  gleich- 
bedeutend mit  dem  der  Wölfinge  (Amelunge)  nahm,  ward 
e«  unvermeidlich,  dass  sie  deren  Gegner  als  Gibelinge  (Ni- 
belunge)  betrachtete,  und  so  erklärt  sich,  weswegen  das 
Weifenland  Baiem,  wie  den  Saliern  und  Hohenstaufen,  so 
aocb  den  sagenhaften  Königen  von  Worms  feindlich  ist; 
Oesterreich  dagegen,  das  die  deutschen  Könige  stets  be- 
nutzten um  das  unbotmässige  Baiern  im  Schach  zu  halten, 
die  Borgunden  freundlich  aufnimmt.  Die  enge  Freundschaft 
des  salischen  und  staufischen  Hauses  mit  den  Markgrafen 
von  Oesterreich  ist  sogar  im  Stande  gewesen  der  Nibelungen- 
sage,  die  ursprünglich  dem  Rheine  gehört,  an  der  Donau 
eine  zweite  Heimath  zu  geben ;  ist  vielleicht  Anlass  geworden, 
dass  die  Lieder,  aus  denen  die  Dichtung  zusammengefügt  ist, 
dort  gesammelt  wurden.  Wie  an  weifischen  Höfen  die  ver- 
meintlichen Ahnen  des  Weifenstammes,  die  Amelunge  (Wöl- 
finge), gepriesen  wurden,  so  gewiss  auch  am  kaiserlichen 
und  am  österreichischen  die  Nibelunge  (Gibelinge)  mit  ihren 
Gastfreunden  Rüedeger  und  Pilgrin. 

Hier  führt  uns  nun  der  Gang  der  Untersuchung  wieder 
auf  die  Waiblinger.  Es  konnte  zwar  die  Ansicht,  dass  „Gi- 
beling**  durch  Entstellung  aus  „Waiblinger^^  hervorgegangen 
sei,  nicht  gutgeheissen  werden ;  so  wenig  als  wenn  Einer  be- 
haupten wollte,  die  Wülfinge  haben  ihre  Benennung  von  den 
Weifen.  Aber  wie  die  letztere  Namenähnlichkeit  beigetragen 
hat,  ein  stolzes  Geschlecht  von  Lebenden  mit  einem  weiland 


••)  „Die  Welphen  oder  Wylphioger  ist  vorzeiten  ein  gross  alt 
Geschlecht .  .  gewesen  .  .  vod  haben  gar  hie  wollen  seyn  aus  der 
Schytzen  (Scytharum)  Land,  so  man  jetzt  Sibenbüiigen  und  die 
Walaohey»  eins  Theils  auch  die  Türckoy  beisst;  von  Wolph  Diet- 
rich, dem  Helden  vnn  gar  allen  Teutscfaen  König,  wie  Romerich 
der  Abt  vod  andere  mehr  beschreiben.^*  Aventins  Chronik,  deutsch 
von  ihm  selbst.    Frankfurt  1566.  S.  444. 


Welfm  und  GibMnge.  867 

göttlichen  der  Sage  zerfliessen  zu  lassen,  sa  ist  auch  sacher* 
Kch  der  Name  Waibiinger  nicht  untbätig  gewesen,  als  die 
Gegner  der  Weifen  mit  den  sagenhaften  Gibetingen  in  Ver- 
bindung gebracht  wurden.  Von  dem  Augenblick  an^  wo 
man  sich  die  Weifen  als  Fortsetzung  der  Wölfinge  dachte^ 
musste  man  geneigt  sein,  der  Letzeren  Gegner,  die  Gibelinge, 
mit  den  Waiblingem  zusammenzuwerfen,  ein  Schritt,  wel- 
cher durch  die  weitverbreitete  lateinisch  •> romanische  Form 
Guebelinga  bei  allen  oberflächlichen  Beobachtern  — -  und  wo 
wären  damals  gründliche  gewesen!  —  sehr  begünstigt  wur- 
de. So  kamen  die  alten  Sagenkämpfe  durch  die  Vermählung 
mit  geschichtlichen  zu  neuer  Ehre,  und  vielleicht  liessei  sich 
sogar  ernstlich  fragen,  ob  nicht  hievon  überhaupt  die  Auf- 
merksamkeit herrühre,  die  wir  gegen  Ende  des  12.  und  im 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts  die  Gebildeten  der  einheimi- 
schen Heldensage,  so  ziemlich  im  Gegensatze  zu  sonstigen 
Zeitneigungen,  widmen  sehen. 

Obwohl  aus  dem  Bisherigen,  mit  so  viel  Wahrscheinlich- 
keit als  ohne  Beistand  von  Urkunden  überhaupt  möglich  ist, 
hervorgeht,  dass  der  Geschichte  die  Benennung  Gibeling  aus 
der  Heldensage  erwachsen  ist,  so  bleibt  doch  Eines  noch 
räthselbaft.  Weshalb  fehlt  der  Name  in  den  erhaltenen  Dich- 
tungen der  einheimischen  Heldensage,  während  ihn  die  nor* 
dische,  versteht  sieb  in  ihrer  Form  als  Giukung,  ganz  ent- 
schieden anwendet?  Ich  weiss  dies  nur  durch  eine  Vermu- 
thung  zu  erklären.  Sollte  nicht  der  Parteiname  nach  und 
nach  zum  Schimpfnamen  geworden  sein,  den  man  in  anstän- 
diger Gesellschaft,  sowie  auf  dem  Gebiete  der  Dichtung  mied, 
und  durch  einen  andern  unverfänglichen,  den  der  Nibelun- 
gen, ersetzte?  So  können  wir  jetzt  das  Wort  Pfeff,  das  nach 
seiner  Entstehung  aus  papa  (Vater)  ursprünglich  durchaus 
edel  ist,  einem  Geistlichen  nicht  mehr  geben,  was  doch  vor 
vierhundert  Jahren  allgemein  üblich  war.  Wenn  volksmässige 
Gedichte  sich  begnügten,  den  Namen  der  Gibelinge  selbst 
wegzulassen,  so  nahm  der  Ordner  des  Nibelungenliedes,  der 
in  höfischem  Sinn  arbeitete  ^^),  eine  noch  zartere  Rücksicht. 

*^)  S.  meine  Gesch.  des  Nibelungenliedes,  S.  187. 


368  Weifet^  und  Gibelinge. 

Er  mied  auch  den  Namen,  den  andre  Lieder  dem  Stamm- 
vater der  Gibelinge  stets  geben:  er  setzte  statt  Gibicb  (Gibel?) 
mit  völlig  willkürlicher  Wahl  Dankrat. 

Diese  Thatsachen  thun  jedenfalls  dem  Grundgedanken 
meiner  Untersuchung  keinen  Eintrag;  vielmehr,  da  der  un- 
leugbar vorhandene  Platz  des  Namens  Gibeling  in  der  deut- 
schen Heldensage  wie  absichlich  leer  gelassen  ist,  so  muss 
dafür  ein  triftiger  Grund  vorhanden  sein,  und  als  solcher 
lässt  sich  wohl  nur  der  angegebene  geltend  machen. 

Freilich  erhebt  sich  da  sogleich  wieder  die  Frage :  wenn 
Gibeling,  und  selbst  der  zu  Grund  liegende  Mannsname,  we- 
gen eines  allmählig  angeflogenen  Beigeschmacks  vermieden 
wurden,  warum  nahm  die  Heldensage  weifischer  Lande  kei- 
nen Anstoss  an  Wölfing?  Möglich  dass  dieses  durch  den 
vorausgesetzten  Zusammenhang  mit  dem  stolzen  Geschlechts- 
namen des  weifischen  Hauses  einen  Adel  bewahrte,  welchen 
dem  Namen  Gibeling  die  Anlehnung  an  ein  längst  in  Yer 
gessenheit  gekommenes  Städtchen  des  Schwabenlandes  nicht 
zu  schützen  vermochte.  Ich  traue  mir  hierüber  kein  be- 
stimmtes Urtheil  zu:  wo  die  Zeitgenossen  selbst  ein  ganzes 
Gebiet  fast  absichtlich  dunkel  gelassen  haben,  da  ist  der 
Einbildungskraft  ein  so  freier  Spielraum  gegeben,  dass  man 
lieber  gar  nicht  anfängt. 

Uebersicht  der  Ergebnisse. 

Statt  mit  Yermuthungen  die  Zeit  zu  verlieren,  will  ich 
lieber  schliessen,  indem  ich  zusammenfasse,  was  aus  meiner 
Untersuchung  mit  Gewissheit ^  oder  doch  mit  hoher  Wahr- 
scbeiolichkeit  hervorgeht. 

1.  Die  Weifen  sind  nach  dem  bedeutendsten  Taufuamen 
des  vorkämpfenden  Geschlechts  (Weif  oder  Welfo)  benannt. 

2.  Dieser  ist  Verkürzung  aus  Weifhart. 

3.  Das  Hauptgeschlecht  der  Gegner,  vielleicht  auch  ihre 
Anhänger,  trugen  zuerst  den  Namen  Waiblingen 

4.  Dieser  kommt  vom  Städtchen  Waiblingen  bei  Stuttgart. 

5.  Für  Waiblinger  wird  später  Gibelinge  gebräuchlich: 


Angelegenheit^  der  hieiorischen  Vereine.  369 

zuerst  in  Deutschland  (seit  1140?),   von  da  aus  in  Italien 
(seit  1250). 

6.  Gibeling  ist  nicht  aus  Waiblinger  entstanden. 

7.  Gibeling  ist  vielmehr  die  oberdeutsche,  leider  nicht 
nachweisbare  Form  für  das  nordische  Giukung,  also  ur- 
sprünglich Name  des  burgundischen  Eönigsgeschlechtes  in 
der  Nibelungensage. 

8.  Gibeling  ist  in  die  Kämpfe  des  Reichs  dadurch  her- 
eingezogen, dass  man  bei  den  Weifen  an  die  Wölfinge  (Ame- 
lunge),  bei  ihren  Gegnern,  den  Waiblingern,  an  die  Gibe- 
linge (Nibelunge)  dachte. 

9.  Herbeigeführt  wurde  diese  Gedankenverbindung  da- 
durch, dass  die  Weifen  im  alten  Lande  der  Wölfinge,  ihre 
Gegner  im  allen  Lande  der  Gibelinge  festen  Fuss  hatten. 

10.  Unterstützt  wurde  sie  dadurch,  dass  Weif  an  Wölfing, 
Waiblingen,  zumal  in  seiner  welschen  Form  Guebelinga,  an 
Gibeling  anklingt. 

Stuttgart,- Januar  1846.  Albert  Schott. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 


Referate. 

Der  KöDigl.  Sficbsische  Verein  für  Erforschung  und  Erbaltung  vater- 
ländischer AlterlhUmer. 

M\i  Freuden  entledigen  wir  uns  des  Auftrages,  über  die  Lei- 
stungen eines  Vereins  zu  berichten,  welcher  seit  mehr  als  20  Jah- 
ren in  reger  Wirksamkeit  für  die  Erforschung  und  Erhaltung  va- 
terländischer Älterthümer  im  Königreich  Sachsen  thätig  war.  Die 
wenigen  von  demselben  seit  seinem  Bestehen  veröffentlichten 
Schriften,  so  wie  der  Umstand,  dass  die  Thätigkeit  des  Vereins 
nicht  ,über  die  Grenzen  des  heimischen  Bodens  sich  erstreckte, 
mochten  wohl  Schuld  sein,  dass  in  den  übrigen  Marken  unseres 
Vaterlandes  verhältnissmässig  wenig  über  denselben  bekannt  ge- 
worden ist.  Nicht  allein  die  Kunstschätze,  welche  seit  Jahrhun- 
derten von  kunstliebenden  Regenten  in  Dresden  gesammelt  wur- 
den und  dem  Historiker,  Antiquar  und  Künstler  ein  gleiches  Inter- 


870  AMgekgenheUm  der  histotwken  VermM. 

ease  darbietm,  sondern  auch  die  vielen  Denkmate  heidnischer  nad 

christlicher  Vorzeit,  welche  über  Sachsens  Gaue  verbreitel,  bisher 
dem  gelehrten  Forscher  entgangen  waren,  machten  es  wünscliens- 
werth,  die  noch  zerstreuten  Denkmale  der  Vorzeit,  welche  für 
Kaufet  und  Wissenschaft,  und  besonders  für  die  Geschichte  Sach* 
sens  von  Wichtigkeit  sind,  der  Verborgenheit  zu  entziehen,  gegeD 
das  Verderben  zu  schützen,  und  durch  Beschreibung  und  Abbil- 
dung der  Oeffentlichkeit  zu  übergeben.  Ein  solches  Streben  aber, 
sollte  es  zu  einem  günstigen  Resultate  führen,  musste  nothwendig 
von  einem  Vereine  von  Männern  ausgehen,  in  welchem  das  gleiche 
Interesse  für  derartige  Forschungen  das  vereinigende  Element  bfl- 
dete;  die  zwar  sehr  anerkeonenswerthen,  aber  bis  dahin  verein- 
zelten Bestrebungen  mussten  concentrirt  werden,  um  durch  Zoi» 
sammenwirken  den  Zweck  zu  erreichen.  Mehrere  hochgestellte 
Personen  traten  deshalb  1824  in  Dresden  zusammen,  und  entwar- 
fen die  Statuten  zu  einem  Vereine,  welcher  nicht  nur  von  dem 
König  Friedrich  August  genehmigt,  sondern  auch  dadurch  bedeu- 
tend gefördert  wurde,  dass  demselben  ein  Local  im  firühPscben 
Palais  (späterbin  ein  Saal  des  Zwingergebäudes)  nebst  einem  Fond 
von  400  Thalern  für  die  erste  Einrichtung  angewiesen  ward.  Der^ 
gestalt  war  dem  Verein  von  vorn  herein  eine  gewisse  Selbststän- 
digkeit gegeben;  er  konnte,  ohne  auf  die  pecuniaren  Leistungen 
seiner  Mitglieder  zu  warten,  sogleich  seine  Thatigkeit  entwickeln. 
Am  19.  Nov.  1824  fand  bereits  die  erste  Versammlung  statt,  in  welcher 
man  die  Zwecke  einer  näheren  Prüfung  unterwarf,  die  Wahl  von 
kenntnissreichen  und  thatigen  Mitgliedern  beschloss  und  eine  Ge- 
schäftsordnung entwarf,  welche  mit  den  Statuten,  nach  dem  im 
Januar  1825  erfolgten  Abschluss  der  Vorarbeiten,  durch  den  Druck 
zur  Kenntniss  des  Publikums  gebracht  wurde.  Das  Statut  bezeich- 
net $.  1  den  Zweck  des  Vereins:  „vaterländische  Alterthümer  zu 
erCorscben  und  zu  entdecken,  sie  entweder  selbst,  oder  durch  Ab- 
bildungen zu  erhallen  und  für  die  Nachkoil^men  aufzubewahren.'^ 
§.  IL  den  Wirkungskreis  der  Gesellschaft,  welcher  sich  in  geogra* 
phisoher  Hinsicht  zunächst  auf  das  Königreich  Sachsen,  in  histori- 
scher .auf  die  Zeit  bis  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  erstrecken 
soll.  Wir  müssen  hierbei  bemerken,  dass  die  geographische  Grenze 
etwas  mit  der  historischen  in  Collision  gerätb,  da  Sachsen  vor  dem 
18.  Jahrhundert  eine  bei  weitem  grössere  Ausdehnung  als  jetzt 
hatte,  und  namentlich  die  für  die  vaterländischen  Alterthümer  so 
interessante  Lausitz  umfasste.  Bestehen  zwar  auch  für  die  gegen- 
wärtig nicht  mehr  sächsischen  Gebiete  besondere  antiquarische 
Vereine,  so  möchte  sich  doch  Manches  für  sächsische  Geschichte 
Interessante  daselbst  finden ,  von  welchem  del*  sächsische  Verein, 
jds  für  aeine  Zwecke  Wichtigem,  Notiat  nehmen  musste.    Wir  bat- 


Angekgenheifen  der  hi^ioriseken  Yerelm,  971 

(00  gewiinseM,  Porsehangen  aus  diesen  Gegenden  nloht  ganz  eoe» 
geschtossen  zu  sehen.  Wenigstens  glauben  wir,  dass  der  §.  IV. 
„der  Verein  wird  Verbindungen  mit  ausm^driigen  Gesellscbafleii, 
die  sich  zu  ähnlichen  Zweeken  gebildet  haben,  anknüpfen"  in  die 
ser  Beziehung  specieller  abgefasst  werden  müsste.  Von  den  übri- 
gen Paragraphen  heben  wir  nur  noch  hervor  (§.  IH),  dass  in  Dres* 
'  den  der  Sitz  und  Mittelpunkt  des  Vereins  sich  befindet,  „doch 
werden  auch  in -andern  SCadten  des  Landes  die  daselbst  anwe- 
senden Mitglieder  des  Vereins  in  engere  Verbindung  zusammen- 
treten, um  für  den  gemeinschafllichen  Zweck  wirksam  zu  sein." 
Durch  diese  Verzweigung  des  Vereins  über  das  ganze  Land  ist  es 
allein  möglich,  etwas  Grösseres  und  Nützlicheres  zu  wirken,  als 
sonst  gewöhnlich  bei  localen  Vereinen  stattfindet.  Was  wir  aber 
namentlich  bei  diesem  Vereine  vor  vielen  andern  nehmend  aner- 
kennen müssen,  ist  die  Art  und  Weise  seiner  Thäligkeit.  Nicht 
allein  die  Bekanntmachung  und  Erklärung  merkwürdiger  Denkmale, 
sondern  auch  die  Erhaltung,  Restaurirung  und  das  Sammeln  der- 
selben aus  den  Mitteln  des  Vereins,  ist  die  Aufgabe,  welche  sich 
derselbe  gestellt  hat.  Und  dass  in  der  That  schon  recht  Erfreuli- 
ches In  dieser  Beziehung  geleistet  worden,  beweisen  die  Restau- 
ration der  Buchholzer  Altarbilder,  der  Tumba  des  Mark-  und  Land- 
grafen Diezman,  von  Rietschel  aus  Cottaer  Sandstein  ausgeführt, 
der  Wohlgemuth'schen  Altarbilder  in  der  Marienkirche  zu  Zwickau, 
eines  altdeutschen  Gemäldes  zu  Annaburg,  einer  Christusstatue  aus 
der  Kirche  zu  Boritz,  der  Glasgemälde  zu  Langenhennersdorf  u.  s.  w. 
Der  zweite  Punkt,  welcher  sehr  zu  Gunsten  des  Vereins  spricht, 
ist  die  Gemeinsamkeit  in  den  Bestrebungen  ;^lle  Mitglieder,  nament- 
lich die  nicht  in  Dresden  wohnenden,  werden  zur  regen  Thätlg- 
keit  für  die  Förderung  der  Zwecke  in  Anspruch  genommen,  jedes 
Mitglied  ist  gleichsam  verbunden,  mit  seinem  Beitritt  zum  Verein, 
auch  für  denselben  nach  Kräften  zu  wirken.  Möchte  nun  auch 
bei  der  grossen  Zahl  der  Mitglieder,  welche  wohl  nicht  alte  zu  den 
gelehrten  Forschem  gehören,  der  Dilettantismus  scheinbar  sehr  be- 
günstigt sein  und  das  wissenschadliche  Element  zu  verdrängen 
drohen,  so  wirkt  doch  die  Direction  des  Vereins,  welche  sich  in 
den  Händen  wissenschaftlich  gebildeter  Männer  befindet,  diesem  an 
so  manchem  Vereine  nagenden  Wurm  gewiss  nach  Kräften  ent- 
gegen. —  Zur  Steigerung  der  Theilnahme  theilte  sich  im  März 
1829  der  Verein  in  zwei  Sectionen  für  historische  und  artistische 
Untersuchungen,  erstere  unter  Leitung  des  verstorbenen  Hofrath 
Ebert,  letztere  unter  der  der  Herren  v.  Quandt  und  Hartmann,  wel- 
che in  wöchentlichen,  von  den  Versammlungen  der  Ausschuss-Mit^ 
glieder  des  Bauptvereins  getrennten  Privatversammlungen,  zu  de* 
neii  auch  nicht  zum  Verein  gehörigen  Personen  der  Zutritt  ver« 


372  AngekgenheUm  der  historischen  Vereine, 

stattet  warde,  Gegenständen  aus  der  vaterländischen  Geschichte 
und  Kunst  ihre  Bestrebungen  widmeten.  Seit  dem  im  Jahre  1830 
erfolgten  Tode  EbertsJÖste  sich  aber  die  historische  Sectipn  wie- 
der  auf,  während  die  artistische  erfreulich  gedieh  und  die  Restau- 
ration mancher  der  oben  erwähnten  Denkmale  veranlasste.  Im  J, 
1835  beschloss  der  Verein  die  Publication  der  Callmeyer*scben 
Zeichnungen  der  durch  den  Verein  restaurirten  Wöblgemuthschen 
Altarbilder  zu  Zwickau.  Zugleich  wurde  ihm  für  seine  Sammlun- 
gen ein  neues  Local  im  Prinzenpalais  am  Taschenberge  angewie 
sen,  welchem  noch  im  J.  1840  für  die  Anlegung  eines  Museums 
für  vaterländische,  besonders  kirchliche  Alterthümer  Räume  im  K. 
Palais  im  grossen  Garten  hinzugefügt  wurden.  Im  Februar  1837 
vereinigte  sich  der  Verein  mit  dem  1834  in  Dresden  begründeten 
Vereine  der  sächsischen  AUerthumsfreunde,  und  arbeitete  seit  der 
Zeit  ununterbrochen  für  seine  Zwecke  fort,  worüber  die  bis  zum 
J.  1841  vorliegenden  jährlich  gedruckten  Berichte  Nachricht  geben. 
—  Ausser  diesen  Protokollen  wurden  von  dem  Vereine  eine  An- 
zahl in  den  Versammlungen  gehaltener  Vorträge  in  zwei  Heften, 
so  wie  im  Auftrage  des  Vereins  von  Quandt  die  Beschreibung  der 
Gemälde  des  Michel  Wohlgemuth  in  der  Frauenkirche  zu  Zwickau 
mit  8  lilhographirten  Abbildungen  der  Gemälde  (Dresden.  Fol.) 
publicirt. 

Das  erste  Heft  der  Mittheilungen,  Dresden  1835.  8.  erschienen, 
beginnt  mit  zwei  Abhandlungen  von  Preusker  über  einige  fn  Sach- 
sen beGndliche  Denkmale  aus  der  germanisch -slawischen  Periode. 
I.  DerTeufelsgraben  bei  dem  Gorisch  zwischenTiefenau 
und  Fichtenberg  cu^weit  Grossenhain.  Es  wird  uns  hier 
umständliche  NacbriclTgegeben  über  eine  der  vielen  in  Deutsch- 
land sich  findenden  Wallgräben  und  Verschanzungen,  welche  im 
Munde  des  Volkes  unter  dem  Namen  von  Teufels-Schanzen,  -Grä- 
ben, -Mauern,  von  Römer-  und  Schweden-Schanzen  bekannt  sind, 
und  in  den  meisten  Fällen  der  germanisch-slawischen  oder  der  rö- 
mischen Periode,  selten  aber  der  Zeit  des  dreissigjäbrigen  Krieges 
angehören.  Wie  fast  überall  die  Entstehung  derartiger  Verschan- 
zungen mit  hübschen  öfter  wiederkehrenden  Volkssagen,  in  denen 
der  Teufel  oder  Riesen  die  Hauptrolle  spielen,  verknüpft  ist,  wird 
auch  der  Ursprung  dieser  sächsischen  Walllinie  mit  einer  Volks- 
sage in  Verbindung  gebracht,  welche  sich,  wenn  wir  nicht  irren, 
in  einer  Sage  aus  dem  Harze  und  in  einer  andern  in  Baiern  in 
Bezug  auf  den  Pfabigraben  wiederholt.  Auf  einer  Strecke  von 
zwei  Stunden  zieht  sich  ein  8—12  Ellen  breiter,  ^—5  Ellen  tiefer 
und  zu  beiden  Seiten  mit  einem  1 — 3  Ellen  hoben  Erdaufwurf 
befestigter  Graben  von  der  Gegend  von  Tiefenau,  ungerähr  in  der 
Richtung;  von  Qsten  nach  Westen,  bei  dem  Forsthause  Goriscb 


Angelegenhdien  der  hisloriichen  Vereine.  373 

torbei,  tbeilt  sich  daselbst  in  zwei  Arme,  welche  sich  %  Stande 
von  dem  Trenn ungspunkt  wieder  Tereinigen  und  so  gleichsam  eine 
befestigte  Lagerstätte  umschtiessen,  und  hört^  nachdem  er  auf  eine 
Strecke  die  neue  Landesgrenze  zwischen  Sachsen  und  Preussen 
gebildet  hat,  in  der  Gegend  von  Fichtenberg  auf.  Der  Verf.  weist 
zunächst  die  bisherigen  Vermuthungen,  dass  dieser  Graben  als  Ga- 
nal,  oder  zur  Abhaltung  eines  Waldbrandes  gedient  habe,  zurück, 
und  erkennt  in  ihm  einen  jener  Grenz-  und  Schutzwälle,  wie  die 
Germanen  dergleichen  zur  Sicherung  ihrer  Gaue  anzulegen  pfleg- 
ten, und  solche  in  neuerer  Zeit  vielfach  von  v.  Ledebur,  Wer- 
sehe,  V.  Leutsch  u.  a.  im  westlichen  Deutschland  jiachgewiesen 
worden  sind.  Bei  den  slawischen  Völkern  finden  sich  geringe  Spu« 
ren  solcher  Grenzmarken,  und  können  wir  der  Ansicht  des  Verf. 
für  den  germanischen  Ursprung  dieses  Grenzgrabens  um  so  eher 
beistimmen,  zumal  da  sich  in  der  Nähe  desselben  eine  grosse  An* 
zahl  Urnengräber  und  Opferwälle,  welche  auf  die  germanische 
Vorzeit  zurückgehen,  gefunden  haben.  Ob  der  Graben  den  Sem-^ 
nonen  zur  Grenze  gedient  habe,  müssen  wir  dahin  gestellt  sein 
lassen.  —  ü.  Riesensteine  bei  Meissen  und  Hain.  Drei 
Felsblöcke  (ein  vierter  ist  zum  Moreau'schen  Denkmal  bei  Dresden 
verwendet  worden)  werden  beschrieben,  deren  erster,  8— 10  El- 
len hoch  und  eben  so  lang,  aber  etwas  schmäler,  auf  der  oberen 
Fläche  verschiedene  regelmassige  Aushöhlungen  von  bedeutender 
Länge  und  Breite  zeigt,  offenbar  von  Menschenhänden  hervorge* 
bracht  und  zum  heiligen  Gebrauch  bestimmt.  Der  zweite  bedeu- 
tend kleinere  Felsblock  ist  ohne  jegliches  Abzeichen.  Auf  dem 
dritten,  auf  einer  zum  Dorfe  Diera  gehöri^mi  Feldmark  gelegen, 
entdeckt  man  im  Halbkreise  um  die  Sleinkuppe  und  an  den  Seiten 
des  Steins  herablaufende  Vertiefungen  von  regelmässiger  Gestalt. 
Wie  überall  knüpft  sich  auch  an  diese  letzteren  beiden  Denkmale 
eine  Sage  von  zwei  Riesen,  welche  feindselig  diese  Felsblöcke  ge- 
gen einander  schleuderten.  Vielleicht  dass  diese  Sage  symbolisch 
auf  das  einstmal  feindliche  Verhältniss  der  Priester  der  verschie- 
denen Gottesverehrungen,  nämlich  auf  den  Streit  der  christlichen 
Priester  im  uralten  Dorfe  Zadel  mit  denen  der  Heiden  im  Orte 
Wantewitz,  welcher  Name  vielleicht  mit  Swanlewit  zusammen- 
hängt, gedeutet  werden  kann.  —  Zur  Vervollständigung  des 
Schönburgischen  Stammbaumes.  Ein  Beitrag  von  A. 
Schiffner«  Der  den  Stöckhardt*schen  Nachrichten  beigegebene, 
bis  zur  Reformationszeit  herabreichende  Stammbaum  eines  der 
wichtigsten  Dynasten-Geschlechter  Sachsens,  derer  von  Schön- 
burg, welcher  mit  urkundlicher  Sicherheit  bis  zum  J.  1182,  wahr- 
scheinlich aber  bis  zur  zweiten  Hälfte  des  eilflen  Jahrhunderts  hin- 
aufreicht, wird  in  einer  umfassenden  und  gründlichen  Untersuchung 


374  Anji^egetikeUea  dar  hi»ti>fi§ehm  Vereine^ 

geprSII  «nd  «««rvo^ifttändigi.  ÜMtenaich  wird  die  AimenUfM  wn 
eioen  fiermami,  zwucbeo  UeriBami  L  und  Hemafin  den  üiogereo 
EU  «elzen,  welchen  der  VerC.  den  Zwerlea  oder  llüilenea  neesi, 
bereichert.  Es  kriU  derselbe  1197  zuerst  als  Scbiedsricbter  In  ei- 
ner StreHsaobe  des  Klosters  Aitzella  auf»  uud  erscheint  lill2  unter 
den/enigen  Berren,  welche  eich  zu  Gunsten  Kaisers  Otio  IV.  hm 
dem  Mark^vfen  Dietrich  dem  {^drängten  von  Meissefi,  gegenüber 
den  V4>n  diesem  ernannten  Bürgen,  verbürgt  haben.  I>er  Verf. 
scfaliessi  aus  diesem  Factum  auf  die  jEleidbeimmiUelbarkeit  ^w^ser 
Sobönburgisohen  Güter,  da  fiermann  iet  Mittlere  als  Vasall  des 
Markgrafen  nicht  dessen  gara&tirender  Bürge  hätte  sein  köpneo. 
Später  tritt  um  1217,  1221,  1222  und.  1224  dttser  selbe  Hermeßa 
als  Graf  von  Sconinburc  noch  mehrere  ilal  ans  lilcht.  -—  Die 
Dienkmale  des  germanischen  Alierthufi^s  in  Saehsefi  veji 
(k  Klemm.  Aus  einer  kurzen  Gescbichle  der  Eotdeckung ^nna- 
nisoher  AHerthümer  in  Sachsen  entnetoen  wh-,  dass  Agrieela  «md 
Att»in  zuerst  im  16.  Jahrhundert  auf  die  i»  der  Lausitz  gefundenen 
alterthümÜGhen  Urnen  aufm^ksana  machen.  Erat  im  17«  JabrhuOi- 
dert  wurden  in  Sachsen,  und  zwar  m  I>resden,  bei  der  Anlegung 
des  italieBtechen  Gartens  Urnen  gefunden.  In  neuerer  Zeit  erwarii» 
eich  der  Verein  der  sächsischen  Aiterthamafreunde  in  Leipzig  und 
der  antiquarische  Verein  im  Vogtlande  Verdienste  •um  die  Entdek- 
kung  und  Erk-Iarung  germanischer  Aitertbümer.  Es  folgt  dar^, 
ähnlich  wie  la  dem  Obenbayerischen  Archiv,  eine  ^ilebefsicbi  der 
aitgermanischen  Grabbügel,  Opferpiälze,  Oplerfelson,  WäJie  «od 
Verscbanzungen  in  Sachsen,  so  wie  die  Hauptfandorte  antiker  Wal- 
len, Urnen  u.  s.  w.  JLuch  römische  Ge£ässe,  Schmucksacbea  uimI 
üunzen,  wahrschemnch  durch  Bäadler  nAdh  Sachsen  gekemmea, 
finden  sich  in  diesem  Verzeichniss  vor. 

fleft  IL  Dresden  1842.  Beilage  L  Die  Altarbilder  in 
der  Siadiklrchc  zu  Buchh4)Iz  nach  ihrer  reügiÖ&en  Be^ 
deutung  vcn  J.  Dittrich.  Diese  Altarbilder,  derireffüchen  Zeioh* 
üung  nach  zu  urtbeilen  von  einem  lücfaügen  Meister,  wurden  von 
Herzog  Georg  dem  Barligen  dem  von  ihm  1502  zu  Annaburg  er- 
richteten Franziskaner^KJoster  geschenkt  und  sind  in  neuerer  Zelt 
durch  den  Verein  bis  auf  die  fehlenden  Bilder  des  rechten  Flügels 
restaurirt  worden.  Der  Verf.  sucht  auf  eine  geistreiche  Weise  die 
Idee  klar  zu  machcß,  welche  den  Künstler  bei  seiner  Zuswomea- 
Stellung  der  Bilder  leitete,  und  hat  zu  dem  Bebufe  die  Bilder  in 
«drei  Reiliefolgen  gruppirt.  Die  erste  bestdiend  aus  5  Tafeln  (1.  Ma- 
ria mit  dem  Christusktnde,  dabei  St.  Franoiscus.,^  St.  Geerg^  St* 
€lara.  2.  Maria's  Aufnahme  in  den  Bimmel.  3*  IHß  Gegenstück 
ist  verloren  gegangen,  enthielt  aber  vielleicht  Anna  mit  IhiteraMb- 
4er  Maria.     4.  Jesaias.    5.  Salomo)  ist  der  Verherrlichung  lianie&s 


AngeleffeidiieiUn  der  hutorUeken  Vtrtme.  375 

gi^widoiet.  Di«  2.  Reibe  sdgt  »äf  4  Tefdo  4  männliebe  und  4 
weibliofae  fieiiige  {Bernhardio  v.  Sieoa,  Uagdalena,  Ludwig  v.  Tou* 
Jouse,  Clara,  AaUmius  v.  Padua,  Elisabeth  v.  Thöriflgeo,  die  3.  Ta* 
fei  febU).  0ie  3.  fieihenfolge  stellt  auf  4  Tafeln  4ie  4  Gruodkigeii* 
den,  Prudentia,  Temperaetia,  Justitia  cmd  Fortitudo  durch  die  hel^ 
ligen  Barbara,  Bonaventura,  Margarita  und  Cbrisiopfaorus  repiüsesH 
tirt  dar,  zwischen  denen  sich  das  Messopfer  mit  den  Wundern 
nod  die  Darstellung  des  Kindes  Jesu  mi  Tempel  und  der  weiesa* 
gendeSimeon  befindet -^Beilage  Q.  Bericht  aber  ein  Maiiu» 
Script  auf  Pergament,  ein  zum  Gebrauch  der  Breslauer 
Bischöfe  besti minies  Alissale  u.  s.  -w.  von  J.  Dittrich,  Die» 
ses  Ifis8a)e,  dessen  Ef^tehuog,  nach  der  Form  der  Schrift  cnd 
den  verzierten  initialen  zu  urtheüen,  in  die  zweite  Hälfte  des  14. 
oder  in  den  Aalang  des  15.  iahrhanderts  fällt,  war,  wie  «os  dem 
l^dS  vom  Bischof  Johann  von  Breslau  ergänzten  Täelblatte  zu  er- 
sehen, zum  Gebrauch  der  Breslauer  Bischöfe  bestimmt  Einer  frö* 
Jieren  Zeit  dürlte  das  Manuscript  ^obi  aus  dem  Grunde  nicht  an- 
^ehdren,  da  es  die  Mess^i  vom  Trinilatis-  und  Frohnleichnamsfest 
«ollhält,  welche  um  6\q  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  erst  allgemein 
in  Gebrauch  kamen.  Uebrigens  ist  dieses  Manuscript,  welches  in  die 
Sammhmg  des  Vereins  übergegangen  ist,  durchaus  von  keinem 
'valerländiseben  Interesse  für  Sachsen;  der  Bericht  darüber  hätte 
de^alh  wohl  anderwärts  einen  geeigneteren  Platz  gef4]nden.  — 
Beilage  III.  Bemerkungen  über  das  Mäntelchen  mit  ara» 
ihisclier  Inschrift  und  Arabesken  aus  der  Stadtkirche  zn 
Penig  vom  Herrn  Graf  von  Munster.  A.  d.  Engl,  äbers. 
von  Schier,  In  einer  interessanten  Abhandlung  wird  die  Be- 
stimmung dieses  Mänteüchens  von  golddurchwebtem  Steif,  in  wel- 
ches der  Titel  „SoHan  Moazzam,  der  geelH*te  Snltan^^  mehrfach  ein- 
gewebt ist,  jsäher  beleuchtet.  Derartige  Prachtgewäuder,  Taraz  ge- 
-nannl,  worden  nach  Ibn  Gbaldun  von  den  orientalischen  Herrschern 
ihren  iBofleoten  als  Ebrengesobeoik  verliehen ,  ein  «ohon  im  höch- 
sten Alterthnm  bei  den  orienlalischen  Völkern  vorkommender  Ge- 
ibranch,  der  sich  durch  ^^  Sassaniden  fortpflanzte,  auf  die  arsbi- 
-schen  Dynastien  Überging  und  sich  bis  auf  den  heoligen  Tag  noch 
im  Gi^ienl  erhalten  hat.  Vielleicht,  dass  zur  Zeit  der  KreuzzUge 
dieses  'Mäntelchen  nach  Europa  gekommen  ist.  —  Beilage  iV. 
DeT  Tod'tentanz  zu  Dresden.  Versuch  einer  Zosammen- 
»tellnng  alier  bisher  darüber  gedruckten  Nachrichten, 
v«n  Ch. 'Hohlfeldi.  Beilage  VI.  B.  Nachrichten  über  den 
Todtentanz  zuDresden,  MiUheilungen  aus  demlCirchen- 
tind  Stadtarchive  von  J.  Tb.  Erbstein.  Von  den  drei  in 
fiaehsen  befindlichen  Todtentänzen  zu  Leipzig,  Annahurg  und 
Drjisden ,  vt^ird  der  (letztere  htslorisch  beschrieben.    Es  schmüellte 


876  AngetegenhtUen  der  hiitorischen  Vereine. 

einst  derselbe  das  von  Georg  dem  Bärtigen  in  Dresden  erbaute 
Herzog  Georgenschloss  (ISdi-^dT),  wurde  aber,  als  1701  das  Scbloss 
zum  grossen  Tbeil  abbrannte,  bei  dem  Umbau  desselben  entfernt 
und  von  August  dem  Starken  1721  der  Kirche  zu  Alt-Dresden  ge- 
schenkt. Dort  wurde  er  an  der  Aussenseite  der  Schwiebbogen 
der  Befriedigungsmauer  des  Kirchhofes  angebracht  und  bei  dem 
Umbau  der  Kirche  im  J.  1733,  wo  auch  der  Kirchhof  verlegt  wurde, 
nach  dem  neuen  Kirchhof  geschafft,  woselbst  er  sich  gegenwärtig, 
durch  zweckmässige  Eidrichtungen  gegen  den  Witterungseinfluss 
geschützt,  noch  befindet.  Es  wäre  wünschenswerth,  endlich  einmal 
eine  ganz  genaue  Zeichnung  dieses  Denkmals  zu  .erhalten,  da  we- 
der die  vorliegende  noch  die  älteren  Abbildungen  in  Weck's  Be- 
schreibung Dresdens  und  in  der  1705  erschienenen  „Beschrei- 
bung des  sogenannten  Todten-Tantzes  u.  s.  w."  allen  Ansprüchen 
genUgen.  Auch  würde  eine  artistische  Beleuchtung  des  Denkmals 
sicherlich  von  grossem  Interesse  sein.  —  Beilage  V.  Johann 
Maria  Nosseni.  Biographische  Skizze  von  Ch.  Hohlfeldti» 
Nosseni,  am  5.  Mai  1545  zu  Lugano  geboren,  trat  1575  bei  August  L 
als  Baumeister  in  Dienst  und  blieb  unter  den  Regenten  Christian  I.^, 
IL  und  Georg  I.  bis  zu  seinem  1620  erfolgten  Tode  in  dieser  Stel- 
lung. Von  ihm  ist  die  von  Herzog  Heinrich  dem  Frommen  am 
Dom  zu  Freiberg  angelegte  landesfürstliohe  Begräbnisscapelle,  so 
wie  der  Hanptaltar  in  der  Sophienkirche,  welchen  er  für  die  Ghur- 
fürstin  Sophie,  Wittwe  Christian  I.,  arbeitete.  Ein  besonderes  Ver- 
dienst erwarb  sich  Nosseni  dadurch,  dass  er  seine  sammtlichen 
Arbeiten  aus  sächsischem  Marmor  herstellte.  Einige  gesammelte 
Nachrichten  über  das  Leben  dieses  Künstlers  hat  Hr.  W.  Schäfer 
noch  hinzugefügt.  —  Beilage  VL  Nachricht  über  das  im 
Jahre  1840  wieder  aufgefundene,  sogenannte  Zittauer 
Hungertuch  von  1472,  von  Pescheck.  Dieses  90  Quadratel- 
len grosse,  in  90  Felder  getheilte  Temperabiid,  welches  zum  An- 
denken an  eine  grosse  Hungersnoth  zur  Zeit  des  Hussitenkrieges 
vom  J.  1472—1672  jedesmal  in  der  Passionszeit  in  der  St.  Johan- 
niskirche  zu  Zittau  aufgestellt,  später  aber  abgenommen  wurde,  ist 
in  neuester  Zeit  unversehrt  in  der  Rathbausbibliothek  wieder  auf- 
gefunden worden.  Aehnliche  Hungertücher  (pannum  famelicum) 
kommen  zu  Rufach  im  Elsass  um  1347  und  zu  Augsburg  um  1491 
vor.  —  Beilage  VH.  enthält  mehre  Briefe  des  Herzogs  Johann 
Friedrich  des  Mittleren  und  seiner  Gemahlin  Elisabeth  an  Mag.  Am- 
brosius  Rothen,  Pfarrherrn  zu  Geithain,  von  1568;  Beilage  VUI., 
zwei  Beiträge  zur  Kunstgeschichte  Sachsens,  im  17.  Jahrhundert. 
Ausser  diesen  beiden  Heften  liegt  uns  ein  Sendschreiben  des 
Vereins  an  die  Freunde  kirchlicher  Alterlhümer  im  Königreich  Sach- 
sen vor  (Dresden  1840.   M.  4  iithogr.  Blättern),  in  weichem  in  ei- 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  377 

tiem  höchst  ausführlicheD  und  von  vieler  Sachkenntniss  zeugen- 
den Schema  alle  die  Punkte  aufgestellt  werden ,  welche  bei  der 
Beurtheilung  kirchlicher  Altcrthümer  zu  berücksichtigen  sind.  Die 
Hauptpunkte  sind:  A.  Andeutungen  über  die  Grenzen  der  kirchli- 
chen Alterthujnskunde.  B.  Baustyle.  C.  Sculptur  und  überhaupt 
plastische  Darstellung.  D.  Malerei  und  zeichnende  Künste.  E.  Das 
Innere  der  Kirchen.  F.  Graphische  Denkmäler,  Monogramme,  Stein- 
metz-Zeichen, Wappen  u.  s.  w.  G.  Gegenstände,  welche  zu  dem 
Cultus  dienen.  W.  Koner. 


Notizen. 


Der   Verein    in    Trier. 

Als  wir  im  Januarheft  das  Verzeichniss  von  70  Vereinen  mit- 
theilten, ahnten  wir  wohl,  dass  noch  mancher  übersehen  sein  dürfte; 
Wirklich  ist  uns  seitdem  die  Kunde  von  zwei  dort  nicht  aufge- 
fürten  Vereinen  zugegangen,  lieber  den  einen,  zu  Coesfeld, 
fflld  wir  noch  nicht  hinlänglich  unterrichtet  und  werden  später 
auf  ihn  zurückkommen.  Der  andere:  „DieGesellschaft  für  nütz- 
liche Forschungen  zu  Trier'S  ist  noch  dazu  einer  der  älte- 
sten, gegründet  1802,  anerkannt  1805.  Sein  Zweck  ist  freilich  der 
Landeskunde  im  weitesten  Sinne  des  Worts  gewidmet;  doch  haben 
auch  andere  unter  den  bist.  Vereinen  sich  einen  so  weiten  Ge- 
sichtskreis gesteckt.  Die  Aufgabe  der  Gesellschaft  besteht  gemäss 
den  Statuten  darin,  den  Regierungsbezirk  Trier  „in  naturwissen- 
schaftlicher, historisch  -  antiquarischer  und  statistischer  Hinsicht 
immer  vollständiger  kennen  zu  lernen  und  die  Vermehrung  seiner 
Erwerbsquellen  *  zu  befördern ",  Die  Gesellschaft  ist  im  Besitze 
einer  naturhistorischeu ,  einer  Antiquitäten-  und  einer  Münzsamm- 
lung. So  viel  wir  wissen  enthält  sie  sich  eigener  Publicationen, 
regt  aber  zu  solchen  wissenschaftlichen  Arbeiten  an,  welche  ihren 
Zwecken  entsprechen,  und  unterstützt  dieselben  durch  ihre  Mittel, 
ihre  Verbindungen  und  Forschungen. 

Bremen  —  obne  Verein. 
Wenn  unter  den  vorhandenen  bist.  Vereinen  etliche  überflus? 
si[g  wären:  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dass  ihrer  zu  viele  seien, 
dass  nicht  hier  und  da  die  Bildung  eines  neuen  auch  jetzt  noch 
sehr  wünschenswerth ,  ja  ein  wahrhaftes  Bedürfniss  sein  könnte. 
Von  unsern  vier  freien  Städten  besitzen  Frankfurt,  Hamburg  und 
Lübeck  ihre  eigenen  Vereine,  von  denen  wahrlich  keiner  zu  den 
überflüssigen  gehört:  sie  alle  erfüüen  ihre  Aufgaben  zu  wesentli- 
chem Nutzen  für  die  Wissenschaft,  für  die  historische  Selbsterkennt- 

Allg.  ZeitMkrift  f.  Gefcbichte.  T.  1846.  25 


378  Angelegenheiten  der  historischei^  Vereine* 

niss  Deutsohlands.  Nur  Bremen  also  ist  surückgebliebeo; 
gride  bier  aber  IriU  nun  der  Fall  eines  wahrhaften  Bedürfnisses 
ein.  Worauf  es  bei  der  Bildung  eines  Vereines  ankäme,  liegt  nahe 
genug.  Hamburg  und  Lübeck  besitzen  nun  ihr  Urkandenbuch. 
,pWann  wird  Bremen,"  ruft  Hr.  Prof.  Wurm  (s,  d.  vorige  Heft  4, 
Zeitschrift,  S.  207.)  aus,  „dem  Vorgang  der  Schwesterstädie  fol* 
gen  und  seine  archivalischen  Schatze,  die  es  dem  Einzelnen  so 
freundlich  öffnet,  durch  eine  ähnliche  Sammlung,  unter  filHwirkaog 
vereinter  Kräfte,  der  gemeinnützigen  Oeffentlichkeit  übergeben?'* 
Möchte  dieser  Ruf,  in  den  wir  mit  voller  Ueberzeugung  einstim- 
men, zugleich  eine  rechlzeilige  und  erfolgreiche  Mahnung  sein,  und 
Bremen  die  Frage  durch  die  einleitende  That  beantworten! 

AnerbieleD. 

Der  Voigtländiscbe  Alteithumsverein  zu  Uobenleuben  besitzt 
noch  Vorräthe  derjenigen  Sehriflen,  welche  er  während  seines 
20jäbrigen  Bestehens  herausgegeben  bat.  Er  ist  gern  bereit,  hie* 
von  Exemplare  an  diejenige»  Geschichts-  und  Aiterlbumsvei 
unentgeltlich  abzugeben,  welche  dieselben  zu  besilzen  wüoschl 
Hierauf  bezügliche  Anträge  werden  entweder  portofrei  oder  aof 
dem  Wege  des  Buchhandels  durch  die  Bockeimannschc  ifofbuch* 
liandlung  in  Scbleiz  erbeten. 


Pfeisaufgaben. 
Der  Ausschuss  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen  ia 
Haiuiover  hat  Tür  das  iahr  1846  zwei  Preisaufgaben  gestellt:  1)  ver« 
langt  derselbe  eine  politjsch-statisiische  Schilderung  der  Verfassung 
und  Verwaltung  eines  Amtes  oder  Geriebtsbczirkes  eines  der  ehe* 
mais  von  geistlichen  tandesberrn  regierten  Landestbeile  des  Kö- 
nigreichs Hannover,  nämlitb  eioes  ehemals  hiideshei mischen ,  os« 
nabrückischen,  mainzisch-eichsfeidischen  oder  münsterisch-meppeu- 
schen  Gebietes,  wie  solche  um  das  Jahr  ISOO  war.  Es  wird 
hierbei  eine  tbunliefast  umfassende  Schilderung  der  Verfassung  des 
Bezirks  und  seiner  allseitigen  Verwaltung  durch  die  Adoitnistrativ* 
behörden  und  Beamten  desselben,  in  Hinsicht  auf  Jurisdiktion,  auf 
Polizei-,  Steuer-  und  Domanialweseii  etc.,  sodann  der  Verfassung 
und  Verwaltung  der  Landgemeinden  gewünscht,  und  wird  der 
Werth  der  Arbeit  vorzugsweise  nach  der  Reicbfaalügkeit  d^  Mtt- 
theilungen  geschätzt  werden.  2)  eine  Darstellung  der  Formatioii, 
Thaten  und  Schicksale  eines  der  nachfolgenden  Corps,  nämlich  etU- 
weder  eines  der  FeJdbalaülons  von  1813  (natürlich  mit  Einschhiss 
des  Kielmanseggischeo  JägereorpsX  oder  eines  der  drei  oeuformir- 
ten  Cavallerieregimenter,  oder  einer  der  beiden  iSia  orga&lsirfceo 
Fussbatterien,  oder  endlich  eines  der  Land wehrbataillons ,  welch« 


Allgemeine  Literaturberichie.  3'79 

Tbell  an  den  Kri^gsereignissen  genommen  haben.  Die  DarsteHung 
hat  die  bei  der  Formalion  obwallenden  Verhältnisse,  mit  Eiosehlass 
der  eifiscblägigen  Proklamationen,  Regierungsausschreiben,  Gene 
ralordres  u.  dgl.,  sodann  die  etwaige  Theiinahme  an  den  Kriegser- 
eignissen  möglichst  ausführlieb  zu  behandeln.  Auch  eine  Schilde- 
rung des  damaligen  Geistes  im  Volke  und  Beere,  so  wie  nähere 
Angaben  über  die  in  den  einzelnen  Corps  herrschende  Disciplin 
werden  sehr  willkommen  sein.  —  Die  Preise  bestehen  in  ein^r 
goldenen,  zehn  Dukaten  schweren  Medaille  und  in  einer  sHbernen, 
doch  kann  ihre  Zahl  je  nach  den  Umständen  auch  verdoppelt  wer- 
den. Die  Arbeiten  sind  an  den  Director  des  Vereins  bis  zum  31. 
December  d.  J.  einzusenden,  mit  einem  versiegelten  Couvert,  das 
den  Namen  und  Wohnort  des  Verfassers  enthält  und  auf  der  Aus- 
seoseite  mit  demselben  Motto  versehen  ist,  wie  die  Arbeit  selbst. 
Die  Preisvcrtheiiung  findet  in  der  Generalversammlung  am  24.  Fe« 
bruar  1847  staU. 

Beitrittserklärungen  der  Vereine. 

0  Unserm  Unternehmen  sind  ferner  beigetreten:  iO)  Der  Verein 
für  Gesch.  u.  Aiterthumskunde  Westfalens  zu  Münster  und  Pader« 
born.  11)  Die  numismatische  Geseilschaft  zu  Bertin.  12)  Der 
Voigtländische  alterthumsforschende  Verein  in  Hohenieuben.  13) 
Die  KönigL  Gesellschaft  für  Nordische  Aiterthumskunde  in  Kopen- 
hagen« 14)  Der  bist.  Verein  von  und  für  Oberbayern  in  München. 
15)  Der  Verein  für  Hamburgische  Geschichte.  16)  Die  Gesellschaft 
für  Pommersche  Geschichte  u.  Aiterthumskunde  in  Stettin.  17)  Der 
archäologische  Verein  zu  Roltvtreil  am  Neckar.  18)  Der  Henneber- 
gische alterthumsforschende  Verein  in  Meiningen.       März  1S46, 


AUgfemeine  lAteTatuvheTlehte. 


Alterthum. 

Real-EncycIopä<iie  der  classischen  Alteribumswissenschaft  in  alphabe- 
tischer Ordnung.  Von  Geh.  Hofraih  Ch.  F,  Bahr  in  Heidelberg;  Prof»  A, 
Baumstark  in  Freiburg;  Prof.  W.  A.  Becker  in  Leipzig;  Prof.  C,  Cless  in 
Stuttgart;  Geb.  Baih,  ComUiur  Friedr.  Creuzer  in  Heidelberg;  Conrector 
A.  Forbiger  in  Leipzig;  Prof.  F.  D.  Gerlach  in  Basel;  Director  G.  F.  Gro- 
tefend  und  Dr.  C.  L.  Grotefend  in  Hannover;  Dr.  A.  Haakh  in  Stuttgart; 
Diac.  und  Schulinsp.  W.  Heigelin  in  Stuttgart;  Geh,  HofraUi,  Ritter  Friedr. 
Jacobs  in  Gotha;  Rector  C.  Erafft  in  Biberach;  Dr.  J.  H.  Krause  in  Hallo; 
Prof.  Metzger  in  Schönlhal ;  Prof.  K.  W.  Müller  in  Bern ;  Prof.  L.  OeUinger 
in  Freibarg;  Dr.  L.  Preller  In  Jena;   Prof.  W.  Rein   in  Eisenacb;   Prof«  O. 

25* 


380  Allgemeine  Literaturberichte, 

L.  F.  Tafel,  Dr.  W,  S.  Teuff«!  und  Prof.  Ch.  Walz  in  TüblnKen ;  Prof.  A.  Wester- 
mann  In  Leipzig;  Prof.  A.  W.  Winkelmann  in  ZUricb;  Dr.  A.  Witzscbel  in 
Eiaenacb;  Ministerialrath  C.  Zell  in  Garlsnibe,  und  dem  Herausgeber  Au-^ 
guat  Panly,  Professor  in  Stuttgart.  Bis  jetzt  58  Lieferungen  ä  80  Seiten 
(zu  36  Xr.  oder  ^  Thlr.),  oder  drei  Bünde  (I  entbaltend  A  und  B,  4S24  S. 
U.  enlh.  C  und  D,  4337  S.  III.  entb.  E,  P,  G,  H.  4  572  S.)  und  von  Band 
IV.  S.  4 — 480  entb.  J  bis  Julius  Cäsar,  Stuttgart,  J.  B.  Metzler'scbe  Buch- 
handlung«   4  837 — 4  845.     Lexicon-8. 

Indem  wir  das  vorstehende  Werk  in  diesen  Blättern  zur  An- 
zeige, bringen,  müssen  wir  vor  Allem  dies  bevorworten,  dass  es 
nicht  unsere  Absiebt  isl^  auf  den  Plan  desselben  uns  des  Näheren 
einzulassen.  Th'eils  ist  dies  schon  in  anderen  Blättern  geschehen 
(besonders  verweisen  wir  in  dieser  Beziehung  auf  die  ersten  Num- 
mern des  Juliheftes  der  N.  Jenaer  Literaturzeilung),  theils  ist  das 
Werk  schon  zu  alt  und  zu  bekannt,  als  dass  eine  solche  Bespre- 
chung nicht  als  Ueberfluss  erscheinen  müsste.  Auch  sind  wir 
überzeugt,  dass  von  den  vielen  Wünschen,  welche  bei  dem  Werke 
unbefriedigt  bleiben,  die  meisten  wegen  der  Eigenlhümlichkeii  der 
Unternehmung  als  einer  alphabeti.sch  angelegten,  von  einer  Met^ 
heit  von  Bearbeitern  herrührenden  und  alimählig  erscheinenden 
nahezu  unerfüllbar  sind  wenigstens  bei  einer  erstmaligen  Heraus- 
gabe, andere  der  rastlosen  Thätigkeit  des  Herausgebers  und  Verle- 
gers in  immer  steigendem  Grade  zu  befriedigen  gelingen  wird. 
Dahin  rechnen  wir  namentlich  die  verhältnissmäsige  Langsamkeit 
des  Yorrückens,  das  Unbequeme  mancher  Einrichtungen.  Wer 
wird  z.  B.  Notizen  über  das  Meer,  die  Winde,  das  Erdbeben  u.  A. 
unter  Geographia  suchen?  Und  falls  ihn  der  Zufall  darauf  führte, 
wer  wird  das  Gewünschte  sobald  finden  in  dem  absatzlosen  viele 
Seiten  langen  Artikel?  Aber  nicht  solche  Dinge  sind  es,  bei  wel* 
eben  wir  verweilen  wollen,  sondern  wir  betrachten  das  Werk  ge* 
mäss  der  Tendenz  dieser  Zeitschrift  vom  historischen  Standpunkte, 
wir  fragen:  was  leistet  es  für  die  Geschichte?  Hiebei  müssen  wir 
es  gleich  als  einen  Hauptvorzug  und  ein  besonderes  Verdienst  des 
Werkes  hervorheben,  dass  es  das  Alterthum  in  seiner  Totalität  zur 
Erscheinung  und  Darstellung  bringt.  Zwar  geschieht  dies  der  Natur 
der  Sache  nach  nur  bruchstückweise,  ohne  dass  die  einzelnen 
Steine  so  zugehauen  sind,  wie  es  sein  müsste,  wenn  sie  bestimmt 
wären,  an  einander  gefügt  zu  werden,  um  ein  gegliedertes,  archi- 
tektonisch vollendetes  Ganzes  zu  bilden;  aber  auch  so  kann  es  Nie- 
mandem schwer  fallen,  aus  dem  reichlich  gebotenen  Material  ein 
überschauliches  Bild  sich  zusammenzusetzen.  Genug,  dass  der  Hi- 
storiker, der  nicht  alle  Seiten  des  antiken  Wesens  und  Lebens  mit 
gleicher  Gründlichkeit  und  Ausführlichkeit  in  den  Bereich  seiner 
Studien  zu  ziehen  im  Stande  ist  und  doch  der  Resultate  der  For- 


Allgemeine  Literat urberichte:  381 

schung  für  seine  Zwecke  bedarf,  hier  in  einer  gewissen  Vollstän« 
digkeit  alles  dasjenige  beisammentrifft,  was  er  braucht,  und  wo  er 
nicht  unmittelbar  befriedigt  werden  sollte,  doch  wenigstens  einen 
Wegweiser  mitbekommt  für  seine  weitere  Forschung.  Freilich  jene 
Vollständigkeit  lässt  in  mehr  als  einer  Hinsicht  noch  Vieles  zu  wün- 
schen übrig.  Einmal  fehlen  viele  Artikel,  welche  man  billig  hier 
erwarten  sollte.  Wir  wollen  nicht  wiederholen,  was  schon  in  der 
N.  Jenaer  Literaturzeitung  in  dieser  Beziehung  namhaft  gemacht 
ist,  sondern  diesmal  blos  folgende  Artikel  als  fehlend  hervorhe- 
ben: Ambrosius,  ava7Qag)ruf,Anastasius,  Anatolius,Anthemius,  Aquae- 
ductus (wobei  auf  Roma,  Topographie  verwiesen  ist,  als  ob  es  nur 
in  Rom  Wasserleitungen  gegeben  hätte),  Arethas,  Artaxares  (Stamm- 
vater der  Sasaniden  unter  Alexander  Severus),  Avares  (nicht  Aviri, 
wie  fälschlich  angegeben  ist.  vgl.  Coripp.  laod.  Justin,  min.praef.  4. 
Avarum  gens,  vgl.  I,  154,  m,  233.  260.  271.  280.  321.  341,-  im  Sin- 
gularis  Avar,  ibid.  IQ,  258.  270;  die  blosse  Verweisung  auf  den  Art. 
Aorsi  ist  nicht  mehr  als  eine  Uebergehung);  B^siliscus,  Belisarius, 
bellum  (Bestimmung  des  Begriffs  im  Gegensatz  zu  tumultus;  Kriegs- 
recht), Briltia  insula  (Procop.  Golh.  IV,  20),  Bulgari;  Camelus  (das 
so  gut  als  Elephantus  da  sein  sollte;  ebenso  fehlen  Artikel  über 
Pferde-,  Bienen-  und  Tauben-Zucht),  Gausidicus,  Ghersius  (die  Ver- 
weisung auf  den  Art.  Epici  ist  Irüglich,  da  kein  solcher  gegeben 
wurde),  Ghronici,.  Cibaria  (auf  welche  wie  auf  Gongiarium  und  fru- 
mentaria  largitio  Bd.  I,  S.  493  verwiesen  wurde,  ohne  dass  aber 
einer  dieser  Artikel  wirklich  geliefert  wurdet,  commeatus,  Gosroes 
(der  mit  Juslinian  gleichzeitige  grosse  Perserkönig),  Greditor  (Glau- 
bigerordnung),  Cubicularius,  Cursus  publicus  (Geschichte  des  Post- 
wesens im  Alterthura),  Gyprianus,  Damophilus  (Bistoriker) ,  Oani 
(welche  „grosse  Nation'*  Hr.  Pauly  —  wir  wissen  nicht,  ob  etwa  aus 
schleswig-holsteinischen  Sympathien  —  vollständig  übergangen  hat, 
was  sicherlich  der  Verbreitung  seines  Werkes  im  Reiche  Dänemark  Ein- 
trag thun  wird),  decanus,  dedicatio  templi  (vgl.  Plin.  Epist.  X,  58  f.), 
&rifioiy(j)yoLy  diadema,  diverbium,  domesticus,  öoqv^oqoq,  Evagrius, 
Eudoxia  (worauf  beiArcadius  verwiesen  war),  Eunuchi,  Eustathius 
aus  Epiphania,  Exarchus,  Exedra,  Exuviae,  Expositi,  Fides  pu- 
blica, Funda,  Fundatores,  Gauti,  Germanus  (Vetter  des  Justinian 
und  unter  diesem  eine  bedeutende  Rolle  spielend),  graphium,  Hae- 
retici  (rechtliche  Stellung  derselben),  Hierapolis  (wobei  auf  die  Nach- 
träge verwiesen  jst,  aber  vergeblich),  hieratische  Poesie  und  Kunst, 
Uqtlov  (worauf  unter  dxaqxal  verwiesen  war),  txtcrta  und  Ixeniq, 
Bonoriatae,  Bypatius,  inauris,  induciae  u.  a.  Ein  Theil  dieser  Artikel 
ist  wohl  absichtlich  ausgelassen,  z.  B.  Belisarius,  Baeretici ;  aber  wir 
halten  die  Grundsätze,  nach  denen  solche  Auslassungen  erfolgt 
sind,   nicht  für  die  richtigen,   es  scheint  uns  vielmehr,   dass  ein 


382  Allgemeine  Literaturberickte. 

Grdndmangel  dieses  Werkes  der  sei,  dass  es  ein   vorzugsweise 
philologisches   anstatt   ein   liistoriscbes   (wenn  auch  natürlich  mit 
Bescfaräokung  auf  eine  bestimmte  Zeit),  dass  es  eine  Realencyclo- 
p'adie  der  Alterthumswissenschaft  ist,  anstatt  des  Älterthums,  und 
zwar  der  Alterthumswissenschaft  in  der  Weise  und  dem  Umfange, 
wie  sie  eben  gerade  derzeit  steht.    Diesen  Mangel  erkennen  wir 
einmal  in  den  Grenzen,  welche  das  Werk  sich  gesteckt  oder  we- 
nigstens zu  stecken  gesucht  hat,  sodann  in  der  Behandlungswcise 
und  den  Gesichtspunkten.    Was  das  Erste  betrifil,  so  erklärt  das 
Vorwort  S.  VI:    ,,Die  Epoche,  mit  welcher  wir  das  classische  AI- 
lertbum  für  abgeschlossen  betrachten,  ist  der  Untergang  des  abend- 
ländischen Kaiserthums,  wiewohl  es  namentlich  in  der  Literatur- 
und  Rechts  -  Geschichte  nicht  immer  vermieden  werden  kann  und 
darf,  auch  spätere  mit  der  classischen  Zeit  in  Beziehung  stehende 
Erscheinungen  zu  berühren.     Auch  sind  es  nur  die  beiden  dassi- 
schen  Völker,  deren  Leben,  Schaffen  und  Leiden  den  Stoff  für 
unsere  Darstellungen  bieten.     Aegyptisches,  Orientalisches,  Nordi- 
sches u.  A.  kommt  in  Betrachtung,  so  weit  es  durch  das  Aledium 
griechischer  oder  römischer  Anschauung  auf  uns  gekommen  isf 
Wir  finden  beide  Beschränkungen,  sowohl  die  in  Bezug  auf  die  Zeit 
als  die  in  Bezug  auf  den  Raum  und  die  Nationalität  unwissenschaftlich 
und  zugleich  unausführbar.     So  gut  als  Belisarius  musste  conse- 
quenterweise  z.  B.  auch  Justinianus  fehlen,  was  doch  wohl  Jeder- 
mann für  einen  wesentlichen  Mangel  halten  würde  und  die  Dar- 
stellung des  Aegyptischen,  Asiatischen,  Germanischen  müsste  sich 
^uf  das  beschränken,  was  uns  von  den  classischen  (denn  eigentlich 
wäre  sogar   die   Benutzung   der   nachclassischen    ausgeschlossen) 
Schriftstellern  darüber  berichtet  ist.    Da  aber  das  Römische  doch 
nicht  auf  Rom  wird  beschränkt  werden  wollen,  sondern  das  ganze 
römische  Reich  umfasst,  so  ergiebt  sich  schon  hieraus  die  Verpfliohlung 
auch  andere   als  die  beiden  classischen  Völker  in  den  Kreis  der 
Betrachtung  zu  ziehen.    Und  zwar  dürfen  diese  nicht  blos  so  und  in 
so  weit  behandelt  werden,  wie  es  durch  die  griechischen  und  rö- 
mischen Quellen  bedingt  ist,  sondern  die  zu  gebende  Darstellui>g 
muss  das  Ergebniss  aller  für  den  Gegenstand  überhaupt  zugang- 
Heben  Quellen  sein,  der  einzelne  Artikel  muss  seinen  Gegenstand, 
so  weit  als  der  Raum  gestattet,  erschöpfen,  dieser  mag  nun  Aegyp« 
-ten  oder  Rom,  Indien  oder  Hellas  angehören,  er  muss  Alles  ent- 
halten, was  in  Bezug  auf  ihn  innerhalb  der  Grenzen  des  Alterthums 
fällt*     Wie  verkehrt  wäre  es  z.  B.  die  das  Jüdische  betreffenden 
Artikel  auszuarbeiten  ohne  Rücksicht  auf  das  alte  Testament,  von 
Indien  zu  reden,  ohne  die  Ergebnisse  der  neueren  Forschungen 
zu  berühren!     Aber  so  ist  jener  Grundsatz  wohl  von  Anfang  an 
nicht  verstanden  gewesen,  obwohl  eine  solche  Deutung  den  Wor- 


Allgemeine  Liieraiurberickte.  383 

im  eoUpräeht;  überbaupt  isi  die  Praxis  zum  Glück  viel  wentgcr 
fingherzig  als  die  Theorie  und  das  Programm.  Wie  wir  btenaeh 
das  Alterthum  in  seiner  ganzen  Ausdehnung,  alles  was  in  den 
Rahmen  dieser  Zeit  fällt,  als  den  Gegenstand  und  Inhalt  eines  wirk- 
iicb  der  Wissenschaft  genügenden  Sammelwerkes  dieser  Art  allein 
anerkennen  können»  so  sebeint  uns  auch  der  Zelt  nach  keine  en- 
gere Grenze  möglich  als  einerseits  der  Mythus,  die  vorgeschicbt- 
liche  Zeit,  andererseits  das  Mittelalter 5  jede  andere  Abgrenzung  ist 
willkürlich  und  nachlheilig,  zumeist  aber  der  Abschluss  mit  dem 
Untergang  des  abendländischen  Reiches.  Die  Ostgothen  haben  das 
abendländische  Reich  nicht  vernichtet,  wie  es  nachher  die  Longo- 
barden  thaten,  sie  haben  es  nur  besetzt,  die  vorgefundenen  Ein- 
richtungen aber  im  Wesentlichen  alle  fortbestehen  lassen  und 
Theoderich  betrachtete  sich  factisch  als  weströmiscben  Kaiser;  man 
kann  daher  eigentlich  von  einem  Untergange  des  abendländischen  Reichs 
durch  die  Ostgothen  gar  nicht  reden,  der  Untergang  trat  erst  mit 
dem  Untergänge  der  Ostgothen  und  der  Eroberung  durcii  dieLon- 
gobardcn  ein  und  da  erst  hatte  man  den  Grenzstern  des  Altert^ioms 
—  wenigstens  in  Bezog  auf  Italien  -^  zu  setzen,  so  dass  der  von 
Bcllsar  u»d  Narses  in  Italien  geführte  Krieg  noch  durchaus  hieber 
geborte.  Und  wie  kant)  man  bei  Romulus  Augostutus  aufhören, 
als  ob  das  östliche  Reich  mit  untergegangen  wäre!  Entweder 
muss  man  gegen  alle  Vernunft  schon  mit  der  Tbeiiung  des  Reichs 
im  J.  3d5  aufhören  oder  beide  Reiche  bis  zu  ihrem  Untergange 
verfolgen,  den  tistlieben  Theil,  das  byzantinische  Reich,  wenigstens 
bis  ins  Mittelalter  hinein,  vi^iewohl  das  was  in  der  germanischen 
und  romanischen  Geschichte  Mittelalter  heisst  und  von  einem  neuen 
Principe  «ausgebt  und  einen  neuen  Charakter  hat,  in  der  byssati- 
niscben  Geschichte  sich  von  dem  Früheren  nicht  abhebi,  sondern 
eine  gleichartige,  nor  abwärts  gehende  Bewegung  ist.  Das  Ab« 
scbliessen  mit  Romulus  AugustuJus  ist  eine  traditionetie  Spielercfi, 
om  die  römische  Geschichte  mit  demselben  Namen  zu  endigen^ 
mit  welchem  sie  beginnt;  einen  historischen,  somit  wissensehafitt- 
eben  Wertb  hat  sie  nicht  und  auch  Hr.  Zompt  bat  daher  sehr  Un- 
recht getbon,  seine  Annales  dem  alten  Schlendrian  gemäss  mit  dem 
J.  476  zu  scbliessen  und  so  vor  den  bedeutungsvollen  Ereignissen 
des  folgenden  Jahrhunderts,  vor  der  Regierung  Justinians  namentlich 
und  vor  einem  Hfistoriker  wie  Procoptus  die  Thüre  zuzuschlagen. 
Wir  meinen  nicht,  dass  man  auch  die  spateste  Geschichte  »och 
mH  derselben  Ausführltchkelt  behandeln  solle  wie  die  frühere  ent- 
wicklungsreicfae ,  aber  ^e  SteHe  müssen  wir  doch  gönnen  den 
Leiden  der  Spätlinge  so  gut  wie  den  Thaten  der  Vorzeit;  wie  ge* 
raumig  dieselbe  sei,  das  hängt  dann  ab  von  der  historischen  Be- 
deutsamkeit des  Einzeti^en.     Wir  sind  öberhaupl  gegen  solches 


384  Allgemeine  Literaturberichte, 

Stricbeziehen  über  die  WeK  hio,  das  nur  auf  dem  Papiere  erträg- 
lich aussiebt,  in  der  Wirklichkeit  aber  total  unpraktisch  und  un- 
brauchbar ist;  die  Grenze  zwischen  dem  Alterthum  und  dem  Mit- 
telalter ist  eine  in  den  verschiedenen  Ländern  durchaus  verschie- 
dene. Spaniens  Mittelalter  beginnt  mit  dem  Einfall  der  Mauren, 
das  des  byzantinischen  Reichs  mit  der  Eroberung  Constantinopels, 
das  von  Italien  mit  dem  Einfall  der  Longobarden.  Diesen  natür- 
lichen Grenzen  muss  der  Historiker  nachgehen,  anstatt  willkürlich 
selbst  welche  zu  ziehen.  Die  nachtheiligen  Folgen  eines  solchen 
Unterfangens  stellt  besonders  lebhaft  das  gegenwärtige  Werk  dar 
mit  seinen  zahllosen  Inconsequenzen  und  Ungleichheiten.  Ware 
an  seine  Spitze  der  Grundsatz  gestellt  worden,  das  Alterthum  bis 
an  sein  allseitiges  vollständiges  Ende  zu  verfolgen,  so  hätte  alles  ir- 
gend Bedeutsame  nothwendig  seine  Stelle  gefunden,  das  Unbedeu- 
tende aber  auszuscheiden  und  wegzulassen  wäre  eine  ebenso 
leichte  als  unerlässliche  Arbeit  gewesen;  nun  aber  da  ein  Grund- 
satz vorausgeschickt  ist,  der  seine  Unbrauchbarkeit  unzählige  Male 
beweist  und  somit  sich  selbst  aufhebt,  bekommt  die  Anlage  und 
das  Verfahren  ein  Ansehen,  als  wäre  es  planlos  und  grundsatzlos. 
Dies  in  Bezug  auf  die  Wissenschafllichkeit  der  Abgrenzung.  Aber 
auch  in  der  Durchführung  wünschten  wir  vielfach  die  wissenschaft- 
lichen, also  hier  die  historischen  Gesichtspunkte  strenger  feslge- 
hallen.  Wir  wollen  nicht  von  Kleinigkeiten  der  Anordnung  reden, 
wie,  dass  Byzanlium  unter  Conslantinopolis  abgehandelt  ist,  ob- 
wohl ja  die  Stadt  schon  vor  der  Uebersiedlung  des  Hofes  bestand 
und  obwohl  es  Niemandem  einfällt,  von  constantinopolitanischer 
Geschichte  und  constanlinopolitanischen  Schriftstellern  zu  sprechen, 
sondern  von  byzantinischen,  vielmehr  was  wir  in  vielep  Artikeln 
vermissen,  ist  eine  wahrhaft  historische  weitsichtige  Auffassung 
und  Behandlung  des  Stoffes.  Am  sichtbarsten  tritt  dieses  der  Na- 
tur der  Sache  nach  bei  denjenigen  Artikeln  hervor,  welche  dem 
Gebiet  der  Geschichte  im  engeren  Sinn  angehören,  aber  nicht  min- 
der auch  bei  einem  grossen  Theile  der  mythologischen  Artikel,-  nur 
die  Arbeilen  von  L.  Georgi  in  Calw  (z.  B.  Horus,  Isis)  machen 
davon  eine  rühmliche  Ausnahme  und  unter  den  historischen  allen- 
falls einzelne  von  Dr.  Haakh,  wie  Hadrianus,  während  vom  blos 
philologischen  Gesichtspunkt  aus  die  meisten  als  genügend  erschei- 
nen können.  Aber  die  beiden  genannten  Fächer  haben  in  dem 
Werk^  auch  eine  gar  zu.  mannigfaltige  Besetzung  und  Vertretung; 
das  Mythologische  lieferte  Anfangs  alles  Heigelin  und  neben  ihm 
Haakh  das  die  ägyptische  Religion  Betreffende;  je  ernstlicher  aber 
das  Unternehmen  nach  Wissenschaftlichkeit  und  selbstständigem 
Werthe  rang,  um  so  lebhafter  wurde  das  Bedürfniss  gefühlt,  be- 
deutendere Artikel  an  Männer  von  bewährter  Forschung  zu  über- 


Allgemeine  Literaiurberichte,  385 

tragen  und  so  trat  Preller  ein  mit  Artikeln  wie  Delphi,  Dionysias, 
Dodona,  Eleusinia,  Fatum,  Heroes  u.  A.,  L.  Geörgi  mit  seinen  mu- 
sterhaften Arbeiten,  Metzger  mit  dejn  sorgsam  gearbeiteten,  aber  an 
Bündigkeit  und  an  Klarheit  der  Gesichtspunkte  noch  der  Verbesse- 
rung rähigen  Artikeln  Divinatio  (worin  nur  die  politische  und  recht- 
liche Stellung  dieser  Institution  nicht  entsprechend  behandelt  ist), 
Hercules,  Hieroglyphen  u.  a.  Aber  gerade  bei  der  Mythologie  wäre 
mehr  als  anderswo  Einheit  der  Bearbeitung  wünschenswerth,  ob- 
wohl wir  uns  nicht  verbergen  können,  dass  bei  dieser  Wissen- 
schaft weder  die  Grundbegriffe  schon  so  fest  stehen,  und  noch 
Tiel  weniger  das  Material  schon  so  vollständig  beisammen  oder  gar 
gesichtet  ist,  dass  es  möglich  wäre,  in  einem  Werke  dieser  Ar^ 
schon  jetzt  den  Anforderungen  der  strengen  Wissenschaft  in  die- 
ser Beziehung  zu  genügen.  Eine  Theilung  der  Arbeit  ist  dagegen 
bei  der  politischen  Geschichte  ihres  grossen  Umfanges  wegen  durch- 
aus geboten,  und  sie  ist  hier  in  der  Weise  vollzogen,  dass  Krafft 
das  Griechische  und  Karthagische,  nur  ausnahmsweise  (wie  bei 
Cornelia  gens  und  Julius  Cäsar)  auch  Römisches  hat,  Haakh  das 
Römische  in  seinem  ganzen  Umfange.  Aber  auch  so  noch  ist  der 
Stoff  viel  zu  gross,  als  dass  er  zu  bewältigen  wäre,  wenn  man 
nicht  seit  vielen  Jahren  eigens  zu  diesem  Zwecke  umfassende  Vor- 
arbeiten gemacht  hat.  Daher  treffen  wir  zwar  bei  der  griechischen 
Geschichte  weniger  Abwechslung  als  wünschenswerth  wäre,  bei 
der  römischen  aber  mehr  als  zweckhiässig  ist;  namentlich  die  Kai- 
sergeschichte, von  vornherein  ganz  vernachlässigt,  wurde  bald  von 
Krafft  (z.  B.  Aetius,  Alaricus),  bald  von  Rämelin  (Domitianus,  Galba 
und  andere  nicht  ganz  auf  der  Höhe  der  Forschung  stehende  Ar- 
tikel), bald  von  Metzger  (Constantinus  und  Constantius,  vorzugs- 
weise aus  secundären  Quellen  gearbeitet),  meist  aber  und  am  be* 
sten  wenn  auch  nicht  am  präcisesten-  von  Haakh  (z.  B.  Germani- 
cus,  Hadrianus,  Heliogabalus  und  viele  andere)  geliefert;  doch  kön- 
nen wir  für  die  nächste  Zukunft  wenigstens  Einheit  der  Bearbei- 
tung und  quellenmässige  Darstellung  dieser  zweiten  Hälfte  der  rö- 
mischen Geschichte  verbürgen,  indem  der  Unterzeichnete  selbst 
die  Artikel  aus  der  Kaisergeschichte  zur  Bearbeitung  übernommen 
und  bereits  mit  Julianus,  Justinianus  und  Juslinus  begonnen  hat* 
Zu  den  anerkannt  vorzuglichsten  Artikeln  des  ganzen  Werkes  ge- 
hören die  von  Rein  aus  der  römischen  Staats-  und  Rechts- Ge- 
schichte, die  an  Vollständigkeit,  Kürze  und  Klarheit  Nichts  zu  wün- 
schen übrig  lassen;  nur  das  erlauben  wir  uns  als  Wunsch  auszu- 
sprechen, dass  Hr.  Rein  auch  das  Verwaltungswesen,  die  Polizei 
besonders  und  die  Finanzverwaltung  genauer  und  umfassender  be- 
rücksichtigen möchte,  wie  z.  B.  bei  incendium  nicht  blos  die  recht- 
lichen Bestimmungen  über  Brandstiftung  aufzuführen  waren,  son- 


386  AUgeineine  JAteraturberid^te. 

dern  auch  die  Vorslcbtsmaassregeln  gegen  Entstehung  von  Feuers« 
brüDsten  und  die  Mittel,  entstandene  zu  dampfen,  worüber  besoa- 
ders  Plin.  Epist  X,  42  interessante  Notizen  enthalt.  —  Die  geogra- 
phischen Artikel  waren  in  den  drei  ersten  Banden  so  getheilt,  dass 
C.  L.  Grotefend  die  aussereurop'äischen  Localitäten  und  Völker  be- 
handelte, Pauiy  die  europäisclien.  Des  Ersleren  Arbeiten  dieser 
Art  sind  namentlich  auch  auf  umfassende  Benutzung  der  späteren 
byzantinischen  Literatur  gebaut,  wozu  bei  Pauly's  Antheil  weniger 
Aufforderung  war,  wiewohl  z.  B.  für  Beneventum  die  wichtigste 
Stelle  Procop.  bell.  Goth.  I,  15  ist;  aber  auch  Grotefend  hätte  zu 
Berytus,  Chersonesus  thracica,  Cos,  aus  Agathias  noch  viele  we- 
sentliche Bereicherungen  schöpfen  können.  Vom  vierten  Bande 
an  ist  Forbiger  an  Grotefends  Stelle  getreten  und  hat  in  den  Arti- 
keln Jerusalem  und  India  ein  relchhalliges  Material  ausgeschüttei; 
-doch  ist  er  dabei  vielleicht  darin,  dass  er  S.  84  ff.  sehr  ausführ- 
lich den  jetzigen  Zustand  von  Jerusalem  beschreibt,  weiter  gegan- 
gen als  die  Gesetze  und  Grenzen  des  vorliegenden  Werkes  erlau- 
ben. S.  63  hat  ihn  das  Streben  möglichst  viel  Stoff  in  einen  mög- 
lichst kleinen  Raum  zusammenzudrängen  zu  einer  Periode  von 
nicht  weniger  als  30  Zeilen  (die  Zelle  zu  50—60  Buchstaben)  ge- 
führt, wogegen  Krause*s  Styl  das  Maass  erlaubter  Weitschweifigkeit 
einigemale  zu  überschreiten  scheint,  wenn  z.  B.  in  dem  auch  sonst 
unerträglich  stylisirten  Artikel  Harpastum  in  12  Zeilen  fünfmal  die 
Wendung  „dieses  Spiel''  wiederkehrt.  Trotz  der  Weitläufigkeit 
aber,  womit  er  den  von  ihm  schon  in  mehreren  Schriften  umfas- 
send genug  dargestellten  Gegenstand,  die  alte  Agonistik,  auch  hier 
wieder  ausführt,  kommt  doch  niemals  die  Rede  auf  die  byzantini- 
sche Zeit,  obwohl  gradein  dieser  bekanntlich  derCircus  der  Mittelpunkt 
des  öffentlichen  Lebens,  die  Quelle  vieler  politischen  Bewegungen 
und  Einrichtungen  war.  Neben  den  Genannten  hat  ausser  dem 
älteren  Grotefend  (Argonautae,  Iguvium,  Italia)  besonders  Baumstark 
eine  Anzahl  geographischer  Artikel  aller  Art  beigesteuert,  z.  B. 
Galii,  Geographia,  Germania,  Gothi,  Heruli,  Hunni,  Hyperborei  und 
viele  andere;  wirmüssten  aber  der  Wahrheit  ungetreu  werden^  wenn 
wir  sie  als  sorgfältig  gearbeitet  bezeichnen  wolllcn.  Dem  Artikel 
Gotht  z.  B.  fehlt  es  gänzlich  an  klarer  Abgrenzung  der  verschie- 
denen gothischen  Stämme  gegen  einander,  besonders  der  wech- 
selnden Verhältnisse  zwischen  Ost-  und  West-Gothen,  an  einer 
vollständigen  und  übersichtlichen  Verfolgung  ihrer  Züge,  so  dass 
sogar  der  Niederlassung  der  Westgolhen  in  Spaniel  mit  keinem 
Worte  gedacht  und  für  die  Geschichte  der  Ostgothen  m  Italien 
weder  Procopius  noch  Agathias  benutzt  ist.  Ebenso  tumultuariscfa 
ist  der  Artikel  ^ruli  gearbeitet;  voa  „Züchtigungen'S  welche  die 
Merul^  durch  Justioian  erlitten  hätten,  ist  Nichts  bekannt,  vielmehr 


Allgemeine  Literatttrherichte.  387 

suchte  er  sie  beim  Anfang  seiner  Regierung  zu  gewinnen  (Procop. 
Golh.  n,  p.  204.  Bonn)  und  wegen  ihres  Abfalls  (nicht  ,,Vertrei- 
bung'*)  von  dem  durch  Justinian  ihnen  gesetzten  Fürsten  Svartuas 
wollte  zwar  Just,  sie  züchtigen,  aber  eben  um  dieses  nicht  zu  erleiden 
zogen  sie  zu  den  Gepiden  (ib.  15  extr.).  Besonders  nachlassig  ist 
aber  der  Art.  Hunni,.  wo  z.  B.  in  der  Aufzählung  der  hunnischen 
Stämme  die  Ephlhaliter  (Procop.  Pers.  I,.  3  ff.  Agalh.  IV,  27.  Me- 
nand,  Prot.  p.  295  f.  354.  Bonn),  Burugunder  und  Ultigurer  (Agath. 
V.  11),  Onogurer  (Ib.  HI,  5),  Viltorer  (ib.  H,  13)  u.  a.  fehlen  und 
die  merkwürdig  falsche  Behauptung  aufgestellt  ist:  „wenn  die 
Schriflsteller  des  Mittelalters  immer  noch  von  Hunnen  sprechen, 
so  hat  man  darunter  nur  ihnen  unbekannte  aus  dem  Nordosten 
kommende  Horden  zu  verstehen",  und  gleich  darauf  (was  zugleich 
einen  Begriff  von  der  Anordnung  und  Stylisirung  dieses  Artikels 
•geben  kann):  „wenn  die  byzantinischen  Schriftsteller  noch  bis  ins 
siebente  Jahrhundert  Hunnen  erwähnen,  so  hat  man  lediglich 
fast  nur  (sie)  an  hunnische  Soldkrieger  der  Römer  und  Perser 
oder  an  hunnische  Begleiter  der  germanischen  Kriegszuge  zu  den- 
ken." Allerdings  fiel  bald  nach  Attila*s  Tode  sein  grosses  Reich 
auseinander  und  die  Hunnen  treten  seitdem  nicht  mehr  als  Gan- 
zes auf,  sondern  nur  als  einzelne  oft  sich  unter  einander  selbst 
bekriegende  Stamme.  Aber  auch  so  waren  sie  noch  mächtig  ge- 
nug, um  lange  (besonders  unter  Justinian)  der  Schrecken  des  grie- 
chisch-römischen Reiches  zu  sein.  Procop.  unterscheidet  (Anecd. 
ly,  p.  108  Bonn)  sie*  ausdrücklich  von  den  Slawen  und  Anten  und 
berichtet,  dass  sie  unter  Justinian  fast  alljährlich  mörderische  und 
räuberische  Eiiirälle  in  IHyrien  und  Thrakien  und  noch  tiefer  herein 
gemacht  haben.  —  Auch  auf  die  Literaturgeschichte  erstreckt  sich 
Hrn.  Baumstarkes  universelle  Thätigkeit.  Unter  seinen  Artikeln  die- 
ser Art  gehört  wohl  Exodium  zu  den  mangelhaftesten.  Ist  dabei,  wie 
bei  seinen  meisten,  schon  das  sichtbare  Bestreben,  den  Artikel 
möglichst  zu  dehnen,  sehr  unangenehm,  indem  dadurch  z.  B.  Wie- 
derholungen in  Menge  veranlasst  werden  (vgl. '  z.  B.  S.  361 :  „bei 
der  grossen  Vorliebe  für  burlesken  Witz  und  Scherz  —  ein  hervor- 
stechender Zug  im  Charakter  des  römischen  und  überhaupt  des 
italischen  Volkes"  —  mit  Bähr's  Art.  Alellanae  Bd.  I,  S.  894:  „die 
natürliche  [angeborene]  Vorliebe  des  Römers  für  das  grotesk-ko- 
mische, für  Wort-  und  Geberden -Spiel,  die  einen  Grundzug  des 
italienischen  Charakters  überhaupt  bildet'*),  so  ist  der  Artikel  noch 
dazu  durch  die  ganz  falsche  Deutung  der  classischen  Stelle  Liv.  Vn, 
2  vollkommen  unbrauchbar.  Hr.  Baumstark  folgt  der  Ansicht,  dass 
die  exodia  mit  den  Atellanen  identisch  seien.  Dies  ist  aber  schon 
wegen  der  Ausdrücke  Atellanicum  exodium  (Sueton  Tiber.  45), 
Atellanarum  exodia  u.dgl.  unmöglich,  da  sonst  dieses  hiessc:  exo* 


388  Allgemeine  Liieraturberichte, 

dium  exodii;  auch  wird  es  durch  die  einzig  mögliche  Erklärung 
der  Worte  des  Livius  widerlegt.  Nach  Livius  war  der  Verlauf  die* 
ser:  uachdem  (durch  Livius  Andronicus)kunstinässige  Dramen  immer 
mehr  in  Aufnahme  gekommen  und  dadurch  die  nationalen  rohen 
Farcen  von  der  Bühne  verdrängt  waren,  hielt  sich  das  so  unbe- 
friedigt bleibende  Volksbewusslsein  dadurch  schadlos,  dass  das 
junge  Volk  die  kunstmässigen  Stücke  den  Schauspiejern  von  Hand- 
werk überliess,  selbst  aber  nun  unter  sich  die  alten  Saturaspasse 
aufführte,  welche  im  Verlauf  der  Zeit  (postea,  Livius)  den  Namen 
exodia  erhielten  und  sich  am  liebsten  (nämlich  lieber  als  an  die 
kunstmässigen  von  Schauspielern  aufgeführten  Dramen,  während 
in  den  Atellanen  die  romana  Juventus  auftrat)  an  die  Atellanen- 
stücke  anschlössen  (die  von  Aischefski  aufgenommene  Lesart  con- 
servata  statt  conserta  ist  wegen  des  subjectiven  polissimum  sprach- 
lich unmöglich),  weil  diese  Art  von  Dramen  (Livius  braucht  den- 
selben Ausdruck  fabellae  von  den  Atellanen  wie  von  den  Stücken 
des  Livius  Andronicus)  dem  Geiste  und  Tone  der  exodia  homoge- 
ner war  und  daher  ihn  eher  hervorrief.  Man  kann  zwar  auch 
annehmen,  dass  conserta  dies  enthalten,  dass  die  exodia allmählig 
in  die  Atellanen  übergegangen,  dass  sie  wegen  ihrer  Gleichartig, 
keit  mannigfach  mit  ihnen  verbunden  und  vielleicht  sogar  ver- 
wechselt worden  seien,  nur  aber  muss  man  dies  als  Schluss  des 
Verlaufes  setzen.  Bahr's  Angaben  über  diese  Verhältnisse  (in  sei- 
ner röm<  Literaturgeschichte)  sind  viel  vorsicluiger  und  richtiger. 
Auch  bei  dem  gegenwärtigen  Werke  ist  Bahr  vorzugsweise  tbätig 
nnd  theill  demselben  die  Urtheile  mit,  welche  ihm  in  literarischer 
Hinsicht  seine  Stellung  gewährt.  .Der  Unterzeichnete  erlaubt  sich 
von  einzelnen  Artikeln  desselben  Gelegenheit  zu  einigen  Bemer- 
kungen und  Einwendungen  zu  nehmen.  Von  Agathias  ist  gesagt, 
dass  er  sich  „als  Advokat  so  sehr  auszeichnete,  dass  er  den  Bei- 
namen Scholasticus  erhielt."  Dass  er  sich  als  Advokat  aus- 
gezeichnet habe,  wird  nirgends  angegeben,  wohl  aber  sagt  Aga- 
thias selbst  von  sich  (m,  1,  p.  138  Bonn),  dass  er  nur  mit  Wider- 
willen und  um  seines  Unterhaltes  willen  diesem  Geschäfte  nach- 
gehe $  der  Beiname  Scholasticus  beweist  weiter  gar  nichts,  als  dass 
er  Advokat  war,  nicht  aber  dass  er  sich  als  solcher  auszeichnete; 
denn  ebenso  gut  bewiese  z.  B.  jeder  Professortitel,  dass  der  In- 
haber ein  ausgezeichneter  Professor  sei|  auch  ist  es  nicht  rich- 
tig, dass  Agathias  eine  Sammlung  von  kleineren  griechischen  Ge- 
dichten „der  fünf  oder  sechs  ersten  Jahrhunderte^'  veranstaltet 
habe,  statt  dessen  es  vielmehr  beissen  sollte:  des  (fünften  oder?) 
sechsten  Jahrhunderts,  da  Agathias  nach  seiner  eigenen  (praef.  p.  6) 
und  Suidas'  Angabe  die  Epigramme  seiner  Zeilgenossen  sam- 
melte.   Endlich  schliesst  sich  Agathias*  Geschichte  nicht  blos  „ge* 


Allgemeine  Literaturberichie.  3S9 

wissermaassen'S  sondern  ganz  aasdrücklich  an  Proeopios  an  und 
siebt  nicht  blos  „in  Manchem",  sondern  in  Allem  der  des  Procop. 
nach.  Bd.  U,  S.  219  ist  es  ein  Missversl'ändniss,  wenn  Beindorfs 
Ansicht  über  Horat.  Sat.  n,  4  so  dargestellt  wird,  als  glaube  er  an* 
ter  Catius  den  Mäcenas  verslanden;  er  meint  vielmehr,  der  in  die* 
ser  Satire  erwähnte  Anonymus  sei  Mäcenas.  Bei  Ennius  ist  Bd; 
m,  S.  143  angegeben,  seine  Vaterstadt  Rudia  sei  in  Campanien,  sie 
ist  aber  vielmehr  in  Calabrien.  Das  Gedicht  desselben  auf  Scipio 
wird  ibid.  S.  144  für  ein  Epos  erklärt^  w^ahrend  es  „von  neueren 
Gelehrten  mit  Unrecht  bald  für  ein  Drama,  bald  gar  für  eine  Sa- 
tura  angesehen  worden  ist.  Denn  die  Saturae,  welche  dem  En- 
nius beigelegt  werden,  waren  wahrscheinlich  anderen  Inhalts  und 
hatten  eine  andere  Zusammensetzung."  Wir  können  die  neuerdings 
»von  Lerscb,  K.  Fr.  Hermann  und  F.  D.  Gerlach  vertbeidigte  An- 
nahme, dass  es  wirklich  eine  Satura  war,  nicht  für  so  absurd  hal- 
ten, keinesfalls  aber  scheint  sie  durch  das  beigebrachte  Denn  wi- 
derlegt; denn  dass  die  Saturae  anderen  Inhalts  waren,  sollte  ge« 
rade  erst  bewiesen  werden,  wird  sich  aber  bei  der  Dürftigkeit  der 
Ueberreste  niemals  beweisen  lassen.  Auch  der  Asotus  oder  vieU 
mehr  Sota  des  Ennius  wird  gewöhnlich  für  eine  Satura  gehalten, 
nicht  aber,  wie  Hr.  Bahr  annimmt,  für  ein  Drama.  Die  Ansicht, 
dass  Julianus  Antecessor  derselbe  sei,  der  in  der  Pfälzer  Hand.- 
Schrift  der  griechischen  Anthologie  als  Scholasticus  bezeichnet  wird, 
dürfte  Bd.  IV,  S.  416  mit  grösserer  Sicherheit  als  blos  mit  „viel- 
leicht" aufgestellt  werden,  da  Scholasticus  bekanntlich  im  späte- 
ren Sprachgebrauch  nichts  wesentlich  Anderes  bedeutet,  als  Ante- 
cessor auch,  nämlich  einen  Rechtsgelehrlen,  jenes  nur  eine  Ueber- 
setzung  von  diesem  ist. 

Wir  schiiessen  diese  Bemerkungen  mit  dem  Wunsche  und  der 
Ueberzeuguug,  dass  das  Unternehmen  auch  fernerhin  seinen  guten  Fort- 
gang haben  und  durch  immer  grössere  Wissenschafllichkeit,  welche 
die  praktische  Brauchbarkeit  zur  unmittelbaren  Folge  hat,  des  Ver- 
trauens und  der  Theilnahme  des  Publikums  immer  würdiger  wer* 
den  möge. 

Tübingen,  im  März  1845.  Dr.  W.  TeuflFel. 

Nachwort.  Anfangs  Mai  1845  starb  der  bisherige  Herausge- 
ber der  Real-£ncyclopädie;  die  Redaction  übernahmen  Prof.  Walz 
und  Dr.  Teuffei.  Sie  haben  sich  verpflichtet,  das  Werk  rascher 
seinem  Schlüsse  zuzuführen.  Und  wirklich  sind  vom  Mai  bis  Oc- 
tober  vier  Doppellieferungen  (57 — 64)  fertig  geworden,  welche  von 
bedeutenderen  Artikeln  folgende  enthalten:  Julü  von  Rrafft,  Junii 
von  Teuffei,  Juno  von  Georgi  und  F.  Wieseler,  Juppiter  von  Prel- 
ler, Jus  von  Rein,  Justinianus  und  Justinus  von  Teuffei,  Juvenlii, 
Laelii  und  Lartil  von  Haakh,  Lais  von  Teuffei,  Lamischer  Krieg  von 


%90  Allgemeine  LUeraturbericMe. 

Krafft,  Laocoon  von.  Preller,  Laodioea  von  Cless,  Lares  vdo  Prel« 
1er 9  Largitio  von  Rein,  Latium  von  Forbiger,  LccUca  und  Leclu» 
von  Teuffei,  Legaius  von  Baumstark  und  Rein,  Legio  von  Grolei- 
fend,  Lex  (eine  Aufzäbiung  aämmUicher  römischen  GeseUe,  S.  951 — 
1007)  von  Rein,  Liber  Pater  von  Preller.  In  der  äusseren  Einrich- 
tung findet  sich  auf  die  Bequemlichkeit  4es  Gebrauchs  etwas  mehr 
Rücksicht  genommen;  auch  ein  Streben  nach  kürzerer  Fassung 
des  Ausdrucks  ist  nicht  zu  verkennen. 

Zar  RecbtferUgang  der  AecbUieit  des  erhaltenen  Briefwechsels  cwN 
sehen  Cicero  und  II.  Brutus.  Von  Of,  K.  Fr.  Hermano.  Erste  a.  zweH« 
AMbelluDg.  Göttiagen,  Dietrich'scbe  Buchhaiidl.  4845.  44  cmd  lOt  S. 
4.  —  Erschöpfende  Beweismittel;  Tonstalt's  Angriffe  allseits  mit 
Nachdruck  zurückgewiesen;  Erfolg:  die  Wahrscheinlichkeit  der 
Aechtheii  bis  zur  Probabilit'at  gesteigert.  Grössere  Kürze,  bei  der-  < 
gleichen  Deductionen,  erschiene  wohl  wünschenswerlh;  doch  kä- 
men wir  in  Verlegenheit,  soUten  wir  Bestimmtes  als  überflüssig  be- 
zeichnen. 

ChrisUaDQS  Walz  de  reügione  Romanoram  anUqaissima.  Parlicula  I. 
Tabingae,  Fiies,  4S45.  S4  s.  4.  —  Gelegenheitschrift;  handelt  von 
den  pelasgischen  und  altitalischen  Gülten,  dem  Phallusdienst,  den 
Menschenopfern ,  den  Diis  roajoribus.  Pellegrino*s  und  Pfund's 
Schriften,  wie  es  scheint,  nicht  benutzt. 

Das  Königreich  Hellas. 

Der  hellenische  Naliooalcongress  zu  Athen  in  den  Jahren  4  843  und 
4844.  Nach  der  Originalausgabe  der  Congressverhandlungen  im  Auszug 
bearbeitet  und  mit  geschichtlichen  Notizen,  Actenstücken  u.  s.  w.  beglei- 
tet von  Alex«  Clarus  Heinze,  Oberstlieulenant  der  Artillerie  k  la  Suite  des 
kgl.  griech.  Heeres  und  Ritter  des  Erlöserordens.  Leipzig,  Gust.  Mayer. 
4  845.     XXYl  u.  408  S.     8. 

