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Harvard College lilrery
|
Geſchichte
der
Deutſchen Frauenwelt.
—ñ — nn —
Alle Rechte vorbehalten.
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— —
mn _ do
Gecſchichte
Deutſchen Frauenwelt.
In drei Büchern nach den Quellen.
Von
Johannes Scherr.
Wahrheit iſt Feuer und Wahrheit
reden heißt leuchten und brennen.
8. Schefer.
Dierte, neudurchgeſehene und vermehrte Auflage.
Erfier Band.
BuhTIund II: Altertbum und Mittelalter.
XCQRXXXX
Leipzig
Verlag von Otto Wigand.
1879.
443
I340
VBorwort zur vierten Auſlage.
— —
„I do not pretend to understand those prudent
form of decorum, those gentle rules of discretion,
which some men endeavour to unite with the conduct
of the greatest and most hazardous and most delicateA
affairs.* Junius.
Am Zürihberg, Mai 1879.
Vorwort zur dritten Auflage.
Der dritten Auflage meines Buches habe ich nur
wenige Geleitöworte mit auf den Weg zu geben. Denn
ihon in dem nachſtehend wieder abgenrudten Vorwort
zur zweiten Auflage iſt mit voller Beſtimmtheit und
Deutlichleit ausgefproden, in welchem Sinne meine:
Arbeit unternommen und durchgeführt wurde. Ich wüßte
4321
VI Borwort zur zweiten Auflage.
nichts hinzu⸗ und nichts wegzuthun. Verbächtigungen
und Anfeindungen find für einen Dann meines Schlages,
welcher weiß, was er foll, will und muß, ganz beveutungs-
108. Es lohnte auch nicht der Mühe, von ſolchen Gefellen
zu Sprechen, welche mein Buch wader ausgefchrieben und
zum Danfe dafür in ven Vorreven zu ihren Machwerfen
darüber geihimpft haben. Das ift fo Brauch in
Geiftesarmuthheim . . . . Zu einer Umarbeitung des
Buches fand ich mich nicht veranlafit, weder bezüglich des
Inhalts noch bezüglich ver Form. Es hat, denke ich,
durch feine bisherige Aufnahme bei verſtändigen Menfchen
— Frauen wie Männern — das Recht erworben, zu
bleiben, wie e8 iſt. Für unverftänpige Leute fehrieb
‚ und fchreibe ich überhaupt nicht. „Odi profanum vol-
gus et arceo.“
Am Zürichberg, Juli 1873.
J. Scherr.
öVVVVVVVVVVVVVVVVX
Borwort zur zweiten Auflage.
Dieſes Buch erſchien in erſter Auflage (1860) unter
dem Titel „Geſchichte der deutſchen Frauen“. Die bor-
genommene leichte Veränderung bes Titels rechtfertigt
ſich dadurch, daß der jegige den Inhalt des Buches beut-
licher und bejtimmter ankündigt.
Borwort zur zweiten Auflage. VII
Daſſelbe bringt — wie ich aus der hier weggelaſſenen
Vorrede zur erſten Auflage herübernehme — eine Ge-
ſchichte des deutſchen Frauenlebens, wie dieſes in und
mit den verſchiedenen Entwickelungsphaſen unſeres Landes
ſich geſtaltet hat. Meine Arbeit zerfällt demnach in
drei Abſchnitte: Alterthum, Mittelalter und
Neuzeit. Unter erſterem verſtehe ich die Zeit vom
Aufdämmern der deutſchen Geſchichte bis zur Epoche
Karl's des Großen; unter dem zweiten die Periode,
welche mit dem karlingiſchen Reichsbau anhebt und mit
dem geiſtigen und ſittlichen Verfall der romantiſchen
Weltanſchauung im 15. Jahrhundert endigt; unter der
dritten ſelbſtverſtändlich die Zeit vom 16. Jahrhundert
abwärts.
Zweierlei erkläre ich mit Betonung: — Erſtens,
daß ih Geſchichte ſchrieb, aus den Quellen gefchöpfte
Geſchichte, und daß demnach von einer Verherrlichung
der jogenannten „guten, alten, frommten Zeit“ feine Rebe
fein fonnte. Männer von Wiffen und Gewiffen über-
laſſen folche Falſchmünzerei billig unwiffenden Phantaften
oder gemeinbenfenden Spekulanten, vie „auf Earriere
dienen“. Zweitens in einer Gejchichte der deutſchen
Frauenwelt mußten begreiflicher Weife häufig Verhält-
niffe berührt werden, deren Betrachtung nicht für das
unreife Alter taugt. Um fo weniger, da dem Kultur-
harakter der verſchiedenen Zeitalter fein volles gejchicht-
liches Recht nur widerfährt, wenn man fich nicht fcheut,
fie, wo nöthig, in ihrer eigenen Ausdrucksweiſe reden zu
lafien. Bon allen Mufen bedarf die ver Sittengefhichte
VIII Vorwort zur zweiten Auflage.
des muthigſten Auges. Sie muß es energiſch offen halten,
wo ihre Schweſtern erröthend die Wimpern ſenken. Aber
fie beſitzt zugleich auch den ſtrengſten Mund und ven
Dffenbarungen veffelben können nur grumdverborbene
Gemüther unlautere Anregungen entnehmen. Vielleicht -
ift dieſe Hindeutung ganz überflüſſig. Sie wäre e8
gewiß, lebten wir nicht in einer Zeit, wo die veligiöfe,
polttifche und literarifche Heuchelei gewinnbringenver ijt
als jemals.
Sch ſchrieb alfo und ich fchreibe überhaupt nicht für
balbwüchfige Jungen over gedankenloſe Zierpuppen, fondern
für venfende Männer und für denkende Frauen,
und ich weiß recht gut, daß bie lekteren, gerade wie vie
erfteren, überall in der Minderheit fin.
Trotzdem gibt es, foweit deutſch geſprochen wird,
immer noch Männer und Frauen, welche es vorziehen,
ſtatt der Duckmäuſer, Fuchsſchwänzer und Schönfärber
einen aufrichtigen Wahrheitsſucher und rückſichtsloſen
Wahrheitsſager zu hören. Wahrheit aber „iſt Feuer
und Wahrheit reden iſt leuchten und bren—
nen“. Falls durch meine Wahrhaftigkeit da und dort
einer oder eine ſich gebrannt fühlen ſollte, um ſo
ſchlimmer für ſie, nicht für mich!
Zu meinen Feinden zu ſprechen, habe ich längſt auf-
gegeben, maßen ich nachgerade zu alt geworben, um bem
Unverftand Vernunft, der Gemeinheit Hochfinn, ver
Bosheit Gerechtigkeit zu prebigen. Aber meinen Freunden
und Freundinnen im Vaterland und in ver Fremde gebe
ih die Verſicherung, daß, fo lange ich athme, niemals
Borwort zur zweiten Auflage. IX
ein Zag kommen wird, wo ich nicht mehr das Recht hätte,
von mir zu fagen:
„Moi quand j’ai vu le mal debout sur mon chemin,
J’y marche le front haut et la hache & la main“.
Eine von redlichem Freimuth getragene Gefchicht-
ſchreibung tft die Stimme des Gewiſſens der Menfchheit.
Mag fie, wie Wiffende wollen, nur eine Stimme in ber
Wüſte fein, dennoch würde ihr Verftummen eine unges
heure Lücke im intelleftuellen und fittlihen Dafein ver
Völfer bald ſchmerzlich empfinden laſſen. Gerecht, aber
nit angefränfelt von der Farblofigfeit erfünftelter
Gleichgiltigfeit, lauten die Wahrſprüche der Weltrich-
terin. Sie verihmäht es, die Maffe einer angeblichen
„Objektivität“ worzufteden, welche die diplomatiſche Ht-
Itoriographte zufammengeleimt hat, um damit die wahren
Züge ihrer Gefchichtemufe Unkundigen zu verbergen,
— ihrer Gefchichtemufe, welche aus ver Familie des
„ſcharlachenen Weibes“ ftammt.
Die echte, die herbjungfräuliche Klio hält in unbe—
ſtechlicher Hand die Wage, worin der Menſchen Wollen
und Walten, Verdienſte und Verſchuldungen gewogen
werden. Höflingen, Hämmlingen und Halblingen zum
Trotz und Tort übt ſie ſtreng ihr ſtrenges Amt. Sie
hat Kränze bereit für jede gute und das brandmarkende
Eiſen für jede böfe That, und wie fie jedem Märtyrer
. einen von jenen um das bleiche Haupt windet, jo läfit
fie unter der Weißglühhite von dieſem jede Schurken⸗
ſtirne aufziſchen.
Denn nicht dazu iſt ſie da, alle Principien auszu—
X | Borwort zur zweiten Auflage.
beinen, alle fittlicben Unterfchieve zu verwiſchen, alle
Gegenfäge zu dem flauen Brei ver Charafterlofigfeit
zufammenzurühren, alle Begeifterung, allen Schmerz,
allen Efel und Zorn auf dem Kühlſchiff einer feigen
Anbequemungsthbeorie verbampfen zu laffen, nein! —
fondern das ift ihre Pflicht, der Wahrheit Hochrothe
Fahne ven Luftſtrömungen beftandlofer Tagesmoden
beharrlich entgegenzutragen, und das ift ihr Recht,
gleich unbefünmert um Zuftimmung over Widerſpruch,
mit voller Bruftftimme zu jagen: „Dies ift recht und
dies iſt ſchlecht!“ So nur erfüllt fie ihre Beſtimmung,
als eine Wederin und Warnerin, als eine Richterin und
Rächerin, als eine rüdwärts veutende, aber vorwärts
ſchreitende Prophetin die Menfchheit zu geleiten auf
ihrer leidvollen und dennoch glorreichen Bahn.
Zürich, December 1864.
J. Scherr.
Erſtes Bud.
Alterthbum.
Bis zum achten Jahrhundert.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 1
Inesse quin etiam sanctum aliquid feminis et providum
putant Germaniae populi: nec aut consilia earum aspernan-
tur ant responsa negligunt.
(Deutihlands Völkerſchaften glauben, daß etwas Heiliges und
Prophetifches den Frauen innewohne; darum mifjachtet man nicht
die Rathichläge derjelben und überhört nicht ihre Weiffagungen.)
Tacitus, Germania, 8.
Erftes Kapitel.
In den germanifchen Wäldern.
Dämmerungen der deutſchen Geſchichte. — Unferes Volkes Urhei⸗
mat. — Die indogermaniihe Bölferfamilie. — Einwanderung
nah Europa. — Mythiſches. — Eintritt der Germanen in bie
Weltgeſchichte. — Die Frauen der Teutonen und Kimbrer. —
Julins Cäfar über Deutſchland. — Das germanifche Blondhaar
in Rom. — Ein propbetifches Dichterwort. — Die „Germania“ des
ZTacitus. — Tracht und Stellung der Frauen. — Die deutiche Ehe.
— Das „Heilige und Vorahnende“ im Weibe. — Frauengeftalten
der dentſchen Borzeit: — Aurinia, Beleva, Ganna, Thufnelda,
Biffula.
Die Anfänge aller Völkergeſchichten bergen ſich in
Finfterniß und Schweigen. Unfere Mutter Erde felbit zwar
hat angefangen, ihre Millionen und wieder Millionen Jahre
zurücfreichende Urgefchichte zu erzählen; aber bie Urge—
ſchichte der Menſchheit ift vergangen wie der Schatten
eines Schattens. Mit beivunderungswürbiger Gebulb
und Kombinationsgabe hat die Wiffenjchaft der Geologie
aus dem Trümmerfchutt ver Erderevolutionen die veritei-
nerten Hierogluphen herausgefucht und zu dem Alphabet
zufammengefeßt, in welchem bie worfintflutliche Gefchichte
1 %
4 Buh I. Kap. 1.
des pflanzlichen und thierifchen Lebens unferes Planeten
gefchrieben if. Ein Rückblick in unvordenkliche Ver-
gangenheit ift uns demzufolge da aufgethan. Wir jchauen
den gigantischen Kampf der ſchaffenden und zerſtörenden
Kräfte, deſſen Envergebniß die Bildung ver Menſchenheimat
war. Freilich, dieſe ungeheuren Kataftrophen in ihrer
ganzen Furchtbarkeit fich vorzuftellen, vor ſolchem Wagniß
muß felbft die Fühnfte Bhantafie ſchwindelnd zurüdbeben.
Aber fie kann e8 Doch unternehmen, ein mehr oder weniger
deutliches Bild von jener Urwelt zu entwerfen, wo durch
das Geichling einer riefenhaften Pflanzenwelt vie Riefen-
leiber der Behemothe fih wanden und Lewiathane vie
Oceane durchfurchten, und fie hält auch den ſchreckens—
vollen Anblid aus, wie die rothglühenden Baſaltmaſſen
aus dem Gewoge emporftiegen und mittels einer aber-
maligen Schöpfungskrife die Erde endlich eine feſte Ge-
ftalt gewann. Auf die Frage nach vem Urfprung und
der Scheivung ver Menſchenraſſen dagegen hat vie Wiljen-
fchaft bislang Teine befriedigende Antwort zu finden ge-
wußt und nur die dichtende Einbildungskraft hat eine
folche zu geben verjucht oder vielmehr mannichfachite, alle
die bunten religiöfen Mythen vom Urfprung des Men-
ſchengeſchlechtes. Aus Analogieen gezogene Schlußfolge-
rungen find alles, was bie Forfchung hier zu bieten ver-
mag. AS Neufeeland zuerſt von Europäern betreten
wurde, fanden fie dort einen Ranibalismus vor, welcher
in jenen Infelgebieten noch heute keineswegs ganz auf-
gehört hat. Und doch mußten ſchon zahllofe Generationen
jener Wilden gelommen und gegangen fein, bevor fie fich
In den germanifchen Wäldern. 5
aus thieriihem Vegetiren auch nur zu dem Zuſtande
heraufgebilvet hatten, in welchen Coof und feine Ge-
fährten fie trafen. Ste befaßen doch fchon eine ziemlich
entwidelte Sprache, eine gewiffe ſociale Ordnung und das
Bedürfniß der Erinnerung an ihre Vorfahren. Wo aber
das letztere als ein nothwendiges Zubehör der eigenen
Eriftenz von den Menſchen einmal gefühlt und gepflegt
wird, da hebt die Meberlieferung, die Amme alles Wiſſens
von Gefchehenem, ihre Thätigfeit an und damit fchreitet
ein Volt, welches überhaupt bilvungsfähig ift, aus dem
bloßen Naturdafein mälig auf das Gebiet des Geiftes
und der Gefchichte vor.
Wie unendlich langfam im Anfange dieſes Vorjchreiten
der Menſchheit fein mußte, ift jevem einleuchtend, welcher
beobachtet, was für Schwierigfeiten die Kraft der Träg-
heit und die Macht ver Gewöhnung den Forderungen ber
Bernunft und Humanität nicht allein in den urtheilsloſen
Maſſen, ſondern in allen Geſellſchaftskreiſen auch heut⸗
zutage noch entgegenſtellen. Es müßte ſehr anziehend ſein,
im einzelnen zu wiſſen, wie vieler Jahrhunderte es be-
durfte, bis die Ahnen der jetigen Kulturvölker Europa’s
auch nur die erjten Elemente der Civilifation, ja jogar
nur die erjten Vorbedingungen eines über das thierifche
emporgehobenen Daſeins fich zu eigen gemacht. Alle
geiftige Kultur hat ſchon einen gewiffen Grad von mate-
rieller zur unumgänglicen Vorausfegung und höhere
Bildung Tann befanntlih überhaupt erft dann beginnen,
wann der Menih aus einem Jäger, Fiſcher oder Hirten
zum Aderbauer geworben ift. Schweifende Nomaden find
$ ’ Buhl. Kap. 1.
und bleiben Horden; erft jeßhafte Stämme bilden eine
Geſellſchaft mit feften, der Entwidelung fähigen Sakuns
gen. Die erften Furchen, welche die Pflugfehar gezogen
hat, überall find fie zugleich die Grundlinien ftaatlicher
Ordnung gewejen und finnvoll hat darum der hellenifche
Götterbienft in der Aehrengöttin Demeter auch die große
Kulturbringerin verehrt.
Unjere vaterländifche Altertbumsforfhung, von ver
vergleichenden Sprachwiſſenſchaft getreulich unterftügt,
hat es fich angelegen fein laffen, das Alter ver aders
bauenden Kultur unferes Volkes wenigſtens annähernd
zu beftimmen. Es liegt jedoch in der Natur ver Sache,
daß bei folhen Verſuchen ver Aufbellung urzeitlichen
Dunkels fcharffinnige Bermuthungen gar häufig vie Stelle
allfeitig geficherter Thatfachen vertreten müfjen. Als feft-
ftehenn gilt, wie jedermann weiß, daß der germanifche
Stamm, — deſſen Auszweigungen die Deutfchen, Dänen,
Schweden, Norweger und, freilih in Vermifchung mit
keltiſchen und normannifch = franzöfischen Elementen, vie
Engländer find — aus derjelben Völferwurzel erwachjen
fei, aus welcher auch die Stämme der Inder, der Iranier,
der Hellenen, der Italiker, ver Kelten und ver Slaven ber-
vorgegangen. Diefe große Gefammtfamilie der Indoger⸗
manen oder Arier war zu Anfang wahrfcheinlich auf ver
mittelafiatifchen Hochebene des Hindukuſch oder Baropa-
miſos gejejjen, aus deſſen Schneeregion der Indus gen
Süden, der Orus gen Norden herabiteigt. Aus ver arifchen
Urheimat (Airijana vaödsha) geſchah vie große Aus-
wanderung, welche die indogermaniſche Familie trennte.
In den germaniihen Wäldern. 7
Das Refultat viefes Auszuges war, daß das Sanffritvolf
in der Halbinfel des Ganges, das Zendvolk in Iran, die
Hellenen und Italiker im ſüdlichen, vie Kelten im weſt⸗
fihen, die Germanen im nörblichen und mittleren, bie
Slaven im äftlichen Europa fich feftfetten. Won welchen
ungeheuren Ummwälzungen viefe Völferftrömungen be-
gleitet fein mußten, bis fie endlich zur Ruhe gekommen,
fann nur geahnt werden. ‘Dagegen ift fiher, daß das
Band indogermanifcher Völkerverwandtſchaft nicht ganz
zerriffen wurbe; denn es blieb die Wurzelgemeinfchaft
der Sprachen, e8 blieb die Gemeinſamkeit ver religöfen
Grundanfhauung !) und e8 blieb auch die dunkle Er-
innerung an gemeinfame Weberlieferungen urzeitlichen
Heldenthums?). Wann aber und unter welchen Um:
ftänden die Trennung der Germanen von ben indo-
germanifchen Brüdern und ihre Einwanderung nad
Europa jtattgefunden, wird wohl für immer ungewiß
bleiben. Vorausgeſetzt indeſſen, die zweifelhafte Annahme,
1) Das fanftritiihe deva, Gott, ehrt in den indogermaniſchen
Idiomen und ihren Töchterſprachen wieder: im Zend da&va, im
Griechiſchen Heos, im Lateiniſchen deus (davon franz. dieu, ital. dio,
ſpan. und portug. dios), im Gothiſchen tius, im Skandinaviſch⸗
Eddiſchen tivar (Mehrz.), im Althochdeutſchen Zio (auf einen be-
ftimmten Gott beſchraänkt), im Lithauiſch⸗Slaviſchen diowas. Das
Wort ſtammt von der Wurzel div, leuchten. Auf den Licht begriff
Läfft ſich daher alles indogermanifche Gottesbewußtſein zurückführen.
2) Am deutlichſten lebt dieſe Erinnerung in der Verwandtſchaft
unferer uralten Sage von Hildebrand und Hadebrand mit ber alt⸗
perfiihden Sage von Ruſtem und Sohrab, fowie in den hellen An⸗
Hängen unferer Sigfridfage an bie altindiſche Karnafage.
8 Buch I. Kap. 1.
daß die aderbauende Kultur ver indifchen und iranifchen
Arier nicht vor dem 12. Jahrhundert v. Ehr. ihren An-
fang genommen, befige irgendwie den Werth einer hiſto⸗
riihen Thatfache, jo würden wir dadurch einen Anhalts-
punft gewinnen, um wenigftens einigermaßen bie Zeit
jener Trennung beftimmen zu können. Denn das Deutjche
jtimmt in ver Bezeichnung mancher Gegenftänte ver Vieh:
zucht faft bis zum Wortlaute mit dem Sanſkrit zufammen,
wogegen die Gleichheit oder Aehnlichkeit ver beiverfeitigen
Wortformen für ackerbauliche Dinge ſchon undeutlicher
wird und bald ganz verſchwindet. Hieraus dürfte folgen,
daß die Germanen auf ver Gränzſcheide zwiſchen noma-
diſchem und aderbauendem Leben von ihren arifchen
Stammgenojfen in Afien fich getrennt haben müſſen,
alſo im 12, oder 11. vorchriftlichen Jahrhundert. Mit
ihrem Vorrüden nah Welten erlofch dann in ihnen bie
Erinnerung an den gemeinfamen Stammnamen der Arier,
welcher übrigens, wie mir jcheint, den Indogermanen
in ihren urfprüngliden Sigen noch gar nicht eigen ge⸗
wejen war, jondern vielmehr erſt nach der Feftjegung indo⸗
germaniſcher Völkerſchaften in Indien und Iran aufge-
fommen fein mag ?).
Werdende Völfer Hat man oft und pafjend mit Kindern
3) Das Sanjfritwort arja bedeutet nämlich der Ehrwürdige,
der Herr, Meifter, Gebieter, das Zendiwort airija die Herren. Es
ift demnach anzunehmen, daß die indogermaniſchen Etämme, welche
erobernd nah Indien und Iran einmwanderten, erft nach ihrer Nieder-
lafjung daſelbſt fih Arier genannt haben, im Gegenfate zu ben
unteriworfenen und gelnechteten Ureinwohnern.
Sn den germanischen Wäldern. 9
verglichen, weil bei biefen wie bei jenen alfe geiftige
Thätigfeit durch die Phantafie beftimmt und beberricht
wird. Erſt mit der vworfchreitenden Kultur tritt an bie
Stelle der Mythen⸗ und Sagenbilonerei, in welcher fich
der intellektuelle Trieb der Völker in ihrem Kindesalter
bethätigt, die gefehichtliche Meberlieferung, welche, jo lange
fie nur mündlich von Geſchlecht zu Gefchlecht fortgepflanzt
wird, wiederum gern eine mythen⸗ und fagenhafte Färbung
annimmt. Der Gebrauch der Schrift gibt dann vie
Möglichkeit chronifartiger Aufzeichnung von Gefchehenem
und Geſchehendem und an dem fo Feftgehaltenen mag
die fpätere Kritit ihren Scharffinn üben, das Thatfäch-
liche oder wenigftens Mögliche von den mythiſchen Zu-
thaten fcheidend. Die Urkunden hetonifch » germanifchen
Lebens und Webens, wie fie in deutfcher Sprache uns
leider nur ſpärlich und fragmentarifh, in altnorbifcher
dagegen reichlich überliefert worden find, bezeugen uns
ein dichteriſches Schaffen ver Germanen, deſſen An-
fünge vielleicht über ihre Anfievelung in Europa hin-
aufreihen. Denn mitunter ift uns, als wehte aus ben
alten Götter- und Helvenlievern Urheimatlich = Afifches
ung an. Auf die verwandten Anklänge in der deutſchen
und der indiſchiraniſchen Heldenſage iſt bereits flüchtig
hingedeutet worden und ebenſo auf die gemeinſame
Grundvorſtellung von Göttlichem. Allerdings haben ſich
auch die Germanen, wie das noch manches andere
Volk von eigenthümlicher Entwickelung that, für ein
mit dem Boden ihres Landes von Urbeginn an verwach⸗
ſenes Urvolk, für Autochthonen (Erdentſproſſene) ge⸗
10 Buch I. Kap. 1.
halten. Allein ich finde, daß gerade in ver religiös - dog-
matifchen Firirung dieſer Vorftellung von Autochtbonie
in dem norbifhen Mythus vom Urriefen Ymir eine
Erinnerung an die alpenhafte inpogermanifche Urheimat
am Hindukuſch nachklingen könnte. Freilich, fowie
wir aus den ahnungsreichen Nebelregionen phantajftifcher
Mythen auf den feſten Grund gefchichtliher Zufammen-
hänge vorfchreiten möchten, gähnt uns eine Kluft ent-
gegen, über welche eben nur bie Einbilvungsfraft eine
Brüde zu fchlagen vermag. Der Faden hiſtoriſcher
Tradition, welcher die europätfchen Inpogermanen mit
ven afiatifchen verknüpfen jollte, ift geriſſen. “Die Ger-
manen wußten nicht, ob, wann und wie fie aus Afien
gefommen. Noch mehr, bevor fie in Folge des feind-
lichen Gegenfates, welchen die germanifche Welt zur
griehifch-römifchen bildete, in die Weltgeſchichte einge-
führt wurden, hatten fie überhaupt feine Gefchichte oder
ift uns diefelbe wenigftens nur im Gewande der Sage
überliefert worden, und da an diefem Gewande nicht nur
die ganze heidnifche Zeit, welche von ver Anfievelung
unferer Altvorderen in Europa bis zu ihrer Berührung
mit den Römern verfloß, fondern auch noch manche chrift-
4) Rüdert (Kulturgeſch. d. d. Volles 3. 3. d. Ueberg. a. d.
Heidenth. in d. Chriftenth. I, 51) verwirft dieſe Möglichkeit, indem
er meint, der Mythus vom Urriefen Ymir, alfo die nordiſch⸗ ger⸗
manifche Lehre von der Entftehung ber Welt, könne nach „ber da⸗
bei verwandten landſchaftlichen Dekoration von Eis und Schnee”
nur in Skandinavien felbft entfprungen fein. Er hat aber überſehen,
daß e8 in der muthmaßlichen Urheimat der Germanen am Paro-
pamiſos ebenfalls Schneelager und Gletſcher gab.
Sn den germaniichen Wäldern. 11
liche Jahrhunderte gewoben haben, fo ift vie Möglichkeit,
den gefchichtlichen Kern aus ver vichteriichen Hülle zu
löſen, unmwieberbringlich verloren. Wir wiffen nur, der
griehifeh- römischen Welt ftand die germanifche als ein
Unbefanntes, Drohendes, Geheimnißvolles gegenüber.
Das Geheimnißvolle hat aber von jeher vie Menfchen
angezogen und jo kann es nicht wundernehmen, daß Die
germanifche Ferne ſchon frühzeitig die Neugier oder Aben-
teuerluft von einzelnen Angehörigen ver antiken, d. b. der
griehiich -römiichen Gefellichaft herausforverte. Solche
Reiſende jetten dann im heimiſchen Süden die Kunde
von dem, was fie bei ven „ Hyperboräern“ und im „Wun⸗
derlande Thule” gefehen over auch nicht gefehen, in Um⸗
lauf und es iſt nicht unglaublih, daß in ven Stäpten von
Hellas und Italien Sagen von germanifcher Natur und
Art umgingen, welche nicht weniger wunderbar lauten
mochten als das, was Swift feinen Gulliver von den
Zuftänden in Liliput, Brobvingnag und Laputa erzählen
läſſt. Mit ſolchen Fabulirern darf, fomweit eine Ent-
ſcheidung möglich, jener Pytheas aus Maffilia (Marſeille)
nicht zufammtengeworfen werben, welcher etwa zur Zeit
Aleranders des Großen, alfo im 4. Jahrhundert v. Chr.,
von feiner phofäifchen Vaterſtadt aus zwei Fahrten zur
Umfegelung des Feitlandes von Europa unternahm. Von
dieſem wifjbegierigen Griechen ftammen aller Wahrfchein-
Yichkeit nach die älteften Berichte über den germantjchen
Norden und e8 ift daher zu beklagen, daß von feinem
Reiſebuch nur ganz dürftige Fragmente auf uns gekommen
find. Pytheas muß weit in den hoben Norden vorge-
12 Buch I. Kap. 1.
drungen fein. „Dort — jagt er — ift werer Yand nod)
Meer noch Luft, fondern von alledem ein Gemifch, das
einer Qualle (Seelunge) ähnelt. Wie ein Band umgibt:
dies das All und weder zu Fuß no zu Schiff ift da weiter
vorzufchreiten.” Das Klingt freilich märchenhaft genug;
aber denkt man fich einen Scefahrer, ver, von den fonnigen
Geftaden der Provence gefommen, in einen norwegifchen
Fjord oder zwiſchen die däniſchen Infeln fich verſetzt fieht,
bleigraue und bleifchwere Nebelwände ringsher, vom ver:
hangenen Himmel ein Fürglich = bleihes Winterjonnenlicht
dämmernd und das chaotifche Düfter von Land und Meer
mehr nur zeigenp als erhellend, fo wird man nicht leugnen
wollen, daß in jenen Worten nur ein wirklicher und wahr-
hafter Reiſeeindruck wiedergegeben fei- Der ältere Blinius
hat uns in feiner Naturgefchichte eine Stelle aus Pytheas
überliefert, welche von hohem Belang ift, infofern fie zu-
erit ven eigentlichen VBolfs- und Stammmamen der Deutfchen
nennt. Es ift da von einem nordifch = germanifchen Volke
die Rede, welches an einer bernfteinreichen Bucht des
Oceans wohne. Unter leßterem fann demnach 'nur bie
Ditfee verftanden jein. Das Volf führe ven Namen ver
Guttonen und verhandle den in jenem Frühjahr vom Meer
an die Küfte geworfenen Bernftein an feine nächften Nach-
barn, die Teutonen).
5) Dies ift, wie befannt, ber eigentlihe Stammname unferer
Ahnen, zurüdzuführen auf ihren mythiſchen Stammvater Tuiſto
oder Teut (Deut), welcher Name feinerjeits unverlennbar deut-
lich mit dem Ausdrud des Gottesbegriffes in den indogermaniſchen
Sprachen (ſ. o. Anm. 1) zufammenftimmt. Den Namen Germanen
In den germanifchen Wäldern. 13
Ob viefer Name hundert und einige Jahre vor Chri-
ftus in Rom ſchon befannt oder beachtet war, fteht dahin.
"Genug, im 640. Jahre nah Erbauung der weltbeherr-
fhenden Stadt ſchlug fein Schall, verbunden mit dem
des Namens der Kimbrer, drohend an die Wände des
Kapitols. Der „Eimbrifchsteutonifche Schreden*, welcher
die Römer äÄngftigte, war der Schatten, welchen eine
noch fernabliegende weltgefchichtliche Kataftrophe, die Zer-
trümmerung des römiſchen Weltreichs durch vie Ger-
manen, weit vor fich herwarf. Denn das Auftreten ver
Kimbrer und Teutonen, welche aus unbelannten Gründen
mit Weib und Rind, Heerden und Habe ihre nörbliche
Heimat verlaffen hatten, an ven Gränzen Italiens darf
baben die Deutichen von den Römern überlommen , vielleicht durch
Bermittelung ber Gallier. In diefem Falle wäre er von dem kel⸗
tiſchen gairm oder garm abzuleiten, welches Ruf bedeutet, und hier⸗
nah wären unfere Ahnen bei ihrem feindlichen Zufammenftoßen
mit den gallifchen Kelten von diefen die Lautrufenden, d. h. bie mit
Geſchrei in die Schlacht Gehenden genannt worden. Eine mehr
gäng und gäbe Ableitung des Namens ift die von dem altdeutſchen
Ger (Speer) und demnach bedeuteten Germanen ober richtiger
Germannen Speermänner, d. i. Krieger ... . . Merkwürdig ift, daß
erft zur Zeit Kaiſer Otto’8 des Erften in Deutichland ſelbſt für die im
Reichsverband ſtehenden deutſchen Volksſtämme der Nationalname
Deutſche (Teutonici, Teutones) auflam. Urkundlich wenigſtens
laäfft er ſich auf deutſchem Boden früher nicht nachweiſen, und wäh-
rend jenfeits der Alpen die Bezeichnungen „Deutſchland“, „deutſches
Reich“, „deutſcher König” „deutſches Boll“ ſchon Lange gebräuchlich
waren, trat bei uns felbft erfi von der Mitte des 11. Jahrhunderts
an ber gemeinfame Bollsname allmälig an bie Stelle der einzelnen
Stämmenamen.
14 Buch I. Kap. 1.
füglich als das Vorſpiel ver ſpätern großen Völker⸗
wanderung bezeichnet werden, die auf den Trümmern der
antiken Welt die mittelalterliche begründen ſollte. Dieſes
Auftreten iſt zugleich das der Germanen auf der Weltge⸗
ſchichtebühne und mit den germaniſchen Männern treten
auch die germaniſchen Frauen in den Umkreis geſchicht⸗
licher Helle.
Holdes freilich und Anmuthiges iſt es nicht, wohl
aber Gewaltiges und Furchtbares, was uns die Geſchicht⸗
ſchreiber und Anekdotenſammler der Alten von der erſten
Erſcheinung unſerer Ahnmütter zu erzählen wiſſen. Die
Uebertreibungen, zu welchen das vergrößernde Entſetzen
ſie dabei verleitet haben mag, wer könnte dieſelben von
dem Reinthatſächlichen genau ſondern? In den Kämpfen
der Römer mit den Kimbrern und Teutonen trat eine
jugendfriſche Naturkraft einer ſchon der Verderbniß und
Entnervung zuneigenden Kultur gegenüber und es lag
nahe, nach abgewandter Gefahr vie Wildheit und Bar⸗
barei der Beſiegten hohlſpiegelartig zu verzerren. Allein
wir haben keine andere Wahl, denn die Berichte zu nehmen,
wie ſie uns geboten werden. Als auf den Feldern von
Air i. J. 102 v. Chr. der ungeſtüme Anſturm ver Teu⸗
tonen dem Feldherrngenie des Gajus Marius und der
römiſchen Taktik erlegen war und die Römer den fliehen⸗
den Feind bis zum Lager verfolgten, da „kamen ihnen die
teutoniſchen Weiber mit Schwertern und Beilen entgegen
und trieben unter furchtbarem und wüthendem Geheule
die Fliehenden ſowohl als die Verfolgenden, jene als
Verräther, dieſe als Feinde zurück, indem ſie ſich unter
In den germaniſchen Wäldern. 15
die Kämpfenden mifchten, mit bloßen Hänven bie Schilde
der Römer 'berunterriffen, die Klingen ver Schwerter
fafften und, bis zum Tode unbefiegten Muthes, fich ver⸗
wunden und in Stüde bauen ließen“ 9%). Ein weiterer
Bericht — bei Valerius Maximus — hebt nicht nur den
Todesmuth, jondern auch die Keufchheit der germanifchen
rauen hervor. Denn die gefangenen Weiber ver Teus
tonen baten ven Sieger Marius, er möchte fie dem Dienfte
ver heiligen Sungfrauen der Veſta widmen, mit ver Ver-
fiherung,, fie würden fich unbefledt bewahren wie viefe
Göttin und ihre Dienerinnen; al8 aber ver Bitte nicht
entfprochen wurde, erproffelten fie ſich in der nächiten
Nacht. Im folgenden Jahre vernichtete Marius bei Ver-
cellä auch die Kimbrer. Unter ven Frauen verjelben be-
fanden fich weiſſagende Priefterinnen, grau vor Alter,
barfüßig, mit weißen Gewänbern, ehernen Gürteln und
feinen Flachsmänteln angethban. So traten fie, Schwerter
in den Händen, ven Rriegsgefangenen im Lager entgegen,
befränzten fie und führten fie zu einem großen ehernen
Keſſel. Dann beftieg eine von ihnen einen Tritt und
durchſchnitt, über den Kefjel gebeugt, dem über ven Rand
vejfelben emporgehobenen Gefangenen die Kehle und aus
dem Blut, das in den Keſſel ftrömte, weiljagten fie.
Während ver Schlacht trommelten fie auf Tellen, welche
über die geflochtenen Wagendeden gejpannt waren, und
machten einen fehredlichen Lärm”). Der größte und
6) Plutarch, Marius. 19.
7) Strabon, VII, 2.
16 Buch I. Kap. 1.
jtreitbarfte Theil der Kimbrer fand bei Vercellä ven Tod.
Hatten fi doch die Vordermänner, damit ihre Reihe
nicht gefprengt würde, mit ihren langen Gürtelfetten fejt
an einander gebunden. Als aber die Römer ven Fliehen-
den bis zum Lagerwall nachdrängten, wurden fie „durch
ein hochtragiſches Schaufpiel“ überrafeht. In ſchwarzen
Gewändern auf ven Karren ftehend, gaben vie fimbrifchen
rauen den Flüchtlingen ven Tod; dieſe ihrem Gatten,
jene ihrem Bruder, wieder eine andere dem Vater. Ihre
Kinder aber erwürgten fie und warfen fie unter die Räder
der Wagen und die Hufe der Zugtbiere. Zuletzt legten
fie mörberifche Hand an fich ſelbſt. Eine, erzählt man,
hatte fih an die Spike einer Deichjel gehängt und an
den Knöcheln der Mutter hingen, von ihr mit Striden
angebunden, ihre Kinder). Von ſolcher bis zur Ber—⸗
ferfermuth ſich erhebender Verachtung eines Xebeng,
welches nur noch Schmach und Knechtichaft bot, weifen
auch die jpäteren Kämpfe zwifchen Römern und Deutfchen
noch Beifpiele auf. Zur Zeit als Drufus mit ven Che-
ruffern, Sueven und Sigambern fich herumſchlug, kam
e8 vor, daß die Frauen diefer Stämme, durch die Römer
in die Wagenburgen verſperrt, ftatt ſich zu ergeben, mit
allem, was als Waffe dienen fonnte, verzweifelnd fich
wehrten und zulegt ihre feinen Kinder mit ven Köpfen
auf ven Boden ftießen und die Leichname ven Feinden
ins Geficht warfen 9).
8) Plutarch, 1. c. 27.
9) Orosius, Histor. VI, 21.
In den germanifchen Wäldern. 17
Man ift verfucht, zu fagen, ein geheimer Inftinkt
habe die Römer geftachelt, der Gefahr eines germanifchen
Einbruch, wie der Zug der Kimbrer und Teutonen ihn
angefündigt, dadurch zuvorzukommen, daß fie Noms Herr-
ſchaft und damit auch Roms Gefittung in die unwirth⸗
lihen Gegenden nördlich von den Alpen trugen. Cpoches
machend waren in dieſer Beziehung die Kriegszüge, welche
Julius Cäſar, ald Statthalter von Gallien, um die Mitte
des letzten Jahrhunderts v. Chr. rheinüber unternahm.
Diefer geniale Staatsmann, General und Literat ging
darauf aus, Germanten nicht nur phyſiſch, Jondern auch
geiftig zu erobern, indem er e8 erforjchte und befchrieb.
Sein Bericht über Deutichland, den unvergleichlichen
Kommentarien über ven gallifhen Krieg einverleibt,
bleibt auch dann noch von großem Werthe, wenn man
nicht verhehlt, vaß er am Generalifiren leide, d. b. die
bei einzelnen germanijchen Stämmen beobachteten Zu-
ftände allzu willfürlih auf die ganze Nation überge-
tragen habe. Im Vergleiche mit ven Galltern, welche
von der römischen Kultur ſchon einigermaßen beledt
waren, fand Cäfar unter ven Germanen noch ſehr wald-
urfprünglide Zuftände vor. Namentlich weiſ't feine
Nachricht von der geringen Neigung und Sorgfalt der
Deutſchen für den Aderbau auf einen niebrigen Rultur-
grad Hin. Es dürfte aber feine allgemein gehaltene
Notiz: „Um Aderbau fümmern fie fich nicht” — ſehr
einzufchränfen fein, wenn man bevenft, daß ſchon Tacitus
Germanien „ziemlich fruchtbar an Getreide” fand. Für’
unſer Thema von größten Belang ift, was Cäler über
Scherr, Frauenmwelt. 4 Aufl. I.
- 18 Buch I. Kap. 1.
die geichlechtlichen Verhältniffe ver Germanen beibringt.
Der Jugend eines Volkes, fagt er, deſſen Sinn von Kind»
heit an auf Anftrengung und Abhärtung gerichtet gewefen,
habe e8 zum höchſten Lobe gereicht, gejchlechtlich möglichſt
lange unentwidelt zu bleiben, weil das den Wuchs ftatt-
lich machte und die Muffeln ftählte. Den Sünglingen
habe es Schimpf eingebracht, vor dem zwanzigften Sabre
von einem Weibe gewußt zu haben. Und vergleichen
habe fich auch nicht geheim halten laſſen, pa beide Ge⸗
ſchlechter gemeinſam in den Flüſſen babeten und als
Kleidung nur Felle trugen, welche den Körper großen
Theils nadt ließen 19).
Bon Cäſars Zeit an blieb die Aufmerkſamkeit Roms
fortwährend auf Germanien gerichtet und feltfamer Weife
wurde fie durch zwei jehr verjchievene Motive wach erhal-
ten, durch die Mode und durch die Furcht. Das kaiſerliche
Nom war wie der Eentralpunft der Weltherrichaft fo
auch ver Sammelplat alles Luxus, alles Sinnengenuffes
und aller Moventhorheit der Erde. Unerfättlich gierte
die römische Meppigfeit nach neuem umd ungewöhnlichen.
So gewann auch das blonde, ins Röthliche ſpielende Haar
der germantichen Frauen das Wohlgefallen ver römifchen
Modedamen und bei Ovid, wie bei fpäteren römifchen
Dichtern, finden fich häufige und deutliche Winfe, daß
die Putzkünſte der NRömerinnen das Schwarz ihres
Haarwuchſes mit dem germaniichen Blond zu vertaufchen
eifrigft fich mühten, fei es mittels Farbftoffen, ſei
10) Caesar, De bello Gall. VI, 21.
In den germanifchen Wäldern. 19
es mittel8 Perüden. Das germanifhe Haar wurbe
ſörmlich zu einem römiſchen Handelsartikel. Merk
würdig ift dabei der von dem älteren Plinius erwähnte
Umftend, daß auch in Germanien felbft die Haarfärbe-
funft jchon in Uebung war, jedoch mehr von Männern
als von Frauen angewandt wurte!). Wenn aber bie
römischen Damen mit germanifchem Haarihmud in
Geſellſchaft erjchienen,. da mögen ernfte Männer wohl
mit bejorgnißvoller Ahnung auf das deutſche Blond Hin»
gefhaut Haben. Die Erinnerung, wie die Krieger Cä—⸗
jars, als ihnen das erfte Zufammtentreffen mit ven Ger-
manen bevorftand, vor Dem bloßen Gedanken, „das Feuer
ber gerimanifchen Augen” ertragen zu müffen, fich entſetzt
hatten, und alle die Kagererzählungen von der „unglaub-
fihen Tapferkeit und Waffenfertigkeit" der Deutjchen
waren nur zu jeher geeignet, denkende Römer mit Bangen
in die Zukunft blicken zu laffen. So aud) einen jungen
Boeten, welcher, nachdem er eigenem Geftänpniß zufolge
auf dem Schlachtfeln von Philippi, wo die Republif ver-
bfutete, feinen Schild „nicht fehr rühmlich“ weggeiworfen,
ein Chorführer ver Literatur des auguftifchen Zeitalters
werben follte. Die ungeheure Gefahr, welche von Ger-
manien her Rom bebrohte, fehwebte ver Seele des Horaz
vor, als er feine 16. Epode, eins feiner Erjtlingsgedichte,
ſchrieb (41. v. Chr.). Ahnungsvoll wies er darin auf
die „blauäugige Jugend Germaniens“ hin und e8 war
wie eine prophetifche Viſion von Maris Erſtürmung
11) Hist. nat. XXVIII, 12.
9°
20 Buhl. Kap. 1.
der ewigen Roma, wenn er „den Hufſchlag barbariſcher
Sieger auf den Trümmern der Stadt erdröhnen“ hörte.
Freilich ſtand das germaniſche Str fgericht der
römiſchen Wölfin vorerſt noch fern; aber für ein zweites
Vorzeichen deſſelben ſeit dem kimbriſchen Schrecken konnte
der große Sieg gelten, welchen im Jahre 9. n. Chr. über
die erobernd vom Rhein her bis zur Weſer vorgedrungenen
römiſchen Legionen der cheruſkiſche Edeling Armin (Her-
mann) erfocht. Auf dieſem Sieg, ſowie auf dem Wider⸗
ſtand, welchen Armin, der erſte, ebenſo unglückliche als
große Vorfechter deutſcher Einheit!), nachmals ben
Römern unter Germanikus entgegenſtellte, beruhte die
Rettung unſerer nationalen Exiſtenz, die Sicherung der
ſelbſtſtändigen Entwickelung unſeres Volkes. Ohne den
großen Cheruſker wären wir wohl auch ſo ein Miſchvolk
wie die Franzoſen, Italiener und Spanier geworden. Die
Waffenthaten Armins, ſowie vie um ſechzig Jahre ſpä—
teren des Civilis am Niederrhein machten die Römer den
Gedanken, ganz Deutichland zu unterwerfen, aufgeben.
Aber die fünlichen und weftlihen Gränzmarken behaup-
teten fie bis zur Völkerwanderung und fo fonnten mannig-
fache Wechfelbeziehungen zwifchen ihnen und ven Ger-
manen nicht ausbleiben, um fo weniger, da einestheil®
12) „Arminius hatte, da er, nachdem die Römer abgezogen,
nad der Königsherrjchaft trachtete, den Freiheitsſtun feines Volkes
gegen fih. Während er, mit bewaffneter Hand angegriffen, mit
wechſelndem Glücke ftritt, fiel er durch Hinterlift feiner Verwandten,
er, unftreitig der Befreier Germaniens.” So erzählt Tacitus
(Annal. II, 88) ven Ausgang Hermanne.
In den germanischen Wäldern. >21
der Handel, anberntheil® der ebenfo eifrig begehrte als
bewilligte Dienft germanifcher Jugend im römiſchen Heere
vielerlei Verbindungsfäden fnüpfte.
Auf der Scheide des erjten und zweiten chriftlichen
Sahrhunterts unternahm es ein Römer, der große Ge-
ſchichtſchreiber Tacitus, feine Landsleute genauer, ale
bislang gejchehen war, über Land und Volf von Germa⸗
nien aufzuflären. Er that dies, indem er in feinen
„Annalen“ und „Hiftorien” die Gefhichte feiner Zeit
und ber nächſten Vergangenheit erzählte, dann aber auch
mittel8 eines eigens zu dem angegebenen Zwecke gefchrie-
benen Buches, der berühmten „Germania“, einer um fo
ehrenvolleren Urkunde deutſcher Vorzeit, als dieſelbe von
Feindeshand ausgeſtellt worden if. Die Germania,
deren ganze Haltung vermuthen läſſt, daß ihr Verfaffer
jeinen Gegenftand aus eigener, wenigjten® theilweife
eigener Anſchauung gefannt habe, war für Nom eine,
freilich unbeachtet gebliebene Lehre, Drohung und. Wars
nung. Für und dagegen ift fie „ein mitten in das vor»
zeitliche Dunkel unferes Alterthums bineingeftelltes Mor⸗
genroth“. Unſer Vaterland ſchildert Tacitus als zu
damaliger Zeit mit rauhen Wäldern bedeckt und von
Sümpfen ſtarrend, alſo abſchreckend genug, wie es denn
auch einem an den Anblick der üppigen Gärtengeſtade
des Mittelmeeres gewöhnten Auge erſcheinen mochte und
mußte. Doc ſei die Landſchaft nicht ohne Abwechſelung
geweſen. Für Getreideſaat ſei der Boden ergiebig, aber
Obſtbäume trage er nicht, womit aber doch wohl nur die
feineren Arten derſelben gemeint ſind; denn ſchon Plinius
2 Buch J. Kap. 1.
weiß von Kirſchen und Aepfeln zu reden, welche in ven
Rheingegenben gediehen. Mit Nachprud betont Tacitus
die Anficht, die deutſchen Stämme feien dadurch, daß fie
nicht duch Ehen mit anderen Völferfchaften fremdes
Blut in fih aufnahmen, zu einem ureigenen, unvermifch-
ten, nur fich ſelbſt ähnlichen Volke geworden („Germa-
niae populos, nullis aliis aliarum nationum conu-
büs infectos, propriam et sinceram et tan-
tum sui similem gentem exstitisse*). Deſſhalb
auch ungeachtet ver großen Einwohnerzahl in Altgerma-
nien bei allen viejelbe Körperbefchaffenbeit: blaue Augen
voll Feuer und Trotz, röthliches Haar, mächtige Leibes-
geftalten, doch mehr nur zum Anftürmen, weniger zur.
Ausdauer, mehr zum Ertragen von Hunger und Kälte,
weniger zum Aushalten von Durft und Hite tüchtig.
Bei Erwähnung ber fehr waldurfprünglichen Tracht ber
Germanen, deren meiſt aus Thierfellen bereitete Haupt-
jtüäd ein Mantel war, durch eine Spange oder in Er-
mangelung verfelben durch einen Dorn zufammengehalten,
fommt Zacitus auf die Frauen zu ſprechen. Er fagt
zwar, die frauliche Tracht babe fih won der männlichen
nicht unterſchieden, fügt jedoch fogleich hinzu, daß fich
die Frauen häufiger in leinene Gewänder hüllten, die fie
auch wohl mit Burpurftreifen verbrämten. Wir werben.
nicht fehlgehen, wenn wir dieſes ärmellofe Leinengewand,
welches die Arme, ven Naden und den obern Theil des
Bufens unbevedt ließ, für ein langherabfallendes, ven
Körperformen ſich anſchmiegendes Unterffeiv nehmen,
für einen der römischen Tunika ähnlichen Leibrod,. über
In den germanifchen Wäldern. 23
welchem als Dberkleiv der Mantel getragen wurde 13),
Bedenkt man dieſe dürftige Verhüllung des Körpers,
welche am Herdfeuer ſogar völliger Nacktheit Platz machte,
ſowie das ſchon erwähnte gemeinſchaftliche Baden der
beiden Geſchlechter, ſo ſteht das Lob, welches Tacitus der
Keuſchheit germaniſcher Liebe und Ehe ſpendet, nur um
fo höher. Er rühmt es, daß die Deutſchen, entgegen der
Bielweiberei anderer Barbaren, mit einer Frau ſich
begnügten. Nur vie Bolitif veranlafite feltene Aus«
nahmen von dieſer Regel, indem hochftehenve Häuptlinge
zur Mehrung ihres Anſehens mehrere Frauen nahmen,
Töchter aus. einflußreichen Samilien. In unangetafteter
Keuſchheit, durch feine wolluftreizenden Gaftmähler, durch
feine verführeriſchen Schaufpiele verdorben, des Xiebes-
briefewechſels unkundig, jo wuchs die Jugend heran. Spät
erit famen bie Jünglinge zum Liebesgenuß. Auch die
Iungfrauen wurben nicht übereilt („nec virgines festi-
nantur“) und daher blieben fie jugendfriſch wie jene und
waren. an hochſchlankem Wuchs ihnen ähnlich. Für vor
der Ehe verlorene weibliche Unſchuld gab e8 feine Sühne
und die Strafe war bie Ichärfite, denn einem gefallenen
Müdchen gewann weder Schönheit noch Neichthum einen
Gatten. In Gegenwart ver Eften und Verwandten
wurbe der Ehebund gefchloffen. Die Mitgift brachte nicht
die Braut dem Bräutigam, fondern der Bräutigam ber
Braut zu und es beſtand viejelbe nicht in Putzſtücken und
13) Bol. Weiß, Koſtümkunde, II, 618, und Falle, Die dentſqhe
Trachten⸗ und Modenwelt, I, 6.
24 Buch I Kap. 1.
Zändelfachen, fondern in einem Stierepaar, einem gezäum⸗
ten Pferd, einem Schild nebft Speer und Schwert. Auf
dieſe Geſchenke Hin wurde die Frau in Empfang genommen
und auch fie brachte ihrerſeits dem Manne einige Waffen-
ftüde zu. Das, meinten unfere Altvorderen, ſei das feftefte
Band, das die geheimnißvolle Weihe, das feien die Götter
des Ehebündniſſes. Dadurch wurde die Frau, damit fie
nicht wähnte, fie dürfte mannhaften Gedanken und des
Krieges Wechjelfällen fernbleiben, auf der Schwelle zur
Brautfammer erinnert, daß fie Täme, in Arbeit und
Gefahr des Mannes Genoffin zu fein. Mit ihm habe
fie im Frieden und Krieg Gleiches zu dulden und zu
wagen. Und dies war Teineswegs nur eine leere Ceremonie.
Wir wiffen, daß die germanischen Frauen ven Männern
in den Krieg folgten, daß fie Speifen und ermunternden
Zuſpruch in die Reihen ver Kämpfenden trugen, daß fie
ftolz die Wunden ihrer Gatten und Söhne zählten und
prüften, bevor jie Diejelben verbanten, und daß fie durch
Borwurf und Bitte, durch Darhbalten ver Bruft und durch
Hinweifen auf ihr Loos in der Gefangenschaft wankende
Schlachtordnungen wieder hergeftellt haben. Heilig und
ftreng war der eheliche Bund, äußerft felten ver Ehebruch,
feine Beftrafung dem’ hintergangenen Ehemann anheim-
gegeben. In Gegenwart ver Verwandten fchnitt er ber
Schuldigen das Haar ab, ftieß fie nadt aus dem Haufe
und peitfchte fie Durch Das ganze Dorf. Im einigen Gau:
genoffenfchaften galt ver Brauch, daß die Frauen unter -
allen Umftänden nur eine Ehe eingehen durften, wie ja
bis auf unfere Tage herab auch bei den Invern die Witwen
In den germanifchen Wäldern. 235
nicht wieder heiraten burften. Im übrigen war, wie
ſchon angedeutet worden, das Daſein unferer Ahnmütter
um fo weniger ein müfliges, da die Sorge für Haus,
Herd und Feld auf ihnen laftete. Die Männer kümmerten
fih nur um Jagd⸗, Kriegs» und Staatsfachen 19).
Erwägt man noch, daß uns von dem gefelligen Ver⸗
balten der Bewohner Germaniens fein Zug fanfter Ge-
fittung überliefert worden, daß das Leben der Männer
zwifchen wilder Aufregung und trägem Müſſiggange ver-
floß, daß fie ſich gern im Bier beraufchten, daß fie in un-
bändiger Spielwuth nicht allein ihre ganze Habe, ſondern
auch vie eigene Perſon und Freiheit auf die Würfel feß-
ten, und daß endlich nur eine Art von Schaufpiel,
nadter Sünglinge wilder Tanz zwiſchen aufgerichteten
Speerfpigen und Schwertllingen, die feſtlichen Zuſammen⸗
fünfte des Volkes erheiterte, — jo müßte man allem
bisher Beigebrachten zufolge verſucht fein, anzunehmen,
daß in Altdeutſchland edlere Weiblichfeit faum Habe
gedeihen können, falls nicht beftimmte Zeugnifie für
das Vorhandenſein einer folchen vorlägen. Aus ver
taciteifhen Schilderung ver Eheverhältnifie erhellt deut⸗
lich, daß die germanifche Frau nicht die Sklavin, ſondern
die Genoffin des Mannes war, und alibefannt ift vie
berühmte Stelle ver Germania: „Die Deutfchen glauben,
daß dem Weib etwas Heiliges und Prophetifches (anc-
tum aliquid et providum) innewohne; darum achten
fie des Rathes ver Frauen und horchen ihren Ausfprüchen.”
14) Germania, 4, 5, 7, 8, 15, 17, 18, 19, 20, 23, 24.
26 Buch J. Kap. 1.
Die Frau erſcheint demnach mit der Würde der Prieſterin
und Prophetin bekleidet. Schon haben wir bei den Kim⸗
brern opfernde und weiſſagende Prieſterinnen gefunden
und wir finden ſolche auch ſpäter. Als im Jahre 58
v. Chr. der Germane Arioviſt dem Julius Cäſar gegen⸗
überſtand, verboten die weiſſagenden Frauen den Deut-
fhen, vor dem Neumond in eine Schlacht fich einzu-
laffen 19). In der Germania wird der Aurinia erwähnt,
welche die Germanen vor Zeiten als Prophetin verehrt
Hätten 1). Die größte Bedeutung aber gewann zur Zeit
ver Kämpfe des Eivilis gegen die Römer die Veleda, in
welchem Namen vielleicht ein Anklang an die norbifch-
germaniſchen Walkyrien, Walen, Völur verborgen ift.
Diefe nah alter Sitte als „Schickſalsverkündigerin“
hochverehrte Jungfrau vom Stamme der Brufterer hauſ'te
einfom und unzugänglich auf einem hoben Thurme und
war die Pythia der nieverrheinifchen Germanen. Sie
vermittelte Bündniſſe, fie führte eine entſcheidende
Stimme in Kriegs⸗ und Friedensjachen, ihr wurden
Stegestrophäen zu Füßen gelegt N. ine britte jung-
fräulihe Prophetin, Ganna, war zur Zeit Domitians
15) Cassius Dion, XXXVII, 48.
16) Grimm (D. Mythologie, III. X. 375) lieſt ftatt Aurinta
Aliruna, wo dann in dem Namen felbft der Begriff der Weiffagung
liegen würde. Selig Caffel („PBrophetinnen und Zauberinnen“,
Weimar. Jahrb. II, 383) ſchlägt vor, ftatt Aurinia zu leſen Nau-
rinia oder Norinia, fo daß die Veziehung auf die Nornen, bie
Parzen der nordiſch⸗germaniſchen Mythologie, deutlich wäre.
17) Tacitus, Histor. IV, 61. 65; V, 24.
In den germanischen Wäldern. 27
in Deutfchland einflußreich 18). Tacitus fagt auch, daß
bei wachſendem Aberglauben ſolche Prophetinnen im
Bolfsbewußtfein allmälig zu Göttinnen geworben feien
(„et augescente superstitione arbitrantur deas“),
Die Frauenverehrung ift aljo ein uralter Charakter⸗
zug der Deutichen, aus welchem jpäter die Innigfeit des
deutſchen Mariakults und des deutſchen Minnevienftes
entfpringen ſollte. Die altgermaniichen Frauen waren
feineswegs nur auf die Gefchäfte des Haufes, des Herdes
und des Feldes, auf Harfe und Sichel, Spinvel und
Webſtuhl, auf Kinvererzeugung und Kinderſäugung be
Ihränft, fondern wann immer ber göttliche Funke in
ihnen fich regte, war ihnen Raum gegeben, eingreifend
und einflußübend auf ven Schauplat zu treten, wo „um
ver Menfchheit große Gegenftänve, um Herrichaft und um
Freiheit wird geftritten”. Es ift Grund vorhanden, zu
glauben, daß auch Thuſnelda, vie Gattin des DBefreiers
Armin, eine jener höheren weiblichen Natuven geweſen
ſei, deren Spuren unfere Vorzeit aufzeigt. Thuſnelda's
Geſchichte ift zugleich die Ältefte deutſche Tiebesgefchichte,
von der wir wiffen. Denn auf eine leivenfchaftliche
Neigung deutet der Umftand, daß Armin die einem An-
dern Verlobte ihrem Vater Segeft, feinem politifchen
Gegner, mit Gewalt entführt. Aber das Glüd war
dem Ehebund der Beiden unhold. In Abwefenheit des
Gatten verrieth Segeft, der römerfreundliche Landesver⸗
rätber, vie Tochter, welche einen Sohn Armins unter
18) Cassius Dion. LXVII, 5.
28 Bud I. Kap. 1.
dem Herzen trug, an die Soltaten des Germanifus. Mehr
vom Geifte des Gatten als des Vaters befeelt — erzählt
Tacitus — entrang ſich Thuſnelden bei ihrer Gefangen
nehmung feine Thräne, fein klagendes oder flehentes
Wort; mit über dem Buſen gefalteten Händen fchaute fie
ftumm auf ihren ſchwangeren Leib. Die Nachricht, daß
die Gattin ihm entriffen wäre und die Sklaverei tragen
foltte, jtachelte Armin zu mwahnfinniger Wuth. Aber
vergebens flog er zur Rettung herbei. Thuſnelda wurte
nah Rom gebracht und dort gebar fie den Thumelifus.
Mit anderer Siegesbeute mußte fie fammt ihrem Kinte
und ihrem Bruder Segimunt den Triumphzug des Ger-
manifus zieren, während ver Verräther Segeft zufah, wie
Sohn, Tochter und Enkel vor dem Wagen des Trium- - -
phators in Ketten einhergingen 1). Der Gram mag die
— — — — —
19) Tacitus, Annal. I, 55, 57, 58. Strabon, Geographica,
VII, 1, 4. Da Strabon e8 ift, welcher bie Namen von Armins
Gattin und Sohn uns überliefert bat, will ich die verdeutſchte
Stelle herjegen. „Ihnen — (db. h. den Germanen ‚' welche den
Barus im teutoburger Walde gefchlagen hatten) — verdankte der
jüngere Germanilus einen glänzenden Triumph, wobei bie nam⸗
bafteften Feinde in Berfon aufgeführt wurden: — Segimuntos,
der Sohn des GSegeftes, bes CheruflersHäuptlings, und feine
Schwefter Thufnelda (Bovarsida), des Arminius Gattin, fammt
ihrem dreijährigen Sohn Thumelitus (Bovw£rsxos). Segeftes
aber, des Arminius Echwiegervater, welcher die Gefinnung feines
Schwiegerjohns von Anfang an nicht getheilt hatte, ſondern viel⸗
mehr zu uns übergelaufen war, ſah, mit Ehren überhäuft, mit an,
wie die, welche ihm die Fiebften waren (db. h. hätten fein follen),
in Ketten vor dem Wagen bes Triumphators einhergingen.”“ Man
In den germanischen Wäldern. 29
edle Frau bald getöntet haben. Die Rache Noms an dem
Befieger des Varus zu vollenden, foll mit gemeiner Bos⸗
heit Armins und Thuſnelda's Sohn in Ravenna zum
Gladiator oder gar zum Luſtknaben erzogen worben fein.
Wenn, wie vermuthet wird, die ſchoͤne Marmorftatue
einer Germanin, welche in der Loggia de’ Lanzi zu Florenz
fteht, wirflih Armins Gattin darſtellen jollte, jo würde
das beweifen, daß die Seelenhoheit und die tragifche
Größe des Geſchickes diefer Frau auch auf vie Römer
ihres Eindrucks nicht ganz verfehlt hätten). Es bilvet
einen eigenthüimlichen Gegenſatz zu dieſer tragifchen
Frauengeftalt, wenn wir das Bild anjehen, welches ein
römischer Spätlingspichter, Aufonius, von einem germa-
nifchen Mädchen entworfen hat, welches in ven Feldzügen
Kaiſer Valentinians des Erften gegen die Alemannen am
Nedar und Oberrbein gefangen und als Kriegsbeute dem
genannten, in hohen päpagogifchen und politifchen Aemtern
ftehenden Poeten gejchenft wurde. Wenn wir bis dahin
an den germanifchen Frauen mehr nur helvifche, nicht
felten bis zur furchtbaren Herbigfeit gejteigerte Züge
wahrgenommen haben, jo bezeugt uns das Bild ver
Alemannin Biſſula zum erjtenmal die Schönheit und
ven Xiebreiz der deutſchen Frauenwelt. Biffula fcheint
ftatt ver Sklavin ihres Herrn recht eigentlich feine Herrin
fiebt, e8 gab deutſche Rheinbundsfürften jchon achtzehn Jahrhunderte
früher, als Napoleon den Rheinbund geftiftet bat.
20) Bol. Söttling, Thufnelda und Thumelikus, in gleichzeitigen
Bildniffen nachgewieſen, 1856.
30 Buch I. Kap. 1.
gewefen zu fein, fo enthufiaftifch zärtlich fpricht Aufontus
von ihrem lieblichen Antlig, ihren blauen Augen und blon⸗
ben Haaren. Diefe Barbarin, jagt er, befiege mittels
ihrer natürlichen Holdſeligkeit alle die „verzärtelten "und
gefchniegelten römiſchen Puppen“, und triumphirend fügt
er Hinzu, die Runft befite feine Mittel, fo viel Anmuth
nachzubilden 22).
21) „Biſſula, die nicht in Wachs nachahmbar ober in Farben,
Schmiüdte mit Reizen Natur, wie nimmer der Kunft fie
gelingen.
Ya, mit Mennig und Weiß malt Bilder euch anderer
Mägpdlein ;
Doch dies Farbengemiſch des Geſichts nicht malen es
Hände.
Mile doch, Dealer, wohlan, die Ro’ und Lilienweiße
Und die duftige Farbe dann nimm zu Biſſula's Antlig.“
Zweites Kapitel.
— —
Zur Völkerwanderungszeit.
Die Götterdämmerung der alten Welt. — Niederlaſſung germa⸗
niſcher Völkerſchaften in den römiſchen Provinzen. — Die Stellung
ber Frauen nad germanischen Recht. — Verhältniß der Frauen
zum Chriftenthum. — Gothiſche, langobardiſche und fränkiſche
Frauen. — Die merowingifhe Tragödie. — Gährungsproceh
der Zeit. — Häuflihe Einrichtung und Tracht.
Fern im Nordmeer liegt ein Eiland, welches das
letzte Aſyl des germaniſchen Heidenthums geworden iſt.
Hierher, nach Iſland, zogen ſich in der zweiten Hälfte
des 9. Jahrhunderts (von 874 an) edle norwegiſche
Männer zurück, als in ihrer Heimat Chriſtenthum und
Königsherrſchaft die alteinheimiſche Religion und Ver⸗
faſſung zerſtörten. In dieſe inſulariſche Abgeſchiedenheit
von einer Welt, welche neue Götter anbetete und neue
Lebensformen anthat, hatte das Germanenthum ſeine
theuerſten Schätze gerettet, feine religiöſen Mythen, feine
alten Helvenfagen. Hier hütete es dieſen Hort und
mehrte ihn. Hier blühte eine Kultur auf, deren fchrift-
liche Erzeugniffe den Völkern germaniſcher Zunge nicht
32 Buhl. Kap. 2.
weniger ehrwürbig und heilig fein follten als e8 ven
Hebräern „Das Gefeg und die Propheten“ find, d. h. ihre
unter dem Titel „Bibel“ befannte Sammlung nationaler
Mythen, Sagen, Gefchichten und Dichtungen. Hier wurde
auch die germanifche Bibel aufgezeichnet, die Edda, d. i.
die Urahne, die Urgroßmutter, welche den Enfeln vom
Glauben der Väter, von den alten Stammgöttern und
Stammhelden erzählt 2). Wie die heiligen Urkunden
vieler anderen Religionen eine Lehre von ben erjten und
legten Dingen vortragen, fo auch die Edda. Mußte ſich
doch die religidfe Phantafie überall zur Beantwortung
der Frage aufgefordert fühlen, wie die Welt und ver
Menich entftanvden wären und was zulegt aus beiden wer-
den follte? Auf die eddiſche Weltichöpfungslehre bat,
will mir ſcheinen, die Natur Iſlands keinen geringen
Einfluß geübt. Wenigftens dürfte e8 geftattet fein, an⸗
zunehmen, daß auf die Dichtung einer Koſmogonie, in
22) Jedermann weiß, daß es eigentlich zwei Edden gibt: die
ältere, in gebunbener Rebe verfaflte, genannt die Edda Sä-
munds, weil nah gäng. und gäbem Dafürhalten die Samm-
lung ber ®dtter- und Heldenlieder, welche ihren Inhalt bilden,
durh den tjländiichen Gelehrten Sämund Sigfusfon (fl. 1133)
veranftaltet wurde; und die jüngere in ungebundener Rebe ver--
fafite, genannt die Edda Snorri's, weil der 1241 erjchlagene
länder Snorri Sturlufon für den Sammler und theilweife auch
für den Verfaſſer ihres Inhalts gilt. Eine neue, ſehr verbienftliche
Handausgabe der Urſchrift der Sämunds-Edda, mit Gloffar, ſprach⸗
lichen und ſachlichen Erläuterungen, lieferte H. Lüning (Züri
1859). Simrod bat ung 1851, Wenzel 1877 mit einer Neuhoch—
deutſchung der Edda beichenft.
Zur Bölferwanderungszeit. 33
welcher die heiße Slammenwelt Mufpelheim und vie eifige
Nebelwelt Niflheim eine jo große Rolle jpielen, ver An-
blick von Hekla's Lavaftrömen, die über Gletſcher rollen,
und der Anblic ver Geyſerquellen, die aus Schneefelvern
hervor ſiedendheiße Wafferjtralen in vie Luft treiben,
eingewirft haben müſſe. Die ganze Größe und Furdht-
barfeit nordifcher Natur widerfpiegelt fih auch in dem
ungebeuren Bhantafiebilde, welches die Edda von ber
Götterdämmerung (Ragnaröh), d. i. nom Weltuntergang
entwirft. In Uebereinftimmung mit dem, was in ber
älteren Edda die Wöla vom Vergehen ver Welt jingt,
fagt das althochdeutiche, im 9. Jahrhundert aufgezeichnete
Gedicht Mufpilli: „Die Berge entbrennen, fein Baum
bleibt ftehen auf ver Erde, vie Waffer trodnen aus, das
Meer verdampft, in Lohen vergeht der Himmel, der Mond
fallt herunter, Mittelgart (die Erde) flammt auf, fein
Fels ſteht feſt. Der Tag der Vergeltung fährt über vie
Rande, fährt über vie Völfer mit Feuer.“ In dieſe ent-
jegliche Rataftrophe wird alles Seiende bineingezogen,
Menſchen und Götter gehen gleichermaßen zu Grunde.
Aber dem Dogma ver Vernichtung verfnüpft ſich das ver
MWiedererneuerung: aus dem Trümmerchaos der unter-
gegangenen erſteht eine neue Erde, eine neue Menjchen-
und Götterwelt.
Was die mythenbildende Phantafie der Germanen
von Ragnarök gefagt und gefungen, ericheint in jener
Umwälzung Europa’s, welche im 4. Jahrhundert n. Chr.
ihren Anfang nahm und welche wir Völlerwanderung zu
nennen pflegen, in weltgejchichtliche Thatſachen von un⸗
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. J.
34 Buch I. Kap. 2.
ermefjlicher Bedeutung überfegt. Durch die germanifchen
Bölfer, welche aus Often und Norven nad Süben und
Weſten vordrangen, erlebte ja die römifche Welt ihre
Götterdämmerung, nach deren Verraufchen an die Stelle
ber vernichteten antiken Gefellichaft die germaniſche trat.
Zweifah war die Natur dieſer koloſſalen Revolution.
Denn ihrer materiellen Seite gefellte fich eine geiftige,
das Chriftenthbum, welches in eben dem Maße, in welchem
e8 fich die germanifchen Sieger unterwarf, zur Gewinnung
der Stellung einer weltbeherrichenden Geiftesmacht vor⸗
ſchritt. Wunderbarer Anblick! Aus den düfteren Todes-
chatten, welche das Kreuz Über die erblaſſende Götter-
welt des griechiſch⸗ römifchen Alterthums geworfen, ging,
als die „Barbaren“ ihre Streithämmer, womit fie vie
marmornen Göttergeftalten zerichlagen hatten, am Fuße
dieſes Kreuzes huldigend niederlegten, ein neuer Tag der
MWeltgejchichte hervor. Der ſüdliche Olymp jowohl als
das nordiſche Afenheim traten in die Fabelnregion zurück
und über einer neuen Geſellſchaft wölbte ſich ein neuer
Slaubenshimmel, ver des dreifältigen Chriftengottes,
welcher einen nicht minder zahlreihen und nicht minder
mannigfach geglieverten mythologiſchen Hofſtaat von
Göttern und Göttinnen, Helden und Heldinnen um ſich
verſammelte, als der alte, jetzo abgedankte Zeus⸗-Jupiter
einen gehabt hatte. So erſetzte und erſetzt der Menſch
allzeit verbrauchte Gottheiten mit neugeſchaffenen, weil
er, von der „Angſt des Irdiſchen“ umgetrieben, nicht
umhin kann, immer wieder nach einem Halt- und Stütz⸗
punkt ins Ueberirdiſche hinaufzugreifen ....
Zur Böllerwanderungszeit. 35
Es ift hier nicht der Ort, taufennmal Gefagtes zu
wiederholen und dem Schaufpiel einer allgemeinen Auf:
löſung anzuwohnen, aus weldem fich erſt nach vielen
Zerftörungen, Schöpfungen, abermaligen Zertrümme-
zungen und Wiederaufbauungen eine neue ftaatliche Ge⸗
ftaltung unjeres Erdtheils ergab. Für unfern Zwed
genügt es, flüchtig auf die germanijchen Reiche von für-
zerer oder längerer Dauer binzumweijen, welche, nachdem
die Völferflut fich geftaut oder verlaufen, fraft des Rechtes
der Eroberung in den ehemaligen Provinzen Roms ge-
gründet wurden. Cine Folge dieſer Staatengründungen
war, daß mancher Schöſſling vom germaniichen Stamme
(o8gelöft und vemfelben für immer entfremdet wurbe.
Die rohe Naturfraft vermag zwar eine verrottete Kultur
niederzutreten; aber in Geftalt von taufend und aber-
taufend fohmeichlerifchen Einflüffen richtet fich dieſe wieder
auf, den Sieger zuleßt befiegend. Das erfuhren bie ger-
manifhen Stämme, welche als Beuteftüde ver Völker⸗
wanderungsfriege Italien, Spanien und Frankreich an ſich
genommen hatten. Sie erlagen ver Beitridung durch das
römische Weſen, welches, in Verbindung mit dem Chriften-
thum, ihnen allmälig ihre Nationalität und fagar bie
Mutteriprache abfchmeichelte.e So wurden fie aus Ger»
manen römische Miſchlingsvölker und Mutter Germania
mußte e8 bald genug erleben, daß ihre in die Fremde
gegangenen Söhne fich gegen fie fehrten, mit dem ganzen
Haß, welcher ver Abtrünnigfeit allzeit und überall zu
entfpringen pflegt. Aud daheim in Deutſchland fchien,
wie wir feines Ortes fehen werben, bie römiſch⸗chriſt⸗
3
36 Bu I. Kap. 2.
liche Kultur über das germanifche Wefen triumphiren zu
follen; aber hier erwies fich der nationale Geift, im
Süden hauptjählih durch den großen alemannijchen, im
Norden durch ven großen ſächſiſchen Stamm getragen,
mächtig genug, die deutſche Eigenthümlichkeit zu retten
und zu bewahren.
Zur Zeit, als die jpäter zu Romanen gewordenen
germaniichen Völkerſchaften ihre Nationalität noch be-
wahrten, hatte ver Stamm der YBurgunden in den Ge-
birgen von Savoien fich gejeßt und dehnte von dort im
5. Jahrhundert feine Herrichaft über das ſüdöſtliche Gal-
lien aus. Weftlich von ihnen, in Aquitanien, hatten jich
nach mancherlei Wanderungen die Weftgothen niever-
gelaffen, welche über vie Pyrenäen vordrangen und fo
ziemlich ganz Spanien fih unterwarfen. In Italien
waren, nachdem Odoaker i. 3. 476 den legten Schatten-
faifer Weſtroms abgejett hatte, zuerft die Heruler ver
herrfchende germanifche Stamm. Ihr Reich währte aber
nicht volle zwanzig Jahre, denn ſchon 493 machte dem-
felben der große König ver Oſtgothen, Theodorich, ein
Ende und ſchuf den oftgothiihen Staat, welcher ganz
Italien umfaffte und darüber hinausreichte. Den Oft
gothen folgten in der Gewalt über Italien die Lango⸗
barden, welche feit der zweiten Hälfte des 6. Sahrhunderts
ihre Eroberungen vom Norden der Halbinfel bis in ven
Süden auspehnten. Der weitverzweigte Stamm ver
Franken, Schon um die Mitte des 3. Sahrhundert den
römischen Nheinprovinzen zur Bedrängniß geworben,
drang unter dem Namen ver falifchen Franken im 5. Jahr⸗
Zur Bölferwanderungszeit. 37
hundert von den batavifchen Gegenven her erobernd in
Gallien ein und bis zur Somme vor, während er unter
dem Namen ver ripuariichen Franken in ben Stroms
gebieten des Rheins, ver Mans und Mofel ein Reich mit
der Hauptſtadt Köln gründete. Durch den Salier Chlo-
devech over Chlopwig, den Merowinger, einen der that-
kräftigſten, jchlaueften und gewiffenlofeiten Könige, welche
die Welt gejehen, wurden von 480 an vie fränfifchen
Gebiete in Gallien und Germanien vereinigt und allfeitig
erweitert. Durch Chlodwig kam, beſonders nah DBe-
fiegung der Alemannen, die vortretende Rolle unter ven
germanifchen Stämmen an die Franken, und da der König
das Chriftenthum zu einem Hebel feiner Politit machte,
ſo datiren von feiner Zeit die Anfänge einer umfafjen-
deren Verbreitung des neuen Glaubens nach dem Oſten
und Norden Deutfchlande. Welcher Art übrigens viejes
„Chriſtenthum“ war, trat zu Tage, als die Theilung des
Frankenreichs nach Chlodwigs Tode (511) unter feine
vier Söhne jene gräuelvollen Stürme heraufführte, welche
das merowingifche Haus zerrütteten. Es folgten in ben
entjeglihen Kämpfen zwijchen den drei Hauptmaffen
des Frankenreichs, Auftrafien, Neuftrien und Burgund,
mannigfache Theilungen, Wiedervereinigungen und aber-
malige Trennungen, bis die Dynaſtie der Merowinger
von dem Gefchlecht der Karlinger verbrängt wurde und
diefe jenen gewaltigen germanijch = chriftlichen Neubau
errichteten, mit welchem die Gefchichte des Mittelalters
anhebt. |
Indem wir jetzt zur Betrachtung der Stellung vor-
38 Buch I. Kap. 2.
fchreiten, welche die germanifchen Frauen zur Völler-
mwanderungszeit einnahmen, veren charakteriftiiche Merk
male bis zur karlingifchen Periode reihen, fagen wir zu-
vörderſt, daß alle foctalen Einrichtungen ver germanifchen
Stämme, ver Berührungen mit der römijch » chriftlichen
Welt ungeachtet, noch das nationale Gepräge ver heib-
niſchen Vorzeit trugen. Wenn auch "die germanifchen
Häuptlinge im Verlaufe der Völkerwanderung römijche
Herrſcher- und Herrentitel annahmen, wie Rex, Dur,
Comes, welche allerdings fchon die allmälige Uebertragung
der Souveränität von ver Berfammlung aller Freigeborenen
auf die Berfon des Anführers, des Vorderſten, des Fürften
andeuteten, jo wurde doch erft durch Karl ven Großen
biefe Hebertragung eine vollendete ftaatsrechtliche Thatſache,
und obzwar die alten Rechtsfagungen ver veutfchen Stämme
in Iateinifcher Sprache aufgezeichnet wurden 29, fo war
der Geift verfelben dennoch ein germanifcher. Demzufolge
blieb auch die alte Ständeglieverung, welche fih auf
Männer wie auf Frauen erjtredte. Es braucht daher
heutzutage nicht mehr betont zu werden, daß, wenn ber
römiſche Dichter Lukan fagte: „Die Freiheit ift ein ger-
manifches Gut!“ dieſe altveutjche Freiheit keineswegs In
dem idealen und humanen Sinne genommen werben darf,
23) Eine Sammlung biefer alten Rechtsbücher wurde 1824
duch Walter in drei Bänden veröffentlicht: „Corpus juris germa-
niei antiqui“. ine noch umfaſſendere bringen die Perk’fchen
„Monumenta Germaniae historica“ unter dem Abtheilungstitel
‚ „Leges“. Beide liegen dem im Tert Über die fraulihen Rechtsver—
bältniffe Beigebrachten zu Grunde.
Zur Bölferwanberungszeit. 39
wie er ver jeßigen Vorjtellung entipriht. Die Gefammt-
maſſe unferer Ahnen zerfiel nämlich, wie bekannt, in zwei
große Stände, in Freie und Unfreie, von welchen zwei
Klaſſen jede wieder zwei Unterabtheilungen hatte. Der
Stand der Freien umfafjte die Adalinge oder Edelinge
(nobiles) und die Freilinge oder Gemeinfreien (liberi);
der Stand der Unfreien bie zins⸗ und bienftpflichtigen
Hörigen (liti) und die eigentlichen Sklaven (Schalfe, servi).
Demzufolge waren auc die germanifchen Frauen adelige,
freie, hörige over fHlanifcheleibeigene. Der Sklavenſtand
war durchaus rechtlos und hatte feine perfönliche, ſondern
nur eine fachliche Geltung. Freigebung der Unfreien durch
den Herrn war aber für beide Gefchlechter zuläffig. Außer-
dem waren zur Milverung der fchroffen und harten
Kaſtenunterſchiede zwei mächtige Schranfenbrecher de,
Krieg und Liebe. Der aus den friegerifchen Gefolg-
Ihaften ver Häuptlinge, wie Deutfchland zur Zeit des
Tacitus fie gefannt hatte, während der Völkerwanderung
hervorgegangene Waffenadel (die, Leudes“, Leute, d. i.
Dienftleute, Vaſſi, Vafallen) fußte entſchieden mehr auf
dem Schwert als auf ver Geburt, war alfo auch Unfreien
erreichbar, und ebenfo öffneten Verdienſt oder Tönigliche
Gunst Unfreien den Zutritt zu dem Amts⸗ und Hofadel
der „Minifterialen” (d. i. ver Dienftmänner, Beamten)
des Farlingifhen Königthums. Was aber vie Frauen an-
geht, fo find gerade zu dieſer Zeit die Betfpiele nicht felten,
daß Schönheit und Klugheit Teibeigene Mägde aus Bei-
fchläferinnen der Fürften zu ihren Gemahlinnen und Be-
herricherinnen gemacht haben.
40 Buch I. Kap. 2.
Wie ein urfprüngliches und raffenhaftes, fo war und
blieb unfer Volk auch ein familienhaftes. Auf Sippe und
Blutsfreundſchaft, auf die Familie ift das ganze germa-
nifhe Wefen begründet. Nicht vie Idee des Staats,
ſondern die der Familie bepingte und beftimmte die ganze
Xebensführung unferer Altuorveren. Des ſocialen Baus
werfes Grund- und Edftein war die Hausvaterfchaft, der
Familie Mittelpunkt und fefter Halt. Aus der Familie
entwidelte fih die Gemeinde, aus dieſer ver Staat, wie
denn das Germanenthum überall, wo e8 ungeftört und
ungehindert durch fremde Einwirkungen feine Ziele ver-
folgen konnte, nicht vie Wege abitrafter Theorie, ſondern
die der Natur wandelte. Das PVerhältniß von Mann
und Frau war rechtlich ganz Kar das des Gebietens und
des Gehorchens, des Beſchützens und des Beſchütztwerdens.
Die Frau war dem Manne entjchieven untergeoronet.
Die Frauen hatten in alter Zeit feine Stimme in der
Bolfsverfammlung, fie konnten vor Gericht nicht als
Zeugen over Eiveshelfer auftreten und waren bei den
meiften Stämmen ausprüdlich von der Regierung über
Land und. Leute ausgefchloffen, welche letztere Nechts-
fagung übrigens, wie das ja zu allen Zeiten ver Rechts⸗
fagungen Schidfal war, ift und fein wird, oft genug um-
gangen oder gar nicht beachtet wurde. Trotz alledem
war die Stellung ver Frauen unter einem Volfe, welches
im Weibe von Uralters her etwas Heiliges gefehen hatte,
feine unehrenhafte. Im Gegentheil, Sitte und Recht
vereinigten fich, gegenüber ven Ausfchreitungen des „ſtar⸗
fen“ Gefchlechts um das „schwache“ ſchützende Schranken
q
Zur-Völferwanderungszeit. 41
herzuziehen. Unwiderlegbare Beweije hierfür gibt nament-
ih auch das germaniſche Strafrecht, welches befanntlich
nicht vom Grundfaße ver Beftrafung, fondern vielmehr von
dem ver Buße, Sühne, Entſchädigung ausging. Demnach
fonnte mit Ausnahme von Lanbesverrath und Heerführers-
mord der freie Mann jeves Verbrechen, auch Mord nicht
ausgenommen, durch Entrihtung von Sühngeld („Wer-
geld“ , Iat. compositio) an die Familie des Beleidigten,
Geſchädigten oder Getöbteten büßen, welche Buße natür-
lich nach der Schwere ver Verfehuldung bemeifen war und
in Ermangelung des baren Geldes aud in Vieh ent-
tichtet werben konnte. Weit entfernt nun, im Sinne der
Morgenländer oder auch der hriftlichen Kirchenväter ven
Werth des Weibes geringer anzufchlagen als ven bes
Mannes, beftimmte das germanifche Strafrecht umgefehrt
dem wehrlofen Gefchlecht ein höheres Wergeld als dem
wehrhaften, wenigftens weitaus bei den meisten Stämmen.
Sp fam nach alemannifhem und baierifchen Necht ven
Frauen ein Wergeldsanſatz zu, welcher ven ver Männer
um das Doppelte überftieg.. So auch nach ſächſiſchem,
während der Zeit der Gebärfähigfeit von Frauen und
Mädchen. Auch bei den Weftgothen war das Wergeld
der Frauen während der Periode ihrer Fruchtbarkeit höher
als das der Männer, bei ven Sranfen aber betrug es
während biefer Periode das Dreifache ver letteren. ‘Der
Mord einer Frau mußte bei ven Franfen mit 600 Solivi
ever Kühen gefühnt werben, weil ver Werth eines Soli»
dus (Schilling) dem einer Kuh gleichjtand. Das Wergeld
für pie Tödtung einer Schwangeren betrug 700 Schillinge.
42 Buch J. Kap. 2.
Oft angeführt find die Strafbeftimmungen des jalfränfi-
ſchen ©efetes für Vergehungen gegen weibliche Zucht und
Schamhaftigfeit. Wer einer Frau oder Jungfrau wider
ihren Willen in unehrbarer Weife die Hand jtreichelte,
mußte das mit 15 Schillingen over Kühen büßen; ver-
ftieg er fih bis zum Oberarm, ftieg vie Buße auf 35
Schillinge; wagte er gar ihr die Bruft zu betaften, hatte
er ein Wergeld von 45 Schillingen over Kühen zu ent-
richten. Merkwürdiger Weife fanf im Mittelalter, wo
doch ver Minne- und Frauendienſt ſyſtematiſch ausge-
bildet wurbe, das Wergeld der Frauen auf den halben
Betrag des männlichen herab. Dagegen finvet fich in
mittelalterlihen Nechtsfagungen („Weisſsthümer“) bie
zarte NRüdficht, daß fchwangeren Frauen geftattet ift,
etwaige Gelüfte nach fremdem Obft, Gemüfe. und fogar
Wildbrät, bei Gelegenheit unbeftraft zu befriedigen.
Der Hausherr hatte die Mundſchaft (das „Mun⸗
dium“) 24), d. h. das Recht ver Herrichaft, aber auch vie
Pflicht des Schußes über feine Frau und — bis zu ihrer
Derheiratung — über feine Töchter und Schweitern.
Das neugeborene Find blieb auf dem Boden liegen, bis
ver Vater e8 aufhob. Dadurch anerkannte er es, worauf
es mit Waffer befprengt und benamfet wurde. Hob er eg
aber nicht auf, fo war dies das Zeichen der Nichtaner-
fennung und das Rind wurde ausgejegt d. h. dem Tode
preisgegeben, was häufiger Mäpdchen als Knaben wider:
24) Vom althochd. munt, was eigentlih Hand bedeutete.
Vgl. Grimm, Rechtsalterthümer, A. 2. S. 403.
Zur Böllerwanderungszeit. 43
fuhr 29). Dem Vater ftand aud das Recht zu, feine
Kinder zu verkaufen, die Söhne bis zur Zeit der Voll:
jährigfeit, vie Töchter jo lange fie ledig waren, und dieſe
Barbarei wurde häufig genug geübt. Beim Tode des
Vaters ging deſſen Mundſchaft über Ehefrau, ledige
Töchter und Schweſtern auf den nächſten männlichen
Verwandten („Schwertmagen“, im Gegenſatz zu den
weiblichen „Spill⸗ oder Spindelmagen“) über und hieß
dann Vormundſchaft. Mit der in rechtmäßiger Form
vollzogenen Heirat eines Mädchens kam das väterliche
Mundium ſelbſtverſtändlich an den Gatten.... Das ger⸗
maniſche Erbrecht bevorzugte die Söhne auf Koſten der
Töchter in höchſt parteiiſcher und ungerechter Weiſe. Da
und dort waren die Töchter von der Erbſchaft ganz aus⸗
geſchloſſen, anderswo wurden fie mit der Hälfte oder dem
Drittel des Erbtheild der Söhne abgefunden. Jedoch
bezog ſich dieſe Zurüdiegung nur auf das eigentliche
Familiengut, auf das liegende Eigen („Odal“), denn das
jonftige Vermögen erbten Söhne und Töchter zu gleichen
Zbeilen. Sehr beveutfam griff die Vorjtellung von der
Stanvesgleichheit, der Begriff ver Ebenbürtigfeit auch in
die Erbfchaftsverhältniffe ein. Die Frauen gingen durd)
Verheiratung mit einem Unebenbürtigen jedes Anſpruchs
25) Das Ehriftenfhum verdammte bie heidniſche Sitte der Aus⸗
jegung, welche befonders über früppelhafte, ſchwächliche, uneheliche
oder in unebenbürtiger Ehe und im Ehebruch erzeugte Kinder ver-
hängt wurde. Diefer Brauch lebte, wie die heibnifchen Bräuche
überhaupt, im germanifchen Norden viel länger fort als in Deutjch-
land. Bol. Weinhold, Altnord. Leben, S. 260 fg.
44 Buch I. Kap. 2.
auf das Erbe ihrer Sippe verluftig und Kinder aus ber
Ehe eines Freien mit einer Unfreien fonnten ihren Vater
nicht beerben ; ebenfo nicht Kinder einer Freien mit einem
Unfreien die Sippe der Mutter.
Das Verhältniß der beiden Gefchlechter zu einander
zeigt in ver Zeit, welche uns dermalen bejehäftigt und ſo—
dann das ganze Mittelalter hindurch feineswegs mehr vie
Reinheit, welde ihm Zacitus vordem nadzurühmen
wußte. Das Konkubinat war vor und in ver karlingi⸗
ſchen Beriode unter den Vornehmen eine landbläufige
Sitte, welche durch die Leichtigkeit, womit die Herren
unfrete Mäpchen, deren Schönbeit fie reizte, zu ihrem
Willen bringen und zwingen fonnten, ungemein begünftigt
werden mußte. Es wimmelte da ordentlich von Kebfen
und „Frillen“, wie die Beifchläferinnen hießen. Große
Könige und Helven ver Völkerwanderung, wie Theodorich
und Marich, lebten mit folhen. Unter ven Merowingern
ftieg die Kebſenwirthſchaft zu abjcheulichem Wergerniß.
Aber auch Karl ver Große und Ludwig der Fromme hiel-
ten ſich Konfubinen und ift dies befanntlich bis heute ein
fürftliches Vorrecht geblieben. Die Kirche hat ſchon früh-
zeitig den vwergeblichen Verjuch gemacht, vagegen einzu-
ſchreiten, und fie that redlich das Ihrige, wenigftens ver
Vielweiberei, dieſer Frucht der Sittenverwilderung zur
Böllerwanderungszeit, entgegenzuarbeiten. Auf der main-
zer Synode vom Jahre 851 wurde deſſhalb Straflofigfeit
gegen folche beftimmt, welche fih mit einem Weibe
begnügten, wäre es auch eine Kebfe, wogegen das Konku⸗
binat neben ver Ehe mit Kirchenftrafen bedroht ward.
Zur Völkerwanderungszeit. 45
Aber freilich mußten alle Beftrebungen ver Kirche für
Beſſerung der Sitten meift ſchon an dem bevenflichen
Umſtande fcheitern, daß die Häufer der Geiftlichen felbft
nur allzuhäufig Haremen glichen. Hat doch ſchon der Haupt»
Bekehrer der Deutichen, Winfriv oder Bonifaz, in einem
Bericht an den Papft vom Jahre 741 geklagt, die frän-
kiſchen Diakonen hielten fih vier und mehr Beifchläfes
rinnen. Die eingerifjene Bolygamie bejchränfte fich aber
nit auf das Kebſenweſen, fonvdern manche Fürften leb⸗
ten mit mehreren Frauen zugleih in förmlichen Ehe-
bündniffen. Insbeſondere hielten e8 die Frankenkönige
gerne fo und vie Kirche fand e8 lange Zeit gerathen, zu
ber föniglichen Zwei- oder Mehrweiberei ein Auge oder
auch beide zuzudrüden, wie fie ja dieſe „ Politik” allzeit
vortrefflich zu üben verftanden hat. Der energijchite
Widerftand gegen die polygamiſche Sitte ging ver Natur
der Sache nah von den rauen ſelbſt aus und dieſer
Widerftand drang, verbündet mit ven firchlichen Beſtre⸗
bungen, nad) und nach wenigftens infoweit durch, daß
Einweiberei das Grundprinzip einer rechtmäßigen Che
wurde. Wir wiffen namentlich von Frauen der ſtandi⸗
navifchen Germanen, daß fie in diefer Sache ihren Willen
durchzufegen mußten. Ein vorragendes Beiſpiel ift bie
Prinzeffin Ragnhild, um welche König Harald Schönhaar
warb, obgleich er bereits nicht weniger als zehn Frauen
und zwanzig Kebjen hatte. Ragnhild wollte nicht bie
Einunddreißigſte in dieſem Bunde fein, und erft nachdem
Harald ſich von feinen bisherigen Frauen geſchieden und
feine Frilfen fortgefchicht Hatte, wurde fie fein Cheweib.
46 Buch J. Kap. 2.
Das Wort Ehe (althochd. Ewa oder ©a) beveutete
urfprünglid Bund oder Band überhaupt, erlebte aber
dann die Einfehränfung auf ven Sinn von Eheband oder
Ehebund. In Liedern und Sagen, deren Wurzeln in
die arifche Urzeit zurüdreichen, kommt es vor, daß Jung⸗
frauen in voller Volfsverfammlung feierlich ven Mann
felber fih wählen, und weif’t dieſes auf uralt Indoger⸗
manifches hin, indem ja auch in den altindiſchen Helven-
gevichten vie Königstöchter ſolche Gattenwahl halten 2%. In
der hiftorifchen Zeit aber war die germanifche Ehe urfprüng-
lich ein Kauf. Daher der Ausprud: „Ein Weib laufen
für heiraten, welcher fich das ganze Mittelalter entlang
erhalten hat und 3. B. noch in der Limburger Chronit
aus dem Ende des 14. Jahrhunderts gäng und gäbe ift.
Der Bewerber entrichtete dem Vater oder dem, in befjen
Mundſchaft fonft vie begehrte Jungfrau oder Witwe
war, einen Preis, wofür vie Braut ihm verlobt wurbe.
Diefe Brautgabe hatte feineswegs bloß eine ſymboliſche
Bedeutung, wie die bezügliche im vorigen Kapitel aus
Tacitus angeführte Stelle erſcheinen laffen könnte, fon-
bern fie war ein wirklicher Kaufpreis. Daraus noch mehr
als aus der allerdings hohen Wertbung jungfräulicher
Ehre erklärt fich die Strenge, womit das altgermanifche
Strafrecht Entführung und Raub von Sungfrauen ver-
26) Berühmteſte Beifpiele find die Gattenwahl der Sawitri und
die der Damajanti in ven beiden fo betitelten Epifoden bes „Ma-
habharata“. Deutſch in Holtzmann's Indiſche Sagen, 1, 48;
II, 5, 16fg. An letterer Stelle wird die Ceremonie ber Gatten«
wahl ausfüßtlid und ſchön befchrieben.
Zur Böllerwanderungszeit. 47
pönte. Ihrerſeits entließ ver Vater oder Vormund, falls
er nämlich zu den Vermögenpen gehörte, die Braut auch
nicht ungefehmüdt und mit leeren Händen und in manchen
Fällen mag das Eingebrachte verjelben, die „Mitgift *,
„Heimfteuer” oder „Ausſteuer“, den vom Bräutigam
bezahlten Kaufpreis aufgewogen ober gar überwogen
haben. Die Verlöbniffe gefehahen unter den verfchienenen
beutihen Stämmen unter verjchiedenen Formeln und
Bräuden. Im allgemeinen fanden biefelben öffentlich
im Kreiſe der freien Gemeinbegenoffenfchaft ftatt. Die
Strenge, womit die heidniſche Sitte auf Ebenbürtigfeit
hielt, jo daß zwiſchen Freien und Unfreien feine recht⸗
mäßige Che jtatthaben konnte — ein Surrogat hierfür
war dann eben das Konfubinat — wurde durch das
Chriftentbum zwar gemilvert, aber doch nur fo allmälig,
daß ja noch heute von „Mifiheirat” die Rede ift, wenn
ein Junker eine Bürgerstochter freit, e8 wäre denn, daß
die Braut Geld, viel Geld mitbrächte. Die Verheiratung
der Knechte und Hörigen hing völlig vom Belieben des
Herrn ab und Könige und Fürften übten das ganze Mittel-
alter hindurch als ein Recht ven Brauch, auch für vie
Söhne und Töchter freier und edler Familien Ehefrauen
und Ehemänner auszufuchen, wie e8 ihnen gut vünfte.
Zwiſchen ven nächften Blutsverwandten, Eltern, Kindern
und Gejchwiftern, berrfchte auch im Heidenthum das Ehe-
verbot, welches dann die chriftlihe Kirche noch auf
Schwägerſchaft und fogenannte geiftlihe Verwandtſchaft
Pathenſchaft) auspehnte. Es wurde aber im Heidenthum
und Chriſtenthum vielfach Dagegen gefündigt.
48 Bud I. Kap. 2.
Eine „Hochzeit“ hieß im heibnifchen und chriftlichen
Altertum unferes Volkes jede feftliche Zeit, und erft
fpäter erhielt das Wort die ausfchließliche Bedeutung von
Bermählungsfeit. Im Heidenthum kam dabei, wenigſtens
im germaniſchen Norden nachweiſbar, wahrſcheinlich aber
auch in Deutſchland, der religiöſe Akt vor, daß die Braut
durch Berührung mit dem heiligen Hammer Thorrs oder
Donars zum Eheſtand eingeweiht wurde. Im übrigen
galt die Ehe für rechtskräftig vollzogen, ſobald das Braut⸗
bett beſchritten war und „eine Decke das Paar beſchlug“.
Auch Spuren von einem Hemdenwechſel zwiſchen Brauti⸗
gam und Braut kommen im Mittelalter vor. Bis zum
Ende deſſelben aber war die kirchliche Trauung ganz un⸗
weſentlich. Zwar ſchrieb das Chriſtenthum ſchon zur
karlingiſchen Zeit den Brautleuten ein „Bekenntniß der
Ehe in der Kirche“ vor und wollte auch eine „prieſterliche
Einſegnung“; aber die Kirche hat ihren Willen offenbar
erſt viel ſpäter durchzuſetzen vermocht. Auch iſt nicht
einmal zu beſtimmen, ob ſie gewollt, daß die „Benedictio
sacerdotis“ dem Beilager vorangehen oder nachfolgen
ſollte. In vielen mittelalterlichen Gedichten werden ohne
alle kirchlichen Umſtände Ehen geſchloſſen und vollzogen.
Ein vortretendes Beiſpiel hiervon gibt das Nibelungen⸗
lied an die Hand, wo Gunther mit Brunhild und Sigfriv
mit Kriemhild Hochzeit macht und vie Ehe vollzieht,
ohne daß von einem Priefter auch nur die Rede wäre.
Erſt am Morgen nad der Hochzeitnacht, welche für ven
armen Burgundenkönig fo mifflich verlief, gehen die bei-
den Paare zum Münfter, wo eine Meſſe gejungen wird,
Zur Böllerwanderungszeit. 49
und es ift nicht einmal Mar, ob die Worte in der 650.
Strophe des Liedes: „Dö wurden si gewihet“ auf vie
Neuvermählten oder aber bloß auf „ir kröne unt ouch
ir kleit“ gehen. Erft vom 14. und 15. Jahrhundert
an erfcheint in Deutjchland die bürgerliche Nechtsbeftän-
digkeit der Ehe von der Firchliden Trauung abhängig.
Am Morgen nah dem Beilager, wann die Neuver-
mählten mitfammen das Trühgericht verzehrt hatten,
welches man ihnen vor das Bett brachte, empfing vie
junge Frau, welde von nun an ihr Haar nicht mehr
nad Yungfernart frei fliegen und wallen laffen durfte,
fondern e8 binden und knoten mußte, von ihrem Gatten
die „Morgengabe”, ein Gefchenf, welches urjprünglich ven
Sinn einer Dankfbezeigung für Hingabe des Magdthums
hatte und unter allen Umftänden ihr Eigenthum blieb.
Bon Stund’ an trat die Frau in alle Rechte und Pflichten
eines Eheweibes ein und lettere waren entſchieden vor-
wiegend, obzwar e8 unfern Altuorveren zum Lobe gereicht,
daß ihre Geſetzgebung namentlich für Schwangere und
Kinvbetterinnen zarter Rüdfichtsnahme nicht ermangelte.
Auch war uralter Nechtsüberlieferung zufolge vorgeforgt,
daß die Frau in ihren ehelichen Rechten — im wörtlichiten
Sinne des Wortes genommen — nicht verfürzt und ver
Hauptzwed der Ehe, die Beihaffung eines gejetlichen
Erben, unter allen Umftänden erfüllt würde). Immer
27) Daer ein man were, der sinen echten wive oerfrowelik
recht niet gedoin konde, der sall si sachtelik op sinen ruggen
setten und draegen si over negen erstuine und setten si sachtelik
neder sonder stoeten, slaen und werpen und sonder enig quaed
Scherr, Frauenmelt. 4. Aufl. I. A
50 Buch J. Kap. 2.
jedoch ftand die Frau gejeglih zu vem Mann in dem
Verbältni der Unterorvnung. Er war der Verwalter
und Nußnießer ihres Vermögens und fie durfte darüber
nicht verfügen. Gütergemeinfchaft zwiſchen Eheleuten
kam erft fpäter auf und da hieß e8 dann: „Wann bie
Dede über ven Kopf (ver Brautleute) ift, find bie
Ehleute gleich reich” — over: „Leib an Leib, Gutan Gut.“
Daß ein Theil des in der Ehe erworbenen Vermögens,
der Errungenfchaft, beim Tode des Mannes an die Witwe
fäme, bier die Hälfte, dort ein Drittel, bejtimmten ſchon
ältere Rechtsbücher, wie das ſächſiſche und das ripuarifch-
fränfifhe. Die an den Ehemann übergegangene väter-
liche Gewalt geftattete viefem vie Förperliche Züchtigung
des Weibes, welche oft genug in Anwendung kam, ges
ftattete ihm ferner die ftraflofe Tödtung ver Ehebrecherin,
geftattete ihm auch ven Verkauf ver Frau, welcher leßtere
woerd of oevel sehen, und roipen dae sine naebur aen, dat sie
inne sines wives lives noet helpen weren, und of sine naebur
dat niet .doen wolden of kunden, so sall hie si senden up die
neiste kermisse daerbi gelegen und datsiesik süverlik tie make
und verzere und hangen ör einen buidel wail mit golde bestikt
up die side, dat sie selft wat gewerven kunde; kumpt sie dan-
noch wider ungeholpen, so help ör dar der duifel. Weisthum
aus dem Amt Blankenburg, bei Grimm (Rechtsalterth. 444), mo
folder naiv-ibylliicher Weisthümer noch mehrere angezogen find.
Daß diefe für unfere Ohren fo jeltfam klingende Rechtsſatzung jur
Anwendung gelommen, dürfte fich hiſtoriſch kaum nachweisen Taffen.
Daß fie aber in ältefter Zeit wirklich in Hebung geweſen fein könne
oder müfle, zeigt ihr nicht feltenes Vorkommen in den alten Bauern-
rechten.
Zur Bölferwanderungszeit. 51
Rechtögebrauch fich in England von den Angelſachſen ber be-
kanntlich bis ind 19. Jahrhundert herein erhalten hat. Un⸗
glüdliche Ehen konnten mitteld Scheivung gelöft werben.
Der Mann war befugt, wegen Unfruchtbarkeit der Frau,
dieſe war berechtigt, wegen Unvermögens oder Verweigerung
ber Beimohnung ſeitens des Mannes auf Scheidung zu
Hagen. Die Bräuche hierbei waren verfchieden. Gewöhnlich
wurden der Frau die Schlüffel abgefordert. Auch von
einem Leinentuch tft die Rebe, welches die zu Scheidenden
bei den Enden anfafjten, worauf e8 zwiſchen ihnen entzwei
gejchnitten wurde. Bei den Franken werden Scheidebriefe
erwähnt. Im germaniſchen Norden genügte e8, fo ber
Mann vor Zeugen der Frau erklärte, daß er fie entließe.
Wenn aber feine Scheivung ftattfand, riß das Band
ber germanifchen Ehe ſelbſt mit dem Tode nicht, d. h.
mit dem Tode des Mannes. Denn die Witwe folgte
dem verftorbenen Gatten auf den Scheiterhaufen, um
zugleih mit dem Leichnam verbrannt zu werden, —
gerade wie in Indien, wo dieſer religidfe Brauch erft in
unjeren Zagen durch die Engländer abgeftellt worden
ift?). In Deutfchland feheint derſelbe fehon zur Zeit
28) Die letzte Witwenverbrennung (Sattib) im großen Stil
bat in Indien i. 3. 1839 beim Tode des berühmten Maharadſchah
der Sikhs, Ranadſchit Singh, zu Labor flattgefunden. Bier feiner
Frauen und fieben feiner Sklavinnen ließen fih mit dem tobdten
„zöwen des Pendſchab“ verbrennen. Näheres Über den indifchen
und germaniſchen Religionshraud der Ritwenopferung |. in meiner
„Seichichte der Religion“, I, 144 fg. ; II. 342.
4*
52 Buch I. Kap. 2.
des Tacitus abgefommen gewefen zu fein, venn bie
Germania weiß bei Erwähnung der veutichen Beftattungen
nur zu berichten, daß mit den Todten auch ihre Streit-
roffe verbrannt wurden. Dagegen bat im germantfchen
Norden der freiwillige Opfertod der Witwen in Mythe,
Sage und Gefchichte bis zum Ende des 10. Jahrhunderts
fortgelebt. Die religidfe Vorftellung, daß einem Gejtor-
benen, falls fein Eheweib ihm fofort nachftürbe, vie
ſchweren Thore der Unterwelt nicht auf die Ferien
ſchlügen, lag dieſem ſchrecklichen Rechtsbrauch zu Grunde,
welchem ſich zu fügen den Frauen zu höchſter Ehre,
welchem ſich zu weigern ihnen zur Schande gereichte.
Die nordiſchen Quellen wiſſen davon zu erzählen. Die
Göttin Nanna wird mit dem getödteten Gotte Baldur,
ihrem Gatten, verbrannt. Die Walküre Brunhild tödtet
ſich ſelbſt, dem geliebten Sigurd nachzuſterben und mit
ihm auf einem und demſelben Holzſtoß verbrannt zu
werden. Hakon Jarl, der i. J. 995 geſtorbene letzte
große Vorkämpfer des Heidenthums in Skandinavien,
freite noch in alten Tagen um die ſchöne Gunnhild,
ward aber abſchlägig beſchieden, weil Gunnhild ihre
kaum erblühte Jugend nicht der Gefahr ausſetzen wollte,
einem greifen Gemahl vorausſichtlich binnen kurzem
in den Tod folgen zu müſſen.
Nachdem wir im Vorſtehenden die rechtliche Stellung
der Frauen im germaniſchen Alterthum betrachtet haben,
deſſen Gränzmarken, wenn ich recht erwäge, bis zur far-
Iingifchen Periode hinanreichen, wollen wir im Folgenven
verfuchen, aus dem zeritreuten Material, wie es bie
Zur Böllerwanberungszeit. 53
Duellen bieten, ein Moſaikbild germanifcher Yrauenart
zur Zeit ver Völferwanderung zufammenzufegen.
Wie ſchon in den früheiten Kämpfen ver Römer mit
unferen Altvorderen auffeiten der legteren die Frauen
eine nicht geringe Bedeutung gewannen und behaupteten,
fo auch in den jpäteren. Als in ver zweiten Hälfte des
3. Jahrhunderts der Kaifer Aurelian feine Siege über
die Gothen in Ungarn und über die Markomannen in
Italien durch einen Triumphzug in Rom feierte, wurden
babet auch mehrere gothiſche Iungfrauen aufgeführt,
welche mit den Waffen in der Hand gefangen worben
waren. Darunter befand ſich die Hunila, deren Schönheit
und Klugheit die Sieger fo bezauberte, daß ein vor-
nehmer Römer ihr feine Hand bot. Der römiſche Poet
Claudian, welcher zu Anfang des 5. Jahrhunderts den
Sieg Stilicho's über Alarich bei Pollentia befang, erwähnt
einer oftgothtichen Frau, welche ihren Mann, ven Häupt-
ling Tribigild, zum Kampfe gegen Oſtrom aneiferte,
ſprechend: „OD, warum hab’ ich einen fo trägen Mann?
Wie glüclich find doch die Weftgothinnen, welche mit dem
Raub der Stäpte fich ſchmücken und denen die Jung—
frauen Griechenlands als Mägde dienen.” Der große
Dftgothenkönig Theodorich, welcher als Dietrih in ver
deutſchen Heldenſage jo herrlich fortlebt, hat ſeinem kühnen
Gedanken, die germanischen Reiche von damals in einen
großen Bund zu fammeln, auch die Frauen dienftbar zu
machen gewußt, indem er feinen weiblichen Verwandten
politiihe Ehebündniſſe ausmittelte und feine Schweiter
Amalfreda mit dem Vandalenkönig Thrafimund, feine
54 Bud I. Kap. 2.
Tochter Theodikuſa mit dem Weſtgothenkönig Alarich,
feine Tochter Oſtrogotha mit dem YBurgundenprinzen
Sigismund und feine Nichte Amalberge mit dem
Thüringerfönig Hermanfriv vermählte 2%. Der Brauch,
Brinzeffinnen zu Binde⸗, Hilfe- und Hebemitteln ver
Politik zu machen, ift demnach jehr alt und ven heutigen
Opfern diefer Vermählungsfunft bleibt der freilich leidige
Troft, daß fie, fo lange es eine deutſche Geſchichte gibt,
jeder Zeit Schiejalsgenoffinnen gehabt haben. ‘Der große
Geift Theodorichs lebte in feiner Tochter Amalafwintha
fort, welche für ihren Sohn Athalarich die Vormundſchaft
führte. Der. Italiener Caſſiodor und der Byzantiner
Prokop, ihre Zeitgenojjen, preifen fie wetteifernd als eine
geniale, hochgefinnte und hochgebilvete Frau, als eine
treffliche Negentin und feinfinnige Pflegerin der Wifjen-
ſchaften.
Die Langobarden ſtanden den übrigen germaniſchen
Völkerſchaften, welche ſich erobernd im Süden niederließen,
an Zähigkeit im Feſthalten nationaler Art und Sinnes-
meije weit voran und es ftimmt zum Nachvenfen, wenn
man fieht, daß die Nachlommen gerade des deutſchen
Stammes, welder fib in Italien am entfchievenften
gegen die Romanifirung fträubte, in unferer Zeit von
einem wilderen Haß gegen das deutſche Wejen glühten
als die übrigen Italiener. Der Bebarrlichkeit ihres
Germanismus verdankt die Geſchichte der Langobarden,
29) Bon den deutfhen Frauennamen wird im 2. Buch an
paifender Stelle gehandelt werben.
Zur. Völlerwanderungszeit. 55
wie ver um 730 geborene langobarbifche Eveling und nadh-
malige Mönch Paul Warnefrivs Sohn, genannt ver Dia-
fon, fie geſchrieben hat, jene reizende Frifche und Naivität,
jene quillende Sagenfülle, welche fie über alle die alten
Chroniken erheben und fie, ihres Iateiniichen Gewandes
ungeachtet, zu einem germanifchsnationalen Epos in
Proſa maden. Da fehlt es venn auch nicht an Frauen-
geftalten, welche, obgleich mehr finfter als Ticht, wie fie
find, unfere ganze Theilnahme erregen. Weit zurüd im
Sagenvänmmter begegnet uns die unheimliche Rumetrud,
bes Königs Tato Tochter, deren tüdifche Morpluft einen
blutigen Krieg zwiſchen ven Langobarven und den Heru-
lern veranlajite. Auf feiteren gejchichtlihen Boden führt
ung ſchon die vielbefungene tragifche Gejchichte der Roſi⸗
munda, der zweiten Gemahlin des zehnten Langobarden⸗
königs Albuin. Sie war die Tochter des Gepidenfönigs
Kunimund, welchen Albuin in der Schlacht getöbtet und
aus deſſen Schädel er jich einen Trinkbecher hatte machen
lofien. Einmal, zu Verona, hatte der König dieſes bar-
bariſche Trinkgeſchirr mit Wein gefüllt vor fich ftehen
und zwang im Zaumel des Uebermuthes und Raufches
jeine Gemahlin, ebenfalls aus vem Schädel ihres Vaters
zu trinfen. Das ward fein Verderben, denn in Rofi-
munda glühte der Wunfh auf, mit dieſem brutalen
Schimpfe zugleich ven Tod ihres Vaters zu rächen. Sie
fcheute zu dieſem Zwecke vor nichts zurück, auch nicht vor
dem Yufgeben weiblicher Zucht und Sitte. Sie verfchwor
fi zu Albuins Untergang mit feinem Skilpor (Schilv-
träger) Helmigis und gab fih, mit ihrer Kammerfrau
56 Bud I. Rap. 2.
das Bett taufchend, dem Peredeus preis, um auch dieſen
Mann für ihr Vorhaben zu gewinnen. Nach einem An-
ſchlag deſſelben erſchlug Helmigis den König während
deſſen Mittagsruhe und hatte Rofimunda das Schwert
des verrathenen Gemahls zu Häupten des Auhebettes
feftgebunden, damit er um fo ficherer dem Mörder erläge.
Helmigis hoffte aber nach Albuins Tod vergebens, auf
den erlebigten Königefig zu gelangen. Er mußte mit,
Rofimunda nah Ravenna zu dem oſtrömiſchen Statt-
halter Zonginus entweichen, welcher das verrätherifche
Weib aufitiftete, ven Helmigis aus dem Wege zu fchaffen,
um fich mit ihm felber zu vermählen. Roſimunda reichte
demzufolge dem Helmigis vergifteten Wein, aber als er
den Becher zur Hälfte geleert, merkte er, vaß er den Tod
getrunfen, und zwang mit blanfem Schwerte vie arge
Königin, den Reft zu trinken und mit ihm zu fterben....
In anderen, helleren Farben fptelt die Geſchichte ver
Zheubelinda, des Baierkönigs Garibald Tochter, um
welche ver jugendſchöne hellgelodte Langobardenkönig
Authari warb. Seine Brautfahrt ift ein Stüd frühejter
Romantik. Voll Verlangen, feine Erwählte mit eigenen
Augen zu ſehen und zu prüfen, ging er mit ven Werbe-
boten ſelbſt nach Baiern, verbot aber feinen Begleiter,
fein Inkognito zu verrathen. Als Garibald in die Wer-
bung gewilligt, erbaten die Boten, daß deſſen zum Zeichen
Theudelinda ihnen ven Becher kredenzte. Es geſchah, und
als die Reihe an Authari gekommen und er ven Becher
zurüdgab, fand er Gelegenheit, ver Prinzeffin Hand und
Wangen zu ftreiheln. Schamroth erzählte Theupelinpa
Zur Böllerwanderungszeit. 57
da8 ihrer Amme, aber die Huge Frau fagte: „Wenn
diefer Mann nicht der König felbft und dein Bräutigam
wäre, jo hätte er nicht gewagt, bich zu berühren.“ Die
Ehe zwifchen Authari und Theudelinda ſcheint inveffen
feine jehr glücdliche gewefen zu fein. Wenigftens ftarb
der König Thon ein Jahr nach ver Hochzeit, an Gift, wie
es hieß, und nach fagenhaften Andeutungen mag biejer
Todesfall, wenn auch nicht von ihr angeftiftet, ver Königin
doch willkommen gewejen fein, weil vie herbe Mann-
haftigkeit Authari's ihrer religiöfen Stimmung wenig
entiprach.
Theubelinda war nämlich eine jener Frauen, welche
zur Zeit der DVölferwanderung mit Begeiſterung und
Ausdauer ver Ausbreitung des Chriftenthums unter den
germantfchen Völkerfchaften ſich widmeten. in welt
Uuger Beobachter von Menschen und Dingen, der Eng-
länder Horace Walpole, hat einmalgefagt, fein Weib hätte
jemals eine neue Religion erfunden und doch ei feineneue
Religion anders als durch Weiber ausgebreitet worden.
Dies gilt in ganz vorzüglihem Maße von der Ver-
breitung des Chriftenthbums über die germaniiche Welt.
Prinzeffinnen aus Fürftenhäufern, welche ven neuen
Ölauben angenommen hatten, wurben recht eigentlich die
Miffionärinnen veffelben. Das Myſtiſche im Chriſtenthum
beftach vie Phantafie der Frauen und die Xehre, für alles
Dulden, Entfagen und Leiden im Diefjeits reichlich im
Jenſeits entichädigt zu werden, gewann ihr Gemüth um
jo mehr, als ja ver chriftliche Himmel mit feinen in's Un-
fafjlihe und Unvorftellbare verſchwimmenden Seligfeiten
58 Bud I Kap. 2.
ein rechter Frauenhimmel ift. Zweierlei aber kam den
eifrigen Senvbötinnen des neuen Glaubens Hilfreich zu
ftatten: — von oben herab die Politik, welche ſelbſt dem
beichränfteften Fürftenverftand einleuchtend machte, was
für Hilfemittel die hriftliche Lehre von der unbebingten
Unterwürfigfeit der Menſchen unter die Obrigleit zur
Gründung und Behauptung fürftliher Gewalt und Will-
für an die Hand gäbe ; von unten herauf pie Bereitwilfig-
feit, womit die Armen, Unterbrüdten und Gefnechteten
einer Religion ſich zuwandten, welche ihnen wenigjtens
nah dem Tode die Freiheit und nah ihrer Auffaffung
der DVergeltungslehre Erſatz für ihre Leiden hienieven
verhieß. Es ift auch nur gerecht, anzuerkennen, daß bie
chriſtliche Kirche zu diefer Zeit und noch im Mittelalter
vielfach im Sinne der Humanität für das Volk thätig
war, wie fie denn damals überhaupt die Trägerin mate-
rielfer und iveeller Civilifation gewefen iſt. Der feinere
Inſtinkt der Frauen fühlte das wohl heraus und die
erbarmungs- und hilfereichen Regungen ihrer weicheren
Seelen fanden in der Miffion ein gern bebautes Feld ver
Thätigkeit. Die chriftliche Kirche Hat daher nur einen
Alt wohlbegründeter Dankbarkeit vollzogen, wenn fie
mittel Vergöttlichung der Mutter Iefu die heidniſche
Unterordnung der Frauen aufhob und diejelben wenigftens
religiös den Männern gleichftellte..... Zu Theubelinda
zurüdfebrend, finden wir, daß fie nicht nur eine fehr
fromme, fondern aud eine fehr Fuge Frau gewefen fein
muß. Sie hatte fi) den Langobarven fo genehm zu
machen gewußt, daß dieſe nach Authari's Hingang fie
Zur Böllerwanderungszeit. 59
baten, die königliche Würde beizubehalten und fich aus
fänmtlichen Männern des Volkes einen zweiten Gemahl
zu füren. Da beſchied fie den Herzog von Turin, Agilulf
zu fih, ging dem Kommenden entgegen, ließ, nachdem fie
einige Worte mit ihm gewechfelt, Wein bringen, tranf
zuerit und reichte ihm den Becher dar. Wie aber der
Herzog Inieend den Becher entgegennahm und der Königin
ehrfurchtsuoll die Hand küßte, ſprach fie lächelnd und
erröthend, ver dürfte ihr nicht die Hand Füllen, welcher
ihr einen Ruß auf ven Mund vrüden follte. Darauf hieß
fie ihn aufftehen, küſſte ihn, ſprach ihm von Hochzeit und
Königthum und bald wurde das Vermählungsfeft unter
großem Jubel gefeiert.
Wieder ein ganz anderes Bild bietet die Romilda,
Gemahlin Gifulfs, des Langobarpifchen Herzogs in Friaul.
Als der ins Land gefallene Avarenkönig Kakan den Her-
zog in der Schlacht erjchlagen hatte und vie Herzogin in
der Stadt Forojuli belagerte, erregte der ſchöne Todt⸗
Ihläger ihres Gemahls die Begierden Romilda's und fie
überlieferte ihm vie Stadt, als er geſchworen, ſie zu feinem
Weibe zu machen. Er hielt feinen Schwur für die Dauer
einer Nacht nämlich, überließ dann die Verrätherin zwölf
jeiner Mannen zur Schändung und ließ fie enplich im
freien Feld auf einen Pfahl fpießen mit dem Hohnwort:
„Das ift ver Dann, ven du verdienſt.“ Unähnlich viefer
Mutter waren ihre vier mit ihr gefangenen Töchter,
welche, ihre Keufchheit zu wahren, rohes Hühnerfleifch
zwifchen vie Brüſte legten und durch den ſchrecklichen
Geruch des verwefenden Fleifches die lüfternen Avaren
60 Bud I. Kap. 2.
von fich fernbielten, — eine, wie man gejtehen muß, in
ihrer Art heldiſche, wenn auch nicht gerade wohlriechende
Zugenplichfeit.... Ein eigenthümlicher Zug von weib-
licher Unflugheit ift uns von Exrmilinda, ver Gemahlin
des Königs Kuninkpert, überliefert. Sie hatte einft ein
ſchönes römijches Mönchen, Theodote geheißen, im Babe
erblicdt und konnte nun nicht aufhören, dieſe Schönheit
ihrem Gatten zu rühmen, bis er in Leidenſchaft für Theo-
dote entbrannte und fie zu feiner Kebje machte. Klüger
war die Natperga, Gemahlin des friaulfchen Herzogs
Pemmo. Wahrfcheinlich nicht ohne Grund lag fie ihrem
Manne an, er möge fie, die unſchön wäre und einem fo
mächtigen Herrn übel anftände, verftoßen und fich ein
ſchöneres Weib ſuchen. Gerade viefe Uneigennügigfeit
aber kam ihr zu gute, denn Pemmo fagte, ihr demüthiges
Betragen und ihre Züchtigfeit gefalle ihm befjer als vie
Schönheit anderer Frauen). Die Probe ehelicher
Treue bejtand Gundiperga, König Charoalds Gemahlin.
Als diefe einft im Hoffreife ver fehönen Geftalt des Eve-
lings Adalulf Xob fpendete, flüfterte ihr der Freche ins
Ohr: „Du haft meine Geftalt des Lobes gewürdigt, laſſ'
mich dein Bett theilen.” Gundiperga's Antwort war,
daß fie dem Verfucher verachtungsvoll ins Geficht ſpuckte.
Darauf ging Adalulf zu dem König und bezüchtigte die
Königin, fie Hätte fih mit dem Herzog Tafo zur Ermor-
bung ihres Gemahls verſchworen. Dieſer glaubte es
30) Paulus Warnefridus, De gestis Langobard. I, 20, 27;
1, 28; III, 30, 35; IV, 37, V,37; VI, 26.
Zur Völkerwanderungszeit. 61
und ließ die Königin gefangen fegen. Allein Gundiperga’s
Freunde vermochten ven König, zu geftatten, Daß die Un-
ſchuld der Königin durch ein Gottesurtheil erwiefen würde.
Charoald willigte ein, der Gottesgerichtsfampf fand ftatt,
für Gundiperga trat ein gewiſſer Pitto in die Schranfen
und erfchlug den falſchen Ankläger Adalulf 31).
Das Gottesurtheil war ein wefentliches Zubehör ver
Strafrehtspflege unferer Ahnen. 8 reichte ins fernfte
Heidenthum zurüd und blieb wie befannt, das ganze
Mittelalter hindurch in Kraft. Ihre Wurzel hatte viefe
Einrichtung in dem religiöfen Glauben, daß in Fällen,
wo das Recht für Findung eines gerchten Wahrjpruches
durch menſchliche Einficht zu zweifelhaft fchien, das Ur-
theil der Gottheit felbft anheimzugeben fei, welche dem
unfchuldigen Theile beiftehen müßte und würde. ine
folhe Berufung auf die göttliche Gerechtigkeit hieß ein
Gottesgericht, Gottesurtheil, Ordalium (vom angeljäch-
ſiſchen Wort ordal). Das germaniſche Strafverfahren
war aber ein öffentliches und mündliches, feine Form ver
Anklageproceß. Der Angellagte hatte fich durch feinen
eigenen Eid und ven feiner Bürgen (,Eidhelfer“) zu
reinigen. Falls nun der Anfläger diefen Eiden nicht
traute, fo konnte er noch auf einen gerichtlichen Zwei⸗
Tampf als auf ein Gottesurtheil antragen, und ebenfo der
Angellagte, falls er feinerfeits feine Eivhelfer beizubringen
vermochte. Diefe Form des Gottedgerichts war aber nur
31) Die Chronik des Fredegar („Die Gefhichtichreiber der deut⸗
ſchen Borzeit”, VII. Jahrhundert), ©. 33.
62 Buch I. Kap. 2.
für Freie zuläffig. Unfreie und ebenfo die Frauen, auch
freie, wenn fie Keinen fanven, welcher ihre Sache gegen
den Anfläger im Zweikampfe verfechten wollte, wurben
anderen Formen unterworfen, wie ber Unjchuldsprobe
durch Feuer, durch glühenvdes Eifen, durch heißes oder
faltes Waffer und anderen, auf welche wir, wie auf das
Gottesurtheil überhaupt, feines Ortes zurückkommen
werben. |
Gehen wir von den Frauen der langobarviichen
Könige und Fürften zu denen der fränkischen fort, fo
jehen wir ſchon an ver erften namhaften in dieſer Reihe
Bedenkliches haften. Baſina nämlich, die Gemahlin des
Thüringerkönig Bifinus, lief ihrem Verführer Childerich,
der ſich als Verbannter in Thüringen aufgehalten hatte,
in feine falfränfifche Heimat nad und wurde durch ihn
Mutter des gewaltigen Chlopwig. ‘Die Gemahlin des
leßteren war die ſchöne burgundifche Prinzeſſin Chlotilve,
welche in einem Kloſter zu Genf nad) Nonnenweife gelebt,
aber die Werbung des Königs erhört hatte, weil fie, eine
eifrige Bekehrerin, in dieſer Richtung als Königin mehr
leiften zu können hoffte denn al8 Nonne. Ste hat dann au
ihren Mann wirklich zum Chriftenthum herübergeführt over
ihm wenigftens die politiiche Räthlichkeit, fich taufen zu
laſſen, begreiflich gemacht. Ihr eigenes Chriſtenthum hin-
derte indeſſen Ehlotilde nicht, die ſtrupellos ruchloſen Er-
oberungspläne des Gemahls mit den Eingebungen. ihrer
eigenen Rachgier zu würzen.... SImmitten der Gräuel,
welche nach Chlodwigs Tod unter feinen Söhnen und
deren Nachkommen anhuben und welche man nach dem
Zur Bölferwanderungszeit. 63
Stamnmamen des Haufes füglich als merowingifche be-
zeichnen Tann, begegnet uns gleich anfangs eine reine
und fromme Frauengeftalt, die der Radegunda, einer
Tochter der von Chlodwigs Söhnen ausgetilgten thü-
ringifhen Dynaſtie. Gezwungen, die Frau Chlotars
von Seiffond zu werden, wurde fie als eine Weltver⸗
ächterin, Die nur dem Andenken ver Ihrigen lebte, von
ihrem Gemahl gar gern in ein Klofter zu Poitiers ent-
loffen. Hier ergoß fie ihre Trauer über Das Elend einer
Zeit, deren viehifche Wilpheit fie vergeblich zu mildern
verfucht Hatte, in elegiihe Klagen, welche ihr Freund,
der fromme und gelehrte Priejter Venantius Honortus
Fortunatus, in lateiniſche Verſe gekleivet hat. Es ift
oſſianiſche Wehmuth in dieſen Klagelauten. So, wenn
Venantius in ſeiner Elegie vom Untergange Thüringens
die Königin ſagen läſſt: „Die Frauen ſah ich in die
Knechtſchaft ſchleppen, mit gebundenen Händen und
fliegenden Haaren, den nackten Fuß im Blute des Gatten
oder tretend auf eines Bruders Leichnam. Alle weinten
und für alle weinte ich ſelber, um die erſchlagenen Eltern
und um die noch Lebenden. Wenn der Wind rauſcht,
lauſch' ich, ob nicht der Schatten eines meiner Theuren
mit erſcheine. Die ich liebte, wo ſind ſie? Den Wind,
die ziehenden Wolken frag' ich und ich wollte, ein Vogel
brächte mir Kunde von ihnen.“ Geiſtesverwandt mit
Radegunda war Balthilde, als Sklavin aus England
herübergeführt und durch ihre Schönheit und Tugend zur
Gemahlin Chlodwigs des Zweiten erhoben. Auch ſie
beſchloß ihr Leben im Kloſter, wie denn überhaupt die
64 Buch I. Kap. 2.
Klöfter in jener ſchrecklichen Zeit häufig die Zufluchtftätten
für vornehme Jungfrauen und Witwen wurden, welche,
ohne wirklich den Schleier zu nehmen, ein fittfames
Leben führen wollten. In den ftillen Mauern viefer
Aſyle fteigerte fih dann vie affetifche Abkehr von ver
Welt oft zu allerlei frommer Hellfichtigkeit und Schwarm⸗
geifterei, wie bei jener Nonne Difciola, von deren Ge-
fihten und Gregor von Tours zu erzählen weiß. Mit-
unter fahen freilich die Klöfter auch Scenen ganz anderer
Art und gerade das Klofter der heilig gefprochenen Rade⸗
gunda zu Poitiers, wo Difciola ihre Vifionen gehabt,
wurde fpäter lange Zeit durch die Ränke und Schwänfe
verwirrt, welche Chrodichilde, eine Nonne aus königlichem
Geblüt, deren „Herz der Teufel verführte“, angeftiftet
hatte. Als Bekehrerin muß noch Bertha genannt werben,
die Tochter Chariberts, des Enkels Chlodwigs des Erften,
welche ven angeljächfifchen König Ethelbert von Kent
heiratete und dem Chriftenthbum gewann.
Es kann nicht wundernehmen, daß zu einer Zeit,
wo in einer der zahllöfen merowingifchen, zwifchen Brüdern,
Dheimen, Neffen und Bettern gefchlagenen Schlachten
mit folcher Wuth geftritten ward, daß vie Körper der
Getödteten nicht zu Boden fallen fonnten, fondern auf-
recht ſtehend, als lebten fie noch, zwifchen ven Kämpfenden
mit fortgefehoben wurden, — zu einer Zeit, wo mit Brand,
Mord und Schändung gegen Raten und Geiftliche, gegen
jedes Alter und Gefchlecht, gegen Frauen und Nonnen
fo unerhört gewüthet warb, daß der Chronift ausruft:
„Damals ift mehr Klagegefchrei in den Kirchen gewefen
Zur Böllerwanberungszeit. 65
als in den Zeiten ver Chriftenverfolgung Diokletians“
— zu einer Zeit, wo der fränfifche Eveling Rauching ein
höriges Liebespaar, melches nicht zu trennen er dem
Priefter am Altar gejchworen hatte, zum Spaß lebenpig
mitſammen begraben ließ, — nein, es kann nicht wunder-
nehmen, daß zu einer foldhen Zeit auch die Frauennatur
da ins Zuchtloſe und Unflätige, dort ins Ungebeure ver-
zerrtt wurde. Die Sitten ver früheren Zeit, wo bie
germanischen Völker von der fittlichen Verberbniß des in
Trümmer gegangenen Römerreihs noch nicht angeftedt
gewefen, erfennt man jett gar nicht mehr. Mit ver
ganzen Gier barbarifcher Jugendkraft eigneten fich
namentlich unter ven Franfen Männer und Weiber bie
im römiſchen Gallien vorgefunvenen Ueppigfeiten an und
tobten den dämoniſch verbundenen Zrieb zur Wolluft
und Graufamfeit in ungeheuerlichen Schwelgereien und
Srevelthaten aus. Grundquelle des Uebels war eine
Vielweiberei, welche ven Unterſchied zwifchen rechtmäßigen
Ehefrauen und Beifchläferinnen zulegt fo ganz verwifchte,
daß Gregor von Tours von den flüchtigen Luftbefrie-
digungen der Merowinger als von Vermählungen fpricht.
Man fehe nur vie Geihichte von Chlotar dem Erſten
und feinen Frauen Ingunde und Aregunde, zwei
Schweſtern, welche Geſchichte Gregor im Bibelftil erzählt.
Derjelbe Chlotar Tieß feinen rebellifhen Sohn Chramm
erbroffeln und mit dem Leichnam des Ermorbeten zugleich
deſſen Weib Chalda und ihre Züchter lebendig verbrennen.
Markatrude, eine der Frauen König Gunthramms, ver-
giftete ihren Stieffohn Gundobald, wie denn vie e Gift—
Scherr, Yrauenwelt. 4. Aufl. I. 5
66 Buhl. Kap. 2.
phiole überhaupt fo zu fagen zu einem Spielzeug dieſer
merowingifchen Weiber geworden war. Ingoberga, die
Gemahlin König Chariberts und durch diefen Mutter ver
Belehrerin Bertha, hatte Grund, auf Markovefa und
Merofleva, vie Töchter eines armen Wollarbeiters, Eifer-
ſüchtig zu fein, und gab dieſem Gefühl in fo ungeſchickter
Weile Ausprud, daß ihr Gemahl fie verftieß. Zu den
genannten beiven Mädchen nahm er dann noch die Theu⸗
dichilde, eine Schäferstochter, in fein Bett. Chariberts
Bruder, König Sigibert, freite um Brunhild (Bruni-
childe), die Tochter des weftgotbifchen Königs Athanagiln,
welche nach Gregors Befchreibung eine Jungfrau von
feiner Geftalt war, ſchön von Angeficht, züchtig und
wohlgefällig im Benehmen, Fugen Geiftes und anmutbig
im Gefprädh. Noch begeifterter Hat fich Venantius For-
tunatus über die Braut ausgelafien, indem er fie eine
zweite Venus nannte, einen ſpaniſchen Edelſtein, deſſen
Glanz den der Saphire, Smaragde und Kriftalle völlig
verbunfelt habe, und ihre Güte und Holpfeligfeit, Befchet-
denheit und Klugheit bis an den Himmel erhob. Gemiß
ließ fich der Poet nicht träumen, daß aus der Gefeierten
mit der Zeit ein Ungeheuer werden würde, wie e8 bie
Weltgefchichte kaum ein zweitesmal erblidt hat. Sigi-
bert8 Bruder Chilperih heiratete Brunhilds ältere
Schweſter Galefwintha, ließ fie aber auf Anftiften feiner
Beiſchläferin Frevegunde erdroſſeln. Dieſe letztere, eine
ausgelernte Buhlerin, welche ſich kein Gewiſſen daraus
machte, gegen ihre in Buhlerei und Hochmuth mit ihr
wetteifernde Tochter Rigunthe einen wahrhaft teufeliſch⸗
Zur Böllterwanderungszeit. 67
liſtigen Mordanfchlag auszufinnen, auf der einen und
Brunbild auf der andern Seite fteigerten, einander tod»
feindlih gefinnt, die merowingifhen Bruderzwiſtgräuel
zur höchſten Höhe. Das hölliſche Schaufpiel, welches
biefe beiden Furien im Gang erhielten, ging erft i. 9.
614 mit einem gräfflichen Schlußaft zu Ende. Da fiel,
nachdem Fredegunde ſchon fiebzehn Jahre früher ges
ſtorben, die alte Brunhild als Gefangene in die Hände
Chlotars des Zweiten, des Sohnes ihrer Todfeindin, und
im Lager zu Chalons erging das barbariſche Strafgericht
über die greiſe Frevlerin. Chlotar rechnete ihr vor, wie
zehn Fürſten merowingiſchen Stammes auf ihr Anſtiften
oder Verſchulden ermordet worden ſeien. Hierauf ließ
er ſie drei Tage lang martern, dann auf ein Kameel ſetzen
und ſo zum Hohn durch das ganze Heer führen, endlich
mit dem Haupthaar, einem Arm und einem Fuß an den
Schweif des wildeſten Pferdes binden und ſo ward ſie
von den Hufen des dahinſprengenden Thieres zerſchlagen,
bis ihr Glied für Glied abfiel 32).
32) Fredegar (a. a. O.), S. 25, 115 fg., 28. Gregorius
Turens., II, 7; VI, 29; IX, 39 fg.; IV,47; V, 3; VI, 3, 20,
. 25, 26, 27, 28; IX 84. Venantius Fortun. VI, 1, 2,3. Mit
gewohnter Markigkeit bat ein beutfcher Dichter, Freiligrath,
geihildert —
........ .„Wie vormals im Gefilde
Der Marne bei Chalons die Sünderin Brunhilde
Durd Knete binden ließ mit ihrem grauen Haar
An einen wilden Hengft, daß am dem dichten Schweife
Er galoppirend fie durch's Frankenlager fchleife,
Der Sohn des Ehilperich, der andere Chlotar.
5 %
68 Buch I. Kap. 2.
Ein hartes und robes Geschlecht von ftrogender Sinn-
lichkeit, dieſe Männer und Frauen der Völferwanderungs-
zeit, mit ſouveräner Willfür die religiöſen Satungen wie
die Gebote der Menjchlichkeit unter die Füße tretend und
den Taumelfelh des Genuſſes, ob die Wolluft oder vie
Race ihn Fredenzte, mit Gier bis auf die Hefen leerend.
Diefe im Gährungsproceß einer focialen Neubildung
begriffene Welt zeigt uns überall ein wildes Ringen von
Heidnifhem und Chriftlihem, Germaniſchem und Rö⸗
miſchem, ein ſich Abſtoßen und Wiederanziehen fünlicher
Kultur und nordifcher Lebensfriſche. Das befiegte Rom
rächte ſich an den germanifchen Siegern, indem es fie
feinen Laftern unterwarf, und die fiegreichen Germanen,
von früher ungeahnten Genüffen bis zur Sinnlofigfeit
berauſcht, nahmen das Dafein wie eine Orgie, welche mit
tobenvder Zertrümmerung ver Luſtwerkzeuge fchließen
müßte. Aber ihre Kraft hielt aus, und wie äußerlich
auch die Belehrung zum Chriftenthum fein: mochte, den-
Der Hengft riß wiehernd aus; bie Hinterhufe fchlugen
Das nachgeſchleppte Weib; verrenkt in feinen Fugen
Ward jedes Glied an ihr; um ihr entftellt Geficht
Flog ihr gebleichtes Haar; die ſpitzen Steine tranfen
Ihr königliches Blut und ſchaudernd ſah'n die Franken
Chlotars des Zürnenden erſchrecklich Strafgericht.
Jetzt auf ihr Antlitz, das blutrünſt'ge, fiel der rothen
Wachtfener Glut, die da vor jedem Zelte lohten;
Jetzt wuſch mit eiſ'gem Guß den Staub von ihrer Stirn ü
Ein Arm des Marneftroms; weit vorgequollen ftierte
Ihr Aug’, und das Kameel, drauf man fie Morgens führte
Durchs ganze Heer, warb jett befprigt von ihrem Hirn.”
Zur Bölferwanderungszeit. 69
noch kam dadurch mehr und mehr ein neuer fittlicher
Gehalt in ihr Leben. In dem Maße, in welchem das
germanifche Gemüth mit dem neuen Glauben fich füllte,
wurde dieſer aus einer römiſch⸗byzantiniſchen Polizei⸗
anftalt zu einer eine neue Kulturperiode bedingenden und
beftimmenden Geiſtesmacht. Des beveutenden Antbeils,
welchen die Frauen an dieſer Umwandlung von uner-
meffliher Tragweite hatten, ift jchon gedacht worden. In
Wahrheit, fie waren e8, welche das Kreuz mit Rofen
ummwanden, d. h. die Starrheit des Dogma's mittels ver
Einflüffe germanifcher Gemüthsinnigfeit milverten, und
fie waren e8 auch vorzugsweife, unter deren pflegenven
Händen die im Chriftenthbum liegenden Keime ver Huma⸗
nität zu einer Entwidelung geviehen, welche ven während
der Völkerwanderung zur Brutalität gefteigerten germa-
nifhen Individualismus allmälig den Gefegen bürger-
liher Drbnung und häuflicher Sitte allmälig wieder
fich fügen lehrte.
Das alles dämmerte freilich vorerſt nur in ſchwachen
Umriffen aus dem Chaos einer allgemeinen Verwilderung
auf. Es war noch weithin, bis auf vem Boden, welden
der Zuſammenſtoß der germänifchen und ver lateinifchen
Welt mit Ruinen bevedt hatte, ein neuer Gefellichafts-
bau, der germanijch-chriftliche, fich erhob. Man bat das
Leben der Germanen in den römischen Provinzen pafjend
mit einem Teppich verglichen, welcher auf der einen Seite
glänzenve Farben und prunfhafte Gebilde, auf der andern
aber ein verworrenes Gewebe von verzerrten Geftalten
zeigt. In der That war das häufliche und gefellige
70 Buch I. Kap. 2.
Dafein zur Völferwanvderungszeit ein unerquickliches Ge-
miih von Pracht und Armfäligfeit, Vergeudung und
Dürftigkeit, Schwelgeret und Elend. In den Holzhäufern
der germanifchen Großen hatte ſich der Raub ver römifchen
Welt aufgebäuft und diente, ohne Kunftfinn und Ge-
ſchmack gebraucht, nur zu groteffer Ueberladung, hinter
welcher dann doch wieder alfenthalben Ungefügheit,
Blöße und Ungemächlichleit hervorſah. Maß und Takt
fehlten durchweg. Wie in der häuflichen Einrichtung,
fo auch in der Kleidung, auf welche vie römische Art
Einfluß gewann, ohne daß die Gegenfähe zwifchen An-
geerbtem und Angenommenem jchon eine harmoniſche
Ausgleichung gefunden hätten. Beide Gefchlechter liebten
ed, im Anzug von grellbunten Farben zu glänzen und
von Golds und Gefteinchmud förmlich zu Elingeln. Für
die männliche Tracht warb das Auflommen der Hofen,
welche, wie es fcheint, zuerft von den Langobarden ge⸗
tragen wurden, von großer Bedeutung. Sonft blieben
Rod, Gurt und Mantel für. Männer und Frauen vie
Hauptitüde des Anzugs. Hauptitoff der Frauenkleidung
war in diefer Zeit noch immer die Leinwand. Wenn der
Ueberlieferung zu trauen ift, haben wir uns die Erfchei-
nung vornehmer Schönen von damals fo worzuftellen :
— Auf dem über der Stirne gefcheitelten Haar, das an
ven Seiten in zwei Zöpfe geflochten war, welche über vie
Bruſt bis zu den Knieen herabfielen, lag ein Schleier,
welcher, durch einen reich verzierten Metallreif feftgehalten,
das Geficht frei ließ. Das linnene Unterfleid, die Tunika
‚oder befjer der eigentliche veutiche Frauenrod, marfirte
Zur Böllerwanderungszeit. 71
feſtanliegend und engärmelig die Formen des Oberkörpers,
war über den Hüften von einem breiten Gürtel umſpannt
und fiel von da in reichen Falten auf die Schuhe herab,
auf deren Verzierung ſehr viel Sorgfalt und Luxus
verwandt wurde. Hals und Bruſt bedeckten Ketten und
andere Goldzieraten und das mantelartige, aber mit ſehr
weiten Aermeln verſehene Oberkleid von Seide wurde ſo
getragen, daß es Farbe und Form des Unterkleides mehr
hervorhob als verbarg und der freien Bewegung des
Körpers nicht hinderlich war.
Drittes Kapitel.
Göttinnen und Heldinnen.
Menſchen und Götter. — Charakter der germanifchen Götterwelt.
— Das „Ewig-Weibliche“ in den Religionen. — Deutiche
Söttinnen: Nerthus, die Mutter Erde, Frikka, Frouwa, Holda,
Perabta, Hluodana, Nebhalennia, Folla, Oftara, Hellia. —
Walküren. — Frau Sälde. — Die germanifde Eva. — Die
eddifche Lehre vom Sündenfall. — Bedenkliches von ber Frigg
und der Freia. — Die Frauen im Havamal. — Sigyn. — Brun-
bild, Kriembild und Gudrun. — Die Lehre der germanifchen Bibel
vom Urjprung der Stände.
Mit den Gefchlechtern der Menfchen kommen und
gehen auch ihre Götter ; aber jete ver einander ablöfenden
und verdrängenden Erſcheinungsformen der religiöfen
Idee ift bereihtigt, fich für die „alleinſeligmachende“ zu
halten. Denn jede jucht ja in ihrer Art die ewig wieder⸗
kehrende Frage nach des Menfchenlebens Sinn und Zwed
zu beantworten; jede gibt ihren Gläubigen Troſt für das
Dieffeits und Hoffnung auf ein Jenſeits; jene beeifert fich
wenn nicht den Verſtand zu überzeugen, fo doch die Ein-
Söttinnen und Heldinnen. 713
bildungsfraft zu überreden. Set die Götterwelt nur bie
idealiſche Widerfpiegelung der Menfchenwelt, immerhin
ift es, wie ſchon weiter oben betont worden, eine ganz
unbeftreitbare Thatſache, daß der Menſch jener bebarf,
weil ihn, den in die Schranken ver Endlichkeit Gebannten,
bas fchmerzlich-füße Gefühl ver Unenplichkeit, welches ihn
über das Thier hebt, zwingt, fich einen Himmel zu er-
bauen, in deſſen Geftalten ihm das eigene Wefen, zum
Ideal erhoben, gegenftänblich und Mar wird. Aber in
bem Maße, wie die Erve ſich verwanvelt, geftaltet fich
auch der Himmel um. Anders find die Gottheiten bar-
barifcher Horden und anders die der Kulturvölfer, denn
in feinen Göttern „malt fi) ver Menſch“. Daher, wenn
ein Zag der Weltgefchichte zu Ende — Tage, welche
Sahrhunderte und Jahrtauſende währen — erblafien
auch die Geftirne, die ihn erhellt hatten, d. h. die Ver⸗
bilvlihungen der Idee von Göttlihem, die DVerför-
perungen von Naturgewalten oder fittlichen und focialen
Begriffen, die Gottheiten, um anderen, oder wenigftens
anders gejtalteten Plag zu machen. Aber die Verdrängten
jterben deſſhalb nicht. Die Verflärerin der Vergangen-
heit, Zröfterin der Gegenwart und Ahnerin der Zukunft,
die Poefie, ſchlägt den mütterlich weichen Mantel ſchützend
um fie und rettet fie, wie Schiller ſchön gejungen,
hinüber in ihr Heiligthum?s). Da, „in den heitern
33) „Aus der Zeitflut weggeriffen, ſchweben
Sie gerettet auf des Pindus Höh'n:
Was unfterblich im Sefang fol Ieben,
Muß im Leben untergehn.”
74 Buch I. Kap. 3,
Regionen, wo die reinen Formen wohnen“ und wohin
der Arm des Fanatismus nicht reicht, leben fie unver-
gänglid. Ein unendlicher Strom von Schönheit und
Begeifterung fließt von dort in die Welt der Kunft her-
über und ein frommer Schauer überlommt die Seelen
der Völker, wenn eine geheimnißvoll nachwirkente An⸗
hänglichkeit te nach ven Götterbildern zurüdbliden macht,
vor welchen ihre Altworveren vie Kniee gebogen haben.
Den Germanen war es nicht gegeben oder gegünnt,
ihre nationale Götterwelt zu der plaftifchen Beftimmtheit
und Vollendung herauszuarbeiten, vermöge welcher die
helleniſche fo ewig anziehend auf ven Schönheitsfinn wirkt.
Auch bei den Germanen gewannen zwar die Naturerfchet-
nungen und bie intelleftuellen Borftellungen Tontrete
Geftalt, menſchenähnliche natürlich, da der Menſch über
ven Menfchen überall nicht hinauskann, indem er vie
Umriſſe ver Menfchenform höchftens zu vergrößern oder
auch zu verkleinern, d. h. zu verzerren vermag. Aber
anders mußte an den fonnigen Geftaden Joniens und
Attifa’s, anders in den nebeligen Waldregionen des Nor-
dens das Göttliche der finnenden und bildenden Phantafte
fih darftellen. Daher dort die maßvolle Beſchränkung
der Götterbiloneret auf die Linten ver idealiſch⸗ſchönen
Menſchengeſtalt, vaher bier Das Hinausgreifen ins Riejen-
bafte, Ungeheure, Schredliche. Fügt man bierzu noch
den Umstand, daß die germaniiche Religion, felbit in
Skandinavien, durch das Chriftenthum verbrängt wurde,
bevor fie die in ihr gelegenen fünftlerifchen Anregungen
und Stoffe irgendwie zu einer höhern Stufe ver Ent-
Göttinnen und Heldinnen. 75
widelung zu führen vermochte, fo erklärt fich Leicht,
warum die germantichen Götter felbft da, wo fte als
beftimmtere Perfönlichleiten auftreten, d. h. in den beiden
Edden, dennoch bloße Nebelgeftalten find. Der olympifche
Zeus, die Aphrodite oder Pallas ftehen in feſtmarkirter
Schönheit vor der Seele jedes Gebildeten; aber fogar
dem Auge des Forſchers verſchwimmen Woban ober
Dphin, Frouma oder Freia zu vagen Umriffen. Deifhalb
find auch die Verſuche ver klopſtock'ſchen Schule, die
germanifche Mythologie gls dichteriſches Motiv in bie
Literatur einzuführen, befanntlich völlig gefcheitert.
Die mythologiſchen Bildungen aller auf Naturan⸗
ſchauung bafirten Religionen wurden durch den Gegen-
fa von Männlichem und Weiblichem beftimmt. Noch
mehr, es gibt überhaupt nur drei Religionen, in welchen
das „Ewig⸗Weibliche“ gar feine Bedeutung gewinnen
fonnte, aber dieſe drei, Sahvetbum, Iflam und Buddhis⸗
mus, find darum auch zu Feiner mythologiſchen, d. i.
fünftlerifchen Entwidelung gelangt, während das Chriſten⸗
thum mittels feiner Vergottung ver Maria zu feiner äfthes
tiſchen Geftaltung den Grund legte. In ven alten Natur-
religionen hatte aber der Gefchlechtsunterfchten nicht nur
eine mythologiſche, ſondern auch eine dogmatiſche Bedeu⸗
tung. Auf der Vorſtellung von einem männlichen und
einem weiblichen Grundprincip beruhte die ganze Lehre
von der Entſtehung und Erhaltung der Welt. Zeugung
und Empfängniß, Befruchtung und Geburt, Himmel und
Erde erſcheinen als die ewig wirkenden Kräfte des Lebens⸗
prozeſſes. So im altindiſchen, im ſyriſch⸗phönikiſchen,
16 Buch I. Kap. 8.
im ägyptiſchen, im griechifch-italifchen und im germa-
nifchen Heivdenthum. Die Wefenheit der zeugenden wie
ber gebärenvden Grundfraft faltet jich zu einer Reihe von
Naturmächten und .von. fittlich-foztalen Vorſtellungen
auseinander oder, mythologiſch gefaßt, ver Gott Himmel
vermählt ſich mit der Göttin Erde und aus diefem Ehe-
bund entipringen vie Götter und die Göttinnen.
Soweit e8 jett ſchon eine Möglichkeit, ven heipnifchen
Glauben unferer Altvorderen zu überblicken, ſteht feit,
daß auch bei den Germanen dig Erbe als Die große Öötter-
mutter gedacht und verehrt wurde. Wo Tacitus in der
Germania (40) des von geheimnißvolfen. Schauern um-
wehten Kultus der Nerthus (Nirdu? Nertha? Hertha?)
gedenkt, bezeichnet er die Göttin ausprüdlich als „Mutter
Erve* („Nerthum, i. e. Terram matrem colunt“)
und der von ihm gebrauchte Name Nerthus ift wohl nur
Zateinifirung des althochdeutſchen Erada, Erda, angel-
ſächſiſch Eordhe, altnordiſch Jörthh. Mit der großen
Erdgöttin zeugt der große Himmelsgott Wuotan (Wodan,
nord. Odhin) das germaniſche Göttergeſchlecht. Es
tritt aber in der Geſtalt der Nerthus nicht allein die
phyſiſche, ſondern auch die moraliſche Natur des Weibes
deutlich hervor, das Sänftigende, Sittigende, die auf
Befriedung und Verſchönerung des Lebens abzielende
frauliche Miſſion. „Auf einer Inſel des Oceans, erzählt
Tacitus, iſt ein heiliger Hain und darin ein geweihter,
mit einem Teppich bedeckter Wagen, den nur der Prieſter
berühren darf. Er ahnt die Gegenwart der Göttin im
Heiligthum und folgt ihrem mit Kühen beſpannten Wagen
Göttinnen und Heldinnen. 77
in tiefer Ehrfurcht nach. Fröhliche Tage alsdann, Feſte
an allen Orten, welche vie Göttin ihres Beſuchs und
Aufenthaltes würdigt. Kein Krieg wird geführt, jedes
Schwert ift in der Scheide, Friede und Ruhe nur wird
dann gefannt, nur bann geliebt, bis derſelbe Priefter die
Göttin, des Umgangs der Sterblichen fatt, dem Heilige.
thume wiedergibt.“
Diefe fittigende Eigenfchaft ver großen Götter
mutter fehrt dann auch in ihren göttlichen Töchtern wieder,
deren Geftalten freilich aus taufend zerbrödelten Zügen
in Sagen und Märchen nur mühſam und unvollftändig
zujammengefegt werben Tünnen. Alle viefe veutfchen
Göttinnen find „Hauptfächlich gedacht als umziehenve,
einfehrende Göttermütter, von denen das menfchliche
Geſchlecht die Geſchäfte und Künfte ver Hauswirthichaft
wie des Aderbaues erlernt: fpinnen, weben, fäen und
ernten” #). So Frilfa, die Gemahlin Wodans, alfo nur
eine mythologiſche Verjüngung ver Nerthus, die Spenderin
des Eheſegens; jo Frouwa, von welder das Wort
Grau herfommt, vie frohmachende Göttin, Verleiherin
von Schönheit und Reiz, welche ven Männer beſtrickenden
Halsihmud Brifingamen trug, wie die griechifche Aphro-
bite ven Gürtel ver Anmuth ; fo Holda, die Ordnerin des
Haushalts, vie Belohnerin weiblichen Tleißes und Be⸗
ftraferin weiblichen Unfleißes; fo Perahta (Perchta,
Berchta, Bertha), die große Schüßerin des Aderbaues,
welcher ver Pflug heilig war und welche, eben als Kultur⸗
34) Grimm, D. Mythol. Kap. 13.
718 Bud I. Kap. 3.
göttin, auch der Ehe vorftand. Bei ihr wohnten bie
Seelen der ungeborenen Kinder und auf ihren Umzügen
ſpendete fie wie Holda den Thätigen Lohn, den Trägen
Strafe. Gleich dieſen find auch die noch weiter Ge⸗
nannten, Hluodana, Nehalennia, Folla und die Früh⸗
Iingsgöttin Oftara, nach welcher das alljährliche Auf-
erftehungsfeft der Natur noch jet Oftern heißt, nur viel-
gotteriſche Auseinanderfaltungen der großen Erbmutter.
Dieſe ift aber nicht allein die Allgebärerin, ſondern auch
die Allverfchlingerin, welche Kehrfeite ihres Weſens ſich
darftellt in ver Hellia (nord. Hel), der unerbittlichen,
grauenhaft geitalteten Göttin ver Unterwelt, zu welcher
die Seelen der an Krankheit oder Altersfchwäche Geftor-
benen fahren und deren perfönlichen Begriff das Chriften-
thum in einen lofalen verwandelte: aus der Hellia oder
Hella wurde die Hölle. Den lichten Kontraft zu dem
püfteren Reich der Hellia bilvete die Walhalla, ver Himmel
der Helden, wohin die im Kampfe Gefallenen von ven
Walküren (nord. Walachuriun), ven Zoptenwählerinnen,
den Schilojungfrauen Wuotans, geleitet wurden. ‘Die
Erinnerung an diefe Göttermäpchen lebte nicht nur in
Skandinavien, fondern auch in Deutichland lange fort.
