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Full text of "Geschichte der byzantinischen und neugrieschischen Litteratur"

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I ■ 



Die 

Litteraturen des Ostens 

in Einzeldarstellungen. 

Bearbeitet 
von 

Dozent Dr. G. Alexid, Budapest; Prof. Dr. C. Brockelmann, Breslau; 

Prof. Dr. A. Brückner, Berlin; Prof. Dr. K. Budde, Marburg; Dr. K. Dieterich, 

München; Prof. Dr. K. Florenz, Tokyo; Prof. Dr. W. Grube, Berlin; Prof. Dr. 

G. Heinrich, Budapest; Prof. Dr. P. Hom, Strassburg; Dozent Dr. M. Murko, 

Wien; Dozent Dr. J. Vlcek, Prag; Prof. Dr. M. Wintemitz, Prag; 

Prof. Dr. W. Wollner, Leipzig. 



Vierter Band: 

Geschichte der byzantin. und neugriech. Litteratur. 

Von 

Dr. K. Dieterich. 



Geschichte der türkischen Moderne, 

Von 

Prof. Dr. P. Hörn. 



■♦■♦ 



Leipzig, 
C. F. Amelangs Verlag. 

1902. 



Geschichte 



der 



byzantinischen und neugriechischen 

Litteratur. 



Von 



Dr. Karl Dieterieh. 




Leipzig, 

C. F. Amelangs Verlag. 

1902. 
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Vorwort. 



Die historische Betrachtung der neugriechischen Litteratur 
steckt noch weit mehr in den Kinderschuhen als die der neu- 
griechischen Sprache. Diese ist wenigstens seit zehn Jahren 
durch das Verdienst des griechischen Sprachforschers Georg 
Hatzidakis aus einem Tummelplatz hellenischer und phil- 
hellenischer Dilettanten zu einem fruchttragenden Acker positiver 
Forschung geworden; die Urbarmachung der Litteratur ist da- 
gegen nur erst zu einem Teil erfolgt, wenn auch zum wichtigsten 
Teil, dem des Mittelalters. K r um b ach er s Geschichte der byzan- 
tinischen Litteratur ist der feste Ausgangspunkt für eine kritisch- 
objektive Behandlung auch der neugriechischen. Eine erste 
praktische Anwendung dieses Satzes möchte der vorliegende 
Versuch darstellen, der natürlich nur den Wert einer auf das Ver- 
ständnis weiterer Kreise rechnenden Skizze beansprucht. Er kann 
also nicht das leisten wollen, was Hatzidakis für die Sprache 
geleistet hat. Aber er sucht doch wenigstens denselben Weg 
einzuschlagen, den Weg, der aus dem späten, nachklassischen 
Altertum über das byzantinische Mittelalter zum heutigen 
Griechentum führt. Dieser Weg ist freilich noch sehr verwachsen, 
so sehr, dafs es dem Verfasser unmöglich war, eine einheitliche 
Bezeichnung für seine Darstellung einer einheitlichen Entwicklung 
zu finden. Es hängt dies wieder mit dem Mangel eines all- 
gemein gültigen und allgemein verständlichen Namens für die 
moderne griechische Nationalität zusammen: der antike Name 
»Hellene« ist zwar offiziell gültig und verständlich, aber unhistorisch 
und irreführend ; der — sozusagen latente — Name »Romäer und 
romäisch« ist zwar historisch richtig, aber offiziell ungültig und 
daher unbrauchbar. Es gibt also keine zusammenfassende Be- 



7W7 



— VI — 

nennung für das mittelalterliche und moderne Griechentum, wie 
sie dem Worte »Romanen« für das mittelalterliche und moderne 
Lateinertum entspräche. Es mufste daher zu der dualistischen Be- 
zeichnung »byzantinisch und neugriechisch« gegriffen werden, 
die übrigens auch insofern mangelhaft ist, als sie die gemeinsame 
Wurzel beider Zweige, die hellenistisch-alexandrinische Litteratur, 
unbezeichnet läfst. Doch da kann der Verfasser nicht verschweigen, 
dafs ihm diese, seines Wissens bisher noch unerkannte Wurzel 
erst im Verlaufe der Arbeit selbst zutage trat, was den Nachteil 
zur Folge hatte, dafs sie auch in der Darstellung nicht zu der 
gebührenden Geltung gelangen konnte. Es mufste daher ge- 
nügen, in der Einleitimg und gelegentlich in den einzelnen Ka- 
piteln auf sie hinzuweisen. Vielleicht ist es dem Verfasser ver- 
gönnt, später diesem Mangel abzuhelfen und alsdann auch dem 
Buche einen treffenderen Titel zu geben ; denn die byzantinische 
Litteratur ist ja nicht, wie man vermuten könnte, die Grundlage 
der neugriechischen, sondern nur ein — allerdings notwendiges — 
Bindeglied zwischen jener und der hellenistischen. 

Was Krumbacher für das griechische Mittelalter geleistet hat, 
fehlt also für die griechische Neuzeit noch völlig: die bisherigen sog. 
neugriechischen Litteraturgeschichten, die französischen von A. R. 
Rangabd und J. Lamber, sowie die deutschen von R.Nikolai 
und D. Sanders waren Arbeiten von Dilettanten, sie schwebten 
nicht nur völlig in der Luft, sondern lielsen auch innerhalb des 
behandelten Zeitraumes jedes geistige Band vermissen. Am 
bequemsten machte es sich Rangabd, der fast jeden Dichter 
eine Gruppe für sich bilden liefs und dessen auch sonst seichte, 
mehr mit der Schere als mit der Feder, dazu von einem ein- 
seitig klassizistischen Standpunkte aus verfafste Darstellung 
daher in lauter Atome zerfällt. Einen Versuch zur historischen 
Gruppierung hatte zwar schon vorher R. Nikolai gemacht, der 
aber so verfehlt war, dafs man ein völlig verschobenes und — 
was die Darstellung betrifft — auch verschrobenes Bild bekam. 
Der einzige Wert dieses Buches liegt in den zahlreichen, aber un- 
verarbeiteten Quellenangaben; zur Lektüre möchte man es 
niemandem empfehlen, es sei denn zu einem Studium der Phrase. 
Die beste Studie über die neueste griechische Poesie war bisher 
immer noch die der französischen Schriftstellerin J. Lamber 
(M.?. Adam) 5 ihre Einteilung in »Schulen« kann zwar vom 



— VII — 

historischen Standpunkt aus nicht befriedigen, ist aber doch kon- 
sequent durchgeführt und enthält auch etwas Richtiges, nur dals 
es ihr nicht gelungen ist, den Stoff auf seine letzte Formel zu 
bringen und in seiner inneren Entwicklung darzustellen. Ob 
dies von der vorliegenden Skizze behauptet werden kann, mögen 
andere entscheiden; jedenfalls glaubt der Verfasser, sich in diesem 
Sinne nach Möglichkeit bemüht zu haben, um sowohl die Teil- 
nahme des Laien wie des Forschers zu wecken. 

Im einzelnen sei noch bemerkt, dafs es dem Verfasser mehr 
auf eine Darlegung der grofsen und mannigfachen Zusammen- 
hänge ankam als auf das Detail; darum wird man auch ver- 
hältnismäfsig wenige Namen finden, woraus man jedoch nicht 
schlief sen darf, dafs es mit diesen sein Bewenden hat; vielmehr 
sollte nur das Charakteristische herausgegriffen werden. Ein 
Inventar der neugriechischen Dichter und Gelehrten findet man 
ohnedies bei Nikolai und Rangab^. 

Wichtiger als leere Namen erschienen poetische Proben aus 
einzelnen Werken, schon damit man sich bei den Worten auch 
etwas denken kann, was bei denen, die sich mit modernen 
griechischen Verhältnissen beschäftigen, durchaus nicht immer 
selbstverständlich ist. Wenn man einige Ungleichmälsigkeit in 
der Mitteilung der Proben bemerkt, besonders ein Abnehmen in 
dem letzten Kapitel, so hängt das teils mit räumlichen Rück- 
sichten zusammen, teils damit, dafs für die neugriechische Kunst- 
poesie, speziell für die Lyrik, sowohl der Verfasser wie der 
Verleger die Veröffentlichung einer eigenen Anthologie planen. 
Aufserdem konnte als Notbehelf auf die bei Rangab^ und Lamb^r 
in französischer Prosatibersetzung reichlich mitgeteilten Aus- 
schnitte — das Buch von Rangab^ besteht zimi gröfsten Teil 
aus solchen — verwiesen werden. Wo die Proben nicht mit dem 
Namen eines Übersetzers versehen sind, bedeutet dies, dafs sie 
von dem Verfasser selbst herrühren, 

Schliefslich sei noch auf eine Schwierigkeit hingedeutet : auf 
die Schreibung der neugriechischen Eigennamen. Es herrscht 
hier in neuerer Zeit der Brauch, diese nicht phonetisch, sondern 
graphisch zu transskribieren , also nicht, wie man sie spricht, 
sondern wie man sie schreibt. Zu diesem System konnte sich 
der Verfasser nicht bequemen, aus dem einfachen Grunde, weil 
die Umschreibung durch lateinische Schrift nur dann einen Zweck 



— VIII — 

hat, wenn sie auch die lebendige Aussprache, das Lautbild, nicht 
das Schriftbild, wiedergibt. Sonst könnte man es besser bei der 
griechischen Schrift belassen. Umschreibt man doch auch die griechi- 
schen Namen im Russischen nach ihrem Lautwert, z. B. Vassiljeff , 
nicht Basilieu. Auch ist das graphische System schon danmi un- 
durchführbar, weil es im Neugriechischen eine grolse Anzahl von 
nichtgriechischen Namen gibt, deren Ursprung dadurch völlig 
entstellt würde, wie z. B., wenn man statt Valaoritis, Provelengios, 
Vikelas schreiben wollte: Balaoritis, Probelengios, Bikelas, weil 
dies rumänische, bezw. lateinische Namen sind, in denen ein B 
gar keine Berechtigung hat. Im übrigen ist mit dem hier ver- 
tretenen System keine Pedanterie getrieben worden, vielmehr 
wurden solche Namen, die sich in der graphischen Form einge- 
bürgert haben, wie z. B. Rangab^ (statt Rangawis), auch in 
dieser gegeben. Im allgemeinen wurde bei der Transskribierung 
die internationale phonetische Schrift angewendet; z bedeutet 
also nicht etwa ts, sondern weiches (französisches) z, v nicht f, 
sondern w, u. s. w. Eine Accentuierung der Namen zum Zwecke 
der richtigen Betonung wurde als zwecklos aufgegeben. Bemerkt 
sei nur, dafs die Namen auf -is und -as im Griechischen fast 
stets auf der letzten Silbe betont werden. 

Berlin, im August 1902. 

K, D. 



Inhaltsfibersicht 



Einleitung. Seite 

Kulturgresohlohtliohe Orundlagren und gregren- 
seitlgres Verhältnis der byzantinischen 
und neugrrieohisohen Litteratur 1—27 

Absteckung des Gebietes 1. Kreislauf der griechischen Kultur 2. 
Die hellenistische Litteratur und Alezandria 2. Ihre Rich- 
tungen 2 f. Verhältnis der byzantinischen und neugriechi- 
schen Litteratur zur hellenistischen 3 und zu einander 4. Grund- 
lagen und Kulturelemente der byzantinischen Litteratur 5. Das 
antike Element 7. Das orientalische Element: im staatlichen 
und sozialen Leben 10 ff.; im geistigen Leben: Mangel an epischer, 
lyrischer und dramatischer Poesie und dessen Gründe 15. Mangel 
eines selbständigen Stils 18 ff. Nachwirkungen der byzantinischen 
Kultur: bei Russen und Türken 21; bei den heutigen Griechen 
22: im politischen Leben 22; in der Wissenschaft 23; in der 
Sprache 24; in der Poesie: Rangab^ und Solomos 25. In Roman, 
Drama und Lyrik 26. 

Erstes Kapitel. 
Die byzantinische Litteratur 28—64 

Definition 28. Einteilung 29. Erste Periode (Blütezeit vom 
6. bis 11. Jahrhundert): Kirchliche Dichtung 31; Epigrammatische 
und panegyrische Dichtung 37. Zweite Periode (Verfallszeit vom 
12. bis 14. Jahrhundert): Chai:akteristik 42. Roman und geistliches 
Drama 43. Satire 50; Bettelgedichte 53; Lehr- und Mahngedichte 57; 
Historische Gedichte 59. 

Zweites Kapitel. 

Von der byzantinischen zur neugn^ieohisohen 

Litteratur 65-120 

Entstehungsbedingungen einer volkstümlichen Litteratur 65. 
Französische und italienische Einflüsse und ihr Verhältnis zu 
einander 66. Orientalische Einflüsse 67 f. Die fremden Elemente 
und das griechische Volkstum 68. Ursprung und Charakteristik des 
letzteren 69. Die volkstümliche Dichtung unter französischem 
Einflufs: Erotisch-romantische Dichtungen 72 ff. Kulturgeschichtliche 
Bedeutung der griechisch-fränkischen Poesie 77 ff. Unter italieni- 
schem Einflufs 80 ff . Unter orientalischem Einflufs: Erbauliche 
Dichtungen 88. Die volkstümliche Dichtung in ihrer Verselbständi- 
gung : E p i s c h e Dichtungen 93 ff. Verschiedene Dichtungen 104 ff. : 
Liebe 105. Heimat und Familie 111. Tod und Welt 115. Geistliche 
Gedichte 118. Rückblick 120. 



— X — 

Drittes Kapitel. scite 

Die neugn^ieohlsche Volkspoesie 121—152 

Verschiedene Stellung der Volkspoesie in den Litteraturen West- 
und Osteuropas 121; Hauptgattungen der neugriechischen Volks- 
poesie 123; Kleftenlieder 124. Liebeslieder 126; Nachwirkung 
von Musaeos' »Hero und Leander« 126. Anteil der Natur am Liebes- 
leben des Menschen 128. Die Natur als Liebesverräterin 132. Reflexe 
mittelalterlicher Liebeslyrik in der neugriechischen 133. Übergang 
zu den Charosliedern: Eros und Charos 134. Psychologische Er- 
klärung der Charoslieder 137. Ihre Gattungen 139. Charos als 
Kämpfer 139; als Jäger 141; als Gärtner und Baumeister 142. Die 
Charoslieder als Ausdruck der Lebensfreude 143; Lebensgefühl im 
Tode 144 f. Der Tod als Hochzeit 146. Totenklagen 147. 

Viertes Kapitel. 

Die neugrrieohisohe Kunstpoesie als Aus- 
läufer des Byzantinismus 153—193 

Zähigkeit des Byzantinertums 153. Äufserlicher Charakter des 
Bündnisses zwischen byzantinischem und europäischem Geist 154. 
Doppelte Gefahren des griechischen Bildungsstrebens 155. Die 
by zantinisierende Dichtung in Konstantinopel: Die Phanarioten 
156. Schulen und Lehrer 158. Die Sprachfrage 160. Aufnahme 
fremder Litteraturen 162. Eigene litterarische Produktion 162. 
Kirchliche und historische Dichtung 163. Erotische und satirische 
Dichtung 164. Die Satire in der Form der Allegorie 166. Offene 
soziale Satire 168. Sprachliche Satire 172. Die patriotische Mahn- 
dichtung 173. Die panegyrische Dichtung 174. Die byzantinisierende 
Dichtung im neuen Athen 176. Zwei Gruppen 177. Die akademische 
Dichtung 177. A. R. Rangab^ 178. Üas klassizistische Drama nach 
Rangab^ 182. Das klassizistische Epos 184. Die politische Dichtung 
186. AI. Sutzos 186. Die politischen Dichter nach Sutzos 190. Die 
Poesie des Weltschmerzes 191. 

Fünftes Kapitel. 

Die neugriechische Kunstpoesie als Ausdruck 

des Volkscharakters . 194—224 

Der griechische Osten und Westen als antipolare Gegensätze 
194. Venedig und die Ionischen Inseln 195. Zwei Phasen der volks- 
tümlichen Litteratur 196. Die Litteratur auf den lonischenlnseln: 
D. Solomos 197. Die Nachfolger von Solomos 203. Die Litteratur 
im Übergang auf das Festland: Ar. Valaoritis 209. Verschiebung 
des litterarischen Schwerpunktes nach Athen 213. Die Periode des 
Sturms und Drangs: die Lyrik 215. Die Volkssprache und die neue 
Erzählungskunst 219. 



EINLEITUNG. 



Kulturgeschichtliche Grundlagen und gegenseitiges 
Verhältnis der byzantinischen und neugriechischen 

Litteratur. 



Die Betrachtung über die geographische Zusammengehörig- 
keit der Küstenländer von Westasien und Osteuropa, 
mit der Ernst Curtius seine Griechische Geschichte be- 
ginnt, kann auch uns als Ausgangspunkt dienen für das Ver- 
ständnis der spätgriechischen, byzantinischen und neugriechischen 
Kulturverhältnisse. Denn zu keiner Zeit der Geschichte des 
Griechentums entsprach dem geographischen Ineinandergreifen 
der beiden Weltteile so sehr auch ein kulturgeschichtliches In- 
einanderaufgehen wie seit der durch Alexander d. Gr. begrün- 
deten griechischen Weltherrschaft. Was seit dieser Zeit bis zum 
heutigen Tage den eigentUchen Inhalt der Geschicke des 
griechischen Volkes bildet, besteht in einer Art fortwährenden 
Kulturkampfes zwischen Asien und Europa, imd je nachdem bald 
dieses, bald jenes die Oberhand behält, lassen sich die letzten 
zweitausend Jahre wechselvollster Schicksale des Griechentums 
in drei fast gleich grofse Kulturperioden gliedern, deren jede 
etwa sechs bis sieben Jahrhunderte umfafst: in die hellenistisch- 
alexandrinische (etwa von 300 v. Chr. bis 400 n. Chr.), in 
die byzantinische (etwa von 500 bis 1300 n. Chr.) und in 
die neugriechische (etwa von 1300 bis 1900). In der 
ersten Periode vollzieht sich der Prozefs der Hellenisierung des 
Orients unter der geistigen Vorherrschaft erst von Pergamon, 
dann von Alexandria. Schon gegen Ende dieser Periode be- 

Dieterich, Gesch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 1 



— 2 — 

ginnt der Rückschlag, dessen Verwirklichung den Inhalt der 
zweiten bildet: die Orientalisierung des Griechentums unter 
der geistigen Vorherrschaft von Konstantinopel. Aber noch vor 
dem Falle dieses gewaltigen Kulturbollwerkes beginnt sich eine 
abermalige Bewegung von West nach Ost zu vollziehen, die 
der Emanzipierung des Griechentums vom Orient und sein 
Wiederanschluss an die Kultur des Occidents. Sie bildet den 
Inhalt der dritten, der neugriechischen Periode, deren geistige 
Führerschaft zuletzt ganz auf Athen übergeht. Es hat sich 
somit eine Art Kreislauf der Kultur vollzogen, indem diese, von 
dem alten Athen ausgehend und das ganze östliche Mittelmeer- 
becken umspannend, über die Stationen Alexandria, Antiochia, 
Pergamon, Konstantinopel wieder nach Athen zurückkehrte. 

Die wichtigste Station auf diesem Wege ist das hellenistische 
Kulturzentrum Alexandria; in der in ihm verkörperten Periode 
ruhen die Wurzeln der beiden folgenden, der byzantinischen und 
der neugriechischen. Daher geht auch die byzantinische und 
die neugriechische Litteratur im letzten Grunde auf die 
hellenistisch-alexandrinische zurück. Alle Charakterzüge , die 
sich in dieser zeigen und ankündigen, werden in der byzantini- 
schen und neugriechischen Zeit nur ausgebildet und weiter ent- 
wickelt. Das ist ein Satz, der zum vollen Verständnis des 
mittelalterlichen und modernen Griechentums nicht genug betont 
werden kann. Alexandria war das grofse Kultur-Reservoir der 
griechisch-orientalischen Welt, der Sammelplatz von Ost und 
West, von Asien und Europa, von Römern und Griechen, von 
Ägyptern und Juden. Alexandria war das Taufbecken des 
griechischen Christentums, die G^burtsstätte der griechischen 
Bibel, der Ausgangspunkt des ältesten christlichen Ritus. 
Alexandria war aber auch das Repositorium der antiken Litte- 
raturschätze , die letzte Zufluchtsstätte heidnischer Bildung. 
Alexandria war die Vereinigung von Rom, Athen und Jeru- 
salem, es war die geistige Hauptstadt des griechisch-römisch- 
orientalischen Weltreiches, wie es Alexander und seine Nach- 
folger geschaffen^). 

In der heidnischen Litteratur dieser Periode lassen sich nun 
deutlich zwei Strömungen unterscheiden: eine rationalistisch- 
gelehrte und eine romantisch-volkstümliche. Die erstere geht 
zurück auf die damals in Alexandria blühenden Sophistenschulen 



— 3 — 

und hat ihren wichtigsten litterarischen Ausdruck in der Epi- 
grammatik und dem Sophistenroman gefimden y dessen späte 
Vertreter Lukian, Achilles Tatios, Heliodor und Longos in der 
byzantinischen Litteratur wieder aufleben. Danebenher läuft die 
aus der bukolischen und elegischen Poesie mit ihrem Haupt- 
vertreter Theokrit hervorgegangene idyllisch-romantische Dich- 
tung, die, in ihrer äulseren Form an das antike Epos angelehnt, 
einen stark lyrischen Einschlag zeigt. In ApoUonios von 
Rhodos, Kallimachos, Nonnos^) und Musaeoss) ist diese halb 
antike, halb moderne Dichtung am deutlichsten verkörpert. 
Darüber noch später; hier soll nur ein knapper Aufrifs gegeben 
werden. In dieser spätgriechischen Romantik wurzelt nun die 
spezifisch modern-griechische Empfindungsweise. Hier liegt der 
erste Unterschied zwischen byzantinischem und griechisch-volks- 
tümlichem Wesen: die Litteratur der Byzantiner ist sophistisch- 
rationalistisch, die der Neugriechen sentimental-idyllisch. 

Um diesen festen Kern setzen sich nun bei beiden teils ver- 
schiedene, teils gleiche Kulturschichten an, die sich mit ihm ver- 
schmelzen und durch diese Verschmelzung auf beiden Seiten 
ein neues Ganzes hervorbringen. 

Mit dem rationalistischen Wesen der Byzantiner verbindet 
sich das stark orientalisch gefärbte Christentum und erzeugt in 
seiner Durchdringung mit jenem das so eigenartige Gebilde der 
griechisch-orientalischen Kultur in Religion, Kunst und Poesie. 
Die Theologie nimmt durch ihre Versetzung mit den Elementen 
der Sophistik einen spitzfindig dogmatischen Charakter an, und 
die Freude am unfruchtbaren Spekulieren gewinnt einen breiten 
Raum im geistigen Leben; die geistliche Poesie, die lange im 
Vordergrunde der Litteratur steht, bekommt selbst einen dog- 
matisch-rationalistischen Beigeschmack. In demselben Malse, wie 
die Profanpoesie ihren nationalen Boden verliert, nimmt sie, 
unterstützt durch den rationalistischen Zeitgeist, einen rein ge- 
lehrten Charakter an; ihr Verhältnis zur Antike wird rein 
äufserlich aufrecht erhalten, während ihr innerstes Wesen durch 
den Geist des Orients bestimmt wird. Dieser dringt überhaupt 
immer stärker in die byzantinische Kultur ein und entfremdet sie 
allmählich dem Occident gänzlich. Byzanz wird ein Vorposten 
des Orients. 

1* 



- 4 — 

Diese orientalische Färbung hat sich nun auch der sich aus 
dem byzantinisch-gelehrten Milieu allmählich losringenden volks- 
tümlichen Poesie mitgeteilt. Aber sie wird nicht die allein 
herrschende. Dazu ist diese Poesie zu fest mit der antiken 
Romantik verschmolzen; das Verhältnis von orientalischem und 
antikem Wesen ist in ihr umgekehrt wie in der byzantinischen 
Litteratur: in dieser ist der christlich-orientalische Grundton, in 
jener der spätantike stärker; er schlägt in der volkstümlichen 
Litteratur wieder ebenso durch wie der orientalische in der 
byzantinischen. Was die volkstümliche Dichtung vor allem von 
der byzantinischen unterscheidet, ist ihr stark romanischer Ein- 
schlag: die Berührung mit altfranzösischem, dann mit italieni- 
schem Geiste hat ihr erst eigentlich zum Dasein verholfen; er 
hat formal und geistig belebend auf sie gewirkt. So erscheint 
die neugriechische Volksdichtung als eine Fortsetzung der spät- 
altgriechischen Poesie, durchsetzt mit orientalischen Elementen 
und veredelt und bereichert durch die romanische Poesie. Auch 
kulturgeschichtlich steht das moderne Griechentum etwa in der 
Mitte zwischen Romanentum und Orientalentum , wie die zahl- 
reichen italienischen Lehnwörter des Neugriechischen auf der 
einen, die türkischen auf der anderen Seite beweisen. 

Auf der byzantinischen Kunstdichtung einerseits und der 
neugriechischen Volksdichtung andererseits baut sich die neu- 
griechische Kunstdichtung auf. Das byzantinische Ele- 
ment in ihr wird belebt durch eine starke formale Invasion der 
Antike, das Volkstümliche durch eine abermalige geistige des 
Romanentums. Beide liegen miteinander im Kampfe, und je 
nachdem bald das eine, bald das andere die Oberhand behält, 
bald das klassizistische, bald das national-volkstümliche Element 
überwiegt, ändert sich das Bild, das uns die neugriechische 
Litteratur bietet. Der Dualismus, der die alexandrinische und 
byzantinische Litteratur durchzieht, setzt sich noch in der neu- 
griechischen fort, in sprachlicher wie in litterarischer Hinsicht. 
Aber in dem Mafse, wie die neugriechische Litteratur sich zu 
einer nationalen hindurcharbeitet, mufs das kosmopolitisch-klassizi- 
stische und imitative Element, das Erbteil der alexandrinisch- 
byzantinischen Periode, zurückweichen und einer selbständigen, 
organischen, unter dem Einflufs des Occidents stehenden Ent- 
wicklung Platz machen. Man kann also sagen, dafs die neu- 



— 5 — 

griechische Litteratur gerade unter der entgegengesetzten Tendenz 
steht wie die byzantinische: schlofs sich diese ängstlich vom 
Occident ab und erstarrte in einem orientaiisierten Klassizismus, 
so ist das Hauptbestreben der neugriechischen Litteratur, die 
verlorene Fühlung mit dem Occident wieder zu gewinnen und 
das heimische Volkstum an diesem neu zu beleben. 

Wie sich weiter hieraus ergibt, ist das Verhältnis 
der byzantinischen zur neugriechischen Litteratur nicht das 
der Abhängigkeit dieser von jener, sondern des Parallelismus, 
genau wie die neugriechische Sprache sich nicht aus der 
byzantinischen Kunstsprache, sondern neben dieser aus der 
hellenistischen Volkssprache entwickelt hat. Wie aber die 
byzantinische Kunstgräzität auf die Volkssprache eingewirkt 
hat, so auch die byzantinische Kunstlitteratur auf die neu- 
griechische. Diese lälst sich somit etwa darstellen unter dem 
Bilde eines Stromes, der aus mehreren unterirdischen Quell- 
flüssen hellenistisch-alexandrinischen Ursprungs entstanden ist, 
und der sich früh zu einer seeartigen Ausbuchtimg erweitert 
hat, der byzantinischen Litteratur; der Strom aber flofs trotzdem 
weiter als unsichtbare, aber starke Unterströmung und wurde 
nur durch das allmählich stagnierende Wasser des Sees am 
Hervorbrechen gehindert. Erst nachdem der See ausgetrocknet 
war, konnte der Strom, freilich nicht ohne etwas von dem Wasser 
des Sees in sich aufgenommen zu haben, sich ein eigenes, neues 
Bett suchen, in das er sich freier ergiefsen konnte, inzwischen 
verstärkt durch neue Zuflüsse. Dieses Bild zeigt auch, dafs 
zwischen der byzantinisch-gelehrten und der neugriechisch-volks- 
tümlichen Litteratur immerhin so viele Berührungspunkte ge- 
geben sind, dafs eine kurze kulturhistorische Charakteristik der 
byzantinischen Periode in ihrem Verhältnis zur neugriechischen 
hier wohl am Platze ist, sei es auch nur, um als Folie für imsere 
weitere Betrachtung zu dienen. 

Die byzantinische Litteratur geht also auf die hellenistisch- 
alexandrinische zurück, und zwar, soweit sie christlich-religiösen 
Charakter hat, auf die jüdisch-griechische, soweit sie weltlich- 
profan ist, auf die sophistisch-rationalistische Litteratur der 
Alexandriner. Zahlreiche Kulturfäden spinnen sich vom Nildelta 
zum Bosporus: die Vermischung von Poesie und Gelehrsamkeit 
infolge Erschöpfung der dichterischen Phantasie und ihrer Er- 



— 6 — 

Setzung durch kompilatorische Kopfarbeit, die Ablösung des 
philosophischen Denkens durch theologische Dogmatik, die starre 
Festlegung der Sprache im Attizismus *), der Verlust des antiken 
Nationalgefühls und die Entstehung eines farblosen Kosmo- 
politismus, alle diese für die byzantinische Zeit so charakteri- 
stischen Züge haben sich schon in dem Kulturzentrum der helleni- 
stischen Zeit, in Alexandria, herausgebildet. Auch direkte Zeug- 
nisse für den Zusammenhang zwischen Alexandria und Byzanz 
liegen vor: Konstantin d. Gr. berief zahlreiche alexandrinische 
Gelehrte aus Alexandria nach der neuen Universität in der 
Hauptstadt des Ostreiches, und in der Kunst findet man alle 
Eigentümlichkeiten der alexandrinischen Miniaturmalereien wieder. 
So hat Konstantinopel nur ausgebaut, was in Alexandria sich 
angebahnt hat: die Byzantiner sind christliche Alexandriner. 
Freilich ist auch der Kultureinflufs des alten Rom auf das neue 
nicht zu unterschätzen ; nannten sich doch die Byzantiner selbst 
Romäer, d. h. Oströmer. Dennoch erstreckt er sich mehr auf 
das äufsere offizielle Leben in Politik, Verwaltimg und dem 
Zeremoniell des Hofes, nicht auf das geistige Leben, auf Litte- 
ratur und Kunst. Vor allem aber ist er nicht nachhaltig ge- 
wesen: Römische Sprache und Sitte mufsten immer mehr vor 
griechisch-orientalischer zurückweichen. »Obgleich ... die Ver- 
schiedenheit zwischen Griechen, S3rrem imd Ägyptern nicht gänz- 
lich ausgeglichen war, standen sie sich von alters her durch die 
geschichtliche Verbindung und ihre gleichartig gewordene 
Kultur gegenseitig näher als den eigentlichen Römern.«. Wäre 
der Osten wirklich latinisiert worden, wie wäre dann der ge- 
waltige Kulturrifs zu erklären, der noch bis heute zwischen Ost- 
und Westeuropa klafft, ein Rifs, dessen Ursprung zurückgeht 
auf jenes welthistorische Jahr 324 n. Chr., das Jahr der Teilung 
des römischen Weltreiches s). Und wie wäre femer jenes auf- 
fallende Vorherrschen orientalischer Elemente im byzantinischen 
und neugriechischen Kulturkörper zu erklären, auf die wir noch 
oft werden hinzuweisen haben, und die noch lange nicht genug 
gewürdigt sind? Betont doch auch Krumbacher ganz richtig, 
dafs das byzantinische Reich »nichts weniger als etwas rein 
Griechisches« war, »sondern ein eigenartiges Amalgam griechi- 
scher und fremder Bestandteile, unter denen aufser den römischen 
und orientalischen namentlich die barbarischen (germanischen 



— 7 — 

und slavischen) zuf physischen und moralischen Verjüngung und 
zur materiellen Kräftigung des Staates beitrugen«. Wir hätten 
danach drei verschiedene Elemente im geistigen Leben von 
Byzanz anzunehmen: ein antikes (römisch-griechisches), ein 
orientalisches und ein barbarisches (slavisch-germanisches). 
Natürlich durchdringen und verschmelzen sich diese drei Kultur- 
sphären allmählich so innig, dafs nicht jedes rein herauszu- 
destillieren ist. Am stärksten ausgeprägt ist das antike und das 
orientalische Element, während das slavisch-germanische dagegen 
fast ganz zurücktritt. 

Was nun das Stärkeverhältnis der beiden ersten Elemente 
betrifft, so scheint es, äufserlich betrachtet, dafs das antike, 
speziell das griechische, bei weitem dominiere. Das gilt zunächst 
für die Sprache, doch auch hier nur äufserlich: wenn 
auch die griechische Sprache stets die offizielle des Reiches 
war, der Kirche, der Verwaltung und der Litteratur, so hat es 
mit ihr doch eine eigene Bewandtnis. Sie nahm etwa die 
Stellung ein wie das künstliche Latein im Mittelalter, nicht wie 
das lebendige zur Zeit der römischen Kolonisierung Spaniens 
imd Galliens. ^ Man spricht so viel von der Zähigkeit und Assi- 
milierungskraft der griechischen Rasse und Sprache; in der 
Expansionskraft dagegen konnten sich beide mit der lateinischen 
nicht messen, und zwar darum nicht, weil die griechische Rasse 
nicht, wie die lateinische, ihre Sprache und ihr Volkstum sich 
frei entfalten liefs, sondern weil es sie verleugnete und sich da- 
durch seiner stärksten Zeugungskraft beraubte. Das byzanti- 
nische Griechentum war durchaus auf dem Wege, die ganze 
Balkanhalbinsel zu gräzisieren: der Kultureinflufs der Griechen 
ist ja noch heute z. B. auf dem Gebiete des Wortschatzes und 
der Volkskunde der Balkanvölker unverkennbar^). Wenn er 
nicht so tiefgehend war, um diese Völker auch sprachlich zu 
gräzisieren, so lag dies daran, dafs die Griechen deren natür- 
licher, urwüchsiger Sprache nur eine künstliche entgegenzusetzen 
wagten, wie sie sich seit der Zeit der sog. Attizisten heraus- 
gebildet hatte, während man die allein organische und lebens- 
fähige Volkssprache verachtete und verkümmern liefs, in unheil- 
voller Verkennung nicht nur der allgemeinen Entwicklungs- 
gesetze, sondern auch der eigenen politischen Interessen 7). Der- 
selbe Vorgang wiederholt sich heute in Makedonien, wo das 



— s — 

GriecbentaiD , eben wegen seiner sprarhlichen Impotenz, dem 
Slaventom ünmer mdir das Frid räomen mnis. 

Wohl lastete aoch im Westen der niedefstnrziende Stamm 
des alten Latein lange schwer anf dem rings skh anseilenden 
Grün der romanischen Spradien; doch ob hier das Erdreich 
fruchtbarer, ob der Druck weniger stark war. nie wurde das 
freie natfiiüche Spiel der Kräfte gdiemmt: der Stamm Ter> 
moderte allmählich und nährte eine neue Weh. Im Osten aber 
wollte der Baum des Ahgriechisdien nicht störzen; er stand nodi 
aufrecht und stark da, mit weitgreifenden Wanriklammem. 
Wohl war der Stamm nicht mehr gesund, und das Mark war 
ausgehöhlt, aber noch immer trieb er neue Blätter, und seine 
Lebenskraft schien ungebrochen; und doch sah man. dals sein 
Stamm gestützt, dafs seine Zweige durcb Bänder gdialten 
wurden. Man wuIste nicht, ob es noch ein lebendiger Baum 
war oder ein abgestorbener. Hätte man ihn sterben, s t ür zen 
lassen, so wären seinem modernden Mark langst neue Kräfte 
entstiegen, jugendgrüne, saftige Kräfte, die eine neue Welt 
hervorgezaubert hätten. Aber man wollte ihn erhalten, wie er 
war, tilgte die jungen Schöfslinge gewaltsam aus und wollte die 
letzte Triebkraft dem trocknen Boden entziehen: so hütete man 
das Alte und tötete das Neue. Und als dieses dennoch sich mit 
der Kraft der Naturgesetze einen Weg brach, da war es zu 
spät : die Welt war schon vergeben, die griechische Sprache — und 
mit ihr das griechische Volk — , die einen Anspruch auf die 
Weltherrschaft im Osten hatte, sie hatte sich durch sich selbst den 
Weg ins Freie, Weite versperrt und mufste sich in den Schmoll- 
winkel zurückziehen, wo sie noch heute steht, umwachsen und 
umwuchert von nicht weniger schwachen, neidischen Nachbarn. 

In dieser Erstarrung der offiziellen Sprache, der die Griechen 
seit der alexandrinischen Periode verfallen waren, teils aus 
geistiger Kurzsichtigkeit und Erschöpfung, teils aus falsch ver- 
standenem Historismus, liegt nun gerade das Gegenteil von 
dem, was dadurch hervorgerufen werden sollte: von antikem 
Geiste. 

Wie die Sprache, so hatte auch dieLitteratur nur äulser- 

^ einen antiken Anstrich, keinen antiken Charakter mehr. 

ir schon an sich die poetische Produktion in Byzanz nur ge- 

llg, 80 verliert sie auch qualitativ dadurch an Wert, dafs sie 



— 9 — 

sich durchaus in den Geleisen der spätgriechisch-röraischen Poesie 
bewegte. Wenigstens gilt das von der Profanpoesie, die ganz 
unter antiker Tradition stand. Und die Kirchenpoesie, die allein 
Wertvolles hervorgebracht hat, ist schon durch ihren Stoff der 
Antike entfremdet und dem Orient angenähert, so dafs man auch 
von derLitteratur sagen kann, dals ihre selbständigeren Leistungen 
einen nichts weniger als griechischen Charakter tragen. 

Wie äufserlich das Verhältnis der Byzantiner zu den antiken 
Griechen war, beweist ihr gänzlicher Mangel an philoso- 
phischer, sei es auch nur mittelalterlich -philosophischer Be- 
gabung. Sie haben kein eigenes System, keinen Thomas von 
Aquino hervorgebracht, nur den vielseitigen, aber unschöpferischen 
Geist eines Michael Psellos nannten sie ihr eigen. Im übrigen 
war die Philosophie ganz in der Sophistik und diese in der 
Dogmatik untergegangen. 

In der byzantinischen bildenden Kunst endlich ist der alt- 
griechische Geist völlig ausgestorben ; es ist nicht mehr hellenische, 
sondern hellenistische Kunst, wie sie sich unter dem Einflufs der 
verschiedenen Stilarten des Orients, Syriens, Ägyptens, Kleinasiens 
und Persiens modifiziert hatte. An die Stelle des antiken Massen- 
baues tritt der Raumbau; die künstlerische Behandlung wird da- 
mit aus dem Äufseren in das Innere verlegt: Säule und Balken 
werden ersetzt durch Mauer und Bogen. Die leere, schmucklose 
Steinwand, die dem alten Säulentempel als Hintergrund diente, 
wird selbst Gegenstand des Schmuckes, und da dieser nur 
malerisch sein kann, so ergibt sich als ein weiterer Unterschied 
die Ersetzung der Form durch die Farbe. Damit ist alles 
weitere gegeben: die figürliche Plastik wird verdrängt durch 
das Relief, und dieses selbst nimmt mit dem farbigen einen 
flächenhaften Charakter an, wie es im Mosaik sich vollendet. 
Und in diesem endlich vollzieht sich wieder, bedingt durch dessen 
eigentümliche Technik, die Wandlung von den reinen Natur- 
formen zu den geometrischen: Das Ornament und die Arabeske 
gewinnen die Oberhand; die grofse Kunst wird zur Kleinkunst. 
Und alle diese Wandlungen führt man neuerdings, sicher mit 
Recht, auf den Orient zurück. »Was wir die byzantinische Kunst 
nennen, das ist der alte Orient, das ist der Sieg des greisen 
Ahasver über die Schönheit von Hellas und Rom®).« 

Und das Gleiche gilt von allen übrigen Abweichungen der 



— 10 ^ 

Byzantiner vom antiken Wesen in Sprache, Litteratur und Kunst : 
trotz äulserlicher Aufrechterhaltung der Tradition in den beiden 
ersteren beweisen sie deutlich, dals die antike Kultur nicht mehr 
lebendig war, und dals etwas anderes, völlig verschiedenes dafür 
eingetreten war, der Geist und die Form des Orients. 

Der Orientalisierungsprozels des Griechentums 
bildet somit den eigentlichen Inhalt der byzantini- 
schen Kulturgeschichte^). Die geistige Struktur von 
Byzanz kam dadurch zustande, dals der griechische Geist immer 
mehr sich mit orientalischem Wesen verquickte und schliefslich 
ganz vom Orient verschlungen wurde. Daher das Zwiespältige, 
Unausgeglichene in dem Charakter des Byzantinertums , der 
Widerspruch zwischen Form und Inhalt, zwischen despotischem 
und demokratischem Wesen, zwischen Altertum und Mittelalter, 
zwischen Heidentum und Christentum. Daher die bunte Vielheit 
verwirrender Farben an Stelle der feinen organischen Einheit 
der Antike, das Auf- und Abwogen der verschiedensten Kultur- 
elemente und doch zugleich das äulserliche Sichabsperren gegen 
fremde Einflüsse, starke Tyrannei der Tradition im geistigen, 
unruhige Entwicklung im politischen Leben — alles das erklärt 
sich aus dem hartnäckigem Kampf, den der unterliegende 
Hellenismus mit dem übermächtigen Orient führte. 

So reduzieren sich die verschiedenen Elemente der byzantini- 
schen Kultur schliefslich auf das eine orientalische, dessen 
immer stärkeres Überwiegen sich schon rein geographisch erklärt, 
da ja die grölsere Hälfte des Reiches auf asiatischem Boden lag. 
Diese orientalische Färbung ist es auch, die uns die Kulturwelt 
von Byzanz so fremdartig erscheinen läfst, und ihr eine von dem 
westeuropäischen Mittelalter so abweichende Physiognomie ver- 
leiht, sowohl im staatlichen und sozialen wie besonders im 
geistigen Leben. Es ist, wenn man es mit einem Worte 
sagen soll, der orientalische Despotismus, der den Osten be- 
herrscht, sei es, dals er sich offenbart als Zentralisation und 
Autokratismus im staatlichen, als Atomismus im sozialen, 
als Konservatismus im geistigen Leben. 

Straffe Zentralisation ist das Wesen des byzantinischen 
Staates, offenbar ein Erbteil Roms: wie dieses, so hat auch Byzanz 
dem ganzen Reiche seinen Namen aufgeprägt. Wie es im Altertum 



— 11 — 

keine Stadt in Italien gab, die sich mit Rom messen konnte, so 
im osteuropäischen Mittelalter keine im byzantinischen Reiche, 
die gegen Byzanz aufgekommen wäre. Während in Italien seit 
dem 11. Jahrhundert kräftige städtische Gemeinwesen empor- 
blühen, die ein neues Geistesleben entfachen, ziunal auf dem 
jimgfräulichen Boden Norditaliens, in Florenz, Venedig und 
Mailand, während auch in Deutschland gegen Ausgang des 
Mittelalters das freie Bürgertum in freien Städten herrscht, wird 
auf byzantinischem Boden alles Leben von der Hauptstadt auf- 
gezehrt; die Provinzen liegen still und stumm da, nirgend eine 
Spur jugendUcher politischer oder sozialer Neubildungen, noch 
ein Wiederaufleben alter Grölsen: das europäische Griechenland 
— Athen , Korinth , Sparta — es ist tot ; und kein östliches 
Florenz überflügelte das östliche Rom. Wenn es auch zu 
Justinians Zeit gegen tausend Städte im Reiche gegeben haben 
soll, so war doch nur Konstantinopel das geistige Zentrum. 
Noch ein neugriechisches Sprichwort sagt : Wenn die ganze Welt 
zwölf gilt, so gilt Konstantinopel fünfzehn! 

Dieses so zentralisierte Reich war nun eine Verquickung des 
römischen Beamten- und Militärstaates mit dem orientalischen 
Priesterstaat und besals die ganze eiserne Organisation beider. 
Diese war wieder die Folge seiner exponierten geographischen 
Lage und der Buntheit seiner Bevölkerung; denn das byzanti- 
nische Reich war ebensowenig ein Nationalstaat wie die heutige 
Türkei; das griechische Element war sogar stark in der Minder- 
heit; waren doch nicht nur die Kemtruppen des Heeres aus 
Barbaren, d. h. Slaven, Hunnen, Armeniern, Persem und Arabern 
zusammengesetzt, sondern selbst ganze Generationen von Kaisem, 
wie die Isaurier, waren Nichtgriechen, Usurpatoren, gleich den 
römischen Soldatenkaisem. Ein wie buntes ethnographisches 
Bild die Hauptstadt selbst darbot, hat der im 12. Jahrhundert 
lebende Chronist Tzetzes anschaulich in den folgenden Versen 
geschildert : 

Die Bürger in der Kaiserstadt des Konstantinos reden 

In einer Mundart nicht, sie sind nicht einem Stamm entsprossen; 

Ein Mischmasch vieler Zungen ist's und vielbenamter Gauner, 

Alanen, Türken, Kreter sind's und Rhodier und Chier, 

Kurz Völker aus der ganzen Welt, aus aller Herren Reichen, 

Der Auswurf ärgster Schufte ist zusammen hier geflossen. 



— 12 — 

Dieser Zentralisierung entsprach auch die autokratische 
Stellung des Kaisers. Er galt als Ebenbild Gottes, von dem er 
in sein Amt eingesetzt war; man mufste sich vor ihm nieder- 
werfen. »Alles, was mit seiner Person in unmittelbarer Be- 
ziehung stand, war geheiligt, sogar die für seinen ausschliefs- 
lichen Gebrauch vorbehaltene rote Tinte, mit der er seinen 
Namen unterschrieb.« In dieser Eigenschaft als Vertreter Gk)ttes 
setzte er selbst die höchsten geistlichen Würdenträger ein und 
ab. Unter den Strafen, die er verhängte, waren die häufigsten 
die ebenfalls ganz orientalischen der Blendung und der Ver- 
stümmelung. Man sieht daraus, dals die Stellung der byzanti- 
nischen Kaiser sich kaum von der indischer und persischer 
Herrscher unterschied, wie auch die Anlage des byzantinischen 
Kaiserpalastes ganz orientalisch war, d. h. eine kleine Stadt 
für sich bildete. 

In einem seltsamen Gegensatz zu dieser despotisch-auto- 
kratischen Regierungsform des Reiches steht nun ein auffallend 
demokratisches Gebaren des Volkes, wie es sich äufsert in dem 
wüstesten Parte iwesen. Eigentliche Parteien in imserem west- 
europäischen Sinne, also politische oder wirtschaftliche Interessen- 
gruppen, gab es in Byzanz ebensowenig wie heute in Osteuropa. 
Was man so nannte, waren nur nach persönlichen Gesichts- 
punkten und zu persönlichen Zwecken zusammengesetzte Cliquen. 
Man denke an die berüchtigten Zirkusparteien der Blauen und 
der Grünen, die ebensowenig ein sachliches Programm hatten 
wie die beiden langjährigen »Parteien« der Delijannisten und 
Trikupisten im modernen Griechenland. Mit den alten florenti- 
nischen Parteien der Guelfen und Ghibellinen haben sie natürlich 
gar nichts zu tun ; diese sind die Verkörpenmg alter und grolser 
historischer Gegensätze in zwei Adelsfamilien. Solche aber 
konnte es in Byzanz nicht geben; hier herrschte entweder die 
orientalische Autokratie oder die römische Ochlokratie, nicht die 
altgriechische und italienische Oligarchie. 

Auch die Art, wie die verschiedenen Dynastien einander 
folgen, wie sie sich befehden und stürzen, gleicht mehr dem 
wüsten Treiben rivalisierender und intrigierender Parteien als 
dem ruhigen, würdevollen Gang, mit dem die Fürstengeschlechter 
der westeuropäischen Länder dahinschreiten. Nicht weniger als 
acht Herrscherdynastien haben in achthundert Jahren der byzanti- 



- 13 — 

nischen CJeschichte einander abgelöst, und nur wenige endeten 
durch Aussterben ^°). Man begreift unter diesen Umständen, dals 
von einer wirklichen Pietät und Liebe des Volkes zu seinen 
Fürsten keine Rede sein konnte, und man versteht auch, wie der 
Pöbel sich nicht entblödete, auf unbeliebte Herrscher öffentlich 
Spottverse zu singen, in denen ihre Schwächen an den Pranger 
gestellt wurden. 

Diese autokratisch-ochlokratische Herrschaft hat nun ihre 
Folgen auch im sozialen Leben gehabt, zimächst die, dals sich 
im byzantinischen Reiche kein freies, starkes Bürgertum ent- 
falten konnte wie in West- und Mittel-Europa, weshalb es auch 
im Neugriechischen kein Wort für »Bürger« gibt; dem alt- 
griechischen TüoXfnjc hat man erst künstlich diese Bedeutung ge- 
geben ; in der lebendigen Sprache bezeichnet es einfach den Ein- 
wohner der »Stadt«, d. h. Konstantinopel. Diese Tatsache ist 
für die Beurteilung der Litteratur äufserst wichtig; sie erklärt, 
warum das geistige Leben in Byzanz fast ausschliefslich in den 
Händen von hohen Staatsbeamten oder von Theologen lag; es 
fehlte an einem kräftigen, bürgerlichen Mittelstand, an der 
sozialen Reibung, der die abendländische Litteratur ihre besten 
Kräfte verdankt. Wo einmal »Laien« in der Litteratur von 
Byzanz auftreten, da spielen sie meist eine unerfreuliche Rolle: 
es sind ^ Höflinge und Streber, keine freien, selbstbewufsten, 
starken Naturen. 

Wohl als Folge des Mangels an natürlicher ständischer 
Gliederung und Organisierung, sowie des zersetzenden Parteiwesens 
ist eine andere Erscheinung anzusehen, die man als sozialen 
Atomismus bezeichnen könnte. Nirgends findet man im byzanti- 
nischen Reiche die Spur eines gewerblichen Zunftwesens, wie es 
im Abendlande so reich entwickelt war und auch in der Türkei 
noch so üppig in Blüte steht. Bezeichnend dafür ist, dals selbst 
das Wort »Zunft« im heutigen Griechisch dem Türkischen ent- 
lehnt ist. Denselben Atomismus beobachtet man auf kirchlichem 
Gebiete: Schon Fallmerayer") hat darauf hingewiesen, dals 
nirgends im griechischen Orient die zahlreichen Klöster sich zu 
Ordensgemeinschaften zusammengeschlossen haben wie in der 
römischen Kirche. Jedes Kloster ist vielmehr eine Welt für sich, 
ja, die einzelnen Klöster liegen nicht selten miteinander in 
Fehde, wie z. B. auf dem Athos. Es fehlte eben dem Griechen- 



— 14 — 

tum von jeher die Fähigkeit, nach grofsen, gemeinsamen Ge- 
sichtspunkten zu handeln, wie auch die Unterordnung unter 
machtvolle, überragende Geister. 

Man wird es verstehen, wenn bei diesen, einem frischen 
Geistesleben wenig günstigen staatlichen und sozialen Zuständen 
die Entwicklung einer poetischen Litteraturals Ausdruck eines 
inneren, elementaren Dranges des Herzens und der Phantasie 
zum wenigsten stark erschwert, wenn nicht ganz vereitelt wurde. 
Man kann sagen: wie Byzanz, der Kopf des Reiches, mit seiner 
zentralisierenden Tendenz alle übrigen Teile und Organe des 
Staatskörpers verkümmern liels, so verkümmerten auch im 
geistigen Leben die Kräfte poetisch gestaltender Phantasie vor 
der mühsamen Kopfarbeit gelehrter Prosa. Dieses Mifsverhältnis 
gibt sich schon rein quantitativ zu erkennen an dem Überwiegen 
der prosaischen Produktion über die poetische : die erstere nimmt 
z. B. in Krumbachers Litteraturgeschichte einen etwa viermal so 
grofsen Raum ein als die letztere. Aber auch in dieser herrscht 
das gelehrte Element stark vor: wenn man von wenigen Er- 
scheinungen, wie der des Kirchendichters Romanos, absieht, bei 
dem man zuweilen wirklich etwas wie Blutwärme des Herzens 
verspürt, so kann man doch allen übrigen das Prädikat von 
Vollblut dichtem schwerlich zuerkennen; dazu arbeiten sie alle 
zu sehr mit dem kühlen, berechnenden Verstände, stehen sie zu 
sehr unter dem Banne der Überlieferung. Es ist die polierte, 
zierliche Poesie humanistischer Theologen, ohne die wuchernde 
Urwüchsigkeit wahrhaft poetischer Gestaltungs- und Empfindungs- 
kraft. Das im höchsten Sinne Menschliche, das überall in der 
Menschenbrust Widerhall weckende, wird man in dieser Litteratur 
vergebens suchen. Darum wird auch die byzantinische Poesie 
niemals Eingang in die Weltlitteratur finden, weil sie eben der 
Welt nichts zu bieten hat. Und in diesem Sinne mufs man auch 
heute noch dem Worte von Bemhardy beistimmen, dals die 
Byzantiner Poesie im eigentlichen höchsten Sinne nicht kannten. 
Ein Geist wie Romanos kann als rühmliche Ausnahme nur die 
Regel bestätigen, und die seit dem 14. Jahrhundert frisch auf- 
keimende volkstümliche Poesie fällt aus dem Rahmen der eigent- 
lich byzantinischen, wie wir den Begriff fassen, heraus. 

Dasjenige nun, was dieser Gelehrtenpoesie den eigentlich 
poetischen Charakter raubt, was die Phantasie nicht voll zum 



— 15 — 

Durchbruch kommen lälst, ist nicht lediglich das gelehrte, das 
höfische oder das theologische Element darin. Dieses finden wir 
auch bei den grofsen Dichtem des abendländischen Mittelalters: 
Dantes Weltanschauung ist noch rein scholastisch -theologisch; 
Chaucers derber, realistischer Humor ist noch ganz mittelalter- 
lich; Walter von der Vogelweide hat fast nur an Fürstenhöfen 
gelebt; aber sie sind trotzdem ganze Menschen geblieben und 
daher ganze Dichter: Phantasie, Humor und Gemüt sind bei 
ihnen allen gleichmäfsig entwickelt. Gerade diesen Dreiklang 
aber vermilst man bei den byzantinischen Poeten gänzlich, be- 
sonders den göttlichen, befreienden Humor, das Kennzeichen 
wahrer seelischer Gesundheit. Der Grund ist handgreiflich: es 
ist wieder der orientalische Druck, der die volle, freie Entfaltung 
aller edlen menschlichen Anlagen unterbindet, es ist die orienta- 
lische Despotie, welche Freiheits- und Vaterlandsliebe, die 
orientalische Sinnlichkeit, welche die Frauenliebe, die starre, 
orientalisch-asketische Theokratie, welche die wahre Gottes- und 
Menschenliebe erstickt. Diese drei Quellflüsse aller echten Poesie, 
das darf man getrost sagen, waren in Byzanz versiecht : von der 
weltlichen Poesie waren Lyrik und Drama gar nicht, das erotische 
Epos nur in rohen Nachahmungen vertreten; die Kleinlitteratur 
allein brachte es wie die Kleinkunst zu einer gewissen Höhe, 
und von der geistlichen war es nur die Hymnendichtung, die in 
einem plötzlich aufschielsenden Strahle emporstieg, um dann früh 
wieder zu fallen, während das geistliche Drama ganz fehlte. 

Dals es in Byzanz nicht zu einer Blüte des Epos in der 
Form des Romans kommen wollte, findet Krumbacher nicht 
ohne weiteres verständlich; er möchte es darauf zurückführen, 
dals schon in der hellenistischen Zeit diese Gattung in der Form 
des Sophistenromans ein Kimstprodukt war, das keine Wurzel 
im wirklichen Leben hatte. Warum hat sich aber der byzanti- 
nische Roman an den der Sophisten angelehnt ? — Offenbar doch 
darum, weil es ihm an eigenem Stoffe, an lebendigen Vorbildern 
und Motiven gebrach. Und vergegenwärtigt man sich , was 
über das Fehlen jeglicher sozialer Gliederung und Abstufimg in 
höfische, geistliche, bürgerliche und bäuerliche Gesellschaft im 
byzantinischen Reiche bemerkt wurde, so kann es nicht wunder- 
nehmen, wenn auch die Litteratur nichts davon widerspiegelt, 
wenn wir in einem gänzlich unsozialen, nur von Staats- und 



— 16 — 

Kirchenbeamten beherrschten Staate auch keine soziale Poesie 
finden, weder die humoristisch-realistische Muse eines Chaucer, 
noch die scharfe, satirische eines Rabelais, noch die urwüchsig- 
hausbackene eines Sachs. Und so verstehen wir auch erst 
Krumbachers Satz: »Kein griechischer Romanschreiber hat den 
Griff ins volle Menschenleben gewagt: keiner kam auf den Ein- 
fall, seine eigene Zeit, ihre familiären, sozialen und politischen 
Verhältnisse, ihre philosophischen und religiösen Stinunimgen, 
den unendlichen Reichtum ihres Volkslebens zu studieren und 
künstlerisch zu verwerten.« Nur scheint hier die Schuld mehr 
den Individuen als den Zuständen zugeschrieben zu werden; 
wahrscheinlich lag sie an beiden: an den ersteren, die selbst 
nicht sehen, und an den letzteren, die sich nicht sehen lassen 
konnten, an dem Mangel an Naturalismus bei jenen und an dem 
Mangel an Natur und natürlicher Entwicklung bei diesen. Und 
ob nicht der erstere nur die Folge des letzteren ist? — Ob die 
künstlerische Unnatur des mittelalterlichen griechischen Kunst- 
romans nicht ihre Wurzel hat in der politischen und gesellschaft- 
lichen Unnatur der Verhältnisse von Byzanz? — Warum hat 
sich noch innerhalb der byzantinischen Zeit auf einem jungfräu- 
licheren Boden des Reiches ein jugendlich-frisches Volksepos ent- 
wickelt? 

Noch weniger günstig als dem Roman waren die öffent- 
lichen Zustände in Byzanz der zartesten Blüte der Dichtung, der 
Lyrik. Zwar sollte man meinen, dafs gerade der aus der Öffent- 
lichkeit vertriebene Dichter zu sich selbst flüchten mülste oder in 
ein liebes Herz. Doch mag es auch wahr sein, dafs für seelisches 
Empfinden das Mittelalter noch nicht zugänglich, noch nicht subjektiv 
genug war, so erklärt diese objektivere Stinmiung noch lange 
nicht alles. Hat sich nicht im romanischen Mittelalter eine üppig 
blühende Liebeslyrik entfaltet, hervorgegangen aus dem ritter- 
lichen, anfangs rein erotischen Kultus der Frau, aber veredelt 
und vergeistigt in der Lichtgestalt einer Beatrice, einer Laura? 
Und herrschte in Byzanz nicht auch das ewig Weibliche? — 
Freilich hat es auch hier geherrscht, doch nicht sowohl über 
Herzen edler Männer, als über die von Schwächlingen auf dem 
Thron des Reiches. Wir sind eben wieder in einer anderen 
Kulturwelt, an der Stufe des Orients. Orientalisch ist schon der 
Typus des Weibes, wie er uns entgegentritt in einer Ol3mGipias, 



- 17 — 

einer Kleopatra, vor allem aber einer Theodora, orientalisch 
ist das intriguenspinnende Geschlecht ihrer Nachfolgerinnen 
auf oder hinter dem Throne. Es herrscht nicht durch die 
passive, stille Gewalt seines siegreichen, tugendhaften Herzens, 
sondern durch den brutalen Milsbrauch seiner Reize zur Er- 
reichung ehrgeiziger Ziele. Wo dieses Ziel wegfällt, ist auch 
seine Macht gebrochen ; als Eigenwesen, als Individuum, fühlt das 
Weib sich schwach und nichtig ; sein Innenleben ist zu arm, und 
was es in sich hat, frommt dem Manne nicht, der noch mehr 
Utilitarier ist als sie selbst, der sie lediglich als Mittel zum 
Zwecke betrachtet, als ein Wesen, das imter ihm steht. Daher 
verschwindet die Frau im geistigen Leben des Mannes, wo sie 
keine äufserliche Rolle spielen kann, gänzlich. Daher findet 
man nirgends in byzantinischen Dichtimgen jene anbetende Ver- 
klärung der Liebe, wie sie bei Dante und Petrarca uns entzückt. 
Selbst da, wo infolge der durch die Kreuzztige hervorgerufenen 
engeren Berührung des byzantinischen Ostens mit dem romani- 
schen Westen ein innigerer Ton in das Liebesleben kommt imd 
auch in die Poesie eindringt, überwiegt doch das rein Erotische 
die hohe, vergeistigte, seelenvolle Auffassung der Liebe. Es fehlt 
ihr auf beiden Seiten das individuelle Leben, das auf gegen- 
seitiger Hochachtung beruht und das freilich auch im Westen 
nur bei den auserwähltesten Naturen zu finden war. 

Ebensowenig wie Epos imd Lyrik konnte das Drama sich 
in Byzanz entwickeln. An eine Erhaltung des antiken Dramas 
in einer gänzlich antiheidnisch gerichteten, unktinstlerischen und 
imvolksttimlichen Periode denkt wohl überhaupt kein historisch 
gerecht und unbefangen urteilender Beobachter. Diese Hypo- 
these, wie sie ein griechischer Forscher verteidigte, ist längst 
abgetan. Derartiges gab es auch im westeuropäischen Mittel- 
alter nirgends, imd nur mit diesem darf man das byzantinische 
vergleichen. Aber — und das ist auffälliger und noch der 
psychologischen Erklärung bedürftig, wie so manches in der 
byzantinischen Litteratur — selbst das auf romanischem und 
germanischem Boden im Mittelalter so kräftig entwickelte geist- 
liche Drama, das Mysterienspiel zum Weihnachts- und Oster- 
feste, ist in Byzanz nur in kümmerlichen Spuren erhalten, die 
nur zu deutlich beweisen , dafs ihm die tieferen Wurzeln im 
Volksboden fehlten. Und doch sind Ansätze dazu vorhanden, 

Dieterich, Getch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 2 



— 18 — 

die offenbar ein dramatisches Gefahl verraten, wenn auch nur in 
primitivster Form von kleinen Dialogen. Dafs sie sich nicht aos- 
wacbsen konnten« bezeugt das völlige Fehlen geistlicher drama- 
tischer Spiele bei den heutigen Griechen. Schwieriger ist die 
Frage zu beantworten, warum diese Gattung bei einem so 
kirchlich-religiös beanlagten Geschlecht, wie die Byzantiner es 
waren^ nicht zur Blüte gelangte. Wenn man bedenkt, dafs das 
einzige dieser Dramen nur zum Lesen bestimmt ^ also nicht aus 
dem Bedürfnis, es öffentlich aufzuführen, hervorgegangen war, so 
mufs man vermuten, dafs das Volk ihnen zu gleichgültig gegen- 
überstand, um daraus organische Kunstwerke hervorgehen zu 
lassen. Dann wäre also der Grund ein sozialer. Erinnert man 
sich dagegen, da(s selbst die nicht auf den Beifall des Volkes 
angewiesene Hymnenpoesie nur einer kurzen Blüte sich erfreute 
und dann mit dem Schwinden des religiösen Gefühls schnell 
dahinwelkte, so wird man die geringe Lebenskraft des geist- 
lichen Dramas in Byzanz wohl eben demselben Umstände zu- 
schreiben müssen, dem Verfall und der Verknöcherung des 
inneren religiösen Lebens. Doch kann dieser selbst wieder 
soziale Gründe haben, wie z. B. das ungesunde, durch die Be- 

mm 

freiung von den öffentlichen Lasten begünstigte Überhandnehmen 
der Geistlichkeit in den letzten Jahrhunderten von Byzanz, wo- 
durch das soziale Gleichgewicht arg gestört werden mufste : die 
Religion verknöchert, je mehr sie ein Privilegium der Priester 
wird und je weniger frisches Blut ihr vom Volke aus zugeführt 
wird. Doch ob die Erscheinung soziale, religiöse oder 
künstlerische Gründe hat, im letzten Grunde ist sie wohl wieder 
zurückzuführen auf die orientalische Eintönigkeit des geistigen 
Lebens, auf den Mangel an gesunder Mischung geistlicher und 
weltlicher Elemente, wie sie besonders der grolsartigen Entwick- 
lung der französischen und englischen Mysterien so förderlich ge- 
wesen ist. Man begreift jetzt auch, warum bei diesem Mangel 
an Poesie im byzantinischen Leben auch dieses selbst so selten 
poetische Darstellung findet. 

Wie sich so die alten heiligen Formen jeder echten Poesie 
in Byzanz auflösten und zersetzten, ohne dals wirklich neue, 
lebensfähige, sich durch die Jahrhunderte fort entwickelnde und 
vervoUkomnmende Gebilde erwuchsen ; wie eine willkürliche, wild 
durcheinanderwogende Mischimg aller Dichtungsarten sich voll- 



- 19 — 

zog, indem die meisten Schriftsteller auf den verschiedensten Ge- 
bieten tätig waren, so war auch die äufsere Form der Dichtung 
nicht mehr der notwendige Ausdruck des Inhaltes, sondern eine 
fremde, fertige Hülle, die man ihm überzog imd die selbst wieder 
aus den Resten von antiken Hüllen zusanunengeflickt war. Wie 
es keine epische, lyrische, dramatische Dichtung gab, so bei dem, 
wie wir sahen, völlig künstlichen Charakter der byzantinischen 
Gräzität auch keine solchen Stilarten; es gab überhaupt keinen 
Stil, sondern nur ein kaleidoskopisches Stilgemisch, ein Stil- 
mosaik, dessen einzelne Bestandteile in einem rein auf serlichen 
Verhältnis zueinander standen und nur durch die Bildung und 
Vorliebe des Autors für den einen oder den anderen antiken 
Dichter bestimmt und zusammengehalten wurden, nicht durch 
die Macht seiner Persönlichkeit. Auch im Stil sind die byzanti- 
nischen Schriftsteller durchaus Epigonen, Kopisten, Kompilatoren, 
keine Künstler, keine Charakterköpfe, die ihr eigenes Ich in 
ihren Werken spiegeln. Schon aus diesem Grunde kann ich 
Krumbacher nicht beistimmen, wenn er meint, dafs auch in 
Byzanz so grundverschiedene Gestalten existieren, wie V. Hugo, 
Daudet, Zola, Bourget, Loti"). Ist es schon an sich mifs- 
lich , dafs man mittelalterliche Autoren mit modernen vergleicht, 
so wird der Vergleich doppelt bedenklich, wenn es sich um 
zwei solche kulturgeschichtlichen Extreme handelt, wie sie die 
Welt des mittelalterlichen Byzanz und die des modernen Paris 
darstellen. Wir sahen ja, dafs die Byzantiner nicht einmal einen 
Chaucer und einen Rabelais hervorgebracht haben. Wie unge- 
recht wäre es da, so stark differenzierte, schöpferische Geister 
bei ihnen zu erwarten, wie sie die genannten modernen Fran- 
zosen sind ! Auch der Hinweis auf die Kunstgeschichte des Alter- 
tums ist nicht überzeugend: die antike Kunst wie die moderne 
Litteratur sind organische Gewächse mit höchster individueller 
Durchbildung, das natürliche Ergebnis einer langen Entwick- 
lung; beide haben zwar aus fremdem geistigen Besitz geschöpft, 
aber nicht davon gezehrt, sie haben ihn in sich aufgenommen, 
ihn assimiliert, umgeschmolzen, geläutert. Das aber ist es gerade, 
was der byzantinischen Zeit fehlt: ihre geistigen Verdauungs- 
organe waren stark geschwächt, ihre Funktionen gestört, ihr 
Magen verstimmt, weil er so schwere Kost nicht verarbeiten 
konnte. Will man die byzantinische Litteratur mit der bildenden 

2* 



— 20 — 

Kunst vergleichen, so kann man das nur mit ihrer eigenen 5 imd 
dann kann das Ergebnis nicht zweifelhaft sein: wenn man die 
byzantinischen Heiligenbilder betrachtet, so wird man gewils 
manche Unterschiede in der Technik entdecken, schwerlich aber 
in der Auffassung, in der inneren Aneignung des Stoffes, weil 
eine solche eben nicht vorhanden war. Es würde einem Kunst- 
historiker wohl schwer fallen, in den verschiedenen Darstellungen 
der Panagia, der griechischen Madonna, individuelle, aus der 
Seele und der Umgebung des Künstlers hineingearbeitete Züge 
festzustellen, wie in den Werken der italienischen und deutschen 
Meister des Mittelalters. Die byzantinischen Maler waren ebenso- 
wenig wie ihre Dichter wirkliche schöpferische Künstler, sie waren 
mehr oder weniger konventionelle Kopisten, die einen sanktionierten 
Tjrpus ängstlich und sklavisch nachahmten und überlieferten; an 
Stelle der Individualität und der Inspiration stand die alles er- 
drückende Tradition. Genau so ist es in der Litteratur : wenn hier 
wirklich von feinen Differenzierungen die Rede sein kann, so sind es 
nur solche äulserlicher Manier, nicht organischer Natur. Natur 
darf man hier überhaupt nicht suchen. Übrigens hat Krum- 
bacher sein obiges Urteil selbst wieder umgestolsen, wenn er von 
den byzantinischen Romandichtem, die man doch allein zum Ver- 
gleich heranziehen sollte, bemerkt, dafs sie den äufsersten Gegen- 
satz bilden »zu der Litteraturgattung, in welcher man mit Recht 
das Bekenntnis der heutigen Gesellschaft erblickt hat, zu den 
Werken eines Flaubert, Zola, Bourget, Freytag, Keller, 
Dostojewski], Tolstoi« "*)• Es kommt immer wieder auf das näm- 
liche hinaus : die byzantinische Litteratur ist kein vollentwickeltes, 
reich gegliedertes organisches Gebilde ; sie gleicht mehr einer 
sich verpuppenden Raupe als einem frei sich wiegenden Schmetter- 
ling. Überall hinderte die orientalische Gebimdenheit das freie 
Spiel der menschlichen Kräfte. 

Fassen wir die Elemente, aus denen sich die Struktur des 
geistigen Lebens in Byzanz aufbaut, zusammen, so kann man 
sagen: es ist die hellenistisch-orientalische Kultur, wie sie in dem 
Rahmen des Cäsaropapismus ihre starrste Form angenommen 
hatte. Die Unterwerfung der Phantasie imd des Gemüts unter 
den Verstand, der Poesie unter die Gelehrsamkeit, der Kunst 
unter das Kunsthandwerk, die sich schon in Alexandria voll- 



— 21 — 

zogen, wird nun vollständig gemacht durch die allmähliche 
Zentralisierung des geistigen Lebens in Byzanz. 

Trotzdem wäre es natürlich ungerecht, die Bedeutung der 
byzantinischen Kultur zu verkennen. Diese beruht freilich nicht 
auf dem, was sie an sich darstellte, sondern auf dem, was sie in 
ihrem Schofse trug. Und das war die Welt von Osteuropa. 
Byzanz ist die Endstation der antiken Kultursphäre und der Aus- 
gangspunkt des osteuropäischen Mittelalters. Hier vollzog sich 
der Bruch mit dem Westen, wie er sich äufserlich zu erkennen 
gibt in der Verschiedenheit der Konfession, des Kalenders und 
der Schrift, innerlich in der geringen Individualisierung der ost- 
europäischen Völker, ihrem Aberglauben und ihrer Unbildung, 
der unvollkommenen Entwicklung ihrer sozialen und wirtschaft- 
lichen Verhältnisse, der Korruption der Beamten u. s. w. 

Trotz dieser gemeinsamen Kennzeichen aller osteuropäischen 
Kultur kann man auch deutliche Unterschiede bei den einzelnen 
Völkern wahrnehmen; diese beruhen darauf, dafs die byzanti- 
nische Kultur sich nach drei Richtungen differenziert und drei 
Völkern bezw. Völkergruppen etwas von ihrem Wesen mit- 
geteilt hat. Es sind dies die Russen, die Türken und die 
Bewohner der Balkanhalbinsel. 

Im vollsten Umfange hat den Einflufs der byzantinischen 
Kultur die slavische Welt erfahren; ihre ganze Zivilisation 
ist byzantinisch, nicht nur im geistigen Leben, in Litteratur und 
Kunst, wie sie im Gefolge des Christentums einzogen '3), sondern 
auch im politischen und zeremoniellen Leben. Es ist speziell die 
orientalisch-despotische Seite des Byzantinertums, die sich in dem 
grölsten slavischen Reiche, in Rufsland, herausgebildet hat. In 
dem Zaren lebt der cäsaropapistische Begriff des oströmischen 
Kaisers fort, wie in dem römischen Papst der des altrömischen 
Imperators. Auch die ganze hierarchische und bureaukratische 
Gliederung des russischen Beamtentums ist doch höchst wahr- 
scheinlich, wenn auch nicht sicher, byzantinischen Ursprungs. 
Rufsland ist der Universalerbe der Kultur von Byzanz. 

Andere Teile des byzantinischen Erbes hat sein direkter 
Gebietsnachfolger, der Türke, überkommen. Hier sind es be- 
sonders die bürgerlichen Rechtssatzungen, die ganz auf byzanti- 
nischen beruhen, dann die Heiligkeit der Person des Sultans, der 



— 22 — 

in erster Linie die hierarchischen Funktionen der byzantinischen 
Kaiser übernommen hat, wie die Hagia Sophia das Urbild sämt- 
licher Moscheen Konstantinopels geworden ist. Die unheimlichen 
Erscheinungen des byzantinischen Hoflebens, die Palastrevo- 
lutionen, die Gtinstlings- imd Maitressenwirtschaft, das Intriguen- 
spiel und die heimlichen Mordanschläge unter den Mitgliedern 
der Herrscherfamilien selbst haben sich aus dem Blachernen- 
palast in Stambul hintibergeflüchtet nach Jyldiz-Kiosk und ßujuk- 
dere, wie überhaupt die abstolsenden Seiten des offiziellen Türken- 
tums ein Danaergeschenk der Byzantiner sind. 

Nicht so leicht lassen sich die Spuren byzantinischen Wesens 
bei den physisch direkten Nachkommen der Byzantiner, bei den 
heutigen Griechen, bestimmen. Wenn diese sich im allge- 
meinen nicht gern als »Romäer«, d. h. Oströmer, Byzantiner be- 
zeichnen lassen, so ist daran zum Teil allerdings der herrschende 
Klassizismus schuld, der sie am liebsten zu direkten Abkömm- 
lingen der Alten machen möchte, es ist aber auch etwas Rich- 
tiges daran: die ganze äufsere Masse des byzantinischen 
Erbes ist nicht auf sie übergegangen; ihr Charakter und ihre 
Verfassung ist demokratisch; sie sind Feinde des Zeremoniells 
und des Titelwesens; ihre Abneigung gegen alle Unterwürfig- 
keit und Kriecherei geht nicht selten in trotzige Unbotmäfsigkeit 
über. Jedenfalls lebt in ihnen die demokratische Seite des 
Byzantinertums fort. Sonst ist das Byzantinische in ihrem Wesen 
mehr latenter Natur und nur dem aufmerksamen Beobachter und 
Kenner ihrer inneren Zustände sichtbar. 

Im politischen Leben spielt immer noch eine Hauptrolle 
der Gedanke an die Wiedereroberung von Konstantinopel und in 
Verbindung damit der Hals gegen das Slaventum als den Zög- 
ling byzantinischer Bildung sowie als mächtigsten Rivalen im 
Kampf um die Bosporusstadt. Ein letzter, wenn auch ver- 
schwindender Überrest byzantinischer Abschliefsung gegen den 
europäischen Westen ist auch noch die verächtliche Bezeichnung 
der Westeuropäer als »Franken«, sowie die ehrenvollere als 
»Europäer« oder »europäisch«. Es wird dadurch der Gegensatz 
gekennzeichnet, in dem die Griechen sich zu der westeuropäischen 
Kultur fühlen und der sich oft in merkwürdiger Unkenntnis der- 
selben äufsert. Im inneren Leben zeigt sich der Byzantinismus am 
deutlichsten in dem Parteitreiben mit seinem rein persönlichen 



— 23 — 

Charakter, seinen karnevalsmälsigen , mehr der Belustigung 
dienenden Aufzügen und dem provokatorischen Absingen politi- 
scher Gassenhauer, wovon namentlich letztere auffallend an die 
Akklamationen der Blauen imd Grünen im Hippodrom von 
Byzanz erinnern. Im Verwaltungsleben bemerkt man eine 
starke Neigung zur Zentralisation und kleinlichen Bureaukratie 
sowie eine bedenkliche Unfähigkeit zur Selbstverwaltung (Finanz- 
kontrolle) und in Verbindung damit eine grofse Vorliebe für ge- 
setzliches Formelwesen, Schreibwerk und vunfangreiche Dekrete, 
die mit einem byzantinischen Gefühl von Allmacht erlassen 
werden, ohne dafs man sich um ihre Ausführung besonders 
kümmert. 

Im geistigen Leben beobachtet man eine starke Über- 
schätzung des Gelehrtentums, und zwar ist es kein Zufall, dafs 
gerade diejenigen Wissenschaften mit Vorliebe gepflegt werden, 
die schon in byzantinischer Zeit stark im Vordergrunde standen : 
die Rechtswissenschaft und die Geschichte. Der Geist 
Justinians ist bei den heutigen Griechen noch sehr lebendig; er 
äufsert sich nicht nur in der Neigung zu spitzfindigen Dis- 
kussionen, sondern auch namentlich darin, dafs es wohl in keinem 
Lande so viele Juristen gibt wie in Griechenland. Und wenn 
man bedenkt, wie stark die historische Litteratur bei den 
Byzantinern vertreten war, so wird man sich nicht wimdern, 
dafs auch bei den modernen Griechen die Geschichte eine be- 
sondere Hochschätzung geniefst. Die Griechen kaufen im all- 
gemeinen wenig Bücher, aber eine Geschichte des alten und 
neuen Griechenland gehört zu den standard-works jeder Privat- 
bibliothek, auch wenn man sie nicht liest. Dagegen müssen selbst 
die Klassiker zurücktreten, wie der Grieche überhaupt kein 
inniges Verhältnis zur Poesie seiner antiken Ahnen hat. Er 
schätzt eben die Werke des Verstandes höher ein als die der 
Phantasie. Das ist echt byzantinisch-rationalistisch. In einer von 
einem Griechen begründeten Sammlung, die den Zweck hat, die 
bedeutendsten Werke des Auslandes in Übersetzungen allgemein 
zugänglich zu machen, stehen die Geschichtswerke von Curtius, 
Droysen, Mommsen, Macauley obenan, während litterar- imd 
kunsthistorische Werke schon spärlicher und allgemein philo- 
sophische und kulturgeschichtliche fast gar nicht vertreten sind. 
Auch die bedeutendsten eigenen Leistungen der griechischen 



— 24 — 

Gelehrten liegen durchaus auf dem Gebiete der Philologie und 
Geschichte, während man in der Kunst- und Litteraturforschung 
kaum einen namhaften Vertreter nennen könnte, und die Philo- 
sophie fast noch ganz brach liegt ^s*). Als eine indirekte Folge dieses 
historischen Atavismus kann man auch die geringe, nur ganz 
vereinzelte Begabung der heutigen Griechen für die speziell 
modernen Wissenschaften ansehen, für Sprach- und Naturwissen- 
schaft, Nationalökonomie und Technik. 

Eine der verhängnisvollsten Äufserungen dieses Historismus 
und eine Erscheinung, deren Wurzeln bis in die hellenistische 
Zeit hineinreichen, ist der tyrannische Despotismus, den die 
Griechen auf ihre lebensvolle und reiche Sprache ausüben. Es 
ist wieder die verständnislose Geringschätzung des historisch 
Gewordenen und organisch Entwickelten und die epigonenhafte 
Hochachtung vor vergangener Grölse, also gerade das Gegen- 
teil eines echt historischen Sinnes, zugleich ein Mangel wirk- 
lichen National- imd Persönlichkeitsgefühls, wenn die erdrückende 
Mehrheit der heutigen Griechen sich ängstlich scheut, ihre an- 
gestammte Muttersprache zu pflegen und zu veredeln, und statt 
dessen ein künstliches Gebilde, eine Mumie als lebend auszugeben 
und wie die wunderwirkende Reliquie eines Heiligen aber- 
gläubisch durch die Gassen zu tragen, der — im biologischen 
Sinne — seit 2000 Jahren das Leben entflohen ist. Die neu- 
griechische Schriftsprache ist eine Art Chamäleon, das in alt- 
griechischen, byzantinischen und neugriechischen Farben seltsam 
durcheinanderschillert, je nach der Farbe des Baumes, auf dem 
es sitzt. Sie hat keinen Charakter, keinen Erdgeruch, keine 
Idiotismen; sie ist ein »Ragout aus anderer Schmaus«. Wenn 
man bedenkt, dafs die Griechen das einzige Volk Osteuropas 
sind, das noch in den Fesseln sprachlicher Sklaverei schmachtet, 
während alle anderen Balkanvölker sich im 18. und 19. Jahr- 
hundert zu einer eigenen Nationalsprache durchgerungen haben, 
und wenn man femer bedenkt, wie tief dieses sprachliche Dogma 
bei der grofsen Masse eingewurzelt ist, so mufs einem manchmal 
um die Zukunft dieses Volkes emstUch bange werden, um so 
mehr, als es eine Sprache sein eigen nennt, die sich an 
Kraft und Wohllaut mit der spanischen , an Bildsamkeit mit 
der deutschen, an naiver Innigkeit mit der russischen messen 
kann. 



— 25 — 

Als ein solcher echt byzantinischer, dogmatischer Historismus 
ist auch die Stellung zu beurteilen, die die meisten Griechen zu 
der Frage der Aussprache des Altgriechischen einnehmen. Wehe 
dem, der sich dem Dogma widersetzt, dals die heutigen Griechen 
genau so wie die alten das Griechische aussprechen! Er ist ein 
Verräter an der nationalen Sache. Diese Frage wird fast wie 
eine Angelegenheit der Rechtgläubigkeit behandelt, die sich aus 
dem Bereiche der Religion in das der Sprache geflüchtet hat. 
Denn in rein religiösen Dingen ist der Grieche ziemlich indifferent 
imd weit entfernt von Fanatismus gegen andere Konfessionen. 
Er achtet und liebt seine Kirche als Hüterin des nationalen 
Hortes, ihren einzelnen Vertretern aber steht er nicht immer 
Sjrmpathisch gegenüber. Als ein äufserlicher Rest des in byzan- 
tinischer Zeit fast zu einer Landplage gewordenen Priester- 
standes erscheint nur noch die Häufigkeit der mit dem Worte »Papa«, 
d. h. Priester, Pope zusanmiengesetzten Namen, deren Träger also 
ursprünglich von Geistlichen abstammen. 

Die ungesimde Überschätzung des Gelehrtentums und die 
Geringschätzung produktiver Phantasiearbeit wurde nun auch auf 
die Beurteilung der Poesie übertragen und teilte sich sogar der 
poetischen Produktion mit. Ein typisches Beispiel hierfür bietet 
das Schicksal, das lange Zeit hindurch den Repräsentanten der 
beiden nebeneinander hergehenden, aber einander diametral ent- 
gegengesetzten poetischen Richtungen beschieden war, dem 
klassizistisch-kosmopolitischen Phanarioten A. R. Rangab^ und 
dem durch italienische Bildung veredelten Zantioten Dionysios 
Solo mos. Beide waren Aristokraten. Jener stammte aus 
byzantinischem , dieser aus venetianischem Blute. In jenem 
kämpfte der Dichter beständig mit dem enzyklopädistischen Ge- 
lehrten; dieser war ein ganzer Dichter. Jener schrieb eine ge- 
schraubte, gekünstelte Sprache, die nur wenigen Auserwählten 
zugänglich war; dieser hatte erkannt, dafs allein eine veredelte 
Volkssprache ein lebensfähiges litterarisches Ausdrucksmittel ab- 
geben könne. Und seltsam! Die Gebildeten der Nation jubelten 
in verständnisloser Bewunderung dem Vertreter des gelehrten 
Klassizismus zu, imd verkündeten Rangab^ als den gröfsten 
Dichter des neuerstandenen Griechenlands. Und Solomos, den 
man als Dichter der griechischen Nationalhymne wohl oder übel 
anerkennen mufs, verleugnete und ignorierte man, angeblich 



- 26 — 

seiner vulgären Sprache wegen, in Wahrheit, weil man seiner 
hohen Dichtematnr nicht gerecht werden konnte. Rangab^ ist 
bei seiner geschraubten Sprache nur wenigen zugänglich, aber 
man pries ihn, weil er die »alten Ideale« hochhielt; Solomos, den 
jeder wenigstens äulserlich verstehen kann, stand man ohne 
inneres Verständnis gegenüber, und nannte ihn dennoch kleinlaut 
den Vater der neugriechischen Poesie. 

Diese Auffassung ist bezeichnend für den geringen ästhetischen 
Sinn bei der grofsen Menge der gebildeten Griechen; es ist 
wieder die byzantinische Überschätzung des gelehrten Elementes 
auch in der Poesie. Der griechische Gelehrte steht der Poesie 
feindlich oder doch gleichgültig gegenüber; er weifs, dafs er in 
der öffentlichen Schätzung mehr gilt als der Dichter, die 
Verstandeskultur mehr als die ästhetische. 

Innerhalb der Poesie selbst ist es lehrreich, zu beobachten, 
wie diejenigen Gattungen, die stofflich oder formell an die 
byzantinische Litteratur anknüpfen, am unvollkommensten ent- 
wickelt sind, also die historischen, sei es die historische Erzählung 
oder das historische Drama , wogegen die Lyrik , die der 
byvzantinischen Poesie fremd war, sich am frühesten und am 
freiesten entfalten konnte. 

In formeller Hinsicht hat am längsten die Erzählung 
unter dem nachteiligen Einflufs der Byzantiner gestanden. Man 
findet hier alle die Mängel, an denen auch die Produkte dieser 
leiden: Mangel an klarem Aufbau und geschickter Gruppierung 
wie Trennung von Haupt- imd Nebensachen, an psychologischer 
Motivierung und Charakteristik, auf der anderen Seite Über- 
fülle an weitschweifigen Reden und Schilderungen, wie überhaupt 
Abneigung gegen knappe, konzise Darstellung; alles Fehler, die 
schon den nicht nach künstlerischen Gesichtspunkten arbeitenden 
byzantinischen Historikern und Chronisten anhafteten. »Reich- 
tum vereint mit Schlichtheit«, so sagt ein modemer griechischer 
Kritiker selbst, »Kraft mit Mafs, Synthese offenbart in Einfach- 
heit, wie die Farben der Iris sich im Weifsen zusanunenfügen, 
das ist ein Geschenk, das nur erst wenige, sehr wenige unter 
uns besitzen.« 

Noch gröfser sind diese Mängel naturgemäfs im Drama, 
das ja seit der altgriechischen Zeit ausgestorben war und durch 
sein Damiederliegen auch in byzantinischer Zeit nicht nur bei 



— 27 — 

den Griechen , sondern bei sämtlichen osteuropäischen , unter 
byzantinischem Einfluls stehenden Völkern am unentwickeltsten 
geblieben ist. Während sich darin eine oft bedenkliche Neigung 
zum Eklektizismus bemerkbar macht und das wahrhaft drama- 
tische Interesse fast ganz fehlt, bemerkt man um so öfter einen 
stark lyrischen Zug, und das hat seine guten Gründe. Es ist 
die alte, von der hellenistischen und mittelalterlich-volkstümlichen 
Poesie her ererbte lyrische Neigung der Griechen, die natürlich 
am unmittelbarsten in der modernen lyrischen Dichtung selbst 
hervorbricht. 

Dieses l3nische Empfinden ist ja den Griechen durch 
die byzantinische Zeit hindurch und trotz dieser treu geblieben 
und hat in der neugriechischen Volkspoesie seine ersten und 
vollsten Blüten getrieben, und zwar gerade auf einem von 
byzantinischen Traditionen am wenigsten infizierten Boden. So 
ist es denn gerade die Lyrik, und zwar nicht zum wenigsten die 
patriotische Lyrik, in der auch die neugriechischen Kunstdichter 
am wenigsten unter der byzantinischen Tradition zu leiden haben 
und in der sie daher auch ihr Bestes leisten, und diese Tatsache 
beweist zugleich die Richtigkeit der eingangs aufgestellten Be- 
hauptung, dafs die neugriechische Litteratur sich nicht aus der 
byzantinischen, sondern aus der volkstümlich-hellenistischen ent- 
wickelt hat. Das Lyrische ist den Byzantinern ebenso fremd ge- 
wesen, wie es den hellenistischen Griechen vertraut war, und das 
Vaterlandsgefühl kannten sie beide nicht. 

Wenn im folgenden Kapitel trotzdem ein kurzer Überblick 
über die Hauptwerke der poetischen Litteratur der Byzantiner 
gegeben wird, so geschieht dies teils wegen des Gegensatzes zur 
neugriechischen, teils wegen des freilich nur negativen und 
henmienden Einflusses, den die byzantinische auf die neugriechi- 
sche Kunstpoesie ausgeübt hat. 



ERSTES KAPITEL. 



ie byzantinische Litteratur. 



»Die byzantinische Litteratur ist der wichtigste Ausdruck 
des geistigen Lebens der griechischen Nation und des römischen 
Staates vom Ausgange des Altertums bis an die Schwelle der 
neueren Zeit.« Mit dieser Definition beginnt Krumbacher seine 
Charakteristik der byzantinischen Litteratur. Diese Definition be- 
darf aber von unserem Standpunkt aus einer doppelten Ein- 
schränkung: zuerst müssen wir uns auf eine Skizzierung der 
poetischen Litteratur beschränken , einmal, weil wir den Be- 
griff Litteratur nur in diesem weiteren Sinne als Ausdruck des 
Phantasielebens fassen, sodann, weil die nicht poetische Litteratur 
der Byzantiner durchaus an die Bedingungen ihres Reiches ge- 
bunden ist imd daher mit diesem fallen mufste, während wir 
ihre Litteratur nicht als Selbstzweck, sondern nur als ein Mittel 
zum besseren Verständnis der neugriechischen berücksichtigen 
können, ihre fördernde und hemmende Wirkung auf diese fest- 
zustellen suchen, sie also nur als eine Art Vorhalle betrachten. 
Die zweite Einschränkung der obigen Definition besteht darin, 
dafs wir in der byzantinischen Litteratur nicht den Ausdruck des 
geistigen Lebens der gesamten griechischen Nation im 
Mittelalter sehen, sondern nur desjenigen Teiles dieser Nation, 
der in direkter Beziehung zu Byzanz steht: die byzantinische 
Litteratur ist für uns nicht die Litteratur des byzantinischen 
Zeitalters, sondern die der Hauptstadt Byzanz. Hier hat sich die 
litterarische Produktion, soweit sie byzantinischen Charakter hat, 
zusammengezogen, imd was aufserhalb dieses Zentrums ge- 
schaffen wurde, das hat keinen byzantinischen, sondern einen 



— 29 — 

griechischen Charakter, keinen kosmopolitisch-gelehrten, sondern 
einen national-volkstümlichen. Die Entwicklung der byzantini- 
schen Litteratur verläuft zentripetal, die der volkstümlich-neu- 
griechischen zentrifugal. Byzantinisch und national-griechisch 
sind also Begriffe, die sich ausschlielsen. Wäre das griechische 
Volk im Mittelalter byzantinisiert worden, so gäbe es keine 
moderne griechische Nation imd keine moderne griechische Litte- 
ratur. Diese hat sich gerade in denjenigen Gegenden ent- 
wickelt, die von byzantinischem Einflufs unberührt waren oder 
doch gegen ihn ankämpften. Das wird im folgenden genauer 
nachgewiesen werden. Die byzantinische Litteratur kann also 
hier nur so weit berücksichtigt werden, als sie ist die Summe der 
in ihren Nachwirkungen über das Ende des Reiches hinaus- und 
in die neugriechische Periode hineinragenden poetischen Produktion 
von Byzanz. 

Die Geschichte der byzantinischen Litteratur besteht in der 
Ausbildung und Zusammenfassung der in der alexandrinischen 
Zeit emporkeimenden christlichen und der absterbenden heid- 
nischen Kultur unter dem Einflufs des Orients. Während beide 
in der hellenistisch-alexandrinischen Litteratur meist getrennt 
nebeneinander hergehen, ist es das Charakteristische der byzanti- 
nischen Litteratiu-, dafs in ihr Heidnisches und Christliches, 
Kirchliches und Profanes nicht scharf voneinander zu scheiden 
sind, sondern, namentlich in der ersten Periode, leicht ineinander 
übergehen. Während femer in alexandrinischer Zeit der Schwer- 
punkt der litterarischen Produktion in der Erneuerung des heid- 
nischen Altertums liegt, ist das Wertvollste, was die byzanti- 
nische Litteratur hervorgebracht hat, dem Geiste des Christen- 
tums zu verdanken. Was mit dem Altertum zusammenhängt, 
beruht mehr auf äufserer Nachahmung als auf innerer Nach- 
wirkung. Dies läfst sich schon daran erkennen, dafs in Byzanz 
zuerst die kirchliche Poesie zur Blüte gelangt und erst 
nach deren Verfall die antikisierende Dichtimg einige 
Neubelebung erfährt. Aber auch diese steht zunächst sowohl 
nach ihrem Inhalt wie nach dem Stande ihrer Vertreter stark 
imter dem Impuls des kirchlichen Lebens in der Epigram- 
matik, die sich auch zeitlich an die Kirchendichtung anschliefst. 
Erst mit dem Niedergang der byzantinischen Kultur überhaupt 
sucht die sinkende Litteratur eine Stütze in dem alexandrinischen 



- 30 — 

Sophisten ro man, der wenig glücklich nachgeahmt wird. Als be- 
zeichnendes Symptom der Verfallszeit tritt dann die satirische, 
die Lehr- imd Höflingsdichtung in den Vordergrund, die 
trotz ihres geringen poetischen Gewinns wenigstens in formell- 
sprachlicher Hinsicht einen Fortschritt bezeichnet und kultur- 
geschichtlich bedeutsam ist. 

Man könnte somit von einer kirchlichen, einer antikisieren- 
den und einer vulgarisierenden Richtung in der byzantinischen 
Litteratur sprechen. Da jedoch die zweite teils mit der ersten, 
im Epigramm, teils mit der dritten, im Roman, sich berührt, 
scheint es mir vorzuziehen, die Entwicklung lediglich auf die 
Chronologie hin zu betrachten. Danach gliedert sich die ganze 
byzantinische Periode in zwei grofse Abschnitte, deren erster 
etwa vom 6. bis zum 10. Jahrhundert, deren zweiter vom 11. 
bis zum 15. Jahrhundert reicht. Der erste Abschnitt umfafst die 
eigentliche Blütezeit der byzantinischen Litteratur, der z w e i t e die 
Zeit ihres Verfalls. Ebenso nimmt A. Springer zwei Perioden 
in der Entwicklung der byzantinischen Malerei an, die ebenfalls 
ihren Höhepunkt im 6. bis 8. Jahrhundert hat und im 11. bereits 
alle Kennzeichen des Verfalls an sich trägt *'»). Für unsere Be- 
trachtung ist dieser letztere wichtiger, weil die weitere Entwick- 
lung der volkstümlichen Litteratur wenn auch nicht aus ihm 
hervorgeht, so doch zum Teil an ihn anknüpft. Die Blütezeit 
dagegen in der kirchlichen und epigrammatischen Litteratur zeigt 
nur Berührungspunkte teils mit der altchristlichen, teils mit der 
heidnisch-hellenistischen, keine mit der volkstümlich-griechischen 
Poesie des Mittelalters. Zu dieser leitet erst die in volksmäfsiger 
Sprach- und Versform gehaltene byzantinische Litteratur der 
Verfallszeit hinüber. 

Man kann also sagen, dafs die frühzeitige und kurze litte- 
rarische Blüte von Byzanz sich daraus erklärt, dafs sie im Grunde 
nur eine alexandrinisch-hellenistische Nachblüte ist, und als solche 
möchte ich sie im folgenden betrachtet wissen. Fafst man die 
byzantinische Litteratur als einen selbständigen geistigen Organis- 
mus, so ist ihr schneller Verfall biologisch kaum zu verstehen. 
Diese Zeit des Verfalles ist andererseits verknüpft mit dem 
Aufkommen der volkstümlichen Litteratur. Danach würden sich 
die beiden Perioden der Litteratur von Byzanz als ein Januskopf 
darstellen: das eine Gesicht blickt in die hellenistisch-alexandri- 



— 31 — 

nische Vergangenheit, das andere in die modern-griechische Zu- 
kunft. Soviel zur allgemeinen Orientierung''). Nur das sei noch 
bemerkt, dals der Leser in dieser Skizze möglichst wenig mit 
einzelnen Namen und Tatsachen gelangweilt werden soll, dafs es 
mir vielmehr nur darauf ankommt, die grofsen Linien der Ent- 
wicklung festzulegen. Und dazu genügt es, das Bedeutendste, 
zur Erkenntnis der Zusammenhänge Notwendigste herauszu- 
greifen. 

Das von der byzantinischen Poesie im allgemeinen Gesagte 
gilt zunächst von der kirchlichen: auch sie hat ihren Ursprung 
in Alexandria, hier hat die altchristliche Dichtung ihren ersten 
Höhepunkt erreicht, und von hier aus geht die Entwicklung über 
Syrien und Kleinasien nach Byzanz. Diesem äufseren Wege 
entspricht ihre innere Wandlung: Bei den christlichen Dichtem, 
die auf dem mit antiker Bildung getränkten Boden von Alexandria 
emporwuchsen, bei Clemens im 2. und Synesius im 4. Jahr- 
hundert waltet noch eine reiche Fülle antiker Phantasie, 
Schönheitsfreude und philosophischer Bildung. Auch von den 
grofsen Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts, von Basilios imd 
Gregor von Nyssa, von Gregor von Nazianz und Johannes 
Chrysostomos, die meist aus Kleinasien stammten, kann man 
sagen, dafs sie noch mit einem Fufs im griechischen Altertum 
standen ; haben sie auch schon einen stark asketisch-theologischen 
Zug, so verfügen sie doch noch über ein reiches und inniges 
Natiu-gefühl , das Erbe der hellenistischen Zeit, das noch 
Alex. V. Himiboldt an ihnen bewunderte. Sie sind sämtlich schon 
Mönche gewesen, haben sich aber neben ihrem Gottesglauben 
noch ein gutes Teil antiken Natursinnes gewahrt; die Welt ist 
ihnen noch kein Jammertal, ihre Weltauffassung noch nicht ein- 
seitig transzendent. Das trifft namentlich auf Basilios, Gregor 
von Nyssa und Chrysostomos zu. GregorvonNazianz dagegen, 
der einzige Dichter unter den vieren, gehört schon in die Sphäre 
von Byzanz, durch seinen äufseren Lebenslauf wie auch geistig : 
das antike Element weicht in ihm zurück, das christlich-dogma- 
tische imd das orientalische drängt sich stärker hervor, wenn 
auch zunächst nur negativ erkennbar, an rhetorischer Breite und 
Mangel an Präzision; die religiöse Begeistenmg geht mit der 
künstlerischen Gestaltimgskraft nicht immer Hand in Hand. Das 
emzige, was ihn noch antik erscheinen läfst, ist das sprachliche 



— 32 — 

und metrische Gewand. Aber das ist nur auf serlich, und auch 
diese Fessel wird, zum Teil schon von ihm, in der Folgezeit 
völlig abgeworfen: nachdem mit Synesios noch einmal eine 
antike Reaktion in der Kirchendichtung erfolgt war, wird vom 
Ende des 4. Jahrhunderts ab das nunmehr künstliche quanti- 
tierende Metrum durch das natürliche, auf dem Wortaccent be- 
ruhende rythmische ersetzt. Zugleich vollzog sich die bisher 
nicht übliche Gliederung der Hymnen in Strophen. Nachdem 
diese technische Neugestaltung während des 3. Jahrhunderts sich 
durchgesetzt hatte, ohne dafs es zu bedeutenderen Leistungen 
kam, nahm die Hymnendichtvmg im6. Jahrhimdert einen neuen Auf- 
schwung mit Romanos, dem gröfsten Kirchendichter der byzanti- 
nischen Zeit, zugleich dem ersten, der orientalische Einflüsse verrät. 
Mit dem Niedergang Alexandrias zog sich auch das kirch- 
liche Leben immer mehr nach dem Orient : Syrien und Palästina 
wurde ein neuer Mittelpimkt des christlichen Lebens, das in zahl- 
reichen Klöstern litterarische Pflege fand, wie in dem Sabbas- 
kloster bei Jerusalem und in dem Sinaikloster, um nur die be- 
rühmtesten zu nennen. Die bedeutendsten byzantinischen Theo- 
logen, Johannes Klimax, Joh. Moschos, Joh. von Damaskus, sind 
aus ihnen hervorgegangen; auf syrischen Ursprung wird von 
einigen auch die. neue Form der Hymnendichtung zurückgeführt, 
und ein Syrer war auch Romanos. Das ist mitbestimmend 
für den Charakter seiner Poesie. So wahrscheinlich, ja natürlich 
es ist, dals er an die älteren christlichen Kirchendichter an- 
knüpfte, die noch auf lange hinaus, besonders in der Homiletik, 
vorbildlich waren, so merkt man seinen Dichtungen doch an, 
dafs er einem anderen Kulturkreise angehört; man fühlt, dafs 
man sich nicht mehr auf dem halbantiken Boden Alexandrias, 
sondern auf dem biblischen des heiligen Landes bewegt ; die an- 
mutige, noch halb hellenische Phantasie eines Clemens und Syn- 
esios, die Freude an der sinnlichen Erscheinungswelt bei den 
Kirchenvätern ist hier einem strengeren, fast asketischen, tran- 
szendenten Charakter gewichen; die künstlerische Gestaltungs- 
freude tritt zurück vor der Fülle des religiösen Stoffes, die 
Weite der Phantasie vor der Tiefe der Empfindung und dem 
Ernst des Glaubens; die Hynmen des Romanos scheinen mehr 
erbaulich als poetisch gewirkt zu haben, wie sie schon der freien 
rlqrthmischen Form nach die Mitte halten zwischen Dichtung und 



— 33 — 

Predigt, zwischen gebundener und ungebundener Rede; es fehlt 
ihnen das Majestätische der lateinischen und das Zarte der älteren 
griechischen Kirchenpoesie. Der Geist des Orients macht sich 
schon in ihnen fühlbar, nicht nur, wie bei Gregor von Nazianz, 
in oft ermüdender Breite der Form, die allerdings durch den 
feststehenden, 20 bis 30 Strophen umfassenden Umfang bedingt 
war, sondern auch in der Anlehnung an Stil und Stoff des 
Alten Testaments, zumal der Psalmen. Es ist etwas von alt- 
hebräischem, nicht von altgriechischem Geist, was hier nachwirkt, 
nur durchsetzt mit dem asketischen, puritanischen Sinn des 
orientalischen Christentums, dessen Grundlage ja semitisch ist. 
Auch in den Stoffen verleugnet sich die Einwirkung des Alten 
Testaments nicht: in sämtlichen Hymnen finden sich zahlreiche 
Motive daraus eingestreut und zu solchen aus dem Neuen in Be- 
ziehimg gesetzt : in dem Hjmmus auf das Jüngste Gericht werden 
die darauf anspielenden Prophetenstellen genau wiedergegeben, 
in dem auf Christi Geburt stellt Maria ihr Schicksal dem der 
Sarah gegenüber, imd die Weisen aus dem Orient vergleichen 
den Stern mit der Feuersäule, die den Israeliten bei ihrem Aus- 
zug aus Ägypten voranging-, ihre Reise habe sie so wenig er- 
müdet wie Habakuk die seinige zu Daniel. 

Die Zahl der Hymnen, die Romanos gedichtet hat, soll sich 
auf etwa tausend belaufen haben-, doch sind nur achtzig erhalten 
und bisher kaum dreilsig herausgegeben. Ihr Stoff schliefst sich 
meist eng an die biblischen Erzählungen an, aus denen sie 
einzelne Episoden behandeln : aufser auf die grofsen Feste findet 
man Hymnen auf die Leidenszeit des Herrn, auf Judas' 
Verrat, Petri Verleugnung, auf Maria am Kreuz, die Himmel- 
fahrt, femer Hymnen auf bestimmte Heilige und Apostel, auf die 
zehn Jimgfrauen, die Hure, auf das Jüngste Gericht, die Toten 
u. s. w. Aus dem Alten Testament sind zu nennen die Ge- 
schichte Josephs und die der drei Männer im Feuerofen. 

Die Behandlimg ist meist die der erzählenden Form unter 
Einfügung frei erfundener Wechselgespräche, die der Darstellung 
etwas dramatisches Leben verleihen. Hier und da herrscht aus- 
schlielslich die dialogische Behandlung, so in Petrus' Verleug- 
nung, in dem Psalm auf die Apostel, in denen Jesus selbst 
redend eingeführt wird, und in der Geburt Christi, wo wir die 
Ereignisse aus dem Munde der Magier, der Maria und des Jesus- 

Dieterich, Getcb. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 3 



— 34 — 

kindes selbst erfahren. Das Dogmatisch-Lehrhafte, selbst das 
Theologisch-Spitzfindige drängt sich freilich oft unangenehm auf 
und droht die nicht zu verkennende religiöse Inbrunst zu er- 
sticken, so dafs manche Stellen den Eindruck einer etwas lang- 
atmigen und nüchternen Paraphrase des biblischen Textes 
machen : der Hymnus auf das Jüngste Gericht gleicht mehr einer 
Bulspredigt als einer Dichtung und kann sich nut dem gewaltig- 
erhabenen lateinischen »dies irae, dies illa solvet saeclum in 
favilla . . . .« nicht annähernd messen. Auch die häufigen An- 
führungen der Propheten verringern den poetischen Eindruck 
und verstärken den erbaulichen. Der noch heute in der griechi- 
schen Kirche gesungene Weihnachtshymnus enthält schön 
empfundene Stellen, stört aber oft durch die starke Hervor- 
hebung der wunderbaren Geburt des Heilands und durch theo- 
logische Schrullen. Eine kurze Analyse dieses berühmtesten der 
Hymnen des Romanos mag zugleich die Stärken imd die 
Schwächen seiner Dichtung zeigen. 

Er beginnt mit einer Anrede der Maria an das Kind, in 
der sie ihre Verwunderung über seine übernatürliche Geburt 
naiv äufsert. Mit derselben Frage fallen gleich darauf — künst- 
lerisch nicht sehr geschickt — die inzwischen vor der Tür an- 
gekonmienen Magier ins Haus. Nach einem Gespräch zwischen 
Maria und dem Jesuskinde, worin dieses sehr theologisch redet, 
öffnet sie die Tür und läfst sie ein, wobei an das Öffnen der Tür 
wieder eine spitzfindige Wortspielerei geknüpft wird. Wie die 
Magier den Joseph erblicken, wird abermals die heikle Frage 
der Geburt Jesu von ihnen berührt, worauf Maria Josephs 
Gegenwart rechtfertigt und sich von den Magiern ausführlich deren 
Herkunft und ihre Erkundung der Geburt des Kindes erzählen 
läfst. Sie berichten, dafs sie durch das Ereignis von dem 
Heidentum der durchreisten Länder erlöst worden seien, dafs sie 
in Jerusalem nach der Weissagung umsonst gesucht hätten, da 
die Bundeslade geraubt war, endlich, wie sie mit Herodes und 
den Pharisäern fertig geworden. Nachdem zum vierten Male die 
unbefleckte Empfängnis betont worden, geht es, da die Magier 
von der Reise nicht ermüdet sind, an die Beschenkung. Bei 
dieser Gelegenheit werden der Maria gottbegeisterte Worte in 
den Mund gelegt, die zugleich den poetischen Höhepunkt des 
Hynmus bilden; drei Wünsche soll Jesus seiner Mutter erfüllen 



— 35 — 

für die drei Geschenke: »Ich rufe dich an für die Lüfte, für die 
Früchte der Erde, und die auf ihr wohnen; vergib allen, denn 
durch mich wardst du geboren, ... du machtest mich zu meines 
Geschlechtes Mund imd Stolz; denn mich machte die Erde zum 
Dach, Mauer und Bollwerk. Auf mich blicken die Verbannten 
eines Paradieses. Lafs sie des inne werden, dals durch mich du 
geboren wardst.« Hiermit könnte der Hymnus schlief sen; es 
wird aber noch ein wenig befriedigender Schlufs angehängt, der 
die Geschenke mit der Flucht nach Ägypten in Verbindung 
bringt, indem ihr Nutzen von Maria vordeutend gepriesen wird. 
Wie man sieht, fehlte es dem Romanos nicht an einer ge- 
wissen naiven Phantasie, wie sie ähnlich die italienischen Maler 
des 15. Jahrhunderts besafsen. Mit diesen teilt er auch die 
schlichte Innigkeit des Glaubens, mit diesen aber auch die tech- 
nische Unbehilflichkeit in der Komposition. Byzantinisch ist schon 
seine predigerhafte Breite und die Vorliebe für dogmatische 
Fragen. Verglichen mit den ältesten griechischen Kirchen- 
dichtem, läfst er deren farbige Bilderfülle vermissen. Nur selten 
erhebt sich mit der frommen Inbrunst auch die Phantasie zu 
gleicher Höhe wie in jener Strophe des Osterliedes, wo die 
Frauen nach der Rückkehr vom Grabe die jubelnden Worte an- 
stinmien: 

Was soll der Kleinmut? Eure Gesichter, 

Warum verhüllt ihr sie? 

Aufwärts die Herzen! 

Christ ist erstanden! 

Aufführt den Reigen 

Und sprechet also mit uns: 

Der Herr fuhr empor, 

Leuchtend helle. 



Er, geboren 

Vor dem Lichtbringer. 

Lafst denn das Trauern sein. 

Atmet nun selig auf: 

Der Lenz ist erschienen; 

Blühet nun, Lilien, 

Und traget Früchte! 



Nicht werdet zunichte; 
Lafst in die Hände 
Alle uns klatschen 
Und sprechen: 
Auferwacht ist nun, 
Der den Gefallnen 
Zur Auferstehung hilft! 



Doch solche Offenbarungen eigenen Dichtertmns sind nur 
vereinzelt bei Romanos. Im ganzen hat man das Gefühl, dafs 

3* 



— 36 — 

Stoffliches und Geistiges bei ihm nicht recht ineinander aufgehen, 
dafs fast immer ein imverbrauchter Rest übrig bleibt , dafs er 
noch zu sehr mit dem Stoffe ringt, ohne ihn recht zu bezwingen. 
Dessen wird man sich erst bewufst, wenn man die Hymnen des 
Romanos mit denen desjenigen abendländischen Kirchendichters 
vergleicht, der ihm in seiner geschichtlichen Stellung durchaus 
entspricht, mit denen des Ambrosius, des > Vaters des latei- 
nischen Kirchengesangesc. Diesem gegenüber erscheint Romanos 
mehr als Bearbeiter denn als Dichter, er hat weniger persönlichen 
Anteil an seinen Dichtimgen als der Lateiner, es fehlt ihm die 
feine Natursymbolik des letzteren, als welche z. B. der Hahnen- 
schrei in seinem Morgenhymnus erscheint. Die Hymnen des 
Ambrosius sind gednmgener, lapidarer im Ausdruck als die schon 
äufserlich so viel imifangreicheren des Griechen. Kurz, es ist die 
Herstellung des richtigen Verhältnisses zwischen Inhalt und Form, 
die Anpassung dieser an jenen, die dem Lateiner besser gelingt 
als dem Griechen, und das scheint wieder die Folge zu sein der 
bei den erstem stärker entwickelten poetischen Gestaltungskraft, 
die sich wieder aus dem höheren Persönlichkeitsgefühl bei diesen 
erklären mag, im CJegensatz zu dem byzantinischen Tradi- 
tionalismus. 