Die  Septemberrevolution  in  Alben  überraschte  die  Europäische 
Welt,  minder  die  Diplomatie.  Eine  freie  politische  Verfassung  war 
der  griechischen  Nation  tractatenmässig  verheissen  worden;  der 
Zeitpunkt  der  Erfüllung  ward  aber  immer  mehr  ins  Unbestimmte 
hinausgeschoben  und  schien  endlich  nie  eintreten  zu  sollen.  Dazu 
kam  der  nationale  Groll  gegen  den  Einfluss  des  deutschen  Ele- 
mentes, dessen  äusserste  Beschränkung  die  Politik  gebot,  und  des- 
sen Ausdehnung  die  Regierung  in  dem  Lichte  einer  Fremdherr- 
schaft erscheinen  Hess.  Nicht  weniger  nahm  die  öffentliche  Mei- 
nung an  den  diplomalischen  Einwirkungen  derjenigen  Mächte,  wel* 
eben  das  junge  Könjgthum  sein  Dasein  verdankte,  ein  Aergerniss» 
Vor  allem  aber  war  es  der  Nalionalcharakter  der  Griechen ,  deren 
Freiheilsdrang,  durch  den  langjährigen  Befreiungskrieg  nach  allen 


Ailgemeine  LiteraturbericMe.  391 

S^ten  hin  ang^egt  und  genährt,  hi  ungestümen  Zadcangen  und 
in  dem  Ausdruck  der  Presse  sich  häufig  Luft  machte^  wetcber, 
wiewohl  von  Aitersher  die  Wurzel  eines  wuchernd  emporranken- 
den Partetgetriebes,  doch  allen  Reizen  des  Absolutismus  beharrlich 
abgewandt,  einer  freien  Rethätigung  seiner  selbst  unwiderstehlich 
zustrebte  und  eben  in  diesem  Streben  den  zahlreichen  Parleinüan- 
een  einen  gemeinsamen  Mittelpunkt  lieh^  also  wenigstens  nach  Ei- 
»^  Seite  hin,  der  Regierung  gegenüber,  eine  gemeinsame  Rich- 
tung anwies.  Diese  Goincidenz  der  Parteiinteressen  ist  es  denn 
auch,  welche  nicht  nur  den  siegreichen  Ausgang  der  Revolution 
an  sich^  sondern  auch  den  Umstand  erklärlich  macht,  dass  dieser 
Anfang  ein  so  rascher,  unblutiger  und  friedlicher  war.  Wider« 
stand  war  unmöglich;  denn  es  war  keiner  der  widerstehen  wollte, 
und  ct^n  Hofe  blieb  keine  Wahl.  Nach  der  Revolution  brach  al- 
lerdings der  Parteigeist  hervor,  doch  keineswegs  in  dem  anarchi- 
schen Sinne,  wie  seiner  Zeit  manche  Zeitungsnachrichten  uns  glau- 
ben machen  wollten.  Den  Beweis  liefert  H.'s  Werk  zur  Genüge.  Es 
ist  in  der  That  bewunderungswürdig,  mit  welcher  Ausdauer,  eifri 
ger  Hingebung  und  patriotischer  Eintracht  im  Allgemeinen  das  Na- 
tionalwerk der  Verfassung  durch  die  241  Repräsentanten  vollendet 
ward.  Der  Congress  wahrte  vom  8.  (20.)  November  1843  bis  zum 
18.  (30.)  März  1844;  in  keiner  der  73  Sitzungen  blieben  im  Durch- 
schnitt mehr  als  10  ^^  20  Mitglieder  aus,  und  sämmtHche  Beschlüsse 
gingen  mit  einer  höchst  bedeut^den  Majorität  durch.  Die  Debat- 
ten leitete,  an  der  Stelle  des  105jährigen  Präsidenten  Notare *)« 
meist  Mavrokordatos  als  Vicepräsident  mit  grosser  Sicherheit  und 
Gewandtheit.  Ueberhaupi  kam  es  deutlich  zu  Tage ,  dass  es  den 
heuligen  Griechen  keineswegs,  wie  die  Gegner  der  freien  Entwick- 
lung so  gern  vorgaben,  an  jener  politischen  Bildung  gebricht,  weU 
che  die  Völker  befähigt,  mi  der  Leitung  ihrer  eigenen  Geschicke 
Theil  zu  nehmeu.  Die  Bedingungen  dieser  politischen  Bildung, 
welche  vielleicbt  keinem  einzigen  europäischen  Volke  mehr  abge- 
hen, und  welche  vornehmlich  in  der  Kenntniss  des  Staates,  seiner 
inuern  Aufgaben  und  seiner  Stellung  nach  aussen  bestehen,  wer« 
den  überall  nur  von  d«ncn  in  Abrede  gestellt ,  weiche  die  Allge- 
walt der  Beamtenherrsehaft  um  jeden  Preis,  also  auch  unter  dem 
wohlfeilen  Vorwando  der  sogenannten  Volksunmündigkeit  zu  ret- 
ten bedacht  sind.  Dass  die  Griechen  ihr  eigenes  Land  besser  kann- 
ten als  die  Fremdlinge  welche  es  überschwemmten,  liegt  auf  der 


*)  Durch  ihn  wurden  —  ein  fUr  die  ßescbicbtsforschung  höclHU  wksb- 
tiger  Umstand  —  die  Acten  des  Nationalcongresses  zu  Pronia  (1832)  ge- 
rettet, langer  aJs  4  0  -Jahre  heimlich  bewahrt  und  nunmclir  dem  gegen- 
witrtigoii  Coogress  überantwortet. 


392  Atigemeine  lAteraturberichte. 

Hand;  dass  sie  dessen  geschichtliche  Steliang  besser  begriffen  als 
ihre  diplomatischen  Regierer,  ward  vor  allem  im  Congresse  selber 
klar.  Griechenland  erkennt  seinen  Beruf  in  der  Vermittlung 
der  abendlandischen  mit  der  morgenländischen  Welt,- 
es  will  die  letztere  einer  höheren  Entwicklung,  einer  ed- 
leren Bildung  zugänglich  machen.  Man  kann  nicht  schöner  sich 
darüber  aussprechen,  als  Kolettis  in  seiner  begeisterten  Rede  über 
die  Börgerrechtsfrage,  welche  er  zuerst  wieder  aus  dem  Bereiche 
der  Animosität  und  Engherzigkeit  in  das  richtige  Geleise  zurück- 
tersetzte.  „Seiner  geographischen  Lage  nach,  sagte  er,  ist  Hellas 
als  der  Mittelpunkt  Europas  zu  erachten ;  mit  seiner  Rechten  reicht 
es  bis  zum  Occident,  mit  seiner  Linken  umfasst  und  verbindet  es 
den  Orient.  Es  scheint,  es  lag  in  der  Vorberbestimmung  von  Hei« 
las,  einst  bei  seinem  Untergange  den  Occident,  und  jetzt  bei  sei- 
ner Wiedergeburt  den  Orient  zu  erleuchten.  Wir  sind  es,  die  je- 
nes gepriesene  Hellas  bewohnen;  es  ist  an  uns  dem  Orient  eine 
edlere  Bildung  zu .  gewähren."  Ueberhaupt  begegnen  wir  nicht 
wenigen  Beispielen  politischer  Beredtsamkeit  und  parlamentarischer 
Gewandtheit;  auch  Mavrokordalos,  Metaxas,  Zographos,  Trikoupis 
u.  A.  offenbarten  Talente,  die  jeder  parlamentarischen  Stellung  ge- 
wachsen sind  und  dem  constilutionellen  Werke  einen  guten  Fort- 
gang verbürgen.  In  das  Abgeordnetenwahlgesetz  schien  sich  eine 
ähnliche  Engherzigkeit  einschleichen  zu  wollen  wie  in  die  Bürger- 
rechtsfrage; der  erste  Entwurf  war  auf  die  mittelbare  Wahl  basirt; 
nach  der  herrlichen  Rede  des  Trikoupis  entschied  sich  aber  der 
Congress  fast  mit  Stimmeneinhelligkeit  für  die  unmittelbare  Wahl 
Ebenso  ist  es  ihm  vorzüglich  zu  verdanken,  dass  der  12jährige 
Aufenthalt  in  Griechenland  als  Erforderniss  zur  Abgeordnetenbefä- 
higung, wenn  auch  nicht  auf  5  Jahre  wie  er  selbst  beantragte,  doch 
nach  einem  Amendement  des  A.  Lontos  auf  6  Jahre  und  unter  fer- 
neren erleichternden  Modalitäten  herabgesetzt  wurde«  Er  nahm  im 
Verlaufe  seiner  Argumentation  namentlich  Nordamerika  zum  Mu- 
ster. „Mit  Ausnahme  der  entehrenden  Negersklaverei,  sagte  er,  ei- 
nes Makels,  der  unseligerweise  noch  nicht  aus  allen  seinen  Pro- 
vinzen verbannt  werden  konnte,  steht  jener  grosse  Staat  als  die 
gütige  Mutter  des  gesammten  Menschengeschlechts  da,  weil  sie  Al- 
len ohne  Ausnahme,  jeder  Nation,  jeder  Religion  und  jeder  Zunge 
ihre  mütterlichen  Arme  öffnet.  ...  Ist  e^  zulässig,  dass  der  aus- 
serhalb  unserer  Grenzen  geborne  Grieche,  während  er  in  Amerika 
nur  7  Jahre  von  dem  Augenblicke  seiner  Ansessigmachung  bedarf 
tim  allgemeiner  Gesetzgeber  in  jenem  fremden  Lande  zu  werden, 
in  Griechenland,  seinem  gemeinsamen  Vaterlande,  12  Jahre  zur  Er- 
langung desselben  Vorrechts  bedürfen  soll?...  Wenn  wir  die 
Wablsphären  wie  nötbig  ist  erweitern,  so  schaffen  wir  nicht  nur 


Allgemeine  LiieraturbericlUe^  393 

HAseriii  Yaterlande  den  grössten  Nutzen ,  sondern  ehren  uns  aiicb 
selbst  und  beweiseo  dadurch,  dass,  wenn  auch  unsere  Grenzen 
beschrimkt  sind  [die  aE^emeine  Klage  der  Griechen,  von  der  auch 
der  Redner,  wtewob)  beschwichtigend,  ausging],  doch  keineswegs 
weder  unser  Geist  noch  unser  Herz  einer  gleichen  Beengung  er- 
liegt.*^ Patriottsoius,  redlicher  WiHe  und  eine  bewunderangswcirdige 
Mässigong  leiteten  gleich  sehr  — dies  d^t  nimmer  verkannt  werden  — 
den  Congress  und  den  König,  und  diese  Eintracht  in  devk  bedenklich^ 
sten  Ifomenten  der  Krise,  wo  der  geringste  Grad  Ton  Leidenschaft 
oder  Eigenwillen  Alles  hätte  aufs  Spiel  setzen  müssen,  verbürgen 
aiid>  für  die  Zukunft,  die  in  dem  Geleise  des  von  beiden  Seiten 
berathenen  und  sanctionirten  Staatsgrundgesetaes  einherscfareiten 
wird,  eiuen  ruhigen  Gang  der  Entwicklung.  Muss  die  Arbeit  des 
Bni.  H.  diese  Ueberzeugung  in  jedem  Leser  erwecken,  so  mag 
ihm  dies  die  beste  Anerkennong  und  der  schönste  Lohn  seiner 
Ifübe  sein.  Es  ist  wahr,  wir  haben  keine  geschichtKche  Darstel- 
lung des  Congresses,  sondern  nur  die  protokollarischen  Auszüge 
ül»er  seine  WHrksamkeit  vor  uns;  deeh  wo  so  ungetrübter  treten 
ons  die  Gedanken  und  die  Thi^en  entgegen.  Und  wenn  also  auch 
der  Congress  in  dem  Verf.  nicht  seinen  Geschicblsehreiber  gefun- 
den, so  sind  dessen  Mitglieder  doch  nicht  minder  wie  die  deut- 
sehen Geschichtsforscher  und  P<^tiker  ihm  dafür  Dank  schuldig, 
dass  er  die  Queltenberichte  über  der  Ersteren  Th'atigkeit  den  Letz- 
term  in  einer  Weise  zugänglich  gemacht,  die,  wenn  sie  auch  öfters 
noch  zu  detailreioh  erscheint,  immerhin  ein  lebendiges  Bild  bedeutsamer 
Ereignisse  und  Strebungen  vorführt.  „Dem  geschichtsforscfa enden 
Deutschland  eine  zusammenhangende  Uebersicht  der  Verhandlun- 
gen zu  verschaffen'^  —  das  war  des  Verf.'s  ausdrücklicher  Zweck, 
und  diesen  bat  er  um  so  sicherer  erreicht,  je  entschiedener  er 
steh  jedes  sobjecüven  Urtheits  und  jedes  wilFkürilchen  Einschieb-' 
sels  entbleit.  Das  Staatsgrundgesetz,  welches  die  Frucht  der  Sep- 
temberrevotution  war,  fo^  naturgemäss  im  Allgemeinen  den  con- 
stttutionette»  Principien  dm  Gegenwart,  die  nicht  blos  auf  dieses 
oder  jeses  Volk  anwendbar  sind,  sondern  auf  alle  Völker,  welche 
der  gegenwartig  höchsten  Cnlturstufe  anzugehören  den  Anspruch 
oder  die  Fähigkeit  haben.  Diese  Principien  werden  sich  freilich 
ebenso  naturgemäss  in  ihrer  Anwendung  jederzeit  je  nach  der  Be- 
sonderheit der  geschichtlichen  Vergangenheit  und  des  nationalen 
Charakters  verschiedenartig  gestalten  müssen ;  dass  dies  aber  auch 
in  dem  griechischen  Staatsgrundgesetze  geschehen,  eine  nationale 
Krbung  in  demselben  nicht  zu  verkennen  sei,  springt  deutlich 
und  zuweilen  sogar  vielleicht  zu  grell  in  die  Augen.  ^  Zu  jenen 
attgemein  güHigen  Principjen  rechnen  wir,  neben  dem  Grundsatze 
der  Reprä^^ation^  aus  dem   da»  ganze  Gesetz  hervorging,  die 

Allg.  Zeittcl&rift  f.  Geschiebte.  T.  1846.  26 


894  AÜgemeitte  Literaturberichte. 

DalduDg  und  den  Schulz,  welche  Art.  1.  jedweder  Religion  ver- 
heissl;  die  vollständige  Freiheit  der  Presse  mit  der  Art.  10  nicht 
nur  ein  förmliches  Verbot  der  Censur,  soudern  selbst  deriournal- 
cautionen  verbindet;   die  Unverletzbarkeit  des  Briefgeheimnisses, 
die  der  Art.  14  ausspricht;  die  Ungültigkeit  geheimer  Artikel  eines 
Vertrages,    sobald  sie   die  öffentlichen  paralysiren  (Art.  26);  der 
Grundsatz  dass  die  Abgeordneten  die  Nation  als  Ganzes  und  nicht 
allein  den  Landestheil  oder  Bezirk  vertreten,  von  dem  sie  gewählt 
werden  (Art.  60);  die  Verantwortlichkeit  der  Hinister  (Art.  82  ff.); 
die  Unabsetzbarkeit   der  Richter    ohne  richterliches  Erkenntnis» 
(Art.  87);  die  Oeffentlichkeit  der  Gerichte  (Art.  90);  die  Beibehal- 
tung des  Geschwornensystems  (Art.  92),  auch  bei  politischen  Ver- 
brechen und   Pressvergehen  (Art.  93).     In   einzelnen  Richtungen 
geht  der  constitutionelle  Drang  allerdings  scheinbar  über  die  ge- 
wöhnliche Linie  hinaus.     Der  Art.  33  spricht   dem  König  die  Be- 
fngniss  ab,  Adelstitel  und  Rangauszeichnungen  zu  bewilligen,  noch 
dergleichen  von  fremden  Staaten  an  hellenische  Bürger  verliehene 
anzuerkennen;  doch  ist  diese  Bestimmung  ebenso  sehr  in  der  hel- 
lenischen Nationalität  und  ihrer  Vergangenheit  begründet,  wie  in 
der  Nordamerikanischen  Demokratie.     Der  Art.  64  setzt  fest,  dass 
Abgeordnete,  die  zu  besoldeten  Staatsämtern  ernannt  werden,  eo 
ipso  ihrer  Functionen  als  Abgeordnete  verlustig  gehen,  und  nur 
erst,  wofern  sie  zum  zweiten  Male  gewählt  werden,  in  dieselben 
wiederum  eintreten.    Andrerseits  offenbart  sich  aber  auch  wieder 
eine  Mässigung  und  Vorsicht,  die  da  die  meiste  Ehre  bringt,  wo 
nichts  am  Gegentheile  bindern  kann.    Nirgends  wird  die  Souver'ä* 
nität  dem  Volke  zugesprochen;  vielmehr  erkennt  Art.  25  den  Kö- 
nig unbedingt  als  das  souveräne  Oberhaupt  des  Staates  an.    Nach 
dem  Entwurf  des  Verfassungsausschusses  sollte  die  Institution  des 
Senates  eigentlich  nur  ein  Experiment  auf  10  Jahre  sein,  und  wäh- 
rend der  Kammersitzuogsperiode  im  Jahre  1853  die  gesetzgebende 
Gewalt  das  ganze  den  Senat  betreffende  Capitel  und  alle  übrigen 
darauf  bezüglichen  VerfassungsbesUmmungen  einer  Revision  un> 
terwerfen.     Augenscheinlich  wollte  man  sich  hierdurch  die  Thür 
offen  erhalten,  um  nöthigen  Falls  das  Institut  im  demokratischen 
Sinne  zu  reformiren.    Allein  der  Congress  entsagte  dem  Misstrauen, 
hob  die  provisorischen  Bestimmungen  auf,  entschied  sich  für  die  Er- 
nennung der  Senatoren  durch  den  König  auf  Lebenszeit  (Art.  70) 
und  unterstellte  nur  die  Befähigungen  zur  Senatorwürde  nach  Ab- 
lauf von  15  Jahren  einer  Revision  (Art.  72).  —  Dass  die  englische 
und  französische  Diplomatie  von  Einfluss  auf  die  Gestaltung   der 
Constitution  war,  geht  schon  aus  einer  Vergleichung  derselben  mit 
der  Note  des  Grafen  Aberdeen  vom  29.  Nov.  1843  hervor,  welche 
die  Grundzuge  der  zu  errichtenden  Verfassung  skizzirt  und  unter 


Allgemeine  Literaturberichte,  395 

der  Firma  eines  n^neigonniitzigen  Rathes''  empfiehll;  mit  ihr  stirom- 
len  die  Rathscbläge  Guizot's  vollkommen  übereio.  Der  Congress 
nahm  sie  auch  als  solche,  als  „Rathschl'age  aufrichtiger  Freunde*' 
an,  wie  die  lebhafte  Rede  desPetzaiis  zeigt  (S.  190),  welche  in  der 
Frage  über  das  Zweikammersystem  augenscheinlich  den  Ausschlag 
gab.  Das  grösste  Verdienst  gebührt  aber  unfehlbar  eben  der  Be- 
sonnenheit des  Gongresses  selbst  und  der  entgegenkommenden 
Wilirährigkeit  des  Königs,  welcher  die  bedenklichsten  Fragen  in 
einer  unerhört  kurzen  Zeit,  die  Gegenbemerkungen  über  den  Ver- 
fassungsentwurf in  einigen  Tagen,  und  seine  schliessliche  Entschei- 
dung innerhalb  einer  einzigen  Stunde  erledigte.  Nicht  ohne  Grund 
durfte  Grivas  ausrufen:  „So  haben  denn  die  Griechen  für  sich 
selbst  ein  grosses  Werk  in  kurzem  Zeitraum  vollendet !**  — 

Adolf  Schmidt. 

Frankreich  und  Deutschland. 

Frankreichs  Einfluss  auf,  und  Beziehungen  zu  Deutschland,  seit  der 
Reformation  bis  zur  ersten  französischen  Staatsum'wälzung.  (1647 — 4789.) 
Von  S.  Sugenheim.  Bd.  1.  Stuttgart,  Hallberger'sche  Buchhandlung.  4846. 
Ö69  s.  8.  —  Ohne  einleitendes  Räsonnement  geht  der  Verf.  gleich 
in  medias  res  ein  mit  der  allerdings  haltbaren  Behauptung,  seit 
dem  Weitstreit  Franz  I.  und  Karls  I.  von  Spanien  um  die  deutsche 
Krone  beginne  FrankreicUP  bleibende  und  bedeutsame  Einwirkung 
auf  die  Gestaltung  der  Dinge  im  heiligen  römischen  Reiche;  nur 
hatte  sie  wohl  aus  dem  allgemeinen  Charakter  der  neuern  Jahrhunr 
derte  abgeleitet  werden  dürfen,  der  die  continuirliche  Wechsel- 
wirkung der  europäischen  Staaten  überhaupt  in  steigendem  Alaasse 
zur  Bedingung  und  Folge  hat,  und  in  dessen  Atmosphäre  allein  die 
Bildung  sogenannter  Staatensysleme  und  präponderirender  Gross- 
mächte möglich  war.  Das  Ganze  ist  auf  umfassende  Quellenstu- 
dien gestützt,  denen  freilich  neuerdings  (z.  B.  durch  Bergh)  wie- 
der manche  frische  dem  Verf.,  wie  es  scheint,  noch  nicht  zugäng- 
liche Nahrung  geboten  ward.  Wir  hätten  aber  erwartet,  dass  nun 
wirklich  der  französische  Einfluss  vor  unsern  Augen  bis  ins  Ein- 
zelnste secirt,  auseinander  gelegt,  zum  steten  und  alleinigen  Fa- 
den der  Darstellung  gemacht  werde..  Es  ist  jedoch  mehr  eine 
von  allen  Seiten  gicichmässig  bebandelte  Geschichte  des  continen- 
talen  West-  und  Mitteleuropa,  nur  mit  möglichster  Beschränkung 
des  Gesichtskreises  auf  die  Grenzen,  innerhalb  deren  sich  die  fran- 
zösischen und  die  deutschen  Interessen  bewegen;  die  bedingen- 
den Einflüsse  der  ersteren  auf  die  letzteren  bilden  also  allerdings 
ein  Ingredienz  der  Darstellung,  aber  nicht  eigentlich,  wie  der  Titel 
vermuthen  lasst,  ihren  Ausgangspunkt  oder  ihren  ausschliesslich 
leitenden  Gesichtspunkt*    Eine  concentrirte  und  concise  Geschichte 

26* 


396  Allgemeine  LUeraiurberieMe. 

dieses  Einflusses  an  sieb,  mil  VerkaUpfong  Ihrer  EinzeiaiomeDle 
durch  scharf  und  allgemein  gehauene  üebergange,  wäre  freilich 
ein  schwieriges  und  doch  vielleicht  missiiches,  ein  mit  Entsagua* 
gen  (durch  Nichtbenutzung  mancher  erschöpfenden  Studien)  verbui^ 
denes  und  doch  vielleicht  nicht  dankbares  Unternehmen  gewesen; 
und  so  dürfen  wir  die  Arbeit  auch  in  der  vorliegenden  umfassen- 
deren Gestalt,  wenngleich  diese  die  Durchsicht  auf  den  eigeutlichea 
Kern  verhüllt  und  erschwert,  wohl  unbedingt  anerkennen.  Der 
1.  Band  reicht  bis  auf  den  Tod  Heinrichs  IV.,  in  8  Kapiteln :  i)  bis 
1534  (S.  64).  2)  bis  1547  (S.  il4).  3)  bis  1555  (S.  208).  4)  bis 
1562  (S.  274).  5)  bis  1572  (S.  340).  6)  bis  1595  (S.  435).  7)  bis 
1606  (S.  488).  8)  bis  1610.  So  fällt  denn  der  Inhalt  fast  ganz  der 
Reformationsperiode  anheim,  der  wir  später,  und  mit  ihr  daher 
auch  dem  vorliegenden  Buche,  eine  tiefer  eingehende  Kritik  zuzu- 
wenden gedenken.  Jedenfalls  gehört  es  zu  den  bedeutenderen  und 
anspruchsvolleren  Erscheinungen  der  jüngsten  Zeit  auf  historischem 
Gebiete. 

Preussen. 

F.  A.  Yossberg,  Geschichte  der  Preussisohen  MüDzen  imd  Siegel  von 
frühester  Zeit  bis  zum  Ende  der  Herrschaft  des  Deutschen  Ordens..  Berlin 
bei  G.  Fincke.    4S43.     4.     20  Tafeln.     S.  V46. 

Der  Hr.  Verf.  bat  durch  das  vorlie|fcnde  Werk  auf  die  histo- 
rische Wichtigkeit  der  künstlerischen  Denkmäler,  namentlich  aber 
der  Siegel  und  Münzen  aufmerksam  gemacht;  sein  Buch  bitdet 
daher  gewissermaassen  eine  Ergänzung  zu  Vo igt's  Geschichte 
Preussens  während  der  Ordensherrschaft. 

Hr.  V.  giebt  zuerst  eine  Uebersicht  und  Kritik  der  Literatur 
der  Proussischen  Münzkunde.  Zwar  ist  die  Zahl  der  Werke,  wei- 
che dieselbe  behandelt  haben,  nicht  unbedeutend;  leider  konnte  je«- 
doch  von  ihren  Nachrichten  Hr.  Y.  nur  wenige  gebrauchen,  da 
solche  meistentheils  auf  Unrichtigkeiten  b&ruhten. 

Darauf  betrachtet  der  Hr.  Verf.  kurz  die  politische  Geschichte 
Preussens  während  der  Ordenszeit,  wobei  stets  auf  die  Archäolo- 
gie des  Ordens,  wie  des  Landes,  namentlich  auf  die  fifünzen  und 
Siegel  Rücksicht  genommen  ist.  Besonders  interessant  und  beleh- 
rend ist  §.  5,  welcher  über  die  Kleidung  und  Bewaffnung  der  Rit- 
terbrüder handelt.  Daran  seh liesst  sich  die  Untersuchung  der  al- 
ten Preussischen  Siegel,  des  Ordens  und  seiner  Beamten  (des 
Hochmeisters,  Landmeisters,  Vice -Landmeisters,  Deutschmeisters, 
Grosscomthurs,  Obermarschalls  u.  s.  w.),  der  Bischöfe,  Ordensvoig- 
teien,  Comthureien  und  Städte.  Diese  Siegel,  welche  zum  Tbeil 
mit  grosser  Kunstfertigkeit  gearbeitet  sind,  finden  sich  auf  den  bei«- 


Attgemeine  Literaturberichie,  997 

gegebaoMH  Kopfertafeln  treu  and  sauber  dargestelll*).  Sie  tiad 
zttm  TheH  sehen  ans  dem  dreizehnten  Jahrhundert:  einige  derOr- 
denssiegei  wurden  sogar  bereits  im  Morgenlande  benutzt.  Dabin 
gehört  namentlich  die  Balle  des  Ordenskapitels  auf  Taf.  I.  No.  4. 
Im  Uorgenlande,  wo  die  grössere  Einwirkung  der  Sonne  die  Be- 
Siegelung  von  Urkunden  in  Wachs  nicht  duldete,  drückte  man 
dieses  Siegel  in  Blei  ab.  Im  kalten  Preussen  hingegen  bediente  man 
sich  der  bequemeren  und  gewöhnlichen  Masse,  des  Wachses,  und  fin- 
den wir  von  nun  an  solche  ursprüngliche  zu  Bleiebdrucken  gefer- 
tigte Siegel  mit  dem  Namen  ,,bulla  cerea"  bezeichnet.  Den  Sekret- 
siegeln derjenigen  Hochmeister,  von  welchen  noch  keine  Siegel  vor- 
handen sind,  ist  ein  besonderes  Kapitel  gewidmet.  Auf  diesen  Sie» 
geln,  im  Gegensatz  zu  den  grossen  Siegeln  der  Hochmeister,  auf 
welchen  die  Maria  mit  dem  Kinde  dargestellt  ist,  erscheint  stets 
das  Wappen  des  Ordens:  das  mit  dem  Jerusalemer  Kreuz  bedeckte 
Ordenskreuz,  worauf  in  einem  Schildchen  der  von  Kaiser  Frie 
drich  n.  an  Hermann  von  Saiza  verliehene  Reichsadler.  Unter  den 
mitgetheillen  Siegeln  erscheint  auf  dem  Dietriches  von  Altenborg 
(1335-^1341)  zum  ersten  Male  dieses  Wappen.  —  Die  Siegel  der- 
jenigen Hochmeister,  von  denen  Münzen  vorhanden  sind,  finden 
wir  stets  letzteren  vorangestellt.  Bis  auf  Martin  Trnchsess  von 
Wetzhausen  (f  14S9)  führen  sie  sämmtlich,  nur  durch  geringe  Ne* 
benzierrathen  unterschieden,  das  so  eben  beschriebene  Wappen. 
Auf  dem  secretum  Johann's  von  Tiefen  erblicken  (1489—1497)  wir 
aber  das  Jeriisalemer  Kreuz  stett  in  Krücken,  in  Lilien  auslaufend. 
Man  hat  dies  auf  die  Verleihung  eines  Lilienkreuzes  durch  König 
Ludwig  den  Heiligen  von  Frankreich  an  den  Orden  beziehen  wol* 
len.  Allein  eine  solche  Verleihung  laset  sich  nicht  durch  histori- 
sche Zeugnisse  belegen,  und  ist  sicherlich  das  Lilienkreuz  auf  dem 
erwähnten  Siegel  nur  durch  eine  Unkenntniss  des  Slempelschnei- 
ders  entstanden.  Nur  die  beiden  letzten  Hochmeister  in  Preussen, 
beide  fürstlichen  Geschlechtes,  führten  in  ihren  Siegeln,  und  zwar 
in  den  Winkeln  des  grossen  Kreuzes,  ihre  FamÜienwappen;  auch 
bei  ihnen  erscheint  aus  demselben  Grunde  wie  bei  Johann  von 
Tiefen,  stett  des  Jerusalemer  Kreuzes  ein  Lilienkreuz. 

Nach  einigen  Untersuchungen  über  Gewicht,  Münzfuss,  Münz- 
recht und  die  fremden  in  Preussen  während  des  Mittelalters  cour- 
sirenden  Münzen,  werden  die  Preussischen  Münzen  selbst  be- 
handelt, und  zwar  zuerst  die  irrigen  Meinungen  Früherer,  nament« 


*)  Ein  Irrlhum  ist  bei  der  Darstellung  des  Siegels  der  Sladl  Biscbor- 
stein,  Taf.  XVKI,  No.  70^  vorgefallen.  Dies  Siegel  muss  so  gestellt  wer« 
den,  dass  der  Bischofsstab  aufrecht  stehend,  hingegen  der  Schild  gelehnt 
•rscheint.    In  der  AbbUdiuig  ist  dies  mngekelirt  der  Fafl, 


698  Allgemeine  Literaturberickie. 

lioh  des  faselDden  Mönches  Grünau  widerlegt  Paranf  folgt  die 
Beschreibung  von  105  Braktealen,  von  denen  jedoch  No«  1.  mit 
dem  Gepräge  eines  Bewaffneten,  welcher  den  mit  dem  Ordens- 
kreuz geschmückten  Sohiid  vor  sich  hält,  wahrscheinlich  nicht  in 
Preussen,  sondern  in  einer  Deutschen  Ordenskomtburei,  vielleicht 
in  Werben  geschlagen  ist.  No.  30.  31  und  32  gehören  wegen 
ihres  schlechten  Gehaltes,  so  wie  auch  wegen  ihrer  Vorstellung, 
welche  mit  dem  Stadtwappen  von  Reval  übereinstimmt,  dieser 
Stadt  an ;  ebenso  ist  No.  48  von  schlechtem  Gehalt  und  mit  einem 
gestrahlten  Rande  versehen,  nach«  Liefland  zu  verweisen,  dagegen 
No.  44,  worauf  das,  was  Hr.  V.  für  einen  Kahn  ansieht,  und  auf 
die  Stadt  Memel  beziehen  möchte,  ein  Halbmond  ist,  wahrschein- 
lich nach  Halle  in  Sachsen.  Richtig  hat  Hr.  V.  No.  105  dem  Her- 
zoge Wratislaw  von  Pommerellen  (Danzig)  zugeschrieben.  Diese 
Münze  zeigt  innerhalb  einer  von  Thürmen  flankirten  Yerscbanzung 
einen  Bewaffneten ,  daneben  D  V  —  X ,  auf  der  Yerscbanzung 
VRATIZ.  Einige  Münzfreunde  wollen  diesen  Pfennig  nach  Sohle- 
sien  verweisen,  und  erklären  das  VRATIZ  durch  Yratizlavia,  Bres- 
lau, was  jedoch  durchaus  nicht  zulässig  ist,  da  zum  Titel  Dux  of- 
fenbar ein  Name  gehören  muss,  ferner  auch  auf  den  alten  Mün- 
zen dieser  Gegend  niemals  die  Münzstätten,  wohi  aber  die  Namen 
der  Münzberren,  ihrer  Schutzpatrone  u.  s.  w.  vorkommen. 

Den  Brakteaten  folgen  die  zweiseitigen,  bis  auf  die  Halbscbo- 
ter  und  Vicrcben,  fast  sammtlich  mit  den  Namen  der  Hochmeister 
versehenen  Münzen,  von  denen  Hr.  V.  auf  das  Sorgfältigste  alle 
Hauptverschiedenheiten  in  den  auf  den  Münzen  selbst  vorkommen- 
den eigenthümlichen  Scbriflzeichen  mitgetbeilt  hat.  Ihre  Zahl  ist 
sehr  bedeutend:  sie  belauft  sich,  mit  den  erwähnten  Brakteaten, 
auf  beinah  1300  Exemplare,  welche  sich  grösstentbeils  in  Berliner 
Sammlungen  befinden.  Die  Hauptschwierigkeit  der  Bestimmung 
dieser  Münzen  lag  namentlich  in  den  Zahlenbezeichnungen  ihrer 
Urheber,  welche  auf  anscheinend  widersinnige  Weise  von  den 
Hochmeistern  sich  selbst  zugelegt  wurden.  Hrn.  V.  gebührt  das 
grosse  Verdienst,  diese  Probleme  auf  klare  und  geschickte  Weise 
gelöst  zu  haben.  Er  bat  nachgewiesen,  wie  die  mit  Gonradus  pri- 
mus  bezeichneten  Münzen  keinem  früheren  Conrad,  als  dem  von 
Rothenstein  angehören,  wie  hingegen  die  mit  Henricus  primus  be- 
zeichneten Schillinge  nach  Styl  und  Gehalt  unter  die  Hochmeister 
Heinrich  von  Plauen  (1410—1413)  und  Heinrich  Reuss  von  Plauen, 
welcher,  nachdem  er  längere  Zeit  des  Ordens  Statthalter  gewesen 
war,  nur  wenige  Monate  das  Hochmeisteramt  verwaltete,  und  am 
2ten  Januar  1470  starb,  vertheilt  werden  müssen,  u.  s.  w. 

Die  ältesten  mit  Namen  versehenen  Schillinge  Hess  Meister 
Win  rieh  von  Knigrode,  der  io^  ^^^^^  1352  zur  Regierung  kam, 


Allgemeine  Literaturberichte.  399 

sehlageo ;  mit  Ausüahme  CoDrad*s  IL  von  WaHenrod,  seines  unmit* 
telbaren  Nachfolgers,  hat  man  solche  Münzen  von  allen  späteren 
Hochmeistern.  Sie  führen  auf  der  einen  Seite  das  vollständige  Ordens- 
wappen, auf  der  R.  S.  das  einfache  Ordenskreuz  im  Schilde.  Hoch- 
meister  Albrecht  von  Brandenburg  veränderte  diesen  Typus  der 
R.  S.  dabin ,  dass  er  auf  ihr  sein  Familienwappen  darstellen  Hess. 
Auch  Hess  er  zuerst  Itfünzen  mit  Jahreszahlen  prägen,  welche  von 
151^  bis  1525  vorhanden  sind.  Bis  auf  Hochmeister  Johann  von 
Tiefen  wurden  nur  Schillinge  geschlagen.  Dieser  begann  die 
Prägung  von  Groschen,  welche  drei  Schillinge  galten,  und  wur- 
den letztere  von  den  Hochmeislern  fortan  nicht  mehr  ausgemünzt. 
Dagegen  Hess  Albrecht  wahrend  der  Kriege  mit  den  Polen  Notb- 
münzen  zu  sechszehn  Groschen,  acht  Groschen,  endlich 
auch  Dukaten,  Doppeldukaten  und  Thaler  schlagen,  welche 
sämmtlich  zu  den  grössten  Seltenheiten  gehören.  Ein  älterer,  eben- 
falls äusserst  seltener  Dukaten  exislirt  von  Heinrich  von  Plauen.  Von 
Hochmeister  Albrecht  kennt  man  auch  einige  schöne  Denkmün  z'en. 

Bei  JQdem  Hochmeister  finden  wir  seine  Münzgeschichte  nach 
alten  Urkunden  abgehandelt,  unter  welchen  das  Tresslerbuch, 
worin  sich  merkwürdige  münzhistorische  Notizen  aus  den  Zeilen 
der  Hochmeister  Conrad  HI.,  Ulrich  und  Heinrich  von  Plauen  vor- 
finden, eine  besondere  Erwähnung  verdient.  Einige  der  interes« 
santesten  Stellen  desselben  tbeilt  Hr.  V.  wörtlich  mit. 

Von  grossem  Interesse  für  den  Historiker  sind  die  mit  Fleiss 
zusammengestellten  Angaben  über  die  Kosten  der  Lebens-  und 
verschiedenen  anderen  Bedürfnisse  in  Preussen  zur  Ordenszeit 
(M-  55  und  113),  so  wie  namentlich  die  tabellarische  Uebersicht 
von  den  zur  Ordenszeit  in  Prq^ssen  geprägten  Münzen  mit  An- 
gabe ihres  Gewichtes,  Gehaltes  und  Werthes. 

Möge  uns  Hr.  V.,  welcher  auch  durch  andere  Schriften  (Mün- 
zen und  Siegel  der  Städte  Danzig,  Elbing  und  Thorn,  so  wie  der 
Herzöge  von  Pommerellen,  Münzgeschichte  Preussens  unter  König 
Sigismund  von  Polen,  in  Köhne's  Zeitschrift  für  Münz-,  Siegel-  und 
Wappenkunde,  Band  I,  Münzgeschicbte  Danzigs  während  seiner 
Belagerung  durch  König  Stephan  von  Polen  im  Jahre  1577,  eben- 
daselbst Bd.  n,  und  Münzgeschicbte  Elbings,  ebendaselbst  Bd.  IV) 
seine  gründlichen  Kenntnisse  in  der  Preussischen  Münzgeschichte 
bewährt  hat,  mit  einem  numismatischen  Werke  über  die  spatere 
Zeit,  namentlich  die  Geschichte  der  Herzöge  Albrecht  und  Albrecht 
Friedrich,  bald  beschenken.  B.  Köhne. 

Niederlande. 

Gedenkstukkim  tot  opheldering  der  Nedorlandsclre  Geschledenis,  opge- 
zameld  uit  do  archiven  te  Ryssel,  en  opgezag  vao  hei  goavernemeal  nit- 


1 


400  Allgemeine  Liierüturberickie. 

0tg«T«n  «Aor  Um.  L.  Pk  C.  tm  Ab»  B«vK  U»  DteL  LeMea^  J.  Lucii«* 
manB,  itilk  vifL  368  s.  8.  _  Ueber  den  ersten  Tbeil  s.  ZIsckr. 
Bd.  IV.  S.  567  ff.  Dar  vorliegende  eDtbält  von  der  Correspondanoe 
de  Marguerita  d' Antriebe,  gouvernanle  des  Pays-bas,  avee  ses  amis, 
sor  lea  affaires  ^ies  Pays-bas  de  1506  -~  1528  den  ersten  Abschoitt 
bis  1511.  Die  Correspondenr,  aus  den  Arcbiven  vchi  Lille  ent»OD»- 
meo,  und  von  der  nur  ein  geringer  Theil  scbon  bekannt  war,  om- 
fasst  in  diesem  erst«i  Abschnitt  161  Nummern,  vom  Herausgeber  woM 
commenlirt;  neben  Margaretbe  selbst  treten  hier  die  bedentend- 
sten  in  die  Zeitereignisse  verflocblenen  und  io  sie  eingreüeoden 
Persönlichkeiten  theils  als  Brief&leHer  tbeils  als  Bertcbterstatter  uns 
entgegen.-  Die  Gescbicfate  gewinnt  dadurch  bedeutend  an  Liebl; 
um  so  erfreuUeber  ist  die  Aussicht,  in  der  aweiten  AbtbeHung, 
welche  noch  in  diesem  Jahre  erscheinen  soll,  einen  historischefi 
Ueberblick  über  die  Zeiten  der  Regentschall  nach  den  DaleA  die- 
ser Correspondenz  vom  Berausgeber  selbst  zu  erhallen. 

Algier. 

Der  Kampf  <tor  Franzosen  in  llgerien,  Biae  hJs«.  SkkBae>  mch  den  bi- 
tten vorbaüdeaen  QueNea  entworfen  von  O.  L.  B«  Wolff.  Leipz.  Tent^ner  f  848. 
S43  s.  8.  —  iei  den  jetzigen  Ereignissen  in  der  Golenie  den  deut- 
schen Zeitungslesern  wohl  zu  empfehlen;  hier  können  sie  sieh  ei- 
nigermaassen  orientiren,  und  das  thitt  noth.  Haben  doch  selbst  üe 
Franzosen  gezeigt,  dass  sie  Land  und  Volk  noch  immer  niehl  ken- 
nen» sonst  würden  sie  nicht  den  unbezwingliehen  Proteus,  mil  den» 
sie  ringen,  so  eft  bezwungen  geglaubt  haben  und  seine  Kraft  noch 
foriwührend  naiver  Weise  nach  der  Kopfzahl  seiner  jeweiligen  Be- 
gleiter messe».  Abdul  Kader  ist  mehr  als  Individuum,  ist  Ausdruck 
einer  Totalität,  Symptom  einer  CuKurstufe,  Kopf  und  Berz  einer 
Völkerhydra.  Abdul  Kader  lebt  fort,  auch  wenn  er  getödtet  wird, 
so  lange  nicht  der  Inhalt  dieser  Totalität  gezähmt,  die  rohe  Natur- 
kraft  dieser  Gulturstufe  abgeschliffen,  der  Leib  der  Hydra  seiner 
ergänzenden  Triebräbigkeit  beraubt  ist.  Nicht  der  Krieg  atso  führt 
zum  Ziel,  sondern  allein  die  Civilisirung.  Durch  jenen  kann  hoch- 
stena  nur  der  persMiche  Abdul  Kader  d.  h.  das  momentane  Sym- 
ptom, der  sttfSUige  Ausdruck,  der  Kopf  beseitigt  werden,  dessen 
Wunde  deia  neuen  gebiert.  Damit  ist  freilich  nicht  gesagt ,  dass 
der  Krieg  nicht  notbwendig  wäre;  nvr  ist  er  nicht  das  Wesent- 
Kehste,  seine  Brfolge  allein  bürgen  für  nichts.  —  Gelehrten  An- 
sprüchen genügt  die  Arbeit  nicht,  will  das  auch  nicht;  sie  ist  eine 
Ferienarbeit  des  Verf.  (in  Jena),  im  Allgemeinen  ein  Auszug  — 
freilich  kein  „nackter**  —  aus  einigen  französischen  Werken,  vor 
ziigüch  aus  Galiberi  Darstellung  und  Disposition  ist  klar  gehalten; 
die  Einleitung  behandelt  die  Vorgeschichte  bis  auf  die  Türkenherr* 


Allgemeine  Literalurberichie.  401 

Schaft  (wobei  unsere  gelehrten  deutschen  Hülfsmittel  nicht  benutzt 
sind);  die  Zeit  des  Kampfes  der  Franzosen  ist,  besonders  mit  Rück- 
sicht auf  die  verschiedenen  Gouvernements,  in  8  Abschnitten  bis 
zum  Jahre  1844  fortgeführt.  Die  politische  Bedeutung  der  Occu- 
pation  ist  wohl  richtig  aufgefasst,  doch  geht  sie  in  eine  höhere  cul- 
turhistorische  auf  und  unter;  und  überdies  müssen  wir  eine  Poli- 
tik nicht  „schlau"  nennen,  deren  Widerspiel  Thorheit  wäre. 

Chronologie. 

Die  Chronologie  in  ihren)  ganzen  Umfange  mit  vorzüglicher  RUcksich 
auf  ihre  Anwendung  in  der  Astronomie,  Weltgeschichte  und  Urkundenlehre 
von  Wilhelm  Matzka.     Wien.     4844. 

Wir  haben  in  dieser  Ztschr.  (I.  467.)  bereits  Gelegenfieit  gehabt, 
über  ein  Buch  zu.  referiren ,  das  mit  der  Zusage  dem  unmittel- 
baren praktischen  Bedürfniss  der  Historiker  in  chronologischer 
Beziehung  vollständigst  Genüge  zu  leisten,  auftrat  und  sich  uns 
als  unzureichend  erwiesen  hat;  das  vorliegende  Werk  macht  die- 
sen Anspruch  nicht,  hätte  aber  auch  nichts  weniger  als  Ursache 
ihn  zu  erheben.  Des  Verfassers  Streben  ist  vornehmlich  darauf 
gerichtet,  vermittelst  der  höhern  Arithmetik  die  Verhältnisse  chro- 
nologischer Daten  in  Formeln  zu  fixiren  und  somit  die  Reduction 
derselben,  wie  er  behauptet,  zu  vereinfachen.  Durch  einen  Blick 
in  das  Buch  wird  man  leicht  gewahr,  in  welchem  Verstände  diese 
Vereinfachung  zu  nehmen  sei.  Die  durchweg  rein  mathematische 
Haltung  desselben  setzt  Leser  voraus,  die  nicht  allein  die  Summe 
alg^ebraischer  Kenntnisse  sich  angeeignet  liaben,  sondern  auch  die 
Mühe  nicht  scheuen,  durch  den  Dornenpfad  seiner  vornhingestell- 
ten Vorbegriffe  sich  durchzuwinden,  welche  die  Theorie  der 
Zahlen  enthalten  und  nach  des  Verfassern  Ausspruch  füglich  als 
Anhang  der  ausführlicheren  Lehrbücher  der  Algebra  dienen  könn- 
ten. Leider  sind  wir  nicht  im  Stande,  das  „intellectuelle  Vergnü- 
gen^* in  der  Aufstellung  und  Auflösung  von  Gleichungen  und  Un- 
gleichungen  auf  dem  Gebiete  der  unbestimmten  Analytik,  das  der 
Verf.  beachtet  und  anerkannt  wissen  will,  mitzuempfinden;  wäh- 
rend wir  andererseits  über  den  Nutzen,  den  die  im  Buche  unter- 
nommene Anwendung  der  höhern  Arithmetik  für  Chronologen  von 
Fach  haben  mag,  uns  hier  vom  Standpunkt  des  Historikers  mit  ei- 
nem Urtheii  bescheiden  müssen. 

Näher  berührt  uns  Herrn  Matzka's  Vorschlag  zu  einer  xat* 
icoxn'^  historischen  Zeitrechnung,  über  deren  sofortige  Ein- 
führung in  den  bürgerlichen  Verkehr  er  zwar  selber  einigen  Zwei- 
fel nicht  unterdrücken  kann,  von  der  er  jedoch  die  Hoffnung  hegt, 
sie  werde  sich  zunächst  in  der  astronomischen  und  historischen 
Wissenschaft  Geltung  verscbaffeo.     Mit  der  Voraussetzung,  dass 

Allg.  Zeltschrm  f.  Geschieht«  V.  1846.  27 


402  MiiceUe, 

dem  Gesehichtsforsclier  (und  Aslronomen)  eine  wobl  geregelte,  dem 
Lauf  der  Gesiime  so  nah  als  möglich  entsprechende  Zeitrechnung 
höchst  wünschenswerth  sei,  beginnend  entwickelt  er  seine  um- 
wälzenden Entwürfe,  von  denen  der  Tag  (den  er  auch  gern  in  20 
Stunden,  diese  wiederum  in  100  Minuten  getheilt  haben  möchte) 
nur  deshalb  unbelrolTen  bleibt,  weil  die  sonst  nothwendige  Besei- 
tigung der  vorhandenen  unzähligen  und  kostspieligen  Uhren  ihm 
doch  etwas  hypothetisch  erscheint.  Auch  die  siebentägige  Woche 
lässt  er  wegen  ihrer  Bedeutungslosigkeit  für  Geschichte  und  Astro- 
nomie bestehen;  das  Jahr  hingegen  soll  nunmehr  mit  dem  Früh- 
lingsäquinoctium  seinen  Anfang  nehmen  und  zwar  zwölf  Monate  be- 
halten, aber  die  bisherigen  Namen  der  letztern  sollen  fallen  und 
dafür  eine  einfache  Zählung:  Erstner,  Zweitner  etc.  oder  auch  Erst- 
roand,  Zweitmand  etc.  eintreten.  Wir  lassen  die  weiteren  Neue- 
rungen unerwähnt,  die  in  Bezug  auf  die  Dauer  der  einzelnen  Mo- 
nate, wie  auf  die  Schalttage,  dem  Verfasser  belieben,  heben  nur 
noch  hervor,  dass  er  den  Beginn  seiner  „historischen  Aera*'  an 
die  von  Chinesen,  Indiern  und  Ghaldaem  beobachtete  totale  Mond - 
finsterniss  am  19.  März  721  vor  Chr.  2^  Stunde  vor  Mitternacht 
anknüpft  und  sprechen  schliesslich  die  Ueberzeugung  aus,' dass, 
wenn  Herr  Hatzka  Historiker  gewesen  wäre,  er  sich  selber  seinen 
Vorschlag  unzweifelhaft  nicht  gemacht  hätte.  Philipp  Jaffe. 

Geschichte  des  Osterfestes  seit  der  Kalenderrerormation.     Von  P.  Pi- 
per, a.  o.  Prof.  der  Tbeol.  a.  d.  Univ.  zu  Berlin.      Berlin,  Lüderitz,  4845. 

83  s.  8.  —  Sehr  geschickt  und  umsichtig;  dient  zur  Beleuchtung 
der  wider  das  Osterdatum  des  genannten  Jahres  erhobenen  Zwei- 
fel; erklärt  beiläußg  die  von  Matzka  ,,ausgedachte  sogenannte  hi- 
storische Zeitrechnung"  ebenfalls  für  „unpraktisch/' 


Miseelleii. 


La   clef  des   chiffres 

dans  kl  Correspondance  in^dite  de  Henri  IV.  avec  Maurice  le  Savant, 

par  Mr.  de  Bommel.*) 

a     bcde    fgh     i     Imnopqrs    tuxy 
31  26  27  28  32  29  30  33  12  14        15  16  17  18  19  20  21  22  23  24 

25 
34  35  36  37  38  39  40  41  42  43  44  45  46  47   49  50  51  52   54 

^7  58  59  60  61  62  63  64  65  66  67  68  69     72  «5  74  75  76  77 

80        81        82    85    83     84  ^^    86 

*)   Wir  rerdanlcen  diese  MittheiiuDg  Herrn  von  llommcl  selbst.     Den  Scbliissel 
xnr  Bnteifferang  der  Correspondenz  bat  Herr  ran  der  Kcmp,   Verfasser  einer  Bio- 


Miscelle.  403 

7     8  10  15 17  18  19      24     25    30   34  38    39      40     41  42  44  45 
non  je         in   1^  le  le?  lettre  leur  ma  nie  mo  mon  moins   na  ne  no  ny 

46     47    48    51  52  53  54  55  56  59     60  61 65  66     67     68      69 
oolre  non  nous  oui  on  oü  pa  paix     pays  pour    pro  pre  quan'd  que  quelque 

70     71     72   73  74  77  82     83       85  86    89        96      99 
qui  qu'il  quoy  ra  re  roy      rompre?  sa  se  Saxe  »ubjects  ta 


•  • 


30       10       31  33  34  36  40     42  45  46  48  49    52  10    54        58 
cour  imperiale  con  ca  car     dans  don  da  di  do  de  di^te  de  doc  Espagnols 

TEmpire 

59      61    62  62  10     64     69     68    70    71 73  76  81     84     85      91 
eslat  eulx  en  Empire  point  faire  eile  faict  Als       fort       forces  fa  g^oöral 

92  96  99 

troupes  Hollande  guerre 


12      19    26         28       31         33  35  37  40 

Bouillon        Gomte  Gonsell  Pape  Empereur  Roi  d'Es-  Roi  d'Angle-  rArchiduc 

pagne  terre 

43  45  515253  55596263 

l'Electear  Brandenbourg  Brunswick        provinces  l'administrateur  Prince 
Palatin  unies       de  Strasbourg 

64  6568  7Ö  7172737478 

Marquis  Protestant  affaire  Allemagne  alliance   allids  Ambas-  Angle-  argent 

sadeur     terre 

79       83    84    86    88       95        98 
arm6e  avoir  au  afln  aux  päys-bas 


te   grand  Hongrie   tra  tue  troubles  tion  tant  tous  tout  ve  va  Tille  votre 
4^  ces  doux  figures  signiflent  qu'il  faut  doubler  la  lettre  präcedente. 

^  3»  ^^^  ^^^^  figures  montrent  que  le  nombre  qui  pr6cede  ne  signifle  rian. 


Probe  der  Entzifferung:    Corresp.  ined.  etc.  p.  170  —  175. 

Le  Roi  au.Landgrave  (4  604).  et  de  Taudientier  Werilken  (liser 
Vereyken)  et  faut  croire,  puisque  ils  se  sont  rdsolus  de  boir  la  honte 
d'aller  ainsy  demander  la  paix  ä  leurs  ennemis  en  leur  pays,  que  la  ne- 
cessit^  qui  les  presse  est  trös  grande  et  qu'ils  accorderont  telles  con- 
ditions  que  le  Boy  d'Angleterre  voudra  tirer  d'eulx:  de  quoy  j'estime  quo 
le  dit  Roy,  mon  bon  fr^re,  ne  perdra  l'occasion  ä  mon  avis  de  profiter 
pour  lui  et  ses  amis«   Nous  arons  et  entretenons  toujours  ensemble  trös- 


grapfaie  des  Prinzen  Morlz  von  Oranien,  entdeckt  und  ihn  nebst  der  nacirolgenden 
Probe  some  einigen  anderen  entzifferten  Stellen  dareb  U^rrn  Orocn  v.  Prinsterer 
dem  Einsender  znsteilen  lassen.  Red. 


404  Mücelle. 

bonne  et  fraternelle  intelligence ,  m'ayant  de  nouveau  asseurö  qu'il  aura 
efgart  en  faiaaot  la  dite  paix  de  ne  pröjuditier  ä  notro  antienne  et  mo- 
derne alliance>  ny  mesmos  aux  Etats  des  Pays  Bas,  chose  que  je  juge 
aisez  difflcile.    Je  vous  donneray  etc. 

La  Tille  d'Ostende Ce  bonheur  arrivant  aux  Archiducs  avecq 

la  dlte  paix  d'Angleterre  aydera   graudement  ä  r elever  la  reputation  de 
leurs  affaires  priDCipalement  s'lls  en  usent  comme  ils  doivent«    Mais  ce- 
pendant  que  telles  choses  se  demennent,   les  Princes  Interesses 
en  la  grandeor  de  la  Ifaison    d'Autriche   non  seulement  s'endorment, 
mais  ancuns  d'eulx  fönt  tout  le.rebours  de  ce  qu'ils  devroient  faire 'pour 
se  fortifler  et  munir  contre  la  prosperitö  et  grandear  d'icellecy.    Entre  tout 
il  me  semble  que  mon  cousin  FEleclenr  Palatin  s'oublie  et  mesconte  grau- 
dement,   quand  suirant  les  conseils  trop  passion^s  du  Duc  de  fiouillon  il 
me  donne  occasion   de  me  defler   de  son  amlliö.     Ses  pr^decesseurs  ont 
souvent  esprouvö  la  slnceritö  de  celle  de  mes  ancestres  en  leur  necessit6, 
comme  je  recogools  avoir  faict  la  leur  et  particuli6rement  celle  du  dict 
Electeur.     Gela  m'avoit  aussi  rendu  tr6s-alTectionn6  ä  le  recognoitre  et 
m'en  revencher  ainsy  que  je  Vous  dicts,    quand  Vous   passates  par  icy. 
Mais  depuis  il  s'est  laissö  tellement  persuader  du  Duc  de  Bouillon  et  s-'est 
monströ   si   partial  pour  luy  qu'il   n'a  faict  difficultö  de  recommender  sa 
cause  ä  mes  propres  sujets  et  depuis  lui  confier  la  nourrissure  de  son 
Als  aisnö   son  principal  höritier,    saus  m'en  avoir   donnö  avis,    dont  veri- 
tablement  j'ay   estö   aussy  marry  qu'esmerveillö ,    chose   qui  est  advenue 
contre  mon  esperance   et  le  devoir   de   notre   antienne   amitid  et  bonne 
voisinance,    de  quoy  les   communs   ennemis  de  la   cause  publicqüe 
sauront  bien  s'advantager.     fllais  ce  sont  des  fruits  des   conseils   et  in- 
ductions  du  dit  Duc  de  Bouillon,    lesquels   ne  sont   moins  domageables  ä 
ses  propres  amis  qu'ils  seront  d  la  fin  Ä  luy  mesme.    II  a  fait  courrer  le 
bruict  que  j'ay  oubliö   et  pardonnö    ses  crimes,    combien  qu'il  ne  se  seit 
tais  point  en  devoir  de  me  donner  occasion  de  le  Caire.     Ifon  Cousin,  je 
ne  me  plaincts   pas  de  la  conduite  et  des  döportemens  du  dit  Duc  de 
Bouillon,  car  je  s^ay  que  son  instinct  naturel  ne  lui  permet  de  cheminer 
par  autre  voye,    mais  je  suis  marry  de  la  creance  que  le  dit  Duc  .  . 
d'aucuns  autres  Princes  d'Allemagne  ont  donn^  base  SO  46  74  S4  -fl-  35 
S8  78,    lesquels   sont  du  tout  band^s  si  non  en  aparence   au  moins  en 
isffect  contre  mes  voIont6s   et  le  bien  de  mon  pays.     Pour  tout   cela 
je   ne  laisseray  d'aymer   et  favoriser  mes  bons  amis   et  alli^s  et  de  leur 
souhaiter  toute  felicit^,  mais  je  sauray  aussi  tr6s  bien  remarquer  et  faire 
teils  distinction   qu*il  convient  de  ceulx  qui  seront  tels  en  veriiö  davec 
les  autres.     L'on  dit,    que  le  dit  Duc  de  Bouillon  a  raportö  d'Allemagne 
une  marque  en  forme  d'e  rose  qu'il  porte  cousue  sur  le  cost6  gauche  de 
son    pourpoinct,    pour  signe   d'une  ailiance  qu'il   publle   avoir  contract^e 
avec  aucuns  des  dits  Princes  d'Allemagne ,    laquelle  Ton  dict  mais  ä  se 
tendre  jusques  ä  la  defensive  contre  moy  maismes,  advenant  que  je  vou- 
lusse  faire  proc6der  contre  luy  par  la  voye  de  justice   ou  par  celle  des 
armes«     Luy-maime  veut  que  Ton  le  croye  ainsy.     Mais  tout  cela  ne 
me  fera  cbanger  de  conseil  ny  destourner  du  droict  et  öqui table  cbemin, 
que  j'ay  suivy  jusques  ä  präsent  en  son  faict,    me  prometant  que  la  ve^ 
rite  et  la  candeur  de  laquelle  je  proc^de,  estouferont  A  la.fin  la  ii  des 
artiflces  que  l'on  y  oppose.    La  raison  et  la  justice  auront  tousjours  aussy 
plus  de  pouvoir  sur  luy  que  la  considöratlon  de  raraitiö,  ny  de  l'apuy  de 
ceulx  qui  favoriseront  contre  moy  une  cause  injuste. 


Der  Kaiser  Julianus  und  seine  Beurtheiler« 


So  entgegengesetzte  Auffassungen  und  Beurtheilungen  kann 
keine  andere  historische  Persönlichkeit  erfahren  haben  wie 
Kaiser   Julianus,    von   den   Christen   benannt    der  AbtrUn* 
nige,    von   Männern   seiner  Partei   mit   dem  Beinamen   des 
Grossen   verherrlicht,  *)    den  er  auch  mindestens  eben  so 
sehr  verdient  wie  Constantinus  sein  Vorfahre  nach  Geschlecht 
und  Thron.    Am  schroffsten  sind  die  Gegensätze  neuerdings 
hervorgetreten  unter  seinen  französischen  Beurtheilern.  Wäh- 
rend Montaigne   ihn   un   homme  rare   et  un  grand  homme 
nennt  und  Voltaire  erklärt,  Julian  sei  le  second  des  hommes 
pour  ne  pas  dire  le  premier,  und  darin,   dass  man  Julians 
Namen  ohne  das  Beiwort  des  Abtrünnigen  ausspreche,  peut- 
&ive   le   plus  grand  effort    de  Tesprit  humain  erkennt,  *♦) 
meint  dagegen  Jondot:    T^pitfaete  d'Apostat  peignant  Phom- 
me  tout  entier,  forme  en  quelque  sorte,  en  un  seul  mot,  le 
sommaire  de  sa  vie.    Woher  diese  Divergenz  der  Ansichten? 
Sind  die  Handlungen  Julians  einer  so  entgegengesetzten  Auf- 
fassung fähig,  unsere  Quellen  so  dürftig  und  widersprechend? 
Nichts  von  all  dem  ist  in  Wahrheit  der  Fall)  nur  ein  wenig 
historische  Kritik  darf  man  anwenden,  nur  ein  wenig  in  die 
damaligen  Verhältnisse  sich  hineindenken,  so  wird  man  über 
die  Glaubwürdigkeit  der  Quellen  und  Über  Julians  Handlun- 
gen keinen  Augenblick  im  Zweifel  sein.     Nur  Parteileiden* 
Schaft  ist  es    was  diesen  Theil  der  Geschichte  so  sehr  ge- 
trübt,  was  die  Auffassungsweise  Julians  zu  einer  Art  von 


*)  Zosim.  V,  2y  vgl.  Eunap.  Max.  p.  51.  56.  Boissonade. 
**)  In  demselben  Geiste  ist  die  Defense  du  paganisme  par  Tem« 
pereur  Julien  par  M.  le  Marquis  d'Argens,   Chambeilan  dQ  S.  M. 
le  Roi  de  Prusse.  Berlin  1764.  1767.  1769.  2  Bde.  gehalten. 

AWg,  Zeitschrift  f.  Geschichte.  Y.  1846.  28 


406  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler. 

Glaubensbekennlniss  gemacht  hat.  Doch  veriheilt  sich  hiebei 
die  Schuld  sehr  ungleich:  Die  Partei  des  Julian  selbst,  die 
heidnische,  oder,  wie  wir  sie,  dem  damaligen  Sprachgebrauch 
gemässs  *)  nennen  werden,  die  hellenistische  und  Alle  wel- 
che in  der  späteren  Zeit  Sympathie  für  sie  hegten,  hat  — 
den  einzigen  Voltaire  ausgenommen  —  niemals  sich  mit  sol- 
cher Einseitigkeit  und  Leidenschaftlichkeit  ausgesprochen, 
wie  dies  von  der  entgegenstehenden  geschehen  ist.  Die 
hellenistischen  Schriftsteller,  welche  über  Julian  sich  geäus- 
sert haben,  haben  sämmtlich  unter  christlichen  Fürsten  ge- 
schrieben: schon  dieser  Umstand  musste  ihrem  Parteieifer 
Zügel  anlegen,  wenn  es  ihnen  auch  möglich  gewesen  wäre, 
sich  dem  Einfluss  der  sie  umgebenden  geistigen  Atmosphäre 
zu  entziehen.  Wir  finden  daher  gleich  bei  dem  wichtigsten 
Historiographen  des  Julianus,  bei  Ammianus  Marcellinus, 
eine  grosse  Unparteilichkeit.  Er  vertheilt  Licht  und  Schat- 
ten, Lob  und  Tadel  mit  Gerechtigkeit;  ja  wenn  seine  Dar- 
stellung jeden  nicht  allzu  Befangenen  nothwendjg  gewinnen, 
wenn  sie  den  Eindruck  hinterlassen  muss,  dass  Julian  ein 
durchaus  ehrenhafter  und  bedeutender  Mensch  war,  so  ge- 
schieht dies  fast  gegen  den  Willen  des  Schriftstellers,  der 
niemals  mit  solcher  Entschiedenheit  rühmt  und  bewundert, 
wie  er  einige  Maie,  und  zwar  nicht  einmal  immer  mit  un- 
zweifelhaftem Rechte,  rügt  und  anklagt.**)  Dies  entspricht 
genau  seiner  religiösen  Stellung:  auch  hierin  ist  er  ein  Mit- 
telding zwischen  Christ  und  Hellenist,  doch  so,  dass  sich  die 
Wage  etwas  mehr  auf  die  erste  Seite  neigt.  Sein  Aberglau- 
ben, seine  Wundersucht  ist  Nichts  was  der  einen  oder  der 
andern  religiösen  Partei  ausschliesslich  eigenthümlich  wäre, 
sondern  es  ist  ein  gemeinsamer  Zug  der  ganzen  damaligen 
Zeit;  dagegen  sein  Vorsehungsglaube,  wenn  er  auch  viel- 
fach in  hellenistischen  Formen  sich  bewegt,  ***)  hat  doch 

*)  Die  Bezeichnung  „Heiden"  ist  schon  deswegen  nicht  pas- 
send, weil  sie  Hellenisten  und  Polytheisten  zusammenwirft,  welche 
man  damals  wohl  unterschied,  vgl.  Procop,  Anecd.  11. 

')  XXII.  9, 12.  XXV.  4,  20  f.  vgl.  mit  Liban.  I,  511.  Zos.  ffl.  11, 10. 

')  Vgl,  XXIH.  5,  5. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  407 

etwas  so  Resignirendes,  Ergebenes  wie  es  innerhalb  des 
Hellenismus  kaum  möglich  war.  Eutropius  sodann,  gleich- 
falls ein  Zeitgenosse  des  Juiianus  und,  wie  Ammian,  ein  Ge- 
fährte desselben  bei  seinem  parihischen  Feldzug,  wägt  in 
seiner  freilich  sehr  kurzen  Uebersicht  über  die  römische 
Geschichte  mit  derselben  Unparteilichkeit,  Anerkennung  und 
Missbilligung  ab  und  desavouirt,  wie  Ammian,  mit  besonde- 
rem Nachdruck  das  was  Julian  den  Christen  gegenüber  ge- 
than  hat,  aber  ohne  darum  die  Wahrheit  zu  verletzen.  Eu- 
napius  und  Zosimus  sprechen  unverholen  ihre  aufrichtige 
Bewunderung  für  den  edlen  Kaiser  aus,  aber  Animosität  ge- 
gen das  Christenlhum ,  Verdrehung  der  wahren  Facta  zu 
Gunsten  Julians  und  Erdichtung  unwahrer  wird  man  ihnen 
nicht  nachweisen  können.  Dies  kann  man  sogar  dem  ent- 
schiedensten Parteigänger  Julians,  dem  Rhetor  Libanius, 
nicht  vorwerfen.  Zwar  ist  von  den  acht  Schriften  desselben, 
welche  sich  auf  Julian  beziehen,  nur  eine  einzige  unter  ei- 
nem christlichen  Kaiser  verfasst,  diejenige,  worin  er  alles 
Unglück  was  das  römische  Reich  seitdem  betroffen,  davon 
ableitet,  dass  man  den  Mord  des  Julianus  durch  Ghristen- 
hand  zu  rächen  unterlassen  habe;  die  übrigen  alle  sind  ent- 
weder unter  Julians  Regierung  verfasst  und  an  diesen  selbst 
gerichtet,  oder  unmittelbar  nach  dessen  Tode  geschrieben, 
wo  zwar  Julians  Leib  begraben  war,  aber  sein  Geist,  sein 
Gedächtniss  noch  fortwirkte  und  seine  Feinde  scheu  und 
schüchtern  machte  und  seinen  Freunden  Muth  einflösste* 
Nichtsdestoweniger  ist  seine  Parteilichkeit  noch  recht  er- 
träglich. Zwar  darf  man  nie  vergessen ,  dass  ein  Rhetpr 
spricht,  nicht  ein  Historiker,  und  vollends  von  den  an  Julian 
selbst  gerichteten  Reden  wird  Niemand  es  anders  erwarten, 
•als  dass  der  Redner  sich  ganz  auf  des  Angeredeten  Stand- 
punkt stellt,. der  ja  ohnehin  auch  der  seinige  war,  und  dass 
er  Thatsachen  von  zweifelhafter  Beurtheilung  übergeht,  be- 
mäntelt oder  nur  von  Einer  Seite  bespricht;  auch  wird  man 
es  nicht  auffallend  finden,  dass  er  weitverbreiteten  Gerüch- 
ten, welche  auf  die  Christen  ein  nachtheiliges  Licht  werfen, 
Glauben  schenkt  und  darauf  eine  Reihe  vc^  Schlussfolgerun- 

28* 


408  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beuriheiler. 

gen  baut.  Aber  wo  zeigt  sich  in  seinen  Schriften  diese  sy- 
stematische, malitiöse  Herabsetzung,  Verdächtigung  und  Yer- 
läumdung  der  Christen,  wie  sie  die  Chorführer  unter  diesen 
alsbald  gegen  die  Hellenisten  angewendet  haben?  Wo  treibt 
ihn  diß  Liebe  für  seinen  Helden  und  Freund  und  für  ihre 
gemeinsame  Sache  zu  Aeusserungeu  eines  unedlen  Hasses? 
Natürlich,  er  kann  Julians  Feinde,  die  auch  die  seinigen 
sind,  nicht  lieben,  er  hasst  sie  sogar,  aber  die  Schranken 
der  Menschlichkeit  Überschreitet  er  niemals.  Mehr  durch 
seine  Liebe  als  durch  seinen  Hass  zeigt  er  die  Partei  an, 
Air  welche  er  sich  entschieden;  und  seine  Liebe  ist  nicht 
die  tobsüchtige,  um  sich  schlagende,  welche  Jedem  die 
Faust  ins  Gesicht  setzt,  der  nicht  ihren  Gegenstand  für  einen 
Ausbund  aller  Vortrefflichkeit  hält,  sondern  es  ist  die  stille, 
tiefe,  auf  gegenseitiger  Achtung  und  Uebereinstimroung  be- 
ruhende, die  keinen  Wechsel  kennt,  die  sieb  als  unerlösch- 
liches  warmes  Interesse  durch  das  ganze  Leben  hinzieht. 
Dies  beweist  nicht  nur  Libanius'  schon  erwähnte  Rede 
an  Theodosius  in  Betreff  der  Ermordung  Julians,  sondern 
besonders  auch  seine  Gedächtnissrede  auf  den  Letztem, 
Auch  dies  ist  eine  Rede,  aber  das  verräth  sich  fast  nur  in  der 
etwas  peinlichen  Vermeidung  der  Nennung  von  Eigenna- 
men, welche  mit  dieser  Stilgattung  nicht  vereinbar  schien; 
von  dem  Gespreizten,  Uebertriebenen,  Gesuchten,  was  sonst 
die  Reden  aus  dieser  Zeit  charakterisirt,  ist  in  dieser  mög- 
lichst wenig  zu  entdecken.  Und  dann  hält  sich  hier  der 
Redner  sehr  nahe  an  die  Wahrheit,  er  tadelt  zwar  Nichts, 
aber  er  übertreibt  auch  nicht  das  Wahre,  lobt  und  recht«- 
fertigt  nicht,  als  wo  er  es  mit  voller  üeberzeugung  ihun 
kann,  wie  bei  Julians  Verbrennung  seiner  Flotte,*)  und  begnügt 
sich  bei  Maassregeln  wie  die  Hinrichtung  des  ürsulus,  *♦) 
sie  in  das  mildere  Licht  zu  rücken;  über  die  ganze  Darstel- 
lung ist  eine  Wärme  verbreitet,  welche  den  wohlthuendsten 
Eindruck  hervorbringt.  Blicken  wir  nun  aber  auf  die  ent- 
gegengesetzte Seite, betrachten  wir  die  christlichen  Schrift- 


*)  Reden  I,  GlO^Reiske.      **)  Ebend.  1,  573. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  401) 

steller  und  ihre  Darstellung  und  Beurtheilung  Julians,  so 
finden  wir  hier  den  Charakter  der  Parteilichkeit  auf  eine 
schreiende  Weise  ausgeprägt.  Die  altchristlichen  Historiker 
sind  überhaupt  keine  Historiker,  sie  haben  kein  historisches 
Interesse,  sondern  nur  ein  praktisches,  apologetisches.  Naiv 
spricht  dies  z.  B.  Evagrius  aus  indem  er  in  der  Vorrede  zu 
seiner  Kirchengeschichte  an  der  des  Eusebius  als  Hauptvorzug 
dies  rühmt,  dass  sie  so  schön  darauf  angelegt  sei,  Anders- 
denkende für  das  Christenthum  zu  gewinnen.  *)  Aber  nicht 
blos  überhaupt  für  das  Christenthum  suchten  die  Historiker 
durch  ihre  Darstellung  zu  werben,  sondern  jede  christliche 
Partei  noch  insbesondere  für  sich  selbst.  Der  alhanasianisch 
gesinnte  Historiker  suchte  zu  beweisen,  dass  seine  Ansicht 
von  jeher  die  der  Kirche  gewesen  sei,  dass  das  Leben  der 
Führer,  wie  die  Schicksale  der  ganzen  Partei  unwidersprech- 
lieh  die  Wahrheit  ihrer  Lehre  bezeuge  und  die  entgegenge- 
setzte Ansicht  nur  von  schlechten,  Gott  und  den  Menschen 
verhassten  Personen  vertreten  sei;  derArianer  aber  bewies 
ganz  dasselbe  auf  demselben  Wege  von  seiner  Partei.  Die 
siegreichen  Athanasianer  haben  die  Gegenpartei  nicht  zum 
Worte  kommen  lassen;  nur  die  Darstellungen  von  Athana- 
sianern  sind  auf  uns  gekommen,  und  von  der  entgegenge- 
setzten Partei  besitzen  wir  nur  einen  Auszug  des  Werkes 
von  Philostorgius ,  gemacht  durch  den  Athanasianer  Photius, 
der  die  einzelnen  Mittheilungen  regelmässig  mit  den  Worten 
einleitet:  der  gottlose  Philostorgius  sagt.  Natürlich  hat  sich 
Photius'  orthodoxe  Feder  gesträubt,  die  treffendsten,  gegrün- 
detsten und  daher  schmerzhaftesten  Bemerkungen  des  Aria- 
ners  abzuschreiben;  so  ungenügend  aber  sein  Auszug  ist, 
so  enthält  er  doch  noch  immer  des  Interessanten  genug. 
Für  unsern  Zweck  heben  wir  nur  dies  Eine  hervor,  dass 
die  Ermordung  des  arianischen  Bischofs  von  Alexandria, 
Georgius,  welche  die  alhanasianischen  Schriftsteller  halb  und 
halb  dem  Julian  ins  Gewissen  schieben,  Philostorgius  (VH.,  2) 
geradezu  dem  Athanasius  Schuld  giebt,  welcher  den  Bischofs- 


hr> 


*)  Vgl.  Schlosser,  üniversalhist.  üebers.  HI,  3,  S.  130  f. 


410  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurt  heiler, 

sitz  selbst  wieder  einzunehmen  gewünscht  habe.  So  gewiss 
dies  eine  Unwahrheit  ist,  so  kann  uns  doch  dieses  Beispiel 
die  Art  der  damaligen  Geschichtschreibung  veranschaulichen 
und  uns  darauf  vorbereiten,  was  wir  Über  einen  gemeinsa- 
men Feind,  wie  Julian,  von  dieser  Seite  für  Schilderungen 
zu  erwarten  haben,  wenn  die  Christen  unter  einander  auf 
diese  Weise  sich  behandein. 

Aber  die  höchste  Erwartung,  die  man  in  dieser  Bezie- 
hung hegen  kann,  wird  noch  übertroffen  durch  Gregor 
von  Nazianz,  den  Ersten  unter  den  Christen,  welcher  sich 
über  Jujian  hat  vernehmen  lassen.  Zwei  Reden  hat  er  nach 
dessen  Tode  auf  ihn  gehalten,  welche  er  Schandsäulenreden 
betitelt  hat;  Julian  wollte  er  damit  an  den  Pranger  stellen, 
für  ewig  ihn  brandmarken,  und  auf  lange  hinein  ist  es 
ihm  auch  wirklich  gelungen,  lange  hat  die  lärmende  Partei- 
sucht die  Stimme  der  Wahrheit  übertönt  und  mit  gewalt- 
ihätigem  Fusse  die  reine  stille  Quelle  gehemmt;  aber  auf 
ewig  nicht,  ewig  ist  nur  die  Wahrheit  und  überlebt  und 
überwindet  alle  Parteien.  Indem  er  Julian  eine  Schandsäule 
aufbaute  aus  Verläumdungen  und  die  Ritzen  verkittete  mit 
religiösem  oder  vielmehr  hierarchischem  Fanatismus,  hat 
sich  Gregor  sein  eigen  Denkmal  errichtet.  Ein  bewährter 
Forscher,  Schlosser,  sagt  (in  seinem  Archiv  I,  S.  267.*): 
„Dass  Gregor  nach  Julians  Tode  Schimpf-  und  Schandreden 


*)  Damit  vergleiche  man  desselben  ürlheil  in  seiner  universal- 
histor.  üebers.in,  2,  S.  337 f.,  wo  erGregor  so  charaklerisirl;  „Ein 
Mann,  den  man  Kirchenvater  nennt,  weil  er  reich  ist  an  salbungs- 
vollen Redensarten,  an  blindem  Glauben  und  süsslicher  Sophislik." 
Und  3,  S.  142:  „Die  beiden  Reden  gegen  Julian,  welche  G.  nach 
des  Kaisers  Tode  ausarbeitete,  beweisen  die  traurige  Wirkung  des 
religiösen  Fanalismus  besser  als  irgend  ein  anderes  Aktenstück 
jener  Zeit.  G.  erlaubt  sich  nicht  nur  die  gröbsten  und  unschick- 
lichsten Schmähungen,  er  frohlockt  nicht  allein  über  Julians  Tod, 
er  macht  nicht  allein  alle  seine  Tugenden  zu  Laslern,  sondern  er 
geht  hämisch  .seine  ganze  Lebensgeschichte  durch,  um  zur  Er- 
bauung der  Gläubigen  zu  beweisen,  dass  ein  Ungläubiger  noth- 
wendig  auch  ein  Nichtswürdiger  sein  müsse." 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  411 

auf  ihn  hält ,  Über  seinen  Tod  laut  jubelt,  dass  er  ihm  kör- 
perliche Gebrechen  vorwirft,  alle  seine  Fehler  übertreibt  und 
alle  seine  Tugenden  zu  Lastern  macht,   dass  er  ganz  keck 
offenbar  lügt  und  verläumdet,    wird  man  gewiss  von  dem 
Gründer  eines  frommen  Unlerrichtssystems,  das  die  von  Ju- 
lian beschützten  und  empfohlenen  Wissenschaften  verdrängen 
oder  ersetzen  sollte,   nicht  ahnen.     Dennoch   ist    es  leider 
nur  zu  wahr  und  sein  Freund  und  Genosse  Basilius  sucht 
ihn  durch  seine  Predigten  kräftig  zu  unterstützen  oder  we- 
nigstens Gregorys  Schimpfreden  zu  verbreiten  und  anzuprei- 
sen,  empfiehlt  sie  den  christlichen  Studirenden  und  kann 
nicht  Worte  genug  finden,  ihren  ästhetischen  Werth  zu  prei- 
sen.   Er  selbst  hat  auf  ähnliche  Weise  gegen  Julian  geredet 
und  Baronius,  so  wie  die  Benedictiner,  die  Gregorys  Werke 
herausgegeben  haben,   rühmen  es  als  das  grösste  Verdienst 
des  heiligen  Mannes,    dass  durch  diese  nach  Julians  Tode 
(als  dieser  selbst  sich  nicht  mehr  vertheidigen  konnte  und 
Freunde   ihn   nicht  mehr  vertheidigen   durften)   gehaltenen 
Reden  seinem  Andenken  ein  ewiges  Brandmal  aufgedrückt 
sei."     Wer  diese  Reden  aus  eigener  Anschauung  kennt,  der 
weiss,   dass  dieses  Urtheil  keine  Ueberlreibung  ist.     Nicht 
nur  ist  es  stehend,  dass  Julian  ein  Unsinniger  und  Gottloser, 
ein  Meuchler  und  Apostat  genannt  wird,  ♦)  sondern  Gregor 
stellt  auch  alle  Handlungen  desselben,   selbst  solche  welche 
mit  der  Religion  entfernt  nichts  zu  thun  haben,   wie  seinen 
Partherzug  **)   auf  die  giftigste  Weise  dar  und  bürdet  ihm 
auf  die  keckste  Weise  die  grüssten  Verbrechen  auf.    So  soll 
Julian  den  Constantius  haben  vergiften  lassen,  ***)  und  dass 
er  Alles   was  unter  seiner  Regierung  die  lange  gedrückten 
Hellenisten  gegen  die  Christen  verübten,   angestiftet  hat,  f) 
versteht  sich  von  selbst.     Gregor  ist  Sophist  und  des  So- 
phisten Geschäft  ist  ff)  die  Geschichte  nach  Bedürfniss  zu 


*)  Vgl.  z.  B.  94  C.      **)  p.  115  f. 

*•*)  p.  68  B.  Dazu  bemerkl  Schlosser,  ünivers.-üebers.  HI,  2. 
S.  33S:  „solche  Vcrl'aumdung,  ein  so  feines  und  so  sanftes  Ver- 
klagen ist  ärger  als  Mord!'' 

+)  z.  B.  p.  88  A.    +t)  Vgl.  Sokrates  K.  G.  ffl,  23,  p.  161  C. 


412  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtkeiler. 

drehen,  die  Facta  zu  Übertreiben,  oder  auch  zu  verkleinern, 
wie  es  der  Zweck  verlangt;  zugleich  ist  Gregor  herrschsüch- 
tiger Priester,   der   es   dem  Kaiser   nimmermehr  verzeihen 
kann,  dass  er  dem  Klerus  seine  Vorrechte  genommen;   man 
wird  es  daher  erklärlich  finden,   aber  verzeihlich  durchaus 
nicht,  dass  er  die  Geschichte  Julians  auf  eine  solche  Weise 
behandelt  hat,   dass  man  sich  auf  keine  einzige  seiner  An- 
gaben mit  Sicherheit  verlassen  kann.    Aber  wie  soll  man  es 
erklären,  geschweige  denn  entschuldigen,  wenn  dieser  christ- 
liche Bischof,  dieser  kanonisirte  Kirchenvater,  der  seine  Rede 
Gott  als  Dankopfer  darbringen  will,   heiliger  und  reiner  als 
das  Opfer  eines  unvernünftigen  Geschöpfes,  *)  mit  sichtba- 
rem Behagen   die   grässlichen  Grausamkeiten,    welche  vom 
hellenistischen  Pöbel  zu  Arethusa  an  dem  Christen  Marku« 
verübt  worden  seien,  auf  seine  Weise  beschreibt,  und  dann 
hinzusetzt:    dieser   Markus    sei   einer   von   denen   gewesen, 
welche   dem  Julian  in  seiner  Kindheit   das  Leben   gerettet 
(ein  Datum,  das  aber  sehr  unzuverlässig  ist),  —  „wofür  al- 
lein wohl  er  dies  mit  Recht  erlitten  hat  und  noch  Aergeres 
verdient  hätte,  indem  er  unwissentlich  ein  so  grosses  Uebcl 
für -die  ganze  Welt  gerettet  hat."  **)    Man  beurtheile  hienach, 
was  dieser  Mann,  wenn  er  Julians  Macht  und  Richtung  ge- 
habt hätte,  gegen  die  Christen  getlian  haben  würde  ***)  und 
bedenke,   was  dagegen  Julian  gethan  hat,   welcher  so  fest 
wie  Gregor  überzeugt  war,  die  wahre  Religion  zu  besitzen. 
Und  dann  dieser  Heroismus,  womit  der  Bischof  auf  den  tod- 
ten  Löwen  loshaut,    dieser  Mulh,    womit  er  ihn  ins  Gesicht 
einen  Einfältigen   und  Gottlosen  nennt,   der  von  hohen  Din- 
gen Nichts  verstehe,  f)  einen  Verfolger  wie  Herodes,  einen 

*)  p.  50  C. 
**)  Man  muss  die  Stelle  im  Originale  lesen;  vmqovjdxf^  fiövov 
S^xafwg  zavza  anacx^  xul  nXsfw  nqoanu&iiv  äl^tog  ^v  ön  xaxov 
jocovTO  rg  olxov^ivri  ndat]  cw^wv  iXdv&uve,    p.  90  D. 

*•*)  Doch  ist  anzuerkennen,  dass  Gregor  nach  Julians  Tode 
als  die  Christen  wieder  Sieger  waren,  vor  Gewalllhäligkeilen  ge- 
gen die  Hellenisten  warnte. 

f )  p.  76  A.  Gerade  dasselbe  halle  übrigens  vorher  Julian  von 
den  Christen  gesagt.  Ep.  52.  p.  102  Heylcr. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  413 

Verrillher  wie  Judas  (nur  mit  dem  Unterschiede,    dass  er 
sich  nicht  wie  dieser  aus  Reue  erhenkt  habe),   einen  Chri- 
stusmörder wie  Pilatus,  einen  Gottesfeind  wie  die  Juden*,  *) 
diese  edle  Freimüthigkeit ,    womit  er  in  sein  Grab   hinein- 
schreit: ,,was  ist  dir  eingefallen,  du  Allerunersätllichster  und 
Allerleichlfertigster,    dass  du  die  Christen  der  Wissenschaft 
berauben  wolltest?"!   Zwar  zu  Julians  Lebzeiten  hat  er  ge- 
schwiegen,  desto  kühner  aber  wird  er  nachdem  das  Feuer 
dieser  Augen  erloschen  ist  und  ein  christlicher  und  ortho- 
doxer Kaiser  sich  auf  den  Thron  gesetzt  hat.    Jetzt  hebt  er 
sein  Haupt  stolz  empor  und  schleudert  seine  Giftpfeile  nach 
dem  Gefallenen.     Nichts  Gutes  erkennt  er  an  ihm  an;   alles 
was  so  aussah,   war  blosse  Verstellung,   und  mit  einer  un- 
glaublichen Dreistigkeit  lügt  und  leugnet  er  selbst  da,   wo 
die  Wahrheit   aller  Welt  bekannt   w^ar.     So   sind   alle  Ge- 
schichtschreiber Julians  von  Bewunderung  erfüllt  von  Julians 
Keuschheit:  Ammian  sagt,  nach  dem  Tode  seiner  Frau  habe 
nicht    einmal   sein  Kammerdiener  in  dieser  Beziehung   das 
Geringste  zu  munkeln  gewusst,  Libanius  rühmt,  er  sei  kälter 
gewesen  als  Hippolyt,   und  Mamertin,  dass  sein  Bett  reiner 
war  als  das  einer  Vestaün.     Gregor  aber  behauptet,  Julian 
habe  mit  Huren  gezecht !  **)    Und  in  dieser  Weise  ist  seine 
ganze  Darstellung  gehalten.    Je  tiefer  aber  der  Schatten  ist, 
der  auf  Julian  fällt,  in  desto  hellerem  Lichte  strahlt  das  Bild 
seines   Vorgängers,    des   Constantius.      Denn    er    war    ein 
gar  gottesfürchtiger  Herr:    er  hat  Gregor  zum  Bischof  ge- 
macht. ***)    Dafür  wird  aber  auch  von  ihm  gesagt,  dass  er 
alle  Regenten  vor  ihm    an  Einsicht  und  Klugheit  übertrof- 
fen, f)  und  nur  weil  Julian  gefühlt  habe,   dass  er  im  Guten 
seinen  Vorgänger  nicht    überbieten    könnte,    habe    er   sich 
entschlossen,  im  Schlechten,  in  der  Gottlosigkeit  mit  ihm  zu 
wetteifern,  ft)    Zwar  habe  Constantius  die  Orthodoxen  ein 


*)  p.  76,  C.  D. 

**)  p.  121  C.  Eine  Behauptung,  welche  um  so  dreister  ist, 
als  gerade  die  Keuschheit  die  schwächste  Seite  der  christlichen 
Kleriker  war.  Vgl.  Schlosser,  üuiversalhist.  üebers.  HI,  2,  S.  318  f. 
*)  p.  65  C.      f)  p,  65  A,      f t)  p.  65  A, 


•*»^ 


414  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beuriheikr. 

klein  wenig  verfolgt,  aber  es  sei  nur  geschehen,  um  sie  zur 
Eintracht  zu  ermahnen;  *)  nur  einen  einzigen  unklugen  und 
unfrommen  Schritt  habe  Constantius  gethan,   den  nämlich 
dass  er  Julian  seinen  Nachfolger  werden  Hess,  **)  d.  h.  dass 
er  ihn  nicht  auch  umgebracht  hat      Ueberhaupt  wurde  es 
bei   den  Kirchenschriftstellern   Sitte,    Constantius  auf  alle 
Weise  zu  rühmen,    was  er  einzig  und  allein  dem  Umstände 
zu  danken  hat,  dass  Julian  sein  Nachfolger  war;  denn  wäre 
der  Athanasianer  Jovian  unmittelbar  auf  ihn  gefolgt,  so  hätte 
es  gar  nicht  gefehlt,  dass  Constantius  der  Arianer,   welcher 
Athanasius  und  andere  Bischöfe  seines  Glaubens  verbannt 
hat,  mehr  als  ein  Jahrtausend  lang  als  ein  grausamer  Tyrann, 
ein  ungläubiger  Verfolger  des   göttlichen   Wortes,   als  ein 
Christusfeind  u.  s.  f.  von  den  orthodoxen  Schriftstellern  ver? 
schrieen  worden  wäre}  auch  über  seine  sonstigen  Grausam^ 
keiten,  z.  B.  die  Ermordung  aller  seiner  Verwandten^  hätte 
man  dann  nicht  so  die  Augen  zugedrückt,   wie  es  jetzt'  ge- 
schehen ist.    Theodoret  z.  B.  fällt  ***)  über  ihn  das  milde 
Urtheil:   wenn  er  auch  verblendet  von  seinen  Lenkern,  den 
Ausdruck  Homousios  f )  nicht  angenommen  habe,  so  habe  er 
doch  dem  Sinne  nach  denselben  aufrichtig  bekannt!  Der- 
selbe Kirchengeschichtschreiber  schliesst   sein  drittes  Buch 
mit  den  Worten:  „ich  will  mit  dem  Jubel  über  den  Tod  des 
Tyrannen  (Julian)  mein  Buch  beschliessen;    denn  ich  halte 
es  nicht  für  erlaubt,   die  gotlesfürcbtige  Regierung  (des  Jo- 
vian)  an   die  gottlose  Despotie  (des  Julian)   anzuknüpfen/^ 
Es  genüge  dies  zu  seiner  Charakteristik,    um  so  mehr  als 
seine  Arbeit,   wenigstens  in  dieser  Partie  wenig  Eigenthüm- 
liebes  hat.    Wie  jener  benutzt  auch  Sozomenus  sehr  stark 
seine  Vorgänger  Gregor  und  den  sogleich  zu  erwähnenden 
Sokrates;    indessen   theilt  er  auch  manche  wichtige  Docu- 
mente  mit,  namentlich  Briefe  Julians,   von  denen  wir  ohne 
ihn  Nichts  wüssten.      Was  er  bei  seinen  Glaubensgenossen 


•)  p.  64  C.      **)  p.  63.      ***)  K.  G.  m,  3,  p.  126  D. 

f)  Von  Christus  gebraucht:  gleichen  Wesens  mit  Gott,  das 
Schiboleth  der  Athanasianer,  dagegen  das  der  Arianer:  er  sei  ho- 
moiousios,  d,  h.  ähnlichen  Wesens. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beuriheiler,  415 

und  Vorgäogern  findet,  ist  für  ihn  Geschichte,  und  so  wird  was 
Gregor  als  Declamator  erfunden  und  übertrieben,  durch  den 
Mund  der  Historiker  'als  Wahrheit  auf  die  Nachwelt  gebracht. 
Was  die  geistige  Befähigung  des  Schriftstellers  betrifft,  so 
ist  er,  wie  seine  ganze  Zeit  im  höchsten  Grade  abergläu-* 
bisch;  Wunder  und  Prodigien  werden  in  Menge  und  in  der 
abenteuerlichsten  Gestalt  erzählt  und  mit  Sorgfalt  ausgedeu- 
tet. So  berichtet  er  z.  B.  *)  nach  Gregors  Vorgang,  Julian 
habe  einst  in  den  Eingeweiden  eines  Opferthiers  ein  Kreuz 
erblickt  *,  ein  andermal,  **)  das  vom  Blutfluss  geheilte  Weib 
habe  aus  Dankbarkeit  Christo  eine  Statue  gesetzt  (von  der 
man  übrigens,  wie  Philostorgius  Yll,  3.  naiv  erzählt,  nicht 
einmal  mehr  gewiss  wusste,  ob  sie  Christus  vorstelle),  an 
deren  Fuss  ein  Kraut  gewachsen  sei,  das  alle  Krankheiten 
geheilt  habe;  wie  Julian  an  die  Stelle  dieses  Bildes  sein  ei- 
genes habe  setzen  lassen,  sei  dieses  alsbald  vom  Blitze  ge- 
troffen worden.  Auch  weiss  er  von  einem  Baume,  der  sich 
vor  Christus  auf  seiner  Flucht  nach  Aegypten  geneigt  habe 
und  dafün.  mit  der  Kraft  beschenkt  worden  sei,  dass  jeder 
Zweig,  jedes  Blatt  oder  Stück  Rinde  von  demselben,  einem 
Kranken  aufgelegt,  ihn  gesund  mache.  Besonders  viele  Wunder 
aber  veranlasste,  nach  den  Kirchengesohichtschre  ibern  Julians 
Versuch,  den  Tempel  zu  Jerusalem  wieder  aufzubauen.  Die 
Ej^e  bebte  damals,  am  Himmel  stand  ein  leuchtendes  Kreuz 
gezeichnet  und  dieselbe  Figur  glänzte  auf  einmal  wunder« 
barer  Weise  auf  den  Kleidern  aller  Anwesenden,  und  anderes 
Derartige,  was  bei  Gregor  p.  112  f.  Sozom.  V,  22,  Theodoret 
p.  143  A.  und  Philostorgius  VII,  9  zu  finden  ist.  Uebrigens 
wirft  auf  das  Misslingen  jenes  Wiederaufbaues  einiges  zwei« 
deutige  Licht  der  von  Gregor  verschwiegene,  von  dem  red- 
lichen Sokrates  ***)  aber  bemerkte  Umstand,  dass  das  Fehl- 
schlagen des  Versuchs  von  dem  damaligen  Bischof  von  Je- 
rusalem, Cyrill,  vorausgesagt  worden  war.  Diesen  allge- 
meinen Wunderglauben  also  theilt  Sozomenus  in  extremer 
Weise  und  ein  grosser  Theil  seiner  Geschichte  besteht  aus 


*)  K.  G.  V,  2,  p.  482  A.  vgl.  1,  p.  480  D, 
*•)  V,  21.      **•)  m,  20. 


416  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler. 

solchen  Mährchen.  Wie  es  aber  mit  seinen  sittlichen  Begrif- 
fen sich  verhalte,  davon  mag  sein  Urtbeii  über  das  Gerücht, 
dass  Julian  von  einem  Christen  gemordet  worden  sei,  eine 
Probe  abgeben.  Er  sagt  nämlich  *) :  „vielleicht  ist  dies  auch 
wahr;  denn  es  ist  gar  nicht  unmöglich,  dass  einem  Soldaten 
einfiel,  dass  von  den  Hellenen  und  Jedermann  **)  bis  auf 
den  heutigen  Tag  die  Tyrannenmörder  gepriesen  werden 
als  Solche,  die  sich  für  die  allgemeine  Freiheit  geopfert  ha- 
ben. Kaum  wenigstens  dürfte  man  einen  tadeln,  der  für 
Gott  und  seine  Religion  eine  mannhafte  Thal  verübf  Selbst 
Tillemont  findet  diese  Aeusserung  auffallend,  und  Bleterie 
giebt  zu  bedenken,  dass  Sozomenus  kein  eigentlicher  Kirchen- 
vater, also  keine  Autorität  sei,  meint  auch,  derselbe  müsse 
mehr  das  heidnische  Alterthum  studirt  haben,  als  die  Moral 
des  Evangeliums  und  den  wahrhaft  christlichen  Geist.  Dies 
ist  aber  in  mehrfacher  Beziehung  unrichtig;  denn  es  ist 
nicht  bekannt,  dass  die  Jesuiten,  welche  dieselbe  Theorie 
erneuerten,  sie  gerade  durch  eifriges  Studium  des  Alterthums 
gewonnen  haben  und  noch  weniger  merkt  man  Sozomenus 
etwas  Derartiges  an.  Sodann  hatte  jener  Grundsatz  jeden 
falls  eine  ganz  andere  Bedeutung  in  dem  Leben  der  Heüe- 
nen:  und  einen  Tyrannen,  d.  h.  einen  Herrscher,  der  sich 
ohne  den  Willen  des  Volkes  und  diesem  zum  Trotze  auf 
den  Thron  geschwungen  hatte  und  dessen  Regierung  das 
ganze  Volk  drückte  ohne  dass  dieses  aber  offenen  Aufstand 
wagen  konnte,  nur  einen  solchen  war  zu  ermorden  gestat- 
tet, weil  er  sich  selbst  ausserhalb  der  Gesetze  gestellt  hatte, 
nimmermehr  aber  einen  legitimen  Fürsten,  der  bei  der  gros- 
sen Majorität  seines  Volkes  so  beliebt  war  wie  Julian.  End- 
lich aber  ist  nicht  zuzugeben,  dass  Sozomenus  mit  dieser 
seiner  Aeusserung  so  vereinzelt  dasteht,  wie  Manche  glau- 
ben machen  möchten;  denn  alle  diejenigen  Christen,  welche 
eine  so  ungemessene  Freude  bezeugten  über  Julians  gewalt- 
samen Tod,  waren  sie  nicht  der  Gesinnung  nach  Fürsten- 
mörder?   Und  die  Kirchenväter,    welche   in   diese   Freude 


*)    VI,  2.  p.  517  D.      **j  lldvug  ävd^qiami,  fii^Qi^  vvv. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  417 

einstimmten  oder  sie  belobten,  machten  sie  sich  nicht  des- 
selben Verbrechens  schuldig?  Welcher  Unterschied  ist  zwi 
sehen  dem  heih'gen  Gregor,  der  denjenigen  verwünscht,  wel- 
cher Julian  das  Leben  gerettet,  und  Sozomenus,  der  dessen 
Ermordung  vertheidigt?  Und  thut  nicht  dasselbe  auch  Theo- 
doret  wenn  er  sagt:  *)  „es  mag  ein  Mensch  oder  ein  £ngel 
gewesen  sein,  der  ihm  das  Schwert  in  die  Brust  gestossen 
hat,  jedenfalls  war  der  Thäter  ein  Diener  des  göttlichen 
Willens.**  —  ?  Man  meine  also  nur  nicht,  jenes  unsittliche 
Urtheil  als  einen  individuellen  Fehler  des  Sozomenus  dar- 
stellen zu  können;  nur  besonders  plump  hat  er  den  Man-^el 
an  sittlichem  Gefühl  und  den  Ueberfluss  an  Fanatismus  den 
damals  so  Viele  theilten,  ausgesprochen.  —  Der  seiner  Ge- 
sinnung nach  achtungswürdigste  unter  den  alten  Kirchenge- 
schichtschreibern ist  Sokrates;  er  hat  wenigstens  den  gu- 
ten Willen  die  Wahrheit  zu  sagen,  wenn  er  sich  auch  nicht 
ganz  von  der  unter  den  Christen  traditionellen  Ansicht  über 
Julian  loszumachen  weiss.  So  sagt  er  am  Anfange  seines 
dritten  Buchs:  „Da  ich  jetzt  von  dem  berühmten  *♦)  Kaiser 
Julianus  in  Kürze  zu  reden  habe,  muss  ich  diejenigen,  wel- 
che denselben  näher  kennen,  bitten,  keinen  glänzenden 
Schmuck  der  Rede  von  mir  zu  erwarten,  dergleichen  nöthig 
wäre,  um  hinter  einem  solchen  Gegenstände  nicht  zurück- 
zubleiben." (Mit  diesem  Schmucke  kann  aber  auch  decla- 
matorische  Polemik  im  Stil  des  Gregor  gemeint  sein.)  Am 
besten  lernt  man  seinen  Werth  kennen  wenn  man  ihn  mit 
Gregor  vergleicht,  zu  dem  er  sich  verhält  wie  ein  gewöhn- 
licher Mensch  mit  seinem  gesunden  Urtheil  zu  einem  hohlen 
Phrasenmacher  und  blinden  Fanatiker;  z.  B,  von  Julians 
Entlassung  des  sehr  kostspieligen  und  drückenden  unge- 
heuren Hofstaates  behauptet  Gregor  ***)  mit  gewohnter 
Keckheit,  der  Grund  sei  gewesen,  weil  der  Hof  an  Constan- 
tius  und  Christus  anhänglich  gewesen  sei,  und  einen  Theil 
des  Personals  habe  Julian  hinrichten  lassen;  Sokrates  aber 
weiss  nur  von  einer  Entlassung  und  tadelt  f)  die  Maassregel 

*)  in,  25.    **)  iXXoyffiov  otvi^dg.    ***)  p.  75A. 
i)  lü;  1,  p.  139  A. 


418  Der  Kaiser  JuUan  und  seine  BeurtheUer. 

nicht  mit  Unrecht  als  unpolitisch,  weil  nach  den  Begriffen 
des  Orients  der  Herrscher  mit  einem  gewissen  Glanz  auf- 
treten müsse.  Je  werthvoller  daher  Sokrates  in  dem  ist^ 
was  er  giebt,  um  so  mehr  ist  zu  bedauern,  dass  er  fast  nur 
die  das  Christenthum  berührende  Seite  von  Julians  Leben 
und  Thsltigkeit  genauer  behandelt. 

Ehe  wir  nun  die  altchristlichen  Beurtheiler  Julians  ver- 
lassen, wollen  wir  noch  mit  einigen  Worten  seiner  Wider- 
leger aus  dieser  Zeit  gedenken.  Julian  hat  nämlich  nach  dem 
Vorgang  des  Celsus,  Porphyrius  und  Hierokles  eine  eigene 
Schrift  gegen  das  Christenthum  geschrieben.  Die  langen 
Nächte  des  letzten  Winters  seines  Lebens,  welchen  er  in 
Anliochia  zubrachte*),  verwandte  Julian  darauf,  eine  Kritik 
der  christlichen  Lehre  zu  schreiben,  und  während  seines 
Partherfeldzugs  scheint  er  das  Werk  fortgesetzt  zu  haben**), 
wohl  ohne  es  ganz  zur  Vollendung  zu  bringen.  Je  genauer 
Julian  in  Folge  vieljähriger  Theilnahme  das  Christenthum 
kannte,  je  treffender  sein  Urtheil  war  sobald  nicht  seine 
mystischen  Ideen  trübend  hereinspielten,  je  wichtiger  in 
psychologischer  wie  in  historischer  und  dogmatischer  Bezie- 
hung  dieses  Werk  sein  müsste,  um  so  mehr  müssen  wir 
beklagen,  dass  nicht  Mehres  davon  auf  uns  gekommen  ist. 
Anfangs  nämlich  bemühte  man  sich  zwar,  mit  gleichen  Waffen 
den  Gegner  zu  bekämpfen:  Apollinaris  und  Cyrill  „wider- 
legten^'  Julians  Schrift  und  des  Letzteren  Selbstgewissheit 
verdanken  wir  eine  Reihe  sehr  ansehnlicher  Bruchstücke 
aus  dem  Werke.  Bald  aber  fand  man  es  viel  kürzer  und 
bequemer,  die  ungelegene  Schrift  dadurch  zu  widerlegen, 
dass  man  sie  verbot  und  vernichtete.  Der  jüngere  Theodo- 
sius  gab  eine  Verordnung,  welche  später  von  Jusiinian 
wieder  aufgefrischt  wurde,  wonach  alle  und  jede  Schriften 
gegen  das  Christenthum,  welche  Porphyrius  oder  wer  es 
sonst  sein  möge  verfasst  habe,  wo  man  sie  auffinde,  dem 
Feuer  überantwortet  werden  sollen***).   Aus  den  von  Cyrill 


*)  Liban.  Reden  I,  581,   18  Reiske,  vgl  Julian,  Ep.  36. 