So inunferen Schwanhemdfagen, wie auch im Nibelungen-
lied; in anmuthigfter Geftaltung bat der Mythus vom
funftreihen Schmied Wieland fie bewahrt. ‘Dagegen
ſcheint die Verperſönlichung ver Schiefalsivee, wie fie im
nordifch-germanifchen Glaubensſyſtem in den Geſtalten
der drei Normen, Urd, Skuld und Werdandi, fich darſtellt,
bei uns frühzeitig verblajjt zu fein; e8 wäre denn, daR
Göttinnen und Heldinnen. 79
wir in der Vorftellung von ver Glüdsgöttin, der Frau
Sälde, welcher wir bei unferen mittelalterlichen Dichtern
nicht felten begegnen, einen Nachhall ver Lehre von den
Normen zu erlennen hätten. Jedenfalls war die pan⸗
theiftiiche Belebung ver Natur mittels Schaffung von
zahllofen alfifchen oder elbifchen Weſen, Waſſer⸗, Walds
und Hausgeiftern männlichen und weiblichen Gefchlechts,
ven Sfandinaven und Deutſchen gemeinfam und Volks»
lieder und Märchen wiſſen bis auf unfere Tage herab zu
erzählen, wie vie „Moosfräulein“, die „ Nixen“, „Waſſer⸗
holden“ oder „ Mümmelhen” ſchönen Sünglingen gern
in Xiebe fich gefellten.
Eine ſinnvolle Huldigung für das weibliche Gefchlecht
liegt in der germanifchen Lehre von der Schöpfung des
erften Menfchenpaaree. Der jüngeren Edda zufolge
fchufen die Götter aus zwei am Meeresftranvde neben
einander ftehennen Bäumen Mann und Weib. Der
germanifche Adam hieß Affr, die germanifche Eva hieß
Embla. Diefes Wort bedeutet eine gefchäftige Frau und
fo wäre ſchon in dem Namen unferer Ahnmutter die
hausmütterlihde Thätigkeit und Wirthlichleit deutſcher
Frauen vorgezeichnet. Merkwürbiger Weife weiß die
germanifche Bibel nicht8 von einem „Sünvenfall* der
Menfichenältern, aber dennoch bietet fie eine Analogie
zu dem jüpifch-chriftlichen Sabe, daß durch das Weib vie
Sünde in die Welt gelommen. Die Edda deutet näm⸗
ih in ihrer Inappen und dunkeln Sprache auf einen
Siimdenfall der Götter, der Afen, hin. Dieſe, ſagt
fie, führten in der Urzeit ein harmloſes, unjchuldiges,
80 Bud I. Kap. 3.
parabiefifches Leben, mit der Gier nach Gold noch unbe-
fannt, bis drei Rieſenmädchen aus Jötunheim (Rieſen⸗
heimat) nach Aſgard berüberfamen. Man hat freilich
in dieſen drei Thurfinnen (Riefinnen) die Nornen er-
fennen wollen, welche den Göttern die Zukunft enthüllt
und eben dadurch ihre paradiefliche Unbefangenheit zer-
jtört hätten. Aber e8 liegt doch näher, in der Begegnung
der Ajen mit Niefinnen eine gejchlechtliche Verbindung
zu fehen, welche die Götter mit vem Weltplan in Wider:
fpru fette, weil fie, als die Träger des fchaffenpen und
erhaltenden Princips, mit ven Niefen, ven Vertretern des
zerstörerifhen Principe, von vechtöwegen feine Verbin-
dung hätten eingeben follen. Demnach erjchiene auch
hier das Weib als die VBerführerin, als das Zeritörungs-
mittel einer paradiefifchen Unſchuldswelt, mit deren Ein-
buße fich das Böſe in der Ajenwelt ſeßhaft mat. Denn
jet taucht im Kreife der Götter jener höchſt eigenthüm⸗
lihe Satan der germanifchen Religion auf, Loki, halb
Ahriman halb Mephiito.
Es würde den deutfchen Göttinnen zu nicht geringem
Nuhme gereichen, daß feine mythologiſchen Aergernifje von
ihnen zu erzählen find, wüßten wir nur mehr won ihnen.
Falls aber aus den nordiſchen Duellen ein Rückſchluß
auf das Verhalten ver veutjchen Göttinnen geftattet ift,
fo dürften dieſe denn doch nicht jo ganz mafellos daſtehen.
Iſt und ja von der Frigg und von der Freia, mit welchen
unfere Frikka und Frouwa dem Wefen nach iventijch find,
genug bevenfliches überliefert. Mag auch dem chrift
(ihen Briefter, Saro dem Grammatifer, welcher am Ende
Göttinnen und Heldinnen. 81
des 12. Jahrhunderts aus altnordiſchen Mythen und
Sagen ein Hiftorienwert in elegantem Latein zufammen«
jtellte, nicht ganz zu trauen fein, wenn er, nicht ohne
priefterliche Schadenfreude, die Gemahlin des höchften
Gottes Odhin mit einem Knechte buhlen läſſt, fo ift doch
nicht zu leugnen, daß auch eine reinere Duelle, die ältere
Edda, der Frigg buhlerifche Neigungen ſchuldgibt und
von der Freia geradezu jagt, fie jei aller Ajen und Alfen
Buhlerin. Allerdings find dieſe Anfchuldigungen dem
böfen Loki in ven Mund gelegt und ſodann muß berift-
fichtigt werben, daß in ver Frigg, als einer Metamorphofe
der Muttererde, und in ver Freia, als der Frühlings-
göttin, der ewigfrifche Liebesdrang ver Natur perfonificirt
war. Dennoch ift nicht zu überfehen, daß, auch außer-
halb des Kreiſes mythiſcher Vorjtellungen, ſchon in ver
Borzeit der altgermanifche Frauenruhm ver Keufchheit
. und Treue bedeutende Trübungen erfahren haben muß.
Nicht nur die. bereit8 oben benüßten Zeugniffe aus der
langobardiſchen und fränfifchen Gefchichte, ſondern auch die
nordiſchen Urkunden reden allzu deutlich vanon. Das „Ha⸗
vamal”, ein höchſt merkwürdiges Spruchgedicht ver älteren
Edda, welches vie ethiſche Weltanfchauung des alten
Nordens varlegt, fpricht in vorwiegend geringfchäßiger,
mitunter geradezu leichtfertiger Weile von ven Frauen. Uns
beftändigfeit wird ihnen zugefchrieben ?%), trugvoller Sinn
35) Den Zag lob' Abends, die Frau im Tode,
Das Schwert, wenn’s verjucht die Braut nad) der
Hochzeit.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. | 6
82 Buch J. Kap. 3.
und trugvolles Wort). Mit Schmeicheleien und Ger
ichenfen feien fie zu leicht zu ködern 3”), ihre Minne
made Kluge zu Thoren?d). Freilid wird dann auch
nicht verhehlt, daß die Männerwelt an Falſchheit vie ver
rauen noch überbiete?®), und zugeftanden, daß dem
guten und treuen Manne die Frau hold und treu bleibe 40) ;
jeboch darf, weil fich hierzu gerade Beranlafjung bietet, nicht
verſchwiegen werben, daß Die unfreundliche, ja geradezu weg⸗
werfende Anficht über die Frauen, wie das norbifche
Havamal fie kundgibt, auch in unferem deutſchen Sprüch-
36) Mädchenreden vertraue fein Dann,
Noch der Weiber Worten. Auf gefhmwungenem Rab
Ward ihr Herz geſchaffen, Trug in ber Bruft verborgen.
37) Schmeichelnd joll reben und Gefchente bieten,
Ber des Mädchen Minne will, den Liebreiz loben
Der leuchtenden Jungfrau: jo fängt fie der Freier.
38) Der Liebe verwundern foll fih fein Weifer
An dem andern Mann. Oft feffelt den Klugen,
Was den Thoren nicht fängt, Tiebreizender Leib.
Weife zu Tröpfen wandelt auf Erben
Der Diinne Macht.
39) Offen bekenn' ich, der ich beide wohl Tenne,
Der Mann ift dem Weibe wanbelbar. Wir reden am
ſchönſten,
Wenn wir am ſchlechteſten denken: ſo wird die Klügſte
geködert.
40) Willſt du ein gutes Weib zu deinem Willen bereden
Und Freude bei ihr finden, ſo verheiß' ihr Holdes
Und halt' es treulich: des Guten wird die Maid nicht
müde.
—
Göttinnen und Heldinnen. 83
wörterſchatz, veſſen Goldkörner, Silberſtufen und Erz-
klumpen zum Theil ins hohe und höchſte Alterthum
unſeres Volkes hinaufreichen, ebenſo mannigfach als herb
und derb variirt wird). Einen tiefſchönen Zug von
41) Z. B. Jungfern und Gläfer ſchweben in ſteter Gefahr. —
Jungfernfleiſch ift kein Lagerobſt. — Auf die Iungfernfchaft kann
man keine Semmel borgen. — Mädchen fagen nein und thun’s
doch. — Ein Mädchen befommt fo Leicht 'nen Led wie ein weiß
Kleid 'nen Fleck. — Kein Mädchen ohne Liebe, fein Jahrmarkt
ohne Diebe, kein Bod ohne Bart, Tein Weib ohn' Unart. —
Jungfern geben’s billig und willig. — rauen haben lange Kleider
und kurzen Muth. — Wo die Frau im Haufe regiert, ift der Teufel
Hausknecht. — Junge Hure alte Heilige — (oder mobernifirt) —
Sunge. Bettfchwefter alte Betichwefter. — Weiber hüten ift ver-
gebliche Arbeit. — Die Schweizermaib fprah: „Mutter, i muß a
Ma ba od'r i zündes Huus al” — Es find nur brei keuſche
Weiber (oder Nonnen) gewefen; die eine ift aus der Welt geloffen,
die andere ift im Babe erfoffen, die dritte fucht man noch. — Weiber
und Geld fchulden alle Uebel der Welt. — Wem zu wohl ift, ber
nehme ein Weib. — Nimmft du en Wyf, fo Friegft ven Düvel up't
Lyf. — Weiber find Katzen mit glatten Bälgen und fharfen Taken.
— Ein ſchön Weib ift nur ein Bubenfpiegel. — Zwilchen eines
Weibes Ja und Nein Iäfft fich keine Nadelſpitze ſtecken. — Weibern
und Gefhoß fol niemand trauen. — Glaub’ feinem Weibe, wenn
es auch tobt iſt. — Weiber und Pferde wollen gefchlagen fein. —
Weiber verfchweigen nur, was fie nicht willen. — Frauenlieb ift
fahrende Hab’; heute Tieb, morgen ſchab' ab. — — Diejer Strauß
von Stachelblumen ließe fich Teicht noch beträchtlich verftärken.
Statt deffen mögen beifpielsweife etliche unferer Sprüchwörter hier
Reben, die aus einem ganz anderen, aus einem, wie ich glaube,
richtigeren und gerechteren Tone von den Frauen reden... Eine
Sungfrau ſchwächen ift wie eine Kirch’ erbrechen. — Ein Frauen-
haar zieht ſtärker als ein Glodenfeil. — Was die Frau eripart, ift
6*
84 Buch I. Kap. 3.
Trauentreue aber und zwar von an dem Teufel felbft ge-
übter Frauentreue enthält die jüngere Edda. Als nämlich
die Afen den Unheilſtifter Loki endlich an ven Felſen gefeffelt
hatten, wo er bis zur Götterpämmerung bleiben fol,
befeftigten fie über ihm eine Schlange, damit deren ätzendes
Gift ihm ins Antlik herabträufelte. Aber feine Gattin
Sigyn hielt treu bei dem Gefeffelten aus und nahm
eine Schale und hielt fie zwifchen die Schlange und Loki's
Geſicht, um fo die marternden Gifttropfen aufzufangen
und die Bein des Gatten zu lindern. Ich wüßte im
ganzen Umfange der germanifchen Mythologie Teinen
echtweiblicheren Charafterzug als dieſen.
Jede myhthologiſch entwickelte Neligien fegt zwifchen
die Welt der Götter und die ber Menfchen eine Mittel-
ftufe, die der Helden. Dieſe find das eigentliche Mittel-
glied der Himmel und Erde verbindenden Kette von
Fügungen und Beziehungen, die natürlich des „Ewig-
Weiblihen“ nicht entbehren können. Götter neigen fich
liebend zu fterblichen Frauen, Göttinnen zu fterblichen
Männern herab und ſolchen Vermählungen entfprießt das
Gejchlecht der Heroen und Heroinen. Selbſt der Spirt-
tualismus des Chriftentbums konnte fich des Bepürf-
fo gut als was der Mann erwirbt. — Wo die Frau wirthfchaftet,
wächft ver Sped am Ballen. — Wo feine Frau, da gejchieht dem
Kranken weh. — Wen ein Mädchen lachet an, ven will fie drum
nicht alsbald han. — Es ift Teine Hut fo gut, als die eine Frau
- ihr felber thut. — Die Frau ift im Haus, was die Sonne drauf’.
— Kein ſchöner Ding auf diefer Erden als Frauenlieb', wen fie
mag werben.
Göttinnen und Heldinnen. 85
nifjes, zwiichen Gottheit und Menfchheit eine vermittelnve
Brüde zu bauen nicht entfchlagen. Er feste an die Stelle
per heipnifchen Helden bekanntlich vie Heiligen. Dabei follen
nun freilich, fagt man uns, die Beziehungen zwifchen ven
hriftlichen Gottheiten und Heiligen durchaus fumbolifch
und alfegorifch zu nehmen fein. Wenn aber in ben
Legenden bie geijtlichen Ehen beiliger Frauen mit Chriftus
fo glühend gefeiert werden, wenn erzählt wird, wie bie
Iungfrau Maria befonvers bevorzugte Heilige aus ihren
Brüſten getränkt, jo erinnert das doch fehr deutlich an
die Bündniſſe zwifchen Göttern und irdiſchen Frauen,
Göttinnen und Helden im Heidentbum. Auffallend un»
geſchickt mußten die Verfuche ver mittelalterlich-chriftlichen
Dichtung ausfallen, vie altgermanifche Heldenjage im
Sinne der neuen Religion umzufärben. ‘Das berühmtefte
Beifpiel hievon ift unfer Nibelungenlied. Auch in feiner
jeßigen Geftalt, wie e8 biefelbe auf ver Gränzſcheide des
12. und 13. Jahrhunderts erhalten bat, iſt e8 großartig,
feine Stage. Aber doch gemahnt e8 einen, als wäre
bier ein germanifcher Götterhain unter dad Nothdach
eines chriftlicden Doms gezwungen worben. Defihalb
erjcheint denn auch in den beutfchen Nibelungen bie
herrlichite Heldingeftalt des germanischen Alterthums,
Brunhild, fo getrübt und verwifcht, ja geradezu gefälfcht.
Die Sage vom Sigfriv (nord. Sigurd) iſt offenbar
ein Vermächtniß urältefter Zeit. Lnfere Ahnen mögen
fie wohl aus ihrer indogermanifchen Urheimat mit nach
Europa gebracht haben. Ueberall tönen da Anflänge an
Urzeitlih-Mythifches auf. Aber um die Weberlieferung
86 Buch I. Kap. 3.
in ihrer ganzen Größe und Reinheit zu faſſen, muß man
fie im Norden aufjuchen, wo die beiden Edden und bie
Wölfungenfage ihre urfprünglichen Züge treuer bewahrt
baben als unfere Lieder von ven Nibelungen. In leßteren
ift Brunhild ein finfteres, unerquidliches Zwitterweſen,
welches in ihre hriftliche Umgebung gar nicht hereinpafit.
Ganz anders in den norbifchen Quellen. Da ift fie vie
Schildjungfrau Odhins, die Walfüre, welche ein Gelübde
gethan, fich keinem Manne zu vermählen, ver ſich fürchten
fönnte. Bon Odhins Schlafdorn berührt, fchläft fie Hinter
einem Feuerwall („Waberlohe”) den Zauberfchlaf, bis
Sigfrid fühn durch Waberlohe reitet und die Jungfrau
erwect, Indem er ihr mit feinem Schwert Gram bie
Brünne vom Leibe fehneidet. Nun kredenzt fie ibm ven
Minnemeth, verlobt fich ihm feierlich und empfängt fein
Gelübde. So ruhen fie mitfammen auf einem Lager,
aber zwifchen ihnen liegt das „beißende” Schwert des
Helden. Er aber vergifjt feines Eides, wenn auch fchuld-
108. Grimhild, die Witwe des Königs Giufi, mit deffen
drei Söhnen Gunnar, Högni und Guttorm Sigfrid
Freundſchaft gejchloffen, veicht nämlich dem Helden einen
Dergeffenheitstrunf, worauf er fih mit ihrer Tochter
Gudrun (im Nibelungenlied Kriemhilo) vermählt. Durch
eine weitere Verkettung unfeliger Umftände wird darauf
Brunhild die Frau Gunnars. Aber am Hofe ver Giu-
tungen fchlägt die Liebe der Getäufchten zu Sigfriv in
Geftalt grimmiger Eiferfuht zu heller Flamme auf.
„Oft ſchritt fie — fingt das dritte Sigurdslied der Edda
— ganz von Grimm erfüllt, über Eis und Gletfcher,
Söttinnen und Heldinnen. 87
wenn Sigurd und Gudrun zu Bette gingen und der Held
liebkoſend fein Weib in die Deden hüllte.“ Sie ftiftet
Dann und Schwäger auf, den Sigurd zu morben, und
Guttorm thut die böfe That. Aber Brunhild wollte den
geliebten Helden nur todt ſehen, um ihm nachzufterben.
Sie durchbohrt ſich mit dem Dolch und ordnet fterbend
ihre und Sigurds gemeinfame Leichenfeier an, worauf
ein Holzitoß die im Tode Vermählten verzehrt.
In diefer nordiſchen Gejtalt ver Brunhild ftellt fich
germanifche Frauennatur in urzeitlicher Wiloheit und
Größe dar, umfloffen von einem mythifchen Nimbus 29). In
ver Kriemhild Dagegen, ver Heldin des Nibelungenliedeg,
erjcheint fie zur veutfchen Weiblichkeit gefänftigt. Wenig-
ftens im erften Theile des großen Gedichts. Ein echt⸗
deutſches Mädchen, fchön, hold und fanft, tritt da Kriem-
bild wor uns Hin, „wie der lichte Mond, der lauteren
Scheine einhergeht nor den Sternen“. Ihr erſtes Auf-
treten ift wie das Aufglänzen des Morgenroths aus trüben
42) Wie belannt, hat in unferen Tagen ein deutſcher Dichter,
Wilhelm Jordan, den gelungenen und mit großem Beifall auf-
genommenen Verſuch gemacht, mittels feiner ftabreimenden Helden⸗
dichtung „Die Nibelunge” (I. Thl. „Sigfridfage*, II. Thl. „Hilde-
brands Heimkehr”), 1867 fg. unjer nationales Epos in feinem
urjprünglihen Sinn und Geift wieberherzuftellen. In biefer
Neudichtung der uralten und großartigen Sage wiberfährt aud) ber
walküriſchen Geftalt der Brunhild ihr volles Hecht. Auch noch zwei
andere deutfche Dichter, Zeitgenofjen Jordans, Geibel und Hebbel,
haben fih durch den Zauber des Dämoniſch-Tragiſchen, welcher
dieſe Geftalt umfließt, angezogen gefühlt.
88 Buch J. Kap. 3.
Wollen, und al8 der theure Held und die ſchöne Maid,
deren Wangen bei feinem Anblid höher entbrannten,
fih zuerft begrüßten, da „zwang fie zu einander ber
fehnenden Minne Noth“. Nachdem Sigfriv ihr Gatte
geworben, liebt fie in ihm ven erſten Mann und Helden
der Welt und aus diefer Liebe fchöpft die Sanfte jenen
Stolz, womit fie tie Berunglimpfung ihres Gatten durch
ihre Echwägerin Brunbild zurüdweift. Doch kann nur
ver Mord Sigfrive, zu welchem fie in Folge einer teufe-
lifchen Lift Hagens unbewußt mitwirken muß, eine voll-
jtändige Umwandelung ihres Charakters zumegebringen.
Die Rache fteigerte ihr Weſen ins Uebermenfchliche, Un-
geheure. Alles opfert fie dem verzehrenden Getanfen,
den Racheftahl auf ven Mörter Sigfrivs zu Ienfen, und
wäre e8 über ein Meer von Blut hinweg. So wird fie
zur Furie und als folche fällt fie zulegt unter dem Schwerte
des alten Hildebrand.... Wenn Kriemhild, in der an-
geveuteten Weife, aus dem Milden und Zarten ins ber-
jerferhaft Wilde umfchlägt und von aus Liebe geborenem
Haß wie von einem Dämon weit über die Schranfen
fraulider Empfindung und Sitte hinausgeftachelt wird,
fo Hält dagegen die deutſche Odyſſee, das Gudrunlied, in
der Geftalt feiner Heldin das deutſche Ideal von Weib-
lichfeit folgerichtig feit, — das deutſche Frauenideal, wie
bie mittelalterliche Romantik es geichaffen. Das Gedicht
son Gudrun oder mwenigftens ver lebte Theil vefjelben ift
ja überhaupt weit mobderneren Geiftes als das von den
Nibelungen und endigt daher auch, recht im Gegenfa zu dem
erſchütternd tragiichen Ausgang des legteren, mit Sühne
Göttinnen und Heldinnen. 89
und breifahem SHochzeitiubel. Kriemhild ift, obgleich
getauft, noch eine ganze Kelvin, Gudrun (oder Kudrun)
dagegen hat den chriftlichen Katechismus ſchon beffer ge
lernt : deſſhalb ift jene eine handelnde, dieſe eine duldende
Heldin. In Dultmuth und Treue bewährt fie den Adel
ihrer Seele. ‘Der Heimat und ihrem Verlobten Herwig
entführt, läſſt fie lieber jede Miffhandlung wonfeiten ver
böfen Gerlind über fich ergehen, als daß fie ihre Treue
bräche und bes Normannenprinzen Hartmuth Werbung
erbörte. Zur Magb emiedrigt, muß fie, barfüßig im
Schnee ftehend und nur mit einem Hemde beffeivet, am
Meeresitrand als Mäfcherin arkeiten, bewahrt aber allen
dieſen Demüthigungen zum Trotz ihre jungfräuliche Würde
und ihren königlichen Sinn, bis Herwig mit feinen Streit-
gefellen rettend naht. Dann, nad) errungenenm Siege ber
Ihrigen tritt fie fchütend, vermitteln und Frieden ſtiftend
für die Befiegten ein, vem Wüthen des rachegrimmen Wate
wehrend. Gudrun verdient e8 wohl, für alle Zeit in
dem Heiligthum der Poefie als Typus germanijcher Frauen
ſchönheit und Frauenfitte aufgeftellt zu bleiben.
Im Gudrunlied tritt das Verhältniß ziwifchen Herrin
und Magd in feiner ganzen Schroffheit uns vor Augen.
Da dieſes aus der heipnifchen Vorzeit herübergefommene
Verhältniß das ganze Mittelalter hindurch herrichend
blieb, jo iſt e8 vielleicht nicht unpaffend, auf den ſchon
im vorigen Kapitel berührten Stänveunterfchied bier, am
Schluffe des erften Hauptabfchnittes unferer Darftellung,
einläfflicher zurüdzufommen. Werden wir doch im Ver-
laufe der Erzählung überall, wo von dem Gegenfag ber
90 Buhl. Kap. 8.
freien Frauen zu den unfreien die Rede fein wirb, den
Finger auf diefen Punkt legen müfjen.
Es Tann feinem Zweifel unterliegen, daß die Ein-
theilung ver Menjchen in Kaften eine uraltsindogerma-
nische Einrichtung war. Die altindifhen und altgerma-
nifchen Religionsurfunden ftimmen merkwürdig barin
überein, daß dieſe Einrichtung ein Ausfluß des göttlichen
Willens gewejen jei. Die Frage, ob und inwieweit es
Sache priefterliher Schlauhett geweſen, der Thatfache
focialer Ungleichheit ven Stämpel göttlicher Fügung auf-
zubrüden und fie dadurch für vie Gefnechteten und Unter:
prüdten annehmlicher oder wenigftens ehrwürdiger und
unantaftbarer zu machen, Tann hier füglich unerörtert
bleiben. Genug, die germanifche Bibel hat dieſe Stäm-
pelung wirklich vorgenommen, und zwar im „Rigsmal“
ver älteren Edda. ‘Da wird ung der Urfprung der Stände
erzählt, welcher unter ver ziemlich zweideutigen Vermitte-
Yung des Gottes Heimdall vor fich geht 43). Denkwürdig
ift dabei, daß die Reihenfolge der Entftehungen mit ven
Unfreien beginnt und von biefen zu den Freien aufiteigt,
— freilich ſehr begreiflicher und Iogifcher Weiſe; denn
43) Dem indifhen Dogma zufolge fällt die Entftehung ber
verjhiedenen Menſchenkaſten mit der Weltwerbung des Brahma,
d. i. der göttlichen Urfuhftanz, zufammen. Die indiſche Mythologie
bat das jo ausgebrüädt: Als die Götter das Brahma zum Opfer
machten und feine Zerftüdelung vollzogen, wurde aus feinem Munde
der Brahman, aus feinen Armen der Kichatrija, aus feinen Schenkeln
der Vaiſja und aus feinen Füßen der Supra.
Söttinmen und Heldinnen. 91
erft muß: doch eine Maſſe vorhanden fein, bevor fich
Einzelne aus ihr und über fie erheben fünnen.
Heimdall durchwandert unter dem Namen Rigr die .
Erde und fehrt zuerjt bei einem alten Ehepaar ein, bei
Ai und Edda (Urahn und Urahne). Nach neun Monaten
gebiert Edda einen Knaben, ven Thrälf (Knecht), ſchwarz
und rauh von Haut, knotig von Gelenfen, fragig von
Antlig, krumm von Rüden. Diefer Liebenswürbige heis
ratet, herangewachjen, eine Ebenbürtige, die gängelbeinige,
braunarmige, plattnafige Thyr (Magd). Von Thräll und
Thyr kommt das ganze Gefchlecht ver Unfreien. Weiter ge-
wandert, war Rigr inzwifchen bei einem zweiten Paar ein-
gelehrt, bei Afi und Amma (Großvater und Großmutter),
jener im fnappanliegenden Kleid, freier Stirne, gefträlten
Bartes, die Weberftange zurichtend, dieſe mit Haube und
Halsſchmuck angethan, ven Roden rüftend und die Spindel
orehend. Nach neun Monden genas Amma eines Sohnes,
ver hieß Karl, war frifch, roth und funfelnder Augen,
wuchs und gebieh fröhlich, zähmte Stiere, zimmerte Pflüge,
fertigte Wagen, baute Haus und Scheune, beitellte das
Feld und nahm die Snör zur Ehe, mit welcher er das
GSefchlecht der freien Bauern (Karle, Kerle, daher noch
jest ein „Bauerferl”) zeugte. Rigr wanderte weiter und
fam zu einem dritten Ehepaar; das hieß Vater und
Mutter und befehnte der Hausherr den Bogen und
ſchäftete Pfeile, während die Hausfrau müffig jaß, fich vie
Hände befah und die Falten ihres Kleides glattftrich.
As neun Monate um, gebar die Mutter einen Sohn,
deſſen Locken licht, deifen Wangen leuchtend, veffen Augen
2 _ Buch I. Kap. 3.
liftig und welcher Iarl genannt wurde. Der wuchs heran
in der Halle, lernte Bogen fpannen, Speere werfen, Lanzen
. fehwingen, Hengfte tummeln, Hunde heten, trieb fi in
Fehden um, eroberte Land und Leute und führte als
Braut die gürtelichlanfe, atelige Erna heim. Ihrem
Bund entfproffte das Gefchlecht ver Adalinge (oder Jarle)
und in tem Namen ihres jüngjten Sohnes, des
Ichwertgewaltigen und runenfundigen Konur, ift viel-
leicht vie Herausbildung des Königthums aus dem
Adel angedeutet.
Auf diefer mythiſchen Grundlage gliederte fich dem⸗
nach die altgermanifche Geſellſchaft in drei große Stände:
Knechte, Freilinge, Adalinge, und dieſe Dreitheilung ward
zur Viertheilung, indem ven alten Rechtsbüchern zufolge
die Unfreien in hörige Bauern (Liti oder Lazzi) und in
eigentliche Knechte (Servi oder Schalke) zerfielen. Die
Eintheilung der veutichen Frauenwelt ergibt fich hieraus
von ſelbſt: leibeigene Mägde, hörige Bäuerinnen, freie
Bäuerinnen (wozu im Verlaufe des Mittelalters die
ſtädtiſchen Bürgerinnen kamen) und Evelfrauen. Die Zeit,
bie raftlofe Wirferin am Webftuhl der Weltgefchichte,
hat bie rechtliche — wir fagen nicht die ſociale — Schranfe
zwijchen Unfreien und Freien auf deutfcher Erde mälig
befeitigt. Aber was fie nicht vermochte, noch, foweit ein
menfchliches Auge die Zukunft durchdringen Tann, je ver-
mögen wird, das ift die Aufhebung des Unterſchiedes ver
natürlihen Anlagen, des Reichthums, des Ranges und
der Bildung, ſowie der daraus fich ergebenden Verſchieden⸗
heit ver Zebensstellungen. Es fteht ſodann ebenfalls leider
Söttinnen und Helbdinnen. 093
nicht zu hoffen, daß jemals eine Zeit kommen werbe, wo
nicht mehr der blinde Zufall ber Geburt oder bie blinde
Gunſt des Glückes die Stellung der Menfchen in ber .
Geſellſchaft beftimmen, ſondern Intelligenz, Redlichkeit
und Verdienſt. Und könnte auch jemals fo eine Zeit
fommen, fo würde es doch immer und überall Leitende
und Geleitete, Gebietende und Gehorchende geben und
geben müſſen und darum in der weiblichen Welt auch
. allzeit zwei große, wenn auch mannigfaltig abgeftufte
Klaſſen: — Frauen, d. i. Herrinnen, und Mägde.
Zweites Bud,
Mittelalter.
Bom achten bis fünfzehnten Jahrhundert.
Esn ist al der dinge dehein,
Der ie diu sunne beschein,
86 rehte saelik s6 das wip,
Diu ir leben unde ir lip
An die m&ze verlät.
(Von allen Dingen auf biefer Welt,
Die je der Sonne Licht erhellt,
Iſt keins fo felig wie dad Weib,
Das ftetd ihr Leben und ihren Leib
Und ihre Eitten bem Ma $ ergibt.)
Gottfried von Straßburg.
Erftes Kapitel,
Karlingiſche Beit.
Karl der Große. — Blid auf die römisch-chriftliche Frauenwelt der
erſten Sabrhunderte. — Möncherei und Nonnerei in Deutichland.
— Der Marienkult. — Maria im „Heliand”. — Maria’s Minne.
— Einfluß des Chriſtenthums auf die germanifche Ehe. — Die
Frauen und Töchter Karls. — Die Weiberhäufer. — Epifode vom
fogenannten „Recht der erften Nacht“. — Tracht und Pracht ber
tarlingifhen Damen. — Richardis. — Die Frauen und die Gottes»
urtheile.
Barl der Große ift eine jener weltgefchichtlichen Ge-
ftalten, welche mit ben riefenhaften gothifchen Domen
unferer Städte zu vergleichen find. Dem Befchauer, ver
mit Fritifch prüfenden Bliden an diefe Hervorbringungen
menfchlicher Thatkraft in einem ihrer gewaltigften Auf-
ſchwünge ganz nahe berantritt, muß manche Einzelnheit
auffallen, welche ven mächtigen Geſammteindruck beein-
trächtigt. Dies und das mag ihm wohl geradezu unfchön
und fraßenhaft erjcheinen. Zwiſchen vie himmelan
ſpringenden Strebepfeiler hineingeflebte Buden mit ihrem
Scherr, fsrauenwelt. 4. Aufl. I. 7
98 Bud II, Kap. 1.
gemeinen Trödel beleidigen das Auge, bizarre Skulpturen,
die menfchliche Geftalt zur thierifchen werzerrend, ver-
wirren die Vhantafie und das heifere Gefrächze ver an
Zinnen und Thürmen niftennen Dohlen, Sperber und
Käuzlein macht fich dem Ohre widerwärtig. Alle diefe
Störniffe aber verſchwinden, wenn du, der Stadt ven Rüden
fehrend, von einem Hügel vor den Thoren aus den Blid
nach dem ‘Dome zurückwendeſt. Da erjcheint der Koloß
bir in feiner ganzen Mächtigfeit, über das Häufermeer
hoch emporragend, wie ein Rieſe aus dem Gewühl von
Zwergen, ein in ſteinerne Wirklichkeit überſetzter großer
Gedanke.
Auch die Geſchichte darf nicht kammerdienerhaft an
einer welthiſtoriſchen Perſönlichkeit herumſpähen, wenn
ſie die Geſammtwirkung derſelben nicht verlieren will.
Sie muß ihren Gegenſtand im ganzen und großen faſſen,
und thut ſie das, ſo wird ſie in dem gewaltigen Karlinger
einen Grundpfeiler des geſellſchaftlichen Bauwerkes er-
kennen oder anerkennen, welches nach der Sintflut der
Völkerwanderung an die Stelle des antiken getreten iſt.
Eine zwar patriotiſch geſinnte, aber mit den That⸗
ſachen mitunter fo willkürlich wie ein Rind mit Blei—⸗
foldaten fpielende Gefchichtichreibung hat den Vorwurf
gegen Karl erhoben, er habe bei Begründung einer neuen
Beriode der Kultur viel zu fehr die hriftlich-romanifchen
und viel zu wenig die einheimifch-germanifchen Kultur-
elemente berüdjichtigt. Nichts kann verfehrter und un-
gerechter fein als dieſer Vorwurf. Karl, ein wejentlich
germanijcher, ein deutſcher Mann, hat die altnationalen
-
Karlingifche Zeit. 99
Veberlieferungen keineswegs unberüdfichtigt gelaſſen; er
bat fie im Gegentheil, wie jedermann weiß, pietätvoll
aus dem durch die Völferwanderung gebäuften Schutt
nach Möglichkeit wieder hervorgeſucht. Aber daß ihm
diefe noch dazu von der Kulturſaat des Chriftenthums
von allen Seiten her bereits überwachjenen Trümmer als
ausreichendes Material eines neuen Staatsbaues hätten
dienen fönnen, das kann doch nur Die Phantafterei behaupten.
Auch wenn er nicht ein Chrift aus Ueberzeugung gewefen,
mußte er als Staatsmann ver chriftlich - romanischen
Bildung, wie er fie eben vorfand, fich bedienen. Er konnte
gar nicht andere. Ein Herricher, der eine Weltnonarchie
begründen wollte, mußte fih mit Nom verbinden; venn
bereitS war die Idee einer univerfalen Obmacht von dem
antifen Cäfarendiadem auf vie Ziara des römischen
Bifchofs übergegangen und hatte auf Betreiben des Boni-
facius ſchon die erfte deutſche Synode (i. 3. 743) Die
deutſche Kirche der Herrichaft des Papftes unterworfen.
Das Chriftenthum war alfo bereits eine organifirte Macht.
Der Staat mußte zufehen, wie er fich mit verjelben ab-
finden könnte, denn er fonnte fie nicht überjehen und noch
viel weniger fonnte er fie vernichten. Der Weg, welchen
Karl bei Verwirklichung feiner Staatsidee einjchlug, war
demnach ein vorgezeichneter. Daß er in Verfolgung
befjelben vor feinem Mittel der Lift und Gewalt zurüd-
ſcheute, daß ihm nicht davor bangte, Ströme mitleidslos
vergoffenen Blutes zu durchwaden, um zum Ziele zu
gelangen, mag ver Weichherzige, welcher in Karl nur den
„Sachſenſchlächter“ fieht, beffagen ; aber feftjteht traurig-
7*
100 Buch II. Kap. 1.
wahr, daß der Vorſchritt der Menſchheit ſtets durch
Ströme von Blut und Thränen gegangen iſt. Mira⸗
beau's bekanntes Wort, Revolutionen würden nicht mit
Lavendelwaſſer gemacht, findet auch auf die karlingiſche
feine Anwendung, welche übrigens weit mehr eine auf-
bauende als eine zerftörende gewefen iſt. Karl war ver
Vollender der allerdings ſchon durch die Alarih, Theo-
borich, Albuin und Chlodwig begonnenen Umbildung ver
altgermanifchen Adelsrepubliken zum chriftlich-germa-
nischen Königthum, zur Erbmonardie. Schon hierzu war
die Durchſetzung des neuen Glaubens in germanifchen
Landen unumgänglich nothiwendig, weil nur Chriſten die
jüdiſch⸗chriſtliche Königsidee begreifen und achten fonnten.
- Karls Streben ging aber weiter. Er wollte nicht nur
ein germanifcher König, er wollte ein Weltmonard)
fein. Die im Bapfte verkörperte Einheit der abend-
ländiſchen Chriftenheit follte auch ftaatlich verwirklicht
werden. Dies ift ver Sinn jener Scene, als Karl zur
Weihnacht des Sahres 800 in Rom von dem ihm zu
Dante verpflichteten Bapfte die römiſche Kaiſerkrone fi
reihen ließ. Was auch immer für Unheil dieſes Wieder:
aufleben des römischen Kaiſerthums und deſſen Weber:
tragung an die Deutſchen über unjer Vaterland gebracht
hat, ed war für einen Monarchen, welder Europa
beberrfchte und deſſen Namen Aften mit Ehrfurcht nannte,
gewiß ein naheliegenver, perſönlich Iodenver und politifch
fruchtbarer Gedanke, in ven Purpur römifcher Cäfaren-
majeftät fich zu Hilfen.
Das mit dem Geifte des neuen Glaubens getränfte,
Karlingifche Zeit. 101
durch Karl ven Großen neu organifirte Germanenthum
wurde der Träger einer neuen Kultur. Daß dieſe eine
vorwiegend kirchliche und auf Firchliche Ziele gerichtete
fein mußte, lag in ihrer Natur, obzwar nie und nimmer
vergefjen werden darf, daß die germanifche Kleriſei und
Möncherei, alfo die Vertreter der intelfeftuellen und viel-
fach auch ver materiellen Bildung, von Rom her mit ven
Kriftlihen Dogmen zugleich auch die literarifchen Ueber⸗
Lieferungen des Haffifchen Alterthums überlommen hatten
und mit jenen auch diefe als Kulturfaaten in: den friſch
geroveten beutfchen Urwaldsboden jtreuten. Wenn wir
aber hier wieder, wie fchon früher, betont haben, das
Chriſtenthum fei erſt durch die Germanen eine welt-
geichichtliche Kulturmacht geworben, fo genügt ein flüch-
tiger Bli auf die römifchechriftliche Gefellichaft der erſten
Sahrhunderte, um darzuthun, daß jene Behauptung nicht
etwa auf bloßem Nationalftolz, ſondern vielmehr auf
alfbefannten Thatfachen beruhe. In der focialen Fäulniß, -
welche die lange Agonie des römiſchen Reiches begleitete,
hatte das Chriſtenthum unmöglich cine fittliche Lebeng-
macht werben können. In diefem Sumpfe konnte
Reines und Ideales nicht geveihen. Die römifche Ge-
ſellſchaft — ich fpreche von ver Regel, nicht von den Aus-
nahmen — nahm das Chriftentbum als ein politifches
Motiv bin, Tieß es fih als ein polizeiliches Imftitut
gefallen oder betrieb es als eine Modeſache oder würdigte
e8 gar zu einem Hilfemittel der Ausfchweifung herab.
Ein gewiß unverwerflicher Zeuge, ver Kirchenvater Hiero-
nymus, läſſt hierüber gar feinen Zweifel. Er erzählt als
102 Bud II. Rap. 1.
Augenzeuge ; denn er hatte in der zweiten Hälfte des
4. Sabrhunderts in einer Stellung zu Rom gelebt, welche
ihm ven Zutritt in die modiſchen Geſellſchaftskreiſe ficherte.
So oft er in feinem fpäteren Briefwechjel auf jene Zeit
zurüdfommt, gehen aus feiner Feder Sittengemälbe hervor,
welche bald unfer Lachen, bald unfern Abjcheu erregen.
Er führt uns die vornehme Frömmlerin vor, wie fie
buhleriſch geſchminkt auf dem Xotterbette liegt, ein
prachtvoll gebundenes Exemplar ver heiligen Schrift in
der Hand, von ſchmarotzenden Prieftern und Mönchen
umgeben, welche wetteifern, ver Dame bes Haufes bie
geiftlihe und weltliche Skandalchronik der Stadt zuzu⸗
tragen. Oper er läfjt ung mitanjehen, wie die vornehme
Ehriftin ihre Sänfte befteigt, um nach der Bafilika Petri
getragen zu werben, einen Schwarm von Eunuchen vor-
auf, eine Schar von Haus- und Leibſklaven hintendrein,
mit pomphafter Oftentation Almofen vertbeilend und
begegnende Bekannte oder Unbefannte zur einer Agape
(Liebesmahl) einladend. Wenn uns als Seitenftüd zu
diefem Typus einer Chriftin Hieronymus vie charakte-
riftifhe Figur eines modischen Diafon jener Zeit malt,
wie derſelbe, gefchniegelt und gebügelt, das ſeidene Ge-
wand von Wohlgerüchen duftend, die Haare Funftvoll
gefräufelt, die Finger von Ringen ftroßend, die Füße in
zierlihden Saffianfchuben ftedend, in eleganter Equipage
zur Viſite bei feinen „geiftlichen Freundinnen“ vworfährt,
fo verftehen wir unfchwer die Winfe, welche ver Kirchen-
vater über die Zuchtlofigfeit im chriftlichen Rom fallen
läſſt, über die Ausfchweifungen, welche unter dem Ded:-
Karlingiſche Zeit. 103
mantel der „geiftlichen Verwandtſchaft“ oder „Gejchwifter-
ſchaft“ zwiſchen Matronen und Jünglingen, Klerikern
und Jungfrauen, Mönchen und Nonnen im Schwange
gingen. Hieronymus gibt aber inbetreff der ſittlichen
Verſumpfung des chriſtlichen Roms nicht etwa nur Winke,
ſondern er ſpricht draſtiſch deutlich genug und zeigt uns,
wie durchaus unvermögend das Chriſtenthum war, dieſes
Rom aus ſeinem tiefen Sittenverfall aufzurichten. Alle
Stände waren gleichmäßig davon verpeſtet. Wie bei ſolchen
Zuſtänden immer, war das Inſtitut der Ehe zu einem Spott
geworden. Unſer Kirchenvater erzählt, er habe ein Braut⸗
paar aus dem Volfe geſehen, welches ſich zuſammenthat,
nachdem der Bräutigam bereits zwanzig Frauen, die
Braut aber zweiundzwanzig Männer begraben hatte. Das
Publikum war daher außerordentlich geſpannt, mit weſſen
Sieg dieſe Ehe enden würde, und als der Mann geſiegt,
d. h. als er mit einem Palmzweig in der Hand vor dem
Sarge ſeiner vielmännigen Gattin einherſchritt, wurde
er von der Menge wie ein Triumphator bejubelt!). Zur
nämlichen Zeit, wo folches gefchah, wurde in ven Theatern
Roms die „Majuma” aufgeführt, eine theatralifche
Zote, deren Ölanzpunft war, daß eine Schar von nadten
Luſtdirnen vor den Augen ver Zuſchauer badete und da⸗
bei in. lafeioften Gebärden und Gruppirungen fi übte. _
Und doch wurde die weftrömifche Zuchtlofigfeit des 4.
und 5. Jahrhunderts von der oftrömifchen des 6. noch
überboten, in einer Weife, welche ver fchamlofeiten Ver⸗
1) Epistolae S. Hieronymi, 22, 123, 125, 147.
104 Bud LU. Kap. 1.
worfenheit für alle Zeiten den Namen ver byzantiniſchen
gefichert hat. Da, in Byzanz erlebte e8 vie Welt, daß
der „Sehr chriftliche” Kaifer Iuftinian eine Buhlerin der
berüchtigtften Sorte aus dem tiefiten Schmutz des Komö⸗
diantenthums und der Proftitution zu fich auf ven Thron
erhob, jene Theopora, weldhe, nur mit einem jchmalen
Gürtel befleivet, auf ver Bühne abjcheuliche Pantomimen
agirt und in unerjättlicher Wolluſtgier die Natur der
Kargheit beſchuldigt hatte 2).
Angeſichts ſolcher Ausſchreitungen des, Fleiſches
muß uns, auf dem Standpunkte von damals, die Realtion,
welche der chriſtliche, Geiſt“ in feiner Erſcheinungsform
als Möncherei dagegen verſuchte, vollkommen berechtigt
erſcheinen. Es begreift ſich, daß Menſchen edleren Ge⸗
haltes, Männer wie Frauen, aus der wüſten Orgie einer
bis ins Mark angefaulten Geſellſchaft in die Wildniß ſich
ſehnten und flüchteten, um da ihrem Gott in einſamer
Beſchaulichkeit zu leben. Der ruhige Beurtheiler wird
ſich durch die allerdings ſchon ſehr frühzeitige Ausartung
des Mönchthums nicht beſtimmen laſſen, zu leugnen, daß
die urſprüngliche Idee deſſelben eine reine und heldiſche
geweſen. Sie war auch eine zwingende. Denn voraus⸗
geſetzt, daß das apoſtoliſche Chriſtenthum überhaupt eine
Möglichkeit, ſo konnte es in der römiſchen Geſellſchaft,
wie ſie einmal war, nur als Möncherei exiſtiren. In
dieſer Form entſagte das Chriſtenthum einer Welt, welche
zu überwinden es nicht vermochte. Aber die Welt gibt
2) Procopii Hist. arcana, cap. 9—10,
Karlingiſche Zeit. 105
ihre Anſprüche an den Menjchen nicht jo leicht auf und
fo ſehen wir denn das Möndhthum bald als ein ſehr wirk⸗
fames fociales Motiv in das Leben des Mittelalters ein-
greifen. Nachdem im Orient vorzugsweife durch Bafılius,
im Okcident durch Benedikt von Nurfia und feine Kluge
und fromme Schwefter Scholaftila das urchriſtliche Ein-
fieplerwefen die feften Formen und Regeln Flöfterlichen
Zufammenlebens gewonnen hatte, wurbe die Möncherei
aus einer blos paffiven zur aktiven, namentlich dieſſeits
der Alpen, wo eine rauhere Natur Mönde und Nonnen
zu ganz anderen Anftrengungen nötbigte, als es im
Süden der Fall war. Bei uns in Deutſchland, wie
überhaupt. im Norven find zur karlingiſchen Zeit und
noch lange nachher die Mönche, was auch immer ihre
Schwächen jein mochten, vie Bringer, Pfleger und Ver⸗
‚breiter materieller und geiftiger Kultur gewefen. Die
Klöfter waren recht eigentlich Burgen ver Eivilifation ;
‚denn wie ihre Infaffen Wälder Härten, Flüffe dämmten
Getreivefelver zurüfteten, Obftbäume pflanzten, die Rebe
an fonnigen Halvden emporklimmen Tießen, Gartenge-
wächſe einführten und daneben allerlei Handwerksge⸗
ſchicklichkeit übten und lehrten, jo bewahrten und pflegten
‚fie, wenn auch. in mönchifch-befchränftem Geifte, die lite
tarifhen Denkmäler ver viefhunvertjährigen Kulturarbeit
des Altertbums. Der deutſche Bauer thut fürwahr ganz
‚recht, wenn er noch heute die Emmeran, Gallus, Frivolin,
Pirmin, Kolumban und andere als Halbgötter verehrt ;
aber auch der deutfche Gelehrte, welchem Möncherei und
Chriftentfum nur noch Tulturgefchichtlihe Bedeutung .
106 Bud IL. Kap. 1.
haben, follte fi dankbar erinnern, daß die Götterbilver
Homerd und Vergils, ſowie die Gedankenwelt des
Ariitoteles und die Redekunſt Cicero’ aus der einge-
ftürzten antifen Welt in die ſich aufbauende- moderne in
Kuttenärmeln herübergetragen wurben.
Mit der Möncherei kam natürlich auch die Nonnerei
nad Deutjchland. Der große Bekehrer Bonifaz, eine
Art von antecipirtem Iefuiten, indem er mit unbeug-
ſamem Fanatismus die ganze Schlauheit eines abgefeimten
Diplomaten verband und feinem Zwecke, Deutfchland
dem römifhen Stuhl zu unterwerfen, alles nugbar zu
machen wußte, — Bonifaz veritand es wortrefflich, ver
Frauen fich zu bevienen, und da er in Deutſchland noch
nicht das paſſende weiblihe Material vorfand, Tieß er
eine Anzahl geiftlicher Freundinnen aus England herüber-
fommen, wo freilich, falls dem angelfächfifchen Kirchen⸗
biftorifer Beda zu trauen ift, die Nonnerei fehon im.
7. Jahrhundert auf bevenflihe Abwege gerathen jein
mußte. Denn Bea erzählt, daß die Nonnen feines
Landes ihre Meifterfchaft in der Webekunſt hauptſächlich
dazu benüßt hätten, ihre Liebhaber mit prächtigen Kleidern
zu befchenfen. Die angelfächfifchen Mitarbeiterinnen
Winfrids in feinem Miffionsgejhäft waren jedoch anderen
Sclages und haben ein rühmliches Andenken hinter-
laſſen. So die gelehrte Lioba, Aebtijin des Nonnenklofters
Biſchofsheim an ver Tauber ; ferner Thekla, Aebtifin des
Nonnenklofters Kitingen, und Walpurgis, Vorfteherin des
Klofters Heidenheim. Biſchofsheim insbeſondere wurde
und blieb Lange eine Pflanzſchule weiblicher Bildung.
Karlingifche Zeit. 107
Bom 8. Jahrhundert an wurde die Zahl der deutichen
Jungfrauen und Frauen, welche fi als Förberinnen der
Kirche, als Gründerinnen von Klöftern, als Nonnen und
Rekluſen hervorthaten, in deutfchen Landen immer größer
und größer und willen uns die Legenden eine Menge von
weiblihen Ganz over Halbheiligen vorzuführen. Die
Nonnenkutte war auch außerhalb der Klöſter ein begehrtes
und geehrte® Gewand. Es gab eine nicht geringe Anzahl
von Frauen, welche daſſelbe trugen und als „Gottes
mägde“, „Verfchleterte”, „Sottgeweihte* ehelos in ihren
Familien lebten, zeitweilig oder für immer. Kloſter⸗ und
Weltleben [pielte überhaupt in dieſer Zeit und noch lange
nachher mannigfaltig in einander, und. obgleich eine
Nonne, welche ihr Gelübde Brad, um in den Eheſtand
zu treten, erfommunicirt wurbe, fam doch dieſer Yall, be-
fonders in den höheren Geſellſchaftsſphären, häufig genug
vor und ſcheint man fich wor der Zeit der Gregore und
Innocenze aus dem Kirchenbann überhaupt nicht eben viel
gemacht zu haben. Als Regel, vie freilich viele Ausnahmen
zählte, galt, daß fein Mädchen vor erreichtem 25. Lebens-
jahre, alfo nicht wor Eintritt des Altjungferntfums, das
bindende Kloftergelübde ablegen follte. Die Kapitularien
Karls des Großen bezeugen übrigens, daß die Nonnen dem
großen Organifator und Gefeßgeber nicht wenig zu fchaffen
machten. Es ift darin von Nonnen die Rebe, welche ein
vagirendes Leben führten, ftatt ihrem himmliſchen Bräu-
tigam treu zu bleiben fehr weltliche Liebfchaften pflegten,
ſogar um Geld, und die Folgen verjelben mittels DVer-
brechen bejeitigten, gegen welche mit ftrengen Strafen
108 Bud II. Kap. 1.
vorgefahren werden mußte. Es wird darin auch ver-
boten, Nonnenklöfter in gar zu bequemer Nachbarichaft
von Möncheflöjtern anzulegen, und e8 wird ver Verkehr
von Mönchen und Nonnen unter einander, jowie von
Laien und Religiofen beiderlei Gefchlechts jo ſehr bis ins
Einzelne hinein geregelt, daß augenfcheinlich triftigfte
Gründe für eine derartige Maßregelung ver häufig
ſtrauchelnden oder wohl ganz fallenden Frömmigkeit vor-
handen fein mußten. Die armen Nonnen! Biele mochten
ihr Gelübde unvorbedacht, in einem Anfall von Schwär-
merei abgelegt haben, viele auch gezwungen, manche noch
als Kinder, und nun waren fie in die düſtere Zelle ge-
bannt, während draußen Leben und Liebe riefen und
Iodten. Aber von Liebe, abgefehen von der himmlifchen,
jollten fie nicht einmal fingen. Mit der ernfthafteften
Miene von der Welt verbot Kaifer Karl mittels Kapi⸗
tulare vom Jahre 789 den Nonnen, Liebesliever abzu-
ſchreiben und einander mitzutheilen („winileodos scri-
bere vel mittere“), Dover dürfen wir vielleicht an-
nehmen, daß der Kaiſer, bekanntlich jelber jehr verliebter
Natur, jtillvergnügt wor fich hingelächelt habe, als ihm
dieſes Edikt zur Unterzeichnung vorgelegt wurde? Was
wir beftimmt wiffen, ift, vaß das in Rebe ſtehende Verbot
das Schickſal jo vieler anderer Verbote hatte. Die Wini-
lieder verftummten in den Nonnenklöftern ebenfo wenig
als in ven Männerflöftern. Wir fommen weiterhin dar⸗
auf zurüd. Ä
Die hohe Werthung des jungfräulichen Standes in
ber hriftlichen Kirche und damit auch die Verbreitung der
Karlingifche Zeit. 109
Nonnerei hing auf’8 genauefte mit dem Marienkult zu-
fammen, welcher felt vem 5. Jahrhundert ein immer be-
deutfameres Moment im Chriftenthum geworben war.
Das „Ewig-Weibliche” Hatte nicht geraftet, bis es auch
in dem neuen Glauben feine mythologiſche Anerkennung
gefunden. Dean könnte die Vergottung ver Mutter Jeſu
als eine Einräumung begrüßen, zu welcher ver ſchneidende
Spiritualismus des Juden⸗Chriſtenthums der Natur
gegenüber fich herbeilteß, wäre nur viefe Einräumung nicht
wieder dadurch ilfufortfch gemacht — wenigſtens im Sinne
der Dogmatiter — daß die Figur der Maria fofort wieder
in die Region der Unnatur binübergerüdt wurde, indem
man fie, deren Anspruch auf Göttlichkeit doch gerade auf
ihrer Mutterfchaft berubte, mit aller Gewalt wieder zur
Sungfrau, zur ewigen Jungfrau machte. Dieſer After-
wis, wie noch fo mancher andere, ging aus dem Freie
jener griechifch-alerandrinifchen Tiftler hervor, welchen
es ja gelungen ift, die an fich fo einfachen und menfchlich-
ſchönen Vorgänge ver evangelifhen Sagengeihichte zu
einer Philofophie der Unvernunft zu verflüchtigen. Einer
dieſer Tiftler zwar, der Kirchenvater Epiphanius, fcheint
im 4. Jahrhundert der chriftlichen Zeitrechnung noch eine
lebhafte Erinnerung an den menfchlich-fhönen Olymp
der Hellenen bewahrt zu haben, wenigitens in lichten
Augenbliden. Denn da ſah und beichrieb er in feinem
„gegen die Ketzer“ gerichteten „Panarion“ in der Maria
die chriftliche Venus, das Ideal weiblicher Schönheit) °.
3) Es dürfte für die Leferin und wohl auch für den Leer nicht
unangenehm fein, das weibliche Schönheitsideal, wie es ſich der
110 Buch II. Kap. 1.
Die Voritellung von ver Mutter Iefu mußte jedoch noch
die wiverwärtige Procedur des fogenannten neftorianijchen
Streite8 durchmachen, bevor fie zu dogmatiſcher Feftig-
feit gelangte. Es handelte fich dabei um ven Streit-
punft, ob, wie Neftorius wollte, Maria als „Chrijtus-
gebärerin“, oder, wie feine Gegner verlangten, als „Gottes-
gebärerin ” fchlechthin zu verehren wäre. Die neftorianifche
Phantafie eines Kirchenvaters darftellte, näher anzufehen. „Die
Ihönfte der Frauen, fagt Epiphanius, war Maria durdaus wohl-
geftaltet und weder zu kurz noch zu lang. Ihr Leib war weiß,
Ihöngefärbt und fehllos, ihr Haar lang, weich und goldfarben.
Unter einer wohlgebildeten Stirne und fehmalen, braunen Brauen
leuchteten ihre mäßig großen Augen hervor, mit einem Lichte wie
das des Sapphirs. Das Weiße darin aber war milchfarben und
glänzend wie Glas. Die gerade und regelrecht geftaltete Nafe,
jowie der Mund mit den ſchöngeſchnittenen und rofenfarbenen Lippen
waren lieblich anzufehen. Ihre reinen und jchöngereihten Zähne
verglichen fih an Weiße dem Schnee. Jedes ihrer Wänglein war
wie eine Lilie, auf welcher ein Roſenblatt liegt. Ihr fchöngerundetes
Kinn trug ein Grübchen, die Kehle war weiß und blanf, der Hals
ſchlank und von rechter Länge. Ihre weißen Hände zeigten lange
und ſchmale Finger mit reinen und wohlgeformten Nägeln. Schön
war ihr ang, anmuthig ihr Minnefpiel, züchtig al’ ihr Gebaren.
Summa: Gottes Sohn ausgenommen, befaß niemand einen fo
ihönen und reinen Leib wie die Jungfrau Maria”..... Merl-
wirdig tft an biefem, meines Wiſſens in folder Ausführlichfeit
älteften Marienbilde der Umftand, daß es, obgleih von einem
Paläftinenfer entworfen, durchaus den Typus germanifdher Frauen
fhönheit trägt: golbblondes Haar, blaue Augen, Lilienweiß und
Rofenroth der Wangen. Die künftlerifche Tradition der Mabdonnen-
bildnerei in Worten und Farben hat befanntlich diefen Schönheits-
typus im ganzen bis auf unjere Tage herab feftgehalten.
Karlingifche Zeit. 111
Anficht unterlag der gegnerifhen auf dem Koncilium zu
Ephefus (t. 3. 431) und unlange darauf mweihte der
römische Biſchof Sirtus III. ver „Iungfrau“ Maria, ver
„ Sottesgebärerin”, deren Kultus bis dahin im Abendland
nur ein unbeftinmter und [ehüchterner gewefen war, zu Rom
die neuerbaute Bafilifa des Liberius auf dem efquilinifchen
Hügel, wohl ver erfte Tempel, welcher ausprüdlich ver
Gottesmutter gewidmet wurbed). Hiermit war die neue
Göttin feierlich als Chorführerin der gefammten Schar
der Heiligen inthronifirt. Ihr Dienft verbreitete fich von
Rom aus über den Welten und Norden Europas und
das „Are Maria!” wurde in der ganzen Chriftenheit ein
häufigftes und heiligſtes Schiboleth, eine wahre Zauber-
formel, von veren alles bewältigenver Kraft zahlloſe
Legenden zu fingen und zu fagen wiffen. Denn Maria
ift der Lieblingsgegenftand ber chriftlichen Poefie und Kunſt
geworben : alles menſchlich Schöne und menſchlich Nührende
in dem neuen Glauben fnüpfte ſich an dieſe Frauengeftalt.
Mit welcher Innigkeit aber die Mutter Jeſu bei uns in
Deutfchland fchon im 9. Jahrhundert verehrt wurde, zeigt
uns eines ber beveutenpften Werke, welche die hriftliche
Dichtung hervorgebracht hat. Sch meine jene in alt-
ſächſiſcher Sprache gedichtete Evangelienharmonie, welche
zur angegebenen Zeit gefchaffen wurde, ver Sage nad)
auf Anregung Ludwigs des Frommen burch einen ſächſiſchen
Bauer, welcher aber ein Bauer gewefen fein müßte, wie
4) Gregorovius, Geh. d. Stadt Rom im Mittelalter.
I, 108, 180.
112 Buch I. Kap. 1.
es nachmals feinen mehr gegeben. Diefes Gedicht, welchem
der Herausgeber Schmeller ven Titel „ Heliand * (Heiland)
gab, tft ohne Frage das großartigfte poetifche Denkmal
unferer älteften Literatur. Es erzählt vie Gejchichte Jeſu
nach den Angaben der Evangelien, aber e8 erzählt fie fo,
daß die Erzählung durchweg ven Stempel eines deutſchen
Driginalwerfes erhält. Ganz im Gegenfate zu der Un-
freiheit, womit fonft die ältefte geiftliche Dichtung in
Deutſchland römiſche Vorbilder nachahmte, hielt der un⸗
genannte ſächſiſche Sänger an den Ueberlieferungen und
der Tonart des alteinheimiſchen Heldengeſanges feſt und
durchtränkte ſeinen bibliſchen Stoff jo glücklich mit natio⸗
nalen Anſchauungen, daß er mit echtepiſcher Naivität
durchweg ven Eindruck hervorbringt, als hätte die Ge-
ſchichte Jeſu auf deutſchem Boden gefpielt. Maria nennt
er wiederholt „der Weiber ſchönſtes“ und überall, wo er
auf fie zu fprechen kommt, klingt ver volle Ton alt=
germanifcher Frauenverehrung and). AS ein jehr
5) Sp z. 3. in der Stelle, wo der Maria ihre hohe Beftimmung
verfünbigt wird und welche nach Kannegießerd Neuhochdeutſchung
des Heliand (©. 8. fg.) lautet: —
„Da ſandte Gott feinen Boten
Nah Salildaland, Gabriel hieß
Des Allwaltenden Engel, wo ein Weib er wußte,
Eine minnige Magd, Maria mit Namen,
Eine mannbare Dirne. Ein Degen auch hatte
Sie erforen, Joſeph, guten Gefchlechts ;
Die Tochter Davids, die theure, fie war
Schon anverlobt ihn, als der Engel Gottes
In Nazarethburg beim Namen fie nannte,
Karlingiſche Zeit. 113
harakteriftifcher Zug des deutfchen Mariendienſtes tft das
„Minnetrinfen“ zu Ehren der jungfräulichen Gottes»
Entgegen ihr trat und von Bott fie grüßte.
Heil dir, Maria, ſprach er,
Du bift deinem Herrn lieb,
Dem Waltenden theuer; du Weife, Berftändige,
Du Weib voll Gnaden, du, aller Weiber
Auserwählte, Geweibte, fei nicht weibifch verzagt,
Sei gefafft und furchtlos! Nichts Yährliches bring’ ich,
Heuchelei nicht noch Heimtück'“. Du ſollſt unfers Herrn fein,
Mutter unter Mannen, ein Mannkind fol dir werben
Bom Herrn des Himmels. Heiland foll er heißen
Mit Namen bei den Menſchen. Nie endet und nimmer
Das weite Reich, das er wird verwalten,
Der mächtige Meifter. Doc die Magd drauf fagte
Zu dem Engel Gottes, hie allerebelfte,
Holdjelige, beit're: Was foll ih? jo ſprach fie,
ie werd’ ich doch Mutter? Nie Mannes fundig
Mein Lebtag war ih! Da ließ fich verlauten
Allvaters Bote, dem Weib antworten:
Zu dir foll der heilige Geift von der Himmelsau kommen,
Durd Gottes Kraft ein Kind du gebären
Zur Belt allhier. Des Waltenden Kraft
Soll di vom höchften Himmelskönige
Beichatten mit Stralen. Schöneres erſchien nie
Im Menfchengefchlecht als durch die Macht Gottes
In der weiten Welt bier. Da warb des Weibes Sinn
Zugewandt dem Wunſch und Willen Gottes
Nah Gabriels Begehr. Ganz ergeb’ ich mich, ſprach fie,
Bereit, mich zu richten nach dem Rathſchluß Gottes,
Denn bes Höchſten bin ich und hoffe zu vollenden
Das Werk auf dein Wort, da es der Wil’ und Wunſch ift
Meines Herren und mein Herz nicht zweifelt
Scherr, Frauenmelt. 4. Aufl. I. 8
114 Buch II. Kap: 1.
mutter hervorzuheben. Es war uralter germanijcher
Brauch gewejen, beim feftlihen Mahle ven Göttern oder
vielmehr diefem oder jenem beftimmten Gotte, dieſer oder
jener beftimmten Göttin ein Trankopfer zu ſpenden, in-
dem man zum Gedächtniß derſelben einen Becher Ieerte.
Man hieß dieſe Ceremonie Minnetrinfen, weil ja das
Wort Minne urfprünglih Andenken bedeutete‘). Wie
unzählige andere religidfe Bräuche nahmen unfere Alt
vorderen auch diefen mit ins Chriftentbum berüber, und -
wie ihre Ahnen Wuotand oder Frouwa's Minne ge-
trunfen, jo tranfen fie nun Ehrifti oder Mariens Minne.
Maria nahm in der Anjchauung ver befehrten Deutſchen
überhaupt die Stelle ein, welche die Frouwa oder Holda
innegehabt hatte, und man kann fühnlich behaupten, daß
die der mütterlichen Jungfrau zugethbeilte Rolle einer Ver⸗
mittlerin zwifchen ver Gottheit und ver Menfchheit unter
allen Völkern von dem deutfchen im tiefiten und innigften
Mit Wort und Weile. So erwies, wie ich hörte,
Willfährig das Weib fich dem Willen Gottes
Mit gutem Glauben und glimpflihen Sinn.
Und mit lauterer Treue trug den heiligen Geift fie,
Das Kind im Schoß, und verfchwieg es in der Bruft nicht
Und jagt’ e8 jelber aufrichtigen Sinnes,
Daß der Stral fie beſchattet der ſchöpf'riſchen Kraft
Des Heiligen vom Himmel.”
6) Minne leitet fi her von der gothiſchen Wurzel man, ich
denfe, woraus gaman, ich gebenfe, und weiter das althochdeutſche
minnön, gebenten, nämlich des Geliebten, alfo lieben und minna,
liebevolles Gedenken, zärtliches Meinen, Liebe. Die Belegftellen
für das Minnetrinken bei Grimm, Mythologie, 53 fg.
Karlingiſche Zeit. 115
Sinne gefafft worden fei. „Das Ewig-Weibliche zieht
uns hinan“ — dieſes Wort, womit das größte Dichters
werk ver germantichen Welt fchließt, war im Mittelalter
eine religiöfe Wirklichkeit.
Die Kirche mußte, indem fie ſich der Gewiffen be-
mächtigen wollte, wor allem darauf ausgehen, auf bie
Tamilienverhältniffe Einfluß zu gewinnen. Sie unter»
nahm daher eine Umbilvdung der germanischen Ehe im
hriftlichen Sinne, indem fie Polygamie und Kebjenwefen
befümpfte und die Unauflöfbarkeit des ehelichen Bandes
ale Regel feftftellte.e AL Ausnahmen von ber Regel
ließ fie gelten den Ehebruch, lebensgefährliche Nach-
ftellung, welche ver Mann der Frau oder die Frau dem
Manne- bereitete, Verbannung des einen Ehegenoſſen,
Unvermögen des Mannes, Unfruchtbarkeit oder Kränk⸗
lichfeit der Frau, endlich gegenfeitige8 Einverſtändniß zu
heiligen Zweden, d. i. Trennung der Gutten behufs des
Eintritts eines derſelben oder beider ins Klofter”). In⸗
deſſen kann nicht verfchwiegen werden, daß weder bie
firchlichen Ehegefege, noch die theoretiihe Hochſchätzung
mönchiſcher und nonnenhafter Keufchheit, noch auch der
auffommenvde Mariendienſt mächtig genug waren, das
farlingifche Zeitalter vor grober Sittenlofigkeit zu be=
wahren. Die gefchlechtliche Verwilderung der mero-
wingifhen Zeit griff augenfcheinlich genug in bie far»
lingifche herüber und Raifer Karl felber gab hierin feinem
Haufe und feinem Reiche ein nichts weniger als erbau=
7) Corp. jur. German. antiq. ed. Walter Il, 33 seq.
8*
116 Buch U. Kap. 1.
liches Beifpiel. In wie hohem Grave der große Herricher
dem Liebesgenuß ergeben gewejen, hat die Sage in ihrer
Weife für die Nachwelt veranjhaulicht, indem fie den
Kaiſer als unter vem Bann eines hölliſchen Minnezaubers
ſtehend darſtellte). Daß überhaupt an Karls Hof ein
fehr freier Ton, eine ſehr laxe Auffaffung des Verhält-
niffes der beiden Geſchlechter herrſchte, ift unzweifelhaft.
Zwar vrüden fich die Zeitgenofjen Karls und feines Nach
folgers, welche vie Biographen dieſer Monarchen waren,
ein Einhard, ein Thegan und andere, fehr vorfichtig aus,
wie e8 von Höflingen nicht anders zu erwarten ift; aber
was fie jagen over andeuten, ift hinreichend, das geäußerte
Urtheil zu begründen. Einhard, der Schüler Alkuins,
neben feinem Mitfchüler Angilbert eine ver Hauptjtügen
der von Karl begründeten firchlich-Tateinifchen, am Hof
und in den Klofterfchulen gepflegten Bildung, meldet über
die ehelichen und väterlichen Beziehungen des Kaiſers
Folgendes. Seine erjte Gemahlin (Berterad? Defi-
derata? Sibylla?), die Tochter des Langobarvenfönigs
Defiverius, verftieß er ſchon nach einem Jahre und ver-
mählte fih mit der Hildegard, einer Schwäbin aus er-
lauchtem Gefchlechte, welche ihm drei (eigentlich vier)
Söhne und drei Töchter, Hrustrud, Bertha und Gifle,
gebar. Bon feiner pritten Gemahlin Faftrada hatte er
zwei weitere Töchter, Theoderada und Hildtrub, und eine
Kebſe gebar ihm die Ruodhaid. Seine vierte Gemahlin,
8) ©. das Gedicht „Minnezauber”, aus Enenkels Weltbuch
mitgeth. in Bon der Hagens „Sefammtabentener“, II, 619 fg.
Karlingiſche Zeit. 117
Liutgard, war finderlos. Nach ihrem Tode hatte er noch
rei Kebsweiber, die Gerſwinda, welche ihm eine Tochter,
Adaltrud, gebar, die Regina und die Adalinde. Die Er-
ziehung feiner Kinder richtete er fo ein, daß Söhne wie
Töchter zuerft in den Wiffenfchaften unterwiefen wurden.
Dann mußten bie Söhne, fobald e8 nur ihr Alter er-
laubte, nad der Sitte der Franken reiten, jich in den
Waffen und auf der Jagd üben, die Töchter aber fich mit
Wollenarbeiten abgeben und mit Spinnroden und Spinvel
befchäftigen, damit fie fich nicht an ven Müffiggang ge-
wöhnten, und ließ er fie anleiten zu guter Zucht. Leider
hat diefe Anleitung nicht die gehofften Früchte getragen,
denn Karls Töchter fchlugen Teineswegs ihrer Grof-
mutter von väterlicher Seite nach, jener Bertha, deren
hausmütterliche Tugenden die Sage feierte, indem fie ihr
den Ehrennamen ver Spinnerin gab. Da Karls Töchter,
fährt Einhard fort, ungemein ſchön waren und von ihm
auf's zärtlichite geliebt wurden, fo tft e8 fehr zu ver-
wundern, daß er feine von ihnen einem feiner Mannen
oder einem Fremden zum Weibe geben wollte; aber ex
jagte, er könnte ohne ihre Gefellfehaft nicht leben, und
bebielt fie alle bi® zu feinem Tode bei ſich zu Haufe.
Darob mußte er, ſonſt fo glüdlich, die Tücke des Schid-
ſals erfahren; er ging jedoch fo Über die Sache hinweg,
als wäre nie ver geringfte Verdacht ob eines Fehltritts
gegen fie entſtanden oder ein Gerücht darüber laut ge⸗
worden). Daß Einhard hiermit auf verliebte Abenteuer
9) Eginhardi vita C. M. cap. 18, 19,
118 Bud I. Kap. 1,
der Prinzeffinnen hindeutet, wird fofort ar, wenn wir
die wohlbezeugte Thatfache beachten, daß Karls Töchter
uneheliche Kinver hatten. So die Hruotrud von dem
Grafen Rorich einen Sohn, fo die Bertha von dem ge-
Iehrten Angilbert zwei Söhne 1%). Es ift möglich, daß
diefe Liebfehaften nachträglich die Weihe eines vecht-
mäßigen Verhältniffes erhielten, wie ja auch in ver all»
befannten Sage von der Liebſchaft Einhards und Karls
Tochter Imma dieſe mifflihe Sache fo zurechtgelegt er-
ſcheint. Schade nur, daß jene romantifche Gefchichte
von den nächtlichen Zufammenfünften der beiden Lieben-
den, von dem bebrohlichen Schneefall, von der finnreichen
Befeitigung dieſer Gefahr und von der ſchließlichen Ver⸗
zeihbung des Taiferlichen Vaters vor der Kritik nicht be⸗
ſtehen Tann. Einhards Frau hieß nämlich allerdings
Imma, aber fie konnte feine Tochter des Kaiſers fein,
aus dem einfachen Grunde, weil Karl gar feine Tochter
diefes Namens hatte!y. Im übrigen fetten die Prin-
zejfinnen ihren leichtfertigen Xebenswandel nach dem Tode
des nachfichtigen Vaters fort, zum nicht geringen Aerger
ihres Bruders Ludwig. ‘Der ungenannte Zeitgenoffe,
welcher neben -Thegan das Leben des frommen Kaiſers
gefchrteben Hat, erzählt, daß den von Natur fo milden
Sinn Ludwigs das Ärgerlihe Treiben feiner Schweitern
10) Der Jüngere derſelben, der Chronift Nithart, bezeugt im
4.3.5.8. feiner Chronik felber feine Abkunft. Geſchichtſchr. d. d.
3. IX. Jahrh. 6. Bd. ©. 64.
11) ©. d. Unterf. über Einhard und Imma von Abel, Ge-
ſchichtſchr. d. d. V. IX. Jahrh. 1. Bd. ©. 56 fg.
Karlingiſche Zeit. 119
fchwer betrübte und erzürnte und daß er, um wenigftens
den Anftand zu wahren, einige Männer, die fich durch
„gräuliche Unzucht“ beſonders hervorthaten, aus ber
Umgebung ver Brinzeffinnen gewaltfam entfernen ließ 12).
Wenn ed am Hofe fo berging und höchſtgeſtellte
rauen ein folches Beiſpiel gaben, fo konnte nicht aus«
bleiben, daß es auch in niedrigeren Kreiſen mit weiblicher
Zudt und Sitte im allgemeinen übel beftellt war. Das
„Weiberhaus“ (Geneztunf, genecium, verborben aus dem
griechifchen yurasxsdov) ift wohl ſchon zur karlingiſchen
Zeit berüchtigt gewejen als ein Sig ver Ausichweifung und -
von ihm übertrug fich ver Name auf die Stätten ver Pro-
ftitution im Mittelalter, welche ja auch, Frauenhäuſer“
hießen. An und für fich war zur karlingiſchen Zeit das
Weiberhaus, auch Schrein (screona) genannt, der von
den übrigen Gebäulichleiten eines Gutes abgefonderte
Raum, allwo die hörigen Mägde unter der Aufficht einer
Schaffnerin ihren Arbeiten oblagen. ‘Die Sorge für vie
Bekleidung, auch der Männer, war nämlich damals und
nod weit ins Mittelalter hinein ausſchließlich Sache ver
Frauen. In den Weiberhäufern wurden demnach bie
bierfür erforderlichen Linnen- und Wollenarbeiten vor-
genommen, bier waren die Frauen mit Klopfen, Hecheln,
Spinnen und Weben von Hanf, Flachs und Wolle, mit
dem Zufchneiden und Nähen ver Kleider für pie Be-
friedigung eines höchſt wichtigen Zweiges menjchlicher
Bedürfniſſe thätig, wobei ſchon nicht allein das Noth-
12) Geſchichtſchr. d. d. V. IX. Jahrh. 5. Bd. ©. 25 fg.
120 Bud II. Kay. 1.
wenbige ins Auge gefaflt wurde, ſondern auch das Zier-
liche. Denn wir erfahren aus Kaifer Karls Verord⸗
nungen über die Genecien, daß in venfelben auch vie
Kunft des Stidens im Schwange ging und daß die Frauen
verftanden, in bie Kleiderzeuge und Teppiche mit Nadel
und Weberfchiff „Figuren“ Hineinzuzeichnen. Aber da⸗
neben mögen manchen Gutsheren die Geneztunfe zu-
gleich als Hareme gedient und auch andere Mönner zur
Verübung von Ungebür angelodt haben. Auf letteres
beuten wenigftens die in ven älteren und jüngeren mittel-
. alterlichen Rechtsbüchern dagegen getroffenen Vorkeh⸗
rungen. Das alemannifche Recht büßte die Schwächung
einer Magd, welche Kleider zu verfertigen im ſtande
war, mit 6 Schillingen und ver Sachjenfpiegel beftimmte
naiv: Wer eine gewöhnliche Magp „ohne ihren Dank
(d. i. wider ihren Willen) beliegt”, ſoll 3 Schillinge, wer
eine Schaffnerin, ſoll 6 Schillinge Strafgeld bezahlen.
Da wir gerade von hHörigen Frauen fprechen und
einen heifelften Punkt in ihrem Dafein berührt haben,
jo dürfte Hier ein paſſender Ort fein, auch bes viel-
berufenen fogenannten „Rechtes der erften Nacht (jus
primae noctis)“ zu gevenfen. Wie fchon im erften Bud)
erwähnt worben, hing die Verheiratung der Hörigen und
Zeibeigenen beiverlei Gejchlechts von der Einwilligung bes
Gutsheren, beziehungsweife feines Verwalters ab. Für
dieſe Einwilligung, wodurch die zu jchließende Ehe unter
den Schuß der Herrichaft Fam, wurde von dem Bräu-
tigam eine Abgabe entrichtet, das Heiratsgeld oder ber
Ehezins (maritagium), in ven verjchienenen beutfchen
Karlingifche Zeit. 121
Zanden unter verfchievdenen Namen bekannt (Bettmunp,
Bedemund, Hemdſchilling, Frauengeld, Sungfernzins,
Stechgroſchen, Vogthemd, Nadelgeld, Bumede, Schürzen⸗
zins, Bunzengroſchen). Daß dieſes Herrenrecht der Un⸗
ſchuld leibeigener oder höriger Mädchen vielfach gefährlich
werden mußte, lag in der Natur des ganzen Verhält⸗
niſſes zwiſchen Herren und rechtloſen Mägden. Aber es
iſt uns außerdem, wenigſtens aus drei Ländern Europas,
glaubwürdig bezeugt, aus Frankreich, Ruſſland und Schott⸗
land, daß der Miſſbrauch förmlich zu einem Recht ver⸗
ſteinert war: der Herr hatte das Recht der erſten Nacht
bei der leibeigenen Braut2). Was Deutſchland angeht,
fo finden fih auf deutſchem Boden nur wenige Spuren
eines folchen tiefunfittlichen Rechtes oder befjer Unrechtes,
aber doch immerhin deutliche Spuren, fürmliche Rechts:
urfunden, vie, wenn auch in ihrer jeßigen Form erſt in
ber erjten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufgezeichnet, ent-
ſchieden auf ein höheres Alter zurüdweifen und deren
bezügliche Beitimmungen man nicht willkürlich bejeitigen
13) Du Cange, Glossar. cum. supplem. Carpenterii, Ade-
lungii et alior. ed. G. A. L. Henschel (Par. 1845), tom. IV.,
pag. 281 seq. („Marcheta“), pag. 296 seq. („Maritagium“).
Ewers, d. älteſte Recht der Ruſſen, S. 70 fg. Schottland be-
treffend, überfete ih aus Spelmann's Glossar. archaiolog. (1687)
die Stelle: — „Unter den alten Schotten herrſchte der garftige
Brauch (consuetudo), daß ber Herr die Braut des Bafallen in der
erften Nacht umarmte und die Blume ihrer Keufchheit pflüdte.”
In Frankreich hie das Recht droit du cullage oder droit de pré-
libation.
122 Bud II. Kap. 1.
oder gar für „Icherzhafte Ausprüde” ausgeben kann.
Merkwürdiger Weife ſtammen die fraglichen Urkunden
beide aus der Landſchaft Zürich und ift die eine unter dem
Namen der „DOffnung von Maur am Greifenſee“ v. 9.
1543 fchon feit längerer, die andere, die „Öffnung der
Hausgenoffen zu Hirslanden und Stavelhofen” v. J.
1538, erſt feit fürzerer Zeit befannt!9. Es iſt auf-
14) Aber sprechend die hoflüt, weller hie zu der helgen ee
kumbt, der sol einen meyger (Öut8verwalter) laden und ouch
sin frowen, da sol der meyger lien dem brütgam ein haffen, da
er wol mag ein schaff in geseyden, ouch sol der meyger bringen
ein fuder holtz an dashochtzit, ouch soleinmeyger und sin frow
bringen ein viertenteyleines schwynsbachen, und so die hochzit
oergat, so sol der brütgam den meyger by sim wib lassen ligen
die ersten nacht, oder er sol sy lösen mit 5 Schilling, 4 Pfen-
ning. Grimm, Weisthlimer, I, 43. Ouch hand die Burger die
Rechtung, wer der ist, der uf den Güttern, die in den Kelnhof
gehörend, die ersten nacht bi sinem Wibeligen wil, die er nüw-
lich zu der Ee genommen hat, der solder obengenannten Burger
Vogt dieselben ersten Nacht bi demselben sinem Wibe lasen
ligen, wil er aber das nüt thun, so sol er dem Vogt geben vier
Schilling und dryg Züricher Pfenning, weders er wil, die Wal
hat der Brugom (Bräutigam). Zeitſchr. f. ſchweiz. Recht, IV.
I, 76. Ueber ben im Zert beregten Gegenftand vgl. Grimm
Rechtsalterth. S. 384: Walter, Deutſche Rechtsgefch. II, 15; Ofen-
brüggen, Deutſche Hechtsalterth. aus d. Schweiz (Monatsichr. d.
wiſſenſchaftl. Vereins in Züri III, XI, 360 fg.); Bluntſchli,
Staatd- und Rechtsgeſch. der Stadt und Landſch. Zürih, 2. 4.
I, 192 fg. Bluntichli hält die das jus primae noctis feftftellende
Heußerung in dem Weisthbum von Maur — das von Hirslanden
kannte er noch nit — für einen „ſcherzhaften Ausdruck“, obgleich
er nicht leugnen will, „daß nicht manche Herren aus dem Scherze
-
Karlingiſche Zeit. 123
®
fallend, daß die Dertlichleit, wo biefe Dokumente in
Geltung waren, noch nie mit dem Umſtand in Beziehung
gejegt wurbe, daß in den beiden Ländern, in Frankreich
und Schottland, wo das Recht ver eriten Nacht glaub»
haft nachweifbar, ver Grundftamm ver Bevölkerung feltifch
war. Hatten doch auch im Zürichgau vor der ger-
manifhen Invafion Kelten geſeſſen und fo ift vielleicht
im Hinblid darauf, daß gerade nur hier und ſonſt nirgends
in Deutfchland das in Rede ftehende Recht urkundlich feſt⸗
geftellt ji vorfindet, vie Vermuthung ftattbaft, daß
daffelbe urfjprünglih ein keltiſches geweſen. Freilich
ſteht wieder die leivige Thatfache, daß auch anderwärts
in Deutichland der Ehezind der Hörigen eriftirte, dem
Berfuch entgegen, das Germanenthbum von biefem Un-
recht reinzubrennen, und fo bleibt nur die Annahme
übrig, das vorfchreitende Gefühl ver Menfchlichkeit habe
es den Hörigen ſchon frühzeitig ermöglichen wollen, ver
fraglidhen Schmach zu entgehen, und zwar durch Leiftung
einer nicht zu hoch gegriffenen Steuer. Daß aber dieſe
Steuer ven Sinn eines Loskaufs der lejbeigenen Bräute
von. dem Herrenrecht der eriten Nacht hatte, darüber ge-
ftatten die angezogenen Rechtsurfunden gar feinen Zweifel.
Ernft zu maden wußten.“ Aber e8 ift Doch wahrhaftig eine ganz
neue Entvedung, daß die alten Rechtsſatzungen nur jo zum Spaß
niedergejchrieben worden wären, gleihfam zu dem Zwede, einem
fpäteren Juriſten Gelegenheit zu geben, zu jagen: „Das ift ber
Humor davon.” Die Behandlung des Gegenftandes in Maurers
„Geſchichte der Fronhöfe und Bauernhöfe in Deutſchland“, III,
168 fg., ift ganz unzulänglich.
124 Buch II. Kap. 1.
Es fteht uns Nachgeborenen übrigens faum zu, über dieſe
mittelalterlide Barbarei uns zu ereifern. Denn der
Schürzenzins ift zwar aus unferen Gefeßbüchern ver-
ſchwunden, aber der Uſus oder Abufus ift geblieben:
nur beißen die Nußnießer und Opfer vejjelben jegt nicht
mehr Herren und Hörige, fondern Reihe und Arme...
Wenden wir und von diefer Epifode zur Taiferlichen
Pfalz des großen Karls zurüd, fo bejchäftigt uns zunächſt
die Aufgabe,. von der äußeren Erfcheinung der Menfchen,
welche dort aus⸗ und eingingen, namentlich aber der
Damen, ein möglichft anfchauliches Bild zu entwerfen.
Karl, wenn auch wie alle wahrhaft großen Männer für
feine Perſon in Zracht und Lebensweiſe der Einfachheit
zugethan, wußte dennoch bei jeder feierlichen Gelegenheit
einen Pomp zu entfalten, wie er dem Herrn des Abenp-
landes zufam. Freilich wies biefer Hofprunf, wie das
auch die Faiferlihen Pfalzen zu Ingelheim, Nimwegen
und Aachen thaten, welche aus in Italien zuſammen⸗
gerafften Beuteſtücken antiker Kunſt mehr nur aufgeblodt
als aufgebaut waren, noch immer ein barbarifches Ge-
miſch von NReichthum und gefpreizter Ungefügheit auf,
gerade wie die lateinifchen Herameter des Poeten, welcher
in ven karlingiſchen Baläften vie Töne Vergils nachzu⸗
jtammeln unternahm und bier unfer Gewährsmann: ift.
Der ſchon genannte Angilbert nämlich, welchen man einen
farlingifchen Hofrath oder Hofprofeffor beißen könnte,
hat feinen Taiferliden Gönner und Schwiegervater mite
tel8 eines biographiſchen Lobgedichtes verherrlicht, das
jedoch nur bruchftücdsweife auf ung gekommen ift. Eines
Karlingiſche Zeit. 125
diefer Bruchſtücke malt ven Auszug des Kaiſers und feiner
Familie zu einer feftlichen Jagd mit Farben, welche deut:
lich erfennen laffen, was für Anforderungen man damals
an Damen ftellte, die für fchön, elegant und modiſch
gelten wollten. Es ift in feiner Art ein vollitänpiges
Bild des vornehmen Lebens jener Zeit.
Inmitten zahlreichen Gefolges tritt die Königin Lint-
gard, des erhabenen Karls anmuthvolle Gemahlin, aus
dem hoben Gemache hervor, blendenden Nadens, der mit
der Farbe der Roſen wetteifert. Purpurne Binden um-
winden ihr die fehneeigen Schläfen, von Steinſchmuck
ſchimmert der Hals, in doppelten Purpur ift das Linnen⸗
leid getaucht, golvdene Schnüre halten ven Mantel feft
und auf dem Haupte funfelt die Krone von Gold und
Evelgeftein. Sie befteigt das prächtig gefchirrte Pferd
und eine Schar edler Jünglinge und Sungfrauen bereitet
fih, ihr zu folgen. Hinter ihr reitet Prinz Karl mit feinem
Bruder Bipin und durch die geöffneten Thore ſtrömt der
glänzende Jagdzug hinaus. Hörmerfchall und Hundes
gebell erfüllen vie Lüfte. In ftolzer Ruhe reitet Hruotrud
an der Spige der Damen. Auf ihrem blonden Haar
liegt die purpurne Binde, ſchimmernd von Edelſteinen,
und darüber der goldene Kronenreif. Eine ftralende
Spange hält ven Mantel vor der Bruft zufammen. Wei-
terbhin glänzt Bertha aus der Reihe der Frauen und
Mädchen hervor. Männlichen Geiftes, gleicht fie an
Antlig, Blid, Stimme und Haltung dem erlauchten Vater.
Ein goloner Reif umzirkt ihre Stimme, durch die blonden
glänzenden Haare find goldene Schnüre gefchlungen, des
126 Butch II. Kap. 1.
Halſes Schnee birgt ſich unter köſtlichem Marderpelz, das
Kleid funkelt von Topaſen und andern Evelfteinen in
goldener Faſſung. Dann fommt Gifln, die blendend
weiße Schöne. Purpurfäden durchziehen das zarte Ges
webe ihres Schleiers, der auf den rofig angehauchten Hals
und Naden nieverfällt. Wie Silber ſchimmert ihre Hand,
wie Gold ihre Stirne, ihre Augen befiegen an Feuer vie
Sonne und fiher lenkt fie das flüchtige Roß. Hurtig
reitet Ruodhaid einher, auf blühendem Haupt vie gem-
mengefhmüdte Krone. Fuß, Naden und Haar erftralen
von vielfarbigen Steinen, um die Schultern fliegt ver
jeivene, fchmelzverzierte Mantel, vor dem YBufen mit
goldener Nadel geheftet. Dann Theoderade, die zierlichen
Füße in von Steinfhmud fchimmernde Schuhe geftedt.
(Der gute Angilbert vergleicht dieſe Schuhe dem fopho-
Heifhen Kothurn, und wenn das nicht eine übelgewählte
Revefigur iſt, müffen fie recht vide Sohlen gehabt baben,)
Ihre Stirn leuchtet, ihr Haar befhämt an Glanz das
Gold, wie Sterne bliten ihre Augen, eine Kette von echten
Smaragven trägt fie um ven blendenden Hals, mit
punfelm Rauchwerk ift ihr ſchimmernder Mantel verbrämt
und auf fchneeweißem Roß fprengt fie feurig dahin, um⸗
rauſcht von glänzendem Frauengefolge 1%).... Man fieht,
an Schmud fehlte es ven Farlingifchen Danien nicht.
Sie brachten e8 auch, übrigens im Wetteifer mit ven
Männern, glücklich dahin, daß ſchon im I. 808 der über:
15) Monumenta Germaniae historica, ed. Pertz; Scriptor.
II, 398.
Karlingifche Zeit. 127
mäßige Kleiverlurus von ftaatswegen bejchränft werben
mußte. Allervings ging die bezügliche Verordnung nur
auf Einfchränfung des übermäßigen Aufwands, welder
mit dem Pelzwerk (Ausfütterung und Berbrämung von
Röden und Mänteln bei beiden Gefchlechtern) getrieben
wurde ; nichtSpeftoweniger jedoch Haben wir in ihr den Sein
von allen den „Kleiderordnungen“ zu erfennen, womit ſich
zum großen Miſſbehagen mobifcher Herren und Damen
die mittelalterlichen Obrigfeiten fo viel zu fchaffen machten
und zwar, wie befannt, ftet8 mit ſehr problematifchen
oder wenigftens nur augenblidlihem Erfolge. Denn
wenn jogar auf vem Felde der Politik, wie jevermann
weiß, die „Diplomaten im Unterrod” vie gefährlichiten
und unwiberitehlichiten find, wie wäre ihnen vollends
auf dem Gebiete der Mode nachhaltig zu widerftehen ?
Selbftverftännlich hatte fih auf dieſem Felde auch vor
Alters, wie noch heute, das Unfchöne, oft geradezu Tolle
und unbegreiflich Abgefchmadte des größten und dauernd⸗
ſten Beifall zu erfreuen. Denn die Gemeinde der Uns
pernunft war, ift und wird immer fein die zahlreichite auf
Erden. Die Gefchichte ver deutſchen Frauentracht wirb-
uns zu biefer traurigen Wahrheit noch) manche Illu⸗—
itration liefern.
Als Angilbert in den Stralen höfiſcher Gunft und
der Liebe einer Prinzeſſin fich fonnend, feiner Bes
geifterung über vie karlingiſche Herrlichkeit in aufges-
baufchten Verſen Luft machte, al8 er die feurigen Augen
diefer Kronenträgerinnen, worunter fein eigenes Liebchen,
das Goldblond ihrer Haare, ihren rofigen Teint, ihre
128 Bub I. Kap. 1.
zterlichen Hände und Füße, ihr fiheres und anmuthiges
Gebaren befchrieb, da hat er gewiß nicht daran gedacht,
daß der karlingiſchen Dynaſtie ein fo balviges und trüb-
füliges Ende befchievden fein könnte. Hundert und elf
Jahre nach jenem, wo der große Karl im Sankt Beter
das Danaergefchent ver römifchen Katferfrone empfangen
hatte, erloſch die deutſche Linie feines Stammes mitt
Ludwig dem Rind und es war diefer Ausgang ver Kar⸗
linger nicht etwa ein rafcher, glänzender, tragifcher, ſondern
vielmehr nur ein ruhmlojes Hinfterben nad langem
Siehthum, welches bekanntlich fehon mit Karls Nach—
folger, dem frömmelnden und unfähigen Ludwig, be-
gonnen hatte. Es ift nicht unjere Sache, die Phaſen
dieſer Krankheitsgejchichte zu verfolgen; aber als Gegen-
bild der vorhin gegebenen Scene aus dem Hofleben unter
Karl dem Großen wollen wir eine weitere aus dem Leben
feines Urenkels, Karls des Diden, hervorheben, welche
alferdings der urfundlichen Beglaubigung entbehrt, jedoch
in alten Meberlieferungen ver Hauptſache nach überein-
ftimmend erzählt wird. Es ift das Gottesurtheil gemeint,
welchem Richardis, die zweite Gemahlin Karls des Dicken,
fih unterwerfen mußte. Es war eben fein Wunder, daß
ihr Tropf von Gemahl dieſer Dame nicht gefiel; allein
fie hatte überhaupt fein Gefallen an ven Männern und
ſcheint eine jener aſketiſchen Frauen gemwefen zu fein, wie
wir ſolche im Mittelalter nicht felten aus zuchtlofeften
Umgebungen auftauchen jehen. Karl ver ‘Dide, deſſen
Befähigung und Thatkraft zu feinem Wollen, das Reich
Karls des Großen wieder herzuftellen, im lächerlichiten
Karlingiſche Zeit. , 129
Mifjverhältniffe ftand, wurde von feinem Kanzler Liut-
ward, Biſchof von PVercelli, beberriht. Kine Partei bei
Hofe zettelte gegen ven ehrgeizigen Prieſter eine Ränkelei
an, indem fie Karla Gemahlin eines ehebrecherifchen Um⸗
gangs mit dem Biſchof beſchuldigte. Karl war ſchwach
genug, dieſer ärgerlichen Anklage den Lauf zu lafjen;
alfein die Ankläger Hatten fi in dem Charakter ver
Richardis verrechnet. ‘Denn fie bot der Befchuldigung
Trog, mit ver Behauptung, daß fie nte von einem Manne,
nicht einmal, ungeachtet zwölfjähriger Ehe, von ihrem
foiferlichen Gemahl berührt worden und noch Jungfrau
wäre. Ein Gottesurtheil follte darüber enticheiven. Eine
ältefte Tradition fett diefen außerorventlichen Vorgang
in das FJahr 887 und läſſt die angefchulpigte Kaiferin
ihre Unfchuld durch die Wafferprobe ermweifen. ‘Der be-
fannte Chronift Twinger von Königshofen dagegen,
welcher zu Ende des 14. Jahrhunderts ſchrieb, fagt:
„Das (ihre Unſchuld) bewerte fü domitte, daß fü ein ge-
wihſet Hemede ane det und domit in ein Für gieng und
bliep unverjert von dem Füre*. Zwinger mochte fich
dabei auf vie Kaiferchronif ftügen, ein aus dem 12. Jahr⸗
hundert ftammenbes und im 13. liberarbeitetes Reimwerk,
welchem zufolge Richardis das Gottesurtheil der Feuer-
‚probe fiegreich beftand und zwar mit einem wachöge-
tränften Hemd angethan!%). Sehr begreiflich wollte die
16) Die betreffende Stelle der Kaiferchronif lautet neuhoch⸗
deutſch:
„Sie ſchlüpfte in ein Hemde,
Das dazu gemachet war.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. J. 9
130 oo Buch H. Kap. 1.
jo ftreng Geprüfte von ihrem Gemahle nichts mehr wiffen,
fondern begab fich in das von ihr geftiftete Klofter Andlau
im ftraßburger Sprengel, wo fie 896 im Geruche der
Heiligkeit jtarb.
Die Berufung auf ein Gottesurtheil blieb das ganze
Mittelalter hindurch ein letztes Mittel angeflagter Frauen,
fih zu reinigen. Die Orbalien umfaflten, neben dem
ſchon früheren Ortes berührten gerichtlichen Zweikampf,
verjchiedene Proben, bei welchen wir einen Augenblick
verweilen wollen, da wir fpäter bei Vorführung des Heren-
proceſſes darauf zurüdzudeuten haben. Vorwiegende
Proben waren die durch Feuer oder durch Waſſer. Bei
Anwendung des Teuerurtheild mußte der over die Be—
weifende die bloße Hand ins Feuer halten und, wenn er
oder fie ſchuldlos fein follte, dieſelbe unverfehrt wieder
hervorziehen oder er oder fie mußte im bloßen Hembe
durch einen entflammten Holzitoß gehen oder mit bloßen
An allen vier Enden,
Zu Füßen und zu Händen
Das Hemde fie entzunden ;
In einer Heinen Stunden
Das Hemde ganz von ihr brann,
Das Wachs auf das Pflafter rann;
Die Frau des Schadens fo genas —
Sie ſprachen Deo gratias.“
Das ift nun freilich ftarfe — Poefie. Eine Stunde, und wenn
auch nur eine „Leine” Stunde lang zu brennen ohne zu verbrennen,
fo etwas Tonnte man doch nur einer Zeit vorgaufeln, beren Mirafel-
ſucht den dickſten Blödfinn mit Heißhunger verſchlang.
Karlingifche Zeit. 131
Füßen über fieben oder neun glühend gemachte Pflug-
fcharen wegjchreiten over ein geglühtes Eifen mit bloßen
Händen eine beftimmte Strede weit tragen. Bel An-
wendung des Wafferurtbeils mußte aus einem zum Sie-
ten gebrachten Kefjel ein Ring oder Stein mit bloßer
Hand herausgeholt werben („Kefjelfang*) oder ber oder
die Angefchulvigte wurde nadt ins kalte Waffer ge-
worfen. Blieb er oder fie oben ſchwimmen, fo war ber
Deweid der Schuld geleijtet, während das Unterfinfen
die Unſchuld bezeugte, was ohne Zweifel auf dem heid⸗
nifhen und mit ins Chriftenthbum herübergefommenen
Glauben beruhte, das reine heilige Wafjerelement nähme
feinen Verbrecher in fih auf. Dieſer Art des Gottes-
urtheilg wurden im 16. und 17. Jahrhundert zumeiſt die
fogenannten Heren unterworfen und erhielt veffhalb vie-
felbe ven Namen „Herenbad* over „Herenprobe“ 17).
Wie es ſcheint, haben ſich aber die deutſchen Frauen im
Mittelalter in Fällen, wo eine peinliche Anklage auf ihnen
laftete, doch nicht immer auf die Gnade Gottes, fondern
lieber auf die eigene Kraft und Gewanbtheit verlaffen.
Denn es ift uns eine wunderliche Art von gerichtlichen
Zweifampf bezeugt, welche angejchuldigte Frauen mit
Ihren Anklägern zur Erhärtung ihrer Unſchuld ausfochten,
namentlich in Franken. Hier purfte die beſchuldigte Frau
den Beſchuldiger zum Zweikampf mit ihr nöthigen. Die
Waffen waren Stöde, und um das Berhältniß der Kräfte
der beiden Gefchlechter einigermaßen auszugleichen, wurbe
17) Eine Abbildung ſ. in meiner „Germania“, S. 227.
9 ®
132 Bud IL. Kap. 1.
der Mann in eine Grube geftellt, von welcher aus er fich
gegen die Angriffe der Frau vertheidigen mußte, ohne
feinen Blog verlaffen zu dürfen. Wer von den Kämpfen-
den zuerft jeine Waffe verlor, galt für befiegt. Ander⸗
wärts mußte der Mann, wollte er Sieger fein, die Frau
föpflings zu fich in pie Grube hineinftürzen. Gelang e8
hingegen der Frau, den Mann aus der Grube heraus-
zuziehen, jo war ihr Unſchuldstriumph entſchieden '9).
Wir dürfen ung jedoch nicht einbilden, daß im Mittel-
alter binfichtlich der Gottesurtheile alle Leute Töhler-
gläubig gewefen feien. Die Vernünftigeren wußten ſchon
damals fo gut wie heute, vaß man die bloße Hand nicht
ungeftraft an ein glühendes Eifen halten over in einen
fievenden Kefjel tauchen könne, und man müßte blind fein,
wollte man nicht ſehen, daß demzufolge mit den Orba-
lien mander Spott und Ulk getrieben wurde. Auf-
geflärte deutſche Dichter des 13. und 14. Jahrhunderts
— denn ſchon damals gab e8 welche — fpotteten ganz
offen über die Menfchen, welche wähnten, natürliche Ur-
ſachen müßten nicht natürliche Wirkfungen haben. Ein
Gedicht aus jener Zeit macht ung Flar genug, wie es mit
den Ordalien nicht felten gehalten werden mochte 19).
Eine eiferfüchtige Frau betheuert ihrem Manne ihre Liebe
und fordert als untrügliche Gegenverficherung vie Feuer⸗
probe von ihm. Da er fih dazu bereit erklärt, das heiße
- 18) Bulpins, Kuriofitäten, I, 395 fg. mit den dazu gehören-
den Bildern.
19) „Das heiße Eifen” Sagen, Gefammtabenteuer, II, 373 fg.
Karlingifche Zeit. 133
Eifen zu tragen, wird e8 geglüht und auf zwei Steine
gelegt. Der Dann bat aber zuvor einen Span in feinen
Aermel verborgen, welchen er unvermerkt in feine Hand
gleiten läßt, al8 er Hinzutritt, das glühende Eifen auf-
hebt und unter Betheuerung feiner Treue ſechs Schritte
weit trägt. Dann fehiebt er den Span wieder heimlich
in ven Aermel zurüd und zeigt feine unverfehrte Hand.
Die Frau iſt zufriedengeftellt, aber der Mann forvert jofort
von ihr diefelbe Beweisleiftung. Sie meint nun zwar
er jei ja wohl ohnehin überzeugt, daß er ihr lieber als
Leib und Leben. Er jedoch beiteht auf der Probe und
macht das Eifen wieder glühend. Nun bittet fie, er
möchte Nachfiht mit der weiblichen Schwäche haben und
ihr den einen Mann, mit welchem fie außer ihm zu thun
gehabt, verzeihen. Das fagt er zu, befteht aber doch auf
der Feuerprobe. Darauf bittet fie noch um zwei Männer,
und als auch diefe zugeftanden werben, verfpricht fie dem
Gatten drei Pfund heimlich von ihr verwahrten Geldes,
fall8 er noch weitere drei Männer zulaſſe. Er ge-
währt auch dieſes, bevroht fie aber mit dem Tode, fo fie
noch weitere Ausflühte ſuche. Sie muß alfo zu der
Probe fchreiten und nimmt das heiße Eifen zur Hand,
verbrennt fich aber fo jämmerlich, daß fie es fchreiend
falfen läßt. Klüger ftellte fich an und glüdlicher beftand
die Feuerprobe Iſolde, die blonde Heldin Gottfrieds von
Straßburg, welcher um 1210 fein herrliches Gedicht vom
Triſtan fchrieb. Gottfried, der, wie ich anderwärts ge=
fagt, unter ven mittelalterlichen Dichtern wie eine Vorer⸗
ſcheinung Göthe's dafteht, hat aufmanche Eigenthümlichfeit
134 Buch II. Kap. 1.
ſeiner Zeit mit heiterer Ironie herabgeſehen und er hat
deſſhalb auch, ſcheint mir, recht eigentlich es darauf an-
gelegt, die Ordalien lächerlich zu machen. Iſolde war
mit Triften, dem liebenswürbigiten Helden mittelalter-
liher Dichtung, welcher aber unglüdlicher Weife ver
Neffe ihres Gemahls Marke, ins Gerede gefommen und
zwar befanntlich nicht ohne Grund. Sie wird angeflagt,
dem alten Marfe vie Treue gebrochen zu haben, und auf
den Rath feiner Prälaten und Barone veranftaltet der
König, daß fie ſich dem Gottesgericht der Feuerprobe
unterziehen fol 2%). Sie thut e8, Gott und Menjchen
gleichermaßen täufchend. Mittels einer von ihr veran-
ftalteten, höchſt ergößlichen Poſſe kann fie mit gutem
Gewiſſen eivlich geloben, daß außer Marfe nur noch —
und natürlich in allen Ehren — ein armer Pilgersmann,
in defjen Habit aber Zriftan ftedt, in ihren Armen und
an ihrer Seite gelegen habe. Auf dieſen Eid hin „griff
fie in Gottes Namen das glühenve Eifen an und trug es,
daß ſie's nicht verbrann.“ Gottfried ift aber damit noch
nicht zufrieden. Denn indem er erzählt, vie fchöne und
Huge Ifolde habe unmittelbar vor der Feuerprobe reiche
Vergabungen an Gold und Silber, Schmud und Ge-
wänbern „um Gottes Huld“ gemacht, d. h. der Geift-
lichkeit zufließen laffen, deutet ex verftändlich genug
20) Tristan und Isolt, Ausg. v. Mafmann, ©. 383 fg.
Der ganze Verlauf der Ceremonie des Gottesurtheils ift da fehr an⸗
ſchaulich geſchildert. Die geneigte Leſerin verweiſe ich auf die vor-
treffliche Neuhochdeutſchung des Gedichtes durch H. Kurt, S. 384 fg.
Karlingifche Zeit. 135
an, wie die Kirche, unter deren Leitung ja die Ordalien
ftanden, unter Umftänden, d. 5. gehörig darum ange-
gangen, es fo over fo zu veranftalten wußte, daß Eifen
oder Waſſer nicht heißer gemacht wurden, als fich mit ver
menfchlichen Haut verträgt.
Zweites Kapitel,
| ——
Unter den fächfifchen und fränkifchen Kaifern.
Das deutſche Königthum und das römiſche Kaiſerthum. — Kultur-
charalter des Zeitalters der Ottonen. — Hadumod. — Hrotſuith,
die erſte Schriftſtellerin deutſchen Stammes. — Die gelehrte Herzogin
Hadawig. — Die ſchöne Hadburg. — Mathildis. — Lintgard. —
Adalheid. — Theophano. — Dietmar von Merſeburg über die
Frauen ſeiner Zeit. — Kunigunde. — Giſela. — Agnes. — Bertha.
— Agnes von Hohenſtaufen. — Hiltrud. — Das Verbot ber
Prieſterehe. — Widerſtand der deutſchen Geiſtlichkeit. — Folgen
bes Colibatgeſetzes. |
Die Völkerwanderung hatte die Nationalitäten Eu-
ropa's fo durcheinander geworfen und gewürfelt, daß eine
Wiederfonderung und Klärung verjelben nur langjam
fich vollziehen fonnte. Die Staatsivee Karls des Großen,
Einheit der abendländiſchen Chriftenheit unter römiſch⸗
germaniſchem Kaiferfcepter, hatte freilich über wiber-
haarige Völferelemente nur fo lange einen zwingenden
Bann geübt, als fie von einer übermächtigen Perjönlich-
feit getragen wurde. In dem nämlihen Augenblid, wo
der gewaltige Fürft die Augen ſchloß, begann fein ftolzer,
Unter ben ſaͤchfiſchen und fränkiſchen Kaifern. 137
aber wivernatürlicher Reichsbau zu zerfallen; denn unter
dem fchlaffen Regiment feines Nachfolgers Hatten bie
Nationalitäten Zeit und Gelegenheit, fich auf fich felbft zu
befinnen und auf fich felbft zu ftellen. Der Vertrag von
Verdun (843) fchien die naturgemäße Scheidung der
Bölfer von Mittel, Weft- und Süpeuropa in germantfche
und romanifche Nationen zu vollziehen. Allein ſchon
war, zum unberechenbaren Unglüd unferes Vaterlandes,
pie Idee eines „ Heiligen Römifchen Reiches Deuticher Na⸗
tion” zu einer firen geworden. Wie hätte fonft felbft ein
Karl der Dice ihrer Verwirklichung fi) unterfangen
dürfen? Es wäre jedoch ein einfeitiges Verfahren, wollte
man bie Verfolgung des abendländiſchen Kaiſergedankens
nur dem Ehrgeiz veutfcher Herricher auf Rechnung ſchreiben.
Denn ein minveftens ebenfo wirfjames, wenn nicht noch
wirkſameres Motiv war die Politik ver römischen Biſchöfe,
welche im Intereffe der Aufrechthaltung und Ausbreitung
der Kirche der Illuſion der Fortvauer des römischen Cäfaris-
mus pflegten und förverten. Noch ftand das Heidenthum
drobend und häufig angriffsluftig im Often und Norben
des Erdtheils und der römifche Stuhl erkannte unfchwer,
dag nur bie deutfche Nation, welche allein wie ungemifcht
fo auch ungeſchwächt fich erhalten hatte, da® Banner der
Chriftenheit zu führen vermöchte. Daß die Kurie ſchon
frühzeitig auf das Ziel hinarbeitete, mittels des deutſchen
Kaiſerthums die Welt zu beberrichen, ift fiber. Aber
porerft mußte fie e8 gerathen finden, ven römijch-beutfchen
Kaiſer als ihren Beichüger anzuerkennen und den Papa⸗
lismus dem Cäfarenthum unterzuordnen. Erft nach aus⸗
138 Buh I. Kap. 2.
veichender Erſtarkung ver Hierarchie, erft zur Zeit Gre⸗
gors des Siebenten begann der römiſche Stuhl das Ver-
hältniß umzukehren und wollte dann in dem Kaifer nur
nod den erjten Bafallen ver päpftlichen Tiara jehen.
Die Reihsverfaffung Karla des Großen hatte feine
Fürften im Sinne felbftftänpiger Territorialherren ge-
kannt, fondern nur Neich8-, Hof- und Gaubeamte. Aber
als unter feinen Nachfolgern die Reichseinheit in Trümmer
gegangen, hatte ſich die altgermanifche Adelsrepublif, wenn
auch nicht mehr in ven früheren Formen, in Deutfchland
wieder hergeftellt. Aus dieſer Adelsrepublif oder beffer
Adelsanarchie, veren Spigen die Herzoge waren, ging nad)
dem Ausfterben ver deutſchen Karlinger das deutſche Wahl-
fönigthum hervor. Was diefes unter günftigen Umftän-
ven für unfer Land zu leiften vermochte, zeigte fich jofort,
als es durch die Erwählung Herzog Heinrichs des Erjten,
berühmt unter dem Namen des Voglers oder Finklers, im
Sahre 919 an das kraftvolle und mächtige fächfifche Für-
ftenhaus gelommen war. Damit fchten nad) innen und
außen eine gedeihliche Entwidelung Deutſchlands auf
monarchifcher Grundlage gefichert; denn es ließ fich alles
dazu an, das deutſche Wahlreich in ein Erbreich umzu-
wandeln. Leider hat unfer Unftern e8 gewollt, daß ge⸗
rade die trefflichiten unferer königlichen Dynaſtieen nicht
von Dauer waren und daß demzufolge die Adelsanarchie
immer wieder Gelegenheit fand, in das naturgemäße
Wahsthum - des deutſchen Königthums ftörend einzu=
greifen. Hierzu fam das breimal unfelige Bhantom ver
Kaiferkrone, welches gerade unfere begabteften, that⸗
Unter ben ſaächſiſchen und fräntifchen Kaifern. 139
fräftigften und ruhmreichſten deutſchen Könige ihre Haupt:
aufgabe nicht innerhalb, fondern außerhalb Deutſchlands
fuchen machte und fie ihre und ver Nation beſte Kräfte,
ftatt diefelben dem Ausbau eines feitgefugten nationalen
Königthums zuzumenden, an einen für die Dauer doch
ſtets himärifchen Weltreichsbau verſchwenden ließ.
Seltfam! Die Deutſchen veracdhteten die Römer un⸗
fäglid und dennoch gierten die deutſchen Könige, die,
wenn fie nur ſolche hätten fein wollen, im ſtande ge:
wefen wären, Europa Gefege worzufchreiben, nach dem
Luftgebilde ver römifchen Krone, an welche bloß ein Schein
von Macht, aber der wirkliche Haß der fremden Völker
geheftet war, ein Haß, ver bis auf unfere Tage herab fort-
gewirkt hat. ALS der Geſandte Kaiſer Otto's des Exrften,
Biſchof Liutprand, vor dem griechifehen Kaifer Nifephoros
ftand und ihm dieſer verwies, daß er die Unterthanen
feines Herrn Römer genannt babe, welden erlauchten
Namen fie nicht anfprechen könnten, brach ver Bifchof los:
„Wir Deutfche verachten die Römer fo fehr, daß wir
unfere Gegner Römer fchelten, maßen wir mit dieſem
einen Worte alle Schmach, Niederträchtigfeit, Feigheit,
Unzucht, Lüge, Habfucht, kurz alle Laſter bezeichneten “ 21).
Und dennoch widerftand ein Mann wie Dtto der Erfte ver
Lodung nicht, fih im Jahre 962 in Rom vom Papſte
zum römischen Kaiſer frönen zu laffen und damit feinen
Nachfolgern das Beifpiel jener „ Römerzüge“ zu geben,
21) Liutprandi opera (Monum. Germ. hist. Script. II,
263 seq-). Relatio de legat. Constant. cap. 12.
140 Bud II. Kap. 2.
‚welche ven Boden Italiens mit Strömen veutfchen Blutes
gedüngt haben. Zunächſt allerdings fchien ſich unter ver
Weihe dieſer Kröne die Obmacht der Deutfchen über
Europa feitzuftellen. Das Zeitalter ter Ottonen, eine
Glanzperiode, vielleicht die hellſte Glanzperiode unferer
politifhen Geſchichte, fehlen den Traum eines ger=
manifhen Cäſarismus auf die Dauer verwirklicht zu
haben und die Täuſchung währte um fo länger, als im
11. Sabrhuntert, nachdem vie fächfifche Dynaſtie mit
dem Frömmler Heinrich den Zweiten erlofchen und mit
Konrad ven Zweiten das herzogliche Haus der Salfranfen
zum beutjchen Königthum gelangt war, in der herrlichen
Helvdengeftalt Heinrichs des Dritten der Ehriftenheit ein
Kaiſer erftand, welcher feine Miffion im höchiten Sinne
faßte und mit gentaler Energie durchführte. Allein er
warb in der Blüthe feiner Mannheit dahingerafft und
hinterließ einen unmündigen Knaben, Heinrich ven Vierten,
unter deſſen Regierung nachmals alle Früchte der An⸗
ftrengungen, welde vie jächfifchen und fränkiſchen Herr⸗
cher gemacht, verloren gingen. Die deutſche Adels⸗
anarchie erhob unter biefem Kaifer, welcher nicht nach
den einjeitigen Berichten feiner zeitgendffifchen pfäfftfchen
Gegner beurtheilt werben darf, wieder Fed ihr Haupt
und, wie immer, folgte diefer Erhebung das Verberben.
Damals ein um fo 'tieferes, weitgreifenveres, gräuel-
volleres, als die Rebellion ver deutſchen Ariftofratie gegen
pie königliche Gewalt an dem päpftlichen Stuhl einen
Rückhalt gefunvden hatte, welcher e8 ihr ermöglichte, ihre
gemeinen Inſtinkte gewiſſenloſer Selbſtſucht ganz nadt
Unter den fähfiihen und fräntifchen Kaiſern. 141
und ſchamlos walten zu laffen, fo zwar, daß vielleicht zu
feiner andern Zeit deutſche Ehre und Treue jo jehr zum
Spott der Welt geworven find. ‘Die Pläne ver Rurie
waren inzwilchen gereift. Rom nahm jest feine Rache
dafür, daß Gothen, Langobarden, Franken und Sachfen
nah einander mit Siegerfchritten über den Tapitolinifchen
Hügel gegangen, indem Gregor der Siebente, der Prieſter
mit dem büftern, aber weltumfaffenden Geift und dem
eifernen Willen, die Idee der weltbeherrfchenden Roma,
womit das ſchutzbedürftige Papſtthum den ‘Deutfchen ge-
fchmeichelt hatte, von dem Kaiſerdiadem hinweg auf die
Ziara des fogenannten Statthaltere Chriftt übertrug.
Wie die Könige der Chriftenheit, fo follte auch ver Kaiſer
nur ein vollziehendes Organ des großen römifchen Theo-
fraten fein, ver ſich mit einer Ironie, vie an Kühnheit
ohne Gleichen in der Weltgefchichte daſteht, den „Knecht
der Knechte Gottes“ betitelt. Der Traum eines welt-
gebietenden germaniſchen Kaiſerthums war zerfloffen ober
wenigftend Hatten alle die ungeheuren Anjtrengungen,
denſelben fortzuträumen, welche fpäter von den Hohen
ftaufen gemacht wurben, nur fehr vorübergehender Erfolge
ſich zu erfreuen.
Und doch ift, wenn man recht erwägt, der große
Zwieſpalt zwifchen Kaiſerthum und Papſtthum, wie er
im 11. Yahrhundert ‚ausgebrochen, für uns mehr ein
nationales Glück als ein Unglüd gewefen. Der dadurch
zu einem weltgefchichtlichen Motiv gewordene Gegenſatz
zwifchen Germanismus und NRomanismus hat unfere
Nationalität gerettet, hat unfere Sprache zu einer Kultur-
142 Bub U. Kap. 2.
ſprache erhoben, hat dem deutſchen Geifte eine felbft-
ftändige Entfaltung gefihert. Denn daß dieſe gerate in
dem Zeitalter der Dttonen höchlich bedroht war, foll ver
vaterländifch gefinnte Hiftortfer nicht überjehen und ver-
Tchweigen, wenn er mit Stolz auf die politifhe Macht-
ftellung Deutſchlands in jener Periode zurüdhlidt. Im
Wahrheit, das deutſche Wefen war gerade damals in
augenfcheinlicher Gefahr, vom romanifchen völlig über-
wuchert zu werden. Der König der Deutichen trug die
römiſche Kaiferfrone und war bemzufolge auch höchfter
Beihüger römiſcher Bildung, welche fich alle fchmeicheln-
den Erinnerungen des klaſſiſchen Alterthums dienftbar
zu machen wußte, um, wie mit Taufwaſſer und Chriſam
die Xeiber der germanifchen „Barbaren“, jo mit den
Lockungen geiftiger Genüffe ihre Seelen zu fangen, zu
verweichlichen und zu beherrſchen. Die Blicke ver Priefter
waren nad Rom gerichtet und fie empfingen von dorther
die Ermunterung, alle VBerführungen des antifen Heiden⸗
thums aufzubieten, um die Nachllänge des germanijchen
aus ven Gemüthern zu tilgen. ‘Die kofmopolitifhe Theo⸗
fratie Noms mußte ja überall darauf ausgehen, bie
Wurzeln der Nationalitäten zu durchſchneiden, und jo
befämpfte fie auch in Deutjchland die nationalen Ueber⸗
lieferungen, vie alten Helvdenfagen und Göttermythen,
die Mutterſprache und ven einheimifchen Volksgeſang.
Rom fühlte wohl, daß die deutſche Eiche aus dem Boden
gehoben und ganz römifch zugehauen werben müßte,
wenn fie für die Zukunft einen verläfflihen Pfeiler
der Kirche abgeben ſollte. Die Ottonen, beraufdt
Unter den fächfifchen und fränkiſchen Kaifern. 143
vom Taumelkelche des Cäfarismus, gingen .varauf ein.
Sie thaten manches, vieles fogar für die Kultur Deutfch-
lands; aber was fie thaten geſchah ganz im Sinne ver
römifch-Firchlichen Bildung. Im 9. Jahrhundert Hatte
e8 bereits Anfänge und ziwar nicht gemeine Anfänge einer
deutſchen Nationalliteratur gegeben. Der Sänger des
„Heliand“ und der Evangelienharmonijt Otfried durften
fih neben jedem Dichter ſehen laſſen, welchen das erite
Jahrtauſend chriftlicher Weltanſchauung hervorgebracht
bat, oder vielmehr die beiden Deutjchen waren die erften
riftlichen Dichter, welche diefen Namen überhaupt ver⸗
dienten. Aber die ottonifche Beriode hat dieſe national»
fiterarifchen Anfänge nicht weitergeführt. Die deutſche
Literaturgefchichte des 10. Jahrhunderts ift ein leeres Blatt.
Alles, was während der Regierung der drei Dttonen
Bildung hieß, beruhte auf blinder Nachahmung römifchen
Weſens. Man hat von einer in dieſer Epoche vor fich
gegangenen Verſchmelzung des heipnifch-germanifchen, des
antif-Haffifchen und des chriftlichen Rulturelementes ge⸗
fprochen : ich Tann aber eine ſolche Verfchmelzung überalt
nicht fehen. Im Gegentheil, das nationale Element trat
fo fehr in den Hintergrund, daß e8 ganz verichwunden zu
fein fchien, und die einfeitigfte Latinität beherrſchte alles.
Betrachten wir, was damals in teutfchen Landen in ber
Baukunſt, Bilonerei und Malerei gefchaffen wurde, be⸗
laufchen wir den gelehrten Mönch oder vie gebildete Nonne,
wie fie in der Stille ihrer Zellen die Gefchichte ver Zeit
aufzeichnen oder ven ftumpfen Kiel zur Nachbildung
antifer Versmaße zwingen, überall ſehen wir, daß nad.
144 Buch I. Kap. 2.
römiſchen Muftern gebaut, gemeißelt und gemalt, ges
fchrieben und geverjelt wurde. Nirgends ein felbftitän-
diges Streben, nirgends ein nationaler Ton’ und Klang.
Latein war die Sprache der Kirche, des Hofes, ver Ge-
bildeten überhaupt und innerhalb dieſer Kreife ver Latei-
nifhen Kultur gingen das griechifch-römiiche Heiden⸗
thum und das jübifche Chriftenthuum wunderlichite Ver⸗
bindungen ein. Von einer harmonifchen Geftaltung des
Lebens war nirgends die Rebe : die rohefte Barbarei jtand
unvermittelt neben mönghifchgelehrter Ziftelei. Die fitt-
liche Umbildung der Germanen durch das Chriftenthum
hatte nur erft begonnen und noch immer wirkte die Ver⸗
wilderung der Gemüther von der Völkerwanderungszeit
ber in allen Stänten nad. Man lefe nur die Schil-
derungen, welche ein deutſcher Mönd des 10. Yahr-
hundert, Rather, nahmals Biſchof von Verona, von
dem Gebaren ver Geiftlichkeit in Italien entwirft, und
man wird fich Leicht vorjtellen fönnen, wie es auch dieſſeits
der Alpen in dieſen Rreifen, welche immerhin noch die
gebilvetiten waren, damals hergegangen. Von Biſchöfen
und Prälaten fprechend jagt er: „Sie befchäftigen fich
beftändig mit weltlichen Spielen, mit Sagen und Vogel-
ftellen. Sie pflegen nach deutſcher Sitte Wurffpieße zu
ſchwingen und entwöhnen ſich ver heiligen Schriften.
Sie haben fich Gottes entfleivet, haben die Welt ange-
zogen und fcheuen fich nicht, Zaienkleiver zu tragen. Sie
jpielen Kreifel und meiden auch das Würfelipiel nicht; -
fie gehen fleißig mit dem Spielbrette anftatt mit ver
Schrift, mit der Wurficheibe anftatt mit dem Buche um.
Unter den ſächſiſchen und fränkiſchen Kaifern. 145
Sie haben Schauspieler lieber als Priefter, Luftigmacher
lieber als Geiftliche, Läufer lieber al® Bhilofophen. Sie
gieren nach griechiſchem Schmude, babylonifcher Pracht,
ausländiſchem Putze. Ste lafjen fih goldene Becher,
fifberne Schalen, Kannen von großer Koſtbarkeit, Krüge,
ja Trinfhörner von beveutendem Gewichte und von einer
jedem Zeitalter verhafften Größe machen. Sie bemalen
den am Boden ruhenden Weinfrug, während die nahe
Baſilika vom Ruf erfüllt ift. Nach dem Mahle befteigen
fie Wagen, ſetzen fih auf fhäumende Roſſe, aufgeputzt
mit goldenen Zügeln, filbernen Kettengehängen, veutfchen
Zäumen, ſächſiſchen Sätteln, und eilen zu allerhand Zeit»
vertreib, ven ihnen der Raufch eingegeben hat“ 22).
Es ift wohlthuend, die Augen von ſolchem Männer-
treiben hinweg und auf jene veutfchen Frauen hin zu
wenden, welche wie Xichtbilder von dem dunkeln Hinter-
grunde des 10. und 11. Jahrhunderts fich abheben. Sie
erfcheinen als Trägerinnen der bejjeren Sitte, ver feineren
Bildung und einer aufrichtigen, wenn auch mitunter in
Mitteln und Zweden gänzlich fehlgreifenden Frömmig-
feit. Gleich beim Aufgange des Glanzes der fächfiichen
Dynaftie tritt uns als eine anziehende Geſtalt die Schwefter
des Herzogs Otto des Erlauchten entgegen, Hadumod,
die Gründerin und erfte Aebtiffin des berühmten Stiftes
Gandersheim, welches unter ihr und ihren Nachfolgerinnen
Gerberga und Ehriftiana ein Mittelpunkt gelehrter Stu-
dien und Verfuche war. Hier, in Gunversheim, lebte in
22) Bogel, Ratherius von Beroma, 1.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 10
146 Buch IL. Kap. 2.
der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts auch jene Nonne
Hrotſuith (Roſwitha), welche die Reihe der deutſchen
Schriftſtellerinnen eröffnet, obgleich ſie nicht in die deutſche
Nationalliteratur gehört, da ihre Werke in lateiniſcher
Sprache geſchrieben find 3. Eine eigenthümliche Er⸗
ſcheinung, dieſe Kloſterſchweſter, etwas von einem Poeten,
etwas von einem Blauſtrumpf. Sie iſt ſehr fleißig ge-
wefen. In vielen hunderten von Verfen hat fie Heiligen-
legenven erzählt, die Thaten Otto's des Erſten befungen,
die Gründung ihres Kloſters geſchildert. Aber ein blet-
benveres Andenken bat fie fich mittel ihrer ſechs Komö⸗
dien gejtiftet, welche, in einem zwijchen Profa und
Rhythums ſchwankenden Stil verfafit, die Anfänge der
dramatifchen Dichtung in Deutichland ausmachen. Ihre
Abſicht dabei war nicht fo faft eine Fünftlerifche als viel-
mehr eine moralifhe. Sie hat das in der Vorrede zu
ihren Dramen fo ausgefprochden: — „Selbft unter ven
23) Zuerft wurden die Werke der Hrotfuith ober Hrotſvitha
veröffentlicht dur Konrad Eeltes (1501). Die neuefte Ausgabe
beforgte K. A. Barad (1858). Bon den Komödien hat. Bendiren
eine Verdeutſchung in gereimten Berjen geliefert (1850—53). Nicht
ganz mit Stillſchweigen ift zu übergehen, daß die neuere Hiftorifche
Kritik — in diefem Falle von 3. Aſchbach gehandhabt — das Dafein
der gandersheimer Nonne oder wenigftens ihre Autorichaft anzweifeln
zu müſſen geglaubt bat. Diefer auf verfchiebene nicht Teicht wie-
gende Gründe geftügten Anzweifelung zufolge wären die Werke der
Rofwitha nur Unterfhiebungen, verfafft von dem Unterjchieber
Konrad Eeltes. Ein Vollbeweis hierfür ift aber keineswegs erbracht
worden und demnach darf die berühmte Nonne ihres Plates in der
deutſchen Kulturgefchichte nicht beraubt werben.
Unter den ſächfiſchen und fränkiſchen Kaifern. 147
Katholiken laſſen gar manche ſich blicken (kann auch mich
ſelber nicht befrei'n von jenem Vorwurf als gänzlich rein),
die der gebildeten Sprache wegen der heidniſchen Schriften
Eitelkeit vor der heiligen Schriften Nützlichkeit den Vor⸗
zug zu geben pflegen. Daneben man wieder andere
trifft, die halten feſt an der heiligen Schrift, verſchmähen
das übrige Heidenweſen, während ſie doch des Terentius
Komödien immer und immer wieder leſen und durch des
Inhalts Gemeinheit die Seele entweihen, indem ſie an
der Sprache Reinheit und Feinheit ſich erfreuen. Daher
für mich der Drang und Grund, als Gandersheims heller
Klang und Mund 9), nicht dem Begehren zu wehren, dem
nachzuahmen in Red' und Wort, ven andere durch Leſen
ehren, auf daß in ähnlicher Redeweiſe, in welcher ge-
ſchildert ift wollüftiger Weiber Liebe, auch Heiliger Jung⸗
frauen keuſche Triebe geſchildert würden zu ihrem Preife.“
Alfo ven bevenklichen Wirkungen der allerdings eine laſ⸗
cive Gefellichaft unverblümt genug darſtellenden Komödien
eines Terenz wollte Hrotfuith durch Dramen entgegen-
arbeiten, welche vom chriftlichen Standpunkt ausgingen.
Die Imhaltsangabe der am meiſten charakteriftifchen
Stüde ver guten Nonne mag zeigen, wie fie ihre Aufgabe
24) Clamor validus Gandershemensis. Grimm (Lateinifche
Gedichte des 10. und 11. Jahrhunderts, reg. v. Grimm und
Scmeller, IX) ift der Anſicht, dies fei nur die Lateinifirung des
Namens Hrotſuith. Wir müßten alfo annehmen, Hrotfuith fei ein
Bei⸗ und Ehrenname gewefen, welden man unjerer dichtenden
Nonne gegeben und welcher die „Wohlklingende“, „Helllautende“,
„Volltönende“ bedeutete.
10*
148 Buch II. Kap. 2.
nahm und burchführte Im „Dulcitius“ dringt der fo
geheißene Statthalter in die Wohnung von drei heiligen
Yungfrauen, Agape, Chionia und $rene, um an ihnen
fein Gelüfte zu befriepigen; aber, plöglih von Geiftes-
veriwirtung befallen, umarmt er ftatt ver Mäpchen Töpfe
und Pfannen, wodurch er ich garftig befuvelt. Im
Aerger über dieſe feinem Statthalter wieverfahrene
Schmach läſſt ver Kaifer Diofletian die Sungfrauen dem
Strafen Sifinnius zur Beftrafung übergeben und fie er-
leiden den Märtyrertod. Cine andere Baffionsgefchichte
fptelt fich in ver „Sapientia” ab, wo die drei Schweitern
Fides, Spes und Charitas auf Befehl des Kaiſers Hadrian
ausführlih gemartert werben, während ihre Mutter
Sapientia dabei fteht und fie zur Ausdauer ermahnt.
Im „Abraham“ ift ver Fall und die Belehrung der Maria
dargejtellt, einer Nichte des genannten Einfievlers, welche,
nachdem fie zwanzig Jahre lang in der Einfamteit gelebt hat,
verführt wird, in die Welt zurüdfehrt und vie Laufbahn
einer öffentlichen Buhlerin betritt. Abraham fucht fie
unter der Maſke eines Liebhabers auf und weiß fie dahin
zu bringen, daß die Gerührte ihrem ſchmachvollen Wandel
entfagt und ihre noch übrige Lebenszeit ver Buße und
Raftetung widmet. Ganz ähnlichen Inhalts ift ver
„Paphnutius“, worin die Belehrung ver Buhlerin Thais
vorgeführt wird. Man fieht, Hrotfuiths Dramen find
feine „Komödien“, ſondern pramatifirte Heiligenlegenven,
worin von Anfang an auf einen erbaulihen Schluß hin-
gearbeitet wird. Der Inhalt fpiegelt ven ausfchweifen-
ven Wunverglauben einer Zeit wieder, wo man das
Unter ven ſächſiſchen und fränkiſchen Kaifern. 149
Weſen des Chrijtentbums in eine Phantafterei fekte,
welche an das Abſurde glaubte, nicht obgleich, fonvern
weil es abjurd war. Die Form diefer dramatifchen
Verſuche angehend, fo iſt fie holzſchnittartig troden
und marionettenhaft unbelebt; aber wir finden hier im
ganzen ſchon dieſelbe Technik, wie in den Weihnachts⸗
und Oſterſpielen („Myſterien“) des ſpäteren Mittelalters.
Ob auf dieſe die dramatiſchen Holzſchnitte ver „Hell-
lautenden“ von Gandersheim eingewirkt haben, ſteht dahin.
Beſitzen wir doch keinen Anhaltspunkt, zu beſtimmen, ob
Hrotſuiths Komödien zur ſceniſchen Darſtellung gelangt
ſeien oder nicht. So ganz unwahrſcheinlich iſt es jedoch
nicht, daß ſich die Inſaſſinnen eines Stiftes, wo die
lateiniſche Sprache allen geläufig fein mochte, die Lange⸗
weile bleierner Winterabende dadurch gefürzt und er-
leichtert haben, daß fie die noch dazu ad majorem dei
gloriam gejchriebenen Dramen ihrer frommen und ge—
lehrten Mitfchweiter in Ehrifto zur Aufführung bradten.
Die armen Nonnen find, wie befannt, damals und Später
mitunter auf Zeitvertreibe verfallen, welche viel weniger
erbaulich waren als vie Darftellung fo einer hrotjuith’fchen
Komödie. Allerdings könnte man etwas ftutig werben
über den Umjtand, daß unfere gandersheimer Nonne
die jungfräulichen Gefühle ihrer Mitfchweftern nicht eben
jehr jhonte. ‘Denn fie bewegt fich, wie wir gejehen, mit
einer gewiffen Vorliebe in verfänglichen Situationen. Ob
daran ihr Vorbild Terenz allein Schuld war? Oder hatte
fie in jungen Jahren ver Liebe Luſt und Leid felbit er-
fahren und blidte nun mit einem aus heimlichem Mohl-
150 Buch U. Kap. 2.
gefallen und altjungferliher Seelenfäure gemifchten Ge-
fühl auf jene Erfahrungen zurüd? Es könnte manchmal
faft fo ſcheinen. Gerade va aber, wo die menfchliche und
weibliche Regung durch die erbauliche Schablone hindurch⸗
Ichlägt, ift die gandersheimer „ Wohlklingende“ am liebens-
würbigften. Da ftreift fie wenigſtens mitunter an Poeſie.
Wo fie aber ven Elöfterlichen Blauftrumpf in gefpreizten
Stellungen fehen läſſt, d. h. wo fie, wie in der Sapientia
und im Paphnutius gefchieht, in ven fubtilen und fub-
fimen Grübeleien und Tifteleien fich ergeht, welche man
im 10. Jahrhundert und noch Tange nachher für Philo-
jophie anfah, da ift die „Volltönende“ nur noch eine
ſchrille Schelle, deren gelehrtes Gebimmel fich ſehr un-
angenehm macht .....
Zur nämlichen Zeit, als droben am Harz in einer
Zelle des gandersheimer Stiftes Hrotjuith ihre frommten
Komödien ſchrieb oder diefelben den ftaunenden Schwe-
ftern im Kapitelfal vorlas oder gar, vielleicht in An-
wefenheit Kaiſer Dtto’8 des Zweiten und feiner griechi-
{hen Gemahlin Teophano, die Darjtellung eines viefer
Stüde durch die Klofterfchwefterfchaft mit fundiger Hand
leitete, — zur nämlichen Zeit ſaß drunten in Schwaben
auf dem Klingſteinfels Hohentwiel eine zweite große Ge⸗
Lehrte von damals, Hadawig (Hedwig), des Schwaben-
berzogs Purchard Wittwe, und ließ fich von dem Mönd)
Ekkehard dem Zweiten, den fie fich prüben in St. Gallen
von feinem Abte zum Lehrer ausgebeten, den Ovidius und
Bergilius erflären. Oper fie lafen auch und ſtudirten mit-
ſammen die alten Boeten ; aber immer in Gegenwart einer
Unter den jächftfchen und fränkischen Kaiſern. 151
Dienerin und bei offenen Thüren, um jeden niedrigen
Verdacht fernzuhalten. Denn Frau Hadawig war ebenfo
ſtolz als ſchön — man muß fie fich mit dem Anflug eines
ftarfen Schattens von Bärtchen auf ver gebieterifch auf-
geworfenen Oberlippe denken und, da ihr die won ihr als
Fünf» oder Sechszehnjährige mit dem beträchtlich älteren
Purchard eingegangene Ehe feine Kinder gegeben, mit einem
ſcharfen Zug der Verbitterung über verfehlte Beftimmung
um die Mundwinkel — fie war eine ernfte Dame, Land und
Leuten eine geftrenge und, wie unfere Quelle jagt, fogar
fehredlihe Herrin?). ALS Kind dem griechtfchen Kaifer
- Konftantin dem Sechften zur Frau beftimmt, hatte fie von
einem zu biefem Zwede aus Byzanz geſandten Eunuchen
griechiſch gelernt, aber die Grazien waren ihr fernge-
blieben. Wenn fie im Zorne ſchwur: „Bei Hadamwigs
Leben!” hatte man fich vor ihr zu hüten. Auch ihr armer
Präceptor Ekkehard, zubenannt „Palatinus“, weil er auf
Verwenden der Herzogin nahmals Kaplan am veutjchen
Königshofe wurde, Hatte unter den Launen ver gelehrten
Virago zu leiden und es mochte ihn unter feiner Kutte
fröfteln, als die Herzogin eines Tages befahl, einem
hörigen Diener, welcher fih ein unfreiwilliges, ja be
fohlenes Verſehen gegen ven Mönch hatte zu fehulden
25) Hadawiga .... femina admodum quidem pulchra,
nimiae severitatis cum esset suis, longe lateque terris eratterri-
bilis Ekkehardus IV. (nicht der „palatinus“), Casus 8. Galli.
Pertz, Monum II, 122. Das 10. Kapitel dieſer für bie deutſche
Sittengefhichte des 10. Jahrhunderts unſchätzbaren St. Galliſchen
Kloſterchronik beſchäftigt fich mit der Herzogin Hedwig.
152 Bub II. Kap. 2.
fommen laſſen, „Haut und Haar abzufchlagen”, d. h. ihm
eine erlledfihe Anzahl von Authenftreichen zu geben un
bie Haupthaare mit einer hölzernen Kluppe auszuraufen.
Noch Schlimmer, die Schülerin ließ fogar eines Tages den
Xehrer jelber vurchpeitfchen. Mean fieht, vie Sentimen-
talität machte dieſen Ariftofratinnen des 10. Sahrhun=
derts wenig zu fehaffen und an Nervenfchwäche fcheinen
fie auch nicht gelitten zu haben. Die „jchredliche Herrin”
Hadawig iſt hochbetagt i. J. 994 geftorben und im
Kloſter Reichenau begraben worden.
Das Familienleben ver vornehmen Kreife diefer Zeit
bietet manche ſchöne, aber auch manche ärgerliche Seite.
Auf Firchlihe Gebote und Verbote haben damals vie Lei-
denichaften veuticher Erelinge wenig geachtet und mancher
hat feinem Liebchen den Nonnenfchleier abgeftreift, um
den Brautkranz an deſſen Stelle zu fegen. So aub
Heinrich ver Finkler, der gewaltige Bezwinger der Ungarn,
welcher zwar nicht, wie es in ven Schulbüchern heißt,
die deutichen Städte gegründet, wohl aber das Empor:
fommen verfelben wefentlich geförbert hat. In jugend»
licher Liebe zu der verwitweten Tochter des Grafen Erwin
von Merfeburg, ver jchönen Hadburg, entbrannt, welche
als Nonne in einem Klofter lebte, troßte er, fie zu be-
figen, vem Kirchenbann und vermählte ſich mit ihr. Aber
ein Jahr fpäter, als ihm feine Frau einen Sohn geboren,
fiel ihm ein, daß dieſe Ehe denn doch eine unerlaubte wäre,
und fo fandte er die arme Hadburg ins Klofter zurüd.
Die Urfache dieſes Gewiſſensſkrupels war eine ſehr ſchöne,
nämlich die jungfräulihe Mathilvis, dem Stamme des
Unter ven ſaͤchſiſchen und fräntiichen Kaifern. 153
alten Sachſenherzogs Witufind entjproffen, Tochter des
reihen Grafen Dietrich von Ringelbeim, welche von ihrer
Großmutter im Klofter Herford erzogen wurde. Auf
diefes Mädchen, das noch dazu eine reiche Erbin, war
Heinrichs Auge gefallen und er begab fich als Freiwerber
nach Herford. Der alte Xebensbefchreiber der Königin
Mathilvis hat dem Vergil die Farben entlehnt, womit er
Heinrichs Werbung und Verlöbnig malt. Zuerſt, erzählt
er, betrat Heinrih nur mit wenigen Begleitern und unter
dem Scheine geringer Leute das Bethaug und fo betrachteten
fie im Tempel ſelbſt das fittfam und ftattlich geartete
Mädchen. Darauf verließen fie die Stadt, ſchmückten fich
mit Töniglihen Gewänvern, fehrten von einer großen
Menge begleitet zurüd, fuchten die großmütterliche Aeb-
tiffin auf und drangen in fie, daß bie Jungfrau, um
deren willen ſie gekommen, ihnen vorgeftellt würde. Da
trat Mathildis hervor, auf den fehneeigen Wangen mit
der Flamme Röthe übergoffen, und als wären glänzenve
Lilien gemifcht mit rothen Roſen, folche Farben bot ihr
Antlitz. Als Heinrich fie erblidte und ihre Erſcheinung
frifh empfand, heftete er fein Auge auf die Jungfrau, fo
fehr von Liebe zu ihr entzündet, daß das Verlöbniß feinen
Auffehub erlitt. Mit alleiniger Billigung ver Grof-
mutter, ohne Wiffen der Eltern, ward fie mit Anbruch
des nächften Tages von dort mit allen Ehren nach der
Sachſen Heimat geleitet, bis das Hochzeitömahl, ganz wie
e8 angefehenen und dereinſt Föniglichen Perſonen ziemte,
in Wahlhaufen gefeiert wurde. (Von einer Firchlichen
Trauung ift alfo auch hier noch gar feine Rebe.) Hier
154 Bub II. Kap. 2.
endlich pflegten fie gejtatteter Xiebe und als Morgengabe
verlieh er ihr die nämliche Stadt mit allem Zubehör 26).
Mathilvis, Mutter Otto's des Großen, Stifterin ver be-
rühmten Frauenabtei Quedlinburg und nach ihrem Tode
heilig gefprochen, hat in fraulich-mildem Sinne auf ihren
mitunter herben und harten Gemahl eingewirkt und er-
icheint durchaus im Licht einer züchtigen, fanften und
Mugen Hausfrau und Fürftin. Die berühmte Chronik
des Biſchofs Thietmar von Merfeburg (geb. 976, get.
1019) enthält aug dem Leben dieſer Königin einen Zug,
der mir charakteriftifch fcheint, well er einen Winf gibt,
wie die Geiftlichkeit e8 anftellte, um vie Leidenſchaften ber
Großen von damals unter die Firchlihen Satungen zu
beugen. An hohen Feittagen, zur Faftenzeit und bejon-
ders in der Charwoche war der eheliche Umgang Firchlich
unterfagt. Als nun einmal am grünen’ Donnerftag König
Heinrih ſich ftarf berauſcht und feine „heftig wiber-
ftrebente“ Gemahlin zur Leiftung ver ehelichen Pflicht
gezwungen hatte, wurde die fromme Frau nicht wenig
durch die Vorftellung geängftigt, fie hätte einen Sohn
empfangen, der ohne Zweifel vem Satan gehörte. Zum
Glück ward ihr darauf ver Troft gegeben, das Taufwaſſer
würde das Rind reinwajchen ?”).
Otto der Erfte hatte zur erſten Gemahlin eine engel⸗
ländiſche Prinzeſſin, Editha, auf deren Antrieb er den
Bau der Stadt Magadaburg (Magdeburg) unternahm.
26) Das Leben d. Königin Mathilde, deutih v. Jaffé. Ge-
ſchichtſchr. d. d. Vorzeit, X. Jahrh. 4. Bd. ©. 7.
27) Thietmar (Monum.G. h. III, 723 seq.) lib. I, cap. 14.
Unter den ſächſiſchen und fränkiſchen Kaifern. 155
Sie gebar ihm eine Tochter, Liutgard, welche vem Herzog
Konrad von Oftfranfen vermählt wurde. Ein gewiffer
Kono befchuldigte vie keuſche Frau ver Unzucht, aus Rache,
weil fie feine Anträge nicht erhört hatte. Ste verlangte,
mittel8 eines Gottesgerichtsfampfes fich won der ſchnöden
Verleumdung zu reinigen. Ein Graf Purchard ftellte
fih als ihr Kämpfer und überwand ven Lügner. Na
ihrem Tode wurbe zum Gedächtniß ihrer hausmütter-
lichen Tugenven eine filberne Spinvel über ihrem Grab
in der Albanifirhe zu Mainz aufgehangen 2). Nach
Editha's Tod heiratete ver Kaifer die Witwe des Königs
Lothar von Italien, Adalheid, Tochter des Grafen Rudolf
von Burgund, an Geift, Willenskraft und Herrichertalent,
wie an edler Weiblichkeit wohl die erfte Frau ihrer Zeit,
vielgeprüft vor und nach ihrer Vermählung mit Otto, aber
dieſe Prüfungen jo beftehend, daß die Heiligiprechung
felten einer Würdigeren als ihr wiverfahren ift, in das
Reichsregiment bei Gelegenheit, namentlih nah dem
Tode des großen Kaifers, mit weifem Sinn und fefter
Hand eingreifend. Ihr Zeitgenoffe und Biograph, ver
Abt Odilo von Cluny, hat nur die Wahrheit geredet,
wenn er ber erlaudten Fürftin würbevollen Ernft und
gelajiene Freundlichkeit im Benehmen nahrühmte, wenn
er ihre überſtrömende Freigebigfeit, ihre unermüdliche
Barmherzigkeit gegen Arme und Leidende, ihre Demuth
im Glüd, ihre Geduld im Unglüd, ihre Selbitbeherr-
{hung und Einfachheit pries und fein Lob in dem jchd-
28) Thietmar, II, 24.
156 Bud II. Kap. 2.
nen Ausſpruch zuſammenfaſſte, vie Raiferin fei allzeit
und überall von ver Mutter aller Tugenden begleitet ge-
wejen, von der Mäßigung?s). Adalheids Sohn,
Dtto der Zweite, führte i. J. 972 die .griechifche Prin⸗
zeffin Theophano heim und die Fuge Byzantinerin wußte
ſich leidlich in die deutſchen Berhältniffe zu fehiden, ob-
gleich ihr viefelben frembartig genug vorlommen mußten
und fie ihres Spottes über die germanifche Ungefchlacht-
heit fein Hehl hatte. Sie begünftigte vie Haffifchen Stu-
dien höchlich, erwies ſich auch als eine feine Politikerin,
hat aber den Vorwurf auf ſich gezogen, die Mobethor-
heiten von Byzanz in Deutfchland zur Geltung gebracht
und durch ihr Beifpiel die deutſchen Frauen zu allerlei
üppigen Ausschreitungen im Anzug und zu bevenflichen
Putzkünſten verleitet zu haben. Zur Zeit Kaifer Heinrichs
des Zweiten mußte e8 damit fehon weit gefommen fein,
denn Thietmar von Merfeburg, welcher damals fchrieb,
fand an feinen Zeitgenoffinnen zu tadeln, daß fie, ein-
zelne Theile ihres Körpers auf unanftänvige Weife ent-
blößend, allen Liebhabern ganz offen zeigten, was an ihnen
fell wäre, und ohne alle Scham allem Volke zur Schau
einherwanvelten 3%). Es jcheint, daß gerade unter ber
Regierung des genannten frömmelnvden Kaifers in ver
vornehmen deutichen Frauenwelt, zur Seite einer über-
jtiegenen, ja efelhaften Affefe — Thietmar führt als
Mufterbild ſolcher Frömmigkeit eine Einfiedlerin Namens
29) D. Leben d. Kaijerin Adalheid, deutſch v. Hüffer, Ge⸗
ſchichtſchr. d. d. V. X. Jahrh. 8. Bd. ©. 19.
30) Thietmar, IV, 41.
Unter den ſächſiſchen und fräntifchen Kaifern. 157
Sifu auf, welche „das Uingeziefer, von dem fie fortwährend
geplagt wurde, nicht wegwarf, fondern das zufällig ab-
gefallene fich wieder anfegte* — eine ſehr gefteigerte
Sittenlofigfeitt im Schwange gewejen. „In unferen
Tagen, jagt der gute Biſchof von Merfeburg, treiben
außer ver Menge der verführten Mädchen noch gar manche
verheiratete Frauen, denen geile Luft den verberblichen Kitzel
anreizt, Unzucht und zwar noch zu Lebzeiten ihrer Männer.
Und damit nit einmal zufrieden, überliefert manche
noch, indem fie ihren Buhlen heimlich dazu antreibt, ihren
Ehemann der Hand des Mörbers, ven fie darauf öffentlich
zu fich nimmt und mit ihm nad) vollem Belieben buhlt“ 3).
Heinrich8 des Zweiten Gemahlin Kunigunde erfcheint bei
Thietmar als eine ehrbare und verftändige Fürftin, Die
auch in Staatsjachen mit ficherem Takte das Rechte zu
treffen wußte. In der Legende dagegen ift fie zur Hei-
ligen hinaufphantafirt, die ihre jungfräuliche Keufchheit
auch in der Ehe bewahrte und ven Teufel zu Kirchen-
bauten kommandirte, aber dennoch der Verleumdung nicht
entging. ‘Des unzüctigen Umgangs mit einem Hof-
herrn befchulvigt, unterzog fie fih einem Gottesurtheil,
wie vormals Karls des Dielen Gemahlin NRicharvis,
und trat bloßen Fußes unverlegt fieben glühende Pflug-
ſcharen.
Der ſehr beträchtliche Einfluß, welcher unter dem
Reichsregiment der ſächſiſchen Dynaſtie den königlichen
Frauen zugeſtanden wurde und der dem Reiche keineswegs
31) Thietmar, VIII, 2 6.
158 Bub II. Kap. 2.
zum Schaden gereichte, ging auch auf die Frauen des
falifch-fränfifchen Haufes über. Sp war Gijela, Konrads
des Zweiten Gemahlin, eine wohlthätige Ordnerin, bes
ſonders firchlicher Angelegenheiten, und was die Frau
. ihres großen Sohnes, Heinrichs des Dritten, Agnes an-
gebt, jo war e8 ein jchweres Unglück für Deutjchland,
daß die verrätherifche Selbſtſucht der Fürften den un-
mündigen Knaben, welcher nachmals Heinrich ver Vierte
wurde, der Vormundſchaft einer ſolchen Mutter viel zu
frühe entriß?). Der Sechszehnjährige vermählte fich
i. 3. 1066 mit Bertha von Savoien, deren Gefchichte
eine Xeidensgejchichte war. Denn Heinrich faſſte un-
mittelbar nach der Hochzeit einen heftigen Widerwillen
gegen feine junge Frau und ging mehrere Jahre lang mit
dem Vorſatz um, fie zu verftoßen, wie denn bie deutſchen
Großen von damals die Heiligkeit der Ehe gar häufig in
zügellofe Leichtfertigfeit verfehrten. Wird doch von dem
Gegenkönig Rudolf von Schwaben gemeldet, daß er zur
gleichen Zeit nicht weniger als drei „rechtmäßige” Che-
frauen gehabt. Bertha’8 Geduld und Treue überwand
zwar nach und nad) den Widerwillen ihres Gemahls, aber
ihr 2008 war fein rofiges. Sie hat alle die Pitterfeit,
wovon Heinrichs des Vierten Leben voll war, redlich mit⸗
burchgefoftet, ftetS in Angft um ben verrathenen und be-
drängten Gatten, oft auf der Flucht, oft in abgelegenen
Verfteden, in Sorgen um eine ſichere Stätte, wo fie ihre
32) Eine „Frau von männlichem Geiſte“ nennt fie ber un⸗
genannte Biograph und Abologet Heinrich bes Vierten. Seſqhichtſchr
d. d. V. XII. Jahrh. 2. Bd. S. 8.
>
Unter ben ſächſiſchen und fränkiſchen Kaifern. 159
Kinder gebären könnte. Auch auf jener kläglichen Buß-
fahrt durch die winterlihe Wilpniß der Alpen nach
Kanoſſa hat die treue Frau ihren Gemahl begleitet. Ihre
einzige Tochter Agnes, ſchon als Kind dem Ritter Friedrich
von Hohenftaufen verlobt, war beftimmt, die Ahnmutter
einer neuen Reihe von Kaiſern zu werden. Ihre Zeits
genofjen haben fie als eine „außerorventliche” und „uns
vergleichlihe“ Frau gerühmt .....
Alles zufammengehalten, erfennen wir, daß die ſäch⸗
ſiſche und falfräntifche Kaiferzeit nicht arm an Frauen ge⸗
weſen, welche ihr Gefchlecht wirklich zierten. Ebenfo anderer-
feits, daß die rohe Sinnlichkeit und Habfucht, welche vie
Männer nur allzubäufig ſchrankenlos walten ließen, ihre
. unausbleiblichen Wirkungen auf die Frauenwelt übten.
Die Angaben und Klagen zeitgendffilcher Berichterftatter
über die unter Mädchen und Frauen gangbare Putzſucht
und Unkeuſchheit find zu beftimmt, um überjehen zu
werben, und das von oben herab gegebene Beifpiel Teicht-
finniger Xoderung der Familienbande verdarb auch bie
unteren Stände. Dod find und dagegen auch wieber
Ihöne Züge von treuem Familienſinn und ehrbarem
Familienleben überliefert, viefen beiden Grund⸗ und
Eckpfeilern, auf und an welche unfer Voll aus zeit»
weiliger VBerfunfenheit immer wieder fich aufgerichtet hat.
Wie jede Zeit hatte auch das elfte Jahrhundert nicht nur
fein Ideal von frauficher Art und Tugend, ſondern fonnte
auch Verwirklichungen veifelben aufzeigen. Darüber hat
Sohnesliebe ein ſchönes Zeugniß abgelegt in ver Grab-
chrift, welche ver gelehrte reichenauer Mönch Herimann
160 Buch II. Kap. 2.
der Berwachjene, ein Sohn des Grafen Wolfrad zu Alts-
haufen in Oberſchwaben, im Jahre 1052 feiner Mutter
Hiltrud widmete 3°).
Es ift leicht erflärlich, aber fehr bezeichnend, daß vie
päpftliche Rurie den Frauen der falfränkifchen Dynaſtie
gegenüber mit Austheilung von Heiligenfcheinen feines-
wegs mehr jo freigebig war, wie fie denen der ſächſiſchen
gegenüber gewejen. Das Papſtthum vermochte jett auf
eigenen Füßen zu jtehen, beburfte ver Stüße des Kaijer-
thums nicht mehr und verfchritt zur Verwirklichung feiner
theofratiihen Weltherrſchaftsidee. Ein Hauptmittel hierzu
war natürlich die Organifation eines Heeres, welches,
wenn auch ſchwertlos, dennoch fehr jtreitbar fein follte
und wirflih war. Dieſes Heer, die Geiftlichkeit, follte
völlig vom Staate losgelöft und dadurch dem päpftlichen
33) „Hiltrud, Dürftiger Mutter, der Ihren Hoffnung und Hilfe,
Gibt was der Erde gebührt, hier in dem Hügel zurück;
Welche die hochgebietenden Eltern ebelen Stammes
Adelnd, fie durch ven Glanz leuchtenden Streben® erhob.
Keuſch ſchloß nur einmal fie ein. heiliges Bündniß der Ehe,
Lebte dem göttlichen Dienft widmend den Sinn und das Herz.
Und fie ftrebte nach dem befcheidenen Theile der Martha,
Blieb der Lehre, die fie gab, in dem Leben getreu.
Reich und fromm erfreuete fie die Armen mit Kleidung,
Speije, Fürwort und Gang, wo nur e8 heifchte die Noth.
Doch vor allem erquidte mit Glauben ſie gläubige Freunde,
Allen zeigte fie fich immer willfährig und mild.
Auch ſanftmüthig und duldſam und nimmer zum Streite genreiget,
Aller Welt fie gefiel und, wie wir hoffen, dem Herrn.“
Herimanns Chronik, deutſch v. Nobbe. Geſchichtſchr. d. d.
