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GIFT or
Searles Fund
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GESCHICHTE
DER ENGLISCHEN ROMANTIK
VON
HELENE /RICHTER
n. BAND
1. TEIL
HALLE A.S.
VEBLAO VON MAX NIEMETER
1916
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Zweiter Band
Die Blüte der Romantik
Erster Teil
4817i')3
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Dritter Band: Die Klassiker der englischen Romantik.
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Vorbemerkung.
Der dritte Band der Geschulte der englischen Romantik
wurde Ende des Jahres 1913 im Mannscript abgeschlossen
nnd sollte im Herbst 1914 erscheinen. Bei Ansbmch des
Krieges war der weitaus größere Teil gedruckt. Nur die
bewegte Zeit hat die Vollendung und die Ausgabe des
Buches bis jetzt, verzögert Die Literatur der letzten drei
Jahre kam somit nicht mehr in Betracht für die Arbeit,
die in Folge dessen nicht bis zur Gegenwart fortgeführt
erscheint Hdbent swi fata libeUi. Möge das Yölker-
schicksal, das auf den vorliegenden Band einwirkte, den
Ausbau des begonnenen Werkes gestatten.
Wien, im Januar 1916.
H. R
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InhaltsTeneiohniB.
Seite
Kap. L Ber litenurisclie Essay.
Die GoekneyBchnle 1
James Heniy Leigh Hunt
Poütik 15
Poesie 34
Prosa 47.
Glkarles Lamb.
Lebensabiiß 86
Lambs Dichtungen 118
Charles* und Marys gemeinsame Werke 129
Literatur nnd Kritik 137
The Essays of Elia 148
William Hazlitt
Malerei 184
Die Essays 202
Liber Ämaris 288
The Life of Napoleon 250
Thomas GriECiths Wainewright 264
Chiistopher North (John Wilson).
Lebensabriß 296
Der Dichter 802
Der Essayist 807
Der Kritiker 339
Kap. n. Bie satiriseh-hnmoristiselie OesellsehafUdlehtiing,
James nnd Horace Smith . . . . : 346
Thomas Loye Peacock.
Dichtungen 372
Bomane 394
Zeitschriftenaulsfttze 415
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vni
Seite
Thomas Hood.
LebenslanI 425
Der Bomantiker 486
Witz nnd Humor 452
Soziale Tendenzdichtung 460
Winthrop Mackworth Praed 472
Kap. m. Ba8 besekreibende €fedlobt und die Tenenlhlniig
Ton Pope bis Southej*
Los von Pope 491
George Crabbe.
Lebensabrifi 504
Die poetische Erzählang 518
Der Dichter der Armen 527
William Cowper.
Fttnfzig Lebensjahre 547
Das Dezenninm der literarischen Produktion 570
Der Niedergang 596
William Lisle Bewies 611
Samuel Bogers 632
Thomas Campbell.
Leben 654
Dichtung 665
Prosa 677
Bryan Waller Procter (Barry Comwall) 684
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Erstes EapiteL
Der literarische Essay.
Die Coolmeysdhule.
„Das Wort Cockney^j sagt Bulwer-Lytton, „bedeutet
den ürtypos des Londoners östlich von Temple Bar nnd
ist mit den Bow-Glocken auf so wunderliche Weise unter
einen Begriff gebracht wie Quasimodo mit den Glocken
von Notre-Dame".i)
Die Cockneyschule, ein Gruppenname für etliche in
London lebende Dichter und Schriftsteller, kam zuerst 1817
auf als eine wegwerfende Bezeichnung, welche die darunter
Begriffenen lächerlich machen sollte. Von einem rein
äußerlichen Umstände — dem zufälligen Aufenthaltsorte —
abgeleitet und skrupellos Menschen untereinander werfend,
die zum großen Teil weder als Autoren noch als Persönlich-
keiten viel mit einander gemein hatten, war sie lite-
rarisch wertlos. Wider alles Becht hat sie sich infolge
der Bedeutung, die sie in der Tagespresse gewann, auch
in die Literatur eingeschlichen und in ihr behauptet
Die Gehässigkeit, der der Name Gockneyschule ent-
sprang, wurzelte in politischen Meinungsverschiedenheiten,
denen das ästhetische Moment, wenn nicht ein Verwand,
') CharkB Lamb and same of hü Compamans, Quarierly Jtmew,
Jan. 1867 (B. MiUer 121).
Gesehiehte der eq^ÜMhen Bomantik II, 1. 1
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••'•2''-"-' :'-••'••' Der üterariBche Essay.
SO doch ein willkommener Anlaß znr Fehde war. Der
Gegensatz zwischen Whiggismns nnd Toryismos nnd vor
allem die Bivalität der beiden Hauptstädte London und Edin-
burgh war für die Partei, die das Wort Cockney als Schimpf-
wort gebrauchte, ungleich maßgebender als literarische
Prinzipien. Hie Tory und Edinburgh: Blackwood und
QuarterlyX Hie Whig und London: Examiner und London
Magwsine\ Das waren die beiden feindliche Lager.
Das Blackwood Magaeine tat sich etwas darauf zugute,
den Spottnamen Ciockneysehule erfunden zu haben. The
Cockney School of Poets (1818) war der Artikel, der die
Beihe der häufig mehr groben als witzigen Angriffe er-
öffnete. Allgemeine Kennzeichen der Cockneyschule, die
zum „kleinlichen Losungswort für derbe, unverblümte
Beschimpfung**^) erkoren war, sollten Unwissenheit, Ge-
meinheit, Irreligiosität, Immoralität und eine Verbindung
Ton Jakobinismus und Feigheit sein. Jedes Mitglied der
Schule galt von vornherein als ein wertloser, gemeinschäd-
licher Mensch, ein lächerlicher Geck und ein Spießbürger
ohne allen Natursinn. Viele dieser Angriffe waren in
ihrer giftigen Bosheit ehrenrührig. Hazlitt gab ihnen die
geziemende Erwiderung, indem er Blackwood einen Prozeß
androhte.
Leigh Hunt hatte den ersten Ansturm auszuhalten.
Er wurde als König der Cocknejrs, als Herausgeber der
Cockney-Hofzeitm^ lächerlich gemacht und sein Lebens-
wandel wie seine Werke in boshafter Weise geschmäht
und verdächtigt. Etwas später kam Charles Lamb an die
Beihe, der den Spitznamen des Cockney-Skribenten erhielt^
0 A New Spirü of ihe Age, edüed by R E. Home 1Q4A unter der
Mitarheiierschaft Elieabeth Barrett Brownings l, 815.
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Der litanaiflche Essay. 8
w&hrend William Hazlitt der Aristoteles der Oockneys
liieS.i) Hernach worden Barry Ck>mwaü, Charles Lloyd,
Horace und James Smith angegriffen, wnrde Shelley in
den Staub gezogen, Eeats zu Tode gekr&nkt nnd die Zu-
gehörigkeit zur Cockneyschule bis auf den jungen Tennyson
ausgedehnt. Mit diesem kritiklosen und wiUkfirlichen,
nicht einmal durch äußerliche Berfihrungspunkte zu ent-
schuldigenden Zusununenfassen grundverschiedener Indivi-
dualitäten zu einer künstlich gebildeten Gruppe kann die
Literaturgeschichte nichts zu schaffen haben.
Hingegen finden sich anfangs des 19. Jahrhunderts
anter den Essayisten drei — Leigh Hunt, Charles Lamb
und William Hazlitt — zwanglos zu einer Art Cockney-
schule zusammen, während der vierte — Christopher North
— als ihr Gtegenpart erscheint
Das Cockneytum charakterisiert das innerste Wesen
ihrer Persönlichkeit
Hazlitt sagte in seiner witzigen Art, es sei bezeichnrad
für die Cockneyschule, daß niemand zu ihr gezählt sein
wolle, ^) ja, daß die Londoner Schriftsteller sich färchtet^
in die Bficher der mit diesem Namen Gebrandmarkten zu
blicken aus Angst^ des Cockneytums beschuldigt zu werden.')
Anknüpfend an Blackwoods Definition des Cockney — „ein
Mensch, der kein Tory ist und niemals von London entfernt
war'' — persifliert ihn Hazlitt selbst nun folgendermaßen:
„Der echte Cockney hat weder leiblich noch geistig jemals
die Bannmeile Londons fiberschritten. Er leitet alle seine
YorBtellungen von London ab. Er sieht eine große Anzahl
von Dingen und kennt kein Ding. Er ist naseweis, roh,
0 B. Müler 128, 185, 138, 157.
*) On Londoners and Country People,
') On Livmg io On^s sdf (Table Taik II).
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4 Der liteniuche E«ay.
unwissend, eingebildet, lächerlich, schal, yerächtlich. Er
ist ein groBer Mann dorch Stellvertaretang ... Er ist eitel
. . . Der richtige Cockney ist der richtige Gleichmacher.
— Er ist das armseligste Geschöpf der Welt, ein
Gewohnheitsmensch, ein Sklave des Bachstabens. Und
dennoch lebt er in einer Welt der Romantik, in seinem
eigenen M&rchenlande. Er ist ein Bttrger von London.
London ist die erste Stadt der bewohnten Erde. Alle
Herrlichkeit Londons gehOrt ihm. — Er lebt inmitten
einer großen Wagenladung lokaler Vorurteile und positiver
T&uschungen. — CJocknejrtum ist ein Grundelement von
angeborener Niedrigkeit^ vermischt mit Keckheit und Eigen-
dünkels 0
Mit dieser übertriebenen Sch&rfe der Selbstkritik
wollte Hazlitt sich gewissermaßen den Anschein des von
Selbsterkenntnis getragenen, über seinen Gegenstand ge-
hobenen Philosophen geben. Ernst war es ihm damit
selbst nicht
Leigh Hunt warf sich offenkundig mit seinem Gockney-
tum in die Brust „Die Ck>ckney-Dichterschule'', schreibt
er, „ist die ruhmreichste in England. Denn ganz ab-
gesehen von Pope und Gray, die beide echte Cockneys
waren, geboren im Elangbereiche der Bow-Glocken, war
auch Milton, waren Chaucer und Spencer aus der City
gebürtig. Von den vier größten englischen Dichtem war
Shakespeare allein kein Londoner. ">)
Niemand bietet einen schlagenderen Beweis als Leigh
Hunt, daß echtes Cockneytum eine unendlich elementarere
Bodenständigkeit bedeutet als sie der bloße Zufall der
*) On Londoners and Couiniiry Peopis,
*) Monkhonse, Life of Hunt 179.
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Der iiterariaehe Essay. 5
Gebort oder der Abstammung zn geben vermag. Leigh
Hunt, der Vollblntcockney, war nicht nur kein gebflrtiger
Londoner, sondern sogar kein Vollblutengländer und die
WecbselfäUe des Lebens haben ihn weit über London
hinaus geführt Aber seine schriftstellerische Eigenart
wurzelt tatsächlich in London. Sie verblaßt in Italien.
Obgleich er in London nicht selten auch italienische Themen
behandelt, läuft in Italien seine Feder Gefahr, stumpf zu
werden. Er bedarf, um in Majano schreiben zu können,
des „Wunschhfltleins^ seiner Phantasie, das ihn nach
Covent Garden versetzt In Genua trachtet er, sich
einen englischen Abend am Kamin zu verschaffen, in
Italien umgibt er sich mit seinen englischen Bflchem wie
mit einem WalL Er läßt seinen Blick auf den Bäumen
ruhen, am vertrauten, behaglichen Altgewohnten, und
kehrt dem gewaltigen Meer- und Gebirgs-Panorama den
B&cken. Es sagt ihm nichts. Seinem Gockneyauge fehlt
dafür der Sinn.^
Der echte Ck>ckney hegt für seine Vaterstadt eine
schwärmerische Verliebtheit. Man mag sie mitunter be-
lächeln, aber sie wirkt rührend, nicht abstoßend. Dem
Cockneyherzen ist London die Lebensluft, jede andere
versdilägt ihm den Atem. Seine Anhänglichkeit ist die
selbstverständliche Erkenntlichkeit der sich am Leben
freuenden Kreatur für ihre Sphäre. Sie hat nichts mit
verletzendem oder hochfahrendem Lokalpatriotismus gemein.
CSiarles Lamb, der echteste Cockney und ein Londoner
Kind aus dem Herzen der Cüty — obzwar der Abstammung
nach in Norfolk heimisch — schrdbt in einem für den
Befleetor bestimmten Briefe:
1) Jlfy Books.
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6 Der litemuehe Essay.
yylch habe einen natürlichen Hang znr Melancholie,
aber in London verschwindet sie wie alle andern ÜbeL
Oft wenn mich daheim Müdigkeit nnd MiBmut überkamen,
lief ich in das Gedränge des Strand. Dort fand meine Ge-
mfitsstimmung Nahrung, bis mir die Wangen feucht wurden
von Tränen der Sympathie mit all den wandelnden Bildern,
die der Strand, gleich Szenen einer vorüberziehenden Panto-
mime, jederzeit bietet Selbst die Auswüchse Londons, die
anderen Mißfallen erregen, mißfallen mir nicht durch die
Kraft der Gewöhnung. Selbst den Bauch von London liebe
ich, weil er meinem Auge das vertrauteste Medium ist. In dem
schmutzigen Bing, der zwei Faustkämpfer umschließt^ sehe
ich hohe Grundsätze der Ehre am Werk und bei der Ver-
haftung eines Taschendiebes Grundsätze der ewigen Ge-
rechtigkeit Die Kunst, aus den gewöhnlichen Vorfällen
des Stadtlebens eine Moral abzuleiten, beruht auf derselben
gutartigen Alchimie, kraft deren der Waldbewohner von
Arden „Zungen fand im Baum und Bücher im rinnenden Bach,
Predigten im Stein und Gutes in allen Dingen**. Wo anders
schöpft der Spleen seine Nahrung als in London? Humor,
Interesse, Neugier saugen an den unerschöpflichen Brüsten
dieser Stadt Gehegt in ihrem Lärm, ihrem Gewühle, ihrem
geliebten Bauch — was habe ich getan all mein lebelang,
lieh ich nicht solchen Szenen mit Wucher mein Herz!**^)
Hazb'tt ergänzt diese Charakteristik mit dem Be-
kenntnis, die Straßen von London wären sein Feenland, sie
wimmelten für seinen rückschauenden Blick wie für das
gierige Auge der Kindheit von Wundem, von Leben und
Interesse. Es ist ihm gelungen, aus ihrer Überlieferung
einen lichten, endlosen Boman zu web^i."^)
») Worlcs, edit Ainger IV, 261.
>) Spint of ihe Age 265.
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Dtr IHenuriidie Eessy. 7
Dieses Wort gilt recht eigentlich fftr die ganze Drei-
einheit der Cockneysehnle. und noch eine andere, yon
Bnlwer berBhrte Eigenheit der Liebe zur Vaterstadt ist ihnen
gemeinsam: Bei aller individnellen Verschiedenheit einer-
seits nnd all üuem eingefleischten St&dtertnm andererseits
widersü^ben Leigh Hnnt, Lamb nnd Hazlitt doch in
gleichem Grade den großstädtischen Tendenzen der Metropole.
Sie bewegen sich in einem so kleinen and engen Kreise,
ab lebten sie in einem Landst&dtehen, sie haben, so sehr
sie sich als Londoner fahlen, nichts Weltmännisches an
siclLi)#
Das Cockneytnm ist flbrigens nicht der einzige
gemeinsame Zng der bei aHer Charakterverschiedenheit
gleichwohl innig befreundeten Drei. Sie waren aneh
simtlich soziale Schriftsteller. Hnnt, der Liberale von
unbestimmter politischer Firbnng, die mit den Jahren so
yerblaAt, dafl der leidenschaftliche Schmfther des Prinz-
regenten ein Pensionär der Ednigin wird; Hazlitt, in dem
ein fanatischer Demokratismos sich friedlich mit einem
aosgesprochen metaphysischen Hange verträgt; Lamb,
der politisch Gleichgiltige mit seinem kindlichen Hnmor
— - sie stimmen darin flberein, daß alle drei ihre Feder
dem gesellschaftliche Interesse widmen, sei es nun
ein dauerndes, sei es das Literesse des Augenblicks. Li
yieten Fällen macht der Glanz ihres Schrifttums das
flflchtige zum dauernden. Andererseits hat ihnen die
Bedeutung, die sie als Tagesschriftsteller fftr ihre Zeit ge-
wannsn^ einen literarischen Ehrenplatz verschafft, den der
poaitiye Wert ihrer Werke nicht immer rechtfertigt und den
diese nur als Eulturausdruck ihrer Epoche behaupten können.
>) YgL QtMrterly Beview 1867 voL 22.
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8 Der Mteniuohe lOnnj.
Sie widmen sich der Befriedig^g des literarischen
Tagesbedfirfnisses und bringen diesem Dienst alle erforder-
liche Begabung entgegen: die Sch&rfe der Beobachtung, das
liebevolle Eingehen auf Kleines, den idealen Flug nach dem
Hohen, kurz, jenes Verständnis, das mit sicherem Takt dem
Augenblick nichts anderes zumutet, als was ihm eben am
gelegensten kommt — mit einem Wort, jene nicht genau zu
bestimmende Eigenschaft, die das journalistische Talent
ausmacht Die Gocknejrschule ist eine Joumalistenschule.
Sie bedeutet die Blflte des englischen Journalismus zur
2^t der Bomantik.
Die englische Presse hat eine phänomenal rasche und viel
umfassende Entwicklung durchgemacht. Es waren noch keine
zweihundert Jahre vergangen, seitdem (am 23. Mai 1622)
in England die erste gedruckte Zeitung erschien, d. h. ein
in bestimmten Zwischenräumen erscheinendes Blatt mit
Neuigkeiten: The Weddy Newes from Italy, Oermanie etc.,
deren Drucker vom September desselben Jahres an der
als der erste Zeitungsverleger bekannte Nathaniel Butler
war.O 1641 geschah ein wichtiger Schritt vorwärts durch
die mit der Abschafihing der Stemkammer gewonnene
Prefifreiheit, die aber erst nach der Revolution auch auf
die Veröffentlichung politischer Neuigkeiten ausgedehnt
wurde und, wie Macaulay sagt, den Staat gewissermaßen
unter die Zensur der Presse stellte. >) Gleichzeitig erschien
auch bereits die erste nach dem Muster des Journal des
3a/vants eingerichtete literarische Zeitschrift, Mercurius
Librarius, or A Faiihfid Account of aü Books and Pamphlets
(Mercurius librarius oder Genauer Bericht über alle
0 Andrews 1, 2a
*) Hiitory of England. I, Se5.
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Der literarische Bssay. 9
Bllcher und Broschüren), 1600—1688.0 Ein föhlbarer
AidEBcliwang kam unter der R^gierong der Königin Anna.
Drei Tage nach ihrer Thronbesteigung erschien das
erste Tageblatt Daüy Courant (Tagesneuigkeiten). 0 Ihre
eigentliche Bedeutung für das Pressewesen aber gewinnt
jene Epoche durch eine Beihe von Bl&ttem, die den
Charakter der Zeitung und der Zeitschrift in eigenartiger
Weise verbanden. Sie erschienen periodisch, ließen den
Nachrichtendienst nicht außer Acht, hoben aber die
Neuigkeiten auf die HOhe der politischen Abhandlung oder
Ciontroyerse. De Foe's Tätigkeit bedeutete einen gewaltigen
Fortschritt im englischen Zeitungswesen, obzwar seine
zweimal wöchentlich erscheinende Weekly Review of the
Affairs of France, purged fram ihe Errors and Partialitiea
of Newswriters and Petty Stateamen of all Sides (Wochen-
schau der Angelegenheiten Frankreichs, geläutert von den
Irrtfimem und Parteilichkeiten der Neuigkeitenschreiber
und kleinlichen Staatsmänner aller Sichtungen) eine aus-
gesprochen politische Färbung trug. Der Ton, bald
kritisch, bald satirisch, bald belehrend, hob sich im
Ganzen.') Brennende akute Fragen wurden mit Ernst
oder Humor behandelt und der Einzelfall in den Ge-
sichtswinkel der allgemeinen Bedeutung gerftckt In
der Folge gingen Staatsmänner wie Burke, Pitt und
Canning unter die Journalisten.
Ihr Hauptgewicht aber legten die Zeitschriften im
großen und ganzen auf das literarische Moment. Die
kritische Diskussion oder das schöngeistige Geplauder,
«) H. R Tedder, Cydopaedia Britamica.
^ Kjüght Hmit 1, 175.
■) Fox Boome 02.
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10 Dw litenrifldie Esny.
deren Statte bisher das St Jame's Coffee Honse tmd andere
Lokale waren, gewannen in diesen Bl&ttem einen frucht-
baren Boden, anf dem sie zu literarhistorischer Bedeatnng
gediehen. Im Tafler (gegründet 1709) trat die Politik in
den Hintergmnd. Abhandinngen Ober soziale, literarische
and vermischte Gegenstände wurden allmählich der aas-
schließliche Inhalt — ein Inhalt, der die Unterhaltnng
wie die Belehrung des Publikums gleich sehr im Auge
behielt, und den gesunden Verstand wie den liebenswürdigen
Humor auf sein Panier schrieb. Der Spedator (1711 — 1718),
Ton vornherein unpolitisch gedacht, war an sich eine
Sammlung kurzer Abhandlungen zum Eostenpreis eines
Zeitungsblattes. Der Guardian (1718), dessen Mitarbeiter
Pope war, erschien zwar täglich, hatte aber gleichfalls
keine politischen Tendenzen, sondern bezweckte vielmehr
eine sittliche Beeinflussung der öffentlichen Meinung,
nicht durch eine Kritik der Parteiffthrer und Tages-
ereignisse, sondern durch leichte Satire und verdeckten
Humor und einen allgemein moralisierenden Ton.<) In
diesen Blättern haben Addison, Steele, Swift sich
dauernden literarischen Ruhm erworben.
Die Bedeutung der Zeitschriften ist eine doppelte.
Sie befriedigten das Interesse und den Geschmack der
Gegenwart, indem sie beide klärten, so vollkommen, daS
ihr wachsender Einfluß auf die Buchliteratur einschränkend
wirkte. Swift schrieb 1745, man lese nichts anderes mehr
als die Tagesblätter. Gowper (in The Task) und Crabbe
(in The Nevospaper) haben die Wichtigkeit der Zeitung
poetisch bezeugt Und während sie sich durch ihren
positiven Wert zu dauernder literarischer Bedeutung erhob,
») Vgl Fox Bonme 70, 87, 88.
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Der literarische Essay. 11
gewann sie zugleich als anschauliches Spiegelbild der
Epoche bleibende knlturhistorische Wichtigkeit
Die unmittelbare Folge der außerordentlichen Wirkung
dieser Zeitschriften war eine ungeheure Vermehrung der
periodischen Blätter, die naturgemäß ihren Verfall nach
sich zog. Als Gegengewicht der allzuleichten Tagesware
gründete Daniel Stuart 1795 die Moming Post, wie es
in der Ankündigung hieß, nicht nur zu dem Zweck, die
letzten Nachrichten und zuverlässigsten Berichte über aus-
wärtige und heimische Angelegenheiten zu yermitteln,
sondern, damit Literaturfreunde sie gründlich lesen und
aufbewahren mögen für künftige Belehrung und oftmals
wiederholte Lektüre, i) ein Wort, das die Zeit als ein nicht
in Anmaßung gesprochenes erwiesen hat, denn die Mit-
arbeiter dieser Zeitung wurden Coleridge, Lamb, Southey
und Wordsworth. Gleichzeitig schwang sich der Moming
Chronide unter der Redaktion Perrys und der Mitarbeiter-
schaft Yon Mackintosh, Lamb, Coleridge und Campbell
zu einem führenden Organ empor. Dazu kamen Leigh Hunts
zalhreiche Zeitungen und Zeitschriften und von 1820 — 1829
das London Magazine, das unter John Scott seine Blüte-
zeit erlebte. Hazlitt verfaßte Theater- und Kunstkritiken
und Eeats, Montgomery, Hood, Francis Cary und
Carlyle lieferten Beiträge.
Die schottisch toiystischen Gegenblätter, mit denen
sieh ein Kampf aufs Messer entspann, waren die schon
1809 gegründete Quarterly Beview, die durch Giffords
scharfe literarische Kritik hervorragte, und BlackwoocPs
Magazine, in dem die literarische, politische, soziale
Plauderei in Christopher North einen Hauptvertreter fand.
>) Fox Boume 271.
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12 Der literarische Essay.
Die Gockneyschole fahrt in direkter Fortentwicklung
den englischen Journalismus von den großen Zeitschriften-
mitarbeitem aus der Zeit der Königin Anna, zu einer
zweiten Blüte. Die Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu
suchen, trieb Hunt, Lamb und Hazlitt in die Redaktionen.
Lamb schildert die Qual, dem ernsten Gemflt jenen lebhaften^
leichten Bagatellenton abzuringen, der der einzige Köder sei,
auf den das Publikum anbeiße. Seine erste Anstellung bei
einer Zeitung war die Verpflichtung, der Maming Post
taglich sechs Witze zu liefern. Damals hatte jedes Blatt
noch einen eigenen Mitarbeiter, dem diese Aufgabe oblag.
Die Witze, denen das Tagesgespräch, der Skandal wie die
Mode den Stoff lieferten, mußten epigrammatisch gehalten,
kurz und treffend sein. Sechs Pence pro Scherz galt für
ein ziemlich hohes Honorar, i)
Aber nicht lange, so hatten diese Männer den journa-
listischen Beruf ihrer eigenen Leistungsfähigkeit angepaßt.
Sie ließen sich nicht von ihm hinabziehen^ sie hoben ihn zu
sich empor. Sie hatten einen hohen Begriff vom Wesen und
von der Pflicht des Jonmalismus. Was der leichtgemute
Leigh Hunt darunter versteht, deckt sich beinahe mit den
strengen Forderungen des puritanischen Idealjoumalisten
unserer Tage, George Bemard Shaw. Der Journalist soll der
Leiter, der Bildner, der Erzieher seines Publikums sein.
Hunts Signatur war eine Hand mit hinweisend ausgestrecktem
Zeigefinger. In der ersten Nummer des Indicator (18. Ok-
tober 1819) bezeichnet er als Zweck der Zeitschrift: jed-
weden wie immer gearteten Gegenstand, im Bereiche
seines Wissens oder seiner Lektfire, im wesentlichen kurz
anzuzeigen, Abhandlungen fiber Menschen und Dinge, Belle-
1) Lamb, Newtpapers Üwrty fioe Yeara ago.
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Der litenriBche Essay. 13
tristäsches und Politisches, Geschichten ans der Geschichte
in gater Auswahl zu bringen — und alles das auf einem
Baume von acht Oktavseiten, f&r einen Leser, bei dem er
keine tiefe Bildung, aber gesunden Verstand und an-
st&ndige (Besinnung voraussetzt Dieses Programm bleibt
bei all seinen Zeitschriften annähernd das gleiche. Er fdgt
höchstens hinzu, daß er nicht fOr den Pöbel — welcher
sozialen Sph&re dieser auch angehöre — schreibe, ein Punkt,
der so recht den Idealismus jener romantischen Journalisten-
schule kennzeichnet. Sie hat eine journalistische Utopie im
Auge, an die sie ihre Lebenskraft setzt. Die belletristische
Geringfügigkeit^ die an sich kaum gut genug ist für dieSpalten
eines Tagesblattes, wird, kraft des Humors, des Geistes, des
Formtalents dieser Schriftsteller zum literarischen Kabinett-
stflck ausgestaltet, das ausreicht für die Unsterblichkeit.
Der Zeitungsplunder erhebt sich in die Sph&re des Kunst-
werkes; die Artikel werden kritische, ästhetische, politische,
beschreibende Essays. So ist die Cockney-Jourualisten-
schule eine Schule von Essajdsten geworden. Ihre
Mitglieder sind dabei im Leben nicht sonderlich in die
Höhe gekommen und sämtlich als arme Teufel gestorben.
Aber in der Geschichte der englischen Literatur treten sie
das Erbe Addisons, Steeles, Swifts an und überliefern es,
nachdem sie es als Eigentum erworben und individuell
verwandelt haben, den Enkelgeschlechtem.
Werke zur Cockneyschale.
1850 F. Knight Hnnt, The Faurih Estate. OontribuHons
iofcards a Histary ofNewapapers and of the Liberty of
ihe Press.
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14 Der iitenriBdie Essay.
1859 Alexander Andrews, TJie Histary of British JaumaUBm
from the Foundation of the New^aper Press in Eng-
land to the Bepeal of the Stamp Act in 1855.
1871 James Grant, The Newspaper Press. Its Origin, Progress
and Present Position.
1882 Joseph Hatten, JoumaUstic London.
— Charles Pebody, EngUsh JoumäUsm and fheMen who
made iL
1887 H. R. Fox Bourne, English Newspapers. Chapters in
the History of Joumalism. (CasselVs Populär Shilling
Library.)
1912 Oliver Elton, A Survey of English Literature 1780
—1830.
— Barnette Miller, Leigh Hunt.
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Google
James Henry Leigh Hunt.
1784—1859.
Politik.
Leigh Hunt entstammte einer seit dem 17. Jahrhondert
in Barbados (Westindien) ansässigen englischen Familie
von Geistlichen. W&hrend eine Tradition ihre Abkunft
auf einige Toiykavaliere znrflckf&hrt, die vor Cromwell
nach Amerika fluchteten^ weist eine andere auf einen
Geistlichen ans Exeter, der zur Zeit Jakob L nach Bar-
bados auswanderte. Heiraten brachten militärische, quäker-
hafte und adelige Einschläge, deren einer sich bis in die
nebelhafte Feme eines irischen Königsgeschlechtes verliert
Leighs Vater, Isaac Hunt, ein fröhlicher Student der
Bechte in Philadelphia, flfichtete, da er als loyaler Be-
kenner königstreuer Prinzipien während der amerikanischen
Freiheitserhebung seines Lebens nicht sicher war, in das
englische Stammland und wurde Geistlicher. Seiner Yer*
anlagnng nach hätte er eher zum Schauspieler getaugt
£b war ein falscher Stolz, der ihn statt auf die Bretter
auf die Kanzel fährte, und die Laufbahn mißlang. Trotz
seines giftnzenden Bednertalentes, das seinen Predigten
stets eine zahlreiche und bewundernde Schar andächtig
Lauschrader sicherte, trotz der Gönnerschaft des Herzogs
von Chandos, der ihm die Erziehung seines Neffen,
Mr. James Henry Leigh, anvertraute, trotz der eifrigen
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V
16 Der literariache Essay.
Bemühungfen des Malers West, brachte Isaac Hunt es zu
keiner Stellung. Sein für höheren Lebensgenuß geschaffenes,
sanguinisches, unpraktisches, vergnttgungsliebendes Naturell,
seine Geselligkeitsliebe, der ein hübsches, zartblondes
Äußere und eine wohlklingende Stimme Vorschub leistete,
und seine etwas theatralisch gefärbten Manieren erregten
das Mißtrauen der vorgesetzten Behörden. Sie verhielten
sich ablehnend gegen ihn. Idealistisch impulsiv und ohne
Berechnung trat er offen für einen amerikanischen Lands-
mann ein. Das machte ihn bei Hofe mißliebig. Hunt, der
die Heimat verlassen hatte, um der Bücksicht willen, die
er seinem König schuldig zu sein glaubte, schien ver-
dächtig. Mißliche 6eldverhältnisse verschlechterten seine
Lage. Das Schuldgefängnis war eine der frühesten Er-
innerungen seines Sohnes. Vor jeder angestrengten
Tätigkeit, jeder Energieanspannung schreckte das arbeits-
scheue südliche Blut in seinen Adern zurück. Sein Ehrgeiz
war stets auf ideale Bestrebungen gesetzt, seine Brust
stets von weitausholenden romantischen Zukunftsplänen
geschwellt Darüber verlor er den Augenblick und seinen
guten Namen. Aber das unverwüstlich heitere Tempera-
ment täuschte ihn über die eigene Lebensuntüchtigkeit
hinweg und übergoldete ihm die Ungunst der äußeren Zu-
fälle. Die köstliche Fähigkeit, sich unter allen umständen
behaglich zu fühlen und seinen seelischen Schwerpunkt
auf einen angenehmen Gedanken verlegen zu können, ließ
ihn den Kopf immer hoch halten. Diese launige, liebens-
würdige Gemütsart war weitaus das beste Erbteil, das
von Isaac Hunt auf seinen — nach seinem Zögling James
Henry Leigh benannten — am 19. Oktober 1784 in
Southgate (Middlesex) geborenen Sohn überging. In der
Tat wird die liebevolle und eingehende Charakteristik, die
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Der literarische Essay. 17
Ldgh Hunt in semer Autobiographie dem Vater widmet,
in Tiden Punkten zu einem unbeabsichtigten Selbst-
bildnis.
Das Widerspiel der Frohnatnr Isaacs war seine ernste,
Ton Quäkern abstammende Gattin Mary Shevell, eine
anmutige Brünette, die als Mädchen Franklin und Paine
gekannt hatte und in Georgs m. Wahnsinn das Strafgericht
des Himmels für das durch sein Verschulden im ameri-
kanischen Kriege vergossene Blut erblickte. Ihr Lieblings-
buch waren Toung's NighWwughts. Milde und zartf&hlend,
mutig und standhaft^ überzeugungsfest, gesinnungstreu und
gewissenhaft, war sie eine Gattin voll verständnisvoller
Hingebung, eine Mutter voll liebender Ffirsorge. Mit dem
südländischen Äufleren scheint Leigh von ihr seine auf die
Neigung zur Gelbsucht zurflckgefBhrten Anfälle von Schwer-
mut überkommen zu haben, denen er mit willkürlichen
und übertriebenen Naturkuren zu steuern suchte. So nennt
er sich mit Becht einen Sohn der Heiterkeit und der
Melancholie, bekennt jedoch, daß die Natur des Vaters in
ihm überwiege.
Das kränkliche, verzärtelte, jüngste von fünf Kindern,
wuchs Leigh in der anmutigen, abgelegenen Landschaft
von Middlesez auf, ein verträumter Knabe, dessen
LiebUngsspiel darin bestand, einer nur in seiner Phantasie
vorhandenen Versammlung zu predigen. Das erste Buch,
an dessen Lektüre er sich erinnerte, war Das Verlorene
ParadiesA)
Achtjährig, weltfremd, scheu und verschüchtert, kam
er 1792 nach London in die Christ Hospital-Schule. Die
Balgereien der Jungen erschreckten ihn; über die geringste
0 Corre9pondence 1, 1.
OtMhieltto der ensrli^dieii Bomiitik II, 1.
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18 Der litenuuche Essay.
körperliche Zflchtigong vergoß er Tränen. Bald jedoch
befand er sich in offener Aoflehnnng gegen das Fag-System
im allgemeinen nnd einen rohen Lehrer insbesondere.
Dennoch hat er seiner Knabenzeit keine nnfrenndliche
Erinnerung bewahrt Die Lektfire von Schauerromanen^
schwärmerische Freundschaften und eine erste anbetende
Liebe, deren Gegenstand Angelica Kaufmann war, breiteten
ihren mystischen Glanz Aber sia
1799 verließ Leigh Hunt die Schule, traf aber keine
Beru&wahl. Ein Sprachfehler, der sich in späteren Jahren
gebessert zu haben scheint, verwehrte ihm die geistliche
Laufbahn. Seine bis zur Unfähigkeit gehende Ungeschick-
lichkeit im Rechnen machte ihn zum Kaufmann untauglich.
Sein eigener Ehrgeiz war lediglich darauf gerichtet, „der Liste
der Schriftsteller beigezählt zu werden und als Kosmopolit
Gutes zu wirken.'' Dem ersten Wunsche kam Isaac Hunts
väterliche Eitelkeit auf den frühreifen Sohn entgegen, der mit
12 Jahren eine Spencemachahmung, The Fairy King (Der
Feenkönig), und eine Nachahmung Thomsons, Winter, auf-
weisen konnte und dessen preisgeki*dnte Horaz&bersetzung
bereits einem Bande von SchOlerarbeiten einverleibt worden
war {The Juvenile Library^ including a Complete Course of
Instruction on Every Suibject (Jugendbibliothek, umfassend
einen vollkommenen Lehrkursus über alle Gegenstände),
1800-0 Isaac Hunt veröffentlichte 1801 Leighs poetische
Erstlinge als Juvenilia, or A CoUection of Poems, written
hetween the Ages of 12 and 16 by J, H. L. Hunt, Lote of
ihe Grammar School of Christ Church (Juvenilia oder eine
Sammlung von Gedichten, geschrieben im Alter von 12
bis 16 Jahren von J. H. L. Hunt, gewesenem Schfller
>) Brimley Johnson, 8.
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Der litenriflche Essay. 19
des Christ Chnrch-OymnasiiUDs). Leigh Hunt hat in
q^&teren Jahren erbarmungslos über sie als „einen Hänfen
dnrchans wertloser Nachahmnngen^ abgeurteilt, deren Yer-
öffenüichnng keinen anderen Erfolg gehabt habe als den,
ihn ütel zu machen, i) IndeS beweist die Tatsache, daS
die Juvenüia 1804 die yierte Auflage erlebten, immerhin
einen stattlichen Leserkreis. Die Gedichte geben sich fBr
nichts anderes als künstlerische Nachempfindnngen: Pastor-
als, ImitaHans of Virgü and Pope (L&ndliche Gedichte,
Nachahmungen Yirgils und Popes); To Friendship (Manner
of CoUins) (An die Freundschaft In der Art des CoUins) ;
Ode to ihe Evening Star (from OsBtanJ (Ode an den Abend-
stem. Nach Ossian). Den Hauptteil des B&ndchens fBllt
eine Spencemachahmung in zwei Gesftngen, The Palace of
Heasure (Der Palast der Freude). Leichtfüßige Stanzen
schildern das Erwachen eines nachdenklichen Ritters auf
dem Märcheneilande der Versuchung, dessen Herrin, die
Freude, ihm gebietet, in ihrem Dienste allerhand allegorische
Ungeheuer zu bekämpfen, bis schließlich die irdische
Aphrodite entschwindet und die himmlische, die Religion,
ihn krönt Der Gesichts- und Ideenkreis dieser Gedichte
geht in nichts über das jugendliche Alter des Verfassers
hinaus. Seine zwölfjährige Seele schiebt Macbeth ihre
eigene naive Vorstellung von Gewissensangst und Gottes-
furcht unter (Mad>eih, or The Itt Effects of Ambition
(Macbeth oder die üblen Folgen des Ehrgeizes). Sie
stellt im Poetenwinkel der Westminsterabtei ihre Be-
trachtungen an {Elegy written in (he PoeSs Corner, West-
minster Albey. Elegie, im Poetenwinkel der Westminsterabtei
geschrieben). Sie begeistert sich für die Schweizer Hdden
1) Autobiography Y. Kap. S. 107.
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20 Der literariBche Essay.
des Jahres 1799 (Ode writtm at {he Time of (he War
in SmUerland. Ode, zur Zeit des Schweizerkrieges
geschrieben) und yerdammt Bobespierre {Epitaph on Bobes-
pierre). Hunts Verständnis für die Kunst der Prosa er-
wachte später und gewissermaßen im Gefolge seiner Be-
geisterung für Voltaire, die ihn durchs Leben begleitete.
Er erklärt Voltaire für den größten Schriftsteller Frank-
reichs und unzweifelhaft den größten Mann des 18. Jahr-
hunderts, ^ ein Loh, dessen Überschwänglichkeit er 1851
im Table Talk einschränkt durch die Bemerkung, Voltaire
sei der einzige, der je durch eine Häufung Ton Eigen-
schaften zweiten Banges einen Platz auf der Liste der
größten Namen erlangt habe.
Das Jahr 1801, das Hunts erste Publikation sah, sollte
noch in anderer Hinsicht einen Merkstein in seinem Leben
bilden. Der Siebzehnjährige verlobte sich mit einem
dreizehnjährigen nicht hflbschen und nicht hervorragenden
aber durchaus weiblich empfindenden Mädchen, Marian
Eent. Hunt erzählt, sie habe sein Herz gewonnen, weil
sie Verse schOner als irgend jemand las. Sie besaß auch
ein h&bsches Modelliertalent, das sie zum Ausschneiden
porträtähnlicher oder humoristischer Silhouetten benfltzte.
Aber da beide mittellos waren, konnten sie an eine Ver-
bindung vorläufig nicht denken. Leigh Hunt arbeitete in
der Advokatnrskanzlei seines Bruders Stephen und erhielt
dann eine kleine Anstellung im War Office.
Auf den Weg seiner eigentlichen Bestimmung lockte
ihn zuerst jenes Ideal der Schriftstellerei im Dienste der
Aufklärung und Humanität, das ihm in Voltaire verkörpert
erschienen war. Seine ersten Aubätze veröffentlichte er
>) Autohiography Kap. n 142, 4.
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Der literaiische Essay. 21
1804 im Traveller, einem Abendblatte, das dem Globe
einverleibt wurde, nnter der Signatur 1fr. Town Jun.,
Critic and Censar General; der Utere Mr. Town war der
Kritiker des Connaissewr,
1805 gründete Leighs älterer Bruder John Hunt ein
eigenes Blatt The News (Neuigkeiten), für das Leigh von
1805 — 1807 den Theaterbericht schrieb. Er proklamierte die
Unabhängigkeit der Kritik als eineNeuheit William Archer
bezeichnete ihn als den ersten Zeitungskritiker, dem es
gelungen sei, aus dem Nebel der Anonymität aufzutauchen.^)
Seine Theaterartikel erschienen 1807 gesammelt als Critical
Essays on the Performers of the London Theatres, including
General Observations on (he Practise and Genius of the Stage
(Kritische Autsätze über die Darsteller der Londoner Theater,
nebst allgemeinen Bemerkungen über Bühnen-Talent und
-Praxis). Leigh Hunt bringt dem Theater als einem Bildungs-
trftger und Kulturfaktor Interesse und Wertschätzung ent-
gegen und bekämpft von diesem Standpunkte aus das
landläufige Vorurteil gegen Schauspielkunst und Schau-
spieler. Ist Selbsterkenntnis der Gipfel aller Weisheit,
wie könnte die Kunst verächtlich sein, die uns diese
Weisheit auf die gefälligste Art übermittelt? Der Schau-
spieler sei zwar dem Dichter untergeordnet; aber verdiene
der Soldat, der die Instruktionen seines Generals pünktlich
und mutig ausführt, nicht gleichfalls Anerkennung? Hunts
Theaterliebe und Boutine und ein durchaus persönlicher,
etwas oberflächlicher Stil machen diese Berichte lesbar und
anziehend. Sein Urteil ist stets von Sachkenntnis getragen
imd verfügt stets über den treffenden Ausdruck. Sein
>) Dramal^ Essays, seleeted and edited tnih Notes and an In-
troänteUan hy W. Archer and Robert TT. Lowe. Introd.
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22 Der literarische Essay.
kritisches Feingefühl tritt am meisten zutage, wo er zwei
künstlerische Individnalit&ten mit einander kontrastiert
(z. B. Fawcett und Matthews). Aber jene schwierige Ennst
der Charakteristik, die das Bühnenwerk mit all seinen
Einzelzügen festhUt und dem Enkel überliefert — die Kunst
unseres Lichtenberg — geht ihm ab. Hunts Artikel über
Mrs. Siddons wird zum Panegyrikos auf die Natüriichkeit,
auf die Phantasie, auf das Liebespathos auf der Bühne.
Aber wir erhalten kein konkretes Bild ihrer Schöpfungen«
Wir erfahren nichts Tatsächliches, keine Einzelheiten, aus
denen man allenfalls das Ganze rekonstruieren könnte,
nichts Positives über Auffassung oder Technik. Dieses
Mangels ist Hunt selbst sich dunkel bewußt, wenn er,
über die Vergänglichkeit der Schauspielkunst sprechend,
bekennt, er dürfe nicht hoffen, mit seinen Berichten der
Nachwelt etwas zu sagen.
Noch vor dem Erscheinen der Kritiken in einem
Sammelbande war Hunt mit einer fünfbändigen Serie
klassischer Erzählungen hervorgetreten, denen er in ge-
drängtester Kürze biographische Skizzen ihrer Autoren
und eine kritische Würdigung ihrer Werke voraus-
schickte: Classic TaleSf Serious and Lively. Wiffi Griticdl
Essays an the Merits and Beputaüon of the Auihors
(Klassische Erzählungen ernsten und heiteren Inhalts
mit kritischen Abhandlungen über die Verdienste und
das Ansehen der Verfasser), 1806. Die Geschichte, sagt er
im Vorwort, lehre uns weniger reale Weisheit als die
Biographie, denn sie berühre uns selten oder nie persönlich.
Wir sollten uns erst als Menschen, dann als politische
Charaktere studieren. Noch lehrreicher als die Biographie
aber seien in dieser Hinsicht Boman und Novelle. Auch
hier wird Voltaire gefeiert, der originellste Stilist und
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Per Uterariflche Easay. 23
Meister jenes trockenen Humors, dessen Wesen die an-
scheinend anbewußte Lächerlichkeit ist. Die Schlüpfrigkeit
des Candide sei bedauerlich, ihrer ungeachtet enthalte das
Werk aber sowohl edelste Moral als kräftigste Satire und
neben manchen Fehlem tausend Schönheiten. Sollte man
das Gold wegwerfen, weil es mit Schlacken vermengt ist?
1808 yereinigten sich John und Leigh Hunt zur
Gründung einer nach Swifts Blatt benannten Zeitschrift:
The Exammerf a Sunday Paper upan PoliUcSy Domestic
Economyy and TheaMcals (Der Beobachter. Ein Sonn-
tagsblatt für Politik, Nationalökonomie und Theater). Das
Motto des JExaminer war dem Spectator Nr. 370 ent-
entnommen: „Es ist für mich ein Gegenstand tie&ter Er-
wägung, welche Rollen gut oder schlecht gespielt, welche
Leidenschaften oder Geffihle geduldet oder gepflegt, und
was fftr Sitten und Gebräuche infolgedessen von der Bühne
in die Welt versetzt werden, die sich gegenseitig nachahmen.'^
Das Programm des Examiner war, die Unparteilichkeit, die
Leigh Hunt in der Theaterkritik mit Erfolg durchgeführt,
auch auf die Politik zu übertragen. Der Examiner sollte sich
als stiller Beobachter der kämpfenden Parteien am Weg-
rande halten und entschieden, doch zugleich ohne einer
politischen Fraktion anzugehören, Stellung nehmen gegen
allen fachen Schein, alle Heuchelei, alle Vorurteile. Leigh
Hunt war nicht blind für die gute Seite des Toiyismus, die
Ordnungsliebe und den Hang zur Ehrerbietung, und nicht
verblendet gegen das schlechte Prinzip des Radikalismus, die
Höherstehenden herabzuziehen, statt die unteren zu er-
heben. 9 Gleichzeitig aber stand sein Entschluß fest, den
radikalen Standpunkt bedingungslos zu wahren. Er gab
') Autobioffraphy Kap. XU, 210.
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24 Der literaxische Essay.
seine Anstellung im Kriegsministeriom auf, um völlig
freie Hand zu haben. Er lehnte Murrays Aufforderung ab,
in die Quarterly Beview zu schreiben, wie eine Einladung
des Lord Holland, ihn zu besuchen. ^
Der um 10 Jahre Utere John Hunt (geb. 1775), ein Mann
yon felsenfestem Charakter und unvergleichlicher Gesinnungs-
tüchtigkeit^ war ein Typus jener makellosen Eedlichkeit, die
selbst die Schmähsucht erbitterter Gegner nicht anzutasten
wagt; hart in bezug auf die eigene Pflicht, wohlwollend
gegen andere und ohne alle Eitelkeit der Welt Niemals kam
es für ihn in Frage, welche Partei er ergreifen solle; stets
war es die Sache der Gerechtigkeit, fflr die er nach bester
Einsicht auf jede Gefahr hin eintrat. Er focht die Schlacht
in den vordersten Eeihen aus, wenn der Kampf am
heißesten war, doch noch in der Stunde des Sieges zog er
sich zurttck, als hätte er am Triumphe keinen Anteil und
kein Verdienst So äußert sich Leigh Hunts Nachfolger
in der Eedaktion des Examiner^ Albany Fonblanque. 3)
P. G. Patmore nennt ihn den unbeugsamen Demokraten,
den einzigen, der als Märtyrer seiner Ansichten stürbe,
wenn er damit zu ihrer Verbreitung beitrüge. Cyrus
Eedding bezeichnet ihn als einen philosophischen, geduldigen,
gerechten, tiefen Denker, einen Charakter ersten Banges,
seiner Zeit voraus. ') William Hazlitt widmete ihm 1819
seine Poliücal Essays als einem jener wenigen Menschen,
die das sind, wofür sie gehalten sein wollen: ehrlich
ohne zu verletzen, fest, doch maßvoll, eigenen Wert
mit allgemeinen Prinzipien verbindend; ein Freund in
^) Monkhonse 76.
^ Johnson 17.
») Fifiy Years BecöOections I, 275.
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Der iitenriflche Euay. 25
der Not, ein Patriot ohne Privatracksichten, der niemals
einen Einzelnen oder eine Sache verriet unter dem Yor-
wande^ ihnen zu dienen, knrznm, jenes seltene Wesen: ein
Mann von gesundem Verstände und allgemeiner Ehrlich-
keit^ Hazlitt hegte zeitlebens die Überzeugung, daS die
politische und soziale Regeneration Englands der mann-
liehen, makellosen Redlichkeit und gesunden Einsicht
Johns, sowie der vielseitigen, von echtester Humanit&t
geleiteten Begabung Leighs au& tiefste verpflichtet seL^)
Mit diesen beiden Männern an der Spitze schien der
Examiner in der Tat zu werden, was die Brüder beab-
ächtigten: das erfolgreichste Blatt aller Freigesinnten, der
Bek&mpfer aller Arten von Vorurteil und Tyrannei, die
Leuchte und das Exempel geistiger Unabhängigkeit und
furchtloser Meinungsäußerung. Aber es währte nicht
lange, so gab ein bestimmter politischer Zweck, die
Parlamentsreform, ihm eine politische Parteifärbung. Schon
im ersten Jahre seines Bestehens (1808) deckte der
Examiner anläßlich der Eatholikenemanizipation die all-
gemeine Korruption und Heuchelei in einer weder den Hof
noch das Kabinett schonenden Weise auf^) und machte
sich flberdies die Minister zu Feinden, indem er ihrer
kriegerischen Politik nicht das Wort redete. Dreimal,
1808 (durch einen Artikel aber MiUtary Depravity [Mili-
tärische Verdorbenheit]), 1809 (über Change of Ministry
[Ministerwechsel]) und 1811 entging er mit knapper
Not dem Staatsanwalt. Nur dank seiner kirchenfreund-
lichen Haltung gelang es ihm, den Vorwurf des Bepublika-
nismus zurückzuweisen. Leigh Hunt wetterte in einer
>) Patmore, My Friem/äs and ÄcquanUance DI, 90, 101.
s) YgL Honkhoiue 72.
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26 Der literarische Essay.
Beihe von Aufsätzen, deren bloße Titel schon die Vehe-
menz des Angriffs verraten, gegen den Methodismus: On
ihe Ignorance and Vulgarity of ihe Methodista (Über die
Unwissenheit nnd Gemeinheit der Methodisten); On ihe
Hatred of Ihe Mefhodists against Moral and PreacMng
(Über den Haß der Methodisten gegen die Moral nnd
die Predigt); On the Melancholy and Bigotry of ihe
Meihodists (Über die Trübseligkeit und Bigottheit der
Methodisten); On ihe Indecencies and Profane Baptures of
Meihodism (Über die Unanständigkeiten nnd unheiligen Ver-
zückungen der Methodisten); On thePrevention of Meihodism
(Über die Verhütung des Methodismus). Diese Aufsätze,
erschienen 1809 gesammelt: An Ättempt to show the
FoUy and Danger of Meihodism. In a Series of Essays
first pübüshed in ihe Weekly Paper caUed The JExaminer.
Now enlarged mih a Preface and Ädditional Notes hy ihe
Editor of the Examiner (Versuch, die Torheit und Gefahr
des Methodismus aufzudecken. In einer Seihe von Auf-
sätzen, die zuerst in der Wochenschrift namens „Der
Beobachter^ erschienen. Vermehrt und mit Anmerkungen
versehen durch den Herausgeber des „Beobachter''). Sie
entsprangen der Überzeugung, daß eine Beligion wie der
Methodismus für ein freies Volk nicht tauge. Die Gottheit
des Methodismus sei so falsch und faul wie irgend ein
Mars oder Moloch. 0 Der fanatische Eifer, mit dem
Hunt aus Liebe zur Duldung gegen die methodistischen
Eiferer auftrat, gegen ihren geistlichen Dünkel, ihre Lehre
von der Gnadenwahl, von der Bechtfertigung durch den
Glauben, von Vorherbestimmnng und ewiger Verdammnis,
ihren Anspruch auf göttliche Erleuchtung und ihren Mangel
>) Freface VI.
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Der Iheraxifleke Snay. 27
an Nächstenliebe wetterte, ist gewissermafien typisch fftr
alle Beligionsfehden. Allein, trotz solcher Yerkennnng,
empfahl Hnnt als Bekenner romantisch -humanistischer
Ideale der Menschheitsverbesserang znr Yerhatong des
methodistischen Fanatismus yon jeder Verfolgung abzusehen
und ihn lediglich mit den Waffen der Lächerlichkeit^ dieser
mächtigen Feindin des Methodismus, zu bekämpfen.
um Politik kümmerte Leigh Hunt sich als Mitarbeiter
des Ezaminer wenig. Sein Fach war die Theaterkritik und
was wir heute das Feuilleton nennen würden. Exkurse,
Aats&tze und Plaudereien über Wichtigstes und Gleich-
gütigstes. Nah- und Femliegendes, mit graziler Anmut^
Witz, Feuer und Schwung vorgetragen, je nachdem der
Gegenstand es erforderte, und fessdnd durch die immer
gleich routinierte Mannigfaltigkeit der Behandlung.
Da kam, am 22. Mftrz 1812, die Schicksalsstunde des
Ezaminer. Bei einem irischen Festessen am St Patricks-
tage hatte der Vorsitzende in seiner Bede den Prinz-
r^enten übergangen und den loyalen Sheridan angerempelt
Aus diesem Anlaß yeröffenüichte die Maming Post, das
Hof-Organ, ein Gedicht, das in widerlicher Speichelleckerei
den Prinzen als Beschützer der Künste und M&cen seines
Zeitalters, als den Buhm der Nation und als einen Adonis an
lieblidikeit feierte, in dessen Gefolge Glück, Ehre,Tugend und
Wahrheit einander den Bang streitig machten. Diese freche
Herausforderung zum Widerspruch griff der Examiner in
einem weitl&ufigen Artikel auf, in dem er die ausschweifenden
Lobeserhebungen in unyerblümter Grellheit auf ihr rechtes
Maß zurückführte. Der liebliche Adonis sei ein korpulenter
Mann von fünMg Jahren, der bezaubernde, weise, segen-
spendende, tugendhafte, unsterbliche Prinz ein Wort-
brüchiger, ein schmählicher Wüstling, ein Spießgeselle von
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28 Der literaiische Essay.
Spielern und Dirnen, ein Mann, der ein halbes Jahrhundert
gelebt habe, ohne sich auch nur ein einziges Mal Anspruch
auf die Dankbarkeit oder Achtung der Nachwelt zu er-
werben*
Mit Recht nennt Monkhouse den Artikel „sehr über-
zeugend, sehr wahr und sehr töricht^. Denn er kam der
unvermeidlichen Herausforderung einer Anklage gleich.
Ein so heftiger, so persönlicher Angriff auf den Privat-
charakter des Staatsoberhauptes war politisch nicht zu
rechtfertigen und als moralischer Protest von zweifelhafter
Wirksamkeit Er w&re von keiner Eegierung geduldet
worden, und der mögliche Vorteil fflr das allgemeine Wohl
wog die unabsehbar schweren Folgen für die Heraus-
geber nicht auf. Der Prinzregent wurde durch den Artikel
nicht gebessert, der Triumph der Torfes nicht verhindert*)
Leigh Hunt hat den Aufsatz später selbst der Folgen, die er
nach sich zog, unwert erklärt, insofern er für kein politisches
Prinzip eintrat und sich auf persönliche Schmähungen be-
schränkte. Andererseits war der Ausfall um so bitterer,
je wahrer er war. Auch ließ Leigh Hunt es nicht bei
ihm bewenden, sondern veröffenüichte, während der Prozeß
bereits im Gange war, im November noch einen Artikel
an den Prinzregenten und im Dezember einen nicht minder
drastischen an den Richter, Lord Ellenborough. Der Ver-
teidiger der Brüder, Lord Brougham, appellierte in starken
Worten an das moralische Empfinden der Nation zugunsten
seiner in ihrem Privatleben unbescholtenen Klienten. Seit
wann, fragte er, gelte in England an den Unterweisem
des Volkes der ehrliche, waghalsige, ja unvorsichtige Tadel
notorischer Laster öffentlicher Persönlichkeiten und der
1) Vgl. Monkhouse 8a
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Der fitenzisehe SsBay. 29
offenknndigen Unmoral höchsten Ortes als Verbrechen und
nicht als Pflicht? „Bleibt ihr bei solchen Grondsfttzen, seid
ihr entschlossen, in einem Augenblick jene ganze Eontrolle
zu vemichten, welche den Großen Schranken setzt; wfinscht
ihr die Schleusen zu öffnen, die vordem die Flut höfischer
Laster staute, die einzigen Wille niederzureißen, die das
Land schfttzen, und den Anstand wie alle Tugend von der
Flut überschwemmt zu sehen; wollt ihr nach Menschenaltem
eine Rasse frei loslassen, im Yo^leich zu der der erste Karl
weise war, der zweite ehrenwert und die Wunder alter
Tjrrannei mitleidsyoll und keusch — dann sprecht euer
ürteU: Schuldig!''!)
Sie sprachen es. Die BrBder nahmen es gelassen hin
und leimten einen Versuch der Regierung, Stillschweigen
zu erkaufen, ab. Es lautete: zweijährige Einzelhaft und
eine Geldbuße von 500 tiC für jeden; femer hinreichende
Bürgschaftsleistung für gutes Benehmen während fünf
Jahren, widrigenfalls die schwere Eerkerstrafe erneuert
Wtfden sollte. >)
John wurde dem Goldbathfield-Geflingnis zugewiesen,
Leigh dem New Jail, Horsemonger Laue. Er hatte Marian
Eent 1809 heimgeffihrt; er stand eben von einem Kranken-
lager auf und lieS eine unversorgte junge Frau und Kinder
daheim zurftck. Aber es war eine Art M&rtyrerwonne
fiber ihn gekommen und das sonnige Temperament, das
sein FamilienerbteQ bildete, entfaltete sich zu ungeahnten
Möglichkeiten. Nicht lange und er hatte sich mit dem
Kerkermeister auf guten Fuß gesetzt — Bentham traf sie
einst beim Federballspiel an.') Das Gefftngnisleben wurde
1) Johnson 2L
^ The Prmee of Waies aganui the Examiner.
*J Bin«U 11&
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so Der literarische Essay.
zum Idyll, von dem Hont in dem Tagebuch, das er fOr
seine Kinder schrieb, in behaglichem Geplauder berichtet.
Es wurde ihm gestattet, seine Familie zu sich zn nehmen
und Besuche zu empfangen. Die hervorragendsten Gteister
der Epoche haben damals die Schwelle dieses Gefangen-
hauses überschritten, um Leigh Hunt ihre Hochschfttzung
und ihre Teilnahme zu bezeugen: Shelley, Byron, Moore,
Lamb und viele andere. Es knüpften oder festigten sich
Freundschaftsbande, die dauernden Einfluß auf sein Leben
ausüben sollten. Er hatte Bücher und Schreibutensilien
zur Verfügung und sein Tag war mit Studien und lite-
rarischer Arbeit ausgefüllt Seine bekanntesten Diditungen
The Story of Rimini und The Descent of Liberty sind im
Kerker entstanden. Mit einer Bosentapete, einem Flügel,
Bücherschränken und Büsten verwandelte er das Gefängnis
in eine Wohnstube, von der Charles Lamb behauptete, sie
fände ihresgleichen nur im Märchen. Aus einem kleinen
Hof wurde ein Garten geschaffen, in dem ein Apfelbaum
„wirkliche und wahrhaftige Früchte" trug; und Leigh
Hunt besaß den Humor, sich, wenn er in den Hof ging,
wie zu einem langen Spaziergange auszurüsten und seiner
Frau aufzutragen, nicht mit dem Mittagsbrot auf ihn zu
warten, falls er sich verspäten sollte. „Die Phantasie ist
der Schatz der Schätze", sagt er selbst in dem Gedichte
Our Gottage, So täuschte er sich über die mancherlei
nicht zu überkommenden Leiden der Haft hinweg, denn
seine Gesundheit litt unter dem Mangel an Bewegung, seine
Nerven unter den Bildern und Geräuschen des Gefangen-
hauses. Selten hat sich die Sieghaftigkeit einer freund-
lichen Gemütsart glänzender bewährt als hier, wo sie dem
widrigsten Geschick den Stachel nahm und Schicksalsdunkel
milde durchleuchtete. In Hunts Gedichtfragment Ä Heaven
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Der litenzische Essay. 31
f/g^on Barth (Himmel auf Erden) stimmen zwei Ehegatten
tlberein, der Himmel auf Erden sei das Heim, das zwei
Menschen, die einander wahrhaft angehören, sich gegen-
seitig bereiten. In dem Eerkeridyll wnrde Leigh Hnnt
eine Tochter geboren.
Den Exammer fflhrten die Brilder während der Haft
fort Leigh teilte dem Pnbliknm in Zeitschriftartikeln
nicht nur die Veranlassung seiner Gefangennahme mit,
sondern machte es in seiner naiven, nicht immer takt-
vollen Mitteilsamkeit auch zom Vertrauten seiner persön-
lichen Erlebnisse intimer Art, wie seiner Bruderliebe, der
Hingebung seiner Gattin, die den Kerker zum Paradies
gestalte, seines schlechten Gesundheitszustandes, seiner
mißlichen Gteldverhältnisse und dei^leichen mehr.
Am 8. Februar 1815 erfolgte die Enthaftung der
Br&der. Als Patriot, Märtyrer und Dichter gefeiert, ver-
ließ Leigh Hunt das Gefängnis. Es war ein Triumphzug
und der Höhepunkt seines Lebens. Mit der politischen
Periode, obzwar sie den weitaus kleineren Teil seines
Lebens umfaßt, war die interessanteste und bedeutungs-
vollste Zeit seines Daseins abgeschlossen. Die langen
Jahre, die noch folgten, waren ein langsamer aber stetiger
Niedergang. Das politische Interesse schwand allmählich aus
seinem Horizonte. Er hatte niemals selbständige politische
Grundsätze gehabt Seine allgemein kosmopolitische Be-
geisterung war es, die ihn ins liberale Lager ffihrte.
Einmal dort, hatte er es fflr Pflicht und Ehrensache
gehalten, standhaft bei der Fahne zu bleiben. Ein prinzi-
pieller Gegner der Regierung war Hunt so wenig, daß er
nach Southeys Tode den Poet Laureate-Posten anstrebte
und kein Bedenken trug, Gnadengeschenke von Wilhelm IV.
und der Königin Victoria anzunehmen oder Gedichte
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32 Der liteTarisdie Essay.
auf die Geburt ihrer Kinder zu schreiben. In der
Vorrede zu seiner Tragödie The Legend of Flarence
bekennt er Öffentlich in warmen Worten seine Dank-
barkeit für die ihm zuteil gewordene königliche Huld und
bittet allen Hofpoeten der Vergangenheit and Zukunft
frfihere Angriffe ab. Je alter er wird^ desto klarer sieht
er ein, daß agressive Feindseligkeit gegen einzelne das
Gesamtwohl nicht fördere. Seine Friedfertigkeit nimmt
stetig zu. Nur noch ein einziges Mal flackert der pole-
mische G^ist in ihm auf, als er in dem Tageblatt The
Tattler (Der Plauderer), das er von 1880—1832 herausgab,
gegen Regierung und Aristokratie, Könige und Prinzen
loszieht. Doch nimmt er von dieser Gesamtheit Wilhelm IV^
„den Reformator^, und Louis Philippe, „den Philosophen^,
aus. Hunt war in seinem Innersten keine Kampfnatur
und so wenig nachträgerisch, daß er in seiner Selbst-
biographie die Möglichkeit ins Auge fassen konnte, dem
Prinzregenten, falls er ihm im Jenseits begegnen sollte,
die Hand zu drücken und Worte des Bedauerns über das
gegenseitige Mißverständnis zu tauschen.
Er war und blieb ein Gegner des Tor3rregimes, kein
Gegner der Autorität an und für sich. Unter Tory-Grund-
Sätzen aber verstand er die Überbleibsel eines veralteten
königlichen und militärischen Despotismus, der sich zu
Beginn seiner Laufbahn der naturgemäßen Entwicklung
der Kultur im allgemeinen und der britischen Kon-
stitution im besonderen entgegenstemmen wollte. Doch
auch von den Whiggisten fühlte Hunt sich abgestoßen
durch ihr Streben, das individuelle Urteil in konventionelle,
für Parteiführer und ParteiangehOrige ausgeheckte Lehr-
sätze zu zwingen Er war der Überzeugung, daß man in
öffentlichen wie in Privatangelegenheiten, dem Gefühl
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Der fiteraiifidie Essay. 33
nnendlicli mehr Ehr€rbietang erweisen sollte, als dies
gewölmlich geschehe. Die Demagogen verachtete er.
Umstnrzideen hatte er niemals gehegt.
In seiner Vorrede zn Shelleys Mask ofAna/rchy betont
er die Übereinstimmung seiner politischen Grundsätze mit
denen Shelleys hinsichtlich der Überzeugung, daß nur der
ruhige, gesetzmäßig vorbereitete unbeugsame Widerstand
in Form einer protestierenden Majorität — der Vielen
gegen die Wenigen, der Arbeitenden und Leidenden gegen
die verwöhnten Kinder der Vorrechte, der Menschheit
gegen die Toryheit — zum endlichen Siege ffthre. Doch
selbst seine allgemeinen Freiheitsmaximen verloren sich
mit den Jahren in konventionelle G-emeinplätze. Wenn ihm
dennoch der in der Jugend erworbene Buf des Hyper-
liberalismus zeitiebens anhaftete, so war dies gleichfalls nur
eine Art angenommener Überlieferung, 0 die sich aus
dem Umstände erklärt, daß seine ihn nunmehr ganz
erffdlenden sozialen und humanitären Interessen tatsächlich
mit radikaler Unbedingtheit dem Fortschritte huldigten. Er
konnte sich nicht mit Goethes Behauptung einverstanden
erklären, der wesentliche Punkt, auf den das Streben
der Gesellschaft abzuzielen habe, sei nicht der Fortschritt
im landläufigen Sinne des Wortes, sondern das sich Be-
scheiden mit dem bestehenden Zustande, die zufriedene
Arbeit eines jeden in seinem Berufe. Das bloße Vorhanden-
sein der Hoffnung und des Strebens als zweier Tatsachen
in der menschlichen Natur widerlege diese Ansicht Ein
Mann in Goethes Lage, scherzte er, könnte den Leuten
leicht empfehlen, mit der ihren zufrieden zu sein. Aber
*) A Few Bemarks on ihe Bare Vice eäHed Lymg (Men, Women,
and Boois),
Qeschiehte der ensrlisclien Bomantik 11,1. 3
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84 Der literariBche Easaj.
in gewissen Fftllen bedeute Unzufriedenheit Überlegenheit 0
So trat er trotz seiner Ansicht, daß die Wahl durch ge-
heime Abstimmung das mögliche Laster des Lfigens heraus-
fordere, doch mit Wärme für sie ein, weil sie das erweiterte
Wahlrecht und dieses das allgemeine zur Folge haben
wfirde und das allgemeine eine allgemeine bessere Behandlung
des Menschen durch seine Mitmenschen — Nahrung für
alle, Erziehung f&r alle — und fflr keinen Monopole und
somit keine Nötigung mehr zum Lügen. 2)
Leigh Hunts eigentliche Welt war nicht die Politik,
sondern die Literatur, der er sich fortan ausschließlich
widmete.
Poesie.
Leigh Hunts Sohn Thomton spricht seinem Vater jede
Bef&higung für die exakte Wissenschaft ab.') Er habe die
Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie in ^inem Spiegel
gesehen, zumal wie sie sich in Büchern spiegeln oder wie
ein literarischer Kommentar sie malt Wie er nun im
praktischen Leben des Sinnes für die Wirklichkeit ent-
behrt, so fehlt auch seiner Dichtung gewissermaßen die
Realit&t Jenes Hinwegsehen und sich Hinwegsetzen über
Tatsächliches, das zum Teil die Liebenswürdigkeit seines
Wesens ausmachte, bildet auch seine Schranke, im Leben
wie in der Dichtung. Seine poetischen Gestalten sind nicht
greifbar geschaut, sie packen nicht mit der Unmittelbarkeit
des Konkreten. Seine poetischen Situationen und Gescheh-
nisse machen mehr den Eindruck des Konstruierten als des
unabweisbaren Erlebnisses. Wir vermissen in ihnen den
*) Vgl. Correspondence H, 3—6.
>) Tc^le Talk 169.
•) Auiobiography, Introduction IX, Kap. XV, 251.
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Dei literarische Essay. 35
kräftigen Pols des warmen Blntes. Sie scheinen nicht mit
dem Herzblut ihres Dichters geschrieben.
Andererseits gehört Leigh Hnnt nicht in den Kreis jener
Phantasiegewaltigen, jener Auserw&hlten des Geistes, die
tber alles Positive hinwegsehen dfirfen. Er ist keiner jener
Visionäre, deren gotterffillte Seele im Jenseits heimisch
nnd anf Erden nur ein flüchtiger Gast ist. Was bei diesen
ein Verschmähen bedeutet, wird bei ihm zur Oberflächlich-
keit Denn sein heiteres, liebenswürdiges Gemüt wurzelt
in dieser blumen- und domenerfflllten Welt, ihren Leiden
nnd ihren Freuden.
Auch was die Erfindung anbelangt, verfügt seine
Phantasie nicht über den großen, freien Wurf. Er lehnt
sich gern an vorhandene GroiBe an. The Feast of (he Foets
(Das Fest der Dichter) bezeichnet er selbst als Jeu cTesprif'
nach Sir John Sucklings T%e Session of ihe Foets, während
er sich in The Story of Bimini der Danteschen Vorlage
gegenüber nicht abhängiger fühlt als Dryden in The
Flower and tiie Leaf von Chaucer.i) Mehr oder minder
mmatigejeux ffesprit konnten vielleicht alle seine Dichtungen
genannnt werden, insofern eine gewisse Nüchternheit des
Verstandes in ihnen vorherrscht und ein lehrhafter, erbau-
licher oder satirischer Zweck häufig in sie verfiochten ist.
Sie verraten den Journalisten, dessen Blick sich auf das
Bedürfnis des Augenblickes richtet und die Poesie in den
Dienst einer Tendenz stellt The Feast of ihe Foets (1814)
— Apoll versammelt nach langer Pause die englischen
Dichter wieder einmal zu einem Fest — ist eine kritische
Sevue der zeitgenössischen Poeten, von einer zum Teil an
Schmähsncht streifenden Strenge (gegen Scott, Byron, Words-
<) Autohiograpkyj IrUroduction IX, Kap. XY, 251.
8*
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36 Der literaruche Essay.
worth, Coleridge), die Hont spftter selbst empfand und 1859
dorcli ein Nachwort zu mildem sachte^ in dem er dem
englischen Parnaß der Gegenwart durch eine enthusiastische
Wfirdigong seines Freondeskreises (Eeats, Shelley, Landor,
Hazlitt) Gerechtigkeit widerfahren Ueß. ,,Der Geißler der
Dichterlinge war selbst ein Dichterling^, bekennt er reu-
mütig in der Selbstbiographie (Kap. Xn, 213).
Hunt verdarb es dadurch auf den ersten Wurf mit
allen Parteien, indem er Dichter wie Kritiker, Anhftnger
des alten französischen wie des neuen deutschen Geschmacks
gleich scharf au& Korn nahm. Und da sowohl der Humor
wie die Ironie des Fecist of the Foets sich nicht über die
Mittelmäßigkeit erhob, war sein eigenes Werk durchaus
nicht hieb- und stichfest.
Noch schwächer ist das Gegenstück des Feast of ihe
Foets, The Blue Stocking Revel, or The Feast of ihe Violetts
(Das Blaustrumpfgelage oder das Yeilchenfest), 1837. Bei
dem Festmahl schongeistiger Frauen huschen aus jedem
Gedeck ein paar Amoretten, die allen Damen veilchen-
blaue Strümpfe überreichen und anlegen. Apoll belehrt
die Schönen, daß Natürlichkeit, Liebe und Milde ihr Wahl-
spruch sein solle. Ein erzwungener Humor, der durch
wegwerfende Geringschätzung oder ironisches Lob wirken
will, unterscheidet nicht zwischen Würde und Gecken-
haftigkeit weiblicher Geistesbildung und schlägt der im
allgemeinen von Hunt proklamierten Hochschätzung der
Frauen nicht selten ins Gesicht
Leigh Hunts Absicht ist immer lauter, seine Meinung
immer tadellos. Wenn er trotzdem häufig abgeschmackt
wird, ist teils seine naive Weltfremdheit, teils ein Mangel
an künstlerischem Takt daran schuld, die sich beide in
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Der literarische Essay. 37
den Wirknngen gewisser Motive oft yerrechnen. So will
er in dem Maskenspiel The Descent of Liberty (Die Herab-
knnft der Freiheit), 1815, die Oef&hle der Wonne und
Hoffnung ansdrflcken, „welche jeden enthusiastischen Frei-
heitsliebhaber beim Falle des großen Apostaten der Freiheit
(Napoleon) bewegen müssen.'' Da jedoch der Leser des
Politischen bald ftberdrflssig wfirde, sollten Phantasie und
Einbildung in dem Werk überwiegen, um ihm durch seinen
poetischen Wert dauernde Beliebtheit zu sichern.
Aber die vermeintlichen Phantasiegebilde sind in
Wahrheit nur ein schellenlautes Opembrimborium und
Hunts Freiheitsbegeisterung verhfillt sich so dicht in den
Schein höfischer Schmeichelei, daß man hinter dem Werke
eher einen Hof poeten LudwigsXIV. als den wegen Schmähung
des Prinzregenten im Gefängnis sitzenden Hunt vermuten
wurde. Die Freiheit, eine holdselige GHittin in Dianen-
gestalt b^rttßt in einem Hirtental die Erde, nachdem sie
den furchtbaren Zauberer Napoleon besiegt, der lange in
einer Aber der Stadt gelagerten Wolke sein finsteres
Handwerk gefibt Die Helfershelfer der Freiheit sind vier
Nationalgenien, Prussia, Austria, Kussia, England, denen
die Freiheit gute Lehren und herrliche Versprechungen gibt
Auf solche Art glaubte Hunt die alte Gattung der Masken-
spiele wieder zu erneuern, die er in einer langen Abhandlung
Some Account of ihe Origin and Natura of Maske (Ein
Bericht ftber den Ursprung und die Natur der Masken-
spiele) gegen die Geringschätzung verteidigt, der sie mit
Unrecht anheimgefallen. Tatsächlich holt er verstaubtesten
Plunder der allegorischen Bumpelkammer hervor, dem
vereinzelte Wertstücke von lyrischer Anmut und echtem
Schwünge eingefugt sind, unvermOgend, den Wert des
Ganzen in eine höhere Bangordnung zu heben.
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38 Der literarische Essay.
Ansprechender in kflnstlerischer Hinsicht nnd als
Aosdrack eines politischen Bekenntnisses ist die Dichtung
Captain Sword and Captain Fen. On (he Duty of Constder-
ing the Horrors and (he Alleged Necessity of War (Haupt-
mann Schwert und Hauptmann Feder. Über die Pflicht,
die Gräuel und die vorgebliche Notwendigkeit des Krieges
zu erwägen), 1835. Die Besorgnis, der zur Macht gelangte
Torysmus könnte, wenn die Eampfbegeisterung sich gelegt,
eine kriegerische Politik treiben wollen, hat das Gedicht
eingegeben. Es will die Schrecken des Krieges und die
Untauglichkeit des Machtbegriffes der Regierenden aufzeigen.
Die Urbilder Swords sind Napoleon und Wellington, die
Keprftsentanten des militärischen Torysmus. Die Weltreform,
die Pen, der Weise und wahre Patriot, erstrebt, gemahnt
an die in Laon and C!y(hna verkündete. Ihr gehört der
endgültige Sieg. Captain Sword reitet als übermütiger
Triumphator über das Schlachtfeld, über verblutende
Krieger, die Mütter und Bräute daheim vergeblich erwarten.
Aber schließlich unterliegt er dem Captain Pen. Worte von
markiger Kraft und Bilder von konkreter Anschaulichkeit
geben dieser Dichtung ein höheres Maß poetischer Aus-
drucksfähigkeit, als es in der Regel bei Hunt der
FaU ist
The Story of RinUni. The Fruits of a Parenfs False-
hood (Die Geschichte von RiminL Die Früchte der
Falschheit eines Vaters; 1812 begonnen, 1816 ver-
öffentlicht, später noch gründlich umgearbeitet; deutsch
von K. von Meerheimb, 1878), ist weniger ein-
heitlich in der Qualität. Das eifrige Streben nach Lokal-
kolorit und die Sorgsamkeit der Arbeit ersetzt den
Mangel des WesentUchen nicht: Hunt hat zu Dante
kein Verhältnis. Das wahre Verständnis für die GröAe
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Der literuuche Essay. 39
des Florentiners geht ihm abJ) In den Sir Percy Shelley
ge^dmeten Stories from (he Italian Poets (Geschichten
ans italienischen Dichtem), 1846, kommt er ttber den ,41^-
grimmigen Egoismus der Leidenschaften Dantes nnd die
eigentümliche Identifikation seines Wissens mit allem
WissensmOglichen''^) nicht hinweg nnd verkennt fiber
Dantes Mangel an Doldnng und Nachsicht seine in ihrer
dttsteren Energie nicht minder tiefe Menschenliebe. In
dem Aufsatz Social Morality (Men, Women, and Books^
wird Dante „großartig nnansstehlich^ genannt nnd seine
Persönlichkeit durch die Voraussetzung erklärt^ daß seine
Natur der Verbindung schlecht gepaarter Ahnen entsprungen
seL Seine Großeltern mttßten ein Elf und eine Schlumpe
oder Furie gewesen sein.
Mit dem echten Verständnis mangelt Hunt naturgem&ß
auch die Ehrfurcht vor dem göttlichen Dichter. Die Stories,
ein Buch, das den Engländern die Kenntnis italienischer
Poesie vermitteln will, gibt ein ziemlich entstelltes Bild
ihres größten Genius und die Prosa-Inhaltsauszftge der
HöUe, des Fegefeuers und des Paradieses können kaum als
Wiedergabe der Göttlichen Komödie gelten.
In The Story oflümini kennzeichnet schon der Unter-
titel den moralisierenden Standpunkt, den Hunt zu seinem
Thema einnimmt. Die Verantwortung fflr alles Unheil und
Verbrechen trägt Francescas Vater, der verräterische Graf
Giovanni von Ravenna, der seine Tochter in dem Wahne läßt»
Paolo, der Brautwerber für den eigenen Bruder, den Fürsten
>) Monkhonse (112) gibt eine Übenetasnngsprobe als Maßstab
der Xhift, die Hunt von Dante trenne. In seiner „Übertragung der Paolo-
Francesca-i^iBode in der Fonn des Oiiginals*' steht fOr tuUo tremendo
äü m a tremNe.
*) PrefaeeXL
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40 Der literarigche Essay.
von Riinini, sei der ihr zngedachte Gatte. Mit dem pmnk-
voUen Einzng des jungen Helden Paolo an einem prächtigen
Aprilmorgen hebt die Dichtung an^ mit dem Leichenkondokt
der in einem Sarge vereinten Liebenden schließt sie.
Schilderungen wie die Lichtgestalt Paolos oder der Ritt
des Liebespaares durch die vom Glanz der untergehenden
Sonne durchflutete Pineta liegen Hunt am besten. Dürrer
wird die Zeichnung^ wo komplizierte Zttge wiederzugeben
wären, wie in der Gestalt des finsteren, kalten Giovanni
von RiminL Doch ist auch er nicht vOllig ohne Tugend.
Wer wäre es? fragt Leigh Hunt in einem charakteristischen
Beiseite (Eap. m). Hunt besitzt eine verhängnisvolle
Gabe, poetische Vorgänge in die Sphäre des Alltags
herabzudrücken. Kaum eine Seite, die nicht durch eine
Plattheit, durch etwas, was kein Dichter drucken läfit^
entstellt wäre. Paolo klopft an Francescas Tür mit der
Frage: „Darf ich hinein kommen?" Und die Antwort
lautet: „0 ja, gewiß!" i)
The Story of lümini erregte bei ihrem Erscheinen
großes Aufsehen. Byron, dem sie gewidmet war, erklärte
sie für verteufelt gut, ja er lobte sogar ihre Originalität
und ihren Italianismus, ^ fand aber dennoch schon damals
„etliche Vulgaritäten" darin, die späterhin, als seine
Stimmung gegen Hunt weniger freundlich wurde, mehr
und mehr in den Vordergrund traten. 3)
Hazlitt rühmte die Eleganz und Natürlichkeit im
dritten Gesänge. Aber neben den enthusiastischen Urteilen
kamen ausfällige, den Vorwurf der Unsittlichkeit auf den
Schild hebende Kritiken. Die Quarterly Beview und
1) Vgl. Oliver Elton, Sttrvey of English Liieratwe n, 225.
s) Briefe an Hant vom 30. Oktober 1815 nnd 29. Februar 1816.
") Vgl. Byrons zweiten Brief an Bowles, 21. M&rz 1821.
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Der Mterariflche Eesay. 41
Blackwood Magousine gingen darin voran. In Wahrheit war
die Untrfistang so unverdient wie das gewaltige Aufsehen.
Allmählich mufite Hunt einsehen^ daß man nicht gut daran
tut, an einen Gegenstand zu rfthren, der von Meisterhand
sein endgUtiges Gepr&ge erhalten, und von Weihe und
Ehrfurcht umflossen ist Das furchtbare Schicksal von
Dantes Liebenden war unter seiner Hand zu dem klein-
lichen f^ormat einer Alltagsliebschaft eingeschrumpft Er
hatte durch die Beibringung von Entschuldigungen und
Milderungsumstftnden die erschflttemde Tragik unabänder-
licher Impulse, die ein Fatum bedeuten, ihrer Majest&t
entkleidet
Unter den mehrfachen Bearbeitungen, die Hunt vor-
nahm, ist das Fragment Corso and Emilia (1814) der
endgültigen Fassung durch feinere Analyse der Gemüts-
stinmiungen aberlegen. Emilia verrät, wie Byrons ein
Jahr später entstandene Parüina (1815), ihre Liebe im
Schlafe. Der Gatte Lorenzo tStet seinen Bruder Corso
im ritterlichen Zweikampfe. Emilia stirbt an der Todes-
nachricht
Eine fast ebensolche Herabdr&ckung des Themas wie
The Story of Bimini bedeutet Hunts Bearbeitung der
Hero und Leandersage, die auf den Ton eines gelungenen
und eines mißgl&ckten Stelldicheins gestimmt wird {Hero and
Leander and Bacchus and Ariadne 1819, ohne Anlehnung an
die Schillersche Version). Aus dem Durchschnittsniveau der
Banalitäten und Gemeinplätze ragen nur vereinzelte Stellen
hervor, in denen der Pulsschlag echter Poesie sich fühlbar
machte z. B. die mit Leanders Todesschwimmen verbundene
Naturschilderung.