Ein endgültiges Urteil über Romanos als Dichter wird übrigens 
erst dann möglich sein, wenn eine vollständige Ausgabe seiner 
H3nnnen vorliegt. Sicher ist bis jetzt nur so viel, dafs er unter 
den byzantinischen Kirchendichtem die erste Stelle einnimmt. 
Der einzige von diesen, der an Romanos einigermafsen heran- 
reicht, ist der im 7. Jahrhimdert dichtende Patriarch Sergios, 
der die griechische Kirche mit dem einzigen noch bis heute er- 
haltenen Liede beschenkt hat, dem angeblich bei der Belagerung 
Konstantinopels durch die Avaren (626) gedichteten sogenannten 
Akathistos. Dieser Hymnus erfreute sich lange der gröfsten 
Beliebtheit und wurde nicht nur häufig nachgeahmt, sondern 
auch ins Lateinische übersetzt (im 17. Jahrb.). Die übrigen Ver- 
treter der H3mMienpoesie , von denen Andreas von Kreta 
und Johannes von Damaskus die bedeutendsten sind, 
zeichnen sich durch die feinere Ausbildung der Form und durch 
die Freude an zierlichen Einzelheiten und Künsteleien aus, lassen 
aber die Kraft der Empfindung imd die Grofszügigkeit der Kom- 
position vermissen. Das biblische Element, das sich noch bei 



— 37 — 

Romanos so stark fühlbar macht, ist hier schon dem spezifisch 
byzantinischen gewichen, das Monumentale wird verdrängt durch 
das Omamentale, das ja der byzantinischen Kunst ihren eigen- 
artigen Charakter gibt, imd der sie in dem Malse von der 
grofsen Kunst entfernt, als er sie dem Kunsthandwerk nähert. 
Bezeichnend ist auch, dafs die vorübergehende Auffrischung der 
Hymnendichtung nach dem Bildersturm von den Grenzpunkten 
des Reiches, von Syrien und Unteritalien, ausging, — eine Tatsache, 
die sehr wichtig ist, weil sie deutlich beweist, erstens, dafs die 
Frische der poetischen Produktion in Byzanz schon damals zu 
schwinden begann, und zweitens, dafs an den Peripheriepimkten 
das geistige Leben stärker pulsierte als in der leicht stagnierenden 
Hauptstadt. So überwucherte schon im 9. Jahrhundert, als die 
Hynmenpoesie wieder in Byzanz sich angesiedelt hatte, das rhe- 
torisch-omamentale Beiwerk den festen Phantasiekem inmier mehr, 
und die ganze Gattung sank schliefslich zur blofsen Paraphrase 
herab. Im 11. Jahrhundert war die H3rmnendichtung dem 
völligen Untergange geweiht, nachdem zugleich mit dem künst- 
lerischen auch das religiöse Gefühl immer mehr abgestumpft und 
abgestorben war*^). 

Fast gleichzeitig mit der Kirchenpoesie, zum Teil in Abhängig- 
keit von ihr, entwickelte sich die epigrammatische Dichtung. 
Das Epigramm war diejenige antike Kimstform, die dem byzan- 
tinischen Sinn für das Omamentale und das spielend Geistreiche 
am meisten entgegenkam imd daher auch am stärksten imd 
erfolgreichsten gepflegt wurde ; sie entsprach so recht dem Begriff 
der Kleinkunst, wie sie in der byzantinischen Periode sich aus- 
bildete. Es war ferner diejenige Gattung der Poesie, die auch 
zeitlich den Byzantinern am nächsten lag: sie knüpfen damit 
wieder direkt an die Tradition der alexandrinischen Zeit an, in 
der die Epigrammatik ihre erste Blüte erlebte und zur beliebten 
Form wurde >für den kurzen Ausdruck eines Urteils über 
Dichter, Kimstwerke, Künstler, zum Begleitschreiben für Ge- 
schenke imd Liebesgaben, zum witzigen und satirischen Spiel der 
Gebildeten und Gelehrten, so dass auch diejenigen, die sonst auf 
den Ruhm eines Dichters keinen Anspruch erhoben, ein Epigramm 
zu dichten sich erlaubten«. (Christ.) Ganz so bei den Byzantinern. 
Daher ist auch der Charakter der alexandrinischen imd der 
byzantinischen Epigrammatiker nicht wesentlich verschieden von- 



— 38 — 

einander; Agathias, die Kasia^ Georgios Pisides, Johannes Geo- 
metres, Christophoros von Mitylene erscheinen als die direkten 
Fortsetzer der Anyte, des Limias, Asklepiades, Posidippos und 
Leonidas von Tarent, nur dafs der Geist des Christentums einem 
Teil der byzantinischen Epigrammatik noch ein besonderes Ge- 
präge gibt, so dafs man sagen kann: Die Antike wie das 
Christentum haben in gleicher Weise auf sie eingewirkt. Schon 
die Tatsache, dafs die bedeutendsten byzantinischen Epigram- 
matiker fast ausschliefslich dem geistlichen Stande angehören, 
sichert dem christlichen Element in ihren Dichtungen eine Stelle. 
Freilich hängt dessen Stärke auch ab von der Zeitströmung, in 
der die Dichter stehen. Es ist daher begreiflich, dafs die ältesten 
und die jüngsten der byzantinischen Epigranmiendichter, Agathias 
im 6. und Johannes Geometres im 10., sowie Christo- 
phoros von Mytilene im 11. Jahrhimdert, dem Einflufs der 
Antike in weit höherem Mafse ausgesetzt waren als die zwischen 
ihnen stehenden Dichter des 7. bis 9. Jahrhunderts, des Georgios 
Pisides und des Theodoros Studites. Im 6. Jahrhundert 
wirkte das Altertum noch lebendig nach, und im 10. und 11., 
wo die Antike wieder in demselben Mafse an Schätzung gewinnt^ 
als die religiöse Dichtung an innerer Kraft einbtifst, wird auch 
die Poesie wieder für das Altertum empfänglicher, ohne freilich 
den daraus entstehenden Zwiespalt zwischen Heidentum imd 
Christentum zu tiberwinden. Es ist daher auch kein Zufall, dafs 
der erste und der letzte Epigrammatiker, Agathias und Christo- 
phoros, Laien, nicht Theologen waren. Das unter dem Einflufs des 
Bildersturmes stehende 7. — 9. Jahrhundert aber stand ganz in 
dem Dienste des Christentums, und in dieser Zeit blühte daher 
auch eine spezifisch christliche Epigrammatik empor, die am 
originellsten von Th. Studites in seinen Epigrammen auf das 
Klosterleben, sowie von der byzantinischen Anyte, der Nonne 
Kasia, ausgestaltet wurde. 

Die Hauptphasen der byzantinischen Epigrammatik lassen 
sich danach am besten veranschaulichen an ihren drei Vertretern 
Agathias, Th. Studites nebst Kasia und Joh. Geometres. 
Der erste, noch ganz ein Nachläufer der hellenistisch-alexandri- 
nischen Litteratur, besonders des Nonnos, zierlich, geistvoll, 
zuweilen rokokoartig geziert, rhetorisch, ohne rechte innere Kraft. 
Der zweite, ein Mönch, voll Inbrunst für das klösterliche Leben, 



— 39 — 

voll Ernst und frommer Begeisterung, schlicht und knapp in 
seinen Versen, selbständig in Erfindung und Form, frei von 
antikem Ballast, ein liebevoller Beobachter des Lebens und der 
Natur, voll Gemüt und Wärme und vmgekünstelter Natürlichkeit. 
Seine Klosterepigramme sind kulturgeschichtlich von hohem 
Reiz, weil sie uns den ganzen Beamtenstab eines byzantinischen 
Klosters vorführen vom Abt bis herab zum Krankenwärter und 
Pförtner, und weil sie zugleich einen Begriff geben von dem 
Korpsgeist , dem Zusammengehörigkeitsgefühl , der zu Studites 
Zeit in den Klöstern herrschte, oder den er doch durch seine ver- 
söhnlichen und jeden zu seiner Pflicht ermunternden Verse auf- 
rechtzuerhalten suchte. Um ein Beispiel zu geben, wendet er 
sich also an den Küchenmeister: 

Dein Amt ist knechtlich, doch der Lohn ist grofs, 
Die Arbeit schmutzig, aber tilgt die Sünde. 
Jetzt brennt das Feuer dich, einst dich zu schonen. 
Drum spute dich, geh munter in die Küche, 
Zünd früh das Feuer an, wasch ab die Teller 
Und koch für deinen Bruder wie für Gott; 
Salz mit Gebet das Mahl wie mit Gewürzen, 
Damit des alten Jakob Segen dich begleite 
Und freudig du vollendest deine Bahn. 

(Baumgartner.) 

Und neben ihm steht die Gestalt der sinnigen Nonne K a s i a , 
die einst durch ihren Freimut den Kaiserthron verscherzt hatte 
und nun in der Stille des selbsterwählten Klosterlebens in tiefen 
und geistvollen Epigrammen ihre Anschauungen über Glück, 
Reichtum und Ruhmsucht, über Anmut und Schönheit, Sitte und 
Leben im Kloster niedergelegt hat. Sie erscheint darin als 
>eine eigenartige, kluge Frau, die Zartheit der Empfindung und 
tiefe Religiosität mit energischer Offenheit und einiger Neigung 
zu weiblicher Medisance verbindet. « (Krumbacher). Der dritte, 
eine Vereinigung gleichsam der beiden vorigen, eine religiöse 
Natur und doch empfänglich für das griechische Altertum, zumal 
für seine Philosophie, universell \md vielseitig in seiner Bildung : 
»neben Epigramme auf alte Dichter, Philosophen, Rhetoren und 
Historiker • . . stehen friedlich Sinngedichte auf berühmte Kirchen- 
väter, Kirchendichter und Heilige . . .« Er ist ebenso weltlich 



— 40 — 

wie geistlich gesinnt, doch in der Behandlung gleichzeitiger und 
weltlicher Stoffe und eigener Erlebnisse glücklicher als in der von 
geistlichen und antiken. 

Im 11. Jahrhundert wird das Epigramm zur höchsten 
formellen Vollendung geführt, aber zugleich, ähnlich wie die 
kirchliche Dichtung, auf die Spitze getrieben, veräulserlicht und 
verflacht. Nach Christophorus von Mytilene und Johannes Mau- 
ropos, also im 11. Jahrhundert, ist auch diese Quelle der Kunst- 
poesie versiecht* 7). 

Eine dritte gleichzeitige Gattung der Poesie bildet das 
panegyrische Lobgedicht oder Enkomion zur Verherr- 
lichung von Herrschern imd ihrer Taten oder denkwürdiger 
Gegenstände und Ereignisse. Sein Ursprung liegt, wie der des 
Epigramms, von dem es nur eine Spielform ist, in der alexandri- 
nischen Zeit. Es ist ursprünglich beschreibender Art. So be- 
sitzen wir aus frühbyzantinischer Zeit Beschreibungen von Ge- 
bäuden, Statuen, Weltkarten vu s. w. Dann vollzog sich eine 
Vermischung des Epischen mit dem Panegyrischen, wie sie be- 
sonders durch Statins (um 200 n. Chr.) vertreten wurde und, auf 
oströmischen Boden verpflanzt, unter Justinian und Heraklios 
eine erneute Pflege fand. Unter jenem war es Paulus Silen- 
t iarius, der zur Einweihung der Sophienkirche, unter diesem der 
schon als Epigrammatiker genannte Georgios Pisides, der von 
dem Siege des Heraklios über die Perser begeisterte Festgedichte 
verfafste. In beiden, besonders dem ersteren, stehen nicht die 
Ereignisse, sondern die Personen im Vordergrunde, die ganz nach 
Art orientalischer Fürsten verherrlicht werden, indem die Dar- 
stellung an sie selbst gerichtet ist, während die ausführlichen 
Beschreibungen historischer Ereignisse nur den Rahmen bilden 
oder doch in unmittelbare Beziehung zur Person des Kaisers ge- 
setzt werden. Man höre die folgende Stelle aus. dem Gedicht 
des Silentiarius, wo der Ruhm der Sophienkirche zu Gunsten des 
Kaisers über alles erhoben wird: 

Weiche nun, Roms Kapitel, o weiche dem höheren Ruhme! 
Denn mein Kaiser hat, traun, dies Wunder so weit überboten. 
Als der allmächtige Gott dem Götzen von Stein überlegen. 
Darum will ich, dafs du, goldglänzende Halle, dem Herrscher, 
Ihm, dem zeptergeschmückten, hellschallend sein Loblied zurücktönst. 

(Baumgartner.) 



- 41 — 

In ähnlich weihräuchemdem Tone verfafste im 10. Jahr- 
hundert ein Mönch Theodosios ein über tausend Verse um- 
fassendes Gedicht auf die Einnahme Kretas durch Nikephoros 
Phokas. Es ist kulturgeschichtlich doppelt interessant, einmal 
durch die höfisch-devote Haltung des Klerus dem Kaiser gegen- 
über, dann durch seine dünkelhafte Altertumsfeindlichkeit: der 
Verfasser konnte es noch wagen, um sein Werk und das Ereignis, 
dem es gilt, in ein günstiges Licht zu stellen, dem alten Homer 
einen Fufstritt zu versetzen: 

Du aber, Schlachtenrafsler, lärmender Homer, 
Der zum Erhabnen du das Winzige aufblähst, 
Mach uns nichts vor! Sprich ruhig und bescheiden. 

(Baumgartner.) 

So beginnt das Gedicht. Und doch hätte der armselige Poet 
in der epischen Technik so gut wie alles von seinem verachteten 
Vorgänger lernen können. Denn der Hauptinhalt besteht nicht 
in der Schilderung des Feldzuges, sondern in hohlen Lobreden 
auf den Kaiser. So überwiegt in dieser aus dem alten Kunst- 
epos entstandenen Gattung die persönliche Rücksicht fast völlig 
das sachliche Interesse, und im 12. Jahrhundert verflüchtigt sich 
dieses inmier mehr, so dafs der Kern der historischen Tatsachen 
sich in allgemeine Andeutungen auflöst und das Ganze zur 
charakterlosen Speichelleckerei bettelnder Höflinge herabsinkt. 
So hat der in der Komnenenzeit lebende Betteldichter Theodor 
Prodromos das Verfassen von Lobgedichten fabrikmäfsig be- 
trieben. Auch hierfür bildet also das 12. Jahrhundert einen Ab- 
schlufs der Entwicklung '^). 

Dieses Jahrhundert bezeichnet überhaupt einen wichtigen 
Wendepunkt in der Entwicklung der byzantinischen Kunstpoesie : 
während die das 6. bis 11. Jahrhundert ausfüllende und be- 
herrschende kirchliche und epigrammatische Dichtung eine Art 
Blütezeit darstellte, aber bald in sich selbst erstarrte und daher 
keiner Weiterbildung fähig war, treten im 12. Jahrhundert Dich- 
tungsformen auf, die zwar einen Verfall der Poesie bezeichnen, 
indem sie dieser keinen neuen Lebensgehalt, höchstens eine neue 
Form geben, gerade hierdurch aber die spätere Entwicklung 
vorbereitet haben, wie auch dadurch, dafs sie der teils christlichen. 



- 42 — 

teils aristokratisch-gelehrten Litteratur der ersten Periode nun 
eine weltlich-demokratische gegenüberstellen/ 

Diese zweite Periode wird nun charakterisiert durch den 
rapiden Verfall alles dessen, was die Vorzüge der ersten bildete: 
Verfall der Religion, der Moral, des Geschmacks, der Kraft. 
Über der vorigen Periode lag noch ein schwacher Abglanz der 
ästhetischen Kultur des Altertums ; den eigentlichen Lebensinhalt 
gab ihr das Christentum. Das Reich hatte im elften Jahr- 
hundert auch politisch seine höchste Ausdehnung erreicht : 
Byzanz gebot über zwei Erdteile, seine Flotte war seine Haupt- 
stärke, sein Handel beherrschte Europa und Asien. Das wurde 
jetzt alles anders: die barbarischen Elemente, die das Reich er- 
füllten, gewannen die Oberhand über das immer schwächer 
werdende griechische; das Christentum war keine lebendige 
Macht mehr, die Geister waren vmter dem Gifthauch des Orients 
erschlafft, die ohnedies nicht sehr lebendige Phantasie ver- 
trocknet; dazu kam der Stofs, den der schwankende Bau des 
Reiches durch die auch im Osten drohend anwachsende See- 
macht von Genua und Venedig empfing, erst wirtschaftlich, 
dann auch politisch, — kurz, der Verfall kündigt sich an auf 
allen Gebieten, nicht zuletzt auch im geistigen Leben, in der 
Litteratur. 

Eklektische Nachahmung ist das Losungswort für diese arm- 
selige Zeit, wenigstens in ihren gröfseren Produkten; die Zeit 
bot noch weniger künstlerischen Rohstoff als früher, die innere 
Fühlung mit dem Altertum war verloren gegangen, die reli- 
giöse Stimmung war verraucht, die epigranmiatische Klein- 
kimst hatte sich ausgelebt, was blieb da weiter übrig, als dafs 
man sich zu den geliebten alexandrinischen Ahnen zurückwandte 
und auf dem Felde zu ernten suchte, wo jene am meisten gesäet 
hatten und wo es dem entnervten, ideallosen Geschlecht am 
wohlsten wurde, auf dem Felde des erotischen Romans. 
Wie dieser ein reines Kunstprodukt blieb, so auch die geistliche 
Dichtung ; das einzige geistliche Werk dieser Zeit lehnt sich be- 
wufst an heidnische Vorbilder an. Daneben brachte dann das 
zunehmende Elend der Zeit noch andere charakteristische Dicht- 
gattungen an die Oberfläche, mehr der Not als dem eigenen 
Triebe entsprossen, nicht von den Höhen des Lebens, sondern 
aus der Tiefe des Volkes hervor: bettelnde Geistesproletarier, 



- 43 — 

gottlose Spötter und Unheil ahnende, warnende Propheten drängen 
sich jetzt durcheinander und erheben ihre Stimme. 

Der byzantinische Roman scheint ganz den Bedürfnissen der 
damaligen Lebemänner angepalst zu sein-, er ist eine ver- 
schlimmerte Auflage des alexandrinischen Sophistenromans, ebenso 
schlüpfrig, nur noch roher und barbarischer; er hat nur kultur- 
geschichtliches Interesse, litterargeschichtliches nur insoweit, als 
er zeigt, wie jene Romanschreiber zu Werke gingen, und weil 
die ersten Erzeugnisse der volkstümlichen Muse, wenn auch zum 
Glück nur in der äulseren Form der Anlage, an ihn anknüpften. 
Die Sprache ist noch ganz die geschraubte, spätere byzantinische 
Gräzität, die Form mosaikartig zusammengesetzt, künstlich, 
voll von technischen Fehlem, ohne jede Komposition und eigene 
Erfindung. Seine Hauptvertreter sind der AUerweltsdichter 
Theodor Prodromos, EustathiosMakrembolitesundNiketas 
Eugenianos. Alle drei sind unzertrennlich: das Vorbild zu 
des letzteren iDrosilla und Charikles« wie zu des Makrembolites 
»Hysmenias und Hysmene« sind die Liebesromane der Alexandriner 
Achilles Tatios und Longus, während des Prodromos »Rodanthe 
und Dosikles« die äthiopischen Geschichten des Heliodor zu 
Grunde liegen. Aufserdem war Prodromos von Makrembolites^ 
Eugenianos von Prodromos »inspiriert«, so dafs man sich denken 
kann, was für jeden Originelles übrig blieb. Anlage und Inhalt 
ist denn auch in allen diesen drei Mifsgeburten alexandrinisch- 
byzantinischer D^cadence so ähnlich wie nur möglich : Raub der 
Geliebten, Trennung durch Seeräuber, wunderbare Wieder- 
vereinigung bildet das klapperdürre Gerippe dieser »Dramen«, 
wie die Byzantiner den Roman sakrilegisch nannten. Dieses 
Gerippe wurde dann mit Fetzen von der eigenen Phantasie der 
Verfasser überkleidet, und wo diese nicht reichten, stopfte man 
die Lücken mit Stellen aus Homer und Euripides aus, ganz wie 
es der Verfasser des uns bald begegnenden gleichzeitigen religiösen 
Dramas vom »Christus patiens« gemacht hat. Auch dessen kraft- 
lose Klagereden kehren als ein untrügliches Zeichen der geistigen 
Erschlaffung in diesen »Romanen« wieder, besonders häufig bei 
Niketas Eugenianos, dem Jüngsten dieses Kleeblattes. Die durchaus 
gerechte Charakteristik, die E. Rohde dessen Machwerk zu teil 
werden läfst, wenn er sagt: »Ein origineller Zug begegnet auch 
hier nirgends; vielmehr stiehlt Niketas seine Redeblumen und 



— 44 — 

galanten Wendungen sich sehr unbefangen überallher zusammen, 
aus den Anakreonteen , den bukolischen Poeten, dem Musaeos, 
den Epigrammatikern der Anthologie, auch aus Heliodor und 
Longus, zumal aber aus Achilles Tatios,c — diese Charakteristik 
trifft auch auf die übrigen Produkte dieser Trias zu. Und den 
Inhalt hat ebenfalls Rohde am besten gekennzeichnet als eine 
1 Mischung von sülslicher Ziererei und wahrhaft ungeschlachter 
Roheit des Wesens«. Wenn auch Makrembolites und Eugenianos 
mehr Weibisch-Sülsliches , Prodromos mehr Gladiatorenhaftes an 
sich hat, in einem Punkte stimmen sie alle überein: wo sie ein- 
mal originell sind , da sind sie auch roh. Dafür nur ein paar 
Proben: Makrembolites schildert den Helden seines Romans als 
einen echten Schlemmer, der seinen Liebeskummer mit Essen 
und tüchtigem Trinken niederkämpft; denn, sagt er weise, eine 
reichliche Kost verlangt auch entsprechendes Getränk. Das ist 
aber immer noch glimpflich. Schlimmer treibt es schon der un- 
geschlachte Prodromos. Da wird die Trennung zweier CJeliebten 
anschaulich verglichen mit einem Ochsen, den man lebend in zwei 
Teile schneidet, oder das von den Rudern gepeitschte Meer mit 
einem alten Weibe, dessen vom Weinen nasse Backen geohrfeigt 
werden, wobei sie heult, schreit und spuckt. Den Gipfel raffinier- 
tester zynischer Gemeinheit aber hat Niketas Eugenianos er- 
klommen. Er schildert nicht nur in abstofsendster Weise den 
Tanz eines betrunkenen alten Weibes, sondern läfst auch den 
Liebhaber der Drosilla dieser eine offenbar sehr galant gemeinte 
Schmeichelei für ihre Schönheit sagen, aber mit einem so aus- 
gesucht unästhetischen und unmoralischen Bilde, dafs es sich nur 
andeuten läfst. Der »Dichter« will sagen, Gott Amor habe ihr 
schon vor der Geburt eine milchweifse und rosenrote Farbe ver- 
liehen und mutet ihm, um das zu erklären, eine Manipulation 
zu, die selbst unsere Frauenärzte nur im äufsersten Falle an- 
wenden . . . Man wird angesichts dieser Beispiele verrohter und 
schmutziger Phantasie dem Vergleich dieser Auswüchse des 
griechischen Romans mit den Machwerken der zweiten schlesi- 
schen Schule unserer Litteratur, eines Lohenstein und Hoffmanns- 
waldau, nur zustimmen können. Es waren keine Griechen, 
sondern Barbaren, die das ehrwürdige Gefäfs der griechischen 
Sprache zur Ablagerung der widerlichen Ausgeburten ihrer 
Phantasie mifsbrauchten. 



— 45 — 

Eine Stilblüte mag schlielslich noch diese Charakteristik 
vervollständigen. An einer Stelle des Romanes von Makrem- 
bolites heilst es bei der Schilderung eines Trinkgelages: »Die 
Jungfrau schenkt nun, wie üblich, ein, ich aber trinke wie nicht 
üblich, und trinkend trinke ich nicht, und nicht trinkend trinke 
ich Liebe; es trinkt Sosthenes und endlich ich, da mir auch 
Panthia zutrank, und trinkend drücke ich mit dem Fufse den 
Fufs der Jimgfrau, sie aber, mit der Zunge schweigend, spricht 
mit Gebärden, und sprechend schweigt sie.« Man sieht, es ist 
nicht zu viel gesagt, wenn E. Rohde den Makrembolites einen 
wahnsinnig gewordenen Achilles Tatios nennt. 

Es waren erbärmliche Dekadenten, ohne künstlerische und 
sittliche Ideale, die nur dem niedrigsten Genüsse des Augen- 
blickes nachjagten, die sich zu ihren immerhin schon epigonen- 
haften alexandrinischen Vorgängern verhielten wie etwa die 
Helden eines Vari^t^theaters zu den Darstellern einer ernsten 
Bühne. Es war die völlige Bankerotterklärung aller Phantasie, 
aller grofsen Kunst und das Kleben am Niedrigen, »am schalen 
Zeuge«, was diesen Produkten zum Dasein verholten hat ^9). 

Wie es mit dem religiösen Bedürfnis dieser gesunkenen Zeit 
bestellt war, lehrt nicht nur das fast völlige Fehlen geistlicher 
Poesie, sondern auch das rein äufserliche Verhältnis, in dem das 
einzige gröfsere Werk geistlichen Charakters zum Geist des 
Christentums steht, nämlich das im 11. oder 12. Jahrhundert 
verfalste sogenannte Passionsspiel des »Christus patiens«. 
Schon die Tatsache, dals dieses geistliche Drama das einzige 
seiner Art ist, mufs auffallen und beweist zur Genüge, dafs für 
die im abendländischen Mittelalter so reich entwickelte geistliche 
Dramatik Byzanz kein Boden war. Die Gründe dafür wurden 
bereits in der Einleitung auseinandergesetzt, und der Charakter 
dieses Produktes kann das Gesagte am besten illustrieren. Femer 
ist es auffällig, dafs gerade diese Zeit gänzlichen künstlerischen 
und sittlichen Verfalls ein religiöses Drama hervorgebracht 
haben soll. Sie wird gewifs am wenigsten danach verlangt 
haben. Sieht man nun genauer zu, so bemerkt man auch, dafs 
dieses angebliche Mysterienspiel weder ein Drama ist noch eine 
Darstellung der Leiden des Herrn, noch ein aus christlichem 
Geiste heraus geborenes einheitliches Werk. 



— 46 — 

Von dramatischer Komposition und Handlung ist keine Rede ; 
es wird fast nur gesprochen; Berichte von Boten imd Klagen 
füllen den Hauptinhalt aus; obwohl das Spiel mit dem Gang 
nach Golgatha beginnt und mit der Erscheinung des Auf- 
erstandenen endet, werden nirgends die einzelnen Phasen des 
Leidensweges in solchen Bildern zu verkörpern gesucht, wie man 
sie aus dem Oberammergauer Passionsspiele kennt. Alle die er- 
greifenden und wirksamen Szenen, die der Kreuzigung voran- 
gehen, sowie diese selbst werden nur durch Boten geschildert, 
während die Kreuzabnahme und die Erscheinung allein zwei 
Drittel des Ganzen ausfüllen. Es ist eben weder ein Volks- 
noch ein Kunstdrama, sondern ein Buchdrama, eine dialogisierte 
Erzählung. 

Das dramatische Moment wird femer dadurch gänzlich aus- 
geschaltet, dafs nicht Christus, sondern Maria und ihre Klagen 
im Mittelpunkte stehen; es ist also eine Art dramatisierter 
Marienklage. Mit dieser Maria kann man aber nicht menschlich 
empfinden, weil sie so gar nichts von dem Wesen einer Gottes- 
mutter an sich hat, überhaupt kein einheitlich konzipierter 
Charakter ist, sondern ein litterarisches Mosaikbild, zu dem die 
verschiedensten Frauen- und sogar Männergestalten der antiken 
Tragiker einzelne Züge hergeliehen haben: in dem einleitenden 
Monologe hält sie sich an Worte der Amme in Euripides' 
»Medea«, sowie an andere aus den »Troerinnen« vmd der 
»Hekabe«; den Bericht des Verrates Jesu empfängt sie mit 
Worten aus Sophokles' >Elektra« ; die unablässigen Klagen , in 
die sie ausbricht, lehnen sich bald an Worte des Theseus im 
»Hippolytos«, bald an die der Medea, bald an die der lo in 
Aeschylos' »Prometheus« und an solche des »Rhesos« und der 
»Bakchen« des Euripides an u. s. w. 

Eng zusammen hiermit hängt der dritte, schwerste Mangel 
dieses Kunstproduktes : es ist ein weder von künstlerischem noch 
von religiösem Empfinden beseeltes Werk. Es hat geradezu 
etwas Seelen- und Charakterloses. Wie die Gestalt der Maria, 
so ist das Ganze äufserlich zusammengestückt : von den 2640 Versen, 
aus denen es besteht, ist fast ein Drittel antiken Dramen, mit 
Vorliebe denen des Euripides, entlehnt. Dazu kommen noch die 
zahlreichen Partien, die nach dem Alten und Neuen Testament 



— 47 — 

bearbeitet sind, sowie gewils so manche, die auf noch unbekannten 
Quellen beruhen, so dafs dem vielgewandten Verfasser gewils nicht 
allzuviel zufällt. Dieses skrupellose Wuchern mit fremdem Gut 
macht sich besonders im letzten Teile unangenehm fühlbar, wobei 
noch das ganz äufserliche Durcheinander heidnischer und christ- 
licher Elemente peinlich berührt: weitausgesponnene Bearbeitungen 
der Evangelien wechseln mit ganzen Stellen aus Euripides. 
Selbst die Evangelienberichte werden nicht nach ihrer inneren 
Wirkung ausgewählt, sondern auf Kosten derselben ganz ratio- 
nalistisch miteinander in Einklang zu bringen gesucht. 

Dieses Verfahren ist bezeichnend für das religiöse Empfinden 
der damaligen Byzantiner. Es ist jener selbst von den heutigen 
Griechen noch nicht ganz überwimdene Zwiespalt zwischen 
Heidentum und Christentvun, der die byzantinische Kultur seit 
dem Wiederaufleben der Altertumsstudien durchdringt, ein Zwie- 
spalt, der ganz im Gegensatz zur italienischen Renaissance weder 
dem antiken noch dem christlichen Geist recht frommte. So hat 
die Gestalt der Maria mit ihren kleinmütigen Klagen etwas 
geradezu Unchristliches; sie schwankt haltlos zwischen Verzweiflung 
und Zuversicht hin imd her, doch so, dafs immer die erstere 
Siegerin bleibt, wodurch diese Maria mehr einer unglücklichen Ge- 
liebten als der Mutter des Herrn gleicht. Ebenso unchristlich 
ist die malslose Wut, in die sie gegen die Feinde und Verräter 
ihres Sohnes wiederholt ausbricht. 

Unter den wenigen Szenen, die dem Verfasser wahrschein- 
lich selbst zuzuschreiben sind, und die von reinerem christlichen 
Gefühl zeugen, ist bezeichnenderweise eine der schönsten die- 
jenige, in der nicht Maria, sondern Christus den Mittelpunkt 
bildet, imd die eine schon von Romanos behandelte Szene dar- 
stellt, die Entsühnung des Verleugners Petrus durch den Herrn. 
Vom Chor auf die Klagen Petri aufmerksam gemacht, tröstet 
diesen 

Maria. 

Was weinst du, Petrus? — Schlimmes zwar vollbrachtest du, 
Doch von der Gnade ausgeschlossen bist du nicht. 
Verzeih ihm, Sohn, geliebtes Kind, du Wort des Herrn! 
Die Sund' entkeimt der menschlichen Gebrechlichkeit! 
Er fehlte, weil er zagte vor des Volkes Wut. 



— 48 — 

Christus. 

Geh hin in Frieden, hehre Mutter, reine Magd! 

Weil du für ihn gebeten, lös' ich Petrus' Schuld. 

Gehorcht' ich deinen Worten doch von jeher schon 

Um deines heilig-frommen Sinnes willen gem. 

Und nicht nur dessen denk' ich, was du selbst vermagst: 

Bufsfert'gen Tränen weigr' ich nicht der Gnade Lohn, 

Der Sünde Fesseln lösen sie mit Wunderkraft. 

Dich aber mahn' ich: hege keinen Groll, 

Auch gegen die nicht, die mich frevelnd hier erhöht. 

Maria. 

O deines milden, ewig gnadenreichen Sinns! 

Im Drang der Qual auch wirst du dem Geschlecht nicht feind. 

Zürnst denen nicht, die ruchlos dich ans Kreuz erhöht. 

Hier fällt einmal ein Abglanz Jesu auf Maria, die im 
übrigen, wenn sie nicht antike Allüren annimmt, leicht in Roheit 
der Empfindung — d. h. die des damaligen Byzanz — verfällt. 
So ordnet sie mit wenig weiblichem Takt die Kreuzabnahme in 
folgender Weise an: 

Nimm ihn herab jetzt, Joseph, teuerwerter Greis; 
Empfang' den Sohn in deinen Armen, zieh ihn her 
Zu dir; umfass ihn nun und rieht empor den Leib, 
Das Haupt ihm auch, den Nacken stütze mit dem Arm 
Dort von der Rechten; — haltet ihm die Seiten hoch. 

(EUissen.) 

Der »Christus patiens« ist als Ganzes genommen ein treues 
Spiegelbild der weibischen, geftihlsrohen Zeit, in der er ent- 
standen ist. Die trostlose Verzagtheit, der ungesunde Skeptizis- 
mus imd der zerfliefsende , wühlende Schmerz der Maria, — das 
war auch die Stimmung der ganzen damaligen Generation von 
Byzanz. Es fehlte ihr an der siegreich überwindenden Glaubens- 
kraft und infolgedessen auch an der künstlerischen Lebens- und 
Gestaltungsfreude. Dem Skeptizismus auf der einen entspricht ein 
geistloser Eklektizismus auf der anderen Seite. Es liegt wie eine 
geistige Müdigkeit auf dieser Ausgeburt des schlimmsten Epi- 
gonentvims, ähnlich wie auf den mageren Gesichtern der gleich- 
zeitigen byzantinischen Miniaturbilder ein kläglicher, verkttomerter 
und matter Ausdruck. Das religiöse Feuer eines Romanos war 
unter dem Schutte der Antike verglommen, imd diese selbst war 
tot, kein grofser Geist kam, ihr neues Leben einzuhauchen; man 



— 49 — 

sammelte mühsam die einzelnen Glieder, aber sie fügten sich 
nicht mehr zu einem blühenden Körper »°). 

Wenn also die Byzantiner dieser Periode in den umfang- 
reichen und erhabenen Gattungen der epischen und dramatischen 
Poesie sich als durchaus unfähig und unfruchtbar erwiesen, so 
hat sich dafür die ihrem nüchternen, rationalistischen Wesen mehr 
zusagende und an ihr künstlerisches Vermögen weniger hohe 
Anforderungen stellende satirische und didaktische Dich- 
tung in den letzten Jahrhunderten des Reiches um so üppiger 
entwickelt. Ihre notwendige Voraussetzung fand diese in dem 
Verfall der öffentlichen Moral, in dem Mangel an Idealen und 
in der Zunahme kriechender Gesinnungslosigkeit, wie sie ihren 
Ausdruck fand in der höfischen Devotions.- und Bettel- 
poesie. 

Rein litterarhistorisch kann man diese ganze Litteratur kaum 
noch als gelehrt-byzantinisch bezeichnen: sie ist in Stoff und 
Form durchaus verschieden von dieser; es fehlen ihr sowohl die 
antiken Reminiszenzen wie auch die antikisirende äulsere Form 
in Grammatik und Metrik. Darin nähert sie sich bereits dem 
neugriechischen Charakter: ihre Sprache ist, wenn auch nicht 
rein, so doch stark volksmäfsig gefärbt, und alle ihre Produkte, 
die man daher auch vulgärgriechisch nennt, sind die ältesten 
litterarischen Zeugnisse in neugriechischer Sprache. Ihre Vers- 
form ist weder die der kirchlichen noch die der profanen Kunst- 
litteratur, sondern eine gänzlich neue, die sog. politische oder 
bürgerliche, im Gegensatz zu der gelehrten. Dieser Vers, der 
für die ganze neugriechische Volkspoesie charakteristisch ist, hat 
in seiner Einförmigkeit und in seinem Bau einige Ähnlichkeit 
mit dem französischen Alexandriner. Im Deutschen begegnet er 
u. a. in dem Liede: »O Tannebaimi, o Tannebaum, wie grün 
sind deine Blätter. c Der Ursprung dieses Verses ist noch dunkel. 

Trotz dieser formellen Neuerungen gehört aber die genannte 
Dichtungsart kulturgeschichtlich — und das ist für uns 
malsgebend — noch ganz zur byzantinischen Litteratur; ja, in 
Denk- und Empfindungsweise zeigt sie jetzt erst so recht den 
byzantinischen Menschen mit allen seinen schweren Charakter- 
fehlem, die wir mit dem Begriff »byzantinisch« zu verbinden 
gewohnt sind. Es ist daher ein seltsames Zusammentreffen, dafs 
trotz dieses offenbaren Niederganges der byzantinischen Litteratur 

Dietericb, Getch. d. byzant. u. neugriccb. Litteratur. 4 






- 50 - 

sich dennoch in ihrer äulsereii Form eine neue Zeit vorbereitet, 
die sich dieser Form bemächtigt und sie mit ihrem eigenen 
Wesen erfüllt. Das Folgende stellt sich also dar als die Litte- 
ratur einer Übergangszeit: in ihrem Wesen noch ganz byzanti- 
nisch, ist sie in ihrer Form schon ganz volksmäfsig"). 

In der satirischen Poesie der Byzantiner erkennt man 
leicht ihren Vorläufer in der alexandrinischen Periode wieder. 
Wie in dieser, z. B. bei Lukian, so ist es auch bei ihnen nicht 
die ernste Satire, sondern die Parodie, welche sich besonderer 
Pflege erfreute. Denn die strafende, luftreinigende Satire eines 
Archilochos, Lukrez oder gar eines Rabelais und Cervantes darf 
man in jenen Zeiten nicht erwarten. Dazu fehlte es ihnen doch 
an den mutigen, überlegenen und weitblickenden Geistern. Über- 
haupt gewinnt man den Eindruck, dafs es den Byzantinern 
•weniger um die Besserung der bestehenden Zustände als um 
ihre Verspottung, eben aus blolser Freude am Spotten und 
Lächerlichmachen, sowie am Parodieren und Karikieren zu tun 
war. Auch sind es dann meistens Äufserlichkeiten von Einrich- 
tungen oder Personen, die mehr oder weniger hausbacken paro- 
diert werden; an die Geilselung der zahlreichen inneren schweren 
Schäden des Reiches und seiner Menschen hat sich niemand ge- 
wagt. Auch ist es bezeichnend, dafs selbst unter diesen 
zahmen Satirikern nicht ein Geistlicher zu sein scheint, soweit 
die meist anonym überlieferten Produkte dieser Gattung be- 
urteilen lassen. 

Die Freude am burlesken Spott äufsert sich in Byzanz 
schon früh durch öffentliches Absingen roher Gassenhauer, 
die auf bestinmite Schwächen von Herrschern gemünzt waren. 
So hat schon im 6. Jahrhundert der Pöbel den Kaiser Maurikios 
wegen seiner zahlreichen unehelichen Kinder mit einem solchen, 
Spottgedicht bedacht, welches folgendermafsen lautet: 

Eine Kuh hat er gefunden, appetitlich, zart gebaut, 
Und wie's junge Hühnchen hat er über sie sich hergemacht; 
Kinder machte er nun zahlreich wie der Tischler Hobelspäne. 
Niemand aber darf sich mucksen, allen hat er's Maul gestopft. 
Heirger Vater, heiFger Vater! Furchtbar und gewaltig gar! 
Gib ihm eins doch auf den Schädel, dafs er nicht zu üppig wird! 
Dann will ich den grofsen Ochsen bringen ihm zum Opfer dar. 

(Krumbacher.) 



— 51 — 

Diese Sitte, Herrschern Spottlieder zu singen, scheint 
orientalischen Ursprungs zu sein. Wenigstens ist aus der arabi- 
schen Litteratur ein fast gleichzeitiges Gedicht auf den Kalifen 
Abübekr bezeugt (vgl. Brockelmann, Geschichte der arab. 
Litt., S. 60). Auch in diesem wird die Tochter des Kalifen mit 
einer jungen Kuh verglichen. 

In die Litteratur dringt das satirische Element, wie gesagt, 
erst seit dem 12. Jahrhundert, wo der uns schon bekannte 
Grammatikus und Hungerleider Prodromos in ähnlich derber 
Manier ein lüsternes altes Weib und einen alten Langbart in je 
einem Gedicht verspottet. Besonders in der Form sogenannter 
Tiergeschichten waren solche satirischen Anspielungen beliebt. 
Da werden auf einer Festversammlung von Vögeln, 
die in Streit geraten und sich beschimpfen. Hiebe gegen soziale 
Schwächen ausgeteilt: ein Strandläufer nennt den Fasan einen 
vornehmen Junker, dieser beschuldigt jenen, er könne seine 
Schulden nicht bezahlen. Gegen die Geistlichkeit und die Sucht, 
ihr anzugehören, richtet sich das stolze Gebaren der Henne mit 
ihren Jungen, die alle für den geistlichen Stand bestimmt seien. 
Eine unfreiwillige Charakteristik der byzantinischen Überhebung 
und Selbstgefälligkeit bildet darin die Verspottung der fremden, 
barbarischen Völker des Reiches: Spitznamen wie Tataren- 
schädel, Butgarenspröfsling, Kapuzenfranke sind allgemein. Oder 
die verbalste römische Kirche mufs herhalten : so rühmt sich das 
Schwein, dafs die Frankenpriesterlein mit seinen Borsten Weih- 
wasser sprengten (als ob dazu gerade byzantinische Schweine 
ihre Borsten gelassen hätten!). In einem anderen Gedichte , das 
eine Versammlung von Baumfrüchten schildert, wird 
die byzantinische Bureaukratie und Hierarchie zur Zielscheibe 
des Spottes gemacht, doch wieder in durchaus harmloser 
Weise, ohne das Verderbliche dieser Zustände an der Wurzel 
2u treffen. 

Wenn etwas in dem Byzanz der letzten Jahrhunderte der Besse- 
rung und Aufrichtung bedurfte, so war es das sittlich-religiöse 
Leben und der geistliche Stand in ihrem Verhältnis zueinander; 
denn man kann sagen : je mehr dieser äulserlich zunahm, um so 
mehr nahm jenes ab. Wie weit man jedoch davon entfernt war> 
das Verhängnisvolle dieser Lage zu erkennen, wie tief das 
religiöse Gefühl gesunken war, das lehrt eine merkwürdige, 

4^ 



— 52 

kulturgeschichtlich ganz alleinstehende Ausgeburt von Poesie, 
nämlich die bewufste oder unbewufste Parodierung reli- 
giöser Dichtungen in Form oder Inhalt. So sehr scheint 
das verständnislose Her plappern und Absingen von Kirchen- 
hymnen Aligemeingut geworden zu sein, dafs man es für prak- 
tisch hielt, diese als willkommene Memorierformen für allerlei 
profane, wissenschaftliche und didaktische Traktate zu benutzen, 
so für meteorologische, medizinische, grammatische, ortho- 
graphische, mythologische Stoffe, die man alle skrupellos in das 
abgetragene Gewand der Kirchenpoesie hüllte. Die Geistlichkeit 
selbst scheint dabei am wackersten mitgeholfen zu haben, wie 
der Bischof Niketas von Serrae im 11. Jahrhundert, der diese 
Produktion fabrikmäfsig betrieb. Hat man doch selbst einen 
Traktat über den Urin aufgefunden, der in diese Form gegossen 
wurde ! 

Es ist daher nicht zu verwundern, wenn man auch zu be- 
wufsten Parodierungen heiliger Lieder und Handlungen über- 
ging. Den Anfang damit machte der Minister und Höfling 
Michael Psellos, der sich als Mönch zur Disposition gestellt 
Jiatte und, von einem Klosterbruder heftig angegriffen, weil er 
bald wieder dem Klosterleben entsagte, diesen Angriff in Form 
eines Kirchenliedes erwiderte, worin er den Mönch in der un- 
flätigsten Weise als Trunkenbold schilderte. Die Satire wirft 
zugleich ein bedenkliches Licht auf die Zustände in den byzanti- 
nischen Klöstern. 

Eine frivole Verherrlichung des Rebensaftes, die stellenweise 
an Gotteslästerung streift, hat sich ein vielleicht ebenfalls geist- 
licher Bacchusverehrer, eine Art byzantinischer Rodensteiner, 
geleistet unter dem Titel iHiilosophie eines Weinzechers«. Diese 
besteht darin, dals er Christus bittet, das Abendmahl zu erhalten, 
sowie die Fähigkeit, statt Schweife Wein auszuschvritzen. Dieser 
Erguls ist übrigens nicht mehr in den Rahmen des Kirchen- 
liedes gefafst, sondern in fortlaufenden bürgerlichen Versen ge- 
halten. 

Ganz in die Form von Mefsgesängen gekleidet ist dagegen 
'eine der schlimmsten Parodien der ganzen byzantinischen Litte- 
■ratur überhaupt, die wohl aus dem 14. Jahrhundert stammende 
•Satire auf einen (von Natur) Bartlosen. Dieser, der, bei 
den Griechen als ein Gegenstand des Abscheus gilt, wird hier 



— &3 — 

in zotenhaftester Weise verspottet. Das in Prosa verfalste Stück 
besteht aus einer langen Reihe zum Teil sich wiederholender ^ 
Fluchformeln, die {[ulserlich ganz nach Art der Meisgesänge ge-; 
gliedert sind, in ihrem geheimnisrollen Und oft unverständlichen} 
Chax^kter aber stark an die Zauberformeln erinnern, die in: 
griechischen Zauberpapyri aus Ägypten erhalten sind. So heilst : 
es gleich zu Anfang: >0 des . seltsamen Wunders! Wenn du. 
einem Bartlosen begegnest, dem sein Bart schwitzt, begrülse ihn ^. 
so : du Fleischloser wie ein Frosch und Buckliger wie ein altes Weib,, 
böser Bartloser, du mit einem Maule wie ein Fals und einem. 
Rückgrat wie eine Ameise, böser Bartloser, zieh hin, du Fratz,' 
und Gott zertrete dichte Und eiiier der vielen Flüche, die auf- 
den Unglücklichen gehäuft werden, wird so eingeleitet: »Heute: 
zieht der Bartlose daher als Schandmal seines schönen Bartes; 
heute frohlocken die Frösche und singen die Schildkröten, da sie' 
das widernatürliche Wunder sehen; das Meer sah es und floh, 
der Mond verbarg seinen Schein; der Bartlose, der Boshafte, der - 
I^reibärtige r- gehen wir über zum Fluch Ic Unterbrochen wird; 
diese. Folge von Verfluchungen nur durch eine mysteriöse, von: 
Unflätigkeiten strotzende Lebensgeschichte des Bartlosen, die 
namentlich erzählt,, wie er zu einem Barte kam. Der Gipfel des 
Spotte^ und wohl auch die Spitze liegt darin, dafs am Schluls der. 
Pfarrer, der die Messe gelesen hat, seine Tochter mit dem Bartlosen 
vermählt. Die mancherlei Dunkelheiten dieses rohesten Erzeug- 
nisses byzantinischer Unästhetik, vor allem die Frage, warum 
man für dieses Thema die Form einer heiligen Handlung wählte, 
lösen sich vielleicht durch die Annahme, dafs damit zugleich 
entweder die Unwissenheit oder die Frivolität des Klerus ge- 
brandmarkt werden soll, der seinen Segen zu einer von vorn- 
herein unfruchtbaren Ehe gibt^'). 

Die zweite neue Dichtungsgattung, die mit dem sozialen 
und moralischen Verfall des Reiches in die Höhe schiefst, kann, 
man bezeichnen als die Klagepoesie der hungernden und bettelnden 
Schulmeister, die zugleich die Rolle schmarotzender Höflinge 
spielen. Die beiden Hauptvertreter dieser Bettelpoesie sind 
der schon genannte Theodor Prodromos, wegen seiner 
Armut genannt Bettelprodromos , und Manuel Phile s. .Sie 
repräsentieren recht eigentlich diejenige Menschenklasse, die :wir 
Byzantiner nennen. 



- 54 — 

Prodromos, Günstling der Kaiser Johannes und Manuel 
Komnenos, ist das Urbild des echten byzantinischen Bildungs- 
proletariers. Stets mit Nahrungssorgen kämpfend, hat er an^ene 
beiden Herrscher eine Reihe von poetischen Bittgesuchen ge- 
richtet, von denen vier erhalten sind. Sie geben eine Art Selbst- 
biographie unseres Bettelhelden und Hungerleiders in Bildern, die 
in ihrem derben Realismus an die Streiche unseres Till Eulen- 
spiegel erinnern. Sie sind auch in einer ebenso urwüchsigen, an 
drastischen Wendungen reichen Volkssprache gehalten, die nur 
zu Anfang und zu Ende der einzelnen Stücke, wo die praktische 
Nutzanwendung gezogen wird, der konventionellen Schriftsprache 
weicht. Es sind wenig erbauliche Dinge, die der elende Schlucker 
da zum besten gibt, allerlei höchst bedenkliche Streiche, die er 
in seiner Not vollführt hat, und die er nun mit galgenhumoristischer 
Selbstironisierung dem Kaiser rückhaltlos schildert, offenbar, um 
ihn wie ein echter Hofnarr in heiterer Laune zu erhalten oder 
sein Mitleid zu erwecken. Da erzählt er, wie er hungrig durch 
die Gassen von Konstantinopel schlendert, eine vor ihrem Laden 
stehende Bäckerfrau anbettelt und ihr, als sie ihn keiner Ant- 
wort würdigt, das Brot, das sie gerade in der Hand hält, entreifst 
und sich damit davonmacht. Oder er kommt an einer Fleischer- 
bude vorüber, der Duft der frischen Würste steigt ihm in die 
Nase und er fleht die Metzgerfrau an: 

Frau Meisterin, Frau Meisterin, Frau Darmaushöhlerin, 
Gib mir ein bifschen Eingeweid\ gib mir ein Stückchen Euter, 
Kaidaune von deiner Kaldaun', von der in deinen Händen, 
Die von Rosinenduft erfüllt und leicht ist eingepökelt. 

Die Meisterin hat anscheinend Erbarmen mit ihm und trägt 
ihm auf einem Tisch einen Teller voll Kaidaunen auf. Wie er 
einige Bissen gegessen, fährt er entsetzt auf: die Boshafte hatte 
als Füllung nicht Fleisch, sondern etwas weniger Geniefsbares 
hineingetan, und indem sie ihn mit der Kaidaune ins Gesicht 
schlägt, verspottet sie ihn noch: 

So ifs nur, Herr Grammatikus, Grammatikus und Schreiber, 
Grammatikus und Philosoph, du Eingeweidausspüler! 
Es war' dir besser, wenn du hier von deiner Tinte äfsest. 
Als von der schmutzigen Kaldaun' geblähtem Trommelfell. 



— 55 — 

Ein andermal weifs er sich in eine Tischgesellschaft zu 
drängen und den Moment zu benutzen, wo diese durch einen 
plötzlichen Krach erschreckt auseinanderstiebt, um sich über den 
Braten herzumachen ^ worauf er als Silndenbock die Hauskatze 
auf den Tisch setzt. Als Pechvogel, der er ist, sticht er sich 
mit einer vom Schuster gekauften Ahle, mit der er seine zer- 
rissenen Stiefel instandsetzen will, durch die Hand und mufs 
einen Monat lang das Bett hüten. In seiner Familie spielt er 
die Rolle eines elenden Pantoffelhelden, den seine Frau prügelt 
und seine Kinder die Treppe hinunterwerfen. Und alles das 
mufs er erdulden, weil ihn sein Vater für die Wissenschaft 
bestimmt hat, die ihn nicht ernähren kann, und für die er nach 
seinem eigenen Geständnis auch keine Begabung hat. Er fühlt, 
dals er seinen Beruf verfehlt hat, und ergeht sich in vorwurfs- 
vollen Klagen über die brotlose Philosophie, die ihn dem Ver- 
hungern überliefert: 

Hunger und wieder Hunger, schreib' ich zum zweiten Mal, 
Lafs mich doch jetzt in Ruhe, wo ich kein Brot mehr hab'; 
Halt ein, bis ich was borge: unbändig ist er schier. 
Wenn heute einer Brot hat und auch noch was dazu. 
Nur der ein Philosoph ist, ein Rhetor, Kalligraph. 
Was hilft's nun, dals ich lernte Bücher der ganzen Welt 
Und habe nichts zu beifsen und esse mich nicht satt? 
Gknz gut war' schon Libanius, gab' es nur Gold dafür! 
Man gab mir den Homeros, ich kam vor Hunger um. 
»Lerne Appian,« so hiefs es, »dann fürchte Hunger nicht.« 
Wie ich Appian nun lernte, da bläht' ich stolz mich auf: 
Flieh, Armut, zu den Bauern, geh zu den Dummen hin. 
Ich habe ja gelernet die reiche Wissenschaft, 
Appian hab' ich erworben, drum furcht' ich Hunger nicht. 
Da schenkt' mir jene mürrisch nur wenig ihre Huld. 
Wie dann auf meinen Wangen sich Hunger nistet' ein. 
Kaum wie eine Kaidaune, so runzlig sah'n sie aus. 
Wenn ich Appian entbehrte und nahm' 'ne Bäckerei, 
Dann ging' es mir vortrefflich, hätt' ein Profitchen auch. 

Mit scheelem Blick sieht der arme Schulmeister und Feder- 
fuchser denn auch auf die einfachen Handwerker, die ihr gutes 
Auskommen haben, auf den Flickschuster in seiner Nachbar- 
schaft, der erst gut frühstückt und dann eine üppige Mittags- 
mahlzeit hält: 



— 56 — 

Er stopft sich voll mit Speisen, läfst kein Gericht vorbei, 
Indes ich geh* und komme, der Verse Fülse messend; 
Er labt aus grofser Kanne sich von dem süfsen Wein, 
Indes ich such' nach Jamben und nach Spondeen auch. 
Doch was hilft mir die Metrik, wenn Hunger mich zernagt? ■ 
Verskünstler ist wahrhaftig doch jener Schuster nur ! 

Was diesen Bettelpoesien einen eigenen kulturgeschichtlichen 
Reiz gibt, sind die kleinen Crenrebilder aus dem Stralsenleben 
der Plauptstadt, mit denen Prodromos seinen eintönigen Stoff zu 
beleben versteht. Indem er z. B., des Schulmeister- und Schrift- 
stellerelends satt, erwägt, wie viel besser es wäre, wenn er 
Schuster oder Schneider, Bäcker oder Milchhändler oder auch Tuch- 
verkäufer wäre, gibt er anschauliche Momentbildchen dieser 
Gewerbetreibenden, wie sie ihre Waren austragen und anpreisen, 
just wie noch heute die Strafsenhändler im Orient. Übrigens 
hat schon unter Kaiser Arkadios (395 — 408) ein gewisser 
Pallados 150 Epigramme über sein häusliches und litterari- 
sches Elend verfafst, die unser Prodromos wahrscheinlich ge- 
kannt und — benutzt hat. 

Einen Prodromos »in stark vermehrter und verschlechterter 
Auflage« nennt Krumbacher den ebenfalls sehr vielseitigen und 
geschäftigen Manuel Philes, der etwa hundert Jahre nach 
seinem »Vorläufer« den Hof der Paläologen unsicher macht und 
Kaiser, Hofbeamte und Patriarchen mit seinen Bettelversen ver- 
folgt. Sie tiberbieten an nichtswürdiger Schmeichelei und 
hündischer Kriecherei diejenigen des Prodromos noch erheblich; 
bei diesem blickt inmier noch ein naiv-gutmütiges Gesicht durch; 
man hat Mitgefühl mit ihm und bedauert den armen Schelm. 
Bei Philes aber wird die Muse zur frechen Dirne, vor der niemand 
sicher ist. Überall streckt er seine gierige Hand herein. In 
einer seiner Versifikationen bettelt er um einen Pfannkuchen in 
folgender unverfrorenen Weise: 

Zwei Pfannekuchen sende, bitte, zu uns her 
Durch deinen Diener, dessen Treue sich bewährt, 
Doch hab ein sorglich Augenmerk auf das Gewicht 
Und gib, o gnädiger Herr, mir deine Gabe voll! 

■,. .Ähnlich. erbettelt er sich in andern Poemen ein Pferd, Wild- 
ste Wein und einen russischen Pelzmantel. 



— 57 — 

Man sieht, dafs diese Spät-Byzantiner sich auf das materielle 
Schmarotzertum ebensogpit verstanden wie auf das litterarische: 
skrupellos stahlen und bettelten sie sich zusammen , was sie 
brauchten, sei es zum Leben, sei es zum Dichten. Freilich darf 
man nicht vergessen, dafs es arme, hungerleidende Schulmeister 
Wid Litteraten sind, deren soziale Not in dem an geistigen Be- 
dürfnissen offenbar ziemlich armen Byzanz noch gröfser zu sein 
schien als anderswo, oder, was wahrscheinlicher ist, die bei dem 
ungesunden Hange zur Gelehrsamkeit bei den Byzantinern zu 
zahlreich waren und ein geistiges Proletariat bildeten, ähnlich 
wie noch bei den modernen Griechen. 

Das gleiche Mifsgeschick hat einem anderen hungernden 
Schulmeister, Michael Hapluchir am Ende des 12. Jahrhunderts 
ein ganzes dramatisches Gedicht in die Feder diktiert, das künst- 
lerisch wertlos, kulturgeschichtlich wieder von hohem Interesse 
ist. Zwischen einem Bauern und einem Gelehrten entsteht Streit^ 
weil der Bauer die Glücksgöttin preist, während der Gelehrte 
sie schmäht. Diese tritt ein und verwahrt sich gegen die 
Schmähungen, die vielmehr den Musen zukommen. Kaum gesagt, 
klc^fen diese an die Tür; doch der Gelehrte will sie nicht 
hereinlassen; »was nütze ihmc, so meint er, »all sein Wissen? 
das kaufe niemand auf dem Markte, und der Ruhm fülle seinen 
leeren Magen nicht ; er wünsche sich den Reichtum des Bauern . . . ; 
der Schuster oder Krämer wandle bei aller Dummheit mit ehren- 
vollem Geleite wie ein Fürst durch die Strafsen, während der 
Weise elend, arm und verlassen bleibe«. Nachdem die Musen 
doch eingetreten sind, erbarmen sie sich schlief slieh seiner, 
obwohl er sie erst hinausjagen will, und verheifsen ihm grofsen 
Reichtum, — eine Verheifsung, die der arme Schulmeister jedoch 
sehr skeptisch aufnimmt. — Das äulsere Vorbild zu diesem 
»Spajjiatiov« hat offenbar Tzetzes in der Mitte des 12. Jahr- 
hunderts geliefert, der ein ganz ähnliches dialogisches Gedicht 
verfafst hat* 3). 

Eine dritte, in der späteren Zeit sehr häufige uiid charak- 
teristische poetische Gattung bildet das moralische Lehr- 
gedicht. Es entsprach offenbar der schulmeisterlichen Neigung 
jener Zeit, wohlgemeinte Ratschläge, Vorschriften und Regeln 
für das Verhalten im öffentlichen und privaten Leben in poetische 
Form ^M giefsen und mit philosophischen Maximen zu würzen. 




— 58 - 

Freilich ist es mit der Moralität, die hier gepredigt wird, meistens 
schwach bestellt: es ist echt byzantinische Moral, rationalistisch, 
utilitarisch, opportunistisch, die lediglich auf blolse Welt klug heit 
und iiufseren Erfolg abzielt, mit wirklicher, philosophischer Welt- 
weisheit aber wenig zu tun hat. 

Das klassische Muster dieser Lehrgedichte ist der in mehreren 
Fassungen überlieferte sog. Spaneas, eine auf des Pseudo- 
Isokrates Rede an Demonikos beruhende Mahnpredigt des Alexios, 
des Sohnes von Johannes Komnenos, an seinen Neffen. Obwohl 
also aus höfischer Sphäre hervorgegangen, ist dieses Gedicht doch 
in der damals, im 12, Jahrhundert, mit Gewalt hervorbrechenden 
Volkssprache verfafst und eins ihrer illtesten Denkmäler. Der 
eigentliche Wert des Poems liegt, aulser in seiner Sprache, in 
seiner sittengeschichtlichen Seite: es spiegelt sich darin tdas 
byzantinische Wesen mit seiner Ränkesucht, seiner Scheu vor 
offenem Handeln, seinem Mifstrauen und seiner mit Frömmig- 
keit übertünchten Frivolität*. Freilich gilt das noch nicht so 
sehr von dem Gedicht des Alexios, das immer noch in einem 
ziemhch aufrichtigen Ton wahre christliche Nächstenliebe predigt 
und häufige Beispiele aus der Bibel heranzieht, als von den zahl- 
reichen vergröberten Bearbeitungen des Originals, wie die unter 
dem Titel sUnterweisung des Salomon an seinen Sohn Roboame 
gehende. Die darin wie in einer Folge von Paragraphen auf- 
gestellten Regeln sind teils so selbstverständlich für jedes gesunde 
sittliche Empfinden, dafs es ein bedenkliches Licht auf die byzan- 
tinischen Zustände wirft, wenn sie überhaupt noch eigens hervor- 
gehoben werden, teils bestätigen sie das obige harte Urteil 
durchaus. 

Aus späterer, nachbyzantinischer Zeit sind noch mehrere 
Ableger dieser Gattung zu nennen: eine blofse Verwässerung 
des Spaneas ist zunächst das breite und banale Lehrgedicht des 
Lapithes oder Lapethis, der besonders für das Familienleben 
lange moralische Rezepte aufstellt. Am Ende des 15. und am 
Anfang des 16, Jahrhunderts, also schon in der Venezianerzeit, 
sind es zwei im Dienste aller Sünden ergraute Lebemänner, die 
sich zu Sittenpredigern aufschwingen. Der erste ist der Kreter 
Stephanos Sachli kis, der seine wenig erbaulichen Lebens- 
erfahrungen zu einem Mahngedicht verarbeitet, das er an den 
Sohn eines Freundes richtet, und in dem er, halb mit Behagen, 



— 59 — 

halb mit Abscheu , das Treiben der öffentlichen Dirnen in den 
Städten Kretas schildert. Direkt von diesem beeinflulst ist 
der Zantiote Markos Depharanas, der mit dem gleichen 
Thema und in demselben lasziven Ton sich zur Belehrung an 
seinen Sohn wendet Beide Stücke enthalten ein für die 
Beurteilung der Kulturverhältnisse jener 2^it lehrreiches 
Material. 

Ein reinerer, von wirklich sittlicher Überzeugimg erfüllter 
Ton spricht endlich aus den beiden poetischen Mahn- und Bufs- 
predigten des Marino Falieri und des Emanuel Geor- 
gillas. Das erstere ist stark theologisch, abstrakt, auf Über- 
windung der Welt gerichtet und von ermüdender Breite; das 
letztere ist entstanden auf Rhodos nach der grofsen Pest 1498/99 ; 
es stellt dieses Ereignis dar als ein Strafgericht des Himmels 
über die sündhaft üppige, raffinierte Lebensweise der Einwohner 
und zitiert die alten Philosophen und ihre Aussprüche, um sie 
wieder auf den Weg der Tugend und Mäfsigkeit zu lenken. So 
werden Plato und Aristoteles als Zeugen für die geschlechtliche 
Enthaltsamkeit angerufen. Kulturgeschichtlich interessant ist 
namentlich die Stelle, wo das Kostüm der rhodischen Damen und 
ihre Putzsucht beschrieben werden'*). 

Als ein merkwürdiges »Menetekel« auf die immer bedenklicher 
und düsterer drohende Gefahr des Untergangs der »Stadt« und 
damit des Reiches erweisen sich eine Reihe orakelhafter, das 
nahe Ende der byzantinischen Welt prophezeiender Weis- 
sagungen aus den letzten Jahrhunderten, die man, um ihnen 
mehr Gewicht zu geben, mit Vorliebe unter der Flagge berühmter 
Fürsten des Staates und der Kirche segeln liels. So gab es 
Orakel unter dem Namen des Propheten Daniel, des Methodios 
von Patara und besonders des Kaisers Leon VI., des Weisen, aus 
der makedonischen Dynastie (886—911), Wenn man gerade 
auf ihn verfiel, so geschah das wohl in wehmütiger Erinnerung 
an das Blühen und Gedeihen des Reiches unter seiner Regierung. 
In geheinmisvoUer Sprache wird darin auf die lateinische wie 
auf die türkische Eroberung von Konstantinopel , dem neuen 
Babylon, angespielt. Ein wie grolses Publikum diese Orakel- 
litteratur fand, geht aus der grofsen Zahl von Bearbeitungen 
hervor, die diese Leo-Orakel in der Volkssprache fanden. 
Zu diesen in Versform gehaltenen Weissagungen konmit noch 



- 60 - 

eine prosaische des hl. Andritzopulos, die ebenfalls das jEnde des 
Byzantinerreiches in Aussicht stellt. 

Unter diese paränetischen Gedichte lassen sich auch einige" 
an historische Ereignisse anknüpfende Versifikationen einordnen. 
Deön an eigentlich historischen Dichtungen ist die byzantinische 
Litteratur auffallend arm. Nur G. Pisides hat einige kriege- 
rische Ereignisse aus der Zeit des Heraklios poetisch zu gestalten 
gesucht. Der Grund davon mag teils der sein, dafs' man bei 
der dinehin schon geringen Zuneigung der Byzantiner zu ihren 
Fürsten, sowie bei dem Mangel an nationalem Empfinden kein' 
Bedürfnis fühlte zur poetischen Verklärung historischer Personen 
und Ereignisse, teils aber und hauptsächlich wohl der, dafs alles 
historische Interesse der Zeit absorbiert wurde durch die reich 
entwickelte iiistorische Geschichtschreibung in Prosa , auf die 
einzugehen hief nicht der Ort ist. 

Die einzige historische Gestalt imd das einzige historische- 
Ereignis, dessen sich die Vplksphantasie bemächtigte, waren 
Belisar und die Eroberung von Konstantinopel durch 
die Türken; eine Figfur aus der Zeit der höchsten äufseren Macht- 
entfaltung des Reiches und dann der Fall dieses Reiches, — 
beides hat sich in der Phantasie des Volkes am tiefsten fest- 
gewurzelt und im Liede fortgewirkt. Freilich* mit einem Unter- 
schiede, der durch den grofsen Unterschied der Zeit bedingt ist : 
der ruhmreiche Feldherr Justinians zu Beginn des grofsen Dramas' 
der byzantinischen Geschichte überlebte diese im Gedächtnis des 
Volkes nicht. Fragt man etwa einen heutigen griechischen Bauern,' 
ob er wisse, wer Belisarios war, so wird er gewifs den Kopf; 
weit zurück- und die Augenbrauen hoch emporziehen, zum 
Zeichen der Verneinung. Es ist überhaupt merkwürdig, dafs 
aufser Konstantin d. Gr. imd dem letzten Paläologen, also dem 
ersten und dem letzten Kaiser von Byzanz, nicht ein einziger 
auch von den späteren im Volksbewufstsein lebendig geblieben 
ist, — ein Beweis, wie wenig die äufsere Geschichte von Byzanz 
sich deckte mit der inneren Geschichte des griechischen Volkes 
im Mittelalter. Nur vom Falle der »Stadt« erzählt noch heute 
das Volkslied. 

Belisar ist also heute nicht mehr lebendig, war es aber 
in spätbyzantinischer Zeit sicher; damals wenigstens entstanden die 
ersten über ihn erhaltenen sagenhaften -Geschichten. Doch mufs 



— 61 — 

er natürlich schon lange vorher eine sagenhafte Gestalt geworden 
«sein, wenn es auch nicht sicher ist, wann. Die Erzählung von 
seiner Blendung und Verbannung stammt aus dem 10. Jahrhundert. 
^Dieser Zug kehrt nun auch in der in drei Bearbeitungen vor- 
liegenden volkstümlichen Belisargeschichte wieder, die erst kurz 
vor dem Falle des Reiches, wahrscheinlich als warnendes Beispiel 
bei der drohenden Gefahr, verfafst wurde. Denn das ganze 
Gedicht sollte offenbar die verderbliche Zwietracht und den Neid 
^er Byzantiner brandmarken, als deren Opfer Belisar dargestellt 
rWird. £s ist also mehr ein tendenziöses Zeitgedicht, ein Wamungs^ 
Signal vor dem Sturm als- eine Verherrlichung des Helden. 
Dieser diente mehr als Mittel zu einem grolsen Zwecke, als ein 
Schatten^ den man in der Stunde der Gefahr beschwor. Das 
Werk lälst sich also eher als eine Art historisches Lehrgedicht 
l>ezeichnen und sich daher passend den eben skizzierten an- 
schlielsen. Auch beschränkt sich sein Wert fast ganz auf das 
Kultur- und sagengeschichtliche Interesse. 

Nachdem nun endlich der Fall des Reiches trotz aller warnen- 
den und mahnenden Stinmien nicht mehr abzuwenden' und zur 
.Erfüllung geworden war und man nichts . mehr dagegen tun 
konnte, kamen die Priester, die nicht zimi wenigsten das Unheil 
jdxarch. die imgesunde Vermehrung ihres , Standes verschuldet 
Ratten, und verfalsten in meist widerlich jammervollem Tone 
politische Klage- und Bettellieder — Gottlob die letzten — , be- 
stimmt, die europäischen Mächte -zu erweichen und sie in hilfloser 
Demütigung zur Rückeroberung der »Stadt«, sowie zu einer schon 
von den letzten byzantinischen Kaisem vergebens betriebenen 
Wiedervereinigung der griechischen und rönaischen Kirche zu 
bewegen. 

Zu einem so verzweifelten, weil gänzlich aussichtslosen 
Schritte entschlols sich nach der Katastrophe noch einnial ein 
offenbar dem geistlichen Stande angehörender Patriot^ der in 
einem über tausend Verse langen Klagegedicht auf Kon- 
stantinopel ein zwar völlig poesieloses, aber von heiligem Zorn 
imd tiefer Erregung, wenn auch malsloser Redseligkeit erfülltes 
Pamphlet geliefert hat. Indem der Verfasser von seinem eigent- 
lichen Zweck , Fürsten und Völker Europas für die Sache des 
jChristentimis , die Vertreibung der Türken zu gewinnen, immer 
wieder, wie ein steuerloses Schiff, abgetrieben wird, verliert er 



— 62 - 

sich bald in lange Schilderungen der letzten historischen Ereig- 
nisse, bald in zornige Strafreden tiber das von seinem Volke 
selbstverschuldete Unheil, bald in erschtittemde Klagen über den 
schweren Verlust. Alles das überstürzt sich in atemloser, fast 
fieberhafter Ruhelosigkeit und wird immer wieder unterbrochen 
durch die — man kann sagen — Agitationsreden, die in halb 
flehendem, halb ängstigendem Tone an Europas Fürsten und 
Völker gerichtet werden. Man befindet sich da in einem be- 
ständigen Strudel; in 24 Abschnitten werden fast ebenso oft die 
selben EHnge wiederholt: Verurteilung der Taten des letzten 
byzantinischen Kaisers, dann seine Rechtfertigung und Abwälzung 
der Schuld auf die gleichgültigen europäischen Mächte, dazwischen 
eine Klage über die Sophienkirche und eine Schilderung der Ge- 
fangenen, Selbstanklagen, abermalige Aufforderung zum Kreuz- 
2\ige gegen die Türken, erst an die ganze Christenheit, mit dem 
Papst an der Spitze, dann, als besonders interessiert, an Venedig 
und Genua, hierauf an Frankreich, England, an den Herzog von 
Burgund, an Provengalen, Spanier und Portugiesen. Unterbrochen 
wird dieses Liebeswerben durch Anflehung der Planeten, ihr 
Licht zu verhüllen, dann durch geschickte Ausmalung des 
türkischen Schreckgespenstes und seiner Gefahr für Europa. 
Danach wendet sich der Unermüdliche mit neuer Kraft an den 
König von Ungarn, an Wlachen und Serben, endlich, alle nochmals 
zusammenfassend, an den Papst mit der Bitte, die Eintracht unter 
ihnen herzustellen und sie in Rom zu versammeln: 

Frankreichs und Englands Edle, eilt, in Rom euch zu versammeln, 
Auch ihr, geschickt zu Rat und Tat, verständige Venezianer; 

Ihr Portugiesen, bleibt nicht aus und keins der Frankenvölker! 
Auch Spanien darf nicht seine Macht, nicht seinen Beistand sparen. 
Mannhaftes Volk Italiens, erlauchtestes auf Erden, 
Vor allen Genueser, ihr, die's härter traf als andre, 
Eilt, die verlornen Häuser dort euch wieder zu erobern. 

Im 16. Stück wird nochmals an den Papst appelliert und die 
Ttirkengefahr, wie in der Apokalypse, als ein sechsarmiger 
Feuerstrom geschildert, der sich über den ganzen Balkan er- 
giefse. Daran schliefst sich wieder eine warnende Schilderung 
der Türkenmacht und eine reuevolle Selbstanklage: 



— 63 — 

Ja, unsrer Sünden Menge hat das Unheil herbeschworen: 

Um ihrer argen Frevel fiel sie in der Türken Hände. 

Der bösen Christen Ränke nur, all* ihre Übeltaten, 

Die Meutereien, der Lug und Trug, samt ihren andern Tücken, 

Sind schuld, dafs wild der Feuerstrom sich in Byzanz ergossen. 

Fürwahr, der Christen eignes Tun und jenes eitle Blendwerk 
Getäuschter Hoffnung richtete das Reich Neuroms zu Grunde; 
Sonst konnten nie ja solcher Stadt die Türken Herren werden! 

Nachdem der Verfasser noch einmal dem Leser ins Ge- 
wissen geredet und die Seelenqualen ^ die er beim Nieder- 
schreiben ausgestanden ; offenbart hat^ nimmt er plötzlich das 
über die Macht der Türken CJesagte zurück, um aber gleich 
darauf, wie bereuend, ihre Streitkräfte genau aufzuzählen. 
Nach einer den Kleriker verratenden christlichen Ermahnung 
muls nun auch der Byzantiner zu seinem Recht kommen ; darum 
fährt er fort: 

Doch habt ihr erst das Werk vollbracht, den Hund hinausgeworfen. 
Habt ihr gewonnen Sieg und Ruhm, dazu die reiche Beute, 
Alsdann gedenket meiner auch, der dies für euch geschrieben, 
Der ich das Unheil von Byzanz im Trauerliede feire. 
Der ich die Tinte mische mit des Jammers bittern Tränen 
Und seufzend und zerknirschten Sinns die Feder kaum noch halte. 

(EUissen.) 

Trotzdem kommt es dem Redseligen auf einige Wieder- 
holungen nicht an, und ehe er schliefst, wendet er sich bezeich- 
nenderweise nochmals an das mächtige Venedig, das er mit Lob 
und Schmeicheleien überhäuft (v. 870—934), und auf das er 
Gottes Segen herabfleht. Zum Schlufs entwirft der Viel- 
gewandte noch einen Feldzugsplan und gibt den Weg an, den 
das Heer ziehen mufs, um möglichst viele Christen zu befreien, 
dankt Gott, dafs er ihm den Geist für die Arbeit wachgehalten, 
und bittet um Verbreitung seines Werkes in möglichst vielen 
Exemplaren. Seinen Namen will er bescheiden und — weise 
verschweigen. 

Gegenüber diesem versifizierten , für die Geschichte der 
orientalischen Frage wertvollen Pamphlet eines echt byzantini- 
schen Diplomaten im Priesterkleide gibt ein kleines Gedicht auf 
den Fall der Stadt ein wirklich poetisches Stimmungsbild von 
dem Eindruck des Ereignisses auf die Gemüter. Es ist ein Zwie- 



- 64 — 

gespräch zwischen zwei Schiffen, die einander begegnen und 
sich die erschütternde Kunde mitteilen. Es ist darin nichts von 
schwächlicher Sentimentalität und kraftlosen Klagen, höchstens 
eine resigniert-schmerzliche Stimmung»**). Auch diese fehlt und 
wird ersetzt durch eine männlich- zuversichtliche Haltung in 
den neugriechischen Volksliedern, die diesem Thema gewidmet 
sind und von denen eins in die verheifsungsvoUen Worte 
ausklingt: 

Fasse dich, o heiPge Jungfrau, Bilder, eure Tränen stillet! 
Euer wird es wieder werden, wenn die Zeit und Stund' erfüllet! 

(Lübke.) 

Diese Sehnsucht nach dem Besitz von Konstantinopel ist 
einer der wenigen Züge , in denen die heutigen Griechen einem 
byzantinischen Ideale treu geblieben sind, zugleich aber durch 
die Art des Ausdrucks dieser Klage einer von den vielen, in 
denen sich byzantinisches und griechisch-volkstümliches Wesen 
voneinander scheiden. Dieser Unterschied wird uns erst im 
folgenden Kapitel recht deutlich zum Bewufstsein kommen. 



ZWEITES KAPITEL. 

Von der byzantinischen zur neugriechischen 

Litteratur. 



Was im vorhergehenden als byzantinische Litteratur auf- 
gefafst und betrachtet wurde, das war die Litteratur, wie sie in 
dem Milieu der Hauptstadt Byzanz selbst entstanden war: in 
dem christlichen Milieu der Sophienkirche, in dem scholastisch - 
theologischen des Studionklosters , in dem höfischen des 
Blachemenpalastes und in dem plebejischen der Gasse und des 
Hippodroms, Damit war aber die poetische Produktion der 
byzantinischen Zeit überhaupt bei weitem nicht erschöpft, im 
Gegenteil: diejenige Litteratur, die uns am meisten interessiert, 
die die Stimme des Volkes wiedergibt, des Volkes, das da er- 
hoben und unterhalten, erfreut und gerührt sein will, das da 
hören will von heiligen Wundem, von tapferen Heldentaten, von 
Liebesfreud' und -Leid, von den Wonnen des Lebens und den 
Schauem des Todes, — diese Litteratur darf man nicht in Byzanz 
suchen, dem theologischen, klassizistischen, kosmopolitischen und 
rationalistischen Byzanz, dessen Gesellschaft nicht wufste, nicht 
wissen wollte, was für unerschöpfliche Kräfte draufsen im Lande, 
im Herzen des naiven Volkes schlummerten, die dem Empfinden 
und Denken des Volkes, seinen Liedern und seiner Sprache ent- 
fremdet war und die an dieser Selbstentfremdimg geistig zu 
Grunde ging, lange bevor noch die Mauem Konstantinopels 
fielen. Sahen wir doch, dafs schon im 11. Jahrhundert die Todes- 
stunde der byzantinischen Litteratur geschlagen hatte, und dafs 
ihr scheinbares Weiterleben eben nur Schein war. Aber Byzanz 

Dietericb, Gesch. d. byzant. n. neugrierh. Litteratur. 5 



- 66 — 

war noch nicht das byzantinische Reich, dieses noch nicht der 
Inbegriff der Völker, die es umfalste ; trotz aller Zentralisierung 
war noch Raum genug da zur Entwicklung jugendlicher Neu- 
bildungen , nicht im Zentrum , sondern an der Peripherie. Es 
wäre grundfalsch, anzunehmen, dafs mit dem zerbröckelnden 
byzantinischen Kolofs auch dessen Völker einem unheilbaren 
marasmus senilis verfallen wären, vor allem das Volk, das den 
Grundstock des Reiches bildete, das griechische. Ganz im Gegen- 
teil beobachtet man vielmehr, dafe dieses infolge seiner geistigen 
und physischen Berührung erst mit dem französischen Ele- 
ment, das sich nach der lateinischen Eroberung (1204) auf dem 
griechischen Boden festsetzte , dann mit dem italienischen, 
das sich über den Archipel ergofs, als das mächtige Venedig 
seine Hand darauf legte (seit dem 14. Jahrhundert), — dafe das 
Griechentum nun erst recht aufleben und seine lange verküm- 
merte poetische Begabung wieder zur Geltung bringen konnte. 
Denn der Bann von Byzanz, diesem Todfeinde alles Volkstüm- 
lichen und Individuellen, war ja gebrochen, und die äufserliche 
Fremdherrschaft wurde zu einer geistigen Befreiung imd Be- 
fruchtung, der gegenüber die byzantinische Zeit als eine Tyrannei, 
als »eine babylonische Gefangenschaft des griechischen Geistes« 
erscheinen mufste ; denn die Franken knechteten nur die Leiber, 
Byzanz aber bedeutete eine Knechtschaft der Seelen. 

Was wir also jetzt beobachten, ist das Erwachen eines volks- 
tümlichen Geistes in der Poesie unter dem Hauche der geistig 
überlegenen Kulturwelt des romanischen Occidents. Ein wich- 
tiger Unterschied ist aber in dem Wesen der französischen und 
der italienischen Einwirkung zu bemerken. Nicht in dem, was 
das Frankentum dem erstarrenden Griechentum von den Äulser- 
lichkeiten seiner Kultur mitgeteilt hat, sehe ich die Bedeutung 
seines Einflusses; das war nur vorübergehend. Die Hauptsache 
ist vielmehr, dafs durch die Berührung mit dem französi- 
schen Wesen alte, latente, nur schlummernde Kräfte im griechi- 
schen Volke ausgelöst und geweckt wurden. Das Frankentum 
hat diese Kräfte nicht selbst gezeugt, sondern ihnen nur zum 
Leben verholfen. Die Einwirkung war durchaus innerlicher Art ; 
daher auch in dieser ganzen Zeit des 13. und 14. Jahrhunderts 
keine äufserlichen sprachlichen oder litterarischen Einflüsse wahr- 
zunehmen sind: altfranzösische Lehnwörter sind nur ganz ver- 



- 67 — 

einzelt im Neugriechischen nachzuweisen, und auch dann nur 
dialektisch. Auch lassen sich für die wenigsten litterarischen 
Werke dieser Zeit direkte altfranzösische Vorlagen feststellen. 
Man gewinnt daher den Eindruck, dals nur eine innerliche Be- 
fruchtung des griechischen Wesens durch das französische statt- 
gefunden hat, die lediglich eine Veredelung der Phantasie- und 
Gemtitswelt bedeutete. 

Anders in der Periode italienischen Einflusses im 16. 
xmd 17. Jahrhundert. Hier überwog der auf serliche, rein litte- 
rarische Einfluss den allgemein ästhetischen bei weitem. Das ist 
schon an der grofsen Menge italienischer, meist venetianischer 
Lehnwörter im Neugriechischen zu erkennen, sodann an der 
grofsen Zahl litterarischer Vorbilder, die den meisten griechi- 
schen Werken dieser Zeit zu Grunde liegen, und die daher ihre 
Selbständigkeit stark beeinträchtigt, endlich an dem seit dem 
16. Jahrhundert auch in die griechische Poesie eindringenden Reim. 

So hat der italienische Einflufs den französischen glücklich 
ergänzt, indem er zu der Veredelung der poetischen Empfindimg 
die Bereicherung des poetischen Stoffes und die Ausbildung der 
poetischen Form gesellte, und man mufs anerkennen, dafs die 
Bertihnmg mit dem Romanentum in jeder Weise für das Griechen- 
tum gewinnbringend war, vor allem dadurch, dafs sie dessen 
Fühlung mit dem europäischen Westen, die immer mehr ver- 
loren zu gehen drohte, wiederherstellte. Es beginnt mit der 
Invasion romanischen Wesens jene kulturgeschichtlich so an- 
ziehende Entwicklungsperiode des neueren Griechentums, die 
noch heute nicht abgeschlossen ist: die Periode seiner 
Europäisierung als Gegenwirkimg gegen seine im Verlauf der 
acht Jahrhunderte byzantinischer Geschichte *) erfolgte Orientali- 
sierung. 

Damit ist natürlich nicht gesagt, dafs nun das Griechentum 
■dem Orient und seiner Kultur völlig entrissen wurde ; dazu war 
dieser zu tief in sein Wesen eingedrungen ja, man kann sagen: 
eingeschmolzen. Wenn wir daher in den volkstümlichen Dich- 
timgen des griechischen Mittelalters auch zahlreiche orientalische 
Elemente, zumal in einzelnen Motiven, beobachten, so sind dies 



*) Wenn man, wie es von unserem Standpunkte billig ist, die 
byzantinische Periode nur bis zur lateinischen Eroberung datiert. 

5* 



— 68 — 

doch, im Gegensatz zu den romanischen, lediglich Reminiszenzen 
einer abgelaufenen Zeit, Überreste der Vergangenheit, nicht 
Merkmale der Zukunft. Immerhin sind sie so stark, dals sie 
neben den romanischen eine besondere Betrachtung verdienen, 
und man kann nun diese beiden fremden Bestandteile der mittel- 
alterlichen griechischen Litteratur als zwei Kulturschichten be- 
zeichnen, die zu verschiedenen Zeiten das Griechentimi durchsetzt 
haben, und zwar merkwürdigerweise gerade dann, wenn in 
Byzanz die aristokratische Geistesrichtung einen Höhepunkt er- 
reicht hatte: auf die Periode der gelehrten Bestrebungen eines 
Konstantin Porphyrogennetos und eines Photios erfolgte von 
Osten her eine volkstümliche Invasion, die mit dem Eindringen 
einiger Produkte orientalischer Legende das einzige natio- 
nale Epos der Mittel griechen zur Reife brachte. Und in das 
13. und 14. Jahrhundert, die Zeit der sprachlichen und litterari- 
schen Renaissance der Paläologen, fällt jene folgenreiche Be- 
rührung des Reiches mit dem romanischen Westen, als Folge 
der lateinischen Eroberung und der Errichtung fränkischer Herr- 
schaften im Peloponnes und auf den Ägeischen Inseln, die eine 
nationale lyrische Dichtung hervorgerufen hat. Die Vereini- 
gimg beider genannten Richtungen aber, der orientalischen 
und der romanischen, mit dem griechisch-hellenisti- 
schen Volksgeiste hat endlich die duftige Blüte der neugriechi- 
schen Volkspoesie hervorgetrieben, als deren erster litterarischer 
Niederschlag daher jene ganze poetische Produktion zu betrachten 
ist, die im 13. Jahrhundert an die Oberfläche tretend, im 
16. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. 

Jene beiden Strömungen sind also nicht etwa die Quellflüsse, 
aus denen sich der Strom der neugriechischen Poesie bildet, 
sondern es sind gleichsam Nebenflüsse, die sich mit einem 
gröfseren Flufslaufe vereinigen. Und dieser Flulslauf hat, wie 
schon in der allgemeinen Übersicht angedeutet wurde, seine 
Quelle in dem volkstümlichen Boden der hellenistischen Zeit. 
Dies geht nicht nur aus der parallelen Entwicklung der Sprache 
hervor, deren Neubildung ebenfalls in der hellenistisch-alexandri- 
nischen Zeit erfolgte, sondern auch aus gewichtigen inneren 
Übereinstimmungen in der poetischen Empfindungsweise des aus- 
gehenden Altertums und des griechischen Mittelalters, sowie 
auch aus dem Fortleben damals entstandener poetischer Stoffe. 



— 69 — 

Die eingehendere Erörterung dieser Übereinstimmungen muls 
freilich der historischen Betrachtung der Voikspoesie vorbehalten 
bleiben. Hier nur das Wichtigste. 

Was Erwin Roh de als das unterscheidende Merkmal der 
hellenistischen Poesie im Gegensatz zur altgriechischen hervor- 
hebt, ihre durch den Mangel an grolsen nationalen 
Stoffen bedingte idyllische Tendenz, ihr Sich-zurück-ziehen 
aus der Welt der Tat in die Welt der Empfindung und 
seelischen Leidenschaft, ihr schwärmerisch-sentimentales 
Naturgeftihl, dem »die stumme Natur mit der gequälten 
Menschenseele zu klagen« scheint *5)^ das ist auch der griechischen 
Volkspoesie des Mittelalters und der Neuzeit eigen. Es ist, als 
ob von jeder dieser Eigentümlichkeiten etwas auf sie über- 
gegangen wäre. 

Zunächst fehlt es allen diesen Dichtem an den epischen 
Stoffen und daher an der epischen Technik. Was Rohde von 
den »Argonautika« des Appollonios sagt, dals anstatt auf die 
Belebung der Handlung zu plastischer Anschaulichkeit der Hauptton 
des Dichters auf die Schilderung der Seelenkämpfe der Medea und 
auf die einer leidenschaftlich sentimentalen Erregung falle, — diese 
Charakteristik trifft ebenso für die volkstümlichen Dichtungen des 
griechischen Mittelalters zu : auch denjenigen von diesen, die man 
als Epen bezeichnet, fehlt das eigentlich epische Element völlig. 
Es fehlt die einheitliche Komposition und daher die grolse Ge- 
samtwirkung, es fehlt auch an dem eigentlichen Lebenselement 
des Epos, an der Tatenfreude. Man sieht es deutlich : das spätere 
Griechentum hat die Tatkraft verloren; es hat keine grofsen 
Heldentaten, keine siegreichen Eroberungszüge zu verzeichnen. 
Die ganze byzantinische Kriegsgeschichte gleicht einer grolsen 
Defensive, und auch diese ist nur in den günstigsten Fällen eine 
glückliche. Dazu kommt, dals das Griechentum den Begriff der 
Nationalität eingebüfst hatte: erst ein totes Glied der Despotie 
Byzapz, dann eine zerrissene Beute abenteuernder französischer 
Ritter, darauf wieder ein Glied des mächtigen Venedig, endlich 
ein Opfer asiatischer Despotie der Türken, — da kann nicht der 
stolze y starke Freiheitsbaum des nationalen Volksepos gedeihen, 
da können nur kleine, halbverborgene Blüten hervorbrechen, die 
nur selten sich zu kräftigeren Pflanzen, nie zu weitver- 
zweigten Stämmen entwickeln können. Es sind die kleinen Ge- 



— 70 — 

fühle des Beschaulichen, Sentimentalen, Idyllischen, die jetzt auch 
in der Poesie wie zu einer Art Stilleben zusammengestellt werden 
und auch die Wirkung eines solchen hervorbringen : viele schöne 
Früchte und Blumen, zu bunten Farbenmassen durcheinanderge- 
schüttet, deren Schönheit man aber doch erst recht schätzen kann, 
wenn man sie aus dem Gewirr des Ganzen herauslöst und für 
sich betrachtet. Und das ist die weitere künstlerische Folge jenes 
tatenlosen In-sich-selbst-versinkens des griechischen Volkstums 
vom späten Altertimi durch das Mittelalter hindurch bis in die 
neue Zeit : seine Poesie kann es nicht mehr zu Massenwirkungen, 
sondern nur noch zu Einzelwirkungen bringen. Wie im politischen 
und sozialen Leben, so fehlt es auch in der Poesie an der organi- 
sierenden Hand, an dem Streben zum Ganzen, an der Totalität. 
Es sind kleine, enge Verhältnisse, aus denen diese Poesie heraus- 
gewachsen ist. Daraus erklärt sich teils der Mangel an grolsen 
epischen Dichtungen noch bei den heutigen Griechen, im Gegen- 
satz zu den Slaven, teils, wo solche in älterer Zeit vorhanden 
waren, der äufserliche, durch kein geistiges Band zusammen- 
gehaltene Charakter dieser Dichtungen. 

Alles das läfst sich an den volkstümlichen epischen Dichtungen 
der den antiken Geist im romantischen Sinne erneuernden 
Alexandriner nachweisen, nicht nur bei Apollonios und seinem 
Zeitgenossen Kallimachos, in deren Werken nur einzelne 
Episoden, nicht das Ganze poetische Wirkung haben, sondern in 
noch höherem Grade bei den nachchristlichen alexandrinischen 
Epikern, bei Heliodor, dann bei Musaeos, Quintus von 
Smyrna und am meisten bei dem gräzisierten Ägypter Nonnos. 
Sie alle arbeiten mit grolsen Massen und Stoffen, können aber 
diese Massen nicht mehr beherrschen und gehen nun ins Grenzen- 
lose, Unübersehbare. Sie kennen nicht mehr das Wort, dals das 
höchste Ziel des Künstlers das Mals ist. Das gilt namentlich 
von Nonnos, der in seinen »Dionysiaka« in 48 Büchern die 
Schicksale des Dionysos schildert, seine Geburt, seine Reise und 
Abenteuer in Indien, endlich seine Ankunft in Griechenland. 
Wäre das sparsam und mit weiser Beschränkung geschehen, so 
hätte gewifs ein Kunstwerk daraus werden können. Statt dessen 
marschiert die ganze bunte Armee der antiken Mythologie darin 
auf, so dals man meint, einer Parade beizuwohnen, nicht dem 
Siegeszuge des Weingottes. Die einzelnen schönen Stellen, die 



— 71 — 

das Werk zweifellos enthält, gehen in dem Getümmel völlig ver- 
loren. EHese Breite, sowie das Arbeiten mit antiken Reminis- 
zenzen werden wir in der volkstümlichen Dichtung des griechischen 
Mittelalters noch wiederholt, wenn auch nicht in demselben 
Grade; beobachten. 

Typisch sind die hellenistisch-alexandrinischen Dichter femer 
für die andere Eigentümlichkeit der spätgriechischen Poesie, für 
das sentimentale Schwelgen in Gefühlen und für die ebenfalls 
sentimentalen Gefühlsübertragungen auf die tote Natur. 

Auch diese am stärksten von den Bukolikem, also von 
Theo kr it imd seiner Schule ausgeprägte sentimentale Seelen- 
stinmiung erwächst aus dem passiven Charakter jener Zeit, die 
aus der Welt der Tat in die des beschaulichen Gedankens flüchtete, 
die der Natur nicht mehr objektiv gegenüberstand und daher 
auch nicht mehr jener objektivierenden Verkörperung der Natur- 
gewalten fähig war, wie sie der altgriechischen Phantasie so grols- 
artig gelang, dafür eine um so grölsere Vorliebe hegte für gleichsam 
subjektivierende Naturbeseelung, für beschauliche Spiegelung des 
Menschen in der Natur, kurz für die Ersetzung der Plastik durch 
allgemeine, mehr empfundene, als anschauende Stimmungsmalerei. 
Hatte in der altgriechischen Zeit der Mensch die Natur nach 
seinem Bilde verkörpert, so sucht er sie jetzt nur nach seinem 
Wesen zu beseelen; er läfst sie menschlich empfinden und 
handeln, ohne sie menschlich zu gestalten. Berge, Flüsse, Bäume 
werden ohne weiteres als vernünftige, fühlende und sprechende 
Geschöpfe gedacht, ohne dafs es einer äufserlichen Belebung durch 
anthropomorphe Wesen bedürfte. Es ist gleichsam eine nach 
innen gewandte Phantasie, die unmittelbar, ohne sinnliche Ver- 
mittlung wirken will, die also gänzlich verschieden ist von der 
antiken; es fehlt ihr »eine begeisterte Anschauung der Natur, 
das, wodurch die Aulsenwelt dem angeregten Dichter fast un- 
bewuf st ein Gegenstand der Phantasie wird«. (A. v. Humboldt.) 

Diese sensible Naturbeseelung ist also ein Merkmal des 
hellenistischen Griechentums und hat sich wie so viele andere 
desselben in das griechische Mittelalter fortgepflanzt und sich 
dann, wie wir noch sehen werden, in der neugriechischen Volks- 
poesie am üppigsten entfaltet. Hier sei nur kurz auf die Über- 
einstinmiungen zwischen der Dichtung des späten Altertums und 
des Mittelalters an einem Falle hingewiesen: Bei Theokrit und 



— 72 — 

Nonnos ebenso wie bei den volkstümlichen Dichtem des grie- 
chischen Mittelalters beobachten wir jene merkwürdige Teilnahme 
der Natur an den Geschicken des Menschen, wenn in einer Theo- 
kritschen Idylle (27,57) der Geliebte in dem Rauschen der Zjcpressen 
zu hören glaubt, wie diese sich von ihren Liebesfreuden erzählen ; 
oder wenn in den »Dionysiaka« des Nonnos beim Erwachen 
der Aphrodite die Eichen lispeln, die Steine brüllen, und die 
Wälder sich schütteln; so erfafst auch in dem gleich näher zu 
betrachtenden mittelalterlichen Liebesroman von Belthandros und 
Chrysantza selbst die seelenlosen Bäume ein Schauer bei den 
stürmischen Küssen der Liebenden. 

Und in diesem selben Gedicht wird eine Statue des Leander, 
des unglücklichen Opfers seiner Liebe zu Hero, erwähnt, womit 
das Fortleben dieses durch Musaeos so anmutig verewigten 
Stoffes auch in der Litteratur bezeugt wird, eines Stoffes, der 
noch in zahlreichen Trümmern auf dem Strome der neugriechischen 
Volkspoesie dahintreibt, und den man ebensogut wie »die letzte 
hinwelkende Rose aus dem Garten der altgriechischen Poesie c 
auch die erste Knospe der neugriechischen nennen könnte. 

Dieser Quellfluss, der sich aus dem Altertum her ergofs, 
nahm nun die beiden Zuflüsse von Westen imd Osten her auf. Wenn 
wir, im Widerspruch mit der Chronologie, zuerst die unter 
occidentalisch-romanischem Einflufs entstandenen Dichtungen be- 
trachten, so geschieht das, weil nur an diesen der eigentümUche 
Verschmelzungsprozefs zweier verschiedener Kulturen sich in 
seinen einzelnen Phasen studieren läfst-, denn das Eindringen 
orientalischen Wesens ist bei der ohnehin starken Verwandtschaft 
desselben mit dem byzantinischen weniger in seinem Ursprung 
als in seinem fertigen Ergebnis zu beobachten; er konnte sich 
daher auch nicht so sehr in der Aufnahme von fremden Kultur- 
anschauungen als von Kulturstoffen äufsem, auf die er sich im 
Mittelalter fast allein beschränkt. 

Es scheint mir kein Zufall zu sein, dafs die ersten Produkte 
der neuen Periode Romandichtungen sind, Mischprodukte aus 
dem fränkischen und dem byzantinischen Roman; sie sind gleichsam 
entstanden aus einer Aufpfropfung jenes auf diesen. War doch, 
wie wir sahen, der Roman diejenige Dichtungsform, die von den 
Byzantinern in der Komnenenzeit mit Vorliebe gepflegt wurde, 
wenn auch nur als plumpe Nachahmung des alexandrinischen 



— 73 — 

Sophistenromans. An diesen knüpft nun auch indirekt; durch 
Vermittlung des byzantinischen Romans^ der volkstünüiche Roman 
des griechischen Mittelalters an, wenigstens in der Technik 
und in einzelnen Motiven, während er in Auffassung und 
Empfindung durchaus den nun wieder hervorbrechenden helle- 
nistisch-romantischen Geist atmet. Auf den gelehrten Klassizismus 
folgte also auch hier die volkstümliche Romantik. Bedeutet der 
griechische Volksroman auch nur das letzte Aufflackern einer 
überlebten Kunstform, so hat er doch die Phantasie des griechi- 
schen Volkes neu entzündet imd die rein volkspoetische Pro- 
duktion vorbereitet. Der griechische Roman des Mittelalters ist 
also eine Synthese des alexandrinisch-byzantinischen und des 
mittelalterlich-französischen Romans auf volkstümlich-griechischer 
Grundlage, wie sie die hellenistische Zeit geschaffen hatte. 

Darin liegt die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Misch- 
dichtungen, dals darin alte und neue Elemente, orientalische und 
occidentalische , klassische und romantische, gelehrte und volks- 
tümliche, im Kampfe miteinander liegen, die sich dann im 
weiteren Verlaufe immer mehr abklären, teils durch Abstolsung 
des Alten und Gelehrten, teils durch Assimilierung des Fremden 
an das eigene Volkstum. 

Der älteste dieser Romane, »Kallimachos und Chrysor- 
rhoe«, der aus mehreren, noch heute im Volk erhaltenen Märchen- 
motiven zusammengeschweifst ist, erzählt in phantastischer Aus- 
schmückung, wie eine von einem Drachen gehütete königliche 
Jungfrau von einem Königssohn befreit, dann aber von einem 
anderen Prinzen geraubt wird, nachdem dieser ihren Befreier 
und Geliebten durch einen Zauberapfel in Todesschlaf versetzt 
hat; erst durch seine Brüder zum Leben zurückgerufen, gelingt 
es ihm, in Verkleidimg eines Gärtners seine Geliebte wiederzu- 
gewinnen, während die Zauberin, die dem Entführer den Apfel 
gegeben, auf Befehl von dessen Vater ztun Feuertode verurteilt wird. 
Wie man sieht, ist es das Schneewittchen-Motiv, das hier vor- 
liegt, auf orientalischen Boden verpflanzt und mit zahlreichen 
Zügen des byzantinischen Romanes ausgestattet, dem es auch 
zeitUch nahesteht, da die Bearbeitung wohl ins 13. Jahrhundert 
zu setzen ist. Romanische Einflüsse fehlen hier noch ganz, und 
der byzantinische Charakter überwiegt in Stil und Geschmack 
noch durchaus. 



— 74 — 

Anders in den beiden Romangedichten von »Belthandros 
und Chrysantza und von Lybistros und Rhodamne. 
Beide behandeln zwar auch phantastisch- romantische Liebes- 
abenteuer, imd zwar verläuft die Handlung in »Lybistros und 
Rhodamne« ganz ähnlich wie die in »Kallimachos und 
Chrysorrhoe« , wenigstens in ihrem Kern; dafs dieser in eine 
doppelte Htille eingekapselt ist, ist erst eine spätere Zutat und 
eine Reminiszenz des griechischen Sophistenromans. Die Haupt- 
momente aber stimmen überein : wie im »Kallimachos« ein Prinz 
eine Königstochter aus der Gewalt eines Drachens befreit, so 
hier von einem fränkischen Mitbewerber in einem Turnier; und 
wie dort die so Errungene von einem Prinzen durch List ent- 
führt wird, so hier von einem babylonischen Kaufmann ; auch ist 
in beiden Fällen eine Zauberin im Spiel. Den Schlufs bildet die 
glückliche Wiedervereinigung der Gatten. 

Etwas abweichender ist die Handlung in »Belthandros 
und Chrysantza«, und zwar geschickter, einheitlicher kompo- 
niert und psychologisch vertiefter. In der Erfindung scheint 
dieses Gedicht freilich ebensowenig originell zu sein wie die 
beiden übrigen ; man glaubt vielmehr deutlich das Durcheinander- 
spielen der kulturgeschichtlich verschiedenartigsten Stoffe und 
Motive zu bemerken; das biblische Motiv vom verlorenen Sohn, 
das orientalische des Zauberschlosses, das altgriechische vom 
Urteil des Paris, das hellenistische von Hero und Leander, end- 
lich das keltisch-romanische von Tristan und Isolde erscheinen 
darin geschickt zusammengeschweifst und zu einem wirkungs- 
vollen Ganzen gestaltet. Der eigentliche Kern der Handlung 
aber, die heimliche Liebe des Königssohns Belthandros zu der 
Königstochter Chrysantza, sowie die schlauen Verstellungskünste 
der letzteren^ scheint des Dichters eigene Erfindung zu sein. 
Der Inhalt ist kurz der : Belthandros, der seinem Vater verhalste 
}üngere Sohn des Königs Rodophilos, zieht in die Fremde auf 
Abenteuer aus; die auf den Rat des älteren Sohnes nach- 
geschickten Krieger suchen Belthandros vergebens zur Umkehr 
zu bestimmen; es kommt zu einem Kampfe, in dem er, ähnlich 
dem Helden Digenis Akritas, ihrer zehn mit der Keule tötet. 
Nach einem Kampfe mit Räubern in Kleinasien zieht er mit seinen 
drei Knappen durch Armenien und wird durch ein Stemenlicht in 
der Tiefe eines Flüfschens bei Tarsos bestimmt, die Quelle des 



— 75 — 

Flusses aufzusuchen. Nach zehn Tagen kommt er an ein 
Zauberschlols; eine Inschrift belehrt ihn, dals, wenn er eindringt, 
er von dem Geschols der Liebe getroffen werden würde. Er 
aber denkt nur an den Feuerschein und tritt in das Innere, das 
mit seiner Pracht ausfilhrlich beschrieben wird. Es ist das 
Schlols des Königs der Liebe, dessen Opfer in Skulpturen dar- 
gestellt sind. Seine Hauptaufmerksamkeit erregen zwei Statuen, 
die einer Frau und eines Mannes, letztere mit einem Pfeil im 
Herzen und beide mit Inschriften, die besagen, dafs er die Tochter 
des Königs von Antiochien, Chrysantza, liebe und beide fürein- 
ander bestinmit seien, dals aber Eros sie nach zwei Seiten 
getrennt habe. Zugleich bemerkt er, dafs der Feuerstrom 
Tränen waren, die aus den Augen der weiblichen Statue dringen. 
Nachdem er sich in sein Schicksal klagend gefügt und die Herr- 
lichkeiten des Liebesschlosses sich beschaut hat, wird er vor den 
König Eros geführt und mufs auf dessen Befehl ein Schönheits- 
urteil über vierzig Königstöchter fällen. Nachdem er alle bis 
auf drei durchmustert und wegen verschiedener körperlicher 
Fehler verworfen, trifft er nach längerer Prüfung seine Ent- 
scheidung. In der Rechenschaft, die er dem Liebeskönig ablegt, 
erhalten wir ein Bild von der Schönheit der Erwählten, worauf 
alles um ihn sich wie ein Traum auflöst. Er beschlielst nun, 
der Weissagung folgend, die ihm zugesprochene Chrysantza auf- 
zusuchen, kommt nach Antiochien, wird von dessen König auf einer 
Jagd als trefflicher Schütze erkannt und als Lehnsmann aufge- 
nonmien, um bald darauf in dessen Tochter die ihm verheilsene 
Geliebte wiederzufinden. Diese erwidert seine Liebe, doch bei 
einer nächtlichen Zusammenkunft mit ihr wird er ertappt und ein- 
gekerkert, aber durch eine List der Geliebten gerettet, indem sie 
bei dem Gericht, das der König über Belthandros abhält, ihre 
treue Zofe Phaedrokasa vorschiebt, die mm den Belthandros zum 
Schein heiratet, ganz ähnlich wie in der Tristansage Brangele 
die Stelle der Isolde vertritt, nur dafs es sich in dieser um den 
Ungeliebten, in unserem Gedicht um den Geliebten handelt, dort 
auf die Täuschung des Mannes, hier auf die der Welt abgesehen 
ist. Die Geliebten können nun ungestört miteinander verkehren, 
Belthandros aber fürchtet trotzdem Verrat und überredet 
Chrysantza, mit ihm zu entfliehen: »Ein Reich verlierst du. 
Holde, doch ein andres sollst du finden.« Auf der Flucht müssen 



— 76 — 

sie über einen angeschwollenen Strom setzen, wobei nur Belthan- 
dros das andere Ufer gewinnt, während Phaedrokasa ertrinkt, 
Chrysantza ans Ufer zurtickgeschleudert wird. So war der 
Spruch der Liebesbnrg in Erfüllung gegangen, dafe die Geliebten 
durch die Liebe nach zwei Seiten getrennt werden würden. 
Hübsch wird die Trennung durch zwei Turteltauben versinnbild- 
licht, die dem gleichen Schicksal verfallen sind: 

Im Drange der Gefahren nun desselben Tages wurde 

Ein Turteltaubenpaar getrennt durch die Gewalt des Sturmes; 

Das Weibchen hemmte seinen Flug und wich nicht von Chrysantza, 

Indes der treue Tauber sich zu Belthandros gesellte. 

Zum Trost im Leid gereichten so die Vögelein den beiden. 

Denn als Chrysantza in eine verzweifelte Klage um den tot 
geglaubten Geliebten ausbricht und ohnmächtig niedersinkt, 
bringt ihr das Täubchen Wasser auf den Flügeln und ruft sie 
zur Besinnung zurück. Sie gräbt nun für sich und Belthandros 
ein Grab, doch in dem Augenblick, wo sie sich den Tod geben 
will, hört sie Belthandros' Ruf und erblickt ihn schliefslich selbst 
am anderen Ufer. 

Belthandros auch wird sie gewahr; frohlockend in der Seele 
Stürzt er sich jählings in die Flut und schwimmt zu ihr hinüber. 

Hier ist offenbar das Hero und Leander-Motiv von dem 
Dichter verwertet, auf das schon früher angespielt wurde, als 
Belthandros in dem Liebesschlosse die Statue Leanders er- 
blickte. Nachdem die Liebenden nun wieder glücklich vereint 
worden sind und sie sich der Meeresküste genähert haben, er- 
scheint als rettender Engel ein Schiff in der Feme, das ihm, vom 
Vater gesandt, die Kunde von dem Tode seines älteren Bruders 
und von seiner Erhebung zum Thronerben überbringt. In der 
Heimat von dem alten König festlich empfangen, wird das Paar 
getraut, und ähnlich wie die Geschichte vom verlorenen Sohn 
schliefst auch das Gedicht mit den Worten des Vaters: 

Den edeln Falken, den ich einst verlor, ich fand ihn wieder, 
Mein Toter kam ans Licht zurück, tief aus des Hades Schlünde. 

Da bei der Buntheit der Motive, die in dem Gedichte ver- 
woben sind, eine bestimmte Quelle nicht leicht nachzuweisen sein 
wird, so mufs man es zunächst rein tatsächlich beurteilen, es als 



— 77 — 

gegebenes Ganzes fassen und so auf sich wirken lassen. Als- 
dann wird man es als eine in der künstlerischen Kom- 
position wie in der ethischen Auffassung durchaus er- 
freuliche Leistung anerkennen müssen, zumal wenn man bedenkt, 
dals hier eine der frühesten Offenbarungen volkstümlichen 
Empfindens vorliegt. 

Schon durch seine Kürze zeichnet sich das Gedicht vor 
den beiden übrigen aus : es umf afst nur die Hälfte des Umf anges 
von »Kallimachos und Chrysorrhoe« , nur ein Drittel des von 
»Lybistros und Rhodamne«. Dadurch tritt der Bau des Ganzen 
schärfer hervor, und auch die einzelnen Feinheiten werden 
besser beleuchtet. Man kann die Handlung wie in einem Drama 
in fünf Abschnitte gliedern: der erste schildert den Auszug des 
Helden, der zweite und dritte die Erlebnisse in der Liebesburg, 
der vierte die Vereinigung des Paares, der fünfte ihre Flucht 
und Heimkehr. Die Beziehungen zwischen den Teilen werden 
durch Weissagungen und Symbole geschickt hergestellt : Belthan- 
dros hat sich selbst unwissend seine Geliebte erwählt; die An- 
spielungen auf ihre Trennimg und die Flüche der zurück- 
gewiesenen Schönheitskonkurrentinnen gehen in Erfüllung; der 
Tod der treuen Zofe fügt ein tragisches Moment hinzu und 
steigert die dramatische Wirkung. Die Motivierung der Hand- 
lungen und die Charakteristik der Personen sind freilich noch 
ziemlich unbeholfen, oft mehr als Ansätze denn als bewufst 
künstlerische Ausführung wirkend. 

Die Auffassung zeugt von ungekünsteltem und unver- 
dorbenem Empfinden, das nicht auf niedere Ziele gerichtet ist. 
Zunächst liegt dem Ganzen eine sittliche Idee zu Grunde: die 
Erringung der Geliebten durch Energie und Unerschrockenheit, 
die demütige Ergebung des Menschen in sein Schicksal. Dann 
die zarte, dezente Behandlung der Liebesszenen, in denen sich 
die höhere Wertschätzung des Weiblichen ausspricht, die morali- 
sche Festigkeit der Zofe in ihrer heiklen Lage, die ritterliche 
Haltung des Belthandros bei ihrem Opfertode — alles Zeugnisse 
einer reinen, durch fremde Einflüsse sicher veredelten, aber den 
naiv-volkstümlichen Charakter auch in Bildern imd Wendungen 
treu bewahrenden Atmosphäre»^). 