3. XI. Jahrh. 5. 3b. ©. 51.
2——
Unter den ſächſiſchen und fränkiſchen Kaiſern. 161
Stuhl unbedingt zugewandt und gehorſam gemacht wer⸗
ven. Zu dieſem Zwecke wurde das Verbot ver Prieſter⸗
ehe durchgeſetzt. Der taufend Bande ledig, womit das
Familienleben den Menſchen mit den ftaatlichen In»
tereffen verknüpft, follte die Geiftlichfeit nur noch ein
willenfofes Organ der päpftlichen Politik fein. Indeſſen
war e8 rathſam, das politifche Motiv der „ungeheuer-
lichen Verordnung“ wider die Priefterehe — decretum
enorme nennt e8 ein Annalift vom Sabre 1075 — hinter
ein religiöfes zu verfteden. Man ging auf das Vorbilo
Ehrifti zurüd, welcher ehelos gelebt hätte, betonte unauf-
hörlich die wegwerfende, abjcheulich zotige Manier, womit
manche Kirchenväter von den Frauen als untergeorbneten,
unreinen Gefchöpfen gefprochen, und folgerte daraus, daß
es dem Priefter, deffen geweihte Hände die Saframente
verwalten, unztemlich wäre, durch die eheliche Gemeinschaft
mit dem Weibe, viefem „Gefälle ver Sünde“, fich zu
verunreinigen. Wie mächtig die Durchführung dieſes
naturwidrigen Grundſatzes in das fociale Leben ver
Chriftenheit eingreifen mußte, liegt am Tage. Wir
wollen nicht einmal von ver gräuelhaften, dadurch noth-
wendig bervorgerufenen Sittenlofigfeit der Geiftlichen
reden ; wir fagen nur, daß ein Stand, welcher fi von
einem beiligften Grundgeſetze der Geſellſchaft losſagte,
nothwendig der Feind verjelben werben mußte. Man
macht nicht ungeftraft ven Verſuch, fich über die Natur
zu erheben.
Ungeachtet der Apoftel Petrus ſelbſt eine Frau ge-
habt hatte, war im Sprengel des römischen Biſchofe die
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I.
162 Buch II. Rap. 2.
Ehelofigfeit der Prieſter ſchon frühe geltend gemacht
worden. Wenigſtens vom Subdiakon aufwärts follten fie
unverheiratet fein. Seit ver Mitte des 11. Jahrhunderts
wurde von Rom aus fhitematifch daran gearbeitet, ven
Cölibat zu einem allgemein giltigen Rirchengejege zu er=
beben. Dean fcheute nicht wor - der ungeheuren Lächer⸗
lichfeit zurüd, al8 Grund dafür anzugeben, daß ver
Priefter, welcher „täglich Gott fchaffe” (bei ver Weihung
der Hoftie und des MWeins in der Meffe) ganz lauter und
rein fein müfje?d. In Wahrheit war e8 die Politik
Hildebrands (Gregors des Siebenten), welche die Durch⸗
: 34) Wie dann in der Wirklichkeit dieſe chlibatärifche Rein⸗
beit und Lauterfeit beichaffen war, Tann, abgejehen von zahlloſen
anderen Zeugniffen, eine von Floto (Kaifer Heinrich der Vierte, I,
164) angezogene Stelle aus einem Chroniften des 13. Jahrhunderts
zeigen. Papft Innocenz ber Bierte hielt von 1245—51 zu yon
Hof. Als er die Stadt verließ, fagte der Kardinal Hugo de St.
Daro zu den Bürgern: „Freunde, ihr jeid uns großen Dank ſchul—
dig. Wir find euch nützlich gewejen. Denn als wir hierher famen,
fanden wir nur drei oder wier Bordelle vor. Jetzt aber, bei unjerem
Weggehen, laffen wir nur ein einziges zurüd, welches von dem dft-
lichen Thore der Stadt bis zum weftlichen reicht”. In der Mitte
des 16. Jahrhunderts erklärten bie Geſandten Baierns auf dem
Koncil von Trient, bei ihnen daheim würden unter hundert Brieftern
faum drei oder vier gefunden, welche nicht in wilder Ehe lebten.
Freilich hatte es das Cölibatsgeſetz nicht jo faft auf die wilde
als vielmehr auf die rechtmäßige Ehe abgefeben; denn nur biefe
fihert einen feſten Familienband und Inüpft alfo auch den Priefter
an fein Vaterland, welchen der Cölibat ihn entfremdet. Ein echter
Priefter darf und kann fein Patriot fein.
Unter den fächfifhen und fräntifchen Kaifern. 163
jegung des Cölibats gebieterifch forderte; denn nur eine
eheloſe Prieſterſchaft war ein willenlofes Werkzeug bet
Ausführung feines theofratifchen Rieſenplans. Daß
gerade der Stand, welcher vermöge feiner Bildung und
feines unermefllihen Einflufjes ven übrigen an Sittlich-
keit vorleuchten follte, durch Zerftörung feines Familien
lebens mit aller Gewalt in die Unfittlichleit bineinge-
trieben wurde, fümmerte ven finitern Mönch auf dem
päpftliden Stuhle jehr wenig. Es gereichte aber dem
jittliden Gefühle ver veutfchen Getftlichfeit zu nicht
geringer Ehre, daß weitaus ihre Mehrzahl energifchen
Widerſtand gegen das römiſche Eheverbot erhob. Dem
Biſchof Otto von Konftanz geben feine Feinde fogar das
ehrenvolle Zeugniß, daß er öffentlich gegen dieſe Natur:
widrigfeit gepredigt habe. Ein Prieſter der Didcefe
Paffau ließ um 1077 eine Streitfchrift gegen das Cöli—
batögejet ausgehen, worin mit ver ganzen Empörung ger-
maniſchen Sitten» und Rechtsfinns gegen die Arglift, Heu⸗
helei und Sittenlofigfeit der neuen päpftlichen Satzung
geeifert wurde. Der wadere Dann rief dem Papft ins
Gedächtniß, daß der Apoftel Paulus in der befannten
Epiftel an Zimotheus den Bifchöfen und Diakonen vie
Ehe nicht nur nicht verboten, ſondern vielmehr geradezu
geboten habe und daß die alten Koncilien gegenüber ven
cölibatärifchen Ereiferungen möndifcher Halb» over Ganz-
narren den Prieftern freigeftellt hatten, zu heiraten oder
ehelos zu leben. Er bezeichnete das Eheverbot als einen
Wahnfinn und prophezeite: „Die Priejter werden, gleich
den Urhebern dieſer Keberei, in Folge des Eölibats Hurer,
| 11*
164 Bud II. Kap. 2.
Ehebreher und Sklaven ver fehmugigften Laſter fein.“
Aber das Unheil war einmal im Zug, und als der Papft
wahrnahm, daß die meiſten veutfchen Bijchöfe nur mit
MWiderftreben an die Durchführung des Eheverbotes in
ihren Sprengeln gingen, anempfahl er die Angelegenheit
den mit ihm gegen vie faiferliche Macht verbündeten
deutſchen Fürften. Sie mußten ihm wohl zu Willen
fein, weil fonjt ihre Rebellion des päpftlihen Rückhalts
entbehrt hätte. Auch hette pie Kurie mittel® der Mönche
den adeligen und bäuerlichen Pöbel zu Gewaltthätigfeiten
gegen die verheirateten Pfarrer auf. Demzufolge zwang
vieler Orten das Volk die Geiftlihen tumultuariich zur
Entlafjung ihrer rechtmäßigen Ehefrauen. Doc waren
in norddeutſchen Sprengeln im 12. Jahrhundert noch die
meiften Pfarrer verheiratet und noch im 13. Jahrhundert
gab es in einigen Gegenden Deutfchlands, wie z. B. in
Schlefien, verheiratete Biſchöfe, Domherren und Pfarrer.
Erft von da ab verſchwand bei uns die Priefterehe wöllig,
am einem Treiben Pla zu machen, deſſen Zuchtloſigkeit
zahlloſe Pfaffenſchwänke des Mittelalters grell genug
widerfpiegen. Das Volk merkte zu fpät, welcher Peſt
e8 feine Häufer geöffnet, indem es ven Cölibat burchjegen
geholfen, und im 14. und 15. Iahrhundert war unter
unjeren Bauern die Forderung gäng und gäbe, daß ein
neuaufziehender Pfarrherr auch gleich feine Kebje oder,
wie fie fich bäuerifch ausprüdten, daß ein neuer „Seelen-
hirt“ feine „Seelenfuh“ mitbringen müßte. Sie wußten
wohl, warum.
Drittes Kapitel.
— — —
Dom zwölften bis fünfzehnten Jahrhundert.
Die Hobenftaufen. — Gliederung der mittelafterlihen Geſellſchaft.
— Materieller und geiftiger Aufihwung Deutfchlands im 12. Jahr⸗
hundert. — Einfluß der Römerzüge und ber Kreuzzlige. — Das
Rittertbum. — Die „Courtoifte” oder „Höftichteit“. — Blick auf
die franzöfiſche Eourtoifie. — Deutfcher Marienkult und Frauen-
dienft. — Kaiferinnen. — Die heilige Hildegard. — Herrad von
Landsberg und ihr „Luftgarten”. — Hausrath und mufilalifche In-
firumente. — Das Bett und der Schlafanzug.
Kachdem die Geſchichte der deutſchen Frauenwelt bis
zu der Zeit heraufgeführt worden, wo mit der Reichs—
herrichaft der Hohenftaufen die mittelalterliche Romantik
in ihre Glanzperiode eintrat, ift uns jet die Aufgabe
geftellt, von dem Frauenleben, wie e8 in der Blüthezeit und
im Niedergang des Mittelalters unter den verſchiedenen
Ständen deutſcher Nation, auf Burgen, In Städten und auf
dem Lande, in der Weltlichfeit und in der Klöfterlichkeit,
nach der lichten und dunkeln Seite hin fich abwidelte, ein
genauer gezeichnete8 und beutlicher ausgemaltes Bild zu
166 Bud II. Kap. 3.
geben, als die Beichaffenheit ver Quellen von den früheren
Perioden zu geben geftattete. Denn unſere überaus reiche
mittelhochdeutfche Literatur, deren glänzendſte Schöpfungen
in die erfte Hälfte des 13. Jahrhunderts fallen, vie
aber mit ihren Anfängen ins 12. Jahrhundert hinauf-
und mit ihren Nachllängen ins 14. herabgreift, bietet une
hinlängliches Material zu anfchaulicher Darftellung mittel-
alterlicher Fraulichkeit.
Bevor wir jedoch in die Einzelnheiten von ver veutfchen
Frauen Gehaben und Gebaren, Thun und Tracten zur
angegebenen Zeit eintreten, iſt es räthlich, auf folche
fociale Einrichtungen, welche vie mittelalterliche Lebens:
führung bepingten und bejtimmten, einen raſchen Blick
zu werfen. Dies gethban, werden wir zumächit eine wor-
tragende Frauengeftalt des 12. Jahrhunderts vorführen,
um durch fie, welche eine Schriftitellerin und Malerin
war, Einficht in manche häufliche Verhältniffe ihrer Zeit
zu gewinnen. Sodann werben wir von ber Edelfrau, ver
Bürgerin und der Bäuerin handeln, werben Feſten an-
wohnen, die Bäder, die Nonnenklöfter, vie Frauenhäufer
befuchen und endlich zum Abſchluß der Kapitelreihe des
2. Buches betrachten, wie die mittelalterlich-veutfche Poefie
zu den Frauen fich geftelit, was fie im Guten und im Schlim-
men von ihnen zu fingen und zu fagen gewußt hat. ALS
Geſammtreſultat unbefangener Darftellung dürfte dann
fih ergeben, daß das Mittelalter zwar eine höchit eigen-
thümliche, farbenreiche, won dichterifchen Tönen Durchzogene
Periode unferer Geſchichte war, daß aber vie Phantaſie
eines in Zucht und Sitte hochjtehenden, ja muftergiltigen
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 167
Mittelalters eben nur eine Phantafie der Wilffür tft,
welche auf geſchichtliſchen Werth gar feinen Anfpruch hat.
Auch im Mittelalter mifchten ſich, wie zu allen Zeiten,
die ſocialen Lichter und Schatten, und wenn beide damals
grelfer und nadter heruortraten als heute, fo rührte das
nur von der rohen Frifche in Faſſung und Führung des
Lebens her, von welcher die moderne Verfeinerung und
Verflachung nichts mehr weiß. Die Tugenden und Lafter,
Leidenſchaften und Thorheiten der Menfchen bleiben vem
Wefen' nach ſtets die gleichen. Die vorfehreitende Bil
dung ändert nur die Erfcheinungsformen verfelben und
wir find daher ebenfo wenig berechtigt, pas Mittelalter
als eine „barbarifche Zeit” zu verklagen, als wir be=
rechtigt find, daſſelbe als die „gute, alte, Fromme Zeit“
zu lobpreifen.
Die Raifer des ſchwäbiſchen Haufes verfolgten die Yah-
nen eines Dtto des Erften und eines Heinrichs des Dritten.
Auch fie waren in dem thörichten Traum, cäſariſcher Welt-
herrſchaft befangen, obgleich vie Wirklichkeit ganz darnach
angethan war, fie nachprudfam daraus zu erweden. Schon
der furchtbare Widerſtand, welchen ihnen vie Päpſte von
Italien aus entgegenfegten, hätte fie darauf. hinweifen
fönnen, daß ihre Aufgabe vieffeitS ver Alpen lag, und
die in Friedrich dem Rothbart großartig, in Heinrich dem
Sechſten fein angelegte Defpotennatur wäre ganz geeignet
gewefen, einen einheitlichen veutfchen Reichsbau zum Ab-
ſchluß zu bringen. Aber Italien! Italien! war auch die
Loſung ver Hohenftaufen, und während fie dort ſich herum⸗
fchlugen und erichöpften, entwidelte ſich daheim bie
168 Bud II. Kap. 8.
ftantliche Zerfplitterung, an welder unfer Land noch
heute krankt. An die Stelle der Tarlingifchen Reichs⸗
verfaffung, deren Ruinen noch ins 11. Sahrhundert hinein-
ragten, war das Lehenwefen getreten, dieſe organifirte
Adelsanarchie, welche mehr und mehr die altgemeinfreie
Bauerfame — wenn auch nicht in allen Gegenden —
zur Hörigfeit und Leibeigenfchaft herabdrückte und nur in
dem jeit vem 10. und mehr noch feit sem 11. Jahrhundert
allmälig immer mächtiger aufblühenden ftäntifchen Bürger-
thum ein Gegengewicht fand. Wenn man erwägt, wie
der gejellichaftliche Bau des Mittelalters in Deutſchland
vom leibeigenen Knecht an durch den hörigen Bauer zum
freien, vom nichtadeligen Stabtburger zum adeligen Alt-
:burger, vom armen Lanvedelmann, der mit ein paar
Knechten in feinem dürftigen „Burgſtall“ haufte, bis zum
geiftlichen oder weltlichen Fürften, welcher Taufende von
Bafallen in feinem Bann und Lehen hatte und in feiner
Hofburg verfchwenderifchen Prunf entfaltete, vom de—
müthigen Mönch oder Dorfpfarrer bis zum kurfürftlichen
Erzbiſchof hinaufſtieg, um auf feinem Gipfel vie Kaifer-
frone zu tragen, welche freilich gar oft nur ein Schein«
ding war: fo bat man den Anblid einer Geſellſchafts⸗
glieverung, welche man zwar auf gut fifchartifch mehr
eine Gefellichaftklitterung zu nennen verjucht ift, von ver
man aber doch jagen muß, daß fie zu ver mannigfaltigiten,
bunteften Entwidelung und Entfaltung des Lebens An-
ftoß und Raum gab.
Mancherlei Urfachen führten im 12. Sahrhundert
jenen materiellen und geiftigen Aufjchwung ver veutfchen
— — — —
Vom 12. bis 15. Jahrhundert. 169
Nation herbei, deſſen Sinken fo ziemlich mit dem Unter-
gang des hohenſtaufiſchen Haufes zufammenfältt. Das
Anwachſen ber Benöllerung trieb zu emfigerer Landes⸗
fultur, um deren Förderung die Klöfter fich noch immer Ver-
pienfte erivarben, beſonders nach per Richtung bin, wo e8
fih um Beſchaffung ver gutſchmeckenden Dinge dieſes Lebens
handelte. In den Städten entwidelten die Gewerbe eine
emfige Thätigfeit und erhob fich bie Handwerksgeſchicklich⸗
feit zur Kunſt. Der Handel, welcher von ven Siten des
Bürgertfums aus feine begehrlihen Arme ſchon nach
allen Himmeldgegenden ausſtreckte, brachte nicht nur
Wohlſtand, fondern auch das Bedürfniß, deſſelben mit
Behagen zu genießen. Stäptifcher Neichthum und Ge-
meinfinn boten die Mittel, die zeitbewegenden Gedanken,
alfo vor allen den religiöfen, monumental zu geftalten,
und mit der frommen Begeifterung verband fi, aus ber
romantischen Verpuppung hervorbrechend, der germanifche
Genius zur Schaffung jener riefenhaften Gedichte aus
Stein, jener Münfter und Dome, die man gothiſche zu
nennen pflegt und die, entfprechend ver Idee, welche bieje
Architektur befeelte, vie Erde und den Menfchen gleichfam
gen Himmel emportragen, — verfteinerte Himmelsfehn-
ſucht, wie es ja eben Grundmwefen der Romantif, d. i. des
mittelalterlichen Geiftes war, das Irdifche zu verhimmeln
und das Himmliſche zu verweltlichen. Das Chriftenthum
hatte im Katholicismus mythologiſche Geftaltung, der
Gottespienft fFünftlerifche KEntfaltung gewonnen. Ein
allgemeines Regen und Bewegen, ein Dürften nad) Schön-
heit und Lebensgenuß war in die Deutfchen gekommen,
170 Bub II. Kap. 3.
welche zur Zeit, wo ein Barbaroffa des Reiches waltete,
guten Grund hatten, die raſch wieder verſchwindende
Illuſion, fie wären die Herren der Welt, für bauernde
Wirklichkeit zu halten.
Die Römerzüge nach Italien hatten unfere Altvor-
deren mit einem Lande befannt gemacht, auf deſſen Ruinen
noch immer ein Nachſchimmer ver Schönheit des Haffiichen
Alterthums Tag und deſſen auch politijch mächtige Handels⸗
ſtädte deutſche Kriegs- und Handelsleute bürgerliches
Lebensbehagen und bürgerliche Freiheit kennen und ſchätzen
lehrten. Aber wenn der Anblid italifchen Lebens be-
deutend dazu beitrug, ven geiftigen Geſichtskreis ber
Deutſchen zu erweitern und aufzubellen, ihren Schön-
heitsfinn zu weden und zu ftürfen und fie für eine behag-
lichere und reichere Einrichtung des Dafeins in Thätigfeit
zu fegen, jo waren die Kreuzzüge ihrerfeitS auf dieſes
alles von noch größerem Einfluß. Die umgekehrte Völfer-
wanderung der Kreuzzüge hat ja überhaupt die chrift-
katholiſch⸗romantiſche Weltanfhauung auf ihren Höbe-
punft geftellt, indem fie dem abendländiſchen Waffenthum
eine Seele, d. i. eine religiöfe Idee einhauchte, der euro-
päifchen Kraft und Thatenluft ein ideales Ziel gab, die
ganze Chriftenheit zu einem großartigen Unternehmen
vereinigte und nach allen Seiten hin dem materiellen und
geiftigen Vorjchritt neue Bahnen aufichloß und ebnete.
Der Orient erwies damals noch einmal feine alte DBe-
fruchtungskraft; denn unermefjlih waren die Nachwir-
fungen deſſen, was die Rreuzfahrer in den Ländern des
Morgens gefehen und gehört. Die ganze Fülle orien-
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 171
taliſcher Bhantaftit, Myſtik und Symbolik ergoß ſich über
das Abendland und infpirirte die Poeſie zur Schöpfung
einer Wunderwelt, die fich farbenprangend über ber raus
ben Wirklichkeit wölbte und in deren Atmofphäre felbft
eine in feinem ganzen Wefen fo eifern materielle Er⸗
ſcheinung, wie das germanifche Kriegerthum war, eine
dichterifche Geftalt gewann, indem es fich zum Nitterthum
verfeinerte, — eine Verfeinerung freilich, Die nach unfern
heutigen Begriffen noch immer viel grober und rober war
als billig.
Das Ritterthum, dieſe fociale Schöpfung des mittel-
alterlicheromantifchen Geiftes, ift nicht veutichen, ſondern
romanifchen Urſprungs. Denn wenn fchon im 11. Jahr⸗
hundert in Deutfchland von Rittern die Rebe ift, fo find
damit nur Kriegsleute gemeint, welche, auf eigene Koften
mit Banzer und Halsbergen, Helm und Schild, Schwert
und Lanze ausgerüftet, zu Roffe dem Aufruf zum Fönig-
fihen Heerbanne folgten. „Ritter“ bedeutete vor den
Kreuzzügen in Deutfchland nur foviel wie Neifiger und
von einem Ritterftand im fonventionellen Sinne war noch
feine Rede. Die Entjtehung und Ausbildung des Ritter-
thums als eines gejellichaftlichen Inftituts haben wir in
Spanien und Südfrankreich zu ſuchen, wo die häufige
Berührung mit dem gejellig verfeinerten, dichteriſch ge-
jtimmten und bochgebilveten Maurentbum zur Aue-
Ihmüdung des Lebens mit ven Reizen höherer Gejellig-
feit DVeranlaffung gab. Der blühende Zuftand jener
Gegenden, vie heiter-finnliche Beweglichkeit ihrer Be-
wohner, das enthufiaftifche Intereffe an abenteuerlicher
172 Buch II. Kap. 8.
Fabelei und fröhlicher Liederfunft, der anmuthige Einfluß
ſüdlicher Frauenſchönheit, das alles wirkte dort zu-
fammen, um gewiffe Formen und Normen abeligen Ver⸗
kehrs ins Leben zu rufen, aus welchen fich allmälig das
Geſetzbuch ritterlicher Gepflogenheit zufammenfegte. Der
Kampf um das heilige Land verlieh dieſer Konvenienz
eine religiöſe Weihe, welche in den geiftlichen Nitterorven
der Johanniter, Templer und Deutfchherren das chriftliche
Kriegerthum und das chriſtliche Mönchthum in eins ver-
ſchmolz. Die fehr bedeutende Stellung, welche dieſe geift-
lichen Ritterorden in Bälde fich errangen, verhalf ter in
den Kreuzzügen aufgefommenen Borftellung von dem
hriftlichen Ritterthum als von einer idealen Genofjenfchaft
zu immer größerer Verbreitung und Geltung, welche ſich
auch in Deutfchland ftarf bemerkbar machte, namentlich
im füdlichen und fünmeftlichen Deutfchland, ſobald die im
eriten und zweiten Kreuzzug ftattgehabten Berührungen
des deutſchen Adels mit vem franzöfifchen ihre Wirkungen
äußerten. Die Kirche ihrerfeits zögerte nicht, das religidfe
Element, welches bie Kreuzzüge in das Ritterthum ge⸗
bracht hatten, auch formell gewichtig zu machen, indem ſie
die Aufnahme in die Ritterſchaft mit kirchlichen Bräuchen
umgab. Zum Dank lautete dann auch das erſte der
Rittergelübde, die Kirche zu ehren und zu ſchützen, welches
Gelübde übrigens, gerade wie die andern — dem Lehns⸗
herrn treu und hold zu ſein, Witwen und Waiſen zu
ſchirmen, keine ungerechte Fehde zu erheben, die Ehre der
Damen zu achten — jedenfalls ebenſo oft gebrochen als
gehalten wurde. Erſt im 12. Jahrhundert kam die An⸗
Vom 12. bis 15. Jahrhundert. 173
ficht zur Geltung, daß adelige Geburt, unmittelbare Ab-
ftammung von einem Ritter („Ritterbürtigleit“) Grund»
bedingung der Aufnahme ins Ritterthum fei; doch fanden
damals und fpäter Ausnahmen von biefer Regel ftatt.
Politiſche Nechte, wie fie dem Erb» und Beneficienavel
zuftanden, brachte der Ritteradel anfänglich nicht mit fich
und erjt jpäter wurden ihm neben ven Ehrenrechten auch
ftaatsbürgerliche zutheil. Weil aber das Nitterthum ver
Ausbildung des Begriffs perjönlicher Ehre, des Ehren-
punkts, der Standesehre außerorventlich günftig war, fo
drängte fih bald der Adel eifrigft zur Ritterwürde, um
der idealen Stanvesehre theilhaft zu werden. Mit ver
Geltung dieſes Ehrenbegriffes hing pie Entwidelung der
ritterlichen Anftandslehre genau zufammen. Man nannte
dieſen Koder der Geſetze und Regeln ritterlichen Gebarens
mit einem franzöfifhen Wort „Courtoifie” over mit
einem mittelhochdeutfchen „ Höfiichleit”, weil ja die Höfe
größerer over Heinerer Dynaſten hauptfächlich die Stätten
waren, wo bie ritterliche Lebensart gepflegt und gelehrt
wurbe 39).
Einen wejentlichen oder vielmehr den wefentlichften
Theil der ritterlich romantifchen Courtoifie machte das
Minneleben aus, der Frauendienſt, wie derſelbe zuerft
von den fpanifchen Trobadores, den provengalifchen Trou⸗
35) ©. meine Deutſche Kultur: und Sittengefchichte”, 7. Aufl.,
wo S. 99—152 die Erfcheinungsformen des ritterlichen Geiftee
während feiner Slanzzeit im Leben, in ber Literatur und Kunft
des Näheren geſchildert find.
174 Buch 1II. Kaps.
badours und den nordfranzöſiſchen Zrouveres in ein
förmliches Syſtem gebracht wurde. Man muß fich aber
wohl hüten, durch den ivealifhen Schein des Frauen-
bienftes fich täufchen zu laflen. In Wahrheit, er war
mehr over weniger überall, vorab in Frankreich, die Unter⸗
grabung des Grundpfeilers der Gefellfchaft, ver Ehe.
Der Unterſchied, welchen die Eourtoifie zwifchen Herrin,
d. i. Geliebte, und Ehefrau ftatuirte, war ein tiefunfitt-
licher. Die Geliebte war das Ideal des Mannes, die Frau
dagegen, gleichviel ob Gattin, Echwefter oder Tochter durch⸗
weg nur das gehorfame, dienende, oft genug vernachläfligte
und mifihanvelte Weib. Im galanten Frankreich gab e8
eine gefegliche Beftimmung , welcher zufolge ein Mann
feine Frau ungeftraft fchlagen und verwunden durfte,
falls er ihr nur fein Glied zerbrach und feine lebens-
gefährliche Wunde beibrachte ?). Die Wirklichfeit des
Lebens entſprach dann auch diefer gejeßgeberifchen Weis-
heit und es find uns Züge überliefert, welche die fran-
zöfiihe Galanterie, wenigſtens im 11. Jahrhundert, in
einem ſehr eigenthümlichen Lichte erjcheinen Laffen 37).
36) Ordonnances desrois de France, tom. XII, p. 492, 541.
87) Einen ſolchen Zug erzählt das Chronicon Turonense von
Wilhelm dem Eroberer. Er warb um Mathilde, die Tochter des
Grafen Balduin des Fünften von Flandern. Das junge Mädchen
aber erflärte ftol;, fie wirbe feinen Baftarb heiraten. Da ritt
Wilhelm nach Brügge, lauerte Mathilden auf, fiel fie, als fie aus
der Kirhe kam, an, zerrte fie an ihren langen Haaren, gab ihr
Fauftihläge und Fußtritte und entfloh nad) Begehung diefer Hel-
denthat. Wunderlicher Weife imponirte der Schönen dieſe ab-
Bom 12. bie 15. Jahrhundert. 175
Die Theorie des franzöfifchen Minnedienſtes war nur eine
Theorie ver Sittenlofigfeit. Allgemein anerkannte Grund⸗
fäße berfelben find gewejen, daß bie Liebe der Liebe nichts
verfagen bürfe, daß die Ehe keine legitime Entſchuldigung
für die Liebe fei, daß eine Frau recht wohl zu gleicher
Zeit von zwei Männern oder ein Mann von zwei Frauen
geliebt werben könne. In den Situngen ver vielge-
rühmten Minnegerichte over Minnehöfe (Cours d’amour)
wurden Fragen bebattirt wie diefe: — „Eine Dame,
welche mit drei Bewerbern und ihre Gunft zufammenfißt,
blict den einen liebevoll an, vem zweiten drückt fie bie
Hand, dem dritten drückt fie den Fuß mit dem ihrigen,
welchem bat fie nun die größte Zuneigung bezeugt?” Im
Sabre 1174, alfo in der Blüthezeit des Nitterthums,
bielt die Gräfin von Champagne, allgemein ‚ald das
fonberlide Art von Fiebeswerbung fo, daß fie unter Thränen er:
Härte, fie wollte feinem andern Dann angehören als eben dem
Normanendberzog, ben fie auch wirklich heiratete... . Ein deutjches
Seitenftüd hierzu bietet unfer Nibelungenlied (Str. 870 und 901).
Nah dem Zank zwiſchen Brunhild und Kriembild fagt Siafrid
zu Gunther:
„Man fol Frauen fo ziehen. ..........
Daß fie üppige Reden laffen unterwegen.
Berbiet’ e8 deinem Weibe, ich will e8 meinem thun "—
und wie nahdrüdlich der Held diefen Vorſatz ausführte, bezeugt
Kriembild, indem fie bald darauf gegen Hagen Außert:
„Das bat mich Schon gereuet ...... 2.2...
Auch bat er fo zerbläuet zur Strafe meinen Leib;
Daß ich e8 je gerebet, befchmerte feinen Muth;
Er bat es wohl gerochen, diefer Degen kühn und gut.“
176 Bud II. Kap. 3.
Mufter einer Edeldame von damals gerühmt, einen feier-
lichen Minnehof, welcher die aufgeworfene Frage, „Si
Yamour &tait possible dans le mariage?* in Form
eines förmlichen Urtheilsipruches (arr&t d’amour) mit
Non! beantwortete. Kein Wunder, daß eine jo leichtfertige
Sophiftif in ver Praxis nach der einen Seite hin zur Ber-
rücktheit, nach der andern bin zu grober Zuchtloſigkeit
ausfchlug. Beider Sorten von Romantik find die Contes
und Fabliaur der mittelalterlihen Dichter Frankreichs
vol. Ebenfo vie Lebensbefchreibungen der Troubadours.
So ſteckte ſich einer ver befannteften derſelben, Peire Vidal
(1175—1215), feiner Geliebten zu gefallen, welche Loba
(Wölfin) hieß, in ein Wolfsfell und kroch heulend auf
allen VBieren in ven Bergen umber, bis ihn die Schäfer:
hunde übel zurichteten. Die franzöſiſchen Nitterfefte
Tiefen häufig in Orgien aus, wo ſich unter vem Schuße
der modifchen Gefichtsmaffen Mädchen und Frauen ſcham—⸗
(08 preisgaben 3%). Die Nomanliteratur ift zu allen
38) In der Histoire de Saint-Denys, pag. 170 seq. gibt der
Mönch von Saint-Denys, welchen jelbjt ein für die Kitterzeit fo
eingenommener Autor, wie De la Curne de Sainte-Pelaye ift,
als einen durchaus glaubwürdigen Zeugen gelten läſſt (vgl. „Das
Ritterweſen des Mittelalters“. von De la Curne de 8. P., deutſch
mit Anmerkungen und Zuſätzen von Klüber, II, 268), die Be-
ſchreibung eines 1389 in der genannten Abtei durch den König von
Frankreich veranftalteten Turniers und Banketts. Am Schluffe
fagt er: „Im der Nacht verlarvte fich alles und machte alle Arten
von Gaukeleien, die fich beffer für Boffenreißer als für jo angefehene
Perfonen ſchicken. Diefer ſchädliche Brauch, aus Nacht Tag zu
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 177
Zeiten ein Spiegel ber herrichenden Stimmungen und
Sitten gewefen. Nun wohl, man nehme einmal ven
Stammvater aller Ritterromane zur Hand, den berühmten
Amadis de Gaula, welcher — wenigftens die erften vier
Büher — mit ziemlicher Sicherheit dem Portugiefen
Bafco Lobeyra (um 1325) als Verfaſſer zugefchrieben
wird. Diefes Buch, nachmals von dem Spanier Mon-
talvo umgearbeitet und erweitert und fo in alle Sprachen
des civilifirten Europas überfegt, war einige Jahr⸗
hunderte lang das Entzücen der ritterlichen Geſellſchaft
und hat fogar noch einem fo ernften Manne wie Cer-
vantes ein beredſames Lob entlodt. Und doch wirthichaftet
darin eine ganz bodenloſe Lüderlichkeit. Hoffräulein und
Prinzeffinnen reizen fich gegenfeitig zur Unzucht auf und
Grafentöchter fchleichen oder dringen vielmehr in bie
Schlafkammern von ihnen völlig fremden Männern und
nöthigen biefelben förmlih, ihren Gelüften genugzu⸗
maden und umgelehrt, nebft der Freiheit, unmäßig zu, effen und
zu trinfen, bewirkte, daß viele Leute ſich Dinge erlaubten, die ſowohl
wegen der Gegenwart bes Königs ale wegen des heiligen Ortes,
wo er fein Hoflager hatte, höchſt unfchidlich waren. Jeder juchte
feine Leidenſchaften zu befriedigen und man jagt alles, wenn man
verfichert, daß es hier Ehemänner gab, deren Rechte durch die üble
Aufführung ihrer Frauen gekränkt wurden, und daß es auch un⸗
verheiratete Damen genug gab, welche die Sorge für ihre Ehre
fahren ließen“ .... Nach einer folden Probe begreift man, daß
fogar der ftanphafte Romantiker Sainte-Pelaye ſich einmal zu dem
Ausruf veranlafit findet (a. a. DO. I, 153): „Nie ſah man ver-
derbtere Sitten al8 in den Zeiten unferer Ritter und nie waren
die Ausfchweifungen in der Liebe allgemeiner.“
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 12
178 Bub U. Kap. 3.
thun 9). Und ſchon 120 Jahre vor der Entjtehung des
Amapis hatte die wüfte Wirklichkeit ritterlicher Eourtoifie
fo garjtige Bilder von fraulihem Sinnen und Trachten
in den Spiegel ver Dichtung geiborfen, daß ein altfrans
zöſiſcher Poet, welcher vorher feurigite Minneliever ge-
dichtet, Guiot de Provins, fich veranlaßt fah, in feiner
um das Jahr 1206 gefchriebenen „Bible“ in weg-
werfendfter Weife von den Frauen zu reden 4%,
39) Ich habe, indem ich dieſes fchreibe, die Ältefte deutſche
Ueberjegung des feiner Zeit weltberühmten Buches vor mir liegen:
— „Des Streitbaren Helden Amadis aus Frankreich fehr ſchöne
Hiftorien” u. f. w. Frankfurt a. M. 1583. Es reicht, von allem
übrigen abgeſehen, zur Beftätigung des im Text Gelagten ſchon
bin, das Abenteuer der Prinzeffin Elifena und der Darioletta mit
dem König Perion (Fol. 2) und das Abenteuer der Tochter bes
Grafen von Seeland (Fol. 51) mit demſelben Herrn anzuſehen.
40) Des Guiot v. Brovins auf ung geflommene Werke, herausgeg.
9. Wolfart und San: Marte (1860) ©. 4. —
„Nuns ne pot onques acomplir
Voloir de famme, c’est folie
De cherchier lor estre et lor vie,
Quant li saige n’i voient goute.
Famme ne crient, famme ne doute,
Famme ne fu onques vaincue,
Ne apartement connéne;
Quant li oeil plorent, li cuers rit,
Pou pensse & ce qu’ele me dit.
Ains nulle ne sot duel avoir,
Molt lor pert bien de lor savoir;
Quant quelle ait en sept ans ame,
Ait-elle en un jor oblie.
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 179
In der Wirklichkeit wie in der Dichtung hatte demnach
das romantische Liebesideal bei den romanifchen Völkern
ſchon frühzeitig die bedenklichſten Trübungen erfahren.
Bereits im 11. Yahrhundert fogar überwog das Moment
der Sinnlichkeit die fpiritualiftifche Illuſion ganz entfchieven.
Man betrachte ven berühmten Riebesbund Abälards und
Heloife’8 und man wird finden, wie tief die platoniſch⸗
myſtiſche Schwärmerei in bie heißen Wogen finnlichen
Genuffes fich getaucht hat. Heloiſe's Briefe an ven Ge-
liebten nehmen ta den höchſten Schwung, wo fie ihn an die
Famme est lou jor de faut talens,
Plus est legiere que n’est vens.
Molt mue sovent son coraige,
Tost a dec&u le plus saige.“
(Dabin gelangt nie irgendwer,
Ein Weib zu wertben. Thöricht Streben,
Ergründen wollen ihr Wefen und Leben!
Wiſſende nehmen das nicht Schwer.
Eine Frau fi fürchtet nimmermehr,
Sie wird aud niemals ganz befiegt
Und niemals ihr Inneres ganz offen liegt.
Es lacht ihr Herz, während ihr Auge weint,
Und anderes fagt fie als fie meint.
An Sram weiß feine lang zu kranken
Und Außerft kurz find fie von Gedanken.
Was fie geliebt in fieben Jahren,
An einem Tage laffen fie’s fahren.
Frauen find faljch zumeift gefinnt
Und beweglicher als der Wind.
Ihr Herz ift gar zu wanbelbar,
Den Klügften täufchen fie jogar.)
12*
180 Buch II. Kap. 3.
Stunden erinnert, in welchen fie ficb ganz ihm zu eigen
gegeben, fie, welche e8 ein höherer Ruhm däuchte, Die
Geliebte, ja die YBuhlerin und Konkubine eines folchen
Mannes zu heißen als feine Ehefrau. Die Briefe Heloife’s,
vielleicht das Schönfte, Kühnfte, Feurigfte, was je einer
weiblichen Feder entquollen, find wie unter Wolluſtſchauern
geſchrieben. Es find Stellen darin, wo auf Koften ver
Ehe die freie Liebe mit bakchantifcher Verzückung erhoben
und gefeiert wird.
Zu folder Gentalität hat es das Minneleben in
Deutſchland nicht gebracht. Wir werden zwar Gelegen⸗
heit “haben, zu fehen, daß auch auf deutfchem Boden der
romantifche Liebesverkehr fich Teineswegs immer auf ver
Linie der Keufchheit gehalten hat und daß auch hier ver
ritterliche Srauendienft zu Ausfchreitungen führte, welche
ins Tollhaus gehörten. Aber im ganzen und großen
ſtellt ſih das deutſche Minneleben reiner und zarter dar
als das romanifche und wenigſtens in der Theorie hat
man die romantifche Forderung, ven finnlichen Geſchlechts⸗
trieb zur idealiſchen Liebe zu verklären oder, mit Leſſing
zu reden, „ein körperliches Bedürfniß in eine geiftige Voll-
fommenheit zu verwandeln", in Deutſchland ernfter ge-
nommen als anderswo. Die rectlihe Stellung ver
deutſchen Frauenwelt blieb zwar auch in ver ritterlich-
romantifchen Gefellichaft jene untergeorbnete, welche im
1. Buch gejchildert wurde, und alle „Höfifchfeit* reichte
nicht aus, die Frau dem Manne von rechtswegen gleich-
zuſtellen. Aber die altgermanifche Frauenverehrung,
welche ſchon zur ottonifchen Zeit wieder beveutfam an-
Bom 12. bie 15. Jahrhundert. 181
geflungen, geftaltete fich im 12. und 13. Jahrhundert zu
einem höchſt wirkffamen fortafen Motiv, welches in der
Anbetung der Gottesmutter eine religiöfe Unterlage hatte.
Es ift auf die Innigkeit des Marienptenftes in Deutfch«
fand fon früher aufmerkſam gemacht worven und hier
darüber nur noch zu fagen, daß in der Anjchauung des
Mittelalters Maria förmlich als weltbeherrſchende Göttin
ericheint, als Die chriſtliche Khbele, als die Sonne, deren
Licht das Weltall erhellt und belebt). Die Poefie ver
41) Ihren vollendetften Ausdruck dürfte jedoch dieſe Ber-
gottung der Maria erft im 15. Jahrhundert gefunden haben und
zwar in dem fogenannten „goldenen Gebet” an bie h. Jungfrau,
welches Georg Pirkhamer, Prior des Karthäuferkiofters zu Nürn-
berg, in lateiniſchen Verſen verfafit hat (deutfh von Daumer,
Deutſches Muſeum f. 1854, &. 213). Hier wird Maria fo an«
gefungen: —
„Dich als feine Herrfcherin verehrt,
Was da wohnet in bem Aetherlande;
Dich als feine Meifterin erfennt,
Was da haufet in der Finfternif.
Es bewegt durch dich in ihrem Gleiſe
Sich die ungeheure Welteniphäre ;
Der Beleuhtungsftral, der fonnige,
Welcher fie erfüllt, er kommt von dir.
Wie bu e8, der Dinge diefes Seins
Allgemeine Lenkerin, verorbneft,
Alfo wandelt ber Geftirne Heer,
Alſo Ändert die Geftalt das Jahr.
Dienftbar unterwirft
Deinem Winke ſich das Element,
182 Buch II. Kap. 3.
Minnefänger nun legte einen Widerſchein von der Glo-
riofe der jungfräulichen Gottesmutter um jedes ſchöne
Trauenhaupt. Das Weib wurbe recht eigentlich zur
Krone ver Schöpfung hinaufibealifirt, und wie Maria
bie Herrin des Himmels, fo war die Frau die Herrin ber
Erde, die Blüthe ver Schöpfung, der Mittelpunft ver
Geſellſchaft. Wie manchen verben Nadenfchlag dieſe
Spealifirung der Weiblichkeit vonſeiten der Wirklichkeit
des mittelalterlichen Lebens empfing, wie oft die ritterliche
Minne aus ven ätherifchen Regionen in das Gebiet jehr
materieller Bedürfniffe herabplumpte, immerhin war ver
Einfluß der Frauen zur Hohenftaufenzeit ein fittigenper,
bildender und von ihnen gebt hauptfächlich der vichterifche
Unter beine Füße machtberaubt
Schmieget die zertret'ne Hölle fidh.
Wenn die goldnen Lichter im Azure
Freundlich auf die Erbe niedergrüßen,
Wenn belebend frifche Winde wehen,
Ströme wachſend durch die Lande wogen,
Sn der Erde Schoß der Same keimt,
Sid der Keim zu offner Pracht entfaltet —
Deiner Macht und Güte Wirkung iſt's!
Es erfüllet deiner Majeftät
Jede Bruft durchbebendes Gefühl
Das Gevögel in dem Luftbezirk,
Das Gethier in Waldung und Gebirg,
Das Gewürme, das im Staube freut,
Das Gewimmel in dem Flutbereiche.
Denn e8 ift dir alles untertban,
Dir, Gebieterin im Weltenall !“
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 183
Nimbus aus, welcher, in unzähligen Liedern und Legen»
den -firirt, jene Periode der deutſchen Gefchichte um⸗
fhimmert. Freilich, von Dauer konnte dieſe romantifche
Herrlichkeit nicht fein. Abgefehen von den politiichen
Wandelungen, ſchon deſſhalb nicht, weil die ganze höftfch-
ritterliche Bildung viel mehr nur eine aus der Fremde
eingeführte Mode als eine natürliche Stufe nationaler
Entwidelung war. So grünte denn das unferem Volks⸗
thum Fünftlich aufgepfropfte fremde Reis eine Weile Tuftig
und trieb auch Blüthendolden, deren erotifchsprächtigem
Farbenſpiel der Duft deutſcher Gemüthsinnigfeit fich ver-
band — die Dichtungen eines Walther, eines Wolfram,
eines Gottfried bezeugen herrlih die Wahrheit dieſes
Bildes — aber die Zeit des Welkens kam vajch heran
und an die Stelle ver Höftfchleit trat eine furchtbare
Entartung. Welche VBerwilderung, Zerſetzung, Auflö-
fung der deutſchen Geſellſchaft vom Untergang der Hoben-
ftaufen an und bis in 15. Jahrhundert hinein! ‘Das
Nitterthfum zum Räuberthum geworden, das Bürgerthbum
mälig zur Spießbürgerei verknöchernd, vie Geiftlichkeit
tief und tiefer in ven Schlamm ver Unwiſſenheit, Be-
trügeret und Zuchtlofigfeit verfinfenn, das Minneleben
zu gemeiner Genußfucht entwürbigt, die Männer dem
roheſten Raufbolowefen und Jagdjunkerthum, vem Spiel
und Zrunf verfallen, die Frauen verbuhlt oder ver-
frömmelt, häufig beides mitfammen.. Das fpätere
Mittelalter ift ein Abgrund von Vervorbenheit. Alles _
neigte fih da dem Rohen und Gemeinen zu, alles artete
aus, alles Löblihe und Schöne verkehrte fih in fein
184 Buch DO. Kap. 3.
Gegentheil2). Die mittelalterlichen Xebensmächte waren
gealtert, das Intereffe für vie Motive und Ziele. der
Romantik war erlofchen und die Gefellfehaft wäre dem
widerlichften Marafmus verfallen, falls ihr der in ven
Haffifchen Studien‘ wiedergeborene Humanismus nicht
zur rechten Zeit ein geiftiges Verjüngungsbad barges
boten hätte.
Nachdem wir fo den Verlauf der höfiichritterlich-
romantifchen Kulturperiode flüchtig angedeutet haben,
wenden wir uns, rüdjchreitend, wieder dem 12. Yahr-
hundert zu..... Von den „eriten Frauen ver Chriften-
heit“, ven Saiferinnen des heiligen römischen Reiches
deutſcher Nation, ift zu dieſer Zeit nicht vieles zu fagen.
Die Gemahlinnen der fchwäbifchen Kaifer, zumeift Aus-
42) Der große Chronift des 14. Jahrhunderts, Jean Froiffard,
fann, obzwar ein Romantifer im Superlativ, doch nicht umbin,
die Entartung und Berwilderung des romantijchen Geiftes zu bes _
zeugen, welche jchon zu feiner Zeit eingeriffen. Beſonders übel
ift er auf die deutjche Ritterfchaft zu fprechen, deren Gebaren er als
ein ungeſchlachtes, rohes und habfllchtiges mehrfach kennzeichnet
3. B. Chroniques, 1. I, p. II, ch. 50: — „La coutume des.
Allemands ni leur courtoisie est mie belle; car ils n’ont pitie
nimercy de nuls gentilshommes, s’ils &ch&ent entre leursmains
prisonniers, mais les ranconnent de toute leur finance et outre,
et mettent en fers, en ceps et en plus &troites prisons qu’ils peu-
vent, pour estordre plus grand’ ranson“. Wenn man Übrigens
beachtet, welche abſcheuliche Rohheiten und Grauſamkeiten berjelbe
Chronift von dem „Spiegel der Ritterſchaft“, won dem „ſchwarzen“
Prinzen erzählt, fo erhält man von der mittelalterlichen Ritterlichkeit
überhaupt ein keineswegs anmuthendes Bild.
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 185
länderinnen, haben in der Reichsgeſchichte Feine jo vor-
tretende Stelle mehr eingenommen wie vordem bie ber
ſächſiſchen. Der zweiten Frau des Nothbartes, Beatrix
von Burgund, wird echtgermanifche Schönheit, Sittfam-
feit und Würbe nachgerühmt. Die Gemahlin Heinrichs
des Sechften, Konftanza von Sizilien, ſcheint viel vom alten
Normannencharafter bejeffen zu haben, pafjte auch, wenn⸗
gleich zehn Jahre älter als ihr Mann, vortrefflich zu dem
Strengen, Rüdfichtslofen und gab, fie, die gewefene Nonne,
dem faiferlichen Freidenker des Mittelalters, Friedrich
dem Zweiten, das Leben. Eine Kaiſerin des 14. Jahr⸗
hunverts hat fich eine Stelle in der Kuriofitätenliteratur,
eine des 15. Jahrhunderts eine Stelle in der Skandal⸗
chronik geſichert. Jene it Eliſabeth von Pommern,
Gemahlin Karls des Vierten, welche eine ziemlich un-
nahbare Schönheit gewefen fein muß, denn ihre Muffel-
fraft war fo groß, daß fie Eifenftangen und Hufeifen
mit Leichtigkeit in Stüde brach und Ningpanzer wie
Linnenftüde auseinanderriß ; dieſe ift Barbara von Cilly,
Gemahlin des Lüftlings Sigismund, welche dafür forgte,
daß auch das deutiche Cäſarenthum gleich dem römijchen
eine Meſſalina aufzumweifen hätte.
Doc wir retten uns aus der ſchwülen und unreinen
Atmofphäre der ſigismund'ſchen Kaiferpfalz in die Klojter-
zelle des Rupertusberges bei Bingen zurüd, wo die heilige
Hildegard, welche daſelbſt im 3. 1179 als Aebtiffin jtarb,
ihre Viſionen hatte und ihre Orakel ertheilte?%). Kine
43) Acta Sanctor. V, 629 seq. Bgl. Dahl, die heil. Hilde:
gard, 1832.
186 Bub II. Kap. 3.
höchit merkwürdige Ericheinung, diefe nervenfranfe Nonne,
in deren leidendem Körper ein ungewöhnlicher Getft
fchmerzlich nach Erkenntniß gerungen hat. Ich möchte
Hildegard die Veleda ihrer Zeit nennen. Dem Näthjel
des Dafeins nachfinnend, erhob fie fich in ihren Gefichten
zu einem PBantheismus, welcher in vem Weltall die ficht-
bar geworvene göttliche Wefenheit erblicdte. Weber ganz
Deutſchland, ja über Europa Hin reichte ihr Briefwechfel
mit Päpiten, Prälaten und Fürften. In feiner Pfalz
zu Ingelheim empfing Friedrich ver Nothbart ehr-
furchtsvoll die Seherin, welche ihm die Zukunft weiffagte
und ihn aufforverte, Gerechtigkeit zu hanphaben. Eine
jüngere Zeitgenoffin Hildegard war Herrad von Lands⸗
berg, geitorben 1195 als Aebtiffin des von der heiligen
Dpilie gejtifteten .Klofterd Hohenburg im Elfaß *%.
Herrad, Schülerin und Nachfolgerin der gelehrten Ne-
lindis, war Dichterin, Malerin und wohl die vielfeitigft
gebildete Frau ihrer Zeit. Ihre Kloftergemeinve mit
Umficht vegierend, fchrieb fie in Mußeſtunden ihren „Luft:
garten“ (Hortus deliciarum), eine Art NonnenEnch-
klopädie, in welcher, natürlich vom klöſterlichen Stand-
punkte jener Tage aus, das Wiffenswertbe aus Theologie,
Philofophie, Aftronomie, Geographie, Religiong- und
MWeltgefchichte, fowie aus den Künſten in lateinifcher
Sprade zufammengeftellt if. Beſonderen Werth er-
hielt diefe Kompilation für die Nachwelt durch die bei—
44) Herrad von Landsberg und ihr Werl Hortus deliciarum.
Bon Chr. M. Engelhardt. Mit 12 Kupfertafeln, 1818.
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 187
gegebenen Malereien, welche uns ein gute® Stüd ver
Weltanfchauung, der Bildung und des Lebens von damals
vorführen, jo unvolffommen, verzeichnet und verdreht
diefe Blätter dem Fünftlerifchen Auge ericheinen müffen.
Diefe weibliche Tracht jener Zeit ift in den Bildern
der Herrad deutlich wiedergegeben. Sie beſtand zunächit
aus einem Unterfleid mit engen, bis zu den Handfnöcheln
reichenden Aermeln. Ob dieſes Unterkleid, welches die
einzige Bekleidung der Frauen niederen Standes aus⸗
gemacht zu haben jcheint, zugleih das Hemd vorftellen
follte, ift nicht ganz far, da es öfter weiß, mitunter aber
auch anders gefärbt erjcheint. Auch das Oberfleid, ver
Mantel liegt am Oberkörper fo feit an, daß es Büſte
und Hüften genau abzeichnet — zu welchem Zwecke e8 bei
einigen Figuren fogar an den Seiten geſchnürt iſt —
fällt dann faltenreih bis auf die. Fußfpigen herab und
läuft hinten in eine mehr over weniger lange Schleppe
aus. Am Hals hat e8-zumweilen einen Bortenbefag. Am
Ellbogen erweitert fich der enge Oberärmel zu einem un-
geheuren Vorberärmel, welcher ven Boden berührt, wenn
ver Arm frei herabhängt. Der Mantel zeigt grelle Farben
und ift bei vornehmen Frauen mit Rauchwerk gefüttert.
Andere Frauen haben einen weiten Negenmantel mit
einer Kapuze. Strümpfe feheinen die Damen von damals
nicht getragen zu haben ;. wenigftens find feine fichtbar.
Die Schuhe gehen, mit Seiteneinfchnitten verjehen, bis
zu ven Knöcheln hinauf. Dieſe Schnürftiefeln zeigen auf
dem allegorifchen Bilde der Hoffahrt (Superbia) eine
Verlängerung der Spigen, welde auf vie feit dem
188 Buch IL Rap. 8.
11. Sahrhundert in Franfreih aufgefommene und nach⸗
mals in England und Deutſchland bis zur Ungehener-
lichfeit ausgebilvete Mode ver Schnabelfchuhe hinzudeuten
icheint. Die Mädchen tragen die Haare unverhülft und
laffen fie, nicht gezöpfelt, ſondern in freier Locken⸗
ſchwingung auf Schultern und Rüden herabhängen. ‘Die
Frauen dagegen verhüllen das Haar mit einem großen
weißen Schleier, welcher turbanartig um den Scheitel
gewunden ijt und deſſen Enden auf die Schultern herab-
fallen. Als Schmud fommen Ohrenringe und Finger
ringe vor. Ein Bild der nad) Aegypten flüchtenden
Maria zeigt, wie vie Frauen zu Pferde oder zu Efel jagen,
jeitlängs auf einem Kiffen, vie Füße auf einen an dem
Reitthier herabhängenden Schemel ftellennd. Auch Wagen
hat Herrad abgebildet, Karren von jehr primitiver Form,
auf welchen es jich jedenfalls ſehr unfanft ſaß. Alle
rüftigen Leute, auch die Frauen, reiſ'ten im Mittelalter
befanntlih zu Pferde, wie das fchon die Beichaffenheit
der Wege, welche oft geradezu eine Wegelofigfeit war,
nöthig machte.
Gleich der Frauentracht hat auch der Hausrath noch
durchweg etwas Plumpes, Eckiges, Unfertigee. Die
ovalen oder länglichvieredigen Tiſche find mit bortenver-
zierten weißen Deden belegt. Der Vorfigente bat einen
Bolfterftuhl, die Gäfte fiten auf langen Bänfen. Die
Speifen, hauptfählih Fiſche, Wildbrät und Backwerk,
find in flahen Metalifchüffeln aufgetragen. Die Efjen-
den haben wever Teller noch Beftede, venn das eine auf
dem Tiſch befindliche Meffer und vie eine Gabel find offen-
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 189
bar nur zum erlegen da. Man langte' eben mwalbur-
prüngfich-Tändlichefittlich mit ven Fingern zu. Brote,
in allerhand Formen gebaden, liegen zwijchen ven Schüf-
fein. Der Wein ift in metallenen Gefäffen aufgeftellt,
zum trinken dienen hölzerne Becher in Form Meiner
Zuber. Die ganze Tifchbeichidung ſieht fo aus, als habe
man ſich damals aus flüffigen Spetfen wenig gemacht
und ſich ausfchlieglih an die fompakten gehalten. Man
gewahrt weder Suppen noch Brühen und demzufolge auch
feine Vorlegelöffel over Efjlöffel. Bänke und Stühle er-
mangeln gewöhnlich der Lehnen und find ſehr maffiv aus
Holz gezimmert. Fußſchemel fieht man häufig. Vor⸗
kommende Bücher haben gelbe Deckel, vielleicht um das
Meifingbefchläge anzudeuten. Bon mufifalifchen Inftru-
menten machen die Querflöte, Die neun- oder auch zwan⸗
zigfaitige Harfe (Kithara, Psalterion), die breifaitige
eier (Organistrum), bie einfache Theorbe (Lyra) und
das Tambourin (Tympanum) fich bemerkbar.
Das Bettgeftelle ruht in ven Bildern der Herrad auf
- vier maſſiv hölzernen Stollen oder Füßen und ift fo ein-
fach, daß es gewöhnlich nur ein Kopfbrett, fein Fußbrett
hat. Die Hauptftüde des Bettes find eine Matrake, um
welche ein weißes oder auch farbiges Laden ganz herum⸗
geſchlagen iſt, und ein kleines viereckiges Kopffifien. Der
Sclafenve bat feine Zunifa an und feine andere Dede
als feinen Mantel. In dem Maße aber, in welchem das
Bett im Vorfchritt ver Zeit reicher und üppiger wurde,
vereinfachte fih der Schlafanzug, bis er endlich im
14. Jahrhundert bei paradiefifcher Einfachheit angelangt
190 Bud II. Kap. 3.
war. In Wolfrtams Parzival find die Hauptſtücke eines
vornehmen Gaftbettes im 13. Jahrhundert angegeben:
das Pflumit oder die Hauptmatrage, mit Sammet über-
zogen und mit zwei fchneeweißen Xeilachen überbedt;
ferner ver an die Kopfwand des Bettgeftells gelehnte Rul-
ter, eine fleinere, mit Linnen oder goldgeſticktem Seiven-
zeug überzogene Matrage, die aber auch als ein auf der
Hauptmatrage ruhendes Unterbett erfcheint; dann das
Kopfkiſſen (Wankiſſen, Wangenkiſſen, Ohrkiſſen) und end⸗
lich als Dede ein hermelinverbrämter Mantel 25). Zu
dieſer Zeit ſcheinen wenigſtens die Damen noch das Hemd
im Bette anbehalten zu haben. Im Nibelungenlied be-
fteigt Brunhild „in sabenwizem ‚hemede“ das Braut-
bett, in welchem fie freilich ven Bräutigam nicht duldet,
und wenn geltend gemacht wurbe ?6), fie wäre gerade durch
dieſes Motiv bewogen worden, gegen die ſchon damals
herrſchende Sitte bekleidet fchlafen zu gehen, fo ift dieſem
die Brautnacht der weißhändigen Iſold entgegenzuhalten,
wie fie Heinrich von Freiberg in feiner Fortſetzung des
Triftan mit reizender Naivität gefchilvert hat. Da windet
und birgt die fehöne Braut „ir wizen linden bein® in
ihr Pfeitel, worunter man nur ein Hemd verftehen Tann,
und liegt alfo ebenjo wenig wie Brunhild nadt im Bette,
obgleich fie ganz anders als diefe gegen ihren Bräutigam
45) Parzival, 552, 7 fg.
46) Bon 8. Seifart, in feiner übrigens fehr belehrenden Ab-
handlung: „Das Bett im Mittelalter“, Zeitichr. f. deutſche Kultur-
geihichte 1857, ©. 89.
Bom 12. bis 15. Jahrhundert. 191
gefinnt ift und „daz blunde blümelein, ir blundez
magetum nur eine wile vor Tristand’ wern und
ernern* will). Daß die Herren ſchon zu Wolframs
von Eſchenbach Zeiten nadt zu Bette gegangen, ift durch
die Stelle angedeutet, wo von dem jungen auf Gurne-
mans Burg bewirtheten Parzival bei feinem Schlafen-
gehen gejagt wird: „Ein deklachen von harmin wart
geleit über sin blözen lip.“ Daß in erotifchen Situa-
tionen auch die Frauen ſchon im 13. Jahrhundert das
Lager „kleiderblöz“ beſchritten 9), würde och nicht
den Schluß erlauben, die Damen hätten ſchon damals
die Sitte des Nadtichlafens adoptirt; allein wir haben
Zeugniffe pafür, daß die Schönen auch unter anderen Um⸗
ftänden nadt im Bette lagen %). Im 14. und 15, Jahr⸗
hundert war dieſer Brauch ganz allgemein und Tonnte
faum anftößig fein zu einer Zeit, wo auch in Deutfchland
mit Nudidäten über die Maßen freigebig verfahren wurde,
obzwar meines Wiffens auf deutſchem Boden vie mittel-
47) Bon der Hagen’s Ausg. des Triftan, II, 14.
48) Do was ez ein wenik späte, ouch was diu kemenate
Bestat mit ganzer zierheit, ein wertlich bette was bereit.
Der gräve sie al umbe vienk, gegen dem bette erdögienk,
Sie sluog näch ir zuo die tür, den rigel schozsie vaste vür;
Dö sie rehte wol bestöz, der kleider wurden sie beide blöz,
Reht alsö daz kein vadem an iremlibeerschein. Gejammt-
abenteuer , I, 435
49) Vor leide diu vrouwe daz här uz rouft;
Ein sidin hemde si an slouft,
Mit im von dem bette si gienk. Geſammiabenteuer I, 270.
192 Bud II. Kap. 3.
alterliche „Naivität“ nie jo naiv fich gebärbete, daß, wie
folches in Franfreih geſchah, einziehende Monarchen —
(Ludwig der Elfte in Paris 1461, Karl der Kühne in
Lille 1468) — In den Straßen ver Städte bei hellem
Tage von fplitternadten Mädchen empfangen wurben,
welche Göttinnen oder Sirenen vorftellten und, während
taufend Männeraugen frech fie betafteten, „ganz unbe-
fangen“ Verſe herfagten °%.
50) Flögel, Geſch. des Groteſtkomiſchen, S. 202. Kuriofitäten,
I, 206 fg. Eine ähnliche Scene, von Manlius in den Collectan.
locor. commun. pag. 345 bezeugt, kam noch im 16. Jahrhundert
in $landern vor. Als Karl der Fünfte feinen Einzug in Antwerpen
hielt, wurde auf Anordnung des Magiftrats auf der Straße von
der Zunft der Meifterfänger („Kammer der Rederijker“) eine der
dramatifchen Allegorien jener Zeit aufgeführt und in dieſem Schau-
jpiel hatten die ſchönſten Mädchen ver Stadt Rollen inne, nur einen
Flor der dünnften Sorte um ihre nadten Reize gefchlagen. Der
Kaifer ſchritt ernft vorliber, ohne einen Blid auf die Schönen zu
werfen. Nicht jo der mit dabei gewejene Albrecht Dürer, welcher,
wie er feinem Freunde Melanchthon erzählte, dieſe Mädchen ſehr
aufmerffam und etwas unverſchämt in ber Nähe betrachtete, „weil
er ein Maler”.
Diertes Kapitel.
Die Edelfrau‘).
Weib, Frau und Magd. — Ehrentitel der Mädchen und Frauen.
— Bon Frauermamen. — Die Erziehung vornehmer Mädchen und
die Bildung böflfher Damen. — Die „Moralitas“. — Das ritter-
lich⸗romantiſche Schönheitsideal. — Putzkunſt und Tracht. — Eine
böftihe Dame in Sala. — Gefelliges. — Der Tanz. — Die frau-
lien Pflichten der Gaftlichkeit. — An einem Hofe. — Berlobung
und Hochzeit. — Naives. — Frauendienft und Liebesverlehr. —
Ein Märtyrer der Minne. — Der Wurm in der Roſe ber Romantik.
— Eine Heilige und eine Kekerin.
Die mittelhochveutfhe oder ſchwäbiſche Mundart,
zur Zeit der höfifcheritterlichen Kultur in Deutfchland die
Sprade ver Literatur und des gebildeten Verkehrs, unter-
51) Ich halte es für nicht ganz Überflüffig, gleih am Eingang
des Kapitels anzumerlen, daß ımter „Edelfrauen” bier Die Damen,
ber höheren Ariftofratie verftanden find. Der niebere Adel in
Deutihland hat ja von ber „Höfiſchkeit“ ſicherlich mehr nur von Hören⸗
jagen als aus eigner Erfahrung gewußt. Ausnahmen gab e8 frei-
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 13
194 Buch II. Kay. 4.
icheivet zwifchen „Weib“ (wip) und „rau * (frou, frouwe,
vrou, vrouwe). Das Wort Weib gibt den allgemeinen
Begriff des Gefchlechtes, e8 beveutet foviel wie Eheweib,
drückt aber außerdem noch das Stanvesverhältniß aus.
In erfterer Beziehung wird dem Weibe vie Magd (maget,
junkfrou) entgegengefegt — bie Magd, d. i. das Mäd⸗
hen, die Iungfrau, wird zum Weibe, fagen vie mittel-
hochdeutfchen Dichter, wo fie vom Vollzuge der Ehe fprechen
— in letterer ift durch die Öegenüberftellung von Weib
und Frau der Gegenfaß der Unterorbnung und der Ueber⸗
oronung ausgeprägt. Denn Frau war in der DBlüthe-
zeit des Mittelalters gleichbedeutend mit „Herrin“ und
fam nur Weibern höheren Standes zu, gleichviel ob fie
verheiratet oder ledig waren 3). Daher nannte man eine
ledige Dame, um fie als folche zu bezeichnen, auch häufig
Frau⸗Magd. Uebrigens ftritten die Minnefänger unter
einander, ob Weib oder Frau der fchönere Titel fei, und
ver erftere hat fogar die Autorität Walther von ver
lich, allein in der Regel lebte jo ein Landjunfer auf feiner engge-
bauten und färglich eingerichteten Burg halb im Stil eines Bauers,
halb in dem eines Räubers. Wie hätten da Bildung und Gebaren
feiner Frau und feiner Töchter „höfiſch“ fein können? Die Stätten,
wo die ritterlich⸗romantiſche Geſellſchaft ihren Glanz entfaltete,
waren bie Pfalzen und Burgen fürftliher, gräflicher und veiche-
freiberrlicder Häufer, Biſchofsſitze und Abteien, jpäter auch die
Edelhöfe des reichen ftädtifchen Patriziats.
52) „Meine Frau Kriembild”, redet Sigfrid im Nibelungen«
lied (Str. 303, Lachm. Ausg.) die burgundifche Prinzeffin an, lange
bevor fie feine Ehefrau ift.
Die Ebelfran. 195
Vogelweide für fih 3%). Heinrich von Meißen dagegen
ſprach fih für ven Titel Frau aus, weſſhalb er wahr-
fcheinlih „Srauenlob” zubenannt wurde, und die Folge-
zeit bat ihm rechtgegeben. Frau enthält nach unferer
jegigen Anſchauung einen edleren Sinn als Weib, ganz
entfprechend der urfprünglichen Bedeutung des erfteren
Wortes. Denn Frau heißt die Frohe und Erfreuende.
„Weil fie erfreuen, darum heißen fie Frauen”, bat einer
unferer alten Dichter und fo hat auch noch ein neuerer
ſchön gefungen®®). Jungfrau und Frau waren lange
Zeit im Mittelalter die einfachen Ehrentitel, womit
fönigliche und fürftliche Prinzeſſinnen, gräfliche und frei-
herrliche Töchter, Gemahlinnen von Katfern und Königen
angeredet wurden. Etwas fpäter erhielt bei ven Damen
des hohen Adels viefer Titel ven Beifag: Edle over ehr-
und tugendreihe Jungfrau oder Frau. Man warf
58) „Weib müffen Weiber ftets als höchſten Namen nehmen,
Mehr ehrt's als Frau (d. i. Herrin) . . . .
Weib zu beißen alle krönet“.
54) „Daz vröüwen en in ist bekant,
Des sint si vrouwen genant.“ Der Strider.
„Frauen find genannt vom freuen,
Weil fi freuen kann fein Dann
Ohn' ein Weib, die ftetS vom neuen
Seel und Leib erfreuen kann.
Wohlgefraut ift wohlgefreuet,
Ungefreut ift ungefraut;
Wer ber Frauen Auge jcheuet,
Hat die Freude nie geihaut”. Rüdert.
1: *
196 Bub II. Kap. 4.
damals noch nicht fo mit Durchlauchten, mit Hoheiten oder
gar mit Majeftäten um ſich wie heutzutage und bis zum
16., ja fogar bis zum 17. Sahrhundert fühlten Gräftnnen,
Sreifrauen und felbft Fürftinnen ſich Hinlänglich geehrt,
wenn fie in mündlicher und fchriftlicher Nede, wie au
in Urkunden, von ihren Männern „Wirthinnen” und
„Hausfrauen“ oder „Liebe, vienjtwillige Ehewirthinnen
und Hausfrauen“ betitelt wurden. |
Die älteften Eigennamen der deutfchen Frauen geben
Zeugniß von dem dichteriſchen Sinnegermanifcher Vorzeit).
Denn die Frauennamen „wiberfpiegelten den Gefammt-
porrath der Begriffe, welche die Germanen von dem
Weibe in ſich trugen“ 3%. Fraulicher Schönheit brachten
ältefte Frauennamen eine zarte Huldigung dar. So
Heidr (die Heitere, Stralende), Bertha (vie Glänzende),
55) In ältefter Zeit und noch zu Anfang des Mittelalters
waren einfach nur die Namen bräuchlich, welche die Kinder bei der
Geburt erhielten. Dann kamen zunädft Beinamen auf und zwar
abgeleitet von phyſiſchen und moralifchen Eigenfchaften, wie bei den
Bornehmen, oder von bäuerlichen und gewerblichen Beichäftigungen,
wie bei dem gemeinen Mann. Hierauf begann ber hohe Abel,
feinen Odal- oder Feodalgütern Beinamen zu entlehnen, welche
jedoch vielfach ſich änderten, bis fie flehend wurden. Unter dem
niederen Adel wurde der Brauch, dem Taufnamen den Namen bes
Gutes als Gefchlehtsnamen beizufügen, weit ſpäter allgemein.
Unter dem Bürger- und Bauernftand wurden ſtehende Gejchlechts-
namen erft vom 14. Jahrhundert an bräuchlidh.
56) Weinhold, die deutſchen Frauen im Mittelalter, 7—24, wo
eine ausführliche Erörterung ber deutichen Frauennamen gegeben ift.
’ .
Die Edelfrau. 197
Swinda (die Starfe, Rache), Liba (vie Lebendige),
Stonea (die Schöne). Die Zufammenjegungen mit brun
(heil), wiz (weiß), Iouf (lohend), heib (jtralend) gaben
dann eine lange Reihe von charakteriitiichen Namen wie
z. B. Kolbrun, Schwanweiß, Liobweiß, Adalouk, Hilti-
fouf, Adalbeid, Hruodheid. Bon ven auf Kräuter und
Dlumen zurüdzuführennen Frauennamen haben fich
wenigftens einige auch zu unferer Zeit noch erhalten. Da-
gegen find pie weiblichen Namen, welche auf das in alter
Zeit viel vertraulichere Verhältniß des Menfchen zur Thier-
welt gegründet waren, bis auf wenige Nachflänge abge-
fommen. Neben dem Schwan gab beſonders die Schlange
(lind), welche, freilich unferem jegigen Gefühle fehr zu-
wider, im germanifchen Altertum ihres anfchmiegenven
Weſens wegen für ein Symbol des Weibes galt, Veran⸗
laſſung zur Schaffung von Frauennamen: Schwangatt,
Schwanhild, Schwanburg, Linda, Alflind, Gerlind,
Frivelind, Sigelind, Gotelind. Auf mythifche Bezüge
beuten Truda, Trudila, Adaltrud, Hiltwud, Irmintrud;
ebenſo Sunnhild, Ingbertha, Ingoberga, Ingundis,
Theudelinda. Von Waffen und Kampf geben Brunhild,
Kriemhild, Gerhild, Germuth, Gertrud, Walburg Zeug:
niß. Phyſiſche und ſittliche Eigenſchaften und Begriffe
verſinnlichen die Namen Adala (die Edle), Balda (die
Kühne), Geila (die Frohe), Hulda (die Huldvolle), Lioba
(die Liebe), Willen (die Willige). Die vielfachen Zu-
fammenfegungen mit „Rath”, wie Rathfriev, Rathgund,
Rathlind, Rathburg, Rathhild, Rathtrud, find ebenfo
viele Beweiſe deutſcher Frauenverehrung. Ueberhaupt
198 Buch II. Kap. a.
lag immer ein beftimmter Sinn oder Wunſch der Namen-
gebung zu Grunde, während fie heutzutage meift nur eine
Sache des Zufall® oder auch ver abgejchmadteften Be-
griffstofigfeit ift. Mit vem Chriſtenthum brachen natür-
lich auch die Namen ver chriftlichen Heiligen und demnach
die Frauennamen der abendländiſchen und morgenländi-
chen Kirche nach Deutfchland herein. So gab e8 ſchon im
8. Sahrhundert bei den Deutfchen fremve Frauennamen,
wie Beata, Eugenia, Juliana, Sibylla und andere. Noch
im 12. Sahrhundert waren jedoch die heimifchen vor⸗
herrſchend. Unſere gute Bekannte vom vorigen Kapitel
her, Herrad von Landsberg, gibt ein Namenverzeichnif
ihrer Nonnengemeinde und da finden wir die vielen natio-
nalen Namen Guta, Adelheid, Evellind, Richinza, Mathild,
Hedwig, Heilwig, Kunigund, Gertrud, Rilind, Mechthild,
Diemuth, Bertha, Hemma, Hildegund, Hazicha und andere
neben den wenigen fremden Agnes, Euphemia, Chriftina,
Magaretha, Sibilia. Da fich ſämmtliche Nonnen dieſes
Kataloge, einige wenige ausgenommen, durch den ihrem
Taufnamen beigefegten Geſchlechtsnamen, d. i. Guts-
namen, als adelige erweifen, jo erjehen wir daraus zu-
gleich, welche Vornamen unter den Evelfrauen von vamals
gäng und gäbe waren. Höftiche Dichter des 13. Jahr⸗
hundert, die fich, wie wir fpäter berühren werben, mehr
mit Bauerndirnen als mit Eveldamen zu fehaffen machten,
haben eine Menge Namen ländlicher Schönen ihrer Zeit
verzeichnet, unter welchen ſich ſehr fchöne finden, wie
Roſe, Gute, Freude, Minne, Liebe, Wonne, Engel, over
auch jehr charafteriftifche, wie Geiß, Trude, Elle, Hete,
Die Edelfrau. 199
Mate, Metze, Fuße, Igel3”). Noch im 16. Jahrhundert
überiwogen in Deutſchland vie einheimifchen Frauennamen
vie fremden. Don da ab begannen dieſe jene gänzlich zu
überwucdern, bis die Wiederaufgrabung unferes Alter-
thums zu Anfang des 19. Jahrhunderts auch die ger-
maniſchen Namen in unferer Frauenwelt wieder etwas
mehr zu Ehren brachte.
Die rechtliche Stellung ver veutfchen Frau im Mittels
alter als Zochter, Schwefter, Gattin, Mutter und Witwe
ift ſchon früher betrachtet worden und fo haben wir bier
vorzugsweife zu fehildern, wie die Frauen der höheren
Stände zum Leben und Wirken im Haus und in der Ge-
ſellſchaft fich befähigten und wie weibliche Art und Sitte
im Verkehr mit der Männerwelt ſich darſtellte .....
Sobald das Mädchen vem Spiel mit der Tode (Puppe),
dem Vorbild der fünftigen Meutterforge, zu entwachſen
begann, bob vie ernftere Erziehung an. “Diefelbe wurde
im väterlichen Haufe oder in Nonnenklöftern over auch an
fürftlihen Höfen beforgt, wo die zum Zwecke ihrer Aus-
bildung untergebrachten Töchter edler Familien unter ver
Obhut einer eigenen „Meifterin* ftanden. Wie oben
an Frauen des 10. und 12. Jahrhunderts nachgewiefen
worden, waren zwar einzelne veutfche Mädchen ſchon
frühzeitig einer höheren geiftigen, ſogar wiſſenſchaftlichen
und künſtleriſchen Erziehung theilhaft; allein im ganzen
befchränfte fich das frühere Mittelalter doch darauf, dem
weiblichen Geſchlechte körperliche Fertigkeiten und häus-
57) Hagen, Minnefinger, I, 25; III, 189— 307.
200 Buch II. Kap. 4.
liche Gefchieflichkeiten beizubringen, fowie daſſelbe mit der
Anftandslehre befannt zu machen. Die Höfifchfeit ver
deutſchen Gefellihaft, wie fie 3. B. das Nibelungenlied
ung vorführt, befteht ganz in Weußerlichkeiten; nur bie
Erwähnung ver Fidler oder Spielleute deutet auf geiftige
Bezüge bin. Dagegen führt ung das Nibelungenliev die
Frauen, felbft die vornehmiten, noch in hHausmütterlichen
Beichäftigungen vor, wie die fpätere Höftfchfeit fie den⸗
felben nur noch felten zutheilte. Die Hausfrau, deren
Symbole die Spindel und der Schlüffelbund, führte die
Aufficht über das Gefinde, hatte, unterftügt won ihren
Töchtern, für Vorrathskammer, Küche und Keller zu
jorgen und außerdem für die Bekleidung ber ganzen
Familie. Da regierten denn Königinnen Spindel und
Weberſchiff und handhabten Prinzejfinnen die ſchneidernde
Scheere. Als Sigfriv von Santen nah Worms ziehen
will, bittet er feine Mutter Sigelind, ihm die Reiſekleider
zu bereiten, und die Königin geht fofort mit ihren Frauen
an die Arbeit. Als König Gunther auf die Brautfahrt
gen Iſenland gehen will, bittet er feine Schweiter, ihm
und jedem feiner drei Neifegefährten dreierlei Anzüge zu
fertigen, und alsbald beruft Kriemhild aus ihrer Remenate
preißig in foldhen Arbeiten beſonders gewandte Jung-
frauen, ſchneidet mit eigener Hand vie reichen Stoffe zu
und läſſt unter ihrer Aufjicht die Gewänder nähen und
itiden. Später freilich, als die höfifch-romantifchen
Moden raſch wechjelten, als von allen Weltgegenden her
neue und ſchwierig zu behandelnde Kleiderſtoffe aller Art
nah Deutſchland famen, reichten hHausmütterliche Scheere
Die Edelfrau. 201
umd Nadel zur Bewältigung ver immer verwidelter wer-
denden Aufgaben nicht mehr aus, ſondern fiel die Löſung
verfelben einer eigenen Zunft von Kleiverfünftlern und
Movefchneiverinnen anheim und fo gewannen die Täch-
ter vornehmer Familien Zeit, ihren Getft mehr als bis-
her zu bilden.
In der „feinen“ Gefellfchaft, welche fich vom 12. Jahr⸗
hundert an in Deutſchland entwidelte, finden wir denn
auch die „geiftlichen Künfte*, d. i. leſen und fchreiben,
unter den Frauen heimifcher als unter den Männern,
wenigftens unter den nichtgeiftlichen. Konnte doch ſelbſt
ein jo großer Dichter wie Wolfram von Efchenbach weder
lefen noch fohreiben und von dem armen deutſchen Don
Duijote, von Ulrich von Fichtenftein wiſſen wir, daß er,
der mundfertige Versfünftler, ein „Büchlein“ d. i. eine
poetifche Epiftel, die er von feiner Herrin empfangen hatte,
zu feinem nicht geringen Sammer zehn Zage lang ungelefen
mit fich herumtragen mußte, maßen ihm fein Schreiber
und Borlefer gerade nicht bei ver Hand. Es kann feinem
Zweifel unterliegen, daß bie höfifche Literatur von feiten
der höfiichen Damen mannigfacdhe Förderung erfuhr. Zwar
mögen auf vem Putztiſche mancher Beberricherin ver Mode
im 13. Jahrhundert die ftattlichen Pergamentbänve, welche
die Werke ver ritterlihen Epiler jener Zeit enthielten,
und die zierlicheren Liederbüchlein ver Minnefänger ebenfo
nur zum bloßen Staat und Schein gelegen haben, wie
die Goldſchnittsbändchen des 19. Jahrhunderts auf
manchem Boudoirtifche von heute; allein trotzdem fteht
feft, vaß der Minnegefang und die ritterliche Epit ohne
202 Bud U. Kap. 4.
eine jehr ausgedehnte und lebhafte Theilnahme von frau-
liher Seite gar nicht die reiche und prächtige Entwidelung
hätten gewinnen können, welche fie wirklich gewannen.
Die Minne war recht eigentlich die Seele dieſer Literatur,
welche fich worzugsweife an die Frauen wandte. Dieſe
munterten ven Dichter auf und von ihnen erwartete und
empfing er füßejten Lohn. Das fingen und jagen,
d. h. der mufifalifche Vortrag der Inrifchen und das Vor-
leſen ver erzählenven Dichtungen, gehörte zu den belieb-
teften und beften Unterhaltungen ver feineren Gefell-
ſchaftskreiſe, und da fich hierbei die Poefie aufs engſte mit
der Muſik verband, fo mußte eine gebilvete Dame neben
ver Kunſt, zu lefen und zu fchreiben, auch mufifalische
Tertigfeiten befigen. Die Mädchen wurven daher nicht
nur im Gefang unterrichtet, fondern auch im Spiel der
welfchen Fidel, der Rotte (Leer? Zither?) und ver Harfe.
Daneben hörte vie Unterweifung in feineren Handarbeiten
nicht auf?®) und wurde die Anftanvslehre zu einem fürm-
lichen Gefegbuch ausgebildet, welches die Haltung und das
Betragen ver Damen im ftehen und gehen, paheim und
auf der Gaffe, bei Tiſche, bei Spiel und Tanz, Hohen und
Niedrigen, Männern und Frauen gegenüber bis ins ein-
zelne hinein regelte.e Mitunter waren biefe Regeln frei-
lich nur ganz auf das äußerliche geftellt und bauten ein
Ceremoniell auf, hinter deſſen ehrbarem Schein fich oft
genug die dreiſte Unfitte breit machte; allein daneben
58) ©. unten im 6. Kapitel, wo von der föfterliden Erziehung
bie Rebe.
Die Edelfran. 903
fehlte es ver höfifchen Sittenlehre doch auch nicht an
tieferem Gehalt. Im der „Winfbedin“, einem lehr⸗
haften Gedichte des 13. Jahrhunderts, fagt die unter:
weifende Mutter zur Tochter: „ Traut Kind, du follft fein
hochgefinnt und follft in Züchten leben, damit dein Ruf
gut fei und dein Rofenfranz dir ſchön ſtehe. Wem Ehre
gebührt, dem follft vu ehrbaren und fanften Gruß bieten
und folljt deine Augen nicht wilde und unehrbare Blicke
ſchießen laſſen. Schamhaftigkeit und Maß find die zwei
Zugenden, weldhe uns Frauen hoben Preis zumenven.
Berleiht Gott dieſe deiner Jugend, fo wird deines Glückes
Reis grünen und wirft vu in Ehren alt werben.“
Gottfried von Straßburg hat im „Triſtan“ ein aller-
liebftes Gemälve entworfen, wie der Held, während ihn
die Königin von Ireland von feiner Wunde heilte, zum
Danf dafür ihre Tochter, die blonde Iſold, in höfiſchem
Wiffen, in böfifhen Künften und Sitten unterwied und
wie feine ſchöne Schülerin mit Eifer „beides, Bücher und
Saitenfpiel”, lernte. Sie fang, fie fpielte, fie las und
fhrieb. Ste verftand ihre vubliner Spracde fein und
daneben Franzöjiich und Latein, fonnte die wäljche Fidel
Ipielen, mit Händen weiß wie Hermelin Xeier und Harfe
zu vielgeftaltigen Tönen rühren und dazu Melopieen aller
Art fingen. Auch befaß und übte fie die Gabe, Briefe
und Lieder zu dichten, und wußte Sagen und Mären zu
erzählen. Außerdem unterrichtete Triſtan die Schöne in
der „Moralitas” d. h. in ver Kunft guter und ſchöner
Sitten, in der ſüßen Kunft, welche rein und glüdfelig
macht, welche allen edlen Herzen ald eine Amme für das
204 Bud UI. Kap. 4.
Leben mitgegeben ift, welche lehrt, wie wir uns zu Gott
und zur Welt zu verhalten haben und wie wir beiven ge-
falfen können >). Man fieht, der Dichter wollte hier
das Ideal einer im beften Sinne höftfch gebildeten Dame
aufftellen. Die Frage aber, ob es folde Mufterbilver
wirklich gegeben habe, darf unbevenflich bejaht werben.
Iſt e8 doch noch niemand eingefallen, zu leugnen, daß die
homerifchen Gefänge vie wirklichen Sitten ver Zeit ihrer
Entjtehung darftellen, und gerade fo haben auch unfere
mittelalterlichen Dichter ihre fittengejchichtlichen Zeich⸗
nungen und Farben ver Wirklichfeit von damals ent-
nommen.
Die Törperlide Schönheit der Frauen zu fehildern,
haben fich vie höfiſchen Dichter viel und mit Luft befliifen.
Das Nibelungenlien, welches ja in feiner jeßigen Geftalt
nicht ſowohl die Nitterzeit felbit als vielmehr die Ueber⸗
gangsftufe zu derfelben darſtellt, begnügt fich noch mit
Allgemeinheiten. So vergleicht e8 die Kriemhild mit dem
aus trüben Wolfen brechenden Morgenroth oder mit vem
Mond, der in Lichter Klarheit einhergeht vor ven Sternen.
In den Liedern und Helvengevichten des 13. Jahrhun⸗
derts dagegen iſt das höfiſche Schönheitsideal Schon in alfen
Einzelnheiten entwidelt und die Dichter ergehen fi in
behaglicher Detailmalerei weiblicher Reize). Schlantf,
59) Triften, Ausg. v. Maßmann, S. 198 fg.
60) So Dietrih von Glaz in feinem Gedicht Der Borte
(Gürtel), Gefammtabenteuer, I, 455 fg., wo e8 heißt:
Fa Der si bekande rehte,
Der gesach nie schoener wip: w£&, wie stolz was ir lip!
Die Edelfrau. 205
ſchwank und rund, von Hautfarbe weiß und rofig, auf
zierlichen Füßchen mit feinen Knöcheln, unten fo geböhlt,
bag „ein Vogel durchſchlüpfen konnte“, und in den „zart
gedrollenen“ Hüften leicht und elaftifch ſich bewegend, mit
- gerumbeten Armen vom rechten Maß, langen ſchlanken
Fingern, rojigen Nägeln, gewölbter Büfte und feften,
runden, blanfen, mäßiggroßen Brüften — „alsam zwei
paradis epfelin* — mit reichen langen, ſeidenweichen
Haaren, blühenden Wangen, einem Heinen, roth und
kuſſlich ſchwellenden Mund, einem feinen Grübchenfinn,
Heinen, weißen, ovalen Ohren, Zähnen von fchneeweißem
Schmelz und dichter Fügung ausgeftattet, züchtig zugleich
und feurig, ſüß und frifch, eine thaufchimmernde Rofe,
— fo mußte die Schöne fein, welche einen Helven ent-
Ir houbet, darüf gelwez här, stolz ir wengel rösen var
Und liljenwiz darunder; mich nimet michel wunder,
Daz ir ougen sint sö klär, si reht sam ein adel ar;
Ir wolgeschaffen nasebein was ze gröz noch ze klein,
Ir munt darunder rösen röt; wie saelik, dem si ir küssen böt;
Ir kinne wiz, sinewel, ir kel was ein lüter vel.
Dädurch sach man des wines swank, swenne diu vrouwetrank;
Ir zene sam ein helfenbein, ir zunge sam ein guldin zein,
Ir ahsel vil siuberlich, ir hende, ir arme ritterlich
Stuonden ir ze wunsche wol; ir herze daz was tugende vol.
Swer ir an ir ougen sach, dem tet ir minne ungemach.
Ir lip der was ungewollen ze wunsche wol en vollen;
Ir bein, ir vueze hovelich, ir schuohe stuonden ritterlich.
Ir guete was sô sueze, und waeren ir die vueze
Komen in des meres vluot, daz mer daz waere worten guot
Von iren vuezen reinen und von ir wizen beinen.
206 Bud II. Kap. 4.
zitefen und einen Dichter begeiftern follte. Das goldfaden⸗
blonde Haar und die blauen Augen ftanden noch immer
hoch im Breife; doch theilte man neben ſchönen Blon⸗
dinen auch ſchönen Brünetten bereitwilliges Lob zu und
das verfeinerte oder auch wohl überfeinerte Schönheits-
gefühl pries die Verbindung rofiger Hautfarbe und blauer
Augen mit braunen Haaren und Brauen oder fand um-
gefehrt die Zufammenftellung von blonden Haaren und
Brauen mit Augen „braun nach Falfenart“ allerliebſt.
Bei jo ftrengen, jo ins einzelne gehenden und fchon ans
Ueberfeinerte ftreifenden Anforderungen an weibliche Schön-
heit fonnte e8 nicht ausbleiben, daß die Damen ihrerfeits
mittel einer mehr und mehr fich verfeinernden Puk-
funft der Natur zur Hilfe zu kommen trachteten. In
Wahrheit, fie wußten mit dem Sehenlaffen oder Ber-
iteden, mit dem Färben und Schminken gehörig umzu-
gehen oder vielmehr, wie e8 jcheint, ungehörig. “Denn
ſchon im Nibelungenlieve wird ein tabelnver Seitenblid
auf die Schminffunft geworfen, indem lobend gefagt ift,
daß an dem Hofe des Markgrafen Rüdeger zu Bechelaren
feine gejchminkten und bemalten Frauen gefehen worden
jeten ©"), und Bruder Berchtold, der große Sittenprediger
tes 13. Jahrhunderts, machte ven „Färberinnen“ und
„Gilberinnen” (d. t. denen, welche ihr Haar blond färbten)
tüchtig den Krieg und fagte ihnen von ver Kanzel herab;
„Die Gemalten und Gefärbten ſchämen fich ihres Antlißes,
61) Gevelschet vrouwen varwe vil lüzel man dä vant.
(Str. 1594, Lachm. X.)
Die Edelfrau. 207
das Gott nach fich gebildet hat, und darum wird auch er
fih ihrer ſchämen und fie werfen in den Abgrund ber
Hölle. *
Die Frauentradht hatte fich feit ven Tagen ver Herrad
von Landsberg in raſchem BVorfchritte dem Neicheren,
Mannichfaltigeren und Anmuthigeren zugebilvet, ohne
ſchon jegt ins Ueppige und Anftößige auszuarten. ALS
pie drei Hauptftüde des weiblichen Anzugs erfcheinen im
13. Jahrhundert Rod (b. i. Unterrod oder Hemd), Sufenie
(d. i. Oberfleiv) und Mantel. Diefe drei Stüde kommen
auch unter ven Namen Linwat, Kürjen und Mantel vor
und an einer für dieſes Kleiderthema wichtigen Duellen-
ftelle tritt noch ein viertes Stüd hinzu, jo daß fich ver
Frauenanzug zufammenfeßt aus Pfeit (d. i. Hemd), Rock
(d. i. Unterrod), Kürfen (auch Kurſit oder Kurſat ge-
heißen und gleichbeveutend mit Sufenie oder Sürkot) und
Mantel 6%). Der Gürtel mußte hauptfächlich dazu dienen,
die Schlantheit des Wuchfes hervorzuheben, wie venn ber
ganze Anzug darauf berechnet war, ven fehönen Formen
des weiblichen Körpers ihr volles Recht widerfahren zu
laſſen 63). Ihre über ver Stirne gejcheitelten Haare ließen
die Schönen frei auf Naden und Schultern nieverfließen ;
wenigitens Die unverheirateten, welche als liebften Kopf-
ſchmuck Blumenfränze trugen. So haben die Jungfrauen,
welche in Wolframs Parzival die Gralträgerin Repanfe
62) Geſammtabenteuer I, 273; III, 300, 317.
63) Ein theurer Gürtel ſchmal und lang
In der Mitte fie zufammenzwang. Parzival, 234, 7.
208 Bud I. Kap. A.
de Schoie geleiten, auf dem in blonden Locken wallenden
bloßen Haare Blumenkränzlein liegen. Auch ein einfacher
Reif von edlem Metalle diente Jungfrauen und Frauen
zum Kopfihmud. Er hieß Schapel und hatte die DBe-
ſtimmung, das frei fliegende Haar in Ordnung zu halten 64).
Aus dem einfachen Neif wurde dann mit der Zeit ein
mehr oder weniger reich verzierte Diadem, wie ein folches
alle ritterbürtigen Damen aufzufegen berechtigt waren.
Berheiratete pflegten unter dem Schapel einen Schleier
zu tragen oder hatten als Kopfputz das haubenartige
„Gebende“, wozu noch im Laufe des 13. Jahrhunderts
die „Riſe“ kam, ein Kinn und Mund verhüllennes Tuch.
Auf die Fußbelleivung verwandten die Frauen große
Sorgfalt und die Fußbekleidungskünſtler mußten acht⸗
haben, vie aus Korduanleder oder Seidenzeug von allen
Farben gefertigten Schuhe ven Damenfühchen recht eng-
anfchmiegend zu machen. Zum häuflichen Damenanzug
gehörte die Taſche von Leder oder gejtidtem Zeug, welche
an einer Borte vom Gürtel berabhing. Auswärts trugen
modiſche Frauen Handfhuhe und am Gürtel ftatt ver
hausmütterlichen Taſche an einer langen Seivenfchnur
einen Kleinen Handſpiegel.
*Anmuthenver jedoch als dieſe trodene Aufzählung von
Kleidungsſtücken dürfte für Lefer und Leferinnen vie Be-
trachtung des Bildes einer höfiſchen Dame in Gala fein,
64) Si truogen üf ir houbten von golde liehtiu bant
(Daz waren schapelriche), daz in ir schoene här
Zerfuorten niht die winde. Nibel. 1594.
Die Edelfrau. 209
wie ed und Meifter Gottfried im Triftan gemalt hat. Bei
einer feierlichen Gelegenheit ericheint die Königin Iſot im
Sale der Königeburg, das „Wunder von Ireland”, vie
„leuchtende Magd Iſold“ an ver Hand führend und in dem
gemeinfamen Auftreten von Mutter und Tochter marfirt
ſich zugleich der Unterſchied im Gebaren ver Höfifchen
Frau und ver höfiſchen Jungfrau. Leiſe und ftätig
ichwebt die blonde Iſold neben der Mutter einher, ſüß
gejtaltet um und um, lang, jchlanf und ſchwank, ale
„hätte die Minne fie gepreht für fich felber zu einem
Federſpiel, vem Wunfche zu einem Endeziel.“ Ihr Rod
und Mantel war von braunem Sammet nad franzöfifchem
Schnitt und war der Rod da, wo die beiden Seiten zu
den Hüften niederfinten, gefranzet und geenget und mittels
des Gürtels, der da lag, „wo er liegen foll“, an ven Leib
gezwungen. Feſt lag ver Rod ver Geftalt an („der rock
der was ir heinlich“), ftand nirgends ab und fehmiegte
fih von oben bis unten glatt an die Glieder. Aber um
die Beine her erweiterte er ſich zu reichem Faltenwurf.
Der Mantel war innen und außen mit Streifen von
Hermelin verziert („bi zilen gefloitiret“), weder zu furz
noch zu lang und mit einem Zobelpelz verbrämt, deſſen
Grauſchwarz mit dem Hermelin ich wohl vertrug. Vor
der Bruft war mittels einer Schlinge von weißen Perlen
der Mantel an die Zaffel (Heftel, Agraffe) befeftigt und
hier hatte die Schöne ven Daumen der linfen Hand ein-
geihlagen. Mit zwei Fingern ver Rechten dagegen hielt
fie „nach hHöfifcher Art” weiter unten den Mantel zu«
fammen, ſo daß er faltenreich die Füße ummwallte und
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 14
210 Bud II. Kap. 4.
feine reiche Pelzverbrämung wie auch fein feivenes Futter
ſehen ließ. Auf dem Haupte trug die Tünigliche Jung⸗
frau einen fchmalen, mit Smaragven und Saphiren be-
legten Goloreif, deſſen Vorhandenfein nur das bunte
Flimmern ver Edelſteine verrietb, denn fonft hätte man
das Metall von dem Goldblond der Locken nicht unter-
ſcheiden können. Indem fie froh und forglo® neben ver
Mutter einherging, war ihr Gang und Schwang gemeffen,
ihre Tritte waren weder zu furz noch zu lang. Aufrecht
und freifam fam fie gefchritten, vem Sperber gleich, glatt-
geftrichen wie ein Papagei („ei was an ir geläze üfrecht
und offenbaere, gelich dem spärwaere, gestreichet
als ein papegän“). Gleich dem Falken auf feinem Aft
ließ fie ruhig und fpät die Augen umhergehen und da
war feiner, dem bie zwei Spiegel nicht als ſüße Wunder
erfchienen wären. Als eine Wonne ſpendende Sonne
verbreitete fich ihrer Schönheit Schein dur den Sal.
Bon zweierlei Art aber war das Grüßen von Mutter und
Tochter, während fie mitfammen die Halle entlang fchweb-
ten: — die Königin grüßte die Verfammelten mit Wor-
ten, die Prinzeffin verneigte fih ftumm; die Mutter
redete, vie Tochter jchwieg 3).
Wir pürfen mit Sicherheit annehmen, daß neben den
wandernden Dichtern und Sängern vornehmlich mwohler-
zogene Frauen e8 waren, welche in ven gejelligen Kreiſen
der höfifcheritterlichen Gefellfehaft die Koften ver geiftigen
65) Triftian, Ausg. v. Hagen, ®. 10889 fg. Ausg. v. Maßm.
©. 247 fg.
Die Edelfrau. 211
Unterhaltung trugen. DBefeelten fie doch überhaupt bie
Aeuferlichkeiten des Nittertbums und waren bie fehön-
ften Zierden der großen Yeftverfammmlungen des Mittel-
alters. Bei Reichstagen, fürftlichen Vermählungsfeften,
Turnieren, firehlichen Feitfeiern an berühmten Wallfahrts⸗
ftätten war dem „Frauendienſt“ Gelegenheit geboten, fich
in feiner ganzen „Höfiſchkeit“ und „Zierheit” ſehen zu
laffen, und bier fonnten ihrerjeit8 die Damen ihre körper-
lichen und geiftigen Vorzüge ins Hellfte Licht fegen. Sie
fonnten als Spenverinnen der Turneidänke angefichts
von taufenden zeigen, wie weibliche Schönheit und Grazie
mit höchiter Würde fich verbinden ließen ; fie Tonnten,
mit dem Fallen auf der Fauft die Herren zur Reiherbeize
begleitenn, als kühne Neiterinnen fich erweifen ; Tonnten,
beim Würfelfpiel und Schachſpiel („Wurfzabelfpiel” und
„Schachzabelfptel”) durch die Kunft gehaltwollen Ge⸗
ſpräches fefleln ; fonnten die Eintönigfeit ver Gelage durch
Harfenfpiel und Liedervortrag beleben; Tonnten beim
Ballipiel und beim Tanz die ganze Anmuth jener harm-
ofen oder doch harmlos fcheinenden Kofetterie entfalten,
welche den Frauen fo hübſch fteht, fo lange fie jung find.
Was insbeſondere die höfifch-ritterlichen Tanzfreuden
betrifft, jo kannte man zwei Hauptarten von Tänzen,
Schreit- oder Schleiftänze und Springtänze. Bet jenen
falfte ver Tänzer eine over zwei Tänzerinnen bei der Hand
und hielt mit fchleifenden Schritten einen Umgang im
Sale, unter dem Getöne von Saiteninftrumenten und
Tanzlievern, welche letztere von dem voranfchreitenden
Vortänzer oder der Vortänzerin angeftimmt wurden. ‘Die
14*
212 Bud IL. Kap. 4.
Haltung der Tanzenden war eine ſehr ruhige und ge-
mefjfene, die Bewegung der Füße nur ein Treten und
Schleifen 66). Feierlichite Geftalt nahm viefe Tanzweife
in den „Fackeltänzen“ an, welche bei vornehmen Hod-
zeiten üblich waren. Die Springtänze oder „Reihen“
wurden mehr im Freien als im Haufe getanzt und zwar
nicht ſchreitend, ſondern fpringend, wobei ſich Tänzer
und Tänzerinnen durch möglichjt Hohe und weite Sprünge
hervorzuthun ſuchten. Wenn uns berichtet wird, daß
Mädchen im Reihen Elafterweite Sprünge gethan 67) und
daß die Tanzenden wie Kraniche, Bären und Böcke durch⸗
einander gefprungen ®®), jo können wir ung leicht vor-
66) Uf den zehen slichent’s hin,
Nach dem niuwen hovesin.
Swer niht trittel treten kan
Als zuo einer henne ein han,
Der bedarf sich vragen in daz göu
Oder er wirt gekapfet an,
Als er si ein wilder man.
Zippelzehen, schokken dar,
Strichen mit den versen,
Swer daz kan, des nimnt man war,
Dem kann nieman gehersen. Minnefinger,
III, 196, 283.
67) Sie sprank
Mer danne eines klafters lang
Unt noch hoher. Minnef. II, 122.
68) Wi si tanzen und ouch schwanzen
Mit ir glanzen swibelswanz;
Die Edelfrau. 213
jtellen, daß dieſe Reihentänze weder ſchön noch auch ver
weiblichen Zucht fehr angemefjen fein Tonnten. Aus ven
Neihen des früheren Mittelalters entwidelten fich die
höchft anftößigen Tanzweiſen ves jpäteren. Wir werben dies
felben fodann im 16. Jahrhundert im höchſten Schwange
finden und dort mehr darüber fagen. Daß ver höfiſche
Scleiftanz im 13. Jahrhundert auch unter der Dorfs
linde, dem Tanzplatze ver Bauern, daheim war, bezeugen
ung die zahlreichen Tanzliever des Minnefängers Nithart.
Freilih fcheinen die luſtigen „Törper“ (Dorfbewohner)
die gemeffenen Bewegungen des Schleifers gerne mit ven
lebhafteren und ausgelafjeneren des Hopfers vertaufcht zu
haben, wie ſchon die Namen ver bäuerijhen Tänze —
Hoppalvei, Heierlei, Firleifei 6%) — andeuten.
Die Tugend der Gaftlichfeit war tief in ven Verhält-
nijfen einer Seit -begründet, wo öffentliche Herbergen,
welche leidliches Unterkommen und erträgliche Bewirthung
erwarten ließen, zumal auf dem Lande noch ſehr felten
waren und, abgefehen von ver Fluß- und Seeſchifffahrt,
von den vermöglicheren Stänten nur zu Pferve gereift
wurde. Da ed. noch feine Poften gab, waren die Retfen-
Da die klingent, so sie springent
Und ouch singet vor ze tanz:
Sam die kranche swebent sie enbor
Und ahtent niemans umb ein hor;
Z’war si gebent niht enpfor
Und limment sam die beren. Minneſ. III, 196.
69) Minnef. III, 215, 252, 283.
214 Buch II. Kap. 4.
den auf ihre eigenen Pferde angewiejen, fonnten demnach
nur Heine Zagemärfche machen und fahen ſich um fo öfter
im Falle, die Gaftfreiheit ver Burgen und Klöfter an
ihrem Wege anzufpredhen. In ven armen „Burgitällen “
mag die Erquickung und Verpflegung einfprechenver Gäſte
freilich fürglich genug ausgefallen fein. Dagegen waren
in den fürftlichen Pfalzen und den Burgen der gefammten
höheren Ariftofratie alle Vorkehrungen getroffen, ven Be-
bürfnifjen der Gäfte, befonders der vornehmen, Genüge
zu thun. Gaftempfang und Gaftbewirtbung gehörten
wefentlih zu ven Pflichten der Damen, in deren Er-
füllung fie ihre Höfifchleit oder, mit Meifter Gottfried zu
reden, ihre „Moralita8” leuchten laſſen fonnten.
Das Nibelungenlied bietet ein forgfam ausgemaltes
Bild von der Art und Weife höfifchsritterlichen Gaſtver⸗
fehrs. Als der edle Markgraf Rüdeger von Bechelaren
vernommen, daß bie drei Burgunderkönige mit ihren
Mannen ſich feiner Pfalz näherten, melvete er e8 voll
Freude feiner Frau und feiner Tochter, ſprechend: „Viel⸗
liebe Traute, Ihr follt die drei hehren Könige freundlich
empfangen und follt fie und ihre drei Mannen Hagen,
Dantwart und Volker füffen, Ihr und unfere Tochter,
und jollt die Helden in Züchten verpflegen.“ Die beiden
Markgräfinnen gingen von fechsundpreißig Frauen und
Jungfrauen gefolgt, in Staatskleidern den Gäften vor
das Burgthor entgegen und boten ihnen Gruß und Kuß 79).
70) Den Saft mit einem Kuß zu bewilllommmen, war eine all⸗
gemeine fraulidde Sitte. Als Gawan auf der Burg Schomfanzon
Die Edelfrau. 215
Dann nahm die Mutter ven Gunther, die Tochter den
Gifelher bei ver Hand und fo fchritten fie den übrigen
voran in die Pfalz, wo In einem weiten Sale Ritter und
Frauen plagnahmen, während man ben Gäften Wein
frevenzte. Als aber in vem Sale die Tafel gedeckt wurbe,
ſchieden fich die beiden Gefchlechter „näch gewohnheite® ;
denn e8 war ein höfiſcher Braud, daß Herren und Damen
abgefonvert fpeiften. Nur die Markgräfin jelbit blieb
bei ven Gäften, um bei Tifche nach dem Rechten zu fehen,
während das Fräulein vom Haufe mit den Frauen in
einem anderen Gemache ven Imbiß einnahm. Nach aufs
gehobener Zafel ehren die Schönen in ven Herrenfal
zurüd, wo fich Volker, der fühne Held und Fipelfpieler,
in allerhand Scherzrevden („gämelichen sprüchen“) ers
geht. Die Unterhaltung nimmt jedoch bald eine ernite
Wendung, indem an das Xob, welches der ritterliche Spiel-
mann der fchönen Tochter Rüdegers zollt, Hagen feiner-
feit8 mit diplomatiſcher Klugheit ven Vorſchlag Inüpft,
Herr Gifelher follte vie junge Markgräfin freien. Sofort
wird die Werbung förmlich angebradht und von bem
Markgrafen und feiner Gemahlin wohl aufgenommen.
Mitgift und Morgengabe wird zwijchen ven beiven
einſprach, erhielt er von der Prinzeffin Antilonie den Willlomms⸗
kuß. Barzival, 405, 15. In dem Gedicht „der blöze ritter“
(Sefammtabenteuer, III, 129) heißt es:
„Ouch was der wirt des gastes vrö,
Daz liez er in wol schouwen:
Sin tohter und sin vrouwen
Hiez er in küssen ze hant.“
216 Buch II. Kap. 4.
Parteien feftgejegt. Dann heißt man die minnigliche
Jungfrau berbeifommen, die ganze Verfammlung bilvet
einen Kreis und mitten in demſelben ftehen die zu Ver-
lobenden einanber gegenüber. Nun fragt man bie wonnig-
liche Magd, ob fie ven Helden nehmen wolle, und da fie
verſchämt jchweigt, raunt ihr der Vater zu, fie folle ge-
troft und freudig Ja fagen, worauf Gifelher die Braut
zärtlih in feine Arme ſchließt. Am vierten Morgen
darauf, als die Gäfte ihre Weiterfahrt gen Ungarn an—
treten, erfahren fie noch fo recht ihres Wirthes Freigebig-
feit („milte*). Rüdeger ſpendet nämlich, wie vie böfifche
Gaftlichfeit e8 wollte, an die Abziehenden reiche Gefchenfe.
Sp gibt er dem Gunther einen Waffenrod, dem Gernot
ein bewährtes Schwert. Die Markgräfin befchenft ven
Hagen mit einem Schild, ihre Tochter ven Dankwart
mit einem Staatskleid. Der wohlgezogene Volker fommt
nun mit feiner Fidel herbei, ftellt fich vor die Marfgräfin,
jingt ihr ein Lied zum Abſchied und begleitet die Melodie
mit füßen Geigentönen. Die Dame aber heißt eine Lade
bringen, nimmt daraus ſechs Goldringe und ftedt die—
jelben zum Dank vem Sänger an die Hand”).
Weil im Vorſtehenden einer höfiichen Verlobung Er-
wähnung geſchah, mag hier bemerkt werben, daß während
des Mittelalters die Anficht der germanifchen Vorzeit, die
Mädchen jollten mit Eingehung des Ehebundes nicht
„übereilt” werten, nicht mehr maßgebend gemwefen zu fein
71) Nibelungen, Ausg. v. Lahm. Str. 1590 fg., 4. v. Holtz⸗
mann, Str. 1690 fg., X. v. Zarncke, S. 252 fg.
Die Edelfrau. 217
ſcheint. Wenigftens ftoßen wir bei verſchiedenen deutſchen
Völkerſchaften — z. B. bei den Langobarden, Sachſen
und Frieſen — auf geſetzliche Beſtimmungen, welche als
die Periode jungfräulicher Reife und Ehefähigkeit das
15., 14., ja ſogar das 12. Jahr feſtſetzten, und es mangelt
auch nicht an geſchichtlichen Beiſpielen fo frühzeitiger Ver-
mählungen: — als Beatrir von Schwaben mit Raifer
Dtto dem Vierten und Hedwig von Meran mit Herzog
Heinrich dem Bärtigen von Schlefien Hochzeit machten, war
jeve der beiden Bräute erft zwölfjüährig... An dieſe
Bemerkung mag fich gerade noch die Schilderung einer
höfifchen Vermählung anfchliegen, wie Heinrichs von
Freiberg Fortfegung des Triſtan fie gibt. Es iſt die Ver-
mählung Triſtans mit der weißhändigen Iſold, ber
Tochter des Herzogs Jovelin von Arundel. Ste fand
vier Wochen nach gefchehenem Verlöbniß ftatt und begann
die eigentliche Feier zur Vefperzeit bei finfender Sonne.
Da wurden in dem Palas, d. h. in dem großen Sale
ver Herzogsburg, die Tafeln zum Feſtmahl gerichtet und
geſchmückt, und nachdem zuerjt der Braut, dann ven
Gäſten nach ihrem Range das Hanpwafjer gereicht wor-
ben, hob das Bankett an, wobei auserlefener Wein aus
golvenen Schalen getrunfen wurde. Nach gejättigter Eß⸗
und Trinfluft wurden die Zifche fortgerücdt und die Spiel-
leute begannen zum Tanz aufzugeigen. Triſtan nahm
Iſold bei ver Hand, um fie zum Tanze zu führen, und
Herren und Damen thaten es dem Brautpaarenadh. Man
hat fich die Bewegungen der Tanzenden als fachte und
etwas jteife vorzuftellen, weil die langnachwallenden Ober-
218 Buch II. Kap. 4.
Heiver („swanz“, „swänzelin®) der Damen ein rafcheres
Schreiten und Drehen verboten??). Während fie nun,
fährt unfer Dichter fort, fröhlich tanzten und „in Freuden
herumſchwanzten“, trat ein Bifchof in ven Sal, mit
feinem priefterlihen Ornat angethan. Der Tanz rubte,
die Gäſte ftellten fich in einen Kreis und die Braut wurde
durch ihren Vater und ihren Bruder mitten in ven Ring
geführt. Der Bräutigam trat ihr zur Seite und der
Bifchof gab das Paar zufammen 2), wobei Triftan und
Hold das Gelübve der Treue taufchten und die Ringe
wechfelten. Darauf wurden die Kerzen angezündet und
ging der Weinbecher in vie Runde. Aber bald zeigte man
dem Bräutigam an, daß es Zeit wäre, nach ver Braut-
kammer zu gehen, und als er fich pafelbft zu Bette gelegt,
wurde die Braut von ihrer Mutter und einer ganzen
Schar von Frauen zu ihm geleitet. Die Herzogin legte
ihre Tochter dem Bräutigam in die Arme, ſprach Segens-
worte, in welche die Frauen einftimmten, und dann ließ
man das Baar allein 7%).
Werfen wir noch einen Rücdblid auf die fraulichen
Pflichten gegen Gäfte, jo ftoßen wir auf Einzelnheiten,
12) ....... Manik richlich swanz
Von schoenen frouweu wart gesehen
An dem tanze.
73) Der bischof im ze rehter 6
Gap Isoten die maget
Und gap in ir.
74) Hagens Ausg. d. Triftan, II, 13 f.
Die Edelfrau. 219
welche nach heutigen Begriffen wunderlic oder gar be=
venflich genug waren. Der Gaft wurde von der Frau oder
Tochter des Haufes in eine Kemenate geführt, wo fie ihm
das Neifegewand, vd. 5. vie Rüftung abnahın und ihm
ein friiches Kleid reichte, worin er e8 fich bequem machen
fonnte. Bei Zifche fette fih die Dame, welder vie
Repräfentation des Haufes oblag, neben ihn, legte ihm
die Speifen nor und fredenzte ihm den Becher ®). Aber
damit noch nicht genug. Die Damen begleiteten ven Gaft
auch in die Badeſtube und Schlaflammer, welche etwas
jeltfame Art von „Moralitas" Wolfram im Parzival
hübſch ausgemalt hat. ALS der junge Held in Gurne-
mans’ Burg übernachtet hat, wird ihm am Morgen ein
Bad bereitet, und während er in der Kufe figt, kommen
die Burgfräulein berein und ftreiheln mit „blanfen lin⸗
den Händen“ den Leib des Sünglings, welcher in jeiner
Unerfahrenheit dieſe gaſtfreundlichen Weanipulationen
ziemlich verdutzt hinnimmt. Die Mäpchen reichen ihm
dann ein Laken zum Abtrocknen, aber er ift zu ſchamhaft,
das vor ihren Augen zu thun, und fo müffen fich vie
Jungfrauen, wenn auch ungern und zögernd, zum Weg-
gehen entſchließen. Gawan kehrt auf einem feiner Züge
bei dem ritterlichen Fährmann Plippalinot ein und wird
von biefem und feiner Tochter Bene auf's befte bewirthet.
Zulett geleitet der Wirth den Gaft in das Schlafgemach
und läfft ihn dort mit ver Magd, d. i. mit feiner jung-
75) Parzival, 33, 10 fg. 549, 7 fg. Hartmanne Iwein, Ausg.
von Benede, 313 fg.
220 Buch I. Kap. 4.
fräufihen Tochter allein. Mit ven Worten: „Hätt’ er
mehr von ihr begehrt, fie hätt’ es ihm vielleicht gewährt”
— deutet der Dichter ſchalkhaft an, daß eine fo weit
gehende Gaftlichkett nicht immer gefahrlos war. Am
Morgen darauf fchleicht ſich die Jungfrau in aller Frühe
wieder zu dem fehlafenden Gaſt, um ihm beim Erwachen
ihre Dienfte anzubieten 7%). Haben wir in folcher Nai-
vität vielleicht den Nachhalf einer noch größeren älteren
zu erfennen? Von einer Naivität, die, jo wir einem
Autor, welcher in den drei erften Decennien des 16. Jahr⸗
hunderts ſchrieb, glauben dürfen, noch zu feiner Zeit in
einem deutſchen Reichslande paheim war”). Aus Franf-
veich ift und bezeugt, daß dort die weibliche Bedienung
der Gäſte in ihren Schlafzimmern einen fehr weitgehenden
Sinn hatte, und, alles in allem betrachtet, dürfte an-
zunehmen fein, daß mit anderem Zubehör ver ritter-
fihen Courtoifie auch dieſes da und dort in Deutjchland
Eingang gefunden 73).
76) Parzival, 166, 20 fg. 552, 25 fg. 553, 26 fg.
77) „Es ift in dem Niderlandt auch der bruch, jo der wyrt ein
lieben gaft hat, baz er jm fyn frow zulegt uff guten glouben.“
Murner in der „Geuchmatt“. |
73) Ein franzöfifches Nittergedicht erzählt, ein Ritter fei in
einem Grafenſchloß eingelehrt, und fährt dann fort: „Der höfiſchen
Gräfin war es angenehm, einen foldhen Gaft bei fich zu jehen. Sie
ließ ihm daher eine große Gans zubereiten und ein Toftbares Bett
in ein Zimmer jeßen, worin man gut rubte. Als die Gräfin fchlafen
ging, rief fie das ſchönſte und artigfte von ihren Mädchen zu fich
und fagte ihm heimlich: Liebes Kind, gebe jett hin, lege Dich zu
Die Edelfrau. 291
Dei einem Verkehr zwifchen ven beiven Gefchlechtern,
wie er im Vorſtehenden treulich gefchildert worven, Läfft fich
leicht errathen, daß die höfiſche Minne eine feineswegs jo
durchweg idealiſche fein konnte, wie Unfenntniß oder partei⸗
fühtige Romantik fie darftellen möchten. Der Frauen-
dienft Hatte allerdings eine ivealifhe Seite — in ber
Theorie, in der Praxis dagegen war er auf fo reale Ziele
gerichtet, daß e8 mehr nur eine Ausnahme als die Regel
war, wenn er jungfräuliche Zucht over eheliche Treue ger
wiffenhaft berüdfichtigte.e Die ganze ritterliche Liebes—
funft, wie fie von den Provengalen ausgebildet worben
und auch in Deutfchland gebt wurde, lief am Ende doch
auf den gefchlechtlichen Genuß hinaus und der ritterliche
Liebhaber betete in der Geliebten eine Göttin nur deß—⸗
halb an, um in ihr das Weib zu genießen. Mochten die
Formen des höfifchen Liebesverkehrs in noch jo fpirituell-
romantischen Farben jchillern, ver Zweck war und blieb
ein fehr materieller. Mochte ſich ver höfiſch gebarenve
Nitter noch fo jehr den Launen und Grillen feiner „ Herrin“
fügen, immer hatte er doch vie Auszahlung des „Minne-
ſoldes“ im Auge und ftand nicht an, bei Gelegenheit fehr
nachdrücklich auf Entrihtung deſſelben, auf den „süssen
umbevank* zu dringen. Das Schlimmfte dabei war,
daß die frangöfifch-frivole Meinung, die Ehe dürfte in
diefem Ritter ins Bett und bebiene ihn, wie fih’8 gebührt. Ich
thäte e8 gerne jelber, wenn ich es nicht aus Schambaftigfeit unter-
ließe, und zwar um bes Grafen, meines Herrn, willen, welcher noch
nicht eingefchlafen if.” St. Pelaye a. a. ©. II, 270,
222 Buch II. Kap. 4.
feinem alle ein Hinderniß der freien Liebe fein, auch in
ver böfifchen Welt Deutſchlands beveutenver Geltung fich
erfreute. Und die Frauen? Xheilten auch fie die mehr
oder weniger leichtfertigen Anfichten, welche die Männer
aus dem Regelnbuch der höfiſchen Liebeskunſt fchöpften ?
Leider muß diefe Frage bejaht werben, wenigſtens in-
betreff einer großen Zahl, wenn nicht der Mehrzahl.
Hatte doch ſchon ein Dichter des 12. Jahrhunderts Ver-
anlafjung, zu Hagen, daß vie Keufchheit von den Frauen
gewichen wäre und daß dieſe wenig Urfache hätten, bie
Nitter um ihrer Zuchtlofigkeit willen zu tadeln 79).
Wie noch heute, fpielten auch vor Alters in Liebes-
fachen vie Liebesbriefe eine große Rolle und e8 find zahl-
reihe Proben won ſolchen „Büchlein” auf ung gelommen,
in welchen das alte und ewigjunge Thema von ver Minne⸗
Zuft und Leid in allen Tonarten variirt 1ft®%). Andere
Zeugnifje reden von einer finnigen Farbenſymbolik, welche
der deutſche Minnebienft ausbildete. in recht höfifcher
79) Heinrich in der „Rede von des Todes Gehügede“ (Erin-
nerung), mitgeth. in Gödeke's „ Mittelalter”, S. 87:
„Die phaffen die sint geitic,
Die gebour die sint neitic,
Die choufliut habent triwen nicht,
Der weibechiuscheistentwicht,
Frowen untriter
Dine durfen nimmer gefristen
Weder ir leben bezzer si“.
80) Eine artige Sammlung höfiſcher Liebesbriefe ſ. bei Laß⸗
berg, „Liederjaal”, I, 3— 109.
Die Edelfrau. 223
Mann wollte ſchon dur die vorherrſchende Färbung
feines Anzugs aller Welt kundgeben, wie e8 mit feinen
Herzensangelegenheiten beftellt ſei. Trug er fich grün,
fo beveutete das, daß fein Herz frei vom Zwange ber
Minne. Hatte er ein blaues Kleid an, fo follte das die
Stätigkeit feiner Neigung anzeigen. Roth bedeutete, daß
ex in voller Liebesglut brenne; Weiß, daß ihm die Ge-
liebte Hoffnung auf Erhörung gemacht; Gelb, daß die
Hoffnung erfüllt und das „minnigliche Gold des Minne-
ſoldes“ vollwichtig ihm ausbezahlt worven fei 81). Gewöhn⸗
licher aber war, daß der Liebhaber die Farbe feiner Er-
wählten trug, denn er war ja ihr Minnedienſtmann und
ftand zu feiner Herrin in demſelben Verhältnig wie ver
Bafall zu feinem Lehnsheren. Die Geminnte gab ihrem
Minner ein Liebespfand, einen Gürtel oder Schleier, ein
Gebände oder auch einen Aermel von ihrem Kleide; dieſes
Pfand befeftigte er an feinem Helm over Schild und groß
war der Stolz der Dame, wenn er e8 ihr recht zerhauen
oder zerftochen aus dem Kampfe zurückbrachte. So hatte
— — — — — —
81) S. d. Gedicht „Bon den Farben”, Liederſaal, I, 153 fg.
Die Dame, welche fich hier die Farbenſymbolik auslegen läfft, meint
mit Recht, e8 jet [händlich, wenn ein Ritter fich gelb Heide: —
„Sy sprach: dem sitten trag’ ich hasz; er solt ez wol ver-
swigen baz,
Wan ain minnikliches wib ir zarten minniklichen lib
Ir diener git für aigen; daz solt er nieman zaigen,
Er sollt ez jn sins hertzen grunt tragen, daz ez nymor
würd kunt
Weder manen noch wiben.“
224 Buch II. Kap. 4.
Gawan einen Aermel ver ſchönen Obilot auf feinem
Schilde befeftigt, und als er ihr venfelben durchſtochen
und durchſchlagen wieder brachte, „va warb des Mägd⸗
leins Freude groß ; ihr blanker Arm war noch bloß, darüber
ſchob fie ihn zuband“®2). Liebende taufchten auch gegen-
feitig ihre Hemben, namentlich fiebende Eheleute. So
Gahmuret und Herzeleiv. Wann ver König zum Turnier
oder zur Schlacht zog, trug er über feiner Halsberge immer
ein Hemd, welches feine Frau zuvor angehabt. Kehrte
er zurüd, fo trug Herzeleid die durchſtochenen Hemden
wieder „auf bloßer Haut“. Als Gahmuret erfchlagen
worden, legte die Königin das zerfegte blutige Hemd des
Todten an, zu liebevollem Gedenken 83).
Es ift lehrreich, mitanzujehen, wie fehr in der beften
Zeit des Mittelalterd das gefchlechtliche Verbältnig zwiſchen
Naivität und Ueberfeinerung ſchwankte. Den Maßſtab
bausbadener Moral darf man freilich da nirgends an-
legen. Wenn im Titurel des Albrechts von Scharfenberg
(?) die junge Sigune dem geliebten Schionatulander ven
Anblick ihrer büllelofen Schönheit gönnt, um ihn dadurch
gleichjam gegen ven Yiebreiz anderer Frauen zu feien, fo
fünnen wir das naiv, dichterifch, ſogar erhaben finden.
Ganz eigen muthet e8 uns jedoch an, wenn wir im Par-
zival die jungfräuliche Königin Kondwiramur auf ihrem
nächtlichen Schleihgange nad der Schlaffemenate ihres
Gates begleiten. Von Minne ift da zwar zunächſt Feine
82) Parzival, 390, 20 fg.
83) Barzival, 101, 9 fg. 111, 14 fg.
Die Edelfrau. 225
Rebe: die Fünigliche Sumgfrau venft nicht an „folcher Luft
Gewinn, die aus Mäpchen Frauen macht unverfehns in
einer Nacht”, fondern fie will den fehlafenden Barzival
anfleben, ihr ein Helfer gegen die fie bedrängenden Feinde
zu werden. So jchleicht fie denn, angethan mit „einem
Hemd von weißer Seide“, in die Kammer des Jünglings,
niet an feinem Bette nieder und erwedt ihn durch ihr
Schluchzen. Als er ſie knieen ſieht, bittet er fie, doch
lieber neben ihm platzzunehmen. Worauf ſie: „Wollt
Ihr Euch ſelber ehren und mir ſolche Zucht bewähren,
daß Ihr nicht rührt an meine Glieder, ſo leg' ich hier bei
Euch mich nieder.“ Er gelobt ihr den verlangten „Frie⸗
den” und „da barg fie in das Bette fich*, wo fie bis zum
Morgenroth verweilte 4. Wir wollen indeſſen aud
biefes Abenteuer für das nehmen, für was e8 der Erzähler
gibt, für eine pure Naivität; aber in die Kategorie ero-
tifcher Ueberfeinerung gehören ficher jene „PBrobenächte”,
welche ver höfifche und, wie wir fpäter fehen werden, auch
ber dörflihe Minnedienft fannte. Die Geliebte gewährte
dem Liebhaber eine Nacht in ihren Armen, unter ver Be-
dingung, daß e8 zwiſchen ihnen nicht weiter kommen jollte
als bis zum Kuß. Gegenüber dem Zweifel, ob das eine
Möglichkeit fei, behauptet Hartmann von Aue, ein biderber
Dann könne fich alles deſſen enthalten, weſſen er fich ent-
halten wolle; aber er fühlt fich doch geprungen, beizufügen,
folher Männer gebe e8 nicht eben viele 85).
84) Parzival, 192, 3 fg.
SD) ren Ein biderbe man
Sich allez dez enthalten kan,
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 15
226 | Bud II. Kap. 4.
Daß es Damen gegeben, welche bie Leiftung und
Haltung des erwähnten Gelübdes forderten, wird glaub⸗
ih, wenn man bie freilich ans Unglaubliche ftreifenpen
Launen anfieht, welche manche Höfifche Schöne ihren An-
beter zinſbar machte, in einem Grade, daß derſelbe, wie fich
der Minnefänger Steinmar ausprüdt, aus einem Minner
zu einem Märtyrer wurde. Ein folder war jener Ulrich
von Lichtenftein, geboren um 1200 in ver Steiermarf,
den ich anderwärts als ven deutſchen Don Quijote ge-
fennzeichnet habe 8%). Ja, Spanien hat einen Don Quijote
gebichtet, aber Deutjchland hat wirklich einen gehabt und
noch dazu einen, welcher uns feine blanfe Narrheit felber
mit einer Treuherzigkeit befchrieb, welche rühren wäre,
wenn wir nur darob das Lachen verhalten fünnten 97).
Vom Knabenalter an war Herrn Ulrichs Sinn auf Frauen-
dienſt geftellt und als Süngling wählt er eine hochgeborene
und, woblverftanden, verheiratete Dame zu feiner
„Herrin“, in deren Dienft er feinen ritterlichen Wahn-
jinn jo recht mit Methode treibt. Der Umftand, vaß er
fih zwiſchenhinein felber verheiratet, ift feiner Narre-
thei gar nicht hinderlich. Er trinkt mit Wolluft das
Wafjer, womit die Herrin fich gewafchen: er läſſt fich feine
Dez er sich enthalten wil —
Weiz got, dern ist aber niht vil. wein 6575 fg.
86) Deutiche Kultur- und Sittengeſchichte, 7. Aufl. S. 115 fg.
87) Der vrowen dienest Ulrich's von Lichtenftein, mit An⸗
merlungen Th. v. Karajan hrsgegeb. von Lachmann 1841. Minne⸗
finger, II, 32 fg. IV, 821 fg.
Die Edelfrau. 227
doppelwulſtige Unterlippe operiren, weil die Herrin meint,
dieſelbe ſei wenig zum küſſen einladend; er Läfft fich einen
beim Lanzenrennen fteifgewordenen Finger abfchlagen
und fendet venfelben ver Herrin, zum Beweis, was alles
er um fie zu dulden vermöge. Er führt, als Frau Venus
maflirt, durch bie Lande und turnirt in biefem Aufzuge
zu Ehren ver Herrin; er mifcht fich auf ihr Gebot unter
die Ausfägigen und ifft mit ihnen aus einer Schüffel.
Aber feine Kar ausgefprochene Abſicht bei allen dieſen
Ueberfchwänglichleiten ift doch, der Herrin „beizultegen“.
Sie läſſt fih nach mancherlet peinlichen Weiterungen end»
(ich herbei, viefe feine Abficht in Erfüllung zu bringen
und ihm den Minnefold zu bewilligen. Er gelangt glüd-
(ih in ihre Kemmenate und das Lager ift gerüftet. Aber
- bie Dame hat e8, wie überhaupt, auch jebt wieder nur
auf eine fehr derbe Fopperei abgefehen, bei welcher pas
arme „Minnerlein“ ums Haar ven Hals bridt. Doc
jelbft dieſes ſchmähliche Abenteuer heilt ven Ritter nicht
von feiner Minnetollheit. Das Merkwürdigſte bei alledem
it, daß Ulrichs rechtmäßige Frau, derweil ihr Eheherr
um feiner Geliebten willen vitterlih im Lande umher⸗
ipeftafelt, nebenpraußen auf feiner Burg fit und daß
von ihr nur dann die Rede, wann er ganz abgehett und
zerichlagen heimfehrt, um fich von ihr pflegen zu laffen.
Diele Gefchichte zeigt, feheint mir, hinlänglich, daß ver
ritterliche Frauendienft als ein wahrer Krebsſchaden das
Familienleben und die häufliche Zucht und Sitte zerfraß.
Es ift wahr, Ulrih8 Herrin, d. i. Geliebte, bewahrte
ihrem Gemahl materiell die Treue, aber ihre Weiblichkeit
15*
228 Bud I. Kap. 4.
erſcheint veffenungeachtet in einem wenig löblichen Lichte.
Denn Leivenfchaft wäre noch eher zu entſchuldigen als
dieſes Tofette und mitunter geradezu graufame Spiel mit
dem Gatten einer anderen Frau.
Im übrigen waren die höfifchen Damen durchſchnitt⸗
lich feineswegs jo ſpröde wie Ulrich8 Herrin. Der Zeug-
niffe vom fchranfenlofen Walten buhlerifcher Neigungen
gibt es in Fülle. Man laufche nur auf die zahlreichen
jogenannten „Tagelieder“ ver Minnefänger. Die ftet8
wiederkehrende Situation dieſer Lieder, welche zu ben
ihönften Früchten unferer mittelhochdeutfchen Lyrik ge—
hören, ift, daß nach durchſchwelgten LXiebesnächten die
Geliebte den Liebhaber beim Morgengrauen wedt,
damit er fich heimlich davonmache 88). Man betrachte
auch die mittelhochveutfche Epif und Novelliftif. Die
Prinzeſſin Blanfcheflur jchleicht zu Riwalin in die Kam⸗
mer und gibt dem Geliebten ihr Magdthum preis ®?).
Gawan hat faum die Burg Schamfanzon betreten, als er
der jungfräulichen Antifonie ſchon mit hanpgreiflichen
Liebeserflärungen zufegt, und nur eine Störung von
außen verhindert, daß fich das Fräulein ihm fofort hin-
gibt 2%). In dem Gevichte „Das Häfelein“ betrügt ein
Ritter eine der Minne ganz unfundige junge Schöne um
ihre Unfehuld und macht dann mit einer anderen Hochzeit.
88) Minnef. I, 101, 129, 157, 228, 286, 291, 317; II, 66,
128, 319. |
89) Triftan, Ausg. v. Mafmann ©. 33. fg.
90) Parzival, 405. 22.
Die Edelfrau. 229
Beim fröhlihen Mahl erzählt er fein Abenteuer mit ver
Betrogenen, woran die Braut nur auszufegen weiß, daß
das bumme Kind feiner Mutter den Schaden gebeichtet
babe. „Das war eine große Dummheit! ia, hat mir
doch unſer Kaplan wohl hundertmal fo gethan, ohne
daß ich mir einfallen ließ, es metner Mutter worzu-
plaudern” 9%. In dem Gedichte „Der Gürtel” ift bie
Sache noch jchlimmer, denn hier bricht eine YBurgfrau die
ebeliche Treue nicht aus Liebe, fondern um ſchnöden Ge⸗
winnjtes willen. Ein vorüberziehender Ritter wirbt bei
ihr um Minnefpiel, während er in Abweſenheit ihres
Gatten mit ihr im Garten fist. Sie weif’t ibn ab. Er
bietet ihr feine Windhunde, fein Roß und endlich feinen
foftbaren, mit Evelfteinen befegten Gürtel. Dieſem Ge-
ichenfe kann fie nicht wiverftehen: „Diu vrouwe nider
seik und der ritter nach neik, vil rosen uz dem grase
gienk, do liep mit armen liep enpfienk, und do daz
spil ergangen was, do lachten bluomen unde
gras“ 9), In demfelben Gedicht wird auch ſehr veuts
lich auf im Schwange gehende wivernatürliche Laſter bin-
gewiejen.
Die Beifpiele von fraulicher Leichtfertigkeit und Zucht-
loſigkeit im höfiſchen Liebesverkehr ließen fich fehr leicht
häufen und. von dem ungeziwungenen, um nicht zu fagen
frehen Ton, welcher in der ritterlichen Geſellſchaft heimiſch
gewejen fein muß, zeugt die Unbefangenheit, womit unfere
91) Gejammtabentener, II, 5 fg.
92) Gefammtabenteuer, I, 455 fg.
230 Buch II. Kap. 4.
mittelhochdeutfchen Dichter ven Frauen lüfterne Wünfche
in ven Mund legen. Allerdings fehlt e8 auch nicht an
Zeugniffen für das Vorhandenfein edler Weiblichkeit,
reiner Sitte und ftanphafter Treue; aber fie bilden vie
Minverheit. Das rührenpfte von allen dürfte das Ge-
bicht „Frauenliebe“ bieten. Ein waderer Nitter hatte
eine ſehr fchöne Frau, welche ihn herzlich liebte, obgleich
er unfchön von Geftalt war. Bei einem Turnei wird
ihm ein Auge ausgeftoßen und er fürchtet, dieſe Ent-
ftelung möchte ihn um vie Xiebe feiner Gattin bringen,
wefiwegen er fich nicht vor ihr fehen lafjen und nad) dem
heiligen Lande fahren will. Sie aber, um ihn zurüd-
zubalten und ihm feinen Zweifel zu benehmen, entjchließt
ſich kurzweg ſich ihm gleichzuftellen, indem fie fich mittels
einer Scheere ebenfall® ein Auge ausftiht”). Man
thäte übrigens den Frauen ein Unrecht an, wollte man
ihnen ven größeren Theil der fittlichen Verſchuldungen
des höfifchen Lebens aufbürden. Sie folgten eben aud
dem Zuge ber Zeit, deren Roſen von Anfang an ben
Wurm in fih trugen. Und: dann gaben ja die Männer
den Frauen ein Beispiel von Unfitte, Rohheit und Lüder⸗
lichkeit, welches nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Schon
im 13. Sahrhundert, fagt ein alter Chronift von dem
Adel im Elſaß, galten die Ausfchweifungen in der Buh-
lerei für feine Sünde mehr 9). Zur felben Zeit rühmte
93) Xiederfaal, I, 161 fg. Gefammtabentener, I, 249 fg.
94) Mitgeth. von Stöber i. d. Zeitſchr. f. deutſche Kulturgeſch.
1868, ©. 762.
Die Evelfrau. 231
ih ein Minnefänger, alle Schürzen wären gleich vor ſei⸗
nen Augen und er liefe allen Weibern nach, großen und
Heinen, jungen und alten, Fugen und einfältigen, blon-
den, braunen und ſchwarzen 85). Kein Wunder, daß in
einer jo verwilderten Männerwelt ein Humpen Wein
höher gewerthet wurde als ein Weib 9%).
Jede Zeit hat ihre grellen Gegenſätze, aber faum
dürften fich diefelben jemals offener vargeftellt haben ale
im Mittelalter, wo, wie die verſchiedenen Stände, jo auch
die gegenfäßlichen Lebensrichtungen viel unvermittelter
neben einander ftanden als heute. Da tobte und raf'te
eine fraftftrogende Weltluft in zuchtlofen Orgien, vort
fehrte eine bis zur Krankhaftigkeit gefteigerte Himmels-
ſehnſucht das jchwärmerifche Auge von allem Irdiſchen
ab. Während im 13. und 14. Jahrhundert mancher
deutſche Dynaſt feine Burg zu einem türfiihen Harem
machte 7), Tiefen fich von höfiſchen Damen verjelben Zett
95) Ich acht itt uff ain klainen schaden,
Hett ich in ainem tunklen gaden
Ain brun, ain blaich, ain swartz bi mir, u. f. w.
Liederſaal, II, 165 fg.
96) Nu vült uns wol den maser!
Ein affe, ein narre was er,
Der ie gesente sinen lip
Vür guoten win umb ein wip. SHelmbredt, Geſammt⸗
abent. III, 309.
97) So 3. B. ein Herr von Berned, welcher fih ein Dutzend
hübſcher Hausmädchen hielt, zur Erleichterung feiner Witwerſchaft,
wie er fagte. Vgl. Raumer, Geſch. d. Hobenftaufen, VI, 480.
232 Buch II. Kap. A.
Züge erzählen, welche darthun, daß fie vie Liebesfunit
nicht weniger finnreih und ffrupelfrei betrieben als jene
berüchtigte Königin des 15. Jahrhunderts, Johanna die
Zweite von Neapel ꝰ8). Aber neben ſolchen Künftlerinnen
98) Bon ihr erzählt Brantome, wie finnreich fie es anzuftellen
wußte, einem ihrer zahllojen Kiebhaber ihre Gefühle ohne Worte zu
erffären. „Elle ayma sur tous ses amoureux Caraciol. Aussi le
fit-elle grand et son grand Seneschal. Au commencement de sa
jeunesse, encore qu’il fust bien Gentil-Homme, parce qu’ilestoit
pauvre, il se mesla de la plume et estoit fils d’un appelle Cara-
ciolo. Le feu Prince de Melfe estoit venu de cet estoc, comme
lon m’a dit & Naples... La premiere occasion qu’eut jamais la
Reyne de luy faire entendre qu’elle laimoit, fut qu’il craignoit
fort les souris. Un jour qu’il joüoit aux eschetsen la garderobe
de la Reyne, elle-mesme luy fit mettre unesourisdevantluy;; et
luy, de peur, courant degä delä et heurtant et puis l’un et puis
Tautre, s’enfuit & la porte de la chambre de la Reyne et vint.
choir sur elle; et ainsi, par ce moyen, la Reyne luy decouvrit
son amur et eurent tost fait leurs affaires ensemble.“ Oeuvres
‘du Seigneur deBr. Londres 1779, I, 366. Die ritterliche Galan-
terie hatte Überhaupt auf Italien jo fittenverberblich eingewirft als
nur auf irgend ein anderes Land. Der derbe Dante nennt in
feiner Kraftſprache Italien das Bordell der Völker: —
„Ahi serva Italia, di dolore ostello,
Nave senza nocchiero in gran tempesta,
Non donna di provincie, ma bordello!* Purgat. VI, 76
An einer andern Stelle (Purgat XXIII, 94—100) fagt er, felbft
die Frauen der verrufenen Landſchaft Barbagia auf Sardinien, wo
Männer und Weiber faft nadt gingen und zügellofen Sitten bul-
digten, jeten züchtiger als die üppigen Florentinerinnen, gegen deren
ſchamloſe Tracht gefetlich eingefchritten werben follte: —
Die Edelfrau. 233
in Sachen des Genuffes ftehen wieder Frauen, deren ent⸗
- fagungsvolle Tugend ans Uebermenfchliche ftreift. Auf
„Tempo futuro m'é giä nel cospetto,
Cui non sarä quest’ora molto antica,
Nel qua sar& in pergamo interdetto
Alle sfacciate donne Fiorentine
L’andar mostrando con le poppe il petto.“
Da gerade von Italien die Rede ift, fo mögen zur Bergleihung
mit dem bdeutjchmittelalterlichen weiblichen Schönheitsideal, wie
wir e8 durch unſere höfiſchen Dichter aufftellen fahen, die Strophen
bier ftehen, in welden zu Anfang des 16. Jahrhunderts Ariofto
eine ber Helbinnen feines großen Gedichtes ſchilderte, die Alcina
(Orlando furioso, VII, 11 fg. Ueberſ. v. Stredfuß): —
„Bon höherm Reiz ift die Geftalt umfangen,
Als je erfann des Malers Kunft und Fleiß.
Die langen blonden Lockenhaare prangen
Und rauben felbft dem Gold des Glanzes Preis.
Berbreitet ift auf ihren zarten Wangen
Der Rofe Glut, vermifcht mit Lilienweiß.
Die frohe Stirn, von Elfenbein gebrebet,
Iſt nicht zu wenig, nicht zu viel erhöhet.
Man fiehet unter ſchwarzen feinen Bögen
Zwei ſchwarze Augen, ja zwei Sonnen fteh'n,
Huldvoll im Bliden, jparfam im Bewegen,
Um fie ber kann man Amor flattern ſeh'n.
Hier prüft er fcherzend jedes Pfeile Vermögen,
Und fiehft du ihn, doch kannſt tu nicht entgeh’n.
Die Nafe mitten durch das Antlitz fteiget
So ſchön hernieder, daß der Neid auch ſchweiget.
Und drunter, zwifchen zweien Grübchen ftehet
Der Mund, dem Purpur ewig frifch entjprießt,
234 Buch II. Kap. A.
derjelben Wartburg, wo zu Anfang des 13. Jahrhunderts
höfifche Sitte und Liederkunſt glänzende Feſte gefeiert -
Wo ihr zwei Reihen gleicher Perlen fehet,
Die ſüß die Kippe öffnet und verfchließt,
Woraus hervor die holde Rede gehet,
Bei der vor Luſt das roh’fte Herz zerfließt.
Dort bildet fih das Lächeln, das der Erbe
Nach Willkiir heißt, daß fie zum Eben werde.
Schnee ift der Hals, die Kehle Mil, geründet
Der ſchöne Hals, der Bufen voll und breit.
Und wie das Meer nun anwogt und verjchwinbet,
Wenn linder Haud der Wellen Spiel erneut,
So wogt das Aepfelpaar — das andr’ ergründet,
Was noch verhüllet wird von dichtem Kleid,
Nicht Argus Blick; doch jeglicher erachtet,
Es ſei fo Schön, als was man fchon betrachtet.
Den jhönen Arm, von rechtem Maße, endet
Die weiße Hand, von Eifenbein gedreht,
Länglich und ſchmal, an der, wie fie fich wenbet,
Hervor kein Knöchel, feine Aber fteht.
Der kurze, runde, nette Fuß vollendet
Die herrliche Geftalt voll Majeftät;
Es ftralet durch der Schleier dichte Hülle.
Hervor der reichen Engelreize Fülle.“
Es ift jehr beachtenswertb, daß wie in dieſem von Arioft ent-
worfenen Frauenbildniß jo bei den mittelalterlihen Dichtern über⸗
haupt, au bei unfern deutfhen, der Hauptafcent vor⸗
wiegend auf die leiblichen Reize der Frauen gelegt wird. Faſt alle
derartigen Schilderungen find rein materiell. Bon der jeeliichen
Schönheit, die fih in den Zügen ausprägt, ift faum die Rebe.
Diefe alten Romantiler waren viel finnlicher, als die neueren uns
glauben machen möchten.
Die Epelfrau. 235
hatten, lebte kurz darauf jene Landgräfin Elifabeth, welche
nach ihrem Tode von der Kirche heilig gefprochen wurde.
Sie war eine jener fraulihen Blumenfeelen, die fo voll
find vom Thau des Himmels, daß für irbifche Leiden-
haften und Wünjche fein Plag darin tft. Eine Tochter
des Königs Andreas des Zweiten von Ungarn, wurde fie
im 3. 1218 mit dem Landgrafen Ludwig von Thüringen
vermählt, nach deſſen Hingang fie von feiten ihrer
Schwäger die rohefte Behandlung zu befahren hatte,
Ueberhaupt ſchuf ihr vie Gemeinheit und Undankbarkeit
der Menfchen viele Leiden und übervies quälte ihr VBeicht-
vater, der marburger Mönch Konrad, ein Fanatiker,
welcher nur dadurch, daß ihn ein paar Stegreifritter im
Jahre 1233 todtichlugen, verhindert wurde, die Inquiſi⸗
tion förmlich in Deutfchland einzuführen, die fromme
Frau mit feiner finftern und unduldſamen Aftetil. Die
Armen und Elenvden zu fügen, zu fpeifen und zu pflegen
hat fie als ihre Lebensaufgabe betrachtet. Sie nahm und
erfüllte vie Pflichten chriftlicher Milve im ftrengften Sinne
und begnügte fich daher nicht, Hofpitäler zu ftiften, jon-
dern pflegte mit eigenen Händen die Mifelfüchtigen (Aus-
füßigen), welche vamals fernab von bewohnten Stätten
in die Einöden verwiejen wurden. Erſt vierundziwanzig-
jährig, ftarb fie 1231 und nachdem fie den Heiratsantrag,
welchen Kaifer Friederich ver Zweite an die Verwitwete
gerichtet, abgelehnt und in ven legten Lebensjahren ihren
Unterhalt durch Wollefpinnen erworben hatte. Die danf-
bare Volksſage hat Elifabeths Geftalt mit dem rofigen
Schimmer des Mythen⸗ und Märdenhaften ummoben ;
236 Buch I. Kap. 4.
aber auch die Gejchichte ift berechtigt, zu jagen, daß bie
fromme Yandgräfin wie ein hilfereicher Engel durch ihre
Zeit gegangen fei.
"Wenn in diefer fürftlihen Frau die Gläubigfeit und
Frommheit ihres Jahrhunderts in edler und Tiebens-
würdiger Weile zur Erjcheinung fam, jo würden uns auch
nicht fraulihe Beiſpiele mangeln, welche das nahezu
Thieriſch⸗Stupide mittelalterliher „Religioſität“ wider.
lich aufzeigen. Aber lieber jei noch auf eine dritte Seite
des Verhaltens deutſcher Frauen von damals zum kirch⸗
lichen KRöhler- und Afterglauben hingewtefen, indem wir
rühmend betonen, daß an dem fehon frühzeitig hervor⸗
getretenen Ringen kühner Geifter, das bleierne Joch ver
„Rechtgläubigfeit” abzuwerfen, auch Frauen und Mäd—
chen theilgenommen und folche glorreiche Kegerei mit einent
heldiſchen Martyrium befiegelt haben. Ein merkwürdiges
Beifpiel findet fih auf einem von Alter her ganz und
gar durchpfafften Boden, in dem „Heiligen“ Köln, dem
deutfchen Rom, von jeher ein Lieblingsſitz der ‘Dunfel-
männer. Hier — fo erzählt und der vielfundige, zwifchen
1230—40 verftorbene Eiftercienfermönd Cäfarius, Prior
des Kloſters Heifterbach im rheinifchen Siebengebirge —
hier wurden zur Zeit des Erzbiſchofs Rainald (um die
Mitte des 12. Jahrhunderts) mehrere Keter ergriffen,
überführt und verurtheilt. Als man fie nad) gefällter
Sentenz zum Scheiterhaufen brachte, erbat fich einer,
Namens Arnold, welhen vie übrigen ihren Meifter
nannten, Brot und Waffer. Es warb ihm aber nach dem
Rath verſtändiger Männer verweigert, weil ver Meifter
Die Edelfrau. 237
damit wahrfcheinlih eine gottesläfterlihe Kommunion
bereiten wollte und ver Teufel leicht etwas ärgerliches
zuwegebringen fonnte. Alſo wurden die Ketzer aus der
Stadt geführt und beim Judenkirchhof dem Feuer über:
liefert. ALS fie jchon von den Flammen ergriffen waren,
fahb man ven Meifter Arnold feine Hände auf die halb-
verbrannten Häupter feiner Schüler legen und hörte ihn
fagen: „Bleibet ftandhaft in eurem Glauben!" Es war
aber unter ven Ketern auch eine fehöne Jungfrau, und
maßen dieſe das Mitleid von vielen erregte, nahm man
fie vom Scheiterhbaufen herab und verſprach ihr, man
wollte, fo fie fich befehrte, fie verbeiraten oder in ein
Klofter bringen. Sie jedoch: „Wo liegt ver Meifter?*
und als man ihr venfelben gezeigt, entwand fie ſich ven
Armen der fie Haltenden, ftürzte, ihr Antlig mit dem
Gewande verhüllenn, in das Teuer, warf fich über ven
Leichnam Arnolds und fuhr mit ihm zur Hölle. Man
dürfte fedlich die Namen der ſämmtlichen Heiligen von
Köln um den vom heifterbacher Mönch leider verfchwie-
genen biefer einen Ketzerin hingeben.
99) Caesarii Heisterbacensis dialogus miraculor., recogn.
J. Strange (1851), V, 19.
Sünftes Kapitel.
Bürgerin und Bäuerin.
Das Stäbtewefen. — Patricifche und plebeifche Kreife. — Die Höfe
ober „Geſäße“ der Geſchlechter. — Städtiſche Zeitvertreibe oder
„Fröhlichkeiten“. — Ein phantaftifches Turnier. — Eine Serenade.
— Kaiſer Sigismund und die Straßburgeritmen. — Eine würz-
burger Novelle. — Wiener Sittenzuftände im 15. Jahrhundert. —
Die Frauen und die mittelalterlihe Strafrechtspflege. — Augs-
burger und frankfurter Hochzeiten. — Das bäuerlihe Frauenleben.
— Bedenkliche Idyllien. — Eine ſüddeutſche Bauernhochzeit.
Hieſe Entwickelung des deutſchen Städteweſens nahm
dieſen Gang: — zuerſt bildeten nur die Abkömmlinge der
erſten ſtädtiſchen Anſiedler, der königlichen Miniſterialen
oder biſchöflichen Vaſallen, die ritterbürtigen Altburger
oder Burgenſen die ſtädtiſche Gemeinde oder Burger⸗
ſchaft 100), Sie hießen Stadtjunker over von ihrer ritter-
100) Das Wort Burger ober Bürger wurde belanntlich zuerft
im 4. Jahrhundert durch den gothifchen Biſchof Ulfila (Wölfle),
befien Bibelüberjegung das Ältefte germaniſche Schriftdenkmal ift,
in unfere Sprache eingeführt, indem er das griechtiche moAızys mit
Bürgerin und Bäuerin. 239
lihen Waffe, ver Gleve (Lanze), Glevener oder jchlecht-
weg „Geichlechter*, d. i. adeligen Gefchlechtern Ent-
fprofjene ; erjt viel fpäter wurde der altrömifche Nante
Batricier auf fie übergetragen. Die übrigen Stabt«
bewohner, gleichviel ob fie von gemeinfreien Bauern over
hörigen Adernechten und Handwerkern ftammten, waren
anfangs den Altburgern zinspflichtig, hatten Feine politischen
Rechte und hießen Schußburger oder auch Pfahlburger,
weil fie außerhalb der Umpfählung ver eigentlichen Stadt
wohnten, oder im Gegenfag zu den Glevenern Spieß-
burger, weil fie als Waffe den Spieß führten. Die
Stäptebewohnerfchaft theilte ſich demnach in Adel und
Boll. Im Vorſchritt der Zeit gewann es aber das Volt
über den Abel, und zwar weil die Wehrfähigfeit ver
Städte, was Wucht und Maſſenhaftigkeit betraf, auf den
Korporationen oder Zünften oder Gilden ver Handwerker
beruhte. Die Zünfte erfämpften nah und nad nicht
allein die Zulaffung zum Burgerrecht, zur Mitnut-
nießung des Gemeindevermögens und zur theilweifen
Amtsfähigkeit, jondern in ven meilten, weitaus in ben
meiften Städten wurde an die Stelle des Gefchlechter-
regiments das Zumftregiment gejegt oder, mit anderen
Worten, die ariftofratifche Verfaffung, welche fich nur in
jehr wenigen Städten, wie 3. B. in Nürnberg, bis zum
Untergange des deutſchen Reiches erhielt, in eine demo⸗
Baurgja (d. i. der fich Bergende, Geborgene) überſetzte. Das
Wort „Stadt“ wurde erſt durch den St. Galler Mönch Notler Labeo
(ſt. 1022) aufgebracht.
240 Buch II. Kap. 5.
Eratifche verwandelt. Erſt damit gelangten die veutfchen
Städte zu jener gewerblichen, faufmännifchen und poli=
tifchen Vollkraft, die fich in den großen Städtebündniſſen
manifeftirte und welche zu kennzeichnen man nur das
Wort Hanfa zu nennen braudt.
Allein die politifche Gleichſtellung der Stadtbürger
war weit entfernt, zugleich auch eine fociale oder, ge=
nauer gejprochen, eine gefellige herbeiführen, und das
ganze Mittelalter hindurch "hielten ſich die patricifchen
Kreife von den plebeifchen ftreng geichieven. Beide Ge-
fellichaftsfreife hatten ihre eigenen Zrink- und Zanzftuben
und die adelige Ausfchließlichleit erjtredte ſich fogar
bi8 auf die Räume der Kirchen, in deren Mittelfchiffen
hölzerne Zellen aufgefchlagen waren, in welche fich vie
Gejchlechterfrauen beim Gottesdienft einfchloffen, währen
ihre nichtaveligen Mitbürgerinnen auf offenen Bänken
ſaßen 19), Allerdings hatten auch die Frauen und Töchter
101) Bafel im 14. Jahrhundert, S. 11. In dieſer vortreff-
lichen Feftfehrift hat Fechter S. 3—146 unter dem beſcheidenen
Titel einer Topographie ein jehr anziehendes Bild vom politifchen,
häuflihen und gefelligen Leben einer deutſchen Stadt im Mittel-
alter gezeichnet. Eine fleifige Zufammenftellung aus Chroniken, -
Urkunden u. f. w. über das mittelalterliche Stadtleben bat auch
Reinöhl geliefert („Die gute alte Zeit” in Scheible's „Klofter“,
Bd. VI, S. 641 fg. und ©. 1001 fg.). Vgl. Über das mittel-
alterlide Stadtleben neben den zufammenfaffenden Werfen von
Hülmann und Bartbold insbejondere P. v. Stettens Geſchichte der
Stadt Augsburg, Hormayrs Geſchichte der Stadt Wien, Kirchners
Geſchichte der Stadt Frankfurt und Beders Geſchichte ber Stadt
Lübed.
Bürgerin und Bäuerin. 241
der Handwerker ihren Antheil an ven mittelalterlichen
Seftfreuden, welche die deutſchen Städte fo häufig mit
buntem Gewühl und luftigem Gelärm erfüllten. Auch fie
hatten ihre „Familienanläſſe“, ihre Hochzeiten, ihre Walls
fahrten, ihre Tänze und Faftnachtsluftbarfeiten; aber für -
gewöhnlich waren fie doch, mit häuflichen Arbeiten und
Sorgen belaven, in ven krummen finftern Städtegaffen in
die engen, dunkeln Häufer eingefchloffen, welche nur vie In-
Tenntniß für bequem hat ausgeben fünnen, wenn man er-
wägt, daß noch im 13. Sahrhunvert das Baumaterial für
gewöhnliche Bürgerhäufer aus Holz, Lehm und Stroh
beitand, daß erſt jehr allmälig Bruch und Baditeine an
veffen Stelle traten, daß die Häufer nur wenige Fenſter
hatten, vie ftatt mit Glas mit Papier oder Tuch bezogen
waren — noch im 15. Jahrhundert hatten jelbft vie
Rathhäufer in vielen Städten nur Tuchfenſter — und
daß Rauchfänge und Heizapparate nur ſehr langfam aus
ihren primitiven Formen zu folchen fich entwidelten, wie
fie ja heutzutage feiner Zagelöhnerwohnung fehlen. Der
Reichthum der Gefchlechter und ihre höhere Bildung er-
möglichte und verlangte es freilih, daß die patriciichen
. Wohnungen („Höfe“, „ Gefäße") nach Möglichkeit be-
quem und ſchön eingerichtet wurden; aber doch gelangten
auch die adeligen Stapthäufer erft im jpäteren Mittel-
alter zu jenem jtattlichen äußeren Anfehen und jener zier-
lichen und prächtigen inneren Einrichtung, auf welche der
Landadel mit neidiſchen Augen blickte. Sahrhunderte
haben daran gearbeitet, Nürnberg zu jenem Schatfäftlein
mittelalterliher Architektur zu machen, als welches wir
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. I. 16
242 Bud II. Kap. 5.
dieſe Stadt noch heute bewundern, und erft im 14. und
mehr noch im 15. und 16. Jahrhundert entftanven in
Augsburg, Ulm, Frankfurt, Mainz, Köln und anderen
deutfchen Stäpten jene ftolzen Batricierhöfe, welche ver
Hanvelsreihthum ihrer Bewohner mit foftbarem Ge-
täfel und zierlicher Zapezerei, mit reichen Mobiliar,
farbenbunten Teppichen und foftfpieligen Kunftgegen-
jtänden, mit bemalten Glasfenftern und mit „Trefuren“
ausſchmückte, welche von einer Fülle filberner und gol-
dener Geſchirre funfelten. In diefen Stapthäufern be=
gann nach den furchtbaren phyſiſchen und moralifchen Heim⸗
juchungen, von welchen Deutſchland im 13. und im 14. Jahr:
hundert betroffen wurde, dem Interregnum, ver Beft, („ver
große Sterbent” oder „ver Schwarze Tod”), ven Geißler-
fahrten und Judenſchlächtereien, ein verſchwenderiſch⸗üppiges
Leben fich zu entfalten, welches mit dem an den Fürften-
höfen wetteiferte over vaffelbe wohl gar überbot. „Dar—
nach, fagt die Limburger Chronif, da das Sterben, die
Geißelfahrt und Judenſchlacht ein Ende hatten, va hub
die Welt wieder an zu leben und fröhlich zu fein.”