•*)  Vgl.  Bieronym.  Ep.  84.         ***)  L.  3.  Cod.  de  Summa  Irin. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  419 

uns  erhaltenen  Resten  sehen  wir,  wie  wenig  es  durchgängig 
richtig  ist  was  Sokrates*)  als  Eigenthümlichkeit  der  Schrift 
angiebt,  dass  sie  mit  Witz  und  Spott  das  Christenthum  ab- 
zufertigen suche.  Im  Gegentheil  ist  ihre  Wichtigkeit  des- 
wegen besonders  gross,  weil  sich  Julian  von  allen  früheren 
literarischen  Gegnern  des  Christenthums  dadurch  wesentlich 
unterscheidet,  dass  er  aus  langer  Erfahrung  die  christlichen 
Quellen  und  Lehren  genauer  kannte,  wovon  diese  Schrift 
allenthalben  Beweise  liefert.  Es  sind  nicht  mehr  die  alten 
ausgetretenen  Vorwürfe  von  coenae  Thyesteae,  Oedipodei 
concubitus,  welche  den  Christen  gemacht  werden  —  merk- 
würdigerweise werfen  nunmehr  die  Christen  ganz  dasselbe 
umgekehrt  den  Hellenisten  vor**)  — ,  sondern  der  Feind 
greift  jetzt  den  Mittelpunkt  an,  bestürmt  das  Feldherrnzelt: 
die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi  ist  es  vornämlich,  welche 
Julian  auf  exegetischem  Wege  wie  durch  das  Mitlei  der  de- 
ductio  ad  absurdum  zu  bestreiten  sucht,  und  wobei  er 
manchen  wunden  Fleck  aufdeckt.  Und  wenn  Julian  den 
Standpunkt  der  reinen  Vernunft  festzuhalten  vermöchte,  wenn 
er  sich  nicht  immer  wieder  durch  Einmischung  neuplatoni- 
scher Transcendenz  selbst  das  Spiel  verdürbe,  so  würde 
er  noch  viel  häufiger  mit  den  Resultaten  der  neueren  Kritik 
zusamraentreflfen,  als  es  ohnehin  der  Fall  ist. 

Indem  wir  aber  nun  zu  den  Darstellern  und  Beurlheilern 
Julians  aus  der  neueren  Zeit  übergehen,  stellen  wir,  schon 
wegen  der  näheren  Anschliessung  an  das  Vorhergehende, 
dann  weil  sie  lange  Zeit  allein  das  Wort  geführt  haben, 
billigerweise  die  Theologen  voran,  wozu  wir  auch  alle  die 
französischen  Abbö^s  der  früheren  Zeit  rechnen.  Wir  halten 
uns  dabei  nicht  streng  an  die  Zeitordnung,  sondern  theilen 
ein  nach  Farben  und  Ansichten,  ohne  aber  im  Geringsten 
auf  Vollständigkeit  Anspruch  machen  zu  wollen. 

Zuerst  die  Theologen  im  classischen  Stil,  welche  in  die 
Fusstapfen   Gregors  von  Nazianz   treten.     Unter  diesen  ist 


•)  m,  23,  vgl.  p.  162  A.       **)  Vgl.  z.  B.  Sokr.  HI,  13,  p.  152. 
Thcodorel.  HI,  26  f.    Gregor.  Naz.  or.  IV,  p  121  C. 


420  Der  Kaiser  JuUan  und  seine  Beurtheiler. 

ohne  Zweifer  seinem  Vorbilde  am  nächsten  gekommen  der 
auch  sonst  in  der  Geschichte  der  Historiographie  mehr  be- 
rüchtigte als  berühmte  Baron  ins,  der  von  ganzen  Haufen 
Märtyrern  unter  Julian  spricht  und  es  Jovian  zum  Vorwurf 
macht,  dass  er  seinen  Vorgänger  Julian  auf  glänzende  Weise 
habe  beerdigen  lassen,  da  derselbe  doch  nichts  Besseres 
verdient  hätte,  als  auf  den  Schindanger  geworfen  zu  werden*). 
Merkwürdige  Schicksale  hatte  Julian  unter  den  Händen  von 
Lamothe-le  Vayer.  Dieser  hatte  eine  Schrift  de  ia  vertu 
des  payens  geschrieben,  worin  er  Julians  Vorzüge  nach  Ge- 
bühr anerkannt  und  ihn  den  Ersten  unter  den  Kaisem  ge- 
nannt hatte.  Dies  erregte  aber  unter  den  Fanatikern  seiner 
Zeit  einen  ungeheuren  Sturm,  in  Folge  dessen  Lamothe  in 
einer  zweiten  Auflage  Alles  zurücknahm  und  die  Erklärung 
abgab:  si  j'ai  loue  ce  maudit  apostat,  c'est  que  le  diable 
tout  mescbant  qu41  est,  ne  laisse  pas  que  d'avoir  quelque 
chose  de  bon.  Aber  einer  seiner  Nachfolger,  Jondot,  der 
unter  der  Restauration  ein  zwei  Bände  starkes  Werk  über 
Julian  schrieb,  eine  blosse  Schmähschrift,  voll  des  wider- 
lichsten Fanatismus,  ohne  anderen  Werth  als  den  einer  Cu- 
riosität  —  begnügte  sich  nicht  einmal  damit,  indem  er  an 
dem  Teufel  entfernt  nici;it  quelque  chose  de  bon  anerkennen 
kann.  Von  Julians  Schrift  gegen  das  Ghristenthum  behauptet 
er,  sie  enthalte  presqu'en  germe  tout  le  „dictionnaire  philo- 
sophique".  Dass  die  Beurtheiler  dieser  Art  in  der  neueren 
Zeit  selten  werden,  dass  es  ein  Ausnahmsfall  ist,  wenn 
wieder  einmal  ein  recht  saftig  fanatisches  Urlheil  in  die  über- 
raschte Welt  hineinplumpt,  liegt  in  der  ganzen  Entwicklungs- 
geschichte der  neueren  Zeit;  aber  eben  so  sehr  liegt  es  in 
der  Natur  der  Sache,  dass  die  derartigen  Urtbeile  alle  ein- 
ander ausserordentlich  ähnlich  sehen^  und  wir  wenden  uns 
daher  gleich  zu  einer  anderen  Art  von  theologischen  Be- 
urtheilern,  zu  denen,  welche  im  Anfang  überaus  freundlich 
und  süss  sprechen  und  alles  mögliche  Gute  anerkennen,  mit 


*)  Denn  dies  ist  ohne  Zweifel  der  Sinn  seines  Ausdrucks:  vir 
ne  cacspicia  qvidem  sepultura  dignus. 


Der  KaUer  Julian  und  seine  Beurtheiler.  421 

einem  Male  aber  überaus  ernst  werden,  ihr  Gesiebt  in  Falten 
legen  und  ein  dumpfes,  drohendes,  oder  auch  ein  wehmü- 
thig  seufzendes  Aber,  Aber!  anstimmen,  und  durch  den 
Nachsatz  alle  Einräumungen  des  Vordersatzes  über  den 
Haufen  werfen.  Diese  Gattung  ist  sehr  zahlreich,  wir  be- 
gnügen uns  aber  einige  besonders  interessante  Exemplare 
vorzuzeigen.  Schon  in  der  altchristlichen  Zeit  kommen  der- 
gleichen vor,  welche  es  einerseits  mit  ihrem  Wahrheitssinn 
nicht  vereinigen  konnten,  über  Julian  geradezu  den  Stab  zu 
brechen,  denen  andererseits  aber  ihr  Vorurlheil  nicht  er- 
laubte, demjenigen,  der  gegen  ihre  Kirche  sich  unfreundlich 
bezeigt  hatte,  unbefangene,  rückhaltslose  Anerkennung  zu 
zollen.  So  urtheilt  Augustinus*):  apostatae  Juliani  egre- 
giam  indolem  decepit  amore  dominandi  sacrilega  et  de- 
lestanda  curiositas.  Dies  kann  man  sehr  häufig  bei  den 
chrisllrchen  Schriftstellern  lesen,  dass  das  Motiv  von  Julians 
„Abfall*^  Herrschsucht  gewesen  sei;  aber  es  ist  durchaus 
irrig.  Im  Gegentheile  war  es  ja  gerade  höchst  unpolitisch, 
dass  Julian  seine  persönlichen  Sympathieen  so  sehr  vor- 
andrängle; hätte  er  die  Christen  unterstützt,  die  Hellenisten 
aber  geduldet,  oder  umgekehrt,  so  halte  er  zwar  weniger 
warme  Freunde  gehabt,  aber  auch  keine  Feinde;  auch  hat 
er  ja  vielmehr  gerade  in  der  Zeit,  wo  er  herrschsüchtige 
Gedanken  etwa  hegen  konnte,  den  Schein  der  ChrisUichkeit 
angenommen,  oder,  wie  Libanius**)  es  boshaft  ausdrückt, 
die  Eselshaut  über  seine  Löwcnglieder  gezogen.  Mit  unbe- 
dingterer Anerkennung  spricht  sich  der  christliche  Dichter 
Prudentius***)  über  Julian  aus,  indem  er  unter  Anderem 
Folgendes  von  ihm  aussagt: 

Ductor  forlissimus  armis, 

Conditor  et  legum  celeberrimus,   ore  manuqve, 
Consullor  patriae,  sed  non  consultor  habendae 
Reliigionis,  amans  tercentum  millia  Divum, 
Perfidus  ille  Deo,  qvamvis  non  perfidus  orbi. 


•)  de  civ.  D.  V,  21.       *•)  Reden  I,  528  Reiske. 
•••)  ApoUi.  V.  449  ff. 

XUg.  Zeitschria  f.  Geaekiehte.  V.  1816.  29 


422  Der  Kaker  Julia»  und  seme  BeurtheUer. 

So  wenig  unventimmi  durch  Julian's  religiöse  Richlang  haben 
sich  die  Späteren  selten  ausgesprochen.  In  Spanheim's  Vor- 
rede  zu  seiner  Ausgabe  von  Julian's  Schriften,  in  Bieterie's 
Buch  über  diesen  Kaiser  langweilt  dieses  ewige  Sichver- 
wahren gegen  Bewunderung  des  Apostaten,  dieses  unauf- 
hörliche Achselzucken,  dieses  jedem  Lob  in  unerträglicher 
Monotonie  nachhinkende:  „aber  freilich  war  er  ein  Apostat!^' 
Noch  unausstehlicher  ist  aber  das  regelmässige  Berichtigen 
der  Worte  Julians.  Z.  B.  kann  Spanheim  nicht  anführen  dass 
Julian  sage,  er  habe  in  Gallien  nur  einen  einzigen  Sciaven 
als  Mitwisser  seiner  frommen  Verehrung  der  Götter  gehabt,^ 
ohne  sogleich  hinzuzusetzen:  oder  vielmehr  seiner  schänd- 
lichen Versündigung  gegen  den  einzigen  wahren  Gott*). 
Bin  besonders  naives  und  lehrreiches  Beispiel  dieser  Art  ist 
der  Verfasser  des  grossen  Werks  über  die  römische  Kaiser* 
geschichte,  Tille mont.  Dieses  Werk  enthält  eine  Überaus 
fleissige  und  gründliche  Zusammenstellung  einer  ausseror- 
dentlichen Menge  von  Daten,  aber  ohne  alle  Verarbeitung 
und  historische  Kritik  (ausser  in  ganz  untergeordneten  Punk- 
ten). Denn  wie  vertrüge  sich  diese  mit  dem  pflichtschul- 
digen Respect  vor  dem  Saint  Gregoire  de  Nazianze?  Und 
Tillemont  ist  ein  so  eifriger,  orthodoxer  Katholik,  dass  er 
nicht  nur  gegen  die  Gegner  des  Ghristenthums,  sondern 
auch  gegen  die  Häretiker  die  entschiedenste  Eingenommen- 
heit beweist,  und  die  Ausbrüche  eines  hässlichen  Fanatismus 
sind  das  Einzige,  was  er  von  Raisonnement  seiner  Notizen- 
sammlung beigefügt  hat.  Merkwürdig  ist,  wie  sich  dieser 
Fanatismus  mit  jeder  Auflage  gesteigert  hat,  was  um  so 
mehr  in  die  Augen  springt,  weil  er  die  späteren  Zusätze 
immer  selbst  durch  eckige  Klammern  ausgezeichnet  hat.  So 
heisst  es**)  von  der  Magie:  Tinclination  qu'avoit  d^jä  Julien 
pour  cette  science  [diabolique];  anderswo  *♦♦):  il  demanda  h 
sa  Minerve  de  perdre  plutot  la  vie  que  d'estre  obligö  d'aller 


•) erga  Deos  pietatis,  ut  ille  ait,  immo  foedissimae  in 

unum  verum  Deum  impielalis.    **)  IV,  8,  491  der  Ausgabe  von  1723. 
***)  IV,  S.  497. 


Der  Kaiser  JuUan  und  seine  Beurtheiler.  423 

k  la  Cour.  [Mais  sa  Minerve  avoit  aussi  peu  le  pouvoir  de 
l'asstster  que  de  se  tirer  eile  mesme  des  feux  de  Penfer.] 
Oder*)  von  Julian:  les  Images  de  ce  [miserable]  priuce. 
Auch  folgende  Bemerkung  kam  erst  spater  hinzu**):  Dieu 
suscita  contre  Julien  Tesprit  de  S.  Gregoire  de  Nazianze  qui 
dans  la  chaleur  que  luy  donnoit  la  grace  encore  toute  nou- 
velie  de  son  sacerdoce,  anima  tout  ce  qu'il  avoit  d'esprit  et 
d'öloquence,  pour  representer  k  la  posteritö  par  des  couleurs 
aussi  vives  que  naturelles  le  vöritable  portrait  de  ce 
monstre  de  l'impiötö.  Dies  verdiente  freilich  eher  einen 
Platz  unter  der  vorigen  Rubrik;  dagegen  enthält  eine  unver- 
gleichlich schlagende  Darstellung  des  zvsreiten  Standpunktes 
das  nachstehende  schon  in  der  früheren  Auflage  enthaltene 
Gesammturtheil  über  Julian *♦♦):  Quoy  qu'on  dise  de  ceprince, 
son  apostasie  seule  et  la  persöcution  qu'il  faisoit  (??)  aux 
Chretiens,  suffisoient  pour  effacer  des  qualitöz  en- 
core plus  avantageuses  que  toutes  cejles  qu'on  luy 
peut  attribuer. 

Ist  diese  Gattung  von  Fanatikern  ausgestorben?  Wird 
sie  jemals  aussterben?  War  nicht  ganz  dasselbe,  um  hun- 
dert anderer  Fälle  nicht  zu  gedenken,  erst  vor  wenigen 
Wochen  an  dem  Grabe  eines  Ehrenmannes  in  Köln  zu  ver- 
nehmen? Als  Mensch  und  als  Bürger,  an  Geist,  Herz  und 
Charakter  sei  Hoffmeister  untadelig,  ja  musterhaft  gewesen, 
aber,  aber  —  nicht  kirchlich,  und  dieser  eine  Mangel  werfe 
einen  Makel  auf  sein  ganzes  Leben,  den  alle  seine  Vorzüge 
nicht,  auszulöschen  im  Stande  seienl  Der  Mund,  der  diese 
Anklage  ausgesprochen,  hat  eben  damit  zugleich  die  bered- 
teste, glänzendste  Rechtfertigung  des  Verstorbenen  gegeben. 
Denn  wo  dies  der  Geist  der  Kirche  ist,  wo  solche  Ansichten 
gepredigt  werden,  wo  sie  selbst  auf  den  Ruheplatz  der 
Todten  sich  eindrängen,  da  muss  ja  wohl  ein  religiöses  Ge- 
müth  und  ein  heller  Geist  abgestossen  werden  und  die  re- 
ligiöse Anregung  die  er  in  der  Kirche  nicht  findet,  sich 
selbst  auf  anderem  Wege  zu  verschaffen  suchen. 


•)  IV,  S.  560.       *•)  IV,  561  f.       •**)  IV.  S.  554. 

29* 


424  Der  Kaiser  JuUan  und  seine  Beurtheikr. 

Unier  den  Theologen  der  neuesten  Zeit  hat  Wiggers 
vom  christlichen  Standpunkt  aus  eine  unverholene  Abneigung 
gegen  Julian  ausgesprochen,   indem  er  sich*)  wörtlich  also 
vernehmen  lösst:   „Die  Affeetation,   mit  welcher  Julian  stets 
von  sich  redet  und    seine  guten  Gesinnungen  preiset,   die 
erborgten  Phrasen,  die  hämische,  mehr  als  Voltairesche  Art, 
mit  welcher  er  von  dem  Stifter  des  Ghristenihums  spricht, 
verrathen  etwas  Unlauteres  in  ihm  und  es  geht  Einem  bei 
der   näheren  (??)   Bekanntschaft   mit   dem  Julian  wie   mit 
manchen  lebenden  Menschen,  in  deren  Gegenwart  man  sich 
nicht  wohl  fühlt  und  in  deren  Nähe  Einem  unheimisch  zu 
Muthe  wird'S    Wer  ein  so  reizbares  Nervensystem  hat,  dem 
kann  man  keinen  bessern  Rath  geben,  als  die  Nähe  solcher 
Menschen  und  noch  vielmehr  solcher  Schriftsteller  zu  meiden, 
und  sich   einen  Gegenstand   zu   suchen,   bei  welchem  ihm 
„heimischer  zu  Muthe  wird'';   die  Wissenschaft  kann  dabei 
nur  gewinnen.  ^Julian  hat  gewiss  Hrn.  Wiggers  nicht  aufge- 
sucht, sich  ihm  nicht  aufgedrängt;  so  möge  auch  Hr.  Wiggers 
sich  Julian,    dem  „unheimlichen^'  Julian   nicht  aufdrängen. 
Uebrigens  sollte,  wer  nur  etwa  in  einer  lateinischen  üeber- 
setzung  die  Überall  angeführten  Hauptbeweisstellen  für  einen 
einzelnen  Zweck  nachgelesen  haben  kann,   nicht  die  Miene 
annehmen,  als  hätte  er  die  „nähere  Bekanntschaft"  des  Ju- 
lian gemacht  und  durch  sein  apodiktisches  Absprechen  das 
Publikum  irre  zu  führen  suchen.    Die  fragliche  Abhandlung 
enthält  Nichts  als  eine  ordinäre  altpragmatische  Entwicklung 
der  Gründe  warum  Julian  „abtrünnig"  geworden  sei,  wobei 
ganz  unwesentliche  Punkte,    wie   die  Persönlichkeit  seiner 
christlichen  Lehrer,  das  Betragen  des  Constantius  gegen  ihn 
und    seine  Familie   u.  dgl.,   welchem  Allem  zum  Trotze  er 
doch  vielmehr  bis  in  sein  zwanzigstes  Jahr  beim  Christen- 
thume  blieb,   zur  Hauptsache  gemacht  werden;   dann  wird 
mit  Prätension  die  ganz  illusorische,   unrichtige  und  nichts- 
sagende   Unterscheidung  vorgetragen,   dass  Julian  Anfangs 
nur  ein  Verfolger  des  Christenthums,   nachher  aber  auch 


*)  Zeilschr.  für  histor.  Theologie,  J.  1837,  S.  Ii7. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beuriheiler.  425 

der  Christen  gewesen  sei;  Neander  habe  „zu  günstig"  über 
Julian  geurtheilt  und  andere  Trivialitäten.  Namentlich  aber 
wird  ein  von  seinem  Urheber  längst  wieder  desavouirtes 
Urtheil  Schlosser's  aufgewärmt  und  als  die  „rechte  Mitte^^ 
haltend  bezeichnet,  worin  der  Vorwurf  der  YerstelluDg  die 
Hauptrolle  spielt.  Keinen  Vorwurf  sollte  man  aber  mit  mehr 
Behutsamkeit  aussprechen,  als  eben  diesen.  Nur  wenn  man 
auf  die  unzweideutigste  Weise  von  der  wahren  Gesinnung 
eines  Mannes  unterrichtet  ist,  hat  man  ein  Recht  dazu.  Wo- 
her kennen  aber  jene  Ankläger  Julians  wahre  Gesinnung? 
Aus  den  Angaben  der  christlichen  Schriftsteller.  Weil  dem 
Bilde  Julians,  welches  sich  aus  diesen  ergiebt,  dessen  eigene 
Worte  nicht  entsprechen  (so  wenig  als  die  Berichte  unpar- 
teiischer Schriftsteller),  die  Glaubwürdigkeit  jener  Schrift- 
steller aber  Hrn.  Wiggers  feststand ,  so  mussten  Julians  Worte 
als  eitel  Trug  und  Verstellung  erscheinen.  Bei  Anderen  mag 
sich  hinter  diesen  Vorwurf  das  Unbehagen  darüber  ver- 
stecken, dass  ihre  vorgefasste  Ansicht  durch  den  klaren  In- 
halt von  Julians  Schriften  so  wenig  bestätigt  wird.  Wem 
aber  die  aufgedrungene  Maske  der  Ghristlichkeit  so  zuwider 
war  wie  unserm  Julian,  wer  sie  in  dem  ersten  Momente, 
wo  der  Druck  der  Verhältnisse  nachliess,  wo  er  frei  athmete, 
mit  solcher  Hast  und  Leidenschaft  abwarf*) ,  den  kann  am 
letzten  der  Vorwurf  der  Verstellung  mit  Recht  treffen.  Einen 
Schwätzer  mag  man  ihn  nennen,  aber  ein  Heuchler  war  er 
nicht. 

Einen  bedeutenden  Anlauf  zu  einer  unparteiischen  Be- 
urtheilung  Julians  nahm  der  wegen  seiner  Sympathie  Tür 
alles  Häretische  so  vielfach  gescholtene  berühmte  Verfasser 
der  „Kirchen-   und   Ketzer-Historie",   der  Mystiker  Gottfr. 


*)  Vgl,  Gregor  v.  Naz.  or.  III,  p.  70  A:  „kaum  war  er  im  Be- 
sitz der  Kaiserwürde,  als  er  offen  seine  Gottlosigkeit  bekannte, 
als  schämte  er  sich  einmal  ein  Christ  gewesen  zu  sein  oder  als 
zürnte  er  darob  den  Christen '^  Dazu  s  Gibbon  IV,  S.  89  der 
Wiener  Uebers.  Ep.  12.  schreibt  Julian  einem  Freunde:  „dann 
sprechen  wir  einander  ohne  die  höfische  Verstellung",  von  der  er 
also  kein  Freund  gewesen  sein  moss. 


426  Der  Kaiser  Julian  und  seine  BeurlheUer. 

Arnold.  Aber  sein  Vorgang  halte  bei  der  rationalistischen 
Partei  unter  den  Theologen  gerade  die  entgegengesetzte  Wir- 
kung. Die  Rationalisten  waren  in  Verlegenheit,  ob  sie,  als 
Gegner  der  beschränkten  Orthodoxie,  den  von  den  Ortho* 
doxen  geschmähten  Julian  in  Schutz  nehmen  ^  oder  ob  sie, 
als  Gegner  des  Pietismus,  den  von  einem  Pietisten  gerühm* 
ten  Julian  schmähen  sollten;  und  bei  den  Meisten  siegte  der 
nähere  persönliche  Hass  gegen  den  Pietismus  und  sie  schmäh- 
ten auf  Julian,  wobei  sie  zugleich  den  Vortheil  hatten,  als 
besonders  eifrige  Christen  zu  erscheinen.  —  Das  Gefühl  des 
ungeheuren  Unrechts,  welches  seit  vielen  Jahrhunderten  von 
den  entgegengesetztesten  Seiten  auf  einen  edlen  Menschen 
und  wohlmeinenden,  tüchtigen  Fürsten  gehäuft  worden  war, 
war  es  gewiss,  was  Neander  zu  der  Milde  der  Beurthei- 
lung  stimmte,  weiche  er  in  seiner  Monographie  über  Julian 
(vom  Jahre  1812)  bewiesen  hat.  Damals  gab  er  sich  noch 
ganz  seinem  weichen  Gemüthe  hin,  war  noch  nicht  durch 
Erscheinungen,  mit  denen  er  geistig  nicht  fertig  zu  werden 
wusste,  in  seinen  heutigen  Fanatismus  gegen  alles  Nicht* 
christliche  hineingetrieben*)  Dadurch  wird  seine  Schrift 
allezeit  einen  menschlichen  Werth  behalten,  wei^n  man  auch 
ihre  wissenschaftliche  Bedeutung  nicht  eben  so  hoch  stellen 
kann.  Das  Ueberlragen  seiner  eigenen  Gemüthlichkeit  in  die 
historischen  Erscheinungen  die  er  darzustellen  hat,  welches 
in  seinen  späteren  Schriften  immer  stärker  und  störender 
wurde,  tritt  schon  in  der  Abhandlung  über  Julian  hervor 
und  bringt  in  des  Helden  Bild  einen  Zug  von  Weichheit, 
welcher  in  diesem  Grade  keinesfalls  vorhanden  war.  So 
behauptet  er,  es  habe  den  Julian  von  Kind  auf  „nach  oben^^ 
gezo|;en,  weil  er  sich  nämlich  der  Strahlen  der  Sonne  und 
des  Schimmers  der  Sterne  mit  jugendlicher  ahnungsvoller 
Träumerei  erfreute,  und  legt  unverhältnissmässiges  Gewicht 
auf  Ereignisse  im  Leben  des  Julian,  wie  die  Ermordung 
seines  Halbbruders  Galius,  welche  zwar  sein  Misstrauen 
und  seinen  Zorn  gegen  Gonstantius  erregt  haben,  aber  diese 


*)  Bier  möchte  ein  Fragezeichen  an  der  Stelle  sein.        Red. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheikr,  427 

weitgehenden    gemütblichen   Nachklänge    nicht  hatten,    die 
Neander  ihnen  zuschreibt. 

Vermöge  seiner  vielseitig  anregbaren,  dilettantischen 
Weise,  welche  ihn  von  dem  Volke  der  verknöcherten  Theo- 
logen wesentlich  unterscheiden  und  ihm  den  Ruhm  eines 
mit  der  ^Gegenwart  Fortgeschrittenen  erwerben  soll,  hat  der 
neueste  Kircbenhistoriker,  Karl  Hase,  Julian  mit  einer  ge- 
wissen Liebe  bebandelt.  Er  braucht  den  Ausdruck:  „die 
Reihe  der  Schmähschriften  gegen  ihn  beginnt  Gregor  von 
Nazlanz^%  und  nennt  Julian  „neben  Athanasius  den  grössten 
Mann  seines  Jahrhunderts'^.  Und  allerdings  mag  Atbanasius 
an  Geist  und  ausdauernder  Willenskraft  dem  Julian  eben- 
bürtig sein,  doch  wird  dem  Letzteren  an  Eigenschaften  des 
Gemüths  der  Vorzug  gebühren.  Julians  welthistorische  Stel- 
lung bezeichnet  Hase  mit  einem  elegischen  Worte,  das  auf 
ein  Dictum  des  Atbanasius  anspielt*):  er  sei  „wie  eine  Wolke 
vorübergegangen*^  Vielmehr  ein  Gewitter  war  er,  erfrischend 
die  Gesunden  und  zittern  machend  die  Schwächlinge,  wie 
ein  Bütz**)  bat  er  die  dumpfe,  trübe  Atmosphäre  durch- 
zückt, und  wäre  er  nicht  inmitten  seiner  Siegerlaufbahn 
vom  Schicksal  niedergestreckt  worden,  so  wäre  er  noch  ein 
Segen  geworden  für  das  Christentbum:  er  hätte  es  heraus- 
gezogen aus  dem  Strome  der  Verweltlicbung  und  es  wieder 
zu  sich  selbst  gebracht,  er  hätte  es  genöthigt,  wieder  ganz 
und  rein  das  zu  werden,  was  es  von  Anfang  war,  —  Re- 
ligion. 

Verlassen  wir  die  theologischen  Beurtbeiler  und  wenden 
wir  uns  zu  den  Historikern  von  Fach,  so  können  hier  nur 
Gibbon  und  Schlosser  in  Betracht  kommen.  Vielleicht  in 
keinem  Theile  seines  grossen  Werkes  bat  Gibbon  so  viele 
Seiten  seiner  Weltanschauung  blosgelegt  wie  in  dem  Ab- 
schnitte über  Julian***).  Wir  sehen  hier  einerseits  den 
klaren  Denker,  den  kühlen,  aufgeklärten  Mann,  der  über 
dem  theologischen  Gezanke  steht,   es  durchschaut  und  be- 

*)  Sokr.  m,  14.    Sozom.  V,  15,  p.  500  B.    Tbeodoret.  DDE,  9. 
♦*)  Vgl.  Liban.  Reden  I,  S.  618.  625  Reiske.       ***)  Besonders 
im  vierten  Bande. 


428  Der  Kauer  Julian  und  s^ne  BeurtheUer. 

lächelt,  andererseils  den  Politiker,  der  eine  positive  Religion 
als  ein  Staatsbedilrfniss  betrachtet  und  in  der  christlichen 
diejenige  erkennt,  welche  wegen  mannichfacher  YorzUge  am 
geeignetsten  sei  und  dem  Zwecke  am  besten  entspreche, 
daher  auch  festgehalten  und  unterstützt  werden  müsse.  Seine 
eigene  Religion  ist  die  sogenannte  natürliche,  ist  die  Moral. 
Mit  schlecht  verhehltem  Spotte  redet  er  an  vielen  Stellen 
von  angeblichen  Wundern}  so  bemerkt  er*)  in  Bezug  auf  die 
Erzählung  des  Gregor,  dass  der  Theil  des  christlichen  Mo- 
numentes, welches  Julian  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Bruder 
in  seiner  Jugend  errichtete,  beharrlich  von  der  Erde  abge- 
schüttelt worden  sei,  während  Gallus'  Antheil  stehen  blieb : 
„Solch  ein  parteiisches  Erdbeben,  bezeugt  von  vielen  leben- 
den Zuschauern,  würde  eines  der  hellesten  Wunder  in  der 
Kirchengeschichte  bilden'^.  Zu  einem  anderen**)  bemerkt 
er  ironisch:  „der  Leser  wird  nach  dem  Maasse  seines  Glau- 
bens diese  tiefe  Frage  entscheiden"  und  ein  andermal***) 
macht  er  die  schalkhafte  Anmerkung,  dass  sehr  wenig  ge- 
fehlt hätte,  so  wäre  Julian  Bischof,  vielleicht  Heiliger  ge- 
worden. Einen  „theologischen  Philosophen"  pennt  erf) 
einen  „sonderbaren  Centaur"  und  ärgert  sich  darüber,  dass 
in  Julians  Zeit  die  Philosophen,  die  Priester  der  Aufklärung, 
die  abergläubische  Leichtgläubigkeit  des  Menschengeschlechts 
betrügen  halfen.  Das  Christenthum  ist  ihm  „ein  theologi- 
sches System,  welches  das  geheimnissvolle  Wesen  der  Gott- 
heit erklärt  und  die  grenzenlose  Aussicht  in  unsichtbare  und 
künftige  Welten  eröirncl"ft);  und  von  Julians  „theologi- 
schem System'*  erkennt  erfff)  an,  dass  es  „die  erhabenen 
und  wichtigen  Grundsätze  der  natürlichen  Religion  enthalten 
zu  haben**  scheine.  Wenn  aber  in  beiden  die  natürliche 
Religion  enthalten  ist,  und  andererseits  in  beiden  zugleich 
viel  Aberglaube,  so  kann  der  Deist  keinen  rechten  Grund 
zu   dem    auffallenden   Schritte    eines   Religionswechsels   er- 


*)  Bd.  4,  S.  72,  Anm.  8  der  Leipziger  Uebersetzung. 

*•)  IV,  84,  Anm.  24.     ***)  IV,  72,  Anm.  7.     i)  IV,  90,  Anm.  31. 

it)  IV,  S.  73.        itt)  IV.  S.  79. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  429 

kennen,  und  er  nennt  es  daher*)  einen  „sonderbaren  Wider- 
spruch'%  dass  Julian  „das  heilsame  Joch  des  Evangeliums 
verachtete,  während  er  auf  Jupiters  und  Apolls  Altären  ein 
freiwilliges  Opfer  seiner  Vernunft  darbrachte'*  (nämlich  statt 
eines  unfreiwilligen  auf  dem  Altare  des  christlichen  Gottes, 
ein  Widerspruch  der  sich  von  selbst  löst).  Er  gesteht  zu**), 
dass  das  einzige  Drangsal,  welches  Julian  den  Christen  auf- 
erlegte, darin  bestand,  dass  er  sie  „der  Macht  beraubte, 
ihre  Mitunterthanen  zu  quälen,  die  sie  mit  dem  gehässigen 
Namen  Götzendiener  und  Ketzer  brandmarkten  ^^  Anderer- 
seils aber  spricht  er  am  Schlüsse  seiner  Erörterung***)  von 
„Julians  schlauem  System,  wodurch  er  die  Wirkungen  von 
Verfolgung  zu  erlangen  hoffte  ohne  das  Strafbare  oder  Ta- 
delnswerthe  derselben  auf  sich  zu  laden".  Und  worin  soll 
diese  schlaue  Politik  bestehen?  Darin  vomämlich,  dass  er 
den  Christen  gebot,  die  unter  der  vorigen  Regierung  von 
ihnen  zerstörten  hellenischen  Tempel  wiederherzustellen,  dass 
er  dem  christlichen  Klerus  seine  Privilegien  nahm,  dass  er 
Hellenisten  vorzugsweise  die  Staatsämter  übertrug  und  der- 
gleichen f).  Aber  hätten  unter  seiner  Regierung  die  Helle- 
nisten christliche  Kirchen  zerstört,  so  wären  jene  ohne 
Zweifel,  und  mit  Recht,  da  es  noch  dieselbe  Generation  war, 
von  den  christlichen  Kaisern  zum  Ersätze  des  widerrechtlich 
Verdorbenen  angehalten  worden.  Und  was  das  Zweite  be- 
trifft, so  kann  man  nur  vom  Standpunkt  des  abstracten  Po- 
litikers aus  es  „hinterlistig"  finden,  wenn  Julian  „die  Christen 
aller  der  zeitlichen  Ehren  und  Würden  berauben  wollte, 
welche  sie  in  den  Augen  der  Welt  ansehnlich  machtenff)". 
Denn  entweder  beruhte  der  Werth  ,des  Christenthums  vor- 
zugsweise oder  allein  auf  diesen  äusseren  Stützen,  —  dann 
hatte  der  hellenistische  Kaiser  nicht  nur  das  Recht,  sondern 
sogar  die  Pflicht,  diese  Stützen  wegzuziehen;  oder  ruhte  das 
Cbristenlhum  auf  noch  ganz  anderen  Säulen,  dann  ist  nichts 
Hinterlistiges  an  Julians  Verfahren,  dem  man  doch  nicht  zu- 


♦)  IV,  S.  76.      •*)  IV,  S.  93.      •♦*)  IV,  S.  151.      f)  IV,  S*  127  f. 

ff)  IV,  s.  tu. 


430  Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler. 

iDuthen  kann,  dass  er  seinen  Gegnern  die  Mittel  ihm  zu 
schaden  und  entgegenzuwirken  selbst  hätte  in  die  Hände 
geben  sollen.  Wir  sehen ,  unser  Historiker  weiss  von  seiner 
Politik  die  temporären  und  nationalen  Bestandtheile  nicht 
wegzubringen,  und  er  hat  es  noch  nicht  weit  gebracht  in 
der  Kunst,  sich  in  gewesene  Zustände  hineinzuversetzen  und 
sie  mit  ihrem  Maasse  zu  messen;  es  fehlt  ihm  an  reiner  hi* 
storischer  Objectivität  und  seine  Unbefangenheit  und  Unpar* 
teilichkeit  geht  nur  so  weit,  als  seine  persönliche  Indifferenz; 
eine  principielle  ist  sie  nicht. 

Mit  Ansprüchen  dieser  Art  dürfen  wir  an  Sehlosser's 
Meisterwerk  *)  nun  freilich  gar  nicht  herantreten,  wenn  wir  uns 

m 

dessen  erfreuen  wollen.  Derehrwürdige  hochverdiente  Veteran 
der  deutschen  Historiographie  wird  selbst  entfernt  nicht  darauf 
Anspruch  machen,  ein  historischer  Künstler  zu  sein,  wird  viel* 
leicht  sogar  die  Zumuthung  der  Objectivität  von  sich  weisen« 
Schlosser^s  grosse  Vorzüge  liegen  auf  einer  ganz  andern  Seite. 
Die  Geschmeidigkeit  des  Geistes,  welche  in^  jeden  Stoff  sich  ver* 
senkt,  mit  Liebe  ihn  umfasst,  ihn  in  sich  wiedererzeugt  und 
ein  treues  Abbild  davon  zur  Welt  bringt,  kurz  der  weibh'che 
Theil  der  Functionen  des  Historikers,  ist  nicht  seine  Sache; 
er  ist  durch  und  durch  Mann,  ein  gesunder,  körniger,  sogar 
eckiger  Mann.  Seine  Charakteristik  der  historischen  Erschei- 
nungen bildet  sich  dadurch,  dass  er  mit  seiner  festgeschios- 
senen,  undurchdringlichen  Persönlichkeit  an  sie  herantritt 
und  sie  an  ihr  sich  brechen  lässt,  dass  er  sich  mit  ihnen 
misst,  dass  er  ihre  Abweichungen  von  seinem  Wesen  her* 
vorkehrt.  Alle  seine  Charakteristik  ist  Kritik ,  ist  fieurthei- 
lung  nicht  Darstellung.  So  erreichen  wir  zweierlei,  dass  wir 
ein  Bild  von  der  geschichtlichen  Gestalt  bekommen  und  dass 
wir  zugleich  über  sie  hinausgeführt  werden.  Das  Vor- 
walten  der  zweiten  Seite   macht,   dass   der  Eindruck  der 


*)  Ulliversalhistorische  Uebersicht  der  Geschichte  der  alten  Welt 
und  ihrer  Cuilur.  Die  zweite  und  dritte  Ablbeiiung  des  dritten 
Xheiles  (III,  2.  3)  kommt  für  unseren  Zweck  vorzugsweise  in  Be- 
tracht. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler,  431 

Sefalosser^schen  Darstellung  nicht  sowohl  ein  veranschauli- 
chender, versinnlichender  ist,  sondern  ein  anregenderi  er- 
frischender, kräftigender,  so  zu  sagen  versittlichender.  Gei- 
stige Freiheit  und  sittliche  Kraft  ist  es,  was  man  aus  seiner 
Geschichte  schöpft.  Von  einer  solchen  Methode  sind  aber 
andrerseits  Mängel  unzertrennlich.  Einmal  erhalten  wir  von 
den  historischen  Erscheinungen  weder  ein  vollständiges,  noch 
ein  reines  Bild.  Mit  sich  selbst  schon  fertig,  ist  er  mit  dem 
ihm  entgegcQtretenden  Stoffe  zu  schnell  im  Reinen;  er  lässt 
ihn  gar  nicht  recht  an  sich  herankommen,  er  betrachtet  ihn 
immer  aus  einer  gewissen  Entfernung,  er  schreibt  seine  Ge- 
schichte wie  aus  der  Erinnerung,  nicht  aus  der  Anschauung. 
Kaum  dass  ein  Ereigniss  oder  ein  Charakter  angefangen  hat, 
sich  zu  expliciren,  so  unterbricht  er  ihn  schon,  weiss  schon 
genug,  weiss  es  schon  besser,  und  schiebt  ihn  bei  Seite. 
Es  kann  daher  nicht  fehlen,  dass  sich  nicht  nur  Verstösse 
im  Einzelnen*)  genug  finden,  sondern  auch  die  ganze  Auf- 
fassung an  einer  gewissen  Einseitigkeit  leidet.  Züge  und 
leiten,  welche  auf  seine  Individualität  weder  einen  anziehen- 
den noch  einen  abstossenden  Eindruck  machen,  welche  ihn 
nicht  afficiren,  ihn  nicht  auf  sich  aufmerksam  machen,  blei- 
ben von  ihm  in  der  Regel  unbeachtet,  weil  ihm  die  Hinge- 
bung des  ruhigen  Beobachters  abgeht.  Sodann  ist  der  Stand- 
punkt, auf  welchen  wir  von  Schlosser  über  die  einzelne  Er- 
scheinung hinaus  gehoben  werden,  zwar  ein  sehr  hoher, 
aber  nicht  der  für  jetzt  höchste,  nicht  der  was  man  mit  ei- 
nem missbrauchten  Worte  den  absoluten  nennt.    Der  Maass- 


*)  m,  2,  S.  323.  nennt  er  z.  B.  Julian's  Gemahlin  Helena,  eine 
Tochter  der  Eusebia,  der  Gemahlin  des  Constanlius.  Dies  scheint 
ein  unbedeutender  Irrlhum,  ist  es  aber  nicht,  weil  er  mit  so  vie- 
lem zusammenhängt;  denn  ausdrücklich  sagt  Julian  in  seinem  Send- 
schreiben an  die  Alhener,  dass  Constantius  seine  Kinderlosigkeit 
als  eine  Strafe  des  Himmels  für  seinen  Verwandtenmord  betrach- 
tete; erst  nach  dem  Tode  des  Constantius  gebar  Eusebia  eine  Toch- 
ter, die  später  Kaiserin  wurde,  und  der  Helena  Geburten  hat  Eu- 
sebia selbst  alle  vergeblich  gemacht.  —  Die  Aeusserung  über  den 
Schaden,  welchen  die  Kirchenversammlungen  dem  Postwosen  brin- 
gen, ist  von  Ammiau,  nicht,  wie  S.  397  gesagt  wird>  von  Julian. 


432  Der  Kauer  Julian  und  seine  Beurtkeiler. 

Stab,  welcher  angelegt  wird,  ist  der  eines  hellen  Kopfes, 
eines  tüchtigen  Charakters,  dem  Wahrheit  und  Recht  über 
Alles  gilt^  aber  es  ist  der  nur  eines  Kopfes,  nur  eines 
Charakters,  einer  einzelnen,  endlichen  Persönlichkeit,  bei  wel- 
cher daher  die  Helle  des  Kopfes  wie  die  Reinheit  des  Cha- 
rakters ihre  Grenze  hat,  jene  die  der  zeitlichen  Geistesent- 
Wicklung,  diese  die  der  persönlichen  Stimmung  und  Neigung, 
welche  wider  Wissen  und  Willen  einen  Einfluss  ausübt. 
Schlosser's  geistige  Entwicklung  gehört  dem  vorigen  Jahr- 
hundert an,  —  ein  Urtheil  bei  dem  wir  uns  vor  Allem  ver- 
wahren müssen,  als  wollten  wir  etwas  tadelnd  oder  spot- 
tend Gemeintes  sagen,  nur  etwas  Historisches  möchten  wir 
damit  aussprechen.  Dies  zeigt  sich  am  deutlichsten  in  sei- 
ner theologischen  Richtung:  er  gehört  der  alten  Schule  an, 
welche  Alles  was  sie  hinten  streicht,  vornen  wieder  zusetzt, 
welche  an  der  Entwicklungsgeschichte  des  Christenthums 
die  freieste  Kritik  übt,  aber  nur  um  das  Urchnstenthum  mit 
einer  Zuversicht  und  einer  Umständlichkeit  zu  preisen,  als 
wäre  sie  selbst  bei  Entwerfung  des  „Planes"  zugegen  gewe- 
sen, weil  sie  das,  was  sie  selbst  unter  dem  Christenthume 
versteht,  der  Geschichte  zum  Trotz  als  das  ursprünglich  Be- 
absichtigte und  Gewesene  darstellt.  — •  Alle  diese  Vorzüge 
und  Mängel  Hessen  sich  der  Reihe  nach  mit  leichter  Mühe 
an  Schlosser's  Beurtheilung  des  Julian,  welchem  er  beson- 
dere Aufmerksamkeit  gewidmet  hat,  nachweisen;  wir  begnü- 
gen uns  aber  mit  einigen  Andeutungen.  Julians  Stellung  zu 
seiner  Zeit  und  zum  Christenthum  insbesondere  ist  von  Nie- 
mand mit  so  schlagender  Wahrheit  beurtheilt  worden,  wie 
von  Schlosser.  Einerseits  schmiegte  sich,  sagt  Schlosser*), 
Julian  dem  Geiste  seiner  Zeit  allzusehr  an,  andererseits  wi- 
dersetzte er  sich  ihm  auf  eine  vergebliche  Weise.  Das  Erste, 
indem  er  (in  seinem  Briefe  an  Themistius)  ein  betrachtendes 
Leben  für  höher  ansah  als  ein  thäiiges**),  indem  er,  der 
über  die  christlichen  Grübeleien  spottete,  sich  selbst  einer 


•)  ni,  3,  S.  49. 
**)  III,  3,  S.  64- 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler,  483 

ebenso  abstrusen  Mystik  hingab,  indem  er  die  oberflächliche, 
aber  prunkende  und  politisch  kluge  Art  der  Christen,  dem 
Pauperismus  zu  begegnen ,  nachzuahmen  suchte  '*').  Das 
Zweite,  indem  er  sich  dem  Christenthum  im  Ganzen  wider- 
setzte, das  nun  einmal  vom  Zeitgeist  begünstigt  war  *'^).  Die- 
ses Widerstreben  war  ganz  unnöthig,  indem  diejenigen  Ele- 
mente des  Hellenismus,  welche  die  Zeit  noch  festhalten  wollte, 
von  dem  Ghristenthume  aufgenommen  waren  ***),  und  zwar 
in  einer  besseren,  angemesseneren  Gestalt  f ).  Daher  musste 
sein  Widerstand  auch  ganz  vergeblich  sein:  das  Christen- 
thum gab  das  was  er  wollte  in  zeitgemässer  Form  und  hatte 
eine  feste  äussere  Stellung,  die  der  Hellenismus  verloren 
hatte;  das  Christenthum  war  Volksreligion,  was  Julian^s  Hel- 
lenismus, dieses  Gebräu  aus  Poesie,  Philosophie  und  Aber- 
glauben, niemals  werden  konnte  ff),  was  auch  der  ursprüng- 
liche reine  Hellenismus  so  wenig  wieder  werden  konnte,  als 
man  heutzutage  die  geistliche  Zucht  des  Mittelalters  oder  die 
strenge  Glaubenslehre  der  Reformatoren  wieder  einzuführen 
vermöchte  ff  t).  Schlosser  nennt  es  daher  geradezu  eine  Lä- 
cherlichkeit, dass  Julian  den  Merkur  statt  des  Gottes  der 
Christen  anbetete  *f)  und  spricht  von  Julian's  Aberglauben 
als  der  „lächerlichen  Seite  seines  Charakters,  die  seine  Feind- 
schaft gegen  das  Christenthum  fruchtlos  und  albern  machte*'*ff), 
welches  Letztere  insofern  nicht  richtig  ist,  als  mit  der  „natürli- 
chen Religion"  in  jener  Zeit  noch  viel  weniger  anzukommen 
gewesen  wäre.  Schlosser  leitet  diesen  Missgriff  davon  ab,  dass 
Julian  ein  „Pedant" *f ff ) war,  ein  „Büchergelehrter,  demalle 
Kenntniss  des  wirklichen  Lebens  mangelte"  **f ),  während  er 
demselben  gleich  darauf**f  f )  „tiefe  Einsichten  in  das  mensch- 
liche Leben"  zuschreibt.  Schlosser  meint  **fff),  das  rechte 
Verfahren  wäre  gewesen,  dass  Julian  sich  bemüht  hätte,  den 
Zeitgeist  zu  leiten;  er  hätte  das  Christenthum  als  Ganzes 


*)  m,  2,  S.  388-391.  **)  m,  2,  S.  341.  -)  ffl,  '2.  S.  408. 
f)  III,  3,  S.  58.  ff)  III,  2,  S.  342.  ff f)  III,  2,  S.  411.  *f)  ÜI,  2, 
S.  321.  *f f)  m,  2,  S.  336.  •f ff)  ffl,  2,  S.  317.  ^^f)  ffl,  2,8.341. 
**tf)  ffl,  2,  S.  345.    »»ff f)  ffl,  2,  S.  341. 


434  Der  Kaiier  Jukan  und  seine  Beuriheiler. 

anerkennen  und  annehmen  und  nur  von  den  Ausartungen 
es  reinigen  sollen.    „Die  chrislliche  Geistlichkeit,  die  zänki- 
schen Gelehrten,  die  abergläubischen  Pfaffen,  die  spitzfindi- 
gen und  eigensinnigen  Dogmaliker,  welche  die  göttliche  Lehre 
ihres  Meisters  prahlend  zu  einer  menschlichen  Wissenschaft 
ausbilden  wollten,  und  die  Welt  mit  ihrem  Geschrei  über 
lächerliche  Glaubensbestimmungen  erfüllten,  —  hätte  er  im- 
mer entfernen  mögen,  aber  nur  nicht  dafür  armselige  Sophi- 
sten, leere  Schwätzer,  schmeichelnde  Rhetoren  begünstigen 
sollen.'**)    In  Aeusserungen  dieser  Art  culminirt  die  Eigen- 
thümlichkeit  von  Schlosser's  Geschichtsbehandlung.   Aber  wie 
kann'^man  einem  Menschen  zumuthen,   das  Gegentheil  von 
Dem  zu  thun,  wozu  ihn  seine  Natur  und  seine  Entwicklung 
treibt,  was  er  thun  muss!    Julian  hätte  den  Zeilgeist  leiten 
sollen.    War  es  nicht  eben  dies,  was  er  wollte?    Der  Zeit- 
geist war  auf  Mystik,  auf  Grüblerei  gerichtet:  er  nahm  ihn 
auf,  aber  er  wollte  ihn  von  der  Bahn,  welche  nach  seiner 
Ansicht  dem  Staat  nur  Verderben  brachte,  von  der  christli- 
chen weg  und  auf  die  hellenische  lenken.     Nicht  Theologen 
und  nicht  Sophisten  hätte  Julian  begünstigen  sollen.     Wen 
also  denn?    Nicht  wahr,  die  verständigen  Männer ,  welche 
hinaus  sind  über  dogmatische  Leerheiten,  welche  das  Wesen 
der  Religion  ins  Handeln,  ins  Leben  setzen,  mit  Einem  Worte, 
Männer  wie  Schlosser?    Aber  solche  fehlten  eben  gerade  in 
jener  Zeit;  Julian  hatte  nur  die  W^ahl  zwischen  Theologen 
und  Sophisten   oder  vielmehr  zwischen   theologischen  und 
philosophischen  Sophisten  und  er  entschied  sich  für  die  Letz- 
tern«   Dieses  Hofmeistern  der  Geschichte,  diese  Zudringlich- 
keiten gegen  die  Vergangenheit,  dieses  Schelten  derselben 
weil  sie  nicht  Gegenwart  ist,  nicht  den  Anforderungen  des 
Historikers  Genüge  thut,  bildet  die  Schattenseite  vonficblos« 
ser^s  Behandlungsweise.     Zugleich  ist  an  ihm  ein   gewisser 
Pessimismus,   ein  hypochondrisches  Misstrauen   bemerklich, 
welches  Heuchelei  und  Verstellung  wittert,  wo  kein  genügen- 
der Grund  dazu  vorhanden  ist,  wo  es  nur  für  den,  der  die 


*)  ffl,  2,  8.  342. 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  435 

menscfaiiche  Natur  halb  verachten  gelernt  bat,  unwabrschein- 
tich  ist,  dass  unter  diesen  Umsttfnden  dies  die  wahre  Ge- 
sinnung war.  So  bei  Julian's  Weigerung,  die  Augustuswürde 
aus  der  Hand  der  Soldaten  anzunehmen  *),  eine  Weige- 
rung, die  doch  durch  die  Unabsehbarkeit  der  Folgen  eines 
solchen  Schrittes  hinlänglich  motivirt  war,  um  so  mehr,  da 
Julian  doch  bestimmte  Aussicht  hatte,  mit  der  Zeit  auf  legi- 
time Weise  auf  den  Thron  zu  gelangen.  Diese  Verstimmung 
gegen  die  Menschheit  macht  sich**)  in  der  Aeusserung  Luft, 
dass  der  Mensch  überall  zum  Verderben  wende  was  Gott 
zum  Segen  verliehen  habe,  z.  B.  die  Religion,  den  Patriotis- 
mus. Wie,  den  Patriotismus  hat  Gott  verliehen?  die  Reli 
gion  hat  Gott  verliehen?  Quellen  sie  nicht  von  selbst  her- 
vor aus  der  tiefsten  Menschenbrust?  Patriotismus  ist  Liebe 
zum  Vaterland,  Religion  ist  Liebe  zu  Gott,  wie  kann  man 
aber  Liebe  verleihen?  Aber  dieselbe  Unklarheit  in  religiö- 
sen Dingen  treffen  wir  bei  dem  sonst  so  durchaus  klaren 
Manne  allenthalben.  „Julian  verlachte  die  christlichen  Ein- 
richtungen, durch  welche  die  Lehre  der  Liebe  und  der  Sitt- 
lichkeit dem  rohen  und  schamlosen  Volke  angenehm  und 
annehmlich  gemacht  werde#  sollte."  *♦*)  Was  sind  das  für 
Einrichtungen?  Wenn  sie  Julian  verlacht  hat,  so  sind  es 
nicht  die  Mittel  der  Armenpflege,  die  er  vielmehr  nachahmen 
wollte,   sondern  der  christliche  Gultus  und   die  christliche 

Glaubenslehre.  Diese  sind  die  süsse,  dem  Gaumen  desVol- 

# 

kes  angeme^ene  Hülle,  in  welcher  nach  dem  „Plan"  Christi 
dem  Volke  die  demselben  bitter  schmeckende  Pille  der  christ- 
lichen Moral  in  den  Leib  gebracht  werden  soll!  Charakte- 
ristisch ist  auch  die  Art,  wie  Schlosser  Julian's  Schrift  gegen 
das  Christenthum  kritisirt  f ).  ^,  Julian  gab  dem  Wunder- 
glauben im  Christenthum  eine  Bedeutung,  die  er  nicht  hat." 
Für  wen  nicht  hat?  Für  die  jetzige  Zeit?  Können  wir  es 
nur  auch  von  dieser  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  behaupten? 
Wie  viel  weniger,  dass  er  für  die  damalige  Zeit  nicht  hohe 


•)  in,  2,  S.  335.    -)  m,  2,  8,  381.    **•)  HI,  2,  S.  336.    f)  IE, 
3|  S.  76. 


486  Det  Kaiier  JuUan  und  seine  Beurtheiler. 

Bedeutung  gehabt  babel  ,,Julian  vergleicht  Plato's  Theorie 
mit  der  mosaischen  Erzählung  (Über  den  Weltanfang);  er 
verwechselt  also  gleich  jüdische  Poesie  und  christliche  Reli- 
gion.'^ Nun  kann  man  aber  aus  jeder  beliebigen  Dogmatik 
ersehen,  dass  die  mosaische  Schöpfungsgeschichte  ein  Artikel 
des  christlichen  Glaubens  ist  und  auch  zu  Julian^s  Zeit  war  sie 
CS,  und  dieser  hatte  also  vollkommen  Recht  mit  seinem  Ver- 
fahreu;  denn  man  darf  das  Ghrislenthum,  wie  jede  geschicht- 
liche Erscheinung,  nur  auffassen  wie  es  geschichtlich  ist;  an 
seine  Stelle  ein  erträumtes  Ideal  zu  setzen,  ist  eines  Histori- 
kers unwürdig. 

WUssten  wir  nicht,  dass  Schlosser's  Vorzüge  diese  Män- 
gel weit  überstrahlen  und  dass  diese  selbst  nicht  einmal 
seine  Mängel  sind,  sondern  die  der  Zeit,  in  welche  die  Gon- 
solidirung  seiner  Geistesbildung  fiel,  und  wären  wir  nicht 
überzeugt,  dass  der  Mann,  der  die  Eitelkeit  und  Empfind- 
lichkeit der  Gelehrten  so  unzählige  Male  gegeisselt  und  ver- 
lacht hat,  unmöglich  diese  Schwäche  selbst  theilen  kann,  so 
hätten  wir  es  niemals  gewagt,  so  offen  unsere  Ansicht  über 
Schlosser  auszusprechen.  Was  wollen  wir  aber  mit  diesem 
Allem?  Zeigen  möchten  wir,  zunähst  dass  Juiian's  Geschichte 
weder  von  Seiten  der  religiösen  Parteien,  noch  auf  dein 
Standpunkt  des  Subjeclivismus  eine  unbefangene,  richtige 
Auffassung  erfahren  hat;  für  den  Weiterblickenden  aber  wird 
dieses  Eine  Beispiel  nur  ein  Beleg  der  allgemeinen  Wahrheit 
sein,  dass  die  wahre  Geschichlschreibung  von  einem  Prin- 
cipe ausgehen  muss,  von  welchem  die  genannten  Richtungen, 
wenn  auch  in  verschiedenem  Grade,  doch  alle  entfernt  sind. 
Diese  Geschichtsauffassung  ist  —  die  speculative?  Ja  oder 
Nein,  je  nachdem  man  diesen  Begriff  bestimmt.  Meint  man 
jene  Geschichtsdarstellung,  w^elche  die  laut  und  verständlich 
und  eindringlich  tönende  Sprache  der  Geschichte  übersetzen 
zu  müssen  glaubt  in  kahle,  unverständliche  weil  verstand- 
lose Phrasen,  welche  den  Gestalten  der  Vergangenheit  das 
warme  Lebensblul  ablässt,  damit  sie  eher  mit  ihnen  zurecht- 
komme, welche  mit  komischem  Ernste  sich  anstellt,  als  wüsste 
sie   aus   eigenen  Mitteln   die   inneren   Zusammenhänge    der 


Der  Kaiser  Julian  und  seine  Beurtheiler.  43? 

Weltgeschichte  aufzusagen  wie  das  Alphabet^  uxid  die  Pro- 
phetin spielt  bei  Ereignissen,  welche  nur  der  sich  nicht 
wegdenken  kann,  welcher  das  Ende  der  ganzen  Kette  in  der 
Hand  hat,  —  versteht  man  dies  unter  der  speculativen  Ge- 
schichtsbehandlung, dann  nein  und  abermal  nein !  Aber  die 
Bezeichnung  ist  überhaupt  veraltet,  abgeschmackt  und  un* 
passend.  Die  Speculation  hat  Nichts  zu  schaffen  mit  der 
Geschichte;  das  absolute  Sein  und  das  absolute  Nichts,  das 
Sichmitsichselbstvermitteln  und  Sichselzen  als  Andres  seiner, 
das  sind  ihre  Gegenstände  und  die  möge  sie  unbeneidet  be* 
halten,  die  Geschichte  kann  solche  Sächelchen  nicht  brau- 
chen, sie  will  nicht  speculativ,  sondern  geschichtlich  behandelt 
sein.  Denke  man  sich  etwa  die  deutsche  Geschichte  speculativ 
behandelt  y  so  wird  man  die  ganze  Unangemessenheit  dieses 
Standpunktes  empfinden.  Zweierlei  ist  es  besonders,  wo* 
durch  sich  diese  Methode  als  unbrauchbar  darstellt;  das 
eine  betrifft  den  Inhalt,  das  andere  die  Form.  So  regelmäs- 
sig, dass  es  nur  in  der  Methode  selbst  begründet  sein  kann, 
begeht  diese  Geschichtsbehandlung  den  Fehler,  die  logischen 
Kategorien  unmittelbar  zu  identificiren  mit  den  concreten  ge- 
schichtlichen Ereignissen  und  Verhältnissen,  die  doch  unter 
zeitlichen  Bedingungen  entstehen  und  sich  entwickeln.  So 
ist  in  der  Logik  allerdings  das*  letzte  Glied  in  einer  Reihe 
von  Urtheileo  das  reichste,  höchste,  weil  es  die  vorhergehen- 
den in  sich  enthsTit;  in  der  Geschichte  aber  ist  das  anders. 
Die  .Geschichte  hat  kein  logisches  Fortschreiten  in  gerader 
Linie,  sondern  sie  macht  tausenderlei  Krümmungen  und 
grosse  Umwege,  macht  oft  einen  Stillstand,  oft  auch  sehr** 
bedeutende  und  lang  nachwirkende  Rückschritte,  da  bei  der  ^ 
fast  regelmässigen  grossen  UnvoUkommenheit  der  staatlichen 
Verhältnisse  oft  der  Wille  eines  Einzigen  eine  lange  vorbe- 
reitete Entwicklung  verzögert  und  verdirbt.  Diese  Dinge 
vornehm  zu  ignoriren  ist  lächerlich  und  bestraft  sich  immer 
von  selbst.  Was  sodann  die  Form  betrifft,  so  hat  die  soge- 
nannte speculative  Methode  unverantwortlich  sich  dadurch 
versündigt,  dass  sie  muthwillig  die  Gemeinschaft  mit  dem 
gewöhnlichen  Bewusslsein  abbrach  und  sich  geberdete,  als 

Allg.  Zeitnebrift  f.  Geschichte.  Y.  1846.  30 


438  Der  KaUer  Mkm  und  täne  BeurtkeUer. 

biete  sie  etwas  ganz  Neaes  von  aUem  bisher  Dagewesenen 
qualitativ  Unterschiedenes  und  nur  für  Eingeweihte  Erreich- 
bares. Wenn  man  so  sich  abschliesst,  wenn  man  die  Kluft 
zwischen  dem  gründlicher  Gebildeten  und  der  Masse  nur  zu 
erweitern  bemüht  ist,  so  hat  man  kein  Hecht,  Über  Mangel 
an  Theilnabme  sich  zu  beklagen.  Zwar  sind  beide  Mängel 
sehr  im  Abnehmen  begriffen,  aber  das  abstracto  Denken  hat 
so  sehr  den  Geist  und  die  Sprache  verdorben,  dass  man 
gar  nicht  mehr  fühlt,  wo  und  wann  man  unpraktisch  und 
unpopulär  ist.  Die  historische  Unschuld  aber,  der  Sinn,  der 
sich  vorurtheilslos  in  eine  Erscheinung  versenkt,  um  sie  aus 
sich  selbst  zu  verstehen  und  erst  wenn  dieses  geschehen 
ist,  sich  wieder  über  sie  erhebt,  zu  einem  Standpunkt  un- 
befangener Beurtheilung  aufschwingt,  dieser  scheint  Tür  jetzt 
unwiederbringlich  verloren.  Und  doch  besteht  eben  darin 
die  Aufgabe  des  Historikers  und  die  Eigenthümlichkeit  der 
rekk  hisiorischen  Methode.  Die  Geschichte  hat  zum  Gegen- 
stände das  was  gewesen,  was  der  unmittelbaren  Gegenwart 
des  Geistes  entrückt  ist,  was  er  ruhig  sitzend  nicht  errei* 
eben  kann.  Er  muss  sich  daher  aufmachen,  muss  sich  Jos-* 
reissen  von  dem  gewohnten  Kreise,  muss  sich  orientiren 
in  dem  neuen  Lande  und  seine  Sprache  lernen.  Diese  Ent- 
sagung und  diese  Arbeit  ist  das  Erste  was  die  Geschichte 
fordert.  '  Sodann  aber  folgt  daraus  dass  man  es  mit  Gewe- 
senem zu  Ihun  hat, 'das  Weitere,  dass  mah  es  mit  Uninter- 
essirtbeit,  ohne  Liebe  und  Hass  zu  betrachten  habe.  Nur 
was  ist,  was  ich  umfassen  kann,  kann  ich  lieben,  nur  was 

•  •ich  erreichen  kann,  kann  ich  hassen.    Die  Arme  auszubrei- 

*  ten  nach  dem  was  nicht  mehr  ist  oder  die  Faust  zu  baUen 
nach  dem  Untergegangenen  ist  gleich  kindisch  und  lächer- 
lich. Zu  dem  was  nur  für  den  Geist  noch  vorhanden  ist, 
was  in  dem  reinen  Aether  des  Gedankens  sich  bewegt,  kön- 
nen die  kleinen  Gefühle,   kann  Zuneigung  oder  Abneigung 

,  nicht  hinaufreichen;  nur  die  ewige,  von  keiner  Zufälligkeit 
abhäfigige,  inteliectuelle  Liebe  erhält  Zutritt  in  die  himmli- 
schen Räume,  die  Liebe  des  Geistes  zum  Geist  und  um  des 
Geistes  willen«  Diese  Art  von  Liebe  verhütet,  dass  dieUninteres- 


Pwo,  über  den  Charakter  etc.  439 

sirtheit  nie  zur  Interesselosigkeit  werde,  sie  lässt  die  Wärme 
nie  zur  Kühle,  die  Freiheit  und  Unbefangenheit  nie  zur  Härte 
und  UnbilKgkeit  werden.  Ist  es  aber  nur  innerhalb  einer  be- 
stimmten Richtung  möglich,  diesen  Anforderungen,  welche  die 
Greschichte  selbst  macht,  zu  genügen  ?  Ferne  sei  von  uns,  dies 
zu  behaupten,  es  ist  vielmehr  der  Standpunkt,  auf  welchen 
die  ganze  neuere  Geschichte  hinlenkt,  indem  sie  sich  loszu- 
arbeiten sucht  von  den  Fesseln  der  Vergangenheit  und  nach 
einer  selbstständigen  Stellung  ihr  gegenüber  ringt;  es  ist  die 
Geschichtsanschauung^  deren  Princip  schon  Spinoza  m  leuch- 
tenden Worten  ausgesprochen  hat  (res  humanas  non  amare, 
non  odtsse,  sed  intelligere!),  für  deren  Durchführung  aber 
erst  die  Kritik  der  Gegenwart  den  Weg  gebrochen  hat. 
Berlin,  im  Sommer  1844. 

Dr.  W.  Teuf  fei  aus  Tübingen. 


PIIV0  fk1»ei*  den  CliarakAer  ttnfd  die  Besfim- 
itfaiisr  '^^  ^hrlMlicIien  Hanptnatioiten  des 
THUtelaU^na^^  itMmlieh  de^  Italiener,  Deiit- 

sclien  und  Franzosen; 

ans  einer  Wiener  Handschrift  taSt  etlichen  Anmerkungen  herausgegeben 

Dr.  Frledrleli  KM^fttm. 


Uie  Handschrift  der  Hofbibliothek  zu  Wien,  Cod.  hlilt.  prof. 
Nr.  900.  f.  21.,  enthalt  neben  anderm  unter  dem  Titel:  „ ne- 
tto ia  seculi  auctore  Pavone'^  —  merkwürdige  Z^ithfi' 
irachtungen  eines  sonst  unbekannten  Gelehrten.  Ei^ 
schrieb,  wie  da$  21.  Blatt  beweist,  um  1280,  mitftin  in  Einern 
kritischen  Wendepunkt,  als  das  bisher  ttfoerwiegende  Reich 
der  Dentsohen  die  nach  aussen  gehende  Herrsöhaft  äH- 
mähKg  aufgab,  unter  Rudolf  dem  Habsburger  die  scht^tfn« 
kenden  xind  zersplitterten  Innenverhältnisse  ertfä^tt^b' 
ordnete,  «rfs  Frankrerch  unter  Philipp  IH.  durch  Einsäe- 
hung  grösserer  Lehen,  z.  B.  der  Grafschaften  Totilotrse 
und   Chartres,   und   den  VolbAig   der  vortreflPKehen  Saz- 

30* 


440     PaeOj  über  den  Charakter  und  die  Bestimmung  der 

Zungen  Ludwigs  IX.  (des  Heiligen),  grössere  Einheit,  be- 
reits auf  Eoslen  des  deutseh-reichsständischen  Burgund, 
und  festeren  Rechtsbestand  durch  Zügelung  der  hohen 
Lehenträger  gewann,  als  in  Italien  die  Gemeinden  trotz 
einzelner  Gebrechen  und  blutiger  Parteiungen  aufblUheten 
und  im  Norden  neben  den  kleinern  FUrstenstaaten  ent- 
schiedenes Uebergewicht  erhielten,  als  die  Militärmonar- 
chie  Karls  von  Anjou  im  Süden  der  Catastrophe  durch 
das  Blutbad  der  Sicilianischen  Vesper  raschen  Schrittes 
entgegenging,  als  endlich  die  kirchliche  oder  päpstliche 
Macht  den  uro  die  Mitte  des  Jahrhunderts  gewonnenen  Hö- 
hepunkt verliess,  durch  Zügellosigkeit  im  Ablass-  und 
Steuerwesen,  Widerspruch  der  theoretischen  Ansprüche 
zur  thatsächlichen  Erscheinung  (Praxis)  dem  bald  unter 
Bonifacius  VIIL  (seit  1294)  eintretenden,  für  die  Hierarchie 
unglücklichen  ConQict  mit  der  weltlichen  Macht,  nament- 
lich Philipp's  IV.  oder  des  Schönen  von  Frankreich,  ent- 
gegenreifte. In  solcher  Lage  fällte  jener  Unbekannte  sein 
politisch  -  historisches  Urtheil  über  die  Natur  und  Be- 
stimmung der  erwähnten  damaligen  Hauptvölker.  Es  lautet 
also : 

Regnum  Romanonun.  (f.  21.) 
Memorandum  est,  quod  fides  christiana  i.  e.  ecclesia  ro- 
mana  summa  est  humani  generis  et  ideo  per  caeteram  ejus 
mutationem  consideratur  principaliter  niulatio  saeculorum. 
Gaeierum  respublica  ecciesiae  romanae  residet  in  Europa, 
principaliter  tamen  in  Romanorum  regno  et  Francorum. 
Quae  regna  in  tres  partes  dividuntur  h.  e.  in  Italiam,  Teu- 
toniam  et  in  Galliam.  Nam  pater  et  filius  et  spiritus  san- 
etus  unus  Dens  ita  disposuit,  ut  sacerdotium,  regnum 
et  Studium  una  esset  ecclesia.  Cäm  ergo  fides  Christi  his 
tribus  regalur  principatibus,  sacerdotio,  regno  et  studio  et 
sacerdotium  fidem  (sedem?)  teneat  in  Italia  et  regnum 
eandem  teneri  imperet  in  Teutonia  et  Studium  ipsam  te- 
nendam  doceat  in  Gallia,  manifestum  est  quod  in  his  tribus 
provinciis  principalibus  residet  res  publica  fidei  christianae. 
Has  autem  provincias  tres  incolunt  naliones  diversis  disttn« 


christlichen  Hauptnationen  des  Mittelalters  etc.       441 

ctae  moribus,  morum  autem  quidam  sunt  boni,  quidam 
mall,  quidam  medii  i.  e.  ad  utrumlibet  versatibiles.  *) 
Mores *medii  apud  Italicos  sunt  amor  habendi,  apud 
Teutonicos  amor  dominandi,  apud  Gallicos  amor 
sciendi;  quaeiibet  tamen  harum  gentium  habere,  domi- 
nari  et  scire  secundum  plus  et  minus  desiderat.  —  Boni 
mores  (seil,  apud  Italicos)  sunt  hl:  sobrietas,  taciturni- 
tas,  longanimitas,  prudentia  et  quidam alii,  apud  Teu- 
tonicos magnanimitas,  liberalitas,  malis  resistere  et 
miserari  miseri  et  quidam  alii,  apud  Gallicos  justilia, 
temperantia,  concordia,  urbanitas  et  multi  alii.  Mali 
vero  mores  apud  Italicos  sunt  hi:  avaritia,  tenacitas, 
invidia,  simultas  et  mulli  alii;  **)  apud  Teutonicos  cru- 
<lelitas,  rapacitas,  inurbanitas,  discordia  et  multi 
alii;***)   apud    Gallicos   superbia,    luxuria,   clamor, 


*)  Diese  Ansicht  entspringt  aus  Aristoteles,  welcher  bekannt- 
lich die  Sittentugenden  {äfitaZ  ij&txaC)  als  die  Mitte  zwischen 
dem  zu  viel  und  zu  wenig,  dem  Ueberfluss  und  Mangel,  als  das 
richtige  Maass  zwischen  den  äussersten  Richtungen  (Extremen) 
darstellt.  ^yMecÖTijg  ug  äqa  lailv  ^  äginfj  Cioxaimx/t  yc  oSca 
tov  fiiifov,^^    Aristoteles  Ethic.  Nicom.  II,  4. 

**)  VgU  Güntherus  Ligurinus  n.  131.  sqq.  ed.  Dung6. 
„Gens  astuta,  sagax,  prudens,  induslria,  sollers, 
Provida  consilio,  legum  jurisque  perita; 
Gorpore,  mente  Valens,  animo  vigil,  ore  vcnusto, 
Membrorum  levitate  vigcns,  patiensque  laboris, 
Promta  maau,  sermone  fluens,  avidissima  laudis  — 
Invigilans  opibus,  sludiose  parla  reservans  — 
Libertatis  anjans,  pro  qua  nee  tristia  rerum 
Damna,  nee  extremam  gaudet  exhorrescere  mortem. — 
Quoslibet  ex  humili  vulgo  (quod  Gallia  foedum 
Judicat)   accingi  gladio  concedit  equestri,"   Gfr.  Otto  Fris. 
de  geslis  Frider.  L  I.  n,  c.  13. 

•**)  „Nee  enim  ralionis  ordine  regi,  aut  miseratione  deflecti, 
aut  religione  terreri  Theutonica  novit  insania,  quam  et  innatus 
furor  exagUat  et  rapacitas  stimulal.''  Hugo  Falcandus,  Hist. 
SIcula  ap.  Muratori,  script.  rerum  Ilal.  VII.  p.  253. „Gens  dura  et 
saxea."  Ib.  „Vaelibi  fons  celebris  et  praeclari  nominis  Arethusa» 
quac  ad  hanc  devoluta  es  miseriam,  ut  quae  poetarum  solebas 
carmina  modulari,  nunc  Theutonicorum  ebrietatem  mitiges.'^  Ib< 


442    Pavo,  über  den  Charakter  und  die  Bestimmung  der 

garrulitas,   inconstantia,   se  ipsos  amare   ei  omnes 
despicere.  •) 

F.  80.  Quaelibet  harum  gentium  in  tres  ordin^  pria* 
cipales  dividitur,  in  ordinem  popuii,  in  ordinem  miliiiaa 
et  in  ordinem  cleri.  Quiiibet  autem  ordo  se  conformai  suae 
genti,  quaelibet  autem  gens  suis  utitur  moribus;  mores  vero 
sunt  a4ii  conformes  popularibus,  alii  miUtaribus,  aüi  clero, 
u(  amor  habendi,  avaritia  et  invidia  populo,  amor 
dominandi,  rapacitas  et  discordia  miiitiae,  amor 
sciendi,  superbia  ei  luxuria  clero.  Ei  propier  hoc  m 
Italia  regnat  populus,  cui  clenis  ei  miliiia  lllius  terrae  in 
avaritia  ei  invidia  se  conformant,  in  Teutonia  regnat  mi- 
litia,  cui  populus  et  clerus  terrae  in  discordia  et  rapacitate 
conformaiur;  in  Gallia  regnat  clerus,  cui  militia  et  popu- 
lus illius  terrae  in  superbia  ei  luxuria  se  conformant.  Ex 
praediciis  patet,  quod  gens  gallicorum  et  ordo  clericorum 
in  fflorum  aequalitate  sunt  conformes. 

Darauf  fUhrt  der  Verfasser  den  Gedanken  aus,  dass  die 
politische  Stellung  der  Hauptnationen  ihren  charakte- 
ristischen ,  volksthümlichen  Eigenschaften  entsprechen, 
die  Reichsherrschaft  namentlich  den  Deutschen,  die 
päpstliche  ObeHeitung  den  Italienern  angeboren  müsse. 
„Sufficit  igitur,  heisst  es  weiter,  f.  35,  uteligatur  ad  papatum 
Romanus  velltalicus  clericus,  qui  rejecta  avaritia  et  invidia 
firmus  Sit  in  fide,  fo^tis  in  opere,  fervens  in  caritate,  sicut  Petrus 
et  ad  regnum  Germanus  miles  generosus,  magnanimus  et 
prudens,  sicut  fuit  Carolus.  Has  enim  tres  virtutes  haec 
dictio  rex  in  idiomate  teutonico  exprimit,  cum  dicitur cunig, 
idem  generosus  vel  audax,  vel  sciens^nec  est  dubium, quin 


p.  253.  „Tedescbi  lurchi.«  Dante  XVU.  21.  infero.  „Gens 
ferrea  Alemannorum.^'  —  ,,Alemanm  furiosi"  elc.  Gregor  IX.  in 
den  Aniial.  Wormal.    (Böhmer  fontes  rerum  Genn.  U,  177.) 

*)  „Franci  juxta  naturam  nominis  magnae  quidem  sunt  tituto 
vivacikaiis  insignes,  sed,  nisi  rigido  fraenentur  dominio,  inter  ali- 
arum  gentium  torbas  sunt  justo  aequius  feroces.*'  Guibert  p.  483. 
bei  Bougars,  gesla  Dei  per  Francos  t.  L 


J 


r 


ckristlieken  Hauptnationen  des  Mittelalters  etc.      443 

Carolus  fuisset  Teutonicus,  licet  ipse  super  Gallos  regnaverü. 
Ipse  enim  lingua  matema  teutonica  mensibus  et  diebus 
nomina  imposuit  et  etiam  fere  omnia  nomina  regum  Franciae 
inveniuntur  teutonica,  ut  Dagobert,  Sigebert,  Pipin  etc." — 

Historiich^staatf rechtliche  inmerkuig  fiher  die  Ansprflcbe  mid 
Berechtigimgen  der  genannten  Hanptnat&onen  im  Hittelalter. 

Der  Verfasser,  dessen  deutsche  Abkunft  vor  allem  aus 
der  philologischen  Schlussbemerkung  hervorgehen  mischte, 
stehet  auf  der  Warte  der  theocratischen  Weltaosicht.  Die 
christliche  Einheit,  in  der  römisch-katholischen  Kirchan- 
gemeinschaft  niedergelegt,  ist  der  Ausgangspunct,  Euro- 
pa die  für  Wirksamkeit  bestimmte  Kreisperipherie, 
Rom  das  Centrum,  die  Dreieinigkeit  des  Priesterthums, 
des  Reichs  und  der^Wissenschaft,  d.  h.  zunächst  der 
Theologie,  das  zwar  gelheilte,  jedoch  in  der  Glaubens- 
einheit wieder  verbundene  Organ  der  schaffenden  und  er- 
haltenden Lebenskraft,  das  Gleichgewicht  dieser  drei 
nach  eben  so  vielen  HauptvöJkern  ausgedrückten  Potenzen 
die  Bedingung  des  christlichen  Friedens  und  der  christ- 
lichen Ehre.  In -der  That  zeigt  diese  Art  der  theocra- 
tischen Lebens-  und  Weltphilosophie  gegenüber  ihren  frü- 
hern Lehren  und  Ansprüchen  einen  bedeutenden  Wechsel. 
Denn  der  von  den  grossen  Kirchenfürsten  des  dreizehnten 
Jahrhunderts,  Innocenz  HI.,  Gregor  IX.,  Innocenz  IV.^ 
verkündete  und  gehandhabte  Fund amentalsatz  lautete  ganz 
anders.  „Christus,  war  sein  Inhalt,  hat  in  dem  apostoli- 
schen Stuhle  nicht  nur  eine  priesteriiche,  sondern  auch 
königliche  Monarchie  begründet.  Ihr  ist  die  himmlische 
und  irdische  Machtfülle  übertragen,  ihr  schwört  der  römi- 
sche Kaiser  Treue  und  Unterwürfigkeit,  auf  ihren  Wink 
ziehet  und  schwingt  er  das  weltliche  Schwert."  —  Miss- 
brauch des  Sieges  über  die  letzten  Hohenstaufen,  deren 
kirchenrechtlicbe  Opposition  trotz  des  Unglücks  nicht  aus- 
starb, Ueppigkeit  und  Herrschsucht,  Umtriebe  der  fran- 
zösischen, von  den  päpstlichen  Vasallen  in  Neapel  und 
Sicilien   geleiteten  Partei,   Zwietracht  der  Cardinäle,   un- 


444    Pavoj  über  dm  Charakter  und  die  Bestimmung  der 

bändige  Fehden  der  italienischen  Weifen  und  Gibellinen, 
weiche  die  Namen  der  Kirche  und  des  ReicBs  als  Aus- 
hängeschild gebrauchten,  sittlicher  Verfall  des  Clerus  — 
diese  und  verwandte  Umstände  ermässigten  den  dictator- 
ähnlichen  Eifer  des  heiligen  Stuhls.  Seine  Sprache  wurde 
versöhnlicher,  sein  staatsrechtlicher  Anspruch,  wenn 
auch  in  den  HauptbezUgen  ungeändert,  beliebte  mildere 
Formen,  Furcht  und  Hoffnung  sassen  an  der  Yorsteherschaft 
und  brachten,  abhängig  von  den  Begebenheiten,  Widerspruch, 
Schwanken  in  die  Politik  der  Curie.  Hatte  z.  B.  Nico- 
laus in.,  müde  des  anmasslichen ,  geizigen  Lehenmannes, 
im  Geheimen  die  Erhebung  der  Sicilianer  wider  Karl  1. 
von  Anjou  begünstigt,  so  handelte  Martin  IV.  nicht  wie 
ein  Papst,  sondern  wie  ein  geborner  Franzose;  er  sprach 
den  Bann  aus  über  die  Empörer  und  den  neuen  König  der- 
selben, Peter  I.  von  Aragonien.  Fortan  starb  am  römi- 
schen Hofe  eine  französische  Partei,  auf  Neapel  und 
Frankreich  gestützt,  nie  ganz  aus;  ihr  entgegen  wirkten 
italienische,  deutsche  und  anderweitige  Rücksichten; 
Würde,  Eintracht,  Plan  entwichen  aus  dem  GardinaJcoUe- 
gium;  umsonst  hatte  ihm  und  der  gesammten  Wahlcorpora- 
tion  Papst  Gregor  X.,  die  Folgen  vorschauend,  auf  der 
KirchenversammluDg  zu  Lyon  (1274)  eine  strenge  Abge- 
schlossenheit zu  geben  getrachtet;  *)  man  vollzog  den  Be 
scbiuss  nicht,  traf  halbe  Maassregeln.  Wo  Gesinnung  und 
Geist  fehlen,  da  helfen  überdies  keine  Vorschriften  und  Reg- 
lemente.  So  stand  denn  nach  dem  Tode  Nicolaus  IV. 
(1292)  der  heilige  Stuhl  drei  Jahre  lang  unbesetzt;  die  Car- 
dinäle  und  Parteien  haderten  mit  einander,  wählten  endlich 
um  ein  geschmeidiges  Werkzeug  zu  haben,  angeblich  aber 
nach  göttlichem  Wink,  den  gutmütbigen  Schwärmer  und 
Einsiedler,    Peter  de  Murrhone,    als  Cölestin  V.    zum 


*)  „Forma  electioDis  papalis  cliam  ibi  (Lugduoi)  clare  exülit 
dif6nila,  ut  errores  circa  eam  in  postcmm  toilerentur.^'  Johan- 
nes Victoriensis  11,  3.  p.  307.  bei  Böhmer,  Fontes  rerum  Ger- 
manicarum.    t.  I. 


christHchen  Haupinationen  des  Mittelalters  etc.       445 

Apostelfürslen.  *)  Dieser  diente  etliche  Monate  lang  (Juli 
bis  Dec.  1294)  den  ehrgeizigen  und  selbstsüchtigen  Gardinä- 
len  als  Puppe,  dankte  sodann,  scheinbar  freiwillig,  ab.  Sein 
Nachfolger,  Bonifacius  VIII.,  besass  bei  ziemlich  schlechten 
Sitten  das  Vollgefühl  päpstlicher  Machtvollkommenheit,  konnte 
aber  im  Gonflict  mit  dem  schlauen  und  gewaltthätigen  Fran- 
zosenkönig Philipp  dem  Schönen,  und  bei  schon  geänder- 
tem Zeitgeist  die  Höhe  der  eingenommenen  Stellung  nicht 
behaupten.  Sein  kläglicher  Fall  eweckte  geringes  Beileid} 
ohne  Geräusch  und  nachhaltige  Bewegung  wurde  der  hei- 
lige Stuhl,  welchen  der  Franzose  Glemens  V.  einnahm 
(seit  1305)**)  von  Rom  gen  Avignon  verlegt,  der  Papst 
in  ein  Werkzeug  des  von  dem  neuen  Protector  wider  die 
Hierarchie  und  das  deutsche  Reich  entfalteten  Politik 
umgewandelt.  Italien  hörte  sofort  auf,  Hauptsitz  und  er- 
ster Schauplatz  der  kirchlichen  Dinge  zu  sein, 
Frankreich  aber  besass  für  die  neue  Rolle  weder  Fä- 
higkeit  noch  Willen*,  alles  schwankte  und  wurde  unge- 
wiss; man  sehnte  sich  zurück  nach  Italien  und  Rom; 
Stolz,  Ueppigkeit  und  Selbstsucht  der  neuen  Schirm- 
herrn griffen  schädlicher  in  die  kirchliche  Vorsteherschaft 
ein  denn  die  Democratie  und  die  Gewinnsucht  der 
Italiener:  Frankrieichs  Sitten  ertrugen  das  Papstthum 
nicht;  der  allerchristlichste  König  wurde  der  Kerker- 
meister des  Apostelfürsten  und  die  Quelle  eines  Aerger- 
nisses,  welches  die  gesammte  Ghristenheit  traf  und  erschütterte. 
Dass   diese  Wendung  kam,    davon   lag   zum  Theil  der 


*)  Quo  (Nicoiao)  moriuo  vaeavit  sedes  aposlolica  propter  dis- 
cordiaai  cardinalium  plus  quam  tribus  annis. 

Et  tandem  idem  cardinales,  ut  credilur  nutu  diviuo,  Concor- 
daverunt  in  quendam  virum  rectum  et  religiosum  —  qui  electus  Ce- 
lestinus  est  vocatus/^  Eberhardus  Altahensis  bei  Böhmer 
II,  536. 

**)  Transtulit  curiam  suam  priruus  in  Burdegalim  ultra  montes, 
quam  ecclesiam  ipse  prius  gubernabat.  Invitatus  cnim  fuit  a  rege 
Francie,  qui  omnem  sibi  honorem  promittens  perFranciam  in  suo 
dominio  exhibendum,  eo  quod  Itali  et  Romani  raro  summis  ponti- 
ficibu9  adbeserini  plena  fide.^'    Job.  Victor.  III,  6.  p.  349. 


446  Paeo,  über  den  Charakter  und  die  Bestimmung  der 

Grund  in  dem  raschen  Verfall  des  an  die  Deutschen  bis- 
her geknüpften  römischen  Reichs  oder  des  weltlichen 
Proteclorats  der  christlich-katholischen  Glaubens- 
macht. Herkommen,  militärische  Sitten  des  in  der  Bil- 
dung vielfach  hinter  Italien  und  Frankreich  zurückgeblie- 
benen Volkes,  sprachen  fiir  das  kaiserliche  Herrschaft s- 
princip  der  alten  Zeit,  Zwietracht  und  Zerrissenheit  der 
Hauptlande,  AbsonderungsgelUste  der  Fürsten,  kirch- 
lich-religiöser Hader,  Aufstreben  der  städtischen,  den 
Adel  und  die  Fürsten  bekämpfenden  Democratie  und 
ihrer  Bündnisse,  —  diese  Umstände  schwächten  haupt- 
sächlich den  Goncentrationspunkt  und  kündigten  eine 
neue,  in  mancher  Rücksicht  reichere  Entwicklung  an. 
Dafür  wirkten  selbst  die  damaligen  Schwächen  und  Ei- 
genheiten der  Nation,  die  Raub«  und  Rauflust,  in  tau* 
sendfach  gestalteten  Fehden  siditbar,  der  rauhe,  derbe  Auf- 
tritt, für  das  jetzt  aufgezogene  Gewebe  der  Diplomatie 
nicht  geeignet,  und  das  eckige,  schneidende  Benehmen  ge- 
gen die  Fremden,  deren  Sprachen,  Sitten  und  Lebensan- 
schauungen  theils  verachtet,  theils  von  der  Eitelkeit  und  Ge- 
winnsucht, z.  B.  bei  der  Wahl  Richard^s  von  Gornwaitis, 
durch  die  Grossen  ausgebeutet  wurden.  Dazu  trat  seit  dem 
Untergange  der  Hohenstaufen  ein  innerliches,  religiös- 
kirchliches Schwanken;  man  fühlte  die  Leere  mancher 
Formeln  und  Ueberiieferungen  und  trachtete,  nicht  befähigt 
für  dialectische  Spitzfindigkeiten,  durch  ein  mystisch- 
populäres Benehmen  den  entdeckten  Riss  auszufüllen. 
Grübler  und  Glaubensprediger  traten  auf  und  fanden 
ein  zahlreiches,  gespanntes  Publicum;  der  alte  Militärgeist 
erschlaffte,  feinere,  oft  aber  auch  verweichlichende  Richtun- 
gen machten  sich  geltend;  die  bisher  erstrebte,  häufig  ge- 
wonnene Wellherrschaft  zerbröckelte  und  entschlüpfte; 
Mystik  und  Democratie  wurden  ihre  stärksten,  gefähr- 
lichsten Feinde;  über  60,000  Menschen  horchten  unter  freiem 
Himmel  den  Predigten  des  Regensburger  Minoritenmönches 
Barthold "^X  ein  geistlicher  Hunger,  begleitet  von  vielfa- 
*)  Hermannus  AUahensis  ad  a.  1250,  bei  Böhmer  II,  507* 


christlichen  Hauptnationefi  des  MUtekUiers  etc.      447 

cfaem,  leiblichem  Elend,  zeigte  die  bisherige  Oede  des 
YolksuDterrichts;  dafür  konnte  die  sonst  lebendige  und 
schöpferische  Dichtkunst  keinen  Ersatz  geben.  Ueberdies 
stockte  auch  sie  in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts;  der  Adel  versank  in  die  fiilfaere Bohi^ü ;  Fehden 
und  Wegelagerungen  bildeten  seine  Hauptkraft  und  nöthig- 
ten  den  Bürger  zu  schirmenden  Bündnissen.  Diese  und 
die  Städte  blühe  ten  rasch  auf,  indess  der  Herrenstand 
ähnliche  Vereine  für  seinen  Nutzen  entgegenstellte,  und 
die  grösseren  Fürsten  mit  Erfolg  nach  der  Landeshoheit 
strebten.  Dem  König«  und  Kaiserthum  aber  entwichen 
die  Mittel,  den  erstarkenden  Gegensatz  des  democrati- 
schen  und  aristoctatischen  Princips  auszugleichen  und 
zu  meistern;  es  zog  sich  also  auf  häuslich-dynastische 
Grundlagen  zurück,  nur  selten,  wie  Heinrich  VU.  der 
Luxemburger,  über  diese  bescheidene  Linie  hinausschrei- 
tend und  der  alten  Weltherrschaft  jenseit  des  Gebirges 
eingedenk.  Italien, Burgund,  Stücke  Lothringens  gingen 
alimählig  verloren;  Ober«Alemannien  trat  als  freie  Eid- 
genossenschaft thatsächlich  in  ein  fast  unabhängiges  Verhalt- 
niss  ein,  der  süddeutsche  Städtebund  kämpfte  mit  an- 
fangs schwankendem,  darnach  unglücklichem  Ausgang  für  das- 
selbe Ziel,  im  Nordosten  schaltete  die  Hansa;  innerhalb 
fünfzig  bis  sechzig  Jahren  (1330 — 1390)  wurden  beinahe  alle 
Städte  democratisirt;  ein  technisch-bürgerliches 
Leben,  von  gleichartigen  Sitten  begleitet,  errang  die  Vor- 
hand; die  Dictatur  der  Deutschen  hörte  auf;  Künste, 
Wissenschaften,  Verkehr  und  Gewerblichkeit  traten 
als  die  Factoren  des  neuen,  lockern  Föderalismus  her- 
vor, welcher  Lehenrepubiiken  und  Lehenmonarchien 
durch  das  schwache  Band  der  Hauskönige  d.  h.  der  auf 
dynastisch -territoriale  Dinge  apgewiesenen  Beichs- 
oberhäupter  nothdürflig  einigte.  So  ging  es  fort  bis  zum 
Scbiuss  des  Mittelalters,  welches  mit  der  Osmanischen 
Einbürgerung  in  Europa  endigt. 

Dass   die   deutsche  Beichsidee  diesen  Gang   nahm 
und  von  dem  früher  beobachteten  Grundgesetz  der  natio- 


448  Paeo,  über  den  Charakter  und  die  Be9Ümmung  der 

nalen,  unabhängigen  Abgeschlossenheit  sich  schrittlings 
entfernte,  erhellt  aus  unbezweifelten  Thatsachen.  Nach 
dem  Tode  Friedrichs  II.  nämlich  gebot  die  Kirche  oder  der 
Papst,  welcher  bereits  bei  früheren  Wendepunkten  des  gros- 
sen Staatsprocesses  ähnliche  Ansprüche  erhoben  und  durch- 
geführt hatte,  den  Wahlfürsten,  einen  tauglichen,  wohlge- 
sinnten König  zu  ernennen*).  Sofort  erkoren  jene,  unein- 
gedenk  der  vaterländischen  Ehre,  die  Einen  den  König 
Alphons  von  Gastilien,  die  Andern  den  englischen  Prin- 
zen Richard  von  Gornwallis  (1257).  Beide Factionen ge- 
horchten der  schändlichsten  Geldbestechung;  Ränke,  Gewalt, 
Raub  und  Mord,  hauseten  straflos;  der  Einzelne  sorgte  für 
sich,  das  Unrecht  für  Alle;  selbst  Gonradin  wurde  theil- 
weise  durch  Arglist  und  Verrath  der  Reichsfürsten  in  den 
Kerker,  auf  das  Schaffet  gebracht.  Unabhängiger  von  Rom 
gestaltete  sich  zwar  die  Wahl  Rudolfs  von  Habsburg, 
aber  auch  ihm  geboten  Brauch  und  Klugheit,  die  Bestäti- 
gung (confirmatio)  durch  Gregor  X.  zu  erbitten**)  und 
dafür  Italien  preiszugeben.  Der  freilich  zwiespältig  erkorne 
KönigAlbrecht  1.  sandte  für  die  päpstliche  Genehmigung 
eine  feierliche  Botschaft  gen  Rom  (1302).  Stolz  antwortete 
Bonifacius  VIII:  „Du  hast  getödtet  (den  König  AdolQ 
und  Besitz  genommen."  Traurig  kehrten  die  Deutschen 
zurück ♦♦♦). —  Geschmeidiger  war  Glemens  V.;  durch  frü- 
here Unterhandlungen  gewonnen,  bestätigte  er  die  Wahl  des 
ritterlichen ,  später  betrogenen  Luxemburgers  Heinrich 
(1308)  f).    Dieses  Markten  und  Handeln  in  Betreff  der  hoch- 


*)  „A.  1256  vacante  regno  summus  pontifex  mandat  eleclori- 
bus,  ut  virum  idoneum  eligant,  qui  iura  ecclesiae  defendal,  iudi- 
cium  et  iusticiam  exerceat,  et  regni  gubernacula  provide  possideat. 
—  Darnach  weiter:  Sicque  regnum  collidebalur,  habitisque  regibus 
et  quasi  non  regibus  caicabalur."    J oh.  Victor.  I,  5.  p.  289. 

**)  „Dominum  Rudolfum  electum  per  principes  Alemannie  in 
Romanorum  regem,  et  electionem  de  ipso  factam  confirmavit.'* 
(a.  1274)  Eberhardus  Altahensis  bei  Böhmer  11,  p.  529. 

*•*)  Johannes  Victor.  III,  4.  p.  344.  „Nuncii  cum  tristitiasunt 
reversi." 

t)  ;}Qui  (Clemens)  quoniam  ejus  (Henrici)  aliqualiter  notitiam 


christlichen  Hauptnationen  des  Mittelalters  etc.      449 

slen  Nationalrechte  dauerte  so  lange,  bis  endlich  unter 
Ludwig  dem  Baier  der  Frankfurter  Reichstag  zur  ur- 
sprünglichen Grundlage  einlenkte.  „Der  einhellig  oder 
durch  Stimmenmehrheit  von  den  Ghurfürsten  ge- 
wählte römische  König  oder  Kaiser,  lautete  der  Be 
schluss,  bedarf  der  Bestätigung  von  Seiten  des  apo- 
stolischen Stuhls  durchaus  nicht"  (133$  8.  Au- 
gust).*) Für  den  Vollzug  des  altdeutschen  Reichs-  und 
Rechtsverhältnisses  fehlten  jedoch  in  der  Zukunft  nur  zu 
oft  Kraft  und  Eintracht;  die  doctrinelle  Ansicht  blieb 
im  Allgemeinen  gültig  und  beständig,  die  thatsächliche 
Wirklichkeit  aber  widerstrebte  vielfach  und  zeugte  für  den 
Zerbröcklungsprocess  des  an  Deutschland  geknüpf- 
ten Kaiserthums  oder  christlich-weltlichen  Protectorats. 

Auch  für  Frankreich  als  das  drille  Hauptland  der 
Christenheit  trat  seit  dem  Ende  des  dreizehnten  Jabrhun* 
derts  allmählig  eine  Umwandelung  hervor.  Es  gab  die 
clerikal- wissenschaftlich  -  künstlerische  Hauptseite 
gemach  auf  und  rückte  bei  dem  Wachsthum  der  Grenzen, 
bei  gesteigerter  Einheit  und  Geschäfsordnung  theil- 
weise  in  den  leer  gewordenen  Kreis  Deutschlands  ein, 
drängte  an  den  Marken  Burgund's,  Lothringen^s,  Flan- 
dern's  mit  wachsendem Bewusstsein  der  militärisch-po- 
litischen Kräfte  vor,  strebte  nach  Concentration,  wäh- 
rend diese  Deutschland  gegen  steigenden  Föderalismus 
der  fürstlichen  und  freistädtischen  Territorien  austauschte. 

Bis  zu  diesem  Wendepunkte  hin,  welchen  Pavo  voraus- 
sieht, ist  Frankreich  die  Niederlage  und  der  Hauptsitz  des 
Wissens,  der  theologisch-speculatlven  Gelehrsamkeit 
gewesen.  Seit  dem  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts  gab 
dafür   vor  allem   die  gemach  aus  freivsilliger  Association 


faabuit,  electionem  approbavit,  et  confirmatum  ad  coronam  inoperil 
invitavil."    Job.  Victor.    IV,  1.  p.  360. 

*)  —  „plenariam  habet  polestatem,  nee  Papae  sive  sedis  Apo- 
sloHcae  aut  aticuius  alterius  approbatione,  confirmatione,  auctoritate 
indiget  vel  consensu.'*  S.  Den  Reichsabschied  bei  Oertel,  Staats- 
grundgeselze  des  deutschen  Reichs.    S.  48.  §.  3  und  4. 