Hunt hat eine Vorliebe fttr alte Sagen oder Dichtungen,
aber den leidigen Trieb, sie zu „verbessern", indem er sie
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42 Der iiterariflche Essay.
in schulmeisterlicher Haltang nach dem modernen Empfinden
korrigiert Darüber geht in der Regel ihre urwüchsige
Schönheit) ihr naiver Zauber verloren. In The GenÜe Armour
(Die zarte Rüstung) 1831, legt er das FabUau von dem
Ritter zugrunde, der, auf Geheiß seiner Dame statt mit der
Rüstung mit ihrem Hemde bekleidet kämpft, und siegt
Im Fabliau erfüllt die Dame darauf die Gegenbedingung,
im „Siegergewande des Ritters'' an der Tafel ihres Gatten
zu erscheinen. Vor dieser „Roheit'' scheut sich Leigh Hunt
und l&ßt die Dame statt dessen den Verwundeten pflegen
und sich vor ihm, dessen angetraute Ehegattin sie wird,
demütigen. Eitelkeit und Prüderie erhalten eine scharfe Büge.
1823 unternahm er Modernisierungen der Canterbury
Tales j um das Publikum zur Lektüre des Originals an-
zuregen. Aber der guten Absicht entsprach auch hier
keineswegs die Ausführung.
The Ghve and the Lion (Der Handschuh und der Löwe),
den Historical Essays upon PariSy translated fram (he French
of M. de Saint-Foix, entnommen — Schillers HandschtA —
wird zu einer schwerfälligen Erzählung, die in eine dürre
Moral ausläuft: Nicht die Liebe, sondern die Eitelkeit stellt
der Liebe eine solche Aufgabe. Dasselbe Schicksal hat
das als Verherrlichung des Naturtriebes gedachte, dem
Leben des heiligen Apollonius von Tyana entnommene
Gedicht The Fanther (Der Panther) 1818:
Was hat den Panther in Haft gebracht?
Der Luxus, Spezereien und Pracht
Und was hat den Panther frei gemacht?
Die Liebe, die Liebe war's! Sonst keine Macht.
Auch seiner Godiva ergeht es nicht besser. Die
nackend auszieht , die Nackenden zu kleiden, ist die
moderne Eva.
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Der literarische Eaaay. 48
Der moraliBierende Ton lag keineswegs in Hunts
Absicht In einer Vorrede znr Story of Bimini sagt er:
„Ich gestehe, daß ich nicht aQSSchliefiUchy ja nicht haapt-
sftchlich znm Zweck der Moral schreiba Ich schreibe zn
meinem Yergnfigen. Aber ich habe allm&hlich gelernt, auch
for andere zn schreiben, und meine poetischen Ziele fallen
glficklicherweise mit meinen moralischen Theorien zu-
sammen.''^ Er ahnte nicht, wie sehr sein Werk hinter
der Absicht znrfickblieb. Er sagte von seinen Bflchem,
sie wollten niemals etwas anderes sein als Singvögel unter
Bäumen.*) Und gerade das sind sie am wenigsten, am
seltensten.
Unter den erzählenden Gedichten kommt The Palfreyy
Ä Love Story of Old Times (Der Zelter. Eine Liebes-
geschichte aus alter Zeit), 1842, dem schlichten, knappen
Volkston am nächsten, den der Gegenstand erheischt Es
ist ein Fabliau des Huon le Boi aus Le Grands Übersetzung
der PoHes Frangais du 11% 1», 13*, U* et 15* siede, 1808.
Infolge der geglückten Nachbildung des altenglischen
Balladen- und Bomanzentones wird hier auch die Ver-
legung des Schauplatzes von der Champagne an den Hof
Eduard L in Eensington nicht als Mißgriff empfunden.
In der Gedichtsanmilung Foliage (Laub), 1818, ragen
die Sonette hervor; unter ihnen das To (he Nile (An
den Nil), womit Hunt in einem Wettkampfe mit Shelley
und Eeats Sieger blieb ; To ihe Grasshopper and the
Crieket (An die Heuschrecke und die GriUe), in denen
ein feines Naturverständnis zum Ausdruck kommt und
etliche, in denen er sein geliebtes Hampstead in jeder Jahres-
») Poet. Works, 1819 m, 18.
«) SymoM XIV.
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44 Der literarische Essay.
zeit und Stunmong yerherrUcht Seine Gfedichte an Gattin
nnd Kinder heben herzliche Familiengeffihle in keine
höhere Sphäre, aber seine Episteln an die Frennde Byron,
Moore, Hazlitt, Lamb geben in behaglichem Planderton
scharf beobachtete Charakteristiken der Empfänger. In
Hnnts Lyrik gibt es nnr eine Perle, ein Gedicht, das ans
einem Gnfl, yorzfigUch vom Anfang bis znm Ende, anch
die verdiente Yolkstflmlichkeit gefanden, das schlicht innige
Abu Ben Adhem. Hier gelingt ihm jenes vollkommene
Aufgehen des Gedankens oder der Empfindung in der
Anschauung und beider in der Form, die das vollendete
Kunstwerk ausmachen.
Als YerskfinsÜer ragt Hunt nicht hervor. Er ver-
wendet in der Regel heroische oder kfirzere jambische und
trochüsche Seimpaare und vermeidet kompliziertere Vers-
maße — auch hierin den Beweis erbringend, daß die Poesie
nicht seine natürliche Sprache ist
Dennoch hat er, unendlich fleißig und unendlich
optimistisch, kaum eine Gattung der Poesie unversucht
gelassen. Seine Tragödie in Blankversen A Legend of
Florence (Eine Florentiner Legende), 1840, wurde in Covent-
garden und vor der Königin in Windsor au^ef&hrt Hunt,
bis in seine alten Tage ein Gemüt von kindlicher Empfäng-
lichkeit, konnte sich an Dankesäußerungen gegen Publikum
und Künstler nicht genug tun. Das unter dem Pontiflkat
Leo X. spielende Drama ist einer Erzählung des Osservatore
Fiorentino entnommen, die mit einer an die Via della Morte
geknüpften alten Sage übereinstimmt. Eine im Starrkrampf
Begrabene und Wiedererstandene sollte die Straße in
ihren Totengewändem durchschritten haben. Leigh Hunt
verlegt diesen grellen Vorfall in den Zwischenakt und
bringt die Wiederkehr aus dem Jenseits weder als
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Der liter&riiche Esny. 45
groseligen Effekt noch als tieferes Symbol zur Geltung.
Seine Legend of Florence hält sich durchweg auf dem
Niyean eines bürgerlichen Liebesdramas. Die engelhafte
Gineyra steht zwischen dem bmtalen Gatten Agolanti
und dem ihr in hingebungsvoller, entsagnngsstarker
liebe zugetanen edlen BondinellL Der aus dem Grabe
ZurAckkehrenden verschliefit Agolanti in abergläubischer
Furcht die Tflr. Bondinelli ermöglicht ihr in einem Idyll
Yoll paradiesisch reiner und fBrsorgender liebe ein neues
Leben. Madonna Ginevra fAhlt ihre Ehe durch den
Schiedsspruch des Himmels gelOst und ist willens, sich dem
Jug^endgeliebten zu verbindea Da wird, um alle Skrupel
zu vernichten, Agolanti von Colonna erschlagen und der
Schluß eröffnet stillschweigend die Perspektive einer
glfickUchen Vei*einigung der am Morde nicht beteiligten
Liebenden. Die schattenhaft, ohne körperliche Rundung
gezeichneten Gestalten entbehren der Individualität Ihre
Tagend wie ihre Leidenschaft ist Schablone. Man spricht
viel — zum Teil in einem vorzfiglichen und brillanten
Dialog — und handelt wenig. Die fünf Akte rollen
sich in konventioneller Grandezza ab, ohne dramatisches
Leben.
Das Lustspiel in Blankversen Lovers' Amaeement (Liebes-
wirren), 0 am 28. Januar 1858 im Lyceum aufgeführt, be-
handelt die verwickelten Liebesschicksale zweier Paare.
Die kluge Luise La Motte gewinnt den Liebsten zurück,
der sich ihr während seiner Soldatenlaufbahn entfremdet
hat und macht aus einer Rivalin eine Freundin, indem
sie auch deren Geschick glücklich entwirrt Die heiteren
') Enthalteil in der amerUcanischen Ausgabe yon Hnnts Werken,
herausgegeben yon S. Andrews Lee, Boston 1866.
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46 Der litenuiflche Essay.
Vorgänge spielen sich ohne sch&rfere Charakteristik des
Ortes oder der Personen ab. Was ans Urnen erhellt, ist
die Lehre, daß Ehrlichkeit über Koketterie nnd echte
Neigung über Galanterie den Sieg davontragt. 0
Als Bomanschriftsteller hat sich Hunt nur ein einziges
Mal versncht
Sir Balph Esher, or Ädventures of a OenÜeman of ihe
Court of Charles IL (Abenteuer eines Edelmanns vom Hofe
Karls n.), 1832 (dritte Auflage 1836), ist eine Selbst-
biographie, in die lebendige Zeitbilder und Milieu-
schilderungen von gutem Kolorit verwebt sind: das Hof-
treiben, dessen Faden Neil 6wyn in der Hand hat,
Sch&ferspiele und Bacchanalien, Kriege zu Land und zur
See, Katholikenmartyrien. Auch an tttchtigen Portrait-
studien — der gewaltige Protektor und seine ehrwürdig
schlichte Mutter — fehlt es nicht
Schließlich hat sich Hunt als Übersetzer betätigt
in zwei Übertragungen aus dem Italienischen: Amyntas,
a Tale of the Woods from ihe Italian of Torqimto Tasso
(Amyntas, eine Walderzählung, aus dem Italienischen)
0 Handschriften dreier Dramen, die Hnnt in seiner Selbst-
biographie erwähnt, aber nicht ram Druck brachte, wurden 1911 von
dem Buchhändler und Schriftsteller Bertram Dobell in London feUgeboten.
Der Zweiakter The Double (Der Doppelgänger), die Dramatisierung
der italienischen Novelle vom Fischer, der kraft seiner Ähnlichkeit mit
einem im Bade ertrunkenen Edelmann dessen Stelle usurpiert In der
Selbstbio^aphie erzählt Hunt, daß er, um den Vorgang glaubwürdiger
SU machen, den Fischer in einen Schauspieler verwanddt habe. The
Secret Marriage (Die heimliche Ehe) behandelte die heimliche Ver-
mählung eines EOnigs Ton Novarra mit einer nicht Ebenbürtigen (Ines
de Castro). Es war ursprünglich als Trauerspiel geschiieben, wurde
jedoch von Hunt auf den Bat der Schauspieler nachträglich mit einem
guten Ausgang bedacht Aber audi dies verhalf dem Drama am keiner
Aufführung. Boderigo de Bivar, eine fttnfaktige CidtragOdie, fand Hunt
selbst für die Bühne ungeeignet und zog sie vor der Aufführung snirüclL
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Der litenrische Essaj. 47
1820, Eeats gewidmet, in dessen ScUcksal Hnnt eine
Parallele mit dem Tassos sah, „dem es gleichfalls beschieden
war, Yon den Kritikern gemartert nnd yon den Poetischen
bewundert zn werden";*) nnd Bacchus in Tuscany.
A Dithfframbic Poem fram the Italian of Francesco Bedi
(1825), die Übertragung eines vom echtesten Florentiner
Gfeist durchtränkten Bacchanals in unregelmäBigen Versen,
die bald von vorzfiglicher Leichtigkeit^ bald schleppend in
Rhythmus und Inhalt, angesichts der ungeheuren Schwierig-
keit, die es zu bewUtigen galt, im ganzen einen rfthmlichen
Platz in der Übersetzungsliteratur behaupten, wenn sie
auch den Vergleich mit der spr&henden Laune nicht aus-
halten, Yon der Byrons Boiardo-Stanzen erfallt sind. Das
Schweben zwischen Ernst und Scherz, die Vermengung
von Trayestie und Panegyrikus entzfickte Hunt an ßedi.
Er mochte ffihlen, was der Italiener yor ihm selbst voraus
hatte: Er konnte die graziöse Heiterkeit seiner Seele
objektivieren und in Verse bannen, lebendig, wie sie ihn
durchströmte.
Prosa.
Im großen und ganzen ist Leigh Hunts Prosa unendlich
poetischer als seine Gedichte. In ihr finden sich zahlreiche
Beispiele tadelloser, durchaus gelungener, geschlossener
kleiner Kunstwerke von liebenswürdiger Anspruchslosigkeit.
Sie schätzten sich als Beiträge fOr Hunts zahlreiche Zeit-
schriften nicht höher denn Tagesware ein und besitzen
dennoch ihren dauernderen Wert.
Der Examiner existierte als liberales Blatt bis 1822.
John wurde noch einmal verhaftet, Leigh trat aus, ein
') Leigh Hunts Übersetznog wurde dramatisiert und von Heniy
Qndsby in Musik gesetzt.
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48 Der litenuisdie Essay.
Neffe, Henry Hunt, der die Redaktion übernahm, war ihr
nicht gewachsen.
Die literarisch-politische Vierteljahrsschrift, The Be-
flector (Der Spiegel), die die Brttder 1810 nnter der Mit-
arbeiterschaft Lambs gegründet hatten, war nach vier
Nummern wieder eingegangen. 1819 gründete Leigh Hnnt
eine belletristische Wochenschrift The Indicatar (Der
Honigknckok; Bd.I 1820, Bd. n 1822). Der gesuchte Titel
war einem Vogel entlehnt^ der die Menschen auf die Spur des
wilden Honigs weisen soll. Die Zeitschrift fristete ihr
Leben durch 76 Wochen und Leigh Hunt veröffentlichte
in ihr mehrere seiner besten und charakteristischsten
Essays. Bereits 1817 waren die im JExaminer erschienenen
Au&ätze von Hunt und Hazlitt in zwei Binden gesammelt
erschienen, unter dem Namen The Round Table (Die
Tafelrunde). Die des Indicatar erschienen 1834 als The
Indicatar and the Campanion.
Diese Aufsätze sind ebenso verschieden an Wert wie
an Inhalt. Manche leer und nichtssagend wie Schulaufs&tze
halbwüchsiger Jungen, manche geschmacklos und schleuder-
haft; die besten derart, daß Hunt sich mit ihnen unter die
eigenartigsten Prosaisten seiner Zeit reiht. Bulwer sagt
1867, er kenne kein angenehmeres Buch.^) Nathaniel
Hawthome findet in Hunts „entzückendem Prosastil die
ungemessene Poesie, den undefinierbaren glücklichen Griff,
der kraft eines Lebensprozesses wie das Wachstum des
Grases und der Blumen milde Wunder wirkte." 2)
Hunts Stil besitzt den Zauber und mitunter auch die
Nachlässigkeit des gesprochenen Wortes. Er zielt nicht
0 Qwxrterly Beview, vol. 22.
•) Our Old Home H, 475.
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Der literarisehe Essaj. 49
auf klassische Beinheit und klassische Form ab. Es finden
sich Sätze bis zu zwanzig DruckzeUen, idiomatische nnd
rein persönliche, selbst geprägte Ausdrücke nnd Wendungen.
Aber eben diese bis zur Willkür gesteigerte Eigenart bedeutet
einen fesselnden Beiz, ja eine Bereicherung der englischen
Prosa. Elizabeth Barrett, eine warme Bewnnderin Hunts,
sagt: Komposition ist kein Wort für ihn. Wir könnten es
ebensogut yon einem Vogel brauchea Er ist nicht ohne
künstlerisches Gewissen, nur liegt ihm der Plan weniger am
Herzen als Freude und Schönheit Sagt er Neues, so
bringt er es in treffender Form; sagt er Altes, so sagt er
es auf neue Art^
Als Prosaist besteht Hunt die Goldprobe des Talentes:
er ist originell. Er spricht seine eigene Sprache. Der
Inhalt kommt dabei kaum in Betracht. Oder viehnehr, es
gibt schlechterdings nichts im weiten Umkreise des Alls,
was ihm für literarische Behandlung unpassend schiene.
1821 widmet er der Beschreibung der Monate, ihren
Namen, ihren Freuden und ihrem Nutzen ein ganzes Buch
{The Monika. Description of ihe Successive Beauties of the
Year. Die Monate. Schilderung der Aufeinanderfolge der
Schönheiten des Jahres). Es geht inhaltlich nicht über
derartige Ealenderaufsätze hinaus, denen es an zierlicher
Darstellung dennoch weit überlegen ist.
In dem Essay Ä Staue (Ein Stein, Leigh Hunfs London
Journal) geht er von der Beschreibung eines Kieselsteines aus
und schlägt schliefilich aus ihm Funken echter Beflexion und
wahren Interesses. Ja, fast in der Mehrzahl der Aufsätze
ist das Thema yon einer Nichtigkeit^ für die der heutige
Zeitungsleser naive Harmlosigkeit und behagliche Muße
>) A New Spirü of {he Äge, edit. by R. H. Hörne 1844, 1, 818.
Oesefaichte der eitflischen Bomantik H, l. 4
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50 Der literarische Essay.
kanm mehr aofbräclite. Aber die OescMcklichkeit, einen
solchen gleichgUtigen Gegenstand (z. B. Getting up an Cold
Moffiings. Das AüMehenan kalten Morgen) nach allen
Seiten hin so scharf abzuschleifen und vielfach zu f aszetieren,
daß das Gleichgiltige uns in geistreichem und interessantem
Gefnnkel fesselt, steigert sich zur Meisterschaft Mit der
anmuts- und hnmoryollen Behendigkeit des Taschenspielers
fflhrt er uns das Thema yon allen Seiten vor und gaukelt
über seinen wirklichen Wert oder Unwert hinweg. Sehr
bezeichnend sagt Leigh Hunt: „Den trockenen Dingen wohnt
eine Seele von Humor inne.^^)
Bald pinselt er ein Portr&t mit der miniaturartigen
Gewissenhaftigkeit eines Denner heraus (The Old CrenÜe-
man. Der alte Herr; Seamen on Shore. Matrosen auf Land;
The Maid Servant Die Dienstmagd; The Old Lady. Die alte
Dame). Nichtsinteressantes, nichtsMerkwflrdiges, altmodische
Manier, aber yon flberzeugender Charakteristik und photo-
graphischer Naturechtheit Bald zeichnet er mit liebevollstem
Eingehen in jedes Detail ein Genrebild Coaches (Kutschen).
Die Kutsche schießt mit unsäglicher Geringschätzung an
dem armen alten Rumpelkasten des Mietwagens vorbei
Sie rollt leicht, rasch und doch behäbig; innen ganz voller
Kissen und voll Behagen, außen von eleganter Farbe. Der
Anstrich glänzt in der Sonne. Die Pferde in ihrem
funkelnden Geschirr scheinen stolz, sie zu ziehen. Gefleckte
Hunde umspringen sie bellend. Die Fransen der Kutsch-
bockdecke bewegen sich. Auf dem Bocke sitzt der Kutscher
mit der stattlichen Perficke reglos. Kaum daß sein Arm
sich ein wenig bewegt. In stolzer Gelassenheit hält der
Diener hinten die Strippen und pendelt auf den Sprung-
*) A Word upon Indexes (Indicatar and Companion n, 116).
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Der literarasche Eisay. 51
fedeni nach rechts und links, indem sein Blick zwischen
Dreimaster nnd Halstuch nach der Seite schielt Die Insassen
schaukehi yor- nnd rftckwärts, voll Verachtung fttr alles
nicht so Bequeme. Plötzlich stößt die Kutsche an den
Bftrgeisteig und hUt mit herrischer Entschiedenheit. Schon
ist der Bediente unten. Der Tflrklopfer erdröhnt im ent*
legensten Winkel des Gebäudes. Haustür und Wagenschlag
werden aufgerissen. Man steigt aus, indem man einen Blick
voll Selbstyerständlichkeit über die angesammelten Zu-
schauer gleiten läßt. Als der Fuß das Pflaster berührt,
schnellt die Kutsche, erleichtert yon dem Gewicht der be-
deutenden Persönlichkeit, die sie getragen, aus ihrer seit*
liehen Neigung empor, indem sie gleichsam nach Atem
schnaubt und sich schüttelt^ wie die Pferde ihre stolzen
Köpfe schütteln.
Ein andermal zergliedert Hunt mit gleicher Genauig-
keit einen momentanen Zustand wie das Einschlafen (Ä
Few Thaughts on Sleep, Einige Gedanken über den
Schlaf). Behagliche Wärme. Die Glieder lösen sicL Eine
milde Abstumpfung beschleicht den Müden. Die Lider
senken sich. Der geheimnisTolle Geist beginnt seine Bunde
durch die Luft
Ja, Hunts Feder wagt das Equilibristenkunststück, den
Augenblick festzuhalten, und es gelingt (Ä Now. Bescription
ofaHotDay. Ein Jetzt. Schilderung eines heißen Tages) —
drei und eine halbe Seite über die Hitze eines schwülen
Sommertages. Jeder Satz hebt mit „jetzt^ an und jeder
ist ein prägnantes kleines Momentbildchen für sich, das
Ganze kein Kunstwerk aber ein Yirtuosenstück yon
blendender Boutine.
Bald greift Hunt konkreteste Dinge des täglichen Lebens
heraus^ wie On Sticka (Über Stöcke); A Chapter on Hots (Ein
^*
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52 Der liierarisdie Ssmj.
Kapitel fiber Hflte); Beds and Bedrooms (Betten und Schlaf-
zünmer); bald handelt es sich um Dinge der Phantasie, wie die
Spukgeschichte Ä Tale for a Chimney Camer (Eine Geschichte
fttr die Eaminecke) oder On (he BealiUes of Imagination
(Über die Bealit&t von Einbildungen), Thoughts and Quesses
on Human Naiure (Gedanken und Vermutungen fiber die
menschliche Natur). Bald gestattet er sich journalistische
Scherze wie Social Oenealogy; bald bietet er kleine Er-
zählungen, mitunter yerschollene Schätze der alten Literatur
in zarter Wiedergabe, z. B. The Fair Revenge (Artige Badie);
bald gefällt er sich in derbem Humor, der, echt englisch, darum
heute noch ffir klassisch gilt, z.B. On iheOraces andAnxieties
of Big Driving (Über die Yorzfige und Ängstlichkeiten des
Schweinetreibens); bald wird er schwermfitig, z.B. Beafhs
of Utile ChOdren (Der Tod kleiner Kinder). Er schreibt
diesen Aufsatz angesichts des Grabes seiner Mutter, „eines
unaussprechlich teuren Wesens''. Durchs Fenster sieht er
die Bäume auf dem Grabe, die grfinen Felder, die es
umgeben, die Wolken, die darfiber hinziehen. Frfihlings-
winde sti-eichen yorfiber und mahnen an den fernen Ozean,
dessen das Herz, das hier unten ruht, so oft gedacht.
Aber das Grab ist fflr Hunt kein Anlaß zur Trauer. Im
Gegenteil. Es knfipft die Freuden seiner Kindheit an die
seines Mannesalters, es ffillt die Lfifte mit linder Zärt-
lichkeit. Es eint Himmel und Erde, Sterblichkeit und
Unsterblichkeit
Hunt besitzt die beiden grundlegenden Eigenschaften
des Humoristen: einen feinen Natursinn und warme
Menschenliebe. Ausschnitte aus dem Tier- und Pflanzen-
leben geraten ihm in zierlicher Anmut (On Seeing a
Pigeon make Love. Bei dem Liebesgetändel einer Taube).
Das London Journal brachte allwöchentlich Artikel Aber
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Der Hteruische Essay. 53
die Blumen und Ybgel der jeweiligen Jahreszeit Hunts
eingehende Beobachtung kleinster Lebewesen ist ein Er-
gebnis jenes „liebenden Genius^, mit dem ihn, n»ch einem
schönen Worte Elizabeth Brownings, die Natur bedachte.
In einem Briefe an Charles Ollier (7. Mai 1844) findet
sich folgende Parenthese: „Eben trinkt ein Spinnchen ans
einem Wassertropfen, der von einer Blume, die ich aus
dem Glase nahm, auf meinen Bogen gefallen. Er war
größer als sie. Sie hat ihn yerschlungen und begibt sich
nun, sichtbar erfrischt, auf mein Löschpapier. Es ist
etwas so Seltenes, eine Spinne an einem lieblichen Werke
zu sehen, daß ich es angemessen fand, Ihnen dayon zu
erzählen. Ich habe jedoch einmal eine Mutterspinne ge-
sehen, die augenscheinlich mit ihrem Jungen spielte. Es
lief Yon ihr weg und zu ihr hin, wie die Efttzchen es mit
der Katze zu tun pflegen.'' und etwas weiter folgt die
beruhigende Mitteilung: „Die Spinne hat sich unter die auf-
gerollte Ecke des Löschblattes begeben und scheint dort
nach ihrem Biatentrank eingeschlafen zu sein.^
Eine unyerwtkstliche Freudigkeit und Zuversicht ist
das Grundelement yon Hunts Wesen. Sie duldet keine
dauernden Schatten. Leben und Heiterkeit überwiegen in
der Welt Der Tod ist kurz, das Leid flüchtig, Schönheit
und Ordnung dagegen allgemein, uneingeschränkt, ewig
(The Sun. Die Sonne [Table Talk]).
Freudigkeit yerbreiten ist die Aufgabe, die ihm yor
allem am Herzen liegt „Freude ist die Sache dieser
Zeitung^, heifit es in der Anzeige yon Leigh Hunfs
London Journal. „Wir beginnen gern mit diesem Worte.
Es ist, als beg&nne man den Tag mit Sonnenschein im
Zimmer.'' und in der 23. Nummer kommt er nochmals auf
diese Absicht zurück, die er mit Genugtuung erreicht zu
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54 Der Uterarische Essay.
haben glaubt, „die AbsicM mehr Sonnenschein in die Ge-
fühle unserer Landslente zn bringen, mehr guten Willen
und gute Laune, mehr Freude aneinander und an den
Dingen zu haben.'' Das Motto dieser Wochenschrift lautete:
„Den Fragenden beistehen, die Klagenden ermutigen, mit
Allen fühlend
In dem Aufeatz The Wishing Cap (Das Wunschhütlein) in
den Wishing Cap Papers, 1847), einem seiner anmutigsten und
liebenswürdigsten, stehen die charakteristischen Worte: „Ich
für mein Teil muß, bis ich sterbe, trachten, die Welt ein wenig
weiter in den Sonnenschein zu rücken. — Meine St&rke
liegt in meiner Lichtkraft.'' Zum Motto des Indicator w&hlt
er das Wort Spencers: „Eine Unze Süßes wiegt ein Pfund
Saures aul" Als er 1847 zum größten Teil in der Jugend
geschriebene Aufsätze zu der Sammlung Jfen, TFbmen, and
Books (Männer, Frauen und Bücher) vereint, sagt er im Vor-
wort, er habe jene heiteren, hoffnungsvollen Ansichten, deren
Verbreitung ihn nun fast dreißig Jahre beschäftige, um kein
Iota gedämpft) denn wenn etwas ihn für die Unzulänglich-
keiten des Lebens wie der Schriftstellerei getröstet, sei es
nicht das Bewußtsein der Beständigkeit in seinen Ansichten
— das könnte Bigotterie sein; nicht der Triumph seiner
politischen Meinung — das könnte Zufall sein; selbst nicht
der Gedanke, Feindseligkeit und Mißdeutung überdauert zu
haben — obgleich ihm das Wohlwollen großmütiger, bekehrter
Feinde unsäglich teuer sei — sondern das Bewußtsein,
daß er sein Bestes getan, jenen Glauben an das Gute an-
zuempfehlen, jene Freudigkeit des Strebens, jene Empfäng-
lichkeit für die Schönheit des Alls, jene brüderliche
Nachsicht für Irrtümer und Umstände, jenes Vertrauen in
die glückliche Bestimmung des ganzen Menschengeschlechts,
kurz das, was ihm nicht nur das gesündeste und lebendigste
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Der literarische Essay. 55
Prinzip des Handelns dünke, sondern die einzig wahrhaft
fromme Huldigung für Ihn, der uns alle geschaffen.
In der Vorrede der Essaysammlung The Beer (Der
Seher), 1840, sagt er: „Je länger wir in dieser schönen
Welt des Überflusses etwas mit dem Wunsche betrachten,
daB es uns gefallen mSchte, desto mehr wird es uns durch
den liebenden Gteist des Weltalls mit Entdeckungen gelohnt
werden, welche nur dieses Wunsches harren."
Freude und Erhebung erklärt Hunt fttr den Zweck der
Poesie, die Poesie selbst für den kräftigsten Beweis der Liebe
und Schönheit, die in allen Dingen zu finden seien, i) Die
kleinsten Zfige der Natur beobachten, heißt den Schatz
unserer Freuden bereichern. Die einfache Tatsache des
Umsichblickens trägt bereits ihren Lohn in sich (Watch-
men. Wachmänner [Indieator and Companion]). Wie es im
weiten All nichts gibt, das ihn der Betrachtung unwert
dfinkt, so ist ihm auch kein Sprung zu jäh. „Ich kann
von der Lektüre eines Humeschen Essays zu der Ton
Tausend und einer Nadit übergehen und ich glaube, je
länger ich lebe, desto inniger wird die Vereinigung beider
Leidenschaften (für das Reale und Ideale) in mir", sagt er
in Fietion and Matter ofFact (Phantasie und Wirklichkeit
[Jlfe»i, Warnen, and BooksJ).
Eine besondere Gruppe bilden unter Hunts Aufsätzen
diejenigen, die der Geschichte und Topographie Londons
gewidmet sind. Sie entstanden aus einem Monatssupplement
des London Journal: TJ^ Streets of London (Londons Straßen)
und wurden Sfpäter zu einem Buche, The Toum. Its Memorahle
C^aracters and Events (Die Stadt Ihre denkwürdigen
Persönlichkeiten und Ereignisse), 1848, yereinigt. Eine
1) Imoffinaiion and Fancy, Preface 5.
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56 Der üterarische Sssay.
andere Reihe solcher Artikel, die einen Spaziergang dnrch
Eensington schildern and 1853 — 1854 in Dickens' House-
hold Words erschienen, gaben, gesammelt (1855) den
pr&chtigen Band The Old Court Suburb (Das alte Hof-
viertel), ein Bach wie es jede Stadt mit einer reichen
Vergangenheit besitzen sollte. Noch ein drittes, etwas
matteres Werk gleichen Inhalts erschien 1861: Ä Saunier
ihrough the West End (Spaziergang dnrch das Westende).
Sie geben miteinander einen Ideal-Baedecker yon London.
Kein Gäßchen, kein Winkel, kein Stein der z&rtlich
geliebten Vaterstadt ist Hant fremd, keine historische,
Uterarische oder sagenhafte Erinnerang entgeht ihm. Aber
noch wichtiger als die örtliche Schilderang ist ihm das an
die Lokalität geknüpfte Andenken der Persönlichkeiten and
G^chehnisse. Berühmte and berüchtigte Gestalten tanchen
anf , zahlreiche eigene Erinnerongen werden eingeschaltet,
and das Ganze darchleachtet mit herzerqaickender W&rme
das prächtige, ananfdringlich enthnsiastische Gockneytam
des Verfassers.
Ein Leser fällte das schöne und treffende Urteil:
„Hant hat den Londoner Baach and Nebel mit nenem
Glorienschein amgeben and Straßen and Gebände mit dem
Leben vergangener Generationen bevölkert.^ Alles, was
die liebe Vaterstadt betrifft, geht Hant persönlich an« Sie
ist ein Teil seines Besitzes, ein Teil seines Selbsts. Die
Größe der Gegenwart bernht aaf der Erfahrang, die sie
aus der Vergangenheit schöpft, and aaf dem Interesse, das
sie der Zokanft entgegenbringt Vergangenheit, Gegenwart
and Zakanft veranschanlicht ihm das Londoner Leben
und Treiben. Und alles das wird im ansprnchslosen
Piaaderstil hingeworfen. Das Bach will nicht mit
Geschichtskenntnis prunken und überzeugt doch in seiner
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Der literarische Essay. 57
künstlerischen Skizzenhaftigkeit yon der unbedingten
Biiditigkeit des Schauens und Empfindens und der reichen
Fnlle des Wissens seines Verfassers.
Einen eigenen Baum nnter Hnnts Essays nehmen die
Anfsätze über Bücher ein. Sie sind seine eigentliche Welt In
einem anmutigen Essay My Books (Meine Bücher [Indicator
and Campanion II]) schüdert er das Gefühl der Sicherheit
und des Behagens, das ihn zwischen Stoßen aufgeschichteter
B&nde seiner Lieblingsautoren überkommt. Er verschanzt
sich hinter ihnen gegen den Kummer wie gegen das böse
Wetter. Das Haupt auf Bücher gestützt, möchte er sterben.
Es ist ihm ein freundlicher Gedanke, daß große Schrift-
steller, die Bücherfreunde waren, in ihren Werken nun
selbst zu Büchern geworden sind. Dies dünkt ihm eine
gar schöne Art des Fortlebens und schüchtern fragt er: Darf
ich hoffen, in die geringste dieser Existenzen überzugehen?
In einem anderen Aufsatz, The World of Books (Die Welt
der Bücher [Mm, Women, and Books]) tritt er für die
Bealität der erdichteten Welt ein. Und wie bezeichnend
ist nicht in dem Titel der Sammlung die Zusammen-
stellung der drei Faktoren M&nner, Frauen und Bücher
als der drei Hauptwesenheiten im Leben; wie bezeichnend
nicht sein paradoxer Ausspruch: Die Menschen sind ebenso
sehr die Geschöpfe der Bücher, die sie lesen, als anderer
ümsUndcO
Literarische Kritik in Form der Bücherschau seiner
Zeitschriften hat Hunt natürlich lebenslang geübt Aber
zum Sjritiker von Bang fehlte ihm Schärfe, Knappheit,
Divinationsgabe. Sein Urteil, seine Gharakterisierungsgabe,
seine analytische Kraft sind häufig nicht auf der Höhe des
i) A Book of a Corner, Breface 7.
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58 Der literarische Essay.
Fachmanns. Planderhafte Inhaltsangaben machen sich an
der Stelle zusammenfassender Urteile breit, eine äußer-
liche Schilderung des Werkes tritt an die Stelle kritischer
Untersuchung. Seine Anzeige yon Byrons Dan Juan, die
sich 1822 durch viele Nummern des Examiner ziehte weicht
der Kritik geradezu aus und, wo er etwa eine Wert-
schätzung wagt, bekundet sie wenig Hellsicht In dem
Blatt vom 11. Oktober heißt es: „Man hat die Frage
angeworfen, ob Byron fortleben werde? Vielleicht nicht.
Er besitzt zwar Intensität der Kraft aber keinen bestimmten
Charakter.''
Auch hier war es in erster Linie die Lauterkeit seines
Wesens, die seinem Worte Nachdruck gab. Moore erklärte,
daß er sich durch ein Lob von Hunt besonders geehrt
fflhle, weil er einer der anständigsten und ehrlichsten
Menschen sei, die er kenne. 0
Gut erzählte, knappe Lebensabrisse und literarische
Würdigungen, in denen er kraft der nötigen Beherrschung
des Gegenstandes auch Naturen gerecht wird, die von der
seinen weitab liegen, hat er den Ausgaben der Werke yon
Sheridan, Wycherley, Gongreve, Yanbrugh und
Farquhar, 1840, vorangestellt. Eine tüchtige literarische
Abhandlung ist der Essay Cowley and Thomson (Mm,
Women, and Books) und eine feine, höchst lesenswerte
Monographie der Artikel Lady Mary WorÜey Montague
(London and Westminster Beviewy vol. V., April 1837), eine
lebhafte Würdigung dieses „weiblichen Schöngeistes in den
Tagen Popes^, der zur Dichterin nur ein bischen Herz
fehlte.«
Warmes Verständnis bringt Hunt seinem Freunde
1) Memoirs, Joumaia etc. U, 69.
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Der literarische Essay. 59
Elia entgegen {The Wiahing Cap)^ dessen Wonschhäilein
er gleichen Schnittes mit dem von Lears, Naoms und Yoricks
findet An jenem sozialen GeMhl, das dnrch Weisheit
liebenswfirdig and nützlich wird, hält er ihn (üoleridge nnd
Wordsworth überlegen. Ein einziger seiner unscheinbar in
Anmerkungen und Zeitschriften verstreuten Oedanken
ab^ die Menschheit wiege alles Wirtshausgeschw&tz der
Kritiker über die Staatskirche auf.O
Als Eunsttheoretiker ist Hunt kein Bahnbrecher des
Gteschmackes, sondern faßt yielmehr die Theorien und Er-
&hningen der erlesensten Geister der Zeit zusammen,
belegt sie, popularisiert sie, konstruiert sie. So prägte er
beispielsweise aus Hazlitts Definition der Poesie als Sprache
der Phantasie und der Leidenschaften {Lectures on (he
English Poets) den Satz: Poesie ist phantasieyolle Leiden-
Schaft^
Das Wesen der „neuen^, will sagen romantischen
Bichtung der Poesie erblickt Hunt in der Erkenntnis, daß
die urwüchsige Begeisterung der Griechen das Klassische
bedeute, während Pope und die Franzosen alles Lateinische
für klassisch hielten; femer in einem nicht länger von
der Mode kontrollierten Begriffe des Poetischen und in
dem Verschwinden der Meinung, daß Witz und Vers die
beiden wesentlichen Merkmale der Poesie wären. Sinn
für die Schönheiten der äußeren, sichtbaren Welt, für die
nnyerfSlschten Impulse unserer Natur und vor allem
Phantasie oder die Kraft, mit Wahrscheinlichkeit zu sehen,
was andere nicht sehen — dies seien die wahren Eigen-
schaften der Poesie.
0 FoUage, Preface 10.
«) YgL Edmund Gosses Ausgabe von Imagination and Fancy,
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60 Der literarische Eesay.
Ein feines Stilgeffihl hindert Hont nichts seine Ästhetik
auf einem Untergründe von Ethik nnd Philosophie aof-
zubanen. Was der Dichter vor allem pflegen soll, ist
Liebe nnd Wahrheit. Was er wie Gift meiden soll, ist
das Flächtige und Falsche, i) Freimutigste Selbständigkeit
des Urteils bekundete Hunt in seinem enthusiastischen Lobe
Shelleys, Eeats und Goleridges. Er stellt ohne Bedenken
und ohne Entschuldigung Coleridge unmittelbar neben
Milton. Könnte man, sagt er, das rein Poetische seiner
Dichtung wie destillierte Rosen in einer Phiole betrachten,
man fände es fleckenlos. Sein Au&atz Ober Shelley
(InMffination and Fancy) wird ein Hymnus. Die Vorrede
zu seiner Ausgabe der Mctsque of Anarchy ist eine fein-
sinnige Würdigung „des Oeistes, der im Flammengewande
des Verses einherschritt."
Die literarische Satire und Polemik liegt Hunt seinem
ganzen Charakter nach fem. Ein einziges Mal hat ihn
äußerste Gehäßigkeit der gegnerischen Partei und das
Pflichtgefühl, den Freunden zugedachte Hiebe zu parieren,
verleitet, eine Ausfahrt auf das literarische Eampffeld zu
unternehmen. Ultra Crepidarius^ a Satire on W. Oiffordy
erschien 1823, war aber bereits 1818 geschrieben. Damals
führten die Toiyzeitschriften, QtMrterly Beview (gegründet
1809) und Blackwood Magazine (gegründet 1817) einen
erbitterten Kampf gegen den Examiner. Hunt, Shelley,
Eeats, Hazlitt, die „Gockneyschule'', waren die Zielscheibe
ihrer derb groben Ausfälle. Unwissenheit, Gemeinheit,
völliger Mangel an Religion und Moral wurde ihnen zur
Last gelegt. In Hunts Story of Bimini las man eine un-
sittliche Absicht hinein (Blackwood, November 1817) und
0 Vgl. Edmund Gosses Ausgabe von Itnagiiuxtion and Fancy 68.
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Der literaiuche Sssaj. 61
knüpfte darftn eine böswilligeyerlenmdnng aber Leigh Hunts
Beziehongen zu seiner Schwägerin (Juli 1818). 0 Es war
ein lange au^espeicherter, berechtigter Zorn, den Oiffords
schmShliche Kritik über Eeats' Endtfinion im Ultra Crepi-
darius zum Überfließen brachte. Hunt liefi es nun seiner-
seits nicht an derber Grobheit fehlen. In Reimpaaren yon
vier Daktylen erzählt er, wie Venus einen Schuh, den
Merkur yerlor, nach Ashburton schickt^ um einen gleichen
nachmachen zu lassen, wie sie den irdischen Ersatzschuh
dann aber als unbrauchbar zurückweist und yerwttnscht. Er
solle Menschengestalt annehmen, dabei jedoch bleiben, was
er als Schuh ist^ ein hohles, ffir schmutzige Wege bestimmtes
Ding. Hunts Absicht war nicht, Giffords niedrige Abkunft
mid das Schusterhandwerk seiner Jugend zu schmähen,
sondern sein hämisches und kriechendes Wesen. Die Ent-
rostung über die Unbill, die er und die Seinen yon Gifford
erlitten, machen ihn ausfällig und selbst durch die
humoristischen Lichter, die den Dialog der Götter beleben,
wird das Ganze kaum erfreulicher.
Alles in allem genommen, besitzt Hunt die wesentliche
Eigenschaft des Journalisten, jene ungeheure Vielseitigkeit
und die geschickte Hand, der nichts zu schwer und nichts zu
seicht ist, nichts zu erhaben und nichts zu geringfügig. Was
immer er aber auch schildern mag, sein Essay bleibt immer
ein anscheinend zufälliges, anspruchsloses Geplauder, mühelos
hingeworfen, der Eingebung des Augenblicks folgend und
dem Augenblick gewidmet; freilich auch öfter als billig
geschrieben, um das Pensum erledigt zu haben, das
tägliches Brot schaffen solL Denn Hunt, der Vater einer
1) Vgl. Barnette Hiller, Kap. V.
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62 Der literarische Eisaj.
zahlreichen Familie, befand sich fast immer in mehr oder
weniger dringender Geldverlegenheit.
Von den materiellen Verhältnissen abgesehen , war
seine Stellung, znmal nach der Haft in den Jahren 1816
bis 1818, eine glänzende. Inmitten eines Kreises der
erlesensten Geister der Epoche verkehrte er als eben-
bfirtiges Mitglied. Als der Herausgeber angesehener Bl&tter
war er eine wichtige Persönlichkeit. Die pikante nnd
liebenswürdige Eigenart seines lauteren Naturells fesselte
dauernd, wer sich ihm genaht Sein Äußeres, die
dunkle Hautfarbe, das weiche schwarze Haar, die pfeil-
gerade, schlanke Gestalt verrieten die exotische Abkunft,
das leuchtende Auge, die ernste Stirn, die humoristisch
herabgezogenen Mundwinkel den Dichter. . Hazlitt rfihmt
seinen berauschenden Geist, seine entzflckende Lebhaftigkeit
und die Herzensgüte, die immer wieder mit seinen Fehlem
versöhnte. Lamb schrieb von ihm an Southey : „Er ist der
ehrlichst gesinnte Mensch, den ich je gekannt habe, und
hat als Familiengenosse nicht seinesgleichen." Hunt selbst
sagt: „Jenes Ding, die Lüge, ist meiner Seele niemals
nahe gekommen. Was Furcht zu denken bedeutet oder
Furcht, was man denkt, zu sagen, weiß ich nicht"
Hunt war eine durch und durch gesellige Natur. Dies
gehörte mit zu der feinen Genußfähigkeit, die ein
Wesenselement seiner Persönlichkeit bildete. Seine emp-
fängliche Seele ging an nichts vorbei, was das Leben
verschönen oder veredeln kann. Sonnenschein und Blumen-
duft, Musik und Wein, Philosophie und Poesie, geistige
Anregung, Freundschaft, Liebe waren ihm Bedfirfnis,
und sein Gemflt verstand es, diese WOrze des Daseins
mit Subtilität und Anmut aufzuspüren und zu genießen. Er
war im liebenswürdigsten Sinne ein Anhänger der Erde
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Der literarische Essay. 63
and ihrer Freuden, doch dabei, wie Edmnnd Gosse ihn
bezeichnet, „der Ernsteste aJler Hedonisten^J) Mit
fröhlicher Gelassenheit setzte er sich fiber all die äußeren
Glücksg&ter hinweg, die ihm versagt blieben. „Ich glaube
nicht, daß man in einem dttrftigeren Häuschen wohnen
kann, als ich gewohnt habe^, schrieb er (29. Juni 1836) an
einen Freund. „Doch es hat Shelley und Eeats beherbei^
und ein halbes Dutzend anderer Freunde, alle gleichzeitig;
und sie haben in den Räumen eigene Welten geschaffen.^
1834 schildert ein Brief Carlyles Hunts armseliges, un-
ordentliches Heim, wo er in einer Art poetischer Boheme
haust^ ihn im gedruckten Kattunschlafrock mit dem Anstand
eines Königs empfängt und ihn sogleich in ein fesselndes
Gespräch ttber die glücklichen Auspizien der Menschheit
yerwickelt. Er selbst prägt die charakteristische Maxime,
Lebenskunst bestehe in der Fähigkeit, ein wenig zu ge-
nießen und viel zu ertragen.^) Ein starker Grad von
naiver und darum nicht verletzender Selbstzufriedenheit,
der keine Dosis Schmeichelei äbertrieben dflnkte, war un-
entbehrlich zu dieser Seelenbehaglichkeit Doch hat er
neidlos und fiberschwänglich mit der ganzen Intensität seines
Empfindens die Überlegenheit der Größeren anerkannt,
eifersfichtig nicht sowohl auf sie als für sie.') Mit
») LnaginaHon and Fancy (Ausg. 1907), Introd. Vm.
^ Cammonplaces of ihe Literary Examiner 1823.
*) Das Zerrbild Htinta, das Dickens in der Gestalt des Arztes
Harold Skimpole (Bleak House) gezeichnet, gerade ähnlich genug,
daß Macanley and andere das Urbild erkennen nnd Thomton Hont
Dickfflis xü einem Widermf zwingen konnte (Saintsbnry, Essays in
EngUsh Liierature 213), tat ihm entschiedenes Unrecht. Für Skimpole
existieren die BogriJEFe Zeit and Geld, Mafi und Gewicht nicht, er
kokettieort mit seiner arithmetischen Unfähigkeit und tut sich auf seine
kindische Weltfremdheit mit abstoßender Selbstgefälligkeit etwas zugute.
Er ist ein brillanter Gesellschafter, aber zugleich ein unangenehmer
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64 Der literarische Essay.
Recht spricht Barnette Miller von „seiner wunderbaren
Fähigkeit der Freundschaft^, 9 ^^ H:unt die geistigste aller
Neigungen nennt Er war der Entdecker und Förderer
Eeats', nahm ihn in sein Haus und war brfiderlich um ihn
und seinen Dichterruhm besorgt, bis ein taktloses Versehen
die dauernde Entfremdung des Überempfindlichen zur Folge
hatte. In seinem Alter hat er ebenso liebevoll Browning
in die Literatur eingeführt
Seine Freundschaft für Shelley beruhte auf der Über-
einstimmung maßgebender Lebensanschauungen. Shelley,
„der Freund der Freunde", wie er ihn nennt, hatte ihm
seinerseits während seiner Haft „ein fürstliches Anerbieten^
gemacht, das er damals ablehnte, in der HofEnung, mit
eigenen Mitteln auszukommen. Späterhin, als immer neue
Verlegenheiten sich einstellten, trug er kein Bedenken,
von Shelley im Laufe eines Jahres die zu dessen Ein-
kommen in keinem Verhältnis stehende Summe von 1400 if.
anzunehmen — ein Opfer, das bei Hunts gänzlicher Un-
fähigkeit hauszuhalten selbstredend völlig vergeblich war.
Hunt seinerseits aber hat zu Shelley gehalten in dessen
schwerster Zeit; in einer Zeit innerer und äußerer Krisen,
in der Mut dazu gehörte, sich öffentlich zu dem Verfehmten
zu bekennen. Die Liebe zu Shelley war für Hunt das
Schmarotzer und ein Kalfakter. Sein bezauberndes Freisein von aUer
Pedanterie ist, genau besehen, Prinzipienlosigkeit , krasser Egoismus,
läppische Phantastik. Skimpole ist eine Steigerung von Leigh Hunts
gefährlichen Veranlagungen in ihr Extrem, unter Ausschaltung seiner
guten und herrlichen Eigenschaften. Der Gesamteindruck beider Ge-
stalten ist ein durchaus entgegengesetzter. Hunt nimmt als eine Per-
sönlichkeit von lauterster Liebenswürdigkeit bei all seinen Mängeln fiLr
sich ein; Skimpole stößt bei all seiner Begabung als ein windiges,
Ja ehrloses Individuum ab. Er ist eine Menschenfrat^e, die im besten
FaUe fUr Hunts Earrikatur gelten kann.
0 S.4.
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Der literarische Essay. 65
Haß nnd der Gipfel aller Neigung, deren er sich fähig
fohlte. Er sagt in bezng anf Eeats: „Ich konnte ihn nicht
so innig lieben wie Shelley. Das war unmöglich. Aber
meine Neigung für ihn stand nur der nach, die ich für »das
Herz der Herzen« hegte.^0 Shelley blieb für Hunt das
Ideal, der Lichtpunkt im Leben. Sein seraphisches Äußere
erinnerte ihn an Johannes den Täufer. In seinem Wesen
fand er eine Ähnlichkeit mit Schiller. Lange nach Shelleys
Tode besteht seine Hauptfreude an der Tragödie A Legend
of Florence darin, daß Shelley dasselbe Thema in einem
Gedichtfragment behandelt und er gewissermaßen durch
diesen Berfthrungspunkt noch einmal mit ihm vereint sei.
1844 schreibt er: „Ich kann seinen Namen nicht aus-
sprechen, ohne daß liebe und Dankbarkeit mich hin-
rissen. Ich freue mich, an seinen Sorgen teilgehabt und
damals durch ihn des Leides wie des Glückes teilhaftig
geworden zu sein. Und denke ich an einen künftigen
Znstand und an den großen Geist, von dem ein solcher
erfBllt sein muß, so ist eines der ersten Gesichter, das zu
erblicken ich in Demut hoffe, das jenes gütigen, leidenschafts-
YoUen Mannes, durch dessen Umgang mir der Titel eines
Freundes Shelleys ward."») In späteren Jahren schrieb er
einmal unter der Last drückender Sorgen, die ihm zwei miß-
ratene £inder bereiteten, an einen Freund: „Fragen Sie, wie
ich das alles ertragen kann, so antworte ich Ihnen, daß ich
die Natur und die Bücher liebe und an die Fähigkeiten
des Menschengeschlechts glaube. Ich habe Shelley gekannt
und habe meine Mutter gekannt"
1821, da Leigh Hunt krank, überarbeitet, ohne Brot-
erwerb, wieder einmal ganz auf dem Trockenen und seine
>) Äutohiography Kap. XYI, 268.
*} Imagvnoition and Fancy 280.
Ottehiehte der ea^fliaehen Bomantik n» 1. 5
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66 Der iiterariscfae Essay.
Frau seit Jahren schwindsüchtig war, regte Shelley den
Plan an, Hnnt solle nach Italien übersiedeln und als dritter
im Bunde mit ihm und Byron die zu gründende Zeitschrift
The Liberal redigieren. Mit Enthusiasmus ergriff Hunt den
Vorschlag. Shelley sandte das Reisegeld, dessen größerer
Teil höchst wahrscheinlich von Byron entlehnt war. Aber,
wie alle unpraktischen Menschen, hatte Hunt Pech. Die
Reise, die er mit der brustkranken Marian und seinen
sieben Kindern im November antrat, mufite nach unsäg-
lichen Strapazen bereits in Dartmouth abgebrochen werden,
wo er vier Monate liegen blieb. Die Seefahrt um
Spanien herum war eine Odyssee. Aber Hogg scherzte,
daß Hunt auf dem Landwege ebenso lange gebraucht
hätte, denn er würde sich vermutlich aufgehalten haben,
alle Gänseblümchen am Wegsaum zwischen Paris und Pisa
zu pflücken.
Am 1. Juli 1822 landete er in Livomo. Am 3. fand
Shelley sein Grab in den Wellen. Hunts Schmerz um
„den Freund mit dem göttlichen Geist, den Freund des
Weltalls^, >) war tief und dauernd und in jedem Sinne
gerechtfertigt. Mit Shelley schwand die treibende Kraft,
der gute Genius seines italienischen Unternehmens und jenes
Glied des Dreibundes dahin, das allein zwischen den beiden
andern hätte vermitteln können. Byron gegenüber fehlte
Hunt, bei der diametralen Verschiedenheit ihrer Naturen
und dem Abstände ihrer sozialen Stellung, die Möglichkeit
des Verständnisses. Im Anfange ihrer Bekanntschaft hatte
Byrons ungezwungene Haltung, sein auf gleich und gleich
gestimmter Ton, Hunt geschmeichelt. Er ließ sich in
») Vgl. B. Mmer 73.
>) An Horace Smith, 25. Juli 1822.
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Der literarische Essay. 67
naiver AaSerachÜassmig der gesellschaftlichen Form ver-
leiten, ihn zu erwidern nnd empfand es nun als Hochmut,
daß Byron gegen seine Vertraulichkeit den Lord hervor-
kehrte. In den sechs Jahren der Trennung hatte sich
die Eigenart beider verschärft, und Takt war Hunts starke
Seite nicht. Schon an der Widmung der Story of Rimini
in einem Tone der Kameradschaftlichkeit, den Hunt selbst
später töricht genannt^ 0 hatte der Dichterlord entschiedenen
Anstoß genommen. „Es gab keinen einzigen Punkt, Aber
den Byron und Hunt gleicher Meinung waren^, sagt
Trelawney. Die fortwährenden Reibungen wurden durch
die Frauen verschärft Marian Hunt, von dem Stolze des
englischen Bflrgertums getragen, verhielt sich ablehnend
gegen die Gräfin Guiccioli. Auch Byron stand nicht in
ihrer Gunst. Er seinerseits empfand sehr bald einen be-
greiflichen Überdruß an der Belastung seines Haushaltes
— die Hunts waren im Untergeschoß des Palastes Lan-
franchi untergebracht — mit einer zahlreichen, keines-
wegs rücksichtsvollen Familie. Er schildert die Kinder
schmutziger und bösartiger als Taos. Hunt bekam bald
Byrons unverhohlene Abneigung, bald seine herablassende
Gönnerschaft zu schlucken. Er erklärt, mit dem Wunsche
gekommen zu sein, Byron zu lieben, aber sein Enthusiasmus
sei zurückgewiesen worden. Man hätte ihn gleichzeitig
verpflichtet und beleidigt Dazu kam die Enttäuschung,
die der Liberal bereitete. Er hatte mit der ersten
Nummer glänzend eingesetzt Sie brachte Byrons Vision
ofjudgement — für das John Hunt neuerdings eine Ai^klage
und eine Geldbuße erlitt — und Shelleys Fragment der
Fanstobersetzung; der Best war Füllsel, das Hunt bei-
*) Lord Byron and Same of hts Contemporaries 82.
6*
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68 Der literarische Bssaj.
steuerte. In der zweiten Nummer erschien Byrons Heaven
and Earih in der dritten The Blues^ in der vierten und
letzten seine Übersetzung des Margante. In dieser Nummer
beging Hunt die Taktlosigkeit, zwei lange satirische
Gedichte im Stil und Metrum des Don Juan abzudrucken,
The Bogs (Die Hunde) und The Book of Begmnings
(Das Buch der Anf&nge), eine Nachahmung, die einer
Biyalit&t gleichsah und als solche eine Selbstfiberschätzung
bedeutete. 1) Byron, dessen Interesse von weittragenderen
Dingen in Anspruch genommen war, zog sich vom
Liberal zurück, der seinen Erwartungen nicht entsprach.
Leigh Hunt war krank, verstimmt und außerstande,
etwas zu leisten. Im Juli 1828 segelte Byron nach
Griechenland und die Hunts zogen von Genua nach
Florenz, vermutlich weil er die Reisespesen nach Elngland
nicht aufbringen konnte. Von seinem Gesichtspunkte aus
hatte ihn Byron im Stiche gelassen. Sein Freundschafts-
begriff machte das Annehmen weitgehendster Hilfeleistungen
jeder Art zu einer Äußerung des Vertrauens und somit zu
einer Sache der Selbstverständlichkeit, die ffir den Emp-
fangenden keinerlei Verpflichtung bedeutete. Hunt war
nicht habgierig. Er weigerte sich, ünterstfitzungen an-
zunehmen, die dem Spender ein Opfer auferlegten. Es ist
bezeichnend, daß z. B. gerade Mary Shelley von seinem
„wirklichen Zartgefühl in Geldangelegenheiten^ spricht^)
Aber diese Freundschaftstheorie verleitete ihn dennoch,
auch materiell desto höhere Forderungen an einen Freund
zu stellen, je höher er ihn schätzte. Byron hatte, seiner
Meinung nach, nicht genug ffir ihn getan.
1) MonkhouBe 164.
■) Correspondence n, 11.
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Der literariflche Essay. 69
Daß Hants Lage in Italien mitunter eine verzweifelte
sein mochte, liegt auf der Hand. Er war viel zn sehr
eingefleischter Londoner, um sich nicht an jedem andern
Puikt der Erde, und w&re es der paradiesischste, im Exil
zu fflhlen. Für Italien gebrach es ihm an wahrem Ver-
ständnis. Nur ansnahmsweise begeistert ihn ein Eindrack,
z. B. der Campo Santo in Pisa. Im allgemeinen sind
seine Letters fram Abroad (Briefe ans der Feme), die
in dem 1823 gegründeten Literary Examiner erschienen,
oberflächliche, von Heimwehklängen erfüllte Beiseschilde-
nmgen, in denen die beständigen Parallelen zwischen
Italien nnd England unendlich zugunsten des letzteren
ausfallen, und der italienische Ort gewöhnlich nur der
Ausgangspunkt f&r einen behaglichen Exkurs über Londoner
Erinnerungsstätten und ihren Zauber bildet (Ott fhe Suburbs
of Gema and fhe Country about London. Über die Vorstädte
Genuas und die Umgegend von London). In der seligen
Stille Majanos bedarf er, um die rechte Arbeitsstimmung
zn finden, des Wunschhfltleins, das ihn mitten in das
auf dem klasdschen Boden von Covent Garden wogende
Menschengewühl versetzen muß. So entstehen die Aufsätze,
die später (1874) als The Wishing (Jap Papers (Wunsch-
hntleinaubätze) gesammelt erschienen: The Town. Its
Memorials, Characters and Events (Die Stadt Ihre Denk-
würdigkeiten, Charaktere und Ereignisse), 1848; und Men,
Warnen, and Books, A SelecHon of Sketches, Essays, and
Orüical Memoirs from his Uncoüected Prose Writings (1847).
1825 kehrte Hunt endlich — diesmal zu Lande — mit
seiner Familie, die sich in Italien um ein Söhnchen vermehrt
hatte, nach England zurück. Er selbst nennt den Augen-
') Byron and Ma Contemporaries 518.
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70 Der literarische Essay.
blick der Heimreise einen gesegneten. Allein er war es
nnr in bedingtem Sinne, denn die Sückkehr zeitigte eine
bittere Fmcht des italienischen Aufenthaltes. Der Verleger
Colbum hatte ihm die Eeisemittel als Vorschuß auf
ein für ihn zu schreibendes Buch mit biographischer
Einleitung vorgestreckt. Dieses erschien 1828 unter dem
Titel: Lord Byron and Same of his Contemporaries. Wifk
Becollections of the Aufhor's Live and of his Visit to Itdly.
(Lord Byron und einige seiner Zeitgenossen. Nebst Er-
innerungen aus dem Leben des Verfassers und an seinen
Besuch in Italien). Das Werk gab Hunt einem nicht un-
berechtigten Sturm von Vorwürfen und Angriffen preis. Er
mufite in Italien Unsägliches gelitten haben, daß die
Erinnerung an das Durchlebte seine sonst elastische und
nichts weniger als nachträgerische Natur noch Jahre
nachher so tief und so bitter erregte. Byron und Italien
haben demoralisierend auf ihn gewirkt, i) In diesem
einen Falle sinkt er auf das Niveau Skimpoles herab.
Unter dem Verwände der Wahrheit, die dem Freien
zieme, läßt er der jahrelang angehäuften Verstimmung
und Entrüstung die Zügel schießen. Er empfindet sich
als einen Mißhandelten, und der Umstand, daß er in
Byron den Urheber dieser Mißhandlung erblickt und
erblicken will, macht ihn blind für seine Verpflichtung
gegen den Mann, in dessen Hause er ein Jahr als Gast
geweilt, blind für die Größe des Abgeschiedenen, den er
als eine selbstische, knickrige, treulose Seele und nichts
weiter, hinstellt. Das Buch ist auf einen Ton gehässiger
und überlegener Ironie gestimmt. Die unverkennbare
Absicht, Byrons Handlungsweise ins Lächerliche zu ziehen
») Monkhouse 181.
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Der iiterazische Ebsaj. 71
nnd seine Impulse übel ansztilegen, machen es zu einer
yerstimmenden Lektflre.
Selbst wo Hunts naive Wahrheitsliebe auf der nächsten
Zeile die eigene Behauptung durch Tatsachen widerlegen
muB, schiebt er seinem Opfer gemeine oder unfreundliche
Motive unter. So schilt er Byron geizig — allerdings
unter der den Leser verwarnenden Vorausschickung, dafi
er, Hunt, nicht „jenen Abscheu vor Verpflichtungen hege,
der in Geldsachen für besonders fein gelte^. Sodann erzählt
er, Byron hätte die Heise und die „einfache Möblierung''
sowie die Übersiedelung von Pisa nach G^enua bestritten,
Hunt, habe seine Börse benutzt und überdies noch 100 €f.
erhalten.^) „Weiter nichts!"
Er wirft Byron vor, sich vom Liberal zurückgezogen,
ja ihn geschädigt zu haben, nachdem seine Erwartung
großen Gewinnes und Erfolges getäuscht ward. Gleich
darauf berichtet er, Byron hätte sich geweigert, ein
Honorar vom Liberal anzunehmen, ehe die Einnahmen
des Blattes eine bestimmte Höhe erreicht haben würden.
Er wirft ihm Mangel an Großmut vor, ja, er schilt ihn
einen Sklaven niedriger Leidenschaft, voll Neid auf jeden
Vorzug and«*er. Sein Aristokratentum sei äußerlich ge-
wesen, seine Gesinnung weit weniger vornehm und weniger
empfindlich gegen Gemeinheit als die Shelleys. Leere
Buhmsucbt nennt Hunt die Triebfeder von Byrons Taten,
andere kränken seine Hauptfreude, materiellen Egoismus
die Grundstimmung seines Geistes. Allein sein Ehrgeiz sei
noch größer gewesen als sein Geiz, was das Höchste besagt.
Hierdurch hätten umstände ihn in eine andere Richtung
gezwungen, in der er jedoch niemals heimisch ward.
9 Galt schätste Byions Gaben auf 500 U.
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72 Der liteiariache Essay.
Sein vorgebliches Freisein von Standesvororteilen, seine
geistige Überlegenheit wird als eitles Geflanker hingestellt
nnd selbst die griechische Untemehmong resüos anf dieses
Niyean herabgedr&ckt.
Ohne sich bewnfiter tatsächlicher Lügen schuldig zu
machen, gibt Hunt sich doch bis zur Kritiklosigkeit dem
Übelwollen hin, das die Schwächen eines Gegners ins grellste
licht stellt und über alles Gute stiUschweigend hinwegsieht
Hazlitt nannte Byron einen erhabenen Gecken. Hunt ließ
das „erhaben^ weg und redete sich in Feuer bei d^n
Bestreben, Byron nicht nur als Gecken, sondern als einen
abergläubischen, beschränkten Narren hinzustellen. Selbst
Originalität wird ihm abgesprochen, selbst seine Schönheit
und seine geselligen Gaben. Das Verletzendste an dem
Buche ist, wie schon Monkhouse hervorhebt, 0 die Klein-
lichkeit seines Standpunktes.
Es ist eine Art fast heimtückischer Anschwärzung, die
in Hunts Leben völlig vereinzelt dasteht, ja die zu seiner
ganzen, von Menschenfreundlichkeit, Versöhnlichkeit und
feiner optimistischer Heiterkeit beseelten Natur in schärfstem
Widerspruch steht. So zahlreich Byrons Gegner in Eng-
land waren, Leigh Hunts Buch erregte dennoch lauten
Unwillen. Er bedauerte — wieder zu sich gekommen — es
geschrieben zu haben, und tat sein Bestes, die Feindselig-
keiten auszulöschen. In A Saunier through (he West End
(Wanderung durch das Westende), 1847, nimmt er die
Gelegenheit wahr, an Byrons letztes Londoner Wohn-
haus eine Betrachtung zu knüpfen über den genialen
Dichter, den jedermann kenne, und den freundlichen, edlen,
durch ungünstigsteJugendverhältnisse verdorbeuenMenschen,
0 S. 181.
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Der literarische Essay. 73
der nicht von jedermann gekannt sei. Ein öffenüiches
Bekenntnis seines unrechtes legte er in der Äutoliography
(1850) ab.
Diese Arbeit, in der Hunt sich wieder ganz von
seiner menschlich liebenswftrdigen Seite, verklärt und
gel&ntert dnrch die Beife des Alters zeigt, gehört zu den
beliebtesten ihrer Art. Carlyle nennt sie ein frommes,
hochsinniges, durch und durch humanes Buch, das uns das
Bild einer begabten, sanften, standhaften und tapferen
Seele gebe. Sie erk&mpfe sich ihre Bahn durch die Wogen
der Zeit und gehe nicht unter, wenn sie gleich in Gefahr
sei; könne nicht untergehen, sondern siege und lasse
eine leuchtende Spur zurück. 0 Thomton Hunt erblickt
die Eigenart der Selbstbiographie darin, daß sie weniger
eine Erzählung der Geschehnisse sei als der Eindrücke,
welche diese hinterließen. Zu einem erschöpfenden Lebens-
bilde fehlen ihr bei aller behaglichen Breite zwei wichtige
Kapitel, die Hunt ausschaltet: die Politik und die Liebe.
In der Schilderung der Reiseerlebnisse vermißt man das
individuelle Moment; in der Charakteristik seiner Bekannten
die persönliche Belebung, im Bericht der Schulzeit das
lächelnde Niederblicken auf die Stürme im Glase Wasser
von der Höhe des Humors.
Hunts Lieblingsbuch unter den eigenen war The Beligion
of ihe Heart. Ä Manual of Faith and Duty (Die Beligion des
Herzens. Ein Leitfaden des Glaubens und der Pflichten), 1853.
Es erwuchs aus einer Arbeit früherer Jahre, Christianism,
or Belief and Unbelief Beconciled; being Exerdses and
Meditations (Christentum oder Glaube und Unglaube ver-
söhnt. Übungen und Betrachtungen), das, in Italien in
0 An Hunt, 17. Jnxu 1860.
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74 Der literarische Essay.
einer Zeit der Bedrängnis geschrieben, 1832 in nur 57
Exemplaren für Frennde gedruckt ward. Es ist eine
Sammlung von Andachtsubungen und Erbauungsreden für
mannigfaltigste Gelegenheiten, den äußeren Anlässen wie
Seelenstimmungen angepaßt; für das Eürwachen und Schlafen-
gehen, für Gewissenszwiespalte und Sorgen, für Todesfälle
und Krankheiten. Hunt will den sogenannten „Religions-
losen'', die dennoch ein tiefes Gefühl der Frömmigkeit im
Herzen tragen und voll natürlicher Pietät gegen alle Dinge
sind, die ersehnte Möglichkeit einer eigenen Religionsform
bieten, die sich mit den besten Vorstellungen moralischer
Gutheit verträgt
In der Religion des Uereens sind die Andachten des
Christianism zu einer Art Liturgie ausgearbeitet, religiös
empfundene Rhapsodien für die traurigen und heiteren
Wechselfälle des Lebens. Hunt ist eine fromme Seele.
Sein Bekenntnis lautet: Das Herz ist nicht schlecht und
Gott hat seine Religion ins Herz geschrieben. Religion ist
Gewissen, verbunden mit dem Glauben an dessen göttlichen
Ursprung. Unter den großen „Erweckem des Gewissens"
werden Sokrates, Homer, Franziskus von Sales, Thomson,
Wordsworth, Coleridge, Eeats, Shelley und Tennyson
genannt In The Religion of the Heart, deren Abfassung
Hunt 1852 Trost gewährte in dem nie zu verwindenden
Gram über den Verlust eines trefflichen Sohnes, der ihm ein
Freund und Gefährte wai*, offenbart er sich als ein vom
Glauben durchdrungener Bekenner der christlichen Ethik,
bei spröder Zurückhaltung gegen das christliche Dogma.
Nicht der Glaube, sondern die Barmherzigkeit ist ihm das
Prinzip der Religion. Mit dem ihm eigenen Optimismus
hält er die religiösen Wirren der Gegenwart für die letzte
Phase des Überganges zu einer neuen Glaubensform, die
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Der literarische Essay. 75
mit sich, der Welt und der Gottheit in Frieden ist und
die Natur und den Frohsinn nicht untergräbt. Seine ehrliche
Duldung ließ ihn mit derselben liebe und Bewunderung
alle aufrichtigen, ernsten, wohlwollenden Menschen, gleich-
viel welchen Bekenntnisses, umfassen. Nur für die
mystische Größe mancher Genien, z. B. Dantes, war ihm
bei seinem entschiedenen Aufklärungsstreben das Ver-
ständnis versagt. 1)
Hunts ethische Lebensregeln beruhen auf dem ihm
mit Blake und Shelley gemeinsamen Grundsatze, daß die
gesunde und darum beglückende Betätigung unserer Fähig-
keiten, insofern sie der Moral nicht widersprechen, der
Selbstzweck des Seins und der Kern aller sozialen Be-
strebungen sei Er schrieb (Juli 1819) an Shelley: „Ich
wüßte nicht, daß eine Seele mit dem Menschen geboren
wird, aber es dünkt mich, als erlangten wir eine Seele,
manche später, manche früher. Und haben wir sie erlangt,
dann gewinnt unser Auge seinen Blick, unsere Heiterkeit
gewinnt Sympathie und unser Sinnen die Sehnsucht und
ernste Schönheit, die zu sagen scheint: Mag unsere sterb-
liche Hülle fallen, wenn sie will; mögen unser Stamm,
unsere Blätter dahingehen — unsere Blüte schoß empor, in
eine unsterbliche Luft Sie werden sagen, das sei Poesie
und kein Aif^ment Aber nun überkommt mich eine andere
Phantasie, die auch hier überzeugen möchte, die Idee, daß
Poesie das Ai^ument einer höheren Sphäre sei.''
Hunts letzter Lebensabschnitt spann sich äußerlich
ereignislos ab. Nahrungssorgen und eine zur Überproduktion
neigende Fruchtbarkeit bieten in leichtem Auf und Ab ein
fast immer gleiches Bild. Er selber findet zwar einmal, zu
0 Vgl Atfiobiography XXYI, 434.
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76 Der literaruche Essay.
viel zn schreiben — ans Eigenliebe oder ans Notwendigkeit
— sei der Fehler jedes Zeitalters, ^) doch ist er ihm jeden-
falls in stärkerem Grade verfallen als viele andere.
„Niemals h&tte es einen glfickUcheren nnd makelloseren
Menschen gegeben, würden seine Einnahmen immer hin-
gereicht haben, seine Rechnungen zu bezahlen I^ 2) In den
dreißiger Jahren ging es ihm besonders schlecht „Ich höre
nicht an meine Tür klopfen", schreibt er 1832, „ — eine oder
zwei Arten zn klopfen, die ich kenne, ausgenommen, — ohne
daß ich glaube, es komme jemand, mich von meiner Familie
wegzuholen." Einmal wird er vom Mittagessen abberufen
durch einen Mann, der einen Pfändungsauftrag wegen
40 ShiUingen in der Tasche hat.
Seine Zeitschriften hatten fast alle kein langes Leben.
The Chat of the Week (Wochengeplauder), 1830, fristete
nur ein zweimonatliches Dasein. Hunt konnte die damals
eingeführten Zeitungsstempel nicht bezahlen. Das Tage-
blatt The Tattier (Der Plauderer) 1830—1832, schrieb er
fast ganz allein, so daß er der Arbeit schier erlag. 1834
gab er unter Landers Mitarbeiterschaft The MonMy
Repository (Monatsmagazin) heraus, von 1834 bis 1836
Leigh Hunfs London Journal , das seit 1835 mit The
FrinUng Mashine (Die Druckerpresse) vereint war. Dieses
Blatt brachte viele seiner Essays, die sich später als die
volkstümlichsten erwiesen. Aber er hatte kein Geld für
Reklamezwecke und so ging es wieder ein. Noch 1850
machte er einen neuen Versuch mit Leigh Hunfs London
Journal, A Misceüany for the Cultivation of the Memorable,
the Progressive, and the Beautiful (Sammlung vermischter
^) ImaginaHon <xnd Fancy 206.
>) Monkhouse 117.
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Der literarische Essay. 77
AnMtze zur Pflegte des Denkwürdigen, des Fortschritts
und der Schönheit). Aber anch dieses Blatt ging 1851
wieder ein.
1844, als Shelleys Sohn Percy das Majorat antrat,
setzte er, in Erfüllung des letztwilligen Wunsches seines
Vaters, Hunt eine Jahresrente von 120 A aus, und 1847
erwirkte Macaulay ihm eine jährliche Unterstützung von
200 fiC aus der ZiyiUiste. Damit war Hunt der Not entrückt,
wenn er es auch nie zu bürgerlichem Behagen brachte.
Emsiger Schriftstellerei blieb er bis ans Ende ergeben. Die
Sucht oder die Notwendigkeit, jedes Abschnitzel der Arbeit,
ja der Lekttlre für die Bücherproduktion auszuschroten,
beleuchtet am grellsten sein Beadings for Baütcays, or
Aneedotes and oiker Startes, BeflectionSy Maxims, Cha-
raderistics, Passages of Wit, Humaury and Poetry, etc.
TogeAer wiih Points of Information on Matters of General
Interesty collected in (ke Cowrse of his own Reading (Eisen-
bahnlektüre oder Anekdoten und andere Erzählungen, Re-
flexionen, Maximen, Charakteristiken, Witziges, Humo-
ristisches und Poetisches, usw. Nebst Belehrungen über
Dinge von allgemeinem Interesse, während der Lektüre
gesammelt), 1849. Der vorgebliche Zweck des Buches ist,
eine für den speziellen Fall der Eisenbahnfahrt bestimmte
ond geeignete Lektüre zu bieten, deren Augenmerk
Abwechslung, Kürze und fesselnde Unterhaltung sein soll
Der wahre Zweck ist: ein Buch mehr.
Hunt gab eine Beihe von Sammelwerken heraus. Drei
Bände Tales of Early Ages (Qeschichten aus alter Zeit),
1832, fünf Erzählungen aus den ersten fünf Jahrhunderten
des Christentums, eine römische, eine giiechische, eine
nordische, eine orientalische, eine keltische. Die zweite,
Theodore and Tüphosa, or The Olympic Games (Theodor
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78 Der literarische Essay.
und Tilphosa oder Die olympischen Spiele), mit außer-
ordentlicher Anmut erzählt, ist weitaus die reizvollste.
1840 erschien eine Sammlung Essays unter dem Titel:
The Seety or Commonplaces refreshed (Der Seher oder
Abgedroschene Geschichten wieder aufgefrischt) mit dem fOr
Hunt charakteristischen Motto: Liebe verleiht dem Auge
einen köstlichen Blick. Das Jahr 1843 brachte One Hundred
Bomances of Real Life, sdected and annotated, comprising
Historical and Dotnestic Facts Illustrative of Human Naiure
(Hundert Bomane aus dem wirklichen Leben, ausgewählt und
mit Anmerkungen versehen, nebst historischen und Familien-
ereignissen, die ein Licht auf die menschliche Natur werfen),
eine Auslese von Erzählungen wirklicher Begebenheiten
aus fremden Autoren. Die besten sind — selbstredend
mit unverhülltem Abzielen auf eine Moral — der von
Charlotte Smith besorgten Auswahl aus dem Pitaval
entnommen.
1844 veröffentlichte Hunt eine Sammlung eigener
literarischer Essays, Imagination and Fancy (Einbildungs-
kraft und Phantasie), die ihn als Kritiker auf der Höhe
seiner Kraft und Reife zeigt; 1846 Wü and Hunumr
(Witz und Humor), eine durch Beispiele belebte Geschichte
des Witzes, der ein nicht sehr glücklicher Illustrative
Essay on Wit and Humour (Erläuternde Abhandlung über
den Witz und Humor) vorausgeschickt ist. Hunt stellt
in geschwätziger Ausführlichkeit zahlreiche Definitionen
des Witzes und Humors nebeneinander, ohne eine eigene
befriedigende Erklärung zu geben. Daran schließt sich
eine Chrestomathie des Humors und Witzes von Chaucer
bis Pope mit einleitenden Charakteristiken der Dichter
aller beigebrachten Proben. Ä Jar of Honey from Mount
Hyhla (Ein Honigtopf vom Berge Hybla), 1848, knüpft an
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Der literarische Essay. 79
einen kleinen blauen Tiegel mit der Aufschrift „Sizilianischer
Honig^ im Schaufenster eines Ladens in Picadilly einen
Grandriß der Topographie und Mythologie, Geschichte und
Literaturgeschichte Siziliens. Von der sizilischen Ekloge
schweift Hunt zum englischen und schottischen Pastoral-
gedicht ab und kehrt nach diesem Exkurse im zehnten
EiQiitel zum Aetna und seinen Bienen zurück. A Jar of
Haney ist insofern ein fCbr Hunt typisches Buch, als es
seine Fähigkeit yeranschaulicht, von geringfügigsten Dingen
Weltgedanken und Menschheitsgefühle abzuleiten. Wenn
man den kleinen blauen Topf in die Sonne hält, erscheint
em blendender Lichtfleck inmitten seiner Wange, so recht
wie ein leuchtendes Lachen. Da steigt Theokrit mit all
seiner Poesie vor Hunts Blick empor, Sizilien, der Hybla
ond aUe anderen Herrlichkeiten und großen Männer
Italiens.
Table Talk. To which is added Imaginary Conversation
of Pope and Swift (Tischgespräche. Nebst imaginären
Gesprächen von Pope und Swift), 1851. Die Tischgespräche
erschienen, ursprünglich unter der Chiffre Adam Fitz Adam
in dem von Leigh Hunts ältestem Sohne Thomton heraus-
gegebenen AÜas, Es sind größtenteils minderwertige lite-
rarische Abschnitzel und Spaltenfüllsel, oft nur einige
Zeilen, oft schale Anekdoten oder — was noch schlimmer
— nichtssagend oberflächliche Abfertigungen bedeutender
Persönlichkeiten, wie CatharinaH., Beaumarchais', Mozarts,
durch die Beibringung von „Charakterzügen", oder
Banalisierungen philosophischer Probleme in truistische
Zeitungslebensregeln. Ein«n Neudruck hätten sicherlich nur
die wenigsten verdient. Die Imaginären Gespräche wollen,
in Stil und Denkart die beiden Dichter, die sie vorführen
in der Art der Totengespräche wieder aufleben lassen und
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80 Der literarische Essay.
bekunden darin das literarische Geschick, das man bei
Hunt voraussetzen durfte.
A Book of a Corner, or Sdecüons in Prose and Verse
from Äuihors the best suited to that Mode of Enjoyment
Wiih Comments on Euch and a General Introduction (Eän
Buch fOi* einen stillen Winkel oder Eine Sammlung von
Poesie und Prosa der am besten zu solchem Genuß
geeigneten Autoren), 1851, ist eine Anthologie, in der die
Jugend wie der Gereifte und das Greisenalter, Hoch und
Niedrig, Stadt- und Landbevölkerung finden soll, was
jedem am besten taugt. Und dieses Tauglichste ist nicht
das Berfthmteste, sondern das uns zumeist ans Herz Gre-
wachsene aus der Literatur, nicht die größten Dichter,
denn sie erregen die Leidenschaften zu mächtig, sondern
diejenigen, die auf das Gemät und den Geschmack gedeihlich
und wohltuend einwirken.
Das Altersbild des Menschen Leigh Hunt hat uns
Hawthome in entzückter Bewunderung gezeichnet. Die
Fähigkeit, in dem jungen G^schlechte diesen Grad der
Begeisterung erwecken zu können, gibt einen Gradmesser
fflr den unvergleichlichen Zauber seiner Persönlichkeit, der
mit den Jahren zunahm. Wie Hunts ausdrucksvolles Antlitz
mit seinem Gemisch von feierlichem Ernst und Kindlichkeit
in den feinen Zügen im Alter schöner ward, so trat
in dem durch manche schwere Lebenserfahrung geprüften
Greise das jung gebliebene Herz, der in ungebeugter Frische
grünende Geist immer sieghafter hervor. 1857 verlor
er die ihm in fast fünfzigjähriger Gemeinschaft verbundene
Lebensgefährtin Marian. Er rühmte ihr nach, daß sie
alle Zufälligkeiten und Gefährdungen, denen er — wie er
es für seine Pflicht hielt — dem sozialen Fortschritt zu-
liebe, ihre geringen Habseligkeiten ausgesetzt, niemals
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Der literarische Essay. 81
eine Einwendniig entgegengestellt and in den Stfirmen des
Ungemachs so wenig geklagt wie während des Seesturmes
anf der italienischen Reise, i)
Die Klarheit seiner Altersstimmung wurde auch durch
diesen Verlust nicht getrübt Das nimmer wankende
Gleichgewicht seiner Seele, die völlige Ausgeglichenheit
seines Innern treten uns mehr und mehr als die Eigen-
schaften in den Vordergrund, die seiner Persönlichkeit ihr
Gepräge aufdrucken. Und im großen und ganzen dai*f dies
anch für seinen literarischen Charakter gelten. Er bescheidet
sich in jeder Beziehung mit den ihm gewordenen Möglich-
keiten. „Ich suche nicht nach gewaltigen Erregungen, wenn
ich sinne^, heifit es in dem Essay On the Borders ofPoeUy
(An den Grenzen der Poesie). „Mein Leben hatte ihrer genug.