Man kann sich an diesen drei frühen Blüten einer hoffnungs- 
vollen volksgriechischen Romantik gut vergegenwärtigen, wie 



— 78 — 

wohltätig die Berührung der naiven griechischen Volksnatur mit 
der feinen romanischen Geisteskultur ästhetisch wie moralisch 
gewirkt hat, wenn man sich dabei der widrigen Ausgeburten 
einer faulen Kultur erinnert, wie sie die im vorigen Kapitel kurz 
charakterisierten drei byzantinischen »Romane« darstellten: dort 
alles Natur, hier Unnatur; dort die trockene Luft eines über- 
hitzten Treibhauses, hier die erfrischende Luft einer regen- 
erquickten, sonnenbestrahlten jungen Frühlingslandschaft. Nur 
in der Sprachform zeigt sich noch die byzantinische Nach- 
wirkung : der steifbeinige byzantinische Sprachmeister ringt darin 
noch mit dem jugendschönen, gewandten imd anmutigen pro- 
ven^alischen Ritter um den Besitz der keuschen, aber schüchternen 
griechischen Volksmuse, wird aber schliefslich aus dem Felde 
geschlagen. Dafs dann später diese Muse ihre Jimgfräulichkeit 
nicht immer gewahrt hat und sich dem Liebesgenufs mit den 
verführerischen Chevaliers oft mehr als nötig hingab, ist nicht 
zu leugnen. Aber das darf uns nicht hindern, diese Verbindimg 
nicht nur als berechtigt, sondern geradezu als notwendig für die 
Auffrischung der Rasse und Erhaltung ihrer natürlichen An- 
lagen anzuerkennen. Ist auch das romanische Kulturelement 
durch das zähere griechische absorbiert worden, so ist es doch 
nicht ohne Wirkung auf die kulturgeschichtliche Stellung des 
griechischen Volkes geblieben, indem es dieses vor der gänz- 
lichen Orientalisierung bewahrt hat, die ihm durch die innere 
Entwicklung des byzantinischen Reiches vorgezeichnet war. 
Darum hat dieser Befruchtungsprozefs eine ungleich gröfsere 
Bedeutung als etwa der gleichzeitige, aber mehr an der Ober- 
fläche gebliebene Einflufs romanischer Kultur auf die deutsche 
Poesie des Mittelalters. Zwar trug auch er zur Veredelung des 
Geistes bei und hat die deutsche Poesie um unvergängliche 
Werke bereichert; aber eben darum, weil er auf die nämlichen 
Kreise beschränkt blieb, wie die waren, von denen er ausging, 
nämlich auf die ritterlichen der Höfe, konnte er nicht in die 
Tiefe des Volkes dringen und war daher auch mit der höfischen 
Kultur zu Ende. Femer war es mehr eine stoffliche als eine 
Ideenbereicherung ; die letztere, die Verinnerlichung, vollzog sich 
erst auf deutscher Seite. Franzosen und Deutsche gehörten ja 
auch einem Kulturkreise an, so dafs das, was jene zu geben 
hatten, nichts absolut Grundlegendes sein konnte. Ganz anders 



— 79 — 

im byzantinischen Osten: seine Welt war, wie wir schon sahen, 
eine innerlich und äulserlich völlig verschiedene; hier gab es 
keinen Ritterstand, der sich mit dem französischen wahlverwandt 
hätte fühlen, keine Höfe, die miteinander in der Pflege geistigen 
Lebens hätten wetteifern können; ja hier gab es nicht einmal 
ein geistiges Leben im höchsten ästhetischen Sinne. Am Hofe 
von Byzanz fand höchstens die Wissenschaft, nicht aber die 
Dichtung Gnade imd Pflege, am wenigsten die verhafste 
»fränkische € Dichtung der römischen Ketzer. Daher konnte der 
Einfluls des französischen Geistes auch keine offizielle Geltung 
erlangen; er fand gar keinen Zugang zur offiziellen Welt, auch 
keinen Widerhall, keine individuelle Verkörperung in wahl- 
verwandten Geistern; in Byzanz erstand kein Gottfried, kein 
Wolfram, kein Walther. Aber Byzanz war noch nicht das Reich, 
seine Auffassung noch nicht die des Volkes. Und je stärker 
sich das neue Geisteselement an den Wällen der Hauptstadt 
brach, trotz deren äufserer Eroberung, um so williger wurde es 
im Volke aufgenommen; je weniger es mit der selbstgefälligen 
Kunstpoesie eine fruchtbare Verbindimg eingehen konnte, um so 
mehr wurde es zu einer Erweckerin der Volksphantasie, zu 
einer Veredlerin des Volksgemütes ; je weniger intensiv sich der 
ganze Kulturprozefs gestaltete, um so extensiver war seine Wir- 
kung; wo die Individuen fehlten, trat das Volk für sie ein und 
gewann seine Individualität wieder, die ihm abhanden zu kommen 
drohte. 

Darin liegt die symptomatische Bedeutung dieser fränkisch- 
griechischen Mischpoesie; sie hat dem griechischen Mittelalter 
das Menschentum wiedererweckt, jenes künstlerische Menschen- 
tum, von dem ihm die herrlichsten Zeugnisse vorlagen in den 
Schriften des griechischen Altertums, als dessen Universalerben 
sich die byzantinische Welt so gern aufspielte, und dessen Geist 
ihr »unter Büchern und Papier« so fremd und imverständlich 
geworden war, dafs sie gar nicht merkte, wie gründlich sie 
ihn mit allen ihren Kommentaren und Scholien herausgetrieben 
hatte. Eine lebendige Wirkung antiken Geistes war in dieser 
Welt nicht mehr möglich, weil sie keinen ästhetischen Sinn 
mehr besafs. So mufste das verachtete Volkstum auf die Hilfe 
der verachteten Franken warten, um seiner selbst inne zu 
werden. 



— 80 — 

Die fremden stofflichen Elemente dieser Produkte gingen 
freilich früh in das griechische Milieu auf: schon in dem 
Lybistrosroman ist, wie Krumbacher beobachtet hat, das 
fränkische Element von dem heimischen fast völlig aufgesogen 
worden, während es im »Belthandros« noch stärker zu Tage tritt. 

Diesem Schicksal erlagen nun auch die französischen Sagen- 
stoffe überhaupt, die von den Kreuzfahrern nach Griechenland 
importiert worden waren. Es sind dies die bekannten provenga- 
lischen Geschichten von Flore und Blanchefleur und von Pierre 
et la belle Maguelonne, sowie der altfranzösische Prosaroman 
Gyron le Courteois, aus dem Kreise der Artussage, der imter 
dem Titel »Der alte Ritter« eine trockene freie Bearbeitung 
fand, aber keine Volkstümlichkeit erlangte. Nur die Gestalt 
der schönen Maguelonne ist in der gräzisierten Form Margarona 
tiefer ins Volksbewufstsein gedrungen, und die Sage schreibt ihr 
sogar die Gründung des bei Eleusis gelegenen Klosters Daphni 
zu. Die Verbreitung dieser Geschichte beweist auch ihre mehr- 
fache Bearbeitung im Griechischen. Sonst aber verhielten sich 
die Griechen gegen diese auf ganz verschiedener Kultur be- 
ruhenden Märchenstoffe durchaus ablehnend, und von jener bereit- 
willigen Aufnahme, die sie bei uns im Mittelalter fanden, konnte 
bei ihnen keine Rede sein '7). 

In diesen Zusammenhang gehört schliefslich noch, weim 
auch wegen des Stoffes eine Sonderstellimg einnehmend, die 
Geschichte des ApoUonios von Tyros, die zwar ihrem Ursprung 
nach griechisch, dennoch bei den Griechen selbst in Vergessen- 
heit geraten war und ihnen erst mit der grofsen französischen 
Flutwelle des 13. imd 14. Jahrhunderts wieder in den Gesichts- 
kreis gerückt wurde, Sie hat sich dann freilich durch den Ein- 
flufs des in ganz Westeuropa verbreiteten Volksbuches so fest- 
gesetzt, dafs sie noch heute in einigen Gegenden im Volks- 
märchen lebendig ist^^). 

Wie im 13. und 14. Jahrhundert die französische, so hat im 
16. und 17. Jahrhundert die italienische Kultur befruchtend 
auf die griechische Phantasie eingewirkt; waren es damals die 
kleinen Lehnsherrschaften, die jenen geistigen Einflufs ver- 
mittelten, so jetzt die alles beherrschende Seemacht Venedigs; 
und scheint sich der Einflufs der ersteren besonders auf die 
Inseln vor der südwestlichen und südlichen Küste Kleinasiens er- 



- 81 — 

streckt zu haben ^ so der des letzteren auf das von den 
Venetianem eifersüchtig gehütete Kreta. Von der verschiedenen 
Natur des französischen und italienischen Einflusses war schon 
die Rede. Was die Wahl der Vorbilder betrifft, so sei noch er- 
wähnt, dafs es nicht immer die besten Werke waren, aus denen 
die griechischen Nachdichter schöpften. Selbst in der Entlehnung 
von Werken berühmter Dichter waren sie oft so unglücklich, dafs 
sie deren schwächste sich auswählten und sie dann noch ver- 
schlechterten. Stoff und Mode, nicht der künstlerische Wert, 
gaben hierbei den Ausschlag, wie noch heute die meisten griechi- 
schen Übersetzer fremder Litteraturwerke demselben Prinzip 
huldigen. 

So hat sich niemand an die grofsen klassischen Kunst epen 
Ariosts und Tassos gewagt. Und wie viel hätten die Griechen, 
namentlich in ästhetischer Hinsicht, aus dem »Rasenden Roland« 
lernen können! Nur aus Tassos »Befreitem Jerusalem« sind 
einige Episoden, übrigens gänzlich zusammenhangslos, in ein 
kretisches Drama eingesprengt. Sie kamen ja auch mit ihren 
idyllisch-melancholischen Schilderungen dem griechischen Ge- 
schmack am meisten entgegen. Dagegen ist es bezeichnend, dafs 
man den verfrühten und verunglückten Versuch Boccaccios, in 
seiner Theseide ein klassisches Epos zu schaffen, skrupellos ins 
Griechische übertragen hat, bei dem eben der antike Stoff lockte, 
während ein solches Meisterwerk wie das Ninfale Fiesolano mit 
seinem echt volkstümlich-idyllischen Reiz leider unbeachtet ge- 
blieben ist. In die Lyrik hat man allein einen glücklichen 
Griff getan durch die Übertragung einer Auswahl von Petrarcas 
Gedichten in den cyprischen Dialekt. Im Drama konnte man 
sich nur an die in Italien allein volkstümlich gewordene lyrisch-r 
dramatische Schäferdichtung anschliefsen , deren grofse Beliebt- 
heit durch Tassos »Aminta« und Guarinis »Pastor fido« be- 
gründet und durch zahllose Nachahmungen auch auf die Griechen 
übertragen wurde, bei denen es um so williger Pflege fand, als 
ja das Bukolisch-Idyllische ihnen seit der alexandrinisch-römischen 
Zeit im Blute steckte und in byzantinischer Zeit nur keine Be^ 
tätigtmg fand. Der »Pastor fido« wurde zwar selbst erst im 
17. Jahrhimdert von einem Zantioten übersetzt, doch entwickelte 
sich schon früher auf dem venetianischen Kreta eine griechische 
Schäferdramatik nach italienischem Muster, die, wenn sie auch 

Dieterich, Gesch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 6 



— 82 — 

weniger poetische als litterarhistorische Bedeutung hat, dennoch 
manche unverkennbar echt volkstümlichen Keime hervorgelockt 
hat. Als Dramen können diese Dichtungen, von denen drei er- 
halten sind, freilich noch weniger bezeichnet werden als ihre 
italienischen Vorbilder, wie ja denn überhaupt bei den neuereni 
Griechen die dramatische Begabung vor der lyrischen bedingungs- 
los kapitulieren mufs. 

Das gilt auch von demjenigen dramatischen Produkt dieses 
Kreises, das den übrigen den Rang abgelaufen hat, weniger 
wohl wegen seiner inneren Qualitäten als wegen des packenden 
Stoffes :die»Erophilef des Kreters Chortatzis (um 1600) ist kein 
Schäfer-, sondern ein Liebesdrama. Es ist offenbar aus zwei 
italienischen Tragödien zusammengeschweifst, deren altes Haupt- 
motiv darin besteht, dafs der Vater den Geliebten seiner Tochter 
ermordet und ihr dann Glieder und Herz des Getöteten vorsetzen 
läfst. Es ist die damals berühmte Schauertragödie »Orbecche« 
des Giraldi (1547), des blutdürstigen Erneuerers der römischen 
Tragödie, und der »Filostrato e Pamfila« des weniger bekannten 
Antonio von Pistoja (1508), dessen Stoff aus einer Novelle 
Boccaccios stammt (IV, 1). Beide Stücke weichen darin von- 
einander ab, dafs in jenem aus dem Verhältnis Kinder hervor- 
gegangen sind, die ebenfalls ermordet werden, und dafs am 
Schlufs die Tochter den eigenen Vater umbringt und dann erst 
sich selbst, während in diesem die Kinder und der Vatermord 
fehlen. Der griechische Bearbeiter hat nun deutlich zu mildem 
und zu vermitteln gesucht, indem er zwar auch den Vater der 
Erophile, Philogonos, ermorden läfst, doch nicht durch die 
Tochter — das wäre ganz gegen die strenge Auffassung des 
griechischen Pietätsgefühles — , sondern durch die Palastdamen. 
Auch die unehelichen Kinder waren dem keuscheren Gefühl der 
Griechen zuwider. So ist die » Erophile c zwar reiner in der 
ästhetischen und ethischen Auffassung als Giraldis Schauerstück, 
doch dafür dramatisch weniger wirksam und mehr auf einen 
lyrischen Ton gestimmt. Diesem lyrischen Bedürfnis dienen 
auch die ebenfalls der italienischen Tragödie entnommenen Chor^ 
gesänge, die meistens dem Schlüsse jedes Aktes angefügt sind, 
und deren Inhalt zum Teil Tassos »Aminta« entlehnt ist, so 
die Besingung des goldnen Zeitalters im zweiten Akt, zum Teil 
Trissinos »Sofonisba« (1515), einer im übrigen unglücklichen 



— 83 — 

Nachahmung der griechischen Tragödie. Die Voriiebe des 
Griechen für Tassos idyllisch-elegische, melancholische Art hat 
wohl auch zu der Einfügung der sogenannten Zwischenspiele 
nach den einzelnen Akten geführt, die, ohne jeden Zusanmien^ 
hang mit der Handlung, die Liebesepisoden zwischen Rinaldo 
und Armida aus dem »Befreiten Jerusalem« wiedergeben. 

Ninmit man noch hinzu, dafs Chortatzis die Schilderung 
eines Turniers, in dem Erophiles Geliebter Panaretos siegt, 
höchst wahrscheinlich dem gleich zu betrachtenden Roman 
»Erotokritos« seines älteren Landsmannes Comaro entnommen 
hat, so ergibt sich ein ziemlich buntes Gesamtkolorit, das freilich 
vor allem auf einer äufserst ungenierten Ausplünderung der 
italienischen Litteratur beruht, ein System, dem auch die Italiener 
des 16. Jahrhunderts selbst reichlich gehuldigt haben. 

Was wohl allein Eigentum des griechischen Dichters ist, das 
sind die zahlreich eingestreuten Sentenzen, die der »Erophilec 
bis heute ihre Volkstümlichkeit in Kreta gesichert haben. Es 
sei daraus nur eine angeführt, die in doppelter Hinsicht lehr- 
reich ist, nämlich für den volkstümlichen Charakter mancher 
Partien und für die Arbeitsweise des Chortatzis. Den dritten Akt 
eröffnet ein Monolog der Erophile, worin sie ihrem Kummer 
über die Untreue des Geliebten Luft macht. Die Szene beginnt 
mit den Versen: 

Das Lachen und das Klagen, die Freude und das Leid, 
Gezeugt sind sie zusammen, geboren zu einer Zeit; 
Drum wandern sie zusammen, eins für das andere wacht, 
Und wer da lacht des Morgens, der weint, eh' es wird Nacht. 

Diese wehmütige Betrachtung der Unbeständigkeit des Irdi- 
schen ist echt griechische Empfindung; sie bildet noch in vielen 
neugriechischen Gedichten ein beliebtes Thema. Da£s diese Verse 
griechischen Ursprungs sind, beweist nicht nur ihre noch heute 
in Kreta sprichwörtliche Geltung, sondern auch ihre nur kurze 
Andeutung in dem italienischen Original. 

Etwa 50 Jahre vor Chortatzis hatte ein gräzisierter 
Venetianer, Vincenzo Cornaro, in seinem »Erotokritosc 
ein noch volkstümlicheres Werk geschaffen. Es ist eine Art 
romantisches Epos, in dessen Ausführung der Verfasser aber 



— 84 — 

ebenso lyrisch verfuhr wie der »Dramatiker« Chortatzis mit dem 
der »Erophile«. Die Handlung des Gedichtes ist, wie ein Be- 
urteiler richtig bemerkt hat, nur ein Mittel für die Entwicklung 
der CJeftihle. Sie ist daher auch so einfach wie möglich, ohne 
kunstvolle Verwicklungen, gleichsam einen einzigen Faden 
bildend , auf den dann wie eine lange Reihe bunter Perlen auf 
einen Rosenkranz aufgezogen ist, was der Dichter darstellen 
wollte: ritterlichen Sinn, imentwegte Liebe, treue Freundschaft,, 
iffingebung an den Herren, kurz, eine Art Tugendspiegel fürs 
Volk, erläutert an den Liebesschicksalen des Ministersohnes 
JErotokritos und der Königstochter Aretusa, die wenig von den 
üblichen Ritterromanen abweichen und auch in der »Erophile« 
wiederkehren: Turnier, Sieg des Liebhabers, abgewiesene Wer- 
bung, Verbannung, dann Kriegsnot und Rückrufung des Ver- 
baimten^ Besiegung des Belagerers durch ihn, endlich seine An- 
erkennung als Schwiegersohn des Königs. Dieses Gerippe der 
Handlung lieferte dem Cornaro, wie man annimmt, eine populäre 
italienische Bearbeitung der sogenannten Reali di Francia, einer 
sagenhaften Geschichte der Karolinger. Dafs dazu ein Apparat 
von über 1 1 000 Versen gehörte, dafs der Dichter sie notwendig 
brauchte, um den genannten Zweck zu erfüllen, wird jetzt eher 
verständlich, wenn man das Ganze als das auffafst, was es woht 
auch sein sollte, als eine Erzählung zur Bildung und Veredelung 
des Volkes, als ein pädagogisches Buch. Das wird sehr wahr- 
scheinlich, wenn man sich die äufseren Verhältnisse auf dem da- 
maligen Kreta vergegenwärtigt: der Verfasser ein gebildeter 
Mann aus vornehmem venetianischen Geschlecht, voll Bewufst- 
sein dieser seiner Abstammung, um ihn her ein wildes, rauhes 
Bergvolk, das den neuen Herren der Insel gewifs manches zu 
schaffen machte durch Ungesetzlichkeit und Verschlagenheit, 
welch letztere ja den Kretern von jeher eigen war, — was lag 
da näher, als dafs dieser Mann sich hinsetzte und ein Gedicht 
verfafste, wie es dem einfachen Manne zusagte, mit dessen 
Denken und Fühlen er vertraut war, dessen Sprache und Poesie 
er kannte und dem er nun durch das Medium der Poesie alle 
die Eigenschaften beizubringen suchte, die wir in dem Gedichte 
so breit ausgeführt finden, und die für die venetianischen Herren 
von der gröfsten Bedeutung sein mufsten, weil sie dazu dienten, 
ihnen das Volk willfähriger und gefügiger zu machen? Daher 



— 85 — • 

offenbar die auffallend häufige Betonung der Vasallentreue ^ die 
sich durch das Werk hindurchzieht , daher wohl auch die Bie- 
tonung der Treue und Freundschaft überhaupt, an denen es die 
Kreter gewifs oft fehlen liefsen. 

In dieser Annahme über den Entstehungszweck des Werkes 
muls nun den aufmerksamen Leser auch die Art der Ausfuhr 
rung bestärken. Zunächst macht diese durchaus den Eindrucjc 
des bewufst Gewollten, Schulmäfsigen , Lehrhaften. Man be- 
merke, wie jeder der fünf Teile eine besondere Tugend verherr» 
licht, ihr zum Siege verhilft: zuerst ist es Liebe und Freund^ 
$chaft, dann ritterlicher Mut im Turnier, hierauf Beständigkeit 
tind Hingebung, dargestellt an dem Beispiel der Aretusa und 
ihrer Amme Phrosyne, endlich mutiges Eintreten des Unter^ 
tanen Erotokritos für die Rettung seines Königs, seiner Ge- 
liebten, seines Vaterlandes. Diese planmälsige Durchführung im 
ganzen und die starke Farbenauftragimg im einzelnen kann an 
der bewufsten Absicht des Dichters kaum zweifeln lassen. 

Dazu kommt die Vorliebe für antike Reminiszenzen in der 
Ausführung: die Entlehnung beliebter antiker Namen, »die Ein- 
führung griechischer Götter, wie Zeus und ApoUon, ausgedehnte 
Schilderungen von Zweikämpfen nach homerischem Muster, end- 
lich reichliche Verwendung homerischer oder den homerischen 
nachgebildeter Gleichnisse *) ; alles das beweist, dafs Comaro das 



*) Von besonders breit und schön ausgeführten Gleichnissen seien 
nur genannt: Vergleich der Aretusa beim Anblick von Erotokritos* 
Bild mit einem tunherirrenden Blinden, der ein plötzliches Licht er- 
i>lickt; einer, der die Liebe nur auf serlich kennt, ist von einem, der 
sie erprobt, ebenso verschieden wie einer, der das Meer nur von 
weitem erblickt, von dem, der schwimmend mit den Wogen kämpft; 
Erotokritos' Unsicherheit über Aretusas Zuneigung wird verglichen 
mit der eines Heerführers , der die Tiefe eines Flusses , den er über- 
schreiten will, mit einem Stecken ermifst; ganz homerisch ist der Ver- 
gleich in der Haltung der Zweikämpfer mit Löwen, die auf eine 
Beute tosgehen ; ebenso der des Anpralls der Schwerter mit der Wir- 
kung des Sturmwindes in einem Bergwalde oder mit dem Kampf des 
Nord- und Südwindes, und ähnlich oft in den Kampfszenen. Originell 
scheint der Vergleich des niederstürzenden Aristos mit einer vom 
Pfluge niedergemähten Blume, die ihre Farbe und Schönheit einbüf st, 
oder des durch die lange Gefangenschaft welken und durch die ein« 
dringende Sonne auflebenden Gesichtes der Aretusa mit einer von 




■ __ 86 — 

Muster der »Uias« vorschwebte, sei es, dafs er ein künstlerisches 
Vorbild an ihr suchte, sei es, dafs er dadurch sein Werk besser 
empfehlen wollte, genug, man sieht, es Hegt eine Berechnung 
darin. Jedenfalls scheint die Benutzung des homerischen Epos 
sicherer*) als die des persischen von Firdusi, an welches man 
Anklinge hat finden wollen in Erotokritos' Zweikampf mit dem 
Sohne des feindlichen Königs, sowie überhaupt in der orientali- 
schen Phantasie, die sich in vielen Szenen und Schilderungen 
offenbart. Will man doch selbst den Einflufs orientalischer 
Märchenmotive im Erotokritos entdeckt haben, wie wenn im Ein- 
gang erzählt wird, dafs nach Langer Kinderlosigkeit dem König 
ein Sohn geboren wurde, der der schönste der Welt sei, ein 
Motiv, mit dem auch viele orientalische Märchen beginnen. Doch 
ist das kein zwingender Beweis, dafs der Dichter bewufst orienta- 
lische Stoffe benutzt habe, da ja das orientalische Kolorit der 
griechischen Volkspoesie, wie wir noch sehen werden, seit dem 
Mittelalter her eigen ist und zumal auf Kreta sein mufste, das 
ja längere Zeit in arabischem Besitze gewesen war. 

Was aber am meisten den didaktischen, volkserzieherischen 
Charakter des Gedichtes verrät, das sind die zahlreich eingestreuten 
lehrhaften Reden, sei es, dyfs der Dichter sich selbst sprechend 
einführt, sei es, dafs er sie seinen Personen in den Mund legt. 
Charakteristisch ist besonders eine Stelle, wo die Amme in einer 
langen Mahnrede an Aretusa sich über die Verlogenheit und 
Falschheit der Menschen ausspricht. Da heifst es ; sAlle möchten 
uns belügen und betrügen, .... Sie machen sich ihren Freund 
zum Feind, entfremden sich Verwandte, wenn sie in einer ver- 
wickelten Sache so reden, wie sich's gebührt. Doch wer nicht 
weh tun will, läfst den Fehler hingehen und denkt nicht daran, 
ihn zu verurteilen. Er lobt und beschönigt ihn , stellt die Lüge 
als unschuldig dar und verleugnet die Wahrheit. Und«, schhefst 



Regen und Sturm gepeitschten und dann unter der wärmenden Sonne 
sich autrichtenden Blume [vg]. Dante, Inf. II. 127), endlich auch der 
des unbewufsten Naturtriebes der Liebe mit dem instinktiv nach der 
Mutlerbrust tastenden Säugling. 

•| Wie ich nachträglich sehe, hat schon der Engländer Leake die 
homerischen Einflüsse auf das Gedicht beobachtet. (Researches in 
Greece, p, 116 ff,) 



- 87 - 

sie, »gar viele gibt es heutzutage, liebes Kind, die einen honig- 
sülsen Mund und in der Hand Gift haben, c Zuweilen klingen 
diese Mahnreden ganz ähnlich wie die des weisen Oheims im 
byzantinischen »Spaneas«, so, wenn Aretusa über die Vergänglich- 
keit des Irdischen und die Unbeständigkeit des Schicksals räsoniert 
oder die Amme über den Wert der Geduld und Vernunft, 
Überhaupt zeigt das Gedicht mit seiner bewufsten oder un- 
bewulsten Redseligkeit noch deutliche byzantinische Spuren, selbst 
in bekannten Äufserlichkeiten , so wenn Aretusa sagt, sie ziehe 
den Grünen und den Roten, von denen der Markt wimmelt, die 
Weilsgekleideten vor. Auch der Sohn des Kaisers von Byzanz 
ist unter den am Turnier teilnehmenden Fürsten. 

Doch sind diese Reminiszenzen verhältnismäfsig viel seltener 
als in den älteren Ritterromanen aus der Zeit des Reiches, 
Dafür ist volkstümlicher Ton und Auffassung weit häufiger 
und ausgebildeter. Manche Partien lesen sich wie neugriechische 
Volkslieder*). Davon noch später. Hier soll nur noch auf 
die echt volksmälsigen Anschauungen der Personen hinge- 
deutet werden, die dem Werke wohl vor allem seine Popularität 
verschafft haben. Aretusa macht ganz den Eindruck eines sitt- 
samen griechischen Landmädchens; sie versichert ihrer Amme, 
dafs man sie trotz ihrer Liebe zu Erotokritos keines unpassenden 
Betragens für fähig halten dürfe; auch will sie ihn ohne Ein- 
willigung ihrer Eltern nicht heiraten; die Werbung des Pezostratos 
um sie geschieht ganz nach griechischer Sitte, und da sie ihn 
verschmäht, sucht sie ihr Vater durch Einkerkerung zu zwingen, 



*) Um nur eine Probe von dem starken lyrischen Reiz des Ge- 
dichtes zu geben, setze ich die Stelle von dem Erwachen der Vögel 
in der Morgenfrühe nach der Übersetzung in Ikens «Leukothea« 
(Bd. I, 168) mit einigen kleinen Änderungen her : 

Wie nun der heitre Morgenstern beginnt heraufzuziehen, 

Und von der Erde Angesicht das Dunkel zu entfliehen, 

Schon Vögel zieh'n am Boden hin mit fröhlichem Ergetzen, 

Sich mit des Feldes zartem Tau die Flügel leicht benetzen, 

Sich wiegen bald auf einem Blatt und bald auf luft'gen Zweigen, 

Und jedes Vögelein nun singt das Liedchen, das ihm eigen. 

Wie sie die Sonne rufen dann herbei mit leisem Plaudern, 

Volt banger Sehnsucht schau'n, ob bald sie komme, ohne Zaudern, 

Da steht auch Aretusa auf und öffnet voll Entzücken 

Das Fenster, hocherfreut, den Strahl der Sonne zu erblicken. 



— 88 — 

ganz wie es wohl noch heute der Mann aus dem Volke mit 
seiner widerspenstigen Tochter macht. 

So laufen in dem CJedichte wieder die verschiedensten Kultur- 
fäden zusammen: klassische, romanische^ byzantinische, orientalische^ 
volksgriechische ; doch sind sie schon durch die rein volkstümliche 
Sprache zu einem einheitlicheren CJewebe verarbeitet als in den 
Romanen der Frankenzeit. Man atmet hier schon ganz griechisch- 
idyllische Bergluft, die Gefühle der Menschen und ihre Aufse- 
rungen sind die des griechischen Volkes. Und wenn Comaro 
auch nicht seinen pädagogischen imd pohtischen Zweck erreicht 
hat, so doch den poetischen: die venetianische Herrschaft in 
Kreta brach im 17. Jahrhundert zusammen, der Erotokritos aber 
wird noch heute gelesen und geliebt. Hat das Werk doch sogar 
zwei Nachahmungen gefunden, eine in Griechenland selbst, noch 
im Jahre 1818, imd eine andere in Rumänien '9). 

Früher und stärker als durch occidentalisches wurde das 
Griechentum des Mittelalters durch orientalisches Wesen be- 
fruchtet; ja, man kann sagen: dieser letztere Prozefs war von 
so langer und tiefer Wirkung, dals die orientalischen Elemente 
in der byzantinisch-gelehrten wie in der mittelgriechisch-volks- 
tümlichen Litteratur sich nur schwer herausschälen lassen. Stellt 
doch die ganze Entwicklung des griechischen Geisteslebens seit 
der alexandrinischen Zeit eine dem Orient zugewandte Kultur- 
bewegung dar. Die Hauptvermittlungsrolle fiel hier dem Christen- 
tum zu. Wir sahen bereits, dafs die ganze byzantinische Kirchen- 
poesie auf die Psalmen des Alten Testaments zurückgeht. Bei 
der innigen direkten Berührung der Byzantiner mit den Persem 
und Arabern konnte es aber nicht ausbleiben, dafs auch die 
weltliche Poesie orientalische Stoffe und Motive in sich aufnahm^ 
ffeilich nicht so sehr die hellenisierende als die keinem fremden 
Element sich verschliefsende volkstümliche Kunstpoesie und vor 
allem die Volkspoesie selbst. 

In der exklusiven hellenisierenden Kunstdichtung der Byzan- 
tiner beschränkt sich das Orientalische auf einzelne Motive, 
sowie auf die Technik. In letzterer Hinsicht verdient nament- 
lich eine Eigentümlichkeit Beachtung, die der antiken Poesie 
gänzlich fremd war, nämlich die Beschreibung körperlicher Schön- 
heit durch Aufzahlung der einzelnen Teile, ein Verfahren, das 
sich noch bis in die neugriechische Volkspoesie fortgepflanzt hat. 



— 89 — 

Der wiederholt genannte Prodromos und sein Nachtreter 
Niketas Eugenianos bedienen sich in ihren erotischen Romanen 
mit Vorliebe dieser Methode ^ indem sie »nach Art eines 
Steckbriefes ein ganz genaues Inventar der einzelnen Körperteile 
der Helden ihrer Erzählungen geben«. Schon in altchristlichen 
Chroniken und Heiligenleben findet sich dieser Usus, wie bei dem 
sjnischen Chronisten Joh. Malalas; ja, er läfst sich bis nach 
Ägypten verfolgen, wo er in geschäftlichen Papyrusurkimden 
häufig vorkommt und von wo er vielleicht ausgegangen ist imd 
von den poesielosen Byzantinern, die ihn als poetisch empfanden, 
aufgenommen wurdet»). 

Von einzelnen orientalischen Motiven in der byzantinischen 
Litteratur sei erwähnt das der Begegnung mit der Geliebten auf 
dem Gange zum Bade, z. B. in dem Roman des Prodromos, genau 
wie in dem Märchen von Aladdin in »Tausend imd eine Nacht«. 
Auch dieser Zug kehrt in neugriechischen Volksliedern wieder. 
Orientalisch ist wahrscheinlich auch die aphrodisische Ver- 
wendung des Apfels, durch dessen Zuwerfen ein Mädchen die 
Wahl ihres Geliebten äufsert. Diese Verwendimg scheint be- 
sonders in Persien heimisch gewesen zu sein, wo sie u. a. in 
Firdusis Königsbuch vorkommt. In der byzantinischen Litteratur 
imd noch mehr im neugriechischen Volksliede spielt sie eine 
grofse Rolle. 

Höchstwahrscheinlich sind die orientalischen Elemente in 
der alexandrinischen, byzantinischen und neugriechischen Litteratur 
viel zahlreicher als bei den wenigen Untersuchungen hierüber 
festzustellen ist. In der Litteratur wie überhaupt der gesamten 
Kultur der Byzantiner ist, wie ausgeführt wurde, das orientalische 
Kolorit am stärksten; bewufst und unbewufst hat es sich in Poesie, 
Kunst und Sitte Eingang verschafft. Aber auch schon in der 
späthellenistischen Poesie ist es unverkennbar, z. B. bei Nonnos, 
und noch in der neugriechischen wirkt es nach in Märchen und 
Volksliedern mit ihrer fast orientalischen Phantasie und Farbenglut. 

Deutlicher und auch wichtiger ist die stoffliche Einwirkung, 
die das Griechentum vom Orient her erfahren hat. Abgesehen 
von vielen orientalischen Märchen- und Sagenstoffen, die noch 
im neugriechischen Märchen fortleben, wie die indische Sage von 
der guten Florentia, die persische von Guschtasp und Katäyün, 



die in Prodromos' Romanungetüm »Rhodante und Dosikles*, 
sowie in dem Liebesromao iKallimachos und Chrysorrhoe« ver- 
schmolzenen Märchenzüge u. a., gibt es mehrere, zumal indische 
Stoffe, die im Volke Eingang fanden. Sie sind fast nur er- 
baulicher oder lehrhafter Natur und fanden nicht nur bei 
den Griechen, sondern im ganzen westlichen Europa des 
Mittelalters volkstümliche Verbreitung. Es sind dies die drei 
berühmten indischen Erbauungsbücher von Baarlam und 
Joasaph, von Sindbad und von Kalilah und Dimnah, 
auch als Fürsten spie gel bekannt, die im 7. bezw. 11. Jahrhundert 
ins Griechische übertragen wurden. Auf den Inhalt dieser all- 
bekannten Volksbücher brauchen wir um so weniger einzugehen, 
als er aus den mittelalterHchen deutschen Bearbeitungen bekannt 
ist und die griechischen Bearbeitungen keine wesentlichen Ver- 
änderungen der Originale aufweisen ; selbst die Titel behielt man 
bei, bis auf den des letzten, den man in »Stephanites und 
Ichnelates* gräzisierte. Zu beachten ist dagegen, dafs die 
griechischen Bearbeitungen wenigstens der beiden letzten Werke 
den Originalen durchwegs näher stehen als die westeuropäischen, 
die Lokalisierung der fremden Verhältnisse hier nicht annähernd 
so weit getrieben ist wie in diesen. Das orientalische Milieu war 
ja den Griechen viel vertrauter, zumal die Barlaam- wie die 
Sindbad geschieh te in Syrien bezw. Palästina bearbeitet wurden. 
Daher und weil diese aus direkten orientalischen Quellen schöpften, 
ist z, B, die griechische Sindbad geschichte ursprünglicher als 
alle übrigen. Die Überlieferung dieses Volksbuches hat sich sogar 
— was kulturgeschichtlich bemerkenswert ist — in zwei Gruppen 
gespalten, eine orientalische und eine occidentalische. Der ersteren 
gehört die griechische Übersetzung an, die wieder aus einer 
syrischen Quelle geflossen ist, der letzteren die meisten west- 
europäischen Versionen, denen wieder der altfranzösische Roman 
von den sieben Weisen Roms zu Grunde liegt; in jener herrscht 
noch ganz orientiilisches Kolorit, in dieser das westeuropäische 
des Rittertums ; nur dadurch weicht die griechische Bearbeitung 
von den rein orientalischen ab, dafs in ihr zum ersten Male 
christliche Auffassung sich zeigt, wie auch im »Barlaam« das 
ChristHch-Dogmatische erst eine Zutat des griechischen Bearbeiters 
ist. Den Griechen gebührt also auch das Verdienst, diese fremden 
Stoffe zuerst christianisiert zu haben. Zu beachten ist auch, dafs 



— 91 — 

der »Barlaamc wie der Ftirstenspiegel durch die Griechen auch 
den Slaven vermittelt wurden, während die Sindbadg^schichte 
nur den slavischen Bai k an Völkern durch griechisches Medium 
bekannt wurde. Wir werden noch öfter die kulturgeschichtliche 
Abhängigkeit der slavischen Völker von den volkstümlichen 
Litteraturprodukten der Griechen des Mittelalters zu beobachten 
haben. 

Ob freilich die drei genannten indisch-christlichen Volks- 
bücher bei den Griechen sich der gleichen Popularität erfreuten 
wie im Abendlande, scheint zweifelhaft und wird angesichts der 
Tatsache, dafs die griechischen Bearbeittmgen , besonders des 
»Barlaamc, in der byzantinischen Kunstsprache abgefafst sind, noch 
zweifelhafter. Allerdings wurden auch Übersetzungen in die 
Volkssprache veranstaltet, doch erst in so später Zeit (16. und 
17. Jahrhundert), dafs sie wohl keinen starken Einflufs mehr aus- 
übten. Es sind denn auch wenig volkstümliche Spuren davon in der 
mittel- und neugriechischen Volkslitteratur aufzufinden. Nur die 
bekannte Parabel im >Barlaam< von dem Manne und dem Einhorn, 
die bei uns durch Rückert populär geworden ist, hat der Ver- 
iasser eines noch zu betrachtenden volkstümlich-griechischen Ge- 
dichtes selbständig verwertet, wie sie auch in der byzantinischen 
Kunst dargestellt wurde. Sonstige volkspoetische Reflexe dieser 
Litteraturgattung scheinen nicht bekannt zu sein. 

Ein anderes zu europäischer Bedeutung gelangtes Volksbuch, 
das auch bei den Mittelgriechen eine Rolle spielte, ist der sog. 
Physiologos. Er ist zwar kein erbauliches, sondern ein 
christlich-naturwissenschaftliches Volksbuch, sein Ursprung nicht 
in Indien, sondern wahrscheinlich in Ägypten zu suchen, wo die 
schon in der Bibel beliebte religiöse Deutung von Vorgängen 
aus dem Tierleben dur6h die Kirchenväter allgemeine Verbreitung 
fand. Das Werk ist also ein Erzeugnis des christlich-griechisch- 
orientalischen Kulturkreises. Die Bedeutung des griechischen 
»Physiologos« war freilich nicht annähernd so grofs wie die erst 
aus ihm geflossenen abendländischen Bearbeitungen; die reichen 
Anregungen, die von diesen auf Kunst und Dichtung des Abend- 
landes ausgingen und sie befruchteten, fanden auf dem festen, 
harten Kulturboden von Byzanz keine willige Aufiiahme; nur in 
volkstümlichen Dichtungen und in der Volkslitteratur sind wieder 
einige Spuren davon erhalten, so in dem Romane von Lyhistros 




und Rhodamne, während die unter der satirischen Litteratur 
angeführten sowie andere Tiergeschichten wohl als direkte 
Ableger des »Physiologos« zu betrachten sind. Bezeichnend dafür, 
dals die ebenfalls aus dem \'or5tellungskreise des »Physiologost 
hervorgegangene Tierfabel im griechischen Mittelalter keine 
Pflege fand, ist die Tatsache, dafs die poetische Bearbeitung einer 
solchen in der Geschichte vom Esel, Wolf und Fuchs wahrschein- 
lich eine Nachahmung abendländischer Tiergeschichten aus dem 
Kreise desjReinekeFuchsiist, Kulturgeschichtlich ist der griechische 
-»Physiologost dadurch von Interesse, dafs er wie die genannten 
indischen Geschichten ebenfalls zu den Slaven übergegangen ist, 
während die abendländischen Bearbeitungen erst auf einer lateini- 
schen Übersetzung des griechischen beruhen. 

Orientalische Stoffe, die nicht, wie die eben besprochenen, 
europäisches Gemeingut geworden, sondern griechisches Eigentum 
geblieben sind, scheint es nur wenige zu geben. Bisher ist davon 
nur bekannt die merkwürdige, ursprünglich wohl indische Ge- 
schichte vom armen Leon, d, h. eigentlich vom reichen 
L,eon, der, verarmt, sich als Sklave verkaufen liels. und durch 
seine Kirnst des Weissagens sich die Gunst des Königs erwarb, 
der ihn schliefslich freiliels. Das Ganze ist wohl eine Verherr- 
lichung der Weisheit des Alters, das ja auch bei den heutigen 
Griechen die höchste Schätzung geniefst. Sagt doch selbst ein 
griechisches Sprichwort, das v?ohl auf unserer Geschichte beruht : 
»Hast du keinen Alten, so kauf dir einen.*: Aus einer älteren 
Quelle desselben Stoffes stammt zwar auch das russische Lied 
vom Kauf man nssohne Iwan, sowie das altfranzösiche Epos 
jEracleSä des Gautier von Arras, das auch ins Deutsche 
überging, doch ist dieser Stoff immerhin nicht so international 
geworden wie die übrigen, und auch die Tatsache, dafs die byr 
zantinische Fassung als Quelle der anderen diente, stellt sie über 
diese und lätst sie als griechisches Eigentum erscheinen"). 

Wenn also, wie schon erwähnt, die stärksten orientalischen 
Einwirkungen auf die griechische Kultur des späten Altertums 
und des Mittelalters im ganzen weniger auf der Oberfläche liegen 
und mehr esoterischer Natur sind, mit dem ganzen Empfinden 
und Denken des Volkes schon zu eng verwachsen, als dafs sie sich 
rein herausdestillieren liefsen, und wenn sie daher als feste Voraus- 
setzung fUr das Verständnis des gesamten späteren Griechentums 



— 93 — 

anzusehen sind, nicht erst als Folge bestimmter historischer 
Ereignisse, so stimmt zu dieser Annahme; auch, dals selbst 
die Vorgänge in den beiden romantischen, unter fränkischem 
Einfluls entstandenen Liebesromanen von Belthandros und von 
Lybistros sich auf orientalischem Boden abspielen, besonders 
in Kleinasien und Ägypten: Belthandros wandert durch Ana- 
tolien und die (asiatische) Türkei-, Tarsos wird erwähnt; 
er liebt die Tochter des Königs von Antiochia. Ganz ähnlich 
trifft Lybistros seinen Gefährten Klitobos in Ägypten; er soll 
König von Argyrokastron (im Pontus) werden; Klitobos stammt 
aus Litauen, das als ein Teil von Armenien gedacht ist; mit 
Hilfe einer babylonischen Zauberin wird Rhodamne befreit. 
Also nirgends ein europäischer Ländername; der Schwerpunkt 
des Griechentums lag eben ganz im Orient, und auch die Phan- 
tasie des Griechen schweifte dorthin, holte sich von dort ihre 
Anregungen. Besonders im Osten wogte der Kampf um des 
Reiches Grölse ; dort platzten die verschiedensten Völkerschaften 
aufeinander, fand der regste geistige Austausch statt und die 
fruchtbarste Berührung. In solchen Gegenden sucht sich auch 
die Phantasie ihre Nahnmg, weil sie da aus dem Vollen schöpfen 
kann, Kämpfe, Helden und Abenteuer zur Verherrlichung vor- 
findet, Stoffe, an denen sie ihre Gestaltungskraft erproben und 
mit farbigen Fäden ihre Wundergestalten in das graue Gewand 
der Sage sticken kann. Freilich mufs zu der äufseren Crelegen- 
heit auch der heldenhafte Geist der Zeit sich gesellen, das Hoch- 
gefühl der eigenen Kraft und der Stärke des Reiches. 

Ein solch glückliches Zusammentreffen von verschiedenen 
Umständen liefs zur Zeit der Machtfülle des Franken- 
reiches aus den Kämpfen Karls des Grofsen mit den Spaniern 
die Heldengestalt Rolands erstehen, aus dem Zusammenprall 
der todesmutigen Spanier mit der maurischen Übermacht erwuchs 
das edle Bild des Cid, und aus den Kämpfen byzantinischer 
Markgrafen mit den das Reich im 10. Jahrhundert an der Ost- 
grenze, im Hinterlande Kleinasiens bedrohenden mohammedanischen 
Räuberscharen stieg nun auch ein kriegerischer Volksheld in die 
Höhen der Sage und Dichttmg empor, die Crestalt desDigenis 
Akritas, d. h. des aus zwei Stämmen erzeugten Markgrafen, 
des Sohnes eines Syrers und einer Griechin. Freilich darf man 
diesen mehr durch körperliche als geistige Kraft hervorragenden 



Kämpen nicht in eine innere Parallele stellen zu jenen abend- 
lündischen Heroen, — in diesem Sinne gleicht er vielmehr dem 
National hei den der Serben und Bulgaren, dem vielgefeierten 
Marko Kraljevitsch, oder dem russischen Helden Igor; es ist eben 
der T}-pus des osteuropäisch-orientalischen Helden, der uns in 
der Herakles-Gestalt des Markgrafen Digenis entgegentritt. 

Waren es bisher namentlich erbauliche Stoffe, die dem Griechen- 
tum vom Orient her zuflössen, dann einige Märchenmotive, so sehen 
wir nun , dafs auch das Heldenideal des griechischen Mittelalters 
orientalischen Ursprungs ist. Es kommt damit ein ganz neues 
Element in die Volksphantasie: durch die Berührung mit der 
höheren Geistesbildung des r9manischen Occidents war das 
lyrische Empfinden im griechischen Volke neu geweckt worden ; 
durch die Berührung mit der physisch überlegenen Naturkraft 
des Orients wird der griechischen Poesie eine Fülle von 
epischen Motiven zugeführt, die Freude an tapferen Helden- 
taten neu belebt. Beide Elemente haben dann an dem Aufbau 
der neugriechischen Volkspoesie mitgewirkt: jenes gleichsam als 
das weibliche, dieses als seine männliche ErgJlnzung; dort als 
passives Gefühl, hier als aktive Tat. Basilios Digenis ist das Ur- 
bild des griechischen Pallikaren, die Lieder, die sich an seinen 
Namen knüpfen, sind Vorläufer der neugriechischen Heldenlieder. 
Wie diese, feiern auch jene die Heldentaten der Griechen gegen 
die Mohammedaner. Mit Digenis gewinnt die griechische Poesie 
zum ersten Male seit der homerischen Zeit wiedei- einen volks- 
tümlichen Helden. 

Zwei Besonderheiten h-eilich hat der halb orientalische 
Charakter dieser Heldenfigur zur Folge gehabt, die sie selbst 
von so verwandten Gestalten wie Marko Kraljevitsch unter- 
scheiden: erstens hat Digenis' Heldentum keinen ausgesprochen 
nationalen und — wasdamitzusammenhängt — auchkeinenoffiziellen 
Charakter. Er ist weder wie Marko ein Königssohn, noch hat 
er jemals die Hauptstadt des Reiches gesehen. Die Sage bringt 
ihn sogar in einen gewissen Gegensatz zum Kaiser; er stand 
nicht wie Roland und der Cid in dessen Diensten, sondern er- 
freute sich einer starken Selbständigkeit. Darum scheint es mir 
auch nicht berechtigt, ihn als »byzantinischen Nationalhelden« 
zu bezeichnen, schon weil es keine byzantinische Nation gab, 
sondern nur ein byzantinisches Reich. Ein Reichsheld aber war 



— 95 — 

er ganz gewifs nicht. Im Gegenteil: nicht die Phantasie der 
Byzantiner hat ihn verherrlicht; denn dann wäre er ebensowenig 
noch am Leben wie Belisar^ sondern die eines kleinen Teiles des 
griechischen Volkes hatte ihn als ihren lokalen Volkshelden auf 
den Schild gehoben. In Byzanz wird man vermutlich von dem 
Bastard und seinen Taten ebensowenig Kenntnis genommen 
haben wie von allem, was im Volke vorging, und die Weihe, 
die er von der Phantasie des Volkes empfing, hat sicher keine 
offizielle Bestätigung von Kaisers Gnaden erhalten; wenigstens 
möchte ich sehr bezweifeln, ob man je am byzantinischen Hofe 
Lieder aus dem Akritenkreise vorgetragen hat, wie man z. B. 
Stücke des Nibelungenliedes am Wiener Hofe vortrug. 

Trotzdem — und das ist eine eigene Ironie des Schicksals — 
hat der halb sagenhafte Markgraf die stolzen byzantinischen 
Herrscher alle überlebt; selbst von den heldenhaften Kaisem 
Nikephoros Phokas und Basilios IL, zu deren Zeit sich die Digenis- 
Sage wohl gebildet haben wird, weifs das Volk nichts mehr; da- 
gegen singt es noch heute in jenen selben östlichen Gegenden, 
in Trapezunt, Kappadokien und auf Cypem, Lieder auf die un- 
geheure Kraft und Tapferkeit seines einstigen Lieblingshelden, 
dessen Ruhm sich immer mehr verbreitete, und um den sich ein 
ganzer Kreis von Sagen und Liedern, auch auf andere Helden, 
ansetzte, die man dann — bezeichnenderweise erst nach dem 
Falle des Reiches — ziemlich ungeschickt zu einem Ganzen ver- 
arbeitete. 

Aus den zwei erhaltenen verschiedenen Bearbeitungen läfst 
sich nun der Kern des Heldengedichtes leicht herausschälen. Es 
gliedert sich, ähnlich wie die »Gudrun«, in zwei Hauptteile: der 
erste behandelt die Lebensschicksale der Eltern des Helden, der 
zweite die des Helden selbst. Jener beginnt mit einem Brautraub : 
der syrische Emir Musur plündert das Schlols des byzantinischen 
Generals Andronikos Dukas in Kappadokien und führt dessen 
Tochter mit sich fort. Ihre fünf Brüder verfolgen ihn und bieten 
ein Lösegeld für ihre Befreiung; der Emir besteht auf einer 
Entscheidung durch Zweikampf und wird von dem jüngsten 
Bruder besiegt. Nach einer vergebens angewandten List ent- 
schliefst er sich, zimi Christentum überzutreten, und alle zusammen 
ziehen in die Heimat, wo die Taufe des Emirs und die Hochzeit 
stattfinden. Nur seine alte Mutter ist zurückgeblieben, und durch 



— 96 ~ 

ihr Eingreifen brechen nun schwere Konflikte über den Emir 
herein, der zu ihr zurückkehren und seinem alten Glauben wieder 
treu werden soll. Er wird nun zwischen Kindes- imd Gatten- 
liebe hin und her geworfen. Einer drohenden Entzweiung zwischen 
ihm, seiner Frau und deren Brüdern beugt jene geschickt vor,, 
indem sie die vermeintliche Rückkehr nur als Besuch zu deuten 
weifs. Nachdem der Emir sich durch einen Eid zur Rückkehr 
verpflichtet, nimmt er Abschied von der Gattin und kommt, durch 
den Trennungsschmerz zur Eile getrieben, unter mancherlei 
Abenteuern bei der Mutter an. Indem er ihren Vorwürfen ob 
seines Übertrittes sein christliches Glaubensbekenntnis entgegen- 
hält, gelingt es ihm — wenn auch etwas schnell — , die Mutter 
und ihre Umgebung auch für das Christentum zu gewinnen, und 
er führt die bekehrte Mutter der Tochter zu: die Familienbande 
sind durch die Glaubenswechsel wiederhergestellt. Mit einer 
innigen Schilderung des Wiedersehens der Gatten schliefst der 
erste Teil. 

In den Worten des Vaters an sein inzwischen geborenes 
Söhnchen : 

Wann wirst du, lieber Falke, die Flügel regen nun, 
Ein Rebhuhn*) dir erjagen, den Räubern an es tun? 

ist nun bereits das Thema zum zweiten Teil, der eigentlichen 
Lebensgeschichte des Digenis, angeschlagen: innige Liebe und 
gefährliche Abenteuer, die Lust jedes wahren Recken, füllen auch 
sein Leben aus. Nachdem der Knabe, zwölf Jahre alt, auf einer 
Jagd Proben seiner Kraft und Tapferkeit gegeben, geht es gleich 
auf dem Rückweg an die Brautwerbung, die natürlich, wie es 
dem Sohne des Emirs geziemt, wieder in einer heimlichen Ent- 
führung besteht, doch mit ausdrücklicher Einwilligtmg der Eu- 
dokia (so hiefs die Braut). Wie im ersten Teil kommt es zu 
einem Kampf zwischen dem Entführer und den Verwandten der 
Braut; Digenis bezwingt ihre Brüder, worauf der Vater seine 
Zustinmiung gibt und reiche Mitgift verheifst. Darauf folgt lange, 
fröhliche Hochzeit. — Nach einer Zusammenkunft zwischen Digenis 
imd dem Kaiser Basilios, der ihn selbst aufsucht und sich — ganz 
unbyzantinisch — von ihm willig über Herrscherpflichten und 
Untertanenwohl belehren läfst, folgen in lebendiger Selbst- 



d. h. eine Braut. 



— 97 — 

Schilderung die Abenteuer des Helden: zunächst bezwingt er 
einen Drachen und einen Löwen, darauf drei Räuberhauptleute 
(sog. Apelaten) und schliefslich eine von diesen zu Hilfe gerufene 
Amazone nebst deren Mannen. Obwohl der ganze Kampf zum 
Schutze seiner Gattin geführt wird, so hindert dies den verliebten 
Helden doch nicht, sich mit der Amazone in ein Liebesabenteuer 
einzulassen. Nach allen diesen Ereignissen scheint der noch 
jugendliche Held des Kampflebens satt zu sein : er baut sich am 
Euphrat ein mit allem orientalischen Luxus ausgestattetes Schlofs, 
wo er an der Seite seiner Eudokia ein trautes Stilleben führt, 
dessen Glück nur durch den Tod seines Vaters und durch Kinder- 
losigkeit getrübt wird und durch den frühen, fast gleichzeitigen 
Tod des Paares ein jähes, doch versöhnliches Ende findet. 

Dies in grofsen Zügen der Verlauf der Handlung, die in 
der kürzesten und besten Bearbeitung noch nicht 4000 Verse 
umfafst. Wie man sieht, fehlt darin der weite historische und 
nationale Hintergrund, wie er das romanische, die grofsartige 
Komposition und Vielgestaltigkeit, wie sie das germanische, 
oder gar die Vereinigung von beiden, wie sie das alt griechi- 
sche Volksepos auszeichnen. Man merkt, dafs es eine ganz 
andere, weit weniger sturmdurchbrauste Welt ist, die sich darin 
spiegelt, dafs das ganze Werk aus kleineren, harmloseren Ver- 
hältnissen erwachsen ist, die nicht geeignet waren, die mensch- 
lichen Leidenschaften im Innersten aufzurühren. Die Handlung 
verläuft mehr episodenhaft, ist mehr einförmig als einheitlich ; sie 
steigert sich nur selten zu gewaltigen, sich allmählich an- 
kündigenden Konflikten — nur im ersten Teil findet sich ein 
Ansatz dazu vor der beabsichtigten Rückkehr des Emirs zu 
seiner Mutter, doch wird er nicht ausgebeutet — , nimmt keine 
unerwarteten Wendimgen, schwillt nicht an zu vollen, reichen 
Akkorden, sondern hält sich in einem gleichmäfsigen, wenig ab- 
gestuften Tonfall, steht daher zu den westeuropäischen Epen in 
einem ähnlichen Gegensatz, wie die orientalische Musik zu den 
kunstvollen, komplizierten Tongebilden der occidentalischen. Man 
mufs eben, wenn man dem Werk gerecht werden will, es im 
Zusammenhange mit dem orientalischen und slavischen Helden- 
lied beurteilen. Dann erklärt sich auch sein Mangel an dramati- 
schen Elementen, die beschauliche und patriarchalische Lebens- 
auffassung, die naive Freude an Abenteuern, die geringe Ent- 

Dietericfa, Gesch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 7 



— 98 — 

Wicklung des sittlichen Bewufstseins trotz der hohen Schätzung 
des Familienlebens, überhaupt die geringere Differenzierung der 
Charaktere — alles Kennzeichen einer unentwickelteren, teils in 
natürlicher Ungebundenheit, teils in kultureller Gebimdenheit 
verharrenden Kulturstufe. 

Die künstlerischen Schwächen des Werkes ergeben sich also 
aus dem Wesen des Kulturkreises, dem es entstammt. Das zeigt 
sich nicht nur im ganzen, sondern auch in Einzelheiten. Dahin 
gehört die fast durchgängige direkte Charakteristik der Per- 
sonen im Gegensatz zu der indirekten in den homerischen Epen; 
ebenso viele psychologische Unwahrscheinlichkeiten einerseits, 
sowie überflüssige Erklärungen psychologischer Selbstverständ- 
lichkeiten andererseits, die geringe Anschaulichkeit der Massen- 
kämpfe u. s. w. Daneben aber erfreut schon die bewufste An- 
wendung kleiner Kunstmittel zur Erzielung höherer Wirkungen 
und Abwechslungen, so die Wahl des Eigenberichtes in den 
mittleren Partien des Liedes, die Belebung einer Reisebeschrei- 
bung durch die Schilderung des Seelenzustandes des Reisenden, 
die Darstellung der äufseren Erscheinung der Braut des Digenis 
in dem Augenblick, wo dieser sie erblickt, wie überhaupt die 
richtige Behandlung des Psychologischen in der Werbungsszene 
— alles Vorzüge, die man in den byzantinischen Romanen 
ä la Prodromos vergebens suchen würde. 

Höher als die technische Handhabung aber steht der rein 
menschliche Stimmungsgehalt der Dichtung. Es weht einem 
daraus endlich wieder ein echtes, ungekünsteltes Empfinden ent- 
gegen: aufrichtige, nur selten aufdringliche Frömmigkeit, 
inniges Naturgefühl und reiner Familiensinn, und über 
allem ein Anflug von gesundem Humor. Frömmigkeit zieht sich 
durch das ganze Gedicht; besonders in dem ersten Teil mit der 
doppelten Bekehrung des Emirs und seiner Mutter und am 
Schlufs in dem Gebet der Eudokia für ihren erkrankten Gatten 
wirkt noch etwas nach von dem glaubensfrohen Ton christlicher 
Überzeugung, wie er jene indisch-christlichen Erbauungsbücher 
vom Baarlam beseelte. Die schwermütige Liebe des Digenis zu 
Natur und Einsamkeit könnte man leicht als ein Vorwegnehmen 
Rousseauscher Stimmung bezeichnen und übertrieben finden, 
wenn man nicht wüfste, dafs sie tief in dem griechischen Volks- 
charakter begründet ist. Hierher gehört die romantische Schil- 



— 99 — 

derung des Wonnemonats Mai, die Teilnahme der Natur an der 
Freude des Wiedersehens der Geliebten vor der Hochzeit, die 
Liebe und Anhänglichkeit des Helden an sein Rols, und dann in 
der Todesstunde das sehnsuchtvolle Festhalten aller holden 
Lebenserinnerungen in den letzten Worten an die Gattin: 

Des Lebens süfse Freuden sind hin auf immerdar. 
Noch einmal lafs mich schauen dir in das Auge klar! 
Die Liebeslust, zerronnen, kehrt nimmer mir zurück; 
Lafs mich noch einmal schwelgen in der Erinn'rung Glück! 

Nicht weniger innig wird die Liebe dargestellt, die Eltern- 
wie die Gattenliebe. Das Verhältnis von Mutter und Kind ist, 
wie überhaupt bei den Griechen, besonders herzlich., so das des 
Emirs zu seiner Mutter, das seiner Söhne zu der ihrigen-, auch 
das Verhältnis des Digenis zu seinem Vater erscheint in einem 
schönen Lichte bei dessen Tode. Nicht weniger zärtlich ist die 
Liebe des Helden zu seiner Frau und trotz seines zweimaligen 
Fehltrittes mehr als blofse Geschlechtsliebe; er will erst ihrer 
Zuneigung sicher sein, ehe er sie entführt-, er verschmäht die 
ihm gebotene Mitgift (»Ich wies die Morgengabe zurück mit 
stolzem Sinn, Mich trieb zu dir die Liebe, nicht Sucht nach Gold 
und Ruhm«); er stürzt sich um ihretwillen in Kämpfe und Ge- 
fahren («Und was ich je vollbrachte, stets trieb mich kühner 
Mut, Zu werben und zu wahren nur dich, mein höchstes Gut«); 
und sein schönster Trost ist es, selbst sterbend, seine Geliebte 
ihm im Tode vorangehen zu sehen (»Wohl mir! Von schwerer 
Sorge ist nun mein Herz befreit, Dals ich sie nicht verlasse 
schutzlos in Einsamkeit«). 

Am anziehendsten ist der bunte kultur- und sagenhistorische 
Hintergrund, auf dem sich das alles abspielt. Was der Hand- 
lung an epischer Gröfse abgeht, das ersetzt er durch den Reich- 
tum an epischen Motiven. Und so wenig das Gedicht als Ganzes 
dem griechischen und germanischen zu vergleichen ist, so stark 
erinnert es daran in einzelnen Zügen. Zahlreiche homerische 
Anklänge teilt es mit dem Erotokritos, nicht in den Gleichnissen, 
die hier ganz fehlen, sondern in dem typischen Ausdruck, den 
man wieder in jenem vermifst, dann in manchen Einzelheiten 
der Kampfszenen. Im übrigen erinnert der Held mehr an 
Herakles als an Achilles, durch seine frühe Kraft, seine Kämpfe 

7* 



— 100 — 

mit Ungeheuern, sein Liebesverhältnis zu der Amazone. Man 
hat bei diesem an Herakles und Omphale gedacht, doch läfst 
es sich wohl eher mit Siegfrieds Stellung zu Brünhilde ver- 
gleichen: auch die Amazone will sich nur dem hingeben, der sie 
überwindet. An das germanische Epos erinnert ferner auf- 
fallend ein Traum, den der jüngste Bruder von Digenis' Mutter 
hat, als diese ihren Mann, den Emir, nach der Heimat begleiten 
will: eine Taube wird von einem Habicht und einem Falken 
verfolgt, nur dafs auch dieses Motiv für die Entwicklung des 
Epos keine Bedeutung hat. Die Situation vor und während 
Digenis' Drachenkampf ist ganz ähnlich der Siegfrieds im 
Nibelungenliede: beide schlafen im Walde an einer Quelle bei 
Vogelgesang. Auch in seinem Charakter und Schicksal hat 
Digenis, wenn man von seiner orientalischen Sinnlichkeit absieht, 
manches mit Siegfried gemein : die Aufrichtigkeit seines Wesens, 
die Grofsherzigkeit gegenüber den Besiegten und Frauen, den 
frühen Tod. Wenn es heifst, dafs Digenis blondes Haar hat, so 
ist das wohl nur ein Ausdruck für seltene Schönheit. 

Stärker sind freilich die Anklänge an orientalische 
Epen und Sitten. Die doppelnationale Abstammung konrnit 
häufig in ersteren vor. An indische Erzählungen erinnern Züge, 
wie der Hang zur Einsamkeit, die Erscheinung eines Drachens 
in Gestalt eines schönen Jünglings (so auch im Ramayäna). 
Reminiszenzen an das Alte Testament sind sehr beliebt, so das 
mühelose Zerbrechen der Fesseln (Simson), das Zerreifsen wilder 
Tiere in zwei Teile (Simson); auch sonst wird auf das Alte 
Testament angespielt. Orientalisch ist auch die Pracht in der 
Schilderung von Digenis' Gärten, die von ähnlichen Schilde- 
rungen in den griechisch-fränkischen Romanen sichtlich beein- 
flufst ist. Etwas Orientalisches verrät sich endlich auch in der 
Zurückgezogenheit, in der Digenis' Frau lebt. 

Spuren byzantinischer Kultur zeigen sich nur in der tadel- 
losen Rechtgläubigkeit der Personen (der neubekehrte Emir betet 
vor seiner Mutter gleich das ganze Glaubensbekenntnis her, und 
auch vor den Kämpfen wird gebetet) und in ihrer unverbesser- 
lichen Schreibseligkeit: während im germanischen Epos Be- 
stellungen stets durch Boten ausgerichtet werden, schreibt hier 
alles Briefe, Männer und Frauen, Heiden und Christen. Ehe der 
kleine Digenis Keule und Schwert in die Hand bekommt, mufs 



— 101 - 

er erst drei Jahre lang lesen und schreiben lernen. Die byzanti- 
nische Kunst mit musivischen Darstellungen aus der biblischen 
und altgriechischen Geschichte und Sage schmückt den Palast 
des Digenis. 

Zu alledem gesellt sich dann und schlingt sich wie blühen- 
des Rankenwerk um Säulen und Wände die reiche Fülle echt 
volkspoetischer Motive, die hier zum ersten Male deutlich hervor- 
brechen, durch das Ganze sich hindurchziehen und einen frischen 
Duft darüber verbreitend^'). 

Fafst man alles zusammen, so kann kein Zweifel bestehen, 
dafs das Digenisepos die wahre Ausgeburt der mittelalterlich- 
griechischen Volksphantasie ist, die sich hier in ihrer vollsten, 
fast vollendeten Blüte darstellt ; und wenn auch die byzantinischen 
Schulmeister ihre »veredelnden« Finger nicht ganz davon lassen 
konnten, so konnten sie ihr doch nichts anhaben, die Wurzeln 
hatten sich zu tief und fest im Volksboden eingewühlt; sie 
breiteten sich darunter aus, trieben nach verschiedenen Rich- 
tungen hin neue Schöfslinge, die wieder befruchtend auf andere, 
bescheidenere Blüten der Poesie einwirkten und ihnen von ihrer 
Kraft mitteilten. 

Als eine Art Weiterwucherung des Digenisliedes stellt sich 
das sogenannte Armurislied dar, das eine Episode aus jenem 
behandelt, nämlich das Verhältnis von Vater und Sohn, wobei 
dieser dem Digenis Akritas entspricht. Der Inhalt ist kurz der, 
dafs der Sohn den in die Gefangenschaft der Araber geratenen 
Vater aufsucht, dabei die Araber wiederholt besiegt und es so 
erreicht, dafs der arabische Emir den Vater nicht nur freigibt, 
sondern auch den Sohn dadurch zu besänftigen sucht, dafs er ihm 
seine Tochter zur Frau verheifst. Das offenbar unvollständige 
Lied hat sein Entdecker, der russische Byzantinist Vesselovskij, 
durch die Annahme zu ergänzen gesucht, dafs der befreite Vater 
mit dem Sohn zusammentrifft und, von diesem unerkannt, in 
einen Zweikampf verwickelt wird, ähnlich wie im deutschen 
Hildebrandsliede. Diese Vermutung wird nun durch die neu- 
griechischen Volkslieder von dem Sohn des Andronikos und von 
Tsamados und seinem Sohn bestätigt^ deren Inhalt gerade den 
im Armurisliede vermifsten Abschlufs, den zwischen Vater und 
Sohn drohenden Zweikampf, bildet 3 =). 

Dafs Armuris der Sohn tatsächlich der Digenis des Epos 




— 102 — 

ist, nur mit etwas fabelhaft tibertreibeaden Zugeo ausgestattet, 
geht aus vielen Anklängen deutlich hervor: zunächst aus dem 
Ort der Handlung, die sich in Kappadokien und am Euphrat 
abspielt, dann aus dem frühen Heldentum des Armuris, endlich 
aus seinen unentbehrlichen Attributen des Rosses und der Keule. 
Auf der anderen Seite berührt sich das Lied so eng mit dem 
sicher zum Digenisepos gehörenden vom Sohn des Andronikos, 
dals es sicher als einer der vielen Nebenschöfslinge des Akriten- 
zyklus zu betrachten ist^^). 

Sodann vollzog sich zwischen den Digenisdichtungen — sie 
waren ja ursprünglich getrennt und leben auch als solche fort — 
und bereits bestehenden älteren griechischen Heldensagen ein 
gegenseitiger Assimilierungsprozefs, so dafs beide nun trotz ihres 
verschiedenen Ursprungs innerlich zusammengehören. Diese 
Wechselwirkung kann man deutlich beobachten an den Dich- 
tungen, die sich an den Namen Achills und Alexanders d. Gr. 
knüpfen, an der AchiUe'is und an dem Alexanderlied. 
Dabei spielte jene eine vorwiegend passive , dieses eine mehr 
aktive Rolle. 

Wenn wir die beiden Gruppen der griechischen Poesie des 
Mittelalters, die wir eben betrachtet haben, die romanisierende 
und die orientalisierendc , uns noch einmal in ihrem Wesen ver- 
gegenwärtigen und dann das mittelalterliche Achillesgedicht 
ins Auge fassen, so bemerken wir, dafs dieses gleichsam eine 
Kontamination beider Gruppen darstellt, indem Achilles darin als 
ein in fränkisch-ritterliches Milieu verpflanzter Digenis erscheint. 
Er wird wie ein französischer Ritter erzogen, geht aus einem 
Turnier früh als Sieger hervor , zieht mit zwölf seiner Getreuen 
in den Kampf gegen einen fremden Fürsten, der, iihnlich wie im 
»ErotokritosT , das Land bedroht. Und wie im Digenisliede der 
Held auf einem seiner Kriegszüge sich die Tochter eines Fürsten 
als Gattin erobert, so Achilles die des feindlichen Königs, Poly- 
xena. In beiden Gedichten erfolgt darauf die Versöhnung. 
Auch das frühe Heldentum, sowie sein und seiner Gattin früher 
Tod erinnern an Digenis' Schicksal, Erst der zweite Teil des 
Gedichtes lehnt sich etwas mehr an die antike Sage an, die frei- 
lich sehr entstellt ist: Achilles zieht gegen Troja, Paris lockt 
ihn unter dem Versprechen, ihm seine Schwester zur Frau zu 
geben, in die Stadt, wo er in der Kirche ermordet wird'*). 



— 103 — 

Dieser Zug, der einem syrisch-griechischen Chronisten ent- 
lehnt ist, beweist, wie fremd die Antike'dem damaligen Griechen- 
tum geworden war; nur noch einige Namen hat diese Achillefe 
mit der Ilias gemein. Und sehr bezeichnend ist es, dals ein 
anderer, gleichzeitiger Bearbeiter der Ilias selbst als Hauptquellen 
nicht das Original, sondern zwei ebenfalls byzantinische Chroniken 
benutzt hat, während ein dritter Zeitgenosse für die poetische 
Darstellung des trojanischen Krieges nichts Besseres zu tun 
wuIste als den altfranzösischen Trojaroman von Benoft de Sainte- 
More zu übersetzen ^s). Und das geschah in der Zeit der litterarischen 
Renaissance der Komnenen, im 14. Jahrhundert! Wenn übrigens 
die Achille'is immerhin einigen poetischen Sinn zeigt, so verdankt 
sie dies nicht der Antike, die eben tot war, sondern der Berührung 
mit dem Empfinden und der Phantasie des Volkes. Es lehrt 
dieses Beispiel recht deutlich, wie es mit den Wiederbelebungs- 
versuchen der Antike bei den späteren Griechen bestellt ist, und 
wie allein in der Anlehnung an die Volkspoesie das Heil der 
Kunstdichtung lag. 

Die einzige Gestalt, die sich aus dem Altertum bis in die 
Gegenwart bei den Griechen leidlich lebendig erhalten hat, ist 
die Alexanders des Grofsen. Das hat natürlich seine guten 
Gründe-, beginnt doch mit ihm eine neue Periode in der grie- 
chischen Geschichte, die der Begründung des griechischen Welt- 
reiches mit der Hauptstadt Alexandria, dessen Erbe dann das 
byzantinische Reich wurde. So hat Alexander gleichsam den 
ersten Keim zu diesem gelegt, und so blieb er auch dem Volke 
vertraut, und die Phantasie umgab ihn mit einem dichten Sagen- 
geflecht. Ähnlich wie die deutsche Volkssage den Kaiser Barba- 
rossa stellt sich die griechische den »König Alexandros« noch 
als lebend vor. Den griechischen Schiffer bangt noch heute vor 
der Gorgone, die ihr Haupt aus den Wogen erhebt und mit 
Donnerstimme die Frage an ihn richtet, ob der König Alexander 
noch lebe. Wehe dann dem Unglücklichen, wenn er mit »Nein« 
antwortet! Und in Epirus hat sich in einer Volkssage die 
Gestalt des Makedonierkönigs seltsam verquickt mit der des 
Phrygierkönigs Midasss»^. Man sieht, dafs die Alexandersage für 
die Griechen eine ganz andere Bedeutung hat als für den Occident, 
den sie sich im Mittelalter ebenfalls erobert hat, wo sie aber 
nur litterarische, keine volkstümliche Verbreitung fand. Die 



— 104 — 

Quelle dieser sämtlichen fabelhaften Geschichten über Alexanders 
Kriegszüge ist wahrscheinlich in Alexandria selbst zu suchen, 
doch sind sie nur in apokryphen Bearbeitungen erhalten, die be- 
sonders dem 3. Jahrhundert n. Chr. angehören und als Pseudo- 
Kallisthenes bekannt sind. Während die abendländischen Ver- 
sionen auf eine lateinische Bearbeitung des 10. Jahrhunderts 
zurückgehen, beruhen die drei mittelgriechischen auf den ursprüng- 
lichen, wenn auch stark modernisierten altgriechischen Be- 
arbeitungen, aus denen ihrerseits wieder mehrere orientalische 
geflossen sind, eine syrische, armenische, äthiopische und georgische. 
Es lassen sich also auch in der Geschichte der Alexandersage, 
wie in derjenigen der orientalischen Volksbücher von Sindbad, 
zwei Gruppen unterscheiden, eine orientalische und eine occidenta- 
lische. Nur geht die Verzweigung in der ersteren noch weiter, 
indem sich, gröfstenteils von den mittelgriechischen Versionen unter 
dem litterarischen Einflufs von Byzanz zahlreiche südslavische, 
rumänische und russische Alexanderromane abgespalten haben, 
so dafs man nun tatsächlich von einer germanisch-romanischen 
und einer griechisch-slavisch-orientalischen Form der Alexander- 
sage sprechen kannst). 

In der Reihe der vorgeführten epischen Werke ist das 
Heldenepos vom Digenis Akritas dasjenige, in welchem der grie- 
chische Volkscharakter am frühesten und reinsten sich offenbart. 
Während die Liebesromane der fränkischen Zeit noch stark von 
byzantinischen Schlacken durchsetzt sind, die Werke der kretisch- 
venetianischen Zeit von bestimmten Verfassern herrühren und 
sich an bestimmte Vorbilder anlehnen, ist der Digenis Akritas 
das eigentlich volkstümliche Epos des griechischen Mittelalters. 

Diese ganze epische Dichtung gehört aber der Form nach 
schon durchaus der Vergangenheit an; sie bildet den letzten 
Vertreter des mittelalterlichen Versromanes. Ihr innerster Kern 
aber trägt dennoch die ganze griechische Volkspoesie der Cregen- 
wart in ihren Elementen in sich. Diese ist in den zahlreichen 
lyrischen Partien jener Dichtungen schon deutlich vorgebildet 
imd hat sich daraus weiter differenziert. So hat schon während 
des Mittelalters die Volkspoesie sich ihrer äufseren Fesseln, die 
ihr die epische Fdfm angelegt hatte, entledigt, und die ver- 
schiedenen Gruppen, in die sie sich gliedert, treten wenigstens in 
ihren allgemeinen Umrissen immer schärfer daraus hervor; die 



— 105 — 

grolsen kompakten Massen des Epos lösen sich allmählich auf in 
die leichteren, dem modernen Empfinden mehr zusagenden lyrischen 
Formen, deren jede einem bestimmten allmenschlichen Gefühls- 
inhalt entspricht, je nachdem er sich äufsert als Liebe zum 
Weibe, zu Familie und Heimat, zu Welt und Leben, 
bezw. als Furcht vor dem Tode. Diese drei Gruppen, aus denen 
die neugriechischen Liebe^lieder, die Abschieds- und 
Totenlieder und die eigenartigen Charoslieder hervor- 
gegangen sind, lassen sich in den kleineren volkstümlichen 
Dichtungen des griechischen Mittelalters schon deutlich erkennen, 
und es ist überaus bezeichnend, dafs es gerade diejenigen poetischen 
Gattungen sind, die wir in der byzantinischen Litteratur so schmerz- 
lich vermilst haben. 

Ein früher Blütenstraus griechischer Liebeslyrik ist in 
einer Art Liebesbrevier zusammengebunden, das der Zeit nach 
zimi Teil noch in jene von altfranzösischem (reiste erfüllte Zeit 
der Ritterpoesie des 14. Jahrhunderts gehört; es erweist sich 
durch dieses sein Alter nicht nur als eines der frühesten Zeug- 
nisse der reinen griechischen Volkspoesie überhaupt, sondern 
wirft auch Licht auf den kulturgeschichtlichen Ursprung der neu- 
griechischen erotischen Lyrik : sie ist zweifellos unter fränkischem 
Einflufs zu Stande gekommen. Schon in den grofsen Vers- 
romanen zeigt sich die moderne, veredelte Auffassung der Liebe 
im Gegensatz zu der grob-sinnlichen der Byzantiner, aber nur 
erst im Kern, nicht in der Form. Die ersten wirklich volks- 
tümlichen Liebeslieder, die seit tausend Jahren in griechischer Zunge 
neu erklangen, enthält jenes genannte Liebesbrevier, in welchem 
Lieder und Liederzyklen verschiedener Art und Herkunft zu- 
sammengefafst sind, ein wohl als Tanzlied aufzufassendes schalk- 
haftes Wechselgespräch zwischen einem Jüngling und einem 
Mädchen, dann eine Anzahl von Liebesklagen eines Jünglings 
in der Form zweizeiliger Strophen ähnlich den türkischen Man^s, 
endlich eine ganze auf einer eigentümlichen Zahlenspielerei be- 
ruhende Liebesprüfung, die darin besteht, dafs der junge Liebes- 
kandidat, um vor seiner spröden Erwählten Gnade zu finden, 
ihr hundert Liebesverse hersagen mufs, die je mit einer 
Zahl von 1 — 100 beginnen. 

Da das Mädchen den offenbar noch kleinen Knirps nicht 
ernst nimmt, erbietet er sich selbst zu einer Prüfung: 




Garten, 



— 106 — 

'Prüfe mich, ehe du sprichst, dats du mich richtig erkennest; 
Bin ich auch klein von Gestalt, ist doch die Leidenschaft gjofs. 
Siehe die Fichte, wie grots! sie ermangelt köstlicher Früchte; 
Siehe die Ähre, wie klein, und wie gesegnet an Korn ! 
Denk an das winzige Rebengewächs voll saftiger Trauben, 
Die des Menschen Gemüt Winters und Sommers erfreu'n. 
Hegst du noch Zweifel, so schlüpf in leichten Pantoffeln zui 
Sieh, wie der niedrige Baum Winde und Wetter besteht. 
Und wie er wurzelt so fest wie grofse, mächtige Stämme!- 
Immer noch zOgemden Sinns sagte das Mädchen darauf: 
• Hundert Lieder singe mir jetzt zum Preise der Liebe; 
Hast du es glücklich vollbracht, winket ein Kuis dir als Lohn,< 
Drauf der Jüngling: »Zwar bin ich im Singen wenig bewandert, 
Dennoch will ich den Geist sammeln und ordnen den Sinn, 
Will zum Liebesgesang jetzt meine Seele erheben, 
Zähle, mein Mädchen, und gib, wenn ich's vollbrachte, den Lohn!- 

(Lübke.) 

Nachdem die ersten zehn Verse zu ihrer Befriedigung aus- 
gefallen sind, ftihrt sie ein abgekürztes Verfahren ein und ge- 
stattet ihm , nur mit den Zehnem fortzufahren , so dafs er also 
im ganzen nur noch 19 Verse zu liefern hat. Darauf erklärt 
die Gestrenge den Liebesabiturienten fUr reif und lälst ihn alle 
Freuden an ihr auskosten. 

Ein Teil der hier nur äufserlich zusammengefafsten Lieder 
ist gewifs auf Rhodos entstanden und schildert zarte Verhält- 
nisse zwischen jungen Johanniterrittem und den einheimischen, 
als sehr kokett verrufenen rhodischen Schönen. Darum aber 
die ganze Sammlung als sRhodische Liebeslieder« zu be- 
zeichnen, wie es üblich geworden ist, hat keinerlei Berechti- 
gung. Es sind eben meistens Volkslieder, von denen das 
Liebesexamen besonders beliebt gewesen sein mufs, da ein 
fast genau übereinstimmendes Volkslied noch heute auf 
griechischen Inseln fortlebt. Auf weitere Anklänge dieser 
Liedersammlung an neugriechische Volkslieder, sowie auf ihren 
poetischen Gehalt überhaupt wird bei der Darstellung der 
neugriechischen Volkspoesie eingegangen werden. Hier sei nur 
noch auf zwei kultur- bezw. litterarhistorisch bemerkenswerte 
Tatsachen hingewiesen, zu denen die Sammlung Veranlassung 
gibt, und zwar gerade jener poetische Prüfungsakt. Was auch 
dem heutigen Griechen darin auffallen würde, ist die so selb- 
ständig freie und fast männliche Art, mit der die Jungfrau dem 



— 107 — 

Jüngling gegentibertritt. Das ist nicht griechisch-orientalisch, 
sondern durchaus französisch empfunden; ein griechisches 
Mädchen aus dem Volke hätte nie über ein solches Mals von 
Aktivität verfügt. Auch sonst findet man Spuren französisch- 
proven9alischen Minnewesens in diesen Poesien, z. B. die be- 
kannte Auffassung des Herzens als eines Kästchens, zu dem der 
Schlüssel verloren gegangen ist. 

Das zweite betrifft die sogenannte arithmetische Akrostichis, 
d. h. die Verbindung der Strophenanfänge durch aufeinander- 
folgende Zahlen, die man bisher für völlig originell gehalten 
hat, die aber neuerdings als eine bei fast allen Völkern sehr be- 
liebte Form der Einkleidung erwiesen worden ist^^*). Da sie be- 
sonders in italienischen Volksliedern häufig vorkommt, kann man 
zweifelhaft sein, ob sie von hier oder vom Orient aus in die 
griechische Volkspoesie gelangt ist. Doch ist letzteres wegen 
der vielen orientalischen Motive in ihr wahrscheinlicher; auch 
erinnert dieses Spielen mit Zahlen unwillkürlich an die sagen- 
hafte Entstehungsgeschichte von »Tausend und eine Nacht« : wie 
hier der Sultan der Scheherezade aufträgt, jeden Abend ein 
Märchen zu erzählen, und sie sich dadurch das Leben erkauft, so 
hier das Mädchen dem Jüngling, 100 Verse zu dichten, um sich 
ihre Liebe zu erkaufen. Ist das richtig, so mufs man sagen, 
dafs in dieser poetischen Liebesprobe sich occidentalische und 
orientalische Einflüsse kreuzen: jener zeigt sich in der inneren 
Auffassung, dieser in der äulseren Einfassung. 

Erwähnt sei noch, dals wie im Erotokritos so auch 
hier sich einige byzantinische Reminiszenzen finden? 
wenn z. B. die Geliebte mit dem Muttergottesbild verglichen 
wird, das die Kaiser um den Hals tragen, oder wenn es 
heilst, dafs ihr Wort so viel wert sei wie eine kaiserliche 
Goldbulle. 

Der wenig erfreuliche Abschluls, den das sonst so anmutige 
Werkchen dadurch findet, dafs der mutwillige Bursche, nachdem 
er seine Verliebtheit befriedigt hat, das Mädchen zum Danke 
noch verspottet — ein Zug, der sich wohl ebenfalls aus der 
Lockerung der Sitten unter dem Einflüsse des raffinierten 
Westens erklärt — , dieser Abschlufs ist in einem späteren Liebes- 
gedicht des 16. Jahrhunderts zu einem eigenen Thema ausge- 
staltet worden, zu einer Verführungs geschichte. Das Lied 



— 108 — 

hat einen echt volkstümlichen Charakter und scheint auf Kreta 
entstanden zu sein, auf dessen Sittenzustände in der Venetianer- 
zeit es ein grelles Licht wirft. 

Das Gedicht scheint gedacht zu sein als eine Art Mahnung 
an ehrbare Mädchen, sich der Versuchungen zudringlicher 
Burschen zu erwehren. Ein solcher Bursche ist es, der hier erst 
als Versucher, dann als dreister Verführer geschildert wird. Mit 
einer Neckerei von beiden Seiten, deren Form volkspoetischen 
Motiven abgelauscht ist, beginnt die Geschichte. Das erste Ge- 
spräch führt zu keiner Einigung, und in der nächsten Nacht 
findet sich der Jüngling abermals vor dem Fenster der Schönen 
ein. Sie scheint ihm geneigt, äufsert sich aber in sittsam zurück- 
haltender Weise. Er gesteht ihr nun in leidenschaftlichen Worten 
seine Liebe, erklärt aber gleich, dafs von Verlobung und Ring 
keine Rede sei. Das unschuldige Geschöpf versteht erst nicht, 
was er damit meint, und mufs nun hören, dals ihr Anbeter 
ein Vertreter der freien Liebe ist; »denn,€ so spricht er wie ein 
Kenner, »nie sind Mann und Frau ein Herz, sondern, wenn sie 
einander fem sind, verlieren sie ihre Liebe, wenn sie ein paar 
Kinder haben, entsagen sie der Begierde und empfinden Ekel 
vor der Liebeslust; .... und wie eingesalzener Speck von acht 
bis zehn Jahren so ist für den Menschen eine angetraute 
Frau.« Nach diesem Bekenntnis fordert der junge Don Juan die 
Kleine mit verlockenden Worten auf, ihre Liebe »ohne Kranz zu 
essen, von der Küsse erquickendem Honig zu trinken« und die 
Jugendlust zu geniefsen. Das Mädchen fragt ihn bestürzt, wo 
er denn in die Schule gegangen sei, dals er rede wie einer von 
den Bergen und nicht wie vornehmer Eltern Sohn. Und mit 
den Worten: 

Du hast wohl keinen Gott in dir und willst mich ehrlos machen, 
So zieh denn hin und glaube nicht, du wirst mich je verlachen, 

wirft sie das Fenster zu, und auf Rache sinnend geht der »See- 
räuber der Liebelei« nach Hause, um nach einem Monat in das 
Haus der nichts Ahnenden einzudringen und das böse Werk zu 
vollführen. Furchtbar ist der Fluch, den dann die Arme gegen 
den Verführer schleudert: von Türken, Katalanen und Arabern 
solle er gepeinigt und getötet werden, — »im Meeresschaum soll 
man dein Haar, am Strande deine Hände imd Füfse finden, deine 



— 109 — 

Verwandten sollen herbeieilen und deine Mutter sich das Haar 
raufen, und dann will auch ich kommen, dich zu meinem Trost 
zu sehen, Rache nehmen bei deiner Beerdigung, auf dafs mein 
Herz sich weide!« Den Schlufs bildet eine lange Mahnung an 
die Genossinnen, die der Dichter dem Mädchen in den Mund 
legt, sie sollten auf ihrer Hut sein vor der Falschheit der 
Männer. Die naive Ehrbarkeit des griechischen Mädchens und 
die Raffiniertheit des wahrscheinlich venetianischen Wüstlings 
sind in dem kleinen Sittenbilde äufserst glücklich kontrastiert. 

Als eine Verschmelzimg gleichsam aus Longos' Hirten- 
gedicht »Daphnis und Chlog« imd Musaeos' »Hero und 
Leander« läfst sich die anmutige Hirtenidylle des Kreters 
Drimytikos, die »Schöne Hirtin« (1627), bezeichnen. An 
jenes erinnert es durch die intime Schilderung der ländlichen 
Staffage, an dieses durch die Gestalten der beiden Geliebten; es 
atmet die idyllische Stimmung des ersteren und die gesunde, 
natürliche, von der Treue getragene Liebesseligkeit des letzteren. 
Nichts Dekadentes, Raffiniertes zerstört, wie in dem Gedicht des 
Longos, den zarten Reiz der Natur, der landschaftlichen wie der 
menschlichen, die das Ganze weit emporhebt über jenes und es 
dem Werke des Musaeos nähert. 

Mit diesem stimmt es auch äufserlich, dem Umfang wie 
dem Verlauf der bescheidenen Handlung nach, überein. In fünf- 
hundert — übrigens jambischen — Versen wird das Schicksal 
der Liebenden erzählt: wie auf der Weide der junge Hirt die 
Schöne erblickt, sich in sie verliebt, wie sie ihn mit in ihre 
Höhle nimmt und beide dort selige Tage geniefsen in heimlicher 
Liebe, bis die bevorstehende Rückkehr des abwesenden Vaters 
der Schäferin zur Trennung zwingt ; wie der scheidende Hirt der 
Geliebten verspricht, nach einem Monat wiederzukehren, aber 
durch eine schwere Krankheit zurückgehalten, erst nach zweien 
kommt, wie er auf einem Hügel bei der Höhle einen schwarz 
gekleideten Alten trifft, der ihm auf Befragen mitteilt, dals die 
Gesuchte, seine Tochter, vor Gram gestorben sei, und dafs sie 
ihn beauftragt habe, den Hirten zu erwarten und ihm ihren Tod 
zu melden; wie dann der Hirt an ihrem Grabe ein Klagelied 
anstimmt, von seiner Herde Abschied nimmt, um in Einsamkeit, 
nur begleitet von einem Lamme, einem Geschenk der Geliebten, 
sein Leben zu beschliefsen. 



— 110 — 

Es ist wieder das alte Motiv der unglücklichen Liebe, das 
hier, ganz im Sinne des Musaeos, behandelt ist. Eine Einwir- 
kung der italienischen Schäferdichtung, etwa des pastor fido, 
ist kaum anzunehmen, da es durchaus nichts Süfsliches an sich 
hat. Auch von den früher genannten, ebenfalls auf Kreta ent- 
standenen Schäferdramen scheint imser Gedicht imbeeinflusst zu 
sein. Es zeigt durchaus volkstümlich-griechischen Charakter, in 
der Auffassimg wie in der poetischen Form. Wie ganz nach 
der keuschen Art eines griechischen Landmädchens ist es, wenn 
die Schöne die Zumutung des Liebhabers zurückweist, sie solle 
ihre Begehrlichkeit zeigen, und ihm erwidert: 

Nicht schicklich wär's, noch ehrenvoll für mich, 
Auf solche Weise unverschämt zu lächeln, 
Doch mufs ich dich darob verurteilen. 
In deiner Macht steht's: trink und küfs mich denn, 
Ob's nun nach meinem Willen oder nicht. 

Der beste Beweis aber für die Volkstümlichkeit dieser imd 
der beiden vorigen Dichtungen ist, dafs sie als Ganzes wie in 
einzelnen Teilen noch heute im Volksmunde leben, wie wir an 
seiner Stelle sehen werden 3 7). 

Dafs nicht nur die rein sinnliche Auffassung der Liebe 
im Wesen des Griechen liegt, beweisen die zahlreichen 
innigen Abschreds- imd Klagelieder in der neugriechischen 
Volksdichtung, die den Abschied von der Geliebten imd den 
Verwandten, sowie die Bitterkeit des Lebens in der Fremde be- 
singen. Dieser Trennimgsschmerz hat bereits in einem Liedchen 
aus byzantinischer Zeit einen wehmütigen, echt volkstümlichen 
Ausdruck gefunden ^s). Leider kann man nicht dasselbe behaupten 
von einem anderen versifizierten Klagegesang, in dem ein Kreter 
seinem Schmerze über das Leben in der Fremde Luft macht 
in einem gänzlich form- und gedankenlosen Ergufs von nicht 
weniger als 548 Versen. Man fühlt sich diesem Machwerk 
gegenüber, das Knmibacher treffend mit einem poetischen 
Karussell verglichen hat, wieder ganz in byzantinischer Atmo- 
sphäre: dieselbe redselige Weinerlichkeit und Maf slosigkeit , die- 
selbe hohle Rhetorik und dieselben pfäffischen Jammereien über 
die Erbärmlichkeit der Welt machen es wahrscheinlich, dafs 
sich hier ein imgebildeter Kleriker an der Poesie vergriffen 



— 111 — 

hat. Nur hier und da funkeln aus dem Gewölk seiner Worte 

einige verirrte Sterne der Volkspoesie hervor und belehren uns, 

dals wir uns in freier Natur, nicht in stickiger Klosterluft be- 
finden 39). 

Noch stärker als das Heimatgefühl ist bei den Griechen der 
Familiensinn entwickelt, wie er sich in der Stunde der Trennimg 
besonders innig ätifsert in dem Verhältnis von Mutter und Kind. 
Den Stoff zur Darstellung dieses Verhältnisses lieferte die alt- 
testamentliche Geschichte vom Opfer Abrahams. Dieses 
Thema mit der Schwere der daraus erwachsenden Konflikte 
mtifste ja zur dramatischen Bearbeitimg geradezu herausfordern, 
und es ist daher wohl auch kein Zufall, dafs diese alttestament- 
liche Erzählung die Phantasie der europäischen Völker am 
mächtigsten erregt und sich in der Form zahlreicher religiöser 
dramatischer Spiele verkörpert hat, wie sie aus Frankreich und 
England schon bekannt, dann auch für Spanien und jetzt auch 
für Griechenland nachgewiesen sind. Man nimmt an, dafs alle 
diese nur Bearbeitungen eines italienischen Mysterienspieles von dem 
Florentiner Belcari aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts 
sind. Sicher ist dies zwar bisher nur für die französischen und eng- 
lischen Spiele, es ist aber kaum zweifelhaft, dafs auch das griechische 
trotz seiner starken Abweichungen von dem Original auf italie- 
nische Quelle zurückgeht^**). Dafür spricht auf italienischer 
Seite die grofse Zahl von Ausgaben dieses Spieles, über dreifsig 
bis zum Jahre 1860, dann auf griechischer Seite das gänzliche 
Fehlen religiöser Dramen in Byzanz, endlich, nach beiden Seiten 
hin, die starke Einwirkung der italienischen Litteratur auf die 
griechische des 16. Jahrhunderts. 

Wenn wir trotzdem das griechische »Opfer Abrahams« als 
ein selbständiges Werk betrachten, so haben wir durchaus ein 
Recht dazu: es ist nicht nur viel ausgeführter, fast um das 
Doppelte verlängert, sondern auch freier und innerlicher erfafst 
als das italienische. Das Hauptgewicht liegt auf der starken 
und lebenswahren Herausarbeitung der Seelenkämpfe Sarahs, der 
unerschütterlichen Gottergebenheit und Standhaftigkeit Abrahams, 
der angstvollen Ahnungen Isaaks und der liebevollen Teilnahme 
der Diener an dem Geschick der Familie. Das Stück ist also 
mehr eine Verherrlichung echt griechischen Familiensinnes in 
religiösem Rahmen als ein Mysterienspiel; den Verfasser hat es 



— 112 — 

offenbar gereizt, den Schmerz der Trennung von Eltern und 
Kind, dieses alte Thema der griechischen Volkspoesie, an einem 
ergreifenden Beispiel darzustellen und uns gleichsam die Fäden 
blofszulegen , aus denen sich das Ganze zu dem Bilde fügt, das 
uns aus der bildlichen Darstellung so geläufig ist^*). Der 
Schwerpimkt des Werkes liegt also mehr in der Geftihlsanalyse 
als in dem Handeln der Personen, das sich natürlich eng an die 
Überlieferung anschlielst. Dafür ist aber jene um so meister- 
hafter durchgeführt. 

Die ganze erste Hälfte des Stückes spielt im Hause 
des Abraham. Es beginnt mit der Verkündigung des Engels; 
während darauf Abraham zu Gott betet, erwacht Sarah; 
sie glaubt nicht seiner Versicherung, es sei das Morgengebet; 
die Zeit sei noch nicht da. Er zögert, da sie aber in ihn dringt, 
sein Leid zu teilen wünscht und standhaft zu sein verspricht, 
selbst wenn sie erfahre, Isaak sei tot, da gesteht er ihr das 
Furchtbare. Sie bricht in Klagen aus und wird ohnmächtig. 
Vom Engel ermahnt, schnell den Auftrag auszuführen, ehe Sarah 
zu sich konmie, weckt Abraham seine Diener und gibt ihnen 
Befehle. Inzwischen erwacht Sarah aus ihrer Ohnmacht und 
ruft nach Mann und Kind. Der Schmerz um Kind und Weib 
stürmen auf Abraham ein, doch er fafst sich und tröstet sie: es 
sei Gottes Wille. Dann folgt eine ergreifeade Klage Sarahs um 
Isaak, imd erst von Abraham ermahnt, fafst auch sie sich 
einen Augenblick : sie will ihr Kind verleugnen imd glauben, sie 
habe nur eine brennende Kerze in der Hand getragen, die nun 
erloschen sei. Doch wie sie, von Abraham aufgefordert, den 
Sohn schnell anzukleiden, an dessen Bettchen tritt und ihn so 
ruhig schlafen sieht, bricht ihr Schmerz von neuem los; sie 
glaubt, sein Gesicht sei erbleicht und er träume von seinem 
Schicksal. Schliefslich weckt sie Isaak unter herzerschütternden 
Klagen; sie will ihm Feiertagskleider anlegen, da es zu einem 
Fest gehen soll: 

Einladung kam zur Hochzeit heut im Hades, 

Drum lals mich's putzen schön, dals man's nicht tadle. 

Jetzt will Abraham den Kleinen selbst anziehen und heifst 
die Mutter fortgehen, damit er sie nicht weinen sehe: 



— 113 — 

Und wenn's erwacht, dich sieht, am Hals dir hängt, 
Verrätst du dich alsbald, sagst ihm dein Leid. 

Sie langt die Kleider heraus und betrachtet sie wehmütig: 

Die sind's, die jeden Sonntag trug der Arme, 
Die alle tausendfach bewunderten, 
Sie werden heute nun von Blut befleckt. 
Geschlachtet wird das Kind von Vaters Hand. 

Endlich lälst sie sich zum Fortgehen bewegen, imd mm 
weckt Abraham seinen Sohn; doch er ist müde und möchte 
noch schlafen: 

Ach, sülses Väterchen, lals mich doch noch, 
Wenn's Zeit zur Schule ist, möcht' ich erwachen. 

Wie er endlich aufsteht, fragt er, warum ihn die Mutter 
nicht ankleide, wie sonst ; er möchte sie noch sehen, ehe er fort- 
geht. Sie konmit, und es spielt sich eine innige Abschiedsszene 
zwischen Mutter imd Kind ab : Isaak , der ihren Kvunmer be- 
merkt, verspricht ihr, Äpfel vom Feste mitzubringen, imd sie 
gibt ihm Birnen mit gegen den Durst. Beim Fortgehen spricht 
er wie ahnungsvoll die Worte aus: 

Mir scheint, ich gehe grofser Sorg' entgegen. 
Ich geh' wohl auf den Berg, doch nicht herunter. 

Unterwegs — und damit beginnt der zweite Teil — fragt 
erst Isaak die Diener, dann diese sich untereinander nach dem 
Grunde von Abrahams Unruhe; der eine fafst sich endlich ein 
Herz und fragt ihn selber: 

O Gott, kann denn ein Diener nicht erfahren, 

Der treue, gute, seines Herren Leiden? 

Der Trost, du weifst's, ist Heilkraut für den Schmerz. 

Nachdem ihnen Abraham das Geheimnis eröffnet imd die 
Ungläubigkeit des einen Dieners zurückgewiesen, konmien sie 
auf den Berg; während der Vater im stillen den Sohn bittet, 
ihm eine Stütze zu sein in der schweren Stunde, baut dieser 
selbst den Opferaltar ; dann lälst der Dichter ihn ahnungslos die 
wunderbar fein empfundenen Worte sagen: 

Dieter ich, Gesch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. S 



— 114 — 

Sieh, Väterchen, gefällt dir der Altar? 

Das Lamm nur fehlt noch, es darauf zu legen. 

So eile, dafs wir heut noch fertig werden. 

Ich sehne mich, zur Mutter heimzukehren. 

Nun offenbart ihm Abraham alles, und es wird ihm klar, 
was das Fest und das traurige Wesen der Mutter zu bedeuten 
hatten; er ergeht sich in rührenden Klagen über sein verlorenes 
Leben, falst sich aber, als der Vater fest bleibt, und bittet ihn, 
ihm seinen Segen zu geben. Von inniger Vaterliebe zeugt in 
den darauffolgenden Worten Abrahams dessen Wimsch, mit 
dem Sohne zusammen sterben zu können. Isaak spricht nun 
ein Gebet und ninmit von Mutter und Vater zärtlichen Ab- 
schied, wobei wieder die innige Liebe zur Mutter hervortritt. 
Ergreifend wirkt es, wenn er den Vater um eine letzte Gnade 
bittet: 

Nicht unbarmherzig mir den Hals durchschneide. 
Nein, töte langsam mich, mit sanftem Kosen, 
Dafs du mein Weinen siehst, mein Flehen hörest, 
Dafs wir uns anschau'n, ob ich seh* dich zucken. 
Ob als dein Kind du Isaak erkennest. 

Nach der erfolgten göttlichen Errettung machen sich die 
Diener auf, das frohe Ereignis zu verkünden, und begegnen 
unterwegs der Dienerin der Sarah, die diese dem Tode nahe 
verlassen hat, um die Vermifsten zu suchen. Es folgt nun das 
Wiedersehen, nachdem der Diener die frohe Meldung der Sarah 
bereits gebracht hat. Wieder wird die Begegnimg von Mutter 
und Kind besonders herzlich geschildert. Sie kann nicht sprechen 
vor Freude, und Isaak redet sie an: 

Hier, Mutter, steht dein Kind voll heller Freude, 

Aus Erdengründen holt' es Gott herauf. 

Du sprichst nicht? Lachst auch nicht? Liebkost mich nicht? 

Bin ich dein Sohn nicht, Mutter, kennst mich nicht? 

So lafs uns dieses Tages denn erfreun. 
Man holte mich ja lebend aus dem Hades! 

Mit einem Dankgebet Abrahams an Gott schliefst das 
Stück. 

Es ist, wie man schon aus dieser Übersicht erkennt, ein 
prächtiges Seelengemälde, das der unbekannte Dichter hervor- 



- 115 — 

gezaubert hat, ein künstlerisches Kabinettstück voll Seele und 
Leben, von einer unmittelbaren Anschauungskraft konzipiert, 
mit festen, sicheren Strichen von geübter Hand gezeichnet, trotz 
mancher langen Dialoge doch ohne ermüdende Breite, mit 
sauberer Pinselführung in der Auftragung der sprachlichen 
Farbentöne des Verses, kurz, ein in jeder Hinsicht so erfreuliches 
Werk, dals man es zwar nicht litterarhistorisch, wohl aber künst- 
lerisch als eine eigene Leistung anzusehen hat, die durchaus 
unter den Bearbeitungen des gleichen Themas bei den übrigen 
Völkern sicher nicht die letzte Stelle einnimmt. Einer der 
schönsten Züge, um die der Grieche das Stück bereichert hat, 
ist die Mitwisserschaft der Sarah, die sowohl in der bibli- 
schen wie in der italienischen Quelle fehlt, und auf die sich 
das Ganze erst aufbaut. Denn es ist mir nicht zweifelhaft, dafs 
der Dichter um dieses Motivs der Mutterliebe willen die Arbeit 
imtemahm. 

Dadurch, wie durch die geschickte Verwertung volkspoeti- 
scher Motive, die Vorstellung des Todes als einer Vermählimg, 
die Erwähnung von Hades und Charos, die Vergleichung des 
Lebens mit einer brennenden Kerze, dann durch zahlreiche 
Bilder imd Wendungen der Volkspoesie konnte es dem griechi- 
schen Dichter gelingen, einen schon an sich volkstümlichen Stoff 
dem Herzen des griechischen Volkes noch näherzubringen. 
Und wie unendlich der Abstand ist zwischen dem reinen imd 
zarten Empfinden dieses Volkes und dem unwahren und rohen 
der späteren Byzantiner, das kann man ermessen, wenn man das 
»Opfer Abrahams« zusammenhält mit dem »Leidenden Christus« : 
ein durchgeistigter, seelenvoller holländischer Meister neben 
einem starren und leblosen byzantinischen Mosaik. 

Dieses Spiel, in dem ebenso die Mutterliebe wie die Er- 
rettung vor dem Tode verherrlicht wird, führt uns hinüber zu 
dem dritten, in den neugriechischen Charosliedem so mannig- 
fach gewendeten Thema Tod und Welt, zu der unerbittlichen 
Macht des Todes, dem Schicksal der Toten in der Unterwelt 
— die Hölle ist dem griechischen Volksglauben fremd — sowie 
ihr Verhältnis zu den Lebenden. 

Dieses letztere bildet den Gegenstand von zwei Dichtungen 
des 16. Jahrhunderts, die beide eine Hadesfahrt schildern. Die 
Einkleidung ist in beiden die gleiche: die Unterwelt wird als 

8* 



— 116 — 

Rachen eines Ungeheuers aufgefalst, in den der Dichter hinein- 
geworfen wird. Von beiden ist die unter dem Namen des 
Dichters, Bergades oder Bernardes, gehende die be- 
deutendere. Sie gliedert sich deutlich in zwei Teile. Das 
Motiv des ersten bildet ein Wechselgespräch der Toten mit dem 
lebenden Eindringling; sie fragen ihn neugierig aus nach dem 
Aussehen der Welt, ob die Quellen noch fliefsen, die Bäume 
noch blühen, ob die Ihrigen noch um sie trauern. Die ausführ- 
lichste, aber auch unerfreulichste Auskunft erhalten sie über ihre 
Witwen, die kürzeste und tröstlichste über ihre Mütter: jene, 
von deren Leben mit verderbten Priestern ein wenig erbauliches 
Bild entworfen wird, dächten gar nicht mehr an sie, hätten auch 
gar nicht getrauert, diese aber könnten ihre Kinder nicht ver- 
gessen : 

Zugleich mit euch verloren sie ihrer Augen Licht, 
Nicht seh'n sie, was da vorgeht, achten nicht Hab und Gut, 
Um euch allein sie jammern, um euch sie tragen Leid, 
Die Welt, sie ist vergessen, sie denken nur an euch. 

Nach dieser Antwort stfanmt der Chor der Toten ein er- 
greifendes Klagelied an, das reich an volkspoetischen Anklängen 
ist, wie überhaupt in diesem Teil, besonders in der Frage der 
Toten nach den Lebenden, noch heute beliebte Volkslieder ver- 
arbeitet sind. 

Es berste, Herr, die Platte, das Erdreich sei verweht, 

Dafs, Arme, wir verlassen das Lager sonnenlos ! 

Sich wende unser Antlitz, sich dehne unser Wuchs, 

Dafs unsre Zung' ertöne, man höre unser Wort! 

Dafs wir die Welt betreten, Erdboden unter uns. 

Und hoch zu Rofs einherziehn, Jagdfalken in der Hand. 

Dafs vor uns dann zu Hause die Hunde kommen an 

Und frohe Kunde bringen: es kommt, wer lang war fort! 

Dann sahn wir, wer entgegen uns käme aus dem Haus, 

Wer uns empfangen würde an unsres Hofes Tor, 

Ob wirklich sie uns hielten den Eid, den sie getan 

Der zweite Teil des Gedichtes enthält die Frage des Ber- 
gades nach der Todesursache der Verstorbenen und deren ein- 
gehende Erzählung: wie sie, die Brüder, auf einer Seefahrt zu 
ihrer in der Ferne verheirateten Schwester bei einem Sturm er- 
trunken seien, wie sie dieser, die inzwischen durch einen Traum 



— 117 — 

das Schicksal ihrer Brüder erfahren hat und vor Schreck an 
einer Frühgeburt gestorben ist, in der Unterwelt begegnen und 
einander ihren Tod erzählen, bis sie von den höllischen Dienern 
des Totengottes getrennt wurden. Bergades, voll Rührung, fragt, 
ob sie ihren Hinterbliebenen etwas zu bestellen hätten, und nun 
entwickelt sich eine lebendige und anschaulich geschilderte Szene 
im Totenreich, die zugleich so charakteristisch ist, dals sie hier 
wiedergegeben sei, wenn auch nur in Prosa. Nachdem der Dichter 
die obige Frage gestellt hat, fährt er fort: 

»Und in kurzer Zeit sehe ich ein ganzes Heer auf mich zu 
kommen; in unabsehbarem Zuge kam es von drüben her; da sah 
ich junge Männer und Mädchen, ältere Männer und Burschen, 
Heerführer mit gezogenen Schwertern, und dazwischen zerstreut 
Fürsten zu Ftifse und zu Rols, imd bei sich hatten sie Diener, 
Dolmetscher und Schreiber. Ich sah Diakonen, Bischöfe und 
Priester ^^ •) und in Massen Ehepaare, Bräutigame mit ihren Bräuten; 
ich sah, wie sie Schemel herbeibrachten für die Schreiber; ein 
jeder hielt Feder, TPapier \md Schreibzeug in der Hand ; und jeder 
hatte eine ganze Schar um sich, die ihn zur Eile trieb; einer 
forderte Billets, ein anderer rief nach Papier. »Heute reist ein 
Bote ab!« riefen sie, »sie müssen sich sehr beeilen, wenn sie es 
mitbekommen wollen.« Und feuchte Briefe nahmen sie den 
Schreibern aus der Hand, andere sah ich siegeln, wieder andere 
offene Briefe bringen. So viele haben mich überredet, Brief chen 
abzugeben, dafs mich's schauderte, als ich sie sah, und mich ab- 
wendete. Da erhoben sie alle die Hände imd blickten mich an: 
»Nimm doch«, |riefen sie', »die Briefchen mit aus dem bittren 
Hades und sieh zu, dafs du sie nicht verlierst. Sprich auch selbst 
mit ihnen und sage den Bekümmerten (darauf folgt ein offen- 
bar eingesprengtes Volkslied, das die Leiden und Entbehrungen 
der Toten in der Unterwelt imd ihre Hilflosigkeit schildert ; dann 
geht es weiter:) Dies, unser unsägliches Leid, bitten wir dich 
aufser unseren Briefen zu sagen, ob sie wohl Mitleid empfinden 
und uns bedauern, dafs ihre Hand sich öffne und sie unser ge- 
denken « Mit der Aufforderung an ihre Verwandten, ja 

den Armen reichlich Almosen zu spenden, schliefst die Wunsch- 
liste der Toten. 

In manchen Zügen erinnert das Gedicht an Dantes «Hölle«, 
besonders in der satirischen Verwertung schlechter menschlicher 



— 118 — 

Eigenschaften; in der ganzen Einkleidung haben offenbar die nach 
dem Muster der Totengespräche Lukians verfafsten Dialoge des 
Timarion und Mazaris mit eingewirkt*''). Die Durchführung des 
Ganzen wie die geschickte Einführung von Partien aus der Volks- 
poesie lassen einen Dichter von Gemtit und Phantasie in dem 
Werkchen erkennen. 

Weniger gilt dies von dem zweiten Gedichte, das zwar an 
Umfang, nicht aber an Erfindung und Inhalt dem ersten gleich- 
kommt. Der Verfasser, wohl ein gräzisierter Venetianer aus 
Kreta, namens Piccatoro — unter diesem Namen geht auch 
das Gedicht — schildert ebenfalls eine Fahrt durch die Unter- 
welt, doch ohne Nebenabsichten , nur zu dem Zweck , seine und 
des Volkes phantastische Vorstellungen davon mitzuteilen. Hier 
tritt auch Charos, der neugriechische Totengott, auf, der, ähnlich 
wie Virgil den Dante, den kretischen Dichter, und zwar zu Rosse, 
durch sein Reich führt. Die Darstellung ist breit, besonders in 
den Reden des Charos, der als ein dienstfertiger Cicerone seinem 
Schutzbefohlenen alles, was dieser wissen will, ausführlich erklärt. 
Er wird einmal sogar als theologischer Lehrer bezeichnet, wo er 
nämlich auf die Frage des Pikatoros nach dem Zweck der 
Schöpfung und der Ursache des Todes plötzlich die ganze 
Schöpfungsgeschichte erzählt und eingehend bei dem Sündenfall 
verweilt. Damit bricht das den Theologen verratende Gedicht 
ab. Das eigentliche Thema umfafst somit nur 200 Verse, unter 
denen manche volkspoetischen Anklänge zu bemerken sind. Doch 
drängt sich auch hier das Theologische zu sehr hervor, so, wenn 
Charos seinen beim Anblick so vieler Toten entrüsteten Schütz- 
ling damit beruhigt, dafs er sich als Diener Gottes bezeichnet. 
Im einzelnen zeigen sich manche gelehrten Einflüsse, wie bei der 
Erwähnung der Totenrichter und des Styx. Überhaupt macht 
dieses Gedicht dem ersten gegenüber einen stark schulmäfsigen 
Eindruck''). 

Wie man sieht, hatte die Theologie auch noch im 16. Jahr- 
hundert einigen Anteil sogar an der volkstümlichen Litteratur. 
Die geistliche Poesie ist auch der Ausgangspunkt der EHch- 
tungen über die Herrschaft des Todes in der Welt. Jene selbst 
freilich, die in der kurzen Blütezeit der byzantinischen Litteratur 
fast allein das Feld behauptete, trat immer mehr in den Hinter- 
grund, im Interesse der Poesie möchte man sagen : fast zu sehr. 



— 119 — 

Die schöne Wechselwirkung zwischen weltlichen und geistlichen 
Liedern, wie sie in der älteren Zeit Hei uns stattfand, ist, wie 
schon bemerkt wurde, den Griechen unbekannt. Was in ihrer 
Volkspoesie von kirchlichen Stoffen verarbeitet ist, das beschränkt 
sich auf legendenhafte Lieder, in denen Wunder von Heiligen 
die Hauptrolle spielen. Eine volkstümliche Verinnerlichimg 
heiliger Stoffe ist nur in geringem Malse zu beobachten. Trotz 
alles Überwuchems der Theologie in byzantinischer Zeit hat das 
griechische Vol k nie einen Sinn für transzendentale Betrachtungen 
gehabt. Seine Religiosität ist durchaus inmianent. 