450    Paito,  über  den  Charakter  und  die  Bestimmung  der 

der  Lehrenden  und  Lernenden    gewordene  Universi- 
jtÄt  Paris  den  Ton  an.    Hier  erwarben  Fremcje  undEinhei- 
miscbe,  besonders  unter  der  milden  und  anregenden  Regie 
rungLudwig's  IX.  oder  des  Heiligen,  literarischenRuhm 
und  verbreiteten  ihre  speculativ-theologische  Wirksani- 
keil  in  verschiedenen  Schulen  und  Gegensätzen  Über  Theile 
Deutscniand's,  lialien's.  England's,    durch    die   den 
Aristoteles  und  mannichfaltlge  Naturwissenschaft  pfle- 
genden Araber  mit  Spanien  und  dem  Orient  verbunden. 
Der  ernste,   nüchterne  Sinn  des  Nordfranzosen,   die  ei- 
serne, von  der  geistlich-religiösen  Mönchs«*  und  Laienas- 
cetik   auf  wissenschaftliche   Forschungen   übergehei^de 
Ausdauer,  die  thatkräftigeBeihülfe  mancher  für  das  Schöne 
und  Wahre  empfänglichen  Regierungen,   die  den  Geist  und 
das  Gemüth  spannende  Idee  der  Kreuzzüge,  der  concur- 
rirende  Wetteifer   mit  dem  poetisch«phantasiereichen 
Süden,  —  diese  Umstände  gaben  den  Franzosen  imzwölf- 
ten  und  dreizehnten  Jahrhundert   die  Hegemonie  der  ho- 
hem christlichen  Wissenschaft  und   machten  Paris  zum 
Hauptquartier  derselben.    Denn  während  Abälard  (st.  1142), 
Wilhelm  von  Couches  (st.  1150),  Guilbert  de  la  Porree 
(Torretanus.  st.  1154),  Petrus  Lombardus  (st.  1164)  nun 
die  rationalistischdialectische  Theologie  tiefer  begrün- 
deten, setzten  ihr  Bernhard  vop  Clairvaux  (st.  1153)  und 
die  mystisch-speculative  Schule  von   St.  Victor,    den 
Deutschen  Hugo  an  der  Spitze  (st.  1141),  einen  zügelnden, 
dogmatisch-dialectischenDamm  entgegen.    Selbst  in  die 
Poesie  griff  die  ernste,  oft  spitzfindige  Bewegung  ein,  wie, 
andere  Beispiele  zu  übergehen,  die  Lehrgedichte  des  tiefsin- 
nigen Omons  (um  1265)  beweisen.    Sein  in  der  Volksspra- 
che geschriebenes  Weltbild  ist  offenbar  auf  einen  grössera 
Leserkreis   berechnet;    es   verbindet   Sagen    mit    abstracten 
Wahrheiten,  einzelne  ausschweifende,  ketzerische  Lehren  mit 
wirklichem  Aberglauben,  und  entblödet  sich  in  dem  stolzen 
Selbstgefühl  nicht,  Paris  und  Athen  zu  vergleichen*).  Auch 


')  S.   F.  C.  Schlosser,  Vincent  von  Beauvais.    n,  172. 


christlichen  Haupitmiianen  des  Miitelaliers  eic,    451 

der  vierfache  Spiegel  (speculum  quadruples)  des  Domi- 
nikaners Vincent  von  Beauvais  (st.  um  1264),  eine  Art 
philosophischer  Encyklopädie  aller  Wissenschaften, 
zeugt  für  den  Umfang  und  die  Tiefe  der  wissenschaftlichen 
Theilnahme,  welche  den  Glerus  und  Adel,  die  Städte  und 
den  Hof  ergriffen  hatte.  Selbst  Frauen,  wie  schon  Abä- 
lard*$  Helo^ise  beweist,  scheueten  den  Kampf  der  dialec- 
tisch-theologischen Bewegung  nicht,  und  die  vielen  vor- 
trefflichen Schulen  in  Paris,  Rheims,  Laon,  Poitiers,  Or- 
leans, SHz  derfiumanis.ten,  Mans^  Angers,  Chartres, 
S.  Denys  u.  s.  w.,  Sorgten  für  nie  ausgehende  Nahrung  des 
Geistes.  Ausgezeichnete  Fremde,  wie  der  Deutsche  Albert 
(st.  1280),  die  Italiener  Thomas  d'A*quino  (st.  1274)  und 
Bonaventura  (st.  1274),  die  Engländer  Johannes  Dnns 
(Scotus  st.  1308)  und  Roger  Bacon  (st.  1294)  befruchteten 
meistens  in  Frankreich  die  Wurzel  ihres  wissenschaftlichen 
Lebensbaumes  und  gewannen  mehr  oder  weniger  Ruf  durch 
Auftritt  in  der  Pariser  Hochschule.  EineUqzahl  vonHand- 
und  Lehrbüchern  (Summen),  durch  Abschreiber  und  Buch- 
händler der  Universität  vervielfacht  und  ausgebreitet,  un- 
terhielt den  literarischen  Verkehr  und  eröffnete  für  die 
Wissenschaften  einen  wachsenden  Geschäfts-  und  Nah- 
rungszweig. Gleichzeitig  blübete  besonders  im  Süden  die 
poetische  Nationaliiteratur  seit  dem  Anfang  des  zwölften 
Jahrhunderts  auf  und  erzeugte  bis  zum  Ende  der  unglück- 
lichen Albigenserkriege  (um  1230)  einen  ununterbroche- 
nen Wettgesang  provenzalischer  Helden-  und  Minnelieder. 
Sie  verknüpften  poetisch  Deutschland  und  Italien,  Spa- 
nien und  Frankreich,  gleichwie  wissenschaftlich  die 
theologisch-philosophische  Speculation  ohne  klares Bewusst- 
sein  demselben  Ziele  entgegenstrebte.  —  In  den  Sitten  der 
höhern  Stände  bildeten  Glanz-  und  Prunksucht,  vornehmer, 
den  gelehrten  und  künstlerischen  Klassen  nur  zuoflbe^voh- 
nender  Ton,  Mangel  an  Gleichheitsgefühl,  selbstgefällige  Red- 
Seligkeit  den  Schatten  des  öffentlichen  Wesens,  Züge,  wie 
sie  mit  Grund  der  Verfasser  des  publicistischen  Aufsatzes, 
Pavo,  hervorhebt.  —  Um  den  Ausgaiig  des  dreizehnten  und 


452  Pavo,  über  den  Charakter  etc. 

den  Anfang  des  vierzehnten  Jahrhunderts  trat  für  Frank- 
reich allmählig  ein  umgestaltender  Wendepunkt  hervor; 
statt  der  territorialen  Zerstücklung  wurde  Goncentra- 
tion  zu  Gunsten  der  Krongeviralt,  statt  des  wissenschaft- 
lich-künstlerischen Lebens  eine  practisch-admini- 
strative  Richtung  erstrebt  und  auch  vielfach  auf  Kosten  der 
bisherigen  treibenden  Hebel  bewerkstelligt,  so  weit  das  über- 
haupt im  Bereich  des  Mittelalters  möglich  erscheint.  Also 
fand  die  schon  unter  Philipp  August  (st.  1223)  häu6ger 
gewordene  Einziehung  der  durch  Tod,  Acht  und  Kriegsgiück 
erledigten  Lehen  grundsätzlichen  (systematischen)  Spiel- 
raum, gewann  die  unter  Ludwig  IX.  (st.  1270)  geordnete 
Rechtspflege  zu  (Tunsten  des  königlichen  Oberhofes 
grössere  Ausdehnung  in  den  Gebieten  der  zwieträchtigen  und 
eigensüchtigen  Lehenherrn,  bekamen  unter  Philipp  IV. 
oder  dem  Schönen  (st.  1315)  das  Ansehen  und  die  Macht 
der  Monarchie  neue  Kräfte,  indem  man  hier  den  Sitz  der 
gebrochenen  Hierarchie  nach  Avignon  verlegte  (s.  1309), 
dort  durch  eigene  und  päpstliche  Gewalt  den  Tempel- 
herrenorden aufhob  und  die  Erbschaft  desselben  antrat 
(1311),  endlich  in  Lothringen,  Burgund  und  an  den  flan- 
drischen Grenzen  auf  Kosten  Deutschlands  etliche  für 
die  Zukunft  berechnete  Marksteine  errichtete,  überhaupt 
nichts  verabsäumte,  um  die  Feudalaristocratie  zu  bre- 
chen und  den  Gesammtstaat  bei  wachsender  Kronmacht 
nach  innen  und  aussen  hin  zu  verstärken.  Dieses  auf 
übrigens  zeitgemässe  Goncentra  lion  gerichtete,  consequente 
Streben  der  französischen  Regierung  unterbrach  zwar  der 
hundert  drei  und  zwanzigjährige  Nationalkrieg  mit  Engl  and 
(1337 — 1460),  aber  die  leitenden  Grundsätze  traten  bei  dem 
glücklichen  Ausgang  des  erschöpfenden  Kampfes  mit  frischer 
Kraft  hervor.  Am  Wende-  und  Scheidepunkt  des  Mittelal- 
ters*aufgestellt,  konnte  Ludwig  XL  grösstentheils  das 
Werk  der  Väter  vollenden,  den  Bau  einer  starken;  sämmtliche 
Lande  und  Körp'^rschaften  Frankreichs  umfassenden  Monar- 
chie, welche  in  der  Art  früheren  Entwicklungen  der  Nation 
unbekannt  war  (1461  -^  1483.).    Demgemäss  wandelten  sich 


Gegen  Albert  Schotts  Weifen  und  Gibelinge.         453 

auch  die  Sitten  und  geistigen  Tendenzen  um;  jene  wur- 
den rauh  militärisch,  in  den  höhern  Kreisen  abgeschliffe- 
ner, diese  practisch-poiitisch,  wie  denn  die  theologische 
Speculation  sank,  Geschichts-  und  Staatswissenschaf- 
ten stiegen. 


C^egen  Albei*«  fScliotts  ITelfen  u.  Oibellngre.*) 


In  unsrer  litera(ur  gehn  bei  heilem  tag  gespenster,  die 
gebannt  werden  und  dennoch  wieder  zu  erscheinen  versu- 
chen, eh  sie  endlich  hinab  sinken,  so  hatte  Eccard  den  üb- 
len gedanken,  in  Reinhart  und  Isengrin  stecke  satire  auf 
einen  alten  dux  Reginarius  und  comes  Isanricus;  nachdem 
dieser  fund  eine  weüe  sich  umgetriebea  hatte,  wurde  er  von 
Mone  noch  weit  bestimmter  aufgegriffen  und  das  alte  gedieht 
bis  ins  einzelne  muste  halsbrechende  anwendung  auf  die  ge- 
schichte  erleiden.  Ein  anderes  beispiel  liefert  der  in  Italien 
zuerst  ausgegangne  und  dort  gewöhnlich  unverstandne  oder 
abenteuerlich  gedeutete  parteiname  der  Guelfen  und  Gibel- 
linen,  den  man  in  Deutschland  mit  recht  nach  Otto  von 
Freisingen  (de  gest.  Frid.  2,  2)  auslegte,  bis  in  unsern  tagen 
die  beschäftigung  mit  altdeutscher  poesie  auf  abwege  leitete. 
Göttling  bekam  den  einfall,  weil  Conrad  der  Gibelline  aus 
Worms  stamme,  wo  die  heldensage  könig  Gibich  hausen, 
lasse,  so  sei  von  Gibechingen  zu  Gibelingen  kein  sprung, 
folglich  seien  die  Nibelungen  wahrhafte  Gibellinen,  und  kraft 
dieser  entdeckung  wurden  nun  sämtliche  gedichte  unsers 
mittelalters  gemustert,  um  in  ihnen  entweder  guelfische  oder 
gibellinische  färbe  aufzuweisen.  Der  verehrte  mann,  glaube 
ich,  wird  diese  Jugendsünde  sich  längst  haben  gereuen  las- 
sen; wenn  wir  die  alten  dichter  unbefangen  lesen,  lernen 
wir  bald,  dass  sie  den  inhalt  der  ihnen  zugebrachten  werke 
für  eine  Wahrheit  achteten,  an  dein  sie  ihre  darstellungsgabe 


*)  Im  vorigen  Heft  S.  317  ff.  Red. 

Allg.  Zeitschrift  f.  Geschicli^e.  V.   1846.  3  j[ 


454        e^gen  Albert  SchottM^  Weifen  tsnd  OibeUnge. 

vereuehen  dürften,  den  sie  nie  mit  absicbl  veränderten.  Sie 
gaben  höBschen  Stoffen,  die  der  feinen  weit  mebr  zusag- 
ten, als  die  lang  unter  dem  volk  gesungnen,  den  Vorzug 
und  streuten  auch  anspielungen  auf  die  Zeitgeschichte  ein} 
nie  aber  verrUckten  sie  den  gang  und  das  wesen  der  fabel, 
die  in  höherem  alterthum  entprungen  war,  durch  einmischung 
politischer  Vorstellungen  aus  ihrer  eignen  zeit  Da  sich  nun 
zeigen  lässt,  dass  den  deutschen  dichtem  und  geschicht- 
schreibern  des  zwölften,  dreizehnten  Jahrhunderts  der  ge- 
gensatz  zwischen  Weifen  und  Gibellinen  in  italienischer 
schärfe  unbekannt  war,  so  besteht,  meines  erachtens,  zwi- 
schen Nibelungen  und  Gibellinen  auch  nicht  der  geringste 
Zusammenhang. 

Gleichwol  ist  eine  solche  annähme  schon  vor  zehn  jafa- 
ren  von  Hone,  und  neuerdings  von  Schott  wieder  hervor- 
geholt worden.  Bei  jenem  kann  man  immer  lernen,  auch 
wenn  ihm  beizupflichten  unmöglich  ist,  weil  seine  behaup- 
tungen  jederzeit  aus  reichem  und  fleissigem  quellenstudium 
bervorgehn;  ich  finde  nicht  dass  Schott  neues  material  zu-' 
bringt,  er  schöpft  es  aus  Ducange,  Mone,  Stalin,  und  ergeht 
sich  in  combinationen. 

Ueber  die  Weifen  kann  eigentlich  kein  streit  sein.  Das 
althochdeutsche  huelf  bedeutet  catulus,  catellus,  und  wird 
bald  männlich  mit  dem  pl.  huelfä  oder  huelß,  bald  neutral 
mit  dem  pl.  huelfir  gebraucht;  die  meisten  denkmäler  tilgen 
aber  schon  die  anlautende  aspirata,  und  setzen  weif.  Das 
F  in  diesem  wort  ist  ein  solches,  welches  gothischem,  nor- 
dischem und  sächsischem  P  entspricht,  die  altnordische 
form  lautet  hvelpr,  dän.  schwed.  hvalp,  die  altsächsische 
huelp  (Falkos  trad.  corb.  360.  406  haben  Huelp,  98.  106 
Weif))  die  angelsächsische  hvelp;  in  der  sächsischen  chronik 
(Scheiter  86)  steht  Henrik  dat  welp  im  reim  auf  gelp  (ahd. 
gelO,  bekannt  ist  die  schlacht  am  Welpes  holt  (Pertz  5,  8. 
113),  mhd.  Wolfes  holz.  Für  die  golhische  spräche  mut- 
masse  ich  entweder  hvalps  pl.  hvalpeis  oder  hvalp  pl.  hval- 
piza.  Beides  jene  aspiration  und  das  F  =  P  zeigen  an,  dass 
das  wort  ganz  unverwandt  sei   mit   wolf  lupus,   dessen  P 


Gegen  Albert  Schoiii  Weifen  und  eibeUnge.         455 

auch  in  den  übrigen  sprachen  bleibt,  golb.  vulfs,  ags.  volf, 
altn.  üifr. 

Der  aus  huelf  entnommne  eigenname  lautet  gleichfalls 
Huelf  oder  Weif,  aits.  Huelp  (wie  die  falkischen  stellen  wei- 
sen), doch  daneben  gilt  Huelfo.  Die  geschichtschreiber 
schwanken,  bei  Lambert  lese  ich  nur  Weif  (Perlz  7,  179. 
227.  234.  243.  250.  255.  262)^,  bei  Bernoldus  Weif  (Pertz  7, 
429.  439.  445  447,  in  der  letzten  stelle  eraso  o),  dann  Welfo 
(7,  452.  453.  461.  465)  und  in  der  flexion  Welfoni  (7,  444. 
449.  456)  Welfonem  (7,  456)  Welfone  (7,  463),  es  scheint 
dass  der  Schreiber  anfangs  die  starke,  hernach  die  schwache 
form  setzte,  wenn  man  nicht  zwei  verschiedne  Schreiber 
vermuten  darf.  Aber  auch  Berthold  bat  Weif  (7,  275. 283.  296) 
mit  der  lat.  Qoxion  Weiß  (7,  298)  Welfo  (295.  300)  Welfum 
(299.  302)  neben  dem  nom.  Welfo  (312.  316.  319)  gen.  Wel- 
fonis  (319).  Bei  Ekkehanl  begegnet-  zwar  der  lat.  gen.  Welpi 
comitis  (8,  171)  und  einmal  die  seltsame  Schreibung  Waiulfus 
(8,221)  statt  Welfus,  doch  gewöhnlich  steht  Welefo  (8, 200.  205. 
208.  209)  mit  dem  gen.  V^elfonis  (220)  dat.  Welefone  (202). 
Der  annalisU  Saxo  hat  Weif  (8,  698)  oder  Welphus  (694.  736), 
aber  wiederum  Welpho  (710.  721.  728.  731),  flectiert  Wel- 
phonis  (785)  Welphonem  (735) ,  einmal  (754)  scheint  sogar 
rwischen  Welfus  und  Welfo  unterschieden,  doch  wird  763 
beidemal  Welfo  geschrieben.  Bei  Bruno  findet  sich  Walph 
Welph  Walpho  (7,  864),  bei  Marianus  Scolus  Walp  (7,  561). 
Die  mhd.  dichter  ziehen  Weif  vor,  es  genüge  an  einer  stelle 
aus  Willehalm  381,  27,  wo  Wolfram  dem  Aropattn  wünscht: 

nu  müeze  im  als  Weife, 

dö  der  Tüwingen  enraht, 

gelingen  aller  stner  mäht: 

sd  scheit  er  dannen  ftne  sige. 

alsus  ich  sin  mit  wünsche  phlige, 
d.  h.  er  müsse  geschlagen  werden  gleich  dem  Weif  vor  Tü^ 
hingen  im  jähr  1164. 

Ich  habe  von  diesen  formen  umständlichen  bescheid  ge- 
geben, um  Schotts  ansieht  abzulehnen,  nach  welcher  Welfo 
ein  Svoika  v7i0xoQi(frnc6v  sei,  entsprungen  aus  Welfhardus, 

31* 


456        Gegen  Albert  Schotts  Weifen  und  Gibelinge. 

welches  freilich  in  Eckehardi  IV  casus  S.  Galli  (Pertz  2,  87) 
und  auch  anderwärts  (Pertz  5,  146)  angetroffen  wird;  nun 
ist  es  wahr,  dass  dergleichen  diminuiiva  für  zusammen  ge- 
setzte eigennamen  vorkommen,  z.  b.  Alle  fUr  Adalgts,  Benno 
für  Bernhart,  gewöhnlich  mit  starker  syncope  des  ersten 
Iheils,  nur  selten  bleibt  dieser  unverletzt,  wie  in  Ghuono  für 
Ghuonrät;  Welfo  aber  ist  nichts  als  schwache  form  und  aus 
weif  geleitet  wie  Hagano  aus  hagan,  ja  es  ist  gezeigt  worden, 
dass  Weif  als  eigenname  daneben  gelte,  und  die  sage  fordert 
hier  solche  einfachheit,  so  dass  Weifhart  nur  erweiterung 
sein  kann,  die  sich  einige  erzähler  gestatteten. 

Diese  sage  steigt  nun  sicher  in  hohes  alterthum  auf,  in 
weit  höheres,  als  die  zeit  des  Altorfer  und  Ravensburger 
Warin,  auf  den  sie  bloss  angewandt  wurde;  ich  zweifle 
kaum,  dass  sie  schon  bei  den  Sueven  zur  Römerzeit  um- 
gieng,  und  sie  allein  erklärt  uns  den  unvertilglichen  volk- 
witz  von  den  blinden  Schwaben  und  Hessen  (da  auch  die 
Chatten  suevisches  Stamms  sind),  der  sich  auf  einen  blind- 
gebornen  Stammhelden  Huelf  gründet,  weil  die  jungen  mu- 
tiger thiere,  nicht  bloss  der  hunde,  sondern  auch  der  iöwen, 
baren,  wölfe  sämtlich  huelfir,  weifer  hiessen,  bedeutsam 
aber  selbst  Wuotan  der  gott  blind  genannt  wird,  altn.  Odinn 
Helblindi.  *  Dieser  mythus ,  welcher  die  anfangs  verhüllte, 
noch  unsichtige  Jugend  des  beiden  hernach  desto  leuchten- 
der vortreten  lässt,  wandelte  sich  später  in  ausgesetzte  kin- 
der,  denen  weife  untergeschoben  werden,  um,  und  auf  sol- 
chem wege  können  frühe  schon,  weil  auch  die  jungen  wölfe 
blind  liegen,  catuli  und  lupuli,  dem  begrif  und  ausdruck  nach 
verwechselt  worden  sein,  jenes  Helblindi  war  zugleich  eines 
Wolfes  name.  Alle  diese  Verhältnisse  hat  meine  mythologie 
in  der  hauptsache  bereits  s.  346  angedeutet,  und  es  ist  be- 
sonders merkwürdig,  dass  auch  Eticho,  ein  in  der  weifi- 
schen genealogie  wiederkehrender  name,  hund  zu  bedeuten 
scheint,  was  auszuführen  hier  nicht  der  ort  ist.  Das  spätere 
wiederkehren  dieser  eigennamen  verschlägt  nichts,  festzuhalten 
ist,  dass  die  sage  von  den  Weifen  echt  schwäbisch  sei}  „ein 
Weif  von  Swäben<<  sagt  noch  Tanhäuscr  MS.  2,  64  a. 


Gegen  Alberi  Schotts  Weifen  und  Gibelinge.        457 

Desto  ungefüger  scheint  ein  gegensatz  der  Weifen  zu 
den  gleichfalls  schwäbischen  vollends  unmythischen  Gibelli- 
nen,  von  welchem  unser  dreizehntes  Jahrhundert  sich  noch 
nichts  träumen  lässt. 

Einem  gleichzeitigen,  kundigen,  wahrheitsliebenden  ge- 
Schichtschreiber,  wie  Otto  von  Freisingen  ist,  will  Mono  s.  24, 
absichtliche  entstellung  aufbürden:  „Übel  oder  wol^' 'habe  er 
das  angebliche  Gibeling  „in  Weiblingen  verdrehen  wollen." 
Ottos  meinung  wird  recht  behalten. 

Schott  zählt  s.  329.  330  zwei  Weiblingen  oder  Wiblin- 
gen  auf,  die  gemeint  sein  können,  er  hätte  sie,  und  noch 
ein  drittes  pfalzisches  bei  Pertz  7,  109  besprochen  finden 
mögen,  aus  dem  Ortsnamen  Weiblingen  bildete  sich  der 
Stammname  Weiblinger  (wie  aus  Tübingen  Tübinger,  aus 
Tirol  Tiroler,  aus  Stauf  Staufer,  es  ist  undeutsch  zu  schrei- 
ben Staufen);  man  will  einwenden,  dass  aus  dem  heerruf 
Weiblingen,  Wiblingcn  das  ital.  Gibellini  nicht  entspringen 
könne,  weil  die  Guelfi  von  dem  geschlecht  der  Weifen 
heissen,  die  gegenpartei  also  nicht  von  dem  orte  heissen 
dürfe;  wer  die  geschichto  der  „krte"  des  mittelalters  kennt, 
weiss,  dass  gerade  die  meisten  von  dem  hauplort  der  streitenden 
entnommen  sind :  Iper  und  Arraz  Wh.  437,  14,  Provts  437,  11, 
Nanzei  437,  14,  Cordes  401,  29,  Narbön  437,  18  (vgl.  Trist. 
18883);  zuweilen  von  dem  land:  Brabanl  Wh.  329,  7,  ThasmÄ 
und  Thabronit  Parz.739, 24;  am  seltensten  von  dem  heerführer, 
wie  hier  Weif;  so  viel  ich  weiss  nie  von  dem  namen  der  streiten- 
den selbst,  die  ja  den  krt  auszurufen  hatten,  man  wird  nie- 
mals Weiblinger,  nur  Weiblingen  (dativ  des  orts)  gerufen 
hafaipn,  und  erst  die  Italiener  konnten,  ohne  deutsches  Sprach- 
gefühl, ein  persönliches  Gibeliini,  Ghibellini  den  Guelfi  zur 
Seite  setzen.  Schon  aus  diesem  grund  ist  ein  deutsches 
Weibelinge  oder  Weibelunge  in  der  form  von  Nibelunge  un- 
statthaft. £in  andres  hindernis  soll  der  diphthong  £1  ma- 
eben,  der  nicht  in  ital.  I  übertreten  könne;  allein  dies  EI 
schwankt  in  dem  andern  Ortsnamen  selbst  in  I,  und  es  ist 
für  die  unsichre  ausspräche  hier  gleichviel,  von  welchem 
der  drei  örter  die  partei  heisse;  das  italienische  ohr  mochte 


458        Gegen  Albert  Schotts  Weifen  und  GibeUnge. 

wirklich  Wiblingen  haben  rufen  hören.  Drittens  behauptet 
inan,  das  deutsche  W  müsse  zu  welschem  GV,  nicht  zu 
blossem  G  oder  GH  werden;  das  ist  falsch,  davon  abgesehn, 
dass  sich  auch  Guibellini  geschrieben  findet  und  umgekehrt 

Gelfi  statt  Gueifi,  so  stösst  man  auch  auf  giffare  fdr  guißare 

* 

(sB  wiifare),  gaggio  franz.  gage  aus  guadium^  vadium,  Ghi- 
berto  für  Guiberto,  und  aus  deutschem  Warinus  wird  roma- 
nisch Guarino,  Guerin  und  Garin. 

Alles  dies,  wie  gesagt,  hat  nicht  die  leiseste  gemein- 
Schaft  mit  den  Nibelungen.  Nun  stellt  Schott,  noch  weiter 
gehend  als  Götlling,  auf:  die  Nibclunge  sind  die  nordischen 
Giukftngar;  wie  diese  aus  Giuki,  müssen  Gibechinge  aus  Gi- 
beche  geleitet  werden,  Gibecbe  wird  aber  mit  andrer  gleich- 
bedeutiger  ableitung  Gibele  geheissen  haben,  von  welchem 
Gibelunge  herstammen^  Gibelunge  sind  folglich  was  Gibe- 
chinge und  Nibelunge.  Es  lautet  nicht  uneben,  wenn  es 
wahr  wäre. 

Die  Niflüngar  und  Giukfingar  fliessen  allerdings  zusam- 
men, seit  Siegfried  nach  Worms  gekommen  war  und  in  Giu- 
kis  geschlecht  geheiratet  hatte;  nach  seinem  tod  fällt  der 
Nibelunge  hört  an  sie,  und  als  dessen  herrn  heissen  sie  Nif- 
l&ngar;  auch  im  deutschen  epos  geht  die  benennung  Nibe- 
lunge auf  die  ßurgunde  über.  Allein  die  deutsche  dichtung 
und  sage,  so  weit  wir  sie  kennen,  obschon  Gibeche  als  bur- 
gundischen  Stammvater  aufführend,  nennt  niemals  die  Bur- 
gunde  Gibechinge,  ebenso  wenig  die  aus  deutscher  quelle 
geflossne  Vilkinasaga,  welche  nicht  einmal  Giuki  kennt,  son- 
dern dafür  mit  deutlichem  misgrif  Aldrian  setzt.  Man  kann 
einräumen,  dass  die  diminutiva  —  ilo  (gramra.  3,  666)  deöen 
auf  — -  icho  zur  seite  stehn,  ahd.  Kipicho  =  Kipilo  sein  dürfte, 
aber  alle  hochdeutschen  quellen,  bis  zur  lex  Burgund.  auf- 
wärts kennen  bloss  Kipicho,  Gibeche,  Gibica  und  dieser  in- 
dividuelle ausdruck  ist  der  wirkliche.  Damit  fällt  Gibilo  und 
ein  daraus  herrührendes  Gibelunge. 

Jetzt  bleibt  noch  eine  einzige  ausflucht.  Der  name  Gi- 
belungus,  Gibilinus,  Gipelo  sei  in  altdeutschen  denkmälern, 
iheilweise  schon  aus  früherer  zeit,  als  in  welcher  jene  par^ 


Gegen  Albert  Schotts  Weifen  und  Gibelinge,        459 

teinamen  sich  erheben,  vorhanden;  Mone  hat  8«  19.  14  bei- 
spiele  aufgewiesen,  und  für  rheinisch  burgundisohe  namen 
erklärt;  die  nibeluugischen  Gibelungen  seien  demnach  Rhein* 
länder,  keine  Schwaben,  und  Schwaben  läuft  gefahr  dem 
staufischen  geschlechte  zum  trotz  seinen  anspnich  auf  die 
benennung  Gibelline  einzubüssen.  Mit  geringer  belesenheit 
hätten  diese  beispiele  sich  können  vermehren  lassen.  Gibe* 
linus,  im  jähr  1107  erzbischof  zu  Arles,  wurde  11 10  dritter 
Patriarch  von  Jerusalem  (Pertz  8,  483.)  Unter  den  kerlingi^ 
sehen  beiden  streitet  ein  Gibeltn,  Gybelln  Wh.  374,  3.  415» 
27.  430,  18;  er  aber  soll  uns  aufschluss  gewähren.  In  ei- 
nem merkwürdigen  lat.  bruchstUck,  das  aus  älteren  kerlingi- 
sehen  liedern,  als  wir  sonst  Übrig  haben,  abstammt,  heissl 
derselbe  held  Wibelinus  (Pertz  5,  709,  47),  folglich  ist  das 
G  hier  romanisch,  aus  deutschem  W  entsprungen,  wie  Gy- 
bert,  Gyborc  aus  Wigbert  Wigburc,  worin  eine  bestattgung 
des  vorhin  behaupteten  Übertritts  des  W  in  G  liegt.  Damit 
ist  plötzlich  gegen  jede  zurilckführung  von  Gibelung  auf  die 
deutsche  wurzel  gib-  in  Gibeche  entschieden,  Gibelung  konnte 
aber  aus  romanischem  land  in  die  Rheingegend  gelangen, 
das  übrige  Deutschland  scheint  ihn  kaum  zu  kennen.  Ob  den 
Italieneni  auch  früher  der  name  Ghibelinus  bekannt  war,  ob 
er  die  bildung  von  Ghibellini  aus  dem  heerruf  Wiblingen  er- 
leichterte, lasse  ich  dahingestellt,  und  ebenso  wenig  liegt  mir 
hier  auf,  in  die  wurzel  des  namens  Wibilinus  zu  dringen. 

Ich  darf  zum  schluss  noch  fragen:  wenn  der  parteiname 
Gibelinc  das  dreizehnte  jahrh.  hindurch  in  Deutschland  gang- 
bar gewesen  wäre  und  seine  ersonnene  berührung  mit  den 
Nibelungen  irgend  grund  gehabt  hätte,  wie  wäre  erklärbar, 
dass  die  rührigen  und  auch  politisch  bewegten  dichter  jener 
zeit  ein  solches  Verhältnis  bei  zahllosem  anlass  unberührt 
lassen  konnten?  es  ist  keine  spur  davon  vorhanden.  Erst 
im  vierzehnten  jahrh.  drangen  die  welschen  parteinamen  ein 
(Otto  von  Freisingen  nennt  bloss  die  famosae  famiiiae,  una 
Henricorum  de  Gueibelinga,  alia  Guelforum  de  Altdorfio),  das 
älteste  beispiel  scheint  im  Lohengrin  s.  88  enthalten,  wo  es 
vom  pabst  beisst: 


460         Gegefi  Albert  Schotts  Weifen  und  GibeUnge. 

den  keiser  er  bat  helfe, 

und  wolt  er  kernen,  im  hülfen  Gibel  unde  Gelfe, 
hier  sind  die  Gibellinen  sogar  in  Gibele  gekürzt.    Andere 
stellen  aus  Conrad  von  Ammenhausen  hat  Mone  s.  14  an- 
gezogen. 

Dass  in  den  dichtungen  der  einheimischen  heldensage 
der  parteiname  mangle,  will  Schott  s.  367  durch  die  Vermu- 
tung erklären,  er  sei  schimpflich,  spöttisch,  unanständig  ge- 
worden (Mone  s.  24  meint  dasselbe);  das  wäre  welfischge- 
sinnten  sängem  sogar  willkommen  gewesen. .  Wenn  ein 
höfischer  ordner  des  Nibelungenliedes  Dankrftt  für  Gibeche 
setze,  sei  das  „noch  zartere  rücksicht/^  Alles  mass  über- 
schreitet aber  diese  statt  der  nothwendigen  beweise 
gründe  aus  der  luft  greifende  critik,  wenn  sie  s.  364  ernst- 
lich hinstellt,  der  aufnähme  Heinrich  des  vierten  im  jähr 
1073  zu  Worms  sei  zuzuschreiben,  dass  die  rheinische  sage 
vom  kämpf  der  Nibelunge  wider  die  Amelunge  diese  Stadt 
als  den  sitz  der  ersteren  bezeichnet.  Ist  denn  nicht  schon 
in  dem  hier  von  Schott  selbst  angeführten  Waltharius  des 
zehnten  jahrh.  Worms  der  Nibelunge  königssitz?  und  jene 
traurige  zeit  des  eiiflen  hätte  auf  das  edle  epos  so  einzu- 
wirken vermocht? 

Es  thut  mir  leid  dies  urtheilen  zu  müssen,  warum  aber 
legt  Albert  Schott  solche  unreife  arbeiten  vor,  oder  die  ih- 
rer anläge  nach  gar  nicht  reifen  können?  Seine  thätigkeit 
und  sein  streben  achte  ich,  er  »hat  neulich  walachische  mär- 
chen  herausgegeben,  ein  schätzbares  geschenk,  die  hinzuge- 
fügten anmerkungen  engen  sich  aber  in  die  (auch  hier  s.  357. 
358  umgehende)  Vorstellung  von  sommer  und  winter  der- 
gestalt ein,  dass  der  gesichtspunct  ganz  einseitig  und  abge- 
sperrt erscheint.  Zu  Vollmers  Gudrun  ist  von  ihm  eine  An- 
leitung geschrieben  worden,  die  manchem  das  Studium  der 
alten  poesie  und  der  mythen  zugleich  verleiden  könnte. 

Jac.  Grimm. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  461 


Angelegenheiten  der  historisclien  Vereine. 


Referate. 

Syslemalisches  Repertorium  über  die  Schriften  sSmmtlicber  histori- 
scher Gesellschaften  Deutschlands,  Auf  Veranlassung  des  historischen 
Vereins  für  das  Grossherzogthum  Hessen.  Bearbeitet  von  Dr.  Ph.  A.  P. 
Walther,  Sekretair  an  der  Grossherzogl.  Hofbibliolhek  in  Darmstadt,  Biblio- 
thekar Sr.  Königl.  Hoheit  des  Erbgrossherzogs  von  Hessen,  ordentliches 
Mitglied  und  d.  Z.  zweiter  Sekretair  des  historischen  Vereins  das.  Darm- 
stadt, 4845.     Verlag  der  Hofbuchhandlung  von  G.  Jonghaus. 

Den  alten  Streit,  den  Kritik  und  Dankbarkeit  mit  einander 
fuhren,  haben  wir  bei  der  Betrachtung  des  vorliegenden  Buches 
wiederum  recht  lebhaft  empfunden.  Denn  hat  man  einmal  er- 
kannt, dass  die  Geschichte  des  deutschen  Volkes  nur  dann  erst 
in  einem  reichen  und  einheitlichen  Bilde  aufgefasst  werden  kann, 
wenn  emsige  auch  das  Kleinste  und  Unscheinbarste  nicht  ver^ 
schmähende  Forschung  in  allen  Territorial-  und  Lokalgeschichten 
vorhergegangen  ist,  lebt  man  ferner  der  Uebcrzeugung,  dass  die 
Bistoriographie  der  heutigen  Zeit  dem  Irrthum,  durch  abstrakte 
Verallgemeinerung  der  Thatsachen  oder  durch  eine  sich  selber  auf 
ein  gewisses  Maass  herkömmlicher  Mischungen  beschränkende 
Schönfärberei  die  Anerkennung  ihres  wissenschaftlichen  und  künst- 
lerischen Anspruchs  sichern  zu  wollen,  entronnen ,  gerade  in  der 
treuen  Bewahrung  des  Individuellen,  und  in  der  Hingebung  an  die 
FüHe  des  Ereignisses  ihre  vorzüglichsten  Mittel,  auf  Geist  und  6e- 
müth  der  Nation  zu  wirken  besitzt,  dass  aber  auch  das  entschied 
dene  Talent  auf  diesem  Wege  der  glücklichen  über  den  reichsten 
Stoff  frei  verfügenden  Auswahl  bedarf  —  wie  wird  man  sich  nicht 
freuen,  in  diesem  Repertorium  die  Nachweisung  der  mannigfaltig- 
sten und  wichtigsten  Materialien  für  fast  jedes  Gebiet  der  vater- 
ländischen Vorzeit,  die  sich,  biisher  auf  eine  fast  unübersehbare 
Weise  zerstreuten,  so  bequem  und  in  guter  Ordnung  beisammen 
und  damit  einen  erfolgreichen  Schritt  zur  Erreichung  sowohl  der 
nationalen  als  der  allgemeinen  Zwecke  der  historischen  Wissen- 
schaft gethan  zu  sehen.  Lange  wussten  die  an  den  deutschen 
Geschichtsstudien  Theilnehmenden ,  wie  viele  zum  Theii  bedeu- 
tende wissenschaftliche  Kräfte  das  Vereinswesen  erwecke  und  be- 
schäftige, wie  auch  hier,  wie  bei  so  vielem  Guten,  was  heute  den 
geistigen  Gesammtbesitz  der  deutschen  Nation  ausmacht,  noch  die 
Antriebe,  welche  die  Zeiten  der  Knechtschaft  und  der  Befreiung  *) 


*)  Denn  auf  diese  Zeiten,  und  auf  die  Gefühle  der  Ehrfurcht  vor  der 
grossen  Vergangenheit  des  deutschen  Volkes,  die  sie  erweckt  haben,  muss 
maa  doch  die  historischen  Gesellschaften  und  somit  die  Literatur,    deren 


462  AngetegeiAeUm  der  hütorischm  Vereine. 

gegeben  haben,  fortwirken;  man  musste  nur  beklagen,  dass  die 
Nation  auch  hier  ihres  eignen  fteichtbume  kaum  inue  werde,  und 
befürchten ,  dass  eine  an  so  vielen  Punkten  fruchtbare  Thätigkeit, 
wenn  sie  langer  das  Bewusstsein  ihrer  Einheit  entbehre,  und  sich 
der  Wunsch  nach  Verständigung  über  das  gemeinsame  Ziel  nicht 
zu  rechter  Zeit  in  ihren  einzelnen  Kreisen  rege,  sich  immer  mehr 
zersplittern,  in  der  Bemühung  um  Unbedeutendes,  in  der  Ver- 
senkung in  Quisquilienkram  untergehn  könnte.  Soll  man  es  da 
nicht  als  ein  freudiges,  in  unsern  deutschen  Verhältnissen  leider 
noch  immer  seltenes  Ereigniss  begrüssen,  dass  einer  dieser  Ver- 
eine heraustritt,  um  mit  bedeutenden  Kosten  und  Mübwaltungea 
Etwas  für  Alle  zu  thun,  dass  einer  sich  dazu  versteht,  die  saure 
Arbeit  des  Registrators  für  alle  andern  zu  übernehmen,  Kräfte, 
die  er  für  seine  nächsten  Zwecke  ohne  Zweifel  nutzbar  machea 
könnte,  im  Dienste  des  gesammten  Vaterlandes  verwendet?  Eine 
Registratur  nenne  ich  unser  Buch;  in  eine  solche  pflegt  man  sich 
nur  zu  begeben,  wenn  man  eines  bestimmten  Schriftstückes  be^ 
darf;  Wer  würde  viele  tausend  Actentitel  durchlesen  wollen? 
Und  doch  ist  die  Leetüre  eines  solchen  stummen  Buches  (in  Zeiten-, 
wie  die  jetzigen,  wo  uns  die  Phrase  tödtet,  ohnehin  eine  wilU 
kommene  Abwechselung)  in  vieler  Hinsicht  anregend  und  beleh- 
rend. Nicht  allein,  dass  die  nun  so  erleichterte  Uebersicht  über 
das  Verhältniss,  in  welchem  die  verschiedenen  Gebiete  der  deut- 
schen Geschichte  und  Alterthumsforschung  aufgesucht  und  ange« 
baut  werden,  belehrende  Schlüsse  über  das,  was  zu  thun  und 
was  zu  vermeiden  ist  (wir  kommen  weiter  unten  darauf  zurück) 
gestattet:  schon  die  geographische  VertheUung  dieser  Vereine  giebt 

Erträge  das  Repertorium  nachweist,  zurückführen.  Herr  Wahher  spricht 
freilich  von  der  mehr  ,,als  4  00jährigen  schriftstellerischen  Gesellschafts» 
Tbtttigkeit  Deutschlands  in  den  historischen  Disciplinen";  allein  sieht  man 
den  Caialog  seiner  Quellen  durch,  so  reichen  doch  nur  die  Schriften  der 
Akademieen  oder  der  ihnen. y<gf^vj^len  für  alle  Gebiete  der  Wissenschaft 
wirkenden  Socletäten,  z.  B.  die  Abhandlungen  der  Berliner  und  Müochener 
Akademie,  der  Güttinger  Societät,  die  Acta  Academiae  Theodoro-Palstinae, 
die  Acta  socielatis  Jablonovianae,  die  Acta  Academiae  electoralls  Moguntinae, 
die  Abhandlungen  der  böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Prag, 
bis  ins  vorige  Jahrhundert  zurück.  Von  Gesellschaften,  die  einen  den 
neuen  Vereinen  wenn  gleich  nicht  völlig  entsprechenden,  doch  im  Allge* 
meinen  ähnlichen  Charakter  haben,  möchte  allein  die  oberlausitziscbe  Ge> 
Seilschaft  zur  Beförderung  der  Natur-  und  Geschichtskunde  ein  gleiches 
Alter  haben.  Wir  wollen,  indem  wir  den  Zeitraum  des  Bestehens  und 
der  Wirksamkeit  der  Vereine  in  dem  Sinne,  in  welchem  wir  sie  beson- 
ders betrachten,  so  erbeblich  beschränken ,  dem  Verdienste  unserer  Samm- 
lung, die  auch  jene  älteren  Materialien  herbeiziehen  musste,  nicht  zu  nahe 
treten;  die  Bedeutung  der  Vereine  selbst  wird  unseres  Brachtens  dadurch 
erhöht,  dass  wir  sie  mit  den  grössten  Thatsachen  unserer  Geschichte  im 
Zusammenhange  sehen. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine,  468 

zu  allerlei  Betrachtungen  Anlass;    sie  lasst  uns   bald   förderiicfae 
Tbeiinahme  der  Regierungen,   wie  z.  fi.  der  bayrischen  an  der 
Gründung  der  neun  Vereine  in  den  verschiedenen  Landschaften, 
und  der  Leitung  derselben  zu  gemeinsamen  Zielen  anerkennen, 
bald  das  historische  luteresse,   welches  sich  an  uralte  landschafV 
liehe  Verbände,    wenn  diese  auch   lange  schon  ihre  gesonderte 
Existenz  verloren   haben  und  in  grössere  Ganze   aufgenommen 
sind,  knüpft,   wie  z.  B.  in  den  Gesellschaften  der  Altmark  und 
Oberlausitz,  verfolgen,  bald  überrascht  sie  durch  die  Gleichartig- 
keit geschichtlicher  Anschauungen  und  Studien,  die  sich  in  neu 
gebildeten,  aus  sehr  verschiedenartigen  Bestandibeilen  erwachsenen 
politischen  Ganzen ,  wie  z.  p.  in  dem  heutigen  preussischen  West- 
falen,  namentlich  in  den  aus  allen  Theilen  der  Provinz  gleich* 
massig  bereicherten  sieben  Bänden  des  Archivs  für  Geschichte  und 
Alterlhumskuude,   zeigt    Man   wird   an   die  vieljährigen,   oft  ein 
ganzes  Leben  ausfüllenden,  von  einem  wohl  erkennbaren  Plane 
geleiteten  Bemühungen  verdienter,  und  doch  nur  wenig  genannter 
Uänner  erinnert,  wie  z.  B.  an  den  trefflichen  Wigand,  der  unter 
ernsten  Lebensschicksalen  bis  in  sein  hohes  Alter  die  Vorliebe  für 
diese  Studien  bewahrt,  und  nachdem  er  so  lange  die  Kräfte  West* 
falens  concentrirt,  nun  auch  seinem  neuen  Wohnorte,   Wetzlar, 
einen  Namen  in  dieser  Vereinsliteratur  erworben  hat,  an  den  un« 
ermüdlichen  Förstemann,  an  Lisch  in  Schwerin.   Ganz  eigenthüm- 
liehen  Thatlgkeilen  begegnet  man,  wie  der  des  Herrn  Mooyer, 
eines  Privatmannes  zu  Minden  (wenn  wir  recht  unterrichtet  sind), 
der,   auf  die   Erläuterung   der    für   Chronologie  und   Genealogie 
gleich  wichtigen  Necrologien  geführt,  sich  immer  bei  derjenigen 
Gesellschaft  einstellt,   in  deren  Bereich   das  gerade  von  ihm  ge- 
wählte Todtenbuch  fällt,  so  im  Westfälischen  Archiv  die  Necrolo« 
gien  der  Klöster  Möllenbeck,  Hainsberg,  und  Engern  (s.  Nr. 
414c.  und  514b.  6295.  6304),  im  Niedersächsischen  Archiv  die 
des  Hochstifls    Hildes  heim,    des  Benediktinerklosters   St.    Mi* 
chaelis  zu  Hildesheim,   und  das  Diptychon  Bremense  (514* 
1857.  5614.),  in  den  Berichten  der  Leipziger  deutschen  Gesell- 
schaft die  des  Klosters  auf  dem  Petersberge  bei  Erfurt  (Nr. 
6197a.)  erläutert,   in  den   Thüringisch -Sächsischen  Mitthei« 
lungen  dreimal  sein  Scherflein  für  das  besonders  werthvolle  Galen* 
darium  Merseburgense  (3549.  6225.  26.)  beiträgt.    Dann  Gnden 
wir   oft  unerwartet    in   diesen  lokalen  Beschäftigungen  auch  die 
Führer  unserer  allgemeinen  deutschen  Geschichtswissenschaft;  wer 
weiss  viel,   dass  Böhmer  im  zweiten  Bande  des  Grossherzoglich 
Hessischen  Archivs  „verbesserte  Lesarten  zu  Bischof  Burchards 
Wormser  Dienstrechte^^  (Nr.  794.)  gegeben,  dass  das  Kurhes- 
sische und  Westfälische  Archiv  eine  Reihe  von  Forschungen  Jacob 


464  Angelegenheiien  der  kisiorischeB  Verdne. 

Grimms  über  sprachliche  Dinge  (z.  B.  über  den  Namen  West- 
falen Nr.  1273.)  enthalten,  dass  Perlz  bereits  in  seiner  neuen 
Heimath  im  6ten  Bande  der  Jahrbücher  der  Berlinischen  Gesell- 
schaft für  deutsche  Sprache  und  Alterthumskunde  Mittheilungen 
aus  einer  niederdeutschen  Handschrift  des  Reisebuchs  zum  hei- 
ligen Lande  von  Rudolf  von  Suchen  (566  a.)  gemacht  hat.  In  der 
bunten  Reihe  von  Leistungen,  die  an  uns  vorübergehen,  erscheint 
neben  dem  Nächsten,  dem  Orte  Angemessensten ,  auch  das  Fernste 
und  Entlegenste;  wer  suchte  in  der  Steiermärkischen  Zeitschrift 
einen  Aufsatz  von  v.  Prokesch*  Osten  über  das  Labyrinth  von 
Greta  (Nr.  2251b.)? 

Aber,  wie  wir  dies  vorausgeschickt,  über  alle  den  belehrenden 
und  erfreulichen  Eindrucken,  die  Uns  schon  die  erste  Durchsicht 
des  (überdies  recht  angenehm  gedruckten)  Repertoriums  verschafft, 
über  alle  dem  Nutzen,  den  ein  fernerer  Gebrauch  desselben  ver- 
spricht, dürfen  wir  doch  das  Geschäft  der  Kritik  nicht  versäumen. 
Der  Werth  eines  solchen  Unternehmens  richtet  sich  nach  seiner 
Vollständigkeit  und  nach  den  Principien,  die  der  Anordnung 
zu  Grunde  liegen.  Vollständigkeit  aber  —  um  von  dieser  zuerst 
zu  reden  —  hängt  wieder  von  der  richtigen ,  durch  den  wohl  ver- 
standenen Zweck  der  Arbeit  geleiteten  Auswahl  ab;  denn  gerade 
da  sie  absolut  kaum  jemals  recht  zu  erreichen  ist,  wird  es  um  so 
wichtiger,  sowohl  das  zu  Viel  als  das  zu  Wenig  zu  vermeiden. 
In  beider  Hinsicht  haben  wir  mit  dem  Verfasser  zu  rechten.  (In- 
erspriesslich  und  über  den  Beruf  der  Arbeit  hinausgehend  erscheint 
nämlich,  dass  er  aus  den  Schriften  der  Akademieen  namentlich 
(denn  die  Aussonderung  des  der  klassischen  Welt  Angehörigen, 
das  sich  abgesehen  von  Rubriken,  wie  Germania  Romana,  in  den 
historischen  Zeitschriften  fände,  konnte  in  der  Hinweisung  auf  den 
entlegenen  Fundort  noch  ein  Verdienst  haben)  auch  alle  die  den 
klassischen  Sprachen  und  Literaturen,  $owie  der  alten  Geschichte 
angehörigen  Abhandlungen  aufgenommen  hat.  Vereinzelt  stehen 
sie  hier  in  einer  fremden  Umgebung,  in  der  sie  Niemand  sucht; 
denn  wer  erwartet  die  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Philo- 
sophie von  Wendt  und  Boulerweck  (pag.  49)  in  diesen  Rubriken, 
oder  wen  störte  es  nichts  wenn  in  der  Abtheilung  für  Geschichte 
einzelner  Familien  und  Personen,  pag.  217  zwischen  „einige  Nach- 
richten über  das  Leben  und  die  Amtsführung  des  vormaligen  Bür- 
germeisters der  Altstadt  Hannover,  Consistorial-Raths  August  Wil- 
helm Alemann"  und  „eine  Nachricht  von  Tob.  Aleutner  kais. 
gekrönten  Poeten  und  Pastors  zu  Friedersdorf  Leben  und  Schrif- 
ten", Buttmanns  Abhandlung  von  den  Aleuaden  fällt.  Ueber- 
flüssig  ist  ferner  die  Aufnahme  der  in  den  Monumentis  Germaniae 
gedruckten  Scriptores  (dann  auch  der  Notizen  über  Gapitularien 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  465 

und  Kaisergesetze,  die  sieh  pag.  342  finden);  denn  unter  den 
Quellenschriften  der  deutschen  Geschichte  sind  gerade  die,  die 
schon  diesen  sicheren  Hafen  gefunden  haben,  am  leichtesten  zu 
erreichen,  und  dies  ganze  literarische  Gebiet  erwartet  in  dem  der 
Vollendung  immer  mehr  entgegenreifenden  Direktorium  (von  den 
Arbeiten  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Geschichtskunde 
leicht  eine  der  wichtigsten)  $eine  eigene  Registratur,  die  dann  jede 
andere  für  die  bis  jetzt  nicht  in  den  Monumenten  befindlichen 
Scriptores  noch  eher  willkommene  Aushülfe  entbehrlich  machen 
wird;  hier  in  die  Rubrik  für  „bestimmte  einzelne  historische 
Bücher"  nach  ihrer  alphabetischen  Ordnung  eingereiht,  stehen 
diese  Schriften  doch  nicht  am  rechten  Orte  und  ihre  Nachweisuog 
behält  den  Charakter  des  Gelegentlichen  und  Fragmentarischen* 
Für  das  nun,  was  ich  (und  gewiss  Viele  mit  mir)  unserer  Samm- 
lung gern  erlassen  hätte,  würde  ich  eine  freilich  viel  bedeutendere 
Gegenrechnung  stellen  können.  Der  Verfasser  hat  sich  zwei  Gren- 
zen  gesteckt,  eine  räumliche,  indem  er  sich  rein  „auf  das  den 
deutschen  Bund  bildende  Deutschland"  beschränken  wollte,  und  eine 
sachliche,  durch  die  er  alle  Zeitschriften  und  Sammlungen,  die  von 
Einzelnen  herausgegeben  sind  oder  vermischte  Beiträge  von  Einzel* 
nen  enthalten,  ausschliesst.  Die  erste  hat  er  doch  selbst  nicht  aufrecht 
erhalten  können,  indem  er  Preussens  deutsche,  aber  nicht  zum 
Bunde  gehörige  Lande  betrat,  und  die  königliche  deutsche  Gesell- 
schaft zu  Königsberg  in  seinen  Kreis  zog.  Ich  weiss  nicht,  ob 
er  unter  diesen  Umständen  nicht  einen  Schritt  weiter  gehn,  die 
ehrenwerthe  Thätigkeit  der  deutschen  Ostseeprovinzen  Russlands, 
der  deutschen  Schweiz  berücksichtigen  musste;  es  hätte,  darin 
wird  Jedermann  mit  der  Entschuldigung,  mit  der  er  diesem  Vor- 
wurf gleich  von  vorn  herein  zu  begegnen  sucht,  einverstanden 
sein,  dies  die  Arbeit  bedeutend  grösser  und  in  vielem  Betracht 
schwieriger  gemacht  —  aber  auch  um  Vieles  nützlicher.  Doch 
lassen  sich  diese  im  Verhältniss  zu  dem  eingeschlossenen  Terrain 
immer  kleinen  Räume,  die  nun  aussen  liegen  bleiben,  noch  eher 
übersehen;  bedenklicher  gewiss,  wenn  durch  die  aufgestellten 
Kriterien  Vieles,  was  mit  dem  Aufgenommenen  dem  Local,  der 
Art  der  Entstehung  und  andern  wesentlichen  Bedingungen  nach 
zusammengehört,  abgeschnitten  wird.  Und  in  der  That,  indem 
der  Verfasser  streng  seiner  Regel  folgt,  nur  die  Schriften  der  Ge- 
sellschaften zu  verzeichnen,  hier  so  sorgfältig  ist,  dass  er  auch 
die  Arbeiten  Einzelner,  wenn  sie  sich  nur  auf  dem  Titel  als  im 
Auftrage  einer  Gesellschaft  gemacht  oder  einer  solchen  darge- 
bracht ankündigen,  wie  z.  B.  die  Schriften  von  Quandt  und  Preus- 
ker^  die  kleineren  Denkschriften  des  märkischen  Vereins,  Zeuss's 
unter  dem  Namen  der  Pfälzer  Gesellschaft  erschienene  Ausgabe 


466  Anffelegenheiten  der  hisioriicken  Vereine. 

dar  Tradittones  Wizeburgenses  aofnimmi,  geräth  er  gerade  in  jene 
Gefahr.    Denn,  wahrend  Vieles,  was  dem  Namen  nach  einer  Ge- 
sellschaft angehört,   in  Wahrheit  das  Werk  Einzelner  ist  (die  Ge* 
Seilschaft  für  altere  deutsche  Geschichtstiunde  bestand  gerade  so 
lange,    als   nichts   bedeutendes  von  ihr  ausging;    seil   ihr  Name 
auf  trefflichen,  unvergessllchen  Werken  prangt,  exislirt  sie  in  der 
That  nicht  mehr)^  bilden  sich  dagegen  um  Einzelne  her,  und  durch 
ihre  literarischen  Unternehmungen  angeregt,  gleichsam  unsichtbare 
Gesellschaften,  die  in  freierer  Weise  und  deshalb  oft  erfolgreicher 
als  die  äusserlich  constituirten ,  dasselbe  Ziel  mit  diesen  erstreben, 
ihre  Arbeiten  dergestalt  ergänzen,   dass  man,  wollte  man  sie  un- 
berücksichtigt lassen,    eine  nur  unvollständige  Ansicht  von  den 
wissenschaftlichen  Bemühungen  eines  Zeitalters  und  ein  nicht  aus- 
reichendes Material  für  die  einzelnen  Gebiete  und  Aufgaben  er- 
halten würde.    So  hat,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  Ledebnrs  Ar« 
chiv  für  Geschichte  des  preussiscben  Staates,  auf  einen  ziemlich 
regelmässigen  Kreis  von  Mitarbeitern  in  den  verschiedenen  Pro- 
vinzen gestützt,    für  eine  Reibe  von  Jahren    fast  die  Bedeutung 
einer  allgemein-  preussiscben  Gesellschafts -Zeitschrift.    Der  Kun- 
dige weiss,  dass  man  es  eben  so  oft  aufschlagen  muss,  als  irgend 
eine  der  in  dem  Repertorium  aufgenommenen  Zeitschriften,  und 
er  wird   es  daher  ungern   vermissen.     Ost-  und    Westpreussen 
haben  seit  einem  Jahrhundert  eine  Reihe  solcher  Organe  gehabt, 
wie  das  Erläuterte  Preussen,  die  Acta  Borussica,  die  preussiscben 
Sammlungen  und  Lieferungen ,  die  Beiträge  für  die  Kunde  Preussens, 
die  preussiscben  Provinzialblatter*),  die  das  Repertorium  in  Folge 


*)  Ich  darf  wohl  binzulUgen,  dass  diese  letzteren  seit  dem  Beginn 
dieses  Jabres  von  einer  förralicli  organisirten  Geselischafl  herausgegeben 
werden,  unier  dem  Titel:  Neue  Preussiscbe  Provinzial-Blälter.  Zum  Besten 
der  Anstalt  zur  Rettung  verwahrloseter  Kinder  im  Namen  der  Allerthums- 
Gesellschan  Prussia  herausgegeben  von  Dr.  A.  Hagen,  Professor,  Dr.  MeckeU 
bürg,  Stadibibliothekar.  Band  I  (XXXV).  Königsberg,  4SA6.  Das  erste 
Heft  enthält  nächst  dem  ersten  Jahresbericht  der  Geselischafl  (die  von  den 
geschichtlichen  Anregungen  der  Säcularfeier  der  Universität  ausgegangen, 
sich  die  „Auffindung  und  Bewahrung^  die  Erklärung  und  Verbreitung  vater- 
ländischer Denkmäler  der  Provinz''  zur  Aufgabe  wählt,  und  derselben  zu- 
nächst durch  allmonatliche  Versammlungen  für  Vorträge  und  freie  Discussion, 
und  durch  Anlegung  einer  Sammlung  von  Alterthümern  und  Kunstwerken 
nachkommen  will,  vom  Oberpräsidium  für  den  letztern  Zweck  für  jetzt 
eine  kleine  Summe  mit  der  erfreulichen  Zusicherung  einer  späteren  Unter- 
stützung erhallen  hat)  eine  Reihe  von  Aufsätzen  und  Mittheilungen,  unter 
denen  für  Volkssage  und  Sitte  die  Darstellung  der  preussiscben  Erntege- 
brfiuche  von  Herrn  Assessor  Reusch,  für  Geschichte  der  darcb  Herrn  Dr. 
Meckelburg  begonnene  Abdruck  der  Chronik  des  Johannes  Freyberg,  alt* 
städtischen  Rathsherrn  in  der  Zeit  der  Reformation,  die  wichtigsten,  der 
Bericht  über  die  höhere  Kunstschule  in  Königsberg  und  über  die  Arbeiten 
ihrer  Leiter  das  für  die  Zukunft  Verheisslichste  ist. 


Angelegenheiten  der  hiitarischen  Vereine.  467 

seifies  Princips  s'ämmtlich  ausschliesseo  mass,  obwohl  die  nüchste 
Verwandtschafl  ihres  zum  Theil  sehr  werthvoUen  Inhalts  mit  allen 
seioen  Quellen  zu  Tage  liegt.  So  wäre  es  \vohl  besser  gewesen, 
an  der  einen  Stelle  die  Grenzen  enger  zusammenzuziehen,  an  der 
anderen  Überdieseiben  liinauszuschreiten,  überhaupt  mit  der  Strenge 
der  Regel  eine  gewisse  Beweglichkeit  in  der  Praxis,  wie  sie  der 
Zweck  der  Arbeit  in  der  That  gebietet,  zu  verknöpfen  -^  wenn 
man  dann  nicht  vielleicht  zu  weit  vom  Mittelpunkt  fortgeführt, 
auch  hier  wieder  hatte  erfahren  müssen  —  dass  das  Bessere  der 
grösste  Feind  des  Guten  ist. 

Bei  der  Anordnung  des  gesammten  Materials  mussten  be 
sonders  zwei  Gesichtspunkte  vorherrschen:  einmal  nämlich,  dass 
es  gilt,  Arbeiten  aus  der  lokalen  Umgebung,  in  der  sie  entstanden 
sind,  in  diejenige  sachliche  Gemeinschaft,  in  der  sie  zu  allgemei- 
nem Zwecke  fruchtbar  werden  können,  zu  versetzen,  dann  aber 
auch  die  Nothwendigkeit,  dasjenige,  was  der  Zeit  und  dem  Räume 
nach  zusammengehört,  und  was  der  Zufall  oft  weil  auseinander- 
geweht hat,  in  eine  Rubrik  zu  vereinigen.  So  müssen  die  Abihei- 
lungen so  gewählt  sein,  dass  sie  (bei  möglichster  Vermeidung  von 
Wiederholungen)  den  Stoff  nach  beiden  Rücksichten  zusammen- 
stellen, und  dass,  wo  die  eine  vorwalten  muss,  die  andere  doch 
nicht  vernachlässigt  wird.  Im  Ganzen  und  Grossen  hat  der  Yer« 
fasser  mehr,  als  seine  nicht  streng  logische  Gliederung  der  Haupt- 
ond  Unterabtheilungen  und  die  meist  nicht  günstig  gewählten 
Ueberschriften  auf  den  ersten  Blick  zeigen ,  diesen  Tendenzen  ent« 
sprochen.  Die  sechs  ersten  Abschnille  sind  unter  dem  vornehm« 
sten,  dem  sachlich -allgemeinen  Gesichtspunkte  angelegt,  der  sie- 
bente, welcher  die  Ueberschrift  „Zur  Kenntniss  und  Ge- 
schichte einzelner  Länder  und  ihrer  Theile'*  führt,  nach 
dem  zweiten.  Von  jenen  führt  der  erste  unter  dem  Titel:  Lite- 
ratur und  Kunst  uns  in  zehn  Unterabtheilungen  durch  die  Li- 
terar-  und  Kunstgeschichte  in  ihrem  weitesten  Umfang,  wo  dann 
die  Geschichte  des  Buchdrucks  und  des  Bücherwesens,  der  ein- 
zelnen Kunstzweige,  z.  B.  der  Baukunst,  der  bildenden  und  zeich- 
nenden Künste ,  die  Gelehrten-  und  Kunstgeschichte  im  Allgemeinen 
sowohl,  als  die  bestimmter  Perioden,  Gegenden  und  Völker,  die 
Geschichte  der  Literatur  der  einzelnen  Wissenschaften  (wobei  na- 
türlich die  Geschichte  der  historischen  Literatur  an '  Abhandlungen 
zur  kritischen  Prüfung  und  an  Versuchen  der  Herausgabe  ein- 
zelner Quellenschriften  die  reichste  Ernte  zu  halten  hat),  die  Be- 
richte über  die  Thätigkeit  der  Gesellschaften  zur  Beförderung  der 
Wissenschaft,  Kunst  und  Literatur,  über  Bibliotheken,  Archive  und 
Museen,    über    die    für  deutsch  -  geschichtliche    Studien    gerade 


468  AngelegenheUen  der  historischen  Vereine. 

so  wichtigen  and  ergiebigen  Reisen,  die  Geschichte  der  Universi* 
täten,  Gymnasien  und  anderer  Bildungsanstallen  in  ihren  Bereich 
fallen.    Ein  zweiter  Abschnitt  konnte  mit  den  sparh'chen  Ertragen, 
aaf  die  sein  Gebiet,  die  Sprachenkunde,  in  dieser  Sammlung 
beschränkt  ist,  auf  wenigen  Seilen  fertig  werden,  um  dem  dritten 
inhaltreicheren  meiir  Raum   zu  verstatten,   der  unter  dem  Titel 
Geschichte  und  ihre  Hiilfswissenschaften  in  8  Unterabthei- 
longen  Geographie  und  Topographie,  Chronologie,  Epigraphik,  Ge- 
nealogie,  Heraldik  und  Sphragistik,  Diplomatik,  Numismatik,  Ar- 
chäologie, Ethnographie  und  Statistik  absoWirt,  und  in  einer  neun- 
ten —  Geschichte  überschrieben  —  nächst  demjenigen  was  von 
der  Geschichte  einzelner  Völker  und  Volksstämme,  einzelner  Län- 
der und  ihrer  Theile,  einzelnerstände,  Gorporatiouen  und  Gesell- 
schaften nicht  schon  anderswo  seine  Stelle  findet,  vorzüglich  die 
wichtigen  Rubrikeil  der  „Biographie  bestimmter  Gegenden,  Bio- 
graphie mehrerer  Personen''  der  „Geschichte  einzelner  Familien 
und  Personen*'  (welche  letztere  auch  schon  die  Notizen  über  die 
in  allen  diesen  Zeitschriften  zerstreuten  Urkunden  nach  dem  Namen 
ihrer  Aussteller  geordnet  aufnehmen  musste)  umfassL    Die  vierte, 
fünfte  und  sechste  Hauptabtheilung  haben  es  mit  dem  Religion- 
und  Kirchen-,  dem  Rechts*  und  Staats-,  dem  Müitair-  und  Kriegs- 
wesen zu  thun,   und  rechtfertigen  leicht  ihre  innere  Gliederung. 
In  allen  diesen  Abschnitten  ist  die  Reihefolge,   wo  sie  keinem 
anderen  Principe  folgen  kann,  oder  die  Annahme  einer  solchen 
die  leichtere  Uebersicht  gefährden  würde  ^  ohne  einen  schnell  be- 
merkbaren Nutzen  zu  gewähren,   alphabetisch;  wo  abor  irgend 
von  dem  Lokal  ein  Eintheiiungsgrund  hergenommen  werden  kann, 
ist  immer  die  alphabetische  Aufzählung  der  Anordnung  nach  Lan- 
dern und  Territorien  untergeordnet.    Bei  der  Geschichte  der  histo- 
rischen Literatur  folgen  so  „Geschichte  und  Literatur  dex  deutschen 
Geschichte"  (A.  IV.  1.  c.  y.  ö,  e.)  im  Allgemeinen,  „der  einzelnen 
deutschen  Staaten'*  (diese  nach  ihrer  alphabetischen  Ordnung),  der 
„sonstigen  Staaten"   auf  einander;    in   dem  Abschnitte  von  den 
„Ueberresten    früherer    Jahrhunderte    und    ihrer   Auffindung    in 
einzelnen   Gegenden"   wieder  die  deutschen  Bundesstaaten  nach 
alphabetischer  Ordnung.   Auch  wo  nicht  schon  das  Inbaltsverzeich- 
niss  diese  Rücksicht  bemerklich  macht,   z.  B.  gleich  pag.  1—3  in 
dem  Abschnitt:  zur  Geschichte   der.  Buchdruckerkunst  im  Allge- 
meinen und  in  einzelnen  Ländern  und  deren  Theilen,   p.  3 — 5: 
zur   Gesammtlileratur-    und    Gelehrtengeschichte   bestimmter  Ge- 
genden u.  s.  w.  ist  sie  beobachtet  worden.  Nun  helfen  ausser  den 
sehr  fleissigen  Autoren-  und  Materienregistern,  die  bei  vielfachem 
Gebrauch  und  bei  absichtlicher  Prüfung  uns  fast  nie  im  Stich  ge- 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  469 

• 
lassen  haben*)  —  auch  die  zweckmässigen  Recapilulationen  und 

Verweisungen  der  schnellen  Uebersicht  nach.  Zu  den  lelztern 
giebt  besonders  der  siebente  Abschnitt,  welcher  auch  denselben 
Weg  durch  die  deutschen  Staaten  zu  den  andern  europäischen 
Reichen  hin  nimmt,  um  (XLV— XLVII)  mit  Asien,  Afrika  und 
Amerika  abzuschliessen,  Anlass.  Einige  Rubriken  der  ersten  Unter- 
abtheilung,  Deulschland  im  Allgemeinen  (wie  Heraldik,  Diplomatik  etc., 
Beligions-  und  Kirchenwesen,  Rechtswesen  und  Staatsverhättnisse 
Deutschlands,  pag.  388)  sind  nur  für  diesen  Zweck  da;  in  der 
„Geschichte  Deutschlands  und  mehrerer  Länder  desselben.  Deut- 
sche Kaiser"  (6.  I.  10)  sind  alle  Nummern,  unter  denen  in  der 
Rubrik  der  Biographieen  die  Kaiser  vorgekommen  sind,  recapitulirt; 
am  Anfang  der  Sammlungen  für  jeden  einzelnen  Staat  (so  pag.  387 
bei  Hannover,  pag.  462  besonders  ausführlich  bei  Mekleuburg)  ist 
auf  die  Nummern,  in  denen  seines  Namens,  seiner  Wappen  und 
Münzen,  Alterthümer,  seiner  Liierargeschichte,  Sprachdialekte, 
seines  Staats-  und  Kirchenrechls ,  der  Lebensschicksale  seiner  Für- 
sten bereits  gedacht  ist,  hingewiesen.  Auch  in  anderen  Abschnit- 
ten begegnen  wir  solchen  fleissigen  Nachweisungen)*  ich  will  nur 
an  die  über  Protestantismus  und  Reformation  in  den  einzelnen 
Territorien  (pag.  326),  und  an  die  „Einzelne  Rechtsgegenslände" 
(pag.  365)  erinnern,  die  alphabetisch  (von  Adel  bis  Zinsen)  Alles, 
was  in  den  vorhergehenden  Rubriken  des  gesammten  Abschnittes 
oder  auch  an  anderen  Orten  vorgekommen,  hier  noch  einmal  zu- 
sammenfasst.  Auch  Fehler  in  der  Anordnung  konnten  durch  solche 
Verweisungen  wieder  gut  gemacht  werden  (vgl.  z.  B.  Nr.  2789 
90  pag.  216,  am  unrechten  Orte  mit  der  Verweisung  auf  Nr.  238 
und  239). 

Denn,  dass  es  an  diesen  nicht  fehlt,  wird  keinem  auffallen,  der 
mit  den  Schwierigkeiten  des  Geschäfts  vertraut  ist,  der  erwägt,  wie 
auch  die  grösste  Kenntniss  des  Einzelnen  kaum  ausreichen  würde, 
um  für  jede  Notiz  die  Stelle,  an  der  sie  sich  am  fruchtbarsten 
einfügt,  zu  finden.  Vieles  hat  ohnehin  mehrfache  Beziehungen; 
man  kann  fragen,  ob  v.  Uammer's  Erklärung  der  persischen  Cy- 
linder  und  gegrabenen  Steine  im  Joanneum  zu  Grätz  (Nr.  1088 
pag.  77)  nach  dem  Gegenstand  der  Alterthümer,  oder  wie  der  Ver- 
fasser gethan,  nach  dem  Ort  der  Aufbewahrung  zu  registriren  ist; 
ob  eine  Abhandlung  von  Schulz:  Waren  germanische  oder  slawische 


*)  Auch  Druckfehler  slören  nicht  allzuhäuQg.  Unter  denen,  die  der 
Verf.  nicht  verbessert  hat,  bemerke  ich,  dass  aus  der  von  Agius  und 
Rückert  gefeierten  Hathumoda  (s.  Nr.  S45  pag.  49)  eine  Haikomoda,  und 
aus  unserm  altberUhmten  Kasten  zu  Neu- Angermünde,  aus  dem  Otto  IV 
mit  dem  Pfeil  das  Geld  nahm,  um  sich  aus  Magdeburgiscber  Gefangen* 
Schaft  zu  lösen  (Nr.  6419)  ein  ganzes  Kloster  geworden  ist. 

Allj^.  Zeitschrift  f.  Geschichte.  V.  1846.  32 


470  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine, 

Völker  Ureinwohner  der  beiden  Lausitzen?  Nefost  einer  kritischen 
Würdigung  der  Quellen  über  die  älteste  Landesgeschichte",  wegen 
des  2ten  Theiies,  wie  hier  geschehen  (Nr.  223  pag.  17),  zu  der 
Geschichte  und  Literatur  der  Geschichte  einzelner  deutschen  Staa- 
ten, oder  zu  der  Geschichte  einzelner  Volksstämme  zu  stellen  ist; 
ob  die  Literatur  der  Hermannsschlacht  in  die  Rubrik  F.  IV.  (Ein- 
zelne Schlachten)  oder,  wofür  wir  uns  entscheiden  würden,  zu 
G.  l,  2.  (die  Römer  in  Deutschland)  gehört,  ob  nicht  Manches,  was 
in  der  sehr  dankenswerthen  Rubrik:  Erklärung  einzelner  Namen 
und  Worte,  vorkommt,  z.  B.  Förstemanns  Bemerkung  über  Idisi 
Nr.  1242  pag/  92  nicht  dahin  gehört,  wo  von  den  Namen  in  anti- 
quarischer Hinsicht,  namentlich  von  dem  Einfluss  der  Gottheitea 
auf  die  Ortsnamen  die  Rede  ist  (Nr.  2941  u.  ff.).  Manche  Fehler 
verschuldet  Flüchtigkeit.  So  wenn  die  Rubrik  A.  IV.  1.  c.  (Be* 
stimmte  einzelne  historische  Bücher)  pag.  18  Nr.  236  mit  den 
Abbat  es  monasterii  Augiensis  eröffnet  wird,  wo  nach  Augia  hätte 
geordnet  werden  nassen,  ebendas.  Nr.  351  Klempin^s  Biogra- 
phieen  des  Bischofs  Otto  und  deren  Verfasser  nicht  unter  O, 
sondern  zwischen  Bernoldus  und  Benno. erscheinen;  wie  denn 
auch  die  Notae  historicae  codicibus  Sangallensibus  adjectae 
und  die  historischen  Notizen  eines  pegauischen  Mönchs  (Nr.  517 
und  518)  nicht  zu  N,  der  über  de  successoribns  S.  Hildulfi  in 
Mediano  monasterio  nicht  zu  S.  gestellt  werden  durfte.  Offen- 
bar  ist  Frischs  explicatio  tituli  Hormesta  qui  Orosii  libro  inscriptus 
inveuitur  von  Nr.  763  in  die  Literaturgeschichte  einzelner  histo- 
rischer Bücher  zu  versetzen,  und  eben  dahin  gehören  die  Auf- 
sätze Nr.  3096  3304  und  3247  über  Fredegar,  Jemandes  und  Liut- 
prand,  die  hfer  bei  der  Geschichte  einzelner  Familien  und  PeN 
sonen  stehen,  von  denen  auch  der  zweite  in  Nr.  474  seinen  Ge- 
nossen, vielleicht  seinen  Doppelgänger  findet.  Spittlers  berühmte 
Abhandlung  de  origine  et  iocrementis  urbium  Germaniae  (Nr.  4998) 
war  nicht  bei  der  Ethnographie  und  Statistik,  sondern  bei  der  (ie- 
schichte  einzelner  Stande  oder  bei  dem  Staats-  und  Recbtswesen 
einzutragen,  und  zwei  Aufsätze  über  das  Todaustreiben  dei  den 
Slawen  (2437  a.  pag.  187)  gehören  gewiss  nicht  unter  die  Begrab- 
niss-  und  Grabalterthümer. 

Ueberdies  hat  alle  Anordnung  nach  dem  Lokal  noch  die  Schwie- 
rigkeit, dass  der  Verfasser  (wie  ja  auch  die  Verwaltungen  deutscher 
Bibliotheken  für  das  Fach  der  deutschen  Geschichte  jetzt  meist 
diesem  Princip,  obwohl  mit  den  Mängeln  desselben  nicht  unbe- 
kannt, zu  folgen  pflegen)  die  heutige  politische  Ciutheilung  zu 
Grunde  legen  müsste.  Dadurch  kommen  natürlich  viele  Dinge 
gar  nicht  an  ihre  rechte  Stelle;  Aufsätze,  die  zusammengehören 
werden,  wenn  nicht  genauere  Sachkunde  den  leitenden  Faden  fest- 


Angelegenheiten  der  historischefi  Vereine.  471 

b)iU,  von  einander  gerissen,  so  wenn  No.  4581  Stadelmann's  „Ur- 
sprung der  ehemaligen  burggräflich -nürnbergischen  Lehen 
in  Oesterreich'^  eine  Untersuchung,  die  lediglich  die  Origines  des 
preussischen  Königshauses  betrifft,  pag.  352.  l)ei  den  Hechtever- 
bäUnissen  Bayerns,  dagegen  No.  4651.  pag.  358.  Holle's  Abhandlung 
über  die  brandenburgischen  Lehen  in  Oesterreich,  die  dasselbe 
Thema  behandelt,  bei  Preussen  erscheinL  —  Die  Gefahr  wird  ver- 
mehrt, wenn  der  Verfasser  an  seinem  eigenen  Princip  wiederum 
irre  wird,  wie  seine  Rubriken:  Ehemalige  Grafschaft  Henneberg 
(G.  IX),  VoiglUnd,  „Sachsen**  uud  „Thüringen  im  Allgemeinen" 
(ebendas.  XXIIL  XXXL  XXXU.)  zeigen,  und  diese  Abweichungen 
nun  doch  nicht  bei  der  Vertheilung  des  Stoffes  rechtfertigt;  wenn^ 
umlrrthUmer,  wie  die  Nennung  Kärnlhens  unter  den  polnischen 
und  ungarischen  Provinzen  des  österreichischen  Kaiserstaats  (pag. 
482.)  nicht  zu  hoch  anzurechnen,  die  Niederlausitz  zwischen  den 
preussischen  Provinzen  Brandenburg  pag.  480  (ihrer  eigentlichen' 
Stelle)  Sachsen  pag.  496.  (bei  der  dann  sogar  das  der  Neumark 
seit  beinahe  vier  Jahrhunderten  incorporirle  Cottbus  erscheint)  und 
dem  Königreich  Sachsen  (pag.  514)  ohne  allen  erkennbaren  Grund 
für  die  Wahl  der  einzelnen  Stelle,  hin  und  her  geworfen  wird. 

Doch  soll  es  uns  hier  nicht  darauf  ankommen,  den  Catalog 
von  Fehlern  und  Versehen,  wie  sie  allen  bibliographischen  Arbei» 
ten  eigen  zu  sein  pQegen,  für  unser  Repertorium  zu  entwerfen. 
Wir  haben  vielmehr  noch  eine  Bemerkung  über  die  Arbeiten  der 
Vereine  selbst  auf  dem  Herzen.  —  Augenscheinlich  überzeugt  näm- 
lich diese  Uebersichi  über  ihre  Thatigkeit  wieder  davon,  worüber 
schon  oft,  und  auch  in  dieser  Zeitschrift  geklagt  worden  ist,  dass 
in  ihren  Berichten  das  zufällig  Gelernte,  das  ohne  Muhe  Gewon- 
nene, das  vereinzelt,  ohne  Kennlniss  von  dem  Zusammenhange, 
in  dem  es  zu  Grösserem  und  Allgemeinerem  etwa  steht,  Vorgelra» 
gene  —  bei  weitem  überwiegt.  Wer  will  die  Ausgrabungen  ganz 
und  gar  verwerfen?  wer  nicht  zugeben,  dass  planmässige,  von 
historischen  Studien  in  den  schriftlichen  Denkmalern  unterstützte 
Nacbsuchungen  der  Art  von  grossem  Werth  für  die  Geschichte  der 
Wanderungen  der  Völker,  für  die  Erkenntniss  der  Succession  der  re* 
ligiösen  Vorstellungen  sein  können?  Aber  ist  es  die  Einsicht  von 
dieser  Bedeutung  der  Sache,  die  so  viele  redende  Zeugnisse  der 
Vergangenheit  rings  um  uns  her  vernachlässigt,  um  immer  wieder 
den  Erdboden  nach  Schätzen  zu  durchwühlen  —  aus  vermoder- 
tem Gebein  das  Leben  der  Vorwelt  zu  weissagen!  Wie  viele 
von  den  Abhandlungen  der  Rubrik  „Ueberreste  früherer  Jahrhun* 
derte  und  ihre  Auffindung'',  die  aliein  40  Seiten  umfasst,  mögen 
auch  nur  geringen  wissenschaftlichen  Ansprüchen  genügen!  man- 
chen spricht  schon  der  blosse  Titel  ihr  Urtheil,  wie  wenn  Dorow, 

32* 


472  Ängelegenkeiten  der  historischen  Vereine. 

der  Erleber  über  ein  „altes  Grab  eines  Heerführers  unter  Attila 
entdeckt  bei  Merseburg  den  16.  April  1750  (No.  2048)"  berichtet. 
—  Nein,  ohne  Zweifel  hat  diese  Rubrik  des  Repertoriums  deshalb 
die  meisten  Nummern,  weil  ihr  Thema  einer  ungebildeten,  durch 
wissenschaftliche  Motive  nicht  gezügelten  Phantasie  (denn  man  wird 
doch  das  unsichere,  noch  dazu  oft  sinnlos  genug  angewandte  Ai- 
phabet der  Stein-  und  Eisonzeitalter  u.  s.  f.  nicht  als  einen  wah- 
ren Anhalt  ansehen)  den  meisten  Spielraum  gewährt,  weil  sich 
hier,  ohne  viel  mühsame  Vorbereitung,  gleich  an  dem  ersten  be- 
sten Stück,  das  einem  in  die  Hände  geräth,  bequem  quacksalbern 
lasst.  Denn,  das  man  sich  gern  mit  der  Ausbeutung  dessen,  was 
gerade  der  Zufall  in  die  Nähe  geführt  hat,  begnügt,  zeigen  auch 
die  zahlreichen  Beschreibungen  einzelner  Münzfunde  (pag.  HO  — 
114)  der  Taufsteine  und  Glocken,  u.  a. 

Dagegen  wie  bettelarm  sind  meist  diejenigen  Fächer,  die  aus- 
zufüllen längere  Aufmerksamkeit,  sinnvolles  Verweilen  bei  dem  Ein- 
zelnen der  Erscheinungen,  um  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  die  Regel 
zu  finden,  nüthig  ist,  für  die  das  Material  nicht  mit  Schaufel  und 
Spaten  gesucht  werden  kann,  noch  auch  zufällig  beim  Umpflügen 
der  Felder,  beim  Chausseebau  zu  Tage  kommt,  sondern  erst  aus 
jahrelangen  Bemühungen  des  forschenden  Geistes  erwächst!  Wie 
wenig  haben  die  Vereine  bisher  der  Erforschung  der  Lokaldialekte 
genügt,  wie  gering  ist  die  Ausbeute  für  Kennlniss  der  Wohnung, 
der  Sitte,  der  Feste  der  Vergangenheit;  die  Sammlung  mittelal- 
terlicher Inschriften  ist  noch  in  ihren  Anfängen;  sie  sowohl  als  die 
Geschichte  der  Baukunst  muss  von  lokalen  Forschungen  das  Meiste 
erwarten.  —  Auch  für  genaue  topographische  Arbeiten  im  histori- 
schen Interesse  (wie  sie  den  bayerischen  Vereinen  mit  Recht  von 
oben  her  als  Aufgabe  gestellt  worden  sind),  so  dass  namentlich 
über  die  Identität  alter,  und  neuer  Namen  dabei  entschieden  wird^ 
alle  wüsten  Marken,  Burg-  und  Kirchruinen  u.  a.  verzeichnet  wer- 
den, geschieht  von  den  Vereinen  lange  nicht  genug.  Folgen  wir 
dann  dem  Repertorium  zu  den  Gebieten  des  Rechts  und  der  Poh- 
tik;  wie  viele  Lücken  sind  auch  da:  bei  der  Geschichte  der  Stände 
kommt  wohl  häufiger  der  Adef,  sehr  selten  aber  der  Bauernstand 
vor;  und  doch  weiss  mau,  wie  mangelhaft  unsere  Kenntniss  von 
den  Verhältnissen  desselben,  wie  wichtig  eine  Geschichte  der  nie- 
deren Klassen  in  Deutschland,  eine  gerechte  Würdigung  ihrer  Lage 
in  den  verschiedenen  Zeitaltern  wäre;  Fragen,  die  damit  zusam- 
menhangen, wie  über  die  Geschichte  des  Steuerwesens  (s.  pag. 
339—  340)  und  deren  genügende  Lösung  nur  aus  genauer  Beob* 
achtung  kleinerer  Kreise  erfolgen  kann,  werden  nur  selten  ins  Auge 
gefasst,  und  auch  die  Rubrik  vom  „Gerichts  und  Prozesswesen*' 
(s,  pag.  348)  wäre  noch  viel  dürftiger  ausgefallen,  wenn  sie  nicht 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine,  473 

am  Vebmgericbt,  diesem  Cabinetsstück  der  mitlelalterlicben  Studien 
eine  Materie  hatte,  die  für  gelegentliche  Notizen  immer  willlcom- 
menen  Anlass  bietet.  —  S.  Hirsch. 


Anfrage. 

Möchte  nicht  jemand,  der  sich  mit  des  Vincenlius  bellovacen- 
sis  speculum  historiale  näher  befasst  bat,  aus  diesem  reichhaltigen, 
schwer  zu  benutzenden  '  Schriftsteller  ein  genaues  rcgister  über 
alles  was  er  für  die  geschichte  und  literalur  des  millelalters  ent- 
hält, entwerfen  und  für  diese  Zeitschrift  miltheilen?  wo  er  seine 
quellen  nennt  tnüsten  sie  mit  augegeben  werden.         J.  Grimm. 


R^clamation  *). 
Monsieur, 

Dans  un  des  derniers  num^ros  de  votre  savant  recueil,  oü 
vous  passez  en  revue  les  travaux  des  soci^tös  historiques  de 
TAIlemagne,  vous  rendez  compte  des  Archiv  für  Frankfurts 
Geschichte  und  Kunst**),  et  vous  citez  parliculi^rement,  dans 
le  troisi^me  cabier,  la  notice  de  M.  T^chevin  Usener  sur  le  chä- 
teau  et  la  famille  de  Reiffenberg.  Cette  notice  est  fort  curieuse  et 
annonce  beaucoup  de  connaissance,  cependant  quand  on  traite  de 
rhistoire  du  foyer  domestique,  tout  le  savoir  ne  sufßt  pas,  en 
Tabsence  de  certains  documents  que  les  biblioth^ques  ni  les  autres 
d6p6ts  publics  ne  peuvent  fournir.  II  y  a  donc  d'in^vilables  la- 
cunes  dans  le  memoire  de  M  Usener,  et  j'en  appelle  ä  votre  im- 
partialite  ainsi  qu'ä  votre  amour  du  vrai  pour  retablir  des  faits 
que  ces  omissions  laissent  dans  l'ombre. 

M.  Usener  semble  croire  que  Tancienne  maison  de  Reiffenberg, 
qui  devait  son  nom  au  gothique  manoir  dont  les  ruines  sont  situees 
aujourd^hui  ä  quatre  Heues  de  Francfort,  s'est  Steinte  ie  23  mars 
1686  h  la  mort  de  Philippe -Louis  de  Reiffenberg,  coadjuteur  de 
r^lecteur  de  Tr^ves,  et  qui  laissa  lous  ses  biens  k  sa  soeur  Marie- 
Jeanne-Walburge,  öpouse  de  Jean  Lothaire,  comte  de  Bossenheim. 

C'est  lä  que  r^side  l'erreur. 

La  maison  de  Reiffenberg,  depuis  qu'elle  a  ^t6  connue,  jusqu'ä 
präsent,  s'esl  divis^e  en  cinq  branches,  toutes  issues  du  mSme 
Ironc,  et  que  je  reprösenle  avec  mes  deux  Gls. 


*)  Wir  stehen  um  so  weniger  an,  dies  an  uns  ergangene  Scbreiben 
bier  einzuschalien,  als  es  zugleicb  und  zumal  durcb  seinen  Scbluss  den 
Antheil  belb^tigl,  den  unser  Vereiosunternehmen  scbon  jetzt  im  Auslande 
gefunden.  Red. 

*)  Im  Februarbeft  (Bd.  V.)  S.  4  79  ff.  Red. 


•*t 


474  Angelegenheiten  der  hi$ton$chen  Vereine. 

La  premi^re  branche  fioit  en  1596. 

La  deaii^me  en  sortit  vera  1400  et  finit  en  1686. 

La  troisi^me  sortil  aussi  de  ia  premi^re  vers  1340  et  flait  en  1745. 

La  quatriöme  sortil  de  la  troisiöiue  et  s'öteignit  eu  1764. 

En6n  la  cinqui6me  sortit  de  la  secoDde  vers  14S0  et  subsiste 
en  ma  personne. 

Pbilippe-Louis  dont  je  viens  de  parier,  appartenait  k  la  deu- 
xl^me  branche  et  descendait  de  Walther  de  KeifiTenberg  dont  la 
ligoe  8*6teignit  en  1596  avec  Marsilius  de  Reiffenberg,  qui  ^pousa, 
en  1576,  Marguerite  Vogtin  von  Hunoldslein.  Son  fröre  Eberhard 
ölait  dec^d^  en  1570  sans  postöritä. 

La  troisiöme  branche  avait  pour  chef  Cuno  qtli  öpousa  Elisa* 
belh  von  Stein  an  der  Lahn,  et  qui  dtait  fils  d'un  aulre  Cuno  et 
de  Calherine  d'Erlenbach;  ce  Cuno  ötait  de  la  premiöre  branche 
et,  parconsöquent,  un  des  anc6tres  de  Philippe- Louis  qui,  par 
parenthese,  portait  un  Idoibel  dans  ses  armes,  slgne  certain  qu'il 
ne  proccdait  pas  de  la  branche  primitive. 

La  troidieme  branche  finit  en  1745  par  la  mort  Ae  Philippe- 
Fr^d^ric,  qui  avait  öpouse  1«-  Marie -Elisabeth,  Boosin  von  Wal- 
deck;  20*  Marie  Frangoise  von  Hoheneck. 

A  la  quatriöme  branche  appartenait  le  celöbre  Fredöric  de 
Reiffenberg,  Tami  du  Landgrave  de  Hesse,  Philippe-Ie-Magnanime; 
iequel  servit  en  Angleterre,  en  Allemagne  et  en  France  et  faillit 
^tre  appet^  aux  Pays-Bas.  Par  un  acte  date  d'Olm  le  17aoüt  1548, 
Frödöric  fut  mis  par  Charles -quint  au  ban  de  l'empire  avec  le 
Rhingrave  et  d'autres  personnages  distingu^s.  Mais  il  fut  compris 
nominalement  dans  le  traite  de  Passau,  conclu  le  2  aoüt  1552  et 
ratifiö  par  l'cmpereur  le  24  du  möme  mois.  Ce  personnage,  sur 
Iequel  je  possede  des  docunients  curieux,  est  un  des  caractöres 
originaux  de  PÄIIemagne  du  XVI.  siöcle  et  rappeile  k  bien  des 
^gards  ä  son  parent  Franck  von  Siekingen  et  ä  Goelz  von  Ber- 
lichingen,  mais  avec  plus  de  talent  politique. 

La  quatrieme  branche  sortait  de  Jean  de  ReiflTenberg,  fils  de 
Cuno  de  ReifTeuberg,  de  la  (rolsiöme  branche,  et  de  Liebmuth  de 
Stein.  Elle  s'6teignit  en  1764  par  le  d^cös  de  Fröd^ric  de  Reiffen- 
berg,  qui,  quoique  fils  unique  d'Anselme-Fr6d6ric-Antoioe  baron 
de  Reiffenbcrg  et  de  Marie -Anne  von  Eltz,  entra  fort  jeune  chez 
les  j^suiles  oü  it  fit  profession.  Mort  seulement  ligö  de  27  ans  11 
a  laisse  plusieurs  ouvrages  qui  prouvent  qu'il  aurait  pu  s'elever  ä 
un  des  premiers  rangs  paimi  les  ^rudils;  uotamment  une  histoire 
en  latin  et  in  folio  de  sa  societ6  dans  la  province  du  Rbin,  histoire 
restee  inachevee. 

Jean  Philippe  de  Reiffenberg  ayeul  de  ce  jesuite,  etait  co- 
seigaeur  hypothecaire  du  cbateau  de  Reiffenberg,  preuve  quo  sa 


Aflgeitieine  Literaturberichte.  475 

branohe  $6  confondait  avec  celle  de  Philippe- Louis  donl  semhle 
$*occuper  uniquement  M.  Usener.  Ce  Jean  Philippe  cultivait  les 
leUres  avec  siicc^s;  on  a  de  lui  des  Antiquitates  Sayoeoses 
et  des  Dotes  sur  Thistoire  de  Treves  du  Jesuite  Brower. 

Fred^ric  de  ReiffeDberg  dont  j'ai  publie  plusieurs  chansons 
allemandes,  et  qui  apr^s  avoir  epouso  Glaire-Anne  von  Wersabe, 
SQourut  en  1642,  ötait  grand-p^re  de  ce  Jean  Philippe. 

La  cinqui^me  et  derniere  brauche,  dile  de  Butgenbach,  re- 
connait  pour  auteur  Jacob  de  Reiffenberg  fiis  d'£m6ric,  flis  lui- 
m^me  d'un  autre  Emeric  et  de  Marguerite  de  Garben.  Ges  deux 
Em^ic  ^taient  de  la  seconde  branche  ou  les  anc^tres  directs  de 
Philippe-Louis,  plusieurs  fois  cite.  Jacob  se  retira  dans  le  Luxem- 
bourg,  ä  la  suite  d'une  quereile,  et  s'y  unit  le  6  octobre  avant 
rannte  1524  ä  Beatrix  de  Lierneux,  d'une  famiile  noble  du  pays. 
II  y  a  fait  souche  et  celte  branche  qui  s'est  seule  continuöe^  est 
chef  du  nom  et  des  armes  de  la  famiile.  Au  mois  de  mars  1772 
le  fr^re  ain^  de  mon  p^re,  le  Gomte  Pierre -Philippe -Joseph  de 
Reiffenberg,  qui  r6clamait  la  seigneurie  d'Engers,  prouva  deyant 
la  cour  electorale  de  Treves  la  connexion  des  cinq  branches. 

Tels  sont,  Monsieur,  les  fails  dans  leur  exactitude  et  comme 
les  restiluent  les  temoignages  les  plus  authentiques.  S'ils  n'otfrent 
qu'un  inter^t  pour  ainsi  dire  individuel,  vous  m'excusez  de  les 
avoir  mis  sous  vos  yeux,  puisqu'ils  se  rattachent  ä  des  recherches 
qui  ont  obtenu  vos  öloges.  J'ose  espörer  que  ces  reclifications 
trouveront  place  dans  votre  Journal  Je  saisis  cette  occasion, 
Monsieur,  pour  vous  faire  hommage  des  derniers  bulletins  de  la 
commission  royale  d'histoire  de  Belgique  et  pour  vous  demander 
la  permission  de  vous  adresser  k  Tavenir  ses  publications.  La 
Belgique  est  une  soeur  de  TAllemagne  et  a  quelques 
droits  ä  sa  Sympathie.    Veuillez  etc. 

Baron  de  Reiffenberg, 
Membre  correspondant  de  TAcad^mie  de 
Berlin ,  secretaire  de  la  Gommission  royale 
d^histoire,  conservateur  de  la  bibliotheque 
du  Royaume  etc. 
Bruxelles,  le  14  Mars  1846. 


Allgfeinelne  lilteraturberichte. 

Mittelalter. 

DiSGoars   pröliminalre   tur   le   moyen  age.     Extrait    du   tome  VII  de 
rbtotoire  uaiverselle,  par  C6sar  Caniu.    Paris,  Firmln  Didot,  4  845.  59  S.  8. 

Dass  vom  historischen  wie  vom  philosophischen  Standpunkt 


1 


476  AUgetneine  Literaturberichte. 

aus  die  Unierecheidoog  eines  MiUelalters  in  der  bisherigen  Ent- 
wicklung der  geschichtlichen  Menschheit  nicht  zu  rechtfeftigeu  sei, 
dass  sich  bisher  nur  Ein  grosser  Gegensatz,  der  der  antiken  und 
der  modernen  Weltbildung  hervorgearbeitet  habe,  dass  das  soge- 
nannte Mittelalter  nur  als  Einleitung  und  die  sogenannte  Neuzeit 
nur  als  noch  unbeendigte  Fortsetzung  eines  und  desselben  Gliedes, 
des  zweiten  in  der  Weltentwicklung,  betrachtet  werden  dürfe,  ist 
nachgrade  ziemlich  allgemein  anerkannt;  aber  einen  verjährten 
Brauch  ausrotten  erecheint  überall  zu  schwierig,  zu  gewagt,  als 
dass  man  nicht  lieber  dem  Herkömmlichen  sich  fügen  und  noch 
immerfort  in  der  Universalgeschichte  ebenso  bereitwillig  ein  Mittel- 
alter 6guriren  lassen  sollte,  wie  man  innerhalb  unsers  Planeten- 
systems immer  noch  trotz  der  bessern  Erkenntniss  die  Sonne  auf- 
gehen lässt.  Und  so  fügt  sich  denn  auch  Herr  Cantu  der  her- 
gebrachten Unterscheidung,  wiewohl  er  sie  ebenfalls  als  eine  durch- 
aus willkürliche  mit  Recht  angreift.  Nicht  wenige  Mühe  giebt 
sich  derselbe,  jene  Jahrhunderte  wieder  zu  Ehren  zu  bringen. 
Das  ist  nun  freilich,  wenigstens  bei  uns  Deutschen,  kaum  noch 
hie  und  da  nöthig;  doch  müssen  wir  die  Schilderung  der  verschol- 
lenen Auffassungsweisen  des  Mittelalters  als  einer  Zeit  der  Barbarei 
für  vortrefflich  erachten;  sie  ist  voll  scharfer  Ironie,  —  eine  Per- 
sifflage  der  Oberflächlichkeit.  Im  Uebrigen  vereinigt  der  Verfasser 
philosophischen  und  historischen  Sinn,  grosse  Gelehrsamkeit  und 
umfassende  wenn  auch  nicht  immer  erschöpfende  Quellenkenntniss. 
Die  Idee  der  Civilisation  liegt  als  die  zu  lösende  Aufgabe  der  Ge- 
schichte seiner  ganzen  Auffassung  zu  Grunde.  Um  die  Gegensätze 
der  Freiheit  und  der  Knect]\tschaft,  der  Einheit  und  der  Zersplitte- 
rung, bewegt  sich  ihm  die  Entwicklung  der  neuern  Jahrhunderte, 
und  es  kommt  ihm  darauf  an,  die  Wurzeln  derselben  in  den  mitt- 
leren zu  suchen.  Für  den  Grundquell  des  öffentlichen  Lebens  be- 
trachtet er  mit  Recht  im  Miltelaller  das  Gefühl,  in  der  Neuzeit  die 
Reflexion 5  und  schon  ans  diesen  unzweideutigen  Symptomen  er- 
kennt man  eben,  dass  jenes  nur  die  jugendliche,  diese  die  männ- 
liche Bethätigung  einer  und  derselben  Entwicklungsstufe,  der  christ- 
lichen Weltbildung  darstellt,  die  sich  in  sich  zwar  gliedert,  aber 
dem  heidnischen  Alterlhum  gegenüber  als  ein  untheilbares  Ganzes, 
als  eine  höhere  im  Selbslprocess  begriffene  Einheit  sich  gellend 
macht.  Trefflich  ist  des  Verf.  Charakteristik  der  Klosterchroniken 
(p.  3  sqq.):  Les  phenora^nes  physiques,  les  changemenls  de  saison, 
les  cometes,  les  dclipses,  les  pr^sages,  c'est  ce  quMls  n'oublieut 
Jamals.  D'un  prince  qui  n'enrichit  pas  leur  monasl^re,  ils  diront: 
//  nejit  ricH.  Ils  voient  dans  les  circonstances  les  plus  minimes 
Intervention  immödiate  de  la  divinitä,  ce  qui  les  dispense  d'en 
rechercher  les  causes  naturelles.    .  .  .  Si  vous  demandez  pourquoi 


► 


Allgemeine  Literalurberichte.  477 

fut  si  sabit  le  triomphe  des  Normands  en  Aiigleterre,  Henri  de 

Huntington  VOUS  röpond:  per/ecH  dominator  Deus  de  gente  Anglorum 
quod  diu-  cogiiaverat.  Der  Literatur  über  das  Mittelalter  ist  ein  sehr 
reichhaltiger  Ueberblick  gewidmet,  nach  den  Leistungen  der  ver- 
schiedenen Völker  und  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  gruppirt; 
freilich  fehlt  es  nicht  an  einzelnen  Verstössen ,  wie  wir  denn  einen 
solchen  schon  beiläufig  früher  gerügt  (s.  S.  291);  dagegen  ist  so- 
wohl dieser  wie  alle  übrigen  Abschnitte  durch  eine  Menge  von 
geistreichen  Bemerkungen  und  Urtheilen  gehoben,  die  auf  den 
Leser  zugleich  anziehend  und  anregend  wirken. 

Gedichte  des  mittelalters  auf  könig  Friedrich  I«  den  Staufer  und  aus 
seiner  so  wie  der  nächstfolgenden  zeit.  Von  Jacob  Grimm.  Vorgelesen 
in  der  akademie  der  Wissenschaften  am  24.  April  4  843.  Berlin,  4  844. 
Wllb.  Besser.    4  46  S.  4. 

So  gewiss  die  weltbewegende  Regierung  Friedrich  des  Ersten 
auf  das  gesammte  Leben  des  zwölften  Jahrhunderts  maassgebend 
eingewirkt  hat,  so  sicher  ist  von  ihr  auch  die  eben  zu  kunstreicher 
Stufe  emporblühende  Poesie  nicht  ohne  bedeutsame  Förderung 
berührt  worden.  Erwähnen  wir  aus  der  Fülle  zuströmender  Er- 
innerungen nur  die  schroffen  Wechselfälle  der  Lombardischen 
Kriege ,  Mailands  erschütternden  Niedergang  und  des  Kaisers  Miss- 
geschick bei  Legnano,  Heinrich  des  Löwen  riesenhafte  Erhebung 
und  unerhörten  Sturz,  die  gewaltsame  alle  Geister  in  Gährung 
versetzende  Kirchentrennung  mit  ihrer  versöhnlichen  Endschaft  zu 
Venedig,  Friedrichs  heiligen  Kriegszug  nach  dem  Morgenlande  und 
seinen  unvermuthetcn  Tod,^  nicht  zu  gedenken  der  prunkvollen 
Reichstage,  auf  denen  er  Kronen  gab  und  nahm  —  wieviel  begei- 
sternder Inhalt  für  sangbegabte  Zungen!  Aufmunterung  aber.  Ge- 
hör und  Belohnung  ist  von  Friedrich  zweifelsohne  wie  den  Ge- 
schichtschreibern, so  auch  den  Dichtern  nicht  vorenthalten  wor- 
den, die  jederzeit^  an  Höfen  vorzugsweise,  es  verstanden  haben, 
das  Grosse  grösser,  das  Trübe  fröhlich  und  der  Zukunft  vorgrei- 
fend das  Ersehnte  in  naher  Gewissheit  erscheinen  zu  lassen. 