Ich snche Freude und Buhe, und dank der unbesiegbaren
Jugendlichkeit meines Herzens finde ich ihrer leicht so viele
in meiner grünen Welt, als mich Biesenleid in der Welt des
Kampfes gefunden.'^ Nicht zu suchen, was ihm versagt ist —
darin besteht seine Lebenskunst. So behauptet er in der
Literatur seinen Platz, nicht als Genius ersten Banges, aber
als individuelles Talent von durchaus eigener Note, das
seiner Epoche und seinem Kreise seine Spur aufdrückt. Des-
gleichen stellt er als Mensch seinen Mann in allen Wechsel-
fallen eines langen Daseins und kann seine Selbstbiographie
mit dem herrlichen Bekenntnis schließen: „Nicht viele
können bessere Freunde gehabt haben, als ich sie besitze.
Ich bin mir nicht bewußt^ gegenwärtig einen einzigen Feind
zu haben, und nehme die Schicksale, die mir widerfahren,
böse wie gute, hin mit demselben Willen, sie für die
besten zu halten, die mir zukommen könnten, sowohl
0 Attiohuy^ajfiiy XXVI, 448.
OeBchichte der eni^liBehen Bomantik n, 1. 6
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82 Der literarische Essay.
hinsichtlich der Besserang dessen, was schlecht in mir
war, als hinsichtlich der Veredlung dessen, was gnt
gewesen ist.''
In dieser tiefen Seelenruhe wurde ihm der Ausblick
aus dem Leben leicht und heiter wie das Leben selbst.
An Charles Ollier schrieb er im Dezember 1853: „Die
schönen Möglichkeiten sind, gottlob, endlos.'' An De Wilde
im Oktober desselben Jahres: „Gott macht mir das Eflnftige
noch schöner, noch wünschenswerter, obzwar ich, weiß der
Himmel, diese inmier schöne, wenn auch verwirrende Erde
nicht verschmähe."
Das Ende seines tätigen Lebens war ein sanftes Aus-
klingen. Er starb am 28. August 1859 in einem Yorstadt-
häuschen in Putney. Sein schlichtes Grabdenkmal auf dem
Friedhofe von Eensal Green schmficken als vollwertiges,
den Inbegriff seiner Persönlichkeit zusammenfassendes
Epitaphium die Worte seines Abu Ben Adhem:
„Schreib mich auf als einen, welcher seine BrQder liebt"
Werke von Leigh Hunt.
1801 Jfivenilia^ or Ä CoUecUon of Poems written hetween tJie
Age of twelve and sixtem.
1806—07 Classic TaUs, Serious and Lhely. With Criticdl
Essays on the Merits and BeputaUon of ihe Äuthors.
1807 OriUcal Essays on the Performers of the London Theaters^
tncludmg General Ohservations on the PracUce and
Genius of the Stage.
1809 An Ättempt to show theFolly and Danger of MeOiodism.
1810 Ä Beformist's B^Jy to the Ec^hurgh Beview.
1812 The Prince of Wales versus the Examiner. Ä Füll Beport
of Hie Trial of John and Leigh Hunt On an Inform-
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Der literarische Essay. 83
aUan fiJed ex Officio ly the Attomey Generah Decided
hy Lord Ellmborough and a Special Jury m the King*8
Bench, Weshninster, an Wednesday Ä Dec, 1812, To
wMch are added OhservaUons on the Trial by the Editor
of ihe Excmwner.
1814 The Feast of the PoetB.
1815 The Descent of Liberty.
1816 The Story of Bmmi.
1817 The Bound Table, Ä Oollection of Essays by William
Haelitt and Leigh Hunt (Neuansgabe von W. C. Haz-
litt 1871.)
1818 Foliage. Poems Original and Translated.
1819 Hero and Leander and Bacchus and Äriadne,
1819 — 21 Ä Tale for a CJnmney Corner, and other Essays
from the Indicator. (Neuausgabe von E. Ollier 1869).
1820 The Indicator (vol Z, vol II 1822).
— AmyntaSy a Tale of ihe Woods (Translation from Tasso).
1821 The Months. Descnption of the Successive BeauUes ofthe
Tear, (Neuausgabe 1897.)
1823 Ultra Orepidarius, a Satire on W. Gifford,
1825 Bacchus in Tuscany (Translation from Francesco Beddi),
1828 Lord Byron and Some of his Contem/poraries,
1832 Christiamsm, or Belief and Unbelief recondled.
— Tales of the Early Äges.
— Sir Bdlph Esher, or Ädventures of a Gentleman of the
Court of Charles II.
— The Masque of Änarchy, a Poem by P. B. Shelley.
Now first pubUshed wiih a Preface.
1834 The Indicator and Companion, a Miseellany for the Fields
and ihe Firesides.
1835 Cqptttin Sword and Captain Pen.
1837 The Blue Stockmg Bevel
1840 A Legend of Florence.
— The Seer, or Commonplaces refreshed.
— The Dramatic Works of Richard Brinsley Sheridan, With
a Biography and CriUc STcetch.
6*
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84 Der literarische Essay.
1840 The DramaUc Wwks of Wycherleif, Ckmgreve, Va$ibrough,
and Farquhar. With BiogrofMcal and OriUeal Notes.
— The Tawn. Its Memorials, Characters and Events (Nea-
ansgabe in Ihe World'a CUusics 1901),
— jReadmgs far Bailways.
1841 The Poems of Chaucer, modemised hy B, H. Home, Leigh
Hunt, and Ofhers.
1842 The Falfrey.
1843 One Hundred Somances of Beal Life, selected and
annotated. (Nenausgabe 1888.)
1844 Imagination and Fancy. (Nenansgabe von Edmund Gosse
in The Bed Letter Library 1907.)
1846 Wit and Humour, selected from ihe EngUsh Poets,
— Stories from the Itälian Poets. With Lives of the Writers
(Neuausgabe Universal Library 1905).
1847 Men, Women, and BooTcs; a SelecOon of Sketches, Essays,
and Oriücal Memoirs from the Author's Uncollected
Prose Writings, (Neuausgabe 1876.)
1848 A Jofr of Honey from Mount Hybla. (Nenansgabe 1906.)
1849 Ä Book for a Corner, or Selections in Prose and Verse.
1850 The Autobiograiphy. (Neuausgabe von Roger Ingpen 1903.)
1851 T<Me Talk. To which are added Imaginary Conversations
of Pope and Swift
— Lovers* Amaeements. {London Journal, Febrnar nnd März.)
1853 The Bdigion of the Heart. A Manual of FaiGi and
Duiy.
1865 The Old Court Suhurh, or Memorials of Kensington,
Begal, Oritieal and AnecdoUcäl. (Nenansgabe yon
ADobson 1902.)
— Stories in Verse.
— Beaiumont and Fletcher, wi&i Notes and Preface.
1819, 1832, 1844, 1867 Poetical Works.
1860 Poetical Works, edited hy Thomton Hunt (Von J.H.Paning
neu herausgegeben 1889.)
1861 A Saunter (hrough the West End.
1862 The Correspondence of Leigh Hunt, edited by his EJdest Son.
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Der literarische Essay. 85
1870 Ä Bay hy the Fire, and Other Papers JUtherto uncollected
(edited hy /. E. B.).
1871 Memoir of Shelley (The FoeUcal Works of P. B. Shelley).
1879 The Wishing Cap Peters. Now first collected.
1887 Essays hy Leigh Hunt InUroducUon hy Arthur Symons.
(Nenansgabe 190B.)
1891 Essays hy Leigh Hunt, edited hy B.B, Johnson (TempU
Library).
Werke fiber Leigh Hunt.
1825 William Hazlitt, Tlie Spirit of the Age.
1868 Alexander Ireland, lAst of the Writings of HazUtt
and Leigh Hunt.
1869 Nathaniel Hawthorne, Our Old Home.
1877 Barry Cornwall, An Autöbiographical Fragment
1878 Launcelot Gross, Characteristics of Leigh Hunt as
exMhited in Leigh HunVs London Journal. With
Illustrative Notes.]
1890 George Saint sbnry, Essays in EngUsh Literature
1780—1860.
1891 0. Kent, Leigh Hunt as Poet and Essayist
1893 GosmoMonkhonse, Life of Leigh Hunt (Oreat Writers).
1896 Reginald Brimley Johnson, Leigh Hunt
— Edward Stör er, Einleitung zn Leigh Hnnts Werken in
The Begenfs lAbrary.
1910 Barnette Miller, Leigh Hunt's Belations with Byron,
Shells, and Keats.
1912 W. F. Schirmer, Die Beziehungen zwischen Byron und
Leigh Hunt.
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Charles Lamb.
1775-1834.
Lebensabrifi.
Lamb selbst hat einmal treffend gesagt, seine Lebens-
beschreibung gehe in ein EpigrarnntO Von einer Bio-
graphie kann bei ihm nicht recht die Bede sein. Alle
äußeren Begebenheiten fehlen. Das einzige furchtbare
Erlebnis, das ihn, wie ein Verhängnis, schuldlos trifft^ steht
am Anfang seiner Bahn, oder vielmehr es greift als ein
grausiges yorbestimmendes Fatum in die Zeit vor seiner
Existenz zurück. Eine Anlage zum Wahnsinn spukte in
der Familie seines Vaters. Als Zwanzigjähriger erlitt
Lamb selbst einen vorttbergehenden und vereinzelten Anfall.
Am 27. Mai 1796 schreibt er in düsterem Qalgenhumor
seinem Schulfreunde und Vertrauten: „Coleridge, ich weiß
nicht, was für Leidensszenen du in Bristol durchgemacht
hast. In mein Leben ist in letzter Zeit etwas Abwechslung
gekommen. Die sechs Wochen, die das vorige Jahr ab-
schlössen und das neue begannen, hat dein ergebener
Diener in einem Tollhause in Hoxton zugebracht. Ich bin
jetzt einigermaßen vernünftig geworden und beiße nie-
manden, aber toll war ich, und manchen tollen Streich hat
meine Einbildungskraft mir gespielt. Sie reichten hin, einen
0 CornwaU 598.
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Der UterariBche Sssay. 87
Band zu fällen, wenn man sie mir alle erzählte.^ Coleridge
sagte Gottle, Lamb hätte sich im Irrsinn für den jnngen
Norval, eine Fignr in John Homes Tragödie Douglas (1754),
gehalten. 0
Er blickte anf die sechs Wochen seiner geistigen Um-
nachtung „mit einer Art dastem Neides zurück^, denn
während ihrer Daner hatte er viele Stunden reinsten Glflckes
gehabt „Tränme nicht davon, Coleridge, die Herrlichkeit
der Phantasie und Phantastik genossen zu haben, bevor
du wahnsinnig warst^, schreibt er am 10. Juni 1796. In
einem solchen Augenblicke erhöhter Stimmung hatte er
im Irrenhause an seine Schwester und Freundin das
Fahrende Sonnet Mary geschrieben. Mary (geboren am
3. Dezember 1764) war um zehn Jahre älter als Charles
(geboren den 10. Februar 1775), das jüngste von sieben
Kindern, von denen außer diesen beiden nur der älteste,
John (1763—1821) am Leben geblieben. Im Eltemhause
herrschten gedrückte und abhängige Verhältnisse. John
Lamb, der Vater (f 1799), stammte aus Lincolnshire
und war so arm, daß er noch als Kind nach London
geschickt wurde, um sein Brot zu suchen. Er fand es bei
einem Advokaten Salt, halb als Beamter, halb als Be-
dienter, oder richtiger als ein Faktotum, das beide Stellen
in einer Hand vereinigte. Eine gewisse heitere Veran-
lagung vermochten auch die Sorgen des Lebens nicht ganz
in ihm zu verwischen. Er war nicht ohne literarischen
Ehrgeiz. In seiner kleinen Bücherei gab es einen
Hudibras; eigene poetische Versuche — Fabeln in der
Art Gays, kleine Charakterskizzen und dergleichen — hat
er als Poetical Pieces on several Occasions (Poetische Ver-
1) Talfonrd, Sketch,
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88 Der literarische Essay.
suche zu verschiedenen Gelegenheiten) gesammelt. Aber
verhältnismäBig früh begannen seine geistigen Fähigkeiten
nachzulassen. Er verfiel allmählich in Schwachsinn ^ und
mußte 1795 seinen Posten aufgeben. Seine wesentlich
jüngere schöne Gattin Elizabeth, geborene Field, deren
Äußeres so sehr dem der Mrs. Siddons glich, daß man sie
für Schwestern hielt, entbehrte bei mancher trefflichen
Veranlagung der mütterlichen Einsicht in den Charakter
ihrer Kinder. Der hübsche, muntere, selbstbewußte John
war ihr Liebling; die unscheinbare, stille Mary verbrachte
eine einsame Kindheit, bis sie in dem jüngsten Brüderchen
einen dankbaren Gegenstand für ihre Zärtlichkeit und
Sorgfalt fand. Damals wohnten die Lambs im Advokaten-
bezirk, dem inneren Temple. Das weitläufige und melan-
cholische, ehrwürdige graue, epheuumsponnene Gemäuer,
hinter dem, wie durch einen Zauber, das lärmende Getriebe des
Londoner Citylebens weltabgeschiedener, traumumwobener
Stille weicht, war die Geburtsstätte und das Heim des
schüchternen, versonnenen Knaben. Den immei^^rünen Hof,
seinen Spielplatz, überschattete der in die Zeiten der
Templer zurückreichende runde Turm. Unter dem Maul-
beerbaum in seiner Mitte hatte der Überlieferung nach
Heinrich VIII. Anna Boleyn umworben.^) Es war noch der-
selbe Templegarten, in dem Shakespeare seine Eosenszene
{Heinrich VI., T. 1, 11, 4) vorgehen ließ. Was Charles die
Tagesschule eines Herrn William Bird in Holbom und eine
fünfjährige Studienzeit in Christ Hospital an Wissen geben
0 Aus dem Umstände, daß die Bestätdgnng von Charles' Austritt
ans Clirist Hospitali 1789, und seiner Übergfabe an die Familie von
der Mutter unterzeichnet ist, zieht Derocquigny die Vermutung, dafi
der Vater damals schon schwachsinnig war (S. 89).
•) Vgl. Kent, Menioir 5.
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Der literarische Essay. 89
konnte, war alles, was die Lambs für seine Bildung
aufzubringen vermochten. Als er 1789, vierzehnjährig,
vor einer Bem&wahl stand, waren die Möglichkeiten, die
sich ihm boten, äußerst geringfügiger Natur. Das Gebrechen
des Stottems, das ihm anhaftete, verwehrte ihm die geist-
liche Laufbahn, die Armut der Eltern ein gelehrtes Studium.
So wurde er 1792, vermutlich auf Samuel Salts Verwendung,
zweiter Buchhalter im South Sea House, wo schon der
ältere Bruder John angestellt war.
Die Mutter wurde paralytisch. Mary rieb sich mit
der Krankenpflege und angestrengter Handarbeit zum Brot-
erwerbe aut*) Im September 1796 zeigte sie Spuren
geistiger Zerrüttung. Charles ging ihretwegen zum Arzte,
traf ihn aber nicht an.^) Zwei Tage darauf, am 23. Sep-
tember 1796, geschah das Entsetzliche.
In einem plötzlich ausbrechenden Tobsuchtsanfall ver-
letzte Mary mit einem Messer den Vater, verwundete eine
im Hause lebende Tante lebensgefährlich und erstach die
Mutter.
Unter diesen Auspizien begann der junge Lamb sein
Leben. Das war sein erstes und einziges großes Erlebnis.
Die ganze Last der häuslichen Verhältnisse fiel auf
ihn. Bruder John, ein großer, plumper, jovialer Mann von
durchaus praktischer Veranlagung, war nicht gesonnen,
sich durch das häusliche Unglück aufzehren zu lassen.
Charles berührt in einem Sonnet das heitere Leben des in
blühender Männlichkeit stehenden Bruders. Später wurde
er ein gesetzter Mann in behaglichen Verhältnissen, ein
0 YgL ihren Artikel On Needle Work: „Elf Jahre habe ich mich
in meiner frühen Jagend mit Handarbeit zum Lebensunterhalt betätigt*'
>) GUchriBt 23»
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90 Der literarische Essay.
Bilderliebhaber nnd Tierfreund, der zur Verhtttung der
Tierquälerei sogar einmal zur Feder grifft ^^^ ^^ ^^^
Geschwistern auf gutem Fuße blieb, ja Charles zu seinem
Erben einsetzte. Aber fOr den Augenblick fand Charles
an ihm keine Stütze. Um so wunderbarer erwies sich die
Kraft seiner jungen Schultern, die er gegen die Wucht
des Schicksals zu stemmen hatte. Wie es bei übersensitiyen
Naturen der Fall zu sein pflegt, fand die Entscheidungs-
stunde ihn gerüstet Seine Fassung, seine Energie waren
fast übermenschlich.
Er selber kann es nur seinen religiösen Grundsätzen
zuschreiben, daß es ihm gelang, ruhig zu bleiben. „Ich
fühlte", schreibt er am 3. Oktober an Coleridge, „daß ich
etwas anderes zu tun hatte als zu klagen. Die Tante
bewußtlos, wie tot Der Vater mit verbundener Stirn,
verwundet durch eine geliebte, ihn liebende Tochter. Meine
Mutter ein lebloser, gemordeter Leichnam. Dennoch wurde
ich wunderbar aufrecht gehalten. Ich schloß diese Nacht
mein Auge nicht im Schlafe, aber ich lag da ohne Ent-
setzen, ohne Verzweiflung.'' Schon am 27. September, als
er Coleridge den Vorfall meldet, bittet er ihn um einen
frommen Brief, so fromm wie nur irgend mSglich, aber
ohne Erwähnung dessen, was vorbei und abgetan. „Für
mich ist das Vergangene vergangen und ich habe anderes
zu tun als zu fühlen.''
Die Pflicht, für die materielle Existenz der Familie
aufzukommen, erfüllt seine Seele mit einer Art fanatischer
Ausschließlichkeit Daneben scheint in seinem Unter-
bewußtsein die phantasievolle Vorstellung einer Art liebes-
sühne für die unfreiwillige Schuld der Schwester mitgewirkt
>) A Letter to the Beu. WüUam Windham, 1810*
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Der literarische Ej'say. 91
ZU haben, die ihm durch ihr Unglfick gewissermaßen
geweiht erscheint In einem Gedichte vom Oktober 1797
heißt es: „Wunden, denen Christi gleich, sind meine
einzige Bettung und die Verheißungen des Eyangeliums
mein Bechtsanspmch.''
Mit einer Jugendliebe, die eine Zeitlang sein Innerstes
aufgewühlt zu haben scheint, wird endgiltig abgeschlossen.
Die blonde Ann Simmons mit den Mondscheinaugen, in denen
eine schflchteme Anmut zitterte, i) hatte Lamb bei seiner
Großmutter in Blakesware (Hertfordshire) kennen gelernt,
dem Landaufenthalte, an den sich seine schönsten Eindheits-
erinnerungen knfipften. Einer Andeutung gegen Coleridge^)
zufolge, hatte sie seinen Wahnsinn verschuldet, den freilich
der weltkluge John dem Einflüsse der „verfluchten närrischen
Empfindsamkeit und Melancholie'' eben dieses Freundes
zuschrieb (Brief vom 10. Dezember). In dem Sonett To my
Sister (An meine Schwester) gedenkt Charles der Güte
Marys, daß sie oftmals dem Liede eines verzweifelten Liebes-
kranken ihr Ohr geliehen. In den Sonetten des Jahres
1795 spielt er auf seine Liebe bereits als etwas Vergangenes
an. Doch dürfte dies wohl nur zugunsten der poetischen
Stimmung geschehen. Innerlich hatte Lamb das Erlebnis
noch nicht überwunden, wenn er vielleicht auch gezwungen
war, seine Aussichtslosigkeit anzuerkennen. Ann hat
spftter an einem Londoner Silberschmied und Pfandleiher
Bertram eine gute Partie gemacht') Lamb schrieb
(14. November 1796) an Coleridge: „Ich bin mit dem
Schicksal meiner Schwester und meines armen Vaters ver-
heiratet" Und am 8. November bei Übersendung der
0 Sonett IV.
*) 27. Mai 1796.
«) AiagerSO.
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92 Der litenuische Essay.
Sonette: „Nenne sie Skizzen, Fragmente oder wie dn
willst, aber bezeichne nichts von meinen Sachen als liebes-
sonett. Ich würde darin nnr klein erscheinen, denn
Liebe ist eine Leidenschaft, von der mir nichts verblieben
ist. Es war eine Schwäche, von der ich mit den Worten
Petrarcas, dessen Leben nun offen vor mir liegt, sagen
kann : sie habe, wenn sie mich ans manchem Laster empor-
gezogen, doch aach das Wachstum mancher Tugend ver-
hindert, indem sie sich mehr mit der Liebe des Oeschöpfes
als des Schöpfers erffillte, was der Tod der Seele ist''
In den Versen Written a Year after ihe Events (Ge-
schrieben ein Jahr nach den Ereignissen), September 1797,
in denen er seines stflrmenden Schmerzes an der Bahre
der Mutter bereits als ein Verwandelter gedenkt, wünscht
er die Tage der Eitelkeit, der Liebe zu einer schönhaarigen
Maid nicht mehr zurück. Er hat sich in den göttlichen
Ratschluß ergeben und blickt in die Zukunft ohne Hoffnung,
ohne Angst Besitz sei eine Last, die er nicht tragen
könnte, Frohsinn ein Verbrechen, daran er sich nicht
wagen dürfe, und der Wein kein Labsal, nein, ein bitterer
Kelch.
Mit einer Art von stoischer Absage an die Freude
geht Lamb an seine Lebensaufgabe. In jungen Jahren
bringt er bereits die Resignation des Alters aul Qott-
ergebung auf Gnade und Ungnade ist die Grundstimmung
seines Gemütes. Kaum, daß sich ihm einmal die Frage
an das Schicksal entringt: Warum ist dies so?
Niemals war sein Herz tiefer durchdrungen von der
Heiligkeit der Familienbande als in jenen Tagen, in denen
er, wenn er Abends müde und ausgehungert aus seinem
Amte nach Hause kam, endlosem Kartenspiel mit dem
kindischen Vater seine Abende widmen mußte. Aus dem
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Der literarische Essay. 93
Jahre 1797 stammen die für sein Familiengefflhl charakte-
ristischen, in ihrer sehnsuchtsvollen Klangfarbe merkwürdig
an unsere Iphigenie erinnernden Verse:
Em schweres Los ward ihm, dem Unglfteklichen,
Der lebt, der letzte seines ganzen Stamms.
Er blicket um sich nnd sein Ang' erkennt
Das AntUtz Fremder und ihm sinkt das Herz.
Mary erwachte bald aus ihrer Geistesstörung. Sie
wußte von ihrer Tat, war aber von der tröstlichen Ge-
wißheit durchdrungen, daß die Mutter, daß Gott ihre
Unschuld sähen und ihr, was sie ohne Wissen und Willen
ver&bt, vergeben hätten.
„Sie ist ohne Angst^, schreibt Lamb an Coleridge
(17. Oktober 1796). „Nachts scheint der Geist der Mutter
herabzusteigen und ihr zuzulächeln. Er heißt sie das
Leben und die Vernunft, die Gott ihr gab, genießen.^
Mary tröstet sich damit, daß sie die Mutter im Himmel
wiedersehen und dann besser von ihr verstanden werden
wird. „Arme Mary!'' ruft Lamb aus. „Meine Mutter
verstand sie in der Tat niemals recht!''
Trotz Marys Überzeugung von der ihr gewordenen
völligen Absolution, die es ihr möglich machte, ungeschreckt
von der Mutter zu sprechen, blieb es für andere doch immer
ein heikles Thema, das nicht berührt werden durfte. Die
Pflegetochter der Lambs, Anna Isola, erzählt, wie sie, nach-
dem sie jahrelang im Hause geweilt^ einmal gefragt habe,
warum Mary nicht von ihrer Mutter rede, worauf diese mit
einem schrillen Schrei aus dem Zimmer gestürzt sei. Lambs
Gedichte, die sich auf den Tod der Mutter beziehen, z. B.
dais innige Written on the Day of my Äunts Funeral (Ge-
schrieben am Begräbnistage meiner Tante), in dem er der
Matter als der „lieben toten Heiligen" gedenkt, durften
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d4 Der literarische EsBay.
ZU Marys Lebzeiten nicht veröffentlicht werden, und nnter
all dem mchen biographischen Detail der Essays of Elia
wird Elizabeth Lamb nicht erwähnt Sie gleitet als das
stumme Schreckgespenst durch das Leben der Gleschwister.
Charles gab Mary gegen Johns Willen in Privatpflege.
Er sorgte für Lektüre, man schrieb und sah sich täglich.
Sein ganzes Streben ging dahin, ihr durch den Ausdruck
seiner Liebe wohlzutun. Er widmete ihr (14. November 1796)
seine Gedichte mit diesen Worten auf dem Titelblatte:
„Die wenigen folgenden Gedichte, Geschöpfe der Phantasie
und des Gefühls in den freien Stunden des Lebens, zum
größten Teil hervorgebracht von der Muse der Liebe, sind
mit der ganzen Zärtlichkeit eines Bruders gewidmet Mary
Lamb, des Verfassers bester Freundin und Schwester."
Er lehnt ihretwegen eine Einladung Coleridges ab, die
ihn beglücken würde. Nach dem Tode des Vaters (1799)
nimmt er sie auf eigene Verantwortung zu sich. Willig
unterzieht er sich der unausgesetzen Rücksichtnahme, die
ihr Zustand fordert. Denn der schwarze Dämon schwebt
beständig mit ausgebreiteten Schwingen über ihr und droht,
sich herabzusenken.
„Gott schütze und bewahre uns alle vor Wahnsinn,
der traurigsten aller Krankheiten", schreibt Lamb am
15. April 1797 in einem Brief an C!oleridge; und am
28. Januar 1798: „Ich betrachte sie fortwährend als am
Bande des Wahnsinns." Jederman wußte, wie es um sie
stand. „Wir sind gewissermaßen gezeichnet", heißt es am
12. Mai 1800, und die häufigen Wohnungswechsel der Lambs
mögen mit manch bitterer Erfahrung verbunden gewesen
sein. Selbst die guten Stunden vergiftete die Angst.
Gemütsbewegungen und physische Anstrengungen mußten
Mary ferngehalten, ihre Stimmungsäußerungen unausgesetzt
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Der literarische Essay. 95
beobachtet werden. Trotz aller Vorsicht kehrten die
Anfälle wieder, mit dem zunehmenden Alter wurden die
Leidensperioden immer häufiger und immer länger. Stellten
die untrüglichen Vorzeichen sich ein, — Mattigkeit, Auf-
regung, Schlaflosigkeit — so waren die Geschwister
gewarnt. Charles schildert Dorothy Wordsworth, wie
in solchen qualyollen Zeiten seine eigene Angst und Reiz-
barkeit das Übel beschleunigte (14. Juni 1805). Dann
pflegte er einen Urlaub „für einen Tagesausflug^ zu nehmen,
um Mary nach Hoxton zu bringen. Sie selbst packte für
den Notfall die Zwangsjacke mit ein. Charles Lloyd erzählt,
dafi er den beiden Heimgesuchten auf einem solchen Gange
durch die Felder begegnet sei, Hand in Hand, in Tränen
gebadet 1) Kopf und Herz zerrüttet, wie ein Schiffbrüchiger
kehrte Lamb in sein ödes Haus zurück. In solcher Zeit
entringt sich ihm einmal (12. Mai 1800) der Ausruf: „Ich
woUte, Mary wäre totl^
Sein Leben entbehrt während dieser Unterbrechungen
der „schönen Zweieinsamkeit'', wie Wordsworth das Ver-
hältnis der Geschwister bezeichnet, jedes Lichtpunktes.
Im Sommer 1829 schreibt er an Allsop: „Mein Haus ist
gegenwärtig seines gröfiten Stolzes beraubt. Sie ist seit
yielen Monaten für mich tot'' Er meidet fast allen Ver-
kehr, einem Vergnügen, das er sich allein gönnen würde,
haftet in seiner Empfindung etwas Unanständiges an." 2)
Seinen Beruf erfüllt er freudlos in stoischer Pflichttreue.
Seit 1792 war er bei der East India Company angestellt.
DoTch 33 Jahre legte er Tag für Tag um dieselbe Stunde
den Weg nach Leadenhall zurück, saß er Tag für Tag die
«) Ainger 40.
*) An Goleridge.
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96 Der literarische Essaj.
vorgeschriebene Zeit hinter seinem Polte, erledigte er Tag
für Tag die trockenen Geschäfte, die ihn nicht inter-
essierten. Tag für Tag — bis der Jüngling ein alter
Mann geworden war.
Anfangs hatte er einen j&hrlichen Urlaub von einer
Woche. Allmählich wuchs sein Ansehen, denn er war ein
braver, fleißiger Beamter, und seine Stellung verbesserte
sicL Mehr als ein bescheidenes bürgerliches Auskonunen
hat sie ihm trotzdem nie eingetragen, und beide Geschwister
griffen notgedrungen zur Feder, um den spärlichen Ein-
nahmen etwas aufzuhelfen.
Abgesehen von der platonischen Schwärmerei für eine
schöne Nachbarin in Pentonville, die Quäkerin Hesther Savory
(f 1797), scheint die Liebe Lambs Herz nur noch einmal
mit einem milden Herbststrahl gestreift zu haben. Die
durch heitere Natürlichkeit ausgezeichnete Schauspielerin
Fanny Kelly, die mit Mary verkehrte, tat es ihm
an „mit ihrem göttlich einfachen Gesicht.'' Ihr Wesen
dünkte ihm zu gut für die Bühne. Am 20. Juli 1819
machte er ihr einen förmlichen Heiratsantrag, in dem es
heißt: „Ich wollte, Sie wären von diesem Leben erlöst
und könnten sich entschließen, Ihr Los mit dem unseren
zu vereinen. — In manchem angenommenen Charakter habe
ich Sie lieben gelernt, aber als Fanny Kelly liebe ich Sie
mehr als in ihnen allen. Können Sie diese Schatten-
existenzen verlassen und zu uns kommen und uns eine
Wirklichkeit bedeuten?" Ihr Herz war bereits gebunden,
aber sie bot ihm die Hand zur Freundschaft Lamb
schlug ein mit einer „wehmutsvollen Ich weiß nicht
wie-Stimmung." „Sie wollen gut Freund mit uns sein, nicht
wahr?", heißt es in dem zweiten Brief vom 20. Juli 1819
— denn die ganze Korrespondenz spielte sich an einem
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Der literarische Bssay. 97
Tage ab. Sodann yersteckt er seine Erregung hinter einem
Wortwitze. „Wir wollen uns darflber nicht die »Beinec
brechen. Sie werden sie nns doch nicht verweigern, wenn
wir danun schicken?^ (nftmlich um die Theaterfreikarten
ans Bein). Wie bezeichnend ist aber in dieser Liebes«
korrespondenz nicht der Plural — wir, uns — den Lamb
unausgesetzt anwendet Maiy wirbt gewissermafien mit
um Fanny. Ohne ihr Einverständnis, ihren Wunsch, d&chte
Charles an keine Heirat Er und Mary sind ja untrennbar
eins, haben nur ein gemeinsames Leben.
Sie ist seine Haushälterin, seine Gtof&hrtin und
Helferin, seine Beni&genossin. Wie Dorothy Wordsworth,
die gute Schwester, sich in die Naturschw&rmerei ihres
Bruders einlebte, so wurde Mary Lamb eine Stadtpflanze
und ein Bficherwurm nach der Art ihres Charlea^
War Mary geistig normal, so kam ihr an Liebens-
wfirdigkeit und Trefflichkeit des Charakters wie an
Klugheit und Begabung sobald kein anderes Wesen gleich,
und ihre selbstlose Hingebung fUr den Bruder wurde nur
durch die seine f&r sie aufgewogen. Die einzige Schatten-
seite dieses völligen Ineinanderaufgehens waren die mit
dem unvermeidlichen Übermaß gegenseitiger FBrsorge ver-
bundenen Nörgeleien. So klagt Maiy im Mai 1806 ihrer
Ifreundin Sarah Stoddart, dafi sie keinen Einfluß auf Charles
habe. „Unsere gegenseitige Liebe ist bisher die Qual
unseres Lebens gewesen."
Marys zahlreiche, lebenslange Freundschaften zeugen
f&r die Wahrheit ihres eigenen Wortes, daß sie bei aller
schflchtemen Zurfickhaltung ihres leisen, anspruchslosen
Wesens Menschenkenntnis und die Gabe besaß, den
') YgL Gfldkrist 46.
Oeidiiehte der a^liMhen Bomantik n, l.
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98 Der litenrisolie Bsny.
Charakter der Menschen zn dorchschauen und sie demgem&S
zu behandeln. Sie bezeugen aber auch Barry Comwalls
Aussage, daß Mary wohl onter allen Menschen auf der
Welt am völligsten der Selbstsucht bar gewesen. De Qoincy
nannte sie die madonnenhafte Frau. Ihr stilles, sanftes
Wesen war in der Tat der Inbegriff des Weiblichen. Sie
sprach leise, Iflchelte hioflg, doch lachte sie niemals laut
Dem Bruder gegenüber benahm sie sich wie eine be-
wundernde Schfilerin,0 w&hrend er seinerseits in ihr die
notwendige und weitaus bessere Ergänzung seines Lebens
erblickte. Er schrribt am 14. Juni 1805 an Dorothy
Wordsworth: ,,Ich bin ein Narr, sobald ich ihrer Mit-
arbeiterschaft beraubt werde. Ich bin gewohnt bei der
kleinsten wie bei der grOfiten Schwierigkdt zu ihr auf-
zusehen. Aussprechen, was ich an ihr habe, wftre wohl mehr
als irgend jemand verstehen könnte. Sie ist Uter, weiser,
besser als ich, und ich verhalle mir meine elenden Unzu-
länglichkeiten, indem ich zu ihr aufblicke.'' Sie wurde
allm&hlich für ihn zum Maßstabe f&r die Wertschätzung
des ganzen weiblichen Geschlechts, dem gegenftber er von
konventioneller Galanterie nichts wissen wollte. Die Frau,
so meinte er, mflsse durch ihr Wesen dem Manne Ehrfurcht
vor der Weiblichkeit abnötigen. In dem Gedichte Writtm
on Christmas Day^ 1797, apostrophiert er sie: Vertraute
Freundin, Gefährtin, Schwester, Gehilfin und Beraterin!
Der Verkehr der Geschwister blieb dennoch aller Ge-
spreiztheit, alles zur Schau Tragens feierlicher Gefühle
bar. Lamb machte einmal den charakteristischen Sch^^:
„Ich nenne meine Schwester Moll vor den Dienstleuten,
Mary in Gegenwart der Freunde und Maria, wenn ich mit
>) Mn. Balmanno, Lamh and Eood {Fm and FencU^ 1858).
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Der fiterariflcfae Essay. 99
flir allein bin.^ Sie hatten der Liebe und des Ver-
ständnisses genug für jede Stinmrang nnd Lage.
In Zeiten der Krankheit schweifte Marys Geist in
die Vergangenheit und beknndete oft in SchilderuDgen
von grofier Schönheit einen phantasievollen Schwung. Sie
bildete sich ein, im Zeitalter der EOnigin Anna oder
Georg L zu leben nnd beschrieb die prächtig gekleideten
Hofdamen nnd ihre Manieren, als wäre sie unter ihnen
ani^wachsen. In gesunden Tagen fiberwog in ihrem
Wesen schlichte Buhe uud wohltuende Klarheit Ihre
Briefe sind von erlesener Anmut des Geistes und Herzens
wie des Stils, um ihn zu verbessern, lernte sie ohne
Hilfe Lateinisch, und brachte es so weit, ihrerseits Fanny
Kelly unterrichten zu können. Gleichwohl besitzen wir
aus ihrer Feder, von den gemeinsamen Arbeiten mit dem
Bruder abgesehen, nur einw einzigen, unter der Chiffre
Sempronia im British Lady's Magaufiney April 1805, er-
schienenen Artikel On Needle Work (Über Handarbeiten). 0
Der Au&atz ist ein Protest gegen die falsche Scham vor
dem Geldverdienen und gegen die Geringschätzung der
Arbeitenden. Mary möchte das Ansehen der weiblichen
Handarbeit heben und sie fortan nur als Gelderwerb aus-
geübt sehen. Wenn die Frau, wie der Mann, nur fär
Geld arbeite, so werde sie ihm auch in bezug auf den
Lebensgenuß gleicher gestellt sein. Des Mannes Zeit sei
in wirkliche Arbeit, wirkliche Bast geschieden — „zwei
Qaellen des Glftcks, an denen wir unbedingt in weit
geringerem MaSe Anteil haben." Die Frau rackere sich
den ganzen Tag ab, ohne, genau genommen, etwas zu tun.
Unser höchstes Lob sei schon, die Gehilfin des Mannes
>) Abgedruckt Gilchrist, 186 fif.
7*
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100 Der Utenurische Essay.
genannt zu werden. Indes ist Haiy nnr ein sehr bedingter
Anwalt der Erschliefinng mftnnlicher Arbeitsbemfe für
die Frao. Sie hält es zwar durchaus nicht für unmöglich,
MSdchen, beispielsweise, zu Schreibern heranzubilden, in-
dem man sie von Anfang an fttr die Arbeit erzöge. Viele
Möglichkeiten stünden alleinstehenden Frauen dann offen,
um einen unabhängigen Lebensunterhalt zu gewinnen,
wären alle Eltern darauf bedacht, einen der jetzt von
Männern besetzten Berufe fflr ihre Töditer zu beschlag*
nahmen, die dann genau so ffir ihn ausgerBstet w&rden,
wie jetzt die Söhne. Dennoch sähe sie lieber, daß die
Frauen sich in ihren bisherigen Berufen vervollkommneten
als in neuen; nur sollten sie, statt allein durclL.Geldsparen
das Ihre zum Haushalt beizutragen, dies in positiver Weise
durch Geldverdienen tun.
Daß indes eine urwftchsige schriftstellerische Begabung
Mary nicht innewohnte, beweist ihre Äußerung zu Crabb
Robinson, das Schreiben wäre eine viel zu mühsame
Beschäftigung^ als daß sie ohne Nötigung zu ihr greifen
würde. 1)
Marys Zustand wie die bescheidenen Einkünfte der
Lambs bedingten ein Leben in stiller Zurückgezogenheit
Es war dies nicht daa geringste Opfer, das Lamb, von
Haus aus eine gesellige Natur, der Schwester brachte.
In der Jugend bot ihnen das Theater einen Quell reicher
Anregung und Unterhaltung. Als Charles dann in der
Schriftstellerwelt festen Fuß faßte, wurden die Mittwoch-
abende, an denen sich ein erlesener Freundeskreis zu ein-
fachster Bewirtung bei den Geschwistern einfand, der
Mittelpunkt ihrer geselligen Freuden. So manches Feuer-
^:r
') Qüchrist 194.
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werk von Geist und Witz ward hier losgelassen. Barry
Gomwall sagt^ Hazlitt sei der beste Bedner gewesen, Hnnt
der orwtLchsigstey Lamb habe die markigsten, witzigsten
Anssprfiche getan.
Hazlitt findet ihn im ernsten Oespr&ch wie in den
ernsten Anfsätzen am besten. ,,Niemand hat je so feine,
pikante, tiefe, beredte Dinge in einem halben Dutzend
halber S&tze heransgestammelt wie er. Seine Witze
brennen wie Tränen.^ i)
John Forster spricht von Lambs Gewohnheit, der
Schwermut durch eine Art Heiterkeit Luft zu machen.
Er befreie seine Brust von ihrer Last durch nichts Ernsteres
als einen SpaS Aber eben das, was ihn bedracke. Li einem
Scherz, in etlichen leicht hingeworfenen Phrasen pflege
er die Tiefen seines Herzens zu enthflllen.^) Manche
humoristische Absonderlichkeit seines Benehmens, die den
Freunden Anlaß gab, ihn mit Tristram Shandy zu ver-
gleichen, mag auf diese Veranlagung zurückgehen. So
entsetzt er, z. B. bei einem Begräbnis die Leidtragenden
durch einen Witz und fflhlt sich dann infolgedessen
elend.*)
De Quincy bezeichnet als die wahre Basis von
Lambs Charakter seinen Abscheu vor der Affektation.
Ertappte er sich dabei, ein „schönes^ Wort gebraucht zu
haben — gleichviel ob es auch an diesem Platze das
kr&ftigste war — pflegte er sich sogleich aber seinen
Sdiwulst lustig zu machen. Lifolge dieser intensiven
0 The PJam Speaker.
*) ISaleitaiig su Lambs On ihe DetUh of Cöleridge (New MofMy
Magagme 1885).
*) Brief an Patmore (Fitigenld, Lamb, hieFriende eto. 199).
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rO
162'--" ••••'•'•l)erlitertri»che Essay.
Ehrlichkeit nnd Wahrhaftigkeit gestattete Lamb sich Dinge
zu sagen, durch welche er die Empflndnngen der Anwesenden
bald elekterisierte^ bald erschreckte, mitunter aber auch
wie durch ein plötzliches Entblöfien der nackten, zitternden
menschlichen Natur abstieß. Seine Eonversationsgabe machte
sich selbst das Gebrechen des Stottems, welches ihm an-
haftete, dienstbar; er erzielte eine schauspielerische Wirkung
durch die j&he, einem Pistolenschuß gleichende Entladung
der Stimme auf dem wichtigen Worte.
In zwangloser, geisterfullter Fröhlichkeit ffihlte Lamb
sich am wohlsten. Er konnte derb offen sein, ohne zu
verletzen; man hOrte nur die freundschaftliche Vertraulich-
keit heraus und fohlte sich geschmeichelt i) Formsichere
Eleganz beengte ihn. Sein Verhalten geistigen Getränken
gegenüber hat die Gemüter vielfach beschäftigt Tatsache
ist, daß er einem Glase gern zusprach und daß er den
Alkohol nicht vertrug. Hunt sagt: Er hatte einen sehr
schwachen Magen und drei Glas Wein machten ihn so
lebhaft^ wie es andere Leute nur durch ebenso viele Flaschen
werden. 2) In seinen Briefen erscheinen mehrfache Er-
wähnungen dieser Schwäche. Am 24. September 1802
schreibt er an Manning: „Ich glaube meine Gewohnheiten
verändern sich und zwar vom Trunkenen zum Nflchtemen.
Ob ich glücklicher sein werde oder nicht, muß sich erst
erweisen. Des Morgens werde ich sicher glücklicher sein.
Aber — ob ich nicht das Fett und Mark und die Nieren
opfere, nämlich die Nacht, die glorreiche, soif;enertränkende
Nacht, die alle unsere Leiden heilt, in unsere Kränkungen
Wein gießt und den Schauplatz von Gleichgiltigkeit und
0 Cowden Glarke 64.
<) Nachruf, London Journal^ 7. Januar 1886 (bei Cowden Clarke)«
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Der literarisehe Essay. 108
Flachheit in Licht und Glanz wandelt?'' 1805 klagt er
Aber sein „yerflnchtes Trinken^ , das seit fünf Jahren das
Leben seiner Schwester verbittert habe,0 ^uid meldet
Manning (27. Jnli), er sei unglaublich nflchtem und korrekt
geworden« 1818 kehrt dieselbe Versicherung wieder, da-
zwischen vermerkt Mary 1810: „Charles war gestern und
vorgestern betrunken.'' Der nfichteme Crabb Bobinson
fBgt (29. April 1843) zum Lobe der Ckmfessions of a
DrunJsard (Bekenntnisse eines Trunkenbolds) hinzu, man
werde kaum vermuten, welch ähnliche und treue Dar-
stellung einer Tatsache sie seien«" 2)
Weim jedoch Lamb unter dem Druck traurigster Ver-
hältnisse und erblicher Belastung nicht die Energie auf-
gebracht hat^ die jeder Anfechtung aus dem Wege geht, so
ist er der Versuchung doch auch niemals bis zum Gewohnheits-
mftfiigen erlegen. Die ErfUlung seiner Amtspflichten war
ebenso tadellos wie das niemals aussetzende unbedingte
Bewußtsein seiner häuslichen Verantwortung und die un-
vergleichliche Liebenswürdigkeit seines Wesens, die seine
Freunde im Banne hielt Über wenige Menschen der
Literaturgeschichte sind so enthusiastische Äußerungen
vorhanden wie Aber Lamb. Einige Tage nach seinem
Tode schloß John Forster eine W&rdigung Lambs als
Essayisten, Dichter und Kritiker mit den Worten. „Doch
nicht als solcher hat er uns die stärksten GefBhle der
Hingebung eingeflößt: wir liebten den Menschen. Er war
das vollkommen liebenswflrdigste Wesen, das wir gekannt
haben." Edward Moztons Nekrolog (27. Januar 1835)0
1) EitEgenld, Life, Letters, and WriUngs 1, 264.
^ Lucas S81.
*) Abgedrackt in The LeUera of Charle$ Lamb, Boston 1905, S. 59.
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104 Der literariflche Bssay.
gipfelt in dem SchlnBsatze: „Von allen Menschen, die wir
je kennen gelernt, war Lamb in jeder Hinsiclit d^
originellste nnd hatte das beste Herz.^
Die Gemütstiefe seines Wesens hat nnter den Freunden
wohl Barry Comwall am verständnisvollsten gewürdigt
Er rühmt an ihm die Vereinigung selten Hand in Hand
gehender Eigenschaften, Elogheit und Edelmut, ein weiches
Herz und einen starken Willen, und vor allem den pikanten,
eigenartigen Humor, sein immer wahrhaft grofimütiges,
unabhängiges urteil über Menschen und Dinge. „Charles
war häufig heiter, aber die Heiterkeit ruhte auf einem
ernsten Hintergrunde, ^auf dem die farbigen und zarten
Lichter saßen. Denn seine Scherze entsprangen einem
Empfindungsvermögen, das der Freude so zugänglich
war wie dem Leide. Diese Feinffihligkeit befähigte
ihn, wenn sie auch seiner Kraft einigen Abbruch tat,
zu Phantasien von eigentümlicher Zartheit und gab ihm
die Neigung für Dinge von erlesenstem Geschmack, die
ein blofier Spaßmacher nicht kennt Starkes Gefühl für
den Humor, ein bitteres Bewußtsein der menschlichen
Schwachheit, Hand in Hand mit tiefer Empfindung für
menschliche Vorzüge und die Neigung, seinen Leser za
mystifizieren, gerade wenn er ihn scheinbar am meisten
ins Vertrauen zog^O — ^^^e Mischung entgegengesetzter
Elemente gab seinem Gemüt die charakteristische Färbung.
Lambs Güte und Bescheidenheit waren herzgewinnender
Art Er verstand es, eine Gabe so anzubieten, daß er
den Empfänger unter dem Eindruck ließ, dieser habe ihm
eine Gefälligkeit erwiesen.')
») Cowden Clarke 37.
*) Bitny Cornwall, Memair 544,
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Der Uterariflche Ettmy. 105
P. G. Patmore, nennt ihn einen sanften, weich-
harzigen Misanthropen, 1) der der Sklave seines Hnndes
Daah nnd seiner Magd Becky war. Hnnt gibt in seiner
reizenden Epistel To Charles Lcmb ein anmutendes Genre-
bild, wie die Lambs sich — natfirlich bei schlechtestem
Wetterl — einfinden, wie man in der Eaminecke Thee trinkt,
sich wärmt nnd Aber alte Dichter spricht „0 dul^ mft
er ans, „den der alte Homer Heimliebhaber, Gedanken-
nfthrer nnd Spaßmacher nennen würde! Dessen Mitleid
ans tiefer Erkenntnis fliefit nnd sich nicht in blofie Selbst-
bespiegelnng nnd geringschätzige Znrdckhaltung verliert I^
Lambs Äußeres entsprach an charakteristischem Inter-
esse seiner Persönlichkeit Hazlitt hat beide Geschwister
1805 gemalt Marys Bildnis^) mit den halbgeöffneten
vollen Lippen nnd dem starren Blick der mandelförmigen
Angen hat einen verstörten Ansdmck. Ffir Charles sdiarf-
geschnittene, Geist nnd Energie atmende Zflge von sfldlich
dankler Färbung scheint das Kostüm eines venezianischen
Senators glücklich gewählt Hunt fand in der Hakennase,
dem vollen, empoigebogenen Einn, dem glänzend schwarzen
Auge und Haar einen jüdischen Typus und Benjamin
Ellis nennt ihn, Lambs eigene Charakteristik des Sängers
Braham zitierend, „ein seltenes Gemisch von Jude, Gentle-
man und Engel^,') ohne daß der vermutete Tropfen jüdischen
Blutes in seinen Adern irgendwie erwiesen wäre. 4) Lamb
selbst hat in dem schönen Sonett auf seinen Familien-
namen nur zwei Möglichkeiten der Abstammung ins Auge
gefaßt: die von einem Hirten aus Lincolnshire oder von
0 My Frienäs amd AeqjUcmUMce, 27.
*) fieprodiudert im fünften Bande Ton Hacdonalds Lamb- Ausgabe.
^ Inihe Foctprinia of Charles Lamb 1891, 8. 5.
*) Ygl NoieB amd Queries 10, 8. VH (M&n 1907).
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106 Der Httnrisdie Essay.
einem rohmvolleii Erenzfahrer, der in Demnt den Namen
angenommen, znr Ehre dessen, fBr den er ausgezogen. Im
Oespr&ch mit Freunden soll er behauptet haben, sein Name
laute eigentlich Lombe.^ Traurigkeit und Müde lag in
seinem Antlitz, Ernst und Gelehrsamkeit ohne jede An-
maßung, Genie ohne alle Pose, Wehmut ohne Strenge,
hoher Gedankenflug ohne Geringschfttzxmg. Das schmerzliche
L&cheln der von Ausdruck bebenden feinen Lippen gab
den Ausschlag. Der Kopf war im VerhUtnis zu der
schmächtigen, mittelhohen Gestalt zu grofi.^) De Quincy
schildert in rhapsodischer Weise seine SchSnheit im Schlafe
— halben Weges zwischen Leben und Tod. Sein Antlitz mit
der durchgeistigten Anmut des Umrisses, mit seiner kind-
liehen Einfalt und seinem Wohlwollen nehme dann einen
beinahe seraphischen Ausdruck an.*)
Fflr Lamb stand unter den Freunden Coleridge obenan.
Er war in Christ Hospital in der oberen Klasse, als Lamb in
die untere kam, und „dieselbe Unterordnung und Demut
habe ich während eines lebenslangen Verkehrs gegen ihn
bewahrt**, schreibt er am 21. November 1834. Ihre Freund-
schaft hat in der Tat alle Phasen durchgemacht und
bestanden. Zuerst die Überschwänglichkeit des stflrmenden
Jugend-Enthusiasmus. „Coleridge! du kennst meine hohe
Glfickseligkeit nicht, daß ich auf Erden — ob uns auch
Grafschaften trennen — Einen habe, den ich Freund
nennen kann!*' So heißt es in einem Briefe vom 14. Juni
1796. Dann folgt eine vorflbergehende Trflbung. Lamb macht
sich 1798 Aber einen d&nkel- und gönnerhaften Ton lustig.
0 Fitigerald, Lamb, his t^iends, HtnmU etc. S. 17t
«) Vol. Vm, 152.
•) Htm^s London Journal, 7. Janntr 1835.
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Der Utenrifldie Emy. 107
den Goleridge anschlage 0 and bringt fttr die Dentschen-
begeisternng weder Sympathie noch Verständnis anl^)
Aber nach Coleridges Bückkehr ans Deutschland ist alles
üdeder gnt „Je mehr ich ihn im Neglig6 des Alltags
sehe, nm so mehr habe ich Gmndy ihn zn lieben nnd
ihn fftr einen sehr guten Menschen zu halten, und alle
törichten gegenteiligen Eindrücke entfliehen wie Morgen-
sdilummer^, schreibt er an Manning (17. Mftrz 1800). Und
bei Coleridges Tode drückt Lamb die Leere, die sein
Abscheiden für ihn bedeutet, in folgenden Worten aus:
„Ich kann keinen Gedanken denken, kein Urteil über
Menschen und Bücher fällen, ohne mich — yergeblich! —
an ihn zu wenden, auf ihn zu beziehen. Er war der
Prüfstein all meines Sinnierens. — Er war durch fünfzig
Jahre mein Freund, ohne einen Zwist'' Ein Zustand der
Verstßrtheit überkommt ihn. Er ist für alles andere unzu-
gftnglich und reagiert auf jedes Gespräch ausschließlich mit
der Bemerkung: „So ist Goleridge dahin.'' >)
Charakteristische Vertreter des Lambschen Freundes-
kreises sind etliche stille Männer, deren Leben in ünschein-
barkeit dahinging, die einzig durch den rein menschlichen
Wert ihrer Persönlichkeit hervorragten und die gewißer-
mafien das Unterholz bilden in diesem Haine erlesener
Geistigkeit
Peter George Patmore (1768 — 1856), der Enkel
eines deutschen Malers Bäckermann, ein tätiger Journalist,
der als Verfasser größerer Werke seinen Freunden für emp-
O Brief an Sonthey yom 28. JnlL
>) Vgl seiB Gedidht Free ThKmiJkU an Eminent Composers.
^ VgL FitEgeraldB Amnerknng, dafi Lamb ktin vor seinem Tode
mit Maiy wegen GeisteestOning in IMeld bei einer alten Fran in Pflege
geweten ad (Lamb, his Fnends, Haunts etc.).
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108 Der ütenrisehe Essay.
f angene Anregung ebenso verpflichtet ist> wie diese ihm f&r
Onttaten aller Art im wirklichen Leben. Seine InUtaUons
of Celebrated Äuihors, or Imaginary B^ected Artides (Nach-
ahmungen berfihmter Autoren oder erfundene zurück-
gewiesene Artikel), 1826, verdanken die Idee Horace und
James Smith, und leben von der Parodie Hunts, Lambs
Ck)betts u. a. Sein Boman Chatswarth, or The Eomanee of
a Week (Ghatsworth oder Der Boman einer Woche), 1844,
ist die satirisch-humoristische Schilderung einer Schloß-
gesellschaft, wie sie den Gegenstand von Peacocks Bomanen
bilden; The Mirror of ihe Months (Monatsspiegel), 1826,
gibt eine Charakteristik jedes Tages im Kalender, wie
Leigh Hunt es gleichzeitig tat Ein Lustspiel, Marriage in
May Fair (Hochzeit im schönen Lenz), 1853, ist eine kon-
ventionelle Eifersuchtsposse. Ein dauernd wertvolles Buch
aber hat Patmore doch geschrieben, das Buch seiner
Frexmäschaiieu My Friends and Äcquaintancej 1854, persön-
liche Erinnerungen, Lebensabrisse, Gharakterskizzen, Briefe,
ein Buch, aus dem sein liebenswfirdiges Gem&t und sein
kluger Geist gleich beredt spricht und das daher fast
ebensosehr sein eigenes Denkmal ist wie das der Ab-
geschiedenen, denen er es widmet.
Der Quäker Bernard Barton (1784—1849), ein sub-
alterner Bankbeamter, dessen Leben sich ereignislos in
Woodbridge abspielte, mit einem hübschen lyrischen Talent
begabt, das ihm den Titel des Quäkerdichters erwarb, doch
über den Umkreis von Woodbridge kaum hinausdrang.
Seine Poems hy an Amateur (Dichtungen eines Amateurs),
1818, ohne originelle Färbung und grofle Gegenstände,
beweisen einen ausgebildeten Formsinn und charakterisieren
mit ihren zarten GefOhlstönen (Liebeslieder an die frtth ver-
storbene Gattin und innige Gtedichte an die Tochter), mit dem
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Der Hteniiscfae Essay. 109
moralisiereiiden Ton ihrer Naturbetrachtung — {To a Daisy.
An ein GSnseblflmchen, To a Shylark. An eine Lerche) —
den gebildeten, trefflichen Menschen voll feinem literarischen
Verständnis nnd tiefem Ernst in Ennstdingen, ohne daß
sie sich aber das Niveau des gnten Dilettantismus erheben.
Dasselbe gilt von James White, dem Verfasser der
1796 anonym erschienenen Original Letters of Sir John
FäUtaff and Hie Friends, now first made FUblic hy a
OenÜeman and Deecendant of Dame Quickly, from Genuine
MSS. wJhcJi have been in ihe Posseeeion of the Quickly
Family near 400 Years (Originalbriefe Sir John Falstaffs
und seiner Freunde, durch einen Nachkommen der Frau
Hurtig zum erstenmal verOffenÜicht aus den ursprfing-
lichen Handschriften, die seit fast 400 Jahren im Besitze
dw Familie Hurtig sind). Die ftufierst geschickte Ver-
wendung der in den Dramen gegebenen Charaktere
und die prAchtig geglückte altertfimliche Ausdrucksweise
rechtfertigen das warme Lob, das Lamb diesem heiteren
Spiel des Humors seines einstmaligen Mitschülers in Christ
Hospital zollte {Ttaise of Chinmey Sweepers. Lob der
Schornsteinfeger). Doch war Whites literarische Ader
mit diesem einen Werke ersch&pft
Zu keinem einzigen literarischen Werke rafEte sich ein
anderes beliebtes Mitglied des Lambschen Kreises auf, der
Begründer der englischen Volkszählung John Kickman
(1771—1840), Herausgeber des Conrnerdal, Ägriculturaly
and Manufacturers' Magazine und ein ausgesprochenes stili-
stisches Talent^ doch ohne schriftstellerische Begabung, ja
ohne Sinn für Poesie. „Der Gegenstand, den er am besten
yersteht^ ist Nationalökonomia Befänden sich im Unterhause
nur ein halbes Dutzend solcher Leute, so gäbe es dort Mut,
Tagend nnd Weisheit genug, dieses Land vor der Bevolution
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110 Der ]it«rariflche Essay.
zu bewaliren, auf die es sicher znstenert.*' So schreibt
Sonthey über RickmanO and fährt fort: „Seine Manieren
sind stoisch) sie sind wie die Schale einer Eokosnnß nnd
sein Inneres ist wie die Milch in ihrem Kern. In London
bin ich immer sein Gast Wenn er mich an der Tfir
bewillkommnet, gibt er mir nnr die kalte Hand, aber ich
besitze sein ganzes Herz; nnd das Ding existiert nicht in
der Welt, das er nicht für mich tftte, voransgesetzt» daß
es mir znm Nutzen oder znr Freude gereicht.^ lUdonan war
ein durchaus unromantuicher Charakter, dessen politisches
Ideal ein wohlwollender Despotismus bildete, und dessen
Interessen so ausschließlich im Realen wurzelten, daß es
ihm selbst an der Wertschätzung der Efinste und einem
Maßstabe fflr ihre Bedeutung gebrach. Aber ein gesunder
Humor gab, zwischen ihm und Lamb eine gemeinsame
Grundstimmung, und auf dieser Basis gedieh ein so
prächtiges Verständnis, daß Lamb seinen Freund Bickman
gelegentlich als einen vollkommenen Menschen, als eine
Gattung fflr sich preist')
Diese Zugänglichkeit fflr mannigfaltigste menschliche
Individualitäten bewirkte, daß Lamb, der sein Leben in
dflsterster Vereinsamung begonnen hatte, seiner Freund-
schaft allmählich einen außergewöhnlich weiten Umkreis
gab. Ja, noch mehr. 1823 adoptierten die Geschwister
eine kleine Waise aus Cambridge, Emma Isola, die sie
erzogen und unterrichteten. Das heranwachsende Mädchen
brachte in ihre Hagestolzenexistenz einen Schimmer von
Eltemglflck und erleichterte Lamb die Zeiten der Prflfnng,
wenn Mary abwesend war.
>) An Landor, 9. Febmar 1809.
*) Brief an Manning, 8. Noyember 1800.
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Der litennsche Basaj. 111
In dem Gedichte Harmany in Unlikeness (Eintracht in
der Ungleichheit) stellt er die sanfte, leise Art der als blonde
Yestalin dargestellten, damals sechzigjährigen Mary der
aberspradelnden Lebhaftigkeit der brdnetten Isola gegen-
aber. Ja, selbst die Hochzeit durften Mary und Charles
der Pflegetochter noch ansrfksten, die 1833 den Verleger
Moxon heiratete.
Aus dem erschfittemden Elend seines Lebensanfanges
hat er allmUilich den Weg zur Gelassenheit der Entsagung
gefunden, durch emsiges Einspinnen in seine enge Welt
Seine Wonne waren endlose Spaziergänge, an deren Ziel —
in welcher Richtung der Stadt es immer liegen mochte —
ihm die liebliche Vision eines schäumenden Kruges Bier
winkte.^)
Den Strom der großen Weltvorgänge hörten die Lambs
kaum von ferne rauschen. Sein Urteil über Bonaparte
holte er sich bei seinem Barbier. Der Barbier sagte, Bona-
parte sei ein tapferer Mann, und so meinte Lamb, es wfirde
ihm nickt widerstreben, dem Helden in seiner Vernichtung
bei Tiselie aufzuwarten, barhaupt, stehend. Er fand, man
hätte ihm Hampton Court oder Eensingtön mit einem Stück
Grundbesitz bei London geben sollen. Wer weiß, ob das
Volk nicht zu seinem Gunsten die Braunschweiger gestürzt
hätte (1815 an Southey).^)
Das lebenslange Einerlei stumpfte allmählich Lambs
AufDahmsfähigkeit ab. 1822 unternahm er eine Beise nach
Paris. Aber er weiß von dort nichts zu berichten, als daß
er einmal mit Talma soupiert und Frösche gegessen habe.
Er gibt zu, daß Paris eine herrliche und malerische alte
0 Patmore 52.
«)D^ret54.
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112 Der litenrische Easaj.
Stadt sei, mit der Terglichen London nen nnd schäbigr
aussehe. Aber es h&tte eben doch keine Panlskirche nnd
keine WestminsterabteL Mary erlitt unterwegs einen ihrer
Anf ftUe. Lamb mußte sie in Paris in Pflege geben nnd sie
kam erst zwei Monate sp&ter znr&ck. Der Wegweiser,
den er ihr fflr die Besichtigung von Paris an die Hand
gibt, empfiehlt ausschließlich einen Spaziei^ang am linken
Seineufer, wo anderthalb Meilen lang B&cherbude an
Bacherbude oder -laden gereiht stehe, nnd einen Besuch
des P^re La Chaise. „Das, glaube ich, ist alles Sehens-
werte — bis auf die Straßen und Qesch&fte von Paris, die
an sich den besten Anblick bieten.'' 9
Als sich die Prüfungen immer rascher wiederholten
und die bOsen Zeiten immer länger dauerten, wählte er,
um die häufigen Übersiedelungen zu ersparen, den Ausweg,
sowohl Mary als sich selbst in einer Priyatheilanstalt in
Edmonton einzumieten. So ist Charles Lamb, der Schwester
zuliebe, am 27. Dezember 1884 tatsächlich in einem Irren-
asyl gestorben. Plötzlich, als ein Ungebrochener und
Ganzer wurde er vom Tode gefällt, infolge einer leichten
Verletzung, die er sich durch einen Fall auf seinem Spazier-
gange zuzog und die den Botlauf nach sich zog. Sein ver-
trauter Freund Bickmann deutete Southey (24. Januar
1835) an, daß Lamb sich die verhängnisvolle Wunde durch
sein unvorsichtiges Trinken geholt „Ich dachte immer, daß
dies sein Ende sein müßte und wundere mich nur, daß es
so lange hinausgeschoben ward.*'
Als Lamb starb, war Mary in einem geistigen Dämmer-
zustande, in dem ihr die Gr6ße ihres Verlustes nicht klar
wurde. Auf dem Totenbette bewunderte sie die Schönheit
>) H. Crabb Bobinson, Diariea ü, 285.
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Der literarische Essay. 113
seines Schlafes, ohne Schlimmeres zu ahnen, i) So hat sie
ihn zwölf Jahre aberlebt Am 28. Mai 1847 wurden die
anf Erden unzertrennlichen auf dem Friedhofe von Edmonton
znr ewigen Bnhe vereint In seiner vollen Tragweite hat
Mary das Opfer des Braders, anf das begreiflicherweise
vor ihr niemand anspielte, nicht gekannt
Barry Comwall sagt mit Becht^ er wisse kein zweites
Beispiel, daß ein großes Ziel so unentwegt durch ein ganzes
Leben im Auge behalten worden wäre als in Lambs Falle.
Die Schwester war der Inhalt, der Zweck und der Boman
seiner Existenz. Er taucht die steppenartige Öde ihrer
äußeren Dfirftigkeit in den Goldglanz reichster Gemüts-
afEekte und erbringt den tröstlichen Beweis, daß der Blick,
der sich unbeirrt auf ein hochgestecktes Ideal heftet, selbst
ein Dasein, das unfehlbar der Versumpfung in Siechtum und
Philisterei verfallen scheint, auf die Höhen der Menschheit
emporzuffihren vermag.
Lambs Dichtungen.
Auf die ernste Bichtung von Lambs jugendlicher Muse
deutet sein Erstlingsgedicht Müle Viae Mortis (1789).
Als 1796 der zermalmende Schicksalsschlag auf ihn
niederfiel, glaubte er in der ersten Betäubung, in der er
gewissermaßen allen Lebensaussichten entsagte, auch mit
seiner poetischen Tätigkeit abschließen zu müssen. Er
verbrannte seine Manuskripte. Aber sein Talent erwies
sich lebenskräftiger als sein Vorsatz und zumal, da auch
Mary in ihren lichten Zeiten den lebhaftesten Anteil an
^ Rifikman an Sonthey, 24. Januar 1835.
*) Lucas, 54.
OMchiehte der enffÜBehen Bomantik n, i.
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114 Der literarische Essay.
seinen poetischen nnd literarischen Bestrebungen nahm,
ward sein Entschluß, die Poesie in sich abzutöten, zunichte.
Doch beweisen die vor dem Tode der Mutter geschriebenen
Erstlingssonette, was für große poetische Möglichkeiten
der frühe Mehltau seines erbarmungslosen Geschickes in ihm
zerstört hat. Die Sonette erscheinen als die Anfänge eines
echten, durch Formbegabung wie Schwung und Tiefe der
Empfindung hervorragenden Lyrikers. Elisabethanischer
Einfluß macht sich bereits fühlbar. (We were tvoo Pretty
Bäbes. Wir waren zwei liebliche Kinder). Daneben mögen
Bewies und Cowper als Vorbilder in Betracht kommen.
Seiner Verehrung für Cowper, dessen Wahnsinnsanf aU (1796)
begreiflicherweise sein tiefstes Mitgefühl erweckte, gibt
Lamb in einem Gedichte zu seiner Genesung Ausdruck, in
welchem er ihn den vorbestimmten Mann nennt, die Leier,
deren Saiten so lange geschlununert, wieder zu beleben, die
Leier Miltons und Spensers.
Es ist bezeichnend für den zwanzigjährigen Dichter,
daß er bereits in Erinnerungen lebt. „Er fürchtete das
Morgen, er liebte das Gestern," sagt treffend Th. Pumell. ^
Die Stimmung, mit der er ins Leben tritt^ ist die Zukunfts-
losigkeit. Sie entwickelt sich allmählich zur literarischen
Manier. Stätten, Vorkommnisse, Menschen, alles existiert
erst recht für ihn, wenn es der Vergangenheit angehört.
Er schraubt Gegenwärtiges zurück, um es interessanter zu
machen. In den Sonetten ist es der Schauplatz vergangener
Freuden, deren Anblick in seiner Brust die Flamme
alter Wünsche aufis neue entfacht Eine schwärmerische
Neigung erhält, wie es scheint, durch eine vorangegangene
kurze Phase leidenschaftlichen Begehrens die Reife echter und
«) Works I, S. XXI.
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Der literarische Essay. 115
tiefer Empfindung;, während jene Klarheit des über dem Ter-
wmidenen Erlebnisstehenden alles in ätherischeFeme erhebt.
Jeder Gegenstand spricht ihm von vergangenen Tagen, die
nimmer wiederkehren. Die Tranmstimmnng eines rährenden
Idylls voll kindlicher Lauterkeit d&mmert auf. Altvertraute
St&tten zaubern das Bild unschuldsvoUen Jugendglückes vor
seine Seele, die am freisten angesichts der großen Natur*
gewalten aufatmet, z.B. Wriäen at Midnight hy the Sea Side
(Greschrieben um Mittemajoht am Meere), 1795, ganz und
gar ein Schwelgen in den Elementen, ein Lachen im Sturm,
in dem selbst das Scheitern verlockend wäre.
Vier von Lambs Sonetten, darunter eines an Mrs. Siddons
(1794) von nicht unbestrittener Autorschaft, 0 wurden unter
Coleridges Gedichte aufgenommen, die 1796 bei Cottle in
Bristol erschienen. Die zweite Auflage dieser Gedichte (1797)
war um etwa fünfzehn von Lamb bereichert, deren zarte
Anmut Coleridge als ihr Hauptverdienst bezeichnet. Auch
sie sind zum großen Teil elegische Kindheitserinnerungen.
Die 1792 verstorbene, wackere, geschäftige Großmutter
Field ersteht in ihnen, eine prächtige Alte, niedrig geboren,
doch von au&trebenden Geist, ihrem irdischen Brotgeber
in Redlichkeit^ ihrem himmlischen Herrn in unwandelbarer
Demut ergeben (ChiWiood. Kindheit; The Orandame. Die
Großmutter; Sabbat Beils, Sonntagsglocken). Die fttr
ein modernes Ohr stellenweise hart und ungelenk klingenden
Blankverse der beiden letztgenannten Gedichte passen
sich in ihrer primitiven Schlichtheit dem einfachen,
frommen Inhalt stimmungsvoll an. Sie berühren wie
Dorersche Holzschnitte. Spenserschen Einfluß im alter-
tfimelnden Tone wie in der Ortsschilderung, die sogleich in
0 VgL Aiiiger 1, 283.
8*
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116 Der literarische Essay.
die Beschreibnng ihres Eindrackes auf das Gemflt übergeht,
verrät A Vision ofR^entance (Vision der Reue), 1794. Lamb
legte Gewicht auf die Form und ließ sich die Mühe nicht
verdrießen, ihr nach Kräften gerecht zu werden. An einem
humoristischen Sonett The Oipsy*s Malison (Zigeunerfluch),
1829, arbeitete er vier Tage.«) Einzelne seiner Verse sind
metrische Kunstwerke.))
Aber das Übermaß selbständigen Interesses, das
Lamb der Form zuwendet, gereicht seinen Gedichten
nicht immer zum Vorteil So widerspricht z. B. in Hypo-
chondriacus die leicht bewegte daktylische Form dem schwer-
mütigen Inhalt. Das Gedicht, dessen ursprünglicher Titel
Conceit of Diabolic Fossessions (Vorstellung teuflischer Be-
sessenheit) lautete, ist eine Nachahmung Robert Burtons
und dem Verfasser der Änatomy of Melancholy in den
Mund gelegt, für den Lamb eine besondere Vorliebe hatte.
Innigstes Verständnis bringt er auch George Wither entgegen,
in dessen siebensilbigem trochäischem Rhythmus, der den
Ton schlichter Herzlichkeit trefElich zum Ausdruck bringt^
er die Verse To Thomton Hunt (1815) und On an Infant
äying as soon as bom (An ein Eind, das gleich nach der
Geburt starb), 1828, schrieb, letzteres für Thomas Hood
anläßlich des Todes seines ersten Kindes. Hood ver-
öffentlichte es in seiner Zeitschrift The Qun 1829. Fare-
well to Tobacco (Abschied vom Tabak), 1805, in vier-
silbigen Trochäen, bezeichnet Lamb gleichfalls als „in
Withers Art". Der Preis des Tabaks, überschwänglich
wie der einer Geliebten, wird in England dauernd den
0 An Bany Ck>mwaU, 29. Januar 1829.
>) Zum BdBpiel:
Jlong whose margin growa the wondroM Iree.
[Fancy employed on Divme Subjeds,)
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Der litorarisdie Essay. 117
anbestrittenen Mastern des Humors beigezählt, ja Pnmell
findet sogar tiefstes Pathos darin, i) während dem Nicht-
engländer die übertreibende Laune mehr konstruiert als
urwüchsig erschdnt
Den Bänkelsängerton alter Dichtung versucht Lamb in
A BäUad noting {he Bifference of Eich and Foor^ in (he
Ways of a Rieh Noble's Palace and a Poor Worhhouse
(Ballade über den Unterschied zwischen Beich und Arm in
der Form eines Palastes des reichen Vornehmen und eines
Armenhauses), in dem die Jugend mit dem Beichtum, das
Alter mit der Armut identifiziert wird.
So tritt mit den Jahren in Lambs lyrischer Produktion
die eigene Urwflchsigkeit hinter dem äußeren Vorbild
zurück. Die Versprechungen seiner Erstlinge bleiben
unerfüllt. Der starke Quell der Lyrik scheint nach dem
ersten Jugendergnß verschüttet Er selbst klagt einmal,
dafi er so traurig unfruchtbar an Ideen seL^) Die düstere
Umgebung seiner Jugend, die wahnsinnige Schwester, der
schwachsinnige Vater, die alte Tante, der schwermütige
Freund Charles Lloyd, der bleierne Druck der engen Ver-
hältnisse, die ganze Stimmung der Hoffnungslosigkeit gibt
seinem Talente keine Nahrung. In dem grauen Einerlei
findet das Auge keine neuen Bilder, das Gemüt keine neuen
Eindrucke.
„Ich habe die AUtagszenen des Lebens satt^, schreibt er
im Juni 1796 an C!oleridge. Im Dezember heißt es: „Meine
Schwester ist alles, was ich an einer Gefährtin wünschen
kann. Aber wir sind beide niedergedrückt^ unsere Lektüre
ist dieselbe, unsere Bildung fließt aus denselben Quellen,
Oi,s.vn.
^ Ebenda.
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118 Der literarische Essay.
unser Verkehr mit den Stätten der Welt ist gleichmäflig
beschränkt. Was fOr Erkenntnis können wir einander
Kuf&hren?'' Und in demselben Jahre: „Von schwerer Bede
nnd znr&ckhaltenden Manieren, wie ich bin, werde ich von
niemandem zur Gesellschaft gesucht und bin mir selbst
überlassen.^
Der Hang zur Beflexion macht sich mehr und mehr
geltend. Trotz einer plastischen Gabe der Landschafts-
schilderung — man vergleiche den mondbeglftnzten stillen
Grund an den melancholischen Wassern der Beue in A
Vision of Bq^entance — behandelt Lamb die Natur in der
Begel nur als Folie oder Hintergrund eines Vorganges von
ethischem oder novellistischem Interesse {The River in
which a Child was drowned. Der Fluß in dem ein Kind
ertrank), oder knüpft an eine anschaulich geschilderte
Naturszene eine moralisierende Betrachtung (On ihe Swans
in Kensington Oardens, An die Schwäne im Eensington-
garten). Seine Naturbetrachtung ist tief religiöser Art
Tauchte doch in Lamb 1796 nach der Lektüre des Tage-
buches eines amerikanischen Quäkers John Woolman der
Gedanke auf, Quäker zu werden. i) Diese schöne Welt ist
ihm das Geheimnis Gottes. Er sieht einen gewaltigen Arm,
der unmittelbar, unwiderstehlich die unaufhörlichen Wunder
lenkt^ während der Mensch, der eigener Kraft vertraut,
sich auf einen schattenhaften Stab, einen Stab von Tränen,
stützt. (Living without Ood in the World. Ohne Gott in
der Welt).
Gelegentlich macht sich bei Lamb das Streben fühlbar,
die idyllischen Beize des Alltags, die Wordsworths und
Coleridges Lyrical BaUads (Lyrische Balladen), 1798, in
0 Lucas 118.
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Der iiterariBche Essay. 119
die Literatur einfahren, seinerseits zum Gegenstand von
Gredichten zu machen. The Three Friends (Die drei Freunde)
heben zi^lich an, yerlieren sieh aber im weiteren Verlauf
in Schwerfälligkeit Was Lamb in Prosa wie keinem
anderen gelingen sollte, das Kabinettbild, das die idealen
Möglichkeiten kleiner, ärmlicher Verhältnisse mit anmutiger
Vollkommenheit zur Geltung bringt, bleibt ihm in poetischer
Form versagt
Eine eigene Note voll natürlicher Grazie, warmer
Lebendigkeit und musikalischem Schmelz schlägt Lamb an
in dem Gedicht auf den frühen Tod der jungen Quäkerin
Hesther Savory (1803), deren Antlitz von zigeunerhafter,
ausdrucksvoller Schönheit es ihm angetan und für die er
eine schwärmerische Neigung gefaßt hatte, ohne je mit ihr
gesprochen zu haben. Sie starb einige Monate nach ihrer
Vermählung mit einem Mr. Dudley, vielleicht ohne um das
Interesse zu wissen, das sie Lamb eingeflößt^)
Aus keinem seiner Gedichte aber spricht die volle
Persönlichkeit deutlicher und lebendiger, keines hat darum
auch eine solche Verbreitung gefunden wie das gewisser-
maßen für Lamb repräsentative The Old Familiär Faces
(Die alten vertrauten Gesichter, Januar 1798; deutsch von
Freiligrath), das in ergreifender Schlichtheit die tiefe
Herzenseinsamkeit und Lebensmüdigkeit des Vierund-
zwanzigjährigen schildert, der zukunftslos auf die Eltern,
die Geliebte, die Freunde zurückblickt, die ihn alle
verlassen haben.
Als Dramatiker hatte Lamb kein Glück oder
richtiger, seinem Wesen fehlten die grundlegenden Be-
dingungen des Dramatikers: starke Leidenschaftlichkeit
0 Brief an Hanning, Wkrz 1803.
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120 Der üteraiische Essay.
des Temperamentes und drastische Eraft, Empfundenes zu
objektivieren. Sein Gefühlsapparat vibrierte zu fein und
arbeitete zu innerlich. Dennoch regte sich frühzeitig
dramatischer Ehi^geiz in ihm, vielleicht weil er die drama-
tische Poesie jeder anderen vorzog. 0 Schon 1799 unter-
breitete er Coleridge und Southey dn fflnfaktiges Drama
in Blankversen JMdf^s Cure (Der geheilte Stolz). Es wurde
in die Tragödie John Woodvü verarbeitet, noch in demselben
Jahre Eemble, dem Direktor des Drury Laue Theaters,
angeboten, ging angeblich verloren und wurde schließlich,
nachdem Lamb ein anderes Manuskript eingesandt hatte,
abgelehnt >) Die Tragödie spielt zur Zeit der Restau-
ration. Der hochfahrende, prunkliebende John Woodvil
hält zum König, dessen Geburtstag er mit einem wfisten
Zechgelage begeht Das Gesinde ist frech, die Herrschaft
übermütig. Ihr zügelloses Treiben zwingt John Woodvils
Verlobte, die edle, stolze Mai^aret, in Knabenkleidem nach
Sherwood Forest zu fliehen, dem seit. Bobin Hood geweihten
Asyl der Freiheit, wo ihr Vormund, Johns Vater, der
alte Patriot und Bepublikaner Walter Woodvil Zuflucht
gefunden. In der Trunkenheit wird John zum Verräter
an seinem Vater. Margaret aber fühlt Mitleid mit ihm.
Sie gesellt sich zu dem von aller Welt Ausgestoßenen
und nun von seinem Hochmut Geheilten. So löst Lamb
das Problem, das er sich in The Prides Cure gestellt
Die Handlung, ein Ausfluß hochfahrenden Übermutes,
zieht zugleich die Züchtigung und Heilung dieses Hoch-
mutes nach sich.')
1) Hamens Table Books. Brief an den Heraiugeber anl&fllich der
Extracts of ihe Garrick Plays.
*) Ainger XU, 286.
') Brief an Manning, DeEember 1799.
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Der literarische Essay. 121
Sonthey schrieb 1801 an Charles Danyers, das Stück
werde ihm durch seine erlesene Poesie gefallen and ihn
durch die erlesene Dummheit seiner Fabel ärgern. Unter
dieser poetischen Schönheit versteht Southey offenbar die
von den Zeitgenossen so bewunderte Elisabethanische
Stimmung, die Lamb, zur Zeit der Abfassung in das
Stadium der alten Dramatiker vertieft und ganz erfüllt
von ihrem Zauber, unabsichtlich in sein Werk verwebt
hatte. Hazlitt zog seine Bühnenfähigkeit in Frage, zweifelte
aber nicht an seiner Wirkung in der Stille und Einsamkeit
Es sollte im Sherwood Walde gelesen werden, meinte er,
wo es auf die grünen, besonnten Waldwiesen ein neues
Licht würfe „und die zarteste Blume den Geist des Dichters
einzuschlürfen schiene^. In den Mängeln findet er die
Mängel der alten Dichter wieder, in den Schönheiten aber
Lambs eigenstes Eigentum, seine Gedanken, seine Leiden-
schaften, so rein als zart und tief. Und er steht nicht an
in Margaret, etwa von Shakespeares Gestalten abgesehen,
wohl den schönsten weiblichen Charakter zu erblicken. ^
Das Urteil der Nachgeborenen lautet strenger. Es
wird sich eher jener vernichtenden Kritik Jeffreys ')
anschließen, die allerdings weniger in ästhetischen Über-
zeugungen wurzelte als in der Parteigehäßigkeit, da Lamb
bereits als Southeys und Coleridges Freund bekannt war.
Jeffreys beißender Scherz stellt Woodvil auf die Stufe
des vor-äschyleischen Dramas. Die lapidare Kürze des
Stils sei noch altertümlicher als Handlung und Charakter-
Zeichnung, die Yersifikation aber von gleich barbarischer
Boheit
1
<) Age of EUgabefh, Lectiure Vm.
^ Minbourgh Betnew, April 1808.
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122 Der literarisehe Essay.
Das stärker entwickelte moderne Stilgeffthl empfindet
den Widersprach zwischen der Zeit der Handlung (Bestan-
ration) und der Elisabethanischen Sprache and ftLhlt inner-
halb der Diktion eine starke Likonseqaenz heraas. 0
In der Führang der Handlang and der Zeichnang der
Charaktere erhebt John Woodvil sich kaum &ber eine
gate Gymnasisjstenarbeit In dem gänzlichen Mangel an
technischem Geschick bleibt sie womöglich hinter einer
solchen znrück. John, als ein Temperamentsmensch großen
Stils gedacht^ imposant in der Aasschreitang, ersch&ttemd
in der Zerknirschang, hinreißend im Gefühl, ist in Wirklich-
keit nur eine verschrobene, rohe and larmoyante Figur
ohne Rückgrat. Der Dialog, den Lamb, „was Geist and
Leichtigkeit betrifft^, nach Shakespeares Master bildete, >)
artete stellenweise in prosaisches Geschwätz ans. Das
Zeitkolorit ist von kindlicher Befangenheit des Standponktea
Die Royalisten erscheinen ohne jede Individnalisierang als
Banf- oder Trunkenbolde, Weiberjäger und FlachkOpfe
ohne politischen Sinn und ohne Patriotismus — leblose
Marionetten. Sonderbar nimmt sich an ihnen auch die
Lamb selbst in so hohem Grade eigene Gewohnheit aus,
in der Vergangenheit zu leben. Alle schwelgen in Er-
innerungen und übersehen, daß sie berufen wären, die Gegen-
wart zu gestalten. Lamb hatte gehofft, seiner Tragödie
eine Art Universalität zu verleihen, sie zu einer Mischung
von Gelächter und Tränen, von Vers und Prosa, von
Witz und Humor, Pathos und, wenn möglich, Erhabenheit
zu machen.') Aber was zustande kam, war lahm, dürr
und papieren. Er besaß die kräftige Hand nicht, die
') Ainger 68.