Wohl liegen aus byzantinischer Zeit einige volkstümliche 
Reflexe griechischer Hymnenpoesie vor, doch sind es höchst- 
wahrscheinlich bewufste Bearbeitungen für das Volk, nicht aus 
diesem selbst hervorgegangene freie Umdichtungen. Wenigstens 
atmen die beiden hiervon erhaltenen Stücke, zwei Bulsgebete 
reuiger Wollüstlinge, durchaus byzantinischen Geist: kraftlose 
asketische Zerknirschung, viele biblische Zitate imd Beschuldigimg 
des Teufels in dem einen langen Klagelied auf Adam und das 
Paradies, mehr innere Einkehr imd Selbstbeschuldigung in dem 
anderen kurzen »Gebet eines Sünders«. Nur eine Stelle in beiden 
erinnert an volkstümliche Dichtungen: in jenem ruft der imver- 
besserliche Sünder »Berge, Wiesen und Hügel und fruchtbringende 
Bäume« an, seine finstere Seele zu beklagen, und in diesem 
klingen Anfangsverse eines modernen Volksliedes wieder: 

Ich darf mich nicht freuen, nicht trinken vom Wein, 

Mufs leben in Öde, auf dem Berge allein. 

Auf dem Angesicht liegen und Tränen vergiefsen. 

Auf der Kirchendichtung beruhen auch die sogenannten 
erbaulichen Alphabete, d. h. fromme Belehrungen über 
irdische Vergänglichkeit, Bufse und jüngstes Gericht, deren 
einzelne Strophen mit Anwendung der schon erwähnten beliebten 
Spielerei durch alphabetische Akrostiche verbunden sind. Ein 
derartiges Gedicht windet sich durch 120 Verse hindurch, weniger 
um dem inneren seelischen , als dem äufseren Bedürfnis zu dienen, 
das Alphabet wie einen Rosenkranz herunterzubeten. Ein anderes 
beginnt mit den Versen: 

Wie wagst du's, Mensch, Unrecht zu tun der Welt? 
Vor einen strengen Richter wirst auch du gestellt! 




— 120 — 

Seltsamerweise wirkt bei den Griechen die Vorstellung des 
jüngsten Gerichts nicht so abschreckend und ist daher auch 
weniger voHtstümlich geworden als die Furcht vor dem Tode. 
Daher erfreuen sich diejenigen erbaulichen Gedichte der grölsteo 
Beliebtheit und Verbreitung, die Betrachtungen über den Tod 
imd das Schicksal anstellen oder Unterredungen des Menschen 
mit dem Tode behandeln, dessen Figur uns ja schon in dem einen 
Gedichte von der Unterwelt begegnet war. Religiöse Gedanken 
enthalten diese Disputationen nicht, sie drehen sich viehnehr um 
eine Art Handelsgeschäft, indem der dem Tode verfallene Mensch 
noch um einige Tage Frist ersucht zur Erledigung rein irdischer 
Angelegenheiten. Erst wenn der Tod sich auf keinen Handel ein- 
läfst, ruft der Mensch die Heiligen an, natürlich vergeblich. 
Wie tief diese Todesvorstellungen im Bewulstsein des Volkes 
wurzeln , lehrt die merkwürdige Tatsache , dafs die Anfangs- 
worte einer solchen Disputation jetzt unverändert den Schluls 
eines modernen Tanzliedes aus Epirus bilden, das uns noch im 
nächsten Kapitel beschäftigen wird'^}. 

Zurückblickend auf diese ganze volkstümliche griechische 
Poesie des 14.^17, Jahrhunderts und sie mit der byzantinischen 
vergleichend, müssen wir uns fragen : Hätte diese solche duftigen 
Blüten treiben können wie die lebens- und tateolustigen Lieder 
von dem Heldentum eines DigenisAkritas, von dem Leiden 
und Lieben eines Belthandros und Erotokritos, wie die 
lieblich- graziöse Poesie des Liebesbreviers, die düster-phan- 
tastische des Todes im Bergades, endlich die gemütvolle Ver- 
klärung der Familienbande und der kindlichen Glaubensfröhlichkeit 
im Opfer Abrahams — hätte wohl alles dies in den Treib- 
häusern von Byzanz wachsen können? — Nein, es bedurfte viel- 
mehr eines fruchtbaren, jungfräulichen Bodens und triebkräftiger 
Samenkörner, damit sich so gesunde Früchte entwickeln konnten. 
Jener Boden war das urwüchsige griechische Volkstum, und 
dieser Samen die höhere, verfeinerte künstlerische Kultur des 
Romanentums. Und gleichen die eben betrachteten poetischen 
Werke noch vergänglichen Blüten, so erquicken uns die voll 
ausgereiften Früchte in der neugriechischen Volkspoesie. 



DRITTES KAPITEL. 

Die neugriechische Volkspoesie. 



Man ist es im allgemeinen nicht gewohnt, in der Geschichte 
der Litteratur eines Landes auch eine Darstellung seiner Volks- 
poesie zu finden, wenigstens nicht in der eines westeuropäischen, 
weil dessen Litteratur in erster Linie Kunstlitteratur ist, also ein 
individueller Ausdruck seiner höheren geistigen und sozialen 
Kultur, und daher von der naiven Poesie des Volkes wenig An- 
regung empfangen hat. Man kann geradezu sagen, dafs Kunst- 
poesie imd Volkspoesie einander ausschlielsen : je stärker die eine 
entwickelt ist, um so mehr muls die andere verkümmern. 
Meistens ist es die Kunstpoesie, die der Volkspoesie die Kraft 
raubt, ihre Lebensbedingungen hemmt, ihr Wachstum imterbindet : 
so war es bei den alten Griechen, imd so ist es bei den Romanen: 
die] italienische wie die französische Litteratur hat keine tieferen 
Wurzeln in dem Volkstum ihrer Länder, sie ist von ihm losgelöst, 
wie ihre Litteratursprache sich losgelöst hat von den Dialekten ; 
und wie diese zu blofsen Patois herabgesunken sind, so hat auch 
ihre Volkspoesie einen Beigeschmack des Vulgären angenommen; 
beide, Volkssprache und Volkspoesie, haben keinen lebendigen 
Anteil mehr an der Gestaltung der Kultur; sie kann sie entbehren, 
wenigstens vorläufig. Natürlich wirkt diese Isolierung der Volks- 
dichtung auch auf ihre Qualität zurück : sie mufs allmählich, wie 
das Volkstum selbst, verarmen und vertrocknen, zum wenigsten 
ihre Urwüchsigkeit einbüfsen. Es ist der Sieg einer alten, in- 
dividualisierten Kultur über die einst imgebrochene , breit sich 
hinlagemde Natur, der hier errungen ist. 



Dieser Sieg ist noch nicht so vollständig bei den Völkern 
germanischer Rasse. Hier ist daher das Verhältnis zwischen 
Volks- und Kunstpoesie ein freundlicheres, ihre Wechselwirkung 
eine innigere, beständigere. Es ist das Schöne in der germanischen 
Kultnrent Wicklung, dafs sie sich zu allen Zeiten die Fühlung mit 
dem heimatlichen Volkstum gewahrt oder, wenn sie sie zu ver- 
lieren drohte, doch stets wiedergewonnen hat. Was verdanken 
nicht Chaucer und Shakespeare, Herder und Goethe, selbst dem eng- 
lischen und deutschen Bürgerstande entstammend , der Muse 
des Volkes! Wo stellt sich die Verschmelzung von Kunst- und 
Volksdichtung, von Individuum und Masse harmonischer dar als 
in der deutschen und englischen Dichtung? 

Gänzlich verschieden liegen nun die Dinge in den Litteraturen 
der osteuropäischen Völker, der Siavcn, Rumänen und 
Griechen, Sie zeigen uns gerade das Gegenbild zu der romanischen : 
hier eine dicke Kulturschicht, aufgetragen auf eine dünne volks- 
tümliche Grundlage, dort umgekehrt ein üppig wucherndes, un- 
gebändigtes Volkstum und darüber ein dünner Firnifs importierter 
Kultur, die sich beide so wenig durchdringen und vermischen 
können wie Öl und Wasser. Diese Völker, deren natürliche 
Kultur, wie wir sahen, auf der byzantinischen ruht, haben es noch 
zu keiner politischen, sozialen und individuellen Differenzierung 
gebracht, der Vorbedingung alles geistigen Lebens. Wohl haben 
sie einzelne grofse Geister erzeugt, diese sind aber nicht der natur- 
notwendige Ausdruck ihrer Nation; sie stehen allein; sie stellen 
nur das dar, was sie empfinden und denken, sie sind nicht die 
Stimme eines ganzen Volkes, weil dieses noch keine Stimme hat ; 
sie verkörpern keinen Stand desselben, weil es noch keine Stände 
hat, sie finden keine grofsen historischen Stoffe, weil es keine 
einheimische, alte Geschichte hat; die Herren der Geschichte 
waren bei den Russen die Tartaren, bei den Balkanvölkem die 
Türken , zum Teil die Italiener, Diese Völker alle liegen also 
gleichsam noch in der Wiege der Weltgeschichte; Wiegenkinder 
wollen aber noch nichts hören von tiefsinnigen Werken des 
Geistes , und denen , die sie ihnen aufdrängen , geht es nur zu 
leicht wie Faust mit dem Pudel, nur dals bei ihnen nicht der 
Pudel, sondern Faust den Rückzug antreten mufs, nicht der 
Einzelne, sondern die Masse den Sieg davonträgt. Man denke 
nur an zwei charakteristische Ereignisse der jüngsten Zeit, an 



— 123 — 

die Exkommunizierung Tolstois in Rufsland und an die Kra- 
walle wegen der Bibelübersetzung in Griechenland, beides 
doch schliefslich nur deutliche Symptome einer für Westeuropa 
überwundenen Weltanschauung, des Verharrens in einem freiheits- 
und individuenfeindlichen Atavismus. 

So wenig günstig derartige Zustände der Entwicklung einer 
individuellen und doch nationalen Kunstdichtung sein mögen, 
so günstig sind sie der unter patriarchalischen Verhältnissen am 
besten gedeihenden Volksdichtung. Daher ist es kein Zufall, 
dafs Slaven, Rumänen und Griechen sich einer Volkspoesie er- 
freuen, die derjenigen der westeuropäischen Völker quantitativ 
wie qualitativ weit überlegen ist und in dem Leben ihrer 
Völker eine ungleich bedeutendere Rolle spielt als bei jenen. Die 
griechische Volkspoesie verdient sodann noch um deswillen eine 
genauere Betrachtung, weil der beste Teil der neugriechischen 
Kunstdichter an sie anknüpft und die im vorigen Kapitel skizzierte 
Litteratur des Mittelalters ebenfalls auf volkstümlichem Boden 
erwachsen ist, somit im Keime schon die Hauptgattungen 
der neugriechischen Volkspoesie in sich trägt und deren innere 
Struktur erkennen läfst. 

Wir werden jetzt diese Gattungen uns noch einmal zu ver- 
gegenwärtigen und sie, von ihrer kunstpoetischen Hülle befreit, 
in ihrem Wesen za verstehen suchen, wie es sich erklärt aus 
den historischen Schicksalen, den sozialen Zuständen und dem 
psychologischen Charakter des griechischen Volkes. 

Liebe zu Heimat und Familie, zum Weibe, zu Natur und 
Welt — dieser Dreiklang aller echten Volkspoesie tönte uns 
schon, wenn auch noch wie hinter einem Dickicht versteckt, aus 
dem vielstimmigen Chor der volksmäfsigen Dichtungen des grie- 
chischen Mittelalters entgegen, und in diesen Dreiklang läfst sich 
auch die gesamte griechische Volksdichtung auflösen: Liebes- 
gefühl, Familiengefühl und Lebensgefühl, sie füllen das Gemüt 
'des Griechen fast aus. Man sieht bereits : diese Poesie mufs etwas 
durchaus Gefühlsmäfsiges an sich haben, etwas Passives, nach 
innen Gewandtes, Weiches. Man merkt ihr an: dieses Volk hat 
in den letzten anderthalb Jahrtausenden nicht viel erlebt, aber 
um so mehr erlitten; es gleicht einem Menschen, der sich lange 
mehr mit sich selbst beschäftigt hat als mit der Welt. Es ist 
kein weiter Schauplatz, der sich in ihr eröffnet; es fehlt ihr der 




_ 124 - 

grolse historische Horizont und daher auch das historische Lied, 
wie es die deutsche Poesie so reichlich gepflegt hat. Das grie- 
chische Volk wie überhaupt die osteuropäischen Völker sind ja 
erst unlängst in die Geschichte eingetreten, und die mittelalter- 
liche Geschichte des Landes hat sich teils wegen ihres antinationalen 
Charakters, teils wegen des schwachen historischen Gedächt- 
nisses der Griechen dem Volke nicht tief eingeprägt. Das einzige 
im Gedächtnis des Volkes wirklich lebendig gebliebene 
Ereignis der byzantinischen Geschichte war, wie wir sahen, die 
Eroberung Konstantinopels; einige historische Stoffe aus früherer 
Zeit haben sich teils mit der Liebespoesie verquickt, wie die 
cyprische Geschichte von der Arodaphnusa *^), teils sind sie sagen- 
haft geworden, wie die Taten des Generalissimus Digenis. Es 
entspricht also durchaus dem Charakter der geschieh tslosen 
Vergangenheit der Griechen, wenn sie an älteren historischen 
Volksliedern auffallend arm sind. Erst der Befreiungskampf hat 
auch der Volkspoesie etwas reicheren Stoff an Geschichte zugeführt, 
einige historische Heldengestalten ihr erstehen lassen, wie sie 
die Klef tenlieder feiern. Doch diese griechischen Krieger 
sind von eigner Art, ganz verschieden von den kriegslustigen 
deutschen Landsknechten, selbst von den serbischen Haiduken. Es 
sind keine Haudegen. Man fü.hlt, dafs es ihnen nicht so sehr um 
grofse Taten zu tun ist als um Ruhm imd Ehre, um ihre 
Person. Die griechischen Kampflieder schildern nicht mit epischer 
Breite und Objektivität grolse Schlachten , wie die serbischen, 
sondern geben nur kleine Szenen aus dem Schlacht- oder Lager- 
leben; sie gruppieren sich auch nicht um einen Nationalhelden, 
wie diese um den gefeierten Marko ; jedes besingt vielmehr seinen 
eigenen Helden, oder besser: dieser, der sein eigener Mittelpunkt 
ist, besingt sich .selbst. Und alle diese Kleften und PalUkaren 
haben eine unverkennbare Fajnllienähnlichkeit ; sie stammen in 
gerader Linie ab von einem gemeinsamen Ahnen, von dem uns 
schon bekannten Digenis Akritas, dessen Schicksal entsprechend 
dem beweglicheren Charakter seines Volkes, wieder so ganz ver- 
schieden war von dem des serbischen Königssohnes Marko. 
Das Bedürfnis für Heldenverebrung war bei den Griechen nie 
sehr grofs, ebensowenig wie das der Unterordnung unter einen 
einheitlichen Willen. Daher wurde Digenis auch kein Held der 
nationalen Sage, er lebt nur noch in den Liedern einiger P^c^- 



— 125 — 

vinzen, als ein unbestimmtes, riesenhaftes Wesen, von dessen 
Charakter aber auf jeden der in den modernen Kleftenliedern ge- 
feierten Kämpfer etwas übergegangen ist: die Selbstgefälligkeit, 
mit der sie wie er noch sterbend ihre Taten erzählen, der oft 
übernatürliche Charakter dieser Taten, die beschauliche Art, 
mit der sie gern als der Ruhe pflegend oder Feste feiernd dar- 
gestellt werden, die grofse Rolle, die die Liebe in ihrer Helden- 
laufbahn spielt, wie überhaupt ein stark lyrischer Zug auch durch 
diese Lieder geht, endlich die wehmütige Art, wie sie von der 
Welt Abschied nehmen. Es sind alles mehr Menschen des Ge- 
fühls als der Tat, oder wir erfahren doch mehr von ihren Ge- 
fühlen als von ihren Taten; es sind gefühlsselige Helden, 
empfänglich für die Schönheit der Natur, weil sie in und mit 
ihr leben und weben; wenn sie im Winter die Berge verlassen 
müssen, zählen sie schon die Wochen, bis die Bäume sich wieder 
mit frischem Grün schmücken, und der zum Tode verurteilte 
Held Diakos trauert, dafs der Tod gerade die Jahreszeit er- 
wählt hat, wo die Bäume blühen und die Erde sich mit Grün 
bekleidet. Es liegt etwas Weibliches darin, und es ist wohl kein 
Zufall, dafs auch das weibliche Element in diesen Räuberliedem 
sich aktiv oder passiv stark bemerkbar macht: der Held mag 
die Liebe nicht entbehren, und die Geliebte wird nicht selten zur 
Heldin, die alle Gefahren mit ihm teilt und oft selbst die 
Burschen beschämt. Und zu Naturgefühl und Liebe gesellt sich 
dann noch ein starkes Familienbewufstsein, das den Kleften nie 
verläfst, ihn nicht nur beim Abschied von den Seinen beseelt, 
sondern auch im Kampfe ihn anfeuert und im Tode ihn tröstet. 
So kommen wir auch in den vielgerühmten Kleftenliedern 
schliefslich auf jenen Dreiklang zurück, der die Seele des griechi- 
schen Volksgesanges bildet: Natur, Liebe, Familie, und es lehrt 
diese Überwucherung des Heldentums durch urmenschliche Ge- 
fühle, dafs der Heldensang bei den neueren Griechen etwas ganz 
Sekimdäres, nicht etwas Subsidiäres ist, wie bei Germanen und 
Slaven^^). Es ist der schon wiederholt betonte Mangel des 
Epischen und die etwas einseitige Vorliebe für das Lyrische, der 
die neugriechische Volksdichtung der italienischen nähert, nur 
dafs dieses Lyrische sich in viel weicheren, zarteren und ge- 
dämpfteren Tönen hält, als man von einem südlichen Volke er- 
warten sollte. 



Das zeigt am auffallendsten die erotische Lyrik der 
Griechen : sie hat bei aller leidenschaftlichen Sinnlichkeit nicht jenen 
naiven, gesunden, genufsfrohen Charakter wie die italienische, 
nicht die stille, ungestörte, harmlose Seligkeit des deutschen 
Liebesliedes, sondern schlägt einen eigentümlich sentimentalen, 
sehnenden, fast schmerzlichen Ton an. Sie erzählt mehr von Liebes- 
leid als von Liebeslust, Es fehlt die Harmonie zwischen beiden, 
wie sie im deutschen Volkslied herrscht. Es ist bald die ver- 
botene . bald die unerfüllte , bald die heimlich sich ängstigende, 
bald die durch den Tod frühzeitig gebrochene, kurz die ihrer 
selbst nicht recht froh werdende Liebe, von der das griechische 
Volkslied mit Vorliebe berichtet. Diese in den Genufs des 
Augenblicks nie rein aufgehende, quälerische Stimmung der 
Liebe Hegt teils in dem griechischen Volkscharakter, teils in den 
sozialen Verhaltnissen des Orients begründet. 

Es ist zunächst jene beschauliche und sensitive Naturerapfin- 
dung , die ja , wie wir sahen , den Griechen seit der hellenisti- 
schen Zeit her eigen ist, die sich in dem wehmütigen Betrachten 
der Vergänglichkeit des Lebens und seiner Freuden gefällt, und 
die nun auch dem Liebesleben sich mitteilt, nicht nur indem die 
Natur und ihre Geschöpfe den Liebenden gegenüber als ein 
willkommenes Orakel auftreten und an ihrem Schicksal Anteil 
nehmen, sondern indem von der elegischen Weltanschauung des 
Griechen auch auf sein Liebesglück ein Schatten fällt. Es ist 
daher gewifs kein Zufall, dafs zahlreiche erotische Lieblings- 
motive in der neugriechischen Volkspoesie zurückgehen auf jene 
spätherbstliche Blüte der altgriechischen Dichtung , auf die lieb- 
lich-tragische Geschichte von Hero und Leander. Es ist, als 
ob dieses kleine Liebesepos gleich einer an das Ufer brandenden 
Meereswelle in unzählige Teilchen zersprUht wäre, die dann vom 
Volks munde gierig aufgefangen wurden und noch heute als 
eigene Liedchen erklingen. So verwandt fühlt sich hierin die 
/heutige griechische Seele mit der des zweiten vorchristlichen 
Jahrhunderts, in das man die Entstehung dieses Stoffes zu 
setzen hat. 

Man kann sich aus diesen Resten den gröfsten Teil des Ge- 
dichtes rekonstruieren, nicht nur in dem Hauptmotiv der ge- 
trennten Liebenden, das ja bekanntlich auch in dem deutschen 
Volksliede von den zwei Königskindern fortlebt. In zwei griechi- 



J 



— 127 — 

sehen Liedern ist zunächst von dem »himmek-agenden Turm« die 
Rede, von dem schon Strabon erzählt; darin ist eine schöne 
Königstochter eingeschlossen, >von ihrem Vater halb verstofsen, 
von ihrer Mutter verflucht«. Aus der Priesterin der Aphrodite 
ist eine Nonne von zwölf Jahren geworden, die — wohl ein An- 
klang an das Fest der Göttin — einem ihr begegnenden 
Burschen Wein verkauft und ihm ihre Liebe anbietet. In 
mehreren versprengten Zweizeilern wird femer auf das Durch- 
schwimmen der Meerenge angespielt: 

Zum Boot ich mache meinen Leib und meine Hand zu Rudern, 
Dafs ich mein Liebchen finden mag, die mich am Strand erwartet. 

Oder wie Worte der Hero klingt die Bitte an das Meer: 

O Meer, das du da vor mir liegst und blickest auf mein Leid, 
Behüte mir, erhalte mir den Liebsten allezeit! 

Selbst eine Reminiszenz an die verhängnisvolle Lampe 
scheint noch erhalten: 

Dort an dem hohen Fenster seh' ich ein Lämpchen hangen, 
Es harrt das schmucke Mägdelein, den Liebsten zu empfangen. 

Ein anderes Lied schliefst mit den Versen: 

Ich will zu meiner Liebsten, es komme, was da wolle, 
Mag mich das Meer ausspeien, wohl an des Ufers Rand, 
Ob mich die Fische fressen, Delphine mich zerreilsen. 

Dann folgt die Katastrophe, die in einem Liede ganz wie 
die Tauchersage behandelt ist und ähnlich schliefst: 

. Der Arme, er warf sich von Ufers Höh', 

Er sprang in die Fluten nieder. 

Zwölf Meilen schwamm er hinein in die See, 

Und niemals kehrte er wieder. ,x , , v 

(Lübke.) 

Die Aufsuchung des Geliebten ergänzen zwei Volkslieder: 
in dem einen singt eine Jungfrau unter Tränen auf einem 
kristallenen Turm ein Trauerlied, und in dem andern irrt eine 
Priesterfrau am Strande und fragt die vorbeifahrenden Schiffe, 
ob sie nicht einen Jüngling aufgefischt hätten. Der Schlufs 
endlich findet sich, zum Teil mit den gleichen Worten, in 
mehreren Liedern zerstreut, wenn es heilst: 




Wenn also bei der Vorliebe des griechischen Volkes für die 
Behandlung tragischer Liebesmotive ein so alter Stoff durch 
mehr als zwei Jahrtausende hindurch fortwirken konnte , so ist 
es nicht zu verwundern, wenn die kleine Elegie von der >Schönen 
Schäferin«, die selbst wie eine späte Erneuerung der Herosage 
im HirtenkostUm erscheint, ebenfalls in stark zusammengezogener 
Form im Volksmunde weiterlebt, nur mit der sehr charakteristi- 
schen Änderung des Schlusses, dafs der Hirt am Grabe der Ge- 
liebten sich den Tod gibt, was wie eine poetische Assimilation 
an Hero und Leander wirkt. Nimmt man noch dazu, dass auch 
in anderen romantischen Epen und Balladen, wie in dem 
Achillesgedicht, den cyprischen Liedern von Chartzianis und 
Arete, von der Arodaphnusa, in dem kretischen von Schön- 
Suschen ein früher, teils natürlicher, teils gewaltsamer Tod die 
Geliebten trennt, so wird diese tragische Neigung in einer 
inneren Anlage des griechischen Volkscharakters zu suchen sein, 
und zwar mufs man sie zweifellos erklären aus einer pessimisti- 
schen Weiterbildung der alex andrinischen sentimentalen Erotik, 
die, wie wir sahen, wieder in enger Verbindung steht mit dem 
sentimentalen Naturgefühl jener Zeit. 

Die Natur wird dem Menschen zum Symbol seiner Liebes- 
wonne und seines Liebeswehs; er glaubt sie an seinen Leiden und 
Freuden Anteil nehmen zu sehen. Mehrere neugriechische 
Varianten der auf Hero und Leander zurückgehenden Lieder 
von unglücklich Liebenden schliefsen mit dem Bilde, dafs aus 
den beiden Gräbern zwei Zypressen entspriefsen , die einander 
umschlingen und küssen. Bei Musaeos selbst findet sich dieses 
Bild freilich noch nicht, wohl aber in vielen ähnlichen Situationen 
bei Dichtem der alex andrinischen Zeit, wo die unbelebte Natur 
im Banne des Menschen steht, ganz wie in der volkstümlichen 
Poesie des Mittelalters und der Neuzeit. Wie bei Theokrit 
die Zj'pressen sich die Liebesfreuden des unter ihrem Schatten 
weilenden Paares erzählen, wie bei Musaeos die Rosen unter 
den Schritten der Hero leuchten, wie bei Nonnos die Eichen 
flüstern und die Steine jammern, der Flufs Paktolos bei dem An- 
blick des trauernden Antlitzes des Dionysos in seinem Laufe 
innehält und der Atlas den Himmel im Kreise herumdreht, so 



— 129 — 

findet man in der mittelalterlichen und modernen griechischen 
Volkspoesie zahlreiche ähnliche Beispiele dieser phantastischen 
Naturbelebung. Im Roman von Belthandros erfafst die 
Bäume ein Wollustschauder, als die Geliebten sich küssen, 
Berge und Hügel hüpfen beim Anblick der Braut, im Eroto- 
kritos erglänzt Ost und West, als Aretusa das Bild des Ge- 
liebten aus dem Schranke ninunt; als die Geliebten sich trennen 
müssen, da blitzt der Osten und donnert der Westen, Steine und 
Eisen vergiefsen Tränen; und als sie sich wiedersehen, da 

Sprossen die Gräser auf der Au, die Bäumchen trieben Blüten, 
Und aus des Himmels Armen fuhr ein sanfter Nord hernieder. 
Es leuchteten die Ufer hell, das Meer lag wie im Schlummer, 
Es tönte eine Weise süfs auf Bäumen und im Wasser. 
In lautrer Anmut, strahlend hell, begann es Tag zu werden. 
Es lachte hocherfreut der Ost, der Westen stolz sich fühlte. 
Die Sonne hatte so noch nie geschmücket ihre Strahlen, 
Und alle Berg' und Felder liefs verschönert sie erscheinen. 
Es flatterten die Vögelein mit lieblichem Gezwitscher, 
Und auf der Bäume Zweigen sie liebkosend sich gesellten. 

Ganz ähnlich heilst es im neugriechischen Volkslieder 

Wenn zwei nun auseinandergehn, die sich von Herzen lieben. 
Dann welkt das Laub, dann weint das Feld, dann will kein Gras mehr 

spriefsen; 
Doch wenn sie sich dann wiedersehn, die sich von Herzen lieben, 
Dann spriefst das Laub, dann lacht die Flur, dann blüht und grünt 

die Erde! 

(Lübke.) 

Der Schönheit der Geliebten schreibt das Volkslied gern 
einen Einflufs auf die Sonne zu: 

« 

Als deine Mutter dich gebar, da stieg die Sonne nieder 
Und lieh dir ihren Strahlenkranz und stieg zum Himmel wieder. 

(Lübke.) 

Die Sonne bleibt, durch den Gesang eines schönen Mädchens 
berückt, am Himmel stehen, und wenn ein schönes Paar sich 
findet, * »herrscht lauter Sonnenschein«*^). 

Es scheint, dafs diese aktive Teilnahme der leblosen Natur 
an den Geschicken des Menschen etwas spezifisch Orientalisches 
sei, wie ja orientalische Elemente seit der hellenistischen Zeit 
zahlreich in die griechische Poesie eingedrungen sind. Das 

Dieterich, Gesch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 9 



— 130 — 

Schreien der Steine und das Stehenbleiben der Sonne erinnert an 
biblische Bilder, während anderes, besonders bei Nonnos, an 
indische Phantasie heranreicht. 

Häufiger noch als diese spontane Teilnahme der Natur ist 
in der neugriechischen Volkspoesie die Aufforderung der Natur 
durch den Menschen, sich mit ihm zu freuen oder mit ihm zu 
klagen. Auch hierfür findet man Spuren bei alexandrinischen 
Dichtem, wenn auch erst bei nachchristlichen, wie Nonnos, in 
dessen Dionysosgeschichten Berge, wie der Kithaeron, und Bäume 
aufgefordert werden, Klagelieder anzustimmen und Tränen zu 
vergiefsen, oder wie Moschos, bei dem wir folgende Apo- 
strophe an die Natur finden : »Klagelieder seufzet mir, ihr Täler 
und dorisches Wasser, ihr Flüsse beweinet den schmachtenden 
Bion; jetzt, ihr Pflanzen jammert und ihr Haine wehklagt!« 
Genau ebenso sucht der verbannte Belthandros in dem 
mittelalterlichen Roman sein Herz zu erleichtem: 

Ihr Berg' und Felder ringsumher, ihr Waldeshöhn und Täler, 
Gemeinsam traget Leid um mich, weint um den Sohn des Unglücks! 

oder wie die verliebte Pol)rxena im Achillesroman unter der 
Platane sich bei der Nachtigall unter Tränen bedankt, dafs sie 
ihren Schmerz empfinde, ihr Schicksal und ihr Leid teile; oder 
wie der seiner Geliebten beraubte Erotokritos in Berg und 
Wald umherstreift, den Gestirnen seine Qualen erzählt und sie 
um Rache anfleht: 

Ihr Sterne, nicht ertraget es (dafs sie verbannt werde), Sonne, zeig' 

mir ein Zeichen, 
Und solchen Vater ohne Herz triff mit dem Donnerkeile! 

In einem cy prischen Liebesliede des 16. Jahrhunderts 
vertraut der von seiner Geliebten verlassene Sänger sein Leid 
den Vögeln, den Bäumen imd der Quelle an: 

Singt denn, ihr Vögel, hört nicht auf zu klagen. 
Und billig ist's dafs ihr wehklagt mit mir, 
Ihr Bäume, früh und spät, und mittags auch. 
Wenn ihr euch schüttelt, sagt von meinen Leiden; 
Misch', Quelle, dich in meinen Weheruf, 
Und ich will dazu rufen: Strafe, Strafe! 
Und da sie nichts mehr von mir hören will, 
So höret mich, ihr Vögel, Bäume, Quellen! 



— 131 — 

Und der Hirt in dem Gedicht von der schönen 
Schäferin, der sich ihren Armen entwinden mufs, wendet sich 
weinend an die Sonne: 

O Sonne, die du so viel Freuden bringst, 

Was ist der Grund, dafs du sie mir jetzt nimmst? 

In einem neugriechischen Distichon endlich werden 
Sonne und Mond aufgefordert: 

Mufs sterben ich, o Sonne, hüll dich in Dunkel ein. 
Und du, o Mond, verliere den hellen Silberschein! 

(Lübke.) 

Die dritte Art, wie wir in der neugriechischen Liebes- 
poesie den Menschen im Verkehr mit der Natur sehen, ist die 
der orakelartigen Befragung oder Bitte um Erfüllung eines 
Wunsches. Wieder ist es meistens die unbelebte Natur, die so 
apostrophiert wird, doch auch Tiere, wie Vögel und Rosse. Ein 
Jüngling fragt die Sonne, ob sie nicht seine Liebste gesehen 
hätte und bestellt ihr Grüfse an sie; oder ein Mädchen sucht 
von ihrem Spiegel zu erfahren, wann sie einen Geliebten finden 
werde, eine andere wendet sich an das Rofs seines Herrn, um 
zu hören, ob dieser schon gefreit habe. Ein Bursche fragt 
Berge tmd Felder, ob sie nicht seine Geliebte gesehen hätten, 
oder bittet die Vögel, ihn ihre süfsen Lieder zu lehren, um so seine 
Erwählte für sich zu gewinnen. Auch die Verwendung der 
Vögel als Liebesboten gehört hierher; so bittet der ferne Ge- 
liebte die vorbeifliegenden Vögel: 

Ihr Schwalben unterm Himmelszelt, ihr Täubchen, rührt die 

Schwingen, 
Erspäht mein liebes Vögelein, ihm einen Grufs zu bringen! 

Wie weit diese Art der Naturbefragung in das Altertum 
zurückreicht, läfst sich bis jetzt noch kaum sagen. In den Dich- 
tungen der genannten alexandrinischen Dichter scheinen sich 
noch keine Spuren davon zu finden; auch in denen des griechi- 
schen Mittelalters ist dieses Motiv nur selten verwendet <9). 

Erscheint in allen diesen Fällen die Natur als Bundes- 
genossin des Menschen und seiner Herzensangelegenheiten, so 
finden wir sie auch unabhängig von ihm, ja oft ihm gegenüber 
verräterisch seine innersten Liebesfreuden ausplaudern oder froh 

9* 



— 132 — 

der Welt verkünden. Es sind wieder meistens Vögel, die in 
dieser letzteren Rolle auftreten : ein Falke ruft von einem Baume 
herab die Kunde von der Vermählung eines schönen Paares : 

Weht heute nacht, ihr Winde, und morgen abend linde, 
Ein Jüngling feiert Hochzeit heuf mit einer blonden, schlacken Maid! 

(Lübke.) 

Als Verräter der Liebe dagegen erscheinen, was bezeichnend 
ist, niemals lebende Wesen, sondern lediglich die unbelebte Natur; 
es scheint hier eine Wandlung in der Naturauffassung vor- 
gegangen zu sein, indem die unbelebten Naturgegenstände als 
Werkzeuge menschlicher Stimmungen, die sie in älterer Zeit dar- 
stellen, allmählich zurück-, und die dem Menschen näher- 
stehenden belebten Wesen dafür eintreten. Der Mensch fühlt sich 
in der neugriechischen Zeit der toten Natur mehr entfremdet als 
in der alexandrinischen und mittelalterlichen, und daher kann sie 
ihm auch leichter zum Feinde und Verräter seiner tiefsten Ge- 
heimnisse werden. So fragt ein Bursche seine Geliebte ver- 
wundert, wie ihre Liebe so schnell ruchbar geworden sei, imd 
sie erklärt ihm: 

Der Mond und die Sterne sah'n es. 
Und im Osten der helle Schein; 
Ein Stern hat's den Wellen verraten, 
Der fiel in das Meer hinein. 
Von den Wellen hört' es das Ruder, 
Das plaudert' dem Schiffer es aus, 
Der singt's nun als Morgenständchen 
Vor seiner Herzliebsten Haus. 

(Lübke.) 

Dafs diese poetisch sehr originelle Auffassung des Liebes- 
verrats 50) ziemlich neuen Datums zu sein scheint — in der mittel- 
alterlichen Volkspoesie scheint sie sich noch nicht zu finden — , 
erklärt sich nicht nur aus der angeführten psychologischen Tat- 
sache der allmählichen Entfremdung zwischen dem Menschen und 
der toten Natur, sondern auch aus einer sozialen : im Orient ist 
die Liebe keine so harmlose Sache wie bei uns; die patriarcha- 
lische Sittenstrenge und die dadurch bedingte scharfe Trennung 
der Geschlechter legt hier den Liebenden die äufserste Vorsicht 
auf; das öffentliche Lustwandeln von Liebespärchen Arm in 
Arm ist ja schon in Italien etwas Seltenes imd wird auf der 
orientalisierten Balkanhalbinsel vollends zur Unmöglichkeit. Wehe 



— 133 - 

dem Mädchen, das sich mit seinem heimlichen Geliebten selbst 
vor ihren Verwandten sehen Heise! Ihr Bruder würde sich so- 
fort zum Rächer ihrer nach seiner Ansicht verlorenen Ehre auf- 
werfen. Kann doch schon ein geraubter Kufs dem ungestümen 
Liebhaber das Leben kosten. Freilich tritt diese Situation schon 
darum selten ein und gilt dann fast als strafbar, weil die meisten 
Ehen von den Eltern ohne Wissen der zu Verheiratenden abge- 
schlossen werden. Es ist eben die orientalische Unfreiheit der 
Persönlichkeit, die sich hierin ausdrückt 5^). 

Dafs es freilich damit nicht überall so peinlich im griechi- 
schen Orient genommen wird, namentlich nicht auf den von 
romanischer Leichtlebigkeit stärker ergriffenen Inseln, lehren 
nicht nur diese Lieder der verratenen Liebe, sondern mehr noch 
die mittelalterlichen aus dem Zyklus des Liebesbreviers und 
das von der Verführung, am meisten aber die Tatsache, 
dafs auch von diesen beiden Erzeugnissen griechisch-roma- 
nischer Liebespoesie noch zahlreiche Reflexe im Volksmunde 
lebendig sind. 

Stücke gröfseren Umfangs haben sich aus beiden Werken 
allerdings nur wenige erhalten: aus dem Liebesbrevier nur die 
charakteristische Liebesprobe mit dem Zahlengedicht, von der 
oben ein Teil wiedergegeben wurde, auf Chios, und von der 
Verfühnmgsgeschichte ein zu 32 Strophen zusammengezogenes, 
fragmentarisches Lied auf Korfu, von dem sich zwölf Verse mit 
dem mittelalterlichen Gedichte decken s"). Sonst sind nur einzelne, 
durch ihren allgemeinen, sentenzenhaften Inhalt verständliche 
Verse von beiden im Gedächtnis des Volkes geblieben, meistens 
je zwei zusammen, also Disticha, die beim Tanze gesungen 
werden. Aus der Verführungsgeschichte sind es zwei Stellen, 
die geflügelt geworden sind: die Erwiderung des Jünglings auf 
die Frage des Mädchens, ob er ihr keinen Ring geben wolle, 
und die lautet: 

Bin ich denn gar ein Goldschmied, dafs Ringe ich verfert'ge, 
Damit hausieren gehe für schöne Augenbrauen? 

Und aus dem Schlufs die Worte der Vergewaltigten: 

So ist es eure Weise, ihr Jünglinge und Burschen: 

Wenn ihr die Frucht gekostet, gebt ihr dem Zweig 'nen Fufstritt. 



— 134 — 

Häufiger sind solche Zweizeiler dem Liebesbrevier ent- 
nommen. Da finden wir Flatterverschen wie die folgenden: 

Du küfstest mich, da ward ich krank, küfs mich, dafs ich gesunde, 
Und küsse mich dann noch einmal, dafs ich dran geh' zu Grunde! 

Oder : 

So viel am Himmel Sterne sind und Blätter an den Bäumen, 
Mit so viel Liebe lieb' ich dich, mein Stolz und mein Gebieter! 

Die Worte des von dem Mädchen abgewiesenen kleinen 
Burschen enthalten die Verse eines cyprischen Liedes: 

Sieh nur den kleinen Apfelbaum und sieh dann auch den grofsen, 
Und sieh dann, wie die kleinen blühn viel schöner als die grofsen. 

Dem Liebesbrevier sind auch die bekannten Liebeswünsche 
entlehnt, wie: 

Ein Schwälbchen will ich werden, auf deinen Lippen sitzen, 
Dich dann ein p^rmal küssen und schnell von dannen fliegen. 

Oder: 

Krüglein, du liebes Holzkrüglein, ach, hätt' ich doch dein Schicksal, 
Dich tragen schöne Mägdelein und trinken aus dir Wasser. 

Die wilde, echt südliche Liebesleidenschaft kennzeichnet fol- 
gende Strophe: 

Es schwindelt mich, bis ich dich seh\ und seh' ich dich, erschreck' ich. 
Und seh' ich dich, erlischt die Glut, bin wieder dann der alte. 

Schliefslich noch ein weitverbreitetes Distichon, das fast 
wörtlich aus Musaeos' »Hero und Leanderc (v. 103 f.) ent- 
nommen ist und die Entstehung der Liebe poesievoll schildert: 

Von den Augen empfangen, auf der Lippe geboren. 
Hat Liebe das Herz sich zur Wohnung erkoren 53). 

So sehen wir, dafs diese für den spätgriechischen Geist so 
charakteristische Phantasieschöpfung selbst eine Quelle der leich- 
teren, tändelnden Liebespoesie geworden ist, wie sie die Tanz- 
stimmung eingibt. Aber es scheint, als sei der holde Leichtsinn, 
wie er sich hier offenbart und wie er den Nachkommen eines 
alten Ktinstlervolkes so wohl ansteht , dem mittelalterlichen und 
modernen Griechen nur in seltenen Momenten ungemischter 
Lebensfreude beschert, und als schwebe, der Todesschatten des 



— 135 — 

unglücklichen Liebespaares noch durch die Reihen der tanzenden 
Jugend. Wohl huldigt sie dem Eros, wohl hängt sie am Leben-, 
die Figur des kleinen Liebesgottes mit Pfeil und Bogen ver- 
schwindet ja in der ganzen alexandrinischen und mittelgriechi- 
schen Poesie nicht: von Apollonios' Argonautengeschichten bis zu 
Musaeos' idyllischer Dichtung, dann, durch das anmutlose 
byzantinische Zeitalter vertrieben, erst wieder vom Belthandros 
bis zum Erotokritos und von da in die Volkspoesie flüchtend, so 
ist der kleine Liebesgott ebenso unsterblich gewesen bei den 
Griechen wie die Liebe selbst, und man hat gar keinen Grund 
zu der Annahme, er sei ausgestorben und erst mit der romani- 
schen Erotik wieder importiert worden. Aber freilich hat die 
volkstümliche Verkörperung des Liebesgottes die Phantasie der 
Griechen tatsächlich nicht in so hohem Grade beschäftigt wie 
die anderer Gestalten , und das hat eine weitere, tiefere Ursache, 
die uns in die innersten Räume des griechischen Volks- 
charakters führt. 

Die eben angeführten, beim Tanze gesungenen Zweizeiler 
tun das nicht; wohl aber tut es ein anderes, längeres Tanzlied, 
als dessen Heimat Epirus genannt wird, und das eins der merk- 
würdigsten Lieder der griechischen Volkspoesie überhaupt ist. 
Da wir von ihm ausgehen müssen, so sei es ganz hergesetzt: 

Geniefset, Bursch* und Mägdlein hold, 

Dem Tag folgt nächf ger Schauer, 

Und Charos zählt ohn' Unterlafs 

Air unsVer Tage Dauer. 
Erde rollt, drum tretet munter, 
Die dereinst uns schlingt hinunter. 

Des Charos* Aug' ist tränenleer. 

Blickt nicht Vertrauensschimmer, 

Er reifst die Kindlein von der Brust, 

Läfst uns die Greise nimmer. 
Gebt ihm eins, wie sich's gehöret, 
Dafs man uns den Tanz nicht störet. 

Geniefse, Bursch' und Mägdlein hold. 

Der Jugend Tau hienieden, 

Denn einst wird kommen eine Zeit, 

Da deckt euch Grabesfrieden. 
Erde rollt, drum tretet munter, 
Die dereinst uns schlingt hinunter. 



— 136 — 

Die wir treten, diese Erden, 
Mufs uns allen Wohnung werden, 
Dieser Erde saftig Grün 
Frifst uns manchen Jüngling kühn, 
Frifst tief unten unter Blümlein 
Uns die Burschen und die Mägdlein. 

Gebt ihr's tüchtig, solFs uns hülsen, 

Gebt ihr eins mit euren Füfsen! 

Geniefse, Jüngling, Mägdlein hold, 
Müfst übers Jahr erblassen. 
Und Charos hat's beschlossen fest. 
Will keinen übrig lassen. 
Alle Fürsten, Edlen, Grofsen 
Samt dem ganzen Bettelpack, 
Greise, junge Burschen, Kinder, 
Air erwartet Charos' Tag! 54) 

Dieses Lied atmet echt modern-griechische Empfindung: in 
der Stinmiung ganz unserm deutschen »Eile zum Lieben« von 
Opitz verwandt, das Herder eins der schönsten deutschen Volks- 
lieder nannte, scheint es mir dieses an wehmutvollem Lebens- 
gefühl zu übertreffen und nähert sich insofern der beschaulichen 
Jugendlust unseres »Gaudeamus igitur«, wie sie wenigstens in 
Herders Übertragung zum Ausdruck kommt. Auch das Lessing- 
sche, wenn auch etwas ins Anakreontische umgebildete Lied 
»Gestern, Brüder, könnt mir's glauben« läfst sich zum Vergleich 
heranziehen. Es ist überall die gleiche Grundstimmung: der 
Gedanke an die Vergänglichkeit des Lebens und die Sorge, es 
zu geniefsen; es ist jene melancholische Daseinsfreudigkeit, die im 
Deutschland des 17. Jahrhunderts ähnlich stark entwickelt war 
wie bei dem Griechen noch heute, nur dafs sie bei diesem einen 
um so ergreifenderen Ausdruck gefunden hat, je krampfhafter 
er sich an die Welt »mit klammernden Organen« hält und je 
anschaulicher seine Phantasie sich die Schauer des Todes aus- 
zumalen weifs, die dann um so greller kontrastieren müssen 
gegen das bunte, farbenglühende Weltbild, das er vor sich hat. 
So entsteht jener unausgeglichene Dualismus zwischen Lebens- 
lust und Todesahnung mit dem allmählich immer stärkeren Über- 
wiegen der letzteren, so dafs schliefslich der allgewaltige Tod 
triumphiert und eine ganz neue, eigene Gattung von Liedern 
sich herausbildet, die schaurig-schönen Charoslieder. 



— 137 — 



Charos, der Totengott, ist eine der volkstümlichsten Gestalten 
des griechischen Volksglaubens; er ist gleichsam das stärkere 
Komplement zu dem lebensfrohen Eros: der liebliche, welt- 
erhaltende Knabe und der grimmige, weltvemichtende Greis; 
Leben und Tod, die beiden unsterblichen Götter, sie sind der be- 
schaulichen Einbildungskraft des Griechen so unzertrennlich, dals 
sie , wie es scheint, einander sogar äufserlich beeinf lufst haben : 
mag auch der Totengott seine ständigen Waffen, Pfeil und 
Bogen, nicht von dem kleinen Liebesgott entlehnt haben, 
sondern anderswoher, wie wir noch sehen werden, so scheint 
doch in einigen Volksliedern Charos geradezu die Rolle des Eros 
zu spielen, wie in dem folgenden: 



Zum Charos will ich steigen 
Ins düstre Totenreich, 
Will Freundschaft mit ihm 

schliefsen 
Und Brüderschaft zugleich. 



Er soll mir seinen Bogen 
Und scharfen Pfeile leih'n, 
Dafs ich ins Herze treffe 
Drei schlanke Mägdelein. 

(Lübke.) 



Auch sonst wird Charos als der >Herzverbrenner€ be- 
zeichnet. Ob also hier nicht eine Art poetischer Kontamination 
zweier Phantasiegestalten vorliegt ? Immerhin scheint mir dieses 
gegenseitige Anklingen für die Lebensauffassung des Griechen 
charakteristisch zu sein : er kann das Leben nicht geniefsen, ohne 
dafs ihm das Leben selbst ein mahnendes >memento mori« zu- 
ruft; wie ein bitterer Tropfen fällt es ihm in den Becher der 
Freude. Bald himmelhoch jauchzend, ist er bald wieder* zu 
Tode betrübt; ja, oft fällt beides wie in dem oben mitgeteilten 
Liede in eins zusammen; er blickt wie mit einem lachenden und 
einem weinenden Auge in die Welt, möchte zum Augenblicke 
das bekannte Faustwort sprechen, fühlt, wie er so schön ist und 
doch nicht verweilt. Dieses quälende Bewufstsein bringt einen 
unheilbaren Rifs in seinem Innern hervor: er möchte ganz dem 
Leben angehören und fühlt doch, dafs er und alle Wesen dem Tode 
verfallen sind. Die Charoslieder, die den Niederschlag dieses 
Gefühls bezeichnen, kann man somit definieren als den Ausdruck 
der Machtlosigkeit eines mächtigen Willens ztmi Leben. 

Den Willen zum Leben, die Lust am Leben, die Freude an 
der Natur — das haben die neueren Griechen so gut wie die 
alten, aber es ist ihnen eines verloren gegangen: die über- 




— 138 — 

legene , objektive, künstlerische Anschauung von Natur imd 
Leben. Und sie haben ein anderes dafür nicht gewonnen: die 
religiöse Überwindung des Lebens durch das Christentum. Ihre 
Weltanschauimg ist eine unharmonische Kreuzung von Heiden- 
tum und Christentum ; ein mitgeschlepptes Heidentum und ein in 
den Anfängen stecken gebliebenes, halb heidnisches Christentum, 

Diese, sowie noch jene andere Tatsache, dafs die griechisch- 
orientalische Kirche als Staatskirche niemals die lebendige Füh- 
lung mit dem Geistes- und Geaiütsleben des Volkes gewann wie 
die römische, ist wohl auch der Grund, warum die griechische 
Volkspoesie so wenige geistliche Lieder aufzuweisen hat, warum 
sie von der Kirchenpoesie nicht befruchtet worden ist: ein Weih- 
nachtslied, in dem nur von dem heiligen Basihos, nicht von dem 
Christkind die Rede ist, ein Klagelied der Maria und einige mit 
heidnischen Elementen versetzte Lieder aus der christlichen 
Legende — das ist alles. Und wie die Stoffe den christlichen 
Inhalt, so läfst auch die Stinnmung der Lieder den christlichen 
Sinn völlig vermissen. 

So stofsen sich beständig in ihnen Lebensfreude und Todes- 
furcht, und zwar eine sentimentale Lebensfreude und eine naive 
Todesfurcht. 



selig; die Berge, o glücklich die Au'n 



Die von Charos nichts v 



1 Tod nicht erschau'n! 



Eine solche "Weltanschauung konnte mit einem Gott, einem 
Himmel nichts anzufangen wissen, sie, der in allem Lebenden 
nur die Ahnung von Tod und Vergänglichkeit aufdämmerte. 
Mufste daher der Grieche nicht mit einer gewissen angsterfüllten 
Phantasie gleichsam widerwillig sich dem Gefühl des Todes hin- 
geben, seine Schrecken sich ausmalen und dann sich wieder um- 
wenden und in schmerzlicher Wonne nach dem Leben und seinen 
flüchtigen Freuden lechzen? Mufste nicht so der unerbittliche 
Totengott, der Charos, in dem der antike Seelenführer Hermes, 
der Fährmann Charon und der Unterweltsherrscher Hades schon 
in alexandrinischer Zeit seltsam zusammengeflossen sind zu einer 
Figur, die dann noch weitere, romanische und orientalische Züge 
annahm -'S), mufste er nicht zu einer der beliebtesten Gestalten der 
Volksphantasie werden, volkstümlicher als der Sensenmann in 
der Kunst des deutschen, als die Totentänze in der des italieni- 



— 139 — 

sehen Mittelalters ? — Es ist ja gerade das Charakteristische der 
griechischen Charoslieder, dals das Grausige nicht allein darin 
uns angrinst, dafs vielmehr bei der unersättlichen Lebenssehn- 
sucht des Griechen immer wieder das liebliche Bild der Welt in 
die schaurigen Räume des Totenreiches fällt. Und so malen uns 
diese Lieder, die in keiner Volkspoesie ihresgleichen finden, 
ebensowohl die Wonnen des Lebens wie die Schrecken des 
Todes: wie diese im Leben vorweggenommen werden, so wirken 
das Leben und die Liebe zu ihm noch im Tode nach. 

Schon das mitgeteilte Tanzlied erweckte den Eindruck eines 
Kampfes zwischen Lebens- und Todesstimmung, und dieser 
Kampf nimmt dann greifbare Formen an in derjenigen Gattung 
von Charosliedem , die einen Helden mit dem Todesgotte 
kämpfend darstellen. Diese Lieder bilden eine deutliche Ver- 
quickung der auf den Digenis-Zyklus zurückgehenden Helden- 
lieder mit den schon im vorigen Kapitel erwähnten Gesprächen 
zwischen Tod und Mensch. Mit diesen haben sie manche Motive 
gemein: Charos ist von Gott gesandt, des Menschen Seele zu 
holen, und dieser bittet um drei Stunden beziehungsweise drei 
Tage Frist, um seine Kinder noch einmal zu sehen beziehungs- 
weise das Abendmahl zu nehmen : 

Charos, gewähre mir noch Frist drei Tage und drei Nächte, 
Zum Essen, Trinken gib mir zwei, am dritten will ich gehen. 
Zu sehen air die Freunde mein und meine Anverwandten. 
Hab' ja zu Haus ein junges Weib, der Witwenstand nicht ziemet, 
Hab' auch zwei kleine Kinder noch, zu jung, um zu verwaisen. 

(Lübke.) 

So bittet der junge Hirt den Charos, nachdem dieser ihn im 
Zweikampfe überwältigt hat, der in den modernen Volksliedern 
an die Stelle der langwierigen Disputationen der mittelalterlichen 
Litteratur tritt. Der schwächlichen Passivität der letzteren wird 
dadurch ein dem gesunden Lebensgefühl des Volkes mehr ent- 
sprechendes aktives Element zugeführt: der Mensch, der am 
Leben hängt, wagt es, dem allgewaltigen Tode Trotz zu bieten 
und den Kampf mit ihm aufzunehmen. Natürlich mufs der 
Mensch dabei unterliegen, aber, was zu beachten ist, nicht in- 
folge seiner geringeren Kraft, sondern als ein Opfer der Hinter- 
list des Todes, der ihn gern hinterrücks bei den Haaren packt, 
nachdem er selbst zuvor durch den kämpfenden Helden zu 



— 140 — 

Boden geworfen war. Dafs dieses Zweikampfmotiv tatsächlich 
auf den Akritenzyklus zurückzuführen ist, zeigt ein modernes 
Volkslied aus Cypern, worin geschildert wird, wie Charos unter 
die beim Mahle sitzenden Helden tritt und, von ihnen eingeladen, 
erklärt, er komme, den Schönsten von ihnen zu holen. Digenis 
springt auf und erbietet sich zum Ringkampf. Dabei tritt wieder 
die Arglist des Charos' zu Tage, wenn er spricht: 

Fafs leicht mich an, Held Digenis, so fass' ich leicht auch dich an, 

und wenn es dann weiter heilst : 

Und leicht fafst Digenis ihn an, und fest an packt ihn Charos. 

Trotzdem gelingt es dem Digenis, nach dreitägigem 
Kampfe den Tod niederzuwerfen, worauf dieser von Gott, der 
ihn gesandt, schwere Vorwürfe zu hören bekommt. Er ver- 
wandelt sich nun in einen Vogel und hackt dem Helden das 
Hirn aus. 

In dem ursprünglichen Digenisliede fehlt freilich dieses 
Motiv des Zweikampfes; hier ergibt sich der Held ohne weiteres 
und stimmt nur eine wehmütige Klage an: 

Wo seid ihr denn, o Hände, Charos zu widerstehen, 
Ihr meine starken Füfse, zertreten ihn zu seh'n? 

Es liegt also in den neueren Liedern eine übermütige Stim- 
mung, die dem Digenis übermenschUche Kräfte zuschreibt, wie 
es das Volkslied gerne tut. Dafs diese Stimmung aber nicht 
durchaus im griechischen Charakter liegt, sondern nur als ein 
lokaler Überrest aus älterer Zeit zu betrachten ist, lehren die 
anfangs betrachteten Kleftenlieder. Gerade von deren kampf- 
und rauflustigen Helden sollte man vor allem einen hartnäckigen 
Widerstand gegenüber dem Tode erwarten, und statt dessen be- 
gegnet man bei ihnen jener elegischen Weichheit tmd resig- 
nierten Ergebenheit, die etwas Orientalisches, nichts Heldenhaftes 
an sich hat, aber dem griechischen Wesen gemäfser ist und 
seinen Anschauungen mehr entspricht als trotziges, mutiges 
Sichaufbäimien gegen das Schicksal. 

Das Motiv der Besiegung öder Uberlistung des Charos 
kehrt auch in einem anderen Liede wieder, in dem es der 
Bruderliebe gelingt, die von Charos entführte Schwester diesem 



— 141 — 

wieder abzujagen; ein Ausgang, der nur ganz vereinzelt be- 
gegnet s^). Überhaupt scheint die Vorstellung von dem mit 
Menschen kämpfenden und sie besiegenden Charos jünger zu 
sein und sich aus den genannten Streitgesprächen entwickelt zu 
haben, während die Vorstellung, dals er die Menschen wie ein 
Dieb raube, wahrscheinlich, wie in dem letzterwähnten Liede, 
eine neutestamentliche Reminiszenz ist (»Ihr wisset, dafs der 
Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht«). 

Im allgemeinen behält er sein mythologisches, geisterhaftes 
Wesen bei, wie es in seinem verschiedenen antiken Ursprung 
begründet ist. Der antike Seelen führe r erscheint in dem 
durch Goethes Bewunderung bekannten Charosliede als be- 
rittener Seelen Jäger, der aber nicht, wie man nach Goethe^ 
irreführender Übersetzung annehmen könnte, als fliegender 
Reiter zu denken ist, der die Scharen der Toten durch die 
Lüfte entführt 57). Es ist vielmehr ein wirklicher Jagdzug, den 
er führt: 

Die Jungen treibt er vor sich her, es folgen ihm die Greise, 
Und zarte Kindlein führet er am Sattel reihenweise. 

(Lübke.) 

Diese Auffassung des Charos als Jäger ergibt sich auch aus 
anderen Liedern, in denen er dargestellt wird, wie er sein Pferd 
beschlägt, imd in denen eigens auf seine Jagd angespielt wird, 
oder wo von seinem Rofs und seinen Jagdhunden, sowie von 
seinen Waffen, von Bogen und Pfeilen, die Rede ist. In einem 
Liede sagt des Charos' Mutter ausdrücklich: 

Mein Sohn weilt in den Bergen, um Hirsche zu erjagen. 

Also nicht das Reiten, sondern das Jagen ist die Haupt- 
sache bei dieser Vorstellung; das Reiten soll wohl nur die 
Schnelligkeit des Todes bezeichnen. Es ist klar, dals damit das 
von Goethe mit halb antiken, halb nordischen Vorstellungen in 
Zusammenhang gebrachte Lied viel von seiner plastischen Kraft 
einbüfst. 

Den jagenden Tod kennt schon das spätere griechische 
Mittelalter. In dem erwähnten Gedichte von der [Ööllenfahrt 
des Piccatoro (aus dem 15. oder 16. Jahrhundert) reitet er auf 
einem schwarzen Rosse, hält einen Falken auf der Hand und ist 



— 142 — 

mit Bogen und Pfeilen bewaffnet. Damit trifft er die Könige, 
tötet die Unbezwinglichen und trennt Eltern und Kinder, Mann 
und Frau. Dann besteigt er sein Rols und entführt seine Beute 
in den Hades. Diesen Moment hat also das angeführte neu- 
griechische Lied festgehalten, das ebenfalls mit dem Motiv der 
Trennung der Liebenden schliefst, wenn Charos sich weigert, Rast 
zu machen, denn : »es möchten, sich erkennen, die ich geschieden, 
Mann und Weib, und nie sich wieder trennen.« 

Was mm den Ursprung dieser Vorstellimg betrifft, so hat 
ein neuerer Forscher es sehr wahrscheinlich gemacht, dafs es 
sich hier um einen Einflufs italienischer Totentanzdarstellungen 
handelt, die im Mittelalter sehr häufig waren und den Tod eben- 
falls reitend mit Bogen und Pfeilen zeigen s»). Es würde also 
dann die Einwirkung der Italiener auf die Griechen sich nicht 
nur auf die Litteratur, sondern auch auf die bildende Kunst er- 
strecken. 

Ein ganz anderes Bild bieten uns die Lieder, in denen 
Charos als Beherrscher der Toten erscheint. Sahen wir ihn 
soeben als Jäger, so jetzt als Gärtner und Baumeister. Die 
Unterwelt ist dann als ein Garten gedacht, zu dem die Toten 
die Blumen abgeben: 

Denn Charos hat geprahlet: einen Garten wollt' er baun, 
Drin Kinder als Topfgewächse, drum Greise stehn als Zaun. 
Als Goldorangen nahm' er die blonden Mägdelein 
Und schwarzgelockte Knaben wohl zum Zypressenhain. 

(Lübke.) 

In einem anderen Liede will Charos ein Haus bauen, und 
er nimmt Jünglinge als Balken, Greise als Fundament und 
kleine Kinder als Turmzinnen, oder Heldenarme als Zelt- 
stangen, Mädchenzöpfe als Taue, Kinderköpfe als Stangen- 
knaufe u. s. w. 

Diese seltsame Allegorie ist höchstwahrscheinlich orientali- 
schen Ursprungs : in einem Teil des grofsen indischen Epos 
Mahäbharäta heifst es zum Beispiel, dafs der Held Visna das 
Feindesland zum Garten machte und abgehauene Königsköpfe 
als Wassermelonen, Bäuche als Kürbisse imd Arme als Feigen- 
bäume einpflanzte. 

Es haben somit; was für die kulturgeschichtliche Erkenntnis 



— 143 — 

wichtig ist, bei der Ausbildung der neugriechischen Charoslieder, 
speziell der Verkörperung der Figur des Charos selbst, zwei 
entgegengesetzte Motive eingewirkt, ein italienisches und ein 
orientalisches; jenes zeigte uns den Totengott als Jäger, dieses 
als Gärtner. Und diese doppelte Einwirkung vom Orient und 
vom Occident her, die uns schon von vielen Dichtungen des 
griechischen Mittelalters her geläufig ist, zeigt wiederum die 
charakteristische Doppelstellung des modernen Griechentums 
zwischen Orient und Occident. Dagegen ist der Geftihlsinhalt, 
die Seele dieser eigentümlichen Lieder durchaus wieder ein Erb- 
teil des späten, hellenistischen Griechentums. Und damit dringen 
wir durch die vielfache und vielfarbige Verkleidimg der Charos- 
lieder zu ihrem eigentlichen Kern hindurch, den wir als den um- 
gekehrten Ausdruck einer unverwüstlichen Liebe zum Leben er- 
kannt hatten. 

Gleichviel, ob mittelbar in der allgemeinen Vorstellung des 
Todes, seiner Gestalt, seines Reiches und seiner Opfer, oder ob 
unmittelbar im Angesichte des Todes, ob in den Liedern vom 
ringenden, jagenden und gartenbauenden Charos, oder ob in 
denen von den Bitten und Wünschen sterbender Helden — 
tiberall ist der durchgehende Gedanke der des Willens zum 
Leben: die Abgeschiedenen wollen wieder ans Licht, die eben 
Abgerufenen tmd von Charos Mitgeschleppten wollen noch ein- 
mal die Freuden des Lebens geniefsen, die Sterbenden auch im 
Tode das irdische Leben fortsetzen. 

Schon in dem besprochenen Unterweltsgedicht des Ber- 
gades hatte der unwiderstehliche Drang der Toten, die Welt 
und die Ihrigen wiederzusehen, einen rührend-naiven Ausdruck 
gefunden. Die Stelle wurde im Wortlaut wiedergegeben, und 
man könnte meinen, das folgende kleine neugriechische Lied sei 
direkt daraus erwachsen : 

Dort unten in dem Tartaros, dort in dem Totenreiche, 

Dort weint der holden Mädchen Schar, dort weinen wackre Burschen — 

Was wollen ihre Klagen denn, was wollen ihre Tränen? 

»Steht denn der hohe Himmel noch, steht noch die Welt dort oben? 

Stehn noch die Kirchen unversehrt mit ihren goldnen Bildern? 

Stehn auch die Webestühle noch, daran die Frauen weben?« 

(Lübke.) 



— 144 — 

Und wie in dem mittelalterlichen Gedicht die Toten nach 
ihren Frauen und Müttern fragen und — wenigstens über die 
ersteren — eine wenig tröstliche Antwort erhalten, ebenso er- 
hält das Mädchen im Hades von den Riesen, die sie daraus be- 
freien wollen, zur Antwort auf ihre Frage nach Brüdern und 
Mutter: 

Mein Kind, deine Brüder, sie tanzen im Reih'n. 
Auf der Gasse plaudert die Mutter dein. 

Es klingt hieraus wieder die alte Klage: die Lebenden 
haben ihre Toten vergessen. Übrigens erkennt man auch an diesem 
Zuge den grolsen Unterschied zwischen antiker und mittelalter- 
lich-moderner Vorstellung der Griechen von dem Verhältnis der 
Toten zu den Lebenden: nach der ersteren sind es die Toten, 
die ihre lebenden Verwandten durch den Genufs der Lethe ver- 
gessen, nach der letzteren dagegen diese, die von der Lethe- 
quelle getrunken zu haben scheinen, so dafs gleichsam die 
Rollen vertauscht sind. In einem Liedchen vom Vergessenheits- 
kraute — das an die Stelle der Vergessenheitsquelle getreten 
ist — wird das ausdrücklich betont: die tote Tochter fordert 
ihre Mutter auf, von diesem Kraute zu essen: 

Und wenn du's ifst, so hast du Ruh\ dann wirst du mich vergessen! 

Das Leben einzubüfsen, ist eben für den Griechen bitterer 
als selbst einen geliebten Verwandten zu verlieren: Ein Toter 
ist zu verschmerzen, das Leben nicht. 

Im »Zug des Todes« — wie man das von Goethe übersetzte 
Lied treffender benennen könnte als »Charos imd die Seelen« — 
flehen die vom Tode Entführten: 

O Charos, kehr' im Dorfe ein! Lafs uns am Brunnen halten, 

Dafs Greise sich des Tranks erfreuen, die Jugend spiel' mit Steinen, 

Und bunte Blumen auf der Au' sich pflücken unsre Kleinen. 

Und in gleicher Weise sucht schon der Sterbende die 
Schrecken des Todes zu bannen durch den Ausdruck der naiven 
Zuversicht eines das irdische Leben überdauernden Genusses der 
Natur und ihrer ewigen Schönheit. Dieses Lebensgefühl im 



— 145 — 

Tode, wie man es nennen könnte, atmen einige Lieder, die man 
zwar nicht als Charoslieder im engeren Sinne bezeichnen kann, 
weil in ihnen von Charos und Charosglauben keine Rede ist, die 
aber den ganz unpersönlich gedachten Tod mit einer so innigen 
Poesie verklären, wie sie nur dem Herzen eines natur- und 
lebensfrohen Volkes entquillen kann, und die man daher zu den 
Charos-Liedem stellen mufs; denn von dem äufseren Beiwerk 
abgesehen, besingen diese schliefslich auch nur die noch im Tode 
nachwirkende Gewalt des Naturgeftihls. 

Der Klefte Dimos wendet sich, als er fühlt, dafs es mit ihm 
zu Ende geht, an seine Gefährten mit der Bitte: 

Macht mir ein Grabgewölbe, recht hoch macht es und weit, 
Dafs kampfbereit ich stehend lade die Büchse mein; 
Zur Rechten aber bringet mir an ein Fensterlein, 
Dafs mir die traute Schwalbe den Frühling bring' herbei, 
Und Nachtigall mir singe vom wunderschönen Mai! 

(Lübke.) 

Und ganz ähnlich lautet die Aufforderung eines Bruders an 
die Maurer, die das Grab seiner toten Schwester bauen sollen ^9). 

Einem wahren Hymnus auf die Natur aber gleicht das Ab- 
schiedslied, das der sterbende Held Zidros anstinunt und das in 
die wehmutvoll-begeisterten Verse ausklingt: 

Lebet wohl, ihr des Olympos Gipfel 
Und ihr schattigen Platanen allM 
Kühle Quellen und verwaiste Lager 
Und du Saatgefild im tiefen Tall ^ 

Lebet wohl, ihr Adler in den Lüften, 
Sonne du und Mond, so lieb und traut. 
Der so oft den Pfad mir wies und lächelnd 
Nieder auf mein Heldentum geschaut! 

Hier bricht wieder jene ganz auf den Menschen bezogene^ 
auch im Angesicht des Todes durchaus inmianent bleibende 
Naturbegeisterung hindurch, wie wir sie seit dem ausgehenden 
Altertum beobachtet haben. Und ebenso wie die spätalexandri- 
nischen Dichter die ganze umgebende Natur an dem Schmerze 
des Menschen teilnehmen lassen, so scheint es noch dem 

DietOrich, Gesch. d. byzant. n. aengriech. Litteratur. 10 



— 146 — 

sterbenden griechischen Räuber des 18. Jahrhunderts, dafs selbst 
die Stätten seiner Toten seinen Tod beklagen: 

Es weinet Baum, es weinet Strauch, es weinen alle Zweige. 
Es weint das Lager, drin ich weilt\ der Pfad, den ich gewandelt, 
Es weint der Quell, daraus ich trank, der Hof, der Brot mir reichte. 
Es weint das Kloster, drin ich oft an süfsem Wein mich labte. 

(Lübke.) 

Die dritte Art, in der der Zustand des Todes sich der 
griechischen Phantasie darstellt, unterscheidet sich beträchtlich 
von den beiden bisher betrachteten. War es in diesen das Ver- 
hältnis des Menschen zum verlorenen Paradies des Lebens und 
der Natur, das sich darin spiegelte, so ist es jetzt ein soziales 
Moment, das den Anlals gibt zu einer eigenartigen Ver- 
gleichung, nämlich die Familie^ Nächst der Zerreifsung der 
Bande, die den patriarchalischen Menschen mit der Natur ver- 
knüpfen, ist es ja die der Familienbande, die er am schwersten 
empfinden mufs, zumal bei der hohen, fast heiligen Auffassung, 
die bei den Griechen und den übrigen Balkanvölkem von der 
Familie herrscht. Dartiber noch später. Hier genüge dieser 
Hinweis zur Erklärung des merkwürdigen poetischen Bildes, 
wonach der Sterbende sich seinen Tod vorstellt als eine 
Vermählung beziehungsweise Verschwägerung mit der Erde 
und den einzelnen Teilen des Grabes. Mit einer unerschöpf- 
lichen Phantasie wird diese Allegorie durchgeführt. Der sterbende 
Krieger bittet, seinen Verwandten nicht zu sagen, er sei ge- 
storben, sondern, er habe sich vermählt: 

Sagt nicht, dafs ich gestorben sei, sagt nicht, dafs ich geendet. 
Sagt, dafs ich in der Fremde mir ein ander Weib genommen: 
Dafs ich die Erd* als Schwieger nahm, das dunkle Grab zur 

Gattin, 
Und dafs ich mir zu Schwägern nahm des Grabes Felsenplatten. 

(Lübke.) 

Oder die schwarze Erde wird als Gattin aufgefafst, die 
Grabesplatten als Schwiegermutter und die Steinchen in der 
Erde als Schwager. In der mittelalterlichen Volkslitteratur er- 
scheint ein ähnliches Bild erst im Erotokritos, wo es be- 
sonders reich ausgeführt ist. Dort sagt gegen den Schlufs 
Aretusa: 



— 147 — 

Im Hades lasse ich mich traun, Brautzeuge sei der Charos, 

Die Würmer seien Mitgift mir, das Grab ProtokoUar, 

Die Spinnenweben sei'n mein Schmuck, mein Schlofs die schwarze 

Erde, 
Und Staub von übelem Geruch sei mir mein bräutlich Lager. 

Dals diese Allegorie aber weit älter ist, beweist eine Stelle 
in dem schon früher genannten Roman des Alexandriners 
Achilles Tatios, wo es heilst: Ein Grab wird dir, Kind, 
das Brautgemach sein, Hochzeit der Tod, Brautgesang das Grab- 
lied. Zwar fehlt an beiden Stellen die für die neugriechischen 
Volkslieder so charakteristische Beziehung auf die Verwandt- 
schaft, und da diese auch in der Volksdichtung der übrigen 
Balkanvölker sehr häufig ist, so könnte man geneigt sein, einen 
Einfluls der letzteren auf die Griechen anzunehmen, wenn nicht 
dasselbe Bild mit der gesuchten verwandtschaftlichen Beziehimg 
schon in der altorientalischen, und zwar in der hebräischen 
Poesie vorkäme. Dort heilst es im Buche Hiob 17, 14: »Die 
Verwesung heifse ich meinen Vater und die Würmer meine 
Mutter und Schwester.« Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, 
dafs bei dem starken Einfluls des Orients, besonders des 
hebräischen, auf die Poesie des späteren Griechentums — man 
denke an Romanos — auch diese Anschauung aus der alt- 
testamentlichen Poesie in die griechische Volkspoesie gelangt ist. 
Wir hätten dann wieder nur einen neuen Beweis für die kultur- 
geschichtliche Abhängigkeit auch des spätgriechischen Volkstums 
vom Orient. Hat man doch gemeint, dals die Figur des Charos 
selbst unter der Einwirkung persisch-iranischer Vorstellungen zu- 
stande gekommen sei mit ihrem in Ormuzd und Ariman ver- 
körperten Dualismus, und dafs auch hier die Vermittlung durch 
die Hebräer stattgefunden habe, die ja auch den Tod durch die 
Wut Satans in die Welt gekommen glaubten. Wie dem auch 
sei , so darf man jedenfalls neugriechische Volksanschauungen 
nicht einseitig nur auf altgriechische zurückführen wollen, da ja 
die heutigen Griechen dem Orient näher stehen als dem klassi- 
schen Altertum ^°). 

Wie aus einem melancholischen Lebensgefühl die Charos- 
lieder, so sind aus einem patriarchalischen Familiengefühl die 
Totenklagen erwachsen. Schon die vorstehende Allegorie 
war ja als ein Ausdruck der familiären Anhänglichkeit, wie sie 

10* 



— 148 — 

unter patriarchalischen Lebensverhältnissen besonders innig ist, 
dargestellt worden, und schon in den eigentlichen Charosliedem 
spielten die Familienbeziehungen mit hinein: wir sahen, wie die 
Toten sich nach ihren Angehörigen erkundigten, wie Charos die 
Toten nicht im Dorfe will rasten lassen, weil er fürchtet, ihre 
Angehörigen könnten sie erkennen und sich nicht von ihnen 
trennen. 

Stimmen die Motive der Charoslieder mit denen der Toten- 
klagen also vielfach tiberein, so sind doch beide Gattungen grundsätz- 
lich zu scheiden: die Charoslieder sind immer von allgemeinem'Jn- 
halt, sie knüpfen an keine bestimmte Veranlassung an, können 
in jeder Stimmung gesungen werden; die Totenklagen dagegen 
sind ja gerade der Ausdruck des Schmerzes über den Tod eines 
geliebten Verwandten und werden daher nur am Sarge des 
Toten gesungen. Ferner sind sie nicht, wie die Charoslieder, 
den Griechen allein zu eigen, sondern auch bei anderen primi- 
tiveren Völkern üblich, wie zum Beispiel bei sämtlichen ost- 
europäischen, also vor allem bei den Slaven. Sie stehen aber, 
rein poetisch betrachtet, den Charosliedem nicht nach, ja, die 
Unmittelbarkeit der Empfindung, wie sie der Schmerz er- 
zeugt, gestattet der Einbildungskraft den denkbar grölsten 
Spielraum, wenn auch die Frauen, von denen allein diese 
Lieder gesungen werden, nicht immer davon Gebrauch machen 
und nicht selten konventionell werden. Jedenfalls zeigen die 
griechischen Totenklagen eine gröfsere Mannigfaltigkeit der Ein- 
kleidung und zeugen von lebhafterer Phantasie als die der 
Nachbarvölker, wie der Bulgaren, die oft nur eine lange, 
biographieartige Aufzählung der Verdienste des Verstorbenen 
enthalten. 

Am schönsten sind wieder diejenigen Klagelieder, an denen 
das Naturgefühl Anteil hat. Sie sind auch die ältesten und ent- 
halten daher alle Motive, die wir als erbetene oder erwiesene 
Teilnahme der Natur an dem Schmerze des Menschen schon 
kennen gelernt hatten. An wen soll sich auch der Grieche 
wenden, der sein Liebstes, Mutter oder Kind, verloren hat, dem 
das christliche Duldergefühl und das transzendente Gottes- 
bewufstsein fremd ist, als an seine geliebte, allgegenwärtige 
Natur ? 

Bei den späteren Alexandrinern fanden wir diese Äufserung 



— 149 — 

des Schmerzes meist noch in der Form der Liebesklage, so bei 
Kallimachos, Nonnos imd Moschos, doch auch schon als Toten- 
klage. So wird sie seit dem späteren Mittelalter immer 
häufiger, wie die volkstümliche Litteratur bezeugt, und so 
werden Tod und Liebe wieder durch ein gemeinsames Band, die 
Natur, zusammengehalten. Achilles klagt am Grabe seiner 
Polyxena : 

Die schwarze Erde sollte hier von Blütenduft erfüllt sein, 
Und Rosenwasser sprudeln auf und Wohlgeruch verbreiten, 
Und Rosenbüsche sollten blühn am Grabe meiner Lieben, 
Denn was da Gutes in der Welt, gewinnt zurück die Erde. 

Dem ganz ähnlichen Gedanken , nur noch poetischer aus- 
gedrückt, begegnen wir in einem modernen Klagelied aus 
Leukas : 

Nicht ziemte sich's, nicht sah dir's gleich, dafs dich die Erde fresse, 
Nur ziemte sich's und sah dir gleich, in Maienmondes Garten 
Unterm Zitronenbaum zu ruh*n, in Apfelbaumes Schatten, 
Dafs leicht sich der Zitronenbaum, das Apfelbäumlein schüttle, 
Dafs ihre Blüten auf dich fall'n, in deine Schürze Rosen 
Und blutigrote Nelken rings um deinen Hals sich schmiegen. 

Und in dem Gedicht von der schönen Schäferin will 
der seiner Geliebten beraubte Hirt, als Ausdruck des höchsten 
Schmerzes, die Natur gleichsam aus ihren Bahnen lenken : 

Die kleine Nachtigall soll nicht mehr zwitschern. 
Der Adler soll, erblindet, nicht mehr jagen. 
Der Mond des Nachts nicht aus den Wolken brechen, 
Am Strande soll kein Fischlein sich mehr tummeln. 
Versiegen soU'n die Quellen und die Ströme, 
Verdorren sollen auch die zarten Kräuter! 

Ganz ähnlich ist der Inhalt der neugriechischen Klagelieder, 
wie des einer Mutter um ihre Tochter: 

Jetzt lafs es donnern, Himmelsraum, jetzt lafs es regnen, Himmel, 
Lafs Regen fallen auf das Feld und Schnee auf das Gebirge, 
Und auf des Kummerreichen Hof drei Gläser giftgefüUet. 

Und auf des Kummervollen Hof soll nicht die Sonne aufgehn. 
Nur Nebel soll dort steigen auf, und Dunst soll untergehen. 



— 150 — 

Wie in dieser soll auch in der folgenden Totenklage einer 
Mutter um ihren Sohn die Natur in ihrem Lauf gestört werden : 

Wo wein* ich all die Tränen hin, die ich um dich vergiefse? 

Wein* ich sie auf den grünen Grund, kein Gras wird dort mehr 

spriefsen, 
Wein* ich sie in den tiefen Flufs, so wird die Flut sich stauen, 
Wein* ich sie in das weite Meer, die Schiffe werden scheitern. 
Ich weine sie ins Herz hinein, dann werd* ich bald dich sehen. 

(Lübke.) 

Man sieht, es liegt dieser Stinmiung noch genau dieselbe 
Auffassung zu Grunde wie zu den Zeiten des Nonnos und Moschos. 

Auch die Vögel werden in den Totenklagen als Vermittler 
zwischen Lebenden und Toten angerufen: die Nachtigallen sollen 
mit ihrem Gesang den toten Jüngling aufwecken, wofür der 
Bittsteller verspricht, ihnen Schnabel und Klauen zu vergolden; 
oder ein Adler kommt aus der Unterwelt, mit Krallen und 
Flügeln, die rot gefärbt sind von dem Blute toter Jünglinge 
und Mädchen; er setzt sich an der Kirche nieder; es konmien 
Mütter, Brüder und Frauen, füttern ihn mit Zucker und bitten 
um Kunde von ihren toten Lieben. 

Häufig werden auch die Klagelieder in die Form eines Ge- 
spräches mit dem Toten oder doch einer Anrede an ihn ge- 
kleidet. Es werden ihm Grüfse an bereits Verstorbene mit- 
gegeben : 

Findest du Burschen, grüfse sie, und Mägdlein, sprich mit ihnen, 
Und findst du kleine Kinder auch, so tröste sie recht innig. 

Sag nicht, es kommt das Osterfest, es kommen hohe Feste, 

Sag, dafs zum Christfest es geschneit, dafs Ostern es wird regnen, 

Dafs nicht die Kinder ziehn hinaus mit ihren lieben Müttern. 

Es ist überhaupt, wie man sieht, das bei den Griechen be- 
sonders herzliche Verhältnis zwischen Mutter und Kind, wie wir 
es schon in dem dramatischen Spiel vom Opfer des Abraham als 
Hauptfaktor erkannten, das sich in den Totenklagen am reinsten 
und rührendsten ausspricht. 

Andere richten vorwurfsvolle Fragen an den Toten, warum 
er die schöne Welt und seine Familie verlassen habe, oder er 
wird gefragt, wie es ihm in der Unterwelt ergehe, worauf er 



- 151 - 

dann schildert, was er dort gefunden: junge Burschen ohne 
Waffen und Mädchen ohne Schmuck, Reiche und Vornehme wie 
verwelkte Bäume. 

Wieder in anderen wird der Tote selbst redend eingeführt; 
er fragt, warum man ihn umringe, ob man ihm Bestellungen, 
Briefe oder Waffen und Schmucksachen mitzugeben habe. Oder 
eine Hausfrau, die sich zur Reise in die Unterwelt rüstet, sagt 
ihren Kindern, wie sie ihr Waisentum zubringen sollen, dafs sie 
des Abends leise, des Morgens laut klagen sollen. Eine Mutter 
glaubt, von ihrem toten Sohne selbst zur Trauer aufgefordert 
zu werden : 

Beklag mich Mutter, klag um mich, so lang' ich vor dir liege, 
Eh' noch der Weihrauch mich umweht und eh' die Popen singen. 
Ich geh' in die Vergessenheit, wo man die Welt vergisset. 
Die Mutter ihren Sohn vergifst, die Schwester ihre Brüder. 

Einige Klagelieder bestehen ganz allgemein in naiven 
Schilderungen von Szenen aus dem trostlosen Leben der Toten, 
in denen dann auch die Gestalt des Charos nicht fehlt: Drei 
Mädchen waschen an der Quelle, es kommt ein ganz von 
Schmutz Entstellter und bittet, auch seine Kleider zu waschen, 
sie lehnen es aber ab, weil sie das Wasser trüben könnten und 
Charos sie schelten und schlagen würde. Oder Charos macht 
Hochzeit, die Toten müssen dabei mitwirken, die Jungen als 
Reigentänzer und Sänger, die Hausfrauen als Köchinnen, un- 
verheiratete Mädchen als Mrmdschenke und kleine Kinder als 
Musikanten. 

Wieder andere enthalten Fragen und Bitten an den un- 
barmherzigen Charos selbst: einer Mutter, die ihn um Fürsorge 
für ihren Sohn bittet, gibt er eine schnöde Antwort: er sei 
weder des Toten Mutter noch seine Schwester, sondern Charos, 
der schwarzen Erde Sohn, der Herzverbrenner. In einem Klage- 
liede wird er angefleht, das Paradies (!) aufzuschliefsen , damit 
die jimgen Burschen den Lenz, die Mägdlein den Sommer, die 
kleinen Kinder den Mai mit den Blüten sehen. Doch umsonst: 
die Schlösser sind verrostet, die Türen mit Gras bewachsen — 
es gibt keine Wiederkehr, kein Wiedersehen^'). 

Und das ist dann wieder der letzte Schluls aller dieser 
phan tasie vollen , aber trostlosen Lieder; wohl beklagt der 



— 152 — 

Grieche mit Schiller »das Los des Schönen auf der Erdec, 
aber über das Klagen kommt er nicht hinaus; und darum kann 
er auch nicht sagen , dafs das Leben der Güter höchstes nicht 
sei, weil es für ihn tatsächlich noch heute das höchste Gut ist, 
alle metaphysischen Gefühle ihm fremd sind. Es ist ein reiner 
Naturkultus, dem er huldigt, aber nicht ein heiterer im Sinne 
der Alten, sondern ein melancholisch-pessimistischer, der auch 
dem süfsesten Wein einen Tropfen Bitterkeit beimischen mufs. 
Die Gestalten der drei Chariten, dieser Ausgeburt antiken 
Frohsinns, sind den heutigen Griechen nicht mehr vertraut; an 
ihre Stelle ist eine andere, im Altertum noch getrennte Drei- 
heit getreten: Eros, Charos und Moira, diese gleichsam als der 
Inbegriff der beiden ersten. Charos aber ist der mächtigste 
unter ihnen. 



VIERTES KAPITEL. 



Die neugnechische Kunstpoesie als Ausläufer 

des Byzantinismus. 



Wenn man die treibenden Kräfte in der bisher betrachteten 
Entwicklung sich noch einmal vergegenwärtigt, so kann man sie 
zusammenfassen in den drei Worten : Byzantinertum, griechisches 
Volkstum, Romanentum. Das erste bezeichnet die Entfremdung 
des griechischen Geistes von sich, das letzte das Mittel seiner 
Wiederzurückführung z u sich selbst, wie sie in dem zweiten, der 
griechischen Volkspoesie, ihren vorläufigen Abschluls fand. Das 
byzantinische Element war tiberwunden, das romanische durch 
Aufnahme in den griechischen Volkskörper und Volksgeist 
absorbiert, und so blieb das spezifisch neugriechisch-volkstümliche 
Element, wie es die Volkspoesie darstellt, allein übrig; aus ihm 
begann eine volkstümliche Kimstpoesie hervorzukeimen, und an ihm 
— so war es durch die jüngste Entwicklung vorgezeichnet — 
hätte nun auch mit dem allmählichen Erwachen des National- 
gefühls die neue nationale Kunstlitteratur anknüpfen müssen. Doch 
es kam anders: schien auch der Dualismus, der in Form und In- 
halt das ganze spätantike imd mittelalterliche Griechentum durch- 
drang, der die Gegensätze schuf von Klassizismus imd Romantik 
in der Litteratur, von Attizismus und Vulgarismus in der 
Sprache, — schien dieser nun endlich im 16. und 17. Jahrhundert 
überwunden und eine neue, einheitliche und organische Entwick- 
lung griechischen Geisteslebens gewährleistet, so schien es 
doch nur so. In Wahrheit war dieser Dualismus, der in der 
Form des Alexandrinismus und Byzantinismus so lange am 



— 154 — 

Marke des Griechentums gefressen und seine Kraft ge- 
schwächt hatte, nur scheintot. Das Byzantinertum war mit 
dem Ende des byzantinischen Reiches und dem Wiederaufleben 
des Volkstimis noch nicht am Ende seines unverwüstlich zähen 
Lebens angelangt. Es erhob wieder sein Haupt, zwar nicht 
mehr zu einer politischen, wohl aber zu einer um so gewalt- 
tätigeren geistigen Machtherrschaft, einer Herrschaft, die um 
so schwerer zu brechen war, wenn man bedenkt, dals sie sich 
auf eine achtzehnhundertjährige, ununterbrochene, bis in die An- 
fänge der alexandrinischen Periode zurückgehende Tradition 
stützte. Freilich konnte diese Tradition nur aus den ungünstigen 
sozialen Zuständen ihre Nahrung ziehen: hätte sich wenigstens 
im 16. Jahrhundert ein kräftiger griechischer Bürgerstand ge- 
bildet, so wäre der gelehrte Klassizismus endgültig weggefegt 
worden. Der Zusammenbruch Venedigs in der Levante und die 
Auslieferung der Griechen an die Türken hat aber auch dies 
vereitelt und die tote Tradition zu einer drohenden Lawine an- 
wachsen lassen, die im Falle unter ihr neu aufblühende Gebilde 
nur zu leicht mit begraben oder doch schwer schädigen 
konnte. Ein solches, noch zartes Gebilde war die im zweiten 
Kapitel betrachtete volkstümliche Kimstpoesie, imd eine solche 
Lawine die byzantinische Litteratur. Der lange hin- und her- 
wogende, noch heute nicht entschiedene Kampf zwischen beiden 
bildet den eigentlichen Inhalt der neugriechischen Kunstpoesie, 
ein Kampf, der sich nach der in der Einleitung dargelegten 
Auffassung erweitert zu einem Kampfe zwischen Orient und 
Occident. 

Wenn früher weiter gesagt wurde, dafs die Entwicklung der 
neugriechischen Litteratur und Kultur überhaupt sich vollziehe 
unter dem Zeichen einer Wiederannäherung an den Occident, so 
ist das im doppelten Sinne zu verstehen, im äulserlichen und im 
innerlichen: die beiden Mächte, die in der neugriechischen 
Periode einander gegenüberstehen, die byzantinisch-gelehrte und 
die griechisch-volkstümliche, blicken beide nach Westen, wohl 
wissend, dafs die Losung der Zeit ist: ex occidente lux! Sie 
wollen beide sich verbünden mit dem geistig so überlegenen 
Europa und seine Güter sich aneignen. Aber es ist ein grofser 
Unterschied in dem Charakter der beiden Bundesmächte: 
wohl sind beide darüber einig, dafs es das durch die ganze 



— 155 — 

Kulturentwicklung ihnen nahegebrachte romanische Europa 
sein mufs, an das sie sich wenden, von dem sie das Heil er- 
warten, aber das Verhältnis der beiden Nebenbuhler zum roma- 
nischen Westen ist nicht das nämliche: ein wirklich innerliches 
Verhältnis konnte nur bestehen zwischen diesem und der volk's- 
tümlichen Richtung des Griechentums; beide standen ja 
zueinander wie Glieder zweier Familien, die sich schon einmal 
miteinander verschwägert haben. Anders dagegen stand es mit 
dem Bündnis der byzantinischen Richtung mit dem »weisen 
Europa« ; hier walteten nur Beziehungen des Verstandes, nicht des 
Gefühls. Wie man nach dem Falle von Konstantinopel um seine 
Gunst buhlte, weil man von ihm politische Hilfe erwartete, 
nachdem man sich Jahrhimderte hindurch feindlich zu ihm ver- 
halten hatte, so bemühte man sich, als nach dem Falle Venedigs 
im Archipel wieder Finsternis über das Volk hereinbrach, um 
Europas geistige Hilfe; man begehrte jetzt nicht mehr nach 
äufserer, sondern nach innerer Befreiung; man wollte sich 
europäische Bildung aneignen. 

So lobenswert dieses Bestreben auch war, so schlofs es doch 
eine doppelte Gefahr in sich : zunächst ging es nicht vom Volke 
aus, in dessen Scholse es vorbereitet war, sondern von einem 
kleinen Kreise von Gelehrten, dessen Mittelpimkt wieder eine 
Gruppe byzantinischer Aristokraten bildete, die jene unterstützte. 
Damit zog sich aber das geistige Leben abermals in Konstan- 
tinopel zusammen, das nach seinem politischen Falle auch geistig 
verarmt war, die Fühlung mit dem Volke ebenso wie mit dem 
westlichen Europa völlig verloren hatte. Das Verhängnis war 
nun, dals man nicht jene, sondern nur diese wiederzugewinnen 
trachtete. Da nun die so verheilsungsvoU besonders auf Kreta 
aufgebrochene Blüte der volkstümlichen Poesie unter dem 
»türkischen Fulse« wie unter dem wiedererwachendem Gelehrten- 
tum schnell verkünmierte, so ist das, was wir im 17. und 
18. Jahrhundert, sowie noch in dem grölseren Teil des 19. Jahr- 
hunderts an geistigem Leben beobachten, im Grunde nur ein 
Rückschlag gegen die vorhergegangene volkstümliche Periode, 
der abermalige Sieg des Verstandes über die Phantasie, des Ge- 
lehrten über den Dichter. Es ist ein Wiederaufleben des 
Byzantinismus, von dem früheren nur dadurch verschieden, dals 
er nicht mehr mit der Antike, sondern mit dem aufgeklärten 



— 156 — 

Europa des 17. und 18. Jahrhunderts paktiert^ an ihm sein ver- 
glimmendes Geistesfeuer neu zu entfachen sucht« Und ob diese 
Periode der Verbindung von byzantinischem Humanismus und 
französischer Aufklärung die von ihr ergriffenen modernen Stoffe 
besser verdaut hat als der mittelalterliche Byzantinismus die 
antiken, möchte man sowohl nach dieser Analogie wie in anbe- 
tracht der Bildungsbeschwerden, die noch das heutige Griechen- 
tum durchzumachen hat, bezweifeln. Es kann auch kaum anders 
sein: ein Volk, das weder eine Renaissance noch eine Refor- 
mation hervorgebracht hat, weder einen Michel Angelo noch 
einen Giordano Bruno, weder einen Galilei noch einen Luther, das 
gerade zu der Zeit, wo diese Geister den Westen erhellten, im 
tiefsten Schlafe lag, das sich acht Jahrhunderte vorher von 
Europa losgesagt hatte, — wie konnte dieses vorbereitet sein für 
die Aufnahme von Ideen, die ohne jene geistigen Revolutionäre 
nicht zu denken sind? 

Und das ist die zweite Gefahr, die mit jenem Liebeswerben 
um europäische Bildung verbunden war : so lobenswert der Eifer 
war, mit dem man nach den fremden Schätzen griff, so lag doch 
etwas Gewaltsames, Gekünsteltes, Wahlloses darin; er erinnert 
an das neuerliche Bestreben in Griechenland , die kahlen Hügel 
zu bewalden: wie man wohl junge Bäume einsetzen, ihnen aber 
schwerlich den zu ihrem Fortkommen nötigen Humus verschaffen 
kann, so fehlte es auch im Griechenland des 17. und 18. Jahr- 
hunderts an dem geistigen Humus, in dem die jungen Bildungs- 
stoffe Wurzel fassen konnten. Überall starrte einem nur der 
nackte Felsboden der Unkultur entgegen, auf dem jede fremde 
Kulturpflanzung, die nicht den Bedürfnissen des Volkes diente, 
etwas Künstliches bleiben mulste. 

Ein solches Gewächs war die Kultur, die im 17. Jahr- 
hundert von Konstantinopel aus verbreitet wurde und deren 
Träger erst im 17. und 18. Jahrhundert die Förderung der Ge- 
lehrtenbildung, dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 
auch die Führung in der Litteratur selbst übernahmen. Als 
Träger dieser Kultur wurde bereits die Aristokratie von Kon- 
stantinopel genannt. Sie bestand aus den sogenannten Phana - 
rioten, genannt nach dem Phanar, einem Stadtteil von Stambul, 
dem alten Byzanz. Diese Aristokratie hatte sich aber nicht schon 
in byzantinischer Zeit gebildet, wo es überhaupt keine gab, 



— 157 — 

sondern erst in der türkischen. Es war daher auch keine alt- 
eingesessene Geistesaristokratie wie die englische, sondern eine 
mehr parvenumäfsige , eine Geldaristokratie. Ihre Mitglieder 
setzten sich zusammen aus den Resten byzantinischer Familien, 
die durch ihr diplomatisches Geschick und ihre Geschmeidigkeit 
den türkischen Herren als Dolmetscher und Kaufleute sich bald 
unentbehrlich zu machen wufsten, zu Geld und Ehren kamen und 
schliefslich eine politische Macht wurden, mit der die Türkei 
rechnen mufste; nachdem es ihnen nämlich im Jahre 1716 ge- 
lungen war, an Stelle des in Ungnade gefallenen eingeborenen 
Fürsten der Walachei die Statthalterschaft dieser und der Moldau 
an sich zu reilsen, hatten sie dann diese als fast selbständige 
Fürsten über ein Jahrhundert inne. Der erste dieser Fürsten 
war aus einer der bedeutendsten Phanariotenfamilien, den Mavro- 
kordatos, die von einem chiotischen Stoff händler abstammte. 
Diesen walachisch-moldauischen Phanarioten gehörten femer an 
die Ypsilandis mit dem als Anstifter des griechischen Freiheits- 
kampfes bekannten Alexander Ypsilandis, dann die Sutzos, deren 
zwei wir noch als bekannten Dichtem begegnen werden. Auch 
die in der neugriechischen Litteratur ebenfalls eine Rolle 
spielenden alten Geschlechter der Rizos und der mit ihnen ver- 
wandten Rangab^ sind Phanariotenfamilien^'). 

Sie alle haben natürlich den byzantinischen Charakter mit 
seiner Exklusivität, seinem Bildungsdünkel, seinem Rationalismus, 
seiner Abneigimg gegen alles Volkstümliche, seinem Enzyklopä- 
dismus und Eklektizismus, endlich seinem Kosmopolitismus treu 
bewahrt. Wir werden noch sehen, wie jede dieser Eigenschaften 
sich in den Werken phanariotischer Dichter nachweisen lälst, 
vor allem in der äulseren, klassizistischen Sprachform. »Für das 
einzige Kennzeichen ihres Vorranges und ihrer Bildung,c so 
sagt ein Grieche selbst, »hielten sie in ihrem Schreiben und 
Sprechen die höchst widerliche und monströse Vermischung 
von Wörtern und Redensarten der altgriechischen Sprache mit 
der neueren.« 

Indem nun diese Phanarioten Geschäftsträger und Kom- 
missäre bei der Pforte in Konstantinopel brauchten, die eine ge- 
wisse allgemeine Bildung besitzen mufsten und um so höher 
steigen konnten, je mehr Kenntnisse sie hatten, stieg auch die 
Schätzung der Gelehrsamkeit selbst: gute Lehrer wurden ge- 



sucht und reichlich bezahlt, und so setzten die begabtesten Jüng- 
linge ihren ganzen Ehrgeiz darein, Lehrer zu werden. Dieses 
Bildungsstreben gab auch der Entwicklung des Schulwesens 
im Osten einen neuen Aufschwung: So blühte gegen Ende des 
17. Jahrhunderts eine berühmte Klosterschule auf dem Athos, 
dann auf Patmos, die von der Zunft der PelzhSndler in Koo- 
stantinopel unterhalten wurde; neben diese traten noch Schulen 
auf Chios und Samos, in Kydonia und Smyma, von denen die 
meisten allerdings zu Beginn des 19. Jahrhunderts reformiert 
werden mufsten'^^j. 

Denn alle diese, nicht ntir die eigentlichen Klosterschulen, 
wie auf dem Athos und bei Konstantinopel, hatten einen stark 
klösterlich-scholastischen Charakter; sie mögen etwa den eng- 
lischen Colleges entsprochen haben. 

Waren doch die Haupt Vertreter der Bildung im 17. Jahr- 
hundert und in der ersten Hälfte des 18. fast ausschliefslich 
Theologen mit enzyklopäd ist i scher Bildung, Nach echt mittel- 
alterlicher Weise studierten und lehrten sie Philosophie und 
Medizin, Physik, Astronomie, Geschichte und Geographie, 
schrieben auch Bücher über alle diese Wissenschaften, natürlich 
meist unselbständige Kompilationen europäischer Werke, wie die 
Logik des Eug. Bulgaris**). 

Wie sehr der scholastische Geist in Griechenland auch noch 
das 18. Jahrhundert beherrscht, wo an Stelle der Theologen 
immer mehr Arzte und Philologen treten, die ihre Bildung nicht 
mehr, wie jene, aus Italien, sondern aus Frankreich und Deutschland 
holen, dafür fehlt es nicht an erheiternden und betrübenden 
Zeugnissen. So sehr man sich auch für Naturwissenschaft er- 
wärmte, steckte man doch tief noch in der Naturphilosophie oder 
gar in einem bei den Griechen überhaupt nicht selten zu beobach- 
tenden abenteuerlichen Dilettantismus, der vielleicht wieder eine 
Folge jenes Polyhistorismus , eher aber wohl des Mangels an 
methodisch -wissen schaftlicher Tradition und Schulung ist : einer 
dieser Naturforscher, Benjamin Lesbios, wollte noch zu Anfang 
des 19. Jahrhunderts die Urkraft alles physischen und geistigen 
Lebens, das Allbewegende, gefunden haben. Andere stritten sich 
noch darüber, ob der Wärme ein Gewicht zukomme, wobei es 
denn freilich nicht zu verwundern ist, dafs einer von diesen, 



— 159 — 

Neophytos Vamvas, Lehrer der Chemie und der Moral in 
Smyma war*). 

Umgekehrt äulsert sich der Scholastizismus auch darin, dafs 
wirklich modern denkende Geister von fanatischen und unge- 
bildeten Priestern verfolgt werden: einige der tüchtigsten, wie 
Stephan Dukas, werden gezwungen, ihre Lehrstühle aufzugeben, 
andere von der Synode an die besser zu beaufsichtigende Hoch- 
schule bei Konstantinopel berufen, zugleich, um die Schulen in 
der Provinz lahmzulegen; wieder ein anderer, der bedeutende 
Kanzelredner Konst. Ikonomos, wäre wegen zweier Wörter 
beinahe seines Lehramtes entsetzt worden, und ein modern 
denkender Priester und Lehrer wurde vor die Synode zitiert, weil 
er noch im 19. Jahrhundert zu lehren wagte, dafs die Erde sich 
um die Sonne drehe! Ein Finsterling schrieb endlich noch 1816 
gegen das kopemikanische System. 

So erklärt es sich teils aus der eigenen Kraftzersplitterung 
und Oberflächlichkeit, teils aus der feindseligen Haltung der 
Geistlichkeit, dafs die Schulen, an denen diese Lehrer wirkten, 
nicht das hielten, was sie versprachen, wenn sie weniger posi- 
tive sachliche Kenntnisse als Wortgelehrsamkeit vermittelten imd 
schliefslich ganz sich auf den Lieblingsgegenstand der Byzan- 
tiner, die altgriechische Philologie, zurückzogen: es wurde auf 
den meisten dieser Schulen zu Ende des 18. Jahrhimderts 
nur noch Altgriechisch gelehrt, und zwar ohne Methode und 
Auswahl, ermüdend und pedantisch, so dafs die Schüler, wenn 
sie die Anstalt verliefsen, nichts als Wörter und trockene 
Phrasen im Kopfe hatten; von einer ästhetischen Erklärung und 
ethischen Nutzanwendung war keine Rede. Dieser byzantinische 
Fluch des Verbalismus und der Überschätzung des Altgriechi- 
schen lastet ja noch heute auf den griechischen Schulen. 

Wenn irgendwann, so wäre jetzt, bei dem geistigen Wieder- 
erwachen der Nation, die beste Gelegenheit gewesen, den Bann 
der byzantinischen Sprache zu brechen und mit der Befreiung 
der Geister auch die der Sprache zu erstreben. Allein, hier liegt 



*) Aus einem neugriechischen Bücherverzeichnis jener Zeit seien 
noch angeführt: eine Reisebeschreibung über die Kykladen nebst 
einer Abhandlung über das Asthma und eine Studie über Homer und 
den Magnetismus. 




der Widerspruch : die unheilvolle Sprach frage ist das stärkste 
Hindernis einer modernen Bildung bei den Griechen; man wollte 
den neuen Wein der modernen europäischen Bitdung in die 
SchlSuche des für die Mitteilung moderner Gedanken ganz un- 
tauglich gewordenen, weil nicht, wie das Latein, in beständiger 
eigener Gedankenarbeit umgebildeten Griechisch füllen. Schon 
aus diesem Grunde war das Verhältnis dieser byzantinischen 
Humanisten zu ihrer alten Sprache ein ganz anderes als das der 
europäischen zum Latein : war letzteren dieses zu einem Instrument 
ihres Geistes geworden, mit dem sie ihre Gedanken formten, so 
waren die Griechen umgekehrt zu einem Instrument ihrer 
Sprache geworden; sie hatten keine eigenen Denker mehr, die 
den Stoff der Sprache ihrem Geist anpafsten, sie liefsen ihre 
Sprache für sich denken. Und dann: was unsere Scholastiker und 
Humanisten lateinisch ausdrückten, war ein dieser Form durchaus 
adäquater Inhalt. Als aber mit der Neuzeit auch neue, un- 
erhörte Gedanken die Welt bewegten, drängten sie auch zu 
einem neuen Ausdruck, die Nationalsprachen traten zunächst in 
Italien und Frankreich an Stelle des Latein. Und gerade zu 
derselben Zeit, im 18. Jahrhundert, fingen die Griechen damit 
an, womit Europa glücklich fertig war: einen neuen Gedanken- 
inhalt in liingst überlebte Formen zu gietsen. Es ist das Wider- 
spruchsvolle in der modern-griechischen Kulturhewegung , dafs 
die Führenden der Nation modernen Bildungsstoff einflötsen zu 
können glaubten, ohne dafs ein einheitliches, allgemein gültiges 
und all verständliches Ausdrucksmittel dafür vorhanden war. 

Zwar bemühte man sich mit dem seit der zweiten Hälfte 
des 18, Jahrhunderts immer mehr zunehmenden Bildungshunger, 
ein solches Mittel zu schaffen, das immer brennender werdende 
Bedürfnis nach einer neugriechischen Litteratursprache zu er- 
füllen. Es bildeten sich — wie meist in Griechenland — auch 
zur Lösung dieser Frage Parteien, die aber viel zu theoretisch 
und doktrinär zu Werke gingen. Es waren drei; eine starke 
Mittelpartei unter Führung des grofsen Patrioten Korais'''), eine 
rechte, reaktionäre, mit dem Hauptvertreter St. Dukas, und 
eine kleine linke, extrem fortschrittliche unter dem noch als 
Dichter zu nennenden Christopulos. Die Rechtsparteiler wollten 
das Altgriechische als Grundlage der neuen Litteratursprache, 
die Linksstehenden dagegen von dem lebendigen Neugriechisch aus- 



— 161 — 

gehen, während das Zentrum eine Vermittlung beider Extreme an- 
strebte. Dieses errang denn vorläufig den Sieg, damit aber war die 
Frage keineswegs endgültig entschieden, wie schon ihr Wiederauf- 
leben in der jüngsten Vergangenheit beweist. Es mufste auch 
so kommen; denn das von Korai's sanktionierte System des so- 
genannten Mittelweges, wie die Griechen sagen, ist eine Halb- 
heit; es ist so dehnbar und unbestimmt, dafs man alles damit 
anfangen konnte und der Willkür Tür und Tor geöffnet war. 
Die Art, wie man denn auch im 19. Jahrhundert Alt- und Neu- 
griechisches durcheinandermischte, zeigte nur zu deutlich die 
Haltlosigkeit des Korais'schen Systems. Wir werden sehen, wie 
diese Sprachverwirrung auch in der Litteratur satirisch ver- 
wertet wird. 

Die provisorische Lösung, die das schwierige Problem fand, 
ist nun äuXserst bezeichnend für die damalige Geistesrichtimg 
der gebildeten Griechen. Es zeigt, wie stark sie in sprachlichen 
Dingen noch in einem durchaus byzantinischen Formalismus be- 
fangen waren. In allem und jedem war das moderne Europa vor- 
bildlich, nur in der Sprachfrage sperrte man sich ängstlich von 
ihm ab; es ist gewifs keinem der Streitenden zum Bewufstsein 
gekommen, dals das geliebte Französisch und Italienisch auch 
nur veredelte Volkssprachen waren, denn sonst hätte diese Er- 
wägung allein den Ausschlag geben und die von einigen aus- 
erwählten und vorurteilslosen Geistern auch angewendete Volks- 
sprache zur Basis einer nationalen Schriftsprache gemacht 
werden müssen. Aber der Druck der Tradition war zu stark, 
und die mit dem erwachenden Nationalgefühl auflebende Erinne- 
rung an die antike Vergangenheit tat das ihrige, um den einzig 
natürlichen Entwicklungsgang zu hemmen, zum schweren Schaden 
für die Sache des Volkes und seiner Bildung. Denn es ist klar, 
dafs eine lebendige Wirkung, zumal in Werken der Phantasie, 
von einer in solcher halbtoten Form vermittelten Litteratur 
nicht ausgehen, von einer wirklich inneren Aneignung occidenta- 
lischen Geistes keine Rede sein konnte. Man darf vielmehr 
getrost sagen: was von fremden und eigenen Dichtungen in der 
konventionellen neugriechischen Schriftsprache seit den letzten 
hundert Jahren aufgespeichert liegt, ist ein totes Kapital und für 
die Zukvmft des Volkes verloren. 

Dieterich, Getch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 11 



— 162 — 

Immerhin ist es kulturgeschichtlich und für die Beurteilung 
der Geschmacksrichtung der Griechen lehrreich, zu beobachten, 
was an fremder Litteratur seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 
bis zum Ausbruch des Freiheitskampfes, also in der Zeit 
geistiger Rezeptivität, bei ihnen eingeströmt ist. Unverkennbar 
ist dabei wieder die echt byzantinische Vorliebe für den Geist 
des Rationalismus und Skeptizismus, dem die damalige Zeitrich- 
timg allerdings weit entgegenkam. Von der wissenschaftlichen 
Übersetzungslitteratur interessiert uns nur die philosophische, 
die indes gegenüber der historischen nur sehr spärlich vertreten 
ist und sich auf die Hauptvertreter der Aufklärung, auf Locke 
und Condillac, zu beschränken scheint. Besonders der letztere 
erfreute sich grofser Beliebtheit, wie die Übersetzung seiner 
Logik zeigt. Dagegen ist ein Versuch von Kimias, der in 
Leipzig studiert hatte, Kant in Griechenland Eingang zu ver- 
schaffen, fehlgeschlagen, wie ja Philosophie überhaupt nicht die 
Stärke der Griechen ist. 

In der Poesie hat von jeher Frankreich die Führung; 
obenan stehen Voltaire, der Rationalist, dann Moli^re und 
Racine, der Klassizist, und Marmontel, der Moralist. Diesem 
wie F^n^lon gab man wohl aus pädagogischen Gründen den 
Vorzug. Auch Gil Blas fehlt nicht. Dagegen bemerkt man 
von Rousseau nur die Rede über die Ungleichheit der Menschen. 
Unter der italienischen Litteratur ragen wieder die Klassi- 
zisten hervor: Tasso, die Trauerspiele von Metastasio, dann die 
Komödien von Goldoni. Die deutsche Litteratur ist nur ganz 
spärlich vertreten: aufser Wielands »Agathon« ist besonders 
Gefsner zu nennen, dessen idyllischer Charakter den Griechen 
offenbar zusagte; ein junger Dichter hat sogar seine Idyllen 
nachgeahmt. Sonst begegnen noch Goethes »Iphigenie« (1818) 
und — Kotzebues Lustspiele. Die griechisch-römische 
Litteratur interessierte bezeichnenderweise fast nur in ihrer Spät- 
zeit : mehrmals erscheinen Ovids Metamorphosen, dann Theokrit, 
Heliodor, Kallimachos, Musaeos, Theophrast. Homer imd 
Sophokles kommen dagegen nur selten vor^^). 

Wie die neugriechische Übersetzungslitteratur dieser Zeit 
wenigstens in der Auswahl die Nachwirkung des byzantinischen 
Geistes verrät, so auch die eigene litterarische Pro- 
duktion in ihrem Charakter, ja selbst in ihren Gattungen. Die 



— 163 — 

griechische Kunstlitteratur des 18. und der ersten zwei Jahr- 
zehnte des 19. Jahrhunderts nimmt sich aus wie ein nur durch 
das äufsere Gepräge der Zeit etwas veränderter Abdruck der 
byzantinischen. Fast genau auch in der gleichen chronologi- 
schen Ordnimg wie in dieser folgen die poetischen Gattimgen 
aufeinander: zunächst, im 17. und in der ersten Hälfte des 
18. Jahrhvmderts, leuchtet noch einmal die kirchliche und die 
historische, zum Teil auch die panegyrische Dichtung 
flüchtig auf, dann, in Ser zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn 
des 19. Jahrhunderts, die erotische und die satirisch- 
didaktische, sowie als modernisierte Form der höfischen 
Betteldichtung die philhellenische Odendichtung. 

Am frühesten tritt die k i r c h 1 i c h e Dichtung in den (Gesichts- 
kreis. Wenn man bedenkt, dafs diese in byzantinischer Zeit schon 
im 12. Jahrhundert völligem Verfalle preisgegeben war und nur 
in trockner Moraldichtung kümmerlich fortlebte, dafs an dem 
nationalen Wiedererwachen die Kirche zwar einen gewissen kon- 
servierenden Anteil hatte, aber keine innerliche Erneuerung imd 
Belebung durch bedeutende poetische Leistungen aus ihrer 
Mitte erfuhr, ist es nicht zu verwundem, dafs geistliche Dichter 
nur ganz vereinzelt in der türkischen Zeit begegnen. Der be- 
deutendste von ihnen ist Konstantin Dapontes, wie sein Name 
bezeugt, italienischer Abstanmiung, durch seinen Bildungs- und 
Lebensgang mit den Phanarioten der Walachei, besonders mit 
Konst. Mavrokordatos, verknüpft und in verschiedenen litterari- 
schen Gattimgen tätig, besonders in der moralisierenden, panegyri- 
schen und rhetorischen. Sein Hauptverdienst besteht in der Be- 
reichenmg der Hymnenpoesie durch mehrere Hynmen auf die 
Jungfrau Maria, der er einen ganzen Hymnenkranz widmete. 
Andere Kirchendichter des 18. Jahrhimderts sind Sergios 
Makraeos, der Hymnen auf die Dreieinigkeit in Form pin- 
darischer Oden verfafste, und der Mönch Nikodimos aus 
Naxos, der Dichter ebenfalls antikisierender Oden auf die 
Heiligen. Indes war diese zeitweilige Wiederbelebimg der 
kirchlichen Dichtung nicht von Bestand, wie schon ihr gelehrt- 
antikisierender Charakter bezeugt ^7). 