Hätte  aus  der  Menge  von  Liedern  und  Gedichten,  die  während 
der  fast  vierzigjährigen  Reichsführung  Friedrichs  an  seinem  Hofe 
erschollen  sind ,  nur  ein  verhältnissmassig  kleiner  Theil  sich  er- 
halten, nicht  allein  vereinzelte  Begebenheiten  würden  daraus  der 
historischen  Wahrnehmung  in  helleren  und  abgestufteren  Formen 
entgegentreten,  sondern  auch  der  Anschauung  ganzer  Lebensrich- 
tungen, zumal  der  heiteren,  geselligen,  für  die  in  ernsten  Zeit- 
büchern entweder  kein  Raum  oder  keine  Gelegenheit  sich  darbot, 
wäre  in  ihnen  ein  weites  Feld  erschlossen  gewesen.  Je  unge- 
zwungener jene  Dichter  mit  ihrer  wechselnden  Umgebung  zusam- 
menhingen, je  unbefangener  der  weiche  Liederstoff  von  der  Aussen- 


478  Allgemeine  LUeraturberickie. 

weit  seine  Eindrücke  entgegennahm,  um  so  unmittelbarere  und 
frischere  Erkenntniss  würden  diese  Erzeugnisse  gewahrt  haben. 
Wir  ermessen  an  Grimm's  unschätzbarer  Veröffentlichung  deo 
Werth  solcher  Aufbewahrungen  und  nehmen  bei  einem  Ueberblick 
des  Erübrigten  mit  desto  herberer  Empfindung  wahr,  wie  zer- 
störend auf  diesem  Gebiete  die  Zeit  sich  vergangen  hat 

Der  kostbaren  Ueberbleibsel  hat  Grimm  acht  an  der  Zahl  aus 
einer  Göttinger  Handschrift  und  zwei,  bereits  von  Reiffenberg  im 
bulletin  de  Tacad^mie  royale  de  Bruxelles  nach  einem  Stabloer 
Codex  mitgethcilte,  gesammelt.  Auszüge  aus  der  schon  von  Docen 
benutzten  Münchner,  so  wie  aus  einer  zu  Venedig  befindlichen 
Handschrift  und  aus  Wrigbt's  Ausgabe  des  Walter  Mapes  vervoll- 
standigen  den  Vorrath,  um  uns  einen  bisher  völlig  unbekannten 
fahrenden  Sänger  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts 
kennen  zu  lehren,  der,  ein  Deutscher  von  Geburt,  längere  Zeit  zu 
Erzbischof  Rainald  von  Cöln,  Friedrichs  vertrautestem  Rathgeber 
und  GrehUfen,  in  engem  Verhältniss  gelebt  und  in  lateinischen 
Versen  Kaiser  und  Erzbischof  mehrfach  gefeiert  hat 

Die  Person  des  Dichters  betreffend  überlasst  sich  Grimm  einer 
ausführlichen  Untersuchung,  die  jedoch,  trotz  der  auf  jedem 
Schritte  zu  Tage  tretenden  Gediegenheit,  in  Bezug  auf  den  Namen 
desselben  zu  keinem  abschliessenden  Ergebniss  geleitet  werden 
konnte,  wiewohl  neben  den  Titeln:  archipoeta  und  primas  auch  die 
Benennungen:  Walter  und  Nicolaus  nicht  ganz  unberechtigt  Geltung 
in  Anspruch  nehmen.  Ueber  die  Unsicherheit,  seines  Namens  tröstet 
ans  aber  hinlänglich  die  Unantastbarkeit  seiner  wahrhaften  Dichter- 
natur,  deren  Hervorbringungen  zu  entwenden  und  dem  englischen 
Walter  llapes  unterzuschieben,  entweder  dem  letztem  selbst  oder 
einem  seiner  nachlebenden  Landsleute  so  lange  geglückt  war,  bis 
Grimra  der  Rechte  des  Deutschen  sich  siegreich  angenommen  und 
uns  in  ihm  einen  Dichter  heimgebracht  hat,  den  wir  uns  wohl 
nicht  entwinden  lassen  werden.  Ein  leicht  Gemüth,  dem  das  Leben 
stets  von  der  rosigsten  Seite  fassbar  ist,  beweglich,  ruhelos  und, 
wie  der  Sänger  selbst  sich  schildert,  aus  einem  flüchtigen  Element 
geschaffen,  einem  Blatte  gleich,  mit  dem  die  Winde  spielen.  Er 
schweift  durch  Deutschland,  Italien,  Frankreich,  allen  Kümmernissen 
feind,  der  Liebe  ergeben,  dem  Spiele  und  dem  Wein.  Man  muss 
aber  vor  Allem  seine  Dichterbeichte  (poetae  confessio)  gelesen 
haben,  um  die  Vereinigung  unverwüstlicher  Laune  und  schalkhaf- 
ten Witzes  mit  nie  versagender  Handhabung  des  Reims  und  treff- 
lichster Bemeisterung  der  in  seinem  Munde  aller  Steifheit  gänzlich 
entfremdeten  lateinischen  Formen  gebührend  bewundern  zu  können. 
Das  Gepräge  vollendeter  Meisterschaft  entbehren  so  wenig,  wie  die 
munteren,  auch  die  ernsteren  zu  Friedrich  und  Rainald  in  näherem 


Allgemeine  Literaturberichte.  479 

VerbältDisse  stehenden  Gedichte,  welche  letzteren  ihres  geschicht- 
lichen Inhaltes  wegen  an  diesem  Orte  unsere  Theilnahme  auch  zu* 
nächst  angehen. 

Sollen  jedoch  die  historischen  Züge,  die  der  Dichter  seinen 
Liedern  verwebt  oder  auch  als  Anlass  zu  Grunde  legt,  nicht  blos 
zu  befriedigender  Erläuterung  der  sie  einschliessenden  Dichtungen 
dienen,  sondern  auch^  auf  die  Vorgänge  zurückgewandt,  denen 
sie  entnommen  sind,  diesen  hinwieder  eine  zuverlässige  Beleuch- 
tung gewähren,  so  muss  sich  die  möglichgenaueste  Feststellung 
ihrer  Abfassungszeit  unleugbar  als  das  vornehmste  Erforderniss  zu 
erkennen  geben.  Nicht  leicht  möchte  der  Kundige  in  Abrede 
stellen,  dass  unter  Umständen  selbst  aus  dem  geringfügigsten  Fehl- 
tritt in  dieser  Beziehung  statt  des  dabei  verlornen  Aufschlusses 
über  die  mit  den  Anspielungen  in  wirklichem  Zusammenhange 
stehenden  Dinge,  sogar  auch  den  anderen  irrig  herbeigezogenen 
eine  unglückliche  Trübung  entstehen  kann. 

Demnach  sehen  wir  den  Herausgeber  bemüht,  die  Entstehungs- 
zeit besonders  der  wichtigern  ersten  zehn  Gedichte  ausfindig  zu 
machen,  wobei  er  durch  Festhaltung  der  Rainalden  beigelegten 
Titel:  archicancellarius*)  und  electus  Coioniae,  und  Berücksichtigung 
einiger  anderen  Bewandnisse  zu  dem  unbestreitbaren  Schlüsse  ge- 
langt, dass  die  genannten  Gedichte  zum  grössten  Theile  in  den 
Jahren  1162  bis  1165  geschrieben  sein  müssen.  Er  kehrt  sich  dar- 
auf zur  Betrachtung  der  einzelnen  Stücke,  von  denen  einige  uns 
ebenfalls  zu  Bemerkungen  Veranlassung  geben. 

Grimm's  Erörterung  des  zweiten  Gedichts  stellt  zur  Genüge 
fest,  dass  dasselbe  nicht,  wie  man  dem  ersten  Anscheine  nach 
urtheilen  möchte,  an  Friedrich  selbst,  sondern  an  Rainald  gerichtet 
und  demselben  während  eines  mit  Festlichkeiten  unterhaltenen 
Aufenthalles  in  Vienne  behändigt  oder  vorgetragen  worden  ist. 
Ueber  den  hierbei  in  Betracht  kommenden  Zeitpunkt  findet  er  sich 
indess  nicht  ins  Klare  und  scheint  nur  mit  der  Uinweisung,  dass 
Rainald  den  Kaiser  sowohl  1157  als  1162  nach  Burgund  begleitet 
habe,  die  Vermulbung  zu  verknöpfen,  der  in  Vienne  Rainalden 
bereitete  Festtag  könne  dem  letztgenannten  Jahre  angehören. 

Einen  nähern  Ansatzpunkt  aufgefunden  zu  haben,  möchte  mir 
zur  Freude  gereichen,  sofern  der  nachfolgenden  Zusammenstellung 
die  Beislimmung  des  berühmten  Herausgebers  zu  Theil  würde. 

Unter  den  Briefen  des  Erzbischofs  Thomas  Becket  von  Ganter- 
bury**)  ist  in  dem  Schreiben  eines  ungenannten  Boten  folgende 


*)  Als  Kanzler  begegnet  mir  Rainald  zum  ersten  Mal  am  lOlon  Mai 
4156,  Orig.  Guolf.  IIJ.  463 — 465,  als  Erzkanzler  zum  ersten  Mal  am 
4  9len  October  4  459,  Lami  dellc.  erudit    UI.  4B8.     **)  ed.  Lupus  p.  8 — il. 


480  Allgemeine  Literaturberichte, 

Stelle  zu  lesen:  Cancellarius  Imperatoris  veniens  Yiennam 
archiepiscopos  quamplures  convocavit,  primoque  milites  ad  opus 
Imperatoris  ab  eis  quaesivit.  Postmodum  de  receptione  Gui- 
doDis  Cremensis,  quem  Imperator  receperat,  instantissime  sin- 
gulos  coDvenit.  Ibi  spe  et  desiderio  suo  privatus  est.  Quidam 
enim  eorum  ipsum  Guidonem  coram  eo  excommunicare  parali 
fuerunt  etc.  Hinreichend  bekannt  ist  nun,  dass  der  erwähnte 
Guido  von  Crema  der  zweite,  auf  unmittelbaren  Betrieb  Rainalds 
von  Cöln  im  April  1164  gegen  Alexander  IQ.  unter  dem  Namen 
Paschalis  III.  erhobene  Gegenpapst  gewesen  ist;  und  indem  hier- 
aus schon  für  das  Verweilen  Rainalds  zu  Vienne  nach  einer  Seite 
hin  eine  Zeitgrenze  ersichtlich  ist,  gewinnen  wir  durch  den  Hin- 
zutritt anderer  unverwerflicher  Zeugnisse  ein  noch  bestimmteres 
Resultat.  Rainald  selbst  berichtet  in  einem  1164  ausgefertigten  Briefe 
aus  Italien  an  die  cölnische  Geistlichkeit:  Nos  siquidem,  quia  sus- 
pecta  nobis  est  via  per  inimicos  vestros  et  nostros,  iter  nostrum 
per  Burgundiam  ac  Galliam  usque  ad  vos  disposuimus,  praesen- 
temque  nuncium  a  Vercellensi  civitate  n  Idus  Junii  (12.  Juni) 
praemisimus,  eo  die  versus  Taurinum  et  versus  alpes  monlis  Cy- 
nisii— celerrime  procedentes*).  Ferner  macht  Papst  Alexander  lEL 
am  SOsten  Juli  1164  dem»  König  Ludwig  VII  von  Frankreich  diese 
Mitlheilung**):  a  quodam  abbate,  qui  de  partibus  Burgundiae 
venit,  satis  evidentem  cerlitudinem  obtinuimus,  quod  cum  ab  R. 
quondam  Gaucellario  F.  dicti  Imperatoris***)  complures  ope- 
rarii  iam  fuissent  condncti  et  de  ipsius  mandato  in  confinio  regni 
tui,  sicut  dicitur,  operari  coepissent  — ,  comes  Forensis  —  eosdem 
operarios  audacter  de  loco  ejecit,  und  fügt  hinzu,  dass  Rainald  zum 
Ausbau  jener,  wie  es  scheint,  zwischen  Lyon  und  Feurs  auf  der 
französisch -burgundischen  Grenze  belegenen,  Befestigung  viel  Geld 
zurückgelassen  habe.  Reihen  wir  hieran  noch  die  Nachricht 
des  Godcfr.  Monach.  bei  Freher  I,  dass  Rainald  aus  Italien  heim- 
kehrend am  24sten  Juli  1164   (in  vigilia  beati  Jacobi)  in  Cöln  ein- 


*)  Der  Brief  befindet  sich  bei  Miraeus  11.  p.  M  84  aber  ganz  irrig  zum 
Jahre  H78  gesetzt,  da  Rainald  bereits  4  4  Jahre  todt  war.  Dieser  erwähnt 
in  dem  Schreiben,  dass  er  die  Reliquien  der  heiligen  drei  Könige,  die 
ihm  Friedrich  nach  Mailands  Zerstörung  schenl^lo,  mit  sich  führe;  dass 
Rainald  aber  diese  Reliquien  im  Jahre  4  4  64  nach  Cöln  gel)racht  hat,  be- 
richten sowohl  Godefrid.  Monach,,    wie  die  Annal.  Aquenses  bei  Quix. 

**)  Duchesne  Rer.  Fr.  Scr.  IV.  624—6*22:  Datum  Senonis  111.  Kai. 
August;  Da  Alexander  III.  nach  seiner  Vita  bei  Muratori  Scr.  III.  455  und 
456  vom  4.  October  4  4  63  bis  4  April  4  4  65  seinen  ununterbrochenen  Auf- 
enthalt  zu  Bens  hatte,  so  kann  kein  Zweifel  aufkommen,  dass  dieser  Brief 
4  464   geschrieben  ist. 

***)  Alexander  nennt  seinen  Gegner  Friedrich :  den  sogenannten  Kaiser 
und  Rainald:  den  weiland  Kanzler.  '^ 


Allgemeine  lAteraturberichte.  481 

getroffen  sei ,  so  ergiebt  sich  eDdiich  für  die  ganze  Reise  desselben 
durch  Burgund,  wie  für  seinen  Aufenthalt  in  Vienne  der  Zeitraum 
zwischen  dem  12ten  Juni  und  dem  24sten  Juli  1164. 

Diese  Zeitbestimmung  nebst  einer  nähern  Beachtung  der  zu- 
erst angeführten  Briefsleiic  wirkt  sofort  erklärend  auf  einige  Ags- 
drücke  des  Gedichtes.  Der  Sänger  lasst  nämlich  in  Betreff  der  An- 
kunft Rainalds  in  Vienne  die  Herolde  bekannt  machen:  advenire 
virum  bonum,  patrem  pacis  et  patronum  und  nennt  ihn  auch 
im  weitern  Verlauf  des  Gedichtes:  Pacis  auctor,  ultor  litis. 
Nach  jenem  Schreiben  bestand  Rainald  zu  Vienne  auf  Anerkennung 
Paschalis  des  IIL;  auf  den  erhobenen  Widerspruch  aber  hat  er 
gewiss  mit  scharfer  Rüge  geantwortet.  Das  Urtheil  über  dieses 
Betreiben  musste  nun  natürlich  bei  jeder  der  beiden  Parteien  voll- 
kommen anders  lauten  und  während  Rainald  alexandrinischer  Seits 
mit  dem  Titel:  auclor  et  Caput  turbationis*)  bedacht  wurde,  durfte 
er  den  Befreundeten  in  seinen  Bestrebungen  für  Paschalis  nur  als 
auctor  pacis,  als  ultor  litis  (hier  sicherlich  gleichbedeutend  mit 
scbismatis)  erscheinen.  — 

Nicht  wenig  Antheil  erweckend  tritt  uns  das  siebente  Gedicht 
vornehmlich  deshalb  entgegen,  weil  die  schmeichelhaften  Eigen- 
schaften, die  der  Dichter  an  seinem  Gönner  Rainald  hervorkehrt, 
meislenlheils  in  der  von  Otto  Morena  (Murat.  Scr.  VL  1117.)  ent- 
worfenen Abschilderung  desselben  Bestätigung  empfangen  und  der 
Vers:  Ulixe  facundior,  tulliane  loqueris,  an  den  Ausspruch  Caf- 
faro's  (Annal.  Genueus.  Murat.  VL  279.)  gehalten:  ,. —  Raynaldo 
sanctae  Goloniensis  ecclesiae  electo  et  Ilalici  Regni  Archicancel- 
lario  — ,  cui  —  sensus  et  fama  Cicero nis  per  singula  sequuntur 
vestigia",  es  unzweifelhaft  machen,  dass  Rainald  ziemlich  allgemein 
für  den  Cicero  seiner  Zeit  gegolten  hat.  Dies  Loblied  war  übri- 
gens, wie  aus  den  Worten:  —  hodie  coram  sanctis  omnibus.  Dom 
sanclorum  omnium  colitor  celebritas  —  sich  leicht  entnehmen 
lässt,  zum  Allerheiligenfeste,  dem  Isten  November  und  zwar  ent- 
weder 1162  oder  1163  gefertigt**). 

Dem  neunten  Gedichte,  das  der  Verherrlichung  Friedrichs 
nach  der  Einnahme  Mailands  gewidmet  ist,  wenden  wir  uns  aller- 
dings mit  überwiegender  Vorliebe  zu,  weil  hier  sowohl  eine  nicht 
gemeine  poetische  Kraft  mit  dem  erhabenen  Stoffe  edel  wetteifernd 
sich  hervorthut,  als  weil  sich  in  dem  Liede  die  geschichtlichen  Be- 


*),  Alexander  an  Heinrich  von  Rheims,  Sens  6,  Juli  4  4  64;  Marlene 
Coli.  II.  74  0.  **)  Die  genannten  Jahre  ergeben  sich  durch  Berücksichtigung 
der  Worte:  Adhuc  starent  raenia  Mediolanensium  — ;  electum  Golonie 
—  und:  Archicancellarie,  welcher  Tiiel  Rainalden  nur  auf  italienischem 
Boden  gebührte,  auf  dem  er  sich  in  der  letzten  Hälfte  des  Jahres  4  464 
nicht  befand. 


482  AUgememe  Weraturberichte. 

ziebungeo  des  Augenblicks,  in  welchem  es  entstanden  ist,  getreu- 
lich wiederspiegelu. 

Nach  einigen  begrüssenden  Versen,  in  denen  Friedrich  als 
mundi  dominus,  als  Princeps  terrae  principum  angeredet  wird, 
schreitet  der  Dichter  mit  der  gelungenen  Wendung,  dass  Gross 
und  Klein  wegen  des  ihnen  ertheilten  Schutzes  als  Schuldner  .des 
Kaisers  anzusehen  wäre,  zu  der  in  ihrer  Art  gewiss  unühertreff* 
liehen  Strophe: 

Deut  fruges  agricole,  pisces  piscatores, 

auceps  volatilia,   feras  veuatores, 

nos  poete  pauperes,  opum  contemptores 

scribendo  cesareos  canimus  honores. 
Von  dieser  Einleitung  richtet  er  sich  mit  Verschmähung  heid- 
nischer Gottheiten  am  Beistand  an  Christus,  durch  dessen  Gnade 
der  Kaiser  erhoben  worden  und  nun  das  römische  Reich  zu  sei- 
nem alten  Glänze  hinaufführe.  Denn,  fährt  er  fort,  durch  fahr- 
lässige Könige  haben  Widerwärtigkeiten  im  Reiche  gewuchert^ 
seien  die  Lombarden  und  vor  allen  Mailand  in  Widerspänstigkeit 

gerathen: 

De  tributo  cesaris  nemo  cogitabat, 
omnes  erant  cesares,  nemo  censum  dahat, 
civitas  Ambro sii  velut  Troja  stabat, 
deos  parum,  homines  minus  formidabat. 
Da  sei  Friedrich  wie  ein  wilder  Löwe  aufgestanden  und  iüdess 
Pavia  und  Novara  treuergeben  sich  gefügt,  habe  Mailand  am  Wider- 
spruch festgehalten;  gleichwohl  möge  Friedrich  nunm^  die  Milde 
walten  lassen,  indem: 

Mediolanensium  lante  sunt  ruiue, 
quod  in  urbe  media  modo  regnant  spine. 
An  preisende  Ausführungen  über  die  herrlichen  Thaten  dieses 
maiJändischen  Krieges ,  „deren  erschöpfende  Beschreibung  die  Ae- 
neide  in  Schatten  stellen  würde^S  scbliesst  er  endlich  mit  der  Schil- 
derung, welche  Wirkung  von  dem  ruhmvollen  Ausgang  des  Kampfes 
auf  alle  Weit  sich  erstreckt:  der  griechische  Kaiser  zittere  unent- 
schlossen und  dem  Normannenkönige  stehe  der  Untergang  bevor. 
Der  Hinblick  auf  Griechenland  trifid  ebenso  die  anderweitig 
bezeugte  Wahrheit,  wie  der  auf  das  normannisch -sicilische  Reich 
mit  den  Plänen,  die  Friedrich  unmittelbar  nach  Mailands  Erobe- 
rung gefasst  hat,  im  Einklang  ist.  Johann  von  Salisbury  schreibt*) 
im  Jahre  1166  unverkennbar  mit  dem  Gedanken  an  den  Untergang 
der  Lombardenhauptstadl:  Nonne  Theutonicus  Tyrannus  nominis 
sui  fama  nuper  orbem  perculerat  et  fere  subegerat  regna  vicina; 


')  Epist.  S.  Thomae  ed.  Lupus  p.  230  —  37. 


Allgemeine  Literaturberichte.  483 

etiam  Imperium  Graecorum  terrore  coocnsserat,  ut  magis  de-, 
ditionem  quam  confoederationem  legatiooibus  missis  videretur  of- 
ferre  — ,  und  bereits  am  6len  April  1162,  also  nur  einen  Monat 
nach  Mailands  Fall  vertrug  sich  Friedrich  mit  den  Pisanern*)  über 
eine  in's  Werk  zu  richtende  vivam  guerram  supra  regem  Guil- 
lelmum.  — 

Wir  schliessen  unsere  Besprechung  hier,  weit  entfernt  den 
ganzen  reichen  Inhalt  der  Gedichte,  die  der  gewinnbietenden  Be- 
trachtung noch  viel  Gelegenheit  gestatten,  oder  gar  alle  in  dem 
Buche  niedergelegten  Forschungen  und  äusserst  lehrreichen  neben- 
hergehenden Aussprüche  Grimms  selbst  nur  in  flüchtiger  Andeu- 
tung vorgeführt  zu  haben.  Der  Freund  der  Geschichte  wie  der 
Poesie  wird  sich  ohnehin  den  eignen  £inbiick  in  das  vortrefifliche 
Buch  nicht  versagen  wollen.  — * 

-—  Nachträglich  stosse  ich,  während  vorstehende  Anzeige  sich 
bereits  in  den  Händen  des  Setzers  befindet,  zu  meiner  grossen  Ueber- 
raschung  auf  folgendes  von  Roger  de  Boveden  (Savile  Rerum  An- 
glicarum  Scriptores)  p.  379b.  aufbewahrte  Gedicht,  das  Grimm 
entgangen  zu  sein  scheint,  und  wegen  seines  nahen  Bezuges  zu 
Friedrich  einer  ungeschmälerten  Mittheilung  würdig  ist.   Es  lautet: 

Planctu  super  itinere  renas  Jenualem. 

Graves  nobis  admodum  dies  effluxere, 
Qui  lapillis  candidis  digni  non  fuere. 
Nam  luctus  materiam  mala  praebuere, 
Quae  sanctam  Jerusalem  constat  sustinere. 

Quis  enim  non  doleat  tot  sanctorum  caedes. 
Tot  sacras  (für  sacratas?)  Domino  profanatas  aedes, 
Captivatos  principes  et  subversas  sedes, 
Devolutos  nobiles  ad  servorum  pedes. 

Sed  haec  non  effugient  oculos  videntis, 
Videns  videt  Dominus  nostrae  mala  gentis 
Et  audivit  gemitum  plebis  innocentis, 
Et  Caput  conterere  descendit  serpentis. 

Suscitavit  igitur  Deus  Hebraeorum 
Ghristianos  principes  et  robur  eorum, 
Vindicare  scilicet  sanguinem  sanctorum, 
Subvenire  filiis  mortificatorum. 

Procedunt  cum  millibus  multis  armatorum 
Illustris  rex  Angliae  atque  rex  Francorum. 


*)  Dal  Borgo  Racc.  d.  dipl.  Pisani    p.  3S  — 39. 


484  AUgemrine  Literaturberichte. 

Est  videre  gloria  agmen  senatorum(?) 

Armisiustitiae  et  cultoribus  (am  Rande:  al.  cultibus)  Deorum*). 

Est  nudire  gratius,   fidei  amicuin, 
Romani  imperii  caput,  Fredericmn, 
Debellantem  iugiter  crucis  inimicum, 
Ut  reformet  palriam  stalum  in  antiquum. 

Tendunt  cruce  praevia  versus  orientem, 
Atque  secum  contrahunt  totum  occidentem, 
Lingua,  ritu,  moribus,  cuitu  differentem 
Producunt  exercitum^  sed  ßde  ferventem. 

Ut  victores  redeant,   imploremus  Deum, 
Ut  toliant  de  medio  terrae  Cananaeum, 
Ingressi  Jerusalem  pellant  Jebusaeum, 
Christianae  gloriae  portantes  tropbaeum. 

Ich  weise  nur  darauf  hin,  dass  das  Gedicht  offenbar  Juni. 
Juli  1190  geschrieben  ist,  während  die  Könige  Richard  Löwen- 
berz  von  England  und  Philipp  August  von  Frankreich  ihren  Kreuz- 
zug begannen  und  Friedrich  des  I.  Tod  (10.  Juni  1190)  in  Europa 
noch  nicht  bekannt  war.  Merkwürdig  genug  ist  es  auch,  dass  uns 
dasselbe  von  einem  englischen  Schriftsteller  erhalten  worden. 
Wie  viel  Licht  wird  vielleicht  schon  dieser  Umstand  auf.  das 
räthselhafle  Verhältniss  unseres  Archipoela  zu  Walter  Map  zu 
werfen  vermögend  seini  Philipp  Jaffö. 

De  litterarnm  studio  apud  Italos  primis  medii  aevi  saeculis  scripsit 
Gailielmus  Giesebrecht.  Accedant  nouDulla  Alphani  carmina  vel  emcndata 
vel  ioedita.     Berolini  4  845  in  libr.  R.  Gärtner.     4. 

Nicht  immer  bestimmt  der  Forscher  seinen  Stoff,  viel  häufiger 
ist  es  der  Stoff,  durch  welchen  der  Forscher  bestimmt  und  gelei- 
tet wird.  Kaum  der  erste  Schritt,  den  er  bei  der  Wahl  des  Stof- 
fes thul,  ist  das  Ergebniss  eines  freien  Entschlusses,  schon  der 
zweite  gehört  ihm  nicht  mehr  an,  er  folgt  den  oft  verschlungenen 
Pfaden,  die  sich  auf  dem  eben  betretenen  Boden  vor  ihm  aufthun, 
und  ihn  mitunter  auf  einen  ganz  anderen  Punkt  hinleiten,  als  er 
erwarten  durfte.  Der  Gegenstand  ist  es,  der  die  reine  und  auf- 
richtige Forschung  beherrscht,*  wie  er  selbst  die  verschiedenen 
Stadien  der  Entwicklung  durchlaufen  hat,  so  legt  er  sich  noch  ein- 
mal in  seine  einzelne  Elementen  auseinander,  und  zieht  den 
Forscher  von  Stufe  zu  Stufe  nach  sich;  was  dem  betrachtenden 
Auge  in  der  Ferne  nur  in  den  grössten  und  allgemeinsten  Umris- 


*)    Soll   der  Vers  vielleicht  lauten:    „Cum  arinis  insiitiue   et  cultibus 
Deorum"? 


Allgemeine  Literaturberichte,  485 

sen  als  ein  geschlossenes  Ganze  erschien,  als  eine  grosse  Frage 
die  zu  beantworten  sei,  das  setzt  sich  bei  näherer  Betrachtung  in 
eine  Menge  von  untergeordneten  Fragen  um,  die  aber  nicht  nur 
untergeordnete  sind,  weil  sie  alle  in  nächster  Beziehung  zur  Haupt- 
frage stehen,  und  darum  nicht  weniger  gebieterisch  eine  Antwort 
erheischen.  Eine  solche  Nebenfrage  ist  es,  welche  der  Verf.  der 
vorliegenden  Abhandlung  besprochen  hat;  unmittelbar  aus  seinem 
Stoffe  selbst  erhob  sie  sich  ihm,  als  er  während  eines  längern 
Aufenllialtes  in  Italien  umfassendere  Studien  für  eine  der  wichtig- 
sten Fragen  machte,  die  das  Mittelaller  bewegt  haben,  für  die  Ge- 
schichte des  Investiturstreites.  Dass  er  die  Resultate  jener  For- 
schungen besonders  zusamn^enstellte,  dass  er  es  gerade  in  dieser 
Form  that,  hat  andererseits  seinen  Grund  in  der  persönlichen  Stel- 
lung des  Verf.;  als  Getegenheitsschrift,  als  Schulprogramm  ist  die 
Abhandlung  erschienen.  Es  verdient  daher  sicher  doppelte  Aner- 
kennung, dass  der  Verf.  die  Gescliichle  des  Studiums  der  antiken 
Literatur  in  Italien  während  dej»  6 — 11.  Jahrhunderts  als  ein  voll- 
ständiges Ganze  hinzustellen  wusste,  dass  er  auf  dem  kärglich  zugemes- 
senen Räume  ein  sehr  anschauliches  und  klares  Bild  davon  geben 
konnte;  er  hat  nicht  blos  einer  persönlichen  Pflicht  Genüge  ge- 
than,  sondern  auch  die  Sache  selbst  wesentlich  gefördert  und  die 
gewonnenen  Resultate,  zu  denen  Gelehrsamkeit  und  Scharfsinn 
das  Ihre  beigetragen  haben,  können  nur  den  Wunsch  hervorrufen, 
dass  es  dem  Verf.  bald  verstatlet  sein  möge,  sie  in  einem  allge- 
meineren Zusammenhange  darzustellen. 

Den  Kern  der  Abhandlung,  um  den  sich  die  übrigen  Theile 
der  Untersuchung  gruppiren,  bilden  einige  lateinische  Gedichte  des 
Alphanus,  jenes  Erzbischofes  von  Salerno  (1058—1085),  der  in 
engster  Verbindung  mit  Friedrich  von  Lothringen  und  Desiderios 
von  Montecassino,  den  nachherigen  Päpsten  Stephan  IX.  und  Vic- 
tor in.  (wie  dies  der  Verf.  p.  33  trefflich  ausgeführt  hat)  zu  den 
eifrigsten  und  entschiedensten  Vorkämpfern  der  Gregorianischen  Re- 
formen gehörte,  ohne  deswegen  jenem  finstern,  mönchischen  Ri- 
gorismus zu  verfallen,  der  sonst  den  Streitern  dieser  Seite  eigen 
zu  sein  pflegte.  Vielmehr  ist  es  für  seinen  Charakter  höchst  be- 
zeichnend, dass  er  gerade  mit  seiner  streng  kirchlichen  Richtung 
eine  entschiedene  Vorliebe  für  classische  Studien  verband,  die  sich  in 
den  verschlungenen  Rhythmen  seiner  Hymnen  und  poetischen  Episteln, 
in  den  häufigen  Anklängen  an  lateinische  Dichter,  an  Horaz,  Ovid, 
Virgil,  deutlich  genug  kund  gfebt.  Man  kann  es  nicht  leugnen,  was 
auch  die  philologische  Kritik  gegen  seine  Gedichte  einwenden  möge, 
seine  Distichen  erinnern  an  den  glücklichen  Fall  Ovidischer  Verse; 
eine  dem  Allerthume  verwandte  Ader  durchzuckte  den  kirchlich- 
hierarchischen Sinn  dieses  Mannes.    Zwei  anscheinend  durchaus 

Allg.  Z«it8ohrift  f.  Gesehiclite.  Y.  1846.  33 


486  Allgemeine  Literaturberichte. 

entgegengesetzte  Richtungen  berühren  sich  in  Alphan:  er  reprä- 
sentirt  jenen  Wendepunkt,  auf  dem  die  VorHebe  für  classische  Er 
innerungen,  wie  sie  bis  dahin  in  Italien  lebendig  gewesen  waren, 
in  die  Ascetik  des  strengen  theologischen  Ernstes  überging,  welcher 
das  europäische  Abendland  seil  der  Mitte  des  Uten  Jahrhunderts 
zu  beherrschen   an6ng.     Charakteristisch  ist   es,   dass  Alphan  in 
seinem  Gedichte  an  Hildebrand  sagen  konnte  (p.  43):  Quicquid  et 
llarius  prius,  Quodque  Julius  egerunt  Maxime  nece  militum,  Voce 
tu  modJca  facis.    Das  alte  republikanische  Rom  mit  seinen  Impera- 
toren und  Legionen,  das  neue  hierarchische  mit  seinen  Päpsten 
und  Bannstrahlen,  beides  wird  ihm  unmiltelbar  eins,  die  neue  Welt- 
herrschaft ist  ihm  nur  eine  Fortsetzung  der  alten.    Nächst  einigen 
Fragmenten  theilt  der  Verf.  p.  42  ff.  folgende  Gedichte  des  Alphan 
mit:  Ad  Hildebrandum   archidiaconum  Romanum,  ad  Theoduinum 
monachum  Gasincnsem,  die  epitaphia  Stephani  cardinalis,  Bernardi 
Praenestini    und   Guodelrici  Beneventani    archiepiscopi ,    von  de- 
nen das  zweite,  über  hundert  Verse  lang,  und  das  letzte  noch 
ungedruckt  waren;    die  andern  finden  sich  bereits  bei  fiaronius 
und  Ughelli,  aber  freilich  in  einem  kaum  lesbaren  Abdrucke.   Aus 
den  Handschriften,  die  er  zu  Montecassino  selbst  verglichen,  giebt 
der  Verf.  den  gereinigten  Text,  den  er  mit  erklärenden  Noten  be- 
gleitet hat,  in  welchen  sich  aus  der  Vergleichung  mit  andern  gleich- 
zeitigen Schriftstellern,  namentlich  mit  Amatus,   nicht  selten  über- 
raschende Resultate    ergeben,     pem   Abschnitte    über   Alphanas 
geht  unmittelbar  ein  anderer  voran  p.  25  — S6,  der  einen  Abriss 
der  gelehrten  Studien  auf  Montecassino  enthält,  zu  dessen  Bewoh- 
nern auch  Alphan  seit  1056  gehörte.     Wie  jene  Reihe  bedeutender 
Männer,  die  uns  hier  genannt  werden,  hat  auch  er  sein  Talent  dem 
heiligen  Benedictus  geweiht:  Paulus  Diaconus,  Hildericus,  Erchem- 
pert,  Desiderius,  Amatus  und  Andere  gehen  mit  ihren  Studien  und 
Bestrebungen  hier  an  uns  vorüber.    Diesem  besondern  Theile  end- 
lich hat  der  Verf.  als  Einleitung  eine  allgemeine.  Charakteristik  der 
classischen  Studien  in  Italien  während  des  6.  bis  11.  Jahrhunderts 
vorangeschickt,  deren  wir  zuletzt  gedenken,  weil  sie,  wie  die  Ge- 
dichte des  Alphanus  für  den  Verf.  der  nächste  Ausgangspunkt  wa- 
ren, die  letzten  Resultate  der  Forschung  am  vollsten  giebt;  dage^ 
gen  musste  es    bei  der  Anordnung   des  Stoffes  allerdings  rathsa- 
mer  erscheinen,  vom  Allgemeinen  zum  Einzelnen  hinabzusteigen. 
Es  ist  keine  Frage,  dass  gerade  dieser  erste  Abschnitt  der  wich- 
tigste der  ganzen  Abhandlung  ist.    Als  den  Mittelpunkt  dieser  ein- 
leitenden Untersuchungen  kann  man  sogleich  das  eigenthümliche 
Ergebniss  bezeichnen,  dass  während  bei  den  übrigen  abendländi- 
schen Völkern  die  Geistlichkeit  als  alleinige  Hüterin  der  Schätze 
des  classischen  Alterthums  erseheint,  in  Italien  sich  diese  auch  in 


Allgemeine  Literaturberichfe,  487 

den  Händen  der  Laien  finden,  und  beinahe  überwiegend  finden. 
Auch  hierin  sprechen  sich  Deutschlands  und  Italiens  Eigenihüm* 
liebkeiten  aus.  Dort  dienen  die  ciassischen  Studien  der  Kirche, 
sie  werden  christianisirt,  hier  stellen  sie  sich  der  Theologie,  der 
Kirche  entgegen,  sie  tragenr  heidnische  Reminiscenzen  in  sich,  und 
führen  zu  einer  eigen thümlich  phantastischen  Häresie,  in  der  sich 
die  antiken  Dichter  zu  verführerischen  Dämonen  gestalten,  wie  bei 
jenem  Vilgardus,  von  dem  Glaber  Rodulph  erzählt,  ßis  auf  die 
Anfänge  der  germanischen  Staaten  in  Italien  geht  der  Verf.  zurück.  In 
einseitiger  Grossartigkeit  tritt  uns  hier  Gregor  der  Grosse  eutge* 
gen  im  Kampfe  gegen  die  Reste  des  gelehrten  Heidenthums;  ihm 
scheint  es  Entweihung  die  Fülle  christlicher  Offenbarungen,  die 
ManifestaMonen  des  heiligen  Geistes  in  die  Fesseln  Donatischer  Re- 
geln zu  schlagen.  Die  christliche  Innerlichkeit  kann  sich  dem  pla- 
stisch gestaltenden  Principe  der  antiken  Welt  nicht  schärfer  ent- 
gegensetzen. £ine  weitere  Folge  dieser  Richtung  ist  es,  wenn  in 
den  nächsten  Jahrhunderten  Unwissenheit  und  Barbarei  unter  der 
Geistlichkeit,  namentlich  unter  der  Römischen  Ueberhand  nehmen, 
während  es  doch  nicht  an  Zeugnissen  von  Grammatikern  undRhetoren 
fehlt,  welche  als  Lehrer  der  liberalen  Wissenschaften  erscheinen. 
Die  Päpste  Eugen  IL  und  Leo  IV.  sprechen  den  Verfall  dieser  Stu- 
dien unter  den  Geistlichen  in  ihren  Canonen  geradezu  aus,  und 
treffend  zeigt  hier  der  Verf.,  dass  ^ie  so  oft  angeführte  Constitu- 
tion Lothars  vom  J.  825  sich  rein  auf  theologische  Schulen  beziehe, 
also  in  keiner  Weise  jene  Canones  widerlegen  könne.  Zwar  fehlt 
es  nicht  an  Kathedrai-  und  Klosterschulen,  aber  sie  treten  zurück 
gegen  eine  dritte  Art  des  Unterrichts,  deren  Rather  gedenkt,  apud 
quemlibet  sapientem  conversati  et  litteris  eruditi  sunt  (p.  14).  Es 
sind  Privallehrer,  die  auf  eigene  Hand  Cursen  der  Grammatik  und 
Rhetorik  halten,  es  sind  jene  philosophi,  deren  öfter  gedacht  wird. 
Sie  lehren  gegen  ein  Honorar  und  sind  keineswegs  nothwendig 
Geistliche,  vielmehr  scheint  die  Mehrzahl  dem  Laienstande  ange- 
hört zu  haben;  einfach  als  magistri  oder  scholastici  erscheinen  sie 
in  den  Urkunden  ;l)at  einer  eine  geistliche  Weihe  erhalten,  so  wird 
sie  sorgfältig  angemerkt.  Petrus  Damiani  und  Lanfranc  gehörten 
zu  ihnen,  bevor  sie  der  Welt  entsagten;  erst  zu  Bec  lernt  der 
letzte  Christo  mehr  gehorchen  als  dem  Donat.  —  Doch  es  war 
nur  unsere  Absicht  auf  die  Hauptpunkte  hinzuweisen,  nicht  auf 
das  Einzelne  einzugehen.  Dennoch  können  wir  es  uns  nicht  ver- 
sagen, schliesslich  noch  auf  einen  Mann  hinzuweisen,  der  neben 
Liudprand  eine  passende  Stelle  gefunden  hätte,  um  zu  zeigen,  wie 
auch  Geistliche  von  dieser  antiken  Richtung  ergriffen  werden  konn- 
ten. Es  ist  Gunzo,  Presbyter  von  Novara,  der  das  eigenthümliche 
Schicksal  hatte,  vor  Otto  L  von  den  St.  Galler  Mönchen  vollstän- 

33* 


488  Allgemeine  Literaturberichte. 

dig  y^rklagl  zu  werden,  weil  er  iii  einem  lateinischen  Gespräche 
mit  ihnen  denAccusaliv  rälschlich  statt  des  Ablativ  gebraucht  habe. 
Diesem  Umstände  verdanken  wir  eine  höchst  interessante  Probe 
mitlelaltriger  Philologie,  Gunzo's  Brief  an  die  Reicbenauer  Mönche 
(bei  Blart.  et  Durand),  worin  er  eine  grosse  Anzahl  von  Stellen 
aus  Glassischen  Autoren  gesammelt  hat,  um  zu  zeigen,  dass  Casus- 
vertauschungen  bei  diesen  durchaus  nichts  Ungewöhnliches  gewe- 
sen seien.  Dass  auch  er  noch  eine  Ahnung  von  der  Eigenthüm- 
lichkeit  des  antiken  Geistes  bewahrte,  zeigt  die  Trockenheit,  womit 
er  die  dichterischen  Versuche  seiner  Zeitgenossen  für  Bänkels'än- 
gereien  erklärt  im  Vergleiche  mit  der  anliken  Poesie.  Endlich  noch 
eine  Bemerkung.  Der  Verf.  hat  seine  Abhandlung  Ludovico  Tosti, 
dem  bekannten  Geschichtschreiber  von  Montecassino  gewidmet* 
Ein  deutscher  Geschichtsforscher  ist  es,  der  dem  Mönche  von 
Montecassino  einen  Beitrag  zur  Literargeschichte  seines  Klosters 
übersendet.    Auch  darin  liegt  ein  historisches  Moment. 

Rudolf  Köpke. 

Die  Entdeckiing  von  Aroerika  darcb  die  Islander  im  40ten  und  4  4ten 
Jahrhundert.  Von  K.  H.  Hermes.  Dr.  der  Philosophie,  ehemalig.  Doc.  der 
Gesch.  und  Statistik  a.  d.  Univ.  zu  München.  Braunschweig,  Fr.  Tieweg 
u.  Sohn.   4844.     4  34  S.     8. 

Lange  hat  unsere  Literatur  sich  mit  einer  dunklen  Kunde,  mil 
zweifeibaflen  Spuren  von  jener  Thatsache  begnügen  müssen;  man  { 

kam  über  die  kurze  Notiz  bei  Adam  von  Bremen  selten  hinaus. 
Da  erschienen  endlich  im  J.  1837  Rafn's  Antiquitates  Americanae^ 
herausgegeben  durch  die  Gesellschaft  für  Nordische  Alterthums- 
kunde  in  Kopenhagen,  und  erregten  durch  ihre  unwiderleglichen 
und  erschöpfenden  Beweismittel  eine  so  grosse  Aufmerksamkeit» 
dass  man  sich  alsbald  iu  allen  Ländern  beeilte,  die  Resultate  der* 
selben  auf  dem  Wege  der  Uebersetzung  und  Deberarbeitung  sich 
anzueignen.  Sehr  rasch  hintereinander  erschienen  die  frauzösir 
sehen  Bearbeitungen  von  Rafn  selbst  (memoire  sur  la  d^couverte 
de  l'Amerique  au  dixi^me  si^cle)  zu  Kopenhagen  und  von  Mar- 
mier  zu  Paris;  die  englischen  zu  New- York,  zu  Boston  von  Smith 
und  zu  London  von  ebendemselben  und  von  Beamish;  die  deut- 
schen von  Mohnike  zu  Stralsund  und  von  Wilhelmi  zu  Heidelberg; 
ferner  eine  russische  zu  Petersburg,  eine  niederländische  von 
Hettema  zu  Leeuwarden,  eine  polnische  von  Trojanski  zu  Krakau^ 
zwei  spanische  von  Vargas  (ciudadano  de  Venezuela)  zu  Caracas 
und  von  Pidal  zu  Madrid,  eine  italienische  von  Graberg  da  Nemsö 
zu  Pisa,  eine  dänische  zu  Kopenhagen  und  eine  ungarische  von 
Toth  zu  Pesth.    Alle  diese  Bearbeitungen,  mit  Ausnahme  der  Smith-  j 

sehen  zu  London,  sind  Hrn.  Hermes  unbekannt  geblieben;  auch  j 

jenes  m^moirq  von  Rafn,  welches  nunmehr  in  zweiter  vermehrter 


Allgemeine  Literaturberichie.  489 

Ausgabe  (1843)  voriie^^l  und,  während  fast  alle  übrigen  Erschei- 
nungen allerdings  nur  als  Compilationen  und  Uebersetzungen  sich 
darstellen,  seinerseits  zum  Theil  ein  Supplement  zu  den  Antiqq. 
Amer.  bildet.  Diese  Nichtkenntniss  desselben  von  Seiten  des  Hrn. 
Hermes  ist  daher  um  so  mehr  zu  bedauern,  als  andern  Falls  man- 
cher jetzt  klaffende  Widerspruch  der  Ausgleichung  naher  gekom- 
men sein  würde.  Wenn  z.  B.  Hr.  Hermes,  mit  fiezug  auf  Smith, 
am  Schlüsse  sagt:  „Ja,  man  ist  so  weit  gegangen,  in  dem  Mauer- 
werk einer  solide  gebauten,  jedoch  in  Abgang  gekommenen  hol- 
iändischen  Windmühle  in  der  Nähe  von  Newport,  die  Reste  von 
Leifsbudir  nachzuweisen'^,  so  würden  ihn  die  genauen  Deductionen 
und  bildlichen  Darstellungen  in  dem  Memoire,  wenn  auch  vielleicht 
nicht  andern  Sinnes  gemacht,  doch  mindestens  zu  einem  gründli- 
cheren Erwägen  genöthigt  haben.  Eine  kurze  spöltiscbe  Abferti- 
gung ist  grade  bei  einem  zweifelhaften  Thema  am  allerwenigsten 
angewandt;  und  für  mehr  als  zweifelhaft  wollen  wir  allerdings  die 
Frage  nicht  gelten  lassen,  wiewohl  Rafn  geneigt  ist,  nach  Verglei- 
cbung  mit  andern  nordischen  Bauten,  jenes  Mauerwerk  als  Reste 
eines  zu  einer  Kirche  oder  einem  Kloster  gehörigen  Baptisteriums 
der  Normannen  zu  betrachten,  dessen  Bau  in  die  Zeit  desAufent^ 
haltes  von  Bischof  Erich  zu  fallen  scheine.  Weit  verlässlicher  und 
ein  unwiderlegliches  Zeugniss  von  der  Anwesenheit  der  Norman- 
nen ist  freilich  das  Runendenkmal  am  Taunton  river  in  Massachu* 
setts.  Die  schrifüicfaen  Quellen  gewinnen  dadurch  eine  interes- 
sante Bestätigung,  obwohl  sie  auch  ohnedies  im  Wesentlichen  als 
hinränglich  beglaubigt  erscheinen.  Sie  zu  prüfen  ist  Hrn.  Hermes 
Zweck;  die  Antiqq.  bilden  daher  die  fast  ausschliessliche  Grund- 
lage seiner  Darstellung;  die  Hauptresultate  derselben  bleiben  uner- 
schüttert; nur  in  Einzelheilen  führt  die  deutsche  Kritik  zu  abwei- 
chenden Ergebnissen.  Namentlich,  und  mit  Recht,  will  Hermes 
den  Sögur  in  den  Cod.  membran.  No.  544  u.  557  bei  weitem  nicht 
den  gleichen  Werth  beilegen  wie  den  Bruchstücken  im  Cod.  Fla* 
teyensis,  und  nicht  sowohl  jene  als  vielmehr  diese  aus  den  eige- 
nen Aufzeichnungen  des  Tborfinn  Karlsefni  ableiten,  die  daselbst 
auch  in  der  That  ausdrücklich  angeführt  werden,  nicht  aber  in  den 
Sögur,  welche  sich  überdies  durch  Verwechselungen,  Erweiterung 
gen  und  Ausschmückungen  als  spätere  Bearbeitungen  der  ursprüng- 
lichen einfacheren  Darstellung  verrathen.  Rafn  hält  es  übrigens 
für  höchst  wahrscheinlich,  dass  der  Bischof  Thorlak  Runolfson  (geb. 
1085),  ein  Nachkomme  Karlsefni's,  zuerst  die  Nachrichten  über  die 
Entdeckungsreisen  seiner  Vorfahren  gesammelt  habe  (Memoire 
p.  15.  51).  Die  vorliegende  Arbeit  ist  nun  schon  der  dritte  Ver- 
such, die  merkwürdigen  und  wichtigen  Ergebnisse  der  isländi- 
schen Quellen  unmittelbar  auf  deutschen  Boden  zu  verpflanzen» 


490  Allgemeine  Liieralurberichte, 

um  so  auffailetlder  und  schoiachwürdiger  ist  es,  dass  unsere  Band- 
bücherliteratur  sich  noch  immer  nicht  aus  ihrem  bequemen  Schlen- 
drian aufrütteln  lasst.  Es  wäre  wohl  endlich  nachgrade  Zeit,  dass  man 
in  den  Lehrbüchern  der  allgemeinen  und  der  mittleren  Geschichte 
einen  Abschnitt  üher  die  Normannen  zu  lesen  bekäme,  der  nicht 
nur  Yon  ihren  Thaten  und  Eroberungen  in  Prankreich,  England 
und  Italien,  sondern  auch  von  ihren  Entdeckungen  und  Niederlas- 
sungen auf  Island  seit  etwa  850,  in  Grönland  seit  982  und  in  Nord- 
amerika (Helluland,  Markiand,  Vinland)  seit  986,  von  den  Fahrten 
und  Schicksalen  eines  Erich  des  Rothen ,  eines  Biarn ,  Leif ,  Tbor- 
wald,  Thorstein,  Thorfinn  U.A.,  ob  auch  nur  summarisch  Auskunft 
gäbe.  Wenn  nicht  einmal  so  durchaus  neue,  reiche  und  interes- 
sante Resultate  der  Geschichtsforschung  ohne  Weiteres  Eingang  in 
die  verallgemeinernde  Literatur  Gnden:  was  soll  man  dann  bei  den 
minder  glänzenden  erwarten  dürfen?  Und  doch  ist  jegliches,  auch 
das  geringste,  der  Aufnahme  werth.  Leider  aber  geht  es  in  der 
Wissenschaft  nicht  anders  wie  im  Leben  zu:  man  bleibt  viel  zu 
gern  auf  dem  alten  Fleck  gemächlich  sitzen,  als  dass  man  sich 
mit  dem  Aufstehn  beeilen  sollte,  wenn  es  darauf  ankommt,  nach 
einem  neuen  zu  wandern ;  man  will  wohl  gut  sein,  aber  nicht  bes- 
ser werden,  weil  das  mit  Mühen  und  Opfern,  mit  einem  Ueber- 
winden  des  eigenen  Standpunktes  verknüpft  ist.  Denn  allerdings 
ist  jeder  Gomparativ  die  Negation  des  Positivs,  sowie  umgekehrt 
jede  Negation  den  Gomparativ  des  Positiven  involvirt. 

Geschichte  des  hamburgischen  Schul-  und  Unterrichtswesens  im  Mit- 
telalter von  Eduard  Heyer,  Dr.  Collaborator  am  Jobanneura  zu  Hamburg. 
Hamburg  bei  Meissner.     4  843. 

Die  Entwickelung  der  wissenschaftlichen  Th'ätigkeit  im  Mittel- 
alter ging  überall  in  Deutschland  einen  ähnlichen  Gang;  die  geist- 
lichen Einflüsse  waren  überall  mächtig  j  die  Institutionen  städtischer 
Verhältnisse  gewannen  auf  ähnliche  Weise,  doch  erst  später  Ein- 
fluss.  In  so  fern  möchte  man  die  Darstellung  von  wissenschaftli- 
chen und  Unlerrichtsverhältnissen  dieser  Zeit  in  speciellen  Landes- 
theilen  für  weniger  erspriesslich  halten  können  und  auch  für  mehr 
schwierig,  weil  auf  der  einen  Seite  dem  Leser  die  Aussicht  auf 
die  gesammte  deutsche  Entwickelung  durch  das  Specielle  versperrt 
und  auf  der  anderen  der  Autor  durch  die  Nolhwendigkeit  von  Rück- 
blicken auf  das  Gesammte  gehindert  wird.  Indem  der  Leser  nicht 
weisS;  was  er  dem  speciellen  Landeslheil  und  was  dem  Gesamm- 
ten  zuschreiben  soll^  weiss  der  Autor  oft  genug  nicht  die  Bahn  zu 
gehen,  die  zwischen  dem  bekannten  und  nothwendigen  Aligemei* 
nen  und  dem  von  ihm  gewählten  Speciellen  hindurchführt.  Es  hat 
nicht  immer  das  Specielle  eigenthümliche  Jilomenle  genug,  um  da- 
durch eben  auf  eine  specielle  Geschichte  Anspruch  machen  zu 


Allgemeine  Literaturberichie.  491 

können,  wenn  nicht  eben  diese  Arbeiten  nur  als  Hülfsmittel  für 
denjenigen  dienen  sollen,  der  die  Gesammtheit  der  historischen 
Entwickelung  darstellen  und  aus  der  Gesammtheit  das  Einzelne 
charaklerisiren  will. 

Das  genannte  Buch  ist  mit  grossem  Fleiss  gearbeitet  und  durch 
Hinzufiigung  von  89  Urkunden,  die  den  Raum  des  Buches  von 
p.  193—452  einnehmen  und  theiis  zum  erstenmalo  theils  nur  cor- 
rigirl  gedruckt  worden,  werthvoll  und  interessant.  Die  Geschichte 
des  hamburg.  Unterrichts  selbst  (1  —  182)  behandelt  zuerst  die  äl- 
testen deutschen  Klosterschulen  (p.  1—8),  die  hamburg.  Domschule, 
das  Marianum  (8  —  33),  den  Scholasticus,  den  Rector  Scholarum 
und  die  Locaten  (Behelfer  und  Pedelle  aus  den  Schülern  selbst), 
die  beiden  Lecturen  (nebst  einem  Verzeichniss  der  Lectores  primarii 
und  secundarii),  die  ältesten  deutschen  Stadtschulen,  die  hambur- 
gische Nicolaischule,  die  anderen  hamburgischen  Schulen,  die  Bant- 
schow'schen  Streitigkeiten  und  die  Reformation.  Der  Verf.  fühlt 
an  mehr  wie  einer  Stelle  die  Schwierigkeit  etwas  specielles  eben 
als  specielles  darzustellen,  da  es  so  viele  Analogien  hat,  und  er  sucht 
daher  durch  seine  Einschaltungen  über  deutsche  Schulen  über- 
haupt dem  zu  begegnen,  wenn  dies  auch,  wie  sich  von  selbst  ver- 
steht, hier  nicht  auf  vollständige  und  genug  gründliche  Weise  ge- 
schehen kann.  Was  über  die  ältesten  Klosterschulen  gesagt  und 
so  bekannt  ist,  dass  ein  literarischer  Nachweis  unnöthig,  ja  unwis- 
senschaftlich erscheint,  ist  aus  Trithemius  geschöpft;  ^ei  den  an- 
dern Citaten  muss  man  sich  wundern,  dass  die  Ausgabe  des  Leib- 
nitz  u.  A.  den  Monumenten  vorgezogen  wird.  Zuletzt  folgt  ein 
Verzeichniss  lateinischer  und  deutscher  Wörter,  die  nicht  im  Du 
Gange,  im  brem.  Niedersächs.  Wörterbuch  und  Richey's  Idioticon 
Hamburg,  stehen  sollen,  von  denen  jedoch  eine  Menge  als  sehr 
bekannt  und  errathbar  hätten  weggelassen  werden  können,  wie 
z.B.  abilis  für  habilis,  advocatus  der  Voigt,  aliqualis,  allemannicus, 
bassus  (niedrig),  blancus  (weiss),  bullatus,  burggravius,  burgima- 
gister,  capsa,  cellarium  (wie  bekannt  ist  aer  cellarius  der  Keller- 
meister), ciphus  (Becher),  circumspectus  für  umsichtig  (bekannter 
Titel  z.<  B.  der  siebenbürg.  Deutschen  in  den  Urkunden),  furcula 
(Gabel),  guerra  Krieg  (nichts  bekannter  als  dies),  heremum  für  ere- 
mum  (das  h  wird  ja  so  häufig  weggelassen  und  zugesetzt),  hinc- 
inde  (das  Lieblingswort  von  Nithard).  Ebenso  waren  unnöthig  das 
componirte  in  für  im  und  umgekehrt  imposterum  für  inposterum, 
inportunus  für  importunus,  karitas  für  Caritas,  laycus  für  laicus, 
legittimus,  maliciae,  mansus,  marcbio  (!),  mediare ,  medietas  etc., 
so  dass  man  beinahe  vermuthen  dürfte,  es  habe  der  Verf.  nicht 
grade  viele  mittelalterliche  Schriften  gelesen,  da  ihm  gar  Vieles 
noch  neu  erscheint,  was  doch  nicht  mehr  erwähnt  werden  darf. 
Besser  ist  die  Auswahl  bei  den  deutschen  Wörtern  getroffen,  ob- 
schon  auch  da  zu  bekannte  sind. 

Urkunden  zur  Geschichte  des  Bisthums  Breslau  im  Mittelalter,  her- 
ausgegeben von  Gustav  Adolph  Stenzol.  Breslau,  im  Verlage  bei  Josef 
Max  u.  Comp.  4  845.      CU  u.   402   S.     4. 

Hiermit  erhalten  wir  die  schätzbaren  Urkunden,  auf  deren  bal- 
diges Erscheinen  ihr  Herausgeber  selbst  im  III.  Bde.  dieser  Ztschr. 
S.  157  hinwies.  Die  „Nachricht  über  eine  für  die  Kirchengeschichte 
zunächst  Schlesiens  wichtige  Handschrift*S  welche  er  daselbst  gab 
(S.  152—169),  führt  genugsam  (und  deshalb  enthalten  wir  uns  des 


492  AUgememe  Literaturberichte. 

« 

Näheren)  auf  deu  Staudpunkt  hin,  von  dem  aus  der  grosse  Werth 
der  ganzen  vorh'egenden  Sammlung  erhellt.  Diese  ist  K.  J.  Nitzsch 
gewidmet.  Der  Hauplgesichtspunkt  bei  der  Auswahl  war  das  Ver- 
hällniss  der  Kirche  Schlesiens  zum  Staate  oder  doch  zum  äussern 
Leben;  die  Urkunden  sind  Iheils  aus  den  Originalen  in  den  Ar- 
chiven des  Breslauer  Domcapitels,  der  Provinz  Schlesien  und  der 
Stadt  Breslau  entlehnt,  iheils  aus  dem  Hanptcupi^ilbuche  des  Docn- 
capiteU  dem  sog.  schwarzen  Buche,  theils  aus  jener  erst  neuer- 
dings wieder  aufgefundenen  merkwürdigen  Handschrift  der  Rhe- 
digerischen  Bibliothek,  deren  Kern  der  Streit  zwischen  Bischof 
Thomas  II.  und  Herzog  Heinrich  IV.,  von  1284  —  1287,  bildet.  In 
Summa  sind  es  316  Urkunden,  welche  von  1226  bis  1584  reichen; 
bei  jeder  ist  kurz  der  Inhalt  sowie  die  Quelle  angegeben,  das  Ein- 
zelne aber  in  den  Noten  commentirt.  Ausserordentlich  dankens- 
werth  ist  die  Einleitung,  welche  auf  das  Genaueste  den  Zusam- 
menhang aller  mitgetheilten  Urkunden  nachweist  und  dergestalt 
das  Ergebniss  dessen,  was  durch  sie  für  die  Erweiterung  der  Ge- 
schichtskunde gewonnen  worden,  bestimmt  und  anschaulich  dar- 
legt. Eine  solche  Durcharbeitung  des  frisch  erworbenen  Materials 
sollte  keinem  Urkundenbuche  fehlen;  freilich  ist  das  jederzeit  der 
schwierigere  Theil  der  Aufgabe,  aber  auch  zu  ihrer  Lösung  von 
vornherein  Niemand  befähigter  als  der  Herausgeber  selbst.  Herr 
Stenzel  hat  das  hier  angewandte  zweckmassige  Verfahren  auch  frü- 
her schon  beobachtet,  namentlich  bei  der  vor  länger  als  12  Jahren 
herausgegebenen  Urkundensaoimlung  zur  Geschichte  des  Ursprungs 
der  Städte  und  der  Einführung  deutscher  Kolonisten  und  Rechte  in 
Schlesien  und  der  Oberlausilz.  Diese  letztere  führen  wir  um  so 
lieber  hier  an,  als  gerade  sie  zu  den  mühevollsten  und  zugleich 
verdienstlichsten  Werken  der  Art  gehört,  aber  in  dem  früher  von 
uns  mitgetheilten  Aufsatze:  „Ueber  die  neueren  Urkundensamm- 
lungen zur  deutschen  Geschichte'^  (Bd.  lU.  S.  485  ff.)  keine  Stelle 
fand,  wiewohl  sie  in  neuerer  Zeit  den  ersten  bedeutsamen  Bethä- 
tigungen  der  archivalischen  Forschung  auf  dem  Gebiete  des  deul* 
sehen  Mittelalters,  und  damit  auch  den  Impulsen  zu  analoger  Thä- 
tigkeit  unbedenklich  beizuzählen  ist.  Das  Erscheinen  der  vorlie- 
genden Sammlung  hat  ihrer  Natur  nach  nur  mit  Unterstützung  der 
Staatsbehörden  und  unter  mannigfachen  Opfern  des  Herausgebers 
selbst  bewerkstelligt  werden  können;  doch  da  dieser  bei  seiner 
Arbeit  nicht  nur  eigentliche  Gelehrte,  sondern  überhaupt  die  wis- 
senschaftlich gebildeten  Freunde  der  Geschichte,  und  nicht  Schle- 
sien allein,  sondern  auch  andere  Länder  im  Auge  hatte:  so  lässt 
sich  erwarten  dass  ihr,  wie  die  Anerkennung,  so  auch  die  Theil- 
nahme  von  keiner  Seite  entgehen  werde.  Die  Reichhaltigkeit  der 
gewonnenen  Ergebnisse,  die  in  einen  merkwürdigen  Kreis  des 
geschichtlichen  Lebens  nun  einen  tieferen  Einblick  gestatten,  können 
wir  nur  andeuten,  nicht  zergliedern. 

Dissertationen. 

Meyer:  de  theoiiscae  poeseos  vei'boium  consunaniia  flnali,  iiide  a  pri- 
niis  ejus  vestigiis  iisquc  ad  medium  XIII.  saeculura.  4845.  ßorolini, 
typis  Gusfavi  Schade,     56  S.     8. 

Oauer:  de  Carole  Marlello.     4846.     Beroi.  typ.  G.  Schade.     72  S.     8. 

Frese:  de  Binhardi  vIta  et  scriptis  specimen.  4  8*6.  Berol.^  typ.  Hum- 
t>lol  el  Comp.     39  S.     8. 


Die  liandesvevfassuiis:  In  Kuvhevsen« 

Im  Vergleich  mit  dea  Staatsgrundgesetzen   der   übrigen 

deutschen  Staaten. 


Zweiter  Artikel   (vgl.   S.  105   tt.). 
Fttrst  und  Yolk,  Hinister  nnd  St&nde. 

„Uie  Regierungsform  bleibt,  so  wie  bisher,  monar- 
„chisch,  und  es  bestehet  dabei  eine  landständische 
„Verfassung/^  Das  ist  der  Inhalt  des  §.  2.  der  kurhes- 
sischen Verfassungs-Urkunde  vom  S.Januar  1831;  was  aber 
ist  seine  Bedeutung? 

Das  Verhältuiss,  das  zwischen  dem  Landgrafeh  zu  Hes- 
sen und  den  kurhessischen  Landen  obwaltete,  war  das  ei- 
nes deutschen  Reichsstandes  zu  einem  Territorium,  in  wel- 
chem Stände  von  Prälaten,  Rittern  und  Städten  bestanden, 
die  als  ein  Corpus  das  Land,  dem  FUrsten  gegenüber,  zu 
verpflichten  sich  ermächtigt  hielten  (Pfeiffer  Gesch.  der  landst. 
Verf.  in  Eurhessen  p.  130,  191).  Das  deutsche  Reich  lösete 
sich  im  Jahre  1806  auf  und  dadurch  erlangte  der  mit  der 
Kurwürde  bekleidete  Landgraf  die  Souverainetät,  verliess 
aber  bald  darauf  das  von  französischen  Truppen  besetzte 
Land,  aus  welchem  mit  Ausnahme  des  zum  Grossherzogthum 
Frankfurt  übergehenden  Fürstenthums  Hanau,  im  Verein  mit 
anderen  Gebieten  das  Königreich  Westphalen  gebildet  wurde, 
das  im  Jahre  1813  die  gegen  Frankreich  verbündeten  Mächte 
eroberten.  Der  Kaiser  von  Oestreich  schloss  für  sich  und 
seine  Verbündeten  am  2.  Decbr.  mit  dem  Kurfürsten  von 
Hessen  einen  Vertrag,  wonach  dieser  in  denjenigen  Theil 
seiner  Besitzungen  wieder  eintreten  sollte,  welcher  mit  dem 
Königreich  Westphalen  vereinigt  gewesen  war,  sich  aber 
verpflichtete,  die  Stände  seines  Landes  wieder  in  die  Insti- 

Allg.  Zeitocbrift  f.  OcMkickt«.  T.  184«.  34 


494  Die  Landeseerfassung  in  Kurhesien. 

tutionen  und  Privilegien  einzusetzen,  die  sie  1805  genossen 
(Martens  nouveau  recueil  t.  I.  p.  651).  So  kehrte  der  Kur- 
fürst nach  Hessen  zurllck,  verkündigte  dem  Volke  am  12ten 
Decbr.  1813,  dass  durch  die  siegreichen  Waffen  der  gegen 
Frankreich  verbündeten  Mächte  die  Fesseln  seiner  Untertha- 
nen  gebrochen,  der  Besitz  seiner  gewaltsam  entrissenen 
Staaten  ihm  wieder  eingeräumt  und  durch  feierliche  Trac- 
taten  gesichert  sei,  sprach  sich  zugleich  darüber  aus,  wie 
er  Bürgschaft  dafür  habe,  dass  seine  Unterthanen  gern  un- 
ter seine  Führung  zurückkehrten,  ertheilte  am  29.  August 
1814  eine  ausdrückliche  Zusicheruug  über  die  Fortdauer  der 
kurhessischen  Landstände  und  verordnete  am  27.  Decbr. 
1814  eine  Zusammenberufung  derselben  (unter  Hinzuziehung 
Ton  Deputtrten  des  Bauernstandes),  die  er  nicht  länger  aus- 
setzen wolle,  so  gewiss  sich  auch  erwarten  lasse,  dass  die 
Beschlüsse  des  in  Wien  begonnenen  Gongresses  auf  die  in- 
neren Verhältnisse  der  deutschen  Staaten  und 'insbesondere 
auf  die  landsiändische  Verfassung  von  bedeutendem  Einflüsse 
sein  würden. 

In  der  Rede,  mit  welcher  der  Kurfürst  diesen  Landtag 
am  1.  März  1815  eröffnete,  erklärte  derselbe,  es  werde  ihm 
eine  grosse  Beruhigung  gewähren,  wenn  die  Resultate  der 
Versammlung  dahin  führten,  das  Glück  und  Wohl  seiner 
treuen  Unterthanen  für  immer  4urch  feste  und  unumstöss- 
fiche  Bestimmungen  dauerhaft  zu  gründen  und  zu  sichern. 
Der  Erbmarschall  als  Präsident  der  Stände  dankte  namens 
derselben  för  den  vom  Kurfürsten  erklärten  Vorsatz,  mit  al- 
len wohRhätigen  Instituten  und  Verfassungen  auch  die  stän- 
dische Repräsentation  wieder  herzustellen.  Die  Stände  selbst 
aber  erklärten  am  11.  März  1815,  das  allgemeinste  und  zu- 
verlässigste Mittel  zur  Befriedigung  des  Wohls  des  Staates 
im  Ganzen  und  in  allen  seinen  Theilen  sei  unbezweifelt  <}ie 
Festsetzung  einer  den  Forderungen  der  Vernunft  und  den 
Erfahrungen  der  Zeit  entsprechenden  Landesconstitulion  und 
i3etzten  voraus,  dass  die  Bestimmung  einer  das  ganze  Vater- 
land umfassenden,  auf  ein  Hefatiges  Repräsentativsystem  ge- 
gründeten und  gehörig  organisirten>  auch  mit  einer  zu  dem 


JDm  Landes^erfoimmg  in  KurhesMm  495 

beabsichtigten  Zwedte  genUgencko  Concurrenz  versehenen 
landständiscben  Verfassung,  den  Absichten  des  Landesheirn 
entspreche,  weshalb  es  von  dessen  Willen  abhänge,  den 
Ständen  den  Entwurf  zu  einer  künftigen  LandesconsUtution 
zur  Prüfung  vorzulegen,  oder  ob  sie  es  seien  die  den  Vor* 
zug  gemessen  sollten,  den  Entwurf  zur  landesherrlichen  Ge- 
nehmigung vorzulegen.  Als  ihre  Grundsätze,  deren  Vorle«* 
gung  und  Ausbedingung  »e  allen  anderen  Verhandlungen 
vorausgehen  lassen  miissten,  entwickelten  dabei  die  Stände, 
es  sei  ein  schädliches,  von  dem  staatsrechtlichen  Grundsatze, 
dass  das  Beste  des  Landes  das  wahre  Beste  des  Regenten 
seif  sich  entfernendes  Voruriheil,  Regent  und  Stände,  als  Re* 
Präsentanten  des  Volkes,  fitr  zwei  einander  entgegengesetzte 
und  gegen  einander  wirkende  Parteien  anzusehen,  indem 
vielmehr  Beide  ein  Ganzes,  die  Repräsentation  des  Staates, 
büdelen,  die,  wie  Haupt  und  Glieder,  mit  einander  in  der 
unzertrennlichsten  Verbindung  ständen;  woraus  folge,  dass 
beide  nach  einem  und  demselben  Ziele,  der  Erreichung  des 
Staatszweckes,  zu  streben,  auf  einem  und  demselben  Wege 
in  Ergreifung  und  Ausführung  der  zur  Erreichung  dieses 
gemeinschaflUchen  Zieles  führenden  Mittel  mit  einander  ver- 
eint zu  wandein  bestimmt  seien,  und  dass  zu  dem  Ende 
nicht  ausschliesslich  von  Seiten  des  Regenten  und 
der  namens  desselben  regierenden  Behörden,  Mos  nach 
deren  Einsichten  und  Richtungen,  vielmehr  auch  daneben 
von  Seiten  des  Volkes  und  der  Regierten,  also  mit 
Zuziehung  ihrer  Einsichten  und  Erfahrungen,  zu  wirken 
8^.  In  einer  Erwiederung  vom  18.  März  1815  nannte  die 
KurfürsÜicfae  Landtagscommission  dieses  eine  Darstellung  al- 
ter Grundsätze  dkber  das  Verhältniss  zwischen  Fürsten  und 
Ständen,  mit  der  Erklärung,  dass  es  noch  zu  (rUh  sei,  sich 
mit  Airfassung  einer  Landesconstitution  auf  eine  vollständige 
und  genugthuende  Art  zu  befassen,  weil  sich  voraussehen 
lasse,  dass  die  Grundsätze  durch  die  Beschlüsse  des  wiener 
Gongresses  festgesetzt  werden  würden.  Am  10.  Juni  1815 
bestanden  die  Stände  wiederholt  auf  Bestimmung  der 
GnuMÜinien  zu  einer  neuen  Constitution ;  die  landesherrliehen 

34  • 


496  Die  Landesverfassung  in  Kurhessen* 

Commissare  entgegneten  nochmals,  dass  die  Stände  dieser 
Sache  noch  Anstand  geben  sollten,  bis  sie  durch  den  wie- 
ner Gongress  bestimmt  sein  würde,  versprachen  .^ber  in  dem 
Landtagsabschiede  ausdrücklich  zu  versehen,  dass  für  Kur- 
hessen die  liberalste  Constitution  festgesetzt  und  Stände,  so- 
bald die  Resultate  der  deutschen  Constitution  erschienen 
seien,  wieder  zusammenberufen  werden  sollten.  Als  auf  dem 
wiener  Congresse  die  deutsche  Bundesacte  vom  8.  Juni  1815 
festgestellt  war,  nach  deren  13tem  Artikel  in  allen  Bundes- 
staaten eine  landständische  Verfassung  Statt  finden  solJ, 
baten  die  Stände  neuerdings  am  28.  Juni  1815,  da  die  bis- 
herige Schwierigkeit  durch  die  erschienene  Bundesacte,  die 
keiner  Landesconstitution  vorgreife,  gänzlich  entfernt  sei,  das 
Land  mit  den  in  den  früheren  Verhandlungen  bemerkten 
Grundlinien  einer  solchen  höchst  nöthigen  Verfassung  zu  be- 
glücken. Mit  dem  Bemerken,  dass  dieser  Gegenstand  bis 
zur  Wiedereröffnung  des  Landtags  verschoben  bleiben  und 
alsdann  näher  erörtert  werden  solle,  wurde  letzterer  am 
30.  Juni  1815  bis  auf  weitere  Verordnung  prorogirt.  Die 
Stände  trennten  sich,  indem  sie  das  Bedauern  aasspracben, 
die  Aussicht  zu  einer  neuen,  auf  liberalen  Grundsätzen  ge- 
bauten Constitution,  die  das  Vaterland  hätte  hoffen  dürfen, 
auf  unbestimmte  Zeit  hinausgesetzt  zu  sehen,  mit  der  Zuver- 
sicht, dass  es  dem  Regenten  gefallen  werde,  sie  bald  zu 
versammeln  und  eine  neue  Verfassung  unter  ihrer  Mitwir- 
kung eintreten  zu  lassen. 

Am  15.  Februar  1816  wurde  der  Landtag  wieder  eröff- 
net und  folgenden  Tages  legte  ein  Ständemitglied  den  ihm 
2u  einer  confidentiellen  Mittheilung  an  die  Ständeversamm- 
lung vom  landesherrlichen  Commissar  zugefertigten  Entwurf 
einer  künftigen  Landesconstitution  vor,  der  an  seiner  Spitze 
die  Worte  trug:  „die  Regierungsform  ist  monarchisch",  vvo- 
gegen  die  Stände  nichts  erinnerten.  Natürlich  war  dieser 
Fassung  wie  gewöhnlich  einer  jeden  welche  in  der  Er- 
SBähluügsform  von  einem  Staatsgrundgesetze  aufgenommen 
wird,  die  Bedeutung  zu  unierstellen,  dass  eine  Thatsache 
nicht  blos  anerkannt,  sondern  auch  zu  einem  staatsgründge- 


Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  497 

setzlichen  Princip  erhoben  werde.  Es  hat  also  durcb  jene 
Fassung  eines  Theils  ausgedrückt  werden  sollen,  dass  die 
Regierungsform  bereits  die  monarchische  sei,  andern  Theils 
aber,  dass  diese  Eigenschaft  zur  grundgesetzlichen  erklärt 
werde.  Das,  als  jener  Entwurf  nicht  zum  Grundgesetz  er- 
hoben wurde,  im  Jahre  1817  erlassene  Haus-  und  Staatsge- 
setz wählte,  indem  es  die  Worte  gebrauchte:  „die  Regie- 
rungsform bleibt  so  wie  bisher  monarchisch'^  ^^^  ^i^^  ^^' 
dere  Redaction,  ohne  dass  dadurch  der  Sache  nach  etwas 
Verschiedenes  beabsichtigt  sein  kann,  wovon  die  Ursache 
gerade  in  der  demselben  mangelnden  Eigenschaft  eines 
Staatsgrundgesetzes  zu  suchen  sein  mag.  Man  wird  geglaubt 
haben,  durch  diese  Redaction  etwas  für  die  Zukunft  Rleiben- 
des  und  Unveränderliches  bestimmt  und  so  vermieden  zu 
haben,  dass  nicht  jenes  einfache  Gesetz  auf  die  für  jedes 
gewöhnliche  Gesetz  übliche  Weise  verändert  werden  könne, 
obwohl  ein  solcher  Zweck  dadurch  doch  nicht  würde  er- 
reicht worden  sein.  Da  das  Haus-  und  Staatsgesetz  noch 
die  Worte  hinzufügt:  „und  besteht  dabei  eine  ständische 
Verfassung^',  so  ist  damals  schon  vom  Regenten  die  in  einer 
solchen  nothwendig  liegende  Beschränkung  der  monarchi- 
schen Regierungsform  anerkannt  worden. 

Die  landesherrliche  Proposition  zu  einem  Staatsgrund- 
gesetz vom  7.  Octbr.  1830  §.  2.  stimmt  mit  dem  §.  2.  des 
Haus-  und  Staatsgesetzes  von  1817  wörtlich  überein.  Der 
Verfassungsentwurf  II  schob  noch  das  Wörtchen  „es"  vor 
dem  Worte  „bestehet"  ein,  was  ohne  besondere  Bedeutung 
war,  und  verwandelte  das  Wort  „ständische"  in  die  Benen- 
nung „landständische."  So  ist  es  durch  sämmtliche  Verfas- 
sungsentwürfe hindurch  geblieben.  Diese  Veränderung  wird 
auf  der  Terminologie  der  neueren  Zeit  beruhen,  wonach 
eine  ständische  Verfassung  eine  solche  sein  soll,  welche 
nur  die  Vertretung  einzelner  Stände  auf  dem  Landtage  kenne, 
während  eine  landständische  Verfassung  die  eigentliche 
Vertretung  des  Volkes  bezeichne,  das  Repräsentativsystem 
—  welches  Jordan  (V.  d.  L.  v.  1832  p.  2220  b.)  das  schönste 
Bild  der  Givilisation  und   der  Fortschritte  der  Cultur  nennt 


498  Die  Landest^erfoisung  in  Kurh^sm. 

oder,  wie  sich  das  OberappellatioDsgericfai  als  Staatsge«* 

richtsbof  ausdrückt  (Verb.  d.  Landi.  v.  1834  BeiL  LXL  p.  3), 
die  monarchisch-co n 8 ti tu tionelle  Verfassung.  Die  Propo- 
sition  vom  7.  Oclober  1830  mussie  freilich  die  Verfassueg, 
welche  dadurch  gegründet  werden  sollte,  eine  ständische 
nennen,  weil  hiernach  an  ein  solches  Repräsentati?system 
gar  nicht  zu  denken  war,  da  nach  §.  14.  15  und  16  nur  die 
Prälaten  nebst  dem  Adel,  die  Stadträthe  und  die  Ortsvor* 
Steher  der  Landgemeinden  vertreten  werden  seilten,  die  Ab- 
stimmung nach  Curien  als  Regel  vorgeschrieben  war  und  die 
Bestimmung  des  Gonstitutionsentwurfs  von  1816  Gap.  3.  §.  1, 
fehlte,  wonach,  mit  Aufhebung  besonderer  Repräsentationen 
der  Prälaten,  Ritterschaft,  Städte  und  Bauern,  die  aus  die- 
sen Glassen  gewählten  Landesdeputirten  zusammen  derge- 
stalt die  Stände  ausmachen  sollten,  dass  jeder  Landesdepu« 
tirte  die  Unterthanen  ohne  Unterschied  des  Standes  reprä^ 
sentire.  Man  konnte  aber  in  jenem  Sinne  die  Verfassung 
nioht  mehr  eine  ständische  nennen,  -*-*  ein  Ausdruck,  dessen 
sich  übrigens  die  badische  Verfassungsurkunde  §.  6.  bedient 
—  wenn  die  Wahlen  der  Abgeordneten  4xuf  die  im  §.  63. 
der  kurhessischen  Verfassungsurkunde  enthaltene  Wei^  Statt 
finden  und  die  Abstimmungen  von  den  einzelnen  Mitgliedem 
nach  g.  67  ohne  Rücksicht  auf  Verschiedenheit  der  Stände 
geschehen  sollten.  Blit  Rücksicht  hierauf  musste  man  also 
die  Verfassung,  dem  neueren  Sprachgebrauch  gemäss,  eine 
landsländische  nennen.  Diese  Veränderung  in  der  Bezeich- 
nung derselben  beweiset  aber  umgekehrt,  dass  durch  die 
Verfassung  wirklich  ein  Repräsentativsystem  habe  gegründet 
werden  sollen  oder  dass,  wie  der  Givilsenat  des  Oberge« 
richts  zu  Gassei  im  Jahre  1839  sich  ausgesprochen  hat,  „un- 
„sere  vaterländische  Verfassung  auf  dem  Grundsatze  der  un- 
„unterbrochenen  Repräsentation  des  Landes  durch  seine 
„Vertreter  beruht,  die  zunächst  zwar  von  der  Ständever- 
,,sammlung  ausgeht,  bei  dem  Aufhören  der  Wirksamkeit  der 
,46tztem  aber  durch  den  permanenten  Ausschuss  fortgesetzt 
„wird."  Zwar  wurde,  als  die  Stellvertreter  der  Standederrn 
und  die  Abgeordneten  der  ehemaligen  Reichsritterschaft  ein 


ie  Landesi^erfassmg  in  Kurhessen.  499 

Separaivotum  gegen  das  Gesetz  über  die  gleichförmige  Ord- 
nung der  Verbältnisse  der  Israeliten  einlegen  wollten,  in  der 
Ständeversammlung  von  einem  Mitgliede,  dem  BevoUmäcbtig- 
ten  einer  apanagirten  Linie  des  Eurbauses,  geäussert  (Y.  d. 
L.  v.  1832  p.  2220  b.),  ein  eigentliches  Repräsentativsystem, 
wobin  man  allerdings  strebe,  liege  nirgends  in  der  Verfas- 
sung; allein  jenes  Mitglied  schöpfte,  nacb  seiner  weiteren 
Erklärung,  den  Grund  dieser  Ansicht  daraus,  dass  es  sehe, 
wie  jeder  Stand  in  der  Ständeversammluog  seine  einzelnen 
Rechte  vertheidige.  Dies  war  aber  nur  ein  Vorwurf  gegen 
die  betreffenden  Mitglieder.  Wenn  dieselben  davon  ausge- 
hen sollten,  nur  ihren  besonderen  Vortheil,  oder  den  des 
Standes  dem  sie  angehören,  in  der  Ständeversammlung  zu 
verfolgen  und  dagegen  die  Rechte  des  Volkes,  zu  dessen 
Vertretung  sie  berufen  sind,  ausser  Acht  zu  lassen  oder  gar 
das  Interesse  desselben  durch  ihre  Abstimmung  zu  beein* 
trächtigen:  so  folgt  daraus  nur,  dass  sie  die  ihnen  gewor- 
dene Aufgabe  nicht  begriffen  haben  oder  gar  ihren  Pflichten 
wissentlich  zuwider  handeln«  Keineswegs  würde  aber  aus 
einer  solchen  Erscheinung  deducirt  werden  können,  das«( 
die  VerfassuDgsurkunde  das  Repräsentalivsystem  nicht  ge- 
wollt, sondern  die  Vertretung  der  Standesinteressen  den 
Landtagsmitgliedern  vorgeschrieben  habe. 

Eine  im  Jahre  1832  erschienene  (Cass.  ailg.  Zeit^  Beibl. 
No.  11.  p.  45)  Parallele  zwischen  dem  alten  und  neuen  StaatSr 
rechte  Kurhessens  hält  mit  dem  Repräsentativsystem  die  naoh 
§.  76  der  VerfassuDgsurkunde  zulässigen  Curlat-  und  Be- 
zirksslimmen für  unverträglich.  Aliein  es  ist  schon  von  Pfeiffer 
dagegen  erwiedert  (Cass.  allg.  Zeit.  1832  p.  73),  dass  die 
dort  vorkommende  Separatstimme  eines  Standes  oder  Be- 
zirks durchaus  ohne  Einfluss  auf  die  Beschlussnahme  der 
Ständeversammlung  sei,  vielmehr  nur  neben  dem  ständischen 
Beschlüsse  der  Staatsregierung  zu  etwaiger  Berücksichtigung 
mitgethcilt  werde,  wie  sie  ja  auch,  wenn  die  Betheiligten 
sich  unmittelbar  dahin  wendeten,  würde  eintreten  können. 
Sehr  richtig  drückte  sich  ein  von  der  Ritterschaft  gewählter 
Landtagsabgeordneter  über  die  Bestimmung  im  §.  76  der 


500  Die  Landesterfoisung  in  Kwke$$m. 

Verfassungsurkunde  aus,  wenn  er  (der  auch  am  Land- 
tage von  1830  Theil  nahm)  äusserte,  sie  solle  einen  weite- 
ren Erfolg  nicht  haben  als  den:  dem  betreffenden  Stande 
oder  Bezirke  sei  es  Überlassen  —  nicht,  ein  Gesetz  wegen 
Statt  gehabter  Beschränkung  von  Rechten  zu  verwerfen,  son- 
dern —  die  Staatsregierung  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dass  ein  Recht  verletzt  sei;  und  wenn  er  femer  in  Bezie- 
hung auf  einen  concreten  Fall  sagte,  die  Staalsregierüng 
werde  durch  die  Standesstimme  nur  darauf  aufmerksam  ge 
macht,  diejenige  Entschädigung  zu  leisten,  welche  ver^ 
fassungsmässig  dem  (in  seinen  Rechten  verletzten)  Stande 
zukomme  (V.  d.  L.  v.  1832  p.  2220  c).  Ebenso  wenig 
streitet  gegen  das  Repräsentativsystem  die  Wahl  eines  Theils 
der  Landtagsmitglieder  nach  Ständen,  statt  nach  der  Yolks- 
zahl,  da  ja  selbst  in  England,  wo  gewiss  jenes  System  stets 
vorherrschte,  nicht  blos  das  Oberbaus  aus  erblichen  Mitglie- 
dern besteht,  sondern  auch,  zumal  vor  den  jüngsten  Refor- 
men, bei  der  Wahl  einzelner  Mitglieder  des  Unterhauses  die 
Yolkszahl  nicht  berücksichtigt  wurde.  Die  Mit-Initiative  bei  der 
Gesetzgebung,  deren  Mangel  auf  Seite  der  Stände  man  eben- 
falls gegen  das  Repräsentativsystem  angeführt  hat,  fehlt  aber 
nach  §.  97  der  Verfassungsurkunde  denselben  keineswegs. 

Wenn  insbesondere,  um  zu  zeigen  dass  der  Verfassungs- 
urkunde kein  Repräsentativsystem  zum  Grunde  liege,  auf 
§.  10  und  die  danach  nicht  hinsichtlich  aller  Hoheitsrechte 
durchgeführte  Theilung  der  Staatsgewalt  hingewiesen  wird 
(Cass.  allg.  Zeit.  1832.  BeibK  No.  11.  p.  45):  so  muss  vor  al- 
lem der  Sinn  dieses  Artikels  erforscht  werden ,  der  über- 
haupt in  sehr  enger  Verbindung  mit  §.  2  steht. 

Jene  Bestimmung*)  fand  sich  weder  in  dem  Gonstitu- 
tionsentwurf  von  1816,  noch  in  der  Proposition  vom  7,  Oc- 
tober  1830.     In  dem  Verfassungsentwurfe  11  kam   dieselbe 

*)  In  dem  Abschnitte:  „Von  dem  Landesfürslen  und  den  Glie- 
dern des  Fürsienhauses",  lautend:  „§.  10.  der  Kurfürst  ist  das 
Oberhaupt  des  Staates ,  vereinigt  in  sich  alle  Rechte  der  Slaatsge- 
walt,  und  übt  sie  auf  verfassungsmässige  Weise  aus.  Seine  Per- 
son ist  heilig  und  unverletzlich." 


Die  Landewerfassung  in  Kurhessen.  501 

zuerst  als  §.  9  vor  und  lautete :  ),der  Kurfürst  ist  das  Ober- 
haupt des  Staates,  vereinigt  in  sich  alle  Rechte  der  Staats- 
gewalt und  Übt  sie  unter  den  durch  die  Verfassung  festge- 
setzten Bestimmungen  aus.<<  Die  Ständeversammlung  be-^ 
schloss  anfangs  statt  dieser  Schlussdausel  die  Worte:  „und 
übt  sie  nach  den  in  der  Verfassung  enthaltenen  Bestimmun- 
gen aus^^  zu  setzen.  Doch  wurde  schon  für  den  §.  9  des 
von  der  Ständeversammlung  ausgegangenen  Verfassungsent- 
wurfs III  die  in  der  Verfassungsurkunde  §.  10  gebrauchte 
Fassung  gewählt.  In  sämmtlichen  Verfassungsentwürfen  war 
noch  hinzugefügt:  „Seine  Person  ist  heilig  und  unverletzlich.^^ 
Diese  ganze  Bestimmung  verdankt  demnach  ihren  Ursprung 
lediglich  der  Ständeversammlung,  muss  daher  auch  vorzugs- 
weise in  dem  Sinne  erklärt  werden,  welchen  die  letztere 
damit  hat  können  verbinden  wollen. 

Durch  den  §.  2  und  den  §.  10  der  Verfassungsurkunde 
wird  nun  augenscheinlich  ein  und  dasselbe  ausgedrückt;  im 
ersteren  wird  die  Regierungsweise  nach  ihrer  Form  beschrie- 
ben, im  letzteren  durch  die  Bezeichnung  des  Subjects.    Mo- 
narchische Regierungsform  neben  landständischer  Verfassung 
ist  nichts  Anderes,  als  Ausübung  aller  im  Staatsoberhaupte 
vereinigten  Rechte  der  Staatsgewalt  auf  verfassungsmässige 
Weise.    Dass  diese  Ausübung  auf  verfassungsmässige 
Weise  identisch   mit   einer  Ausübung  nach  den  in  der 
Verfassung  enthaltenen  Bestimmungen,   mithin   der 
§.  10  der  Verfassungsurkunde  blos  eine  veränderte  Redac- 
tion  für  den  ursprünglichen  Beschluss  der  Ständeversamm- 
lung zu  §.  9  des  Verfassungsentwurfs  II  sei,  ergiebt  sich  un- 
widerleglich   daraus,    dass    die   Ständeversammlung  selbst 
jene  Veränderung  vornahm,  ohne  dass  sie  ihr  in  einem  der 
späteren  Verfassungsentwürfe   Seitens    der    Staatsregierung 
vorgeschlagen   wäre.     Die    Ausübung   nach   den   in   der 
Verfassung  enthaltenen  Bestimmungen    kann    aber 
nur  bedeuten:  eine  Ausübung   der  Staatsgewalt  unter  den 
in    der   Verfassung  ausgesprochenen  Beschränkungen   der- 
selben.      Da    nun    diese    Beschränkung    in    einer    Mit- 
wirkung   der    Ständeversammlung    bei    einzelnen 


502  Die  LandeieerfoBiung  in  Kurhessm. 

Regierungshandlungen  besteht,  so  ist  allerdings  eine 
Theilung  der  Staatsgewalt  begründet*),  mitbin  auch 
dieses  in  der  Parallele  zwischen  dem  alten  und  neuen  Staats- 
rechte Kurhessens  desiderirte  Griterium  des  Repräsentativ- 
systems vorhanden;  hierbei  kommt  es  nicht  darauf  an,  ob 
die  gemeinschaflliche  Theilnahme  des  Staatsoberhauptes  und 
der  Stände  an  der  Ausübung  der  Staatsgewalt  auf  beiden 
Seiten  gleich  vertheilt  sei,  oder  ob  hinsichtlich  einzelner  in 
der  Staatsgewalt  liegenden  Rechte  die  eine  Seite  ein  Ueber- 
gewicht  vor  der  andern  geltend  machen  könne,  oder  ob  ein- 
zelne solcher  Rechte,  z.  B.  die  Executivgewalt,  einer  Seite 
allein  zugewiesen  seien;  sondern  nur  darauf,  dass  nicht 
eine  Seite  ausschliesslich  und  unbeschränkt  sämmtliche 
Rechte  der  Staatsgewalt  auszuüben  hat,  vielmehr  eben  eine 
Gemeinschaftlichkeit  dabei  eintritt.  Eine  solche,  im  Artikel 
57  der  wiener  Schlussacte  vom  15.  Mai  1820  ausdrücklich 
als  mit  dem  Grundbegriffe  der  fürstlichen  Souverainetät  ver- 
einbarlich  anerkannte  **)  Theilung  der  Gewalt  steht  auch  kei- 

*)  Die  während  des  Jahres  1834  in  Gabinetsconferenzen  zu 
Wien  zusammengetretenen  Bevollmächtigten  der  Fürsten  und  freien 
Städte  Deutschlands  sollen  im  Art.  I.  ihres  Schlussprotokolls  zu 
der  Vereinbarang  gelangt  sein,  dass  jede  auf  eine  Theilung  der 
Staatsgewalt  abzielende  Behauptung  unvereinbar  mit  dem  Staats- 
recht der  im  deutschen  Bunde  vereinigten  Staaten  sei  und  bei  kei- 
ner deutschen  Verfassung  in  Anwendung  kommea  könne,  zugleich 
aber  auch  anerkannt  haben,  dass  das  Staatsoberhaupt  durch  eine 
landständische  Verfassung,  ohne  das  Grundprincip  des  deutschen 
Bandes  zu  verletzen,  in  der  Ausübung  bestimmter  Rechte  an  die 
Mitwirkung  der  Stände  gebunden  werden  könne;  dies  aber  ist 
gerade  eine  Theilung  der  Staatsgewalt  oder  die  Ausübung  der  im 
Staatsoberhaupte  vereinigten  Staatsgewalt  in  Gemeinschaft  mit  An- 
dern bei  einzelnen  Handlungen. 

•*)  Der  in  der  22sten  Sitzung  der  Bundesversammlung  von 
1832  gefasste  Beschluss  Artikel  I,  welcher  weiter  gehende  Petitio- 
nen der  Landstände  für  verwerflich  erklärt,  kann  in  Hessen,  wo 
derselbe  durch  Verordnung  vom  18.  Juli  1832  bekannt  gemacht 
wurde,  deshalb  keine  Anwendung  finden,  weil  hier  der  politische 
und  staatsrechtliche  Zustand  schon  vorher  durch  die  Verfassungs- 
urkunde  seine  Regelung  gefunden  bat  und  an  eine  Petition  um 
Aenderang  derselben  wohl  nicht  gedacht  werden  wird. 


Die  Ländest>erfas$ung  in  Swrhesie».  503 

neswegs  mit  der  im  §.  2  der  Terfassungsurkunde  vorge- 
schriebenen monarchischen  Regierungsform  im  Wider- 
spruche. 

Versieht  matf  nämlich  unter  einer  Monarchie  diejenige 
Regierungsform,  weiche  dem  Volke  alle  politischen  'Rechte 
abschneidet  und  dem  Einzelnen  nur  Sicherheit  der  Per^ 
son  und  des  Eigenthums  gewährt:  dann  freilich  sind  alle 
Staaten,  in  denen  Landstände  bestehen  weiche  eine  gros- 
sere  Wirksamkeit  äussern  als  die  ist,  einen  Rath  zu  ge- 
ben der  nicht  beachtet  zu  werden  braucht,  für  Republiken 
zu  halten;  dann  frdiich  ist  auch  die  kurhessische  Regie* 
rungsform  eine  republikanische,  weil  sie  dem  Volke  eine 
Theilnahme  an  der  Regierungsgewalt  einräumt  und  die  kur- 
hessische Verfassungsurkunde  schliesst  dann,  gleich  so  man- 
cher andern,  einen  Widerspruch  in  sich,  wenn  sie  die  da- 
durch begründete  Regierungsform  eine  monarchische  nennt. 
Rezieht  man  aber  die  monarchische  Regierungsform  auf  die- 
jenigen Staaten,  in  denen  die  Leitung  der  Staatsgeschäfte 
einer  einzigen  physischen  mit  Majestät  bekleideten  d.  h.  mit 
Heiligkeit  umgebenen  und  mit  Unverletzbarkeit  begabten 
Person  anvertraut  ist:  dann  schliesst  dieselbe  das  Repräsen- 
tativsystem keineswegs  aus.  Es  braucht  dabei  nicht  unter- 
sucht zu  werden,  ob  die  Rechte  des  Staatsoberhauptes  gött- 
lichen Ursprungs,  ob  sie  angeborne  Familienvorzüge  sind, 
oder  ob  sie  auf  einer  Uebertragung  von  Seiten  des  Volkes 
beruhen;  denn  diese  Frage  vermag  gar  keine  practischen 
Folgen  nach  sich  zu  ziehen,  so  lange  das  Staatsoberhaupt 
wegen  seiner  Handlungen  ohne  Verantwortlichkeit  bleibt. 
Erst  wenn  dasselbe  diese  wegen  der  Regentenhandlungen 
zu  übernehmen  hätte,  würde  eine  Volkssou  veraine  tat  Wir- 
kungen an  den  Tag  legen,  welche  sich  wesentlich  von  der 
heutigen  Ausdehnung  des  Repräsentativsystems  unterschei- 
den und  den  Charakter  der  constitutionellen  Monarchie  durch- 
aus verändern  würden.  Als  der  Grundpfeiler  der  letztern 
muss  das  Frincip  von  der  Heiligkeit  und  Unverletzbarkeit 
de$  Regenten  betrachtet  werden,  womit  freilich  unzertrenn- 
lich die  Lehre  voa  der  Verantwortlichkeit  der  Minister  und 


504  Bk  Landeseerfoiiung  in  Kurkessen. 

Übrigen  Staatsbeamten  verbunden  ist,  mit  der  es  auch  bei 
Berathung  der  Verfassungsurkunde  fortwährend  in  Verbin- 
dung gebracht  wurde. 

Wenn  gleich  in  der  Monarchie  einem  Einzigen,  dem 
Staatsoberhaupte,  die  Leitung  aller  Staatsgeschäfte  oder^ 
wie  das  Gesetz  über  die  Hitregentschaft  des  Kurprinzen  vom 
30.  Septbr.  1831  §.  2  sich  ausdrückt,  „die  Besorgung  aller 
Regierungsgeschäfte'^  vindicirt  werden  muss,  so  ist  daraus 
nicht  zu  folgern,  dass  dasselbe  bei  dieser  Leitung  lediglich 
die  Willkür  zur  Richtschnur  zu  nehmen  habe.  Beschränkung 
der  Willkür  durch  sachgemässe  Rücksichten  heben  keines 
wegs  den  Charakter  der  monarchischen  Regierungsform  auf. 
Zu  den  Rechten  der  Staatsgewalt  gehört  unstreitig  auch  die 
Justizhoheit,  und  doch  findet  niemand  eine  SchmäleruDg  des 
monarchischen  Princips  darin,  dass  die  Gerechtigkeitspflege 
nur  durch  Richter  geübt  werden  darf,  welche  vom  Staats- 
oberhaupte unabhängig  sind,  weil  allgemein  anerkannt  wird, 
dass  Gabinetsjustiz  keinen  unparteiischen  Rechtsspruch  zu 
gewähren  vermöge.  Eben  so  wenig  wird  man  eine  Krän- 
kung des  monarchischen  Princips  darin  erblicken,  dass  nach 
den  in  Deutschland  verbreiteten  Ideen  ein  Staatsbeamter  nur 
durch  Urtheil  und  Recht  seines  Amtes  entsetzt  werden  kann. 

Das  monarchische  Princip  bleibt  also  unangetastet,  wenn 
die'  Willkür  des  Staatsoberhauptes  Beschränkungen  unter- 
worfen wird,  welche  nothwendig  sind,  um  den  Zweck  des 
Staates  zu  erreichen.  Dieser  besteht  in  der  Zufriedenheit 
des  Volkes.  Nie  wird  das  Staatsoberhaupt  die  Gewalt  so 
ausüben  wollen,  dass  sie  das  Volk  zur  Unzufriedenheit  stimmt. 
Damit  aber  zu  erkennen  ist,  in  welchem  Sinne  die  Regie- 
rung zu  leiten  sei,  um  die  Zufriedenheit  des  Volkes  herbei- 
zuführen, hat  dieses  selbst  sich  durch  seine  Vertreter  über 
die  Regierungsweise  zu  äussern,  durch  welche  es  seine  Zu- 
friedenheit, die  doch  nur  auf  subjectiven  Ansichten  beruhen 
kann,  bedingt  glaubt.  Das  ist  das  Repräsentativsystem,  wel- 
ches die  kurhessischen  Landstände  schon  im  Jahre  18i5  als 
nothwendige  Grundlage  einer  Landesconstitution  bezeichne- 
ten j  es  ist  das  Mittel,  vermöge  dessen  das  Staatsoberhaupt 


Die  LandestiBrfanung  in  KurheuetL  505 

die  Wege  zu  erforschen  vermag,  die  bei  der  Leitang  der 
Staaisgeschäfte  einzuschlagen  sind,  um  die  Zufriedenheit  des 
Volkes  zu  begründen  und  dadurch  den  Zweck  des  Staates 
zu  erfüllen.  Sobald  aber  die  Stimme  des  Volkes,  die  sich 
durch  seine  Vertreter  kund  giebt,  vom  Staatsoberhaupte  bei 
dessen  positiver  oder  negativer  Thätigkeit  beachtet  v^erdea 
muss,  ist  eine  Theilung  der  Staatsgewalt  zwischen  dem  Staats- 
oberhaupte und  dem  Volke  vorhanden,  weil  es  nun  nicht 
mehr  unbedingt  von  dem  guten  Willen  des  ersteren  abhängt, 
bei  der  Leitung  der  Staatsgeschäfle  sich  an  die  Rücksichten 
zu  binden,  welche  erforderlich  sind  um  die  Zufriedenheit 
des  Volkes  herzustellen.  Je  weniger  die  Stimme  des  Volkes 
unbeachtet  gelassen  werden  kann,  desto  grösser  sind  seine 
politischen  Rechte,  die  Theilnahme  an  der  Regierungsgewalt; 
und  je  mehr  dessen  Stimme  sich  Geltung  zu  verschaffen 
weiss,  desto  freier  ist  es  und  unabhängiger.  Der  höchste 
Gipfel  der  Volksfreiheit  ist  erreicht,  wenn  die  Regierung 
nach  den  Grundsätzen  geleitet  wird,  welche  von  den  Ver*« 
tretern  des  Volkes  fiir  diejenigen  erklärt  sind,  von  denen 
die  Zufriedenheit  des  Volkes  abhängt. 