«) An Sonthey, 20. Mai 1799.
*) An Southey, 2a November 1798.
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Der literariflche Essay. 123
Innerlichkeit, Erlebtes und objektiv Oeschautes zu einem
Welt- and Menschenbilde zusammenschweißt
The Witch (Die Hexe), eine znr selbständigen drama-
tischen Skizze verarbeitete Episode des Woodvüy ist voll-
kommen episch gehalten. Ihr ganzer Inhalt ist die
Erz&hlnng von einem geheimnisvollen Fluche, den die Hexe
aaf einen Vater und einen Sohn schleudert
Die Posse, The Pawnbroker's Daughter (Die Tochter
des Pfandleihers), aus einem Jugendaufsatze entstanden, 0
erblickte zwar gleichfalls nicht das Rampenlicht, wurde
aber 1830 in Blackwood^s Magaeine veröffentlicht Flint,
der hartherzige Wucherer und zärtliche Vater, ist ein
verblaßter Abdruck des Shylock. Die Tochter, Harlan,
weicht insofern von Jessica ab, als sie bei ihrer Flucht
mit dem geliebten Davenport die Juwelen des Vaters nur
infolge eines bedauerlichen Zufalls mitnimmt Die Bühr-
seligkeit des versöhnlichen Schlusses ist ebenso verfehlt
wie der matte Humor des Ganzen. Charakteristisch für
den Geist, der es durchweht, ist die Nebenfigur eines
sentimentalen Fleischhauers, der Joseph Bitsons Argument
agamst fhe Use of Animdl Food (Beweisgrtlnde gegen den
Gebrauch tierischer Nahrung) zitiert und fiber vegetarischen
Gr&beleien sein Geschäft vers&umt
Eine zweite Posse, Mr. H.j ist Lambs einzige dra-
matische Dichtung, die eine Bühnenauffahrung erlebte. 2)
Beide Geschwister knüpften an dieses große Ereignis die
st&rksten Hoffnungen. Am 5. Dezember 1806 schreibt Lamb
dem eben in China weilenden Jugendfreunde Manning den
Grundgedanken des Stückes, mit dem Vermerk, die Laune,
0 Aioger Y, Introduetion YUL
^ Sie wnrde 1827 und 1885 wieder aufgeführt (Dnrocqnigny 144).
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124 Der literarische Essay.
die sich auf dem Papier nnr schal ausnehme, wirke in der
Posse trefflich. „Denke nnr'', fugt er scherzend hinzu,
„wie hart es für mich ist, daß das Schiff morgen abgeht
und mein Triumph erst n&chsten Mittwoch konstatiert
werden kann! "
Mit solcher Zuversicht erwartet^ kam der bedeutsame
Abend. Charles und Mary saßen im ersten Bange des Drury
Lane Theaters. Er lachte kindlich laut über seine eigenen
Witze. 0 Aber das Lachen verging ihm. Sein Stück erlebte
einen furchtbaren Durchfall Den peinvollen Eindruck hat
Lamb in dem Essay On ihe Custom ofJSissing at Theatres.
With some Account of a Club ofBamned Äuthors (Über die
Gewohnheit des Zischens im Theater. Mit einem Bericht
über einen Elub ausgezischter Autoren) im Beflector 1811,
festgehalten. „Niemals'', sagt er, „werde ich die Ger&usche
in dieser meiner Nacht vergessen."
Befremdlich wird dem unparteiischen Beobachter
Mr, IT.'s trauriges Bühnenschicksal allerdings nicht sein.
Es war, gelinde gesagt, eine merkwürdige Verrechnung,
hinreichendes Interesse und die für ein ganzes Stück erforder-
liche heitere Spannung von dem Motive zu erwarten, daß ein
von Hoch und Niedrig geehrter, umworbener Unbekannter
in der allgemeinen Wertschätzung einen jähen und völligen
Umschwung erleidet, als er in einem unbewachten Augen-
blick seinen bis dahin sorgsam verheimlichten Namen
Hogsflesh (Schweinefleisch) verrät Die versöhnliche Schluß-
wendung wird durch Mr. H.'s plötzlichen Antritt des
Familienerbes herbeigeführt, wodurch sein Name in einen
von gutem Klange — Bacon (Speck) — verwandelt wird.
0 HazHtt, Table Talk 828.
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Der litenuische Essay. 125
Weder der Hamor noch die Satire, die Lamb beab-
sichtigte, kommen znm Ansdrack. In der Eigenart seines
Wesens waren beide viel zu zart besaitet and viel zn
einsiedlerisch gewOhnt, um als Posse auf die Menge wirken
zu können. Nichtsdestoweniger bezeichnet der australische
Schriftsteller Barron Field, der Verfasser der von Lamb
1819 im Examiner angekündigten GedLchte The First
Fruiis of Australian Poeiry (Erstlingsfr&chte australischer
Dichtkunst), Mr. H. als das beste dramatische jeu tTesprit
der Sprache, obzwar er seinen Mangel an Verwicklung,
Handlung und Realit&t und seine Unspielbarkeit zugesteht^
Lamb scheint zwanzig Jahre gebraucht zu haben, um
Mr. jBT.'s Niederlage zu yerwinden. Erst im Sommer 1827
ist er wieder mit einem dramatischen Gedicht beschäftigt,
das wiederum Eemble übersandt, aber nicht aufgeführt
und 1828 in Blaekwoo^s Magazine veröffentlicht wird,
The Wife's Trial, ar The Iniruding Widow (Die geprüfte
Gattin oder Die aufdringliche Witwe). Es ist die Dramati-
sierung der Grabbeschen Erzählung The Confident (Die
Vertraute), in die Lamb jedoch eine höchst charakteristische
Veränderung bringt Während bei Crabbe die Gattin tat-
sächlich in früher Jugend einen Fehltritt begangen hat, den
der Gatte in gerechter Erwägung unschuldiger Schuld vergibt,
ist Lambs Heldin Catherine in Wirklichkeit makellos. Die
kluge Abenteuererin, die sich in ihre Ehe drängen will,
benutzt für ihren Zweck ein nie vollzogenes heimliches
EheversprecheUy das Catherine einem bald nachher ver-
schollenen Seemanne gegeben. Sie erweckt in dem kind-
lichen Gemüt das furchtbare Schuldgefühl der Bigamie,
>) Barron Fidd, Charlea Lamb (The Annual Biograjphy and
(mmay, 1886, voL 20.)
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126 Der literaiiflche Ebmj.
nnter dessen Druck Catherine sich jede Knechtung
gefallen l&ßt, bis die hellsichtige Schwester ihres Gatten
die Sachlage dorchschaat und eine offene Aussprache
der Eheleute die eingetretene Spannung löst Lambs
Veränderungen bedeuten eine Verwftssemng, keine Ver-
tiefung des Vorganges, dem sie die Spitze abbrechen.
Die Behandlung krankt auch in diesem Drama an einem
durchaus epischen Zug. Die Lösung wird durch die Er-
zählung einer Parabel herbeigeführt Catherine mit dem
Griseldischarakter, die intrigante Kokette Mrs. Frampton,
der gutmütige Gatte Seeley sind verschwommene TyfevL
ohne Persönlichkeit
Nach Lambs Tode hat sich unter seinen Papieren
noch der dreiaktige unbetitelte Text einer komischen
Oper gefunden, den Patmore zuerst 1854 in My Friends
and Äcguaintance (Appendix I) veröffentlichte. Er scheint
identisch mit einer auf Verlangen Thomas Sheridans (Robert
Brinsleys Sohn) geschriebenen Sprechpantomime. Mary
erwähnt den Auftrag im Dezember 1808 und f> hinzu,
das Drama spiele in Gibraltar^) Dies trifft für die komische
Oper zu. Die stolze Violetta folgt, als Fähnrich verkleidet,
ihrem abgewiesenen Liebhaber, dem Offizier Lovelace,
nach Gibraltar, um den LebensfiberdrQssig-Tollk&hnen dort
vom Tode zu retten und in reumütiger Erkenntnis frftherer
Grausamkeit mit ihrer Hand zu beglücken. Originell sind
weder die Gestalten noch die Situation, der es an jeder
Komplikation fehlt. Ein viel zu absichtlicher Humor
bemüht sich vergebens mit höchst abgebrauchten Mitteln
— wie Koketterie einer die Männerwelt in Aufruhr ver-
setzenden Frau oder nach Fluellens Beispiel verwendeter
1) CornwaU 526.
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Der literaxisciie Essay. 127
Dialekt und Lokalpatriotismos zweier Hauptleute — heitere
Wirkungen za erzielen. Das beste sind die, eingestreuten
Tolkstümlichen Melodien leicht und sangbar angepaßten
Couplets. Aulfallend ist das in der Manier modernster
Autoren gehaltene Personenverzeichnis, das den Handelnden
eine Art yon Steckbrief und in wenig Worte zusammen-
gefafiter Vorgeschichte mitgibt
Die plastische Bunduug der Gestalten und die An-
schaulichkeit des Milieus, die Lambs Dramen abgeht,
besitzt die Novelle, die ihm den ersten vollen Ruhm errang
un^ in England den Musterwerken ihrer Gattung ein-
gereiht worden ist, Ä Tale of Bosamond Gray, 1798. Fflr
den einfachsten, echt menschlichen Inhalt — ein Schurke
vergewaltigt eine lautere, kaum erschlossene Mädchen-
bifite, die an dem Erlebnis zugrunde geht — findet Lamb
die knappe, durch Einfachheit und Reinheit der Diktion
völlig entsprechende Form und schafft so ein einheit-
liches, künstlerisch ausgeglichenes Ganze. Trotz zahlreicher
bewußter und unbewußter Anlehnungen an alte yorbilder,0
trotz deutlicher Anklänge an die mondscheinf arbene, schemen-
>) Ainger (DI, 296) macht auf eine ganze Beihe aufmerksam.
Gegen seine Annahme, cLaB Lambs Bosamond Gray auf Southeys
E]doge The Buined CoUage (Die zerfallene Hütte), 1799, zurückgehe,
ist zn bemerken, daß, selbst eine gleichzeitige Entstehung angenommen,
Sontheys das Thema nur in hOchst summarischer Tatsächlichkeit wieder-
gebendes Gedicht nicht sowohl als Vorlage erscheint, sondern vielmehr
als einer und derselben Quelle entlehnt. Diese dürfte die aus Samuel
Danieb Eymen's Triumph geschöpfte Ballade An Old Woman doihed
in Gray (Ein altes Weib in Grau gehüllt) sein, aus der Lamb im
Tierten Kapitel einige Verse eingefügt hat Den Namen der Heldin
entnahm er einem 1795 in den Poems of Various Subjeets erschienenen,
aus Gemeinplätzen zusammengesetzten Liede Bosamond Gray von
Charles Lloyd, den Namen des Schurken dem Königsmörder Matreyis
in Marlowes Edicard IL Die sentimentale Überschwänglichkeit der
eingestreuten Briefe gemahnt an Mackenzie und Bichardaon,
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128 Der literarische Essay.
hafte Ideale yerhimmelnde Exaltation der modernen Roman-
tiker, behaupten Lambs Gestalten doch ein menschlich indivi-
duelles Interesse. Man fühlt ihre Wirklichkeit^ man merkt
es ihnen an, daß der Dichter sie mit seinen Augen geschaut
und mit seinem Herzen geliebt hat. Die gottesfflrchtige
blinde Großmutter, deren schlichte Einfalt Weisheit ist
und die in ihrer klugen und gütigen Lebenserfahrung
Rosamond erzieht, ist Lambs eigene Großmutter. Ihr trau-
liches Häuschen ist sein Eindheitsparadies in Blakesware.
In der schönen Rosamond mit dem melancholischen Lächeln
und dem schfichtem-nachdenklichen, bescheidenen und fiber
jeden Ausdruck lieblichen Wesen zittert die Erinnerung an
Ann Simmons nach. Der Nachbarsohn Allan Cläre ist
14 Jahre alt, als er Rosamond kennen lernt und in ihr
die Zukunftsyerheißung seines Lebens anzubeten beginnt
Duroquigny weist darauf hin, daß dies ungefähr Lambs
Alter sein mochte, als er Ann Simmons begegnete. 0
Allans ältere Schwester und Vertraute, Elinor, im Gegen-
satz zu Rosamond, der naiven Unschuld, die bewußte
Tugend, ein Urbild zartester Fürsorge und edelster Selbst-
losigkeit, ist Mary; Allans älterer Schulfreund ist Coleridge.
Der schwarz in schwarz gezeichnete Schurke Matravis
ist die einzige nicht aus dem Leben gegriffene Gestalt, in
ihrer unbedingten Verworfenheit eine richtige Romanfigur.
In höchst bezeichnender Weise sitzt jedoch Lamb sdbst über
den Frevler nicht zu Gericht, sondern läßt sogar ihm gegen-
über einen Ton des Mitleids mit dem von allem Guten
Ausgeschlossenen einfließen. „Nichts Großes, nichts Liebens-
würdiges existierte für den unglücklichen Menschen''. Von
diesem Standpunkte gegen das Verbrechen ausgehend,
>) S.48.
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Per litenxiselie Essay. 129
schwingt sich der zn höchster Dnldong and Vergebung
abgekl&rte Held schließlich dem Vemichter seines Lebens-
gluckes gegenüber zu einer Tat des Erbarmens auf and das
ethisdie Ergebnis der Novelle klingt aas in den Worten:
„Mitgeffibl ist es vor allem, dessen der Mensch in diesem
furchtbaren Faustkampf irdischer Leiden bedarf^ (Kap. 12).
Diese Grandstimmung hat yermutlich stark auf Shelleys
Urteil gewirkt, das er 1819 in einem Briefe an Hunt aus
Livomo folgendermaßen zusammenfaßt: ,,Was ffir ein lieb-
liches Ding ist Rosamond Qrayl Wieviel Kenntnis des
Lieblichsten und Tiefeten in der Natur steckt darin! Wenn
ich an einen Geist wie Lamb denke und sehe, wie un-
beachtet Dinge von so erlesener und unbedingter Vollendung
sind, was bliebe mir selbst zu hoffen, hätte ich nicht höhere
Ziele im Auge als den Ruhml*^
Der größte Zauber der Novelle liegt in dem un-
geschminkten Hervortreten der Subjektivität des Dichters.
Seine Apostrophen an den Mond, an Bosamond sind voll
poetischen Schwungs der Empfindung und ein von tiefer
Religiosität getragener Hauch der Schwermut verleiht dem
Ganzen das Stimmungsgepräge. „Das milde Herbstlicht
auf Garten und Hütte hat kein Dichter oder Maler je
vollkommener empfunden, als es in den Eingangsseiten
dieser Erzählung der Fall isf'O
Qiarles' und Marys gemeinsame Werke.
1807 erschien die Bahmenerzählung Mrs. Leicester's
SAool, ar The History of Several Young Ladies related hy
ikemselves (Mrs. Leicesters Schule oder Die Geschichte
>) AiDger m, 299.
Getchieltte der engUBchen Bomantik n, 1.
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180 Der Btenurische SSssay.
mehrerer junger Damen, von ihnen selbst erzählt). Die
Fiktion isty daß eine Lehrerin ihre neu eintretenden kleinen
Schülerinnen je eine Geschichte ans ihrem Leben erzählen
läßt nnd sie aufschreibt Aber selbst die eingestandene
Überarbeitung der Anfeätze von einem moralisierenden
Standpunkte aus durch die Lehrerin zugegeben, wird man
im Guten wie im Schlechten vielfach echte Kindlichkeit in
den Erzählungen rermissen. Am geglücktesten ist in dieser
Hinsicht die kindliche Altklugheit und der diskrete Humor
Ton The Fafher's Wedding Bay (Der Hochzeitstag des
Täters). Als Novelle, durch stofQiches Interesse fesselnd,
steht The Changding (Der Wechselbalg) obenan. Durch
feine Beobachtung ausgezeichnet sind The Saäor's Unde
(Des Seemannes Oheim) und die etwas didaktisch an-
gehauchte The Young Mahometan (Die junge Muhame-
danerin). Von Charles rühren drei Erzählungen her: The
Effect of Witch Startes (Folgen von Qespenstererzählungen)
mit dem trefOichen, ins Geisterhafte übersetzten Porträt
der Tante Hetty; First Odng to Church Per erste Kirch-
gang) und The Sea Voyage (Die Seereise). Die erste
Geschichte verwendet eigene E[indheitseindrücke qualvoller
(respensterfurcht zu einer gut vorgetragenen und psycho-
logisch fein motivierten Erzählung, deren pädagogischer
Zweck sich nicht aufdringlich vorschiebt Die Empfäng-
lichkeit des Kindergemütes für gruselige Stimmungen und
der Hang der kindlichen Phantasie, jede Anregung zum
Gespensterglauben ins Furchtbare auszugestalten, wird
beleuchtet Ein finsteres Zimmer, ein düsterer Weg
genügt, den Kleinen Personen und Gegenstände der
gewohnten Umgebung in Spukbilder zu verzerren. Vor-
sichtge und rationelle Überwachung wird den Lehrern und
Erziehern ans Herz gelegt, •
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Der literarische Essay. 131
Die Bedentnng des ersten Kirchganges fni* das gläubige
Kindergemut, das diesem frühen Lebensereignis entströmende
Glncksgefflhl veranschaulicht Lamb mit der ihm eigenen
Fähigkeit, sich in die primitive Empfindungswelt der Kleinen
Korfickzuveraetzen. Auf den feinsten und zartesten Ton
gestimmt ist Die Seereise — die Fahrt einer kleinen, von
einem Schifkmann betrauten Waise, die ihren Beschützer
auf dem Wege von Westindien nach England durch den
Tod verliert — ernst ohne moralisierende Absicht, an-
spruchslos ohne Banalität, dem Gesichtskreise des Kindes
angepaßt, ohne der Tiefe des Gefühls Abbruch zu tun.
Die Erzählungen erlebten in fünf Jahren fünf Auflagen.
Noch ungleich erfolgreicher und von tiefgehenderer
Wirkung war eine zweite gemeinsame Arbeit der Geschwister
aus dem fleißigen Jahre 1807: Tales from Shakespeare,
designed for fhe Use ofYoungPeople (Erzählungen aus Shake-
speare, für die Jugend bestimmt). Sie wurden für die Serie
von Kinderbüchern geschrieben, die Godwin herausgab. Die
Lambs waren durch Hazlitt mit ihm bekannt geworden.
Schon am 10. Mai 1806 schreibt Charles an Manning: „Mary
schreibt für GodwinsVerlag zwanzig Shakespearesche Dramen
in Kindergeschichten um**, und fügt hinzu: „Ich glaube, du
wirst finden, daß Mary sie vorzüglich gemacht hat." Er
selber will alle Tragödien machen, sie hat die Lustspiele
und romantischen Schauspiele übernommen. Sie halten
Othello für Charles' und Ferieles für Marys Bestes. Die
Vorrede ist von beiden gemeinsam geschrieben, ^
Bertram Dobell verweist darauf,^) daß die Tales from
Shakespeare einen Vorläufer hatten in Perrins Contes vnoraux,
I) An Wordsworth, 29. Jannar 1807.
«) Side LighU 329.
9*
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182 Der fiterarisdie Bnaf.
amusants et instntcHfs ä Vusage de la jeunesse^ tiris des
tragedies de Shakespearey 1783.
Die Aulgabe war, eine EuüfBhnmg in Shakespeare f&r
Kinder — speziell Mädchen — zarten Alters zn schaffen,
indem man die Probleme dem Horizont der Jngend anpaßte
nnd dennoch möglichst viel yon Shakespeares Geist nnd
seinem Wortlaut beibehielt Shakespeare sollte dem Kinde
zugänglich gemacht^ ohne anf ein kindisches Niveau herab-
gezogen zu werden. Zweierlei befähigte die Lambs zu diesem
schwierigen Unternehmen : die Kindlichkeit der eigenen Seele
und die ihnen zu Gebote stehende außerordentliche stilistische
Kunst und Durchbildung; einesteils die vollkommene Be-
herrschung der Sprache, die eigene Gabe des markigen,
schlichten, treffenden Wortes; andemteils das an den Elisa-
bethanem geschulte Ohr. So waren sie in der Lage, eine
Erzählung zu schaffen, in die sie Shakespeares Worte
ohne fühlbare Inkonsequenz einzuffigen vermochten. 0 Was
Wunder, daß das schwierige Unternehmen in seltener Voll-
kommenheit gelang. Der Sachverständige wird die kritische
Schärfe wie die kfinsüerische Technik, die feine Analyse
der Handlungen wie der Charaktere bewundem, die sich
hinter der schlichten Darstellung verbergen. Das Kind wird,
durch Unterhaltung und Belehrung gefesselt^ beizeiten des
Segens seines Shakespeare teilhaftig werden. Die Dar-
legung von Hamlets Charakter oder die der Beweggründe
Othellos zur Tat, die Verbindung des sagengläubigen
Tones mit lebendigster Bildhaftigkeit im Lear, das Heraus-
arbeiten der Stimmungsmomente bei scheinbarer Be-
schränkung auf das rein Stoffliche in Macbeth ist durchaus
bewundernswert. Die Perle der Erzählungskunst aber
») Vgl. Ainger, 86.
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Der literaiiflohe ÜBsay. 133
bildet BomeOj wo die Eingangsszene zur Einleitung um-
gemodelt und das Ganze wiederum und in erhöhter Schönheit
in die ursprfingliche epische Form aui^elöst wird.
Wenn Mary sich auch nicht durchweg auf der Höhe
des Bruders h<, ist doch ihr Märchenstil {Temj^est; Mid-
summemighfs Dream) von feiner Anmut und mancher
glfickliche Griff zeugt von ihrem echten Erz&hlertalent,
z. B. die Kontinuität der Fabel in der Wiedergabe des
Wintermärchens^ das Einfügen der Originalreden in Vid
Lärm um Nichts j die ausgezeichnete Charakteristil^ der
Hauptpersonen im Kaufmann von Venedig^ das zarte Zu*
richten heikler Motive fttr die Eindesseele in Ende gut
alles gutj das nicht minder taktvolle Ausschalten des
trocken Lehrhaften, wie Kätes Exkurs über Weiblichkeit,
in der Bezähmten Widerspenstigen. Die hohen Yorzflge,
neben denen Schwächen und Mißgriffe, wie das unerklärliche
Beiseitelassen des gesamten Elfenzaubers im SonmemachtS"
traumy der Figur des Narren in Wie es euch gefallt und
des Eästchenmotivs im Kaufmann von Venedig, nicht
allza schwer in die Wagschale fallen, begründen die in
ihrer Art fast alleinstehende Tatsache, daß diese Nach-
erzählungen klassischer Werke ihrerseits unter die klassischen
Kunstwerke gereiht worden und in den Hausschatz der
englischen Literatur übergegangen sind.
Der Erfolg der Erzählungen oms Shakespeare veran-
laßte Godwin zu der Aufforderung, auch den Homer einer
ähnlichen Bearbeitung zu unterziehen. So entstanden 1808
Lambs The Adveniures of Ulysses (Die Abenteuer des
Ulyss), denen er in seiner Vorliebe für die älteren englischen
Dichter die Übertragung Chapmans zugrunde legte, die er
nicht sowohl für eine Übersetzung, sondern eine wieder
geschriebene Geschichte des Achill und des Odysseus er-
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134 Per literarische Sssajr.
klitrt.0 Bei Lambs Mangel an klassischer Gelehrsamkeit
aberragen in seinen Angen Chapmans Tagenden — die
im Vergleich zu Pope angleich naivere Anpassung an das
hellenische Wesen — weitaus seine Fehler. „Chapman
ist göttlich!^ schreibt er 1827 an Barton. Seine eigene
Arbeit faßt er bescheiden als Einleitang zur Lektfire
der Abenteuer Telemachs aof.^) Die Gestalt des Telemach
verkörpert ihm den moralischen Gehalt der Odyssee: Einen
Mann, der gegen das Mißgeschick ankämpft und es durch
kloges Ausnatzen der Ereignisse bemeistert Biesen, Zauberer
und Sirenen repräsentieren ihm äußere Gewalten und innere
Versuchungen. Dieser Gesichtspunkt bedeutet an sich schon
ein Aufsetzen andersstiliger Giebel auf den klassischen
Bau. Doch trägt Lamb auch bewußt eine modernisierende
Absicht in das Werk, indem er durch einen Tempowechsel der
„Weitschweifigkeit" der Beden und Schilderungen Homers
zu steuern und die Erzählung dem jungen Leser fesselnder,
„romanartiger" zu machen sucht, obzwar er sich nicht
darüber täuscht^ daß er an mancher Stelle der Leiden-
schaft den Stil, dem Interesse die Charakteristik geopfert
So sind die Abenteuer des Ulysses ungleich weniger aus
Homers Geiste geschöpft als die Erzählungen aus dem
Shakespeares.
1809 erschien ein gemeinsam von Charles und Mary
Lamb verfaßter Band Gedichte Poetry for Chüdren,
entirely Original By the Aulkor of Mrs. Leicester's Sckool
(Original- E[indergedichte von dem Verfasser von Mrs.
Leicester's Schule). Er werde sich wundem, schrieb Lamb
an Coleridge, daß ein alter Junggeselle und eine alte
*) Characters of Dramatic WriterSf Chapman.
*) Ab Hanziing, Februar 1806.
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Der Utenurische Essay. 135
Jungfer eiae solche Menge von Gregeiistäiideii herausgegriffen
hätten, die alle von Kindern handelten. Doch wer die
Lambs kannte, dem schien es nur natfirlich. Trotz aller
harten Lebenserfahrongen war anf dem Grande ihrer Seele
ein Hauch von Kindlichkeit zurückgeblieben, der ihrem
weltfremden Wesen sein Gepräge gab. Es kennzeichnet
die hmerste Natur dieses Junggesellenpaares, daß Ede ihre
Kunst und Arbeit in den Dienst der Jugend stellten. Und
dennoch kennzeichnet es bis zu einem gewissen Grade auch
wieder die hier und da viel zu altklugen und didaktischen
Kindergedichte, daß ihre Verfasser ein Junggeselle und eine
alte Jungfer sind. Der für die Bomantik charakteristische
Kultus des Kindes findet bei den Kinderlosen einen mehr
theoretischen Ausdruck. Im Kinde ruhen die guten Keime;
das Kind darf der Mann, der gegen eigene Fehler hart
sein muß, bemitleiden, loben, verzärteln (New Year's Eves.
^Ivesterabende, 1821). Die Lebensechtheit der Kinder-
gestalten ist freilich nicht immer gegluckt Manche in
Kindermund gelegte Ausspräche sind merkw&rdig tempera-
mentlos (Sister^s Expoßtulation on fhe Brother^s Learning.
Der Schwester Verweis über des Bruders Lernen; Brother's
B^ly. Des Bruders Antwort). Etliche laufen auf eine höchst
{o-OBaische Lehre hinaus, z. B. Cleanliness auf die goldene
Regel: Wasch dir die Hände! Die Autorschaft ist nur bei der
Minderzahl mit Sicherheit anzugeben; doch scheinen Marys
Gedichte denen des Bruders wesentlich nachzustehen. Ihnen
fehlt die über dem Stoff schwebende befreiende Gestaltungs-
kraft des Humors. Charles überschätzte sie in rührender
Verblendung und fand Verse von stammelndem Ungeschick
wie Helen, original und fein.O Zu den gelungensten der
0 Güduist 57.
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136 Der literarische Essay.
Kindergedichte gehören The Boy and the SnaJce (Der
Knabe nnd die Schlange); Going into Breeches (Die ersten
Hosen).
Von Charles allein rühren drei M&rchenbearbeitangen
her: das lastig illostrierte Kinderbflchlein The King and
Queen ofHearts (Herzkönig nndHerzkönigin^O eine anmutige
Paraphrase der alten zwei Strophen The Queen of Hearts
She made some tarts, für Gk>dwins Jngendbibliothek, 1809.
Die Geschichte vom Herzbuben, dem hündischen Torten-
diebe Pambo, den der Königin kleiner schwarzer Spion
verklatscht, wofür er eine Tracht Prügel erhält, wird in
heiteren Knittelversen mit jenem drastischen Nachdruck
erzählt, der seine Wirkung auf das Kindergemüt nicht
verfehlt
Eine von Charles verfaßte Version des Märchens vom
langnasigen Prinzen Doms erschien gleichfalls in Godwins
Jugendbibliothek, 1811 : Frince Darus, or Flatteryput out of
CountenancCj A Poetical Version of an Ancient Taie (Prinz
Doms oder Schmeichelei aus der Fassung gebracht. Eine
poetische Version des alten Märchens). >) Die poetische
Form der zehnsUbigen Reimpaare ist für den Märchenton
ein wenig pretiös. Die Erzählung von dem langnasigen
Prinzen, der geheilt und von allen Leiden befreit wird, sobald
er sein Gebrechen erkannt hat, ist in gehaltenerem und
breiterem Humor wiedergegeben als Herekönig,
Bei einer dritten Märchenbearbeitung The Beauty and
^) Von Lamb als sein Werk erwähnt in dem Briefe an Wordsworth,
1. Februar 1806 (Macdonald VI, p. Vm).
^) Als Lambs Werk erwiesen darch H. Crabb Bobinsons Eintrag
in sein Tagebnch am 15. Mai 1811: „Angenehmer Besnch bei Charles
und Mary Lamb. Lasen seine Fassung vom Frineen Darus, dem lang-
nasigen König'' (Macdonald V, S. Ym).
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Der Utenunsche Essay. 137
ihe Beast (Die Schöne und das ungeheuer), 1811, ist Lambs
Autorschaft nicht völlig zweifellos, aber sehr wahr-
scheinlich. 0
literatnr und Kritik.
In Lambs Kultus der Elisabethaner reichen sich Sym-
pathie und gründliche Belesenheit die Hand zu einem glück-
lichen Ergebnis. Die 1808 veröffentlichten Specmens of
ihe EngUsh Dramatic Poets uiho lived about ihe Time of
Shakespeare (Proben aus den englischen Dramatikern, die
um Shakespeares Zeit lebten) sind Auszüge aus seltenen
oder schwer zugänglichen Werken. Lamb gab ihnen 1827
eine Fortsetzung in den Extracts fram the Garrick Plays,
der dem Britischen Museum vermachten Sammlung alter
Dramen aus Garricks Besitz. Jedem Bruchstück wird
eine die Situation erklärende Inhaltsangabe vorangestellt,
die häufig wertvolle kritische Anmerkungen enthält. Sein
Standpunkt ist kein streng gelehrter. Wie er im Vorwort
mitteilt^ leitet ihn bei der Auswahl weniger der Hinblick
auf den Witz und Humor als auf die interessante Situation,
die Leidenschaftlichkeit des Auftritts, den Ernst der
Schilderung. Er gesteht, daß er sich mit dem Text kleine
Freiheiten gestattet und hier und da eine dunkle Stelle,
eine schwerverständliche Anspielung gestrichen habe. Er
sagt: Meine leitende Absicht war, das, was man den
moralischen Sinn unserer Vorfahren nennen könnte, ins
licht zu setzen, ihre Art zu denken, zu empfinden,
zu urteilen. Er will das Verhältnis Shakespeares zu
den Zeitgenossen aufdecken und verweist bei Marlowes
Jew of Malta auf den Shylock, bei Dekkers Orleans (Old
>) Vgl. Macdonald, Works V, S. Vm und Lucas 29a
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138 Der litemiüdie Essay.
Fartunatus) auf Romeo, bei Mddletons Hexenszenen {The
Witch) auf die im Macbeth. Er findet, daß Henry Porters
heiterer Witz dem der Shakespeareschen Jngendkomddien
nicht nachstehe, daß Chapman Shakespeare in den be-
schreibenden didaktischen Stellen am nächsten und Heywood
ihm an edler Milde gleichkomme, an christlichem und
treuherzig englischem Empfinden aber sogar fiberlegen seL
Er hebt die wunderbare Leidenschaftlichkeit Middletons
hervor, mit der verglichen die konventionelle Moral der
modernen Buhne schwächlich und geschmacklos erscheine.
Er kontrastiert die kraftvolle Realistik Rowieys mit der
Schönfärberei der Gegenwart. Er preist mit Wärme die
Lebensechtheit Cyril Toumeurs, des Verfassers von The
Bevenger's Tragedy, die tragische Größe Websters, die feier-
liche Erhabenheit John Fords. Ben Jonson wird gegen
den Vorwurf pedantischer Gelehrsamkeit in Schutz ge-
nommen und die Eleganz seines Geistes wie seine poetische
Phantasie gerühmt. Lamb verteidigt mit dichterischem
Verständnis Sidneys Sonette gegen einen geringschätzigen
Angriff Hazlitts in The Äge of Elizabeth ^) und stellt
eine geschmackvolle Blumenlese treffender Aussprüche
und Charakteristiken des Eirchenhistorikers Füller zu-
sammen. 2)
Neben der positiven Bereicherung, die die l^akespeare-
forschung durch Lamb erfährt, wiegt ein gelegentliches
Mißverstehen nicht allzu schwer. So bezeichnet er einmal
das Phantom, „das als Julius Cäsar über die Bretter
schreitet, als einen der wenigen unbedeutenden Charaktere,
die sich bei Shakespeare finden.'' 3) Dafür entdeckt er
0 Some Sonetts of Sir Fhüipp Sidney.
2) Specimena from ihe Wrüimgs of Fuiüer, The Church Historüm,
•) Table Talk, AingerlV, 195.
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Der üterariBdie Sssay. 189
in einem W^ke von 1670, AccurcUe Description of Äfrica
by John Ogiiby das Urbild der Sycoraz {Tempest) in einer
Hexe, welche 1542 Algier bei der Belagerung durch Karl V.
rettete. Mit dieser Tatsache erklärt Lamb die Stelle:
For one Mng ihat she did
They woidd not take 7ia- Ufe,^)
Beaumont und Fletchers Tragödie Cupid^s Revenge
(Capidos Bache) hat Lamb in einer Prosaerzählung mit
angehängter Nutzanwendung ffir Harper^s Magazine wieder-
gegeben.
Seine persönlichen Lieblinge sind George Wither und
Sir Thomas Browne. In dem Essay on the Poetical Works
of George Wither gibt Lamb eine feine und anziehende
Analyse dieses komplizierten Charakters, den der merk-
würdige Gegensatz zwischen frischer Natürlichkeit und
scharfem Sarkasmus, zwischen dem liebenswürdigen Dichter
und dem Märtyrer puritanischer Überzeugung kennzeichnet.
Er glüht von Liebe zum Guten und von Haß auf alles
Niedrige und Gemeine; der Freiheitsinn eines Bums erfüllt
ihn und sein Gemüt ist noch im Kerker von Sonnenschein
durchwärmt.
Mit Browne verbindet Lamb der gemeinsame Zug
vorherrschender Subjektivität. Browne ist königstreu,
friedlich und religiös, wie Lamb. Bei einem an Er-
eignissen armen Leben liebt er es, wie Lamb, tief in
sich hineinzuleuchten und sein Inneres zu enthüllen; er
wird, wie Lamb, ein Teil seines Werkes. ^) Hazlitt erzählt,
daß Lamb eines Mittwochs, als das Gespräch sich darum
^) On a PctSMffe in The Tem^sl (London Magazine, l^oyember
18^).
>) Vgl. W. Pater, Äppnciatiom 129.
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140 Der litenrudie Essay.
drehte, welche Persönlichkeit wohl jeder der Anwesenden
gern gekannt hätte, Sir Thomas Browne nannte, dessen
Um Burial ihm wie ein Abgrund erscheine, in dem
Perlen nnd reiche Schätze verborgen seien oder wie ein
Labyrinth von Zweifeln nnd heißen Spekulationen, durch
das er gar gern von dem Geiste des Verfassers hindurch
geleitet würde. *) Zwar sagt er in Imperfect Sympathies,
Browne gehe auf den Stelzen der Abstraktion einher und
blicke auf die schamlosen Indiyidualitäten armer Eonkreta
wie Menschen von oben herab. Dennoch findet Ainger in
den Essays of Elia keinen Autor so oft zitiert wie den
mit Lamb wahlverwandten Mystiker, Scholar und paradoxen
Humoristen Browne.*)
Mit gleichem Verständnis erfreut Lamb aber auch
das Wesen eines Humoristen durchaus andern Schlages,
das des Malers Hogarth. Sein Essay on ihe Genius and
Character of Hogarth (Eeflector 1811) will Hogarth als
einen Lehrer der Moral betrachtet sehen. Seine Gemälde
seien Bücher. Wir lesen sie. Ihr Hauptaugenmerk sei
nicht die Verspottung des Lächerlichen, sondern die kräftige,
mannhafte Satire, wie die eines Juvenal, eines Timon von
Athen. Er stellt sie neben die Romane von SmoUett und
Fielding und bekennt sich als echter Humorist zu dem
Grundsatze, daß kein Herz schlechter werde durch ein
herzliches G^ächter über menschliche Schwächen und
Torheiten. Hogarth Eeynolds gegenüber zurücksetzen,
hieße den Maler von Gegenständen aus dem gemeinen
Leben mit einem gemeinen Künstler verwechseln. Von
einem solchen aber könne bei dem Takt- und Schönheits-
^) On Persans one would like to haue aeen,
*) Biographie 138. Works I,DL
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Der literariBche Essay. 141
sinne Hogarths nicht die Bede sein. Lambs Eunstnrteil
steht hier in voller Beife. Der gleichfalls dem Jahre 1811
angehörende Essay an ike Tragedies of Shakespeare with
Reference to ikeir Fitness for Stage Representation. (Über
die Tragödien Shakespeares in bezug auf ihre Eignnng
ffir die Bfihnendarstellnng) ist im großen und ganzen die
Beweisf&hrong der paradoxen Behauptung, daß Shakes-
peares Größe tlber die Möglichkeiten der Darstellungskunst
hinausgehe. Ganz abgesehen davon, daß die Buhne nur
Körperliches veranschaulichen könne — Der Sturme in
dem es sich um Geister handelt, z. B. gar nicht dargestellt,
sondern nur geglaubt werden könne — wirken auch seine
gewaltigen Vorgänge auf dem Theater zu stark. In
Macbeih vernichte das Gräßliche den poetischen Genuß;
Lear mache einen peinlichen und widerlichen Eindruck,
man könnte ebensogut Miltons Satan spielen wollen als
die BoUe des Königs; Hamlet auf den Brettern sei eine
Profanation. Die Bfihne mfisse das Auge durch Gestalten
und Gesten fesseln. Bei Shakespeare sei der Einblick in
den Charakter durch das Ausdrucksmittel des Wortes die
Hauptsache. In diese, an einem begeisterten Theatergeher
besonders wundemehmende Beweisführung, sind einzelne
kritische Bemerkungen von außerordentlichem Scharfsinn
und Feingeffihl verflochten, z.B. eine kurze Learcharakte-
ristik, die Talf ourd ffir den einzigen Shakespeare-Kommentar
erklärt, der ihm des Originals ganz würdig scheine,^ nnd
von der Macdonald meint, daß viele sie für die bedeutendste
Einzelstudie englischer Prosa halten werden. >)
>) Thoughts upan ihe Laie WüHam Hazlitt (lAierary Bemains of
Wmkm HasUU I, CXVUl).
*) Memoir (Works ü, S. XTiTT).
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142 Der Gterarische Essay.
Der Aufsatz On the Artificidl Comedy of (he Last Century
(Über die Sittenkomödie des vorigen Jahrhunderts), 1820, be-
weist am besten den weitenHorizont von Lambs Humor. Selbst
der seinem eigenen Naturell so diametral entgegengesetzten
Weltauffassung eines Wycherley, Congreve und Farquhar
gegenüber bringt er die Freiheit auf, die das objektive Kunst-
urteil bedingt. Ja, er bekennt^ daß es ihm behage, sich in
der Sittenkomödie, f&r die uns der moralische Standpunkt des
modernen Dramas den G^chmack verdorben habe, gewisser-
maßen „dem Bereich der Gerichshöfe^ entrfickt zu sehen.
Es werde ihm bei ihnen leichter, heiterer ums Herz. Ihre
Gestalten brechen kein G^etz, sie kennen es nicht Man
tue Unrecht, den Maßstab der Wirklichkeit an sie zu legen,
mit dem gemessen sie Wüstlinge und Dirnen wären. Sie
gehörten dem Gebiete der reinen Komödie an, wo keine
Moral herrsche — ein nicht ungefährlicher Standpunkt, den
Macaulay als höchst sophistisch, nicht nur im Namen der
Moral sondern auch der Kunst, entschieden zurückweist. 0
Als Kritiker seiner Zeitgenossen wirdLamb gerade durch
jene Eigenschaft beschränkt, die seinen Essays einen eigen-
artigen Zauber verleiht, durch seine stets im Vordergründe
stehende starke Subjektivität Er selbst nennt sich ein
Bündel von Vorurteilen, zusammengesetzt aus Vorliebe und
Abneigung, den wahrsten Sklaven von Sympathien und Anti-
pathien.'^) So bezeichnet er zur Zeit seiner Intimität mit
Southey dessen Joan of Are als eines Milton würdig (1796 an
Coleridge). Er gesteht, daß er Shelley nicht verstehe (an
Barton, August 1829). Byron läßt er nur als Satiriker
gelten; er könne nicht darauf kommen, wodurch er eine
*) The Comic Drama of ihe Eesiauration.
») Imperfect Sympaihies, 1821.
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Der literuuehe Bssay. 143
80 große Macht anf seine Bewunderer aosAbe; auf ihn wirke
Byron yerletzend (an Barton, 15. Mai 1824). Zn GotÜe
ün&ert er eine grandliche Abneigung gegen Byrons Cha-
rakter und eine sehr bedingte Bewunderung für Byrons
Qenins (5. Noyember 1819). Fflr den alten Schullehrer
und Poeten Vincent Boume hingegen , „in dessen Ge-
dichten nur die Diktion lateinisch, die Gedanken aber
englisch'' seien, ^) hat er eine solche Vorliebe, daß er seine
lateinischen Poesien ins Englische übersetzt
The Essays of Mia.
Lamb war Mitarbeiter mehrerer Zeitungen. Er lieferte
hintereinander dem Moming Chronide^ dem Älbion, der
Post Beiträga Seit 1811 schrieb er nach dem Muster des
TatÜer regelmäßig Artikel für den Reflector, seit 1820
ffir das unter John Scotts Leitung in Blüte stehende
London Magazine. Die letzteren gehören zu Lambs
besten. Sie enthalten den yollkommensten Ausdruck seiner
persönlichen Eigenart, seiner Lebens- und Weltanschauung,
zugleich die st&rkste Äußerung seiner Persönlichkeit wie
seiner Kunst. Lamb war damals 45 Jahre alt Diese
späte Blüte gehört so recht zu seinen charakteristischen
Merkmalen als literarisches Phänomen. Die Elia ge-
zeichneten Au&ätze fanden spontanen Beifall und Wider-
hall im Publikum. Sie erschienen 1823 gesammelt als Elia.
Essays {hat have appeared under (hat Signatare in the London
Magazine (Elia. Aufeätze, die mit dieser Unterschrift im
London Magazine erschienen sind). Mit diesen Essays hat
Lamb seinen eigenen Platz in der englischen Literatur
9 An Wordaworth, 1815.
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144 Der literarüehe Essay.
eingenommen. Elia — „nenne ihn EUia^, schreibt er am
30. Jnli 1821 an J.Taylor — yermnüich eine fingierte Person,
wird als subalterner Beamter des South Sea Honses eingeführt,
der in seinen Mußestunden schriftstellert Doch ist ein Be-
amter dieses Namens tatsächlich nirgends erwähnt 0 Lamb
selbst hielt zähe an seiner Fiktion fest Er leugnete aufs
entschiedendste die mit schmeichelhafter Anerkennung yer-
bundene Aussage des Indicator (31. Januar 1821), daß Lamb
selbst Elia sei (Elia to his Correspondents. Elia an seine
Korrespondenten) und verwickelte sich so sehr in Wider-
sprüche, daß er sich nur durch allerhand Spitzfindigkeiten
halbwegs wieder aus dem Wirrsal herauswand. Nach der
ersten Folge der Essays läßt Lamb seinen Elia sterben, um
ihm — will sagen sich selbst — einen Nachruf von meister-
hafter Charakteristik zu halten und die zweite Folge als
Elias Nachlaß herauszugeben.
Mrs. Gowden Clarke vermerkte in ihrem Exemplar von
Comwalls Memoir, Lamb hätte einst im Gespräch hin-
geworfen, Elia bilde ein Anagramm von a lie (eine Lüge).^)
Allein wie immer es sich auch mit seiner wirklichen
Existenz verhalten mag, in der englischen Literatur
gehört Elia zu jenen Gestalten, die selbständiges, reales
Leben gewinnen und volkstümliche Persönlichkeiten von
legendarischer Bedeutung werden.^)
Gleichviel, ob je ein Mann dieses Namens hinter einem
Pulte des Handlungshauses gestanden oder nicht, Elia
ist Lamb selbst. Die Aufsätze sind „dem Wesen nach
wahr", wie er einmal höchst bezeichnend äußert „Was
') Ainger 1, 295.
s) Lucas 442.
>) VgL £. Bhys, IniroducHon io the Essays of Elia {Camdot
Series, 1890).
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Der literarische Sssajr. I4S
kümmern Elia oder Peter') Daten?" Wenn er anch davor
warnt, Elias Anfzdchnnngen im biographischen Sinne
wörtlich zu nehmen, nnd sie nicht ffir mehr gelten
lassen will als Schatten von Tatsachen, als Wahrscheinlich-
keiten, nicht Wahrheiten,^) so enthalten sie tatsächlich
doch Lambs ganzes Leben« Mag er anch Namen &ndem
und Beziehungen verschieben, Ereignisse an die Stelle von
MSglichkeiten setzen und umgekehrt, die ideale Wahr^
haftigkeit, die Treue der Charakter- und Milieuschilderung
wiegt schwerer als die buchstäbliche. So läBt sich Lambs
Leben tatsächlich aus den Essays of Elia absondern wie
ein kristallinischer Niederschlag. Es gibt wenige Dichter,
die ihre Gtesamtexistenz literarisch so vollständig auf-
gebraucht haben wie er. Vor allem hat keiner je die
Stätten seiner Kindheit anschaulicher und greifbarer
geschildert als Lamb es in The OM Benckers of the Inner
Tmple (Die alten Advokaten des Innern Temple) tut Mit
dem künstlerischen Blick ffir dieses stilvolle Stfick Alt-
Londons am Ufer der Themse, mit dem historischen Sinn
des Altertumskenners ffir den einstigen Wohnsitz der
Tempelritter verbindet sich die schwärmerische Anhänglich-
keit des eingeborenen Cockney ffir dieses engste Stfick
Heimat, auf dem seine ersten sieben Lebensjahre sich
abspielten.
Das uralte Templergebäude, das das Gedächtnis der
guten alten Zeiten lebendig erhält, mag zuerst um Lambs
Herz jenes geheimnisvolle Heimatsband geschlungen haben,
das es an die Vergangenheit knfipfte. Zeitlebens treibt er
0 Brief an Moxon, Angost 1881, in bezng auf Anekdoten über
Geoige Dawe, die als Becöüectiona of a Laie BoycU Aeademician hy
^Her Net (EngUtihfMn's Magagine, September 1881) erschienen.
*) Otd Bemhers.
Oewhiehte der englischen Bomantik n, 1. 10
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146 Per literanBche Essty.
einen Eoltiis mit dem Alten und Veralteten. ZerleseneBftcher
sind ihm sympathischer als nene; zerrissene Möbel, deren
Löcher Bücherbehälter abgeben, findet er tranlich, alte
Banlichkeiten behaglicher als nene, beqnemera Das Alter-
tamliche mntet ihn als solches freundlich an. ^Altertum! da
wanderbarer Zauber,^ apostrophiert er das Vergangene. „Was
bist dn, da da nichts and alles bist? Als du warst, warst
da nicht das Altertum — damals warst du nichts, sondern
hattest ein noch weiter zurückliegendes Altertum, wie du
es nanntest, auf das du in blinder Verehrung blicktest,
während du dir selbst flach, nüchtern, modern erschienest
Welches Geheimnis lauert in diesem sich Zurückwenden?
Oder was für Halb-Januse sind wir, die wir nicht mit
gleicher Anbetung vorwärts blicken können wie rückwärts?
Die gewaltige Zukunft ist uns wie nichts, da sie doch alles
ist Die Vergangenheit ist alles — und ist nichts." 0
Die alte Sonnenuhr im Hofe des Temple wird zum
Symbol dieser verklärten Vergangenheit Lamb nimmt sie,
wie Hazlitt, gegen die modernen Instrumente des Zeit-
maßes in Schutz.^) Sie sprach von mäßiger Arbeit, von
mäßigen Freuden, die beide nicht über den Sonnenunter-
gang ausgedehnt wurden. Adam konnte sie kaum im
Paradiese missen. Sie war das richtige Maß für das
Sprießen holder Pflanzen und Blumen, für das silberne
Gezwitscher der Vögel, für das Weiden und zur Hürde-
treiben der Herden. Der Hirt ritzte sie im Sonnen-
licht (auf Stein oder Holz) und versah sie, durch die
Arbeit zum Philosophen geworden, mit rührenden Sinn-
sprüchen. Marvell überliefert aus der Zeit des über-
>) Oxfwrd m ihe VaeoHfm.
>) The Old Benchers.
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Der literarische Eaaay. 147
künstelten Geschmackes den artigen Einfall eines Gärtners,
der aas Grfisem nnd Blmnen eine Sonnenuhr verfertigte.
Hier geht Lamb unyermerkt zu einer kritischen Betrachtung
Maryells fiber. Dann stehen im Nebel der Erinnenmg
die alten Gestalten der Kindheit anl Das Dämmer-
licht, das ihren geheimnisvollen Zauber erhöht, ist ein
Beiz mehr f Qr Lamb. „Ihr unerklärlichen, halbverstandenen
Erscheinungen^, redet er sie an, „warum tritt die Ver-
nunft zwischen mich und euch, um den flbemat&rlichen,
bald leuchtenden, bald dfistem Nebel zu zerteilen, der euch
umhfiUt? Warum spielt ihr eine so traurige Figur in
meiner Erinnerung, ihr, die ihr fflr mein Eiuderauge die
Mythologie des Temples bedeutet?"
Die alten Mitglieder der Advokatenkammer — die
berechtigten Baubvögel des alten Templegemäuers, wie
Comwall sie nennt, — erstehen vor seinem Blick: der
grimmige unnahbare Coventry, der nachdenkliche, schfichteme
Salt und dessen Eonzipient Level, der gescheite, flinke kleine
Kerl, der an alles denkt» was der zerstreute Prinzipal ver-
gißt^ der Freund und Mahner, Schreiber und Garderobier,
Batgeber, Bechnungsrevisor und Schatzmeister seines Herrn.
Fast hätte sich Salt zu unbedingt in Lovels Hand gegeben,
wäre diese nicht von so unbedingter Lauterkeit gewesen.
Salt hätte sein Hermrecht auf Bespekt gar leicht außer
acht gelassen, wflrde Level auch nur einen Augenblick
vergessen haben, dafi er der Untergebene seL
Der mit wunderbarer Lebensechtheit gezeichnete Level
ist kein anderer als John Lamb, Charles' Vater, „ein Mann
von unverbesserlicher, stets den Kfirzem ziehender Ehrlich-
keit, der, wenn es galt, die Sache des Bedrängten zu fähren,
niemals die Partei oder die Zahl der Gegner in Betracht zog.^
Die Ähnlichkeit seiner Gesichtszüge mit denen Garricks,
10»
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148 Der literarische fissay.
sein hübsches Modelliertalent, seine Begabung für hmno-
ristische Gedichte, sein yon Hans ans so heiteres Naturell,
das ihm die Instigsten Schehnenstreiche eingab, bis all-
mählich das Leben ihm seine DSmpfer an&etzte — all das
wird mit liebevollem Eingehen geschildert Ja wir erhalten
noch ein letztes Bild des nicht mehr im Temple weilenden
Loyel, der, yon den traurigen Folgen des Alters beschlichen
und geistig zerüttet, dem letzten Stadium menschlicher
Schwäche, einer zweiten Kindheit yerfallen ist
Die Erinnerung an seine früheste Schulzeit h< Lamb
in Captain Starkey fest (Homes Everyday Book^ Juli 1821).
Hier taucht das altmodische Gesicht seines ersten Lehrers
Wüliam Bird wieder au^ eines der vom Glück Übersehenen,
der sich yon den Schülerinnen quälen lassen muß, obzwar
er ein trefflicher Schriftsteller und Lehrer ist
BecoUecHons of Christ Hospital (Christ Hospital -Er-
innerungen), 1818, und Christ Hospitdly Tkirty Five Years
Ago (Christ Hospital yor fünfnnddreißig Jahren), 1820, sind
der Erziehungsanstalt gewidmet, deren Zögling Lamb yon
1782 bis 1789 war.
Der erste Aufsatz spendet ihr das ungeteilte Lob des-
jenigen, der alle Ursache hat, sich gern an sie zu erinnern.
Er hat den blauen Kittel mit Freude getragen, den Kittel,
der kein Abzeichen des Armenschülers sei, sondern seinem
Träger einen eigenen Charakter yerleihe, ein Gemisch yon
bescheidener Zurückhaltung und höflichem Anstände, yon
Religiosität und Gerechtigkeitsgefühl. Man liest zwischen
den Zeilen, daß es Lamb in Christ Hospital wohl ergangen
ist Der zweite Aufsatz soll eine etwaige Übertreibung
der ausschließlich in den lichtesten Farben gehaltenen
Schilderung des ersten korrigieren« Elia steht hier für
Coleridge, als Vertreter des armen, freundlosen Schulknaben,
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Der literarische Essay. 149
dessen zur Schwermut neigendes, reizbares 6em&t sich in
Hdmweih verzehrt. Anmutige Genrebilder werden ein-
goi&ochten: Charles' alte Tante Hetty, der Welt gegenüber
eine verbitterte, wortkarge aber klnge, schlagfertige alte
Jungfer, fOr Charles, den einzigen Gegenstand ihrer Liebe,
das Prototyp der gnten, verhätschelnden alten Base. Er
denkt der Leckerbissen, die sie ihm in die Schale brachte, und
des Widerstreites seiner Gefühle bei solchen Anlässen: Liebe
for die Überbringerin und Scham fiber das Gebrachte wie
die Art des Bringens, Mitleid mit den leer Ausgehenden,
deren doch zu viele waren, um mit ihnen zu teilen, und
scUieSlich Hunger, der älteste und stärkste aller Triebe,
der den endgültigen Ausschlag gab.
Um das üniversitätsstudium ist Lamb gekommen. Es ist
gewissermaßen symbolisch, daß er Oxford nur während der
Ferien schildem kann {Oxford in (he Vacation, 1820). Aber
mit dem Ausblick auf die Bodleiana schreibend, holt er das
Versagte, Gelahrtheit, Titel, Würden in der Phantasie nach.
Blakestnoar in H-shirej 1821, ist Lambs Eindheitseldorado
Blakesware in Hertfordshire, wo die Großmutter Field auf
dem alten Schlosse lebte. Auch in Dream Chüdren (Traum-
kinder), 1829, und einem Aufsatze über Wilkies Gemälde
Satwrday Night (Germ^ 1830) erzählt er seinen erträumten
Kindern von der würdigen Matrone, deren ländlich ur*
wüdudge Liebe mitunter grausam werden konnte. An das
Schloß von Blakesware knüpfen sich Lambs früheste Vor-
stellungen von behaglicher Muße und Vornehmheit. In
Dream Chüdren schildert er die Wonnen des prächtigen
Schloßparkes mit seinen melancholischen alten Bäumen,
den duftenden Wiesen, der Orangerie und dem Fischteich.
Auf dem breiten Fenstersitz der kühlen Vorratskammer
hat der Knabe an heißen Tagen gesessen und bei dem
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150 Der literarische Essay.
Summen und Schwirren einer einsamen Wespe seinen Gowiejr
gelesen. In der Halle hat er so lange yor dem Familien-
wappen mit der Inschrift „Besurgam" gestanden, bis er
allmählich alles Bäuerische aus sich schwinden und sich
selbst von Adel fühlte. Der Adel, den man sich aneignet,
sei der ein2ig wahre. Er ist durch die Ahnengalerie ge-
wandelt^ deren Bildnisse ihn lächelnd oder ernst anblickten,
als wollten sie nach seiner Verwandtschaft mit ihnen fragen.
Und eine Schöne im blauen Hirtengewande mit einem Lamme
und den lichten Hertfordshire-Locken habe seiner Alice
geähnelt (Bläkesmoor), Alice ist der poetische Name für
Ann Simmons. Ihre anmutige Verklärung bildet den Inhalt
von Dream Chüdren. Hier erfindet seine Phantasie zwei
Kinder Alice Wintertons (Ann's poetischer Name). Ihnen
erzählt er von seinem biblischen siebenjährigen Werben um
die nun bereits Verstorbena „Da^ als ich mich plötzlich zu
kleinen Alice wandte, blickte mir aus ihren Augen die
Seele der ersten Alice mit einer solchen Bealität des
Wiedervorstellens entgegen, daß es mir zweifelhaft ward,
welche von beiden ich yor mir hätte und wem dies lichte
Haar angehörte. Und während ich hinsah, wurden beide
Kinder allmählich blässer und yerschwammen meinem Blick,
bis schließlich nichts mehr sichtbar war als in äußerster
Entfernung zwei traurige Antlitze, die in wunderbarer
Weise, ohne zu sprechen, den Eindruck dieser Bede in mir
heryorbrachten: *Wir sind nicht yon Alice, nicht yon
dir, noch sind wir überhaupt Kinder. AUcens Kinder
nennen Bertram Vater. Wir sind nichts, weniger als
nichts und als Träume. Wir sind nur, was hätte sein
können, und müssen nun an den langweiligen, öden Ufern
des Lethe Millionen Zeitalter harren, bis wir das Sein und
einen Namen erlangen"'.
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Der liteiariflche Euay. 151
Den geringsten Baum in Elias Leben nimmt der Natur-
gennß ein. Er hat wenig Sinn für die Natnr; man könnte
ihn in gewissem Sinne natnrabgewandt nennen. Obzwar
Lamb die Ennst versteht, einen vertrauten Landschaftswinkel
mit scharfer nnd liebevoller Beobachtung knapp, sachlich
und anschaulich zu schüdem, macht er doch Verhältnis-
mäßig sdten von ihr Gebrauch. Als eingefleischter Städter
hat er wenig von der Natur kennen gelernt und das
Wenige hat nicht sowohl seine Sehnsucht in die Feme
geweckt als seine fanatische Liebe ffir London verstärkt
Der erste Anblick des Meeres bedeutet für ihn eine Ent-
täuschung. Die Wirklichkeit vermag das Phantasiebild
der Unendlichkeit nicht zu erreichen. Die Eüstenorte ent-
sprechen seiner romantischen Vorstellung von Schmuggler-
nestem nicht (The OU Margate Hoy, 1823).
1802 besucht Lamb Ck)leridge in Eeswick. Ein Brief an
Manning vom 24. Dezember h< den unmittelbaren Natur-
eindmck fest Die Berge rings um das Haus sehen wie
im Schlafe liegende Bären und Ungeheuer aus — ein
ziemlich nnglflcklich gewähltes Bild. Beim Sonnenunter-
gang glaubt er sich ins Märchenland versetzt Der Aus-
blick aus Goleridges Studierstube überwältigt ihn. Er
besteigt den Skiddaw und watet in das Bett des Lodere,
kurz er fiberzeugt sich, daß es das, was die Touristen
romantisch nennen und was er stets angezweifelt hat,
wirklich geba Dort leben aber könnte er nicht Zwei,
drei Jahre ginge es allenfalls, doch mfißte er die Aussicht
haben, nach Ablauf dieser Frist Fleet Street zu sehen, sonst
wurde er unfehlbar hinsiechen und schwermütig werden.
Am 28. November 1800 schreibt er gleichfalls an Manning:
Jch f&r mein Teil mu£ gestehen, daß ich die Wut der
Bomantik ffir die Natur nicht habe. — Straßen! Straßen!
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152 Der litenrische Eraay.
Strafien! M&rkte! Theater! Kirchen! Covent Garten! Ver-
kaofsl&den, die strahlen von hftbschen Gesichtern fleißiger
Putzmacherinnen, sauberer Näherinnen, feilschender Damen!
Männer hinter Ladentischen^ bebrillte Schriftsteller auf der
Straße! Bei Nacht brennende Laternen! Zuckerbäcker- und
Juwelierläden! Schöne Quakerinnen von Pentonville!
Wagengerassel! Mechanische schläfrige Bufe der Schutz-
männer! Feuerlärm und: 'Haltet den Dieb!' Gerichtshofe
mit ihrer gelehrten Atmosphäre, ihren Hallen und Kantinen,
die denen der Cambridger Colleges gleichen! Stände mit
alten Bttchem, Jeremy Taylor, Burtons Melancholy und
Bdigio Medici auf jedem Stande! Das sind deine Freuden,
0 London, mit deinen vielen Sfinden. 0 Stadt» die von
Dirnen wimmelt, ftkr dich mag Keswick und seine Biesen-
brut zum Teufel gehen!'' So hängt Lamb an London mit
allen Fasern seines Herzens. Sein Cockneytum ist eine
Art von mildem Fanatismus. Was ihn an Vincent Boume
fesselt, ist der Umstand, daß dessen reiches Gemüt sich
ganz in städtischen Szenen auslebe, die ein richtiges Gegen-
gewicht für die ländlichen Extravaganzen mancher Leute
bildeten (an Wordsworth 1815).
Alles zu London Gehörige ist für Lamb ein Heiligtum.
Das Verschwinden der alten Glocken von St Dunstan
treibt ihm Tränen in die Augen. Die Großstadt ist sein
Lebenselement Er braucht ihre Kunstgenüsse, ihre Ge-
selligkeit, ihre Straßen und ihr Menschengewühl Selbst
ihre Auswüchse werden poetisch umschrieben und ver-
klärt Er bedauert das Verschwinden der mittelalterlichen
Bomantik des einträglichen Bettelgewerbes. Der Bettler
der Legende sei der Antipode des KOnigs, Lumpen seien
die Insignien seines Gewerbes. Die Bettler von London
gehörten mit zu den Sehenswürdigkeiten des großen Ganzen.
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Der literarische Essay. 153
Lamb könnte sie so wenig missen wie ihre Strafienrufe.
Der blinde Bettler mit seinem Hunde sei eine wandelnde
Moral, ein Memento, ein Sinnspruch, ein Kinderbuch, das
Almosen eine heilsame Schranke f&r die einbrechende
Hochflut des allzu flppigen Bürgertums (Ä Complaint of the
Decay of Beggars in (he Metropolis. Klage über den
Verfall der Bettler in der Hauptstadt).
An Wordsworth schreibt Lamb am 30. Januar 1801 :
„Ich habe all mein Lebtag in London gelebt^ bis ich mich
an den Ort so innig angeschlossen, wie nur einer der
Qebirgsbewohner an die Natur. Die erleuchteten Verkauf s-
Iftden des Strand und der Fleet Street^ die zahllosen Gewerbe,
die Verkäufer und die Kaufenden, Wagen und Fuhrwerke
aller Art, das ganze Getriebe und die Leichtfertigkeit
lings um Ciovent Garten, die Schutzmänner, die Trunkenheits-
szenen, das Gerassel, das Leben, das, wenn man erwacht,
zu jeder Nachtstunde, immer rege ist, die Unmöglichkeit^
in Fleet Street verdrießlich zu bleiben, das Gedränge, der
Schmutz, der Sonnenschein auf den Häusern und dem Pflaster,
die Buchdruckereien und alten Bücherstände, die Kaffee-
häuser, der Suppendampi^ der aus den Garküchen strömt^
die Puppentheater — das ganze London eine Pantomime
und Maskerade — alle diese Dinge arbeiten und vermengen
sich in meinem Geiste. Sie nähren mich und sind doch
nicht imstande, mich zu sättigen. Das Wunder dieser Sehens-
würdigkeiten zwingt mich zu nächtlichen Gängen durch
die dichtgedrängten Straßen, und auf dem bunt bewegten
Strand vergieße ich oft Tränen, vor lauter Freude über so
viel Leben.^
Zu Lambs städtischen Wonnen gehOrt das Schauspiel.
Wenn er den jugendlichen Theaterenthusiasten schildert
(091 same of the Old Äctors. Über einige alte Schauspieler,
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154 Der liteiuische EsMy.
1822), den schon die Lektäre des Theaterzettels in Stimmung
bringt, so dürfen wir dabei Selbstempfundenes voraussetzen.
Die Erinnerung an die erste Theatervorstellung, der er,
sechsjährig, beiwohnte — die des Ärtaxerxes — liefert ihm
noch 1821 den St^ff zu einem Essay voll lebendiger Genre-
schilderung (My First Play. Mein erstes Theaterstuck).
Seine eigene Fähigkeit, sich in verschiedenartigste
Charaktere einzuffthlen, läflt ihn der Natur des Schau-
spielers unschwer Gerechtigkeit widerfahren. Die sonst
als Eomödiantentum verpönte Neigung, eine Bolle auch
im Leben fortzupielen, erscheint ihm als Äußerung eines
im höchsten Grade kOnstlerischen Naturells und er
rühmt z. B. an EUiston, daß er durch und durch Schau-
spieler gewesen sei und nie etwas anderes (EUistaniana).
Eine gute Schauspielercharakteristik ist der Au&atz On
the AcUng of Munden (1822). Doch will Lamb von einem
übertriebenen Kultus der Bretter und der Person des
Schauspielers nichts wissen und rügt die Verhimmlung
Garricks {Essays on the Tragedies of Shakespeare).
Lambs großstädtische Unterhaltungen sind aber wohl
immer nur bescheidenster Natur gewesen, mit dem engen
Spielraum, der ihnen im Leben eines subalternen Beamten
mit Familienpflichten gegönnt zu sein pflegt Der eigent-
liche Schauplatz seiner Tage war das South Sea House.
Elia schildert das stattliche Gebäude mit dem Arkaden-
hofe, dem Sitze der Gesellschaft, die, einst eine blühende
Handelsvereinigung, zu Lambs Zeit mehr Bankgeschäft war.
Der junge Beamte hat kein Geschick zum Rechnen, aber
die alten in Pergament gebundenen Hauptbücher fesseln
ihn, die so groß und schwer sind, daß von dem heutigen
verkümmerten Geschlecht ihrer drei sie kaum zu heben
vermögen. Abends, wenn es im Hause still geworden,
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Der literarische Sssay. 155
durchschreitet er mit Ehrfurcht die hohen Räome, die ihm
Yon der Vergangenheit reden. Und ab und zu huscht der
Schatten eines abgeschiedenen Buchhalters an ihm vorbei,
die schemenhafte Feder hinterm Ohr (The South Sea Hause).
Die Koliken, alle spärlich besoldet, die meisten altmodische
Jungesellen, etliche von ihnen Künstler auf der Flöte,
sind sämtlich Humoristen, sonderbare Käuze, gemütliche
Gesellen. Man plaudert, man wird bekannt. Lamb ent-
wirft eine Beihe von Bildnisskizzen, scharf charakterisierte
Individualitäten. Seine kindliche Vorliebe für unschuldige
Mystifikationen setzt die Namen der Urbilder darunter,
gibt sie aber für erfundene aus. Da ist der junge Beamte
mit seinen pedantischen Vorzügen, ein Frühaufsteher, im
Essen und Trinken mäßig, in seinem Gehaben sauber und nett^
trocken und schüchtern, ehrlich aus Eücksicht auf das
HanptbacL Er kennt keinen anderen Ehrgeiz als den,
ein guter Beamter zu sein. Er heiratet oder heiratet nicht,
je nach der Ansicht seines Prinzipals. Scherzen oder
Fluchen vermeidet er als Zeitvergeudung {The Good Clerk.
Der gute Beamte, Beflector 1811).
Allein es gab wohl Tage, an denen Lamb der Humor
ausging und der tragikomische Widerspruch zwischen seiner
trockenen Amtsrechnerei und den Bestrebungen seiner
Dichterseele ihm kläglich zum Bewußtsein kam. „Ein
dem Pult Qeweihter, ein verrunzelter, kurzgeschorener
Schreiber, einer, der, wie es gewisse Kranke tun sollen,
seinen Lebensunterhalt aus einem Kiele saugt,^ so schildert
er den Bureaumenschen (Oxford in ihe Vacation). In bitterem
Galgenhumor spricht er von „seiner Grille^, morgens, wenn
der Geist des Literaten Stärkung brauche, eine Stunde mit
der Betrachtung von Indigo, Baumwolle, Bohseide und
geblümter oder anderer Stückware hinzubringen. Er
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156 Der literarische Essay.
zweifelt nicht, dafi der „sabbaüose Satan" der Erfinder
dieser Arbeit sei und den freien, feiertagsfrohen Geist
niederzwang in die rastlose Pein des Geschäftes, in den
trockenen Frondienst am toten Holze (Gedicht Work, 1819).
Der Widerwille gegen den kaufmännischen Beruf zeitigt
in ihm den Begriff des improbas labor, des bösen Feindes
der Beschäftigung, und er preist die fälschlich verleumdete
Muße {Leisure. Muße, 1821).
Nur ganz allmählich gewöhnte Lamb sich an die acht*,
neun-, mitunter zehustfindige Eanzleiarbeit „Die Zeit ver-
söhnt uns — zum Teil wenigstens — mit allem. Ich
wurde nach und nach zufrieden, verdrossen zufrieden, wie
wilde Tiere in ihren Käfigen,'' sagt er in The Superannuated
Man Per Ausgediente), 1825. „Von den Sonntagen ab-
gesehen, gab es einen Ferialtag zu Ostern, einen zu Weih-
nachten und im Sommer 'große Ferien' von mer Woche,
die, in der Angst, sie nur ja voll auszugenießen, in rast-
loser Hetze durchjagt 'wurde und alles eher brachte als die
erhoffte Kühe. Ehe man sich ihrer noch recht bewußt
geworden, war sie um und man hatte 51 andere zu zählen
bis zu den nächsten Ferien." Lamb fühlte sich mitunter
„an das Pult anwachsen, das Holz in seine Seele dringen.*'
Seine Schfichtemheit, sein Mangel an Selbstvertrauen, eine
bis zu selbstquälerischer Pein getriebene Gewissenhaftig-
keit erschwerten ihm die Beamtenlaufbahn. Da, nach
40 Jahren, im März 1825, kam die Erlösung, kam das
Glfick in der Form einer ehrenvollen Pensionierung mit
zwei Drittel seines Gehaltes, ü^450. Er schreibt: ,Jch befand
mich in dem Zustande eines Gefangenen der alten Bastille,
der plötzlich nach vierzigjähriger Haft freigelassen wird."
Er, der bisher so arm an frei verfügbarer Zeit gewesen,
ist plötzlich zu dem Reichtum völliger Muße emporgehoben«
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Der literarische Eteay. 157
Er braucht eine Weile, sich an das Glück zn gewöhnen«
Anfangs yermißt er die lang gewohnte Kette. Der Abschied
von den alten Kollegen gibt eine wehmfitige Stinunnng.
Bald aber weiß er nicht mehr, daß er je etwas anderes
war als sein eigener Herr. Das Tagewerk ist vollbracht
Der Best seiner Lebenszeit gehOrt ihm {The Superannuated
Man),
Zwei seinem Herzen teure und köstliche Dinge sind es,
vor allem, denen er sie widmet: seine Schriftstellerei und
seine Häuslichkeit Das Schreiben ist seine Unterhaltung.
„Nennt dies,'' sagt er, auf das Titelblatt seiner Schriften
deutend, „nicht meine Werke, sondern meine Erholung.
Meine Werke liegen in den Hauptbüchern von Leadenhall
Street"
Yon der Traulichkeit seines Junggesellenheims ge-
winnen wir eine deutliche Vorstellung in Elias Essays
Old China, (Altes Porzellan) und Mackery End in Hert-
fordshire. Da tritt uns Mary unter dem Namen Bridget
Elia in leibhaftiger Lebendigkeit entgegen. „Bridget'',
heißt es, „ist so manches lange Jahr meine Haushälterin
gewesen. Ich habe gegen sie Verpflichtungen, die über
meine Erinnerung hinausreichen. Wir hausen selbander.
Junggesell und alte Jungfer, in einer Art Zweieinsam-
keit, alles in allem so behaglich, daß ich ffir meinen
Teil keine Neigung verspüre, mit dem Sprößling des
voreiligen Königs mein Zölibat zu beklagen, i) Wir
stimmen in unseren Neigungen und Qewohnheiten so
ziemlich fiberein, jedoch 'mit einem unterschiede'. Wir
leben im großen und ganzen in Eintracht, unbeschadet
gelegentlicher Scharmützel, wie es unter nahen An-
1) TroüiM and Cressida lY 2, 62.
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158 Der literarisdie Essay.
verwandten sein soIL unsere Neignng wird mehr still-
schweigend vorausgesetzt als ausgesprochen. Wir neigen
beide etwas znr Rechthaberei^ Die Erfahrung lehrt^ daß
in Tatsachen und Daten unwandelbar er Recht behUt,
wo es sich aber um eine Differenz in moralischer
Hinsicht handelt oder darum, ob man etwas tun solle
oder nicht, Bridgets Ansicht sich als die maßgebende
erweist
Beide sind eifrige Leser. Doch während Elia über
einer dunklen Stelle seines Burton brütet, muß Base Bridget
eine Geschichte haben. Alles Verschrobene, Bizarre, Ent-
legene, alles der allgemeinen Regel und allgemeinen Sym-
pathie Widersprechende mißfällt ihr. Sie liebt das Natür-
liche. Sie hat viel Umgang mit Philosophen und Freidenkern
gehabt, aber was ihr in den Eindertagen gut und ehrwürdig
schien, hat die Herrschaft über ihren Gteist behalten. Ihre
Geistesgegenwart ist den Prüfungen des Lebens gewachsen,
verläßt sie aber mitunter bei geringfügigen Anlässen. In
Zeiten der Trübsal ist sie die beste Trösterin, aber in
nörgelnden Zufällen und geringfügigen Unannehmlichkeiten,
die den Willen nicht herausfordern, verschlimmert sie die
Dinge oft durch ein Übermaß an Teilnahme. Doch ver-
scheucht sie auch nicht stets die Sorgen, verdreifacht sie
bei angenehmen Anlässen doch sicherlich die Freude. Auf
ihre Erziehung wurde in der Jugend wenig Achtsamkeit
gewandt. Sie entbehrt zum Glück des ganzen weiblichen
Aufputzes, der unter dem Namen „Fertigkeiten^ geht Hätte
er zwanzig Mädchen, er würde sie nicht anders erziehen.
In Wirklichkeit hat Bridget ihn erzogen. Sie ist um zehn
Jahre älter. Er wünschte, er könnte den Rest ihrer beider-
seitigen Existenzen zusammenwerfen, um sie zu gleichen
Teilen zu Ende zu leben.
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Per literarische Essay. 159
Lambs Uterer Brader John tritt als James Elia in
dem Essay My BdaUons (Meine Angehörigen) anf. Er
vereint Impuls und kühle Erwägung. Sein Inneres ist ein
Zankapfel des Temperamentes und des doktrinären Phlegmas.
Ein prinzipieller Gtegner jeder Neuerung, hat er doch stets
ein neues Projekt im Kopfe. Ein abgesagter Gegner der
Bomantik und Empfindsamkeit bei andern, ist er doch
selbst voll Phantasie. Er kehrt geflissentlich den Praktikus
und Philister heraus, hat aber dennoch immer ein wenig
Exzentrizität und Enthusiasmus zu verbergen — kurzum
ein Mensch, der ein anderer sein will, als er wirklich ist,
und der zu seinem Nachteil sein Wesen in ein anderes
ummodeln möchte, als es die Natur geschaffen — ein Mensch,
der das Beste des Nächsten will, mit dessen Gefühlen und
Handlungen aber wenig Sympathie aufbringt. In Dream
Chüdren, das kurz nach Johns Tode entstand, wird
erzählt^ wie der schöne, lebhafte Knabe, der im Vergleich
mit den anderen Kindern gleich einem König hervorragte,
schon von der Mutter und Großmutter bevorzugt ward, und
wie Charles nun, nachdem er ihn verloren, den Bruder ver-
misse, so daß er jetzt erst merke, wie sehr er ihn geliebt.
Nie ist in der Literatur die Enge, wo nicht die Dürftig-
keit der Verhältnisse, die von der Kindheit bis zum Alter
Lambs Lebenssphäre bedeutete, mit einem größeren Reichtum
geistiger Überlegenheit geschildert worden. Von jeder
sozialen Gehässigkeit und Verbitterung ebensoweit entfernt
wie von spießbürgerlicher Verknöcherung, hebt Lamb das
in den blassen Sonnenschein der Armut getauchte faden-
scheinige Milieu mit liebender und milder Hand in die
poetische Höhe des Idylls empor. Der Mangel wird nicht
verschwiegen, aber das Dichterauge vermag gewisse Vor-
teile an ihm ausfindig zu machen und auf sie fällt der
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160 Der literarisehe Essay.
unbedingte Nachdrack. Ffir Elias Heim gilt, was Lamb von
dem eines Freundes rühmt: „Der Inhalt von Altheas Ffillhom
in einer dfirftigen Schüssel — die Gabe, sich selbst hin-
znreiBen, durch welche er bei seinem pr&chtigen Wunsche
zu unterhalten, seine Mittel bis zum Übei-fluß steigerte.^
und weiterhin: „Wein gab es nicht und, äußerst seltene
Gelegenheiten ausgenommen, auch keinen Branntwein.
Aber der Eindruck des Weines war da." Ebendort spricht
er von „den heiligen Geheimnissen der Armut", die durch
ihn niemals verletzt werden sollen (Captain Jackson^ 1829).
Die äußere Armut verschwindet vor dem inneren
Reichtum. Lamb gibt in diesen Aufsätzen alles, was er
zu geben hat, sein ganzes Ich, sein Leben, seinen Humor,
seine Poesie, seine Philosophie und sein Wissen, die
Ergebnisse seines Sinnens und Denkens, seine heiligsten
Erinnerungen, seine Liebe und seinen Glauben. Nichts ist
ihm dafür zu köstlich, nichts zu geringfügig, kein Fleiß
reut ihn für diese der flüchtigen Stunde gewidmete Zeitungs-
arbeit. Er verschmäht es nichts seine ganze Persönlichkeit
in einem Joumalartikel auszuleben. So wird der Artikel
zum Essay, der ein literarisches Ereignis von eigenartigem
Wert bedeutet, dessen Gepräge das von Lambs Persönlich-
keit selbst ist Lambs Essays haben nichts Blendendes.
Sie berauschen und entzücken, ja sie fesseln nicht unwider-
stehlich bei erster flüchtiger Bekanntschaft Aber sie
lohnen die Mühe der Vertiefung. Wer Zeit und Stimmung
aufbringt, in ihre Einzelheiten einzugehen, dem offenbaren
sie eine sich stetig steigernde Fülle von Weisheit^ Liebens-
würdigkeit^ Humor und echtester Gesinnung. Er gewinnt an
ihnen gewissermaßen einen Freundschaftsschatz fürs Leben.
Lamb ist durch und durch ein religiöses, wenn auch
keineswegs dogmatisch gefärbtes Gemüt In dieser Sichtung
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Der litenurifdie Eesay. 161
beeinflußten ihn bereits die ersten Eindrücke im Vater-
hanse. Tante Hetty las vom Morgen bis znm Abend im
Thomas a Kempis nnd in einem katholischen Gebetbncb,
was sie nicht hinderte, allsonntäglich als gnte Protestantin
znr Kirche zn gehen {My BelaUons). Barry Comwall
sagt: „Er war nach Erziehung und Gewohnheit Uni-
tarier, ans Überzeugung Nonconf ormisf 0 ^^^ Jugend-
gedichte sind von dem Bingen der gottsuchenden Seele
erfBllt, die unter der Wucht des Schicksals zerbrechend,
die Hand nach dem festeu, stfitzenden Punkte ausstreckt
Das fatalistisch angehauchte Gledicht Living without God
in ihe World (Ohne Qott in der Welt) ist ein krampfhaftes
Sich-an-die-Beligion-Elammem.
Selbst in der Zeit der stfirmenden Jugendgährung
bleiben skeptische Anwandlungen ihm fem. Coleridges
Vergleiche zwischen der göttlichen und menschlichen
Natur findet er von einer Eflhnheit^ die ihn erschreckt
(Brief vom 24. Oktober 1796). Er fürchtet die Ansteckung
mystischer Ideen und metaphysischen Hochmuts, die gar
leicht dem urwüchsigen, einfältigen Sinne der Heiligen Schrift
eine Bedeutung unterlegen, von der die Fischer von Galiläa
nichts ahnten. Er fände es in diesem philosophischen Zeit-
alter geboten, Bücher wie Evidenees of Beligion hundert-
fach zu yeryielfältigen, um Bekehrungen zum Atheismus
vorzubeugen (27. Mai 1796).
Nach der Lektüre der Bocbrine ofPhüoscphical Necessity
von Priestley, den er „bis zur Sündhaftigkeit vergöttert^,
schreibt er an Coleridge (10. Januar 1797): „Goleridge, ich
habe unter meinen Bekannten nicht einen wirklich hohen
Charakter, nicht einen Christen, keinen, der das Christen-
0 Memair 466.
OMdüehte der eofflischen Bomantik Ü, i. 11
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162 Der literaiiMhe BBsay.
tum nicht anterschätzte. — Bist du noch Berkeleyaner?
Mache mich zu einem. Ich bin froh, theoretisch ein
Determinist zu sein« Wollte Gott, dafi ich es auch in der
Praxis wäre.^ Allmählich findet er den inneren Frieden
in einem individuell für sich zugeschnittenen Christentum.
Eine vollgedrftngte Kirche ist ihm auch voll menschlicher
Schwächen und Eitelkeiten. Wer da erfahren will, wie
schon die Heiligkeit ist, der betrete das Grotteshaus allein
an einem Wochentage. Ohne ablenkende Erregungen, ohne
die harten Widerspräche der Kompromisse atme er die Ruhe
des Ortes, bis er selbst so still und reglos wird wie die
Marmorbilder rings um ihn (Blakesmoar in E-shire).
In der Stadt vermißt Lamb des Sonntags das heiter
lärmende Gewimmel. Das Glockengeläute macht ihn schwer-
matig, die Feiertagsstille bedrückt ihn (The Superannuated
Man). Kein Gottesdienst der Westminsterabtei, um dessent-
willen ihm die stille Andacht zwischen den altai Denk-
mälern des feierlichen Domes verwehrt wird, kann ihn so
erheben, daß er die Verstimmung ob des Verbotes überkäme
{The Tanibs in the Ahhey. Die Gräber der Abtei).