Auch die historische Dichtung dieser Zeit erscheint nur 
als ein matter Reflex dieser schon in byzantinischer Zeit wenig 
gepflegten Gattung, aus dem gleichen Grunde offenbar, nämlich 

11* 




- 164 — 

wegen des Mangels an historisch denkwürdigen Taten und Stoffen. 
Das älteste historische Gedicht seit dem Falle Konstantinopels 
stammt aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts von dem griizi- 
sierten Venetiaaer Koronaeos aus Zante und feiert in 20Gesängen 
die Taten eines atbanesischen SöIdnerfUhrers , Merkurios Buas 
aus Korfu, der auch in den Diensten des deutschen Kaisers 
Maximilian gestanden hatte, und den der Dichter seinem Volke 
als Beispiel der Tapferkeit vorhält. Paris und Salomon, Homer 
und die Gestalten mittelalterlicher Ritter wandeln darin friedlich 
nebeneinander her. Sonst hat nur noch der Verlust griechischer 
Länder an die Türken Anlafs zu schwächlichen Klage- 
gesängen gegeben, so der Kampf um Kreta um die Mitte des 
17. Jahrhunderts, dem der byzantinische Philologe Ath. Skliros 
ein episches Gedicht in fast zehntausend Versen widmete, welches 
besonders die Heldentaten des venetianischen Generals Moncenigo 
schildert, um dessen Seele sich ApoUon und Zeus streiten, dann 
die Einnahme der Halbinsel Morea durch die Türken 1715, 
die der Epirot Manthos Joannu versifizierend darstellte**). 

Häufiger sind die spätbyzantinischen Dfchtungsarten , die 
Erotik und die Satire. Der Geist des in sich selbst zufriedenen 
Phanariotentums mit semem schon in byzantinischer Zeit er- 
scheinenden Hang zum Epikuräismus und Hedonismus — man 
denke an die drei byzantinischen Liebesromane — verkörpert 
sich in der Trink- und Liebespoesie des geistreich üppigen 
Athanasios Christopulos (1 770— 1847). Er ist der 
echte Typus des walachischen Phanarioten; er hat fast 
sein ganzes Lehen in Bukarest , der damaligen geistigen Haupt- 
stadt des Griechentums**'), zugebracht. An den Höfen der 
dortigen »Fürsten* lebend, hatte er deren echt macchiavelU- 
stische Staatsmoral sich zu eigen gemacht; in der Philosophie 
Anhänger des Skeptikers und Empiristen Sextus Empiricus, kam 
er endlich selbst dahin, alle Philosophie zu verachten und einem 
brutalen Utilitarismus und Sensualismus zu huldigen. Jedes 
Vaterlandsgefühl war ihm, dem fern von seinem Volke Lebenden, 
fremd, auch darin noch ganz Byzantiner. Die alte Vorliebe des 
Griechen für beschauliche Lebensauffassung ist bei ihm durch 
jenen Hedonismus zu einer dolce far niente-Stimmung ausge- 
bildet worden; die Anakreontik ist das Gewand, in das sie sich 
hüllt, das die grobe Genufssucht , die sich darunter behaglich 



— 165 — 

ausdehnt, verdeckt und dämpft. Den Dichter aber darum als den 
modern-griechischen Anakreon zu bezeichnen, wie man getan 
hat, ist ebensowenig gerechtfertigt, als wenn man Hagedom, Uz 
und Gleim die deutschen Anakreons nennen wollte. Er war 
eben wie diese ein, und zwar unter französischem Einflufs 
stehender, bewuf ster Anakreontiker. Femer ist zu bedenken, 
dafs dem Griechen die Vereinigung von Trinken und Singen, 
also das Trinklied, fremd ist, imd nur unter dieser Bedingung 
hätten die leichten Lieder des Christopulos volkstümlich werden 
können. Sie sind aber nicht nur auf den exklusiven Kreis der 
Konstantinopler Aristokraten beschränkt geblieben, sondern haben 
selbst innerhalb desselben eine berechtigte Abfertigung durch 
den ebenfalls in Bukarest lebenden Arzt Georg Sakellarios 
erfahren, der in seinen »Antibakchika« den Christopulos 
parodierte. Eine unfreiwillige Parodie liegt auch darin, dafs ein 
biederer Chiote, dem das häufige Vorkommen des Namens 
Bakchos darin auffiel, diesen für den Namen des Dichters hielt. 
Allenfalls bei Elias Tantal idis (aus Konstantinopel) findet 
man einen flüchtigen Widerhall der Anakreontik^9.) 

Zahlreicher und auch beliebter sind die Liebeslieder des 
Dichters. Schon die häufige Gestalt von Gott Amor, den sie 
verherrlichen (»Amor, hör' auf!«, »Der Reiter«, »Amor im 
Bade«, »Der tolle Amor«), sichert ihnen gröfsere Volkstümlich- 
keit, wenn sie auch ziemlich platt und geziert wirken, auf eine 
etwas gesuchte Pointe hinauslaufen imd weniger griechisch als 
französisch empfunden sind 7°). 

Mit seinen unpatriotischen Gefühlen steht. Christopulos zum 
Glück fast ganz vereinzelt in der Dichtergruppe der Phanarioten. 
Wenigstens imter den in Konstantinopel lebenden gab es genug 
scharfblickende und vorurteilslose Geister, denen die zahlreichen 
persönlichen imd sozialen Gebrechen ihrer Landsleute nicht ent- 
gingen und die mij der verhüllten oder blanken Waffe der 
Satire dagegen ankämpften. 

Was sie aber von der byzantinischen Satire unterscheidet, 
und darüber hinaushebt, ist ihr ernster, erzieherischer Charakter 
im Gegensatz zu dem rein spottlustigen Ton der byzantinischen 
Satire. Die neugriechische satirische Dichtung trägt ein stark 
positives Element in sich, sie zeigt ein hoffnungsvolles Streben 
nach Selbsterkenntnis; vor allem soll das soziale Empfinden 



— 166 — 

wieder geweckt, der brutale Egoismus der führenden Klassen 
tiberwunden, die Geister für die Freiheit vorbereitet werden. Die 
Satire tritt somit in den Dienst des nationalen Gedankens. Ein 
belebender Hauch der Freiheit umspielt sie, wie ihr denn auch 
die Freiheitsdichtung auf dem Fufse folgt. Es ist eine Über- 
gangsperiode , die hier ihren poetischen Ausdruck findet, eine 
Periode, die in der Kunstpoesie etwa das bedeutet, was für die 
Volkspoesie das 14. Jahrhundert: wohl haften beiden noch zahl- 
reiche byzantinische Schlacken an, aber schon leuchtet das Gold 
nationaler Gesinnung dazwischen hervor ; nur die Legierung mit 
europäischem oder altgriechischem Metall war noch zu stark, 
um einen reinen Klang hervorzulocken; er hat vielmehr etwas 
Hartes, Nüchternes, Sprödes. Aber es sind doch wenigstens 
keine falschen Münzen, die hier geprägt werden. 

Verhüllt tritt zunächst die Satire auf in der Form der 
allegorischen Poesie, die in zwei Produkten aus der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts erhalten ist. Beide sind ganz im 
Sinne jenes wahrscheinlich der hebräischen Poesie entlehnten 
Motives von Gesprächen zwischen persönlich gedachten Städten 
gehalten, wie in einem Klagelied auf den Fall Konstantinopels, 
worin die vier Patriarchate — Konstantinopel, Alexandria, 
Antiochia und Jerusalem — ihren Fall und den Verlust ihrer 
Schönheit beklagen. Nur zeigen die neugriechischen Ableger 
davon einen mehr kampflustigen Charakter, wie schon ihr Titel 
andeutet : das eine ist die Schilderung eines Kampfes der Ele- 
mente, einer Stoichomachie, das andere die eines solchen 
zwischen den beiden Ufern des Bosporus, der sogenannten 
Bosporomachie. 

Das erstere stammt aus dem Anfang des 18. Jahrhimderts 
und beschreibt in ziemlich platter Weise, wie die vier Elemente 
in ihrer Eintracht durch die Eitelkeit der Erde gestört werden, 
indem diese das Meer als Spiegel benutz^ um sich zu putzen. 
Das Meer bietet voll Zorn Winde, Ströme und Seen auf, um 
die Kokette zu züchtigen. Sie entweicht in die Luft, auch 
diese nimmt gegen sie Stellung, verursacht ein Erdbeben und 
sendet ihre Gewässer dem Meere zu Hilfe. Es entsteht eine 
Überschwemmung, die Erde wird zur Raison gebracht, der 
Himmel zieht die Wasser zurück; nur das Meer will sich nicht 
versöhnen lassen. Ob diese allegorisierte Sintflutgeschichte eine 



— 167 -^ 

versteckte Satire auf die Zwietracht der Griechen, wie Nikolai 
meinte, enthält, läfst sich schwer sagen. Das Fehlen jeder An- 
spielung macht das unwahrscheinlich. Es ist wohl nur eine 
poetische Spielerei, vielleicht angeregt durch eine neugriechische 
Volkssage von der Erschaffung der Welt, an die das Gedicht 
stark erinnert, besonders durch das Motiv des Kampfes zwischen 
Erde und Meer. Die Eitelkeit der Erde ist wohl eine Zutat des 
Dichters. 

Fühlbarer ist die satirische Spitze in der Bosporo- 
machie, einem langen, etwa 4000 Verse umfassenden Streit- 
gedicht zwischen Asien und Europa um ihre Schönheit und 
sonstigen Vorzüge. Beide rühmen den Reiz ihrer Uferland- 
schaften, und Asien scheint Siegerin zu bleiben, bis es durch 
einen Hinweis auf seine grofsen Traditionen Europa veranlalst, 
die Wohltaten anzuführen, die es der Gegnerin erwiesen habe. 
Asien spielt darauf noch einen geistreichen Trumpf aus, indem 
es sagt: »Bist du auch schöner, so bin ich doch im Vorteil, denn 
ich geniefse deinen Anblick.« Was der Dichter, Joh. Tza- 
nettis, Dragoman des österreichischen Gesandten in Konstan- 
tinopel, mit der weit ausgesponnenen, in volkstümlicher Sprache 
verfafsten Allegorie ausdrücken wollte, sagt er selbst in einem 
eigenen poetischen Anhang im Anschlufs an eine Stelle aus den 
Sprüchen Salomons : er will die Eitelkeit der Schönheit dar- 
stellen, wie überhaupt die Vergänglichkeit der Welt, und den 
Sieg der Tugend und des Ewigen feiern: 

Nichtig ist unsre Schönheit, mein schönes Asien du, 

Im Himmel nur wohnt wahres, wohnt ewig Glück und Ruh. 

Die Erde schmückt sich wieder im Lenzesmond, im Mai, 
Doch mit des Menschen Schönheit auf immer ist's vorbei. 

Durch solche echt griechische Melancholie atmenden Be- 
trachtungen wie durch zahlreich eingestreute Naturbilder, wie 
die Beschreibung der brandenden Meereswogen, werden die im 
ganzen etwas byzantinisch breiten Schilderungen der Umgegend 
Konstantinopels, die wenigstens topographisches Interesse haben, 
und die lehrhaften, häufig, an den Erotokritos und den byzanti- 
nischen Spaneas erinnernden Ermahnungen etwas belebt. Die 
reichlicher als sonst in griechischen Kunstdichtungen auftreten- 



— 168 — 

den türkischen Wörter, die ein der Umgebung angepafstes 
Kolorit hervorbringen, machen das Gedicht auch dem Kultur- 
historiker wertvoll. 

In einem Motiv zeigt es eine auffallende Ähnlichkeit mit 
dem vorigen, nämlich in dem des offenbar als Symbol der Eitelkeit 
dienenden Spiegels. Wie dort die Erde im Meere, so will hier 
das asiatische Gestade des Bosporus sich in dem europäischen 
wie in einem Spiegel betrachten: 

Ich wollt\ du wärst ein Spiegel, dann ständest du vor mir, 
Dann sähe ich statt deiner nur meiner Schönheit Zier. 

Das eitle Asien mufs sich darauf eine lange Belehrung ge- 
fallen lassen über das Verwerfliche und Gefährliche dieser eitlen 
Selbstbespiegelung : 

Was spreizest du so sehr dich mit deiner Schönheit Schein, 
Dafs du verlangst, ich solle ein Spiegel vor dir sein? 
Ein Spiegel ist nur nützlich, die Mägdlein zu betören. 
Wie sie die Zeit verschwenden, nur das kann er sie lehren. 

Nachdem dann, wie schon bemerkt, die Vergänglichkeit des 
Irdischen nachdrücklich veranschaulicht worden, spricht es Europa 
geradezu heraus: 

Was Eitelkeit bedeutet, das weifs mein Asien wohl. 

Es kann kaum zweifelhaft sein, dafs hier mit Asien das asiatische 
Byzanz gemeint ist und dem eitlen Phanariotentum von dem wirk- 
lichen Europa der Spiegel vorgehalten, seine Selbstgefälligkeit 
und Scheinkultur gegeifselt werden soll. Dann würde von hier 
aus auch auf das erste allegorische Gedicht einiges Licht fallen, 
und beide als versteckte Satiren auf die Hauptschwäche des ehe- 
mals byzantinischen Griechentums zu deuten sein 7^). 

Neben diesen verhüllten fehlt es nicht an heftigen offenen 
Satiren. Am meisten forderte dazu die Selbstsucht und die 
Gleichgültigkeit der höheren Stände auf, wie sie im Phanar 
herrschten. Ein geschickter Tendenzdichter hat diese sich selbst 
charakterisieren lassen in der Form eines dramatischen Dialogs, 
der sich entwickelt zwischen je einem Russen, Engländer 
und Franzosen und je einem Vertreter des griechischen 
Fürsten-, Priester-, Handels- und Beamtenstandes, die von den 



— 169 — 

ersteren nacheinander um die Ursache von Hellas' traurigem 
Zustand befragt werden. Am schärfsten geifselt der Verfasser 
den Klerus, wenn er dem Bischof folgendes Geständnis in den 
Mimd legt: 

Seitdem ich genommen das Priestergewand, 
War fürwahr ich unter kein Joch mehr gebannt. 
Nur zweierlei wünsch' ich bei den heiligen Bildern ^ 
Recht viel Geld und hübsche Mädchen dazu. 
Doch was ihr von Hellas mir eben da sagt, 
Das kümmert mich wenig, und wenn es auch klagt. 

Zuletzt spricht er die Hoffnimg auf eine gröfsere Pro- 
vinz aus. An demselben Strang zieht auch der adlige Phanariot : 

Unsre einzige Medizin 

— so erklärt er dem Engländer — 

Ist, woirn wir dem Tod entfliehn, 
Dafs die Griechen wir gut plündern 
Und ihr Geld gehörig mindern. 

Er kann sich nicht lange aufhalten, da er den Bischof eben 
in den Harem gehen sieht, um seiner — des Phanarioten — 
Maitresse Geld zu bringen, damit er eine bessere Provinz 
erhalte. 

Als Dritter im Bunde erscheint ein Kaufmann, Auch er 
gesteht auf die Frage der Fremden, dafs er an Griechenland 
überhaupt noch nicht gedacht habe, sondern immer nur an seinen 
Handel, in dessen Interesse er es bedauert, dafs einige Geld 
opfern für Schulen und die Nation, und er schliefst selbst- 
zufrieden also: 

Der Reichtum uns erfreuet und tröstet uns dabei. 
Und niemals wird uns fühlbar des Türken Tyrannei. 

Endlich schildert noch ein Beamter die Leiden, die er 
beim Steuereintreiben auszustehen habe. Die drei Reisenden sind 
erschüttert über das Vernommene: 

Es hör'n dich Fremde und jammern und klagen mit dir im Bunde, 
Indes deine eigenen Kinder erweitern noch gar deine Wunde. 



— 170 — 

Der Schlufs erhält eine politische Tendenz, einen Hieb gegen 
die drei Schutzmächte: ihre Vertreter begegnen beim Fortgehen 
einem schönen, aber zerlumpten Weibe, das sich als Hellas offen- 
bart, ihre Staaten an allem seinem Elend für schuldig erklärt 
und sie des Undankes zeiht. Der Ton, der hier angeschlagen 
wird, ist zwar nicht der weinerliche und flehende wie in dem 
byzantinischen Verspamphlet auf den Fall von Konstantinopel, 
sondern der einer trotzigen Verbissenheit, die sich in einer echt 
byzantinischen Überhebung Luft macht, wenn sich Hellas als die 
privilegierte Hüterin antiker Weisheit aufspielt, ohne die Europa 
noch in der Barbarei stecken würde, und den Hyberboräem ver- 
sichert, mit Griechenlands Befreiung würde eine neue Weltweis- 
heit von ihm ausgehen. 

Leidet also diese Satire an einer Halbheit, an einer den 
Schwerpunkt tendenziös verschiebenden Sophistik, so fehlt es 
doch nicht an mutigen Männern, die die Schwächen ihrer 
Standesgenossen an der Wurzel zu fassen wagen. Zu ihnen ge- 
hören der edle Phanariot Jakob Rizos (Nerulos) (1778— 1850) 
und der Arzt Michael Perdikaris. Beide haben nicht die 
dramatische, sondern die epische Form als Ausdruck ihrer sozialen 
Satire erwählt, jener in dem »Raub des Truthahns« (1816), 
dieser in dem »flermelos« oder »Demokritheraklitos« 
(1817). Beide lehnen sich an fremde Vorbilder an: Rizos 
wenigstens in der Form an Boileau, Perdikaris auch stofflich 
an Lukian. 

»Der Raub des Truthahns« ist schon durch seine 
selbständige Erfindung das bedeutendere Werk. Es schildert, 
wie die materielle Genufssucht und Üppigkeit der blasierten 
phanariotischen Lebemänner den Anlafs zu einem ernsten Streite 
gibt. Ein solcher Lebemann, Lukas, der mit seinen in der 
Walachei eingeheimsten Schätzen nach Konstantinopel zurück- 
gekehrt ist, will als echter Gourmand von einem Händler einen 
Truthahn kaufen, erfährt aber, dafs der beste bereits an einen 
ärmeren Nachbar verkauft ist; er geht nun zu ihm und weifs 
ihm durch Drohungen seine Beute abzujagen. Der Schwerpunkt 
der Satire liegt in dem Verhalten des »Helden« nach dem er- 
rungenen Siege : In einer Anrede an seine versanmielten Diener 
offenbart der Held seine durch des Nachbars Dreistigkeit schwer 



— 171 — 

verletzte Eitelkeit : ob denn der dreiste Nächbar nicht wisse, dafs 
jeder, der etwas kaufen will, erst ihn zu fragen habe: 

Jawohl, man mufs mich fragen, ich ruf es kühn heraus, 
Denn volle Freiheit hab' ich und kauf im Überflufs. 
Darum ich ja nicht knausern mit meinem Reichtum will. 
Damit ich hab* das Vorrecht, dafs ich bevorzugt werd\ 
Hätt' ich von einem Fremden erlitten diese Schmach, 
Oder von einem Niedern, gleichgültig schwiege ich, 
Doch Petros, im Phanar geboren und erzogen. 
Der wissen mufs, wieviel wiegt eines jeden Blut, 
Sollt* man's für möglich halten, dafs dieser Mensch es wagt, 
Dieses mein grofses Vorrecht zu treten in den Schmutz? 

Er läfst dann einen besonderen Käfig für den ihm recht- 
mäfsig zukommenden Truthahn bauen und findet auf einem 
Ballfest, das er zu Ehren seines Sieges veranstaltet, reichlich 
Gelegenheit, sich im Glänze seines Ruhmes zu sonnen. 

Poetisch weniger originell, dafür um so beifsender in seiner 
satirischen Schärfe ist das Gedicht des Perdikaris, der in der 
Einkleidung dem Esel des Lukian nachgebildet ist: eine Nonne, 
die sich in einen Arzt verliebt hat, sendet diesem einen Topf 
mit Süfsigkeiten , durch deren Genufs er in einen Esel ver- 
wandelt wird und in dieser Gestalt in die Geheimnisse ver- 
schiedener Häuser eindringt. Unter dieser Maske werden aufser 
den Geistlichen und den Phanarioten auch die Ärzte und die 
pedantischen Professoren verspottet. 

Wenn auch nicht mehr dem Milieu von Konstantinopel ange- 
hörend, läfst sich dennoch, sowohl der Zeit wie der Richtung seiner 
Poesie nach, der epirotische Satiriker und Lehrdichter Johannes 
Villaras (1773 — 1823) diesem Kreise einfügen. Er richtet seine 
Pfeile nicht gegen die höheren Gesellschaftsklassen, die es in 
seiner Heimat Epirus nicht gab, sondern gegen allgemeine 
Schwächen der Menschen, den Geizigen, den Dummstolzen, den 
Schwätzer, den Sprachpedanten u. s. w. Von einzelnen Ständen 
wird nur der ärztliche scharf mitgenommen, dem der Dichter 
übrigens selbst angehörte. Auch in der Form unterscheidet er 
sich von den vorher Genannten: er wählt weder die schwere 
dramatische oder epische Form, sondern die leichtere der versi- 
fizierten äsopischen Fabel, als deren Erneuerer und bester Ver- 
treter er in Griechenland gilt 7*). 



— 172 — 

Mit Villaras verlassen wir das Gebiet der sozialen Satire 
und werfen noch einen flüchtigen Blick auf die durch die bereits 
angedeutete sprachliche Reformbewegung hervorgerufene sprach- 
liche Satire. Sie richtet sich ausnahmslos gegen die über- 
triebenen Archaisierungsversuche der das vermittelnde System 
von Korais auf die Spitze treibenden Grammatiker. An erster 
Stelle ist hier wieder Jakob Rizos zu nennen mit seinem 
Lustspiel »Die Rabensprache«, d.h. rätselhafte und künst- 
liche Sprache (1813). Der Held ist ein alter Mann, der an dem 
neuen Sprachsystem Gefallen findet und Bauern aus allen Pro- 
vinzen Griechenlands zusanmienruft, um ihnen die neue Sprache 
beizubringen. Im Begriff, an einem von ihm selbst geschaffenen 
endlosen Wort für »Salat« zu ersticken, wird er von dem Lieb- 
haber seiner Tochter gerettet, der ihn wieder zu dem Gebrauch 
der üblichen Wörter zurückbringt und dem er zum Dank seine 
Tochter zur Frau gibt. Der Hauptreiz dieser, sowie einer 
späteren, auf ähnlichen Voraussetzungen beruhenden Komödie von 
Vizantios, deren Titel »Babylonien« an die neugriechische 
Dialektverwirrung erinnern soll, besteht in der Gegenüber- 
stellung der Volksdialekte und der künstlichen, dem Volke un- 
verständlichen und daher zu heiteren Mifsverständnissen Anlafs 
gebenden Schriftsprache. Wie hier das sprachliche Schulmeister- 
tum in der Form der komischen Satire, so wird es von dem 
ehrlichen und mutigen Athos-Mönche Sophronios in der lehr- 
haften Form der Fabel verspottet. Ein Straufs rühmt sich, er 
könne fliegen und will es den versammelten Vögeln zeigen. 
Ohne auf den Spott eines Truthahns zu hören, fängt er wie ein 
Kamel an zu laufen und meint zu fliegen. Der Truthahn beifst 
ihn in die Beine und beweist ihm so, dafs er noch auf der Erde 
wandle. 

O möchte diese Fabel den Stand der Schulpedanten, 

Die so viel Anstofs geben, doch witzigen und bessern! 

O möchten sie doch alle aus Herzensgrunde fühlen. 

Wie diese Unglücksmenschen so sehr dem Volke schaden, 

Und ihres platten Geistes Produkte mancherlei, 

Leer von Philosophie, nichts sind als Tyrannei! 

(Iken.) 

Wer da weifs, wie schwer das Pedantentum noch heute auf 
der Seele des griechischen Volkes lastet, wird die Bedeutung 
dieser Worte aus dem Munde eines Priesters ermessen können 72*). 



— 173 — 

Wie in spätbyzantinischer Zeit neben der Satire das poli- 
tische und moralische Mahngedicht hergeht, so auch in der 
frühneugriechischen Periode : wie damals, so ertönt auch jetzt der 
Ruf nach Einigkeit, nach Befreiung von Gewinnsucht und 
Egoismus, von Luxus und Frivolität; was die genannten Phana- 
rioten auf rationalistischem Wege durch die Satire, das versuchte 
jetzt der soeben als Bekämpfer der Sprachpedanten genannte 
Sophronios durch die Aufrüttelung der Gemüter in ermahnenden, 
von heiligem Zorn erfüllten Versen, in denen freilich das patrio- 
tische Empfinden wiederum stärker ist als das poetische, wie in 
jeder Tendenzpoesie. In seiner »Ode an Griechenlandc 
richtet er (1817) eine Art Kapuzinade an sein Volk und hält 
ihm seine Fehler vor, indem er sich der Reihe nach an die 
einzelnen Stände wendet und zum Schlufs, die Hauptfehler zu- 
sanmienf assend , der Mutter Hellas die Verse in den Mund legt: 



Griechenland vergeht in Tränen, 
Trauer, Herzensleid und Sehnen, 
Bange seufzend, ohne Ruh* 
Ruft es seinen Kindern zu: 
»Bis wie lang' Unwissenheit? 
Lebe hoch Volksfreundlichkeit! 



Biswielang'nochSchlechtigkeit? 
Lebe hoch Volks freundlichkeit! 
Bis wie lang* Uneinigkeit? 
Lebe hoch Volksfreundlichkeit! 
Bis wie lang' Ehrlosigkeit? 
Lebe hoch Volksfreundlichkeit!« 

aken). 



Dem Kreise der Phanarioten nahe stand auch der erste 
Freiheitsdichter der Griechen, der im Dienste des Hospodaren 
der Walachei, Sutzos, stehende Rigas von Velestinos (Pherae) 
(1754—1798). Es kommt mit ihm ein neues, gleichsam positives 
Element in die Poesie an Stelle der bisher mehr negativen, aus 
der überlegenen Höhe des Phanars inmierhin mehr hämisch als 
hilfreich ertönenden satirischen Dichtung. Dieses neue Element 
ist das patriotische, die Begeisterung für die Freiheit, etwas, das 
der kosmopolitischen Phanariotenpoesie fremd sein mufste. Es 
ist daher auch bezeichnend, dafs die ältesten Verkünder der Frei- 
heit nicht aus Konstantinopel, dem alten Sitz des Kosmopolitis- 
mus, hervorgegangen waren, sondern aus den weniger in 
Lethargie versunkenen Provinzen : Rigas stammte aus Thessalien, 
seine Schildträger aus Makedonien, Chios, Kreta, also wieder aus 
der Peripherie, nicht aus dem Zentrum, wie wir es ähnlich beim 
Wiedererwachen der volkstümlichen Poesie beobachtet haben. 



— 174 — 

Freilich sind sie alle mit Konstantinopel in mehr oder weniger 
enge Berührung gekommen, und die alte byzantinische Schwäche 
der Unselbständigkeit verleugnet sich trotz aller Begeisterung 
auch bei ihnen nicht. So ist die älteste patriotische Dichtung, 
der bekannte Weckruf des Rigas »Auf, ihr Söhne der Hellenen ! 
Auf, des Ruhmes Stunde schlägt!«, der französischen Marseillaise 
nachgebildet, wie ja überhaupt die Erhebung der Griechen unter 
dem Impuls zunächst der französischen Revolution und dann der 
gewaltigen Persönlichkeit Napoleons steht. Auch das ist be- 
zeichnend, dafs dieses Kriegslied des Rigas in einer künstlichen, 
dem Altgriechischen sich nähernden Sprach- und Versform ver- 
fafst ist, wie es auch durch Einführung eines Chorgesanges etwas 
Antikisierendes erhält, nicht zum wenigsten endlich durch den 
Inhalt: Sparta, Leonidas vmd die Thermopylen figurieren darin 
neben Byzanz und den Türken. Wie viel kraftvoller imd 
selbständiger wirkt dagegen das gewifs mit Unrecht dem 
Rigas zugeschriebene, in Form und Inhalt echt volkstümliche 
Kriegslied : 

Wie lange, Pallikaren, wie lange sollen wir 
Wie Löwen einsam hausen in Bergeswildnis hier? 
Besser, nur eine Stunde zu leben frank und frei. 
Als vierzig lange Jahre in Haft und Sklaverei! 73) 



Dieser freimütig-männliche Ton verschwindet leider nur zu 
bald aus der patriotischen Dichtung, um abermals dem Byzan- 
tinismus Platz zu machen in dem panegyrischen Hymnus: 
die Verherrlichung von fremden Fürsten und Feldherren, von 
verdienten Philhellenen und Helden, die für die Befreiung 
Griechenlands eingetreten sind, bot einen willkommenen Anlafs, 
die uns aus der byzantinischen Litteratur bekannte Gattung des 
höfischen Lobgedichtes in neuer Form wieder aufleben zu lassen. 
Wie Pilze schiefsen diese Hynmen seit dem Ende des 18. und 
besonders seit Beginn des 19. Jahrhunderts, wo das Liebeswerben 
um die Gunst der Grofsen begann, aus der Erde, Dichterischen 
Wert haben diese lediglich durch nationales Interesse, persön- 
liche Eitelkeit und unbewufst nachwirkende litterarische Tradition 
diktierten Ergüsse natürlich ebensowenig wie die entsprechenden 
der Byzantiner 1200 Jahre vorher. 



— 175 — 

Rein persönlichen Charakter haben von dieser panegyrischen 
Gattung noch die des 17. Jahrhunderts, unter denen zu nennen 
sind von Leo Allatios ein Glückwunschcarmen an Frank- 
reich zur Geburt des Dauphins , von Konst. Rhodokanakis 
ein Lobgedicht auf Karl IL von England, von Ant. KoraYs 
eine Ode an den französischen Kanzler d'Aguesseau, endlich von 
dem Reisenden Michael Anästasios ein Huldigungsgedicht an 
König Friedrich L von Preufsen. 

Unter den fürstlichen Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts 
erscheint in dieser Odengalerie dann zunächst Katharina IL von 
Rufsland, deren siegreicher Feldzug gegen die Türkei 1772 den 
Hofdichtem reichen Stoff bot und die in zwei Dichtungen ge- 
feiert wurde, deren eine von dem in ihren Diensten stehenden 
korfiotischen Polyhistor Eug. Vulgaris verfafst war. Auf ihre 
beiden Feldherren Alexios und Gregorios Orloff dichtete ein als 
Dolmetscher in der kaiserlichen Kanzlei tätiger Grieche ein 
historisches Gedicht und zwei Oden. Im Anfang des 19. Jahr- 
hunderts wird Alexander I. dreimal von Griechen besungen, 
erst 1812 im Kampfe mit den Türken, dann 1819 in einer 
heroischen Elegie zu seinem Friedensschlufs mit Franz I. von 
Oesterreich nach Napoleons Sturz, endlich in demselben Jahre 
wegen der Reformen seines Reiches in einem sapphischen 
Gedichte. Auch Kaiser Franz I. von Oesterreich wird mit 
zwei Lobgedichten bedacht. Frankreich ist vertreten mit 
einem Heldengedicht auf Napoleon Bonaparte von einem griechi- 
schen Weltgeistlichen in Wien eröffnet den Reigen (1803), dann 
folgt eine Ode auf die Geburt des Königs von Rom (1811) und 
ein Loblied auf die französische Trikolore (1830), endlich eine 
Hymne auf Napoleon III., den Völkerhtiter und Völkerbefreier. 
In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts kommen 
mit dem Ausbruch des Freiheitskampfes die Philhellenen 
und die nationalen Freiheitskämpfer an die Reihe. Von 
jenen finden vor allem Lord Byron und Lord Guilford ihre 
Dichter, von diesen der Seeheld Kanaris zunächst in einer pin- 
darischen (!) Ode, aufserdem in einem zugleich griechisch und 
französisch verfafsten Gedicht , ferner der Freiheitswecker 
AI. Ypsilandis und der Präsident Capodistrias in einer Früh- 
lingsode 74). 

Unter den Verfassern dieser Ergüsse ist bezeichnenderweise 



- 176 - 

auch nicht einer von den uns in dieser Periode entgegen- 
getretenen, schon an sich nicht zahlreichen und bedeutenden 
Dichtem. Es sind samt und sonders Philologen und Theologen, 
die mit Selbstgefälügkeit ihren lahmen Pegasus tummeln; 
es ist echte Schutpoesie, die sich hier breit macht, oder besser, 
poetische StilUbungen, wie sie bei uns fast ein Jahrhundert früher 
unter der Ägide Gottscheds, Gellerts, Ramlers u. a, angestellt 
wurden. Noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein steht ja die 
griechische Litteratur, wie die deutsche in der ersten Hälfte des 
18., unter dem Banne der echt rationalistischen Vorstellung, dafs 
die Poesie etwas Erlernbares sei und dafs, im Zusammenhange 
hiermit, nicht der Inhalt, sondern die Form bei der Beurteilung 
eines Dichtwerkes mafsgebend sei. 

Es ist eine in der Geschichte der neueren Litteraturen wohl 
einzig dastehende und nur durch die erstaunliche Zähigkeit des 
byzantinischen Geistes erklärbare Erscheinung, dafs in Griechen- 
land nach der mühsam errungenen politischen Befreiung nicht 
auch die Befreiung der Geister von dem tyrannischen Druck 
einer längst abgeschlossenen Vergangenheit erfolgte, dafs gerade 
die neue Hauptstadt des juagen Staates noch auf 50 Jahre 
hinaus zur Brutstätte einer - — man kann sagen: neubyzantini- 
schen Litteratur wurde, während man doch nun endlich die Ent- 
faltung einer nationalen, volkstümlichen Poesie erwarten durfte. 
Aber, so sagt ein moderner griechischer Dichter und Kritiker, 
auf den Türken folgte der Schulmeister, und, wie man hinzu- 
fügen kann, auf den Phanar von Konstantinopel folgte nach der 
Erhebung Griechenlands zum Königreich (1832) die Universität von 
Athen. Hier, so hatte man es in München beschlossen, sollte 
ein neues geistiges Leben emporblühen, sollte die Gegenwart das 
Altertum und das Altertum die Gegenwart hervorlocken und ein 
neues herrliches Zeitalter anbrechen'-'). 

So bauten die bairischen Griechenfreunde Athen auf, und 
aus Konstantinopel und Bukarest kamen die vornehmen Phana- 
riotenfamilien herüber, angeblich und teilweise wohl auch mit 
dem guten Willen, ein neues freies Geistesleben aus dem antiken 
Boden zu stampfen, in Wahrheit, um der Nation das byzan- 
tinisch-klassizistisch-kosmopolitische Gängelband noch fester um- 
zulegen. In der Universität dominierte zunächst, wie in den 
sogenannten Hochschulen vor dem Befreiungskriege, die Philo- 



— 177 — 

logie und Archäologie, die meisten Professoren hatten schon an 
jenen gewirkt oder waren doch an ihnen vorgebildet, und so er- 
hielt die Universität zunächst den Charakter einer humanistischen 
Gelehrtenschule, auch darin ihr gleichend, dafs selbst die Poesie 
von ihr eingefangen wurde. Wie in Konstantinopel die Diplo- 
maten, so wurden jetzt in Athen die Gelehrten die Träger und 
Hüter der Poesie; denn sie dichteten nicht nur selbst, sondern 
organisierten und dirigierten auch die Poesie; sie veranstalteten 
poetische Konkurrenzen, setzten Umfang und Versmafs der zu 
behandelnden Dichtungen fest und fimgierten als Preisrichter — 
kurz, die Litteratur wurde wieder mehr denn je ein Vorrecht 
der Gelehrten, sie entfloh aus dem Leben, aus der Gegenwart, 
aus der Heimat, sie blieb ein Fremdling im eigenen Vaterlande. 

Nur ein Band hielt Dichtung und Leben noch zusammen: 
die Politik. Die Kämpfe um die Verfassung, um die Freiheit 
der Presse, um die Verdrängung des fremden Elements im Be- 
amtentum, um die politischen Stellen — alles das brachte eine 
neue Litteratur zur Reife, die zwar der Dichtung überhaupt 
keinen neuen Lebensinhalt zuführte, sie aber doch um eine neue 
Spielform, die politische Satire, bereicherte. 

Es bilden sich also im neuen Athen zwei grofse Gruppen 
der Poesie heraus: die akademisch-gelehrte imd die 
politische Tendenzpoesie. Beide Gruppen haben keine 
volkstümliche Grundlage; sie sind aus der Tradition und der 
Mode heraus geboren, Übertragungen des byzantinischen Wesens 
auf die neuen Verhältnisse. Ein patriotisch-nationales Ziel 
verfolgend, suchen alle diese Dichter dieses Ziel durch Mittel 
zu erreichen, die direkt oder indirekt der byzantinischen 
Tradition entnommen sind, sei es in der auf serlichen Nutzbar- 
machung byzantinischer, beziehungsweise durch byzantinisches 
Medium gegangener antiker Stoffe zu nationalen Zwecken, oder 
fremder poetischer Vorbilder, sei es in der Auffassung des 
Nationalen als exklusiven Chauvinismus vmd des Poetischen als 
kosmopolitischen Synkretismus und Plagiatismus, sei es endlich 
in der durch antikisierende Allüren aufgefrischten byzantinischen 
Sprachform. Es ist also eine Periode geistiger und formeller 
Unselbständigkeit, mit der wir es jetzt zu tim haben, ein trotz 
aller scheinbaren Neuerungen fortgesetztes Weiterfahren in alten, 

Dieter ich, Geicb. d. byzant. u. netigriech. Litteratur. 12 



— 178 — 

ausgetretenen Geleisen, ein Fortwirken der nach Athen ver- 
pflanzten, unschöpferischen byzantinischen Tradition, 

Der Hauptvertreter der ersten Gruppe, der akademisch- 
gelehrten Poesie dieser Zeit, ist Alexander Rizos Rangab6 
(1810 — 1892), Aus einer uralten byzantinischen Familie stammend, 
in der litterarische Betätigung seit Generationen erblich ist, kam 
er jung nach dem eben zur Hauptstadt erhobenen Athen, wirkte 
dort erst als Abteilimgschef im Unterrichtsministerium, dann als 
Professor der Archäologie an der Universität, später als Minister 
selbst, endlich als diplomatischer Vertreter Griechenlands in 
Berlin. Vielseitig wie seine amtliche war auch seine litterarische 
Tätigkeit: er verfafste eigene wissenschaftliche imd poetische 
Werke imd lieferte zahlreiche Übersetzungen von solchen. Seine 
eigenen Poesien umfassen dramatische, epische, lyrische Gedichte 
sowie Erzählungen ; die Stoffe dazu entnahm er dem altgriechischen, 
byzantinischen imd neugriechischen Leben. Er tibersetzte aus 
den griechischen Tragikern, aus Dante, Tasso, Shakespeare, 
Lessing, Goethe, Schiller. Er suchte den byzantinischen Enzy- 
klopädisten zu vereinigen mit dem modernen Kosmopoliten und 
dem griechischen Patrioten , den Gelehrten mit dem Dichter, den 
Klassizisten und Rationalisten mit dem Romantiker. Wenn er 
trotzdem nichts Bleibendes schaffen, nichts Grofses vollbringen 
konnte, so lag das nicht sowohl an der Zersplitterung seiner Kräfte 
an sich, als an der Unzulänglichkeit, diese weit auseinander- 
strebenden Tendenzen unter einen grofsen, von einer einheitlichen, 
universellen Persönlichkeit getragenen Gesichtspimkt zu stellen, 
von dem aus betrachtet sie sich als organisch entwickelte, inner- 
lich notwendige Ausgestaltungen einer Dichterseele darstellen. 
Diese für ims selbstverständliche Voraussetzung alles künstleri- 
schen Schaffens ist diesem wie allen anderen Vertretern dieser 
unter dem Banne byzantinisch -rationalistischer Auffasssung 
stehenden Gruppe völlig unverständlich geblieben. Bei Rangab^, 
als dem fruchtbarsten, macht sich diese Verkennung am 
stärksten fühlbar, und an seinem Beispiel läfst sich daher diese 
Art Gelehrtenpoesie am besten veranschaulichen. Man kann sich 
ihren Charakter deutlich machen an dem byzantinischen Mosaik : 
wie dieses setzt auch jene weniger eine künstlerische Phantasie- 
arbeit als eine technische Fertigkeit voraus. Es ist die alte 
byzantinische Überschätzung des Formalen auf Kosten des 



— 179 — 

Geistigen, das seine Werke kennzeichnet. Man merkt ihnen 
allen an, dals sie bewufst gemacht, nicht organisch geworden, 
künstliche Produkte, nicht künstlerische Schöpfungen sind. Daher 
trotz der anscheinenden äulseren Mannigfaltigkeit seiner Dich- 
tungen eine ermüdende Monotonie im Innern; die Armut 
eigener Erfindung verbirgt sich unter dem Reichtum meist 
ebenfalls erborgter blendender Formen — kurz, es ist im letzten 
Grunde wieder die ungesunde Herrschaft des unschöpferischen, 
byzantinischen Formalismus über den schöpferischen, individuellen 
Geist, des dekorativen Beiwerks über den fruchtbaren Kern 
der Idee, des deklamierenden Wortes über die wuchtige Tat, 
wie er sich noch in seinen Nachwirkungen an dieser späten 
Epigonendichtung offenbart. 

Alle diese Schwächen imd Widersprüche treten am grellsten 
in Rangab^s Dramen zu Tage, Es sind echte Buchdramen, 
arm an Handlung, reich an pathetischen Reden und Gefühls- 
äufsenmgen und daher frostig, ohne Lebenswahrheit in der 
Charakteristik der homunculusartigen Personen, nicht aus einem 
Stück herausgearbeitet, sondern aus Stückchen fremder Stücke 
zusammengesetzt, erinnern also hierin stark an den byzantini- 
schen »Christus patiens«. Auch die Stoffwahl hat etwas künst- 
lich Eklektisches; »Die Dreifsigc behandeln einen altgriechischen, 
»Dukas« einen byzantinischen, »Der Vorabend« einen neu- 
griechischen Vorwurf, den Ausbruch des Befreiungskampfes. 

Dieses Stück ist für das Wesen der Rangab^schen 
Dramatik charakteristisch. Zunächst drängt sich das rhetori- 
sche Element ungebürlich darin auf: diese Freiheitshelden sind 
alle geborene Redner, sie sprechen und debattieren unaufhörlich, 
und nicht nur über die nächsten, sondern über die höchsten 
Fragen : sie verhandeln in der Stimde der Gefahr darüber, ob die 
aristokratische oder die demokratische Verfassung vorzuziehen 
sei, der Hauptheld Floros stellt Betrachtungen an über die Un- 
sterblichkeit der Seele, nachdem er massenhaft Türken getötet, 
und im Angesicht der toten Geliebten deklamiert er ein wohl- 
gefeiltes lyrisches Gedicht. 

Von einer lebenswahren Charakteristik kann dabei keine 
Rede sein. Der Dichter macht seine Helden zum Organ seiner 
Mitteilungen und Meinungen: sie sprechen bald wie Phana- 

12* 



rioten, bald wie Archäologen, bald wie Philosophen, bald wie 
Parlamentarier. Es sind keine Kletten, sondern Rangabö'sche 
Weltmänner und Enzyklopädisten, die ihre Kenntnisse an- 
bringen. Der Held beklagt nach berühmten Mustern, dafä 
ihm kein Kriegsheer in der hohlen Hand wachse, wir hören 
auch hier von den bekannten drei Dingen, die zum Ki'iegführen 
gehören, einen Monolog des lebensmüden Helden über Sein und 
Nichtsein , von der Freiheit , die auf den Bergen wohnt ; am 
Pamassos entwickelt sich eine zweite Rütliszene, wie überhaupt 
Schiller es dem Dichter angetan hat. Auch Goethes pantheisti- 
sches Bekenntnis im >Faust* darf nicht fehlen, nur dafs es einer 
griechischen Häuptlingstochter in den Mund gelegt wird. Sogar 
Anklänge an zeitgenössische griechische Gedichte begegnen in 
dieser Blütenlese , wie die Schilderung des Bosporos in der 
»Bosporomachie« (v. 60 ff,). Genug, man sieht, wie beliebt die 
byzantinische Mosaiktechnik bei diesem modernen Epigonen des 
Byzantinertums ist. 

Glücklicher als in seinen dramatischen war Rangabe in 
seinen gröfseren erzählenden Dichtungen. Es sind vier an 
der Zahl, die verschiedene Stoffe behandeln: «Dimos und 
Helene«, eine tragische Liebesepisode aus dem Befreiungskampfe; 
»Der VolksverfUhrers, ein mit dem griechischen Aufstand 
tendenziös in Verbindung gebrachtes Ereignis atis dem Leben 
eines falschen Peters III. von Rufsland; endlich zwei balladen- 
artige Dichtungen in Stanzen, deren eine, »Die Überfahrt 
des Dionysosa, zu den besten dieser Gruppe gehört. Der 
Dichter ist hier ganz in seinem Element, der in Stoff und Form 
klassizistischen Manier. Das Stück bildet gleichsam eine zier- 
lich ausgemalte Illustration zu dem auf dem Fries des bekannten 
Lysikratesdenkmal in Athen dargestellten Überfall des Wein- 
gottes durch Seeräuber und seiner Errettung, und schliefst mit 
einer Apotheose der Geliebten des Bakchos. In der Ausführung 
erinnert es an die mythologischen Deckengemälde in Schlössern 
des 17. Jahrhunderts. Einige Züge hat der Dichter der christ- 
lichen Legende entlehnt, so das Hervorspriefsen einer Weinrebe 
aus dem Mast des Schiffes {St. 60 — 64). Charakteristisch ist 
das Gedicht dadurch , dafs es eins der letzten Beispiele der in 
byzantinischer Zeit so beliebten Nachdichtungen bildlicher Dar- 
stellungen ist. 



— 181 — 

Unter seinen kleineren lyrischen Gedichten sind nur einige 
in der Volkssprache verfafste und aus dem Volksleben geschöpfte 
Motive behandelnde bemerkenswert, wie das auf das Schicksal 
eines Kleften. Man erkennt an diesem und anderen Stücken 
wie auch an dem vorher genannten »Dimos und Helene« deut- 
lich den Einflufs, den die Volkspoesie der Freiheitskämpfe auf 
den jungen Dichter ausgeübt hat, der aber doch nicht stark 
genug war, um dem durch Tradition, Erziehung und Zeit- 
strömung übermächtigen Klassizismus standzuhalten. Jedenfalls 
sind die wenigen Gedichte in der Volkssprache die einzigen, die 
von allen Werken Rangabös lebendig geblieben sind. Die 
meisten sind geistreiche, aber matte Gelegenheitsgedichte. 

Schliefslich hat er sich auch im historischen Roman ver- 
sucht, indem er in dem »Herzog von Morea« ein wenigstens 
kulturgeschichtlich bemerkenswertes Gemälde aus der Zeit der 
fränkischen Eroberung des Peloponnes im 13. Jahrhundert ent- 
wirft, auf Grund der Erzählung eines mifslungenen Versuches 
zweier Griechen, ihr Vaterland von der Herrschaft der Franken 
durch eine Verschwörung gegen den Herzog Vilhardouin zu 
befreien. Den Stoff zu dieser Erzählung schöpfte der Dichter 
aus einer von einem gräzisierten Franken geschriebenen griechi- 
schen Verschronik, der sogenannten Chronik von Morea ^s»). 

Will man Rangabö mit einer entsprechenden Gestalt aus der 
deutschen Litteratur vergleichen, so möchte es am ehesten mit 
Martin Opitz geschehen. Wie dessen, so war es auch des 
Griechen Verhängnis, dafs er, mit Scherer zu reden, sich künst- 
lich zu einem machte, der er nicht war-, wie jener war auch er 
weltgewandt und schmiegsam, in seiner Dichtung breit imd 
nüchtern; auch er wollte, mit Hilfe des Altgriechischen, einen 
ähnlichen Stilunterschied zwischen höheren und niederen Gat- 
tungen der Poesie festlegen wie Opitz : »wo von Göttern, Helden, 
Königen, Fürsten, Städten und dergleichen gehandelt wird, mufs 
man ansehnliche, volle und heftige Reden vorbringen imd ein 
Ding nicht nur bloss nennen, sondern mit prächtigen, hohen 
Worten umschreiben«. Und wie Opitz um die Reform der 
deutschen, hat sich Rangab^ um die der griechischen Verskunst 
bemüht, freilich ohne den Erfolg des ersteren. Was endlich 
beide noch gemein haben, ist ihr unverdienter Ruhm in der 
Litteraturgeschichte ihrer Völker. Wenn Rangab^ auch nicht 





wie Opitz ein Jahrhundert lang die Litteratur beherrschen wird, 
so hat sich doch um ihn eine Anzahl seinen Idealen nachstrebender 

junger Dichter geschart , die in seinem Sinne die Poesie hand- 
habten und dazu beitrugen, dals Rangabe bis in die 1870er 
Jahre hinein, wenigstens in Athen, die Litteratur beherrschte'*). 

Die Abhängigkeit dieser Dichter von Rangabe ist sowohl 
im stofflichen wie im formalen Sinne zu verstehen: in beiden 
Beziehungen sind sie starre Klassizisten ; das griechische Alter- 
tum und das byzantinische Mittelalter sind die Sphären, aus 
denen sie ihre Stoffe schöpfen und die sie teils mit, teils ohne 
nationale Tendenz gestalten. Auch sie wählen mit Vorliebe die 
dramatische und die epische Form für ihre Dichtungen, nur dafs 
die Einzelnen sich nicht mehr in beiden, sondern in der einen 
oder anderen betätigen, und zwar ist die dramatische Form 
mehr für die nationale, die epische mehr für die rein 
klassizistisch-akademische Behandlmig beliebt worden. 
Nur in selteneren Fällen wurden nationale Stoffe in episches Ge- 
wand gekleidet. 

Im Drama nahm man, wie es der Auffassung des wieder- 
erwachenden Nationalgefühls entsprach, die Stoffe fast aus- 
schließlich aus dem griechischen Altertum, Schon Jakob 
Rizos (Nerulos) hatte zwei Verstragödien in Alfieris Manier ge- 
schrieben, eine sPolyxena« und eine »Aspasia«, beide nicht 
ohne Beziehungen auf die Gegenwart. Dann verfafste J. Zam- 
belios zahlreiche, Über den Leisten des italienischen Klassizis- 
mus geschlagene Tragödien, in denen neben antiken (»Timoleons, 
>Kodros«, iMedea«), auch modern-griechische Stoffe aus dem 
Befreiungskampfe (>Diakoss, »Rigas«, »Botsarist, »Capodistrias«), 
der damals die Gemüter bewegte, ausgeschlachtet sind, sSie 
haben übrigens mit den Kompositionen des italienischen Drama- 
tikers dieselben Fehler der Anordnung und Exposition, aber oft 
auch dieselben Schönheiten gemein.« 

Überhaupt sind die Griechen im Drama über das blofse 
Eixperimentieren nicht hinausgekonamen, eine Folge des Mangels 
an jeder Tradition, Das zeigen am deutlichsten, sowohl in den 
Stoffen wie in der Technik, die Stücke von Dim. Vernar- 
dakis. Seine »Maria Doxapatric sollte eine programmatische 
Bedeutung haben ; er wollte sich darin von den antiken Mustern 
emanzipieren und dem Drama Shakespeares nacheifern, als dem 



- 183 — 

einzigen, das dem Nationalcharakter der Griechen entspräche. 
Es ist ihm aber nicht gelungen, seinen gewifs lobenswerten Vor- 
satz auszuführen: Die »Maria Doxapatric ist eher »eine in Dia- 
loge abgeteilte und in Szenen gebrachte Erzählung als ein wirk- 
liches Theaterstück«. Lyrische Intermezzos müssen auch hier 
über das wahrhaft Dramatische hinwegtäuschen, und nur ein 
stark passiver Patriotismus des den Fall Konstantinopels mit 
resigniertem Stolz ertragenden Helden und seiner Gattin bleibt 
übrig. Aus dem weichen, bröckligen Gestein byzantinischer Ge- 
schichte lassen sich eben keine Shakespeareschen Funken 
schlagen. Das mag auch Vemardakis gefühlt haben, der sich 
hierauf in seiner »Merope« und den »Kypseliden« wieder ganz 
in klassizistischen Bahnen bewegt und erst neuerdings in der 
»Fausta« wieder, mehr durch den Stoff als die Behandlung er- 
folgreich — das Stück behandelt ein Thema aus der Übergangs- 
zeit des weströmischen Reiches zum oströmischen — sich zum 
Byzantinerdrama zurückgewandt hat. 

Den Zwiespalt zwischen Klassizismus und byzantinisierendem 
Patriotismus illustrieren auch die historischen Dramen des S p. V a s - 
siliadis (1845—1874), der ebenso bewufst bei den Alten in die 
Schule gehen will wie Vemardakis bei Shakespeare, und der 
ebensowenig wie jener sein Ideal zur Erfüllung führt. Das ist 
ja der alte Fluch der Griechen : sie glauben in der Kunst- 
auffassung moderne Europäer zu sein und sind nur Nachkommen 
der Byzantiner, oder sie glauben wirkliche und würdige Nach- 
kommen der Alten zu sein und sind doch nur Epigonen. Darum 
irrt ihr Geist wie heimatlos so gern um die Ruinen von Byzanz, 
das einzige nationale Ideal, das ihnen geblieben ist und in dessen 
Verherrlichung sich ihre Dramatiker, sei es unter Shakespeare- 
scher, sei es unter Sophokleischer Maske, immer wieder be- 
gegnen, nur dafs weder ein Shakespeare noch ein Sophokles 
herauskonmit. So hat auch Vassiliadis in der »Galatea« einen 
antiken, in dem »Kallergisc und in dem »Lukis Notaras« byzan- 
tinische Stoffe bearbeitet, in dem ersteren den durch Verrat 
heraufbeschworenen Verlust Kretas, in dem letzteren das durch 
die Eroberung Konstantinopels geschaffene Schicksal. 

Von sonstigen Dramen, deren Poesielosigkeit mit ihrer Menge 
wetteifert, seien nur noch die des Rumelioten Alexander Zo'iros 
genannt. Wagt sich die patriotische Tendenz bei Vemardakis 



und Vassiliadis nur schüchtern hervor, so tritt bei ihm die Muse ganz 
und gar in den Dienst der grofsgriechischen Politik. Der Altertums- 
taumel feiert hier die wüstesten Orgien: mit seinen »Dreifsig«, 
dem »Tod des Redners^ ( Deraosthenes), dem »Abkömmling des 
Timoleon= u. a. will er gleichsam das alte Griechentum wieder 
aus dem Boden stampfen und schlägt dabei in dem zweiten 
Stücke einen so demagogischen Ton an, dafs die Aufführung ver- 
boten wurde. Auch in diesem hitzigen Chauvinisten klafft der 
Zwiespalt zwischen Althellas und Byzanz: in dem Tendenzsttick 
»Charilaos Komnenos« wird dieser Nachkomme der Byzan- 
tiner als Sohn der Weisheit dem falschen russischen Gast- 
freunde Naidenovitsch gegenübergestellt und die Wiederaufrich- 
tung des Kreuzes auf der Hagia Sophia als nahe bevorstehend 
verkündet"). 

Wie in der dramatischen, so geht auch in der epischen 
Poesie die vornehm-klassizistische Ruhe neben der patrioti- 
schen Erregung her: dort die marmor kalte antikisierende 
Dichtung eines Vizantios, Vlachos, Vizyinos und 
Tertzetis, hier die romantisch-pallikarenhafte eines Antoniadis, 
Stavridis, Zalokostas; dort eine Art Museumskunst, wie 
schon die Titel der Werke verraten: sSokrates und Aristo- 
phanesa ; iPhidias und Perikless ; sKodros* ; »Korinna und 
Pindari und »Die Hochzeit Alexanders d, Gr.«, hier wenigstens 
volkstümliche Stoffe : »Misolonghit, »Kreta«; »Skenderbeg« , iDer 
Armatole« ; »Die Mündung von Preveza«; nur schade, dafs auch 
hinter diesen so verheifsungsvoll klingenden Titeln akademisches 
Machwerk sich verbirgt: Götter und Musen treiben sich hier un- 
geniert zwischen griechischen Kleften und Türken umher, die 
dann in so vornehmer Gesellschaft natürlich möglichst alt- 
griechisch reden. Nur selten hat das Epos sich seine Nahrung 
an byzantinischen Stoffen gesucht. Hier steht ziemlich vereinzelt 
des Vernardakis »Kasia«, jene byzantinische Dichterin, die uns 
schon entgegengetreten war, und deren stolzes Auftreten gegen- 
über dem um sie werbenden Theophilos, die dadurch verscherzte 
Anwartschaft auf den Thron und ihre schliessliche Weltflucht 
den Inhalt des Gedichtes bilden. 

Sodann verdient noch hervorgehoben zu werden, dals selbst 
die Zeit nach der Befreiung noch zwei poetische Prachtexemplare 
echt byzantinischer Rasse hervorgebracht hat, nämlich ein be- 



— 185 — 

schreibendes und ein panegyrisches Gedicht. Das erstere, von 
«inem Mediziner Kallivursis, gibt in etwa tausend gereimten 
Versen eine Schilderung der Kykladen nebst historischen Ex- 
kursen; auf Delos widersteht der Dichter der Versuchung nicht, 
alle olympischen Götter zur Prozession herabzurufen, was ihm 
mit Hilfe der heiligen Jungfrau von Tinos auch gelingt. Das 
andere ist eine Rhapsodie von 2200 Versen auf die Krönung 
König Ottos (1833), ebenfalls von einem musenfreundlichen Arzt 
Lefkias verfafst. Der ganze Olymp ist selbstverständlich 
zur Stelle, Vulkan schmiedet die Krone, was allein 700 Verse 
kostet, da er nicht nur das ganze Griechenland und seine Siege 
sondern auch noch das Witteisbacher Haus und seine Geschichte, 
nebst den Sehenswürdigkeiten von München bis hinaus nach 
Nymphenburg darauf abbilden mufs. Unterbrochen wird die mühe- 
volle Arbeit durch erheiternde Gespräche der Götter. Dann 
folgt die Krönungsszene im Athener Schlofs; unsichtbare Boten 
des Zeus überbringen das Wunderwerk von Krone, die sich der 
arme König sogar aufsetzt. In das Jubeln und Schiefsen der 
Menge mischt sich auch Zeus mit dem üblichen Donnerschlag, 
und zugleich mit dem Festmahl der Fürsten im Schlofs findet 
auch eins für die Götter auf dem Hymettos statt. Eine besondere 
Belustigung bietet dabei Pluton, der auf Zeus' Geheiss alle 
Helden Griechenlands von Deukalion bis Marko Botsari er- 
scheinen läfst, letzteren mit dem neugestifteten Erlöserorden ge- 
schmückt. Am Abend geniefsen die Götter das seltene Schauspiel 
eines griechischen Hofballes, den sie mit dem Kreisen der Ge- 
stirne um die Sonne vergleichen. Zeus' Vorschlag, es auch mit 
dieser Bewegung zu versuchen, findet Beifall, und man sieht nun 
die Götterpaare auf dem Hymettos sich im Walzer und Polka 
schwingen. Erst die aufsteigende Aurora macht dem tollen 
Zauber sowie dem Gedicht ein Ende. 

Als Verfertiger höfischer und patriotischer Oden ist hier 
endlich noch zu nennen Joh. Karassutzas, eine Art 
griechischer Ramler, der wie seine Vorgänger vor der Erhebung 
sowohl politische Persönlichkeiten und Ereignisse (Ode an die 
Königin Amalie, auf Italien und Venedig im Jahre 1848 und 
auf den italienischen Philhellenen Carlo Alberti) wie auch poli- 
tische Ideale (Hymne an Hellas, an die Sophienkirche in Kon- 
stantinopel, an Jonien, an die Sonne Attikas) verherrlichte. Der 



byzantinische Charakter bricht bei ihm nicht nur in der unklaren 
nationalen Tendenz, sondern auch in dem rhetorischen Ton wie 

in der geschraubten Sprache wieder siegreich durch '^). 

Wir sind mit den letztgenannten Vertretern der Litteratur 
aus dem Fahrwasser der akademischen Poesie immer mehr in 
das der politischen hinübergeglitten. Diese ist es nun, die neben 
der ersteren in dem neuen Athen ihre Hauptnahrung findet. 
Bildete die Quelle der akademischen Dichtung die Universität, 
so die der politischen die Verfassung, sei es als Ideal, sei es 
als Erfüllung. Hatte die akademische Dichtung ihrer Natur 
nach etwas Weltfremdes an sich, so tritt die politische in den 
Dienst des aktuellen Lebens^ sie wird der Ausdruck, ja das 
Opfer des Tages, Suchte jene ihre Ideale in der Vergangenheit, 
so diese in der Gegenwart. Fand jene ihre titterari sehen Vor- 
bilder in der eigenen Geschichte, so diese in der des Auslandes. 
Jene war konservativ, diese ist radikal. Dennoch sind beide Rich- 
tmigen im innersten Wesen nicht voneinander verschieden : beide 
bleiben in der äufserlichen Nachahmung befangen, die politische 
Poesie lehnt sich an die moderne französische und englische 
Litteratur, wie die akademische an die des italienischen und 
französischen Klassizismus; beide bewegen sich auch sprachlich 
in den ausgetretenen Geleisen, und — was die Hauptsache 
ist — beide sind ausgegangen von byzantinischen Phanarioten: 
wie AI. Rangabs, der Vater der akademischen, so ist AI. Sutzos, 
der Vater der politischen Poesie, ein Phanariot. Das ist 
wichtig für die Beurteilung des poetischen und nationalen 
Charakters dieser Poesie. 

AI. Sutzos (1803—1863) ist der poetische Inbegriff des grofs- 
griechischen Chauvinisten der 30er bis 50er Jahre des 19. Jahr- 
hunderts. Verkörperte Rangabe den Typus des byzantinischen 
Aristokraten, so erden des byzantinischen Demokraten oder 
besser Ochlokraten und Demagogen. In Paris erzogen und zeitlebens 
in litterarischer Abhängigkeit von Frankreich, blieb er im Innern 
doch der echte, von Halbheiten und Widersprüchen erfüllte 
Byzantiner, ob er nun auftrat im Gewände eines Romantikers, 
wie in seinen epischen, oder eines Journalisten, wie in seinen 
lyrischen Dichtungen. Mafslos in seinen Idealen, von euro- 
päischen Freiheitsideen genährt, gebrauchte er diese als Waffe 
gegen Europa, hielt er sich für einen grofsen Patrioten und war 



— 187 — 

doch nur ein blinder Chauvinist \ von stark satirischer Begabung, 
kehrte er diese Satire nicht gegen die Schwächen seines Volkes, 
sondern gegen die »barbarischen« Unterdrücker, die Baiem. Ohne 
Selbsterkenntnis und Überlegenheit des Urteils, machte er stets 
nur die Fremden für alles Unheil des Landes verantwortlich. Er 
konnte mit seiner Satire nur niederreifsen, nicht aufbauen, nur 
zerstören, nicht bessern. Etwas Unschöpferisches, Negatives, zu- 
weilen Zynisches lag in seiner Natur, gewifs auch ein byzan- 
tinisches Erbteil. Freude am Wühlen und Intrigieren war 
diesem ewig unbefriedigten, ruhelosen Heifsspom ein Bedürfnis. 
Etwas Unharmonisches, Unstetes, Zerrissenes kennzeichnet den 
Menschen wie den Dichter, und eine gewisse Verwandtschaft 
mit den abstofsenden Seiten in Heines Wesen ist daher in ihm 
nicht zu verkennen, wie überhaupt jene ganze Zeit der Ver- 
fassungskämpfe in Griechenland und ihr litterarischer Aus- 
druck eine starke Übereinstimmung mit dem gleichzeitigen »Jungen 
Deutschland« zeigt. 

Wenn Griechenland in eine Verfassimg künstlich hinein- 
gepeitscht wurde, während es einer ruhigen wirtschaftlichen Ent- 
wicklung bedurft hätte, um sich von den Wunden des Befreiungs- 
kampfes zu erholen, so hat es dieses Danaergeschenk nicht zum 
wenigsten der Hetzpoesie des Sutzos zu verdanken. 

Und noch etwas anderes hat Sutzos durch seine politische 
Lyrik verschuldet: indem sie zuerst und am schärfsten ihre 
Krallen gegen das System und die Partei des Grafen Capo- 
distria ausstreckte, des einzigen Mannes, der ein weises Regiment 
in dem verwilderten Lande zu führen im stände war 7» •), hat sie 
dazu beigetragen, dafs dieser schliefslich dem Fanatismus des politi- 
schen Pöbels zum Opfer fiel. Ihn bekämpfte der Dichter uner- 
müdlich in Satiren und vermischten Gedichten, sowie in einem 
politischen Versroman »Der Verbannte« (1835). Während 
sich aber die ersteren an Kampflust und Gehässigkeit nicht 
genug tun können, weichen diese in dem Roman einer merk- 
würdigen psychologischen Stimmung, die man wohl als politi- 
schen Katzenjammer bezeichnen könnte : der Verbannte wird nach 
mancherlei politischen Abenteuern durch den plötzlichen Tod seiner 
Geliebten bestimmt, sich vom politischen Leben zurückzuziehen und 
seine Tage in düsterem Trübsinn in Konstantinopel zu beschliefsen. 
Selbst des Dichters Stärke, seine bis zum Karikieren gesteigerte 



— 188 — 

Spottsucht, wie er sie in seinen kleineren Gedichten so wirkungs- 
voll bewährt, wird hier matt und kraftlos. Es geht ein krank- 
hafter Zug durch dieses Erzeugnis eines offenbar tiberreizten 
Gemütes; es liegt ihm eine ähnliche weltsatte Stimmung zu 
Grunde, wie die war, welche so viele byzantinische Staatsmänner 
ins Kloster trieb. Wie stark dieses Gefühl der Übemommenheit 
in Sutzos war, und wie willig er dagegen reagierte, zeigt ein 
zweites, im Kern ganz ähnliches romantisches Epos »Der 
Umherirrende«, das er vier Jahre später (1839) verfafste. 
In drei Gesängen wird hier geschildert, wie der Dichter nach 
langer Irrfahrt seine Geliebte in Paris findet und sich mit ihr 
nach Palästina einschifft, um in dessen Klöstern ein still-beschau- 
liches Dasein zu führen, wie sie aber auf der Fahrt stirbt, und 
wie er nun in Gesellschaft eines Eremiten die Stätte seiner Sehn- 
sucht erreicht, und wie endlich dieser in ihm einen alten Kriegs- 
gefährten erkennt. 

Auch in diesem Gedicht glimmt und glüht noch wie das 
Feuer unter der Asche der wilde Hafs gegen die fremden Be- 
herrscher: Engländer, Russen und nicht zuletzt die Baiern 
werden hier als unversöhnliche Feinde Griechenlands behandelt. 
Diese werden den griechischen Helden gegenüber mit Pygmäen 
und Harpyien verglichen, ihrer philhellenischen Gesinnung krasser 
Eigennutz untergeschoben; Griechenland sei ein ausgetrocknetes 
Strombett, das die Bayern durchschreiten, mit Steinen nach den 
Griechen werfend u. s. w. Wie in einem förmlichen Wutanfall 
gebärdet sich dieser blinde Hafs besonders in der dem Epos an- 
gehängten »Menippeia«. 

Im Jahre 1843, wo die ersehnte Verfassung kam, war 
Sutzos' Mission vorläufig erfüllt. In Ermangelung weiteren 
Stoffes fiel er jetzt über die Türken her, ebenfalls in einer 
»epischen« Dichtung von vier Gesängen, die aber mehr einer 
Verschronik gleicht, »Das türkenkämpfende Hellas« 
(1850). Nur von Zeit zu Zeit noch, so besonders 1848, schofs 
er seine giftigen Pfeile besonders gegen die europäische Diplo- 
matie ab (»Memoiren des Orientkrieges«, »Die wirkliche Lage 
der orientalischen Frage«). So sank er immer mehr zum politi- 
schen Pamphletisten herab und starb arm und verlassen in 
Smyrna 1863, nachdem noch sein zweites Ideal, der Sturz König 



— 189 — 

Ottos und das Ende der bairischen Herrschaft, sich ihm er- 
füllt hatte. 

War sein Werk, vom nationalen Standpunkt betrachtet, ver- 
hängnisvoll, so war es vom rein poetischen aus bedeutungslos« 
Was seinen kleineren Gedichten eine gewisse Lebensdauer verlieh, 
war ihr Feuer und ihr rhetorisches Pathos. ,Als Dichter war 
Sutzos wie als Mensch wieder ganz Byzantiner, d. h. phantasie- 
los, unpsychologisch, unselbständig. Seine politische L3rrik ist 
ein Widerhall der B oranger sehen: unter den Stücken »Mein 
Diogenesleben«, »Falsche Interpretationen«, »H)rmne an die 
Freiheit«, »Der alte Rock« verbergen sich bekannte Lieder des 
französischen Chansonniers (»Le nouveau Diog^ne«, »Halte-lä«, 
»La Dresse«, »L'habit«). Nach König Ottos Thronbesteigung 
schien ihm B^ranger zu zahm, und er vertauschte ihn mit dem 
bittereren Barth^Umy. Seine politischen Komödien (»Der 
Ausschweifende«, »Der Premierminister«, »Der ungezähmte 
Dichter«) sind litterarische Zerrbilder, aus denen bald Moli^re, 
bald auch V. Hugo spricht. Hat er für das Lied und das 
Lustpiel die Franzosen sich zu nutze gemacht, so für das 
epische Gedicht die Italiener und Engländer: in dem »Ver- 
bannten« ist besonders Foscolos »Jacopo Ortis« verarbeitet, und 
in dem »Umherirrenden« endlich nhnmt er es mit Byron auf, 
dem er nicht nur die Anlage, sondern auch viele Einzelheiten 
aus dem »Childe Harold« abgestohlen hat (z. B. in der »Be- 
grülsung Italiens« : vgl. »Childe Harold« IV, 42 ff. und 
»Der Umherirrende« I, 29 ff. Femer in der Vergleichung 
Roms mit der versteinerten Niobe: »Ch. H.« IV 79 ff. und »Der 
Umherirrende« I, 72), natürlich ganz äufserlich und ohne 
Nachempfindung, mehr als Füllsel denn als notwendige Glieder 
des Ganzen : die Beschreibung der römischen Sehenswürdigkeiten 
durch den ruhelos nach seiner Geliebten Suchenden ist ein un- 
motivierter Zeitvertreib, mn so mehr, als diese Beschreibung sich 
nur in Gemeinplätzen bewegt. Wenn man bedenkt, dafs Sutzos 
selbst Italien, Frankreich, die Schweiz und den Orient durchreist 
und doch nichts Eigenes darüber zu sagen hat, so kann man 
höchstens die Phantasiearmut dieses Epigonen bewundem. Es 
ist mit seinen »Dichtungen« eben wie mit fast allen Produkten 
dieser Periode : es fehlt das organische Verhältnis zwischen Form 
und Inhalt. Ein fremdes, in sich geschlossenes künstlerisches 



■ife -'^^ 



Gebilde wird wie eine Rübe mit roher Hand aus dem Boden 
gerissen, ausgehöhlt, mit byzantinischem =Geistee gefüllt, und 
das Kunstwerk ist fertig. So ist es bei Sutzos die Satire, die 
echt byzantinische, unfruchtbare Satire, auf die seine sämtlichen 
Versifikationen sich zurückführen lassen, mit der seine »Epen* 
und iKomödiene gefüllt sind. Vom Geiste des Epos und des 
Dramas enthalten sie nichts. Es sind zufällige Formen, die die 
Mode herübergeweht hat und die man benutzt, wie die späten 
Byzantiner die heiligen Formen des christlichen Hymnus für die 
profansten Zwecke benutzten '5). 

Von AI. Sutzos ging eine Reihe jüngerer satirischer Dichter 
aus, die aber, verständiger als ihr Meister, bald genug ihre 
Satire gegen innere Schäden des Volkes wandten. Unter ihnen 
ragt Th. Orphanidis hervor, der nach dem Muster des 
s Umherirrenden« und des »Verbannten« einen »Heimatlosen« 
schrieb , ein Jahr lang eine politische Monatsschrift , «Der 
Bogenschütze« (1840), herausgab""), dann im iTurm von 
Betraft ein verwandtes romantisch-tragisches Liebesmotiv be- 
arbeitete: der Held geht, nachdem er Rache an dem Mörder 
seiner Geliebten genommen hat, auch hier ins Kloster. Nach 
einem historischen Abstecher im sGeknechteten Chioss 
kommt er in dem »Tiri Liri« auf sein eigenstes Gebiet, die 
soziale Satire. Es ist ein heroisch-komisches Epos nach Art der 
Batrachomyomachie oder Tassonis sGeraubtem Eimer«. Es 
geifselt das krähwinklige , wichtigtuerische Wesen griechischer 
Kleinstädter auf Grund eines Ereignisses auf der Insel SjTa. 
Auf diesen kahlen, baumlosen Felsen soll sich einmal ein 
Kuckuck verirrt haben, und in dem Gedicht wird nun die Auf- 
regung, die sich der Bevölkerung darüber bemächtigt, sowie die 
Jagd nach dem seltenen Vogel harmlos parodierend dargestellt. 
Karidis, Herausgeber eines in Versen geschriebenen satirischen 
Blattes, der »Politische Spiegel«, worin er einen ähnlichen Ton 
anschlug wie Sutzos, hat in einem Lustspiel sMeine betörte 
Muse« auch den griechischen Damen mit ihrer Modesucht und 
Koketterie den Spiegel vorgehalten. Das mit der Verfassung 
geschaffene politische Abenteurer- und Strebertum hat A. R. 
R a n g a b e zum Gegenstand einer satirischen Komödie nach 
aristophanischem Muster gemacht in der »Hochzeit des 
Kutrulis«. Dieser, ein ehrsamer Schneider, hat nur dann 



— 191 — 

Aussicht, seine Geliebte heimzuführen, wenn es ihm gelingt, sich 
zum Minister emporzuschwingen. Er setzt es sich in den Kopf, 
dafs er es schon ist, verteilt Preise und Ämter und täuscht 
durch sein Auftreten, ohne es zu wollen, auch seine GeUebte, die 
nun dem vermeintlichen Minister die Hand reicht. Das Stück 
ist witzig und — bis auf die unglückliche Nachahmung des 
Aristophanes — originell und gibt ein lebendiges Bild von den 
politischen Zuständen Athens in den 1840 er Jahren. 

Der jüngste, bis in die Gegenwart hineinragende Ausläufer 
dieser innerpolitischen Satire ist G. Suris, der in seinem poli- 
tischen Witzblatt »Romjös« (der Romäer, Neugrieche) mit un- 
ermüdlichen, wenn auch oft etwas ermüdenden und billigen 
Spottversen die vielen politischen Untugenden seiner Lands- 
leute, besonders die geliebte Kannegiefserei im Kaffee- 
hause, allwöchentlich festnagelt in den stereotypen Figuren 
des »Phasulis und Perikletos«, einer Art griechischer Müller und 
Schnitze, Da wirklicher politischer Witz den heutigen Griechen 
fremd ist, so erscheint ihnen Suris als ihr modemer Aristophanes, 
ein Ehrentitel, den er neuerdings durch eine Übersetzimg von 
dessen »Wolken« wenigstens einigermafsen gerechtfertigt .hat. 
Seine Gedichte hat er in mehreren Bänden herausgegeben, unter 
denen der unter dem Titel »Phasulis als Philosoph« die besten 
enthält. Ob freilich der Dichter trotz seiner erzieherischen 
Tendenz durch diese regelmäfsigen Tiraden nicht eher ein- 
lullend als aufrüttelnd auf die Gemüter wirkt, ist eine Frage ^*). 

Von A. Sutzos ausgehend, hat sich, zum Teil als Reaktion 
gegen ihn, zum Teil als Ausdruck der enttäuschten Zeitstimmung, 
eine romantisch-religiöse, weltschmerzliche Richtung der Poesie 
herausgebildet, die am greifbarsten in seinem jüngeren Bruder 
Panajotis (1806—1868) verkörpert ist. War Alexander in erster 
Linie Satiriker, so Panajotis fast ausschliefslich sentimentaler 
Lyriker; begann jener mit politischen, so dieser mit Liebes- 
gedichten; während jener sich B^ranger als Vorbild erwählte, 
war dieser ein Verehrer von Lamartine und Victor Hugo. Auch 
er hielt sich in seinen gröfseren Kompositionen an Byron, aber 
nicht an den leidenschaftlichen »Childe Harold«, sondern an den 
weicheren »Manfred«, der seinem Ijndschen Drama »Der 
Wanderer« zu Grunde liegt, während er im »Leander« 
stark Rousseau 'sehe Spuren verrät. Beide Gedichte sind 



— 192 - 

Pendants und Vorbilder zu denen seines Bruders: jenem ent- 
spricht »Der Umherirrende«, diesem jDer Verbanntei. Nur das 

politische Element tritt in Panajotis' Romanen stärker zurück, 
das Romantisch-Weltfremde stärker hervor: in beiden ist ein 
Einsiedler der Berater der unglücklich Liebenden und beide 
enden mit unbefriedigter Entsagung; jede Tatkraft ist auch hier 
durch eine völlig passive Leidenschaft gelähmt. Besonders qual- 
voll wirkt diese seelische Lethargie in dem sWanderer«, wäh- 
rend der frühere sLeanden, wenn auch nicht frei von pathologi- 
schen Momenten durch die zerstörende Liebe des Helden zu 
einer verheirateten Frau, wenigstens durch reiche archäologische 
Reminiszenzen und nationale Visionen einen wenn auch unwahren 
historischen Hintergrund erhält. 

Seine in diesen unerfreulichen Leistungen nicht verwirk- 
lichten christlich- religiösen Bedürfnisse hat P. Sutzos in einer von 
ungesunder Mystik erfüllten, mit unklaren, auf das Staatsleben 
übertragenen Gleichheitsideen vermischten Darstellung des 
jMessiasc oder der Leiden des Herrn niedergelegt. Hat er 
auch direkt aus den Evangelien geschöpft, so ist die Behandlung 
doch so äuXserlich, dafs man auch diesem s Passionsspiel* den 
gänzlichen Mangel an christlichem Gefühl und dramatischer 
Tradition anmerkt: es ist eine Aufeinanderfolge von Szenen mit 
groben Effekten. An Stelle der Maria, die im byzantinischen 
»Christus patiensfl im Vordergrunde stand, ist hier — äufserst 
störend — das Liebespaar Livius und Aurelia getreten, Herodes' 
Sohn und Pilatus' Tochter. Einige Schönheiten im einzelnen 
sind rein lyrischer Natur, Das Ganze macht den Eindruck der 
Überladung und der Bigotterie und scheint mehr aus einem Be- 
dürfnis nach religiöser Betäubung als nach Erbauung entstanden 
zu sein^=). 

Die Nachwirkung Byrons hat noch bis in die siebziger 
Jahre bei den Dichtem Athens angedauert. Unter seinem wie 
unter Leopardis und Mussets Einflufs standen zwei der letzten 
Dichter dieser nun überwundenen Zeitrichtung, D. Paparigo- 
pulos (1843 — 1873) und der schon als Dramatiker genannte 
S. Vassiliadis. Beide suchten die Romantik mit dem Klassi- 
zismus, wenn auch nur ganz äufserlich, zu vereinen. Der 
erstere, mehr Philosoph als Dichter in seinen aus der römischen 
Geschichte geschöpften Betrachtungen (»Claudius der Sorglose« ; 



— 193 - 

»Kleanthes der Stoiker«), lieferte ein Beispiel dafür in seinen 
»Charakteren«, kleinen, scharf pointirten Dialogen, die sich 
deutlich an die Leopardi's anlehnen, von deren Personen 
man aber nicht recht weifs, ob es antike oder moderne 
Menschen sind. In seinen Dramen (»Orpheus«, «Pygmalion«) 
wollte er die antike Mythologie wiederbeleben; »in die alten 
Mythen, die dramatischsten von ihnen, neue Ideen und neue 
Empfindungen zu verflechten«, hielt er für ein nationales Werk, 
während er doch damit nur frostige Allegorien schuf. So wollte 
er in seinem unübersehbaren dramatischen Gedicht »Agora« 
die alte griechische Gesellschaft mit ihren Philosophen und 
Dichtem der modernen Generation gegenüberstellen, die nur von 
französischer Schund- und Modelitteratur lebe. Aber er vergafs, 
dafs, selbst wenn sein Werk vollendeter gewesen wäre, er damit 
doch nur den Teufel durch Beelzebub ausgetrieben hätte. Er 
gehörte noch zu jener Generation, die alles Heil von der Wieder- 
belebung der Antike oder vom Auslande erwartete. 

Ähnlich wie Paparigopulos hielt sich auch S. Vassiliadis für 
einen Dichter des Weltschmerzes, der weniger in den dramatischen 
als in den Ijnrischen Dichtungen beider zum Ausdruck kommt ^3). 

Glücklicher war Achilles Paraschos (1838—1895), der, in 
seinem Jugendepos »Alfred« zwar ebenfalls vom Byronismus 
infiziert, diesen bald zu überwinden wufste und der in seinen 
lyrischen Schöpfungen eigene Wege betrat, die bereits zur fol- 
genden Periode hinüberleiten. 

Diese ganze klassizistische Richtung der griechischen 
Litteratur war somit genau genommen, in den letzten hundert 
Jahren auf demselben Punkte angelangt, wie die byzanti- 
nische in der Paläologenzeit , nur dafs sie vor 500 Jahren der 
Hof, jetzt die Universität protegierte. Und genau wie es damals 
einer Auffrischung von aufsen her bedurfte, um die ausgetriebene 
Natur wieder zurückzurufen, so auch jetzt. Und wie endlich 
damals es der romanische Westen war, von dem diese Auf- 
frischung ausging, indem er die Volkspoesie befruchtete, so 
auch jetzt, indem diese mit dem romanischen Geiste sich gleich- 
sam noch einmal verbündete und nun beide gemeinsam die 
Kunstpoesie veredeln halfen. 



Dieterich, Gesch. d. byzant. n. nengriech. Litteratur. 13 



FÜNFTES KAPITEL. 

Die neugriechische Kunstpoesie als Ausdruck 

des Volkscharakters. 



In dem Wettkampf, den Orient und Occident um die Zu- 
gehörigkeit des Griechentums führten und der den eigentüm- 
lichsten Niederschlag in den Werken des Geistes gefunden 
hat, hatte bisher der Occident zweimal einen folgenreichen 
Vorstofs in den Orient hinein gemacht, nämlich mit der Fest- 
setzimg erst des französischen, dann des italienischen Elementes 
im ägeischen Archipel. Das geschah zuletzt im 16. Jahrhtmdert. 
Diese Okkupation war aber politisch ebensowenig von Dauer 
wie geistig; wie das Land an die Türken, so ging, wie wir 
sahen, auch die Bildung des Ostens wieder an die Byzantiner 
verloren, d. h. an die Gelehrten, die auf diesem Boden hohe 
Schulen gründeten und durchaus an byzantinische Traditionen 
anknüpften, die Keime einer wirklich volkstümlich-nationalen 
Kultur aber elend verkümmern liefsen. Im Osten war es also 
mit dem romanischen Einflufs zu Ende. Dagegen war seine 
Stärke noch ungebrochen im griechischen Westen, zumal auf 
den Inseln, die die Brücke bilden zwischen Griechenland und 
Italien, auf den Ionischen Inseln. 

Wie der ganze griechische Osten, also die Küstenländer 
der Balkanhalbinsel und Kleinasiens nebst den Inseln dazwischen, 
durch seine Geschichte eng mit Konstantinopel verknüpft 
ist, so ist der Westen, d. h. vor allem das Siebeninselreich, von 
Korfu bis Zante, die längste und letzte Stütze Venedigs ge- 
wesen. Und wie der Osten kulturgeschichtlich noch heute den 



— 195 — 

byzantinischen, so verrät der Westen noch stärker den vene- 
tianischen Einflufs, weil dieser, aus dem Osten vertrieben, sich hier 
am festesten konzentriert und am längsten gehalten hat. Korfu 
war hier der stolzeste Schild der Meeresherrschaft der Venetianer, 
ihr wertvollster, lange heifsumstrittener Besitz. Selbst dem byzan- 
tinischen Osten nach heftigen Kämpfen abgerungen, hat es, wie 
F. Gregorovius sagt, ein Janusgesicht, welches nach dem Morgen- 
und Abendlande blickt*^). Aber schon im 13. Jahrhundert ^urch 
Einwandenmgen aus Neapel und Venedig kolonisiert, wi^e es 
am Ende des 14. offizieller Besitz Venedigs und blieb es nebst 
den übrigen Ionischen Inseln über vier Jahrhunderte hindurch, 
so dals es ein Vorposten ItaHens wurde und die occidentalische 
Kultur die orientalische hier fast völlig aus dem Felde ge- 
schlagen hat. 

Venedig und Konstantinopel sind somit die geistigen Pole, 
um die sich die griechische Welt des Mittelalters und der Neuzeit 
dreht. Eter alte Gegensatz zwischen Orient und Occident kul- 
miniert gleichsam in diesen zwei antipolaren Funkten: in dem 
konservativen, exklusiven, doktrinären Byzanz tmd in dem 
gegenwartsfreudigen, die Welt kraftvoll durchmessenden und in 
sich aufnehmenden Venedig. Jenes vertrat das Prinzip des Still- 
standes und des Rückschrittes, dieses der Bewegung und des 
Fortschrittes; jenes stemmte sich selbstgefällig gegen die Zeit, 
dieses erfalste genial und tatenlustig den Augenblick; jenem ge- 
hörte die Vergangenheit, diesem die Zukunft; jenes versank in 
Asien, dieses ward eine Macht in Europa ^s). 

Was nun dieses mächtige Venedig in der Osthälfte des grie- 
chischen Gebietes, z. B. auf Kreta, nicht vermocht hatte, nämlich 
das Griechentum Europa geistig zu assimilieren, das mufste 
um so sicherer auf den ganz in seiner Machtsphäre gelegenen 
Ionischen Inseln gelingen. Diese wurden so allmählich auch 
geistig von dem übrigen Griechenland los- und in die west- 
europäische Kultursphäre hineingerissen, so dafs sie ein eigenes 
friedlicheres Leben führten und eine gewisse Höhe des Wohl- 
standes und der Bildung erreichten. Damit aber zerfiel die griechi- 
sche Welt in eine gröfsere, aber geistig trägere östliche, und in 
eine kleinere, aber regsamere und überlegene westliche Hälfte. 
Dieser Kulturdualismus äufsert sich noch heute u. a. darin, dafs die 
heptanesischen Griechen sich nicht wie die des Festlandes und der 

13* 



— 196 — 

östlichen Inseln als Romäer bezeichnen. Er ist auch die Ursache, 
weshalb man das heutige Griechenland nicht schlechthin als 
einen Teil des Orients betrachten kann; denn gerade von diesen 
mit italienischer Kultur und Tradition getränkten Inseln ging 
und geht noch jetzt, wenigstens indirekt, eine geistige 
Bewegung aus, die berufen ist, Litteratur und Sprache aus den 
Fesseln des byzantinischen Orients zu befreien und Griechenland 
die seit zwei Jahrtausenden verloren gegangene Kultureinheit 
auf volkstümlicher Grundlage wiederzugeben. Dieser durch die 
Emanzipierung des griechischen Westens hervorgerufene Dualis- 
mus erscheint also dem geschichtlichen Blick als ein notwendiges 
Mittel zur Überwindung jenes älteren, die ganze nachchristliche 
Entwicklung des Griechentums durchziehenden Dualismus, der 
eine Entfremdung von dem eigenen Volkstum bedeutete. 

Hatte sich uns die im vorigen Kapitel skizzierte Richtung 
als ein, wenn, auch in modernem Gewände auftretender letzter 
Ausläufer byzantinischer Welt- und Kunstauffassung dargestellt, 
so bildet den Inhalt dieses Kapitels das Aufkeimen, Erstarken 
und Umsichgreifen einer in Wesen und Erscheinung modernen 
tmd doch volkstümlichen Kunstpoesie. Dieser Kulturprozefs voll- 
zieht sich in einer dem ersteren zeitlich wie räumlich durch- 
aus parallel verlaufenden Entwicklung: beide gehen fast gleich- 
zeitig, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, von diametral entgegen- 
gesetzten Punkten, von dem byzantinischen Konstantinopel und 
dem venetianischen Korfu, aus, laufen etwa 50 Jahre lang isoliert 
nebeneinander her, nähern sich dann und platzen in den siebziger 
Jahren in Athen aufeinander, wo sie noch heute miteinander im 
Kampfe liegen. 

Danach gliedert sich auch diese volkstümliche Bewegung in 
zwei Phasen : die erste spielt sich ab in ihrem Ursprungsgebiete 
selbst, auf den Ionischen Inseln, deren jede einen oder mehrere 
mafsgebende Vertreter der Litteratur entsendet, die zweite zeigt 
d2is allmähliche Vordringen der Bewegung in die Hauptstadt 
des Landes und ihre Schicksale daselbst. 

Beide Phasen folgen aber nicht unmittelbar aufeinander, 
sondern zwischen sie schiebt sich die im vorigen Kapitel be« 
trachtete akademische Poesie von Athen, die von den dreifsiger 
bis in die siebziger Jahre dort die Herrschaft führt. Erst in 



— 197 — 

den achtziger Jahren erreicht die westliche Flutwelle die 
Hauptstadt. 

Wie femer in der Einleitung bereits kurz angedeutet wurde, 
tritt dem Führer der ersteren Bewegung, dem Phanarioten 
Rangab^, ein entsprechender der letzteren, der Zantiote D i o n y s i os 
Solo mos, gegenüber. Alle bedeutenderen Talente des Landes 
knüpfen an ihn an, er bildet einen neuen Ausgangspunkt in der 
modernen griechischen Litteratur, er weist ihr den Weg der 
selbständigen organischen Entwicklung. In ihm tritt uns die 
erste wirkliche Dichtergestalt des neuen Griechenland entgegen, 
und ihm müssen wir daher eine eingehendere Betrachtung 
widmen, um so mehr, als er z. B. in der Beurteilimg seines 
Antipoden Rangab^ in einem völlig falschen Lichte erscheint ^^). 

Es ist äulserst anziehend, zu beobachten, wie in dem Stamm- 
baum dieses Erneuerers der griechischen Kunstpoesie die Ele- 
mente seiner Entwicklung enthalten sind: Solomos stammt aus 
einer italienischen Adelsfamilie Unteritaliens, die, schon im 
8. Jahrhundert nach Venedig verpflanzt, im IL Jahrhundert 
aus ihr einen Dogen hervorgehen sah, der zugleich den alten 
Familiennamen Barbolano mit dem neuen Salamo (später 
Solomos) vertauschte. Ein Zweig dieser Familie wanderte im 
14. Jahrhimdert nach Kreta aus, der ersten Blütestätte der 
griechischen Litteratur im 16. Jahrhundert, von wo sie nach der 
türkischen Eroberung der Insel in den Peloponnes flüchtete. Am 
Anfang des 18. Jahrhunderts wurde ein Solomos nach Zante ge- 
schickt, um die Insel gegen die Türken zu schützen. Dort wurde 
1798 unser Dichter geboren. 

Die Bedingungen, die sich aus diesen weiten Wanderungen 
seiner Vorfahren für den Dichter ergaben, waren die denkbar 
günstigsten: er vereinigt in sich griechisches imd italienisches 
Blut; in Venedig und Kreta hat sein Geschlecht am längsten 
gesessen, jedenfalls ebenso lange in Italien wie in Griechenland. 
So mufste er sich ebenso als Italiener wie als Grieche fühlen 
und war wie wenige prädestiniert, die edlen Eigenschaften beider 
Völker in sich zur Entfaltung zu bringen: er war ein Italiener 
in Bildung und Geschmack, ein Grieche in der Gesinmmg. Und 
wie er selbst von Geburt ein auf griechisches Wesen aufge- 
pfropftes Reis war, so suchte er sein höchstes Ideal darin, den 
urwüchsigen, aber ungefügen und ungeschlachten Rohstoff der 



— 198 — 

griechischen Poesie durch italienisches Formgefühl zn veredela 
und dem so geschaffenen Kunstwerk den Odem seines hohen 
sittlichen und patriotischen Gefühles einzublasen. 

Dies lälst sich zunächst in seinem Lebensgang, dann in 
seinem Lebenswerk deutlich erkennen: in beiden offenbart sich 
sein eindringendes Studium der grofsen italienischen Dichter, 
der neugriechischen Volkspoesie und der alten und neuen 
Philosophie. 

SoJomos' Verhältnis zur italienischen Litteratur war 
ein durchaus innerliches , derart, dals er selbst lange zweifelte, 
ob er italienisch oder griechisch dichten solle. Wäre er nicht 
von dem griechischen Historiker Sp, Trikupis durch dessen 
Unterweisung im Neugriechischen auf die Schönheiten dieser 
Sprache hingewiesen worden, vielleicht wäre Solomos denselben 
Weg gegangen wie sein Landsmann ügo Foscolo, und er würde 
heute nicht eine der wenigen wirklichen Zierden des griechi- 
schen, sondern eine der vielen des italienischen Parnasses sein. 
Hat er doch die entscheidenden Jahre der Entwicklung, vom 
zehnten bis zum zwanzigsten Jahre, in Italien zugebracht, wo er 
in Venedig, Cremona und Padua die Rechte studierte und mit 
den führenden Dichtem, mit Monti, Manzoni, Maffei, Tommaseo, 
Costa u. a., engen persönlichen Verkehr pflegte. Von ihnen 
allen und durch sie, besonders durch Monti, hat er von den 
Grofsen ihres Volkes, von Dante und Tasso, die fruchtbarsten 
Anregungen empfangen , ohne dafs er je in Nachahmung ver- 
fallen wäre, es sei denn, dafs er es bewufst tat*). »Er nim mt 
nicht nur nicht,« sagt Tommaseo, »von den grofsen Autoren die 
Schwächen, beobachtet sie nicht nur scharf, sondern bildet sie 
mit VFunderbarer Genialität nach . . . .a So hat er die Manier 
Montis mit deutlicher Hervorkehrung ihrer Fehler geschickt und 
bewufst nachgebildet. Eben weil er ein Schüler der Italiener 
war, ihr Wesen in sich aufgenommen und sich assimiliert hatte, 
konnte er gar nicht so sklavisch verfahren wie etwa Zambelios, 
Rizos, Sutzos, die nur entweder Alfieri, Metastasio oder Goldoni 

■) Ein griechischer Forscher, de Viasis, hat versucht, in einer 
Zeitschrift (•'ibwtx^ 'K■,m^^i^, 1899, S. 268 ff.) im einzelnen Überein- 
stimmungen zwischen Versen von Solomos und solchen italienischer 
Dichter nachzuweisen , doch ist fast kein einziger dieser Nachweise 
tiberzeugend. 



— 199 — 

sich zu toten Mustern, nicht zu lebendigen Meistern erwählt 
hatten, denen der italienische Geist aber nicht aufging. Mochte 
Solomos auch viele seiner Dichtungen zuerst italienisch ent- 
worfen, mochte er selbst manche italienisch ausgeführt haben, so, 
kann das kein Tadel für ihn, höchstens für die Unzulänglichkeft 
der griechischen Sprache sein, die ihm nicht zum wenigsten ihre 
künstlerische Formung verdankt, wie die italienische Dante und 
Petrarca, Wichtiger, als dafs er in seinen Jugenddichtungen 
italienische Stanzen nachbildete, ist, dafs er die neugriechische 
Metrik an der italienischen erst reformiert hat, mit feinem Ge- 
fühl für die Ähnlichkeit ihrer Klangwirkungen, nicht wie Rangab6 
mit gewaltsamer Einzwängung der neuen in die antiken Vers- 
mafse. So diente Solomos das Fremde überall erst zur Ent- 
faltung, nicht zur Ertötung der eigenen Art; es war ihm ein 
Mittel zu einem höheren Zweck , nicht Selbstzweck , wie den 
Klassizisten. Es stand ihm stets der Takt der künstlerischen 
Empfindung zur Seite, und seine hohe, ernste Auffassung der 
Kunst sowie sein scharfer kritischer Blick bewahrte ihn vor 
allen dilettantischen Anwandlungen, wie wir sie bei den Phana- 
rioten beobachtet haben. Und das Wort, das er in einem italie- 
nischen Gedichte von Italien aussprach, als dem Lande, »wohin 
er als Barbar gelangt und der er nun nicht mehr sei«, das 
gilt auch von der Poesie seines Volkes nach ihm. 

Denn die Begründung einer nationalen Poesie auf Grund 
der volkstümlichen, durch geschickte Anwendung der in Italien 
erlangten theoretischen Einsicht auf sie betrachtete er als seine 
Lebensaufgabe. Als er daher 1818 nach seiner Heimatinsel zurück- 
gekehrt war, machte er sich an ein gründliches Studium der griechi- 
schen Volksdichtung. Von einem alten blinden Sänger liels 
er sich Volkslieder vorsingen, deren Schönheit ihm erst jetzt voll 
zum Bewufstsein kam, imd aus deren glänzenden zerstreut aus 
dem unkultivierten Geist des Volkes brechenden Strahlen er 
sich bemühte, das leuchtende Element zu schaffen, das seine 
poetischen Schöpfungen tragen sollte. Wie Herder beschlofs er, 
Volkslieder zu sammeln imd zu veröffentlichen. Er sah in ihnen, 
zumal in den Kleftenliedem , den unbezähmbaren Geist der 
antiken Freiheit und die lyrische Natur der Alten. An die 
Sprache der Volkslieder knüpft auch sein poetischer Stil an, und 
wie sehr er mit dem spröden Sprachstoff zu ringen hatte, be- 




zeugt ein kleines Gedicht dieser Zeit, in dem das Erscheinen 
Homers und seine Wirkung auf die tote Natur dargestellt wird. 

Zu diesen praktischen Studien in der italienischen Kunst- 
und der griechischen Volksdichtung trat dann, seine Einsicht in 
das Wesen der Kunst vertiefend, die Philosophie und die 
Ästhetik. Als Jüngling schon zeigte Solomos ein starkes speku- 
latives Bedürfnis. Als ihm Monti einmal zurief: »Du mufst nicht 
so viel denken, du mufst fühlen!« erwiderte er: iDer wahre 
Mensch ist der, welcher fühlt, was sein Verstand erfafst hat*. 
So beurteilte er auch die Poesie, wie Tasso, als Vernunft, die 
sich in ein Bild verwandelt. Poesie und Philosophie gehen bei 
ihm Hand in Hand. Seine besten Leistungen gehören der Ge- 
dankendichtung an. Wie den Materialismus und den Pessimis- 
mus, so verurteilte er auch den l'art pour l'art-Standpunkt: er 
verachtete den Vers, der nur klingt und nicht schafft, darin sich 
ganz zu Manzonis Auffassung bekennend, dafs die Poesie durch 
Trösten bessern soll. Aber sie mufs immer Poesie bleiben, und 
selbst >inmitten furchtbarer und trauriger Dinge (wie der Schil- 
derung des Wahnsinnes) wirkt nur ein ganz einfacher, kleiner 
Federstrich wie das Bild des kleinen grünen Strauches in den 
endlosen Sandwüsten Ah-ikas». Das Höchste ist für den Dichter 
immer die Kunst : >die Schwierigkeit, die der Schriftsteller fühlt, 
besteht nicht darin, Phantasie und Leidenschaft zu zeigen, 
sondern darin , diese beiden , mit Zeit und Mühe , dem Sinn der 
Kunst zu unterwerfen«. Mit besonderem Eifer studierte er in 
seiner späteren Zeit die kunstphilosophischen Schriften Schillers, 
die ihm seine Freunde ins Italienische übersetzten. Was ihn an 
diesem anzog, war gewifs die auch ihm eigene mystische An- 
schauung der Natur und ihre Syral>olisierung in der Menschen- 
seele, So heilst es in einem seiner schönsten Aussprüche: >Die 
Kunst betete schweigend die Natur an, und diese liefs sich, als 
Entgelt [für die entfernte Liebe, dazu herbei, nackt vor ihr zu 
tanzen. Ihre Gestalten prallten auf den Geist der Kunst, und 
dieser hat sie den Menschen ziun Geschenk gemacht*. Auch 
darin stimmte Solomos mit Schiller überein, dafs er lest daran 
glaubte, die Seele eines wahren Gedichtes müsse der Sieg der 
Vernunft über die Macht der Sinne sein. 

Die Verwirklichung dieser Kunstprinzipien liefern seine 
poetischen Werke. In ihnen bemerkt man — das Kennzeichen 



— 201 — 

eines wahren Dichters — eine innerlich notwendige, organische 
Entwicklung. Es heben sich deutlich drei Perioden voneinander 
ab, deren jede die Erfüllung der anderen ist und deren erste 
unter dem Zeichen der Natur steht, wie sie in der Volkspoesie 
verkörpert ist, deren letzte und höchste in einer von der Philo- 
sophie ausgehenden Gedankendichtung sich darstellt, während 
die mittlere Periode die beiden übrigen in sich vereinigt: die 
Inspiration geht auch hier, wie in der ersten, von der Natur 
aus , doch offenbart sich in dieser bereits eine bestimmte Idee. 
Der ersten Periode gehören sämtliche kleineren, griechischen 
und italienischen, Gedichte an, unter denen >Die beiden Brüder«, 
eine Verkörperung der unerbittlichen Macht des Todes, und »Die 
wahnsinnige Mutter«, eine tragische Verherrlichung der Mutter- 
liebe, hervorragen. In die zweite Periode fallen aufser einigen 
ausgeführten Werken, wie die Hymne an Lord Bjrron und an 
die Freiheit, welch letztere zur griechischen Nationalhymne ge- 
worden ist, besonders die nur zum Teil vollendete Rhapsodie 
des iLambros« und die nur entworfene des »Kreters«. 

Im »Lambros« wollte Solomos den gewaltigen, aber ver- 
geblichen Widerstand des Menschen gegen die Sittengesetze dar- 
stellen in der Gestalt eines Mannes, der ahnungslos seine eigene 
uneheliche Tochter entehrt, wie er einst ihre Mutter verführt 
hatte und dadurch sich imd die Seinen in den Tod treibt. Der 
Schwerpunkt liegt in der Szene, wo nach Enthüllung des Furcht- 
baren die Mutter in der Ostemacht betet, während Lambros, in 
die Kirche sich flüchtend, statt Bufse zu tun, sein Gewissen trotzig 
zu ersticken strebt. Es erwacht aber in Form einer Vision : die 
Geister seiner drei toten Söhne steigen als Rachegötter vor ihm 
auf, versperren ihm den Weg und geben ihm den Todeskufs. 
Die sechzehn Strophen dieser Schilderung gehören zu dem 
Besten, was die neugriechische Litteratur in der Konzeption wie 
in der Form hervorgebracht hat. Ob der Stoff freilich nicht 
besser zur dramatischen als zur epischen Behandlung geeignet 
war, bleibe dahingestellt. 

»Der Kreter«, von dem nur wenige Strophen erhalten 
sind und der sich in Form und Inhalt stark der Volkspoesie 
nähert, sollte im Gegensatz zu dieser tragischen eine echt 
romantische Dichtung werden, eine Verklärung der Tapferkeit, 



— 202 — 

der Vaterlandsliebe und der inbrünstigen Anbetung eines ge- 
liebten Weibes, letztere als Mittelpimkt. 

Von den kleineren vollendeten Gedichten dieser Periode 
seien nur hervorgehoben die ganz von transzendentem Empfinden 
erfüllten von »Der Vergifteten« und »An eine Nonne«, 
jenes mit dem ergreifenden Bilde der unschuldigen, durch böse 
Verleumdungen in den Tod getriebenen Jungfrau, wie sie am 
jüngsten Tage sich vor Gott rechtfertigt; dieses als ein an 
Goethes »Faust« gemahnender Chorgesang der Engel, worin 
Schöpfungs- und Auferstehungsgedanke, Welt, Tod und Ewig- 
keit kimstvoU in Beziehung treten. 

Die hier bereits sich ankündigende Gedankendichtimg, die 
Verkörperung der reinen Idee in einem vollkommenen Menschen, 
sollte sich in der dritten Periode erfüllen. Leider sind auch 
die Hauptwerke dieser Periode nur in skizzenhaften Ansätzen 
erhalten. Sein umfassendster Plan, den der Dichter wohl 
dreifsig Jahre mit sich herumtrug, der in drei Entwürfen vor- 
liegt, die das innere Wachsen des Stoffes aus einem lyrischen zu 
einem epischen imd daraus zu einer Vereinigimg beider, aus einem 
nationalen zu einem allgemein menschlichen zeigen, in der der 
ganze Mensch sich offenbaren sollte in seinen vielfachen Trieben, 
Gefühlen, Gesinnungen und Leidenschaften, in sinnlicher imd in 
Mutterliebe, in Liebe zum Leben und zur Natur, zugleich die 
Überlegenheit des Geistes über alle äufseren Widerwärtigkeiten, 
— und zwar in seiner verschiedenen Form bei Mann und 
Weib, — dieser Plan sollte in den »Freien Belagerten«, 
ursprünglich auch »Mesolongic benannt, Gestalt gewinnen. 
Bezeichnend ist auch, dafs er eine Frau darin den Sieg des 
stärksten Lebensgefühls über den mystischen Erkenntnisdrang 
erringen läfst: eine der Frauen in der belagerten Stadt bricht 
plötzlich in ein Gelächter aus, und als die übrigen Frauen ihre 
Verwundenmg darüber aussprechen imd nach dem Grunde ihrer 
unzeitigen Freude fragen,' erwidert sie: »In diesem Augenblick 
erschien mir im Geiste die Versuchung und gelobte mir, die end- 
losen Geheimnisse der Schöpfung zu enthüllen, wenn ich ein- 
willigte, diese Erde zu verlassen. Das tat die Versuchung, und 
da habe ich Rache an ihr genommen.« 

Man sieht, das alte Thema der Volkspoesie — Natur und 
Mensch — ringt auch in dieses Dichters Seele nach geläuterter 



— 203 — 

Gestaltung, und noch einmal wollte er es für sich behandeln in 
dem ebenfalls nur bruchstückweise erhaltenen >Porphyras«, 
einem grofsherzigen , empfänglichen und nachdenklichen Jüng- 
ling, dessen Seele, »un:iarmt von den Schönheiten der Schöpfung, 
sich leicht aus so vielen sanften Fesseln löst, um sich dem 
wilden Ungetüm, dem Tod, entgegenzustellen, das ihn unfehlbar 
vernichten wird«. In diesem Gedicht wäre das echt griechische 
Empfinden des Dichters mit elementarer Gewalt hervor- 
gebrochen, Volks- und Kimstdichtung hätten hier einen schönen 
Bimd geschlossen. 

Als Proben von Solomos' anschaulicher Naturmalerei in 
knappster Form seien zum Schlufs nur zwei kleine Epigramme 
angeführt. In dem einen malt er die Meeresstille: 

Tiefe Stille! Keine Welle rollt ans öde Ufer her; 
In des Festlands Armen schlummernd, traumversunken liegt das Meer. 

(Lübke.) . 

Das andere ist eine Apotheose der im Kampfe gegen die 
Türken ausgerotteten Bevölkerung der kleinen Insel Psara 
bei Chios: 

Auf Psaras finsterem Felsengestein, 
Da wandelt die Göttin des Ruhmes allein, 
An die Tapfren sie denkt, die dort fochten, 
Und ein Kranz ihre Locken umfliefst. 
Aus den spärlichen Gräsern geflochten. 
Das dem öden Gefild noch entspriefst. 

Solomos starb 1857 in Korfu, wo er seit 1828 lebte, wo 
aber, wie er selbst sagte, nicht sein Leben war. Seine Bedeu- 
timg für die griechische Litteratur beruht weniger in seinen 
Werken als in seinem Wirken. »Von den ersten Versuchen 
an,« so sagt sein bester Interpret, J. Polylas, »bis zu den letzten 
Bruchstücken in den »Freien Belagerten« hat Solomos als Indi- 
viduum alle Stufen der Entwicklung durchlaufen, die eine junge 
Litteratur zurücklegen mufs, um von der Blüte bis zur Reife zu 
gelangen« ®7). 

Die von Solomos ausgegangenen reichen Anregungen fanden 
zimächst nur in dem engeren Bereiche der Ionischen Inseln 
Widerhall, wenn sich auch hier keine eigentliche Schule um ihn 
bildete. Es war nur eine kleine Schar, die neben ihm und nach 




ihm in seinem Sinne dichteten, ohne freilich seinem hohen Fluge 
folgen zu können. Gemeinsam ist ihnen allein ihre italienische 
Bildung, von der der Ästhetiker Palamas treffend sagt, dafs die 
nationale Poesie ihr das Schönste zu verdanken habe. 

Von seinen Zeitgenossen stand ihm am nächsten und widmete 
ihm auch seine wenigen Gedichte der Kefallonier Julius Ty- 
paldos (1814 — 1883), ein durch die Volkspoesie geschultes, stark 
romantisch geartetes lyrisches Talent. Der Gegensatz von Leben 
und Tod, wie wir ihn in der Volkspoesie so oft imd innig ver- 
körpert fanden, bildet auch das Lieblingsthema seiner Dichtung. 
Der wehmütige Abschied von der Welt in dem »Sterbenden 
Alten«, das Zwiegespräch zwischen dem »Kinde und dem 
Tode, das offenbar von den mittelalterlichen Disputationen in- 
spiriert ist, die Syinbolislerung des jähen Wechsels von Leben 
und Tod in den »Beiden Blumen« (Rose und Lilie), wo es 
zum Schlufs ähnlich wie in der lErophile» heifst, dafs die Freude 
hinieden stets die Schwester des Unglücks ist, dann die Gegen- 
überstellung der Macht des Lebens und des Todes in den 
»Beiden Engelnr, einer Art christianisierter Darstellung der 
Allmacht des Todes in der Welt, alle diese tiefempfundenen 
Stücke sind nur der individuelle Ausdruck der Stimmung, die 
dem Griechen so vertraut ist und aus der die Charosiieder er- 
wachsen waren. Auch der patriotische Ton der Kleftenpoesie 
erklingt bei Typaldos in der »Verschwörung« und der >Ver- 
urteilung desKleftenr wohl zum erstenmal in der Kunst- 
poesie. 

Alle diese Stoffe aber, auch die historischen, werden bei 
Typaldos alles Stofflichen entkleidet; sein >Rigas« steigt wie ver- 
geistigt in der dünnen Luft seiner Dichtung empor; alle seine 
Gestalten rücken in eine mystische Mondscheinbeleuchtung , wie 
auch imystischf und sMond« seine Lieblingsworte sind. Er hat 
die rotbackige Volkspoesie mit einem bläulichen Schimmer der 
Romantik imiwoben; er zeichnet keine scharf umrissenen Figuren, 
sondern »nimmt nur den Duft und den Schaum der Dinge«. Er 
flieht aus der Aufsenwelt in die Tiefen des Gefühls und des Ge- 
dankens: das Gefühl der leidenden Liebe und der sehnsüchtige 
Gedanke an die noch ungeborene, gestaltlose, ideale Liebe zu 
einem erträimiten Weibe. Zu einer fast transzendenten Stimmung 
erscheint dieser Gedanke in dem »Geschöpf der Phan- 



— 205 — 

tasie« verklärt, noch vergeistigter iind mystischer, wie eine 
himmlische Liebe neben der irdischen, in dem »Wunsch«: das 
schöne Mädchen weist die Werbung des Königssohnes zurück, 
wenn er sie nicht dahin führe, »wo niemals Ost und West er- 
strahlte, wo unerkannte Bäume imd luftige Blumen stehen, wo 
mühelos imzählige Englein fliegen und das unbedeckte Himmels- 
ge wölbe ihren Flug vernimmt c. Palamas vergleicht dieses Ge- 
dicht mit dem »betauten Rosenblatt«, auf das der Lenz »ein 
geheimes Paradieseslied« geschrieben, •— ebenfalls ein Bild des 
Dichters. In dieser ätherischen Stimmung liegt übrigens nichts 
Gemachtes und Gekünsteltes; es ist die echte, wenn auch auf die 
Spitze getriebene griechische Sensibilität. Und wir werden imter 
den griechischen Lyrikern noch mehr als einen Lenau^'*) finden. 
Wie sehr der Grieche sich in Tj^aldos' Liedern wiederfindet, be- 
weist die Volkstümlichkeit vieler von ihnen. 