Dieſes fröhliche Stadtleben war ſchon zur angegebenen
Zeit und noch früher nicht ohme eine ftarfe Beimifchung
von Meberfpannung und Ueberfeinerung. Die ritterlichen
Bräuche fpielten da häufig in eine Bhantafterei hinüber,
welche der eines Ulrich von Lichtenftein wenig nachgab.
Sp ftoßen wir in der Gefchichte von Magdeburg auf ein
wunderliches Turnier, welches die Gejchlechter dieſer Stadt
i. J. 1229 veranftalteten und wobei alle theatralifchen
Mittel aufgeboten wurden, über welche die Zeit zu ver-
Bürgerin und Bäuerin. 243
fügen hatte. Die jeltjamfte dieſer Veranftaltungen war
daß zum Qurnierpreis ein fchönes Mädchen beftimmt
wurde, wahrjcheinlich ein „Lichtes Fröwlein“, d. i. eine
fahrende Dirne. Um dieſen Preis mühten fich die magdes
burger, goflarer, hildesheimer, braunfchweiger und
queblinburger Batricier im Speergefteche und ein alter
Kaufherr aus Goflar gewann die Schöne 102). An Zeit
vertreib fehlte e8 den Stäbterinnen überhaupt vielweniger
als den adeligen Damen auf vem Lande. Täglich gab es
etwas zu fchauen, zu hören, zu laden, denn das ganze
Volk ver „Fahrenden“, d. h. alle vie Spielleute, Gaufler,
Marktichreier fuchten und fanden in ven Städten ihre
reichite Weide. Auch waren die Stabtjunfer keineswegs
weniger galant als die Landjunfer, im Gegentheil! Sie
gaben fich alle erventlihe Mühe, Mädchen und Frauen
gegenüber ihre Höfifchkeit im vollften Glanze zu zeigen.
Hatten fie ihren Schönen bei Hochzeiten und Gejchlechter-
tänzen, bei Schlittenfahrten und Faftnahtsmummereien
gedient, fo zogen ſie Nachts wohl noch „mit einer Yautten “
por die Kammerfenfter ver Angebeteten, um ihnen galante
Serenaden zu bringen 10%). Dann die zahllojen firchlichen
Feſte, wie viel Nahrung mußten fie ver weiblihen Schau⸗
102) Rathmann, Gefhichte der Stadt Magdeburg II, 143 fg.
Hüllmann, Stäbtewefen, II, 184 fg.
103) Aus emer von Bernhard Rohrbach, einem Mitglied der
berühmten adeligen Stubengenofjenichaft zum Limburg in Franf-
furt a. M., verfafiten Handſchrift des 15. Jahrhunderts hat Römer-
Büchner fo ein Ständchen mitgetheilt (Zeitichr. für die Kulturgeſch.
1856, ©. 62). Wir erfahren daraus, welche gemüthlichen und
16*
244 Buch II. Kap. 5.
luft bieten, wie viel Gelegenheit gaben fie modiſchen
Stadtdamen, ſich im beiten Staate fehen und bewundern
zu laſſen! Hatte doch die Kirche dafür geforgt, ven ganzen
Kultus finnlicheanziehend, ja künſtleriſch zu geitalten,
und wußte fie doch fogar das Vergnügen ver Menſchen
an theatraliichen Darjtellungen in ven kirchlichen Schau-
Ipielen, in ven aus der altchriftlichen Liturgie heraus-
gebildeten „Myſterien“, zu einem Kultakt zu machen 10%).
leiblichen Vorzüge ein Frankfurter von damals an jeinem Liebchen
preiswürdig fand; denn das Ständihen fagt von der angefungenen
Sungfrau: —
„Sie ift gar ohne Argelift,
An Zucht und Ehren ihr nit gebrift;
Sie ift auch aller Tugend voll,
Was fte thut, das ziembt ihr wohl.
Sie ift fo tugendhaft und fein
Und leucht recht als der Sonnenfchein ;
Sie gleicht auch wohl dem hellen Tag,
Kein Menſch ihr Lob Schön preifen mag.
Sie hat ein rofenfarben Mund,
Zwei Wängelein fein zu aller Stund ;
Sie hat ein ſchönes goldfarb Haar,
Zwei Yeugelein lauter und Har.
Ihr Zahn find weiß als Helfenbein,
Ihre Brüftlein die find rund und Hein,
Ihre Seiten die find dünn und lang,
Ihre Händlein ſchmal und dazu blank,
Ihre Füßlein ſchlecht und nit zu breit, —
Der Ehren Kron fie billich treit.“
104) Manchmal geftalteten ſich dieſe kirchlichen Schaufpiele,
welche insbejondere zur Weihnahts- und Ofterzeit aufgeführt wur-
— —— — — — —
Bürgerin und Bänerin. 245
Wenn vollends ein jo munterer Herr und entjchievener
Frauenverehrer, wie Kaifer Sigismund einer war, in
den und jett noch in dem „Paſſionsſpiel“ von Oberammergau in
Baiern fortleben, durch ihre fehr lange Dauer auch zu einer Art
Bußakt, mit welchem dann ein förmlicher Ablaß verfnüpft war. So
wurde in England während der Regierung Heinrichs bes Vierten
ein Myfterium von der Weltſchöpfung und dem Weltende zu Chefter
agirt, welches volle acht Tage jpielte und wobei den Zujchauern,
welde dem frommen Spiele vom Anfang bis zum Ende anwohnen
würden, ein taufendjähriger Ablaß zugefihert wurbe (Collier,
history of English dramat. poetry, II, 173). Noch mehr vertrug
in Frankreich ein frommes Publikum im 15. und 16. Jahrhundert;
denn wir erfahren von Möofterienaktionen zu Balenciennes und
Bourges, welche 25, ja jogar 40 Tage währten (Didron, Annales
archeologiques, XIII, 16). Bemerfenswerth ift, daß, wie in
Spanien, fo au in Deutichland die Myſterien eine Haltung be-
wahrten, welche den religiüfen Gegenftänden, bie fie behandelten,
angemeſſen war, während bie italiſchen und franzöfiihen Myſterien
häufig in einem obfcöuen und mitunter geradezu gottesläfterlichen
Ton verfielen. In Italien mußte Bapft Innocenz der Dritte ſchon
im J. 1210 die Betheiligung der Geiftlihen an den ausgearteten
Mofterienfpielen, fowie die Aufführung derfelben in den Kirchen
unterfagen. Auch in unjern deutihen Myſterien geht e8 nicht ganz
ohne mittelalterliche Naivitäten und Plumpheiten ab; aber meines
Wiſſens ift noch feines aufgefunden worden, welches auch nur ent»
fernt fo frede Situationen und Auslaffungen enthielte, wie mande
ber franzöfifhen fie enthalten. In einem ber letteren hilft die
Jungfrau Maria einer von ihrem Beichtvater Schwangeren Xebtiffin
aus der Patſche, beraubt dann ein vorwitiges Weibsbild ihrer
Hände, welche ſich überzeugen wollten, ob die Mutter Gottes wirt-
(ih eine Jungfrau jei, und reicht ferner einem Biſchof Milh aus
ihren eigenen Brüften. In einem andern franzöfifhen Myfterium
246 Bud II. Kap. 5.
einer Stadt des Reiches einſprach, va ging e8 außerorbent-
ih hoch und hellauf her und trieben die ſchönen Städte-
rinnen mit der faiferlihen Majeftät jo ausgelaffene Scherze,
daß ſelbſt die muthmilligften Damen unferer heutigen
fteifleinenen Geſellſchaftskreiſe ſchon vor dem bloßen Ge⸗
danfen daran zurüdjchredien würden. In Wahrheit, vie
Unbefangenheit unferer Ahnmütter war groß. Als
Sigismund im I. 1414 zu Straßburg Hoflager hielt,
brach eines Morgend „zur Primenzeit* eine Bande mun-
terer Damen in das kaiſerliche Duartier, um ven nod
ſchlafenden Kaifer herauszuholen. Sie ließen ihm nur
Zeit, einen Mantel umzuwerfen, und zogen den Bar-
füßigen mit ſich fort. So tanzte er mit ihnen durch die
wird die heilige Barbara an ben Beinen aufgehangen und bleibt in
diejer anftößigen Stellung zum Ergötzen des Publikums eine gute
Weile hängen. In einem dritten ſchläft Gott der Vater proben im
Himmel auf feinem Thron, während drunten auf der Erde Ehriftus
am Kreuze ftirbt. Ein Engel wedt den Schlafenden mit den Worten:
„Pere eternel, vous avez tort et devriez avoir vergogne. Votre
fils bien aimé est mort et vous dormez comme un ivrogne.
©ottvater: Il est mort? Engel: D’homme de bien. Gottvater:
Diable m’emporte, qui en savais rien!“ (Gebrüder Barfaiet, His-
toire du theatre Frangois [1745 fg.], I, 227. Beauchamps, Re-
cherches sur les th&atres deFrance [1735], I, 235). Man müßte
die Borführung folder Scenen für durchaus unglaublich halten, wüßte
man nit, daß in demſelben Frankreich, wo derartiges agirt
wurde, die Kirche e8 duldete, daß bei den Narren- und Ejelsfeften
(f. darüber meine Geſchichte der Religion III, 274 fg.) ihre Altäre
und Kulthandlungen aufs jchnödefte verunehrt und traveftirt
wurden.
Bürgerin und Bäuerin. 247
Gaffen, und als der fingende, tanzende, lärmende Zug
in die Kobergaſſe gefommen, Tauften die Frauen dem
(uftigen Reich&oberhaupt ein Baar Schuhe „umb 7 Kreu-
zer“ und zogen ihm biefelben an. Und „maßen der König
ein weifer ſchimpflicher (gutgelaunter, humoriftifcher)
Herr, hat er zugelafien, wie die Weiber mit ihm ge-
handelt, fam zum Hohenftege, tanzte und fügte fich wieder
in feine Herberg und rugte. Hernach am Freytag und
Samſtag da was groß Kurzweil von Hoffieren und Zangen
in Straßburg“ 109),
Weniger harmlos ift folgende würzburger Novelle,
welche ung Meifter Konrad von Wirzburg, ver viel:
feitigjte, fruchtbarfte und zierlichite Boet der zweiten Hälfte
des 13. Sahrhunderts, erzählt bat. In der guten Stat
Würzburg lebte eine Fügerin (vuegerinne, Kupplerin),
welche manche ſtille, aber wenig ehrenhafte Hochzeit ſchuf
und fügte. Eines Tages, da e8 ihr an Brot und De-
ſchäftigung mangelte, ging fie zur Meſſe, um fich nad
Kundſchaft umzufehen. (Wir erfahren bei dieſer Ge-
legenheit, daß im frommen Mittelalter auch in Deutjch-
land die Kirchen häufig dazu dienen mußten, wozu fie in
Stalien, Spanien und Frankreich noch jetzt dienen, zur
Einfäpelung von Liebeshändeln nämlidh.) Einer ver
Chorberren am Münfter, der Domprobft Heinrich von
Rothenſtein, ging durch ven Dom und die Fügerin machte
fih alsbald an ihn, ihm ins Ohr wiſpernd: „Es entbietet
Euch Freundſchaft, Huld und Gruß eine fohöne Frau, bie
105) Lehmanns Speierifde Chronik, S. 797.
*
248 Bub II. Rap. 5.
ihre Sinne und ihr Herz Euch zugewandt hat“. Dem
geiftlichen Herm däuchte das mächtig gut. Er griff in
feinen Gelvjädel, gab ver „lieben Mutter”, wie er bie
Rupplerin nannte, eine Handvoll Münze und bat fie, das
weitere zu beforgen. Als er weggegangen, ſah vie
Fügerin ein „ſchön minniglih Weib“ in die Kirche treten
und alsbald trat fie vafjelbe an, der Schönen vertrauend,
ver „tugendlichſte“ Mann wäre von ihrer Minne todwund
und nur fie könnte ihn heilen. Die Frau wurde roth,
fagte aber doch mit Lachen, vie Fügerin follte ihr nad
beenvigter Meſſe mehr fagen. Sofort ging vie Rupplerin
und faufte einen feivenen Gürtel, welchen fie der aus der
Meſſe fommenven Frau als ein angebliches Gefchent des
Minners anbot. Die Schöne nahm das Gefchenf und
erflärte ihre Bereitwilligfeit, Nachmittags in dem Häus-
hen der Fügerin zum Stellvichein mit ihrem Liebhaber
zu erſcheinen. Sie fam auch wirflih, angethan mit
einem „behaglichen Kleid”. Die Fügerin eilte, ven Dom-
probft herbeizuholen, allein unglüdlicher Weife war dieſer
durch ein dringliches Geſchäft zu ericheinen verhindert.
In diefer Verlegenheit begegnete die Kupplerin einem
ftattlichen Mann von etiwa dreißig Jahren, ver ihr als-
bald zum Stellvertreter des Domprobjtes ganz pafjend
ihien. „Was gebt Ihr mir, wenn ich Euch) zum Genuß
eines fchönen Weibes helfe?“ redete fie ihn an und der
Angefprochene verſprach ihr guten Lohn, folgte ihr auch
jogleich, das Liebesabenteuer zu beftehben. Die im Häus-
chen der Fügerin harrende Schöne erkannte jedoch in dem
Daherfommenden mit Schreden ihren eigenen Mann,
Bürgerin und Bäuerin. 249
fafite jich aber jchnell und überfiel ven Eintretenden mit
Sceltreven über jeine Xreulofigfeit und mit Backen—⸗
jtreichen, nach welcher Krijis das leichtfertige Ehepaar ſich
verjöhnte 10%, Wie hier ein Domprobft, fo fpielen in
ven Sittenfchilderungen unjerer mittelalterlichen ‘Dichter
die Geijtlichen und Mönche überhaupt eine vortretende
Rolle und es konnte auch gar nicht ausbleiben, daß zu
einer Zeit, wo vie Städte von geiftlihen Eölibatären
ordentlich wimmelten 197), ein großer Theil der herrichen-
den Zuchtlojigfeit auf ihre Rechnung fam. Mitunter
wurden bie minnejüchtigen Kuttenträger freilich garftig
abgeführt. So 3. B. in der Erzählung von den drei
Mönden zu Kolmar, wo zuerft ein Predigermönd, dann
ein Barfüßermönch, enplich ein Auguftinermönd eine
beichtende Frau im Beichtftuhle zum Ehebruch verführen
will, aber alle vrei an der Tugend der Schönen ſchmä⸗
lich fcheitern 109%) Kin ſehr fehönes Zeugniß von bürger-
licher Frauentreue bringt auch vie Erzählung „Von den
ledigen wiben“, wo eine züchtige Raufmannsfrau
106) Gefammtabenteuer, I, 193 fg. Das Gewerbe ber
Kuppelei Tcheint fehr in Flor geftanten zu haben (vgl. d. Geb.
„Der Epalt in ter Wand“, Liederſaal III, 539 fg.); obgleich man
überwiejene Kupplerinnen („drivende meghede, de andere vrowen
verschündet“) da und bort, 3. B. in Braunfchweig lebendig be-
grub. Rechtsalterth. 694.
107) Diefer Ausdruck erjcheint gewiß nicht übertrieben, wenn
man erwägt, baß die Peſt des fchwarzen Todes im Minoriten-
Orden allein 124,434 Mönche wegraffte.
108) Liederſaal, I, 309 fg.
250 Buch II. Kap. 5.
durch ihre befcheidene Tugend den leichtfinnigen Eheheren
aus den Schlingen habfüchtiger YBuhlerinnen losmacht
und zu feiner Pflicht zurückführt 109).
Wenn ein Kenner des deutfchen Stadtlebens im Mittet-
alter, welcher von romantifchen Neigungen keineswegs
ganz frei ift, fich geprungen fühlt, zu jagen, daß man fich
gegen die völlig haltlofe Annahme eines züchtigen oder
gar jentimentalen Mittelalters fortwährend verwahren
müſſe 11%), jo bieten unfere mittelalterlichen Städtege—
ſchichten zahlloſe Motive zu einer Verwahrung diefer Art.
Um vie Mitte des 15. Jahrhunderts entwarf Aeneas
Silvius Piccolomint, nachmals Papft Pius der Zweite
eine Beichreibung von Wien, in welcher die glänzenven
Farben jo wenig gefpart find, daß man ſtark verfucht ift,
manches von dem, was ver Italiener über die Bracht ver
genannten Stadt beihringt, für Uebertreibung einer füd-
lihen Einbilvungskraft zu halten. Wie die aufgejekten
Lichter mögen dann auch die Schlagfchatten in dieſem Ge-
mälde zu grell fein. Aber im ganzen trägt Piccolomini’s
Schilderung der wiener Sitten von damals doch ven
Charakter ver Wahrheit, und zwar mehr noch als in dem
lateinijchen Original in der treuberzigen Ausprucsweife
der deutſchen Ueberſetzung, welche Albrecht von Bonftetten
um 1490 gefertigt hat. Wir treten va mitten in eine
in voller Zerſetzung begriffene Geſellſchaft. Schier alle
109) Gefammtabenteuer, II, 219 fg.
110) Roth von Schredenftein, d. Patriciat in d. d. Stäbten,
S. 86.
Bürgerin und Bäuerin. 251
Bürger, heißt es, halten Weinhäufer und Tavernen,
laden gute Trinker und „lichte Fröwlein“ (Freupden-
mädchen) herein und geben ihnen umfonft zu effen, damit
fie deſto mehr trinfen mögen. Das Volk ift ganz dem
Bauch ergeben und vertbut am Sonntag, was e8 bie
Woche iiber erworben hat. Deffentlicher Dirnen gibt e8
eine große Zahl, aber auch die wenigjten Ehefrauen find
mit einem Manne zufrieven. Die Evelleute machen
daher häufige Beſuche in Bürgerhäufern, wo dann der
Hausherr Wein aufträgt und beifeite geht, um den Gaft
mit der Hausfrau allein zu lafjen. Viele Mädchen nehmen
Männer ohne Vorwiſſen ihrer Väter und die Witwen
warten den Verlauf des Trauerjahres nicht ab, um fich
wieder zu verheiraten. Reiche Kaufleute, wenn fie alt
geworden, nehmen blutjunge Mädchen zur Ehe, welche
dann, bald zu Witwen geworden, ihre Hausfnechte hei-
raten, junge Kerle, mit denen fie zuvor „ven Brauch des
Ehbruchs oft gehept hand“. Mean jagt auch, daß viele
Frauen ihre Männer, deren ſie überbrüffig, mittels
Giftes aus dem Wege räumen. Ganz offenkundig aber
ift, daß Bürger, welche fich herausnehmen, in den ver-
trauten Umgang ihrer Frauen und Töchter mit den Edel—⸗
leuten jtörend einzugreifen, von den legteren ohne wei-
teres umgebracht werben 11). Das ift gewiß Fein ſchmei⸗
helhaftes Sittenbild. Allein anderwärts ging e8 gerabe
fo oder wenigftens nicht viel beifer zu, wie denn im
111) Aen. Sylvii opera, p. 718 seq. Das Klofter, VI,
658 fg.
252 Buch II. Kap. 5.
Mittelalter rückfichtlich fleifchlicher Ausfchreitungen eine
unverhältnigmäßig larere Anficht gäng und gäbe war als
heutzutage, wenigitens in den bürgerlichen Kreifen. Es
fonnte auch der deutſche Norden dem deutſchen Süden
durchaus nichts vorwerfen: Völlerei und zügellofe Ge—
ichlechtöluft grafiirten in ven norobeutfchen Städten gerade
wie in den ſüddeutſchen. So hulvigten um 1476 zu Lübeck
die patricifchen Damen der Mode, fehr vichtgemobene Ge-
jichtsfchleier zu tragen, und fie wußten wohl, warum. Denn
unter dem Schutze folder Schleier vermochten fie uner⸗
fannt Abends in die Weinkeller zu gehen, um an viefen
Stätten der Proftitution Matrofenorgien mitzufetern 112).
Dem Lafter tritt das Verbrechen nach, wie der Urfache
die Wirkung. Welche verbrecheriihen Folgen die ge—
Ichlechtlichen Ausschweifungen im Mittelalter hatten, läſſt
ihon die angelegentliche Fürſorge errathen, womit vie
Strafjuftiz Vorkehrungen dagegen zu treffen fuchte. Wenn
die Graufamfeit der Strafrechtspflege jemals eine Für-
dererin der Sittlichfeit fein Fünnte, ſo hätte fie das zu
jener Zeit fein müffen. Sie war e8 aber feinediwegs, wie
die fortwährende Erneuerung und Verſchärfung der Straf-
anfäte für an und von Frauen begangene Verbrechen
klärlich darthut. An Yungfrauen over Frauen verübte
Nothzucht („Noth“, „Nothnumft”,) wurde mit vem Tode
beftraft; in einigen Städten, wie z. B. in Augsburg,
jelbft dann, wann öffentliche‘ Dirnen die Opfer folcher
Brutalität waren. Die gewöhnliche Hinrichtungsweife
112) Beder, Geſch. d. Stadt Lübeck, I, 281.
Bürgerin und Bäuerin. 253
des Nothzüchtigerd war die Enthauptung 113). Allein an
manden Orten, 3. 3. in Heſſen und Schwaben, wurve
der Verbrecher, falls die Geſchändete eine Jungfrau ge-
wejen, lebendig begraben, und zwar fo, daß dem in bie
Grube Geftoßenen ein fpiter Pfahl auf die Bruft gejegt
und durch das Herz getrieben warb, nachdem die Genoth⸗
züchtigte den erften Schlag darauf gethan hatte. Um
jevoh den Berbrecher der Strafe zu überliefern, durfte
das Opfer nicht ſchamhaft mit ver Anzeige zögern. Das
altbaierifche Recht bejtimmte: „Es foll ein ehlih Frau,
die genothzogt wird, wenn fie aus feinen (des Thäters)
Händen und aus feiner Gewalt kommt, mit zerbrochenem
Leib, flatterndem Haar und zerriffenem Gebänd zuhand
hingehend laufen, das Gericht fuchen und ihr Lafter
(vd. h. ihr Unglüd, ihre Schmach) weinend und fchreiend
Hagen.” Das melrichjtadter Weisthum fchrieb vor:
„Wo Eine genotbzucht wird, jo foll fie laufen mit ge-
fträubtem Haar, ihren Schleier an der Hand tragend,
alfermänniglih wer ihr begegnet um Hilfe anfchreien
über den Thäter; jchweigt fie aber diesmal ſtill, ſoll fie
hinfür auch ſtillſchweigen.“ Aehnlich andere Statute,
oft mit für moderne Ohren zu derben Einzelnheiten. Die
im Ehebruch Ergriffenen wurden enthauptet, manchen
Ortsrechten zufolge aber auch lebendig mitfammen be-
graben. Auf Blutſchande ftand Einziehung des Ver—
mögens, auf Bigamie die Todesſtrafe. Kindermör—⸗
113) Wer ain Iunffrawen oder ander Frawen nothzogt, dem
fol man den Hals abſchlahn. Salzburger Stabtr. v. 1420.
254 Buch II. Kap. .
berinnen wurben enthauptet oder „gejädt“, d. h. in einen
Sad vernäht und fo ind Waller geworfen, wie denn das
Ertränten überhaupt eine gangbare Hinrichtungsart für
Frauen war. Mitunter wurde biefelbe noch dadurch ver-
Ihärft, daß man Nattern und andere Thiere zu der Ver-
urtbeilten in den Sad that, eine Barbarei, welche da und
dort bis ins 18. Jahrhundert hinein aufrecht erhalten
wurde: noch im J. 1734 ward in Sachſen eine Kinds⸗
mörberin ertränkt, zu welcher man einen Hund, eine Kate
und eine Schlange in ven Sad gethan. Das häufig vor-
fommenve Ausfegen von Kindern machte ven mittelalter-
lihen Magijtraten vor Einrichtung der Findelhäuſer —
(Nürnberg hatte fchon zu Anfang des 16. Sahrhunderts
ein folches, in Mailand war aber bereits i. 3. 787 eins
geftiftet worden) — viel zu fchaffen. In Bafel muß
dieſes Verbrechen während des 14. Sahrhunverts häufig
vorgekommen fein, denn ver Rath verjchritt zu der Straf-
androhung, dag vie Ausfegerinnen von Rindern in ven
Rhein geworfen werden follten 114). Neben ihrer Härte
zeigte die Strafjuftiz des Mittelalters zuweilen auch einen
rohen Humor auf. So, wenn böje Weiber, welche ihre
Männer gejchlagen hatten, rüdlings auf einen Eſel ge-
jet und in einer Proceffion, bei welcher e8 ficherlich an
Scerzen, die nicht zu den feinften gehörten, nicht fehlte,
114) Sachfenfpiegel, II, 13; III, 47. Schwabenfpiegel, 174,
201, 254, 311. Grimm, Rechtsalterth. 633, 691, 694, 697.
Reyſcher u. Wilda, Zeitichr. f. d.R. V, 1fg. IX, 330 fg. Bajel
im 14. Jahrh. ©. 33.
Bürgerin und Bäuerin. 255
durch den ganzen Ort geführt wurden. In St. Goar am
Rheine beftand diejer alte Brauch bis zum Anfang des
17. Sahrhunderte 115),
Bon diefer Ausbeugung in das Gebiet ver Strafe
rechtspflege kehren wir auf das anfprechendere ftäntifcher
„Bröhlichleiten“ zurüd, wo wir gegen das Ende des
Mittelalters bin einen Reichthum und Aufwand entfaltet
jeben, der nicht felten in Pralerei und Prafferei aus-
Ihlug und auf die Sitten einen ſchlimmen Einfluß übte.
Wohl kann und muß angenommen werben, daß ſelbſt jet
noch eine große Anzahl auch der reicheren Stadtfrauen
ihre Befriedigung darin fand, rechte Hausfrauen vorzus
jtellen, und daß fie ihre Zeit darauf verwandten, bie Kinver
zu pflegen und zu erziehen, für Küche und Keller zu forgen
und mit den Mägden zu fpinnen und zu weben; allein
viele Batricierinnen hatten doch fehon die Stellung einer
emfigen Hauswirthin mit der einer vergnügungsfüchtigen
Modevame vertaufht. Es mußte fo fommen, wenn fo-
gar Handwerker, welche das Glück begünftigt hatte, in ven
Städten auf fürftlihem Fuße lebten und ihren Töchtern
Hochzeiten ausrichteten wie im I. 1493 jener augsburger
Bäckermeiſter Veit Gundlinger. Die Braut hatte ein
blaues Seivenfleiv an, deſſen einzelne Stüde mittels
Ichmaler Treffen zufammengenäht waren, und burüber
ein Oberfleid, deſſen Saum eine breite Goldſpange bildete.
Eine zweite ſchwere Goldſpange diente ihr als Gürtel und
ihre Armbänder waren mit Evelfteinen beſetzt. Ste trug
115) Zeitich. f. d. Kulturgeſch. 1857, ©. 96.
256 Buch II. Kap. 5.
Schuhe, welche reich mit Silber „beblecht“ waren, und
der Chronift vergifft auch nicht, der aus Goldfäden ge-
wirkten Strumpfbänver zu erwähnen. Kurz, die fehöne
DBäderstochter war an ihrem Ehrentage fo prächtig heraus:
gepußt, daß „die Leut' uff ver Gaffen am Anblid des
föftlichen Brütleins fich nit erfättigen fonnten.” Nach
geſchehener Trauung ſpeiſ'ten die Hochzeitgäfte an jechzig
Tafeln und zwar fo, daß je an einem Tiſche zwölf Jung:
gefellen und Ehemänner, Mädchen und Frauen zufammen:
faßen, woraus erhellt, daß ver früher berührte „höfiſche“
Braud, Herren und Damen abgejonvert fpeifen zu laffen,
wenigjtens in den Städten zu diefer Zeit ſchon völlig be-
feitigt war. Die Hochzeit währte acht Tage lang, und
wenn man bevenft, daß zur Speifung feiner Gäſte Meifter
Gundlinger 20 Ochfen, 30 Hirfche, 40 Zicklein, 46 Käl⸗
ber, 95 Schweine, 25 Pfauen, 1006 Gänſe, 515 Wilo-
vögel, 15,000 Fiſche und Krebfe angeſchafft und ver-
braucht hat, fo wird man e8 erflärlich finden, daß ſchon
am fiebenten Tage des Feſtes von ven 270 Gäſten viele
„wie tobt hinfielen“, weil fie einer ſolchen Gaftfreihett
allzu viel Ehre erwiefen hatten 116%). Feiner und zier-
licher ging e8 zu jener Zeit bei den patricifchen Hochzeiten
in Sranffurt a. M. ber. Wenn die Verlobung eines
Paares im Kreife ver Familie ftattgehabt, fchenfte ver
Bräutigam feiner Braut einen Ring und ein Paar goldener
Armjpangen, wogegen jie ihn mit einen „ftattlich vers
neheten Fatznetlein“ begabte. Am Hochzeittag gingen
116) Kuriofitäten, I, 214 fg.
Bürgerin und Bäuerin. 257
die Brautleute, von ihren Verwandten und Freunden
beiderlei Geſchlechts in feierlichem Zuge begleitet, zum
Münfter, Spielleute mit Geigen und Lauten, Pfeifen,
Trompeten und Pauken vorauf. Waren Yräutigam und
Braut Iunggefell und Jungfrau, fchritten fie beim Kirch⸗
gang zwifchen lebigen Chrengefpielen und Chrenge-
jpielinnen einher. Witwer und Witwe hatten ver-
heiratete Berfonen zu Ehrengeleitern und zogen „ganz
jtil und ohne einige Mufifa* nach ver Kirche. Nach
beenpigtem Feſtmahl, welches „nit länger als drei Stun-
den verzoge”, fügte fich jedermann zum Tanz und „dorff-
ten über fünf Baar nit dantzen, wegen ver langen Schleif
oder Schweif, fo die Fraumwen an den Röcken trugen,
etlih Ehlen lang“ — eine Move, welche, beiläufig be-
merkt, ſchon im 13. Jahrhundert einen Prediger zu ver
Aeußerung veranlaßt hatte, dieſer „Pfauenfchweif jei ver
Tanzplatz ver Teufelchen und Gott würde, falls die Frauen
folder Schwänze bedurft hätten, fie wohl mit etwas ber
Art verjehen haben“ 117), Wann es dunkel geworben,
wurbe ver Fackeltanz gehalten und zwar jo, daß ein Sung-
gefell mit einer brennenden Fadel dem Vortänzer vor-
anjchritt und ein zweiter Fadelträgerven Reiben beſchloß.
—
117) Cäfarius von Heifterbach (Dialogus, V, 7) ſpricht jeiner-
jeit8 von einer Mainzerin, welche pomphaft und pfauenbunt („pom-
patice et ad similitudinem pavonis variis ornamentis picta“)
zur Kirche ging. Auf ihrer übermäßig langen Schleppe („cauda
vestimentorum, quam habebat post se longissimam“) fah man,
wie der gute Mönch ernfthaft hinzufügt, „eine Menge von Teufelchen
tanzen”.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 17
258 Buch II. Kap. 5.
Um Mitternadt wurde die Braut nad Haufe geleitet,
wo dann für das Geleite noch ein „ Collatz von allerhand
Schleckwerk“ aufgeftellt warb, und zwar zeigte dabei das
Gebäck und Zuderwerf allerlei „Heirat-Figuren”, aljo
nicht eben vie züchtigften. Envli wurde die Braut zu
dem harrenden Bräutigam in die Brautfammer geführt.
Frauen entfleideten fie, Sunggefellen zogen ihr die Schuhe
aus, und nachdem eine Dede das Baar befchlagen hatte,
entfernten fich die Gäſte 118).
Treten wir aus den ftäptifchen Kreifen in die ländlichen
hinüber, um auch aus dem mittelalterlichen Frauenleben ver
leßteren einige &harakteriftifche Züge beizubringen, jo muß
zuvörderſt der Unterfchied zwifchen den freien und unfreien
Bauerichaften hervorgehoben werben. Die Erniedrigung
in welcher die hörigen Bauern und demnach auch ihre
Frauen und Töchter ihr Dafein verbrachten, wurde im
Verlauf unjerer Betrachtung ſchon mehrfach berührt. Hier
ist alfo nur noch zu betonen, daß e8 nicht an urfundlichen
Nachrichten fehlt, wie leibeigne Weiber im Mittelalter
förmlich als Sklavinnen vertaufcht oder verkauft worden
find 119, Unter ven Bauerfchaften, welche ſich die Frei-
118) Nach den bereits angezogenen Aufzeichnungen von Bern-
hard Rohrbach, Zeitfchr. f. d. Kulturgeſch. 1856, ©. 64 fg.
119) Als Beifpiel ftehe bier eine Urkunde v. 3. 1333. „Ich
Konrad der Truchſeß von Urach, Kitter, thue fundt und verjebe
(erfläre) offentliden an diefem Briefe allen den, die diefen Brief
lejen, fehen oder hören lefen, daß ich den Erfamen geiftlihen Herren
den Abt und dem Konvent des Klofters zu Lorch hab geben die
2 Frawen Agnes und ihr Schwefter Mahilt, Degan Reinbolts
Bürgerin und Bäuerin. 259
heit ver Perſon und des Eigenthumsd bewahrt hatten,
finden wir, befonvers im ſüdlichen Deutfchland, vor und
nad den großen Trübſalen des 13. Jahrhunderts ein be⸗
hagliches, ja üppiges Leben im Schwange gehen. Die
Romantik war auch in die bäuerlichen Kreife eingegangen,
vornehmlich in den öftreichifehen und baterifchen Gegenden.
Wie abfonverlich dieſe Verquickung bäuerifcher Sitten mit
höfifch-ritterlichen fih ausnahm, davon gibt die Erzählung
von dem übermüthigen Bauersjohn Helmbrecht, welcher
jtatt dem Pfluge nachzugehen ein ritterlicher Räuber ward,
ein höchft belebtes Bild 12%). Nicht minder anſchaulich
malen uns die Lieder des bereits erwähnten Minnefängers
Nithart von Reuenthal dieſes ſüddeutſche Bauernleben,
die Tänze und Gelage der „Törper“, bei welchen dann
ſchließlich die Nachäffung ritterlichen Gebarens in die
faftigften Prügeleien umzufpringen pflegt, die Putzſucht
der jungen „Törperinnen“, welche höfiſch gekleidet mit
Kränzen um das zierlich aufgebundene Haar, den modischen
Hanpfpiegel am Gürtel, Sonntags unter der Dorflinde
erjcheinen, um ſich von Bauernburſchen, weldye Schwerter
an der Seite, Sporen an den Stiefeln und Federn auf
den Hüten tragen, ven Hof machen zu laffen.
feligen Töchter und ihre Kindt, die davon kommen mögen, um
3 Pfund Heller, der ich gewährt von ihn bin, und das geb ich in
diefen Brief, befiegelt mit myn Imfigel, das daran hanget. Dieſer
Brief ward geben, da man zalt von Chrifti Geburt 1333 Jahr.”
So fonnte man denn i. Jahre 1333 zwei Weiber fammt ihrer et-
waigen Nachkommenſchaft, um 1 Thaler Pr. Ext. kaufen.
120) ®ejammtabenteuer, III, 281 fg.
17*
260 Buch LI. Kap. 5.
Aber noch lieber von munteren Edelleuten mit weiten
Gewiffen und mit Augen, welche die Reize bäuerifcher
Schönheiten ſehr zu würdigen mußten. Denn alle dieſe
zeitgendffifchen Schilverungen find Teineswegs idylliſche
Gemälde & la Geßner. Bon ländlicher Unſchuld und
Sitteneinfalt ift da wenig zu ſehen und es fteht jehr ſtark
zu vermuthen, daß ver dörfliche Minnedienſt die in mans
hen Gegenven unferes Vaterlandes altherfümmlichen und
noch jeßt beftehenden „Probenächte“, welche vie Bauern⸗
‚mädchen ihren Liebhabern geftatteten, durchaus nicht mehr
in dem entbaltungsvollen Sinne nahm, in welchen, fagt
man, diefer Brauch in ältefter Zeit genommen wurde 12).
Und, wie gefagt, die Dörferinnen griffen mit ihren Xiebes-
wünfchen gar gerne über vie bäuerifche Sphäre hinaus.
Sie wollten Ritter haben, wenn nicht zu Männern, fo
doch zu Galanen. Man fehe nur die praftifchen Zeich-
nungen, welche Nithart von feinen Abenteuern mit dörf⸗
lihen Schönen entworfen hat!?). „Was jagt Ihr mir
von Bauern? Lieber ließ’ ich mich vermauern, als daß ich
mich mit ihnen begnügte“ — entgegnet da ein Mädchen,
welches die Mutter vor ver Buhlerei mit Evelleuten warnt.
Andern Ortes ftreiten fich eine Mutter und eine Tochter
über dafjelbe Thema. SIene meint, diefe ſei noch zu jung
— — — —— —
121) Inbetreff dieſes heikeln Gegenſtandes verweiſe ich auf
Fr. Chr. Fiſcher, Die Probenächte der deutſchen Bauernmädchen,
wortgetreu nach d. Ausg. v. 1780 Stuttg. 1853.
122) Der Wemplink. Die dürre Plahe. Die Graſerin. Minne⸗
finger, III, 180, 247, 308.
Bürgerin und Bäuerin. 261
zum minnen, da fie ja faum fechszehn Sabre zähle. Dar .
auf die Tochter: „Ein, Ihr habt ja Eure Jungferfchaft
ihon ale Zwölfjährige verloren.“ — „Nun, jo minne
meinetwegen.” — „Sa, das thät’ ich gern, aber Ihr fifcht
mir ja die Männer vor der Nafe weg. Pfui, daß Euch
der Teufel hole! Ihr habt ja einen Dann, was bepürft
Ihr anderer“? — „Zöchterlein, jchweig’ ftil! Minne
wenig oder viel, ich will nicht8 dazu fagen, und follteft vu
auh ein Kindlein wiegen müffen; aber fei vu eben-
falls verjchwiegen, wenn du mich der Minne nachgehen
fiehft 123). Ein fehr bezeichnenves Uebereinfommen, für:
wahr! Die Frivolität in Liebesſachen war augenfcheinlich
im Mittelalter fein Vorrecht ver höheren Stände, fondern
e8 hatten auch die bäuerlichen Kreife ihren vollgemeſſenen
Antheil daran. Die mittelbochveutfche Novelliftif ift voll
von Beifpielen. Eines der ausdrucksvollſten ift die Ge-
ichichte vom „Minnedurjt“. Die Tochter eines Meiers
hat eine Liebjchaft mit einem hübſchen Bauerburſch, aber
weil dieſer arm ift, zwingt ihr Vater fie, einen andern
zu heiraten. ‘Der Liebhaber befinvet fich jedoch unter ven
Hochzeitsgäften und die Braut verfpricht ihm, fie wolle
ihm und nicht dem aufgedrungenen Bräutigam den Ge-
nuß ihres Magdthums gewähren. Während dann ver
jpeifen- und weinvolle Bräutigam „als reht ein sluch*
neben der Braut im Bette liegt, fagt fie ihm, fie hätte
eine verfalzene Bratwurft gegefjen und vürftete davon jo
übermäßig, daß fie zum Brunnen binabgehen müßte. Sie
123) Minnef. III, 215 fg.
262 Buch II. Kap. 5.
thut fo, gewährt dem drunten ihrer harrenden Geliebten
feine Wünfche und verhöhnt noch dazu währen des Minne-
Ipiel8 ihren betrogenen Ehemann auf allerdings höchft
fomische Weiſe. Eine Anfchauung von der tiefen Zer-
rüttung bäuerifcher Ehen bietet die Gefchichte von der
„Beichte*. Ein Bauer wohnt mit feiner Frau fernab vom
Dorfe, und da fie am Palmſonntag der verjähneiten Wege
willen nicht zur öfterlichen Beichte in die Kirche gehen
fönnen, kommen fie überein, einander gegenfeitig ihre
Sünden zu befennen. So beichtet denn die Frau, als im
vorigen Jahre ihr junger Grundherr auf fie beide erzürnt
gewefen, habe fie fich zu ihm gelegt, um ihn zu befänftigen;
dann habe Heinrich, der Amtmann, zur Zeit als man das
Korn fchnitt, fie beredet, ihm zu Willen zu fein; ferner
babe fie, als fie einmal Waffer holen ging, ihr Nachbar
Kunz bei der Hand genommen und „meret mir min
vröude ie, biz daz sin wil an mir ergie“; endlich, va
fie eines Tages zur Mühle gegangen, ſei ihr ein mwohlge-
thaner Pfaffe in ven Weg getreten und habe fie fo beweg-
lich gebeten, daß fie ihm in Gottesnamen auch zu Willen
gewejen fei. Der Bauer z0g die Sünderin auf feinen
Schoß, gab ihr drei fanfte Püffe und verzieh ihr. Nun
fam vie Reihe an ihn und er beichtete der Frau, daß er ihr
nie untreu gewefen, ausgenommen ein einzigesmal. Da fei
ihre Magd Adelheid im Hemde auf ver Herdbank gelegen
und fei ihm der ftolze Leib ver Dirne fo minniglich vorge-
fommen, daß er feine Luft an ihr gebüßt habe. Wüthend
fährt die Frau auf, jhilt ven Mann, fährt ihm ins Haar
und prügelt ihn mit vem Befenftiel tüchtig ab. Wie die
Bürgerin und Bäuerin. 263
Bauern auch ihrerjeits die Sünden ihrer Weiber ftraften
und an den Buhlern verfelben, befonderd an den geift-
lichen, Rache nahmen, zeigt ergöglich pie befannte Gefchichte
„Der geäffte Pfaffe”, welcher feine Minneviebftähle theuer
zu fühnen hatte 129).
Es ift uns von einer ſüddeutſchen Bauernhochzeit eine
Schilderung überliefert, welche aus dem 13. oder 14. Jahr⸗
hundert ftammt und fich in jedem Zug al® ein nad) der
Natur gezeichnetes Lebensbild ausweift 135). Den barin
vorkommenden Namen nad zu fchließen, muß viefelbe in
den Gegenden um ven Bodenſee herum ftattgefunden haben,
in Oberfchwaben, im Allgau over im Thurgau 12). Wir
124) Gejammtabenteuer, LU, 97 fg. II, 353 fg. II, 149 fg.
125) Liederfaal, IH, 399 fg. „Von Metsen hochzit.* Der
Stoff wurde nachmals im 15. Jahrhundert durch Heinrich Witten-
weiler zu einem weitläufigen Gedichte („Der Ring”) ausgelponnen,
das voll derbſter Komik ift.
126) Zellweger (Gefchichte d. appenzell. Volles, II, 408) wer-
mutbet, daß im Appenzellferland oder im Rheinthal die Oertlich⸗
feit dieſer Hochzeit zu fuchen fei. Aus Appenzell bringt, gelegent-
ich gejagt, Zellweger einige eigenthümliche Sittenzlige aus dem
Mittelalter bei. Die Mädchen pflegten bei feierlichen Anläffen mit
ſtark entblößten Brüften zu erjcheinen, wofür der Ausdrud „bie
Zafeln aufthun“ gebräuchlich war, hergenommen von dem Tirhlichen
Braude, bei großen Feften die jonft mit „Tafeln“ verſchloſſenen
Kirchenbilder geöffnet zur Schau zu ftellen. Unter der Dorflinde
von Appenzell wurde Sonntags häufig ein feltjames Spiel gejpielt,
das „Stirnftoßen“, welches darin beftand, dag Männer und Weiber
wie Böcke mit den Stirnen gegen einander rannten (a. a. O. J,
6549; IV, 353).
264 Buch II. Kap. 5.
wollen, zum Abjchluß des Kapitels, das jprechende Bild
nachzeichnen.. Der junge Bärſchi (Bartholomäus) hat
bie junge Metzi (Mechtilv) lieb und fie ihn; aber fie will
von ihm geehlicht fein, bewor fie jich minnen läſſt. Bärſchi
entjchließt fich alfo zur Heirat und die Verlobung geht in
Gegenwart ver beiverjeitigen Verwandten feierlich vor ſich
oder vielmehr ganz geſchäftsmäßig. Die Braut erhält
als Mitgift drei Bienenftöde, ein Pferd, eine Kuh, ein
Kalb und einen Bod. Dagegen fchenkt ihr der Bräu⸗
tigam eine Juchart Flachsland, zwei Schafe, einen Hahn
mit vierzehn Hennen und ein Pfund Pfennige. Es wird
bann bejchloffen, daß die Hochzeit noch an demſelben Abend
ftattfinden foll und zwar ohne „schuoler und pfaffen“,
d. b. ohne alle Mitwirfung ver Kirche. Sofort werben
alle Nachbarn mit ihren Frauen und Töchtern in das ge-
räumige Haus Bärſchi's geladen und laſſen fich das her⸗
umgereichte Weißbrot wohl ſchmecken. Für je vier Gäfte
wird dann ein Kübel voll Hirjebrei aufgetragen und zu«
gleich beginnt ein unmäßiges Trinfen („sy suffent und
trunkent, daz in die zung hunkent“). Aud der an«
wejende Spielmann muß über Durft trinten und pfeift
dann zwifchenbinein einen Schall. Sekt werden Rüben
mit Sped aufgeftellt und die Gäfte langen fo eifrig zu,
daß ihnen Hände und Bärte vom Fette glänzen. Hierauf
fommen DBratwürfte und das „Brautmuß” auf die Tifche
und erfahren wir bei diefer Gelegenheit, daß es damals
auch auf bäuerifchen Zifchen bereits Löffel gab. Denn
nachdem die Säfte die YBratwürfte verfchlungen haben,
broden jie die „allergrößten Moden“ in das Brautmuß
Bürgerin unb Bäuerin. 265
. und ejfen e8 mit Löffeln aus. Als die Schmauferei zu Ende,
zeigen fich die Wirkungen des in Fülle genoſſenen Weines
ländlich⸗ſchändlich. Die Gäfte fennen einander nicht mehr,
wiffen nicht, ob es Tag oder Nacht, ftoßen einander hin
und ber oder fallen befinnungslos hin. Die Braut wird
nun bem Bräutigam zugeführt, wobei fie, wie es bäuerifcher
Brauch verlangte, ungebärbig thut, weint und laut: O
weh, o weh! ſchreit. An ter Schwelle ver Brautkammer
müffen wir freili hinter unferem mit mittelalterlicher
Unbefangenbeit eintretenden Führer zurüdbleiben. Nur
joviel, es geht da drinnen in demſelben Stile zu wie vor-
bin bei dem Hochzeitfhmaus („das spil was hert und
ruch® u. f. f.). Am andern Morgen bringt man dem
jungen Ehepaar das Frühftüd an das Bett und beglüd-
wünjcht es. Als Morgengabe ſchenkt der Bärfcht feiner
Metzi ein jchönes großes Mutterſchwein. Dann wird
das Paar unter Trommelſchlag und Pfeifenfhall, im
Geleite der „Törpel“ (Dörfler), zur Kirche geführt und
wird fo der „Brutloff“ (Brautlauf) in aller Form ge-
halten. In der Kirche findet die Trauung ftatt, aljo
nach Bollziehung der Ehe, und hierauf geht der Zug
zum Haufe des SHochzeiterd zurüd, wo abermals ges
ſchmauſ't und gezecht wird, bis vie „beiten zwei Man-
nen* unter den Anmwejenden jich zu beiden Seiten ver
Braut fegen, um in ihrem Namen die Hochzeitsgejchente
zu empfangen: einen Krug, einen Melffübel, einen
Sträl (Kamm), einen Gürtel, einen Spiegel, Lein-
wand, auch breißig Pfennige an barem Gelde. Der
Bater ver Braut bedankt fih im Namen feiner Tochter
266 Buch II. Kap. 5.
für die empfangenen Gaben und dann wird unter bie -
Dorflinde zum Tanze gezogen, welcher zulegt, damit ja
der Bauernhochzeit Feines ihrer „organtichen“ Elemente
abgehe, mit einer allgemeinen Prügelei endigt.
Sechftes Kapitel.
Bäder. Fraueuhäuſer. Nonnenklöfter. Entartung
der Tracht.
Die Bahftuben und das Treiben darin. — Seilquellen. — Baden
im Aargau. — Poggio's Beichreibung bes Badlebens daſelbſt. —
Die Frauenhäufer und die Frauenhäuferinnen. — „Reuerinnen.“
— Epifode von der Agnes Bernauer. — Die Frauenflöfter. —
Bildung und Beihäftigungen der Nonnen. — Die „Jeſerl.“ —
Klöfterliche Aergerniffe. — Die Ausschreitungen der Frauenmoden :
die „ſchandbare“ Tracht, die Schellengürtel und Schnabeljchube.
Mer Gebrauch von Bädern war im Mittelalter unter
allen Volksklaſſen ein viel häufigerer als heutzutage.
Mochte viefes viele Baden zum Theil darin feinen Grund
haben, vaß damals ver Gebrauch von Leibwäſche und deren
regelmäßiger Wechfel weit weniger allgemein waren als
jet, immerhin. galt e8 für eine heilfame viätetifche Nebung
und zugleich für eine Ergöglichleit, welche ein Poet jener
Zeit ven fieben größten Freuden zuzählte 127). Auf dem
127) Im Liederbuch der Klara Hätlerin (hrsg. von Haltaus,
©. 273) heißt es: —
„Hatt ain man vf der just
Gedienet schönen frawen,
268 Buch II. Rap. 6.
Lande hatte jedes einigermaßen orventlich eingerichtete
Haus feine eigene Badſtube, während in ven Städten bie
öffentlichen Badſtuben fehr zahlreich waren 128) Es ift
auch nicht das Bad allein gewefen, welches vie Leute dahin⸗
309.‘ Die Männer ließen fih da Haar und Bart ftugen,
die Frauen frifiren. Die Bader, d. h. die Babftuben-
halter, ließen von Stunde zu Stunde in den Straßen aus⸗
rufen, daß im Badhaus alles gerüftet fei. Dann eilten
die Leute barfuß und gürtellos herbei, entfleiveten fich in
einem Vorgemach und betraten, nur mit einem Scurz
um bie Lenden oder auch wohl ganz nadt, ven heißen
Badraum, jtredten jich dort auf die an ven Wänden hin⸗
laufenden Bänke und ließen fih von Badknechten oder
Badmädchen den ganzen Körper mit lauem Waſſer be-
Ist er im Turney wol erplawen,
Hatt er gewallet oder geraisst,
So gert er doch allermaist
Vor allen fräden baden.
Kain fräd mag ir geleichen.
Wann der ofen recht erhitzt,
Vnd wol waidenlich erschwitzt,
Vnd gäb der Küng im zehen Mark
Sein Krey wär dannocht nit so starck,
So er sich uff die panck streckt
Vnd sich streichet vnd leckt.
Baden ist ain sauber spil,
Das ich ymer preisen wil.“
128) Ein Beifpiel, das mir gerade zur Hand, bietet Bafel,
welches im 13. Jahrhundert nicht weniger ala 15 Badſtuben zählte.
Bal. Fechter, a. a. O. 82.
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöfter. 269
gießen, dann abreiben und fneten („zwagen”). Hierauf
bot der „Scheerer * feine Dienfte als Barbier und Haar
Fräufler an 129). Die Bapftuben waren auch Plauderſtuben
und häufig noch fchlimmeres, nämlich Stätten, wo gejptelt
und gefhmauf’t warb und Liebesränfe eingefädelt wurden.
Daher vie Roftfpieligfeit eines zweimaligen Badens in ver
Woche, worüber ein Minnefänger zu Magen fich veran-
laſſt ſah 12%. An ven meiften Orten baveten Männer
und Frauen in einem gemeinfamen Raume und es bat
diefe naive Sitte an manden Heilbrunnenorten bis in
unfere Tage herein fortgewährt 139).
Eben an den Stätten der Gefundbrunnen entwidelte
fih das Badleben unferer Altvorveren zur vollften Aus⸗
gelaſſenheit. Das Wildbad im Schwarzwald, Pfäfers
im St. Galler Oberland und die beiden Baden, das im
Breisgau und das im Nargau, gehörten zu den berühm-
teften Heilquellen. Andere, nachmals berühmt gewordene,
find erft fpäter in Aufnahme gekommen. So z. B. Pyr-
mont fett vem Ende des 15. Jahrhunderts. Baden im
Aargau hatte ſchon zur Römerzeit einen großen Ruf:
129) Haupts Zeitjchr. f. d. d. Alterth. IV, 85 fg.
130) Der Tanhuſer (Minnef. IL, 96): —
„Diu schoenen wip, der guote win, diu mursel an dem morgen
Unt zwirent in der wochen baden, daz scheidet mich von guote.“
131) Sie befteht fogar noch jekt, z. B. im Gyrenbab bei
Winterthur und zu Leuk im Wallis in der Schweiz. An beiden
Orten ſah ich die Badenden beiderlei Gefchlechtes in den großen
Waſſerbaſſins zufammen fiten und auf ſchwimmenden Tiſchchen
Karten, Schad oder Domino fpielen.
270 Bud II. Kap. 6.
Tacitus fpricht davon als von einem feines heilfräftigen
Waſſers wegen vielbefuchten Beluſtigungsort („locus
amoeno salubrium aquarum usu frequens®). Im
Mittelalter ftrömten in den zahlreichen Herbergen dieſes
in einem tiefen, von der Limmat durchrauſchten Thalfeffel
gelegenen Badortes aus der Nähe und Ferne Laien und
Priefter, Ritter und Damen, Kaufleute und Dombherren,
Prälaten und Aebtiffinnen zufammen, um ihrer Gefunp-
heit, aber mehr noch) des Vergnügens zu pflegen. Baden,
heutzutage meift nur noch von Schweizern befucht, war
damals ein Luxusbad von europäifcher Beveutung, und
da feinen Schwefeltbermen eine ganz bejonvere Wirkung
gegen Unvermögen und Unfruchtbarkeit zugefchrieben
wurde, jo ift es jehr ergöglich, zu fehen, mit welchem
Eifer fih Mönche und Nonnen in dieſes Bad drängten.
So veräußerte i. 3. 1415 die Aebtiffin zum Fraumünfter
in Zürich einen Meierhof, um mit vem erlöf’ten Geld eine
Badenfahrt machen zu fünnen. Der eine oder andere
von den Chorherren zum Großmünfter derfelben Stadt
wird dann in Baden wohl mit der geiftlichen Würdenträgerin
zufammengetroffen fein, venn dieſe Herren trieben jich
häufig dort herum. Die Klofterfrauen von Töß erfauften
mit ſchwerem Gelde eine päpftliche Inpulgens, nad) Baden
fahren und daſelbſt unter vem Sfapulter weltliche Kleider
tragen zu dürfen. Der Abt von Kappel Ulrich Trinkler
— nomen et omen! — büßte feine koſtſpieligen Schwel-
gereien in Baden mit Vertreibung aus feinem Klofter 132).
132) D. Heß in der „Badenfahrt.“
Bäder. Frauenhäufer. Nonnenklöſter. 971
Die Schilderung, welche der Florentiner Poggio als
Augenzeuge von dem mittelalterlichen Badleben zu Baden
entworfen bat, ift zwar befannt, allein fittengefchichtlich
zu wichtig, um bier übergangen zu werben. Poggio hatte
den Papit Iohann den Dreiundzwanzigiten zur Kirchen⸗
verjammlung nad Konftanz begleitet und war dann nad)
Baden gegangen, um Xinverung feines Chiragra zu
juhen. Bon bier aus fchrieb er im Sommer 1417 an
jeinen Landsmann Niccolt einen Brief, welchem das Nach-
jtehende auszüglich entnommen ift. Die zahlreichen Bad⸗
gäfte wohnten in den trefflich eingerichteten Bad⸗ und
Gafthäufern, deren dreißig vorhanten waren. Für das
gemeine Volk gab es unter freiem Himmel zwei große
Baſſins — (das Verenabad und das Freibad) — wo
Männer und Frauen, Yünglinge und Mädchen gemein-
ſam badeten. Zwar trennte eine Scheidewand bie beiven
Geſchlechter, doch ftiegen die Frauen angefichtS ver
Männer nadt ins Bar. Die Bapräume in den Gaft-
häuſern waren zierlicher, jedoch ebenfall® beiden Gejchlech-
tern gemeinfam. Bretterwände gingen zwar zwifchen durch,
allein diefelben hatten fo viele Deffnungen, daß man von
beiden Seiten fi fehen und auch, was häufig vorkam,
berühren fonnte. Die Männer trugen im Waſſer Schürgen,
die Frauen Badhemden 139). Mean jaß ftundenlang im
133) Poggio widerſpricht ſich hier, indem er im einer früheren
Stelle feines Briefes ausdrücklich angibt, daß auch in den für die
feinere Geſellſchaft beſtimmten Bädern beide Gefchledhter nadt mit-
fammen gebadet hätten. W. Etrider (Zeitſchr. f. d. Kulturgeſch.
272 Bud II. Kap. 6.
Bade und fpeif’te darin auf ſchwimmenden Tiſchen. QTäg-
lich befuchte man drei bis vier Bäder und verbrachte den
übrigen Theil des Tages mit Singen, Trinfen und Tanzen.
Selbit im Wajjer ſpielten einige dieſes oder jenes In⸗
ftrument und fangen dazu. Ueber den Bädern waren
Galerieen angebracht, auf welchen ſich die Herren ein-
fanden, um mit ven badenden Damen zu plaudern. Diefe
hatten ven Brauch, die ihnen von oben herab zuſehenden
Männer fcherzweife um Gefchenfe anzugehen. Man warf
ihnen daher Blumenfträuße und Fleine Münzen hinab
und die Schönen fpreiteten, vie Gaben aufzufangen, wett-
eifernd ihre Hemden aus. Hart am Fluß ift eine große
von vielen Bäumen bejchattete Wiefe gelegen — (bie
jogenannte „Matte”). Da kommen die Bapgäfte, wenn
fie vom Mittageffen aufgeftanvden, zu allerlei Kurzweil
zujammen. Die meijten beluftigten jich mit vem Ballfpiel,
einige fingen, andere laffen fich durch Pfeifen und Pauken
zum Tanze laden. Die Menge der Vornehmeren und
Geringeren, die nah Baden fahren, ift faft unzäblbar.
Man fieht da auch eine nicht geringe Anzahl jehr hübſcher
Frauenzimmer, ohne daß dieſelben von Ehemännern ober
1857, ©. 329) bezeichnet das wohl mit Recht als eine Ueber⸗
treibung und e8 ift anzunehmen, daß wenigftens die Frauen der
befieren Gejellfhaft in einem weniger evaitifhen Badanzug er:
ichienen feien, al8 womit in den Freibädern bie Bäuerinnen ſich
zeigten. Indeſſen müſſen wir uns doch erinnern, daß, wie wir
jahen, fogar in des züchtigen Wolfram großem Gedicht ver badende
Parzival von feinen Damen bedient wird, d. h. daf die Anfichten
des Mittelalters über Schiefichkeit jehr freie waren.
“
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöfter. 273
Brüdern begleitet wären. Alle, fovtel ihre Mittel e8 ge-
ftatten, tragen mit Silber, Gold und Evelfteinen beſetzte
- Kleider, als wären fie nicht zur Sur, fondern zu einem
Feſte gefommen. Auch Nonnen, Aebte, Priefter und
Mönche leben hier freifam und fröhlich. Die Geiftlichen
baden ſich wohl gar zugleih mit den Weibern, ſetzen
Blumenkränze auf und vergeffen des Zwanges ihrer Ge-
lũbde 19).
Unter den Frauenzimmern, welchen Boggio in Baden
begegnete, find ohne Zweifel viele folche gewejen, welche
das Mittelalter unter den Benennungen ver „leichten“
oder „geluftigen Fräulein“, „offenen“ oder „gemeinen“
oder „fahrenden Frauen“, d. i. der Freudenmädchen zu-
fammenfaffte. Wenn wir die Offenheit und Unbefangen-
beit im Auge halten, womit in der „guten, alten, from⸗
men Zeit” in Sachen der Proftitution gehandelt wurde,
fo gelangen wir folgerichtig zu dem Schlufje, daß der phy—
ſiſche Liebesgenuß den Menſchen von damals überhaupt
weniger anftößig erfchienen ſein müſſe al8 ung Modernen.
Zugleich ift aber diefe Offenheit und Unbefangenheit —
in unferen Augen gleichbedeutend mit Rohheit — ver
ſchlagendſte Beweis, daß der dichterifche Idealismus und
die ritterlichen Weberjchwänglichkeiten des romantischen
134) Poggius, opera (Bajeler Ausg.), pag. 207. Sicherlich
war ber Florentiner berechtigt, feiner Schilderung des babener
Badlebens das abfichtliche oder unabfichtliche Witwort beizumifchen,
daß kein Bad auf der Welt der fraulichen Fruchtbarkeit jo zuträglich
wäre wie biefes („nulla in orbe terrarum balnea ad foecunditatem
mulierum magis sunt accommodata‘“).
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. I. 18
274 Bud II. Rap. 6.
Frauendienſtes zur Veredelung des Verhaltens ver beiden
Gefchlechter unter einander thatfächlich doch blutwenig
beigetragen habe und daß wir daher früheren Ortes mit
gutem Grund den Unterſchied betonten, welcher zwifchen
der romantifchen Minnetheorie und Minnepraris jtatt-
hatte, in Deutfchland wie allenthalben.
Die Ausüberinnen ver gewerbsmäßigen Unzucht zer-
fielen im Mittelalter in zwei, freilich nicht ftreng gejchie-
dene Rlajfen, in fahrende und in jeßhafte Dirnen. Die
eriteren zogen ven Jahrmärkten, Raiferfrönungen, Reichs⸗
tagen, Turnieren, Kirchenfeften, Koncilien und anderen
Berfammlungen der mittelalterlichen Gefellfchaft nach und
zwar oft fo majlenhaft, daß 3. B. die Angaben über vie
Zahl der Luſtdirnen, welche fih während des Koncils von
Konftanz daſelbſt aufhielten, zwifhen 700 und 1500
Ihmwanfen. Eine viefer Dirnen foll während ver Kirchen
verfammlung 800 Goldgulden an Sündenſold einge-
nommen haben, eine für jene Zeit außerorventlich be-
deutende Summe. Den Kriegöheeren folgte ebenfalls
eine große Anzahl fahrender Frauen, und weil fie ſammt
dem übrigen Lagertroß unter dem Befehl des General-
profoß’8 ſtanden, jo führte dieſer noch in den Zeiten des
breißigjährigen Krieges ven amtlichen Titel „Hurenweibel“.
Die feßhaften Dirnen, die „Frauenhäuferinnen”, hauften
in den „Frauenhäuſern“, deren größere Städte mehrere
hatten, während ſelbſt Fleinere und kleinſte gewöhnlich
wenigitens eine foldhe Anftalt aufweifen fonnten. Die
Frauenhäufer over „Zöchterhäufer“ over „offene Häufer “
oder — lucus a non lucendo — „Jungfernhöfe“ lei⸗
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnentlöfter. 275
teten ihre Benennung von den abgefonderten Räumen
ber, worin im früheren Mittelalter vie Frauen den häus-
lichen Arbeiten obgelegen hatten. So drüdte alſo das
Wort Frauenhaus urfprünglid einen ganz ehrbaren Be-
griff aus, gerade wie das entiprechende Wort „Bordell“,
welches vom angeljächfifchen Borda (ein Fleines Haus)
gebilvet ift. Eine Borbmaget hieß im altfriefifchen Ge-
jege nicht etwa eine öffentliche Dirne, ſondern eine fimple
Hausmagd. Die Frauenhäufer, zu „beilerer Bewahrung
ber jungfräuliden und fraulichen Ehre“, nämlich ver
Bürgerinnen, gebuldet und unterhalten, waren Eigen-
thum ver Städte und wurden an „Frauenwirthe“ (Ruf:
fiane, Riffiane) gegen einen bejtimmten Wochenzins ver-
pachtet. Nicht felten war auch der Ertrag diefer In—
ftitute ein lanvesherrliches Regal over ein Lehen geift-
licher und weltlicher Dynaſten. Das Frauenhauswefen
war fo zu fagen mit deutſcher Gründlichkeit georonet.
Allgemeine Geltung fcheinen die zwei Grundſätze gehabt
zu haben, daß eine ftäntifche Frauenhausbande nicht aus
der Stadt felbft, ſondern aus der Fremde fich refrutiren
müßte und daß nur Ievige, feine verheirateten Weibs—
perjonen in die Frauenhäufer aufgenommten werben foll-
ten. Ehemännern, Geiftlihen und Juden follte ver Zu⸗
tritt von dem Wirth verweigert werben, allein nur in Be-
treff ver Juden wurde dieſe VBorjchrift mit einiger Strenge
durchgeführt. Wiffen wir doch, daß vornehmen Gäften
erwiejene ftädtifche Gaftfreiheit auch das Freihalten der⸗
felben in den Frauenhäufern in ſich begriff. Sp wurde
Raifer Sigismund mit feinem Gefolge i. 3. 1413 im
18*
276 Bud II. Kap. 6.
Frauenhaus zu Bern und i. I. 1434 im Frauenhaus zu
Ulm freigehalten. Das Verhältniß des Frauenwirthes
zur Stadt und das der feilen Frauen zum Wirth war des
genaueften geregelt und die Beitimmungen über Koft-
gebung, Vertheilung des Gewinnftes u. f. f. gingen bie
in einzelnfte. An den Vorabenden und VBormittagen
von Sonn⸗ und Felttagen waren bie Sungfernhöfe ge-
ſchloſſen. Die Behandlung der Frauenhäuferinnen von
Seiten der Magiftrate war in ben verſchiedenen Stäpten
verſchieden. In einigen waren fie hart gehalten, dem
Henker zur Aufficht übergeben und wurden auf dem Schind-
anger begraben; in anderen genoffen fie gewiljer Vor—
rechte, durften bei ſtädtiſchen Fröhlichkeiten mit Blumen—
fträußen geſchmückt erfcheinen und in Leipzig fogar all-
jährlich beim Beginne der Fastenzeit eine folenne Proceffion
durch und um die Stadt halten. Sie erfreuten ſich auch
ver Vortheile des Zunftzwangs, und wie die Handwerker
jeden unzünftigen Konkurrenten als „Bönhaſen“ ver-
folgten, fo befriegten die Infaffinnen der privilegirten
Frauenhäuſer die Priejterinnen der Winfelproftitution
als nichtzünftige und alfo unberechtigte Bönhäfinnen.
Im Jahre 1462 reichten die Bewohnerinnen des nürn-
berger Frauenhaufes bei dem Rath eine Vorftellung ein,
„daß auch andere Wirthe Frauen halten, die Nachts auf
die Gaffen gehen und Ehemänner und andere Männer
beherbergen und folches (vd. i. ihr Gewerbe) inmaßen und
viel gröber venn fie e8 halten in dem gemeinen (d. i.
privilegirten) Tochterhaus, daß folches zum Erbarmen
ſei, daß folches in dieſer Löblichen Stadt alfo gehalten
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöſter. 277
werde“. Der Beſcheid des Rathes iſt nicht bekannt, läſſt
ſich aber errathen, wenn man erfährt, daß bei einer
ſpäteren ähnlichen Veranlaſſung, i. J. 1508, der Magiſtrat
den Frauenhäuſerinnen erlaubte, ein unprivilegirtes
Projtitutionshaus förmlich zu ftürmen. Da und bort
ging die Toleranz gegen die gelüjtigen Fräulein jo weit,
daß man ihnen „um ihrer Aufopferung für das gemeine
Beite willen” das Stabtbürgerreht ſchenkte. Ander⸗
wärts beftanten Stiftungen, aus welchen an leichte Fräu⸗
fein, denen e8 gelungen war, zu einer ehrlichen Heirat zu
fommen, eine Mitgift verabreicht wurde.
Daß feile Frauen ſich durch möglichit glänzenden
Pub auszeichnen, liegt noch heute in der Natur ihrer
Stellung. Das Mittelalter hielt aber darauf, daß bie
Aushängeſchilde weiblicher Feilheit vecht Tenntlich wären,
und fchrieb daher den Luſtdirnen befonvere Abzeichen wor,
ein auffallendes Kleivungsftüd oder auch eine uniforme
Farbe der Röcke oder Mäntel. Grün fcheint die am
häufigiten vorgeichriebene Farbe gewejen zu jein. In
Augsburg mußten die gelüftigen Fräulein einen zwei
Singer breiten grünen Streifen am Schleier tragen, in
Leipzig kurze gelbe Mäntel, die mit blauen Schnüren
benäht waren, in Bern und Zürich rothe Mügen. Zus
weilen brauchte eine Stabtobrigfeit auch ven Kunftgriff,
ausfehweifende over lururidfe Kleidermoden, welche fie ehr-
baren Frauen unterjagte, ven Buhldirnen zu erlauben
und folhe Moden dadurch anſtößig und verächtlich zu
machen, was freilich Feineswegs immer gelang. Gegen
das Ende des 15. Jahrhunderts hin hatte die Proftitution
278° Bud) II. Kap. 6.
in deutſchen Yanden eine erfchredende Ausdehnung ange-
nommen und das Hinzutreten der Luſtſeuche fteigerte das
Unwefen zu einier öffentlichen Ralamität, welche entjegliche
Berheerungen anrichtete. Es mußte auf Abhilfe Bedacht
genommten werben, und da fich mit dem zur Reformation
zeit eingetretenen Kulturaufſchwung auch das fittliche Ge-
fühl wiederum für eine Weile mehr belebte, jo wurden vom
16. Sahrhundert an in den meisten Städten die Frauen-
häufer gefchloffen, um — fpäter unter anderem Anftrich
abermals geöffnet zu werben. Webrigens hatte fehon der
Katholicismus ernftgemeinte Verfuhe gemacht, vie Pro-
jtitution zu befchränfen und ven leichten Fräulein einen
Ausweg aus dem Lajterleben zu eröffnen. Zu dieſem Zwecke
waren in Nürnberg, Regensburg und an vielen andern
Orten Flöfterliche Zufluchtsftätten für ſolche Frauens⸗
perjonen geftiftet worden, welche aus Xuftpirnen zu
„Reuerinnen“ werden wollten. So hieß man bieje
Büßerinnen, melde oft, aber grundloſer Weife mit ven
Beguinen (Begeinen, Beginen) verwechjelt worden find.
Was die frommen Stiftungen zu Gunften ver Renerinnen
bezwedten, fagt klar der Steuerbefreiungsbrief, welchen
Herzog Albrecht dem 1384 in ver Singerftraße zu Wien
durch mehrere fromme Rathsglieder gegründeten Klofter
verlieh. Es heißt darin, daß dieſes Haus und Stift be-
jtimmt fei für „die armen freien Frauen, die ſich aus den
offenen Frauenhäufern oder ſonſt vom fündigen Unleben
zur Buße und zu Gott wenven“135), Es hat fich vem-
135) Etumpf, des gr. gem. Konciliums zu Konftanz Be-
ſchreibung (1541), wieber abgebr. in Scheible’s Klofter VI, 333 fg.
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöſter. 279
nach jede werkthätige Milde und Barmherzigkeit, welche
neben den vielen Schattenſeiten des Mittelalters eine ſeiner
hellſten Lichtſeiten bildet, auch den Opfern der Proſtitution
gegenüber rettend erwieſen. Freilich wurde das Er⸗
barmen, welches reuige Sünderinnen fanden, nicht ſelten
der weiblichen Tugend verſagt. Ich erinnere nur an den
grauſamen Mord, welchen i. J. 1436 der Herzog Ernſt
von Baiern⸗München an der vielbeſungenen Agnes Ber⸗
nauer verüben ließ. Dieſes engelhaft ſchöne Mädchen
war die Tochter eines Baders zu Augsburg, wo Ernſts
Sohn Albrecht ſie kennen und lieben gelernt hatte. Der
Prinz ehrte die Geliebte und noch mehr ſich ſelbſt, indem
er die züchtige Jungfrau nicht zu ſeiner Kebſe erniedrigte,
ſondern in aller Form zu ſeiner Ehefrau erhob. Aber
der Kaſtenſtolz des herzoglichen Vaters anerkannte die
Ehe nicht. Agnes wurde in Abweſenheit ihres Gatten
auf des Herzogs Befehl in ver Burg zu Straubing ge-
waltfam. ergriffen, auf vie Donaubrüde gefchleppt und in
Münfter, Kojmographey, S. 800. Lehmann, Speierſche Chronik,
©. 724. Fronſperger, Kriegsbuch, I, 87; III, 65 fg. Siebentees,
Materialien zur Geſchichte Nürnbergs, IV, 578 fg. 581, 586, 591,
599. Bulpius, die Vorzeit I, 151, 258. Kuriofitäten, II, 575;
IX, 397 fg. 407. Fiſcher, Gefchichte d. d. Handels, I,6 fg. Paul
dv. Stetten, Kunſtgeſch. d. St. Augsburg, II, 85. Meifter, Geld.
d. St. Zürich, S. 102, 107, 151. Tillier, Geſch. d. Freift.
Bern, II, 565. Jäger, Schwäb. Städteweſen im Mittelalter, I,
544 fg. Kirchner, Geſch. d. St. Frankfurt, I, 232 fg. Hormayr,
Geſch. Wiens, IX, 33. Malblanc, Geſch. der peinl. Halsgerichts-
ordn. Karls V. S. 50. Zeitichr. f. d. Kulturgeſch. 1868, ©. 737.
280 Bud II. Kap. 6.
den Strom hinabgeftürzt. Die Flut wollte die ſchöne
Unglüdliche rettend ans Ufer tragen, da faflte fie einer
der Schergen mit einer Hafenftange bei ihrem langen
goldfarbenen Haar und ftieß fie in die Ziefe....
Wir haben foeben die Frauenklöfter als der Zufluchts⸗
jtätten für bereuende Magdalenen erwähnt: fie waren
aber überhaupt Aſyle für Mädchen, tenen die Erreichung
bausmütterlicher Beſtimmung durch die Umſtände ver-
fagt wurde. Wie im früheren Mittelalter, bewog auch
jegt noch religiöfe Inbrunft manche Tochter vornehmer
und geringer Familien, frühzeitig ven Schleier zunehmen;
aber viele Mädchen traten auch erſt dann ins Klofter,
wann ihnen ihr Spiegel die bedenklichen Altjungfernzüge
um Mundwinfel und Augen verratben hatte. Die mei-
jten vielleicht wurden Nonnen in Folge elterlicher Be⸗
rechnung, denn: die Klöfter waren rechte Verforgungsan-
italten für die mitgiftslofen Töchter des ärmeren Adels.
Sie waren zugleich, wie früher bemerkt worden, weibliche
Erziehungsanftalten, wenigftens viele. Die Novizen und
die Klofterfchülerinnen ftanden unter einer „Schul-
meiſterin“, von welcher fie im Singen, Lefen und Schreiben
und in ten gottesbienftlichen Uebungen unterrichtet
wurden. Das Bücherabfchreiben machte eine Haupt-
beichäftigung wie ver männlichen fo auch der weiblichen
Kloftergemeinven aus. Daneben lagen die Nonnen Hand-
arbeiten ob, vem Nähen, Weben, Bortenwirken 136),
136) „Da waren vrouwen inne, die dienten Got mit sinne:
Die alten und die jungen lasen und sungen
Bäder. Frauenbäufer. Nonnenklöfer. 281
Unter ſolchen Beichäftigungen, anbächtigen Uebungen
und harmlofen Zerfireuungen mag vielen fanftgearteten
und anfprudhslofen Nonnen in Flöfterlicder Stille und bei
der nicht zu verachtenten Klofterfoft das Leben forglos
und behaglich bingegangen jein. Aber e8 gab in ven
Frauenklöſtern hinwieder andere Naturen, bie, auch
abgefehen von den giftigen Zwiften, welche vie frommen
Schweſtern fo Häufig unter einander ausfochten, das
Klofter nicht für eine Heimat, fondern für eine Hölle an-
fahen, weil fie entweber überhaupt nur gezwungener Weife
ven Schleier genommen oder weil fie erſt nach ter Ein»
kleidung bie leidige Erfahrung gemacht, daß ihnen unter dem
Stapulier ein Herz fhlug, deffen Glut an dem Spiel mit:
der Nonnen- over Jeſus-Puppe („Seferl“) fein Genüge
fand 139), Solche arme Nönnlein mochten in der Ein-
Ze ieslicher ir tage zit, si dienten Gote ze wider strit,
So si aller beste kunden, und muosen under stunden,
So si niht solden singen, naen oder borten dringen
Oder würken an der ram; ieglichiu wold’ des haben scham,
Diu da muezik waere beliben; si entwurfen oder schriben.
Ez lert’ diu schuole meisterin
Die jungen singen und lesen, wie si mit zühten solden wesen,
Beide, sprechen unde gên, ze kore nigen unde sten“.
Geſammtabenteuer, II, 23 fg.
137) Diefe Puppen follten den Seelenbräutigam ber Nonnen
vorſtellen. Sie fpielten damit wie die Heinen Mädchen mit ihren
Toten, putten fie phantaftifch heraus, hielten Zwieſprache mitihnen
und nahmen fie mit zu Bette. Vgl. Beichten, wie fie gebeichtet
worben und vielleicht noch oft gebeichtet werben (1789) , S- 40.
Eine Ältere und beffere Autorität ift Luther, welcher, einen Freund
282
Bub II. Kap. 6.
famfeit ihrer Zellen manchesmal jenen Nonnenfeufzer
vor fih Hinfummen, welcher im 14. Jahrh. in Form eines
Liepchens ficherlich zuerjt aus einer Nonnenbruft aufge-
ftiegen ift 13%), Wäre e8 eriviefen, daß, wie jenoch ohne Grund
vor einer unpaffenden Heirat warnend, demſelben jchrieb: „Es
wird dir gehen wie den Nonnen, zu den man gefchnitte Jeſus
legte. Sie ſahen fih aber nad andern umb, die da lebeten und
jnen beffer gefielen“. Tiſchreden Dr. M. L. Frankf. 1576, Fol. 307.
138)
„Got geb im ein verdorben jar,
Der mid macht zu einer nunnen
Und mir den ſchwarzen mantel gab,
Den weißen rod barunten !
Soll id ein nunn gewerden
Dann wider meinen willen,
So will ih auch einem fnaben jung
Seinen fummer ftillen.“
Die Limburger Chronif (Wetzlar. Ausg. 1720, S. 37) bemerkt
dazu: „Sn derfelben Zeit (d. i. 1359) fung und pfiffe man
diß Lied“. In einem andern, faum weniger alten Volkslied (Ubland,
Alte Hochs und niederd. Volksl. I, 855) fingt ein Nönnlein:
„Und wenn es fomt um mitternacdht
Das glödlein das fchlecht (ſchlaͤgt) an,
So hab’ ich armes mägdlein
Noch keinen fchlaf gethan.
Gott geb dem Häffer unglüd vil,
Der mich armes mägdlein
Ins Klofter haben wil!
Und wenn ih vor die alten fom,
So jehn fie mich ſauer an,
So dent ich armes mägblein:
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöfter. 283
vermuthet wurde, jene Klara Häblerin, welche um 1470
zu Augsburg eine Abfchrift von mehr als zweihundert geift-
lichen und weltlichen Gedichten gefertigt hat, wirklich eine
Nonne gewejen, fo müßten wir annehmen, daß die Phan⸗
tafie der Klofterfchweitern vamaliger Zeit häufig mit Yil-
dern fich befchäftigt hätte, welche fehr wenig zu dem Gelübde
der Keufchheit ftimmten. Denn die Feder der Hätzlerin
bat feinen Anftand genommen, auch höchſt anjtößig-
erotifche Sachen, ja geradezu Unflätiges in ihre Samm⸗
lung mitaufzunehmen. Im übrigen haben wir vollwichtige
biftorifche Zeugnijfe, befonder® aus dem 15. Jahrhundert,
daß viele Nonnen bei unerlaubten Phantafiebildern nicht
jtehen geblieben find. In Wahrbeit, es ging in manchen
Nonnentlöjtern fehr unheilig, ja ärgerniffvoll her, wie das
nicht anders zu erwarten ift von einer Zeit, wo die Raths⸗
protofolle ver veutfchen Städte von Klagen über und Maß-
regeln gegen die freche Sitten- und Schamlofigfeit der
Geiftlichleit und der Kloftergeiftlichfeit insbefonvere voll
waren. Es iſt hier nicht der Ort, dieſes unerquidliche
Thema weiter auszuführen, und begnügen wir uns baher
zur Erhärtung des Gefagten mit Anziehung etlicher Bei-
fpiele.
Schon aus der eriten Hälfte des 13. Jahrhunderts
fünnen aus der Geſchichte der deutſchen Nonnerei Aben-
%
Hett ich einen jungen man
Und der mein fteter bule fei,
So wär ich armes mägblein
Des faften uud betens frei.“
984 Bud II. Kap. 6.
teuer angezogen werben, welche in Boccaccio’8 Dekameron
oder in Louvets Chevalier Faublas fehr an ihrem Plate
wären. So das des Gauklers Heinrih Fiker, welcher
- Sich als Mäpchen verkleidet in ein Frauenklofter aufnehmen
ließ und unter ver heiligen Schweſterſchaft viel Unheil
und Schaden anrichtete 139). Später gefchah noch Nergeres
und Xergerlicheree. Das Klofter Gnabenzell an ven
Duellen ver Lauter auf der ſchwäbiſchen Alp wäre beffer nach
dem nahegelegenen Offenhaufen benannt worden, denn es
war in der That ein „offenes Haus“ im mittelalterlichen
Sinne. Die benachbarten Evelleute feierten hier Gelage,
Tänze und Orgien, deren Folgen die armen Kloſter⸗
fhweftern zu tragen hatten. Einer der Wohlthäter und
zugleih Mitverderber dieſer Schweiternihaft, der Graf
Hanns von Lupfen, jah fich veranlafit, i. 3. 1428 einen
Brief an die Priorin zu richten, worin er diefe Würben-
trägerin ausſchalt, vaß fie „ettlich arme Junkfrawen“ nicht
bei Zeiten aus dem Klojter entfernt und durch diefe Unter-
laffung ven Nachbarn Grund gegeben habe, zu jagen, „vie -
Klofterwände würden von Kindern befchrieen“. Graf
Eberhard im Bart, nachmals der erſte Herzog von Wirtem-
berg, fette 1480 nach mehreren fehlgefchlagenen Berfuchen
eine ftrenge Reform des gänzlich verwilderten Klofters
durch. Im nämlichen schlechten Aufe wie Önadenzell ftand
das Frauenkloſter zu Kirchheim unter Ted. Hier ging
der Wüftling Eberhard der Jüngere von Wirtemberg aus
und ein, und wie er e8 da trieb, erführen wir aus dem
139) Caesarius Heisterbac., Dial. IV, 91.
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöſter. 285
kummervollen Mahnbrief, worin ſein Vater Ulrich an ihn
ſchrieb: „Vor kurzem biſt du gen Kirchheim kommen und
haſt einen Tanz angefangen in dem Kloſter zwo Stunden
nach Mitternacht. Läßſt auch deine Buben und andere
in das Kloſter ſteigen bei Nacht, mit deinem Wiſſen und
Willen. Und hat dein ſündlichs, ſchändlichs Weſen, das
du und die Deinen getrieben, dir nicht genügt, du haſt
auch deinen Bruder mit dir hinein genommen und habt
ein ſolch Tanzen darinnen gehabt und ein Schreien, das,
wenns in offnem Frauenhaus geſchehen wär', ſo wär's
doch zu viel“ 14%), Um das Kleeblatt voll zu machen, ſei
noch das Frauenklofter Söflingen bei Ulm genannt. Als
das Gefchrei über das Lotterleben daſelbſt gar zu arg
wurde und man demnach 1.93. 1484 zu einer Unterfuchung
und Reformation verjchritt, fand man, wie der Bifchof
Gaimbus von Kaftell unterm 20. Juni des genannten
Jahres an ven Bapft berichtete, in ven Zellen Xiebesbriefe
höchft umzüchtigen Inhalts, Nachichlüfjel, üppige welt-
lihe Kleiver und — die meiften Nonnen in gefegneten
Leibesumſtänden 141).
Die Lebensformen großer Epochen der Geſchichte jchlep-
pen fich auch dann noch lange fort, wann ver Geift, welcher
fie ſchuf und befeelte, ſchon abgeftorben over wenigstens im
Abfterben begriffen iſt. Sie unterliegen aber pabei ſtets
der Verzerrung, indem fie ihre innere Hohlheit durch
140) Hormayr, Taſchenb. f. waterl. Geſch. 1842, S. 86 fg.
Pfaff, Gef. von Wirtemberg, I, 147.
141) Zäger, Schwäb. Städteweſen, I, 501.
286 Buch II. Kap. 6.
Mebertreibungen nach außen vor der Welt und fich felbft
zu verbergen fuchen. Die Typen der Zeit werden dann
zu Karikaturen und fo wurde vom 14. Jahrhundert an
pie mittelalterliche Romantik zu ihrem eigenen Zerrbilpe,
welches gegen das Ende des 15. Jahrhunderts hin zu fo
ſchamloſer Aufgepunfenheit gelangt war, daß alle Ver:
ftändigen und Wohlmeinenven vor dem Popanz fich ent-
jegten und alle Wortführer der öffentlihen Meinung:
Previger, Boeten und Chronikfchreiber, in Entrüftung
gegen die allgemeine Entartung ausbrahen. Man muß
die ind Gewand moralifirenvder Lehrdichtung gehülften
Sittenfchildereien fennen, womit ein Sebaftian Brant fein
berühmtes, im 3. 1494 zu Bafel vom Stapel gelaufenes
„Narrenſchiff“ befrachtete, man muß die fatirifchen Streif-
lichter und Schlagfchatten betrachten, welche ein Thomas
Murner in feiner achtzehn Jahre fpäter erfchienenen
„Narrenbefhwörung * über feine Zeit hingeworfen hat,
um fo recht zu erfahren, was aus den mittelalterlichen
Idealen in der Wirklichkeit allmälig geworden war. Wir
haben jedoch im Vorſtehenden ausreichende Gelegenheit
gehabt, zu fehen, wie fehr die Empörung der genannten
Männer und vieler ihrer Mitftrebenden über das Thun
und Laſſen ihrer Zeitgenoffen gerechtfertigt war, und es
erübrigt nur noch, einen Streifzug auf das Gebiet der
Frauenmoden zu madyen, um aud) hier die Entartung des
Mittelalters nachzumeijen.
Der Kleiverlurus ging unter Männern und Frauen
im 15. Sahrhundert ins Maßloſe, im aveligen wie im
bürgerlichen Stand. Ein einfacher ſchwäbiſcher Ritter,
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöfter. 287
der am Hofe von Deftreich gedient hatte, brachte von dort
in feine Heimat eine Garderobe zurüd, deren überflüffige
Stüde er nah Frankfurt fandte und dort zu theuren
Preifen verkaufen ließ 42). Kine Nürnbergerin, Frau
Winter, hinterließ i. 3. 1485 vier Mäntel aus Tuch von
Arras und Mecheln, mit Seide gefüttert, ferner an Ober
kleidern ſechs Röcke, eine Schaube (Suppe) und drei fo-
genannte Trapperte ; drei Unterffeider, ſechs weiße Schürzs
hemden und ein fchwarzes, zwei weiße Bapröde, fünf
Unterhemven, zwei Halshemden, fieben Baar Aermel und
neunzehn Schleier 9). Wie weit ver Luxus mit weiblichen
Schmudjahen getrieben wurde, erhellt daraus, daß im
3. 1470 eine Breflauerin, Jungfer Margarethe Brige,
von ihrer Mutter 36 goldene Ringe erbte nebſt einer ent-
prechenvden Anzahl von Ketten, Hefteln (Brochen) und
Gürteln. Sebaftian Brant rügte e8, daß auch die Frauen
der unteren Stände in finnlofer Kleiverpracht denen der
oberen naceiferten. „Was eine Gans an der andern
142) Er (Wolf von Ehingen) bracht och ain kostlichen hab
von Oesterrych heruff, von kleinaten, gefillen und fuotern ; und
nab dem aber der zyt im land Schwaben nit sitte oder gewon
war, sich sollicher kostlichkait zuo gebrauchen schickt er sol-
liche hab ains dails gen Frankfurt liesz es da verkauffen und
löset bis in die 1500 gulden (eine Summe, welche den heutigen
Geldwerth natürlich fehr weit überftieg). Bibliothek der literar.
Bereins in Stuttgart, 2. Publikat. ©. 3.
143) Nach einem im germanifchen Mufeum zu Nürnberg be
findfichen Aktenſtück, mitgeth. v. Falle, Died. Trachten: und Mo:
denmwelt, I. 291.
jien 2° ze at
| te ermen T . -
n Kovi zum Ö 4 *
_
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöfter. 289
Weichbild umherginge 145). „Schande über die deutſche
Nation! — rief Brant aus. Was die Natur verdeckt
und verſteckt haben will, das blößt und läſſt man ſehen.“
Johann Geiler von Kaiſersberg, ſeit 1478 Prediger am
Münſter zu Straßburg, ſagte in einer ſeiner Predigten
über Brants Narrenſchiff: „Ganz eine Schande iſts, daß
die Weiber jetzt Barette tragen mit Ohren, geſtickt mit
Seide und Gold. Hinten aber an den Köpfen ein Dia—
dem, ſehen aus wie die Heiligen; vorn um den Mund
herum geht ein Tüchlein, kaum zwei Finger breit. Da
ſchauen ſie umher, als ob ihnen ihr Geſicht in einem
Hafenring hinge. Dazu tragen ſie gelbe Schleier, die ſie
jede Woche wieder färben müſſen; darum iſt der Saffran
ſo theuer! Man macht aber keinen gelben Pfeffer an
friſches Fleiſch, ſondern an übriggebliebene Stückchen.
So ſehen denn die Weiber, die nicht ſchön ſind, aus wie ein
Stück geräuchertes TFleifeh in,einer gelben Brühe Nun
fhaue man ihre Leibzier, die ift voll Narrheit oberhalb
und unterhalb des Gürteld. Boll von Falten find die
Hemden und bie Oberfleiver jo weit auegefchnitten, daß
man die Ballen fieht 19%. Sie ziehen weite Aermel an
145) Ratheprotofoll der Stadt St. Gallen vom Zinstag vor
Corpus Christi 1503.
146) Dieje fhamlofe Mode wird durch Bilder, Lieder und
„Kleiberorbnungen“ aus dem 15. und ſchon aus dem Ende tes
14. Jahrhunderts beftätigt. In dem Gedichte „Der Kittel” heißt
e8 derb, die Hauptlöcher der Frauenröcke feien jo weit, daß die naften
Schultern weit bervorftünden und man die Armböhlen fähe; bie
Brüfte würden fo hinauf- und berausgeprefit, daß man „einen
Scherr, Srauenwelt. 4. Aufl. I. 19
288 Bud II. Kap. 6.
fieht — drückte er fich ungalant aus — Das muß aud) fie
haben; es thut ſonſt weh.“ Er ſchilt ferner: „ Sie ſchmieren
ſich mit Affenſchmalz, ſie büffen das Haar mit Schwefel
und Harz und ſteifen es in feſte Formen durch einge-
ſchlagenes Eiweiß; fie ſtecken den Kopf zum Fenſter hin-
aus, um das Haar an der Sonne zu bleichen.“ Noch
ſchlimmer war, daß um dieſe Zeit auch die Sitte einriß,
ſich mit fremden Haaren zu fehmüden 149), was um jo
überflüffiger erfcheint, als nicht nur pie verheirateten
fondern auch die ledigen Damen tem Braude, das Haar
in freien Locken und Flechten zu tragen, entjagt hatten,
um ihre fchönfte Zierde unter Hauben zu bergen, veren
Unform oft ganz ins Abenteuerliche ging.
Aber nicht allein Unſchönes und Burodes, ſondern
auch Zuchtlofes verlangte die Mode. Es tft faft un-
glaublih, bis zu welchem Grave Männer und Frauen in
ihrem Auftreten aller Scham und Sitte Hohn jprachen.
Mußte doch noch im Sahre 1503 ver Rath von St. allen
verbieten, daß man völlig nadt in der Stadt und ihrem
144) Die Frauen nehmen tobtes Haar und binden e8 ein und
tragen e8 mit ihnen zu Bett. Das guldin Spil (1472), Fol. 39.
Der Gebrauh falihen Haares war Übrigens auch außerhalb
Deutihlands Mode. Ein deutfcher Reiſender, welcher i. J. 1491
Benedig befuchte, ſchrieb: „Der Kopfput der Frauenzimmer beftebt
bloß in der Schönheit fremder Haare, die fie ihren natürlichen vor⸗
ziehen. Sie ſchmücken und zieren folche gemeiniglich gelb und kraus
und binden fie auf dem Kopf zufammen, wie man in beutjchen
Ländern einem Pferde den Schwanz aufbindet.” Zeitſchr. f. d.
Kulturgeſch. 1858, ©. 61.
Bäder. Frauenhäuſer. Nonnenklöſter. 289
Weichbild umberginge 7%). „Schande über die deutſche
Nation! — rief Brant aus. Was die Natur vwerbedt
und verftedt haben will, pas blößt und läſſt man fehen. *
Johann Geiler von Kaiſersberg, fett 1478 Prediger am
Münſter zu Straßburg, fagte in einer feiner Predigten
über Brants Narrenſchiff: „Ganz eine Schande ifts, daß
vie Weiber jeßt Barette tragen mit Obren, geſtickt mit
Seide und Gold. Hinten aber an ven Köpfen ein Dia-
dem, jehen aus wie die Heiligen; vorm um ven Mund
herum gebt ein Züchlein, faum zwei Finger breit. Da
ihauen fie umher, als ob ihnen ihr Geficht in einem
Hafenring hinge. Dazu tragen fie gelbe Schleier, die fie
jede Woche wieder färben müjjen; darum ift der Saffren
jo theuer! Man macht aber feinen gelben Pfeffer an
frifches Fleiſch, ſondern an übriggebliebene Stückchen.
So fehen denn die Weiber, die nicht ſchön find, aus wie ein
Stück geräuchertes Fleifh in,einer gelben Brühe. Nun
ſchaue man ihre Leibzier, die ift voll Narrheit oberhalb
und unterhalb des Gürtels. Voll von Falten find vie
Hemden und die Oberfleiver fo weit ausgeſchnitten, daß
man die Ballen fieht 4%). Sie ziehen weite Nermel an
— —
145)' Rathsprotokoll der Stadt St. Gallen vom Zinstag vor
Corpus Christi 1503.
146) Dieje ſchamloſe Mode wird durd Bilder, Kieder und
„Kleiderordnungen“ aus dem 15. und ſchon aus dem Ende tes
14. Jahrhunderts beftätigt. Im dem Gedichte „Der Kittel” heißt
e8 derb, die Hauptlöcher der Frauenröde feien jo weit, daß die nadten
Schultern meit hervorftünden und man die Armböhlen fähe; die
Brüfte würden fo hinauf» und herausgepreſſt, daß man „einen
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. I. 19
290 | Bud) IT. Kap. 6.
wie die ver Mönchskutten und jo kurze Röde, daß fie weder
vorn noch hinten etwas beveden. An den Gürteln aber,
bie der Goldſchmied fein und herrlich machen muß, tragen
die Frauen Flingende Schellen. Dann tragen fie auch
lange Schwänze, die auf dem Boren nachjchleifen, und
jpigige Schuhe” 147). |
Ohne Zweifel hat Geiler unter ten fpigigen Schuhen
die gefchnäbelten verſtanden und fo jehen wir denn auch
die Frauen an den närrifchen Männermoden ver Schellen-
tracht und der Schnabelfchuhe mitbetheiligt. Im früheren
Mittelalter waren Schellen ein ritterlicher Pferdeſchmuck
gewejen. An der Stelle des Nibelungsliedes, wo Gunther
mit feinen Gefährten in land zur Burg Brunhilos
reitet, werden goldene Schellen erwähnt, welche an ven
chtftod” darauf fegen könnte. Im einer ftraßburger Kleider-
ordnung, welche ſich mit der „ſchandbaren“ Tracht diefer Zeit be-
Ihäftigt, wird den Frauen verboten, fih übermäßig zufammenzu-
preffen, weder mit Hemden, Röcken oder Schnürleiben noch „mit
einem andern Gefängniß“. Sie jollten fi auch weder färben
noch ſchminken noch „Loden von todten Haaren anhängen“.
Sie Sollten feinen Rod tragen, ter über 30 Gulden zu ftehen
fame. „Item daz keine frowe, were die ist, hinnanfür me sich
nit me schürtzen sol mit iren brüsten, weder mit hemeden noch
gebrisen röcken noch mit keinre ander gevengnüsse, und daz
ouch kein frowe sich nit me verwe oder locke von totten
har anhencken sülle. Und sunderliche, daz houptloch sol sin
daz man ir die brüste nit gesehen müge, wenne die houptlöcher
süllent sin untz an die ahsseln.“ Zeitſchr. f. d. Kulturgeſch.
1856, ©. 367.
147) Geiler von Kaifersberg, Predigten, 1574, Fol. 25.
Bäder. Frauenhäuferr. Nonnenttöfter. 291
Bruftriemen der Roſſe hängen. Später ging diefer klin—⸗
gelnde Schmud vom Sattelgeug auf die Kleidung ber
Ritter ſelbſt über und es fcheint faſt, dieſe Narrethei fei
eine einbeimifche Mode gewefen, welche im 14. und mehr
noch im 15. Jahrhundert beveutenven Lärm machte 148),
Zuerft jheint die Verzierung des Anzugs mit Glöcklein
und Schellen ein Vorrecht der höfifchen Kreife gewefen zu
fein, fpäter ging die Freude an dieſer kindiſchen Klingelei
auch auf die bürgerlichen über. Die göttinger Chronik
„Dat olvde Boot“ erzählt, daß 1370 und 1376 in Göt⸗
tingen große Feitlichkeiten ftattfanden, wobei Ritter und
Frauen in langen Röden und mit goldenen und filbernen
Schellengürteln erſchienen, die „gingen alle ſchurr ſchurr,
fing Ming”. Beim Cinzuge des Herzogs Friedrich von
Sachſen in Ronftanz i. 3. 1417 Hatten feine Ritter und
Rnappen glodenbejegte Gürtel an. Auf folches Geſchelle
der Bornehmen iſt das Sprichwort zurüdzuführen: „Wo
die Herren find, da klingeln die Schellen.” Daß auch die
Srauen gern fo einherfchellten, beweifen die ftädtifchen
Kleiverorbnungen des 14. und 15 Jahrhunderts. Die
148) Falfe (a. a. O. I, 237) zieht aus einer alten ſchwediſchen
Reimchronik vom Jahr 1360 die Berfe an:
„Käm' einer auch noch fo arm aus deutichem Land,
So bat er doch ein Schwert in feiner Hand;
Er kann tanzen, hüpfen, ſpringen
Und müffen feine vergolteten Glöcklein klingen“ —
welche andeuten, daß man im Auslande die Sch:llentracht für eine
teutiche Mode gehalten habe.
19*
292 Bud II. Kap. 6.
—
nürnberger vom Jahr 1343 beſtimmte: „Kein Mann
noch Frau ſoll keinerlei Glocken over Schellen, noch kei—
nerlei von Silber gemacht hangend Ding an einer Kette
noch an Gürteln tragen” — und die ulmer v. J. 1411:
„Damit die Frauen und Iungfrauen durch ein ziemlich
ehrbares Gewand gewinnen mögen, fo follen fie einen
filbernen oder vergolveten Gürtel tragen, doch ohne
Gloden und Schellen —“ alſo feinen „Dufing”, wie
man die Schellengürtel nannte. ine ulmer Kleider:
oronung vom Ende des 14. Jahrhunderts eiferte auch
ſchon heftig gegen die tolle Mode ver Schnabeljchuhe,
welche ebenfofehr die Füße verunftaltete als fie dem Gehen
binvderlid war. Frankreich hatte diefe Narrethet zuerit
im großen Stile getrieben; dort trugen ſchon um 1280 .
Ritter und Damen Schnäbel an ven Schuhen von zwei
Fuß Länge. Waren diejfe Schnäbel ftraff, fo trugen fie
auf ihren Spigen Feine Gloden; waren jie fehlaff, fo
wurden bie Spigen unterhalb des Knies an das Bein ge-
häfelt. Die Luxusgeſetze ver deutſchen Obrigfeiten fuchten
dieſen, wie noch fo manchen andern modischen Unfinn ab-
zuftellen; aber ihre häufige Erneuerung zeigt deutlich
genug, wie wenig fie ausrichteten. Die Narrheiten wollen
fih ausleben und es ift ihnen zu allen Zeiten mit Ver—
boten mehr nur ſcheinbar als wirklich beizufommen. Als
i. 3. 1461 der ftrenge Sittenprediger Bruder Johann
de Gapiftrano in Ulm gegen die unfinnigen und unzüch-
tigen Frauenmoben von damals predigte, hatte er zwar
pie Öffentlihe Meinung fo für fih, daß, wie eine alte
Chronik wiljen will, drei Frauen, welche feiner Previgt
Dürer. Frauenhäufer. Nonnentlöfter. 293
ipotteten, vom Volk auf der Straße zerriffen wurden;
allein der Rath fand doch für gut, ven ftrengen Eiferer
aus der Stadt zu jagen 19. “Die Mode war eben fchon
damals, wie jie es ja noch heuteijt, mächtiger als Vernunft,
Sitte und Geſetz.
149) Bgl. Jäger a. a. O. 1, 509.
Siebentes Kapitel.
.
Die Frauen im Dichtermund 150).
Dichter und Frauen. — Der Minnegejang. — Walthers von der
Bogelmweide Lob der deutichen Frauen. — Der Winjbede. — Das
Frauenideal Wolframs und Gottfrieds. — Was Minne fei. — Er—
wacende, ſehnende und beglüdte Liebe. — Heinrich Frauenlob. —
Die mittelalterlihen Humoriften und die Frauen. — Reinmar von
Zweter. — Der Marner. — Eine Klage und Anklage von Sebaftian
Brant. — Albrecht von Eyb iiber die Ehe.
Mie Poefie verflärt und beftraft. Sie verffärt, in-
dem fie die Geftalt und die Züge ihrer Zeit, im Feuer
des Ideals geläutert, der Nachwelt überliefert, fie be-
ftraft, indem fie ver Wirklichfeit das Ideal als einen
150) Die Stellen, welde in dieſem Kapitel aus unferen mittel-
alterlihen Lyrifern und Epilern angezogen werden, find nachftehen-
den Neuhochdeutſchungen entnommen. Die Gedichte Walthers von
der Vogelweide, Über. von 8. Simrod (1833). Die Gedichte W.
v. d. V. vollftdg. über. von F. Koch (1848). Parzival und
ZTiturel von Wolfram v. Eſchenbach, überſ. v. K. Simrod (1842).
Triſtan und Iſolde von Gottfried von Straßburg, übertr. von
Die Frauen im Dichtermund. 295
Meduſenſchild entgegenhält. Die nüchterne Prüfung wird
der Dichtung unſchwer nach beiden Seiten hin Ueber—
treibungen nachweifen fünnen, aber im ganzen und
großen wird fie doch ihre Wahrhaftigkeit anerkennen
müſſen. Diefe Wahrhaftigfeit der Poefie — von ter
bloß mechanischen Dichterei fprechen wir natürlich nicht
— liegt in ihrem Wefen. Sie muß wahrhaftig fein, jie
fann garnicht andere ; denn fie geht von dem ewigen Sitten-
gejet, von ven unwandelbaren Urbilvdern des Wahren und
Schönen aus, von denen gefchrieben ift: „Nur die Götter
bleiben ftät“.
In Anwendung von diefem Sat auf unfern Gegen-
ftand ergibt jich, daß wir Die Licht- und Schattenbifper, welche
unfere mittelalterlichen Dichter von dem deutſchen Frauen⸗
leben ihrer Zeit entworfen haben, für treue halten müffen.
Dichter und Frauen haben von jeher gut zufammenge-
stimmt. Nur dichterifche Hellficht vermag die zarte Be-
faitung einer Frauenfeele ganz zu erfennen, nur ein
Dichterohr vermag die Harmonie over Disbarmonie diejes
wunderbaren Injtrumentes recht zu hören und recht zu
verſtehen. Das willen ja auch die Frauen, fie, die ftatt
objektiv zu denken, zumeiſt nur fubjeftiv fühlen, und aus
angeborener Sympathie bringen fie vem Dichter das feinfte
Verſtändniß entgegen. Göthe's Grethen und Schillers
9. Kurtz (2. X. 1847). Lieder und Sprüde der Minnejänger von
Fr. Rüdert (Gefammelte Gedichte, 1837, Bd. 4, ©. 345 fg.),
Einiges habe ich felhft aus dem Mittelhochdeutichen ins Neuboc-
deutiche umgeſetzt.
296 Buch II. Kar. 7.
Thekla find hunbertfah erklärt worden, aber die
Frauen bedürfen diefer Kommentare gar nicht: jede könnte
und würde unter Umſtänden jelbit jo ein Gretchen, ſelbſt
jo eine Thefla fein. Die Frauen leben vie Boefie;
wir Männer begnügen uns, fie zu bewundern. Wir
laſſen ung von dem Dichter läutern, erheben, begeiftern ;
aber die Frauen Lieben ihn: denn die ganze Mufif ver
Poefie nur in Frauenfeelen Elingt fie wider.
Unfere mittelalterlichen Dichter haben das wohl gefühlt
und haben fich vejjhalb auch vorzugsweife an die Frauen
gewandt. Frauenleben iſt Xiebeleben und daher tft die
Minne der ſtets wiederfehrende Grundton der ritterlich-
romantiſchen Dichtung, welde ihr Yiebesideal nach Mög-
lichkeit jelbjt in die uralt-nationale Helvenfage hinein-
trug, wie vie Nibelungen und die Gudrun in ihrer auf
uns gefommenen Geftalt beweifen. Von ven beiden
größten Schöpfungen ver höfiſchen Kunftepif gefellt vie
eine, Wolframs Parzival, dem Thema der Frauenminne
das der Gottesminne, d. h. den Verſuch, die Frage nad
des Menfchenlebens Sinn und Ziel zu löjen, während vie
andere, Gottfrieds Triftan, ein Hoheslied der Liebe und
Leidenschaft ift. Der Gegenftand ber eigentlichen Minne-
ſänger, der mittelhochreutfchen Lyriker, war bie Minne
und wieder die Minne. Ihr Singen war recht eigent-
(ih ein frauliches. Solche männlichftoßgen Töne, wie
die provensaliichen Troubadours fie Tiebten, fuht man
bei ihnen vergebens. Der Kreis ihrer Anfchauungen ift
ein engbegränzter, auf Naturfreude und Frauenliebe be=
Ihränfter, und darum fonnte eine gewiſſe Eintönigfeit in
Die Frauen im Dichtermunb. | 297
ihren Liedern nicht ausbleiben. In dieſer Hinficht ift
Schillers Urtheil, obzwar zu allgemein gehalten und
zu berb ausgedrückt, nicht unbegründet 159). Ein Minne-
fänger und zwar der beveutenpfte, Walther von der Vogel-
weide, macht jedoch eine Ausnahme, indem fich in feinen
Gedichten zu der Minnelyrif die Aeußerungen eines
haraktervollen und patriotifchen Denkers gefellen. Aber
feine innigften Herzenslaute hat doch auch Walther pa ge>
funvden, wo er von Frauen und Liebe revet. Wie hoch
und Schön hat er fie gepriefen: —
„Durchſüßet und geblümet find die reinen Frauen !
Sp wonnigliches gab es niemals anzufchauen
In Rüften, noch auf Erden noch in allen grünen Auen.
Lilien oder Rofen, wenn fie bliden
Im Maien durch bethautes Gras, und Heiner Vögel Sang
"Sind gegen ſolche Wonnen farblos, ohne Klang.
151) „Wenn die Sperlinge auf dem Dade je auf den Einfall
fommen follten, zu fchreiben oder einen Almanach für Liebe und
Freundichaft herauszugeben, jo läſſt fih zehn gegen eins wetten, er
würde ungefähr ebenjo beichaffen fein (nämlich wie die von Tieck
veröffentlichten mittelalterlicden Minneliever). Welch eine Armuth
von Ideen, die biefen Minneliedern zu Grunde liegt! Ein Garten,
ein Baum, eine Hede, ein Wald und ein Tiebchen, das find unge-
fähr die Gegenftände alle, die in dem Kopfe eines Sperlings Plat
haben. Und die Blumen, die duften, und bie Früchte, die veifen,
und ein Zweig, worauf ein Vogel im Sonnenſchein fitt und fingt,
und ber Frühling, der fommt, und der Winter, der gebt, und nichts
was dableibt als — die Langeweile”. Falls Elyfium und Tar—
tarus (1806), S. 3. Falf behauptete, dieangeführte Aeußerung wört-
ih aus Schillers Munde zu haben. Weimarifches Jahrb. II, 225.
*
298 “ Buch II. Kap. 7.
Wenn man ein jchönes Weib erihaut, das kann ven
Sinn erquiden !
Und wer an Kummer litt, wird augenblicks geſund,
Wenn lieblic lacht in Lieb’ ihr ſüßer rother Mund,
Ihr glänzend Auge Pfeile jchießt tief in des Mannes
Herzensgrund 152)“,
Gott, fährt er fort, hat die Frauen fo gehöhet und ge-
hehret, daß aller Ervenfreuden Hort in ihnen liegt; denn,
ſagt er in einem britten Liede: —
„Was hat die Welt zu geben
Wohl beif’res als ein Weib,
Das eines Herzens Sehnfucht eher könnte
Ä jtillen ?
Was bringt mehr Luſt im Leben
ALS ihr vielfüßer Leib ?“
Aber Treue forvert er von den Frauen, die ſei ihre fchönfte
Krone, und mit der Treue verbinde fich züchtiger Froh—
152) Der in den fetten Zeilen ausgefprochene Gedanke kehrt
in einem Liede des „tugendhaften Schreibers“ wieder: —
„D, ihr wohlgemutben Frauen,
Laſſet uns ein Grüßen ſchauen,
Lachet guten Freunden fo,
Daß fie mit euch lachen müſſen.
Euer ladendliches Grüßen
Machet Franke Herzen froh.
Wie die Aue ladet,
Wann der Mai ermachet,
Alfo mag ein jel'ger Mann
Lachen, den ihr ladhet an“.
Die Frauen im Dichtermund. 299
ſinn: dann ſtehe bei der Lilie die Roſe. Ganz richtig bes
merft er auch, daß die Frauen e8 feien, welche in ver Ge-
Telffehaft ven Ton angeben, und daß daher an ven Un-
fitten der Männer die Frauen ganz oder größtentheils
ſchuld. Er läſſt da umd dort durchblicken, daß das Ge-
baren ver Frauen feiner Zeit keineswegs durchweg fo ge-
wejen, wie es hätte fein follen; aber dagegen bricht er
wieder mit ftarfer Bruititimme in das berühmte Lob ver
deutſchen Weiblichkeit aus: —
„Lande hab’ ich viel gejehn,
Nach ven Beſten blickt’ ich allerwärts ;
Uebel möge mir gejhehn,
Wemn ſich je bereven ließ mein Herz,
Das ihm wohlgefalle
Fremder Lande Brauch.
Wenn ich lügen wollte, lohnte mir es auch?
Deutſche Zucht geht über alle!
Von der Elbe bis zum Rhein
Und zurück bis an der Ungarn Land
Da mögen wohl die Beſten ſein,
Die ich irgend auf der Erde fand.
Weiß ich recht zu ſchauen
Schönheit, Huld und Zier,
Hilf mir Gott, ſo ſchwör' ich, ſie ſind beſſer hier
Als der andern Länder Frauen.
Züchtig iſt der deutſche Mann,
Deutſche Frau'n ſind engelſchön und rein;
300 Buch II. Kap. 7.
Thöricht, wer fie ſchelten kann,
Anders wahrlih mag e8 nimmer fein:
Zucht und reine Minne,
Wer die fucht und liebt,
Komm’ in unfer Yand, wo e8 noch beide gibt —
Lebt’ ich lange nur darinne!“
Diefe patriotifhe Huldigung ſteht auch nicht allein.
Die „Höfiſchkeit“ hatte die deutſche Frauentugend, wie
wir gejehen, vielfach bemafelt und in Folge deſſen auch
die Reinheit der Anficht vom Weibe bevenflich getrübt.
Aber wo immer gute Sitte fich behauptete, war auch vie
altgermanifche Frauenverehrung noch daheim, mie wir fie
in des Tacitus Germania vorgefunden. So läſſt ver
unter dem Namen des Winfbeden befannte mittelhoch-
deutſche Yehrpdichter ven Vater zum Sohne jagen: —
„Sohn, wilft du zieren deinen Yeib,
So daß er fei dem Unfug gram,
Sp lieb’ und ehre gute Weib’ !
Alle Sorgen ſcheuchen fie tugendſam.
Sie find der wonniglihe Stamm,
Bon dem wir alle find geboren.
Der hat niht Zucht noch rechte Scham,
Der ſolches nicht an ihnen preift;
Er ift zu rechnen zu den Thoren,
Und hätt’ er Salomonis Geift”.
Schamhaftigfeit, Treue und Maß forderten unfere
alten Dichter von ihrem Frauenideal. Dieſe Dreiheit
jollte ein Weib befiten, wollte jie ein gutes heißen.
Die Frauen im Dichtermund. 301
Wolfram hat das im Parzival mit befonderem Nachdruck
ausgeſprochen: —
„Ich ſtecke diefes Ziel ven Frauen:
Die meinem Rathe will vertrauen,
Die wiffe wohl, wohin fie fehre
Ihren Preis und ihre Ehre
Und welchem Manne ſie bereit
Mit ihrer Lieb' und Würdigkeit,
Auf daß ſie nimmermehr gereue
Ihrer Keuſchheit, ihrer Treue.
Von Gott erfleh' ich gutem Weibe,
Daß ſie dem Maß getreu verbleibe.
Scham iſt ein Schloß vor aller Sitte:
Dies Heil iſt's, das ich ihr erbitte.
Die Falſche lohnt nur falſcher Preis.
Wie lange währt ein dünnes Eis,
Wenn des Auguſtmonds Sonne ſchien?
So fährt auch bald ihr Lob dahin.“
An einer andern Stelle ſagt er: „Weibheit, dein Brauch
iſt Treue!“ — ſieht ſich aber veranlaſſt, dabei zu bemer-
ken, es betrübe ihm die Seele, daß ſo manche Weib heiße,
bie es nicht verdiene; denn viele ſeien zur Falſchheit ge-
neigt und bereit. Auch als keuſch kannte Wolfram nicht
alle Frauen und ihre Begehrlichkeit und Heuchelei ent—
lockte ihm das ſtrafende Wort: —
„Daß ſie doch an Lüſternheit
Zucht und Sitte ſo verlieren
Und ſich gleichwohl gerne zieren!
302 Buch II. Kap. 7.
Sie zeigen Gäſten Feufche Sitte,
Doch wohnt in ihres Herzens Mitte
Das Widerſpiel der Gebärve.
Dem Freunde heimliche Bejchwerbe
Schaffet ihre Zärtlichkeit.“
Es ift fehr beachtenswerth, daß auch Wolframs großer
Widerpart Gottfried, der welt und lebensfreurige Mei-
jter, da, wo er fein Frauenideal aufitellt, vor allem das
Maß („die maze*) betont. Im Luft und Neid, wie
immer das 2008 der Frauen falle, mit aller Anftrengung
follen fie nach diefer Tugend ftreben und follen —
„Ans goldne Maß ihr Leben
Befehlen und ergeben,
Die Sinne damit regieren
Und Leib und Sitte zieren;
Denn Maß, das goldne, hehre,
Das hehret Leib und Ehre.
Bon allen Dingen auf diefer Welt
Die je ver Sonne Ticht erhellt,
Iſt keins jo jelig wie das Weib,
Das ftets ihr Leben und ihren Leib
Und ihre Sitten dem Maß ergibt.”
Maß ift aber im Sinne diefer Dichter nicht nur die
Mäpigung, das Maßhalten: es ift die harmoniſche Ent-
faltung edler Weiblichkeit, das Ebenmaß der Phyſis und
ber Pſyche, die Harmonie in ſich jelbit, wie die Harmonie
mit ver Welt. Cine Frau diefer Art foll die Welt preifen
und ehren, denn wohin fie tritt, verbreitet fie Frieden
Die Frauen im Dichtermund.
303
und freude, und felig ver Mann, dent ihre Liebe zutheil
wird: —
„Zu wen fie fi) mag neigen,
Wem fie gar wird zu eigen
Mit Leib und Herz und Sinne,
Mit Liebe und mit Minne,
Der ward zum Heil geboren,
Ja, der ift auserforen
Zu lebendem Heil je mehr und mehr!
Das Iebende Paradies hat der
In feinem Herzen begraben ;
Der darf feine Sorge haben,
Daß ihn der Hagbuſch fange,
So er nad) Blumen lange,
Daß ihn ver Dorn je jteche,
So er die Rojen hreche.
. Da ift fein Hagbufch und fein Dorn,
Da ift dem Kind der Dijtel, Zorn,
Kein Leben zubeſchieden;
Da hat der rofige Frieden
Alles, was Herbe und Zorn bedeutet,
Dorn, Diftel, Hagbuſch ansgereutet.
In diefem Paradieſe
Iſt nichts, was giftig ſprieße;
Da grünt noch wächlt fein ander Kraut
Als was das Auge gerne Tchaut.
Es fteht gar in der Blüthe
Weiblicher Huld und Güte,
304 Bud II. Kap. 7.
Da tft fein Obft darinne
Als Treue nur und Minne.“
Man muß geftehen, rein, ſchön und hoch haben un-
fere alten Dichter die, weibliche Vollkommenheit hingeftellt.
Und die Sonne der romantischen Weltanfchauung, die
Liebe, wie lauter leuchtet fie im Minnegefang, wo diefer
jeinen höchften Flug nimmt! Walther hat gefungen: —
„Die Minn’ ift weder Mann noch Weib,
Sie hat nit Seele, hat nicht Leib,
Irdiſch Bildniß warb ihr nicht bejchieven ;
Ihr Nam’ ift fund, fie jelber fremd hienieden,
Und es kann doch niemand ohne fie
Des Himmels Gnad' und Gunft gewinnen —
Bertraue denen, die da minnen! —
In falihe Herzen kam fie nie.“
Hier erſcheint die,Liebe ald das gättliche Feuer, welches
das Irdiſche verflärt und verzehrt, ganz ähnlich wie bei
unferm herrlichen Friedrich Rückert, welcher gejagt hat:
„Da, wo die Lieb’ erwachet, ftirbt das Ich, ver finftere
Defpot." Die Allgewalt echter Liebe, die von Zweifel
und Unftäte nichts weiß, Fennzeichnete Wolfram in einer
Strophe, die wie triumphirendes Glocdengeläute tönt: —
„Der Minne Macht bewältigt die Nähe wie die Weite;
Minne hat auf Erben Haus, in den Himmel gibt fie
gut Geleite.
Minn’ iſt allwärts, außer in der Hölle.
Der ftarfen Minne lahmt die Kraft, wird Wanfelmuth
| und Zweifel ihr Gefelle. *
In der „Eneit“ des Heinrich von Veldeck fragt Lavinia
Die Frauen im Dichtermund. 805
ihre Mutter: „Um Gott, was ift Minne?“ und vie Ge-
fragte antwortet: „Sie hatte vom Anbeginn Gewalt über
das Weltall und wird, obſchon man fie weder hört noch
fieht, bis zum jüngften Tag fo gewaltig fein, daß niemand
ihr zu widerftehen vermag.“ Wunderbar zart und
wahr hat Wolfrem in den Fragmenten feines Titurel
das erfte Erwachen ber Liebe in jungen Herzen gejchilvert.
„Herrin, ich ſuche Gnade bei dir“, fagt ver junge Schio-
natulander zu feiner Gefpielin Sigune. „Ich weiß wohl,
daß Land und Leute dir gehorchen, ihrer Gebieterin. Doch
das alles begehr’ ich nicht ; aber laſſ' dein Herz durch deine
Augen auf mich fehauen, damit deiner Minne Flut mir
die Seele nicht ertränke.“ — „Süßer Freund, was ift
Minne? It fie ein Er? Iſt fie eine Sie? Fliegt fie uns
auf die Hand? Iſt fie zahm oder wild?" — „Herrin,
von Frauen und Männern hört! ih, Minne wilfe auf
Yung und Alt den Bogen fo meijterlich zu fpannen, daß
fie mit Gedanken tödtlich treffe. Ich Tannte bisher Minne
nur aus Mären, nun aber erfahr’ ich fie an mir felber. *
— „Scionatulander, auch mich zwingen Gedanken.
Kommſt du mir aus den Augen, fo bin ich traurig, bis
ih dich wieder erblide.” — „Dann braudit du, ſüße
Magd, mich nicht nah Minne zu fragen, denn an dir
felber erfährit vu ihre Wonne und ihr Web.“ So lange
die Erde fih um die Sonne ſchwingt, ward Herzigeres
nicht gevichtet als die Stelle, wo Sigune, nachdem Schio-
natulander in den Krieg gezogen, ihre Sehnſucht nach
dem fernen Geliebten gegen ihre mütterliche Pflegerin,
die Königin Herzeleive, ergießt: —
Scherr, rauenwelt. 4. Aufl. I. 20
306 Buch II. Kap. T.
„Nach dem lieben Freunde ift all mein Schauen
Aus den Tenftern auf die Straße, über Haid’ und nad
den lichten Auen
Vergebens, ich erſpäh' ihn allzu felten.
Drum müfjen meine Augen des Freundes Minne weinend
theu'r entgelten.
Sp geh’ ih von dem Fenfter hinauf an die Zinnen
Und ſchaue oftwärts, weitwärts, ob ich fein nicht Runde
mag gewinnen,
Der mein Herz ſchon lange hat bezwungen;
Man mag mich zu den alten Liebenden zählen, nicht zu
den jungen.
Wenn ih dann auf wilder Flut im Nachen gleite,
So fpähen meine Blide wohl über dreißig Meilen in’ die
Weite,
Ob ich ſolche Kunde möge finden,
Die des Leids um meinen jungen Haren Freund mid
könnt' entbinven.
Wo blieb meine Freude? Warum ift geſchieden
Aus meinem Herzen hoher Muth? Ach und Weh vertrieb
’ unfern Frieden.
Ich wollt’ e8 gern allein für ihn leiden,
Dody weiß ih, daß auch ihn zu mir Verlangen zieht,
muß er gleich mich meiden.
Weh' mir! wie fönnt’ er fommen? Zu fern ift mein
Getreuer !
Die Frauen im Dichtermund. 307
Um ten id bald erfalte, balt lod're wie im kniſternden
Teuer.
So ergläht mich Schionatulander,
Ceine Minne gibt mir Hie wie Agremontin dem Wurm
Salamanber. *
Mit derſelben Innigfeit, womit die mittelhochveutfchen
Dichter das Weh der Sehnſucht ſchildern, malen fie aud)
die Wonne der Erfüllung. Wie fchwelgt Walther in
einem feiner fchönften Lieber in der Erinnerung an bie
Scüferftunde, die er „unter der linden, an der heide“
mit der Geliebten gefeiert! Aber zugleich ift doch ein
Schleier keuſcher Grazie über die Situation gebreitet. Auch
Wolfram hat da, wo er von echter Liebe redet, das ge=
ichlechtlihe Verhältniß mit züchtigem Zartjinn, wenn
auch nicht prüde behandelt. So fagt er von der Hochzeit
Parzivals mit Konpwiramur: —
„Sie waren bei einander jo
In unſchuldiger Liebe froh,
Zwei Tage bis zur britten Nacht.
An's Umfangen hatt’ er oft gedacht,
Zumal e8 feine Mutter rieth;
Gurnemans ihn auch beſchied,
Daß Mann und Frau untrennbar ſein:
Sie verflochten Arm und Bein.
Wenn ich euch berichten ſoll,
Ihm gefiel die Nähe wohl:
Den alten, immer neuen Brauch
Uebten da die beiden auch.“
Ein Idyll von unvergleichlicher Anmuth hat Gottfried
20*
308 Buch II. Kap. 7.
von Straßburg gedichtet, wo er, nachdem er die DVer-
weifung Triſtans und Iſolde's von Marke's Hof erzählt
hat, das ftillbegnügte Mitfammenfein der Liebenden in
der Wildniß ſchildert. Wie gerne verzeihbt man dem
fchuldigen Paare, wenn man dieſes vom friſcheſten Zauber
ter Unſchuld angehauchte Gemälde betrachtet. Es ift wie
ein Traum aus Eden: —
„Das Baar, das treue, hole,
Triſtan und feine Iſolde,
Sie hatten in der Wilde
Zu Wald und zu Gefilve |
Ihre Muße und Unmüßigkeit
Gar füß beftellet und bereit:
Sie waren zu allen Zeiten
Einander an der Seiten.
Des Morgens in dem Thaue
Sp ſchwebten fie zur Aue, _
Da Blumen und Gras zuhanden
Vom Thau erfühlet ftanden.
Die fühle Prairie im Morgenſchein
Die mußte dann ihr Vergnügen fein.
Da wanbelten fie her und bin,
Sprachen zujammen mit holdem Sinn
Und laufchten untern Gange
Dem füßen Vogelfange.
Und alsdann nahmen fie einen Schwang
Hin, da der fühle Brunne Hang,
Und laufchten feinem lange,
Seinem Gleiten und feinem Gange
Die Frauen im Dichtermund. 309
Zur Ebene mit ftillen Fluten ;
Da faßen fie und rubten
Und laufcheten dem Gießen
Und ſchauten auf das Fließen
Und war das ihre Wonne ....“
Mit welchen einfachen Mitteln ift hier die Weltvergeflen-
heit beglüdter Liebe zur Anſchauung gebradt! Aber
Gottfrieds Werth beruht nicht allein auf folhen Scils
bereien von vollendeter Kieblichkeit, fondern auch und in
noh höherem Grade auf feiner Kenntniß des menſch⸗
lichen Herzens und des weiblichen insbeſondere. An Um⸗
fang und Schärfe der Frauenpfuchologie hat ihn nur noch
ein deutſcher Dichter erreicht, Göthe, aber kaum über:
troffen. Man verfolge nur die Zeichnung ver beiden
Trauengeftalten,, in deren einer, Iſolde's, Gottfried die
Naturgewalt weiblicher Leidenſchaft, in deren anderer,
Brangäne’s, er den Heroismus weiblicher Refignation zum
vollſten Ausdruck gebracht hat, und man wird den divina⸗
toriſchen Blick diefes Seelenfündigers bewundern lernen. -
Wie fchade, daß wir von den Xebensumftänden des
Meisters noch weniger wiffen als von denen feiner großen
Zeitgenoffen Walther und Wolfram, von deren Verhält-
nifjen doch auch nur ein paar bürftige Notizen auf uns
gekommen find. ALS feftftchend (?) mag nur gelten, daß
Gottfried bürgerlichen Standes geweſen und eine für feine
Zeit ungewöhnlich vielfeitige Bildung beſaß. Aus let-
terem Umftand, zufammengehalten mit der wiederholten
Anvdeutung vonjeiten des Dichters, daß er Minneluft
nie genofjen, hat man gefolgert, daß er ein Geiftlicher ge=
"8310 Buch U. Kap. 7.
weſen. War er ein folder, fo war er jedenfalls fein
Affet, welcher Welt und Weiber floh; denn e8 ift fchlech-
terdings unmöglih, daß man vom bloßen Hörenjagen fo
welt- und frauenfundig wird, wie Gottfried durchweg ſich
erweift. Iſt doch überhaupt fein großer Dichter aufge:
itanden, an deſſen Entwidelung die Frauen nicht fehr.
vieles, oft das meifte und befte gethan hätten, und wir
müſſen fchlechterdingd annehmen, daß aud ein Walther,
ein Wolfram und ein Gottfrien im Umgang mit eblen
rauen gelernt haben, „was fich ziemt“. Daß zur
Blüthezeit des Mittelalters die Frauen ihrerfeits für vie
Poefie eine große Empfänglichfeit bethätigten, dafür gibt
die ganze Art und Weiſe des Minnegefangd und ver
Nitterepit unmwiderlegbares Zeugniß. Es ift auch eine
ſchöne Weberlieferung von frauliher Dankbarkeit gegen
Dichter auf uns berabgelommen. Als ver Minnejänger
Heinrih von Meißen, genannt Srauenlob, ver jo viele
Lieder zum Preife ver Frauen gedichtet, i. J. 1317 zu
- Mainz geftorben, ward er in vem Kreuzgange der Haupt-
firhe ehrenvoll beitattet. Die mainzer Frauen trugen
die Bahre, worauf der hingegangene Sänger lag, unter
großem Weinen und Klagen zur Gruft und goffen auf .
viefelbe eine jolche Fülle des Weines, daß er in dem ganzen
Umgange ver Kirche umherfloß 153).
Bei alledem darf nicht verfchwiegen werden, daß
unfere alten Dichter, wie zu fehen wir häufig genug Ge-
153) So erzählt der glaubwürdige Chronift Albert von Straß-
burg, welder die Periode von 1270—1378 theilweife als Zeitge-
Die Frauen im Dichtermund. 3ll
fegenheit hatten, bei ven Frauen nicht nur was fich ziemt,
fondern auch was fich nicht ziemt, leınen fonnten. ‘Daher
fangen und fagten denn auch nicht alle in vem Ton eines
Frauenlob. Die Lehrpichter des 13. Jahrhunderts werfen
mitunter jehr mijffällige Blide auf die Frauenwelt und
ſchon beim Freidank, unter welchem Namen einige ven Wal-
ther8 verborgen glauben, findet ſich die bevenfliche Stelle:
„Die Grauen haben langes Haar
Und furze Sinne, das ift wahr. *
Noch weit bevenklicheres wiffen uns die veutfchen Novel-
liiten in Verſen, welche vom 12. bis zum 15. Jahrhundert
jchrieben, von den Frauen zu erzählen und das augen-
ſcheinliche Behagen, womit fie es thun, verräth fattfam,
wie beliebt in vielen Kreifen ihre vorwiegend jehr ge-
ringe Meinung von dem fehönen Gefchlechte gewefen fein
muß. Es ift wahr, der Humor fpielt in dieſer Novellitif
und Schwanfvichtung eine beveutende Rolle; aber ver
Pinfel, womit er feine luftigen oder grotejfen Bilder gemalt
hat, war ohne Zweifel mehr als wünjchbar in den Farben-
topf der Wirklichkeit getaucht. In Gefhichten wie „Der
Sperber” — „Das Gänfelein " — „Das warme Almojen“
— „Weiberlift* — „Der Ritter und die Nüffe“ — „Die
Meierin mit der Geiß“ — „Der Ritter unterm Zuber“
. Schlägt der Humor ſchon in eine herbe Kritik ver Frauen-
jitten um. In anderen, wie „Irregang und Girregar“
oder „Das Rädlein“ fteigert er ſich zur tollften Ausge-
. noffe beſchrieb. Die lat. Originalftelle |. bei v. d. Hagen, Minn
finger, IV, 738, Anm. 4.
312 Buch U. Kap. 7.
laſſenheit 1%. In folchen endlich, wie „ Die halbe Birne”,
„Die Teufelaacht“ und „Der weiße Roſendorn“, ſinkt ering
154) Welcher e8 aber dba und dort nicht an Silberbliden der
Boefie fehlt. Einen ſolchen wirb ber unbefangene Geſchmack z. B.
in der folgenden Stelle aus dem „Rädlein“ erkennen:
„Dö spilt' er der junkvrouwen mit lieplich nach der werlde sit',
Ane haz und ane nit, als man in der werlde pflit
Ze spilen mit der minne. Dö si des wart inne,
Daz ez was so sueze, diu junkvrou sprach: „Ich mueze
Mit liebe nimmer tak geleben, ich wollteallez daz darumbe geben,
Daz ich üff erden geleisten mak, daz daz spil het’ gewert bizan
den tak.
Solde ich leben als Elyas in dem Roemischen palas,
Immer inne gewaltik sin, daz liez ich üff durch daz spil min.*
Er sprach: „Liebe, wie ist dir gewesen?“ — „Daz kan nie
man vol lesen,
Noch vol schriben dieser minne triben,
Und waere daz mer tinte und der himel perminte
Und alle sterne daran, beide, sunne und män’,
Graz, griez unde loup, darzuo der kleine sunnen stoup,
Daz daz waeren phaffen und schribaere, den waer’ ez allen
ze schwaere,
Daz sie vol schriben und vol lesen künden, wie sanft mir ist
gewesen.
Diu zit endühte mich niht lank ; vor minen ören wasein gesank,
Als kleiniu voglin sungen und tüsent rotten klungen ;
Min ougen vuoren mir schozzen, als sie sachen entsprozzen
Röte rösen in dem touwe in einer gruenen ouwe.
Unser vröude nie man vol sagen mak; mich dunkent tüsend
jär ein tak.
Zuo derselben stunde was mir in minem munde
Honik unde zukkermel, daz vloz mir ze tal in die kel.“
Dö sprach aber die guote: „Mirewas in minem muote,
Die Franen im Dichtermund. 3l3
Derbzotige herab. In allen viefen Erzählungen 155)
fommen die rauen ſchlecht weg: fie erfcheinen da ent-
weber als einfältig over als zuchtlos und ehrvergeffen . .
Es iſt aber tröftlich, zu ſehen, daß dieſer an die Stelle ver
Frauenverehrung Teichtfertige Duldſamkeit und muth-
willigen Spott fegenden Humoriftil doch immer eine edlere
und würbigere Auffafjung von dem Wefen und der Be-
ſtimmung der Frauen zur Seite ging. Zwar hat fogar
ber ernfte Walther das zur Idealität erhobene Verhältniß
von Mann und Weib feineswegs immer feitgehalten, auch
jeine Lieder werben nicht felten um vollen Liebesgenuß
und mit Wohlgefallen blidt er auf die Stunde zurüd,
wo er feine Herrin im Babe belaufchte („dÖö ich si nak-
ket sach®); aber doch haben er ſowohl als andere ven
Minnegefang vor dem Abfinfen ins Gemeine energijch
zu bewahren gefudht. Wenn vie mittelalterlichen Humo⸗
riften mit frivolem Lachen erzählen, wie Sungfrauen ihre
Ehre preiögeben und ven Männern wohl gar noch ent»
gegenlommen, fo bat dagegen Reinmar von Zweter ven
Mäpchen mahnend zugerufen:
„Ein ledig Weib foll um ven Mann
Nicht werben, es fteht ihr nicht an,
Die wile ich in den vröuden lebte, wie ich in den lüften swebte.
Ich hät niergen ein gilt so kleine... 2... 2220.
Geloube mir der maere, da ensaeze üff ein videlaere
Unt videlten alle den albleich, daz mir diu sinne gar entweich,
Daz ich enhörte noch ensach, so wunderliche mir geschach.*
155) Gefammtabenteuer, I, 211 fg. II, 23 fg. 41 fg. 127 fg.
245 fg. 265 fg. 278 fg. 287 fg. 297 fg. III, 21 fg. 43°fg. 111 fg.
314 . Bub HD. Kap. 7.
Die Liebe will's nicht leiden.
Doch daß fie ſich beſcheiden
In Tugend kleid', in Zucht und Sitt',
In Huld und Anmuth und damit
Des Mannes Herz gewinne,
Das ſteht wohl an der Minne.“
Wenn der Tanhuſer, Ulrich von Winterſtetten und mehr
noch Nithart fauniſch ſchmunzelnd damit pralen, wie ſie
da und dort leichtſinnige Dirnen bethörten, jo hat hin-
wieder berjelbe Reinmar gegenüber ſolcher Gaffenliebe
nachdrücklich ausgeiprochen, daß das Naturmpfterium ver
Geſchlechtsliebe, wenn e8 mebr fein follte als Befriedigung
eines thieriſchen Gelüftes, durch geiftige Harmonie geavelt
jein, daß über Mann und Weib in Umarmung ein Ab-
glanz von Göttlichem fchweben müffe: —
„Ein Herz, Ein Leib, Ein Mund, Ein Muth
Und Eine Treu’ und Eine Liebe wohlbehut,
Wo Furcht entfchleiht und Scham entweicht und Zwei
find Eins geworben ganz,
Wo Lieb’ mit Lieb ift im Verein:
Da denk' ich nicht, daß Silber, Gold und Evelftein
Die Freuden übergolve, die da bietet Lichter Augen Glanz.
Da, wo zwei Herzen, die die Minne bindet,
Man unter Einer Dede findet
Und wo ſich Eins ans And're ſchließet,
Da mag wohl fein des Glüdes Dach.
Wohl ihm, dem je ward ſolch Gemach!
Ich weiß gewiß, daß Gott das nicht verbrießet. *
So lange ‘vie Höfifch -ritterlihe Bildung nicht allzu ſehr
Die Frauen im Dichtermund. 315
entartete, wurden inmitten ver ausgelaffenen Zotenreißeret
und des tobenden Gelächters auf Koften der Frauen immer
wieder Stimmen laut wie jene des unter dem Namen „ver
Marner“ bekannten Poeten, der feinen Zeitgenoffen zurief ;
„Wer will nach meiner Lehre
Erſtreben Liebesziel,
Der ſoll der Frauen Ehre
Nicht haben für ein Spiel.
Von Frauen ſoll man ſagen
Nur gutes immerdar,
Weil nur bei ihnen gar
Iſt Freude zu erjagen“.
Gegen das Ende des 15. Jahrhunderts hin da hatten
freilich die lachenden Spötter wie bie ſauerblickenden
Moraliften freie Hand und wenig Widerſpruch zu be=
forgen. Es ift nichts davon befannt, daß Sebaftian
Brants Klage und Anklage: Ä
„D, fraulihe Scham, was foll ich fagen,
Daß dur jegt treibft in unjern Tagen!
Auch magdliche Zucht ift ganz dahin —“
eine Widerlegung oder auch nur eine Beftreitung gefunden
hätte. Die mittelalterliche Gefellfehaft war jeßt in einer
Phaſe der Auflöfung angelangt, wo fie weder die Mittel
noch auch nur den Willen mehr befaß, den von ihr aus-
gehenden Fäulnißgeruch zu verbergen. Es ift, glaube ich,
im Verlauf unferer Ausführungen überzeugend nachgewiefen
worden, daß, wenn man den Sachen auf den Grund fieht,
das hHöfifch-romantifche Liebesideal und die dadurch be—
bingte ivealifirte Stellung des Weibes durchſchnittlich in
316 Bud I. Rap. 7.
der Wirklichkeit keineswegs vorhielt und Daß der ritterliche
Minnedienft, auf feiten der Werbenden jowohl als der
Ummworbenen, in der Regel nur ein verfeinerter Egois-
mus gewejen. Aber bei alledem ift anzuerfennen, daß
die Höfifchfeit in ihrer guten Zeit einen gewiſſen poetifchen
Schimmer, Ton’und Duft über das Dafein hergebreitet
hatte. Diefer Nimbus zerriß beim Ausflingen des Mittel-
alters und in der Haffenden Spalte erjchten mit frecher
Gebärde die nadte Gemeinheit, ihre plumpe Tlegelei und
ven zotigen Kynismus, welche mitfammen in den aus
Mummenſchanz und Maſkenſprüchen hervorgegangenen,
zuerft durch Hanns Rofenplüt (um 1450) literarifch ge-
ftalteten „Faftnachtsfpielen“ ver Zeit rumorten, in ven
gefelligen Verkehr einführend over vielmehr mit haus-
badenem Realismus aus vemfelben herausgreifent.
In ſolchen Zeiten fittliher Zerrüttung fehauen edlere
Gemüther und venfende Köpfe nach Mitteln aus, dem
franfen Gefellfchaftsförper neue LXebensfäfte zuzuführen,
und in diefer Richtung fehen wir in der zweiten Hälfte
des 15. Sahrhunderts in Deutfchland einen Kreis von
Männern literarifch thätig, in welchen wir die Vorläufer
der Humantjten des 16. Jahrhunderts zu erkennen haben.
Zu diefem Kreife gehörte ein Niklas von Wyle, ein Stein-
hövel, ein Albrecht von Eyb und andere. Sie fühlten,
daß e8 mit den romantifchen Idealen worbei, daß damit
nichts mehr auszurichten wäre, und wandten ſich in vie
Gedankenwelt des Haffifchen Alterthums zurüd, um von
dorther die Mittel zu holen, veinigend, klärend und
bejjernd auf ihre Zeitgenoffen zu wirken. In Verbindung
Die Frauen im Dihtermund. 317
mit volfsthümlichen Kanzelreonern, welche ihr Amt im
Sinne eines Geiler von Kaifersberg fafften und führten,
richteten dieſe Literaten ihr Augenmerk beſonders auch
darauf, vie ehelichen Verhältniffe aus ihrem tiefen Verfalle
wieder aufzurichten und der Ehe, dem Grund» und Ed:
ftein der focialen Ordnung, ihr geheiligtes Anfehen zurüd-
zugeben, welches vie Romantik jo fehr untergraben hatte.
Diefe edle Abficht diktirte dem Albrecht von Eyb fein
Eheſtandsbuch („Ob einem manne sey ze nemen ein
“ eelich weib oder nit“), welches er 1472 dem Rathe von
Nürnberg ald Neujahrsgefchenf überreichte. Der wadere,
febenserfahrene und gelehrte Mann hat darin der Ehe
ein ebenfo wohlbegründetes als begeiftertes Lob geſpendet,
welches , ind Neubochdeutiche umgejett, alſo lautet: —
„Der allmächtige Gott hat das Amt eines rechten Vaters
geübt, indem er wollte, daß das menjchliche Gefchlecht
ewig wäre, und er hat zuerſt ven Mann erfchaffen nach feiner
göttlihen Bildung, hemak die Frau nach Geftalt des
Mannes, damit zwei Gefchlechter feien, Männer und
Frauen, um finder zu zeugen und das Erpreich mit
Menfchen zu erfüllen. Das follte gejchehen in Form der
heiligen Ehe und hat Gott der Vater die Ehe felbft ein-
gejegt und georpnet im wonnereichen Paradies und zur
Zeit der Unſchuld. Hernach hat Gott der Herr, als er
in menfchlicher Geftalt gewohnt, vie Hochzeit perfünlich
geehrt, gejegnet und gewürdigt mit feinen göttlichen Zeichen,
da er dabei das Wafler in Wein gewandelt. Die
Ehe wird auch gelobt und gepriefen von der Natur, die
den Menfchen ven Trieb eingegeben, Kinder zu haben, vie
318 Bud II. Rap. 7.
ihnen gleich feien. Es haben auch die Rechtsſatzungen
beitimmt, daß die Ehe mit beider, des Mannes und der
Frau, freiem Willen ſoll geichlojfen werden, zum Zeichen,
daß zwifchen ihnen ein ewiger einiger Friede walten foll
und getreue Xiebe und Freundfchaft. So ift die Ehe ein
ehrbar Ding, ift die Mutter und Meifterin ver Keufchheit,
denn mittel® ihrer werden vermieden unlautere Begierden
und andere jchwere Ausfchreitungen der Unfeufchheit.
Die Ehe ift ein nüglich, heilfam Ding: durch fie werben
Häufer, Städte und Länder gebauet, gemehret und im
Frieden erhalten, durch fie wird mancher Streit und
Krieg geftillet, Sippfchaft und gute Freundſchaft unter
Fremden hergeftellt und das ganze Menfchengefchlecht ge-
ewigt. Die Ehe tft auch ein fröhlich, Iuftbar und ſüß
Ding. Was mag fröhlicher und füßer fein als der Name
des Vaters, der Mutter und ver Kinder, fo da bangen an
der Eltern Hals? Wenn Eheleute die rechte Liebe und
ven rechten Willen für einander haben, dann ift ihnen
Freud’ und Leid gemein und genießen fie des guten deſto
fröhlicher und tragen fie das widerwärtige vefto leichter.” ....
Man hört aus diefen Worten fchon ven reinmenfchlichen,
vollen, gegen die romantische Minnetiftelei fo ſchön ab-
jtechenden Herzendton der Natur, des gefunden Menfchen-
verjtandes und der guten Sitte heraus, welche im 16. Sahr-
hundert bie Leiter ver reformatorifchen Bewegung inbetreff
der Ehe anftimmten, und fo fei denn damit das Buch vom
Mittelalter beichloffen.
Anhalt des erflen Bandes.
Erftes Bud).
Altertum.
Erſtes Kapitel: In den germanifhen Wäldern.
Dämmerungen ber deutihen Geſchichte. — Unferes Volkes
Urbeimat. — Die indogermanifhe Völkerfamilie. — Ein—
wanderung nad Europa. — Mythiſches. — Eintritt der Ger-
manen in bie Weltgefhichte. — Die Frauen ber Teutonen
und Kimbrer. — Julius Cäfar über Deutichland. — Das
germanifche Blondhaar in Rom. — Ein prophetifches Dichter-
wort. — Die Germania bes Tacitus. — Tracht und Stellung
der Frauen. — Die deutihe Ehe. — Das „Heilige und Vor⸗
abnende” im Weibe. — Frauengeftalten der deutichen Vor⸗
zeit: — Aurinia, Beleda, Ganna, Thufnelda, Bilfula .
Zweites Kapitel: Bur Völkerwanderungszeit.
Die Götterdämmerung der alten Welt. — Niederlaflung
germaniſcher Völferfchaften in den römischen Provinzen. —
Die Stellung der Frauen nad germanifchem Recht. — Ber-
hältniß der Frauen zum Chriſtenthum. — Gothiſche, lango-
bardifche und fränkiſche Frauen. — Die merowingiſche Tragd-
die. — hrungevroceß der » Beil — vanſüiche ainrichtmmg
und Tracht. ..
Seite
3r
320 Inhalt des erften Bandes.
Drittes Kapitel: Göttinnen und Heldinnen.
Seite
Menſchen und Götter. — Charakter der germanifchen
©Stterwelt. — Das „Emwig:Weibliche” in den Religionen. —
Deutſche Ödttinnen: Nerthus, die Mutter Erde, Frikka, Frouwa,
Holda, Perahta, Hluodana, Nebalennia, Folla, Oftara,
Hellia. — Walküren. — Frau Sälde. — Die germanifche Eva.
— Die eddiſche Lehre vom Sündenfall. — Bedenkliches von
Der Frigg umd der Freia. — Die Franen im Havamal. —
Sigyn. — Brunhild, Kriembild und Gudrun. — Die Lehre
Der germanischen Bibel vom Urfprung der Stände . . . . 72
Zweites Bud).
Mittelalter.
Erites Kapitel: Rarlingifhe Beit.
Karl der Große. — Blid auf die römiſch-chriſtliche Frauen⸗
welt der erften Sahrhunderte. — Möncherei und Nonnerei in.
Deutihland. — Der Marienfult. — Maria im „Heliand.“
— Maria’s Minne. — Einfluß des Chriftenthums auf die
germanifhe Ehe. — Die Frauen und Töchter Karls. — Die
Weiberhäufer. — Epifode vom fogenannten „Recht der erften
Naht”. — Tracht umd Pracht der Tarlingifhen Damen. —
Richardis. — Die Frauen und die Gottesurtbeille. . . . 9
Zweites Kapitel: Inter den fühfifhen und fränkifhen Raifern.
Das deutihe Königthum und das römiſche Kaiferthum.
— Kulturcharakter des Zeitalters der Ottonen. — Hadumod.
— Hrotjuith, die erfte Schriftftellerin deutihen Stammes. —
Die gelehrte Herzogin Hadawig. — Die ſchöne Habburg. —
Mathilvis. — Futgard. — Adalheid. — Theophano. —
Inhalt des erften Bandes.
Dietmar von Merfeburg über die Frauen feiner Zeit. —
Kunigunde. — Gifela. — Agnes. — Bertha. — Agnes von
321
Seite
Hohenftaufen. — Hiltrud. — Das Berbot der Briefterehe. — —
Widerftand ver deutſchen Dental — Zolgen bes Edlibat-
gejetes . . .
. 136
Tritte Kapitel: Dom zwölften bis fünfzehnten Bahrhundert.
"Die Hohenftaufen. — Gliederung der mittelalterlihen Ge-
ſellſchaft. — Meaterieller und geiftiger Aufſchwung Deutich-
lands im 12. Jahrhundert. — Einfluß der Römerzüge und
der Kreuzzüge. — Das Nittertbum. — Die „Courtoifte”
oder „Höfiſchkeit“. — Blid auf die franzöſiſche Eourtoifie. —
Deutiher Marienfult und Frauendienft. — Kaiferinnen. —
Die heilige Hildegard. — Herrad von Landsberg und ihr
„zuftgarten”. — Hausrath und mufilalifhe Inftrumente. —
Das Bett und der Schlafanzug .
Viertes Kapitel: Pie Edelfrau.
Weib, Frau und Magd. — Ehrentitel der Mädchen und
. 165
Frauen. — Bon Frauennamen. — Die Erziehung vornehmer
Mädchen und die Bildung höfifher Damen. — Die „Mora-
litas“. — Das ritterlich-romantiiche Schönheitsideal. — Puß-
kunſt und Tracht. — Eine höfiihe Dame in Sala. — Ge-
felliges. — Der Tanz. — Die fraulihen Pflichten der Gaft-
lichfeit. — An einem Hofe. — Berlobung und Hochzeit. —
Naives. — Frauendienft und Liebesverlehr. — Ein Märtyrer
der Minne. — Der Wurm in der Roje der Romantil. —
Eine Heilige und eine Kekerin . .
Fünftes Kapitel: Bürgerin und Bäuerin.
Das Städteweſen. — Patriciſche und plebeiſche Kreife. —
Die Höfe oder „Gefäße“ der Gefchledhter. — Städtiſche Zeit-
vertreibe oder „Fröhlichkeiten“. — Ein phantaftifches Turnier.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. I. 21
. 193
322 Inhalt des erften Bandes.
Seite
— Eine Serenade. — Kaiſer Sigismund und die Straßburge-
rinnen. — Eine würzburger Novelle. — Wiener Sittenzu-
flände im 15. Sahrhundert. — Die Frauen und die mittel-
alterlihe Strafrechtspflege. — Augsburger und. frankfurter
Hochzeiten. — Das bäuerliche Frauenleben. — Bedenkliche
. . 238
Idyllien. — Eine ſüddeutſche Bauernhochzeit .
Sechſtes Kapitel: Bäder. Frauenhäufer. Honnenklöfter.
Gntartung der Brad.
Die Badftuben und das Treiben darin. — Heilquellen.
— Baden im Aargau. — Poggio's Beichreibung des Bad⸗
lebens daſelbſt. — Die Frauenhäufer und die Frauenhäuferin-
nen. — „Reuerinnen”. — Epijode von ber Agnes Bernauer.
— Die Frauenklöfter. — Bildung und Beihäftigungen ber
Nonnen. — Die „Jeſerl“. — Klöfterlihe Aergerniſſe. — Die
Ausfchreitungen der Frauenmoden: die „Ihandbare” Tracht,
die Schellengürtel und Schnabelſchuhe.
Siebentes Rapitel: Pie Frauen im Pihtermund.
Dichter und Frauen. — Der Minnegefang. — Walthers
von ber Vogelweide Lob der deutichen Frauen. — Der Wins-
bede. — Das Frauenideal Wolframs und Gottfrieds. — Was
Minne fei. — Erwachende, jehnende und beglüdte Liebe. —
Heinrih Frauenlob. — Die mittelalterlihen Humoriften und
die Frauen. — Reinmar von Zweter. — Der Marner. —
Eine Klage und Anklage von Sevaftian Brant. — Albreqht
von Eyb über die Ehe
Leipzig, Walter Wigand's Buchdruckerei.
. 267
. 294
Geſchichte
der
Deutſchen Frauenwelt.
— —
I.
Alle Rechte vorbehalten.
Geſchichte
Deutſchen Frauenwelt.
In drei Büchern nach den Quellen.
Von
Johannes Scherr.
Wahrheit iſt Feuer und Wahrheit
reden heißt leuchten und brennen.
L. Schefer.
Dierte, neudurchgeſehene und vermehrte Auflage.
Bweiter Band.
Bud II: Neuzeit.
Leipzig
Verlag von Otto Wigand.
1879.
Drittes Bud,
Keuzeit.
Dom jechszehnten Eis ins neunzehnte Jahrhundert.
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II. 1
............ Die Frau
Iſt wie der Mann, nur ſtets ein wenig beſſer;
Sie iſt wie ihr Geliebter, gut und ſchlecht,
Sie iſt ſo wie das menſchliche Geſchlecht,
Das ſie voll Troſt auf ſeiner Bahn begleitet.
Schefer.
Erftes Kapitel.
— “eG———
Im ſechszehnten Jahrhundert.
Das Zeitalter der Reformation. — Marimilian J. und Karl V.
— Luther. — Sitten und Unſitten der Zeit. — Bildung der
Frauen. — Ihre Betheiligung am Reformwerk. — Die Frauen
und der Cölibat. — Luthers Frauenideal. — Heilſamer Einfluß
der Reformation. — Schattenſeiten. — Die Wiedertäuferei. —
Eine frieſiſche Judith. — Das geſellige Leben des 16. Jahr⸗
hunderts. — Realiſtiſche Weltanſchauung und deren Anwendung
auf die Frauen. — Umgangston und Bräuche. — Das Badleben
und das „Beiliegen“. — Die Tanzfreuden. — Frauentracht. —
Bäueriſches. — Die bürgerlichen Kreiſe. — Hausrath, Küche und
Keller. — Eine vornehme Trunkenboldin. — Die fürſtlichen
Kreiſe. — Licht und Schatten. — Eine vornehme Hochzeit. —
Uebergang vom 16. ins 17. Jahrhundert. — Die Verwelſchung
unſeres Landes. — Der Jeſuitismus und der Calvinismus.
Die große That des deutſchen Geiſtes, die religiöſe
Reform des 16. Jahrhunderts, hatte den alten und bis
auf den heutigen Tag ungeſühnten Fluch mitzutragen,
daß allzeit unſere Geſchichte gerade in ihren beſten und
gewaltigſten Strebungen ganz oder wenigſtens theilweiſe
| 1. |
4 Bud III. Kap. 1.
fcheiterte. Oper ift dieſes Unglüd, deſſen Wurzel ich
im deutſchen Inpividualismus finde, vielleicht ebenfo-
ſehr ein Segen als ein Fluch? Wir werben leiver in ver
Politif wohl faum über die Form des Föderativſtaats und
demnach auch nie über eine gewiſſe Beſchränktheit und
Unbehilflichfeit in äußerer Machtentfaltung hinauskommen;
aber wir werden auch nie ein Schablonenvolf werben,
eine nivellirte, aller Selbftbeftimmung unfähige, unter-
ſchiedsloſe Maſſe, welcher eine vefpotifch herrichenve
Hauptitadt, ein alle Xebensfräfte ver Nation auffaugendes
Paris heute die Heldenuniform, morgen den Sflaventittel,
übermorgen bie Narrenjade anzieht. Wir werben uns nie
darein finden, als bloße Nullen hinter einem hauptſtädtiſchen
Zähler einherzugehen, gleichviel ob dieſer die Kaiferfrone
oder die phrygiſche Mütze trage. Das „Ich“ ver fichte’fchen
Philofophie ift von jeher der Kern des deutfchen Wefens
gewefen. | |
Dieje Selbitherrlichfeit ver Berfünlichfeit hat in der
Reformation des 16. Jahrhunderts, wenn auch ohne
ihrer Endziele alljeitig Klar zu fein, eine Rieſenarbeit
begonnen, welche den Gegenfak von Autorität und
Autonomie, von Geiftesfreiheit und Satzung, von be-
wußter Perfönlichfeit und Uniformzwang zum Angel-
punkte der weltgefchichtlichen Entwidelung machte. Seit-
her bat fich alles um vie Aktion des germanifchen und
die Reaktion des romantischen Geiftes gedreht und fo
wird es noch Jahrhunderte oder Jahrtauſende lang fort-
gehen. Wenn die Reformation in ihren politifchen und
joctalen Abfichten fcheiterte, wenn in Folge des Zu-
Im ſechszehnten Jahrhundert. 5
ſammenwirkens unglücklicher Umſtände dieſe Abſichten auf
den Schlachtfeldern des Bauernkriegs und des dreißig—⸗
jährigen Krieges verbluteten; wenn die große Bewegung
zunächſt nur die Spaltung des Vaterlandes in zwei große
Glaubensgenoſſenſchaften und die allmälige Umwandelung
des mittelalterlichen Feudalſtaats in den fürſtlichen
Polizeiſtaat zu geſchichtlichen Reſultaten hatte; wenn
andere Länder, vorab England, von der deutſchen Aus—
ſaat die politiſchen Früchte geerntet: — ſo iſt uns doch
der keineswegs gering anzuſchlagende Troſt geblieben,
daß der deutſche Gedanke, die auf eine harmoniſch⸗freie
Entwickelung der Menſchheit abzielende deutſche Bildung
ſeit der Reformation eine Großmacht geworden, welche
ſtets weitere Kreiſe zieht und deren Einfluß die andern
Völker zu ihrem Segen ſelbſt dann empfinden, wann
ſie ihn bekämpfen oder zu bekämpfen wähnen. Auf
Dank rechnet das wahrhaft Edle und Große ohnehin
nicht, im gewöhnlichen Leben fo wenig wie im gefchicht-
lihen. Der deutſche Gedanke ſetzt feine Weltbildungs⸗
arbeit fort, unbefümmert um Berfennung, Befeindung
und Schmähung; er fest fie fort, weil ev muß, weil
er nicht anders Tann.