Lamb ist nicht gefeit gegen den Aberglauben. Als Kind
haben Hexen- und Gespenstergeschichten den nachhaltigsten
Eindruck auf seine reizbaren Nerven geübt. Seinen Auf-
satz Witches and other Night Fears (Hexen und andere
Nachtgespenster) nahm Southey zum Anlaß eines eifernden
Exkurses gegen das Freidenkertum,i) ein Angriff, den Leigh
Hunt, der mit getroffen war, im London Magazine 1823
parierte.
Lambs Glaube Jl)efaßt sich mehr mit dieser Welt als
mit dem Jenseits. Er liebt die grüne Erd^ die Sonne, den
0 Quarierly Beview, Juiuar 1823.
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Der literariBche Essay. 163
Himmel, die L&fte und das Grttn der Felder, einsame
Wandelpfade und Sommerfeiertage , den köstlichen Saft
YOD Fleisch nnd Fisch, die Geselligkeit nnd den frohen
Becher, Kerzenlicht am Kamin, (besprach nnd Scherz und
alle die unschuldigen Eitelkeiten des Daseins. Er ist nicht
ohne Todesfurcht Vergehen alle diese Dinge mit dem
Leben? Kann ein Geist lachen? Wird es dort Freund-
schaft geben? Das Sterben ist etwas Problematisches.
Die Lebenden gehen vor den Toten. Er tut den charakte-
ristischen Ausspruch, die Keligion hätte auf ihn stets mehr
als Gefühl denn als Argument gewirkt (New Years Eve.
Neujahrsabend). Thomas Pnmell darf mit Becht behaupten,
was immer auch der Glaube oder Unglaube »ein mochte,
zu dem er sich bekannte, seine praktische Beligion sei von
der rechten Art gewesen.
Die kerngesunde, kräftig bejahende Grundstimmung
seiner Seele, die keine Winkelzfige und Sophismen kennt,
gibt auch f br seinen Humor die Grundfarbe her. Er hat
die F&higkeit^ immer und fiberall, an Menschen und Ver-
hältnissen, das Gute herauszufinden. Eine Krankheit, die
er 1824—1825 durchmacht^ gestaltet sich in der Betrachtung
zun wunderbaren Traum, das Krankenlager zur königlichen
Einsamkeil Ln Vergleich mit jener höchsten Selbstsucht^
die dem Kranken zur Pflicht gemacht wird, bedeutet
schliefilich die Wiedergenesung nur ein Zurücksinken in
die AlltSglichkeit (The Canvalescent. Der Genesende,
1825).
Lamb steht dem Dasein mit dem Interesse des Forschers
gegenBber. .Das Erlebnis interessiert ihn an und ffir sich
so unbedingt^ dafi es ihm als solches auch die schmerzliche
Erfahrung aufwiegt, die etwa damit verbunden ist. Die
Lambs werden 1827 — so will es zum mindesten die
11*
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164 Der liteiaiisohe Essay.
Familientradition i) — von einem Verwandten mn ihr Erb-
teil geprellt Charles l&6t durchblicken, daß es seine
Armut war, die sein Unglflck in der Liebe zum größten
Teil verschuldete. Dennoch hat er sofort einen Trost zur
Hand. „Ich glaube, es ist besser, daß ich sieben meiner
goldensten Jahre vertrauerte, während ich der Sklave von
Alice W— n's lichtem Haar und lichteren Augen war, als
daß ich um ein so leidenschaftliches Liebesabenteuer ge-
kommen wäre.'' Und femer: „Es ist besser, daß unsere
Familie die Erbschaft verlor, um die uns der alte Dorrell
betrog, als daß ich zur Stunde £ 2000 in der Bank hätte,
aber keine Vorstellung von einem solchen gleißnerischen
Schurken {New Yeaf^s Eve. Neujahrsabend).
Dennoch ist Lambs Humor weder lehrhaft noch
moralisierend, sondern durchaus naiv. Die urwflchaige
unverdorbene Kindlichkeit bildet einen Hauptreiz seiner
Eigenart. Das Sprichwort: Dem Beinen ist alles rein,
findet bei ihm seine Anwendung. Im Londoner Großstadt*
getriebe wie in der derben Komik eines Wycherley oder
Congreve kann er alle Vorzfige genießen, ohne an der in
sie verwebten Unsittlichkeit Ärgernis zu nehmen.
Eine Kritik des Examiner rtlhmte treffend an Lamb,
daß er bei der Behandlung trivialster G^enstände aber
Zartheit und feines Geffthl für alles Menschliche verfüge.
Eben darum aber liegt seinem Wesen der drastische Humor
fem. Wo er ihn äußert, ist eine klassische Vorlage zu
vermuten, z. B. Shakespeares Clowns fOr ReflecHons an fhe
Fälory (Reflexionen am Galgen) und fOr A Vision of Harns
(Hömerphantasie) im London Mctgagine, 1825. Fehlt eine
solche Vorlage, wird seine Komik gezwungen.
1) Ainger in,2d3.
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Der literarische Essay. 165
Ebenso fern oder noch ferner aber liegen Lamb anderer-
seits die großen Gteistesprobleme nnd weltbewegenden Ge-
schicke. Die Politik ist fast ganz ans seinem Leben
ansgeschaltet In der Jugend wurde er zu den liberalen
Freunden geschlagen, ohne Anlaß dazu gegeben zu haben.
Canning griff im Änti-Jacobin die Pantisokratie an und
Grillray zeichnete dazu Coleridge und Southey mit Eselsohren,
Lamb und Lloyd als ErSte und Frosch. 0
Am 15. Mftrz 1812, eine Woche vor Leigh Hunts
Brandartikel, veröffentlichte Lamb im Exatniner eine
politische Satire oder vielmehr einen Ausfall auf den Prinz-
regenten The Triumph of ihe Whale (Der Triumph des
Wals). Unter allen Seeungeheuem, hieß es darin, sei der
Prinz der Wale (Prince of Wales) Begent des Meeres.
Das Gedicht war unbedeutend und wurde nicht bemerkt
Lamb blieb ein grimmiger Feind des Regenten und griff
ihn noch 1820 im Champion in Epigrammen an, deren
Wortwitz sich zu giftigen politischen Pointen zuspitzte.
Er gehörte zu den wenigen, die für die Königin Partei
nahmen (The Godlikey 1820). >)
Das Jahr 1814 ließ ihn kfihL Obzwar auf Seiten der
Whigs, neigte er im Gef&hl zu den Tories und hatte
Freunde in beiden Heerlagern.') In dem Essay Quy Fax
(London Magaeine, 1823) erklftrt er es für die Pflicht jedes
rechtschaffenen Engländers, Parlamente zu verbessern, ohne
sie au£sulOsen, mit feiner Unterscheidung die Lanzette
nur an die verfaulten Teile des Systems zu legen, sich
nicht in den Mantel der Verschwörung zu vermummen,
sondern in den Talar der Integrität zu hüllen.
>) Craddock, 39.
*) LucM, 321, 426.
^ PnnieU, Works I, S. XXL
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166 Der literariwslie EsMy.
Wie für das Politische, so fehlt Lamb, wie schon Hunt
in seinem Nachruf bemerkt, auch für alles Theoretische,
Übei'sinnliche Interesse und Begabung. Er selbst gestand
den Mangel an transzendentaler Vorstellungskraft zu. Dem.
über künftige Zustände phantasierenden Coleridge sagte
er einmal die bezeichnenden Worte: „Gib mir den Menschen,
wie er ist, nicht wie er sein solL^O ^^'^ eigentliche
Sphäre seines Geistes ist die Dni'chscfanittsexisten/.. Kein
Übermaß im Guten oder Schlechten fesselt ihn, keine psycho-
logische Absonderlichkeit reizt ihn. Jede Exzentrizität
der Handlung, jedes Extrem der Erschütterung oder
Spannung vermeidet er. Seine einzige Kühnheit besteht
darin, daß er für das Kleine und Geringfügige in der
Literatur schlechterdings keine Schranke anerkennt
Sein Werk verfiele unrettbar der Banalität, besäße
sein Humor nicht die Kraft, auch im Leser das StofEliche
gegen das Gefühl und die Stimmung als das ausschließlich
Maßgebende in dem Grade zurückzudrängen, als es in seinem
eigenen Interesse der Fall war. Typisch für Lambs Kunst
ist bei der Schilderung der alten Tante die mit ihrem
Bilde untrennbar verwebte Vorstellung des Bohnenbrechens.
„Der Duft dieses zarten Gemüses kommt mir noch heute
in den Sinn und atmet milde Erinnerungen aus^ (My
Bdations). Lamb versteht es fast immer, uns den poeüsdien
Duft der Dinge zu Gefühl zu bringen. Und wo er uns zu
fehlen scheint, wird man gut tun, der spezifischen Eigenart
des britischen Humors Rechnung zu tragen, wie in Dissertation
upon Boast Pig (Abhandlung über Schweinebraten), 1822,
dieser in das Gewand einer chinesischen Geschichte gehüllten
») Barron Field, T?ie Annudl Biography and Obituary 1836
(Tol. 90),
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Der litetmriflche Essay. 167
Abhandlung fiber alle Einzelheiten, Ennstgrüfe nnd Genttsse
des Sehweinebratens, die nach nnserem Geffthl über das
Mafi der innerhalb von Zeitnngsspalten gestatteten Gemein-
plätze hinausgeht^ in England aber nnter die Meisterwerke
Lambs und des Humors ftberhaupt zählt
Jedes geringfügigste Erlebnis in Lambs engbegrenzter
Existenz mnS als Thema für einen Aufsatz herhalten. „Sein
spielerischer Geist ist stets bereit, jedem Wink nach-
zulaufen wie ein E&tzchen jedem Ding, das sich bewegt." 0
Ein kurzsichtiger Freund, George Dyer, ger&t nach einem
B^nche bei den Lambs auf dem Heimwege im Dunkeln
Yon der Straße ins Flufibett Glücklicherweise haben sie
ihm aus dem Fenster nachgesehen nnd retten ihn« Dies
das ganze stoffliche Moment. Aber warme Herzlichkeit und
bildhafte Darstellung tun das Übrige und so entsteht ein
Essaj: Amicus BedmvM.
Stimmung ist das große Um und Auf von Lambs Kunst
Dadurch erscheint seine ausführlichste Detail- nnd Elein-
malerei unbeschwert durch den Ballast platter AUtftglich-
keit. Die immerdar unverhüllt im Vordergrunde stehende
Subjektivität einer anziehenden und überragenden Persön-
lichkeit das Gefühl langweiligen Kleinkrams hintanhält
Ja, der Reichtum dieser Persönlichkeit und die Ärm-
lichkeit ihrer Lebensbedingungen wird zu einem nicht un*
pikanten Kontrast. Es hat bei Lamb nichts Verletzendes,
wenn er uns unter dem schüchtemen Zugeständnis, daß er
gegen ein gutes Gericht nicht gleichgiltig sei, mit Behagen
die Genüsse eines Mahles schildert. Denn gleichzeitig
denkt er all der anderen Gaben, für die er Qtott ein Dank-
gebet schulde, der schönen Spaziergänge, der guten Bücher.
>) Graddock, 120.
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168 D«r liteimrifche bsaj.
Und er fragt: Wamm haben wir kein Dankgebet für
Shakespeare, für Milton, für Spenser, diese geistigen Fest-
gerichte? (Grace befare Dinner. Tischgebet^ 1821).
Das StofOiche an und für sich ist Lamb gldchgfiltig,
ja zuwider. Die Erzfthlnng qnUt mich, sagt er (Madcery
End). Der Fortschritt der Geschehnisse kfinunert mich
wenig. Die Schwankungen des Glflckes haben in der
Dichtnngi nnd fast anch im wirklichen Leben, ani^ehSrt
mich zu interessieren oder wirken nur stumpf auf mich.''
Die Wahrheit war wohl, dafi das einzige Vorkommnis,
das für sein Leben yon tief eingreifender Bedeutung war —
Maiys Gesund- oder Eranks^ — für seine Schriftstellerei
nicht in Betracht kam.
Andererseits besitzt Lamb eine starke Phantasie, die
in freiem Fluge die Wirklichkeit hinter sich l&flt. Seine
spezifische Eigenart ist das Ineinanderweben yon Er-
träumtem und Erlebtem. Die moderne Kunst stößt ihn
durch die Phantasielosigkeit ab, die sie unter der
Flagge des Bealismus hochhält Er selbst versteht unter
phantasievoller Behandlung jene Individualisierung eines
Gegenstandes, die ihn von jedem anderen ihm noch so
ähnlichen au& schärfste sondert (Barrenness of ihe
Imaginaüve Facidty in ffte Productions of Modem Art.
Unfruchtbarkeit der Phantasiekraft in den Gebilden der
modernen Kunst, 1883). Ein klassisches Beispiel fOr Lambs
Kunst des Yerwebens von Bealem und Idealem ist Dream
Chüdren. Die der Erzählung lauschenden Kinder, ihr Auf-
horchen, ihr Reagieren auf das Gehörte ist ganz der
Wirklichkeit abgelauscht, und gleich darauf verflftchtigen
sich die lebensechten kleinen Gestalten in Traumgebilde.
Lamb liebkost sozusagen die Kleinheit, jene Kleinheit,
„in der viel von dem traurigen Herzen der Dinge ist^ Stets
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Der liteiftrische Esmj. 169
sieht er das Einzelne im Lichte einer höheren Vemonft^ stets
in Verbindung mit dem Mechanismns der ganzen Menschheit
ond den geistigen Bedingungen, die es bestimmen. Stets hat
er die in den kleinsten Zwischenfällen ffihlbare organische
Ganzheit des Lebens im Auge. Dennoch urteilt er nie
systematisch, sondern bleibt stets beim einzelnen Falle.*)
Walter Pater findet in der Unterströmung von großem
ünglftck und Mitleid die Grundnote ffir Lambs Phantasie-
iofiernng. Durch sie gewinnt er ffir die leichten Dinge an
der Oberflache des Lebens und der Literatur, unter denen
er sich gewöhnlich bewegt, eine wunderbare Kraft des
Ausdrucks. Es ist, als dringen die unbedeutenden Worte
und Oesichte tief in die Seele der Dinge. Dieses Durch-
leuchten und Über-sich-Emporheben des greifbar Wirklichen
in die Sph&re des Beseelten, Vergeistigten ist wohl im
letzten Grunde der Schlttssel zur Originalit&t seiner
Kunst Sie wurzelt im Bealen und yerliert sich darum
ebensowenig in der SchimSre wie im Trivialen. Man
yei^leiche seine Schilderung der kleinen Schornsteinfeger,
„dieser armen Kleckse, dieser unschuldigen Schwärze, dieser
jungen Afrikaner von einheimischem Gewächs, dieser fast
priesterlichen Zwei^e^, die von ihren Kanzeln, den Spitzen
der Schornsteine, in der feuchten Luft eines Dezember-
morgens der Menschheit die Lehre der Geduld predigen.
Welche Fälle von poetischen Bildern steigt zwanglos
mit der rührenden Gestalt des kleinen Schornsteinfegers
Tor unserem Blick empor! Wie werden aus dem alltäglichen
Vorgang des Bauchfangkehrens alle Möglichkeiten des
Eindrucks hervorgeholt! Dem kindlichen Gemat bedeutet
das Verschwinden des kleinen Schwarzen im dunklen Schlot
0 AfpreciaHans 108, 121.
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170 Der Uteniiiche EsMy.
einen Augenblick geheimnisvoller Spannnng. Sagenhafte
Romantik bemächtigt sich des ännlichen Oewerbes. Aber
hinter ihr bleibt das ethische Moment nicht znrftck. Der
Dichter wendet sich an das Mitleid. „Begegnet dir im
schlechten Wetter der Knabe mit Frostbeulen an den
Fußen, so gib ihm einen Pfennig — und besser zwei!^
Doch verliert Lamb sich nicht etwa in Biihrseligkeit
Sein Mitleid geht niemals in schwächliche Sentimentalität
über. Er sieht die Menschen, wie sie sind, auch wenn er
sie bedauert. Seine unbedingte Wahrheitsliebe schätzt ihn
vor verlogener SchönfärbdreL Die Jugend ist heiter.
Fröhlichkeit ist ihre Lebenskraft; selbst das Elend kriegt
sie nicht unter. Die kleinen Kaminfeger sind ausgelassene
Gassenjungen. Der Dichter stolpert und fällt — ein Anlaß
zu tollem Gelächter. Und mit dem großen Fest der
Schornsteinfeger in Montague House klingt alles heiter
harmonisch aus {The Fraise of Chimney Stoeq^ers. Lob der
Schornsteinfeger).
Lambs ganze künstlerische Eigenart steht — bei der
krankhaften Familien Veranlagung sicher der höchste Ruhmes-
titel seines Genius — durchaus im Zeichen kerniger Gesund-
heit Er schätzt und preist sie mit Bewußtsein. Seiner
Überzeugung nach waren die größten Geister zugleich die
ges&ndesten Schriftsteller, Shakespeare obenan, „der Maler
dieser höchsten Lenkerin, der er am treuesten ist, wenn er
sie zu verraten scheint^ {Sanity of OeniuSj 1826).
Mystische Anläufe gehören dementsprechend bei ihm
zu seltenen, auf die Einflüsse seiner Lieblingsautoren zurück-
zuführenden Ausnahmen. Sie pflegen in äußerliche Allegorie
zu verlaufen (The ChOd Angel Der Kindesengel, 1828),
während hinwiederum die Allegorie nicht selten durch zier-
lich lebendige Wiedergabe des Details zur Poesie erwärmt
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Der litemisdie SsMy. 171
wird (B^aicmffB upon the New Year^s Comig of Äge. Lust-
barkeit anläßlich der M&ndigkeitserklftnmg des neuen
Jahres, 1823).
Lambs echte nnd orwfichsige Schlichtheit ist ein
herrortretender Zog seines Wesen. Ohne weltlichen
Ehi^eiz, ohne den Wnnsch nach Rnhm oder Yolkstfim-
lichkeit, weifi er nichts von Pose. Wie naiv ist nicht
seine ErkUrnng, bei einer heimlichen Gattat plötzlich
entdeckt zn werden, sei das größte Yergnfigen. Er ist
durch und durch of&llt von jener schlichten Bescheidenheit
der Natur, der jedes snobbistische Emporschrauben zu
unechter Höhe schon den Widerwillen der Lttge erregt
Selbst ein an sich so harmloser Vorgang wie die in Bade«
orten ftbUche Verwandlung des „braven Esels in einen
geckenhaft Visierten Zelter*^ genügt, ihn zu entrüsten.
Pfui ttber derlei Sophistereien! {The Ass, Oktober 1821).
Mit der unbedingten und lauteren Wahrhaftigkeit, die
einen Grundzug seines Wesens bildet, scheint Lambs
sonderbarer Hang zu mutwilligen Irreführungen und Mysti-
fikationen im Widerspruch. Leigh Hunt will in dieser
Gegensätzlichkeit die eigentliche Quelle von Lambs Humor
erkennen« Er sei imstande, gleichzeitig aber einen Aber-
glauben zu spotten und vor einem Gespenst zu erschaudern.
Er sei ein melancholischer Geist, der gern heiter sein
möchte. 0 Dieser letzte Punkt trifft wohl den Kern des
sonderbaren Phänomena Oder woraus sonst entsprang
Lambs Freude am Lügen? War es das üngenügen an der
Wirklichkeit, das ihn zeitweilig in die Welt phantastischer
Vorspiogelungen trieb? War es die Gabe, Wirklichkeit
und Phantasie zu durchdringen, die ihn gelegentlich Tat-
1) Aiaobiogra^, 379.
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172 Der Utonaiache fissay.
Sächliches und Fingiertes nntereiiiaiider werfen ließ? Oder
war es ganz einfach der ins Schriftstellerische übertragene
babenhafte Zag, der ihm zeitlebens eigen blieb nnd sich
in Dnmmenjnngen-Späßen gefiel? Wenn er sich als Elia
selber totsagt (Preface hy a Friend of ühe Laie EUa)j so
erklärt sich allenfalls das Vergnfigen an der Mystifikation
durch den Anlaß zn einer vorzüglichen Selbstcharakteristik,
den sie bietet^ eine Selbstcharakteristik, in der die treffenden
Worte stehen: „Elia blieb anch als Mann zn sehr Junge.
Seine Schultern trugen die Toga virilis nie mit Anmut''
Was aber soll man zu folgender Briefstelle (an Vincent
Noyello, 25. April 1825) sagen: „Ich siegle mit schwarzem
Lack, damit Sie anfangs glauben sollen, die Erkältung
hätte Mary getötet, was dann eine angenehme Überraschung
zur Folge haben wird, wenn Sie das Billet lesen.'' Was
anders, als daß selbst der Geist des Mannes noch
nach Enabenart unter dem Druck des Schicksals empor-
schnellt, indem er in kindischer Weise andere „auf-
sitzen" läßt. Ein solcher „Aufsitzer" für den weiteren
Kreis des Publikums ist beispielsweise die vorgebliche
Selbstbiographie des Schauspielers Munden oder die höchst
witzig erfundene Biographie des Schauspielers Listen,
über die er (25. Januar 1825) an Miß Hutchinson schreibt:
„Von allen Lügen, die ich je losgelassen, schätze ich diese
am höchsten ein. Sie ist, jeder Paragraph, von Anfang
bis Ende, reine Erfindung und man hat sie als Evan-
gelium aufgenommen, in den Zeitungen und abends auf den
Theaterzetteln als authentischen Bericht wieder veröffent-
licht. Ich werde gewiß noch eines Tages zum Bösen fahren
wegen meines Geflunkers." Ein ernsterer Fall, der in das
Gebiet der literarischen Fälschungen übergreift, war der Plan
einer Anfertigung vorgeblicher Manuskripte Bobert Burtons,
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Der literarische Essay. 173
Ouriaus Frctgments, extracted from a Conmonplace Book
which belonged to Bobert Burton, the Famous Author of
^Anatomy of Mdancholy' (Merkwfirdige Bruchstficke eines
Taschenbuches ans demBesitzeRobertBnrtons, des berfihmten
Verfassers der 'Anatomie der Schwemmt'). Es sind Tage-
bncheinträge Bnrtons von 1620, ans der Zeit der Vollendung
seines Hauptwerkes. Lamb begnügt sich jedoch nicht mit
einer blo£en Stilnachahmung, sondern unternimmt es, den
Philosophen in drei verschiedenen Stimmungen zu zeigen:
in der phantastischen Behandlung seiner unglftcklichen Liebe,
in einem bitteren Ausfall gegen alle Pseudophilosophen und
in seiner Verachtung der jetzigen Form der Gesellschaft,
des Banges und Beichtums.9
Gefährlicher werden Lambs mutwillige Irreffihmngen,
wo es sich um vorgeblich Selbsterlebtes handelt. Welches
Kreuz fflr den Biographen bildet nicht sein Essay Con-
fessions of a Drunkard (Bekenntnisse eines Trunkenboldes),
1822. Sein Appell an das Mitleid des Lesers bekundet ein
starkes Maß eigenen Verständnisses fOr das in dem Auf-
satze behandelte Laster. „Halt ein, halsstarriger Moralist,
du Mensch von kräftigen Nerven und starkem Kopf, dessen
Leber glficklicherweise gesund ist, und ehe dir von dem
Worte, das ich geschrieben, übel wird, lerne, was das Ding
ist, wieviel Erbarmen, wieviel menschliche Nachsicht du,
wenn du tugendhaft bist, deiner Mifibilligung beimengen
mußt''
Lamb spricht offenbar in eigener Person. Er schlägt
durchaus den Ton persönlicher Erfahrung an. Neben der
Qual der Abstinenz schildert er die Bolle des Spaßmachers,
die ihm au^zwungen wird, ihm, dem ein Sprachfehler
1) Veröffentlicht 1801 mit Woodvtl; Tgl. B. Lake, 65 ff.
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174 Der litorarisefae l^Mty.
anhaftet Er beschreibt ein Bild des Correggfio, das einen
Mann darstellt^ nm den drei weibliche Gestalten beschäftigt
sind: die Sinnlichkeit schmeichelt ihm, die äble Gewohnheit
nagelt ihn an einen Ast, der Widerwille setzt ihm eine
Schlange an die Flanke. „Als ich dies sah,'' fährt er fort,
„bewunderte ich die herrliche Eanst des Malers. Aber ich
ging weg. Ich weinte, denn ich dachte meines eigenen
Zustandes.''
Inwieweit liegt dem Aufsätze Selbsterlebtes zugronde?
Inwieweit zeugt er nur von der Fähigkeit des Dichters,
sich in die Lage anderer zu versetzen? Man ziehe zum
Vergleiche The Last Peach (Der letzte Pfirsich, London
Magazine, 1825) heran: „Hast du niemals, sozusagen, ein
Jucken in den Fingern — eine Daktylomanie — versp&rt
— oder bin ich darin allein? Du hast mein ehrliches
Bekenntnis.'' Aus diesen Worten ließe sich mit demselben
Rechte eineVerdächtigung diebischer Anwandlungen ableiten.
Welches Wirrsal! Welche Gefahren! Wie mag Lamb, wenn
ihm der Gedanke an den künftigen Biographen durch den
Kopf flog, sich als echter Humorist spitzbübisch ins
Fäustchen gelacht haben! Im ganzen und großen wird
wohl von diesen Aufsätzen dasselbe gelten wie von den
meisten anderen: ein Krümchen Wirklichkeit, zu einer
lebensgroßen Phantasiegestalt verarbeitet.
Lamb gefällt sich in literarischer Hinsicht in einer
behaglichen ünverantwortlichkeit Die Schriftstellerei, die
in der trockenen Eintönigkeit seines Beamtenlebens die
Erholung von der Arbeit und das Vergnügen repräsentiert,
bleibt ihm zeitlebens mehr oder weniger ein künstlerisches
Dilettantentum, zu dem sein ganzer Bildungsgang ihn einzig
befähigt Mag er auch gelegentlich die Planlosigkeit
seiner Lektüre und die Lückenhaftigkeit seiner Bildung
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Der litanriflehe Smwj. 175
beklagen {The Old and ihe New Sdioolmaster. Der alte
und der nene Schnlmeister, 1821), energisches Hinstenem
auf einen bestimmten Punkt bem&m&ßiger Vertiefung lag
doch außerhalb seiner Natur. Nur in einem Punkte bringt
Lamb neben der Begabung auch alle Sorgfalt und Kon-
zentration auf, die zur Meisterschaft fähren, im StiL ,,In
seiner Prosa realisiert er das Prinzip der Kunst um der
Kunst willen so vollkommen wie Keats in seiner Poesie.^')
Schon 1821 faßte Henry Nelson Ccleridge im Eionian
eine Kritik der Essays in die Worte zusammen: ,,Charles
Lamb schreibt unter allen Lebenden das beste Englisch.''
Anscheinend herrscht auch in der Form das völlig Zwang-
lose, Zufallige vor. Die Aufsätze geben sich selten für
mehr als Plaudereien. Doch sieht man genauer zu, so
wird — im Unterschiede zu den Aufsätzen Leigh Hunts —
unter der behaglichen Außenseite das Knochengerttst einer
geschlossenen Komposition sichtbar, mit feinen Übergängen
und sorfältigen Steigerungen. Da ist nichts Rissiges,
Sprunghaftes, nichts Fragmentarisches. Jeder Aufsatz
bfldet ein Bundes, Durchgearbeitetes, ein Kunstwerk. Den-
noch ist Lamb mitunter weitschweifig und der moderne
Leser, der weniger Zeit und infolgedessen weniger Sinn
ffir behaglichen Humor hat als die frfihere Generation,
wird bei ihm sein ünterhaltungsbedOrfnis nicht immer
befriedigt sehen, weil er das Tempo seiner Schilderungen
zu häufig als schleppend empfindet
Von Lambs Stil^ der sich so leicht und glatt hinliest,
gilt im WesenÜichen dasselbe wie von seiner Komposition.
Thomas Pumell bemerkt treffend, daß er nicht von naiver
1) Tbifourd, Works I, p. XXX.
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176 Der liteniiiehe Enay.
Urw&chsigkeit sei. Lamb habe ihn bewnßt an Vorbildern
erzogen, aber ihn allmählich zur Eigenart entwickelt 0
Eine gewisse altertfimelnde FErbnng im Beim, die
manchen modernen Leser als gekünstelt anmuten mag, ist
Lamb, der mit den Elisabethanem anf Du und Du lebte, wohl
gar nicht bestimmt zum Bewußtsein gekommen. Hazlitt
nennt ihn vom Geiste seiner Autoren so durchtränkt^ daß die
Idee der Nachahmung fast verschwinde. Er kenne keinen
entlehnten Stift, der mit mehr Glück und Kraft in der Aus-
führung gehandhabt werde. ^) Barry Comwall rechnet es
Lamb zum Hauptverdienst an, daß er, fast ein Fremder in
seinem eignen Zeitalter, dem G^schmacke der Gegenwart
die fremd gewordene Poesie alter Zeiten wieder nahe
gebracht habe.
Wie alle Mitglieder des Londoner Schriftstellerkreises
zitiert Lamb gern, und zwar sowohl seine Lieblings-
autoren — in der Regel die etwas entlegeneren Spät-
elisabethaner — als auch andere, gelegentlich sogar
sich selbst, und nicht immer mit unbedingter Exaktheit
Noch lieber lehnt er sich an Ausdrücke und Wendungen
alter Autoren an.') Daneben besitzt er aber auch die
Fähigkeit, eigene prägnante Bezeichnungen zu bilden,
die, unauffällig und ungesucht^ einen ganzen Satz auf-
wiegen, z. B. within-door reasons für innerhalb der eigenen
Persönlichkeit ruhende Gründe {Old Benchers).
In Lambs Prosa ist jeder Satz wie gemeißelt^ sitzt
jedes Wort an der Stelle, wo es hingehört, wo es am
>) Essay an Ms Life and Genius.
*) On Famüiar Style (Table Talk).
*) Ygl die Anmerkangen zn Lambs Werken von Ainger und bei
Lake S. 40 f.
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Der literarische Essay. 177
besten wirkt, in einem Grade, wie dies gewBhnlich nur in
gebundener Bede der Fall zu sein pflegt. Der Rhythmus
gibt ihr gelegentlich alle Qualitäten der Poesie (z. B. To
ihe Shade of JEUiston). Daher die durchsichtige Klarheit
seines Stils, die ihm ihrerseits den Charakter unbedingter
Einfachheit und Natfirlichkeit verleiht Sie erscheinen in
der Tat als seine beiden maßgebenden Gesetze. Von den
zwei Schriftstellern, die das landläufige Urteil als Meister
des eleganten Stils anerkennt, Shaftesbury und Temple,
läßt Lamb nur den letzteren gelten. Shaftesbury sei
schwulstig und geziert, Temple dagegen schlicht und
natfirlich (The Genteel Style in Writing. Der edle Stil in
der Schriftstellerei, 1826). Das allein entspricht Lambs
Begriff des Vornehmen und Edlen. So gibt ein feines
Stilgefahl, auch da wo er sich gehen läßt, den Ausschlag.
Wenn Leigh Hunt, Hazlitt und Lamb ein gleichgültiges
oder minderwertiges Thema aufgreifen, so ist Hunt der
Gematlichste, Hazlitt der Geistreichste; bei Lamb überwiegt
die künstlerisch ansprechende Form (z. B. St Valentine's
Day, 1819).
Die Mannigfaltigkeit dieser stets mit gleicher Meister-
schaft gehandhabten Form ist es, die ihn vor der Gefahr
der Eintönigkeit bewahrt Anmutiger Brie&til (Distant
CJarrespandents, 1822), dramatische Lebendigkeit (Populär
FaUaciesXniyÄll FooVs Day, 1821), rhapsodischer Schwung
(Verherrlichung der Stille als Sprache der alten Nacht in
A Quakers' Meeting^ 1821), schlichte Erzählung, kritischer
Exkurs, die lyrischen Flüge einer erhöhten Stimmung, breite
Behaglichkeit, die sich in Postskripten, Abschweifungen
und Einschaltungen gefällt — all diese mannigfaltigen
Humore werden durch den treffendsten Ausdruck aufs
glücklichste getragen und yermittelt.
Gaiehidite der enfflischen Bomantik II, 1. 12
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178 Der Uterarieche Essay.
So erklärt es sich, daß trotz der grttndliclien
Wandlung des Geschmackes im Scherzhaften bei Lamb
noch immer des Unlesbaren nnd Überlebten verhältnismäßig
wenig ist, daß uns der beabsichtigte Spaß nur ausnahms-
weise unerfindlich bleibt, wie z. B. in Hospita^ in Edax
an Appetite (Edax über den Appetit), On the Inconveniences
resulting from being hanged (Von den Unannehmlichkeiten
des Geh&ngtwerdens). Die Gestalt des gehenkten und
wieder abgeschnittenen Pendulus spielt abrigens schon in
Lambs The Pawnbroker's Daughter eine Rolle.
Von der Hellsichtigkeit des Humors getragen, erscheint
die Selbstkarikatur seines Stils in The Oharacter of (he Laie
Elia; hy a Friend (Charakterbild des verewigten Elia. Von
einem Freunde), die heitere Selbstironie eines Menschen, der
im Grunde seiner Sache sicher ist, der in aller Bescheiden-
heit weiß, daß er sein Spiel gewonnen hat Wird man doch
im großen und ganzen die absolute Freiheit von jeder Ver-
bitterung — sei es gegen Menschen und Welt, sei es
gegen Zufälle und Schicksal, sei es gegen sich selbst —
das eigentlich Ausschlaggebende für Lambs Charakter als
Mensch wie als Schriftsteller nennen mfissen. So rühmt
Bulwer die Freundlichkeit und Lauterkeit seines Humors.
In seinem Lächeln sei keine Bosheit Sein schärfster
Sarkasmus sei nur ein schalkhafter Scherz. 0 Er hat früh
gelernt, sich mit den gegebenen Möglichkeiten seines Lebens
wie seines Talentes zu bescheiden. Eine lächelnde Wehmut
über das, was ihm das Dasein schuldig geblieben oder was
er selbst verfehlt, ist alles, was sich von Bodensatz in
seinem Gemüt findet
>) Kritik Ton Talfonrds Finai Memorials nnd Barry Comwalls
Memoir, Qtiarterly Beview, 1867 (vol. 22).
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Der literarische Essay. 179
Wie ihm vom zwanzigsten Jahre an die großen
Hoffianngen erloschen waren, sind ihm auch die grofien
Stfirme, die erschfittemden Krisen erspart geblieben.
Hazlitt schildert uns Elia mitten im Gewfihle der
Straßenbnchhändler, oder wie er eine nachdenkliche Inschrift
ober einem verfallenen Tore studiert Zum echten Er-
forscher der Vergangenheit gehOrt sinnende Menschlichkeit
Lamb besitzt sie. Aber die Vergangenheit mufi etwas
Persönliches, Lokales haben, wenn sie ihn interessieren soll
,,Er schl> sein Zelt in den Vorstädten der herrschenden
Sitten auf, verfolgt einen Charakter bis zu den zuckenden
Überresten der letzten Generation zurück; er wagt sich
nicht selten ftber das Gesetz der Sterblichkeit hinaus und
besetzt jenen heiklen Punkt zwischen dem Egoismus und
der uninteressierten Menschlichkeit Niemand schildert die
Sitten der letzten Generation trefOicher, so fein und
förmlich, mit so lebendigem Dunkel, so pfiffiger Pikanterie,
so malerischer Zierlichkeit, so lächelndem Pathos. ^0
Coleridge faßte sein Urteil Aber Lamb dahin zusammen,
daß er mehr Totalität und Individualität des Charakters
besitze als sonst irgend jemand seiner Bekanntschaft In
Wordsworth überwiege das Genie das Talent, in Southey
umgekehrt das Talent das Genie. In Lamb aber sei alles
miteinander eins, sein Genie sei Talent und sein Talent
Genie, sein Herz so ganz und eins wie sein Eopf.^)
Hunt sagte in seinem Nachruf ffir Lamb: Er war
Humanist im universalsten Sinn des Wortes. Seine Phantasie
war nicht groß und es fehlte ihm auch an hinreichender
Kraft des Impulses, um seine Poesie so gut zu machen
0 Hailitt, The Spnii of ihe Age.
<> The Beposüory, 1838 (Dobell 825).
12*
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180 Der literarische Essay.
wie seine Prosa. Aber als Prosaschriftsteller und innerhalb
des weiten Umkreises der Menschheit nahm niemand einen
höheren Rang in der Vollkommenheit ein als er. Er war
tatsächlich gegen nichts nndnldsam.^
Die begeisterten Lobeserhebungen der Freunde zeigen
zur Gentige, wo seine Hauptstärke liegt. Sie besteht in
der Wirkung des GemAtes aub Gemttt Die Fähigkeit, die
dem Menschen Lamb nachgerühmt wird, daß er Liebe zu
erwerben und fest zu halten verstand, zeichnet in gleichem
Grade auch den Schriftsteller aus. Und die Liebe, die er
gewinnt, ist die echte, wahre, die nicht sagen kann, von
wannen sie kommt und weshalb sie da ist, die Liebe, die
alle Yerstandeskritik überfliegt Wer vom rein literarischen
Standpunkte aus die noch immer im Wachstum begriffene
Flut der Lambausgaben betrachtet — von der volkstüm-
lichen Auswahl bis zu den prunkvoll ausgestatteten er-
schöpfenden Gesamtwerken — dem wird vielleicht der
Gedanke: Überschätzung! durch den Kopf fahren. Aber
Lamb will auch mit dem Herzen beurteilt sein. Die
Sympathie ist der Wertmesser, nach dem sein Verdienst
gewogen werden muß. Die Sympathie, die sich bei den
hundert geringfügigen Anlässen des Alltags deutlicher und
ausschlaggebender offenbart als bei den weittragenden
Begebenheiten, ist maßgebend für den klassischen Darsteller
des Alltagslebens und der Alltagsmenschen.
Der amerikanische Schriftsteller Henry James läßt
einmal die Heldin eines Bomanes^) ihr Ideal eines Buches
entwickeln: Nur Einzelheiten, nichts Außei^ewöhnliches,
nur kleine alltägliche Dinge, aber meisterhaft erzählt und
1) London Journal^ 7. Januar 1885.
•) The Fordrait of a Lady. Vgl. L. Kellner, Geschichte der nord-
amerikamschen Literatur TL, 2i.
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Der Htmrisdie Emj. 181
alles auf natfirliche Weise yerd&mmemd ohne eigentliches
Ergebnis, nur daß die volle Bedeutung jeder Einzelheit zur
Geltung kftme. Nun, das Zukunftsbuch der Miß Isabel
Archer war schon l&ngst geschrieben« Sie hätte es in den
Essays of Elia finden können. Als der Verfasser und
Held dieses Baches, das ein Buch ffir alle Tage, alle
Stimmungen, alle Menschen ist, lebt Lamb im Volke fort.
So erklärt sich seine Popularität Wie er selbst mit seinem
weisen, milden Herzen alles Leben im Umfange des ihm
Bekannten umfing, so ist er seinerseits ein LiebUng der
Nation geworden.
Werke Ton Charles Lamb.
1796 Poems on Variaus Subjects (gemeinsam mit Coleridge).
1798 Blanh Verses hy Charles Lloyd and Charles Lamb.
— Bosamond Gray.
1799 Lwmg without God in the World (Ännual Änthology,
voll).
1800 Thekla*s Song (in Coleridgea Übersetzong Ton Schillera
Die Piccolomini).
1802 John Woodvil
1806 ür. H.
— The Emg and Queen of Hearis.
1807 Tales fnm Shake^eare.
1808 Mrs, Leicester's School
— Ä ChUd's Version of (he Ädventures of Ulysses.
— Spedmens of English DramaHc Poets contemporary with
Shakespeare. (Nenausgabe mit Vorrede von J. Oollancz,
1893.)
1809 Poeky of ChOdren.
1811 Prince Boras. A PoeUcal Version of the Ancient Tale.
(FaksimUedmck mit Einleitung Ton Andrew W. Tuer,
1891.)
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182 Dv litennselie Enay.
1811 JEsMy OM Hogarik
— The Bernau and Oe Bea$t (ZweifeUiafL)
— E9$a^s OM (he Tragedies of Shakespeare.
1818 The CoUected Works.
1823 EUa, Essaus fhai have c^eared vmder that Signatare in
the London Magaeine.
1827 Exbracts from the Qarriek Plage.
1830 Älbim Verses with a Few Others.
1831 Satan in Seareh of a Wife.
1833 The Last Essags of Elia.
1835 Prose Works.
1838 The Works of Charles Lamb. With a Sketeh of his Life
bg T. N. Talfoyrd.
1855 The Works of Charles Lanib. With a Sketeh of his Life
and Final Memorials, hg T. N. Talfowrd.
1868 The Con^lete Oorrespondence and J^orks. With an Essag
on the Genius of Lamb, hg George Äugustus SaUt.
1870 The Con^lete Correspondenee and Works. With an Essag
on his Life and Genius, hg Thomas PumeU, aided bg
the BeeoüecUons of the Authcr^s Adopted Daughter.
1874 The Compleie Works in Prose and Verse; edited and
prtpored hg B.H. Shepherd.
1876 The Life, Letters and Writings; edited bg Percg Fite-
geräld.
1888 The Life and Works, edited bg Alfred Ainger.
1901 ^ Masque ofDags. From the Last Essags ofEUa, newlg
dressed and decorated bg Walter Orane.
1903—1905 The Works, edited bg William Macdonald.
1905 The Works of Charles and Marg Lamb, edited bg
E. V. Lucas. (5. Auflage 1910.)
1908 The Works in Prose and Verse of Charles and Marg
Lamb, edited hg Thomas Hutchinson (Oxford Edition).
-1912 Charles and Marg Lamb, MisceXUmeous Prose, edited bg
E, V. Lucas.
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Der HterariBche Essay. 183
Werke ftber Lamb.
1837 N. T. Talf ourd, Ä Sketch of Lamb's Life.
1848 — Final Memorials of Charles Lamb.
1854 P. G. Patmore, Mtf Friends and Acqimntance.
1860 Thomas de Qnincey, Charles Lamb.
1866 Barry Cornwall, Memovr of Charles Lamb.
— Porcy Fitzgerald, Charles Lamb, his Friends, his
Haunts, and his Books.
1867 Thomas Graddock, Charles Lamb.
1868 Alexander Ireland, ÄChronologicalList of theWritmgs
of Haglitt and Leigh Hunt, preceded by an Essay on
Lamb and a List of his Worhs.
1875 Charles Eent, Memoir (Centenary Edition, Boutledge).
1877 FälstafTs Letters by James White, reprinted verbatim,
teith NoUces of the Äuthor collected from Ch. Lamb,
L. Hunt and ofher Contemporaries.
— Lonis D^pret, Charles Lamb. De Vhumeur littiraire en
Ängleterre.
1878 Charles imd Mary Cowden Glarke, Becollections of
Wfiters.
1882 Alfred Ainger, Charles Lamb (EngUsh Men of Letters).
1883 Mrs. Gilchrist, Mary iMmb (Eminent Women Series).
1893 £. V. Lucas, Bemard Barton and his Friends.
1897 W. C. Hazlitt, The Lambs. Thebr Lives, their Friends,
(heir Correspondences.
1903 Bertram Dobell, SideUghts on Charles Lamb.
— Bernard Lake, A General Introduction to Charles Lamb.
Togeiher mth a Special Study of his Belations to
Bobert Burton.
1904 Jnles Derocqnigiiy, Charles Lamb. Sa vie et ses asmres.
1912 Orlo Williams, Lamb's Friend, the Census Tdker. Life
and Letters of John Bickman.
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William HaiUtt
1778—1830.
MalereL
Einer Familientradition zufolge sollen die Hazlitts mit
Wilhelm nx ans den Niederlanden gekommen sein und
sich im nördlichen Irland angesiedelt haben. William
Haslett, Sohn eines Flachshändlers in Shronell, tmg 1756
seinen Namen in das Matrikelbnch der Universität Glasgow
als Hazlett ein nnd änderte ihn später in Hazlitt^
Ein Geistlicher, William Hazlitt (f 1820), der von der
Jagend bis ins Alter ansschliefilich seinem strengen Gottes-
glauben lebte und alles Diesseitige für wertloses Zeug
erklärte im Vergleich mit der Glorie, die uns im Jenseits
erwarte,») wurde in der Pfarre zu Wisbeach bei Ely der
Nachfolger von William Godwins Vater und vermählte sich
1766 mit Grace Loftus, einer schönen Eaufmannstochter,
die Godwins Gespielin gewesen war. Von ihren sieben
Kindern blieben drei am Leben, die sämtlich künstlerisch
veranlagt waren. Der älteste, John (f 1837), wurde ein
geschätzter Miniaturmaler, der jüngste, William (geboren
1778 in Maidstone, Kent), der geniale Essayist; eine
*) JPöMf GenerattonSf 6.
•) Clerical Charaeter (YeUow Dwarf, 10. Janaar 1818 und
Memoir8lf2ß8).
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Der litezvische Essay. 185
Schwester Margaret (1770—1844) hatte Teil an der Be-
gabung beider Br&der. Sie zeichnete mit Talent and f&hrte,
wie ihre ansffihrliche Familienchronik beweist, eine ge-
schickte Feder. Sie durfte es mit Becht beklagen^ daß ihr
in den engen Yerh<nissen des Vaterhauses die Möglich-
keit genommen war, ihre Gaben zu entwickeln und zu
betätigen. 0
Seit 1780 hatte William Hazlitt, der Vater, eine Pfarre
in Cook (Irland) inna Die irischen Hazlitts sympathisierten
mit den um ihre Freiheit kämpfenden amerikanischen
Kolonien und der Pfarrer yon Cook, der in Maidstone
Franklin kennen gelernt hatte und dessen Bruder John
dr&ben unter Washington focht, trat mit Freimut fOr
gefangene, harter Unbill ausgesetzte amerikanische Rebellen
ant Seine eigene Stellung wurde dadurch nicht yerbessert
um so leichter konnte es die politische Überzeugung Aber
hamsY&terliche Bedenken davontragen. 1783 setzte Hazlitt
in demselben Schiffe, das die Friedensnachricht fiber den
Ozean brachte, mit Frau und Kindern nach Amerika über.
Die damals dreizehnjährige Peggy schildert in ihrem
Tagebuch die hochgespannten Erwartungen der Auswanderer:
nich hatte mir (nach einer entzückenden romantischen Be-
schreibung im American Farmer) die Vorstellung eines
irdischen Paradieses gebildet und erwartete mit jener Frei-
heitsliebe, die ich eingesogen, ein vollkommenes Land, wo
keine Tyrannen herrschen, keine religiösen Eiferer ihre
Br&der hassen und verfolgen, keine Intriguen die Flamme der
Zwietracht n&hren und das Land mit Weh erf&llen soUten.^
Diese utopistischen Voraussetzungen wurden natür-
lich enttäuscht Wiederholte Anstrengungen, im Lande
0 Faur OeneroHons 6.
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186 Der litenrisöhe Essay.
der Freiheit ein festes Heim zu finden, scheiterten so-
wohl in New York als in Philadelphia nnd in Boston,
wo Haziitt die erste nnitarische Kirche grOndete. Er
wirkte eine Zeitlang als Wanderprediger , auf seinen
Pilgerfahrten gar häufig von seinem Söhnchen William
begleitet y das während der Predigt anf der Kanzel zu
seinen Fflßen zu sitzen pfiegte. 1786 kehrte der Pfarrer
— vorerst allein — nach Europa zurück. Ein in höchst
willkOrlicher Orthographie abgefaßter Brief des acht-
jährigen Knaben an den Vater enthält den ffir die ver-
fehlte Expedition charakteristischen Satz: „Ich, ffir mein
Teil, finde, es wäre um sehr vieles besser gewesen, wenn
die Weißen es (Amerika) nicht entdeckt hätten. Mögen
die andern es ffir sich behalten, denn es ward ffir sie
Nach der Heimkehr wurde das bescheidene, friedliche
Pfarrhaus zu Wem bei Shrewsbury Pfarrer Hazlitts
dauerndes Heim, die Stätte einer Laufbahn, der bei aller
Unscheinbarkeit der Segen stiller, makelloser, trost-
reicher Tätigkeit innewohnte. Der begabte, heitere, außer-
gewöhnlich liebenswürdige Knabe William erhielt seinen
Unterricht vom Vater, an dem er in innigster liebe hing.
In dieser Atmosphäre lauterster weltabgeschiedener Frönmüg-
keit vergingen sdne Kinder- und Jfinglingsjahre. Nach
dem ehrwfirdigen Bilde seines Vaters hat er später die
dissentistischen Geistlichen der guten alten Zeit geschildert
„Von der Welt vernachlässigt und mit Hochmut behandelt^
waren sie schon in den Knabenjahren den Eitelkeiten und
Hoffnungen der Jugend abgestorben, und ihr Blick suchte
im eigenen Gemfit nach etwas anderem, darauf sie ihre
Hoffnung und ihr Vertrauen grfinden konnten. Sie waren
wahre Priester. Sie richteten ein Bild auf in ihrem eigenen
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Der Uteiarische Essay. 187
Herzen — das Bild der Wahrheit Dort beteten sie ein Idol
an — das Idol der Gerechtigkeit Sie sahen im Menschen
ihren Bnider nnd beugten dem Höchsten ihr Knie. Von
der Welt geschieden, wandelten sie einsam mit ihrem Oott
und lebten in Gedanken mit jenen, die Zeugnis eines guten
Gewissens abgelegt hatten, mit den Geistern der guten
Menschen aller Zeitalter. Ihre Sympathie war nicht auf
selten der Bedrücker, sondern der Bedruckten. Sie hegten
in ihren Gedanken jene Bechte und Vorrechte, für die ihre
Vorfahren auf dem Schafott geblutet hatten, in Kerkern
oder unter fremden Himmelsstrichen hingesiecht waren, und
wünschten, sie ihren Nachkommen zu überliefern. Auch
ihr Glaubensbekenntnis war: Ehre sei Gott, Friede auf
Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Diesen Glauben,
der seither profaniert nnd erniedrigt worden ist, hielten
sie fest^ bei gutem oder üblem Bul Diesen Glauben be-
besaSen sie, der Kraft hat, den Blick auf etwas zu heften,
das fest wie die Sterne, tief wie das Firmament ist, der
das eigene Herz zu einem Altar der Wahrheit macht, zu
einer St&tte der Anbetung dessen, was da recht ist; vor
dem es als etwas Heiligem Ehrerbietung bezeugt mit Lob-
preisen und Gebet — abseits und zufrieden. Der Glaube,
der sich dem höchsten Wesen des Weltalls stets nahe
fühlt und empfindet, daß die Dinge zusammenwirken zum
Besten seiner Geschöpfe unter seiner leitenden Hand. Diesen
Bond hielten sie, wie die Sterne ihre Bahn einhalten. An
diesen Grundsatz klammerten sie sich, weil sie keinen
besseren kannten, sowie er ihnen bis zum Letzten stand-
hielt Er wuchs mit ihrem Wachstum, er welkte nicht
bei ihrem Verfall. Er lebt, wenn die Mandelbäume blühen
und wird nicht gebeugt, wenn die Knie schlottern. Er
schimmert im alten, schwachen Augenlicht, lächelt wie die
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188 Der literarische Essay.
Kindheit auf ihren welken Wangen nnd erhellt ihnen den
Pfad zum Grabe." *)
Wie zur Frömmigkeit, so legte das Vaterhaas in
William Hazlitt den Grund zum demokratischen ünabhftngig-
keitsgefOhl. „Ich neige der Erziehung und Überzeugung
nach zum Republikanismus und zum Puritanertum", sagt
er. 2) Als der mit Hazlitts Vater in brieflichem Verkehr
stehende Priestley 1791 in Birmingham schwere und
ungerechte Anfeindungen erfuhr, schrieb der dreizehnjährige
Knabe, dessen eindrucksroUe vergeistigte Zfige eine
Miniature aus dieser Zeit von der Hand des Bruders John
festgehalten,') einen HAIASOY gezeichneten Brief an den
Herausgeber des Shrewshwry Chroniclej in dem er offen
für den Angefehdeten Partei ergriff. 4) Der Brief hebt an:
„Es ist in der Tat überraschend, dafi Menschen, die Christen
sein wollen, solche Freude an dem Bestreben zu finden
scheinen, auf einen der besten, weisesten und grOfiten aller
Menschen Schmach zu häufen.^ Der jugendliche Kämpe
erinnert daran, daß die Sache der Wahrheit nimmer durch
Heftigkeit und Gewalt gefordert werde, sondern einzig
durch Vernunft, Beweisführung und Liebe. „Religiöse Ver-
folgung", sagt er, „ist das Verderben aller Religion. Ihre
ärgsten Feinde sind die Freunde der Verfolgung und unter
allen Verfolgungen ist die Verleumdung am wenigsten zu
dulden."
Verblüffend ist an dem Dreizehnjährigen die Freiheit
und Sicherheit des Ausdrucks, ungezwungene, temperament-
^) Clericdl Characier.
*) Trifles, UgU ob Air,
«) Vgl. CoUected WorJcs, edü. hy WaOer and Olover.
*) Wieder abgedruckt unter dem Titel: A Liter ary CuriosHy in
Leigh Hunts London Joumai yom 17. Oktober 1885 (Bd. H, 846).
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Der literarische Essay. 189
volle Lebendigkeit und ein lyrisch-rhapsodischer Gef&hls-
ansbrach („0 Christentum , wie bist dn herabgewürdigt!^
zeigen bereits die charakteristischen Merkmale yon Hazlitts
gereiftem StiL
Ein Jahr darauf (1792) regt ihn ein Gespr&ch Aber
religiöse Toleranz und die Korporation- und Test-Akte
an, seine eigenen Ansichten über politische Rechte in
ein System zu fassen. So entsteht sein Project for a
New Theory of Civil and Criminal Legislation (Entwurf
einer neuen Theorie des Zivil- und Strafrechts), das er
spftter sorgsam ausarbeitete. ^ Der Begriff des Bechtes
wird darin folgendermaßen definiert: Recht ist Pflicht, die
jeder Mensch sich selbst schuldet; oder: Recht ist der
Teil des Allgemeinwohls, über den der Mensch (als der
hauptsächlich dabei Interessierte) der spezielle Richter
und der in seine unmittelbare Hut gegeben ist Im Natur-
zustande hat der Mensch ein Recht auf alles, was er in
Beschlag nehmen kann. Die einzige Beschränkung dieses
Rechtes ist nur, daß es sich nicht mit dem gleichen Rechte
der anderen Individuen verträgt. Das Gfesetz dämmt das
ursprüngliche Recht ein und hält den Willen der Individuen
und der Gemeinde in Schranken. Gesetze sind auf eine
vorausgesetzte Verletzung der individuellen Rechte ge-
gründet — oder sollten es sein.
Somit drängt sich die Frage auf, ob keine Regierung
möglich wäre, die sich auf die Bestrafung solcher Verletzungen
beschränkte und alles übrige dem gegenseitigen Überein-
kommen anheimstellte? Die Untersuchung ergibt, daß
>) Zuerst 1817 in Brieffonn für den Examiner abgefaßt, dann
ansgearbeitet tin den Liberal^ 1828; 1850 in die E88ays ofWinierslow
anfgenomman.
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190 Ber litanriMlift Enty.
Eigentum und persönliche Freiheit anf einer nnd derselben
Gmndlage beruhen und dafi es, da dem Oesetz nur ein-
schränkende negative Macht zukomme, kein Gesetz zur
EIrzwingung der Moral geben kOnne. Jedermann ist Richter
fiber sein eigenes Bestes. Nur wenn er die Rechte anderer
gefährdet, kann er zur Verantwortung gezogen werden.
Der Entwurf ist im wesentlichen aus Godwins PoUtical
Justice geschöpft, nichtsdestoweniger aber charakteristisch
für die Geistesbildung des jungen Denkers.
Gleichzeitig mit diesen philosophischen Bemühungen
warf, infolge der Ausbildung des Bruders John zum Maler,
auch die Kunst ihr^ milden, heiteren Glanz in die sich
erschließende Knabenseele.
Man hatte ihn zum Geistlichen bestimmt Allein sein
Yon allerlei Weltproblemen stflrmisch bewegtes Gemüt ver-
mochte sich im Unitarian GoUege zu Hackney, wo ihn der
Vater untergebracht, nicht auf die Theologie zu kon-
zentrieren. Aus dem Bestreben heraus, sich eine eigene
politische Anschauung zu bilden, entstand 1792 die Ab-
handlung On the PoUtical State ofMen (Über die politische
Lage der Menschen). „Meinung gegen Meinung will ich
jedem gegenabertreten'', sagt er darin.
In einem anderen Essay {Belief, wheffier voluntary. Ob
der Glaube freiwillig sei), bestreitet er die absolute
Willensfreiheit.
In dem energischen Ringen des jugendlich g&hrenden
Geistes nach der sehnsuchtsvoll erstrebten Klarheit brachte
das geistliche Studium nicht die gewünschte Ruhe und
Befreiung. Im Gegenteil machte eine Abneigung gegen
den geistlichen Beruf sich immer entschiedener geltend, und
Hazlitt kehrte 1794 oder 1795 von Hackney nach Hause
zurück — bei aller vielseitigen Begabung und intellektuellen
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Der Uterariflche Essay. 191
Schftrfe planlos fiber seine Zukunft, im Dunkeln über seine
Lebensaufgabe, ein zerfahrener Qeist Erst 1798 ging ihm
durch die Bekanntschaft mit Goleridge, der in dem nahen
ShrewBbury predigte, ein erlösendes Licht fiber sich selbst
auf. Den bezaubernden Eindruck dieser ersten fflr sein
ganzes Leben bestimmenden Dichterbegegnung hatHazIitt in
nnübertrefflicher Weise in dem Essay My First Äcquaintanee
tciih Poets (Meine erste Dichterbekanntschaft) geschildert
Ck)Ieridge hat Haziitts schlummernde Fähigkeiten zum
Bewußtsein erweckt. „Ich hatte damals keine Ahnung^,
heißt es in dem Essay, „dafi ich je imstande sein
wfirde, anderen gegenfiber meiner Bewunderung in bunten,
poetischen Bildern oder phantastischen Anspielungen Aus-
druck zu geben, bis das Licht seines Genius in meine
Seele fiel, gleich dem Sonnenstrahl, der in den Lachen
der Straße glitzert Ich war damals stumm, der Sprache
nicht f&hig, hilflos wie ein Wurm am Wegrande, zertreten,
blutend, leblos. Nun aber schweben meine Ideen, die
tödlichen Bande sprengend, 'die mit dem Styxe neunfach
äe umwinden', auf geflfigelten Worten dahin, und wie sie
ihre Schwingen entfalten, streifen sie das Licht anderer
Jahre. Wohl yerblieb meine Seele in ihrer ursprünglichen
Knechtschaft, finster, dunkel, mit unendlichen unbefriedigten
Sehnsfichten, wohl fand mein Herz, in dem Kerker dieses
rohen Lebens eingeschlossen, niemals ein Herz, zu dem es
sprechen könnte und wird es niemals finden; aber, daß
nicht auch mein Verstand stumpf und tierisch geblieben
ist und endlich eine Sprache gefunden hat, sich aus-
zndrftcken, das verdanke ich Goleridge.^
In den Leetures on English Poets sagt Hazlitt von
dem Yielbewunderten und Yielgeschmähten: „Sein Genius
hatte damals Engelsfifigel und nährte sich von Manna. Er
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192 Der Uterarische Eisay.
sprach onanfhOrlich und man wAnschte, daß er unaufhörlich
spreche. Seine Gedanken schienen nicht mühsam und mit
Anstrengung zu kommen; es war, als würden sie auf dem
Sturm des Gfenies dahingetragen, als höben die Schwingen
der Phantasie seine Füße. Seine Stimme schlug wie eine
schmetternde Orgel ans Ohr und ihr Klang war Musik des
Denkens. Sein Geist hatte Flügel und, von ihnen getragen,
hob er die Philosophie zum Himmel empor. In seinen
Schilderungen erblickte man damals die Entwicklung
menschlicher Glückseligkeit und Freiheit in leuchtendem,
endlosem Fortschritt wie eine Jakobsleiter mit ätherischen
auf und nieder steigenden Gestalten und mit der Stimme
Gottes oben auf der Spitze»^ 0
Hazlitts bewundernde Liebe für Coleridge hielt nicht
lebenslang yor, wie die Lambs. Er hat später an seinem
Prophetenmantel rücksichtslos und unermüdlich gezaust
und gezerrt und Coleridge und Wordsworth wurden in
Hazlitts über den Horizont des subjektiven Parteiemp-
findens nicht hinausblickenden Augen recht eigentlich zu
Typen des AbfaUs von den Jugendidealen und als solche
zur ständigen Zielscheibe immer erneuter unbarmherziger
Angriffe. Damals aber erklang Hazlitt inmitten der aus
theologischer Gelahrtheit, Entsagong, frommem Glaubens-
und Pflichteifer zusammengesetzten Atmosphäre seines
Vaterhauses zum erstenmale die Stimme der Phantasie. Zum
erstenmale sah er der Poesie ins Antlitz. Ein Besuch bei
Coleridge in Nether Stowey und die sich daran knüpfende
Bekanntschaft mit Wordsworth, sowie eine Wanderung
durch die romantische Gegend des nördlichen Devon ver-
stärkten den nachhaltigen Eindruck des großen Ereignisses.
>) Leehtre 8.
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Der literarische Essay. 193
In die Zeit yon Coleridges Anwesenheit in Shrews-
bmy, 1798, fölt der erste Entwurfs) seines 1804 vollendeten
Essay in Defence of Üie Principles of Human Actum, heing
an Argument in Favour of (he Natural IHsinterestedness
of ihe Human Mind (Zar Verteidigung der Prinzipien des
menschlichen Handelns. Eine Beweisf fihmng zngansten der
angeborenen Uneigennfitzigkeit des menschlichen Geistes). 2)
Hazlitt ist bestrebt, den Beweis zu erbringen, daß das
menschliche Gremüt von Natur aus uneigennützig oder viel-
mehr von Natur aus an der Wohlfahrt anderer in gleicher
Weise und aus denselben unmittelbaren Ursachen be-
teiligt sei, durch welche wir getrieben werden, unser
eigenes Interesse zu verfolgen. In jedem Gemüt ist ein
dreifaches Selbst vereinigt: ein vergangenes (im Gedächtnis),
ein gegenwärtiges (in der Empfindung) und ein zukünftiges
(in der Phantasie). Wäre selbst das Interesse an der
eigenen Zukunft stärker als das an der Zukunft anderer,
so würde dies doch noch keineswegs zur Annahme eines
metaphysischen Antecedens berechtigen, das die Möglichkeit
jedes Interesses für andere aufhübe.
Der erste Plan ging dahin, mit Zugrundelegung dieser
Lehre von der angeborenen Selbstsucht als Triebfeder
des menschlichen Handelns, die natürlichen politischen Ver-
hältnisse zu betrachten und aus ihnen natürliche politische
Pflichten und natürliche politische Rechte abzuleiten, sowie
ans künstlichen politischen Verhältnissen künstlich ge-
schaffene Pflichten und Rechte. Später fügte Hazlitt dieser
Arbeit, auf die er besonderen Wert legte, noch Some
0 Läerary Bemains.
*) Lcetwres an English Phüosophers amd Metaphysicians. Er-
nchieDen in einer Sammlnng yon Jngendeflsays, 1806.
Geschichte der enfirlischen Bomimtik II, 1. 13
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194 Der literarisebe Esaaj.
Remarks on the Systeme of Hartleif and Hdvetms (Einige
Bemerkungen über die Systeme Hartleys nnd Helyetins')
hinzn. Er bestritt, daß Helyetins der Begründer der
Selbststtchttheorie sei, die bereits von Hobbes und Mande-
ville in unzweideutiger Weise dargelegt werde, und yer-
urteilte ihn als den Urheber einer Reihe yon falschen
Lehren. Auch in dem Essay On Seif Love (Über Selbst-
liebe), das sich in erster Linie gegen die Behauptung
richtet, das Wohlwollen sei ein Reflex der Selbstsucht,^)
nimmt Hazlitt den gleichen Standpunkt ein.
Trotz des mächtigen Anstoßes, den sein Geist durch
Coleridge erhalten hatte, vergingen Jahre, bis das emp-
fangene Samenkorn in ihm Halme trieb. Wenige Talente
haben sich langsamer entwickelt. Seine schriftstellerische
Produktivität war nicht sowohl eine angeborene als eine
kunstvoll entwickelte, die nur äußerst allmählich zu jener
beschwingten Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit klarer und
wohldurchdachter Behandlung verschiedenartigster Themen
erzogen ward. In dem Briefe an Gifford weist er den Vorwurf
der Vielschreiberei mit den Worten zurück: „Ich brauchte
acht Jahre um acht Seiten zu schreiben, in einer Verfassung
von unbegreiflicher und lächerlicher Mutlosigkeit" Und
in dem Essay On Living to One's Seif (Sich selbst leben.
Table Talk) sagt er: „Viele Jahre meines Lebens hindurch
habe ich nichts getan als gedacht Ich pflegte im Jahre
etwa eine bis zwei Seiten zu schreiben. War ich kein
Autor, so konnte ich doch mit immer frischem Entzücken
lesen. Konnte ich nicht malen wie Claude, so vermochte
ich doch den Zauber des sanften blauen Himmels zu
bewundem. Ich lebte in einer Welt der Betrachtung,
*) Liierary Eemains,
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Der HtenzJBdie Bssay. 195
Dieht der Tat — Diese Art von Tranmexistenz ist die
beste."
Ohne sich zu einer Bem&wahl entschließen zu können,
verbrachte Hazlitt in einer Art geistigen Yorratsammelns
Monate nnd Jahre seiner r&stigen Jugendkraft in Wem,
ganz in philosophische und literarische Priyatstudien ver-
tieft Doch war diese Lekt&re als Lebenszweck weder
eine systematische, noch umfaßte sie einen außergewöhnlich
weiten Horizont Sie war nur von außergewöhnlicher In*
tensit&t „Die Bficher, die ich las, als ich jung war, kann
ich niemals va-gessen'', sagt er. Aus dem Umstände, daß das
Oelesene ihm zeHlehens im Geiste haften blieb, erklärt sich
vermutlich seine häufig aufdringliche, mit der Qualität seines
Stils kaum vereinbare Unart des fibermäßigen Zitierens.
Auch machen ihn die genußreichen Eindrficke der Jugend-
lekt&re stumpf oder ungerecht gegen Neuerscheinungen.
„Ich hasse es, neue Bücher zu lesen^, sagt er in dem
Essay On Heading Old Boohs (Über die Lektüre alter
Bücher). „Es gibt zwanzig bis dreißig Bände, die ich
wieder und wieder gelesen habe, und sie sind die einzigen,
die ich Lust habe, wieder zu lesen. Ich denke darum
nicht schlechter von einem Budie, weil es seinm Verfasser
um eine oder zwei Generationen überlebt hat^ Ebenso
beißt es in On Beading New Boohs (Über die Lektüre
neuer Bflcher^O ein altes Buch, das man noch nicht
gelesen habe, sei auch ein neues Buch. Wenn wir alles
Vorausgegangene geringschätzen, geben wir unseren Nach-
fahre das Bdspiel w die Hand, uns ihrerseits zu miß-
achten.
Zu den Büchern, die Hazlitt mit Begeisterung liest,
>) Sketches, Florenz 1835.
13*
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196 Der literarische Essay.
gehören Schillers Dramen. „Die Bäüber waren das erste
Stück, das ich las, and die Wirkung, die es anf mich
hervorbrachte, war die größte. Es betftubte mich wie ein
Schlag und ich habe mich nicht genug davon erholt, um zu
beschreiben, wie es war." Auch Don Carlos macht ihm
einen unauslöschlichen Eindruck und erfUlt ihn mit Sehn-
sucht nach dem Guten. Hingegen sagt ihm Schillers
späterer Stil weniger zu. Hazlitts Urteile fiber Goethe
verraten in ihrer Oberflächlichkeit unzureichende Kenntnis
des Dichters. Eines seiner Lieblingsbücher ist die Nouvdle
Eeloise. Er liest die einzelnen Kapitel wieder und wieder
mit unaussprechlichem Entzücken und immer neuer Be-
wunderung. Er schluchzt über Juliens Abschiedsbrief und
träumt noch zwanzig Jahre später von ihm.^)
Mit der eigenen Produktivität nimmt naturgemäß die
Anziehungskraft der Lektüre ab und er zehrt in reifen
Jahren lediglich von der Belesenheit seiner Jugend.
Dieser ganz autodidaktische Bildungsgang, der der
zielbewußten Arbeit wie der strengen Disziplin entbehrte,
wurde gleichwohl von Hazlitt in späteren Jahren nicht
bereut „Unsere Universitäten", sagt er, „sind in hohem
Maße Zisternen, in denen das Wissen stagniert, nicht
Leitungsröhren, die es verteilen. Eine königliche Akademie
bedeutet eine Art Spittel für die Yerderbtheit des
Gteschmackes und der Urwüchsigkeit — einen Behälter, in
dem Enthusiasmus und Originalität aufhören und ihren
Einfluß nicht weiter ausüben {On Corporate Bodies. Über
Körperschaften, Table TaUc). Wenn Hazlitt in dem Essay
On the Feeling ofinmortality in Youtk (Über das Unsterb-
liehkeitsgefühl der Jugend, TabU Talk), das Ewigkeitsgefühl
1) Qn Beaäing Old Books.
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Der literariBche Easay. 197
der Jugend etwas nennt^ das für alles entschädige, so dentet
dies auf ein in frohen Jahren selbsterlebtes beseligendes
Bewoßtwerden innerer Schätze. „Wir stürzen den Lebens-
becher hinunter mit gierigem Durst, ohne ihn zu leeren^,
sagt er, „und Freude und Hoffnung scheinen stets bis an
den Rand zu schäumen.^
Schließlich entschied Hazlitt sich für eine Laufbahn,
die der erhöhten Stimmung seiner Jugend die schönsten
Aussichten zu bieten schien. Er wollte sich unter der
Ägide seines Bruders John, der als Schüler Beynolds' in
der Malerei seinen bescheidenen Weg machte und seit 1788
in der Boyal Academy aussteUte, ebenfalls der Kunst
widmen. 1788 verbrachte William Hazlitt vier glückliche
Monate in Paris, um im Louvre zu kopieren. In dem Essay
On a Portrait of an English Lady hy Van Dyke (Über das
Porträt einer englischen Dame von Van Dyck, Table Talk)
preist er die Kunst des Kopierens, die mehr Talent erfordere
als Originalarbeit. In bezug auf die eigene Tätigkeit lautet
sein Urteil freilich anders. Alles, was innigste Kunst-
b^eistemng und feinstes Kunstgefühl, was Fleiß und Aus-
dauer ihm erreichbar machten, entschädigte ihn nicht in
seinen Augen für den Mangel an schöpferischer Begabun'g.
Nach einer dreijährigen Tätigkeit als wandernder Porträtist
im Norden von England gab er die Kflnstlerlaufbahn wieder
aal Er hatte in dieser Zeit ein treffliches Bild seines Vaters
— - das ihn in Shaftesburys Characteristics lesend darstellt
— - und das in der National Gallery befindliche, ausdrucks-
volle Porträt Lambs in der Tracht eines venezianischen
Senators gemalt
Trotz dieses äußeren Scheiterns war dennoch der
innnere Ertrag der Malstudien für Hazlitt nicht gering.
Er gewann einen Einblick in das Wesen und den Betrieb
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198 Der litenuiiefae Essay.
der Konst, den nur die praktische Bescfa&ftigang mit
ihr gibt, und dieses auf eigener Erfahrung beruhende
Verständnis sollte der Sicherheit wie dem Geschmack seines
kritischen Urteils trefflich zustatten kommen. Zwar ist bei
seiner stets im Vordergrund bleibenden Subjektivität sein
Schiedsspruch zu häufig von persönlicher Sympathie oder
vom Zeitgeschmack abhängig, um im heutigen Sinne maß-
gebend zu sein. Er steht z. B. nicht an, Luias Der Tod
Clorindens in einem Athem mit Tizian zu nennen. Aber
die auf vollem Verständnis der Technik und des Details
beruhende Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit seiner Schilde-
rung ist nur durch die in ihm vollzogene, seltene Ver-
einigung von Schriftsteller und Maler möglich. So bildet seine
Beschreibung von Tizians Petms Martyr in St. Gfiovanni e
Paolo in Venedig — Hazlitt nennt es das schönste Gemälde
der Welt — seit der Zerstörung des Originals tatsächlich
einen wertvollen Besitz. Was Hazlitt anstrebt, sagt
Edmund Gosse, 9 ist nicht mehr und nicht weniger als die
geistige Wiedergabe eines körperlichen Eindrucks. Er
beschreibt in der Absicht, auf der Retina des Geistes ein
Bild hervorzubringen, das im Geiste denselben Enthu-
siasmus erzeugen soll wie das Bild im betrachtenden Auge.
Ffir den notwendigen Mangel der Farbe und Form sucht er
durch eine feine Verstärkung des Eindrucks zu entschädigen.
Daher seine Üppigen, mitunter übersaftigen Schildereien.
Er schreibt nicht für die, welche die Bilder sehen, sondern
für jene, die keine Gelegenheit dazu haben und denen er
denselben Genuß verschaffen will.
Wie er selbst ein Gemälde mit der Feder anschaulich
zu zeichnen vermag, so schätzt er an Poussin, „dem
') Norihcote's Convermtions, Intr. XXIV.
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Der litenuriflohe Essay. t99
poetischsten aller Maler^, die Kunst, „mit dem Pinsel zu
erzählen" (On a Landscape hy Nicolas PoHssin. Über eine
Landschaft von Ponssin, Table Talk).
Er liebt es, mit feinsinniger Unterscheidnngsgabe,
Künstler gegeneinander abzuwiegen. So formuliert er in
dem dialogisierten Essay The Vatioan {TMe Talk) den
unterschied zwischen Michel Angelo und Baphael folgende-
maßen: „Michel Angelo prägte seinen Werken den eigenen
Charakter auf oder nahm von der Natur einen eigenen
Abguß, indem er vieles Vorzügliche wegließ. Raphael
empfing sdne Inspiration von außen und sein Genius
erhascht die züngelnde Flamme der Anmut, der Wahrheit
und Größe, die sich in seinen Werken in klarem, durch-
sichtigem, nnaualSschlichem Lichte spiegelt"
Hazlitt hat durchgebildete Eunstprinzipien, die er in
einer stattlichen Anzahl von Essays über Gegenstände der
MiJerei entwickelt and verwertet. Im Gegensatze zu
Beynolds erblickt er die Vollkommenheit eines Gemäldes
in d^ Vereinigung der allgemeinen äußeren Erscheinung
mit individuellen Details, der allgemeinen Wahrheit mit
der individuellen Deutlichkeit und Exaktheit {Heasure of
Pamting. Malerfreuden). Er ist der unbedingte Anwalt
mes künstlerischen Realismus. Alle Vollkommenheit der
großen Meister entspringe dem Studium der Natur, keiner
Verbessening der Natur, die man Ideal zn nennen pflege.
Der gesunde Bealismus, der weder das Lokale noch das
Nationale unterdrückt, sei den griechischen Statuen, wie
den niederländischen Malern und Hogarth gemein. Ideal
im recht verstandenen Sinne bedeute nicht die Bevorzugung
dessen, was nur im Geiste des KünsÜers bestehe, vor dem
in der Natur Bestehenden, sondern die Bevorzugung dessen
was in der Natur schön ist, vor dem, was es weniger ist.
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200 Der literaiische Essay.
So erscheint ihm Eubens' Kolorit mid Zeichnung als ideale
Übertreibung {The Fine Ärts. Bildende Kunst). 0
Der Fleiß gehört zu Hazlitts Kunstprinzipien. Mit
Eifer legt er die Notwendigkeit des Muhewaltens, die
Abtr&glichkeit des Überhastens wie eines oberflächlich
skizzenhaften Wesens dar und wir gewinnen einen Ein-
blick in seinen eigenen Arbeitsemst, sein Verbeißen in
den Vorsatz, seine Verzweiflung &ber ein Mißlingen
{On Means and Ends. Über Mittel und Wege, lAterary
Bemains).
Er findet den Mut, unpopuläres Verdienst oder noch
unbekanntes Talent mit aller W&rme zu befürworten. Er
nimmt sich des yemachlässigten Malers Wilson an und preist
den jungen Turner, seine Gabe der unvergleichlichen
Lichteffekte und sein gewaltiges Heryortretenlassen der
Gegenstände.^) Ja, er ist so kfüin, den Nutzen von
Akademien zu verneinen, eine Meinungsäußerung, die ihm
selbstredend zahlreiche Feinde erwarb {Inguiry tchetiier ihe
Fine Arts are promoted hy Äcademies. Untersuchung ob
die bildende Kunst durch Akademien gefördert werde
[Champion 1816] und Caktlogue Baisonne of ihe British
Institutionj Examiner 1816).
Abgesehen von dem dauernden Nutzen, den Hazlitt
aus seiner vorftbergehenden Kunstbetätigung zog, scheint
er durch sie auch das volle Glück der künstlerischen
Arbeit kennen gelernt zu haben. Er schildert uns mit
aller Poesie der Begeisterung die Wonne des Schaffens,
die stets aub neue emporschnellende Hoffnung des glück-
^) Artikel der Cydopaedia Britanmca, 1824. Abgedruckt Literary
Bemains I.
') Vgl. Narthcote^s Conversations, InfroducUon hy Edmumd Gosse
YYTT^ XXIU.
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Der literariBche Essay. 201
liehen Gdingens, das ehrgeizige, verliebte Bingen nach
hohem Ziel. Im Malen liege ein Gennß, den nur der Maler
kennt. Beim Schreiben hat man gegen die Welt zn kämpfen,
beim Malen führt man nur einen freandlichen Kampf gegen
die Nator. Das Herz ist voll und gleichzeitig rahig. Eifer
und Mühe bleiben hinter dem Ziele zurück; aber aus dem
endlosen Bestreben erwächst die Geduld und wird zum
Genuß. Die Stunden verfliegen, ungezählt, ohne Leid,
ohne Ermüdung. Man wünschte nicht, sie anders hin-
zubringen. Er schildert die Freude an der Natur, am
Sebenlemen. Verfeinerung der Sinne schafft überall
Schönheit Es ist nur die Boheit des Beschauers, die in
den Gegenständen nichts als Boheit erblickt. Der Künstler,
der am Werk und im Begriff ist) seine höchste Vorstellung
der Schönheit oder Erhabenheit zu verwirklichen, ist im
vollen Besitz dessen, was ihm die Quelle des höchsten
Glückes und der höchsten geistigen Erregung bedeutet, die
er zu genießen vermag. Ja, schon das bloße Kunst-
verständnis ist eine Quelle des Genusses, den der Laie
nicht kennt (On the Pleasures of Painting).
Hazlittts Schilderung der Sitzungen zum Forträt wird
ihrerseits zum behaglichen Genrebild. „Nie mehr, so lange
deine Eichentäfelung dauert" — redet er die alte Wohn-
stabe im Vaterhause an — „wirst du wieder so schöne
Begnügen der Einbildungskraft beherbergen wie die, welche
durch mein Hirn gingen, wenn mir die frischen Farben
von der Leinwand entgegenleuchteten und mein Herz leise
die Namen Bembrandt und C!orreggio hauchte!" (On Sitting
for one^s Picture. Wenn man zu seinem Porträt sitzt).
In dem Essay Whether Genius is conscmts ofits Power (Ob
das Genie sich seiner Kraft bewußt ist. Table Tolle) ruft
er ans: „O, nur eine Stunde dieses ruhelosen Entzückens,
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202 Der literariBche Essay.
wenn der Geist zuerst denkt, er hätte etwas entworfen,
was ewig dauern könnte, wenn vor dem betroffenen Blick
der Keim des Vortrefflichen aus dem Nichts springt!'^
Hazlitt, der sich vor Betrübnis nicht zu fassen wußte,
als sein einziger Sohn Neigung und Beruf für die Sänger-
laufbahn zeigte, wünschte, daß er Haler werde {On the
Conduct of Life. Über Lebensführung). Dies ist wohl der
beste Beweis, wie sehr ihm, trotz mancher Drangsalierang
der Armut und Mutlosigkeit — man vergleiche den Aufisatz
On the Want of Money (Über Geldmai^el) — die von
ihm verfehlte Laufbahn zeitlebens in idealer Verklärung
erschien. Intime Beschäftigung mit der Kunst bedeutete
für ihn jenes „erste Aufglühen der Leidenschaft, das seinen
Glanz auf den sich erschließenden Lebenspfad wirft.^ „Es
ist wunderbar", sagt Hazlitt, „wie viel von dem Buche
unserer künftigen Existenz das bloße Titelbild enthüllt!"
(On Novelty and Famüiarity. Über Neues und Vertrautes
[Tabu Talk]).
Die Essays.
Mit Hazlitts Niederlassung in London, 1805, beginnt
seine literarische Laufbahn. Sie bewegte sich zunächst auf
metaphysischem , politischem und nationalökonomischem
Gebiete. Der 1805 veröffentlichte' Essay on fhe Principles
of Human Äctions (Über die Ursachen menschlicher
Handlungen) hatte wenig Erfolg; desgleichen die 1806
folgenden Free Thoughts on Public Affairs, or Ädvice to
a Patriot (Freie Gedanken über öffentliche Angelegenheiten
oder Batschläge für einen Patrioten), obzwar sie voll
>) Literary Bemains I, p. LVIII.
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Der Utenriflolie Esny. 208
warmen Freiheitssinnes nnd kräftig im Ausdruck sind.
Ein Auszug aus Tuckers siebenb&ndigem Werke lAght of
Natm-e persued (Dem Lichte der Natnr nachgehend),
1807, machte ebensowenig Glück wie die aus demselben
Jahre stammende Beply to the Essay on Population^
by tke Bec. T. K Malihus in a Series of Letters (Er-
widerung auf T. B. Malthos' Abhandlung über die Be-
völkerung. In einer Beihe von Briefen). Hazlitt nimmt
auf Godwins Seite Stellung gegen Malthus, dessen Theorie
er auch im Spirit of ihe Age „weder folgerichtig noch
ftberzeugend ^ nennt Er fand, dafi Wallace bereits
alks Wesentliche gesagt habe, das Malthus vorbringe,
und der trockene Ton seines Werkes, die Geringschätzung
der niederen Klassen, die er aus ihm heraus zu lesen
meinte, empörte ihn. 1808 verfaßte er eine englische
Schalgrammatik: A New and Improved Grammar of the
EngUsh Tongue. For ihe Use of Schools. In which ihe
Geni$$s of our Speech is espeddUy attended to, and ihe Dis-
eoveries of Mr. Home Took and other Modern Writers on
Ihe Formation of Language are for ihe First Time in-
corporated (Nene nnd verbesserte Grammatik der englischen
Sprache ffir den Schulgebranch. Mit besonderer Berftck-
sichtigung des Genius unserer Sprache, wobei zum ersten-
mal die Entdeckungen Home Tookes und anderer modemer
Schriftsteller über die Bildung der Sprache verwertet
werden). Hazlitt erkennt anch sonst den BiversUms
of Fmiey etymologische, grammatikalische und philo-
sophische y^^enste zu^ nnd schließt sich vielen seiner
bizarren Gmndsätze an. Godwin gab diese Grammatik
später in gekflrzter Fassung heraus.