Etwas weiter ab steht G. Tertzetis, schon darum, weil er 
einer der wenigen Dichter dieser Gruppe ist, die in das befreite 
Griechenland übersiedelten; er hat sich von seinem Heimatboden 
losgelöst, und das zeigt auch seine Poesie. Das Patriotische und 
Historische überwiegt bei ihm die subjektive Stimmung. Seine 
Gedichte sind ganz auf den Ton der Kleftenlieder gestimmt. 
Auch ist er in die damalige akademische Poesie von Athen 
hineingeraten, die er aber durch Übertragung antiker Stoffe auf 
den Stil der modernen Volkspoesie zu beleben imd zu verjüngen 
wufste; so in dem grölseren Gedicht von der »Hochzeit 
Alexanders des Grolsen«, wo besonders das Hochzeitslied 
manche volkspoetischen Anklänge enthält, z. B. in der Anrede 
des Eros, die auch in »Korinna imd Pindar« wiederkehrt. In 
seinen kleineren Gedichten wiegt ein elegischer Ton vor, wie 
auch die Schönheiten der genannten grölseren durchaus 
lyrisch sind. 

Eine eigenartige Stellung nimmt der Korfiote Andreas 
Kalvos ein. Seine Dichtimgen, meist patriotische Oden, in einem 
stark antikisierenden Ton gehalten, sind zwar weniger durch 
ihren Inhalt als durch ihre eigentümliche Sprach- und Versform 
bemerkenswert, erstere eine durchaus individuelle Mischung von 
Alt- und Neugriechisch darstellend imd Zeugnis ablegend von 
dem exzentrischen Wesen des Dichters selbst; letztere eine in 
imermüdlicher Eintönigkeit wiederkehrende Form des antiken 



Verses. Durch diese Manie, sowie durch die zu grolse Länge 
seiner Dichtungen hat er sich um seine ganze Wirkung gebracht, 

trotz seiner anschaulichen Bilder und seines kraftvollen Gefühls. 
Das Beste z. B. in seiner langen Ode auf Psara, in der die Er- 
hebung dieser Insel geschildert wird, ist der dem Epigramm des 
Solomos nicht unähnliche Schlufs: »Auf der grofaen Ruine bringt, 
hoch aufgerichtet, die Freiheit zwei Kränze dar: einen von 
irdischen Blättern, den anderen von Stemen,i Spuren der Volks- 
poesie findet man bei diesem fem von der Heimat lebenden 
Dichter nicht. 

Direkt von Solomos und Typaldos, zum Teil auch von 
Tertzetis abhängig ist der noch lebende Korfiote G. Markoras 
(geb. 1826), An Solomos erinnert er in seinem Hauptwerk, dem 
^Schwur«, einem episch-ljTischen Gedicht, das die Zerstörung 
eines Klosters auf Kreta bei dem Aufstande im Jahre 1866 zum 
Hintergrunde hat und das ein griechischer Kritiker als eine Ver- 
schmelzung des >Kreters" und der »Freien Belagerten« von 
Solomos bezeichnet. Doch fehlt ihm der schwere Gedankeninhalt, 
der diese erfüllen sollte. Wahrscheinlich hat sich der Dichter 
auch an das bekannte, bei sämtlichen Balkanvölkem verbreitete, 
unserer sLenore* entsprechende Volkslied vom toten Bruder an- 
gelehnt "^ '); an dieses erinnert auch der Name der Heldin Eudokia, 
deren Geliebter Manthos im Kampfe gefallen ist, ihr gemäfs 
seinem Schwur im Gebete erscheint , seine letzten Augenblicke 
ihr erzählt und sie auffordert, sich mit ihm emporzuschwingen 
ins Paradies, worauf er ihre Seele als Blume in sein Haar steckt 
und davonschwebt. Etwas Ätherisches wie in dem Schluls zieht 
sich auch durch dieses Gedicht; es ist reich an zarten Natur- 
schilderungen und Seelen maiereien, rechtfertigt aber durch seine 
Handlung nicht den grofsen Umfang, wie es überhaupt als 
Ganzes zerfällt. Durch Tertzetzis antikisierende lyrisch -epische 
Dichtungen ist Markoras zur Behandlung eines ähnlichen Stoffes, 
des »Arion«, angeregt worden, der in vier Teilen die bekannte 
Sage behandelt, mit Verwertung des volkstümlichen Motives von 
Eros und Charos, 

In seinen lyrischen Gedichten läfct Markoras mehr den 
Einfluls von Typaldos als von Solomos erkennen. Er hat nicht 
den divinatorischen, weitspähenden Blick, die erhabene Phantasie 
des letzteren, wohl aber die weiche, zarte Empfindung des 



— 207 — 

ersteren. Auch in seinen Liedern ist, wie er selbst empfindet, 
»nichts materiell, alles geistig und auseriesen, luftig, musikalisch«. 
Auch in ihnen herrscht eine gewisse Dämmerstimmimg vor. 
Am glücklichsten ist der Dichter, wo er weniger hohe Gedanken 
als inniges, still beschauliches, oft grüblerisches Sichversenken 
in Stimnmiungen der Natur oder des Menschen darstellt. In der 
»Klage einer Toten« malt er das sehnsüchtige Zurückverlangen 
der im Grabe Liegenden nach den Schönheiten der Natur ulid 
ihren Offenbanmgen. In dem »Sterbenden Sulioten« versetzt 
er sich in die Seele des fem von der Heimat sterbenden Helden, 
dem der Kummer darüber, dafs er sie nicht mehr schauen kann, 
die Worte entpreist: »O Christus! Mit was für Leid ich nun 
zum Hades gehe!« Die echt griechische Melancholie verleugnet 
sich auch bei diesem Dichter nicht; seine schönsten Lieder sind 
im Angesicht des Todes entstanden. Immerhin zeigt eine ge- 
wisse Einförmigkeit besonders in seiner letzten Sammlung, dafs 
die Ionischen Inseln nicht mehr der Brennpimkt eines geistigen 
Lebens sind, wie zu Solomos* Zeiten ^^). 

Das gilt auch von dem jüngsten Ausläufer dieser Rich- 
tung, von dem Zantioten St. Martzokis, der seine Gedichte 
»Griechenland und Italien« gewidmet hat. Er gehört zu den 
wenigen lebenden griechischen Lyrikern , die mit Vorliebe 
das Sonett pflegen und noch das Andenken Dantes und Leopardis 
wach erhalten. Seine Gedankendichtung macht oft den Eindruck 
des Gesuchten; auch vermilst man zuweilen die Einheitlichkeit 
der Gedanken; der Dichter fühlt sich als Monotheist und als 
Pantheist, aber es scheint ihm eine einheitliche Weltanschauung 
zu fehlen, wie seine drei innerlich nicht übereinstimmenden 
Sonette »An Christus« zeigen. Auch Homer wird in drei Ge- 
dichten besimgen, die aber keinen befriedigenden, weil zu kon- 
ventionellen Eindruck machen, und von denen zwei sich nur als 
Varianten erweisen. Der Dichter hat offenbar kein recht inneres 
Verhältnis zu den von ihm verherrlichten Gestalten. Glücklicher 
als mit seinen Griffen in die Geschichte erscheint er mit denen 
in die lebendige Natur, der er zuweilen phantasievolle und 
originelle Bilder abzugewinnen weifs, wie in der »Morgen- 
dämmerung«, wo die nächtlich umherirrende Hekate den Zorn 
ihres Bruders Phöbus erregt, der feuerrot hervortaucht, um 
seiner Schwester Schande zu verbergen. Auch einzelne Land- 



— 208 — 




Schaftsbilder sind ihm geglückt, wie die der Jahreszeiten. Als 
Ganzes betrachtet, fehlt es jedoch dem Werke dieses Dichters 
an innerer Harmonie und an dem lebendigen Nachwirken der 
grofsen Solomos'schen Traditionen. 

Dafs die Ionischen Inseln, aulser etwa Korfu, auch zu dessen 
Zeit keinen modernen Kulturboden bildeten , dafs vielmehr der 
neue, vom Westen her eindringende Geist im Schofse der 
patriarchalisch dahinlebenden Bevölkerung heftigen Widerstand 
fand, dafür hat auch die Dialektlitteratur einige kulturgeschicht- 
lich beachtenswerte Zeugnisse aufbewahrt. Zunächst in zwei 
dramatischen Sittenbildern von der Insel Zante: einer Satire 
iChasis« (1795), worin der Verfasser Guzelis in Form einer 
Komödie das prahlsüchtige, aufgeblasene und selbstbetrügerische 
Maulheldentum des zantiotischen Spiefsbürgers geifselt, der, wenn 
es zum Handeln kommt, seine ganze moralische Erbärmlichkeit 
und Feigheit an den Tag legt. Das andere Sittendrama »Das 
Basilikum«: (1829) von M a t e s i s schildert den scharfen 
Gegensatz und den Kampf der alten patriarchalischen und der 
modernen Generation; jene ist verkörpert in dem ungebildeten, 
vorurteilsvollen und gewalttätigen Gräkovenetianer Ronkales, 
diese in seinem von modernen Ideen erfüllten, für Gerechtigkeit 
und Gleichheit schwärmenden Sohn Draganigo. Die Handlung 
ist unwesentlich und dient nur als Rahmen für die Darstellung 
der entgegengesetzten sozialen Ansichten bei den Alten und den 
Jungen, Die Tendenz liegt darin, dafs diesen der Sieg zufällt, 
indem der Alte durch List gezwungen wird, in die ihm ver- 
hafste Heirat seiner Tochter mit einem jungen Manne aus etwas 
weniger aristokratischem Blute einzuwilligen. 

Der Stoff hätte sich vielleicht besser für eine Erzählung ge- 
eignet, und in dieser Erkenntnis scheint der ebenfalls in Zante 
und unter ganz ähnlichen "Verhältnissen spielende, dieselbe 
Tendenz verfolgende Sittenroman »Margarita Stefa« von 
Greg. Xenopulos (1890) verfafst zu sein. Die geringe Hand- 
lung wird in der erzählenden Form immerhin erträglicher als in 
der dramatischen. An Matesis als Dramatiker hat erst neuer- 
dings der leider frühverstorbene Jannis Kambissis (1872— 
1902) angeknüpft mit seinen die moderne Athener Gesellschaft 
schildernden, in der Technik an Ibsen und Hauptmann ge- 



— 209 - 

schulten satirischen Dramen »Die Farce des Lebens«, »Miss 
Anna Couxley«, »Die Kurden«. 

Reichen Stoff zur lokalen Satire lieferten auch dem Dichter 
Andreas Laskaratos (1811 -1901) die sozialen Zustände seiner 
Heimatinsel Kefallonia. In den »Mysterien von Kefallonia« hat 
der Dichter die Geistlichkeit, in »Lixuri« (1836) das schöppen- 
städtische Verhalten der Bevölkerung bei einem Hafenbau, in 
dem »Erwtirger« (1839) allerlei Lächerlichkeiten der politischen 
Gesellschaft in mehr parodierendem als ernst satirischem Tone 
gegeifselt. Etwas weniger harmlos war dagegen seine religiöse 
Travestie »Jüngstes Gericht«, die dem Verfasser den Kirchen- 
bann zuzog. Mehr in das Gebiet der komischen Erzählung und 
aus der eigentlich lokalen Sphäre heraus fallen die Schnurre 
»Warum man die Taler Taler nennt« imd der in neugriechische 
Verhältnisse verpflanzte »Streit zwischen Thersites und Achilleus«. 
Alle diese Produkte sind zwar scharf und witzig, aber nichts 
weniger als poetisch. Ihr Wert liegt lediglich in der rückhalt- 
losen Offenherzigkeit, mit de% sie die Schäden einer stagnieren- 
den Gesellschaft der Lächerlichkeit preisgeben *9). 

Unter den Ionischen Inseln, die so in die Litteratur ein- 
getreten waren, vermilst man das freilich nur kleine Leukas 
(Santa Maura). Zwar hat dieses den nächst Solomos grölsten 
Dichter des Landes geboren, wie aber diese Insel geo- 
graphisch mehr zu dem gegenüberliegenden Festlande als zu 
dem Siebeninselreich gehört, ebenso hat die Dichtung von Aristo- 
teles Valaoritis (1824 — 1879) eine wesentlich andere Farbe als 
die der eben charakterisierten Dichter. Wie die Insel im Mittel- 
alter von Epirus aus besiedelt wurde, so stammt auch Valaoritis 
höchstwahrscheinlich aus einer epirotischen , von italienischer 
Mischung kaum berührten Familie, und so ist auch seine Poesie 
frei von italienischen Traditionen imd Anregimgen und voll von 
dem Geist, der die kraftvollen epirotischen Kleftenlieder beseelt. 
Sie verhält sich zu der Dichtung eines Solomos etwa wie die 
rauhe Berglandschaft von Akamanien und Epirus zu der heiteren 
Bläue und der durchsichtigen Luft der Ionischen Inseln. Das 
männliche Element mischt sich in ihr mit dem weiblichen, das 
tatkräftige mit dem gefühlvollen. 

Valaoritis steht femer, um in der Kunstpoesie zu bleiben, zu 
Solomos in einem ähnlichen Verhältnis wie Sutzos zu Rangab€: 

Dieterich, Gesch. d. byrant. u. neugrlech. Litteratur. 14 



— 210 — 

Solomos und Rangab^ sind, wenn auch in verschiedenem Sinne, 
die Aristokraten der neugriechischen Litteratur, Valaoritis und 
Sutzos ihre Demokraten. Und wie wir mit Sutzos in eine andere 
Sphäre der klassizistischen Poesie eintraten, so mit Valaoritis in 
eine andere der nationalen. 

Valaoritis ging zwar von Solomos imd seiner Schule aus. Seinem 
Gedächtnis weihte er eins seiner Gedichte, die in Solomos' Todes- 
jahre (1857) erschienen. Es waren gröfstenteils Lieder auf das 
Andenken Verstorbener, sei es von Helden des Befreiuungs- 
kampfes, der noch in seine erste Kindheit fiel, sei es von ge- 
liebten Freimden und Verwandten, wie die Totenode auf seine 
Tochter. Der Tod erregt ja die Phantasie des Griechen am 
mächtigsten, des geringsten wie des gröfsten; auch viele der 
besten Poesien von Solomos waren ja imter dem Eindruck des 
Todes entstanden; die Charoslieder imd Totenklagen des Volkes 
finden in ihnen eine gleichsam vergeistigte Fortsetzung. Aber gleich 
hier wird der erste Unterschied zwischen Solomos' und Valaoritis' 
Dichten klar : in der Totenode an dessen Tochter Maria herrscht 
nicht nur der Ton, sondern auch die Auf fassimg der Volkspoesie ; 
nur die kalten Schauer des Todes wehen darin ; kein lichter Strahl 
von oben fällt hinein, keine Jenseitsstinmiung wird wach. Statt 
Engelsstimmen und Ewigkeitsworte, wie bei Solomos, hören 
imd sehen wir hier die wilde Gestalt des Totengottes Charos, 
wie er mit einer Rose in der Hand davonreitet oder als ein 
Pfltiger mit seinen schwarzen Rindern die Erde furcht, deren 
Furchen Gräber sind. Solche starken Konzessionen hat Solomos- 
der Volkspoesie niemals gemacht. Gewifs ist das Bild, wie es 
Valaoritis hier gibt, nicht rein volkspoetisch: das allegorische 
Motiv der Rose ist in diesem Zusammenhang eine Erfindung des 
Dichters, aber auch diese ist durchaus im Sinne der Volkspoesie 
gedacht ; er bleibt immer in ihrem Kreise, er modifiziert und ver- 
edelt sie wohl, aber er baut gleichsam mit ihrem Material das 
Postament, auf dem er fest und unbeweglich steht. Wohl ragt 
auch er hoch in die Luft, aber er schwingt sich nicht jubelnd 
und sinnend in sie hinein, er behält immer festen Boden xmter 
seinen Ftifsen, den Boden der geliebten Heimat, des Vaterlandes. 
So bleibt er auch in dem Stoffkreise des Volksliedes, des epischen, 
des Kleftenliedes : er ist der Dichter des Befreiimgskampf es. 

Und das ist das zweite, was ihn von Solomos imterscheidet : 



— 211 — 

dieser benutzt die Stoffe der vaterländischen Geschichte, um eine 
Unterlage für den hohen Bau seines Geistes, seiner Phantasie zu 
gewinnen. In allen seinen Dichtungen sollte der nationale Funke 
glühen, aber zum Feuer wollte er ihn an sich selbst entfachen. 
Valaoritis dagegen nimmt die noch brennenden Scheite aus dem 
frischen Brande des Freiheitskampfes und baut daraus einen 
Opferaltar, auf dem er seine Dichtimg dem Vaterlande als Dank- 
opfer darbringt. Sie dient dazu, das Andenken an die grofsen 
Zeiten und ihre Taten wachzuhalten, indem er sie verherrlicht. 
Er unterwirft seine Poesie nicht dem Patriotismus, wie Sutzos, 
aber er vergeistigt imd verfeinert sie auch nicht so wie Solomos, 
er sucht durch sie das Nationalgefühl zu stützen und zu stärken. 
Daher steht in seinen gröfseren Dichtungen, in der »Phrosjme«, 
im >Athanasis Diakos«, im >Photinos«, das stoffliche Interesse 
im Vordergrund; man kann sie auffassen als poetische Illustra- 
tionen zur Geschichte des Freiheitskampfes. Aus dem ver- 
schiedenen Zweck erklärt sich auch der verschiedene Ton in 
seinen Werken. »Die Verse von Solomos, Typaldos, Markoras,« 
so sagt der schon wiederholt genannte Ästhetiker Palamas, 

1 erheben uns zum christlichen Paradiese oder flöfsen 

uns platonisches Heimweh ein nach überirdischen Welten, über- 
lassen uns den Küssen der Träumereien imd den Liebkosimgen der 
Träume, schlagen an die Sinne wie Klageweisen eines Barden, 
wie Flötenmelodien. Dagegen klingen die Verse von Valaoritis 
an unser Ohr wie eine volltönende Militärmusik, .in der die 

Trompeten tiberwiegen Diese Dichtimgen zeichnen sich 

nicht aus durch die Klarheit der Linien, sondern durch die Leb- 
haftigkeit der Farben Gemindert an Symmetrie imd Har- 
monie, ragen sie hervor durch Ausdruck imd Bewegimg.« Er- 
gänzend tritt dieser Charakteristik die eines anderen feinsinnigen 
griechischen Kritikers zur Seite, E. RoYdis, wenn er die Schilde- 
rungen von Valaoritis nicht mit antiken Skulpturen noch mit 
Werken der Malerei vergleicht, sondern mit einer »schönen 
Landschaft, die in den Wassern eines zwar durchsichtigen, aber 
nur selten unbeweglichen Sees erzittert«. 

Dieses unruhige Spiel einer bilderreichen, aber ausschweifen- 
den und mafslosen Phantasie mit ihrer Fülle sich drängender 
Bilder läfst den Dichter als einen echten Schüler der französi- 
schen Romantik und ihres Hauptes, V. Hugo, erscheinen, als den 

14* 



— 212 — 

er sich selbst einem Freunde bekannt hat mit den Worten: 
»Ohne es zu wollen, nahm ich von Hugo die Manie der Anti- 
thesen und die Begierde, meine Phantasie mit verhängtem Zügel 
laufen zu lassen, wohin sie will.«i Und das ist der dritte 
Punkt , in dem er sich von Solomos scheidet : während dieser 
durch das Studium der italienischen Klassiker und der Philo- 
sophie die dem Griechen eingeborene Romantik geläutert und 
abgeklärt hat, lenkt Valaoritis die neugriechische Litteratur 
wieder ganz in das Fahrwasser der Romantik hinein. Der Ein- 
fluls Hugos bleibt jetzt bis in die jüngste Zeit mafsgebend. Es 
ist bezeichnend, dafs kein modemer griechischer Dichter theo- 
retisch so stark die Romantik bekämpft hat und keiner ihr so 
sehr verfallen ist wie Valaoritis. Das zeigt am deutlichsten seine 
erste grötsere Dichtung »Phrosyne^, ein Lieblingsthema der 
griechischen Dichter. Er wollte damit ein heroisches Epos 
liefern, swährend er eigentlich nur ... ein poetisches Mosaik 
aus heroischen Szenen, byronischen Paroxysmen, mystischen 
Apotheosen und melodramatischen Liebesgesprächen gegeben 
hat*. Die schönsten Stellen sind auch in diesem Werk die rein 
lyrischen, wie die folgende Naturschilderung zu Anfang des 
zweiten Gesanges: 

Die Morgendämmrung schreitet l«is von Pindos' Höhn daher, 

Und ihrer Tritte jeglichen benetzt sie mit dem Tau, 

Es schlummert regungslos der See, und an des Ufers Rand 

Da hört man, wie ganz sanft und weich ein wenig Schaum sich rührt, 

Des Kindleins stillem Atmen gleich, wenn es im Schlafe liegt. 

Bisweilen huscht, vor Freuden toll, ein Lüftchen drüber hin, 

Und mit dem keuschen Flügelpaar streift es den See entlang 

Und treibt sein Spiel, läfst's wohl sieh sein und raubt ihm einen Kuls, 

Doch der, gar schüchtern, wie er ist, runzelt darob die Stirn, 

Wird mürrisch einen Augenblick und fort das Lüftchen flieht; 

Da hebt und hebt sich leis empor, so leuchtend weifs wie Schnee, 

Der Nebel, der darüber hin des Abends sich ausdehnt. 

Um seiner Schönheit tiefen Schein zu bergen, zu verhUll'n ''°). 

Mit Solomos und Valaoritis ist die Entwicklung der 
nationalen Lyrik im Grunde genommen abgeschlossen: jener 
stellt das innerliche, dieser das äufserliche nationale Ideal dar. 
Der weitere Entwicklungsgang besteht, ganz allgemein gesagt, 
in einem Kampf um diese beiden Ideale und der in ihnen ver- 
körperten Dichter, wobei es nicht wunderbar ist, dafs zunächst 



— 213 — 

der der grofsen Masse zugänglichere Valaoritis als der erklärte 
»Nationaldichter« die Oberhand gewinnt über den ein feineres 
künstlerisches Empfinden voraussetzenden Solomos. An den 
ersteren knüpft denn auch die Generation der sechziger und 
siebziger Jahre an, und erst in den achtziger und neunziger 
Jahren beginnt eine kleine Schar junger Dichter die Kunstideale 
von Solomos wieder zur Geltung zu bringen. Zugleich mit 
dieser inneren vollzieht sich eine wichtige äufserliche Ver- 
schiebung: Athen tritt allmählich wieder in den Mittelpunkt 
der Produktion und der poetischen Bewegung. Zu Anfang der 
achtziger Jahre beginnt die volkstümliche Poesie in den geistig 
regen Kreisen der Hauptstadt Wurzel zu fassen und der bis 
dahin herrschenden akademischen Dichtung den Boden abzu- 
graben, nachdem die beiden feindlichen Strömungen sich schon 
vorher berührt hatten, als erst Georgios Zalokostas, dann 
der temperamentvollere Achilles Paraschos es wagten, den 
Häuptern der akademischen Poeten den Fehdehandschuh hinzu- 
werfen. In beiden verkörpert sich der Kampf der volkstüm- 
lichen mit der akademischen Poesie. 

Zalokostas (1805 — 1858) hätte wohl das Zeug gehabt, ein 
Valaoritis zu werden, wenn er nicht, im Banne der akademischen 
Dichtung der vierziger und fünfziger Jahre stehend, seine Dich- 
tungen, um sie konkurrenzfähig zu machen, in einer dem 
nationalen Stoffe schnurstracks zuwiderlaufenden Sprache ver- 
fafst und sie dadurch zu einem frühen Tode verurteilt hätte. 
Der jähe Übergang von Italien, wo er seine Jugend zubrachte, 
nach Athen hat seiner Poesie nicht wohlgetan.' Von seinen 
gröfseren Dichtungen hat nur eine den Reiz des Volktümlichen 
auch in der Form bewahrt, die als Episode des Befreiungs- 
kampfes gedachte Liebesgeschichte zwischen »Photos und 
Phroso«, die ein schönes lyrisches Talent verrät. Doch wurde 
bezeichnenderweise gerade dieses Gedicht von dem akademischen 
Preisgericht mit seinem Papste Rangab^ an der Spitze seiner 
»vulgären« Sprache wegen verworfen. So ist dieser begabte 
Dichter einer von völliger Verkennung des Wesens der Poesie 
zeugenden Institution fast ganz zum Opfer gefallen, und nur 
einige wenige , aber stark duftende Blüten seiner gemütvollen 
Lyrik haben sich vor der versengenden Sonne akademischer 
Kritik in den Schatten der Volkspoesie geflüchtet, wo sie noch 



- 214 — 

heute blühen, wie das kleine, volkstümlich gewordene Gedicht 
von der Hirtin, die das Liebeswerben des zehnjährigen Buben 
mit den Worten abwehrt, dals er für Liebesleid noch zu jung sei. 

Etwas kräftiger hat sich der freilich dreifsig Jahre jüngere 
Ach. Paraschos (1833 — 1895) der verschiedenen auf ihn ein- 
stürmenden poesiefeindlichen Zeitstimmungen erwehrt. Statt den 
früh überwundenen akademischen Versuchungen drohte er aber 
den vm so gefährlicheren der Politik zu erliegen. Er hatte noch 
die volle Wirkung der Sutzos'schen Tendenzpoesie am eigenen 
Leibe erfahren, wurde in die dem Sturze König Ottos (1861) 
vorangehende revolutionäre Bewegung verwickelt, und geriet auch 
später wieder in das Fahrwasser der politischen Poesie, indem 
er jedes unbedeutende Ereignis mit endlosen Tiraden nach Art 
poetischer Kanunerreden begleitete. Dennoch hat er sich eine 
lange Zeit hindurch in anerkennenswerter Weise von den 
hemmenden Einflüssen seiner Jugend, vor allem von der durch die 
beiden Sutzos inaugurierten falschen Romantik frei zu machen ge- 
wufst und die griechische Lyrik lun einige echte und unvergäng- 
liche Blüten bereichert. Der wohltätige persönliche Umgang 
mit seinem älteren Freunde Valaoritis ist seinen besten Leistungen 
zu gute gekommen, sei es direkt durch dessen Vorbild, sei es 
indirekt durch die Wiederbelebung der Volkspoesie. Der epische 
Charakter fehlt freilich bei Paraschos völlig; das Andenken an 
die Heldenzeit der Erhebung war erloschen; statt Achilles- sah 
er nur Thersitesgestalten um sich. So wird er in seinen 
patriotischen Gedichten zum zornigen Straf prediger, wie in 
der flammenden »Ode an das Meer von Salamis«, das er erst 
mit einer gewaltigen Kirche vergleicht, dann mit einem Rosse, 
das seinen Reiter, einen neuen Themistokles, sucht: 

Schon sucht er seinen Reiter, der Hengst, von Ruhm bekränzt. 
Dem Meeresschaum als Mähne, als Auge Phosphor glänzt. 
Zur Bahn gib ihm die Welten, zum Ziel der Freiheit Zeichen, 
Den Nordwind ihm zum Sporn, dann wird das Dunkel weichen. 

Ist dieses Bild ganz der Volkspoesie abgelauscht, so finden 
wir den Dichter auf der Höhe seines Könnens, wo er auch die 
Stimmung des Volksliedes zum Ausdruck bringt, wie in der 
melancholischen Mahnung, die Jugend zu geniefsen: 



— 215 — 

Liebe Jugend, du willst nicht verweilen, 
Wie Rosenduft fliefst du im Wind, 
Wie ein Kufs, der flüchtige, enteilet. 
Wie die Hoffnung dem Herzen zerrinnt! 

Oder wie in der »Klage auf den Tod eines Mädchens« mit 
ihrer bitteren Gegenüberstellung der Leiden der Sterbenden und 
des Freudenlärmes der Strafse in dem Refrain: 

Und drauf sen hört Karnevalspauken man schlagen; 
Ach, so ist die Welt: hier Jubeln, dort Klagen! 

Zur vollen Harmonie ist indessen auch Paraschos' Dichten 
nicht gelangt: alle Schwächen seiner Zeit, das Schwanken zwischen 
fremden Vorbildern und heimatlicher Art, zwischen falschem 
Pathos und wahrer Empfindung, zwischen Tatenarmut und Wort- 
reichtum, zwischen Politik und Poesie, — alles das macht ihn 
zum echten Interpreten einer politischen und künstlerischen Über- 
gangszeit. Inmierhin ist es sein grofses Verdienst, der in Form 
und Inhalt nationalen Poesie auch in dem akademischen Athen 
zum Siege verholfen und dieses zum Zentrum einer neuen Litteratur- 
bewegung gemacht zu haben 9^). 

Es beginnt nun, seit dem Beginn der achtziger Jahre, jene 
Periode der neugriechischen Litteratur, die man als die des 
Sturms und Drangs bezeichnen könnte. Kostis Palamas, 
der schon als Ästhetiker wiederholt genannt wurde, und der 
einer der eifrigsten Vorkämpfer dieser Bewegung wurde, hat 
dieses »Morgendänmiem einer Seele«, wie er es nennt, selbst an- 
ziehend geschildert. Es vollzog sich zunächst in der Lyrik. Da war 
es der als scharfblickender und schonungsloser Kritiker bekannte 
Em. Roidis, der 1878 in einem litterarischen Streite mit dem 
in ästhetischen Dingen völlig rückständigen, aber darum einflufs- 
reichen Ang. Vlachos die Parole ausgab: »Villaras und Christo- 
pulos, Volkslieder und Solomos, Valaoritis und Paraschos und 
weiter nichts . . .«^t») Was diese radikale Forderung damals in 
Athen bedeutete, wie es mit ihrer Erfüllung aussah, das hat 
Palamas aus seinen persönlichen Erinnerungen nur allzu wahr 
beschrieben: lEs war die unseligste und leerste Zeit für die 
Muse. Solomos war ein blofser Name; er wurde weder gelesen 
noch verstanden; . . . Kalvos unerträglich. Jul. Typaldos ein 



— 216 — 

banausischer Verseschmied, unwürdig, gelesen zu werden. Mar- 
koras? — ,Wir kennen den Menschen nicht.* . . . Tertzetis ein 
jVulgarist'. . . . Nun, und Valaoritis? — Ein Sänger der 
Kletten. . . . Seine Sprache ist nichts für die veredelten, kulti- 
vierten und komplizierten Gefühle imd Gedanken der attischen 
Schule. . . , Und gleichwohl gab man zu, dafs er ein 
Dichter war, ohne recht zu wissen warum, aus Gewohnheit 
und Mode.« 

Und was hatte diese »attische Schule« dafür einzusetzen ? — 
»Fast alle sahen zu, wie sie, teils treuer, teils ungeschickter, ein 
wenig Paraschos, *) ein wenig Paparigopulos und ein wenig Vasi- 
liadis kopieren konnten. Die scholastische Sprache war Allein- 
herrscherin in Poesie und Prosa.« Palamas erzählt dann weiter, 
was für einen Eindruck auf ihn eine kleine Gedichtsammlimg 
eines gewissen Papadiamandopulos machte, der jetzt als Jean 
Morias ein bekannter französischer Lyriker geworden ist, wie ein 
Freund, ein Bewunderer von Vlachos, sich zugleich an einer 
französischen Übersetzung Goethescher Gedichte entzückte, während 
noch keiner von ihnen wufste, dafs sie zu dem Studium der Volks- 
liedersammlungen zurückkehren müfsten, um die entflohene Poesie 
wieder einzufangen, wie dann ein, zwei neue Zeitschriften auf- 
tauchten, die seine und des Freundes Erstlinge aufnahmen, in 
denen sie, ermutigt durch das Goethesche Wort, dafs es nichts 
gäbe, das ohne Poesie wäre, imd es nur beim Dichter liege, es zu 
finden, mit Feuereifer nach neuen Stoffgebieten für die Poesie 
suchten, wie sie sich immer mehr der Natur imd dem Leben 
zuwandten, und wie sie dann, von der Routine glücklich befreit, 
ihren Weg fanden. Und das alles geschah nicht etwa zur Zeit 
des Kampfes zwischen (Gottsched und den Schweizern, so sehr es 
auch daran erinnert, sondern vor 24 Jahren. 

Und von diesen mutigen Jünglingen stammten zwei wirk- 
lich aus einer Landschaft, die sich zu dem modernen Athen 
verhielt wie die Schweiz zum dem (Jottschedschen , rationali- 
listischen Leipzig: Drossinis imd Palamas (beide geboren 
1859), die Pfadpfinder und Wegweiser zur Natur, stanunen beide 



*) D. h. aus seiner pseudoromantischen, nicht aus seiner volks- 
tümlichen Periode! 



— 217 — 

aus dem romantischen Berglande Rumeliens, in dessen frischer 
Luft sie aufgewachsen waren, und die sie nun mit hinüber- 
nahmen in das — im doppelten Sinne — schwüle imd staubige 
Athen. 

G. Drossinis' zwei erste Gedichtsammlungen (»Spinne- 
weben«, 1880; »Stalaktiten«, 1881) zeigen noch eine starke Ab- 
hängigkeit von der französischen Lyrik, von Hugo, Copp^e und 
Prudhom und enthalten nicht viel Originelles. Dagegen hat er 
in den »Idyllen« (1885) einen glücklichen Griff in den reichen 
Sagenschatz des Volkes getan und dessen Gestalten, die Nereiden, 
Gorgonen und andere Phantasiewesen, in seine anspruchslosen, 
aber anmutigen und gefälligen Verse gezwungen. Auch sonst 
hat er den idyllischen Charakter der griechischen Volksnatur 
hier treu zum Ausdruck gebracht. Leider fehlt es seiner Lyrik 
an einer inneren folgerechten Entwicklung ; sie gleicht einem ver- 
heifsungsvoUen Frühling, auf den kein Sommer gefolgt ist. 
Nachdem Drossinis in Deutschland studiert hat (1887), hat er 
nichts mehr produziert, es sei denn hie und da einige Proben in 
Zeitschriften 9«), 

Während er aber ganz am Heimatboden haften geblieben 
ist, ja nur so weit Dichter war, als ihm dieser Nahrung bot, 
diente K. Palamas seine heimatliche Umgebung nur als Aus- 
gangspunkt für eine tiefere, symbolische Deutung der Dinge, 
Die Natur wird ihm zum Resonanzboden für seine Gedanken und 
Gefühle. Zwar in seiner ersten Sammlung, »Lieder meiner 
Heimat« (1886), wurzelt er noch ganz im heimischen Volkstum. 
Er zeichnet teils kleine idyllische Stinmiungsbilder, die häufig in 
ein Liebeslied ausklingen, wie in den »Seeliedem«, teils greift er 
in gröfseren Dichtungen, wie in dem »Mädchen von Lemnos«, 
»Der Grofsmutter Jugend« etc., in des Vaterlandes Heldenzeit 
oder schöpft, wie Drossinis, aus dem Schatze von Glaube und 
Brauch, den er zwar mit mehr Verinnerlichung als jener, wenn 
auch nicht immer mit der nötigen Knappheit der Form be- 
arbeitet. Am glücklichsten ist der Dichter da, wo er Stimmungen 
des Herzens und des Lebens zum Ausdruck bringen kann, 
also in der subjektiven, der Gefühlslyrik. Die unter jenem Titel 
vereinigten Lieder gehören zu. den besten und — frühesten; Form 
und Inhalt gehen hier ganz ineinander auf. Objektive Natur- 
bilder gelingen Palamas nur selten, wie in dem prächtigen »Dorf«. 



Dagegen macht sich in einigen Stücken dieser Sammlung schon 
deutlich die Gedankendichtung bemerkbar (iDie Olive*, »Vordem 
Gekreuzigten)*. Es ist bezeichnend, dafs eins der wenigen Ge- 
dichte der ersten Sammlung, die aus volkspoetischer Inspiration 
erwachsen sind, das Lied von der iHeliogennetet, dem Sonnen- 
kindCj den Dichter neuerdings zu einer seiner sjTnbolisch -philo- 
sophischen Schöpfungen begeistert hat. Diese Hinwendung zur 
Gedankendichtung hat sich offenbar unter dem Eintlufs von 
Solomos vollzogen , dessen Werk er in einem Gedicht darstellt 
als einen unentschieden gebliebenen Kampf zwischen der gött- 
lichen Idee und der ruhelosen Phantasie. Einem Solomosschen 
Verse hat er auch den bezeichnenden Titel zu seiner zweiten 
Sammlung, ^Den Augen meiner Seele* (1892), entlehnt. 
Trotz unverkennbarer formeller Fortschritte will uns jedoch diese 
symbolische Poesie nicht als ein innerer Fortschritt erscheinen: 
das Plastische wie das Koloristische verschwimmt zu sehr unter 
einem Schwall von wortreichen Reflexionen , auch da , wo 
ein konkretes Motiv zu Grande liegt, wie in den durch die 
Skulpturen des Kerameikos hervorgerufenen »Alten Göttern*. 
Fallt der Dichter hier auch nicht, wie zu befürchten wäre, dem 
Archäologen zum Opfer, so doch, wie auch in dem allegorischen 
»Hymnus an Athene«, dem philosophierenden Redner. Es ist 
zu bedauern, da(s auch Palamas dem Einflufs der neueren fran- 
zösischen Lyrik von Hugo bis zu den Parnassiens sich nicht hat 
entziehen können. Und wie verhängnisvoll ist gerade für die 
Griechen V, Hugos rhetorisches Pathos ! Dafs ein echter Dichter 
in Palamas steckt, hat er beim Tode eines geliebten Kindes be- 
wiesen, der ihm (1898) einen kleinen Zyklus ergreifender Grab- 
lieder aus dem verwundeten Herzen quellen liets. Die offenbar 
unbewufste Anlehnung an volkspoetische Auffassung und Motive 
gibt dem Dichter hoffentlich einen Fingerzeig für die zukünftige 
Richtung seiner Poesie. Sie bedarf in der Pariser Atmosphäre 
Athens dringend eines verjüngenden Bades, einer Einkehr bei 
der Natur. Palamas hat sich übrigens vermöge seiner starken 
Neigung zur Reflexion auch als ein äufserst feinsinniger Litte- 
ratm^kritiker und Ästhetiker erwiesen in einem Grade, dafs er 
vielleicht als solcher eine höhere Bedeutung gewinnen wird denn 
als Lyriker, wie ja einige seiner Urteile auch dieser Darstellung 
zu gute gekommen sind^"). 



— 219 — 

Die gesunde Wirkung der Natur hat sich an der ebenfalls meist 
als Gedankenlyrik auftretenden kräftigeren und farbenfrischeren 
Poesie des durch gründliche deutsche Bildung gegangenen 
»Faust«- und «Laokoon« -Übersetzers Ar. Provelengios (Privi- 
legius) bewährt, die ihren Ursprung in der Seeluft der Kykladen 
nicht verleugnet. Über sie habe ich mich an anderer Stelle aus- 
gesprochen 93)^ weshalb hier nur auf sie hingedeutet werden kann. 

Der im Hinblick auf ihre Vorbilder augenblicklich überhaupt 
stark fluktuierende Zustand der modernen griechischen Ljnrik 
zeigt sich auch an den jüngsten Talenten, die sich an Palamas, 
und zwar mehr an den Kritiker als an den Dichter, mehr in der 
Theorie als in der Praxis, angeschlossen haben oder doch von 
ihm ausgegangen sind. Es sind dies eine Reihe in Athen 
lebender, aber meistens nicht aus Athen stammender Litteraten, 
die sich unter Palamas' Führung ein Jahr lang um das junglitte- 
rarische Organ »Techne« (1898 — 1899) geschart hatten 93»), Über sie, 
deren Begabtester, Selbständigster und Jüngster L.Porphyras ist, 
wurde unter Beifügung von Übersetzungsproben ebenfalls in einem 
besonderen Aufsatz kurz berichtet 9^). Hier sei nur noch bemerkt, 
dafs, von anderen mitwirkenden Einflüssen abgesehen, alle ihr 
gemeinsames Ideal in Solomos verehren und damit, wenn sie 
ihm treu bleiben, der griechischen L3n:ik eine hoffnimgsvoUe Zu- 
kunft eröffnen. 

Es ist bezeichnend, dafs Drossinis und Palamas mit unter den 
ersten erscheinen, die einer volkstümlichen Erzählungskunst 
in Griechenland die Wege gewiesen haben. Historische Novellen 
und Romane hatten schon AI. Rangab^, Em. RoYdis, St. Xenos, 
D. Vikelas u.a. geliefert 94»). Sie behandeln aber teils eine ferne 
eigene, teils eine fremde Vergangenheit-, sie bringen uns nicht 
das Volk in seinem Denken und Empfinden, nicht die griechische 
Natur in ihrer Mannigfaltigkeit näher; kurz, sie haben keinen 
Erdgeruch, keine Lokalfarbe. Eine Ausnahme macht in älterer 
Zeit nur der die unfertigen sozialen Zustände in Stadt und Land 
schildernde Roman des Juristen Kalligas »Thanos Vlekas.« 
Dafs er so vereinzelt geblieben ist, hat wohl seinen Grund in der 
Armut der griechischen Gesellschaft an eigenem Leben und 
Streben, an der Inhaltlosigkeit der höheren, der geistigen Ge- 
bundenheit der niederen Stände. Innere Konflikte gab es hier 
nicht, der Einzelne mufste der Tradition folgen, und nur wo es, 



wie in neuerer Zeit, mit dem stärkeren Eindringen europäischer 
Auffassung in das patriarchalische Treiben, möglich wurde, dafs 
zwischen neuer und alter Anschauung ein Zusammenstofs erfolgte, 
der die angstlich gehütete Heiligkeit der Familienbande ver- 
letzte, nur da fand der künstlerische Darstellungstrieb einige 
Gelegenheit zur Betätigung wie in dem schon genannten, die 
kleinbürgerlichen Kreise von Zante schildernden Sittenroman 
»Margarita Stefa« von G. Xenopulos. 

Sind es also in erster Linie soziale Gründe, die das Auf- 
kommen einer modernen Roman= und Novellenlitteratur in unserem 
Sinne verhindert haben, so hat es andrerseits sprach! iche Ur- 
sachen, dafs es erst so spät wenigstens zu einer das bunte innere und 
äufsere Leben des griechischen Land- und Seevolkes darstellenden 
Litteratur gekommen ist. Es ist wieder die auf einer ungesunden 
Abneigung gegen alles Volkstümliche beruhende Gleichgültigkeit 
gegen die Schaffung einer allgemein verständlichen, auch künstle- 
rischen Zwecken dienenden Prosa, die hier im Wege stand. 
Wollte man das Volk und das Land, seine Sitten und seine 
Tracht schildern, so mufste man natürlich auch zu seiner Sprache 
Zuflucht nehmen, und davor fürchtete man sich, weil dabei so 
mancherlei Italienisch und Türkisch, auch mancher finstere Aber- 
glaube und mancher Rest von Atavismus an den Tag ge- 
kommen w.lre. Das wäre natürlich den herrschenden Puristen 
und Chauvinisten ein Dom in:i Auge gewesen, und so sah man 
es lieber, wenn das Lesebedürfnis des Publikums durch fran- 
zösische Schundromane gedeckt wurde, wenn sie nur in ein 
halbwegs anständiges griechisches Gewand sich hüllten. Die 
Sittlichkeit durfte man getrost verletzen, wenn nur der heilige 
Sprachkanon nicht angetastet wurde. 

Da tauchten nun einige Querköpfe auf, die erkannten, welch 
ein poetischer Schatz auch in dem alltäglichen Leben des Volkes 
schlummerte, und die den Mut hatten, dem Volke zu geben, was 
des Volkes war. Drossinis hat wiederum das Verdienst, seiner 
Litteratur zuerst volkstümliche, freilich stark romantisch- 
idyllisch gefärbte, noch nicht realistisch-lebenswahre Erzählungen 
geschenkt zu haben in seiner t Amaryllis« ^^), mehr noch in seinem 
»Liebeskraut«. 

Diese waren aber nur halb volkstümlich, weil noch in einer 
konventionellen Sprache geschrieben. Es war noch die Zeit, wo 



— 221 — 

man an den sprachlichen Schranken noch nicht zu rütteln, die 
Volkssprache selbst auf ihrem eigensten Gebiete nicht in ihre 
Rechte einzusetzen wagte. Vielleicht wäre das noch heute nicht 
geschehen, wenn nicht im Jahre 1888 ein in Paris lebender Grieche 
das Signal zum Sturm gegen die leblose, aus altgriechischen, 
byzantinischen und neugriechischen Elementen sinnlos zusammen- 
gesetzte Zeitungs- und Büchersprache gegeben hätte durch ein 
in unverfälschter, sogar etwas lokal gefärbter Volkssprache ver- 
fafstes Buch, eine mit populären sprachwissenschaftlichen Be- 
lehrungen durchsetzte Reisebeschreibung des Philologen Jean 
Psichari(s). Mit diesem geistreich geschriebenen Buche, das den 
Griechen in humoristisch-satirischer Weise die Verkehrtheit ihrer 
Auffassung von der Sprache klarmachen sollte, war die leidige 
Sprachfrage abermals, wie vor bald hundert Jahren, auf die 
Tagesordnung gesetzt. Hatte jener erste Ruck wenigstens die still- 
schweigende Anerkennung der Volkssprache in der Ijnischen Poesie 
zur Folge gehabt, so sollte mit diesem zweiten ihr Eindringen 
in die belletristische Prosa erreicht werden, und es wird noch 
eines dritten, starken Ruckes bedürfen, um ihr auch die Hoch- 
burg der scholastischen Sprache, die Wissenschaft, auszuliefern. 
Erst dann wird die Nationalisierung der neugriechischen Sprache 
vollständig sein. 

Psicharis Buch hat nun trotz des Sturms der Entrüstung, 
den es in der breiten Masse der »gebildeten« Griechen entfesselte, 
befreiend und offenbarend gewirkt. Der beste Beweis dafür ist, 
dafs es nun plötzlich, wie der erste Herbstregen nach der langen 
Sommerdürre des Südens einen Flor von Blüten, eine bunte 
Schar von unbefangenen, lustig fabulierenden und herzhaft die 
blühende Gegenwart erfassenden Volkserzählem hervorlockte, 
die das Volk bei ihren Leiden und Freuden belauschten und 
in liebevollen Schilderungen den blasierten Litteraten in Athen 
zeigten, was für einen Schatz sie so lange mit Fülsen getreten 
hatten. Denn diese volkstümlichen Schriftsteller waren ja alle selbst 
Kinder aus dem Volke, aus der Provinz, und ein jeder schilderte 
das Leben und die Landschaft seiner Heimat: Eftaliotis, Papa- 
diamandis, Moraitidis und Axiotis das ländliche Kleinleben der 
Kykladen, Drossinis, Palamas, Hatzopulos und Epachtitis Land 
und Leute Mittelgriechenlands, Christovassilis und Kristallis die 
Welt der epirotischen Hirten, Karkawitzas die Bauern und 



— 222 — 

Bäuerinnen des Peloponnes. Es ist also eine durchaus 
provinzielle Erzählungslitteratur, die Bauemnovelle, die jetzt 
aufblüht 5 sie zeichnet provinzielle Menschen und Dinge, teils 
noch von einem leichten Schimmer von Romantik umflossen, wie 
Björnsons Dorfgeschichten, teils in dem vollen Realismus des 
Südens, wie die italienischen Bauemerzählungen eines Verga, 
Di Giacomo und Fucini. Die meisten sind freilich mehr Schil- 
derer als Erzähler, wie Eftaliotis, Hatzopulos, Christo vassilis, 
Kristallis; sie geben gleichsam Momentbilder, Episoden, 
Skizzen; sie haften am Äufseren , Stofflichen. Das psycho- 
logische Interesse tritt bei Papadiamandis und Epachtitis, be- 
sonders bei Palamas stärker hervor; dieser hat in seinem »Tod 
eines Palikaren« ein lebendiges, farbenreiches Bild von dem 
Charakter und dem Schicksal des untergehenden griechischen 
Bauemhelden poetisch und doch greifbar verkörpert und darin 
den romantischen Erzählungen seines Landsmannes Drossinis die 
erste realistische Novelle der modernen griechischen Litteratur 
an die Seite gestellt 9^). 

Den Ansatz zu einer das gesamte Volkstum umfassenden 
nationalen Erzählungskunst hat Andreas Karkawitzas ge- 
macht; er hat sich nicht nur von der romantischen und patrioti- 
schen) unter dem Einflufs von Drossinis und Vikelas stehenden 
Art zu einer realistischen, hier und da sogar naturalistischen 
und subjektiven Auffassung und Darstellung durchgerungen, 
sondern auch die Totalität des griechischen Wesens zu um- 
spannen gesucht, indem er den Bauemtypen seiner ersten die 
Seemannstypen seiner späteren Zeit gegenüberstellte. Er ist auch 
der psychologischste seiner Gattung. In einem einheitlichen 
Kunstwerk hat er diese Totalität freilich noch nicht zur An- 
schauung gebracht 97). Erst ein solches aber könnte die Be- 
zeichnung einer nationalen Erzählung oder gar eines Romanes 
rechtfertigen, der sich aber erst dann schaffen Heise, wenn es ge- 
länge, die inneren Eigenschaften dieser provinziellen Erzähler- 
gruppe zu verschmelzen mit den äufseren, technischen einer 
dritten, die man als internationale bezeichnen könnte. Zu 
ihr gehören einige, teils im Ausland lebende, teils von ihm, 
namentlich von Frankreich und Italien, beeinflufste Erzähler. Zu 
den ersteren zählt vor allem der als Sprachreformer genannte 
J. Psichari in Paris, der in seiner Novelle »Eifersucht« den 



— 223 - 

neufranzösischen Symbolismus auf die Spitze getrieben hat, zu 
den letzteren P. Nirwanas (Apostolidis), N. Episkopopulos 
und Theotokis, jene beiden stark unter dem Annunzioschen 
Impressionismus stehend, der dritte in einem gröfseren Roman 
»Leidenschaft« als ein Apostel des Schopenhauerschen Pessimis- 
mus auftretend 98), Mit den litterarischen Tendenzen dieser kleinen 
Gruppe brauchte das griechische Volk freilich nicht beglückt 
zu werden; sie gehen über sein Kulturniveau hinaus. Wohl aber 
wäre es wünschenswert, wenn die gröfsere Sorgfalt, die diese 
durch romanische Schulung gegangenen Novellisten auf die 
Pflege der Form verwenden, auch auf die in dieser Hinsicht 
noch nicht auf der Höhe stehende lokale Erzählungslitteratur 
tiberginge. Der reiche künstlerische Rohstoff dieser bedarf noch 
einer formellen Veredelung durch jene. So ergänzt auch auf 
dem Gebiete der Erzählung wie der Lyrik der ästhetisch mehr 
entwickelte Westen, speziell wieder die occidentalisch-orientalische 
Kulturscheide der Ionischen Inseln, den urwüchsigeren, aber un- 
geschlachteren Osten. Jener gibt die Form, dieser den Inhalt. 



Diese kulturgeschichtlich und für eine gedeihliche geistige 
Zukunft der griechischen Nation höchst wichtige Lehre von der 
Notwendigkeit einer harmonischen Mischung aller ihrer mannig- 
fachen Elemente und Kräfte, wie sie in der Volkspoesie und in 
der auf dieser sich aufbauenden Kunstpoesie liegen, mit dem form- 
gebenden Prinzip künstlerischer Gestaltimgskraft des Occidents 
— diese Lehre hat sich uns aus unserer freilich nur ganz sum- 
marischen Betrachtung des Entwicklungsganges der griechischen 
Litteratur in den letzten 600 Jahren mit unfehlbarer Gewifsheit 
ergeben. Das Ziel dieser ganzen Entwicklung mufs, wenn das 
griechische Volk es wieder zu einem seines Namens würdigen 
Geistesleben bringen will, die Befreiung von allem sein, was mit 
dem Namen Byzanz verknüpft ist, im sprachlichen, künstlerischen 
und staatlichen Leben, oder, positiv ausgedrückt, die Wiederher- 
stellung einer der antiken Kultur allein ebenbürtigen und zu- 
gleich eines modernen Volkes allein würdigen Einheitlichkeit und 
Selbständigkeit der Kultur, wie sie wiederum nur denkbar ist 
auf Grund des so reich entwickelten Volkstums und seiner 
reinsten Spiegelung in der Volkspoesie. Eine volkstümliche 



— 222 — 

Bäuerinnen des Peloponnes. Es ist also eine durchaus 
provinzielle Erzählungslitteratur, die Bauemnovelle, die jetzt 
aufblüht; sie zeichnet provinzielle Menschen und Dinge, teils 
noch von einem leichten Schimmer von Romantik umflossen, wie 
Bjömsons Dorfgeschichten, teils in dem vollen Realismus des 
Südens, wie die italienischen Bauemerzählungen eines Verga, 
Di Giacomo und Fucini. Die meisten sind freilich mehr Schil- 
derer als Erzähler, wie Eftaliotis, Hatzopulos, Christovassilis, 
Kristallis; sie geben gleichsam Momentbilder, Episoden, 
Skizzen; sie haften am Äulseren , Stofflichen. Das psycho- 
logische Interesse tritt bei Papadiamandis und Epachtitis, be- 
sonders bei Palamas stärker hervor; dieser hat in seinem »Tod 
eines Palikaren« ein lebendiges, farbenreiches Bild von dem 
Charakter und dem Schicksal des untergehenden griechischen 
Bauemhelden poetisch und doch greifbar verkörpert und darin 
den romantischen Erzählungen seines Landsmannes Drossinis die 
erste realistische Novelle der modernen griechischen Litteratur 
an die Seite gestellt 96). 

Den Ansatz zu einer das gesamte Volkstum umfassenden 
nationalen Erzählungskunst hat Andreas Karkawitzas ge- 
macht; er hat sich nicht nur von der romantischen und patrioti- 
schen', unter dem Einflufs von Drossinis und Vikelas stehenden 
Art zu einer realistischen, hier und da sogar naturalistischen 
und subjektiven Auffassung und Darstellung durchgerungen, 
sondern auch die Totalität des griechischen Wesens zu um- 
spannen gesucht, indem er den Bauemtypen seiner ersten die 
Seemannstypen seiner späteren Zeit gegenüberstellte. Er ist auch 
der psychologischste seiner Gattung. In einem einheitlichen 
Kunstwerk hat er diese Totalität freilich noch nicht zur An- 
schauung gebracht 97), Erst ein solches aber könnte die Be- 
zeichnung einer nationalen Erzählung oder gar eines Romanes 
rechtfertigen, der sich aber erst dann schaffen liefse, wenn es ge- 
länge, die inneren Eigenschaften dieser provinziellen Erzähler- 
gruppe zu verschmelzen mit den äulseren, technischen einer 
dritten, die man als internationale bezeichnen könnte. Zu 
ihr gehören einige, teils im Ausland lebende, teils von ihm, 
namentlich von Frankreich und Italien, beeinflufste Erzähler. Zu 
den ersteren zählt vor allem der als Sprachreformer genannte 
J. Psichari in Paris, der in seiner Novelle »Eifersucht« den 



— 223 - 

neufranzösischen Symbolismus auf die Spitze getrieben hat, zu 
den letzteren P. Nirwanas (Apostolidis), N. Episkopopulos 
und Theotokis, jene beiden stark unter dem Annunzioschen 
Impressionismus stehend, der dritte in einem gröfseren Roman 
»Leidenschaft« als ein Apostel des Schopenhauerschen Pessimis- 
mus auftretend 98). Mit den litterarischen Tendenzen dieser kleinen 
Gruppe brauchte das griechische Volk freilich nicht beglückt 
zu werden ; sie gehen über sein Kultumiveau hinaus. Wohl aber 
wäre es wünschenswert, wenn die gröfsere Sorgfalt, die diese 
durch romanische Schulung gegangenen Novellisten auf die 
Pflege der Form verwenden, auch auf die in dieser Hinsicht 
noch nicht auf der Höhe stehende lokale Erzählungslitteratur 
überginge. Der reiche künstlerische Rohstoff dieser bedarf noch 
einer formellen Veredelung durch jene. So ergänzt auch auf 
dem Gebiete der Erzählung wie der Lyrik der ästhetisch mehr 
entwickelte Westen, speziell wieder die occidentalisch-orientalische 
Kulturscheide der Ionischen Inseln, den urwüchsigeren, aber un- 
geschlachteren Osten. Jener gibt die Form, dieser den Inhalt. 



Diese kulturgeschichtlich und für eine gedeihliche geistige 
Zukunft der griechischen Nation höchst wichtige Lehre von der 
Notwendigkeit einer harmonischen Mischung aller ihrer mannig- 
iachen Elemente und Kräfte, wie sie in der Volkspoesie und in 
der auf dieser sich aufbauenden Kunstpoesie liegen, mit dem form- 
gebenden Prinzip künstlerischer Gestaltungskraft des Occidents 
— diese Lehre hat sich uns aus unserer freilich nur ganz sum- 
marischen Betrachtung des Entwicklungsganges der griechischen 
Litteratur in den letzten 600 Jahren mit unfehlbarer Gewifsheit 
ergeben. Das Ziel dieser ganzen Entwicklung mufs, wenn das 
griechische Volk es wieder zu einem seines Namens würdigen 
Geistesleben bringen will, die Befreiung von allem sein, was mit 
dem Namen Byzanz verknüpft ist, im sprachlichen, künstlerischen 
und staatlichen Leben, oder, positiv ausgedrückt, die Wiederher- 
stellung einer der antiken Kultur allein ebenbürtigen und zu- 
gleich eines modernen Volkes allein würdigen Einheitlichkeit und 
Selbständigkeit der Kultur, wie sie wiederum nur denkbar ist 
auf Gnmd des so reich entwickelten Volkstums und seiner 
reinsten Spiegelung in der Volkspoesie. Eine volkstümliche 



— 222 — 

Bäuerinnen des Peloponnes. Es ist also eine durchaus 
provinzielle Erzählungslitteratur, die Bauemnovelle, die jetzt 
aufblüht; sie zeichnet provinzielle Menschen und Dinge, teils 
noch von einem leichten Schimmer von Romantik umflossen, wie 
Björnsons Dorfgeschichten, teils in dem vollen Realismus des 
Südens, wie die italienischen Bauemerzählungen eines Verga, 
Di Giacomo und Fucini. Die meisten sind freilich mehr Schil- 
derer als Erzähler, wie Eftaliotis, Hatzopulos, Christo vassilis, 
Kristallis; sie geben gleichsam Momentbilder, Episoden, 
Skizzen; sie haften am Äulseren , Stofflichen. Das psycho- 
logische Interesse tritt bei Papadiamandis und Epachtitis, be- 
sonders bei Palamas stärker hervor; dieser hat in seinem »Tod 
eines Palikaren« ein lebendiges, farbenreiches Bild von dem 
Charakter und dem Schicksal des untergehenden griechischen 
Bauemhelden poetisch und doch greifbar verkörpert und darin 
den romantischen Erzählungen seines Landsmannes Drossinis die 
erste realistische Novelle der modernen griechischen Litteratur 
an die Seite gestellt 96). 

Den Ansatz zu einer das gesamte Volkstum umfassenden 
nationalen Erzählungskunst hat Andreas Karkawitzas ge- 
macht; er hat sich nicht nur von der romantischen und patrioti- 
schen', unter dem Einflufs von Drossinis und Vikelas stehenden 
Art zu einer realistischen, hier und da sogar naturalistischen 
und subjektiven Auffassung und Darstellung durchgerungen, 
sondern auch die Totalität des griechischen Wesens zu um- 
spannen gesucht, indem er den Bauemtypen seiner ersten die 
Seemannstypen seiner späteren Zeit gegenüberstellte. Er ist auch 
der psychologischste seiner Gattung. In einem einheitlichen 
Kunstwerk hat er diese Totalität freilich noch nicht zur An- 
schauung gebracht 97). Erst ein solches aber könnte die Be- 
zeichnung einer nationalen Erzählung oder gar eines Romanes 
rechtfertigen, der sich aber erst dann schaffen Heise, wenn es ge- 
länge, die inneren Eigenschaften dieser provinziellen Erzähler- 
gruppe zu verschmelzen mit den äulseren, technischen einer 
dritten, die man als internationale bezeichnen könnte. Zu 
ihr gehören einige, teils im Ausland lebende, teils von ihm, 
namentlich von Frankreich und Italien, beeinflufste Erzähler. Zu 
den ersteren zählt vor allem der als Sprachreformer genannte 
J. Psichari in Paris, der in seiner Novelle »Eifersucht« den 



— 223 - 

neufranzösischen S3rmbolismus auf die Spitze getrieben hat, zu 
den letzteren P. Nirwanas (Apostolidis), N. Episkopopulos 
und Theotokis, jene beiden stark unter dem Annunzioschen 
Impressionismus stehend, der dritte in einem gröfseren Roman 
iLeidenschaft« als ein Apostel des Schopenhauerschen Pessimis- 
mus auftretend ^s). Mit den litterarischen Tendenzen dieser kleinen 
Gruppe brauchte das griechische Volk freilich nicht beglückt 
zu werden; sie gehen über sein Kulturniveau hinaus. Wohl aber 
wäre es wünschenswert, wenn die grölsere Sorgfalt, die diese 
durch romanische Schulung gegangenen Novellisten auf die 
Pflege der Form verwenden, auch auf die in dieser Hinsicht 
noch nicht auf der Höhe stehende lokale Erzählungslitteratur 
tiberginge. Der reiche künstlerische Rohstoff dieser bedarf noch 
einer formellen Veredelimg durch jene. So ergänzt auch auf 
dem Gebiete der Erzählung wie der Lyrik der ästhetisch mehr 
entwickelte Westen, speziell wieder die occidentalisch-orientalische 
Kulturscheide der Ionischen Inseln, den urwüchsigeren, aber im- 
geschlachteren Osten. Jener gibt die Form, dieser den Inhalt. 



Diese kulturgeschichtlich und für eine gedeihliche geistige 
Zukunft der griechischen Nation höchst wichtige Lehre von der 
Notwendigkeit einer harmonischen Mischung aller ihrer mannig- 
fachen Elemente und Kräfte, wie sie in der Volkspoesie und in 
der auf dieser sich aufbauenden Kunstpoesie liegen, mit dem form- 
gebenden Prinzip künstlerischer Gestaltungskraft des Occidents 
— diese Lehre hat sich uns aus unserer freilich nur ganz sum- 
marischen Betrachtung des Entwicklungsganges der griechischen 
Litteratur in den letzten 600 Jahren mit unfehlbarer Gewilsheit 
ergeben. Das Ziel dieser ganzen Entwicklung muls, wenn das 
griechische Volk es wieder zu einem seines Namens würdigen 
Geistesleben bringen will, die Befreiung von allem sein, was mit 
dem Namen Byzanz verknüpft ist, im sprachlichen, künstlerischen 
und staatlichen Leben, oder, positiv ausgedrückt, die Wiederher- 
stellung einer der antiken Kultur allein ebenbürtigen und zu- 
gleich eines modernen Volkes allein würdigen Einheitlichkeit und 
Selbständigkeit der Kultur, wie sie wiederum nur denkbar ist 
auf Grund des so reich entwickelten Volkstums und seiner 
reinsten Spiegelung in der Volkspoesie. Eine volkstümliche 



Biiuerinnen des Peloponnes. Es ist also eine durchaus 
provinzielle Erzähl ungslitteratur, die Bauemnovelle, die jetzt 
aufblüht; sie zeichnet provinzielle Menschen und Dinge, teils 
noch von einem leichten Schimmer von Romantik umflossen, wie 
Björnsons Dorfgeschichten, teils in dem vollen Realismus des 
Südens, wie die italienischen Bauernerzählungen eines Verga, 
Di Giacomo und Fucini. Die meisten sind freilich mehr Schil- 
derer als Erzähler, wie Eftahotis, Hatzopulos, Christovassilis, 
Kristallis ; sie geben gleichsam Momentbitder , Episoden, 
Skizzen; sie haften am Äufseren , Stofflichen. Das psycho- 
logische Interesse tritt bei Papadiamandis und Epachtitis, be- 
sonders bei Palamas stärker hervor; dieser hat in seinem «Tod 
eines Palikarens ein lebendiges, farbenreiches Bild von dem 
Charakter und dem Schicksal des untergehenden griechischen 
Bauemhelden poetisch und doch greifbar verkörpert und darin 
den romantischen Erzählungen seines Landsmannes Drossinis die 
erste realistische Novelle der modernen griechischen Litteratur 
an die Seite gestellt 9*). 

Den Ansatz zu einer das gesamte Volkstum umfassenden 
nationalen ErzHhlungskunst hat Andreas Karkawitzas ge- 
macht; er hat sich nicht nur von der romantischen und patrioti- 
schen, unter dem Einfluts von Drossinis und Vikelas stehenden 
Art zu einer realistischen, hier und da sogar naturalistischen 
und subjektiven Auffassung und Darstellung durchgerungen, 
sondern auch die Totalität des griechischen Wesens zu um- 
spannen gesucht, indem er den Bauemtypen seiner ersten die 
Seemannstypen seiner späteren Zeit gegenüberstellte. Er ist auch 
der psychologischste seiner Gattung. In einem einheitlichen 
Kunstwerk hat er diese Totalität freilich noch nicht zur An- 
schauung gebracht s'). Erst ein solches aber könnte die Be- 
zeichnung einer nationalen Erzählung oder gar eines Romanes 
rechtfertigen, der sich aber erst dann schaffen liefse, wenn es ge- 
länge, die inneren Eigenschaften dieser provinziellen Erzähler- 
gruppe zu verschmelzen mit den äufseren, technischen einer 
dritten, die man als internationale bezeichnen könnte. Zu 
ihr gehören einige, teils im Ausland lebende, teils von ihm, 
namentlich von Frankreich und Italien, beeinflufste Erzähler. Zu 
den ersteren zählt vor allem der als Sprachreformer genannte 
J. Psichari in Paris, der in seiner Novelle vEifersuchtä den 



— 223 - 

neufranzösischen S3rmbolismus auf die Spitze getrieben hat, zu 
den letzteren P. Nirwanas (Apostolidis), N. Episkopopulos 
und Theotokis, jene beiden stark unter dem Annunzioschen 
Impressionismus stehend, der dritte in einem gröfseren Roman 
»Leidenschaft« als ein Apostel des Schopenhauerschen Pessimis- 
mus auftretend ^s). Mit den litterarischen Tendenzen dieser kleinen 
Gruppe brauchte das griechische Volk freilich nicht beglückt 
zu werden; sie gehen über sein Kultumiveau hinaus. Wohl aber 
wäre es wünschenswert, wenn die gröfsere Sorgfalt, die diese 
durch romanische Schulung gegangenen Novellisten auf die 
Pflege der Form verwenden, auch auf die in dieser Hinsicht 
noch nicht auf der Höhe stehende lokale Erzählungslitteratur 
überginge. Der reiche künstlerische Rohstoff dieser bedarf noch 
einer formellen Veredelimg durch jene. So ergänzt auch auf 
dem Gebiete der Erzählung wie der Lyrik der ästhetisch mehr 
entwickelte Westen, speziell wieder die occidentalisch-orientalische 
Kulturscheide der Ionischen Inseln, den urwüchsigeren, aber im- 
geschlachteren Osten. Jener gibt die Form, dieser den Inhalt. 



Diese kulturgeschichtlich und für eine gedeihliche geistige 
Zukunft der griechischen Nation höchst wichtige Lehre von der 
Notwendigkeit einer harmonischen Mischung aller ihrer mannig- 
fachen Elemente und Kräfte, wie sie in der Volkspoesie und in 
der auf dieser sich aufbauenden Kunstpoesie liegen, mit dem form- 
gebenden Prinzip künstlerischer Gestaltungskraft des Occidents 
— diese Lehre hat sich uns aus unserer freilich nur ganz sum- 
marischen Betrachtung des Entwicklungsganges der griechischen 
Litteratur in den letzten 600 Jahren mit unfehlbarer Gewifsheit 
ergeben. Das Ziel dieser ganzen Entwicklung mufs, wenn das 
griechische Volk es wieder zu einem seines Namens würdigen 
Geistesleben bringen will, die Befreiung von allem sein, was mit 
dem Namen Byzanz verknüpft ist, im sprachlichen, künstlerischen 
und staatlichen Leben, oder, positiv ausgedrückt, die Wiederher- 
stellung einer der antiken Kultur allein ebenbürtigen und zu- 
gleich eines modernen Volkes allein würdigen Einheitlichkeit und 
Selbständigkeit der Kultur, wie sie wiederum nur denkbar ist 
auf Grund des so reich entwickelten Volkstums und seiner 
reinsten Spiegelung in der Volkspoesie. Eine volkstümliche 



— 224 — 

Kultur ist es, die den Griechen not tut, in Schule und Kirche^ 
im staatlichen, sozialen und geistigen Leben, und die allein^ 
aber dann auch sicher, die Nation vor dem drohenden Verfall 
erretten imd ihr das wahre Selbstvertrauen wiedergeben kann, 
wenn auch nicht auf die eigene äufsere, so doch auf die innere 
geistige Macht. Das griechische Volk entbehrt, wie seine Poesie 
beweist, auch heute nicht der idealen Veranlagung, nur dals es 
in seinen Idealen irregeleitet ist, dals diese zu toten Idolen ge- 
worden sind, dals sie in einer toten Vergangenheit liegen anstatt 
in einer lebensfrohen Zukunft. Zwei Mächte streiten sich noch 
um den Besitz des griechischen Volkes: der finstere, fortschritt- 
feindliche Orient xmd der lichtspendende, zukimftfreudige Occi- 
dent. Erst wenn dieser alte Kampf zwischen Asien imd 
Europa, zu dem die Geschichte der mittelalterlichen imd modernen 
griechischen Litteratur ja nur eine typische Illustration bildet, 
endgültig mit dem Siege Europas entschieden sein wird, erst 
wenn alle byzantinischen Reminiszenzen aus dem Charakter des 
griechischen Volkes schwinden, wenn seine reichen Geistes- 
und Gemütsgaben von allen Vorurteilen befreit sich entfalten 
werden, erst dann wird auch der Poesie eine volle Blüte be- 
schieden sein. 



Anmerkungen ""X 



Eine zusammenfassende Darstellung der hellenistisch-alexandri- 
nischen Kultur, wie sie etwa das Werk von Friedländer für die 
römische bietet, gibt es noch nicht. Das bekannte Geschichtswerk 
von Droysen behandelt nur die politischen Verhältnisse, ebenso, wie 
es scheint, die neueste Geschichte des Hellenismus von Kaerst, von 
der bisher nur der 1. Band erschienen ist (Leipzig 1901). Auch für 
die Litteratur fehlt es an einer guten, abgerundeten Gesamtdar- 
stellung, wie sie für einen Ausschnitt des Gebietes das klassische Buch 
von E. Roh de, Der griechische Roman, 2. Aufl. (Leipzig 1900), lieferte. 
Das zweibändige Werk von F. Susemihl, Geschichte der griechischen 
Litteratur in der Alexandrinerzeit (Leipzig 1891), kann dagegen trotz 
seines Umfanges nur als Materialsammlung gelten. Für die Sprache 
gibt A. Thumb, EHe griechische Sprache im Zeitalter des Hellenis- 
mus (Strafsburg 1901), eine knapp orientierende und anregende Über- 
sicht. Über die Kunst der hellenistischen Zeit s. Anm. 8. 

*) Über diese vgl. E. Rohde» a. a. O. S. 470 ff. (Achilles Tatios), 
498 ff. (Longos), S. 424 (Heliodor). 

3) Siehe E. Rohde», S. 84 ff. (Kallimachos), S. 91 und 105 
(Apollonios), S. 131 (Nonnos), S. 138 (Musaeos). 

*) Vgl. W. Schmid, Der Attizismus in seinen Hauptvertretern, 
4 Bde., Tübingen 1887-1896. 

5) Vgl. W. Milkowicz, Die allmähliche Absonderung des 
Ostens von dem Westen Europas: Beilage zur AUg. Ztg. 1895, 
Nr. 258. 

^) Vgl. K. Dieterich, Die kulturgeschichtliche Stellung der 
heutigen Griechen: Grenzboten, 1899, S. 156 ff., 211 ff. Derselbe, Die 
Volkspoesie der Balkanländer: Zeitschr. d. Vereins für Volkskunde, 
Bd. 11 (1902), S. 145 ff. 



*) Litteraturnachweise werden nur soweit gegeben, als sie der 
deutsche, und zwar nicht fachmännische Leser zu kontrollieren im- 
stande ist. Hinweise auf neugriechische Werke sind daher ausge- 
schlossen. 

Dietericb, Gesch. d. byzant. u. neugriech. Litteratur. 15 



— 226 — 

7) Über das Verhältnis der griechischen Volks- und Schriftsprache 
s. K. Krumbacher, Geschichte der byzant. Litten^ (München 1896), 
S. 789 ff., und die Litteraturnachweise, ebd. S. 1135 ff. 

^) Vgl. J. Strzygowski, Orient oder Rom? (Leipzig 1901). Eine 
Zusammenfassung davon in der Beilage zur Allg. Ztg. 1902, Nr. 40 
und 43 (vgl. dagegen Nr. 93/94). Im übrigen vgl. die Litteratur- 
angaben zur Kunstgeschichte bei Krumbacher, S. 1113—1128. 

9) Eine allgemeine Darstellung der Kulturverhältnisse fehlt für 
die byzantinische Periode ebenso wie für die alexandrinische. Zur 
Orientierung sind einstweilen zu empfehlen aufser der Einleitung zu 
Krumbachers Litteraturgeschichte die übersichtliche und zuver- 
lässige Skizze der inneren Zustände des Reiches von Th. Lindner, 
Weltgeschichte seit der Völkerwanderung, Stuttgart und Berlin 
1901 f., Bd. 1 und 2. — Für einzelne Perioden sind zu nennen: 
C. Neumann, Die Machtentfaltung des byzantinischen Reiches bis 
zu den Kreuzzügen, Leipzig 1894. Ch. Diehl, Justinien et la civili- 
sation byzantine au VI. si^cle, Paris 1901 (besonders Kap. 3 ; vgl. Bei- 
lage zur Allg. Ztg., 1901, Nr. 236). G. Schlumberger, L'^pop^e 
byzantine au X. si^cle, 2 vol. Paris 1896 und 1900. Über die Be- 
ziehungen von Byzanz zum Orient vgl. die Litteratur bei Krumbacher 
a. a. O. S. 1098 ff., und über die der inneren Verhältnisse ebd. 
S. 1083 ff. 

") Eine Übersicht über die byzantinische Kaisergeschichte gibt 
H. Geiz er bei Krumbacher* S. 911—1067, vgl. auch die Litteratur 
S. 1068-1083. 

") Fragmente aus dem Orient*, Stuttgart 1877, Kap. 9 und 10. 
Ein für die kirchlichen Verhältnisse im griechischen Orient noch 
heute lehr- und genufsreiches Werk, das eine weitere Verbreitung 
verdiente. 

") Vgl. Geschichte der byzant. Litt. » S. 26. 

"•) Ebenda S. 641 f. 

'3) Vgl. M. Gast er, Greeko-Slavonic, London 1887, und Krum- 
bacher a. a. O. S. 1100 ff. 

'3») Einen charakteristischen Beleg hierfür aus der jüngsten Zeit 
bildet das deutsch geschriebene Werk von Eleutheropulos: Die 
Lebensauffassung der romanischen und germanischen Völker, Leipzig 
1901, 2 Bde. 

'♦) A. Springer, Kunstgeschichtl. Briefe, Prag 1857, S. 408. 

'5) Diese Einteilung weicht wesentlich ab von der Krumbachers 
(Byzant. Litt.* S. 29), was sich daraus erklärt, dafs wir die Entwick- 
lung nicht isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit der 
voraufgehenden und folgenden Periode betrachten kannen und der 
Gesamteindruck daher stark perspektivisch erscheint. Dadurch treten 
auch manche Einzelerscheinungen, wie Romanos, in ein etwas anderes 



— 227 — 

Licht, andere Werke wieder fallen ganz aus dem Rahmen des Byzan- 
tinischen heraus. 

'^) Zur kirchlichen Dichtung vgl. Krumbacher a. a. O.* 
S. 653—705. Über Romanos ebd. S. 663 ff. Eine Übersetzung des 
Jüngsten Gerichtes bei Baumgartner, S. J., Geschichte der Welt- 
litteratur, Bd. IV, S. 516 ff. — Zur Vergleichung zwischen Romanos 
und Ambrosius sei noch bemerkt, dafs auch von diesem ein Weih- 
nachtshymnus erhalten ist, der ebenfalls rein dogmatischer Natur ist. 
Auch die aus dem Alten Testament entlehnten Bilder sind Ambrosius 
eigen. Vgl. A. Ebert, Litt, des Mittelalters* I, 182 f. 

'7) Zur epigrammatischen Dichtung vgl. Krumbacher*, 
S. 706 ff., besonders § 304 (allgemeiner Überblick^ § 295 (Theodor 
Studites), § 296 (Kasia), § 306 (Joh. Geometres), § 307 (Christophoros 
von Mytilene). 

'^) Zur historisch-panegyrischen Dichtung vgl. Krum- 
bacher* § 293 (Georgios Pisides) und § 305 (Theodosios). Eine Probe 
aus dem Gedicht des Pisides bei Baumgartner a. a. O. S. 533 ff. 

'9) Zur Romandichtung vgl. Krumbacher § 313 (Th. Pro- 
dromos), § 318 (Nik. Eugenianos) und § 319 (Eust. Makrembolites). 
Vgl. auch E. Rohde a. a. O.* S. 524 ff. 

*°) Zum * Christus patiens« vgl. Krumbacher, § 312 (Passionsspiel). 

*0 Krumbacher hat die zum Teil hier zu behandelnde Litteratur 
unter der Bezeichnung »Vulgärlitteratur« zusanmiengefalst , eine Be- 
zeichnung, die lediglich mit Rücksicht auf den sprachlichen 
Charakter dieser Gattung gewählt ist. Da aber für uns das kultur- 
geschichtliche Moment das mafsgebende ist, so mulsten wir nicht 
nur auf diese Benennung verzichten, sondern auch viele* der von Krum- 
bacher dort untergebrachten Werke ausscheiden, weil sie ihrem 
Wesen nach bereits der Übergangsperiode zur neugriechischen Litte- 
ratur angehören und daher im nächsten Kapitel zur Sprache kommen. 

**) Zur satirischen Dichtung vgl. Krumbacher S. 793, 752, 
Nr. 4 u. 5, 879 (§ 388), 883 (§ 390), 440 f. (§ 184), 810 Anm. 2, 809 
(§ 337). 

*3) Zur höfischen und Betteldichtung vgl. Krumbacher 
S. 804 ff. (§ 333X S. 774 ff. (§ 324), S. 766 ff. (§ 320). Die zitierten 
Verse von M. Philes aus einer vorläufigen Mitteilung neu aufge- 
fundener Gedichte in der Beilage zur AUg. Ztg. 1902, S. 543 f. 

**) Zur Lehr- und Mahndichtung vgl. Krumbacher S. 802 ff. 
(§ 332), 815 (§ 343X 821 (§ 352), 627 ff. (§ 260). 

***) Über die Gedichte auf den Fall Konstantinopels vgl. Krum- 
bacher §§ 363 u. 364. 

*5) Siehe Rohde, Der griechische Roman, S. 118 f., 504 f. 

*^) Zu den griechisch-fränkischen Romanen vgl. Krumbacher 
§§ 377-379. 

15* 



— 228 — 

*7) Zu den Bearbeitungen französischer Romane vgl. Krumbacher 
§§ 380, 381, 382. 

»8) Vgl. Krumbacher § 375. 

»9) Über die Erophile und den Erotokritos vgl. Krumbacher 
§§ 384 und 883. Zu der dort für den Erotokritos angeführten Litte- 
ratur ist noch nachzutragen die ausführliche Analyse des Gedichtes 
bei Iken, Leukothea (Leipzig 1825), Bd. I, S. 164—181 und besonders 
185—207; sodann die Beurteilung bei Brandis, Mitteilungen aus 
Griechenland, III, S. 50 ff. 

3°) Über die Bearbeitungen orientalischer Stoffe s. Krumbacher» 
§§ 392-394, 386, 335. 

3') Die obige Analyse schliefst sich an die Arbeit von G. Warten- 
berg: Das mittelgriechische Heldenlied von Basileios Digenis Akritas 
an (Wissenschaft!. Beilage zum Jahresbericht des Lessing-Gymn. zu 
Berlin. Ostern 1897). Daselbst (S. 24-29) gibt der Verfasser auch 
eine längere Übersetzungsprobe. Vgl. auch Krumbacher § 358. 

3*) Vgl. Lübke, Griech. Volkslieder, Berlin 1896, S. 275 
und 278. 

33) Zum Armurislied vgl. Krumbacher § 359. 

34) Zur Achilleis vgl. aulser Krumbacher § 373 besonders die 
Abhandlung von G. Wartenberg: Die byzantinische Achilleis 
(Festschr. f. Joh. Vahlen, S. 175—201), wo S. 197 ff. Übereinstimmungen 
zwischen der Achillei's und der griechischen Bearbeitung von Pierre 
et Maguelone festgestellt werden. 

35) Vgl. Krumbacher § 372. 
3*) Vgl. Krumbacher § 374. 

3^*) Vgl. J. Bolte, Ztsch. d. Ver. f. Volksk. 11 (1902), 376 ff. 

37) Über diese drei Dichtungen vgl. Krumbacher § 341 (Rhod. 
Liebeslieder) und § 345 (Verführung), sowie Leake, Researches in 
Greece, London 1814, S. 122 (Die schöne Schäferin). 

38) Vgl. Lübke, Griech. Volksl., S. 99. 

39) Krumbacher § 346. 

♦°) Vgl. Krumbacher § 354, wo nur vermutungsweise italienischer 
Ursprung angenommen wird. Das italienische Mysterienspiel, auf das 
höchstwahrscheinlich auch das griechische zurückgeht, steht bei 
d'Ancona, Sacre rappresentazioni, Firenze 1872, I, S. 641 ff. 

♦0 Eine Reliefdarstellung des Opfers Abrahams befand sich auch 
im Blachernenpalast zu Byzanz, auf die Manuel Philes einige Verse 
dichtete. Vgl. Krumbacher § 324, 4 fS. 777). 

♦'*) Diese Schilderung des Zuges der Toten entspricht genau der 
in den italienischen Totentänzen. Vgl. E. Gorra, Lingua e lette- 
ratura spagnuola delle origini. Milano 1898. 



— 229 - 

♦») Vgl. Krumbacher § 198. 

♦3) Über die Gedichte des Bergades (Bernardes) und Piccatoros 
s. Krumbacher §§ 347 und 349. Das zweite Gedicht ist für die Aus- 
bildung der Charosgestalt sehr wichtig, weil sie hier in drei Formen 
auftritt. 

♦*) Über die zwei Bufsgebete und die sog. erbaulichen Alphabete 
vgl. Krumbacher §§ 338 und 342. 

♦5) Vgl. H. Lübke, Griechische Volkslieder, S. 297. 

^) Kleftenlieder bei Lübke a. a. O. S. 313—330. Vgl. femer die 
Einleitung W. Müllers zu seiner Übersetzung der Faurielschen 
Sammlung der neugriechischen Volkslieder (Bremen 1828; Mendels- 
sohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands, S. 49 ff. R. Nikolai, 
Geschichte der neugriech. Litt., Leipzig 1875, S. 205 ff. (lediglich 
durch die Litteraturnachweise wertvoll). 

♦7) Die neugriechischen Reminiszenzen »Hero und Leanders* hat 
der Grieche D. Sarros zum Gegenstand einer kleinen Studie ge- 
macht (Hero und Leander in unserer Volkspoesie, Athen 1891), die 
jedoch in der Annahme von Übereinstimmungen oft zu weit geht. 

^) Diese poetische Vorstellung findet sich auch in der Volkspoesie 
der übrigen Balkanvölker. Vgl. darüber des Verf. Studie in der 
Ztsch. des Vereins für Volkskunde, 1902, Heft 3. 

^) Dafs es trotzdem nicht ganz jung sein kann, beweist ebenfalls 
sein Vorkommen in der Poesie der übrigen Balkanvölker, wozu die 
genannte Abhandlung zu vergleichen ist. 

5°) Vgl. dazu die Untersuchung von R. F. Arnold: Liebes verrat 
durch die Natur, in der Ztsch. d. Vereins für Volkskunde, 1902, 
Heft 2 und 3, wo über den Ursprung allerdings kaum Vermutungen 
gewagt werden. Das Verbreitungsgebiet dieser Auffassung scheint 
sich daraus eher bestimmen zu lassen : wenn man von einem spanischen 
Beispiel absieht, so sind die sämtlichen übrigen angeführten Proben 
osteuropäischen Ursprungs, was darauf schlief sen läfst, dafs orienta- 
lische Einflüsse mitgewirkt haben. Auch das spanische Lied würde 
sich leicht aus arabischem Einflufs erklären. 

5^) Ermordung aus Eifersucht oder Rache für wirkliche oder 
vermeintliche Kränkung der Familienehre ist sowohl bei den Griechen 
als auch bei den übrigen Balkanvölkem nichts Seltenes; vgl. die 
volkspoetischen Reflexe davon in der genannten Studie, Ztsch. des 
Vereins für Volkskunde (1902, Heft 3). 

5*) Die noch in Volksliedern fortlebenden Reste aus den »Rhod. 
Liebesliedem« hat Lübke an leider sehr versteckter Stelle, in den 
»Satura Viadrina*^, Festschr. zum 25 jährigen Bestehen des philolog. 
Vereins in Breslau (1896), S. 69 ff., zusanmiengestellt. Die Verführungs- 
geschichte hat auf ihre modernen Ausläufer hin untersucht der Grieche 



— 230 — 

P. G. Zerlendis in der Byzant. Ztsch., Bd. 11, 132. Beide Studien 
wurden für diese Darstellung verwertet. 

53) Zahlreiche Liebesdisticha findet man bei H. Lübke a. a. O. 
unter den Liebes- und Tanzliedern (S. 3—200). 

w) Eine andere Übersetzung dieses Liedes bei Lübke S. 187. 

55) Über den Ursprung der Vorstellung des Totengottes Charos 
vgl. die Untersuchung von D. C. Hesseling, Charos. Leipzig, 
Harrassowitz 1897. 

56) Vgl. Lübke S. 261 : Bruderliebe. 

57) Vgl. dazu Hesseling a. a. O. S. 31 f. Das Lied selbst bei 
Lübke, S. 261; die Goethesche Übersetzung in dessen Werken 
Bd. 28, 476 (Hempelj. 

58) Vgl. Hesseling S. 27 ff. 

59) Bei Lübke S. 336: Klage um die Schwester. Acht Charos- 
lieder enthält die Sammlung von Lübke S. 258—262. 

^) Eine Erkenntnis, die sich allerdings erst in neuerer Zeit Bahn 
zu brechen beginnt und die man daher von der bisher besten Dar- 
stellung des Volkslebens der Neugriechen von B. Schmidt (Leipzig 
1871), die mit besonderer Rücksicht auf das klassische Altertum ver- 
fafst ist, noch nicht erwarten darf. 

6') Totenklagen ebenfalls bei Lübke S. 331 — 345. Über ihren 
Zusanmienhang mit denen der übrigen Balkanvölker vgl. Verf., Ztsch. 
des Vereins für Volkskunde, 1902, Heft 3. 

6*) Zur Charakteristik der Phanarioten siehe z. B. K. Mendelssohn 
Bartholdy, Geschichte Griechenlands von der Eroberung Konstanti- 
nopels bis auf unsere Tage (Staatengeschichte der neuesten Zeit, Leipzig 
1870, Bd. 15), I, 6 f. Beurteilungen von Phanarioten selbst bei J. Rizo, 
Cours de la litt^rature grecque moderne, Gen^ve 1827, p. 68—86; Iken» 
Leukothea, Leipzig 1825, 1, S. 236 ff. Weniger unbefangen ist R a n ga b ^ , 
Pr^is de la litt^rature n6o-hell6nique, Berlin 1877, I, S. 45 ff. Zu 
vergleichen ist auch auf der anderen Seite die Beurteilung durch die 
zunächst beteiligten Rumänen ; s. die betr. Stellen in der Darstellung 
der rumänischen Litteratur im zweiten Teile unseres Bandes. 

^3) Über das gelehrte Schulwesen bei den Griechen vor der Be- 
freiung vgl. aufser Nikolai, Geschichte der neugriech. Litteratur, 
Leipzig 1875, S. 109 ff., besonders die Schrift des Griechen Chassiotis, 
L'instruction publique chez les Grecs depuis la prise de Constantinople 
par les Turcs, Paris 1881. 

^) Über die Logik des Vulgaris vgl. das mafsvoUe Urteil bei 
Iken, II, S. 7 f. Ein Verzeichnis seiner sämtlichen Schriften ebenda 
S. 105 ff. 

^*) Über die «Lehrer der Nation« vgl. Mendelssohn Bartholdy 
a. a. O. I, S. 28-30. 



^ 231 — 

^5) Über das Leben und den Charakter dieses Mannes vgl. die 
Studie des Verfassers in der Sonntagsbeilage der Voss. Ztg. 1896, 
Nr. 20/21: Ein neugriechischer Volkserzieher. 

**) Eine Übersicht über die neugriechischen Schriftsteller in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrh. gibt Iken, Leukothea II, S. 105 ff. und 
Nikolai, S. 197 ff. 

^) Über die kirchliche Dichtung der Neugriechen vgl. Nikolai 
a. a. O. S. 172 ff. (§§ 91 und 92). 

^) Über die historische Dichtung der Neugriechen vgl. zu 
Koronaeos: Krumbacher a. a. O. § 368; zu Skliros sowie anderen 
historischen »Dichtern« Nikolai S. 87, § 38. 

^^*) Über Bukarest und die dortige griechische Schule s. Iken, 
Leukothea I, S. 247 ff. 

^) Zur Charakteristik von Tantalidis vgl. Rangab^, Pr^cis II, 
S. 145 ff., wo aber unter den mitgeteilten Proben gerade das für ihn 
als Anakreontiker bezeichnende Gedicht auf das Meer (»O, wärst du, 
weites Meer, voll Wein, fürwahr, das müfste köstlich sein«) fehlt, wie 
R. überhaupt in der Auswahl seiner Übersetzungsproben wenig glück- 
lich war. Als Ergänzung können die bei J. Lamber mitgeteilten 
Gedichte dienen (a. a. O. S. 112 ff.). 

7°) Christopulos ist immer noch das Schofskind der nationalen Be- 
urteiler und der ihnen meist kritiklos folgenden fremden; vgl. Rangab^ 
I, S. 120; Nikolai § 82; Lamber S. 102 ff. Zweimal wurde ihm die 
Ehre einer deutschen Übersetzung zuteil: einer prosaischen von dem 
Griechen A. Pappas, Der neugriechische Anakreon, Wien 1821, und 
einer poetischen von A. Boltz, Lieder des Ath. Christopulos, Leipzig 
1880, S. 5-50. Ein Lied auch bei Lübke a. a. O. S. 205. 

7») Über die Stoichomachie und Bosporomachie s. Nikolai, §§93 
und 94. Dieser stellt beide höchst unpassend unter das Drama, wäh- 
rend sie litterarhistorisch vielmehr zu der Gruppe der seit der 
spätbyzantinischen Zeit sehr beliebten allegorischen Dialoge gehören; 
vgl. aufser dem genannten dialogischen Threnos auf den Fall Kon- 
stantinopels (herausgg. von Krumbacher, Sitzungsberichte der 
bayr. Akad., philos.-hist. KL, 1901) noch die Versifikationen des M. 
Skliros auf das Erdbeben von Kreta in Form eines Gespräches zwischen 
diesem und einem Fremden (s. Krumbacher, Byz. Litt. % § 367) uiid 
das Klagelied auf die Eroberung Athens durch die Türken (ebd. § 365). 
Ein Nachklang dieser allegorischen Dialoge in dem Volksliede vom 
Olymp und Ossa (Lübke S. 313). 

7*) Über die satirische Dichtung der Phanarioten s. Nikolai, 
§ 95 (Russe, Engländer, Franzose und PerdikarisX § 96 (Jakob Rizos 
Nerulos) und § 83 (Villaras). Über Jakob Rizos s. auch Rangab^ I, 
S. 127 ff. 

''**) Zur sprachlichen Satire vgl. Nikolai § 96 (S. 177 unten und 
179 oben); über Sophronios s. Iken, Leukothea II, S. 69 ff. 



— 232 — 

'3) Zur patriotischen Mahndichtung s. Iken, Leukotheall, S. 69 ff., 
ferner über Rigas: Mendelssohn Bartholdy I, S. 26 f., der ihn 
jedoch unzutreffend als Vertreter des litterarischen Sturms und Drangs 
hinstellt, während er noch ganz in den Bahnen der hergebrachten 
Tradition wandelte. — Eine vollständige Übersetzung des Liedes »Wie 
lange, Pallikaren . . .« bei O. A. E Hissen, Neugriech. Gedichte 
(Meyers Volksbücher, Nr. 619X S. 3 ff., wo das Lied noch irrtümlich 
dem Rigas zugeschrieben wird. 

7*) Über die höfisch-panegyrische Dichtung vgl. Nikolai 
S. 93 und besonders S. 169 ff. (die Gelegenheitspoesie). Übrigens haben 
die deutschen Philhellenen ihren griechischen Vorbildern an Byzan- 
tinismus nichts nachgegeben, wie z. B. die Verherrlichungen König 
Ottos und die Poeme Ludwigs I. von • ßaiem beweisen ; s. darüber 
R. F. Arnold, Der deutsche Philhellenismus (Euphorion, 2. Er- 
gänzungsheft [1896], S. 157 und 155 ff.). Über philhellenische 
Griechendramen ebenda S. 159 f. 

75) Über dieses für die Griechen selbst so verhängnisvolle phan- 
tastische Treiben der Philhellenen gibt die eben genannte Schrift von 
Arnold kulturpsychologisch höchst wertvolle Aufschlüsse; speziell 
über den Anteil Baierns am Philhellenismus s. S. 151 ff. Unter den 
späteren Philhellenen, die Arnold nicht mehr erwähnt, sind noch zu 
nennen der Leipziger Justizrat T h. K i n d , die beiden Göttinger E 1 1 i s s e n 
(Vater und Sohn) und der noch lebende frühere Professor des Russischen 
A. Boltz. Diese drei haben sich besonders durch Übertragungen 
neugriechischer Litteraturwerke verdient gemacht, nur dals sie in ihrer 
philhellenischen Befangenheit oft gerade das Unbedeutendste auswählten 
und es an jeder Kritik fehlen liefsen. So enthält die »Neugriechische 
Anthologie« von Kind (1844) aus der Kunstpoesie nur das, was damals 
in Griechenland Geltung hatte — und das ist poetisch durchweg 
minderwertig — , und das Gleiche gilt von der schon genannten Aus- 
wahl aus Christopulos und anderen Lyrikern von A. Boltz, sowie 
von O. A. Ellissens Neugriech. Gedichten (s. Anm. 73). Für sie war 
alles geweiht, was den »hellenischen« Stempel an sich trug. Daher 
haben sie, für die Sutzos und Rangab^ die Dioskuren der neugriechischen 
Litteratur waren, einer sachkundigen Beurteilung dieser mehr geschadet 
als genützt, trotz des guten Willens und der kindlichen Begeisterung, 
von denen sie beseelt waren. 

75») Vgl. über diese Krumbacher a. a. 0.% § 360. 

''^) Rangab^ ist infolge seiner gesellschaftlichen Stellung und der 
philhellenischen Reklame auch in Deutschland ungebührlich überschätzt 
worden, wie die zahlreichen Übersetzungen seiner Werke beweisen: 
zwei seiner historischen Dramen (»Dukas* und »Der Vorabend«) hat 
(der jüngere) Ellissen übersetzt (Breslau, Schottländer, beide ohne Jahr); 
seinen historischen Roman »Der Herzog von Morea« dessen Vater (in 
den Analekten der mittel- und neugriech. Litt., 2. Teil, Leipzig 1856) ; 
seiner Gedichte haben sich Kind und Boltz angenommen: vgl. des 



— 233 — 

ersteren »Neugriech. Anthologie« S. 108 und des letzteren Lieder des 
A.Christopulos u. a. S. 55 ff. (Die Überfahrt des Dionysos) sowie Ellissen, 
Meyers Volksbücher Nr. 619, S. SOff.f Die politische Komödie »Hochzeit 
des Kutrulis« endlich hat D. Sanders verdeutscht (Berlin 1851). 
Übersetzungsproben sind auch der 50 Seiten langen Selbstcharakte- 
ristik Rangab^s in dessen »Pr^cis« II, S. 48 ff. eingestreut, sowie 
auch der Studie von J. Lamber, S. 145 ff. — Die ebenfalls in allen 
Gattungen hospitierenden Dichtungen des jüngeren (Kleon) Rangab^, 
griechischen Gesandten in Berlin, haben, obwohl zwei bei Reclam 
deutsch erschienen sind (*Die Herzogin von Athen« und * Harald«), 
keinerlei poetische Bedeutung zu beanspruchen. 

77) Über Vernardakis und Vassiliadis s. Gidel, Nouvelles ^tudes 
sur la litt^rature grecque moderne 569 ff. Über Zoiros: Nikolai § 103. 

7^) Über die epische Dichtung s. Rangabe II, S. 128 (Vizantios), 
159 (Vlachos), 165 (Vizyinos); 180 (Antoniadis), 181 (Stavridis), 169 (Zalo- 
kostas), 174 (Kallivursis), 153 (Karassutzas), 198 (Lefkias). Zwei Oden 
von Karassutzas, deutsch in Kinds Neugriech. Anthologie, S. 84 
und 134. 

7^*) Eine gerechte Würdigung des vielverkannten Capodistria bei 
P. Kipper, Geschichte des neugriech. Volksschulwesens, Leipzig 
1897, S. 26 ff. 

79) Über AI. Sutzos^ der als Dichter ebenfalls stark überschätzt 
worden ist, s. Brandis, Mitteilungen aus Griechenland III, S. 88 — 
194 (mit ausführlicher Analyse der epischen Dichtungen); R angabt 
II, S. 22 — 48 (mit ziemlich scharfer, aber ausnahmsweise treffender 
Beurteilung); J. Lamber, S. 121 — 133 (mit französ. Übersetzungsproben 
aus seinen politischen Gedichten). — Deutsche Übertragungen aus Sutzos* 
Lyrik in Th. Kinds deutscher Ausgabe des »Panorama von Griechen- 
land« (Leipzig 1835) und bei R. F. Arnold, Europäische Lyrik (Leipzig 
1900) S. 138 f.; Proben aus dem »Umherirrenden* in Kinds »Neugriech. 
Anthologie« S. 110 und 114. 

8°) Eine Übersicht über den Inhalt dieser Zeitschrift gab D. 
Sanders in Prutz' Litterarhist. Taschenbuch für 1848. 

8') Über Orphanidis s. Ran gab 6 II, S. 112 ff., über Karidis ebd. 
S. 117; Nikolai § 99. — Zu Rangab^s »Hochzeit des Kutrulis« 
s. Anm. 76. 

^*) Über P. Sutzos vgl. Brandis a. a. O., R angabt II, S. 6 ff., 
J. Lamber, S. 134 ff. Deutsche Übertragungen aus seinen lyrischen 
Gedichten in Kinds Neugriech. Anthologie S. 82, 98, 104, 118, 124. 

^3) Proben aus Paparigopulos' und Vassiliadis' weltschmerzlicher 
Lyrik französisch bei Rangabe II, S. 135 ff. und 140 ff., bei 
J. Lamber, S. 191 ff. und 198 ff., deutsch bei A. Boltz, Lieder des 
Christopulos u. a., S. 83—91 (nur aus Paparigopulos). Ein Stück aus 
Paparigopulos' »Agora«, das dramatische Gedicht »Leben ein Traum«, 
hat V. Palumbo ins Italienische übertragen in der Sammlung »Tra- 



— 234 — 

duzioni dal Greco moderno«, Lipsia 1881, S. 1—26. Des Vassiliadis* 
»Galatea« erschien auch in französischer Übersetzung (Paris 1878). 

**) F. Gregorovius, Korfu. Eine jonische Idylle*, Leipzig 1884, 
S. 47. Das Büchlein ist übrigens immer noch der beste Bädeker für Korfu. 

*5) Zahlreich sind die Kulturbeziehungen Venedigs zu der griechi- 
schen Welt wie zur Levante überhaupt (vgl.W. H e y d , Gesch. des Levante- 
handels (Stuttgart 1879, 2 Bde.). Venedig ist daher auch die einzige 
westeuropäische Stadt, die in den neugriechischen Volksliedern neben 
Konstantinopel und Alexandria stereotyp genannt wird. Ein byzan- 
tinischer Versifex hat es sogar in einem beschreibenden »Gedicht« 
verherrlicht fs. Krumbacher*, § 351). In Venedig wurden in der 
türkischen Zeit die meisten griechischen Bücher gedruckt, und die 
Buchdruckerei des Griechen N. Glykys war bis zu Anfang des 
19. Jahrhunderts von grofser Bedeutung für das Griechentum. Vgl. 
I k e n , Leukothea II, S. 137 ff. Über Venedig in der Volkspoesie 
vgl. Lübke S. 97, 192, 336. 

^*') Vgl. Pr^cis II, S. 214 ff., wo Rangab^ seine gänzliche Un- 
kenntnis der neugriechischen Lautgesetze dartut. Die Fusion zweier 
Hiatusvokale ist dem modernen Griechisch ebenso naturgemäfs wie 
dem Italienischen und nicht erst durch dieses hineingekommen, wie er 
zu befürchten scheint. Vgl. Hatzidakis, Einleitung in die neu- 
griechische Grammatik, Leipzig 1892, S. 334 ff. 

*7) Solomos ist bezeichnenderweise derjenige unter den modernen 
Dichtem Griechenlands, dem man im In- und Auslande am wenigsten 
gerecht geworden ist. Die »Philhellenen«, wie Kind, Ellissen und 
Boltz, die gehorsam am Gängelbande der griechischen Meinung dahin- 
trotteten, hatten nichts für ihn Übrig. Auch in den Konversations- 
lexika fehlt auffallenderweise sein Name ganz, während weniger be- 
deutende ausführlich behandelt sind. Erst ganz neuerdings beginnt 
man in Griechenland sich seiner divinatorischen Dichtkunst bewuf^t 
zu werden und ihn, angeregt durch künstlerisch empfindende Aus- 
leger wie Polylas und den jüngst verstorbenen G. Kalosgüros, von 
neuem zu studieren. Wenn übrigens die venetianische Herkunft des 
Dichters von mir zu stark betont erscheint, so sei daran erinnert, dafs der 
bedeutendste griechische Maler, der unlängst in München gestorbene 
N. Gysis, ebenfalls dem venetianischen Geschlechte der Ghizi ent- 
stammt. -- Einige Proben aus Solomos' kleineren Gedichten französisch 
bei Rangab^ II, S. 217 ff. und bei J. Lamber, S. Uff., in deutscher 
metrischer Übersetzung bisher nur zwei Gedichte bei Lübke, a. a. O. 
S. 202 (Anthos und Avgula) und 208; eins bei R. F. Arnold, Euro- 
päische Lyrik S. 136 f. Die im Text erwähnten 16 Strophen des 
»Lambros« verdienten vor allem eine gute Übertragung. 

*7*) Über dieses Lied vgl. Krumbacher, Byzant. Litt.*, § 358, 
Anm. 3. Über seinen Zusammenhang mit den übrigen Balkanvölkern 
s. Verf., Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 11 (1902), S. 147 ff. 



- 235 — 

^7»>) Es ist wohl nicht zu viel gesagt: In jedem modernen grie- 
chischen Dichter steckt ein Stück Lenau. Dieselbe sensible Natur- 
beseelung, die diesem eigen ist, und zwar mit dem ganzen Subjektivismus 
derselben, dieselbe zwischen Lebens- und Todesstimmung schwankende 
melancholische Stimmung, endlich die Unfähigkeit zu gröfseren Kon- 
zeptionen, die Passivität, alles das kehrt auch in den besten Leistungen 
der neugriechischen Lyrik wieder, vielleicht ein bedenkliches Zeichen, 
aber doch wieder ein Beweis wahren Künstlertums. 

^^) Über Typaldos vgl. Rangab^ II, S. 226; J. Lamber, S. 51 
— 60; über Tertzetis: Rangab^ II, S. 236 und Lamber S. 46; 
über Kalvos: Rangab^ S. 221, Lamber S. 24 ff., und über Mar- 
koras: Rangab^ S. 229, Lamber S. 61 ff. (ausführliche Analyse des 
»Schwurs«). — Ein Gedicht von Kalvos deutsch in Kinds »Neugriech. 
Anthologie* S. 89 ff., von Typaldos bei Lübke, S. 207. 

*9) Matesis, der durch sein Drama eine hohe kultur- und litterar- 
historische Bedeutung gewonnen hat, wird bezeichnenderweise von den 
bisherigen dilettantischen Verfassern neugriechischer Litteraturüber- 
sichten völlig ignoriert. Über seinen Erneuerer J. Kambissis s. des 
Verf. Nachruf im Feuilleton der *Frankf. Ztg.« 1902, Nr. 10 und die 
Charakteristik eines seiner Stücke von K. Hoefslin im »Litterar. 
Echo« II, Sp. 768—771 (Neugriech. Theater). — Über A. Laskaratos 
s. J. Lamber, S. 71 ff. Rangab^ und Nikolai kennen ihn nicht. 

9°)Valaoritis ist infolge seiner Anerkennung in Griechenland 
auch im Auslande ziemlich bekannt geworden. Vgl. aulser Ran gab 6 
II, S. 240 ff., der einige Proben aus des Dichters schwächstem Werk, 
der »Phrosyne», mitteilt, noch Dora d'Istria in der »Revue des deux 
mondes* vom 1. März 1858 und J. Lamber, S. 271 ff., sowie 
R. Rodd in »The Nineteenth Century« 1891: The poet of the Klefts. — 
Übersetzungen aus seinen Werken veranstalteten: ins Italienische 
Tommaseo (im Dizionario Estetico), ins Deutsche Schultzendorff 
(Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen 
Bd. 41, S. 225—338), ins Französische J. Blancard: Ar. Valaorite, 
Pommes patriotiques, Paris 1883, ins Englische Herbert in der 
Saturday Review. Aulser der französischen sind es sämtlich nur Über- 
tragungen der ersten Sammlung, der »Gedenklieder« (1857). 

9») Über Zalokostas und Paraschos s. Rangab6 II, S. 169 und 256 ; 
J. Lamber S. 171 und 212. 

9»*) Über den Streit zwischen Roi'dis und Vlachos s. J. Lamber 
S. 156 f. 

9*) Metrische Übersetzungen von Drossinis' »Idyllen« bei A. Bol tz. 
Hellenisch die allgemeine Gelehrtensprache der Zukunft, Leipzig o. J., 
S. 276-294. 

9**) Proben aus seinen Gedichten an der in Anm. 94 angeführten 
Stelle. 



— 236 - 

93) Vgl. Beilage zur Allgem. Ztg. 1897, Nr. 228 : Neue Lyrik aus 
Griechenland (mit Übersetzungsproben). 

9*) In der litterarischen Halbmonatsschrift *Aus fremden Zungen« 
1902 (in einem der letzten Hefte): Die jüngste griechische Lyrik. 

94») Vgl. aufser Rangab^s »Herzog von Morea« (s. oben Anm. 76) 
noch Roi'dis' historisch -satirischen Roman »Die Päpstin Johanna« 
(deutsch Leipzig 1879) und Vikelas' »Lukis Laras« (Reclam 
Nr. 1968/69). 

95) Deutsch von A. Boltz: Hellenische (d. h. neugriechische) Er- 
zählungen (Bibliothek der Gesamtlitteratur Nr. 116/7) S. 1—68. 

9^) Erzählungen der genannten volkstümlichen Novellisten deutsch 
in der genannten Zeitschrift »Aus fremden Zungen«, und zwar von 
Drossinis: 1894, S. 99; 1897, S. 353; von Palamas: 1897, S. 841; 
von Vikelas: 1892, S. 290; von Vizyinos: 1895, S. 188; von Kar- 
kawitzas: 1894, S. 278; 1897, S. 1138; 1901, S. 41; 1902, S. 175, 
275, 364, 654; von Eftaliotis: 1898, S. 466; 1902, 2 (Marinos 
Kondaras); von Christovassilis: 1899, S. 521. Vgl. auch die zu- 
sammenfassende Skizze des Verf. »Die moderne griechische Erzählung« 
ebd. 1900, S. 332 f. 

97) Über Karkawitzas und seine Entwicklung s. »Aus fremden 
Zungen« 1902, S. 187 f. 

9*) Über Psichari als Novellisten s. Krumbacher, Beil. zur 
Allgem. Ztg. 1894, Nr. 57 und 59. — Skizzen und Märchen von P. Nir- 
wanas »Aus fremden Zungen« 1900, S. 612 und 1901, S. 327 und 380. 



Berichtigungen und Zusätze. 



S. 3, Z. 9: Die Notenziffer 2 gehört in Zeile 3 hinter Longos. 

Zu S. 43 oben und 49—59. Für den vergleichenden Betrachter 
der Litteraturgeschichte wird es nicht ohne Interesse sein, zu be- 
obachten, wie in der deutschen Litteratur des 12. und 13. Jahr- 
hunderts ebenfalls die Lehrdichtung und die Satire — nur die Bettel- 
dichtung fehlt — im Vordergrunde stehen. Vgl. W. Seh er er, Ge- 
schichte der deutschen Litteratur, S. 220 — 230. Das Gemeinsame liegt 
wohl in dem Verfall des höfischen Lebens, das Abweichende in der 
Entwicklung der griechischen Litteratur darin, dafs in ihr nicht, 
wie in der deutschen, die Ablösung durch das Bürgertum und den 
Humanismus folgte. 

S. 52, Z. 12 V. u. lies statt »Rodensteiner« besser »Weinschwelg« 
und vgl. Scherer, Gesch. d. deutschen Litt., S. 228. 

S. 75, Z. 9 V. u., und 76, Z. 2 v. o. lies Phaedrokaza statt 
PhaedrokaSa. 

S. 90, Z. 1 ff. lies: den Märchenzügen, statt: die 

Märchenzüge. 

Zu S. 104, Absatz 3: Das dort über Differenzierung und zu- 
gleich Kürzung der epischen Gedichte im Volksliede Gesagte findet 
ebenfalls eine Illustrierung in dem entsprechenden Vorgang der 
deutschen Litteratur; vgl. Seh er er a. a. O. S. 257. 

S. 118, Z. 20 V. u. lies PiCCatoro statt Pikatoros. 

Zu S. 124, Z. 4 ff. V. u. vergleiche, was Mendelssohn Bartholdy 
a. a. O. Bd. I, S. 48 über Helden Verehrung bei den Griechen sagt: 
*Aber selbst gegen eine Aristokratie des Verdienstes revoltiert der 
Grieche ebenso wie gegen die Aristokratie der Geburt. Wo hätten 
auch die Hellenen Respekt vor ihrer Aristokratie schöpfen sollen? 
Ein Mittelalter in unserem Sinne: Ritterburgen, Zünfte, Patrimonial- 
rechte haben sie nicht gehabt . . .« 

Was S. 128 über die Vorliebe des griechischen Volkes für 
tragische Liebesmotive gesagt ist, scheint in der deutschen Volkspoesie 
des 13. Jahrhunderts ebenfalls ein Gegenstück zu finden. »Schon der 



— 238 — 

traurige Charakter der meisten Balladen und ihre überwiegende Be- 
schäftigung mit Liebesdingen weist darauf hin, dafs in den Interessen 
des 13. Jahrhunderts auch ihre Wurzel liegt. Pyramus und Thisbe, 
Hero und Leander treten uns im deutschem Gewand entgegen.« 
(Scherer a. a. O. S. 257.) 

Zu S. 128 unten ist zu dem Motiv, dafs aus dem Grabe der Ge- 
liebten ein Baum hervorwächst, ein ganz ähnliches aus dem Grablied 
Bions auf den Adonis nachzutragen, wo es heifst, dafs aus seinem 
Blute Rosen und aus den Tränen der Aphrodite Anemonen entstanden. 
In demselben Liede klagen auch Gebirge, Wald und Ströme um den 
Toten. Vgl. Meyers Volksbücher Nr. 641/642 (Griech. Lyriker), 
S. 67 f. ^ 

Zu S. 128 f. (Naturbelebung) ist auf die gleiche Tatsache im 
deutschen Volksliede des Mittelalters zu verweisen. Scherer, der in 
seiner Litteraturgeschichte Beispiele dafür gibt (S. 254), führt sie auf 
den Einflufs der Fabel und Parabel zurück. Da diese nun orienta- 
lische Gattungen der Poesie sind, so kommt es schlief slich auf das- 
selbe hinaus, wenn wir in dieser Naturbelebung einen gemeinsamen 
Einflufs des Orients sehen. 