Dieser  höchste  Grad  der  Volksfreiheit  ist  aber  nothwen- 
dig,  um  einerseits  das  monarchische  Princip  zu  befestigen, 
andrerseits  dessen  Uebergang  in  Despotie  oder  in  diejenige 
Regierungsform  zu  verhüten,  nach  welcher  das  in  einer  phy** 
sischen  Person  bestehende  Staatsoberhaupt  bei  der  Leitung 
der  Staatsgeschäfte  ganz  unbeschränkt  ist,  lediglich  den  Ein- 
gebungen seiner  Willkür  folgen  darf.  Rechtlich  ist  kein  Un- 
terschied dabei,  ob  diese  unbeschränkte  Befugniss  benutzt 
wird  um  das  Volk  zu  tyrannisiren,  oder  ob  sie  wegen  wei- 
ser Anwendung  zu  ihren  Erfolgen  Wohlstand  und  Glükselig- 
keit  des  Staates  zählen  kann*,  denn  dies  hängt  immer  nur 
von  der  zufälligen  Individualität  des  Staatsoberhauptes  ab. 
Sobald  die  Regierungsgrundsätze  durch  welche  die  beharr- 
lich ausgesprochene  Meinung  des  Volks  seine  Zufriedenheit 
bedingt  hält,  von  den  verantwortlichen  Organen  des  Staats- 
oberhauptes hintangesetzt  werden,  dürAe  die  Regierungsform 
als  in  eine  despotische  ausgeartet  anzusehen  sein,  es  mag 


506  Di$  Lmide$0€rfiMmtg  m  KnriM$m. 

die  YeriiMaDguirka&de  lauten,  wie  sie  we9e;  denn  der  Er* 
folg  hai  dann  bewiesmi,  dass  die  Bepräsentation  nur  ein 
Sfiiel  ist.  Sobald  dagegen  der  Wille  des  Volkes  sich  gegen 
die  entschiedene  Abneigung  der  Regierung  Geltung  zu  ver«* 
schaffen  weiss,  bat  das  democratische  Priocip  ein  Ueberge- 
wichi  erlangt  In  der  stfitigen  Harmonie  zwischen  der  Re- 
gierung und  dem  Volke  besteht  die  RepHlseniativmonardiie. 
Diese  ist  versdiwnnden,  sobald  jene  Harmonie  gestttrt  wird, 
die  um  so  enger  und  inniger  sein  muss,  je  häufiger  naeh 
der  Verfassung  die  Mitwirkung  des  Volkes  bei  Ausübung  der 
Staatsgewalt  Statt  finden  soll.  Wo  die  Staatsgewalt  zwischen 
xwei  Körpern  getheilt  ist,  da  ist  es  nicht  blos  dem  gedeih- 
lichen Erfolge  der  Öffentlichen  Angelegenheiten  naditheilig, 
da  wird  bald  langsamer,  bald  rascher  der  Staat  selbst  un- 
rettbar seinem  Untergange  zugeführt,  wenn  die  zwei  Körper 
sich  einander  bekämpfen,  statt  gemeinschaftlich  nach  der 
Erreichung  des  ihnen  vorgesteckten  Zieles  zu  streben.  Bei 
dem  Zerfall  des  Staatsverbandes  aus  solcher  Ursadie  kann 
niemand  so  grosse  Verluste  erleiden,  als  ein  erb  lieh  es 
Staatsoberhaupt. 

Wer  wird  aber  bei  einem  Gonflicte  der  beiden  an  der 
Staatsgewalt  Theil  nehmenden  Körper  nachgeben?  £s  ist 
hier  nicht  die  Rede  davon,  was  die  Organe  des  Staatsober- 
hauptes und  was  die  Vertreter  des  Volkes  thun  sollen,  um 
einem  solchen  Gonflicte  vorzubeugen;  nicht  die  Rede  davon, 
ob  es  Pflicht  eines  jeden  Landstandes  sei,  einen  concilia-- 
torisehen  Weg  zu  gehn,  weil  das  Wohl  des  Vaterlandes 
immer  durch  die  Zeitumstände  bedingt  sei  und  diese  eine 
vermittelnde  Auskunft  ralhaam  erscheinen  lassen.  £s  handelt 
jetzt  sich  nur  davon,  wie  ein  Conflict  geschlichtet  werden 
soll,  wenn  er  eingetreten  ist. 

Der  einzige  Zweck,  weshalb  in  einer  Monarchie  das 
Volk  in  seinen  Vertretern  überhaupt  befragt  wird,  ist,  zu 
erfahren,  welche  Regieningsgrundsätze  dasselbe  nöthig  hält, 
um  seine  Zufriedenheit  begründet  zu  sehn.  Wenn  eine  Re* 
gierung  diesen  Zweck  nicht  anerkennt,  so  erklärt  sie  zu* 
gleich»   dass  üß  in  Wahrheit  keine  Volksrepräsentation  wiH 


ie  Landesterfanwig  in  Kurh$i$m.  607 

und  steh  ia  Opposition  mil  der  Yerfiassung  setzt,  ah  derta 
EJemeni  eine  Volksvertretung  erseheint.  Ob  Jemand  sich  zu- 
frieden fühle,  hängt  ganz  von  dessen  subjeeiiven  Ansichten 
ab;  ein  Anderer  vermag  darüber  nieht  za  urtheilen.  Das 
NSmliohe  tritt  bei  einem  Volice  ein.  Sobald  man  also  die 
Idee  verlässt,  das  Volk  mit  dem  Staatsoberhaupte  zu  iden- 
tifioiren  und  blos  in  dem  letzteren  das  erstere  zu  erkennen, 
muss  man  zugeben,  dass  nur  das  Volk  wissen  kann,  bei 
der  Anv^endung  welcher  Grundsätze  es  sich  zufrieden  fiihlea 
w«rde.  Nirgends  aber  wird  es  einen  Regenten  geben,  welcher 
die  Mittel;  das  Volk  zufrieden  zu  maehen,  kennt  und  doch^ 
statt  sie  zu  benutzen,  die  entgegengesetzten  Mittel  anwendet. 
Eine  Siändeversammlung  ist  allerdings  nicht  das  Volk 
selbst,  sondern  vertritt  nur  dasselbe.  Das  Staatsoberhaupt 
kann  daher  in  einem  einzelnen  Falle  zweifelhaft  sein,  ob  die 
Ständeversammlung  auch  wirklich  die  allgemeine  Meinung 
des  Volkes  ausgesprochen  habe.  Jede  Verfassung  wird  aber 
Millel  darbieten,  das  Staatsoberhaupt  über  seinen  Zweifel 
aufzuklären  und  demselben  die  wahre  Meinung  des  Volkes, 
durch  einen  wiederholten  Ausspruch  desselben,  an  den  Tag 
zu  legen  3  sollte  indessen  eine  Verfassung  solche  Mittel  nicht 
darbieten,  so  kann  auch  bei  dem  Staatsoberhaupte  der  er- 
wähnte Zweifel  gar  nicht  entstehn,  weil  dann  gesetzlich 
die  erste  Erklärung  der  Ständeversammlung  für  die  wahre 
Meinung  des  Volkes  gehalten  werden  muss.  Man  kann  nicht 
einwenden,  es  habe  die  Erfahrung  bewiesen,  dass  die  Stän- 
deversammlungen nicht  die  öflfentliche  Meinung  reprä^entirten, 
indem  häufig  das  Volk  selbst,  wenigstens  seine  grössere 
Mehrheit,  ganz  anders  denke,  als  die  Mitglieder  der  ver- 
schiedenen von  demselben  gewählten  Ständeversammlungen. 
Wo  dies  der  Fall  ist,  liegt  der  Fehler  immer  an  der  Vor- 
schrift über  die  Zusammensetzung  der  Ständeversammlungen 
und  an  dem  Wahlmodus.  Männer  der  Regierung  dtlr£en  am 
wenigsten  diese  Behauptung  unternehmen,  denn  wenn  sie 
es  thäten,  so  trifft  sie  der  Vorwurf,  dass  sie  nicht  eine  Ver- 
änderung der  Repräsentation  und  der  Wahlari  auf  legalem 
Wege  einzuleiten  suchen,  was  um  so  mehr  ihre  Pflicht  ist, 


508  Die  Landaverfa$$ung  m  Eurheasen* 

als  von  einem  Volke,  dessen  Meinung  nicht  durch  die  ver- 
fassungsmässigen Stände  repräsentirt  wird,  eine  solche  Ver- 
änderung nur  auf  dem  beklagenswerlhen  Wege  der  Revo* 
lution  erreicht  zu  v^erden  vermöchte.  Es  muss  demnach,  so 
lange  eine  gewisse  Repräsentations-  und  Wahlart  verfassungs* 
massig  besieht,  die  durch  die  gesetzlichen  Vertreter  des 
Volkes  ausgesprochene  Meinung  über  die,  die  Zufriedenheit 
des  letztern  begründenden  Regierungsgrundsätze,  für  die 
Meinung  des  Volkes  selbst  gehalten  werden.  Sobald  sich 
darüber  das  Staatsoberhaupt  Gewissheit  verschafft  hat,  wird 
es  seinen  Organen  auftragen,  jene  Grundsätze  zur  Anwen- 
dung zu  bringen  oder,  wenn  dieselben  Bedenken  haben  auf 
diesem  Wege  zu  wandeln,  zu  seinen  Organen  Männer  wäh- 
len, welche  den  Willen  des  Staatsoberhauptes  auszuführen 
bereit  sind.  Mau  hat  dies  wohl  als  eine  gefährliche  Omni- 
potenz  der  Kammern  geschildert,  aber  letztere  beruht  nicht 
bei  den  Personen  der  Kammern,  sondern  auf  der  ioheren 
Nothwendigkeit,  die  Bedürfnisse  des  Volkes  zu  berücksich- 
tigen, über  welche  die'ses  nach  der  Verfassung  sich  nicht 
haufenweise  Mann  für  Mann  aussprechen  darf,  noch  mittelst 
beliebig  sich  bildender  Clubs  und  Vereine  —  wie  sie  bei 
mangelnder  Volksvertretung  Überall  auftauchen  und,  sobald 
sie  äusseren  Zusammenhang  gewinnen,  die  bedenklichste  Er- 
scheinung für  eine  Staatsverwaltung  sind  ^,  sondern  eben 
nur  durch  -die  Stände  Versammlung,  welche  sicher  als  der 
mindest  gefährliche  Weg  sich  darstellt. 

Sollte  nun  aber  das  Staatsoberhaupt,  ungeachtet  es  durch 
die  Vertreter  des  Volkes  erfahren  hat,  was  dieses  zu  seiner 
Zufriedenheit  für  nölhig  erachtet,  dennoch  bewogen  werden, 
einem  im  entgegengesetzten  Sinne  gesteUten  Bath  seiner  Or- 
gane Gehör  zu  geben,  so  wird  damit  ein  Verfahren  einge- 
schlagen, welches  unvermeidlich  entweder  zur  Democratie 
oder  zur  Despotie  führen  muss.  Beide  Begierungsformen 
heben  die  Heiligkeit  und  Unverletzlichkeit  des  Staatsober- 
hauptes auf  und  diese  Folge  dürften  also  die  Orgaue  des 
Staatsoberhauptes  zu  verantworten  haben,  die  demselben, 
wenn  sie  selbst  nicht  ein  Abgehn  von  ihrer  Ansicht  mit 


ie  Landewerfauung  in  Kurhesten,  S09 

ihrem  Gewissen  vereinigen  zu  können  glauben,  nicht  ge- 
rathen  haben  an  ihrer  Stelle  solche  Männer  zu  erwählen, 
welche  das  Staatsoberhaupt  nicht  verhindern  werden,  die 
Staatsgeschäfte  nach  den  von  dem  Volke  gebilligten  Regie- 
rungsgrundsätzen zu  leiten.  Dass  es  unmöglich  ist,  die  Hei- 
ligkeit des  Regenten  aufrecht  zu  erhallen,  wenn  dessen  Or- 
gane sich  bleibend  in  eine  Opposition  mit  dem  beharrlich 
ausgesprochenen  Willen  des  Volkes  setzen,  beweiset  die 
Doctrin  die  einst  ein  Journalist  dem  kurhessischen  Ministe- 
rium unterstellte  (Cass.  allg.  Zeit.  1832  ReibL  Nr.  31.  p.  1.). 
Wenn  Über  das  letztere  geäussert  wurde:  es  hat  keine  Nei- 
gung sich  die  Lehre  aufheften  zu  lassen,  dass  die  Majorität 
der  Ständeversammlung  den  Impuls  gebe  nach  welchem  das 
Ministerium  regieren  mUs3e,  oder  dass  die  Stände  berech- 
tigt seien ,  diejenigen  Gesetze  welche  ihrer  pfliehtmässigen 
Ueberzeugung  nach  für  das  Wohl  des  Landes  unumgänglich 
nöthig  wären,  „von  dem  Ministerium  d.  h.  von  dem  Landes- 
herrn ^'  zu  erzwingen,  wobei  eine  einmalige  Appellation 
an  das  Volk  mittelst  Auflösung  der  Ständeversammlung  zwar 
erlaubt  sei,  was  aber  die  zweite  beschliesse,  das  sei  als 
der  Wille  des  Volkes  zu  betrachten,  welchem  das  Ministerium 
also  der  Landesherr  Folge  leisten  müsse:  so  ist  dadurch  klar 
an  den  Tag  gelegt,  wie  der  Journalist  diese  dem  kurhessi- 
scben  Ministerium  untergeschobene  Ansicht  nur  damit  zu 
rechtfertigen  vermpchte,  dass  er  das  Ministerium  an  die 
Stelle  des  Landesherrn  setzte,  die  erhabene  WUrde  des  letz- 
tem, der  doch  auch  über  dem  Ministerium  stehen  muss, 
als  auf  dieses  übergegangen  betrachtete,  folglich  diesem 
auch  die  Eigenschaften  des  Regenten  beilegte,  und  dadurch 
die  Heiligkeit  verkannte,  die  von  der  Person  des  Landes- 
fürsten  unzertrennlich  ist.  Ja  es  lässt  derselbe  alsbald  einen 
unmittelbaren  Angriff  auf  die  Heiligkeit  des  Regenten  folgen, 
indem  er  anführt,  man  habe  zwar. während  des  Landtags 
von  1832  nicht  ausdrücklich  das  Princip  aufgestellt,  dass  die 
Stände  das  Recht  hätten,  „Seine  Hoheit  den  Kurprinzen 
(das  Staatsoberhaupt)  zu  zwingen^'  die  Gesetze, so  zu 
^anctioniren ,   wie  sie  die  Stände  beschlossen  hätten,   aber 

Allg.  Zeitsclirift  f.  GeschicLte.  V.  1846.  35 


510  Die  Landtiterfammg  m  tüu^eaen. 

man  habe  diese  Genehmi^ng  so  «»atifhörlieli  sollicitirt  u^ 
so  fest  auf  dem  befanden,  was  man  bescklossen,  das»  ein« 
ausgleichende  üebereinkunft  unmöglich  geworden  sei. 
Da  nun  in  der  That  während  des  Landtags  von  1832  manche 
Gesetze  sanctionirt  worden  sind,  so  Kegt  in  dieser  durch 
die  Redaciion  der  Zeitung  freilich  alsbald  widerle^n  (ibid, 
p.  2.)  Aeusserung  nichts  Anderes,   als  dass.der  R«geBt  a 
deren  Sanciionirung  nicht  durch  eine  ausgleichende  Ueb$r<- 
einkunft,  sondern  durch  Zwang  bewogen  sei;  wer  aber  Zwang 
gegen  den  Regenten  ftlr  möglich  hält,    muss  die  Bailif^eit 
desselben   aufgegeben  haben.     Zu  solchen,    in  Frankrweh 
dwch  die  Gesetzgebung  hart  vi6rpönten,  EiBmi^hungen  der 
Person  des  Regenten   in  die  Schutzreden  des  Mmsteriums 
führt  es,  wenn  man  dem  letzteren  den  Roth  giebt,  die  nad 
„pflicUmässiger  üeberzeugung**  ausgesprochene  Meinung  der 
Volksvertreter  hintanzusetzen.  Merkwürdig  Meibi  hierbei  nur 
der  ümsland,  dass  jene  Lehre  von  der  Unwillfi*ri^€it  eines 
Mmisteriuffis,  die  Voiksstimme  zu  beachten,  srffest  wenn  sie 
sich   mehrlacfa   in   dem   nämltclMi  Sinne  geäussert  hat,  m 
einem  Artikel  gepredigt  wurde,  welcher  oflteiibar,  «ach  Auf- 
lösung einer  Ständeversammtung ,   an  die  WsMmänner  'ge- 
richtet war,    denen  der  Journalist  zuruft  (Cass.  allg.  Ze^ 
1832.  p.  1762.):  in  die  Hdnde  dieser  Wablmänner  ist  in  dfe- 
sem  Augenblicke  viel  gelegt.    Man  kann  wohl  fragen ,  was 
in  ihre  Hände  Grosses  gelegt  isein  sollte ,  wenn  es  nicht  die 
Entscheidung  des  Zweifels  wäre,  in  welehc^m  sieb  das  Staats- 
oberhaupt Über  die  wahre  Stimmung  des  Voikes  befundoB 
haben  mag;  und  wo^hl  kann  man  fragen,   was  denn  Erheb- 
liches    auf   diesen  AussfHruch    der  WaUmänner    ankommt^ 
wenn  sich  darüber  die  Organe  des  Staatsoberbaflptes  doc^ 
fainaussetzien  wollen  und  können. 

Es  würde  in  der  That  unerklärlich  sein,  wie  man  bei 
dem  Landtage  von  1832  nur  den  Gedankep  an  die  Anwen^ 
düng  eines  Zwanges  gegen  den  Regenten  hat  voraussetzen 
können,  wenn  man  nicht  annehmen  müsste,  dass  ein  S€4cher 
in  dem  oft  und  laut  ausgesprochenen  Wunsche  der  StÄttde 
erblickt  worden  wäre,  die  zur  Verbesserung  des  gesellschafl- 


Die  Landei€>erfus9ung  in  Kurhessen.  SU 

liehen  Zustandes  im  Staate  durch  die  Yerfassungsurkunde 
rerheisseneQ  Institutionen  verwirklicht  zu  «eben,  wodurch 
4ie  Stände  Versammlung  allerdings  hin  und  wieder  verhindert 
gein  mochte,  sich  streng  an  die  Bahn  zu  halten,  auf  welcher 
tinter  gewöhnlichen  Verhältnissen  die  Volksvertreter 
meist  die  i^össten  Erfolge  zn  erreichen  im  Stande  sein  wer- 
den, indem  sie  sich  nämlich,  ohne  positiv  handelnd  aufzu- 
treten, nur  negativ  verhalten,  nur  ein  Veto  gegen  diejenigen, 
ihrer  Mitwirkung  bedürfenden,  Maassregeln  der  Regierung 
einlegeii,  von  xienen  »e  eine  Förderung  der  Volkszufrieden- 
heit Bfcbt  erwarten. 

Der  Oberappellationsrath  Bender  glaubte  (Cass.  allg.  Zeit. 
1832.  Beibl.  Nr.  8.  p.  33.),  dass  von  der  monarchischen  Re- 
gierungsform eine  gewisse  Selbstständigkeit  der  regierenden 
Gewalt  unzertrennlich  sei  und  hielt  es  deshalb  für  die  Auf- 
gabe des  Ministeriums,  die  öflFentliche  Meinung  zwar  zu  ach- 
ten, keineswegs  jedotsh  der  Mehrheit,  und  wäre  sie  die 
Mehrheit  des  verfassungsmässigen  Organes  der  öffentlichen 
Meinung,  blind  zu  gehorchen  (ibid.  pag.  34.).  Sofern  die 
Stände  verfassun^mässig  blos  zu  einem  Rathgeben  berech- 
tigt sind,  wird  die  öffentliche  Meinung  hinlänglich  geachtet, 
felis  sie  angehört  wird;  da  aber  den  Ständen  verfassungs- 
mässig in  grösserer  Ausdehnung  Rechte  eingeräumt  sind, 
da  sie  —  wie  durch  einen,  wenn  nicht  von  jenem  Schrift- 
steller selbst  herrührenden,  doch  in  dessen  Geiste  geschrie- 
benen Artikel  (Cass.  allg.  Zeit.  1832.  p.  802.)  zugegeben  ist  — 
in  einem  gewissen  Umfange  einen  Theil  der  Regierung  bil- 
den, so  ist  schwer  zu  erkennen ,  wie  man  ihre  Meinung  in 
der  That  achtet,  wenn  man  ihr  nicht  folgt  oder  doch  nicht 
das  in  der  eignen  Person  liegende  Hinderniss,  ihr  zu  folgen, 
beseitigt.  Soll  •etwa  darin  die  Selbstständigkeit  der  regie- 
renden Gewalt  bei  einer  monarchischen  Regierungsform  lie- 
gen, dass  das  Staatsoberhaupt  ^e  Grundsätze,  welche  noth- 
wendig  sind  vm  die  Zufriedenheit  des  Volkes  zu  begründen, 
nicht  befolgen  darf,  weil  sie  als  solche  von  der  öffentlichen 
Meinung  anerkannt  sind?  Jener  Schriftsteller  äussert,  als  er 
das  Verhffltaiss  der  Völker  zu  ihren  Fürsten  mit  der  Ehe 

35* 


512  Die  Landesverfasmng  in  Kurhessen. 

vergleicht,   dass  wie  ein  gewisses  Gefühl  für  Anstand  und 
Schicklichkeit,  das  Bedürfniss  gegenseitiger  Liebe  und  Treue, 
neben  dem  geschriebenen  Recht  einen  gewissen  Lebenstakt 
ausbilde ,  mit  dessen  Hülfe  Personen ,  welche  sich  gegenseitig 
ihre  Tage  auf  alle  Weise  verbittern  können ,  viele  Jahre  hin- 
durch in  friedlicher  Ruhe  zusammenleben;  so  auch  mit  dem 
Gesetz,  also  mit  der  Verfassung,^  noch  nicht  alles  getban  sei, 
die  Hauptaufgabe  vielmehr  darin  bestehe,   sie  durch  Liebe 
und  Treue  in  das  Leben  überzuleiten  (Cass.  allg.  Zeit.  1832« 
Beibl.  Nr.  5.  p.  21.).    Wenn  nun,   um  bei  diesem  Gleichniss 
zu  bleiben,  ein- Ehegatte  sich  von  den  Mitteln  überzeugt  hat, 
durch  welche  der  andere  Gatte  ^wahrhafte  Zufriedenheit  zu 
.  erlangen  glaubt,  —  verliert  er  von  seiner  Selbstständigkeit, 
indem  er  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  jener  Mittel  sich 
bedient^   obgleich  er  nach   geschriebenem  Rechte  dazu 
nicht  verpflichtet  wäre?    So  wenig  dies  der  Fall  sein  wird, 
€ben  so  wenig  wird   bei   einer  monarchischen  Regierungs- 
form  die   Selbstständigkeit   der  regierenden  Gewalt  beeia- 
trächtigt,   wenn  sie  die  Grundsätze  beobachtet,   deren  An- 
wendung  die  Meinung   des  Volkes   zu   seiner  Zufriedenheit 
nöthig  erachtet,  selbst  wenn  die  Verfassung  dieses  nicht  aus* 
drücklich  vorgeschrieben  hat.    Denn  „mit  Gonsequenzen  re- 
giert man  nun  einmal  die  Welt  nicht ^'  sagt  der  angeführte 
Schriftsteller.   Wenn  man,  wie  derselbe  sich  ausdrückt  (Gass. 
allg.  Zeit.   1832.   Beibl.  Nr.  8.   p.  34.),   dahin  arbeiten  wHl, 
dass  die  Empfindungen  und  Vorstellungen,  welche  den  Völ- 
kern deutschen  Stammes  zu  allen  Zeiten  eigen  waren  und 
die  Grundlagen  unseres  früheren  Staatsrechtes  bildeten,  dass 
die  Begriffe  von  persönlicher  Anhänglichkeit  und  Unterthanen- 
treue  nicht  als  veraltete  Reste  eines  barbarischen  Feudalis- 
mus betrachtet,  vielmehr  auch  unter  den  neuen  Formen 
sorgsam  gepflegt  und  erhalten  und  nicht  durch  Ideen  ver- 
drängt werden,   welche  an  sich  betrachtet  allerdings  keine 
subversive  Tendenz  haben,   aber  von  Umständen  begünstigt 
eine   solche  leicht  annehmen  und  mit  Kraft  verfolgen  — 
wenn  man  Vertrauen  des  Volkes   zu  den  Absichten  einer 
Regierung  erwerbeä  —  wenn  man  zu  diesen  Zwecken  die 


Landesverfassung  in  Kurhessen.  613 

Verfassung  mit  Liebe  und  Treue  in  das  Leben  überleiten 
will  — :  dann  darf  man  nicht  Vertreter  des  Volkes  berufen 
um  sie  über  die  Mittel  zu  hören,  durch  welche  das  Volk 
seine  Zufriedenheit  bedingt  glaubt,  und  doch  „mit  starrer 
Einseitigkeit^^  die  entgegengesetzten  Mittel  zur  Anwendung 
zu  bringen.  Besser  wäre  es,  alle  Volksvertretung  und  mit 
ihr  die  Verfassung  aufzuheben.  Denn  auch  in  der  Despotie 
kann  das  Staatsoberhaupt  sich  Liebe  und  Anhänglichkeit 
seiner  Unterthanen  erwerben,  und  zwar  durch  mancherlei 
Mittel  erwerben;  bei  einer  monarchischen  Regierungsform 
mit  landsländischer  Verfassung  ist  dies  nur  möglich  durch 
Achtung  vor  dem  Nationalwillen.  Man  sage  nicht,  dass  dies 
sor  in  Frankreich  oder  England  der  Fall  sein  möge,  aber 
nicht  in  einem  mittleren  deutschen  Bundesstaate;  denn  bei 
aller  Verschiedenheit  der  Staatsverhältnisse  muss  der  näm- 
liche Grundsatz  auch  die  nämliche  Stimmung  in  dem  Herzen 
der  Menschen  hervorrufen,  die  auf  gleicher  Stufe  der  Bil- 
dung Stefan,  wenn  sie  gleich  bei  dem  einen  Volke  rascher 
und  kräftiger  sich  äussert  als  bei  dem  anderen.  Und  wer 
wollte  behaupten,  dass  die  Bevölkerung  eines  deutschen 
Bundesstaates  in  der  Bildung  den  Engländern  und  Franzosen 
nachstände?  Glaubt  der  mebrangefdhrte  Schriftsteller  (Gass. 
allg.  Zeit.  1832.  Beibl.  Nr.  8.  p.  33.),  dass  das  Maass  der  In- 
telligenzen ganz  verschieden  sei,  welches  ein  englisches 
Parlament,  eine  französische  Deputirtenkammer  und  eine 
deutsche  Stände  Versammlung  aufzuweisen  habe:  so  ist  davon 
kein  Schluss  auf  die  Intelligenz  des  Volkes  zu  machen,  son* 
dern  die  Ursache  weshalb  deutsche  Ständeversammlungen 
weniger  Intelligenzen  aufzuweisen  haben,  liegt  nur  in  der 
Beschränkung  des  Volkes  bei  den  Wahlen,  welche  zu  sehr 
an  andere  Bedingungen  als  die  Intelligenz  gebunden  sind, 
auch  wohl  in  dem  Bestreben  der  Regierung  die  Intelligenzen 
aus  der  Ständeversammlung  zu  verbannen. 

Es  kann  Zugegeben  werden,  dass  nach  diesen  Ansichten 
eine' eigentliche  Ministerherrschaft  oder  eine  Beamtenaristo« 
oratio ,  eine  wahre  Büreaucrailie ,  nicht  aufkommen  kann  oder 
sich  nicht  zu  halten  vermag;  aber  in  dieser  ist  auch  der 


514  Di^  Ltmiewtrfatmig  m  lbit^l/fi§m 

ärgste  Feind  des  monarchisclien  Priocips  zu  erkenaeiiy  wejj 
sie  das  Volk  vea  dem  Staatsoberhaupie  abweodig  macbil, 
üch  zwischen  beide  drängt  und  die  Liebe  des  Volkes  zn 
seinem  Fürsten,  den  einzigen  Schutz  desselben  bei  Zeitea 
der  Noth,  im  Keime  erstickt.  Das  Volk  ist  die  natUriiehste 
Stütze  der  monarchischen  Regierungsfoinii  es  kann  dersel«- 
ben  nur  dann  geföbriich  werden ,  wenn  es  sieht,  dass  man 
die  Büttel  kennt  seine  Zufriedenheit  zu  bereiten,  und  sie 
doch  nicht  anwendet.  Hehr  als  jeder  Andere  wird  demnMh 
dem  monarchischen  Princip  in  Wahrheit  derjenige  huldigen» 
welcher  in  $.  2.  und  S*  10.  der  kurhessischen  Vertassungs- 
uriLunde  den  Grundsatz  erkennt,  dass  dem  Kurfürsten  ab 
Staatsoberhaupie  die  Leitung  aller  Staatsgeschäfte  zukommt  — 
dass  derselbe  aber  dabei,  in  den  Fällen  welche  die  Mit- 
wirkung der  Ständeversammlung  erheischen,  diejen^en  Maass- 
regeln anwendet,  von  denen  er  durch  die  Landstände  die 
Ueberzeugung  erlangt  hat,  das  Volk  halte  sie  zur  flerstellung 
seiner  Zufriedenheit  für  nothwendig  —  und  dass  durch  die 
Verantwortlichkeit  seiner  Organe  für  die  Anwendung  solcher 
Maassregeln  die  Heiligkeit  und  Unverletzlichkeit  seiner  Per* 
son  befestigt  ist. 

Als  der  Minister  des  Innern  beschiddigt  wurde,  durch 
Aufhebung  des  Bekrutirungsgesetzes  vom  10.  Juli  1832  mit- 
telst eines  Ministerialrescripts  eine  Verfassungsverletzung  be- 
gangen zu  haben,  wurde  in  der  Anklageschrift  erwähnt, 
dieser  Charakter  komme  der  von  demselben  erlassenen  Ver- 
fügung noch  in  der  besonderen  Beziehung  zu,  dass  hier  von 
einem  Ministervorstande  auf  eigne  Hand  und  in  eignem  Na- 
men ein  Act  der  Staatsgewalt  ausgeübt  worden  sei,  welche 
doch  nach  $.  10.  der  Verfassungsurkunde  nur  dem  Staats^ 
oberhaupte  selbst  zukomme;  worüber  der  Staatsgerichts- 
hof  sich  jedoch  in  seinem  Erkenntnisse  gar  nicht  geäussert 
hat,  da  er  nur  aussprach,  dass  die  von  dem  Minister  an  die 
betreffenden  Verwaltungsbeh(}rden  ergangene  Verfügung  kei- 
nen Act  enthalte,  durch  welchen  ein  Gesetz  überall  als* auf- 
gehoben oder  abgeändert  betrachtet  werden  könnte  (Verh. 
d.  Landt,  von  1835.  Beil.  LXL'  p.  12.).    Während  bei  dieser 


Die  TäMdesverfoisung  in  Murkeaen^  515 

Gelegenbeil  die  Stände  die  Handlung  eines  Ministers  als 
einen  Eingriff  in  die  Rechte  des  Monarchen  bezeichnet  und 
mm  Schutz  der  letzteren  die  Einwirkung  des  Staätsgerichts- 
hofes  angerufen  hatten,  ward  in  einer  durch  jenen  Minister 
contrasjgnirten  landesherrlichen  Verkündigung  vom  25.  März 
1833 ,  welche  den  Unterthanen  die  Gründe  der  vom  Landen 
berrn  unter  Anordnung  neuer  Wahlen  verfugten  Auflösung 
der  Ständeversammlung  öffentlich  darlegen  sollte,  das  mo« 
narcbische  Princip  als  in  seinem  innersten  Wesen  verletzt 
dargestellt,  deshalb  weil  die  Ständeversammlung,  um  die 
dem  bleibenden  Ausschusse  in  Gemässheit  der  Yerfassungs- 
Urkunde  $.102.  zu  ertheilende  Instruction  zu  berathen,  ins- 
besondere auch  mittelst  solcher  demselben  den  Auftrag  zur 
Erbebung  einer  Anklage  bei  dem  Staatsgerichtshofe  gegen 
den  betreffenden  Minister  wegen  behaupteter  Verfassungs- 
Verletzungen  zu  ertheilen,  geheime  Sitzungen,  weiche  nach 
g.  19.  der  Geschäftsordnung  sogar  bei  verschlossenen  ThUren 
zulässig  sind,  gehalten  habe,  ohne  davon  die  landesherr* 
liehen  Commlssare  in  Kenntniss  zu  setzen;  hierdurch  habe 
sie  sich  dem,  einen  wesentlichen  Bestandtheil  der  Staats- 
regierung bildenden  Oberaufsichtsrechte  des  Regenten  ent- 
zogen, welchem  keine  Gesellschaft  und  keine  Corporation 
im  Staate,  am  wenigsten  eine  politische  mit  so  ausgedehnten 
Rechten  wie  die  Ständeversammlung  sich  entziehen  könne. 
Dass  aber  in  Wahrheit  das  monarchische  Princip  nicht  in 
seinem  innersten  Wesen  durch  das  Abhalten  landständischer 
Sitzungen  ohne  Gegenwart  und  Kenntniss  landesherrlicher 
Commlssare  verletzt  sein  kann,  möchte  sich  genügend  dar*- 
aus  ergeben,  dass  in  gar  manchen  deutschen  Ländern  mit 
monarchischer  Regiorungsform  die  Sitzungen  der  Stände, 
wie  es  auch  in  Hessen  vor  der  Verfassungsurkunde  von  1931 
herkömmlich  war,  grundgesetzlich  ohne  Theilnahme  und 
Kunde  landesherrlicher  Commlssare  abgehalten  zu  werden 
pflegen.  Auch  kann  ein  Recht  des  Reigenten  oder  der  Staats- 
regiemng  zur  Oberaufsicht  über  die  Sländeversammlung,  in 
dem  Sinne  wie  über  Privatgesellschaften  und  Privatcorpo- 
rationeu;  durchaus  nicht  gedacht  werden,  da  vielmehr  ge- 


516  Die  Ländesterfoiiung  in  Eurhissm. 

rade  die  Stände  wesentlich  den  Beruf  haben,  das  Verfahren 
der  vom  Regenten  Behufs  der  Staatsverwaltung  gewählten 
Organe  höheren  oder  niederen  Ranges  zu  beaufsichtigen 
und  auf  diese  Weise  denselben  zu  unterstützen;  wie  ja  denn 
auch  eine  solche  Aufsicht  auf  Mängel  und  Missbräuche  in 
der  Landesverwallung,  mit  dem  Rechte  die  Versetzung  der 
dabei  schuldigen  Staatsdiener  in  den  Anklagestand  zu  for* 
dem,  als  ein  Minimum  landständischer  Befugnisse  von  den 
deutschen  Fürsten,  den  Kurfürsten  von  Hessen  an  der  Spitze, 
auf  dem  wiener  Gongresse  bezeichnet  wurde  (Klüber  öffentL 
Recht  $.  293.)«  Nach  $.  89.  der  kurhessischen  Verfassungs- 
urkunde sind  die  Landstände  im  Allgemeinen  berufen,  die 
verfassungsmässigen  Rechte  des  Landes  gellend  zu  machen; 
dies  ist  nur  den  Organen  des  Regenten,  gegenüber  denkbar, 
da  die  Landstände  gar  nicht  als  dem  letzteren  selbst  gegen- 
überstehend gedacht  werden  können.  Berufen  die  Rechte 
des  Landes,  die  mit  denen  des  Regenten  identisch  sind, 
gegen  dessen  Organe,  zuletzt  mittelst  gerichtlicher  Verfol- 
gung, geltend  zu  machen,  können  sie  eben  deshalb  nicht 
der  Aufsicht  des  Regenten  unterworfen  sein,  da  dieser  die- 
selbe doch  ebenfalls  nur  durch  die  nämlichen  Organe  aus« 
zuüben  im  Stande  wäre,  die  von  den  Landständen  contro* 
lirt  werden  sollen. 

Die  bayersche  Verfassungsurkunde  enthält  (Art.  L  $.  2* 
Art.  IL  §.  1.)  die  Bestimmungen:  für  das  gan:se  Königreioh 
besteht  eine  allgemeine  in  zwei  Kammern  abgetheilte.  Stän- 
deversammlung; der  König  ist  das  Oberhaupt  des  Staates^ 
vereinigt  in  sich  alle  Rechte  der  Staatsgewalt  und  übt  sie 
unter  den  von  ihm  gegebenen  in  der  gegenwärtigen  Ver- 
fassungsurkunde festgesetzten  Bestimmungen  aus;  seine  Per- 
son ist  heilig  und  unverletzlich.  Damit  stimmt  auch  die 
Verfassungsurkunde  für  das  Grossherzogthum  Hessen  J.  4., 
so  wie  die  Sachsen- Coburg rsaalfeldiscbe  $.  3.  Überein.  — 
Hier  mangelt  also  die  ausdrückliche  Vorschrift  das$  die  Re- 
gierungsform monarchisch  sei,  aber  sie  ist  allerdings  in  den 
übrigen  Bestimmungen  enthalten,  da  das  Wesen  der  Monar- 
chie darin  besteht,  dass  das  Staatsoberhaupt  eine  physische. 


ie  Landeseerfanung  in  Kurhesim.  S17 

Person  ist,  mit  Majestät  bekleidet,  und  dass  alle  Zweige  der 
Staatsgewalt  bei  ihm  sich  vereinigen.  Ebenso  fehlt  in  der 
bayerschen  Verfassungsurkunde  die  ausdrilcklicbe  Bestim- 
mung, dass  daneben  eine  ständische  oder  landständische 
Verfassung  bestehe;  allein  auch  diese  Vorschrift  liegt,  ob- 
wohl am  bayerschen  Landtage  im  Jahre  1840  von  Seiten  des 
Ministeriums  gezeigt  wurde,  dass  bei  Entwerfung  der  Ver« 
fassuDgsurkunde  die  vom  Landesherrn  gebilligte  Absicht  vor- 
gewaltet habe,  das  System  der  Repräsentation  fallen  zu 
lassen  und  das  der  Staude  durchzuführen,  nicht  allein  in 
der  Anordnung  einer  Ständeversammlung,  sondern  auch  in 
der  VerTüguDg,  dass  das  Oberhaupt  des  Staates  die  Rechte 
der  Staatsgewalt  unter  den  in  der  Verfassungsurkunde  festf 
gesetzten  Bestimmungen  auszuüben  hat,  indem  hierin  die 
von  der  Verfassung  gebotene  Beschränkung  des  Königs  in 
der  Ausübung  der  Staatsgewalt  durch  Landstände  enthalten 
ist.  Wenn  aber  hinzugefügt  wird,  dass  diese  beschränktere 
Ausübung  der  Staatsgewalt  vom  Könige  unter  den  von  ihm 
gegebenen  Bestimmungen  der  Verfassungsurkunde  Statt 
finden  solle,  wodurch  die  Oötroyirung  der  letzteren  sehr 
schärf  bezeichnet  wird,  so  zeigt  sich  hier  eine  wesentliche 
Verschiedenheit  von  der  pactirten  kurhessischen,  indem  es 
nach  jener  Fassung  vorzugsweise  von  dem  Könige  abhängen 
wird,  die  von  ihm  gegebenen  Bestimmungen  zu  inter* 
pretiren,  während  der  §.  10.  der  kurhessischen  Verfassungs- 
urkunde nicht  blos  die  fraglichen  Worte  nicht  enthält,  auch 
nicht  enthalten  konnte,  sondern  sogar  seine  ganze  Entstehung 
der  Ständeversammlung  verdankt.  Abgesehn  von  diesem  be- 
deutungsvollen Unterschiede  stimmt  die  bayersche  Verfassungs- 
uAuude  mit  dem  kurhessischen  Verfassungsentwurfe  IL  im 
§.9.  desselben  fast  wörtlich  überein.  Dem  letzteren  schliesst 
sich  die  badische  Verfassungsurkunde  $.  5.  genau  an.  Der 
$.  6.  derselben  hat  die  Erwähnung  der  monarchischen  Regie- 
rungsform für  überflüssig  gehalten,  indem  er  einfach  lautet: 
das  Grossherzogthum  hat  eine  ständische  Verfassung  —  ob- 
wohl man  in  seiner  Repräsentation  nicht  eine  Vertretung  ein- 
zelner Stände,  sondern  nur  die  des  Volkes  zu  erkennen  ver- 


918  Dm  lAmiuwrfmmmg  in  MurkesietL 

mag.  Eine  mil  dem  $.  2.  der  kurbesstschen  Verfassongsurkttnde 
correspondirende  Bestimmung  fehlt  in  der  wÜrtembergisGheii 
gänilich ,  doch  kommt  deren  $,  4.  mit  dem  $.  9.  des  kurhes- 
sischen Verfassungsentwurfes  IL  überein,  ausser  dass  der  König 
das  Haupt,  nicht  das  Oberhaupt  des  Staates  genannt  wird. 

Sehr  angemessen  drückt  sich  das  saohsen-meiningensche 
Grundgesetz  $.  3.  5.  102.  hinsichtlich  der  Bezeichnung  einer 
durch  die  Volksreprdsentation  beschränkten  monarchischen 
Hegierungsform  aus,  wenn  es  sagt:  der  Herzog  ist  erblicher 
Landesherr  oder  Oberhaupt  des  Staates,  in  seiner  Hand 
vereinigen  sich  alle  Zweige  der  Staatsgewalt.  Das  ge* 
sammte  Herzogthum  hat  eine  gemeinschaftliche  laaAitii&che 
Tertesug,  bestimmt,  durch  das  Erforderniss  ihrer  Mit<» 
Wirkung  zu  den  näher  bezeichneten  Regierungshand« 
lungen  in  der  Staatsverwaltung  Festigkeit  und  Stetigkeit 
erhalten  zu  helfen,  sowie  eine  grössere  Sicherheit  des  all*  * 
gemeinen  Rechtszustandes  zu  gewähren.  Der  Landesherr 
selbst  ist  Über  alle  persönliche  Verantwortung  erhaben. 
Alle  Regierungshandlungen  müssen  jedoch  unter  per- 
sönlicher Verantwortlichkeit  eines  Staatsbeamten  geschehn.  -^ 
Zweckmässiger  konnte  die  Heiligkeit  und  Unverletzlichkeit 
des  Regenten  nicht  beschrieben  werden,  indem  sie  zugleich 
in  die  nothwendige  Verbindung  mit  der  Verantwortlichkeit 
seiner  Organe  gebracht  wurde. 

Das  sachsen-altenburgische  Grundgesetz  hat  sich  darin 
gefallen,  die  Festsetzung  der  monarchischen  Regierungsform 
in  den  verschiedensten  Ausdrücken  zu  wiederholen,  wobei 
es  selbst  in  den  isinzelnen  Sätzen  Tautologie  nicht  gescheut 
hat.  Dasselbe  bestimmt  nämlich:  der  Herzog  ist  als  souve- 
rainer  Landesherr  das  Oberhaupt  des  Staates,  vereinigt  in 
sich  die  gesammte,  ungetheilte  Staatsgewalt  und  übt  sie 
unter '  den  in  der  Verfassungsurkunde  festgesetzten  Besttm« 
muDgen  aus.  Seine  Person  ist  heilig  und  unverletz- 
lich (S.  4.).  Nur  von  dem  Herzoge  als  Staatsoberhaupt 
oder  mit  seiner  Zustimmung  und  in  seinem  Namen  werden 
die  verfassungsmässig  gegebenen  Gesetze  bekannt  ge- 
macht.    Der  Herzog  steht  an  der  Spitze  der   ganzen 


]ßi0  lam4e9t>miauM»g  m  Kuth€$Mia,  Ü19 

Staatsverwaltung  und  vertritt  d^i  Staat  in  aUeusemen 
Verhältnissen  gegen  andere  Staaten.  Alle  Geriehtsbar* 
keit  und  alle  Polizeigewalt  wird  im  Namen  des  Her- 
ings ausgeübt  und  unter  seiner  landesherrlichen  Ober- 
aufsicht verwaltet  Vom  Herzog  allein  können  Steuern 
und  Landesabgaben  ausgeschrieben  werden.  Dem  Herzog 
slehl  die  ausschliessende  Verfügung  über  das  Militair  zu  (%*  5. 
6.  7.  9.  10.).  Der  Landesherr  selbst  ist  im  Lande  über  alle 
persönliche  Verantwortlichkeit  für  seine  Regierungs«* 
handlungen  erhaben.  Er  übt  dieselben  unter  Verantwoifi* 
lichkeit  seines  Ministers  ($.  36.).  Dem  Landesherrn,  dessen 
Person  heilig  und  unverletzlich  ist  und  welcher  die 
gesammte  Staatsgewalt  in  sich  vereinigt^  ist  jeder 
Unterthan  Treue,  Ehrfurcht  und  Gehorsam  schuldig  ($.71.). 
Die  Landstände  sind  dajs  verfassungsmässige  Organ  der  Ge« 
sammtheit  der  Staatsbürger  und  Unterthanen  in  dem  grund- 
gesetzlichen Verhältniss  zur  Staatsregierung  ($.  162.).  -^  Das 
Sachsen  -  Weimar- eisenacbsche  Grundgesetz  erwähnt  die  Re- 
gierungsform gar  nicht,  sondern  erklärt  blos^  dem  badiscfaea 
entsprechend,  $.  1.:  in  dem  Grossherzogthum  besteht  eine 
landständiscbe  Verfassung. 

Der  S«  3.  der  Verfassungsurkunde  fUr  das  Königreich 
Sachsen  ist  ganz  der  §.  2.  der  kurhessischen,  und  der  $.  4. 
der  erstem  stimmt  mit  dem  $i  9«  des  kurhessischen  Verfas- 
sungsentwurfs n.  Ubereip,  ausser  dass  dort  dem  Könige  die 
Bezeichnung  des  souverainen  Staatsoberhauptes  gegeben 
wird.  Eben  so  ist  der  $.  10«  der  kurhessischen  Verfassungs- 
Urkunde  mit  einer  geringfügigen  Redactionsveränderung  in 
das  hannoversche  Grundgesetz  von  1833  (J.  6".)  und  in  die 
braunschweigische  Landschaftsordnung  ($.  3.)  übergegangen, 
nur  dass  letztere  noch  dem  Landesfürsten  das  Prädicat:  sou- 
verain  beilegt  und  beide,  ähnlich  dem  Sachsen -alienburgi« 
sehen  Grundgesetze,  das  hannoversche  im  $.  7  —  10.,  das 
braunschweigische  Grundgesetz  im  §.  5.  7.  8.  9.  10.  11.  191. 
nochmals  hervorheben,  dass  die  einzelnen  Bestandtheile  der 
Staatsgewalt  bei  dem  Staatsoberhaupte  sich  vereinigen.  Diese 
beiden  Grundgesetze,  das  hannoversche  S*  9*}  ^^s  braun- 


520  Dmlsche  Eiiioriker  der  Gegenwart 

schweigiscbe  §.  2.,  erwähnen  auch  dass  die  Regierungsform 
die  erblich  monarchische  sei,  ohne  daneben  das  Bestehen 
einer  landsiändischen  Verfassung  besonders  auszudrücken. 

Einen  ganz  eignen  Ideengang  hat  die  Einleitung  des  Pa- 
tents ittr  das  Herzogthum  Nassau  vom  2ten  September  1814 
genommen,  indem  darin  der  Hei*zog  erklärt,  dass  er  die 
nach  dem  Rathschlusse  der  göttlichen  Vorsehung  ihm  anver* 
traute  Hegierungswirksamkeit  durch  verschiedene  Einrich- 
tungen sich  selbst  beschränkt  habe  und  dass  er  nun,  da 
seine  Unterthanen  ihr  Recht  auf  eine  selbstständige  und 
ehrenhafte  Stellung  unter  den  verwandten  Stämmen  des 
deutschen  Volkes  im  künftigen  deutschen  Staaten  vereine 
sich  befestigt  hätten,  sich  bewogen  finde,  die  Anerkennung 
dieses  Rechts  durch  die  dauerhafte  Begründung  einer  eigen- 
thümlichen  Verfassung  noch  mehr  ihnen  allenthalben  zu  ver- 
sichern*, dass  er  eine  Gewährleistung  für  Alles,  was  wegea 
Einführung  einer  Verfassung  schon  geschehn  oder  noch  er- 
forderlich sei,  in  der  Errichtung  von  Landständen  gefunden 
zu  haben  glaube,  denen  er  die  Bewahrung  der  Grundlagen 
der  Verfassung  und  die  weitere  Ausbildung  derselben  über- 
trage und  dabei  hoffe,  solche  gegen  den  Wechsel  aller  Dinge, 
welchem  gesetzliche  Einrichtungen  in  rein  monarchischen 
Staalsformen  mehr  wie  anderwärts  unterworfen  sind,  nach 
Möglichkeit  auf  dieser  Seite  sicher  gestellt  zu  haben.  —  Also 
Landstände,  um  durch  das  conseryative  Princip  derselben 
das  in  der  rein  monarchischen  Staatsform  enthaltene  System 
der  Bewegung  zu  paralysirenl 

CasseL  C.  W.  Wippermann. 


Deafoche  Historiker  der  €iegenwart. 

Briefe  an  den  Herausgeber, 

Als  wir  vor  Jahren  zuerst  den  Plan  einer  historischen  Zeit- 
schrift besprachen,  war  ich  immer  der  Meinung  dass  sie 
wesentlich  kritisch  sein  müsse ;  nicht  auf  eine  einzelne  Unter- 


Deutsche  Hütoriker  der  Gegentoart.  521 

•SuchuDg  oder  Abhandlung  mehr  oder  weniger  käme  es  an, 
sondern  auf  eine  möglichst  entschiedene  Geltendmachung 
wissenschaftlicher  Grundsätze  den  vielen  dilettantischen  leicht- 
fertigen Arbeiten  auf  historischem  Gebiete  gegenüber,  so  wie 
auf  eine,  nicht  einseitige  und  parteiische,  sondern  mannig- 
faltige und  lebendige  Erörterung  der  Grundsätze  welche  bei 
jeder  Geschichtsforschung  und  Geschichtschreibung  in  Be- 
tracht kommen«  Es  schien  mir  noth wendig  damit  eine  Wür- 
digung der  geltenden  Ansichten,  eine  Beurtheilung  der  ein- 
zelnen hervorragenden  Persönlichkeiten,  unter  Umständen 
ein  Bekämpfen  Air  falsch  erkannter  Richtungen  und  Tenden- 
zen auf  dem  Gebiete  der  Historiographie  zu  verbinden.  Und 
ich  dachte  wohl  selbst  besonders  in  diesem  Sinn  an  der 
Zeitschrift  Theii  zu  nehmen,  und  hatte  auch  den  Gedanken 
nicht  aufgegeben,  als  du  nun  manches  Jahr  später  als  wir 
dachten  die  Zeitschrift  ins  Leben  riefst,  nicht  in  allem  mit 
mir  einverstanden,  doch  in  den  wesentlichen  Punkten  so 
weit  dass  ich  mich  mit  Freuden  dem  Unternehmen  apschloss. 

Nun  haben  aber  die  schätzenswerthen  Abhandlungen 
der  Zeitschrift  es  zum  grossen  Theile  viel  mehr  mit  der  Ge- 
schichte selbst  als  mit  der  Geschichtschreibung,  mehr  mit 
Aufhellung  und  Darstellung  einzelner  Begebenheiten  als  mit 
der  kritischen  Würdigung  deutscher  oder  fremder  Leistungen 
auf  dem  Felde  der  Geschichte  zu  thun  gehabt,  und  es  will 
scheinen  als  nähme  der  neue  Jahrgang  noch  entschiedener 
diesen  Charakter  an;  nicht  eigentlich  nach  deinem  Wunsche 
ich  weiss  es,  sondern  weil  nun  in  den  friedfertigen  Tagen 
da  wir  leben  wenige  die  rechte  Lust  haben  sich  zum  kriti- 
schen Kampfe  zu  rüsten  und  jeder  es  vorzieht  selbst  nach 
Kräften  im  Grossen  oder  Kleinen  die  Geschichte  zu  fördern 
und  wo  möglich  weiter  zu  führen. 

Doch  hat  unser  Freund  Köpke  einen  erfreulichen  Anfang 
gemacht  in  ebenso  anziehender  als  ernster  Weise  die  Lei- 
stungen der  neueren  Zeit  auf  einem  viel  betretenen  Gebiete 
deutscher  Geschichte  zu  beleuchten,  und  er  hat  gerade  hier 
Anlass  gefunden  im  Namen  der  historischen  Wissenschaft 
Einspruch  zu  erheben  gegen  Verirrungen  patriotischer  oder 


922  Bm^icke  Hkioriker  der  Gegentoart. 

r^ligiöfler  Meiguogen ,  die  nicht  am  wenigsien  in  unserer  Zelt 
die  lautere  Wahrheit  der  Geschichte  zu  tr&ben  drohen. 

Mich  hat  der  Aufsatz  an  frühere  Pläne  lebhaft  erinnert. 
Doch  ist  er  nicht  der  nächste  Anlass  gewesen  diese  nun 
doch  »odi  theüweiee  wenigstens  zur  Ausfilhrung  zu  bringen. 
Sondern  dazu  hat  mich  jene  Einladung  zur  TersamiBlong 
deutscher  Hiatorflcer  und  Juristen  gereizt,  welche  du  mit 
andern  hast  ergehen  lassen,  und  welche  bud,  ^ir  hoffen  e$, 
die  Freunde  deutschen  Altertbums  und  deutscher  Gegenwi^t 
aus  Nord  und  Süd  vereinigen  soll,  mögen  sie  auf  kirchlidiem 
und  politisdiem  Gebiete  auch  noch  so  getrennt,  ja  feindlich 
sieh  gegenüber  stehen. 

Da  schien  es  mir  der  Mühe  wertfa  sich  umzusehen  und 
zu  fragen,  wer  denn  alles  dorthin  kommen  und  welche  Hich- 
tungen  vertreten  sein  können,  und  besonders  die  eigent- 
lichen Historiker  fasse  ich  ins  Auge,  und  zunächst  die  deren 
Namen  nicht  schon  unter  der  Einladung  stehen.  Es  sind 
doch  noch  viele  fkbrig  und  Männer  sehr  verschiedener  Ten- 
denz, aus  dem  Norden  des  Vaterlandes  und  Slkddeutsehe. 

So  zu  trennen  hast  du  mir  zunächst  selbst  Aniass  ge- 
geben, da  du  jüngst  besonders  noch  die  Mitwirkung  der 
süddeutschen  Historiker  für  die  Zeitschrift  wllnschen  zu 
müssen  glaubtest.  Gewiss,  sagte  idi  mir,  sie  stehen  von 
uns  Norddeutschen  weit  genug  ab,  und  eine  VermÜtelung 
zwischen  beiden  mag  aus  manchen  Gründen  wünscbenswerffa 
erscheinen.   Aber  ob  eine  Verständigung  so  leicht  sein  wird? 

Die  Frage  ist  so  im  allgemeinen  sebwerlich  zur  Ent- 
scheidung zu  bringen.  Denn  gar  mannigfach  scheidet  sich 
nun  wieder  die  Reihe  derer  die  dem  einen  und  dem  andern 
Theile  angehören,  und  während  sie  nach  Schulen  oder  nach 
Ansichten  gruppenweise  sidh  darstellen,  finden  allerdings 
auch  der  Uebergänge  viele  statt,  und  manchen  wüsste  man 
weder  dem  Norden  noch  dem  Süden  zuzurechnen.  Doch 
scheint  mir  ein  Hauptuntersohied  vor  afUen  andern  ins  Auge 
zu  fallen:  Die  norddeutschen  Historiker  sind  gelehrter,  ob- 
jectiver,  durchgängig  von  dem  Streben  nach  einer  unbefeai- 
genen  Auffassung  der  hisforischen  Wahrheit  erfüllt,  wMir^lnd 


DetUmAe  But^riker  Ar  Gegtnumi.  523 

4ie  ^Geschichldohreiber  des  Südeos  mehr  die  Gegenwart  im 
Auge  babeo  und  »oh  ihrer  Einwirkung  auf  die  Aufiassung 
uud  Beurthellimg  der  histeriscfaen  Eulwickelung  nicht  eaxi- 
scbtegen  können.  Freilich  sondern,  wenn  wir  also  scheiden 
wallen,  Bi^thold  und  Leo,  um  anderer  zu  gesehweigen,  sich 
auf  das  entschiedenste  von  den  Laadsleuten  ab,  während 
Männer  wie  Stalin  o.  a.  an  Gelehrsamkeit  und  UnbefaBgen- 
heit  Ton  keinem  andern  üb^troffen  werden» 

Dann  aber  eri^heint  mir  die  südliche  flälfie  deutscbar 
üisteriker  unter  ^efa  doch  ungleichartiger  als  man  es  von 
den  »orddeulscbea  sagen  kann.  YieU^cbt  dass  weil  wir 
mitten  unter  ibsen  leben  die  Gruppen  sich  hier  nicht  so 
scharf  sondern  wollesi*,  n-ur  in  den  entfernteren.  Vaasen  treten 
die  Unterschiede  deutlicher  hervor.  Auch  darf  mau  hoffen 
dass  man  »»befangener  urtbeilt^  wo  keine  persönlichen  he- 
fUfarongen  stattfinden.  YieUeicfat  auch  scUrfer.  Allein  es 
scheint  mir  auch  wichtiger  das  Einseitige  und  Tadelnswertfae 
herv^zttheben  als  das  worin  sieh  alle  j^nig  finden. 

i>aram  magst  du  mir  gestatten  heute  bei  den  Forschem 
und  Freunden  deutscher  Geschichte  im  SUden  zu  verweilen, 
dass  ich  sage,  wie  sie  und  ihre  Strebungen  mir  ersobeinen. 
Vielleicht  dass  eine  Antwort  von  dort  uns  Norddentsche 
einer  gleichen  Betrachtung  würdig  achtet  Bei  der  Versamm- 
lung zu  Frankfort,  odfsr  in  einem  andern  Jahr  wie  ich  hoffe 
m  unserer  Nachbarstadt  Lübeck,  mt(^en  wir  da^Dn  sehen, 
wie  wir  das  persdnliche  Bild  mit  dem  der  Schriften  in  Eia^ 
klang  bringen,  und  mögen  zur  Verständigung,  wo  geirrt  und 
falsch  geurtheilt  worden  ist,  bereitwillig  die  Hand  bieten. 

In  Ifeidelb^g  zunächst  sind  in  akademischer  Wirksam- 
keit Mtlnfuer  verbunden,  der  verschiedensten  Herkunft  uzid 
Art,  und  die  doch  in  Wichtigem  übereinzustimmen  und  zu- 
sammensEUg^^reii  scheinen,  die  älieren  Schlosser  und  Kor- 
4Um,  die  jüngeren  Gervinus,  Hagen  und  Säusser.  Bei  einigea 
wird  m^  nicht  mit  Unrecht  von  Scblosserscher  Schule  spre- 
<^en  dUtfen;  denn  selbst  die  Nachläss%keiten  und  Unschön- 
heiten  des  Styls  haben  sie  von  dem  Meistor  angenommen, 
4ier  Meinung  dass  aUes  auf  den  Inhalt  usd  den  Sinn,  auf 


524  Oeuljoke  Ei$ioriker  der  Gegemoari. 

die  Form  aber  wenig  oder  gar  nichts  ankomme.    An  unab- 
hängigem ehrlichem  Charakter  wetteifern  sie  mit  einander 
und  sind  dem  kräftigen  Fortschritt  mit  vollem  Herzen  hinge- 
geben.   In  Kortttm,   der  ziemlich  für  sich  unter  den  Histori- 
kern Deutschlands  dasteht,   waltet  ein  fast  republicanischer 
Sinn,  der  mit  Vorliebe  sich  eben  danach  auch  seine  Arbeiten 
wählt,  und  der  es  liebt  mit  derbem  nachdrücklichem  Wort 
seine  Ansicht  geltend  zu  machen.    Vielleicht  darf  man  ihn 
in  gewissem  Sinn  zu  den  Nachfolgern  Johannes  Müllers  rech* 
nen,  dessen  Schule  sonst  im  Süden  Deutschlands  und  selbst 
in  seinem  Vaterlande  gänzlich  ausgestorben  zu  sein  scheiaL 
Nach  den  fernen  Küsten  der  Nordsee  ist  der  begeisterte  An- 
hänger desselben  von  Hormayr  verschlagen  worden,  der  viel- 
leicht trotz  der  aristokratischen  Herkunft  mehr  mit  Eortilm 
gemein  hat  als  beide  zugeben  möchten.    Auch  den  alten 
von  Gagern  müsste  man  hier  anreihen.    Man  freut  sich  be- 
sonders wenn  sie  Erlebtes  schildern  und  lässt  sich  auch  die 
Breite  und  das  Blumige  und  zugleich  Fragmentarische  der 
Darstellung  gefallen;    sie  gehören  aber  mehr  oder  weniger 
einer  Bildungszeit  an  die  nun  bereits  vorübergegangen  isL 
Dasselbe  darf  man  wohl  am  wenigsten  von  Schlosser  sagen, 
dem  Ostfriesen,  der  nun  seit  langen  Jahren  gerade  im  Süden 
Deutschlands  aufs  Bedeutendste  gewirkt  hat,   während  wir 
Norddeutschen  uns  weder  mit  der  Auffassung  noch  mit  der 
Darstellung  in  den  Schlosserschen  Büchern  befreunden  kön- 
nen.   Dieses  Schwarzsehen  aUer  Dinge  und  Zustände,  diese 
fast  absichtliche  Herabsetzung  jeder   grossen  Persönlichkeit 
weil  sie  nicht  wie  Schlosser  denkt  und  handelt,  dieses  völlige 
Verkennen  der  Eigenthümlichkeit  verschiedener  Zeiten  und 
Länder  liegt  doch  sehr  weit  ab  von  den  V^egen  der  wahren 
Geschichte.    Der  unnachsichtige  Hass  gegen  alles  Schlechte 
und  Gemeine,    die  Entschiedenheit  der  überall  durchspre- 
chenden Ueberzeugung  flösst  die  höchste  Achtung  vor  dem 
Charakter  des  Mannes   ein;    allein  Gesinnung  magfit  nicht 
allein  den  vollendeten  Historiker,  und  die  grosse  Gelehrsam- 
keit thut  es  auch  nicht,   die  hier  wohl  oft  gerühmt  worden 
ist,    aber  doch  mehr  als   ein  fleissiges  Lesen  von  Quellen 


Deutsche  Ektoriker  der  Gegemoari.  9tS 

denn  als  ein  wahrhaft  sorgfältiges  und  kritisches  Verarbeiten 
derselben  erscheint.  Solche  Mängel  und  doch  solche  Wir^ 
kung,  wird  man  sagen.  Die  Wirkung  liegt  in  der  geistigen 
Kraft  des  Mannes,  die  Mängel  liegen  theils  in  dem  einseitigen 
Sinn,  theils  in  der  fast  absichtlichen  Vernachlässigung  der 
Durcharbeitung  des  Stoffs.  Unmittelbar  für  deutsche  6e* 
schichte  hat  Schlosser  wenig  gethan,  und  ich  hätte  von  ihm 
schweigen  können,  und  wäre  so  dem  vielleicht  laut  werden- 
den Vorwurf  anmasslichen  Urtheils  über  den  gefeierten  Mann 
entgangen.  Doch  ist  seine  Stellung  eine  zu  bedeutende  in 
der  historischen  Literatur  und  auch  seine  Einwirkung  auf  die 
Betrachtung  deutscher  Geschichte  eine  zu  einflussreiche  als 
dass  ich  ihm  ganz  hätte  aus  dem  Wege  gehen  können.  Auch 
fühle  ich  dass  ich  und  die  Freunde  uns  in  so  entschiedenem 
Gegensatz  gegen  Schlossersche  Geschichtsbehandlung  befinden 
dass  es  fast  als  eine  Pflicht  erscheint  den  eingenommenen 
schon  manchmal  angegrifi'enen  Standpunkt  zu  vertheidigen. 

Weit  überlegen  an  Geist  und  wahrhaft  historischem  Sinn 
ist  Gervinus,  doch  theilt  er  eine  grosse  Einseitigkeit,  die 
mir  den  Heidelbergern  im  allgemeinen  eigen  zu  sein  scheint 
und  die  doch  wohl  auf  Schlossersche  Anregungen  zurück-» 
geführt  werden  muss.  Ich  meine  das  mangelnde  Verstand* 
niss  für  die  unermessliche  Bedeutung  des  Christenthums, 
Überhaupt  das  Zurücktreten  des  religiösen  Elementes  in  der 
Geschichte.  Nirgends  liegt  es  stärker  zu  Tage  als  in  der 
Historik  von  Gervinus,  wo  er  in  allem  Ernste  die  Epoche 
der  neuen  Geschichte  in  dem  Auftreten  des  Sokrates,  in 
den  Erweiterungen  des  historischen  Schauplatzes  durch  die 
Eroberungen  Alexander's  findet,  unbekümmert  um  die  völlige 
Umgestaltung  welche  die  Welt  vornehmlich  durch  das  Chris- 
tenthum,  sodann  durch  das  Auftreten  der  Germanen  und 
das  Eindringen  der  christlichen  Lehre  in  die  germanische 
Welt  erhalten  hat.  Auch  die  Geschichte  der  poetischen 
National -Literatur  der  Deutschen  liefert  von  solcher  Ansicht 
mannigfache  Belege.  Eben  ganz  und  gar  nicht  mittelaltrig 
ist  der  Sinn  von  Gervinus ,  und  auch  das  Verständniss  der 
Zeit  geht  ihm  doch  in  manchen  Beziehungen  ab;  während 

Allg.  ZeiUehrift  f.  Gvicbiekto.  T.  1S4«,  86 


Bt6  Dmt§eke  HiMiorUter  der  Oeg^nma^k 

er  ^K>rlrefllioh  ist  wo  er  die  Bewegimgen  der  neueren  2^ 
IQ  ihrem  Reichlbum  und  in  ihrer  MannigMUgkeifc  schildere 

Aber  mein  Schreiben  würde  kein  Ende  finden,  wollte 
ich  auch  nur  in  allgemeiner  Weise  tkber  Auffassung  und 
Ansicht  des  Einzehien  urtheilen.  Das  mag  anderen  Briefen 
irerbehaiten  bleiben.  Hier  genüge  es  zu  bemerken ,  dass 
auch  Karl  Hagen  den  GoUegen,  von  denen  er  besonders 
durch  die  klare  und  aogenehme  Form  seiner  Arbeiten  sieh 
so  wesentlich  unterscheidet,  in  diesor  Beaiebung  nahe  m 
stehen  scheint.  Sein  interessantes  Buch  Hber  die  Refon» 
matioaszeit  bietet  dazu  die  schlagendsten  Belege,  und  wenA 
du  vergönnst,  will  ich  zunächst  at^sfüfarifcher  gerade  davon 
qftrechen.  Denn  offenbar  ist  das  Wesen  der  Reformatioii 
völlig  verkannt  und  eine  Ansicht  durchgeführt  worden  welche 
wie  mich  dünkt  auch  den  Widersprach  des  Historikers  airf 
das  entschiedenste  herausfordert. 

Hliusser  ist  nach  früheren  unglücklichen  oder  minder 
bedeutenden  Arbeiten  mit  der  ausführlichen  Geschichte  der 
Rheinischen  Pfalz  hervorgetreten,  ein  Buch  an  dem  Fleiss 
med  eine  lesbare  Darstellung  gerühmt  werden  mms  and  daa 
man  gerne  den  bessern  FroviaoialgesdHchten  zur  Seite  steilen 
wird)  wenn  es  gleich  zu  den  höbern  Stufen  gescbicbt^hef 
Forschung  und  Darst^ing  sich  nicht  erhebt.  Erw&hnen 
umss  ich  es  hauptsäehlieb,  weil  es  schon  jener  so  genanaten 
l^elUnisehen  Ansicht  angehürt,  welche  eine  andere  Classe 
alAddeutseker  Historiker  recht  eigentlich  eharakterisirt,  am 
Würteiabei^r  vornahmlieh  und  die  anderswo  ihnen  sich  an- 
aehliessen.  Man  sröchte  sie  die  Historiker  dee  Zollvereins^ 
Uattes  und  der  AUgenmnea  Zehung  nennen,  mit  denen  sie 
innerlicb  und  änsserliefe  nahe  ausammenb^en.  j^eiin  etee 
IMuUriolische  deutsehe  Gesinnung  ist  sehr  an  ihnen  zu  loben, 
nur  dass  sie  einen  einseitigen  Charakter  an  mh  trigt:  tde 
sie  die  Gegenwart  ganz  und  gar  nach  besonderen  Interessen 
bawttieilt,  so  ist  sie  gegen  manc^  Seile  der  Vergangenhett 
wahrhaft  ungerecht.  Alles  Gewicht  wird  auf  die  £itthei«  dea 
deutschan  Keichs  gelegt«  Aber  so  nothwendig  und  erf^euli<^ 
ea  sm  mag  dem  particularistiacfaen  Interesse  der  Deolscben 


Bmitidke  Historiker  der  G^ehiMirf*  8tT 

ein  allgemeiDes  eiil^^en  cu  stellen  und  dies  mit  aller  Kraft 
and  Energie  in  dem  Qewoge  der  Meinungen  geltend  zu  machen, 
so  wenig  kann  man  es  doch  gut  heissen^  wenn  nur  den  Re- 
präsentanten der  deutschen  Einheit,  den  Kaisern  nämlich^ 
alle  Vorliebe  zugewandt  und  alles  Recht  zugeschrieben,  den 
Entwickelungen  dagegen  der  Stämme  und  FörstenthÜmer 
nur  Ungunst  und  hartes  Urtheil  gezeigt  wird.  Es  geht  das^ 
wie  bekannt  ist,  so  weit  dass  um  des  willen  l^elbst  die 
Glaubenserneuerung  des  16ten  Jahrhunderts  manchen  Tadel 
erfährt  und  dass  insonderheit  jeder  Kampf  für  die  Religion 
von  dem  Standpunkt  der  kaiserlichen  Holpolitiker  aiis  für 
Rebellion  und  Hochverrath  erklärt  wird.  Diese  Ansicht  nennt 
man  selbst  wohl  ghibellinisch;  wie  mich  dünkt  ein  wenig 
passendes  Wort,  da  die  grossen  staüfischen  Kaiser  Yon  nichts 
weiter  entfernt  waren  als  ein  Königsrecht  in  Anspruch  zu 
nehmen  welches  die  Fürsten  als  ihre  Unterlhanen  im  eigent-» 
liehen  Sinne  des  Wortes  erscheinen  Hess.  Höchstens  Hein 
rieh  VI.  hat  es  gethan,  und  den  wird  man  nicht  für  das 
Muster  eines  Deutschen  Königs  ausgeben  Wollen.  Sonst  ist 
es  seit  den  Zeiten  der  fränkischen  Kaiser  entschieden^  dass 
das  Reich  aus  der  Vereinigung  von  Kaiser  und  Fürsten  be- 
stehe und  dass  der  Kaiser  nichts  sei  als  das  Haupt  der 
letzteren,  die  einzeln  wohl  durch  die  Belehnung  von  jenem 
ihre  Würde  und  ihr  Recht  empfangen,  in  ihrer  Gesamdathelt 
aber  die  wichtigsten  Befugnisse  neben  ja  fast  gegen  den 
Kaiser  auszuüben  haben.  In  den  Urkunden  Friedrkhs  11^ 
in  der  Goldenen  Bulle  ist  das  Recht  der  Fürsten  so  aner- 
kannt wie  nur  irgend  möglich  und  nöthig  war,  und  im 
ISten  oder  gär  im  16ten  und  17ten  Jahrh.  von  ihnen  9is  den 
zu  Geliorsaia  Verpflichteten  zu  sprechen,  Verräth  völlige  Ur- 
kunde dealseben  Staatsrechts.  Man  dhiss  sagen ,  das  deut^- 
sehe  Königtbum  ist  in  dem  Kaiserthum  auf-^  und  unterge»- 
gangen«  Gerade  indem  durch  die  Verbindung  mit  dem 
Kwerthum  jenes  an  ideeller  Grösse  gewann,  hat  es  den 
Bedeü  einer  eigentlich  köatgltehen  Herrschaft  verlassen,  und 
hat  die  Fürsten  zu  Landesherrn,  die  Fürstenthümer  zu  sou^ 
veraiften  Staaten  werden  lassen.    Ja  nicht  einmal  bedauerii 

36* 


S28  Deuisehe  Histor^ter  der  Gegenwßrt 

kann  man  die  steigende  fürstliche  Macht;   denn  seit  dem 
I8ten  Jahrhundert  zieht  sich  das  Leben  der  Nation  in   die 
Territorien  der  Fürsten  und  in  die  Städte  zurück ,  jede  wahr- 
haft grosse  deutsche  Bewegung   findet  nur  hier,   nicht   bei 
dem  Kaiser,  Förderung  und  Stütze^  und  seit  die  Habsburger 
die  Krone  tragen,   haben  sie  sie  wohl  vor  Schimpf  und  Er- 
niedrigung bewahrt,   allein  kaiserliches  Recht  immer  nur  zu 
ihrem  Ncftzen  in  Anspruch  genommen,   ohne  irgendwo  des 
Reichs  Vortheil  ernstlich  zu  bedenken.  —  Köpke  hat  in  glei* 
chem  Sinne  neulich  gegen  Gfrörer  und  andere  die  Fürsten 
des  17ten  Jahrhunderts  in  Schutz  genommen.    Hier  genügt 
es  im  allgemeinen  diese  Ansicht  gewürdigt  zu  haben,    ohne 
dass  ich  darauf  eingehe  zu  zeigen  wie  die  Schriften  der  Ein- 
zelnen sich  darzu  verhalten.    Fast  alle  arbeiten  sie  mehr  für 
das  grosse  Publicum  als  für  die  Wissenschaft,  und 'schon 
deshalb  ist  weniger  Anlass  hier  von  ihnen  zu  sprechen.  — 
In  manchen  Beziehungen  verwandt,   aber  weniger  einseitig 
und  nicht  ohne  eigenthümliche  Bedeutung  ist  die  Anschauung 
deutscher  Geschichte  welche  Bensen  in  seinem  Buche  „Deu^ch- 
land  und  die  Geschichte^'  geltend  gemacht  hat  und  in  weiteren 
Arbeilen  durchzuführen  gedenkt.  Vielleicht  möchte  ich  Anlass 
haben  darauf  ein  anderes  Mal  ausführlicher  zurückzukommen. 
An  den  Grenzen  des  deutschen  Vaterlandes  einsam  und 
für  sich  lebend  hat  Wirth  noch  einmal  den  Versuch  gewagt, 
die  deutsche  Geschichte  vollständig  zu  schreiben  und  ist  mit 
dem  grossen  Werke  bald  glücklich  zu  Ende  gekommen.   Ich 
gestehe,  dass  ich  nur  den  ersten  Band  gekauft  und  gelesen 
habe,  aber  gewiss  verdient  das  Buch  hier  an  dieser  Stelle 
genannt  zu  werden.    Guter  Wille,  emsiger  Fleiss  und  deut- 
sche Gesinnjuog  sind  aller  Orten  zu  erkennen.    Aber  zu  wun- 
derlichen Uebertreibungen   ist   die  letzte   ausgeartet,   nicht 
wie  bei  Luden  zur  blinden  Bewunderung  dessen  was  die 
Deutschen  gewesen  sind,  sondern  vielmehr  zur  höchsten  Un- 
zufriedenheit darüber,  dass  sie  so  wenig  den  Ansprüchen 
und  Wünschen  des  Verfassers  genügen.     Die  ganze  Arbeit 
hat  zudem  etwas  autodidaktisches  an  sich,  und  wenn  der 
Weg  den  der  Autor  eingeschlagen,  ihn  auch  mitunter  zu 


Deutsche  Historiker  der  Gegenwart,  529 

neuen  und  überraschenden  Aussichten  führt,  so  bringt  er 
ihn  doch  öfter  in  die  Irre,  während  ganz  gebahnte  Stras- 
sen nicht  ferne  vorbeigehen.  Das  Dunkel  der  deutschen  Ur- 
geschichte ist  im  ganzen  eben  nicht  lichter  durch  diese  Dar- 
stellung Igeworden,  sondern  neue  Verwirrung  ist  zur  alten 
hinzugekommen.  In  den  späteren  Abschnitten  aber  sinkt 
die  Darstellung  häußg  unter  das  Gewöhnlichsie  hinab,  sie 
steht  in  keinem  Verhältniss  zu  den  Auseinandersetzungen 
der  ersten  Capitel,  und  ist  farblos  und  matt,  wenn  nicht 
eine  Persönlichkeit  auftritt,  welche  wie  Carl  der  Grosse  den 
Zorn  und  Unwillen  des  Mannes  deutscher  Freiheit  erregt. 

Es  freut  bei  dieser  Rundschau  überall  fast  vaterländi* 
scher  Gesinnung  zu  begegnen.  Nur  das  Mehr  oder  Minder, 
die  besondere  Anwendung  und  Aeusserung  derselben  un- 
terscheiden die  Einzelnen,  ja  sie  dienen  recht  eigentlich,  um 
hier  die  verschiedenen  Gruppen  zu  sondern.  Von  den  pro- 
testantischen Freunden  des  deutschen  Reichs  auch  noch  in 
der  späteren  Zeit  seiner  Existenz,  die  wir  vorhin  zusammen 
stellten,  führt  die  Retrachlung  wie  von  selbst  zu  den  Män- 
nern hin,  welche  mit  Vorliebe  bei  seinen  mittelaltrigen  Zu- 
ständen verweilen  und  diesen  Thätigkeit  und  Liebe  in  glei- 
chem Maasse  zuzuwenden  geneigt  sind.  Auch  andere,  na- 
mentlich auch  wir  Norddeutschen  sind  vielfach  mit  dem 
Mittelalter  beschäftigt,  und  freuen  uns  seines  Reichthums  an 
lebendigen  Erzeugnissen  seines  tiefen  innigen  Sinnes.  Wenn 
wir  aber  besonders  die  älteren  Zeilen  und  im  deutschen 
Reich  die  Jahre  des  Glanzes  und  der  Hoheit  ins  Auge  fas- 
sen, so  ist  es  den  Süddeutschen  die  ich  hier  meine  eigen, 
mit  Vorliebe  bei  den  späteren  Zeiten  zu  verweilen,  jenen 
Jahren,  wo  das  Kaiserthum  schon  gesunken  war  und  das 
Papstthum  von  der  Höhe  seiner  Macht  ringshin  alles  beschat- 
tete; —  denn  ich  wenigstens  kann  nicht  zustimmen,  wenn 
man  meint,  es  habe  gestrahlt  und  mit  seinem  Glänze  die 
Welt  erleuchtet,  die  Völker  beglückt.  Jene  Männer  haben 
wie  wenige  ein  Herz  für  die  Grösse  deutscher  Entwicklung 
im  städtischen  Leben,  Kunst,  Poesie  und  auf  anderen  Gcr- 
bieten  der  Literatur,  sie   ehren  auch  den  Kaiser  als   das 


SM  tkuUehe  Hüioriker  dw  Gegenwart. 

Haupt  des  Ganzen  und  freuen  sich  maneher  grossen  Thal; 
aber  ihre  Sympathien  sind  doch  mehr  bei  den  geistlichem 
Fürsten,  bei  der  Kirche,  bei  dem  Papste  selbst  j  und  sie  flih- 
len  oder  sie  sagen  es  nicht,  wie  dieser  Deutschland  behandelt 
hat,  wenig  um  des  Reichs  Interessen  bemüht,  sondern  bald  mit 
den  Fürsten  gegen  den  Kaiser,  dann  mit  diesem  gegen  jene 
verbunden,  je  wie  es  der  Kirche  Vortheil  zu  erheischen  schien. 
Es  reichen  sich  Protestanten  und  Katholiken  auf  dieseon 
Wege  die  Hand,  und  zwischen  beiden  zu  trennen  habe  ich 
um  so  weniger  Anlass,  da  nicht  die  Gonfession  von  heute, 
sondern  die  historische  Beurtheilung  einer  weit  zurückliegen- 
den Vergangenheit  hier  in  Betracht  kommt«  Wie  damit  der  Stand- 
punkt in  der  Gegenwart  und  das  Urtbeil  über  Ereignisse  und 
Zustände  derselben  zusammenhangt,  mögen  andere  würdigen. 
An  Hurter's  Innocenz  III.  schliesst  sich  Kopp^s  grosses 
Werk  über  die  Wiederherstellung  und  den  Verfall  des  römi- 
schen Reichs.  Zu  oft  ist  jenes  besprochen  worden,  als  dass 
M  reizen  könnte,  hier  davon  zu  handeln.  Doch  scheue  ich 
mich  nicht  auszusprechen,  dass  ich  niemals  dem  grossen 
Lobe  habe  beipQichten  können,  welches  dem  Buche  gezollt 
worden  ist.  Vor  blosser  Gelehrsamkeit  habe  ich  nicht  sol- 
chen Respect,  dass  ich  um  deswillen  das  Buch  so  sehr  be- 
wundern könnte,  und  ich  habe  mich  hinlänglich  mit  dem- 
selben beschäftigt,  um  zu  wissen,  dass  es  der  feineren  Kri- 
tik doch  gröfistentheils  entbehrt.  Die  Form  aber  ist  der  Art, 
dass  man  zweifeln  muss,  ob  viele,  das  Buch  vollständig  ge- 
lesen haben,  wenn  sie  denn  nicht  angezogen  worden  sind 
von  dem  kirchlichen  Eifer  des  Mannes,  der  den  Katholiken 
doppelt  wohl  thun  musste,  so  lange  Hurter  sich  einen  Pro- 
testanten nannte.  -^  Massiger  und  besonnener  tritt  Kopp  uns 
entgegen  in  dem  Werke  mehrjährigen  gründlichsten  Fleisses; 
aber  ich  weiss  nicht,  ob  diese  Massigkeit,  das  Streben  nach 
vollkommener  Objectivität  oder  blos  die  Eigenthümlichkeit 
des  Styles  Schuld  ist,  dass  selbst  dem  mitstrebenden  For- 
scher das  Lesen  der  inhaltsreichen  und  in  jeder  einzelnen 
Stelle  belehrenden  Arbeit  eine  wahre  Last  wird.  Kein 
Ruhepunkt,  keine  zusammenfassende  Uebersicht,  keine  Olio* 


0ecf(#ete  Sisioriker  der  Gegenwart  131 

deruDg  des  Stoffs  ^  sondern  EintfelheUeo  und  immmr  Einzel* 
Jieiten,  die  doch  wahrlich  üoch  keine  Geschichte  machen^ 
Hier  trägt  die  Erzählung  noch  besonders  einen,  ich  mdchto 
sagen,  zubilligen  Charakter  an  sich^  da  nicht  das  Einleine 
angeführt  wird  als  Beleg  einer  aligemeineren  Richtung  oder 
Strebung,  sondern  eben  nur  als  Thatsache  für  sich',  da  aus- 
serdem mit  fast  ängstlicher  Genauigkeit  jede  Urkunde  be- 
rücksichtigt und  ihr  Inhalt  selbst  als  historische  Begebenhaii 
in  Anspruch  genommen  wird,  wo  es  nun  nicht  fehlen  kann, 
dass  jede  neue  oder  dem  Verf.  später  zugänglich  gewordene 
Urkundensammlung  so  reiche  Ergänzungen  bringt,  dass  im- 
mer wieder  solche  Einschaltungen  nöthig  werden,  wie  sie 
am  Ende  des  Bandes  gegeben  sind,  die  uns  zugleich  recht 
deuüioh  zeigen^  wie  der  Verfasser  gearbeitet  hat. 

Doch  nicht  diese  auf  Form  und  Darstellung  eingehende 
Beurtheilung  ist  hier  am  Platze,  wenigstens  nur  in  so  weit 
0h  auch  darin  etwas  Gemeinsames  wenigstens  der  beiden 
genannten  Historiker  und  einiger,  die  ich  noch  nennen  werde, 
gefunden  werden  kann.  Mit  Kopp  möchte  ich  eher  rechten 
über  den  Titel  des  Buchs  ^  da  er  offenbar  aus  einer  Ansicht 
hervorgegangen  ist,  wie  sie  besonders  diesen  Männern  ^x 
f  en  ists  Eine  Wiederherstellung  des  deutschen  Reichs  habe 
Rudolf  von  Habsburg  zu  Stande  gebracht  ^  wird  uns  in  älte- 
rer \md  neuerer  Zeit  gesagt.  Es  ist  gewiss,  er  machte  der 
völligen  Verwirrung  und  Auflösung  der  letzten  Jahre  ein 
Ende^  die  durch  den  Hass  der  Papste  gegen  die  Staufer  und 
den  Egoismus  der  geistlichen  Fürsten  herbeigeführt  war^  er 
verkündete  Landfrieden  und^  zog  wie  ein  wackerer  Ritters^ 
mann  aus,  um  die  widerstrebenden  Grafen  und  Fürsten  ztt 
bekämpfen«  Allein  ich  kanu  nicht  finden,  dass  es  ein  Zei- 
chen von  Grötoe  und  Macht  eines  Königs  ist^  wenn  er  per^ 
sönlieh  die  Raubburgen  des  Adels  belagern  und  zerstören 
muss.  Im  Uebrigen  hat  kein  König  mehr  als  Rudolf  die 
Macht  der  Fürsten  gesteigert:  die  WiUebriefe  der  Ghurlür- 
flteu  hat  er  eingeführt,  den  einzelnen  gleich  bei  der  Wahl 
bedeuteüde  Rechte  und  Vorthetle  zugesichert»  was  ^»äter 
Att  so  argem  Misabraucb  Aiüass  gab.    Er  bat  den  auswärti- 


582  Deutsche  Bieioriker  der  Gegenwart 

gen  Fürsten  gegenüber  nicht  die  alte  Stellang  des  Kaisers 
behauptet,  die  Rechte  des  Reichs  in  Italien  preisgegeben, 
das  Katserthum  ganz  und  gar  von  dem  Papste  abhängig  ge- 
macht, er  hat  daher  auch  kein  deutsches  Königthum  begrün- 
det, sondern  nur  fUr  die  Grösse  seines  Hauses  Sorge  getra- 
gen. Dass  er  anders  hätte  handeln  können,  bin  ich  nicht 
gemeint  zu  sagen,  auch  nicht  die  persönliche  Tüchtigkeit  des 
wackern  Mannes  anzufechten)  aber  zu  den  grossen  Männern 
kann  ich  ihn  in  keiner  Weise  rechnen,  und  von  einer  Wie- 
derherstellung des  römischen  Reichs  weiss  ich  nicht  zu  spre- 
chen, wenn  man  nicht  gerade  das  Zurücktreten  des  Königs 
von  allen  frühem  Ansprüchen  und  das  Anerkennen  der 
fürstlichen  und  besonders  der  churfürstlichen  Macht  als  ei- 
ner zur  Theilnahme  an  der  Reichsregierung  berechtigten 
dafür  ausgeben  will.  Die  späteren  Ordnungen,  Formen,  aber 
auch  die  Schwäche  und  Auflösung  des  Reichs  beruhten  we- 
sentlich auf  der  Art  und  Weise,  wie  Rudolf  sein  Königthum 
auffasste,  und  nur  wer  diesen  Zustand  und  den  steigenden  Ein- 
fluss  des  Papstes  für  glücklich  und  wohlthätig  ansieht,  kann 
in  Rudolf  von  Habsburg  und  seinem  Sohne  Albrecht  seine 
Helden  finden. 

Mit  Albrecht  ist  die  Sache  allerdings  noch  wesentlich 
anders  als  mit  Rudolf,  und  es  würde  hier  zu  weit  führen, 
wollte  ich  die  neuerdings  eben  von  Kopp  und  dann  von 
Lichnowski  und  Böhmer  versuchte  Ehrenrettung  desselben 
hier  belexichten.  —  Böhmer  gehört  aber  ganz  und  gar  der 
Richtung  an,  die  ich  hier  bezeichnet  habe,  und  seine  treff- 
lichen, fortwährend  an  Ausdehnung  und  Inhalt  wachsenden 
Regesten  enthalten  von  seiner  Anschauung  und  Gesinnung 
die  sprechendsten  Zeugnisse.  Es  ist  ihm  das  jüngst  in  häss- 
lieber  Weise  vorgeworfen  worden.  Niemand  hat  wahrlich 
ein  Recht  es  zu  tadeln,  dass  er  in  den  auf  gründlichstem 
Studium  der  Zeit  beruhenden  Arbeiten  auch  sein  Urtbeil  über 
den  Charakter  der  Personen  und  die  Bedeutung  der  That- 
sachen  niederlegt.  Aber  wünschen  kann  man  freilich ,  d^ss 
seine  Gesinnung  eine  —  ja  ich  wage  zu  sagen  deutschere  sein 
niöfie,  die  wie  dem  Jammer  im  Innern  und  der  Schwäche  nach 


Deutsche  Historiker  der  Oegemöart.  538 

aussen,  so  auch  der  Abhängigkeit  von  Rom  den  Protest  des 
deutschen  Herzens  entgegenstellte,  und  die  auch  heutzutage 
lieber  den  deutschen  Brüdern  im  Norden  als  den  Römlingen 
diesseits  und  jenseits  der  Alpen  die  Hand  reichte.  Gerade 
je  mehr  ich  Böhmer's  edle  und  liebenswürdige  Natur  kenne, 
desto  inniger  möchte  ich  hofiPen ,  dass  es  so  sei  oder  werde. 
Aber  leider  muss  man  hinzusetzen,  dass  die  Aussicht  dazu 
eine  geringe  ist,  und  mit  Schmerz  habe  ich  gesehen,  wie  er 
in  dem  letzten  Band  der  Regesten  nun  auch  fast  von  aller 
Verbindung  mit  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Ge- 
schichtskunde, die  ihm  so  Grosses  verdankt,  sich  lossagt,  und 
das  was  wir  Mitarbeiter  gerade  für  ihn,  den  unermüdlichen 
Sammler  und  rechten  Würdiger  der  Urkundeu.  mit  doppeltem 
Eifer  gesammelt   haben,   als   ein   ihm  Fremdes  anführt. 

Verwandt  der  Richtung,  die  ich  zuletzt  bezeichnet  habe, 
sind  die  österreichischen  Historiker  fast  alle,  so  verschieden 
sie  unter  sich  an  Gelehrsamkeit  und  andern  Eigenschaften 
sein  mögen.  Auch  zeichnet  die  meisten  eine  edle  Mässigung 
dus,  besonders  Chmel  und  Mailath,  die  man,  jenen  für  das 
Mittelalter,  diesen  für  die  Neuere  Zeit,  als  die  beiden  her- 
vorragenden Repräsentanten  hinstellen  kann.  Was  die  For- 
schung ihnen,  verdankt,  ist  allgemein  bekannt;  an  den  Bü- 
chern kann  man  wohl  vieles  anders  wünschen,  doch  ver- 
letzen Auffassung  und  Urtheil  fast  niemals,  weil  sie  auf  Ueber- 
zeugung  beruhen  und  aus  der  Stellung  im  conservativen 
Staate  und  in  der  katholischen  Kirche,  deren  Dienst  mehrere 
der  fleissigsten  Geschichtsforscher  ana||ören,  ausser  Chmel 
auch  Stülz,  Pritz  und  andere,  mit  Notnwendigkeit  hervorge- 
hen. —  Absichtsvoller  und  anspruchsvoller  war  der  Fürst 
von  Lichnowski,  doch  sein  bändereiches  Werk  ist  zu  unbe- 
deutend um  lange  dabei  zu  verweilen. 

Es  erübrigt  eine  letzte  Richtung  zu  erwähnen,  welche  ich 
nicht  anders  als  die  ultramontane  zu  nennen  vermag  und  wel- 
che ihren  Mittelpunkt  in  München  hat.  Sie  ist  zu  bekannt  und 
hat  in  den  historisch-politischen  Blättern  zu  oft  und  zu  ent- 
schieden ihr  Glaubensbekenntniss  gegeben,  als  dass  es  nö- 
thig  wäre,  sie  genauer  zu  bezeichnen.   Als  ihren  Wortführer 


584  DmfUeh0  HktorUar  d^r  Gegmmati. 

auf  dem  Gebiete  eigentlicher  Historie  mag  man  Höfler  be- 
trachten, der  den  glücklichen  Glauben  hat,  nicht  blos  vieles 
zu  wissen,  sondern  recht  eigentlich  zum  Reformator  deut- 
scher Geschichtswissenschaft  berufen  zu  sein.    Da  schilt  er 
nun  freilioh  sehr,  dass  wir  Norddeutschen  so  gar  nicht  seine 
Verdienste   zu    würdigen  wissen ,    und   besonders    deinen 
Freund  hat  er  in  Verdacht  daran  Schuld  zu  sein,  da  er  ein- 
mal so  unglücklich  war,  seine  Unkenntniss  aller*  Paiäogra- 
phie  und  seine  totale  Unfähigkeit  zur  Behandlung  alter  Hand- 
schriften nachweisen  zu  müssen.    Ich  habe  seitdem  absicht- 
lich vermieden,  jemals  wieder  des  Herrn  Prof.  fiöfler  öffent- 
lich zu  erwähnen;  allein  icb  würde  es  doch  für  eine  grabe 
Vernachlässigung  halten,  wollte  ich  seiner  hier  gar  nicht  ge- 
denken.   Auch  bin  ich  gar  nicht  gemeint,  sein«i  Arbeiten 
jedes  allgemeinere  Interesse  abzusprechen.    Gerade  dass  sie 
auch  die  ältere  Zeit  des  deutschen  Reichs  vom  streng  kirch- 
lichen Standpunkt  aus  bebandeln,  erscheint  nützlich,  und  so 
wenig  Hoffnung  zur  Verständigung  mit  so  unbedingter  Be^ 
wunderung  Roms  auch  vorhanden  ist,   so   mag   man   doch 
wohl  darauf  eingeben  zu  beleuchten,  wie  nun  hier  mit  deut- 
scher Geschichte  umgegangen  wird.     Und   dazu  habe   ich, 
wie  du  erinnerst,   schon  früher  Neigung  gehabt,  und  will 
nun  in  diesen  Briefen  darauf  zurückkommen.    Da  wird  denn 
Gelegenheit  genug  sein,  von  dem  Friedrieb  IL  zu  sprechen, 
einem  Buch,  das  viel  Neues  und  auch  Lehrreiches  gesagt 
hat,  das  aber  zugleich  von  der  unbedingtesten  Einseitigk^t 
und  Befangenheit,  im  nicht  andere  Worte  zu  gebrauchen, 
Zeugniss  giebt.    Gott  wolle  uns  vor  einer  Reformation  der 
deutschen   Geschichte   in  solcbem  Geiste  bewahren!    Und 
wer  Kraft  und  Liebe  zum  dentschen  Vaterlande  hat,  wird 
nicht  umbin  können,  wenn  er  auch  friedliebend  und  guier 
Eintracht  wohlgeneigt  ist,   solche  Versuche   zu  bekämpfen 
und  abzuwehren   so  weit  er  vermag.    Und  wenn  man  Ar- 
beiten zur  Seite  lassen  darf,  wie  die  Boost  und  Riffel  und 
andere  über  die  Neuere  Zeit,  deren  Segnungen  wir  alle  eak- 
pfinden,  zu  Tage  fördern:  so  darf  man  doch  nicht  zugeben, 
dass  unser  schönes  Mitlelatter  YOtt  einer  Gesinnung  in  Be» 


Leheuibei^eibung  des  Sr^bisekcfs  An$gtif.       585 

schlag  genommen  und  entstetli  werde,  die  alles  eher  als  eine 
deutsche  ist,  und  die  sich  nicht  breit  machen  soll  wo  es 
gilt  Deutschlands  Vergangenheit  zu  feiern,  seine  Gegenwart 
zu  herathen. 

Kiel,  den  25.  März  1846.  G.  Waitz, 

Lebensbefichreibang  des  Brzbischofa  Aiiflgar,  kriUsob  bearbeitet  yob 
Georg  Heinricb  Klippel,  Dr.  ( —  auch  unter  dem  Titel:  Bistoriacbe  For- 
scbungen  und  DarsieUuogen.  Zweiter  Band.)  Brewen,  4845.  8.  XVI  u. 
S56  Seiten. 

Die  Wirksamkeit  des  h.  Ansgars,  des  grossen  Apostels  des 
Nordens,  der  durch  Gebart  und  Klostergelübde  den  Franken, 
durch  seine  früheren  Jahre  dem  Kloster  Neu-Corvey,  durch  seine 
spatere  Stellung  dem  deutschen  Norden,  durch  seine  Missionsrei- 
sen dem  nördlichen  Europa  angehört,  ist  so  umfangsreich  und  so 
erfolgreich  gewesen,  dass  sein  Leben  mit  den  vielen  unmittelbar 
an  dasselbe  sich  knüpfenden  allgemeinen  historischen  Beziehungen 
yon  den  Forschern  vieler  Völker  untersucht  und  beschrieben  ist. 
Eine  treffliche  Vorarbeit  liegt  in  dessen  Biographie  durch  den 
flandrischen  Rimbert,  Ansgar's  Freund  und  Nachfolger  im  Erzbis- 
thume.  Auf  dieser  Grundlage  und  mit  Hülfe  der  Erläuterungen, 
welche  verschiedene  Geschichtsforscher,  jeder  zunächst  für  sein 
Vaterland,  geliefert  haben,  liesse  sich  eine  sehr  lehrreiche  Darstel- 
lung der  Zeit  Ansgars  liefern.  Verzichtet  man  auf  eine  grössere 
Arbeit,  und  beschrankt  sich,  so  weit  möglich,  auf  die  persönlichen 
Beziehungen  Ansgars,  so  werden  wir  auch. diese  gern  empfangen, 
wenn  sie  mit  Scharfsinn  und  gewissenhafter  Sorgfalt  alle  über 
jenen  uns  überlieferten  Nachrichten  prüfet,  dieselben  auf  die  letzte 
Quelle  zurückfuhrt  und  mit  gleichzeitigen  Nachrichten  über  die 
vorliegenden  Begebenheiten  und  Verhältnisse  verbindet.  Es  kön- 
nen durch  umsichtige  Behandlung  Monographien  dieser  Art  für  die 
allgemeine  Geschichtsforschung  höchst  lehrreich  werden,  selbst 
wenn  sie  nicht  einen  universalhistorischen  Gegenstand,  wie  das 
Leben  des  Ansgars  ein  solcher  ist,  betreffen. 

Wenn  der  Verfasser  des  vorliegenden  Werkes  daher  auf  eine 
Schilderung  der  Zeiten  Ansgars  verzichtet,  der  damaligen  Zustände 
der  christlichen  Religion,  so  wie  der  kirchlichen  Gelehrsamkeit. 
80  wie  andererseits  des  Heidenthums,  dessen  Vertilgung  Ansgars 
Tagewerk  und  Heldenthat  war,  wenn  die  Zeitgenossen,  mit  wel- 
chen vereint  er  wirkte,  nur  kurz  genannt  werden,  wenn  geogra- 
phische Erläuterungen  über  den  Umfang  seines  Erzbisthums  durch- 
aus fehlen ,  sogar  die  über  Ansgars  Reisen  auf  die  nothdürftigsten 
Andeutungen  beschränkt  sind,  wenn  die  Hülfe  aller  dieser  Brdrte- 
pQDgen  vermisst  wird,  so  sind  wir  berechtigt,  von  einem  neuen 


SS6       Ld^e»$be$ckreUHmg  de$  ErMsehofw  Ansgar. 

Biographeo  eine  kritiseheUnlersiicbuDg  über  die  Haoptpaokte  seines 
LebeoB  za  erwarteo.  Diese  ist  ans  denn  hier  auch  schon  auf  dem 
Titelblatte  verheissen  und  wir  dürfen  um  so  mehr  verlangen,  diese 
Yerheissung  erfilllt  zu  sehen,  da  der  Verfasser  wegen  kritischer 
Versuche  im  Gebiete  norddeutscher  Geschichte  bisweilen  genannt 
ist  und  derselbe  gegen  die  bekannten  Ansichten  der  Göttinger  So- 
cietät  der  Wissenschaften  für  seine  Arbeit  über  das  Chronicon 
Corbeiense  von  einer  andern  achtbaren  Gesellschaft  einen  Ehren* 
preis  erhalten  bat.  Die  Annahme  von  der  Authenticit'at  dieser  Chro- 
nik hat  grossen  Einfluss  auf  diese  Biographie  des  h.  Ansgars  ge- 
habt und  es  ist  daher  nicht  leicht  über  letztere  zu  sprechen,  ohne 
jene  Frage  zu  berühren,  zumal  da  Hr.  Klippel  auf  seine  Preisschrift 
sich  stützt  Wir  werden  jedoch  versuchen,  so  weit  uns  möglieb, 
vorzüglich  solche  Punkte  herauszuheben,  wo  es  auf  jene  Chronik, 
von  deren  Authenticilat  der  Unterzeichnete  nicht  überzeugt  worden 
ist,  weniger  ankommt. 

Einer  kritischen  Arbeit  über  Ansgars  Leben  mösste  vor  allem 
eine  Untersuchung  über  dessen  Biographie,  welche  Rimberts  Namen 
trägt,  vorangehen.  Eine  solche  besitzen  wir,  ungeachtet  der  treff- 
lichen Ausgabe  seines  Werkes  in  Langebecks  Scriptores  rerum 
Danicarum«  noch  nicht,  weil^  auf  Dahlmann*s  Ausgabe  in  den  deutschen 
GeschicJ^tsquellen  jenes  Chronicon  Corveiense  sehr  verderblich  ein- 
gewirkt hat,  vor  allem  in  ^en  chronologischen  Nachweisungen.  Von 
diesen,  so  wie  dem  Verhältnisse  der  Vita  zu  einigen  Urkunden 
wird  noch  später  die  Rede  sein*  Hier  ist  zunächst  zu  bemerken, 
dass  die  Biographie  des  Ansgar  zwei  Verfasser  hat,  den  Nach- 
folger Rimbert  und  einen  ungenannten  Schüler  des  ersteren, 
wie  in  der  Vita  Rimberti  cap.  9  berichtet  wird.  Aus  dem  Um- 
stände, dass  Letzterer  nicht  genannt  wird,  lasst  sich  muthmassen, 
dass  er  gleichfalls  der  Biograph  Rimberts  war,  und  aus  jener  den 
mittelalterlichen  Schriftstellern,  zur  Qual  der  Nachwelt,  eigenthüm- 
lichen  übergrossen  Bescheidenheit  sich  weder  zu  dem  einen,  noch 
zu  dem  anderen  Werke  bekannt  hat.  Nur  durch  diese  Annahme 
der  Identität  des  Mitverfassers  des  einen  und  des  Autors  des  letz- 
teren Werkes,  wird  die  Dürftigkeit  des  letztern  einigermaassen  erklär- 
lich, da  ein  anderer  doch  schwerlich  alle  über  seinen  Helden  in 
der  Biographie  Ansgars  zufällig  erwähnten  Umstände  über  dessen 
Leben  vor  Erlangung  des  Erzbisthums  weggelassen  hätte. 