1) On Harne Tooh^z Divereiona of Puriey, lat. BemcUns 1, 835.
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204 Der literarische Essay.
Das richtige Arbeitsfeld hatte Hazlitt, dreißigjährig,
noch nicht gefunden. Bei übergroßer Sensibilität und einem
leidenschaftlich empfindenden Temperament bildete sich in-
folge mancher Enttäuschung — auch in der Liebe — eine
leicht gereizte, leicht verdüsterte, rasch wechselnden
Stimmungen unterworfene und rechthaberische Gemfttsart
in ihm aus, zum Paradoxen, zu trotzigem in sich selbst
Zurückziehen geneigt, dabei aber durch und durch recht-
schaffen und im Innersten wohlwollend.
Wie sehr Hazlitt bei seiner Umgebung den Eindruck
mangelnden inneren Gleichgewichtes machte, kennzeichnet
ein 1807 verbreitetes Gerücht, er hätte sich das Leben
genommen. 1)
Er war einer von den Schwer- Umgänglichen, vom
Schicksal gewissermaßen zur Einsamkeit Yorbestimmten.
Selbst bei seinen Freunden blieb er einem häufigen Ver-
kennen ausgesetzt, wie er seinerseits geneigt war, hinter
jedem zufälligen Mißverständnis böse Absicht zu wittern.
So dauerten seine Freundschaften in der Begel nicht lange.
Sein Inneres wies zu viele Komplikationen auf, um der
großen Mehrzahl der Menschen zugänglich zu sein. In
einem autobiographischen Fragment (1827) verzeichnet er:
„Leigh Hunt findet es schwer, die Schüchternheit meiner
Behauptungen mit der Hartnäckigkeit meiner Grundsätze
zu versöhnen. Ich dächte, sie wären so ziemlich ein und
dasselbe. Aus Veranlagung wie aus Gewohnheit kann ich
mir weder in Worten noch im Handeln etwas anmaßen.'' ^^
P. G. Patmore, einer der wenigen, die ihm Gerechtigkeit
widerfahren lassen, sagt: Hazlitt hatte starke und glühende
1) W. C. Hazlitt, Lamb and HagliU, 61.
*) Memoirs U, 226.
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Der Hterarische Essay. 205
Neig^angen^ die niemals den richtigen Gegenstand finden
konnten. Hierin mag wohl der Schlüssel zu seiner Schroff-
heit zu suchen sein. Fatmore hielt sie fflr „eingefleischte
Selbstsucht", gab aber zu, daß sie Hazlitt niemals zu einer
niedrigen Handlung verleitet und ihn nicht von so mancher
hochherzigen Tat abgehalten haba
Der Glaube, daß er, wohin er sich um Sympathie
wende, yerschm&ht werde, machte ihn elend. ^ Seine
Umgangsformen — Goleridge schildert sie als absonderlich
und abstoßend-) — waren die eines Menschen, der auf
gesellige Konvention und Höflichkeit keinen Wert legt.
Die nachteiligen Folgen dieser Gleichgiltigkeit scheint er
später selbst empfunden zu haben, da er in den Lebens-
regeln (On the Canduct of Life, or Advice to a Schoolboy.
Über gutes Betragen oder Batschläge für einen Schulknaben,
Table Talk) nachdrücklichst ermahnt, auf „die Scheide-
mflnze des geselligen Verkehrs^ zu achten, auf Kleidung,
Geschicklichkeit und dergleichen.
Patmore schildert Hazlitt als ein Skelett von einem
Menschen, Barry Gomwall als einen ernsten Mann von
ungeschickten Manieren, mit lebhaften Augen, fein-
geschwungenen Brauen, einem sensitiven, schmallippigen
Monde, langer Nase und hoher Stirn. An Ausdrucks-
f&higkeit kam seinem Antlitz kaum ein anderes gleich.
Hayley erblickt auf seiner Stirn eine Wolke, wie auf
der des Giaur, aber einen lachenden Teufel in seinem
ironischen Lächeln. Er liebte die Frauen, fügt er hinzu,
war aber im Verkehr mit ihnen ungeschickt und schtlchtem.
Tatsächlich trug seine mittelgroße, vernachlässigte Er-
scheinung in den &berwachten, blaßen Zttgen des von
0 My Frienäs and Aequaintance I, 272.
*) An Wedgewood, 16. September 1803.
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206 Der Htennache Essay.
schwarzem Haar umrahmten, von nervöser Sensitiyitat
durcharbeiteten Antlitzes den Stempel der Genialit&t Es
war das Qesicht eines Menschen, der ^nz ans Nerven
besteht und alle Vorzüge nnd Nachteile einer fiberreichen
Begabung mit diesen Ffihlfiden besitzt. Der geduldige Lamb,
der sich von allen am l&ngsten der Freundschaft Haziitts
rfthmen konnte, nannte ihn einen der weisesten und feinsten
unter den lebenden Geistern. Aber Hazlitt war nicht immer
Herr seiner Nerven. Dann machte im persönlichen Verkehr
seine Unliebenswflrdigkeit all seine trefflichen Eigenschaften
zunichte und in seinen Schriften trieb er, dem Talfourd mit
Recht ernstestes Streben nach Wahrheit und Schönheit und
unbedingteste Ehrlichkeit nachrfihmt^O seine Ideen auf die
äußerste Spitze. Sein intensives Bewußtsein der eigenen
Individualität, das so eigentfimlich vornehm an ihm anmutet^
artete dann in ein Überwiegen des rein Persönlichen aus.
Hazlitt sprach leise, mit geneigtem Kopf und einem
gereizten, verdrießlichen Tonfall. Jeder Satz kam wie
nach vorhergegangener Überlegung heraus.
In seinen Lebensgewohnheiten war er äußerst mäßig.
„Wäre er in seinen politischen Ansichten so nfichtem
gewesen wie in bezug auf den Becher", sagt Com wall,
„so wäre er den Schmähungen entgangen, die ihn lebens-
lang verfolgten."») Dennoch widerstrebte ihm die Regel-
mäßigkeit des täglichen Lebens au& höchste. Feste Mahl-
zeiten kannte er kaum. Ein ins Märchenhafte gesteigerter
und als eine Art Kultus gepflegter Teegenuß hielt ihn bis
in die späten Nachmittagsstunden am Frähstückstisch fest
Gewöhnlich nahm er dann nur noch spät Abends einen
flflchtigen Imbiß.
*) Correapondenee and Works of Lamb IV, 523.
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Der üterariflche Essay. 207
Obzwar bei solcher Yeranlagnng nicht sonderlich
für die Ehe ansgerfistet, verheiratete Hazlitt sich doch
1808 mit Sarah Stoddart, der Schwester des späteren
Herausgebers der Times^ John Stoddart, den er nicht leiden
konnte nnd der ihn seinerseits f Dr überspannt hielt. Sarah,
die Freundin Mary Lambs, war ein klnges und belesenes,
aber für Poesie unempf&ngliches Wesen, ohne das h&ns-
liehe Geschick, den Zartsinn und weiblichen Takt, deren
Hazlitt mehr als jeder andere bedurft hätte, um ein Zn-
sammenleben anders denn als Joch zu empfinden. Er
seinerseits war nicht gewillt, durch die Familie in den
Kreis seiner ausschließlich literarischen Interessen eine
Bresche schlagen zu lassen und, als den schlechtgepaarten
Eheleuten noch einige Kinder stai^ben, gestaltete sich ihre
H&uslichkeit zu einer ausgesprochen unglücklichen. Ein
von beiden Teilen gleich geliebtes Söhnchen, William,
bildete allmählich das ausschließliche Band zwischen den
sich immer fremder werdenden Gatten.
Mittlerweile war Hazlitt beim Maming Chronicle Be-
richterstatter für das Parlament geworden, lieferte aber, da
er nicht stenographieren konnte, nicht nur nicht wortgetreue,
sondern ziemlich freie Nachschriften. Diese Beschäftigung
mit der Politik trieb ihre Blüte in dem zweibändigen Werke
Ehquenee of t^ British Senate^ being a Selection of fhe
Best Speeches of ihe most Distinguished Parliamentary
Speakers from the Beign of Charles L to fhe Present
Time. Wiih Notes Biographicdl, Criticaly and Explanatory
(Die Beredsamkeit des Britischen Senates. Eine Auswahl
der besten Beden der hervorragendsten Parlamentsredner
vom Beginn der Regierung Karl I. bis zur G^enwart
Mit biographischen, kritischen und erläuternden An-
merkungen).
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208 Der literarische Essay.
In der Vorrede sagt Hazlitt, die Politiker sden
ein fast ebenso kurzlebiges Geschlecht wie die Schau-
spieler, um ihr Gedächtnis festzuhalten, entwirft er kurze
biographische Skizzen. An die Hauptlebensdaten fügt sich
ein mehr oder weniger ausgeführtes Bild der Persönlichkeit,
viele darunter Kabinettstücke knapper, prägnanter Cha-
rakteristik. So tritt Cromwell, der Redner, lebendig vor
uns hin und Burke, der in Hazlitts Augen ein Renegat
ist. Besonders anschaulich wirken die Parallelen und Eon-
trastiernngen, z.B. Robert Walpoles und Chathams oder
Burkes und Pitts mit den Rednern des Altertums, mit
Junius, mit Fox usw. Der bis zur panegyrischen Ver-
herrlichung gehende Enthusiasmus, dessen Hazlitt in der
Bewunderung fremder Größe fähig ist, verleiht etlichen
dieser Skizzen einen geradezu poetischen Glanz, während
der kritische Blick und die Wahrheitsliebe des Biographen
unter seiner impulsiven Subjektivität leiden. Bulwer nennt
ihn hier und da leidenschaftlich ungerecht, wohingegen
Dobell mit richtigerem Verständnis die Unbestechlichkeit
seiner durch persönliche Leidenschaften bedingten Partei-
nahme hervorhebt. Gleichviel, ob richtig oder irrig, hat
Hazlitt doch stets nach bestem Wissen und Gewissen
geurteilt und sich niemals durch was immer für Gründe
zu einem Ausspruch bestimmen lassen, der nicht seiner
innersten Überzeugung entsprochen hättaO
Etliche seiner politischen Charakterköpfe wurden von
Hazlitt 1819 mit politischen 1813--18U für den Maming
Chronide geschriebenen Artikeln als PoUtical Essays
tffith Sketches of Public Characters gesammelt und John
Hunt zugeeignet, „dem erprobten und gewissenhaften
>) Vgl. SidelighU on Charles Lamb 209.
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Der liteiariflche Easaf. 209
Anwalt der Freiheit seines Landes nnd der Bechte der
Menscheit^
Mit diesen Charakteristiken hatte Hazlitt zuerst das
Gebiet berfihrt, anf dem er festen Faß fassen sollte und
mit dem sein Name dauernd verkn&pft ist: die Porträt-
skizze des literarischen Essays.
Nachdem er den Parlamentsbericht mit der Mitarbeiter«
Schaft am Moming Chronicle vertauscht, wozu nach
und nach auch die am London Magcusine^ Examinerj der
Edinburgh Beview und dem Liberal, des Yellow Dwarf
nnd Champion hinzukam, entfaltete er eine reiche und
emsige literarische Tätigkeit, teils in der sympathischen
Zurückgezogenheit von Winterslow, dem in der Nähe von
Salisbuiy gelegenen kleinen Anwesen seiner Gattin, teils
in seinem Londoner Heim in Benthams Hause (Nr. 19 York
Street), wo Milton von 1652—1658 gewohnt und das Ver-
lorene Paradies begonnen hatte. Daneben hielt er Vor-
lesungszyklen, so 1818 einen zehnstündigen Kurs über
Philosophie am Bussel -Institut unter dem Titel The
Bise and Progress of Modem PhHosophy, containing an
Historical and Critical Account of the Principal Writers
who have treated on Moral and Metaphyeical Sutjets from
ihe Time of Lord Baeon to the Present Day (Entstehung
und Wachstum der modernen Philosophia Einschließlich
eines historischen und kritischen Berichtes über die haupt-
sächlichen Schriftsteller, die von der Zeit Bacons bis zur
Gegenwart moralische und metaphysische Gegenstände be-
handelt haben). 0 Hazlitt nimmt hier Stellung gegen die
tische Interpretation des Wortes Erfahrung, das man
auf die Kenntnis der äußeren Dinge beschränke, während
0 Liieratry Bemains.
OeMhichte der eoarlischeD Romaatik n, 1. X4
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210 Der Bterarisehe Essay.
es tatsächlich die Kenntnis aller Dinge in nnd anßer dem
Geiste nmschließe. Den Grand zur modernen oder materiar
listischen Philosophie habe Bacon gelegt Hobbes' Frinciple
of Maral and Phüosophical Necessity sei „das Werk der
Philosophie". Hobbes' Lehrsatz , dafi die Notwendigkeit
sich mit der menschlichen Freiheit vertrage, nimmt Hazlitt
in einem eigenen Anfsatze {On Liberty and Necessity.
Über Freiheit nnd Notwendigkeit) zum Anlaß einer Unter-
suchung der Willensfreiheit. Hobbes' metaphysische Schriften
seien durch seine politischen in Schatten gestellt worden.
Dadurch habe Locke seine leitenden Grundsätze entlehnen
und den populären Ansichten der Zeit anpassen kOnnen
{On Hobbes). Wo er von Hobbes abweicht, sei es zum
Schaden.
Drei Vorlesezyklen hat Hazlitt an der Surrey In-
stitution ttber englische Literatur gehalten, und zwar 1818
On the English Poeta (Über englische Dichter), 1819 On
the English Comic Writers (Über die englischen komischen
Schriftsteller) und 1820 On the Dramatic Literature of the
Äge of Elizabeth (Über die dramatische Literatur im Zeitalter
der Elisabeth). Die seltene Vereinigung yon dialektischer
Schärfe, ästhetischem Feingefühl und künstlerischer Dar-
stellungskraft gibt ihnen einen eigenartigen und fesselnden
Reiz. In dem Barry C!ornwall gewidmeten ersten Zyklus
definiert Hazlitt in der ersten Vorlesung {On Poetry in
Qeneral. Über die Dichtkunst im allgemdnen) Poesie als
den hochgespannten Enthusiasmus der Phantasie und des
Gefühls, als einm Ausfluß des moralischen wie des in-
tellektuellen Teiles unserer Natur, als die höchste Bered-
samkeit der Leidenschaft, die natürliche Bildhaftigkeit der
Empfindung. In der vierten Vorlesung führt eine äußerst
feine Charakteristik Popes den Nachweis, daß Pope kein
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Per ütenrische Essay. 211
großer Dichter gewesen sei, insofern wir unter einem
groß^ Dichter denjenigen verstehen, der unserer Vor-
Stellung der Natur die höchste Größe und unseren Heraens-
leidenschaften die äußerste Kraft verleiht Er habe die
Natur nur durch das Gewand der Kunst gesehen, die
Schönheit nach der Mode beurteilt, die Wahrheit in den
Meinungen der Welt gesucht, die Gefühle anderer nach
den seinen abgeschätzt So erscheine Pope als Dichter der
Persönlichkeit, als Meister des k&nstlichen Stils. Er besitze
den Enthusiasmus der Poesie nicht Er sei in ihr nur, was
in der Beligion der Skeptiker ist.
Dieselbe Ansicht wird ausführlicher behandelt in dem
Au&atze On the Question whether Pope was a Poet (Über die
Frage, ob Pope ein Dichter war. Edinburgh Magazine und
lAterary Miscellany, Februar 1818). Hier gesteht Hazlitt
zu, daß Pope, wenn auch kein großer Dichter, so doch ein
großer Prosaist gewesen sei. Seine Stärke liege in der
scharfen Beobachtung und der Satire. Als Dichter rage
er nicht hervor durch erhabenen Enthusiasmus und starke
Phantasie, nicht durch leidenschaftliches Gef&hl für' die
Schönheiten der Natur und durch tiefen Einblick in das
Getriebe des Herzens, aber als Geist, als Kritiker, als Mann
von Verstand und scharfer Beobachtuog, als Mann von Welt
sei er voll Sinn ffir Eleganz und verfeinerte Sympathien. Die
Mode des Tages trage es in seinem Herzen über die Gesetze
der Natur hinweg. Er ziehe in den äußeren Dingen das
Künstliche dem Natürlichen vor und die künstliche Leiden-
schaft der natürlichen, weil er der Kraft der letzteren
nicht gewachsen sei, während er mit konventionellen,
oberflächlichen Gefühlsmodiflkationen tändeln könne.
Hazlitt nennt Popes Geist die Antithese der Kraft und
Größe. Seine Macht sei die Macht der Gleichgiltigkeit.
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212 Der literarische Essay.
Seine Hanptstärke liege in der Verkleinenmg, nicht in der
Vergrößerong der Dinge. Doch habe er die Welt wie
dnrch ein Mikroskop gesehen, durch das man feinste
Abweichungen und Schattierungen wahrnimmt.
Hazlitts Urteile über Zeitgenossen sind zu sehr vom
Standpunkte seiner eigenen politischen oder ethischen Über-
zeugung aus gesehen, um objektive Mustergiltigkeit bean-
spruchen zu können. Obzwar er selbst davon durchdrungen
war, rein sachlich zu urteilen, sah er nur allzuleicht im
Individuum den typischen Vertreter eines Prinzips. „Pitt
war ihm ein Symbol für Tyrannei, Giflord f&r Parteigeist^
Southey für Apostasie.*'^ Tadelt er doch Lamb wegen
seiner übertriebenen Sympathie mit den unteren Klassen
und Byron, weil er die Quellen seiner Poesie in seiner
leidenschaftlichen, reizbaren Natur fände, ohne sich darüber
Rechenschaft zu geben, daß er in beiden Punkten selbst
nicht vorwurfsfrei war.')
Jene Vereinigung von poetischem Genie und ana-
lytischer Schärfe, die Bulwer an Hazlitt zuhöchst schätzt,
sowie der immer sichere Geschmack seines enthusiastischen
Geistes, befähigten ihn in außergewöhnlichem Maße zur
literarischen Kritik. Seine bis zum Eigensinn gesteigerte
Individualität aber setzte fast in demselben Maße seinem
Urteil Schranken, indem sie es ihm unmöglich machte,
jemals mehr als sein persönliches Urteil zu geben.*) Ganz
und gar erfüllt von dem Pathos ethischer Zwecke und Vor-
schriften, geht er auch in seinem Kriterium der Kunst von
der Moral aus. Sittlich und natürlich sind ihm gleich-
>) Lesläe Stephen, 250.
>) Vgl Memoire U, 248.
•) Vgl. Same ThoughU on ihe Genius ofWiUiam JSazlitU Literary
Bemains LXXXIV.
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Der literarische Essay. 213
bedeutend. Er sagt, obzwar Shakespeare nicht beabsichtigte,
moralisch zu sein, konnte er doch nicht anders sein, so
lange er sich anf dem Pfade der Natnr hielte) Die Moral
lehrt uns nnr unsere Pflicht, indem sie uns die natfirlichen
Eonsequenzen unserer Handlungen zeigte und der Dichter tut
dasselbe, indem er fortfährt, uns treue und ansprechende
Bilder des menschlichen Lebens zu geben — das Gute
belohnend, das Schlechte strafend. So weit sind Wahrheit
und Tugend eins. 2)
Was Hazlitt am unzugänglichsten bleibt^ ist der Stand-
punkt der Kunst um der Kunst willen. „In meinem Sinne^,
sag^ er selbst, „ist die höchste aller Dichtungen die
ethische Poesie, wie der höchste aller irdischen Gegenstände
die sittliche Wahrheit sein muß.') Er schildert nicht, er
lobt oder tadelt, und lobt oder tadelt häufig nicht den
Känstler, sondern den Menschen. Nichts ist charakte-
ristischer fär ihn als ein Satz wie der folgende (aus der
sechsten Vorlesung): „Ich kann Swift heutigen Tages ver-
geben, daß er ein Tory war.^ Den Lebenden gegenüber
bringt er selbst die Toleranz schon weniger auf. So wird
sein urteil ftber Byron dem Dichter nicht gerecht, weil er
dem Menschen seinen sozialen Bang nachträgt Er über-
rage seine Genossen um die volle Höhe einer Pairschaft
Verleihe der Dichter dem Edelmanne eine Anziehung mehr,
so zahle der Edelmann dem Dichter mit Zinsen heim (On
ihe Aristocracy of Letters. Über literarische Aristokratie,
0 Characters of Shakespeares Flays, 169.
^ Vgl. Gnndolf, Shakespeare, 193: Gerstenberg wolle Shakespeares
Stftcke nicht als Trag(^eii, sondern als „Abbildnngen der sittlichen
Natur** betrachtet sehen. Sittlich bedeute nach dem Sprachgebrauch
der Zeit nicht moralisch oder ethisch, sondern geradezu menschlich,
laiMttdig im Oegensata zur aufiermensdilichen Natnr.
*) ApP' VI: Pope, Lord Byron and Mr. Bowles.
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214 Der literarische Essay.
Table Talk). Man habe von Bjrron zweimal so viel
gesprochen, als wenn er nicht Lord Byron gewesen wftre.
Zu einer Wertschätzung dessen, was in Byron über dem
Geschwätz des Tages ist, kommt es nicht. Individuelle
Eigenheiten sind maßgebender für Hazlitt als das spezifisch
künstlerische Moment In Byrons Briefen an Bewies, die er
einer genauen Analyse unterzieht, stoßen Paradoxe und
Inkonsequenzen ihn ab und er nimmt unbedingt für Bewies
Partei Wo Hazlitt für Byron eintritt, scheint er sich
darob vor seinem eigenen leidenschaftlichen Demokratismus
entschuldigen zu müssen (Lord Byron, Spirit of the Äffe).
Selbst wo er nicht tadelt, bringt er es nicht zu mehr als
respektvoller Anerkennung (Lord Byron's Tragedies, Edin-
burgh Beview, Februar 1822). Thomas Medwin erzählt von
einem Gespräch über Byron, das er in seinem Häuschen
am Fuße eines rebenbewachsenen Hügels bei Vevay mit
Hazlitt 1824 während dessen Aufenthalt in der Schweiz
hatte. ^) Hazlitts Äußeres war abgezehrt, „eine Behausung
für Geister^. Byron schob er kleinliche Beweggründe des
Handelns unter, z. B. daß er Wordsworth und Southey
geschmäht hätte in dem Bewußtsein, er wäre ohne sie
nicht der Dichter geworden, der er war. Das Gespräch
wurde in seiner Herbheit für Medwin ebenso peinlich als
betrübend.
Noch weniger vermag Hazlitt Walter Scott seinen
aristokratischen Standpunkt zu verzeihen. Er weigerte sich
1822, seine persönliche Bekanntschaft zu machen, die Jeffrey
vermitteln will, mit den Worten, er wäre bereit vor
ihm zu knien, aber er könnte ihm nicht die Hand reichen.
0 Hazlitt in Switserkmd, Fräset' 8 Magazine far Totm amd
CaurUry, vol. XIX.
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Der Utenrisehe EsMiy. 215
In den ConversatUms erwidert er aaf Northcotes spitze
Bemerkung: „Herr Hazlitt, Sir Walter Scotts Erfolg ver-
drießt Sie mehr als seine Servilität!^ mit dem Ansnife:
„Wer bewandert den Verfasser von Waverley mehr als
ich? Wer verachtet Sir Walter Scott mehr?^ Dennoch
ist auch der Tadel, den er an dem Dichter übt^ wenngleich
Bicht ans der Luft gegriffen, so doch herb and streng.
Durch Scotts altertfimliche Poesie gehe ein modemer Zug;
sie sei die Historie oder Tradition einer Maskerade, nicht
der Wirklichkeit. In dem Essay Sir Walter ScoU, Badncy
and Shakespeare (Table Talk) erkl&rt er den Unter-
schied zwischen Shakespeare und Scott als den zwischen
Originalität and dem Mangel an Originalität, zwischen
einem Schöpfer und einem Nachahmer der Natur. Im
Spirit of the Äge wirft er Scott vor, daft er nicht aber der
Fabel stehe, daß er nicht» wie der Dichter solle, im eigenen
Geiste die Energie and die schöpferischen Mittel finde,
Individualität und Qrtlichkeit anschaulich und glaubhaft
zu machen.
Von Shelley, den er in den Vorlesungen übergeht^
sdireibt Hazlitt im Mai 1821 an Hunt, er ärgere ihn, weil
sein übertriebener Liberalismus der Freiheit schade. 0 Der
in demselben Jahre im London Magcusine veröffentlichte
Aufsatz On Paradox and Common Place (Paradoxon und
Gemeinplatz, Table Talk)^ kostet ihm beinahe Hunts Freund-
schaft Shelley wird darin als philosophischer Fanatiker
charakterisiert, dessen hyperätherisches Äußere sein Inneres
kennzeichne. „Blasen sind ihm das einzig Beale. Berührt
man sie, so verschwinden sie. Neugier ist die eigentliche
Sphäre seines Geistes. An WlEusen ein Mann, ist er doch im
0 PatBoie n, 22.
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216 Der literarische Essay.
Fahlen ein Eind.^ Mit seiner Gabe, auf gut Glück über
alle Probleme zu spekulieren, richte er, ohne es zu wollen,
viel Schaden an. Die Suchte alle Bekenntnisse und Systeme
umzustürzen, liege ihm geradezu in der Konstitution. Ihn
reize das Experiment, das Publikum zu verblüffen, und
sein Leichtsinn sei so groß, daß er sich der Folgen nicht
bewußt werde. Der Hazlitt unsympathische Politiker
Shelley verdeckt seinem Auge den Dichter und Philosophen.
Selbst in dem Essay über Shelleys Posthumous Poems (1829),
in dem sein poetisches Verständnis es über alle äußeren
Bücksichten davonträgt, heißt es: „Er war ganz ätherisch,
durchwühlte sein Hirn nach Widersinnigkeiten und glaubte
an alles Unglaubliche. Und doch war Shelley mit all
seinen Fehlern ein Mann von Genie."
Umgekehrt wurde Keats, der bei den Vorlesungen
über die englischen Dichter unter Hazlitts Zuhörern saß
und ihm sein hartes Urteil über Chatterton nicht vergeben
konnte, von ihm auf den Schild gehoben, weniger im Hin-
blick auf seine dichterischen Qualitäten als in tiefem
Mitleid mit seiner Wehrlosigkeit einem tragischen Schicksal
gegenüber, das Veranlassung bot, das Cliquenunwesen zu
brandmarken {On ihe Aristocracy of Letters). EJs bereitet
Hazlitt eine Genugtuung, „die Unfähigkeit des zarten und
sensitiven Eeats im Ertragen des gemeinen Geschreis und
idiotischen Lachens der Menge'' ins licht zu stellen (On
Living to One's Sdf).
Eine Wandlung des politischen Standpunktes aus was
immer für einem Grunde zu verstehen und zu vergeben,
ist Hazlitt, der sich auf das Festhalten seiner Meinung
unter allen Umständen etwas zugute tut, außerstande.
Southeys „beklagenswerter AbfaU von der Freiheit'' ist
ihm als „ein Makel des Genius, als ein Schlag für die
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Der Hteraruche Essay. 217
Menschheit, tief bedauerlich'^ {Spirit of the Äge) und er
verweist auf das Beispiel Miltons, der „nicht die aufgehende
Sonne angebetet und der gefallenen Sache den Rucken
gekehrt habe"" (On MüUm's Sonnets. Table Talk).
Bei den Vorlesungen über die englischen komischen
Schriftsteller kommt gleich in der einleitenden ästhetischen
Betrachtung über Witz und Humor der Metaphysiker, der
in Hazlitt steckt^ zu seinem Bechte. Er packt seine Aufgabe
gern von ihrer abstrakten Seite, sucht sich erst theoretisch
über sie klar zu sein, bevor er sie praktisch in ihrer
wirklichen Erscheinung verfolgt. Dieses gründliche Ein-
gehen auf den Kern des Themas, sowie dessen vielseitig
gerundete, erschöpfende Ausgestaltung — auch formell wird
jeder Vortrag zu einem geschlossenen Ganzen ausgearbeitet
— bringt jene gediegene Sachlichkeit hervor, die Hazlitts
starker Subjektivität die Wagschale hält
Hazlitt hat zum Humor kein unmittelbares Verhältnis.
Wie er den Part paur Z'ar^Standpunkt nicht kennt,
so schätzt er den Scherz nicht um des Scherzes willen.
Das Lächerliche existiert für ihn in erster Linie als Prüf-
stein der Wahrheit. In Shallows und Silences Gespräch
über den alten Double {Heinrich IVh) findet er „die feinste
Predigt, die je über Sterblichkeit gepredigt worden seL^
Und weil er hinter dem Humor gewöhnlich eine satirische
Absicht wittert und wünscht, dünkt es ihm ein Fehler in
Shakespeares komischer Muse, daß sie in der Regel zu
gutmütig, zu edelsinnig sei (Zweite Vorlesung: Shakespeare
and Ben Jonson).
Den größten komischen Genius aller Zeiten erblickt
Hazlitt in Hogarth, dem er das Verständms und die be-
0 Memairs 1, 313.
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318 Der Hteramche Essaj.
geisterte Bewunderung des Malers und Scbiiftstellers ent-
gegenbringt. Hogai*th, erklärt er, sei so wenig ein
Karikaturist wie ein Maler von Stilleben, sondern viel-
mehr ein Maler des wirklichen, nicht des gemeinen Lebens.
Boccaccio, der feinste und empflndungsreichsteO aller
Novellisten, sei als der Erfinder schlüpfriger Erzählungen
gebrandmarkt worden, weil die Mehrzalil der Leser bloß
das, was ihrem eigenen Geschmack am meisten entsprach,
aus seinem Werke herausgriff und ihre eigene Roheit
auf dieses zurückwarfen. So habe Hogarths meisten
Kritikern der kräftige entschiedene Ausdruck, über den er
verfügt, den Haupteindruck gemacht, während ihnen seine
auSerordentliche Zartheit, seine feine Abstufung der Cha-
raktere entging. Doch gibt Hazlitt zu, daß Hogarth bei
allem Sinn für die natürliche Schönheit des Qefühls für das
abstrakt Schöne, das nur dem Geist Wahrnehmbare ermangle,
daß ihm der ideale poetische Stil fehle, der sich an das
Allgemeine und Dauernde hält, nicht nur an das Persönliche
und Lokale.
Hazlitts Vorlesungen über das Zeitalter der Elisabeth
sind von der verständnisvollen und patriotischen Freude
an dieser Glanzzeit des britischen Genius getragen.
Nirgends kommt die Phantasie und Beredsamkeit seines
Vortrages, seine Gabe, alles Interesse, das dem Gegenstande
innewohnt, durch Parallelen, Ausblicke und Beispiele
auszuschöpfen, mehr zur Geltung. Auch hier geht er
^) Hazlitt definiert Empfindung (sentiment) als jenes gewohnbeits-
mäfiige Gefühl, bei dem das Herz ohne heftige Erregungen einander
entgegengesetzter Pflichten oder widriger VerhUlaiisse in sich selber
ruht. In dieser Art komme nichts Boccaccios Erzfihlung von Federigo
Alberigi und seinem Falken gleich (Ende gut alles gtU, Characier% of
Shakespeare).
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Der literarische Essay. 219
gewissermafien voh der Theorie aus. Er fragt nach den
Ursachen dieser Blütezeit und findet sie neben den Ein-
flössen der Beformation, der Renaissance, der Entdeckung
Amerikas in dem starken Bewußtsein „des natürlichen
nationalen Genius^, das dem Zeitalter eignet Das Engländer-
tom und die aus ihm erwachsende „gotische und groteske
Literatur^ wird in seiner Berechtigung und Notwendigkeit
mit markigen Strichen gezeichnet. Mancher verrät den Auto-
didakten. Barry Com wall erzählt in seiner Selbstbiographie,
Hazlitts Kenntnis der EUsabethaner und seine Belesenheit
über dieses Zeitalter sei gering gewesen, als er sich zu den
Vorlesungen entschloft. C!omwall habe ihm ein Dutzend
Bflcher geliehen, mit denen er sich nach Winterslow zurück-
zog. Und als er nach sechs Wochen, ganz erfüllt von seinem
Gegenstände, wiederkam, waren die Vorlesungen geschrieben
und er schien die Merkmale und Verdienste dieser Schrift-
steller eingehender würdigen zu können als jeder andere.
Was Hazlitt bespricht, kennt er aus erster Hand.
Aber er kennt nicht alles. So fehlt z.B. unter Shake-
speares Zeitgenossen Robert Greene. Dennoch leisten
diese AuMtze in ihrer gehaltvollen Durchleuchtung des
jeweiligen Gegenstandes und in ihrem hochgestimmten Tone
nicht nur an Anregung, sondern auch an tatsächlicher
Belehrung so viel, daß der Leser über der Fülle des
Gebotenen das Fehlende verschmerzt.
Talfourd rühmt die Intensität der Bewunderungsgabe,
die Hazlitt gerade in diesen Vorlesungen bekundet, seine
Liebe für die alten Autoren. „Er zieht den Vorhang der
Zeit beiseite, mit einer vor Entzücken und Ehrfurcht
zitternden Hand. Seine tiefe Bewunderung geistiger
Sch&nheit scheint seine kritischen Fähigkeiten zu ver-
schärfen. Er legt die verborgenen Quellen der Schönheit
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220 Der literazüche Essay.
vor ans dar, nicht wie ein Anatom, sondern wie ein Lieb-
haber. Er analysiert nnd schildert gleichzeitig, so daß
nnser Genoß der Schönheit dnrch unsere Bekanntschaft
mit ihren inneren Quellen nicht gedämpft, sondern gesteigert
wird. Es befremdet auf den ersten Blick, daß Graben wie
diese verfehlten, Hazlitt allgemeine Sympathie zu er-
wecken. "0
Er flößte, sagt Ireland (XLl), der Kritik seiner Zeit
einen neuen Geist ein, durch den Hinweis, daß der Weg
zum Verständnis eines Werkes der sei, es zu genießen, und
daß richtiges Verständnis der Sympathie nahe verbündet ist
Hazlitt verleugnet auch als Kunstkritiker seine Indivi-
dualität nicht Er gibt sich mehr als Illustrator des Kunst-
werkes, denn als Kritiker, und mehr als enthusiastischer
Ausleger, denn als Illustrator. Alle konventionelle Forma-
lität über Bord werfend, gibt er der Welt unumwunden
seine Gedanken für nicht mehr und nicht weniger als das,
wofür sie sie einschätzen will
Mit Hazlitts Interesse für das Drama geht wie gewöhn-
lich das für die Bühne Hand in Hand. Von 1813—1814
war er Theaterkritiker des Moming Chronide. Für
die Oper hat er kein Herz und wenig Verständnis. Er
tut Aussprüche wie: „Töne ohne Sinn gleichen einem
Lichtglanz ohne Gegenstand.^ Oder „Eine Oper verhält
sich zu einer Tragödie wie ein Transparent zu einem Ge-
mälde'' {Walter Scott, Bacine, and Shakespeare. Table Talk).
Hingegen ist er ein warmer Anwalt und begeisterter An-
hänger der Schauspielkunst, an deren Würde und Bedeutung
er glaubt Nur die Bühne sei imstande, die Vergangenheit
wieder aufleben zu lassen, sagt er. Sie erhalte gewisser-
0 Edinburgh Eeview, November 1880.
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Der ütenrische Essay. 221
maßen die Tradition. Eine gvAe Schanspielertrnppe, ein
vernünftig geleitetes Hoftheater bedeuteten das wahre
Heroldsamt und die einzige antiquarische Gesellschaft, die
einen Pfifferling wert sei (On Äctors and Acüng. Über
Schauspieler und Schauspielkunst). Die Bfihne, von der
Abstraktion der Wissenschaft und dem kleinlichen Egoismus
des Alltagslebens gleich weit entfernt, entspreche, zumal in
den St&dten, einem Bedflrfnis, insofern sie unseren Oedanken
Körperlichkeit verleihe und unsere EmpflndungseindrQcke
verfeinere und veredle (On Hay-Going and on sotne of our
Old Actars. Über den Theaterbesuch und einige unserer
alten Schauspieler). Hazlitt zieht die oft gestellte Frage in
Erwägung, ob das Gefühl oder das Studium den großen
Schauspieler zu seiner Bolle befähige, und beantwortet
sie mit der Entscheidung: Keines von beiden, sondern
die Gewöhnung. Doch mUsse der Schauspieler die Rolle
mit dem Enthusiasmus des Genies oder der Natur er-
fassen, um sich in ihr hervorzutun {On Novelty and
Famüiarity. Über Neues und Vertrautes). Selbst die
Vergänglichkeit des Bühnenwerkes wird ihm zum Vorzuge.
Die Schauspielkunst trage den Samen beständiger Er-
neuerung und beständigen Verfalls in sich und folge darin
mehr der Naturordnuug als der Analogie menschlicher
Geistesprodukte (On Actars and Acting).
Hazlitts Theaterkritiken für den Morning Chranicle,
Champian, Examner, die Times sind 1818 unter dem Titel
OrUieisfns and Dramatic Essays of the English Stage
(Kritiken und dramatische Aufsätze der englischen Bühne)
gesammelt erschienen. Er bringt für die Wiedergabe des
schauspielerischen Kunstwerkes nicht die plastische Ver-
anschaulichungskraft Leigh Hunts auf, aber seine freudige
Bereitschaft, Gutes und Schönes anzuerkennen, die Sicher-
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222 D« literarisdhe Issaj
heit seines Urteils Neuerscheinungen gegenftber, die absolute
Unbestechlichkeit und Ehrlichheit seiner Kritik, die er
als eine geheiligte Aufgabe ftbt, geben diesen Berichten
einen über den Tag hinausgehenden Wert. Hazlitt ist sich
des Ernstes und der Würde seines Amtes bewußt, für das
er, wenn er lobt, keinen Dank verdiene, wenn er tadelt,
nicht zur Rechenschaft gezogen werden dürfe.
Selbst als Kritiker gesteht er dem Impulse offen die
erste Stimme zu und will den Verstand nur als Interpreten
der Natur und des Genies, nicht aber als ihren Richter
anerkannt sehen. Der müßte in der Tat ein armseliges
Geschöpf sein, der nicht mehr fühlte und wüßte als das, wofür
er einen Grund anzugeben vermag (On Genius and Common
Sense. Über Genie und gesunden Verstand). So ernst es
ihm mit der Kunst ist, ist er doch frei von jeder Pedanterie.
Im Gegensatz zu Reynolds, der den Fleiß als Hauptfaktor
der Kunst betrachtet sehen möchte, ist ihm das Genie,
die natürliche Begabung das Maßgebende {On Sir Joshua
Reynolds* Discourses. Über Reynolds' Abhandlungen, Ttible
Talk). Er ist schließlich auch, frei von jeder anmaßenden
Selbstbespiegelung des Kritikers. Er will sich nicht selbst
ins Licht stellen, glaubt nicht an sein Monopol, das
Publikum zu belehren oder zu verblüffen, sondern hält sich
für nicht mehr und nicht weniger als einen Diener der
Kunst (On Critidsm, Table Talk).
Speziell der Bühne gegenüber verfügt Hazlitt über jene
schwärmerische Vorliebe, die zum Kultus der Schauspieler
führt. „Wir haben für John Kemble im einfachen Rock
mehr Wertschätzung als für den Lordkanzler auf dem
Woolsack^, sagt er in Actors and Äcting. Über den Ab-
schied der Mrs. Siddons läßt er sich zu den Worten hin-
reißen : „So lange es eine Bühne gibt, wird es keine zweite
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Der MtezAiische Essaj. 223
Siddons geben. Die Tragödie schien mit ihr unterzugehen;
was bleibt, sind nor flackernde Kometen oder feurige Aus-
dOnstnngen. Es ist für uns des Stolzes und GlUckes genug,
mit ihr gelebt zu haben {On Play -Going). Sein Urteil
aber gewisse liebUngskfinstler wird gelegentlich zum
Dithyrambus. Eean hat er durch alle seine Hauptrollen
begleitet, yom ersten Auftreten an. Die Besprechung
seines Debüts beginnt mit den Worten: „Ich gehöre nicht
zu jenen, die, wenn sie die Sonne das Gewölk durchbrechen
sehen, stille stehen und andere fi-agen, ob es Morgen sei."
Die bildhaften Charakteristiken von Keans Rollen, zumal
seinen Shakespearegestalten, mit dem Blick des Malers und
des Psychologen aufgefaßt und mit phantasievoUer Nach-
empflndung wiedergegeben, gehören zu Hazlitts besten.
Sie verfließen ihm untrennbar mit den Gestalten des Dichters
selbst. In den Lamb zugeeigneten Characters of Shake-
speare's Plays (Shakespearegestalten, 1817, ins Deutsche
übersetzt ron A. Jäger unter dem Titel HauptcharaJctere der
ShaJcespeareschen Dramen^ 1838) kommt Hazlitt oft unver-
merkt auf die Verkörperungen Keans und der Siddons
zurück, doch immer so, daß Lob oder Tadel des Darstellers
zugleich ein Licht über das Verständnis der Gestalt ver-
breitet, Z.R die bewundernde Anerkennung von Mrs. Siddons'
„übernatürlich großartiger'' Lady Macbeth oder Keans
technisch vollendetem Richard III.
Hazlitt liefert in einigen dieser Shakespearegastalten
Charakteristiken von einer Feinheit, die ihn über
den als Ästhestiker von ihm vielbewunderten Schlegel
stellend) Ohne Inhaltsangabe des Stückes erhellt auch für
*) Hazlitts Urteil Aber die Deutschen ist im allgemeinen ziemlich
absprechend. Der Wunsch, sich heryorzntnn, nicht Phantasie oder
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224 Der literarische Essay.
den Nicht-Shakespearekandigen die Handlang ans ihrem
Träger. Besonders wirksam ist die Gegenüberstellung von
Charakteren, z. B. Richard HI. als reinen Willensmenschen
ohne Phantasie und Pathos mit Macbeth, der wie im wachen
Traume auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Phan-
tasiewelt lebe. Eine der feinsten Charakteristiken ist die
Jagos, als der vollkommenen Abstraktion des intellektuellen
Seins vom moralischem, während Hazlitts Hamletcharakte-
ristik banal ist Mitunter vertritt persönliches Gefallen oder
Mißfallen seinem objektiven Urteil den Weg, so in bezug
auf Portia undNerissa; immer aber macht sich derh&here
Gesichtspunkt geltend, von dem aus Hazlitt die Dichtung
überblickt. So findet er die Höhe des moralischen Argumentes
in Maß für Maß von keinem anderen Stücke übertroffen
und betont die Natürlichkeit von Shakespeares übernatür-
lichen Wesen. * Gäbe es derlei überhaupt, so könnten sie
nicht anders handeln, reden oder fühlen als bei ihm.
Heine äußert sich in der Einleitung zu Shakespeares
Mädchen und Frauen^ 18380 folgendermaßen: „Nur mit
Ausnahme von William Hazlitt hat England keinen
einzigen bedeutenden Kommentator Shakespeares hervor-
gebracht; überall Kleinigkeitskrämerei, selbstbespiegelnde
Seichtigkeit, enthusiastisch tuender Dünkel, gelehrte Auf-
geblasenheit . . . Der einzige Kommentator Shakespeares,
den ich als Ausnahme bezeichnet, und der auch in jeder
Begabung, geben bei ihren Unternehmungen den Ausschlag. Sie
fassen euie paradoxe, sonderbare Meinung und b^aupten sie mit aller
Anstrengung. Nicht ein Urteil sondern ein systematischer Schluß sei
das, was sie anstreben. Jedes deutsche Werk müsse darum mit Vor-
behalt aufgenommen werden {Lediures on Dramaiic Literature by
A. W, Schlegel, Edinburgh Beview, Februar 1816).
») Werke 1876, IH, 17a
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Der literaxiBciie Essay. 225
Hinsicht einzig zu nennen ist, war der selige Hazlitt,
ein Geist ebenso glänzend wie tief, eine Mischung von
Diderot und Börne, flammende Begeisterung für die Revo-
hition neben dem glühendsten Kunstsinn, immer sprudelnd
von Verve und Esprit."
Die erste Auflage der Characters war in sechs Wochen
vergriffen. Der Verkauf der zweiten wurde durch die
Quarterly Beview unterbunden, die Hazlitt, den Mitarbeiter
der Edinburgh Review^) von 1814 bis an seinen Tod, mit
EIrbitterung verfolgte. Gifford fiel als Wortführer der
Quarterly über Hazlitts Shakespearecharäktere und seine
politischen Porträts in The Eloquence of the Senate her und
verleumdete ihren Urheber als unmoralisch, unwissend und
anbedeutend. Der letzte Grund der grimmigen Ausfälle lag
in der politischen Gegnerschaft. Hazlitt war der Qwirterly
und ihrem Stabe als Radikaler und als Bonapartist ein Stein
des Anstoßes. Ek*, seinerseits, durch die Hetze bis zum
Wahnsinn gereizt, trug, was er an Zorn, Haß und Rach-
sacht aufbringen konnte, zusammen in seiner Erwiderung A
Letter to WiUiam Oifford, Esq., 1819. Er bezeichnet den
Charakter Giffords auch anderweitig als den Inbegriff des
äußersten Mangels an Unabhängigkeitssinn und Großmut
{lAving to One's Seif).
Im großen und ganzen kann man wohl sagen, daß das
Charakterporträt Hazlitts eigenartigste und genialste
Leistung ist. Weder quantitativ — nach den Political
Characters und Characters of Shakespeare erschien 1825
erst die Sammlung, die sein Reifstes und Vollendetstes
enthielt, The Spirit of the Age, or Contemporary Portraits
(Der Zeitgeist oder Zeitgenössische Bildnisse) und 1826 noch
') Irdand, XXIII.
Geschichte der englischen Bomantik n, 1. 15
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226 Der ütenuisdie Essaj.
eine andere The Piain Speaker, Opinions on Books and
Things (Der Aufrichtige. Ansichten aber Bacher und Dinge)
— noch qualitativ kommt ihm auf diesem seinem spezifischen
Gebiete so leicht ein anderer nahe. Ireland rflhmt an Hazlitt^
„daß er den geheimen Zauber des Charakters enthülle, indem
^ dessen Elemente zei^liedere und seine innerste Tiefe
sondiere.'^O Die nicht zu übersehende Kunst seiner Cha-
rakteristik liegt jedoch weniger im Zerfasern des Indivi-
duums in einzelne Eigenschaften als vielmehr darin, daß
man hinter jeder Persönlichkeit den Tjrpus spürt, die
Gattung, die sie vertritt So wird z. B. in Hazlitts Dar-
stellung Bacine zum Typus des didaktischen Genies. „Er
gibt sozusagen die Gemeinplätze des menschlichen Herzens
besser als irgend ein anderer, aber wenig mehr. Er ver-
breitet sich mit EUeganz über eine Reihe einleuchtender
Gefühle und wohlbekannter Themen, aber ohne einen
Hauch von Originalität, Genie oder Phantasie. Er faßt
eine Anzahl moralischer Reflexionen zusammen und legt
sie, statt sie selbst vorzutragen, seinen Dramatis Personae
in den Mund. Statt das Herz einer Person vor uns zu ent-
blöß», gibt er ihr ein Notizbuch in die Hand und liest
uns eine Lektion daraus vor.^ {Sir Walter Scott, Bacine^ and
Shakespeare).
Es mochte in Hazlitts konstitutioneller Veranlagung
liegen, daß er als einer jener echt modernen Efinstler,
deren ganze Persönlichkeit aus einem Bttndel bei leisester
Anregong mitschwingender Nerven besteht, besonders zu
jener psychologischen Vertiefung der darzustellenden Cha-
raktere befähigt war, zu jenem Hinabsteigen in andere
Gemüter, jenem Darlegen ihrer Affektquellen, das einzig
») Hftriitt, LXn.
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Der literarische Essay. 227
lind allein möglich wird dnrch ein vom Mitempfinden
erzeug^ Verständnis.
So hat Leigh Hont wohl den Kern der Sache getroffen
mit seinem feinsinnigen Worte, Hazlitts intellektueller
Takt sei derart, daß er die Wahrheit als bloße Sache des
Gefühls zu empfinden scheine. 0
Was Hazlitt in der Charakteristik einer Persönlichkeit
im knappen Bahmen des Essays leistet, vermag er
auf dem breiteren Gebiete der Biographie kaum zu er-
reichen, geschweige denn zu übertreffen. The Memoirs of
the Laie Thomas Holcroft, written hy himself and continued
to the Time of his Beath, from hü Diary, Notes and other
Papers (Lebenserinnerungen des verstorbenen Thomas Hol-
croft Verfaßt von ihm selbst und bis an seinen Tod nach
Tagebüchern, Notizen und anderen Papieren fortgeführt)
sind, da sie nur zum Teil von Hazlitt herrühren, kein
einheitlich komponiertes Werk. Die ersten 17 Kapitel
lagen bei Holcrofts Tode, 1808, fertig vor. An der mühe-
vollen und undankbaren Weiterführung arbeitete Hazlitt
von 1810 — 1816, so daß die Biographie im Freundeskreise
den Scherznamen „das ewige Leben** erhielt.
unter Hazlitts Charakteristiken gehören schließlich
auch die Conversations with Northcote^ 1830, von denen er,
unter der Signatur Boswell Eedivivus, 1826 einen Teil im
New Monthly Magazine veröffentlicht hatte. James North-
cote (1746—1831), ein Schüler von Reynolds, den Hazlitt in
dem Essay On the Old Age of Artists (Über das Greisenalter
der Künstler) unter allen Akademikern und Malern als
denjenigen bezeichnet, der am meisten nach seinem Ge-
0 EpisOe to WiUdam EadiiU
15*
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228 Der literarische Eisaj.
schmack sei, wird von W. C. HazlittO als ein boshafter
Mensch von niedriger Gesinnung geschildert, den niemand
geachtet habe. Hazlitt hatte Northcotes Leben Tieians
bearbeitet und ihm dadnrch einen wesentlichen Dienst
erwiesen. Nach der Publikation der Gespräche im New
Monthly schrie der Alte zwar ttber Indiskretion, zog sich
aber dennoch nicht von Hazlitt zurück, der seinerseits an
seiner Gesellschaft und an seinem Schatze lebendiger
Erinnerungen Gefallen fand. Die zwei sonderbaren Käuze
fesselten sich gegenseitig. Northcote, der gern Aufsehen
erregte, war vermutlich im Innersten erfreut über den
Vertrauensbruch und stellte sich nur böse. Hazlitt seiner-
seits fand an den Gesprächen einen ergiebigen und an-
regenden Stoff. So mögen denn trotz der sehr abweichenden
Berichte vermutlich beide Freunde für die Conversaüons
verantwortlich, sein. Nach Gosse hätte Hazlitt bekannt,
daß er Northcote nur als Strohmann benutzte, indem er ihm
Gefühle unterschob, die er ausgedrückt haben könnte, wäre
der betreffende Gegenstand zwischen ihnen verhandelt
worden, oder daß er um echte Northcotesche Anekdoten
fiktive Northcotesche Reflexionen wob. Patmore hingegen,
der häufig Zeuge der Gespräche war, beteuerte Hazlitts
skrupulöse Wahrhaftigkeit. 2)
Wie dem auch sei, scheinen die Conversaüons in der
Form, in der sie vorliegen, von Hazlittschem Geiste erfüllt,
reich an Sentenzen, Kritiken, Kunsttheorien und vor allem
voll wohlgetroffener Porträts toter und lebender Kunst-
größen.
Von seinen Gharakterbildnissen abgesehen, hat Hazlitt
>) Memoirs n, 198.
«) Conversations, Ausgabe 1894, Preface XXXJI, XXXIU.
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Der literarische Essay. 229
eine sehr zahlreiche Menge von Essays mannigfaltigsten
Inhalts aber allerhand Ereignisse, Stätten, Empfindungen,
E^ahrongen und Beziehungen geschrieben, die in mehreren
Sammlungen vereinigt vorliegen: The Bound Table, a
CollecHon of Essays on Literatur e, Men, and Manners
(Die Tafelrunde. Eine Sammlung von Aufsätzen über
Literatur, Menschen und Sitten, 1817, erschien im Examiner
1815 — 1817, darunter zwölf von Leigh Hunt) und Table
Talk, or Original Essays (Tischgespi*äche oder Original-
abhandlnngen).
Montaigne ist, wie Hazlitt in der fttnften Vorlesung
seines Zyklus über die komischen Schriftsteller {Periodical
Essayists) verrät, das Ideal und Vorbild, das ihm beim
Essay vorschwebt. Alles was er ihm nachrühmt — die
Originalität des Geistes, den Mut, persönliche Ansichten
zu vertreten, die Emanzipation vom Gängelbande des
Vorurteils und der Affektation, den völligen Mangel aller
Pedanterie, aller religiösen, politischen, wissenschaftlichen
oder didaktischer Voreingenommenheit, die unbedingte
Offenheit und das Streben, seinem Leser ein Freund zu
sein — dies alles sind Vorzüge, denen Hazlitt selbst
nachtrachtet Er schließt ihre Aufzählung mit dem Ge-
ständnis, ein Schriftsteller solchen Schlages scheine ihm
so hoch, über dem gewöhnlichen Bücherwurm zu stehen
wie eine Bibliothek wirklicher Bücher über bemalten
Bacbeifutteralen, auf denen die Titel berühmter Werke
stehen.
In der Tat ist Hazlitt vor allem ein anregender und
interessanter Essayist. Stellt man ihn neben Leigh Hunt
und Lamb, so wird man als den Hauptunterschied emp-
finden, daß diese beiden — jeder auf seine Art — in erster
Linie Causeurs sind, Hazlitt aber, wie schon Ciomwall
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230 Der ütetmsehe Km^.
hervorhob, ein SaiBonnear. Bei allem Sinn for die große
Mannigfaltigkeit der Dinge, fehlt ihm doch jenes Haupt-
interesse am g&nzlich Uninteressanten, das die beiden andern
kennzeichnet Er hat weniger liebevolle Sorgfalt für die
Enge nnd das Wohl nnd Wehe der kleinen Lente. Er
besitzt unendlich mehr Vorliebe nnd Verständnis for einen
weiteren Horizont nnd eine gewisse Eatholizität des Geistes
(People with one Idea. Lente mit einer Idee). Die Kunst,
das Wunderbare zum Ausdruck zu bringen, das jedes All-
tägliche birgt, offenbart sich in Hazlitt, in dem ein, Maler
und ein Metaphysiker steckt, auf ganz andere Weise als
in Lamb. Seine Schilderungen sind bei allem gesättigten
Kolorit, aller bildhaften Anschaulichkeit und k&nstlerischen
Gruppierung nicht lediglich Selbstzweck. In den meisten
Fällen illustrieren sie, wie schon Richard Gamett hervor-
hob, einen abstrakten Gedanken, i) Wählt Hazlitt einen
geringfügigen G^enstand zum Träger eines Essays, so
macht er ihn zum Ausgangspunkt vollgewichtiger Re-
flexionen, die jedoch, ehe sie Zeit gehabt haben, sich ins
Theoretische oder Abstrakte zu verlieren, wieder in das
Thema zurückmünden (On a Sun Dial. Auf eine Sonnen-
uhr). Droht das Metaphysische das Übergewicht zu erlangen,
so gestattet flugs eine eingeflochtene Anekdote dem Leser ein
behagliches Ausruhen (On Living to Onds Seif) o^er der
allgemeine Exkurs verläuft in die realistische Schilderung
einer Persönlichkeit, z. B. der Übergang von der Analyse
der Welterfahrung zur Charakteristik Cobbetts in On
Knowledge of ihe World (Über Welterfahrung).
Immerhin überwiegt bei Hazlitt das spezifisch Geist-
reiche. Ein aufieigew5hnlicher Sentenzenreichtum zeichnet
^) Hftzlitt- Artikel, Cydopaedia Brüamca,
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Der literarische Essay. 231
seine Essays ans. Er prägt AussiHrüche, die in ihrer
markigen Prägnanz den Nagel anf den Kopf treffen nnd
im Gedächtnis haften bleiben. Andererseits rerdirbt nicht
selten eine moralisierende SchlnBsentenz als Ansklang einer
romantisch -ungezwungenen Plauderei den Totaleindmck
eines Essays (On Thought and Actum, Denken und Handeln).
Seine zahlreichen Definitionen sind ebenso originell als
treffend {Cant and Hypocnyy. Scheinheiligkeit nnd Heuchelei;
On Fr^udice. Über das Vorurteil; On Taste. Über Ge-
schmack; On Ficturesque and Ideal. Malerisch und ideal).
Folgendermaßen definiert Hazlitt das Ideal: Es ist die Ab-
straktion eines jeden Dinges, losgelöst von allen Umständen,
die seine Wirkung schwächen oder unsere Bewunderung daffir
verringern. Oder: Es füllt den Umriß der Wahrheit und
Schönheit aus, der im Geiste existiert, so daß kein Mangel
bleibt nnd nichts mehr zu wünschen erübrigt. Ein anderer
Name für das Ideal ist das Göttliche, denn was wir uns yon
den Göttern vorstellen, ist Freude ohne Schmerz, Macht ohne
Anstrengung. Es ist die höchste Vorstellung, die wir uns
von der Menschheit bilden können. Snhe ist eine hervor-
stechende Bedingung des Ideals. Es ist sich selbst Gesetz,
durch sich selbst bewegt, sich selbst erhaltend. In diesem
Sinne ist Miltons Satan ideaL Das Ideal ist folglieh der
höchste Punkt der Seinheit und Vollkommenheit, bis zu dem
wir die Idee eines Gegenstandes oder einer Eigenschaft
fahren können. Das Ideal verwandelt nicht einen Gegen-
stand in etwas anderes, es neutralisiert sein Wesen nicht,
scmdem es macht ans ihm durch Entfernung des Unwesent-
lichen nnd Ergänzung des Mangelnden mehr als er selbst
zuvor war.
Trotz seiner Neigung zum Abstrakten ist Hazlitt doch
frei von schulmeisterlichem Bildungskram oder hohlem
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232 Der literarische Essay.
Gelehrtendünkel. Im Gegenteil sieht er als ein genialer
Unzünftiger von der Höhe der angeborenen Fähigkeit
anf die Schnlbildnng ein wenig herab. Er schätzt den
gesunden Menschenverstand, den er als die Totalsumme
und das Ergebnis unbewußter Eindrücke und alltäglicher
Vorfälle des Lebens definiert, die, im Gedächtnis auf-
gespeichert, durch die Gelegenheit geweckt werden {On
Genius and Common Sense). Was diese geringen Anlässe
an latenter Bedeutung enthalten, herauszufühlen und zu
nützen, ist Sache der urwüchsigen Begabung. Sie, die
Hazlitt in vollstem Maße besitzt, schlägt er zuhöchst an.
Die Augen offen halten ist besser als Büchergelehrtheit.
„Bücher^, sagt er, „werden weit seltener als Brillen benutzt,
um die Natur zu sehen, denn als Fensterrouleaux, die
schwache Augen vor dem raschen Wechsel der Landschaft
und dem starken Lichte schützen sollen^ (On the Ignorance
of the Leamed. Über die Unwissenheit der Gelehrten).
Die Intensität seines Gedankenlebens beleuchtet ein
Ausspruch wie der folgende: „Hatte ich auch wenig Freuden
und wirkliche Vorteile, so haben doch meine Ideen, kraft
ihres festen Gefüges, mir die Stelle von Wirklichkeiten
vertreten {A Farewell to Essay Writing).
Hazlitts Essay liegt die Plauderei nicht als Haupt-
zweck zugrunde. Er will auch inhaltlich etwas bieteiL
In dem Briefe an Gifford spricht er seinen Wunsch
aus, in der Sammlung Die Tafelrunde „eine Art Liber
Veritatis zu geben, eine Beihe von Studien nach dem
menschlichen Leben^. Er schreibt 1821 an Hunt: „Sie
sagen, es fehle mir an Einbildungskraft. Wenn Sie damit
Erfindung oder Phantasie meinen, so bin ich derselben
Ansicht. Aber wenn Sie die Veranlagung zum Verständnis
für die Aussprüche und Verdienste anderer meinen, so
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Der literarische Essay. 233
leugne ich es." Aach in den Essays On ihe Post and Future
(Über Vergangenheit und Zukunft) und On Beading Old
Books (Lektüre alter Bücher) spricht Hazlitt sich Phan-
tasie im allgemeinen Sinne ab. Dies mag allenfalls gelten,
wo es die Erfindungsgabe betrifft Versteht man aber unter
Phantasie jenen Instinkt, den Hazlitt als ein bestimmendes
Merkmal des Genius bezeichnet, „jene intensive Wahr-
nehmung verborgener Analogien der Dinge, die unbewufit
wie die Natur schafft und ihre Eindrücke durch eine Art
Inspiration empfängt", i) so wird man sie ihm wohl un-
bedingt zuerkennen. Oder ist es nicht Phantasie, was ihn
für die jugendliche Lebensfreude, für den Genuß des ersten
Erlebens die folgenden Gleichnisse finden läßt: „Wie der
Landmann auf dem Jahrmarkt, so sind wir voll Staunen,
voll Entzücken und denken nicht ans Heimgehen und
nicht daran, daß es bald Abend werden wird.^ Oder:
„Wie Kinder hält uns Stiefmutter Natur empor, um die
Wander des Weltalls zu sehen und läßt uns dann, als
wären wir ihr zur Last, wieder niedergleiten. Aber was
haben wir alles gesehen! Die goldene Sonne, den Ozean
und die grüne Erde, den Wechsel der Jahreszeiten, den
Vatikan und Shakespeare. Und welchen Ausblick in die
Zukunft!^ {On the Feelings of Immortality in Youth. Über
das ünsterblichkeitsgefühl der Jugend). Nur jemand der
selbst mit poetischer Phantasie begabt ist, bringt jene
Ehrfurcht vor der Poesie auf, für die Hazlitt die Worte
eines Dichters findet Ein Dichterleben, sagt er, ist, nach
dem Glänze zu urteilen, den es dem unseren verleiht, ein
goldener Traum — oder sollte es sein — , voll Licht
*) Lectures on the English Comic Writers. Lect. VI,: On the
En^ish Novdisis.
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234 Der literarisdie Essay.
und Anmut, in Elysium eingeschlossen; und es verursacht
widerstrebenden Schmerz, das Lichtbild, das den Dichter
auf seinem Ruhmespfade umgibt, wie Nebel verfliegen und
sein geheiligtes Haupt in Asche gebeugt zu sehen, ehe
noch die Sanduhr gewöhnlicher Sterblicher abgelaufen ist.
Nur jemand, der selbst Phantasie hat, wird einen Aus-
spruch, wie diesen, tun: „Er besaß keine Phantasie, sonst
hätte er sie nicht verachtet" (Spirit of the Age).
Einmal erweckt die Lektüre von Bousseaus über-
schwänglich bewunderten Confessions in Hazlitts Phantasie
die Vorstellung, das Vergangene sei lebendige Gegenwart.
Wie Rousseau „vergangene Augenblicke seines Daseins
gleich Tropfen von Honigtau zu sammeln scheint, um aus
ihnen ein köstliches Naß zu destillieren", so durchlebt
Hazlitt seinerseits in der Erinnerung die eigene Jugend,
nicht ohne jene gesteigerte Empfindsamkeit, die die bewußte
Nachahmung des sentimentalen Vorbildes bedingt, und er
gelangt zu der Überzeugung, das Vergangene sei nicht
nur ein wesentlicher Bestandteil unseres Seins, sondern
übertreife an Bedeutung die Zukunft (Post and Future).
Hazlitts Bilder sind mitunter von so glücklicher,
witziger Ausdrucksfähigkeit, daß sie eine ganze Charakte-
ristik ersetzen. Er sagt z.B.: „Coleridge hat mit den
Musen geflirtet wie mit einer Reihe von Geliebten. Godwin
war zweimal verheiratet, mit der Vernunft und mit der
Phantasie, und kann sich einer nicht kurzlebigen Nach-
kommenschaft von beiden rühmen" (Spirit of the Age),
Auch Hazlitts Naturliebe hat einen phantasievollen,
romantischen Zug. Er gibt sich ihr gern in der Einsam-
keit hin. Die Natur leistet ihm die beste Gesellschaft. „Gebt
mir den klaren, blauen Himmel über meinem Haupt", ruft
er aus, „und den grünen Rasen unter meinen Fußen, vor mir
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Der literariBdie Euay. 235
den gesehlängelten Pfad und einen dreistündigen Marsch
vor dem Essen — und dann frisch ans Denken! Es ist
hart für mich, kann ich anf diesen einsamen Haiden kein
Spiel beginnen. Ich lache, ich renne, ich springe, ich singe
vor Freude. Von der Spitze jener treibenden Wolke tauche
ich in mein vergangenes Sein und ergötze mich dort, wie
der sonnverbrannte Indianer kopfüber in die Wellen
taucht, die ihn zu einem heimatlichen Ufer tragen."
Die Erinnerung, in die er untertaucht, gilt einer
Wanderung. Jung an Jahren war er und das Jahr
war frisch und jung, als er im April das schöne Tal von
Llangollen in Wales durchschlenderte und dabei einen Vers
von Ck)leridge vor sich hinsummte. Ihm zu Füßen ein
Ausblick weit ins Land, während sich dem inneren Auge
noch ein anderer auf tat, über dem in Buchstaben, groß
wie die Hoffnung, die Worte Freiheit, Genius, Liebe,
Tugend standen. Abends im Gasthause las er dann, den
herrlichen Tag zu krönen — es war sein Geburtstag —
einen Brief des St. Preux aus der Neuen Hdoise.
Am spärlichsten ist es bei Hazlitt um den Humor
bestellt Wie er ihn im Leben nicht aufbrachte und darum
an den Kümmernissen des Alltags zerschellte, so fehlt er
fast ganz in seinem Schrifttum. Und da er über diese
Panazee, die das Allzukleine literaturfähig macht, nicht
verfugt, ist ihm auch das tändelnde Geplauder eines Lamb
oder Hunt über ein Nichts versagt Eine der wenigen
Ausnahmen bildet — Hazlitt war ein eifriger Freund
von allerlei Sport — der humoristische Essay The Fight
(Der Kampf), Literary Bemains, die behagliche Erzählung
eines Ausfluges nach Hungerford zu einem Ringkampfe.
Die heiter genremäflige Darstellung gänzlich unbedeutender
Zwischenfälle läßt keine Langewelle aufkommen.
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236 Der literarische Essay.
Fehlt Hazlitts Essay der Samtglanz des Humors, so
kenDzeichnen ihn hingegen die allenthalben aus seiner
glatten Oberfläche hervorstechenden Nadelspitzen. Zwar
spricht Hazlitt selbst sich wie die Phantasie so auch
den Witz ab (Definition of Wit% tatsächlich aber mangelt
ihm vielmehr, wie den meisten witzigen Menschen, die
Selbstbeherrschung, seinen mitunter herben Witz zu unter-
drücken.
Eine gewisse paradoxe Übertreibung, die als Abart
des Witzes berührt, in Wirklichkeit aber nichts mit ihm
gemein hat, entspringt Hazlitts ehrlicher Überrednngslust und
bedeutet ein Überszielschießen und Übersprudeln des Ge-
dankens, der, um den Leser zu überzeugen und aus Furcht,
nicht verstanden zu werden, mit Bewußtsein in allzu
starken Farben aufgetragen wird. So verrennt Hazlitt
sich bei der Beweisführung, daß Menschenkenntnis und
Welterfahrung nichts mit Gelehrsamkeit zu tun hätten, in
die extreme Behauptung, Gelehrsamkeit bedeute nur zu oft
das Gegenteil von Menschenkenntnis und menschlicher Teil-
nahme und ihr Hochmut wüchse mit eben dieser Un-
kenntnis. Sich immer mehr ereifernd, spricht er schließlich,
als gäbe es keine echte Gelehrsamkeit, nur mehr von jener
vorgeschützten, die lediglich Affektation und Betrug ist
Auf der Postkutsche von London nach Oxford könne man
Besseres hören als in einem Oxforder College, denn die
Menge besitze den gesunden Menschenverstand, der dem
Gelehrten fehle. Shakespeare sei offenbar ein ungebildeter
Mensch gewesen. Wollen wir die Macht des menschlichen
Genius erkennen, müssen wir Shakespeare lesen; wollen
wir erkennen, wie nichtssagend die menschliche Gelehr-
samkeit ist, müssen wir seine Kommentatoren studieren
(On the Ignorance of the Leamed).
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Der literarische Essay. 287
Faßt man Haziitts schriftstellerische Mängel ins Auge,
so läßt sich eine gewisse Unansgeglichenheit seiner Gaben,
eine gewisse Zerfahrenheit nicht übersehen. In seiner
Persönlichkeit vermißt man mitunter das geistige Zentrum,
wie bei seinen Essays mitunter die Proportion der An-
ordnung.
Was den Stil betrifiH;, so will Hazlitt es nicht Wort
haben, daß er ihm selbstftndigen Wert beimesse. Er habe
nie auf ihn geachtet, schreibt er an Gifford, sondern nur
das Wort gesucht, das seinen Gedanken am treffendsten
wiedergebe. „Die Wahrheit suchend", fügt er hinzu, „fand
ich mitunter die Schönheit". Im Table Talk erklärt die
Vorrede sein Trachten, die Vorteile der Gesprächsform
und des literarischen Stils zu vereinen. Er eröffne eine
Art Diskussion über einen leitenden Gedanken und erziele
dadurch mehr Abwechslung und größere Ehrlichkeit als
bei „gelehrter Behandlung."
So entsteht eine Art Idealtypus literarischer Plauderei.
Ein Bild regt, wie zufällig, das andere an. Ideen und
Empfindungen flackern auf und verschweben, scheinbar
planlos, völlig ungezwungen. Der Kenner, der die Eeife
der Durchbildung zu schätzen weiß, muß bewundernd zu-
geben, daß jeder Hauch des Pretiosen, Gekünstelten, Plan-
vollen vermieden ist Der unbefangene Leser aber steht
unter dem Eindruck des völlig Spontanen und empfängt die
Vorstellung eines ungeheuren geistigen Eeichtums, der dem
Verfasser gestattet, stets aus dem Vollen zu schöpfen.
Eine durchaus individuelle Note ist bei einer so starken
Subjektivität wie der Haziitts selbstverständlich. Er flicht
nicht nur persönliche Ansichten und persönliche Erlebnisse
ein, seine Aufsätze sind durchtränkt mit Persönlichkeit.
Doch wie oft er auch vom Thema abschweift, er findet
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288 Der literarische Essay.
schließlich, wenngleich anf einem Umwege, immer znr
Sache zurück. Er wird niemals geschmacklos, nnd wenn
er im Essay On Familiär Style den vertraulichen Stil
definiert als „die gebildete Konversationssprache, natürlich,
aber nicht vulg&r^S so paßt dies in vielen Fällen durchaus
auf seinen eigenen Stil. In vielen, aber nicht in allen.
Hazlitt vermag viel tiefer zu bohren und viel höher zu
fliegen. Für seine scharfe Beobachtung steht ihm eine
Prägnanz und Kraft des Ausdruckes zu Gebote, für seine
logische Folgerung eine knappe Geschlossenheit des Satz-
gefüges, für seine Phantasieergüsse eine Freiheit und
schwungvolle Leichtigkeit der geist- und poesiedurch-
glühten Kede, sodaß man füglich sagen darf, er verstehe
die Sprache auf allen Registern zu spielen, von epigram-
matisch trockener Gedrängtheit bis zu einer fast lyrisch
rhapsodisch blühenden Getragenheit des Stils. Und immer
bildet das Stilkunstwerk einen lebendigen Organismus.
Ein Glied wächst aus dem andern. Da stört weder eine
Lücke, noch Willkür oder Überladung. So reiht Hazlitt
sich unter die glänzendsten englischen Prosaisten aller
Zeiten. Selbst Bulwer, kein verblendeter Richter, gibt zu,
daß er an Kraft der Sprachbeherrschung von den Schrift-
stellern des Jahrhunderts kaum übertroffen werde.
Idber Amaris.
Die Anerkennung, die Hazlitt als Essayist fand, war
dennoch eine vielfach bestrittene. Wirklich durchzudringen,
gelang ihm nur in einem kleinen Kreise. C!omwall sagt, Ge-
rechtigkeit sei ihm nie widerfahren. Er hatte die herrschende
Partei gegen sich. Seine Selbsteinschätzung war gering.
„Was für Mißgeburten sind diese Aufsätze!'^ ruft er aus.
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Der Ktenuische Essay. 239
„Was für Irrtamer, was fftr schlecht geschweißte Über-
gänge, was für yerschrobene Begründangen, was für lahme
Schlüsse! Wie wenig kommt dabei heraus, und das Wenige
wie schlecht!"
Er hätte des anfmnntemden Beifalls, der allgemeinen
Anerkennung bedurft, um das innere Gleichgewicht zu
behaupten. Denn ohne eitel zu sein, legte er Gewicht auf
die Meinung anderer. Neben seinem Ausspruch: „Kein
wirklich großer Mann hat sich je selbst für einen solchen
gehalten'^, steht der nicht minder charakteristische: „Kein
Mensch ist wahrhaft er selbst, außer in der Vorstellung,
die andere von ihm haben" (fVhether Genius is consdous
of its Powers. Ob der Genius sich seiner Fähigkeiten
bewußt sei).
Er empfand es tief, daß ihm nicht wurde, was ihm
gebührte. Und ohne sich die letzten Ursachen seines
Nichtdurchgreifens klar zu machen, ohne mildernde Gründe
in Erwägung zu ziehen, verrannte er sich, mit der in seiner
Natur liegenden leidenschaftlichen Verbohrtheit und Über-
treibung in die Verbitterung. Er faßte eine Gering-
schätzung für das Publikum, das in seiner Leichtgläubig-
keit, Urteilslosigkeit und seinem Wankelmut der Narr der
öffentlichen Meinung, nicht ihr Urheber sei. Er schalt es
feige und ängstlich aus Schwäche, einen Dummkopf, der
sich für klug und wichtig halte, obzwar er keine Ansicht
habe als die, die ihm eingeblasen werde {On Lwing to On^s
Seif).
In den Canversaüons tviih Northcote heißt es:^) „Die
Welt muß etwas zum Bewundem haben und je wert-
loser und dünner ihr Idol ist, desto besser — vorausgesetzt,
9 8. 11.
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240 Der literarische Essay.
daß es schön ist Denn dies schmeichelt ihrer Sacht nach
dem Wunderbaren, ohne ihre Eigenliebe zu verletzen."
Seinen Rezensenten der Quarterly Review vergilt
Hazlitt ihre Kritik, die ihm zu nahe trat, mit dauerndem
Haß. „Kleinlichkeit ist ihr Element^, sagt er {On CriUdsm,
Table Talk) „und allem, was sie berühren, drficken sie den
Charakter der Niedrigkeit auf. ... Es ist leichter, dieses
lästige Ungeziefer zu zerdr&cken als es zu fangen; und
hat man sie in der Gewalt, so verschont man sie ans
Selbstachtung". An anderer Stelle {On the Aristocracy of
Letters) nennt er sie die Schakale des Nordens.
Sein Lebensideal war, sich selbst zu leben — in der
Welt, aber unabhängig von ihr, ein stiller Zuschauer, kein
Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit und Neugier.
Der allein ist frei, der allen Anteil an den öffentlichen
Vorgängen nimmt, ohne sich in sie zu mengen. Weh ihm,
fängt er erst an zu bedenken, was andere über ihn sagen
(On Living to One's Seif).
Aber freilich scheint De Quincey das Sichtige zu treffen,
wenn er in bezug auf Hazlitts tiefe Verstimmung sagt:
„Meine Meinung — wenn ich in bezug auf jemanden, den ich
so oberflächlich kannte, ein Eecht auf Meinungen habe —
war, daß kein Wechsel seiner Lage oder seines Schicksals
Hazlitt mit der Art und Weise dieser Welt oder dieses
Englands oder 'dieses Jetzt' ausgesöhnt hätte. ... Er
besaß die rastlose Gereiztheit Eousseaus, aber in edlerer
Gestalt. Denn während Rousseau überall eine persönliche
Beleidigung witterte, meinte Hazlitt, jede persönliche
Beschimpfung ziele auf ein Allgemeineres ab, auf die sozialen
Interessen, die er vertrete. Es war nicht Hazlitt, auf den die
Elenden losschlugen, nein, nein, es war die Demokratie oder
die Freiheit, oder es war Napoleon, dessen Schatten sie in
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Der literaiiBche Essay. 241
Hazlitts Nachhut erblickten. Der Napoleonhaß aber galt
nicht dem, was etwa wirklich schlecht in dem Helden
war, sondern ihre Rache wandte sich gegen jenes Feuer,
das die Throne der Christenheit verzehrte, um dessent-
willen wir — wie Hazlitt sagte — seinen Namen in
Aufrichtigkeit verherrlichen sollten/' 0
Hielt Hazlitt sich als Schriftsteller für die Zielscheibe
aller Übelwollenden, für den Sflndenbock der öffentlichen
Unzufriedenheit^ so entschädigte ihn auch sein Privatleben
keineswegs für das, was ihm die Welt schuldig blieb.
Er besaß, nach einem trefflichen Ausdruck Richard Le
Gallienne, eine unselige Gabe, seine Freunde mißzu-
verstehen.)) „Ich möchte wissen^, schreibt Hazlitt 1821
in seiner Fehde über Shelley an Leigh Hunt „warum
mich alle so nicht leiden können?^ Dieser Satz umschließt
die Tragödie seines Lebens. Er spürte unfreundliche Ge-
sinnung, wo sie nicht war; er fühlte sich überall als Stein
des Anstoßes und stieß dadurch unwissentlich seinerseits
manche ab, die ihm gerne nahe gewesen wären. Leigh
Hunt äußerte bei dem obigen Anlaß (April 1821): „Ich habe
oft gesagt, daß ich für Hazlitt eine unbezwingliche Liebe
hege wegen seines Mitgefühls mit der Menschheit, seiner
niemals feilen üneigennützigkeit und seiner Leiden. Und
ich hätte eine noch größere, persönliche Neigung für ihn,
wenn er es nur zuließe. Aber ich erkläre bei Gott, daß
ich niemals weiß, ob ihm etwas angenehm oder unangenehm,
ob er freundlich oder unfreundlich sei — sein Benehmen
ist in der Tat niemals freundlich — und er hat, gleich
wenn er einem vorgestellt wird oder nachher eine
0 Notes on QüfUans Literary Portraits, Works XI.
») Liber Amoris, Introd. JH.
OMchichte der engfÜBclien Bomantik n, 1. 16
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242 Der Utenrische Essay.
Art, als sagte er: 'Ich habe in nichts Vertrauen, am
wenig^sten in Ihre Anerbietungen. Schmeicheln Sie sich
nicht, daß Sie einen Weg zn meiner Leichtgläubigkeit
finden wfirden. Wir haben nichts miteinander gemein.'
Er zieht sich sodann in einen Winkel zorttck und seine
Konversation wird nun ebenso sarkastisch, so ohne Glauben
an alle Welt, wie sein Benehmen. 0 wer wftre Geck
genug, anzunehmen, es könnte seinen Bemühungen gelingen,
ihn behaglicher zu stimmen?^ Und weiter: „Wie können
Sie, nachdem Sie uns so zurückgestoßen, erwarten, nichts
daß wir keine weiteren Anstrengungen Ihnen gegenüber
machten, denn diese sind wir Ihnen aus anderen Gründen
schuldig, aber daß es uns möglicherweise in den Sinn
kommen könnte, Sie n&hmen sich unsere Versäumnis zu
Herzen?"
In dem Essay On Disagreeable Peqple (Über unangenehme
Leute) spricht Hazlitt von Menschen, die unangenehm sind,
weil sie sich unbehaglich fühlen. Zu ihnen gehörte er selbst
Mit kranken Nerven — eine Zeitlang war er Schlafwandler;
in seinem Berufe fühlt er sich unbefriedigt, ohne häusliches
Behagen (seit 1819 lebte er von seiner Frau getrennt)
— so bot er das Bild eines freudlosen Menschen, geplagt
von jener inneren Rastlosigkeit, die das Ausbleiben des
Glückes gerade in den Gemütern erzeugt, die, von Natur
aus nicht pessimistisch veranlagt, das Gute und Schöne
als notwendige Daseinsbedingungen voraussetzen. Tiefe
Enttäuschung ward bei ihm zur Grundstimmung. „So habe
ich mein Leben vertrödelt", sagt er (First Äcquaintance
with Poets) „mit Bücherlesen, Bilderbetrachten, im Theater,
mit Zuhören, Denken und Schreiben über das, was mir am
besten gefiel. Nur ein Ding hat mir gefehlt, mich glück-
lich zu machen — aber dies Eine entbehrend, habe ich
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Der litenuribBche EsBaj. 243
alles entbehrt" Er nennt das Eine nicht; aber wir können
es unschwer ergänzen. Was ihm f ehlte^ war die F&higkeit
zmn Gluck.
In solcher Verfassung geschah es, daß Haziitt sich
1820 mit einer ans Pathologische streifenden Spätlings-
glut seines zeitlebens unbefriedigten leidenschaftlichen
Herzens in Sarah Walker, die Tochter seines Wohnungs-
gebers, eines Kaufmanns in den Southampton Buildings
(Southampton Row) verliebte. Haziitt hatte niemals
zu einer Frau in Beziehung gestanden, die ihm einen
Maßstab für weibliche Würde an die Hand gab. In
seiner Jugend hatte er nach dem Muster der damaligen
Moderomane in sentimentaler Empfindungsüberschwänglich-
keit geschwelgt „Ich bewunderte die Glementinen und
darissens aus der Entfernung. Die Pamelas und Fannys
yon Eichardson und Fielding erregtep mir das Blut Ich
habe in meiner Jugend an solche Geschöpfe Liebesbriefe
geschrieben Sun pathStique ä faire fendre les rochers und
ungefähr mit dem gleichen Erfolge, als wären sie an einen
Stein gerichtet Die einfältigen Dinger lachten nur und
sagten, dies sei nicht die Art, wie man Neigung gewinne"
{On Greai and Little Things. Über große und kleine Dinge,
New Monthly Magazine 1822). Frauen mit Bildungs-
dfinkel waren ihm zuwider. „Ich habe die äußerste Ab-
neigung gegen Blaustrflmpfe", heißt es in demselben Auf-
satze. „Ich schere mich nicht um eine Frau, die auch nur
weiß, was 'ein Autor' bedeutet Höre ich, daß sie etwas
yon mir gelesen hat, so schneide ich sie.''
Hazlitts Ehe war die denkbar unromantischste gewesen.