S. 145. Auch die Übersetzung des zweiten Liedes ist von Lübke. 

S. 159 füge am Schlufs von Absatz 2 hinzu; ^*). 

Zu S. 205 ist zu Tertzetis' Dichtung auf die Hochzeit 
Alexanders d. Gr. zu erwähnen, dafs das gleiche Thema in byzan- 
tinischer Zeit sowohl in der Poesie wie in der bildenden Kunst beliebt 
war; der Hof dichter Manuel Philes verfafste u. a. auch ein Gedicht 
auf eine bildliche Darstellung der Hochzeit Alexanders. Vgl. Krum- 
bacher, Byzant. Litt* S. 777, 4. 

S. 206, Z. 18 V. u. lies »^b statt »^v 



Index. 

Die mit einem * versehenen Ziffern bezeichnen die Hauptstellen. 



Abraham, Opfer des * 111 ff., 120, 

150. 
Achilleis *102 f., 130, 149. 
Achilles Tatios 3, 45, 70, 147. 
Agathias 38. 

Alexander der Grofse 103, 205. 
Alexandria 2, 104, 166. 
— , Beziehungen zu Byzanz 5 f., 20, 

29, 42 f. 
Allatios, Leo 175. 
Ambrosius 36. 
Amor s. Eros. 
Anakreontik 164 f. 
Anastasios, M. 175. 
Andreas von Kreta 36. 
Antoniadis 184. 
Antonio von Pistoja 82. 
Apollonios (von Rhodos) 3, 69, 70, 

135. 
Apollonios (von Tyros) 80. 
Armurislied 101. 

Arodaphnusa, Lied von der 124, 128. 
Athen 176, 196. 
Attizismus 6, 153. 

Baarlam und Joasaph 90. 

Balkanvölker , ihre geistige Ab- 
hängigkeit von den Griechen 7, 91. 

Barth^lemy 189. 

Belisar 59 f. 

Belthandros und Chrysantza 72, 
* 74 ff., 120^ 129, 130, 135. 

Benoit de Samte More 103. 

B^ranger 189, 191. 

Bergades (Bernardes) 116, 120, 143. 

Bibel, Einflufs der — auf die griech. 
Poesie 33, 88, 141, 147. 

Boccaccio 81. 

Bosporomachie *167 f., 180. 

Buas, M. 164. 

Bukarest 164, 176. 

Byron 189, 191 f, 201. 



Capodistrias 175, 182, 187. 
Charos 115, 135, 137, '138 ff., 

145, 148, 151 f., 210. 
Chortatzis 82 f. 

Christophoros von Mytilene 38. 
Christopulos, Ath. 160, * 164 f., 215. 
Christovassilis 221. 
Christus patiens *45ff., 179. 192. 
Clemens (von Alexandria) 3l. 
Condillac 162. 
Cornaro, V. 83. 

Dante 15, 17,86(Anm.),117,178,198. 

Dapontes lo3. 

Depharanas 59. 

Digenis Akritas 74, *93ff., 104, 
124, 140. 

Drama: byzantinisches 17 f., 26, 
45; volkstümliches des Mittel- 
alters 81 ff., 111; neugriechisches 
179 f., 182 f., 188, 190, 192 f., 208. 

Drimytikos, N. (s. auch unter 
-Schöne Schäferin-) 109. 

Drossinis, G. 216 f., 220. 

Dukas, St. 159, 160. 

Eftaliotis 221, 222. 

Epachtitis 221, 222. 

Episkopopulos, N. 223. 

Epos, spätaltgriech. 69 f., roman- 
tisches 83 ff., mittelalterliches 
Heldenepos 94 ff., neugriech. 
Kunstepos 184 ff., 187 ff ., 190, 
201 f. 

Erophile *82 f., 204. 

Eros 75, 135, 137, 151, 205, 206. 

Erotokritos *83ff., 99, 107, 120, 
129, 130, 135, 146, 167. 

Eustathios Makrembolites 43 ff. 

F^n^lon 162. 
Firdusi 86, 89. 



— 240 — 



Flore und Blanchefleur 80. 

Foscolo, U. 189, 198. 

Frankreich, Einflufs auf die grie- 
chische Poesie: des Mittelalters 
66 f., 73, *77 ff., 105, 107; der 
Neuzeit 186, 189, 191, 211 f., 217, 
218, 222. 

Gautier von Arras 92. 

Georgillas 59. 

Georgios Pisides 38, 40, 59. 

Gefsner 162. 

Giraldi 82. 

Goethe 162, 178, 216. 

Goldoni 162. 

Gottsched 176, 216. 

Gregor von Nazianz 31. 

Guzelis 208. 

Gyron le Courtois 80. 

Hatzopulos 221. 

Heine 187. 

Heliodor 3, 44, 70, 162. 

Hero und Leander 72, 74, 76, 

109, *126 ff., 134. 
Hiob 147. 

Homer, Gleichnisse aus — 85 Anm. 
Hugo, V. 189, 191, 211, 217, 218. 

Bias, Nachahmung der — 103. 

Indische Litteratur, Einwirkung 
auf die griechische 89, 90 f., 142. 

Italien, Einflufs auf die griechische 
Poesie : des Mittelalters 67, 80 ff., 
111, 142; der Neuzeit 194 ff., 198 f. 

Joannu, M. 164. 

Johannes von Damaskus 36. 

Johannes Geometres 38, 39. 

Kaliiah und Oimnah 90. 

Kalligas 219. 

Kallimachos 3, 70, 162. 

Kallimachos und Chrysorrhoö 73. 

Kallivursis 185. 

Kalvos, A. 205 f., 215. 

Kambissis 208 f. 

Kant 162. 

Karassutzas, J. 185. 

Kandis 190. 

Karkawitzas 221, * 222. 

Kasia *38, 39, 184. 

Kleften 124 f., 180, 181, 184. 

Konstantin d. Gr. 6, 60. 

Konstantinopel in der Dichtung 

11, 60, 61 ff., 166, 170, 183. 
Korai's, Ad. 160 f. 
— , Ant. 175. 
Koronaeos 164. 



Kotzebue 162. 
Kristallis 221. 
Kumas 162. 

Lamartine 191. 

Lapithes (Lapethis) 58. 

Laskaratos, Ä. 209. 

Lefkias 185. 

Leopardi 192. 

Lesbios, B. 158. 

Liebesbrevier (s. auch unter »Rho- 

dische Liebeslieder«) * 105 ff, 120, 

133, 134. 
Litteratur s. Poesie. 
Locke 162. 
Lohenstein 44. 
Longos 3, 44, 109. 
Lukian 3, 50, 118, 170 f. 
Lybistros und Rhodamne 74. 
Lyrik 16, 27, 81, 125 f., 181, 189, 

204 ff., 212 ff. 

Maguelone, Pierre et la belle — 80. 
Mahäbharäta 142. 
Makraeos 163. 
Malalas, Joh. 89. 
Manuel Philes 53, * 56. 
Marino Falieri 59. 
Marko Kraljevitsch 94, 124. 
Markoras, G. 206 f., 211, 216. 
Marmontel 162. 
Martzokis, St. 207 f. 
Matesis 208. 
Mavrokordatos, A. 157. 
-, K. 163. 
Metastasio 162. 
Michael Hapluchir 57. 
Moliere 162, 189. 
Monti 198. 
Moraitidis 221. 
Morias, J. 216. 
Moschos 130, 150. 
München 176, 185. 
Musset 192. 

Musaeos 3, 72, 109, 128, 134, 
135, 162. 

Niketas Eugenianos 43 ff., 89. 

Niketas von Serrae 52. 

Nikodimos 163. 

Nirwanas P., 223. 

Nonnos 3, 70, 72, 89, 128, 130, 150. 

Oekonomos (Ikonomos) 159. 

Opitz, M. 136, 181. 

Orient, Einflufs auf die spät- 

friechische Poesie 3, 6, 9, 10, 
6, 32 f., 67 f., 74, 86, 88 ff ., 
100, 107, 129 f., 142, 147. 



— 241 



Orphanidis, Th. 190. 
Ovid 162. 

Palamas, K. 204, 205, 211, 215, 

*217 f, 219, 221, 222. 
Pallados 56. 

Papadiamandis 221, 222. 
Paparigopulos, D. 192 f., 216. 
Paraschos, A. 193, * 214 f. 
Pastor fido 81, 110. 
Paulus Silentiarius 40. 
Perdikaris 170 f. 
Petrarca 81. 
Phanarioten(tum) 156 ff., 168 f., 

173, 186. 
Philosophie 9, 24, 162, 200. 
Physiologos 91. 
Piccatoro 118, 141. 
Poesie, byzantinische und neu- 

f-iechiscne; Perioden derselben 
f., 30; Ursprung 2 f.: Wechsel- 
wirkung zwischen beiden 5, 
155; Gattungen: epigramma- 
tische Poesie 37 ff.; erotische 
43 ff., 105 ff., 164 f.; geistliche 
31 ff., 45 ff., 118 ff., 163; histo- 
rische 59 ff., 124, 163 ff.; pane- 
gyrische 40 ff., 53 ff., 174 ff., 
Iö5 f.; paraenetische 57 ff., 173; 
satirische 50 ff., 165 ff., 190 f., 
.187, 209. 

Poesie, neugriechische; dualisti- 
scher Charakter 4, 153 f., Ver- 
wandtschaft mit der spätantiken 
(hellenistischen) 3, o8ff., 71, 
128 ff., 148 ff. ; Unterschiede von 
der byzantinischen 3, 4 f., 29, 
66, 79, 120; Reste der byzanti- 
nischen in der frühneugriechi- 
schen 87, 100, 107, 110. S. auch 
unter »Volkspoesie«. 

Porphyras 219. 

Provelengios, A. 219. 

Psellos 9, 52. 

Pseudo-Kallisthenes 104. 

Psichari(s), J. 221, 222 f. 

Quintus von Smyma 70. 



Ramler 176, 185. 

Rangab^ 157. A. R. 25, * 178 ff., 

190 f., 209 f., 219. 
Rhodische Liebesliedfer (s. auch 

unter Liebesbrevier) 105 ff., 120, 

133, 134. 
Rhodokanakis, K. 175. 
Rigas 173 f., 182, 204. 

D'ieterich, Gesch. d. byzant. u. neugriech 



Rizos 157. 

-, Jak. *170f., 172, 182. 

Roidis, E. 211, 215, /219. 

Roman . alezandrinisch-byzantini- 
scher 15, 43; volkstümlicher des 
Mittelalters 72 ff., der Neuzeit 
181 219 

Romanos 14, * 32 ff., 47, 147. 

Rousseau 162, 191. 

Sachlikis 58. 
Sakellarios, G. 165. 
Schiller 152, 178, 180, 200. 
»Schöne Schäferin« (s. auch unter 

Drimytikos) *109, 128, 131, 149. 
Shakespeare 178, 182. 
Sindbad 90. 
Skliros, Ath. 164. 
Solomos, D. 25, * 197 ff., 210 f., 

215, 219. 
Sophronios 172. 
Spaneas * 58, 87, 167. 
Sprache , neugriechische 7 f. , 24, 

49, 67, 78, 159 ff., 172, 199, 

220; s. auch »Sprachfrage«. 
Sprachf rage, neugriechische 159 ff., 

172, 220. 
Sprichwörter, neugriechische 11,92. 
Stavridis 184. 

Stephanites und Ichnelates 90. 
Stoichomachie 166 f. 
Suris, G. 191. 
Sutzos 157. 

-, AI. 186 ff., 209 f., 214. 
-, Pap. 191 f. 
Synesios 31. 

Tasso 81, 162, 178, 198, 200. 
Tertzetis 184, *205, 216. 
Theodoros Prodromos 43, 51, 

* 53 ff., 89. 
Theodoros Studites 38. 
Theodosios von Kreta 41. 
Theokrit 3, 71, 128, 162. 
Theophrast 162. 
Theotokis 158, 223. 
Tiergeschichten 51, 91 f. 
Timarion und Mazaris 118. 
Typaldos, J. *204 f., 211, 215 f. 
Tzanettis 167. 
Tzetzes 11, 57. 

Übersetzungslitteratur 81, 162. 

Valaoritis, A. *209 ff., 215, 216. 

Vamvas, N. 159. 

Vassiliadis, Sp. *183, 192 f., 216. 

. Litteratur. 15 



— 242 — 



Venedig 42, 66, 154, 185, 194 f., 
197. 

Vemardakis 182. 

Vikelas, D. 219. 

Villaras 171, 215. 

Vizantios 172, 184. 

Vizyinos 184. 

Vlachos, A. 184, 215. 

Volkspoesie, Ursprung der — 4, 68, 
142 f.; Verhältnis zur helle- 
nistischen Poesie 126, 128 ff., 
134, 145 f., 147, 148 f., 150; zur 
orientalischen 129 f., 142, 
147; zur mittelalterlichen 
Kunstpoesie 129, 130 f., 133 f., 
140, 141 f. ^ 143, 146^ 149 5 Ein- 
flufs auf die neugriechische 



Kunstpoesie 199 f., 204, 206, 
210, 213, 214, 216, 218; Christen- 
tum 138; Familiensinn 99, 111, 
116, 125, 146; Natursinn 98, 116, 
125, 144. 

Voltaire 162. 

Vulgaris, Eug. 158, 175. 

■Wieland 162. 

Xenopulos, G. 208, 220. 

Ypsilandis 157, 175. 

Zalokostas 184, *213. 
Zambelios, T. 182. 
Zo'iros, A. 183 f. 



Fierer'sche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg. 



Geschichte 



der 



türkischen Moderne 



Von 



Prof. Dp. Paul Hopn. 



^'"■'v. 



^1 -i Ä. — 



Leipzig*, 

C. F. Amelangs Verlag. 

1902. 



Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

Einleitung ; 3 

Ibrdhim Schindsy , 10 

Achmed Midchat 12 

Ndmyq Kemäl 30 

Abdel-Haqq Hämyd 34 

Machmüd Ekrem 37 

Schems Sämy 38 

Mechmed Tewfiq 40 

Müallym Nddschy 41 

Sezäjy 43 

Uschschäqyzäde Chälyd Zijä 44 

Achmed Rdsim und Mechmed Müneddschi 46 

Hüss^n Rechmi 47 

Wedschfhi 49 

Die übrigen Prosaisten 50 

Das Theater 52 

Die jüngste Lyrik 58 

Die Frauen in der türkischen Moderne 61 

Schlufswort 67 

Index 71 



Einleitung. 



Von der modernen Litteratur der Türken hat das Abendland 
bisher nur aus gelegentlichen Aufsätzen in Zeitschriften 
Kenntnis erhalten. Eine eingehende Darstellung derselben zu 
schreiben, wäre allerdings noch nicht an der Zeit, aber ihre Ent- 
wicklung bis zur Gegenwart ein wenig ausführlicher zu zeichnen, 
als dies bislang geschehen ist, lohnt doch und ist sogar Pflicht 
für eine Sammlung, welche die X'Litteraturen des Ostensc umfassen 
will. Indes genügt auch hier, der Lage der Dinge entsprechend, 
vorläufig ein kurzer Abrifs. Dafs er auf Byzanz und Griechen- 
land folgt, wird nicht befremden. Eine Darstellung der gesamten 
türkischen Litteratur hätte allerdings in den sechsten Band (Persien 
und Arabien) gehört, die türkische Moderne allein pafst aber nicht 
mehr nach Asien, sondern nur nach Europa. Und da bot ihr der 
Band mit Byzanz die natürlichste Unterkunft. 

Eigentlich hatte die folgende Skizze als Frucht einer längeren 
Beschäftigimg mit dem Gegenstande reifen sollen. Da aber der 
vierte Band früher erscheint als es ursprünglich geplant war, so 
mufste ich sie schliefslich schneller zum Abschluls bringen als 
mir lieb war. Schon die Beschaffimg des nötigen Materials war 
keineswegs so einfach. Einmal ist es nicht leicht, hier im Westen 
zu erfahren, was an litterarischen Neuigkeiten in der Türkei 
erscheint. Und selbst wenn dieses glückt, so läfst sich bei den 
türkischen buchhändlerischen Verhältnissen oft schon nach ganz 
kurzer Zeit ein Buch nicht mehr beschaffen, wenn man den 
rechten Zeitpunkt versäumt hat. Die Auflage war nur klein und 
ist dann schnell vergriffen gewesen, oder selbst bei gröfserer 
Anzahl sind die Exemplare durch einen Zufall irgendwohin 

1* 



— 4 — 

geraten, wo sie niemand sucht — auch der Verleger kann dann 
keines mehr besorgen. Europäische Bibliotheken können kaum 
aushelfen; in Deutschland scheint allein die Deutsche Morgen- 
ländische Gesellschaft systematische Anschaffungen auf diesem 
Gebiete zu machen, und im Auslande besitzt die Universitäts- 
bibliothek zu Upsala eine nennenswerte Sammlung jungtürkischer 
Litteratur. Durch das Entgegenkommen der Verlagsbuchhandlung 
bin ich selbst in den Besitz der meisten im folgenden aufgeführten 
Werke gekommen; diejenigen, welche ich aus eigener An- 
schauung kenne, sind mit einem Stern (*) bezeichnet. Daneben 
haben mir die Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesell- 
schaft in Halle, sowie die Herren Professor Dr. G. Jacob (Er- 
langen) — dessen Sachkenntnis dieser Skizze auch sonst ver- 
schiedentlich zu gute gekommen ist — und Dr. C. Philipp (Berlin) 
durch Herleihen einzelner Bücher ausgeholfen. Natürlich habe ich 
vieles recht herzlich Unbedeutende mit in Kauf nehmen müssen, 
was in einer abschliefsenden Geschichte der türkischen Moderne 
überhaupt nicht genannt zu werden verdiente. Hier habe ich der- 
gleichen aber doch wenigstens dem Titel nach meist erwähnt, 
weil es für das Gesamtbild immerhin von Interesse war, zu kon- 
statieren, dafs die neue Richtung sich schon vom ersten An- 
beginn an als lebensdurstig erwies. Das Resultat der Mühe so 
mancher verlorenen Stunde ist daneben oft genug völlig unter- 
drückt worden. 

Begreiflicherweise ist mein Standpunkt bei der Beurteilung 
der einzelnen Litteraturwerke der eines Abendländers gewesen. 
Die türkische Moderne will in den Bahnen des Westens wandeln, 
also mufs sie auch nach westlichem Mafsstab gemessen werden — 
natürlich imter Berücksichtigung speziell orientalischer Eigenart. 
Dazu konnte ich ihr durchaus unvoreingenommen entgegentreten. 
Man wird daher bei mir keine so enthusiastischen Äufserungeu 
wie bei Franzosen, die sich ihr gegenüber gern in einer Art 
Protektorrolle fühlen, noch wie bei Osmanen selbst finden, wo 
z. B. ein begeisterter Verehrer von Machmüd Ekrems Poesie sagt : 

»Sie ist eine Juninacht . . . Wohlgerüche und Stille. Unser 
zauberhafter, morgenländischer Mond spiegelt sich in den ent- 
schlummerten Wogen des Bosporus . . . Zeitweilig erklingt in 
dieser tiefen Ruhe die süfse, süfse und zugleich doch so traurige 
Musik einer Nachtigall, die vor Liebe weint.« 



— 5 — 

Trotzdem hoffe ich, den Bestrebungen der neuen Richtung 
gerecht geworden zu sein, der es beschieden sein möge, aus den 
Kämpfen, die sie immer noch zu bestehen hat, siegreich hervor- 
zugehen. 

Was die Aussprache der orientalischen Namen anlangt, so 
habe ich die langen Vokale in arabischen und persischen Wörtern 
— das Türkische selbst kennt keine Längen — durch Accents 
aigus kenntlich gemacht; in den meisten Fällen wird auf die 
so bezeichneten Silben auch zugleich der Ton fallen. Q, s oder 
SS sind in ihnen scharf, z weich wie französisches z, th wie eng- 
lisches th (die Türken selbst scheiden es nicht von scharfem s), 
q emphatischer als k (jedoch ohne folgendes v wie stets beim 
deutschen qu) zu sprechen. 

Über moderne türkische Litteratur haben geschrieben: Charles 
d' Agostino, La litt^rature turque contemporaine, in der Revue 
encyclop^dique Larousse, Paris, Septembre 1895, S. 345 — 350; 
A. Thalasso, Le th^atre turc contemporain, ebenda, D^cembre 

1899, S. 1037-1044; I. Künos, Az üjabb török irodalom fejlßd^se, 
in der ungarischen Zeitschrift Budapesti Szemle, Budapest, Janu4r 

1900, S. 68-84; P. Hern, Moderne türkische Litteratur, in der 
Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 193, München, den 24. August 
1900; Oestrup, Den moderne literaere bevaegelse i Tyrkiet, in der 
Nordisk Tidskrift, Stockholm 1900, S. 206-222; E. J. W. Gibb, 
A History of Ottoman Poetry, Vol. I, S. 132-136 (London 1900); 
Fr. Schrader, Neutürkisches Schrifttum, im Litterarischen Echo, 
3. Jahrgang, Berlin 1901, S. 1686—1690. Vergl. ferner auch Foy, 
Der Purismus bei den Osmanen, in den Mitteilungen des Seminars 
für orientalische Sprachen zu Berlin I, 2. Abteilung, S. 22 — 55 
(Berlin 1898). Über die Bestände der Bibliothek der Deutschen 
Morgenländischen Gesellschaft in Halle, sowie der Universitäts- 
bibliothek zu Upsala vergl. den Katalog der ersteren, 2. Aufl., 
Leipzig 1900, S. 416 ff., resp. Sveriges offentligabibliothek, Accessions- 
Katalog V, Stockholm 1891, S. 58 ff. Auch der Katalog der Arakel- 
schen Buchhandlung in Konstantinopel — kein Verlagsverzeichnis, 
sondern eine allgemein gehaltene Bücherliste mit kurzen, jedoch 
meist nur phrasenhaften Inhaltsangaben der einzelnen Werke — 
vom Jahre 1301 der Flucht (d. i. 1883/84 n. Chr.) ist mir von Nutzen 
gewesen; die neue Auflage habe ich mir leider nicht beschaffen 
können, wie mir auch ein vorhandenes türkisches Verzeichnis der 
Theaterlitteratur unerreichbar geblieben ist. Eine Anthologie aus 
der türkischen Prosa bis auf seine Zeit hat Ebuz-Zijä Tewfiq 
im ersten Bande seiner Nütnüne-i edehijdt (1879; 2. Aufl. 1886) 
geliefert (der zweite Band mit der Poesie soll nie erschienen sein). 



— 6 — 

Der Leser, welcher v. Hammers vierbändige »Geschichte der 
osmanischen Dichtkunst« einmal in den Händen gehabt hat, wird 
vielleicht erstaunt sein, wenn er die in diesem umfangreichen 
Werke behandelte Litteratur hier völlig unberücksichtigt sieht. Er 
hat in Hammer und danach auch in Gibb, von dessen weit wert- 
vollerer >History of Ottoman Poetry« bisher der erste Band vor- 
liegt (London 1900), begeisterte Verehrer derselben kennen ge- 
lernt und mochte daher füglich erwarten, sie auch hier wieder- 
zufinden. Aber hier soll nur von der türkischen »Moderne«, 
die erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts datiert, die Rede 
sein. Nun, die ältere türkische Litteratur hat der Leser bereits 
im sechsten Bande kennen gelernt, d. h. wenigstens ihr Wesen 
und ihre Bestrebungen. Aber das war völlig ausreichend; denn 
sie war tatsächlich nichts anderes als ein Abklatsch der persischen. 
Die Türken sind wohl imstande gewesen, ein grofses Reich zu 
erobern und an seine Stelle zu treten, aber eine eigene Kultur 
haben sie nicht schaffen können. In der Litteratur — d. h. in 
ihrer Kunstschriftstellerei , die sie selbst allein zur Litteratur 
rechnen — wurden sie bald die sklavischen Nachahmer Persiens 
und sind dies mehrere Jahrhunderte lang mit einer Gewissen- 
haftigkeit geblieben, die ihresgleichen sucht. Dem nüchternen 
Sinne des Türken mufste persische Phantasterei von Hause aus 
tiefinnerlich zuwider sein; er erkor sich aber trotzdem die per- 
sische Weise, die ihm eben imponiert hatte, zum Vorbild und 
blieb nun dem einmal Übernommenen, bieder und ehrlich, wie 
seine Natur ist, treu. Es galt ihm als klassisch, an dem er nicht 
zu rütteln wagte. 

In die Sprache der Litteratur war auf diese Weise allmählich 
fast der ganze persische wie arabische Wortschatz eingedrungen ; 
die Natur war völlig geschwunden und an ihre Stelle Künstlich- 
keit und Geziertheit getreten. Bäqi, Nedschäti, Nef'i u. a. wurden 
als die gröfsten türkischen Dichter gefeiert, aber ihre Gedichte 
waren gar nicht türkisch, sondern nach Form, Inhalt und Em- 
pfindung in Wahrheit persisch. Die Masse des Volkes verstand 
seine Dichter nicht, nur die Gebildeten. In den als Meisterwerke 
geschätzten stilistischen Leistungen eines Ferldün, Wlsi, Nergisi 
finden sich nur ab und zu ein paar türkische Wörter; wer sie 
verstehen wollte, mufste gelehrt sein, d. h. Arabisch und Persisch 
gelernt haben. Doch liefs man sich das lange Zeit so gefallen; 



— 7 — 

die höheren Klassen erwarben sich die nötige Bildung, welche 
das Verständnis ihrer Litteratur verlangte. Mit dem allmählichen 
Verfall des Reichs ging dann aber ganz natürlich ein Nachlassen 
auf allen Gebieten geistiger Betätigung Hand in Hand, und so 
verschlechterte sich auch der litterarische Stil. Der alte, ehr- 
würdige Klassizismus hülste seine Reinheit ein*, nur entartete 
Bastarde, wie ein osmanischer Kritiker aus der ersten Zeit der 
Reform, Zijä Pascha, sich ausdrückt, entsprossen ihm. Wenn 
ein Türke etwas schreiben will, so mufs er, meinte jener weiter, 
zunächst natürlich die Schreibkunst erlernt haben. Das ist aber 
für ihn schon etwas recht Schweres; denn aufser der türkischen 
Orthographie mufs er auch die arabische und persische kennen. 
Und hat er diese Schwierigkeiten mit vieler Mühe glücklich 
überwunden, so mufs er sich Phrasen und eine Ausdrucksweise 
angewöhnen, die er sonst in seiner Rede nie verwendet. 

Gegen das Tintentürkisch der Litteratur, wie man nach 
unseres Fischart »Tintendeutsch« diesen Stil vortrefflich bezeichnen 
konnte, wandten sich nun die Jungtürken. Die politischen 
Bestrebungen der neuen Richtimg, die zunächst die Regierung 
selbst auf ihrer Seite hatte — hatte doch diese den jungen Leuten 
durch Reisestipendien nach Europa, meist Paris, überhaupt erst 
Gelegenheit gegeben, den Westen an der Quelle kennen zu lernen, 
bis dann allmählich der heutige, gewitterschwüle Zustand sich 
entwickelt hat — lassen wir hier unbesprochen. Die persönlichen 
Schicksale der einzelnen Schriftsteller können wir schon aus dem 
Grunde nicht berühren, weil wir über sie zu wenig wissen ; sonst 
würde da manches von Ausweisimgen imd Verbannung zu be- 
richten sein. Entgegen der Politik wird übrigens, abgesehen von 
einer vorübergehenden kurzen Periode, die jungtürkische Litte- 
ratur nicht im Auslande, sondern in der Türkei selbst gemacht. 
Die meisten Autoren leben und drucken sogar in Konstantinopel 
(wie die französischen in Paris); nur gelegentlich erschallt eine 
Stimme aus der Provinz, z. B. aus Saloniki oder Smyma. 

Es genügt für uns hier, aus den jimgtürkischen Bestrebungen 
den einen springenden Punkt, der für die Litteratur in Betracht 
kommt, herauszugreifen. Man wollte die Türkei durch eine Auf- 
nahme der Kultur Europas erneuern. Die modernen Ideen konnte 
man aber schon äufserlich nicht in die übliche erstarrte Ausdrucks- 
weise kleiden, den neuen Wein nicht in die alten Schläuche 



— 8 — 

füllen — der blofse Gedanke daran war ein Unding. Nun fand 
man in der Litteratur des Westens Natur und Natürlichkeit, die 
man in der Heimat vergeblich suchte. Allerdings waren sie auch 
hier vorhanden, aber man achtete sie nicht. Die echt türkischen 
Lieder, die das Volk sang, die einfache Denkart des gewöhnlichen 
Mannes, dessen Geschmack nicht durch Anempfindelei an Fremdes 
verbildet war, brauchte man nur zu Ehren zu bringen, so be- 
gegnete man sich mit der Weise des Westens. Auch das Drama 
war kein völliges Novum; es gab schon ein Volksschauspiel, an 
welches man anknüpfen konnte (Jacob, Die türkische Volks- 
litteratur S. 37 ff.), wennschon Qawuqlu, Qaragöz imd Genossen 
erst noch gründlicher Metamorphosen bedurften, ehe sie auch nur 
als Vorbilder der niederen Komödie duldbar werden konnten. 
Ein natürliches Gedicht, so proklamierte man, ist dasjenige, wel- 
ches seinem Schöpfer nach wenigem Nachdenken aus einem Gufs 
in die Feder fliefst, und das Gleiche gilt für eine gute Prosa- 
schrift. Bei der bisherigen beliebten Künstelei geht ein »Dichter« 
mit einem Ghazel von fünf Versen neun Monate lang schwanger, 
zu einem Briefe machen wir mehrmalige Brouillons und Kopien, 
und wenn man ihn nachher genau besieht, so ist der Stil doch 
schlecht (Zijä Pascha). 

So kam die neue Richtung auf, die dann in der Tat einen 
aufserordentlichen Anklang fand. Bei den immer enger gewor- 
denen Beziehungen der Türkei zu Europa hatte alles »Fränkische« 
{Firengi, »der Franke«, bezeichnet allgemein den Europäer) schon 
längst Boden gewonnen, imd in der Litteratur konnte es auch 
tatsächlich vieles Segensreiche bieten. Die ersten Franken, deren 
litterarische Schöpfimgen dem türkischen Volke übersetzungsweise 
vermittelt wurden, waren die Franzosen. Galt doch am Bosporus 
Paris als die erste Stadt des Abendlandes und die Franzosen als 
dessen gebildetstes Volk. So wurden F^ndon, Lafontaine, die 
beiden Dumas, Voltaire, Paul de Cocq, Eug. Sue, V. Hugo, 
Xavier de Mont^pin (mit besonderer Vorliebe!) und weitere 
Pseudogröfsen des letzten Kaiserreichs, Moli^re, Jules Verne, 
Chateaubriand nebst zahllosen anderen, Gutes und minder Gutes, 
Altes und Neues bunt durcheinander, übersetzt. Dem modernen 
Türken traten unvermittelt die heroische Würde der Klassik, die 
Sentimentalität der Romantik und der Realismus — in neuester Zeit 
auch noch der Symbolismus — gegenüber, ohne irgend welche 



— 9 — 

Übergänge. Einen besonders starken Widerhall hat in seinem 
Gemüte der Weltschmerz gefunden. Noch manche der aller- 
jüngsten Autoren stehen unter dem Banne einer Weinerlichkeit, 
die Europa längst überstanden hat. 

Diese gleich von Anfang an sehr energisch einsetzende 
Übersetzungsarbeit hat dann im Laufe der Zeit — in weit be- 
schränkterem Mafse auch aus anderen Sprachen — stetig an 
Ausdehnung zugenommen. Neben Shakespeares in einen »Roman« 
umgewandeltem »Wintermärchen« erschienen »Robinson Crusoe«, 
Homer, und auch Werke leichtester Sorte, wie »Girofl^ Giroflä«, 
fanden Eingang. »Die Geheimnisse der Freimauerei« haben die 
türkische Zensur ebenso passiert wie eine griechische Mythologie. 
Wenn die Regierung daneben gelegentlich eingriff, z. B. den 
»Wilhelm Teil« unterdrückte und seinen Übersetzer verbannte, 
so war ihr das von ihrem Standpunkte aus schliefslich nicht zu 
verdenken. Der regierende Sultan Abdel-Hamid II. ist bis zu 
einem gewissen Grade ein warmer Freund und Förderer der 
jungen Litteratur. Man wird nicht leicht in einem anderen Lande 
derartig mit Ordenstemen geradezu beladene Litteraten finden 
wie z. B. Achmed Midchat oder Abdel -Haqq Hämyd. Der 
Exzellenzen unter den Schriftstellern sind gar nicht wenige. 

Doch gingen neben den Übersetzungen schon bald nationale 
türkische Schöpfungen einher. Man suchte das von den Fremden 
Gelernte auf die eigenen Verhältnisse anzuwenden. Eine Wirkung 
auf weitere Kreise liefs sich zunächst hauptsächlich durch die 
Presse erwarten, und so waren die jungtürkischen Litteraten in 
erster Linie sämtlich Journalisten. Neue Zeitungen schössen wie 
Pilze aus der Erde, um allerdings häufig ebenso schnell wieder zu 
verschwinden. Das hat wohl in der Novellistik die dauerndsten 
Spuren hinterlassen. Sehr viele Prosawerke erschienen zunächst 
als Zeitungsfeuilletons und wurden dann später unverändert in 
Buchform herausgegeben. An den Büchern treten die Schwächen 
aber häufig recht grell hervor ; denn an ein Buch stellt man mit 
Recht höhere Ansprüche als an eine flüchtige Tageszeitung. 
Überhaupt hat sich in der türkischen Moderne nicht selten die 
Reaktion gegen das neunmonatliche Austragen eines litterarischen 
Geisteskindes, das Zijä Pascha bespöttelte (S. 8), in das ebenso 
schädliche Gegenteil verkehrt. 



— 10 — 



Schinäsy. 

Als Vater der türkischen Moderne ist allgemein Ibrahim 
Schinäsy anerkannt. Das von ihm gegründete Blatt Te^w^-i 
efkjdr (>Ideen<) bezeichnet zmiächst den Markstein des neaen 
Prosastils. Aber Schinäsy war auch zugleich ein Dichter. Im 
Jahre 1859 liels er ein Bändchen »Ausgewählte Dichtungenc 
(MüfUechebdt) erscheinen, die allgemeines Aufeehen erregten. 
Zwar hatten schon längst viele Türken Racine, Lamartine und 
die anderen hier übersetzten Franzosen gelesen und auch schätzen 
gelernt, aber doch nur im französischen, fremden Originalgewande. 
Hier waren sie nun zum ersten Male türkisch gekleidet, und dieses 
Kostüm stand ihnen vortrefflich. Man trat ihnen nun nicht mehr 
gewissermafsen als Franzose gegenüber, wie sich der Türke doch 
im Grunde mehr oder weniger fühlen mufste, wenn er sie fran- 
zösisch las, sondern als Türke dem Türken. Man sah, dafs sich 
auch türkisch das aussprechen liefs, was man bis dahin nur in 
der fremden Sprache genossen hatte, und da der Überdruls an 
dem eigenen Klassizismus ein weitverbreiteter war, so war der 
Beifall der Jüngeren sehr stark, und auch den neuen Bestrebungen 
noch femer Stehende mulsten mindestens aufmerksam werden. 

Äulserlich spielt also das Jahr 1859 eine bedeutsame Rolle in 
der türkischen Dichtung, Schinäsy selbst waren aber seine refor- 
matorischen Ideen schon früher aufgegangen. Bereits in einem 
Ramazänsglück wünsche, den der Siebzehnjährige 1850 aus Paris an 
einen Gönner in Konstantinopel geschrieben und den Ebuz-Zijä 
Tewffq in seiner Anthologie abgedruckt hat, findet sich ein Bei- 
spiel der neuen Dichtart: fränkische, d. h. natürliche Denkweise 
in türkischem Rhythmus. Schinäsys Lustspiel »Des Dichters 
Heirat« (Schdyr ewlenmesij, eine der ältesten, wenn nicht die 
älteste jungtürkische Behandlung der muhammedanischen Frauen- 
frage, hat Vamb^ry in seinen »Sittenbildern aus dem Morgen- 
lande« (Berlin 1876, S. 37 — 46) in deutscher Übersetzung mit- 
geteilt. Schinäsy ist am 13. September 1871 gestorben. Seine 
Werke sind heute sehr selten; ein Neudruck wenigstens einiger 
von ihnen wäre eine nationale Ehrenpflicht. 

Die neue, durch Schinäsy eingeleitete Bewegung hatte das 
Glück, alsbald Führer zu finden, die jenen selbst an Schöpfungs- 
kraft weit übertrafen. Dafs Männer in so hohen Stellungen wie 



— 11 — 

Zijä Pascha, Saadallah Pascha, Achmed Wefiq 
Pascha (der Übersetzer Moteres — doch scheint der französische 
Lustspieldichter schon vor ihm incognito im Qaragöz in die Türkei 
eingeführt gewesen zu sein, vergl. A. Thalasso, »Moli^re en 
Turquie«, in der Zeitschrift »Le Moli^riste«, Vol. IX, p. 257 ff. 
und 289 ff., Paris 1888) sich offen zu ihr bekannten, war für 
sie von hohem Werte, wenn auch deren tatsächliche originale 
Mitarbeit keine umfangreiche war. Ziemlich gleichzeitig traten 
aber eine Anzahl anderer hervor, welche die neuen Pfade weiter 
austraten und zugleich noch andere einschlugen: Achmed 
Midchat, Nämyq Kemäl, Sämy, Machmüd Ekrem 
und Abdel-Haqq Hämyd. 

Bei den Anleihen, die man in der Fremde machte, galt es 
vor allem, das eigene nationale Bewufstsein nicht einzubüfsen. 
Darum wählten die jungen Litteraten bald neben den Über- 
setzungen das türkische Leben zum Gegenstande ihrer Schilde- 
rungen-, das MUH (»das Nationale«) ward dem Fremden scharf 
gegenübergestellt. Der französische Einflufs ist natürlich bis in 
die neueste Zeit hinein vorherrschend geblieben, er zeigt sich 
sogar im Stil. Wo es der Gegenstand zuläfst, wendet ein jung- 
türkischer Schriftsteller gern französische Worte an: Excellence, 
toilette, ä la cocq öwü (so türkisiert) u. a. nehmen sich in der 
unbehilflichen osmanischen Orthographie dann zunächst wunderlich 
genug aus. Selbst Gallizismen, wie »die Theophrasts«, d. h. Leute 
wie Theophrast, kommen vor. 

Einer jimgen, eben entstehenden Litteratur kommt selbst- 
verständlich viel darauf an, dafs sie auch richtig verstanden 
werde. Daher liebt es der jungttirkische Schriftsteller, am Schlüsse 
einer Geschichte ausdrücklich zu erklären, was er mit ihr habe 
sagen wollen, d. h. ihre Moral (netidsche) anzugeben. Er überläfst 
es nicht dem Leser, diese zu finden, sondern teilt sie ihm meist 
ziemlich aufdringlich selbst mit, damit sein Zweck ja erreicht 
werde. Der Autor unterbricht sogar bisweilen den Gang seiner 
Erzählung durch moralisierende, philosophische Belehrungen; ohne 
sie würde sein Buch häufig beträchtlich dünner ausgefallen sein. 
Neben der Ergötzung und Unterhaltung des Lesers geht eben 
stets ein ethischer Zweck her. Wie hausbacken die gepredigte 
Moral häufig ist, kann man aus Fällen sehen, wo wir die 
Netfdsche beispielshalber mitteilen; in Nr. 13 von Midchats 



— 12 — 

»Interessanten Geschichten« wirkt sie z. B. auf den belustigten 
Leser geradezu verblüffend. 

Dafs in den einzelnen Schriftwerken gewisse Züge vielfach 
wiederkehren, darf nicht wundernehmen; es handelt sich dabei 
um nationale Eigenheiten. So gibt es in der Liebe gewöhnlich 
kein Entsagen, oder dieses macht die Betroffenen doch jedenfalls 
unglücklich ; vergessen können jungtürkische Liebende nicht. Die 
jungen Männer sind meist recht sentimentale Idealisten; in ihrer 
Liebe betrogene Mädchen werden gern schwindsüchtig (wohl 
nach der Kameliendame); ein liebendes Paar wächst in dem 
Glauben auf, sie seien Bruder und Schwester, und ist beglückt, 
wenn es erfährt, dafs dies nicht der Fall ist. Grofs ist auch die 
Neigung für Hirtenidyllistik und, vor allem, für Kirchhofsszenen. 

Die Namen der Personen, die man auftreten läfst, wählt 
man gern typisch. So bedeutet z. B. in Wedschihis Roman 
»Mechdschüre« (S. 49 unten) diese selbst »die Verstofsene«, Ra'nä 
»die Schöne«, oder in Kemäls »Akif Bej« (S. 30) ist Äkif »der 
beständig Treue«, Dilrübä »die Herzräuberin«, u. a. m. 

Eine peinlich chronologische Ordnung soll in der folgenden 
Einteilung in Einzelabschnitte nicht ausgesprochen sein. Die Wirk- 
samkeit des einen Autors greift fortwährend derartig in die des 
anderen über, dafs eine genaue Zeitfolge sich gar nicht einhalten 
liefs. Kemäl war z. B. eher litterarisch tätig als Midchat, jedoch 
nur journalistisch. Als sein erstes Bühnenstück erschien, spielte 
Midchat bereits als Novellist eine Rolle. So erschien es gerecht- 
fertigt, dessen Gesamtporträt vor das Kemäls zu stellen. 

Achmed Midchat. 

Achmed Midchat (geb. 1841) verstand es in seltener 
Weise, den Bedürfnissen der Zeit entgegenzukommen. Der Türke 
hat stets gern erzählen hören, das Volk erfreut sich noch heute 
in den Kaffeehäusern an den Geschichten der Meddächs, 
öffentlicher Erzähler, wennschon dieser Beruf gegen früher stark 
zurückgegangen ist. Der Stil der Meddächs ist die Redeweise 
des täglichen Lebens; über ihre Kunst vergleiche man die Be- 
merkungen G. Jacobs, Die türkische Volkslitteratur (Berlin 1901), 
S. 10 ff. Midchat war nun selbst ein geborener Meddäch; da- 
durch, dafs er deren Ton verfeinert in die Litteratur einführte, 
hat er sich ein hervorragendes Verdienst erworben. Plastisch 



— 13 ~ 

und lebendig schildert er den Verlauf eines Ereignisses. »Was 
denkt ihr wohl, was der Mann in der kalten Wintemacht vor 
dem Hause wollte?« — mit dergleichen Fragen wendet er sich 
häufig an den Leser. Er sucht dessen Interesse und Neugier zu 
spannen und geht zu diesem Zwecke manchmal länger, als es 
nötig wäre, um den Kern der Sache herum. So plaudern wie 
Midchat kann aber nicht leicht wieder einer ; die anderen Schrift- 
steller haben diesen gefälligen Causerieton nicht zur Verfügimg, 
wenn sie ihn auch alle nachzuahmen versuchten. 

Eine ganze Reihe kleinerer litterarischer Schöpfungen hat 
Midchat unter dem Titel *» Interessante Geschichten« (Letäyf-i 
rhvdjätf bisher 25 Bändchen) zusammengefafst. Die ersten stammen 
aus dem Anfange der siebziger Jahre und wohl noch früher. Sie 
haben einen starken Erfolg gehabt und fast sämtlich mehrfache 
Auflagen erlebt. Da sie vielfach zunächst in Zeitungen er- 
schienen sind, so wird die Abfassung mancher schon etwas eher 
als in die unten angegebenen Jahre des Buchdrucks fallen. Für 
uns sind unter ihnen begreiflicherweise die Millistücke am inter- 
essantesten, wir erwähnen jedoch auch die Übersetzungen und 
Bearbeitimgen ausländischer Vorbilder, um einen Überblick über 
Midchats Gesamttätigkeit zu gewinnen. Bei seinen Bearbeitungen 
fremder Originale hat er, wie er selbst wiederholt erklärt, meist 
nur die Grundidee entlehnt und sich bei der Ausführung im ein- 
zelnen seine volle Selbständigkeit gewahrt. Wenn er es nicht 
selbst sage, meint er, würde überhaupt niemand an eine Ent- 
lehnung denken. Für einen so federgewandten Mann wie Midchat 
war es allerdings bequemer, etwas ganz von neuem zu erzählen, 
als es zu übersetzen. Dafs der Vielschreibende sich gelegentlich 
wiederholt, ist nicht verwunderlich. Die einst beliebten »Schaber- 
nacks« der älteren Generation, wie sie im »Ninunersatt« Neschäty 
Effendi ausübt, kommen z. B. auch in den »Janitscharen« vor; 
sogar ein Wortspiel, wie franz. souper und türk. (Opa »Schläge«, 
die man nach türkischer Sprechweise ebenfalls »ifst«, scheut er 
sich nicht, mehrmals anzubringen (in »Felätun Bej und Räqym 
Effendi« wie im »Nimmersatt«). Im übrigen ist aber Midchats 
Erfindungsgabe geradezu erstaunlich; er weifs fortwährend neue 
Situationen und Erlebnisse wie aus dem Ärmel herauszuschütteln. 

Der Inhalt der einzelnen »Interessanten Geschichten« ist nun 
der folgende: 



— 14 — 

1. Zwei kurze Geschichten in einem Hefte (1897 in 4. Auf- 
lage). In der ersten, einer französischen (»Verdachte), besteht 
die Pointe darin, dafs ein vermeintliches nächtliches Rendezvous 
einer verheirateten Frau mit ihrem Vetter sich ganz harmlos als 
notgedrungene Besuche eines lieu d'aisance herausstellt — man 
hatte bei der Abendmahlzeit Pflaumen gegessen. 

Das Gegengewicht hält dem Satyrstticke eine türkische 
Tragödie, »Sklaverei« betitelt. Ein Türke will seine Sklavin 
heiraten, die aber einen Sklaven liebt. Er ist schliefslich so 
grofsmütig, von seiner Macht keinen Gebrauch, sondern beide 
miteinander glücklich zu machen. In der Hochzeitsnacht erkennen 
sich jedoch die in früher Jugend aus ihrem Dorfe geraubten und 
nach Stambul verkauften Tscherkessenkinder als Bruder und 
Schwester. Sie töten sich. Also auch bei humanster Ausübung 
hat die Sklaverei unheilvolle Folgen. 

2. Wieder eine lustige und eine traurige Geschichte (1874 
in 2. Aufl.). Zunächst »Jugend«. Humorvolle Schilderung des 
Treibens eines jungen Mannes aus der guten Gesellschaft, bis 
dieser mit einer hübschen Sklavin verheiratet wird. 

»Die Ehe«. Die vorige Ehe war glücklich, die hier ge- 
schilderte ist höchst unglücklich. Die Wertherstimmung, wie sie 
in dieser Erzählung herrscht, ist in der modernen türkischen 
Litteratur sehr beliebt, in der Wirklichkeit gewifs nur ganz ver- 
einzelt, kein typisches Merkmal. Das Ganze ist ein Zerrbild. 
Beide Novellen des Bändchens sind zusammen mit »Nimmersatt« 
(unten Nr. 13) ins Deutsche übersetzt worden von Dr. E. S., 
Türkisches Highlife (Grofsenhain und Leipzig, H. Starke). 

3. »Weiberphilosophie« (1885 in 2. Aufl.). Eine wohlhabende, 
gelehrte alte Jimgfer nimmt zwei kleine Waisenmädchen an 
Kindes Statt an und vermacht jedem von ihnen ihr halbes Ver- 
mögen unter der Bedingung, dafs sie sich nicht verheiraten. 
Die eine heiratet trotzdem und stirbt über der Untreue ihres 
Gatten, die andere wird eine glückliche alte Jungfer. Also eben- 
falls gegen die türkische Ehe, welche die Frau nur unglücklich 
macht. 

4. »Das Herz« (1870). Der Gärtner Paul und Margu^rite 
de Baravel dürfen sich nach langen Hindernissen schliefslich doch 
heiraten, weil die adelsstolzen Eltern der Comtesse die adlige 
Gesinnung Pauls erkennen. 



I 



— 15 - 

»Unglückliche«. Ein eingefleischter türkischer Junggeselle 
gibt sein unsolides Leben auf und wird mit einer Courtisane 
glücklich, die wider ihren Willen in ein öffentliches Haus ge- 
schleppt worden war. Die Liebe macht also die richtige Ehe; 
auch mit einer solchen »Unglücklichen« ist sie möglich. 

5. »Trennung« (1870, 2. Aufl. 1884). Eine sehr phantastische 
Tscherkessengeschichte. Ein junger Türke wird von einem Tscher- 
kessen adoptiert und kann nun dessen natürliche Tochter, in die 
er sich verliebt, nicht heiraten. Nach den merkwürdigsten Aben- 
teuern werden aber beide doch schliefslich miteinander verheiratet; 
als sie sich in der Hochzeitsnacht erkennen, vergiften sie sich. 

6. »Die Janitscharen« (1898 in 3. Aufl.). Ein Janitscharen- 
offizier will seine der Untreue verdächtige, in Wahrheit unschuldige 
Gattin samt ihrem Kinde durch seinen treuen Burschen töten 
lassen. Doch der verliebt sich in sie und heiratet sie; das Kind 
setzen sie aus. Dieses, ein Knabe, wird Bootsmann und verliebt 
sich unwissentlich in seine Schwester, die seine Mutter ihrem 
zweiten Gatten geboren hat. Er fällt in einem Janitscharen- 
aufstande, seine Braut und Schwester wird wahnsinnig, alles 
endet höchst unglücklich. Das Treiben der Janitscharen ist leb- 
haft geschildert. 

7. Ein Drama »Unglück« (1884 in 2. Aufl.). Meftün Bej 
hat heimlich zwei Frauen, die nichts voneinander wissen. Der 
schwache Mann schwankt zwischen ihnen hin und her; die ein- 
zelnen Akte des Stückes spielen abwechselnd in den Häusern 
beider. Schliefslich erfährt Qäbire, die eine, das Geheimnis. Sie 
erkrankt an der Schwindsucht und veranlafst Meftün auf ihrem 
Totenbette, den Scheidebrief an die Rivalin L^lä zu schreiben. 
Sehr sentimental. 

8. »Der Tod steht bei Allah« (1873). Zwei Liebende wollen 
sich auf ihren gegenseitigen Gräbern das Leben nehmen, da sie 
beide einander tot glauben. Sie finden sich nun auf dem Kirch- 
hofe und werden glücklich. Rückwärts schreitend werden die 
Intriguen aufgedeckt, durch die alles gekommen ist. Das Harems- 
leben erfährt eine eingehende Schilderung. 

9. »Eine wahre Geschichte« (1876). Ein Muhammedaner darf 
ein von ihm verführtes Christenmädchen nicht heiraten, und beide 
werden imglücklich. 



- 16 — 

»Boshaft«. Ein alter Mann rächt sich an seinem Todfeinde 
dadurch, dafs er Geld zusammenbettelt und es dem Sterbenden 
bringt, damit er sich davon begraben lasse. Dadurch soll ihm 
seine ganze Hilflosigkeit am Ende eines schurkischen Lebens ver- 
zweifelnd zum Bewufstsein kommen. 

10. »Schicksalsfügung« (aus dem Französischen, 1877). Ein 
Geigenbauer gibt seine Tochter demjenigen seiner vier Gesellen, 
der die beste Probegeige macht (vergl. E. T. A. Hoffmanns 
»Meister Martin und seine Gesellen«). 

»Ist Junggeselle sein ein Glück?« Ein Türke versucht es 
eine Zeitlang in Pera mit dem ä la franca-Leben, dann mit einer 
Wirtschafterin imd einem Diener ä la turca, bis er schliefslich 
in der Ehe sein Glück findet. 

11. »Glück« (1884). Von zwei Schulkameraden wird der 
eine ein erfolgreicher Landwirt, der andere entfremdet sich dem 
türkischen Wesen und wird unglücklich. 

12. »Das Gespensterhaus« (1884). Eine sehr unwahrschein- 
liche, auf dem Lande bei Lyon spielende Entführungsgeschichte. 

13. »Der Nimmersatt« (1884). Dieses Kabinetsstück von 
Kleinmalerei schildert höchst ergötzlich einen gefoppten Schma- 
rotzer. Es genügt Midchat indessen nicht, den Leser blols zu 
imterhalten, was die reizende Geschichte reichlich tut. Er ver- 
kündet vielmehr gleich zu Anfang, seine eigentliche Absicht sei^ 
dafs man sich ein Beispiel an dem geschilderten Fresser nehme^ 
auch wenn man beinahe vor Lachen geplatzt sei, eine Mahnung, 
die er zum Schlüsse nochmals wiederholt. 

14. »Ein Reuiger« (1884). Ein junger Weiberfreund und 
Lebemann bekehrt sich nach einem mifsglückten Liebesabenteuer 
und heiratet. Midchat rühmt hier von der türkischen Ehe, dafs 
beide Teile, die einander vorher gar nicht kennen, darum auch 
keine gegenseitigen Enttäuschungen zu erwarten hätten, wie 
solche in Europa so häufig bereits nach dem Honigmonate ein- 
träten. In der türkischen Ehe füge man sich in das Unvermeid- 
liche und werde glücklich, weil man den guten Willen dazu mit- 
bringe. Von dieser Seite sieht er sonst die Sache nicht an. In 
der Türkei würden allerdings Auerbachs »Frau Professorin« und 
zahlreiche andere darum noch nicht unglücklich geworden sein, 
weil sie in den Bildungskreis ihrer Männer nicht hineinpafsten. 



— 17 — 

15. »Die Zigeunerin« (1886). Ein junger, vornehmer Türke 
hat sich in ein schönes Zigeunermädchen verliebt und sie zur 
Dame ausbilden lassen. Er darf sie aber nicht heiraten, obwohl 
sie gebildeter ist als viele Mädchen der besten Gesellschaft; denn 
das wäre nicht standesgemäfs. Er stirbt nach einem mifsglückten 
Selbstmordversuche. Eine sehr rührsame, breit ausgetretene 
Erzählung. 

16. »Doppelrache« (1886). Eine französische Geschichte aus 
dem »Moniteur oriental«. 

17. »Geld« (1886). Ähnlich wie in Nr. 11 wird an den 
Schicksalen zweier Jugendfreunde gezeigt, dafs Geld nicht glück- 
lich macht, sondern dafs nur ein Mensch, der etwas gelernt hat, 
zum Ziel kommt. 

18. »Jeder ist seines Glückes Schmied« (1886), nach dem 
französischen Romane »Les grandes dames de Paris«. 

19. »Das Mädchen mit Zeugnissen« (1889, nach einer Er- 
zählung im »Levante Herald«). Aus der in Paris spielenden 
Novelle läfst sich auch hinsichtlich der türkischen Mädchen die 
Forderung entnehmen, dafs für ihre Ausbildung mehr als bisher 
geschehen müsse. 

20. »Der Blick aus dem Wandschrank« (1889). Ein Bild 
aus der Zeit Sultan Machmüds II. im Stile von 1001 Nacht. Ein 
lustiger Kumpan wird nachts von einer Frau aufgenommen und 
mufs sich in einen Wandschrank verstecken, als unerwartet deren 
Liebhaber, ein Janitschare, dazu kommt. Bald erscheint auch 
noch der eigentliche Mann, der den Janitscharen samt dem un- 
getreuen Weibe umbringt. Der im Kleiderschranke wird entdeckt, 
aber sein Leben doch schliefslich geschont. 

21. »Zwei Betrüger« (1893). Nach einem »Romänchen« aus 
einer französischen Zeitung. Der Vicomte Charles de Blanche- 
maison und die Comtesse C^cile de Brouillard wollen beide nur 
aus Liebe heiraten. Sie lernen einander unter falschen Namen 
kennen und heiraten sich, bis sie schliefslich erfahren, dafs sie 
nicht nur eine Liebes-, sondern auch eine Standesehe geschlossen 
haben. 

22. »Der Kommissionär Qydqyt (1893). Ein Bild aus dem 
türkischen kaufmännischen Leben vergangener Tage. 

23. »Lebensretter« (1893). Drei kleine Geschichten. In der 
ersten läfst sich ein Franzose zum Spafs von einem anderen 

Hörn, Geschichte der tfirkischen Moderne. 2 



— 18 — 

scheinbar vor dem Ertrinken retten, wofür dieser die Rettungs- 
medaille erhält. 

24. »Ein Jagdabenteuer« (1893). 

25. »Mutter und Tochter« (1894). Die Mutter ist eine ihrer 
Zeit unter dem Namen »2iXiq« (aus Angdique verderbt) berühmt 
gewesene Cocotte, die zuerst das Velozipedfahren der Damen in 
Paris eingeführt hat. Ihre Tochter Louise hat die alte Grofs- 
mutter Germaine aufgezogen. Mutter und Tochter treffen ein- 
ander vor der Kirchtür nach Louisens Trauung; doch lüftet die 
zur Bettlerin Herabgesunkene das Geheimnis nicht. Das ist ihre 
erste und zugleich letzte gute Handlung der Tochter gegenüber. 

Wir geben zum Schlufs nach Dr. E. S.s Übersetzungen 
einige Proben. Zunächst aus dem »Nimmersatt« (Nr. 13): 

»Elefanten-Tachsin (eben der Nimmersatt) sprach öfters einmal im 
Palaste Neschäty Effendis vor. Neschäty Ef fendi nämlich gefiel sich 
darin, als der gastronomische Pol Stambuls zu gelten. Diejenige Person 
nun, welche Tachsin in dessen Palaste am meisten umschwärmte, war 
Meisterin Tscheschm Dscheläd. So oft er in den Palast kam, brachte 
er auch der Meisterin Tscheschm Dscheläd ein Geschenk mit, und 
wäre es nur ein Fingerhut gewesen. Ja, er liefs sogar in An- 
sehung seines Junggesellentums manchmal den Gedanken einfliefsen, 
dafs, wenn er möglicherweise eines schönen Tages Heiratsabsichten 
bekommen sollte, er dem gnädigen Herrn zu Füfsen fallen und ihn 
um die Freilassung der Meisterin Tscheschm Dscheläd anflehen würde, 
damit er sie und nur sie allein ehelichen könne. 

Ahnst du wohl, verehrter Leser, aus welchem Grunde Elefanten- 
Tachsin der Tscheschm Dscheläd in so aufdringlicher Weise den Hof 
machte? Bemerken müssen wir vorher, dafs die gute Meisterin über 
alle solche Freilasserei, Heiraterei und dergleichen eigentlich schon 
lange hinaus war. Auch abgesehen davon, dafs sie die Vierzig bereits 
weit hinter sich hatte, hätte sie, selbst wenn sie eine fesche Maid von 
achtzehn oder zwanzig Lenzen gewesen wäre, immer zu denjenigen 
Frauen gezählt, welche zu keinem andern Berufe geschaffen zu sein 
scheinen als zu dem, die Obliegenheiten einer Dienerin treppauf, 
treppab zu besorgen. Denn wenn unsere Dichter, wie sie für schöne 
Frauen die Attribute *mit schlankem Wuchs, feiner Taille, Kirschen- 
lippen, gewölbten Augenbrauen, langen Wimpern, vollem Hals u. s. w.* 
bestimmt haben, entsprechende Attribute auch für häfsliche Frauen 
festgesetzt hätten, so hätte man sie möglicherweise insgesamt auf die 
Meisterin Tscheschm Dscheläd anwenden können. Nein, nur weil sie 
Kellermeisterin für den Harem Neschäty Effendis war, wurden ihr 
von Elefanten-Tachsin solche Huldigungen dargebracht. So oft er in 
den Palast kam und ihr ein Geschenk — und wäre es eine Stecknadel 



— 19 - 

gewesen — in den Harem brachte, richtete auch Meisterin Tscheschm 
Dscheläd sogleich die Frage an ihn, ob er etwa Hunger habe. War 
es denn da menschenmöglich, dafs Tachsin keinen hatte? Sobald also 
auf obige Frage eine bejahende Antwort erfolgt war, ging auch schon 
aus dem Harem eine Reihe von Speisenplatten ab, auf denen ein Menü, 
vollständig vom Hühnerfleisch bis zum Kristallgelee und dem Erdbeer- 
sirup, aufgetafelt war. 

Nun weifs der Leser wohl, warum Elefanten-Tachsin die Meisterin 
Tscheschm Dscheläd verehrte. Freilich, als man ihn eines Tages frug, 
warum er eine so alte Dienerin liebe, gab Nimmersatt Tachsin eine 
ganz andere Antwort, die aber, weil sie seinem Charakter und seinem 
Rufe in Wirklichkeit noch mehr entsprach, sich ganz gut hören liefs. 
Er führte nämlich aus: 'Achtet einmal gefälligst auf die Bedeutung 
des Namens Tscheschm Dscheläd*)! Nun hat der Henker ein Beil. 
Ein Beil haben aber auch die Köche, um damit Klops und Hacke- 
fleisch zu bereiten. Dieses Werkzeug ist demnach nach meiner An- 
sicht sehr verehrungswürdig. So also liebe ich aus Respekt vor dieser 
Verehrungswürdigkeit die Meisterin Tscheschm Dscheläd gar sehr'. 
Ist es nun nicht eine jedenfalls bemerkenswerte Erscheinung, dafs 
Nimmersatt Tachsin, sobald nur irgend eine Beziehung zum Essen 
gegeben war, sogleich seine ganzen seelischen Kräfte daraufhin kon- 
zentrierte, ja sich sogar bis zur Verehrung eines Beils verstieg? 

Wenn es nun auch klar war, dafs Nimmersatt Tachsin Tscheschm 
Dscheläd reinweg nur um der schönen Frühstücksspenden willen um- 
schmeichelte, die er regelmäfsig bei jedem Besuche einheimste, so läfst 
doch keine Frau, die etwas in die Jahre gekommen ist, im Punkte der 
Liebesleidenschaft mit sich spafsen. Denn, während die Frauen in 
ihrer Jugend wohl auch an eine ihnen entgegengebrachte Neigung 
glauben, aber trotz dieser Überzeugung es nicht zu den Unmöglich- 
keiten gehört, dafs eine andere Neigung in ihnen die Oberhand ge- 
winnt, falls ihnen die Bürgschaften für die erstere nicht mehr stark 
genug erscheinen, braucht man ihnen, sobald sie in ein gewisses Alter 
getreten sind, nur einmal ein freundliches Gesicht zu machen, so fassen 
sie das sofort als etwas ganz Ernsthaftes auf und betrachten es als 
eine ausgemachte Liebeserklärung. 

Die Ursache hierfür ist nicht schwer zu erraten. Denn auf dem 
Antlitz einer schönen Frau ruhen jederzeit die Blicke, Erwartungen 
und Wünsche einer ganzen Welt, und sie ist sich ihrer Macht, jeder- 
zeit und, wen sie will, mit ihren Reizen zu bezaubern, wohl bewufst. 
Sollte es ihr daher den geringsten Kummer bereiten, wenn einige 
wenige ihren Blick von ihr abwenden? Solche dagegen, denen Schön- 
heit nicht zu Teil geworden ist, und denen es für gewöhnlich nicht 
gelingt, den begehrenden Blick eines Mannes auf sich zu lenken, 
machen, wenn dies doch zufällig einmal glückt, die höchsten An- 
strengungen, damit dieser Blick ja nicht wieder von ihnen abgleite. 



*) Persisch: Auge des Henkers. 

2 



- 20 — 

Zu letzteren gehörte nun aber auch Neschäty Effendis Meisterin 
Tscheschm Dscheläd. Sie nahm also Nimmersatt Tachsins Artigkeiten 
für bare Münze und glaubte steif und fest daran, dafs er nächstens 
Neschäty Effendi um ihre Freilassung bitten werde. 

Obschon nun das Verhältnis zwischen Tachsin und Tscheschm 
Dscheläd nicht allen Bewohnern des Palastes bis in alle Einzelheiten 
hinein bekannt war, so hatte es doch immerhin einige Mitwisser, 
natürlich mehr im Harem als im Selamlyq (der Abteilung des Hauses 
für Männer). Doch neckte bereits manche Bedienstete, wenn Tachsin 
kam, Tscheschm Dscheläd mit dem Rufe: *Dein Schatz ist da!' oder 
auch: *Dein Schatz will sich nach deinem Befinden erkundigen*, wenn 
sie ihr im Scherze unter die Nase reiben wollte, dafs er mit einem 
kleinen Geschenke für sie herbeikäme. 

Oft genug kam es vor, dafs man, wenn Meisterin Tscheschm 
Dscheläd die mancherlei von der Tafel übrigbleibenden Leckerbissen 
hurtig beiseite brachte und in den Kellerschrank verschlofs, sie mit 
den Worten: * Sicherlich verbirgt sie das für Tachsin Agha' in Ver- 
legenheit setzte oder, wenn sie einmal das Schlucksen Überkam, kichernd 
meinte: * Jetzt denkt Tachsin Agha an dich!' Nicht einer mafs aber 
der Neigung Tachsin Aghas zu Tscheschm Dscheläd eine ernsthafte 
Bedeutung bei, sondern ein jeder setzte sie auf Rechnung seiner ge- 
samten sonstigen Späfse. 

Und wirklich gab es derartige Späfse Tachsins nicht wenige. In 
demselben Palaste war, gleichwie Tscheschm Dscheläd seine gute 
Freundin, auch der Diener Serkiz sein guter Freund. Nimmersatt 
Tachsin pflegte zu sagen: 'Wenn ich ein Dichter wäre, würde ich 
dieses Serkiz Lob in tausendstrophigem Liede besingen; denn während 
ein gewöhnlicher Freund einen nur mit seelischen Genüssen der Liebe 
bewirtet, begnadet einen Serkiz mit dem leiblichen Genüsse an guten 
Bissen.' 

Den genannten Umständen angemessen hielt man denn allgemein 
das Verhältnis zwischen Tscheschm Dscheläd und Ninmiersatt Tachsin 
für durchaus harmlos und verfolgte es keineswegs mit argwöhnischen 
Blicken. Wir wollen darum beim Abschlüsse des ersten Kapitels noch 
eine zwischen den beiden vorgefallene Tatsache verraten, damit unseren 
Lesern die Einzelheiten des zweiten vollkommen klar werden. 

Eines Tages im Ramazän befand sich Elefanten-Tachsin im Palaste 
Neschäty Effendis, wo er, wie so oft, seinen Appetit stillte, und hatte, 
freilich nicht um die Zeit der Abendmahlzeit, wohl aber um die Früh- 
mahlstunde herum, seine verliebten Possen mit Meisterin Tscheschm 
Dscheläd bald auf dem Korridor, bald hinter dem Drehschranke *X 
bald auch in anderen günstige Gelegenheit bietenden Räumen etwas 



*) In die Wand zwischen Harem und Selamlyq eingelassen. Er vermittelt 
besonders den Verkehr von Gegenständen zwischen diesen zwei sonst streng ge- 
schiedenen Abteilungen des muslimischen Hauses. Ein solcher Wandschrank ist 
uns schon in Nr. 20 der »Interessanten Geschichten« (oben S, 17) begegnet. 



— 21 — 

.weiter als gewöhnlich getrieben. Die würdige Meisterin hatte nun, 
als das Beiramfest herankam, für Tachsin Agha, den sie fortan als 
ihren Bräutigam zu betrachten anfing, ein Geschenkpaketchen zurecht 
gemacht. 

Als nun Tachsin Agha dieses Päckchen, welches nach den Ver- 
hältnissen der Meisterin ganz stattlich ausgefallen war, öffnete und 
über das darin enthaltene feine Linnenhemd, die Weste von indischem 
Stoff, den afghanischen Gehrock und dergleichen im höchsten Erstaunen 
dastand, kam da nicht zwischen den Falten eines goldgestickten 
Taschentuches ein Papier zum Vorschein? Und waren nicht mit 
Frauenhand folgende Worte auf das Papier geschrieben: *Ach! Er- 
barmungslosiger! Auf wie lange noch soll ich brenen und braden?' 

Wir haben den Text der Worte nicht im geringsten geändert. 
Ninmiersatt Tachsins Lesekunst stand nun aber auf gleicher Höhe mit 
der Briefschreiberin Schreibekunst, und so kam es, dafs, obgleich er 
sich grofse Mühe gab, durch langsames Buchstabieren den Sinn der 
Worte zu entziffern, er beim ersten Male kaum irgend etwas davon 
begriff. Als er aber endlich an das Stichwort 'Braten' kam, begann 
er, sintemalen er einen frischen Braten Über alles liebte, sie noch 
einmal und mit aller Umständlichkeit zu überlesen und gelangte nun- 
mehr zum Verständnis dessen, was Meisterin Tscheschm Dscheläd 
eigentlich wollte, worüber er sich folgendermafsen äufserte: 

*Ach, was soll ich mit diesen Worten, was mit diesem Pakete 
anfangen? Wenn sie mir statt dieses Päckchens eine feine Sahnen- 
pastete geschickt hätte, wäre das mir unzweifelhaft viel willkommener 
gewesen. Und wenn sie mir, statt selbst zu braten, ein Würfelfleisch 
aus feinstem HanmielrÜcken gebraten hätte, so wäre mir das tausend- 
mal lieber gewesen'.« 

In der »Ehec (Nr. 2) erzählt ^äbire Hanym den Verlauf 
ihrer Hochzeitsnacht wie folgt: 

*Wozu soll ich erst alP die Einzelheiten des Hochzeitsfestes auf- 
zählen? Lafs mich lieber gleich zu unsern weiterhin erlebten Aben- 
teuern übergehen. Es wurde Abend. Der Bräutigam kam und ver- 
richtete sein Gebet. Auch die Ehrendame war zur Stelle, legte unsere 
Hände ineinander und entfernte sich. Wo aber war nun der schöne 
Brauch, nach dem der Jungvermählte sich bemüht, seiner jungen Frau 
ein Geständnis zu entreif sen, er ihr Zuckerwerk darreicht und Kose- 
worte zuflüstert? Ach nein, ach nein! Von alledem gab es nichts bei 
meinem Bej. Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich am liebsten 
dem Bej, der meines Lebens Luft und Lust war, um den Hals gefallen 
sein. Aber es ist etwas Geheinmisvolles um junges Eheglück. Geduld 
und Langmut mufs man dabei haben. 

Inzwischen verging eine Stunde, ohne dafs ein einziges Wort von 
den Lippen des Bejs gekommen wäre. In einer Ecke zusanmien- 
gekauert safs er da. Später, als ich schärfer in sein Gesicht sah, be- 
merkte ich, dafs er verstohlen weinte. Ich geriet gänzlich aufser 



— 22 — 

Fassung. Was sollte ich nun beginnen? Ihn nach der Ursache seiner 
Tränen zu fragen, schämte ich mich. 'Herr, mein Gott, habe du Er* 
barmen!' betete ich. Endlich wandte der Bej sein Gesicht mir zu und 
sagte: 'Mein Lämmchen, den ganzen Tag bis zum Abend hast du in 
dieser Kleidung dagesessen; auf deinem Kopfe allein trägst du fünf 
Oqa Gold, Silber und Geschmeide, das hat dich sicher müde gemacht. 
So stehe wenigstens auf, entkleide dich und suche die Ruhe!' 

Was war da zu machen? Ich erhob mich also und ging nach der 
Tür. Die Ehrendame kam mir entgegen. In einem Gemache im Innern 
kleidete ich mich aus, kam zurück und sah, wie der Bej, ebenfalls 
entkleidet, sich in einen Winkel zurückgezogen hatte, mit einem Buche 
in der Hand, welches er, Gott weifs wo, gefunden, und wie er darin 
las und las. 

Beim Innewerden meines traurigen Loses wäre ich am liebsten 
in Tränen ausgebrochen. Aber ich konnte nicht weinen und schämte 
mich auch, zu weinen. Ich begann meine Lage zu Überdenken. Je 
mehr ich aber nachdachte, desto aufgeregter wurde ich, und je mehr 
meine Aufregung wuchs, um so mehr mufste ich nachdenken. Ich 
geriet dadurch in einen Zustand, dals ich nahe daran war, mich zu 
vermessen, den Bej um Aufklärung zu ersuchen. Durfte das aber 
sein? Eine junge Frau ist hilflos. So fing ich an, still in mich hinein 
zu weinen und suchte mir dabei Rechenschaft über den Stand der 
Dinge zu geben. Ich sagte mir: 'Er liebt mich noch nicht, noch hat 
er mich bisher geliebt.* Wenn aber ein junger Mann einmal liebt, 
wie mächtig ist dann seine Liebe! In dieser Nacht trifft er das erste 
Mal mit mir zusammen. Die Liebe gehört nicht zu denjenigen Sorten 
Birnen, welche einem gleich in den Mund fallen. Er hat eben nicht 
heiraten wollen. Ich kann nicht behaupten, dafs er Überhaupt nicht 
hat heiraten wollen, aber jedenfalls hat er mich nicht zur Frau haben 
mögen. Seine Eltern haben ihn also gegen seinen Willen verheiratet ; 
sie meinten, sich ihr Naturrecht nicht schmälern lassen zu dürfen. 
Was sollte und konnte der Arme tun? Nun, er hat eben den Willen 
seiner Eltern erfüllt. Möge Gott es ihnen vergelten, dafs sie ihres 
Kindes Sinn und auch meine Seele so gequält haben. Ist eine Ver- 
mählung unter solchen Umständen statthaft, was wäre dann nicht alles 
statthaft? Wäre es daher nicht viel besser, wenn man den Kindern 
etwas mehr Freiheit Heise? Ich freilich konnte den Bej lieb haben, 
da ich ihn seit zwei Jahren gesehen und sein Treiben beobachtet hatte. 
Wie aber sollte er mich lieben, der mich heute zum ersten Male sah? 
Aber nur Mut! Vielleicht führt Gott noch alles zu einem guten Ende, 
vielleicht wird sich mein Leben noch glücklich gestalten. 

So grübelte ich in meiner Ecke, und so las der Bej in der seinigen, 
bis die siebente Stunde*) herbeikam. Noch immer rührte sich kein 
Laut. Auf einmal bemerkte ich, dals der Bej in tiefen Schlummer 
versunken war. Ich hustete ein-, zweimal, ich tat dies und das, er 

*) Türkische Zeit. 



— 23 — 

rührte und regte sich nicht. Ich stand auf und ging zu ihm hin und 
bemerkte bei schärferem Hinsehen, wie Tropfen um Tropfen bitterer 
Zähren von seinen Wangen rannen und bereits Kragen und Einsatz 
seines Hemdes ganz durchfeuchtet hatten. Ich rief ihn an: *Bej, hier 
werden Sie keine Ruhe finden, wollen Sie nicht aufstehen und sich 
auf Ihren Platz schlafen legen?' Er wachte auf und legte sich mit 
den Worten: *Sehr wohl, mein Lämmchen!* auf seinen Platz. Ich 
setzte mich ganz dicht neben ihn, mich geflissentlich nicht niederlegend, 
in der Erwartung, dafs er vielleicht einige weitere Worte sprechen 
würde. Vergebens! Während ich ihm ins Gesicht schaute, verfiel er, 
wo er lag, wiederum in Schlaf. 

O, welche Lage ! O, welche Nacht ! Inmierdar wird sie vor meinen 
Augen stehen ! Dreimal Wehe über den unglücklichen Mazlüm ! Wie 
aufgeregt mufste er doch sein! Er wollte im Traume reden, doch 
schien sein Herz viel zu friedlos, als dafs er fest einschlafen und ruhig 
hätte träumen können. Kaum hatte er ein, zwei Worte gesprochen, 
so fuhr er zusammen, erwachte, zwinkerte nach meinem Gesicht mit 
den Augen und schlofs sie wieder, um, wie mich deuchte, wieder ein- 
zuschlummern. Was blieb mir übrig? Ich begann zu weinen. Wie 
sollte ich mir diesen trostlosen Zustand deuten? Ich wurde ganz irre. 
*Ist dies das Werk einer Behexung? Nein, so dumm bin ich nicht, 
um an Hexerei zu glauben! Was ist es dann? Offenbar ist er erzürnt 
auf seine Eltern. Darf er dies aber mir entgelten lassen? Und wenn 
dieser Mann noch so berühmt ist wegen seiner Kenntnisse, darf er, 
der doch keinen Makel an mir kennt, deshalb gegen mich so grausam 
sein? Findet er denn gar keinen Gefallen an mir? Daran aber darf 
ich gar nicht denken, sonst wird mir's noch weher ums Herz. Was 
kann ich weiter tun ? So will ich mich wenigstens an seinem Gesichte 
satt sehen.' 

Das tat ich denn eine Weile lang. Schliefslich aber legte ich 
mein Haupt näher an das seine und streckte mich leise neben ihn hin. 
Nicht wollte ich ihn in seiner Ruhe stören, denn ich fühlte Mitleid 
mit ihm. 'War er nicht kopfüber in das Elend gestürzt? Wohl kaum 
würde er, hätte er nicht einen grofsen Kummer in sich geborgen, in 
dieser Weise geruht haben. Er selbst ein Jüngling, an seiner Seite 
ein junges Mädchen, in dessen Gesicht er, und wenn er halb blind 
war, die Zeichen der Liebesleidenschaft erkennen mufste, dessen Herz 
voll sehnsüchtigem Verlangen nach ihm, auch wenn er jene Zeichen 
nicht verstanden hätte, mit seinen Schlägen eine inbrünstige Neigung 
verraten mufste! Nein, es konnte nur ein grofser Kummer in dem 
Armen sein, dafs er so zu handeln vermochte. Er würde sonst doch 
wenigstens zwei Worte mit mir gewechselt haben.' 

Über all' diesen tausend Grübeleien schlief ich ein. Plötzlich 
merkte ich, wie mich jemand weckte. Ich schlug die Augen auf und 
hörte Mazlüm Bej zu mir sagen: *Steh auf, mein Lämmchen! Es ist 
Morgen. Alle Welt ist schon aufgestanden!' Ich kann nicht be- 



— 24 — 

schreiben, wie glücklich mich diese wenigen Worte machten. Nicht 
Worte waren es für mich, nein, Balsam für mein wundes Herz. Ich 
erhob mich, der Bej trank seinen Kaffee und ging hinaus. Ich meinte, 
er ginge, seinen Schwiegereltern die Hand zu küssen. Indessen wufste 
bis zum Abend kein Mensch, wohin er gegangen war. 

Ich weifs nicht, ob es mir meine Mutter an den Augen anmerkte, 
dals ich die ganze Nacht geweint hatte; wenigstens frug sie mich am 
Morgen: * Meine liebe Tochter, dein Gesicht und deine Augen sehen 
ganz verändert aus. Wie konunt das? Hast du nicht ausgeschlafen? 
Wie hast du diese Nacht zugebracht?' Ich wollte ihr nicht reinen 
Wein über meine Lage einschenken und suchte sie daher mit Aus- 
flüchten zu täuschen. Und in der Tat drang sie auch nicht weiter mit 
Fragen in mich, sondern geriet, wie es mir deuchte, auf andere Ge- 
danken und wollte, von dieser falschen Voraussetzung aus, mich nicht 
in Verlegenheit setzen.« 

Endlich der Schluls von »Jugend«, eine köstliche Satire auf 
die türkische Eheschliefsung : 

»Ach Tante, wenn ich wüfste, wie ich das Original zu dieser 
Photographie erlangen könnte!« 

»Und wenn nun, was würdest du dann tun?« 

(Ein wenig verlegen) »Ich würde es heiraten.« 

(Ein Lächeln.) 

»Meine verehrte Tante, warum hast du soeben gelacht?« 

»Worüber werde ich gelacht haben? Über deinen Fall habe ich 
gelacht. Deine Eltern bestürmen dich bereits seit fünf Jahren. Warum 
hast du nicht geheiratet?« 

»Ich wollte nicht so blindlings heiraten!« 

»Wie willst du denn jetzt anders heiraten?« 

»Nun, ich habe ja das Bild hier in meiner Hand.« 

»Das soll also leider heifsen, dals du nur nach Schönheit gehen 
willst?« 

»Aber, bitte, Tante, ist denn diese hier etwa nur schön?« 

»Was denn sonst? Weifst du vielleicht, wer sie ist, wie ihre Er- 
ziehung beschaffen ist, oder ob ihr Charakter mit dem deinigen har- 
monieren würde?« 

»Ach, wegen solchem Kram will ich mir jetzt den Kopf nicht 
zerbrechen.« 

»So, soll das etwa heifsen, dafs du deine alten Anschauungen über 
Bord geworfen hast?« 

»Beim Himmel, ich weifs gar nicht, wie mir ist. Es ist hier sehr 
heifs geworden. Bitte, Tante, befiehl etwas Wasser.« 

»Das sollst du haben, mein Junge. Gül-Pöker*), bringe etwas 
Wasser!« 



*) Persisch : Rosengesicht. 



— 25 - 

P^ker brachte Wasser, und ich trank es. Aus lauter Scham vor 
meiner Tante wagte ich es aber nicht, sie anzublicken. Wie sollte ich 
auch, wo ich keinen Menschen anzublicken mehr den Mut hatte. Die 
Tante liefs auch für sich selbst etwas Wasser bringen. Auf einmal 
merkte ich, dafs dieses Pökergesicht kein anderes war als das Feen- 
gesicht in meiner Tasche. 

»Aber bitte, Tante — «, weiter brachte ich bei meiner Verwirrung 
nichts heraus. 

*Was ist dir, mein Sohn?« 

Inzwischen entschwand das Mädchen eilends meinen Blicken. 

»Wer ist diese?» 

*Ich weifs es nicht.« 

*Was? Du weifst es nicht? Ist sie etwa nicht die Verkörperung 
des Bildes, welches ich hier in der Tasche habe?« 

»Ich fürchte, du verwechselst sie.« 

»Ach geh mir doch mit deinem Verwechseln! Ach bitte, Tante, 
erlöse mich aus meiner Verzauberung!« 

»Ich traue dir noch nicht recht und darf es auch nicht. Du bist 
ein Gegner des Heiratens und deine Neigung zu Liebeleien ist noch 
zu grofs.« 

Sofort erhob ich mich und erfafste ihre Hand. Alle Scheu war 
von mir gewichen. Ich liefs die Hand wieder fahren, küfste ihre Füfse 
und beschwor sie, mir zu sagen, wer jene und ob sie eine Sklavin sei. 

»Ja,« antwortete sie, »sie ist allerdings eine Sklavin und eine von 
den zwei Mädchen, welche du damals auf meinem Wagen gesehen 
hast. Sie war auch diejenige, welcher du nachher, als ich mit der 
Küchenaufseherin eingestiegen und zum Bazar gefahren war, den 
Brief übergeben hast.« 

Ich bettelte: »Lafs sie mir noch*eine Zigarette bringen!« 

Mein Flehen wurde erhört, und das Mädchen brachte die Zigarette. 
Ich wollte sie nehmen, war aber so kraftlos, dafs sie zu Boden fiel. 
Hierüber lächelte das Mädchen. Himmel, ich wurde förmlich toll, 
aber vor Freude. 

Kurzum, in dieser Weise verging der Abend. Am nächsten 
Tage kehrten wir nach Hause zurück. Da ich, wie oben bemerkt, 
nun alle Scheu überwunden hatte, entdeckte ich mich auch meiner 
Mutter. Sie war augenscheinlich sehr vergnügt darüber, dafs ich mit 
meinen eigenen Füfsen mich in einer derartigen Schlinge hatte fangen 
lassen; wahrscheinlicher aber war es, dafs sie bereits vorher so weit 
in die Sache eingeweiht worden war, dafs dieses ihr Vergnügen die 
unmittelbare Folge sein mufste. Ich will keine unnötigen Worte 
weiter machen. Wir vertrauten die fernere Gestaltung der Verhält- 
nisse der Tante an und liefsen sie in allen Stücken gewähren, wie sie 
es für gut fand. 

Am nächsten Tage kam meine Tante und erklärte sich damit 
einverstanden, uns die Sklavin zu überlassen, aber nur unter einer 



— 26 - 

Bedingung. Es sollte nämlich das Mädchen ein volles halbes Jahr 
nicht in mein Zimmer hineinkommen dürfen, und wenn ich dann nicht 
in ihrem Charakter, ihrem Betragen oder ihrer Erziehung einen Fehler 
entdeckt und dadurch abgeschreckt worden wäre, so sollte sie mein 
sein. Weiterhin aber sollte ich einen Eid darauf ablegen, dafs, wenn 
sie einmal mein wäre, ich sie niemals wieder verlassen und mich nie- 
mals nach einer anderen umsehen dürfte. 

»Ach Tante,« warf ich ein, »deine Bedingungen sind freilich recht 
hart. Mögen sie aber sein wie sie wollen, läfst sich denn wenigstens 
von der Wartezeit nichts abhandeln?« 

Durch mein inständiges Bitten erreichte ich denn auch endlich, 
dafs jene auf vier Monate herabgesetzt wurde. Und wirklich hatte 
auch meine Tante sehr weise gehandelt. Denn nur ihren Bedingungen 
war es zuzuschreiben, dafs ich das Mädchen so gründlich prüfte und 
ihr Tun und Lassen so aufmerksam verfolgte. War es doch keine 
Kleinigkeit, mich verpflichten zu müssen, sie, wenn ich sie einmal ge- 
heiratet hätte, niemals wieder von mir zu lassen! Leicht ist es, ein 
Versprechen zu geben, schwer aber, es zu halten. 

Indessen erwies sich das Mädchen so wohl erzogen, und ihr sitt- 
liches Verhalten war so vorzüglich, dafs ich kaum eine Unvollkommen- 
heit, geschweige denn einen schlechten Charakter an ihr hätte ent- 
decken können, was mich ihr sonst abwendig gemacht haben würde. 

Endlich waren die vier Monate herum. An einem Montag Vor- 
mittag kamen mein Vater, meine Tante, meine Mutter und meiner 
Tante Schwiegermutter zusammen. Ich und meine kleine Schwester 
horchten an der Tür. Man rief Pöker herein. Mein Vater holte ein 
schon vorher fertiggestelltes Freilassungsdokument hervor und händigte 
es ihr ein. Meine Tante aber hielt folgende Ansprache an sie: 

»Mein liebes Mädchen! Bereits als du in mein Haus kamst, 
hatte ich dich freigelassen, dir aber, damit deine Erziehung ohne 
Störung von statten ginge, keine Mitteilung davon gemacht. Jetzt ist 
nun deine Erziehung vollendet und wir sind willens, dich zu unserer 
Schwiegertochter und Schwägerin zu machen. Dazu aber mufst du 
im Vollbesitz aller Rechte und gegenüber deinem Gatten, deinem 
Hause, deiner Familie eine unbeschränkte Herrin sein.« 

Um die Mittagszeit rief man einen Imäm (Prediger) herbei. Es 
erschienen ferner von den Ortseinwohnern vier oder fünf der nächsten 
Nachbarn, und wir schlössen einen regelrechten Ehebund. Gott sei 
Lob und Dank! Von dieser Zeit ab besann ich mich auf mich selbst 
und rückte in die Reihe der Vollmenschen ein. 

Siehe, so treibt es die Jugend. Jeder junge Mann ist anfänglich 
ein Gegner der Ehe; hat er aber erst einmal einen Stein des An- 
stolses gefunden, so schreit er von selber nach dem Heiraten. Nur 
so viel Glück möchte ich ihm dann freilich wünschen, dafs besagter 
Stein ebenso mollig wäre wie derjenige, mit welchem mein eigener 
Kopf in Berührung gekommen war. — 



- 27 - 

Von den umfangreicheren Milli-Romanen Midchats gilt das 
Gleiche, was wir oben über seine Schriftstellerei überhaupt bemerkt 
haben. Er dichtet mehr oder weniger phantastische Erzählungen 
zusammen, ohne jedoch zu grobe, handgreifliche Unmöglichkeiten 
einzuführen. Die Fabel ist meist mit Geschick ersonnen und 
behaglich durchgeführt. 

Einer seiner frühesten Romane war »Hüss€n der Bauerc 
(Hüss€n4 felläck), den er verfafste, ermutigt durch den aufser- 
ordentlichen Beifall, welchen sein »Hassan der Seefahrer« (Hassan-i 
melläck), eine Nachahmung von A. Dumas' »Grafen von Monte 
Christo«, gefunden hatte. In »Ein Türke in Paris« (Parysda bir 
türk) schilderte er aus eigener Anschauung die Eindrücke dieser 
Idealstadt aller Jungtürken auf einen jungen Osmanen und ver- 
suchte sich unmittelbar darauf in *»Sülämän aus Mossul« (Süle- 
män-i Mogylly, 1877) als der erste im historischen Roman. Doch 
kehrte er bald wieder zum leichteren Genre mehr romanartiger 
und novellistischer Erzählungen zurück. 

*>Zum zweiten Male auf der Welt« (Dünjäja ikindschi gelischy 
1874) schildert die Schicksale eines Liebespaares, das infolge der 
Intriguen eines Eunuchen sieben Jahre lang in einer unterirdischen 
Höhle auf einer Insel bei Stambul zubringen mufs, während es 
auf der Erde oben als tot gilt. Wir befinden uns in der Zeit 
des Sultans Selim III. zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also für 
Midchats Leser schon in einer etwas entfernteren Vergangenheit, 
deren Zustände gegenüber der Gegenwart patriarchalisch an- 
muten. Die Moral der Erzählung soll sein, dafs jemand, der in 
seiner Selbstsucht sogar vor der Beseitigung ihm im Wege 
Stehender nicht zurückschreckt, doch schliefslich trotz aller Listen 
und Ränke das Spiel verliert. 

*»Felätun (Plato) Bej und Räqym Effendi« (1875) ist ein 
Sittenroman aus der neueren türkischen Gesellschaft. A la franca- 
Erziehung und -Neigungen, europäisches und türkisches Wesen 
treten nebeneinander auf, wie es das gemischte Leben der Bos- 
porushauptstadt mit sich bringt. Eine kürzende Übersetzung 
würde dem Abendländer eine hübsche Kenntnis dieser Verhältnisse 
vermitteln. Türkische Milli-Geschichten dürften gewifs bei uns als 
ZeitungsfeuiUetons dankbare Leser finden, während sie in Buchform 
wohl kaum auf Absatz rechnen können. Für die Übersetzungen 
jungtürkischer Werke gilt übrigens allgemein dasselbe wie für 



- 28 — 

alle orientalische, ja schlielslich jede fremde Litteratur überhaupt : 
Man mufs sich stets in das andersgeartete Temperament hinein- 
denken. Wer das nicht vermag, dem wird z. B. Kemäls »Vater- 
land« (s. S. 31 unten) deutsch leicht nur bombastisch scheinen. 

*»Ein Engel auf Erden« {Jerjüzünde bir melek, in 3 Bänden). 
Die beiden Liebenden Scheffq und Räzije werden zuletzt noch 
glücklich, nachdem sie lange durch die intrigante Ärife, die eben- 
falls den Scheffq liebt, getrennt worden sind. Schefiq hatte seine 
Jugendfreundin Räzije, mit der er sich heimlich versprochen hatte^ 
ehe er nach Paris ging, um dort Medizin zu studieren, bei der 
Rückkehr als die Gattin eines anderen wiedergefunden. Beide 
begraben jedoch ihre Liebe nicht, sondern bleiben heimlich mit- 
einander in — allerdings platonischer — Verbindung. Aber schon 
durch solches Durchbrechen der strengen Haremsanschauungen 
hatte Midchat Anstofs erregt und eine heftige Kritik des ersten 
Bandes (1875) hervorgerufen — es hat ja auch bei uns einmal 
eine Zeit gegeben, in der man noch keine »Wally« vertragen 
konnte. Trotzdem, oder wohl gerade darum, hat er den Roman 
doch vollendet imd am Schlüsse eine längere Verteidigung an- 
gefügt. Die Liebe, so sagt er, sei an sich etwas Heiliges und 
von der Natur in den Menschen gelegt. Darum durften Scheffq 
und Räzije sich auch unter den Verhältnissen, in denen sie sich 
befanden, lieben. Damit aber die Liebe heilig bleibt, mufs sie in 
dieser irdischen Welt durch Heirat sanktioniert werden. In eine 
wirkliche Schuld sind die beiden nicht verfallen, darum durften 
sie schliefslich noch glücklich werden. Hätte Scheffq das hin- 
gebende, rückhaltlose Vertrauen Räzijes, das an sich ein natür- 
licher, weiblicher Zug ist, gemilsbraucht, so wäre die Liebe un- 
heilig geworden. 

Der »Karneval« schildert wieder das ä la franca-Leben in 
Pera. Aufserhalb Stambuls liegt der Schauplatz des »Kaukasus c 
und des »Konaks« (Palastes), letzterer eine imter Schämil spielende 
Erzählung. Damit ist aber die Zahl von Midchats Romanen imd 
Novellen keineswegs erschöpft. 

Auch an der oben kurz erwähnten jungtürkischen Über- 
setzungstätigkeit hat Midchat einen grofsen Anteil. Ich erwähne 
davon hier nur die * »Fabeln« {Qyccadan hygga, 1870 2. Aufl.) 
nach Äsop, F^n^lon etc., die auch in Schulen Eingang gefunden 
haben. Neben der schöngeistigen Litteratur hat er aber auch 



^ 29 — 

auf fast allen (Gebieten der Wissenschaft gewirkt. Es gibt 
von ihm Kompendien der Nationalökonomie, der Welt- wie 
Spezialgeschichte, Jugend- und Unterrichtsschriften, Reisebeschrei- 
bungen, eine Verteidigung der muhammedanischen Religion, 
eine Darstellung der Philosophie Schopenhauers, eine Geschichte 
des roten Kreuzes (im Türkischen des »roten Halbmonds«) sowie 
zahllose andere Bücher der verschiedensten Art. Midchat braucht 
nur die Feder in die Hand zu nehmen, so scheint sie ganz von 
selbst über das Papier hinzulaufen. Sein bestes Werk will er 
noch schreiben, wie er selbst einem Freimde gegenüber geäulsert 
haben soll. Dieser Leichtigkeit der Produktion entspricht es, 
wenn Midchat sich oft von vornherein für eine ganze Reihe 
von Einzelwerken unter einem Gesamttitel festgelegt hat. Wie 
er für die lange Jahre unter seiner Redaktion stehende Zeitung 
»Dolmetscher der Wahrheit« in jeder Nunmier für Stoff zu sorgen 
hatte, so leistete er das Gleiche bei fortlaufenden Unternehmungen 
in Buchform. Die »Interessanten Geschichten« haben wir bereits 
kennen gelernt. Noch früher hatte er einen »Kramladen« (Qyrq 
embdr), der es bis auf 34 zum Teil starke Bände gebracht hat^ 
unter denen eine Anzahl seiner Milli-Romane und Übersetzimgen 
waren. Oder er gab unter dem ebenfalls bescheidenen Titel »Der 
Quersack« (Taghardschyq) eine Reihe wissenschaftlicher Ab- 
handlungen heraus, von denen er die allermeisten selbst 
geschrieben hat. 

Für die Bühne hat Midchat im Vergleich zu seiner übrigen 
litterarischen Fruchtbarkeit verhältnismäfsig wenig geschaffen: 
Das oben genannte Drama *»Unglück« (Evdh), die »Rache« 
(Intiqäm)^ das »Kurdenmädchen« (Kurd qyzy), die »Z6beks« 
(Zebekler, ein Albanesenstamm), »Tscherkessenadel« (Tscherkes 
özdenleri), »Sijäwesch«, sowie die Lustspiele »Blofskopf« {Aischyq- 
basch, eine Art Tartuffe) und die »Tänzerin« (Tschengi). »Blofs- 
kopf«, »Z€beks« imd »Tänzerin«, letztere beide mit musikalischen 
Einlagen, welche der Dichter selbst komponiert hat, haben zahl- 
reiche Aufführungen erlebt. Midchat ist überhaupt derjenige 
jungtürkische Autor, dessen meiste Stücke wirklich über die 
Bretter gegangen sind. Eine moderne Schauspielkunst hat 
Konstantinopel nur kurze Zeit gesehen, heute gibt es schon 
längst kein ernsthaftes, ständiges Theater mehr. Die jung- 
türkischen Dramen sind daher fast durchweg Buchstücke, es 



— 30 — 

fehlt den Verfassern an Gelegenheit zu Bühnenstudien. Wert- 
volle Bereicherungen erhielt das Drama durch Nämyq Kemäl 
(1837—1888) und Abdel-Haqq Hämyd. 

Nämyq Kemäl. 

Kemdls frühestes Stück *>Ein unglückliches Kinde {Zewdlly 
tschodschuq, 1873) gehört zwar dem Milli-Kreise an, es könnte 
aber ebensogut überall auf der Welt wie in Stambul spielen. Es 
behandelt die alte, ewig neu bleibende Geschichte, dafs ein Mäd- 
chen einen ungeliebten Mann heiraten mufs. Die erst 14 jährige 
Schef iqe wird einem 38 jährigen Pascha vermählt, weil dieser die 
Schulden ihres Vaters bezahlen will. Die Mutter glaubt nur der 
Tochter Bestes im Auge zu haben, wenn sie dieser zu der glän- 
zenden Partie zuredet; denn eine 14jährige weifs ja noch nichts 
von Liebe, die erst in der Ehe kommt. Aber Schefiqe kennt die 
Liebe doch schon, sie hat ihr Herz längst ihrem Jugendfreunde, 
dem hochbegabten Medizinschtiler Atä Bej, geschenkt. Das 
Unglück wirkt nun auf das zarte Mädchen derartig, dafs sie die 
galoppierende Schwindsucht bekonmit; ihr Geliebter vergiftet sich 
an ihrem Sterbebette. 

Das Verhältnis der beiden unschuldigen Kinder ist mit Zart- 
heit geschildert. Schefiqe ist trotz aller Sentimentalität mit ihren 
14 Jahren schon ein so fertiger Charakter, wie viele türkische 
Jünglinge von 20 nicht, die sich in Milli- Erzählungen herom- 
tununeln. Die Sprache ist einfach, was überhaupt im allgemeinen 
vom jimgtürkischen Theater gilt. 

In *»Äkif Bejc (1874) tritt Kemäls Vaterlandsliebe, ein bei 
ihm sehr ausgeprägter Zug, stark hervor. Der Schiffskapitän 
Akif Bej verlälst seine schöne, junge Gattin Dilrübä, um für das 
Vaterland zu kämpfen und, wenn es sein mufs, freudig zu ^Uen. 
Dilrübä, eine herzlose Dirne, die schon viele Männer unglücklich 
gemacht hat, läfst durch einen falschen Zeugen seinen Tod be- 
schwören und verlobt sich mit einem anderen. Akif kommt am 
Hochzeitstage zurück. Die beiden Nebenbuhler, die jeder bis zur 
Narrheit in die schöne > Schlange c verliebt sind, töten einander 
in der Hochzeitsnacht, wo sich Akif eingeschlichen hat. während 
dessen alter \^ater die Ungetreue selbst umbringt. Er hofft dafür 
auf eine Belohnung im Jenseits. Das Stück ist geschickt auf- 



- 31 — 

gebaut, mehrere Rollen bieten Schauspielern dankbare Aufgaben. 
In der Schilderung der Freuden und Leiden des Meeres schlägt 
Kemäl fast lyrische Töne an. Im Grunde ist sein Pathos aber 
meist mehr rhetorisch, wie in den folgenden Stücken immer 
deutlicher hervortritt. 

Die Hauptperson *»Gülnihäl« des gleichnamigen Stückes ist, 
wie schon ihr Name (»Rosenzweig«) anzeigt, eine Sklavin. Sie 
stirbt, um ihre zärtlich geliebte junge Herrin Igmet glücklich zu 
machen. Der Provinzgouvemeur Qaplan Pascha, ein vollendetes 
Scheusal, will diese ihrem Geliebten, seinem eignen Neffen Muchtär 
Bej, entreifsen. Muchtär wird von der gemifshandelten Provinz 
zum Herrn erwählt und stürzt den Tyrannen. Seinen Charakter 
scheint Kemäl in Erinnerung an Hamlet gezeichnet zu haben, 
nicht nur eine Kirchhofsszene erweckt den Verdacht einer Ge- 
vatterschaft des Dänenprinzen. Der Kirchhof bildet übrigens in 
der türkischen Moderne ein gern verwandtes Requisit; Kemäl 
schliefst seinen Dschezmi mit einer Friedhofsszene, in Sämys 
»Sidi Jachja« spielen die beiden ersten Akte, bei Midchat Nr. 8 
der »Interessanten Geschichten« auf solchen, u. s. w. Muchtär 
bedarf, um aus seinen Träumereien zum Handeln zu gelangen, 
immer jemandes, der ihn anstachelt. Dieser ist der patriotische 
Zulfiqär. Gülnihäl gehört zur Zahl jener Frauen, die nur einmal 
im Leben lieben. Ihrem jungen Gatten, der einst an ihrer Seite 
ermordet worden ist, hat sie auch in 16 jähriger Sklaverei, in 
welche sie ein grausames Schicksal geführt hat, die Liebe be- 
wahrt. Nur um Igmet zu retten, verspricht sie sich Zulfiqär, 
aber im Herzen wäre sie doch nie die Seine geworden. Dazu 
kommt es auch nicht, sie opfert sich für ihre Herrin und stirbt 
glücklich. Wenn sie nicht mehr lieben konnte, so kann sie doch 
desto gründlicher hassen. In ihrer Leidenschaft entwickelt sie 
ein hohes Pathos. Das treibende Motiv ist bei fast allen Per- 
sonen des Stückes hauptsächlich die Rache. 

Die gröfste Wirkung von allen Bühnenstücken Kemäls hat 
sein *» Vaterland oder Silistria« (Wa/an, 1875) erzielt, das auch 
ins Deutsche übersetzt worden ist (von L. Pekotsch, Wien 1887). 
Kemäl hat es hier unternommen, seinen Landsleuten einen neuen 
Begriff näher zu bringen, den schon andere vor ihm (z. B. Sämy) 
eingeführt hatten. Für seinen Padischah, den Sultan, wird der 
Osmane im Kriege freudig sein Leben lassen, für seinen Glauben 



-^ 32 — 

oder für seine Familie den Tod nicht scheuen, aber für das 
Vaterland? Als Vaterland gilt dem fronmien Türken in Kon- 
stantinopel nicht Europa, sondern Asien ; am liebsten ist er nach 
seinem Tode drüben in Skutari beerdigt. Sätze aus Kemäls Stück, 
wie »Das Vaterland ist heilig« (schon in Sämys »Ehrenwort«, 
1874), »Sein Brot essen wir, in seinem Schatten leben wir«, sind 
dem Türken zunächst unverständlich — er ifst des Sultans Brot 
und lebt in dessen Schatten. Aber Kemäl hat den modernen, 
europäischen Begriff seinen Landsleuten mit Erfolg näher gebracht, 
»Vaterland« ist in vielen Auflagen gedruckt worden, wenn auch 
seine Aufführung bereits bei der zweiten Wiederholung verhindert 
wurde. Kemäls glühender Patriotismus ging der Regierung zu 
weit, er sagte zu offen, was faul im Staate sei. Sein Pathos ist 
Herweghisch imd konnte daher leicht dem herrschenden System 
unbequem werden, das alles Gewaltsame ängstlich vermeidet. 
Den Vorwurf des Stückes bildet die heldenmütige Verteidigung 
der kleinen Festung Silistria im Jahre 1854 gegen die Russen. 
Die eingelegten patriotischen Lieder sind in ihrer begeisterten 
Sprache aufserordentlich eindrücklich. »Silistria« hat Nach- 
ahmungen hervorgerufen: »Die Donau oder Sieg« imd andere 
Stücke wandeln in seinen Spuren. 

Von Kemäls Romanen sind *>Ali Bejs Erlebnisse« {Intibdhy 
^Ali Bej sergüzeschti, 1874) am bekanntesten. Der Prosaist Kemäl 
zeigt ein etwas anderes Gesicht als der Bühnendichter. Als hoch- 
gebildeter Mann schreibt er einen feinen, gewählten Stil und 
verzichtet nicht auf die persisch-arabische Bildung der alten Zeit. 
In den historischen Essays *» Zerstreute Blätter« (Ewrdq-i peri- 
sckuHj 1884), in welchen er Ereignisse der islamischen Geschichte 
nach europäischer Methode zu behandeln sucht, ist er der reine 
Gelehrte, der denn auch den gelehrten Stil völlig beherrscht. 
Auch im * »Siegesblitz« {Bäryqa-i zefer, 1872), einer kurzen Ver- 
herrlichimg der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453, zieht 
er alle Register der gezierten Stilistik. 

Ali Bej ist einer jener ideal angelegten jungen Türken, wie 
sie in Milli-Geschichten nicht selten vorkommen. Völlig unver- 
dorben fällt er in die Hände der Courtisane Mechp6ker (»Mond- 
gesicht«), die sich liebesdurstig an ihn hängt, wie etwa Ciarette 
an den jungen Lucien in Ren^ Maizeroys »La peau«. Seine 
Mutter möchte ihn retten, indem sie ihn an die schöne, tugend- 



— 33 — 

hafte Sklavin Dildschüb (»Herzverwirrerin«) fesselt, aber diese 
gerät infolge von Mechp^kers Intrigen bei Ali Bej in üblen 
Verdacht und kommt dann durch Verkauf sogar in der Rivalin 
Hände. Da Mechp€kers Versuche, den Geliebten dauernd an 
sich zu ketten, fehlschlagen, beschliefst sie, ihn umbringen zu 
lassen. Diläschüb rettet ihn jedoch mit dem Opfer des eigenen 
Lebens, Mechp^ker ersticht sich. Die beiden Frauen verkörpern 
die Liebe; die verdorbene Courtisane die sinnliche, Diläschüb 
die selbstlose, nur an das Wohl des Geliebten denkende, mit 
einem stark sentimentalen Zuge. Ali Bej ist der am wenigsten 
interessante Charakter von allen. Wegen seiner realistischen 
Schilderungen hat der Roman viel Aufsehen gemacht. 

Historische Romane Kemäls sind *»Dschezmi« (1887) und 
»Newrüz Bejs Erlebnisse« (Terdschüme-i hdl4 Newriiz Bej). In 
Dschezmi steht zunächst die romantische Liebesgeschichte des 
Chalgas Ädil Giräi mit der Schwester des Schahs von Persien 
(vergl. V. Hammer, Geschichte des osmanischen Reichs, 2. Ausg. 
II, S. 489 ff.) im Mittelpunkte. Frei erfunden ist die Figur des 
Titelhelden, eines Dichters und tapferen Kriegers zugleich, dessen 
fernere Schicksale in weiteren, mir nicht bekannt gewordenen 
Bänden erzählt werden. Dichtkimst und Waffenhandwerk waren 
damals oft miteinander vereint; unter Sultan Soliman I. haben 
die Janitscharen, wie Kemäl erzählt, 80 Dichter gestellt. 

Kemäls lyrische Dichtungen sind mir leider völlig unbekannt 
geblieben; der Band »Wehe!« (Wdweld) ist längst nicht mehr 
zu beschaffen. Auf den Inhalt läfst schon der Titel schliefsen, 
den Kemäl gewählt hat ; damit steht seine Definition des Dichters 
im Anfang des »Dschezmi« im Einklang: 

»Was ist der Dichter? Ein Geschöpf, das die Natur in 
ihren leidenschaftlichsten Augenblicken mit schmerzlich schmerz- 
lichem Lächeln hervorbringt. Ihr Lächeln spiegelt sich in seinen 
dem Rosentau gleichen Tränen, ihre Tränen in seinem dem Wolken- 
regenbogen ähnelnden Lächeln. Mehr als andere Geschöpfe ein 
Sklave der Natur, strebt er doch, sie zu tiberwinden und müht 
sich, wiewohl seines eigenen Leibes nicht mächtig, mit seinen 
schwachen Armen den Erdkreis zu einem höheren Ziele, zu einem 
Zentrum der Vollkommenheit emporzuziehen. Versagen ihm die 
Kräfte, so stimmt er wie eine Nachtigall im schwarzverhängten 
Käfig ein trauriges Lied an oder erhebt einen Klageruf gleich 

Hörn, Geschichte der türkischen Moderne. 3 



- 34 — 

einem Falken, der, einsam im Weltenraum, nicht die nötige Luft 
zum Atmen findet und gereizt wieder herabfliegt. Poesie sind 
solche Weheschreie, Dichter derartige Unglückliche!« 

Den gelehrten Neigungen Kemäls entsprang seine türkische 
Übersetzung des sehr beliebten persischen Liebesromans der 
Bherewer Banu mit Dschehändär Sultan von Inäjetallah, aus 
dem Jahre 1651, der schon im 18. und zu Beginn des 19. Jahr- 
hunderts ins Englische, Deutsche und Französische übertragen 
worden ist. Kemäl hat immer noch mit einem Fufse im alten 
romantischen Lande gestanden, hier hat ihn sichtlich der Stoff 
angezogen. Die persische Geschichte hat ihm auch noch zu einem 
Drama , »Dscheläleddin , der Schah von Chwärezm« , den Stoff 
geliefert. Endlich hat er, zum Teil schon lange vor seinen 
Dramen, zahlreiche Essays über die verschiedensten Themen 
verfafst. 1888 ivSt er, 51 Jahre alt, gestorben. 

Abdel-Haqq Hämyd. 

Wie Kemäl begann Abdel-Haqq Hämyd seine schrift- 
stellerische Tätigkeit mit Theaterstücken, seine Hauptbedeutung 
liegt indessen auf dem Gebiete der Lyrik, wennschon er hier 
quantitativ vielleicht weniger als für die Bühne geschaffen hat. 
Sein Erstlingswerk *> Liebesschicksale« (Mädscherä-i yschq) er- 
schien 1873 in Prosa. Gegen Kemäls frühestes Stück aus dem 
gleichen Jahre (»Ein unglückliches Kind«) tritt es aber weit in 
den Hintergrund. Die Ausführung läfst noch viel zu wünschen 
übrig. Der Doktrinarismus, dafs jedes litterarische Werk auch 
erzieherisch wirken müsse, wird so weit getrieben, dafs am Schlüsse 
die einzelnen Personen von dem Vornehmsten im Stücke, dem 
Fürsten, je nach ihrem Verhalten ihre Zensur erhalten und selbst 
ihre Empfindungen über den Verlauf der Ereignisse analysieren. 
Die zentralasiatischen Nomaden, in deren Mitte wir uns befinden, 
sind ebenso leidenschaftliche wie brave Menschen; an Sentimen- 
talität fehlt es auch hier nicht. 

Einen bedeutenden Fortschritt zeigt * »Geduld und Beharrlich- 
keit« {Qabr we thebät, 1874). Zwei Liebende halten sich die 
gelobte Treue und finden sich schliefslich an der Leiche dessen 
wieder, der sie für ewig hatte trennen wollen. »Verheiratet man 
Menschen mit (Jewalt?«, in dieser vorwurfsvollen Frage einer 



— 35 — 

der auftretenden Personen ist die Tendenz des Stückes aus- 
gesprochen. 

In der * »Innerlichen« {Itschli qyz, 1874) hat sich Hämyd das 
Problem gestellt, zu zeigen, wie ein nur ein Innenleben führendes 
Weib unglücklich werden mufs, trotzdem es den heifs Geliebten 
zum Manne bekommt. Die Ehe wird für sie »zum Kirchhof der 
Liebe« \ wie ein Vogel elend von der Leimrute auf dem Zweige 
gefangen wird, der ihm ein entzückendes Plätzchen geschienen 
hatte, so ergeht es ihr mit ihrer Heirat. Die sentimentale, ver- 
schlossene, hysterische Qebihe palst eben trotz aller ihrer sonstigen 
Vorzüge und Tugenden nicht in diese Welt. Um sie gruppieren 
sich eine Reihe durchaus weltlich gesinnter Figuren, unter denen 
vor allen die durchtriebene, vor keiner Bosheit zurückschreckende 
Ralfe und der charakterlose Saadi hervorstechen. Hämyd hat 
auf den Dialog viel Sorgfalt verwandt und sich bemüht, die 
einzelnen Personen ihrem innersten Wesen entsprechend reden 
zu lassen. Wie Kemäls unglückliches Kind Schefiqe stirbt auch 
Qebihe vor Gram an der Auszehrung, zu der sie schon von Natur 
Anlage gehabt hatte. 

*»Das Indermädchen« {Duchter-i hindüy 1875) ist ebenfalls 
wieder eine Liebestragödie. Die Liebe der Inderin ist zunächst 
die hingehendste und selbstloseste, die sich nur denken lälst, bis 
zuletzt das Rachegefühl die Oberhand gewinnt. Es gelingt der 
Betrogenen, ihren Verführer, einen englischen Beamten in Gud- 
scherat, mit sich zugleich auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu 
lassen, den sie als Witwe besteigt. Das Bemerkenswerteste an 
dem Stücke sind die Verse, welche die Inderin in ihrer Liebes- 
ekstase vorträgt, und auf die wir noch zurückkonunen werden. 