Höchst  wahrscheinlich  ist  es  mir  daher,  dass  der  Biograph  und 
Erzbischof  Rimbert  derselbe  Rimbert  ist,  welchen  Ansgar  als  einen 
Bischof  nach  Schweden  sandte.  Dieser  Rimbert  wird  als  dänischer 
Abstammung  bezeichnet,  was  der  Nachricht,  dass  der  Erzbiscbof  von) 
Ansgar  als  Knabe  zu  Turholt  angenommen  sei,  nicht  zu  wider- 
sprechen scheint,  da  an  diesem  Orte,  dessen  alte  Kirche  uns  schon 


LebensbeichrHbung  des  Er^bischofs  An$gar.        S37 

für  das  Jahr  631  bezeugt  wird  (Anoales  Gandens.  h.  a.)  Dänen  und 
Slaven  im  Ghristenthum  von  Corbier  Geistlichen  unterrichtet  wur« 
den,  wie  die  Vita  Anskarii  zwei  Mal  dankbar  erzählt,  cap.  15  u. 
36.  Des  Aufenthaltes  des  Erzbischofs  Rimbert  in  Schweden  ge- 
denkt auch  seine  Biographie.  Der  Ausdruck  der  Vita  Anskarii, 
dass  jener  Bischof  Rimbert  den  Schweden  bisher  ungehindert  die 
Sacramente  administrirt  habe,  dürfte  gegen  seine  Identität  mit  dem 
Erzbischofe  nicht  entscheiden,  da  dieses  Bisthum  ohne  Dotation, 
lediglich  das  Amt  eines  Missionars  war  und  also  nicht  gleich  nach 
der  Erwählung  Rimberts  zum  Erzbischofe  von  Hamburg  wieder  be« 
setzt  sein  mag. 

Wichtiger  erscheint  uns  die  Frage,  wo  die  Vita  Anskarii  ge- 
schrieben ist,  ob  in  Bremen,  Hamburg,  oder  irgend  einem  andern 
Kloster?  Cap.  1  u.  5  sagen  die  Verfasser,  dass  sie  bei  Ansgar 
gelebt  haben  (cap.  1.  qualiter  apud  nos  vixerit  —  cap.  6.  nobis 
quae  apud  nos  gesta  sunt  notare  cupientibus),  letztere  Stelle  erläu- 
tert: in  his  parlibus,  videlicet  Saxbniae.  Zu  einer  näheren  Be- 
stimmung müsste,  wie  es  scheint,  die  wiederholt  vorkommende 
Ortsbestimmung:  jenseits  der  Elbe  führen.  Doch  findet  sich  die- 
ser Ausdruck  gebraucht,  nicht  in  Bezug  auf  den  Standpunkt  des 
Schreibers,  sondern  auf  denjenigen  des  Gegenstandes  der  Erzäh- 
lung. Cap.  8.  der  Kaiser  giefot  dem  Heriold  ein  Lehn  ultra  Albiam. 
Dieses  wird  ziemlich  aligemein  von  Rustringen  im  Süden  der  Elbe 
verstanden,  wenn  gleich  nicht  unterlassen  worden  ein  jedoch  völ- 
lig unbekanntes  Lehn  in  Nordalbingen  aufzusuchen  (s.  Dahlmann, 
Gesch.  von  Dänemark  Th.  E  S.  39).  Dagegen  deutet  man  Cap.  13: 
„locus  ultra  Albiam,  qui  dicilur  Welanao^S  welchen  der  Erzbischof 
Ebo  vom  Kaiser  Ludwig  erhielt,  um  dort  auf  der  Reise  nach  Dä- 
nemark zu  verweilen,  auf  Weilnatu,  jetzt  Münsterdorf  in  Holstein. 
Im  Cap.  12  wird  jener  Ausdruck  wiederholt  von  dem  nordelbi- 
schen  Theil  der  hamburger  Diöcese  gebraucht,  wo  wir  ihn  aus 
der  dort  zum  Grunde  liegenden  Urkunde  des  Kaiser  Ludwig  her- 
leiten müssen.  Ebenso  ist  Cap.  22  von  denselben  nordelbischen 
Gegenden  die  Rede,  welche  der  Bischof  von  Verden  als  eiiien  ul- 
tra Albiam  gelegenen  Theil  seiner  Diöcese  in  Anspruch  nimmt. 
Entscheidender  dürfte  Cap.  15  sein:  Rimbert  habe  Kinder  von  Dä- 
nen und  Slaven:  „quosdam-hic  secum  retinuit",  andere  nach  Tur- 
holt  geschickt;  „fuerunt  cum  eo  hie  magistri",  nämlich  aus  Alt- 
Corbie.  Das  letztere  hie  scheint  mir  auf  Turholt  zu  deuten,  so 
wie  auch  Cap.  21,  wo  Dahlmann  denselben  Ausdruck  auf  Hamburg 
bezieht.  Doch  das  erstere  hie  kann  nur  auf  diese  Stadt  bezogen 
werden,  deren  Zerstörung  erst  in  folgenden  Capileln  berichtet  wird. 
Da  sie  aber  in  den  kurz  vorhergehenden  Capiteln  nicht  genannt 
ist,  so  konnte  der  Biograph  sich  des  Ausdrucks  nur  bedienen. 


S88       Ldfmt^eichfMmg  de$  ErMwd^fi  Amgar. 

Irsna  er  Mlbst  dort  0obri#b.  An  Bremen»  wo  wir  den  Brzlrieehof  RIhm 
beri  suchen,  kann  tu  jener  Zeit  nicht  gedacht  werden.  Wena  also 
Cap.  33  berichtet  wird,  der  aus  Schweden  heimkehrende  Erimberl 
sei  „apod  nos"  verweilend,  erkrankt  und  gestorben,  so  muss  dieses 
Ton  Hamburg  verstanden  werden.    Dieser  Ort  war  also  im  JiAriB 
839^40  nicbt  ganz  zerstört»  wie  er  denn  schon  845  die  Nordmaii* 
nen  zu  einer  Plünderung  anlocken  konnte,  wenn  er  gieidi  zum 
Sitze  des  Erzbisthoms  zu  unsicher  erschien  und  zu  Rimberts  Zeiten, 
wie  eineUrkunde  v.J.  888  bestätigt,  daselbst  das  Münz-  und  MaTktreebt 
wegen  der  häufigen  Ueberfälle  der  Heiden  nicht  ausgeübt  werden 
konnte»    Zu  den  Zeiten  des  älteren  Horich  (f  854)  waren  jedooh 
noch  Dänen  nach  Hamburg  oder  Dorstadt  gekommen »   um  sich 
taufen  zu  lassen,  Cap.  %K,     Auf  Hamburg  scheint  auch  mir  der 
Ort  (lam  hinc  quam  ex  Dorstade)  zu  deuten,  aus  welchem  die 
Kaufleute  aus  Sachsen  (gentis  buius  homines,  negotiatores)  nach 
Schleswig  ohne  Besorgniss  ziehen  konnten,  nachdem  Ansgar  dmrl 
848-*54  viele  Dänen   getauft  hatte.      Wir  können    demnach  die 
Verfaaser  der  Vita  Anskarii  nur  in  dem  Kloster  zu  Hamburg  eo* 
eben  und  zw«*  bald  nach  Ansgars  Tode, 

Onter  den  für  die  Geschichte  Ansgars  von  Hrn«  Klippel  angOi- 
führten,  fUr  dieselbe  jedoch  häufig  ganz  wertblosen  Quellen  muss 
es  auffallen,  die  kurzen,  aber  wertbvollen  Pasti  Corbeienses  au 
vermissen,  deren  Glaubwürdigkeit  unbestritten  ist  umI  die  wen^sletis 
als  Zeitweis«r  höchst  wichtig  sind.  Bei  Dr.  Alb.  Crantz  wird  dm» 
wichtige  Prädicat  des  Domdechanten  übersehen  und  eben  so  we-^ 
nig  erwähnt,  dass  ihm  die  Urkunden  der  hamburgischbremiscbeii 
Kirchen  zum  Theile  wenigstens  zu  Gebote  gestanden«  Binirrthum 
ist  es,  dem  Dr.  ReuterdabI  zwei  Geschichten  der  schwedtscben 
Kirche  zuzuschreiben.  Die  Biographie  des  Ansgar,  welcher  der 
Uebersetzer  Mayerhoff  im  J«  1837  jenen  Titel  gegeben  hat,  ist  le«- 
digiich  das  von  Reuterdahl  selbst  so  benannte  „Leben  des  Anega* 
rius",  welches  derselbe  seiner  erst  1838  erschienenen  Swenska  kyr^ 
kans  bistoria  wörtlich  einverleibt  bat. 

Der  Standpunkt  des  Verfassers  verräth  sich  schon  auf  den  er« 
sten  Seiten,  wo  er  von  dem  Namen  des  h.  Ansgars  spricht.  Er 
sucht  diesen  Namen  nicht  nur  in  einigen  bamburgischen  Ortebe^ 
Zeichnungen:  Schaartbor, Scbaarmarkl  und Schaarsteinweg  u.a.  bei 
denen  längst  nachgewiesen  ist,  dass  sie  ihren  Namen  dem  Ufer, 
Schaar,  engl  Shore*),  an  dem  sie  lagen,  oder  vielmehr  mittelbar 


*)  Dieses  selteae  Wort  kommt  Im  hamburg.  Schiffrechte  v.  J.  4S70 
Art.  si  in  der  Form:  dat  Scbor,  4 497  P.  35  in  derjenigen:  dat  Schar 
vor.  Angelsächstsch :  Score,  schwedisch:  Slcaer.  Es  bedeutet  ein  elngi^ 
•cbaluenee;  •iogerisMDM  Ufer,  also  aa«b  eessan  BucmeD,  wie  wir  es  den 


der  dort  Megeneii)  Im  J.  1372  neu  erbauten  Gapeie  der  h.  Marit 
thom  Sebare,  verdanken,  sondern  wiederholt  sogar  ganz  «rtislbefl^ 
dass  ein  holsteinisches  Dorf  Willescharen  (in  alten  Urkunden  Wilde- 
seare)  einst  Villa  Anscharii  geheissen  habe,  ohne  uns  freiKcb  den 
Beweis  au  liefern,  dass  die  holsteinischen  Bauern  einst  Istefoisoh 
gesprochen  hätten.  Ueber  die  Schreibart  des  Namens  selbst  sol- 
len wir  durch  die  Erklärung  des  Hrn.  Kl.  beruhigt  werden,  dass 
ihm  Ansgarius  die  richtigste  Form  scheint.  Der  Biograph  hatld 
diese  Ansicht  durch  die  Entwicklung  des  sehr  beaohtungswerthen 
Namens  begründen  sollen«  Die  erste  Sylbe  Ans  entspricht  be« 
kanntlich  dem  angel^chsischen  Os,  Gottheit  (gleichwie  Gans,  nord« 
gAs,  ags.  gos);  die  zweite  ist  das  g^r,  nord.  geir,  ags.  giM*,  Speefi 
Zu  den  vielen  von  Graff  im  aUhocbdeutscben  Sprachsch&tise  be^' 
reits  angefahrtem,  mit  Ans  zusammengesetzten  Namen,  sind  noch 
Osdag,  Osferth,  Osithe,  Oslac,  Osmod,  Osred,  Osulf,  Ansgard,  Ans» 
gis,  Anskytel,  Oslaf,  Ansrik,  Oswig  nebst  den  entsprechenden  For- 
men' hinsuzuTugen.  Den  Namen  Anscarius  finden  wir  auch  bei 
den  llarkgrsfen  von  ^Spoleto  und  denen  von  Ivrea*),  also  vor* 
muthlich  k»goberdiBohen  Ursprungs.  Bei  den  Angelsaehsen  mus^ 
diesem  Namen  mit  unabweislioher  Spraohriohtigkeit  entsprechen  Os^ 
g^,  weiches  auch,  obgleich  seilen  vorkommt  (Kemble  Cod.  dipl^ 
Angiosax.n,  4^.).  Wir  können  hier  die  Bemerkung  nicht  unterdrdcken, 
wie  ia  diesem  Namen  eine  Anklagegegen  Maopherson  auftritt,  welcher 
dem  in  ii&t  Schlacht  hei  Gahre  gefallenen  Sohne  Ossians  diesea 
Namen  feeihet.  In  den  ältesten  irischen  Nachrichten  über  diese 
Behlacht,  namentlich  bei  Tigemach,  kommt  jener  Name  nicht  vor. 
Wenn  er  aber  in  jöngern  gaiisohen  oder  irischen  Handschriften  vor^ 
kommt,  so  ist  nachzuforschen,  ob  er  nicht  als  der  eines  sächsi- 
schen öder  dänischen  Kriegers  erscheint,  deren  SpraOhstamme  er 
ooverkennbat  angehört.  Ein  wooderhcbes  Spiel  der  Geschichte  ist  es 
gewMs  zu  nennen,  dass  die  Liebhaberei  des  vermekilen  neuett 
Carokis  Magnus  zu  Paris  für  den  Pseudopoeten  dem  Monarchen 
den  bedeutsamen  germanischen  Namen  verliehen»  welchen  die  Von- 
aehung  berufen  hat»  dasselbe  Land,  welchem  ^w  h.  Ansgar  zuerst 
die  Se^ungen  des  Christenlhui^  aus  der  carolingischen  Pflanz^ 
Stadt  brachte,  zu  einer  neuen  Höhe  altgemeiner  BHdung  und  ge«- 
metnsamer  Reohtsgleiohheit  zu  erheben. 

Die  Erzählung  beginnt  mit  der  vom  Verf.  als  „sichere  Uebeh- 

lieferung**  bezeiehnelett  Angabe  des  Geburtstages  Ansgars,  nämlich 

i-  -  ■ 

KU  Hambarg  von  d«m  eigentlichen  filnoenbafen  gebraucht  finden.  Ton 
Schar  sind  noch  abgeleitet  die  Ortsnamen:  Schar*hörn-deich-relhe  u.  a. 

*)  Bin  SebdiacoBfis  AaseaHud  kommt  S59  zu  Langres  Vor.  PerizLegg. 
7.  1.  404.  lo  der  Mortaandle  ffadeC  steh  im  eflften  Jahrhuaderi  die  Forai 
Anschanis  (GoliecUon  des  Gartulaires  de  France,  T.  lU.  pag.  437,439.  469.) 


SM       Lebembeiekrmlmng  de$  ErMichofM  Am§ar. 

dei  8.  Stplember.  Diese  UeberliefeniDg  beruht  jedoch  nur  auf 
eioer  YeriDUtboDg  Langebecks,  welcbdon  es  entgangen  war,  dass 
Geburtstage  ans  jenen  Zeiten  seilen  bekannt  sind  und,  wie  es  scheint» 
Ton  der  Kirche  nie  feierlich  begangen  wurden.  Der  fragliche  Tag  ist, 
wie  Reuterdahl  nach  dem  ausdrücklichen  Zeugnisse  des  Liber  da* 
tious  EU  Lund  bereits  bemerkt  hat,  derjenige  derEIcTation,  womit 
auch  die  Notiz  in  der  alten  Abdinghofer  HS.  der  Vita  S.  Willehadi, 
Anskarit  et  Rimberti  (Codex  Vicelinl)  bei  Pertz  llonum.T.IL  pag. 
379  wirklich  übereinstimmt. 

Dem  Erzbischofe  von  Göln,  welchen  das  Chronicon  Corbeiense 
Hildebald  nennt,  giebt  der  Verf.  ohne  Bedenken  den  richtigen 
Namen  Hadebald.  Zur  Entschuldigung  dieses  Fehlers  desChron. 
Corbelen,  wird  auf  denselben  Fehler  in  Waldo's  metrischer  Vlla 
8«  Anskarii*)  hingewiesen.  Doch  gerade  diese  Hinweisung  fuhrt 
zu  der  Bemerkung,  dass  jene  Chronik  hier  mit  Waldo  auch  in  den 
Worten  übereinstimmt:  navis  . .  Rex  elegit  ipsa  vehi. 

Eine  erheblichere  Lücke  in  der  vorliegenden  kritischen  Arbeit 
müssen  wir  in  der  Darstellung  der  Gründung  des  Klosters  Rames- 
loh  bemerken.  Recensent  liat  schon  in  seinem  hamburgischen  Ur> 
kundenbuche  im  J.  1842  nachgewiesen,  dass  die  beiden  Urkunden, 
nämlich  des  Königs  Ludwig  des  Deutschen  v.  J.  842  und  des  Pap- 
stes Nicolaus  L  V.  J.  864,  welche  von  der  Stiftung  dieses  Klosters 
und  allein  von  der  durch  Rirobert  nicht  erwähnten  Flucht  Ansgars 
nach  Ramesloh  reden,  bedeutende  Stellen  aus  anderen  Urkaoden 
und  besonders  aus  Rimberts  Leben  des  Ansgar  enthalten.  Diese 
Uebereinstimmung  ist  so  gross,  dass  auch  Hr.  Kl.  sich  veranlasst 
sah,  in  seiner  Abhandlung  über  das  Chronicon  Corbeiense  1843 
S.  77  folgd.  dieselbe,  rücksicbtlich  der  päpstlichen  Bulle,  als  ihm 
„erst  neulich  aufgestossen'*,  ohne  jedoch  dabei  das  ähnliche  Ver^ 
hältniss  der  gedachten  kaiserlichen  Urkunde  zu  berücksichtigen, 
hervorzuheben,  ohne  auch  der  von  mir  gemachten  Bemerkung  zu 
gedenken.  Hehrere  dieser  bei  Rimbert  und  in  beiden  gedachten 
Urkunden  wörtlich  gleichlautenden  Sätze  handeln  jedoch  von  ganz 
verschiedenen  Gegenständen.  Es  finden  sich  z.  B.  mehrere  auf 
einander  folgende  Sätze  —  beinahe  acht  Zeilen  eines  Quartoban* 
des  von  den  Verhandlungen  zu  Worms  (857)  mit  dem  Cölner  Erz- 
bischof Günther  über  die  Vereinigung  der  Hamburger  und  Bremer 
Kirchen,  beinahe  wörtlich  ebenso  in  jenen  beiden  Urkunden  über 
die  Verbandlungen  mit  dem  Verdener  Bischof  Waldgar  zu  Worms 
842  über  die  Abtretung  von  Ramesloh  an  Ansgars  Diöcese»    An- 


*)  Diese  Namensform  anstatt  der  üblichen  Gaaldo  habe  ich  gesucht 
za  rechtfertigen  in  der  Zeitschrift  des  Vereins  lUr  Hamburg.  Geschieht«, 
Bd.  II.  S.  349, 


Lebensbeschreibung  des  Eri&bischofs  Ansgar.        541 

dere  grosse  Stellen  beider  Urkunden  stimmen  wieder  wörtlich  mit 
anderen  älteren  päpstlichen  Urkunden  verschiedenen  Inhalts.  Es 
würde  einen  Blödsinnigen  verrathen^  wollte  man  leugnen,  dass 
entweder  Rimbert  und  die  Urkunden  von  einander  abhängig,  oder 
beide  einer  gemeinschaftlichen  dritten  Quelle  entlehnt  sind.  Da 
nun  Hr.  K.  die  Unabhängigkeit  beider  Quellen  von  einander  be- 
hauptet, so  hätte  seine  conservative  Kritik  sich  damit  zu  beschäf- 
tigen gehabt,  eine  solche  gemeinschaftliche  Quelle  nachzuweisen, 
um  so  mehr  da  ihm  mein  hamburgisches  Urkundeubuch  wohl  be- 
kannt war,  aus  welchem  er  alle  auf  Ansgar  bezüglichen  Urkunden  als 
Anhang  zu  seiner  Schrift  abzudrucken  beliebt  hat,  doch  hat  er  hier 
die  Anmerkungen,  welche  dem  ächten  Kritiker  den  Standpunkt  an- 
weisen sollen,  nicht  mit  abgedruckt  und  zu  berücksichtigen  über- 
all nicht  verstanden.  Er  würde  sonst  vielleicht  darauf  hingewie- 
sen haben,  dass  jenen  Urkunden,  so.  wie  den  Phrasen  der  Vita 
Anskarii  ein  Bericht  Ansgars  über  die  Niederlassung  zu  Ramesloh 
zum  Grunde  gelegen  haben  könne.  Doch  in  diesem  Falle,  wie  wollte 
man  es  erklären,  dass  Rimbert  in  der  Vita  von  der  Stiftung  zu  Ra- 
mesloh und  der  Schenkung  derlkia  nichts  erwähnt,  die  einzelnen 
Sätze  aus  den  Urkunden  aber  zum  Theil  bei  ganz  anderer  Veran- 
lassung in  seiner  Erzählung  verwendet,  Rimbert,  bei  welchem  wir 
ähnliche  Plagiate  nicht  kennen,  und  der  andrerseits,  als  Nachfolger 
Ansgars,  das  grösste  Interesse  hatte,  das  Andenken  an  die  Stif- 
tung der  hamburgischen  Klöster  in  der  Verdener  Diöcese  aus  den 
ihm  vorliegenden  Urkunden  zu  erhalten.  Rimbert  giebl  dagegen 
eine  Nachricht,  welche  sich  schwer  mit  Ansprüchen  Ansgars  auf  Ra- 
mesloh vereinigen  lässt,  dass  nämlich  der  Bischof  von  Verden  Wald- 
gar so  weit  davon  entfernt  war,  jenem  einen  Theil  seiner  Diöcese 
abzutreten,  dass  er  sich  vielmehr  aueh  Hamburg  hätte  zusprechen 
lassen,  was  er  jedoch  später  zurückerstatten  musste.  Es  ist  also 
wahrscheinlicher,  dass  die  Urkunden,  von  denen  die  König  Ludwigs 
des  Deutst^hen  ein  falsches  Regierungsjahr  bringt  und  Stellen  aus 
einer  alten  päpstlichen,  so  wie  aus  einer  andern  kaiserlichen  Ur- 
kunde enthält,  und  die  des  Papstes  Nicolaus  ähnliche  Kriterien  der 
Unächtheit*)  besitzt,  beide  bald  nach  der  Zeit  Rimberts  abgefasst 


*)  Unter  diesen  ist  besonders  noch  hervorzuheben,  dass  Rimbert 
Cap,  23  bei  der  Vereinigung  der  hamburgiscben  und  bremischen  Diöce- 
sen  sich  der  Worte  bedient:  „Qua  de  causa  postmodum  in  Uuormatia  ci vi- 
tale positis  duobus  regibus,  Hludowico  scilicet  et  Hloihario".  Diese  Worte 
werden  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichlceit  auf  eine  im  Jahre  857  stattge- 
lündene  Zusammenkunft  des  Königs  Ludwig  des  Deutschen  und  seines 
Brudersohnes,  des  Jüngern  Lothar,  seit  855  Septbr.  Königs  von  Bipuarien 
oder  Lotbringen,  bezogen,  wenngleich  die  bekannte  Zusammenkunft  beider 
Könige  im  Februar  857  zu  Goblenz  staltfand  und  Hlothar  zu  der  Zelt,  wo 
Ludwig  den  Hoftag  zu    Worms   hielt,    nach    St.  Quintin  gegangen    war 

AUg.  ZeitMkrift  t  GescUebto.  T.  1846.  37 


542        Lebensbeschreibung  des  Erzbischofs  Ansgar. 

und  von  etnem  scbwerfälligen  Stylisten  ans  jenen  Urkunden  and 
der  Vita  S»  Anskarii  zusammengesteill  sind.  Da  jedoch  das  Alter 
des  Klosters  zu  Ramcsloh  und  dessen  Verbaltniss  zum  Hamburger 
Erzbisthom  durch  viele  unverdachlige  Urkunden  seit  dem  Jahre 
937  wohl  begründet  erscheint,  so  möchte  die  hier  vorliegende  Ur- 
kundenfabrication  nur  beabsichtigt  haben,  fehlende  schriftliche  Be- 
weisurkunden für  die  im  Wesentlichen  unbestrittenen  Verhältnisse 
und  vielleicht  nur  eine  grössere  Ausdehnung  oder  Bestimmtheit 
der  Immunitäten  des  Klosters  Raroesloh  zu  begründen,  nämlich 
eine  buchstäblich  übereinstimmende  mit  denen  des  Klosters  Turholz, 
wie  sie  die  Urkunde  für  das  Erzbisthum  Hamburg  v.  J.  831  auf- 
zählt. Die  Ungeschicklichkeit,  mit  welcher  die  Vita  Anskarii  hiezu 
benutzt  ist,  möchte  kaum  ihres  Gleichen  in  der  Geschiebte  der 
Diplomatik  haben. 

Eines  argen  Mangels  an  Kritik  macht  sich  unser  kritischer  Be- 
arbeiter in  Wiederholung  mancher  Angaben  über  die  von  Ansgar 
gestifteten  Klöster  schuldig.  Von  Ramesloh  erzählt  er,  dass  Ans- 
gar dasselbe  —  auf  eigene  Kosten  — weiter  ausgebauet  und  dort 
ein  sorgfältig  gepflegtes  Seminar  errichtet  habe,  um  in  demsel- 
ben aufgekaufte  dänische  und  slavische  Knaben  für  die  nordische 
Mission  erziehen  zu  lassen.  Wenn  Hr.  K.  beides  als  möglich  oder 
wahrscheinlich  bezeichnet  hätte,  so  liesse  sich  dagegen  nichts 
einwenden,  als  eben  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  Kloster  Ra- 
mesloh erst  nach  Ansgars  und  Rimberts  Zeiten  seine  selbsisl'äa- 
dige  Begründung  erhalten  habe,  doch  für  kritische  Geschieh tsfor* 
schung  wollen  wir  uns  dergleichen  nicht  aufdringen  lassen.     Die 


Ganz  dieselben  Worte  finden  sich  wieder  in  der  püpsdichen  Urkonde  über 
Ramesloh  auf  die  desfalsige  Yerbandlung  mit  dem  Biscbofe  Waldgar  von 
Verden  angewandt,  doch  mit  dem  Zusätze:  „Presentibus  arcbiepiscopis 
Ebone  Remensi,  Hetli  Treverensi  et  Otgario  Hemensi.'^  ErzbiscboT  Ebo 
war  aber  ischon  im  Jabre  854  verstorben,  kann  also  auf  einer  Zusammen- 
kunft, weiche  nach  dem  September  855  gehalten  ist,  nicht  zugegen  ge- 
wesen sein.  Die  Urkunde  König  Ludwig  des  Deutschen  v.  J.  842  Juni  8. 
>  über  Bamesloh  drüci^t  sich  ähnlich  wie  diese  Bulle  aus,  doch  mit  einem 
verfänglichen  Zusätze:  „Postmodum  vero  Wormatiae  habito  generali  con- 
veniu  in  nostra  nostrique  fratris,  Hlotharii  sciiicet  regis,  presentia,  pre- 
sentibus  arcbiepiscopis  Ebone  Remensi  etc/'  Der  Verfasser  dieser  Urkunde  hat 
also  von  Ludwigs  Bruder,  dem  Kaiser  Lotbar  gesprochen.  Wir  wissen  aber, 
dass  diese  beiden  Brüder  im  Jabre  64S  sich  nicbt  gesehen  haben,  son- 
dern erst  im  August  des  folgenden  Jahres  zu  Verdun  zusammentrafen. 
Klippel  gedenkt  freilich  eines  vom  Kaiser  Lothar  und  Könige  Ludwig  844 
zu  Worms  gehaltenen  Reichsconventes ,  wobei  er  sich  auf  das  Ghrooicon 
Albericl  h.  a.  bezieht.  Doch  nicht  allein,  dass  dieser  bekannte  Compilator 
von  dem  Aufenthalte  Kaiser  Lothars  zu  Worms  im  Jahre  840  spricht,  so 
ist  überall  nicht  von  einer  Zusammenkunft  desselben  mit  König  Ludwig, 
sondern  lediglich  von  der  Wiedereinsetzung  des  Ebo  in  das  firzblsttram 
Rheims  wfihrend  der  Streitigkeiten  der  Brttder  die  Rede. 


Lebensbeschreibung  des  Erabischofs  Ansgar.        543 

Vita  Anskarii  erzählt  aber  Äeboliches  von  dem  Kloster  zu  Turholt. 
Durchaus  irrig  ist  aber  die  Angabe,  dass  Ausgar  zu  ßremen  einen 
Verein  von  zwölf  Geistlichen,  welche  wie  Domherrn  sich  kleide- 
ten, aber  ganz  als  Mönche  nach  der  Benedicliner- Regel  lebten, 
das  S.  Ansgaril  Kloster  gestiftet  habe.  Man  dürfte  sich  nicht  we- 
nig verwundern,  dass  Ansgar  einem  Kloster  seinen  eigenen  Na- 
men gegeben,  oder  dass,  wenn  er  demselben  den  eines  Schulz- 
patrones  verlieh,  dieser  dem  Kloster  später  sollte  genommen  und 
gegen  den  Ansgars  eingetauscht  sein.  Adam  von  Bremen,  dessen 
Worte  dafür  angeführt  werden,  sagt  uns,  dass  Ansgar,  wenn  nicht 
auf  Missionen  beschäftigt,  für  die  Klöster  seiner  Diöcese  Sorge  getra- 
gen habe.  Er  benennt  dieselben:  den  von  Hamburg  nach  Rames- 
loh  verlegten  Convent,  den  der  Domherrn  zu  Bremen  und  den  der 
Nonnen  zu  Bassum.  Dass  die  Domherrn  der  Bremer  Cathedrale 
strenge  und  sogar  mit  Mönchen  gemeinschaftlich  lebten,  bis  Erzbi- 
schof Unwan  die  canonische  Regel  feststellte,  ist  anderweitig  aus 
Adam  von  Bremen  bekannt.  Die  Stiftung  Ansgars  zu  Bremen  aber 
war  lediglich  das  von  Rimbert  und  Adam  von.  Bremen  vielfach 
erwähnte  Hospital.  Dass  diese  Stiftung  Ansgars  für  zwölf  Arme 
erst  im  Jahre  1187  durch  den  Erzbischof  Hartwig  II.  zu  einem 
Stifte  von  zwölf  Domherrn  erweitert  wurde,  besagt  die  in  unserm 
hamburgischen  Urkundenbuche  in  dem  Originallaute  abgedruckte 
erz bischöfliche  Stiftungsurkunde  unwiderleglich,  welche  dem  Hrn. 
K.  entgangen  zu  sein  scheint,  da  er  nur  eine  seitdem  bekannt  ge- 
machte deutsche  Uebersetzung  derselben  anführt. 

Zur  Würdigung  der  vorliegenden  Arbeit  in  geographischer 
Beziehung  mag  erwähnt  werden,  dass  S.  56  der  Handelsort  With- 
Jaud  an  der  Mündung  der  Mosel  genannt  wird;  ein  Ort  welchen 
die  Quellen  Withia  an  der  Mündung  der  Maas  nennen. 

Bei  den  vielen  augenscheinlichen  Mängeln  des  vorliegenden 
Werkes  könnte  das  Bestreben  unparteiischer  Würdigung  dennoch 
ein  erhebliches  Verdienst  in  demselben  vermuthen,  nämlich  die 
chronologische  Anordnung  des  Stoffes,  welche  da  in  Rimberts 
Biographie  keine  Jahreszahlen  angegeben  sind,  schon  häufig  der 
Gegenstand  gründlicher  Untersuchungen  geworden  ist*  Unser  Ver- 
fasser folgt  nun  darin  durchaus  dem  Chronicon  Corveiense,  was 
diejenigen  billigen  werden,  welche  demselben  einigen  Werth  bei- 
legen. Doch  werden  auch  diese  sich  vergeblich  darnach  umsehen, 
wie  die  grossen  Widersprüche  des  Zeitgenossen  Rimbert  mit  der 
apocryphischen  Chronik  beseitigt  sein  dürften.  Die  Nachricht  der 
letztem  über  das  Jahr  der  Zerstörung  Hamburgs  837  wird  nicht 
besser  begründet.  Es  wird  nicht  erklärt,  wie  Ansgars  Sendung 
nach  Schweden  durch  das  Ghron.  Corveiense  ins  Jahr  840  gesetzt 
werden  kann,  da  doch  Hr*  K.  S.  60  des  Bischofs  Gautbert  Abreise 

37  ♦ 


544        Lebensbeschreibung  des  Er%b%schofs  Ansgar. 

nach  Schweden  in  das  Jahr  834  setzt ,  nach  dessen  Rückkefar  aus 
Schweden  (s.  daselbst  z.  J.  837)  dieses  Land  beinahe  sieben  Jahre, 
wie  Rimbert  sehr  bestimmt  sagt  (Septem  fere  annis,  ein  Aasdrack, 
welchen  Hr.  Kl.  S.  74  für  schwankend  und  unbestimmt  ausgeben 
will),   ohne  geistlichen  Hirten  gewesen  war,  also  in  so  fern  die 
vorhergehenden  Jahreszahlen  richtig  sind,  bis  zu  dem  Jahre  844. 
Die  Angabe  des  Chron.  Corveiense  z.  J.  860,  dass  in  diesem  Jabre 
König  Ludwig   das   bremer  Bisthum   mit   der  hamburger  Diöcese 
vereinigt  und  dem  Ansgar  gegeben  habe,   während  die  ßuUe  des 
Papstes  Nicolaus  v.  J.  858  dieses  als  bereits  auf  den  Antrag  jenes 
Königes  geschehen  anführt,  wird  dadurch  erläutert,  dass  im  J,  860 
dieser  die  päpstliche  Bulle   bekannt  gemacht  habe.    Dass   die   an 
den  Erzbischof  Ansgar  gerichtete  Bulle  eines  solchen  Publications- 
patentes  bedurfte,  hätte  jedoch  wohl  eine  Nachweisung  verlangt. 
Die  zweite  Missionsreise  Ansgars  nach  Schweden  setzt  das  Chron. 
Corveiense  in  das  Jahr  861,    während  wir   aus  Rimbert  wissen, 
dass    Ansgar  jedenfalls   vor   des   dänischen   Königs,    des    älteren 
Horich  Tode,   also  vor   dem  Jahre  854    von    derselben    heimge- 
kehrt war;    auch  vor   dem   Tode   des  Gautbert  oder  Gosbrecht, 
Bischofs  von  Osnabrück,  welcher  vor  860  sich  ereignete  (s.  die 
Urkunde  bei  Moser  Geschichte  von  Osnabrück  Tb.  L).    Die  Irr- 
thämer  in  diesen  chronologischen  Daten,   welche  bisher  nur  theil- 
weise  von  unsern  verdienten  Kritikern  hervorgehoben  sind,  könn- 
ten allein  genügen  den  Unwerth  des  Chron.  Corv.  für  die  vorlie- 
gende Periode  darzulegen.   Man  wird  jedoch  noch  fragen,  wie  der 
Verfasser  desselben   zu  diesen  Angaben  gelangte?    Der  belesene 
Mann  hat  sie  entweder  aus  den  ihm  zu  Gebote  stehenden  Nach- 
richten combinirt,  oder  aus  alteren  Corveyer  Schriften  abgeschrie- 
ben.   Da  nun  letzlere  immer  noch  werthvoil  sein,  in  irgend  jetzt 
verlorenen  chronologischen  Notizen  bestehen  könnten,   so  schien 
die  Nachforschung   nach  denselben   unerlässlicb.    Diese   hat   sich 
über  Erwarten  belohnt.    Denn  es  findet  sich,  dass  alle  die  Jahres- 
zahlen des  Cbronicon  Corv.  über  das  Leben  Ansgars  mit  geringen 
gleich  anzuführenden  Zusätzen  und  Berichtigungen  aus  den  Mar- 
ginalzahlen  der  Claudii  Arrhenii  (Oernbjelm)  Breviarium  vitae 
Anscharii  et  excerpta  Chronologica  entnommen  sind,  welche  dieser 
seiner  Ausgabe  von  Rimberls  und  Waldos  Biographien  des  Ansgar, 
unter  dem  Titel:  S.  Anscharii  Vita  gemina.  Holmiae  1677.  4to,  bei- 
gefügt hat.    Die  Ausnahmen  finden  sich  a.  862  wo  das  Chron.  Corv. 
drei  Neu -Corveyer  Mönche  nach  Schweden  ziehen  lässt  und  865, 
dem  Todesjahre  Ansgars,    welches  Arrhenius,    der  seine  Geburt 
I  in  das  Jahr  805  setzt,  gegen  die  ältere  Ansicht  des  Baronius  und 

Lambek,  und  unbekannt  mit  der  Bulle  des  Papstes  Nicolaus  für 
den  Erzbischof   Rimbert  vom  Jahre  869,    ins  Jahr  869  verlegt 


Lebensbeschreibung  des  Erzbischofs  Ansgar,         545 

Letzterer  Umstand  widerlegt  den  Einwand ,    dass  Oernhjelm   das 
.  Chron.  Gorv.  bereits  gekannt  habe,  der  überall  stets  sorgfältig  seino 
Beweisstellen  anführt,   aber  keine  Corveyer  Quellen  kennt.    Ans 
Arrhenius  hat  nun  das  Chron.  Corveiense  entnommen  das  Jahr  827 
für  die  Absendung  des  Ansgar  und  des  Autbert  nach  Dänemark. 
Obgleich  von  diesem  Jahre  ausgehend,  hat  Oernhjelm  den  zweijäh- 
rigen Aufenthalt  jener  beiden  Missionare  in  Schweden  in  die  Jahre 
829  und  830  und  Autberts  Tod  in  Neu-Corvey  in  das  Jahr  831  ge. 
setzt;   das  Chron.  Corveiense  lässt  ihn  anscheinend  consequenter 
im  Jahr  830  zurückkehren.    831   ist  bei  Arrhenius  und  im  Chron. 
Corv.  das  Jahr  für  die  erste  Missionsreise  Ansgars  nach  Schweden. 
Ich  bemerke  hiebei,  dass  die  Nachricht  des  letzteren:  ,,4jislemarus 
jterum  ablegatus  est  ad  regem  Herialdum'^  von  dessen  früherer 
Sendung  nichts  bekannt  ist,    aus  dem  der  Rimbertischen  Erzäh- 
lung  entsprechenden    „interim''    des   Arrhenius    entstanden   sein 
dürfte.    Das  Jahr  834  nimmt  Arrhenius  consequent  35  Jahre  Tor 
dem  von  ihm  angenommenen  Todesjahre  des  Ansgar  869  an,  als  das 
der  Errichtung  des  Erzbisthums.    Eben  so  das  Chron.  Corv.  ob  es 
gleich    das  Todesjahr  865  angrebt   und  daher  die  Errichtung  des 
Erzbisthums  auf  831  zu  setzen  hätte  und  zu  834  nur  die  Ausfer- 
tigung einer  Dotationsurkunde,  welche  vorzüglich  schon  dem  Adam 
von  Bremen  nur  die  Schenkung  der  Zelle  zu  Turholt  zu  beabsich- 
tigen schien.   In  das  Jahr  835  wird  von  Arrhenius  und  dem  Chron. 
Corveiense  die  Sendung  des  Grafen  Gerold  an  den  Papst  Gregor  IV. 
gesetzt;   man  sieht  nicht,   warum  nicht  spätestens  834,   in  dessen 
Maimonate  jene  Urkunde  bestätigt  ist,  oder  früher  nach  der  beschlos« 
senen  Errichtung.    Für  die  von  Rimbert  gedachte  Zerstörung  Ham- 
burgs  hatte  Lambek,    unter  Benutzung   einer  Stelle  der  Annales 
Metenses  (Ruodolfi  Fuldensis),    das  Jahr  845  angewiesen.    Oern- 
hjelm, ohne  seine  Gründe  anzugeben,  erklärt  zum  Jahr  836:  Hoc 
etiam  anno,  ut  videtur,  vel  circiter,  piratae  Hamburgum  exurunt. 
Freilich  erklärt  er  sich  in^seiner  1689  gedruckten  Historia  Suevo- 
rum  ecclesiastica  für  das  Jahr  840,  doch  das  Cbronicon  Corveiense, 
das  „circiter^'  benutzend,  entnimmt  aus  jener  Aeusserung  das  Jahr 
837,   um  für  die  seit  dem  Jahre  834  angefangenen  Kirchenbauten 
einige  Zeit  zu  gewinnen.    Zum  Jahr  840  erzählt  das  Chron.  Corv. 
dass  Ansgar  den  Ardgar  nach  Schweden  gesandt  habe.   Oernhjelm 
berichtet,   wie  Rimbert  erzähle,   dass  Schweden  nach   Gaulberts  % 
Vertreibung ,  welche  ungefähr  gleichzeitig  mit  der  Zerstörung  Ham- 
burgs  sich   ereignete,   sieben   Jahre   ohne  Priester  gewesen   und 
giebt  dazu  am  Rande  die  Zahlen  „An.  837  et  seqq.  sex**.    Gleich 
darauf  folgt  auf  dem  nächsten  Blatte  die  Marginalzahl  ann.  840  zu 
den  Worten:  „Dum  decurrunt  Septem  illi  anni,  quibus  Siftciacaruit 
Presbyteris,   Anundus*  rex  Sueorum  pulsus  regno  exulabat  apud 


546        Lebetiibeschreibung  des  Enbischofs  Ansgar, 

Danos".  Daher  hat  also  das  Chron.  Corv.  diese  Jahrzafil  840  auf 
Ardgara  Mission,  für  welche  die  Marginalzahl  843  bei  OerDhjelm 
zurallig  fehlt,  angewendet.  Das  Jahr  842  findet  sich  nicht  bei  Oern- 
hjelm ,  doch  ist  es  in  Uebereinstimmung  mit  dessen  ErzähluDg  und 
der  Urkunde  über  die  dort  im  Chron.  Corv.  erwähnte  Stiftung  voo 
Ramesloh.  Die  auffallende  Jahreszahl  860  Tür  die  Vereinigong  der 
hamburger  und  bremer  Diöcese  ist  ans  Oemhjelms  Vita  gemina, 
welcher,  wie  man  aus  seiner  Historla  ecclesiastica  pag.  44  ersieht, 
die  desfaisige  Bulle  des  Papstes  Nicolaus  v.  J.  858  dem  Jahre  864 
zuschreibt.  Das  Jahr  861  für  die  zweite  Reise  Ansgars  nach  Schwe- 
den ist  eben  so  aus  Oernbjelm,  welcher  ihn  mit  Briefen  des  dä- 
nischen Königes  Erich  I.  (Horich  des  Aeltem)  dahin  reisen  lässt^ 
ohne  zu  beachten ,  was  seitdem  namentlich  Langebek  in  Beziehung 
auf  diese  Reise  gethan  halte,  dass  derselbe  bereits  im  Jahre  854  ver- 
storben war. 

Wer  diese  Uebereinstimmung  der  augenscheinlich  irrigen  Jah- 
resangaben im  Chron.  Coi-v.  und  in  Oemhjelms  Vita  gemioa  in 
ihrem  Zusammenhange  sieht  und  würdigen  kann,  wird  nicht  ver- 
kennen wollen,  dass  jenes  durch  diese  irre  geführt  ist.  Diese 
Thatsache  ist  für  die  Autorschaft  des  Chronicon  Corveiense.  von 
nicht  geringer  Bedeutung,  da  aus  ihr  folgt,  dass  es  neuer  als  das 
Jahr  1677  und  ein  absichtlicher  Betrug  sein  muss,  nicht  etwa  die 
harmlose  Compilation  eines  Corveyer  Geistlichen  aus  dem  zwölften 
oder  dem  nächstfolgenden  Jahrhunderte.  Der  chronologische 
Aufsalz  des  Oernhjelm  ist  1706  von  J.  A.  Fabricius  in  seiner 
Ausgabe  desP.Lambecii Origines Hamburgenses  p. 2dsq. abgedruckt 
Aus  den  Angaben  des  letzleren  kann  der  Verfasser  des  Chronici 
Corveiensis  das  richtige  Todesjahr  des  Ansgar  865  entnommen 
haben.  Herr  Klippel  Th.  I.  S.  130.  141.  führt  den  Arrhenius  selbst 
an,  namentlich  zur  Bestätigung  der  Jahreszahl  861  für  die  zweite 
Missionsreise  nach  Schweden;  die  genaue  Üebereinstimmuog  und 
den  engen  Zusammenhang  desselben  wit  dem  Chronicon  Corvei* 
ense  haben  er  und  andere  bisher  nicht  erwogen. 

Wir  wollen  es  uns  nicht  versagen  diesen  Anlass  zu  benutzeo, 
unsere  eigene  Ansicht  über  die  so  viel  verhandelte  Chronologie 
der  Lebensjahre  Ansgars  zu  geben,  da  wir  mit  der  besten  der- 
selben ,  der  von  Langebek  in  seinen  Rerum  Danicaruiit  Scriptores 
T.  L  dargelegten  nicht  ganz  übereinstimmen  und  leider  auch  Dabi- 
mann in  seiner  Ausgabe  der  Rimberlischen  Vita  S.  Anskani  durch 
das  Chronicon  Corveiense  irre  geleitet  war,  und  ob  er  gleich  seit- 
dem in  der  Geschichte  Dänemarks  sein  Votum  gegen  dasselbe  abgab, 
dort  zur  Prüfung  und  näheren  Bestimmung  der  Chronologie  Lange- 
beks  sich^icht  v.eranlasst  finden  konnte. 

Geburts*  und  Todesjahr  Ansgars  801  ui>d  865  Febr.  2  stehen 


Lebensbeschreibung  des  ErMschofs  Ansgar,         547 

aus  Rimberts  Angabe ,  so  wie  aus  den  Fastis  corbeiensibus,  dem 
liber  fralrum  mortuorum  Fuldensium  u.  a.  fest.  Die  Geschichte  der 
nordischen  Mission  beginnt  mit  der  von  Ebo,  Erzbischof  von  Rheims, 
im  Jahre  822  oder  823  begonnenen;  über  eine  nach  letzterem 
Jahre  von  ihm  unternommene  fehlt  der  Beweis.  Für  jene  sind  die 
Annales  Xantenses  ad  an.  823  nicht  zu  übersehen,  welche  melden 
dass  Willerich,  der  bremische  Bischof,  den  Ebo  begleitet  habe. 
Zu  den  Wahrscheinlichkeitsgrönden  für  eine  spätere  Reise  könnte 
die  dem.  Ebo  vom  Papste  Bugenius  ertheilte  Bulle  angeführt  wer- 
den. Wir  müssen  Rimbert,  dem  Freunde  und  Nachfolger  Ansgars 
glauben,  dass  das  Erzbislhum  Hamburg  volle  33  Jahre  vor  dessen 
im  October  des  Jahres  864  erfolgten  letzten  Erkrankung  gegründet 
ist,  also  gegen  oder  im  Jahre  831.  Adam  von  Bremen  bezeichnet 
ausdrücklich  das  Jahr  832  (Cod.  Vindob.)  und  das  18te  Regierungs- 
jahr Kaiser  Ludwig  des  Frommen,  welches  am  27.  Januar  832  en- 
digte, sowie  das  43ste  Jahr  des  Bischofes  Willerich  von  Bremen, 
weiches  am  9.  November  831  begann.  Die  Errichtung  des  Erzbis- 
thumes  Hamburg  fällt  also  auf  Weihnachten  831  nach  unserer 
Zählung,  oder  832,  wenn  man  nach  alter  Weise  das  Jahr  mit 
Weihnachten  beginnt.  Doch  trete  ich  der  Bemerkung  des  treff- 
liehen  Langebek  bei,  dass  vor  der  eben  gedachten  Reichsversamm« 
lung  (conventus  imperii,  welche  er  jedoch  willkürlich  und  ungenau 
schon  in  den  Juni  831  setzt^  die  von  Rimbert  Cap.  12  gleichfalls 
erwähnte  Versammlung  der  deutschen  Bischöfe  (Synodus)  stattge* 
funden,  wo  die  Errichtung  des  Erzbisthums  Hamburg  beschlossen 
ward.  Der  Anfang  des  Bisthums  lasst  sich  also  vom  Jahre  831, 
so  wie  vom  Anfange  des  Jal^res  832  datiren.  Die  erste  Missionsreise 
Ansgars  nach  Dänemark  war  die  Folge  der  im  Juni  des  Jahres  826 
vollzogenen  Taufe  des  Königs  Harald.  Noch  in  demselben  Jahre 
(nicht  erst  827)  begleitete  er  den  König  durch  Friesland  in  seine 
Heimath,  dessen  Rückkehr  die  Annales  Einhardi  a.  826  bestimmt 
feststellen.  Ich  bemerke  hier,  dass  unter  dem  Bischöfe  Rinfrid, 
welcher  im  Chron.  Corvefense  a.  830  angeführt  ist,  den  Schaumann 
für  einen  unerhörten  Bischof  von  Dorstadt,  Klippel  aber  nicht 
näher  zu  bezeichnen  weiss,  der  siebente  Bischof  von  Utrecht 
zu  verstehen  ist,  welchen  Johannes  de  Beka  u.  a.  in  die 
Jahre  815  —  36  setzen.  So  hat  Klippel  nicht  einmal  verstanden 
diesen  nicht  ungeschickten  Einfall  des  Chronicon  Corv.  zu  benutzen. 
Sein  Begleiter  Aulbert  kehrte  nach  zweijährigem  Aufenthalte  in 
Dänemark  zurück  und  starb  in  Neu-Corvey  Ostern  829.  Ansgar 
ward  wegen  der  unterdessen  aus  Schweden  eingetroffenen  Ge- 
sandten —  vermuthlich  einer  der  legationes  de  aliis  longinquis 
terris,  welche  im  August  829  zum  Hoftage  nach  Worms  kamen,  deren 
die  letzten  Zeilen  der  Annales  Einhardi  gedenken,  —  zum  Kaiser 


548         Lebensbeschreibung  des  Er^bischofs  Ansgar, 

berufen  und  mit  der  Mission  nach  diesem  Lande  beauftragl.    Ein 
und  ein  halbes  Jahr  verweilte  hier  Ansgar  (Rimbert  c.  12),  kehrte 
also  im  Jahr  831  heim:  zu  Ende  dieses  Jahres  war  er  beim  Kaiser 
Ludwig  zu  Aachen,  welcher  kurz  vorher  zu  Thionville  den  Frieden 
mit  den  Dänen  bekräftigend ,  ihn  zum  Erzbischof  von  Hamburg  er- 
nannte.    Gautbert  (Gosbrechl),  der  Neffe  des  damals  noch  einfluss- 
reichen  Ebo,   Erzbischofes  von  Rheims,   ward  nach  Schweden  ge- 
sandt,  vermuthlich   im  Jahr  835,    wo   man   ihn    im  Februar  am 
Reichslage  zu  Diedenhoven  zu  finden  glaubt  (Eckhart  Bist.  Franc. 
Oriental.  T.  II.  pag.  2b2.).    Die  Zerstörung  Hamburgs,  von  welcher 
Rimbert  spricht    und   welche   Adam  von  Bremen    ins   letzte  Jahr 
Kaiser  Ludwig  des  Frommen  (f  840  Juni  20)  setzt,   «wird  diesem 
Jahre   angehören.    Eine   Steile   des  Nithard  Histor.    J.  IV.  c.  -3  ist 
irrig  auf  eine  Zerstörung   Hamburgs   durch   die  Nordmannen  im 
J.  842  (oder  wie  bei  Klippel  845)  gedeutet  worden.     Die  dort  ge- 
nannten   Orte,   zu  denen    die   Normannen   an   der   französischen 
Küste  hinüberselzten,    Hamwig  und  Nordhunwig,  sind  nicht  Ham- 
burg und  Norden,  sondern  wie  ich  bereits  an  anderm  Orte  nach- 
gewiesen habe,    Soulhampton   (vergl.   Vita  WillibaJdi  in  Actis  St 
Ord.  Benedict.  Saec.  III."  pars  2.  p.  371)  und  Norwich.    Von  dem 
irrig   angegebenen    Jahre   837    ist   schon   oben   gesprochen:   845 
sprechen  die   Annales  Ruodolfi  Fuld.  nur  von  einer  nicht  unbc- 
slraflen  Plünderung  des  Cabtelles  Hamburg. 

Ob  nun  die  Herstellung  des  Erzbisthums  Hamburg  durch  die 
mit  Verden  getroffene  Regulirung  bereits  im  Jahre  848  geschehen, 
wie  Wedekmd  annahm,  möchte  ich  nicht  entscheiden;  wahrschein- 
licher ist  es  mir,   da  Rimbert  sagt,   dass  die  Abtretung  der  Stadt 
Hamburg  an  die  Verdener  Diöcese  einige  Zeil  bestanden  habe,  dass 
die  Ruckgabe  nicht  lange  vor   der  Bulle  des  Papstes  Nicolaus  vom 
Jahre  858  zu  Stande  kam  und  also  die  Herstellung  des  mit  Bremen 
vereinten   Erzbisthums   Hamburg    als    eine    mittelbare   Folge   der 
zweiten  Schwedischen  Missionsreise  anzusehen  sein  dürfte.    Diese 
zweite  Reise  Ansgars  nach  Schweden  müss  in  die  Jahre  848-50 
fallen.    Nachdem  Gaulbert  zur  Zeit  der  Zerstörung  Hamburgs  aus 
Schweden  vertrieben  und  dieses  Land  beinahe  sieben  Jahre  ohne 
Geistlichen  geblieben  war,   ward  etwa  846  Ardgar  dahin  gesandt. 
Ansgar  war  im  October  847  auf  dem  Reichstage  zu  Mainz.    Er  er- 
hieU   m  diesem  Jahre  das  seit  Bischof  Leuderichs  Tod  erneuerte 
Bisthum  Bremen*),    wie  Adam  von  Bremen   berichtet,    16  Jahre 

Th    r*^  Q '"l'^'  Leuderich  war,  wie  Ich  schon  im  hamburger  ürkundenbuch 
R«aii„n;.   H  "'f  l^''*'''®"'    '""  ^-  ^*^  ^"8«  2*.  verstorben,  im  sechsten 

ter8rirri7"'''^''w!,'''"^'^*^^'^  ^^-  ^-  "«^^  ''^  Tode  seines  Va; 
ters),    mcht  847,    wie  Wedekind   und   |ch   selbst,    durch   des  Adam  von 


Lebembeschreibung  des  Erzbischofs  Ansgar,         549 

nachdem  er  Hamburg  erhalten  und  18  Jahre  vor  seinem  Tode. 
Seiner  Einführung  zu  Bremen  im  neunten  Jahre  König  Ludwig 
des  Deutschen ,  d.  h.  im  neunten  nach  dem  Tode  Ludwig  des 
Frommen  —  denn  so  zählt  Adam  von  Bremen  —  also  nach  84S 
Juni  20,  —  wird  von  demselben  ausdrücklich  gedacht. 

Nachdem  Ansgar  das  Bisthum  Bremen  erhalten  hatte,  besuchte 
er  wiederholt  den  König  Horich,  auch  mit  Aufträgen  des  Königs 
Ludwig,  welcher  845  zu  Paderborn  und  848  zu  Anfang  October 
zu  Mainz  Gesandtschaften  der  Nordmannen  und  Slaven  empfangen 
und  die  gegenseitigen  Verhältnisse  geordnet  hatte.  Horich  war  da- 
mals alleiniger  Herr  der  Dänen  (Rimbert  c.  24),  also  vor  dem  Jahre 
850,  in  welchem  er  gezwungen  wurde,  das  Reich  mit  seinen  bei- 
den Neffen  zu  theilen  (Prudent.  Trecens.  a.  850).  Da  Ansgar  aber 
dem  Erzbischofe  von  Rheims,  \yelcher  im  Jahre  851  März  20  (s. 
Eck  hart  Hist.  Franc.  Orient.  T.  H.  p.  386)  starb,  noch  von  den  auf 
dieser  Missionsreise  erduldeten  Leiden  Bericht  erstaltete  (Rimbert 
c.  34),  so  lässt  sich  die  Zeit  derselben  genau  bestimmen.  Vermuth- 
lich  also  849.  Vor  dieses  Königs  in  der  Schlacht  im  Jahre  854  er- 
folgtem Tode  trat  Ansgar  seine  zweite  Missionsreise  nach  Schwe- 
den  an.  Bei  seiner  Heimkehr  liess  er  dort  den  Erimbert,  welcher 
zur  Zeit  des  Todes  des  Dänenkönigs  Horich  des  Aeltern  in  Schwe- 
den war.  Jenem  folgte  in  dieser  Mission  Ansfrid,  welcher  nach 
etwas  langer  als  drei  Jahren,  den  Tod  des  Bischof  Gauzbert  von 
Osnabrück*)  vernehmend,  heimkehrte  und  zu  Hamburg  verstarb. 
Da  jener  Gauzbert  bereits  im  J.  860  einen  Nachfolger  im  Bischof 
Egibert  halte,  so  fällt  Ansfrids  Tod  in  die  Jahre  858-59. 

Um  die  zweite  Reise  Ansgars  nach  Schweden  dem  Chronicon 
Gorveiense  entsprechend  in  ein  späteres  Jahr  zu  verlegen,  haben 
Wedekind  und  demnächst  Schaumann  behauptet,  dass  in  Rimberts 
Vita  S.  Anskarii  die  Capitel  31—32  unmittelbar  auf  Cap.  24,  sowie 
Gap.  33  auf  Gap.  30  folgen  müssen.  Dass  Waldo  und  Adam  von 
Bremen  ihre  Uebertragungen  aus  Rimbert  in  derselben  Reihefolgo 
geben,  wird  bei  dieser  Behauptung  nicht  berücksichtigt,  obgleich 
Klippel  sehr  häufig  auf  den  Versificalor  Waldo,  welcher  nichts 
Neues  über  Ansgar  beibringt,  Bezug  nimmt.  Der  einzige  Grund, 
welchen  Wedekind  dafür  einst  vorgebracht  hat  in  einer  von  Klippe- 


Bremen  verworrene  und  zuweilen  falsche  Zählen  irre  geleitet,  angenoms 
men.  Seines  Vorgängers  Wilierik  Tod  wird  mit  den  Inoaies  Gorbeiense- 
in  das  Jahr  838  Mai  4.  zu  setzen  sein,  was  der  Angabe  über  seine  50l 
jöhrige  Regierung  —  seit  789  Nov.  9.  nahe  genug  kommt. 

*)  Gautbert,  Gosbert  erscheint  unter  den  sSchsIscben  Bischöfen  im  J, 
854  auf  dem  Reichstage  zu  Mainz,  wo  aber  Ansgar  fehlt  (Pertz  Leg.  P.  I). 
853  wird  er  als  alt  und  schwach  geschildert  (Urkunde  bei  Moser  Os- 
nabrück. Geschichte  Th.  I). 


550        Lebensbeschreibung  des  ErAbischofs  Ansgar. 

Th.  I.   S.  6  angerührten,  sehr   emphatischen  Erklärung  über    die 
Aechtheit  des  Chronicon  Corveiense,  besteht  darin:  „Dass  schon  das 
,,Cap.  2B  (rectius  25)   ausdrücklich    des  neuen   Verhältnisses    mit 
,,Horicb  dem  Sohn  erwähne  (Rex,  sicuti  et  pater  eius  fecerat), 
^»mithin  dieses  Gapitel  nothwendig  dem  Cap.  32  nachstehen  muss.*' 
Da  der  ältere  Ilorich  im  J.  854  erschlagen  war,  so  muss  also  jene 
Reise  später  erfolgt  sein.    Gewiss  scheint  dieser  Beweis  sehr  bän- 
dig.    Doch  wird  es  gewiss   manchem  unserer  Leser   schwer  zu 
glauben,  dass  Wedekind,  nach  allen  seinen  Bemühungen  um  jene 
Chronik  und  um  die  Geschichte  der  vorliegenden  Zeit,  in  den  ar- 
gen Irrthum  hat  fallen  können,  auf  die  Könige  von  Dänemark  zu 
beziehen,  was  Rimbert  vom  König  Ludwig  dem  Deutschen   und 
dessen  Vater  Kaiser  Ludwig  dem  Frommen  berichtet  hat.     Herrn 
Klippel  scheint  Wedekinds  Irrthum  nicht  entgangen  zu  sein^  vi^e* 
Digstens  wiederholt  er  ihn  nicht;  wohl  aber  eignet  er  die  ganze, 
wesentlich  darauf  begründete  Umstellung  der  Vita  Anskarii  sich  an^ 
ohne  Wedekind  die  Ehre  oder  Schuld  davon  zu  geben. 

Hr.  Klippel  hat  eine,  uns  wenigstens  neue  Erläuterung  zu  Ans- 
gars  Leben  gegeben,  indem  er  den  Reginar,  welchem  König  Karl 
der  Kahle  die  von  dem  Erzbischofe  schmerzlich  entbehrte  Zelle 
Turholt  ertheilt,  mit  dem  derzeitigen^  so  benannten  Bischof  von 
Amiens  identificirt.  Es  lasst  sich  für  diese  Erklärung  anführen, 
dass  jener  Reginar  als  „den  Mönchen  zu  Corbie,  deren  Abtei  im 
Bisthum  Amiens  lag,  wohlbekannt''  von  Rimbert  tadelnd  bezeichnet 
wird.  Doch  vertragt  sich  mit  dieser  Annahme  schwerlich  der  ver- 
werfende Ton,  in  welchem  von  diesem  Reginar,  ohne  Bezeichnung 
desselben  als  Bischof,  von  Rimbert  gesprochen  wird,  noch  weni- 
ger der  von  demselben  erzählte  Traum  Ansgars,  in  welchem  Re- 
ginar diesen  mishandelte.  Ein  solcher  Bischof  würde  vielleicht  ' 
noch  mehr  und  in  ernsterer  Weise  getadelt  sein. 

Ich  möchte  daher  diesen  Reginar  lieber  in  einem  der  Laien 
suchen,  an  welche,  wie  Prudentius  von  Tröyes  z.  J.  859  berichtet, 
Karl  der  Kahle  Klöster  übertrug,  was  bei  dieser  kleinen  Zelle  eines 
Bischofs  der  ihm  abgeneigten  Sachsen  in  einer  den  Ueberfällen 
der  Nordmannen  häufig  ausgesetzten,  des  Schutzes  kräftiger  Hand 
bedürftigen  Gegend  sogar  rathlich  erscheinen  konnte.  Die  Graf- 
schaften des  Reginar  im  nördlichen  Frankreich  aber  werden  in  ei- 
nem Capitular  v.  J.  853  (Pertz  Legum  T.L  p.  426)  angeführt,  viel- 
leicht desselben  Grafen,  welcher  im  J.  876  in  der  Schlacht  bei  An- 
dernach (Hincmar  Rhemensis  h.  a.)  gefallen  ist. 

Bei  Erwähnung  der  literarischen  Arbeiten  Ansgars  wird  auch  des 
demselben  zugeschriebenen  &.  g.  Diarii  über  seine  Missionsreisc  ge- 
dacht und  die  Richtigkeil  der  desfalsigen  Nachricht,  wie  schon  von 
anderen  geschehen,  bezweifelt.    Es  sei  dieselbe  „so  unbestimmt  und 


Lebensbeschreibung  des  Erzbischofs  Ansgar.        551 

aflgemeiD)  dass  darauf  gar  nicht  zu  bauen  ist'%  sagt  Hr.  Kl.,  ohne 
jedoch  die  Quelle  zu  benennen.  Diese  lautet  nun  aber  bestimmt 
und  speciell  genug:  Anno  1215  donavit  nobis  Balthasar  Rummer  S. 
Ansgarii  Manuale  in  quo  sancti^ins  labores  in  septentrione  iuxta 
annos  et  dies  studiose  notati  sunt  breviler:  Tymo  postea  id  Romam 
misisse  dicitur.  Wenn  wir  aber  hinzufügen,  dass  die  verschwie- 
gene Quelle  die  Annales  Corbeienses  in  Leibnitz  SS.  rer.  ßrunswic» 
P.  n.  pag.  310 .  .  sind,  so  wird  man  begreifen,  weshalb  der  Advo« 
cat  des  Chronicon  Corveiense  nicht  an  dergleichen  Corveyer  Quel- 
len erinnern  mag. 

Hr.  Kl.  giebt  denn  auch  die  Nachricht  über  die  von  dem  Uo* 
terzeichneten  geschehene  WiederaufGndung  der  Pigmenta  Anskarii 
in  einem  alten,  im  Besitze  des  Senator  Culeman  zu  Hannover  be- 
findlichen Druck*)  und  druckt  diese  Schrift  in  den  Beilagen  sei- 
nes Buches  ab.  Wir  müssen  annehmen,  dass  es  ihm  unbekannt 
war,  dass  ein  Abdruck  von  uns  längst  vorbereitet  war,  oder  dass 
er  diesen  nicht  berücksichtigen  wollte.  Auf  eine  Untersuchung 
über  die  Aechtheit  oder  Entstehung  hat  er  sich  nicht  eingelassen» 
Wie  aber  sein  Abdruck  ausgefallen  ist,  wie  er  den  alten  Druck  ge- 
lesen haben  mag,  ergiebt  eine  Vergleichung  mit  dem  Abdrucke  in 
der  Zeitschrift  des  Vereines  für  hamburgische  Geschichte  Th.  E, 
wornach  Herrn  Klippels  Text  auf  etwa  zwanzig  Seiten  über  hun- 
dert Stellen  enthält,  in  welchen  er  den  alten  Druck  falsch  gelesen 
oder  aufgelöset  hat.  Wir  geben  folgende  zur  Probe:  Ps.  6.  suspi- 
cis  statt  suscipis.  Ps.  7.  Scurator  für  Scrutator.  Ps.  11.  conscen- 
dere  für  condescendere.  Pd.  12  u.  34.  exaltatione  für  exultatione. 
Ps.  15.  ovibus  für  omnibus.  Ps.  30.  placitu  für  planctu.  Ps.  46. 
Deus  für  Omncs.  Ps.  53.  pectore  confidentes  für  protectione  con- 
fidentem.  Ps.  63.  vivuntur  für  nituntur.  Ps.  78.  veneretur  für  ve- 
nerunt  und  so  fort.  Nur  eines  sei  noch  hervorgehoben  aus  der 
OracioJeronyroi:  Deusunus  insubalternus..  tua  laus,  tua  gloria^ 
für  Deus  unus  in  substantia  (rinus,  tibi  laus,  tibi  gloria. 

Doch  genug  dieses  traurigen  Geschäftes.  Nur  mit  Widerwil 
len  haben  wir  uns  demselben  unterzogen.  Doch  scheint  es  uns 
wegen  des  grossen  Nachtheils,  welchen  das  Chronicon  Corbeiense 
gerade  den  gewissenhaftesten  Forschern  gebracht  hat,  des  Verlu 
stes  edler  Zeit  und  Kräfte,  welche  dessen  Enthüllung  verlangt  hat, 
durchaus  Pflicht,  die  fernen  Beweise  darzulegen,  wie  gross  derlrr- 
thum  war,  in  welchen  der  wackere  Wedekind  durch  dessen  Pu- 


*)  Einer  kUrzUch  vom  Herrn  Senator  Culeman  gewordenen  genilligen 
MiUhellung  zufolge  stammt  dieser  Druck  nebst  mebreren  anderen,  in  dem- 
selben Bande  be&ndlictien,  aus  den  Roslocker  Druckerpressen  der  BrüJer 
vom  gemeinsamen  Leben. 


552  Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 

bliciruDg  und  Vertheidigung  verfiel,  und  mit  welcher  Art  von  Kri- 
tik und  Gelehrsamkeit  der  Kampf  für  die  Aechtheit  desselben  fort< 
gesetzt  ist.  J.  M.  Lappenberg. 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine. 

Die    Numismatische    Gesellschaft    zu    Berlin. 

In  unsrer  Zeit,  in  welcher  sich  im  Interesse  der  Wissenschaft 
die  verschiedenartigsten  Vereine  gebildet  haben,  hielt  man  es  auch 
für  zweckdienlich,   zur  Belebung  des  Interesses  für  Forschungen 
auf  dem  Gesammtgebiete   der  Numismatik   Gesellschaften    zu   be- 
gründen.    In  England   und  Belgien  waren   zur  Verfolgung  dieser 
Zwecke  Vereine  von    tüchtigen  Männern  zusammengetreten    und 
hatten  in  dem  letzten  Decennium  durch  Herausgabe  in  jeder  Be* 
Ziehung  gediegener  numismatischer  Zeitschriften  Tüchtiges  geleistet. 
In  Frankreich  wurde  ebenfalls  eine  numismatische  Zeitschrift  ge« 
gründet,  welche  von  zwei  ausgezeichneten  Numismatikern  redigirt 
und  durch  Beiträge  der  grössten  Gelehrten  Frankreichs  bereichert, 
der  Mittelpunkt  numismatischer  Forschungen  für  Frankreich  wurde. 
Da  durfte  Deutschland  auch  nicht  zurückbleiben.    Zwei  numisma- 
tische Zeitungen  erblickten  das  Licht  der  Welt,    die  eine  in  Han- 
nover ,  welche  schon  nach  wenigen  Jahren  ihres  Bestehens  wieder 
einging,  die  andere  in  Thüringen,  welche  sich  in  ihrem  rein  vege> 
tativen  Zustande  wohl  noch  einige  Zeit  zu  erhalten  vermag.    In 
Berlin  endlich  wurde  von  Hrn.  B.  Köbne  im  J.  1841   die  Heraus- 
gabe einer  Zeitschrift  begonnen,  welche  Forschungen  auf  dem  Ge- 
biete  der   Münzkunde  und  Sphragistik   in   sich   vereinigen   sollte. 
Zugleich  veranlasste  Hr.  B.  Köhne  zu  Ende  des  J.  1843,   wie  wir 
annehmen  dürfen    aus  rein  wissenschafllichem  Interesse,   die  Bil- 
dung eines  numismatischen  Vereins  für  Berlin,  dessen  Zweck,  wie 
es  das  Statut  besagt,    gegenseitige  Belehrung  und  Unterhaltung  im 
Fache  der  Münzkunde  sein  sollte.    Dieser  so  abgefasste  Partigraph 
des  Statuts   begegnet  allerdings   so   manchem  Vorwurf,   welchen 
man  dem  Vereine  mit  Recht  machen  dürfte;   denn  da   es  nur  auf 
gelegentliche  Belehrung  und  Unterhaltung  abgesehen  zu  sein  scheint, 
nicht  aber  auf  ein  gemeinsames  thätiges  Forschen,   auf  ein  Vor« 
wärtsstreben  in  der  Wissenschaft  und  auf  Anregung  zur  eigenen 
Production,  so  beschränkte  sich  in  der.  letzten  Zeit,  gleich  als  ob 
auf  dem  grossen  Gebiete  der  Numismatik  der  Stoff  erschöpft  wäre 
oder  die  Mitglieder  ihre  Kräfte  in  dem  ersten  Jahre  des  Bestehens' 
des  Vereins  durch  ihre  Leistungen  erschöpft  hätten,  die  Thätigkeit 
der  Vereinsmitglieder  nur  auf  gelegentlich  hingeworfene  Mitthei- 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine,  653 

langen  oder  hatte,  wie  es  sich  in  der  neuesten  Zeit  bei  der  Mehr- 
zahl herausgestellt,  einem  gänzlichen  Indifferentismus  Platz  gemacht. 
Ein  trauriges  Bild  eines  numismatischen  Vereins  für  eine  Stadt  wie 
Berlin,  in  der  sich  so  tüchtige  Numismatiker,  so  bedeutende  öffent- 
liche und  Privatsammlungen  befinden,  eines  Vereins,  der  in  dem 
ersten  Jahre  seines  Bestehens  so  jugendlich  kräftig  blüht  und 
schon  im  zweiten  sein  müdes  Haupt  neigt. 

Wir  gestehen  allerdings,  dass  die  Erhaltung  eines  numisma- 
tischen Vereins,  soll  das  rein  wissenschaftliche  Element  in  dem- 
selben das  leitende  sein,  selbst  in  einer  grossen  Stadt  mit  Schwie- 
rigkeiten mannigfacher  Art  verknüpft  sein  mag.  Die  Numismatik 
war  ja  von  jeher  das  Feld,  auf  welchem  die  Laien  sich  gern  herum- 
tummelten, und  gewappnet  mit  dem  Metall  ihrer  Münzschränka 
eine  Lanze  mit  Rittern  der  Wissenschaft  zu  brechen  wagten.  Der 
blosse  Münzsammler  galt  früher  und  gilt  leider  heut  zu  Tage  bei 
der  grossen  Menge  häufig  für  einen  Münzkenner,  das  Anhäufen 
Averthvoller  Münzschätze,  welche  allerdings  für  die  Nachwelt  oft 
von  der  höchsten  Wichtigkeit  geworden  sind,  für  numismatische 
Gelehrsamkeit.  Jahrhunderte  lang  konnte  sich  die  Numismatik 
nicht  von  einer  dilettantischen  Behandlungsweise  trennen.  Die 
äusserliche  Anordnung  der  Münzen  nach  ihrer  Grösse,  ihrem  Me- 
talle, das  Zusammenstellen  der  römischen  Kaiser-Portraits  und  die 
Beziehungen,  in  welchen  die  Kaiser-,  Consular-  und  Familiamünzen 
zur  Geschichte  standen,  war  mit  geringen  Ausnahmen  die  einzige 
Richtung,  in  welcher  die  Numismatiker  jener  Zeit  ihre  Thätigkeit 
entfalteten.  Erst  in  der  Zeit  des  allgemeinen  Wiedererwachens 
der  Wissenschaften'^  wurde  die  Numismatik  allmählig  von  jenen  un- 
würdigen Fesseln  des  Dilettantismus  befreit  und  durch  Eckhel  und 
dessen  Schüler  endlich  derselben  in  der  Reihe  der  Wissenschaften 
die  ihr  gebührende  Stelle  angewiesen.  Dass  aber  gegenwärtig 
dennoch  eine  so  grosse  Anzahl  von  Dilettanten  dieses  Feld,  häufig 
zum  Nachtheil  der  Wissenschaft,  zu  cultiviren  pfiegt,  liegt  nicht 
in  dem  gegenwartigen  Standpunkte  der  Numismatik,  sondern  viel- 
mehr in  der  allgemeinen  Liebhaberei  unserer  Zeit  für  die  Denk- 
male früherer  Perioden,  in  der  Leichtigkeit,  sich  den  Besitz  der- 
selben für  sein  Geld  zu  verschaffen,  mitunter  auch  in  dem  gelehr- 
ten Anstrich,  welchen  die  Beschäftigung  mit  den  Monumenten  der 
-Vm*zeit  dem  Laien  verleiht.  Die  genauere  Kenntniss  der  antiken 
Münzen,  des  unstreitig  fruchtbarsten  Theils  der  Numismatik,  ist 
freilich  für  diese  Herren  derjenige  Kreis  der  Wissenschaft,  welcher 
ihnen  so  zu  sagen  gänzlich  verschlossen  ist,  indem  die  vielseitigen 
Bezüge ,  in  welchen  jene  Münzen  zur  Geschichte ,  Geographie,  Ar- 
«cbäologie,  Mythologie,  Kunst  u.  s.  w.  stehen,  tiefere  und  umfas- 
sendere Studien  erheischen,  als  diese  bei  den  fast  nur  auf  Ge- 


554  Angelegenheiten  der  hütorischen  Vereine. 

schichte  bezüglichen  Münzen  des  lliltelalters  oder  der  neuero  Zek 
erforderlicb  sind.  —  Da  nun  freilich  die  Zahl  der  Numismatilcer 
von  Fach  der  der  llönzliebhaber  gegenüber  nur  gering  ist,   so  ist 
es  natürlich,   dass  ein  Verein,   weicher  zur  Förderung  numisma- 
Uscher  Kenntnisse  sich  gebildet,    eine  bei  weitem  überwiegende 
Zahl  von  Münzliebhabern  unter  seinen  Mitgliedern  zahlt.   Eine  der- 
artige Gesellschaft  aber,   eben  weil  sie  Personen  in  sich  vereint, 
die  den   verschiedensten   Lebensverhältnissen   angehören   und  in 
Bezug  auf  die  Münzkunde  mit   durchaus  ungleichen  Kenntnissen 
ausgerüstet  erscheinen,  bedarf  deshalb  auch  durchaus  einer  ener- 
gischen Leitung.     Männer,    die   durch   ihre  Leistungen    auf  dem 
Gebiete  der  Numismatik  ausgezeichnet  sind,  die  das  Gesammtge- 
biet  dieser  Wissenschaft  erfasst  haben  und  von  ihrem  Standpunkte 
aus  dasselbe  vollkommen  beherrschen,  müssen  sich  dieser  müh- 
samen Leitung  so  heterogener  Elemente  unterziehen,    Sie  müsseo 
die  neuesten  Erscheinungen  in  der  Wissenschaft  zur  Keontniss- 
nähme  des  Vereins  bringen  und  anregend  und  belebend  auf  öie 
Th'ätigkeit  der  Mitglieder  einwirken.     Wie  weit  der   sehr  ehren- 
werthe  Vorstand  des  Berliner  Vereins  djese  Ansprüche  erfüllt  hat, 
in  wie  weit  die  mannigfachen  Klagen  vieler  eifrigen  Vereinsmit- 
glieder, welche  in  der  neuesten  Zeit  über  die  mehr  und  mehr  zu- 
nehmende  Theilnahmlosigkeit.und  Lauheit  in   den   Bestrebungen 
des  Vereins  laut  geworden  sind,  gerechtfertigt  werden  können, 
wollen  wir  hier  nicht  näher  untersuchen.    Wir  wollen  vielmehr 
nur  den  Wunsch  aussprechen,    dass   die  Thätigkeit  des  Vereins 
für  die  Zukunft  eine  geregeltere  und  für  die  Wissenschaft  erspriess- 
liebere  als  in  dem  letztvergangenen  Jahre  sein  möge.    Unterzeich- 
neter, welcher  selbst  die  Ehre  hat  diesem  Vereine  anzugehören, 
hat  es  gewagt,  ohne  Furcht  mit  seiner  Meinung  anzustosseo,  die 
Mängel  desselben  anzudeuten;    er  that  es  rein  im  Interesse  der 
Geseilschaft  und  der  Wissenschaft,   zu  deren  Förderung  jene  zu- 
sammengetreten ist;  seine  Worte  haben  nicht  den  Zweck  zu  ent- 
muthigen,   sondern  nur  den,    auf  die  Bestrebungen  des  Vereins 
anregend  einzuwirken. 

Die  Thäljgkeit  des  Vereins  bestand  bisher  tbeils  in  einzelnen 
Mittheilungen  aus  dem  Gebiet  der  Münz-  und  Gemmenkunde,  so- 
wie der  Heraldik,  und  im  Vorzeigen  sowohl  einzelner,  nameotlicb 
neuerer  Münzen  und  Medaillen ,  als  auch  ganzer  Abtheilungeo  ^ 
Mittelalter  oder  dem  Alterthum  angehörender  Münzen,  tbeüs  )0 
grösseren  Vorträgen  über  die  obengenannten  Discipiinen.  Um  zQ- 
vörderst  von  den  Miltheilungen  ersterer  Art  zu  sprechen,  so 
waren  es  namentlich  die  reichhaltigen  Münzsammlungen  zweier 
Vereinsmitgiieder,  des  Hrn.  v.  Rauch  und  Hrn.  Cappa,  jene  dareh 
ihre  antiken  Münzen,  diese  durch  ihre  mittelaltrigen  ood  neoenf 


Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.  555 

vorzüglich  durch  eine  grosse  Anzahl  wohlerbaltener  Bracteaten 
«ausgezeichnet,  welche  in  einer  Auswahl  der  trefflichsten  Exemplare 
der  Gesellschaft  vorgelegt  wurden.  Ferner  veranlasste  der  von 
Hrn.  J.  Friediänder  pubh'cirte  Münzfund  von  Obrzycko  mannigfache 
Discussionen  über  polnische  Münzen,  an  welchen  die  Privatsamm- 
lung des  Fürsten  Radziwiil  besonders  reichhaltig  ist  und  die  durch 
ihren  Besitzer  bereitwillig  mitgelheilt  wurden.  Nicht  minder  ver- 
dient die  grosse  Auswahl  von  Münzen  und  Medaillen  der  neuesten 
Zeit,  zu  denen,  wir  dürfen  wohl  sagen  die  schönstei^Slempel  von 
mehreren  der  Vereinsmilglieder  selbst  angefertigt  worden  sind,  er- 
wähnt zu  werdei).  Für  die  Gemmen-  und  Siegelkunde  endlich 
zeigten  sich  die  Herren  Tölken  und  Vossberg,  ersterer  durch  Pu- 
blication  mehrerer  bisher  noch  wenig  gekannter  Gemmen  des  Kö- 
nigl.  Museums  zu  Berlin,  letzterer  durch  Vorzeigung  und  Erklä- 
rung sehr  gelungener  Abdrücke  deutscher  Städte-  und  Kaisersiegel 
besonders  thatig. 

Von  grösseren  Vorträgen  können  wir  liier  nur  diejenigen  er- 
wähnen, welche  in  die  Zeitschrift  für  Münzwissenschaft  überge- 
gangen sind.  Wir  heben  unter  diesen  zuerst  eine  Abhandlung  des 
Hrn.  Tölken  hervor  „üeber  die  Darstellung  der  Vorsehung 
und  der  Ewigkeit  (Providentia  und  Aeternitas)  auf  rö- 
mischen Münzen'^  (Köhne's  Zeitschr.  Jahrg.  1844),  zwei  bildliche 
Darstellungen  abstractcr  Begriffe,  wie  solche  in  späterer  römischer 
Zeit  häufig  als  Gegenstand  künstlerischer  Darstellungen  gedient 
haben,  aber  von  Hirt,  Miliin,  Winckelmann  und  Müller  mit  Still- 
schweigen übergangen  worden  sind.  Der  Name  der  Providentia 
erscheint  zuerst  auf  Münzen^  welche  Augustus  nach  dem  Tode 
Caesars,  und  Tiberius  nach  dem  des  Augustus  prägen  liess,  als 
Umschrift  um  einen  Altar;  desgleichen  auf  Münzen  des  Galba  und 
Vitellius.  Providentia  selbst  als  Göttin  dargestellt  begegnet  uns  zu- 
erst auf  einer  Münze  des  Titus,  später  häufiger  auf  denen  des 
Trajan,  M.  Aurelius,  Lucius  Verus  u.  a.  m.,  theils  mit,  theils  ohne 
Namen.  Sie  erscheint  stets  als  hehre  Gestalt  in  langen  Gewändern; 
Scepter,  W^eltkugel  und  Füllhorn  sind  ihr  als  Attribute  zugetheilt. 
Die  personificirte  Aeternitas  erblicken  wir,  wie  aus  der  Umschrift 
erhellt,  zuerst  auf  einer  Münze  des  Vespasian  unter  der  Gestalt 
"^einer  vor  einem  brennenden  Altar  stehenden  verhüllten  Frau,  in 
den  Händen  das  strahlende  Bild  der  Sonne  und  der  Luna  haltend, 
eine  Vorstellung,  welche  sich  zuerst  auf  einer  Münze  des  Titus 
wiederholt,  sowie  in  ähnlicher  Weise,  jedoch  ohne  Altar,  auf  Mün- 
zen des  Trajan,  Hadrian  u.  a.  m.  Nicht  selten  führt  die  Aeternitas 
die  der  Providentia  und  der  Tyche  zuertheilten  Attribute.  Schliess* 
lieh  giebt  der  Verf.  ein  genaues  Verzeichuiss  sämmtlicber  mit  dem 
.  Bilde  der  Providentia  und  Aeternitas  bezeichneter  Münzen. 


556  Angelegenheiten  der  hütorischen  Vereine. 

Wir  8ch1iessen  hieran  eine  Abhandlung  desselben  Verf.,  welche 
unter  dem  Titel:  ,,Iris  die  Götterbotin''  von  der  numisinati- 
sehen  Gesellschaft  als  Programm  zur  Feier  des  Eckbel- Festes  im 
Januar  1845  herausgegeben  wurde.    Eine  jugendliche,    weibliche 
Gestalt  mit  Scbmetterlingsflügeln ,  in  den  Händen  den  ungeflügelteü 
Caduceus,  Aebren  und  Mohnköpfe  haltend,  welche  wir  auf  einem 
geschnittenen  Steine  der  Königl.  Sammlung  zu  Berlin   erblickeD, 
wird   von   Hrn.  Tölken   als  Iris    die  Götterbotin   aufgefasst.    Mit 
grosser  Genauigkeit  werden  zuerst  alle.  Stellen  Homers  und  Hesiods 
angeführt,  in  denen  Iris  bald  als  Botin  des  Zeus,  bald  als  die  der 
Hera  auftritt,  von  ihnen  auf  die  Erde,  in  die  Tiefe  des  Wassers 
und  zum  Hades  zur  Verkündigung  göttlicher  Befehle  entsandt.  Wie 
Hermes  der  Götterbote,   ist  sie  die  göttliche  Bolin.    Der  Caduceas 
in  ihrer  Hand  wäre  somit  durch  ihr  Amt  motivirt,  wenngleich  die- 
ses Attribut  ihr  von  den  "Schriftstellern  der  Alten  nicht  zuertbeilt 
wird.    Mobnköpfe    und   Aehren   scheint  der  Künstler   der  Göitia 
deshalb  in  die  Hand  gegeben  zu  haben,   um  dieselbe  als  Todes- 
botin,  als  Bringerin  eines  sanften  Todes  für  Frauen,  zu  charakte- 
risiren.    Nur  die  Schmetterlingsflügel  erscheinen  uns  für  eine  Iris 
etwas  befremdend.    Jedenfalls  haben  wir  es  hier  mit  einer  jener 
vielen  pantheistischen  Darstellungen  zu  thun,  wie  dieselben  sich 
so  häufig  in  der  späteren  römischen  Kunst  vorfinden,   in  welcher 
die  verschiedenartigsten ,  den  älteren  griechischen  Göttern  gänzlich 
fremden  Attribute,  einer  Gottheit  angeheftet  werden.  Auch  berech- 
tigen Yirgils  Worte:  Ergo  Iris  croceis  per  coelum  roscida  pennis. 
Mille  trahens  varios  adverso  sole  colores^'  noch  keinesweges  zu 
der  Annahme,   dass  die  Kunst  die  bunten  Federn  der  Iris  in  die 
Schmetterlingsflügel  der  Psyche   umgewandelt  habe.     Virgil,   der 
durchaus  auf  Homerische  Vorstellungen  eingeht,  kennt  Iris  nur  als 
die  Homerische  mit   mächtigen  Schwingen  versehene  Göttin.   In 
dieser  Aufifassungs weise  erkannte  auch  Hr.  Gerhard  in  jenen  mäch- 
tig  geflügelten  Jungfrauen  mit  dem  Caduceus  in  der  Hand,  auf 
mehreren  Vasen  des  Königl.  Museums  zu  Berlin ,  jene  altgriecbische 
Iris,  die  Genossin  des  Hermes.    Wir  müssen  annehmen,  dass  die 
Grundidee  in  vorliegender  Darstellung  die  einer  Psyche  ist,  welche 
als  Eidplon  vor  Sterbenden  dahinschwebend  mehrfach  erscbeiot, 
dass  ihr  der  Caduceus,  Aehren  und  Mohnköpfe  von  den  spätere» 
Künstlern  beigegeben  wurden,  um  sie,  wie  Hermes  schon  bei  Ho- 
mer als  göttlicher  Todesbote  und  Todtengeleiter  aufgefasst  wurde, 
als  eine  ähnliche  Todesbotin  zu  charakterisiren,   dass  wir  es  also 
weniger  hier  mit  einer  Iris  als  Götterbolin,  als  vielmehr  mit  einer 
Psyche,  der  göttlichen  Todesbotin  zu  thun  haben. 

B.  Köhne,  die  Römischen  auf  die  Deutschen  und  Sar- 
maten  bezüglichep  Münzen  (Jahrg.  1843,  1644 der Zeitscbr.)» 


Angelegenheiten  der  historiscken  Vereine,  557 

ütT  Verf.,  welcher  diese  Abhandlang  in  einem  Auszuge  der  Gesell- 
scbaft  millbeille,  giebt  nns  eine  Schilderung  der  seit  dem  ersten 
Auftreten  der  Cimbern  und  Teutonen  Jahrhunderte  lang  fortdauern- 
den Kämpfe  der  Römer  mit  ihren  Nachbarvölkern  germanischer 
Abkunft,  und  knüpft  an  dieselbe  eine  grosse  Anzahl  römischer 
Kaisermönzen ,  welche  in  ihrem  Gepräge  das  Andenken  an  die 
Siege  der  Römer  über  jene  Völker  verherrlichen.  Die  Reihe  be- 
ginnt mit  einer  Anzahl  Münzen,  welche  Claudius  zum  Andenken 
an  die  Grossthaten  seines  Vaters,  Drusus  des  Aelteren  schlagen 
Ifess.  Die  beiden  darauf  folgenden  beziehen  sich  auf  die  Wieder- 
gewinnung der  in  der  Teutoburger  Schlacht  schmählich  verloren 
gegangenen  Legionsadler  durch  Germanicus.  Der  Verf.  lässt  darauf 
in  einer  langen,  von  einem  ausführlichen  Commentar  begleiteten 
Reihe  die  von  den  Kaisern  auf  ihre  Siege  über  ihre  nordischen 
Nachbarn  geprägten  Medaillen  folgen,  welche  in  manchen  Fällen 
nur  einer  lächerlichen  Ostentation  der  Kaiser  ihre  Entstehung  ver- 
danken. Mit  Constanlin  11.  schliesst  diese  Reihe  ab,  indem  die  auf 
späteren  Münzen  vorkommenden  Worte:  Triumphator  Gentium 
Barbarorum,  sich  nicht  speciell  auf  die  Kämpfe  der  Römer  mit 
obengedachten  Völkerschaften  beziehen.  — 

Einen  nicht  minderen  Beifall  als  der  ebenerwähnten  Arbeit, 
dürfen  wir  der  mühsamen,  von  tiefem  kritischen  Scharfblick  zeu- 
genden Arbeit  der  Herrn  Pinder  und  J.  Friedländer  y^Ueberdie 
Münzen  des  Justinian^*  (Savigny's  Zeitschr.  f.  Rechtsw.  Bd.  XII. 
H.  1.)  zollen,  welche  in  einem  Auszuge  von  Hrn.  Pinder  der  hu- 
mismat.  Gesellschaft  mitgetheilt  wurde.  Wir  heben  Folgendes  her- 
vor: Während  die  Kaiser  vor  Constantin  d.  Gr.  nur  die  Jahrzahl  ihrer 
tribunitia  potestas  auf  Münzen  zu  setzen  pflegten,  hörte  um  die 
Mitte  des  4ten  Jahrhunderts  diese  Sitte  gänzlich  auf.  Erst  mit  dem 
12ten  Regierungsjahre  des  Justinian  wurde  zuerst  die  Zahl  der  Re- 
gierungsjahre des  Kaisers  auf  die  Münzen  geprägt.  Zugleich  wurde 
die  Aversseile  der  Münzen,  auf  welchen  bisher  der  Kaiser  in  krie- 
gerischer Tracht  dargestellt  worden  war,  dahin  verändert,  dass 
der  Kaiser  statt  des  kriegerischen  Schmuckes  den  Reichsapfel  er- 
hielt. Der  Verf.  lässt  darauf  einige  Bemerkungen  über  die  damals 
gangbaren  Gold-,  Silber-  und  Kupfermünzen,  über  ihre  Einlhei- 
lung  in  Solidi,  semisses  und  trimisses  folgen,  und  entscheidet  sich 
l>ei  der  mannigfach  versuchten  Erklärung  der  Münzinschrift  CONOB 
für  deren  Zusammensetzung  aus  CONstantinopoli  und  dem  grie- 
chischen Zahlzeichen  OB  für  die  Zahl  72,  da  seit  Valentinians  I. 
Zeit  72  Solidt  ein  Pfund  Goldes  ausmachen^  so  dass  GONOB  die 
GoDstantinopoiitanische  Währung  des  72  Guldenfusses  ausdrücken 
würde.  Den  Baupttheil  der  Arbeit  aber  bildet  die  reichhaltige  und 

A\}g.  sklM^rift  t  6«sdüe]»««.T.  1846.  38 


558  Allgemeine  Liieraturberichte» 

nach  den  besten  Originalen  angeferligle  Beschreibung  der  Münz^a 
Justinians,  auf  welche  hier  näher  einzugehen  der  Raum  verbietet 
Einige  kleinere  Arbeilen  als:   die  Darstellung  des  Stand- 
bildes der  Athene  Cbalkioekos  zu  Lacedaemon,    durch 
zwei  Münzen  erklärt  (Jahrg.  1S45  von  Köhne^s  Zeilschr.),   in 
welcher  der  Unterzeichnete  mit  Hülfe  einer  Münze  von  Lacedae- 
mon  und  einer  anderen  von  Melos  die  Restauration  einer   Statue 
der  Athene  Cbalkioekos  versucht  hat;  ferner:  die  Beschreibung 
eines  Viltorinos,   des  einzigen  in  der  von  Kaiser  Friedrich  IL 
zur  Bezwingung  Parma's  geschlagenen  Blönze,  eine  recht  hübsche 
Monographie  von  Hrn.  Köhne;  der  etwas  sehr  oberflächliche  Be- 
richt desselben  Verf.    über  die    Münzsammlungen    Italiens 
(Zeitschr.  f.  Münzk.  1845)^  sowie  ^dessen  gar  nicht  der  Münz-,  Sie- 
gel- oder  .Wappenkunde  angehörige  Abhandlung    über  den  Feld- 
herrnstab  des   Kardinals  Ascanio   Maria   Sforza   (ebendas.    1845) 
wollen  wir  hiermit  nur  erwähnen  und  schliesslich   den  Wunsch 
aussprechen^   dass  die  Zeitschrift  des  Hrn.  Köhne  für  die  Zukunft, 
wo  sie  sich  weniger  mit  den  in  der  numismatischen  Gesellschaft 
gehaltenen  Vorträgen   rekrutiren  kann,    durch  Beiträge    tüchtiger 
Gelehrter   einen  würdigeren  Standpunkt   einnehmen  möchte,    als 
das  erste  Heft  des  J.  1846  verspricht.  W.  Koner. 


Beitrittserklärungen  der  Vereine. 

Unserm  Unternehmen  sind  neuerdings  beigetrieten:  19)  Der 
bistor.  Verein  von  ünterfranken  und  Aschaffenburg  zu  VV^ürzburg. 
20)  Die  Schleswig- Holstein- Lauenburgische  Gesellschaft  für  die 
Sammlung  und  Erhaltung  vaterländischer  Allerthümer  in  Kiel.  21) 
Die  Society  d'bistoire  de  la  Suisse  romande  zu  Lausanne. 


Allg^emeine  liiteratarberichte« 


Jüdische  Geschichte  und  Literatur. 

4.  Die  religiöse  Poesie  ^er  Juden  in  Spanien.  Von  Dr,  Michael  Sachs. 
Berlin,  Veit  et  Comp.      4  845.     8.     347  S. 

2.  Zur  Geschichte  und  Literatur.  Von  Dr.  Zunz.  1,  Band.  Berlin, 
Veit  et  Comp.     4  845.       8.  607  S. 

Die  grosse  Nation,  in  deren  Schoosse  zuerst  der  Geist,  der  in 
der  Natur  und  Geschichte  lebt,  zu  seiner  Erkenntniss  gekom- 
men, deren  Gesetzbuch  vor  allen  andern  das  „Buch  der  Bu- 
cher*' geworden  ist,  die  aus  diesem  Gesetzbuche  die  Völker  der 
Welt  belehrt  und  gebändigt  hat,  ist  des  Geistes  nicht  verlustig 
und  diesem  Buche  nicht  treulos  gevirorden,  auch  als  die  politische 
Form  ihres  Lebens  in  Trümmer  brach  unter  dem  Sturuf  der  Ver- 


; 


Allgemeine  Literaturberichte,  559 

h'ältnisse.  Sie  bat  in  die  Zerstreuung,  in  die  Verbannung  mitge- 
nommen diesen  Geist  und  dieses  Buch  und  von  beiden  riss  sie 
weder  Tod  noch  Leid  noch  Ueberredung;  sie  hat  aus  diesen  bei- 
den  immer  von  Neuem  geschöpft  den  Mulh  der  Erhallung  und 
Meinung  und  dieses  geistige  Leben  niedergelegt  in  tausend  Wer- 
ken eigenthümlicher  Färbung.  Die  originale  Kraft,  die  in  ihr  wohnte 
und  die  sie  zum  ewigen  Dasein  kräftigte,  hat  umwogt  und  umstürmt 
von  Feinden  und  Leiden  für  den  Geist  eine  neue  von  dem  Zaun 
des  nationalen  Gesetzes  umfriedigte  Welt  geschaffen  und  die  Ge« 
schichte  des  menschlichen  Geistes  und  seiner  Produkte  hat,  wenn 
sie  eindringt  in  die  immer  noch  neuen  Elemente  jüdischer  Anstren- 
gung-und  Anschauung,  da  einen  bedeutungsvollen  neuen  Paragra- 
phen zu  begii^nen,  wo  sie  die  noch  unbeschriebenen  zu  bezeich- 
nen und  beschreiben  gedenkt. 

Die  jüdische  Literatur,  die  seit  beinahe  zwei  Jahrtausenden 
aus  dem  ewigen  Geiste  der  Bibel  herausgewachsen  ist,  die  Volks- 
und Seelenleben  mit  der  nur  ihr  eigenen  Treue  wiederspiegelte, 
die  bis  auf  die  jüngste  Zeit  sich  anschliessend  und  anschmiegend 
an  alle  die  verschiedenen  geistigen  Neigungen  der  Nationen,  unter 
denen  sie  sich  weiter  entfaltete,  gleichwohl  den  originalen  an  Ge- 
setz und  Nationalleben  sich  anspinnenden  Charakter  bewahrt  hat^ 
die  im  Mittelalter,  wo  aller  geistige  Schwung  ermattete  und  erblich, 
einen  auf  allein  jüdisch -nationale  Sitte  und  Glauben  begründeten 
Entwicklungsgang  genommen  und  da  einen  höchst  lebendigen,  in 
gewissen  Grenzen  geschlossenen,  aber  höchst  feinen  und  thätigen 
Geist  gebildet  hat,  die  selbst  mitten  in  ihren  Auswüchsen  einem 
eigenen  höchst  bemerkenswerthen  Zuge  folgte  —  ist  gross  und 
gewaltig,  ist  verpallisardirt  durch  eigene  Sprache  und  Terminologie 
und  verschlossen  für  den,  der  ausserhalb  der  Kenntniss  jüdischen 
Lebens  stehen  zu  können  vermeint  und  unverständlich  für  den, 
der  christliches  Vorurtheil  und  mittelalterliche  Geringschätzung  als 
Schlüssel  für  ihre  Lektüre  mitbringt. 

In  gewissen  Beziehungen  war  diese  jüdische  Literatur  einst 
den  Christen  besser  als  den  Juden  bekannt.  Das  17.  und  noch 
das  18.  Jahrhundert  sind  erfüllt  von  Männern,  die  einen  eisernen 
Fleiss  und  nicht  geringe  Sprachkenntnisse  für  die  Erforschung  jü- 
discher Literaturerzeugnisse  mitbrachten.  In  derselben  Zeit,  in  der 
über  die  Heiligkeit  des  jüdischen  Alterthums  von  Christen  gekämpft 
ward,  Christen  es  angriffen  und  christliche  Orthodoxen  es  verthei- 
digten,  waren  es  christliche  Gelehrte,  die  mit  unendlicher  Anstren- 
gung jüdische  Schriften  studirten  und  für  Werth  und  Nutzen  rab- 
binischer  Arbeiten  stritten.  Plantavitius,  Buxtorf,  Bartolocci,  viele 
Andere,  vor  Allen  aber  Job.  Christian  Wolf  erwarben  Ruhm  und 
Verdienst;  des  Letzteren  bibliotheca  hebraea  (1715—33)  übertrifft 

38* 


560  Allgemeine  Uieraiurberichie. 

des  Fabriciw  BibKolfwiken  an  Fleiss  und  Belesenheit  und  madil 
aUes  von  Cbrislen  geschriebene  Ihm  Vorhergehende  überflössig. 