So rannte er nun mit der Verblendung eines Sechzehn-
jährigen und mit jener „Unbeugsamkeit des Charakters,
16*
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244 Der literarisehe Essay.
die manche Eigensinn nennen mögen**, 0 in sein Äbentener,
dem die Freunde als etwas unbegreiflichem spradüos
gegenüber standen. Niemand konnte verstehen, was er an
dem Mädchen fand, das Gomwall als abstoßend schildert^
mit verglasten Angen und Schlangenbewegnngen. Aber
gerade diese waren es, die den Blick des Malers in Hazlitt
fesselten. Mit dem ganzen Übermaß seines Empfindens
erfaßte er die vermeintliche Poesie der Verbindung mit
einem Kind ans dem Volka Seine Phantasie bemächtigte
sich des höchst gewöhnlichen Mädchens und stellte es in
das Licht idealster Verklärung.
Wo immer sie wandelt, sprießen unter ihrem Fuße
blasse Primeln, die ihrem Antlitz, Frühlingshyazinthen, die
ihrer Stirn gleichen und Musik schwebt in allen Zweigen.
Ohne sie ist alles kalt, dürr und öde. In einem
rhapsodischen „Intermezzo an Infelice**, beteuert er seiner
Angebeteten, daß sie „wenn sie jemals mit ihrer lieben
Gegenwart sein Heim begnadige, wie sie nun mit ihrem
Lächeln seine Hoffnung belebe, durch ihre Anmut die
Herzen erobern und der Welt zeigen werde, was Shake-
speares Frauen waren. Ihr sozialer Rang, ihre Bildungs-
stufe wäre belanglos {On Oreat and Little Things).
Nach gegenseitigem Übereinkommen ließen Hazlitt und
seine Gattin sich in Edinburgh scheiden, da das schottische
Gesetz die Schwierigkeiten der Trennungsformalitäten
um ein Beträchtliches erleichterte. Jetzt erst erwies
Sarah Hazlitt sich als guter Kamerad. Sie erteilte dem
gewesenen Gatten freundschaftliche Ratschläge, so wie er
seinerseits sich ihrer bei einem späteren Zusammentreffen
in Paris ritterlich annahm. Aber nun, als alles zu seiner
V A Faretoeü to Essay Wrtting.
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Der literarische Essay. 245
Yermählnng mit der anderen Sarah bereit war nnd er in
einen Liebeshimmel einzugehen glaubte, zeigte sich ihm
die Fee der Southampton Buildings plötzlich in ihrer wahren
Gestalt. Was den Freunden längst klar gewesen, enthüllte
sich nun auch Hazlitts bisher mit Blindheit geschlagenem
Auge. Er erkannte, daß Sarah Walker, an Geist und
Gemüt wie an Lebensgewohnheiten in einer höchst unter-
geordneten Sphäre heimisch, ihn Ifingst getäuscht, oder
richtiger, daß er sich in ihr getäuscht hatte. Nun erblickte
er sie plötzlich als das in jeder Hinsicht tief unter ihm
stehende Geschöpf, das sie in Wirklichkeit war. Eine
Gemeinschaft mit ihr war nicht länger möglich. Allein die
Ankertaue seines Herzens rissen sozusagen, als er sich von
ihr losmachte. Wie seine Verliebtheit sich zum Paroxismus
gesteigert hatte, der bis zum Erlahmen jeder Selbstkontrolle
g^ng, so brach er bei der Entdeckung von Sarahs Untreue
haltlos zusammen. „Sein Verstand^, sagt Comwall, „war von
der wahnwitzigenLeidenschaft vollkommen überwältigt Eine
Zeitlang war er unfähig, etwas anderes zu denken oder zu
sprechen. Er entsagte den Büchern und der Kritik als
müßigem Zeug und ermüdete jeden, dem er begegnete, mit
Klagen über die Grausamkeit seiner Geliebten, ihre Be-
trügereien und seine leidenschaftliche Enttäuschung. 0
War seine Feder schon von seiner glücklichen Liebe
übergeflossen und hatte in einer alle Wohlmeinenden ver-
blüffenden und verletzenden Weise persönliche Herzens-
erlebnisse in die Öffentlichkeit der Zeitungsspalten gezogen,
so verlor er nunmehr, bis in die letzten Fasern seines
Wesens erschüttert, alles Maß des Schicklichen, geschweige
denn die Einsicht, daß das Erlebnis, von dem sein Herz
0 Autohiography, 180.
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246 Der literariBche Essay.
blutete, den Unbeteiligten mehr im Lichte der Lächerlich-
keit als der Tragik erscheinen mußte. The New Pygmalion,
or Liber Ämoris ist die dichterische Erzählung seines
Abenteuers in der spärlichen Verhüllung einer durch-
sichtigen Fiktion. Er läßt die Blätter von einem in den
Niederlanden verstorbenen Briten verfaßt sein und nach
dessen Tode von einem Freunde veröffentlicht werden-
Die Publikation wurde als eine Taktlosigkeit empfunden,
die Hazlitts zahlreichen Feinden eine willkommene Hand-
habe für boshafte Angriffe gab und seine Freunde in Ver-
legenheit setzte. Sie meinten zu seiner Entschuldigung
alle mildernden Gründe bis zu dem der Unzurechnungs-
fähigkeit ins Feld führen zu müssen.
Die Nachgeborenen, für die das Kunstwerk in erster
Linie in Betracht kommt und nicht die zufälligen Umstände
seiner Entstehung, werden füglich anders darüber urteilen.
Erregte bei seinem Erscheinen nicht auch der WerÜier im
Kreise der zunächst Beteiligten einen Sturm der Entrüstung?
Und wer trägt es seinem Dichter heute nach, daß er sich
ermächtigt fühlte, zu seiner endgiltigen Befreiung nicht
nur eigene persönliche Erlebnisse intimster Art, sondern
auch die anderer als Dichtung der Welt vorzulegen?
Eine Dichtung aber muß auch das Liber Ämoris genannt
werden, eine Dichtung, getragen von jenem überschwäng-
lichen Enthusiasmus der Stimmung, in der Hazlitts Bousseau-
schwärmerei produktiv wird und fortlebt. Träumt er doch
auch von einer Reise nach Vevay und Maillerie, um seiner
Herzallerliebsten an den geheiligten Stätten die Geschichte
Julies und St Preux' zu erzählen.
Sieben kurze dialogisierte Kapitel enthalten in skizzen-
hafter doch höchst lebendiger Form den Roman. Sarah
Walker wird zur ätherischen, sphinxartig lockenden
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Der literarische Essay. 247
Rfttselflgnr. Hazlitts vergötternde Liebe wirbt um sie in
schfichtemer Demnt Sie ist ihm mehr als ihr ganzes
Geschlecht Der Leser erkennt bereits in den geschilderten
ersten Zusammenkünften auf dem Grunde dieser mädchen-
haften Sprödigkeit die nixenhafte Koketterie, in ihrem
abweisenden Verhalten, das Hazlitt für Eenschheit h<,
die kalte VerstftDdnislosigkeit, in ihrer Sibylleneinsilbigkeit
die ünbeholfenheit der banalen Seele, in ihrem Dulden
gewisser Vertraulichkeiten, das den Anbeter weibliche
Ergebnng und die spontane Äußerung tie&ter Emp-
findung dünkt, die Lebensgewohnheiten der Dirne. Hazlitt
h< sie für einen Engel, sie aber ist durchtrieben. Er hat
volles Vertrauen, sie aber hält ihn nnr hin. Seine Ehr-
lichkeit geht ihrer Schlanheit in die Falle. So spannt sich
im Leser ein psychologisches Interesse, begleitet von Mit-
leid mit dem kurzen Wahn des Getäuschten, der endlich
das lebenslang vergeblich gesuchte Glück gefunden zu
haben glaubt, und von Sympathie für die Liebesextase
einer feinfühligen, kindlich unerfahrenen Eünstlerseele. Es
sind Momentbilder von wenigen Seiten, kurze Gespräche,
oft über gleichgiltige Dinge, die nur für die Liebenden
Wert und Bedeutung haben. Und dennoch enthüllen sie
vor dem Leser ein Schicksal. Hazlitt sträubt sich gegen
den in seinem Innern aufisteigenden Verdacht. Sarah spielt
die gekränkte Unschuld und weiß dann wieder so artig
— scheinbar für nichts — um Vergebung zu bitten. Sie
packt den Arglosen mit Weiberlist bei seiner Napoleon-
schwärmerei und der Leser genießt den Humor der Situation.
Als dem Getäuschten kein Zweifel mehr bleibt, daß seine
anbetende Liebe ein Hirngespinst war, als ihm die Augen
über das Schemen aufgehen, das seine Einbildungskraft
vergötterte, strOmt er sein namenloses Weh in zwei rhap-
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248 Der litenriflche Essay.
sodischen Briefen ans. Er erhält keine Antwort nnd trägt
anf einem leeren Blatte in Eeats' Endymion das Geständnis
seiner Vereinsamung nnd seiner unauslöschlichen Liebe ein.
Hier endet die Dichtung. Aber zu ihrem großen
Schaden nicht das lAber Ämoris. Vielmehr bringen ein
zweiter und ein dritter Teil, die an Umfang den ersten
fast um das Doppelte ftberbieten, an Freunde gerichtete
Briefe, in denen Hazlitt seine Liebesangelegenheit mit
zahlreichen Wiederholungen, Widersprächen nnd Bohheiten,
breit und der Sph&re der Poesie entrückt, stets au& Neue
abrollt, oder vielmehr platt tritt, und den poetischen Ein-
druck des ersten Teils durch den hOchst krassen eines
schmutzigen, tragikomischen Handels vernichtet Nicht
mit Unrecht erblickt Leslie Stephen darin eine wetteifernde
Nachahmung von Bousseaus Confessions und weist De
Quinceys Auslegung, das Liber Amoris bedeute einen
Wahnsinnsausbruch, in dem Hazlitts fiberburdete Seele sich
entlastet habe, mit der Bemerkung ab, daß er hinreichend
bei Sinnen gewesen sei, um sich von dem Verleger 100 M
dafür bezahlen zu lassen, i) Patmore meinte, nichts in
der Nauvelle Hdoise komme an Gefühl und Leidenschaft
manchem Briefe des lAber Ämoris gleich und Mary WoU-
stonecrafts Letters to Indey stünden ihnen an Tiefe
und Intensität der Empfindung zunächst >) An poetischen
und charakteristischen Einzelheiten ist freilich auch hier kein
Mangel. Im siebenten Briefe heißt es: „Sie kam, ich weiß
nicht, woher, und saß an meiner Seite und war in meine
Arme geschlossen, eine Vision der Liebe und des Glückes,
als wäre sie vom Himmel gefallen, mich durch den
*) Dictionary of National Biography.
*) My Frtends and Äcquainkmoe, 187.
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Der literarische Essay. 249
besonderen Ablaß einer gnädigen Vorsehung zu segnen und
ffir alles zn entschädigen.^
Im neunten: „AUe Liebe und Zärtlichkeit meines
Lebens, war zusammengetragen in ihr, von der ich glaubte,
daß sie allein von allen Frauen meinen wahren Charakter
ausgefunden habe und meine Zärtlichkeit zu schätzen wisse.
Ach! ach! Daß diese einzige Hoffnung, Freude, Tröstung,
die mir jemals ward, immer mehr zum Spott geworden,
wie ein häßliches Übel auf dem Rest meiner Tage
liegen soU!^^
Im zehnten uberwerthert Hazlitts Naturbetrachtung
die Empfindsamkeit des jungen Goethe und die Rousseaus:
„Der Fluß wand sich durch die schlammigen Grunde wie
eine Schlange, und die im Nebel verschwimmenden Spitzen
des Ben Leddy und die (phantastisch aus Luft gewobenen)
lieblichen Hochlande spotteten meiner Umarmungen und
lockten mein sehnendes Auge gleich ihr, der einzigen
Königin und Herrin meiner Gedanken! Niemals fand ich
meine Betrachtungen über diesen Gegenstand so spitz-
findig fein und gleichzeitig so verzweiflungsvoll als bei
diesem Anlaß. Ich weinte mich fast blind und betrachtete
durch meine strömenden Tränen den golden strahlenden
Sonnenuntergang.'*
Aber einzelne poetisch gesteigerte lyrische Ausbrüche
und phantasievolle Schilderungen entschädigen nicht für
den Gesamteindruck dieses Seiten und Seiten füllenden end-
losen erotischen Gewinseis und Wutgestöhnes, das auf die
Empfänger (Patmore und Sheridan Enowles) schon darum
als krankhaft wirken mußte, da Hazlitt in seinen Reife-
jahren sich zn einem abgesagten Feinde des Briefschreibens
aoi^ebildet hatte, der selbst mit seinen Eltern kaum mehr
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250 Der literarische Essay.
in schriftlichem Verkehr stand. Die Briefe, die nicht
künstlerisch verarbeitet sind, ans denen nns das Antlitz
des Schreibers ungeschminkt in allen Verzerrungen der
leidenschafterfüllten Stunde anstarrt und uns die Geheim-
nisse seines Privatlebens ins Gesicht speit, bedeuten eine
Geschmacklosigkeit, die das Liber Amoris aus der Sphäre
des Kunstwerkes reißt
The Life of Ifapoleon.
Hazlitt war durch das Zerschellen seiner Liebe völlig
aus dem Gleichgewichte gebracht. Zu dem inneren Erlebnis
kamen die Angriffe, die ihm das Liber Amoris zuzog.
Lamb in seiner weisen Menschenkenntnis sagte: „Hazlitt
kann etwas Schlechtes tun, aber er ist darum doch weit
davon entfernt, ein schlechter Mensch zu sein."^) Der
großen Menge aber hatte er, der Seelenreine, dennoch ein
scheinbares Becht gegeben, ihn der Gemeinheit zn zeihen.
Stolz und reizbar, wie er war, steigerte sich seine Emp-
findlichkeit, seine angeborene Neigung zum Mißtrauen und
zur Selbstsucht, nachdem sein Vertrauen so übel gelohnt
worden war. Das Erlebnis hatte ihn im Innersten zer-
brochen.
„Wohin gehen, um fem von ihr zu leben und zu
sterben?" fragte er schon im 2. Teil des Liber Amoris
(Sechster Brief). Sein Kind allein hält ihn noch am Leben
fest (Siebenter Brief). Er muß es sich vorsagen, daß er
nicht toll sei. Nur sein Herz sei es und rase in ihm wie
ein Panther in seiner Höhle.
Er haßt nunmehr das ganze weibliche Geschlecht Er
warnt vor ihm als herzlos, selbstsuchtig, gefährlich. Er
») DobeU, 209.
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Der literariaohe Essay. 251
warnt vor dem üblichen Fehler junger Männer, in jeder
Frau eine Bomanheldin und in sich selbst einen Roman-
helden zu sehen. „Yeimeide diesen Irrtum, wie du vor
einem Abgrunde zur&ckprallen würdest.^ Die eigene üble
Erfahrung wird pessimistisch zur Regel verallgemeinert:
„Wir behandeln die mit Verachtung, die uns anhänglich
sind, spielen und spaßen mit ihnen und folgen denen,
die vor uns fliehen" (Ow ihe Conduct of Life).
Er verachtet die ganze Menschheit. Unser Verkehr
mit den Toten sei besser als mit den Lebenden. Alle
unsere reinen, dauernden Freuden kämen von leblosen
Dingen, von Büchern, Bildern und der Natur. Was ist
die Welt anders als ein Haufen zugrunde gegangener
Freundschaft, als das Grab der Liebe? Alle anderen
Freuden sind falsch und hohl, entschwinden vor unserer
Umarmung wie Rauch oder wie ein Fiebertraum (Sketches
of ihe Principle Picture Galleries in England with a Criticism
on Art Skizzen aus den Haupt-Bildergallerien Englands
mit einer Abhandlung über Kunst, 1824).
Und trotz alledem kann Hazlitt der Menschen, kann er
der Frauen nicht entraten. 1824 geht er zum Erstaunen
seiner Freunde eine zweite Ehe ein. Die in der Postkutsche
angeknüpfte Bekanntschaft mit seiner Erwählten war nur
eine flüchtige, als er sich zu dem entscheidenden Schritte
entschloß. Die zweite Gattin spielt in seinem Leben eine
so kurze Episodenrolle, daß nicht einmal ihr Name über-
liefert ist Ihre günstigen Vermögensverhältnisse ermög-
lichten Hazlitt eine lange gewünschte Reise nach Frank-
reich und Italien, doch kehrte er von dem Hochzeitsausfluge
bereits ohne Frau zurück. Vermutlich hatte sein junger
Sohn die unwillkommene Stiefmutter darüber aufgeklärt.) daß
schottischeEhescheidungen keine allgemeine Giltigkeit haben.
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252 Der literarische Essay.
Hazlitt hat seine ßeise in Notes of a Joumey through
France and Italy (1826)0 beschrieben. Die AnmerhAngen
sollen persönliche Eindrücke festhalten, ohne sich ausführ-
lich über Statistisches, Archäologisches, Kulturhistorisches
zu verbreiten. Hazlitt will auf der Reise sehen und lernen.
Er ist bereit, das Fremde anzuerkennen. Der Ernst der
Franzosen imponiert ihm. Der wundervolle Vers Racines:
Je crams Dieu, eher Ahner, et n'ai potnt d'auire crainte,
(AihaUe I.)
ringt ihm die Bewunderung ab, die auch Bismarck emp-
funden zu haben scheint, in dessen Mund dieser Satz, wenig
verändert, historisch geworden ist. Im Louvre findet Hazlitt
die Jugendbegeisterung nicht wieder und in Italien möchte
er über die meisten Städte schreiben: Es war. Nur Venedig
überwältigt ihn und in Turin erlebt er den ersten und
einzigen berauschenden Augenblick. In Vevey betritt er
den geweihten Schauplatz der Neuen Hdoise. Der Rhein
ist wie ein strahlender Traum. London mißfällt ihm bei
der Rückkehr, aber — Heimat ist Heimat
Sich selbst wiederzufinden, gelang ihm auch durch die
Reise nicht. Im Gegenteil. Seine Vereinsamung wurde
noch tiefer.
Drossel und Rotkehlchen sind ihm nun lieber als
Freund und Geliebte. Ein Spaziergang, ganz allein, selbst
ohne Buch, bringt Rückblicke in die Vergangenheit und
die Überzeugung, daß seine früheste Hoffnung — die auf
eine wertvolle schriftstellerische Leistung — auch sein
letzter Gram sein werde {A Farewell to Essay Writing).
Ohne Vermögen, ohne häuslichen Frieden, mit wenig
Sympathie verwandter Geister und geringer Unterstützung
0 WorhSt ^^ ^ WdOer and Glover.
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Der literariflche Essay. 253
seiner politischen Partei ^ ohne moralische Führung^ ohne
festen Glauben, so faßt GilflUan die Summe der Existenz
dieses mit großen inneren Gaben und Leidenschaften Aus-
gestatteten zusammen, der bestimmt war, eine der trüb-
seligsten Komödien zu verwirklichen, die jemals die Sonne
beschien. 0
Nur ein voller schriftstellerischer Erfolg hätte Hazlitt
noch aufhelfen können. Statt dessen erlebte er 1830
neuerlich eine Ablehnung, die sich, da sie ein Lebenswerk
betraf, mit dem er sein Bestes zu leisten meinte und auf
das er die größten Hoffnungen gesetzt hatte, zu einer
furchtbaren Niederlage gestaltete. Das Werk war The
lAfe of Napoleon. (Das Leben Napoleons), eine vierbändige
Monumentalbiographie. Hazlitt, der sonst nur schrieb,
weil er mußte, eine halbe Stunde vorher nicht ahnte,
worfiber er schreiben werde, und immer erst begann, wenn
es keine Möglichkeit des Entrinnens mehr gab, 2) hatte
diese Arbeit aus freier Wahl unternommen, als ein Werk
der Liebe, um den Charakter Napoleons, den, seiner Meinung
nach, die Welt verkannte, vor ihr zu rehabilitieren. Jahre-
lang hatte er in äußerster Eraftanspannung mit dem ge-
waltigen Thema gerungen, dem er als Mensch, nicht als
Politiker beikommen wollte.
„Ich bin kein Politiker und noch weniger kann ich
ein Parteimann genannt werden." Mit diesem Bekenntnis
begann Hazlitt 1819 das Vorwort zu seinen PoUticcd Essays.
Allein wenn es auch wahr ist, daß er „die Whigs ver-
achtete, die Tones leidenschaftlich schmähte und die
Badikalen aus der Schule Benthams angriff",') beruhte
0 LHerary Portraits.
1) Patmore m, 2.
') Leslie Stephen, Didionary of National Biography.
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254 Der literarische Essay.
doch nichtsdestoweniger sein ganzes Geistesleben anf einer
ebenso intensiven wie jäh und stramm behaupteten poli-
tischen Gesinnung von entschieden liberalen demokratischen
Grundsätzen. „Politik", sagt Patmore, ,,war der Punkt,
der auf sein Temperament wirkte wie eine Monomanie und
ihn aus einem vernünftigen Wesen in ein wildes Tier ver-
wandeln konnte."!) Alle Leidenschaftlichkeit dieser Partei-
nahme gehörte dem Idealbegriff „das Volk". In einem
glänzenden Aufsatz What is the People? (Was ist
das Volk? PoUticäl Essays) sagt er: „Das Volk ist
die Hand, das Herz, der Eopf des Gemeinwesens." Ohne
jemals als literarischer Volksführer aufzutreten, fühlte
Hazlitt doch intensiv mit der Menge.') „Ich hasse die
Tyrannei", heißt es in dem oben genannten Vorwort der
Political Essays, „und verachte ihre Werkzeuge. Diesem
Gefühle habe ich, so oft und so kräftig ich konnte, Aus-
druck gegeben. In meinen Augen ist die Frage die, ob
ich und die ganze Menschheit frei geboren sind oder
Sklaven. Man sichere diesen Punkt und alles ist sicher.
Man verliere ihn und alles ist verloren."
Er empfand sich zeitlebens als Kind der Revolution.
„Ich begann mein Leben mit der französischen Revolution",
sagt er (Feeling of Immortality in Youth), „und habe
leider ihr Ende erlebt. Allein ich sah dieses Erlebnis
nicht voraus. Meine Sonne ging auf mit dem ersten
Dämmern der Freiheit und ich dachte nicht daran, wie
bald beide untergehen müßten. Der Anlauf zu neuem
Eifer, der sich des Menschengeistes bemächtigt hatte,
verlieh dem meinen kongeniale Wärme und Glut Wir
*) Vgl. Bulwer, Liierary Beminiaoences.
•) n, 320.
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Der literarische Essay. 255
hatten Kraft, einen Wettlanf zu tnn, und ich ließ mir
nicht träumen, daß die Sonne der Freiheit, lange bevor
die meine zur Büste ging, sich in Blut färben oder in der
Nacht des Despotismus untergehen würde. Seither, ich
gesteh es, habe ich mich nicht mehr jung gefühlt, denn
damit fielen meine Hoffnungen."
Allein die Oreuel der Revolution dürfen, Hazlitts
Meinung nach, nicht der Revolution und nicht dem Volke
zur Last gelegt werden. Rechtzeitige Reformen wären die
besten Vorkehrungen gegen die Revolution. Ist eine
Regierung entschlossen, daß das Volk keine Befreiung, keine
Abhilfe von anerkannten Übelständen haben solle als durch
gewaltsame und verzweifelte Mittel, so mag sie sich für die
vorauszusehenden Folgen bei sich selbst bedanken {What
is the People?).
Die Ursachen der Revolution sucht Hazlitt in längst
vergangenen Jahrhunderten und glaubt sie schließlich als
ein unabwendbares Ergebnis der Erfindung der Buchdrucker-
kunst bezeichnen zu können. Die glorreichste Verkörperung
der Revolution, ihr unwiderstehlicher Genius aber ist ihm
Napoleon, „der Gott seiner Anbetung". Aus dem Volke
hervorgegangen, der Vertreter des Volkes gegen die legitime
Eönigsmacht, bleibt er auch als Kaiser in Hazlitts Augen
nur das gekrönte Haupt des Volkes.
Hazlitt ist ein abgesagter Gegner der Legitimität
Nichts ist ihm so verhaßt wie das Gottesgnadentum. Das
Erbkönigtum ist eine Schmach, eine Burleske auf jedes
Prinzip des gesunden Verstandes und der Freiheit. Der
Elende, den die Legitimität in Haft hält, ist unendlich
elender als der arme Teufel im Kerker der Inquisition.
Dieser darf nach der i<reiheit seufzen, jener darf nicht
einmal an sie denken« Die ach vor Thronen beugen und
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256 Der literarische Essay.
die Menschheit hassen, mögen hier ihr Auge weiden
an der Vemichtnngy der Pestilenz, dem Mehltau und
gleißenden Gifte der SklavereL Das ist der einzige
moralische Atheismus, die gleiche Blasphemie gegen Gott
und Menschen, die Stlnde gegen den heiligen G^ist, jene
tiefste Tiefe der Erniedrigung und Verzweiflung, nach der
es keine tiefere mehr gibt. Der Erretter von dieser Plage
der Legiümit&t aber war Napoleon. War er ehrgeizig, so
gründete sich doch seine Größe nicht auf die Preisgebung
der Rechte der menschlichen Natur. Nein, mit ihm hob
sich die Lage der Menschheit. Sie wurde gleichfalls
vornehmer. Napoleon, der die Eönigsrechte von Gottes
Gnaden vernichtet, ist fflr Hazlitt eine Art unbezwing-
licher Drachentöter Siegfried.
In keiner Etappe seines Lebens erblickt Hazlitt
Napoleon in anderem Lichte als in der Verklärung seines
Jugendglanzes. Niemals sieht er in dem vergötterten Helden
etwas anderes als den sieg- und ruhmreichen Konsul, der
der Republik zu ihren höchsten Triumphen verhalf.
In einem Essay On the Royal Character räumt Hazlitt
mit dem monarchistischen Geiste als einem unbegrfindeten
Vorurteil schlechtweg auf. Er sei keine politische Staats-
notwendigkeit, entspreche nicht dem Verlangen der Menge
nach einem einheitlichen Oberhaupte, sondern einer krank-
haften und falschen Gier des Volksempflndens. Wir machen
Götter aus Stöcken und Steinen und aus dem Menschen, der
ein poetisches Tier ist, einen König. Wir brauchen einen
Haken, unsere müßigen Phantasien daran zu hängen. Ein
Idol ist um nichts schlechter, wenn es aus grobem Material
gebildet ist. Ein König sollte ein gewöhnlicher Mensch sein,
sonst ist er kraft seiner eigenen Natur der Freigiebigkeit
und Laune des Volkes Überlegen und von ihr unabhängig.
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Der literarische Essay. 257
Der Konsul aber, den eine Millionenmajorit&t von Stimmen
znm Kaiser erhob, diente anch als Tyrann nur dem
Willen, der Absicht, dem Heile des Volkes, das einen
Gewalthaber wfinschte und brauchte. Sein glanzvoller Hof
war Politik, wie seine Scheidung von Josefine. Sein Herz
wußte von beiden nichts. Er hat nicht das Volk entthront,
als er sich den Cäsarenmantel der unumschränkten Gewalt
unUiing, sondern nur dem P5bel das Knie in den Nacken
gedrftckt Die letztere Tatsache aber vermag Hazlitt nimmer-
mehr zu kränken, von dem Talfourd sagt, „man müßte wenig
von seinen Werken kennen, wfißte man nicht, daß er, ob er
sich gleich über legitime Kfinige äußert wie ein französischer
Sansculotte, doch von dem gemeinen Volke mit der
Geringschätzung eines venezianischen Oligarchen spricht.''
So ist und bleibt Napoleon für ihn die Verkörperung
des demokratischen Prinzipes und gleichzeitig der große
Rächer und Vergelter, der, ein Werkzeug der ewigen
Gerechtigkeit, an der entarteten Revolution ein furchtbares
Gericht vollzieht Durchweg aber ist Hazlitts Standpunkt
gegen Napoleon gekennzeichnet durch eine persönliche Hin-
gebung, die jeden mildernden Umstand in Betracht zieht,
wo es eine Tat zu entschuldigen gilt (z. B. die Hinrichtung
Enghiens) und die Schlußkatastrophe als eine persönliche
Niederlage empfindet.
Napoleons Sturz erfüllt Hazlitt mit Verzweiflung.
Während Leigh Hunt seine Descent of Liberty zur Ver-
herrlichung der Verbündeten schrieb, saß Hazlitt „an
den Wassern Babylons und hing seine Harfe an die
Weiden.'' Er wußte, es gebe nur eine Alternative, die Sache
der Könige oder die der Menschheit, und die der Mensch-
heit schien ihm mit Napoleon gefallen. „Darum wollte ich
nichts von Trost hören, als der Mächtige fiel, denn wir,
Oefehiohte der eoffUflchen Bomantik II, 1. 17
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258 Der Uteramche Essay.
die Gdsamtheit der. Menschen, fielen mit ihm, wie der Blitz
vom Himmel geschleudert, um zu Kreuze zu kriechen am
Grabe der Freiheit, das der Legitimität als Zauntritt
dienen soll" (Whether Genius is conscious of its Power).
In On ihe Fear of DeaÜi (Todesfurcht) spricht Hazlitt
den Wunsch aus, den Zusammenbruch der Legitimität noch
zu erleben. Von Jakobinismus aber ist er so frei wie fast
alle englischen Romantiker. Ja, gelegentlich macht er
sogar dem König von England als konstitutioneUem
Herrscher seine Eeverenz. (On ihe Boyal Character). Für
soziale und politische Utopien hat er nichts übrig. Hol-
crofts geplanten Freiheitsstaat nennt er ein Hirngespinst
und von der menschlichen Natur Höheres erwarten, als was
sie gegenwärtig zu leisten vermag, hält er für phantastisch.
Hazlitts Freiheitsglaube hatte nichts Umstürzlerisch-
Gewaltsames und nichts Außerweltlich-Ideales, aber er
war ihm Herzenssache. Er behauptet einmal, man
könne die große Bewegung in Frankreich zu Ende des
18. Jahrhunderts, alles, was sie an Jugend, an Edlem und
Erhabenem enthalte, nur mit dem Herzen begreifen. So
ist seine eigene Biographie Napoleons mit dem Herzblut
geschrieben.
Gleich in der Vorrede verwahrt er sich zwar ent-
schieden dagegen, der Beschönigung seines Helden Grund-
sätze geopfert zu haben. Allein, wie fem Hazlitts unbe-
dingter Wahrheitsliebe auch jede bewußte Entstellung
liegt, es läßt sich doch nicht leugnen, daß sein Urteil
gelegentlich bestochen ist durch das Auge der Liebe. So z.B.
wenn er an Napoleon ein Streben wahrnimmt, der Sitten-
verderbnis entgegenzutreten, und wenn er sein persönliches
Verhalten gegen Frauen sogar streng und abweisend findet
Bei allem Streben nach Unparteilichkeit der Darstellung
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Der literarische Bssay. 250
— beispielsweise in der entschiedenen Verwerfung von
Napoleons Verhalten gegen Spanien — , bei dem besten
Willen, jeder Verhimmelnng auszuweichen und ein Rein-
waschen, als des Großen unwilrdig, zu yermeiden, spürt
man doch überall den warmen persönlichen Athem.
In Napoleons Testament stehen die Worte: „Ich sterbe
vorzeitig, von der englischen Oligarchie und ihrem *** (König?)
gemordet Das englische Volk wird nicht s&umen, mich zu
rächen.'' Es ist als hfttte Hazlitt gewissermaßen dieses Amt
auf sich genommen. So, von der Bedeutung seines Werkes
erfüllt, sah er gespannt der Veröffentlichung entgegen.
Da, als sie unmittelbar bevorstand, erschien Scotts Leben
Napoleons, Dem allgemeinen Interesse war nun von vorn-
herein die Spitze abgebrochen und der Verleger erklärte,
kein Honorar bezahlen zu können. Hazlitt, der trotz seines
Fleißes und seiner sparsamen Lebensgewohnheiten nie reich
gewesen, hatte an dem Verlust des Erträgnisses einer
vielj&hrigen Arbeit schwer zu tragen« Dann kam die
Bitternis der öffentlichen Kritik, die den politischen Stand-
punkt seines ^Napoleon mit aller Entschiedenheit ablehnte
und den über allem Zweifel stehenden Vorzügen der
künstlerischen Darstellung die verdiente unbedingte An-
erkennung versagte.« Die herrlichen Qualitäten von Haz-
litts Stil, die EQarheit und Lebhaftigkeit der Schilderung
machen das Leben Napoleons zu einer Lektüre von fast
romanhaftem Interesse. Die Wärme des Tones, die überall
die Persönlichkeit des Verfassers durchspüren läßt, ohne
der historischen Würde Abbruch zu tun, erinnert in
gewissem Sinne an Mommsen.
Dennoch haben die Engländer Hazlitt seinen Napoleon-
kultus heutigen Tages noch nicht verziehen. Er gehört
zu den drei Exzentrizitäten, den drei Unbegreiflichkeiten,
17*
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260 Der UterailKlie Essay.
fiber die sie bei ihm nicht hinwegkommen. Die beiden
anderen sind: ein offizielles gegen jede Konvention des
guten Geschmackes verstoßendes Liebesverh<nis nnd
seine Ansicht, daß Pope nicht unter die Dichter ersten
Ranges gehöre. In Deutschland dfirfte man vermutlich
alle drei nicht als unüberwindliche Hindemisse schrift-
stellerischer Popularität einschätzen.
So endet mit dem Life of Napoleon Hazlitts Leben in
einem Mißton« Krankheit und Geldnot vergäUten seine
letzten Tage.
In einer autobiographischen Skizze aus dem Jahre
1827 sagt er, es läge ihm nichts daran, zu sterben, hätte
er gelebt Was ihn verdrieße, sei der gebrochene Glücks-
kontrakt, die unvoUzogene Ehe mit der Freude, das für
ungiltig erklärte Versprechen auf Lebensgenuß. Hinterließe
er ein gehaltvolles Werk, eine liebe Hand, die ihn der Gruft
übergäbe, dann wäre er bereit zu scheiden und auf seinen
Grabstein zu schreiben: „Dankbar und befriedigt''. Aber
er habe zu viel gedacht und zu viel gelitten, um willens
zu sein, vergeblich gedacht und gelitten zu haben. 0
Als die Uhr fast abgelaufen war, brachte die Juli-
revolution 1830 noch einen Lichtstrahl in die Schatten
seines Todes. Er selbst nennt die drei Tage eine Auf-
erstehung von den Toten, die davon zeuge, daß die Frei-
heit dem Geiste des Lebens innewohne, daß der Haß der
Bedrückung die unauslöschliche Flamme sei, der Wurm,
der nicht stirbt
Er verschied am 18. September 1830. „Ehre und
Friede seinem Angedenken", schrieb Leigh Hunt.*) „War
0 Memoin 11,219.
*) Imagination and Faney 265.
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Der Utenurkche Esmy. 261
er ein gereizter und mitunter eifersüchtiger Mensch, so
war er doch ein hervorragender Politiker, ein bewundems-
wfirdiger Kritiker. „Glficklich jene'', f&hrt er mit bezug
auf Coleridge fort, „deren Naturell ihnen das Becht und
die Kraft verlieh, ihm zu vergeben.''
Barry Comwall faßt sein endgiltiges Urteil über
Hazlitt in die Worte: „Ich verzweifle an dem Zeitalter,
das vergißt, Hazlitt zu lesen. "^
Werke vob William Hazlitt
1805 An Essay on the Prmciples of Human AcUons. Bemg
an Argument in Favaur of the National Dismterested-
ness of the Human Mind. To whieh are added: Some
BemarJes on the Systems of Hartley and HeJvetius.
1806 Free Thoughts on PubKcÄffairs, or Ädviee to a Patriot.
Edited 1835 hy Ms Bon.
1808 A Bqply to ihe Essay on Population, hy the Bev.
T. R Malthus.
— An AMdgement of the Light of Nature Fursued, hy
Abraham Tucier, Esq.
— The Eloguence of the British Senate, or Sehet Spedmens
from the Sipeeches of the Most Distinguished FarUament-
ary Speahers.
1810 A New and Improved Grammar of the EngUsh Tongue.
For ihe Use of Schools. In which the Genius of our
Speech is especially attended to, and ihe Discoveries
of Mr. Home Tooke and oiher Modem Writers on the
Formation ofLanguage are for the first Time ineorporated.
1816 Memoirs of Ihe Late Thomas Holcroft Writtm hy him-
seif Conünued to the Ti»ne of Ms Death, from his
Diary, Notes, and Papers.
>) Autohiographicäl Slcetehes^ 114.
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Der litorazisohe Essay.
1817 The Batmd Table. Ä CollecUon of Essays <m Literature,
Mm, and Manners,
— Characters of Shake^eare's Plays.
1818 Lectures on the EngUsh Poets.
1819 Ä Letter to WilUam Gifford, Esq.
— Lectures on the EngUsh Comic Writers.
— Political Essens, with Sketches of Public Characters.
1820 Lectures on the Dramatic Literature of the Age of
Elieabeth.
1821 Ä View of the EngUsh Stage, or a Series of Dramatic
CriUdsms.
1821—1822 Table Talk, or Original Essays (Nenansgabe
People's Library, 1909).
1823 CharacterisUcs. In the Manner of La Bochefoucault's
Maxims,
— Liber Ämoris, or The New Pygmalion (Neuausgabe von
Richard Le Oallieiine 1894).
1824 Sketches of the Principal Picture Oälleries in England,
wilh a Criticism on a Marriage ä laMode.
1826 The Spirit of the Age, or Contemporary Portraits.
— Elegant Extracts in Prose and Verse from the EngUsh
Poets, Uving and dead.
1826 Notes of a Joumey through France and Itäly.
— The Plam Speaker. Opinions on Books, Men, and Things.
1830 The Life of Napoleon Bonc^arte.
— The Life of TiUan, by James Northcote.
— The Conversations of James Northcote. Neaausgabe mit
einem Essay on HagUtt toh Edmimd Gosse, 1894.
1836 Literary Bemains of the Laie WilUam HaeUtt With a
Notice of his Life by hds Son, and Thoughts on his
Genius and WriUngs by E. Lytton Bukoer and Mr.
Sergeant Talfourd.
1839 Sketches and Essens by WilUam HafsUtt Now first
collected by his Son.
1843 Criticisms on Art, and SketcJies of the Picture Oälleries
of England. By William HazUtt. Now first coUected.
Edited by his Son.
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Der literarische Essay. 263
1850 Wintenlaw. Essays and Oharaeters toritten ihere, Edited
hy his 8on.
1864 The Miscellaneous Works of William Haeliit
1873 Essays <m ^ Ftne Arts. A Catalogue BaisonfU of the
British Instiiution, etc. Edited by W. C. Eaelitt,
1902 CoUected Works. Edited hy A.B. Waller S Arnold Glover.
Wiih an Iniroäuction by W. E. Henley.
Werke über Haziitt.
185d George Oilfillan, Qällery of Literary Portraits.
— Thomas De Qnincey, Notes on GilfiUans Literary
Fortraits (Works, Bd. XI).
1867 William Garew Hazlitt, Memoks of WüUam HaisUti
Wiih Portions of his Correspondence,
1889 Alexander Ireland, William HatiUtt, Essayist and
CriUc.
1890 George Saintsbury, Essays in English Literature.
1897 William Carew Hazlitt, Four GeneraUons of a Literay
Family.
1900 William Carew Hazlitt, Lamb and HagUtt. Further
Letters and Becords,
1902 Angnstine Birell, William HaeUtt (English Men of
Letters Series).
1906 Jules Douady, Liste Chronohgique des (Ewvres de
William HaeUtt.
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Thomas Oriffiths Wainewright.
1794—1852.
„Von seinen Taten im Bereiche des Giftes abgesehen'',
sagt Oscar Wilde von Wainewright, „rechtfertigt das, was
er hinterlassen, kanm seinen Bnf^)^. Und das, was er
hinterlassen, erfährt noch eine wesentliche Einschränkung
durch den Umstand, daß vermutlich nur ein Bruchteil davon
gesammelt und als Wainewrights Eigentum bestimmt ist
Allein dieses Wenige ist von so ausgeprägter Eigenart und
enthält so vielfach die Keime der charakteristischen Eigen-
schaften grOßererNachgeborener, daßWainewright schlechter-
dings in einer Darstellung des Londoner Kreises im er9ten
Drittel des 19. Jahrhunderts, in den ihn alles von seiner lite-
rarischen Tätigkeit Erhaltene einreiht, nicht fehlen darl
Seine Abstammung bringt ihn in eine gewisse Be-
ziehung zu Goldsmith. Dr. Balph Grifflths, der 1749 die
Monfhly Review gründete und als der nicht allzu weich-
herzige Verleger des jungen Gk)ldsmith in dessen Leben
eine EoUe spielt, war Wainewrights Großvater. Von ihm
empfing Thomas Griffiths Wainewright (geboren im Oktober
1794) den Namen. In seinem schönen, stattlichen Landhause
Linden House in Tumham Green wuchs er auf. Die Mutter
war, einundzwanzigjährig, bei seiner Geburt gestorben.
1803 verlor der Knabe auch den Vater, Thomas Waine-
*) Pen, Pencü, and Poison, 67.
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Der literarische Essay. 265
wright^ der einer Familie von Geistlichen and Juristen
angehört hatte. Aber dessen eigenen Beruf aber nichts ver-
lautet^ 0 luid in demselben Jahre den Großvater Griffiths.
Der Besitz von Linden House ging an einen Oheim des
neunjährigen Thomas über.
Der Ejiabe besuchte in Hammersmith die Schule des
durch Balph Griffiths' zweite Frau mit der Familie ver-
wandten Charles Bumey. Sein hervorragendes Zeichen-
talent schien, von den schöngeistigen Anregungen, unter
denen er heranwuchs, gefördert, seine Lebensbahn vor-
zuschreiben. Da packte den kaum zum Jüngling Er-
blühten plötzlich eine Grille: er ging zum Militär. Darf
man seiner Joumalistenfeder Glauben schenken, so enthält
der Au&atz Jixmea Weafherbound, or The Weaihercock
steadfast for Lack of Oüj a Grave JEpisÜe (Jakob Wetter-
gefesselt oder Der aus Ölmangel unbewegliche Wetter-
hahn), London Magazine, Januar 1823, biographische
Erinnerungen. Wainewright erzählt, sein6 Oberflächlich-
keit hätte ihn verhindert, aus dem literarischen Verkehr,
den er in den Enabenjahren genoß, entsprechenden Vor-
teil zu ziehen, unüberlegt habe er trotz seiner Emp-
Ang^ichkeit für die Malerei den Griffel mit dem Schwerte
vertauscht. „Die lärmende Verwegenheit der Soldaten-
reden, verbunden mit dem duftenden Dunste des Whisky-
punsches — allabendlich zehn Becher — verdunkelten
meine Erinnerungen an Michel Angelo. Nach einer Weile
bestimmten mich einige äußerlich geringfügige Vorkomm-
nisse, dieser Art, Zeit und Menschlichkeit zu töten, wieder
zu entsagen. Die Kunst übte ihren läuternden Einfluß.
Wordsworth's Schriften trugen bei, die durch solche innere
») VgL W. C. HaaUtt, XIV.
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266 Der literarische Essay.
Wandlung hervorgebrachten Wirbel der Verworrenheit
zu beschwichtigen. Ich weinte Tränen der Freude
und Dankbarkeit. Zwar wurde hierdurch meine ange-
borene Ungeduld, mein Ingrimm, wie ich es nennen
kann, nicht völlig gebändigt, sondern eher verstärkt, aber
auf wichtigere Zwecke gelenkt: gegen die Niedrigkeit,
schmutzige Weltlichkeit, Härte und Gemeinheit, in was
immer für einem Bange sie erwuchsen.'' Seine hoch-
gestimmte Jugendbegeisterung fOr ein edles Lebensziel
faßt Wainewright selbst in ein Zitat aus John Woodvü
zusammen: „wahre Dinge sehen, hören, schreiben''.
„Allein, dieser gehobene Gemütszustand ging wie ein
Tongefäß in Trümmer durch plötzliche Krankheit. Ihr folgte
eine Muskel- und Nervenerschlaffung, die mich völlig nieder-
drückte: Hypochondriel Ewig schaudernd am furchtbaren
Abgrunde des Wahnsinns! Aber zwei vorzügliche Heilmittel
halfen: ein geschickter Arzt und eine unermüdliche junge
Pflegerin von Hebevoller Zartheit". Sie zogen ihn, „fast er-
schöpft vom Kampfe, aus den schwarzen Wassern". Ein
fester Beruf war ihm nun verschlossen, Zerstreuung hingegen
notwendig. Aus Mitleid mit seinem Zustande forderte ihn
John Scott, der Herausgeber des neugegründeten London
Magazine^ auf, die Gefühle, die er über Michel Angelo,
Rafael, Bembrandt geäußert, zu Papier zu bringen. Der
Vorschlag dünkte Wainewright erst lächerlich, allein er
machte den Versuch. Die Beschäftigung behagte ihm und
der Aufsatz fand Beifall. Scott verlangte mehr und „Elia,
der launige, scharfsinnige, der reichlich Spaßspendende, Elia
und Mr. Drama (Hazlitt) sprachen schmeichelhaft von
Janus". Janus Weathercock, C!omelius van Vinkboom,
Egomet Bonmot — das waren (die bisher ausgefundenen)
mit witziger Selbsterkenntnis gewählten Decknamen, unter
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Der literarische Eflsay. 267
draen Wainewright in den Jahren 1820—1823 für das
London Magaaine schrieb. Vielleicht waren ihrer auch
mehr. Vielleicht schrieb er anch ^ andere Blätter. Er
selbst spricht von Beiträgen fOr Olliers Literary Pocheibook
1819) in Blackwoods Magazine (gegründet 1818), in der
Forügn Quarterly Review (gegründet 1828), die jedoch
bishei* nicht nachgewiesen worden sind. Da indes eine
80 geringe Fmchtbarkeit, wie sie Wainewrights beglaubigte
Schriften ergäben, in keinem Verhältnis zu seiner zweifellos
starken Begabung stünde, spricht alle Wahrscheinlichkeit
dafür, daß uns nur Bruchstücke seiner Tätigkeit überliefert
sind.^)
Die Mitarbeit€rschaft am London Mdgcusine brachte
ihn mit den Londoner Essayisten in persönlichen Verkehr,
mit Hazlitt, De Quincey, Barry Comwall, Blake und
Lamb. Zumal der Letztere fand an ihm Gefallen. Er
spricht von dem heiteren, leichtgemuten Wainewright und
seiner vorzüglichen Prosa. Janus mochte damals tatsächlich
das liebenswürdige, freundliche Geschöpf sein, für das Lamb
ihn nahm. Die dunkeln Möglichkeiten, die schwierige
Lebenslagen später in ihm zu grausigen Tatsachen ent-
wickelt haben, schlummerten noch verhüllt in seinem
Gemfite.^) Er zeigte die lebhafteste Empfänglichkeit für
den Wert seiner berühmten Kameraden, rühmt Hazlitts
Gabe, den Leser „geschickt durch ein Nadelöhr hindurch-
zuzwängen ^, und gibt Barry Comwall, „dem milden,
geschmackvollen, dem Bruder Dilettanten, dem Dichter der
1) Vgl. Hazlitti XXTL Dun zugeschriebene Artikel des London
Magagme sind: The Memoir of a Sypoehondriac (September nnd
Oktober 1820); Letters from a EouS (April bis Joni 1821); On Biding
on Horaebackf gezeichnet Mazeppa (Januar bis März 1821).
^ VgL DobeU, 28.
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268 Der literarische EBsajr.
Frauen und honigsfißen Sänger der Schönheit und ihrer
Mutter Nacht,'' sein vollgerüttelt Maß Bewunderung. Allen
voran in Wainewright||9 Wertschätzung aber schreitet Elia.
,9 Was könnte ich mehr von dir sagen,** ruft er aus, „als was
alle wissen? Daß du die Lustigkeit eines Knaben und
das Wissen eines Mannes besaßest; ein so sanftes Herz
als jemals Tränen ins Auge strömen ließ. Manchmal
glitt dir wohl die schwarze Galle über die Zungenspitze —
dann spucktest du sie aus und sahst, nachdem du dich
ihrer entledigt, nur desto sanfter drein.'' Er preist Lambs
witzige Art, „eine Meinung mißzuverstehen und das Miß*
Verständnis in einen aufs passendste unpassenden Ausdruck
zu fassen." Er rahmt seine Sprache, die ohne Affektation
gedrungen war wie die seiner geliebten Elisabethaner. Er
vergleicht seine Sätze Goldkömem, die sich in Blätter breit-
schlagen lassen. Dennoch ist er nicht blind gegen Fehler.
Lambs Abneigung gegen die deutsche Literatur, „von deren
Sprache er vermutlich vollkommen unber&hrt geblieben",
bezeichnet er unumwunden als Perversität. Lambs plötz-
lichen Tod will er vorausgesehen haben. Nach einer Abend-
gesellschaft begleitete er ihn in den ersten Morgenstunden
heim. Lamb rauchte noch eine Pfeife und äußerte wieder-
holt Todesahnungen — „nicht düster, sondern als handelte
es sich um ein Zurückziehen vom Geschäft, um eine an-
genehme Reise nach einem sonnigeren Himmelsstriche. Die
heitere Feierlichkeit seiner Stimme überwältigte mich. Die
Tränen entströmten ihrem Urquell. Ich wollte über mich
und über ihn scherzen, aber der Hals war mir zugeschnürt,
Eührung schnitt mir das Wort ab. Seine Pfeife war aus-
gegangen. Er hielt sie an die Eerzenflamme, aber ver-
geblich. Sie war leer! Er war zerstreut Er lächelte
sanft und klopfte die Asche aus. ,So still', sagte er,
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Der Utemrische Essay. 269
,mOge der Funke meines Geistes sich ans seinem GefäB
Ton Asche nnd Ton stehlenl'
Ich ffihlte mich bedrBckt, mancherlei hatte in letzter
Zeit beigetragen, meinen einst elastischen Geist zu brechen
und zn entmutigen. Ich erhob mich, um zu gehen. Er
schflttelte mii* die Hand und keiner yon uns sprach ein Wort.
Damit ging ich meines Weges und sah ihn nicht wieder!
Wieviel ging dieser elenden Welt verloren, die ihn
nicht erkannte, da sie ihn besaß. Ich kannte ihn, ich, der
ich zurückblieb, ihn zu beweinen. — Eheu! Eliam! Yalel^^
In seinem äußeren Gehaben gefiel Wainewright sich
im Zurschautragen einer absoluten Geckenhaftigkeit. „Wie
Disraeli", sagt Wilde — und könnte hinzufügen: wie ich
selbst — „beschloß Wainewright, die Stadt als Dandy
zu verblüffen. Seine Binge, seine Eamee-Schlipsnadel, seine
zitronengelben Handschuhe erschienen Hazlitt das Wahr-
zeichen einer neuen Richtung der Literatur. Sein gelocktes
Haar, seine schönen Augen, seine herrliche weiße Hand gaben
ihm einen gefährlichen und entzuckendenVorzug vor andem."^)
Auf seinem pr&chtigen Pferde Contributor glänzte er als
eleganter Heiter. Doch ließ er es bei diesen äußerlichen
Vorzügen nicht bewenden. Seine Liebenswürdigkeit gewann
ihm die Herzen und seine vielseitige Genialität interessierte
die Geister.
Wainewrights schriftstellerische Betätigung verdrängte
die künstlerische nicht Er malte und stellte aus. Wir
wissen daß William Blake ein Bild Wainewrights in der
Boyal Academy bewunderte.
0 Jörnen WeaÜnerh&md, or The Weaihercock Steadfaat far Lack
ofoa.
*) Fe% Peneü, and Patsonj 67.
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270 Der HterariBche Essay.
Seine ganze Persönlichkeit stand im Zeichen eines
ausgesprochenen Ästhetentnms. Sein zwanglos elegantes
Wesen, seine angenehme, mitunter glänzende Konversation
machte ihn zum gesuchten Gesellschafter. Er war eine
sinnliche Natur und dem Opiumgenuß ergeben — beides
nicht in verletzend ausschweifendem Übermaß, 0 ^^ gerade
genug, um seinen steten Hang zu reicher Genußsucht in ihm
lebendig zu erhalten. Er wollte jederzeit von Schönheit
umgeben sein. Die Notdurft des Lebens sollte verschwinden
hinter dem Glänze der Kunst und des Luxus. Diese Leiden-
schaft, zu deren Befriedigung ihm die Mittel fehlten, mag es
gewesen sein, die Wainewright zum Verbrechen f fthrte. Erst
griff er zur Fälschung, dann zum Giftmord. 1824 behob er
kraft eines selbst verfertigten Dokumentes aus der Bank von
England ein Kapital von etwa £ 5000, von dem ihm laut der
letztwilligen Verfügung seines Großvaters Griffiths nur der
Zinsengenuß zukam. Zwölf Jahre lang blieb der Betrug,
auf dem damals die Todesstrafe stand, unentdeckt Waine-
wright schmückte sein Haus mit schönen Bildern und Majo-
liken und gab köstliche kleine Symposien.') Aber der Vorrat
ging zur Neige. Wainewright hatte sich mit einem Mädchen
von einnehmendem Äußern doch ohne Vermögen, Frances
Ward, verheiratet Er brauchte Geld. 1828 nahm sein Oheim
George Edward Griffiths, der Besitzer von Linden House,
das junge Paar bei sich auf. 1829 setzte sein auffallend
plötzlicher Tod Wainewright in den Besitz seiner beträcht-
lichen Hinterlassenschaft Die Trauer um den teuren An-
verwandten wurde durch die Geburt eines Söhnchens ab-
gelenkt Auch erfuhr der Hausstand einen Zuwachs durch
») Hazlitt, LXXrV.
«) Hazütt, LXn.
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Der Hteraxische Essay. 271
Mrs. Wainewrights Matter, Mrs. Abercromby, und deren beide
junge Töchter. Aber wenige Monate nachher starb auch
Mrs. Abercromby (1830) unter Vergiftungssymptomen, die
man damals freilich nicht als solche erkannte. Der Haushalt
in Linden House gestaltete sich nun so prächtig, daß bereits
Ende desselben Jahres der drohende Bankerott die Über-
siedlung in die Stadt notwendig machte. Es mußte Geld
geschafft werden Da erkrankte die ältere der beiden
Schwägerinnen, die 21jährige Helen Abercromby, ein
blähendes, kräftiges Mädchen, unter den gleichen Anzeichen
wie ihre Matter. Der Hausarzt hielt sie nicht für be-
denklich, aber als Wainewright mit seiner Gattin von einem
kleinen Spaziergange heimkam, zu dem er sie angeregt
hatte, war Helen tot Acht Tage vorher hatte das junge
Mädchen ihren letzten Willen aufgesetzt^ der ihren Schwager
zum Testamentvollstrecker und ihre Schwester zur Erbin
einer Lebensversicherung von £ 18000 einsetzte. Der
vorsorgliche Wainewright hatte sie im Herbst bei ver-
schiedenen Gesellschaften für diese Summe eingekauft.
Die Gesellschaften verweigerten indes die Auszahlung
ohne vorhergehende Untersuchung des Falles. Das verdacht-
erregende Moment war nicht der Tod des Mädchens, sondern
das inkorrekte Vorgehen bei der Erlangung der Policen.
Wainewright hatte den Mut, einen Prozeß gegen die
Versicherungsgesellschaften anzustrengen. Während die
Vorbereitungen im Gange waren, begleitete er einen
Bekannten, in dessen Tochter er verliebt war, nach
Boulogne. Seine Gattin trennte sich in jener Zeit auf
immer von ihm.
Auch diesen Freund veranlaßte Wainewright, sein Leben
beim „Pelikan^ für Si 8000 zu versichern. Und auch dieser
wfirdige und gesunde Mann erkrankte jählings und erlag
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272 Der literarische Essay
einem Erampfanfall. Wainewright trat eine Beise in die
Bretagne an nnd blieb in St Omer, w&hrend sein Londoner
Prozeß resnltatlos und l&ssig verschleppt ward.
Bei einem Aufenthalte in Paris wurde es ruchbar, daß
der elegante fremde Herr in einem seiner prächtigen Ringe
stets eine Quantität Strychnin mit sich fahrte. EinStäubchen
davon war in den Tee des guten Onkels in Linden House,
der Schwiegermutter, der Schwägerin, des Freundes in
Boulogne gefallen. Dieser letzte Mord, der Wainewright
keinen Vorteil brachte, war ein Bacheakt an der Ver-
sicherungsgesellschaft, die, wie die andern, Stellung gegen
ihn genommen hatte. Wainewright, der unter fremdem
Namen reiste, mußte seine Papiere ausliefern, darunter das
Tagebuch, in das er eingehend und gewissenhaft seine Gift-
manipulationen eingetragen hatte. <) Nach einer sechs-
monatlichen Untersuchungshaft glttckte es ihm, wieder frei
zu werden. Allein noch einmal ward ihm der Lebensgenuß,
das Aufgehen im Augenblick, unbekfimmert um Vergangen-
heit und Zukunft, zum Verhängnis. Einer Frau nachreisend,
wagte er sich 1837 nach London, wurde erkannt und durch
eine sonderbare Ironie des Schicksals nicht seiner Giftmorde,
sondern seiner Fälschung wegen, festgenommen. In New-
gate sah ihn 1839, auf einer mit Macready unternommenen
Wanderung durch die Londoner Gefängnisse, Dickens*
Biograph John Forster. Erschreckt durch Macreadys
tragischen Ausruf: „Mein Gott, das ist ja WainewrightP
blieb er stehen. Sein Gefährte hatte „in einem Geschöpf
von schäbiger Eleganz, mit staubfarbenem, ungeordnetem
Haar und schmutzigem Schnurbart, das sich bei unserem
Eintritt mit einem herausfordernden Blick rasch umwandte
0 HazUtt, LXX.
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Der Utenriflohe Haany. 2lZ
nnd, gemein nnd grhnmig zugleich, der feigen Mordtaten,
die es verabt, dnrchans ffthig schien, zu seinem Entsetzen
einen Mann erkannt, mit dem er in früheren Jahren intim
verkehrt^ an dessen Tisch er gegessen.^ 0
Wainewright blieb bei der Behanptnng, sein Ver-
brechen sei nichts anderes als eine mißglttckte Spekulation.
Er pochte mit Genugtuung darauf daS es ihm gelungen sei,
den festen Entschluß, zeitlebens die Stellung eines Gentle-
man zn behaupten, bis zuletzt durchzufahren. Er mflsse
nunmehr — so erz&hlte er einst einem Besucher — die Zelle
mit wkem StraSenkehrer und einem Ziegeidecker teilen.
Alle drei hätten sie der Reihe nach zu fegen. Aber keiner
seiner Mithftftlinge habe es noch gewagt, ihm den Besen
in die Hand zu drflcken.
Wainewright wurde zur Deportation nach Van
Diemensland verurteilt Für emen Mann seiner Kultur und
seines ftberfeinerten sozialen Geschmackes kam die Ver-
bannung in „die moralische Gruft'', wie er es nennt, dem
Todesurteil gleich. Was er zu tiefist empfand, war dennoch
nicht die moralische sondern die soziale Degradation. Auf
der Seereise klagte er darüber, daß er, der Genosse von
Dichtem und EftnsÜem, nun zum Umgange mit Bauem-
tSlpeln gezwungen seL>)
1844 suchte er um seine Enthaftung an mit der Be-
gründung, daß ihn Ideen quUten, die nach künstlerischer
Gestaltung und Verwirklichung drängten; daß ihm jeder Fort-
schritt im Wissen unmöglich gemacht sei und daß er selbst
jedes anständigen Gespräches entbehren müssa Das Gesuch
wurde abgeschlagen. Wainewright war in Van Diemensland
>) Life of Dickens 1, 229.
«) IWonrd U, 28.
Gcselüchte der enarliiehen Bomantik ü, 1. 18
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274 Der literazifldhe Bsaay.
derselbe geblieben, der er in Eoropa gewesen, dem Gifte,
der Kunst und dem Opium treu. Zwei miBglflckte Mord-
versuche sind aus der Zeit seines Exils bekannt geworden. 0
Er richtete sich in Hobart Town ein Atelier ein und
malte Porträts. Sein Benehmen, zumal gegen weibliche
Modelle, war roh und zynisch. So starb er, verachtet und
gemieden, in völliger Vereinsamung 1852. Sein einziger
Gefährte war sein Lieblingstier, eine Katze.
Wem erschiene dieser Lebenslauf nicht als vorbedeutend
für den Oscar Wildes? Wer sähe nicht die Übereinstimmungen
in Wainewrights Wesen mit dem Baudelaires und Gautiers?
Er repräsentiert eine geschlossene Persönlichkeit die, ob-
zwar ihr die Züge des unverbesserlichen Verbrechers auf«
gedrftckt sind, doch in dem unzertrennlichen Ineinander-
fließen von Kunst und Leben, Phantasie und Wirklichkeit,
in dem Drange nach schrankenlosem Ausleben tjrpisch vor-
bildlich ist fftr eine Hauptrichtung modemer Kunst- und
Weltanschauung. „Seine Essays bilden vor, was seitdem
verwirklicht worden ist^, sagt der dazu Berufenste, Wilde.
F&r die Literatur ist Wainewright interessant als einer
der frühsten jener Kunstmenschen, die ihr Gedicht nicht
schreiben, sondern leben wollen; die den Stil und die Linie
im Leben für ebenso wesentlich und unentbehrlich halten yne
im Kunstwerk, weil sie das Leben selbst fflr das erste und
wichtigste aller Kunstwerke halten, ftlr das sie demgemäß
auch den ganzen rücksichtslosen Egoismus des Künstlers
aufbringen. Dadurch entsteht bei ihnen dem Dasein gegen-
über eine Art VArt'pour-Vart-Stsxiipxmkt: Leben um des
Lebens willen. Sie berauschen sich an einer gefährlichen
Jenseits von Gut und Böse- Stimmung, in der nur die
>) HasUtt LXXIV.
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Der literarische Bssay. 275
laaterste Natnr vor dem Sechtsprach der Sittlichkeit
bestünde. Sie bekennen sich zn einem Fanatismas des
ästhetischen Geschmackes, dessen instinktive Empfindung,
znm obersten Eriterinm erhoben, bei ihnen die Stelle der
Moral vertritt, w&hrend beide gleichwohl nnr in erlesenen
Aasnahmenaturen zusammenfallen. Es scheint bedeutungs-
voll, daß die von Wainewright gemalten Portrftts sftmmtlich
einen verbrecherischen Zug aufweisen sollen. 0
Das Überwuchern eines spielerischen Triebes, der in
besonders gl&cklichen Fällen zu höchster künstlerischer
Freiheit f&hren kann, wirkt bei Wainewright nur abträglich.
Es berfihrt als eine Art von Schicksalsvergeltung, daß der
Mangel an sittlichem und folglich an kflnstlerischem Ernst
in den Schriften Wainewrights, des Überfeinerten, des Stil*
fanatikers, einen empfindlichen Stilmangel erzeugt, der sein
Werk vielfach bis zur Vulgarität erniedrigt. Stets hält dieser
Mangel die Entwicklung seiner Fähigkeiten bis zu ihren
letzten Möglichkeiten hintan. Sein Werk artet fast immer ins
Form- und Geschmacklose aus. Er ist bei all seiner litera-
rischen Hyperkultur nicht imstande, ein Ganzes zu schaffen.
Das Streben nach eleganter Nachlässigkeit, die Absicht,
absichtslos zu scheinen, kurz das gefiissentliche Zurschau-
>) Vgl. Forster IV, 102: Dickens sah im Februar 1847 ein kleines
Udehenportrftt in öl, ein Werk des Mörders Wainewright, der znr
Deportation yemrteilt war. Lady Blessington hatte es tags zuvor von
ihrem Bruder, Major Power, der eine militärische Stellang in Hobart
Town bekleidete, erhalten. Wainewright hatte es fertig gebracht, dem
Poztiftt des hübschen, guten Mädchens den Ausdruck seiner eigenen
Schlechtigkeit zu geben. Der Major, der damals von der Vorgeschichte
des Mannes nichts wufite, hatte ihm aus einer Art Barmherzigkeit mit
dem BUde Beschäftigung gegeben. Was Beynolds vom Porträtmalen
sagte, um den häufigen Mangel an Feinheit zu erklären: daß ein
Mensch nur in das Bild legen könne, was er in sich selbst habe, das
erhellt ans diesem Ereignis.
18*
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276 Der UtenriBche Essay.
tragen eines gewollten Dilettantisrnns, bei dem alles der
eigenen Laune oder dem Zufall ttberlassen bleibt, der seine
Genialit&t vielfach tiberschätzt und als Ziel den Triumph
der Exzentrizit&t^ der Paradoxie, der geistreichen Absurdit&t
verfolgt — all das gestaltet die Lektttre Walnewrights
fflr den modernen Leser des 5ftem peinlich.
Als Kunstkritiker des London Magasnne verkfindet
er vor allem, er habe mit dem Herausgeber einen Vertrag
geschlossen, so tief oder so oberflftchlich, so ernst oder so
komisch, so persönlich oder so unpersönlich, so allgemein
oder so detailliert sein zu dfirfen, als ihm beliebe. Solange
er kein Unheil anstifte, müsse man ihn in seiner launen-
haften, doch, wie er sich schmeichle, schneidigen, kavalier-
mftßigen Art fortgaloppieren lassen (Nr. n, Mftrz 1820).
Den weitaus größten Baum sdner Eunstbesprechungen
füllen die Einleitung und allerlei Abschweifungen vom Thema.
Um nur nicht in den Verdacht pedantischer Fachsimpelei zu
kommen, wird er oberflächlich und banal, obzwar so manches
seiner urteile beweist, daß es ihm keineswegs an Kunst-
verständnis fehlte. Gilt es die Besprechung eines eineinen
Werkes, so geht &ber dem Verlangen, vdtzig und amüsant
zu sein, die Kritik verloren. Ab und zu läuft der ganze
Artikel wohl gar auf eine buchhändlerische Beklame hinaus,
wie der &ber die Faustbilder von Betzsch {Sentmentalities
on (he Fine Arts by James Weathercock I, Februar 1820).
Nicht etwa, als ob Walnewright die Wfirde des Kritiker-
berufes nicht zum Bewußtsein käme. Er definiert Kritik
als die urwüchsige Darlegung des Eindruckes, den ein ge-
gebener Gegenstand auf ein geschmackvolles, von Ver-
irrungen und Vorurteilen gewissenhaft gereinigtes Gemflt
hervorbringe Dieses Ideal völlig zu erreichen, mache jedoch
der fortwährende und unvermeidlicheKontakt mit den Sinnen
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Der Uteraiisdie Essay. 277
unmöglich, welche die primären Ursachen alles Vorurteils
nnd Irrtums sind. Geschmack haben und sich ein urteil
bilden, dünkt ihm in Dingen der Poesie und Malerei gleich*
bedeutend. Denn, entspringt der Geschmack der Erfahrung
und dem ernsten Nachdenken — was Wainewright ftlr un-
vdderlegbar hält — worin unterscheidet er sich vom Urteil?
Echte Kritik verwirft jede mechanische Hilfe. Der
Kritiker mufi einen klaren Blick offenbaren, eine Fähigkeit,
die hohen Mysterien zu durchdringen, spricht er tlber
Form und Gestalt der Dinge, die sonst keiner — und mit
keiner Patentlampe — zu sehen vermag. Man fordert von
ihm den Beweis vorhergegangener Erwägungen über die
Natur seiner Kunst'
So ist Wainewright sich &ber die Tragweite dessen be-
wußt^ was der Kritiker vermag. Er kann den verschmähten
Genius vor dem Schicksal eines Kirke White und dem „jenes
leuchtenden Meteors John Keats^ bewahren. Tadel ist ihm
eine abscheuliche Angabe, ein doppelter Fluch — ffir den
Ausgefundenen und den Finder. Wo er ihn flben muß,
mSchte er nicht entmutigen, sondern den Künstler auf
sicherer Fährte zum Tempel des Buhmes geleiten. „Ob-
zwar ich als Bichter häufig verurteilen muß^, sagt er,
„blutet mir doch oft das Herz, während ich das Urteil
ausspreche. Der Httgel des Buhmes ist steil und sein Pfad
holperig. Wehe dem Elenden, der überflfissigerweise das
Kind des Genius belastete bei seinem mühsamen Aufstieg!''
Wainewrights kritischer Scharfblick wird zum Spürsinn,
wo es die Witterung von Talenten gilt^ die, von der Gegen-
wart nicht gekannt oder verkannt, der Zukunft angehören.
Und auch der Mut des selbständigen Urteils gebricht ihm
nicht, wenn er sich mit seinem Ausspruch gegen die
herrschende Strömung stellt. Obgleich er selbst von dieser
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278 Der litenmehe Esny.
SO weit getragen wird, daB er Fuseli „den Gott seiner An-
betung" nennt, hat er ein Auge für Blakes Genie und
bemüht sich in einem Aufsatze fiber Illustrationswerke auf
seine Art, f &r Jerusalem Interesse zu erregen. Ebenda be-
zeichnet er Turner als den einzigen lebenden Landschafter
von echtem Gtenie. (Mr. Weathercoel^s Private Corre^ondence.
Intended for the Public Eyej September 1820). Im ersten
Kapitel der Delicate Intricacies (Juli 1822) zitiert Waine-
wright zweimal The Sensitive Plant (Shelley war in
diesem Monat gestorben). In einer Anmerkung nennt er
The Sensitive Plant „ein Gedicht, Tom Wesen der Liebe
eingegeben, vom Hauch der Liebe gebildet, nicht von dem
Cnpido der ausschweifenden KOmer, sondern dem himm-
lischen Eros des Plato. Glaubt nicht, daS ich, weil ich
den hohen Verdiensten von Shelleys Poesie gerecht zu werden
trachte, seine visionäre und chaotische Philosophie (wie
sie fälschlich benannt wird) billige, obzwar ich auch in
diesem Punkte überzeugt bin, daß er gröblich verleumdet
worden ist"
Auf völlig präraffaelischem Standpunkt erscheint Waine-
wright, wenn er die altfranzösischen Dichter und Petrarca
zum Studium anempfiehlt, wobei er noch besonders die
Deutschen heranzieht (Letter from Janus Wealhercockj Mai
1822) und das Bedürfnis der Zeit dahin deutet, durch die Hand
des Genius vom Geschmack an den sogenannten niederen
Gattungen abgelenkt zu werden. „Wir brauchen mehr Macca-
roni und Champagner, weniger Boxerei und Bindfleisch.''
In einem Leitfaden für den Eunstsammler dringt er mit Be-
geisterung auf das Studium der Antike. „Ergib dich ihrem
Einfluß wie ein Kind seinen Eltern^, sagt er. „Laß sie dir
wieder Gottheit sein; streife jeden erbärmlichen Zweifel an
ihrer überirdischen Vollkommenheit ab; zittere davor, ihren
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Der Utenriache Essay. 279
himmlischen Glanz zu schmähen, auf daß da nicht in die
Hölle Egbert Hemskerks geworfen werdest, allwo nichts
ist denn das Oesichterschneiden plappernder Affen.^ {The
Academy of Taste for Groton GenÜemen, or The Infant
Connoüsewr^s Go-Cart Akademie des Geschmackes für er-
wachsene Herren oder des jungen Amateurs Gehschale,
London Magoisinej November 1822.)
Klare Einsicht bewahrt Wainewright vor SelbstUber-
hebnng. In Beasona agamst Writing an Account of (he
JExhibition (Gr&nde gegen die Abfassung eines Berichtes ftber
die Ausstellung) erkl&rt er, wer Ansprach auf strenge
Unparteilichkeit erhebe, sei ein Betrflger oder ein Be-
trogener.
Trotzdem ihm solcherart keineswegs der kritische
Ernst fehlt, ist er doch nichts weniger als gewillt, ihm
die fahrende Stimme zu aberlassen. Besessen von der Sucht,
amfisant — und zu diesem Zwecke frivol — zu erscheinen,
will er um jeden Preis dem Verdacht aus dem Wege gehen,
daß er etwas ernst nehmen könnte. So schlägt er bei allem
richtigen Gefühl für das Wesen der Kritik gerade diesem
doch häufig ins Gesicht. Sein Hauptstreben richtet sich
dahin, der pedantischen und platten Konvention der Zeitungs-
artikel durch leichte, elegante Anmut und ein apartes,
genialisches Gehaben die Spitze zu bieten. Er wagt es
nicht, dem Publikum seine Urteile unmittelbar als solche
za bieten. Sie werden als Beiwerk eines Geplauders fiber
dies und jenes eingeflochten oder unter mehr oder minder
novellistischen Einkleidungen verhüllt In diesen erhebt
Wainewright sich mitunter zu Milieuschilderungen, die
Stimmungskunstwerke sind und das TretQichste bilden,
was er überhaupt geleistet hat. Er nimmt hierin die
Kunst der besten Modernen vorweg. Man vergleiche
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280 Der Utenrische Essay.
z. B. die Einleitung zu Nr. 2 der Sentmentalities. Waine-
wright speifit bei George. Er hUt ein Gläschen Danziger
vor die Flamme der Wachskerze and beobachtet mit
Kennerblick die Zahl der GoldteUchen^ die, wie mit Leben
begabt, in der öligen, süßen Flflssigkeit schwimmen oder
bebend darin untersinken und yne Goldfische im Whangho
oder Gelben Flusse glftnzen. Da erinnert er sich seines
noch ungeschriebenen Beitrages für die nächste Nummer
des London Magaeine und begibt sich nach Hanse. Mit
umständlichem Behagen wird nun geschildert, vm er den
schneidig knapp in die Taille schließenden Bock gegen
einen baumwollenen Schlafrock mit rosenfarbenen Bändern
vertauscht, wie er die elegant vei^ldete französische Lampe
mit dem blumenbemalten Glassturz anzündet, die Nummer
neun des Portfolio hervorzieht und sich bequem auf dem
griechischen Buhebett niederläßt. Er streichelt die schild-
krötenf arbene Lieblingskatze in ein melodisches Schnurren
und, nachdem seine Muse — oder seine Magd — ein gut-
mütiges Mädchen von venezianischen Formen, eine Original-
flasche so köstlichea Montepuldanos auf den Tisch gestellt,
wie sie nur je aus dem schönen Italien herübergereist, und
leise aber fest die mit vergoldetem Lederbesatz luftdicht
gesicherte Tür geschlossen, gönnt er sich zunächst im
großen Eaminspiegel an der gegenüberliegenden Wand die
Betrachtung seiner eleganten Erscheinung — reglos. Nur
daß seine Linke instinktiv ein geschliffenes Glas mit dem
vor ihm st^ehenden Weine füllt, während die Rechte auf
dem Kopf der Katze ruht „Es war ein Anblick, der all
unsere Galle in Blut verwandelte! Stelle dir, behaglicher
Leser, vor: Imprimis, ein gut geformtes Zimmer. Item
einen lustigen mit Blumenguirlanden bedeckten Brüsseler
Teppich. Item einen schönen Originalabguß der Venus
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Der literarische Essay. 281
von Medid. Item einige erlesene Bncher in noch er-
lesenerem französischen Maroqoineinband mit moiräe-
seidenem Futter. Item noch einige Bände, mit Ein-
binden versehen durch die Kunst Boger Paynes und
„unseres Charles Lems!*^ Item ein Klavier von
Tomkisson. Item ein Damaszeners&beL Item eine Katze.
Item ein großer Neufundlftnder, gut Freund mit der Katze.
Item einige Treibhauspflanzen auf einer weißen Marmor-
platte. Item ein köstliches, schmelzendes Liebesbild von
Fnseli — und schließlich — zuletzt, doch nicht der letzte
in unserer zärtlichen Liebe: wir, ich selbst, Janus! Alles
und jedes in dem Correggio-Lichte gesehen, welches das
gemalte Glas der Lampe gewissermaßen ausatmetül
Beruhigt durch die freundliche Art der Selbst-
befriedigung, die so notwendig ist zur Verkörperung jener
entzftckend flppigen, von schmachtender Sehnsucht parfü-
mierten Ideen, welche gelegentlich wie duftige Wolken
Aber dem Hirn des Kaltblfitigsten wogen, strecken wir
die Hand aus nach der am Stuhle neben dem Sofa lehnenden
Mappe und greifen auf gut Glück Lancrets reizende
ItdUemsche Nacht heraus."
Hier geht Wainewright nun zu einer in den nämlichen
Farben gehaltenen Schilderung dieses Gemäldes oder richtiger
zu einer Wiedei*gabe seines Stimmungsgehaltes über. Die
ganze Einleitung hat nichts anderes bezweckt, als die
Empfänglichkeit^ des Lesers durch eine Vorbereitung seiner
Stimmung zu wecken. Nach der in gleich farbensatter,
breiter Ausführlichkeit gehaltenen Inhaltsangabe des Bildes
ist das Öl der Lampe beinahe und der Wein in der Flasche
völlig versiegt Für eine kritische Analyse der künst-
lerischen Qualitäten des Werkes bleibt kein Baum mehr.
Mancher Leser mag es dem Verfasser Dank wissen, daß er an
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282 Der literarisdie Esny.
ihrerStatt mit feinsinnigemVerst&ndnis dasMilien geschildert,
in dem sich das Kunstwerk wie eine Bl&te aaf dem für sie
geeignetsten Boden zum g&nstigsten Eindruck entfaltet
Im dritten StUck der Sentimentalities (April 1820)
handelt es sich um eine Ventts in lieblicher Landschaft
des Bolognesen BonasonL Die Einleitung will die richtige
Naturstimmung im Leser wecken durch die anmutige
Schilderung des Frählings. Wainwright — dies ist einer
seiner beliebtesten Auf &nge — ist wie gewöhnlich in Ver-
legenheit um ein Thema. Da lockt ihn der Buf eines
Botkehlchens aus der Bibliothek in den Garten. Die Sonne
scheint Die knisternden Stechpalmen glitzern warm und
glänzen in der lachenden Strahlenflut wie eine Beihe von
Kürassieren im polierten Brusthamisch. Der Krokus hat
soeben . das pommeranzengelbe Haupt aus seiner engen,
grünen Schale ins Licht hervorgestreckt Das Schnee-
glöckchen neigt züchtig sein elegantes Frauenköpfchen;
die Tazette glüht wie ein vereinzeltes Bild Giorgiones auf
dem dunklen EichengetSiel einer alten, düsteren gotischen
Galerie, w&hrend die zarten Fliederbüsche sanft ihre bieg-
samen Schößlinge ausbreiten. Bei einem l&ndlichen Fiüh-
stück, das den behaglichen Eindruck des Idylls vollendet^
äußert ein Freund zufällig den Namen Bonasoni und —
Wainewright hat sein gesuchtes Thema.
Will er dann von Bonasonis „keuscher Göttin der
Schamhaftigkeit^ zu Bembrandts Kreuaigung übergehen, so
muß ein plötzlich aufsteigendes Gewitter die lächelnde
Landschaft zu Mittag in düstere Nacht tauchen und durch
den Szeneriewechsel den Freund an Bembrandts Bild er-
innern, worauf nun auch dieses nicht nur genau beschrieben,
sondern der biblische Vorgang, den es darstellt, gleichfalls
erzählt wird.
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Der Uteraiuche Essay. 283
In Nr. 1 von C. van Vinkbooms hia Dogmas far Düeitanti
(September 1821) fallen in einer allerliebsten Schilderung des
über dem Dorfe anf einem Hfigel gelegenen Eirchbofs auch
Seitenblicke auf den Ort, den Gasthof, das Beiseleben.
Die Unterredung mit dem Lobnbedienten und mit dem
Hunde Blücher belebt in anmutig ungezwungener Weise
die Landschaft. Auf dem Kirchhof hingestreckt, schreibt
der Verfasser endlich seinen Artikel, der im Vergleich zur
einleitenden Milieuschilderung nebensächlich erscheint
Erz&hlertalent, auf das diese Gabe der Situations-
malerei allenfalls deuten würde, scheint gleichwohl bei
Wainewright nicht vorhanden oder nicht entwickelt. Eine
Plauderei am Gasthaustisch (Janus' Junible. Mischmasch
von Janus, Juni 1820) ist, wie schon der Titel bekundet,
von geschmackloser Nichtigkeit und Langeweile.
The Delicate Intricacies (Heikle Verwicklungen), Juli
1822, anscheinend drei Kapitel eines Bomans, laufen schließ-
lich auf eine gegen Scott gerichtete Satire hinaus, stellen
aber zugleich Wainewrights Milieu- und Stimmungskunst
im glänzendsten Lichte dar. Der Inhalt der drei Kapitel
besteht darin, daß eine junge Dame sich nachts ruhelos
von ihrem Lager erhebt, auf den Balkon ihres pr&chtigen
Schlafgemaches tritt und sich wieder in dieses zurückbegibt.
Eine schwüle Liebesstimmung wird in raffinierter Vortreff-
lichkeit zum Ausdruck gebracht „Sie blickte auf Giocondas
ai^listige Augen, ohne zu wissen weshalb. Das Lampen-
licht mischte sich wunderbar mit dem Lichte der Dämmeiomg.
Die Augen sahen sie ganz schmerzlich an und die Mund-
winkel kr&uselten sich leicht aufw&rts. Es schien Nina,
als hauchte die gewölbte Decke das Gewicht eines Nacht-
albs, und dieser Atem schien in mitfühlendem Herzklopfen
herabzuwogen! Alle Erinnerungen an ihr früheres kOrper-
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284 Der Uterariiche Esny.
lichesSein waren ansgelSscht und die gegenw&rtige mystische
Lage verschlang all ihre Fähigkeiten. Die Farben des
Bildnisses erblfihten in frischer Lebendigkeit nnd ein
prächtiger Regenbogen verhfillte für einen Angenblick die
Züge. W&re es möglich, daß die gemalten Lippen mit
der Kraft begabt sind, Ähnliche Phantome zn erwecken?
Denn sieh! sie bewegen sicL Die Augen schließen sich
mehr nnd mehr und schielen verliebt nach einem M&nner-
kopfe über ihren Schultern! Wann und wie er dahin
gekommen, war Nina nicht bewußt, obwohl sie die
Augen auf das Bild geheftet hielt Die Erscheinung
war die eines Mannes von etwa dreißig Jahren. Sein
Haar, schwarz und über der Stirn gescheitelt, war lang,
dicht und gelockt Eine große weiße Hand, mit könig-
lichen Bingen geschmückt, umfing G^iocondas Hüfte, die
andere wies auf das schöne menschliche Wesen vor ihr. Das
Antlitz war das Ideal alles Geistigen, das in Ninas tiefeter
Sehnsucht geruht, ein Antlitz, nicht aus Zügen, sondern
ganz aus Seele, nnd doch waren es edle, liebeeinflOßende
Züge. Harfentöne erklangen tief wie aus fernen Grotten
— die W&nde bewegten sich rings um sie in langen,
gleitenden Bogenlinien. Ihre Glieder schienen in einer
glasglatten Wiege von grünen wogenden Wellen zu
schwimmen — ihre müden Augenlider schloß ein heiliger
Friede und sie sah —
„Was um des Himmels willen?''
„Das, Fr&ulein, werden Sie nie erfahren.''