Diefes Schickſalsmächtige feiner Thätigkeit ift be—
gründet in der fittlichen Kraft feiner Natur und jo war
es auch zur Reformationgzeit. Die Oppofition gegen
die firchliche oder, genauer gejprochen, hierarchifche Ge-
italtung des Chriftenthums ift befanntlich fo alt wie vie
Kirche ſelbſt; aber nur der fittlichen Energie der veut-
ihen Oppofition war e8 gegeben, einen wirklichen Bruch
6 Bud I. Kap. 1.
mit den Traditionen des Papſtthums herbeizuführen und
feftzuftellen.. Nicht der Wit der romanifchen Boccaze,
welche das entweihte Heiligthum ver Kirche ſchon Tange
vom Spottgelächter hatten wirerhallen laffen, bat das zu⸗
ſtandegebracht, fondern die glaubensinnige Gemüths-
fraft eines Luther, welcher, wie theologifch befangen
und beſchränkt auch feine Weltanfhauung war und was
für Mängel und Mifjgriffe ihm fchulngegeben werben
fünnen und müffen, aus feinem unüberwinvlichen veut-
ſchen Rechtsgefühle heraus das entjcheidende Wort ſprach
und behauptete: Ein anderes ift das Chriftenthum ver
Evangelien und ein’ anderes das der päpftlichen Bullen !
Es iſt wahr, auch Luther war ein Dogmatifer, welcher
der menschlichen Vernunft — er fehimpfte fie „des Teufels
Hure” — nur fo weit zu gehen erlaubte, als der Bibel⸗
buchſtabe reichte. Allein innerhalb dieſer Schranfe
ftellte er mittel8 feiner Lehre von ver Rechtfertigung
durch den Glauben ven Menſchen doch gewifjermaßen
auf fich felbft, indem er wollte, daß ver Glaube nicht das
Broduft eines mechanifchen Hinnehmens von äußerlich
Gegebenem, ſondern einer innerlihen Arbeit, eines
geiftigen Procefjes fei. Damit war, und zwar in einem
‘viel weiter gehenden Sinne als Luther fah und wollte,
ver freien Forſchung und Selbitbejtimmung vie Bahn
aufgetban. Aus dem freien Chriften, wie ihn Luther
dachte, mußte ſich mit der Zeit der freie Menſch ent-
puppen oder, mit andern Worten, der ethifche Gehalt
des ChriftentHums mußte die dogmatiſche Hülfe mehr
und mehr fprengen......
Am jehszehnten Jahrhundert. 7
Mitten in ver Zerfegung der mittelalterlihen Ro—
mantif, welche währenn des 15. Jahrhunderts vor fich
gegangen, hatten ſich ſchon die bauenden Elemente einer.
neuen weltgefchichtlihen Epoche thätig erwiefen. Jene
Zeit und die drei erften Sahrzehnte des 16. Jahrhunderts
ftroßten fo vecht von Gährungsftoffen. Es war eine
jener Periopen, wo e8 der Menfchheit, fo zu jagen, in
ihrer Haut zu enge wird und fie allwärts nach Licht,
Luft und Bewegung ringe. Die in Folge der Erfin-
dung und Anwendung des Schießpulvers zu Friegerifchen
Zwecken veränderte Kriegsweife ließ das Nitterthum nur
noch als eine Spielerei bejtehen; eine Reihe anderer
phnfifalifher und mathematifcher Finbungen zeigte Die
Unzulänglichkeit des hierarchiſchen Syſtems auf; geo-
graphifche Entvedungen wie die des Seeweges nad Oſt—
indien und die von Amerifa lüfteten ven Schleier mittel-
alterlicher Befangenheit vor ven Augen der europäifchen
Völker; von Italien her ftrömte die wiebererivedte
Literatur des klaſſiſchen Alterthums das Xicht des ge-
funden Menfchenverftandes und der Schönheit über die
Länder des Nordens aus, um, insbefonvdere von den
deutichen „Humaniften“ als eine Herzensfache gepflegt,
eine Amme des reformatorifchen Geiftes zu werden; und
endlich hatte Guttenberg feinem Vaterlande und ver
Welt die Buchpruderpreife gegeben und jene glorreiche
„Ihwarze Bande” von Lettern ausgejandt, welche feither
das Banner der Kultur über die ganze Erde und in
alle Volksſchichten hineingetragen Hat und unermüdlich
mweiterträgt. Die humaniftifchen Stubien, bei ung durch
8 Bud III. Kap. 1.
ben Feuergeiſt eines Hutten zu einem Hebel nationaler
Wiedergeburt gemacht, die mathematifchen, phyſikaliſchen
und geographifhen Entdedungen, wozu bald noch aſtro⸗
nomifhe Tamen, welche dem erftaunten Meenfchenauge
die Unermefflichfeit des Univerjums erſchloſſen, — dies
ſem ganzen reformiftifchen Drängen und Treiben gegen-
über, melde ver politiihen Berechnung wie ver in-
puftriellen Thätigkeit, dem berechnenden Handelsgeiſte
wie der abenteuerlichen Thatenluſt, der geiftigen wie
der mechanischen Emfigfeit überall neue Wege wies und
neue Ziele ſteckte, wurbe das mittelalterliche Wejen mehr
und mehr machtlos. Friſche Lebensfäfte jchwellten vie
Adern der europäifchen Gefellfchaft und trieben fie zu
einer befreienden Arbeit an, welche dann, nach dem im
17. Jahrhundert erfolgten großen Rüdichlag, im 18.
mit neuem Eifer wieder aufgenommen wurde. Geit-
ber hat fie, aller momentanen Hindernifje und Schwan⸗
tungen ungeachtet, nie wieder geftodt, und wer erwägt,
daß die Weltgefchichte nicht nah Tagen und Jahren,
fondern nah Sahrhunderten und Jahrtauſenden rechnet,
wird nicht leugnen wollen, daß die Menfchheit feit ver
Reformationsperiode in jeder Richtung Vorjchritte ge-
macht, womit der Kenner ver Gefchichte und der ruhige
Urtheiler, der den Wiperftand, welden vie Kraft ver
Stumpfheit und Zrägheit in ven Maſſen und die un-
geheure Selbitfuht oder die Macht ver Gewohnheit in
den bevorrechteten Klaſſen den Forverungen ver Ber:
nunft und Humanität entgegenfegen, zu werthen weiß,
ſchon zufrieden fein fann.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 9
Bei alledem wird ein unbefangener Deutſcher, wel⸗
cher ſein Land mehr liebt als die augsburgiſche Kon⸗
feſſion oder die Beſchlüſſe des tridentiner Koncils, die
Reformation dennoch nur mit ſehr gemiſchten Em⸗
pfindungen betrachten. Das Hauptunglück iſt geweſen,
daß die Reichsgewalt damals bei einem Hauſe war,
welches weder begreifen konnte noch wollte, daß und wie
die reformiſtiſche Bewegung zur politiſchen Verjüngung
Deutſchlands benützt werden könnte. Der Grund iſt be⸗
kannt: die Habsburger hatten ihr Reich@regiment ſtets
nur al8 ein Mittel zur Erweiterung ihrer Hausmadht
angejehen. Die Hegung und Pflegung diefes dynaſtiſchen
Sonverinterefies fonnte Logifcher Weife nur den fürft-
lihen Partikularismus überhaupt fördern, weil jeder
Fürſt jich aufgefordert fühlen mußte, von der in Trüm⸗
mer gehenden Reichsherrlichfeit auch fein Beuteftüd zu
erwerben. Welche Flägliche Figur Hat viefer Kaifer
Marimilian I. gefpielt, obgleich er etwas vorzuftellen ver-
ftand und ein ftattliher Mann war. Die Natur hatte
ihn zu einem vwortrefflihen Gemsjäger, guten Turnier⸗
fehter und mittelmäßigen Poeten beftimmt und als
folcher erfcheint er au im „Weißkunig“ und „Theuer⸗
dank“, jenen allegorifch - romantiichen Befchreibungen fei-
ner Taten und Thaten in Profa und Neimen, welche
man Selbjtbiographieen nennen fann, weil fie nad ven
Angaben des Kaiſers verfajjt wurden. Es ift in dieſen
Büchern eine Romantik, die vor Altersfhwäche und
Langeweile gähnt, aber dennoch fich jpreizt, als wären
noch die Zeiten ‚der Ritter von König Arthurs Tafel-
10 Bub III. Kap. 1.
runde. Man bat ven Kaifer den „legten Ritter“ ge-
nannt und als folchen gefeiert. Ich möchte ihn den
Ritter der Anläufe nennen, denn aus foldhen beitand
fein ganzes Walten im Frieden und Krieg. Und wie
lächerlich klein endeten die meiften dieſer großen faifer-
lichen Anläufe! Es konnte auch gar nicht anders fein.
Denn mitten durch Marimilians Wejen ging. ver Riß
der Zeit und „zwei Seelen wohnten, ach, in feiner Bruft“.
Sein Verftand erkannte recht wohl die tiefen Schäpen,
nach deren Heilung die Zeit fehrie; er erfannte auch ganz
wohl die Berechtigung der reformijtifchen Bewegung.
Aber fein Herz ſchwärmte in den Regionen eines Ritter-
thums umher, welches doch nur noch eine gefpenitige
Eriftenz hatte, und fonnte fi auch der Leberlieferungen
habsburgifcher Hauspolitif nicht entjehlagen. So ließ er
denn alles in ver Schwebe, bis fein Enfel und Nachfolger,
Karl V., das Gewicht feines Talents und feiner That-
fraft in die Wagfchale des NRomanismus warf. Der
deutſchen Art völlig entfremvet, halb Burgunder, halb
Spanier, hatte der.neue Kaiſer nicht die geringste Sym—⸗
pathie mit den Wünfchen und Beitrebungen, welche da=
mals alle eveln Gemüther unferes Landes erfüllten.
Deutfchland erlebte die Schmach, daß fein Kaifer vie
deutſche Sprache für eine Pferdeſprache erklärte. Damit
iſt eigentlich alles gefagt. Die Reformation wurde der
römiſch-ſpaniſchen Hauspolitif geopfert und die „welfche
Praktik“ beftimmte die veutfchen Geſchicke. Auch auf
proteftantifher Seite. Denn mie fi vie kaiſerliche
Politik auf das römifhe Dogma und die fpanifche Macht
Im ſechszehnten Jahrhundert. 11
ſtützte, ſo ſuchten die proteſtantiſchen Fürſten ihrerſeits
eine Stütze an Frankreich und es wurde alſo von beiden
Seiten mit aller Anſtrengung dahin gearbeitet, unſer
Land den Einflüſſen einer Ausländerei zu unterwerfen,
welche denn auch bald genug das deutſche Weſen ganz und
gar überwucherte.
An Luther ſelbſt fällt die Beſchränktheit feiner po—
litiſchen Einſicht höchſt unangenehm auf. Ich habe ihn
anderen Ortes den eigentlichen Erfinder der Lehre vom
beſchränkten Unterthanenverſtand genannt und die be—
ſtimmteſten Zeugniſſe aus dem Munde des Reformators
beſtätigten die Richtigkeit dieſer Behauptung. Jedermann
weiß ja oder könnte wiſſen, daß Luther die Berechtigung
der Leibeigenſchaft anerkannte; daß er glaubte, der ge—
meine Mann müßte mit Bürden überladen ſein, weil
er ſonſt zu „muthwillig“ würde; daß er das Weſen des
Chriſten in einer Paſſivität erblickte, welche ſelbſt die
härteſte Tyrannei ohne Widerrede ſich gefallen läſſt;
daß er ſogar der Obrigkeit die Befugniß zuſprach, die
Grundſätze des Einmaleins nach Willkür zu ändern —
(„daß 2 und 5 gleich 7 find, das kannſt vu faſſen mit
der Vernunft; wenn aber die Obrigkeit jagt: 2 und 5
find 8, jo mußt du's glauben wider dein Willen und
Fühlen“). Allerdings hat er gelegentlich auch gegen vie
Fürften gedonnert und das Volk gegen feine Unter-
prüder und Ausfauger in Schu genommen. Aber
diefer Seite feiner Thätigfeit haben vie lutheriſchen
Theologen bald jo fehr vergeflen, daß das Lutherthum
eine wahre Pflanzfchule des Servilismus geworben und
12 Bud II. Kap. 1.
geblieben iſt. So hatte e8 der Reformator freilich kaum
gemeint. Aber eine wefentlih Tonfervative Natur, wie
er war, hatte er fich gegen alles Weitgreifende, Um-
ftürgende, Revolutionäre ftemmen zu müjjen geglaubt.
Daher fein ablehnendes Verhalten gegen die genialen
Feuerköpfe feiner Zeit, gegen die Hutten und Münger,
daher fein bis zur Barbarei, bis zur ſchäumenden Wuth
gehendes Gefchrei gegen die rebelliſchen Bauern, welche
die „evangelifche Freiheit” etwas anders verftanven ale
er. Und Luther ift ein „praftifcher” Dann gewefen,
der ſich nach Art praftifcher Leute dahin neigte, wo die
Maht war. Die Macht war aber bei ven Fürften
und mit diefen verband er ſich daher zur Befeftigung
feines Reformationswerfes.
Heben wir fernerweit noch zwei Thatjachen von un-
ermefflicher Tragweite hervor, welche an Luthers Perfon
fih knüpfen. Die eine ift feine Bibelüberjegung, vie
andere feine theoretiiche und faktiſche Bekämpfung des
Cölibats. Es ift befannt, daß. die luther'ſche Bibel⸗
überſetzung, welche die neuhochdeutfhe Mundart an vie
Stelle ver verfommenen mittelhochdeutfchen feßte, unferer
Literatur mit einem neuen Organ zugleich auch einen
neuen Inhalt gab. Der biblifch - proteftantifche Ton ver-
brängte ven katholiſch-romantiſchen. Zu dem biblifchen
Gedankengehalt ver Titerarifhen Bewegung des 16.
Jahrhunderts gefellte fich aber immer mächtiger der des
Haffifchen Alterthums, der freilich zunächit in ver deut-
ſchen Literatur nur den Widerhall einer lebloſen Nach-
ahmung fand, welde dann im 17. Jahrhundert die
Im ſechszehnten Jahrhundert. 13
bunte Livrei der Ausländerei anthat. Man könnte zwar
die Frage aufwerfen, ob der Bruch mit den nationalen
Ueberlieferungen unſerer alten. Literatur, welcher durch
die Richtung auf das Biblifche und das Antif- Klafftiche
vollzogen wurde, unjerem Yande zum Heil oder zum Un-
heil geworben fei. Allein jo, wie fih die Sachen nun
einmal geftaltet haben, fteht feft, vaß aus der Verfchmel-
zung jener beiden Gedankenkreiſe im veutichen Idealis—
mus unfere ganze moderne Geiftesfultur, wie fie durch
die Heroen unferer Literatur vom 18. Jahrhundert an
gefhaffen wurde, erwachlen if. Was die Aufhebung
bes Cölibats für vie proteftantiihe Welt durch Luther
angeht, jo hatte dieſe That nicht etwa nur die Bedeu—
tung einer Rache ver beleivigten Natur an ven Mönchs⸗
gelübden : fie war vielmehr ver feierliche Widerruf jener
Entwürbigung des weiblichen Geſchlechts, welche Firchen-
päterlicher Afterwig und päpftlihe Herrſchſucht herbeige-
führt hatten; fie. war eine neue Weihe ver Ehe, eine
neue Heiligung des Familienlebens, eine Wievereinfüh-
rung des Priefters in Die Geſellſchaft, eine Wiederherſtellung
des Weibes im ewangelifch - chriftlichen Sinne, gegenüber
der Beitreitung ver Natur durch eine tollgewordene Affetik
und ein widernatürliches Pfaffentbum. Bewußt over un-
bewußt, Yuther hat im Geifte ver uraltgermanifchen Frauen
verehrung gehandelt, al® er die aus Unnatur, Elend,
Zuchtlofigfeit und Verbrechen zufammengeringte Kette des
Cölibats fprengte. Es war feine beite That.
Man muß in ven Abgrund des Sittenververbnijjes
und Aergerniſſes bineinfehen, welche die erzwungene Ehe-
14 Bud) II. Ray...
lofigfeit der Geiftlihen zur unausweichlichen Folge hatte,
wenn man ven fittlichen Werth von Luthers Bekämpfung
ber Möncherei, Nonnerei und des Cölibats überhaupt
würdigen wil. Da aber bereits im vorigen Abfchnitte
das auf unfer Thema Bezügliche aus diefem Gebiete be-
rührt worden, jo Tann ich mich hier furz faffen. Schon
ein Gedicht des 12. Jahrhunderts, vom „Pfaffenleben“ H,
geißelt das ärgerliche Leben ver Geiftlichen mit ihren
„Pfaffenmetzen“ und beichreibt einen Priefter, wie er
jeine „liebe Traute* mit modiſchem Flitter aufputzt. Zur
Neformationgzeit war der Spott über die Zuchtlofigfeit
des Klerus in jedem Mund. Als Bebel i. 3. 1506
feine „Facetien“ veröffentlichte, aus vem Volksmund ge-
ſammelte Anefooten, fpielten die unfittlichen Ränfe und
Schwänfe der Geiftlichen darin eine Hauptrolle, mit-
unter in fo verber Art, daß man fie heutzutage nicht
nachſchreiben kann. Ebenſo in jener epochemachenven,
unvergleichlichen, unüberjegbaren Satire, „Epistolae
virorum obscurorum* (1516—17), in welden bie
„Dunfelmänner” ihre Anfichten über das Verhalten: ver
Geiftlihen zu dem weiblichen Gefchlecht in einer Weife
kundgeben, hinter deren Ergötzlichkeit durchweg Die bittere
Wahrheit hervorblidt. Die ehelichen Liebesfreuden find
ihnen verjagt, die außerehelichen find ſündhaft; aber vie
Herren wiſſen ſich troßdem zu helfen. So ein Dunfel-
mann beruft fihb auf Simſon und Salomen, die ja
auch der Liebe gehulpigt haben und dennoch der Anficht
1) Abgedr. bei Gödeke, d. Mittelalter, S. 97 fg.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 15
gelehrtefter Männer zufolge felig geworden feien. „Ich
bin nicht ftärfer al8 Simfon — fährt er fort — und
bin nicht weiſer als Salomo: folglih muß man zumei-
len ein Vergnügen haben, was, wie die Aerzte fagen,
gut ift gegen die Melancholie. Iſt es gefchehen, fo
beichten wir und dürfen auf Gnade hoffen, denn Gott
ift barmberzig. Iſt man doch Fein Engel, jondern ein
Menſch und jeder Menſch irrt. Ueberdies, wenn Gott
bie Yiebe ift, jo kann die Liebe nichts Böſes fein: wider-
legt mir diefen Beweis“2)! In den polemifchen Faft-
nachtsipielen, wie ite damals auffamen, war die Rolle
der „Pfaffenmete*, wie man ſich ungalant ausdrückte,
eine ſtehende. So in dem berühmten Faftnachtsipiel
des Malers, Dichters, Kriegs- und Staatsmanns
Niklaus Manuel aus Bern, welches 1. J. 1522 in die⸗
jer Stadt durch Bürgersföhne öffentlich aufgeführt wurde.
In diefem Stüde, „varinn die wahrheit in ſchimpffs wyß
vom Bapſt vnd ſiner priefterjchaft gemelot würt“, führt
die Pfaffenmagd Lucia Schnebeli gar bewegliche Klagen,
welche auf die in Rede jtehende Partie des beutichen
Frauenlebens damaliger Zeit ein grelles Licht werfen).
Auh eine Beguine, Elfli Treibzu, tritt auf und aus
2) Epistolae vir. obscur. I. 4, 13, 21.
3) „Der papft wer mir wol ein recht guter mat,
Aber der bifchoff wil ein hut uff han;
Dem muß min herr ieß alle iar
Legen vier gut rinifch guldin dar,
Darumb das wir by einandern find.
Wenn ich denn ouch mad) ein find,
16 Buch III. Rap. 1.
ihren Reden erhellt veutlih, wie ſchamlos Buhlerei,
Kuppelei und Nonnerei in einander fpielten ®.
So bat er aber finen nut darvon.
Ich bin dem bifchoff num offt wol fon (wohlbekommen)
Und hab ym genütst wol zehen iar
Mee dan fünffzig riniſch guldin bar.
Bor bin ih lang im frowenhuß gefin
Zu Straßburg da niden an dem Ryn,
Doch gwan min hurenwirt nit fo vil
An uns allen, das ich glauben wil,
Als ich dem bifchoff hab müßen geben.
Ad) Sott, möcht ich den tag erleben,
Das der bifchoff nit wer min wirt.
Es ift das grüßt, des mich iek irrt,
Mir were junft in almeg wol
Denn das ih im ouch zinfen jol.
Ich wond ich wöt den hurenwirt ſchüchen
Und zu einem erbern priefter flüchen,
So ift e8 zwo hoßen von eim tuch,
Darumb ih im die gar übel fluch.“
Grüneifen, Niklaus Manuels Leben und Werte, ©. 348.
4) „Ich fröw mich, das ich kuplen fan,
Sunft würts mir lüden ybel gan,
Das ban ich meifterlih und wohl gelert
Und mi num lange zyt mit ernert.
Syd das min tutten anfiengen bangen
Wie ein lerer ſack an einer ftangen,
Da fieng fih an min hutt zu rümpfen
Und wot man nit me mit mir fhimpffen (icherzen, jpielen),
Do gieng ih in das beginen huß,
Min alter gewerb trug nüt me uf.
Do legt ih an kutten und fchappren,” u. |. f. A. a.0.356.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 17
Es iſt jedoch zu betonen, daß es auch Nonnen ganz
anderen Schlages gab und daß manche Frauenklöſter nicht
nur Sitze der guten Sitte und einer aufrichtigen Frömmig—
keit, ſondern auch Pflegeſtätten der Bildung geblieben
waren. So z. B. das Klarenklofter in Nürnberg, welchem
die beiden Schweftern des als Humanift und Gönner ver
Humaniften hochangeſehenen Wilibald Pirfheimer, Cha-
ritas und Klara, nach einander als Aebtiffinnen vor-
ftanden. Sehr gebildet, briefwechfelten viefe beiden
Nonnen mit namhaften Gelehrten jener Tage über wiſſen—
Ihaftlihde Materien und hat die ältere, Charitag, auch
Denkwürdigkeiten über ihre Zeit binterlaffen®). ‘Die
Betheiligung ver deutſchen Märchen und Frauen an
tem wiedererwachten Studium des Alterthums, feiner
Spraden, Schriftvenfmäler und Geſchichten war über-
haupt eine ſehr Iebhafte, wenn auch ſelbſtverſtändlich
feine allgemeine. BPrinzeffinnen und Bürgertöchter Tieb-
ten es gleichermaßen, ſich die Sprache Eicero’8 und Ver:
gils anzueignen, welche Sprache ju ver Humanismus zum
Drgan aller höheren Bildung gemacht hatte. Es lief va
freilich auch manche leere Spieleret mit unter, aber in
vielen Kreifen dienten die Haffiichen Studien für das weib-
lihe Geſchlecht wirklich zu einem evelften Bildungsmittel.
So in dem Haufe des augsburger Patricters Konrad
Peutinger, deffen Gaft Ulrich von Hutten war, als er
im Hochfommer 1517 durch Katfer Mar mit dem dich
terifchen Lorbeer befrönt wurde. Konftanze,. die fchöne,
5) Nah den Originalhandſchriften hrögegeb. durch D. €.
Höfler. 1852.
Scherr, rauenwelt. 4. Aufl. IL. 2
18 Bud) III. Kap. 1.
geiſtvolle und fittfame Tochter Peutingerd, Hatte ven
Kranz geflochten, welchen in jener freubehelliten Stunde
feines Lebens voll Wirrjal, Kampf und Noth dem be-
rühmten Poeten und Ritter eine Faiferlihe Hand um die
Schläfen legte).
Jedermann weiß, daß die Frauen, wie vormals auf
tie Einführung des Chriſtenthums in Deutjchland, To
auch auf die Förderung ver Reformation einen höchit
beträchtlichen Einfluß geübt haben. Luthers jehr aus⸗—
gebreiteter Briefmechfel mit fürjtlichen Frauen macht das
im einzelnen Far. Gehörte doch fogar die Schweiter
des großen Widerſachers feiner Yehre, Karls V., die Kö—
nigin Maria von Ungarn zu feinen Korrefpondentinnen.
Frauen wie die Herzoginnen Katharina von Sachſen und
Elifabeth von Braunfchweig, die Kurfürjtinnen Sibylie
von Sachſen und Elifabethb von Brandenburg, die Prin-
zeffin Margaretbe von Anhalt und andere find mittels
des Wortes und theilweife auch mittel8 der Schrift für
das Reformwerk thätig gewejen. Die Frauen und Töchter
der gräflicden Häufer Mansfeld und Stolberg haben
ſich ebenfall8 in dieſer Richtung ausgezeichnet und eine
Anna von Stolberg ift die erjte proteftantifche Aebtiffin
des altberühmten Stiftes Dueblinburg gewefen. Auch
Frauen bürgerlihen Standes, wie Magdalene Haymer
aus Regensburg und Katharine Iunfer aus Eger, wirk-
ten als Dichterinnen geiftlicher Lieder und fogar als
öffentlihe Dilputantinnen für die Reformation. Der
Sturm, welcher in die Zeit gefahren, riß eben auch vie
6) Huttens Werfe, hrsg. v. Münd, II, 470 fg.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 19
Frauen über die gewöhnlichen Schranken ihres Daſeins
und ihrer Thätigkeit hinaus. Am deutlichſten ſehen wir
das an jener begabten, gelehrten und begeiſterten Frei—
frau Argula von Grumbach aus Franken,' welche lehrend
und ſchreibend zu Gunſten der Reform auftrat, mit
Luther in briefliche und perſönliche Berührung trat und
ihrer Geſinnung und Wirkſamkeit wegen manche An—
feindung zu beſtehen hatte. Sie war es auch, welche
dem Reformator entſchieden rieth, ſich zu verheiraten ”).
Denn hier lag am Ende für die Frauen doch der
Kern der Reformfrage. Sie vor allen mußten ja fühlen,
von welcher unberechenbaren ſittlichen und ſocialen Trag-
weite die Aufhebung des Cölibats war. Es konnte gar
nicht anders fein, die Art, wie Luther die Beitimmung
des Weibes und die Ehe fajjte, mußte ihre Herzen ge-
winnen. Der Reformator hat, wie befannt, die Be—
rechtigung, die Nothwendigkeit, die Heiligkeit ver Ehe
gleichermaßen aus ven biblijchen Urkunden wie aus der
Natur erwiefen. Der gefunde Menjchenveritand viftirte
ihm ven Ausſpruch: „Ein Weib, wo nicht die hohe felt-
jame Gnade da ift, kann eines Mannes ebenfowenig
entrathen als eſſen, jchlafen, trinfen und andere natür-
lihe Nothdurft. Wiederum alfo auch ein Mann kann
eines Weibes nicht entratben. Urſach ift die: es tit
ebenjo tief eingepflanzt der Natur, Kinder zeugen als
eifen und trinken. Darum hat Gott vem Leib die Glieder,
7) Schreber, Memoria Argulae Grumbachiae (1730). Rieger,
Leben der Argula v. ©. (1737). Klemm, Die rauen, IV. 221 fg.
92%
2) Bud II. Kap. 1.
Adern, Flüffe und alles, was dazu dienet, geben und
eingeſetzt. Wer nun dieſem wehren will und nicht
laffen gehen, wie Natur will und muß, was thut er
anders denn er will wehren, daß Natur nicht Natur jet, _
daß Feuer nicht brenne, Waffer nicht nete, ver Menſch
nicht eſſe noch trinke noch fchlafe?" Daß aber Luther
das Weib feineswegs als ein bloßes Kinverzeugungs-
inftrument geſchätzt, daß er neben dem natürlichen auch
den fittlihen Werth des Frauengefchlechtes kannte und
anerkannte, bezeugt uns fchön fein „Lob eines frommten
MWeibes” , worin er mit Anwendung von Bibelworten
das Vorbild einer rechten deutſchen Hausfrau und Haus:
mutter jo aufgeftellt hat: — „Ein fromm gottesfürchtig
Weib ift ein feltfam Gut, viel edler und föftlicher denn
eine Perle. Der Mann verläjit fih auf fie und ver-
trauet ihr alles. Sie erfreuet ven Mann und machet
ihn fröhlich, betrübet ihn nicht, thut ihm Liebes und fein
Leid fein Lebenlang. Geht mit Flach und Wolle um,
Ihafft gern mit ihren Händen, zeuget ind Haus und ift
wie eines Kaufmanns Schiff, das aus fernen Ländern
viel Waare und Gut bringt. Frühe fteht fie auf, fpeifet
ihr Gefinde und gibt ven Mägven, was ihnen gebühret.
Wartet und verjorget mit Freuden, was ihr zufteht.
Was fie nicht angeht, Läflet fie unterwegen. Sie gürtet
ihre Lenden feſt und ftredt ihre Arme, ift rüftig im Haufe.
Sie merkt, was frommt, und verhütet Schaden. Ihre
Leuchte verlifcht nicht des Nachts. Sie ftredt ihre Hand
nah dem Rocken und ihre Finger faffen die Spinvel, fie
arbeitet gerne und fleißig. Sie breitet ihre Hände aus
Im ſechszehnteuͤ Jahrhundert. 21
über die Armen und Dürftigen, gilt und hilft gerne.
Sie hält ihr Hauswejen in gutem Stand, geht nicht
Ichlampig und beſchmutzt einher. Ihr Schmuck ift Rein-
Tichfeit und Fleiß. Sie thut ihren Mund auf mit Weis-
heit, auf ihrer Zungen ift holdſelige Xehre, fie zieht ihre
Rinder fein zu Gottes Wort. Ihr Mann lobet fie, ihre
Söhne fommen auf und preifen fie felig.* Die Kehrfeite
bes Bildes zeigt das Wort des Reformators: „Es ift Fein
größer Plag’ noch Kreuz auf Erden denn ein bös, wun-
derlich, zänfifch, unfeufch Weib.” Die Ehe fafite Luther
ganz richtig zugleih als vie fittlihe Befchränfung und
die religiöfe Heiligung des Naturtriebe. Als Belege
Iteßen fich eine Menge feiner Ausfprüce anführen, Worte
voll Wahrheit und Innigkeit; aber fehon viefer genügt:
— „68 ijt fein lieblicher, freundlicher, holdſeliger Ver⸗
wandtniß, Gemeinfchaft und Gefellihaft tenn eine gute
Ehe, wenn Eheleute in Frieren und Einigfeit mit ein—
ander leben ®).” Der Reformator hatte das Glück, ven
Segen eines ſolchen Ehebundes perjönlich zu erfahren.
Seine Ehewirthichaft mit der gemefenen Nonne Katharina
von Bora, mit welder er fih, nachdem fie nebſt acht
anderen Nonnen unter feiner Mitwirfung aus dem
Klofter zu Nimtich entwichen war, am 13. Juni 1525
vermählte, ijt eine mufterhafte gemefen. Seine „herzliebe
Käthe“, wie er fie nannte, war nicht nur eine fehr ge-
bildete Frau, fondern auch eine vortrefflihe Hausmutter,
bie ihrem Gatten fein Haus zu einer Heimat machte,
8) Traktat von dem falfchgenannten Stand der Seiftlichen (1522).
Tiſchreden, 313, 323 b, 324 b.
22 Bud IH. Kap. 1.
nah welcher er bei jeder Abwefenheit mit Sehnjucht
zurüdblidte. Seine Briefe an fie bezeugen, welche Fülle
von Behagen, Zufriedenheit und Heiterfeit fie ihm zu
bereiten wußte. Sie hat aud) einen höchft wohlthätigen,
fänftigenden Einfluß auf den fchroffen Mann geübt und
ift e8 daher mur billig, daß proteftantifche Pietät neben
das Bildniß Luthers in deutfchen Bürger- und Bauern-
ftuben das feiner Frau zu hängen liebt.
Ganz unzweifelhaft hat ver fittliche Geift ver Nefor-
mation das zu Ende des Mittelalters tiefgefunfene
Anjehen des Eheſtandes wieder gefräftigt und erhöht,
wenngleich viefe Beſſerung weder eine allgemeine noch
eine plößlihe war noch fein fonnte. Kine Sittenver-
wilderung, wie das 15. Jahrhundert dem 16. fie ver-
machte, kann ja nicht mit einmal gehoben werden. Aber
e8 ging, neben tem Nachklang ritterlichen Frauendienſtes,
wie er fih 3. B. aus der zart romantifchen Werbung
des Pfalzgrafen Frievrih um Karls V. Schwefter Eleo-
nore heraushört, noch ein Zug von ebenso tiefiehnjüch-
tigem als vealiftiichem Verlangen durch die Zeit, mittels
der Ehe und des Familienlebens vie eigene Berfönlich-
feit fefter zu begründen. Sehen wir doch von dieſem
Verlangen jelbjt den irrenden Ritter des Humanismus
erfüllt, ven raftlofen Ulrich von Hutten. „Mich beherricht
— ſchrieb der Vielumgetriebene.am 21. Mat 1519 an
feinen Freund, den Domherrn Friedrih Fiſcher in Würz-
burg — mich beberricht jet eine Sehnfucht nach Ruhe.
Dazu braude ich eine Frau, die mich pflege. Du kennſt
meine Art. Ich kann nicht wohl allein fein, nicht einmal
Im fechszehnten Jahrhundert. 23
bei Nacht. Vergebens preif’t man mir das Glück der
Ehelofigfeit, die Vortheile der Einſamkeit an, ich glaube
mich nicht dafür gefchaffen. Ich muß ein Wejen haben,
bei dem ih mich von ven Sorgen, ja au von ven
ernften Studien erholen, mit dem ich fpielen, Scherze
treiben, angenehme und leichtere Unterhaltung pflegen
fann; ein Wefen, bei vem ich die Schärfe des Grams
abjtumpfen, die Hite des Kummers mildern fann. Gib
mir eine Frau, mein Friedrich, und damit du wiſſeſt,
was für eine, fo laſſ' fte ſchön fein, jung, wohlerzogen,
heiter, züchtig, geduldig. Beſitz gib ihr genug, nicht
viel. Denn Reichthum fuche ich nicht, und was Stand
und Gefchlecht betrifft, jo glaube ich, wird viejenige
adelig genug fein, welcher Hutten feine Hand reicht 9). “
Nicht nur der arme Nitter erwies jich jo erhaben über
Raftenvorurtbeile, ſondern auch Fürften hielten e8 feines-
wegs für Schande, mit bürgerlihen Mädchen Ehebünp-
niffe einzugeben. So. thaten ver Herzog Wilhelm von
Baiern und der Erzherzog Ferdinand von Defterreich,
des nachmaligen Kaiſers Ferdinand I. Sohn, indem
jener die Maria Bettenbed, dieſer die Bhilippine Welfer
heiratete. Die Gefchichte der ſchönen und geiftwollen
Philippine ift ein wahrer Roman der Wirklichkeit, ein
Triumph des NReinmenfchlichen über die Konvenienz und
zugleich ein Beweis, daß die Wiederfittlihung des Ver—
hältnifjes der beiden Gefchlechter, welche ver reformato-
riſche Geijt an die Stelle der romantischen Laxheit und
9) Huttens Werke, III, 158. Strauß, U. v. Hutten, I, 397.
24 Bud II. Kap. 1.
Leichtfertigkeit ſetzte, auch auf fatholifche Kreife zurück—
wirkte. Es war doch ein Gewinn, den Grundfag zur
Anerkennung gebracht zu fehen, daß auch fürftliche Nei⸗
gungen nur in der Ehe ihre Befriedigung foliten finden
dürfen. Unter tiefem Gefichtspunfte könnte dann auch
die vwielangefochtene und allerdings ſehr anfechtbare
Billigung, welche Luther und Melanchthon ver Doppelehe
des Yandgrafen Philipp von Heffen angeveihen ließen,
eine etwas bilfigere Beurtheilung finten. Philipp war in
jüngeren Jahren ein ſehr munterer Herr und e8 läſſt fi
begreifen, daß ihm das ſchöne Hoffräulein feiner Gemahlin,
Margarethe von der Saal, beffer gefiel als tie Land⸗
gräfin Ehriftine, welche mit wiverlichen förperlichen Eigen=-
Ichaften behaftet gewefen fein fol. Aber das Fräulein
leiftete feinen galanten Zumuthungen einen jo entfchie-
denen Widerftand, daß feine Leidenſchaft auf das feltfame
Ausfunftsmittel einer förmlichen Doppelehe verfiel. Viel—⸗
leicht hat die in jenen Tagen übermäßig große Geltung
des alten Zeftuments, welches die Monogamie befannt-
lih nicht forderte, fehr zur Wedung eines folchen Ge-
dankens beigetragen. Der Landgraf ließ fich feine An
jtrengung verdrießen, feine Geliebte ftatt zu einer Kebfe
zu feiner rechtmäßigen Ehefrau zu machen, und nachvent
er die Einwilligung ver Landgräfin und die in Form
eines jchriftlichen „Beichtraths“ achlelzudend gegebene
Billigung der beiden großen wittenberger Theologen er-
halten hatte, machte er mit dem fchönen Gretchen im März
1540 zu Rothenburg an ver Fulda Hochzeit.
Die Sache erregte allgemeines Auffehen und Aerger-
Im ſechszehnten Jahrhundert. 5
niß, um fo mehr, da das furz zuvor in Kraft. getretene
Strafgeferbuh Kaifer Karls V. (die Hals- oder Pein-
liche Gerichtsordnung, gewöhnlich die, Karolina“ genannt)
die Bigamie unter die fchweriten Verbrechen eingereiht
hatte 1), Weil wir gerate von viefem Geſetzbuche veven,
jo jet bemerkt, daß dafjelbe mit furchtbarer Strenge gegen
vie gefchlechtlihen Vergehungen verfuhr, und gerade vie
iharfen Strafen, womit Entführung, Notbzucht, Che:
bruch, Blutſchande, mwidernatürlihe Wolluft, Kuppelei,
Fruchtabtreibung und Kindermord bedroht wurden, be—
zeugen des Imſchwangegehen dieſer Frevel. Die Annalen
der Strafrechtspflege des 16. Jahrhunderts liefern hierfür
die faktiſchen Belege. In ten Aufzeichnungen des nürn-
bergers Scharfrichters Meifter Franz kommen Ehemweiber
vor, die mit zwanzig und mehr. Sunggefellen und Ehe-
männern Unzucht getrieben; ferner Fälle von Bigamie
und fogar von Trigamie, von Sodomiterei aller Arten,
von an Rindern von 6 bi8 11 Jahren vwerübter Noth-
zucht, von Blutichande mit Vater und Bruder. Nein, e8
wäre nur eine grelfe Barteianficht, die der Sittengejchichte
10) Item fo eyn ehemann eyn ander weib oder eyn eheweib
eyn andern mann in geftalt der heyligen ehe bei leben des erften
ehegeſellen nimbt, welche übelthat dann auch eyn ehebruch und
größer dann das felbig Tafter ift, und wiewol die Keyferlichen recht
auff ſolche übelthat kayn ftraf am leben ſetzen, fo wollen wir doch,
welcher ſolchs laſters Letrüglicher weiß, mit wiffen und willen
urſach gibt und volbringt, daß die nit weniger dann die ehebrüchigen
peinlich geftraft werben follen (d. i. mit dem Tode). Karolina Ausg.
v. Koch (1800), ©. 63.
26 Bud III. Kap. 1.
ing Geficht ſchlüge, wollte man behaupten, ver Proteftan-
tismus habe wie mittel8 eines Zauberfchlages nie Menſchen
ihrev Thorheiten, Xafter und Verbrechen entwöhnt 11).
Es bedurfte langer Zeit, bis der fittliche Geift der Re—
formation oben wie unten mehr und mehr zum Durch
bruche fam. Das 16., das 17. und noch die größere
Hälfte des 18. Jahrhunderts waren nicht danach ange-
than, die von ver reformatorifchen Bewegung ausgeftreu-
ten fittlihen Keime zu entwideln, und zur Reformatione-
zeit jelbjt war nicht allein die urtheilslofe Menge, jon-
dern auch die höhere Gefellichaft vielfach bereit, die
Lofung Freiheit mit Srechheit zu überjegen. So gab
insbefonvere die oft jehr tumultuarifche Aufhebung der
Klöfter zu Ausschreitungen Veranlaffung, welche zu den
11) Am uumittelbarften und gewaltjamften bat die Reforma-
tion befanntlih in Genf in das Sittenregiment eingegriffen. Aber
die Folgen waren ganz andere als uns die Fartcatchers des wider⸗
wärtigen Pfaffen Calvin glauben machen wollen. Denn in Wahrheit
hat in Genf niemals ein Ärgeres Sittenverderbniß geherrſcht ale
zur Zeit, wo die ſchnöde Tyrannei des Kalvinismus mit der gan-
zen Wucht ihrer Machthöhe auf der Stadt lag. Vgl. hierüber die
beiden, zum höchften und leicht begreiflichen Aerger der Theologen
auf die Perſon des Fanatifers Calvin und auf das Wejen des
Calvinismus ganz neue Kichter werfenden, unwiderleglich beurfun-
deten Abhandlungen won J. B. ©. Galiffe: „Quelques pages
d’histoire exacte* (Genève 1862) und „Nouvelles pages d’hi-
stoire exacte* (Genève 1863). Am folgerichtigften ausgebildet
und am Yängften aufrecht erhalten wurde der religidfe Defpotis-
mus der Calvinifterei in Schottland. S. darüber das höchſt beleh-
rende, in jeiner Art einzige 5. Kapitel des 2. Bandes von Budle’s
_ „History of civilisation in England.“
Im fechszehnten Sahrhundert. 27
Schattenfeiten der Reformation gezählt werden müffen.
Es ift keineswegs immer ein Antrieb religidfer Ueber—⸗
zeugung gewefen, was viele Nonnen die Klaufur brechen
machte. Früher hatten fih die Infaffinnen ver Frauen»
häufer in die Klöfter geflüchtet; jet trat Häufig ver
umgefehrte Fall ein, indem die Nonnen aus ven Klö⸗
ftern in die Bordelle liefen. So 5. B. bei ver i. S.
1526 vorgenommenen Aufhebung des Klarenklofterd zu
Nürnberg 7). 8 eriftiren Aufzeichnungen eines Xaien-
bruder im Auguftinerflofter Bödeken bei Paderborn,
"welche die wahrheitsgetreuen Berichte eines Augenzeugen
über die Art und Weife enthalten, wie die Reformation
von vielen veritannen wurde!53). Da wird uns bald
ein Priefter vorgeführt, ver eine Nonne aus dem Klofter
holt, um in unehrbarfter Weife mit ihr Land auf Land
ab zu fahren; bald eine alte hochmüthige und mann®-
füchtige Nonne, die ſich richtig noch an ven Mann zu
bringen weiß; bald endlich eine hochadelige Gefellfchaft,
welhe, Herren und Damen bunt durdeinander, zum
Entjegen des guten Bruders Göbel in fein Klojter ein-
bricht und da mit Schmaufen, Tanzen und Springen ein
Höllenſpektakel verführt.
Das alles ericheint jedoch als harmlos gegenüber
jener furchtbaren Verirrung der reformiftifchen Bewegung,
12) „Eins teil Numlein Iuffen von ein Klofter in das andere,
das was in das Lieb Frauenhans.“ Aus bes Goldſchlägers An-
toni Kreutzer handiriftl. Chronika der St. Nürnberg, abgebr. im
Klofter, VI, 459.
13) Zeitſchr. f. d. Kulturgeich. 1859, ©. 196 fg.
28 Fud IH. Kap. 1.
welche in der Wierertäuferei zu Tage trat. Beim erften
Auftauchen der wiebertäuferifchen Selten zwar treffen
wir in mancher derfelben die ganze Hoheit einer religiöfen
Begeifterung, weldhe makelloſe Märtyrerfränze um vie
Stirnen todesfreudiger Belenner legte. Als im Salz-
burgifhen — von jeher eine Xieblingsftätte pfäffiicher
Wuth — die durchaus harmloje wierertäuferiiche Sefte
der Gärtnerbrübder mit Schwert und Feuer ausgetilgt
wurde, befand ſich unter ten Opfern auch ein fchönes
junges „Fräulein von ſechszehn Jahren. Da fie ſtand—
haft ten Widerruf verweigerte, jollte fie lebendig ver-
brannt werden. Das wenigitend erjparte ihr ver Henker,
denn, menfchlicher als die Richter, nahm er Die arme Rleine
auf ven Arm und trug fie zur Roßtränfe, wo er fie unter
das Waſſer hielt, bis fie todt war, um dann erft den Leich-
nam aufden Scheiterhaufen zu werfen 1%). Wo freilich, wie
in der Wiedertäufertragövie zu Münfter geſchah, Leute
wie die Rottmann, Matthys, Knipperdolling und Bodel-
fon zeitbewegende Ideen zu ungehenerlichen Karikaturen
verzerrten, da konnte die Beftie im Menfchen brülfend
auffpringen, ta hatte der religiöfe Fanatismus ein Neſt
gefunden, wo er recht gemächlich feine legitimen Zwillings—
töchter, Wolluft und Graufamfeit, zeugen und mit Schmad),
Thränen und Blut großfüttern konnte. Wir werben
zwar dem Wirfen viefer Zwillingsichweftern ſelbſt im 19.
14) Newe Zeyttung von den widderteufern und yhrer Sect
(1828), bei Ranfe, Deutſche Geſch. im Zeitalter d. Reformation,
III, 508 fg.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 29
Jahrhundert noch auf deutſchem Boden begegnen; aber
mit fo foloffaler Schamlofigfeit, wie fie in den Jahren
1534 unv 1535 unter den Wievertäufern in Münfter
aufgetreten, haben fie fich. feither in Deutſchland doch nie
mehr gebärdet. Die münfter’jche Wiedertäuferei ift zu-
gleich jeit der merowingijchen Zeit der einzige Verſuch
gewefen, die WVielweiberei in einem chriftlichen Lande
förmlih einzuführen. Ian Bodelfon, „der gerechte Ko-
nink in dem neuen Tempel von Zion“, hatte fih ein
Harem von vierzehn Frauen eingerichtet. Seine „Großen“
ahmten ihm nach und e8 ging überhaupt ganz orientalifch-
beitialiih in Münfter zu. Die Weltgejchichte hat wenige
Schreckbilder aufgeftellt, die jenem gleichfommen, welches
den San Bodeljon, den Spröſſling eines helländifchen
Schulzen und einer hörigen Magd aus Weftfalen, zeigt,
wie er, angethan mit dem königlichen Drnat, -eine feiner
vierzehn Frauen, Namens Eliſabeth, welche ihm erklärt
hatte, daß fie feiner Liebfojungen überbrüffig wäre, in
Proceffion auf ven Marftplag führt, der Unglücklichen
daſelbſt mit eigener Hand das Haupt vom Rumpfe jchlägt
und dann mit feinen übrigen breizehn Weibern einen
Rundtanz um den blutenden Leichnam macht, wobei alle
das Lied anftimmen: „Allein Gott in ver Höh' ſei Ehr'!“
In Wahrheit, e8 ift noch wie ein Lichtpunkt in viefem
düfteren Gewebe von Raferei, wenn der Fanatismus in
Münjter eine Nachahmerin der hebräifchen Judith auf-
.. ftehen machte. Wie die Hebräerin ins Lager des Holos
fernes, ging die Frieſländerin Hille Feike ins Zelt des
mit einem Heere die Stadt umlagernden Bifchofs von
30 Buch III. Kap. 1.
Münfter hinaus, um ihn zu ermorden ; aber fie büßte ihr
mifiglüdtes Vorhaben mit dem Zope 1°).
Auch abgefehen von dem münfter’fhen Gräuel, drängt
fih tem ruhigen Betrachter hiftorifcher Thatſachen die
Meberzeugung auf, daß, wenn unzuredhnungsfähige Igno-
ranten oder feile Parteiffribenten von einer fogenannten
„guten alten frommen Zeit” zu reden lieben, dieſe Be—
zeichnung tem Reformationgzeitalter im ganzen und °
großen ebenfowenig zufteht wie vem Mittelalter. Es ift
überhaupt ein ganz leeres Gerede ohne alle gefchichtliche
Deveutung. Die gute alte fromme Zeit, wie fich vie
bezeichneten Leute viefelbe einbilden oder anderen ein-
bilden wollen, bat gar nie exiftirt. Der Gefchichtjchrei-
ber hat weder die Aufgabe noch das Recht, die Vergan—
genheit zu fchelten, weil viefelbe nach ihren eigenen und
nicht nach -unjeren Begriffen gemotelt war, weil fie das
Leben faſſte und führte, fo gut wie fie e8 eben verſtand;
aber er ift berechtigt, zı fagen, daß, im Lichte ver Bil-
dung und Gefittung von heute angefehen, die Refor-
mationgzeit, wie das Mittelalter, barbarifch erfcheinen
muß, barkariih im Fühlen und Denfen, barbarifch in
Entbehrung und Genuß, barbariſch in Verbrechen une
Strafen, barbariich in Triumphen und Niederlagen. . . -
Das gefellige Leben ging während des 16. Jahr⸗
hunderts in Deutfchland noch fo ziemlich im Geleife ver
142) Ich verweife auf mein Buch „Größenwahn, vier Kapitel
aus ber Gefchichte menjchlicher Narrheit”, (1876), allwo ih (S. 75
— 124) diefe Orgie des Wahnwitzes, das Wiedertäuferfpiel von
Münſter, einer quellenmäßigen Darftellung unterzogen habe.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 31
ritterlichvomantifchen Ueberlieferungen fort. Es wurde
bis gegen 1560 Hin noch viel turnirt und fonft im Stil
der berfömmlichen Höfiſchkeit gehandelt und gewandelt.
Aber entweder erfcheint dieſes ritterliche Treiben als ein
gefpenftiger Spuk, zum Zerrbilo verfchnörfelt, oder ganz
ins Gemeine verfladt. Das Nitterthum, welches felbit
in der Perfon eines Franz von Sidingen nur für furze
Weile wieder eine fünftlihe Bedeutung hatte gewinnen
fönnen, war tobt won der Zeit an, wo die Kriege mittels
„frummer Landsknechte“, d. i. mittel® fehr unfrommter
Sölonerheere geführt wurden. Die Ritter wurden felber
zu Landsknechten und Yanvsfnechtshauptleuten oder zu
Hofvienern oder zu einem unerquidlichen Mifchmafch von
Rrautjunfern und Wegelagerern. Man leſe nur vie
Selbftbiographieen des Götz von Berlichingen, des Hanns
von Schweinichen und des Bartholomäus von Zaftrow
und man wird erfahren, wie profaifch, gemein und lum-
pig e8 im 16. Jahrhundert in ven „ritterlichen“ Kreiſen
bergegangen, im Südweſten wie im Djten und Norden
unferes Vaterlandes 15). Es gehörte das Genie Göthe's
dazu, aus dieſem Götz einen Helven zu machen; denn in
ter Wirkflichfeit war er, obzwar von der Natur zu einem
15) Das Leben Götzens v. Berlichingen, Nürnberg 1731.
Graf Götz v. Berlidingen, Geſchichte des Ritters Götz v. Ber-
lichingen, Leipzig 1861. Begebenheiten des ſchlefiſchen Ritters Hanns
v. Schweinichen, herausgegeben v. Büſching, Brejlan 1820—23.
Denkwürdigkeiten von Hanns v. Schweinichen, herausgegeb. von
Defterley, Breſſau 1878. B. Eaftrowen Herkunft, Geburt und
Lauf feines Lebens, herausg. von Mohnike, Greifswald 1823— 24.
32 Bud II. Kap. 1.
hochherzigen Charakter angelegt, ein ziemlich gewöhnlicher
Stegreifritter, deſſen Nitterlichfeit nicht fo weit ging, vor
ven fehmähfichiten Unternehmungen zurüdzufchreden 19).
Und diefer Hanns von Schweintchen, ver ſich, wie er
jelber fagt, durch „faufen eine große Kundſchaft im
Reihe gemacht“ und mit feinem lumpigen Herm, dem
Herzog von Liegnig, Schmaroger- und Borgerfahrten
durch Deutfchland anitelite! Die romantifhen Formen
und Formeln waren im 16. Jahrhundert nur noch Ver-
ipottungen ver im Grunde ganz nüchtern und realiftiich
geftimmten Wirklichkeit.
Diefer Realismus bildete ein fehr heilfames Gegen-
gewicht zu dem Theologismus, welcher durch vie Nefor-
mation das vorwiegendfte Rulturelement wurde. Es war
jehr nöthig, daß der theologifhen Verweiſung auf das
Jenſeits eine Richtung zur Seite ging, welche praftijch-
verftändige Zwede im Dieffeits anftrebte- In der Berfon
Luthers vereinigten fich beide Richtungen in denkwürdiger
Weife: er glaubte an Himmel und Hölfe, aber er wußte
auch frifchweg zu genießen, was vie Erte bot. Der
realiftiiche, durch das wiedererwachende fittlihe Bewußt⸗
jein verevelte Hang der Zeit mußte felbjtverjtändlich
auch die Stellung ver Frauen in der Gefellfchaft beein-
fluffen. Der romantijche Nimbus, in welchen ver Minne-
16) M. ſ. in der angezogenen Selkftbiograpbie des Ritters
©. 1724 fg. die Erzählung feines für ihn ſchmachvollen Abenteuers
mit dem Grafen Philipp von Walded i 3.1516. Und er erzählt
die Geſchichte jo trenherzig, daß man ſieht, das ritterliche Gewiſſen
batte zu diefer Zeit eine ſiebenfache Hornhaut angejeßt.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 33
geſang die Frauen gehüllt, war ſchon im 14. und mehr
noch im 15. Jahrhundert völlig zerfloſſen und von der
niedrig⸗ſinnlichen Anſchauung, die man zu Anfang des 16.
Jahrhunderts von dem ſchönen Geſchlechte hatte, zeugt laut
die erzproſaiſche, faſt peinliche Specificirung der weiblichen
Schönheiten, wie man fie bei Autoren von damals trifft 17).
-
17) Bebel keantwertet in feinen Yacetien (III, Fol. 89) die
Frage: „Quibus mulier perfecte formosa naturae dotibus prae-
dita sit?* dahin, daß ein volllommen ſchönes Weib dreimal fieben
körperliche Reize beſitzen müſſe. Etwas fpäter wurden dann die
einundzwanzig Schönheiten auf dreißig gefteigert und wurde biefe
Steigerung durh Johannes Nevizanus in feiner „Silva nuptia-
lis“ (Paris 1521) aljo in Berje gebracht:
-„Triginta haec habeat quae vult formosa vocari
Foemina, sic Helenam fama fuisse refert.
Alba tria et totidem nigra et tria rubra puella,
Tres habeat longas res totidemque breves,
Tres crassas, totidem graciles, tria stricta; tot ampla
Sint ibidem huic, sint quoque parva tria.
Alba cutis, nivei dentes, albique capilli,
Nigri oculi, cunnus, nigra supercilia.
Labra, genae atque ungues rubri, sit corpore longa
Et longi crines, sit quoque longa manus.
Sintque breves dentes, auris, pes, pectora lata
Et clunes distent ipsa superecilia.
Cunnus et os strietum stringunt ubi cingula stricta,
Sint coxae et culus vulvaque turgidula.
Subtiles digiti, crines et labra puellis,
Parvus sit nasus, parva mamilla, caput“.
Der Umftand, daß in dieſem Recept ſchwarze Augen und Brauen.
gefordert. werben, beweift, daß e8 nicht germaniſchen, ſondern ro-
manifchen Urfprungs war. In der That findet e8 fich auch in ſpaniſcher
Scherr, Frauenwelt. 4 Aufl. II. 3
34 Bud III. Kap. 1.
Die reformiftifche Erörterung und Löſung der Cöli—
batsfrage mußte nun, wie ſchon oben bemerft worven,
auch die Anfiht vom Weibe läutern und in den groben
Materialismus, welder im Berfehr ver beiden Ge-
ichlechter herrſchend geworben, ein feelifches Clement
zurüdführen. Allerdings wurde jener Materialismus
im allgemeinen jo wenig gänzlich verbrängt, daß wir
ihn vielmehr im 17. Iahrhunvdert wieder in üppigfter
Wucerung finden werden; allein alle Denfenden und
Redlichen kamen doch darin überein, daß eine gute
Frau des Mannes größter Kebensfegen fei. Unter einer
„guten“ Frau verjtand man aber nicht mehr im Sinne
höfifch-romantifchen Ueberſchwangs eine Göttin, die ge-
legentlih auch als buhleriſche Nymphe erfcheinen fonnte,
jondern die treue, tüchtige, freundliche Lebensgefährtin,
Sänftigerin und Ergänzerin des Mannes, die verſtändige
und emſige Hauswirthin, die ſorgſame Pflegerin und
Erzieherin ihrer Kinder. Diefes Frauenideal, welches
wir auch durch Luther aufftellen jahen, legt im cha—
rafteriftiichen Gegenfag zu der NRitterromanitif, welche
die weibliche Körperjchönheit betonte, vie Betonung auf
die Seelenſchönheit, auf die fittlichen Eigenschaften ver
rauen. So fehrt es bei allen wahrhaft bedeutenden.
und franzöfilher Sprache und zwar bei Brantöme (Oeuvres, III, 291).
Fünfzig Jahre vor der Zeit, mo Newizanus feine Diftichen werfaflte,
einverleibte die Klara Hätlerin zu Augsburg ihrem Liederbuch
einen Reimfpruch über bie Einzelnheiten weiblicher Schönheit,
welder jo verbrealiftiich lautet, daß ich Bedenken tragen muß,
denfelben nacdhzufchreiben. (Ausg. v. Haltaus, 1840, LXVIU.)
Im ſechszehnten Sahrhundert. 35
ſpäteren deutſchen Autoren des 16. Jahrhunderts wieder
und der genialſte und vielſeitigſte derſelben, Johann
Fiſchart, hat ihm einen ganz beſonders vortrefflichen
Ausdruck gegeben 18).
Der Ton dieſes ganzen Zeitalters war übrigens ein
keineswegs zarter. Im Gegentheil ein kraftſtrotzender,
rückſichtsloſer, derber, ſo ſtark in den Grobianismus
fallender, daß ſich im 16. Jahrhundert, wie jedermann
weiß, förmlich eine „grobianiſche“ Literatur in Deutfch-
— — —
18) In ſeinem Ehezuchtbüchlein (1578):
„Wann Er ſchreiet, Sie nur ſchweiget;
Schweiget er dann, redt fie jn an.
Iſt er grimmfinnig, ift fie fülfinnig,
Iſt er vilgrimmig, ift fie ftillftimmig,
Iſt er ftillgrimmig, ift fie troftftiimmig,
Iſt er ungftümmig, ift fie Heinftimmig,
Tobt er aus Grimm, jo weicht fie jm,
Iſt er wütig, jo ift fie gütig,
Mault er aus Grimm, redt fie ein jm.
Er ift die Sonn, fie ift der Mon,
Sie ift die Nacht, er hat Tagsmacht.
Was nun von der Sonnen am Tag ift verpromnen,
Das kült die Nacht durch des Mons Macht.
Alſo wird gftillt auch was ift wild:
Sonft gern gihicht, glei wie man ſpricht,
Zwen harte Etein malen nimmer Hein.
Ein gſcheid Frau lafit den Dann wohl wüten ;
Aber dafür joll fie ſich hüten,
Daß fie jn nicht lang maulen laffe,
Sondern durch linde Weis und Maße
Und durch holdſelig freundlich Geſpräch
Bei Zeiten jm den Mund aufprech“.
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Im ſechszehnten Jahrhundert. 37
von- damals ihre Gloffen gemacht haben, alfo fort; —
Phaẽton. Dort jieh ich etliche vermiſcht und nadet unter ein⸗
ander baden, Frauen und Männer, und glaub das ohn
Schaden ihrer Zucht und Ehr nit zugehn. — Sol. Ohn
Schaden. — Ph. Ich fieh fie fich doch küſſen. — ©. Freilich.
— PH. Und freundlich umfahen. — S. Ja, ſie pflegen etwan
auch bei einander zu fehlafen. — Ph. Vielleicht haben fie
die Gefeß Platonis angenommen, daß fie die Weiber
gemein(jam) halten. — ©. Nit gemein; ſonder in dieſem
beweifen fie ihren Glauben (vd. H. ihr Vertrauen zu ven
Frauen). Denn an feinem Ort, da man der Frauen
hüt', magſt du weibliche Scham unverfehrter finden denn
bei dieſen, die deren fein Wartung noch Uffehung haben.
Es ift auch nirgend weniger Ehebruch und wird die Ehe
an dem Ort am ftrenglichften gehalten, — Ph. Sprächeſt
du, fie, neben Küffen, Umfahen, auch bei einander
ichlafen, nichts weiter beginnen? Und dazu bei ber
Naht? — ©. Ich ſprech: ja. — Ph. Und gejchieht das
auch ohn allen Verdacht? Und die ihre jungen Weiber
und Maidlin von andern alſo behandelt werven fehen,
förchten fie nit (für) derfelbigen Ehren? — ©. Au
fein Gedanfen haben fie deß. Denn fie getrauen einander
wohl und leben in guter Treu und Glauben, frei und
redlih, ohn allen Trug und Untreu?) .... Schade
nur, daß dieſe optimiftifche Auffaffung aus dem Mittel-
alter überfommener Naivitäten vonſeiten der Wirk—
fichfeit ſicherlich manches Dementi erfuhr. Huttens
20) Huttens Werke, V, 243.
36 Bud II. Kap. 1.
fand entwidelt bat. Schon aus den furdhtbaren Derb-
beiten, wovon die Streitihriften ver NReformatoren —
vor allen die Luthers — und ihrer Gegner wimmeln,
fann man abnehmen, was alles auch Frauenohren da—⸗
mals anzuhören befamen. Nicht immer, ohne durch dieſen
alle Dinge frifchweg bei ihren Namen nennenden Um-
gangston, welcher gar gem ein „Zötlein“ oder auch
wohl eine Zote, wie fie heutzutage nur noch betrunfene
Bauernferle,. Fuhr- und Schiffsleute vorzubringen wagen,
mitunterlaufen ließ, vwerlett zu werden. Der feinfinnige
Eraſmus läſſt in einem feiner „Colloquien“, welche für
die Sittengefchichte jener Zeit jo wichtig find, ein jchuld-
loſes und liebenswürbiges Mädchen auftreten, welches
fih über die häufigen Gaftereien im väterlichen Haufe
beflagt. Die Geſpräche ver Verheirateten feien bei folchen
Anläffen nicht immer züchtig und zumeilen müſſe es
ſich fogar küſſen laſſen 19). Aus Huttens urſprünglich
lateiniſch geſchriebenem, nochmals von dem Verfaſſer ver⸗
deutſchtem Geſprächsbuͤchlein die „Anſchauenden“ (adspi-
cientes) wiſſen wir, daß mittelalterliche Sitten, die uns
heute bedenklich genug vorkommen, die aber, Huttens
Verſicherung zufolge, ganz unbedenklich waren, noch zur
Reformationszeit in Deutſchland im Schwange gingen.
Die Anſchauenden, nämlich Sol und fein Sohn Phaeton,
betrachten fich unfer Land aus ver Vogelperfpeftive und
fahren, nachdem fie über die Trunkſucht der Deutjchen
19) „Offendunt me in aedibus paternis crebra convivia;
nec semper virginea sunt quae illic dicuntur inter conjugatos.
Et aliquoties fit, ut osculum negare non possim“,
2 — —
u
Im ſechszehnten Jahrhundert. 37
von-damals ihre Gloſſen gemacht haben, alſo fort; —
Phaeton. Dort ſieh ich etliche vermiſcht und nacket unter ein-
ander baden, Frauen und Männer, und glaub das ohn
Schaden ihrer Zucht und Ehr nit zugehn. — Sol. Ohn
Schaden. — Ph. Ich fieh fie fich doch füffen. — ©. Freilich.
— Ph. Und freundlich umfahen. — ©. Ja, fie pflegen etwan
auch bei einander zu ſchlafen. — Ph. Vielleicht haben fie
die Geſetz Platonid angenommen, daß fie die Weiber
gemein(jam) halten. — S. Nit gemein; fonder in dieſem
beweifen fie ihren Glauben (vd. h. ihr Vertrauen zu den
Frauen). Denn an feinem Ort, da man der Frauen
hüt', magft vu weiblihe Scham unverfehrter finden denn
bei viefen, die deren fein Wartung noch Ufjehung haben.
Es ift auch nirgend weniger Ehebruch und wird die Ehe
an dem Ort am ftrenglichiten gehalten. — Ph. Sprächeſt
du, fie, neben Küffen, Umfahen, auch bei einander
ichlafen, nichts weiter beginnen? Und dazu bei der
Naht? — ©. Ih ſprech: ja. — Ph. Und gefchieht das
auch ohn allen Verdacht? Und die ihre jungen Weiber
und Maidlin von andern alfo- behanvelt werben jehen,
förchten fie nit (für) derjelbigen Ehren? — ©. Aud
fein Gedanfen haben fie dep. Denn fie getrauen einander
wohl und leben in guter Treu und Glauben, frei und
redlich, ohn allen Trug und Untreu?) .... Schade
nur, daß diefe optimiftifche Auffaffung aus dem Mittel-
alter überfommener Naivitäten vonjeiten der Wirk—
lichkeit ſicherlich manches Dementi erfuhr. Huttens
20) Huttens Werke, V, 243.
3
38 Buch III. Kap.1.
Zeitgenofſe — falls man nämlich zwei in demſelben
Jahrhundert lebende Männer Zeitgenoſſen nennen kann
— Hanns von Schweinichen, deſſen ſchon erwähnte Selbit-
biographie von 1552 bis 1602 reicht, läſſt uns den ge-
jelligen Verkehr viefer Zeit in einem viel weniger ivea-
liſtiſchen Lichte fehen. „Im Jahre 1570 — erzählt er
— begonnte ich mich auch allbereit etlichermaßen um vie
Sungfrauen zu thieren und daucht mich in meinem Sinn
Meifter Fix zu fein. Bin auch auf Hochzeiten geritten
und jonften, wohin ich gebeten worden, mich gebrauchen
lafjen und fraß und foff mit zu halben und ganzen Nächten
und machte e8 mit, wie fie e8 haben wollten“. Zwar
bemerft er weiterhin: „Im Jahre 1573 Habe ich be—
funden, was Liebe ift, venn ich habe eine Magd fo lieb
gewonnen, daß ich davor nicht habe jchlafen mögen.
Bin ich doch fo keck nicht gewefen, daß ich ihr was an⸗
gemuthet hätte. Deromwegen halte ich davor, Daß bie
erjte Xiebe die heißeſte tft“. Allein dieſer Platonismus
des guten Ritter hielt nicht lange vor, und was unter
dem „Mitmachen“, wovon er zuvor gefprochen, zu ver-
jtehen fei, erfahren wir aus feiner Bejchreibung ver
Fahrt, welche er mit vem Herzog Heinrich XI. von Lieg-
nig nah Mecklenburg that. Er erzählt von einem
Hoffeit, dem er dort anwohnte, und fährt dann fort:
„Die einheimischen Junkern verloren fi, ebenfo vie
Jungfrauen, daß alfo auf die let nicht mehr als zwo
Sungfern und ein Yunfer bei mir blieben, welcher einen
Zanz anfing. Dem folget ih nad. Es währte nicht
lange, mein guter Freund wifcht mit der Jungfer in
m An ..
Im ſechszehnten Jahrhundert. 39
die Kammer, ſo an der Stuben war; ich hinter ihm
hernach. Wie wir in die Kammer kommen, liegen zween
Junkern mit Jungfrauen im Bette; dieſer, der mir vor-
getanzet, fiel mit feiner Jungfer auch in ein Bette. Ich
fragte die Jungfrau, mit der ich tanzet,. was wir machen
wollten? Auf mecklenburgiſch fo fagt fie: ich foll mich
zu ihr in ihr Bette auch Tegen; dazu ich mich nicht
lange bitten ließ, legt mich mit Mantel und Kleivern,
ingleichen die Jungfrau auch und reden alfo vollends
zu Tage, jedoch in allen Ehren. Das beißen fie auf
Treu und Slauben beifchlafen, aber ich achte mich ſolches
Beiliegens nicht mehr, denn Treu und Glauben möchten
zu einem Schelmen werben 21)“.
Der Zanz ſtand unter ven VBergnügungen jenes Zeit-
alters obenan. Er durfte, fo wenig als ein wohlbefegter
Ticſch mit vollgefüllten Bechern, bei feiner häuflichen over
öffentlichen Xuftbarfeit fehlen. „Der Tanz — meint ein
Theolog von damals — fei anfänglich in ehrbarer Meinung
erdacht und zugelaffen worden, damit die Jugend in
vieler Leute Gegenwart Zucht hielte und zwifchen Jung⸗
frauen und Yünglingen ebrliche Liebe geftiftet würde.
Denn beim Zangen könne man die Sitten der jungen
Leute fpüren und merken. Es ſollte aber dabei alles
züchtig zugeben 29)”. Gerade das war aber nicht ver Fall,
und wenn auch billig angenommen werden darf, daß
nicht wenige der Sittenprediger, welche gegen bie unfitt-
lihen Tanzweiſen eiferten, der befannten theologifchen
21) 9. v. Schweinichen a. a. O.
22) Theatrum diabolorum (1575), fol. 219.
40 Bud III. Kar. 1.
Schwarzmalerei fich befliffen haben mögen, fo lauten
die Zeugniffe, welche uns aus verfchiedenen Perioden bes
16. Zabrhimberts über vie herrſchenden unflätigen Tanz-
bräuche vorliegen, doch zu beftimmt und übereinftimmend,
als daß wir -fie überfehen vürften. Der große Gelehrte
Agrippa von Netteöheim, keineswegs ein fanertöpfiicher
Pedant, jagt in jeinem 1526 gefchriebenen Bu „De
vanitate scientiarum“, man tanze mit unehrbaren
Gebärden und ungeheurem Fußgeftampfe nach Iafeiven
Weifen und zotigen Liedern. In buhlerifchen Umarmungen
lege man dabei unzüchtige Hände an Mäpchen und
Matronen, fie küſſend, und Lafterhaftigfeit für Scherz
ausgebend verfchreite man dazu, ſchamlos das zu ent⸗
blößen, was die Natur verberge und die Sittfamfeit
verhülle23). Im Sabre 1567 verdffentlichte Florian von
Türftenberg, Pfarrherr zu Schnellewalde, feinen „Zants.
teuffel, das ift wider den leichtfertigen unverſchämten
Welttang und ſonderlich wider die Gottes Zucht und
ehrvergefjene Nachttänge”, wobei, wie ver eifernde Mann
fagt, die Tanzenden „oft durcheinander unorventlich gehen
und lauffen wie die bifenvden Küh, fich werffen und ver-
drehen, welches man jekt verfünern heiffet. So gefchlehet
nun ſolch jchendtlih, unverfhämt ſchwingen, werffen,
23) „Saltatur inconditis gestibus et monstroso pedum
strepitu ad molles pulsationes, ad lascivas cantilenas, ad ob-
scoena carmina. Contrectantur puellae et matronae impu-
dieis manibus et suaviis meretriciisgque amplexibus et quae_
abscondit natura, velavit modestia, ipsa lascivia tunc saepe
nudantur et ludi tegmine obducitur scelus“. L.c.cap. 18.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 41
verdrehen und verködern von den Tantzteuffeln, fo ge⸗
ſchwinde, auch in aller Höhe, wie der Bawer den flegel
ſchwinget, daß bißweilen den Jungfrauwen, Dirnen und
Mägven die kleider biß über ven Gärtel, ja bis über ven
Kopff fliegen. Ober werffens fonft zu boden, fallen auch
wol beive und andere viele mehr, welche geſchwinde und
unvorfichtig hernach Tauffen und rennen, daß fie über
einem bauffen liegen. Die gerne unzüchtig Ding fehen,
denen gefellt folch ſchwingen, fallen und Fleiverfliegen fehr
wol, lachen und feind fröhlich dabey, denn man machet
jnen gar ein fein welſch Bellvivere. Welche Sungfram,
Magd und Dirne am meiften am Zange herumgefüret,
geſchwungen, gedrehet und gefchawet wirbt, bie ift bie
fürnemdfte und beſte und rühmen und fagen die Mütter-
fein felber: Es ift gar bedrang umb meine Tochter am
Zange, jederman wil mit jr tangen, fie hat heut am
Tantz guten Markt gehabt. Auch fticht der Narr unfre
jungen und alten Witwen, die treibens ja fo körbiſch,
wilde und unfletig al8 die jungen Mägdlein, fein bey
ven Rachttängen fowol die erften und vie legten 2%". In
dem „Eheſpiegel“ des Cyriakus Spangenberg, in welchem
fünfzig Brautpredigten des Verfaſſers zufammengeftellt
find, werden auch im lebten Viertel des 16. Jahrhunderts
bie fchon früher laut gewordenen Klagen über das wüſte
Zangen erneuert. Spangenberg ftellt vem ebrbaren Lanz,
welchen er ven „burgerlichen”“ nennt, ven „ Bubentanz ”
24) Tanstenffel (Frankf. 1567), Fol. 38 fg. Die Streit-
ſchrift ift auch vwollftändig abgebrudt im Theatrum diabolorum,
fol. 216 fg.
42 Buch IH. Kap. 1.
gegenüber, ven man, jagt er, auch ven „ Hurentanz” zu
nennen berechtigt wäre. Denn „an den Abenbtänzen,
da man nichts thut als unzüchtig tanzen, Ipringen, drehen,
greifen, verleuret manch Weib ihre Ehr und gut Gerücht.
Maniche IJungfram Iernet alda, das ihr befjer wäre, fie
hatte e8 nie erfaren. Wer folhe Tänze billigt, iſt ein
Bube, und wer fie vertbeidigt, ilt ein Schall. Denn
was iſt da anders dann ein wildes, ungehewr vwiechijches
Rennen, Lauffen und durch einander Zwirbeln? Da
fiehet man ein fol unzüchtig Auffwerfen und Umb-
werfen und Entblöffen ver Mägplein, daß einer ſchwört,
es hätten die Unfläter, jo ſolchen Reyen führen, aller
Zucht und Ehre vergeſſen, wären taub und unfinnig und
tanzten St. Beistanz 2)”. Amtliche Beftätigungen finden
dieſe Anklagen durch die Tanzordnungen, wie ſolche das
ganze Jahrhundert hindurch von Fürften und Städten
erlaffen und häufig erneuert wurden — ein Beweis, daß
fie gar wenig fruchteten. In ſämmtlichen wird pen Tanzen»
den beiverlei Gefchlechtes eingefchärft, fich „gebührlich zu
befleiven und zu beveden“, und ven Tänzern insbeſon⸗
dere. „Sungfrawen und Frawen nit jo herumbzuſchwin⸗
gen, nit auf und umbzuwerfen und unzüchtig zu
blöſſen 2)*. Bon Mädchen und Frauen, die fo mit ſich
tanzen ließen, war zu erwarten, daß auch im übrigen
ihr Gebaren mehr ein rohes als feines geweſen ſei.
Wir wollen zwar in Liebe annehmen, daß dieje Frauen-
25) Spangenbergs Ehejpiegel (1578), ©. 285 fg.
26) S. die ſächſiſch-meißniſche Verordnung v. 3. 1555 und
die etwas ſpätere nürnberg'ſche bei Neinöhl, das Klofter VI, 421 fg.
Im ſechszehnten Sahrhundert. | 43
zimmer nicht die Mehrheit, fondern nur die Minverheit
ausgemacht hätten; aber auch fo gab es deren noch ge-
nug und übergenug, an welche der zuerjt lateinijch er-
fchienene, dann verdeutjchte und fpäter (1567) in Reime
gebrachte „Srobianus“ feine plumphöhniſchen Rathfchläge
abreffiren konnte, wie fie fich benehmen follten, um recht
grobianiſch zu ericheinen. Keck wie Falken follten fie
auf ver Gaffe ihre Augen umhergehen laſſen, ihr Kränz-
fein ftatt auf die Stine auf die Nafe fegen, furz, mög⸗
lichſt unweiblich und frech auftreten 27).
Was die Frauentradht des 16. Jahrhunderts angeht,
fo reicht das Wort nicht aus, die wechfelnden Geftaltungen
derfelben anfchaulih zu machen, um fo weniger, da zu
dieſer Zeit in Deutfchland die mannigfaltigften „Volks⸗
trachten“ ſich zu entwideln anfingen22). Man muß -
burhaus die alten „Trachtenbücher“ zur Hand nehmen
und die Gemälde und Zeichnungen eines Dürer, Kranach,
Holbein und anderer Meifter jener Zeit betrachten, wenn
. man fi von den wechjelnden weiblichen Moden eine
deutliche Vorftellung bilden will. Im allgemeinen ftellt
jich eine entfchievene Wendung vom Unehrbaren zum Ehr-
27) „Wenn du gehft aber aus dem Hauß
Und kombſt jet auff die Gaſſen nauß,
So laß deine Augen umbher geb'n,
Gleich wie man thut vom Falden fehn’,” u. |. w.
Grobianus, Fol. 200 fg.
28) Weber die Entftehung und Geftaltung der deutſchen Volks⸗
trachten ſ. Falle, Zeitfehr. f. d. Kulturgeſch. 1859, ©. 217 fg.
©. 298 fg. Ueber die deutſchen Frauentrachten bes 16. Jahr:
bunderts vgl. Falke, d. d. Trachten- und Modenmwelt, U, 1—167.
44 Bud UI. Rap. 1.
baren heraus. Die fchamlojen Entblößungen, wie fie das
15. Jahrhundert vem 16. überliefert hatte, verſchwinden
nach und nad, fchlagen aber mit der Zeit wuch in einen
geſchmackloſen Gegenfag um, wie insbejondere die Move
ver Halsfröfen zeigt, welche bis zur Ungeheuerlichfeit ver
„Mühlſteinkragen“ fortging. Da jtedte venn ver Frauen-
hals in einem fteif und weit abftehenden, pflugratgroßen
Kragen, auf welchem ver Kopf wie auf einem Teller lag,
aller anmuthigen Bewegung bar. Spanien hatte dieſe
Mode angegeben, wie ja überhaupt die „Ipanifche Tracht“
damals in Deutfchland eingeführt wurde, und aus Franf-
reich kam der Neifrod, über welchen fih der „ Hoffarte-
teuffel” von Joachim Weftphal und Cyriakus Spangen-
berg nicht weniger ereifert als über ven Gebrauch falfcher
Haarflehten und über das „Schminken und Rleijtern
- der Angefichter” 29).
Zur Vervollftändigung des Gemäldes veutfcher Sitten
im 16. Jahrhundert, foweit ein folches Gemälde inner-
halb des Rahmens dieſes Buches überhaupt möglich ift,
wollen wir nun, von den bäuerlichen Kreifen zu den
fürftlichen aufſteigend, auf charakteriftiihe Erfcheinungen
im fittlichen, häuflichen und gefelligen Leben hinweifen
Fur den mehr als freien Verkehr zwifchen ven
beiden Gefchlechtern im Bauernftande ift e8 bezeichnent,
daß in den PBauernhäufern mancher Gegenven bie
Schlafftätten ver Knechte und Mägde nicht von einander
abgefonvert waren. So z.B. in Baiern. Die Folgen
29) Theatrum.diabolorum, fol. 364 b, bei. fol. 388 fg.
und 395 fg.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 45
blieben denn auch nicht aus. Unzucht und Ehebruch
graſſirten fo ſehr, daß der Kurfürſt Maximilian bald
nach ſeinem Regierungsantritt (1598) ſich veranlaſſt
ſah, ein ſtrenges „Sittenmandat“ ausgehen zu laſſen.
Daſſelbe beſtimmte, daß ledige Weibsperſonen uneheliche
Schwangerſchaften mit Geldſtrafen und Anhängung
der „Geige“ büßen ſollten. Bei der vierten unehelichen
Schwangerſchaft wurden ſie des Landes verwieſen. Das
Edikt beſſerte übrigens ſelbſtverſtändlich die Sitten nicht,
ſondern fügte der Ausſchweifung nur noch die Verbrechen
der Fruchtabtreibung und des Kindermordes hinzu 80).
Sp over Ähnlich war e8 anderwärts auch ; nicht etwa bloß
in fatholifhen Gegenden, ſondern in proteftantifchen
ebenfalls. Dagegen hat vie fittliche Tendenz der Refor-
mation in bürgerlichen Kreiſen, vie patricifchen eingerechnet,
jih mehr geltend zu machen gewußt und zwar unter ven
Angehörigen beider Konfeffionen. Es muß in die Augen
Ipringen, daß vom zweiten Viertel des Jahrhunderts an
in ven veutfchen Städten die Phantaftereien der Ritterzeit
mehr und mehr einer praftifch tüchtigen Auffaffung und
Führung des Lebens, einer auf das Ehrbare und Haus-
hälterifche abzielenden Nüchternheit Plag machten. Aus
biefem Geift erwuchs im Gegenfaß zur Hoffitte vie ehrfame
Bürgerfitte, welche die Frauen anwies, ohne Gefühle-
überihwang hausmütterlih im wohlgeordneten Haufe zu
walten, aus deſſen Räumen frohfinnige Gefelligfeit
feineswegs verbannt war, aber wo fie doch ben An
30) Das fehr ausführliche Mandat ift abgebruct bei Wolf,
Geſch. Marimilian’s I. und feiner Zeit (1807), I, 397 fg.
46 Buch III. Kap. 1.
forderungen einer geregelten Lebensweiſe fich fügen mußte.
Wie begreiflich, mußte diefer folive bürgerliche Ton auch
in das Verhältniß der beiden Gefchlechter eingehen und
die romantischen Traditionen aus dem bürgerlichen Minne-
und Eheleben mehr und mehr verdrängen. An die Stelle
der Romantif, die ſich durch ihre Entartung binlänglich
verrufen gemacht hatte, trat die verftändige Berechnung,
ohne daß diefe der gemüthlichen Wärme ermangelt hätte.
Nehmen wir zur Erläuterung einen einzelnen Fall, welcher
auf Mittheilungen aus dem Privatarchiv der patricifchen
Familie Glauburg zu Frankfurt am Main beruht. Ein
Cohn diefer Familie, Johann von Slauburg, ftubirte 1526
in Wittenberg. Seine Mutter, eine Fuge Frau, drückte
brieflich ven Wunſch aus, daß er heimfehrte und fich ver-
heiratete. Zugleich ſchlug fie ihm eine pafjende Partie
vor, die Tochter aus einem befreundeten Haufe, welche
eine „feine Haushälterin” jet, wenn fie auch feine über-
mäfig große Mitgift zu erwarten hätte. Der Sohn
fügte jich ohne weiteres der Diplomatie feiner Mutter,
heiratete die ihm Empfohlene und lebte vierzig Jahre
glüdlih mit ihr. Sein Enkel, Iohann Adolf Glauburg,
lernte 1598 auf einer Reife nach Nürnberg die fchöne
Urſula Freber fennen und erhielt ihr Jawort. Die
Briefe, welche die Schöne al8 Braut an. ihren Bräutigam
fchrieb, zeigen feine Spur von Sentimentalität, ges
Ihweige von Schwärmeret. Die Schreiberin erweift fid)
durchweg als ein klarverſtändiges Märchen, welches ven
Verlobten anmuthig plaudernd über Vorkommniſſe des
täglichen Lebens unterhält und dabei ſchon die behäbige
Im ſechszehnten Jahrhundert. 47
Sorglichkeit der künftigen Hauswirthin und Mutter durch⸗
blicken läſſt. Reſpektvoll redet ſie ihren Bräutigam mit:
„Edler, ehrenfeſter, freundlicher und herzlieber Junker!“
an und ein Zug von unſchuldiger Schelmerei liegt etwa
nur darin, daß ſie ſich unterſchreibt: „Eure getreue und
liebe ſchwarze Urjula * 31),
In einem Gedichte des waderen Hanns Sachs findet
ih das vollſtändige Inventar eines bürgerlichen Haus-
raths, wie derſelbe um die Mitte des 16. Jahrhunderts
der ftäptifchen Gewöhnung entſprach. Wir treffen da
in der Wohnftube neben Tiſchen, Stühlen und Bänken
mit Sigfiffen auch ein „Faulbett“ oder „Xotterbett”,
welches die Stelle des modernen Sopha's vertrat; fer-
ner den „Grißfalter”, einen niedrigen Schranf, worauf
man mit Waffer handiren, fih wachen over Gläfer
ausſchwenken konnte; dann das „ Kanvelbrett”, auf wel-
chem Kannen, Becher, Flaſchen und Kühlfeffel ftanden.
Außerdem Leuchter, Xichtjcheeren, einen Spiegel, eine
Uhr 32), ein Schach» und Brettſpiel, Karten und Würfel,
Schreibzeug mit Papier und Siegel; endlich „vie Bibel
und andere Bücher mehr zur Kurzweil und fittlicher
Lehr'.“ Im die Schlaflammer gehörte ein „Spannbett“
31) Frankfurter Ardhio f. ä. d. Lit. u. Geſch. von Fichard,
I und III.
32) Wie befannt, wurde i. 3. 1500 durch Peter Hele in
Nürnderg der Gedante gefafit und verwirklicht, die Thurmuhren
zu Zimmerubren und Taſchenuhren („Nürnberger Eier,” von ihrer
ovalen Geftalt) zu verkleinern. Vgl. Rehlen, Geſch. d. Gewerbe,
©. 425 fg.
48 Bud III. Kap. 1.
mit Strohſack, Pfulmen, Matrage, Kiffen, Betttuch und
. Dede, fowie alle die Heinen Utenfilien nächtlicher Be—
quemlichkeit. In der Schlaffammer ftanden auch die
„Truhen“, worin das Geld und die Koftbarfeiten des
Haufes aufbewahrt wurden, fowie die „ Öewandfalter”,
d. i. Kleiderſchränke 3%). Es mangelt in viefem Haus-
rathskatalog des trefflihen bürgerlichen Meeifters noch
manches Stüd, welches in unferen Tagen felbjt bejchei-
bene bürgerlihe Haushaltungen nicht mehr entbehren
wollen oder können; allein trotzdem verftanden unfere
Altvorderen zu leben. Beſonders was efjen und trinfen
betraf. In Wahrheit, darin ließen fie fich nichts abgeben.
Dean fehe nur das Kochbuch des Mare Rumpolt vom
Sahre 1587 an. Diefer Gaftrojoph, welcher zugleich ein
tulinarifcher Praftifer war, lehrt, wie aus Ochfenfleifch
83 verjchievene Gerichte bereitet werden fünnen, aus Kalb⸗
fleifch 59, aus Hammelfleifh 45, aus Schweinefleifch 43,
aus Hirichfleiih 37. Er kennt unzählige Fiichgerichte,
225 Arten Zugemüfe, 63 Arten Suppen, 46 Arten
Zorten, an 70 Arten Fleifche und Fifchpafteten, fünfziger:
lei Salate. Freilich ift es fehr fraglich, ob es Meifter
Rumbpolt unferem heutigen Gefchmade recht zu Dank machen
fönnte. Namentlich vürfte ihm dabei die ungeheure Maffe
von Gewürzen hinverlich fein, welche die Küche jener Zeit
verbrauchte 34).
33) Gedichte v. Hanns Sachs (Nürnb. 1570), S. 440 fg.
34) Einläffficheres Über die Kochkunſt des 16. Jahrhunderts
gibt Müllers fleißiger Auffak: „Von alter Kochweiſe“ in Wefter-
manns Monatsheften f. 1858. Nr. 25, ©. 16 fg.
Im fechszehnten Jahrhundert. 49
Manches in vem Gebaren unferer Aeltermütter, was
uns jett unweiblich genug etjcheint , dürfte fich leichter
erflären laffen, wenn man erwägt, daß noch im 16. Jahr⸗
hundert, wie früher im Mittelalter, auch die Frauen dem
Genuffe ftarfgewürzter Weine feineswegs abholo waren.
Heutzutage find die Engländerinnen und Schweizerinnen
dafür befannt, den Wein am beften vertragen zu fönnen ;
aber gewiß würde fich jene Englänverin oder Schweizerin
vor dem mit Rothwein gefüllten Paſſglas entfegen, welches
vie gefeierte PBhilippine Welfer zu leeren gewohnt war,
— zum Entzüden. ihrer Anbeter; denn der Hals ver
Dame war fo fein, zart und weiß, daß man ihr das rothe
Getränf innen die Kehle hinabgleiten ſah. Es fam jedoch
auch vor, daß vornehme Damen von damals allzu häufig
ſolche Baffgläfer leerten, und von einer willen wir gar,
daß fie zulegt in Säuferwahnfinn verfiel: — die Prinzeſſin
Anna von Sahfen, Tochter des Kurfürjten Moriz, Enfelin
des Landgrafen Philipp von Heflen. Das war eine unglüd-
liche Geſchiche. ‘Der große Dranier, Wilhelm ver
Schweigfame, warb als Witwer von fünfundzwanzig
Jahren um die Prinzeffin und im Auguft von 1561 fand
zu Leipzig die Hochzeit ftatt unter fo glänzenden Feftlich-
feiten, daß die Mitgift ver Braut — (70,000 Reichs⸗
thaler, eine für jene Zeit fehr beträchtliche Mitgift!) —
faum ausreichte, die Koften zu bezahlen. Die Tante der
Prinzeffin, die Frau des Kurfürften Auguft, bat ven
Prinzen von Oranien unmittelbar nach dem Beilager gar
beweglich, er, welcher dazumal noch Katholif war, möchte
doch ihre Nichte nicht „vom Wege der wahren Religion*,
Scherr, rauenwelt. 4. Aufl. II. 4
50 Buch III. Kap. 1.
d. h. vom Lutherthum, verführen, worauf ber Prinz leicht—
bin: „Bah, fie fell mit folhem melandholifchen Zeug fich
gar nicht zu fehaffen machen. Statt der Bibel ſoll fie
den Amadis von Gullien lefen und ähnliche Turzweilige
Bücher, weldhe de amore handeln, und ftatt zu nähen
und zu ftriden fol fie eine Galliarde tanzen lernen und
anvere vergleihen Courtoifien, wie ſie ſchicklich und
lanvesbräuchlich 35). Allein die junge Ehefrau lernte bald
nicht eben jehr ſchickliche „Courtoiſien“, unter anderen vie
Zrunfenbolverei. („E8 lies ihr auch die Frau Prin-
zeſſin offtmals eyer gahr hardt im fall fieven, darauf
tringft fie dan edtwan zuvil und werde ungeduldig,
fluche alle böße flueche und werfe vie fpeiße und fchuffel
mit allem von tiſch. Und die Frau Prinzeſſin, wie fie
e8 genannt, den tollen man, nemlich ein guedte
flafche weind morgens und abermals ein guedte flafche
zu abendtszeit mehr dan ein maß haltend befumen, wel:
ches ir ſambt einem Pfundt Zugfers bei fi zu nemen
nicht zu vil ſey“) 386). Der Prinz fchien fich von ver
Säuferin, deren Wuthausbrüche zulett unerträglich wur-
den, und das unglüdliche Weib ift dann, völligem Wahn-
finn verfallen, im Gewahrſam ihres Oheims zu Dreſden
i. J. 1577 geftorben. Im übrigen vererbte fich vie
35) Brief des Landgrafen Wilhelm v. Heffen. Handſchrift
d. Archivs zu Dreſden, mityeth. v. Motley, Rise of the Dutch
republic, vol. II, ch. 2.
36) Acta d. Frau Prinzeffin zu Oranien vergef. Verhdlg.
Drejdener Archiv.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 51
Eigenſchaft der deutſchen Damen, durſtig zu ſein und
einen „guten Zug“ zu haben — (natürlich nur in Folge
des Genießens der ſtark gefalzgenen und gepfefferten
Speifen, welche damals bräudlich) — aus dem fech8-
zehnten Jahrhundert auf das fiebzehnte. ‘Darauf deutet
z. B. die „Hoftrinkordnung“, welche Herzog Ernſt der
Fromme von Sadfen- Gotha i. 3. 1648 gab und veren
9. Paragraph alfo lautete: „Zum Untertrunf vor unfer
Gemahlin foll an Bier und Wein, fo viel diefelbe be-
gehren wird, gefolgt werden; vors gräffliche und adelige
Franenzimmer aber 4 Maß Bier und des Abens zum
Abfchenfen 3 Maß Bier; vor die Frau Hofmeifterin
und zwo Jungfern und vor die Mägdgen wird gegeben
von Oftern bis Michaelis Vormittagg um 9 Uhr auf
jede Berfon 1 Maß Bier und Nachmittags um 4 Uhr
wieder eben jo viel" 27) .....
Der ehrbar gemüthliche Zug, welcher das bürgerliche
Tamilienleben der Zeit, von welder wir handeln, viel-
fach fennzeichnet und in manden Gerichten des Hanns
Sachs einen fo herzlichen Ausdruck gefunden hat 88),
37) Deutſcher Trunk, ©. 57.
38) M. |. den „Ehrenfpiegel der zwölff Durchleuchtigen Frauen
bes alten Zeftaments” und „das Frawen Lob eines Biderweibes“
(I, 1, 35; I, 4, 335). Freilich bat der wackere Meifter daneben
den Frauen auch Häufig humoriſtiſch den Krieg gemacht, dieweil
ja, — wie er ſagte —
„Dieweil den Eheweibern allen
Der Honig vermischt ift mit Gallen” (I, 4, 323).
4*r
52 Bud III. Kap. 1.
machte fih auch in einigen fürftlihen Haushaltungen
bemerfbar. Eine rechte Mufterehe führten z.B. Herzog
Albrecht von Preußen und feine erſte Gemahlin Doro-
thea, die ihrem Eheheren eine wahre „Gottesgabe “ war,
wie ihr Name befagte. Er rühmte von ihr, daß, „fo
fie eine arme Dienftmagb gemwefen, fie fich nicht de—
müthiger und getreuer und in unmwandelbarerer Liebe
gegen ihn hätte verhalten können.” Schon die Anrede,
deren fie fih in ihren Briefen an den Gemahl zu be-
dienen pflegte, bezeugt mit ihrer naiven Herzlichkeit ein
liebe® und gutes Verhältnig: — („Durchlauchtiger und
hochgeborener Fürft, mein Freundlicher und Herzaller-
liebjter, auch nach Gott Feiner auf Erden Lieberer, vie-
weil ich lebe, mein einziger irdiſcher Troſt, alle meine
Freude, Hoffnung und Zuverfiht, auch mein einziger
Schaß und aber- und abermald mein bherzallerliebiter
Herr und Gemahl!”) Dabei war vie Herzogin, obzwar
eine fromme evangelifhe Chriftin, keineswegs eine
Kopfhängerin. Sie hatte im Gegentheil eine humoriftifche
Ader an ſich, welche ſich mitunter fchelmifch - naiv regte.
Sp, wenn fie i. 3. 1532, nach dem Tode eines ihrer
Kinder, an eine befreunvete Fürftin fehrieb: „ALS auch
Euere Xiebden mit und des tödtlichen Abganges halber
unferer jüngften Tochter ein herzliches Mitleiven tragen,
thun wir und gegen €. 2. freundlich bevanfen, und find
zu Gott getrofter Hoffnung, er werde uns nach foldher
Betrübniß mit einem jungen Erben wiederum gnäpdiglich
erfreuen und begnadigen, denn wir unferem lieben
Herrn und Gemahl, der fein Werkzeug weiblich braucht
Im fehszehnten Jahrhundert. 53
und nicht feiert, gar feine Schuld zu geben wiljen 89).“
Auch das Eheleben des Kurfürften Moriz von Sachfen
mit Agnes von Hejjen war im ganzen ein ehrſames
und glüdlichee. Wenn ver Rurfürftin mitunter ein
Zweifel an der Beftändigfeit ihres lebemännifchen Ge-
mahls aufitieg und fie venjelben dem Abwejenden mit-
theilte, jchrieb er ihr wohl zurüd: „SHerzliches Weib,
das du begereit, da ich gleich nit bey dir wer, das ich
beiner im hertzen nit vergehen wolt, bin ich gant ge-
neiget.* Ganz hauswäterlich - gemüthlich lautet e8, wenn
er ihr unterm 1. Oftober 1550 ſchrieb: „Sch wil diefen
Winter bey dir bleiben und wollen mit einander birn
braten; wan fie czuffen, jo wollen wir fie aus nemen
und wollen mit Gottes Hülffe ein guts mutlein haben 29). *
Bon einer andern ſächſiſchen Fürftin, von Anna, ver Ge-
mahlin des Kurfürften Auguft, wiffen wir, daß fie bie
gelehrten Liebhabereien ihres Eheherrn theilte und mit
ihm in feinem chemifchen Laboratorium arbeitete. Sie
hat auch glückliche Verfuche gemacht und i. J. 1581 das
feiner Zeit berühmte „weiße Magenwafjer” erfunden.
Andere fürftlihe Ehen boten freilich ein jehr unlieb-
james Bild von Untreue, Unfrievden und Zerwürfniffen
aller Art. Wir erinnern an die widerlichen Hänvel, welche
39) Beiträge zur Kunde Preußens, III, 126. Voigt, über
beutfches Fürftenleben im 16. Jahrh. in Raumers hiſt. Tafchen-
buch f. 1835. Voigt, Hofleben der Fürftinnen im 16. Jahrhundert,
in Schmidts Zeitjchr. f. Geſchichtewiſſenſchaft, II, 231.
40) Aus einer Reihe von Originalbriefen des Kurfürften an
ſ. Gemahlin, zuerft gedr. in den Kuriofitäten, TI, 296 fg.
54 Buch UI. Kap. 1.
der Herzog Ulrih von Wirtemberg mit feiner Gemahlin
Sabine hatte und welche feineswegs, wie gefabelt worden,
in einem verbrecherifchen Verhältniß der Herzogin mit
Hanns von Hutten, dem Stallmeifter des Herzogs, fondern
umgefehrt in der Leidenfchaft Ulrichs für die „ſchöne
Thumbin“, die Frau des unglüdlichen Hutten, ihren
Grund hatten. Ferner an den Rurfürften Joachim II.
von Brandenburg, welcher mit feiner erften Gemahlin
Elifabeth um ihrer Iutherifchen Gefinnung willen und mit
jeiner zweiten Gemahlin Hedwig der Leidenſchaft wegen
zerfiel, welche er für Anna Sydow hegte, die Witwe
eines Stüdgießers, weflwegen fie im Wolfe nur die „ſchöne
Siegerin” hieß. Diefes Verhältniß ift fittengefchichtlich
doppelt wichtig, infofern die fehöne Gießerin fich auch in
die Staatsgefchäfte mifchte und demnach ſchon um bie
Mitte ves 16. Jahrhunderts auf deutſchem Boden in ihrer
Perfon jenes Maitreſſenweſen darſtellte, wie e8, in Frank⸗
reich foftematifch ausgebildet, nachmals im 17. und mehr
noch im 18. Jahrhundert für das europäiſche Staats-
leben von fo unheilvoller Bedeutung geworden iſt. Sehr
unglüdlich fiel das unter ziemlich romantifchen Umftän-
den i. J. 1545 gefchloffene Ehebündniß des Herzogs
Erich II. von Braunfchweig- Kalenberg mit der Prin-
zeffin Sidonie von Sachſen aus, nicht durch Verſchul⸗
tung der leßteren. Ihr roher und leichtfertiger Ge-
mahl vernachläfligte fie in fträflicher Weife und ließ fie
jogar Mangel leiven, während er mit gemeinen Dirnen
im Lande und in ber Fremde umberlotterte..e Da war
es denn fein Wunder, daß die arme Sivonie bei Gelegen-
Im ſechszehnten Jahrhundert. 55
heit einer ihrer Nebenbuhlerinnen drohte, ſie „wolle der
Hure ein Auge ausſtechen und die Naſe abſchneiden Y.“
In einem weitern höchſt ärgerlichen Ehehandel war das
Unrecht nicht allein auf Seite des Mannes. Der Her:
zog Johann Kaſimir von Sachfen-Roburg vermählte fich
i. 3. 1586 mit der ſchönen Prinzeffin Anna, der jüng-
jten Tochter des Kurfürften Auguft von Sachſen. Die
warmblütige neunzehnjährige Frau war anfangs ihrem
Gemahl innig zugethan; er aber fcheint fich wenig aus
ihr gemacht zu haben, fondern führte ein unftätes Füger-
und Zecherleben. Seine häufigen Abwefenheiten ver-
droffen die junge Frau nicht wenig. Sie jchrieb dem
Gemahl ;Epifteln voll naiver Zärtlichkeit und forberte
ihn einmal in Form eines fcherzhaften Fehdebriefes
geradenwegs zur Erfüllung feiner eheherrlichen Pflicht
auf. Ein andermal ſchrieb fie beweglich: „Ich bitt, Ihr
wollt wiederum zu mir ziehen over mich holen lafjen,
dann mir die Weil fo gar lang ift, daß ich nit weiß,
was vor langer Weil foll anfangen.” Zu feinem Schaden
41) Weber, Aus vier Jahrhunderten, II, 38 fg. Der Ber-
faffer bemerkt zu der angeführten Drohung (a. a. DO. 46): „Es
fheint faft, als ob man das Nafenabjchneiden in Faͤllen wie der
vorliegende damals als eine erlaubte Selbfthilfe der in ihren
Rechten gekränkten Gattin betrachtet habe. So liegt uns ein etwas
früberes Reffript an den Amtmann zu Delitſch vor, des Inhalts:
„„daß er gegen Peter Garkochs zu Leipzig Tochter, welche einer
Frau, jo mit ihrem Manne gebuhlet, die Nafen eines Theiles ab-
geihmitten, fih mit der Strafe bis auf weiteren Befehl enthalten
und ihr auf ihr Anfuchen Recht wider diefelbe Frau geftatten ſollte.““
56 Bud III. Rap. 1.
berückſichtigte der Herzog folche Klagen und Bitten nicht.
Es ift, wie jeder Welterfabrene weiß, eine für bie
Srauen jehr gefährliche Sache, fich zu langweilen. Auch
bie arme Herzogin Anna, deren neunzehnjährig Blut
ihre Strohwitwenſchaft und Kinverlofigfeit um fo fehwerer
ertrug, als fie das Leben an dem belebten und fejt-
reihen Hof ihres Vaters mit dem im jpießbürgerlichen
Koburg vertaufcht hatte, erfuhr das. Ste langweilte
fih und Aberglaube und Sinnlichfeit-thaten das übrige,
fie zu verberben. Einer jener Gaufler und Wunder:
männer, wie fie als Vorläufer der großen italifchen
Schwindler, weldhe im 18. Jahrhundert die „nordiſche
Dummheit“ ausbeuteten, fehon im 16. Sahrhundert
Iporadifch auftraten, war über die Alpen herübergefommten,
um die deutſche Wunderfucht zu Hingenver Münze aus⸗
zuptägen. Er hieß Jeronimo Scotto und nannte fi,
wie alle italifchen, franzöfifchen und polnischen Inpuftrie-
ritter noch heute thun, einen Grafen. Seine Kuppler-
fünfte hatten jenen Gebhard Truchſeß von Waloburg,
Kurfürften von Köln, in vie Liebesbande der ſchönen
Agnes von Mansfeld. geführt, welche den Furzen Liebes⸗
glüdstraum mit fo viel Unglück und Schmach büßen
mußte. Im Iahre 1592 befand ſich Scotto in Koburg,
als Adept des Herzogs Johann Rafimir, welcher wie noch
mande Fürften jeiner Zeit viel Geld an vie Erlemung
der „verborgenen Wiſſenſchaften“ wandte, dv. h. an uns
verfchämte Gauner wegwarf. Der weljche Gaufler wußte
ſich auch das Vertrauen ver fich langweilenden Herzogin
zu erfchleihen, indem er ihr verſprach, fie fruchtbar zu
Im ſechszehnten Jahrhundert. 57
machen, verführte fie, verkuppelte hierauf die Gefallene
mit einem jungen Hoflavalier und ging enplich mit dem
Schmud ver Fürftin durch. Das Verhältniß zwifchen ver
Herzogin und vem Hoflavalier wurde ruchbar, ver Herzog
ließ die beiten in Verhaft nehmen, eine Unterſuchung an-
orpnen und da bekannte venn Anna im Verhöre: „Sie
habe mit Scotto mancherlei Unterhaltungen gepflogen
und e8 habe ihr verfelbe unter anderem auch verſprochen,
daß er fie lehren wolle, fruchtbar zu werben. Alfo fei fie
zu ihm auf feine Stube gegangen, wo er ihre Hand er-
griffen und diefelbe auf ein Kreuz gelegt habe, welches
aus Pappe gefchnitten, mit Charakteren bezeichnet und
mit einem ‘Draht belegt gewejen. ‘Dann habe er jeltfame
Worte geiprochen, aus venen fie nur den Namen ber
heiligen Dreifaltigleit herausgehört. Der Draht habe
fih um ihre Finger gefchlojfen, fie fei ihrer nicht mehr
mächtig gewefen, habe gegen ihre Pflicht in feinen Armen
gehandelt und fich von ihm bereven lafjen, fich in Liebe zu
ihm zu halten. Scotto hatte ihr auch gejagt, fie werde
vor ihrem Gemahl fterben und e8 werde ihr übel gehen.
Wolle fie jedoch, daß ihr Gemahl vor ihr fterbe, fo folle
e8 ihr wohl gehen. Darein aber habe fie nicht gewilligt.
Nachher habe fie fih zu Ulrich won Lichtenftein gefellet,
habe mit ihm ungebührliche Spiele getrieben, ſich envlich
ganz in feine Gewalt gegeben und feiner Umarmungen
genofien, wo es fih nur habe thun laſſen.“ Weinend
fügte fie diefem Geftänpniß Hinzu, „ihr Gemahl möge
alles ihrem Unverftanvde zurechnen und ihr verzeihen, da
fie noch ein junges Menfh wäre. Der Schelm Scotto
58 Bud III. Rap. 1.
habe fie betrogen. Sie bät’ um Gnade.” Das war
vergeblih. Der Schöpfenftuhl in Jena zuerfannte ihr
und ihrem Buhlen Ulrich die Todesſtrafe mitteld des
Schwertes. Der Herzog verwandelte jedoch die Todes—
jtrafe in lebenslängliches Gefängnig. Die Fürftin wurde
demnach zuerft nach Eifenach, dann ins Klofter Sonnen-
feld und endlich auf die Vefte Koburg gebracht, wo fie
i. J. 1613 geftorben ift?9). ine noch grellere, aus
Gaunerei, Wahn und Wolluft gewobene Geſchichte hatte
in den 60ger und 7Oger Jahren des 16. Jahrhunderts zu
Wolfenbüttel am Hofe des Herzogd Julius von Braun-
ſchweig-Lüneburg gefpielt. Der Fürft, welcher font zu
ben beften feiner Zeit gehörte und von feiner liebene-
würdigen Frau Hedwig, einer brandenburgiichen Prin-
zeffin, zehn Kinder hatte, war plößlich der plumpften
Beſchwindelung durch einen gewiffen Philipp Therocyklus
(Gräciſirung des Namens Sommerring) verfallen, welcher
vorgab, den „Stein ver Weifen“ bereiten zu können und
mittels deſſelben den ſchwächlichen und Fränflichen Herzog
wieder zum Jüngling zu verjüngen. Als feines Haupt-
werkzeugs beviente fich der „verlaufene Pfaff”, wie ein
zeitgenöſſiſcher Berichterftatter ven Betrüger nennt, ver
Anna Ziegler, einer ganz gemeinen Weibsperſon, welcher
unfere Quelle den wenig fehmeichelhaften Titel einer
„Angithure” gibt. Sie war es, welche ven Herzog ganz
42) Köhler, Mitnzbeluftigungen, XVI, 26 fg. Kuriofitäten, .
I, 101 fg. Die Altenftücde der Procedur bei Hellfeld, Beitr. 3.
Geſch. von Sachſen, I, 17 fg.
Im ſechszehnten Jahrhundert. 59
fabelhaft bethörte, ihn von ſeiner Gemahlin abzog und
ihn die wahnwitzigſten Dinge glauben machte?) Als
aber das Treiben ves Therochklus, der Ziegler und ihrer
Mithelfer immer toller und frecher wurde, als fie, wie
es fcheint, ver Herzogin fogar nach dem Leben ftanven,
platte enplih die Schwinvelblafe und des garftigen
Liedes Ende war, daß am 7. Februar 1575 Therochklus
mit glühenden Zangen zu Tode gezwidt, die Ziegler
verbrannt, ihre Spießgefellen gerädert und geköpft wur—
den .. Es find häffliche Farben, von welchen wir hier
Gebrauh machen müffen, um der fittengefchichtlichen
Wahrheit gerecht zu werben, und fo dürfen wir auch
nicht verjchweigen, daß im Reformationszeitalter die Be—
handlung fürftlicher Frauen vonfeiten ihrer Männer
mitunter zu einer Rohheit fortging, vor welcher ein
Türke zurücdichreden würde. Gab e8 doch, wie ung
Hanns von Schweinichen als Augenzeuge erzählt, da-
mals einen Herzog von Liegnig, welcher jchamlos-brutal
43) In dem zeitgendfftihen „Bericht von Anna Zieglerin“
heißt e8 am Eingang: „Die Angfthure Anna Zieglerin giebt vor:
Sie jey nur 18 Wochen im Mutterleibe geweſen und bernad in
einer bejonderen dazu bereiteten Haut mit der Medieina, davon
man das Gold maden und Metalle in Gold verändern Tönnte,
erzogen. Sie und ihr Fleifh und Blut dominirte, daß fie aller
Unreinigfeit und fonderlic des Menstrui rein und frei ſey. Daß
fie ſey feiner Frauen, jondern allein den Engeln und Marien,
Gottes Mutter, zu vergleiden. Welcher Mann auch mag ihrer
Liebe genießen, der Iebet ohne Krandheit friih und gefund hundert
Jahr länger als andere Männer” u. |. w. Mitgeth. v. Beckmann
in d. Zeitſchr. f. d. Kulturgeſch. 1857, ©. 557.
60 Buch III. Ray. 1.
genug war, in Gegenwart der Pagen feine Gemahlin
zur Leiftung der ehelichen Pflicht zu zwingen.
Fürftlihe Hochzeiten waren bie glänzenpften Feſte
diefer Zeit. Es wurde dabei viel Luxus und große
Pracht entfaltet, verbunden mit einem Geſchmack, wel-
her uns nach mehr als einer Seite hin geſchmacklos
und barbarifch genug erfcheint. Teftgeber und Gäfte,
deren Zahl fich gewöhnlich in die hunderte belief, wett-
eiferten dabei im Aufwand und bie ganze Feitgejellihaft
fhimmerte und fchillerte von Sammet und Atlas,
Damaft und Seide oder gar von Silber: und Golt-
stoffen. Aus weiter Ferne her ließ man mit großen
Koften nicht nur die Materialien, fonvdern auch die Mo-
delle des Anzugs kommen und verjehrieb fremde Kleider-
fünftler und Pußfünftlerinnen *). Auf eine glänzende
Ausstattung ver fürftlichen Bräute ward in der Regel
fehr gehalten und namentlich für reichlichen Schmuck
verjelben geſorgt. So brachte z. B. die Prinzeffin Anna
ihrem Bräutigam, dem Kurfürften Johann Sigismund
von Brandenburg, i. 3. 1594 Kleinodien im Werthe
von 14,138 Mark zu.
44) Trotzdem feinen die deutſchen Damen in den Künften ber
Zotlette gegen die franzöfifhen und englijchen ſehr zurüdgeftanden
zu fein. Als Anna von Kleve im Januar 1540 nad) England fam,
um fih mit dem Weibermörber Heinrich VIII. zu vermählen, be—
richtete der franzöfiſche Geſandte Marillac nad Paris, die Prinzeffin
habe 12 bis 15 Fräulein mitgebracht, jo plump und unpaſſend ge-
Heidet, daß man fie häſſlich finden würde, felbft wenn fie ſchön wären.
Der König ſprach won feiner Braut, mit welcher er gar nicht zufammen-
leben wollte, nur als won ber „großen flandriſchen Stute“.
Im fechszehnten Jahrhundert. 61
Sehen wir uns ſo eine vornehme Hochzeitsfeier jener
Tage mit an. Johann Wilhelm III., Herzog zu Jülich
Kleve-Berg, hatte um die Prinzeffin Jakobäa geworben,
Tochter des Markgrafen Philibert von Baden, und im
Junimond des Jahres 1585 fand die Vermählung des
Paares zu Düfjelvorf ftatt. In der herzoglichen Reſidenz
- war man bemüht gewefen, alles auf's beſte herzurichten,
um die vielen gelavenen Gäfte nah Stand und Würbe
zu empfangen und zu bewirtben. Für die vornehmeren
wurden im Schlofje ſelbſt Zimmer bereit gehalten, aus⸗
gerüjtet mit „Föftlichen Täppichten und anderen herrlichen
zierrat.“ Auch für Küche und Keller war wohl geforgt,
„nicht allein zur notturfft fondern zum vberfluß vnd
wolluft.” Die Braut fuhr mit ihrem Gefolge zu Schiffe
den Rhein hinab und hielt am 15. Juni in einer jech8-
ſpännigen Kutſche („Gutwagen”) ihren Einzug in Düfjel-
dorf, wobei fürchterlich Tanonirt wurde. Vor dem Thore
bewillfommte fie ver Bräutigam und führte fie in feter-
licher Prozeſſion durch die geſchmückten Straßen nach dem
Schloſſe, allwo ihr Schwiegervater und ihre Schwägerin
Sibylie fie begrüßten. Sie wurde hierauf in ihre Ge-
mächer geleitet, welche mit Zeppichen behangen waren,
deren Gewebe Bilder darftellten, fo „zur ehelichen Lieb’
am meiften und vornehmlich gehörig“, d. h. mythologiſche
Scenen von nicht fehr Shamhafter Art. Am folgenden
Tage zur Vefperzeit bewegte fich vie ganze Verfammtlung
zur Schloßfapelle, wo die Trauung ftattfand. Vorauf
Schritten eine Muſikbande und ein Dutzend Edelleute,
welche Wachsfadeln trugen. Die Braut hatte einen weit-
62 Buch III. Kap. 1.
ausgefchnittenen Rod von „Silberftud” an, mit Gold
durchftidt, und einen herrlichen „Karafanten” (Hals-
band) aus Diamanten und Rubinen. Auf ihrem „niever-
geichlagenen* Haar trug fie ein goldenes Krönlein. Der
Hofprediger hielt vor dem Trauakt eine lange Predigt.
Dann empfing er von dem Bräutigam einen Ring, welchen
er der Braut an den Finger ftedte, und von der Braut
einen Kranz, welchen er dem Bräutigam aufiegte. Nach
geichehener Einfegnung wurde unter Zrompeten- und
Paufenfchall ein Tedeum gefungen. Hierauf ging e8 zum
Bankett, wobei Evelleute in fpanifhen Mänteln unter
Bortritt des Hofmarfhalls mit feinem Amteftab vie
Speifen auftrugen. Nach beendigtem Mahl begannen in
einem Sale, deſſen Zapeten gefhmadiofer Weiſe aller-
hand biblifche Mordſcenen darſtellten, die feierlichen Tänze
und that den erften der Bräutigam mit der Braut,
„denen man mit Flambos vor und nachtangete”. Nach
dem Tanze verfügte man fich in ein anderes Gemach, wo
eine Kollation von Zuderwerk aufgeftellt war in Geftalt
eines Gartens mit Bäumen, Felſen, Waſſerfällen, Flüffen,
Burgen und allerlei Thiergattungen. Nachdem man von
dieſem Schauefjen Stücke abgebrochen und verſpeiſ't hatte,
wurden Bräutigam und Braut zum Beilager in die Hoch-
zeitfamnter geleitet. Der Morgen des folgenven Tages
war ver Empfangnahme der Morgengabe und ter Hoch-
zeitögefchenfe gewidmet und noch mehrere Tage lang er=
gößten fih die Säfte mit Banketten, Ringelvennen
Zänzen, Mafferavden und TFeuerwerfen #5. Diefe fo
45) Diefe Angaben find einer weitfchweifigen, i. 3. 1587
Im ſechszehnten Jahrhundert. 63
feſtlich begonnene Ehe ſchlug aber ſehr übel aus, in⸗
dem ſie ſich zu einem abſchreckenden Bilde grauenvollen
gedruckten, durch Freiherrn Roth v. Schreckenſtein in d. Zeitſchr.
f. d. Kulturgeſch. 1859, ©. 314 fg. auszüglich mitgetheilten Be-
ſchreibung des Feftes entnommen. Aus einer Drudigrift v. 3.1599
(„Drey ſchöne vnd luſtige Bücher von der Hohen Zollerifchen Hoch-
zeyt“ von 3. Frifchlin), welde A. Birlinger 1860 wieder abdruden
ließ, erfahren wir, daß e8 zu Ende des 16. Jahrhunderts mit dem
„Beilager“ folgendermaßen gehalten wurde: —
„Rheingraff Ottho führt fie (die Braut) hinauff mit fleyß
In jr gezimmer hüpſch und weyß.
Da wartet fie, biß zu je kam
Der junge Herr und Bräutigam
Mit allen Fürften, Graffen, Herren,
Eo folgen theten willig geren.
Bor jnen her Trommeter bliejen,,
Die ftark in jre Pfeiffen ftieffen.
Als nun der Hochborn Bräutigam
Hinauff in fein Schlaffzimmer kam,
Sein Manttel und Kranz legt von fi,
Sein Wöhr und Ketten und gabs gleich
Seim Hofmaifter, jolch8 zu bewaren;
Derfelbig thet den fleyß nicht jparen. .
Als nun die Fürften, Herren, Frawen
Stunden in diefem Gemad zu ſchawen,
Die zween Brautfürer tratten ber, _
Die Geſponß fie brachten höflich hehr
Und legten fie hinein inne Beth,
Ir weyſſe Kleyder noch an bett.
Dann legten fie den Bräutigam
Zu feiner Gſponß aljo zuſam,
Die Döcken uberjchlagen theten,
Biß fie ein Weyl gelegen hetten.
64 Bud III. Kam 1.
Samilienzerwürfnifjes geftaltete. Der Herzogin Jakobäa
wurte in Folge eigenen Leichtſinns und auf Betreiben
ihrer feineswegs zur Anklägerin berufenen Schwägerin
Sibylle ein zuchtloſer Wandel fchulngegeben und fie
ftarb 1597 eines gewaltfamen (?) Todes, während ihr
befchränfter Gemahl in Blödſinn verfiel 29). |
Bei dieſer flüchtig erwähnten kleve'ſchen Haus-
tragödie waren ſchon Sitten oder vielmehr Unfitten im
Spiele, welche auf das Ueberhandnehmen des melfchen
(italiſch⸗ſpaniſchen und franzöfifchen) Einfluffes auf die
deutſchen Hof- und Adelskreiſe hindeuten. Es ift charaf-
teriftiih, daß die leichtfertige Herzogin Jakobäa an den
Pofjen ttalifcher Komödianten ein bejonvderes Wohlge-
fallen hatte und daß ihre tüdiiche Schwägerin Sibylle
mündlich und fchriftlich im Gebrauche franzöfifcher Phra-
jen fich gefiel. In Wahrheit, ein Gefchichtfchreiber ver
deutſchen Frauenwelt, welcher lieber wahrhaftig als _
Gar bald fie wider auffgeftanden,
Die Fürften, Herren jeind vorhanden,
Wünſcht jeder da für feinen they!
Dem Bräutigam und Braut vil heyl,
Bil glücks und gutten jegen veich ;
Darnach lugt jeder, das er weich’
Und felber in jein Kammer fumb,
An ſeinem ſchlaff auch nichts verfumb.”
46) Vgl. Bülau, Geheime Geſchichten und räthjelhafte Men⸗
Ihen, Bd. 4, ©. 294 fg. „Ter Ausgang des Haufes Kleve”, und
die Original-Denfwürdigfeiten eines Zeitgenofjen (Beers von sah)
am Hofe Johann Wilhelms III. (Düffelporf 1834).
Im ſechszehnten Jahrhundert. 65
galant ſein will, hat die leidige Pflicht, zu ſagen, daß an
der unglückſeligen Verwelſchung unſeres Landes, wie ſie
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts anhob und
im 17. vollendet wurde, die Frauen in hohem Grade
mitſchuldig waren. Wie leider noch heute, konnte ſchon
damals jede von der leichtfertigen Koketterie, der blanken
Narrheit oder der gierigen Berechnung in Frankreich aus⸗
geheckte Mode darauf zählen, dieſſeits des Rheins eifrigſt
nachgeahmt zu werden. Dieſe thörichte Unterwerfung
des heimiſchen Geſchmackes unter die Launen und Be—
rechnungen eines von einem Extrem ins andere ſpringen—
den, zu jeder Art von Komödienſpiel prädeſtinirten Volkes
war aber noch nicht das Schlimmſte; denn am Ende darf
man unbedenklich zugeben, daß die Franzoſen von jeher
mehr Schneidergenie beſaßen als wir und eben auch mit
dieſer Gabe zu wuchern berechtigt waren und ſind. Aber
die Nachäffung der franzöſiſchen Moden durch die deutſchen
Damen und Herren — denn die letzteren waren hierin
keineswegs verſtändiger als die erſteren — beſchränkte
ſich nicht auf die lächerlich-wichtigen Myſterien der
Schneiderwerkſtatt und des Putztiſches. Sie ſchmeichelte
den deutſchen Geiſt vielmehr in eine Erſchlaffung hinein,
welche ihn gewöhnte, alles Ausländiſche, auch das Ver—
werflichſte, als etwas Muſtergiltiges anzuſehen und dem⸗
ſelben Vaterländiſches, auch Löblichſtes, nachzuſetzen. So
kam es, daß die Mode zur Vermittlerin und Schmugg⸗
lerin des raffinirten Sittenverfalles wurde, welcher im
16. Jahrhundert die romaniſchen Länder angefreſſen
‚hatte; jo kam es, daß Deutſchland in jene beklagens—
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II. 5
66 Bud II. Kap. 1.
werthe geijtige Abhängigkeit vom Ausland, insbejondere
von Frankreich gerieth, welcher erft im 18. Jahrhundert
die glorreichen Thaten der Meifter unferer Literatur wie-
der ein Ende machten.
Selbſtverſtändlich war es jedoch nicht die Herrſchaft
welfher Moden allein, welche unferem Lande die Stellung
der leitenden geiſtigen Großmacht Europa’s, zu der bie
Reformation e8 für eine Weile erhoben hatte, bald wie⸗
der entzog. Es haben vabei zwei Motive von welt-
gefchichtlicher Bedeutung mitgewirkt: der Jeſuitismus
und der Calvinismus — jener die jpanifch-öftreichifche
Politik beftimmend, dieſer von der franzöfiichen als ein
vergifteter Keil in das deutiche Reich hineingetrieben, —
beide jo unbeilvoll für unfer Land, daß es ſchwer zu
fagen fein vürfte, weldhem von ihnen das größere Maß
von Verderben innegewohnt habe ..... Der Yefuitis-
mus war die Antwort der romanischen Welt auf die ger-
manifche Reformfrage. Vermöge feiner wunderbar Hug
ausgedachten Organiſation, vermöge jeiner beifpiellofen,
ins Helvifch - Erhabene gehenden Difciplin hätte ver
Jeſuitenorden auf ver Weltgefchichtebühne eine Rolle
fpielen fünnen, wie jo ruhmreich und gefegnet feine andere
Korporation jemals fie gefpielt hat. Aber die Gejellfchaft
Jeſu war ein romanifches Injtitut, alfo von vorneherein
dem Verſtändniß der Gejege organiſcher Entwickelung ver⸗
ſchloſſen und das Heil nur in der blinden, unverrück⸗
baren Autorität erblickend. So trat ſie dem Princip der
freien Selbſtbeſtimmung des Menſchen, welches im Pro-
teftantismus zum eritenmal als jittliche und politifche
Im ſechszehnten Jahrhundert. 67
Macht ſich angekündigt hatte, als eine Geiſterpolizei gegen⸗
über, der ſich das romaniſirte habsburgiſche Haus als
eines Werkzeuges zu bedienen glaubte, während es
doch in Wahrheit ſelbſt nur eine, wenn auch ſehr be-
deutende Ziffer in dem weltumfalienden Kalful des
Jejuitismus war. Auseinanderzufegen, wie im Gefolge
ber jefuitifchen Reaktion, welche ven Faiferlichen Hof, wie
bie übrigen fatholifchen deutſchen Höfe lenkte, das fpa-
niſch⸗italiſche Fremdweſen im Verlaufe des 16. Jahr
hunderts mehr und mehr in ven fatholifchen Gejelf-
ſchaftskreiſen Deutſchlands Eingang fand, ift bier nicht
der Ort. Es genügt, auf dieje feititehenne Thatſache
im allgemeinen hingewiejen zu haben, mit der Bemer-
fung, daß die Dogmatif der Jeſuiten ebenfo energifch
den fpanijchen ‘Dunfelgeift in unfer Land zu verpflanzen
juchte als ihre läffliche und bequeme Moral der Einfüh-
rung italifcher Laſter mit einer Duldſamkeit zufah, welche
wohl wußte, daß man die Geifter entnerven muß, um
fie recht widerjtandslos beherrichen zu können.
Während fo der Iefuitismus vom Süden her an ver
Entnationalifirung Deutſchlands arbeitete, geſchah daſſelbe
vom Weſten her mittels der Verbindung des franzöſiſchen
Hofes mit den deutſchen Proteſtanten. Mit jener Per-
fivie, welche die franzöſiſche Politik zu allen Zeiten
harafterifirt hat und fie für alle Zeiten charakterifiren zu
follen jcheint, haben von Franz I. an die Könige Franf-
reichs es fich angelegen fein lafjen, bie beutfchen Pro-
teftanten gegen das katholiſche Reichsoberhaupt zu unter-
ftügen, während fie, mit Ausnahme Heinrichs IV., vie
5*
68 Bud III. Kap. 1.
Neformirten im eigenen Lande mit graufamer Härte ver-
folgten. Es mag ja für die veutfchen Proteftanten eine
Nothwendigkeit gewefen fein, dieſe franzöjiiche Perfidie
fih zunuge zu machen; aber daß die unnatürliche Ver⸗
bindung für Deutfchland in politifcher, intelleftueller und
fittlicher Beziehung von ven verderblichſten Folgen gewefen,
ift deffenungeachtet fonnenkflar. Der Hof ver „Lilien“
— nie ift ein reineres Sinnbild zu Gunften einer be-
fleckteren Sache entweiht worden — wurde leider das an-
geftaunte und eifrig nachgeahmte Vorbild einer Menge
von deutſchen Fürften und Edelleuten. Mit ver fran-
zöſiſchen Redeweiſe und Bildung, ven franzöfifchen Moden
und Bräuden kam auch die franzöfifche Lüderlichkeit nach
Deutſchland herüber, jene gränzenlofe, raffinirte Lüder—
lichkeit, welche durch ein gemäßigtere® Wort nicht hin—
länglich gezeichnet wird und welche zu charakterifiren
man nur die Namen von Franz I., Heinrich III. und
Heinrich IV. zu nennen braucht. Die Politif allein wäre
indeffen nicht im ftande gewefen, der franzöfifchen Sünd-
flut in Deutfchland Raum zu fchaffen, wenn viefe in ver
Konfeffion Calvins nicht eine Gelegenheitsmacdherin ge-
funden hätte. Zwar führte ſchon in ver erften Hälfte des
16. Jahrhunderts das Beitreben, das „elegante“ Wiljen,
wie e8 auf ven franzöfifchen Univerfitäten daheim war,
ſich anzueignen, viele junge und der franzöfifche Kriegs—
dienst viele junge und alte Herren aus Deutſchland nad)
Frankreich; aber doch war damals wie das franzöfifche
Wefen überhaupt jo auch die franzöfiiche Sprade in
unferem Lande noch fo wenig befannt, daß vie Ichmal-
- —— —— ——————— —
Im ſechszehnten Jahrhundert. 69
falpifchen Bundesgenofjen nur deutſch oder lateinifch mit
dem franzöfiichen Kabinette briefwechfelten. Erſt dann,
als jo einflußreiche deutſche Höfe, wie ver furpfälziiche
und heſſiſche waren, dem Calvinismus fich zugewandt
hatten, war für das Franzoſenthum bei uns eine fefte
Stätte gefunden, von welder aus es erfolgreiche Er-
oberungszüge machen fonnte und wirklich machte 17),
Unfere nationale Entwidelung hat darunter unfäglich
gelitten. - Die vornehmen Stände wetteiferten förmlich
in ehrvergeffener Nachäffung von Fremdem und fo öffnete
fi zwifchen ihnen und vem Volk eine Kluft, welche noch
heute lange nicht ausgefüllt ift. Alles Vaterlänpifche
galt dieſer äffiſchen Gefinnung für roh und gemein, alles
Ausländische für fein und nobel. Unſere edle Sprache,
durch Yuther auf eine neue Grundlage von Granit geftellt,
mußte bei Leuten „von Welt” franzöfifchem Genäjel over
italifhem Gelifpel oder einem abjcheulihen Miſchmaſch
aus deutichen, lateiniſchen, franzöfiihen, italifchen und
ſpaniſchen Sprachfegen weihen?9). Während fich auf:
47) M. ſ. die Nachweiſe, womit Barthold in feiner Geſch.
der Fructbringenden Gefellihaft, S. 12 fg., feinen Sag ſtützt:
„Der Calvinismus des 16. Jahrhunderts ift der Weg, auf wel-
hem das Fremde (d. i. das Franzöftfche) in Sprade, Sitte und
Denkweiſe in Deutſchland eindrang und zu Anfang des 17. Jahr-
hunderts eines großen Theile fürftlicher und adeliger Kreife fi
bemächtigte.“
48) Bortrefflih wurde diefe „alamodiſche“ Spracdhmengerei
gegeißelt in der aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges ftam-
menden „Deutſchen Satyra wider alle Berderber der deutſchen
Sprache”, wieder abgedr. im Weimar. Jahrbuch, I, 296 fg.
70 Buch III. Kap. 1.
jeiten der FaiferlichsFatholiichen Partei das Yeben in ven
fteifen und geijtlofen römiſch-ſpaniſchen Formen fort-
ichleppte, herrſchten aufjeiten ver widerkaiſerlich pro=
teftantifchen die franzöfiihe Sprache, Bildung und Ga-
lanterie. Alſo hüben und drüben wurde gleich viel
gefündigt und beide Parteien haben es gleichermaßen
verfchuldet, daß fih das 17. Sahrhundert für unfer
Vaterland zu einer Periode des Jammers und der
Schmach geftaltete, worüber ein veutjches Herz noch jeßt
ih entjegen muß. Wir werben betrachten, wie in dieſer
Unglüdszeit die deutfchen Frauen geftellt waren. Weil
aber in ver bezeichneten Periode das veutfche Leben über-
haupt vom ausländifchen abhängig und auch das frauliche
wejentlich ein Ergebniß ver Nahahmung fremder Bor-
bilder gewefen iſt, fo ſcheint esräthlich, zuvor die Stellung
des ſchönen Gefchlechtes, wie fie im 16. und 17. Jahr⸗
hundert in Frankreich, Italien und Spanien war, ins Auge
zu fafjen, was im nächiten Kapitel gefchehen fol. Es
dürften fich Daraus manntgfach beveutfame fittengefchichtliche
Parallelen ergeben.
— | —
Zweites Kapitel,
— — e.
Zur Vergleichung.
Die Renaiſſance in Frankreich. — Begründung des modernen Hof-
ſtils und des Maitreffenwefens. — Die franzöftiche Galanterie unter
Franz I., Heinrich II. und Heinrih IV. — Die Regentſchaft der
Anna d'Autriche. — Ludwig XIV. — Die franzöſiſche Gefellfehaft
in ben Briefen der Herzogin Elifabeth Charlotte von Orleans. —
Bon den Italienerinnen. — Die Spanien Frauen im 16. umd
17. Jahrhundert.
Der moderne franzöfifche Hofftil, in allen feinen
Umbildungen bis zur großen Revolution herab für vie
meiften europätfchen Höfe das Vorbild, ift, wie jeber-
mann weiß, im Zeitalter der Renaifjance aufgefommen.
Franz der Erite, ver glänzende Wüftling, der elegante
Bauherr, ver „Pere de la venerie“, ver geſchmackvolle
Kenner der Künfte und der Frauen, war der Begründer
und Pfleger dieſer Kunft Höfifcher Lebensführung, vie
aus dem Mittelalter die ritterlihen Formen herüber-
nahm und damit alle die feineren Reizungen und Genüffe
verband, welche die an ven klaſſiſchen Studien neuent-
zündete literarifhe und fünftlerifche Thätigfeit an vie
12 Bud III. Kap. 2.
Hand gab. Der Humanismus, ſchon in feinem Namen
einen bebeutfamen Gegenfag zum Theologismus aus—
prägend, war in Frankreich nicht wie in Deutfchland die
Herzensſache einer auf ernite religiöſe und politifche Ziele
gerichteten Vorſchrittspartei, ſondern weit mehr nur ein
Spielzeug pornehmer Eleganz. Auch in Frankreich ſtellte
er der ewigen Litanei vom Jenſeits die realiftifche Bot-
ihaft vom DiefjeitS gegenüber; aber während mittels
vderjelben bei uns die eveliten Geifter eine große fociale
Reform anftrebten, begnügte man fich in Frankreich, wie
in Italien, die aus der wiedererwecdten Kenntniß bes
klaſſiſchen Alterthums fließenden Anregungen zur Ver—⸗
feinerung des Lebensgenuſſes auszunügen.
Bei viefem Mangel an ivealem Gehalte mußte bie
Renaiffance in Frankreich nothwendig andere Rejultate
haben als in Deutfchland. Dieſſeits des Rheins ift der
humaniftifche Geift im Proteftantismus — womit nicht
etwa Die proteitantiiche Kirche gemeint ift — eine Lebens⸗
macht geworden, welche alles das fchuf, was unfer Ruhm
und Stolz: die deutſche Wiſſenſchaft, Literatur und Kunſt.
Jenſeits des Rheins gab die Renaiffance Stimmung,
Mittel und Wege an die Hand, die modern-romaniſche
abfolute Königsmacht fo zu jagen fünftlerifch auszubilpen.
Der Charakter dieſes Königthums war von vornherein
ein tiefunfittficher. Das veutfche Wort Falſchheit reicht
faum aus, die Perfivie einer Politif zu bezeichnen, welche
ben Proteftantismus im eigenen Lande mit brutaler Grau⸗
jamfeit unterdrückte zur gleichen Zeit, wo ſie denjelben
- auswärts unterftügte; und man muß Brantöme lefen, um
En
Zur. Bergleihung. 73
bie ganze Frechheit ver Lafterwirthichaft fennen zu lernen,
welche dem modernen franzöfifhen Hofleben von Anfang
an eigen war. Man hat den genannten Autor freilich
als den „Skandalchroniſten“ feiner Zeit (1527 — 1614)
bezeichnet, aber was konnte er dafür, daß feine Zeit eine
Standalzeit geweſen ift? Angenommen fogar, er habe
in einzelnem übertrieben, zeugt doch jein naiv⸗unge⸗
zwungener Ton für feine Wahrhaftigkeit im ganzen.
Und was für fittlihe, d. h. unfittliche Anſchauungen
mußten in einer Zeit herrſchen, wo Gefchichten, wie
Brantöme fie erzählt, augenfcheinlich eine Lieblinge-
unterhaltung der vornehmen und gebildeten Kreife aus-
machten! Wie charakteriftifch ift e8, daß ver Mann
gerade bei feinen ärgerlichften Bouboir- und Schlaf-
zimmeranefooten fajt nie unterläfit, die Heldinnen der⸗
ſelben ſehr ehrbare („tres honnestes“) Damen zu
nennen! Schon in ver Pflege ihrer förperlichen Reize
entwidelten dieſe „fehr ehrbaren* franzöfifhen Damen
eine jo fabelhafte Schamlofigfeit, daß unfere Sprache
diefelbe auch nur anzudeuten jich weigert 29), obzwar vie
Mufe der Sittengefchichte feine Prüde ift und Feine fein
darf.
Franz der Erfte nimmt unter den Königen und
Staatsmännern, welche die franzöfiihe Monarchie aus
einem Feudalſtaat zu einer unbeſchränkten Defpotie um-
bildeten, unftreitig eine vorragenve Stelle ein. Er ſchon
hätte jenes Wort raſender Selbftfucht fprechen können,
49) Brantöme, Oeuvres (Londres 1779), III, 303 et suiv.
74 Bud IH. Kap. 2.
welches nachmals Ludwig der Bierzehnte ſprach: —
„L’etat c’est moi“. Denn ſchon dem Valois war vie
Königsmaht nur ein Mittel zur Befriedigung perfün-
licher Gelüfte. Der Subjektivismus der Renaiffancezeit
bat in dieſem Würften feinen frivolften Repräfentanten
gefunden. Der Staat war, glaubte er, nur um feiner
willen da. Ausjchweifend, wie er gewejen, beförberte
er durch fein Beifpiel die Ausfchweifung; aber er that es
mit einer Art Fünftlerifher Anmutb, wie das von einem
König, der fih im Umgange mit Männern wie Marot,
Da Vinci und Cellini gefiel, nicht anders fih erwarten
lieg. Ein galanter Herr, machte er die Galanterie zu
einem Elemente der Regierungskunſt. Er war der Be-
gründer jenes Maitreffentbums, welches bald einen jo
wichtigen Theil des franzöfifchen Staatsweſens aus-
machen follte, auf die Stellung der Frauen in ganz
Europa eine fo bedeutende Einwirfung gewann, unter
dem vierzehnten Ludwig ein pomphaft anerfanntes Attribut
des abfoluten Königthums wurde und unter Ludwig dem
Fünfzehnten vie Töniglihe Majeftät, an vie Unterröde
von Dirnen wie die Bompabour und die Dubarry ge-
beftet, durch ven Koth fchleifte.
Ludwig der Elfte hatte den franzöfifchen Adel ge-
vemüthigt, Franz der Erſte verfnechtete venfelben, indem
er ihn zwang, am Hofe zu leben. Der König machte
vie Barone zu betitelten Xafaien, ihre Frauen und Töchter
zu feinen Odaliffen. Letzteren Zwed zu erreichen, wurden
im Nothfall unerlaubtefte Künjte, nieverträchtigfte Liften
in Anwendung gebradt. So, als es galt, die Gräfin
Zur Bergleihung. 75
von Chateaubriant an ven Hof zu loden, jene ſchöne Un»
glückliche, welche ihr Gemahl ven kurzen Liebesraufch,
dem fie in den Armen des Königs fich bingegeben, nach⸗
mals mit dem Tode büßen ließ). Sein Fünftlerifcher
Sinn hielt auch Franz den Erften feineswegs ab, feine
Adfichten bei Gelegenheit mit der ganzen Brutalität eines
vollendeten Defpoten durchzuſetzen. So jagte er eines
Nachts einen feiner Hofherren, welcher feine Frau zu ers
morden drohte, falls fie ven König ihr Bett theilen Liege,
mit gezogenem Degen aus dem Schlafzimmer und nahm
ven Plab des Entehrten ein. Brantöme, welcher dieſe
Geſchichte erzählt, fegt Hinzu, diefe Dame fei fehr glüd-
lich gewejen, einen fo tapferen Beſchützer zu finden, denn
feitvem habe e8 ihr Gatte nie mehr gewagt, ihr ein
Wort darüber zu fagen, und babe fie alles nach ihrem
Gefallen thun laffen St). Wie der Herr, fo die Diener.
Bonnivet, der Günftling des Königs, beftürmte bie
Schwefter vefjelben, vie fehöne und geiftuolle, auch ale
Schriftitellerin aufgetretene Marguarite von Navarra,
mit Liebesanträgen. Abgewiefen, war er frech genug,
mittels Lift und Gewalt zum Ziele fommen zu wollen.
Er lud den ganzen Hof auf fein Jagdſchloß ein und ließ
der Prinzeffin ein Schlafgemach anmeifen, in welches er
fih, als er fie eingefchlafen glaubte, mittel® einer Ge⸗
beimtreppe einfhlich, um die Schweiter feines Königs im
Sturme zu erobern. Die Prinzeffin erwachte, entwand
50) Galanteries des Rois de France, II, 4 et suiv.
51) Brantöme, III, 18.
76 Buch IU. Kap. 2.
fich entrüftet den Armen des Verwegenen, und da er ihres
heftigen Widerſtandes ungeachtet nicht ablaffen wollte,
richtete jie ihn mit ihren Nägeln jo arg zu und rief fo
laut um Hilfe, daß der Unverfchämte enplich entfliehen
mußte. Der König lachte nur zu diefem Abenteuer,
welches die Prinzeſſin in der vierten ihrer Novellen ſelbſt
erzählt hat). Es Fennzeichnet die Sitten jener Tage,
daß einer königlichen Dame folches ungeftraft wider:
fahren fonnte. Freilich) forgten die Frauen des fran-
zöfifchen Hofes dafür, daß die Herren ven Glauben an
weibliche Jugend für eine Thorheit anfeben konnten. Alle
Berichte müßten lügen, wenn wir bezweifeln jollten, daß
die Weiber mit ven Männern in Zügellofigfeit wett-
eiferten. Sogar in unnatürlichen Laftern, wie Bran-
töme mit der größten Seelenruhe berichtet. Aber es tft
unmöglich, feine baarfträubenden Gefchichten von ven
Tribaden („Fricatrices*) feiner Zeit nachzuerzählen 3°).
Ihm zufolge verzweifelten die Ehemänner zulegt daran,
ſelbſt mittels fogenannter „Keufchheitsgürtel” vie un-
rechtmäßigen Begierven ihrer Frauen im Zaum halten zu
fönnen, und fo begreift man, daß zur Zeit Franz des
Erften in Frankreich das Sprüchwort umgehen konnte:
„Qui voudroit garder qu’une femme n’aille du tout
à Yabandon, il la faudroit fermer dans une pippe
et en jouir par le bondon“. Ebenſo, daß ein itali-
fher Fürft, welcher eine franzöfifche Prinzeffin heim-
52) Nouvelles de la Reine M. 33 et suiv.
53) Brantöme, III, 209 et suiv.
Zur Bergleihung. 77
geführt, am Morgen nad der Hochzeitnacht voll DVer-
wunderung ausrief: „Voila un grand miracle, que
cette fille soit ainsi sortie pucelle de cette cour de
France“54), |
Wenn unter Franz dem Erften die franzöſiſche Ga-
lanterie fich im allgemeinen wenigftens noch den Schein
ritterlicher Courtoifie zu geben fuchte, fo verſank fie
unter Heinrich dem Dritten vollends in einen Schmuß,
wie er vor Zeiten an ven Höfen eines Caligula, Nero
und Elagabal fih angehäuft hatte. Der König ließ
fih in feinen wivernatürlichen Lüſten fo ſchamlos gehen,
daß er fich fogar nad Nero’ Vorbild mit einem feiner
„Mignons“ fürmlih vermählt haben fell). Der
54) Derjelbe, III, 148. 206.
55) Galant. des R de. Fr. II, 182. Unglaublich ift die Sache
feineswegs. Naumer hat in feinen zur Erläuterung der Gefchichte
des 16. und 17. Jahrhunderts gefchriebenen „Briefen aus Paris”
(1831), I, 329, aus einer franzöfiihen Handſchrift folgende furcht-
baren Züge aus dem Lafterleben diefes Königs lateinisch wieder-
gegeben. „Aliquando invitavit omnia scorta Parisina maxime
famosa, ut venirent in oppidum St. Cloud, easque carpentis
eo deduci jussit; ubi quum advenissent, in nemore eas de-
nudari jussit; similiter milites Helvetios prorsus denudari
jussit (et) in venationem immisit, spectans voluptatem. —
Frequentabat ille (rex) matronas (Nonnen?) de Bel — ncourt
et corolla sua precatoria vulvas earum demetiebatur; alteram
altera majorem habere dicens. — Vim inferri jussit mulieri-
bus honestis, quas in cubiculum suum adduei praetextibus
quibusdam curaverat. — Ipse et omnes ipsius sodales insi-
mulabant sodomiae. — Margaretha Valesia narrabat episcopo
de Grasses, fratrem suum Henricum III. nunquam cum ipsa
78 Buch IH. Kap. 2.
Lebenswandel feines Nachfolgers, Heinrich8 des Vierten,
war befanntlich wenig geeignet, ſittenbeſſernd zu wirken,
und e8 kann doch wohl faum als ein Verbienft gelten,
wenn ihm nachgerühmt wird, daß er in feinen Aus-
ſchweifungen wenigitens die Wege ver Natur eingehalten -
habe. Die Hofhaltung des Königs bot die feltfamften
Rontrafte: hier die energifche Beſchäftigung mit foloffalen,
bie Karte von Europa mit vollftändiger Umänberung be-
probenden Plänen — die Franzoſen gebärbeten fich ja
befanntlich ſchon damals als die „Eivilifatoren* von aller
Welt, ohne jemals ernftlich bei fich jelber anzufangen
— dort eine halbtolle Frivolität, welche mitunter fogar
einen fo erniten Rechner und Staatsmann wie Sully an
ihrem Thorheitsbande gängelte. Sollte man e8 glauben,
daß e8 des berühmten Minifters Lieblingsvergnügen war,
Abends in feinem Kabinette fich auf ver Laute Tanzweifen
porjpielen zu laffen und, wunderlich ausitaffirt, viefe
Tänze ganz allein zu tanzen, währenn etliche übelberufene
Hofherren und noch übler berufene Frauenzimmer die Zu⸗
ihauer machten und mit dem Zanzenven allerlei grobe
Späſſe trieben®%)? Unter dem melandholifchen vrei-
concubuisse, nisi per vim®.... Alle dieſe Bezichtigungen
haben‘ freilich einen ftark liguiftiichen Beigefhmad, was Raumer
anzumerfen vergaß ; allein die widernatürlichen Sünden des Könige
waren allbelannt und die allgemeine Verachtung, in melde er
fiel, bezeugt, daß er der Verborbenfte unter ben Verdorbenen eines
zuchtlojen Hofes geweſen.
56) „Bouffonnoient avec lui“, lautet der Ausbrud bei Talle-
mant de Reaur, welder in feinen Historiettes (I, 147) von
Sully’s Tanzſucht rebet.
Zur Bergleihung. 79
zehnten Ludwig nahm der Hof eine etwas trübjäligere
Miene an, voch hielt fich im ganzen der unter Heinrich
dem Vierten herrſchend geweſene Ton. Daher fonnte
denn auch der gewaltige Beherricher feines Königs und
Landes, der Kardinal Richelieu, auf ven baroden Ein-
fall fommen, mittels Ballettänzerfprüngen um die Liebe
der Königin, Anna dD’Autriche, zu werben”). Mehr
Erfolg hatte nach diefer Richtung hin fein Nachfolger,
ber glatte Mazarin, mit welchem auch das „italifche
Lafter“ in Frankreich wieder Mode wurde. Wie un-
befangen ſelbſt Damen erſten Ranges diefe Abjcheulich-
feit nahmen, bezeugt uns ver Umftand, daß die Witwe
Ludwigs des Dreizehnten, der man befanntlich vie zärt-
lichſten Beziehungen zu Mazarin ſchuldgab, eines Tages
zur Frau von Hautefort fagte, e8 wäre nichts daran, weil,
wie fie lachend beifügte, der Karbinal die Frauen nicht
liebe; er fei ja ein Italiener®%). Man kann gerade nicht
jagen, daß die Regentſchaft Anna's von Deftreih die
franzöfiihen Hoffitten wejentlih zum Beſſern gelenft
habe. Kaum daß der äußerliche Anſtand etwas mehr ge-
wahrt wurde. Zwar kam es jetzt nicht mehr vor, daß, wie
unter Heinrich dem Vierten gefchehen, ein junger Parla-
mentsrath eine nicht näher zu bezeichnende rohfaunifche
Manier, ven Schönen feine Liebe zu erklären, erfand und
übte 39%), aber wie mußte es troßdem mit den Sitten einer
57) Memoires de Lom&nie de Brienne, I, 274. .
58) Mem. de la Porte (Petitot’ihe Samml. LIX. 400).
59) Journal de Henri IV., III, 283.
80 Bud III. Kap. 2.
Zeit beftellt fein, wo eine öffentlihe Dirne, vie viel-
berufene Ninon de Lenclos, fo ſehr als Mufter ver fein-
ften Lebensart galt, daß vornehme Mütter ihre jungen
Töchter bei derſelben einführten, um guten Ton zu
lernen! Die Königin duldete e8 auch, daß ihre Ehren-
fräulein ven ausgelafjenften Liebeshänveln ſich über-
ließen. Eine diefer „Filles d'honneur“, Mapemoifelfe
de Guerchi, wurde fogar zu wiederholten malen Mutter,
ohne deſſhalb ihre Stelle zu verlieren 6). Die franzöfifche
Hofgefchtehte von damals war in Wahrheit eine „Chro-
nique des ruelles“ 61), Affe vie großen Damen, welche,
dem erotifchen Nänfefpiel das politifche gefellend, zur
Zeit der Fronde eine mehr oder weniger vortretende
Rolle pielten, die Duchefje de Yonguevilfe, die Ducheffe
de Chatillon, Madame la Balatine, Madame ve Guimenee,
Madame und Mademoifelle de Chevreufe und andere,
huldigten in ver Liebe mehr over weniger freien, mehr
oder weniger ärgerlichen Grundfägen. Am gemeinjten
trieb e8 die Ducheffe de Montbazon 82).
Ludwig der Vierzehnte, dem in Jünglingsjahren eine
ver Nichten Mazarins, Maria Mancini, eine romantifche
60) Galant. des R. de Fr. III, 168, 186.
61) In den Bettgaffen (ruelles) empfingen nämlich die Damen
jener Zeit, im Bette liegend, ihre Befuche, welche in dem Zwiſchen—⸗
raum von Wand und Bett Pla nahmen.
62) ©. über diefe Meffaline das Urtheil des Karbinals de
Net, Mémoires, II, 30 et suiv. Frau von Motteville jagt in ihren
Memoiren (I, 262) von ihr: „Je n’ai jamais vü une personne,
qui ait conserv& dans le vice si peu de respect pour la vertu.“
Zur Bergleihung. 81
Neigung eingeflößt hatte, umgab feine Liebfchaften mit
dem ganzen Pomp einer Etifette, welche auch in feinen
Ausfhweifungen ven Ervengott erfennen laſſen follte.
Unter jeinen Maitreffen hat wenigftens eine, die unglüd-
liche La Valliere, welche ven König wirklich liebte, An-
ſpruch auf unfer Mitgefühl 88). Ich fehreibe aber Feine
Hofgeſchichte Frankreichs, und ganz abgefehen davon, daß
die Schilderungen des franzöfifhen Hof» und Geſell⸗
ſchaftslebens unter Ludwig dem Vierzehnten in fo alibe-
fannten zeitgenöfjiihen Büchern, wie vie berühmten
Memoiren des Duc de Saint- Simon und die Briefe
der Madame de Sevigne find, jedem Gebildeten in ver
Erinnerung ftehen, Tam und fommt e8 mir im Borftehen-
den und Nachfolgenden nur darauf an, in flüchtigen
Umriſſen die fremden Sitten zu zeichnen, welche leider
vom 16. Jahrhundert an in Deutjchland ver Nachahmung
werth gehalten und wirklich nachgeahmt wurden. Es
dürfte jedoch, um das Unglüd dieſer Nahahmung in
feinem ganzen Umfang erkennen zu laſſen, gerechtfertigt
fein, wenn ich eine veutfche Berichterftatterin über vie
franzöfifhen Sitten zur Zeit Ludwigs des „Großen“
und des Regenten redend hier einführe.
Sedermann erräth, daß ich die Herzogin von Orleans,
die i. 3. 1652 zu Heivelberg geborene pfälzifche Prin-
zeifin Elifabeth Charlotte meine, eine der geiſtvollſten und
63) „Madame de la Valliere Etoit nee tendre et vertueuse.
Elle aima le roi et non la royaute.“ Souvenirs de Mad. de
Caylus, 1I. edit. pag. 24.
Scherr, Srauenwelt. 4. Aufl. II. 6
82 Buch IU. Kap. 2.
charafterftärkiten Frauen ihrer Zeit, welche, an Monfieur,
d. h. ten Bruder des vierzgehnten Ludwigs, 1671 wider⸗
willig verheiratet und durch diefen Mutter des Negenten
(Duc d'Orleans), inmitten des finneverwirrenden Babel
von Paris ihr deutſches Gemüth und ihren deutſchen
Geiſt fich bewahrte. („Ich habe noch allezeit ein teutfches
Herg und gemüthe“, fchrieb fie am 17. November 1708
aus PVerfailles.) Was fie am franzdjiihen Hofe jah,
hörte und erlebte, hat fie in veutjchgefchriebenen Briefen
an mehrere Verwandte und Bekannte, insbejondere an
ihre Halbfchweiter, die Raugräfin Luife, mit Föftlicher
Naivität erzählt. Die Franzofen find freilich von diefer
Natvität wenig erbaut und bejchuldigen die Prinzeffin
der Neigung zur Medifance. Aber wenn e8 auch wahr ift,
daß fie ihrer Zunge over Feder Teinerlet Zwang anthat
und, ganz der franzöjiichen Manier entgegen, häffliche und
häfffichjte Dinge ohne weiteres bei ihren Namen nannte,
wenn es ferner wahr ift, daß fie, ihrem eigenen Aus-
prude zufolge, zuweilen „gritlich (Frittlich) war wie eine
wantlauß“ und demnach nicht immer geneigt, vie Sachen
im rojenfarbenen Lichte zu fehen, fo fann dennoch weder
die Schärfe ihrer Beobachtungsgabe, noch ihre Wahr-
heitsliebe einem ernftlichen Zweifel unterliegen, obzwar
einzelne Irrthümer und Webertreibungen in ihren Be-
richten mitunterlaufen. Hören wir taher die unſchätz⸗
bare Zeugin über die Sittenzuftände eines Hofes ab, nad
welchem vie veutfchen Höfe fo lange als nad) ihrem Vor⸗
bilde hingeblidt haben. Wir verzichten jedoch darauf, in
bie bunte Mofaif ver anzuführenden Briefjtellen Orpnung
Zur Bergleihung. 83
und Syſtem zu bringen. Es würde das ja eine eigene und
weitausfehende Arbeit erfordern und vielleicht ift dieſe
Mofait in ihrem planlofen Durcdeinander nur um fo
anziehender. Die Briefe, welche wir ausziehen, find an
die Raugräfin Luiſe und an die Prinzeffin Karoline von
Wales, geborene Brinzeffin von Anfpach, gerichtet und
ihr Inhalt und Ausdruck zeigen recht charakteriftiich und
ergöglich ‚genug, worüber und wie zu Ende bed 17. und
zu Anfang des 18. Jahrhunderts Prinzeffinnen mit
einander briefwechfelten . . . . - „Das dangen tft Nun
gang auß ter moden, hir In frankreich fo baldt as-
sambleen fein, thut man nichts alß landtsknecht fpiellen,
diß fpiel tft abm meiften In vogue, aber die jungen leutte
wollen nicht mehr danken 6). — Diß landt tft greulich
verführifch vor Junge leutte und fie Erwerben mehr Ehre
Im Krieg alß hir nichts Zu thun alß herumb Zu ſchlendern
und Zu desbauchiren, wozu unter unß gerett mein
john Nur gar zu viel inclination hatt und meint, weillen
Er Nur die weiber lieb hatt und nicht won der anderen
desbauchen ift, fo jett hir gemeiner ift al8 In ittallien,
64) Im 17. Jahrhundert graffirte die Spielwuth förmlich
unter den franzöfiihen Damen. Vgl. Renee, Les nitces de Ma-
zarin, notes, B. Auch das „Mogeln“ verftanden die Spielerinnen
nicht minder als die Spieler. Frau von Staal (nicht zu verwechſeln
mit ber Frau von Stael) erzählt in ihren Memoiren von einer
Spielerin jener Zeit: „Die Herzogin de la Ferté ließ ihre Lieferanten,
Schlächter, Bäder u. |. m. zufammenlommen und fpielte mit ihnen
Landsknecht. Sie fagte mir ins Ohr: Ich betrüge fie, weil fie mich
befteblen”.