Heut  ist  das  ein  Anderes.    Auch  die  wissenschaftliche  Anschaa- 
ung  jüdischer  Literatur  haben  die  Juden   zu  begreifen  und  zu  be- 
arbeiten begonnen   und   mit  ungleich  grösserem  Erfolge.    Etwas 
früher  als  Leopold  Ranke  seine  Kritik  der  neueren  Gescbichlschrel- 
her  herausgab  (1824),  schrieb  Leopold  Zunz  seine  ausgezeicbnele 
Biographie  des  R.  Salomo  Jlzchaki,  in  der  schon  alle  die  neueren 
Mittel  einer  historischen  Kritik   angewendet    sind    und  R.  Salomo 
Jehuda  Rapoport  entwickelte  in    der  biographischen   ScbilderaDg 
grosser  Manner  der  Nation  ausserordentlichen  Scharfsinn  ondCom- 
binationstalent.     Das   Werk  des   Ersteren    „die   goltesdiensllicheo 
Vorträge  der  Juden",  das  1832  erschienen  ist,  aber  erst  seit  weni- 
gen Jahren  etwas  berücksichtigt  wird,  enthält  in  der  Fülle  geisti- 
gen Elementes,  das  ays  einer  Bibliothek  von   nie  mit  System  ge- 
lesenen und  verstandenen  Büchern  hervortritt,   die  BeantwortuDg 
aller  der  unnülzen  und  inhumanen  Fragen,  die  Staatsmänner  und 
Literaten  über  jüdische  Verhältnisse  und  Ansprüche  aufstellen;  dar- 
aus hat  der  Berichterstatter  in  der  Deputirtenkammer  die  Vergao- 
genheit  der  Juden  zu  lernen;  daraus  zu  lernen,  wie  was  anm 
jüdischen  Gegenwart  schmutziges,  unedles,    unfreies  klebt,  dicW 
aus  der  Originalquelle  der  Heimath,  sondern  der  Kloake  des  Belo- 
tismus,  des  Zwanges  und  der  Erniedrigung  floss;  daraus  der  Gelebrle 
und  Geschicbtschreiber,  der  um  Neues  zu  finden  an  Amerikas  Ge 
Stade  und  in  des  Vatikans  Tiefen  sich  begiebt,  zu  lernen,  wie  er 
die  Bedeutung  einer  der  geistigsten  Nationen   der  Erde,  öie  trotz 
des  Fluches,  den  das  eigene  Kind,  das  Christenthum  über  sie  ao^ 
gesprochen,  von  diesem  Fluche  frei  den  inner»  Kern  bewahrt  m 
erbalten  hat.  wie  er  die  Geschichte  seiner  Nachbarn,  Gespielen  un 
Banquiers  vernachlässigt,  ignorirt  und  nie  zu  vergessen  ein  Re 
gehabt  hat.     Und  das  alles  aus  diesem  einen  Buche,  das  seit 
Jahren  erschienen  ist!    Aber  die  jüdische  Literatur  braucht  no 
eine  Reihe  so  gearbeiteter,  so  geschriei)ener  Bücher,  bevor  stejo^ 
nns  liegt  und  in  ihrem  Werthe  von  Freund  und  Feind  ««^"^^'^ 
wird!    Und  seit  13  Jahren  lebt  und  wogt  es  unter  den  jüdisch^ 
Freunden  dieser  Literatur.    In  Italien,  in  Frankreich,  in  Bete'«'»' ' 
Galizien,  vor  allem  bei  uns  sucht  man  und  >arbeitet,  sotiel 
kann  und  Müsse    hat   vor   dem    erdrückenden  LebensbedüriD  • 
Und  täglich  erscheinen  neue  Erzeugnisse  grossartiger  Studien 
täglich  mehrt  sich  die  Zahl  der  Fleissigen  und  Studirendenj  ^»«^^ 
deutsche  Muse  wächst  die  jüdische  Wissenschaft  ohne  Mäcena    » 


es  ist  endlich  an  der  Zeit,  dass  die  christliche  Welt  w|«^^^fJ^' 
wache  aus  dem  50jährigen  Schlummer,  in  dem  sie  sieb  üö^f  f" 
scbes  Wissen  gewiegt  hat,  dass  sie,  und  mehr  verlangt  mao  nie 


Allgemeine  Literaturberichte,  561 

das  gewähre,  was  in  dem  freien  Reiche  der  Wissenschaft  dem  spe 
cielisten,  minutiösesten  Elemente  gebührt,  Anerkennung,  Berück- 
sichtigung und  Gleichstellung  in  Bezug  auf  Lehre  und  Lecture. 
Bernard  de  Rossi  war  der  Letzte /der  für  jüdische  Literatur  ge- 
sammelt und  recht  eigentlich  gearbeitet  hat.  Aber  auch  ein  gros- 
ser Theil  der  Juden  hat  noch  nicht  hinreichendes  Interesse  für  ihre 
Wissenschaft.  Sie  wissen  nichts  von  ihr  und  fürchten  doch  den 
ausgesprochenen  Tadel  nationaler  Bestrebungen;  sie  kennen  sie 
nicht  und  sehen  in  ihr  eine  Trennung  von  der  übrigen  Weit.  Sie 
sind  leider  noch  voll  von  dem  seichten  Rationalismus,  von  dem 
unausstehlichen  Raisonnement  noch  nicht  lang  vergangener  Zeiten, 
sie  haben  noch  nicht  ganz  reif  für  wissenschaftliche  Arbeiten  keine 
Achtung  und  keine  Hülfe  für  diese;  nur  für  diese  haben  „die Vor* 
lesungen  über  die  Aufgabe  des  Judenthums'S  die  Hr.  Dr.  Stern  im^ 
Winter  1845  gehalten  hat,  den  Werth  und  den  Einfluss  erhalten 
können;  aber  grade  zum  Unterrichte  für  diese,  zur  Rettung  dieser 
von  böser  geringschätzender  Meinung  von  Aussen  her,  zur  Yer« 
theidigung  dieser  Halbwissenden  und  Waffenlosen  hat  die  jüdische 
Wissenschaft  zu  arbeiten  und  zu  wirken.  Das  Wissen  allein  wird 
die  Aufgabe  lösen,  die  Schäden  im  Judenthume  zu  heilen,  das 
Wissen  allein,  verbreitet  und  aufgenommen  in  Saft  und  Blut  wird 
den  Zwiespalt  der  Zeiten  und  Nationen  ausgleichen;  nur  wissend 
und  selbstbewusst,  gewissenhaft  gegen  Vorfahren  und  Zeitgenossen 
wird  die  Nation  erlangen,  was  erlangt  werden  kann  und  muss, 
was  aber  nicht  im  Sturm  eines  Abends,  sondern  in  Mühen  und 
Sorgen,  nach  Jahren  aber  sicher  erlangt  wird. 

Die  Wissenschaft  gleicht  immer  dem  Meere,  das  zu  trennen 
scheint,  aber  mehr  als  Alles  verbindet.  . 

Die  Erscheinung  obengenannter  zwei  Bücher  haben  diese  jü« 
discho  Wissenschaft  wieder  um  ein  gutes  Stück  fortgerückt.  Beide 
treten  mit  dem  Anspruch  auf,  auch  von  der  christlichen  Weit  ge- 
lesen und  gewürdigt  zu  werden;  sie  haben  zu  diesem  Anspruch 
nicht  allein  das  gemeingültige  Recht  des  Individuums,  sondern  die 
grossartige  Anlage  beider,  die  Neuheit  des  Stoffes,  den  sie  in  sich 
tragen,  die  edele  Form,  in  die  beide  diesen  Stoff  gekleidet,  macht 
dieses  Recht  zu  einem  ausserordentlichen;  sie  wollen  wenigstens 
im  Geiste  die  Emancipation  der  Wissenschaft  erobern;  aber  sie 
sind  der  Eroberung  gewiss,  wenn  eben  nur  Leser  zum  Erobern 
da  sein  werden;  wenn  eben  erst  die  Anerkennung  gewonnen  ist, 
dann  wird  es  auch  der  Beifall  sein. 

Die  Poesie  der  Juden  ist  schon  einmal  von  einem  Christen 
vor  das  grössere  Pubükum  geführt  worden  j  Franz  Delitzsch  hat 
es  versucht,  für  sie  ein  grösseres  Blaass  an  Anerkennung  zu  sichern; 
diejenigen ;  welche  es  gelesen,  haben  sicher  am  Stoffe  fester  ge- 


562  Allgemeine  Literaturberichte. 

hangen,  als  der  fromme  Verfasser,  den  ein  pietistischer  Reuescbaoer 
überlief,  so  profanen  Dingen  Zeit  und   Anstrengungen  gewidmet 
zu  haben  und  dem  eine  hypercbristelnde  Coquetterie  doch  nicht 
die  im  Innern  seines  Wesens  schlummernde  Liebe  zur  Dichlaog 
seiner  Vorfahren  verhüllen   konnte.     Das  Buch  von  Sachs*)  be- 
scbäfligt  sich  nur  mit  der  Poesie  der  Juden   in  Spanien.    Er  holt 
aber  weiter  aus.    Mit  seltener  Kraft  und  Fülle  der  Darstellaog  giebt 
er  den  Entwicklungsgang  des  Judenthums  seit  der  Tempelzerslö- 
rung  durch  Tttus  an;   in  dem  Kanon   der  Bibel  ruhen  für  jede 
Phase  dieser  Entwicklung   die  Keime;   zwei   Elemente  in  diesem 
Kanon,  ein  stabiles  und  unverrückbares,  das  Gesetz  und  ^in  be- 
wegtes, flüssiges,    die  Poesie  geben  auch  der  Entwickelung  den 
Maassstab  und  Charakter.     Die  Bedürfnisse   von  Ort  und  Zeit,  die 
Veränderungen   in   den  jüdischen  Verhältnissen   hallen  eine  Bot- 
wickelung  nothwendig  gemacht;  sie  geschah   mit  fest  an  dem  Bo- 
den des  fiibelkanons  hangender  Ausdauer;  sie  wuchs  aus  diesem 
Boden  allein  in  die  freien  Lüfle^  neuer   bedingter  Momente;  das 
Gesetzliche   im  Pentaleuch    ward    der  ewige  Samen  für  den  Bau 
dec  religiös-juristischen  Gedankens;  das  Poetische,  das  Flüssige  io 
Psalmen  und  Propheten  der  Quell    eines  unendlichen  Segenslro- 
mes,  in*  dem  Geist  und  Gemüth  des  Israeliten  sich  spiegeln.  DiesB 
Entwickelung  geschah  oder  mussle  auf  legitime  Weise  geschehen; 
im  Samen  mussle  alles  gelegen  haben,  was  die  Zukunft  baute;  aus 
dem  Quell  musste  alles  geflossen  sein,  was   den  poetischen  Geist 
der  spätem  Zeit  durchströmte.     Nur  Deutung,   Entwickelung,  Er- 
klärung wollle  die  spätere  Zeit  sich  zusprechen;  sie  resignirte  auf 
das  eigentliche  Wesen  der  Produclion  usd  producirle  lägüch;  sie 
legte   nur    das    was  ihr  Eigenstes,   Geist,    in    das  Recipirle  hin- 
ein und  verzichtete  auf  den  Ruhm  der  Selbstständigkeit  für  den 
der  Treye.    Halacha  und  Hagada,  Gesetz  und  Sage,  wie  sie  sich  im 
Laufe  der  Zeit  zu  unendlicher  Fülle  erhoben,  wollen  nur  der  Ab- 
druck früherer  Absicht  sein,  wollen  nur  der  Ausdruck  der  so  laßg 
bewahrten  Tradition  sein;  ihr  einziges  Streben  ist,  nicht  neu  son- 
dern eben  alt  zu  sein;  ihr  einzriger  Charakter   nur  die  Form,  d'ß , 
Hülle  eines  alten  Gedankens  und  Willens  zu  sein. 

Die  Werke,  in  denen  diese  Entwickelung  niedergelegt  ist,  sind 
für  das  Gesetz  der  Talmud,  für  die  Hagada  der  Midrasch. 

Die  eigentliche  Geschichte  und  Beschaffenheit  dieser  Werke 
kann  hier  in  diesem  kurzen  Bericht  nicht  gegeben  werden;  wir 
verweisen  auf  das  Buch  selbst  und  auf  seine  vorzüglichste  Grund- 
lage, die  Forschungen  von  Zunz. 

*)  Ich  verweise  über  Näheres  auf  meine  grössere  Recension  dieses 
Buches  in  Frankeis  Zeitschrift  für  religiöse  Interessen.  April-,  W«l'  """ 
Janiheft  4S46. 


Allgemeine  Literaiurberichte.  563 

Nachdem  Sachs  dieses  entwickelt  und  beiläufig  die  Meinungen 
sowohl  derer  widerlegt,  die  einen  iMangel  des  Unsterblichkeitsglau- 
bens in  der  Bibel  rügen*),  als  auch  die  der  modern -rationalisti- 
schen jüdischen  Schriftsteller,  die  der  talmudiseh-midrasohischen  Auf- 
fassung ein  Unversländniss  des  eigentlichen  Wortsinnes  der  Dtbel 
zulrauen,*auf  das  treffendste  zurückweist,  geht  er  in  §.  n.  auf  das  We- 
sen der  Giabete ,  der  eigentlichen  religiösen  Poesie  über.  Stehende 
Gebete  kannte  die  Schrift  nicht.  Freier  Wahl  War  das  Gebet  anheim- 
gestellt. Erst  ^Is  die  volksthümlichen  Zeiten  vorüber  und  das  Reli- 
giöse das  einzige  Vaterland  und  Band  der  überall  Verbannten  wird, 
formulirt  sich  das  Gebet  zu  gesetzlichen  Normen.  Die  Lyrik  der 
Psalmen  ist  sicher  nicht  aus  dem  Genie  eines  Einzelnen,  sondern 
aus.  dem  Genius  des  Volksgeisles  hervorgegangen.  Das  Gesang- 
buch der  Synagoge  nennt  er  es  mit  Köster.  Darauf  stellt  er  die 
Gebete  zusammen,  die  sich  schon  im  Talmud,  der  um  das  Jahr 
600  abgeschlossen  ward,  wieder  finden.  Er  folgt  hier  den  For- 
schungen von  Rapoport  und  Zunz,  aber  wie  in  allem  hat  seine 
Benutzung  etwas  midraschisches  an  sichj  er  giebt  nur  der  For 
schung  Vorhergehendes  wieder,  aber  in  dem  "Wie  des  Recipirteu 
liegt  eine  neue  Produktion.  Auch  nach  dem  talmudischen  ZeitaU 
ter  fasst  noan  unablässig  Gebete  ab.  Peitana  von  noi^jiiig  nannte 
man  die  Dichter;  sie  waren  Sänger  und  Vorbeter  zugleich;  sie 
schöpften  aus  der  midraschischen  Dichtung  der  Hagada  und  ihre 
Phantasie  umschlang  jede  Sage  und  fasste  sie  zum  Gebet,  die  Piu- 
tim,  das  sind  die  Dichtungen  der  Peitana's,  sind  versificirte  und 
künstliche  Midraschim;  sie  brächten  heimisch  in  der  Sage,,  durch 
ihre  Gebete  diese  Sag«  in  aller  Mundj  die  Eigenthümlichkeit  der 
Form,  in  der  si^  erscheinen,  ist  einzig  in  ihrer  Art.  Plötzlich,  ohne 
dass  man  eigentlich  wüsste  woher,  erscheinen  diese  Gedichte  in 
einer  ganz  merkwürdigen  Form;  dergr^össte  Kunstaufwand  scheint  an 
sie  verschwendet;  Akrostichen  und  Namenverschlin^ungen  und 
die  Versbildung  nach  den  Alphabeten  erscheint  auf  die  mannig- 
fachste Weise,  ohne  dass  diese-  geschickteste  und  geschmückteste 
alier  Künsteleien,  die  je  auf  poetischem  Boden  geschafi*en  sind, 
dem  Inhalt  grossen  Abbruch  thäte.  Die  Dichtungen  des  Ersten 
dieser  Peitanim,  Elasar  Kalir,  dessen  Vaterland  und  Namen  selbst 
noch  ein  Problem  sind,  sind  mächtig  und  furchtbar;  dunkel  und 
grossartig  treten  sie  auf,  den  originalen  Geist  an  der  Stirne  und 
Nachahmer  nach  sich  ziehend  wie  Sand  am  Meere.  Die  Kalirischea 
Dichtungen  haben  in  Deutschland  und  Frankreich  vorzüglich  Ver- 


*)  Auch  Hegel.  Dass  Leibnitz  schon  die  rechte  Ansicht  davon  hatte, 
eine  Stelle,  die  von  Sachs  nicht  citirt  ist,  haDe  ich  in  der  Frankerschen 
Zeitschrift  angegeben.     S.  452. 


564  Allgemeine  LUeraturberichte^ 

ebrer  gefunden.     Spanien   bat  siob    unter  arabiscbem  Einflüsse 
selbstständiger  entwickelt  *). 

Spanien  war  (Sachs  §.  3.)  nach  der  Eroberung  durch  die  Art- 
ber  für  die  Juden  ein  glUclcliches  Land  geworden.  Arabische  Wis- 
senschaft und  Poesie  ward  von  ihnen  aufgenouamen ;  nameotiidi 
die  aristotelische  Philosophie  fand  unter  Juden  die  eifrigsten  Bea^ 
beiter  und  Forscher.  Diese  philosophischen  Studien  haben  eioeo 
unbedingten  EinQuss  auf  die  Poesien  der  Juden  gehabt.  Wie  elDst 
in  Syrien  Gnosis  und  Dichtung  verschoiolz,  so  hier  Philosophie 
und  Poesie.  Aus  diesem  Grunde  versucht  es  der  Verf.  im  Allge* 
meinen  die  Einflüsse  des  griechisch  •  arabischen  Geistes  auf  die 
Denkkraft  der  Juden  darzustellen.  Das  Buch  „der  Glaubens-  uad 
Sillenlehren'^  Emunoth  wedeoth  von  R.  Saadia  b.  Joseph  aus  Fayua 
(892 — ^942)  betrachtet  er  genauer.  „Fast  alle  Denker  jener  Rich- 
tung, fasst  er  zusammen,  waren  auch  Dichter  und  keiner  von  deo 
bedeutenden  Dichtern  jener  Schule  war  der  philosophischen  Bil- 
dung uutheilhaftig." 

Dann  endlich  $.  4.  geht  er  auf  die  Dichter  selbst  ein,  die  er 
als  die  bedeutendsten  btlrach(end  dem  Publikum  im  deutschen  Ge- 
wände vorführt.    Er  unterscheidet  dabei  eine  ältere  und  eine  jäo- 
gere  Synagogaipoesie.     AU  Vertreter  der  alleren  nennt  er  R.  Sa- 
lomo  b.  Jebudah  Gabirol  (in  Saragossa  um  1035  geboren,  in  Ocak 
gestorben).     Mit  diesem  liebenswürdigen  Dichter,  dessen  Meister- 
werk „die  Königskrone'*  Keter  Malchuth  er  in  deuUchen  Versen 
wiedergiebt,  beschäftigt  er  sich  vor  Allem;  die  philosophische  Dich« 
tungsweise  erläutert  er  durch  Parallelen  und  Nachwelse  aus  den 
griechischen   Autoren   und   späteren  Auffassungen  ^   allerdings  so 
müssen  die  Dichter  des  Mittelalters  behandelt  wer^deo,  namentlich 
die  dieser  Gattung.    Es  sind  gelehrte  Abhandlungen  im  poeüscbeo 
Gewände,  die  sie  uns  vorlegen;  der  Herausgeber  hat  diese  Gelehr- 
samkeit aus  'dem  Gewände  herauszufühlen  und  anzudeuten  v^r* 
standen.  Ferner  R.  Josef  ibn  Stanas  ihn  Abitur  bekannt  seinerSchick« 
sale  wegen  unter  Alhakem  H.  von  Cordova.    Endlich  R.  Isaai  hfifl 
Jehudah  ibn  Giat  aus  Lucena,  einem  von  Juden  sehr  bevölkerlco 
Orte,  der  nach  Almakkari  zum  Sprengel  Cordova's  gehörte. 

flevor  er  zu  den  jüngeren  Meistern,  die  aber  die  grössern  P' 
worden  sind,  übergehl,  nennt  er  noch  R.  Becbai  ben  Josef  ben 
Bakodah  den  Verfasser  des  philosophischen  Volksbuches  „von  den 
Herzenspflichlen/* 

Wenn  er  die  älteren  obengenannten  als  Dichter  charaklcrfsirt 
hatte,  bei  denen  Inhalt  mehr  als  die  Form  galt  und  die  begeistert 
und  gelragen  allein  vom  Gedanken  nicht  immer  das  rechte  Ge* 

*]  Uebor  meine  VermothungeD  von  Kalir  und  den  Vaterland  der  ^i^ 
Um  verweise  ich  auf  Frankers  Zeitschrift  S.  454  ff. 


Allgemeine  Literaturberichte,  565 

wand  fanden»  in  das  sie  ihn  hüllten,  so  sind  es  die  Koryphäen 
jüdischer  Poesie,  die  er  nun  nennt,  die  die  jüngere  Synagogalpoe* 
sie  bilden  und  in  denen  eine  Kunstverschmelzung  des  sinnigsten 
Inhaltes  mit  der  geschmeidigsten  Form  zu  bewundern  ist.  -Alte 
sind  sie  wissend  und  von  forschendem  Geiste  belebt;  in  allen  tritt 
Gelehrsamkeit  nur  als  die  Unterlage  eines  in  den  glänzendsten 
Farben  der  Phantasie  funkelnden  Geistes  hervor;  Frömmigkeit  und 
Hoffnung,  unerschütterliches  Gottesvertrauen  und  Sehnsucht  spre- 
chen ihre  Dichtungen  aus;  freilich  braucht  man  um  sie  ganz  zu 
geniessen,  ein  freies  mildes  Herz  und  eine  frische  nachfühlende 
Phantasie.  Aber  für  Andere,  als  die  diese  himmlischen  Gaben  be* 
sitzen,  ist  keine  Dichtung.  Empfunden  wird  das  Gedichtete  nur 
von  denen,  die  die  Poesie  in  der  Seele  tragen,  fi.  Mose  ben  Ja- 
kob ihn  Esra  ist  „von  einer  wahrhaft  staunenswerthen  Vielseitig- 
keit und  einem  unerschöpflichen  Reichlhume/'  R.  Jehuda  hallewi, 
der  berühmte  Verfasser  des  Buches  Cusari,  wird  von  dem  poeti- 
schen Literarhistoriker  Alcharisi  also  gerühmt:  „Das  Lied,  das  der 
Levit  Jebudah  gesungen  —  ist  als  Prachtdiadem  um  der  Ge* 
meinde  Haupt  geschlungen  —  als  Perlenschnur  hält  es  ihren  Hals 
umrungen  —  Er  des  Sangestempels  Saul'  und  Schaft  —  wei- 
lend in  den  Hallen  der  Wissenschaft  —  der  Gewaltige,  der  Lie- 
desspeerschwinger, der  die  Riesen  des  Gesanges  hingestreckt, 
ihr  Sieger  und  Bezwinger.'^  etc.  R.  Abraham  ben  Meir  ihn  Esra 
der  berühmte  Exeget,  Grammatiker,  Philosoph,  der  als  solcher 
den  Christen  schon  mehr  als  Einer  der  andern  Juden  bekannt  ist, 
ist  auch  ein  geistreicher,  gewandter,  anmuthsvoller  Dichter.  Zu 
diesen  fügt  er  noch  einen  Dichter  Joab  und  R.  Mose  b.  Nachman 
aus  Gerona.  In  dem  Letzten  einem  berühmten  Commentator  hat 
das  kabbalistische  Element  durchgebrochen.  Auf  die  Philosophie 
folgte  immer  das  Mysterium.  Auf  den  die  Ketten  lösenden,  immer  die 
sie  wieder  schlingenden.  Das  Schlusswort  spricht  von  der  Form  der 
Poesie,  ihrer  Sprache  und  Rhythmen.  Was  er,  hingerissen  vom 
Gedanken  der  Dichter,  dort  nicht  angegeben,  die  Mannigfaltigkeit 
nnd  das  Wesen  der  Form,  das  schliesst  er  in  dieses  Schlusswort  ein. 
Dieser  Abhandlung  geht  die  Auswahl  der  Gedichte  selbst  voran; 
bis  auf  das  Keter  Malchuth  die  Königskrone,  das  in  freien  Reimen 
bearbeitet  ist,  sind  die  künstlichen  Versmasse  der  Dichter  auf  das 
reinste  und  schönste  nachgeahmt.  Man  erkennt  den  dichterischen 
Geist  in  diesem  Nachfühlen  des  poetischen  Schmelzes,  der  auf  den 
Gedichten  liegt  und  den  Redner  in  dieser  übergrossen  Fülle  von 
Worten  und  Blumen,  in  dieser  ausserordentlichen  Gewandtheit  in 
Wendungen  und  Formen.  Für  Beispiele  haben  wir  keinen  Raum, 
wir  bitten  den  Leser,  sich  das  Buch  selbst  anzusehen;  dafür  dass 
es  ihn  anspreche,  leisten  wir  gerne  Bürgschaft. 


56ü  Allgemeine  LiieralurbericMe, 

Das  zweite  Buch  ist  eine  neue  Arbeit  yon  Zunz.    Seit  seinen 
1837  erschienenen  „Namen  der  Juden**,  die  aber  eigentlich    nur 
eine  gelehrte  Gelegenheitsschrift  sind,  halte  der  gelehrteste  Israelit 
in  jüdischer  Wissenschaft  nichts  Grösseres  ve r offen th'cht.     Mit  die- 
sem Buche  hat  er  unter  den  Bergmassen  seiner  gesammelten  Ma< 
teralien  ein  wenig  aufzuräumen  angefangen.    Mit  demjenigen,  was 
er  gegeben  f    hatte    die  breite  Studienmanier   vergangener   Zeiten 
mehrere  Folianten  gefüllt.    Er  giebt  ein  massig  starkes  Buch,  aber 
voll  echt  deutschen  Pleisses  und  belebt  von  dem  kernigen  in  We- 
nigem Alles  sagenden  Geiste,  der  sich  wie  bei  nicht  Vielen  unse- 
rer Zeitgenossen   in  einem  taciteiscben    Style  wiederspiegelt.     Er 
war  der  Erste  gewesen,  der  die  Denkmale  jüdischen  Geisfes  mit 
der  Vielseitigkeit  echter  Bildung  zu  lesen  verstanden  hat;   in   die- 
sem Talent  liegt  der  eigentliche  Zauber  seiner  Bücher;   wie   ein 
Argus  schaut  er  jedes  Buch  durch  hundert  Augen  an;  die  verschie- 
denen Zwecke  geizt  er  aus  Allem  und  Jedem   für  seine   Diarien 
heraus.    Die  gotlesdienstlichen  Vorträge  waren  das  erste  grossar- 
tige Produkt  dieser  eine  jüdische   Wissenschaft  schaffenden   Stu- 
dienmauier;  die  jüdische  Zeitgenossenschaft  wusste  kaum  vom  Vor- 
handensein so  vieler  Dokumente  ihrer  Ahnen,  als  Einer   von  ih- 
nen sie  schon  in  dem  Gewände  echt  germanischer  Wissenschaft 
für  sie  zu  benutzen  verstanden  hatte.   Während  die  Meisten  noch 
mit  den  Elementen  rangen,  in  denen  die  Anfänge  aller  Wissen* 
schaftlichkeit  verborgen  liegen,  war  er  bis  in  die  letzten  Stadien 
der  Vollendung  vorgedrungen  und  grade  in  diesem  Sprunge   von 
Anfang  bis  Ende  liegt  das  Bathsel  beantwortet,  warum  dieses  Buch 
so  wenig  Anerkennung  und  Verbreitung  gefunden.    Der  Stoff  nicht 
nur  in  dieser  Benutzung  sondern  auch  in  der  Kunst  der  Verarbei- 
tung war  zu  neu  geworden;  die  Leser  konnten  über  die  Massen 
von  Voraussetzungen  nicht  hinaus,  die  der  Verf.  für  sich  schweir 
gend  überwunden  hatte.     Zunz  halte  sein  Buch  für  sich  und  die 
Zukunft  geschrieben;  diejenigen,  die  es  geniessen  sollten,  mussten 
auf  einer  breiten  Basis  entweder  von  allgemeiner  gelehrter  Bildung 
oder  von  jüdischem  Wissen  stehen.     Dass  es  jetzt  gewürdigt  ist, 
zeigt  doch  die  schnellen  Schritte,  die  er  Einzelne  nachzugehen  ge- 
lehrt hat;   in  die  populäre  Kenntniss  wird  und  kann  es  aber  in 
dieser  Form  nie  eingehen;  es  giebt  keine  Population,  von  der  die 
grössere  Menge   voll  von  hiezu  nölhigen  Voraussetzungen  wäre. 
Dieses  zweite  Buch  ist  zwar  kein  von  einem  Geiste  belebter  Kör- 
per; es  besteht  aber  aus  losgerissenen  Erzslufen  eines  unendlichen 
Pleisses;  es  sind  einzelne  Abhandlungen,  in  denen  die  verschie- 
densten Themen  jüdischer  Geschichte  und  Literatur  bearbeitet  sind': 
auch  von  ihnen  inuss  man  sagen,  dass  sie  einen  Leserkreis  verlan- 


Allgemeine  Literaturberichie.  567 

gen,  wie  er  noch  nicht  sehr  zahlreich  vorhanden  ist,  dass  sie  von 
einem  Standpunkt  aus  geschrieben  sind,  der  eine  weite  Land- 
schaft von  Wissen  hinler  sich  liegen  sieht,  zu  der' noch  die  mei- 
sten gar  nicht  gedrungen  sind,  dass  sie  die  jüdische  Wissenschaft 
wie  eine  behandeln,  an  der  schon  tausend  Hände  vorher  thalig  ge- 
wesen, während  eben  diese  noch  erwartet  werden,  dass  sie  ge- 
schrieben sind,  als  wenn  der  Verf.  eine  enorme  Gelehrsamkeit  auf- 
bieten müsste,  um  etwas  Neues  zu  sagen,  während  doch  so  Vie- 
les, so  Grosses,  so.  Wichtiges  noch  den  Meisten  neu  ist,  während 
«s  ihm  freilich  wie  ein  längst  Abgemachtes  vorlag.  Die  Aufgabe 
seiner  Zeitgenossen  und  Nachkommen  wird  sein  die  Lücke,  die  er 
eben  zwischen  dem  Anfang  des  Wissens  und  seinen  Arbeiten  gelas- 
sen hat,  auszufüllen;  es  ist  ihm  wie  vielen  Docenten  und  Rednern 
gegangen;  er  hat  sich  zum  Maassstabseiner  Arbeit  genommen  und 
nicht  die  Welt  -der  Zuhörer  uhd  Leser.  Es  ist  wahr,  die  specia- 
len Studien  gehen  immer  der  allgemeinen  Anschauung  voraus;  wir 
haben  die  glänzendsten  Monographien  in  deutscher  Geschichte  aber 
keine  deutsche  Geschichte,  wie  sie  auf  diesen  Monographien  er- 
baut sein  sollte;  wir  haben  eine  Legion  Arbeiten  und  Studien  in 
griechischer  Allerthumskundö,  aber  weder  eine  griechische  Ge- 
schichte noch  Literargeschichte,  wie  sie  verlangt  und  gebraucht 
wird.  So  ist  es  in  der  orientalischen  Welt,  so  ist  es  überall;  die 
hinzutretenden  Jünger  dürfen  nicht  eher  ins  Wasser  gehen,  bevor 
sie  schwimmen  gelernt  haben;  sie  dürfen  nicht  anfangen  zu  ler- 
nen, sondern  zu  studiren;  sie  können  nicht  von  aussen  hinein, 
sondern  nur  von  innen  heraus  kriechen;  es  giebt  zwar  keinen  Weg- 
weiser, aber  sie  sollen  ihn  Andern  zeigen  und  man  hat  zwar  we- 
nig Zeit,  weil  unendlich  viel  zu  lernen  ist,  aber  man  kann  eben 
nicht  mehr  ersparen,  als  die,  welche  vor  uns  gearbeitet  haben; 
wir  haben  weitere  Wege  und  grössere  Hindernisse,  aber  nur 
ebensoviel  Zeit;  die  bibliographischen  Riesenwerke  unter  den  jun« 
gen  Armen  sollen  wir  die  Riesenschritte,  die  im  Geiste  die  alleren 
Geister  gemacht  haben,  nachmachen.  So  beginnt  auch  die  Litera- 
tur jüdischer  Wissenschaft.  Auf  unendliche  Fragen  giebt  nur  der 
mündliche,  nicht  der  schriftliche  Zunz  Antwort;  seine  Arbeiten 
sind  End-Resultate,  wir  wollen  Strassen,  auf  denen  man  zu  ihnen 
gelangt,  seine  Abhandlungen  sind  Hafen,  aber  wir  sind  noch  gar 
nicht  auf  dem  Meere.  Wenn  er  nicht  selbst  Rechnung  legte,  wer 
könnte  ihn  in  Allem  controlliren?  Ein  Paar.  Wer  übersieht  selbst 
diese  Rechnung?  wer  fühlt  aus  diesen  zahllosen  einfach  hingestell- 
ten Notizen,  wer  aus  der  mit  wenigen  Worten  gegebenen  Charak- 
leristik  das  heraus,  was  nothwendig  ist?  Nur  wenige.  Es  war 
daher  ein  günstiges  Geschick,  dass  in  den  beiden  Erzeugnissen 
dieses  Jahres  sich  das  Ergänzende  zusammenfand.    Sachs  mit  sei- 


568  Allgemeine  Literaturberichte. 

ner  glänzenden  und  neu  schaffenden  Auffassung  war  der  gültigste 
Dolmetscher  für  alte  Forschungen  Zunzens  und  Rapoports,'  der  be- 
redteste Reise besch reiber  für  die  von  Zunz  gezeichnete  Landkarte. 
In  dem  Einen  ist  das  Schaffen,  in  dem  Andern  Darstellen  Natur. 
In  der  Art,   wie  sie   beide  dieser  Natur  folgen,  sind  Beide  edel; 
nur  mit  dem  Wissen  von  Sachs  kann  man  Forschungen  von  Zunz 
in  die  tausendfarbigen  Tuschkasten  der  Redekunst  bringen;    nur 
mit  der  Sachkenntniss  und  detn  Gefühle  des  jungen  Mannes  kann 
man  das  von  dem  Senior  angedeutete  zu  einem  prächtigen  Bilde 
herausmalen  und  vorstellen.    Die  Ar  beiten  Zunzens  in  diesem  zwei- 
ten Buche  müssen  auf  den  Lücken  füllenden  Darsteller,  auf  den 
das  zwischen  ihnen  verborgene  Rand  findenden  Künstler  warten, 
bevor  sie  das  glückliche  Schicksal   einer  allgemeinen  Ausbeulung 
erreichen.    Wir  werden  hier  nur  mit  wenigen  Worten  den  Inhalt 
der  Abhandlungen  angeben.    Das  Resultat  aller  ist,  dass  die  christ- 
liche Welt  nur  einen  Blick  in  dasselbe  zu  Ihun  braucht,  um  Ach- 
tung vor  solchen  Bestrebungen,  Ehrfurcht  vor  dem  so  lange  ver« 
achteten  jüdischen  Geiste,   um  Liebe   zu  einer  neuen  Welt  voo 
nicht  gekannten  Dingen  zu  gewinnen.  Das  Alterlhum  und  sein  Ge* 
Schichtschreiber  werden  ihnen  der  Emancipation  würdig  scheinen« 
Wir  bitten  die  Kenner  des  christlichen  Mittelalters  nur  aus  diesem 
Buche  Vergleiche  darüber  anstellen  zu  wollen,  welche  Nation  mehr 
als  die  Juden  gethan  hat,  mehr  dem  Geist  geweiht  war,  mehr  für 
Sittlichkeit  und  Bildung  der  Zeit  bestrebt  und  gesinnt  war.    Die 
1.  Abhandlung,    „die   jüdische   Literatur"    wird    ihnen   kurz  sa- 
gen, was   Christen,   edle   und   grosse  Männern  zum   Theil,   für 
Fleiss  und  Mühe  in  früherer  Zeit,  was  von  Unwissenheit  und  auch 
Böswilligkeit  die  Gelehrten  des  19.  Jahrhunderts  besessen  haben« 
Die  zweite  Abhandlung,  ein  Meisterstück  von  Fleiss  und  SammeU 
talent,  „zur  Literatur  des  jüdischen  Mittelalters  in^ Frankreich  und 
Deutschland"  stellt  ihnen  eine  Reihe  von  Glossatoren  (Tosafisten), 
Exegeten  (Commentatoren),  Grammatikern  (Punktatoren),  Sittenleh- 
rern vor,  von  denen  wir  gern  wissen  möchten,  welche  Nation  in 
wenigen  Jahrhunderten  mehr  und  grössere  gehabt.     An  Zahl  und 
zeitgemassem  Wissen  möchten  sie  wohl  keiner  weichen;  auf  die 
Auszüge  aus  den  Sittenlehren  wagen  wir  die  Vorurtheilsvollen  gern 
hinzuweisen;  Zunz  hat  diesmal  die  Stelle  Eisenmengers  übernom- 
men; was  er  von  Hirt  anführt  (pag.  123)*),  möchte  da  Manchem  ent- 
fallen, wie  human  er  auch  gegen  seine  jüdischen  Zeitgenossen  ge- 
worden ist.    Die  6..  Abtheilung,  die  Charakteristik,  ist  eine  Art  Ar- 


*)  „Kaom  hätte  man  in  damaligen  Zeilen  solche  Sittenlehren  von 
Christen  erwarten  sollen,  als  dieser  Jude  seinen  Glaubensgenossen  hißr 
vorgeschrieben  und  hlnlerlassen  hat.'^ 


Allgemeine  Literaturberichte,  369 

cbäologie  des  jüdischen  Mittelalters,  die  den  Leistungen  eines 
Grimm  ebenbürtig  wird;  wir  wissen  nicht,  was  wir  ausheben  sol- 
len und  das  Ausgehobene  können  wir  nicht  kürzer  geben.  Mögen 
die  Leser  dieses  das  Buch  selbst  lesen ;  was  Archäologie  ist,  scheint 
doch  bekannt  genug.  In  ihm  ist  sogar  den  Abschreibern  von  Co- 
dices ein  Denkmal  errichtet  worden  j  er  nennt  gegen  100.  Die  aber 
in  neuester  Zeit,  die  jüdische  Forschungen  ohne  sie  zu  nennen 
benutzt  haben,  hat  er  nicht  aufgenommen.  Er  spricht  blos  vom 
Mittelalter.    Die  3.  Abhandlung  enthält  Bibliographisches: 

1.  Datenbestimmungen;  es  sind  Berichtigungen  und  Deutungen 
von  Jabrzahlen,  die  für  jüdische  Literaturgeschichte  wichtig, 
aber  missverstanden  sind. 

2.  Sammlungen  und  Verzeichnisse.  Ueber  Bibliotheken  und  Ka- 
taloge wird  hier  gehandelt. 

3.  Drucker  und  Drucke  von  Manlua  von  1476—1662. 

4.  Druckereien  in  Prag. 

5.  Annalen  hebräischer  Typographie  von  Prag  von  1513  —  1657, 
Die  Bibliographien  haben  noch  wenig  von  dem  hier  enthaltenen. 
Ebert  und  Brunei  haben  das  Jüdische  immer  christlich  behandelt. 
Die  4.  Abhandlung,  „das  Gedachtniss  der  Gerechten*^  enthält  die 
Zusammenstellung  der  Formeln,  deren  man  bei  den  Juden  sich  im 
Angedenken  an  die  Todten  bediente.  Er  giebt  zuerst  die  allge- 
meinen Redensarten  des  Segens  und  Grusses;  dann  diejenigen,  io 
denen  man  der  Todten  gedachte;  dann  stellt  er  die  Meinungen  zu- 
sammen, wie  Juden  über  die  Seligkeit  von  Juden  und  NichtJuden 
dachten.  Ein  sehr  lehrreicher  Aufsatz  für  alle,  welche  sich  mit 
der  Seligkeit  der  Juden  hier  und  jenseits  beschäftigen.  Dann 
folgen  jüdische  Grabsteine  und  ihre  Wichtigkeit  für  die  Kennlniss 
jüdischer  Genealogien.  Dann  die  Formeln,  die  auf  den  Grabstei- 
nen stehen;  die  Literatur  der  Abbreviaturen  und  Verbesserungen 
von  Dingen,  an  die  die  germanische  Gelehrsamkeit  für  jüdische 
Elemente  nicht  gedacht  hat.  Es  ist  nicht  möglich,  die  Hasse  des 
in  diesem  Aufsatz  Gegebenen  nur  irgend  kurz  anzugeben;  ich 
weiss  nur  das  catonische  „ceterum  censeo*'  librum  esse  legendum. 
Der  5.  Aufsatz  behandeli  die  jüdischen  Dichter  der  Provence.  Von 
denen  in  Spanien  war  oben  die  Rede.  Er  giebt  hier  nur  Namen. 
Ein  Späterer  wird  auch  sie  lebendig  machen.  An  jüdische  Trou- 
badours kann  ein  Moderner  freilich  nur  lächelnd  denken.  Aber 
auch  mehr  Herz  als  in  H.  Heine  ei^istirt,  haben  sie  besessen.  Der 
6.  Aufsatz  ist  die  Geschichte  der  Juden  in  Sicilien  nach  Giovanni 
und  den  jüdischen  Quellen.  Für  diejenigen,  die  von  jüdischer  Ge- 
schichte noch  nichts  Rechtes  wissen,  diene  vor  Allem,  dass  Zunz 
51  enge  Seiten  über  Juden  in  Sicilien  schreibt.  Der  letzte  Auf- 
satz über  Münzkunde  muss  jeden  Historiker  und  Numismattker  in- 


570  Allgemeine  Liieraturberichte, 

teressiren.  Nachträge  und  Verzeichnisse  der  Codd.  folgen.  Einen 
Index  dazu  hat  mein  Bruder  Dr.  David  Cassel  hinz  ugefügt  und  so 
wären  wir  mit  dem  Buche  fertig,  rascher,  als  der  Verf.  es  vollen- 
det, wir  es  gelesen  und  die  christlichen  Wissenden  ein  Endchen 
Zeit  und  Sinn  für  diesen  neuen  Gang  im  Bergwerke  des  Wissens 
gewonnen  haben  werden. 

3.  Neuere  Geschichte  der  Israeliten  von  4845 — 4845.  Mit  Nachtragen 
ond  Berlchtlgungeo  zur  filteren  Geschichte  von  Dr.  J.  If.  Jost.  £rste  Ab- 
theilung.    Deutsche  Staaten.     Berlin,    4  846.     Schlesinger.-    8.    385   S. 

Einst  war  die  Theologie  die  Grundlage,   auf  der  sich  die  jü- 
dische Geschichte  für  üearbeiter  und  Leser  erhob.    Nicht  blos  für 
die. Christen,  und  es  genügt  hier  Prideaux  und  Basuage  zu  nennen, 
sondern  auch  für  die  Juden,   die  sich  des  historischen  Stoffes  zur 
Darstellung  annahmen,   war  das  Religiöse  allein  gültiges  Moment 
Ben   Verga,    R.  Gedalia,   Sacuto   am  Ende   des  15.  Jahrhunderts, 
hatten  eben  nur  für  die  theologische  oder  religiös  «nationale  Seite 
der  Geschichtschreibung    Sinn.     David  Gans  schrieb   zwar   eine 
Chronik  nach  dem  Muster  seiner  Zeit;  Spangenberg,  Gollius  nennt 
er  zwar  seine  Quellen  und  er  kennt  auch  den  Gedanken  der  qua- 
tuor  summa  imperia,  über  die  noch  sein  Zeitgenosse  Sleidanus  ge- 
schrieben, aber  das  ist  eben  nur  der  zweite  Tbeil  seines  Werkes; 
im  ersten  folgt  er  ganz  dem  literarisch -religiösen  Zuge,   dem  die 
früheren  gefolgt  sind  und  der  sich  mit  Aufzählung  der  Namen  und 
auch  der  Schriften  der  grossen  Männer  der  Nation  begnügt,    im 
achtzehnten  Jahrhundert  ist  es  der  erstaunlich  fleissige  R.  Jechiel 
Reilbron  in  Minsk,  der  auf  diese  Weise  Geschichte  und  Literatur- 
geschichte  in  einander  schmolz.     Für  das  Bedürfniss  des  Volkes 
hat  R.  Menachem  Balievi  besser  als  alle  früheren  'das  historische 
Moment,  wenn  auch  am  religiösen  hängend,  zu  bewahren  gewusst. 
Die  Zeiten,   in  denen  durch  die  Theologie  die  Weltgeschichte 
angesehen  ward,  sind  vorüber.    Politik  und  Recht  treten  an  ihre. 
Stelle.    Die  jüdischen  Geschichtschreiber  konnten  nicht  mehr  Got- 
tesgelehrte sondern  mussten  Jurisprudentes  sein.    Die  eigenthüm- 
liche  Stellung  der  Juden  zu  den  Christen  um  sie  her  gab  die  Ver- 
anlassung.   Als   das  achtzehnte  Jahrhundert  nichts  mehr  glauben 
wollte,  verwarf  es  zwar  auch  das  alte  Testament,  aber  es  will  die 
Juden  eben  deshalb,  frei  und  emancipirt  wissen.    Schon  Locke  und 
Bolingbroke  hatten  das  ausgesprochen.    Da  man  diese  Emancipalion 
nicht  geben  konnte  oder  wollte,  so  musste  dem  entgegnet  werden, 
I  aber  nicht  mehr  durch  theologische,   sondern  durch  staatsökono- 

'  mische  Gründe,   und  so'   entstand   die   grosse  Literatur,    die   auf 

\  staatsrechtlichen  Elementen  basirt  die  Möglichkeit  einer  Emanci- 

pation  der  Juden  seit^Dohms  Buch  über  die  bürgerliche  Verbes- 
serung der  Juden  bespricht.   Auf  ähnlicher  Basis  aber  immer  noch 


Allgemeine  Liferaturberichie.  571 

# 

mit  theologischen  Gründen  verschwistert  war  die  Aufnahme  der 
Juden  in  England  möglich  geworden:  würde  Menasseh  ben  Israel 
sein   Wort  gelöst  und   die  Geschichte  seiner  Nation  geschrieben 
haben,    wir  hatten  in  ihr  die  Mischung  theologisch -politischer  An- 
sichten,  nach  denen  schon  damals  das  Verhältniss  der  Juden  in 
England  gemessen  ward ,  deutlich  gabren  gesehen.  Die  Wellen  der 
Revolution  und  der  sie  erzeugenden  Ideen  hatten  sich  schon  an 
den    Köpfen   deutscher  Philosophen   und   völlig   an   dem   heiligen 
Bunde  gebrochen.   Die  Theologie  rang  wieder  nat^h  lang  verlorener 
Geltung.    Die  echte  solide  Wissenschaft  war  wieder  zu  Ehren  ge- 
kommen und  den  Juden  machte  man,   als  etwas  was  nothwendig 
zusammenzugehören   schien,    das  kaum  in  den  Stürmen  der  Be- 
wegung und  Noth  Errungene  streitig.    Hier  griff  der  Staat  zu  der 
juristischen  und  staalswissenschaftlichen  Frage  über  die  Möglichkeit 
jüdischer  Freiheit  und  an  das  Jahr  1815  knüpfen  sich  dann  zahl- 
lose Streitschriften   für  und  gegen  eine  Berechtigung,   die  an  sich 
zu  natürlich  ist,  als  dass  eben  nicht  der  Sophismus  allein  und  der 
böse  Wille  Gründe  gegen  sie  zu  finden  und  aufzustellen  im  Stande 
sein  sollte.    Es  begann  also  ein  neuer  Kampf;   es  bemühten  sich 
die  jüdischen  Apologeten  vergeblich,   weil  es  unmöglich  ist,   den 
Sophismus  zu  vernichten;  er  war  nur  da  um  hinter  gewissen  und 
ungewissen  Gründen  das  Nein  zu  verbergen,  was  auf  alles  Dispu- 
tiren und  Petitioniren  erfolgen  musste.    Was  die  Juden  von  Rech- 
ten der  Humanität  etc.  sprachen,    halten  die  Verweigerer  schon 
vorher  gewusst  und  es  hat  etwas  komisches  zu  glauben,  dass  ein 
Jahrhundert,   das  stolz  darauf  ist  freier  als  die  Griechen  zu  sein, 
weil   es  keinen  Helolismus   anerkennt  und   so  viele  Menschen 
unter  seinen  Söhnen  zählte,    über  die  Bedeutung  der  Humanität 
belehrt  werden  müsste;  man  wollte  nicht  und  will  nicht  und  darin 
iist  Alles  eHthalten,  was  der  Gegner  sagen  und  der  Freund  bedau- 
ern  kann.    Einen  bösen  Willen,    der  sich   auf  böses  Vorurtheil 
stützt,   konnte  man  nicht  überzeugen  und  wenn  die  ganze  Juden- 
beit,    um    das  Möglichste   zu   thun,    auf    einmal    zum  Schusler- 
handwerk,    so  ehrenvoll   es  ist,   sich   bekehrt  hätte.    In  die  Zeit 
dieses  Kampfes  fällt  die  Abfassung  des  grossen  Geschichtswerkes 
von  Jost,  das  in  9  Bänden  die  Historie  der  Juden  von  den  Macca- 
bäern  bis  1815  darstellt.    Es  ist  hier  weder  Ort  noch  Zeit  ein  nä- 
heres Urtheil  über  dieses  Werk  zu  fällen.   Es  hat  die  Mängel  seiner 
Zeit  und  es  ist  sein  grösster  Fehler,   was  sehr  richtig  ein  christ- 
lieber  Autor  von   ihm   gesagt  hat:    „Die   Onpartydigheid    die   de 
Scbryyer  zieh  ten  plicht  haft  gesleld  is  zoo  groot  dat  men  wel 
eens  twyfell  of  men  het  Werk  van  een  Joodschen  Schryver  leest". 
Auch  über  das  i^ue  Buch,    das  oben  genannt  ward,   kann  hier 
keine  eingehende  Meinung   dargestellt  werden.     Es  umfasst  die 


572  Attgemtine  Literaiurberiehte, 

RecbtsTerb'äKnisse  der  Jaden  in  sammlllchen  deatgcben  Staaten, 
^\e  sie  sieb  bis  auf  den  beatigen,  Tag  entwickelt  baben,  bespricht 
ziemlich  ausnJhHich  diese  Entwicklang  und  scbliesst,  obschon  ein 
besonderer  Abschnitt  für  die  Culturgeschicbte  der  Nation  noch  be- 
sonders versprochen  ist,  lokale  Notizen  über  einzelne  Notabilitäten 
derselben,  als  die  fiinflüsse  der  Recblszuslände  auf  die  Juden  niebt 
minder  bezeichnend,  daran  an.  Bei  der  Zahl  der  deutschen  Staaten 
wäre  hier  auch  nur  das  kijirzeste  Resam6  zu  weitläufig,  besonders, 
da  in  den^  grössern  Staaten  wieder  besondere  Gerechtsame  in  den 
verschiedenen  Provinzen  beliebt  sind.  Der  Verfasser  blieb  aach 
hier  bei  seiner  Unpartbeilichkeitstbeorie  stehen,  doch  freut  man 
sich  sehr  den  Eindruck  der  Zeit  auch  hier  kennen  gelernt  zu  haben, 
Jost  hat  seine  neunbändige  Geschichte  geschrieben  als  ein  Zeitge- 
nosse Friedländers  und  der  jüdischen  Aufklärer,  die  mit  begel* 
schem  Christenlhnm  kokelttrten ;  er  schrieb  sie  als  Mensch,  der  je 
weiter  er  die  nationale  Hölle  wegwarf,  desto  tiefer  und  würdiger  seine 
Nation  zu  schildern  glaubte;  er  gehörte  zu  den  Wissenden,  die  der 
Mode  nicht  zu  widerstehen  im  Standewaren,  das  jüdische  Alterthum 
als  etwas  unförmliches  und  unchristliches  zu  verstecken  und  mit 
scheelem  Auge  anzusehen;  diese  Zeit  glich  wirklich  der,  wo  die 
heimlichen  Juden  in  Spanien  in  Kellern  und  unterirdischen  Ge- 
mächern am  jüdischen  Ritus  vom  täglichen  öffentlichen  Zwange 
sich  erholten.  So  schwelgten  auch  sie,  weil  sie  noch  dasJödiscbe 
kannten,  versteckt  in  den  Reizen  alterlhümlichen  Wissens,  aber 
das  Licht  des  Tages,  das  nur  die  christliche  Sonne  bescbien,  durfte 
in  diese  heimlichen  Genüsse  nicht  fallen.  Beute  ist  das  doch  An- 
ders. Jost  schreibt  als  Jude  für  Juden  und  Christen;  Wissenschaft 
und  Nation algefuhl  ist  wieder  zur  Geltung  gelangt.  Man  schämt 
sich  nicht  mehr  Jude  zu  sein  und  ein  jüdisches  Alterthum  zu  bä- 
hen, und  man  fängt  an  dieses  Alterthum,  and  das  ist  der  grösste 
Sieg  den  Zunz  erfochten  hat,  dieses  AUerthum  mit  den  Augen  zu 
betrachten,  mit  denen  man  griechisches,  römisches  und  ägyplt- 
sches  ansieht.  Selbst  die  modernen  Aufklärer  sind  von  den  Alten 
unterschieden;  sie  klären  auf,  weil  sie  nichts  wissen  und  verach- 
ten nur  eben  das  Nichtgekannle.  So  werden  die  Zeiten  immer 
besser  und  der  nächste  Band  der  Jost'schen  Geschichte  wird  uns 
bei  der  Darstellung  der  slavisch -jüdischen  Rechtsverhältnisse  wohl 
das  Erfreuliche  bringen,  dass  von  der  krakauer  Revolution  die 
Freiheit  der  Juden  übrig  geblieben  sei.  Man  wird  nicht  umhin 
können,  das  Beispiel  des  Bey*s  von  Tunis  nachzuahmen. 

Selig  Cassel. 

Ueber  die  RabbinerversammluDg  des  Jahres  4  650.  Eine  histor.  Ab- 
handluDg  von  Selig  Gassei.  Berlin,  fiacbb,  des  BerI.*Lesekabioe(s ,  4845. 
8.    55  S. 


Allgemeine  LiteraturbericMe,  573 

Ungarn  und  Siebenbürgen» 

Historisch* genealogisch -geograpbiscber  Atlas  zur  Ueberslcht  der  Ge- 
schichte des  ungarischen  Reichs  und  seiner  Nebenländer  von  Joseph  Be- 
deus  von  Scharberg,  königl  siebenbürg.  Hofrath  und  Oberlandescommissaire. 
Hermannsiadt  4  845.  Fol.  Druck  und  Verlag  der  von  Hochmeistcrschen 
Crben  (Theodor  Steinhaussen).    £rste  Lieferung. 

Mit  Recbl  macht  der  Verfasser  die  Kenntniss  der  vaterländi- 
schen Geschichte  zu  einem  Kriterium  allgemeiner  Bildung;  niemals 
mehr  als  heut  ist  den.  Völkern  genaues  Wissen  von  ihren  Vor- 
fahren und  dem  Leben  dieser  in  politischer  und  ethischer  Bezie- 
faimg  oothwendig;  weil  eben  alle  Gegenwart  auf  den  Pfeilern  des 
Vergangenen  ruht  muss  für  die  Beurtheiler  dieser  die  Kenntniss 
der  früheren  Dinge  durchaus  aHein  Basis*  werden;  erst  das  Wie 
des  Entstandenseins  erklärt  das  Bestehen. 

Die  Zahl  der  Werke  aber,  aus  denen  jedermann  lernen  und 
schöpfen,  aus  denen  jeder  die  Lücken  des  Gedächtnisses  ausfüllen 
kann,  ist,  wenn  mit  Geschmack  und  etwas  Strenge  gesucht  wird, 
bei  uns  gering,  in  Ungarn  und  Siebenbürgen  natürlich  noch  unbe- 
deutender. Erst  die  Generalversammlung  des  Vereins  für  sieben- 
bürgiscbe  Landeskunde  hat  den  fühlbaren  Mangel  einer  vaterlän- 
dischen Geschichte  ausgesprochen  und  sucht  sie  durch  einen  aus- 
gestellten Preis  für  deren  Bearbeitung  hervorzurufen;  ein  Tabel- 
lenwerk, aus  dem  man  eine  Uebersicht  über  die  Gliederung  und 
Verbindung  des  gesammten  Ungarischen  Reichs  gewinnt,  hat  noch 
nicht  existirt. 

Bedeus  von  Scharberg  hat  von  jeher  für  die  Verallgemeinerung 
historischer  Kenntnisse  in  seinem  Lande  zu  wirken  gesucht;  er 
will  das  Gewusste  in  eine  Sphäre  zusammenbringen,  wo  es  jeder 
leicht  übersehen  und  sich  zu  eigen  machen  kann;  auch  in  seiner 
„Verfassung  des  Grossfürsten  thums  Siebenbürgen^*  ist  klare  An- 
scbatilichkeit  und  lexikalische  Zusammenstellung  sein  eigentlicher 
Plan;  dasselbe  spricht  er  io  seiner  als  Vereinsvorsteher  bei  der 
Generalversammlung  von  1844  gehaltenen  Rede  aus  (Vereinsalbum 
p.  2^  etc.)  und  ganz  dieser  populären  Kenntniss  ist  das  grosse 
Werk  gewidmet,  von  dem  jetzt  die  erste  Lieferung  vorliegt.  Das 
ganze  Werk  wird  in  drei  Tbeile  zerfallen,  von  denen  der  erste 
„di?  Vorzeit  oder  Geschichte  der  Ungarn  und  ihres  beutigen  Va- 
terlandes bis  zur  Ankunft  daselbst,  also  500  vor  Chr.  bis  900  nach 
Cbr/S  der  zweite  Theil  „die  Geschichte  Ungarns,  Siebenbürgens 
und  der  Nebenländer  von  901  — 1800"*,  der  dritte  „den  Schauplatz 
der  Gestiebte  der  Ungarn  oder  den  Zustand  Ungarns,  Siebenbür- 
fieos  und  der  Nebenländer  von  der  Herrschaft  der  Römer  bis  zur 
jetzigen  Zeit,  van  200 -- 1800''  darstellen  wird*  Die  Nebenländer 
werden  in  weiterer  Bezeicboung  verstanden  und  daher  TabeUen 

Allg.  ZMUchrift  r.  0«tchiekto.  T.  184«.  39 


574  Allgemeine  Literatnrberichte, 

über  die  Geschichte  Oesterreichs,  Böhmens,  Polens,  des  deutschcD, 
byzantinischen  und  osmanischen  Reichs  binzagerügf.  Gewissen 
Landern  wie  Neapel  und  Venedig  nebst  andern  ist  nur  für  die 
Zeit  näherer  Berührung  mit  Ungarn  das  Recht  einer  Tabelle  zuge- 
standen worden.  Während  der  erste  Theil  nur  3  Tafeln  und  eioe 
Karte  enthalten  wird,  sind  14  chronologisch-synchronistische  Tabel- 
len, 15  Geschlechtstafeln  ungarischer  Herzoge  und  Könige  und  4 
siebenbürgischer  Fürsten  für  den  zweiten  und  8  Karlen  für  den  drit- 
ten bestimmt.  Hiezu  kommen  Zugaben,  wie  bei  dem  zweiten  die 
Abbildung  der  ungarischen  Krone,  beim  dritten  die  Beschreibung 
aller  Wappen  der  ungarischen  Lander  und  Provinzen  von  einst 
und  heute. 

Die  erste  Lieferung  enthält  aus  dem  ersten  Theile  die  zweite 
Tafel,  die  die  Geschichte  jener  Völker,  mit  welchen  die  Ungarn 
bei  ihrer  Einwanderung  nach  Europa  in  Berührung  kamen  und 
die  dritte  Tafel,  die  die  Geschichte  der  Ungarn  vor  900  und  die 
Meinungen  über  ihren  Ursprung  zusammenstellt;  aus  dem  dritten 
Theil  ist  die  erste  Karte  gegeben,  welche  den  Zustand  der  Länder, 
in  denen  sich  die  Ungarn  niederliessen,  um  200  n.  Chr.  beschreibt. 

Ein  Urtheil  über  den  Werth  dieser  Tabellen  mag  erst  später 
bei  besserem  Ueberblick  über  Jdas  Ganze  oder  einen  grösseren 
Theil  gestattet  sein;  für  jetzt  genüge  diese  Anzeige,  die  das  Werk 
allen  Freunden  ungarischer  Geschichten  zur  Beachtung  empfiehlt. 

Magazin  für  Geschichte  und  Literatur  und  alle  Denk-  und  Merkwür- 
digkeiten Siebenbürgens.  Im  Verein  mit  mehreren  Vaterlaudsfreunden 
herausgegeben  von  Anton  Kurz.  1.  Band.  4.  2.  Heft.  Kronstadt  4844. 
Joh.  Gott.     3.  Heft.     4  845. 

Der  Herausgeber  dieses  Magazins  ist  derselbe,  von  dessen 
„Nachlese  auf  dem  Felde  ungarischer  und  siebenbürgischer  Ge- 
schichte'^  wir  schon  früher  ein  Wort  gesagt  (Zeitschrift  Bd.  2.  pag. 
375)  und  dessen  Schreiben  über  historische  Thätigkeit  in  Sieben 
bürgen  als  Nachtrag  zu  unserem  Aufsatze  (Bd.  3.  p.  94)  mitgetheilt 
worden  ist 

Er  gedenkt  in  so  fern  eine  Lücke  in  siebenbürgischer  Wissen 
Schaft  auszufüllen,  als  er  sein  Werk  der  Geschichte  und  Literatur 
allein  widmet,  während  das  Vereinsarchiv  die  gesammte  Landes- 
kunde zu  ihrem  Objecto  wählte.  In  der  That  mag  das  auch%on 
erspriesslichem  Nutzen  sein  können  und  an  eine  feindliche  Con- 
currenz  mit  jenem  ist  gewiss  nicht  zu  denken;  eben  so  richtig, 
als  der  Gedanke  des  genannten  Vereins  ist,  die  gesammte  Landes- 
kunde durch  ihre  Schriften  zu  fördern,  ebenso  gut  ist  es,  wenn 
so  viel  ändere  gelehrte  Productionskraft  ausser  demselben  im  Lande 
exiistirt,  um  der  Geschichte  allein  eine  fortlaufende  Reihe  von  Auf- 
sätzen zu  widmen.    Der  Verf«  IsX  zur  Herausgabe  des  Magazins 


I 


Allgemeine  Literaturierichte»  575 

i 

von  Herrn  Grafen  Jos.  Kemöny  aufgefordert  worden,  etwas,  was  er 
zwar  nicht  in  der  Einleitung  dazu,  aber  in  dem  Schreiben  an  Prof. 
Schmidt  aussprach  (Zeitschrift  3.  p.  96)  und  aus  Mittheilungen  die- 
ses gelehrten  und  fleissigen  Mannes  bestehen  zum  grössten  Theile 
die  bis  jetzt  erschienenen  Hefte. 

Wir  können  nun  nicht  verhehlen,  dass  das  ganze  Werk,  bei 
aller  Verdienstlichkeit,  die  die  Thatsache  für  sich  in  Anspruch  neh- 
men kann,  noch  immer  den  Stempel  einer  wissenschaftlichen  Un- 
reife, eines  Mangels  an  echter  historischer  Durchbildung  und  An- 
schauung trägt;  namentlich  muss  das  von  dem  Vorworte  des  Re- 
dacteurs  gellen.  Er  spricht  z.  B.  von  der  Rührigkeit,  die  im  For- 
schen und  Produciren  in  Deutschland  herrscht  und  nennt  dabei 
als  Beispiele  die  Zeilschrift  für  deutsches  Allerthum  von  Haupt, 
Kruse's  Werk  über  die  liefiändischen  Alterthümer,  die  Jahrbücher 
von  Bülau,  die  Zeitschrift  von  Schmidt,  den  Verein  für  Alterthums- 
kunde  in  Ulm  und  (!!!)  die  Geschichte  der  europäischen  Staaten 
von  Heeren  und  Uckert,  Erscheinungen,  von  denen  man  eher  ver- 
muthen  möchte,  dass  sie,  was  die  ungemein  genaue  Angabe  der 
Verleger  bestätigt,  der  Verf«  nur  aus  buchhändlerischen  Anzeigen 
in  der  allgemeinen  Augsburger  Zeitung,  die  er  citirt,  und  nicht  aus 
eigener  Lektüre  kenne.  Hätte  er  nur  die  Schmidt'sche  Zeitschrift 
etwas  genauer  gelesen,  so  würde  er  nicht  Einen  Verein,  son- 
dern aus  Klüpfel's  Aufsatz  (Bd.  1.  p.  519  etc.)  das  Dasein  von 
mehr  als  44  Vereinen  entdeckt  haben;  es  wäre  aber  gewiss  trau- 
rig, wenn  obige  genannten  Bücher  die  alleinigen  Zeugnisse  deut- 
schen Fleisses  wären  und  wir  müssen  schon  Herrn  Kurz  bitten, 
sich  etwas  mehr  mit  der  historischen  Literatur  Deutschlands  be- 
kannt zu  machen  oder  nur  an  dieMonumenta  Germaniae  zu  den- 
ken. Aber  sogar,  was  er  von  siebenbürgischer  Literatur  angiebt, 
die  seit  den  letzten  Decennien  des  18.  Jahrhunderts  erschienen 
sei,  ist  weder  genügend  noch  charakteristisch  genug  dargestellt. 
Die  Kenntniss  der  hier  genannten  Erzeugnisse  hätte  wenigstens  von 
den  Lesern  einer  gelehrten  Zeitschrift  vorausgesetzt  werden  sollen» 
zumal  wenn  es  eben  nur  die  bekanntesten  Büchertitel  sind,  die 
hier  an  ganz  unpassendem  Orte  genannt  werden.  Gegen  den  Ver- 
ein äussert  sich  wie  versleckt  auch  eine  gewisse  Bitterkeit  in  dem- 
jenigen, was  von  ihm  gesagt  wird;  es  scheint  mir  beinahe,  als  ob 
auf  feindlichem  Gefilde  zwei  Lager  aufgeschlagen  seien,  deren 
Heere  sich  wenigstens  beobachten.  Der  alte]  Streit  zwischen 
Deutschen  und  Nichtdeutschen  in  Siebenbürgen  scheint  auf  die 
Gelehrten  übergegangen  zu  sein.  Das  eine  Lager  bildet  der  Ver- 
ein, wie  die  ganze  deutsche  Genossenschaft  aus  Männern  beste- 
hend, die  der  Arbeit  des  Lebensberufs  nur  einige  Stündchen  für 
die  Müsse  entziehen  können;  das  andere  Graf  Job.  Kem6ny,  wie 

39* 


576  Allgemeine  Literalurberichie. 

ein  ungarischer  liagnal  in  ongehaarem  bequemen  Besitze  von  Ma^ 
terialien,  aus  denen  nur  geschöpft  zu  werden  braucht,  wenn  das 
freilich  auch  zuweilen  ohne  Maass  und  Tact  geschieht.  Hier  Einer, 
aber  ein  Mächtiger,  dort  Viele,  aber  vom  Leben  mehr  in  Anspruch 
genommene.  Unser  Kurz  freilich,  der  das  Organ  des  Herrn  Gra- 
fen Kemöny  geworden  ist,  ist  ein  Deutscher j  es  haben  Deutsche 
zu-  allen  Zeiten  bei  allen  Parteien  friedlichen  und  kriegerischen 
gedient.  Was  Herr  Kurz  von  dem  Mangel  an  Verlegern  und  Käu* 
fem  der  Bücher  in  Siebenbürgen  sagt,  kann  und  wird  gewiss  rich- 
tig sein;  dass  er  aber  von  den  deutschen  Gelehrten,  die  sich  für 
Siebenburgen  interessiren,  verlangt,  sie  sollten  dieses  Interesse  bald 
bezahlen  und  eine  Reciprocitat  in  dem  Bücherkauf  zwiscbeo 
Deutschland  und  Siebenbürgen  will,  ist  etwas  anspruchsvoll.  „Denn 
lange  genug  haben  wir  uns  von  seinem  Büchermarkte  versorgt,*' 
sagt  er  von  Deutschland.  Das  war  nothwendig  und  ist  es  im- 
mer noch;  Deutschland  hat  nicht  Geld  genug,  seine  Erzeugnisse  zu 
kaufen;  eine  Uterarische  Dankbarkeit  dafür,  dass  die  Colonie  von 
dem  Mutterlande  gelernt  hat  und  noch  lernt,  ist,  wenn  sie  verlang! 
wird,  komisch,  wenn  sie  da  ist,  für  die  Colonie  ein  Glück.  Sol- 
len Eltern  für  majorenne  Kinder  ewig  sorgen?  Nur  bei  Unfähigen 
und  Missgestalteten  ist  das  eine  dauernde  Pflicht»  — 

Folgende  Aufsätze  sind  im  Magazin  enthalten:  1.  Offenes  Be- 
kenntniss  meiner  Ansichten  über  das  Schreiben  einer  Geschichte 
Siebenbürgens  vom  Grafen  Kemeny.  Die  deutschen  Aufsätze  des 
gelehrten  Grafen  leiden  an  Formmängeln,  die  die  Lektüre  unange- 
nehm machen;  zuerst  die  gesuchte  klassische  Gelehrsamkeit,  die 
nach  veralteter  Weise  mit  lateinischen  Citaten  prunkt  und  Ovid  und 
Seneca  etc.  an  sicher  ungehöriger  Stelle  auftischt,  dann  ein  gewis- 
ser Wortüberfluss  bei  Dingen,  die  sich  von  selbst  verstehen  und 
an  die  amoenilates  llterariae  vergangener  Jahrhunderte  erinnern, 
wo  die  gelehrten  Autoren  eben  in  Form  und  Inhalt  sich  es  schlaf- 
rockmässig  bequem  machten ;  ebenso  ein  Herbeiziehen  allgemeinen 
Wissens,  das,  wie  schätzbar  auch,  doch  meist  hier  unnöthig  ist. 
Es  stehen  auf  den  14  Seilen  gewiss  eben  so  viele  unnütze 
deutsche  und  lateinische  Citate,  z.  B.  p.  1.  vita  brevis  ars  longa, 
p.  3.  sie  abit  bistoria  in  lougas  errorum  generationes  sagt  Huber- 
tus Languetus,  p.  5.  non  in  verba  magistri  jurare  sed  scripta  ru- 
minare  decet  historiographum  sagt  Gronovius;  p.8.  et  quis  veritatem 
in  poeta  requirat  sagt  Mabillon ,  p.  13.  vera  sunt  non  debent  dici; 
incidit  in  Scillam  qui  vult  vitare  Gharibdim  etc.  In  der  Sache 
selbst  trifft  er  das  Rechte  und  dringt  auf  Kritik  und  Quellenstudium. 
Bei  den  Mustern  aber,  die  er  giebt,  scheint  es,  als  ob  er  die  kri- 
tischen Werke  über  mittelalterliche  Quellen,  die  in  Deutschland  er- 
schienen, gar  nicht  kennte;  selbst  da  er  sich  mit  Paulus  Jovios 


Attgettmne  LiieratUrberichte.  577 

(der  immer  ung/Mum  Paulo  Glovk>  beisai)  bescbäfüfti^  isi  itMU  4er  io* 
teressanto  Aufsatz  von  Ranke  nichi  2u  Gesicht  gekoiuiDeD  uod 
über  das  Abscbreiben  des  einen  Autors  vom  andern,  aite  bisto* 
riograpbiscbe  Sitle,  die  kein  Plagiat  beabsichtigt,  erstaunt  er 
wie  über  etwas  Unerhörtes.  P.  E,  MUUer's  Kritiken  über  Saiu» 
werden  als  Muster  empfohlen  and  Saxo  selbst,  oUne  dass  man  weiss« 
wie  so  gerade  er  bieher  kommt^  erhält  eine  viel  zu  hohe  Stelle 
über  alle  andern  Chronisten  des  Mittelalters.  So  arg  ist  das  nicht 
und  Keineny  tbot  Niobtgekannten  Unrecht.  Kritische  Arbeiten  über 
Autoren  wie  Jovius  kosten  Mühe,  aber  man  mnss  davon  nicht  re- 
den, denn  es  versteht  sich  von  selbst.  Auch  wusste  Eder,  dass 
Siinigianas  den  Giovio  beoutzt  hatte,  den  er  an  mehreren  Stellen 
vertbeidigt  (ss.  rer.  Trans.  I.  p.  11*  241  etc.).  Somogyi^s  Scbrift 
ist  nur  eine  Parteischrift  für  Zapolya  gegen  Oesireich  und  nur  in 
so  fern  bat  sie  grossem  Werth.  Was  er  von  dem  Zweifel  über 
W.  Bethlen's  Werk  sagt,  das  man  den  Polen  Vengiersky  und 
Grondzky  zuschreibt,  so  ist  das  schon  bekannt,  cf.  Haner  ss.  saec. 
XVn.  p.  348.  Wallasky  Consp.  p.  217.  not.  d<  Ungarisches  Maga- 
zin 1.  p.  68  etc»  Aus  der  handschriftliche»  Vergleichung  des 
Grondzky'schen  Werkes  mit  Bethlen^s  bistoria  scheint  allein  das 
Rälbsel  gelöst  werden  zu  können  |  wahrscheinlich  stehen  die  Po- 
len in  dem  Verhältnisse  von  Secreiarien  zum  Daten  liefernden  und 
aufmunternden  Herren;  dass  Betblen  es  ganz  und  gar  verfasst,  ist 
erst  später  gesagt  worden;  gewiss  hat  weder  dieser  ein  Plagiai 
begangen,  noch  isl  ein  genügeiKler  Grund  für  diese  Vermulhung; 
es  ist  »ichts  seltenes  im  16.  und  17.  Jahrhundert,  dass  die  gros- 
sen Herren  aus  ihren  Daten  und  unter  ihrem  Namen  ein  Buch 
schreiben  Hessen,  das  freilich  ebenso  gut  dann  dem  Schreiber  ge- 
hörte. 2.  Michael  Cserei  voff  Nagy-Ajtap.  Ein  biographischer  Ent- 
wurf von  Anton  Kurz,  Hier  kommen  folgende  Phrasen  tör:.  „der 
von  der  Geschichte  verkafmxt«  Beldi  Pid."  (p.  19.)  „Es  war  also, 
wie  man  sieh  auszudrücken  pflegt,  ein  ganzer  Mann  —  ein  Cha- 
rakter würde  Göthe  sagen .*^  ^.  Ein  Bruchstück  über  Johann  Mi- 
chael Brutus  uihI  über  den  Werth  seiner  ungarisch- siebenbürgt- 
schen  Geschichte  vom  Grafen  Job.  Kem^ny.  4.  Die  Stiftuc^n  deis 
Auslandes  für  die  dort  studirende  Jugend  Ungarns  und  Siebenbür- 
gens vom  Grafen  Joseph  Kem^ny.  5.^  Das  älteste  Sladtsiegel  von 
Kronstadt  von  — n— .  Das  zweite  Heft  enthalt:  1.  Ueber  das  in  der 
Diplomatik  des  Auslandes  und  Ungarns  mit  Inbegriff  Siebenbürgeas 
erscheinende  älteste  Linnenpapier.  Vom  Grafen  Josepb  Kem4i»y«  2« 
Eine  päpstliche  Bulle  Eugens  Vi.  an  die  ungarische  Königin  und-  eine 
Urkunde  des  Kolosmonostorer  Convents,  in  Siebenbürgen,  beide  vom 
Jahr  1439,  bevorwortet  von  Anton  Kurz.  3.  Die  ältesten  Papiermühlen 
des  Auslandes,  Ungarns  und  Siebenbürgens  und  die  PapieraeicbeA 


578  Miioetten. 

der  beiden  leUteren  aas  gleiohzeitigen  ürlninden  erwiesen  and  insbe- 
sondere der  Stadt  Kronstadt  gewidmet  von  Graf  Joseph  Kemeny. 
4.  Zur  Geschichte  des  Hermannstädter  Gymnasioms  im  Jahr  1713. 
Von  Anton  Kurz.  5.  Archivarische  Nebenarbeiten  vom  Grafen  Jo- 
seph Kemeny.  6.  Reflexionen  über  den  Aufsatz:  das  älteste  Stadt- 
siegel von  Kronstadt.  Das  3.  Heft  enthält:  1.  Deber  J.  K.  Schallers 
Umrisse  und  kritische  Studien  etc.  vom  Grafen  Jos.  fiem^ny.  2^ 
Ueber  die  Entstehungszeit  der  ungarischen  Komitate  in  Siebenbür- 
gen vom  Grafen  Joseph  Kemeny.  3.  Das  rothe  Büchel  der  Stadt 
Hermannstadt  mitgetheilt  von  Anton  Kurz.  4.  Einiges  aus  Sigmund 
Szenlkiralyi's  ungarischem  Werk:  der  siebenbürgische  Bergbau 
mitgetheilt  von  Georg  Binder.  5.  Jahresrechnung  des  Johann  Waida, 
Bürgermeisters  von  Hermannstadt  für  das  Jahr  1593.  Aas  dem 
Original  mitgetheilt  von  Kurz.  6.  Diplomatischer  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Gefangenschaft  des  Johann  Hunyad.  Vom  Grafen  Jos. 
Kemeny.  — 

So  viel  schätzbares  in  den  Bestrebungen  des  Grafen  Kemeny 
liegt,  dessen  ausserordentlichen  Reichthum  an  Urkunden  und  Ma- 
nuscripten  seine  Studien  unterstützen  und  der  wie  nur  irgend  ein 
Wissenschaftsfreund  seine  Müsse  den  Musen  allein  widmet,  so  sehr 
muss  doch  auch  die  Form,  in  der  diese  Studien  an  das  Tageslicht 
treten,  berücksichtigt  werden.  Nicht  pretiös  gesucht,  nicht  mit  un- 
nöthiger  Gelehrsamkeit  überladen,  sondern  in  einfachem  passen- 
den Gewände  erscheine  die  Forschung,  die  auf  allgemeiner  Kennt- 
niss  und  auf  specieller  Durchdringung  des  Individuellen  beruht. 

Selig  Gassei. 

HlseeUeii« 

Die  Biblical  Review  und  die  gescbichtspbilosophische  An- 
sicht in  England. 
Von  der  Zeitschrift  „The  biblical  review  and  congregational 
magazine''  (8.  London,  Jackson  and  Walford)  sind  uns  die  drei  er- 
sten Monatshefte  des  laufenden  Jahrganges  zugekommen,  mit  wel- 
chem eine  Veränderung  der  Redaction  eingetreten  ist  Der  Pro- 
spect  der  neuen  Herausgeber  hält  den  frühem  Standpunkt  im  We- 
sentlichen fest:  der  Charakter  der  Zeitschrift  soll  in  Uebereinstim- 
mung  sein  „with  a  scriptural  congregalionalism";  der  Inhalt  vor- 
zugsweise theologisch,  doch  nicht  ausschliesslich,  dergestalt  dass 
auch  die  bürgerliche  Geschichte,  Philologie  und  Alterthümer,  die 
Künste,  die  Natur-,  Denk-  und  Moral  Wissenschaft,  überhaupt  jegli- 
cher Zweig  des  Wissens,  wodurch  die  theologische  Wahrheit  auf- 
geklärt werden  kann,  dabei  Berücksichtigung  finden  wird.  Diesen 
Absichten  entspricht  denn  auch  der  Inhalt  der  vorliegenden  Hefte« 


Miacelleni  -  579 

Auf  rein  tbeologlsohem  Grebiete  bewegen  sich  a.  A.  die  Aufsätze 
yjlgnatius,  die  Literargeschichte  seiner  Briefe**;  „Professor  Ewald 
über  Hieb  19,  25—27'*;  Strauss' Leben  Jesu*';  ,,die  Scliöpfung.  Eine 
Kritilc  über  Genesis  1,  1.  2'*;  „die  syrischen  Briefe  des  Ignatius''; 
„eine  neue  Erklärung  von:  Römer  8,  18 — ^25";  „über  die  Kornäh- 
ren in  Pharaos  Traum*';  „Versetzungen  in  den  prophetischen  Bü- 
chern"; „über  die  Abfassungszeit  der  Apolcalypse*';  „Paulus  in  Je- 
rusalem"; „exegetische  Bemerkungen  über  Lucas  17,  20.  21";  „die 
Kirche  nach  den  Definitionen  der  Kirchen."  Von  sehr  grossem 
Interesse  ist  die  im  Januarheft  vollständig  mitgetheilte  Gorrespon- 
denz  zwischen  Bunsen  und  Gladstone  über  das  Episcopat  (re- 
specting  the  German  church  and  the  Jerusalem  hishopric).  Je- 
dem Hefte  ist  ausser  den  grösseren  Recensionen  ein  „monthly  di- 
gest  of  religious  intelligence**  und  „critical  notices  and  lists  of  new 
books"  beigefügt.  Dem  Gebiete  der  Alterthümer  gehört  eine  aus 
dem  1.  Bande  unserer  Zeitschrift  (1844)  entlehnte  Miscelle  über  die 
neueren  Entdeckungen  in  Niniveh  an.  Das  eigentlich  historische 
Gebiet  ist  durch  verschiedene  Aufsätze  und  Kritiken  vertreten  z.  B. 
über  Darius,  über  Clinton's  Fasti  Romani,  zwei  Artikel  über  Oliver 
Crom  well,  über  die  Böhmische  Reformation.  —  Für  unsere  Zeit- 
schrift nehmen  zwei  Artikel  im  Januar-  und  im  Märzheft,  betitelt  „der 
göttliche  Plan"  und  „Winke  über  das  Studium  des  göttlichen  Pla- 
nes", um  deswillen  die  meiste  Aufmerksamkeit  in  Anspruch,  weil 
sie  die  geschichtsphilosophischen  Ideen  darlegen,  welche  gegenwär- 
tig in  England  nach  Geltung  ringen.  Ein  unbedingter  Vorzug  der- 
selben ist,  dass  sie  an  einen  weit  umfassenderen  und  darum  auch 
höheren  Standpunkt  anknüpfen,  als  die  welche  in  Deutschland  und 
Frankreich  geläufig  sind ;  nicht  der  Mensch  und  die  Erde,  sondern 
der  Gottesbegriff  und  das  gesammte  Weltall  ist  ihr  unmittelbares 
Object;  der  Mensch,  der  meist,  weil  die  grossartigen  Wirkungen 
seines  Geistes  und  seiner  Macht  ihn  rings  umgeben,  nur  allzu 
leicht  sich  überschätzt  und  Zweck  wie  Mittel  des  göttlichen 
Processes  in  der  Menschheit  selbst  zu  erblicken  wähnt,  wird  in  die 
winzigen  Grenzen  seines  Werthes  und  seiner  Kraft  zurückgewie- 
sen. Es  kann  in  der  That  keine  Philosophie  der  Geschichte  der 
Menschheit  geben,  die  nicht  von  einer  Philosophie  des,  Universums 
getragen  wird  und  sich  bescheidet  ein  Theil  derselben  zu  sein,  statt 
sich  anmasslich  an  die  Stelle  des  Ganzen  zu  setzen.  Dagegen  nehmen 
wir  einen  doppelten  Mangel  wahr.  Einmal  sind  dem  Verf.  jener 
Artikel,  und  gewiss  den  Engländern  iiberhaupt,  die  geschichtsphi- 
losophischen Theorien  sowohl  der  Franzosen  wie  der  Deutschen 
nur  höchst  unvollständig  und  oberflächlich  bekannt.  Zwar  wer- 
den auf  der  einei^Seite  Montesquieu,  Goudorcet  und  Guizot,  auf 
der  andern  Leibnuz,  Lessing,  Herder,  Kant  und  Scbelling  genannt; 


580  MitceUm. 

aber  beim  Mangel  alles  tieferen  Eiogebena  bleibt  die  nähere  Kennt' 
nisa  derselben  zweifelhaft,  und  überdies  vermissen  wir  auf  beiden 
Seiten  gerade  für  die  neuesten  Zeiten  nicht  unbedeutende  Namen, 
wie  dort  z.  B.  Lamennais,  hier  Pichte,  Hegel  und  Czieskowsky. 
Zweitens  aber  treten  die  Umrisse  dieser  Ideen  —  und  dies  ist  zu- 
nächst eine  Folge  des  umfassenden  Standpunktes  selbst  —  nicht 
aus  der  Aligemeinheit  des  Begriflflichen  in  die  Weit  der  concreten 
Erscheinungen  heraus.  Diese  Unbestimmtheit  bedingt  nothwendig 
die  Folge,  dass  man  in  den  Grundideen  über  die  Zwecke  Gottes  und 
der  Menschheit  mit  dem  Verf.  vollkommen  einverstanden  sein  und 
doch  in  der  philosophischen  Auffassung  nicht  nur  der  einzelnen 
Erscheinungen,  sondern  der  ganzen  Gradation  des  geschichtlichen 
Processes  zu  durchaus  abweichenden  Resultaten  gelangen  kann. 
Um  wie  viel  mehr,  wenn  diese  Grundgedanken  selbst  dem  Zweifel 
zugänglich  sindl  Ohne  indess  zu  untersuchen,  inwieweit  der  Verf. 
durch  sie  der  philosophischen  Kritik  Blossen  zeigt  oder  nicht,  wollea 
wir  uns  auf  eine  möglichst  kurze  Darlegung  ihres  Inhaltes  beschrän- 
ken. Der  Verf  geht  davon  aus,  es  sei  eine  ursprüngliche  Neigung 
des  Geistes,  nach  dem  letzten  Ende  der  Dinge  zu  forschen«  Das 
Woher  und  Wohin  seien  die  beiden  Punkte,  zwischen  denen  der 
menschliche  Geist  beständig  bin  und  her  schwanke;  er  wolle  zur 
ersteu  Ursache  der  Dinge  auf-,  und  zu  ihrem  Ende  hinabsteigeD. 
Zuzugeben  ist,  dass  eine  erste  Ursache  ein  letztes  Ziel  bedinge; 
nicht  minder,  dass  die  Gottheit  die  erste  Ursache  sei.  Auf  A\e  Be- 
griffsbestimmung der  Gottheit  kommt  aber  unendlich  viel  an,  und 
es  muss  daher  als  ein  philosophischer  Sprung  betrachtet  werdoa, 
wenn  der  Verf.  in  diesem  Punkte  von  vornherein  die  theologvscb 
christliche  Basis  der  philosophischen  substituirt,  es  als  ausgemacht 
und  eingeräumt  annimmt,  dass  die  erste  Ursache  der  Gott  der 
Bibel  sei,  und  sich  deshalb  jedes  Beweises  begiebt.  Was  ist  nun 
aber  der  Endzweck  Gottes  im  Universum?  Gott  selbst,  seine  eigene 
Herrlichkeit  und  eben  deshalb  zugleich  auch  das  Wohlsem  des  von 
ihm  geschaffenen  Universums,  dergestalt  dass  der  Ursprung  aller 
Dinge  auch  deren  Ende  ist,  oder  das  Unendliche  das  Ende  des  End- 
lichen. Unter  Herrlichkeit  Gottes  versteht  der  Verf.  dessen  Allmacht 
(sufficiency)  für  gewisse  Handlungen  oder  Wirkungen;  doch  un- 
terscheidet er  zwischen  der  subjectiven  und  objectiven  Herrlich« 
keit,  welche  letztere  nothwendig  die  erstere  voraussetze,  lene  ist 
die  unendliclie  sich  selbstgenügende  Erhabenheit,  diese  dAe  Betb»- 
tigung  derselben,  wodurch  eben  die  Altmacht  für  Erzeugung  ge« 
wisser  Wirkungen,  für  Erreichung  gewisser  Zwecke  erwiesea 
werde.  Ist,  heisst  es  weiter,  die  Herrlichkeit  Gottes,  das  Wohlsein 
des  Universums  involvirend,  das  höchste  Ziel  der  Schöpfung:  so 
folgt  daraus,  dass  Gott  diesem   Ziele  nach  einCTi  Plane  zustret^t. 


Miicellen.  581 

das8  wir  \xm  also  mitten  in  einem  progressiven  allumfassenden, 
universalen  und  regelmässigen EntwicklungsSchema  befinden.  Nun 
fragt  es  sich  aber,  ob  in  der  Geschiebte  der  menschlichen  Angele- 
genheiten Spuren  von  dem  Vorhandensein  eines  solchen  Planes 
wahrnehmbar  sind.  Diese  Frage  bejaht  der  Verf.,  wiewohl  er  die 
grossen  Schwierigkeiten  des  Versuches  ihn  zu  zeichnen  einräumt; 
daher  sei  zwar  die  Erkenntniss  semer  Umrisse  von  allen  philoso* 
phischen  Geistern  der  neuern  Zeit  erstrebt  worden,  jedoch  ohne 
dass  dies  Streben  zu  übereinstimmenden  Resultaten  geführt  hätte. 
Dies  veranlasst  ihn  zu  einem  kurzen  und  freilich  sehr  mangelhaft 
ten  Rückblick  auf  die  bisherigen  Versuche,  dessen  Schlussergeb- 
niss  die  Ueberzeugung  ist,  nur  die  Bibel  gewähre  die  unfehlbaren 
Mittel  zur  Lösung  des  grossen  Räthsels,  zur  Aufhellung  des  göttli- 
chen Planes;  sie  weise  —  nicht  die  Facta,  aber  das  Princip  ihres 
innern  Zusammenhanges  und  das  Ziel  des  Ganzen  nach,  so  dass 
man  nur  die  richtigen  Abschnitte  und  die  zusammenhängenden 
Theiie  zu  entdecken  habe;  ein  durchaus  vollständiges  Ganze  könne 
freilich  in  der  Geschichte  der  Menschheit  selbst  niemals  entdeckt 
werden,  bis  dass  die  Geschichte  durch  eine  letzte  Katastrophe  be- 
schlossen sei;  kein  menschlicher  Scharfsinn  könne  die  Totalität  der 
Entwicklung  anticipiren.  Da  indessen  der  Bau  des  Tempels  der 
ewigen  Herrlichkeit  Gottes,  dessen  Errichtung  eben  als  das  Zid 
des  grossen  Künstlers  sich  dai^stellt,  seit  dem  ersten  Stadium  der 
Weltgeschichte,  wo  nur  das  Fundament  gelegt  und  daher  noch 
kein  Drtbeil  über  die  ungeheueren  Proportionen  möglich  war, 
schrittweise  durch  alle  Zeitaller  und  in  jedem  Momente  vorgerückt 
ist:  so  könne  nunmehr,  obgleich  das  Gesims  noch  nicht  auf  die 
Säulen  gesetzt,  das  Gebäude  noch  nicht  mit  dem  Gipfel  gekrönt 
sei,  dennoch  wohl  der  allgemeine  Riss  des  Baues  begri£Pen  und 
eine  Idee  über  seine  Beendigung  gefasst  werden.  Eine  solche  Idee 
trägt  aber  der  Verf.  so  wenig  vor,  als  er  jenen  allgemeinen  Riss 
skizzirt.  Das  Einzige  was  er  darüber  sagt  ist  dies :  In  der  Periode 
von  der  Sündfluth  bis  auf  Christus  seien  die  Dinge  in  constanter 
Abhängigkeit  von  einander,  nichts  isolirt,  überall  Folge  und  Fortschritt, 
aUes  in  harmonischem  Process.  Aus  dem  jüdischen  Leben, 
untrennbar  mit  ihm  zusammenhängend,  entwickle  sich  das  Christ- 
tiche,  nicht  als  eine  Unterbrechung  des  Ganges  der  Begebenhei- 
ten, sondern  als  dessen  Fortsetzung;  Judenthum  und  Christenthum 
seien  beide  nur  Theiie  eines  höchsten  Ganzen.  So  sei  die  Gegen 
wart  mit  der  Vergangenheit  verbunden,  beide  aber  wieder  mit  der 
Zukunft,  mit  dem  Ende  der  Zeit.  Jeder  Schritt  in  dem  Weltpro- 
cess,  bemerkt  er  ferner  (und  wem  könnten  hierbei  die  Anklänge  aa 
die  deutsche  Historiosophie  entgehen!),  erhält  den  Collectivcharak* 
ter  aller  früheren  Stadien,  fügt  den  ihm  eigenthümlicheo  hinzu, 


582  Miscellen. 

und  Termaoht  das  Oanze  in  dieser  neuen  Modification  dem  nach« 
folgenden  Stadiam.  Dann  aber  kehrt  er  zu  der  begrifflichen  Er- 
läuterung des  göttlichen  Planes  zurück.  Diesen  zerlegt  er  in  drei 
Tbeile:  Zweck,  Methode  und  Gründe  derselben.  Der  Zweck  um- 
fasst  Alles:  die  Reiche  der  Natur,  den  Menschen,  die  Religion,  die 
Geschichte;  deshalb  stehen  auch  alle  diese  Momente  in  gegen- 
seitigen Beziehungen.  Die  Methode  construirt  alles  dergestalt, 
dass  es  nach  bestimmten  Gesetzen  thätig  ist  und  dass,  da  die  Ver- 
wirklichung des  Planes  eine  successive  ist,  ein  stufen  massig  es 
Fortschreiten  stattfindet,*  zugleich  folgt  daraus  die  stete  Ab- 
hängigkeit von  Gott  als  dem  Eigner  des  Planes.  Die  Grunde 
der  Methode  liegen  darin,  dass  der  Mensch  nicht  vermögen  würde 
die  Gradationen  der  Vorsehung  zu  erkennen,  wenn  es  nicht  Ge- 
setze für  jene  Beziehungen,  jenes  Fortschreiten  und  jene  Abhän- 
gigkeit gäbe.  Denn  da  die  göttliche  Methode  die  ursprüngliche 
Menschennatur  als  ein  freies  Agens  anerkennt,  das  dahin  neigt, 
seine  Abhängigkeit  von  Gott  und  von  jeglichem  Sein  rings  umher 
aus  dem  Gesicht  zu  verlieren,  sich  ausserhalb  der  Harmonie  mit 
der  Natur,  mit  sich  selbst  und  mit  Gott  zu  versetzen  —  in  wel- 
cher Neigung  eben  die  Sünde  besteht  ~:  so  macht  es  die  Hoheit  Got- 
tes sowohl  wie  die  Glückseligkeit  des  Geschöpfes  nothwendig,  dass 
die  unmittelbare  Wirkung  aller  Processe,  durch  die  der  Mensch  in 
dieser  Welt  hindurcbgeführt  wird,  die  ist,  ihm  seine  Abhängigkeit 
fühlbar  zu  machen.  Die  Freiheit  seines  Wesens  bedingt  aber,  dass 
er  die  Ueberzeugung  von  dieser  Abhängigkeit  durch  freiwillige  Be- 
trachtung und  persönliche  Erfahrung  erlange.  Jede  Nation,  jede 
Familie,  jedes  Individuum  nimmt  eine  ihm  eigenthümliche  Stellung 
im  Weltplan  ein;  jedes  Zeitalter  hat  seine  besondere  Mission,  die 
durch  die  Einflüsse  der  Vergangenheit  bedingt,  wiederum  ihre  ei- 
genen Einflüsse  mit  dem  Strom  der  späteren  Geschichte  vermischt. 
Aus  dem  Fortschreiten  des  Planes  folgt,  dass  dessen  Verzögerun« 
gen  nur  scheinbare  sind  und  dass  es  ein  Zeitmaass  für  jegliche 
historische  Krisis  giebt,  sowohl  wie  für  jene  wundervolle  An- 
kunft, welche  die  Geschiebte  der  Welt  in  zwei  T heile  getheilt 
hat  (Wir  erinnern  hier  an  Eisenhart,  der  die  Geschichte  in  3000 
Jahren  vor  und  in  genau  ebenso  vielen  nach  Chr.  sich  bewegen 
lässt;  s.  unsere  Zeitschr.  Bd.  IV.  S.  561).  Die  Aufgabe  ist  überall 
den  Fortschritt  nachzuweisen,  die  Principien  ans  Licht  zu  kehren 
welche  das  Ziel  von  Anfang  an  generalisirt  haben,  zu  zeigen  in 
wie  fern  bewusst  oder  unbewusst  die  verschiedenen  Nationen  und 
hervorragenden  Individuen  diesem  Ziel  entsprachen,  und  wie  der 
Mensch,  nach  den  eitlen  Versuchen  sich  unabhängig  zu  isoliren 
und  darauf  sich  selbst  zu  helfen,  auch  nachdem  er  mit  den  objec- 
tiveh  Mitteln  der  Hülfe  versehen  worden  es  offenbar  werden  lässt, 


Miscellen.  583 

dass  sogar  diese  ihm  nur  h^lfen^  wenn  er  vom  Geiste  Gottes  geleitet 
wird«  Daher  gebt  der  Irrthum  so  oft  der  Wahrheit  vorauf;  denn 
kein  Volk  kann  sprungweise  den  Höhepunkt  erreichen,  sondern 
muss  durch  die  vermittelnden  Stadien  hindurch,  um  zU  ihm  zu  ge- 
langen. Endlich  sei  zu  untersuchen,  ob  und  welche  Stadien  des 
Processes  noch  zu  durchlaufen  bleiben,  um  uns  eine  Vermuthung 
über  den  Abstand  von  dem  Endziel  zu  bilden.  Das  Unbehagliche 
ist,  dass  der  Verf.  selbst  diese  Untersuchung  nicht  anstellt,  über- 
haupt auf  die  Lösung  jener  zahlreichen  Aufgaben  in  gar  keiner 
Weise  näher  eingeht.  Er  schliesst  mit  der  Warnung,  nicht  die 
Neuheit  der  Wahrheit  vorzuziehen;  die  Entdeckung  einer  neuen 
wesentlichen  Wahrheit  sei  nicht  mehr  zu  erwarten,  sondern  nur 
neue  Anschauungsweisen  alter  Wahrheiten,  neue  Gombinationen 
derselben,  und  neue  Erläuterungen  des  ganzen  Systemes  der  Wahr 
heit;  organische  Zusätze  zu  diesem  System  könnten  nur  unmittel- 
bar vom  Himmel  kommen.  Doch  warnt  er  auch  davor,  was  der  ei- 
genen Anschauungsweise  nicht  entspricht,  sofort  als  blosse  Specu- 
lation  ganz  und  gar  zu  verwerfen,  indem  er  daran  erinnert,  dass 
fast  jede  Wahrheit  welche  jetzt  dem  Menschen  so  geläuGg  ist,  als 
ob  er  sie  mit  auf  die  Welt  gebracht,  einst  mit  Indignation  oder 
mit  Spott  sei  aufgenommen  worden.  —  Dies  die  Aufstellungen  des 
Verf.,  die  bei  der  Verbreitung  verwandter  Ideen  in  England  sich 
in  wesentlichen  Momenten  an  die  Aussprüche  und  Entwicklungen 
anderer  englischer  Denker  anzulehnen  vermögen  und  daher  na- 
mentlich mehrfach  durch  die  Autorität  von  Butler,  Edwards,  Ar- 
nold, Miller  und  Hetherington  unterstützt  werden.  Abgesehen  da- 
von, dass  sie  offenbar  an  einer  zu  grossen  Allgemeinheit  leiden 
und  vor  lauter  Abstractionen  nicht  zur  Betrachtung  des  Goncreten 
gelangen,  müssen  wir  besonders  auch  den  aufgestellten  Begriff  der 
Herrlichkeit  Gottes  als  einen  höchst  unbestimmten  und  zweideuti- 
gen bezeichnen.  Warum,  kann  man  fragen,  begnügt  sich  Gott 
nicht  mit  seiner  subjectiven  Herrlichkeit?  wozu  bedurfte  es  der 
objectiven,  der  Bethätigung  seiner  Erhabenheit?  wozu  der 
Menschheit  und  der  Geschichte?  Ist  einmal  die  Menschheit 
da,  so  muss  allerdings  ihr  Dasein  und  ihre  Geschichte  einen  Zweck 
haben,  und  da  Gott  sich  nicht  einen  Zweck  setzen  kann,  der  un- 
erreichbar ist,  so  muss  auch  der  Zweck  der  Menschheit  und  ihrer 
Geschichte  wirklich  erreicht  werden,  mithin  der  Process  der  letz- 
tern die  Verwirklichung  eines  Gedankens  oder  einer  Absicht  oder 
eines  Planes  sein.  Die  Nothwendigkeit  dieses  Gedankens  ist  also 
durch  das  Dasein  der  Menschheit  bedingt,  allein  die  Nothwendig- 
keit des  Daseins  der  Menschheit  wird  durch  den  Begriff  der  Herr- 
lichkeit Gottes  an  sich  noch  keineswegs  begründet.  —       Ad.  S. 


Inhaltavenelehnl««« 

Seit« 

Ueber  die  Versammlung  der  französischen  Notalieln  im  Jahre 

17^,  von  Leopold  Ranke i 

Ein  Blick  in  die  altere  preussische  Geschichte,  mit  Bezug  auf 
die  ständische  Entwicklung.  Nach  drei  ungedruckten  Chro- 
niken.   Von  Dr.  Max.  Toppen 45 

Angelegenheiten  der  historischen  Vereine.    Einleitung.    Vom 

Herausgeber ,      94 

Verzeichniss    der   historischen   Vereine    und   Gesellschaften 

Deutschlands  und  der  Nachbarstaaten 100 

Miscelle:  Ausschloss  vom  Abendmahl  und  Obrenbeichte    ....     103 

Nachwort  des  Herausgebers 104 

Die  Landesverfassung  in  Kurhessen.  Im  Vergleich  mit  den 
Staatsgrundgesetzen  der  übrigen  deutschen  Staaten.    Erster 

Artikel.    Von  C.  W.  Wippermaun 105 

Blacpherson's  Ossian.    Von  P.  F.  Stuhr 172 

Angelegenheiten  der  historischen  Vereine 179 

Arcbiv  rur  Frankfuri«  Oescbichte  und  Kunst.     Drittes  Heft.  Reo 

von  Klüpfel 179 

Mittheilungen,  Neue,   aus  dem  Gebiet  der   historisch-antiquari- 
schen Forschungen.     Herausgegeben  von  d.  ThUring.  sächs. 
Verein  f.  Erforsch,  des  vaterlttnd.  Alterthums.  Reo.  von  K 1  ü p  fe  I     181 
Jabrbtkcher  des  Vereins  von  AKerthumsfreunden  im  Rheinlande,     185 
L  er  seh,  L. ,   Niederländisches    Jahrbuch   für   Geschichte   und 

Kunst.     Rec.  von  v.  Sybel 185 

Archiv  des  Vereins  fUr  siebenbUrgische  LandesiLunde.    Rec.  von 

Selig  Cassel , 191 

Literarischer  Verein:  Berichtigung 199 

Reformen  der  hessischen  Vereine 199 

Beitrittserklfirungen  der  Vereine 200 

Eine  deutsche  Colonie  und  deren  Abfall.     Vom  Prof.  Wurm    201 
Antiquit6$  de  Bei -Air,  pr^s  Lausanne,  de  Nordendorf,  pr^s 
Augsbourg  et  de  Leus,  dans  le  d^partement  da  Pas-de-Ca- 

lais.    Von  Fröd.  Troyon 272 

Angelegenheiten  der  historischen  Vereine 285 

Der  Geschichtsfreund.     Uitiheilungen  des  historischen  Vereins 
der  fünf  Orte  Lucern,  Uri,  Schwyz,  Unter walden  und  Zug. 

L  Band.    Rec.  von  Philipp  Jaff6 285 

Die  antiquarische  Gesellschaft  in  Zürich: 
Meyer,  H.,  Die  Bracteaten  der  Schweiz.     Nebst  Beiträgen  zur 
Kennlnlss    der   schweizerischen   MUnzrechte    während   des 

Mittelalters.     Rec.  von  Schmidt 288 

Kemitniss  des  Auslandes  von  den  bist.  Vereisea  in  DeiiUcldaDd    291 
Literaturbericbte.    Deutschland. 

Löher,  Franz,  FUrsten  und  Städte  zur  Zeit  der Hohenstaufen    292 
Jürgens,  K.,   Luther  von  seiner  Geburt  bis  zum  Ablassstreite    29S 
Miscelle:  Gustav  Adolf.     Erinnerung  am  Todestage  Luthers   .     ,    .    294 
EioladvBg  an  die  Germanisten  zu  einer  Gelehrten-Versamm« 

long  in  Frankfurt  a.  M 29€ 

Ueber  die  Geschichte  d^  neuesten  Zeit,  vom  Wiener  Gon- 
gress  bis  auf  unsere  Tage.  Von  Dr.  Carl  Hagen.  Erster 
Artikel    Einleitung 297