In *>Täriq oder die Eroberung Spaniens« (1879) betrat 
Hämyd mit Erfolg den Boden des historischen Dramas. Dieses 
Stück war bis auf einige wenige eingelegte Lieder völlig in 
Prosa. In *>Eschber« (1880; Eschber ist ein König Kaschmirs 
zu Alexanders des Grofsen Zeit) und *>Tezer« (wohl statt Terez, 
d. i. Teresa; ebenfalls 1880) schuf der Dichter dann nach dem 
Vorbilde der klassischen französischen Tragödie eine ganz neue 
Gattung, nämlich gereimte Trauerspiele. Nur wenige Personen 
treten auf, zwischen ihnen spielt sich die Handlung ab. Unserem 
Ohre mögen die von Hämyd angewandten Hezedsch- und Chefif- 
metren vielleicht nicht immer würdevoll genug klingen, für die 

3* 



— 36 — 

türkische Litteratur war das Bühnenstück in Versen etwas Un- 
erhörtes. Von den weiteren gleichartigen Theaterstücken Hämyds, 
wie »Sardanapalc, »Libertd«, »Die Courtisanec (Qachbe)^ »Leiden- 
schaft« {Gharäm)y ist mir keines zu (iesicht gekommen. Jeden- 
falls ist er seit einer ganzen Reihe von Jahren verstummt; der 
Diplomat an der Botschaft zu London, der er mittlerweile ge- 
worden ist, hat den Dichter völlig bei Seite geschoben. 

Schinäsy hatte zuerst westliche Denkweise in die türkische 
Poesie eingeführt, jedoch ohne deren übliche äufsere Formen zu 
ändern. Hdmyd ging nun noch einen wichtigen Schritt weiter 
und hüllte die neue Weise auch in ein neues, europäisches Ge- 
wand. Schon das verliebte »Indermädchen« hatte 1875 seiner 
Leidenschaft in solcher fremdartigen Form Ausdruck geliehen; 
in der phantastischen, indischen Welt dieses Stückes war dies 
aber, wie es scheint, eindruckslos verhallt ; man hatte die sinnige 
Kennzeichnung einer tiefen Leidenschaft in ganz imgewohnten, 
neuen Tönen gar nicht verstanden. Da schlug nun Hämyd vier 
Jahre später in der Gedichtsanunlung *»Das Land« {Qechrdy 
1879) diese wieder an, zwar nur in einer geringen Anzahl von 
Gedichten unter vielen anderen — aber jetzt drang sein Beispiel 
durch, allenthalben ahmten ihn die Jüngeren nach. Er selbst 
hat noch Elegien zum Andenken an seine frühverstorbene Gattin 
(1885), sowie lyrische Gedichte und Gedichtsammlungen, wie »Die 
Narzisse« (Nesteren) ^ »Diese sind es« {Bunlar o dur^ 1885), 
»Meine Torheiten oder die Stadt« {Diwäneliklerim jachod beide, 
im Gegensatz zum »Lande« , 1886) verfafst. Aus Prosa und 
Versen gemischt ist »Die Geschichte einer Unglücklichen« {Bzr 
sefilenin hasbykäly, 1886). Seitdem hat er sich aber auch als 
Lyriker in Schweigen gehüllt. 

Wie übrigens die einfache Erzählungsweise der Meddächs 
(s. oben S. 10) gegenüber der in der klassischen Litteratur 
üblichen Künstelei eine Brücke zu dem neuen Stil bildete, so 
leisteten in der Poesie die Volkslieder den gleichen Dienst. Die 
neuen Formen waren auch hier gar nicht so unerhört : die volks- 
tümlichen Lieder, von denen Künos im zweiten Bande seiner 
Anthologie »Oszmän-Török n^pkölt^si gyüjt^meny« (Budapest 
1899, S. 181 ff.) zahlreiche Proben gesammelt hat, zeigen in ihren 
wechselnden Verslängen und Reimverschlingungen, wie in ihrer 
ganzen Ausdrucksweise zum Teil durchaus westliches Gepräge. 



— 37 — 

Man vergleiche z. B. Verse aus dem Schlüsse des ersten Akts 
von Sämys »Sidi Jach ja« (1875): 

Fürs Vaterland zu sterben galt uns Pflicht, 
Der böse Tod jedoch, er wollt* uns nicht. 
Er traf ixns schwer. 
Doch leben wir 
Elend und zum Erbarmen. 
Weiber, 
Kinder 
Weinen laut, die Armen!*), 

oder die folgenden aus dem »Käwe« (1876): 

*s ist Neujahrstag, 
Die Sonn' erwacht. 
Schau* die Natur, 
Wie froh sie lacht. 

Dergleichen war völlig Türkü- oder Maani^mälsigj nur war 
es in der schönen Litteratur bisher noch nicht üblich gewesen. 

Machmüd Ekrem. 

Eine weit grölsere Wirkung als Hämyd erzielte in der Lyrik 
Machmüd Ekrem, der überhaupt als der bedeutendste 
lyrische Dichter der bisherigen türkischen Moderne gilt. Mit 
seinen Gedichtsammlungen »Morgenliederc (Neghtne-i seher)^ 
»Gemurmel« {Zemzeme^ wie eine Quelle lieblich murmelt), 
»Jugend« (Gendschlik) u. a. ist er aufserordentlich populär ge- 
worden. Er hat aus dem Westen die Kunstformen der Ballade 
imd Romanze eingeführt und gleichzeitig das einheimische Volks- 
lied veredelt und damit völlig litteraturfähig gemacht. Doch 
schweigt auch er jetzt seit Jahren — wie es heilst, auf höheren 
Befehl. Neben Übersetzungen hat er mehrere Bühnenstücke ver- 
falst: »Die keusche Ang^lique«, »Atala oder die Wilden 
Amerikas« (1873 nach Chateaubriand) und *» Vereinigung oder 



*) Dafs diese wie auch meine gelegentlichen anderen Lieder- 
übersetzungen nicht schön sind, weifs ich natürlich selbst; aber in 
Prosa konnte ich türkische Poesie unmöglich wiedergeben. Besser 
ausfeilen hätte ich sie nie können; ich bitte daher, die hingeworfenen 
Reimereien als Notbehelf nachsichtig aufnehmen zu wollen. Der Leser 
wird anerkennen, dafs ich ihn so selten wie nur möglich mit ihnen 
behellige. 



— 38 — 

kurze Liebec (Wef/et, 1874). Die Sklavin Wedlet (der Name 
bedeutet zugleich »Vereinigungc) wird an eine vermeintliche 
Paschaswitwe verkauft, die sie angeblich mit ihrem Sohne ver- 
heiraten will. Ehe sie aber der neuen Besitzerin tibergeben 
wird, gestehen sie und Müchsin Bej, der junge Sohn des Hauses, 
die beide zusammen aufgewachsen sind, einander ihre Liebe, 
doch läfst sich der Handel nicht mehr rückgängig machen. Die 
Paschaswitwe ist in Wirklichkeit eine Sklavenhändlerin und ver- 
kauft Wedlet sofort weiter. Müchsin erkrankt schwer. Auf 
seinem Totenbette sieht er die Geliebte zwar nochmals kurz 
wieder, beide sterben aber, als eben alle Hindemisse ihrer Ver- 
einigung beseitigt waren. Der letzte Akt ist sehr rührsam, das 
ganze Stück aber mit Geschick aufgebaut. Es ist das sentimen- 
tale Genre, das Ekrem in allen Stücken pflegt ; auch die keusche 
Ang^lique opfert wie de St. Pierres Virginie Leben und Liebe 
der Schamhaftigkeit. 

Schems Sämy. 

Das Hauptverdienst Schems Sämys, der durch seine 
beiden vortrefflichen Wörterbücher, ein französisch-türkisches 
(1882) und ein türkisch-französisches (1885), auch in Europa vor- 
teilhaft bekannt geworden ist, liegt für die neue Litteratur in 
seinen sprachreinigenden Bemühungen. Von seinen selbständigen 
Werken (er tibersetzte unter anderem V. Hugos »Miserables«) 
sind die bedeutendsten der Roman *»Terets und Fitnets Liebe« 
{Teaschschyq-i Teilet we Fitmt^ 1872) sowie drei Theaterstticke. 
Der Roman ist eine Anklage gegen die ttirkische Ehe, er zeichnet 
farbensatte Bilder aus der Stambuler Welt. 

Seine drei Dramen spielen dagegen sämtlich im Auslande. 
♦»Ehrenwort« {Bessä; 1874 zum ersten Male aufgeftihrt tmd 
1875 im Druck erschienen) führt ims nach Albanien. Ein 
Amaute kehrt nach zwanzigjähriger Abwesenheit in sein Dorf 
zurück. Das erste, was er hier tut, ist, dals er seinen eigenen 
Sohn töten muls, weil er die Blutrache für eine fremde Frau 
übernommen hat, die ihm das Leben gerettet hat. Das Gefühl 
des Vaters muls gegen die Pflicht, das feierlich gegebene Ver- 
sprechen zu erfüllen, zurücktreten. Sämy begründet dies aus- 
drücklich in einem Vorworte durch den Hinweis auf Dumas' 



- 39 - 

(Sohn) »Le r^gent Mustel« (man vergl. auch Prosper M^rim^es 
»Mateo Falconec). Der Theoretiker und Gelehrte Sämy, der 
eine These verficht, hat sichtlich grölseren Anteil an dem Werke 
als der Dichter. Selbst die Schäferidyllistik des Stückes macht 
weniger den Eindruck naiver Empfindung als vielmehr akade- 
mischer Ausgesponnenheit. Die Sprache ist musterhaft rein und 
einfach, was auch für die beiden weiteren Dramen gilt. »Ehren- 
wort« ist übrigens ins Albanesische übersetzt worden. 

*»Sidi Jachja« (1875) spielt zur Zeit des Untergangs des 
Maurenreichs in Spanien. Der gleichnamige Held gerät durch 
Verrat in die Hände der Spanier und mufs 16 Jahre lang in 
härtester Kerkerhaft schmachten. Ein Verbrecher, Pedro, dem 
er grofsmtitig zur Flucht verholfen hat, indem er seine Kleider 
mit ihm tauschte, tritt unter seinem Namen in den Dienst König 
Ferdinands des Katholischen, wird aber zuletzt durch den echten 
Sidi Jachja entlarvt. Wie in »Ehrenwort« ist auch hier das 
junge Liebespaar des Stücks als Bruder und Schwester mit- 
einander aufgewachsen. Der Übergang der geschwisterlichen 
zur bräutlichen Liebe ist ein gern behandeltes Problem der tür- 
kischen Moderne. Die Komposition weist gegen »Ehrenwort« 
einen entschiedenen Fortschritt auf. Der muhammedanische 
Fatalismus, der dem gesamten türkischen Drama grundsätzlich 
den Charakter der Energie benimmt, macht sich natürlich auch 
hier in gleicher Weise geltend. Sidi Jachja ist ein Mann voll 
höchsten Gottvertrauens, aber immer mehr abwartend und aus- 
harrend. Dals Allah es stets recht macht, ist der unerschütter- 
liche Grundgedanke; seinem Gebote fügt man sich schweigend, 
bis er die Lage einmal anders gestaltet. 

In *»Käwe« greift Sämy in die persische Heldensage. Um' 
aus der Sphäre der Legende in die Wirklichkeit zu kommen, 
hat er die Zauberschlangen, welche nach Firdausis »Schahname« 
dem Zohhäk aus den Schultern herauswuchsen, in zwei göttlich 
verehrte Idole umgewandelt, die im Mittelpimkte des Kults des 
Usurpators stehen. Das Stück ist stark mifslungen. Auch 
andere persische Stoffe sind modern-türkisch dramatisiert worden, 
so z. B. Nizämis »Chosrau und Schirin« sowie Sijäwusch (von 
Achmed Midchat). 



- 40 — 

Mechmed Tewfiq. 

Mechmed Tewflq ist hier vor allem als Kulturhistoriker 
zu nennen. Unter dem Titel »Ein Jahr in Stambul« {Istatnbolda 
bir sene; 1881 — 1883) hat er fünf feuilletonistische Plaudereien 
aus dem Leben der Hauptstadt zusammengefalst, die amüsant zu 
lesen sind. In der »Kohlenpfanne« {Tandy r^ 1. Heft) hören wir 
die Unterhaltungen der Frauen im Hause mit an, die sich um 
diese alttürkische Heizvorrichtung scharen. Die *»Helwagesell- 
schaft« (Helwa cochbett) und die »Stadtviertelcaf^häuser« (Mehelle 
qachweleri^ 2. Heft) erzählen von den lustigen Soireen der guten 
alten Zeit, die man nach der sülsen Speise (Helwa) benannte, 
welche ein mehr oder weniger üppiges Souper (oft mit Musik, 
Meddächvorträgen u. dergl.) beschlols, und führen uns in ein 
ehemaliges Caf^ am Hippodrom. *»Kjäthane€ (Nr. 3) an den 
süfsen Wassern Europas ist während des Frühlings an Freitag- 
nachmittagen der beliebteste Ausflugspunkt der Bewohner Stam- 
buls. Die vornehme Welt hält in ihren Equipagen Korso, das 
Volk lagert sich im Freien oder amüsiert sich in den aufge- 
schlagenen Buden. Tewfiq beschreibt zunächst die Fahrt nach 
Kjäthane — zu Wasser, zu Lande oder zu Fufs — darauf das 
Leben und Treiben daselbst; seine Schilderung wird jedem, der 
einen schönen Frühlingstag in dem reizenden Tale verbracht 
hat, diese Stunden wieder lebhaft ins Gedächtnis zurückrufen. 
In einer kleinen Novelle »Binnen drei Tagen verliebt und ver- 
heiratet« demonstriert er schlielslich ad oculos, wie es zugeht. 

*»Die Ramazännächte« {Jiatnazdn gedsckeleri^ 4. Heft) sind 
den nächtlichen Belustigungen des heiligen Monats gewidmet, 
und zwar in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. *»Die 
Kneipe« (mckhäite) endlich dem Wirtshausleben zu der Urväter 
Zeiten. Unter anderen treten hier als typische Zechkumpane 
Bekri Mustafa und Tuz-suz Achmed auf, von denen der erstere 
auch als Figur des Schattenspiels (Qaragöz) bekannt ist. 

Tewflq hat die einzelnen Hefte seines »Jahres in Stambul« 
als »Monate« bezeichnet. Er hat also wohl die Absicht gehabt, 
das ganze Jahr durchzugehen, doch scheint es bei den erwähnten 
fünt geblieben zu sein. In Deutschland ist Tewfiqs Name durch 
die MüUendorffsche Übersetzung der »Schwanke des Na^reddin 



— 41 — 

und Buadem« (Nr. 2735 von Reclams Universalbibliothek), die 
auf seine türkischen Ausgaben zurückgehen, bekannt geworden. 
Nicht zu verwechseln mit Mechmed Tewffq ist Ebuz-Zijä 
Tewffq, ein Kritiker und Essayist von Ruf, dessen prosaische 
»Blumenlese« (Nümüne-i edehijdt) wir schon mehrmals erwähnt 
haben. Auch ein Trauerspiel von ihm »Der Tod durch Zufall« 
(Edschel qazä) wird viel gerühmt. 

Mfiallym Nädschy. 

Als ein Feuergeist trat Achmed Midchats Schwiegersohn 
Müallym Nädschy (1850—1893) auf. Seine ersten jugend- 
lichen Verse warf er als »Feuerfunken« (Äteschpdre) in die Welt 
und liels ihnen weitere * »Funken« (Scherdre) und 1886 
^»Strahlen« (Füruzdn) folgen. In der Tat mufste es zündend 
wirken, wenn er in das muhammedanische Phlegma hineinrief: 

Ist einer glücklich auf Erden, so ist es der Tätige einzig, 
Wer dem Nichtstun fröhnt, elend nenne ich ihn! 

Oder »Meine Antwort« : 

Wenn sie, was Leid mir macht, mich um die Antwort fragen, 
Mufs ich: »Mein hoher Sinn, mein hoher Sinn!« stets sagen. 
Ich kann nicht kriechen vor den Grofsen dieser Welt, 
Wie mir's, an Fromme mich zu hängen, nicht gefällt. 
Nach Eurer Weise nicht ich Ost und Westen trenne. 
Da eine andre Welt und andre Sonn' ich kenne. 
Ob stille steh' die Welt, Gradheit mein Trank wird sein, 
Und nimmt die Zeit ein End', ich habe Himmelswein*). 
Wer ist der Glückliche? So fragest Du? Nun, ich! 
Geh' aus dem Auge mir, versperr' mir nicht den Blick!**). 

Gegen die Sitte der Totenklage wendet sich die Inschrift 
auf dem Grabe seines Freundes Hodscha Rizwän: 

Besucher, ist Euer Reden recht? 
Ist Eure Trauer nicht vielmehr schlecht? 
Stets war ich gern in Einsamkeit 
Und trug im Leben drum kein Leid. 
Von jeher blieb ich gern allein, 
Braucht' andre nicht, um froh zu sein. 
Vergafset Ihr, wie von mir Armen 
So oft Ihr hörtet: Habt Erbarmen! 

*) Der Dichter eifert wiederholt gegen die Weintrinker. 
**) Wohl eine Anspielung auf Diogenes. 



— 42 — 

Wozu jetzt Euer zwecklos' Tun? 
So lafst mich doch im Tode ruhn! 
Prägt Euch hier meine Grabschrift ein, 
Lafst über mich das Reden sein! 

Seiner Wirkung ist sich der Dichter selbst durchaus bewulst. 
Er sagt einmal, mit der Flamme seines glühenden Herzens habe 
er viele andere Herzen entzündet und mit einem Funken tausend 
Brände angefacht. Neben Gedichten der neuen Form stehen 
Ghazele, Rubäis, Terdschi'bends u. a. nach der klassischen Weise; 
Übersetzungen aus persischen Dichtem wechseln mit solchen 
aus dem Französischen. In der unmittelbaren Nachbarschaft 
eines elegischen Ghazels »Seufzer« findet man eine mutwillige 
Schneeballschlacht junger Mädchen in den Strafsen Peras. Die 
Vielseitigkeit Nädschys ist wirklich bewunderungswürdig. Dich- 
tungen wie »Gebet eines Gefangenen«, »Eine Stinmie aus dem 
Gefängnis« oder »Die Taube« sind aufserordentlich populär ge- 
worden, von anderen umfangreicheren Poesien, wie z. B. »Müsa 
oder Vaterlandsliebe«, zu schweigen. 

Leider boten zwei der besten Lyriker den Gegnern das un- 
erfreuliche Schauspiel einer Polemik. Ekrem hatte Nädschy an- 
gegriffen und seinen Tadel besonders an einem beliebten, als 
Vorbild anerkannten Ghazele desselben exemplifiziert. Der ge- 
kränkte Dichter schrieb eine sehr scharfe Erwiderung, die' er zur 
Verhöhnung von Ekrems Zemzeme (»Gemurmel«, s. oben S. 37) 
^Demdeme (»Spektakel«) betitelte (1886). Doch war der Konflikt 
nur ein vorübergehender und schadete der jungen Richtung nicht 
ernstlich. 

Aber auch als Prosaist hat Nädschy Bedeutendes geleistet. 
Neben zahllosen wissenschaftlichen und kritisch-litterarischen 
Arbeiten, von denen besonders sein *Wörterbuch {Lughet-i 
Nädschy) — unter dem Stichwort Nädschy findet man hier 
eine kurze Biographie von ihm — und *» Namen« (Essdmy^ eine 
Galerie hervorragender Männer des Islams) in weiteren Kreisen 
Verbreitung gefunden haben, ist vor allem die »Ähre« (Sütn- 
büle, 1889), eine Sanmilung von poetischen wie prosaischen 
Stücken, zu nennen. Ihr bei weitem wertvollstes »Korn« ist die 
Geschichte von des Verfassers Jugend bis zum sechsten Lebens- 
jahre (ins Deutsche übersetzt von A. Merx, Berlin 1897). Das 
Stilleben aus kleinbürgerlichen, behäbigen Verhältnissen ist 



— 43 — 

■ 

reizend, die Poesie der Unschuld, welche über dem Ganzen 
schwebt, wirkt selbst in der deutschen Übersetzung noch, die 
gar zu ehrlich das uns ungewohnte türkische Satzgefüge nach- 
zuahmen sucht. 

Sezäjy. 

Schon in seinem Romane * »Lebensschicksale« (Sergüzescht^ 
1887) offenbarte Sezäjy ein grolses Talent, zu erzählen und 
fein zu beobachten. Die Erlebnisse einer Tscherkessensklavin, 
die im Alter von neun Jahren nach Stambul verkauft wird, 
bilden den Inhalt des Buchs. Aus den Händen ihrer ersten, 
hartherzigen Herrin konmit Dilber in glücklichere Verhältnisse. 
Aber die nun aufkeimende Liebe zwischen der Jungfrau .und dem 
Sohne des Hauses, dem idealgesinnten Maler Dscheläl Bej, 
findet vor dessen Eltern keine Gnade. Dilber wird nach 
Ägypten verkauft und endet hier durch Selbstmord im Nil, der 
ihre Leiche der endlichen Freiheit entgegenträgt. Der schwär- 
merische junge Bej ist vor Liebesgram ganz aufser dem 
Häuschen. Die jungtürkische Litteratur liebt diesen der echten 
Männlichkeit entbehrenden Typus aulserordentlich und sucht ihn 
immer von neuem wieder psychologisch zu analysieren. Auf 
der anderen Seite stehen die Eltern, die den Grundsatz ver- 
treten, sie könnten besser für ihre Kinder wählen, da die jugend- 
liche Unerfahrenheit leicht fehlgreife. An sich hätten sie der- 
artigen Charakteren wie Dscheläl gegenüber gar nicht so un- 
recht; nur wählen diese allerdings in den Romanen stets lauter 
Engel von Mädchen, die sie dann durch die Schuld der Eltern 
nicht bekommen. 

Eine Anzahl kleiner Skizzen und Erzählungen hat Sezäjy 
einige Jahre später (1891) unter dem Titel *»Kleinigkeitenf 
(Kütschük scheler) zusammengefalst. Hier kommt neben dem 
Ernst des Lebens auch der Humor zum Wort. Die nette 
Humoreske »Die Katzen« führt uns z. B. einen Pantoffelhelden 
vor, der es weit schlinmier als die Katzen seiner Frau hat. 
»Hochzeit« zeigt uns dagegen eine an gebrochenem Herzen 
sterbende Odaliske, während ihr junger Herr, der sie verstolsen 
hat, seine Hochzeit mit einer hälslichen, aber reichen Frau feiert. 
Auch die übrigen »Kleinigkeiten« sind durchweg beachtenswert. 
Sezäjy zählt zu den besten Schriftstellern der Gegenwart. Sein 



— 44 — 

Stil neigt übrigens gelegentlich etwas zu Schwerfälligkeit, wo- 
durch die Lektüre bisweilen mühsam wird. Sein Trauerspiel 
»Löwe« (Schir) habe ich mir nicht zu beschaffen vermocht. 

Uschschäqyzäde Chälyd Zijä. 

Ein sehr fruchtbarer Schriftsteller ist Uschschäqyzäde 
Chälyd Zijä. Sein Gebiet ist nur die Prosa, er dichtet daher 
auch in ihr. Ein Büchlein * »Gedichte in Prosa« (Menthür 
sMrler^ 1889) enthält kurze aphoristische Betrachtungen und 
Stimmungsbilder, aus denen »Leben« als Probe dienen möge: 

»Noch vor der Sonne fortgehen, nach ihrem Untergange erst 
heimkehren, sich mühen, quälen, gänzlich aufreiben — Wozu? Um 
eines Bissens Brots willen! 

In der Kälte frieren, im Regen nafs werden, auf der blofsen Erde 
liegen, zittern, zu Eis erstarren — Wozu? Um anderer Ruhe willen! 

Unter der Erde sein Leben verbringen, liebliche aber vergiftete 
Luft einatmen, ein Dasein in Feuchtigkeit führen, die Sonne nicht 
sehen, als Mensch einer Schlange gleich leben, schwindsüchtig werden, 
sterben — Wozu? Um nicht zu sterben.« 

Aus den weiteren Überschriften seien beispielsweise noch 
genannt: »Sympathie«, »Ach, nur ein Traum!«, »Lachendes 
Weinen«, »Weinendes Lachen«, »Auf dem Meere«, »Krieg« — 
natürlich fehlt auch ein »Friedhof« nicht. Die Poesie soll überall 
einzig und allein nur im Inhalt, nie in der äufseren Form 
liegen, ganz wie bei den reim- und mafslosen »Versen« unserer 
deutschen Modernen. 

Chälyd Zijä ist ein stark weltschmerzlich angehauchtes Ge- 
müt, In seinem ersten Romane *»Das Buch eines Toten« (Bir 
ölüniin defteri, 1889) erscheint dieser Zug noch am gemäfsigtsten, 
trotzdem er uns hier einen türkischen Werther vorführt. Hüssäm 
findet nach seines Freundes Wedschdi Tode des Verstorbenen 
eigens für ihn aufgezeichnete Lebensgeschichte. Dieser war mit 
den Worten verschieden: »Ich habe euch beiden verziehen«; 
seine Geschichte beginnt mit der Schilderung seiner Jugendzeit, 
die er mit seiner Cousine Nigjär verbringt. Man ahnt daher 
gleich zu Anfang, worauf alles hinausgeht. Der Freund, den 
er selbst in das Haus der von ihm zunächst noch unbewufst Ge- 
liebten einführt, erringt deren Neigung. Wedschdi überwindet 
sich so weit, dafs er dann sogar den Freiwerber für den be- 
günstigten Nebenbuhler macht. Als er im Kriege den gesuchten 



— 45 — 

Tod nicht findet, sieht er sechs Jahre lang als täglicher Besucher 
das Glück der beiden mit an, bis ihn eine plötzliche Krankheit 
jäh dahinrafft. Erst nach seinem Tode erfahren beide das Ge- 
heimnis seines Lebens; Hüssäm liest des Freundes Bekenntnisse 
neben dessen Leiche sitzend. 

Chälyd fällt übrigens dem Leser keineswegs durch über- 
triebene Sentimentalität lästig. Er spottet sogar über die 
Dichter, die so gern schwindsüchtige, unglücklich liebende 
Mädchen einführen — dabei ist seine gleich zu erwähnende 
Nümfde aber selbst ein solches. Wedschdi überwindet seinen 
Schmerz männlich. Chälyd Zijä ist ein guter Szenenschilderer 
und Psychologe; in den beiden folgenden Romanen tut er aller- 
dings des Guten zu viel. 

*»NümIde« (1889) — so, d. h. »die Hoffnungslose«, hatte sie 
der Vater im ersten Schmerz genannt, weil ihre Geburt der 
heilsgeliebten Gattin das Leben gekostet hatte. Bald ward aber 
das Mädchen sein Abgott. Ein Schmerzenskind blieb es wegen 
seiner Zartheit immer; der Hausarzt sagt schon von der noch 
längst nicht Erwachsenen, eine imglückliche Liebe werde sie 
nicht überwinden. Man ahnt also auch hier den Ausgang bereits 
im voraus. So wird die Verlobung Nümfdes mit ihrem Jugend- 
geliebten und Vetter Näyl gefeiert; dieser verliebt sich aber bald 
in die blühende Nähfd. Nümfde wird über die Untreue schwind- 
süchtig und stirbt, nachdem sie die Beiden noch in Selbstentsagung 
glücklich gemacht hat. Der sich entwickelnde Backfisch ist mit 
Glück geschildert, allerdings recht breit ; Chälyd spinnt die Seelen- 
analyse sehr gründlich aus. 

Am sentimentalsten ist *»Ferdi & Ko.« {Ferdi we schüre- 
kjdsy^ 1894). Hassan Taifur wird der Schwiegersohn seines reichen 
Prinzipals Ferdi, dessen Tochter Hädschyr sich in den schönen, 
aber armen Kassierer ihres Vaters verliebt hat. Taifur liebt 
zwar seine Pflegeschwester Sänihe, aber der unerwartete Glücks- 
fall ist zu grofs; Mutter und Geliebte reden ihm selbst zu der 
glänzenden Partie zu. Nun ist Taifur aber ein sentimentaler, 
sehr ehrenwerter, jedoch ganz energieloser Mensch, wie so viele 
junge Romantürken. Er kann sein reizendes Weibchen nicht 
lieben und sich nicht in die Verhältnisse finden, denen er doch 
zugestimmt hat. Hädschyr belauscht ihn acht Tage nach der 
Hochzeit, wie er eines Nachts vor Sänihes Kanmier vergeblich 



— 46 — 

um Liebe bettelt; sie zündet das Haus an und verbrennt dabei; 
Taifur wird wahnsinnig. Chälyd Zijä kann sich in Seelenquälerei 
seiner Personen gar nicht genug tun. Die arme Sänihe^ deren 
Herz fast brechen will, erträgt alles aufs tapferste, obwohl ihr 
nichts Bitteres geschenkt wird — sie mufs z. B. die Hochzeit 
von Anfang bis zu Ende mit durchmachen. Der Backfisch 
Hädschyr ist auch hier mit Liebe gezeichnet. Aus Ferdi, dem 
verknöcherten Kaufmann, der nur eine menschliche Seite, die 
Liebe zu seiner Tochter, hat, hätte sich noch weit mehr machen 
lassen. Aber Charakterzeichnung ist noch die schwächste Seite 
der jungtürkischen Autoren, welche die innere Entwicklung ihrer 
Figuren weniger durch deren Handlungen, als durch eigene, den 
Leser nicht selten langweilende Reflexionen anzudeuten suchen. 
Alles in allem ist indes Chälyd Zijä ein geschickter Erzähler, 
der stets gleich von Anfang in medias res geht und den Leser 
zu fesseln weifs. Er hat noch zahlreiche andere Werke verfafst 
und u. a. eine ganze Reihe Übersetzungen aus dem Französischen 
geliefert (Zola, Maupassant, Copp^e, Malot, Mend^s etc.). Sein 
letzter Originalroman ist 1900 erschienen und führt den Titel 
»Chronik eines Sommers«. 

Achmed Räsim und Mechmed Mfineddschi. 

Von Achmed Räsim liegen mir zwei Romane vor. In 
♦»Herzensneigung« {Mil-i dil, 1890) wird die Heldin, Perwer, 
von ihrem Verführer Schädy auf das schnödeste im Stich ge- 
lassen. Aber auch das gemeine Betragen dieses ganz minder- 
wertigen Lüstlings hat ihre Liebe zu ihm nicht zu ertöten ver- 
mocht, sie ist noch auf seine neue Geliebte eifersüchtig. Sie 
tröstet sich dann vorübergehend, als ihr ein anderer junger Mann 
seine Liebe anträgt; es stellt sich indes bald heraus, dafs dieser 
nur ihre Lage ausnutzt und sie ebenfalls betrügt. Da stürzt sie 
sich ins Meer. Nachdem Schädy sein Lasterleben noch durch 
zwei Morde gekrönt hat, empfindet er plötzlich Reue über sein 
Benehmen gegen Perwer. Deren Geist winkt ihm, und er stürzt 
sich zum Fenster hinaus auf die Straf se hinunter. Die türkische 
Wera hält keinen Vergleich mit ihrer russischen Schwester in 
Suworins Roman aus, die ihren Verführer ebenfalls noch im 
Tode in die Newa lockt. 



— 47 — 

♦»Lebenserfahrungen« {Tedschäryb-i hejät, 1891). Ein junges 
Ehepaar findet sein Glück in einer ernsten Lebensführung, nach- 
dem der Mann vorher seine Frau nur als eine Art Spielzeug 
betrachtet hat. Er hatte daher neben ihr noch eine Geliebte 
gehabt. Bei Räsim sehen die Schuldigen immer reuevoll ihr 
Unrecht ein; ihre Selbstvorwürfe langweilen nicht selten. 

Eine stark realistische Färbung zeigt Mechmed Müned- 
dschis *»Diana€ (1891). Wir erhalten hier ein türkisches Urteil 
über die levantinische Mädchenerziehung. Eine italienische Fa- 
milie zieht ein von seiner Mutter ausgesetztes kleines Mädchen 
als eigenes Kind auf. Der Findling wächst in wohlhabenden 
Verhältnissen auf, liest, noch kaum erwachsen, Romane imd 
geht auf Bälle, wie das eben fränkische Sitte ist. Sie läfst sich 
dann vom ersten besten jungen Manne arglos verführen und wird 
nach diesem Fehltritte von ihren Pflegeeltern verstofsen. Auch 
ihr Verführer will nichts mehr von ihr wissen. Da taucht plötz- 
lich ihre natürliche Mutter wieder auf und nimmt sich der Ver- 
lassenen an, aber nur, um sie in ihr eigenes Gewerbe, das einer 
Courtisane, hineinzuziehen. Sie hatte die Tochter nie aus den 
Augen verloren; deren Verführer, eine Zeitlang auch ihr Lieb- 
haber, hatte ihr seinen Handel mit dieser erzählt. Sie freut sich 
jetzt geradezu, dals die Tochter gefallen und nun auf dem gleichen 
Niveau wie sie angelangt ist. Man sollte meinen, der Autor 
würde diesen eigenartigen Zug von Mutterliebe weiter ausbeuten ; 
das geschieht indessen nicht, die Mutter verschwindet wieder 
völlig für immer. Er schildert im folgenden allein das zehn- 
jährige Courtisanenleben der Tochter, nicht mit Zolaschem Zynis- 
mus, aber doch realistisch genug. Nach langen Körper- und 
Seelenqualen endet Diana — diesen Namen hat die ehemalige 
Christine angenonmien — durch einen Sturz von der Treppe 
ihres Bordells, als sie ihrem ersten Verführer nacheilen will, der 
sie betrunken besucht und, nachdem er sie erkannt hat, entflieht. 

Von Mechmed Müneddschis weiteren Werken sei hier noch 
der umfangreiche Roman »Todeseifer« (Inhimdk-i memät) genannt. 

Hfissen Rechmi. 

Ein begabter Schriftsteller ist Hüssän Rechmi. Sein 
Erstlingswerk, *>Die Erzieherinc {Mürebbije, 1895), war ein 






- 48 - 

kecker Wurf. Die Pariser fille publique Angele Dupr^ gelangt 
nach mancherlei Abenteuern als Erzieherin in eine vornehme 
Konstantinopeler Familie. Natürlich verlieben sich alle Männer 
im Hause in die hübsche Französin, die sich zunächst sehr ehrbar 
stellt. Sie weife drei Liebhaber, den ältesten Sohn des Hauses, 
Schem'i, den buckeligen Onkel Amdscha Bej und den Schwieger- 
sohn, C^dry? ^'^^ Zeitlang geschickt zu täuschen, so dafe jeder 
von ihnen sich für den allein Begünstigten hält. Schliefslich 
werden alle drei eines Nachts beinahe von dem Hausherrn Dechri 
ertappt, der ein ebenso pedantisches wie tyrannisches Regiment 
über die sämtlichen Glieder der Familie ausübt. Angele lügt sie 
noch eben heraus und erhält von Dechri sogar ein Tugendzeugnis 
ausgestellt. Dem jungen Schem'i geht aber die Täuschung seiner 
Liebe, die ihm etwas Heiliges war, tief; er beschliefst, die Un- 
getreue mit dem, den er des Nachts bei ihr finden werde, zu töten. 
Als solcher entpuppt sich jedoch ein vierter, sein eigener Vater. 

Wir haben es, wie man sieht, mit einem sehr leichten Genre 
zu tun. Die Erzählung ist aber flott und die Charakteristik gar 
nicht übel. Die Geschichte atmet stark Pariser D^cadenceluft, 
ohne jedoch tatsächlich gemein zu werden. Der Leser wird bis 
zuletzt in Spannung erhalten. Man hat wohl schon selbst einmal 
gedacht, eigentlich gehöre der Vater auch unter die Liebhaber. 
Dieser ist aber so geschickt gezeichnet, dafs man den flüchtig 
aufgestiegenen Gedanken doch wieder unterdrückt. Dafs Dechri 
schliefslich als Schlufseffekt aus dem Kleiderschranke heraus- 
kommt, ist ein imerwarteter Ausgang. 

Keinen Fortschritt bedeutet der lange Roman *»Die Mai- 
tresse« (1897). Rechmi hat sich eine gewisse Manier geschaffen 
und wirkt infolgedessen ermüdend. Er wiederholt sich sogar in 
einzelnen Zügen aus der »Erzieherin«. Er will zeigen, wie das 
fränkische Wesen zum Verderb führt, und fängt da gleich mit 
dem Korsett an. Eine Pariser Maitresse, Mademoiselle Pamasse, 
wie sie ihr erster Liebhaber in zynischer Dichterlaune genannt 
hatte, ruiniert die jungen türkischen Leute und zerstört das 
Familienglück. Das Ende ist ein Duell, aber keines von der 
leichten Pariser Art, sondern ein ernsthaftes mit tödlichem Aus- 
gange. Der Roman ist ein Zeitungsroman, der wohl fortsetzungs- 
weise geschrieben ist. Für die Buchform hätte er einer gründ- 
lichen Überarbeitimg und Kürzung bedurft. 



— 49 — 

Htiss^n Rechmi steckt vorläufig schon äufserlich noch zu 
sehr im Banne der Franzosen. Selbst in der Sprache zeigt sich 
das. Wenn er gereifter sein wird, ist von ihm gewifs Tüchtiges 
zu erwarten. 

Wedschflii. 

Gänzlich anders als Rechmi ist Wedschihi geartet. Er 
kann sentimental bis zum Übermals sein. Die Lektüre der Ge- 
schichte von der unglücklichen *>Mechdschüre« (1899) ist stück- 
weise geradezu eine Qual. Mechdschüre ist die vortreffliche 
Tochter vortrefflicher Eltern. Besonders ihr Vater ist ein selten 
ehrenwerter Mann. Er ist zunächst durchaus gegen ihre Heirat 
mit dem jungen Mükrim, weil er ihn nicht für charakterfest hält. 
Beide jungen Leute lieben einander; Mechdschüre würde aber als 
gutes Kind ihre Liebe der väterlichen Einsicht zum Opfer bringen. 
Doch gibt der Vater schliefslich nach, weil Mükrim vor Kummer 
erkrankt, und beide dürfen sich heiraten. Sie bekommen zwei 
Kinder, einen Knaben, Hikmet, und ein Mädchen, Enfsse. Nach 
sechsjähriger, glücklichster Ehe sterben Mechdschüres Eltern 
beide schnell hintereinander, was dieser aufserordentlich nahe- 
geht. Sie ist überhaupt sehr sentimental und nimmt alles schreck- 
lich ernst. In dieser tränenreichen Zeit kommt mm Mükrims 
ganz anders geartete Natur zum Durchbruch, er schlägt sogar 
völlig in das Gegenteil um. Er wird liederlich und verliebt sich 
in eine andere, die den schwachen Mann völlig in ihre Gewalt 
bekonunt. Mechdschüre verfällt in Siechtum, wodurch die Sache 
für sie ganz hoffmmgslos wird. Mükrim lälst sie als unheilbar 
ins Krankenhaus schaffen und verheiratet sich mit seiner Geliebten 
Ra'nä, wozu ihm das Gesetz das Recht gibt. Die Unglückliche 
im Krankenhause erfährt alles, indem sie die Unterhaltung zweier 
Frauen belauscht. Ihre Briefe läfst Mükrim unberücksichtigt; 
in seiner Hochzeitsstunde, die sie genau weifs, haucht sie ihren 
letzten Seufzer aus. Diese herzbrechende Episode ist auch für 
den Leser eine förmliche Folter. Wedschihi weifs alle möglichen 
Steigerungen hineinzubringen; z. B. wirken die vergeblichen 
Botengänge des kleinen Hikmet imd die kindlichen Äufserungen 
des Knaben, der im Grunde doch nicht recht weifs, ob er auf 
Seite seines Vaters oder seiner Mutter treten soll, sehr drastisch. 
Die Kinder müssen alle Bosheiten der Stiefmutter durchkosten; 

Hörn, Geschichte d^r türkischen Moderne. 4 



— 50 - 

Hikmet entläuft schlielslich voller Verzweiflung aus dem Hause. 
Dazu betrügt Ra'nä ihren Mann; dieser merkt es zwar, ist aber 
zu schwach, um sich von ihr loszureifsen. Er spielt eine ganz 
unwürdige Rolle. Schliefslich läfst sich Ra'nä um ihres neuen 
Liebhabers willen von Mükrim scheiden, vor dem sie selbst nicht 
die geringste Achtung hat. Er nimmt sich das Leben. Die Tote 
hat sich auf das bitterste gerächt. Mükrim erleidet ebenfalls, 
von allen verlassen, alle Qualen der verschmähten Liebe." In 
einer Fortsetzung verspricht Wedschlhi die weiteren Schicksale 
der beiden Kinder und der Stiefmutter zu erzählen. 

Dafs Wedschfhi ein gewiegter Seelenschilderer ist, mufs man 
ihm lassen. Er erfreut vielfach durch kleine Züge, so z. B. wenn 
die jungfräulich spröde Mechdschüre den ersten Liebesbrief ihres 
Verlobten zunächst zurückweisen will, ihn dann aber unzählige 
Male immer wieder von neuem liest. Aber er schwelgt förmlich 
in Rührsamkeit und malt alles grau in grau. Der Kirchhof spielt 
bei ihm eine ausgiebige Rolle : Mechdschüre weint sich auf ihres 
Vaters Grabe satt, das Gleiche tun ihre Kinder auf dem ihrigen, 
und Mükrim kommt an derselben Stelle zur Selbsterkenntnis. 

In der *» Hirtin« (Tschob an qyzy , 1896) betritt Wedschihi 
das Gebiet der Dorfgeschichte. Er idealisiert hier in Rousseau- 
scher Weise primitive Verhältnisse, die der Stambuler in un- 
mittelbarer Nähe der Hauptstadt kennen lernen könne. »Auf der 
Alm, da giebt's koa Sund«, denkt man unwillkürlich, wenn man 
die unschuldigen Verliebten Zeineb und Weli bei einander sieht. 
Wirkliche Bauemkinder sind sie aber nicht, sondern nur ver- 
kleidete, empfindsame kleine Wedschihis. Die Nachtigall weifs 
ihnen durch ihren Sang etwas zu sagen, Weli nennt seine Zeineb 
eine »Blume der Berge« u. dgl. m. Sie verwelken denn auch 
beide wie zwei Blumen, auf ihren Gräbern weiden ihre Schafe. 

Ein realistischer Schilderer des Bauemiebens ist dagegen 
Näzym, dessen Roman »Qarabebek« Künos sehr lobt. 

Wedschihi hat noch eine Reihe weiterer Werke verfafst, von 
denen »Müdschgan«, ein Roman aus der gegenwärtigen türkischen 
Gesellschaft, das beste sein soll. 

Die fibrigen Prosaisten. 

Milli-Romanschreiber gibt es im jungttirkischen Schriftsteller- 
hain aufser den bisher genannten noch sehr viele. Ob schon Werke 



— 51 — 

wie Hälet Bejs »Jugendzeit« (Fagyl4 schebäb), Beehr is 
»Abenteuer des Mir Nedim« (Sergilzescht-i Mir Nedim) u. a. 
der modernen Richtung zuzuzählen sind, oder ob es sich bei 
ihnen nur um mehr oder weniger phantastische Erzählungen der 
älteren Zeit handelt, wie sie einem der türkische Buchhändler 
gern unter wirklich neue Litteratur einschmuggelt*), lälst sich 
aus den Angaben des Arakelschen Katalogs, aus dem ich sie 
allein kenne, nicht entnehmen. 

Kleinigkeiten sind W . . . fs * »Teufelsspiegel« {Scketän 
ajynasy ^ 1882): Eine junge Frau gewöhnt ihrem Manne seine 
Junggesellenuntugenden, Tnmksucht und Liebeleien (auch Kinder, 
die Folgen der Ehe, möchte er zunächst vermeiden), dadurch ab, 
dals sie ihm diese an ihrer Person ad oculus vordemonstriert. 
Das ist der »Teufelsspiegel«, in dem sie ihn sich selbst beschauen 
läfst. Doch ist sie so rücksichtsvoll, dafs sie sich zum Galan 
nur einen Bruder wählt, den ihr Gatte noch nicht kannte. Femer 
Zekäjys *»Falscher Besuch« {Sachte müssäfir, 1888), M. Rif 'ets 
*»Lustige Geschichte« {Tuhaf'hikjäje^ 1883) — vom Pater Rocco 
in einem Dorfe am Gardasee — , Mechmed Dschemäls 
*»Hirtin« {Tschoban qyz, 1893), sowie Mustafa Reschids 
* »Eines Mädchens Schuld« {Bir qyzyn ckatäsy, 1894). Ismail 
Haqqy hat in einem Bändchen *»Zwei wahre Geschichten« {Tki 
haqiqat^ 1893) vereinigt, die beide recht rührsam sind. 

Von Mechmed Dscheläl (s. unten S. 67) kenne ich nur 
*»Die kleine Schwiegertochter« {Kütschük gelin ^ 1896). Die 
Hauptperson ist eigentlich deren Gatte, einer jener uns bereits 
bekannten sentimentalen jungen Männer. Seine geliebte Frau 
Fachrije, die er erst nach manchen Enttäuschimgen hat heiraten 
dürfen, stirbt im Wochenbett, worauf er schwermütig wird. Die 
sprunghafte Erzählungsweise läfst zunächst bei dem Leser lange 
kein wärmeres Interesse aufkommen ; die geschilderten Charaktere 
sind auch zu wenig scharf unuissen, um solches zu erwecken. 



*) Ich habe so mit in Kauf nehmen müssen (was anderen zur 
Warnung bemerkt sei): »Die Erzählung von den zwei Brüdern«, »Die 
beiden Kameraden«, »Die Geschichte von Tajjdrzdde», eine mit der 
»Erzählung vom Glashause« beginnende Märchensammlung (14 Ge- 
schichten). Auch Anekdotensammlungen, wie »Tausend Geheimnisse«, 
»Spafs« von Dschemll oder Reschäds »Anekdotenschatz«, hielt der 
Buchhändler für litterarisch wertvoll. 

4* 



- 52 — 

Dscheläl hat schon früher Novellen {Dschemile^ d. h. idie Schöne«, 
und 1 Venus«, beide 1885/6) erscheinen lassen-, als lyrischer 
Dichter wird er xuis später nochmals begegnen. 

Mechmed Kemäls historischer Roman i^ebich« (1898) 
führt in die ruhmreiche Vergangenheit des Islams unter Qoteiba 
ibn Muslim. Der Stil ist gelehrt, wie ihn die offiziellen Zeitungen 
noch heute anwenden (der Roman ist auch zuerst in einer Zeitung 
in Saloniki erschienen). 

Der Wertschätzung, welche der gebildete Türke auf einen 
guten Briefstil legt, entspricht es, wenn selbst hervorragende 
Schriftsteller sich veranlafst gefühlt haben, i Briefsteller« zu ver- 
fassen — aus denen sich übrigens auch kulturgeschichtlich man- 
cherlei lernen läfst. Ich nenne hier nur Müallym Nädschys 
nach seinem Tode gedruckten *iBriefschatz« (Chezine-i mektubätj 
1900), sowie Schach We^fis (s. unten S. 68) * »Lichter« {Sewäti y 
1893) und * »Briefe« (Münschedt, 1898). 

Das Theater. 

Die Theaterstücke Schinäsys, Midchats, Kemäls, Hämyds, 
Ekrems, Sämys, Ebuz-Zijä Tewfiqs und Sezäjys haben wir oben 
bei der Besprechung der einzelnen Dichter erwähnt-, es bleibt 
uns noch übrig, die weitere Entwicklung dieser Litteraturgattung 
zu verfolgen. 

Die sechs Stücke Fetch Ali Achondzädes, welche 
dieser für das Tifliser Theater in den fünfziger Jahren schrieb, 
xmd die durch das Persische hindurch dann auch zum Teil in 
europäische Sprachen übersetzt worden sind (»Der Vezier von 
Lenkoran« u. a.), gehören zwar der Moderne an, aber als azer- 
baidschanisch fallen sie aus dem Rahmen unserer Skizze heraus. 

Eine reiche Bühnentätigkeit entfalteten die meist gemein- 
schaftlich arbeitenden Hassan Bedreddin und Mechmed 
Rif'et. Unter dem Titel »Schauspiel« (Temäsckä) haben sie 
etwa 20 Milli- und übersetzte Stücke erscheinen lassen. Ich habe 
von beiden nur je ein Einzelwerk zu Gesicht bekommen, nämlich 
Bedreddins * »Fehlgeburt« (Isqät-i dschenin) und Rif'ets * »Sitte« 
(Gförenek)^ beide aus dem Jahre 1873. Dem ersteren ist der 
Zufall dabei nicht günstig gewesen. Man höre den Verlauf der 
»Fehlgeburt«. 



— 53 - 

Efife soll ihren Vetter, den liederlichen Schewqi, heiraten, 
sie liebt aber Hilmi. Dessen Hausmeister weifs nun Rat. Er 
redet Schewqi ein, Efffes Ruf sei anrüchig, worauf dieser die 
Verlobung löst und Hilmi flugs in die Lücke einspringt. Als 
Schewqi erfährt, dafs man ihn angeführt hat, beschliefst er, sich 
zu rächen. Er besticht einen Arzt, Efifes noch ungeborenes Kind 
im Mutterleibe zu töten unter dem Vorwande, ihre schwache 
körperliche Konstitution erfordere dies. Efife stirbt selbst dabei. 
Damit hat Schewqi seine Rache und zugleich seinen Vorteil-, 
denn als Efifes nächster Verwandter ist er der Erbe ihres grofsen 
Vermögens. Er wird jedoch Schulden halber gefangen gesetzt 
und sein Plan überhaupt entdeckt. Hilmi erschiefst sich an der 
Leiche seiner Frau. Dem Ganzen soll eine wahre Begebenheit 
zu Grunde liegen; dadurch wäre Bedreddin für die Erfindung 
entlastet. Den Stoff auf die Bühne zu bringen, blieb aber immer 
noch recht wunderlich, und die Ausführung übertrifft alles, was 
man erwarten konnte. Alles passiert auf der Szene selbst; die 
Charakterisierung der einzelnen Personen und die Motivierung 
der Vorgänge ist unglaublich naiv. Man sieht hier drastisch, 
wohin sich der jungtürkische Dramatisierungseifer versteigen 
kann. Der Verfasser hat sich die leichte französische Komödie 
zum Vorbild genommen, die aber im Drama nicht am Platze war ; 
sein zweiter Akt wirkt geradezu wie eine Posse. Wir wollen aus 
diesem einen Stücke keinen Schlufs auf Bedreddins dramatische 
Fähigkeiten überhaupt ziehen. Eine Fehlgeburt zum Gegenstande 
eines Theaterstückes zu machen, ist übrigens an sich für die 
orientalische Naivität allem Menschlichen gegenüber nicht an- 
stöfsig. 

Weit besser ist Rif'ets »Sitte«. Na'im Bej mufs, dem Zwange 
der Sitte folgend, 30 000 Piaster (6000 Franken) für ein Familien- 
fest in seinem Hause aufwenden. Er hat jedoch nur 15000 dafür 
zur Verfügung. Da überläfst er dem Lieferanten der Bewirtung 
die eingehenden Geschenke im Werte von 10 — 12000 Piastern. 
Das ist aber höchst unanständig; sein Tun wird bekannt, und er 
muts aus dem Kreise der guten Gesellschaft scheiden, der er bis 
dahin angehört hat. Auf seinen Grabstein soll man — mit diesen 
Worten geht er ab — »Märtyrer der Sitte« schreiben. 

Von Näzym Paschas etwa in die gleiche Zeit fallendem 
Stücke »L6la und Medschnün«, sowie von dem etwas späteren 



— 54 — 

»Alexinatsch« (die türkische Eroberung dieser serbischen Stadt 
im Jahre 1876 behandelnd) habe ich mir keine Exemplare ver- 
schaffen können. 

Zu Jüsuf Najjyrs Nesibe in * »Treue« {Tegwir-i thebät 
jachod Nesibe^ 1873) hat die Kameliendame deutlich Patin ge- 
standen. Nesibe ist allerdings zunächst ein Blaustnmipf, der nur 
in Büchern lebt. Eines Nachts dringt Mün'im in ihr Schlaf- 
zimmer ein und erklärt ihr seine Liebe-, sie wird nach langem 
Disputieren schliefslich gerührt und erhört ihn — doch läfst sie 
sich's schriftlich geben, dals er ihr nie untreu werden wolle. Im 
nächsten Akt hat sie eine dreijährige Tochter und die Schwind- 
sucht. Mün'im ist ihr nämlich doch untreu geworden, und zwar 
mit der leichtsinnigen Fränkin Blanche. Ein ganzes Jahr lang 
hat sie dies hochherzig ertragen. Schliefslich stirbt sie ganz wie 
die Kameliendame, desgleichen Mün'im über ihrer Leiche. Der 
Vorhang fällt unter den Worten: 

Seht, das kommt von bösen Sitten, 
Seht, das ist der Untreue Schuld! 

In Arifs * »Schicksalsbestimmung« {Qazä we qadar, 1873) 
vergiftet sich das übliche Liebespaar. Es war halt so vom 
Schicksal bestinmit; den Eltern, welche eigentlich schuld sind^ 
billigt daher die sterbende Tochter selbst mildernde Umstände zu. 

Mit einer Dorftragödie * »Armer Bursche« {Täly'syz deli- 
qanly^ 1875) tritt Dschemil auf den Plan. Der reiche Memisch 
will das Glück Hassans und Nädires stören und die letztere selbst 
heiraten. Nädire stürzt sich aus Verzweiflung ins Wasser, wird 
aber von einem Hirten gerettet. Dem wackeren Mechmed Pech- 
lewän, Hassans Freunde, gelingt es, die Dorfleute von Memischs 
Schlechtigkeit zu überzeugen, so dafs das Liebespaar sich heiraten 
darf. Memisch läfst nun Hassan in der Hochzeitsnacht vergiften — 
dieser stirbt fast den ganzen dritten Akt lang; Mechmed Pech- 
lewän droht dem Mörder an der Leiche Rache. Die Bauern 
erscheinen den Hirten gegenüber als vornehme Herren, was also 
wohl den tatsächlichen Verhältnissen am Qyzyl Yrmaq entspricht, 
wo das Stück spielt. Der Kaffee spielt im täglichen Leben der 
Dörfler eine so wichtige Rolle, dafs es fast komisch erscheint. 

Ein fruchtbarer Bühnendichter — im Grunde allerdings wohl 
mehr Übersetzer oder Bearbeiter — ist wieder Mechmed 
Hilmi. Sein *»Mann mit 20 Kindern« (Jirmi-tschodschuqlu 



— 55 — 

bir adem, 1880) ist eine Bearbeitung von Moli^res »Monsieur de 
Pourceaugnac«, jedoch unter Einsetzung türkischer Namen. 

* »Die beiden Unteroffiziere« {Iki echbäb-i tschauschlar, 1883) 
behandeln einen dramatisch höchst wirkungsvollen Stoff, nämlich 
dasselbe Thema wie Schillers »Bürgschaft«. Zwei innig befreundete 
Unteroffiziere, Guillaume und Robert, haben sich in Ausübung 
einer edlen Tat gegen die Kriegsartikel vergangen und dafür 
eine schwere Strafe zu gewärtigen. Der Spruch des Gerichts 
lautet auf Tod für einen von ihnen ; der andere soll frei ausgehen. 
Sie würfeln, und Guillaume trifft das Todeslos. Damit er seine 
Familie noch einmal wiedersehen könne, verbürgt sich Robert 
bis zum Abend für ihn. Der Kommandant der Festung, Valmour, 
halst Robert und will ihn bei dieser Gelegenheit verderben. Er 
gibt Befehl, Guillaume am Abend auf der Insel, wo sich die 
Seinigen befinden, zurückzulassen — das einzige vorhandene 
Fahrzeug soll ohne ihn abfahren. Dies geschieht auch, und 
Robert soll erschossen werden, als der Oberstkommandierende 
Marschall, der Valmours Ränke durchschaut hat, ihn rettet. 
Hilmi hat den schon an sich wirksamen Stoff im einzelnen noch 
vortrefflich zu heben gewufst. Im zweiten Akte findet Guillaume 
die Seinen, welche er seit Jahren nicht gesehen hatte, in drücken- 
den äufseren Verhältnissen. In ihrer Mitte erhält er seine Wieder- 
ernennung zum Obersten, sowie die vollständige Rehabilitierung 
in seine einstige Stellung, die er ohne eigenes Verschulden ver- 
loren hatte. Unter diesen Umständen wird ihm der Abschied, 
den die Freundespflicht fordert, aufserordentlich schwer; es geht 
dabei fast tumultuarisch zu. Auch der dritte Akt in Roberts 
Gefängnis hat in den verschiedenen Versuchen, diesen in seinem 
Vertrauen zu dem Freunde wankend zu machen, packende Mo- 
mente. Guillaume kommt schliefslich noch wider alles Erwarten 
an, er hat zurückschwimmen müssen. Marschall spielt etwas zu 
auffällig den deus ex machina. Hilmi wird die Fabel kaum selbst 
erfunden haben — darauf deuten die fremden Namen und die 
Lokalisierung auf einer österreichischen Donauinsel — sonst 
würde solch ein glücklicher Griff höchste Anerkennung verdienen. 

Ein anderer Hilmi, mit dem Vornamen Mu9tafä, hat 
eine kümmerliche, sich ganz in den alten Bildern bewegende 
Reimerei, eine ^Traiidh in Remel- Versen , *»Der Glückliche« 
(Bachtyjar) betitelt, geleistet. 



— 56 — 

Achmed Hilmi endlich stellt (1882) in zwei »Theater- 
stücken« *»Das Wesen der Liebe« (Mähyjat4 yschq)^ also die wahre 
Liebe, und die * »Sogenannte Liebe« (Qati'ki yschq) nebeneinander. 
Im ersten, mehr eine Allegorie, denkt ein armer Schreiber (»der 
Liebende«) sehnsüchtig an seine Geliebte Wedlet (»die Ver- 
einigung«), die als ein reiches Mädchen und daher für ihn kaum 
erreichbar gedacht ist. Da erscheint ihm als Trösterin zunächst 
Ümid (»die Hoffnung«), We^lets Mutter, und bald darauf kündigt 
ihm Ferach (»die Freude«), deren Anrnie, den Besuch der Ge- 
liebten selbst an. Er träumt dann, er halte Wedlet wirklich im 
Arme, ujid diese im Traum vergangenen Augenblicke sind die 
wahre, weil schuldlose Liebe. 

Die »Sogenannte Liebe« wird an einem jungen Manne lächer- 
lich gemacht, der nur in verliebten Redensarten aus Theater- 
stücken lebt. 

Eine originelle Idee haben Hilmizäde und Ibrahim 
Rif 'et in ihrem *»Saad ihn Abi Waqqä^« zur Ausführung ge- 
bracht. Um das Andenken an die Schlacht bei Qadesia (637 
n. Chr.) zwischen Arabern und Persem, die als einer der glän- 
zendsten islamischen Siege aller Zeiten gilt, neu zu beleben, 
haben sie dieses »strahlende Blatt in der Geschichte des Islams« 
historisch-dramatisch beschrieben, d. h. sie unterbrechen die Er- 
zählung der Ereignisse durch Dialoge der handelnden Personen. 
Das starke, muslimische Begeisterung und Frömmigkeit atmende 
Schriftchen hat 1899 eine zweite Auflage erlebt. Dafs wir es 
mit keinem richtigen Theaterstücke zu tun haben, zeigt schon 
das Fehlen jeder Liebesgeschichte ; es ist lediglich auf eine mög- 
lichst belebte Schilderung eines historischen Ereignisses abgesehen. 

Die Räuberromantik hat Izzet zu seinen * »Mördern« {Qd- 
tyllar, 1886) verlockt. Ein Kaufmann, den Räuber ausgeplündert 
und bei dieser Gelegenheit den Sohn erschlagen haben, liefert 
diese in die Hände der Gendarmen, Sehr schwach sind auch 
A(chmed) F(achry)s *»Kerem und A^ly« (1887) — nach 
dem beliebten Volksbuche Äschyq Kerem — , Mechmed Seifis 

* »Beleidigender Vorwurf« {Techqire müqäbile ^ 1890) — die 
Naivetät Seifis, der sein Opus gelegentlich des Geburtstages des 
Sultans als »Beitrag zur türkischen Litteratur« hat drucken 
lassen, übersteigt alle Grenzen — , sowie Achmed Fechmis 

* »Leidbringend« {Hiizn-dwer , 1892). Im letztgenannten Stücke 



-• 57 - 

dringt Nezif dreist in Ischwebäzys Zimmer ein und gesteht ihr 
seine Liebe. Sie läfst sich richtig verblüffen und verliebt sich 
sogar auch ihrerseits schleunigst. Ein Polizeibeamter verhaftet 
ihn auf die Denunziation einer eifersüchtigen Sklavin hin, doch 
wird er ohne weitere Unannehmlichkeiten wieder freigelassen. 
Beide bekommen sich auch, aber die Sklavin vergiftet die junge 
Frau in der Hochzeitsnacht; Nezff und die Mörderin er- 
schiefsen sich. 

Auch an Lustspielen ist in der türkischen Moderne kein 
Mangel. Wenn sie auch manchmal kümmerlich genug sind, so 
lassen sie sich doch eher ertragen als schlechte Dramen, weil 
sie meist noch als Schwanke passieren können. 

Die Hauptperson inHüssämeddins *ilntriguen Schükris« 
{Fitne-i Schükri, 1873) ist ein Bedienter im Genre des Moli^re- 
schen Scapin, der durch seine fourberies das ganze Stück macht. 

In Wechbis *»Häschym Bej« (1884) handelt es sich um 
die Zähmung einer Widerspenstigen, allerdings nicht von Seiten 
des recht imbedeutenden Mannes, sondern sie selbst überwindet 
sich wohl oder übel. Häschym hat die viel ältere, verliebte Efife 
ihres Geldes wegen geheiratet; schliefslich kann er es aber mit 
ihr nicht mehr aushalten. Um ihn nicht ganz zu verlieren, tritt 
ihm Efife nach einem mifsglückten Versuche, ihn durch Liebes- 
zauber zu fesseln, die Hälfte ihres Qonaqs (Hauses) und die 
hübsche Sklavin Hüsnühäl dazu ab, die sie vorher nicht eifer- 
süchtig genug hatte hassen können. 

Omar Fäyqs *> Heirat« {Qaryqodscka, 1887) enthält auch 
manche drollige Sisene. Fäyq Bej bekommt ^ebfhe, die Tochter 
des erzfilzigen Hyssat Baba (»Geizpapa«), nur dadurch zur Frau, 
dafs er sich noch geiziger als dieser stellt. So besucht er z. B. 
seinen Schwiegervater in spe zum ersten Male in der Nacht, weil 
er ihm so den Kaffee erspart, den er einem Tagesbesucher un- 
bedingt vorsetzen müfste. Die Benutztmg von Moli^res »L'avare« 
hält sich übrigens in bescheidenen Grenzen. 

Hiermit schliefsen wir unseren Überblick über das jung- 
türkische Theater. Unter den Dutzenden von Stücken, dere& 
Titel man noch in Bücherverzeichnissen finden kann, werden 
sicherlich manche sein, die es ebensogut verdient hätten, hier 
genannt zu werden, wie eine ganze Reihe der oben erwähnten. 
Wirklich bedeutende, über die Masse weit hinausragende werden 



— 58 - 

aber schwerlich unberücksichtigt geblieben sein. Der Umkreis der 
türkischen Bühne ist durch die von uns besprochenen hinreichend 
skizziert. Es ist fast immer die Liebe, die als das Leitmotiv in 
die verschiedensten Verhältnisse eingreift. 

Die jüngste Lyrik. 

An die grofsen Meister Hämyd, Ekrem, Nädschy schlössen 
sich andere an, die wir hier in einem Abschnitte zusammen be- 
handeln wollen. 

Abdel-Helim Memdüch dichtete 1884 iPhantasie- 
gebilde« (Te^ir-i wydschdän), Näbyzäde 1886 i Kleinchen 
(Liebchen) oder neue Leidenschaft« (Mini mini jachod jine 
hewes), Hüss^n Häschym 1887 iStem« (Schehäb) , Schew- 
ket Ghawthy 1890 *iFrühling meiner Lust« (Behdr-i 
hewessim). 

Eigenartig berührt Abdel-Kerim Hädys * »Klage einer 
Schwindsüchtigen« (Bir mütewerrimenin newhe-i majüssänassy, 
1887 verfafst und 1891 gedruckt). Der Dichter schildert hier 
die letzten Empfindungen und Gedanken eines schwindsüchtigen 
jungen Mädchens, das seine Zweifel, an Gott schliefslich unter- 
drückt und ergeben sein Leben aushaucht. Schon vor ihm 
hatten 1884 Nigjär Hanym (s. unten S. 63) und ebenfalls 1887 
Tepedilenlizäde H. Kjämil »Die Empfindungen einer Schwind- 
süchtigen« (Bir mütewerrimenin hissijdty) gedichtet. Das Thema 
ist wohl aus der »Kameliendame« in die jungtürkische Litteratur 
eingedrungen und dann in ihr sehr beliebt geworden. 

Nationale imd patriotische Töne schlägt Mechmed Emin 
in seinen *» Türkenliedern« (Türkdsche schirler, 1898) an. 
Ekrem, Hämyd, Sämy u. a. haben ihm in Zuschriften, die er als 
Einleitung abdruckt, ihre Zustimmung in teilweise geradezu 
enthusiastischen Worten ausgesprochen, und es ist allerdings 
auch begreiflich, dafs diese wohllautenden Verse packend wirken. 
Sie kommen von Herzen und gehen daher wieder zu Herzen; 
die Verse eines Näbi, Bäqi, Fuzüli können das nicht — bemerkt 
Sämy. Emin ist mit Leib und Seele Türke; er empfindet zwar 
modern, aber sein Türkentum will er nicht aufgeben. So preist 
er mit der gleichen Begeisterung den Qoran als das Buch der 
Bücher, wie er mit höchstem Stolze »Ich bin ein Türke« singt 



— 59 — 

und in dieser »Stimme aus Anatolien«, der Heimat des Osmanen- 
tums, eine wahrhafte (auch in Musik gesetzte) Volkshymne ge- 
schaffen hat, in der allerdings der Sultan nicht vorkommt (wie 
übrigens auch kein Fürst in iDeutschland , Deutschland über 
alles«). Alles Türkische ist schön, schöner als alles andere — 
das ist das Leitmotiv von Emins Poesie. Die iTürkenlieder« 
sind mit Bildern ausgestattet, aber nicht in der jeder Perspektive 
ermangelnden orientalischen Zeichnenkunst, sondern in west- 
lichem Stil, wie der ganze Buchschmuck hier überhaupt ein 
europäischer ist. 

Patriotische Tendenzen verfolgt auch eine Sammlung von 
Kriegs- und Soldatenliedern, die 1897 nach dem letzten Griechen- 
kriege unter dem Titel * »Siegesgesänge« (Neschäyd-i zefer) er- 
schienen ist. Hier kommen neben Ekrem, Hämyd, Mechmed 
Emin (»Ich bin ein Türke«), Tewfiq Fikret, den wir gleich noch 
kennen lernen werden, gegen 30 Dichter der verschiedensten 
Qualität zum Worte. Natürlich gehen die Wogen des nationalen 
Siegesstolzes meist recht hoch. Sogar Hämyd, dessen wie 
Ekrems Stimme man seit langen Jahren zum ersten Male wieder 
einmal vernimmt, fragt die Griechen spottend : »Seit wann ziehen 
denn Katzen gegen den grinmien Leuen zu Felde?« Ekrem hat 
eine Ballade beigesteuert. 

Ein kühner Neuerer ist Tewfiq Fikret, der dies gleich 
äufserlich auffallend zum Ausdruck bringt. War schon die Aus- 
stattung von Mechmed Emins »Türkenliedern« eine ungewohnte, 
so wirkt der Umschlag von Fikrets *» Zerbrochener Leier« 
(Rübdb'i schikeste, Gedichte aus den Jahren 1894—1898, 2. Aufl. 
1898) und die gelegentlichen Kopfleisten darin geradezu sezes- 
sionistisch. Es ist eine Absage an die bisherige Weise schon in 
der äufseren Form. 

Fikret geht in der Tat über die übrigen Modernen noch 
hinaus. Er besingt Dinge, die man vor ihm in jungtürkischen 
Gedichtsammlungen vergeblich sucht. »Im Waggon«, »La 
danse Serpentine«, »Bicyclette«, »Chrysantheme« (die Blume), 
»Buddha«, »Des Dichters Tabakspfeife«, »Die Liebe zimi Leben«, 
»Nach dem Pol« lauten Überschriften bei ihm. Man sieht, er 
hat wirklich die alte Leier zerbrochen oder doch mindestens 
recht viele neue Saiten auf sie gezogen ; denn auch die ge- 
wohnten Themen, wie »Auf dem Dorfkirchhofe«, »Liebe und 



— 60 — 

» 

Trennung«, iRamazän« u. a. fehlen bei ihm nicht. Der Grund- 
ton in Fikrets Naturell ist Ernst. Dazu besitzt er eine grolse 
Liebe zur Natur. In seinen meisten Gedichten herrscht daher 
viel Stinmiung — man lese z. B. lAbend«, »Das blaue Meer« 
oder »Ramazänswohltätigkeit«. 

Eine »Emeuenmg der Ehe« findet er in der Geburt des 
ersten Kindes (Sie hatten sich geheiratet und eine Weile geliebt ; 
nach fünf Wochen legte sich die Leidenschaft. Sie hatten sich ge- 
heiratet. Warum? Wie soll das ein junges Mädchen wissen? 
Der Mutter hatte es eine Freude gemacht, die Tochter einem 
Manne geben zu können. Die Geburt des ersten Kindes bringt 
nun aber beide wieder einander näher). Muttersein gilt Fikret 
überhaupt als das »freudigste Leid«. Einem Betnmkenen tritt 
er mehr mitleidig als nut Verachtung gegenüber, wie er grund- 
sätzlich anderes neben sich gelten läfst. 

Einige Male schlägt er soldatisch klingende Saiten an, so 
in »Hassan im Kriege«, »Beim Vorbeimarsch der Truppen«, 
»Der Säbel«. Nur selten lehnt er sich direkt an fremde Vor- 
bilder an, wie »Im Frühling« (nach Copp^e), aber er kennt die 
französische ältere und moderne Lyrik. A. de Musset weiht er 
begeisterte Zeilen, wie er auch »Bilder« von türkischen Dichtem 
zeichnet, u. a. des Pessimisten Fuzüli und des ewig heiteren 
Nedim neben den Modernen »Meister« Ekrem und Abdel-Haqq 
Hämyd. Als Probe von Fikrets Poesie mögen die beiden fol- 
genden Gedichte dienen: 

Gebetsruf am Morgen. 

*Allahu ekber! Allah ist grofs!» 

Die Welt versinkt in feierliches Schweigen, 

Als wollt' in Andacht sie vor Gott sich neigen. 

>Allahu ekber! Allah ist grofs!» 

Wie leise Klage der Ezän (Gebetsruf) erklingt, 

Bis in geheimer Welten Schofs er dringt. 

Von allen Lippen das Gebet sich ringt: 

* Allah ist grols! Allah ist grolsl« 

Und wieder schweigt's! — Das Herze der Natur 

Hört man durch heil'ge Stille klopfen nur. 

Der Geist, der durch die Welten webt und weht, 

Verehrt den ew'gen Gott mit brünstigem Gebet, 

Und betend er vor seinem Throne steht: 

«Allah ist grols! Allah ist grofs!:' (Fr. Sehr ad er.) 



— 61 — 

Regen. 

Im Takt, mit leisem, regelmäfs'gen Schlage 
An Scheibe und Gitter munter pocht der Regen; 
Mitunter tönt's wie Melodieen, Totenklage — 
An Scheibe und Gitter munter pocht der Regen 
Im Takt, mit leisem, regelmäfs'gen Schlage. 

Die Fluten weinen, die zu Tal getragen. 

Und auf der Gasse tönt des Giefsbachs Klagen . . . 

Der Horizont wird enger stets und enger — 

Je düsterer die Wolken, desto bänger 

Ergreift die Welt ein unnennbares Zagen — 

Eiskalter Schatten hüllt die Erde ein. 

In Nacht und Grau'n kehrt sich des Tages Schein . . . 

(Fr. Schrader.) 

Der Dichter hat einen der mächtigen, wolkenbruchartigen 
Frühlings- oder Herbstregen im Sinne gehabt, welche die Strassen 
und Gassen des hügeligen Stambuls in ebenso viele Giefsbäche 
zu verwandeln pflegen. 

Es würde wunder nehmen, wenn die Form dieser Gedichte, 
die vielfach zuia ersten Male nach Ausdrücken für der türkischen 
Sprache noch ungewohnte Ideen suchen müssen, stets schon eine 
durchaus vollendete wäre. Das Ringen des Dichters ist so 
manchesmal noch nicht siegreich; für das, was er geleistet hat, 
sowie als mutiger Bahnbrecher überhaupt verdient er aber volle 
Anerkennung. Dafs er sich 's mit dem Reim bisweilen leicht 
macht, soll bei »Konservativen« starken Anstofs erregt haben. 
Doch könnte er sich für dürftige Reime, wie qefwet-le auf öi4e 
oder achscham-dyr auf chä-yr^ schon auf Klassiker berufen. Als 
Versformen verwendet er nur europäische oder macht sich selbst 
eigene, wie die »vers-libristes« der jungfranzösischen Lyrik — 
unsere deutschen »Freiversler« kennt er natürlich nicht. 

Die Frauen in der türkischen Moderne. 

Wie wir mehrfach beobachten konnten, haben jungtürkische 
Autoren die Frauenfrage häufig zimi Thema ihrer Schrift- 
stellerei gemacht. Mechmed Said hat u. a. den Frauen ihre 
»Pflichten« {Wezdyfi ünätk, 1886) vorgeschrieben, RäghibBej 
eine »Frauenerziehung« {Terbije-i nyswdn, 1890) verfafst; an 
eigenen Almanachen und Briefstellern für das weibliche 



— 62 — 

Geschlecht fehlt es nicht. Aber auch Frauen selbst haben zur 
Feder gegriffen. 

Bei der Weltabgeschiedenheit des muhammedanischen Weibes 
ist hier jede Neuerung meist weit schwieriger als auf anderen 
Gebieten. Vamb^ry erwähnt mehrmals eine Äufserung des 
regierenden Sultans Abdel -Hamid IL: Seine, des Herrschers, 
Familie habe infolge ihrer Abgeschlossenheit von der Aufsen- 
welt viele ältere Redensarten und Wörter des Osmanischen bei- 
behalten, die den übrigen Türken ganz abhanden gekommen 
seien, so dafs man also gewissermafsen von einer Art serail- 
türkischen Dialekte sprechen könnte (Ungarische Zeitschrift 
»Keleti Szemlec I, 16, Budapest 1900 5 Altosmanische Sprach- 
studien, 21, Anm. 2, Leiden 1901). Dazu patst eine Mitteilung 
über bucharische Verhältnisse, wonach idie jüdischen Männer in 
Buchara kein ganz reines Persisch sprechen, infolge des Ein- 
flusses des Bazars, dafs aber die jüdischen Frauen das reinste 
Persisch sprechen und dabei oft archaistische Ausdrücke ge- 
brauchen, die im gewöhnlichen Leben von anderen nicht mehr 
gebraucht werden« (Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen 
Gesellschaft, Band 55, 257, Leipzig 1901). Die Alten haben 
ihre Frauen betreffend bekanntlich die gleiche Beobachtung ge- 
macht. Für die orientalische Frauenwelt ist es bei dem im 
Morgenlande allgemein geübten Konservativismus jedenfalls ganz 
besonders anerkennenswert, wenn sich auch in ihr Mit- 
arbeiterinnen an den neuen Bestrebungen finden. Gute Scheher- 
zades dürfen wir unter ihnen ja von jeher erwarten, und die 
dichterische Tätigkeit der Frauen ist gar nicht so gering ge- 
wesen, wie man sich vielleicht vorstellen möchte. Aber Origi- 
nelles hat in der Vergangenheit keine geleistet (für Persien 
vergl. man meine »Geschichte der persischen Litteratur« im 
sechsten Bande dieser Sammlung, S. 134 ff.); in der türkischen 
Moderne wird dagegen die Frau voraussichtlich noch eine Rolle 
spielen. Bedingung ist dazu allerdings, dafs sich das Harems- 
leben freier gestalte. Vielleicht schreibt Frau Helene Böhlau- 
el Raschid Bej einmal türkisch für ihre türkischen Schwestern, 
in deren Reihe sie ja durch ihre Ehe eingetreten ist. Auch die 
eine der beiden osmanischen Schriftstellerinnen, die wir gleich 
noch kennen lernen werden, Nigjär Hanym, ist ihrer Geburt 
nach eine halbe Europäerin. 



— 63 — 

Bis jetzt sind allerdings nur erst wenige türkische Frauen 
in der jungen Litteratur aufgetreten, und unter diesen sind mir 
blofs von zweien Werke bekannt geworden: Nigjär Bint 
Osman, die Tochter Osman Paschas, eines zum Islam tiber- 
getretenen Ungarn, und Fatme Alije, eine Tochter des be- 
deutenden Historikers Dschewdet Pascha, der allerdings selbst 
als Stilist noch mehr der alten Richüuig angehörte. 

Von Nigjär Hanym liegen zwei Gedichtsammlungen vor : 
*iAch!« {EfsüSj in zwei Heften von 1887 und 1889) und mit 
einem zehnjährigen Zwischenraimi *iEchoc {^Aks-i gadd^ 1898). 
Wenn man den ersten Teil von »Ach!« in die Hand nimmt, so 
gewinnt man zunächst durchaus den Eindruck, es mit einer 
Dichterin der alten Schule zu tun zu haben. Nigjär beginnt 
pflichtschuldigst mit dem Lobe Allahs, des Propheten und des 
regierenden Sultans und feiert diese des weiteren in drei H3mMien. 
Dann folgen Gedichte auf den Frühling, »Hoffnung«, an den 
Geliebten, den Mond u. a. In diesen altbekannten Themen ver- 
wendet die Dichterin auch den alten Stil, aber ihr natürliches 
Empfinden drängt ihn doch in gewisse Grenzen zurück, die 
üblichen Phrasen ersticken bei ihr den Inhalt nicht. Ihre 
Poesien sind ihr »Herz«, wie sie selbst einmal sagt. Vor allem 
will sie stets Weib sein, und so gelingen ihr Äufserungen der 
Mutterliebe besonders gut. Ihr Ton ist durchaus ernst, wie 
schon die Wahl des Titels »Ach!« zeigt. Die Gedanken eines 
schwindsüchtigen jungen Mädchens, das im Geiste von dem Ge- 
liebten Abschied nimmt, finden sich bei ihr wohl zuerst (in 
1883/1884 datierten Gedichten). 

Auch im »Echo« ist Nigjär Hanym im Grunde dieselbe ge- 
blieben, doch ist ein Fortschritt zu modernem Denken unver- 
kennbar. Sie fühlt sich auch hier zum Dichten innerlich ge- 
drängt, ihre Verse sind der Widerhall ihrer Herzensempfin- 
dungen. Wie sich Neues und Altes bei ihr mischt, dafür diene 
als Probe das Gedicht »Mit dir« (im Original reimen die Zeilen 
natürlich) : 

Im ersten Frühling, ringsum Blumendüfte — 
Weifst, Liebster, du den vierten Nissan (April) noch? 
Den hellen, schönen Tag voll Freud' und Wonne, 
Wo lustdurchglüht wir Seit' an Seit' gewandelt? 



— 64 — 

An jenem Tage keimte unsre Liebe, 
Erwacht' in unsern Herzen Freud' und Lust. 
Der süfse, reine, flücht'ge Frühlingswind 
Rief mahnend: Liebet, liebet! uns entgegen. 

Wie glücklich sind wir damals nicht gewesen 
Auf den smaragdnen Fluren Seit' an Seit'! 
Steh still! rief ich dem Zeitenrade zu. 
Als ich mit dir dort Seif an Seite schritt. 

Schön sprolsten Baum und Frucht in jungen Trieben, 
Wie lieblich war doch anzuschaun die Welt! 
Zu knospen hatte alles frisch begonnen, 
Und die Natur hub sich zu schmücken an. 

Von jungem Gras vergoldet lacht' die Erde, 
Gleich Wellen wogt' der Wind darüber hin, 
Wie Dichtermund rief alles mir entgegen. 
Wie grofs die Lust, mit dir vereint zu sein. 

Der Frühling schwand, die Berge sind vergilbt. 
Und wieder gingen beide wir seiband'. 
Und neue Lust entsprofs der Zeiten Wechsel, 
Der Frühling schwand, doch unsre Liebe blieb. 

Wie schön, ach! war der Rosenhain der Welt 
Und das smaragdne Gras mit dir zu schaun! 
Der Vögelein Gesang, der Murmelbach — 
Mir war's, als wenn im Paradies ich schritt. 

Ist heut' im Winter unsre Liebe kalt? 

Komm, komm, mein Herz, des Frühlings lafs uns denken. 

Die Herzen stärken uns in Hoffnungslust — 

Zur Rosenzeit gehn wieder wir zusammen. 

Ein Jungtürke strenger Observanz würde die »smaragdnen 
Fluren«, den »Rosenhain der Welt«, den »Murmelbach«, den 
»Frtihlingswind« wie auch die »Ringellocken«, »Bülbül« u. dgl. 
grundsätzlich aus seinen Poesien fernhalten, die Geliebte oder 
den Liebsten nie mehr als den »Mond« anreden. Anders 
Nigjär. Bei ihr fehlen diese alten Bilder keineswegs. Dabei ist 
sie aber doch zugleich modern und wird dies im Laufe der Zeit 
immer mehr und mehr. »Mein Leben hat erst begonnen, seit 
ich dich gesehen« ist für türkische Denkweise eine moderne 
Empfindung. Eine in ihrer Entwicklung zurückgebliebene 
Akazie würde gleichfalls ein Klassiker schwerlich besungen 
haben. Sogar eine »Kotillonserinnerung« findet man bei ihr. 
Recht selten nur kommt der Humor zum Vorschein, wie »Im 
Schnee«. 



— 65 — 

Auf die Gedichte folgt im «Echoi ein zweiter, feist durch- 
gängig prosaischer Teil, »Feuerbründec betitelt. Er enthält 
korze Artikel: »Frühlingc, »Das Meer«, »Schneegestöberc^ 
»Prinkipo« (die grölste der PrinzeninselnX »Der Bospomsc, »Ein 
Septembermorgenc. Neben solchen Natorbildem stehen ethische 
Betrachtungen, wie »Arbeit«. »Das Herz kramph sidi mir zu- 
sammen« (nämlich über den Unbestand und die Treulosigkeit 
die man so häufig an Menschen beobachten mufsl 

\*or allem sieht Nigjär Hanym alles mit den Augen des 
Weibes an. So gilt ihr in »Arbeit« als Frauenpflicht, Gattin 
imd Mutter zu sein — alte Jungfern sind nach orientalischer 
Auffassung etwas Unnatürliches — und sich zugleich ihren Mit- 
Schwestern nützlich zu machen. Dir mütterlicher Sinn äufsert 
sich schön in »Mein Sohn Münir«, in einer »D^icace« an ihren 
anderen Sohn Feridün u. a. Ihr Patriotismus läfst sie für die 
Muhammedaner auf Kreta sowie für die im Griechenkriege ver- 
wundeten türkischen Soldaten eintreten. Einige Briefe sowie 
Gedichte und Grabschriften an ihre Eltern machen den Beschlufs. 

Die Metren ihrer Verse sind durchweg die altklassischen, 
jedoch häufig mit modernen Reimverschlingungen. 

Eine direkte Vorkämpferin für die Hebung der türkischen 
Frau ist Fatme Alije Hanym. Sie begann ihre litterarische 
Laufbahn 1891 mit einer Übersetzung von George Ohnets 
»Volonte« und liels dieser im Jahre darauf eine Verteidigung 
der türkischen Frau gegenüber der europäischen folgen (»Di^ 
Frauen des Islams«, Nyswän-i tsiäm). Ebenfalls 1892 erschien ihr 
umfangreicher Roman * »Erörterungen« {Mühäzardt; französisch 
würde man »D^bats« übersetzen), eine ausgesprochene Tendenz- 
schrift. Fatme Alije will den Leser veranlassen, über die von 
ihr geschilderten, dem Leben abgelauschten Zustände nachzu- 
denken. Sie führt möglichst viele verschiedene T)rpen vor, 
damit jeder Bekannte finde und sich überzeuge, dals ihre Per- 
sonen keine Schemen seien. Ihr Stil ist elegant, der Tochter 
Dschewdet Paschas würdig. 

Die Hauptpersonen ihres Sittenromans sind FAzile und 
Müqdim, die schliefslich trotz aller Intriguen von FAziles Stief- 
mutter noch ein Paar werden. Die beiden Kinder Sd'y Bejs, 
der nach dem Tode einer heifsgeliebten Frau eine neue Ehe mit 
der jungen Dschälibe eingegangen ist, wachsen freudlos auf, da 

Hörn, Geschichte der türkischen Moderne. 5 



— 66 — 

sie die Stiefmutter nicht liebt Der Vater glaubt, sie seien vor- 
trefflich versorgt; der schwache Mann sieht alles nur mit den 
Augen seiner zweiten Frau. Als er sich nach Jahr und Tag 
auf Zureden einer treuen Tante zum ersten Male wieder seinen 
Kindern widmen will, hat Fäzile keinen anderen Wunsch, als : er 
möge ihnen das Grab der Mutter zeigen. In buntem Wechsel 
lernen wir die verschiedensten Seiten des Familienlebens der 
höheren Stände kennen; die Verfasserin bietet eine glückliche 
Erfindungsgabe auf, um alle möglichen Situationen vorzuführen. 
Fäzile wird wider ihren Willen mit einem ungeliebten, ihrer un- 
würdigen Manne verheiratet. Dieser ist ihr nicht treu, wie 
dies auch die Stiefmutter ihrem Vater gegenüber nicht ist ; doch 
wird sie dadurch gestraft, dafs ihr Galan sie um einer Sklavin 
willen verlälst. Da Fäzile sich ihrem ungetreuen Gatten ver- 
sagt, so muls sie sich zunächst eine Nebenfrau gefallen lassen, 
damit ein Sohn ins Haus kommt. Der Mann hält es aber auch 
nachher sogar mit drei weiteren Sklavinnen. Endlich beschliefst 
Fäzile, ihrem unerträglichen Leben ein Ende zu machen. Sie 
will sich eben ins Meer stürzen, da verwirft sie im Andenken 
an ihre Mutter noch im letzten Augenblicke den Selbstmord. 
Nach mannigfachen Abenteuern kommt sie, ohne je ihre Ehre 
zu gefährden, als Sklavin in das Haus des Gouverneurs von 
Beirut. Dort findet sie Müqdim wieder, der auf die Kunde von 
ihrem Selkstmorde — sie hatte einen Brief mit dieser Mitteilung 
hinterlassen — in Siechtum und Melancholie verfallen war imd 
in Beirut Heilung sucht. Die Vereinigung der Liebenden ist 
aber nicht so leicht, da Fäzile nicht geschieden ist ; doch kommt 
auch dies zum gewünschten Ziel. Am Schlüsse finden wir die 
eigentliche Familie wieder glücklich vereint, während die böse 
Stiefmutter mit den Ihrigen im Elend endet. 

Seitdem sind aus Fatme Alije Hanyms Feder noch eine Reihe 
weiterer Schriften hervorgegangen, zuletzt (1900) >Die Lauten- 
spielerin« i^Üdy), »Bedä'a, die Virtuosin, die von ihrem herz- 
losen Gatten betrogene und verstofsene Frau, findet Trost in der 
Ausübung ihrer Kunst, der sie sich mit leidenschaftlicher Seele 
hingibt, bis sie fem von ihrer syrischen Heimat in Konstan- 
tinopel sich verzehrend stirbt« (Fr. Schrader). Also auch hier 
eine Auflehnung der Frau gegen die Unterjochtmg unter den 
brutalen, sinnlichen Mann. Für die Besserung der Lage ihres 



- 67 — 

Geschlechts wirkt die begabte Schriftstellerin unausgesetzt weiter, 
besonders in der Frauenzeitung Hanymlara machgüg (»Eigens 
für Frauen«). Vor allem ist der Orientalin eine höhere Bildung 
nötig, wenn sie dem Manne eine gleichstehende Gefährtin auf 
dem Gange durchs Leben sein soll. 

Übrigens ist die Zahl der schriftstellernden modemttirkischen 
Frauen gar nicht so ganz gering, ich finde wenigstens noch 
Btichertitel wie »Jene Frau« von Fachrije Hanym, »Papierspiel« 
(Kjäghyd ojunü) von Gtilnär Hanym, sowie noch fünf weitere 
Namen. 

Schlufswort. 

Hat nun die türkische Moderne, deren Entwicklung wir auf 
den vorstehenden Seiten zu schildern versucht haben, die alte 
Litteratur wirklich völlig beseitigt? Will überhaupt niemand 
mehr etwas von den ehemals bewunderten Klassikern wissen? 

Ein gebildeter Türke, der Persisch und Arabisch so weit 
kennt, wie es jahrhundertelang in seinem Lande Brauch ge- 
wesen ist, wird sich sicherlich auch heute noch an einem Ge- 
dichte Bäqis erfreuen können. Er bringt eben für dessen Ver- 
ständnis und Feinheiten die erforderliche Vorbildung mit. So 
gibt es denn noch immer eine Gemeinde von Freunden der alten 
Meister. Selbst mancher Moderne verzichtet, wie wir gesehen 
haben, keineswegs völlig auf die alte Bildung; nur soll sie 
nicht mehr die alleinige Norm sein, sondern einer Reform unter- 
zogen werden. Die Sache hat gar keine so geringe Ähnlichkeit 
mit den zur Zeit in Deutschland herrschenden Bestrebungen, die 
klassischen Sprachen aus dem höheren Schulunterrichte zu be- 
seitigen. Wir würden damit einen grofsen Teil des Verständ- 
nisses unserer Klassiker einbüfsen ; den Türken ginge das Phan- 
tastische verloren, was uns gerade am Morgenlande so besonders 
anzieht, weil es unserem eigenen Wesen völlig entgegen- 
gesetzt ist. 

Sehr verständige Worte hat in der Frage Mechmed 
Dscheläl in seinen * »Spuren«, d. i. »Gesammelten Werken«, 
(Atkär, 1894) gesprochen. Er ist durchaus ein moderner 
Schriftsteller, dessen Parole »Schreiben, schreiben« heilst. Er 
will die Dinge so schildern, wie sie wirklich sind, nicht wie sie 

5* 



— 68 — 

eine dem tatsächlichen Leben abgewandte Phantasie umschreibt. 
Aber die poetische Empfindung der Klassiker scheint ihm doch 
geeignet, auch noch in der Gegenwart die Herzen zu erfreuen 
und zu erheben. Die realistischen Neuen, sagt er z. B., wollen 
ein »sprechendes Auge« nicht gelten lassen. Die alten Dichter 
wufsten es besser; Nedfm hat beispielsweise gesagt, ein Auge 
könne 100000 Sprachen sprechen. Allenthalben findet man bei 
den Alten Schönes, das man neben den neuen Bestrebungen 
nicht verachten, sondern vielmehr erhalten soll. Dscheläl will 
vor allem Türke bleiben ; Milli-Erzählungen liest er in schlaflosen 
Nächten, aber keine Geschichten von Grafen und Gräfinnen 
(Comtes und Comtesses). Die »Spuren« enthalten Gedichte und 
kleine Prosaabhandlungen in abwechselnder Reihenfolge ; Ghazele 
und Qa^giden stehen neben Versen in modernem Gewände. Zu 
Dscheläls Novellen vgl. oben S. 51. 

Ein Gesinnungsgenosse Mechmed Dscheläls, nur durchaus 
reaktionär, ist Schach We^fi. In seinen *»Erörterungen« 
{Mühäzarät^ »D^bats«, 1900) führt er einen gewissen Qochbeti 
Effendi ein, bei dem jeden Freitag eine Anzahl gleichgesinnter 
Männer zu schöngeistigen Soireen zusammenkommen und Werke 
aus der persischen, arabischen und türkischen Litteratur be- 
sprechen. Da bringt eines Abends einer eine Handschrift des 
seltenen alten Dichters Wedschhi mit, die er in einem Buch- 
händlerladen aufgestöbert hat. Die vorgelesenen Proben finden 
allgemeinen Beifall; man kritisiert und erläutert sie durch 
Parallelen aus anderen Dichtem. Dabei kommt man auf moderne 
Anschauungen, nach denen die Poeten in »Dichter« (schä^yr) und 
»Ordner« (näzym) geschieden werden, je nachdem sie die Worte 
in übertragener (phantastischer) oder natürlicher Bedeutung ver- 
wenden. Man sucht sich dies an Beispielen klarzumachen und 
kommt dabei auf die Gewohnheit, aus Gedichtsammlungen durch 
zufälliges Aufschlagen irgend einer Stelle »Vorzeichen« (fdl) zu 
entnehmen — neben dem hierfür besonders beliebten Häfiz u. a. 
Klassikern werden auch Nädschys »Strahlen« (oben S. 41) dieser 
Ehre gewürdigt. In anderen Soireen verhandelt man über den 
Rätselstil, über die Frage, wie weit die Benutzung fremder Verse 
erlaubt sei u. a. m. 

Im allgemeinen schätzen diese Kreise die persische Poesie 
am höchsten und rühmen die Türken, welche persische Gedichte 



— 69 — 

gemacht haben, besonders den Sultan Selfm I. (f 1520), dem 
allein ein ganzer Abend gewidmet wird. Arabisch verstehen 
Qochbeti Effendi und seine Freunde natürlich auch ausge- 
zeichnet; sie verfallen aber nicht in die Überschätzung dieser 
Sprache, wie man sie bei Arabern selbst so oft findet. Ich hatte 
Gelegenheit, einen in dieser Hinsicht höchst spafshaften Herrn 
kennen zu lernen. Arabisch war ihm die Mutter aller Sprachen. 
Die Franzosen sollten ihr march-er aus arab. masch-ija »gehen« 
entnommen haben — das r darin hätten sie eingefügt, wie die 
Perser ein solches in schämt »Scham« gegenüber deutschem 
Scham. So leitete er alle Sprachen aus dem Arabischen ab. 
Gelegentlich ward auch das Türkische zur Hilfe herangezogen; 
z. B. sollte unser Wass-er ein umgekehrtes türkisches gu 
»Wasser« sein, das er auch in stq-ua fand. Eines Tages stand 
der Unsinn sogar in einem der angesehensten türkischen Jour- 
nale Konstantinopels. 

Schach We^fi ist für seine Ideen noch vielfach schrift- 
stellerisch tätig gewesen. So hat er u. a. eine Auswahl von 
Versen aus Saadis »Bostän« und Dscheläleddins »Methnewi« im 
persischen Originaltexte mit türkischer Übersetzung als »Duftende 
Blumen« (Rejähyn) herausgegeben imd selbst mystisch-lyrische 
Gedichte in der alten Weise (»Verzückungen«, Dschezbdt^ und 
ähnl.) gedichtet. Seine stilistischen Werke »Lichter« und »Briefe« 
haben wir oben (S. 52) erwähnt. 

Neben Sch€ch We^fi sind natürlich noch manche andere 
Anhänger der alten Litteratur tätig, doch gehören sie in eine 
Darstellung der türkischen Moderne nicht hinein. 

Wie die jungtürkische hat sich auch die russische Litteratur 
ursprünglich aus einer Anlehnung an den Westen heraus entwickelt. 
Was der russischen so glänzend geglückt ist, nämlich das auf- 
gepfropfte, fremde Reis zu einem hochragenden, heute durchaus 
wurzelecht scheinenden Stamme zu gestalten, der völlig ein- 
heimische Früchte trägt, so dafs die russische Litteratur ihre 
eigenartige, selbständige Stellung im Kreise der Völker einnimmt, 
das wird hoffentlich auch der türkischen im Laufe der Zeit be- 
schieden sein. Auf dem Wege, dieses Ziel zu erreichen, ist sie. 
Allerdings sollten auch manche der bedeutenderen Schriftsteller 
und Dichter noch mehr Wert auf die Qualität als auf die Quan- 
tität legen. Viele nur bis zu einem gewissen Grade vollkommene 



— 70 — 

Werke tun es weniger als eine kleine Anzahl wirklich voll- 
endeter. Dafs solche Schule machen, ist bei der Begabung des 
jungen litterarischen Nachwuchses unzweifelhaft. Die neue Rich- 
tung steht heute — nach 50 Jahren — ihren fremden Lehr- 
meistern schon selbständiger gegenüber, als es der Klassizismus 
während Jahrhunderten je getan hat. Das berechtigt zu guten 
Hoffnungen. 

Günstig für ein zunehmendes Eindringen der jungen Litteratur 
in immer weitere Kreise ist die auffällige Billigkeit der gedruckten 
Bücher, eine gar nicht zu verachtende Äufserlichkeit. Fatme Alijes 
»Erörterungen«, ein gut ausgestatteter Band von 463 Seiten, sind 
für ihre 4, Sezäjys »Lebensschicksale c , ein ebensolcher von 
175 Seiten, für ihre 2 Franken teuer. Gar nichts Ungewöhn- 
liches sind Preise wie 1 Frank für Nigjär Hanyms »Echo« 
(335 Seiten); IV2 Frank für die »Zerbrochene Leier« (363 Seiten); 
Hüss6n Rechmis »Erzieherin« (424 Seiten) und »Maitresse« 
(904 Seiten) kosten sogar nur ^/2 bezw. 1^/2 Frank. Um den 
Durchschnittspreis von 1 Frank kann man meist die neuesten 
Novellen kaufen, wenn sie nicht zu umfangreich sind. Natürlich 
läfst dafür die äufsere Ausstattung oft zu wünschen übrig. Der 
Arakelsche und Ebuz-Zijäsche Verlag machen aber rühmliche 
Ausnahmen; des ersteren Sanmilung von »Taschenromanen« oder 
des letzteren »Bibliothek« bieten z. B. für 1 bezw. ^k Frank 
vortreffliche Drucke. 



Index. 



Abdel-Hamid IL, Sultan 9, 62. 
Abdel -Haqq Hämyd 9, 11, 30, 

34 ff., 59. 
Abdel-Helim Memdüch 58. 
Abdel-Kerlm Hädy 58. 
»Abenteuer des Mfr Nedim« 51. 
»Ach!* 63. 

A(chmed) F(achry) 56. 
Achmed Fechmi 56. 
Achmed Hilmi 56. 
Achmed Midchat 9, 11, 12 ff, 
Achmed Räsim 46 ff. 
Achmed Weflq Pascha 11. 

Ädil Giräi 33. 

Agostino, Charles d' 5. 

»Ähre, die« 42. 

«Äkif Bei« 12, 30. 
»Alexinatsch« 54. 
»Ali Bej's Erlebnisse« 32. 
»Anekdotenschatz« 51. 
»Angelique, die keusche« 37. 
Arabischer Einflufs 6. 
Arakel 5, 51, 70. 

Ärif 54. 

Aschyq Kerem 56. 
Äsop 28. 
Atala 37. 
Auerbach 16. 

Bägi 6, 58. 

Bechri 51. 

Bekri Mustafa 40. 

»Besuch, falscher« 51. 

»Betrüger, zwei« 17. 

»Blätter, zerstreute« 32. 

»Blick, der, aus dem Wandschrank« 

17. 
-Blofskopf^< 29. 
»Blumen, duftende« 69. 
Böhlau, Helene 62. 
»Boshaft« 16. 
Bostän 69. 
»Briefe« 52. 
»Brief schätz« 52. 
Briefsteller 52. 
»Brüdern, Erzählung von den 

zwei« 51. 
»Buch, das, eines Toten« 44, 
»Bürgschaft, die« 55. 
'Bursche, armer« 54. 



Cebfch 52. 

Chälyd Zijä s. Uschschägyzäde. 

Chateaubriand 8, 37. 

»Chosrau und Schlrin« 39. 

»Chronik eines Sommers« 46. 

Cocq, Paul de 8. 

Copp^e 46, 60. 

»Courtisane, die« 36. 

»Qydqy, der Kommissionär« 17. 

»Dames, les grandes, de Paris« 17. 

»Diana« 47. 

»Diese sind es« 36. 

Dolmetscher der Wahrheit, der 29. 

»Donau, die« (oder »Sieg«) 32. 

»Doppelrache« 17. 

Dorfgeschichte 50. 

Dscheläl s. Mechmed Dscheläl. 

Dscheläleddln Rümf 69. 

»Dscheläleddln, der Schah von 

Chwärezm« 34. 
Dschemil 51, 54. 
»Dschemlle« 52. 
Dschewdet Pascha 63. 
»Dschezmi« 33. 
Dumas (Vater und Sohn) 8, 27, 38. 

Bhuz-Ziiä (Verlag) 70. 

Ebuz-Zi]ä Tewfiq 5, 10, 41. 

»Echo« 63. 

»Ehe, die« 14, 21 ff. 

»Ehrenwort« 38. 

Ekrem s. Machmüd Ekrem. 

Emin s. Mechmed Emfn. 

»Engel, ein, auf Erden« 28. 

»Erörterungen« 65; 68. 

»Erzieherin, die« 47. 

»Eschber« 35. 

Fabeln 28. 

Fachrije Hanym 67. 

»Falcone, Mateo« 39. 

Fatalismus 39. 

Fatme Alije Hanym 63, 65 ff. 

»Fehlgeburt, die« 52. 

»Felätun Bej und Räqym Ef feudi« 

27. 
F^n^lon 8, 28. 
»Ferdi & Ko.« 45. 
Feridün 6. , 

Fetch Ali Achondzäde 52. 
»Feuerfunken« 41. 



— 72 — 



Fikret s. Tewfiq Fikret. 

Firengi 8. 

Fischart 7. 

Foy 5. 

Französische Litteratur 8, 11. 

»Frau, jene« 67. 

* Frauen, die, des Islams« 65. 
«Frauen, eigens für« 67. 

* Frauenerziehung« 61. 
»Frauenpflichten« 61. 
»Freimaurerei, die Geheimnisse 

der. 9. 
Fr ei versler 61. 
> Frühling meiner Lust« 58. 
»Funken« 41. 
Fuzüli 58, 60. 

»Gedichte in Prosa« 44. 
»Geduld und Beharrlichkeit« 34. 
»Gefangenen, Gebet eines« 42. 
»Gefängnis, eine Stimme aus dem« 
42. 

* Geheimnisse, tausend« 51. 
»Geld« 17. 
»Gemurmel« 37, 42. 
»Geschichte, eine wahre« 15. 

„ lustige« 51. 

»Geschichten, interessante« 12, 
13 ff. 

»Geschichten, zwei wahre« 51. 

Gesellschaft , Deutsche Morgen- 
ländische 4, 5. 

»Gespensterhaus, das« 16. 

Gibb 5, 6. 

»Girofl^ Giroflä« 9. 

»Glashaus, die Erzählung vom« 51. 

»Glück« 16. 

»Glückliche, der« 55. 

Gülnär Hanym 67. 

»Gülnihäl« 31. 

Häfiz 68. 

Halbmond, roter 29. 

Hälet Bej 51. 

Hamlet 31. 

Hammer, von 6, 33. 

Hämyd s. Abdel-Haqq Hämyd. 

»Häschym Bej« 57. 

Hassan Bedreddln 52. 

»Hassan der Seefahrer« 27, 

»Heirat« 57. 

„ des Dichters« 10. 
» Hei waffesell Schaft, die« 40. 
Herwegn 32. 
»Herz, das« 14. 
»Herzensneigung* 46. 
»Highlife, türkisches« 14. 
Hilmi s. Achmed Hilmi. 
„ s. Mechmed Hilmi. 



n 
n 



Hilmi s. Muctafä Hilmi. 
Hilmizäde 5d. 
Hirtenidyllen 12. 
»Hirtin, die« 50, 51. 
»Hochzeit« 43. 
Hoff mann, E. T. A. 16. 
Homer 9. 
Hörn, P. 5. 
Hugo, V. 8, 38. 
Hüssämeddin 57. 
»Hüssön der Bauer« 27. 

Häschym 58. 

Rechmi 47 ff. 

Ibrähfm Rif'et 56. 
Ibrahim Schinäsy 10. 
Inäjetallah 34. 
»Indermädchen, das« 35. 
»Innerliche, die« 35. 
Ismail Haqqy 51. 
Izzet 56. 

Jacob, G. 4, 12. 
»Jagdabenteuer, ein« 18. 
» Janitscharen, die« 15. 
»Jugend- 14, 24 ff.; 37. 
»Jugendzeit« 51. 

»Junggeselle sein, ist es ein 

Glück?« 16. 
Jungtürken 7. 
Jüsuf Najjyr 54. 

Kameliendame 12, 54, 58. 
»Kameraden, die beiden« 51. 
»Karneval, der« 28. 
»Katzen, die« 43. 
»Kaukasus, der< 28. 
»Käwe* 37, 39. 
Kemäl s. Nämyq Kemäl. 
»Kerem und A^ly« 56. 
»Kind, ein unglückliches« 30. 
Kirchhof 12, 31, 50. 
Kjämil, H. 58. 
»Kjäthane« 40. 
»Kleinchen« 58. 
»Kleinigkeiten« 43. 
»Kneipe, die« 40. 
»Kohlenpfanne, die« 40. 
»Konak, der« 28. 
»Kramladen, der« 29. 
»Kreuz, rotes« 29. 
Künos, I. 5, 36, 40. 
»Kurdenmädchen, das« 29. 

Lafontaine 8. 
Lamartine 10. 
»Land, das^ 36. 
»Lautenspielerin, die« 66. 
»L'avare« 57. 



— 73 — 



»Lebenserfahrungen« 47. 
»Lebensretter« l7. 
»Lebensschicksale» 43. 
»Leidbringend« 56. 
»Leidenschaft« 36. 
»Leier, die zerbrochene« 59. 
»Lölä und Medschnün« 53. 
Levante Herald 17. 
»Liberty« 36. 
»Lichter« 52. 

»Liebe, das Wesen der« 56. 
n die sogenannte« 56. 
»Liebesschicksale« 34. 
»Löwe* 44. 

Mäani 37. 

Machmüd Ekrem 4, 11, 37 ff., 42, 

59. 
»Mädchen, das, mit Zeugnissen« 17. 
»Maifresse, die« 48. 
Maizeroy, Ren^ 32. 
»Mal, zum zweiten, auf der Welt« 

27. 
Malot 46. 

»Mann mit 20 Kindern, ein« 54. 
Maupassant, de 46. 
»Mechdschüre« 12, 49. 
Mechmed Dscheläl 51, 67 ff. 

Dschemäl 51. 

Emln 58 ff. 

Hilmi 54. 

Kemäl 52. 

Müneddschi 47. 

Rif'et 51, 52 ff. 

Said 61. 

Seifi 56. 
„ Tewfiq 40 ff. 
Meddäch 12. 
Mend^s 46. 
M^rim^e, Prosper 39. 
Merx, A. 42. 
Methnewl 69. 

Midchat s. Achmed Midchat. 
Milli 11, 27, 68. 
»Miserables, les« 38. 
Moli^re 8, 11, 55, 57. 
Moniteur oriental 17. 
»Monte Christo, der Graf von« 27. 
Montepin, Xavier de 8. 
»Mörder, die« 56. 
»Morgenlieder« 37. 
Müallym Nädschy 41 ff., 52, 68. 
Mustafa Hilmi 55. 

„ Reschld 51. 
»Müdschgan« 40. 
Mtillendorff 40. 

Müneddschi s. Achmed Müned- 
dschi. 
»Müntechebät« (Schinasy) 10. 






»Musa oder Vaterlandsliebe« 42. 
Musset, A. de 60. 
»Mustel, le r^gent« 39. 
»Mutter und Tochter« 18. 
Mythologie, griechische 9. 

Näbi 58. 

Nabyzäde 58. 

Na^reddin und Buadem 40. 

Nädschy s. Müallym Nädschy. 

»Namen« 42. 

Nämyq Kemäl 11, 12, 30 ff. 

»Narzisse, die« 36. 

Näzym 40. 

Näzym Pascha 53. 

Nedim 60, 68. 

Nedschäti 6. 

Nef'i 6. 

Nergisi 6. 

Netldsche 11. 

»Newrüz Bej*s Erlebnisse« 33. 

Nigjär Bint Osman Hanym 58, 

63 ff. 
»Nimmersatt, der« 16, 18 ff. 
Nizäml 39. 
*Nümlde« 45. 
»Nümüne-i edebijät« 5, 41. 

Oestrup 5. 
Ohnet, G. 65. 
Omar Fäyq 57. 

»Papierspiel« 67. 

Paris 7, 8. 

Pekotsch 31. 

Persischer Einflufs 6. 

»Phantasiegebilde« 58. 

Philipp, C. 4. 

»Pourceaugnac, Monsieur de« 55. 

»Qarabebek« 50. 
Qaragöz 8, 11, 40. 
Qawuqlu 8. 
»Quersack, der« 29. 

»Rache« 29. 
Racine 10. 
Räghib Bei 61. 
»Ramazännächte, die« 40. 
Räsim s. Achmed Räsim. 
Rechmi s. Hüss^n Rechmi. 
Reschäd 51. 
»Reuiger, ein« 16. 
Rif'et s. Ibrählm Rif et. 

„ s. M. R. 
Robinson 9. 
Rousseau 50. 
Russische Litteratur 69. 

Saadallah Pascha 11. 
Saadi 69. 



— . 74 — 



*Saad ibn Abi Wadqäc« 56. 
Sämy 11, 31, 32, 38 ff., 58. 
»Sardanapal« 36. 
»Schahname« 39. 
»Schauspiel« 52. * 
Scheins Sämy s. Sämy. 
Schewket Ghawthy 5ö. 
«Schicksalsbestimmung« 54. 
«Schicksalsfügung« lo. 
Schiller 55. 

Schinäsy s. Ibrähfm Schinäsy. 
»Schmied, jeder ist seines Glückes« 

17. 
Schopenhauer 29. 
Schrader, Fr. 5, 60, 61, 66. 
»Schükri's Intriguen« 51. 
»Schuld, eines Mädchens« 51. 
»Schwiegertochter, die kleine« 51. 
Schwindsucht 12, 45. 
»Schwindsüchtigen, Empfindungen 

einer« 58. 
» Schwindsüchtigen • Klage einer« 

58. 
Sellm I., Sultan 69. 
Sezäjy 43 ff. 
Shakespeare 9. 
»Sidi Jachja« 37, 39. 
»Siegesblitz« 32. 
»Siegesgesänge« 59. 
»Sijäwesch« 29, 39. 
»Sitte« 52 ff. 
»Sklaverei« 14. 
»Spafs« 51. 
»Spektakel« 42. 
»Spuren« 67. 

»Stambul, ein Jahr in« 40 ff. 
»Stern« 58. 
St. Pierre, de 38. 
»Strahlen« 41, 68. 
Sue, E. 8. 

»Sül^män aus Mossul« 27. 
Suworin 46. 

»Tajjärzäde, die Geschichte von« 51. 
»Tänzerin, die« 29. 
»Täriq« 35. 
»Taube, die« 42. 
»Tecwlr-i-efkjär« 10. 
»Tel'ets und Fitnets Liebe« 38. 
»Teil, Wilhelm« 9. 
»Teufelsspieffel« 51. 
Tewfiq s. Ebuz-Zijä Tewfiq. 
„ s. Mechmed Tewfiq. 
Fikret 59 ff. 
»Tezer« 35. 
Thalasso 5, 11. 



Tintentürkisch 7. 

»Tod, der, durch Zufall« 41. 

„ ^ steht bei Allah« 15. 
»Todeseifer« 47. 
»Torheiten, meine« 36. 
»Trennung« 15. 
* Treue oder Nesfbe« 54. 
»Tscherkessenadel« 29. 
»Türke, ein, in Paris« 27. 
»Türkenlieder« 58. 
Türkü 37. 
Tuz-suz Achmed 40. 

Übersetzungen türkischer Werke 

•V 27. 

Übersetzungen in das Türkische 

8 9 
»Unglück« 15, 29. 
»Unglückliche« 15. 
»Unglücklichen, die Gesc]^ichte 

einer« 36. 
»Unteroffiziere, die beiden« 55. 
Upsala, Universitätsbibliothek 4, 5. 
Uschscnäqyzäde Chälyd Zijä. 44 ff. 

Vamb^ry 10, 62. 

»Vaterland« (Silistria) 28, 31. 

»Venus^ 52. 

»Verdacht« 14. 

«Vereinigung« 37. 

Verne, JT 8. 

»Verzückungen« 69. 

»Vezier, der, von Lenkoran« 52. 

Volkslieder 36. 

Volkslitteratur, türkische 8. 

Voltaire 8. 

»Vorwurf, beleidigender« 56. 

»Wally« 28. 
Wechbi 57 

Wecfi, Schach 52, 68 ff. 
Wedschdi 68. 
Wedschlhi 12, 49 ff. 
»Wehe!« 33. 
»Weiberphilosophie« 14. 
Werther 14, 44. 
»Wintermärchen« 9. 
Wfsi 6. 
Wörterbücher 38, 42. 

»Z^beks, die« 29. 
Zeitungen 9. 
Zekäjy 51. 
»Zigeunerin, die« 17. 
Zijä Pascha 7, 8, 9, 11. 
2i2iq 18. 
Zola 46. 



Fierer'sche Hof buchdruckerei Stephan Gexbel & Co. in Altenburg. 



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