6*
84 Bud III. Kap. 2.
fo meint Er, man folle Ihn noch dazu loben. Waß noch
mehr ift, vie weibsleutte fein in einander Verliebt, welches
mich noch mehr Edelt alß alles. — Das Sauffen iſt gar
gemein bey bie weiber hir in frankreich und Mad. de
Mazarin hatt eine dochter hinterlaffen, jo es auch Meifter-
lich fan, die marquise de Richelieu. Die Marquiſe
ift auff alferhandt weiß abſcheulich desbauchirt, legte
fih Eing mahls hir in Monsieur le dauphins bett,
ohne daß Er fie darumb gebeten, umb bey Ihm zu
ſchlaffen. — Hir findet man gar wenig mweibsleutte fo
nicht von natur coquet fein undt ift e8 recht rar, wenn
man Eine findt fo e8 nicht iſtss). — Im opera von Alceste
fingt man: L’hymen destruit la tendresse, il rend l’a-
mour sang attraix — undt ein cavalier fo vor Ein jahr
geftorben fagte alß: quel amour qu’en puisse dais qu’en
entre au lit d’hymen lamour sort du coeur. — Seidt
Ihr fo Einfältig zu glauben daß Junge Mansleutte bey
itigen Zeitten ohne metressen leben? Das verunehrt
65) Bei dieſem Vorwurf angeborener Kofetterie, welchen bie
ehrliche Elifabeth Charlotte den Franzöfinnen madt, kommt mir
eine charakteriftiihe Parallelftelle aus den Erinnerungen einer
neueren Beobachterin zu Sinne. SHelmina von Checy („Unver-
gefjenes“, I, 216) erzählt nämlih: „Ich fah einmal (zur Zeit des
Konjulats) zwei niedliche Mädchen durch den Tuileriengarten gehen.
Die eine faltete den Rod ihres Kleives mit großer Sorgfalt zu-
fammen und fragte dann das Schwefterhen: Anna, ift auch mein
Bein zu ſehen? Dies war fehr zierlich geformt, Anna bejahte und
die Kleine war zufrieden. Eine andere Kleine, von deren ſchönen
Augen man fchon gefprochen hatte, fagte: Die Sonne thut meinen
Ihönen Augen weh”.
Zur Vergleichung. 85
Einen herrn gar nicht. — Es iſt eine abfcheuliche fach
mitt dem Tabaque. Es ärgert mich recht, wen Ich hir
alle weibsleut mitt ven ſchmutzigen Naßen, als wen fie fie
in Dred mitt Verlaub gerieben hetten, daher fommen
undt die finger in alle ver Männer Tabactiere jteden
ſehe. — Die Aebtiffin von Mautbuisson, Louiſe Hollanvine,
fille de Frederic V. Electeur Palatin — (alfo eine
geborene Deutiche, aber vollſtändig franzöjirt und durch⸗
aus würdig, eine Franzöfin von damals zu fein) 8%) — hat
fo viel Baftarts gehabt, daß fie jchiwur: par ce ventre,
qui aportel4enfants. Dieimpuissants madıten fie ohn⸗
mächtig und fie fonnte jie von feme riechen. Man er-
zählet von viefer Dame, daß um fich ein oeil tendre
zu maden und um wohl auszufehen, hatte fie einen
Kammerdiener, der mußte wenn fie auf einen Ball ging
in ihrem vollen Puge und aufrecht mit ihr zuhalten. —
Die Marechalle de la Ferte wollte einem von ihren
Amants erweijen, wie lieb jie ihn hätte. Ich weiß nicht,
welcher e8 war, denn fie hat ihrer fo viele gehabt als
Tage im Jahre find; wo mir aber Recht ift, jo war e8 der
Heine Comte de Marsan. Der hatte ihr einmal vor-
geworfen, daß fie ihn nicht vecht lieb hätte. Sie fagte:
je vous donnerai des preuves convaincantes. Quand
je vous sais seulement en même lieu oü je suis,
je me sens dans une agitation comme si j’avois la
fievre. Wie er aber dies nicht glauben wollte, gab fie
66) Von den ſkandalöſen Abenteuern diefer Dame erzählen
die Memoiren von Madame de Montpenfier (I, 220) näheres.
86 Buch III. Kap. 2.
ihm eine Nacht ein rendezvous; wie er bei ihr im Bette
war, ziehet fie ihm die Dede übern Kopf, und fagt: Ne
parles pas, ou vous ötes perdü! ruft ihre Leute und.
läfit ihren Doctor holen. Wie er ihr den Puls fühlt,
fragt jie: He bien, que trouves vous? Der Doctor
antwortet: Madame, vous avés une grande agitation
et une fievre trös violente. Vous devries vous faire
saigner. Sie fügte: Une autre fois, je n’en ai pas
tems presentement. Wie Doctor und Kammermagd
wieder weg waren, fagte vie Marechalle: He bien,
etes-vous content? Je vous ai tenu parole. Er fagte:
Oui, mais vous m’avez fait grande peur. — Madame
Ehriftine 7) war eine galante Dame, wiewohl ſehr aus-
gewachſen. Die große Mavdemoifelle bat mir erzählet,
daß weil fie (Map. Chriftine) gar weiß war, fie ſich
jplitternadent auf ein ſchwarzſammet Bette gelegt und
fih fo an ihre Amants präfentiret. Man fiehet zu Fon-
tainebleau auf dem großen Sale noch das Blut von
einem Kerl, ven fie hat mafjafriren laſſen. Sie wolite
nicht, daß alles, was der Menſch von ihr wußte, heraus»
67) Die gemwejene Königin von Schweben, Tochter Guſtav
Adolfs. Der „Kerl“ (d. t. der Liebhaber, denn in einigen Gegenden
Süddeutſchlands, namentlich in Mittelfchwaben, beißt inder Bauern-
ſprache ein Liebhaber noch heutzutage ein Kerl), von deſſen auf
Chriſtine's Befehl im Schloffe von Fontainebleau gefchehener Er-
mordung die Herzogin von Orleans fpridt, war ber Italiener
Monaldeschi. Sittengeihichtlich ſehr inftruftiv ift die i. I. 1697
zu Amfterdanı gebrudte „Histoire des intrigues galantes de la reine
Christine de Suede et de sa cour pendant son s&jour à Rome“.
Zur Bergleihung. 87
fommen follte, und meinte, wenn fie ihm nicht das Leben
nähme, würde er es ausfchwagen. Sie war jehr vindi⸗
tative, in allen Stüden debauchirt, auch mit Weibern.
Das Hat fie den Franzojen zu danken, infonverheit dem
alten Bourbelot, der hat fie in allen Laſtern geſtärkt.
Ste fonnte von Sachen reden, die die größten Debauchés
nur erdenfen können. Sie hat vie Madame de Bregie zur
Unzucht mit ihr forciret, daß fie ſich fchier nicht ihrer hat
erwehren künnen. — Als eins von ver Königin Kindern
jtarb, fragte der König (Ludwig der Vierzehnte) feinen
damaligen Doctor: d’ou vient, Mr. Guineau, que mes
bätars sont sains et ne meurent pas, pendant que les
enfants de la reine sont tous sı delicats et meurent?
Sire, fagte Guineau, c’est qu’on n’a port& chez la
reine que les restes du verre. — Die Königin war froh,
wenn der König bet ihr fchlief, venn auf gut ſpaniſch haſſte
fie dieſes Handwerk nicht ; fie war jo luftig, wenn es ge-
ſchehen war, daß man e8 ihr grade anjahe ; hatte auch gerne,
daß man fie damit verirte; lachte, blinzelte und rieb ihre
fleinen Händchen zufammen. — Madame de Montespan
und ihre ältefte Tochter haben brav jchöppeln können ohne
einen Augenblid voll zu werden. Ich habe fie, ohne
was fie ſonſt getrunfen, 6 Rafaden vom ftärfiten turiner
Rofoli trinken fehen; ich meinte, fie würde unter die
Tafel fallen, aber e8 war ihr wie ein Trunk Waffer. —
Mein Sohn (ver Regent) ift incapable, recht verliebt
zu fein. Er ißt und trinkt gern mit feinen Maitreffen,
fingt und macht fich Iuftig mit ihnen und fchläft gern bei
ihnen; aber eine lieber zu haben als die andere das ift
88 Bud III. Kap. 2.
feine Suche ganz und gar nit. Mein Sohn ift nicht
delicat; wenn die Damen nur von guten humor feyn,
brav freffen, faufen und frech jeyn, weiter bevürfen fie
feiner Schönheit”)... ... In feinen alten Tagen
wandte fi) Ludwig ver Vierzehnte unter dem Einfluß
feiner legten Maitreffe, ver Maintenon, der Bigoterie
zu, welche ja zu allen Zeiten die richtige Folge ver Aus-
ſchweifung geweſen if. Die frömmelnvde, ven alten
König mit etferner Defpotie 69) beherrfchenne Witwe
Scarrond war unferer braven Herzogin von Drleans wie
Gift und Galle zuwider. Sie nannte die ſchlaue Konkubine,
welche ich zulett zur fürmlichen Gemahlin des Königs
hinaufpiplomatifirte, nur die „alte Zott“ und beim Top
der Berhafiten Ichrieb jie in ihrer verben Art triumphirenp :
„Die alte Schump iſt verredt ven 15. April (1719) zu
St. Cyr“. Nach dem Tode des Königs hob vie wilde
Orgie der Regentſchaft an und auf dieſe folgte die gemeine
Lüderlichkeit, wie fie während ber langen Regierung
Ludwigs des Funfzehnten am franzöfiihen Hofe gäng
68) Briefe der Prinzeffin Elifabeth Charlotte won Orleans
an die Raugräfin Luiſe. Hrsgeg. v. W. Menzel (Bibl. d. literar.
Vereins in Stuttgart, VI.), ©. 5, 8, 24, 39, 44, 63, 81, 89,
136, 139. Anekdoten vom franzöſ. Hofe, ausd. Briefen der Mad.
d'Orleans (Straßb. 1789), ©. 7, 26, 51, 64, 67, 101, 117,
134, 144, 196, 197.
69) Um von der bis zur Lächerlichkeit gehenden Unterwäürfig-
feit, welche Ludwig der Maintenon bezeigte, ein Beifpiel nambaft
zu machen, erinnere ih an die Stelle in den Memoiren St. Simons,
wo biefer die Gefhhichte des Lagers von Compiegne i. I. 1698
erzählt.
Zur Bergleichung. 89
und gäbe war und von da aus allmälig alle Schichten
der franzöſiſchen Geſellſchaft verpeſtete .....
Die Frauen Italiens waren im 16. und 17. Jahr⸗
hundert weit entfernt, einer ſocialen Freiheit zu genießen,
wie die franzöſiſchen fie genoſſen und fo vielfach miß-
brauchten. Leider find aber die Nachrichten über Stellung
und Berhalten der Italienerinnen zur angegebenen Zeit
jo bürftig, daß wir nur weniges darüber beizubringen
wiffen, um fo wenigere®, da bier nicht der Ort ift, die
Stellung vorragender Frauen in ber politifhen und
literarifchen Gefchichte Italiens, insbelondere der Frauen
der Häufer Medici und Ejte, zu würdigen. Ein berühm-
ter franzöfifcher Autor, Montaigne, welcher Italien in
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereif’te, fand
die ftrenge Verwahrung auffallend, in welcher dort bie
Frauen und Töchter der Vornehmen gehalten wurden.
Dan habe e8 als etwas ungewöhnliches angejehen, wenn
die jungen Damen fih einmal öffentlich zeigen durften.
Die Italiener hatten freilich Grund genug, der Tugend
des Schönen Gefchlechtes nicht allzufehr zu trauen. Die
italiſche Novelliftif von den Tagen Boccacciv’8 herab ent⸗
wirft, wenn auch mit lachenven Farben, ein nicht jehr
ichmeichelhaftes Gemälde der weiblichen Sitten des Lan⸗
des, zu deren Verderbniß ja auch die zahllofen Geiftlichen
das Yhrige eifrigit beigetragen haben. Und dann bie
frivole, in Laſcivität ſchwelgende Behandlung der Liebe
und der Frauen in den Komödien Macchiavelli's und in
den Helvdengebichten ver Pulci, Bojardo und Arioſto, von
den eigentlich priapifchen Poeten, wie Pietro der Aretiner
90 Bud III. Kap. 2.
einer war, gar nicht zu reden! Wo eine feldhe Poefie
entjtehen und der Stolz der Nation werden Tonnte,
mußten die Frauen gerade fo verborben fein wie bie
Männer oder im beiten Fall durchichnittlich viel zu un-
gebildet und involent, um edlere Sitten zu pflanzen und
den Glauben an weibliche Tugend zu verbreiten. Es
fehlte freilich nicht an erhabenen Ausnahmen von dieſer
Regel. Eine Leonora d'Eſte, eine Pittoria Colonna
glänzen für alfe Zeiten in ver Ruhmeshalle unfterblicher
Frauen und um das fchöne Haupt einer Beatrice Cenci,
welches einem unerhört tragischen Gefchid zum Opfer ge-
fallen, leuchtet vie Gloriole eines beifpiellofen Marty-
riums7%). Aber auf der andern Seite beweifen eine
Zucretia Borgia und eine Katharina von Medici fattfam,
70) Ein engliiher und ein italifcher Dichter, Shelley und
©uerrazzi, haben den Manen des unglüdlihen Mädchens bichterifche
Todtenopfer dargebracht. Leonora d’Efte wurbe, wie jedermann
weiß, von Taſſo und Göthe gefeiert. PVittoria Colonna, Gemahlin
bes Triegsberühmten Marcheſe von Peſcara und als Dichterin eine
ſehr ehrenvolle Stellung in der Literatur ihres Landes einnehmend,
wurde von ihrem Zeitgenoifen Ariofto (Orlando fur. XXXVI,
16 fg.) ſchön gepriefen, befonders in der Stanze: —
„Nur Eine wähl’ ich, Doch ich wähle dieſe,
Die ſelbſt verfiummen beißt des Neides Toben,
Und feine zürnt mir, wenn ich fie erkieſe,
Um, von den andern jchweigend, fie zu loben,
Sie hat nicht nur durch ihrer Töne Süße
Sich jelber zur Unfterblichleit erhoben,
Sie ruft auch jeden lebend aus dem Grabe,
Bon dem fie fpricht, durch ihre holde Gabe.“
Zur Vergleichung. 91
welche dämoniſche Verworfenbeit in der Bruft italifcher
Frauen von damals plakfand. .... Montaigne erzählt
uns, daß zu feiner Zeit in Italien bei feftlichen Mahl-
zeiten die Frauen von ihren hinter ven Stühlen ftehen-
den Männern bedient wurden, woraus zu Schließen wäre,
daß damals die Einrichtung des Cicisbeats noch nicht be⸗
ftanden babe. Im folgenden Jahrhundert aber ging dieſe
für echte Weiblichkeit und das Familienleben fo ververbliche
Sitte bereits fehr im Schwange. Eines merkwürdigen,
auch in Spanien vorkommenden Brauches gedenkt Bran-
töme. Zu feiner Zeit war es nämlich da und dort in
Italien, namentlich zu Viterbo, Sitte, nach der Hoch⸗
zeitSnacht die Beweife der Jungferſchaft ver Braut öffent-
lich zur Schau zu ftellen”!)., Mean könnte das für ein
naives Zeugniß der Achtung vor jungfräulicher Tugend
halten, läge nur nicht eine fo empörende Schamlofigfeit
in dieſer Oftentation und fügte Brantöme nicht hinzu,
daß dabei gar manche Fälfehung vorgefommen ſei. Mon-
taigne verhehlte nicht feine Verwunderung, in ganz
Italien jo wenige wirklich fchöne Frauen und Mädchen
angetroffen zu haben, wogegen er ven Stalienerinnen
Geſchmack im Anzuge nachrühmte; nur jchmeichelten,
meinte er, die italiichen Damen zu jehr dem Vorurtbeil
ihrer Anbeter, daß eine übermäßig große Bufenfülle ſchön
jet und demnach möglichft fichtbar gemacht werden müffe.
Die ſchönſten Weiber fand der feine franzöfifche Beobachter
unter den Rurtifanen und er notirte e8 als eine „chose
71) Brantöme, 1. c. II, 102 et suiv.
92 Bud IH. Kap. 2.
admirable® , daß e8 in Venedig allein anverthalbhuntert
folher Buhlerinnen erften Ranges gab, welche, von dem
Adel der Republik ganz öffentlich befucht und unterhalten,
in Kleiderpracht, häuflicher Einrichtung und foftfpieliger
Lebensweiſe mit Brinzeffinnen wetteiferten”%. Italien
war überhaupt die Heimat der raffinirten Buhlerkünſte
und wiederum war in Italien Venedig die Hochſchule ver
Buhlerei. Die Königin der Adria behauptete ihren Rang
als „Lieblingsftant der Wollüſte“ bis zur Mitte des
18. Jahrhunderts, wo fie ihr Skepter an Paris abtreten
mußte. Zur Renaiffancezeit, wo ja überhaupt die Xebens-
führung ver gebildeten Kreife in Italien als ein mattes
Abbild, häufig wohl auch als ein groteffes Zerrbild des
antifen Dafeins fich darftellte, hatte das italifche Hetären-
thum mitunter einen attifchen Anjtrich getragen. Durch
Schönheit, Tünftlerifche Fertigkeiten, Geiftreichigfeit und
Witz ausgezeichnete YBuhlerinnen, wie die Römerin
Imperia oder die Caterina di San Eelfo in Mailand
oder die aus Spanien herübergefommene Ifabella de Luna,
jpielten dazumal in ver italifchen Geſellſchaft Rollen,
weldhe an die der Afpafia oder wenigftend der Yais und
Thais in der griechifchen erinnerten 7°).
Die Spanierinnen des 16. und 17. Jahrhunderts
hatten andere Begriffe von Schönheit als ihre italifchen
72) Montaigne, Voyage. 92, 109, 111, 125, 141,
142, 160.
73) Bol. Burkhardt, Die Kultur der Renaiffance in Ita-
lien, 396.
Zur Vergleichung. 93
Schweiten?”Y. Während viefe nah „blühendem Fete“
jtrebten, thaten jene alles mögliche, um fi) mager zu
erhalten. Insbeſondere wurde die Entwidelung des
Buſens mit aller Gewalt hintertrieben, indem man bie
fchwellende Brujt reifender Mädchen vermittel® Tafeln
von Dlei platt prüdte, und zwar mit foldem Erfolg, daß
bei vielen fpanifchen Damen ftatt ver Yufenhügel Ver-
tiefungen und Höhlen fihtbar waren 3). Denn fie forg-
ten recht gefliffentlich dafür, daß diefe Reize, nämlich
eine hagere Inochige Bruft und ein ebenſo hagerer und
74) Sauptquellen für das Folgende find die Relation du
voyage d’Espagne de la comtesse d’Aulnoy (La Haye 1705)
und die von Raumer a. a. O. gefammelten Gejandtenberichte aus
dem 16. und 17. Jahrhundert.
75) Merkwürdiger Weile kommt diefer naturwidrig = bufen-
feindliche Brauch, weldher im 17. Jahrhundert in Spanien herrichte,
noch heutzutage unter einem deutſchen Volksſtamm vor, nämlich
im bregrenzer Wald, von deſſen Bewohnerinnen B. Oppermann
(„Aus dem bregrenzer Wald”, 1859, ©. 9) jagt: „Den rundlichen,
bie Fülle der Gejundheit verfündenten Kopf bebedt die kegelförmige
Mütze; ans den großen Augen fpricht viel Lebensluft und Schalf-
beit; alle Formen find rund, die Geftalten Träftig gebrungen, die
Hüften breit, die Beine ebenmäßig gebaut. Nur eins mangelt
ihnen völlig: die Bruft. Allerdings gewahrt man denfelben Mangel
auch ſonſt bei Bergbewohnerinnen, aber es ift dennoch auffallend,
daß derfelbe bier ſogar bei ſolchen angetroffen wird, die fonft üppig
gebaut find. Dies mag daher kommen, daß Mütter ſolchen
Töchtern, die etwa vor anderen Mädchen fich durch das, was dieſen
fehlt, auszeichnen könnten, tellerartige Hölzer anichnallen und
jo mit Gewalt eine der ſchönſten Zierben des Weibes in ihrer Ent-
widelung hemmen. * |
94 Buch III. Kap. 2.
fnochiger Rüden weit hinab tem Anblide bloßgeftelft
würden. Sonſt rühmt unfere Berichterftatterin, die
Gräfin d'Aulnoy, das reihe, glänzend ſchwarze Haar
ver Spunierinnen, ihre regelmäßigen, wohlgebilveten
Züge, ihre großen, Teuer werfenden Augen, ihre zier-
fihen Hände und außerorventlich Fleinen Füße. Die
leßteren ängjtli) vor den Blicken ver Männer zu ver-
bergen, war eine Hauptoorfchrift fpanifcher Sittfamfeit
und e8 galt für die zweitgrößte Gunft, welche eine Dame
überhaupt ihrem Liebhaber erweifen konnte, wenn fie ihn
ihre Beine und Füße ſehen ließ. Bekannt ift vie jpaß-
hafte Anekdote, daß, als die öſtreichiſche Prinzeffin
Maria Anna ale Braut Philipps IV. nad) Spanien
fam und man ihr beim Durchzug durch eine Stadt, welche
eine berühmte Strumpfweberei bejaß, eine Partie ver
Tchönften feivenen Damenftrümpfe als Ehrengefchent über-
reichte, der Majordomo vaffelbe entrüftet zurüdgab mit
den Worten: „Die Königinnen von Spanien haben feine
Beine!” Der gute Mann wollte damit fagen, es jei ein
Trevel, an die Beine und Füße von Königinnen auch
nur zu denken. Die Prinzeffin aber fing bitterlich zu
weinen an, wähnenp, man wollte ihr die Beine abjchneiven.
In Wahrheit, nicht nur die Beine, ſondern die ganzen
Leiber und Seelen der ſpaniſchen Königinnen waren in bie
„ſpaniſchen Stiefeln“ einer aberwitigen und unerbitt-
lichen Etifette eingefchnürt und gebrüdter als die könig—
lihen Bewohnerinnen des Ejfurial haben vielletcht nie=
male Frauen geathbmet. Ihr Leben verfloß in einer
prunfoolfen, das Gemüth bis zum Blödſinn abjtumpfens
Zur Bergleihung. 95
den Yangeweile. Sie waren nur gefrönte Sklavinnen.
Als ein Beifpiel diefer gänzlichen Unfreiheit fei angeführt,
daß Philipps II. Gemahlin Elifabeth,, als fie i. 3. 1565
zu einer Zuſammenkunft mit ihrer Mutter nah Bayonne
reiste, drei Zage lang vor ven Thoren non Burgos liegen
bleiben mußte, bis man tie Willensmeinung des Königs
eingeholt hatte, ob vie Königin durch die Stadt oder aber
um biejelbe herum ziehen follte. Aber die Königinnen
von Spanien waren mitunter noch viel graufanteren
Prüfungen ausgefegt. So die erfte Gemahlin Karls II.,
eine franzöjifche Prinzeſſin. Der impotente König hielt
fih für behert und wurde in diefen Glauben durch feinen
Beichtvater beftärkt, einen Dominikaner, welcher eine
Bifion Hatte, das Töniglihe Ehepaar wäre in Folge einer
Behexung verhindert, Kinder zu befommen. Es wurde
beichloffen, mittel® einer märchenhaft fchamlojen Be⸗
Ihwörungscermonie den Zauber zu bannen. Der König
und die Königin follten fih nadt ausziehen und der Mönch
in pontificalibus vie Beiprehung vornehmen, worauf
in Gegenwart des Beſchwörers der Verſuch gemacht wer-
den follte, ob der Bann wirklich gebrochen wäre. Der
König fegte der Königin heftig zu, in die Sache zu
willigen; fie jedoch ließ fich nicht überreden, zu biefer
Schändlichkeit fich herzugeben 7°).
Die Feſſeln einer geifttöptenden Etifette umfchnürten,
76) Depeiche des franzöfifhen Gefandten zu Madrid, Grafen
Rebenac an Ludwig XIV., bat. v. 23. December 1688, vollft.
getr. bei Renee, Les nieces de Mazarin, not. L.
96 Bud III. Kap. 2.
wie die fpanifchen Königinnen und Prinzeffinnen, alfe
Frauen der höheren Stände des Landes. Ueberall Un-
freibeit und Zwang. Daher aud) die unglaublich geringe
Geiftesbildung ver ſpaniſchen Damen, welche nicht, wie
viele ihrer franzöſiſchen Zeitgenoffinnen, an ver Rultur-
bewegung des 17. Jahrhunderts theilnehmen durften over
fonnten. Es gab in Madrid nicht wie in Paris ein Hötel
Rambouillet, wo die vorragendften Männer der erniten
und der ſchönen Wiſſenſchaften in lebendigem Ipeenaustaufch
mit den Xonangeberinnen ver Gejellihaft verkehrten.
Auch Spanien zwar befaß damals eine Literatur, deren
Glanz zu bezeichnen man nur die Namen Cervantes,
Lope und Calderon zu nennen braudt. Allein die ganze
fpanifche Literatur war nicht auf das Princip der Be-
wegung und Entwidelung, ſondern auf das des Still:
ſtandes bafirt und darum hat au fie an jener Ber-
Inöcherung mitgearbeitet, welcher fich die panifche Nation
erit zu Anfang des 19. Jahrhunderts wierer zu ent-
Ihlagen begann. Aus den Tagen feiner weltgebietenven
Stellung hatte Spanien unter vem Einfluß eines ver-
dummenden Defpotismus nur jenen lächerlihen Hivalgo-
Dünkel berübergebradht, welcher auf Intelligenz und
Detriebjamfeit mit einem jo blödſinnigen Hochmuth
herabfah, daß noch i. 3. 1781 die madrider Akademie
mitteld einer Preisaufgabe zu beweifen verfuchen mußte,
„die Betreibung nüglicher Gewerbe enthielte nichts ehren-
rühriges". Es ift demnach nicht verwunderlich, daß zur
Zeit, von welcher wir handeln, die fpanifchen Frauen,
mit wenigen Ausnahmen, in tiefer Unwiſſenheit ihr Da⸗
Zur Bergleihung. 97
fein hinſchleppten. Maßgebend für vaffelbe waren ja bie
orientalifch-vefpotifchen Regeln, welche die Spanier ven
Moriffen abgelernt hatten. Damen von Stand lebten in
einer Abgefchloffenheit, welche einer Höfterlichen Klauſur
nahefam oder dieſe fogar noch Hinter fich Tief. Denn
die Nonnen durften wenigftend am Sprachgitter männ-
liche Befuhhe empfangen, während Ehefrauen jtrengitens
unterfagt war, den Beſuch eine® Mannes anzunehmen,
wenn nicht mit ausbrüdlicher Bewilligung des Gatten.
Es war ihnen auch nur während des erften Jahres ihrer
Ehe verftattet, in Gefellfchaft ihrer Männer in offenen
Wagen öffentliche Spaziergänge zu beſuchen; fpäter
durften fie nur noch in feftverfchloffenen Kutichen aus-
fahren. Bon traulichem Familienleben keine Spur.
Zur Zeit, als die Gräfin D’Aulnoy in Spanien fi auf-
hielt, gehörte e8 dafelbft zum guten Ton, daß jeder rechte
Raballero neben feiner Gemahlin eine Konfubine und
außerdem nocd eine Geliebte hatte, welcher letzteren er
nach den Regeln ver feinen Lebensart ven Hof machte.
Selbſt bei Tiſche vereinigten fich die Eheleute nicht: Der
Hausherr fpeifte allein, während Frau und Finder mit
nach morgenländifcher Art gefreuzten Beinen reſpektvoll
auf Zeppichen am Boden faßen.
Die armen Frauen, von jeder edleren Gefelligfeit
ausgefchloffen, waren auf Handarbeiten, auf das Geplau-
der mit ihren Duennen, auf mechanijches Beten, auf das
Spiel mit ihren Roſenkränzen und auf — Intrifenfpiel
angewiefen. Denn je größer der Zwang, unter welchem
die Frauen leben, deſto mehr fchärft fich ihre it deſto
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II.
98 Bud III. Rap. 2.
. glühender wird in ihnen der Drang, fih an ihren Zwing-
bern zu rächen. Die Spanier mußten das auch er⸗
fahren. Die unerbittlichjte Rachſucht und alle bis zu
tiftelnder Narrheit zugefpiste Pflege der „Spanifchen
Ehre” konnten die fpanifhen Damen nicht verhindern,
zu lieben und fich lieben zu laffen. Ganz harafteriftiih -
für das fpanifche Weſen wurde ven Spanierinnen häufig
die Religion zur Gelegenheitgmacherin, indem vie zahl-
ofen firchlichen Uebungen zur Anfpinnung und Durch
führung von Liebesränfen vortreffliche Gelegenheit gaben.
Die fpanifhen Kavaliere hatten auch eine ganz eigen-
thümliche Manier, chriftliche Aſketik und romantifche
Galanterie mit einander zu verbinden, indem fie jich zu
Ehren ihrer Geliebten geißelten. Bei öffentlichen Yuß-
und Bittgängen blieben vie Liebhaber unter ven Fenfter-
balfonen ihrer Angebeteten ftehen und geißelten fich die
bloßen Rüden blutig. Es galt für das höchite Merkmal
echter Galanterie, wenn das bei foldhen Anläffen fließenve
Blut auf die Kleider der Schönen fprigte, welcher viefe
verrüdte Hulvdigung gewidmet war. Die Belohnung
bafür blieb auch nit aus. Denn aller Wachſamkeit von
Vätern, Brüdern, Eheherren und Duennen zum Troß
wußten bie fpanifchen Damen ihre Anbeter glücdlich zu
machen. Zwei Umſtände famen ihnen dabei zur Hilfe:
die Uebung in einer aufßerorventlih entwidelten Ge-
bärden- und Zeichenſprache und vie beftändige DVer-
ſchwörung, in welcher fo zu jagen die ganze Frauenwelt
gegenüber der Männerwelt fic) befand. Weil aber die
galanten Damen Spaniens die Gelegenheit im Fluge er=
7
Zur Bergleihung. 99
hafchen mußten, ftanden ſie nicht an, ihren Anbetern
den Weg zur höchften Gunftbezeigung möglichſt abzu-
fürzen, und nahmen venfelben eine ſtürmiſche Zärtlich-
feit keineswegs übel”). Betrachtet man die in den
ſpaniſchen Komödien und Novellen vorgeführten zahl-
(ofen Beifpiele von der Kühnheit und Schlauheit, mwo-
mit die Frauen des Landes zu Werfe gingen, um
ihrem heißen Zemperament genugzuthun, fo erfcheint
die ſpaniſche Frauentugend in einem nicht fehr gün-
jtigen Lichte. Indeſſen muß gejagt werden, daß auch
die Beifpiele von edler und edelſter Weiblichfeit in ver
ſpaniſchen Literatur des 17. Jahrhunderts fehr zahl-
veich find. Ich erinnere nur an das berühmte Schau-
iptel „Garcia del Castanar“ von Franciico de Rojas,
wo die Konflifte der beleivigten Gattenehre und des
ſpaniſchen Royalismus fo herrlich zur Anſchauung ge-
bracht find und in der Berfon der Donna Blanka ein hoch⸗
J
77) Brantöme (III, 4) erzählt folgende hierher gehörende Ge-
ihichte. „Une dame Espagnolle, conduite une fois par ungalant
cavalier, Jans le logis du roy, venant à passer par un certain
recoin cach6 et sombre, le cavalier, se mettant sur son respect
et discr6ötion Espagnolle, luy dit: Seüora, buen luguar, si no
fuera vuessa merced (Madame, voicy un beau lieu, si c’estoit
une autre que vous). La dame luy repondit: Si, buen luguar,
si no fuera merced (Ouy vrayment, si c’estoitaussi unautre que
vous). Par-lä T’arguant et incoulpant de couardise, pour
n’avoir pris d’elle en si bon lieu ce qu’il vouloiteetelledesiroit;
ce qu’eust fait un autre plus hardy: et pour ce oncques plus
ne l’ayma et le quitta.*
7*
100 Bud IH. Kap. 2.
ſittlicher Frauencharakter vorgeführt wird, fowie an das
beſte Luftfpiel der fpantfchen und vielleicht der eurg-
päifchen Literatur, an Moreto’8 „El desden con el
desden®, wo mit feinfter pfochologifcher Meiſterſchaft
in der Figur der Donna Diana ein Typus grazidfer
Sungfräulichkeit gezeichnet ift.
Drittes Kapitel.
— — —
Monſieur und Madame „Alamode“
in Dentfchland.
Charakter des 17. Jahrhunderts. — Die Ausländerei und die
patriotifche Oppofition. — Der dreifigjährige Krieg. — Sieg des
alamovifhen Weſens. — Ungeſchmack und Sittenlofigleit der
„galanten” Literatur. — Frauentradt nnd Damenputz. — Die
vornehme Geſelligkeit. — Ringelrennen, Wirthſchaften und Schä-
fereien. — „Alla francese“. — Zwei Hoffittengeijhichten. — Die
bürgerlichen und die akademiſchen Kreiſe. — Die Schönen bes
Lagers. — Fromme, gelehrte und dichtende Frauen. — Ehebünd-
niffe zwiſchen Fürften und Bürgerstöchtern.
Mas fiebzehnte Jahrhundert ift für Europa eine Un-
glückszeit geweſen. Der Romanismus machte da feinen
großen Feldzug ‘gegen den germanifchen Geift und, wenn
auch noch jo oft gefchlagen, wurde er dennoch nicht befiegt.
Nur in England erlitt er eine entſchiedene und dauernde
Niederlage: hier triumphirte ja zuleßt das proteftantifche
Princip religiöfer und politifcher Freiheit — freilich bloß
im ariftofratiihen Sinne — über die romanifsch-ftuart’fche
Rückwärtſerei. In Deutſchland dagegen war die Hoffnung,
102 Bud II. Kap. 3.
daß die Reformation eine ftantlihe Wiedergeburt ver
Nation bewirken würde, von Der Stunde an dahin, wo
die proteftantifhe Bewegung aus einer Volksſache zu
einem Motiv dynaſtiſcher Politik herabgejunfen. Das
Kompromiß Luthers mit den Fürften trug bittere Früchte
und. die nach der blutigen Ueberwältigung des bäuerlichen
Revolutionsverfuches eingetretene Erichlaffung ver Nation
ſetzte dem Strom ver Auslänverei, welcher durch ven
fatferlihen Hof und die übrigen Fatholifch gebliebenen Höfe
von Italien und Spanien ber, durch die proteftantifch-
falvinifchen Höfe von Frankreich her in unfer Vaterland
geleitet wurve, Teinen ausreichenden Widerſtand entgegen.
An fich felbft verzweifelnd ſchwankte die veutfche Gefellichaft
zwifchen Hifpanifirung und Franzöfirung, bis mit dem
Niedergange ver fpanifhen Macht und mit dem durch
Heinrichs des Vierten und Richelieu's ſtaatsmänniſche
Thätigkeit begründeten Uebergewicht Frankreichs das
franzöſiſche Weſen ven Sieg davontrug und allmälig die
proteſtantiſchen und katholiſchen Höfe Deutſchlands
gleichermaßen dem Banne ſeiner Moden unterwarf.
In den erſten Decennien des Jahrhunderts regte ſich
allerdings noch eine patriotiſche Oppoſition gegen das
Fremdweſen und iſt dieſelbe auch ſpäter noch von ein⸗
zelnen hellſichtigen Vaterlandsfreunden fortgeführt worden.
Im Jahre 1617 wurde zu Weimar, alſo an der Stätte,
von welcher im folgenden Jahrhundert die glänzendſten
Siege des wiedererwachten deutſchen Geiſtes aus—
gehen ſollten, durch Kaſpar von Teutleben — nomen
et omen! — und den Fürſten Ludwig von Anhalt—⸗
Alamode in Deutfchland. 103
Köthen die, Fruchtbringende Gefellichaft“ oder der „ Palm⸗
orden“ geftiftet, zwar in Nachahmung ver italifchen
Akademieen, aber zu dem Löblichen Zwecke, vie „hoch—
deutſche Sprache in ihrem rechten Wefen und Stande zu
erhalten‘. Nah dem Meufter viefer deutſchgeſinnten
Sprachgeſellſchaft entitanden fpäter mehrere ähnliche und
ihre Beftrebungen, vaterländifche Art und Kunſt gegen-
über dem Fremdweſen aufrecht zu erhalten und zu pflegen,
ſchienen um fo größeren Erfolg zu verfprechen, als ein
Gelehrter wie Martin Opitz und ein Poet wie Paul
Flemming gleichzeitig zu fehreiben und zu dichten be=
gannen. Allein alle dieſe wohlgemeinten Abfichten
fcheiterten entweder völlig oder brachten wenigftens nur
Unzulängliches zuwege. Die Urfachen find befannt: ver
Faden nationaler Meberlieferung war zerriffen, die Bildung
vom Volfsgeifte losgelöſt; auf der einen Seite hemmte ver
Jeſuitismus, auf der andern die verknöcherte lutheriſche
Drthoborie jeden eigenartigen Aufſchwung. Man hatte
ih in die Nahahmung, in das Anftaunen von Fremden
ihon fo verrannt, daß man fich gar nicht zu der Kühnheit
des Gedankens erhob, Eigenes fchaffen zu wollen und
Befferes, als aus dem Ausland fam. Nur die Vorbilver
wechſelten zeitweilig, doch fchlug das Franzofenthum
immer wieder vor. Frankreich gab wie in Sachen det .
„guten“ Lebensart fo. auch in Sachen des „guten“ Ge-
ſchmacks den Ton an und Opit glaubte nach feiner eigenen
und feiner Zeitgenoffen Meinung etwas Rechtes gethan
zu haben, als er durch fein 1624 gebrudtes „Buch von
der deutſchen Poeterey* die Gefekgebung ber dürren
104 Bud III. Kay. 8,
Verſtandesdichtung, wie fie die Ronſard'ſche Schule in
Frankreich begründet hatte, in Deutfchland einführte.
Aber diefe Unteroronung unter ausländifchen Geift ge-
nügte nicht einmal foldhen Kreifen, welche ſchon ganz im
Fremdweſen ertrunfen waren. Diefe Kreife wollten unfer
Land ſchlechtweg franzöfifch machen, in Sprade und
Bildung, Sitte und Lebensweife. In ſolchem undeutſchen
Gebaren haben fich auch Frauen herporgethan, wie z. B.
eine Schwägerin des genannten Fürften Ludwig von An-
halt, Anna, Gemahlin Chriftians I. von Anhalt-Bern-
burg, welche fih, im Gegenfat zu ihrem vaterlänpifch
denfenden Schwager, beeilte, der Fruchtbringenden Ge-
fellfchaft eine auf franzöfifhem Fuß eingerichtete „Aca-
demie des Loyales“ entgegenzuftellen 79.
Die ungeheure. Trübſal des vreißigjährigen Krieges
fonnte die Herrichaft ver Ausländerei in Deutſchland nur
erweitern und befeftigen. Dreißig Iahre lang war unfer
unglüdliches Land ver Tummelplat fremder Heere, welche.
ganze Gegenden zu Einöden machten, mit Mord, Brand
und Schändung wütheten, die Benölferung um zwei
Dritttheile verminderten, alles Recht, alle Sitte zu Boden
traten, unserem Volk alle Thorheiten und Laſter ver Welt
einimpften, ja das verhungernvde zum Kanibalismus
zwangen 7%). Als dann die wüfte Kriegsflut fich enplich ver-
78) Näheres hierüber, j. bei Barthold, Seid. d. Fruchtbr.
Geſellſch. S. 114 fg.
79) Das ift wörtlich zu nehmen. Der Zeitgenofje Khevenbiller
erzählt in feinen befannten „Ferdinandeiſchen Annalen“, während
ber Jahre 1636 und 1637 fei die Hungersnoth in vielen Provinzen
Alamode in Deutichland. 105
lief, ließ fie ein furchtbares Sittenverderben hinter fich
zurüd. Wo eine fo lange Zeit hindurch die rohefte Säbel-
berrichaft gewaltet hatte, jedes Gebot ver Menschlichkeit
verhöhnt und die zügellofefte Genußgier mit ver raffinir-
teften Grauſamkeit gepaart worden war, wo die Felder
brach gelegen, die Dörfer nur noch von Wölfen bewohnt
gewefen, die Werfftätten leer geſtanden, da mußte es fait
mit einem Wunder zugeben, wenn fich nicht alle focialen
Bande löſ'ten und die gejellfchaftliche Ordnung in einer
rafenden Anarchie unterging. ‘Die Zähigkeit und Be—
barrlichleit der deutſchen Art verhütete zwar dieſes
Schlimmſte; aber aus der materiellen Armuth, ver
geiftigen Verfümmerung und ver moralifchen Verwilderung,
welche ver breißigjährige, im Namen der chriftlichen Re-
Deutſchlands, befonders in Sachſen, Heffen und im Elfaß, jo ent-
ſetzlich geweſen, daß bie Leute, .um ihren Hunger zu ftillen, Leichen
von ben Galgen herabholten und die Gräber nad Menſchenfleiſch
durhmwühlten. Brüder verzehrten ihre todten Schweftern, Töchter
ihre verftorbenen Mütter, ja Eltern morbeten ihre Kinder, um fie
zu effen. Es bildeten fi förmliche Banden, welche auf Menfchen
wie auf wilde Thiere Jagd machten, und ale man einmal in der
Gegend von Worms eine ſolche Jagdgeſellſchaft, die um fiedende
Kefiel herumſaß, auseinanderiprengte, fand man in den zurüd-
gelaffenen Kochgeſchirren menjchliche Arme, Hände und Beine .
Namenlos waren in biefem barbarifchen Kriege die Leiden bes weib⸗
lichen Geſchlechts. Es war unter der Soldatefla von damals gäng
und gäbe, nad Erſtürmung von Städten und Ortfchaften unreife
Mädchen zu Tode zu ſchänden, Jungfrauen und Frauen auf dem
Rüden ihrer gebundenen und verftimmelten Bäter und Gatten
zu nothzüchtigen, Schwangeren die Brüfte abzureißen, Gebärenden
den Leib aufzufchligen.
106 Bud II. Kap. 3.
Tigion geführte Krieg zur Folge hatte, Tonnte fich unſer Volk
nur ſehr langfam wieder emporarbeiten, fo langſam, daß die
materiellen Einbußen, die Verlufte an Kapital, welche
Deutfchland pazumal erlitten, noch heute nicht wieder herein-
gebracht find.
Für ein volles Jahrhundert war der deutſche National⸗
geiſt gebrochen. Mit breiter Unverſchämheit nahmen
Monſieur und Madame Alamode in ver deutſchen Geſell⸗
ſchaft platz, um ſie unbeſchränkt zu beherrſchen. Denn
„& la mode“! war fo recht die Loſung einer Zeit, welche
in Denfweife, Sprade, Tracht, Sitte, Wilfenfchaft und
Kunſt alles Heimifchen möglichſt fich zu entäußern ftrebte.
Und was war älamode? Natürlich alles, mas aus Paris
kam, dem modernen Babylon, wohin vie vornehme
veutiche Jugend ftrömte, um die Frivolität franzöfiicher-
Bildung und die Peft franzöfiicher Laſter mitheimzu-
führen 80). Vergebens eiferte eine Phanlanx wohldenfenver
Autoren, unter welchen Männer wie Hanns Michel
Moſcheroſch (Philander von Sittenwalt) und Hanns
Jakob Chriftoffel von Grimmelshaufen,, Verfajfer des
vortrefflichen Sittenromans „Simpliciſſimus“, voran-
ſtanden, mit aller Kraft eines fchlagfertigen Spottes und
des patriotifchen Zornes gegen ven Aberwiß der Ausländerei,
vorab gegen den „lüderlichen Franzofengeift“. Ihre
Stimmen verhallten in dem alamodiſchen Zumult, zu
80) Der „Abentenerlihe Simplicius Simpliciffimus“ (1669)
gibt im 4. und 5. Kapitel des A. Buches (Ausg. v. 1848, IV.
21 fg.) ein höchſt vraftiiches Gemälde der Verführungen, welchen
die beutfche Jugend damals in Paris ausgeſetzt war und erlag.
Alamode in Dentichland. 107
deſſen Erregung auch die Frauen eifrigft mitgewirkt haben.
Denn nur da, wo die Frauen dem von natur= und rechts⸗
wegen ihnen zuftehenven Amte, die Hüterinnen guter Sitten
zu fein, läffig nachkommen over die Pflichten vefjelben ganz
bintanfegen, kann ein fo zuchtlojer Ton auflommen, wie
er in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts insbeſondere
die Dichterei der fogenannten zweiten fchlefiichen ‘Dichter-
Ihule, der Hofmannswaldau, Xohenftein und. ihrer Parti⸗
jane, fennzeichnet. Das iſt eine Literatur der Sittenlofig-
feit, wie fie hoffentlich in unferem Lande niemals wieder-
kehrt. Die Nahahmung ver füßlich-lafeiven italifchen
Seicentiften, ver Marini und Konſorten, wie fie durch die
genannten fchlefifchen Poeten betrieben wurde, lieh nur vie
bei alfer äußerlichen Weppigfeit im Innerften hohle und
leere Form ; den Inhalt jedoch gab die fittliche Verwilderung,
wie fie, wenn nicht verzeihlich, jo Doch begreiflich ift zu einer
Zeit, wo man bei der Unficherheit aller Verhältniffe von
der Hand in den Mund lebte, wo überall die Beſtie im
Menſchen 108 und ledig wurde, wo Deutjchland einer Bande
von Ölüdsrittern größeren oder Heineren Stils für immer
zur Beute hingeworfen zu fein fehien, wo Solvatenleben
und Räuberleben bis zur Unerfennbarfeit ſich vermifchte
und wo Bramarbafje, Gaukler und fahrende Dirnen das
große Wort führten. Was Wunder, wenn in biefem
tobenvden Wirrwar e8 auch die Frauen ven Männern im
Hafchen nach flüchtigem Genuß gleichthaten? Was Wunder,
wenn auch in der Frauenwelt die Leichtfertigfeit, welche
der lange Krieg großgezogen, mit dem Friedensſchluß nicht
ſogleich wieder verſchwinden wollte ?
.108 Bud II. Kap. 3.
Es ift faft unglaublih, was alled den Frauen zu
diefer Zeit geboten werben durfte. Eine gemeinfinnliche,
bombaſtiſch aufgebaufchte Phrafenmacherei beherrichte bie
Literatur 81), welche ja Doch nur, wie fie e8 immer ift, eine
Widerſpiegelung der im Schwange gehenden Anfchauungen
und Sitten fein konnte. Wie fehr mußte alles fittliche
und äjthetifche Gefühl verwildert fein, wenn man roheſte
Zoten feinften Damen als „amoureuſe“ Huldigungen
und „galante” Wünſche vorzutragen fich nicht zu jcheuen
braudte! Hofmannswaldau und andere bemühten fich,
alle Lafcivitäten Ovids und Marini's ins Deutiche zu
übertragen und biefe Ueppigfeiten ins plump Geſchmack—
Iofe zu fteigern 82). Lohenſtein widmete fein Trauer⸗
81) Als Fürzefte Probe greife ih aus dem bamals hochbe-
rühmten Roman „Afiatiſche Baniſe“ (1688) von H. 4. v. Ziegler
den Sat heraus: „Indem ein verliebter Wind die Segel meiner
Sinnen auf das unbejchiffte Meer ihrer (der Geliebten) Marmel-
bruft hintreibt, fo erblidde ich Die Benus in zweien Muſcheln ſchwimmen,
wo lauter Anmuthsmilch um die Rubinen gerinnet”.
82) M. |. „Deren v. Hofmannswaldau und anderer Deutjchen
auserlefene Gedichte”, Leipzig 1693—1727, 7 The. N. 4.
Frankf. und Leipzig 1734. In diefer Blumenlefe, deren erfte
Theile B. Neukirch herausgab, erreicht der zotige Schwulft, den
man damals Poefie nannte, noch nicht einmal feinen Höhepunkt,
wogegen Hofmannswaldau in feinen „Poetifchen Grabſchriften“.
(Leipzig und Breflau 1682) den Gipfel der Wüftheit erftieg. Es ift
merkwürdig, daß, abgefehen von der Unzüchtigleit der ihnen dar⸗
gebraten Huldigungen, die Frauen, welche doch fonft einen feinen
Inſtinkt für das Schöne befigen, ſich nicht fchon von dem plumpen
Ungefhmad derſelben angewidert fühlen mußten. Ein „verliebtes“
Sonett der Neukirch'ſchen Sammlung füngt z. B. fo an:
Alamode in Deutichland. 109
fpiel Agrippina, wo in einer Scene eine Mutter mittels
fabelhaft fohamlojer Gebärden und Worte ihren Sohn
zur Begehung der Blutſchande mit ihr aufreizt, einer
fürftlichen Dame, ver Herzogin von Liegnig. Als Herr
von Beffer fein unzüchtiges Gedicht „ Die Schoß der Ge-
liebten” gefchrieben hatte, gefiel daſſelbe ſogar dem großen
Leibnig fo ehr, daß der Philofoph fich beeilte, die ſechs
Seiten lange Zote ver Kurfürftin Sophie von Hannover
zugehen zu laſſen, welche fich höchlich daran ergögte, für
die MWeiterverbreitung in ver vornehmen Damenwelt
forgte und dem Verfaſſer lebhaft dankte 8)). So voll
ftändig abgeftumpft war alles Schamgefühl, daß man
dem berüchtigten Gedichte nachrühmte, e8 habe „eine
Sache, die an fich ungebührlich zu fein feheinet, mehr als
zwanzig mal genennet und beichrieben, ohne zu beforgen,
dem allerzüchtigften Lejer eine Schamröthe darüber ein-
zujagen”. Das ift freilich möglich, denn die Geſellſchaft
jener Zeit fcheint überhaupt vie Fähigkeit, ſchamroth zu
werden, eingebüßt gehabt zu haben. Sonft müßten fich
die Frauen mit dem Erröthen ver Scham und Entrüftung
von den faunifchen Detailfchilvderungen ihrer körperlichen
„Amande, liebftes Kind, du Bruftlag kalter Herzen,
Der Liebe Feuerzeug, Goldſchachtel edler Zier,
Der Seufzer Blafebalg, des Trauerns Löſchpapier,
Sandbüchſe meiner Bein und Baumöl meiner Schmerzen.“
83) „Je vous prie — fchrieb die Kurfürftin an Leibnig —
de remercier l’auteur, d’avoir bien voulu me communiquer son
invention et ses belles pensées.“ Vorrede zu Königs Ausgabe
von Beffers Schriften (1732).
110 Buch III. Kap. 3.
Reize abgewandt haben, welche ihnen fortwährend vorge-
feiert wurden #4). Es war eine Zeit voll trübbunftiger
Sinnlichkeit, wirflicher und gemachter, eine im großen und
ganzen moralifch-verpeftete Zeit. Wie gemein mußten
diefe Poeten von den Frauen denken, wenn fie an den⸗
84) Für eine typiſche Probe diefer grobmateriellen, mit Bilder-
bombaft beflitterten Schildereien kann die folgende aus Lohenſteins
„Sultan Ibrahim” gelten, wo bie Selierpera die fultanifche Be-
gierde auf die junge Tochter des Mufti, Ambre, lenkt, indem fie
die Schönheit verfelben alfo beſchreibt: —
„Ein Kind, das zärter ift als die aus Ledens Schalen
Einft folln gekrochen ſeyn; das mit den Anmuths Strahlen
Der Sterne Glantz beihämt, die Sonne machet blind,
Den Rofen ihr Rubin durch Anmuth abgewinnt,
Den Lilgen ihre Berln. Der Morgenröthe Prangen
Und Scharlach wird entfärbt vor ihren Purpurwangen,
Für ihrem Mund erbleiht Sranit- und SchnedensBlutt,
Kein Bilam-Apfel reucht bei ihrem Athen gutt.
Die Flammen kwälln auß Schnee, auf Marmel blühn Korallen, -
Zienober krönet Milch auf ihren Liebes-Ballen.
Kurt: diefe Göttin ift der Schönheit Himmelreich,
Der Anmuth Paradiß; ein Engel, der zugleich
Berlangen im Gemüth, Entſetzung in ven Augen,
Im Herzen Luft gebiehrt. Aus ihren Lippen faugen
Die Seelen Honigfeim und Zuder füffer Huld....
Der Zunber heißer Brunft ift felhft in mir entglommen,
Seit dem ich zmeymal fie im Bade wahrgenommen.
Ihr Mund bepurpurte die Kryftallinen-Fluth,
Die Brüſte ſchneiten Perln, die Augen blitzten Gluth.
Wenn ſie ihr Haupt erhob aus ihrer Marmelwanne,
Schien ſie das Ebenbild der Sonn' im Waſſermanne,
Die Kwellen kriegten mehr von ihren Strahlen Brand,
Vom Leibe Silber-Welln, nom Haare güldnen Sand.”
V
Aamsde in Deutichland. 111
felben nichts zu preifen wußten, als Buſen, Hüften und
Schoß, und wie niedrig mußte eine folche alles idealen
Schwunges bare Galanterie die Frauen von fich felbft
venfen lehren! Nicht daß es in dem Jahrhundert ver
Alamoderei an edleren Tönen ganz und gar gemangelt hätte.
Waren doch der tief und zart fühlende Paul Flemming, ver
ernfte Andreas Gryph, welcher vielleicht unter günftigeren
Zeitverhältniffen das Zeug gehabt hätte, ein deutſcher
Shakſpeare zu werben, ferner Paul Gerhardt, ver feelen-
volle Sänger geiftlicher Xieder, Simon Dad, der feinem
„Aennchen von Tharaw“ ein unvergänglich herziges Kiebes-
lied gefungen, ver gevantenreiche, ebelfühlende, water-
ländiſch gefinnte Epigrammatifer Logau, endlich die beiden
gegen bie Thorheiten und Xafter ihrer Zeitgenofjen fo
wader ftreitenden Satirifer Rachel und Xauremberg
bichterifch thätig. Allein der große Haufe, auch ver Frauen,
laufchte Tieber Pfeifern und Trompetern wie Hofmanns-
waldau und Xohenftein, welche zu dem üppigen Reigen von
Monfieur und Madame Alamove auffpielten.
Freilich ging das alamodiſche Unmefen fo weit, daß
es mitunter felbft einem Hofmannswaldau zu arg wurde
und er feine Feder, ftatt, wie gewöhnlich, in huldigenden
Syrup, vielmehr in tadelnde Galle tauchte. So eiferte
er gegen die Hautbemalungs- und Schminffünfte ver
Frauen, welche freilich fchon im Mittelalter in Uebung
gewejen waren, jet aber bis zur Narrethei getrieben wur-
den 8). Kin meiterer Gegenftand feiner und anderer
85) Hofmannswaldau deckte die Schlafzimmergeheimniffe einer
Modedame in den folgenden Verſen auf: —
® .
112 Buch IL. Kap. 3.
Satire war die wunderliche, zu diefer Zeit aus Frank⸗
veich eingeführte Mode ver Schön- oder Schattir-Pläjter-
chen (mouches) aus ſchwarzem Taffet, welche mobifche
Damen in allerhand Geftalten aufihre Stirnen, Schläfen,
Wangen, Naden und Bufen Hebten®%). Weberhaupt
beftimmte Frankreich, namentlich von der Mitte des 17.
Jahrhunderts an, Form und Wechjel des Puges und der
„Kommt endlich nun die Zeit, daß in der Nacht-Kornette
Sie fih zum Schlafe ſchickt, fo eile nicht zum Bette;
Wart' erft, mein lieber Mann, bis deine ſchöne Frau
Die Farben ihrer Haut dem Nachttifch anvertrau’,
Bis fie die Lilien und Roſen ihrer Wangen
Der Wäſcherin gefchidt, in Tüchern aufgefangen,
Die zwar den ganzen Tag ihr Angeficht geputzt,
Nun aber auf einmal vier Tücher eingeſchmutzt.“
86) „Andere verpflafterten das Geficht bie und da mit ſchwartz
Daffeten fchandfleden. Und ich ſah deren einen Hauffen, die im
Geſichte waren als ob fie geſchröpft hätten oder fih piden und
baden Lafien: dann an allen Orten, bie fie gern wollten befchauet
haben, waren fie mit ſchwartzen Heinen Pfläfterlein behänget und
mit runden, langen, breiten, ſchmalen, fpigen Müdlein, Flöhen
und anderen fitirlichen, zum Anblid dringenden, zum Zugriff
zwingenden Mannsfallen-Geftalten bekleidet.” So Moſcheroſch.
Noch derber Hofmannswalban :
„Was pflegft du doch mit ſchwartzen Fleden,
Mit Mouchen dein Geſicht, ſchwartze Ehloris, zu bededen ?
Du haft die Tugenden verpachtet
Und bift ein öffentliches Haus,
Wo alles kann logiren ;
Und um dir Säfte zuzuführen
Stedft du gewiß allhier vie Zeichen auf.“
Aamode in Deutfchland. 113
Tracht, der männlichen wie der weiblichen. Die fati-
riſchen Flugblätter jener Zeit find voll fcharfer Rügen
diefer fHlavifchen Unterwerfung unter fremden Geihmad
oder Ungefhmad und Logau ſpendet Frankreich das
ironifche Lob, es habe alle Völker zu feinen Affen ge-
macht ). Bis um 1650 trug auch die Frauentracht
den loſen, loderen, freien Charakter, welchen der männ-
lihe Anzug in ver abenteuerlich zerfahrenen Kriegszeit
angenommen. Die fpanifchsfteifen Frifuren und Hale-
fraufen hatten wieder langen wallenden Locken und einer
ftarfen Entblößung von Naden, Schultern und Bruft
plaggemacht #9). Hätten fich die deutſchen Damen eines über-
87) „Frankreich bat es weit gebracht, Frankreich kann es
ſchaffen,
Daß ſo manches Land und Volk wird zu ſeinem Affen.“
88) Lauremberg eiferte in feiner plattdeutſchen Satire „Bon
Allemodiſcher Kledertracht“ heftig dagegen, daß auch die Bilrgers-
töchter in fo weitausgefchnittenen Kleidern einbergingen wie bie
abeligen Damen: —
„Sobald de Börgers-Döchter wüſten,
Dat de Abelilen gingen mit blöten Brüften,
Mit blotem Halfe und Rüggen balff nalen,
Do fach eine jede van en wo je ybt maket,
De müfte fit of ſehen laten in fulfer Geftalt,
Jens Schuieber kreeg genog arbeit aljobald.
Se fprefen: bebbe wy nicht even füllen Plunber
Baven den Gördel und of darunder?
Barum fholben wy denn unfe ſchmucke Titten
Berbergen und laten in düftern fitten?
Wy hebben fie eben jo wenig geftablen;
Ick fan dem Schnieder bat Makelohn bethalen,
Scherr, Srauenwelt. 4. Aufl. I. 8
114 Buch III. Rap. 3.
mäßigen Aufpuges ihres Anzugs mit Spiten, Bändern
und Federn enthalten wollen, jo müßte ihre pamalige
Tracht als eine Heidfame, wenn auch nicht gerade fitt-
fame anerkannt werden. Von dem bezeichneten Zeitpunft
an begann aber die Unnatur und Bizarrerie der fran-
zöfifehen Hoftracht, wie fie fih unter dem vierzehnten
Ludwig feitjtellte, auch in Deutfchland zu graffiren. Für
die männliche Tracht wurde in dieſer Perückenperiode vie
Stantsperüde das charakteriftiihe Merkmal, während
der Reifrod, die in eine Schleppe auslaufende Robe und
das die Defolletirung mehr oder weniger begünftigende
Korjett den weiblichen Anzug haralteriſirten und be⸗
ſtimmten 89),
Dat be my dat Wams fo deep ſcheret uth,
Dat men my fehn fan de Titten und blote Huet.
Tucht und Schamhafftichkeit is mit wegefchneben,
Mit halff bioten Lyve famen fe ber getreden.”
Derſelbe Zabel kehrt, auf die Frauenzimmer aller Stände ausge-
dehnt, in den fatirifhen Sittenmalereien jener Zeit häufig wieder.
Sp z. B. in den beiden Epigrammen von Logau: —
„Sungfern, die die Benushügel blößen unverhohlen,
Blafen zu dem Liebesfeuer jedem auf die Kohlen.”
„Frauenvolk ift offenberkig: jo, wie fie fich Heiden it,
Geben fie vom Berg ein Zeichen, daß es in dem Thale hitzt.“
89) Doch gelangte dieſe Kleidermode erft mit dem Beginne des
18. Sahrhunderts in Deutichland zu ihrem vwollfländigen Sieg.
Das Bild einer mobilden Schönen, wie e8 fich gegen Ende des
17. Jahrhunderts barftellte, zeichnet die „Sungfernanatomie”, ein
Gedicht, welches unter die Satiren Rachels aufgenommen ift,
aber nicht von diefem, fondern wahrſcheinlich von einem gewiflen
Seyfart herrührt (vgl. Koberftein, Grundr. d. d. N. L. 4. A. 1.
Alamode in Deutſchland. 115
„Alamode-Kleiver — reimte ver redlihe Logau —
Alamode-Sinnen; wie ſichs wandelt außen, wanbelt
fih8 auch inmen.“ Wir fehen daher die beutfche Ge-
ſellſchaft des 17. Jahrhunderts mehr und mehr von den
Abthlg. S. 821) und die einzelnen Theile des Anzugs deutlich
bervorhebt: —
„Der Leib ift Schön geziret, das Brüftch en ift gefchnitten
Nach ihres Leibes Laͤng'. Ganz vorne in der Mitten
Da müfjen liegen bloß der ſchönen Aepfel Baar,
Sie gleichen oftermals dem ſchwarz und gelben Haar.
Klar muß es fein geftärkt, damit man ſiehet bliden,
Wie doch zwei Dinge fich jo artlich können fchiden ;
Die Aermel müſſen weit als aufgeblafen ftehn
Und vorne Kraufen dran, fonft önnen fie nicht gehn.
Jetzt trägt das Frauenvolk auch große Stußerkraufen,
Die müffen vor der Hand wie dide Wollen braunen.
Das Jäckchen muß fo napp am Jungfernkörper liegen,
Daß fle fih mögen faum zur Erbe nieder biegen ;
Es wird dazu geſchnürt nach befter Tabletur
Das Mieder und der Lat mit einer Silberfchnur.
Recht wo der Mittelpunkt der zweien Citeronen,
Da muß ein Röschen zart von Gold und Silber wohnen.
Der Wunderftein Magnet der pflegt fich zu bemühen,
Die ſchwerſten Dinge auch mit Fleiß an fich zu ziehen:
Gleich alfo macht es auch die Rofe, fo da ftet
Zieht Finger zu fich zu gleich eben dem Magnet.
Dort, wo der fpiße Lat, ba grünt ein Sommergarten,
Da bat man immerfort Riechbufche zu gewarten:
Das Frauenziefer al ſteckt Sträußchen vorne für,
Als wenn an jelbem Ort fie ſchenkten ftetig Bier.
Der Pelz muß nad der Läng’ feyn zierlich zugefchnitten,
Unzählig Falten drauf, auch vornen in der Mitten
8*
116 Buch III. Kap. 3.
gefelfigen Bräuchen und PVergnügungen abgehen, welche
von der Nitterzeit her noch im Reformationszeitalter
üblich geweſen. Alles nahm ein tändelnderes und fri-
voleres Gepräge an. An die Stelle der Turniere traten
Da muß er ſeyn beſpitzt, geſchlitzet und gerikt,
Die Yalten müfjen ſeyn verfaffen und verfigt.
Es kömmt jett alles hoch, jetzt ift e8 an den Tagen,
Daß unjer Jungfern- Bolt will nit mehr Schürgen tragen.
Biel ftuben fie daher, ja dürffen lieber jehn,
Daß fie gleich Even dort mit Blättern möchten gehn.
Das junge Männervolt trägt Degen an der Seiten,
Alfo das Jungfernvolk denkt immer auch zu ſtreiten;
Statt Degens hängen fie von Silber zubereit't
Das Scheidchen, Meſſer und bie Gabel am bie Seit
Sa mande hat fürwahr das Bund der Schlüſſel bangen
Nicht anders, als wenn kömpt Thor- Merten hergegangen.
Die Strümpfhen müſſen roth von Liebesfarbe ſeyn,
Blau, grün, gelb ober fonft was giebet hellen Schein.
Die Schuh die mäfjen feyn mit großen Hörnerjpigen,
Drauff müſſen ſchön gefügt die bunten Rojen fiten.
Bom Hembde ſchweig ich fill, wie das muß feyn gemeht,
Zerftohen und zerthan, zerwirfet und zerdreht.“
Des Reifrocks ift bier nicht gedacht. Dagegen bat fich
über denſelben ſchon Moſcheroſch (A la mode Kehrauß, 1646,
©. 99) alfo ausgelafien: — „Eine Iofe Schanbhur, die mit
einem unehrlichen Kinde ſchwanger gangen umd ſolchen ihren un⸗
ehrlihen Bauch vor der Welt verbeden wollen, hat bie große
Gepulfter und Reifſchürtze anfangs erdacht und aufgebracht.
Dannenbero die Franzoſen felbft folche gepulfterte Weiberkleidung
Cache-Bastards, BlindesBaftarbt ober Hurenkleider zu nennen
pflegen.” — Da könnte man auch fagen: Mutato nomine de te
(d. h. von der Krinoline des 19. Jahrhunderts) narratur fabula
sive historia.
Alamode in Deutichland. 117
die Ringelrennen mit ihren mannigfaltigen, den ſpani⸗
then Romanen entlehnten „Inventionen”, ſowie aller-
hand allegoriſch⸗mythologiſche Spielereien und Ballet⸗
fpeftafeleien, wobet nicht mehr die Ritter, ſondern bie
Pferde, die Mafchiniften und Feuerwerker das Beſte
thaten. Ein Prunkſtück dieſer Art war das „famöſe
Roßballet“, welches zur Feier der Vermählung Kaifer
Leopold I. mit der ſpaniſchen Infantin Margarita
Terefa i. 3. 1666 zu Wien von Mitglievern ver Arifto-
kratie aufgeführt wurbe, eine Maflerade mit ungeheurem
Apparat. Aus Italien, wo 1596 zu Florenz vie erfte
vollftäindige Oper zur Darftellung gelangt war, kam biefe
Runftgattung bald auch nach Deutſchland, wo fie, nad)-
dem die von Opitz aus dem Italifchen übertragene, von
Schütz fomponirte, am Hoflager des Kurfürſten Johann
Georg I. zu Torgau i. 3. 1627 zuerst gegebene Oper
Daphne die Bahn gebrochen, raſch ein Lieblingsver-
gnügen der vornehmen und ber bürgerlichen Kreife wurbe.
Weitere Unterhaltungen ver fürſtlich-adeligen Welt waren
die „Wirthichaften*, bei welcher Art von Mummereien
Hausherr und Hausfrau die Rollen von Gaſtwirth und
Saftwirthin agirten, jowie die „Schäfereien”, Inſcene⸗
fegungen eines erfabelten Arkadien, welche vornehmlich
durch die auf den ſpaniſchen Schäferroman gepfropfte
Aftree (1609) des Franzojen Honore d'Urfé in Die Mode
gebracht waren.
Die Leivenichaft, mittels Maſtkenſpiels aller Art
einer jammervollen Wirklichleit wenigftens zeitweilig zu.
entfliehen, Fennzeichnet überhaupt das 17. Jahrhundert.
118 Buch III. Kap. 8.
Es war auch Grund genug zu foldhen Selbittäufhungs-
verſuchen vorhanden, aber fie hatten ven großen Nadı-
theil, daß durch fie die gefammte Bildung mehr und
mehr eine bloße Spielerei wurde, nicht nur aller fittlichen
Wirkung bar, fondern im Gegentheil geradezu fittenver-
verblih. Alle vie dem italifhen Schäferprama oder ver
ſpaniſchen oder franzöfifhen Schäfernovelliftit entnom-
mene oder nachgeahmte Sentimentalität und Zierlichkeit
war nur ein bünner Firmiß, hinter welchem die Barbarei
mit Macht hervorbrach, und alle die füßlichen Phraſen
und bombaftifchen Tiraden reichten weder aus, das bru⸗
tale Saufbolowejen der Männer zu zähmen, noch bie
Genußſucht der Frauen zu zügen. Man kann ohne
Furcht, widerlegt zu werben, fagen, daß die ganze, dem
Auslande nachgeäffte deutiche Bildung viejer Zeit eine
Lüge geweſen ſei. Glüdlicher Weiſe wurde das eigent-
lihe Bolt von dieſer Lüge nicht bis zur Unbeilbarfeit
angeftedt, wie das bei ven höheren Ständen der Fall
war. Ausnahmen gab es felbftverftänplic und werben
wir auch in der Frauenwelt auf folche ftoßen. Aber
Ausnahmen bilden nicht die Regel und viefe war, daß
unter der glatten Oberfläche heuchlerifcher Geziertheit ein
Abgrund von Rohheit und Wüftheit Tag, der oft genug
vie lügnerifche Dede tobend bei Seite ſchob. Bon an
derem zu ſchweigen will ich bier nur an bie unflätige
Naferei der Zanzfreuden erinnern, wie fie im „Simpli-
ciſſimus“ gefchildert ift 99).
90) Im 34. Kap. des 1. Buches. (Ausgabe von 1848, ©.
127 fg.)
Alamode in Deutichland. 119
Wie ſich die ‚mittelalterlichen Burgen der deutſchen
Ariftofratie im Laufe des Jahrhunderts nach den Vor⸗
fohriften des welſchen Bauftil® zu modernen Paläſten
umbilveten, gerade fo wirkten die Einflüffe ver italifchen
und franzöfiichen Renaiffance auf das deutſche Hofleben
in feinem ganzen Umfange. Die Tatholifchen Höfe, na⸗
mentlich vie geiftlichen, lebten jo ziemlich das ganze Sahr-
hundert hindurch auf dem Fuße fchwerfälligen. Bompes
fort, auf welchem fie fih nach dem Mufter päpftlicher
Hofhaltung eingerichtet Hatten. Sie waren demnach,
obgleich aus politifchen Motiven dem franzdfiihen Wefen
abhold, ebenfalls ver Ausländerei verfallen : nur fehauten
fie, wie fchon früher bemerkt wurde, ftatt nach Paris
nah Rom, Florenz und Madrid. Bon legterem Orte
ber hatte ver Faiferliche Hof die Regeln jener fteifleinenen
Etikette und jenes umſtändlichen Schaugepränges em-
pfangen, worin er fich bis zum legten Habsburger hinab
bewegte oder vielmehr nicht bewegte. Mit einer unnah-
baren, Heinliche Menfchlichleiten ver allerhöchiten Per:
onen zu feierlihen Staatsaftionen aufblafenden Gra-
vität und Grandezza verband fich bier eine ‘Devotion,
welche den Kaifer und die Kaiſerin alljährlich einmal vie
Purpurmäntel mit Wafchfehürzen vertaufchen ließ, um eine
Komödie chriftlicher Demuth aufzuführen). Man muß
91) Ein Reifender, welcher im Frühjahr 1665 Wien befuchte,
erzählt: — „Den 23. März baben der Kailer und die Katferin
zwölf alten Männern die Füße gewaſchen und das bat ber Kaifer
getban, nachdem er Mantel und Degen abgelegt und ein Schurz-
120 Buch III. Rap. 3.
aber doch fagen, daß das italifch-fpanifche Wefen, welches
an den Fatholifchen Höfen im Schwange ging, wenn auch
nicht gerade die Sittlichleit, jo doch ven Anſtand beffer
wahrte, als der „stolze, falfche und lüderliche Franzoſen⸗
geift” 92), welcher nach und nad an den proteftantifchen
Höfen Mode geworven. Nicht, ohne da und dort waderen
Widerſtand zu finden, wie 3. B. vonfeiten ber treff-
fihen Kurfürftin Anna von Brandenbing, Gemahlin
Johann Sigiemunds, welche inmitten der hereinbrechen-
ven Flitterhaftigfeit und Loderheit „alla francese“ in
der ſchlichten Würde deutſcher Hausmütterlichleit fich
daritellte.
Boran gingen in der Verwelſchung ver kurpfälziſche
Hof zu Heidelberg und der landgräflichheffifche zu Kaſſel.
Dort wurde alles auf franzöfiichen Fuß eingerichtet,
als der nachmalige jämmerliche „Winterfönig”, Kurfürſt
Friedrich V., die englifhe Prinzeffin Eliſabeth heim-
geführt Hatte, eines efelhaften Wüſtlings Leichtfertige
Tochter. In Kaffel franzöfirte Landgraf Moriz,
tu vorgebunden hatte. Und nad) dem Waſchen trodnete er jedem
die Füße und küſſte dieſelben. Die Kaiferin ſchürzte fich auch und
wuſch zwölf alten Weibern die Füße.“ Nelat. von d. Begeben-
heiten des Kaiferl. Hofes zu Wien vom 28. Mart. bis 25. Maji
1665 (gebr. 1666).
92) So heißt er in ber 1689 gebrudten Schrift „Der deutſch⸗
franzöftiche Miobegeift“.
93) Sie wurde bekanntlich die Serzeneflamme des tollen
Ehriftian von Halberfiadt, eines Hanptbannerträgers des fran-
zöftſchen Schwindels. Eliſabeth hatte freilid am Hofe ihves
Alamode in Deutſchland. 121
Philipps des Großmüthigen Enkel, eifrigſt Hof, Adel
und wer ſich ſonſt feinen pädagogiſchen Experimenten
unterziehen wollte. Denn biefer Fürft verrieth merk⸗
würdiger Weiſe bereits jenen pädagogiſchen Tik, welcher
Vaters, Jakob J., Eindrücke empfangen, welche keineswegs geeignet
waren, einen vortheilhaften Einfluß auf die heranwachſende Prin-
zeifin zu üben. Jakob I. war bis in feine alten Tage hinein der
Bölferei und widernatürlichen Wolluft ergeben und ein roher, aller
Scham barer Ton herrſchte an dem Hofe biefes feigen , treulofen,
geifernden Tropfes von König. Im einer Depeſche vom 23. Auguft
1621 ſchildert der franzöſiſche Gefandte am englifchen Hof, Tillieres
(bet Raumer a. a. O. II, 316 fg.), eins der Gelage, wie fie der
König zu halten liebte. Er erzählt, mie derfelbe fih mit Vorſatz
einen Rauſch angetrunten, und fährt dann alſo fort: — „Tout
haut en presence de tant de Seigneurs que Dames le roi but au
grand chose de Madame la comtesse de Buckingham et puis au
petit chose de la marquise de Buckingham; et pour conclure
ce beau procede, il prit une petite fille, ni&ce du marquis de
Buckingham agee de neuf & dix ans, lui mania tout ce qu’elle
portait, puis en toucha le nez de Mr. de Buckingham et au
meme endroit le baisa par plusieurs fois.“ — Salobs Nachfolger
Karl I. war von vorwurfefreten Sitten. Dagegen hielt, wie
jedermann weiß, mit dem reftaurirten Karl II. die ganze Lüder⸗
lichkeit der franzöſiſchen Galanterie und des franzöfiihen Maitreſſen⸗
wejens ihren Einzug in London. Hamiltons mit allem Efprit der
parifer Frivolität gefchriebenen „Me&moires de Grammont“ f&il-
dern das englifhe Hofleben unter dieſem König von ber heiteren
Seite. Die ernfte Geſchichte muß es freilich ganz anders beur-
theilen. Es war bamals die Zeit, mo Meffalinen mie die Her-
zogen von Cleveland in der engliihen Gefellichaft ven Ton angaben.
Wie fabelhaft roh und ſchamlos es die genannte Dame, eine der
Haupt⸗ und Staatsmaitreffen Karls II., trieb, kann ſchon ber
122 Bud IH. Kap. 3.
nachmals in ver zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
an vielen der deutichen Fürften bemerkbar wird. Moriz,
etwas von einem Schulmeifter und etwas von einem
Künftler, hatte den beiten Willen, feine Umgebung zu
bilden, aber offenbar Feine Ahnung davon, wie fehr er
fih in ven Mitteln vergriff, obgleich ihn eine grauenvolle
Rataftrophe, weldhe i. 3. 1615 zu Kaſſel vorfiel, wohl.
hätte aufmerkſam machen fönnen, daß er ftatt Bildung
nur Unfittlichkeit pflanzte. Der Hofjunfer von Marſchall
unterbielt, wie es feheint, ein vertrautes Verhältniß mit
‚ Suliane, der Frau des Landgrafen. Denn eines Tages
nahm er fie in die Arme und küſſte fie. Das fah ber
Hofmarſchall von Hertingshaufen und hinterbrachte e8 dem
Fürften. Darauf erfchoß der Hofjunfer ven Hofmarſchall
meuchlerifch auf offener Straße. Gefangen genommen
und procejfirt, wurde er zu einem Martertode verur-
theilt. Es wurde ihm zuerſt die rechte Hand abgehauen,
dann dem noch Lebenden ver Leib aufgefchnitten und das
Herz berausgerifjen, welches der Scharfrichter dem zu-
ſchauenden Landgrafen zeigte. Die Mutter des Hingerich-
teten und ein demſelben verlobt gewefenes Hoffräulein
verloren vor Entjegen ihren Verſtand. Die Witwe des
ermordeten Hofmarſchalls Tieß fih von einem Offizier
ſchwängern, und als fie geboren, ließ ihr ver Landgraf
Umftand zeigen, daß fie, um die zahllofe Schar ihrer Buhler noch
um einen, den Luftipieldichter Wycherley, zu vermehren, biefem im
gedrängt vollen Theater die feltfame Liebeserklärung zufcrie:
„Sie, Ihr jeid ein Lump, Ihr ſeid ein Schuft, Ihr ſeid ein Huren⸗
john!“ Vgl. Macaulay, Essays, IV, 164.
Alamode in Deutichland. 123
vie Wahl, fih mit ihrem Rinde lebendig einmauern zu
laffen oder das Land zu meiden. Sie wählte natürlich
das letztere und heiratete ihren Buhlen. Aber dieſer ver-
giftete fih aus Furcht vor ver Race des Landgrafen,
welcher der thörichten Meinung gewejen zu fein fcheint, -
mittels graufamer Strafen das wüſte Treiben an feinem
Hofe beffern zu können, ein Treiben, welches er auf der
andern Seite durch feine Hingabe an die Alamoperei fo
recht hegte und pflegte). Kin Seitenftüd zu viefer
alamodiſchen heſſiſchen Hofgefchichte aus dem zweiten “Des
cennium bes 17. Jahrhunderts bildet eine bannoverjche
aus dem legten (1694), die vielbefchriebene Gejchichte
des Grafen Philipp Ehriftoph von Königsmark und ver
Kurprinzeffin Sophie Dorothea von Hannover, Gemahlin
bes Kurprinzen Georg, welder nah dem Tode ber
Königin Anna den Thron von Großbritannien beftieg.
Königsmark hatte mit ver Prinzeffin, ver Tochter des
Herzogs Georg Wilhelm von Celle, von Jugend auf in
einem zärtlichen Verhältnig gejtanden und bafjelbe auch -
nach der VBermählung der Geliebten mit dem Kurprinzen
von Hannover fortgefegt. Die Schuld der Prinzeffin
ift, feit der Veröffentlichung der Originalkorreſpondenz
der beiden Liebenden, zweifellos 9%). Aber der Kurprinz
— — — — —
94) Rommel, Neuere Geſchichte von Heſſen, II, 637. Kurio-
fitäten, IX, 348 fg.
95) Früher waren die Meinungen darüber fehr getheilt. Doc
fchrieb die Herzogin Eliſabeth Charlotte von Orleans ſchon am
29. April 1702 an ihre Schwefter Luife: „Es feindt Teutte bir fo
nicht fagen daß fie (die Kurprinzeffin) nicht criminelle geweſen
124 Bud II. Rap. 3.
Georg war durchaus nicht berechtigt, den ſtrengen Richter
zu machen. Denn er vernadhläffigte feine Gemahlin,
indem er öffentlich mit feiner Meaitreffe, ver Frau von
dem Busch Iebte, einer jüngeren Schweiter der Maitreffe
‘ feines Vaters, der Gräfin von Platen. Dieſes leiden⸗
ſchaftliche und rachfüchtige Weib gab dem zwiſchen Königs⸗
mark und der Kurfürftin fpielenden Roman bie Wen-
dung zum Tragiſchen. Sie felbjt verliebte ſich nämlich
in ven fchönen, durch fein ritterliches Weſen und feine
und ein Jung menſch wie fie war fo ſich küſſen und begreiffen left
thut wohl alles Übrige auch.“ Die gute Herzogin lebte demnach
des Glaubens, unfer ungeſchlachtes Sprichwort: „So fih bie
Zungfer aufs Kiffen legt, legt fie fih auch aufs Kiffen” — hätte
recht ... Die Originalbriefe des Grafen von Königsmark und
der Kurprinzeſſin hat Balmblad unter den handſchriftlichen Schätzen
ber Univerfitätsbihliothef zu Lund aufgefunden und dieſelben 1847
veröffentlicht. Die Prinzeffin fehrieb einmal an Königsmark: —
„Si vous croyez que la crainte de m’exposer et de perdre ma
r&putation m’emp6che de vous voir, vous me faites uneinjustice
bien cruelle. Il y a longtemps que je vous l’ai sacrifi6e et mon
emour me donne tant de courage, que j'ai toutes les peimes du
monde & l’envie oü je suis de vous embrasser.“ Und ein ander-
mal: — „Je peux sans chimere me flatter encore de passer un
jour mavieavec vous. Grand Dieu, sije perdrai avec cette espe-
rance le moyen de resister à tant de malheurs. Iln’y a que
cela, qui me soutient.*“ Am bebenfficften und wohl gerabezu
überführend Yautet e8, wenn der Graf eines Tages an die Prin-
zefftn ſchrieb: — „J’ai dormi comme un roi et je souhaite fort
que vous en ayez fait autant. Quelle joie, quel plaisir, quel
enchantement n’ai-je point senti entre vos bras. Dieu, quelle
nuit ai-je passée.“
Alamode in Deutſchland. 125
galanten Abenteuer weitum berühmten Grafen und be-
fchloß, als er ihren fehr deutlich vargelegten Wünſchen
nicht willfuhr, fein Ververben. Auf ihre Veranlaffung
in einer heißen Sommernacht zu einem Stellvichein mit
der Prinzeflin gelodt, wurde er im Balaft überfallen,
nach verzweifelter Gegenwehr gefangen und in einem ab-
gelegenen Gelafje ermordet 9.
96) Die Ermordung des Unglüdlichen ift Thatfache, nur über
die Mordweiſe ift man noch im Ungewiſſen. Neueftens hat Weber
(„Aus vier Jahrhunderten”, II, 87 fg.) aus dem ſächſiſchen Staats-
archio ein Dokument beigebracht, welches den bisher befannten
Hergang ber gräfflicden Geſchichte in allen Hauptpunkten beftätigt,
binfihtlih der Todesart Königsmarks aber die Verfion gibt, der
Graf jei erft mehrere Monate nad feiner Ueberrumpelung im Ge:
füngniffe mittels Giftes gemorbet worden. Das in Rede ſtehende
Dokument ift eine Denkſchrift, eigenhändig aufgefett von dem unter
dem Namen bes Marihalls von Sachſen befannten Sohn Augufts
des Starten und der Gräfin Aurora von Königsmark, welder
allerdings gut unterrichtet fein konnte, denn feine Mutter war
eine Schwefter des Ermordeten. Dieſem Berichterftatter zufolge
ließ am Zage nad dem in ihren Gemächern ftattgehabten Ueber⸗
fall ihres Geliebten die Kurprinzeffin den Kurprinzen, ihren Ge⸗
mahl, und deſſen Bater, den Kurfürften , zu fich bitten und gab bie
Erflärung ab: „Ich habe Ihnen nur zwei Worte zu jagen. Ich
werde mich nicht damit erniedrigen, Sie zu überreden, daß ich un-
ſchuldig ſei. Ih bin ſchuldig, aber nur darin, daß id in feigem
Gehorjam (gegen meinen Bater) dem Grafen Königsmark die
Treue gebrochen. Ich liebte Königsmark, ehe mir die Berpflid-
tung auferlegt ward, Ihnen, mein Prinz, zu gehorchen. Ich er-
Tenne mit Schreden den Fehler, daß ich ihm den Zutritt zu mir
geftattet habe, und der Reft meines Lebens joll der Neue und der
Erinnerung gewidmet fein. Ich bin die Urfache feines Todes, mir
126 Bud III. Kap. 3.
Das ganze Jahrhundert, won welchem wir hier han⸗
deln, ftrogt von abfchredenden Beweiſen, daß vie heil-
fame Wiederbelebung des deutſchen Familiengeiftes, wie
fie die reformatorifche Bewegung mit fich gebracht hatte,
den unfittlichen Tendenzen des alamopifchen Weſens nicht
ftandzuhalten vermochte. Die proteftantifchen Kreiſe
hatten in Betreff fittlicher Lebensführung vor ven fatho-
lifchen bald nichte mehr voraus, — im Gegentheil!
fiegt es ob, ihn zu rächen.“ Falls die Prinzeffin dieſe Abficht wirk⸗
ih hatte, jo war es ſehr unflug, fie auszufprechen. Jedenfalls
fam ber Borjat nicht zur Ausführung. Die Ehe der Prinzeffin
mit dem Kurprinzen ward getrennt und fie wurde für den Reſt
ihres Lebens auf dem Schloffe Ahlden in Haft gehalten, weſſwegen
fie in der Skandalchronik des deutichen Hoflebens unter dem Namen
der Herzogin von Ahlden figurirt . . . Die erwähnte Schwefter
des ermordeten Brafen, Aurora von Königsmart — durch ihren
1696 geborenen Bankert Moriz, „Marſchall von Sachſen“, Urahne
der großen franzöfifchen Dichterin Aurore Dudevant, geb. Dupin
(Georges Sand) — war eines der ſchönſten und gebildetften Buhl⸗
weiber des 17. Jahrhunderts. Will man aber erfahren, wie unbe-
fangen die feinften Damen von damals die gröbften Schmugereien
niederfchrieben, fo muß man den Auffat leſen, welchen bie Gräfin
furze Zeit nach der Ermordung ihres Bruders Über die Verhältnifie
deffelben am hannoverſchen Hofe , insbeſondere über fein Verhältniß
zur Gräfin von Platen verfaffte (nad) der Handſchrift Auroras ab-
gebr. bei Cramer, Dentwürdigkeiten d. Gr. X. v. Königsmark, I, 66
bis 69) ... Die geringe Glaubwürdigkeit des von Weber mit-
getheilten „Memoire“ binfichtli der Todesart Königsmarks ift
dargethan in Bülau's Sammelwert „Geheime Gejchichten und
rätbielhafte Menſchen“, wo fi (XII, 197—313) die fleißigfte
Zufammenftellung und unbefangenfte Verarbeitung bes Materials
diefer ſchmachvollen Hofgefchichte findet.
Alamode in Deutfchland. 127
Eine große Mitfehuld an den Ausfchreitungen fürftlicher
Herren und Damen trugen vie proteftantifchen Hoftheo-
logen, deren fervile Nachjicht mitunter bis zum Unglaub-
lichen ging?”). Uebrigens beſchränkte fich der fittliche
Verfall, die Larheit der Grundfäge und die Frechheit der
Genußſucht, ver finnlofe Lurus und die gemeine Prafferet,.
Teineswegs etwa auf bie ariftofratifchen Stände; auch
der Bürgerftand war vielfach davon verpeſtet. Haupt-
urfachen waren das politifche Verkommen des Bürger--
thums, bie dogmatifche Verknöcherung des Lutherthums,
von welcher feine fittliche Wirkung mehr ausgehen fonnte,
ferner die demoralifivenden Einflüffe der Kriegsprangfale:
und endlich das von der Ariftofratte gegebene fchlimme-
Beijpiel der Miffachtung Häuflicher Zucht und ehelicher-
97) Hatte doch ſchon i. 3. 1534 der wadere Sebaftian Frank
Beranlaffjung gehabt, in der Borrede zu feinem „Weltbuch“ zu.
Hagen: „Sunft im Papſtthum ift man viel freier geweſen, die
Lafter auch der Fürſten und Herren zu ftrafen; jett muß alles ge-
bofiret fein ober es ift aufrühriih. Gott erbarms!” Zu dem
Sate, daß das Lutherthum jo recht eine Schule des theologiſchen
Knechtfinns geweien, hat Biedermann („Deutſchland im 18. Jahr⸗
hundert”, U, 1. Abtblg. S. 9) recht erbauliche Belege gefammelt.
Das folgende, auf Büſchings durchaus glaubwürdigem Zeugniß
beruhende, fteht bei Bülau, Geh. Geſch. und rätbfelh. Menſchen,
VI, 481. Ein Graf von Schaumburg-tippe hatte auf der Jagd aus
Berfehen einen Menſchen getödtet, welchen er für ein Stück Wild
angeſehen. Sein Hofprediger, welden er zu feiner Gewiſſensbe⸗
ruhigung kommen ließ, redete ihm ein, er brauchte fich keine Skrupel
zu maden, ba er ohne Abficht gehantelt; „außerdem aber fei er
ja auch Herr über das Leben feiner Untertbanen !”
128 Buch II. Kap. 3.
Treue. Am eifrigften wurde vaffelbe nicht felten in
Kreifen befolgt, wo man es am wenigiten erwarten follte,
in den afapemifchen nämlih. ‘Das wüfte Leben zwar,
welches die Studenten zu einer Zeit führten, wo Stu-
dententhum und Landsknechtsthum Häufig in einander
floffen, Tann kaum wundernehmen. Aber auffallend ift,
daß 3. B. in Tübingen, deſſen Hochſchule fih auf ihre
„reinlutherifche Lehre" fo viel zu gute that, auch in den
Familien der akademiſchen Lehrer ein jo grelles Sitten-
ververben daheim war, daß an ven Töchtern und Frauen
der Brofefioren uneheliche Schwangerfhaften, Yruct-
abtreibungen, Ehebrüche und ein trunffüchtiges, brutales
Gebaren häufig gerügt und beftraft werden mußten 9).
Faft noch wiverwärtiger als ein berartiges Tollen war
pie fchleichenve Heuchelei der Frauen, welche fich nicht
entblödeten,, verliebte und obſcöne Schriften nach Art
. von Gebetbüchern einbinden zu laffen und fo in die
Kirchen mitzunehmen 9. Kin Sittenprediger aus dem
vorletten Decennium des 17. Jahrhunderts ereiferte ſich
insbeſondere darüber, daß die jungen Mädchen, — „ſolche
Schnepperlinge“, wie er fie nennt — fo unfittfam fich
kleideten und fo fofett ſich benahmen. Er fehlt fie
„männerjüchtige Weibsftüdle, pie, ehe fie noch von einem
Freier oder Bräutigam wiſſen, ranzen und laufen, fich
gleichſam ſelbſt zum Kauf anbieten und durch folche Liebes»
98) S. die aus den Akten gezogenen Belege bei Tholuck, Das
akademiſche Leben bes 17. Jahrhunderts, I, 145— 277.
99) Philander von Sittenwalt, „VBenusnarren” (1646). 84.
Alamode in Deutfchland. 129
Mercanzen ſich ſelbſt nicht wenig beſchandflecken. Ach
Gott, fonft war eine Jungfrau eine Alma; jest macht
fie fich felbft zur Almoda 100),* Aller Scham und
Scheu vollends entſchlugen ſich die Solpatenweiber im
Berfehr mit der Männerwelt und im „Simpliciffimus“
ift zu lefen, zu welcden jeltjamen Berrichtungen bie
Schönen des Lagers, auch die Dffizierefrauen, ihre männ-
lichen Dienftboten mitunter anzubalten die Laune hatten 199).
Unweiblichfeiten viefer Art laſſen fih denn doch nur
begreifen von einer Zeit, welcher das fittliche Gefühl
jo ſehr abhanden gefommen war, daß fie fogar in ihre
„Anitandslehre” vie gröbften Unflätereien zu verflechten
nicht anſtand 199),
Indeſſen gab e8 in der deutſchen Frauenwelt viejer
Periode denn Doch auch Kreife, zu welchen ver alamopifche
Ungeift feinen Zutritt erhielt, und in allen Regionen ver
Gejellichaft treffen wir Frauen, welche vie guten Gepflogen-
heiten des deutſchen Familienfinns pflegten und die Pflichten
der Gattinnen und Mütter replich erfüllten, over folche,
100) Dengering, Sünde- Rüge und Gewiſſens⸗-Forſchung
(1687), ©. 792.
101) Simpficius erzählt (Bd. II, Kap. 25, ©. 116 d. cit.
Ausg.): „Ih mußte oft der Nittmeifterin, meiner Herrin, bei
hellem Tage Flöhe fangen, natürlich nur darum, damit ich ihren
alabafterweißen und zarten Leib genugiam ſehen und betaften follte.
Dies wollte mir, weil ich aud Fleifh und Blut hatte, in die Länge
zu ertragen etwas ſchwer fallen.“
102) Bgl. den Aufjag Hoffmanns v. Fallersleben über ein
„Komplimentir-Büchlein v. 3. 1654”, Weimar. Sahrb. I, 322 fg.
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. II. 9
130 Bud II. Kap. 3.
welche fich fcheu aus dem Getümmel einer wilden und
wüften Zeit zurüczogen und in der Stille der Tatholifchen
Klöjter oder der feit dev Reformation aufgelommenen pro=
teftantiihen Fräuleinftifte — unter welchen die Abtet
Duedlinburg den erjten Rang einnahm — affetifchen
Mebungen und befhhaulicher Betrachtung Hingaben, over
endlich folhe, welche, in was für einer Lebensſtellung fie
fein mochten, mit untadeliger Führung ein lebhaftes und
nicht felten auch ſchaffend ſich äußerndes Intereffe an
ven religiöfen, gelehrten und dichterifchen Beſtrebungen
ihrer Zeitgenoffen verbanden 19). Manche Elöfterliche
Genofjenfchaft ragte aus der üb und ungeftüm wogenden
Flut des Jahrhunderts wie eine Infel der Unſchuld, des
Erbarmensd und einer auf verftändige Ziele verjtändig
abzielenden Frömmigkeit hervor 1%). Auf Tatholifcher
und protejtantifcher Seite zeichneten ſich Frauen ariſto—
103) Die Blauftrümpfelei fcheint ſich freilih da und dort auch
fehr unangenehm gemacht zu haben. Im der 8. Satire Rachels
findet fi ein derber Ausfall auf die biehtenden Frauen, der frei-
ih inshefondere auf frivol und laſeiv dichtende gemünzt geweſen
zu fein ſcheint: — .
„Sa, endlich haben wir erlebt die güldnen Jahren,
Daß auch das Weibervolf Yäfft Spuhl und Hafpel fahren
Und macht ein Kunftgediht .. 2 2: 2200er.
Die Schriften find fürwahr Gezeugen unfrer Herzen;
Die keuſch ift von Natur, die wird nicht unfeufch ſcherzen,
Das bild ih mir gewiß und ohne Zweifel ein:
Die fo wie Thais fpricht, die wird auch Thais fen.“
104) ©. die Tages- und Hausordnung des Frauenklofters
Nievder-Schönenfeld. Zeitſchr. f. d. Kulturgefh. 1859, ©. 404 fg.
Alamode in Deutſchland. 131
kratiſcher und bürgerlicher Geburt als Muſter frommen
Wandels aus — wie jene drei dem Kaiſerhaus ent-
ftammten Nonnen, Margaretha, Tochter Kaiſer Maris
milians des Zweiten, Maria Chrijtina und Eleonore,
Töchter des Erzherzogs Karl — oder als theologifche
Streiterinnen — wie jene Anna Owena Hoyer aus Hol:
jtein, die tapfere, obzwar etwas phantaftifche Befehderin
der lutherifchen Orthodoxie, und die noch berühnttere Anna
Marin von Schurmann aus Köln, welche, nach Holland
übergefiedelt, die Hand des Dichters Cats ausjchlug,
um ganz den Wilfenfchaften zu leben, fich vierzehn Spra-
hen ameignete, ein wahres Kompendium von Gelehr-
ſamkeit wurde, den Proteftantismus in Difputationen
mit den Jeſuiten verfocht, auch im Lautenfpiel und in
der Stiderei die Meifterfchaft errang, ſich als Malerin
und Rupferjtecherin mit Glück verfuchte und ihren wohl-
erworbenen Ehrentitel der „holländiſchen Minerva” auch
durch fittfamen Wandel rechtfertigte — oder enplich ale
Sängerinnen religiöjer Lieder, wie die Kurfürftin Luife
Henriette von Brandenburg, Gemahlin des großen Kur⸗
fürften, welcher das berühmte Lied: „Jeſus meine Zuver⸗
fiht” zugefchrieben wurde; ferner die Landgräfin Anna
Sophia von Heffen- Darmftadt, die beiden Gräfinnen
Ludmilla Elifabeth und Aemilia Juliane von Schwarz-
burg-Rudolitadt und die Freifrau Katharina Regina von
GSreifenberg. In der weltlichen „Poeterey” galt Si-
bylla Schwark aus Greifswald ihrer Zeit für ein „Wun«
der” und die wenigen auf uns gekommenen Proben ihres
Zalentes find für ein fiebzehnjähriges Mädchen, als
9%
132 Buch II. Kap. 3.
welches fie geftorben, allerdings eigenthümlich genug. Es
muß ein glutvolles Herz unter viefem kaum aufgeblühten
Mäpchenbufen gefchlagen haben. Ein Herz voll Mile,
Heiterkeit und hilfreicher Frömmigkeit dagegen ſchlug in
der Bruft der Prinzeffin Elifabeth von Bapen - Durlach,
Tochter des Markgrafen Georg Friedrich, welche erft gegen
das Ende des Jahrhunderts hin unvermählt geftorben
ift. Sie gehörte ebenfall® zu den Dichterinnen ihrer
Zeit und hat eine Sammlung von Sinnfprüden, in
deren Auswahl ein edles, in Leiden geprüftes und be—
währtes Gemüth fich befundet, in deutſche Verje gebracht,
welche in ihrer Klarheit und gebrängten Kraft vor
der nebelbaften und gedunjenen Phrafenmadherei ver
meiften Poeten von damald gar vortheilhaft ſich aus-
zeichnen 105),
105) Vgl. Zell, die Fürftentöchter des Haufes Baden, ©.
47 fg. Weimar. Jahrb. Il, 216. Bon den an legterem Orte aus
dem Originaldrud („Zaufendt Merkwürdige Gedenck⸗Sprüch auf
vnterſchiedlichen Authoren zufammengezogen und in teutfche Verſe
überſetzt“, Durlad 1685) mitgetheilten Sprücden wollen wir
etliche herſetzen: —
„Die Tugend hat die Art des Palmbaums angenommen ;
Se mehr fie wird gebrudt, je höher wird fie fommen.
Die Seele läffet fih zu feinem Glauben zwingen ;
Der Grund der Wahrheit muß nur dies zuwegen bringen.
Bei manchem bat gar oft der Adel des Geblüts
Berändert und verderbt den Adel des Gemüths.
Die wahre Tapferkeit Läfft ſich darinnen ſehen,
Daß fie den Laftern wird allzeit entgegen ftehen.
Alamode in Deutfchland. 133
Es iſt tröftlich, in einer Zeit, wie das 17. Jahr⸗
hundert geweſen ift, in einer Zeit, deren ganze Bildung
im Grunde nur eine ladirte Barbarei war 19%), in einer
Zeit, wo kirchliche Difeiplin und Strafjuftiz mittels
ſcharfer Unzuchtſtrafen die zügellofe Gejchlechtsluft ver-
geblich zu bändigen fuchten 197) — es ift tröftlich, in einer
jolden Zeit doch auch wieder auf lautere, ſchöne, rein-
menjchliche Züge in dem Verhalten ver beiden Gefchlechter
zu einander zu ftoßen. Wenn berichtet werden mußte,
Wie nad) dem Regen oft die Sonne pflegt zu ſcheinen,
So fammelt man mit Freud’, was man gejät mit Weinen.
O wie viel Eitelfeit find’t fi in denen Sachen,
Darum die Menfchen fich viel Müh' und Arbeit machen.”
106) Als einen harakteriftifhen Zug berfelben führe ih an,
dag in wohleingerichteten abeligen Häufern der „Magiſter“, d. h.
der Lehrer der Kinder, fchlechter befoldet war als der Kutfcher und
der Lakai. Nach einem Haushaltungsbuche des turfächfiichen Ritters
Georg v. W., Erb⸗, Lehn- und Gerichtsheren auf B. und L.,
welches von 1661 bis 1670 reicht, hatte der Magifter 9 Rthlr.
12 ©r., der Kutſcher dagegen 11R. 16 ©. und der Lakai 108.
Jahreslohn. Die Köchin erhielt 11 R. 8 G., die Hausmagd 6 R.
3 G., die kleine Magd 6 R. 3 Gr., die Aufwartemagd 6 R. jähr-
Yich, die Kühehüterin 20 ©. vierteljährlih. Mitgeth. von Berafeld,
Zeitſchr. f. d. Kulturgeſch. 1858, ©. 1385.
107) Wie dabei an vielen Orten verfahren wurbe, mag ber
folgende, Karche's Jahrbüchern von Koburg entnommene Fall v.
3. 1658 veranſchaulichen. „Den 2. Aprilis wurde Hanns Wirth,
ein Fuhrknecht aus Thüringen, weil er eine Dirne geſchwächt und
ihr bie Ehe verfprochen hatte, überdies noch eine andere geſchwächt
und ihr ebenfalls die Ehe verſprochen hatte, als man die Kirche
ansläutete, auf den Stein am Kirchthurm an das Halseifen ge—
134 Buch III. Kap. 3.
daß die Anreizung zur Sittenlofigfeit von den höheren
Ständen ausgegangen, fo ijt ed nur billig zu erwähnen,
daß gerade in dieſer Gefellichaftsiphäre auch Beiſpiele
fih finden, welche beweifen, daß gute Sittenzucht und
die Achtung vor fraulicder Ehre und Würte in der deut-
ſchen Ariftofratie denn doch nicht ganz erjtorben waren.
Mehrere Fürftenhäufer hielten der alamodiſchen Zer-
ſetzung des heimischen Familienlebens gegenüber an ver
Reinheit und ZTraulichfeit vefjelben feit und außerdem
gab es fogar wie im 16. Jahrhundert fo au im 17.
deutſche Fürften, welche fich bei ihren Herzensneigungen
weder das Vorurtheil ver Kajtenverhältniffe noch vie ein-
geriſſene duldſame Anfiht über das Maitreſſenweſen zu
Nuten machen wollten, fondern ihre Erwählten, Mäd⸗
hen bürgerlichen Stanves, in aller Form Nechtens hei-
rateten. So der Herzog Rudolf Auguft von Braun-
ſchweig⸗Lüneburg, welcher nach tem Tode feiner erſten
Gemahlin die Elifabeth Roſine Menthe, Zochter eines
Barbiers zu Minden, liebgewann und dem ebenfo fchönen
als ſittſamen Mädchen feine Hand anbot. „Ihr follt
nicht meine linfe, ſondern meine rechte Gemahlin fein
und bleiben,” fagte ver Fürft zu ihr, als er fih im Juli
1681 auf dem Landhauſe Hedwigsburg mit ihr trauen
ſchloſſen, allwo er und die beiben Dirnen mit Strohkränzen bie
Predigt über ftehen mußten”. Später wurden gefallene Mädchen
„ausgepauft” und des Landes verwiefen. Der Amtsdiener führte
nämlich diefelben mit einer Trommel, welde er von Zeit zu Zeit
rührte, dreimal um den Marktplatz und hierauf, nachdem fie
Ruthenſtreiche erhalten hatten, zum Thore hinaus. ,
Alamode in Deutfchland. 135
ließ. Der nach zwanzigjähriger glüclicher Ehe kinderlos
Geftorbenen wurde die Grabſchrift gefekt: „Vixit in
praeclarum modestiae et pietatis exemplum 108)“,
Auch der in der deutſchen Solvatengejchichte unter dem
Namen des alten Defjauers berühmte Fürft Leopold der
Erſte von Deſſau erfor fich ein bürgerliches Mädchen zur
Frau, die Anne Luife Föhfe, Tochter eines Apothefers zu
Deffau, welche ver Kaifer in ven Reichsfürſtenſtand erhob
damit ihre Söhne für fucceffionsfähig erklärt werben
fönnten. Sie muß eine ganze vortreffliche Frau gewefen
fein, denn fonft hätte der harſche und barfche Kriegs-
mann, ihr Gemahl, deſſen Rauheit nicht felten ftark ins
Brutale fpielte, wohl nicht mit fo unverbrüchlicher Achtung
und Treue an ihr gehangen.
108) Köhler, Münzbeluftigungen, XXI, 289. Nethmeier,
Braunſchweig. Chronik, III, 1526. Kuriofitäten, X, 351.
Diertes Kapitel.
Die Heren'").
Bom Teufel. — Die Weltanihauung des Mittelalters. — Das
Reich Gottes und das Reich Satans. — Wundern und Zaubern.
— Bon zauberifhen Praktiken. — Die Kirhe und das Zauber-
wefen. — Die Heren. — Bund und Buhlfchaft mit dem Teufel. —
Der Herenfabbath. — Der Herenproceh. — Die Bulle Irmocenz
des Achten und der Hexenhammer. — Das Beweisverfahren und
die Beftrafung. — Die Reformation und der Herenproceh. — Die
maffenhaften „Einäſcherungen“. — Oppofition: Molitor, Weier,
Loos, Lercheimer, Spee, Beder, Thomafius. — Die letzten Heren-
proceduren. — Die letzte Here.
Das Buch der Gefchichte trieft von Thränen und
fchmerzlichitee muß es merfwürdiger Weife immer da
erzählen, wo e8 von den Entwidelungen der religiöfen
109) Sch habe zu diefem Kapitel hauptfächlich folgende Quellen
benüßt: — Malleus Maleficarum (der Herenhammer), Franff.
Ausg. v. 1588. Molitor, Eyn ſchön Geſprech von den Onholden,
1489. Agrippa von Nettesheim, De occulta philosophia, 15833.
Milihius, Der Zauber-Teuffel (Theatr. diabol. 1575, fol,
175 seq.). Luthers Tiſchreden, 1576, fol. 197 seq. Bodinus,
De magorum daemonomania (deutſch von Fifhart u. d. X. Vom
- — ⏑⏑ — —
ri“
Die Heren. 137
Idee handelt. Kein andere Motiv hat jeder Zeit die
Menihen zu wahnfinnigerer Wuth entflammt als ber
Zwift und Streit um ihre Götter. Hier haben fich mit
der höchſten Begeifterung, welche das Menfchenherz
ſchwellen fann, die gemeinften Triebe, die fchredlichiten
Leidenſchaften gemiſcht und in einem Ocean von Blut tft
der Purpurmantel der Religion gefärbt worden.
Was aber immer menfchlicher Wahn und menschlicher
Fanatismus unbewußt oder bewußt gejündigt, das
gräuelhaftefte haben fie doch im Herenglauben und im
Herenproceß zumegegebradt. Blöpfinn und Wahnmig,
außgelaffnen wütigen ZTeuffelsheer, 1591). Cäſarius SHeifters
bachenſis, Dialogus miraculorum, ed. Strange 1851. Weier,
De praestigiis daemonum, 1577. Lercheimer, Chriftlich Bedencken
von Zauberey,, 1593. Del Rio, Disquisit. magicar. libr. VI,
1679. Anborn, Magiologia, 1674, Spee, Cautio criminalis
seu de processu contra sagas liber. Edit. III, 1631. Beder,
Die bezauberte Welt, 1691. ZThomafius, De crimine magiae
dissertatio, 1701. Ferner die befannten Sammelwerfe von Sauber
(Bibliotheka magica, 1741) und Horft (Dämonomagie, 1818).
Bon den zahlreichen Monographieen, Aktenveröffentlihungen u. |. w.
abgefehen, ift der Gegenftand im ganzen neuerer Zeit in Deutjch-
land behandelt worden von Grimm (Deutiche Mythologie, 3. 4.
©. 983 fg.), Soldan (Geſchichte der Herenprozeffe, 1848), Enne⸗
mofer (Gef. d. Magie, 1844, ©. 756 fg.), Schindler (Der
Aberglaube d. Mittelalters, bei. ©. 208 fg.), Köppen (Heren und
Herenprozefle, Wigand's Bierteljahrsfchr. 1844, II, 1 fg.), Roſkoff
(Geſchichte des Teufels, 1869, II, 206 fg.), Scherr (Deutſche Kultur-
u. Sittengeſchichte, 7. Aufl. 1879, S. 358— 387). Darftellungen wie
die von Görres in feiner Chriftlihen Myſtik zu Verdunkelungs⸗
zweden gegebene haben felbftverftändlich feinen hiftoriſchen Werth.
138 Bud III. Kap. 4.
Afterglaube und Angjt, feige Tücke und rafende Mordluſt
verbanden fich da zu einem Thun, deſſen Refultate das
püfterfte Kapitel ver Weltgefchichte füllen. Betrachtet
man dieſes höllifhe Bild und ftellt vie abergläubifchen
Tendenzen und Praftifen unferer eigenen Zeit daneben,
die fomnambuliftifchen und magnetifchen Gaufeleien, bie
Geifterfehereien und Gefunpbetereien, die Muttergottee-
erfheinungen und Wunderquellenfprudelungen, vie Umkehr
der „Wiffenihaft” zum mittelalterlihen Köhlerglauben,
die ganze von fo vielen Kanzeln und Kathedern gepredigte
Dämonologie der Unvernunft, fo ift man ftarf verfucht,
in das trojtlospeffimiftifche Kredo einzujtimmen, daß bie
Geſchichte nur eines lehre, nämlich daß fie nichts Lehre.
Und doch find wir feit hundert Jahren unleugbar vor-
gejhritten: man’ verbrennt wenigitens feine Hexen mehr.
Auch wird ficherli eine Zeit fommen, wo die Umkehr⸗
profefforen, Umkehrkonſiſtorialräthe, Umkehrzeitungs⸗
ſchreiber unſerer Tage als geweſen und fürder unmöglich
der Kulturgeſchichte ebenſo verfallen ſein werden, wie die
Hexenrichter von vormals heutzutage es ſind. Nur wird
man dann die modernen Inquiſitoren nicht mit dem Gefühle
des Grauens, welches die alten einflößen, betrachten,
ſondern mit dem der Ergötzung. Denn mögen ſich die
Apoſtel und Familiaren des Köhlerevangeliums noch ſo
ernſthaft und grimmig gebärden, ſie ſind und bleiben
lächerliche Geſellen und die Maſke à la Torquemada oder
Calvin ſteht ihnen ſo komiſch zu Geſichte, daß wir bereits
das unauslöfchliche Gelächter zu vernehmen glauben, welches
in fünftigen Tagen varüber erjchallen wird. Freilich,
Die Heren. 139
der ſchwarze Faden des Wahns wird nie aus dem Gewebe
menfchheitliher Entwidelung verſchwinden und demnach
gibt e8, wie heutzutage, wohl auch Fünftig immer eine
Speried von Keberrichtern und Herenbrennern, über
welche man nicht lachen wird. Denn zu allen Zeiten
liebten und lieben es die Menjchen, die Thorheit ver Vor-
fahren lächerlich, ihre eigene aber ehrwürdig zu finden.
Doch unfere Aufgabe iſt nicht, über die Gegenwart
zu moralifiren oder Zufunftsträume zu fpinnen, fonvern
nur, von der Vergangenheit zu erzählen, und fo wollen
wir denn vom Herenwejen reden, dem brennenpften Un⸗
recht, der tiefjten Schmach, dem furchtbarften Leid, welche
dem weiblichen Gefchlechte jemals angethan worben find.
Es iſt traurig zu fagen, aber e8 muß um der Wahrheit
willen gefagt werben, daß fich unfer Vaterland vor allen
übrigen Ländern darin ausgezeichnet hat, den grauſamen
Wahnfinn des Herenproceffes recht methodifch, recht um:
faffend, recht beharrlich zu treiben. So fehr war durch
ven Einfluß des Teufelsglaubens die altgermanifche
Srauenverehrung, welde im Weibe „etwas beiliges“
gejehen Hatte, getrübt worden, daß unfere Altvorteren
etlihe Jahrhunderte hindurch e8 für möglich, ja für wirk⸗
lich bielten, veutfche Mädchen und Frauen gäben Sitte
und Scham, alles Hohe und Heilige, was der Menich
befigen fann, für vie widerliche Umarmung eines fcheuß-
lihen Bodes hin. Es dürfte doch fchwer fein, auf dem
ganzen Gebiete menfchlicher Narrbeit etwas aufzufinven,
was an blödſinniger Gemeinheit viefer chriftlich-theo-
logischen Phantafie nur halbwegs gleichfäme.
140 Bub III. Kap. 4.
Der Glaube an Zauber und Hexerei war ein noth-
wendige® Zubehör mittelalterlihen Chriſtenthums. Es
war ja viefer Glaube eine Iogifche Folge des Glaubens an
einen Gegengott, an venZeufel. Gut und böſe, Schöpfung
und Zerftörung, Zugend und Sünde, Wahrheit und
Züge, Geift und Materie, Licht und Finfternif, Ormuzd
und Ahriman, Gott und Satan, — das find befanntlich
vie beiden Pole, um welche fich die religiöfe Idee dreht
und welde auf die Entwidelung ver meiften Religiong-
ſyſteme beftimmend eingewirkt haben. Um fich fein eigenes
zweifpältiges Weſen gegenſtändlich zu machen, mußte fich
der Menſch überall, wie einen Gott, fo auch einen Teufel
Ihaffen, obzwar dieſer Gegenfaß 3. B. in ver Religion
ver Helfenen, welche den Zwiefpalt von Natur und Geift
nicht anerkannte, nicht jo ſchroff ſich herausgebilvet hat.
Auch der Mojaismus wußte urfprünglich nichts von einem
Satan, nahm dann aber dieſe Verperjönlichung des nega-
tiven, des böſen Princips aus der zoroaftrifcheperfifchen
Dogmatif herüber und überlieferte ihn fpäter dem
Chriſtenthum. Bei den Evangeliften Matthäus und
Lukas tritt — in der Verfuchungsgefchichte Sefu — ver
Teufel bereits fertig auf, als Widerfacher Gottes, After-
gott, Gegengstt. Im Verlaufe ver Siege des Chriften-
thums über das Heidentbum wurden ihm hierauf noch
weitere Züge angebildet, indem vie chriftliche Priefter-
ſchaft bemüht war, die alten Götter, deren Andenken fie
nicht aus dem Volksgemüth zu verbannen vermochte, zu
böjen Geiftern, zu Teufeln herabzuläftern. Zu dem Bilde
des Gefammtrepräfentanten der teuflifchen Eigenfchaften,
Die Heren. 141
zu dem Bilde des Oberteufeld® haben die orientalischen
Religionen, wie auch die hellenifcherömijche, die germanische
und feltifche Religion, Einzelftriche geliefert; doch handelten
die chriftlichen Theologen in ihrem Sinne folgerichtig
wenn fie, welche ja die Natur als ſündhaft verwarfen und
das Diefjeit8 dem Jenſeits gegenüber als nichtig und
unberechtigt erflärten, die Vorftellung, welche fich das
Haffifche Altertum von dem großen Naturgott gebildet
hatte, auf Satan übertrugen und alfo — allervings mit
häfflicher Webertreibung und Verzerrung — aus dem
großen Ban den großen Bod machten.
Wie jedermann weiß, war die ganze mittelalterliche
Weltanichauung durch ven Gegenfaß von Gott und Teufel
bedingt und beftimmt. Im Mittelpunft des Weltalis
ſchwebt, nad der Anfiht von damals, die Erde, um
welche ſich in fieben übereinander gebauten Himmeln vie
Sonne, ver Mond und die fünf Planeten mit verfchievener
Geſchwindigkeit im Kreife bewegen. Ueber ven fieben
Himmeln wölbt jih eine achte Sphäre, in welcher die
übrigen Gejftirne, förperlos und ohne Schwere, frei
hängen ober an welche fie angeheftet find, und über ver
achten fteigt eine neunte Sphäre auf, der kriftallinifche
Himmel, und über diefer eine zehnte, die Feuerſphäre
(dad Empyreum), allwo Gott und fein Sohn mit den
Seligften der Seligen thronen, während die übrigen nach
den verichievenen Graden ihrer Vollfommenbeit in ven
neun andern Himmeln vertheilt find. ntgegengejekt
diefer Wohnung der Götter, ver Engel und der Seligen
ift die Hölle, welche, im Centrum ver Erde befindlich,
142 Buch II. Kar. 4.
dem Satan und den übrigen gefallenen Engeln, fowie ven
verbammten Seelen zum Aufenthaltsorte dient. Gott hat
das Univerfum, Erde, Himmel und Hölle, aus nichts ge-
fhaffen und regiert fie willfürlich von feinem himmlifchen
Sige aus. Er ift ein außerweltlicher Gott, er fteht als
Geift der Natur gegenüber, die nicht etwa in ihr felbft
liegenden unabänderlichen Gejegen gehorcht, ſondern in
jevem Augenblid dem Einwirken Gottes und feiner Geifter
unterworfen if. Das eben ift die göttliche Allmacht.
Nun fteht aber dem Reiche Gottes und feiner Engel und
Seligen das Reich des Teufeld und feiner Dämonen und
Verdammten feindlich entgegen. Wie verträgt fih das
mit der göttlichen Allmacht? Ganz gut, denn das Reich
des Teufels erxiftirt nur durch „Zulaffung Gottes“.
Warum aber ließ Gott das Böſe zu? Warum gab er dem
Zeufel Spielraum? Weil e8 nun einmal fo fein ewiger
Rathſchluß ift. Diefer Grund muß dem Glauben ge—
nügen und genügt ihm auch wirklich.
Infolge ver Borftellung, daß dem Himmel die Höflfe,
tem Gott der Teufel entgegenftebe, nahm ver Glaube an
die Berteufelung der Welt immer größere Dimenfionen
an. Fand doch alles Böſe, was auf Erden gefchah, jedes
phyſiſche und moralifche Uebel feine Erklärung in ver
Anficht, daß der Teufel, welcher zugleich Gottes Wider
ſacher und Affe ift, ftet8 eifrig darauf aus fei, durch
Mehrung des eigenen Neiches das Reich Gottes zu
mindern. Ein Refultat dieſer Mehrung des ZTeufels-
ſtaates war zunädft das Beſeſſenſein von Menfchen
durch den Teufel, beziehungsweife durch hölliſche Dä—
Die Heren. 143:
monen, wovon bie Evangelijten jo vieles zu erzählen
wiffen 1%, d. h. viele Krankheiten ver Seele und des
Leibes, welche vie Unwiffenheit der Menſchen und eine
jtümperhafte Arzneifunjt weder zu erklären noch zu heilen
verstanden, wurden für eine Wirkung teufelifcher Bosheit
gehalten und in Nachahmung der Austreibung von
Dämonen aus Bejefjenen durch Jeſus bildete die Kirche
fraft des auf ihre Diener ausgegoffenen heiligen Geiftes-
eine fürmliche Kunft des Erorcismus aus, welche dem:
Teufel entgegenarbeiten follte. Gott infpirirt feine An—
hänger, der Teufel befigt fie . . . Aus dem Gegenfak
von Gottesreich und Teufelsreich ergibt fich ferner der
Unterfhied von Wunderwirkung und Zauberei. Gott
und ver Teufel greifen gleichermaßen nah Willfür in bie
Geſetze ver Natur ein und ändern diefelben nach Belieben.
Aber jener ift der legitime, diefer bloß ein „zugelafjener”
iegitimer Herr der Natur und daher bie teufelifche
Zauberei nur eine Traveſtie der göttlichen Wunderwirkung.
Diefer Unterfhied findet auch ftatt, wenn Gott und der
Teufel ihre Gewalt über die Naturgefege ihren Anhängern
unter den Menſchen übertragen: vie Gotteslieblinge, die
Heiligen, wundern 119), pie Zeufelslieblinge, die Hexen-
meister und Heren, zaubern. Das Wundern ift legitim
110) Matthäus, VIII, 28—32; Markus, V, 1—20; Lukas,
VIII, 26—39.
111) Ich gebrauche diefes Wort im thätigen Sinne nad dem
Vorgang von Grimm, D. Mythol. S. 983: „Wundern heißt über-
natürliche Kräfte heilſam, zaubern fie ſchädlich oder unbefugt wirken
laffen; das Wunder ift göttlich, der Zauber teuflifch”.
144 Bud II, Kap. 4.
und verbienftlih, das Zaubern ſündhaft und ftrafbar,
denn: „Die Zauberinnen follft du nicht leben laſſen!“
hatte ſchon das moſaiſche Gefeg geboten (Mofe,II, 22, 18).
Der Teufel, in feinem beftändigen Kriege gegen das Neich
Gottes der Parteigänger bepürftig, verleiht feine Zauber-
macht an Menſchen, natürlich gegen entſprechendes Aequi-
valent, d. h. die Zauberer und Zauberinnen müfjen Gott
abfagen und dem Fürften ver Hölle ihre Seele verpfänven.
Auf diefem Verhältniß beruhte Die ganze „ſchwarze Magie”,
jener mittelalterliche Glaube an den Bund des Menfchen
mit dem Teufel, welcher in unſerer Fauſtſage eine fo
hochpoetifche, durch ven Genius Göthe's zur modernen
Univerfalvichtung umgefchaffene Geftaltung gewonnen
hat. Zum Hausrath der fhwarzen Magie aber gehörten
alle vie bunten und tollen, wunderlichen und efelhaften
Meinungen und Praftifen vom VBerzaubern und Ber-
wandeln, vom Geiſterbeſchwören und Geiftererlöfen, vom
Wind- und Wettermachen, vom Krank⸗ und Lahmſprechen,
vom Schatzheben, Neftelfnüpfen, Schloßſchließen, Ver—
nageln, Treffſchießen, Feſtmachen und Diebſtahlweiſen,
von der Milchentziehung, von Alraunen, vom Glücks⸗
oder Galgenmännlein („spiritus familiaris“) 112), von
Liebeszauberbildern und Xiebestränfen 13) — alle vie
112) Eine jehr geift- und phantaſievolle dichteriſche Behand⸗
fung dieſes Bollsglaubens gibt: „Der spiritus familiaris des Rof-
taäuſchers“ von Annette von Drofte-Hillshof, Gedichte, S. 365 fg.
113) Der Glaube an die Wirkung der Liebestränfe („Lieb-
gifte”, die philtra der Griechen und Römer) war noch im 3. Decen-
nium des 18. Jahrhunderts jehr verbreitet. So jagt Kräutermann
Die Heren. 145
Ausgeburten der Phantafie, die noch heute unter dem
Bolfe umgehen und noch immer mehr oder weniger Glauben
finden. Denn der Menfch lebt nicht allein vom Brote,
fondern auch von Illufionen, und’ überdies hat die Ein-
bildungsfraft des Volkes zu allen Zeiten mehr der dunkeln
als ver hellen Seite der Natur fich zugewendet.
Die Kirche entwidelte ſchon fehr frühzeitig eine ver-
folgende und ftrafenvde Thätigfeit gegen das Zauberweſen.
Sie ging dabei von der auf ihrem Stanppunfte ganz richtigen
Anficht aus; Zauberer und Zauberinnen fchließen einen
Bund mit dem Teufel, folglich brechen fie ihr Tauf—
in feinem 1726 erfchienenen „Kuridfen und vernünftigen Zauberarzt“
ganz ernftbaft: „Zu den magifchen oder teufeliichen Liebesmitteln
gebrauchen Zauberer und Zauberinnen theil® allerhand Worte,
Zeichen, Murmelungen, Wachsbilder, theils die abgefchnittenen
Nägel, ein Stüdchen von ber Kleidung oder fonft etwas von ber
Perſon. Huren und vergleichen Gefinde bedienen ſich ihres Men-
strui, de® seminis virilis, Nachgeburten, Milh, Schweiß, Urin,
Speidhel, Haar u. dgl. m." Die nadiftehende Geſchichte von ver
Wirkung eines Liebeszaubers könnte man für ein Produkt des Volks—
wites halten, falls fie unjer Gewährsmann (Harsbörfer in feinem
„Schauplatz Yuft- und lehrreicher Geſchichten“, 1653) nicht mit der
ernfthafteften Miene der Glaͤubigkeit erzählte: — „In der obern
Pfalz bat fi wie landkundig zugetragen, daß ein Pfaff fih in eine
ehrliche Bürgersfrau verliebt, und da fie in dem Kindbett gelegen,
von ihrer Magd, der er etliche Dukaten geſchenkt, etlich Tropfen
von der Frauenmilh begehrt. Die gab ihm aber Geißenmild.
Was er damit getban, ift unbewußt, das aber hat er erfahren, daß
ihm die Geiß in die Kirch vor den Altar und bis auf den Predigt-
ſtuhl nachgelaufen, was die Frau zweifelsohne hätte thun müſſen,
jo er ihre Milch zumwegen gebradt. Er konnte des Thiers nicht
ledig werben, bis er e8 kauft und ſchlachten ließ“.
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. II. 10
146 Buch IH. Kay. 4.
gelübbe, alfo find jie Ketzer, folglich des Todes ſchuldig
und auszutilgen, d. h. zu verbrennen, weil „pie Kirche
nicht nach Blut dürſtet (ecclesia non sitit sanguinem)”.
Wie fehr in hierarchiſchen Augen Kekerei und Zauberei zu-
fammenfielen, zeigt deutlich der Umftand, daß man ven
Waldenfern und Stebingern ſchuldgab, bei ihren reli-
giöfen Zufammenkünften ven in Geftalt einer Kate,
einer Kröte oder eines Bodes erſcheinenden Teufel anzu-
beten und fich fleifchlich mit ihm zu vermifchen. Dieſes
päpſtliche Phantafieftüd aus dem Anfang des 13. Jahr⸗
hunderts gab das Vorbild des im 15., 16. und 17. Jahr⸗
hundert immer üppiger ausgemalten Herenfabbaths. oder
ber Synagoga diabolica ab, des Glanzpunfts des Teufels-
bienfted. Warum zu Trägern dieſes Kultus vornehmlich
die Frauen erlefen wurden, erklärt ſich keineswegs daraus,
daß die Hexenrichter mit dem ſchwächeren Gefchlechte
leichter fertig zu werden glaubten als mit vem ftärferen.
Das Motiv war ein ganz anderes und tiefere. War
doch ſchon im Altertbum, lange bevor e8 Hexrenrichter
und einen Herenproceß gegeben, ver Glaube an das Da⸗
fein von Zauberinnen und an ihre magischen Künſte gäng
und gäbe gewefen und braucht man nur an bie betreffenden
Auslafjungen des griechifchen Humorijten Lukian und
ber römiſchen Satirifer Horaz und Juvenal zu erinnern,
um die Ungeheuerlichfeiten zu zeichnen, welche ven
antifen Hexen („striges“, „sagae", „veneficae“,
„lamiae®) zur Laft gelegt wurden. Freilich verrathen
bie gemeinten Auslafjungen deutlich genug, daß im an⸗
tifen Hexenweſen vie Bereitung von und der Handel mit
”
Die Heren. 147
Stimulantien und Giften eine große Rolle gefpielt haben,
was mitunter auch im modernen der Fall gewejen fein
mag. Bon ältefter Zeit her hielt man die Frauen zu
derartigen Praktiken für tauglicher al$ die Männer und
ebenfo zu der Zauberei, weil in biejer etwas heimliches,
ſtilles, verftedtes, die vorwiegende Bhantafie und
größere Nervenreizbarfeit des weiblichen Gefchlechtes an-
lockendes und ftachelndes läge. Sodann kam in Be-
trat, daß der jünifch = hriftlichen Theologie zufolge das
Weib, durch welches ja die „Sünde“ überhaupt in die
Welt gefommen, als von Natur ein „Gefäß der Unreinig-
keit“ — nach firchenväterlicher Anficht — teufelifchen Ein-
flüffen leichter zugänglich wäre al ver Mann. Bei den
germanifchen Nationen endlich dürfte die Erinnerung an
die Walküren oder Wunſchmädchen ver germanifch = heid-
niſchen Religion, deren Vorftellung fpäter in dem Glau-
ben an die „wisiu wip“, vie Völen over Walen ver-
menfchlicht erfcheint, ebenfall® auf vie Geftaltung des
Herenwejens mit eingewirkt haben 11%). Denn von den
heidnifhen Walen her mögen Formeln und Bräuche ver
Wahrſage⸗ und Heilkunſt auf die chriftliche Zeit fich ver—
erbt haben, und da dieſelben an die alten Götter erinner-
ten, welche ja jett zu Zeufeln herabgewürbigt waren, fo
fonnte es nicht ausbleiben, daß die „weiſen Weiber”,
welche von ſolchen Formeln und Bräuchen wußten, in ven
114) Simrod (Handb. d. d. Mythol. ©. 492): „Noch heißen
die Heren in niederdeutſchen Gegenden Walriderffe, was fie deut-
lich als Walküren bezeichnet.”
10*
=
148 Bud III. Kap. 4.
Verdacht holliſcher Verbindung kamen und für Hexen
galten.
Die althochdeutſche Form des Wortes Here war Ha-
zufa oder Hazafa11d). Die mittelbochdeutiche Form
Herſe oder Hegrie over Hekſe ijt jelten, denn bis zum
16. und 17. Jahrhundert war für Here der ftehenve
Ausdruck „Unholde“ (Unholvin), in welden Wort jich
vielleicht eine getrübte Erinnerung an bie altveutfche
Göttin Holda barg. Fiſchart gebraudt das Wort Here
auch in männlicher Form, indem er in feiner Ueberfegung
des Bodinus vom Her und von der Herin |pricht. Der
genannte Bopin, welcher mit ftupenver und mehr noch
ftupiver Gelahrtheit das Zauber- und Hexenweſen be-
handelt bat, beginnt feine Unterfuhung mit folgender
Begriffsbeftimmung: „Ein Zauberer, Her (oder Herin)
iſt, wer fürſätzlich und wiſſentlich durch teufelifche Mittel
fih bemühet und unterfiehet, fein Fürnehmen hinaus zu
bringen oder zu etwas dadurch zu kommen oder zu ge-
langen 116),“ Zur Erlangung ver teufelifhen Mittel,
d. h. der Zauberfraft führt das Bündniß mit dem Teufel,
welches in verſchiedener Form mündlich oder fchriftlich
abgeſchloſſen wird. Gewöhnlich machen ſchon Einge-
weihte bie Vermittler. Die Eeremonie an fi ift ein-
fah: Die Kandidatin, je nachdem fie eine Katholikin
oder eine Proteftantin ift, verleugnet „Marien und Gott“
oder „unfern Herrgott und feine zehn Gebot“. Aber
115) ©. d. Ableit. d. Wortes bei Grimm, D. Mythol. S. 992.
116) Bodinus, a. a. O. 1.
Die Hexen. 149
zum Abſchluſſe des Bündniſſes mit dem Böſen fommt
noch ein beveutfamer Umftand : die teufelifche Buhlſchaft,
worüber Theologen und Juriſten jo viel gelehrten Blöd⸗
finn haben ausgehen lajfen. Der Teufel fucht die Be-
kanntſchaft der Mäpchen und Frauen, welche er zu Opfern
feines Buhltriebes und demnach zu Hexen machen will,
zuerft immer in Geftalt eines anſtändigen Mannes, in
der Maffe eines unters, Jägers, Weiters und unter
den Namen Boland, Hämmerlein, Federhanns, Beterletn,
Federlein, Papperlen, Klaus, Gräjfle, Grünhütl oder
ähnlichen 17), Nachdem er die Auserwählten verführt
und fie feiner Umarmung — welche in ven „Geſtänd⸗
niſſen“ der Hexen durchweg als „unlieblich“, „kalt“ und
„widerlich“ bezeichnet wird — genojjen haben, prüdt er
ihnen an trgend einem Leibestheil das „ Hexenmal“ (stigma
diabolicum) auf, wodurd fie zum Eigenthum der Hölle
geftämpelt werden. ‘Der Teufel zeugt zuweilen mit ven
Heren Rinder, die fogenannten Wechjelbälge over Kil-
fröpfe. Dies war bis zum Ende des 16. Jahrhunderts
allgemeiner Glaube, dem auch Luther ausprüdlich feine
Beftätigung gab 119), Später ging die Meinung im
117) Es kann einem bei Lefung der protofollarifchen „Geſtänd⸗
niffe” der Heren unmöglich entgehen, daß in fehr vielen Fällen bie
„teufelifche Beſtrickung“, welcher Mädchen, namentlich fehr junge,
unterlegen zu fein glaubten, in Wahrheit nur Beranftaltungen einer
ruchlofen Kuppelei geweſen.
118) „Wechielbelge und Kilelröpfe legt der Satan an ber
rechten Kinder ftatt, damit die Leute geplagt werden. Etliche
Megde (Mädchen) reifjet er oftmals ins Waſſer, ſchwengert fie und
142 Bud IH. Kap. 4.
dem Satan und den übrigen gefallenen Engeln, fowie den
verdammten Seelen zum Aufenthaltsorte dient. Gott hat
das Univerfum, Erde, Himmel und Hölle, aus nichts ge=
ſchaffen und regiert fie willfürlich von feinem himmliſchen
Site aus. Er ift ein außerweltlicher Gott, er fteht als
Geift der Natur gegenüber, die nicht etwa in ihr ſelbſt
liegenden unabänderlichen Geſetzen gehorcht, ſondern tn
jedem Augenblick vem Einwirfen Gottes und feiner Geifter
unterworfen if. Das eben ift die göttliche Allmacht.
Nun Steht aber dem Reiche Gottes und feiner Engel und
Seligen das Reich des Teufels und feiner Dämonen und
Berdammten feindlich entgegen. Wie verträgt fich das
mit der göttlichen Allmacht? Ganz gut, denn das Reich
des Teufels exiftirt nur durch „Zulaffung Gottes“.
Warum aber ließ Gott das Böſe zu? Warum gab er dem
Teufel Spielraum? Weil e8 nun einmal fo fein ewiger
Rathſchluß iſt. Diefer Grund muß dem Glauben ge-
nügen und genügt ihm auch wirklich.
Infolge der Vorstellung, daß dem Himmel die Hölle,
dem Gott der Teufel entgegenftehe, nahm ver Glaube an
die Verteufelung ber Welt immer größere Dimenfionen
an. Fand doch alles Böſe, was auf Erden geichah, jedes
phnfiiche und moralifche Uebel feine Erklärung in ver
Anficht, daß der Teufel, welcher zugleich Gottes Wider-
ſacher und Affe ift, ſtets eifrig darauf aus fei, durch
Mehrung des eigenen Neiches das Reich Gottes zu
mindern. Ein Refultat dieſer Mehrung des ZTeufels-
ftaate® war zunächſt das Befeflenfein von Menſchen
durch den Teufel, beziehungsweife durch hölliſche Dä—
Die Seren. 143:
nonen, wovon bie Evangeliften jo vieles zu erzählen
wiffen 11), d. h. viele Krankheiten der Seele und des
Leibes, welche Die Unwiffenheit ver Menfchen und eine
ftümperhafte Arzneikunſt weder zu erklären noch zu heilen
verftanden, wurben für eine Wirkung teufelifcher Bosheit
gehalten und in Nachahmung ver Austreibung von
Dämonen aus Befeffenen durch Jeſus bildete die Kirche-
fraft des auf ihre Diener ausgegoffenen heiligen Geiftes-
eine förmliche Kunft des Exorcismus aus, welche dem
Zeufel entgegenarbeiten ſollte. Gott infpirirt feine An--
hänger, ver Teufel befigt fie... - Aus dem Gegenfaß
von Gottesreih und Teufelsreich ergibt fich ferner ver
Unterfchied von Wunderwirfung und Zauberei. Gott
und der Teufel greifen gleichermaßen nah Willkür in die
Geſetze ver Natur ein und ändern diefelben nach Belieben.
Aber jener ift der legitime, diefer bloß ein „zugelaſſener“
illegitimer Herr der Natur und daher die teufelifche
Zauberei nur eine Traveſtie der göttlichen Wunderwirkung.
Diefer Unterfchied findet auch ftatt, wenn Gott und der
Zeufel ihre Gewalt über die Naturgefete ihren Anhängern
unter den Menfchen übertragen: die Gotteslieblinge, die
Heiligen, wundern HM), die Teufelslieblinge, die Heren-
meifter und Heren, zaubern. Das Wundern iſt legitim
110) Matthäus, VIII, 283—32; Markus, V, 1—20; Lufas,
VIII, 26—39.
111) Ich gebrauche diefes Wort im thätigen Sinne nach dem.
Borgang von Grimm, D. Mythol. ©. 983: „Wundern heißt über⸗
natürliche Kräfte heilfam, zaubern fie ſchädlich oder unbefugt wirken
lafien; das Wunder ift göttlich, der Zauber teuflifch”.
152 Bud IH. Kap. 4.
Hierauf folgt, da der Hexrenfabbath durchaus eine Tra=
veftie der chriſtkatholiſchen Kultakte, eine Art Beichte,
indem bie Zauberer und Heren dem Zeufel ihre Sünden
befennen, d. b. daß fie zu wenig Böſes gethan oder daß
fie Gotteshäufer befucht und ven Gottespienft mitgemacht
hätten. Satan abjolvirt fie und legt ihnen je nach den
Umftänden Bußübungen auf. Sodann feiert er in
eigener Perſon die Teufelsmeſſe, worein er eine Art von
Predigt verflicht, welche feinen Anbetern ein Paradies in
Aussicht ftellt, wie fie e8 ich nur immer wünjchen mögen.
Zum Beſchluß der Mefje theilt er an die Verfammelten
das Abenpmahl in beiverlei Geftalt aus, allein die Hölfifche
Hoftie ift ſchwarz und zähe wie eine Schuhfohle und
ſchmeckt fade wie faules Holz und ver hölliſche Kelch bietet
nur einen bittern und widerlihen Tranf. Nun geht e8
zum Bankett, aber alle Speifen und Getränfe find von
ſchlechtem oder geradezu ekelhaftem Ausfehen und Ge-
ihmad 12%), Dann fchiet ſich alles zum Ningeltange,
wobei Tänzer und Tänzerinnen fich die Hände reihen und
die Gefichter nach der Außenfeite des Kreifes kehren.
Während gefhmauft und getanzt wird, buhlt der Teufel
mit allen Anwefenden, indem er ven Männern als Suceu⸗
bus und ten Weibern als Incubus beiwohnt 121), Nach-
120) Bekanntlich belohnt der Teufel ſeine Anhänger überhaupt
ſehr ſchlecht. Als „Vater der Lüge“ belügt und betrügt er auch
ſie. Das Geld, welches er ihnen verſchafft, verwandelt ſich über
Nacht in Spähne, Kohlen oder Koth.
121) Milich im „ZaubersTeuffel” (Theatr. diabol. fol.
191 b): „Der Teuffel wird ein Incubus oder Succubus, d. i. er
— ee u
Die Heren. 153
dem er jchließlich Die Verfammelten ermahnt Hat, nach
. Möglichkeit Böſes zu thun, brennt der große Bock ſich
felber zu Afche, von welcher die Hexen mitnehmen, um
damit zu zaubern 122), |
Es bedarf als feititehende Thatſache feines befon-
dern Nachweifes, daß ber Glaube an Heren und Hexerei
nur eine logiſche Folge des Glaubens an den Teufel ges
wefen ift. Der Herenproceß gehört daher, wenigftens in
jeinen Anfängen, nothwendig mit zur Signatur einer
Zeit, welche fich verpflichtet glaubte, mit Mord und Brand
für das Reich Gottes gegen das Reich Satans zu ftreiten.
Was unfer Dichterfaifer Göthe vom Aberglauben über-
haupt jagt, gilt ganz beſonders vom Hexenglauben 123).
nimmet Mannes: oder Weibs-geftalt an fih. Iſt es num fach, daß
er fich zu einem Weibe verftellet und Mannen beywohnet, ſo bläfet
er fih auf als ſey er ein Schwanger Frauw und zur zeit der Geburt
legt er ein geftolen Kind neben fi) al8 jey e8 von jm geboren. Iſt
er aber ein Incubus, fo wohnet er Weibern bey und verblenbet fie
dermafien,, daß fie jelbft meynen, fie geben ſchwanger, unb went
die Geburtſtund da ift, legt er ein geftohlen Kind dahin.“
122) Die Hergänge beim Herenfabbath find nach den Angaben
bei Bodin, Del Rio, im Theatrum diabolorum und in einer Menge
einzelner Herenverhöre mitgetheilt.
123) „Der Aberglaube Läfft fi Zauberftriden vergleichen, bie
fi immer ftärker zufammenziehen, je mehr man fih gegen fie
firäubt. Die beilfte Zeit ift nicht vor ihm ficher: trifft er aber ein
dunkel Jahrhundert, fo ftrebt des armen Menfchen ummöllter Sinn
alsbald nad dem Unmöglichen, nach Einwirkung ins Geifterreich,
in bie Ferne, in die Zukunft; es bildet fich eine wunderfame reiche
Welt, von einem trüben Dunftkreife umgeben. Auf ganzen Jahr⸗
154 Bud II. Kap. 4.
Dieſe und andere „heilige Dummbeit“, Traft welcher das
Chriſtenthum, vie bekannte „Religion der Liebe“, es
glücklich dahin brachte, feine edleſte Helvin, die fehöne,
feufche, fromme und begeifterte Jeanne d'Ark, als Zau-
berin und Teufelsbuhlin zu verbrennen, — fie hat übri-
gens noch heutzutage eine unendlich wiel größere Gemeinde
als die Vernunft und ganz gewiß haben die Hexrenbrenner
nur im Sinn und Geift ihrer Zeit gehandelt, als fie
zur größeren Ehre Gottes ihr frommes Geſchäft began-
nen. Im Verlaufe der Jahre freilich hat dann die ur-
fprüngliche Lauterfeit dieſes Yanatismus zweifelsohne
etwelche Zrübungen erfahren. Denn zu dem mörberifchen
Slaubenseifer gefellte fich eine nicht minder mörderiſche
Habjudt. Der Umftand, daß das Vermögen ver „Ein-
geäfcherten“ eingezogen wurde und zu zwei Dritteln ven
Grundherrn, zu einem Drittel den Richtern, Geiftlichen,
Angebern und Henkern zufiel, hat ohne Frage unzählige
Hexenbrände angefadht. Wenn ein fo fehredlicher Gegen-
ſtand einen leichtfertigen Ton vertrüge, würden wir jagen,
daß die Menſchen auch im Hexenproceß das Nützliche mit
dem Angenehmen zu verbinden fuchten. Dem frommen
Wahn gejellte fich die Faltblütige Berechnung: Was trägt
die Sache ein? Die religiöfe Phantafte des Volkes hatte
ven Webftuhl gezimmert, auf welchem das ungeheuerliche
hunderten laften ſolche Nebel und werben immer dichter und dichter;
die Einbildungskraft brütet über einer wüſten Sinnlichkeit, die Ber-
nunft foheint zu ihrem göttlichen Urfprunge gleih Aſträa zurück⸗
gelehrt zu fein und der Berftand verzweifelt, da ihm nicht gelingt,
feine Rechte durchzuſetzen.“
Die Heren. 155
Gewebe des Herenprocefjes gewirkt werben jollte; vie
hriftlihe Theologie gab ven Zettel her, vie chriftliche
Jurifterei den Einſchlag. Nachdem vie zahlreichen „Dta-
lefizgerichte” einmal beftellt waren und pas vielfältige
Perjonal, welches dazu gehörte, das Fett ver Sporteln
einmal gejchmedt hatte, Tag es gleichermaßen in ven Zeit-
verhältnijfen wie in der menjchlichen Natur, die Heren-
proceduren möglichjt in Schwung zu bringen, und mit
welchem Erfolg dies gelang, veranfchaulicht die Thatfache,
daß zur Zeit des breißigjährigen Krieges, während alles
in Deutfchland bitterlich verarmte, der Hexenproceß ein
ſehr einträgliches Gefchäft war.
Das ganze Mittelalter hindurch waren mit anderen
Ketzern auch einzelne Zauberer und Hexen von ven Ketzer⸗
gerichten auf die Scheiterhaufen beförbert worden. In⸗
deſſen hatte, wie wir feines Ortes gelegentlich erwähnten,
das fromme Inſtitut der Imquifition in Deutjchland
feinen rechten Boden finden können. Für dieſe Einbuße
nun follte ver Herenproceß, welcher am Ausgang des 15.
Jahrhunderts in Folge methopifcher Entwidelung zu
einem theologifch-juriftifchen Unternehmen erften Ranges
erhoben wurde, unſer Land in übervollem Maß entjchä-
bigen. Zu Ende des Jahres 1484 erwirkten vie beiden
vom Papite zu Ketzerrichtern in Oberveutichland beftellten
Profeſſoren ver Theologie, Jakob Sprenger und Heinrich
Inſtitor, eine päpftliche Bulle, welche in dem Bullen-
vegifter unter dem Titel „Summis desiderantes® —
(die päpftlihen Bullen werden befanntlih nah ihren
Anfangsworten betitelt) — berüctigt und ihres Ur-
156 Bud IH. Kap. 4.
bebers, des wollüftigen und graufamen Innocenz VOII.
durchaus würdig iſt. In diefem merkwürdigen Aftenftüd
wirb ein erfchredliches Gemälde von ven teufelifchen,
Menfchen, Vieh und Feldfrüchten in mannigfachiter
Weite. ſchädlichen VBerrichtungen der Zauberer und Hexen
in deutſchen Landen entworfen und werden jchließlich bie
genannten Inquifitoren bevollmächtigt, mit allen Waffen
der Kirche gegen den Herengräuel einzufchreiten, ſowie
nöthigenfalls den „weltlichen Arm“ gegen bie Schulbigen
anzurufen. In Deutſchland bedarf aber jelbit ver Blöpfinn,
will er gelten und wirken, ter „wiſſenſchaftlichen“ Syſte⸗
matifirung und fo ſchrieb Sprenger mit Beihilfe Gleichge-
finnter ven „Herenhammer” (Malleus maleficarum), ein
Buch in welchem der fromme Wahnfinn und die fanatifche
Grauſamkeit gipfeln 129). Es wurde im Jahre 1488 mit
Approbation ver theologifchen Fakultät von Köln zum
eritenmal gedrudt und bald das allfeitig anerkannte theo-
logifche und juriftifche Handbuch der Hexenrichter, welchen
124) Wie ein Theologe ber erften Hälfte des 18. Jahrhun⸗
berts über den Herenhammer dachte, bezeugt Hauber, indem er a.
a. O. I, 26 fagt: „Alles, was man von einem Inquisitore ber
Keterey und von den damaligen Zeiten, ba das Reich der Finfter-
niß und Bosheit auf das Höchſte geftiegen war, fi nur vorftellen
kann, das findet fich in diefem Buche mit einander verbunden: Bos⸗
beit, Tumheit, Unbarmberzigfeit, Heucheley, Argliftigfeit, Unreinig-
teit, Fabelhaftigleit, leeres Geſchwätze.“ Hinſichtlich der märchen-
baften Unfläterei, womit der Herenhammer die Einzelheiten der
teuflifhen Buhlſchaft erörtert, fügt Sauber hinzu: „Der Autor
ſchreibt wie ein Kerl, der etliche bordels ausgehuret hat.“
Die Heren. 157
zufolge die Hexerei das „jchwerite, ungeheuerfte und ab-
ſcheulichſte“ Verbrechen ift und zugleich ein „außerorpent-
licheg“ (erimen exceptum), bei deſſen Verfolgung und
Beftrafung man ſich demnach auch außerorbentlicher Mittel
bedienen dürfe und müffe Auch follte die Angeberet in
jeder Weiſe ermuntert werden. Weil aber die Kirche nicht
nach Blut dürftet, d. h. weil fie ihre wirklichen over angeb-
lichen Gegner nicht eigenhändig hinrichtet, wurde die Hererei
als ein vor den geiftlichen und weltlichen Richter zugleich
gehörennes Verbrechen (crimen fori mixti) bejtimmt,
weil jener über Verlegung des Glaubens, diefer über an
Menſchen und Dingen verübte Frevel zu richten habe.
Mit andern Worten: Theologie und Yurifterei verbanden
fich zum hexenbrennerifchen Gefchäftebetrieb.
Die Theorie, jo vorforglih und umfajjend fie war,
wurde durch die Praxis bald noch fehr bedeutend erweitert.
Das Regifter der Anzeichen (indicia) ver Hererei ſchwoll
zu einem unendlichen an, denn wie leicht mußte e8 ver
herenrichterlichen Weisheit werden, in der ver⸗ und durch⸗
teufelten Welt überall den Teufel und demnach aud)
Hexen zu ſehen, zu hören, zu riechen, zu fchmeden! In
Wahrheit, Erniteftes und Lächerlichites, Erhabenes und
Komifches, Größtes und Kleinftes, Vorzüge und Ge-
brechen, Zugend und Laſter, Schönheit und Häfflichkeit,
Reichthum und Armut, Frömmigkeit und Gleichgiltig-
feit, Geſundheit und Krankheit, Klugheit und Einfalt,
guter und fchlechter Ruf, Wort und Gebärde — alles
und jedes war unter Umſtänden ausreichend, ven Ver-
dacht der Hererei zu erregen. Es klingt abenteuerlich
Iæü——
158 Buch III. Kap. 4.
und iſt doch nur zu wahr, mehr als anderthalb Jahr⸗
hunderte fang — von 1500 bis 1675 — war Hein
Mädchen und feine Frau, aber auch gar Feines und gar
feine in Deutfchland auch nur eine Stunde ficher in ver
nächiten nicht als Hexe angegeben; angeklagt und pro-
cejfirt zu werben. Eine Anklage war aber in neunund-
neunzig Fällen von hundert zugleich eine Verurtheilung.
Diefem Ziele ftrebte das ganze Verfahren mit kyniſcher \
Offenheit zu. Die als Here Verhaftete wurbe zuerft in |
faft ſcherzhafter Weife „ausgeförfchelt”, damit fie fich
fangen, d. b. zu irgend einem Geftänoniß verleiten
ließe, welches das Fundament einer weiteren Procedur
abgeben könnte. Die gemöhnlichite Vorfrage dabei war,
ob fie an Heren glaubte. Vernmeinte die Beſchuldigte
dieſe Frage, ſo war ſie eine Ketzerin und alſo des Todes
ſchuldig; bejahte ſie dieſelbe, ſo war damit ein, Indicium“
gegeben, daß ſie mehr von der Sache wüßte. Zunächſt
ſollte die Angeklagte mürbe gemacht werden durch das
Gefängniß. Was für Arten von Gefängniſſen aber die
„Hexenthürme“ waren, iſt bekannt: Orte voll Pein und
Grauen, wo die „Hexen“ jeder Brutalität ver Verbör-
richter und Büttel preisgegeben waren, Orte, wo man
an armen Angeflagten, felbjt an unmannbaren Mäpchen
gewaltjam verübte Schändungen dem Teufel bequem auf
Rechnung ſetzen Tonnte und wirklich gefeßt hat. Un—
zählige Opfer des Herenglaubens mögen alles befannt
haben, was immer man befannt haben wollte, um nur
aus der Kerferpein loszufommen, welche jehlimmer war
als der Tod. Blieb aber die Hexe feit, fo wurde fie ver
Die Heren. 159
zu den Orbalien gehörenden Herenprobe unterworfen 125).
Viel diefe zu ihren Gunften aus, jo wurde fie freigelaffen,
falls nämlich feine beſchwerende Zeugenausfage gegen fie
vorlag. War aber dies ver Fall, jo wurbe die Here ins
Gefängniß zurüdgebracht und hatte das Verfahren feinen
Fortgang, zunächſt auf „gütlihem” Wege, vd. h. man
quälte die Gefangene durch Hunger, Durft und Schlaf-
entziehung, um fie „in Güte” geftehen zu machen. That
fie e8 dennod nicht, was jehr Häufig vorkam, denn der
Duldmuth der Frauen ift jtärfer al$ der ver Männer, fo
verſchritt man zur „Nabelprobe”, vd. h. man entfleidete
die Angeklagte, fchor ihr vie Haare am ganzen Leibe und
ſuchte an vemfelben das „Herenmal”. Fand fich ein
Leberfled, ein Muttermal, eine Warze, ſo ſtieß man eine
Nadel darein. Blutete das Dial nicht, fo war der Be-
weiß der Hexerei fertig; blutete e8, fo machte e8 wohl
nur der Teufel bluten, um feine Buhlin zu retten. Fand
fih durchaus nichts zu einem Herenmal Dualificirbares
por, fo hatte es ver Teufel ausgelöicht. Jetzt exit, falls
nämlich die Angeklagte unter allen dieſen phhyfiichen und
moralifchen Qualen die Stanphaftigfeit ver Unſchuld be-
wahrt hatte, unterwarf man fie ver „peinlichen Frage”,
der eigentlichen Folter, welche mit der amtlichen Formel
begann: „Du jollft- jo dünn gefoltert werben, daß die
Sonne dur Dich ſcheint!“ Das war feine leere Dro-
hung; aber die Ferer fträubt fih, das Entjegliche nach—
zufchreiben, welches mittel8 brennenden Spiritus und
125) ©. oben Buch II, Rap. 1.
160 Bud III. Kap. 4.
Schwefels, vermittel8 der „ Daumenfchraube*, der „ſpa⸗
niſchen Stiefeln”, der „Leiter“, des „geipidten Hafen“
und anderer Marterinftrumente an unzähligen ver Hegerei
Beſchuldigten, ja fogar an fehwangeren frauen verübt
wurde 126). Geſetzlich follte die Folter nur eine Piertel-
ftunde dauern, gefetlich follte fie an ſolchen, welche vie-
felbe etwa fiegreih beftanden hatten, nicht wiederholt
werben dürfen; allein vie Richter wußten ſich nach An-
weifung des Hexenhammers über vergleichen kleinliche
Bedenken leicht hinwegzufegen. Man fuhr demnach mit
ber Folter fo lange fort, bis das gewünfchte Geftänpniß
erfolgte, biß die Hexe im Wahnfinn ver Bein oder in
halber Bewußtlofigleit die ganze Xitanei des Blödfinns
herftammelte, welche in viefen Geftänpniffen mit un⸗
wesentlichen Abweichungen fih immerfort wiederholt 127).
126) Siebe die aktenmäßige Schilderung der Folterung einer
als Here angeflagten Schwangeren i. 3. 1631 bei Reiche, Unter-
ſchiedl. Schriften vom Unfug des Herenproceffes (1703). I, 576.
127) Die teufliiche Buhlſchaft ſpielte pabei die Hauptrolle, weil
auf diefe gar zu leicht inquirirt werden Tonnte. Zu Ende des 16.
Sahrhunderts wüthete ber Herenproceß im kurmainziſchen Oden-
wald und löſ'te auch bier, wie anderwärts, bie beiligften Bande
der Natır. Wolf Roßmann, ein Bauer zu Amorbach, gab feine
eigene Mutter als Here an. Die Unglückliche wurde eingezogen
und der peinlihen Frage unterworfen. Das Folterprotofoll (nad
d. Originalakten des Hofgerichtes zu Mannheim mitgetheilt von
Huffſchmid, Zeitihr. f. d. Kulturgeſch. 1859, S. 427) hat ſich er-
halten und lautet fo: — Frage: Wie lang fie e8 getrieben habe?
Antwort: Mit 13 Jahren habe ih zu Schreiberg bei einer Frau
gedient. Diejelbe bat gefagt, ich fol auf den Hausboden gehn und
Die Heren. 161
Belannten doch Heren auf der Folter, Berjonen, welche
unter den Augen der Richter lebendig umhergingen, mit-
tel® zauberifcher Mittel getöntet zu haben! Geftanven
doch zwölf- und zehnjährige, ja acht und fiebenjährige
Mädchen, ald Hexen verhaftet und gefoltert, fie hätten
mit dem Teufel gebublt, mehrmals von ihm empfangen
und ihm Kinder geboren! Ob aber das Geſtändniß mög-
Eier zufammenzufehren. Da erichten mir ein junger Geſell auf dem
Boden im grünen Kleid und ſprach, wenn ich ihn wolle, wolle er
mir Eier genug geben; ich Sprach ja. Fr. Was ihr teuflifcher Buhle
ihr an Geld geben? A. Er hat mir ein Stüd Geld geben, fo fich
aber nach drei Tagen in einen Hafenjcherben verwandelt. Fr. Wo
ihr teufliſcher Buhle Hochzeit mit ihr gemaht? A. Zu Amors-
brunn bat er mich mit Waffer begoffen und getauft und der Buhlen⸗
geift hat Grünhütl gebeiffen. Fr. In was Geftalt er ihr erjchienen ?
A. Als ein Jäger mit grünem Kleid und fpigig Bart. Fr. Wie er
teufliſche Buhlſchaft mit ihr verbracht? A. Er bat die teuflifche
Buhlſchaft mit mir getrieben wie ein Mann, aber er ift an Geftalt
und Natur nit geweft wie ein anderer Mann, ganz kalt und haarig.
— (Die zwei zunähft folgenden Fragen und Antworten find nicht
mittheilbar.) — Fr. Was fie bei des Teufels Tanzplat tentirt hat?
U. Ich habe den Zanzplat kehren müſſen und mit vielen andern
dort getanzt; die Margaretha Ofwald bat der Teufel auf Hand’
und Füß' geftellt” u. ſ. w. Schnegraf bat zu Kelheim in Baiern
ein vollftändiges Formular zur Inftruirung der Herenverhöre auf-
gefunden und daffelbe in der Zeitjchr. f. d. Kulturgeſch. 1858, ©.
521 fg. abdruden laſſen. Es füllt ſechs enggebrudte Oftavfeiten
und gehört der Schreibweife nad) ohne Zweifel der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts an. Der Titel lautet: „Absoluta Gene-
ralia circa confessionem veneficarum. Fragſtuckh auf alle Arti-
kul, in welchen die heren und vnholden auf das allerbequemeft mögen
Examinirt werden.”
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. II. 11
162 Bud IH. Kay. 4.
liches oder unmögliches enthielt, gleichviel, e8 hatte Das
Urtbeil auf „Einäſcherung“ zur Folge, wie in der barba-
rifhen Amtsſprache des Herenproceffes die Hinrichtungs-
weife ver Opfer bie. Man hatte ja den bereits er-
wähnten Ausſpruch des mofaichen Gefeges für fich,
ferner mußten die Hexen ſchon als in Ketzerei Gefallene
von fanonifhen Rechtes wegen den Tod erleiden und end-
(ich feßte auch die „Peinliche Gerichtsordnung“ auf die Zau-
berei die Todesſtrafe, unter Beftimmungen, welche jeder
Herenrichter, der fein Handwerk fannte, unendlich dehn-
bar zu machen verjtand 129). Bußfertige Hexen wurden,
bevor man fie auf ven Scheiterhaufen brachte, enthauptet
oder erbroifelt, unbußfertige dagegen lebendig verbrannt,
ein Umftand, der fchreiend genug erklärt, warum nicht
viele Heren das ihnen durch die Folter ausgeprefite Ge⸗
jtändniß vor ihrem Tode widerriefen; fie wollten nad) all
dem entjetlichen, was jie erlitten, wenigftens ver minder
qualvollen Todesart genießen. Die wenigen Angejchul-
pigten, welche, ſei e8 durch außerorventliche Körper- und
Seelenjtärke, jei es durch eine Verfettung glüclicher Um⸗
ftände, den Klauen der Malefizgerichte entgingen, famen
doch nur als Krüppel an Leib und Seele aus den Kerfer-
grüften hervor. Viele der Eingezogenen und Gefolterten
haben ſich aus Berzweiflung felbft entleibt, andere da=
gegen haben einen glorreichen Heldenmuth bewährt, eine
faft übermenfchlihe Krafl. Sp, um nur ein Beijpiel
128) Karolina, $ 89, vgl. 8 44. Ausg. v. Koch (1800),
S. 30, 58. |
Die Heren, 163
anzuführen, ein junges Mädchen aus Nördlingen, welches
i. 3. 1598 als Hexe verhaftet, zweiundzwanzig fich ftei-
gernde Grade der Folter aushielt, ohne vie Behauptung
ihrer Schulplofigfeit aufzugeben. Die viehifchen Richter
brachen aber mittels des breiundzwanzigften Marter-
grades wie die Glieder fo auch die Seelenftärfe des armen
Kindes. | |
Der achte Imnocenz hatte in feiner Unfehlbarfeit
mittel8 der erwähnten Bulle feſtgeſtellt und folglich zu
glauben befohlen, daß die deutſchen Hexen, „ihres Seelen-
heils uneingedenk und vom fatholifhen Glauben ab-
fallend, mit Dämonen, bie fi als Incubi mit ihnen
vermifchen, Unzucht treiben, mittels Anrufungen, Liedern
und Beſchwörungen, allerhand abſcheulichen Zauberfor-
meln, Vebertretungen, Verbrechen und Laftern die Leibes-
frücdhte der Weiber und der Thiere, ferner die Felvfrüchte
und das Obft, die Weinberge, Wiefen, Gärten und Ge-
treidefelder verderben, erftiden und vernichten und im
weiteren jogar die Menjchen felbft, Männer und Frauen,
ebenfo Vieh aller Arten mit grimmigen, innerlichen To»
wohl als äußerlichen Schmerzen behaften und peinigen
und die Männer verhindern, zu zeugen, und die Weiber,
zu empfangen, und die Männer, vaß fie ihren Gattinnen,
und die Frauen, daß fie ihren Gatten die ehelichen Werke
leiften; daß fie, die Heren, außerdem ven mittels ver _
Taufe empfangenen Glauben mit gottesläfterlichem
Munde verleugnen und auf Anftiftung des Teufels
zahlloſe Laſter, Gräuel und Frevel begehen zur Gefahr
ihrer Seelen, zur Beleidigung göttliher Majeftät und
11*
164 Bud II. Kap. 4.
zum Aergerniß und ververblichen Beifpiel für viele 129). ”
Unter fo bewandten Umſtänden durften Sprenger und
Konforten nicht zögern, mit allem Eifer an die Aus-
rottung dieſer deutſchen Landeskalamität zu gehen und
fo wurden denn fchon in ven Sahren 1484—1489 nicht
weniger als neunundachtzig Herenbrände veranftaltet.
Trotzdem ſchien e8 mit der Sache nicht recht vorangehen
zu wollen und fchien der Herenproceß in Deutſchland
ebenfo unpopulär zu fein, wie e8 die Inquifition geweien
war. Verſtändige Geiftliche previgten fogar geradezu
gegen das Herenbrennen. Allein diesmal fiegte, wie ja
zumeift gefchieht, ver Unfinn, befonders nachdem es ge-
lungen, die geiftlichen Fürſten vom bierarhifchen, und
eine Menge größerer und kleinerer Dynaften vom öfono-
miſchen Gefichtspunft aus für den Herenproceß zu ge-
winnen. Namentlich während des breißigiährigen Krieges
wurden die Herenprocevuren für manchen berunter-
gefommenen Landedelmann, wie nicht weniger für finanziell
bevrängte Bifchöfe, Aebte und ſtädtiſche Rathskollegien
eine eifrigjt ausgebeutete Einnahmequelle.. Konnte doch
ſchon füher, noch im 16. Jahrhundert, einer ver Gegner
des Hexenprocefies, Kornelius Loos, mit vollem Necht
fagen, das ganze Verfahren fei nur „eine neuerfunvdene
Alchymifterte, um aus Menfchenblut Gold zu machen 130).
129) Das Original der Bulle findet fi vollftändig im Heren-
bammer und bei Hauber, der Hauptſache nad aud bei Solban,
©. 213. “
130) Sauber I, 74 fg.
Die Hexen. 165
Die Reformation minderte den Glauben an Hexerei
und Heren nicht, Löfchte auch Feinesweg® die Herenbrände,
im Gegentbeil! Waren doch die Reformatoren jelbit
fehr ftanphafte Teufelsgläubige, ift doch Luther insbeſon⸗
dere ein wahrer Fanatifer des Glaubens an den Satan
gewefen. Für ihn war die Welt im wörtlichiten Sinne
„voll Teufel“, die er allerdings nicht fürchtete, welche ihm
aber doch genug zu ſchaffen machten. Am meijten dann,
wann ihm Hämorrhoidalleiden und Hypochondrie perſön⸗
liche Begegnungen mit dem Satan bereiteten 131). Bei der
Anficht der Reformatoren vom Teufel und feinem Wirken
131) Befonders während Luthers Aufenthalt auf der Wart-
burg hatte e8, wie jedermann weiß, der Teufel auf ihn abgejehen.
Luther wird mitunter, freilich ohne Wiffen und Willen, geradezu
komiſch, wenn er gravitätiich von den Nedereien erzählt, welche ber
Böſe ihm anthat. So 3.3. in den Tiſchreden (Fol. 205b): —
„Als ih Anno 1521 von Wormbs abreijete und bei Eiſenach ge-
fangen ward und auff dem Schloß Wartburg jaß, da war ich ferne
von Leuten in einer Stuben und fondte niemands zu mir fommen
denn zween Ebele Knaben, fo mir des Tags zweimal effen und
trinfen bradten. Nun hatten fie mir einen Sad mit Hafelnüffen
gekauft, Die ich zu zeiten aß, und hatte denfelbigen in einen Kaften
verſchloſſen. Als ich des Nachts zu Bette gieng, zog ih mid in
der Stuben auf, thet das Licht auch auf und gieng in die Kammer, °
legte mich ins Bette, da kompt mirs über die Haffelnüffe, hebt an
und quitt eine nach der andern an die Balden mechtig hart, rum=
pelt mir am Bette, aber ich fragte nichts darnach; wie ich num ein
wenig entihlieff, va hebts an der Treppen ein ſolch gepolter an,
als würffe man ein jchod Feſſer die Treppen hinab.” Der Refor-
mator erzählt dann weiter, wie er aufgeftanden und denrumorenden
Satan im Namen Ehrifti beſchworen und vertrieben habe.
166 Bud III. Kap. 4.
auf Erden, war e8 ganz in der Ordnung, daß in Ländern,
welche dem Proteftantismus fich zugewandt, die Hexen⸗
verfolgungen nicht minder eifrig betrieben wurden als in
ven Tatholifch gebliebenen. Zwar jchien um die Zeit des
augsburger Religionsfriedens hüben und drüben ver
Eifer etwas erfalten zu wollen, allein er wurde namentlich
durch die Jeſuiten wieder angefacht, welche, wo immer fie
in Deutſchland Eingang gefunden hatten, die Anhänger
ver Reformation unter dem Titel von Herenmeiftern
und Heren auf den Scheiterhaufen zu befördern wußten.
Die Proteftanten ihrerjeits wollten in der Arbeit für das
Reich Gottes hinter den Katholiken nicht zurückbleiben
und fo begann jegt über ganz Deutſchland hin vie Heren-
brennerei im größten Stil. Katholiken und Proteftanten,
Fürſten, Prälaten, reichsfreie Bürgermeifter und reichs—
freie Krautjunker wütheten um die Wette, „die Unholden
mit Stumpf und Stil auszurotten”, wie ber wohl-
weife Bürgermeijter Pheringer von Nörblingen ſich aus-
prüdte, in welchem winzigen Neichsftäntchen nur in
dem Zeitraum von 1590 —94 zweiunddreißig Heren-
brände ftattfanden. Solche „Einäfcherungen“ in Maſſe
hoben in Deutſchland, wo in Folge ver politifchen Zer-
‚fplitterung und des fonfeffionellen Wetteiferd „ad ma-
jorem dei gloriam* ver Herenproceß gründlicher und
methodifcher betrieben wurde als in irgend einem andern
Zande, etwa mit dem Jahre 1580 an und währten fo
ztemlich gerade ein Jahrhundert lang; venn i. 9. 1678
veranftaltete der Erzbifhof von Salzburg ven legten,
nicht weniger als 97 Berfonen verzehrenven Hexenbrand
Die Heren. 167
großen Stile. Sehr oft ſchwoll, gerade wie in dieſem
alle, eine unbedeutende Herenprocedur zu einem Rieſen⸗
proceß an, welcher hunderte von Perſonen jedes Alters,
Geſchlechtes und Standes, Geiftlihe und Laien, Evel-
damen und börige Mägde, Domberren und leibeigene
Knechte, Künftler und Handwerker, Gelehrte und Bauern,
Greifinnen, Matronen, Iungfrauen und Kinder zugleich
ins Ververben riß. So z. B. ließ der Biſchof von Würz-
burg, Philipp Adolf von Ehrenberg, in dem kurzen
Zeitraum von 1627—29 in feinem Stifte neunhundert
„Herenleute“ Hinrichten, wovon 219 Opfer auf die Stadt
Würzburg famen. Erwägt man, daß in der Grafſchaft
Neiffe allein v. 3. 1640—1651 an taufend Hexen ver-
brannt worden find; ferner, wie in der Stadt Braun:
ichweig von 1590—1600 der Hexenproceß fo graffirte,
daß die Branppfähle vor ven Thoren „dicht wie ein Wald“
ftanden; bedenkt man enplih, daß jede Stadt, jeder
Flecken, jeve Prälatur, jeder Edelſitz — ein Herr von
Rantzow ließ auf einem feiner Güter in Holftein an
einem Tage 18 Hexen verbrennen — Hexenbrände haben
wollten, jo ift e8 Feine übertriebene, ſondern eine ſehr
mäßige Angabe, ver Hexenprozeß habe in deutſchen Lan-
den unmittelbar 100,000 Opfer gemorbet.
Wie immer in Zeiten allgemeiner Verdunfelung ver
Geifter und Gemüther flüchtete fich Die geächtete Ver-
nunft aud) zur Zeit der Naferei des Herenglaubens in vie
Herzen von einigen wenigen edlen Menfchen, um von
dort aus gegen ven triumphirenden Unfinn zu proteftiren.
Schon der Herenhammer mußte, wenn auch mit Unmillen,
168 Bud III. Kap. 4.
zugeben, daß „einige zu behaupten wagten, bie Hexerei
exiftirte nur in dem Wahne von Menfchen, welche natür-
lihe Wirkungen, deren Urfachen fie nicht fennen, auf
Zauberei zurüdführen 139)”. Molitor machte in feinem
Geſpräch von den Unholden bereitS 1489 einen, wenn
auch nur fehüchternen Verfuch, das ganze Hexenweſen als
Phantafterei und Einbilvung zu Tennzeichnen. In der
zweiten Hälfte des 16. Sahrhunderts ſodann traten ver
Arzt Weiter und der BPriefter Loos publiciftifch gegen
Herenglauben und Herenproceduren auf, Tonnten aber
nicht durchdringen und hatten fehwere Verfolgungen zu
beftehen. Auch Lercheimers „Chriftlih Bedenken von
Zauberei” (1593), worin bejonders die Annahme ver
teufelifchen Buhlichaft befämpft wurde, ging unbeachtet
vorüber. in ruhmreicher Gegner aber erftand dem
Hexenproceß in dem Grafen Frieprih von Spee, Mit-
glied des Jeſuitenordens — „auch aus Nazareth kann
gutes kommen“. Diejer wahrhaft große und gute Menſch
— geboren zu Raiferswertb 1591 und geftorben zu
Trier 1635, als Opfer einer Seuche, deren Gift er als
unermüblicher Kranfenpfleger eingeathmet hatte — dieſer
große und gute Menſch, welcher auch als Poet in ver
deutſchen Xiteraturgejchichte eine bleibende Stellung ge-
wonnen („Trutz Nachtigal“ 1649), ließ i. 3. 1631 feine
berühmte Streitfchrift „Cautio criminalis“ gegen ben
Herenproceß ausgehen, eine That wahrhaft heroifcher
Humanität und zugleich eine der beiten Thaten verftän-
132) Malleus malefic. (A. v. 1588), p. 3.
- Die Heren. 169
diger Kritif von allen, welche jemals gethan wurden.
Spee hatte als Beichtiger eine Menge von Heren zum
Tode vorbereiten und zum Scheiterhaufen begleiten müffen.
Was er da geſehen und gehört, hatte ihm in noch jungen
Jahren das Haar ergrauen gemacht 138). Es Tieß ihm
feine Ruhe, er mußte ein Zeugniß ablegen für die Opfer
und gegen die Henker. So jchrieb er fein Buch, in
welchem er mit richtigem Takte die Betonung auf die Dar-
ſtellung des Verfahrens gegen die Heren legte, indem er
darauf ausging, zu zeigen, daß dieſes Verfahren jchlechter-
dings alle Angellagten, auch die fchulplofeften, auf den
Scheiterhaufen bringen müßte. Der Beweis hierfür wurde
von Spee in feiner meijterhaft pſychologiſchen Darlegung
der „Summa bes Proceijes im Zaubereiskafter* geliefert.
Zunächſt freilich vergebens, um fo mehr, als die juriftifche
Autorität jener Tage, Benedikt Karpzow, in feiner 1635
erſchienenen „Kriminalpraftif* das ganze Gewicht feiner
blöpfinnigen Gelehrſamkeit zu Gunften des Herenprocefjes
in die Wagjchale legte. Erſt mit dem Einfluß, welchen
des Niederländers Balthaſar Beder berühmtes Buch
„De batooverde weereld* (1691) gewann, brach fich
die Vernunft allmälig in weiteren Kreifen Bahn und
legte fih, wenn auch nicht der Herenwahn, fo doch vie
Hexenbrandwuth nad und nad. ALS dann unfer großer
Aufklärer Chrifttan Thomafius auf der Gränzfcheive des
17. und 18. Jahrhunderts feine ruhmvolle Laufbahn
begonnen hatte, war es nicht das Fleinfte feiner großen
133) Nach den Zeugniß von Leibnig, abgegeben in ber Theo⸗
dicee, I, 97.
170 Buch III. Kap. 4.
Verdienſte, daß er dem Herenglauben fo energifch zu
Leibe ging. Wie mögen taufente und wieder taufende von
Frauen aufgeathmet haben, als es in Folge von Thoma⸗
find’ Bemühungen doch nicht mehr fo ganz für felbftver-
ftändlih galt, vaß wer nit an Heren und an die Ver-
dienftlichleit der Herenbrände glaube, felber eine Hexe fei.
Trotz alledem jchleppte fich die Thätigfeit ver Male-
fisgerichte noch foweit ins 18. Jahrhundert hinein fort,
daß ver letzte Herenbrand, welcher im veutichen Reiche
ftattgefunden bat, nämlih i. J. 1749 zu Würzburg,
feineswegs fo anachroniftiih ift, wie man zu meinen
pflegt. Das Opfer dieſes Juſtizmordes war eine fiebzig-
jährige Nonne, Maria Renata Sänger von Mohan, in
München geboren und als Neunzehnjährige wider ihren
Willen ins Klofter Unterzell bei Würzburg „verjorgt“.
Sie war in Frömmigkeit und Ehren alt geworben und
zur Stelle ver Subpriorin ihres Klofters emporgeftiegen,
als der tolle Proceß gegen fie eingeleitet wurde. Als
Baſis des Beweisverfahrens mußte die Angabe einer
Nonne dienen, welche auf dem Sterbebette ausgefagt
hatte oder ausgefagt haben follte, Maria Renata wäre eine
Here 13). Der ganzen traurigen Geſchichte mag eine
jener in Nonnentlöftern jo häufigen Klatſchbaſereien over
Altejungferngifteleien zu Grunde gelegen haben. Genug,
die arme Greifin warb inquirirt und das Gericht brachte
glücklich heraus, daß fie bereits in ihrem fiebenten Jahre
134) In der 7. Auflage meiner „Deutſchen Kultur und Sitten-
geihichte” habe ih S. 384 fg. eine Darftellung diefes zeitwibrigen
Herenproceffes nad) den Alten gegeben.
Die Heren. 171
fih dem Teufel ergeben und either alle die gäng und
gäben Braftifen einer Here ausgeübt, insbeſondere auch
ihren Klöfterlichen Mitſchweſtern — die armen Nonnen
ſcheinen an hyſteriſchen Krämpfen gelitten zu haben —
Dämonen in die Leiber gezaubert habe. Leider gelang
e8 der aus zwei geiftlichen Räthen des Biſchofs und zwei
Jeſuiten beftebenven Unterſuchungskommiſſion nicht, als
wichtiges Beweisftüd da8 „Teufelspaktum“ zu Tage zu
fördern, doch reichten die „Indicien“ aus, die Ange—
flagte durch das weltliche Gericht zum Feuertode verur⸗
theifen zu laſſen. Der Biſchof „milderte" das Urtheil
und jo wurde die Unglückliche „nur * enthauptet, ihr Leichnam
aber verbrannt. An dem Scheiterhaufen bielt ver
Jeſuitenpater Gaar eine Predigt, in welcher er alle,
welche nicht an Hexen glaubten, als Atheiften bezeichnete.
Er Hatte im Sinne der mittelalterlihen Weltanfchauung
ganz recht. Uebrigens war die arnie greife Nonne von
Unterzell, obzwar die lette „eingeäfcherte”, doch nicht vie
legte im veutfchen Reiche gerichtlich gemorbete „Hexe“.
Denn noch i. 3. 1856 wurde zu Landshut in Baiern ein
unglüdliches Mädchen von 14, fage vierzehn Iahren zum
Tode verurtheilt und enthauptet, „vieweil e8 mit dem
Teufel gewettet hätte“.
Die Abſtelluug des Hexenprocefjes in den fatholijchen
Ländern Deutfchlands verdankte man hauptjächlich dem
Borgange ver Kaiſerin Maria Therefia, welche vie Thätig-
feit der Malefizgerichte energiſch beſchränkte. Da und
dort beeilte man fich nicht fehr, Der verftändigen Monarchin
nachzuahmen. Wurde doc in Kurbaiern noch i. 3. 1769
172 Bud II. Kap. 4.
jedem Landgerichte eine amtliche, fo ziemlich im Geifte
des Herenhammers gehaltene Anleitung für angehende
Unterfuhungsrichter in Hexenproceffen zugeftellt 135). In⸗
deſſen kommt einer mit Proteftanten beſetzten Richterbanf
bie traurige Ehre zu, auf deutſchem Boden das letzte Todes⸗
urtheil über eine Here gefprochen zu haben, über die Anna
Göldi, welche i. 3. 1782 zu Glarus proceffirt, gefoltert,
den freundnachbarlichen Abmahnungen der Regierung
von Zürih zum Zrog mit dem Schwerte hingerichtet und
unter den Galgen begraben wurbe, weil fie dem Kinde
ihres Dienfthern Nägel, Stecknadeln und Steine in den
Magen gehert hätte 136%). Seither ift pie Thätigfeit der
Malefizgerichte verſchollen. Nicht fo der Herenwahn,
welcher auch in Deutfchland noch manchen Ortes ſpukt,
ſogar noch unter Leuten, die e8 übelnähmen, wollte man
fie nicht den „Gebildeten* beizählen. Denn der Hexen-
glauben fteht und fällt mit vem Teufelsglauben: vie lette
Here wird alfo erft mit vem Teufel fterben, d. b. nie,
maßen die Dummheit währet ewiglich.
135) Das fehr merkwürdige Aktenſtück ift mitgeth. von Schne⸗
graf, Zeitfehr. f. d. Kulturgeſch. 1858, S. 764 fe.
136) Lehmann, Bertraul. Briefe den fog. Herenhandel zu
Glarus betreffend (1783). Einen aftenmäßigen Bericht über diefe
letste, in deutjchen Landen in aller Form mittelalterlicher Bar-
barei durchgeführte, Tultur- und ſittengeſchichtlich ſehr merk⸗
würbige Herenprocebur gab 3. Heer im „Jahrbuch des hiſtor.
Bereins d. Kant. Glarus“ (1865), I, 9—53, und auf Grund dieſes
Altenmaterials unternahm ih dann eine Darftellung des Häglichen
Ereigniffes , welche unter dem Titel „Die Here von Glarus” in
meinem Bude „Menichliche Tragikomödie“, II, 197—217, fteht.
Sünftes Kapitel.
— —
Rokoko.
Eine Kette von Gegenfägen. — Umrif der Bewegung des 18. Jahr⸗
bunberts. — Die Frauentradt: eine Schöne im Rolokboſtil;
Revolution und Reaktion der Mode. — Umgangston. — Bildung
der Frauen und ihre Stellung in den abeligen und bürgerlichen
Kreifen. — Städtifches Leben. — Urfachen der unfittlihen Aeuße-
rungen beffelben. — Das Theater und die Frauen. — Die Neuber
und ihre Nachfolgerinnen. — Die Frauen von Wien. — Ein merf-
würdiger Umftand in Caſanova's Memoiren. — Die Frauen von
Berlin. — Die Höfe. — Flüchtige Durchblätterung der höfiſchen
Standaldronit. — VBollftändige Verwirrung der fittlihen Begriffe.
— Eine fürftlide Maitreffe als „Mufterbild der Tugend”. — Die
Sronie der Weltgefhichte. — Der Pietismus und die Frauen. —
Die „Mutter Eva“ zu Schwarzenau. — Ein weibliches Ungeheuer.
— Die Heilige von Wildisbuch. — Muderifches.
Das Jahrhundert des Rokoko, ja, aber auch das der
Emancipation! Das Iahrhundert des Puders und ver
verichnörfelten Unnatur, aber auch das einer bis zum
Sansculottismus und bis zur griechifchen Nadtheit al’As-
pasia vorjchreitenden Sehnfucht nah Natur. Das Zeit-
174 Bud) II. Kap. 5.
alter eines bis zu den äußerjten Folgerungen aus-
gebilveten, zwifchen Wahnwig und Blöpfinn ſchwankenden
Sultanismus, aber auch das des aufgeflärten Deſpo—
tismus eines Friedrich und Joſeph; — eine Periode
ver Weltgeichichte, vie mit dem Frevelwort des vierzehnten
Ludwig: „L’etat c’est moi!“ beginnt, aber mit ver
Begründung einer neuen Welt jenſeits des Dceans durch
die Demokratie und mit der franzöfifchen Revolution
ichließt. Das Jahrhundert einer Pompadour und Du⸗
barry, aber auch das einer Maria Therefia und Katharina.
Die Epoche einer Politik bronzeftirniger und mühljtein-
herziger Selbftfucht, einer Bolitif der Geheimtreppen,
Hinterthüren, der Dublietten und der Bravidolche; aber
auch vie Epoche des Aufgangs der großen Freiheits⸗ und
Humanitätsidee: — ein Zeitraum, an deſſen Anfang ein
Car Peter, in deſſen Mitte ein Wafhington, an bejjen
Ende ein Napoleon fteht. Das Jahrhundert des Jeſuitis⸗
mus, des Pietismus und der Geheimbündempfterien, aber
auh das der englifchen Freivenfer, ver franzöftichen
Encyklopädiſten und ver deutfchen Aufklärer und Illu—⸗
minaten. Das Zeitalter des in Voltaire verlörperten
verneinenden und zeritörenvden Spottes und zugleich das
ver bejahenven und bauenden Begeifterung eines Roufjeau
und eines Schiller. Die Epoche ver tiefiten Erniedrigung
des deutſchen Geiftes und zugleich feiner berrlichiten
Siegesflüge: dort Paftor Göge, hier Leifing und Kant,
— dort Gottſched, hier Göthe. Das Jahrhundert der
großen Abenteurer, Intrifanten, Projektmacher, Gaufler,
Gauner und Schwindler, der Lam, Münnih, Görk,
Rokoko. 175
Alberoni, Clement, Patkull, der St. Germain, Caglioſtro,
Caſanova; aber auch das der großen Bürger wie Franklin
und Peſtalozzi und der heldiſchen Naturen wie Karl der
Zwölfte, Friedrich der Einzige, Koſcziuſſo, Mirabeau
und Danton. Eine Epoche unterthänigſten Unterthanen⸗
gefühls, aber auch des fturm- und drangvollſten Frei⸗
heitsdurſtes; der ſchonungsloſeſten Skepſis und des rück⸗
ſichtsloſeſten Kynismus, aber auch der empfindſamſten
Schwärmerei und des ſchwungvollſten Glaubens an das
Ideal. Ein Zeitalter ſchmachvollſter Entwürdigung
deutſcher Weiblichkeit in einer Koſel oder Grävenitz und
wieder ein Zeitalter ver Verklärung deutſchen Frauen-
thums in Erfoheinungen wie Luife von Preußen und
Luiſe von Sachſen⸗Weimar.
Die Ringe dieſer Kette von Gegenſätzen ließen ſich
noch um viele vermehren, wenn die gegebenen nicht hin⸗
reichten, in Erinnerung zu bringen, daß das 18. Jahr⸗
hundert unter der bizarren und frivolen Hülle des Rokoko
eine Bewegung der Geiſter und Gemüther entwickelte,
wie nur wenige Epochen der Weltgeſchichte ſie aufzu—
weiſen vermögen. Was man dieſer großen Zeit mit
Recht oder Unrecht vorwerfen mag, alle ihre Unzulänglich-
feiten, Irrthümer und Webertreibungen, immer wird
man ihre außerordentliche Fruchtbarkeit an großen Ge—
danken und großen Menfchen anerkennen müfjen. Bon
der Ipeenfülle, welche damals in Umlauf gejett wurde,
werben noch manche Jahrhunderte zu zehren haben. Und
welches dichte Gedränge von originellen, fchöpferifchen,
thatfräftigen Männern, von Weifen und Gelehrten,
176 Bud II. Kap. 5.
Dichtern und Künftlern, Feldherrn und Staatsmännern,
Geſetzgebern und Erziehern führt jene Zeit an und vorüber !
Für Deutſchland war das 18. Jahrhundert, welches all-
gemach alle Stände und Klaffen in feine nach vorwärts
treibende Bewegung bineingezogen und ſelbſt vie Gegner
feines Geiftes diefem mehr oder weniger bienftbar zu
machen gewußt hat, gerabezu eine Periode fittlicher
und geiftiger Wiedergeburt. Auf allen Gebieten des
Lebens trat der reformiftifche Gedanke die Erbichaft an,
welche ihm das 16. Jahrhundert vermacht und das 17.
unterfchlagen hatte. Immer entfchievener Löfte fich der
deutiche Genius aus den Feſſeln ver Ausländerei, um
feine eigenen Bahnen zu wandeln und Hand an fein
großes Werk zu legen, an vie Umbildung des eigenen
und ver fremden Völker im Sinne des Humanismus, an
die Berwirflihung jener Erklärung der Menfchenrecte,
wie fie in den unfterblichen Werten ver Schöpfer unferer
Haffifchen Literaturperiope dargelegt if. Welch' ein
unermefjlicher Vorſchritt von Leibnig und Wolf bis zu
Kant und Fichte, von Gottſched und Gellert bis zu Leſſing,
Göthe und Schiller! Welche Kontrafte zwifchen ven An-
Ihauungen und Wirkungsmitteln eines Klopftod und
eines Wieland und doch wiederum welches unwillfürliche
Zufammenwirfen ſolcher Gegenfäte zur Klärung und
Erhellung einer gährenden und ringenvden Zeit! Wie
fegensreich waren nicht auf dem Felde ver bilvenven
Künfte vom Auftreten Winfelmanns an die Vorarbeiten
zur Heraufführung einer neuen Epoche nationaler Kunſt!
Und wenn bier vie Erfüllung dem 19. Jahrhundert vor-
Rokoko. 177
behalten blieb, wie ſchön doch erfüllte ſchon das vorige die
ftolgeften Hoffnungen auf dem Gebiete der Schaufpiel-
funft und mehr noch auf vem ver Muſik, wo nach einander
Händel, Bad, Hayon, Gluck, Mozart und Beethoven
auftraten, jeder in feiner Art das Kind einer Zeit, deren
Stimmung als ein alle Diffonanzen gewaltig beherrſchender
Grundton die glühende Sehnfucht nach Gerechtigkeit,
Wahrheit und Schönheit durchzog, eine Hingebung an
pie Götter, an die Ideale der Menfchheit, um welche ver
eiferne Realismus unferer eigenen Zeit das „Sahrhundert
des Rokoko, des Zopfes und Puders“ wahrlich fehr be-
neiden dürfte.
Freilich kamen die Reſultate der ungeheuren Geiftes-
arbeit von damals den Maſſen nur ſehr allmälig zu gut
und die ganze erſte Hälfte des 18. Jahrhunderts hindurch
zeigte das deutſche Leben noch eine große Verknöcherung
und Verkümmerung auf. Jener gedankenloſe und jelbft-
füchtige Defpotismus, welcher fich nach vem Vorbilde Lud—
wigs des Vierzehnten in Deutfchland feftgeftellt hatte, mußte
fich erft zum aufgeflärten wandeln, bevor in die ftarrende
Unbeweglichfeit der religidfen, politifchen und focialen
Begriffe und Gewohnheiten neues Leben fam und auch
an maßgebender Stelle das Bemußtfein platzgriff, daß,
wie nachmals ſogar ein im Hochmuth des Abſolutismus
verſteinerter Kaiſer Franz J. von Oeſtreich in einer ſchweren
Stunde der Prüfung erkannte, „die Völker auch etwas
ſeien“. Der ſiebenjährige Krieg war der legte Rabinetts-
krieg großen Stils und zugleich ein Ereigniß von un—
berechenbarer fittlicher Tragweite, indem er das deutſche
Scherr, Frauenmelt. 4. Aufl. IT. 12
178 Buch IT. Kap. 5.
Volk in feinen Tiefen aufrüttelte und dem veutfchen
Gedanken und der deutfchen Arbeit überall neue Bahnen
öffnete und neue Ziele ſtecke. Denn von dieſem Kriege
datirt, weil verjelbe die nothwendige Vorausjekung won
Friedrichs, des gefrönten Aufflärers, veformatorifcher,
die mittelalterlichen Traditionen brechenver Thätigfeit
war, das allmälige Emporfommen eines neuen focialen
Faktors, eines gebildeten deutſchen Mittelftandes nämlich,
auf welchen fich der „erleuchtete” Defpotismus, wie ihn
Friedrich der. Große und feine fürftlichen Nachahmer in
Deutichland fchufen, mit oder wider Willen ftügen mußte.
Es ift eine beim erſten Anblick höchſt feltfame, bei näherem
Zufehen aber leicht erflärliche Thatfache, daß Friedrich,
obwohl von der firen Idee beherrfcht, daß nur auf pen Wege
ver franzöfiihen Bildung für Deutſchland Heil zu finden
fei, durch fein aufflärerifches Regiment ein deutſcher Kultur-
heros geworden. Er, gerade er, der franzdfirte Verje-
macher, gab vermöge feines Ruhms und vermöge feines
Waltens als Feldherr und Staatsmann ver Nation jenes
Selbftgefühl zurüd, welches fie ihren eigenen Genius
wieder finden lief.
Eine wunderbare Fruchtbarkeit Fennzeichnet das
veutfche Kulturleben des 18. Jahrhunderts durch alle
Phaſen ſeines Vorſchreitens hindurch. Klopſtock brach
zuerſt den Bann der Nachahmung, welcher ſo ſchwer auf
dem deutſchen Geiſt gelegen, und er brach zugleich den
Zauber, welchen Voltaire wie auf ganz Europa ſo auch
auf unſer Land übte. Denn der Sänger des Meſſias
ſetzte der voltaire'ſchen Skepſis und dem voltaixe'ſchen
Rokoko. 179
Witz eine Begeiſterung entgegen, welche ihre Motive aus
den Ideen des Vaterlandes und der Religion ſchöpfte,
und zwar aus einer Auffaſſung der Religion, welche ſich
gleichermaßen gegen die Leichtfertigkeit des Unglaubens
kehrte wie gegen die Herzloſigkeit der Orthodoxie und die
Verdumpfung des Pietismus. Wieland ſeinerſeits führte
mittels feiner weltmänniſchen, die zeitbewegenden Ge-
danken in anmuthige Formen kleidenden Autorſchaft die
Theilnahme der höheren Stände der vaterländiſchen
Literatur zu und hat, ebenſo wie Klopſtock, nicht wenig
dazu beigetragen, der literariſchen Bewegung jene ſociale
Selbſtſtändigkeit zu ſichern, welche es dann einem Leſſing
und Kant ermöglichte, die Geſetze der Aufklärung mit
ſouveräner Freiheit zu formuliren. Herder grub mit kun—
diger und treuer Hand die lange verſchüttet geweſenen
Quellen aller wahren Poeſie wieder auf, indem er der
literariſchen Konvenienz gegenüber an die Unmittelbarkeit
des Volksgefühls appellirte und ſo jener Schar von
„Stürmern und Drängern“ Bahn ſchuf, welche das
Naturevangelium Rouſſeau's in Deutſchland verkündigten.
Es kam der Kultus überſchwänglicher Freundſchaftlerei,
welchem lange Jahre hindurch der „Vater“ Gleim als
eine Art Hochmeiſter vorſtand; es kam der göttinger
Hainbund mit ſeinem Tyrannenhaß; es kam die Zeit der
Kraftgenialität, der lavaterſchen Chriſtlichkeit, der wer⸗
therſchen Liebesſchwärmerei, der ſiegwartſchen Senti⸗
mentalität, des fauſtſchen Titanismus, lauter Erſchei⸗
nungen, welche bezeugten, daß es dem deutſchen Geiſt
in einer Welt der Reifröcke und Schnürleiber zu enge
12*
180 Bud III. Kap. 5.
geworden und baß überall eine auf die Treiheit des
Denkens und Fühlens gerichtete revolutionäre Stimmung
nach Licht, Luft und Geltung rang. Endlich aber ge-
langte die tumultuarifhe Bewegung zu einem Abſchluß,
indem Göthe und Schiller, aus den Gährungen ver
Sturm- und Drangperiode zu freier Künftlerfchaft fich
emporarbeitend, in Form vollendeter Runftwerfe vor die
Augen der Nation die Ideale hinftellten, nah deren
Berwirklidung fie in ihrer weiteren Entwidelung zu
ringen bat.
Dieſen, bier freilich nur in flüchtigften Umriffen ge-
zeichneten Gang nahm die große Umwälzung, welche im
Laufe des 18. Sahrhunderts fich vollzog. Es wird Die
Aufgabe des gegenwärtigen und ver folgenden Kapitel
meines Buches fein, das deutſche Frauenleben darzuftellen,
wie es fich unter den angeveuteten Rulturbedingungen
vom Beginne des vorigen Jahrhunderts an bis in das
‚ gegenwärtige herein nad feinen verſchiedenen Richtungen
hin entfaltete.
Beginnen wir unfere Betrachtung mit einem Blick
auf die Außerliche Erſcheinung unferer Aeltermütter, fo
jehen wir um die Mitte des 18. Jahrhunderts und noch
weit darüber hinaus im weiblichen Anzug das Rokoko in
feinem vollen Triumph. Es waren doch ſehr abfonverliche
Gehäufe, worin die Schönen von damals ftedten. Bei
feftlihen Veranlaffungen war ihr Anzug geradezu ein
Kunftwerf, deſſen Aufbau nicht wenig Zeit, Mühe und
Koften verurfacht hat. Denn die Figur, welche vie Da-
men im Feſt⸗, Ball» over Brautkleid machten, war dieſe.
Rokoko. 181
Ihre Füße ftedten in Schuhen von Atlas oder Sammtet,
welche mit gologeftidten Schleifen verziert und in ver
Mitte der Sohle mit einem zollhohen Stelzchen verfehen
waren, wodurd die Trägerin gezwungen wurde, auf den
Fußſpitzen zu jchweben. Dies erklärt dann auch vie
jteifabgemefjfenen Bewegungen ver Tänze jener Zeit: in
folhen Schuhen konnte man unmöglich) walzen oder
galoppiren oder polfen, jondern nur ein vorfichtiges,
elegantvornehmes Menuett ſchreiten. Noch mehr aber als
der Damenfuß war der Damenkopf miffbanvelt. Denn
auf dieſem mauerte fich ein koloſſaler, mit Drahtgeftell
und Roßhaarwulſt unterbauter, aus verſchiedenen Stod-
werfen beſtehender, gepuderter, gefleiiterter, mit einer
Maffe von Bändern, Blumen und Federn verzierter
Haarthurm in die Höhe, welcher die Länge feiner Trägerin
nahezu um eine Elfe oder ſogar drüber erhöhte. Der
‚ aus Fifchbeinftäbchen aneinandergefügte Korſett-Harniſch
zwängte Schultern und Arme zurüd, prefite ven Bufen
heraus und jchnürte die Taille weipenhaft zufammen.
Ueber dem umfangreichen Dratbgeftell des Reifrocks
Ipannte fi) das mit allerhand Falbeln und Kinkerlitzchen
garnirte Seidenkleid und über dieſes floß das mit einer
Schleppe verjehene, vorn auseinander fallende, auf bei-
den Seiten reich beſetzte Obergewand von gleichem Stoffe
hinab. Die mit Blonden belavdenen Aermel reichten bis
zum Ellenbogen und ven Vorderarm deckte ver lange, par⸗
fümirte Handſchuh. Hals, Naden und Bufen wurben
jehr frei getragen. Die Geiftlichfeit beider Konfeffionen
ſtandaliſirte ſich höchlich über dieſe Offenherzigfeit, aber
182 Buch III. Kap. 5.
meift mit fehr geringem Erfolg '37). Gab e8 doch eitle
Mütter genug, welche ihre ſchamhaft widerſtrebenden
Töchter aufforverten, den Xiebreiz des Buſens ja vecht
ſehen zu lafjen!39). Zum Staatsanzug der Damen ge-
137) Um 1740 „liefen in Wien — erzählt Keyßler („Fort-
ſetzung neuefter Reifen durch Teutſchland“ u. ſ. w. S. 929), manche
Damen gleih vom Bette aus, ohngejchnüret und öfters nicht wenig
bloß, wenn fie nur eine Bolante über fi) geworfen hatten, zur
Kirche und Kommunion. Die Geiftlichen Tiefen bei joldher Gelegen-
beit ihren Eifer mit gar befonderen Ausdrüdungen von der Kanzel
hören. Einer von ihnen ftellte mit vieler Heftigfeit vor, das Frauen-
zimmer fomme in Säden zur Kirche, nicht um Buße zu thun, fon-
dern ihre Waaren und Fleifchhänfe deſto beſſer auszulegen und
könne kein Geiftlicher bei der Kommunion feine Augen mit gutem
Gewiſſen aufthun. Ein anderer Prediger drohete, wenn er noch
Eine mit entblöffetem Halfe zu Gefichte befommen würde, wollte
er ihr in den Bufen fpeien.” Im proteftantiihen Norddeutſchland
wußten die Herren Geiftliden ebenfo wenig, wohin fie mit ihren
Angen follten. Gar beweglich jagt Hermes in feinem für die da-
maligen Sittenzuftände ſehr wichtigen Roman „Sophiens Reife von
Memel nah Sachſen“, welcher 1770 zu erjcheinen begann: „Euch,
ihr ebleren des weiblichen Gefchlechtes bitte ih, zu erwägen, in
welche Berlegenheit die gegenwärtige Kleidungsart des Frauen»
zimmers den Prediger fett und jeden, der nicht bei euch auf bie
Nafenfpite und nicht tüdifh wie ein Schurf neben euch in den
Winkel hin fehen will.“
138) Podels (Verſuch einer Charalterift. d. weibl. Geſchlechts,
I, 494): „Kennt man nicht Mütter, die den unzüchtigen Anzug ihrer
Töchter nicht nur erlauben, fondern aud; anordnen helfen? Da bat
das alberne Mädchen — fagte neulich eine vornehme Mutter zu
ihrer Tochter und zwar in Gefellfchaft von Männern und Weibern
— da bat das alberne Mädchen ihren Buſen beinahe ganz eitt-
Rokoko. 183
hörte ver Fächer und das fpigenbejegte Taſchentuch; auch
führte die elegante Schöne ftet8 ein Perlmutterdöschen in
ber Taſche, welches einen Vorrath von Schönpfläfterchen
entbielt. Denn die richtige Wahl und Anklebung der
ſchwarzen, aus engliſchem Pflafter in allerlei Formen ge-
ſchnittenen „Mouchen“ machte eines der wichtigiten Ge-
heimnijfe der Putzkunſt und Kofetterie aus 13%. Noch
gehüllt; ich kann diefe dumme Schambaftigkeit nicht leiden, da fich
das Mädchen ſehen laſſen kann und ihre Sorge weit und breit
berum bie jhönfte ift! Das Mädchen erröthete und ging zur Thüre
hinaus.”
139) Klemm bat in feinem Buch („Die Frauen“, II, 322)
aus der 1756 erfchienenen L’art de decoppiler la rate folgenben
„catalogue des mouches“ beigebracht. — „La passione au coin
de l’oeil, la majestueuse au milieu du front, l’enjoude sur le pli
que fait la joue en riant, la galante au milieu de la joue, la
baiseuse au coin de la bouche, l’effrontee sur lenez, lacoquette
sur les l&vres, la reveleuse sur un bouton.* — Aud auf den Buſen
wurden Mouchen geliebt. Im 3. Gefang von Thümmels „Wil-
beimine“ , welche 1764 erfchien, ift folgende Scene gemalt, die,
und zwar nicht allein inbetreff ver Schönpfläfterchen, ein recht charat-
teriftifches Genrebild aus dem Zeitalter bes Rokoko abgibt: —
„Bald (nad dem Weggang des Paſtors Sebaldus, mit welchem
fein vornehmer Gönner das „zerpflüdte” Kammermädchen Wil-
beimine verheiratete, wie das damals fehr häufig vorlam) trat
Wilhelmine herein und brachte ihrem gnädigen Herrn Chofolade
mit perlendem Schaume. Da gab ihr der Hofmarſchall das Doku⸗
ment ihrer Tugend, den ebrlichften Abſchied, ſauber auf Pergament
geichrieben, und ftehe da, welche großmüthige Gnade, er umarmte
fie mit gefälligen Händen und küffte fie zärtlih. Eine ganz fapphifche
Empfindung fteömte durch ihr dankbares Herz und trieb ihren
wallenden Bufer empor, daß der blaßrothe Atlas zu Iniftern begann,
184 Bud III. Kap. 5.
zu Anfang der neunziger Jahre eriftirten ver Reifrock,
der Stelzſchuh und die gepuderte Chignonfrifur. Dazu
war noch das baufchige Halstuch gefommen, welches von
tem Umftand, daß e8 in Verbindung mit Drahtgeftellen
benügt wurde, eine nicht vorhandene Bufenfülle zu er-
fünften, den Namen „Menteur“ erhielt. Die fran-
zöfiiche Revolution rewolutionirte auch ven Damenanzug,
wie jie vom Männerfopfe Zopf und Haarbeutel wegfchnitt.
Die von England herübergefommene griechifche Frauen-
tracht, welche eigentlich nur aus einem Hemde beftand
(„la chemise grecque“), wurde von ben Bariferinnen
ber Direftorialzeit in jo kokett ſchamloſer Weife getragen,
daß fie, die [höne Madame Zallien voran, halbnadt er-
fchienen, in fleifcehfarbenen feidenen Trikotpantalons mit
lilafarbenen Zwideln und Kniebänvern, an ven bloßen
Füßen leichte Sandalen, Ringe an den Zehen, darüber
die Chemife, d. h. ein wirkliches Hemde, welches, hart
unter der Bruft lofe gegürtet, bloß dur ein paar Schmale
Bänder auf den nadten Schultern befeftigt war und die
der ihn weit unter der Hälfte umfpannte. Ach, welch ein reizender
Buſen, o ſcherzhafte Muſe, beſchreib' ihn! Auf feiner Iinfen Er-
böhung lag ein mondförmiges Schönfleckchen, angebeftet durch
Gummi, von dem ein Heiner Liebesgott immer mit drolligen Reve⸗
renzen die Blide der Grafen und Läufer, Lalaien und Freiherrn
auf fih zog. Aber jetzt erhob fih dreimal die warme bebende
Bruſt und trennte die gebörrte Mouche vom Gummi. Der Kleine
Liebesgott, mitfammt feinem Geräfte, fiel zwifchen der Schnürbruft
unaufhaltfam hinunter, daß die Schöne ſchrie und der Hofmarſchall
zu lachen anfing.“
e— ⸗ —
— —
TE N. een —— ⏑ ⏑ — —
Rokoko. 185
ganze Oberhälfte des Körpers vollkommen entblößt ließ,
während auf dem am Hinterkopfe zu einem griechiſchen
Knoten aufgebundenen Haar ein weißer Fichuturban ſaß.
Kein Wunder fürwahr, daß der Spott ſolche Griechinnen
an Eva's Feigenblatt erinnerte 4%). Auch in Deutichland
140) Eine Dame, die fih auf Promenaden und Bällen durch
die Durchſichtigkeit ihrer Tracht auszeichnete, erhielt ein niebliches
Kaͤſtchen aus Alajouholz zugefandt, als fie eben einen glänzenden
Cirkel um fi verfammelt hatte. Die Auffchrift lautete: „Kleidung
für Madame”. Neugierig warb das Käftchen eröffnet und als
einziger Inhalt zeigte fi ein — Rebenblatt. Journal d. Lurus
und der Mode f. 1800, ©. 369. Diefer fatirifhe Wit war wohl-
begründet und wohlangebradt. Die „Chemiſe“ ift nämlid in
Wahrheit und Wirklichkeit für eine Weile das einzige Kleivungs-
ſtück der Modedamen der über alle Begriffe lüderlichen Direltorial-
zeit gewelen, weilmegen damals in Paris das Couplet gefungen
wurde: —
„Gräce & la mode
Un’ chemise suffit,
Un’ chemise suffit.
Ah! qu’ c'est commode!
Un’ chemise suffit,
C’est tout profit!“
Aber damit noch nicht genug. Die Mode warf auch noch das
Hemde beifeite, wahrfcheinlich mit dem Kirchenvater Klemens von
Alerandrien philofopbirend, die Schambaftigfeit läge nicht im
Hemde. „Un decadi soir du messidor de l’an V. (Juni 1797)
deux femmes se prom&nent aux Champs-Elysdes, nues, dans
un fourreau de gaze; une autre s’y montre les seins entierement
decouverts“. Das war aber ben Leuten doch zu anti. „A
cet exc&s d’impudicit6 plastique, les huées Eclatent; on recon-
duit, dans les brocards et les apostrophes merites, jusqu’& leurs
186 Bud IH. Kap. 5.
griechelten und römelten die Damen den franzöfifchen
nach, namentlich in Berlin. Allein Ehrbarfeit, rauhes
Klima und mit Recht polternde Aerzte machten dem grie-
chiſchen Koftüm eine erfolgreiche Oppofitton. Entſchieden
wurde der Sieg berfelben erjt durch die Rückkehr zur
Schnürbruft, womit fihb nah und nah — bis zum
Yahre 1808 blieb es jedoch Mode, ven Bufen ganz offen
zu tragen — auch wieder eine anftändige Verhüllung
einftellte. Wie in wichtigeren Dingen, hatte vie Revo⸗
Iution auch in Sachen des Frauenanzuges weit über das
vernünftige Maß und Ziel hinausgefchoffen und fo er-
folgte venn hierin ebenfalls vie reaktionäre Gegenftrömung,
welche dann unter dem zweiten franzöjiichen Kaijerreich
glücklich wieder beim Reifrock ver Rokokozeit angelangt ift.
Das wunberliche Gemifch von pevantiihem Zwang
und lockerer Kofetterie, welches vie Frauentracht Der
Rokokozeit fennzeichnete, war dem Frauenleben von damals
überhaupt eigen. In Städten, welche feine Reſidenzen
waren, d. b. feine Sammelpunfte einheimifcher und
fremder Lafter, bewegte fich namentlich da® Dafein des
höheren Bürgerftandes äußerlich in fteif und ftreng ge-
regelter Konvenienz. Diefe dulvete es nicht, daß Mäd—⸗
hen oder Frauen mit ber Freiheit und Ungenirtheit von
heute öffentlich erfchienen. Es galt für unſchicklich, ohne
„Kammermenſch“ über die Straße, in die Kirche over in
voitures ces Grecques en costume de statues“. Petite Poste
de Paris, messidor an V., amgef. bei Goncourt, Hist. d. 1
societe frangaise pend. 1. directoire, p. 422.
—
Rokoko. 187
einen Kaufladen zu gehen; das Erfcheinen von Frauen
ohne männliche Begleitung auf Spaztergängen, im
Theater und Koncertfal ging gar nicht an. In folchen
foliv-vornehmen bürgerlichen Kreifen wurde allen fran-
zöſiſchen Moden zum Trotz das häufliche Walten ver
Frauen und Töchter noch immer als ihre ſchönſte Be-
jtimmung angeſehen. Auch ficherten Recht und Sitte
Vätern, Gatten und Brüdern eine unbedingte Autorität
über ihre weiblichen Angehörigen 13). Mit der fraulichen
Bildung freilich war e8 bis in die höchften Kreife hinauf
nicht weit ber, bevor die große Bewegung unferer Literatur
auch die Frauen mit in ihre Aufihwünge hineinzog.
Bis dahin galt in den ariftofratifhen Sphären durch⸗
ſchnittlich Die Fertigkeit im Franzöfifchplappern, eine
oberflächliche Kenntniß der franzöfifchen Literatur, etwas
Spinetttaftenjchlägerei, etwas italifches Ariengedudel für
ven Gipfel weiblicher Bildung. In ehrbar bürgerlichen
Kreifen wurde das Leſen von Romanen ven Frauen als eine
Sünde angerechnet 142). In proteftantifchen Bürgerhäufern
waren die Töchter ftreng angehalten, mit vem Katechismus
141) ©. insbef. die Schilderung ftädtifchen Lebens in Nord⸗
deutſchland in den hinterlaffenen Denkwürdigkeiten („Sugendleben
und Wanderungen”) von Johanna Schopenhauer, deren Jugend
in die Rokokoperiode zurüdreichte.
142) Charafteriftiih rühmt in der von Stranitzky 1722 her⸗
ausgegebenen „Ola potrida bes durchgetriebenen Fuchsmundi“ ein
Ioderes Mädchen als einen Beweis ihrer Bildung, daß fie „mehr
als zwölf Liebesgefchichten von Talander (A. Bohſe) durchgeleſen
babe”.
188 Bud III. Kap.5.
und ber Bibel fich vertraut zu machen, und ging biefer
Nigoriemus mitunter ins Abjurde. So wiljen wir non der
Sugendgeliebten Wielands, Sophie von La Roche, wie ihr
Vater, der augeburger Arzt Gutermann, feine Freude
daran hatte, daß feine Tochter, nachdem fie ſchon als
Dreijährige lefen gelernt, als Fünfjährige bereits vie Bibel
vollftändig durchgeleſen hatte. Ebenſo, daß das junge
Mädchen tagtäglich bei ihrer Handarbeit eine Betrachtung
in Arndts „Wahrem Chriftentbum“ leſen mußte 142).
Doch unterrichtete fie der Vater zugleich auch in der Ge-
ihichte und von Göthe's Vater ift befannt, daß er an
dem Unterrichte, welchen er feinem Sohne in verfchienenen
Fächern ertheilte, auch feine Tochter Kornelia tbeil-
nehmen ließ. Dies fällt freilich fchon in eine Epoche,
wo der in die Zeit gefahrene Sturm und Drang auch ven
Bildungstrieb ver Frauen lebhaft angeregt hatte. Die
Folge davon war, daß viele Mädchen und Frauen eine
wahrhaft harmonifhe, dem Schönen mit edlem Em-
thufiasmus zuftrebende Bildung ſich aneigneten, andere
viele jedoch e8 nur dahin bradten, daß ihre Köpfe
ichlechtgewählte und ſchlechtgeordnete Bibliotheken ent-
hielten.
Dis zur Zeit, wo die große mit Klopftods Auftreten
beginnende Wendung unferer Literatur eine ibealifchere
Färbung in den deutichen Umgangston einzuführen an-
bob, herrſchte in dieſem, auch den Frauen gegenüber
und unter diefen jelbft, eine Ausprudsweife, welche der
143) Affing, Sophie von La Rode, ©. 14, 17.
Rokoko. 189
lafein-galanten Sprache des 17. Jahrhunderts nur allzu
häufige Nachklänge vom Grobianismus des 16. beimifchte.
Wie wenig man fich zu ſcheuen hatte, ſelbſt vornehmiten
Damen gegenüber alles bei feinem Namen zu nennen, be-
weift ſchon die Thatjache, daß ven derben Natürlichkeiten
der Hannswurfttaden, wie fie Stranigfy im Anfang des
18. Jahrhunderts zu einem unentbehrlicen Zubehör der
theatralifchen Freuden Wiens gemacht hatte, pie Injaffinnen
der Logen erften Ranges lachenven Beifall zuflatichten 149).
Neben dieſem Gefallen an Derbheiten lief eine Pedanterei
ber, welche, wenn fie von Xiebesfachen redete, die ab-
ſonderlichſten Schnörkel zuwegebrachte. So ein Profefjor
der Liebeskunſt theilte die Liebe ein: 1) in die chriftliche
Liebe, 2) in die eheliche Liebe, 3) in die Freundichafts-
liebe, 4) in die Socialitäts- oder Vertraulichfeitsliebe,
5) in vie Galanterieliebe und 6) in die Hurenliebe. Er
pocirte: „In einem Liebeg-Commercio ift e8 nöthig und
man muß bei der Geliebten darauf dringen, daß fie eine
. Xiebesprobe ablege” — und vefinirte das Küffen als „ein
Negotium bei einem Liebes-Commerce, welches fie ab-
legen zur temoignirung ihrer innigften Xiebe, wobei
jedoch zur contenance zu rathen ift 149)“. Die arifto-
144) Man kann fih von dem Ton der in Rede fiehenden
ſtranitzky ſchen Hannswurſtkomödien eine ungefähre Borftellung bil-
den, wenn man erfährt, daß in der „Ola potrida Fuchsmundi“,
der Held einer Jungfer Anna Barbara feine Liebe anträgt und da-
bei in der Beſchreibung feiner Perfon fagt, diefelbe habe nur einen
einzigen Mangel, nämlich einen zu „biden Hintern“.
145) Germani Constantis Moralifcher Traktat von ber Liebe
gegen die Berfonen des andern Gejchlechte, 1717.
190 Bud III. Kap. 5.
fratiihe Welt fragte freilich derartigen veutfchprofeffor-
lichen Vorſchriften in Sachen ver „ars amandi* wenig
nad, fendern richtete fich Lieber nach ven Regeln ver
franzöfifchen Galanterie. Ein Mufter verjelben war ver
liebenswürbdige Staatsmann Graf Stavion, der Gönner
und Lehrer Wielands, für welchen, während er feiner
vornehmen Geliebten bis tief in die Nacht hinein galant
aufwartete, fein Sekretär Ya Roche, der feines Herrn
Handſchrift nahahmen mußte, inzwifchen daheim bie
zierlichſten Billetvour fchrieb, damit dieſe Beweife einer
raftlojen Zärtlichkeit frühmorgens auf den Putztiſch der
Dame beförvert werden könnten 149).
Die frivol-franzdfifche Anfchauung von den Frauen,
welche in den adeligen Kreifen gänge und gäbe, und vie
deutſch⸗eckig⸗-pedantiſche, welche in den bürgerlichen um-
ging, hatte, wie noch gar manches Schiefe, Unerquidliche
und Unvermittelte im deutſchen Xeben, eine ihrer Wurzeln
in ber bis zur faftenmäßigen Unduldſamkeit gehenden
Sonderung der Stände. Es wird einem, wenn ber
Ausdruck geitattet ift, ganz indiſch-pagodiſch oder ägyptiſch⸗
mumienhaft zu Muthe, wenn wir im gefelligen Verkehr
der Rokokozeit auf adeliger Seite die hochmüthigfte Aus-
Ichließlichfeit, auf bürgerlicher vie kriechendſte Unter—
thänigfeit bemerken 149). In Wahrheit, Edelleute und
146) Raumers Hiftor. Taſchenbuch, X, 397.
147) In „Sophiens Reife von M. n. S.” fchreibt der Paftor
Groos an ein Füngferhen von Adel, welches fih nachmals zu
feiner Frau und zur Qual feines Lebens zu machen weiß, in nach—
Rokoko. 191
Bürger hatten jo zu fagen nichts mit einander gemein
al8 die Luft und dieſe Schroffheit in Aufrechthaltung der
Standesunterſchiede, welcher Schiller in Kabale und
Liebe ein ewiges Brandmal aufgeprüdt hat, währte bie
zum Schlufje des 18. Jahrhunderts. Es war fo leicht, fo
angenehm, jo modiſch, Human zu fchwärmen; aber man
fand es vielfach „infonvenant”, human zu handeln. Aus-
nahmen, ſchöne Ausnahmen gab es freilich, aber fie be-
zeugten doch nur die Regel. Konnte doch felbit aus der
damaligen Metropolis des deutſchen Geiftes, aus Weimar,
wo der revolutionäre Moſt der Kraftgenialität fi zum
edlen Wein des Freifinnd und der Humanität abgeflärt
hatte, noch zu Anfang des Jahres 1800 Hervers Frau
‚bie Nenigfeit, daß die Adeligen und Bürgerlichen zum
eritenmal einen gemeinfamen Ball abgehalten, als ein
Ereigniß an Knebel melden. Heiraten zwifchen ven
beiden Ständen fanden zwar fchon früher ftatt, aber ge—
wöhnlich hatten Bürgerlihe das Wappenſchild, welches
ihnen adelige Bräute häufig als einzige Ausiteuer mit
ind Haus gebracht, theuer zu bezahlen. . Ein fehr an-
ſchauliches Bild dieſer Miffverhältnifje bietet das i. J. 1780
ſtehenden Ausdrücken: — „Wenn Perſonen, von denen mein
niedriger Stand mich mit Recht ſo entfernt, daß ich ihnen nicht
ganz bekannt werden kann, Perſonen, deren Geſinnung gegen mich
nichts ſein darf als Gnade, Perſonen, denen ich nicht anders als
mit einer wirklich belachenswerthen Frechheit, das, was man Ehr⸗
furdt und Reſpekt nennt, verweigern könnte — wenn ſolche Per-
fonen mir Eigenfchaften zutrauen, die ich nicht fo glücklich bin zu
befigen, — dann werde ich in der That geängftigt”.
192 Bud II. Rap. 5.
erſchienene pramatifche Familiengemälde „Nicht mehr als
ſechs Schüffeln“ von Großmann. Der Hofrath Rein-
hard, welcher darin eine Frau von Adel geheiratet, muß
piefelbe „Ihr Gnaden“ tituliren, wenigftens in Gefell-
ſchaft, und fih von feiner Frau und ihrer Tante wegen
feiner „bürgerlichen Grofjieret&” bei jeder Gelegenheit
zurechtfegen laſſen. Er rächt fi dafür, indem er von
„adeligem Lumpengefindel” fpriht. Frau von Schmer-
ling, die Tante, ftellt in ihrer ganzen Ericheinung und
Ausprudsweife ein Produkt jener Bildung vd. h. Miß⸗
bildung dar, wie fie die gewöhnliche franzöſiſche Bonnen⸗
erztehung in adeligen Häufern an ven Töchtern zumwege-
brachte. Dieſe Dame fpricht am liebſten in franzöfifchen
Floſkeln, miſcht aber beharrlich darunter jo gemeine und
derbe deutſche Ausdrücke, wie fie heutzutage fogar im Munde
einer Stullmagb auffällig wären. In Nilolat’8 „Sebal-
dus Nothanker“ (1773) erhalten wir veutliche Winfe,
worin eine „ſtandesmäßige“ Erziehung damals nur allzu
häufig beſtand. Die ehrliche Gouvernante Marianne
verliert da die Gunft ihrer Gebieterin, ver Frau von
Hohenauf, weil fie e8 nicht verfteht, ihren Zöglingen
„ſtandesmäßige Manieren“ beizubringen und dieſelben
aus vem „Mercure de France” zu belehren, „wie eine
affaire de coeur geführt werden müſſe“. Sehr be-
zeichnend für die damalige Durchfchnittsfultur dieſer Ge-
feltfehaftsfchichte ift e8 endlich, daß man in den meiften
adeligen Häufern und in Nachahmung verfelben au in
reichen bürgerlichen feine Diener und Dienerinnen kannte
und nannte, ſondern nur „Kerle“ und „ Menicher “.
Rokoko. 193
Will man in unſeren Tagen den außerordentlichen
Beifall verſtehen, welchen in den ſiebziger und achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts die dramatiſchen Fami—
liengemälde des trefflichen Iffland und anderer fanden,
ſo muß man ſich erinnern, daß in dieſen Schauſpielen
dem deutſchen Publikum ſeine lange und lebhaft gehegte
Sehnſucht nach einer edleren Um⸗ und Neugeſtaltung des
Familienlebens gegenſtändlich gemacht wurde. Gerade
dieſe Sehnſucht ſpricht aber unzweifelhaft von einer tiefen
Zerrüttung ver häuflichen und öffentlichen Sitten, welche
ih vom 17. Jahrhundert bis weit, fehr weit ins folgende
bereingefchleppt hatte. Die Unfitten des Univerfitäts-
lebens, deſſen das ganze Sahrhundert hindurch andauernde
Wüftheit aus ver erften Hälfte vejjelben Zachariä („Der
Renommiſt“), aus der zweiten Laukhard (,„Selbitbio-
graphie* und „ Annalen der Univerfität Schilda“) ung grell
bezeugen, verpflanzten ſich gar gern auch in die gebildeten
bürgerlichen Kreife, unter Beamte, Aerzte, Iuriften und
Paftoren, und außerdem eiferte das Bürgerthum dem
Adel in Völlerei, gefpreiztem Scheinwefen und leerem
Prunf vielerorten leichtfinnig na. Da wares denn lange
nicht fo felten, als es hätte fein jollen, vaß ganze Bürger:
Ihaften .in Folge gedanfenlofen und rohen Wohllebens
ihres Wohlftandes verluftig gingen und daß die Trunkſucht,
fogar die Trunkſucht von Frauen, häufige Straßenärger-
niffe veranlajite. Reiſende, welche um 1730 Nürnberg,
Augsburg, Ulm und andere ſüddeutſche Städte befuchten,
geben Zeugniß, daß die Bewohner verfelben mit Bällen,
Kränzchen, Schlittenfahrten und anderen rojtipieligen
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II.
194 Bud) II. Kap. 5.
Bergnügungen lujtig in den Tag hineinlebten, je mehr
es mit ven Verhältnifien der Einzelnen wie der Stabt-
gemeinven rüdwärts ging. Dafjelbe jagen andere Augen»
zeugen von Frankfurt und Hamburg aus und ein Zeit-
genoſſe Flagte mit Recht, daß die leidige modiſche Sucht,
mehr zu fcheinen, als man fei, die Hauptſchuld dieſer
ökonomiſchen und ſittlichen Verkommenheit getragen
habe 148), Andere ſittenverwildernde Einflüſſe lagen in
dem Anblid einer brutalen Strafjuftiz, deren Alte nicht
jelten vecht eigentlich berechnet jchienen, alles menfchliche
Gefühl aus ven Gemüthern wegzutilgen ; ſowie auch in den
Berührungen mit der Soldatenwelt, deren unglücliche
Angehörige, wenigftend vie Gemeinen, ſyſtematiſch in
der Verthierung erhalten wurden, welche damals aller-
wärts das Soldatenhandwerk fennzeichnete, und zwar
häufig bis zu den höchſten Sproffen ver Gradeleiter
hinauf, von wo herab die „Kerle“, d. i. die gemeinen
Solvaten, wie Viehſtücke behandelt wurben 149.
148) Bollnig, Memoiren, I, 227. Keyßler, Reifen, I, 70.
Maria Belli, Leben in Frankfurt a. M. I, 22. Benefe, Hamburg.
Geſchichten und Sagen. ©. 354. Vgl. auch bei Biedermann a. a.D.
II, 525 die aus einer Zeitichrift von damals gezogene Jahresrech-
nung eines hamburger Kaufmanns, welder jährlich 25,759 Mark
auf jeinen Haushalt und feine Vergnügungen verwandte und ſich
dadurch ruimirte. Der Poſten „galante Depenſen“ des Hausherren
betrug 1120 M., das „Spiel-Geld“ der Hausfrau 350 M.
149) Auch in dienftlihen Erlaffen. So verbot das bekannte
„Reglement für die preußifche Infanterie” v. 3. 1750 das „über-
mäßige Bollfaufen, abjonderlih in Branntwein, damit nicht ein
Kerl vor der Zeit ungelund werde oder gar Trepire.”
Rokoko. 195
Wenn ſich demnach nicht verſchweigen läſſt, das Zu-
ſammenwirken der angedeuteten Motive habe zur Rokoko⸗
‚zeit auch die Denkweiſe und das Gebaren ver veutfchen
Frauen beeinflufft, habe fie zur Pub-, Spiel- und Trunf-
jucht verleitet, habe ſie erſt vem Leichtfinn und dann der
Ausichweifung zugeführt, fo entiteht billig die Frage,
ob denn die Religion damals jo gar wenig fittigende
Macht über die Herzen, namentlich die Frauenherzen be-
jejjen habe? Aber was war venn damals die Religion
oder, genauer gejprochen, die Kirche? Drüben auf Fatho-
liſcher Seite ein bis zum Fetiſchismus gehender Heiligen-
und Ceremoniendienft, hüben auf Iutherifcher ein fojfiles
Dogmenungethüm, welches fo wiverwärtig breit, un-
beweglich und anmaßlich mitten in der Zeitftrömung lag,
daß ihm jeder Denkende beim Vorübergehen gern einen
voltaire'ſchen Fußtritt verſetzte. Neben jo beichaffenen
Kirchen hatte der Pietismus fein „beicheiven Kirchlein“
aufgezimmert und bald mußte vaffelbe beträchtlich er-
weitert werden, um die Zuftrömenven zu fallen. Es ijt
leicht erflärlich, daß die pietiftiiche Miſſion, namentlich in
der Frauenwelt fo fehr gedieh; allein leider wurbe ihr
anfänglich unbeftreitbares Verdienſt von ihren nad»
theiligen Wirkungen bald weit überwogen. Denn fie
ſchuf zwar „Erwedte”, aber auch, wie wir jehen werben,
Verzückte und Verrüdte und vaffinirte vielfach die Aus-
jchweifung, indem jie um dieſe ven Deckmantel ver Heu—
helei jchlug. Und dann war der Pietismus von vorne—
herein unfähtg, die weltmännifche Menge zu gewinnen,
weil ſich diefe, Frauen wie Männer, von ver trüben
13*
196 | Buch II. Kap. 6.
Aſketik angewidert fühlten, welche die ſogenannten,Mit-⸗
teldinge“, d. h. die geſelligen Vergnügungsmittel, Spiel,
Muſik, Tanz, Theater als ſchlechthin ſündhaft verwarf.
Es iſt freilich wahr, gerade das Theater gab zu
ſolchem puritaniſchen Eifer Veranlaſſung genug, nament-
lich ſeit der Einführung der Frauen auf die Bühne, welche
durch das Uebermächtigwerden der Oper bedingt wurde.
Das ganze Mittelalter hindurch waren, wie jedermann
weiß, auch die Frauenrollen, wie ſie in den „Myſterien“
und „Moralitäten“ vorkamen, von Männern geſpielt
worden, und wenn zu jener Zeit bei theatraliſchen Auf-
zügen da und dort auch Frauen mitgewirkt hatten —
nicht immer, wie feines Ortes erwähnt worben, in züch-
tiger Weife — fo bildete fich doch erft im letzten Drittel
des 17. Jahrhunderts ein bejtimmter Stand von Sänge⸗
rinnen und Schaufpielerinnen. In Deutichland war
dieſe Neuerung, welche die ganze bisherige Theaterprarie
über den Haufen warf, durch ven befannten Magifter
Belthen um 1680 zuerſt fonfequent eingeführt worven 139).
Zwar bei der prachtwollen, ungeheure Summen verjchlin-
genden Oper, welche ver legte Habsburger, Karl der Sechite,
unterhielt, durften noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts
bie Srauenrollen nur von Kaftraten gefungen werben.
Allein anderwärtd war e8 anders und e8 ift ein nicht ge-
ringes Merkmal der Moral von damals, daß vie zuct-
loſen Arien, von welchen die komiſchen Opern wimmelten,
von Mäpchen und Frauen in ſchamloſem Koftüm und
150) Bgl. Devrient, Geſch. d. d. Schaufpielfunft, I, 258 fg.
Rokoko. 197
mit ſchamloſem Gebärdenſpiel vorgetragen wurden. Gegen
dieſe Unfläterei, wie gegen die grobburleſke, zotige Hanns—
wurſterei, bildete die, wenn auch noch ſo perückenhafte
Oppoſition Gottſcheds immerhin eine heilſame Gegen—
ſtrebung. Gottſched wurde in ſeinen Bemühungen, das
deutſche Theater nach dem Stil der franzöſiſchen Klaſſik
zu reformiren, durch die talentvolle, für ihren Beruf
begeiſterte Schauſpielerin Friederike Karoline Neuber (geb.
1692, geſt. 1760) weſentlich unterſtützt. Die großen
Gaben dieſer Frau konnten ſich freilich in der von
Gottſched angegebenen dramatiſchen Richtung nicht voll-
ſtändig entfalten — ſchon die Vorſtellung von einer Schau⸗
ſpielerin, welche in Schnürleib, Reifrock und Stelzchen⸗
ſchuhen griechiſche und römiſche Heldinnen agirt, hat
etwas unwiderſtehlich Komiſches — allein trotzdem hat
die techniſche Veredelung wie die ſittliche Hebung der
Schauſpielkunſt eine große Summe des Dankes an die
Neuber abzutragen. Sie zuerſt iſt es geweſen, welche
die Schauſpieler aus Vagabunden zu Künſtlern machte
und ihrem Vorgang und Beiſpiel verdankt es die deutſche
Schauſpielkunſt, daß ſich von jener genialen, ſchönen und
unglücklichen Charlotte Ackermann an und bis zu Johanna
Hendel⸗Schütz, Julie Rettig und Charlotte von Hagn herab
im vorigen und in unſerem Jahrhundert eine ganze Reihe
von hochbegabten Frauen dem Theater widmen konnte,
ohne ſich der Gefahr auszuſetzen, ihrer weiblichen Würde
verluſtig zu gehen 109.
151) Charlotte Ackermann ſtarb 1775 in der Blüthe ihrer
Ingend und ihres Talents zu Hamburg. Mythenbildnerei und
198 Bud III. Kap. 5.
Bon dem im Vorſtehenden betretenen Seitenweg
wieder zu einem oben verlafjenen Punkt rückwärts biegen,
wollen wir zunädft die Sittenzuftände von Wien und
Berlin ins Auge faffen, wie fie jich vom Anfang bis zum
Ende des Jahrhunderts ven Augen glaubwürbiger Bericht.
erftatter varftellten. “Die wiener Gefellfchaft hat fret-
ih unter den Regierungen Karls des Sechſten, Maria
Therefia’8 und Joſephs des Zweiten mande tiefeingrei-
fende Veränderung erfahren, allein ihr finnliher Grund—
charakter blieb verfelbe und fo ift denn auch von ven Frauen
des Rühmlichen wenig oder nichts zu berichten. “Die be-
rühmte englifche Reifende, Lady Montague, welde Wien
i. J. 1716 beſuchte, fand es fehr auffallend, daß vie
dortigen Damen durch ihre Galanterien an Achtung
nicht verloren, ſondern geivannen ; denn fie wurden viel
mehr nach dem Range ihrer Liebhaber als nach dem ihrer
Männer vefpeftirt. Der alte Küchelbeder feinerfeits be-
merfte, daß die Ausschweifung in Wien ungemein groß,
pas Frauenvolf fehr Fofett war und daß niemand „vie Ge-
meinfchaft beiverlei Geſchlechts mifjbilligte, bis die Früchte
einer allzugroßen Vertraulichkeit an ven Tag kamen.“
Dichtung haben fih der Figur der geiftwollen und bochgefinnten
Künftlerin bemächtigt, welcher Otto Müller zu unferer Zeit ein
novelliftiiches Denkmal errichtete (1856). Ihr Tod erregte allge-
meine Theilnahme. Ihr befränzter Sarg trug die Inſchrift:
„Iſt das Leben nicht ein Traum
Flüchtiger Gefühle?
Ausgelaufen war ich faum
Und bin ſchon am Ziele.”
Rokoko. 199
Ohne Zweifel, meinte er, ſei dieſe allzufreie Lebensart
auf die allgemein eingeriſſene Schwelgerei zurückzuführen.
Andere Beobachter beſtätigten dieſes, indem ſie angaben
daß hauſhälteriſcher Sinn in den wiener Familien ein
„ſeltenes Phänomen“ geweſen. Die tiefe Zerrüttung
des Familiengeiſtes und Familienlebens trat ſchon in der
leichtfertigen Manier, womit im Kaffeehausgeſpräche wie
auf dem Theater der Eheſtand verhöhnt wurde, ſchreiend
zu Tage 152). Die ſittliche Anſchauung und Stimmung
mußte wahrlich tief gefunfen fein in einer Gefellichaft,
welcher das berühmte, von Keyßler angezogene „Duod-
libet von Wien“ viel mehr Stoff zum Lachen als zu
ernitem Nachvenfen gab 139). Auch zeigt uns ein [päterer
152) Im „Fuchsmundi“ wird ver Wit gemacht:
„Bas ift der Ehftand felbft? Er ift ein Vogel-Haus,
Die draußen wollen nein, die drinnen wollen raus.“
Zur Zeit Joſephs des Zweiten galten folgende „Wiener Maximen“: —
„Dan muß feinen Nächften lieben wie fich felbft, d. b. man muß
das Weib eines andern fo liebhaben wie fein eigenes. — Ein
Mädchen ohne Geld, das man heiraten will, ift wie eine Lampe
ohne Del. Die Flamme ver Liebe hat feine Nahrung und erlifcht
bald. — So lange man jung, gejund und friih ift, muß man
jeine Freiheit genießen. Kommt der Herbft des Lebens heran, wird
ber Körper baufällig, daß man bald eine Wärterin nöthig bat, jo
ift e8 Zeit, zu heiraten. — Wenn bie Frau rechts geht, darf der
Mann links marfchiren. Nimmt fie fih einen Aufmwärter, jo fucht
er fih eine Freundin.” Schwachheiten Wiens, II, 52.
153) „Ein Klumpen Häufer und Paläfte,
Bol Ungeziefer, voller Gäfte ;
Ein Miſchmaſch aller Nationen,
200 Bud III. Kap. 5.
Neifender, indem er die bedenklichen Urfachen entwidelt,
vermöge welcher in Wien die Zahl der umehelichen
Die in Oft, Weft, Süd und Norden wohnen ;
Geſtank und Roth in allen Gaſſen;
Biel Weiber, die den Ehftand haffen;
Biel Männer, die mit andern theilen;
Sehr wenig Jungfern, lauter Fräulen ;
Betrug und Fift in allen Buden,
Beihnittne und getaufte Juden;
Biel Kirchen allzeit voller Sünber,
Biel Schenken und darin viel Schinber;
Biel Klöfter, drinn viel Pharifäer ;
Biel Händel und viel Rechtsverdreher,
Biel Richter, die das Recht verfaufen;
Biel Fefte, celebrirt mit Saufen;
Biel große Häufer voller Schulden;
Biel Praler, die den Stod gedulden;
Biel Windverfäufer ohne Mittel,
Biel Ichlechte Tröpfe voller Titel;
Geftrenge Bauern, gnäd'ge Bürger,
Biel Zöllner, viel latein’fche Würger ;
Biel Hoffart, wenig Komplimenten,
Biel Ignoranz und viel Studenten;
Biel Kuppler, viele Kupplerinnen,
Biel, die mit Huren Geld gewinnen;
Biel Spanier, Welſche und Franzofen,
Der letztern viel in deutfchen Hofen ;
Biel Stuger und geborgte Kleider,
Biel Säufer, Spieler, Beutelfchneiber ;
Lalaien, Pferde, Bagen, Wagen,
Biel Reiten, Fahren, Geben, Tragen,
Biel Drängen, Stoßen, Zerren, Zieh'n:
Dies ift das Quodlibet von Wien.“
Rokoko. 201
Geburten eine verhältnifmäßig viel geringere war als
3. B. in Münden und Leipzig, daß Leichtfinn und Genuß:
ſucht gar leicht mit Verbrechen fich verbanden 3%). Zu
folcher Verbindung trugen die wohlgemeinten und eifrigen
Anftrengungen ver fittenftrengen Maria Thereſia, ver
Laxheit und Lüderlichkeit in gefchlechtlichen Dingen ver:
mittel8 einer bis ins einzelnfte gehenden polizeilichen
Ueberwachung einen Damm zu fegen, weſentlich bei.
Ihre „Keufchheits - Kommifjarien” machten das Uebel nur
ärger, indem dieſe gefürchtete heilige Hermandad des
Tugendeifers einer mufterhaften Faijerlihen Gattin und
Mutter mittelbar vie nieverträchtigite Späherei, vie ab-
gefeimtefte Winfelproftitution, die Fruchtabtreibungstunft
und den Kindermord begünftigte. Diefe Keufchheits-
Kommiſſarien waren es, welche den Hohn und Zorn des
vielberufenen venetianifchen Abenteurers Caſanova er-
tegten, dem feine Induſtrieritterſchaft die Mittel ges
währte, in allen Hauptitäbten Europas auf dem Fuß
eines Grandſeigneur zu leben, und der allerdings ein
großer Wüjtling, aber zugleich auch der genialſte Sitten-
maler des 18. Jahrhunderts gewefen iſt. Es darf als
nicht ganz unwichtig bezeichnet werben, daß in ber un-
endlichen Bildergalerie von Caſanova's Niebeshändeln
jtreng genommen nur eine einzige Deutfche figurirt, jene
154) Lady Montague, Letters, I. 10. Küchelbeder, Beichr.
v. Wien, S. 397. Schlözers Briefwechlel, LII, 261. Keyßler,
Reifen, II, 1214. Nikolai, Reife durch Deutichland und die
Schweiz, III, 199 fg. V, 194 fg.
202 Buch IH. Kap. 5.
üppige Bürgermeifterin von Köln, die fih mit dem kecken
Benetianer fo raſch und leicht verftändigte wie die aus-
gelerntejte Kurtifane von Venedig oder Paris. Sonſt
gibt Caſanova beutlich zu verjtehen, daß die veutichen
Frauen feinen Gefhmad nicht ſehr anfprachen, weil fie
im Kultus ver Wolluft weit nicht jo fünftlerifch ausgebilvet
waren wie die Stalienerinnen und TFranzöfinnen. Es
pürfte das den Frauen Deutjchlands immerhin zum Lobe
gereichen, lägen nur nicht fo viele gleichzeitige Zeugniffe
vor, daß gar viele deutſche Damen von damals italifchen
und franzöfifchen Vorbildern in ver Buhlerei nad) Kräften
nacheiferten. . Mehr galanten Verkehr als in veutfchen
Reſidenzen hatte Caſanova mit veutfchen Schweizerinnen,
von den welfchen gar nicht zu reden. Seine Abenteuer
mit den beiden Damen von Solothurn, deren eine ihn
die nächtliche Verwechſelung mit ihrer Nebenbuhlerin fo
bitter bereuen machte, fowie mit ver erft preizehnjährigen
Bernerin Sarah öffnen einen erſchreckenden Blid in vie
damaligen Frauenfitten ter patriciihen Kreiſe der
Schweiz 15%). Etwas früher, in ven Jahren von 1753—58,
Hatte ein junger deutſcher Poet, Wieland, die Schönen
von Zürich auch nicht allzu graufam gefunden. In einem
Driefe vom 11. Ianuar 1757 an feinen Vertrauten,
Zimmermann, Tpricht er feherzend von feinem „Serail“
und gebärbet fich vecht als „Großtürk“, indem er inbe=
treff feiner Ddaliffen Hinzufügt: „Ich gebe ihnen wenig
gute Worte und zwinge fie durch die natürliche Supe-
155) Casanova, Me&moires, chap. 33, 66, 69, 72, 92.
Rokoko. 203
riorität meines Genies über die ihrigen, mid bon gré
mal gr& zu lieben.” Indeſſen bezeichnet er doch in ver-
felben Epiftel jeine fümmtlichen züricher Freundinnen
als „ihrer unverftellten Tugend wegen hochachtungs⸗
würdig".
Die junge Königsftadt an der Spree war nicht im
entfernteften berechtigt, Hinfichtlich fittlicher Führung ver
alten Kaiferftant an der Donau Vorwürfe zu machen.
Das franzöfiiche Weſen war unter dem erften preußifchen
Könige mit Macht in Berlin eingedrungen und durch den
zweiten, ven ftocjteptergewaltigen Schlagadodro, nicht wie-
der gänzlich verprängt worden. Alle Bemühungen Fried-
rich Wilhelms des Erjten, mittels unduldſamen Luther-
thums und plumpen Teutonismus die „Blit- und Schelm-
franzoferei” von feiner Hauptſtadt und feinem Lande
fernzuhalten, fchlugen fehl und mußten bei ver Beichaffen-
heit der angewandten Mittel fehlichlagen. Die fran-
zöſiſche Kultur, wie hohl und unfittlich fie fein mochte,
hatte denn doch über einjchmeichelnvdere Lockungen zu
verfügen als jene Sorte von Deutſchthum, welche in
Friedrich Wilhelms Zabafsfollegium wirthichaftete und
mit ten armen gelehrten Zeufeln Faſſmann, Gunpling
und Morgenftern brutale Späſſe trieb. Friedrich der
Große feinerfeits gab, wie jedermann weiß, ver Frans
zöfelei nicht nur freien Raum, fondern förderte fie in jeder
Weiſe. Wie feltfam mifchten fich auch in dieſem großen
Manne die Widerfprüche des Jahrhunderts! Er, ver
gekrönte Philoſoph, wollte fein Volk zur Freiheit erziehen
und fonnte aus feinem Lande doch nur einen Militärjtaat
204 Bud III. Kap. 5.
machen, eine „ununterbrodhene Wadhtjtube” 15%). Er
wollte Bürger und fehuf mittels feines Syitems einer
unnahbar eiferfüchtigen Autofratie nur Sklaven, über
welche zu herrichen er in alten Tagen müde zu fein be-
fannte. Er wollte Hof und Stadt hHumanifiren und gab
fie der Frivolität franzöfifcher Anichauungen und ven
vergiftenden Einflüffen franzöfifchen VBeifpiels preis. Es
fam freilich ein Tag, wo der königliche „Fremdling im
Heimiſchen“, wie ihn Klopfted mit vollberechtigtem Tadel
geſcholten hat, äußerte: „Ich will Feine Franzoſen mehr,
fie feindt gar zu liverlih”. Aber e8 war zu fpät. Die
Saat der „eivilisation francaise* war üppig aufge-
gangen. Im Iahre 1772 nannte der englifche Gefandte
am preußifhen Hofe, Lord Malmesbury, Berlin „eine
Stadt, wo, wenn man fortis mit ehrlich überfegen will,
e8 weder vir fortis noch femina casta gibt” — und
durfte, ohne Lügen geftraft zu werden, hinzufügen: „Eine
totale Sittenverderbniß beherrſcht beide Gefchlechter aller
Klaſſen, wozu noch die Dürftigfeit fommt, die nothwen-
iger Weiſe theils durch die von dem jegigen König aus
gehende drückende Befteuerung, theils durch vie Xiebe
zum Qurus, die fie feinem Großvater abgelernt haben,
156) „Beim Eintritt in die Staaten des großen Friedrichs, bie
mir eine ununterbrocdhene Wadtftube zu fein fchienen, fühlte ich
meinen Haß gegen das abjcheuliche Soldatenhandwerk, die einzige
Bafis der willlürlihen Gewalt, welde immer bie nothwenbige
Folge jo vieler Zaufende von bezahlten Satelliten ift, fi) ver-
boppeln und verdreifachen.“ Alfieri, Denkwürdigkeiten, deutſche
Ausg. I, 169.
Rokoko. 205
herbeigeführt worden if. Die Männer find fortwährend
beichäftigt, mit bejchränften Mitteln ein ausfchweifennes
Leben zu führen. Die Frauen aber find Harpyen, die
mehr aus Mangel an Scham al8 aus Mangel an etwas
anderem fo weit gejunfen find. Sie geben fih dem preis,
der am beiten bezahlt, und Zartgefühl und wahre Liebe
- find ihnen unbefannte Gegenftänve.* Nicht minder düſter
als dem Engländer erfchienen etliche Jahre jpäter vie
berliner Sittenzuftände einem Deutſchen. Georg For-
jter, welcher 1779 vie preußifche Hauptſtadt bejuchte,
fchrieb von da feinem Freunde Jakobi: „Ich habe mich
in meinen mitgebrachten Begriffen von dieſer großen
Stadt jehr geirrtt. Ich fand das Aeußere viel fchöner,
das Innere viel ſchwärzer als ich's mir gedacht hatte.
Berlin ift gewiß eine der fchönften Städte Europa’s.
Aber die Einwohner! Gaftfreiheit und geſchmackvoller
Genuß des Lebens ausgeartet in Ueppigfeit, Prafferei
und Gefräßigfeit, freie aufgeflärte Denkungsart in freche
Zügellofigkeit. Die Frauen allgemein verderbt.“ Und
doch ſollte e8 noch ſchlimmer fommen, als unter ver Re⸗
gierung des fchlaffen Wüftlings, welcher feinem großen
Oheim auf dem Throne folgte, das ganze preußifche
Staatswefen aus Rand und Band zu gehen drohte. Ein
Staat ohne ſittliche Bafis ift nur ein Ding, deſſen Eriftenz
von taufend Zufälligfeiten abhängt, und einen folchen
Staat hinterließ Frievrih Wilhelm ver Zweite feinem
Sohne. Die Zuchtlofigfeit ver berliner Gejelljchaft
beim Uebergange vom 18. ins 19. Jahrhundert ift eine
jo allgemein befannte Thatjache, daß wir darüber nicht
206 Buch IH. Kap. 5.
viele Zeugen abzuhören brauchen. Es genügt an einem,
dem man freilich ven Vorwurf gemacht hat, ind Schwarze
gemalt zu haben, veffen Zeugniß aber nicht allein durch
die Ausfagen einer Menge von Mitzeugen, ſondern auch
und noch viel mehr durch ein unwiderſprechliches Beweis—⸗
ſtück beftätigt wird, welches vom Jahr 1806 vatirt und
Jena heißt 137). Die Kataftrophe von Jena war ja nur
— —— — — —
157) Der Zeuge welchen ich meine, ift der Verfaſſer der „Ver⸗
trauten Briefe Über bie inneren Verbältniffe am preuß. Hofe, ſ. d-
Tod Friedrichs II. 1807". Seine Betrachtungen über politifche und
firategifche Dinge find allerdings mit Vorfiht aufzunehmen, feine
ſittengeſchichtlichen Berichte aber jagen nur unverhüllt aus, was all-
gemein befannt war. Nachdem er in einem Brief aus Berlin v. I.
1799 (8b. I, S. 109) das genußſüchtige Leben und Treiben der
damaligen berliner „Leute von Welt” geſchildert, führt er fort:
„Die Weiber find fo verborben, daß felbft vornehme Damen von
Adel fi zu Kupplerinnen herabwürdigen , junge Frauen und Mäd-
hen von Stand an fich ziehen, um fie zu verführen, wobei fie die
Kunft verſtehen, leichte Anftedungen zu kuriren, für Schwanger-
ichaften aber künftliche Präfervative zu verfaufen. Manche Cirkel
von ausfchweifenden Weibern vereinigen fih auch wohl und
miethen ein möblirtes Quartier in Kompagnie, wohin fie ihre
Liebhaber beftellen und ohne Zwang Bakchanale und Orgien feiern.
Du findeſt oft in den B........ noch wahre Veſtalinnen gegen
manche vornehme berliner Dame, die im Publiko als Tonangeberin
figurirt. Es gibt vornehme Weiber in Berlin, die ſich nicht ſchä⸗—
men, im Schauſpielhauſe auf der H.... bank zu ſitzen, ſich hier
Galane zu verichaffen und mit ihnen nah Haufe zu geben. Da
Berlin der Centralpunkt der preußiichen Monardie ift, von wo alles
Böſe und Gute Über die Provinzen fi ausgießt, fo bat ſich die
dortige Verdorbenheit nad und nach über diefe ausgebreitet. Der
Offizierftand, dem Müffiggange hingegeben und den Wifjenichaften
Rokoko. 207
die logiſche Folge jener furchtbaren politiſchen und ſocialen
Verderbniß, welche ſchon in den letzten Regierungsjahren
Friedrichs des Zweiten den ſcharfbeobachtenden Mirabeau
den preußiſchen Zuſtänden „Fäulniß vor der Reife” zu—
ſchreiben ließ, einer Verderbniß, welche dann unter dem
Regiment einer Gräfin Lichtenau, eines Wöllner und
Biſchofswerder eine ſo allſeitige Vollendung gefunden
hatte, daß ein Beiſpiel häuſlicher Tugend und Sitte, wie
es Friedrich Wilhelm der Dritte und Luiſe gaben, nicht
dagegen aufzukommen vermochte.
Es hätte aber auch gradezu wunderbar zugehen
müſſen, wenn die demoraliſirenden Wirkungen, welche
die nach franzöſiſchem Muſter in den höfiſchen und ariſto—
frattfchen Kreifen Deutfchlands jo ziemlich das ganze
Jahrhundert hindurch heimische Faffung und Führung
entfrembet, bat es am weiteften unter allen in der Genußfertigkeit
gebracht. Sie treten alles mit Füßen, dieſe privilegirten Stören-
friede, was fonft heilig genannt wurde, Religion, ebeliche Treue,
ale Tugenden der Häuflichleit. Ihre Weiber jelbft find unter
ihnen Gemeingut geworben, die fie verkaufen und vertaufchen und
ſich wechfelsweife verführen. Kein ehrlicher Bürgersmann, fein
folider Eivifift Tann ein Weib mehr bekommen, was jene Schmeiß-
fliegen nicht fehon verumreinigt hätten oder, wenn fie unſchuldig in
den Eheftand trat, nicht zu befleden fuchten.“ Dieje herbe Aus»
lafjung urtbeilt, wie man fiebt, in Bauſch und Bogen ab, ohne
auf Ausnahmen von der Regel Rüdficht zu nehmen. Uber wie
moralifch verfumpft die berliner Gejellicaft zur Zeit, wo „Ruhe
die erfte Bilrgerpflicht” war, gewejen fein muß, verräth ſchon der
Umftand, daß auf diefem Boden eine Erſcheinung wie die ©ift-
mifcherin Urfinus gedeihen Tonnte.
208 Bud IH. Kap. 5.
des Lebens hervorgerufen, weniger weitgreifend und zer-
jtörerifch gewejen wären. Das gefrönte Later umgab
fich mit dem ganzen Nimbus des „droit divin“ und pro=
Hamirte geräufchvoll die fultanifhe Marime, daß den
Erdengöttern alles erlaubt fei, weil fie über ver Sphäre
wie des „gemeinen“ Rechts fo auch ver „gemeinen“ Sitt-
lichkeit ftänden. Dieſem Uebermuthe ver Ariftofratie fam
die bodenloſe Nievderträchtigfeit der Völker zur Hilfe.
Was alles die deutſchen Volksſtämme im Zeitalter des
Rokoko von ihren Sultanen jich gefallen ließen, über-
jteigt alle Borjtellungen. War doch überdies jeder deutſche
Fürft, welcher in feinen Ausfchweifungen ven pompofen
Maitreſſenwirthſchaftsſtil Ludwig des PVierzehnten fo-
pirte oder die Orgien des Duc d'Orleans nachäffte oder
einen Hirichparf haben wollte wie Ludwig der Fünfzehnte,
— war er do ficher, von niederträchtigen Verjejchmie-
den trotzdem als ein Auguftus, Zrajan oder Marf Aurel
angefchmeichelt und won jervilen Hofpfaffen abjolvirt
zu werden 1359. Was Wunver, wenn in Folge vefjen vie
heilloſeſte moralifche Begriffewerwirrung über alle Stänve
158) Diejer theologiſche Servilismus war jedoch nicht ohne
ſehr ebrenwerthe Ausnahmen, obgleich diefe nicht eben zahlreich ge-
weſen find. Ih will eine anführen. Als die „Landesverderbe-
rin” Wirtembergs, die abjcheuliche Grävenitz, Maitreffe und Ty—
rannin des Herzogs Eberhard Ludwig, i. 3. 1708 bei dem Diakon
von Urach, ©. D. Zorn, zur Beichte gehen wollte, verweigerte
biefer mannhafte Geiftliche ihr die Abjolution und die Zulaffung zum
Abendmahl. Zorn wurde fofort verbaftet und auf Hobenneufen.
eingekerkert. | “
Rokoko. 209
hereinbrach und ſich eine Schmußfrufte von Gemeinheit
und Zuchtlofigfeit über unfer Land ausbreitete, welche zu
brechen und nad) und nach wieder verfchwinden zu machen
e8 der ruhmreichen Keinigungsarbeit unferer klaſſiſchen
Literatur fowie der Windsbraut der napoleonifchen Kriege
bedurfte.
Wir verzichten darauf, die unendliche Skandalchronik
der deutſchen Höfe zur Rokokozeit genauer einzufehen.
Schon beim flüchtigen Umwenden ver Blätter dieſer
Chronik fteigt daraus ein vie ganze Atmojphäre ver-
peſtender, aus Lüderlichkeit und Brutalität, Prunf und
Bettelhaftigfeit, Ueberfeinerung und Beſtialität wider-
wärtigft gemijchter Miffpuft auf. Nur foweit e8 unfere
Aufgabe ſchlechterdings verlangt, wollen wir einige Stellen
aufichlagen, um Scenen an uns vorübergehen zu laſſen,
welche veranfchaufichen können, bis zu welchem Grade
die höfiiche Galanterie des Rokoko der Zucht und Scham
ledig war und wie in dieſe Galanterie fehr häufig vie
roheſte Gemeinheit hineinfpielte; ferner, wie die brutale
Sinnlichkeit der Mönner fogar ſolche Frauen, welche auf
Bewahrung ihrer Ehre hielten, ven gemeinften Zu—
muthungen bloßftellte, oder aber, wie die Verborbenheit
der Männerwelt auch die Frauen nicht nur über bie
Schranken der Weiblichkeit, fonvern der Menjchlichkeit
überhaupt hinauslockte.
Uebereinftimmend nennen zwei Augenzeugen, der
wohlerfahrene Klätſcher Pöllnig und der fade Sitten-
maler von Loen, den fächfifhen Hof unter Friedrich
Auguft dem Starken weitaus „den präctigften und
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II. 14
210 Bud IH. Kap. 5.
galanteften” jener Zeit. Nun wohl, an dieſem Mufterbof,
ber in einem beftändigen Zaumel von Xuftbarfeiten den
Schweiß des Landes verprafite, wurden dem Geburtstag
des Kurfürften und Königs zu Ehren am 12. und 13.
Mai 1718 Feſte gefeiert, nicht unwürbig des Monar⸗
chen, welcher i. 3. 1723 beim Eintreffen ver Nachricht,
daß der Regent Frankreichs (Duc d'Orleans) in ven
Armen einer Buhlvirne vom Schlag gerührt worden fei,
ausrief: „Laſſ' mich fterben den Tod dieſes Gerechten 159 ! *
An beiden Tagen beichloß eine allgemeine Betrunfenheit
die Reihe ver VBergnügungen. Der Feſtgeber des zweiten
Tages, Feldmarſchall von Flemming, fiel in feinem
Rauſche dem König, als dieſer fich wegbegeben wollte,
um ven Hals und ſchrie: „Bruder Auguftin, ich fage bir
alle Freundſchaft auf, wenn du fehon weggehft“. , Die
Gräfin von Dönhoff, damals Haupt- und Staatsmai-
treffe des Königs, juchte ihn von dem betrunfenen Flem-
ming loszumachen, aber dieſer jchloß die Dame liebreich
in feine Arme und freifchte ihr zu: „Du Kleines Hürchen,
ſchweige vu nur ftil! Du bift ja doch ein gutes Luder⸗
hen”. Dergleihen Komplimente war die Gräfin von
dem Feldmarfchall, wenn er getrunfen hatte, jchon ge
wohnt und beantiwortete dieſelben nur mit Lachen 160),
159) Cramer, Denkwürdigkeiten der Gräfin Aurora von Kö-
nigsmarf, I, 396.
160) Herr von ven, Kleine Schriften, IL. Ein Jahr vor
Bezeigung folder Galanterie vonfeiten eines deutſchen Hofmanns
hatte auf deutſchem Boden eine Ecene gefpielt, welche, vom Car
Peter I. aufgeführt, ohne Frage die brutalfte jener Zeit war. Der
Rokoko. 911
An dieſem „prächtigften und galanteften Hofe von ver
Welt“ gefhah e8 auch, daß i. 3. 1728, als der König
Friedrich Wilhelm der Erfte von Preußen daſelbſt zum Be-
ſuch war, Auguft ver Starfe feinen Gäften eines Abends
die jchöne Formera, eine italifche Tänzerin, bei helliter
Kerzenbeleuchtung jplitternadt zur Augenweide vorführte.
Der Preußenkönig Tiebte aber vergleichen „Attrapen”
nicht, hielt dem jungen Kronprinzen, feinem Sohne, ven
Hut vor die Augen und fagte nur troden: „Sie tft recht
Ihön*. Die Tochter Friedrich Wilhelms, die Marf-
Herzog Karl Leopold von Medienburg hatte, ohne von feiner ſchnöde
miffbandelten Gemahlin, der Prinzeifin Sophie Hedwig von Naſſau⸗
Diet, vechtsfräftig gefchieden zu fein, die ruffiiche Prinzeffin Katha⸗
rina, eine Nichte Cars Peter I., geheiratet. Als i. 3. 1717 der
Car auf der Rüdreife von Paris nad Magdeburg kam, geſchah
daſelbſt Folgendes: „La duchesse de Mecklenbourg sa nitce étant
venue expr&s de Schwerin avec le duc son &poux pour le voir
et l’accompagner ensuite & Berlin, le czar courut au devant de
la princesse, Pembrassa tendrement et la conduisit dans une
chambre, oß l’ayant couch& sur un canape, et sans fermer la
porte et sans consideration pour ceux qui etoientdemeures dans
l’antichambre, ni möme pour le duc de Mecklenbourg, il agit de
maniere & faire juger que rien n’imposoit & ses passions. Je
tiens l'un et l’autre fait de deux t6moins oculaires et du feu roi
möme, & qui ceux qu'il avoit envoyes & la rencontre de leurs
majestes czariennes les avoint rapport6es. Une incontinance
si brutale n’&toit pas le seul defaut de Pierre le grand“. Pöll-
nitz, M&emoires, Il, 66. Man müßte glauben, Poͤllnitz habe hier
gelogen ober wenigftens ftarf geflunfert, wie es ihm nicht gerade
jelten begegnete, wenn nicht befanntlich in folhen Dingen bei Car
Peter I. nichts, aber auch gar nichts unmöglich geweſen wäre.
14*
212 Buch III. Kap. 5.
gräfin Wilhelmine von Baireutb, welche das erzählt,
weiß aber — fie hatte freilich eine gar böfe Zunge und
führte eine ſehr rückſichtsloſe, viel lieber übertreibende ale
milvernde Feder — von ihrem geftrengen Vater doch auch
ein galantes Abenteuer zu berichten. Der König fei
nämlih auch einmal auf ven Einfall gelommen, „ven
Jungfernknecht zu fpielen”, und zwar gegenüber dem
Fräulein von Pannewitz, ver Tochter einer Hofdame feiner
Gemahlin. „Demzufolge fragte er vie Pannewig fehr
treuberzig, ob fie feine Maitreſſe fein wollte. Die Schöne
wies ihn auf das ſchnödeſte ab. Ihre Kühnheit gefiel dem
Könige, und fo fchlecht fie feine Mühe Iohnte, machte er
ihr doch ein ganzes Fahr lang ven Hof. In Braunſchweig
endlich entliebte er fich (il se desamouracha). Die
Pannewig war der Königin dahin gefolgt; eines Tages
wollte jie fich zu ihr begeben, als fie vem König auf einer
fehr engen, geheimen Treppe begegnete. Er wollte fie
umarımen und ihr die Hand in den Bufen fteden ; fie ver-
ftand aber feinen Spaß und fchlug ihm mit ver Fauft fo
gefchieft in das Geficht, daß ihm das Blut fogleich aus
Mund und Nafe fprigte. Der König nahm e8 gar nicht
übel, fonvern fagte: „Sie find ein braves Mäpchen, aber
588 wie der Zeufel160)*. Eine andere Schöne am
1608) Die Heldin dieſes von der Hatjcheifrigen Markgräfin
erzählten Abenteuer war Sophie Marie von Pannewitz, welche
nachmals als Gräfin Boß viele Jahre hindurch einen großen Stand
am berliner Hofe gehabt und Anfzeihnungen Über ihre Erlebnifle
binterlaffen hat. Dieſe Denkwürdigkeiten find veröffentlicht worben
unter dem Titel „Neunundſechzig Sabre am preußiichen Hofe“,
Rokoko. 213
damaligen preußifchen Hof, ein Fräulein von Wagnitz,
war zwar ebenfalls „bös wie ver Zeufel”, aber keineswegs
jo tugenbhaft wie die Pannewig. Im Gegentheil, fie lie,
unterftügt von einer gleichvenfenten und in der Auß-
ihweifung geſchulten Mutter, alle Minen jpringen, um
bie Maitreffe des Königs zu werben. Allein Friedrich
Wilhelm wollte nichts won ihr wiffen und ihre Ränke
hatten nur ihre Verweifung vom Hofe zur Folge. ALS
ihr die Königin, welche guter Hoffnung war, ven Abſchied
gab, mit dem gutmütbigen Beifügen, fie werde, falls ihr
der Himmel einen Sohn jchenfte, ven König bitten, das
Fräulein zu begnadigen, geriet „die Wagnitz in eine
folche abjcheuliche Wuth, daß fie ganz ſchwarz wurde“.
Sie vergaß fich jo weit, daß fie zur Königin fagte: „Ich
wünfche, daß ber Teufel Ihr Kind hole und daß ihr beide
verplagt!" Auch ein charakteriftiiches Müſterchen des
Rokokohofſtils! Das grauenhaftefte jedoch ift die ebenfalls
von der Schweiter Friedrichs des Großen erzählte Gefchichte
der Tochter des Markgrafen Georg Wilhelm von Baireuth,
welche von ihrer eigenen Mutter in fo beifpiellofer Wetfe
zu Grunde gerichtet wurde, daß man zur Ehre ber
Menjchheit und insbefondere des weiblichen Geſchlechtes
anzunehmen geneigt ift, vie Erzählerin habe übertrieben.
Georg Wilhelms Gemahlin Sophie, nachmals in zweiter
Ehe an ven berüchtigten Sonderling Graf Hoditz vermählt,
war auf die Schönheit und den guten Auf ihrer eigenen
3. Aufl. 1876. Zur Zeit, wo diefe Dame, welche zu den beften Frauen
ihrer Zeit gehörte, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ben
jungfräuliden Standpunkt klarmachte, war fie erft 12 Jahre alt.
214 Bud III. Kap. 5.
Tochter eiferfüchtig, welche an ven Prinzen von Kulmbach
vermählt werben follte. Die Rabenmutter verſprach
einem Kammerheren des Markgrafen, Namens Wobefer,
4000 Dufaten, wenn e8 ihm gelänge, ihre Tochter zu
verführen und zu ſchwängern. Als die Verführungs-
künſte diefes Menſchen nicht zum Ziele führten, Tieß bie
Markgräfin „ven Wobefer einit des Nachts in das
Schlafzimmer ihrer Tochter fich verfteden; man fchloß
fie zufammen ein und ungeachtet des Geſchrei's und ver
Thränen ver Prinzeſſin gelangte er zu ihrem Beſitz“.
Die Folge diefer Schänplichfeit war, daß die arme Prin⸗
zeifin nach einiger Zeit mit Zwillingsfnaben niederkam.
„Ungeachtet aller Bitten und PVorftellungen aller An-
wejenden nahm die Markgräfin vie Neugeborenen, lief
damit überall herum, zeigte fie aller Welt und fohrie,
daß ihre Tochter eine Schamlofe, daß fie ins Kinpbett
gefommen ſei“. Nachmals „fpielte fie fo viel mit ven
beiden Kindern, daß dieſe ftarben“. Wobeſer hatte vie
Unverfhämtheit, von dem Marfgrafen die Auszahlung
der verfprochenen 4000 Dufaten zu forvern, ſah fich aber
darum betrogen 181). Zur Kennzeichnung ver hobenzolle-
rifchen Xandesväterlichfeit von Anjpach und Baireuth —
wo befanntlich ver Menfchenfleifchhanvel mit am ſchwung⸗
161) Dentwürdigfeiten der Preuß. Prinzeffin Friederife Sophie
Wilhelmine, Markgräfin von Baireutb, I, 14, 18, 66 fg., 218 fg.
1I, 66 fg. Abgefehen von dem Inhalt diefer urſprünglich fran-
zöſiſch gejchriebenen Memoiren, ift auch die Ausdrucksweiſe fehr
merkwürdig. Die Schwefter Friedrichs des Großen ſpricht von ge⸗
ſchlechtlichen Dingen mit der Ungenirtheit eines Fuhrknechts.
Rokoko. 215
hafteften betrieben wurde — gehört auch noch dieſer
Zug. Die Maitreffe des vorlegten Markgrafen Karl
Friedrich Wilhelm äußerte gegen diefen eines Tages den
Wunſch, einen Schornfteinfeger, welchen fie auf einem
ihrem Fenfter gegenüberliegenden Dache erblickte, herun-
terpurzeln zu ſehen. Flugs ergriff ver angeftammte Yan-
desvater feine Büchfe, zielte und ſchoß den armen Teufel
richtig herunter. Der Witwe des jo ruchlos Gemorveten
geruhte ver vurchlauchtige Mörder allergnädigft 5, Tage fünf
ganze Gulden zur Entſchädigung ausbezahlen zu laffen.
In dieſer Hofwelt voll Rohheit und Schamlofigfeit
waren Ehr- und Zartgefühl fo unbekannte Dinge, daß
Prinzen aus den beiten Häufern feinen Anjtand nahmen,
abgebrauchte Maitrejfen zu heiraten 169. . Sogar der ge-
jellige Takt ging verloren und edle Fürftinnen mußten
um nichtswürdigſter Buhlweiber willen öffentliche Be—
leidigungen fohweigend hinnehmen. So die Gemahlin
Augufts des Starken, die würdige Chriftine Eberharbine
von Brandenburg. Kulmbach, zur Zeit, als die bevüch-
tigte Kofel, von Geburt eine Brodvorf aus Holftein,
162) So heiratete ein Prinz Friedrid Ludwig von Wirtem:
berg 1722 die Urfula Katharina von Boufom, eine Polin, welche
Auguft der Starke zu feiner Maitreffe und zur Fürftin von Zeichen
gemacht, dann aber um der Kofel willen abgedanft hatte; und fo
heiratete ein Prinz Karl von Holftein:Bed 1730 die Anna Karolina
Orzelſka, welche eine Tochter Auguſts des Starken und, falls die
Markgräfin von Baireuth Glauben verdient (Denkwürdigk. I, 84),
die Maitreffe ihres Vaters. und zugleich die ihres Halbbruders, des
Grafen Rutowſky war, auch Friedrih dem Großen, als er noch
Kronprinz, folgenreiche Schäferftunden bewilligt hatte.
216 Buch III. Kap. 5.
Favgritfultanin des Königs war. Bei Gelegenheit eines
Beſuches, welchen der König von Dänemark am fächfifch-
polnifchen Hofe zu Drefven abftattete, war die Königin,
welche fonft zurüdgezogen in Pretfch lebte, nach ver Re⸗
jivenz gefommen, unter der Bedingung, daß die Kojel
nicht in ihrer Gegenwart erfchiene. Die übermüthige
Buhlerin erfchien aber dennoch, als die Herrſchaften
öffentlich fpeif’ten, alle anwefenden Damen durch ihren
Schmud überjtralend. ‘Der König von Dänemark führte
fie auf einen Pla an feiner Seite und Gaft und Wirth
wetteiferten in Galanterie gegen die Maitreffe, in An-
wefenheit der rechtmäßigen Gebieterin des Haufes, welcher
nichts übrigblieb, als fich zurüdzuzieben. Aehnliche
Beifpiele ließen fih zu Dutzenden anführen. Die Ge-
jellichaft des 18. Jahrhunderts athmete in einer fo ganz
von Lafterhaftigfeit erfüllten Atmofphäre, daß es nicht
felten war, vornehme Frauen zu fehen, welche im Strudel
der Ausfchweifung mit der Scham auch die Scheu vor
dem Verbrechen eingebüßt hatten 163). Den fehlagenpften
163) Die wirtembergifche Prinzeffin Augufte Elifabeth Marie
Luiſe, Schwefter des Herzogs Karl Eugen, geb. 1734, vermählt 1753
mit dem Fürften Anfelm von Thurn und Taris, kann als Beifpiel
dienen. Leichtfinn und Verſchwendungsſucht hatten dieſe Dame
moralifch fo ruinirt, daß fie, mit ihrem Gemahl und ihrem Bruder
zerfallen, fein Bedenken trug, auf jenen bei Gelegenheit einer Jagd
einen meuchlerifhen Schuß loszubrennen, ver aber fehlging, und
gegen diefen einen Bergiftungsplan anzufpinnen. Sie ftarb als
Gefangene 1783 im Schloffe zu Göppingen. Vgl. Weber, Aus vier
Sahrhunderten, I, 323 fg. Gelegentlich fei noch daran erinnert,
daß der deutjche Adel es als eines feiner Vorrechte anfah und an⸗
Rokoko. 217
Beweis für die tiefe Unſittlichkeit jener Zeit dürfte aber
doch der Umſtand abgeben, daß eine fürſtliche Maitreſſe,
die Gräfin Franzifla von Hohenheim, in Wirtemberg
als die „Franzel“ oder „'s Franzele“ des Herzogs Karl
Eugen befannt, öffentlich und während fowohl ihr recht-
mäßiger Ehemann als auch die rechtmäßige Ehefrau ihres
herzoglichen Liebhaber noch lebten, als der Inbegriff
aller weiblichen Vollkommenheiten gefeiert wurde. Keine
Trage, diefe Frau erwarb fich, indem fie den Herzog von
einem bis zur Raſerei gedankenloſen Defpotismus mit
fanfter und gefchichter Hand zu einem „aufgellärten“ hin-
überleitete, manches Verdienſt um Altwirtemberg. Allein
bei alledem hat e8 doch faum je eine bitterere Satire
gegeben als jene lobpfalmirenden Reime, welche ver arme
achtzehnjährige Schiller, als Zögling der von Schubart
„Sflavenplantage” gejcholtenen Militär - Alademie in
Stuttgart, i. 3. 1778 auf Franziſka's Geburtstag dich⸗
tete oder dichten mußte und worin die Maitreffe en titre
— —
ſprach, daß die Schar der fürſtlichen Beiſchläferinnen aus der
Zahl feiner Töchter rekrutirt wüürde. Als das arme Fräulein von
Schlotheim ihres heftigen Sträubens ungeachtet von ihren Eitern
gezwungen wurde, den Lüften des beftialifhen Kropf- und Zopf-
manns zu dienen, des Erbprinzen von Heſſen⸗Kaſſel — des berüch⸗
tigtften aller Händler mit Menſchenfleiſch, nachmals Kurfürft Wil-
beim ber Erſte — erzählte eine zeitgenöſſiſche Edelfrau aus Heffen
diefe Jammergeſchichte einer fremden Dame. Dieſe konnte ſich nicht
enthalten , ihrem Abſcheu wor folder Bodenloſigkeit Iumpofratifch-
adeliger Niedertracht Ausdrud zu geben. Worauf die adelige Heſſin
naiv verwundert: „Was wollen Sie? Der heſſiſche Adel durfte ſich doch
diefen Vortheil nicht entgehen laſſen!“ Pert, Leben Steins, II, 597.
218 Bud IU. Kap. 5,
als verförperte „belohnte Tugend“ und als „das Mufter-
bild der Tugend“ gepriejen wurde 16%. Friedrich Schiller,
welcher fich bereits anfchidte, „die Räuber” zu ſchaffen,
als Verklärer einer fürftlihen Beifchläferin — — «8
gibt doch feine größere Meifterin ver Ironie als vie Welts
geſchichte! Sie ftellt, ohne ven Mund zu verziehen, hart
neben einander zwei Welten, vie fich gleichen wie Tag
und Nacht, wie Himmel und Hölle: zur nämlichen Zeit,
wo ein Leſſing feinen Nathan ausgeben Tieß, dieſes Hohe-
lied der Deutjchen, viefe frohe Botfchaft der Vernunft
und Humanität, zur nämlichen Zeit verfauften ver Land⸗
graf von Heffen und andere deutſche „Landesväter“ ihre
Landeskinder an die Engländer, das Stüd für fo und
fo viel Pfund Sterling.
So jtand denn auch in der deutſchen Gefellichaft des
18. Jahrhunderts neben der frivolen, auf bourbonifchen
Fuß organifirten Welt die fromme des Pietismus, deren
Bewohner freilich nicht felten in ihren fittlichen oder viel-
mehr unfittlichen Schlußzielen mit den Bekennern ver
franzöfiijhen Mopephilofophie zufammentrafen, wenn
auch auf fehr verfchievenen Wegen. Die pietiftifche Be—
wegung, aus ver zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
164) Bgl. Hofmeifters Nachlefe zu Schillers Werken I, 17.
Eine diefer Reimereien war gar noch den Zöglingen der Ecole des
Demoiselles in den Mund gelegt und niemand fühlte die unge-
heure Unfchidlichleit, einen Kreis von jungen Mädchen zu einer
Frau, welche doch im Grunde nur die ihrem Manne pavongelaufene
Konkubine eines notoriſchen Wüftlings war, ſprechen zu laffen:
„Stets feuervoller wird der Vorſatz uns beleben,
Dir, Mufterbilp der Tugend, nachzuftreben”.
Pa ya
Rokoko. 219
ſtammend, war, wie jedermann weiß, urjprünglich eine
Oppofition gegen das in dem geift- und gemüthlofen
Formelkram eines unduldfamen Dogmatismus eritarrte
Lutherthum gewejen. Der Pietiemus enthielt demnach
Keime des Vorſchritts, aber auch Keime grober Ver-
irrungen, weil er, dem Phantom einer apoftoliichen
ChHriftlichfeit nachjagenn, die Wirklichkeit als etwas
ſchlechthin Bedeutungsloſes, ja Verwerfliches faſſte, vie
Himmelſehnſucht zum Grundmotiv alles menſchlichen
Fühlens und Thuns machte und dadurch die Gemüther
in eine Nebelei und Tiftelei verſtrickte, welche mit der
Welt, wie ſie nun einmal iſt, in die härteſten Kolliſionen
gerathen mußte. Aus dieſen Kolliſionen entſprang der
pietiſtiſche Dünkel, welcher keiner Kirche an Ausſchließ⸗
lichkeit und Hochmuth der Alleinſeligmacherei nachſteht,
und ferner jene bodenloſe ſubjektive Willkür, die, wenn
fie fih einmal in ven „Stand ver Gnade“ hineingeſchwin⸗
delt bat, über alle pofitiven Geſetze, insbeſondere auch
über die der Sittlichkeit, weit fich hinwegſetzen zu pürfen
glaubt. Die ganze Gefchichte des Pietismus bezeugt vie
Nichtigkeit diefer Charakteriftil. Auf der andern Seite
ift es Leicht erklärlich, vaß in der deutſchen Frauenwelt
und zwar anfänglich namentlich in ven vornehmen Kreiſen
berjelben, bie pietiftiihe Bewegung zahlreiche An-
hängerinnen gewann. Schon die Dürre und Yarblofig-
feit des proteftantifchen Kultus, welcher eigentlich gar fein
Kultus ift, mußte die Frauen aus der Kirche in bie
pietiftifchen „ Kirchlein“ treiben, wo fich ihr Phantafie- und
Gemüthsleben mehr Anregung und Befriedigung verſprach.
220 Bud III. Kap. 5.
Hierzu Tam die verbumpfenve Langeweile des adeligen
Schloſſlebens in Gegenden, die von der Ölanzentfaltung
ber alamovifchen Zeit und des Rokoko abjeits lagen.
Ferner der Anblid von jo vielen unglüdlichen Ehen in ven
ariftofratifchen Kreifen, woraus die Frauen die Ueber-
zeugung fchöpften, eine lebendigere Religioſität könnte auch
hierfür Abhilfe bringen. Endlich machte e8 vie Aufrecht-
haltung der ftrengen Stanvesbegriffe einer Unzahl adeliger
Mädchen unmöglich, unter die Haube zu fommen, woraus
folgte, daß die Altejungfernwelt ein ergiebigftes Feld ver
Nefrutirung für den Pietismus wurde. Denn lieben
muß das Weib. Hat e8 feinen Geliebten, feinen Gatten,
feine Kinder zu lieben, jo wirft e8 fich vem Heiland in die
Arme oder nicht felten auch ganz unwürbigen Schwindlern,
welche jich das Anfehen von Apojteln zu geben verftehen.
Alfe die angebeuteten Motive wirkten zufammen, um vom
Aufgange des Pietismus an eine Menge von deutſchen
Bornehmen den reifen der „Erwedten” zuzuführen.
Erwedte Frauen beeinflufiten in dieſem Sinne beitim-
mend ihre Männer und Söhne und fo bildete fich eine
Kette von pietiftiichen Avelsfamilien, welche fih vom
Südweſten Deutfchlands bis in den Often und Norden
erſtreckte. Die fürftlihen und gräflichen Häufer ver
Solms, Stolberg, Iſenburg, Wittgenftein, Leiningen,
Neuß, Promnig, Dohna waren vortretende Ringe dieſer
Kette. Im 3. Iahrzehnt des 18. Jahrhunderts bat der
Pietismus, wie befannt, im Herenhuterthum, als deſſen
Apoftel Graf Ludwig von Zinzendorf eine außerorbent-
Iihe Zhätigfeit entfaltete, auch den Verſuch gemacht,
Rokoko. 221
jociale Geftaltung zu gewinnen, und zwar nicht ohne
äußerlichen Erfolg. Wie fich die völlige Ertödtung aller
Freiheit und Schönheit des Lebens, worauf die herrn-
hut'ſche Gemeindeverfaſſung beruht, mit einer wahr-
haft humanen Bildung vertrage, ift freilich eine andere
Frage.
Als Philipp Jakob Spener im August 1670 in ver
alten Reichsſtadt Frankfurt zuerft feine „Collegia pietatis“
eröffnete, hatte er, welcher bapurdh feiner Zeit eine Wohl-
that erweifen wollte und in gewiſſem Sinne auch wirklich
erwies, ficherlich Feine Ahnung, daß ſich aus dem Pietis-
mus gar bald Richtungen abzweigen würben, welche in
die tiefften Abgründe menfchlicher Narrheit und menfch-
licher Verworfenheit hinabführten. Die Revolution, welche
die pietiftiiche Ipee in ven Gemüthern erzeugte, mwühlte
in ihrem Yortgange ven tiefiten Bodenſatz der Unver-
nunft und Unfittlichleit auf. Cine wilde Phantaſtik,
eine wüſte Myſtik brach in die pietiftifchen Kreife herein,
namentlih in vie volksmäßigen, wo die Gewöhnungen
einer Tonventionellen Bildung feinen Dämpfer auf die
Flackerglut religidjer Ueberſpannung fegten. ‘Doch fehlte
es auch in der vornehmen pietiftifchen Welt weder an
Abfonverlichkeiten noch an Gräueln. Es famen die Zeiten
der Horh, Dippel und anderer Schwärmer, ver aber-
wigigen Träume des Chiliasmus, der verrüdten „Bezeu-
gungen” und „Befiegelungen” aller Art, des fataliftifchen
Glaubens an die orafelhafte Geltung von Bibelftellen,
welche „eine chriftliche Perfon nach ihrem Gebote beim
Aufſchlagen der Bibel unter ihre beiden Däume be-
222 Buch IH. Kap. 5.
kam“ 165), Kin ganzer Schwarm von Sibylien, Sehe-
rinnen, Berzüdten und Blutfchwigerinnen ftand auf und
diefe Pietiftinnen fröhnten unter dem religidjen Ded-
mantel nur allzu häufig ven gemeinften Laſtern. Schon
zu Anfang des 18. Jahrhunderts hatten die Gegner ver
Pietiften wohlbezeugte Gründe, dieſen unter anderem
„vie Verführung der Weiblein in geheimen Zufammen-
fünften“ vorzumwerfen. In einer Pietiftenfolonie, welche
fih im Jahr 1702 zu Schwarzenau in der Grafſchaft
Wittgenftein angefievelt hatte, verbanden fich religiöfer
Wahnwis und gefchlechtliche Ausjchweifung zur Auf-
führung eines Nachtſtückes, deſſen Frevelhaftigfeit darin
gipfelte, vaß die „heilige“ Vorfteherin ver Kolonie, die
„Mutter Eva“, d. h. ein lüderliches Weibsbild aus einer
heſſiſchen Adelsfamilie, Eva Magpalena von Buttlar, ihre
Anhängerinnen mitteld einer abfcheulichen Manipulation
der Fähigfeit, zu empfangen und zu gebären, beraubte 166).
Gewiß, zu jeder Zeit, feit der Pietismus exiftirt, hat
fihb ihm mandes vom Unglüd zermürbte edle Frauen-
herz, manches vereinfamte, unverftandene und miſſhan⸗
delte, manches auch noch ungebeugte, aber von jenem relt«
giöfen Sehnen getriebene, welchem Uhland in feinem Ge-
165) Canftein, in ber Lebensbefchreibung Speners (1740),
©. 101.
166) Weil, wie bie Frevlerin befannte, „dies zur Seligleit
des Weibes gereiche”. ine altenmäßige, heutzutage unmöglich
nachzufchreibende Darlegung des ſchwarzenau'ſchen Handels gab
Thomafius: „Vernünftige und chriftliche Gedanken“ (1725), III,
208-624. Bol. meinen Efjay „Mutter Eva” in meinem Buche
„Größenwahn,“ S. 15—47.
Rokoko. 223
dicht von der verlorenen Kirche jo wunderbar fehönen
Ausdrud gegeben, mit der rveblichen Hoffnung ange-
fchloffen, bier Troft und Frieden zu finden. Allein ebenfo
gewiß ift, daß wahrhaft gebildete, feinfühlenve und groß-
benfende Frauen es in ben pietiftiichen Dämmerungen
in die Länge nicht aushalten können. Schon darum
nicht, weil fich der Pietismus von den intellektuellen und
jittlihen Berirrungen, welchen er im vorigen Jahrhundert
verfiel, im gegenwärtigen Teineswegs gereinigt hat. In
Wahrheit, vie Annalen ver pietiftifchen Seftirerei bieten
bis auf unfere Tage herab furchtbare Illuſtrationen zu
dem alten Sate, daß Wolluft und Grauſamkeit Zwillings-
Ichweftern ſeien. Zwar hieße e8 dem Pietismus unrecht
thun, wollte man ihm eine Erjcheinung auf Rechnung
jegen, wie jenes Ungeheuer, die Gefina Margaretha Gotts
fried aus Bremen, welche am 20. April 1831 hingerichtet
wurde, überwiefen und geftändig, fünfzehn Giftmorve,
unter deren Opfern ihre Eltern, ihre zwei Gatten und
ihre Kinder waren, und fünfzehn Giftmordsverſuche be-
gangen zu haben und außerdem ſchuldig des Meineids,
Einbruchs, Diebſtahls, Ehebruchs, der Unterſchlagung
und der Fruchtabtreibung. Aber doch muß es als ſehr
bedenklich erwähnt werden, daß dieſes Weib von Jugend
auf in pietiſtiſchen Kreiſen ſich bewegt hatte, daß ſich
ihre Redeweiſe gern im ſüßen Traktätchenſtile hielt und
daß fie e8 Tiebte, ihre Wolluft fowohl als ihre Mordluſt
mit ſalbungsvollen Sprüchlein zu würzen. Es hat viel-
leicht nie eine vollenvetere Heuchlerin gegeben als viefe
Siftmifcherin. Sie war ihr Leben lang eine wandelnde
224 Bud III. Kap. 5.
Lüge, innen und außen 167). Beftimmter traten die ver-
derblichen Folgen pietiftifcher Dunfelungen in dem ent⸗
jeglichen „Paffionsfpiel” hervor, welches am 15. März
1823 in einem Bauernhaufe zu Wildisbuch im Kanton
Zürich tragirt wurde. Hier ließ Margaretha Peter, von
den umwohnenden „Stillen im Lande“ als vie „Heilige
von Wildisbuch“ verehrt, in Wirklichkeit ein verfchro-
benes, arbeitsjcheues, eitles und wollüftiges Wejen, am
genannten Tage „zur Ueberwindung des Satans“ zuerft
ihre Schweiter Elifabeth ermorden und dann durch ihre
in den Strudel religiöfen Wahnfinns mithineingeriffenen
Anhänger und Anhängerinnen fi felber ans Kreuz
Tchlagen. Es ift wohlthuend, in diefer gräuelvollen Tra⸗
gödie des Pietismus, in welcher Wahn, geiftlicher Hoch-
muth, Wolluft und Blutdurſt untrennbar verbunden find,
wenigſtens einen reinmenjchlich-[hönen Zug aufzeigen
zu fönnen. Ein verheirateter Schufter, ver „Seelen-
bräutigam” der Heiligen von Wildisbuch, hatte mit diefer
im Ehebruch ein Kind erzeugt. Die brave Ehefrau des
Schufters, Regula Morf, welche nachmals in der gericht-
lichen Verhandlung fich die Klage entjchlüpfen ließ: „Ach,
bie Margaretha hat mich wieverholt gefreuzigt 1" gab, um
die Ehre ihres Mannes zu retten, deſſen Baftarbfind für
167) Als die Oottfried nach ihrer Verhaftnahme dem Reglement
zufolge entfleivet wurde, zogen ihr die Wärterfrauen nicht weniger als
13, fage dreizehn Korjette aus, die fie alle einsüber dem andern getragen
hatte. Ihre rothen Wangen waren Schminfe, und nachdem alle
Zoilettenkünfte entfernt, ftand an ber Stelle ver blühenden, mwohlbe-
leibten Dame vor den erſchreckten Weibern ein blaffes, angftwoll ver⸗
zerrtes Gerippe. Hitig und Häring, der neue Pitaval, II, 265.
Robolo. 225
ihr eigenes aus und erzog es liebevoll. Wie in dem wildis⸗
bucher Gräuel, ſpielten und ſpielen Weiber nur allzu⸗
häufig in dem Konventikelweſen bie Hauptrollen. Mit-
unter wurden Dagegen bie ſchlaueſten Anfchläge pietiftifcher
Schwärmer oder Heuchler an dem Bartfinn und Scham-
gefühl einer Frau zu fehanden. So foll z.B. das Trei-
ben ver königsberger Muder i. 3. 1835 durch vie fitt-
lihe Empörung einer Gräfin Finfenftein zu Tage ge
fommen fein. Wie befannt, hatten die beiden pietiftifchen
Prediger Ebel und Dieftel zu Königsberg eine Sefte ge-
ftiftet, deren Mitglieder das Volk „Muder“ nannte;
denn das ganze Unternehmen lief, wie es hieß, auf einen
Kultus der Unzucht hinaus, den man noch nicht völlig
Eingeweibten hinter myſtiſchen Wortgaufeleien von einer
„Heiligung des Fleifches Durch ven Geiſt“, von einer „Er⸗
hebung des Gefchlechtsgenuffes zu einem Gottespienft“
zu verfteden verſucht habe. Zu ven noch nicht völlig einge-
weihten Mitgliedern des Vereins gehörte auch die Gräfin
von Fintenftein, welcher aber vie Augen aufgegangen fein
ſollen, als ver eine ver beiden Hierophanten oder Müfta-
gogen, Ebel, fie „zur Erzeugung des Meſſias“ miß-
brauchen zu wollen fich erfreht habe. Die Sache fam
dann auch zur Unterfuhung und wurden Ebel und Dieftel
ihrer Aemter entfegt, weil fie „die Religion zum Deck—
mantel der Hurerei gebraucht 169)", Fürwahr, wenn
168) In meinem Buch. „Die Gelreuzigte ober das Pafftons-
ſpiel von Wildisbuch“ (1860, 2. verbefferte Auflage 1874) babe ich
die Geſchichte der Margaretha Beter, eins der merkwürdigſten Kapitel
der Religionsgefhichte, an ver Hand der im züricher Staatsarchiv
Scherr, Frauenwelt. 4.Aufl. II. 15
226 Bud III. Kap. 5.
man, auch abgejehen von dieſer und ähnlichen Erfchei-
nungen, vie oben berührte fchwarzenauer Unfläterei und
die wildisbucher Kreuzigung in Betrachtnahme zieht, fo
begreift man, daß ein tiefreligiöjer Menſch, Novalig,
eines Tages das fohredliche Wort fprechen konnte: „Es
ift wunderbar genug, daß nicht längſt vie Afjociation von
Religion, Wolluft und Grauſamkeit die Menſchen auf
ihre innige Verwandtſchaft und gemeinfchaftliche Tendenz
aufmerfjam gemacht hat“.
aufbewahrten Proceßakten und auf der Bafis genauer Lokalſtudien
dargeſtellt, durchweg aus piychologifchen und fulturbiftorifchen Ge—
fihtspunlien. Eine „altenmäßige* Darlegung der königsberger
Mudergeichichte brachte die „Neuefte Weltfunde* von Malten (1837),
womit zufammenzubalten die „Allgemeine Kirchenzeitung“ , 1835,
Nr. 177, und 1836, Ar. 16, 50. Nun bataber, wieich anzumerken
weder unterlaffen darf noch will, die Schrift des Grafen Ernſt von
Kanig: „Aufllärung nad Altenquellen über ven 1835 bis 1842 zu
Königsberg geführten Religionsproceß”, 1862 — (e8 ift von der⸗
jelben auch ein „Hiftorifcher Auszug”, 1864, erſchienen) — die
gang und gäbe Anficht Über die in Rebe ſtehende Angelegenheit fo
bedeutend erſchüttert, daß ich mich bewogen fühlte, bie beſtimmte
Redeform, womit in der erften Auflage biejes meines Buches
(S. 416) davon gehandelt worden, in bie unbeftimmte umzujeßen..
Denn keineswegs hat Herr von Kanit mich von der völligen Schuld-
Iofigfeit des Konventifelchefs Ebel überzeugt, wohl aber bavon,
daß die Muderei in der Boltsphantafie weit größere Dimenftonen
angenommen hatte, als fie wirklich befaß, und daß Familienränke und
bureaukratiſcher Parteigeift die Sache möglichft vergiftet haben.
Die Weife der Proceffirung Ebels war jebenfalls ein Skandal,
welder in feiner Art nicht geringer als alle im „Seraphinenhain“
der fogenannten Muder möglicher Weife vorgelommenen Skandalien.
Bol. auch „Die VBorboten unferes heutigen Muderthums,” 1872.
Sechftes Kapitel.
— —
Fäürſtinnen. 169),
Das Maitreſſenweſen und die deutſchen Fürſtinnen. — Die „philo⸗
ſophiſche“ Königin Sophie Charlotte. — Die große Landgräfin. —
Die Prinzeſſin Amalie von Preußen. — Maria Therefia. — Marie
Antoinette. — Katharina die Zweite. — Die Herzoginnen Amalia
und Luife von Sadjen- Weimar. — Die Frauen zur Zeit der Be-
freiungstriege. — Die Königin Luiſe von Preußen.
Am Ende vom Jahrhundert des Rokoko, der Auf-
Härung und ver Revolution ſprach der Abbe Gregotre im
franzdjiichen Konvent das berühmte Wahrheitswort : „Die
Geſchichte der Könige ift vie Leivensgefchichte ver Völker“.
Man hätte vom Anfang bis zum Schluffe diefes vielgeital-
169) In diefem und dem folgenden Kapitel auf einem Ge-
biete mich bewegend, wo nur von vielfach erörterten, allgemein als
feftftebend anerfannten Thatfachen bie Rebe ift, halte ich es für über-
flüffig, die Quellen jo im einzelnen nachzuweijen, wie bisher ge-
ſchehen if. Jedoch werde ich überall, wo bie zunächft und weiter:
bin zu behandelnden Themen neue Geftchtspunktte darbieten, für
dieſe die nöthigen Belege beibringen.
15*
228 Buch III. Kap. 6.
tigen und vielbewegten Zeitraums fagen können: “Die
Gefchichte der Fürften ift die Leidensgefchichte der Für-
ftinnen. Auch für Deutſchland war das eine traurige
Wahrheit und wer Fönnte die Thränen zählen, welche ven
Augen fürftlicher Frauen entfloffen, ſeitdem auch bei ung
das Amt einer Maitreffe in dem Schematismus des nach
dem Mufter der Monarchie Ludwigs des Vierzehnten
vollendeten fürftlichen Abfolutismus ein förmlich ſank⸗
ttonirtes Hof- und Staatsamt geworden war? Wie
demoralifirend auf die ganze Gefellichaft das fchamlofe,
ja geradezu brutale Maitreſſenſyſtem wirkte und wirken
mußte, iſt mehrfach berührt worden. Es bevarf auch
feiner weiteren Auseinanverjegung, um klar zu machen,
welche herabdrückenden und herabwürdigenden Einflüffe
die Metenwirtbfchaft auf die fürftlihe Frauenwelt üben
mußte. Es war nicht allein eine Beichimpfung, nicht
nur ein Schmerz, nicht nur eine Verhöhnung, fondern
auch ein Sporn zum Böſen, wenn edle und liebenswürs
dige deutſche Fürftinnen einheimifche oder fremde, vor-
nehme oder geringe Buhldirnen, oft won der gemeinften
Sorte, fich vorgezogen fehen mußten. Manche von ihnen,
wenn auch nicht gerade edle und liebenswürbige, find der
Macht des verberblichen Beiſpiels erlegen; anvere aber
find über den Schmuß des Jahrhunderts hinweggefchrit-
ten ohne ſich auch nur die Fußfohlen zu befleden.
Denn wie unfer eigenes, jo ift auch das vorige Jahr⸗
hundert und zwar in noch höherem Maße an fürftlichen
Frauen jehr reich gewefen, welche durch perfönliche Vor-
züge, durch Geift, Charakter oder Schickſale eine vor-
Fürftinnen. 229
ragende Stellung einnahmen. Viele davon haben durch
ihre häuflichen Tugenden wefentlich dazu beigetragen,
ven im Zeitalter des Rokoko fo tief zerrütteten veutjchen
Familiengeiſt auf’8 neue zu beleben und zu fräftigen, an
die Stelle einer hohlen und frivolen Galanterie wieder
wahre Achtung vor weiblicher Würde zu fegen und auch in
die vornehmen Kreife Schamgefühl und Anjtand zurüdzu-
führen, jene, wenn auch häufig nur den äußeren Schein
wahrende Ehrfurcht vor dem fittlihen Grundgeſetz, ohne
welche weder die einzelnen Menfchen noch die Staaten
beftehen und dauern können. Andere haben weltgefchicht-
lihe Rollen durchgeführt, fei es mit Glanz und Erfolg,
jei e8 als Opfer von Miſſgeſchicken voll tragifcher Weihe.
Bon wieder anderen find, ohne daß fie aus der weiblichen
Sphäre herausgetreten, vie beveutenditen und heilfam-
ſten Anregungen für die politifche Entwidelung wie für
die Kulturbewegung unferes Landes ausgegangen. Ver⸗
gegenwärtigen wir uns daher im Folgenden einige der
fürftlihen Frauengeftalten, welche in einer der angege-
benen Richtungen fich hervorgethan haben. Auf eine
vollſtändige Galerie ift e8 dabei natürlich nicht abge-
jehen: e8 handelt ſich nur darum, auch dieſe Seite ver
Gefchichte der veutfchen Frauenwelt in Kürze zu be=
leuchten. |
Wie um das „philofophifche” Sahrhunvert in Deutfch-
land einzuführen, erfcheint auf ver Schwelle vefjelben bie
zweite Gemahlin bes erften Königs von Preußen, Sophie
Charlotte, eine PBrinzeffin von Braunfchweig-Tüneburg,
im Herbft 1684 zu Herrenhaufen an den etwas verwach⸗
230 Buch II. Kap. 6.
jenen Kurfürften von Brandenburg verheiratet, welcher
1701 feinen Kurhut mit der Königsfrone vertaufchte.
Sophie Charlotte würde an der Seite dieſes Gemahls,
welcher das Weſen königliher Majeftät in einem umftänd-
lichen, fteifen und foftfpieligen Prunf und Pomp fuchte
— zu deſſen Inventarftüden ſelbſtverſtändlich auch eine
Staatsmaitreffe gehörte — ein ziemlich unerquicliches
Dafein geführt haben, falls ihr lebhafter und reichgebil-
deter Geiſt ihr nicht die Mittel geboten hätte, die Yange-
weile eines Hoflebens zu bannen, in welchem vie plum-
pen, ja rohen Ueberlicferungen mittelalterlicder Cour⸗
toifie und die franzdfifch-leichtfertige Mode der Zeit zu
einem mitunter ganz abfonverlichen Mifchmafch fich ver-
banden. Berherrlichte doch Hoffeſte, wobei nod) ganz im
Stile der Nitterzeit gehaltene, ſtundenlange Fadeltänze
ftattfanden, der Herr von Beſſer mit feinen „amoureufen“
Reimen, die ven Schönen und Unfchönen des Hofes feine
Zweiveutigfeiten, aber jehr eindeutige Zoten ins Ge-
fiht fagten, über welche auch die Kurfürftin und nach—
malige Königin Sophie Charlotte ich nicht entfette,
fondern nur lächelte. Sie war ale Braut eine Schön-
heit und der „Mercure galant“ von 1784 rühmte ihren
ſchlanken Wuchs, ihren reinen Zeint, ihren ſchönen Bufen,
ihre großen fanften blauen Augen, das Inkarnat ihrer
Lippen und bie Fülle ihrer fehwarzen Haare. Nachdem
ihr eheliches Verhältniß erfaltet war, jchlug fie ihren Hof
in Lützelburg bei Berlin auf, wo fie, fern von dem läſti⸗
gen Prunk, in welchem ihr Gemahl fich gefiel, zwanglofe
Feſte feierte. Ein häufiger Theilnehmer an venfelben
Fürftinnen. 231
war der große Leibnig, welcher bei Sophie Charlotte hoch
in Gnaden ftand. Auf feinen Antrieb fegte fie die Grün-
bung der berliner Akademie der Wiffenfchaften bei ihrem
Gemahle durch. Die Bildung der Königin ragte über
die Fläche ver Prinzeffinnenbilvung von damals weit
hinweg. Ste redete vollfommen geläufig die franzöftfche,
englifhe und ttalifche Sprache und war auch ver latei-
nifchen nicht unfundig. Daneben fannte, liebte und übte
fie die Mufil. Ihr Wiffensprang war fo raftlos, daß
Leibnitz ſich einſt veranlafit fab, ihr zu fagen: „Es ift
gar nicht möglich, Sie zufrieden zu ftellen. Sie wollen
das Warum ded Warum willen“. Sophie Charlotte
verbiente den Ehrentitel ver „philofophtichen Königin“,
welcher freilich ihrem orthodox⸗gläubigen Sohne Friedrich
Wilhelm I. fo wenig gefiel, daß er äußerte: „Meine Frau
Mutter war eine Fuge Frau, aber eine böfe Chriftin“.
Ste ftarb 1705 mit wahrhaft philofophifcher Ruhe und
Faſſung. Ihr Enkel, Friedrich ver Große, erzählt, vie
Sterbende habe zu einer ihrer Damen gejagt: „Bellagen
Sie mich nicht; denn ich gehe jett, meine Neugier zu be-
friedigen über die Urgründe der Dinge, die mir Leibnit
nte hat erklären fünnen, über ven Raum, das Unend⸗
liche, das Sein und das Nichts, und dem Könige meinem
Gemahl bereite ih das Schaufpiel: eines Leichenbegäng-
niffes, welches ihm eine neue Gelegenheit gibt, feine
Pracht parzuthun 1770)",
170) Leibnig bat zur Berberrlihdung des Andenkens feiner
öniglihen Freundin ein langes Gedicht in Alerandrinern ge-
232 Buch III. Kap. 6.
Der fönigliche Autor, ven ich fo eben angezogen, war,
wie jedermann weiß, zwar in feiner Jugend ein großer
Liebhaber der Frauen, in fpäteren Jahren aber nicht eben
ein großer Verehrer derſelben. ‘Der berühmte Monarch
hatte freilich gar zu mächtige Feindinnen, vie ihm von
zwei Kaiferthronen herab, jowie aus dem Boudoir her-
vor, wo die Pompadour ven fünfzehnten Ludwig gängelte,
ſehr viel zu fchaffen machten. In Wahrheit, er hatte
vollauf Gelegenheit, bitter zu erfahren, was der „Unter-
ro” in der Weltgefhichte zu bedeuten hätte, und er hatte
auch fattfamen Stoff, über „Cotillon J.“, „Eotilfon U.“
und „Eotilfon II.” gepfefferte Sarkafmen ausgehen zu
lafien. Im Grunde jedoch mußte er feinen Feindinnen
dankbar fein, denn dieſe verfehafften ihm ja Gelegenheit,
die Welt mit vem Ruhme feines Namens zu erfüllen. Er
war auch Teineswegs immer ver Kyniker, welcher in feinen
berühmten Marginalrefolutionen jeden Anlaß, über die
Weiber geringſchätzig ſich auszulaffen, gern ergriff. Wie
er ftrenge darauf hielt, daß feiner ungeliebten, getrennt
von ihm lebenden Gemahlin jede ihrem Rang und ihren
ſehr jtillen Tugenden gebührenvde Rüdjicht widerfahre, jo
hat er auch die Bedeutung vorragender Frauencharaftere
‚wohl zu würdigen und anzuerkennen verftanden. Im
einem an D’Alembert gerichteten Briefe that er bie
ſchrieben. Bollft. gebr. bei Gödecke, Elf Bücher deutſcher Dichtung,
I, 484 fg. Ein Meifter der biographiſchen Kunft, Barnhagen von
Enfe, ichrieb das „Leben der Königin von Preußen Sophie Char-
Istte”, 1837.
Fürftinnen. 233
Aeußerung, er „ verehre vie Kaiferinnen Maria Therefia
und Katharina II., die Kurfürftin Antonia von Sachfen
und bie Landgräfin Karoline von Heſſen⸗Darmſtadt als
die vorzäglichiten fürftlichen Frauen feiner Zeit”, was
freilih mit der erwähnten Cotillon-Sarkaftit nicht ſehr
jtimmt. Die leßte der vier erwähnten Frauen, die „große
Lanpgräfin*, wie Göthe fie genannt und von der. Wieland
gefagt hat, fie müßte, wenn er einen Augenblid König
der Schickſale wäre, die Königin von Europa fein, wurde
i. 3. 1741 an den nachmaligen Landgrafen Ludwig IX.
vermählt und ftarb 1774. Ihr Gemahl war jener wun-
derliche Soldatendriller, welcher feine gewöhnliche Reſidenz
Pirmafens zu einem ungeheuren Solvatenfäfig machte
und die fürftliche Sofvatenfpielerei zu einer feither nicht
wieder erreichten Karikatur fteigerte.e Da that e8 benn
Doppelt noth, daß die Landgräfin verſtändigen Sinnes in
das Regiment von Land und Leuten eingriff. Daneben
erfüllte fie ihre Pflichten als Gattin, Hausfrau und
Mutter — eine ihrer Töchter war Luiſe, die Frau Karl
Augufts von Sahjen-Weimar — in mufterhafter Weife
und widmete ber geiftigen Bewegung ihrer Zeit eine rege,
fördernde, unter anderem durch Veranftaltung ver erften
Auegabe von Klopftods Oden bewährte Theilnahme.
Das berliner Hofleben zur Zeit des großen Königs,
welcher ja in Potsdam und Sanssouci feinen Sunggejellen-
haushalt führte, hatte wenig over nichts: anmuthendes.
Die Frauen galten da nichts. Gegen ihre Reize erhielt
ſich Friedrich gleichgiltig, gegen ihre Schwächen verfuhr er
mit Härte. Berüchtigt ift die Talte, aber ausbauernd
234 Bud II. Kap. 6.
erbarmungslofe Grauſamkeit, womit er ven Garbeoffizier
Trend verfolgte, weil vemfelben des Könige Schweiter,
die Prinzeffin Amalie, ihre Liebe geſchenkt hatte und ſtand⸗
haft bewahrte. Die arme Brinzeffin ift durch das, was
der Bruder an ihr und ihrem Geltebten verbrochen, fo
verbittert und verfauert worven, daß fie in ihren Alte-
iungfertagen am Hofe nur unter dem Namen ver „fee
malfaisante* befannt war. Ihr Bruder Heinrich hatte
fie fo getauft. Den helfen Gegenſatz zur boshaften Fee
bildete die Gemahlin dieſes Prinzen, Wilhelmine von
Hefjen-Raffel, ver Liebling des Hofes, als „la belle fee“,
als „die Unvergleichliche‘, als „la divina“ gefeiert.
Großes Aufjehen erregte die leivenfchaftliche Liebe, welche
Friedrichs Ältefter Bruder, der Prinz Auguft Wilhelm,
für die ſchöne und tugenphafte Sophie Marie von Pannewik
hegte, vie ja, wie wir weiter oben jahen, als Zwölfjährige
ſchon dem Vater des Prinzen, dem geftrengen Soldaten-
könig Friedrich Wilhelm I. fehr gefallen und fchlagend
ihre Sittfamfeit bewiejen hatte. Sie ermwiderte die
Neigung des Prinzen, aber fie rettete fich wor ihm und vor
ihr felbft, indem fie einem ungeliebten Manne ihre Hand
gab und die Schranken einer ftrengen Pflichterfüllung als
Gattin und Mutter zwifchen fich und den Bruder Friedrichs
jtellte. Dieſes edle Vorbild ahmte jpäter die Tochter ihres
Schwagers, Fräulein Julie von Voß, nit nad. Eine
Schönheit, wie Tizian fie zu malen liebte, ſchlank und
voll zugleich, von feinen Zügen und fehönen Formen, die
Marmorbläffe des Gefichtes eingerahmt und gehoben durch
eine Fülle von rothgoldenem Blondhaar, flößte fie dem
Fürftinnen. 235
Sohne des Prinzen Auguft Wilhelm, dem Könige Friedrich
Wilhelm II. vie heftigfte Begierde ein. Um dieſe zu
befriedigen, entjchloß fi der König zur Bigamie, gegen
. welche das Inechtfchaffene Konfiftorium natürlich nichts ein-
zuwenden hatte oder wagte. Der Hofbonze Zöllner gab zu
Charlottenburg den König mit Julie von Voß zufammen,
welche übrigens ihr kurzes ſchmachvolles Glück — falls e8
überhaupt eins war — mit dem Tode im erften Wochen
bette büßte. Darauf hat fich Frieprih Wilhelm II. —
alles bei Lebzeiten feiner rechtmäßigen Gemahlin —
durch venfelben Hofbonzen Zöllner die junge Gräfin Sophie
von Dönhoff antrauen laffen 17). Man jieht, e8 gab
Mormonen lange vor Ioe Smith und Brigham Young.
Wie Friedrich dem Einzigen feine Freundin, die „große
Landgräfin“, Achtung einflößte, jo auch feine Feindin,
welche ihn nie anders als den „böfen Mann“ nannte, die
„große Kaiferin“ Maria Therefia. Diefe Frau war wie
eigens dazu geboren, ven Abjolutismus in höchfter Potenz
zu repräjentiren, aber gemilvert durch weibliche Schönheit,
Sutmüthigfeit und Huld. Nur fehr wenige von allen
Männern und Frauen, welche jemals Kronen trugen,
haben vermöge ihrer Perſönlichkeit einen fo mächtigen
Zauber beſeſſen und geübt wie die Tochter und Nach⸗
folgerin des lebten Habsburgere. In der Blüthe ihres
Lebens von vollendeter Wohlgeftalt, ſchön von Antlig,
171) Neunundſechzig Jahre am preußifchen Hofe, aus ben
Erinnerungen der Oberhofmeifterin Sophie Marie Gräftn von Voß
(geb. von Pannewitz), 3. Aufl. S. 24, 52, 54, 112, 124, 131, 135.
236 Bud III. Kap. 6. !
feurigen Auges, vereinigte ihre Erfcheinung die Majeſtät
der Herrſcherin mit jedem Xiebreiz des Weibes, am be-
deutungsvollſten in einer ſchickſalsſchweren Stunde ihres
Lebens, an jenem Herbittage des Jahres 1741 zu Pref-
burg, wo der Anblid ihrer zugleich gebietenden und
flehenden Geftalt ven fFriegerifhen Adel Ungarns zur
höchiten Begeifterung entflammte.. Es war an Maria
Therefia alles gefund, Leib und Seele, und das macht fie
in einem Jahrhundert allgemeiner Zerjegung zu einer
doppelt wohlthuenven Erfcheinung. Nichts kränkliches,
halbes, flitterhaftes, unfertiges an ihr, alles aus
einem Guß. Eine ſchöne Sinnlichkeit, aber fouverän
beberrjcht durch feſte Grundſätze und gelenkt von ver fitt-
lihen Grazie. Ein Eifer für fittfame Lebensführung,
der zwar, wie wir weiter oben fahen, nicht felten fehl-
griff, aber feine Forderung ftellte, welche vie Kaiſerin für
ihre Perſon nicht felber zu erfüllen bereit war. Voll
unendlicher Zärtlichkeit für ihren Gemahl, ven nicht
eben feljentreuen Lothringer Franz, Tannte ihre Liebe
den Neid der Eiferjucht nicht oder wußte venfelben wenig-
ſtens zu befiegen: — als fie, vom Sterbebette des gelieb-
ten Kaiſers kommend, ihre Nebenbuhlerin, die Fürftin
Marie Wilhelmine von Auerfperg, von den Höflingen
verlaffen und gemieden in einer Zimmerede weinen ſah,
prüdte fie ihr bie Hand und fagte ihr das großmüthige
Wort: „Meine liebe Fürftin, wir haben wahrlich viel
verloren!” Als Regentin war fie Defpotin, jedoch dem
aufgellärten und aufflärenden Defpotismus mit Ent-
ſchiedenheit zugethan. Obgleich für ihre Perfon fromm
Fürftinnen. 237
bi8 zur Bigoterie, jah fie doch ven Fanatikern ſcharf auf
die Finger und duldete Feine inquifitorifchen Webergriffe.
Sie zuerft Hat Deftreich mit Energie aus der hifpantfchen
Verſumpfung berauszureißen verjucht, in welche e8 nach
ihrem und ihres Nachfolgers Joſeph Tod wieder zurüd-
gefallen ift. Der Abfolutismus, wie fie ihn übte, hatte
etwas Idylliſch-⸗Patriarchaliſches. Die Kaiferin fah ihre
Wiener, ihre Völfer überhaupt als ihre Familie an und
fette ſich zu venfelben auf ganz mütterlich-herzlichen Fuß.
Wenn auch feine Autorität noch fo eiferfüchtig wahrend,
hatte dieſer Patriarhalismus doch viel naturwüchlig
gemüthliches, fo viel, daß e8 uns faft märchenhaft vor-
fommt, wenn wir 3. B. hören, wie die Kaiferin, ale
1768 am Abend vom Jahrestag ihrer Hochzeitsfeier aus
Florenz die Nachricht eintraf, daß ihrem Sohne, dem‘
Großherzog Leopold, der erjte Prinz geboren worden, in
ihrer großmütterlichen Freude im Nachtkleive durch die
Korrivore des Palaftes ins Burgtheater eilte und dafelbit,
weit über die Brüftung ver Xoge vorgebeugt, dem Publikum
im Parterre die frohe Familtenbotfhaft auf gut wie-
nerifch verfündigte: — „Der Polol hat an Buaba, und
grad zum Bindband auf mein Hochzeitstag — der ift
galant!” Am edelften erfcheint die Durchbringung ber
Herrſchermacht mit fchöner Menfchlichkeit, welche vie
Katjerin charakterifirte, in dem freundfchaftlichen Ver⸗
hältnig, welches Maria Therefia zu dem Fürften Emanuel
Silva Tarouca unterhielt, einem eingeöftreicherten
Portugiefen, den fie al® einen „ministre particulier“,
als ein „zweites ungetrübtes Gewiffen“ neben fich
238 Bud II. Kap. 6.
ftellte und der diefer Rolle mit Freimuth und Takt nach-
fam 172), |
Die große KRaiferin war fo glücklich, pas Unglüd
ihrer Tochter Marie Antoinette nicht mehr zu erleben.
Es hat wenige Frauenleben gegeben, die ſolche Gegen-
füte von Glanz und Elend aufzeigen wie das der Frau
Ludwigs des Sechözehnten, auf deren jchönes, wenn
auch Teineswegs fchulplofes Haupt ſich die ganze Schale
des Zorns und der Rache ausgoß, welche die Frevel des
Deipotismus bis zum Weberfließen gefüllt hatten. Was
für ein Abftand zwifchen dem Tage, wo der alte Mar-
Ihall von Briffac zu der Neuvermählten, welche vom
Balkon der Zuilerien auf die ihr zujauchzende Menge
niederblichte, fagte: „Sehen Sie, Madame, das find
hunderttaufend Verliebte! * und jenem 14. Oftober 1793,
wo gegen die vor dem Nevolutionstribunal ftehenve, ſchon
durch das Martyrium ver Gefangenfchaft im Temple
gegangene Königin die wahnfinnige, in ver Schmutzſeele
eines Hebert gereifte Anklage eines unzüchtigen Verkehrs
mit ihrem unmündigen Sohn erhoben ward. Nie war
Marie Antoinette unglüdlicher, aber auch nie größer als
172) Ueber das Berhältniß der Kaiferin zu Tarouca |. d.
Bericht, welchen Karajan in der wiener Alatemie d. W. am
30. Mai 1859 erftattet hat, Allg. Zeitung v. 14. Juni 1859,
Beilage. Das Familien- und Hofleben Maria Therefia’s ſchildert
ausführlih das Buch: „Aus dem H. 2. M. Th. Nach ven
Memoiren des Fürften Joſeph Khevenhüller“ von A. Wolf. 2.
verm. Aufl. 1859. Die Geſchichtſchreibung ift der Kaijerin gerecht
geworden mittel® des großen Wertes Alfreds von Arneth.
Fürftinnen. 239
in dem Augenblid, wo fie nad) einer Pauſe des Ent-
ſetzens auf dieſe Abjcheulichkeit die Erwiderung gab:
„Wenn ich nicht darauf geantwortet habe, jo geſchah es,
weil die Natur fich fträubt, auf eine folche einer Mutter
gemachte Anfchuldigung etwas zu jagen. Ich appellire
darüber an alle anmwefenden Mütter 179“. Die Grund-
173) In dem Protokoll über das Berhör, welchem Louis Charles
Capet, der unglückliche Dauphin, am 6. Oftober 1793 im Temple
duch Pache, Chaumette, Hebert, Séguy, Heuffee unterworfen
wurde, heißt es: — „Il declare en outre qu’ ayant été surpris
plusieurs fois dans son lit par Simon et sa femme, charges
de veiller sur lui par la Commune, & commettre sur lui des
indecenses nuisibles à sa sante, il leur avoua qu’il avait été
instruit dans ces habitudes pernicieuses par sa möre etsatante,
et que differentes fois elles s’ötaient amusdes & lui voir röpeter
ces pratiques devant elles, et que bien souvent cela avait lieu
lorsqu’elles le faisaient coucher entre elles. Que de la mani-
ere que l’enfant s’en explique, il nous a fait entendre qu’une
fois sa mere le fit approcher d’elle, qu’il en resultat une copu-
lation et qu’il en r&sulta un gonflement & un de ses testicules“.
Als der „Witwe Eapet” in ihrem Berhör vor dem Revolutions-
tribunal am 14. Oftober diefe beifpiellos infame Infinuation —
meines Erachtens ber häfflichfte Makel der ganzen franzöſiſchen Revolu⸗
tion — vorgehalten wurde, beantiwortete fie diefelbe in richtigen
Gefühle nur mit dem Schweigen ber Verachtung. Aber einer der
Geſchworenen beging die Nieberträchtigfeit, auf die gräuliche Depo-
fition Heberts zurüdzufommen und den Präfidenten anzugeben,
von der Angellagten Auskunft zu verlangen, warum fie nicht
darauf geantwortet habe. Worauf Marie Antoinette: „Si je
n’ai r&pondu, c’est que la nature se refuse & r&pondre & une
pareille inculpation faite & une mere. J’en appelle & toutes
celles qui peuvent se trouver ici“. (Die angezogenen Akten⸗
ftellen find entnommen aus der Sammlung von „Pieces originales“,,
240 Bud III. Kap. 6.
lage von Marie Antoinette'3 Miſſgeſchick war die Gleich
giltigfeit, welche fie in den erften Jahren ihrer Ehe von-
feiten ihres Gemahls zu befahren hatte. Man hat guten
Grund, zu glauben, daß dieſe Gleichgiltigfeit von einem
fpäter gehobenen organifhen Fehler Ludwigs XVI.
herrührte. Als fih Dann ein zärtliches Verhältniß zwiichen
den Ehegatten herftellte, hatte ver Ruf ver Königin ſchon
unwieberbringlichen Schaden gelitten. Yung, fchön, nach
Zerftreuung und Vergnügen dürſtend, hatte fih Marie
Antoinette Unbefonnenheiten zu fehulden kommen laſſen,
welche ihr Sugenpfeuer allerdings begreiflich und verzeihlich
machte, die aber einem giftigen Hofklatſch nur allzu
reichlihe Nahrung boten. Wenn fie als Schäferin maffirt
zur Zeit ver Dämmerung durch die Boffette von Trianon
ſchwärmte, fo bedachte fie nicht, wie geneigt man fein fönnte,
einer fo fhönen Schäferin auch ven Hang zu Schäferftunven
zuzufchreiben.. Wenn fie in ver Aufregung des Tanzes
zu ihrem hübſchen Zänzer Dillon fagte: „Fühlen Site
einmal, wie mein Herz pocht!” fo war ihr daneben
ſtehender Gemahl doch wohl zu der herben Zurechtweifung
berechtigt: „Madame, Herr Dillon glaubt Ihnen auf
Ihr Wort". Die Beziehungen der Königin zu dem
Herzog von Coigny und zu ihrem Schwager, vem galanten
Grafen von Artois, gaben ven boshafteften Vermuthungen
Raum und ihre Neigung für den ſchwediſchen Grafen
Ferſen legte fich viel zu unbefangen dar, um höfifchen
welche der Ardivar E. Camparbon veröffentlichte unter dem Titel
„Marie-Antoinette & la Conciergerie“ (1864), p. 68etsuiv., 287.)
Fürftinmen. 241
Späheraugen entgehen zu fünnen 17%). Aber welche Fehler
die Königin in ihrer Jugend als Frau und fpäter ale
174) „Geheimer Bericht des Grafen Ereuß, ſchwediſchen Ge-
fandten am franzöfifchen Hof, in den von Geijer herausgegeb.
Hinterlaff. Papieren des Königs Guſtav des Dritten”, II, 107...
Ein fehr miffliher Umftand ift die Thatjache, daß der befagte Graf
Ferien, wie auch der Oberft Dillon und wie der Herzog von Eoigny,
auf Betreiben der Königin mit Geldgefchenfen und Gnadengehalten
wahrhaft verſchwenderiſch überfchüttet wurde. Der jchredliche „Livre
rouge* — fchrediich, weil dieſes Geheimregifter der Hofausgaben
darthat, daß unter Ludwig XV. und unter Ludwig XVI. hun-
derte von Millionen an mehr oder weniger jämmerlidhe Kreaturen
weggeworfen wurden, während das franzöftihe Volk in grünzen-
loſem Elend darbte — ja, das „rothe Buch“, jo genannt, weil
e8 in rothen Maroflin gebunden war, berechtigte, als c8 im
März 1790 vonfeiten des Finanzminifters Neder nah heftigem
Widerftreben einer von der Nationalverfammlung beftellten Kom⸗
miffion zur Prüfung übergeben werden mußte, den genialen
Camille Desmoulins vollfommen, in der 21. Nummer feines
Sournals „Revolutions de France et de Brabant“ auszurufen:
„Enfin, nous tenons le Livrerouge! Le comite des pensions
a rompu les sept sceaux dont iletaitferme. La voiläaccomplie,
cette menace terrible du prophe&te! La voil& accomplie avant le
jugement dernier: Revelabo pudendatua; je devoilerai
tes turpitudes; tu ne trouveras pas même une feuille de figuier
pour couvrir ta nudite & la face de l’univers; on verra touteta
lepre, et, sur tes &paules, ces lettres Galerien, que tu as si
bien meritees!* Bon biefer furdtbaren, an das Ancien Regime
gerichteten Apoftrophe konnte Marie Antoinette vecht wohl einen Theil
auf fih beziehen; denn es Tann gar feinem Zweifel unterftellt
werden, daß fie zu Gunften ihrer Vergnügungsſucht, wie zu Gunften
der Unerlättlichleit ihrer Günftlinge und Günftlinginnen, ihre Hände
bis zu den Ellbogen in die Staatsfafje geftecdt hat. War es doc,
um nur einen Poſten anzuführen, ibr Werk, daß die unfelige
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. IL. 16
242 Bud II. Kap. 6.
Bolitiferin begangen habe, fie ftanden in feinem gerechten
Berhältniß zu der Strafe, welche jie erwartete, und jeder
Fühlende und Denkende wird zugeben, daß der Tag ihrer
Hinrichtung, ver 16. Dftober 1793, einer von jenen Tagen
gewejen jei, welche das Buch der Weltgefchichte befleden.
Drei Jahre nach dem tragifchen Ausgang der Tochter
der Cäfaren endigte (am 9. November 1796) ein Schlag-
fluß das Leben einer anderen deutſchen PBrinzefjin, welche
aus dem Dunfel eines Heinen deutſchen Hofes zu dem
blendenden Glanze des ruſſiſchen Carenthrons empor-
geftiegen war, des Leichnams ihres Gemahls als Stufe
ſich bedienend 179), Kine ver außerorbentlichiten Er-
Familie PBolignac allein, wie das rothe Buch bewies, lebens:
längliche Gnadengehalte im Betrag von mehr als 700,000 Livres
jährlich bezog. Marie Antoinette als eine Heilige, als einen reinen
Engel darzuftellen, ift eine Abjurbität, welche zu begehen nur jene
Bande von Falſchmünzer-Hiſtorikern fich beikommen laffen kann,
welche aus eigener, angeftammter Niedertracht oder auf „höheren“
Befehl das Gejhäft, die franzöfifche Revolution zu verleumben,
betrieben und betreiben.
175) Ob und inwieweit Katharina von bem Mordplan gegen den
armen verdrehten Peter III. unterrichtet gewejen, wirb wohl nie
ganz feftzuftellen fein. Aber lächerlich ift es, zu glauben, die Ber-
ihworenen wären überhaupt nur jo von ungefähr dazu gelommen,
den Caren zu ermorden. Peter III. mußte nicht nur abgejett
werben, jondern fterben, wenn feine Frau herrſchen jollte. Kathas
rina war zu geſcheid, um das nicht zu wiljen, obzwar die Orlows
und deren Spießgefellen ihr nit mit dürren Worten gejagt haben
werden, fie würden jeßt hingehen, den Kaifer zu ftranguliren.
Eine Mitverſchworene, die Fürftin Daſchkow, hat in ihren von
Herzen herausgegebenen Memoiren (I, 128) behauptet, Alerei Orlow
Fürftinnen. 243
ſcheinungen ver Geſchichte, dieſe Sophie Augufte Frie-
verife von Anhalt⸗Zerbſt, welche als Katharina IL. fo
lange die Geſchicke Europa's beftimmen und Ienfen half,
im guten wie im jchlimmen weit über das weibliche
Maß Hinausragte, mit Voltaire und Diderot brief-
wechſelte, als leidenſchaftliche Venuspriejterin bis zu
ihrem Tode eines amtlich beſtallten „ Günftlings” nicht
entbehren fonnte, aus der Eremitage hervor, wo fie meſſa—
liniſche Orgien feierte, Befehle ergehen ließ, welche zwei
Erotheile in Staunen, Beforgniß und Schreden verfeg-
ten, Komödien für die ruffifhe Bühne vichtete, während
fie durch ihre Potemfin, Suwarow und Repnin Völker zers
treten ließ und, das Werk Peter's I. fortſetzend, für vie
Machtſtellung Ruſſlands Unberechenbares gethan hat. Die
Natur Scheint die ſeltſamſte Mifchung von vielfeitigfter Ge-
nialität, verzehrender Sinnlichkeit, wohlwollenden Inftinf-
ten, eifiger Herzenshärte und beifpiellojer Verftellungs-
funft beabfichtigt zu haben, als fie die „Semiramis des
Nordens“ ſchuf. Nicht weniger wunderbar als ihre Per-
ſönlichkeit erjcheint ihr Glück, wenn man bedenkt, daß fie
in ſo zu fagen ganz bettelhaften Aufzuge nach Petersburg
gefommen war. („Als ih nah Rußland kam, erzählt fie,
babe unmittelbar nach der Ermordung des Kaifer für dieſe Miſſe—
that die Kaiferin in den demüthigſten Ausprüden um Berzeihung
gebeten. Das ift möglich, beweiſ't aber in letter Linie gar nichts.
Außerdem wird die Glaubwürdigkeit der Daſchkow durch mehrere
Umftände fehr ftark beeinträchtigt. So 3. B. durch ihre Verfiherung
(I, 112), fie hätte lange nichts davon gewußt, daß Gregor Orlow
ein begünftigter Liebhaber Katharina's war.
. 16*
244 Buch III. Kap. 6.
beftand meine ganze Wäfche aus einem Dutzend Hemden“.)
Seit dem Erfcheinen von Ratharina’8 Memoiren, deren
Echtheit feinem Zweifel unterzogen wurde, vie aber leider
den fehler haben, beim Jahre 1759, alfo vor dem Auf-
gange des Sterns ihrer Verfafjerin, plöglich abzubrechen,
— feit dem Erſcheinen dieſer Memoiren ift der Reiz des
Romantifhen, welcher die Figur der Carin umgab,
bedeutend gefehwunden. Denn die Bekenntniſſe Katharina’s
zeigen, baß da, wo wir wunderbare Schickungen anzunehmen
geneigt waren, nur bie Ichlauefte, konſequenteſte Berech-
nung thätig gewejen. Eine Frau, welche ſchon als junges
Mädchen zu fich gefagt hatte: „Glück und Unglüc liegen
in der Seele und dem Herzen eine® jeden; wenn du
Unglück empfinveft, ſetze dich darüber hinweg und richte
dich jo ein, daß dein Glück von feiner Begebenheit abhängt“
— fie mußte e8 weit bringen in der Welt, befonders wenn
diefe Frau das Genie, die Heuchelei und den Muth
Katharina's der Zweiten befaß. Die fünfzehnjährige
Heuchlerin war faum nah Rußland gefommen, al8 fie
fih ihre Situation zurechtzumachen trachtete. Es galt
zunächſt, die Verhältniffe Fennen zu lernen, zu welchem
Zwecke fie jich in der Kunft des Horchens und Aushorchens
übte: — „Ih hatte mich während meiner Krankheit
gewöhnt, die Augen geſchloſſen zu halten; man dachte, ich
ichliefe, und dann ſprachen die Gräfin Romanzow und die
anderen Damen unter fi, was fie auf dem Herzen hatten,
wodurd ich viele Dinge erfuhr“. Der ihr zum Gemahl
beftimmte Großfürſt Peter war ihr gleichgiltig und das
ließ fich bei jeiner Sinnesart und feinem Gebaren — er
Fürftinnen. 245
ipielte al8 Bräutigam lieber mit Puppen als mit feiner
Braut — leicht begreifen ; aber: „die Krone von Ruſſland
war mir nicht gleichgiltig”. Dieſe Krone wurde ver Pol,
um welchen all ihr Dichten und Trachten fich drehte,
einzig und allein fich drehte, denn das unerfättliche TZempera-
ment, welches fpäter die Frau jo vielfach zeritreute, war
in dem faum mannbar gewordenen Mäpchen noch nicht
erwacht. In ver eben fo heifeln als drückenden und
widerwärtigen Stellung zwifchen ver in faſt ununter-
brochenem Wolluft- oder Branntweinraufh dem Grabe
zutaumelnden Carin Elifabeth, dem kindiſchen Trunkenbold
von Bräutigam und den verſchiedenen Parteien des Hofes
wurde Katharina, wie jie befannt hat, nur Durch den
Ehrgeiz aufrecht erhalten. „Ich fühlte im Grunde meines
Herzens ein geheimes etwas, welches mich nie einen
Augenblid zweifeln ließ, daß ich früher oder fpäter ſouveräne
Kaiſerin von Ruſſland werden würde, KRatferin aus eigener
Machtvollfommenheit (de mon propre chef)‘. Sie
träumte aber nicht etwa nur von diefer Zukunftsrolle, fie
bereitete ſich vielmehr alles Ernftes darauf vor. „Ich
bemühte mich, die Zuneigung aller zu gewinnen; Große
und Kleine, niemand wurde von mir vernachläffigt; ich
machte mir eine Kegel daraus, zu venfen, daß ich aller
bebürfte, und demnach alles zu thun, um mir Wohlwollen
zu erwerben, was mir auch gelang”. Um fich populär zu
machen, hielt fie ftreng die ruſſiſchen Faften, unterzog
jih pünftlih ven läſtigen Ceremonien des griechifchen
Ritus und las daneben zu ihrer Brivaterbauung Bran-
töme’8 zotentriefendes Buch von ven „Dames galantes“.
246 Buch III. Kap. 6.
Der arme Beter, dieſer Duerfopf von einem Fleinen
deutichen Bringen, welcher fich in dem ungeheuer weiten
Ruſſland durchaus nicht zurechtfinden fonnte, war nicht
dazu gemacht, der Mann einer Frau zu fein, welche fich
in der angedeuteten Weife theoretifch und praftifch auf
bie Rolle einer nordiſchen Semiramis vorbereitete. Nach⸗
dem deſſenungeachtet vie Vermählung ftattgefunden,
mußte Katharina bei Tage mit ihrem Gemahl „Solvätles“
jpielen und bei Naht — nun, lajjen wir das die Karin
jelbjt erzählen. „Mavdame Krufe verjchaffte dem Groß-
fürften Spielzeug, Puppen und andere Slindereien, vie er
bi8 zur Narrbeit liebte. Währenn des Tages verbarg
man dieſelben in und unter meinem Bett; ver Großfürjt
legte fich zuerft nach dem Abendeſſen nieder, und wenn
wir beide zu Bette waren, ſchloß Madame Krufe die
Thüre und ver Großfürft ſpielte bis 1 oder 2 Uhr Mor-
gend. Wohl oder übel mußte ich an biefen herrlichen
Bergnügungen theilnehmen. Oft lachte ich darüber, aber
häufig war es mir unangenehm und zumiber”. Sehr
begreifliher Weife.. Die junge fchöne Frau fagte in
Bezug auf diefe abfonderlichen ehelichen Freuden fpäter
jehr naiv oder aber fehr witzig: „Il me semble, que
jetais bonne pour autre chose“. Nuachmals behelligte
der von der Maitreffenfucht des Jahrhunderts ebenfalls
ergriffene Großfürft Beter feine Frau in anderer Manier.
Wenn er nämlich Nachts betrunfen das eheliche Yager
beitieg, weckte er feine fchlafende Gemahlin mit Yauft-
Ihlägen, um ihr die Reize feiner Maitreſſe im Detail zu
bildern. Wenigſtens erzählt dies Katharina. In⸗
Fürftinnen. 247
zwiſchen war ver Carin Elifabeth in einem ihrer wenigen
nüchternen Momente eingefallen, daß für-die Sicherſtellung
der Thronfolge zu forgen wäre, und da der Großfürft un-
fähig fchien, dies zu bewerfftelligen, jo wurde auf der
Carin Befehl durch die Obergounernante der Groß—
fürftin, Frau Tſchoglokoff, ein anderer dazu angeleitet,
das nöthige vorzufehren. Die Memoiren Katharina’s
laſſen es unflar, wer dieſer andere gemejen fei, ob
Sergius Soltiloff, Zachar Tſchernitſcheff oder Leo
Nariſchkin. In Gegenwart des letzteren äußerte ber
Großfürft gegen feine Freunde: „Der Himmel weiß,
woher meine Frau ſchwanger geworden ift; ich bin durdh-
aus nicht gewiß, ob dies Kind mir gehört”. Nariſchkin
machte der Großfürftin eilenvs Meldung und Katharina
wußte e8 mittels einer fühnen Lift dahin zu bringen, daß
ihr Gemahl e8 nicht mehr wagte, jo bevenfliche Zweifel
zu äußern 176), Aber als er den Carenthron beftiegen
hatte, befand er ſich in offenem Krieg mit feiner Frau.
Auf weilen Seite der Sieg fein würde, konnte nicht
176) Me&moires de l’imperatrice Catherine II., Ecrits par
elle-möme, et prec&des d’une preface par A. Herzen. Londres
1858. Memoiren der Kaiferin Katharina II. Autorif. deutſche
Ausg. Hannover 1859. ©. 13, 15, 21, 36, 40, 41, 43, 49, 74,
119, 164, 170, 273. Weber die Echtheit des Buches vgl. Sybels
Hiftor. Zeitfehr. Heft I und Allg. Zeitung 1859, Beil. zu Nr. 25 fg.
und Nr. 97. Sugenheim bat in feiner Schrift „Ruſſlands Ein-
fluß auf und Beziehungen zu Deutſchland“ (I, 322 fg.) mit viel
kombinatoriſchem Scharffinn die Vermutbung anfgeftellt und ver-
fochten, Katbarina II. fei eine nattitüge Tochter Friedrichs des
Großen geweſen.
248 Buch III. Kap. 6.
zweifelhaft ericheinen. Es war einer der verhängnißvoliften
Zage des Jahrhunderts, jener Yulitag von 1762, als
Katharina von Petersburg gen Peterhof rüdte, um ihren
vathlofen und verrathenen Gemahl zu entthronen, an der
Spige der zu ihr übergetretenen Garden in Uniform auf
einem weißgrauen Zigerhengit reitend, das Band des
Andreasordens umgehängt, auf den fliegenden Haaren
einen Soldatenhut mit einem Cichenzweig. Weiter
brauden wir ihre Yaufbahn nicht zu verfolgen. Sie ge-
hört der Weltgefchichte an. Das rihtigfte, wenn auch
ungalant genug lautenve Urtheil über fie dürfte das von
Lord Byron gefprochene fein und bleiben 177).
Zur jelben Zeit, wo an der Newa eine beutiche
Prinzeffin durch alle. Schlangengänge der BVerftellungs-
kunſt hindurch dem Throne Peters des Großen zuftrebte,
hat an der Ilm eine andere veutfche Fürftentochter,
Amalia von Braunfchweig, ſchon als Achtzehnjährige die
Witwe des Herzogs Ernft August von Sachſen-Weimar
geworben, durch Berufung Wielands zum Erzieher ihres
älteren Sohnes Karl Auguft ven Grund zum „Weimarer
Mufenhof" gelegt und hierdurch, wie überhaupt durch ihr
Walten voll Freifinn und Humanität, fi ein Andenfen
geitiftet, das für und für zu den gefegnetiten in unjerm
Lande gehören wird. Wie viel fie für die deutſche Kultur
177) „ .. In Catherines reign, whom glory still adores,
As greatest ofallsovereignsand whores“. DonJuan,
VI, 92. ®gl. meine „Drei Hofgeſchichten“, 3. Aufl., wo ih S.1 —
129 eine einläfflihde Charakteriſtik Katharina’ als Weib und
Herrſcherin gegeben habe.
Fürftinnen. 249
gethan, indem fie ihrem trefflihen Sohn und Nach-
folger die Wege wies und ebnete, auf welchen vorſchreitend
er das Kleine Weimar zur geiftigen Hauptftadt Deutich-
lands machte, wie fie die Beſten ihrer Zeit zu fich heran
308, ihr Geift, ihre Lebensfunft, endlich ihr herrliches
Selbftbefenntniß („Meine Gedanken“)178) — das alles
jteht feit in der Erinnerung jedes Gebilveten. ALS fie
am 10. April 1807 geftorben, fchrieb ihr Freund Wie-
fand in feinem tiefen Seelenjhmerz an Böttiger: „Sie
war in ihrer Art fo gut die Einzige als Friedrich ver
Zweite in der feinigen“ — und ſchloß Göthe feine Ge-
denkrede auf die Vollendete mit den jchönen Worten:
„Das ift der Borzug edler Naturen, daß ihr Hinfcheiden
in höhere Regionen fegnend wirft wie ihr Verweilen auf
der Erde, daß fie und von dorther gleich Sternen ent»
gegenleuchten, als Richtpunkte, wohin wir unſern Lauf
bei einer nur zu oft durch Stürme unterbrochenen Fahrt
zu richten haben; daß diejenigen, zu denen wir ung als
Wohlwollenden und Hilfereichen im Leben hinwenveten,
nun die ſehnſuchtsvollen Blide nach ſich ziehen als
Vollendete, Selige“.
Auf Karl Auguſts edle Gattin Luiſe, die Tochter der
großen Landgräfin, paſſt genau, was Schiller ſeinen
Poſa von der Königin Eliſabeth ſagen läſſt: — „Gleich
178) Abgedruckt in Rugo's „Erinnerungen Weimars“ und in
Schloönbachs „Zwölf Frauenbilber aus der Gothe⸗Schiller-Epoche“.
Die Originalhandſchrift befindet fih auf der mweimarer Staats-
bibliothef.
250 Buch III. Kap. 6.
ferne von Verwegenheit und Furcht, mit feſtem Helden-
fchritte wandelt fie die ſchmale Mittelbahn res Schid-
lihen“. Nachdem fie ſich erft an dem Hofe von Wei-
mar, wo bei ihrer Ankunft die Kraftgenialität fauf’te
und braufte, zurechtgefunden, nahm fie pie würdigſte
Stellung ein, ihr mitunter ftarf vortretendes Standes—
gefühl durch eine unermüdlich werfthätige Herzensmilve
zügelnd, geräujchlos alles gute und jchöne fördernd,
ſchlichtend, verſöhnend und begütigend überall eingreifend,
wo es noththat. Im Verhältnifie zu ihrem Gemahl bat
fie namentlich fpäter, inbetreff feiner Beziehungen zu
der ſchönen Schaufpielerin Karoline Jagemann, eine
Refignation, ja eine neidlos-hilfreiche Liebe bewährt, zu
welcher nur edelſte Weiblichkeit fich zu erheben vermag.
Es war ihr Leben lang etwas jungfräuliches in ihr.
Jene maßvolle Würdigkeit bezeichnete ihr Wefen, welche
Göthe in Taſſo der Prinzeffin anſchuf, vie er ja nad
dem Bilde ver Herzogin geformt Hat. Und wie treu hing
fie an allen, vie fie achtete und liebte! So hat fie, ob-
gleih der franzöfifchen Revolution gram, Knebels oft
ſehr rückſichtslos ſich außernde Schwärmerei dafür freund-
lich geduldet; ſo miſchte ſie bei Schillers Hingang ihre
Thränen nit denen feiner Witwe. Frau von Stael
urtheilte nach ihrem Befuche in Weimar über die Herzogin:
„Sie ift das wahre Mufter einer von der Natur zum
höchiten Range bejtimmten Frau. Ohne Anmaßung wie
ohne Schwachheit, erwedt fie in gleihem Grave Ver-
trauen und Ehrfurdt. ‘Der Helvenfinn der ritterlichen
Zeiten wohnt in ihrer Seele, ohne fie ver Sanftmuth
Fürftinnen. ' 251
ihres Gefchlechtes zu berauben 179)". In Wahrheit, e8
war mehr, viel mehr als eine böfliche Phrafe, wenn vie
begeifterte Tochter Neders ver Frau Karl Augufts
Heroismus zufchrieb. Die Herzogin bewährte ſolchen in
der jammervollen Zeit nach ver Schlacht bei Jena. ‘Da
ift fie, während alle Schreden franzöſiſcher Plünderung
auf ver Stadt Weimar lagen, dem zürnenvden Sieger mit
ruhiger Würde entgegengetreten und hat dem ‚brutalen
Achtung abgezwungen. ine fchwere, vielleicht die
fchwerfte Stunde im Leben ver trefflihen Frau, als jie,
während ihr Gemahl noch bei ver geichlagenen preußifchen
Armee ftand und alle übrigen Gliever der herzoglichen
Familie aus Weimar geflohen waren, am 15. Dftober
1806 ven vom Schlachtfeld von Jena Tommenven Napo⸗
leon oben an ver Schloftreppe empfing. „Qui &tes-
vous, Madame? — fuhr er fie an. Je vous plains,
jeecraserai votre mari“. Welche Selbftüberwindung
mußte e8 der Herzogin foften, nach dieſer verlekenden
und entmuthigenden erften Begegnung ven Verſuch zu
machen, den Gewaltigen milver zu ftimmen gegen das
weimarer Land und deſſen Fürften. Sie that e8 in einer
Audienz am folgenden Tage und that e8 mit Erfolg. Bei
179) Ich erinnere gelegentlich daran, dag Frau von Stael in
ihrem berühmten Buch De l’Allemagne über die Frauen unjeres
Landes den Ausſpruch that: „Die deutſchen Frauen haben einen
Reiz, der ihnen eigenthitmlich ift, einen fügen Ton in ihrer Stimme,
blonde Haare, einen blendenden Teint. Sie find bejcheiden, ihre
Gefühle find wahr, ihr Benehmen ift einfah. Ihre forgfältige
Erziehung und die ihnen natürliche Reinheit der Seele bewirken
den Zauber, den fie ausüben“.
2352 ' Bud) III. Kap. 6.
diefer Gelegenheit fagte Napoleon in feiner theatralifchen
Manier zu ihr: „Glauben Sie mir, Madame, es gibt
eine Vorfehung, welche alles leitet; ich bin nur das
Werkzeug derſelben“ — und nad) der Zuſammenkunft mit
der Herzogin äußerte der Eroberer gegen fein Gefolge:
„Das ift eine Frau, welcher unfere zweihundert Kanonen
feine Furcht einzuflößen vermochten”. Acht Tage fpäter
fagte er zu Potsdam dem weimarifchen Unterhändler
Müller: „Ihre Herzogin hat ſich ehr ſtandhaft bewiefen ;
fie hat meine ganze Achtung gewonnen 180)“. Aber weder
Karl Auguft noch Yuife glaubten an das „Werkzeug ver
Vorſehung“. Es gereicht dem Herzog von Weimar und
feiner Gemahlin zu hoher Ehre, daß fie fich nie und
nimmer zu jener Unterwürfigfeit gegen Napoleon herbei-
ließen, durch welche fo viele deutſche Fürſten und Fürftin-
nen fo fehr jich erniedrigt haben. Und fie befchränften
ih nicht darauf, für ihre Perfonen einen edlen Stolz zu
wahren, jondern fie bemühten ſich auch, in einer Zeit,
wo der Untergang Deutſchlands befiegelt fehien, jenen
vaterländifchen Geift mit zu pflegen und zu ftärfen, wel-
her den großen Aufihwung von 1813 herbeiführte 181),
180) Fr. v. Müller, Erinnerungen aus den Kriegszeiten von
1806—13, ©. 2, 4, 28.
181) Ein damaliger Bertrauter des herzoglichen Paares, der
nahmalige preußifche General Fr. 8. Ferd. v. Müffling, erzählt
(„Aus meinem Leben”, S. 21): „Der geheime Plan des Herzogs
K. A. v. Weimar ging dahin, fo, wie feine Reſidenz bisher der
Centralpuntt Deutſchlands für Kunft und Wiſſenſchaft war, fie nun
auch zum Centralpunft der deutſchen Freiheit zu machen, foweit die
Verhältniſſe e8 geftatteten. Ich war in diefer Beziehung neben
Fürſtinnen. 253
Die Zeit der Befreiungskriege hat überhaupt manches
unverwelkliche Blatt in den Ehrenkranz des deutſchen
Frauenthums gewunden. Ohne die lebhafteſte Bethei—
ligung der Frauen und Jungfrauen an der großen Sache
wäre eine Begeiſterung, wie ſie damals die Herzen der
Männer und Jünglinge ſchwellte, kaum denkbar geweſen.
Die Berlinerinnen gingen mit dem Beiſpiel einer auf
opfernden Mühmwaltung für die zum Kampfe Ziehenven
und die Opfer daffelben voran 189). Nach ihrem Vorgang
entwidelten die deutſchen Frauen überall einen tiefein-
greifenden und höchſt mohlthätigen Eifer. Mütter fchickten
ihre Söhne, Schweftern ihre Brüder, Bräute ihre Bräuti-
game in den heiligen Krieg. Reiche Damen opferten dem
vaterländifchen Bedürfniſſe ihr Silberzeug und ihren
Schmud, arme Mädchen ihre Sparpfennige. Viele, fehr
viele holten ſich als Tiebreiche Pflegerinnen ver Ver:
wundeten in der Razarethluft ven Tod. Sittſame Mäp-
feiner würdigen, fo hoch verftändigen Gemahlin der
einzige Bertraute des Herzogs und diefer Zuftand ift geblieben, bis
i. J. 1813 der Krieg wieder ausbrad. Bon Weimar aus wurden
die Schwachen ermuthigt, wurde der Haß gegen den Tyrannen ge-
nährt und mandes ohne Auffehen vorbereitet, was 1813 fich ale
echtdeutiches Element zeigte”.
182) Niebuhr ſchrieb unter'm 21. Dezember 1813 aus Berlin:
„Das Betragen der Frauen iſt ehrwürdig. Hunderte entſagen nit nur
jedem Vergnügen, ſondern jelbft der genaueren Sorge für ihren Haus-
ftand, um in den Lazaretben zu verwalten, zu kochen, zu pflegen,
Wäſche zu fliden, Geld und Bedürfniffe herbeizufehaffen, die Mieth-
linge zu fonteoliven und zur Pflicht anzufpornen. Manche find ſchon
der Raub des Nervenfiebers geworden“. Lebensnachrichten, I, 575.
254 Bud II. Kap. 6.
hen wurden von dem erhebenven Zeitjturm über bie
Bedenklichkeiten ihres Gefchlechts fo weit hinausgeriffen,
daß fie mitten im Schlachtgraufen ven Kämpfern Schieß⸗
bevarf oder Erfriihungen zutrugen und auch jelber zur
Büchfe und zum Säbel griffen, um gegen ven Feind des
Baterlandes zu fechten. So Johanna Stegen, Johanna
Lüring, Lotte Krüger, Dorothea Sawoſch, Karoline
Peterſen und jene, wie ihre Mitftreiterinnen, von Rüdert
ihön gefeierte Prohaſka, welche in der lügow’fchen Frei-
ihar fo wader mitfämpfte und deren Gefchlecht erſt kund⸗
wurde, nachdem fie in dem fiegreichen Gefechte bei ver Görde
(16. September 1813) tödtlich verwundet worden 193).
183) Ein Mitfämpfer bei der Görde, F. Heydrich, erzählt
(Pröhle, Sahne Leben, S. 108): „Unter den Schwerverwunbeten
waren Lützow und das Heldenmäbchen Prohaffa. ALS die letztere,
noch unentdect wegen ihres Geſchlechts, nach beendigtem Gefecht
auf dem Schlachtfeld verbunden werben jollte, indem eine Kugel
ihr den Oberſchenkel zerfchmettert hatte, wollte fie dieſes nicht zu—
geben, ſondern verlangte erft den Feldwebel ihrer Abtheilung zu
ſprechen, und als dieſer herbeikam, ergab e8 fi, daß allen ver-
borgen, unter dem Waffenſchmuck ein Frauenzimmer mit Namen
Probaffa den Sieg mit hatte erringen helfen, was allgemeines
Erftaunen und Bewunderung wegen ihres Heldenmuthes und ihrer
Ausdauer in Ertragung der Beſchwerden des Krieges erregte“.
Die Berwundete ftarb drei Tage fpäter zu Danneberg. Sie ward
in Begleitung der Jungfrauen und der ganzen Bürgerichaft bes
Städtchens beerdigt und wurde ihr in der Kirche ein Denkmal ge-
ſetzt. — Da hier gerade von Heldinnen die Rede ift, fo ſei aud
noch der „fiebzehnjährigen, fchönen, guten”, won Göthe befungenen
Johanna Sebus gedacht, welche zwar nicht in einer Schlacht ge⸗
fallen, aber doch einen heldiſchen Tod geftorhen, indem fie beim
Fürftinnen. 355
Ja, die große Zeit fand auch die deutſchen Frauen
groß 184),
Eisgang des Rheins am 13. Januar 1809 erft ihre Mutter aus
den Fluten rettete und dann bei dem hochherzigen Berjuche, auch eine
Nachbarin und deren Kinder zu retten, in ben Wogen unterging.
* 184) Zwar ungern, aber zur Steuer der geſchichtlichen Wahr-
heit und zur Warnung muß ich doch anmerken, daß freilich auch ſehr
unrühmlihe Ausnahmen vorfamen. Der nadhmalige preußifche
General Ludwig von Reihe war, wie er in feinen Memoiren
(II, 4) erzählt, im November 1813 mit dem Generalflab des
bülow'ſchen Korps in Nörten einguartirt, einem Gut ber gräffic
barbenbergihen Familie unweit Göttingen. Der Hausherr war
Hof» und Jägermeifter am Jéröôme'ſchen Hof in Kafjel gewejen, —
an jenem Hof, an deſſen Ausfchweifungen leider nur allzu mande
deutihe Dame ſich betheiligt hatte. „Die jüngeren Züchter des
Haufes Außerten fi bei der Abenbtafel mit der eingetretenen Ver—
änderung der Dinge wenig zufrieden, indem fie meinten, baß
Kaſſel fortan ein jehr Tangweiliger Ort fein würde; man hätte fich
dort gar zu ſehr amüſirt“. Ein ſehr bevenflihes Zeugniß legte
auch Gneiſenau ab, indem er am 2. Mai 1809 von Glatz aus an
feine Frau fchrieb: „Arme deutſche Nation, die nur durch ihre
Fürften untergeht ! Ihr Ichlefiichen Frauen befommt dann eure alten,
Freunde (die Franzojen) wieder zu jehen; denn ableugnen könnt ihr.
e8 nicht, daß ihr, mit nur ſehr wenigen Ausnahmen, eine große
Borliebe für diefe Fremdlinge habt und darum eure weibliche Würbe
aufopfertet”. Perg, Leben Gneiſenau's, 1,495. Unmittelbar nach den
Befreiungstriegen entblödete fich eine deutſche Fürftin (Pauline von
Lippe-Detmold) nicht, gegen Helmina von Checy („LUnvergeffenes“,
II, 153) zu äußern: „Die Zufunft wird beweifen, daß der große
Mann (Napoleon) vechthatte und daß ihm die Menjchen unrecht
getban. Die Deutjchheit ift ein Unding. Der legte Krieg war
eine Gemwaltthätigfeit, die durch nichts zu rechtfertigen ift”. Vgl.
über das Verhalten der deutſchen Frauen zur Befreiungsfkriegszeit
mein Bud: „Blücher; feine Zeit und fein Leben“, 2. Aufl. III, 61fg.
256 | Bud) III. Rap. 6.
Aber wie dürfte von ver Zeit ver Unterjodhung
Deutichlands durch Napoleon und von ver Abſchüttelung
des franzöfifchen Joches die Rede fein, ohne daß jener
hochherzigen Königlichen Frau gedacht würde, auf welche
während der Schmachperiode taufende als nach einem
tröftlichen Sterne blickten und welche, viel zu frühe ſchon
am 19. Juli 1810 hingegangen, in der Bruft von tau⸗
fenden, die 1813 in ven Kampf zogen, als eine verklärte
Heilige begeifternd lebte? Luiſe von Medlenburg, im
December 1793 an den Kronprinzen von Preußen, nad-
maligen König Friedrich Wilhelm III. vermählt, nimmt
in der deutſchen Sittengefchichte fehon darum eine unver-
gängliche Ehrenftelle ein, weil das mujterhafte Beiſpiel,
welches fie als Gattin, Hausfrau und Mutter gab, außer:
ordentlich reinigend und erfrifchend auf die verborbene,
ja verpeftete und verpeftenve fittliche Atmofphäre gewirkt
hat, welche zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts am
preußifchen Hof und in der preußifchen Hauptftadt herrichte
und von da weithin wirkte. Es ift wahrlich nichte
Kleines geweſen, nach und bei ver furdhtbaren Zerrüttung
des Familienlebens in den vornehmen Kreifen wieder ein-
mal ein Königspaar im reinen und jchönen Stil ver
deutſchen Familienhaftigfeit mitfammen leben zu feben,
und man darf fühn behaupten, daß ohne die moralifche
Reinigung, welcher vie berliner Gefellfhaft nah dem
Vorbild diefes Föniglichen Haushaltes fich unterzog, die
Erhebung Preußens im Jahre 1813 unmöglich gewejen
wäre. Vieles, wohl jehr vieles würde auch fpäter anders
und befjer gefommen fein, als es fam, wenn Friedrich
Fürſtinnen. 257
Wilhelm III. ſeinen guten Genius Luiſe nicht allzu frühe
verloren hätte. Denn der ſanfte Einfluß dieſer hoch—
begabten und liebenswürdigen Frau war unwiderſtehlich
und fie wollte nur das Gute und Rechte. Ihre Schön-
heit, ihre Anmuth, ihre zartfinnige Güte gewannen ihr
alle Herzen. Männer, die font nur zum tadeln, felten
und wiverwillig zum anerkennen bereit waren, haben ihr
mit Begeifterung gehuldigt 189). Selbft ver übermüthigſte
der Sterblidhen, der Sieger Napoleon, mußte ihr, die er
als feine Feindin fannte und haſſte, Achtung und Be-
185) Der Berfafier der „Bertrauten Briefe über die inneren Ver-
hältniffe am Preuß. Hofe“ jagt (I, 101): „Die Gemahlin Friedrich
Wilhelm III. hatte von der Natur alles erhalten, was an ihrem
Geſchlechte liebenswürdig genannt werden kann. Die Ichönfte
Königin und eine noch ſchönere Seele. Sie war ganz Weib im
eigentlichften Berftande. Es war nicht der geringfte Anſpruch auf
Theilnahme an der Herrichaft ihres Mannes in ihrem Charakter zu
finden, nur Hingebung in den Willen defjelben, eine Anhänglic-
feit an feine Berfon, durch Liebe genährt und erhalten, das reine
Bild der Unſchuld und hoher weiblicher Sittlichleit: das waren die
Hauptzüge in dem Charakter Luiſe's, die beftimmt zu jein jchien,
den König glüdlih zu machen und der Nation das Mufter einer
Ehefrau zu geben, wie fie fein follte“. Der Ritter von Lang, wie
der eben angezogene Autor ein jchärffter Urtbeiler über Menfchen
und Dinge, äußert in feinen Memoiren (Il, 44) iiber die Königin:
„Das war num freilich eine Frau, die wie ein ganz überirdiſches
Weſen vor einem ſchwebte, in einer engliihen Geftalt und von
bonigjüßer Beredſamkeit, mit der fie allen die Stralen ihrer
Holdſeligkeit zuwarf, fo daß jeder, wie in einen zauberijchen
Traum verjett, von diefem lebendigen, vegjamen Feenbilde ent:
züdt war“.
Scherr, Frauenmwelt. 4. Aufl. IE. 17
258 Bud IN. Kap. 6.
wunderung zollen, ſobald er fie gejehen und geſprochen 136).
BVielfeitig gebildet und voll Theilnahme für das Schöne
und Ewige, hat die Königin Schiller und Jean Paul
geliebt, Göthe geehrt. Noch bevor die große Kataftrophe
von 1806 vie Verrottung und Unbaltbarfeit der bis-
herigen Staats⸗ und Gefellihaftsmarimen nachgewiefen,
legte Luife bei jeder Gelegenheit eine aufgehellte, ge=
rechte und humane Sinnesweife an ven Tag, mitunter zu
nicht geringer Beſchämung junferlicher Ausschließlichkeit
und Bornirtheit 197). Mit einer Würde, wie fie nur aus
186) Nach ber erften Zuſammenkunft mit der Königin zu Tilfit
fagte Napoleon zu Talleyrand: „Ich wußte, daß ich eine ſchöne
Königin jehen würde; aber ich babe die fchönfte Königin und zus
gleich die intereifantefte Frau gefunden“.
187) Es find bierüber mehrere wohlbezeugte Anekdoten im
Umlauf. Eine jehr bezeichnende erzählt der Biſchof Eylert („Cha⸗
rafterzüge und biftor. Fragmente aus dem Leben Friedrich Wil-
helms III.“, Bd. 2, ©. 63) aus dem Mund eines Obrenzeugen
jo: — Bei einer großen Cour in Magdeburg wurde der Königin
die ihr noch ganz unbefannte, bürgerlich geborene Gemahlin des
damaligen Majors v. N. vorgeftellt. Die Königin fragte unbe-
fangen die früher noch nie gejehene junge Frau: „Was find Sie
für eine Geborene?“ Aengftlih und verlegen in diefer ihr bis dahin
ganz unbelannten Sphäre, zum erflenmal vor einer Königin
ftehbend , antwortete faum hörbar die beflommene junge Frau mit
zitternder Stimme: „Ach, Ihro Majeftät, — ich bin gar feine —
Geborene“. Ein jpöttifches, höhnendes Lächeln zuckte auf den Ge
fihtern der meiften andern Damen. Dies würde die Königin, ala
nit bemerkt, mit Stillſchweigen haben hingehen laſſen; da fie
aber hören mußte, daß eine nicht fern ftehende Dame vornehmer
Abfunft leife zu ihrer Nachbarin fagte: „Alfo eine Miſſgeburt!“
ta fühlte die Königin ihr reinmenjchliches, fittliches Gefühl ver-
Fürftinnen. 259
einem reinen und hochgefinnten Gemüthe zu fchöpfen ift,
ging fie durch die Schule des Unglüde. Auf der jammer-
vollen Flucht vom Schlachtfelde von Iena durch Berlin
nach Königsberg hörte ihre Umgebung fie jenes tieffinnige
und troftvolle göthe'ſche Wort fprechen, daß nur der
Unglüdliche die himmlifchen Möchte Tenne. Im jener
ihweren Zeit ſchrieb fie eine Reihe von gedankenvollen,
herrlichen Briefen, worunter der allbefannte an ihren
Bater, in welchem fie e8 ausfprach, daß Preußen auf
den Lorbeern Friedrichs des Großen eingefchlafen ge-
legt und konnte und durfte nicht Schweigen. Angeregt, bob fle, wie
fie zu thun pflegte, ihre ſchönes, Lodiges, mit einem Diadem ge—
ſchmücktes Haupt und in hoher, heroorragender Geftalt heiter umher—⸗
ſchauend vaftehend fprac fie, allen im großen Aubdienzfale hörbar:
„Ei, Frau Majorin, Sie haben mir naiv-fatirijch geantwortet.
Ich geftehe, mit dem herkömmlichen Ausdruck „von Geburt fein“,
wenn damit ein angeborener Vorzug bezeichnet werben foll, babe
ich nie einen vernünftigen, ſittlichen Begriff verbinden fünnen, denn
in der Geburt find fih alle Menſchen ohne Ausnahme glei. Aller-
dings ift e8 von hohem Werthe, ermunternd und erhebend, von
guter Familie zu fein und von Vorfahren und Eltern abzuftammen,
die fih durch Tugend und Berbienfte auszeichneten, und wer wollte
das nicht ehren und bewahren? Aber dies findet man, Gott Lob!
in allen Ständen und aus ben unterften felbft find oft die größten
Wohlthäter des menichlichen Gefchlechtes hervorgegangen. Aeußere
glüdliche Lagen und Vorzüge kann man erben, aber innere perjün-
liche Würdigleit, worauf.am Ende doch alles ankommt, muß jeder
für ſich durch Selbftbeherrihung erwerben. Ich danke Ihnen, Frau
Majorin, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, dieſe, wie ich
glaube, fürs Leben nicht unwichtigen Gedanken unbefangen auszu-
Ipreden, und wünfche Ihnen in Ihrer Ehe viel Glück, deffen Quelle
doch immer nur allein im Herzen liegt“.
17*
260 Bud III. Kap. 6.
wejen, nicht mit ver neuen Zeit fortgefchritten und deß—
halb von ihr überflügelt worben fei;.aber auch, daß fie,
obzwar für ihr Leben nichts mehr Hoffend, an der Zu-
funft des DVaterlandes nicht verzweifle, weil fie feſt an
eine „ſittliche Weltordnung“ glaube. Sie follte die ruhm-
reihe Bewährung ihres Glaubens nicht mehr erleben,
aber ihr Andenken wird nie erlöichen und ihre Ruhe⸗
ftätte im Schloßgarten zu Charlottenburg iſt eim ge-
weihter Ort.
Siebentes Kapitel,
|
Staunen und Dichter.
Berühmte Frauen. — Künftlerinnen, Gelehrtinnen und Dichter-
innen. — Die Fürftin von Sallizin. — Elife von der Rede. —
Frau von Krüdener. — Klopftod der Rehabilitator des Spealis-
mus der Liebe. — Die Kehrjeite. — Wieland und die Frauen. —
Leffing. — Der Hainbund. — Voß und Erneftine. — Bürger und
Molly. — Die Epoche der Empfindſamkeit. — Karoline Flachs⸗
land. — Lavater und die Frauen. — Die Kraftgenialität. —
Göthe und Schiller. — Jean Paul und Charlotte von Kalb. —
Hölderlin und Diotima. — Die Romantifer. — Novalis. — Kleift
und Henriette. — Körner und Toni. — Rahel und Bettina. —
Immermann und Elifa. — Charlotte Stieglig. — Lenau und
Sophie. — Grabbe. — Schefer und Frieberif. — Johanna
Kintel. — Schluß.
„Mach Sitte zu ſtreben“ — „Das Sfepter ver Sitte
zu führen”, darein haben die beiven erlauchteften Geiſter
deuticher Nation übereinftimmend vie Beftimmung des
Weibes geſetzt. Alles Beſte, Schönfte, Heilfamjte, was
eine Frau finnen und thun mag, vollzieht fich ja in dem
Bereiche der Sittlichfeit. Auch in Frauen wohnt ver Ge-
nius und vermöge veffelben tft e8 einzelnen gegeben, ver
262 Buch IT. Kap. 7.
empfangenven, bewahrenden, pflegenten und erhaltenpen
Eigenfchaft des Weibes auch die fehaffende des Mannes
zu gefellen, obzwar immer in geringerem Maße und
ohne wirkliche Originalität, weil e8 dem Weibe jchlecht- -
hin unmöglich ift, ſich völlig objektiv ver Welt gegenüber
zu Stellen. Aber wehe ver Frau, welche bei dem Verfuche,
dem Manne zufallende Aufgaben zu löſen, der fittlichen
Grazie vergiſſt. Sie bringt es dann, und möge fie fich
fogar einen weltgefchichtlichen Namen erwerben, doch nur
dazu, in ihrer Perjon ein unerquickliches Zwitterding dar⸗
- zuftellen, wie die Semiramiffe und Zenobien alter und
neuer Zeit beweifen. Es liegt ein tiefer Sinn, das rich-
tigfte Gefühl für das Schickliche in dem achfelzudenven
Volksſprichwort von den Frauen, welde „bie Hofen an-
haben“. Das Weib foll fein Mann fein wollen over
e8 wird zur Karifatur. Der Mann gilt durch edles und
großes Thun, die Frau durch fehönes Sein. Und zu
Ihönem Sein vermag jede Frau in ihrer Sphäre fich
hinaufzuläutern : fie braucht nur den fittlicben Inſtinkt,
welchen die Natur in fie gelegt, walten zu lafjen. Sie
bedarf nicht der Reflexion, um das Rechte zu treffen, bie
Naturnothwendigkeit leitet jie dazu. Zu jeder Zeit haben
die Frauen mitgewirkt an dem Gewebe ver Weltgefchichte,
am fürverlichiten jedoch dadurch, daß fie, indem fie rechte
Frauen waren, die Männer befähigten, rechte Männer
zu fein.
Ein Gefchichtfchreiber der deutfchen Frauenwelt hat
die Genugthuung, fagen zu können, daß weitaus die Mehr-
zahl der berühmten Frauen, an welchen unfer Land im
Frauen und Dichter. 263
vorigen und gegenwärtigen Jahrhundert jo reich gewefen,
war und ift, ver ewigen. Gejeße epler. Weiblichkeit nicht
vergeffen hat. Hielten wir ein trodenes Regiſtriren für
erfprießlich, fo fönnten wir hier viele Seiten mit Nanien
von Künftlerinnen und Schriftftellerinnen anfüllen;
allein e8 reicht für unferen Zweck aus, auf einzelne charaf-
teriftiiche Erſcheinungen flüchtig hinzuweiſen. So auf
die berühmte, aus dem bregenzer Wald ftammenpe, i. J.
1741 zu Chur geborene, 1807 zu Rom geftorbene Ma-
lerin Angelika Kaufmann, welche befonders im Borträt-
fach die große Wendung von Zopfitil zur modern-flaffi-
jhen Richtung mit herbeiführen half; fo auf die Sänge-
rinnen Korona Schröter, eine Flamme Göthe’s, Charlotte
Höfer, Bauline Milder, Henriette Sonntag, Wilhelmine
Schröver-Devrient. Auf ven Ruhm, gelehrte Frauen im
beiten Sinne des Wortes zu fein, hatten im vorigen
Yahrbundert gerechten Anſpruch Luiſe Adelgunde Viktoria
Rulmus, des wohlmeinenven, fteifleinenen Pedanten Gott:
Ihed geiftwolle und liebenswürdige Gattin, welche zuerft
in Deutfchland einen literarifchen Salon hielt, und Doro-
thea Schlözer, des berühmten Publiciften ftreng unter-
richtete Tochter, welche die philofophifche Fakultät zu
Göttingen i. 3. 1787 zum Doktor kreirte. Die gedie-
genfte wiffenfchaftliche Schriftftellerin unferer Zeit war
ohne Frage die unter dem Autornamen Zalvj befannte
Thereſe Adolfine Luiſe Jakob, geboren 1797 zu Halle.
Ihre Verdeutſchung der ferbifchen Volkslieder, ihre Unter-
juhungen ver flavifhen Sprachen, ver germanijchen
Volkspoeſie, ver Echtheit oder vielmehr Unechtheit Offians,
264 Bud III. Rap. 7.
endlich ihre Gefchichte ver Kolonifation von Neu-Eng-
land find bleibende Leiftungen.. ‘Die unabfehbare Reihe -
beutfcher Dichterinnen neuerer Zeit eröffnete in ber Ro-
fofoperiode Luiſe Karſch, deren zu feinem Lobe auf-
gewandte Muſenkunſt Frieprich ver Große befanntlich ſehr
unföniglih mit zwei Thalern belohnte. Cine Enkelin
von ihr war Helmina von Chech, deren vielumgetriebenes
Leben einen intereffanteren Roman ausmacht, als irgend
einer der von ihr gefchriebenen tft. Die Ahnmutter aller
deutſchen Romandichterinnen aber ift Marie Sophie La⸗
voche, welcher wir noch weiterhin begegnen werden. Sie
war 1731 zu Kaufbeuren in Schwaben geboren und ftarb
1807 zu Offenbach. Ihre jebt gründlich verfchollene
„Seichichte des Fräuleins von Sternheim“ (1771) war
einft ein Buch von europätfcher Berühmtheit. An fehrift-
ftelferifcher Fruchtbarkeit haben fpäter nur noch ganz wenige
rauen mit ihr zu wetteifern vermodht. Am nächften ift
ihr Karoline Pichler gekommen, auch im Erfolg, ver jetzt
allerdings auch ſchon wieder ein verfchollener ift.
Andere literarifch gebildete over Literarifch jelbftthä-
tige Frauen haben vermöge einer bevorzugten gejellichaft-
fihen Stellung am Ende des vorigen und zu Anfang
unferes Jahrhunderts auf die Kulturbewegung einen jehr
bedeutenden Einfluß ausgeübt. So jene Fürftin Amalia
von Gallizin, welche zu Münfter eine Art myftifch-philo-
fophifchen Hofes hielt, an welchem bie Hemfterhuis, Für-
ftenberg, Hamann, Safobi und Stolberg verkehrten und
auf welchen freilich ein Mann wie Voß mit Abneigung
und Argwohn blidte, al8 auf einen Sammelpunft ver
Frauen und Dichter. 265
„Dunkler“. Sp ferner Elife von der Rede, eine der
eriten deutſchen Frauen, welche das Reifen und Reifen-
beichreiben zu einer Kunft ausbilveten, viefelbe Elise,
welche exit eine Verehrerin und dann vie Entlarverin des
großen Schwindlers Caglioftro war und zuleßt die Muſe
und Pflegerin des Urania-Sänger Tiedge gewefen ift.
Endlich dürfte auch noch die berühmte oder, wenn man
will, berüchtigte Juliane von Krüdener hierher gehören,
die, von Geburt eine Vietinghoff aus Kurland, zweideutig
genug zwijchen einer Ruffin und einer Pariferin, zwifchen
"einer Buhlerin und einer Büßerin, zwijchen einer politi-
ſchen Ränfefpinnerin und einer religiöfen Schwärmerin
Ichilferte, von unftillbarer Unruhe und einem vaftlos
taftenden Ehrgeiz verzehrt den franzöfifch gefchriebenen
Roman „Valerie“ (1804) veröffentlichte, welcher die in ven
vornehmen Kreifen am Wenbepunfte von zwei Jahrhun⸗
derten herrichende Stimmung fehr ausdrucksvoll darlegte,
dann eine Zeitlang als Myſtagogin des Caren Alexander J.
einen großen Stand hatte, hierauf won der Polizei
jehr ungalant geftörte Miffionsfahrten durch Europa
unternahm und Schließlich 1824 in der Krim ftarb, mo
fie eine Kolonie im krüdener ſchen Sinne hatte gründen
wollen 188).
188) Die Krüdenerei war nur eine der zahlreichen Erſchei⸗
nungsformen der Nüdwärtferei des romantischen Ungeifts der Ber-
dunfelung und Verknechtung gegenüber dem emancipativen Geift des
18. Jahrhunderts. Die Maria - Magdalena -Zuliane, welche fich
dem ruſſiſchen Caren i. 3. 1815 auf feinem Wege nad) Paris in
Heibelberg anzugaufeln gewußt hatte und dann in der franzöfifchen
266 Buch III. Kap. 7.
Bon dieſer Erfeheinung, in welcher fich mit ven Tra-
pitionen des Pietismus der Zopfzeit, vem Gefühlsüber-
ihwang der Sturm- und ‘Drangperiode und der Locker⸗
heit der Direftorialepoche ver ſchon ganz moderne An-
lang eines myſtiſch⸗prophetiſchen Socialismus wunderlich
verbindet, wenden wir uns rückwärts zu dem eigentlichen
Thema dieſes Kapitel, zur Betrachtung der auserwählten
Hauptftadt ihre Gaftrollen als Konventikelpriefterin gab, konnte für
die Sibylle der traurigen Epoche gelten, welche mit ber Reftau-
ration des Bourbonismus anhob. Im übrigen fehlten biejem
Spettafel der Frömmelei auch die komiſchen Intermezzi nicht. Ein
foldhes ift das folgende, in den „Souvenirs, tirds des papiers de
Madame Recamier“, 1856, I, 286, erzählte. „Madame de Krü-
dener prit en grande compassion Benjamin Constant qu’elle
avait connu en Suisse et qu’elle retrouvait & Paris accabl&
sous le poids d’une r&eprobation universelle — (welche Verdam⸗
mung befanntlih nur allzu gerecht war, denn der liberale Mata-
dor hatte ſich während der „Hundert Tage” ganz als der Lump be-
nommen, welder er geweſen if). Un soir & l’une des reunions
les plus nombreuses de ce bizarre sanctuaire (dans un hötel du
- Faubourg Saint-Honor6) la prière etait d6jä commenc&e (c'était
M. Krüdener qui habituellement l’improvisait et elle ne faisait
pas sans Eloquence), tous les assistans &taient à genoux. Ben-
jamin Constant comme les autres. Le bruit d’une personne qui
survenait lui fait lever la tête, etil reconnait Madame la du-
chesse deBourbon. Les regards de la princesse tombent sur le
publiciste, et le voil& qui, par embarras de l’attitude et du lieu
oü il est surpris, inquiet de l’impression que la duchesse ne pou-
vait manquer d’en recevoir, se prosterna bien davantage, de
sorte que son front tonchait quasi la terre; en même temps il
se disait: A coup sur, la princesse doit penser et se dire:
„Que fait là cet hypocrite ?*
Frauen und Dichter. . 267
Frauen, welche als Geliebte, Lebensgefährtinnen und
Freundinnen unferer großen Dichter fo viel dazu bei-
trugen, die Miffion dieſer edlen Geifter gelingen zu machen,
und deſſhalb ven innigen Danf unjeres Landes, ja ver
ganzen gebildeten Welt fich verdient haben. Auf Voll-
Itändigfeit in Namen und Zahlen over auf Detailichilves
rungen geht die nachitehende Vergegenwärtigung der in
Trage ftehenden Verhältniffe nicht aus. Doch wird fich
manches für die deutſche Frauengefchichte Charafteriftifche
barein verweben und wird fich paneben ver Beweis führen
laffen, daß es bis zur Gegenwart herab Frauencharaftere
gegeben bat, bie nicht unwürbig find, jenen zur Seite ge-
ftellt zu werben, welche die Glanzperiode unferer Literatur
geſchmückt haben und venen viejelbe vielfach ihre beiten
Eingebungen verbanfte.
Die rohmaterielle, gemeinfinnlihe Auffaffung ver
Liebe, welcher wir im 17. Jahrhundert begegnet find und
welche wir dort in der Literatur einen entiprechenven
Ausprud voll gedunfener Lüſternheit und fehmwülftiger
Schlüpfrigfeit finden fahen, hat fih zwar noch ins 18,
Sahrhundert hereingezogen, doch nicht, ohne jchon an der
Schwelle vefjelben auf eine Oppofition zu ftoßen, vie fich
mehr und mehr fteigerte und läuterte. Der brutalen An-
fiht von den Frauen als bloßen Luſtwerkzeugen gegen-
über nahm eine edlere das Wort, welche nicht allein vie
Männer zur Achtung vor der Würde des weiblichen Ge-
ſchlechtes mahnte, ſondern auch dem leteren wieder Selbjt-
achtung einflößte. Zur nämlichen Zeit, wo die galanten
Herren und Damen der deutſchen Höfe an einem früheren
268 Bud III. Kap. 7.
Ortes berührten frechen Reimwerk des Herm von Beffer
(„Die Schoß der Geliebten”) bewundernd ſich ergößten,
fohrieb ein anderer Hofpichter, Herr von Kanitz, feine
Trauerode auf den Tod feiner Gattin Dorothea von Ar-
nim und legte darin den Ton auf die Tugenden ber
Heimgegangenen als Gattin, Hausfrau und Mutter.
Weit inniger fchon trat diefe Anerkennung edler Weib-
(ichfeit in dem Klageliede hervor, welches vierzig Sabre
jpäter (1736) Albrecht von Haller auf das Grab feiner
„geliebten Frau Marianne“ nieverlegte. Aber die große
Wendung von der materialiftiichen Anfchauung und Be-
handlungsweiſe des Verhältniffes von Mann und Weib
zur ibealifchen trat erjt mit und durch Klopftod ein.
Diefer Dichter, welcher wie ein priefterlider Seher in
feiner Zeit daftand und als folcher von ihr verehrt wurde,
‚war wie ver Wiederherſteller ver fittlihen Würde ver
Poefie fo auch der Nehabilitator des Idealismus der
Liebe. Er führte in die Beziehungen ver beiden Ge-
ichlechter ven Seelenſchwung, ven Zartfinn, vie veligiöfe
Degeifterung zurüd. Er feierte zuerft wieder in vollen
Brufttönen das Göttlihe im Weibe, legte den deutſchen
Mädchen „Vaterlandslieder“ auf vie Lippen und ſah in
der Geliebten ein höheres Wefen, welchem Gemeines
nicht nahen dürfe 18%). Seine glühende Jugendliebe für
189) Sie ift jugendlich ſchön, nicht wie das leichte Volt
Rofenwangiger Mädchen ift,
Die gedankenlos blüh'n, nur im Vorübergeh'n
Bon der Natur und im Scherz gemadit ;
Frauen und Dichter. 269
Fanny Schmidt fand Feine Erwiederung; aber vollen,
wenn auch allzu kurzen Erfaß für dieſes verfagte Glück
gab ihm feine Ehe mit Margaretha Moller, vie er unter
dem Namen Cidli jo hoch gefeiert Hat.
Indeſſen lag in dem durch Klopftod gepflegten und
zur Geltung gebrachten Idealismus der Xiebe die Gefahr
einer Gefühlsüberfpannung, welche in vie Liebes- und
Freundſchaftsverhältniſſe bald eine Empfindſamkeit, Em-
pfindſeligkeit, Empfindelei brachte, die allen wirklichen
Lebensgehalt zu verflüchtigen drohte, eine thränenſelige
Schwärmerei, die in dem vielberufenen miller'ſchen „Sieg⸗
wart“ gipfelte, einem Buch, welchem die zweideutige Ehre
zukommt, die Thränendrüſe zu einem poetiſchen Haupt:
motin gemacht zu haben. Seltfam genug jollte gerade
ein Poet, welcher fpäter durch feine heiterfinnliche, mit-
unter ſtark ins Lockere fallenne Behandlungsweiſe der
Liebe den Ausschreitungen ver Sentimentalität eine
Schranke fegte, in feiner Jugend die ganze Ueberjtiegen-
heit der empfinpnfamen Zeitftimmung durchmachen. Wie-
lands Verhältniß zu Sophie Gutermann war ein gelebter
Roman der Empfindfamfeit, wie e8 nur immer einen ge>
Leer an Empfindung und Geift, leer des allmächtig
Zriumphirenden Götterblid®e.
Sie ift jugendlich fhön, ihre Bewegungen
Spreden alle die Göttlichkeit
Ihres Herzens; und werth, werth der Unfterblichkeit
Zritt fie hoch im Triumph daher,
Schön wie ein feftlicher Tag, frei wie bie heitre Luft,
Boller Einfalt wie du, Natur!
270 Buch III. Kap. 7.
fchriebenen geben konnte. Nun, er war fiebzehn, die ſchöne
Sophie neunzehn Jahre alt, als fie im Sommer 1750 im
idyllischen Pfarrhaufe zu Biberach ihren „ewigen“ Xiebes-
bund fchloffen, und in beiven lebte ver volle Ueberſchwang
ber Zeit. Da war e8 denn fein Wunder, daß fich die Lie-
benven „oft mitfammen auf die Kniee warfen, ber Tugend
ewige Treue ſchwuren und dann in jchwärmerifcher Freu⸗
digkeit fich füfften“ Aber Wieland ging dann nad Zü-
vi, wo fich jein lebhaftes Naturell in allerlei, „ flüchtigen
Liebſchaften“ behagte; dann nad) Bern, wo die geniale, ob-
gleich nicht ſchöne Julie Bondeli, vie begeifterte Miffio-
närin der Lehren Roufjeau’s, den Zunder feines Herzens
hellauf lohen machte. -Wieland begehrte Julie's Hand,
aber fie traute feiner Beftändigfeit nicht. „Sagen Sie
mir — fragte fie ihn eines Tages mit forfchendem Blicke
— werden Sie niemals eine andere als mich lieben
können?“ — „Niemals! das ift unmöglich! ..... In⸗
deſſen, ja auf Augenblicke könnte es doch geſchehen, wenn
ich etwa eine ſchönere Frau fände als Sie, die höchſt un-
glücklich und zugleich Höchit tugenphaft wäre”. Der arme
Wieland, welcher fpäter die Anatomie des weiblichen
Herzens jo gut. verftand, fcheint damals noch nicht ge=
wußt zu haben, daß Feine Frau ihrem Liebhaber ven
Gedanfen verzeihen kann, er fünnte eine andere fchöner
finden als fie. Julie wußte, was fie zu thun hatte, und tief-
verwundeten Herzen® ließ fie ven Poeten zieben. Daheim
in Schwaben fand er dann auf dem Schloffe Warthaufen,
welches dem Grafen Stadion gehörte, feine Jugend-
geliebte Sophie als Frau Yon Laroche wieder. An vie
grauen und Dichter. . 271
Stelle der fentimentalen Liebe trat nun eine fentimentale
Freundſchaft und zugleich entpuppte fich unter der nach:
helfenden Hand des feinen, fofratifch-heiteren Weltmanns
Stadion Wieland zum Dichter des Idris, der Mufarion,
der Abveriten und des Oberon. Nachdem er noch einen
furzen Roman mit der Schweiter Sophie’8 durchgefpielt,
verheiratete er fich 1765 in ganz bürgerlich nüchterner
‚und ehrbarer Weife mit Dorothea Hillenbrandt, die er
in Briefen an feinen Freund Geffner in Zürich ein „un-
ſchuldiges, von der Welt unangeftedtes, fanftes, fröh-
liches, gefälliges Geſchöpf“ nennt, „nicht ſehr Schön, aber
doch hübſch genug für einen ehrlihen Mann, ver gern
eine Frau für fich felbit hat, ein gutes, angenehmes Haus-
weibchen und damit Punktum“. Die Fühlfeligfeit feiner
Sünglingsjahre erwachte aber doch von neuem in ihm,
fo oft er feine Freundin Sophie wiederſah. So im Juni
1771, wo er fie in Thalehrenbreitftein befuchte und wo
bei feiner Ankunft jene von einem Augenzeugen und Mit-
handelnden, Friedrich Jakobi, befchriebene Scene ftatt-
fand, welche ein wahres Kabinettſtück aus der Periode der
Empfindſamkeit ausmacht 1). Mit feinem „Hausweib-
190) Zafobi’8 Briefwechjel, Nr. 10-11: „Wir hörten einen’
Wagen rollen und ſahen zum Fenſter hinaus — er (Wieland) war
es ſelbſt. Der Herr von Laroche Tief die Treppe hinunter ihm ent-
gegen, ih ungeduldig ihm nach und wir empfingen unfern Freund
unter der Hausthüre.. Wieland war bewegt und etwas betäubt.
Während dem, daß wir ihn bewilllommten, fommt die Frau von
Laroche die Treppe herunter. Wieland hatte eben mit einer Art
von Unruhe fi) nach ihr erkundigt und ſchien äußerſt ungeduldig,
272 Bud III. Kap. 7.
hen“ hat ver Verfaffer des Agathon bekanntlich ſehr
glücklich gelebt und wußte ihm Dorothea im Verein mit
ihren Zöchtern befonvers während des Aufenthalts ver
Familie auf dem Landgut Oſſmannſtedt eine ganz pa-
triarchaftfch behagliche Eriftenz zu bereiten.
Zange nicht fo gut follte e8 vem großen Leſſing wer-
den, deſſen einfames und ftarfes Herz nur vierzehn Mo⸗
nate lang in dem häuffichen Glücke ſich fonnen konnte,
welches ihm feine Frau Eva, die Witwe eines hamburger
Kaufmanns Namens König, gewährte. Kurz nad) feiner
Derbindung mit ihr fehrieb er an feine Schwefter : „Meine
fie zu ſehen; auf einmal erblidte er fie — ich ſah ihn ganz deutlich
zurüdichaudern. Darauf fehrte er fi zur Seite, warf mit einer
zitternden und zugleich heftigen Bewegung feinen Hut hinter ſich auf
die Erde und ſchwankte zu Sophie bin. Alles biefes warb von
einem fo außerorbentlihen Ausdrude in Wielands ganzer Perjon
begleitet, daß ich mich in allen Nerven davon erichüttert fühlte.
Sophie ging ihrem Freunde mit ausgebreiteten Armen entgegen;
er aber, anftatt die Umarmung anzunehmen, ergriff ihre Hände
und büdte fih, um fein Geſicht darein zu verbergen. Sophie
neigte mit einer himmliſchen Miene ſich Über ihn und fagte mit
einem Zone, den feine Clairon und feine Dubois nachzuahmen
fähig ift: „Wieland — Wieland — o ja, Sie find es, Sie find
noch immer mein lieber Wieland!” Wieland, von biejer rührenden
Stimme gewedt, richtete ſich etwas in die Höhe, blickte in bie
weinenden Augen feiner Freundin und ließ dann fein Geficht auf
ihren Arm zurüdfinfen. Keiner von den Umftehenden konnte fich
der Thränen enthalten: mir firömten fie bie Wangen herunter, ich
Ihluchzte; ih war außer mir und ich wüßte bis auf den heutigen
Tag noch nicht zu jagen, wie fich diefe Scene geendigt und wie
wir zufanmen wieder in den Sal hinaufgelommen find“.
Frauen und Dichter. | 273
Frau iſt in allen Stüden fo, wie ich mir fie längjt ge-
wünjcht habe: eben jo herzlich gut und vechtichaffen als
wir nur immer unfere Mutter gegen unferen Bater ge-
fannt haben“. Da ift feine Spur von Schwärmerei, wie
fih denn Lefjings klarer und tafferer Verſtand befannt-
ih dem fentimentalen Ueberfchwang fcharf entgegenge-
feßt und inbetreff von Göthe's Werther gegen Ejchen-
burg geäußert hat, jolche „Heingroße, verächtlich ſchätzbare
Driginale bervorzubringen fei der chriftlichen Erziehung
vorbehalten gewejen, vie ein förperliches Bedürfniß
fo ſchön in eine geiftige Vollfommenbeit zu verwandeln
wiffe”. Damit war nun freilich nicht allein die Empfind⸗
famfeit, fondern auch das Liebesideal der modernen Welt
— (modern als Gegenfag zu antik genommen) — über-
haupt verneint. Allein Leffing follte bald an fich felbit
erfahren, daß denn doch nicht bloß „ein förperliches Be⸗
dürfniß“ ven Mann an das Weib binde. Als er feine
Frau in Folge einer fchweren Entbindung fammt ihrem
Kinde im Januar 1778 verloren hatte, fehrieb er an
Eſchenburg und an feinen Bruder Karl: „Ich wollte e8
auch einmal jo gut haben wie andere Menfchen ; aber e8
ift mir fchlecht befommen ..... Meine Frau ift tobt,
und diefe Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich
freue mich, daß mir viele vergleichen Erfahrungen nicht
mehr übrig fein Fünnen, und ich bin ganz leiht.....
Wenn du diefe Frau gekannt Hätteft! Aber man fagt,
es fei nichts als Eigenlob, feine Frau zu rühmen. Nun
gut, ich fage nichts weiter von ihr. Aber wenn du jie
gefannt hätteſt! Du wirft mich nie wieder Io jehen, wie
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II.
274 Bud UI. Kap. 7.
Mofes (Mentelsjohn) mich gejehen, fo ruhig und zu-
frieden in meinen vier Wänden. Wenn ich mit der einen
Hälfte meiner Tage das Glück erfaufen könnte, die andere
mit ihr zu verleben; wie gerne wollte ich es thun! Aber
das geht nicht und ich muß nun wieder anfangen, meinen
Weg allein zu duſeln; ich habe dieſes Glück unftreitig
nicht verdient“. Es liegt eine Kraft und eine Bitterfeit
in dieſem ftoifch verbaltenen Schmerz, welche Bände voll
weichlicher Klageliever aufwiegen. Der große Kämpfer
Leſſing hatte auch gar Feine Zeit, Klageliever zu fchreiben :
gerade in dieſer trühften Zeit feines Lebens fchlug er feine
glorreichiten Schlachten gegen ven . Hauptpaftor Götze,
d. h. gegen das Pfaffenthum.
Unter den jungen Poeten des göttinger Hainbundes
war in der Blüthezeit deſſelben das ätherifche Sehnen
und Schmachten in Klopftods Manier gäng und gäbe.
Es wurden im Kreife diefer Jünglinge, welche fich mit
dem wohlgemeinten, aber an der Wirklichkeit bald jchei-
ternden Plane trugen, der deutſchen Dichtung eine fociale
Geftaltung zu geben, fehr viele Oden und Elegien „an
bie unbefannte Geliebte” gevichtet, d. h. die Hainbündler
behandelten wie bie Freiheit fo auch vie Liebe in ganz
abſtrakter Weife, bis fich die Abftraftionen gegen vie fon-
freten Forderungen des Lebens nicht mehr halten ließen.
Glücklich, wer dann in die Profa der Wirklichkeit fo viel
Idealismus mit hinüberretten Tonnte, um ein bürgerlich-
beſcheidenes Dafein zum gemüthlichen Familien-Idyll zu
geftalten. Dies gelang wenigftens dem waderen Voß,
welcher bie Seele des Hainbundes gewefen und nachmals
Frauen und Dichter. 275
mit der trefflichen Erneftine Boie ein Eheleben führte,
wie er e8 in feiner „Luiſe“ und in feinem „Siebzigften
Geburtstag” gevichtet hat. Die Schilderung, welche
Erneitine von ihrer Brautſchaft und von ihren erften
Ehejahren zu Wandsbeck und Otterndorf gegeben hat 191),
ift eine der herzigften Epifoden ver deutſchen Sittenge-
ſchichte. Unter den bejchränfteften Umſtänden waltete
bie junge Frau des Heinen Haushalts, während ihr Gatte
an feinem deutſchen Homer arbeitete. Sie bewiefen den
regiten Sinn für die höchſten Aufgaben der Zeit, diefe
prächtigen Menſchen, und freuten ſich doch wie Rinder,
wenn fie von ihrer färglichen Einnahme fo viel erübrigen
fonnten, um etwa einen neuen Schrant anjchaffen. zu
fönnen. „In diefer Armuth welche Füllel*... Einen
tragifhen Gegenfaß zu dem Idyll der voß'ſchen Che
bildet das Wirrfal von Leidenſchaft und Unglüd, welches
die Beziehungen Bürgers zu den Frauen Tennzeichnet.
Hier begegnet uns eine durch die Macht ver Poefie, wie
fie namentlich das „Hohe Lied von der Einzigen“ offen-
bart, in die Sphäre der Geiftigfeit erhobene Glut der
Sinnlichkeit, die faum ihres Gleichen hat, wenigftens auf
deutihem Boden. Hier loderte eine Flamme, welche an.
jene erinnert, von welcher vor Zeiten Abälard und He—
loiſe bejeligt und verzehrt wurden. Bürger jagte von.
feiner Molly: „An diefer herrlichen, himmelsfeelenvollen.
Geftalt duftete die Blume der Sinnlichkeit allzulteblich,
als daß e8 nicht zu den feinften Organen ver geiftigfterr
191) Briefe von 3. H. Voß, II, 3 fg.
18*
276 Buch II. Kap. 7.
Liebe hätte hinaufdringen ſollen“. Berauſcht von dieſem
Duft, zerpflückte der leidenſchaftliche Mann den Kranz
der Jungfräulichkeit ſeiner Geliebten, aber er hat dafür
feines „Liedes Ehrenfahne um ihr Haupt geſchwungen“
und mit Stolz ausgerufen, daß eines Dichters Liebe auch
die Schulp zu adeln vermöge 199. Keine Frage, vor dem
Zribunal der Sittlichfeit vermag die Doppelehe mit zwei
Schweitern, Dorette und Molly, von denen die eine fich
entihloß, jein Weib „öffentlich zu heißen”, und vie an-
dere, „im geheimen es wirklich zu fein“, nicht zu be-
ftehen. Aber billig denkende Menjchenfenner dürften
nicht abgeneigt fein, dem unglüdlichen Dichter zu ver-
zeihen, wenn fie feine Darftellung des verworrenen Ver-
hältniffes lefen 199. Um fo mehr, da ver Arme durch eine
nah dem Hingange Molly's unbefonnen eingegangene
pritte Ehe befanntlich graufam genug beftraft worben ift.
Die Blüthe der Empfindſamkeit, welche man mit
Recht als eine „nothwendige Epoche unferer Kulturge-
192) „Erdentöchter, unbejungen,
ober Faunen Spiel und Scherz,
Seht, mit ſolchen Huldigungen
Lohnt die theuren Opferungen
Des gerechten Sängers Herz !
Offenbar und groß auf Erben,
Hoch und hehr zu jeder Frift,
Wie die Sonn’ am Himmel ift,
Heißt er's vor den Edlen werben,
Was ihm feine Holdin ift“.
193) Bilrgers Werke (1844), IV, 198 fg.
Frauen und Dichter. 277
ſchichte“ bezeichnet hat, weil jie, jo überfpannt, ja kindiſch
ung Nachgeborenen viele ihrer Aeußerungen vorkommen
mögen und müffen, ein Gährungsproceß war, aus wel-
hem die deutſche Gemüthsbefreiung hervorgegangen, —
bie Blüthe der Empfindſamkeit fiel in die fiebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts. Wie jedermann weiß over
wilfen könnte, hat Göthe’8 Werther dieſe Stimmung Tei-
neswegs hervorgerufen: das berühmte Buch war nur ver
dichteriſchſte, künſtleriſch vollendetſte Ausdruck derfelben.
Was die Zeitgenoſſen, namentlich die jüngere Genera—
tion erfüllte, bewegte, quälte, ein genialer Menſch ſtellte
es zum Kunſtwerk geformt vor ſie hin. Es wimmelte
damals von Lotten und Werthern, obzwar dieſe mit
dem ſelbſtmörderiſchen Piſtol nicht ſo raſch bei der Hand
waren wie ver göthe'ſche Held. Was für eine Gefühls—
auffpannung, was für eine fahrige Schwärmerei iſt in
den bräutlihen Briefen, welche Karoline Flachsland, die
doch eine ftarfe Doſis berechnenten Berftandes beſaß, an
Herver fandte! So fchrieb fie z. B. am 25. Oftober
1771: „O, was machen Sie, holver, füßer Yüngling ?
Denfen Sie noch an mich? Lieben Sie mich noch? O,
verzeihen Sie, daß ich das frage! In Ihrem lebten gött-
lichen Brief bin ih ja „dein Mädchen”, und doch muß ich
fragen. Ich Habe einige Zeit fo viel im Traum mit
Ihnen zu thun und das ift fchuld daran; aber es ift nur
Traum und bu bift mein, mein, ach !- in meinem Herzen
ewig mein! Hören Sie nichts um Sie herummwandern,
du füßer Mann, und jest beim Mondenſchein, wo id)
jtundenlang allein und bei Ihnen bin — hören Sie
278 Bud IH. Kap. 7.
nichts, nichts von meinen Gedanken? NRaufcht unjer
Engel nicht um Sie, der Ihnen fagt, ich fei bei Ihnen?
D, Sympathie, Sympathie 19)!“
Sa, e8 war eine Zeit, wo vielen, jehr vielen bie
ganze Welt wie eine thränenthaufchimmernde Mondſchein⸗
landſchaft vorkam; eine Zeit, wo der empfinpfelige
Schwarbelfopf Leuchfenring in Deutſchland umherfuhr,
um überall feine Mappen voll eraltirter Freundfchaftelei-
Epijteln auszuframen; eine Zeit, wo vie Fühlfamfeit
fogar der Hofleute jo jehr fich bemächtigte, daß ein Fräu-
lein von Ziegler, Hofpame der Landgräfin von Heffen-
Homburg, zu Bergzabern als verkörperte Sentimentalität
194) Wie befannt bat diefe „Sympathie“ während Herder
und Karoline's Eheleben mitunter ſehr berbe Stöße bekommen.
Schiller jchrieb am 29. Auguft 1787 aus Weimar an Körner:
„Herder und feine Frau leben in einer egoiftiichen Einſamkeit und
bilden zuſammen eine Art beiliger Zweieinigfeit, von ber fie jeden
Erdenjohn ausichließen. Aber weil beide ftolz, beide heftig find,
fo ſtößt dieſe Gottheit zumeilen unter fich felhft an einander. Wenn
fie alfo in Unfrieden geratben find, jo wohnen beide abgejonbert in
ihren Etagen und Briefe laufen Treppe auf Treppe nieder, bis ſich
endlich die Frau entſchließt, in eigener Perjon in ihres Ehegemahls
Zimmer zu treten, wo fie eine Stelle aus feinen Schriften recitirt,
mit den Worten: „„Wer das gemacht hat, muß ein Gott fein und
auf den kann niemand zürnen. Dann fällt ihr der befiegte Her-
der um den Hals und die Fehde hat ein Ende““.... Karoline war
leider wenig geeignet, der grämlichen Berbitterung, welche Herdere .
Leben und Schreiben in feiner fpäteren Zeit jo unerfprießlich und
unerquidlih machte, entgegenzuwirken. Auch trifft fie der Vor⸗
wurf, die Verhetzung ihres Gatten gegen Göthe und Schiller eher
gefördert als gehindert zu haben.
Frauen und Dichter. 279 |
einherging, im weißen Unfchulodsfleide, ein Lämmchen am
rofenrothen Seidebande führend. Und damit noch nicht
genug. Es mußte auch noch Lavater feine Miflions-
fahrten thun, um der Empfindſamkeit gleichfam vie reli-
gidfe Weihe zu geben. Lavater war fo recht ein Dann
für die Frauen, denn all fein Weſen war fraulih. Selbft
in feinen evelften Auffchwüngen, in feinen beiten Thaten
— und fein Leben zählte eine ſchöne Neihe won foldhen —
war viel mehr weiblihe Hingabe und Aufopferungsfähig-
feit al8 männliche Charakterftärfe und Energie. Er
wußte die Frauen um jo mehr zu beftimmen, je beftimm-
barer er felber geweſen iſt. Schon das Nette, Reinliche,
jo zu fagen Wohlduftende feiner Perjönlichleit nahm vie
Frauen für ihn ein. Der Wohlrevenheit vollends, wo—⸗
mit er fein poetiſch zurechtgemachtes Chriſtenthum vor-
trug, vermochten fie gar nicht zu widerſtehen und er hin-
wiederum hatte nichts dagegen, wenn fie ihn als ihren
„Sankt Lavatus” verehrten und verhätfchelten. Sein Ver-
dient ift, in ven abgeftandenen Pietismus neue Gefühls-
frifche gebracht zu haben. Aber durch feine Anficht von
der unmittelbaren Wirkung des Gebets, durch feine phy-
ſiognomiſchen Phantajtereien und feine fo oft genasführte
Wunverglaubensfucht hat er auch nicht wenig gefchadet.
Zräumerinnen und Schwärmerinnen, Somnambulen und
Geifterfeherinnen ſchoſſen wie Pilze hinter feinen Tritten
auf, ven Verftändigen zum Aergerniß, den Spöttern zur
Ergötung.
Der jentimentalen Stimmung gefellte vie Kraft-
genialität, wie fie in den poetifchen Jugendthaten Göthe's
280 Bud III. Kap. 7.
und Schillers ausgeprägt ift, jenen leidenfchaftlichen
„Sturm und Drang“, welcher der focialen Konvenienz
gegenüber die unbedingte Freiheit des Herzens proflamirte.
Die Stimmführer der Zeit haben auch vielfach ven Ver-
ſuch gemacht, dieſen Fraftgenialen Idealismus auf reale
Berhältniffe überzutragen, und e8 hat dies zu ber Be-
griffeverwirrung, welche wir in den Beziehungen ver
beiden Gefchlechter in der „ Geniesperiode“ häufig genug
antreffen, gewiß nicht wenig mitgewirft. Göthe hatte vie
fatalen Nachwirfungen dieſer „Freigeiſterei der Leiden⸗
ſchaft“ fein Leben lang zu empfinden, während ihnen
Schiller dadurch entging, daß er die pafjendite Frau ge-
wann, welche er überhaupt finden Tonnte 19%). Aber
beide große Männer und Freunde hatten den Frauen
unendlich viel zu danken. Um ihr Leben und ihre Werfe
195) Ueber Schiller& drei bedeutendſte Verhältniffe zu Frauen,
das zu Charlotte von Kalb und das zu den Echweftern Karoline
und Charlotte von Lengefeld , jowie über fein Eheleben, vermeife
ih auf mein Buch „Schiller und feine Zeit”, Prachtausg. ©.
242 fg., 282 fg., 290 fg., 335 fg., 363 fg., 383 fg. III. Auflage
(1876), ©. 189 fg., 195, 224 fg., 274 fg., 279 fg., 290 fg.
Volksausg. IL, 47 fg., 87 fg., 96 fg., 136 fg., 169 fg. II, 1 fg.
Wer Göthe's und Schillers Beziehungen zur Frauenwelt im einzelnen
fennen lernen will, muß fi in erfter Linie an die verjchiebenen
Sammlungen ihres Briefwechſels mit Frauen und Freunden halten,
dann an Göthe's Selbftbiographie, an die Aufzeichnungen von
Charlotte von Kalb, Karoline und Charlotte von Lengefeld und
anderer Zeitgenoffen und Zeitgenoffinnen; in zweiter an Bücher
wie Dünters „Frauenbilder aus Göthe's Jugendzeit“, Kneſchke's
„Söthe und Schiller in ihren B. 3. Frauenw.“, an Auffäte wie
Sauppe's „Charlotte v. Kalb“ (Weimar. Jahrb. I, 372 fg.) u. |. w.
Frauen und Dicter. 281
recht zu verſtehen, muß man ihr Verhältniß zu den
Frauen ftubiren, zu welchem Zwecke ver gebotenen Hilfe-
mittel jo viele und naheliegenve find, daß wir uns bier
füglih auf die unerläfflichften Andeutungen befchränfen
fünnen.
Göthe und Schiller — fie find durch die Ebenbürtigfeit
ihres Genius, wie durch ihr Streben, ihren Ruhm und
ihre Freundſchaft in der Vorftellung jedes Deutjchen fo
unzertrennlich verbunden, daß fie auch hier beifammen
itehen mögen — jeder von den beiden genoß zuvörderſt
des Glückes, eine vortrefflihe Mutter zu befiken. Von
der ihr Leben Yang äußerlich in reichsftäntifcher Fülle und
reichsſtädtiſchem Behagen jich wohlbefindenvden Katharina
Elifabeth Göthe, von der genialifchen, ficher auftretenden,
mit Fürften und Fürftinnen wie mit ihres Gleichen ver-
fehrenden „Frau Rath” over „Frau Aja“, welde von
fih jagen durfte, daß „Teine Menfchenfeele mifjvergnügt
von ihr gegangen fei“, und welche noch auf dem Sterbe-
bette jo humoriftifch geftimmt gewejen fein Toll, daß fie
eine an fie gerichtete Einladung mit ven Worten abgelehnt
habe, „die Frau Rath könne nicht fommen, weil fie alle
weile fterben müſſe“, — von dieſer Glücklichen bis zu der
armen fchwäbiichen Bäderstochter Elifabetb Dorothea
Schiller, der janften, beſcheidenen Frau, welche ihr Dafein
in fnappen, ja brüdenvden Verhältniſſen verbrachte, ift
freilich ein himmelweiter Abftand. Aber etwas ift ven
beiden Müttern gemeinſam: fie erkannten frühzeitig den
Gott in ihren Söhnen und wahrten nad) Kräften ven er-
wachenden Genius gegen die ftörenven Einflüffe vonfeiten
282 Bud III. Kap. 7.
einer hüben und brüben gleich pedantifchen Vatergewalt.
Göthe, feinem großen Freunde gegenüber vom Glüd
ganz unverhältnigmäßig begünftigt, erwarb fich ſchon in
jungen Jahren durch feine Beziehungen zu anmuthigen
Mädchen und bedeutenden Frauen jene umfaſſende Kennt-
niß der Frauenwelt, welche ihn befähigte, Frauenge-
ftalten zu fchaffen, von deren lebenswahrem Realismus
er mit Recht fagen durfte: „Ich weiß es, fie find ewig,
denn fie find". Schillers weibliche Figuren dagegen
gleichen alle mehr over weniger ver Phantafiegeftalt jener
Laura, an welche ver Süngling die Entzüdungen feines
erwachenben Herzens verſchwendete. Schiller hat nicht wie
Göthe ein Gretchen, eine Friederike, ein Käthchen gehabt,
auch nicht ein Fräulein von Klettenberg. ‘Die mütterliche
Freundſchaft der trefflichen Frau von Wolzogen bot lange
nicht vollwiegenvden Erſatz für jene tiefeingreifenpe Förde—
rung, welde Göthe durch fein Verhältnig zu Charlotte
von Stein erfuhr. Der Roman Göthe’s mit Lotte Yuff,
der Braut eines andern, und der Roman Schillers mit
Xotte von Kalb, der Frau eines andern, bieten einige
äußerliche Aehnlichfeit: aber wenn jener höchſt wohlthätig
den Genius Göthe's zum Durchbruch brachte, fo hat
-diefer auf Schiller, feinem eigenen Geftänpniß zufolge,
„nicht wohlthätig“ gewirkt. Gleich verwirrend dagegen
wirkte auf Göthe feine Leidenfchaft für Anna Elifabeth
Schönemann (Lili) und auf Schiller feine Leivenfhaft
für Marie Henriette Elifabetb von Arnim. Ein fo
reizendes Liebesidyll, wie e8 Göthe mit Frieverife Brion
zu Sejjenheim gelebt, fuchen wir vergebens in Schilfers
Frauen und Dichter. 283
Leben. Ebenſo vergebens eine „luſtige Zeit von Weimar“,
jene Ölanzperiove der Genialität, in welcher ſich das
deutfche Leben einmal ganz dichteriſch geitaltete und wo
Göthe, ver „Frauengünftling”, eine unerfchöpfliche Fülle
von Anregungen empfing. Es iſt wahr, die Jahre 1788—
89, wo Schiller mit ven Schweftern Karoline und Lotte
von Lengefeld als Freund, als Geliebter, als Bräutigam
verkehrte, führten für den Dichter jenen neuen Lebens—
frühling herauf, welcher in vem von feiner Tochter Emilie
unter dem Titel „Schiller und Lotte” in feiner Echtheit
herausgegebenen Briefwechjel ver Drei eine fo herrliche
Verewigung gefunden bat. Aber dieſer Frühling war
nicht ohne Dornen. Der Dichter war fehon durch eine
zu harte Schule des Mifigefchid® gegangen, um noch mit
ganzer Freiheit ver Seele des Glückes genießen zu können,
tas in dem Umgang mit zwei weiblichen Weſen lag,
welche, von einem trefflichen Vater mit liebevolifter Sorg-
falt erzogen, vie Bildung der Zeit in harmonifch fehöner
und edler Weiblichkeit varftellten. Außerdem lag in vem
Verhältniß auch der Keim einer wunderlichiten Verirrung.
Denn Schiller wurde bekanntlich won ven beiden Schweitern
geliebt und er liebte beide, obgleich die Ältere bereits ver⸗
heiratet war. Da faſſte er denn ven Gedanken einer
ivealifhen Doppelehe, welchen der Realismus des Lebens
ficherlich bald ein trauriges Dementi gegeben hätte. Man
weiß, wie Karoline, nahmals als Verfaſſerin ver „Agnes
von Lilien“ höchſt ehrenvoll in die Literatur eingetreten,
fie, welche ven Dichter heißer liebte als ihre Schweiter
und auch heißer von ihm geliebt wurde, mit hochherziger
284 Bud III. Kap. 7.
Aufopferung dieſes Wirrniß der Phantaſie und bes
Herzens löſ'te, indem fie die Verlobung Schillers mit
Lotte vermittelte und die Hinverniffe, welche fich der Ver-
bindung in den Weg ftellten, bejeitigte. Xotte’8 Be⸗
nehmen als Schillers Gattin ift über alles Lob erhaben.
Ohne ihre liebewolle Hingabe wäre und das theure Xeben
des Fränfelnden Dichters nicht bis zum Jahre 1805 er-
halten worden. Er hat auch dankbar bezeugt, was Lotte
ihm war. „Bon biefer Seite — ſchrieb er — hat mir der
Himmel nichts als Freude gegeben*. Hierin war Echiller
entſchieden glücklicher al8 Göthe, welchem zwar die gute
Chriſtiane Vulpius häufliches Behagen fchuf, aber doch
immer weit mehr nur Beifchläferin und Haushälterin
al8 Gattin in des Wortes höchfter und befter Bedeutung
war. Wir wilfen auch, daß dem Dichter, welder in
„Hermann und Dorothea“ die veutfche Familienhaftigfeit
jo wunderbar verherrlicht hat, feine, wie der große Freund
jie bezeichnete, „elenven häuflichen Verhältniſſe“ oft
genug fchwer zu fchaffen machten 19%. Schillers und
196) Einer freilich kaum glaubhaften Ueberlieferung (bei Maria
Beli, 8%. in F. UI, 107) zufolge fol Chriftiane Bulpius nicht
haben lefen können. Komiſch ift eine Tradition aus dem Badort
Laudftädt, wo Sommers die mweimarer Schaufpielertruppe zu
fpielen pflegte. Während da Göthe und Schiller nad) Beendigung
ber Theatervorftellungen in ernfter Unterhaltung mitfammen im
Garten wanbelten, tanzte Chriftiane drinnen mit den jenenfer
Studenten. Einmal habe fie das Gefpräd der großen Freunde mit
der Klage unterbrochen: „Ad, Herr Seheimer Rath, ich habe mein
Umſchlagtuch verloren”. Worauf Göthe mit unerfchütterlicher Ge-
meffenheit: „Nun, dann wird man ein anderes befchaffen müffen“.
Frauen und Dichter. 285
Lotte's Ehe dagegen war eine vechte deutſche Ehe, wie
der Dichter im Glockenlied das Wefen verfelben charak-
terifirt hat: — die Leidenſchaft floh, aber vie Liebe blieb.
Die die beiden Dichterfönige, jeder in feiner Weife, das,
was fie von den Frauen empfangen, venjelben in Geftalt
unfsterblicher Werke mit taufendfältigen Zinfen zurüd-
gegeben, weiß die Welt.
„Sp viel ift gewiß — fchrieb Sean Paul i. 3. 1799
aus Weimar — eine geiftige und größere Revolution als
die politifcehe und nur eben jo mörberifch wie dieſe fchlägt
im Herzen der Welt“. Der große Humorift deutete da-
mit auf die Zerfahrenheit der focialen Zuſtände einer
Zeit hin, deren genialjte und unglüdlichjte Frau, Lotte
von Kalb, drei Iahre zuvor gegen ihn geäußert hatte, daß
„alle unfere Gefege Folgen der elenveften Armfältgfeit,
felten der Klugheit feien und daß Liebe gar feiner Geſetze
bedürfe“. Die arme Lotte, weldhe die bitteren Ent-
täufchungen eine® von Miffgefchiden aller Art vollen
Lebens bis in ein Alter von zweiundachtzig Jahren mit
hinaufnehmen mußte, ftand wie eine Pythia ver ivealiftijch-
freien Liebe in ver Glanzperiode der weimarer Gefell-
fhaft. Aber vie beiden großen Xiebewerjuche ihres
Lebens, der mit Schiller und der mit Sean Paul, fchei-
terten kläglich. Schiller erkannte zeitig, daß eine andere
Lotte fein Lebensglüd machen würde, und Sean Paul,
der zwar mit der „Titanide“ Charlotte von Kalb, wie er
ſich barod ausdrückte, „eine Pfeife im PBulvermagazin
geraucht hatte“, befam nachgerade vor dem „auflöjenven
Leben mit genialifchen Weibern* einen fo nachhaltigen
286 Buch IH. Kap. 7.
Reſpekt, daß er weder die Titanide noch eine andere
Genialiſche Heiraten wollte. . Ungeachtet er aber mit feiner
Frau, Karoline Meier, ein ganz bürgerlich-hausbadenes
Dafein führte, hat er nach wie vor feine Frauengeſtalten
aus Liltenduft und Monpfchein gewoben; inbejonvere
die der höheren Kreiſe. Henriette Herz, welche zur Zeit,
als Sean Paul in Berlin feine größten Triumphe feierte
(1800), und noch lange nachher durch Schönheit, Geift
und Charakter eine fehr vorragende Stellung in ver
bortigen Gefellfehaft einnahm, hat das vortrefflich erklärt.
Es ei, erzählt fie in ihren Erinnerungen, faum zu be=
Ichreiben, wie viel Aufmerkfamfeit dem ‘Dichter des
Hefperus und des Titan von den Frauen, felbjt von denen
ver höchften Stände, erwiefen wurde. Ste wären ihm
dankbar dafür geweſen, daß er fich in feinen Werfen fo
angelegentlih mit ihnen bejchäftigte; hauptſächlich aber
hätten fich ihm die vornehmen verbunden gefühlt, weil
„er fie fo viel bedeutender und idealer darſtellte, als fie in
der That waren”. Der Grund hiervon fei gewefen, daß,
als er „zuerft Frauen ver höheren Stände fchilderte, er
in Wirklichkeit noch gar feine ſolche kannte und einer
reichen und wohlwollenden Phantafie hinſichtlich ihrer
freien Spielraum ließ, diejenigen aus dieſen Klaſſen
jedoch, welche er ſpäter fennen lernte, alles anwendeten,
um die ihnen jchmeichelhafte Täuſchung in ihm zu er-
halten und ihm möglichft iveal zu erfcheinen 197)“. Noch
ein dritter Dichter war in den Zauberfreis Lotte's von
197) Fürft, Henriette Herz, 2. A. 178.
Frauen und Dichter. _ 287
Kalb getreten, Hölverlin, welcher, von feinem Landsmann
Schiller der Titanide empfohlen, eine Weile Informator
ihrer Kinder gewejen if. Nicht zu Waltershaufen in
Thüringen, jondern in Franffurt a. M. follte jedoch der
Schöpfer des „Hyperion“ feinem Verhängniſſe verfallen.
Das Nähere des Wie ift noch nicht ganz aufgeklärt. Wir
wijjen nur, daß der arme Hölverlin als Hofmeifter in
einem franffurter Haufe für die Mutter feiner Zöglinge
(Frau Gontard) in Leidenſchaft entbrannte und daß dieſe
Glut ihn nach Franfreih und dort beim Empfang ver
Nachricht von dem frühzeitigen Tode der Angebeteten dem
Wahnfinn in die Arme jagte. Unter dem hellenifchen
Namen Diotima hat er die Geliebte in Tönen gefetert,
welche zu den innigften und ergreifendften ver deutſchen
Lyrik gehören.
Auch in der romantischen Periode unferer Literatur
find von geiftuollen Frauen vielfach bedingende und für-
dernde Einflüffe ausgegangen und wir haben e8 zu be-
flogen, daß namentlich Tiecks Verhältniſſe in dieſer
Richtung noch Feine ausreichende Aufhellung gefunden.
Freilich, die Beziehungen ver Romantifer zu den Frauen
bebürfen weit mehr ver Verhüllung als der Aufpedung.
Man denke nur der ärgerlihen Art und Welfe, wie
Friedrich Schlegel zu feiner Frau Dorothea Veit⸗Mendels⸗
fohn und Klemens Brentano von feiner Frau Augufte
Buſmann gekommen 19°). Oder an ven Lebenslauf der viel-
1972) Angufte war eine Nichte des Bankherrn Bethmann in
Frankfurt a. M. und Brentano Hatte fie aus dem Haufe ihres
288 Bud IH. Kap. 7.
verheirateten und noch mehr geliebten Karoline Michaelis-
Böhmer » Schlegel» Schelling, welde vom Blauftrumpfs-
hochmuth bis zum Größenwahn hinaufgebläht war, oder
enplich an ven ſchändlichen Heiratsverfuh Auguft Wilhelm
Schlegels mit der ſchmählich getäufchten Karoline Baulus.
Den feinften Duft der „blauen Blume“ der Romantif ath-
mete die Liebe von Novalis (Hardenberg) zu feiner Verlobten,
Sophie von K., welche aber fehon zwei Tage nach ihrem
fünfzehnten Geburtstag ftarb. Ihre ätherifche Geitalt,
mit dem brennenden Roth der Heftif auf ven Wangen,
war die Mufe, welche ihren Geliebten zu feinem Ofter-
dingen und feinen Hymnen an die Nacht begeifterte. Im
einen Abgrund der Zerriffenheit aber läſſt das Verhält-
niß der genialften der NRomantifer, Heinrich von Kleiſt,
zu Henriette Vogel bliden. Sie war die Frau eines
andern, hätte aber, ſelbſt im Innerjten zerfallen, auch
außerdem den Dämon in der Seele des Dichters, welcher
unter dem Drude ver napoleon’schen Zwingherrihaft an
Oheims entführt. „Wunderliche Dinge werben uns von dem Leben
des Paares erzählt” — meldet der Biograph des Dichters (Klemens
Brentano’s gefammelte Schriften, VIII, 44 fg.). — So ſchleuderte
wenige Tage nach der Trauung die Neuvermäblte den Ehering zum
Tenfter hinaus. Nicht geringen Verdruß erregte e8 auch dem
Gatten, wenn jeine Gattin im wunderlichften Aufzug, mit Schwung-
federn auf dem Kopf und rother, weithin fliegender Pferdedecke durch
bie Straßen (von Kaſſel) fprengte. Die Fertigkeit, mit der Frau
Augufte mit den Füßen an der Bettftatt die Trommel zu ſchlagen
verftand, wo dann bem Wirbel regelmäßig ein mit ven Nägeln der
Zehen ausgeführtes Pizzifato folgte, wurde dem Dichter zulegt fo
unerträglich, daß feine Standhaftigfeit erlag und er davonlief“.
Frauen und Dichter. 289
ſich ſelbſt wie am Vaterland verzweifelte, nicht zu be-
Ihwichtigen vermodht. Der Ausgang war eine Kata-
jtrophe, deren Wirklichkeit die im Werther gedichtete an
Furchtbarfeit übertraf. In einer unglüdlichen Stunve
hatte Kleiſt der Freundin verfprochen, fie zu tödten, wenn
fie das Leben nicht mehr zu ertragen vermöchte, und er
hielt Wort. Am 21. November 1811 erſchoß der Dichter
am Wanjee bei Potsvam erft Henriette und dann fi
ſelbſt 197°). Edel und innig dagegen war die Stellung
von Theodor Körner zu feiner Braut, der veizenven
197b) ©. „ven Bericht des Wirthes zum Stimming (am Wanfee)
über Heinrih8 von Kleift und Henriettens Tod” bei E. v. Bülow,
Heinrich von Kleift’3 Leben und Briefe, 280 fg. A. Wilbrandt betont
in feinem Bude „Heinrich von Kleiſt“, S. 404, mit Recht, daR von
einer Leidenſchaft des Dichters für Henriette keine Rebe, ſondern daß
fie ihm nur Freundin gewefen. Dann berichtet er: „Sie muficirten
und fangen zufammen, alte Pſalmen vorzüglih. Eines Tages, als
fie ganz befonders ſchön gejungen hatte, fagte er mit einem wohl aus
feiner Jugend ihm fiberbliebenen Ausdruck uniformirter Begeifterung
zu ihr: Das ift zum erichießen ſchön! Sie jah ihm bedeutend an,
ohne ein Wort zu erwidern; aber in einer einfamen Stunde kam
fie auf diefe Aeußerung zurüd. Sie fragte ihn, ob er ſich noch des
ernften Wortes erinnerte, das fie ihm früher einmal abgenommen
habe: ihr, falls fie ihn darum bäte, jeden, ſelbſt den größten Freund⸗
Ihaftsdienft zu leiften? Seine ritterlihe Antwort war, er wäre
dazu jeder Zeit bereit. „Wohlan, fagte fie, fo töbten Sie mich!
Meine Leiden haben mich dahin geführt, daß ich das Leben nicht
mehr zu ertragen vermag. Freilich ift es nicht wahrſcheinlich, daß
Sie es thun, da e8 auf Erben feine Männer mehr gibt“. Ic
werde es thun, fiel ihr Kleift ins Wort. Ich bin ein Mann, der
fein Wort Hält! .... Daß er an diefem raſchen Ausruf fefthielt,
wird niemand verwundern. Er hatte ja endlich den Menſchen
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. IL. 19
290 Bud III. Kap. 7.
Schauspielerin Toni Adamberger. Als er fich i. I. 1812
mit ihr verlobt hatte, fchrieb er feinem Vater aus Wien:
„Ich darf es ohne Erröthen geftehen, ohne fie wäre ich
wohl untergegangen in dem Strudel neben mir. Du
fennst mich, mein warmes Blut, meine ungefchwächte Kraft,
meine wilde Phantafie; male dir dies ungeftüme Gemüth
in dieſem Garten von blühenter Luft und beraufchenver
Freude und du wirft begreifen, daß mich nur die Xiebe
zu diefem Engel fo weit brachte, daß ich keck aus ver
Schar heraustreten darf und fagen fann: Hier ift einer,
ver fich ein reined Herz bewahrt hat“. Toni blieb auch
nad Körners glorreichem Tode des Sängers und Helven
würdig, welcher unter der Eiche von Wöhbelin ruht: die
MWüftlinge des wiener Kongrefjes fchalten die Sittfame
„un dragon de la vertu®.
Zwei Frauen find in der Epoche der Romantik in
bedeutendſter Weife zu öffentlihen Charakteren geworben,
Rahel Levin-Robert, Ipäter die Gattin VBarnhagens von
Enfe (geb. 1771, geft. 1833), und Bettina Brentano,
die Frau Achims von Arnim (geb. 1785, geft. 1859).
Rahel ift nicht als Schriftftellerin aufgetreten, aber fie
hat durch perfönlichen und brieflihen Verkehr auf viele
der nambafteften Männer ihrer Zeit anregen und jogar
beftimmend gewirtt. Ihr Salon in Berlin ift eine
geiftige Werkftatt gewejen, wie fie nicht ſobald wieder
aufgethban werten, fie felbft war eine, wenn ich mich
richtig ausprüde, Gefellfchaftsfünftlerin, wie fie nicht
gefunden, in deſſen Geſellſchaft er fich ben Tod geben konnte; und fo
feste er mit Falter Entfchloffenheit die That ins Wert”.
Frauen und Dichter. 291
fobald wieder kommen wird 1%. Wilhelm von Hum-
boldt bat von ihr gejagt, Wahrheit jet der auszeichnenve
Bug ihres intelleftuellen und fittlichen Weſens gewefen.
Der ven Frauen angeborene Inftinkt für das Rechte und
Schöne war Rahel in höchfter Potenz eigen. Mit wunver-
barer Schärfe wußte fie, die durch das Fegfeuer heißer
Seelenjchmerzen gegangen war, den wuhren Kern ver Dinge
herauszufinden und ven Fund anderen zum Nuten und
Frommen zu wenden. So war fie geradezu die Erfte,
198) Ein Ungenannter, welder ihren Salon im März; 1830
kefuchte, hat Rahels Geſellſchaftskunſt fo geſchildert (Grenzboten
1844, ©. 213): — „Ih fah Frau von Varnhagen öfters, auch
in andern Häufern, und immer und überall war fie dieſelbe heitere,
erfreuende Erſcheinung, belebt und belebend, aufrichtig, Mar, freund-
fi, immer und überall übte fie ihr angeborenes Talent des ebelften
Menfhenumgangs, nicht vorbringend, aber auch nie zurückgezogen,
Sondern recht eigentlih gegenwärtig, mitgutem Willen und reger
Seele. Doc hatte fie bei fih zu Haufe noch den Vorzug, daß die
unbeftrittene Verpflichtung der Fürſorge für alle Anwejenden ihren
wohlthuenden Eifer nur erhöhte und ihn auch in unſcheinbaren
Dingen wirfam eintreten ließ; dagegen fie auf fremdem Boden fid)
mehr enthielt, fo lange nicht ein auffallender Anlaß ihr reizbares
Gefühl zum Beften des Ganzen oder Einzelner in Iebhaftere Thätigfeit
ſetzte. Dann konnte auch fie mit aller Geiſtesmacht bervortreten
und mit ſchöner Leidenſchaft und rüdfichtslofem Muthe das Unrechte
befämpfen, die Verkehrtheit berichtigen und anmaßlichen Unfinn durch
das volle Licht der Wahrheit in feine Nichtigkeit auflöfen. So war
fie denn mehr als eine vortrefflihe Dienerin der Gefelligkeit,
wozu meiftens eine gebildete, feine, wohlmeinende Negation aus-
reicht: fie war zugleih eine Meifterinder Geſellſchaft, melde
derfelben das Gute mit muthiger Entfchloffenheit aufzuerlegen, ihr
das Schledhte ſchonungslos abzuftreifen nie müde wurde“.
19*
292 Buch III. Kap. 7.
welche Göthe's Stellung und Bedeutung in der deutſchen
RKulturgefohichte ganz zu erfennen und zu würbigen ver-
ftand, und nur felten und nicht für lange ließ fie ſich die
Klarheit ihres Blickes durch die Dünfteleien ihrer Freunde,
der Romantifer, trüben 19%. Ihr Briefwechſel, wie ihn ihr
Gatte veröffentlichte, ftellt ven treueften Spiegel der Stim-
mungen auf, welche am Ende des vorigen und zu Anfang
des gegenwärtigen Jahrhunderts vie gebilveten Kreiſe
199) Sole Trübungen waren e8, wenn fie für eine Schöpfung
wie Schillers Wallenftein anfänglich feine Empfänglichkeit zeigte
und fih dagegen für einen Dichterling wie Fonqu, ja fogar für
Auguft Lafontaine begeifterte.. S. Rahel, ein Buch des Andenkens
für ihre Freunde, I, 356, 369. Auch darf nicht verjchwiegen wer-
ben, daß die arme Rabel mitunter von der firen Idee der Roman-
tifer, die Fritifche Impotenz fei eigentlich ſchöpferiſche Ommipotenz,
bedenklich angeftedt war. In Wahrheit, das geniale Selbſtgefühl
diefer Frau nahm zuweilen einen Flug, welcher geradeaus ins —
Tollhaus zielte. So fchrieb fie am 16. Februar 1805 an ihren
Freund Veit (Briefwechſ. m. V. II, 260): — „Sch habe die ge-
waltige Kraft, mid zu verdoppeln, ohne mich zu verwirren. Sc
bin fo einzig als die größte Erſcheinung diefer Erde. Der größte
Künftler, Philofoph oder Dichter ift nicgt Über mir. Wir find vom
jelben Element, im felben Range und gehören zufammen. Und wer .
den andern ausſchließen wollte, jchließt nur fih aus. Mir aber
war das Leben angemwiejen und ich blieb im Keim bis zu meinem
Jahrhundert und ih bin von außen ganz verichättet, drum fag ich's
ſelbſt. Damit ein Abbild die Eriftenz befchließt. Auch ift der
Schmerz, wie ih ihn kenne, aud ein Leben; unb ih denke, id
bin eins won den Gebilden, die die Menſchheit werfen fol und dann
nicht mehr braucht und nicht mehr Tann“. ... Ich meinestheile
denke, das ift pure, blanke Narrbeit, und gewiß denken alle Dien-
ſchen von gefundem Menfchenverftand ebenso.
Frauen und Dichter. 293
Deutfchlands beherrichten. Mit Fug und Recht hat man
dieſe Frau „pen perfönlichen Chor in vem großen Drama
ihrer Zeit” genannt. Rahel hat überall darnach geftrebt,
die Idee mit der Wirklichkeit zu vermitteln ; in ven Büchern
dagegen, womit Bettina hervorgetreten, hüllt fich dieſer
Zrieb in die Frausgeftalteten und buntſchillernden Zug-
wolten der romantischen Laune und Phantafterei. Es
brechen viele geniale Blite, e8 bricht viel Tachender Donner
aus diefer Wolfenregion, daneben aber noch mehr Irr—⸗
lichtelei und unerquidlicher Wind. Man muß das eben
nehmen, wie e8 fommt, denn Bettina, die „Sibylle der
Romantik”, war die fouveräne Willfür in Perfon ; fie war
ein ewiges Rind, das „Kind“, welches uns feine wunder-
baren Einfälle vorplauverte, wann, wo und wie fie ihm
gerade durch den Kopf fuhren. Alle ihre „Briefwechſel“
— mit Göthe, mit der Frau Rath, mit ver Günderode 29),
mit ihrem Bruder Klemens und anderen, welche durch
ihre Naturfchwelgerei und die unnahahmlich naive Offen-
barung der Myſterien einer raftlo8 wogenden Frauenfeele
jo hinreißend wirfen, find im Grunde bettina’ihe Dich—⸗
tungen, wo Tropfen von Thatjächlichfeit in einem Meere
von Phantafmen verſchwimmen 29). Bettina war eine
200) Die Stiftspame Karoline von Günderode, welche unter
dem Namen Zian dichtete und fi, ein weiblicher Werther, im
Sommer von 1806 in Folge einer unglüdlichen Liebe bei Langen-
winkel im Rheingau erdolchte.
201) Bettina war naiv genug, fich felbft das Zeugniß der
Unglaubwürbigfeit auszuftellen, indem fie einen wirklichen ober
angeblichen Brief ber Mutter Göthe's druden ließ (vom 7. Ok⸗
tober 1808), worin bie Frau Rath ihr fagte: „Die Be—
294 Bud III. Rap. 7.
Elfenjeele, Halb Ariel, Halb Bud. Sie wäre bei ibrer
univerfellen Empfänglichkeit, bei ihrem wunderbaren
Rapport mit der Natur, bei dem unerjchöpfliden Schat
ihrer Liebe und ihrer religiösglühenden Theilnahme für
alles, was ter Mienfchheit frommt und Die Menſchheit adelt,
tie größte Dichterin aller Zeiten geworben, wenn fie eins
verftanven hätte, freilich ein Unumgängliches : das Geheim-
niß der Form.
Helden, Dichter und Frauen gehören untrermfich zu⸗
ſammen. Heldenthum und Dichterthum, durch das
Frauenthum erhalten beide erſt die rechte Weihe. Er hat
das ſelbſt erfahren, welcher dieſem Gedanken einen ſchönen
Ausdruck gab, Karl Immermann 202), Die Werke, wo-
ſchreibung von deinen Prachtſtücken und Koſtbarkeiten — (welche
Bettina auf einer Rheinreiſe geſehen oder geſehen haben wollte) —
bat mir recht viel Plaiſir gemacht. Wenn's nur auch wahr if, daß
dur fie gefehen haft, denn in folchen Stüden kann man dir nicht wenig
genug trauen. Du haft mir ja fhon mandmal Unmöglichleiten vor-
erzählt ; denn wenn du, mit Ehren zu melden, ins Erfinden gerätbft,
dann Hält dich fein Gebiß und fein Zaum. Ci, mid) wunbert’s, daß
du no ein End’ finden kannſt und nicht in einem Stüd fort-
Ihwätft, bloß um felbft zu erfahren, was alles noch in deinen
Kopfe ftedt.“
202) „So lang noch edler Frauen Bruft
Bei hoher Kunde rafcher fchlägt,
So lang des Liedes reine Fuft
Ein zartes Frauenherz bewegt:
So lange wirb der Held voll Mut
Hienieden feinen Kampf beftehn,
So lange wird des Dichters Glut
Auf diefer Erde nicht verwehn.
Frauen und Dichter. 295
rauf fein Anſpruch aufNachruhm beruht, er hat fie in ver
Zeit gejchaffen, wo er mit Elifa won Ahlefeldt-Laurwig,
der geweſenen Gattin des helpifchen Lützow, einer im beften
Sinne germanifirten Dänin, in dem ftillen Landhauſe zu
Derendorf zufammenlebte, welches die Hand der Freundin
zum heimeligften Dichterafyl umgewantelt hatte. Und hat
nicht auch die Frau, an welde ein Uhland einige feiner
innigften Herzendlaute richtete, oder Die, über welche ein
Rückert das Blüthenfüllhorn feines „ Liebesfrühlings” aus⸗
jehüttete, ven Hort der ivealen Güter der Nation vermehren
geholfen ? Ach, die Liebe und Treue, die unermüdliche Duld⸗
ſamkeit und liebevolle Fürjorge ihrer Frauen iſt ja auf
deutſcher Erde meift ver einzige Xohn und Troſt der „Ritter
des Geiſtes“, welche, während fie fich im ſchweren Dienft
ver Freiheit, ver Schönheit und Humtanität abmühen, ge-
wöhnlich nur einen unbeftrittenen Befig erlangen: ein
Grab. Diefe Liebe und Treue weiß, ſelbſt irregeleitet,
auch über die Schreden des Todes zu triumphiren. So
bei jener Charlotte, der Frau won Heinrich Stieglig, welche
fich in der Nacht vom 29. auf ven 30. December 1834 zu
Berlin mit einer Ruhe und Gefafftheit, mit einer-feufchen
Würde ohne Gleichen in ver Fülle ihrer Jugend und Schön-
beit den Tod gab, um durch das Entſetzen über eine un⸗
geheure Opferthat ven von ihr geglaubten Dicter-
Sie habens beide nur gewagt,
Ihr kühnes, heiliges Gefecht,
Daß eine ſchöne Seele jagt:
So war e8 gut, jo war e8 recht!”
296 Bud IH. Kap. 7.
genius ihres Gatten zu entbinden. Während hier ein
heldiſcher Muth in Tranfhafter Ueberreizung das Unmög-
liche wollte und fo mit der eigenen Eriftenz auch die des ge-
liebten Mannes zeritörte, legte fich prunten in Wien eine
linde Frauenhand zärtlich bejchwichtigend auf die fiebernp-
heiße Stine Lenau's. Da that e8 nicht noth, ven Genius
zu weden: er war nur zu verzehrend wach. VBergebens
warnte Sophie den unglüdlihen Dichter der Albigenfer,
dem Ideal Feine pämonifche Gewalt über das Leben ein-
zuräumen 20%). Mit fehon halb umdunfelter Seele riß er
fich von der Wprnerin [08 und fprang mit dem Ruf: „In
die Freiheit!” in die Nacht des Wahnfinns.
203) In einem Briefe, welcher vol Boefte ift und, von Schurz
in feiner Biographie Lenau’s mitgetheilt (II, 277), fo lautet: —
„Freilich ift Auerjperg auch ein Dichter, aber nicht wie Sie; troß
feines ſchönen Talents nit fo dur und durd. An ihn würde
mid nicht gemahnt haben, was ich neulich auf der Donau ſah
und was mich jo heftig und fhmerzlih an Sie mahnte. Ein
armer Kroate oder Slowake, ein Rallfahrer, trieb in einem Heinen
Kahn auf der Donau. Im Armliden Zwilliclittel fland er in
feinem Fahrzeug und ruderte läffig dahin und borthin, planlos,
und ſchaute mit feinen dunklen, ſchwermüthigen Bliden ben be-
wegten Wellen nad, unbefümmert um die Leute am Ufer, bie
feinem wunberliden Treiben zujaben. Seinen Hut mußte er
mweggeworfen haben, den bloßen Kopf fette er der Sonne aus,
fein Kleidungsſtück, fein Brot, feine Flaſche hatte er in feinem
Kahn, nur einen großen vollen grünen Kranz, ben er an jeinem
Pilgerftabe am Vordertheile des Schiffchens wie eine Flagge be-
feftigt hatte. War das nicht das Bild eines echten Dichters?
Ihr Bild, lieber Niembfh? Haben Sie nicht auch jo im Leben
herumgetrieben, im leichten Kahn, auf dem wilden dunklen Strom,
nad) feinem Ufer ausblidend , mit weggeworfenem Hut, und nur
Frauen und Dichter. 297
Nicht der Mann allein macht die Gefchichte und die
Boefie; wie zur Fortpflanzung ver Menjchheit, gehört
auch zum Kulturprocek das „Ewige Weibliche‘. Göthe
wußte wohl, was er that, als er die Verklärung Faufts
durch das verflärte Gretchen vollziehen ließ. Was wäre,
muß man fragen, aus Grabbe geworben, wenn in fein
Leben Frauen getreten, wie fie den ganzen Lebensweg
Göthe's begleiteten ? Ein Gretchen over Aennchen hat
auch Grabbe zur Noth gehabt, feine erfte Verlobte, aber
feine Frieberife, feine Lotte und feine Charlotte, nicht ein-
mal eine Chriftiane Vulpius. Seine titanifche Poefte ift
jo grazienverlafien, weil niemald eine edle Frau den
Magnetismus der Verftänpnißinnigfeit, der Anmuth und
Zärtlichkeit an ihm geübt hat 209). Wie wohlthuend ift
e8, von dem Nachtbild des grabbe'ſchen Haushalts in Det-
mold ſich zu dem Lichtbilo hinüber zu wenden, welches der
den Kranz bewahrend ftatt alles irdiſchen Gutes? Und wenn bie
anderen bejonnen Hugen Leute jorgfältig die Schlafmügen und Hüte
und alle Arten von Kopfbedelungen auf ihre Schädel ftülpten, haben
Sie nicht Ihr edles ſchönes Haupt der Sonne und den Bliken,
dem Schnee und den Stürmen preisgegeben, von dem jchönen,
grünen, ewiggränen Kranz umfchlungen, aber nicht geſchützt? Ob,
die ſchlanken glatten Lorbeerblätter ſchmücken die Stine nur, fie
behüten fie nicht, fie halten die Unbill diefer rauhen Zeit nicht ab
und, darum, darum find Sie krank!“
204) Nicht einmal im Sterben. Die Einzelnheiten, welche
8. Ziegler in feiner Schrift „Grabbe's Leben und Charakter” (1855)
aus eigener Anſchauung über die letzten Tage und Stunden des
Dichters beibringt, find geradezu entjetlih. Alle Mängel, alle
Fehler, alle Sonderbarkeiten und Wunderlichleiten Grabbe’s konnten
feine Gattin nicht zu einem ſolchen Gebaren berechtigen. Wir jehen
298 Bud III. Kap. 7.
Haushalt des Dichters darftellte, der im ftilfen grünen
Park von Muſtkau fein „Laienbrevier* betete! Hier war
Friede, Harmonie und ein Glück des Stilllebens, welchem
Schefer ein fo jchönes Denkmal gefegt bat, va er Die
Sammlung feiner Schriften feiner geliebten Frieberife
als ein Ehrengefchent widmete, das fich leider noch vor
vollbrachter Darbringung in ein Todtenopfer wandeln
mußte 295). Zuletzt, doch nicht als ver letzten, fei Jo—
am Lager des in einer feuchten, büftern Kammer mit dem Tode
Ringenden die Frau mit furienbafter Wuth der Mutter des Sterben-
den, nach welcher er verlangte, den Zutritt wehren, hören fie das
Haus mit Gelärm und Getobe erfüllen, feben fie proben mit Rechnen
und Geldzählen beihäftigt, während brunten der Dichter feinen
letzten Athem aushaucht, und dann, als ihr die Nachricht gebracht
wird, daß alles worüber, ruft fie einem anweſenden Nachbar zu:
„Zopp! das ift gut, daß ber Unhold tobt if. Nun lommen Sie,
nun wollen wir einen guten Kaffee machen. Alfo endlich!”
205) „Liebes Weib — heißt es in biefer vom Mai 1845
datirten Widmung, welche zugleich ein Ehrenmal deutjcher Frau⸗
lichkeit Überhaupt ift — errötbe nicht, überraſcht in deiner be-
fcheibenen Seele, daß ich dir alles -wibme, was ich im Herzen
und ©eifte getragen. Kann ich weniger bein nennen, jo wenig e8
jei, da du mir alles geweiht und geichentt: beine Liebe, bein
Leben, Jugend und Schönheit, alle die Tage, die Frühlinge, jeden
Gedanken, jedes Gefühl — dich jelbft! und auf welche Dauer!
Denn ſelbſt nach dem vollftändigften Weltuntergange joll ja nie-
manb mehr freien noch ſich freien laffen und fo bift du und bleibſt
du denn meine einzige Frau feit aller Zeit und auf alle Ewigfeit.
Allen ift alles einzig, jede Freude, jeder Schmerz. Und, liebe
Seele, das wußten wir beide, jo haben wir gelebt, jo uns geliebt,
fo ruhig, ja faft verborgen und ungelannt geftrebt, das einfach⸗
Ihönfte Glück aller Menſchen aller Zeiten in unferem Haufe an uns .
Frauen und Dichter. 299
hanna's gedacht, ver Gattin Kinfels, zu London, wo fie
mit ihrem Gatten redlich die Sorgen und das Elend des
Exils theilte, in Folge eines Herzkrampfes im November
1858 eines jähen Todes gejtorben. Johanna Kinkel
hat durch ihr Leben bewieſen, daß man eine genial be—
gabte Frau, daß man muſikaliſche Künſtlerin und Dich—
terin ſein könne, ohne die „ Emancipirte” zu ſpielen
und ohne aufzuhören, eine ſorgſame Mutter und eine
verftändige und emfige Hauswirthin zu fein. Sie ſteht
mit Ehren neben jeder Fran, die je ein ſchweres Gefchid
mit edler Würte nicht nur duldend getragen, ſondern
hanvelnd beftritten, und wohl bat fie e8 vervient, daß an
und dur uns wahr zu maden. Und faft ein Bierteljahrhundert
ift das uns gelungen in Genüge und Frieden. Dir gegenüber,
mitten unter den Kindern ift alles gefchrieben. Und wenn du mic
einft begraben baft, dann bewahre das arme Heine Lämpchen, das
mir leuchtete, während ihr jchliefet. Ob, unſeres ſchönen, troß jo
mander Berfagung Föftlichen Lebens! Machte ich dir die Welt
Harer, fo lehrteſt du mich das gute fleißige Weib, die treue, immer
forgfame Mutter. Und wenn ich denn Frauen in ihrer Ehren-
baftigfeit, Herzinnigleit, in ihrem unſchätzbaren Werthe vargeftellt,
von wen konnte ich das lernen? Woher quoll der Frieden und die
Zufriedenheit in unferem Laienbrevier — als aus dem Genuß meines
Menſchenglückes zumeift nur durch dich ..... “ Diefes zu Ehren
einer deutſchen Dichterebe ausgeftellte Zeugniß füllt, fo ich recht er-
mwäge, eine der ſchönſten Seiten unferer Literaturgefchichte, welche
folder Seiten nicht gerade allzu viele aufzumweijen hat. Gar mande
find fogar mit Gemeinheit geftämpelt. Man vente beitpielsweife
nur daran, daß in unjeren Tagen Friebrich Hebbel es mit feinem
größewahnwigigen Dichterbewußtfein ganz gut vereinbar fand, fein
Leben ale Schürzenftipendiat zu verbringen.
300 Bud III. Kap. 7.
ihrem Grab unter den Surrey-Hügeln Freiligrath ein
Lied voll heldiſchen Klanges anjtimmte 9. Auch fie
war ja eine wadere Mitlämpferin für die gute alte ewig-
junge Sade, vie ſchon fo viele Diyriaden von Märtyrern
zählt und ver e8 dennoch nie an neuen fehlen wird.
206) ... „Bir fenlen in die Gruft Dich ein wie einen Kampf⸗
genoſſen;
Du liegſt auf einem fremden Rain wie jäh vor'm Feind erſchoſſen.
Ein Schlachtfeld auch iſt das Exil, auf dem biſt du gefallen,
Im fetten Aug’ tas eine Ziel, das eine mit uns allen !
Drum bier ift deine Ehrenftatt, in Englands wilden Blüthen;
Kein Grund, der beffer Anrecht hat, im Earge dich zu hüten.
Ruh aus, wo dich der Tod gefällt! Ruh’ aus, wo du geftritteit!
Für dich fein ftolzer Leichenfeld als bier im Land der Britten !
Die Luft, fo dieſes Kraut durchwühlt und diefe Graſeswellen,
Sie hat mit Miltons Haar geipielt, des Dichters und Rebellen ;
Sie hat gemeht mit friſchem Haud in Cromwells Schlachtſtandarten,
Und dieſes ift ein Boden auch, drauf feine Roſſe ſcharrten.
Und auf von bier zum felben Bronn des goldnen Lichtes proben
Hat Sidney, jener Algernon, fein brechend Aug’ erhoben;
Und oft wohl an den Hügeln dort ihr Aug’ ließ Rahel bangen, —
Sie, Ruffels Weib, wie du ber Hort des Gatten, ber gefangen.
Die find’8 vor allen, diefe Vier! Dies Land es ift das ihre!
Und fie beim ſcheiden ftellen wir als Wacht an beine Thüre.
Die beinem Leben ftet8 den Halt gegeben und die Richtung,
Hier ftehtt fie, wo dein Hügel mwallt: Freiheit und Lieb’ und
| Dichtung!“
Frauen und Dichter. 301
An diefer Stelle angelangt, ift es geratben, die Feder
aus der Hand zu legen... . Nicht ald ob es an Stoff
mangelte, aus neuefter Zeit und bis zur Stunte, wo ich
mein Buch abgefchloffen, aus dem deutjchen Frauenleben
Denkwürdiges zu berichten. Es Tiefe fich noch vieles
jagen über die Stimmungen, Anſchauungen und Moden,
durch welche die Frauen während ber legten Jahrzehnte
hindurchgegangen. Man könnte erzählen, wie nach ven
Befreiungskriegen aus der vaterländifhen Richtung ver
Romantik eine überreizte Deutſchthümelei, eine „ chriftlich-
germanifche* Dümmelei, Frümmelei und Lümmelei, eine
über alle Maßen lächerlihe Mittelalterfucht entiprang,
welchen Tendenzen auch die Frauen ihren Zribut zoliten,
indem fie fich dort in die Rolle von Thufnelvden, hier in
die von Burgfräulein hineinfhwärmten. Man fünnte
berichten, welche Wirrfale und Verheerungen ſodann vie
literariihe Epoche des Byronismus in den Frauen
gemüthern anrichtete und wie weiterhin das mit ver Be⸗
wegung des franzöfifhen Socialismus zufammenhängende
und bei uns durch einen überftiegenen NRahel- und Bettina=
Rult großgepäppelte Problem der „Frauenemancipation“
zunächit abſchreckende Beijpiele von emancipirten Damen
zumegebrachte, welche im Bloomerskoſtüm an Wirths⸗
tiichen Tümmelten, die Eigarre im Munde, vie frohe Bot-
ſchaft ver Gleichberechtigung in Weinrotbfchrift auf ver
Nafenipite. Andererſeits wäre von bedeutenden fraus
lichen Erfolgen auf dem Gebiete der Kunft zu melden,
wie eine Klara Schumann als mufifalifche Virtuofin fich
hervorgethan, wie Elifabeth Kulmann, Betty Baoli und
302 Bud III. Kap. 7.
Annette von Drofte — ohne Frage die eigenartigfte und
geftaltungsmächtigfte deutſche Dichterin — in der Iyrifchen
und epifchen, Elife Schmidt in der dramatiſchen, Augufte
von Paalzow, Fanny Lewald, Ira von Düringsfeld, Klara
Bauer (Detlef), Wilhelmine von Hillern und andere in
der novelliftifchen Dichtung Preife gewannen und wie vie
Gräfin Ida von Hahn-Hahn, nachdem fie ven „Rechten“,
welchem fie in gelebten und gejchriebenen Romanen jo
lange nachgejagt hatte, endlich in dem Hetland gefunden,
ven wichterifchen Lorbeer mit dem Dornenfranz der Be-
fehrung und Buße vertaufchte, in ein Klofter ging und
Bücher ſchrieb, welche in Jeſuitenſchulen al8 Prämien
vertheilt wurden. Endlich wären Frauen nambaft zu
machen, welche in den höchſten Gefelfichaftsfreifen vie
Bildung der Zeit mit Würde und Anmutb repräfentirten
oder, wie insbeſondere die Brinzejfin Helene von Mecklen⸗
burg als Herzogin von Orleans gethan hat, bei fremden
Völkern die Achtung vor deuticher Gemüthsart und Geiftes-
fultur erhöhten oder auch, wie der Großfürſtin Helene, einer
wirtembergijchen Prinzeffin, in ihr Grab hinein nad)
gerühmt werven muß, in drangvoller Zeit — (1870—71)
— die Sache ihres Vaterlandes mit Geift, Muth und
Erfolg in der Fremde vertreten haben. Aber das alles
und vieles andere iſt zur biftorifchen Betrachtung noch
wenig oder gar nicht geeignet; denn wenn fchon bie
Resultate der politifchen Gefchichte der Abklärung durch vie
Zeit bedürfen, um in organifcher Gliederung vorgeführt
werden zu können, fo gilt das von den Ergebniffen ver
Kultur: und Sittenhiftorie in noch weit höherem Grave.
Frauen und Dichter. 303.
Eins fteht feit: Die deutſchen Frauen haben an ver
vielhundertjährigen Bildungsarbeit der Nation redlich
und wirkjam theilgenommen, und da der Vorfchritt unferes
Volkes auf vem Gebiete ver Intelligenz ſowohl als dem
der Sittlichfeit ein unleugbar mächtiger ift, jo gebührt
vem Berbienfte ver Frauen die herzlichfte Anerkennung.
Es iſt freilih wahr, auch in neuefter Zeit noch haben fich
in der deutſchen Frauenwelt, in ven untern Ständen
zumeijt in Folge ver Beftilenz des Muderthums oder der
noch verheerenveren des fommuniftiihen Wahnglaubeng,
in den höheren namentlich in Folge ver phyſiſchen und
moraliihen Gebrechen ver Penfionatserziehung, traurige
Verirrungen gezeigt #7). Aber das find doch vereinzelte
Fälle geblieben und darf unfer Land mit Grund fihrühmen,
daß feine Frauen von der bodenloſen Sittennerberbniß,
der ihr Gejchlecht 3. B. in Paris und New-York verfallen
iit, feine Ahnung haben 208),
207) Eine traurigfte fam in Berlin vor, wenn mir mein Ge-
dächtniß treu ift, im Sabre 1856 oder 1857. Die adhtzehnjährige
bis dahin völlig unbefcholtene Tochter einer ehrbaren Yamilie
ſchnitt nach einer heimlichen Niederfunft ihrem Kinde fofort den
Hals ab und legte den Leichnam, forgfältig verpadt, unter ihr
Kopftifien, auf welchem fie mehrere Nächte jchlief.
208) Ein Korrefpondent der Allg. Zeitung (1858, Nr. 364)
fohrieb unterm 27. December 1858 aus Paris: „Heute ift in ber
Gerichtszeitung ein Eivilproceß zu lefen, aus welchem man erfährt,
daß als Manufkript ein Seitenftüd zu den Memoiren der (be-
rüchtigten) Mogabor kefteht. Ein jehr achtbarer Mann heiratete
ein junges Mädchen aus einem eben fo ahtbaren als wohlhabenden
Haufe. Die Heirat wurde durch den Bruder des Mädchens, einen
304 Buch II. Kap. 7.
Ich habe ein anderes Buch, worin ich die Geſchichte
deutfcher Kultur und Sitte zu erzählen unternahm, mit
den Worten befchloffen, das deutſche Geſammtvaterland
fei fein leeres Wort mehr, indem Deutfchland aus einem
bloß „geographiſchen“ Begriff in ver Anſchauung aller
fühlenden und denkenden Deutjchen zu einem ſittlichen
geworden. Wohlan, auh an den Frauen ift e8, ja an
Geiftlichen, vermittelt. Bald nach der Hochzeit gewahrte der Ge-
mahl in dem Benehmen der jungen Frau gräulicde, unnennbare
Details. Als er fie hierüber um Aufflärung anging, Überreichte
fie ihm ihre Memoiren, welde fie bereits vor der Hochzeit beenbigt
und unterzeichnet hatte. Auf den adtzig Seiten des Manujfripts
erzählt fie'die „A&sordres monstrueux“, welche fie vor ihrer Heirat
beging. Sehr „veipeltable” Perjonen werben dadurch kompro—
mittirt. Die Berfaflerin wollte ſolche Denkwürdigkeiten auch in der
Ehe fortſetzen; aber ihr Mann und die Gerichte jhritten gegen die
Meflaline ein“. Die Beilage zur Allg. Zeitung zu Nr. 11 2.3.
1859 brachte einen entjeglihen Bericht ihres Korrejpondenten aus
New-York Über die dort grafftrende Mode der Yruchtabtreibung.
In einem amtlichen Aktenſtück äußerte ein dortiger renommirter
Arzt, daß „es feines Wiſſens in New-York keinen einzigen Arzt
gäbe, dem nicht mehrfach in feiner Praris das Anfinnen, eine Abor-
tion zu bewirken, mit der größten Unbefangenheit geftellt worden
ſei. Aber auf ein Anfinnen, das einem folchen geftellt wird, Tann
man gewiß 10 oder 20 mit Hilfe von Duadjalbern oder angeblichen
Hebammen wirklich vollbrachte Abortionen rechnen. Bor einigen
Jahren ward die „Office“ einer gewifjen Raftell aufgebrochen, allwo
die Abortionen handwerksmäßig und zu hunderten alljährlich verübt
wurden”. Weiterhin wird eine Stelle aus dem „Medical Journal“
angezogen, wo gejagt ift, daß „leider nur zu viele Frauen bier (in
New-York) die freiwillige Abortion ungefähr jo anjehen wie das
Zahnausziehen“.
Frauen und Dichter. ' 305
ihnen ganz vorzüglih, dieſe fittliche Ioee vom Vater⸗
lande zu einer Herzensſache zu maden, fie ihren
Söhnen einzugebären, fie ihren Töchtern mit ver Mutter-
‚milch einzuflößen und beide zu Bürgern und Bürgerinnen
zu erziehen, welche fowohl befähigt als willig find, mit-
zuſchaffen an der Zukunft unferes Volkes. Ia, man
fann, ohne in Phantajterei zu verfallen, Tedlich Tagen,
daß die rauen, weil ivealifcher geftimmt, inniger fühlend,
hingebungsvoller und opferungsfähiger als die Männer,
ganz vornehmlich zur Mitihaffung an diefem Zufunftsbau
berufen find. Frau Germania ift ein viel edleres Weſen
als Michel Nebelheimer, deſſen Bleiſeele jedem von oben
geübten Drud unterthänigft nachgibt, deſſen ewige Vor⸗,
Rüde, Um⸗ und Nebenficht gar häufig die bevenflichite
Aehnlichkeit mit der Bedientenhaftigkeit hat und ver vie
zahlreichen von ihm erfonnenen Philoſophieen glücklich
noch um eine vermehrte, um vie Bhilofophie ver Feigheit,
genannt Kompromiſſkunſt oder Realpolitik. Es gibt in
der ganzen neuen deutſchen Gefchichte fein Männerwort
— und zwar ein Wort, das zugleich eine That — welches
dem Frauenwort gleichläme, das im Jahre 1849 jene
Paftorswittwe im Lande Dithmarjen gefproden hat.
Ihre zwei Söhne ſtanden bei der fchlefwig-bolfteinifchen
Armee, welche vor Frievrichsftant lag, und etlihe Tage
vor dem unfeligen Angriffe Bonins auf die Stellung der
Dänen fchrieben die Jünglinge an die Mutter, bet ver
Wahricheinlichkeit, in der bevorſtehenden Schlacht das
Leben zu verlieren, fchmerzte fie nur eins: — daß fie alle
die Liebe, welche fie ihnen erwiefen, nicht mehr zu ver-
Scherr, Frauenwelt. 4. Aufl. II. 20
306 Bud II. Kap. 7.
gelten vermöchten. Worauf die heldiſche Mutter: „Meine
Liebe werde ich dadurch vwergolten jehen, daß ihr beim
Sturme die erften und beim Rüdzug vie legten fein!" 209
Nur Mütter vermögen zu ermefjen, was es ein Mutter-
herz gefoftet hat, dieſe Worte niederzufchreiben.
Es iſt thöricht, es ift unhiſtoriſch, auf Kojten ver
Gegenwart die Vergangenheit zu preifen. Aber wer nicht
ein gedankenloſer Optimift oder ein berechnender Schön-
fürber, wird unferer Zeit den großen Schattenfled nicht
abiprechen wollen, daß fie ven Schein dem Sein vorzieht,
vergoldeten Koth höher fchätt als unpolirtes Erz und ihre
Grundfatlofigkeit hinter einer weitbaufchigen Draperie
von NRevensarten verftedt. Wenn die Yankees vom „all-
mächtigen Dollar” reden, jo können wir mit noch) mehr
Berechtigung von der „allmächtigen Phraſe“ ſprechen.
Sie beherriäht, wie jo ziemlich alles übrige, auch vie weib-
liche Erziehung, und falls man vie Refultate verfelben ins
Auge fait, muß es jehr begreiflich und verzeihlich er-
foheinen, daß unfere jungen Männer mehr und mehr
ſcharenweiſe ins cölibatärifche Lager übergehen. Es würde
lächerlich fein, wenn e8 nicht traurig wäre, zu fehen, wie
auch ver Mittelftand allüberall immer mehr von der all-
mächtigen Phraſe fich verleiten läſſt, feine Töchter zu
müfjiggängerifchen Damen „ausbilden“ zu laffen. Was
follen, was können daraus für Hausfrauen und Mütter
werden? Im Namen des gefunden Menfchenverftandes,
der guten Sitte und der elterlichen Pflicht: — Jagt die
209) Buſch, Schlefwig-Holfteinifche Briefe, II, 228.
Frauen und Dichter. 3507
welſchen Parlirmeifter weg 21%); zerichlagt die ewigen
Klimperfaften, welche nachgerabe jenes Haus zu einer
Klavierhölle machen; lehrt die jungen Mädchen zeitig den
fittlihen Werth der Arbeit fennen und woher dad Brot
fomme; laſſt fie Hände und Finger ftatt auf den unver-
antwortlich viele Zeit raubenden und noch dazu die Denf-
fähigfeit abftumpfenden Taſten Lieber in Küche, Vorraths-
fammer und Garten rühren; bringt ihnen bei, daß die
wahre Heimat der Frauen nicht der Ball, Koncert- und
Opernfal ei, jondern das Haus und die Häuflichkeit;
lehrt eure Töchter denken, Kar und folgerichtig denken,
und wär’ e8 täglich nur eine Viertelſtunde, nur fünf
210) Die Narretbei, daß es zur „Bildung“ gehöre, junge
Mädchen franzöftfch plappern zu ehren, hat um Jahre 1870 jenes
affiſche Kofettiven mit franzöfifhen Gefangenen zur Folge gehabt,
womit auf -deutichen Bahnhöfen. gar häufig Gänschen von Töchtern
mit ihren Müttergänfen wetteiferten, bis der allgemeine Unwille
dem Gefchnatter ein Ende machte. Derartiger Dummheit — in
aller Milde angenommen, daß e8 nur Dummheit geweſen — ge-
bührt die ftrengfte Rüge. Man bat nicht vernommen — bie ©e-
rechtigkeit heiſcht dieſes Bekenntniß — daß Franzöfinnen während
des großen Krieges den Feinden ihres Landes gegenüber ſolche
Bloͤßen fih gegeben haben. Sie wußten, was fie ben Gefühlen
ihrer Nation fchuldig waren. Zu den ärgften Modethorheiten ge-
hört das Verſchicken junger Mädchen aus Deutichland in die Pen-
fionate der franzöflihen Schweiz — (in der deutſchen Schweiz ift
diefer Unfinn ebenfalls Mode und zwar unter der Benennung
„Ins Welſchland auf die Löffelſchleife ſchicken“). Sie können bort
nur verlernen, was fie allenfalls zuvor in den heimifchen Schulen
gelernt hatten, und vermögen jchlechterbings nichts zu lernen von
alledem, was einer gebilveten beutfchen Frau und rechten Haus-
mutter anfteht und ziemt.
20 *
308 Bud III. Kap. 7.
Minuten lang; entwidelt in ihnen ftatt ver Phraſe,
jtatt der Sucht, zu feinen und zu „brilliven“, ven
Eifer, etwas befjeres zu fein als die Pußpuppen an ven
Schaufenftern der Modenmagazine; gebt ihnen ftatt elen-
den Verbildungskram lieber Berftänpigfeit, Arbeitsluft ind
Genügſamkeit zur Ausftener und ihr werdet — bei allen
Göttern! — endlich wieder eine Generation von Müttern
erhalten, welche nicht blos ausnahmsweife, fondern ins⸗
gefammt fähig find, tüchtige Jungen zu gebären und fie
zu Männern zu erziehen, zu Männern, welche das
Zeug haben, uns von ver Tyrannei der Phrase zu befreien !
Was den aus Amerika und Ruſſland importirten
Schwindel der Stubentinnenfhaft angeht, jo wollen
wir denjelben rubig ſich ausſchwindeln laſſen. Das ift
ja nur eine moralifche over auch unmoralifche Chignon-
Mode. Das Weib bat — ausnahmemweife, wohlver-
ftanden! — zur Dichterin und Künftlerin das Zeug,
aber in der Wiffenichaft wird fie es über den Dilettan-
tismus nie binausbringen, weil ihr das Abſtraktions⸗
vermögen abgeht. Die Frau ift ganz wefentlic vie
Pflegerin der Familienhaftigkeit und vie Bewahrerin
der Sitte. Darum wird fie auch fofort zur widerlichen
Rarikatur, wenn fie in die Politik hineinpfulcht. Gibt e8
etwas efelhafteres als fo ein Ding von Klubbfliege, fo
eine „ Emancipirte“ nach ver Schablone, welche, wie ich
anderwärts gejagt, politiihe Kneipereien mitraucht?
Das vielmiffbrauchte Wort Emancipation beveutet in
dieſem Falle thatfächlich nichts anderes als Proftitution.
Aber jollen die deutſchen Frauen zu den öffentlichen
_
Frauen und Dichter. 309
Angelegenheiten, zu den Geſchicken unferes Landes
gleichgiltig ich verhalten? Keineswegs! Auch fie follen
und müffen dem Staate geben, was ihm gebührt, und
zwar dadurch, daß fie alles Beſte, Schönite, Liebſte, was
in unferer Nation Lebt, in ſich aufnehmen, ſich aneignen,
in fich zu Fleiſch und Blut wandeln, um es auf ihre
Rinder zu vererben. Eine rechte Mutter vermag unend-
lich viel zu thun, in aller Stille und Unſcheinbarkeit
unendlich viel zu thun, um ihre Söhne zu guten Bürgern
und ihre Töchter zu rath⸗ und Bilfereichen Gattinnen guter
Bürger zu machen... Das Höchfte unjere® Stammes, das
Pflichtgefühl, als die heilige Herdflamme des deutjchen
Haufes zu hegen und durch Wink und Wort und That
im Gatten zu ftärfen, in ven Söhnen und Töchtern
anzufachen, das ijt, will mir feheinen, die wahre, gejunde
und erjprießliche Frauenpolitif. Mittels Hebung viefer
Bolitif vermögen die deutſchen Frauen zum weiteren ge-
veihlichen Ausbau des endlich neugegründeten Reiches
unberechenbar viel beizutragen. Mögen fie — mit
diefem innigen Wunſche jei mein Buch beichloffen —
immer eingedenk ſein, daß auch ihre beſten und
theuerſten Güter nur in und mit ihrem Volke gedeihen,
und möge darum in ihren Herzen allezeit lauten
Widerhall finden unſeres Dichters edelprächtig Wort: —
........ „Oh, kein Donner an
Dem Himmel und kein Laut auf Erden, quöll
Er auch von ſchönſter, ſüßeſter Lippe, gleicht
An Macht dem Worte Vaterland!“
Anhalt des zweiten Bandes.
Drittes Bud.
Aenzeit.
Erſtes Kapitel: Bm ſethzehnten Bahrhundert.
Das Zeitalter der Reformation. — Marimilian I. und
Karl V. — Luther. — Sitten und Unfitten ber Zeit. —
Bildung der Frauen. — Ihre Betheiligung am Reformwerk.
— Die Frauen und ber Edlibat. — Luthers Frauenideal. —
Heilfamer Einfluß der Reformation. — Schattenfeiten. —
Die Wiebertäuferei. — Eine friefiihe Judith. — Das ge-
fellige Leben des 16. Jahrhunderts. — Realiſtiſche Welt-
anſchauung und deren Anwendung auf die Frauen. — Um⸗
gangston und Bräude. — Das Bableben und das „Bei-
liegen". — Die Tanzfrenden. — Frauentradht. — Bänerifche.
— Die bürgerlichen Kreife. — Hausrath, Küche und Keller.
— Eine vornehme Trunftenboldin. — Die fürftlichen Kreife.
— Licht und Schatten. — Eine vornehme Hochzeit. —
Uebergang vom 16. ins 17. Jahrhundert. — Die Ber-
welihung unferes Landes. — Der Jeſuitismus und der Cal⸗
vinismus nn .
Zweites Kapitel: Zur Yergleihung.
Die Renaiffance in Frankreich. — Begründung des mo⸗
bernen Hofftile und Maitreffenweiene. — Die franzöftiche
Inhalt des zweiten Bandes. 311
- Galanterie unter Franz I., Heinrich III. und Heinrich IV.
— Die Regentihaft der Anna d'Autriche. — Ludwig XIV.
— Die franzöfifhe Geſellſchaft in den Briefen der Herzogin
Eliſabeth Charlotte von Orleans. — Bon den Stalienerinnen.
— Die fpanifchen Frauen im 16. und 17. Jahrhundert
Drittes Kapitel: WMonfienr und Madame „Alamode“ in
Beutfdland.
Charakter des 17. Jahrhunderts. — Die Ausländerei und
die patriotiſche Oppoſition. — Der breißigjährige Krieg.
— Sieg des alamodiſchen Weſens. — Ungefhmad und
Sittenlofigleit der „galanten” Literatur. — Frauentracht und
Damenputz. — Die vornehme Gefelligfeit. — Ringelrennen,
Wirthſchaften und Schäfereien. — „Alla francese“. — Zwei
Hoffittengefhichten. — Die bürgerlichen und die akademiſchen
Kreife. — Die Schönen bes Lagers. — Fromme, gelehrte und
bichtende Frauen. — Ehebündnifſe zwilchen Fürften und
Bürgerstödtern en
Viertes Kapitel: Die Hexen.
Bom Teufel. — Die Weltanſchauung des Mittelalters.
— Das Rei Gottes und das Reich Satans. — Wundern
und zaubern. — Bon zanberifchen Praktiken. — Die Kirche
und das Zauberweien. — Die Heren. — Bund und Buhlichaft
mit dem Teufel. — Der Herenfabbath. — Der Herenproceß.
— Die Bulle Innocenz des Achten und der Herenhammer. —
Das Beweisverfahren und die Beftrafung. — Die Reformation
und ber Herenproceß. — Die maffenhaften „Einäfcherungen”.
— Oppofition: Molitor, Weier, Loos, Lercheimer, Spee,
Beder, Thomafius. — Die letzten Herenproceburen. — Die
ledte See rn
Seite
71
. 101
. 136
312 Inhalt des zweiten Bandes.
Fünftes Kapitel: Rokoko.
Eine Fette von Gegenfägen. — Umriß ber Bewegung des
18. Jahrhunderts. — Die Frauentradgt: eine Schöne im
Rokokoſtil; Revolution und Reaktion der Mode. — Umgangs-
ton. — Bildung der Frauen und ihre Stellung in den abeligen
und bürgerlichen Kreifen. — Stäbtifches Leben. — Urſachen
der umfittliden Aeußerungen deſſelben. — Das Theater und.
die Frauen. — Die Neuber und ihre Nachfolgerinmen. — Die
Frauen von Wien. — Ein merfwürbdiger Imftand in Caſanova's
Memoiren. — Die Frauen von Berlin. — Die Höfe —
Flüchtige Durchblätterung ber höfiſchen Skandalchronik. —
Bollftändige Verwirrung der fittlihen Begriffe. — Eine fürft-
lihe Maitreffe als „Mufterbild der Tugend”. — Die Ironie
ver Weltgefchichte. — Der Pietismus und die Frauen. — Die
„Mutter Eva” zu Schwarzenau. — Ein weibliches Ungeheuer.
— Die Heilige von Wildisbuch. — Muderifches
Sechſtes Kapitel: Die Fürfinnen.
Das Maitreffenwejen und die deutſchen Fürſtinnen. —
Die „philofophifche" Königin Sophie Charlotte. — Die große
Landgräfin. — Die Prinzeifin Amalie von Preußen. — Maria
Therefin. — Marie, Antoinette. — Katharina die Zweite. —
Die Herzoginnen Amalia und Luife von Sahfen- Weimar. —
Die Frauen zur Zeit ber Befreinngeteiese. — Die ie Koönigin
Luiſe von Preußen
Siebentes Kapitel: Frauen und Vichter.
Berühmte Frauen. — Künſtlerinnen, Gelehrtinnen und
Dichterinnen. — Die Fürſtin von Gallizin. — Eliſe von der
Rede. — Frau von Krüdener. — Klopſtock der Wiederherſteller
des Idealismus ber Liebe. — Die Kehrfeite. — Wieland und
. 173
. 227
die Frauen. — Leſſing. — Der Sainbund. — Voß und |
Erneftine. — Bürger und Molly. — Die Epoche der Em⸗
Inhalt des zweiten Bandes.
pfinpfamteit. — Karoline Flachsland. — Lavater und bie
Frauen. — Die Kraftgenialität. — Göthe und Schiller. —
Sean Paul und Charlotte von Kalb. — Hölderlin und Dio—
tima. — Die Romantiler. — Novalis. Kleift und Henriette.
— Körner und Toni. — Rahel und Bettina. — Immermann
und Elife: — Charlotte Stieglig. — Lenau und Sophie. —
Grabbe. — Sqhefer u und Friederite. — Johanna Kinkel. —
Schluß . ,
313
Seite
. 261
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Berlag von Otto Wigand in Seipzig.
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