So reißt das zarte Gewebe der Traumstimmung j&h
ab. Die ausführliche Charakteristik ist nichts als eine
Parodie auf Scotts Mr. Francis Tunstall {The Fortunes
of Nigeü), der vom Dichter mit aller ümstftndlichkeit
eingeführt und in den schmeichelhaftesten Farben gemalt^
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Der literazisehe Basay. 285
plötzlich ohne ersichtlichen Grand in den Schatten gedrängt
wird. Der Bedaktenr wirft Weathercock hinaus und streicht
seinen Namen von der Liste der Mitarbeiter. Das ist das
Ende.
Vergeblich trachtet Wainewright mit derlei dfirftigen
Spftfien den Mangel echten Eompositionstalentes zu be-
mänteln. Seine Erfindungsgabe ist in der Tat gleich Null.
Es ist^ als hätte er all seine Phantasie in dem Romane seines
äufleren, yielbewegten Lebens erschöpft Spielereien^ wie
Mystifikationen des Lesers über des Verfassers eigene Person,
mfissen als Stoff für Aufsätze herhalten. Weathercock
macht sich Aber den anmaßenden Vinkbooms lustig — der
Kerl mit dem tabakduftenden batayischen Namen — Wanhin,
Wffnken, SUnhing BroamSj wie Elia ihn genannt haben
soll. Wer ist er? Der als literarischer Dilettant sich
hervortuende Portier Lord Straffords, wie man fifistert?
(Letter fram James Weathercock, Esq). Ein andermal
wfinscht er, Mynher van Stinking Brooms möge seine
heringbeschmierten Pfoten von Mulreadjrs Canvalescent
(einem ihm teuren Bilde) fernhalten. „Ich hasse diesen
Kerl ganz besonders. Räuchern Sie ihn aus der ganzen
Sache hinaus (Beasans against WriUng an Account of the
ExkUntion). Dann wieder läßt er van Vinkbooms im
Horsemongergefängnis liegen, zum Tode verurteilt wegen,
eines aus Eunstliebe begangenen Bilderdiebstahls. Oder
er sagt ihn tot — wie Lamb seinen Elia — um dann mit
der freudigen Nachricht flberraschen zu können, daß er
noch lebe (Letter, Mal 1822).
Von äußerst ungleicher Qualität erscheint Wainewrights
StiL Mitunter voll dramatischer Lebendigkeit (The British
InsHtuiion)j nicht ohne Schwung und Pathos, verirrt er
sieh doch allzu häufig ins entschieden Geschmacklose.
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286 Der UtenriBcbe EBny.
Lange Perioden and Satzgefüge mit verwickelten Zwischen-
gliedem, gegen welche die Jean Panischen Ton klassischer
Einfachheit sind; Metaphern, die einander jagen nnd
dem echtesten Enphnismns nichts nachgeben — knrz, eine
offenkundige Frende am Abstmsen, Schwülstigen, Dunklen
— all das bedeutet ein Überwuchern des Minderwertigen
ttber Wainewrights originelle Yorzftge. Der endgiltige
Eindruck des Lesers ist die Vermutung, daß Wainewrights
Talent nicht stark genug sei, die Perversitftt seiner Natur
zu überwinden und sich dienstbar zu machen.
In seiner unmäßigen Selbstbespiegelung analysiert er
sich und seine mit treffendem Witz gewählten Decknamen
Egomet Bonmot folgendermaßen: „Er ist der sonderbarste
Mischmasch, der tollste Eerl. Bei ihm kommt alles an-
fallsweise. Nichts dauert lange. Er wechselt, nicht mit
den Phasen des Mondes, sondern mit den Minuten auf dem
Zifferblatte der Uhr. Im Laufe einer Stunde war er
Kritiker, Fiedler, Dichter, Possenreißer. Es kann nicht
lange mit ihm dauern. Die jähen Wandlungen müssen
ihn aufreiben. . . . Und doch bekundet er etwas Unwandel-
bares in der immer vollkommen identischen Enthüllung
einer idiosynkratischen Selbstsucht, die sich durch all seine
Mannigfaltigkeit zieht und sie mächtig beeinflußt. Caenat,
prqpinat, poscit, negat, annuit^ unus est Bonmot — si non
Sit Bonmot, mutus erit^ {Mtu^ Ado about Nothing. Viel
Lärm um nichts. London Mdgoume, Juni 1820).
Die Witzelei, das honmot^ ist tatsächlich Wunewrights
Hauptziel, das er nie aus dem Auge yerliert Wenn er
es vermochte, so spräche er am liebsten k^ anderes Wort
als ein Witzwort. Der moderne Geschmack fühlt sich von
dieser Eigenheit, mit der Wainewright um die Gunst
seiner Leser buhlt, abgestoßen. In einem Aufsatze Über
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Der Utewiidie Essaj. 287
die Kunst des Witeemachens bezeichnet er als Hauptzweck
die Darlegung der bew&hrtesten Methode der edlen Wissen-
schaft der Beklame. Keklame, ein Inszenesetzen der
eigenen Person auf jede mögliche Art, ist gewissermaßen
sein Lebenszweck.
1823 hört Wainewrights Spur in den Londoner Zeit-
schriften anf. Das Leben scheint ihn von da ab völlig in
Anspruch genommen zu haben. Drei größere Werke, die er
erwähnt, sind nicht auf uns gekommen. Vielleicht haben
sie überhaupt nie anders existiert als jene Fortsetzung eines
Artikels, von der er sagt: „Obzwar auf dem Papier nicht
einmal angedeutet, ist sie doch geschrieben im Buch und
Bande meines Hirns und war daselbst mit Zweck und
Absicht von aller Ewigkeit her^ {Beasons against writing
an Account of the Exhibition).
Die Titel der drei nicht existierenden Werke sind
nicht uncharakteristisch: Ä phüosophical Theory of Design,
OS concemed unth LofUer Emotions, showing its Deep ÄcHon
on Soctetyy drawn from the Phidian, Oreek, and Early
Fhrentine Schools (ihe Besult of seventeen Years' Study).
lUustrated wüh Numerous Flates, exeeuted tcith Conscientious
Aecuracy. In one Volume. AÜas Folio (Philosophische
Theorie des Zeichnens, in bezug auf die höheren Emp-
findungen. Eine Darlegung des tiefen Einflusses dieser
Kunst auf die Gesellschaft Der phidiasischen, griechischen
und altflorentinischen Schule entnommen [das Ergebnis
siebzehnjähriger Studien]. Mit zahlreichen gewissenhaft
ausgefOhrten Blustrationen. In einem Bande. Atlasformat).
Der Titel des zweiten Werkes lautet: An Aesihetic
and Psychological Treatise on ihe Beautiful, or the Ana-
logies of Imagination and Fancy, as exerted in Poesy,
wheiher Verse, Painting, Sculpture, Music, or Architecture\
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288 Der Uterarisöhe Essay.
to form Four Volumes Folio wüh a Profusion of En-
gravings hy the Best Ärfists of PariSy Municky Berliny
Dresden, Wien (Ästhetische und psychologische Abhandlung
fiber das Schöne oder Die Übereinstimmung zwischen
Phantasie und Erfindung, wie sie sich in der Poesie äußert,
gleichviel ob in Versen, Malerei, Skulptur, Musik oder
Architektur. In vier Foliobftnden mit einer Ffille von
Bildern der besten Eflnstler in Paris, Mfinchen, Berlin^
Dresden, Wien).
Das dritte Werk ist An Art Novel in fhree Vohmes
Eine Eunstnovelle in drei Bftnden).0 Waren etwa mit der
letzteren die drei Kapitel der Delicate InMcacies gemeint?
In einem Au&atze erwähnt Wainewright ein Manuskript
Bonmots Ä Century ofGood Things, or Thoughts of Egomet
Bonmot, Esq. (Ein Jahrhundert guter Dinge oder Gedanken
von Egomet Bonmot). Es besteht aus einer Liste von
Titelblättern.
Die beste und kfinstlerisch zuhöchststehende unter
Wainewrights Schriften ist Some Passages in ihe Life of
Egomet Bonmot^ edited hy Mr. Mwaughmaim, and now first
published hy M. E. (Etliche Ereignisse aus dem Leben
Egomet Bonmots, herausgegeben und zuerst veröffentlicht
von M. L R, 1825).
Die Pseudonyme Egomet und M. E., sowie der von
Dobell f&r eine phonetische Umschreibung von Moi-mime
erklärte Name des Herausgebers^) kennzeichnen im Verein
mit dem Vergilschen Motto Me, me, adsum qui feci — in
me convertite — Wainewrights bewußten absoluten Ich-
standpunkt Er hfillt sich in den Deckmantel des Heraus-
0 Hariitt, XXXIV.
«) Siddights, 228.
Digitized by VjOOQIC
Per Utararisehe BMajr. 289
geberSy fiberträgt sein Werk wie seine Persönlichkeit auf
einen angeblich Mh verstorbenen Jfingling, nm sich unter
dieser Maske unbehindert loben und sein Verdienst ins
rechte licht stellen zu können. Er kann sich nun ohne
weiteres liebenswürdig nennen, voll Hnmor, Empfindung und
Klugheit, von origineller Denkart, und Begabung für die
Dichtkunst^ und darf dennoch hinzufOgen, dafi er nicht eitler
als andere sei Hat das Leben Abel auf Egomet Bonmots
Charakter abgef&rbt, so ist es nicht seine Schuld. Ei* hat
zu Anfang seiner Bahn in London literarische Ent-
t&uschungen erlebt Erst als er es machte wie jene, die
von Selbstlob strotzen, als er prahlerisch, geräuschvoll wurde
wie sie und sich selbst Kritiken schrieb, hatte er gleich
ihn^i Erfolg. Nach Jahren des Kampfes kam endlich der
Ruhm. Aber er fiel auf zerbrochene und abgestumpfte
Gefühle. „Wenn ein Mann die Dreißig erreicht hat, liegt
eine Menge Bitternis hinter ihm und rings um ihn und
die Gefilde seliger Hoffnung sind zu einer kleinen Spanne
vor ihm eingeschrumpft Sein Erfolg ist gewissermaßen ein
bitter-süßer.««
Egomets Leben neigt sich nunmehr dem Ende. Wie er
durchweg ein ununterbrochenes Beispiel des xaX6v geboten,
so ist „in Schönheit sterben«« seine letzte und ausschließliche
Sorge. Er verfaßt seine Grabschrift und atmet erleichtert
auf: „Nun bin ich unsterblichl«« Den versammelten
Freunden tdlt der Sterbende dann seine in Strophen von
je vier Reimpaaren abgefaßten Confeamns mit
Die Welt hat ihn zum Egoisten gemacht^ indem sie
ihn durch Vernachlässigung zwang, seinen Mittel- und
Stutzpunkt in sich selbst zu suchen. Seine Schiffbräche in
der Liebe, in der Dichtung und auf der Bühne werden mit
Byronschem Galgenhumor erzählt in einer Art Gesellschafts-
0Mehiehte der enfirUsoheii Bomantik ü, 1. 19
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290 Dar UtmriMlie SiMy.
yers, der, Ton aufdringlicher Qeistreichigkeit so frei wie
Yon jeder Sentimentalitftt, Überquillt von der spontanen
nnd sprunghaften Lebhaftigkeit des Nenrenmenschen. Ori-
ginelly doch einfach nnd yon farbenfrischer Schilderong,
darf auch er den Vergleich mit Byron herausfordern.
Egomets Neignng, sein Innerstes bloßzulegen, charakterisiert
ein Freund mit den Worten , solche Schriftsteller glichen
Menschen, die enthflllen wollten, was die Natur weise dem
Blicke verbirgt. Egomet stirbt in der Überzeugung, „ein
Ruhm wie der seine mfisse ewig wfthren!^ Mit seinem un-
umschränkten Ichkultus, seinem gesteigerten Empfindungs-
leben, seinem SchSnheitsstreben und seinem SelbstgefOhl
erscheint der heut Verschollene als Urbild des modernen
Sensualisten.
Eine geistreiche Ironie, die an G. B. Shaws Fähigkeit
erinnert, eine scharfe Kritik in ein Witzwort zusammen-
zufassen, bekundet Wainewright in seiner trefflichen
Parodie auf die Schablone der Opemlibretti The Essence
öf Opera (London Magazine, Februar 1826). Sie ist —
hier wiederum ein Berflhrungspunkt mit Wilde — in gutem
Französisch geschrieben.
Die Teilung seiner Produktionsf fthigkeit ^wischen Poesie
und Malerei, die Wainewright mit Blake gemein hat, wurde
Ton ihm kaum als solche empfunden. Er glaubte an die
Totalit&t der Künste. Unsere Kritiker, sagte er, schienen sich
kaum bewußt, dafi die Urkeime der Poesie und der Malerei
innigst miteinander verwandt oder, richtiger, identisch seien.
Ebensowenig schienen sie zu wissen, daß Jeder wahre Fort-
schritt im ernsten Studium einer Kunst eine entsprechende
Vervollkommnung in der and^n erzeuge. „Spricht ein Mensch,
der Michel Angelo nicht begreift, von seiner Neigung fftr
Milton, so verlaß dich darauf daß er eine oder zwei Personen
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Der ütarBriMshe Eaay. 291
betrt^ — dich oder sich selbst Und desgleichen nmgekehrt.
Betrat man Elias Stnbe, so konnte man nach seiner Wahl
eingerahmter Dracke — Leonardos und Jogend-Baf aele — »
im Angenhlick anf seine Auswahl Ton Autoren schwören,
und es ist nnmöglich, Barry Comwall zu lesen, ohne die Über^
Zeugung zu gewinnen, daß seine Herzenslieblinge Correggio,
Parmegianino, Giulio aus Bologna seien (was sie auch sind
— und einige auserlesene Leckerbissen hat er nebstbei — \
während Michel Angelo, Leonardo, Bembrandt nur als Folie in
Betracht kommen und Bubens ganz verworfen wird.^ Unter
diesem Gesichtspunkt ist Wildes Bemerkung interessant, daß
eine Bötelzeichung Wainewrights Ton Hden Abercrombie
ihn stark von Sir Thomas Lawrence beeinflußt zeige.^) Das
tragische Verhängnis des Efinstlers Wainewright kam ihm
wie gewöhnlich von der Seite, wo er sich für gefeit und
unantastbar hielt In Janut^ Jutnble (ÜI) sagte er: „Dies
ist das Zeitalter der Vulgarität Das Ding, das man einen
eleganten Gentleman nannte, besitzen wir heutzutage nicht
Wir bringen ihn nicht einmal auf der Bühne zustande.
Eemble war der letzte. Elliston hat in seiner Leichtigkeit
ein geckenhaftes Selbstbewußtsein, das ihn steif macht Von
sämmtlichen Schauspielern, die wir jetzt haben, kommt
Charles Eemble dem beau ideal eines Gentleman am
nächsten.'' In Wahrheit hatte Wainewright es sich selbst zur
Lebensau^abe und zum Lebensinhalte gemacht, dieses beau
ideal zu yerwirklichen. Er glaubte, es sei ihm mit dem
weichlichen Luxus und der Tapeziererpracht seines Gemaches
gelungen, bei denen er immer wieder mit Genugtuung yer^
w^te, in dem er sich, „groß wie Sardanapal, wie eine
Vereinigung aller Sultane der Welt'' vorkam (JExkibition of
Oie Bayal Academy^ Juli 1821). Tatsächlich aber war das,
') S. 89.
19*
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292 Der liteniisehe Essay.
was ihn als höchste Verf einerang: anmutete, nnr ein Pranken
mit äußeren Mitteln, deren verfeinernder Einfluß nicht tief
genug ging, um die ethische Minderwertigkeit, die den
Bodensatz seines Wesens bildete, zu beeinflussen. So blieb
der innerste Grund seiner Persönlichkeit, das was schließlich
immer den Ausschlag gibt, von der großen Verfeinerung
unberflhrt. Während Wilde eine echte Efinstlematur ist,
stellt Wainewright nur die Ansätze zu einer solchen dar.
Der ästhetische Geschmack, der bei Wilde den Kern der
Individualität ausmacht, bleibt bei Wainewright an der
Oberfläche seines Wesens. Wilde ist das geworden, was
Wainewright sein wollte.
Wie wichtig er trotz alledem als individueller Typus
für die Literatur ist^ geht schon aus der Bedeutung hervor,
die ihm einzelne ihrer wichtigsten Vertreter beigemessen.
Dickens und Bulwer haben ihn zu Somanhelden ge-
macht, ohne daß ihre Phantasie im entferntesten dem Soman
nahegekommen wäre, den Wainewright gelebt hat Neben
diesen beiden anerkannten Poeten erscheint er als der un-
endlich begabtere Wirklichkeitsdichter. Slinkton, Dickens^
„Wainewright^, der Held der kurzen (ffir ein Honorar von
£ 1000 dem New YorTc Herald 1860 geschriebenen) Er-
zählung Hunied Bown^ ist ein Heuchler und Giftmischer
viel gewöhnlicherer Art als das Original, mit dem nur
eine annähernde äußerliche Ähnlichkeit festgehalten ist
Desgleichen ist das Zutodehetzen Slinktons durch einen
ohne alle reale Wahrscheinlichkeit durchgefDhrten Bache-
akt des Liebhabers der gemordeten Nichte nur ein ab-
gebrauchtes Bomanmotiv, das an Originalität^ Laune und
spannendem Interesse Wainewrights wirklichen Erlebnissen
durchaus nachsteht In noch viel höherem Maße gilt
dies von Bulwers Boman LucretiUy or The Chüdren of
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Der litentriBche Sssaj;
ihe Night. Hier wird aus Wainewright der junge Maler
Honor6 Gabriel Vamey, ein mit allen Eoboldgaben aus-
gestatteter Giftnüscher, der in Gemeinschaft mit einer
dämonenhaft reizvollen, ebenso kalt-energischen als glut-
voll-haßerfüllten, ohne menschliche Begung des Gewissens
ihre egoistischen Pläne verfo^enden Stiefmutter, Lucretia^
handelt Beide sind, wie die ttbngen Figuren der breit-
ausgesponnenen, mit den ablieben Eolportageromaneffekten
gewürzten Liebesgeschichte typische Bomanschablonen
ohne Bealität und ohne psychologisches Interesse.
Wichtiger ist die Spur, die Wainewright nicht als Held
Ton Dichtungen, sondern von Dichtem zieht Swinbume
widmet ihm in seinem Essay ttber William Blake (1868)
eine Erinnerung, die, auf wenige Seiten zusammengedrängt^
gleichwohl den Eindruck wiedergibt, der einer Bedeutung
ffirs Leben gleichkommt Er erblickt in Wainewright den
letzten englischen Eunstkritiker bis auf die neueste Zeit,
denn unter guter Eritik versteht er eben jene impressio-
nistische, auf den Gesamteindruck losgehende Betrachtungs-
weise des alten geistreichen Janus. Er findet ihn in gleichem
Grade bewundernswert als Maler und Schrif tsteUer wie als
Mörder. Seine Freude am Vorzflglichen, sein außerordent-
liches Streben nach guter Arbeit könne nicht genug an-
erkannt werden. Seine Hand sei, gleichviel ob mit der Feder,
mit der Palette oder mit dem Gifte, niemals die eines bloßen
Handwerkers gewesen. Zwar habe er ein falsches Ziel
verfolgt — als Schriftsteller den Effekt, als Mörder nicht
den Genuß, sondern das Geld — aber seine Leistungen seien
vorzuglich. In dieser volltönenden Anerkennung macht sich
die Befriedigung Luft, die eigene prinzipielle Überzeugung,
die immer noch vereinzelt ist^ in weit zurackliegender Zeit
mit einer talentvollen Persönlichkeit belegen zu können.
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294 Der litenmcbe Bssay.
Diese Überzeugung ist der Ir'orf-jpcmr-rar^ Standpunkt, der
sich, wie alles Neue, wie alles, was sich noch durchzusetzen
hat, nur in Übertreibungen genug tut und die lange Bot-
mäßigkeit der Kunst unter einer nfichtem didaktischen
Moral dieser nun durch offenkundige Geringschätzung yer-
gelten zu müssen glaubt So spricht Swinbume hier ron
„der sonderbaren Kollision", in die Wainewright mit den
sozialen Geseteen geraten sei und die sein Leben zerbrochen
habe. Er hofft, der Tag sei nicht ferne, an dem eine
philosophische Nachwelt in der Erkenntnis, dafi die Kunst-
ernte wenige ihres Lohnes würdige Schnitter aufweise,
und daß das Erhabene außergewöhnlich sein müsse, auf die
Liste derer, die sich um die Menschheit verdient gemacht,
mit geziemenden Ehren auch den Namen Wainewrights
schreiben werde.
Oscar Wildes Interesse für Wainewright scheint sich,
wie schon der Titel seines Essays über ihn, Pen, Pendle
and Poison (Pinsel, Griffel und Gift), besagt, an Swinbumes
Enthusiasmus entzündet zu haben. Die prinzipielle Über-
einstimmung wird bei ihm zur Wesensverwandtschaft Be-
dauerte Swinbume noch an Wainewright einen gewissen,
der Entfaltung seiner Talente abträglichen Mangel an
solider Tüchtigkeit in seinen Bestrebungen, so deckt
sich bei Wilde auch das Zuh&chststellen des kavaliemtäßig
nachlässigen Dilettantismus in der Kunst mit Wainewrights
Eigenart Denn Kunst als Beruf ausgeübt, ist im strengsten
Sinne schon nicht mehr Kunst um der Kunst willen. Das
Leben selbst zur Kunst erheben und für beide den Grund-
satz aufstellen, daß jede Einzelerscheinung nur unter ein
aus ihr selbst abgeleitetes Gesetz falle und kaner andern
Instanz unterstehe — dieses Ideal findet Wilde in Waine-
wright vorgebildet Und so macht sich die tiei^[rdfende
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Der litenriflche Euay. 295
Übereinstimmang auch in dem tragischen Ende beider
geltend. Wilde mag in Reading Jail Wainewrights gedacht
haben. Aber Wainewright hat kein De Profundis geschrieben.
Darin li^ ein bedentongsvoUer Unterschied zwischen
beiden.
Werke w^n Wainewright.
1825 Same Passages in the Life of Egamct Bonmot, edited hy
Mr. Mwaughmahn, and naw first pubUshed, hy ILE,
1880 Essays and OriHcisms. New fint coUeeted. WUh Some
Aeeomi of the Äuihor, ly Wittum Oareio HaeUtL
Werke über Wainewriglit.
1848 Thomas Noon Talford, Fmäl Memorials of Charles Lamb,
vol. II, part 2.
1860 Thomas De Qnincey, Charles Lamih.
1866 Notes and Queries.
1868 Ch. A. Swinburne. WilUam Blake.
1891 Oscar Wilde, Pen, Pencil, and Poison.
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Christopher North.
1785—1854.
Lebensabriß.
John Wilson — so hieß er im bürgerlichen Leben —
wurde am 18. Mai 1785 in dem Fabrikstädtchen Paisley
bei Glasgow geboren. Er schildert in Our Parish Becreations
das Heim seiner IQiabenjahre in Schönheit gebettet^ mitten
zwischen Mooren und Bergen , die die StadÜente düster
nennen, „von denen wir jedoch wissen, daß es der heiterste,
freundlichste Sprengel Schottlands ist, da es ja in seinem
Herzen liegt." Sein Vater war ein wohlhabender Qaze-
fabrikant, seine Mutter, die ihre Abstammung auf den
Marquis of Montrose zurftckfiihrte, eine stattliche Dame,
„gebieterisch und willenskräftig." i) Unter zehn Geschwistern
verlebte der schöne, blondgelockte, kräftige und frfihreife
Enabe eine glückliche Kindheit Seinem offenen Sinn für
alles Große und Schöne wurde reichliche Nahrung geboten.
Wenige Lebensgeschichten bieten ein so strahlendes,
hoffnungsvolles Kindheitsbild wie die Wilsons. Nach der
Grammar School von Paisley bezog er 1797 die Universität
Glasgow, für die er später die Anhänglichkeit eines Sohnes
zu haben beteuerte. 1803 kam er, ein flotter Student, nach
Oxford, wo er, eine kraftvolle, sechs Fuß hohe Er-
scheinung, das Ideal eines urwüchsigen Germanen, sich als
>) Bichard Gamett, Dietionary of NaUondl Biograpky,
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Der literarische Essay. 297
Schfiler wie als Athlet in gleichem Mafie hervortat 1806
gewann er mit dem Gedichte The Study of Greek und
Boman Architecture (Das Studium der griechischen und
römischen Architektnr) den Newdigate Preis. 1807 ließ
er sich, dnrch und durch erfüllt Ton schwärmerischer
Begeisterung für die Lieblichkeit des Seenbezirkes in
Cumberland und seine erlesenen Bewohner, im Gtebiete des
Windermere nieder, der dem Briten als Inbegriff aller
landschaftlichen Beize Ton der freundlichen Anmut bis
zur strengen Erhabenheit gilt und als die Heimst&tte
Coleridges, Wordsworths und Southeys zugleich ein Zentrum
der Poesie, eine Art englischen Weimars, bildet.
Wilson besaß eine enthusiastische Fähigkeit des
Bewundems. Jeder angenehme Eindruck steigerte sich
ihm unter der Feder ins Überschwängliche. Wohl
durfte er von sich sagen, die Natur hätte ihm nicht die
erheiternde und belebende Gabe vorenthalten, sich für die
Schöpfungen des Genius begeistern zu können, und hätte
seiner Jugend in der Pracht und Hen*lichkeit einer Million
von Träumen ein Obdach bereitet wie unter einem
prächtigen Baldachin (Old North and Young North. Der
alte und der junge NortL)
So feiert er die Landschaft und ihre Dichter. Ein
Maimorgen an den Ufern des Ulswater bedeutet ihm die
Vereinigung von Himmel und Erde. Nichts ist unbelebt
Selbst die Wolken und ihre Schatten scheinen lebendig.
Die Bäume — - niemals tot — sind von ihrem Schlafe er-
wacht Blumenfamilien füllen alle tauigen Plätze. Alte
Mauern glänzen von leuchtenden Moosen und birkengekrönte
Felsen eben an den Bergspalten senden dem See ihren
feinen Duft durch jeden stärkeren Lufthauch, der das Blau
seiner Buchten mit kleinen weißen Wellen kräuselt Auch
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bldbt die Stimme des Mmschen nicht stumm. Der Sehiler
ruft auf dem Hfigel seine Herde, der Ackersmann sein Oespann
zwischen den Forchen eines kleinen v^*spfttet reifend^ dem
Walde abgewonnenen Feldes. Da vernimmst widerhaUendes
Gelichter von Kindern, die voll Emsigkeit, halb im Spiel
halb an der Arbeit sind. Denn was w&re die Beschäftigung
des jungen ländlichen Lebens im Fr&hlingssonaenschdn
anderes? Es ist kein Arkadien, kein goldenes Alter. Dodi
einen lieblicheren Anblick — bei aller 6r5fie — gibt es
im fröhlichen und majestätischen England nicht Und
niemals umgrenzten Hagel dieser Erde einer edlen Bauern-
schaft ein friedlicheres Heim als diese cumbrischen Felsen-
reihen und Weiden, wo der Eabe in seinem Bereiche krächzt
und die wolligen Herden in dem ihren seiner nicht acht
haben.'' {Ihe Fidd of Flowers. Blumengefilde).
In Windermere glaubt Wilson sich im Märchenlande.
„Ein Begenbogenschimmer von Poesie ruht auf den
Inseln des Sees''. Der Windermere liegt im Moi^enlichte
klar wie ein Sabbath, heiter wie ein Feiertag. Man fühlt,
daß es auf Erden eine Lieblichkeit gebe, erlesener und
vollkommener als sie uns jemals im Traume hdmgesucht
(Ä Bay at Windermere. Ein Tag in Windermere).
Die Bomantik der Gegend wird erhöht durch die
Dichter, die an den Seen ihre Zelte au^esdüagen. Manches
UrteU Wilsons ttber diese Bomanüker gehört zu seinen
reifsten und besten und zum treffendsten, das über
sie gesagt worden ist Wärme und Herzlichkeit üer Be-
geisterung stumpft seinen Scharfblick nicht ab und die
seiner Ausdrucksweise eigene glückliche Gabe der Bild-
haftigkeit gibt dem Ausspruch klare Prägung und lebendige
Deutlichkeit. So, wenn er Coleridge „die reich beladene
Ai^osie nennty die im Sonnenscheine fiber das Meer der
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Der üteiaiiBclie Esmj. 299
Phantasie schwanke^ (Cruikshankj On Time. Croiksliaiik,
über die Zeit). Oder wenn er von Wordsworth sagt:
„Die Poesie ist sein Beruf. Er ist ein Dichter, wie sein
Bmder ein Geistlicher ist*' (An Hour's Talk about Poetry.
Eine Planderstnnde aber Poesie). Eine im Baum eines
Briefes erschöpfende Kritik des Dichters der Lyrical BaUads
hatte bereits der zwölfjährige Wilson als Glasgower Student
geliefert^ ein erstaunliches Zeugnis seltener Frühreife Er
bezeichnet hier Wordsworths Poesie, dem Ausdruck wie
dem Gedanken nach, als die Sprache der Natur. Words-
worth verfüge aber die Gefühle, die zumeist das Herz
fesseln, gleichzeitig aber auch in das Bereich der gewöhn-
lichen Beobachtung fallen. Seine Gedichte seien darum
geeignet, alle, nicht nur die Gebildeten, zu fesseln. Er
habe mit elektrisierender Wirkung jenen Hang des
Gemütes verwertet, die Erscheinungen der äußeren Natur
seiner eigene Stimmung zu assimilieren. Doch daran nicht
genug, habe er auch den Einfluß von Eigenschaften der
änßer^a Natur auf die Bildung des menschlichen Geistes
gezeigt, dessen Neigungen gar häufig auf die Landschaft
zurückgehen, in der er heimisch ist, auf ihre Boden-
beschaffenheit und ihr Klima. Natui^^ühl und Philosophie
erschöpfe indes bei weitem nicht den Gesamtinhalt seiner
Dichtung. Sie gebe uns ein Moralsystem der reinsten Art.
Der jugendliche Kritiker schätzt sie in dieser Hinsicht
zunächst der Bibel ein. Doch hält er auch mit dem Tadel
nicht zurück. Er gesteht so frdmfltig als bescheiden, daß
Wordsworths Absicht, nur natüiüche und allgemeine Em-
l^dungen zu geben, in der Ausführung mitunter zum
Trivialen führe. Nur was Mitgefühl und Interesse errege^
tauge für die Poesia Diese Regel habe Wordsworth häufig
außer acht gelassen.
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300 Der üterarische Buay.
Southey schfttzt Wilson sehr hoch ein. Er ist der
einzige nnter den modernen Dichtem, dem er zugesteht,
ein großes Gedicht gemacht zu haben« Er sieht ihn abseits
Ton allen, einsam in seinem Glänze. Southey allein habe
es gewagt, Charaktere und Sitten der Völker zu zeichnen.
Er habe Nationaldichtungen geschaffen, originell in der
Anlage und Ausfuhrung {An Haur's Talk about Poetry),
Wilson verkehrt mit den hervorragendsten Geistern
der Seelandschaft Er besitzt in ihr das schönste Anwesen.
Von seinem an einem Hflgelabhange gelegenen, von statt-
lichem Wiesen- und Waldbesitz umgebenen Landhause
Elleray gesehen, dünkt ihm der Windermere mit seinen
Inseln und dem ihn umgebenden mehrfachen S[ranz von
höheren und niedrigeren Bergen der schönste Punkt der
Erde. 1811 gewinnt er die tonangebende Schöne des
Distriktes, Jane Penny zur Frau und sein Heim an
den Märchengefilden des Sees scheint ihm nun tatsächlich
alle Jugendträume zu erfüllen. Ewig, heifit es in dem
Gedichte My Cottage (Meine Hütte), werde in seiner Er-
innerung der Tag gesegnet sein, der ihn hierher geführt.
Noch in seiner Sterbestunde werde er die glorreiche Sonne
sehen, die so oft den Winander in eine einzige mächtige
Goldwelle verwandele.
Allein das überschwängliche Glück mochte den Neid der
Götter erregen. 1815 verlor Wilson durch den Leichtsinn
eines Oheims sein Vermögen. Seine Mutter, eine tüchtige,
gewandte Frau, nahm ihn und seine Familie auf und er-
möglichte es ihm, Elleray zu behalten. Aber das ununter-
brochene Phäakenleben — Wilson war mit dem Bau
eines scUofiartigen neuen Hauses beschäftigt und unterhielt
als leidenschaftlicher Buderer eine Flottille auf dem See —
hatte ein Ende. Er ertrug den Umschlag des Geschickes
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Der Htemiflche Essay. 301
mit Seelengröße und seine Gattin erwies sich im Unglück
als treaeste Gefährtin. Nach einer yorübergehenden
juristischen Tätigkeit am Edinburgher Gerichtshof , zn der
er wenig Neigung nnd Bemf hatte, erhielt er 1820 die
Professur für Moralphilosophie an der Edinburgher Uni-
yersitäty die er bis 1851 bekleidete. Sein hinreißender,
durch die Sprache seiner ausdrucksvollen, blauen Augen
unterstützter Vortrag wird von seinen Schülern als un-
vergeßlich geschildert, seine für ein großes Publikum be-
rechnete, scheinbar spontane Beredsamkeit von unwider-
stehlicher Kraft Die ganze Seele des Mannes war bei
dem Gegenstande, sein glühendes Mitgefühl teilte sich den
Herzen mit und erhob sia Niemand hatte tiefere und
herzlichere Sympathie mit den Empfindungen der Jugend;
niemand war bereiter und ehrlicher gewillt, sie zu beraten.
Eignete ja ihm selbst jener beste aller Schätze: ein Herz,
das nicht altert 0 n^^^ Mensch in Wilson war größer als
seine Werke'', sagt Sir George Douglas, „er bildet unseren
dauernden Besitz, weit mehr als sie.''-)
Die zweite Hälfte seines Lebens verfloß ereignislos in
stillen bürgerlichen Bahnen, beglückt in seiner Häuslichkeit,
in weiten Kreisen hochgeachtet und yerehrt 'Der Pro-
fessor' war eine stadtbekannte, und beliebte Persönlichkeit
Sein warmes Herz umfaßte Menschen und Tiere in gleichem
Wohlwollen und lebte auf im stillen Naturgenuß. Er starb
am 1. April 1854, von seinen Kindern umgeben, in seinem
Hause in Edinburgh«
») Vgl. Mm. Gordon n, 2.
*) The Blachßood Qroup, 9, 27.
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302 Der fiterarudie Essaj.
Der Dichter.
Als Wilson Glasgow yeiiieß, existierte bereits in seiner
schönen, sanberen Handsclirift ein B&ndchen von 88 Ge-
dichten, Foems an Variüus Svlgeds (Dichtungen Ober ver-
schiedene Gegenstände). Sie waren derjenigen zugeeignet,
deren Zartgefühl sie jedwede ihnen innewohnende Schönheit
zu verdanken beteuerten — einer „Margaret", dem Gegen-
stande einer innigen und begeisterten Jugendliebe. 1812
trat Wilson zum erstenmal mit einer Dichtung in die
Öffentlichkeit The Isle of Palms (Die Palmeninsel), 1810
entstanden und seinen Glasgower Lehrern zugeeignet Vier
Gesänge in unregelmäßigen jambisch-anapästischen Strophen
malen das verklärte und beseligende Familienidyll eines
schiffbrflchigen Liebespaares auf einer unbewohnten Insel
und seine Rfickkehr nach England mit jener in Ergriffen-
heit schwelgenden Ausffihrlichkeit, die trotz aller Wärme
der Empfindung und fibergewissenhafter Wiedergabe
kleinster Einzelheiten doch kein Bild im Leser erweckt^
sondern nur das Geffihl der Breite und Langeweile «^zeugt
Jene Vorliebe ffir die Erzählungen der Wunder und
Abenteuer fremder Weltteile, die Wilson schon als Kind in
atemloser Wonne oder seufzend und weinend dem Geschicke
kfihner Weltensegler lauschen ließ, klingt in der FoHmen'
insel nach. Die Natur ist durch einen Schleier irrealer
Phantastik geschaut und ihre Stimmungen werden in
konventionell weichlicher Geffihlsseligkeit wiedergegeben.
Wilsons zweite poetische Publikation The Oiiy of ike
Plague and ofher Poems (Die Stadt der Pest und andere
Gedichte), 1816, bedeutet gegen die erste kaum einen Fort-
schritt Das dreiaktige Blankversdrama The City of fhe
Plague ist vollkommen lyrisch empfunden und entbehrt
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Der litmrisd&e Ssmj. 303
jeder dramatischeii Handlting. Zwei langabwesende See-
fahrer finden bei der Heimkehr ihre Stadt von der Pest
verheert Wilson mischt mit schanriger Wollast aUe Farben
des Grenlichen nnd Widrigen anf seiner Palette, ohne daß
ihm das beabsichtigte d&ster groBartige Bild gelänge. Der
heimkehrende Sohn kommt eben znrecht zum Leichen-
b^ftngnis der Matter. Er selbst wird von der Senche be-
fallen and die ersehnte Geliebte, die, heilig and schön wie
ein wohltaender Engel unter den Kranken nnd Sterbenden
gewaltet, leistet ihm den letzten Beistand. Allerlei
groseliges Beiwerk wird eingeflochten. Ein Schwindler
nfitzt ab Wahrsager die Todesangst der dekadenten Bfirger
ans. Ein Wahnsinniger spielt den Propheten. Zwei Tod*
feinde kämpfen anf dem Kirchhof den letzten erbitterten
StrauB. Die Totenglocken, von Gespenstern gezogen, er-
tönen mit Geisterklang. Von einem idiotischen Neger
gelenkt, naht der Leichenwagen. Sein Inhalt wird in ein
Massengrab entleert Ein Fremder springt hinein nnd will
lebendig mit begraben werden. Gewaltsam holt man ihn
heraas. Er hUt ein totes Kind im Arme. Verzweifelnde,
Rasende, Verlassene, Sterbende sind das düstere Personal
dieser Tragödie, deren grandlegende Voraossetzang, eine
starke, fessdlose Phantasie, Wilson abgeht
Sonthey schreibt am 7. Dezember an Wynn: „Ist die
Wahl eines solchen Gegenstandes nicht etwas üngeheaer-
liches? In der Tat, das heißt die Germanen ftbergermanen.
Es ist, als brächte man Folter, Bftder and Zangen anf die
BAhne, am Pathos zn erregen. Zweifellos Iftßt sich ja
auch tber den Ampatationssaal, ftber eine Steinoperation
oder den Kaiserschnitt eine sehr pathetische TragOdie
sehreiben. Aber das wirkliche, greifbare Gräßliche gehört
iii<At in die Poene.''
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804 Der HterAriBche Enaj.
Aach ist die Wahl eines solchen Themas bei Wilson
gaxa vereinzelt Seine Gedichte behandeln in der B^el
keine Leidenschaften. Er sieht überall Frieden nnd Unschuld
und ist von den Ausbrüchen wilder Verzweiflung oder
rasender Freude so frei wie von dem grimmigen Eigensinn
oder der die Z&hne zusammenbeißenden Verschlossenheit
dichterischer Eraftnaturen. Er findet für Durchschnitts-
empfindungen viele Worte, häufig sogar das rechte Wort,
nnd sein Ausdruck, der, in sonderbarem Gegensatz zu seiner
lebenskräftigen Persönlichkeit, das Sentimentale und Melan-
cholische bevorzugt, h< sich auf dem Niveau einer an-
genehmen Mittelmäßigkeit Dieser Vorzug hat den Gedichten,
in denen er sich am meisten geltend macht, eine gewisse
Volkstümlichkeit erworben {Lord JRonal^s Chüd. Lord
Bonaids Kind; To a Chüd asleep. An ein schlafendes Eind) ;
The Scholar's Funeral Des Gelehrten Begräbnis). Seinen
Leser zu packen, versteht Wilson nicht
In dem Essay Christopher on the LaJces (Christoph an
den Seen) legt er das beschämende Geständnis ab: „Die
Leute sagen, unsere Verse seien Prosa, unsere Prosa Verse.^
Tatsächlich sind seine Verse korrekt, ohne daß ihnen rhyth-
misches Leben oder lyrischer Schwung innewohnte. Das per-
sönliche Erlebnis fehlt seiner Lyrik, sowohl die Erotik als
die Leidenschaft tiefer Gemüts- oder Gedankenkrisen, und
wird durch eine zu konventioneller Moral neigende Kontem-
plation nur übel ersetzt Zudem nimmt Wilsons leidige
Gewohnheit) jedes Thema gewaltsam in die Breite zu zerren
und zu dehnen, seinen Gedichten jede suggestive Kraft Da
er selbst schon alles oder mehr als alles sagt^ hat der Leser
sich nichts mehr hinzuzudenk^ und der Eindruck stumpft
sich ab. Wilsons bestes Gedicht ist Address to a Wüd Beer
(An einen Hirsch), in dem ein offener Natursinn in würdigen
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Der litenriBcbe Essay. 305
Tönen ansstrSmt zum Preise des stolzen EOnigs der Wälder,
der sich, dahinrasend, über Abg^rflnde schwingt wie die
traombefangene Seele.
Aach als Prosadichter erscheint Wilson in keinem
Yorteilhaften Lichte in den kurzen Erz&hlnngen, die zum
Teil im Blackwood Magcusine unter der Signatur Eremus^
und 1822 gesammelt unter dem Titel lAghts and Shadows
of ScoUish Life, a SelecUon from (he Papers of ihe Laie
Arthur Austin (Lichter und Schatten des schottischen Lebens.
Eine Auswahl aus den Papieren des verstorbenen Arthur
Austin) erschienen. Ihr Mangel an stofflichem Gehalt und
psychologischer Komplikation yerr&t ein Versagen jeglicher
erfinderischen Phantasie. Die Darstellung der fast aus-
schließlich dem ereignislosen Alltagsleben kleiner Leute
entnommenen Erlebnisse ist matt und konventionell. Über-
all spOrt man die Moral, ohne daß jede Erzählung eine
bestimmte Lehre veranschaulichte wie bei Crabbe.
Primitive Lebenszustände ohne Konflikte werden uns
skizzenhaft im Lichte eines wohlwollenden Optimismus
vorgeführt Die Menschen haben so zu sagen nur eine
Dimension. Sie sind Schattenrisse ohne die Bundung leiden-
schaftlich bewegter Naturen. Ihre guten Seiten überwiegen
bei weitem die schlechten. Alle sind fromm, alle tugend-
haft In diesen Erzählungen verfällt Wilson selbst jener
Schönfärberei und Verherrlichung der Niedriggeborenen,
ungebildeten, Armen, gegen die er sich in seinem Auf-
satze Streams (Ströme) auflehnt Der Mensch ist gut und
Gott verläßt den Guten nicht — das ist seine trost-
reiche Lebensphilosopie. Einem alten, braven Ehepaar
fällt im Augenblicke höchster Not, als ihnen der Schuld-
turm und der Tod eines Kindes droht, eine kleine Erb-
schaft zu {M088 Side). Ein verlorener Sohn findet am
G««chiehte der en^lisehen BomanÜk n, 1. 20
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306 Der Utenniche BuMiy.
Totenbette des frommen Vaters den Rftckweg znr Familie
nnd zum besseren Selbst (The Elder^s Deaihbed. An Vaters
Totenbett). Hannah, die Stütze ihrer alten Eltern, wird
im Schneesturm von einem Hirten, der sie liebt, gerettet
{The Snowstorm. Der Schneesturm) usw.
Stimmungs- und temperamentvoller sind die Erz&hlungen,
die einen historischen Hintergrund haben {LUa's Grief.
Lilas Gram; The Covenanter's Marriage Bay. Die Hoch-
zeit des Coyenanters; The BapUsm. Die Taufe; The Bain-
boic. Der Hegenbogen).
Die Novelle The IVials of Margaret Lindsay (Margarete
lindsays Prtifungen), 1823, setzt mit einem frischen,
kernigen Tone ein, den sie im weiteren Verlaufe nicht fest-
hält. Margarete, ein prächtiger, ehrlicher, liebevoller Cha-
rakter, wächst in einer schweren Lebensschule zu ab-
geklärter Seelenschönheit empor und bezwingt das widrige
Geschick durch unentwegte Standhaftigkeit Ihre treue
Frauenliebe, die bei einem schuldigen Gatten ausdauert,
errettet auch diesen und sichert beiden einen glücklichen
Lebensabend. „Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine
Menschlichkeit.''
The Foresters (1825) ist ein Boman in Form einer
Familienchronik. Das makellose Ehepaar Forester hat
eine makellose Tochter und alles gedeiht ihnen zum Segen.
Foresters verwahrloster Bruder Abel dient nur als Folie,
ohne selbständiges Interesse zu beanspruchen. Der Eingang
bringt eines von Wilsons gelungensten Miniaturbildem alles
übergoldender kleinbürgerlicher Homantik. Der greise
Gärtner Adam Forest hat alle Kümmernis erfahren, die
einem langen Leben nicht erspart zu bleiben pflegt, nur
daß er die Panazee jener sonnigen Gemütsveranlagung
besitzt^ die jedem, auch dem widrigsten Geschick eine gute
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Der Hterariflche Esmj. 807
Seite abgewinnt. So bringt ihm gewissermaßen die Trflbsal
aoi ihren Schwingen bereits die Heilung mit. Hinter
jedem Übel steht ein trOstendes „aber^. Seine rttstige
Ehefran ward alt, aber nicht altersschwach. Dann nahm
sie der Tod hinweg, aber er kam weder j&h, noch säumte er
za lange. Ihr leiser Schritt^ ihr mildes Lächeln verschwand,
aber einige Nachbarsfamilien bewahrten ihr Bild wie ein
Porträt an der Wand und die Armen segneten ihr Andenken,
denn sie hatte nicht nur ihren Hunger gelindert, sondern
auch ihren Seelen Barmherzigkeit widerfahren lassen. Man
glaubte, der alte vereinsamte Mann würde sich von diesem
Schlage nicht erholen, aber nach einigen Wochen nahm
er seinen Platz in der Kirche wieder ein. Die Lerche rief
ihn in den Garten. Er war fleißig wie zuvor. In seinen
feierlichen Stunden tröstet ihn die Gewißheit, daß jedes
Jahr ihn tiefer und tiefer in das mitternächtige Schweigen
hineintrage. Inmitten seines Werktagslebens in der freien
Natur findet er den besten irdischen Trost in seinem guten
Ruf, seiner guten Gesundheit, seinem guten Gewissen.
Die späteren Kapitel der Foresters bieten das un-
erfreulichste Beispiel von Verfälschung des Bealen in der
Art schwächlicher Eomantik. Die Heldin ist ein Wesen
von überirdischer Vollkommenheit. Alles und jedes fttgt
sich zum Guten. Alles endet in Frieden und Wonne.
Der Essayist.
Der Dichter Wilson wfirde die eingehende Betrachtung
nicht lohnen, stünde nicht hinter ihm der Essayist
Christopher North.
Die ersten Anfänge dieser seiner eigentlichen Laufbahn
reichen bis nach Oxford zurück. Als er sich 1808 als
Schüler des Magdalen Ck)llege einrichtete, legte er auch
20*
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308 Ber literariflche Essay.
ein Tagebnch an, mit dem Vorsätze, darin aUe Be-
merkungen über Literatur, Wissenschaft^ Religion, Politik
und alle grundlegenden Lebensprinzipien einzutragen, die
sich ihm im Laufe seiner Studien aufdrängen w&rden«
Diese Bemerkungen wollte er durch tieferes Eindringen in
die betreffenden Fragen zu kleinen Abhandlungen erweitern.
So wuchs das Tagebuch zu mehreren stattlichen Binden
an. Das mehr oder weniger jedem ernsten jungen
Gemüt innewohnende Streben, sich über den eigenen Zu-
stand und Bildungsgang Rechenschaft zu geben, verhilft bei
Wilson seinem eigensten Talent zum Ausdiiick und zeitigt
bereits Früchte. Es entstehen Elssays (On the Poetry
of Brumnond. Über Drummonds Dichtungen; Why have
the AegypUans never been remarkable for Poetry? Warum
haben die Ägypter sich niemals in der Poesie hervor-
getan?; The Fear of Deaih, Todesfurcht; Female Beauty.
Weibliche Schönheit; Bdigious Worship, Religiöse Kulte;
The Edinburgh Review; Duelling. Das Duell; The Influence
of Climate. Klimatische Einflüsse. So tritt Wilsons Fähig-
keit, verschiedenartigste Themen zu behandeln, bereits voll
hervor. 9 Die glänzende Entwicklung dieser Gabe und der
Übergang zu dem ihm vorbestimjnten Berufe aber kam als
Folge der 1817 an ihn ergangenen Aufforderung, für das
Edinburgh Monffdy Magaeine Artikel beizusteuern. Diese
Monatsschrift sollte der zu ungeheurem Einfluß gelangten
Edinburgh Review ein Gegengewicht geben. Wilson lieferte
für sie im Juli einen Aufsatz über Lalla Roohh. Doch mit
der Augustnummer ging das Blatt bereits wieder ein.
Noch waren die Parteigegensätze so wenig zugespitzt^
daß Wilson einer freundlichen Einladung Jeffreys folgend.
0 Hrs. Gordon 1, 61 ff.
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Ber literarisclie Bssay. 309
aach in der Edinburgh Eeview den Bericht fiber dramatische
Literatur übernehmen konnte. Er sandte einen Artikel
Aber Chüde Harald, C. IV, der jedoch erst im August
1818 erschien, als die Zeitungsfehde bereits in vollem
Gange war.
Das Bedürfnis der liberalen, der Edinburgh Eeview, die
das toiyistische Dogma in Politik und Literatur mit dem
Nachdruck eines Orakels verkündete, ein Organ ihres eigenen
Bekenntnisses gegenüberzustellen, erwies sich indes so
mächtig, daß das eingegangene EdinJmrgh MonMy Magazine
bereits im Oktober 1817 seine Auferstehung feierte als
BlackwoocFs Edinburgh Magazine. William Blackwood
(f 1854), ein unternehmungskräftiger Edinburgher Verleger,
ein gründlicher Kenner Schottlands und seiner Geschichte,
besaß jenes scharfsinnige Gefühl für das herrschende Be-
dürfnis nach Neuem und Modernem, das gewöhnlich aus-
schlaggebend ist für das Gelingen eines Unternehmens. Die
Hauptstützen seines Bedaktionsstabes waren John Gibson
Lockhart, James Hogg und John Wilson. Gleich die erste
Nummer bekannte Farbe in drei Artikeln von deutlich
ausgeprägter Physiognomie: einem Angriff auf Coleridges
Biographia Literaria, die als ein „scheußliches Machwerk"
bezeichnet wurde, einem Ausfall auf Leigh Hunt, der „ein
schamloses Geschöpf ohne Ehrfurcht vor Gtott und Menschen'^
genannt ward, und einem von Lockhart, Hogg und Wilson
gemeinsam verfaßten Werke, Translation from an Ändent
Chaldee MS. (Übersetzung einer alten chaldäischen Hand-
schrift). Der vorgebliche Fund eines uralten chaldäischen
Dokumentes diente als Einkleidung für eine scharfe und über-
mütige Satire sowohl auf die Redakteure des eingegangenen
EdifU>urgh Monihly Magaeine als auf die gesamte Edin-
burgher Gesellschaft, die der zu beispielloser Macht an-
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310 Der literarische Bnay.
gewachsenen Edinburgh Beview Gefolgschaft leistete. In
diese Macht sollte ohne Bitterkeit mit den Pfeilen eines
heiteren aber nm so persönlicher gefärbten Witzes, Bresche
geschossen werden. Hogg, dem der Hanptanteil der Arbeit
zugefallen war, erklärte nachmals, sich nichts Böses dabei
gedacht zu haben. Seine Absicht sei nur gewesen, ver-
blümt die Umtriebe innerhalb der Redaktion und der Partei
aufzudecken. In der alttestamentarischen Sprache des
Artikels war Wilson als „der schöne Leopard aus dem Tale
der Palmen" bezeichnet und Lockhart als „der Skorpion,
der da liebt zu stechen das Antlitz der Menschen." Der
Eindruck des Chaldee MS. übertraf bei weitem jede Er-
wartung und ist heutigen Lesern kaum mehr verständlich,
weil wir uns von der leidenschaftlichen Heftigkeit des der-
maligen Parteigefühls nur schwer eine Vorstellung machen
können. Man war entweder Tory, folglich ein guter Mensch,
oder Whig, folglich ein Schurke, und umgekehrt Strebte ein
Tory einen Posten an, so war es Pflicht aller redlichen
Tories, zu ihm zu stehen, und ein Whig hatte wenig
Aussicht. Dies bot innerhalb seiner Partei einen will-
kommenen Anlaß, ihn als Märtyrer zu proklamieren und
die Gegner für feil und schamlos zu erklären. 0 Alle,
die sich durch die neue Zeitschrift getroffen fühlten, er-
hoben ein Zetergeschrei gegen das Blackwood Magaeine^
und dazu kam noch der Lärm derjenigen, die über die
Profanation der Bibel Klage führten. Erschreckt zog
Blackwood den Artikel zurück und entschuldigte sich,
wurde aber nichtsdestoweniger zu einer Strafe von 1000 £
verurteilt.^)
0 Vgl Mrs. Gordon 1, 243.
«) NocUb, edited hy SheUon Mackensie, Fteface IX, X.
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Der literaiuche Essay. 311
Trotzdem war die übermfitige Eampflost bald wieder
rege. 1819 erschienen in Blackwood^s Magcunne mit aller-
lei satirischen Spitzen ausgerftstete Kritiken fiber niemals
erschienene Bücher, deren eines Peter's Leiters to his Eins-
folk, hy Dr. Feter Morris (Peters Briefe an seine Anver-
wandten) aktuelle Zostände, die Edinborgher Whigs, die
üniversit&t) die Zeitschriften, die Gesellschaft und religiöse
Fragen mit äußerster Freiheit behandeln sollte. Die von
Lockhart verfaßte Kritik war Mordecai Mullion unterzeichnet
und erregte solches Interesse, daß Lockhart in aller Eile
nachträglich das kritisierte Buch verfaßte, das allenthalben
verlangt wurde. Feter^s Leiters^ 1817 geschrieben und ge-
druckt, 0 füllen drei Bände mit Besprechungen der sozialen,
politischen und landschaftlichen Verhältnisse Edinburghs
und Glasgows. Lage und Gebäude, Gesellschafts- und
Stadtbild, Gericht, Parlament, Klerisei, Kunst, Literatur
und Wissenschaft läßt der für alles empfängliche Peter in
seinen Briefen Revue passieren. Das Ganze, mit seinen
ironischen Lobeserhebungen, seinen überzahlreichen, höchst
persönlichen Einschaltungen muß eben jener Aktualität
wegen, die es für die Nachwelt ziemlich ungenießbar macht,
das Edinburgher Publikum aufs lebhafteste interessiert
haben. Manches witzige oder treffende Urteil bewährt sich
auch über den Tag hinaus. So gilt die folgende Charakte-
ristik Jeffreys auch heut noch für mehr als einen seinen Beruf
mißbrauchenden Rezensenten: „Der Zweck dieses Kritikers
ist keineswegs der, den Lesern seiner kritischen Ergüsse
das Eindringen in die Gedanken, Empfindungen oder Wahr-
heiten, die der Autor beleuchten oder uns beibringen will,
zu erleichtem oder sie dafür vorzubereiten« Sein Zweck
1) Vgl. Notües, edüed hy Mackeime, vol. XU: Memoir ofLockharL
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312 Der literarische Essay.
ist nur, den Autor lächerlich zu machen. Er gibt seine
eigene schöne Begabung preis, um der Durchschnittsherde
seiner Leser die Einbildung zu ermöglichen, sie sähen
von dem Standpunkt eines höheren Oeistes auf den armen,
irrenden, verblendeten Poeten oder Philosophen herab,
der der Gegenstand der Kritik ist^
Das Urteil von BlctckwoocFs Magazine über Hunt,
Hazlitt und „jene ganze pestilenzialische Botte^, wird
dabei durchaus gewahrt und das Verdienst hervorgehoben,
sie auf immer mit dem richtigsten und ausdruckvollsten
aller Spitznamen — Die Cockneyschule — belegt zu haben.
Noch im Jahre der Briefe Peters begannen die Freunde
in BlackwoocFs Magazine jene Aufsätze, die, bis 1835 unter
dem Titel Noctes Ämbrosianae fortlaufend, dauernde Be-
rühmtheit erlangt haben. Sie gehören in die beliebte
Gattung der dialogisierten Abhandlung in der Form eines
freundschaftlichen Gelages, das hier in das schlichte Milieu
gemütlicher Kneipabende verlegt ist Die Fiktion un-
gezwungener geselliger Zusammenkünfte leistet der Mannig-
faltigkeit der zur Sprache kommenden Themen Vorschub
und gestattet einerseits jede Sprunghaftigkeit, andererseits
jede beliebige Ausdehnung. Der gewöhnliche Versammlungs-
ort der kleinen Tafelrunde, die Taverne eines gewissen
Ambrose, gibt diesen Nachten den Namen. Doch ist der
Schauplatz nicht immer derselbe. So spielt sich eine Nacht
teils in zwei Badekarren am Strande ab, teils im Wasser,
teils in einem Omnibus. Hieraus erhellt bereits, daß, ebenso-
wenig wie die Einheit des Ortes, die der Zeit festgehalten
ist und die Noctes nicht lediglich des Nachts spielen. Die
Freunde, die sich am Stammtische zusammenfinden, sind:
Timothy Tickler, Wilsons trefflicher fiedelkundiger Oheim,
der Bechtsanwalt Bobert Sym, ein würdiger, gesetzter Herr
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Der literarische Essay. 313
Ton Bildnng und Geschmack und unverrückbar toryistischen
Ansichten. Seine Geistesrichtung ist vorwiegend auf das
Exakte, ja Pedantische gerichtet und in seinem Interesse
überwiegt das auf naturwissenschaftlicher Basis Beruhende.
Ihm steht der genialere Christopher North (Wilson) gegen-
über, der kritische, häufig der verneinende Geist, der An-
greifer und Tadler. Die eigentliche Hauptfigur ist der
Ettrick Shepherd (James Hogg). Wilson schätzt den Dichter
von The Queen's Wake nicht geringer ein als Burns, ja,
er hält ihn an visionärer Phantasie für überlegen. Wo
Bums am schwächsten sei, sagt Christopher North, sei der
Schäfer am stärksten. „Die luftigen Gebilde steigen vor
seiner träumenden Einbildungskraft empor. Die stille, grüne
Schönheit idyllischer Täler und Hügel, in denen er all
seine Tage verbracht, gab ihm jene unausgesetzt vorüber-
schwebenden Visionen des Feenlandes ein, bis ihm, da er
sinnend auf den Matten lag, die Welt der Schatten in der
klaren Tiefe als eine milderes Spiegelbild des wirklichen
Lebens erschien, wie das von Berg und Himmel im Wasser
seiner heimischen Seen. Spricht er vom Feenlande, so wird
seine Sprache ätherisch. Heiterste Bilder steigen empor
mit der Musik des Verses, und wir glauben schier an die
Existenz dieser schemenhaften Reiche des Friedens, von
denen er als eingeborener Sänger singt."
Christopher North weissagt Hogg dauernden Nachruhm.
Denn „London vergißt seine Löwen. Doch das Herz des
Waldes vergißt nicht Allda bedeutet der Tod eines
Dichters nur den Beginn seines Buhmeslebens. Seine
Lieder vergehen so wenig wie die Blumen. Sie sind
alle ausdauernd. Seen mögen vertrocknen, Eom mag
wachsen, wo einst der Tarrow floss, aber des Schäfers
klagende oder schalkhafte, schwermütige oder heitere
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314 Der liteniische Essay.
Weisen werden nimmer veralten^ (An Hour's TaXk abatU
Poetry, Eine Planderstunde über Poesie).
In den Noctes steht die ländlich schlichte, einnehmende
Gestalt des Schäfers, mit einer Fülle individueller Züge
ausgestattet, im Vordergrunde. Er gibt seine Lieder
zum besten; er ist stets guter Dinge, stets gemütlich,
ohne banal zu werden, und liebt eine kräftige Ausdrucks-
weise, ohne ins Brutale zu verfallen. Ein echter Humorist,
mit sich und dem Leben zufrieden kraft eines heiteren
Darüberstehens, treuherzig und temperamentvoll, voll Mutter-
witz und urwüchsigen Selbstgefühls, ist der Schäfer eine
naive Vollnatur von kindlicher, durch Bildung unverdorbener
Genialität. In theoretischen und literarischen Dingen ist
ihm Christopher North überlegen, dessen zum Paradoxen
neigende Aussprüche er hinwiederum auf ihr rechtes Maß
zurückzuführen pflegt. Das treffende Urteil ist in der Eegel
Hogg in den Mund gelegt. Ferrier, der Herausgeber von
Wilsons Werken, nennt den Ettrick Shepherd der Noctes
eine der besten und vollendetsten Schöpfungen des drama-
tischen Genius. Aus geringem Material, sagt er, sei ein Ideal
geschaffen worden, unendlich größer, realer, origineller als
das Urbild, nach dem es gezeichnet ist, gleichzeitig höchst
individuell und national. 0
Des Schäfers gutmütige Spötterei über die kleinen
Schwächen des von ihm geschätzten und geliebten Chris-
topher North, sowie das freundschaftlich begeisterte Lob
seiner Vorzüge bieten Wilson Gelegenheit zu einer Selbst-
charakteristik, die von Selbstüberhebung wie von Selbst-
unterschätzung frei erscheint.
1) Noetea, Introäuction XVIL
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Der literarische Essay. 315
Die übrigen Personen der Noetes treten znrack. Doch
sind ihrer genng, um die Lebhaftigkeit der Unterhaltung zu
wahren. Selbst die häuslichen Gefährten der Tierwelt mengen
sich ein, der prächtige Neufundländer Bronte und sein
Sohn O'Bronte, ein Papagei und ein Rabe, der vielleicht
der Ahnherr von Bamaby Rudges klugem Freunde ist.
Ja, anläßlich einer Verbrennung verbotener Artikel tritt
der Teufel in Person in die Stube. Das Gespräch bewegt sich
im ganzen Umkreise menschlicher Interessen. Die Politik
bleibt im Hintergrunde, soziale, philosophische, literarische
Tagesfragen stehen im Mittelpunkte. Neuerscheinungen
werden besprochen, alte vertraute Größen betrachtet und ge-
legentlich auch aUgemein abstrakte Themen aufgeworfen,
z. B., ob es war sei, daß hochfliegende Phantasie sich mit
starkem Intellekt nicht vertrage? Daß die Poesie verfalle,
wenn die Wissenschaft blühe? Und Ähnliches.
Aber auch der harmlose Scherz kommt zu seinem
Rechte und persönliche Leiden und Freuden des Tages,
wie Christophers böse Gicht und seine Vorliebe für den
Angelsport.
Einzelne Abschnitte gestalten sich zu kleinen Aus-
schnitten der Zeitgeschichte, wie die Schilderung der alten
Postkutsche oder der italienischen Tänzerin im VIIL Stück.
Die Charakterverschiedenheit der am Gespräch Beteiligten
ermöglicht eine Beleuchtung der besprochenen Gegen-
stände von verchiedenen Gesichtspunkten aus und bewahrt
das Urteil vor Einseitigkeit.
Gleichzeitig kommt die unverbindliche, zwanglose Ge-
sprächsform der Noetes Wilsons schriftstellerischer Eigenart
am glücklichsten entgegen. Sie setzt die dramatische
Lebendigkeit seines Stils ins glänzendste licht und ver-
hüllt das Planlose und Fragmentarische seiner Schreibweise
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316 Der literarisdie Essay.
durch die Zufälligkeit spnmghaften Geplauders. Von Byron
zur Hinrichtung eines Mörders, von Milton zu Homer oder
einem Rezept füi* Toddy — solche jÄhe Sätze vollziehen
sich ohne verletzenden Ruck. Was in den Essays als Mangel
an Komposition berührt, steigert in den Nodes den Ein-
druck des Natfirlichen, Echten. Der Mangel wird zum
Vorzuge.
In der Tat ist bei keinem der andern Essayisten das
spezifische Talent des Flanderns in solcher Stärke ersicht-
lich und zu solcher Feinheit entwickelt wie bei Christopher
North. Über nichts und alles reden, mit so fesselnder
Leichtigkeit reden, daß der Leser willig durch die ziellosen
L*rwege der planlosen Unterhaltung vom Hundertsten ins
Tausendste folgt, ohne zu fragen: wie lange noch? — das
ist Christophers eigentliche Kunst Der Essay um des
Essays willen über einen Gegenstand, der gar keiner ist,
zu keinem ersichtlichen Zweck, das ist die eigentliche
Charakteristik seiner Aufsätze. Sie sind der großen Mehr-
zahl nach Feuilletons ungeheuerlichen ümfanges. Durch
einen Zeitraum von über 25 Jahre (von 1826—1852) er-
schienen sie in BlackwoocPs Magojnne, die letzte Serie
1849—1852 unter dem Titel Dies Boreales, ar Christopher
under Canvas (Wintertage oder Christopher unter Segel).
Eine Auswahl sammelte Wilson 1842 in Buchform als
Becreations (Erholung). Die Ziellosigkeit ist in allen diesen
Aufsätzen das einzige Ziel, dem er — nur scheinbar un-
bewußt — zusteuert. Wie immer wir auch, nach der gewöhn-
lichen Vorstellung etwa dem Schlafwandler gleich, herum-
geschweift, sagt er, glaube nicht, daß in unserem Wahnsinn
nicht Methode sei, noch lucidus ordo in unserem Trauma All
diese Seiten sind von einem Geiste belebt. Unsere Gedanken
und Gefühle folgen einander nach dem bew&hrtesten Prinzip
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Der literariflche Essay. 817
der Assoziation und durchweg ist das rechte Ebenmaß
gewahrt Der Artikel ließe sich mit einem edlen Baume
vergleichen. W&chst auch hier und dort, oben oder unten,
ein Zweig llber seine Bruderzweige hinaus, streckt sich
auch etwa auf einer Seite ein Arm weiter ins Dunkel
hinaus als auf der andern, so daß es einen ungleichmäßigen
Schatten gibt, der Baum wird durch solche im großen
Stil arbeitende Spiele und Grillen der Natur dennoch
nicht entstellt Er steht da, ein herrlich Ding, einem
alten Schlosse auf dem Kliff Aber dem Wasserfalle gleich.
Wehe und Schmach der verbrecherischen Hand, die einen
knospenden Zweig abhiebel Unbehelligt laßt zahme und
wilde Gtechöpfe des Reviers in Sturm und Sonnenschein
Schutz und Schatten finden im stillen Umkreise seines
grfinenden Alters^. (Christopher in his Sporting Jackef).
Häufig läßt sich der Inhalt dieser Essays schwer an-
geben. Oft ist er in der Tat gar nichts Bestimmtes. Der
mttßige Geist schlendert planlos dahin, allerlei Gedanken
spinnend. Einer erzeugt den andern. Das Merkwürdigste
ist nur, daß diese Aufsätze ohne Inhalt fast durchweg
gehaltvoll sind — selten mehr als Geplauder, fast
niemals Geschwätz. Von unbeabsichtigter Symbolik ist die
häufig wiederkehrende Schlußformel, der Verfasser müsse
abbrechen, weil die Lampe ausgehe. Ohne ein solches zu-
fälliges, rein äußerliches Moment spänne sich der Faden
in gleicher Weise ins Unendliche fort. Und trotz der
fabelhaften Länge von Christophers Au&ätzen berührt ihr
Ende häufig als ein Akt der Willkür.
Sein Stol^ebiet begreift einen viel engeren Horizont
als das Hazlitts. Seine Menschen- und Weltkenntnis geht
nicht über die Heimat hinaus und selbst innerhalb dieses
Umkreises greift er gern nach dem Nächstliegenden. Novel-
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S18 Der literarische Esmy.
listische Themen sind bei weitem in der Minderzahl, ihre
Dorchführang gewöhnlich untergeordneter Art {Ä HigMand
Snoicstorm. Ein Schneesturm im Hochlande; Ä Tale of
Eocpiation, Die Geschichte einer Sfihne; BecreaUons, Er-
holungsstücke). Kleine Erlebnisse des Alltags liefern ihm
die Gegenstände für lange Artikel Die Freuden der Jagd
und des Angelns bieten Stoff für drei Aufsätze {Christopher
in his Sporting Jacket)^ das heimiscne Moorgebiet ffir vier
von zusammen 127 Seiten {The Moors)] eine omithologische
Bundschau füllt vier Essays {Christopher in his Aviary,
Christopher an seinem Vogelbauer). Eine Detailmalerei
von genrebildartiger Pinselfeinheit ist sich oft Selbstzweck,
z. B. beim Schildern der Übersiedlung — nicht einer be-
stimmten, sondern gewissermaßen des Urbildes der Über-
siedlung mit allen typischen Eigenschaften dieses gräulichen
Vorkommnisses. {Streams). Christophers Themen wohnt,
etwa mit Ausnahme der literarisch -kritischen, kaum ein selb-
ständiges Interesse inne. Allein es gibt — selbst das Koch-
buch der Mrs. Margaret Dodds nicht ausgenommen {Essays
Critical and Imaginative, Au&ätze aus dem Bereiche der Kritik
und Phantasie) — kaum eins, das er nicht interessant zu
machen, dem er nicht einen bedeutsamen Zug abzugewinnen
wüßte. Selbst das Alltäglichste und Abgedroschendste hebt
er in eine geistige Spähre, die ganz dicht an das Reich
der Poesie grenzt „Kleine abgezehrte, glimmende Kerzel^
apostrophiert er ein verlöschendes Licht. „Noch ein kurzes
Flackern — und in wenigen Augenblicken wird dein Licht-
und Lebensdocht verbraucht sein. Welch einen Gegensatz
bildest du zu deinem eigenen Selbst^ wie es vor acht Stunden
warl Damals warst du fürwahr ein strahlendes Licht
und deine glänzende Krone glühte hoch oben in der Stuben-
dämmerung wie ein Stern, in mittemächtiger Stille ein
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Der literaruche Essay. 319
Memento mori, das nnsern Geist nicht schreckte. Nun bist
dn sterbend — sterbend — tot! Unsere Zelle liegt im
Dunkeln. Doch mich dflnkt, wir sehen ein anderes, ein
reineres, ein klareres Licht, eines unmittelbar vom
Himmel. Wir berOhren nur eine Feder im hölzernen Fenster-
laden — und siehe I der volle Schein des Tages! 0,
weshalb sollten wir sterbliche Wesen jenes n&chtliche
GMftngnis fürchten, das Grab?^ (Christopher in his Aviary,
Becreaiions IL)
Christophers Schilderungen sind von jener breiten
Ausführlichkeit, die nur durch gl&ubiges Interesse an ihrem
Gegenstande möglich wird. Er beschreibt anschaulich und
eingehend, realistisch. Aber es ist ein romantischer Verismus,
kein naturalistischer, dem er huldigt In Our Parish (Unser
Eirchsprengel, Becreations T) wirft er plötzlich die Frage auf,
ob das paradiesische Bild, das er eben vom Moorlande ent-
worfen, denn auch wahr sei? Und er erwidert: „So
wahr wie die Heilige Schrift, so falsch wie eine Er-
findung aus Tausend und eine Nacht Wie geht dies
zu? Wahrnehmung, Gedächtnis, Phantasie sind allesamt
Gemütszustände. Aber das Gemüt ist eine Substanz, die
Materie eine andre, und das Gemüt beschäftigt sich nie
mit der Materie, ohne sie zu metamorphosieren wie ein
Mythologe. So werden Wahres und Falsches, Wirklichkeit
nnd Erfindung ein und dasselbe, denn sie sind so durchaus
yerwoben, daß niemand beweisen kann, was biblisch, was
apokryph und was rein romanhaft sei . . . Der Geist des
Ortes aber bleibt derselbe trotz aller willkürlichen Ab-
änderungen der Phantasie, denn die Phantasie hat die
ganze Zeit aus diesem Geiste heraus gearbeitet^
Die Durchdringung des Wirklichen mit Stimmungsgehalt
ist füi* Christopher Norths Naturbehandlung charakteristisch.
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320 Der Uterarische Easay.
Direkte Personifikation ist bei ihm nicht eben hänflg. ESn
Beispiel bietet die nicht gerade geschmackvolle des Winters
als eines alten Herrn mit seinem Sohne Lenz, der gelegent-
lich, wie sein Vater, kalt gegen Fremde nnd bissig in seinen
Bemerkungen ist oder ganz in sich selbst versinkt Aber
seine eisige Kälte taut bald. Sein Antlitz belebt sich, seine
Sprache wird sogar blumenreich und er liebt nichts so
sehr als einen Spaziergang. {Streams^ Essays Critical and
Imaginative).
Als Erzähler trachtet Christopher North in der Regel
den Naturhintergmnd mit dem Vorgänge übereinzustimmen
(The Bainbow. Der Regenbogen; TheShieling, Das scheuende
Pferd; Lights and Shadows of ScoUish Life. Lichter und
Schatten des schottischen Lebens; luch Cruin.) Die Natur
spricht eine verwandte Sprache, sagt er in dem Ge-
dichte My Cottage. Mit so milden Tönen, wie sie
nur je ein Kindlein an der Mutterbrust beschwich-
tigten, überredet sie uns, ihre Weisheit zu lernen. Wer in
ihrem Herzen gelesen und das eigene Herz in gleicher
Heiligkeit bewahrt, den geleitet sie sacht zu Qrabe.
Christopher liebt die Natur und fühlt sich in ihrer
Liebe geborgen. Sie bedarf des Dichters wie er ihrer
bedarf. In seinen Gesängen lebt ihre Herrlichkeit auf
ewig. Die gnadenvolle Macht des Frühlings in lieblicher
Einsamkeit erweckt in ihm die Erinnerung an die un-
schuldig glückliche Jugend und er singt dem Lenz einen
nachdenklichen Hymnus (Hymn to Spring). Im Fluß, im
Donner erklingt ihm eine Stimme, mit welcher er Zwie-
sprach pflegt. Christopher North besitzt für die Natur
jenen Goldblick der Phantasie, der überall Reize und
Freuden aufzudecken vermag. Nirgends ist sie so dürr,
so düster, daß sie den jugendlichen Geist nicht für eine
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Der fiterarische Essay. 321
Beihe jener Oenfisse weckte, mit denen sie das Leben bis
znm Überfließen füllt {Our Parish), Das Moorland, wo
seine Wiege stand, nnd die Seen, an denen er die glflck-
lichen Jngendtage verlebte, sind wieder nnd wieder der
Gegenstand seines Preises. Er verherrlicht es mit hymnen-
artigem Schwnnge. „Schön bist dn, wie in alter Zeit^ o wildes
Moor- nnd Wald- nnd Hirtenland-Eirchspiell Paradies,
wo nnser Gteist in der glorreichen Lebensdämmemng weiltel
Ist es möglich, geliebte Welt der Enabenjahre, daß dn
wirklich noch so schön bist wie in alter Zeit? Ob die Tanbe
gleich mit ihrem Flügelschlage in einer halben Stunde
deine Grenzen umkreist und umkreist, obgleich die Schwalbe,
die die epheuumkleidete, von Mauerblumen umstandene
Schloßruine im Mittelpunkt ihres eigenen Reiches um-
schwirrt, auf einem Femfluge mit den halbmondförmigen
Schwingen bereits ein Tal streift, das sich eines eigenen
Kirchturms erfreut — wie reich bist du dennoch an
Strömen, Flüssen, B&chen, ein jeglicher mit seinem be-
sonderen Murmeln — wie reich in deiner Lage, so kühn
auf dem kahlen Abhang, der sich in immer strahlender Wellen-
bewegung aufwärtszieht zu den Portalen des Ostens! Un-
aufhörlich ist auf deinen Hügeln und Hängen der Wechsel
von Wäldern und Wiesen, von Schluchten und TSlem und
ginsterbestandenen Winkeln ohne Zahlt Und in den Be-
hausungen der Menschen — wie steigt immer und ewig
der Bauch zum Himmel emporl Wie liegen sie nachbarlich
beieinander, so daß man den Hahnenschrei hört von Heim-
statt zu Heimstatt. Und dennoch taucht, während du weiter
wanderst, jedes Dach so unerwartet und einsam auf, als
wäre es weit von den anderen entfernt Du schönster unter
Schottlands tausend Eirchsprengeln — weder Hochland, noch
Flachland, sondern — brauchen wir den beschreibenden Aus-
Oasehichte der «Djrlischen Romantik U, 1. 21
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322 Der literarische 'Bbsmj,
drack noch einmal — wellenförmig wie die See im Sonnen-
untergang eines stürmischen Tages — oh, des Himmels
Segen fiber dichl Du bist wahrlich schön wie in alter
Zeit (May Doy, BecreoHons).
Christopher North findet es entsetzlich, daß ein großer
Teil der im Schutze der Gesetze lebenden Gesellschaft mit
diesen in keine andere Berührung komme als die der
rächenden Strafe; daß gem&ß einer notwendigen Gesellschafts-
ordnung ein Teil der Gesellschaft als natürlicher Feind des
andern behandelt und nur durch einen beständigen Krieg
im Zaume gehalten werde. (On ihe Punishment of Beath.
Über die Todesstrafe.) Wie jede starke Empfindung bei
Christopher North Gefahr läuft, ins Sentimentale auszuarten,
so gehen seine Betrachtungen über eine Reorganisation des
Strafgesetzes unvermerkt in einen Appell an das Mitleid
über. Für jene, denen das Los der Armut zugefallen,
bedeuten Laster und Sünde oft mehr ein Verhängnis als
eine Schuld. Die sittliche Korruption der Gesellschaft
zeitige die Verbrecher. Man könne die Übeltäter nicht
durch Furcht bewältigen, denn sie hätten nichts zu ver-
lieren und ihrer seien zu viele.
Christopher ist ein ausgeprägter und überzeugter Tory,
dessen Aristokratismus gleichwohl durch die Moralphilosophie
und das Literatentum seine individuelle Note empfängt Da,
wie er meint, der englische Adel durch den starken Ein-
schlag Nicht-Blaublütiger aus dem Handelsstande eine Ein-
buße an exklusiver Vornehmheit erlitten habe, so müsse
künftig die Aristokratie des Ranges an einer Aristokratie
des Talentes und der Tugend eine Stütze finden. Den ver-
haßten Radikalen, den Absichten niedrig gesinnter, niedrig
denkender, gemeiner und roher Jakobiner solle die Literatur,
die Presse entgegenwirken. (On the Funishment ofDeaih)
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Der literarische Essay. 323
„Ja, wir sind ToriesI^ ruft er aus, „unser Glaube gilt
dem göttlichen Bechte der Könige. Aber sachte, Jungens,
sachte! AUe freien Menschen sind Könige und sie haben
ihre Herrschaft von Oott. Das ist unser politisches, philo«
sophisches, moralisches, religiöses Glaubensbekenntnis. In
seinem Geiste haben wir gelebt — in seinem Geiste hoffen
wir zu sterben.'' {Ä Day ai Windermere, Recreadons.)
In Homer and his Translators (Homer und seine Über-
setzer) bezeichnet Christopher sich als Patrioten und Kosmo-
politen. Hier vertritt seine romantische Vorliebe für das
Primitive, in den Schatten Geteilte und Übersehene seinem
Toryismus den Weg und er findet, daß die sogenannte er-
lesene Gesellschaft weder das Talent noch das Material ffir
poetische Darstellung aufbringe. Was wftre Scott, hätte
er das Volk nicht gekannt, geliebt? Was Shakespeare,
h&tte er sich nicht häufig von den Königen und Lords zu
ihren Untertanen gewandt? Was Wordsworth, hätte
seine erhabene Phantasie, sein hoher Geist es verschmäht,
unter dem Turbalken des armen Mannes das Haupt zu
beugen? (The Genius of Bums). Von eigenen Volks-
dichtem oder gar Dichtem des dritten und vierten Standes
will er hingegen nichts wissen. Alle Dichter sind Dichter
der Armen. Oder ist etwa nicht das gesamte Menschen-
geschlecht ein armseliges, der Sfinde und dem Grauen
des Todes unterworfenes Geschlecht? Die Welt ist ein
Armenhaus und die sie regieren sind nur Aufseher. Wer
anders als ein Narr dürfte seine Stimme erheben und
sagen: Ich bin reich! da ihm doch selbigen Augenblickes,
gelähmt, der Mund schief stehen oder ein SchlagfluB ihn
in einen Klumpen atmenden Lehms verwandeln kann?
Schönheit, Geist, Genie, was bedeuten selbst sie in diesem
unserem geheimnisvollen Leben? (Poetry ofEbeneeer Elliot)
21*
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324 Der literarische Essay.
Von dem Eosmopolitismos, den Christopher sich nach-
rOhmt, vermag der Nichtbritte schlechterdings nichts zu
gewahren. Vielmehr artet sein Patriotismus in Anglomanie
aus. Bleibe es immerhin als eine jener Geschmacksachen
dahingestellt, «fiber die sich nicht streiten läßt, dafi er den
Qeist der Freiheit eine Dryade mit der Verheißung trösten
läßt, ihr vom Blitz gefällter Baum sei zum Mäste ersehen für
das Schiff, das den siegreichen Nelson durch die Eriegs-
sttrme tragen werde. (The Faüen Oak. Die gefällte Eiche)
Aber es gibt Fälle, in denen Christopher North unbestreitbar
geschmacklos wird, z. B. wenn er triumphiert, daß England
— mit einziger Ausnahme Schottlands — das schönste Land
der Welt sei und daß, gottlob, beide ein Eönigreich bilden,
durch keine wirkliche oder eingebildete Grenze geschieden,
sondern vereinigt durch den Tweed. (An Haur^s Talk about
Poetry),
Der unerreichte Gipfel der Schöpfung ist selbstredend
Schottland. Nirgends weist die Natur mannigfaltigere
Formen der Schönheit und Erhabenheit auf (BemcMrks on
ihe Scenery of ihe Highiands. Bemerkungen über die
Hochlandgegenden.) Das schottische Elima ist das beste
im Umkreise aller Himmelsstriche (Noctes VI). Die Lage
der schottischen Bauernschaft ist die glücklichste, die
die Vorsehung den Eindem der Arbeit jemals und irgend-
wo beschieden. Bums ist der größte, volkstümlichste
Dichter, kein Land der Welt, außer Schottland, hätte
einen solchen Mann hervorbringen können. Er vertritt
den Genius des Landes. {The CharcuAer and Genius of
Bi4ms.)
Innerhalb Schottlands steht Edinburgh auf der Leiter
der Vollkommenheit zuhöchst Wie eine stattliche Gestalt
mit breiten Schultern ein nach allen Regeln der Phreno-
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Der literarüche Essay. 325
lo^e schön gebildetes Haupt, so trägt Schottland seine
Hauptstadt. „Und nimmer, nimmer — das ist unser Morgen-
und Abendgebet — nimmer möge sie dies Haupt in Schmach
beugen lassen, sondern es hoch erhoben tragen, gekrönt
mit Buhm, bis es keinen blauen Himmel mehr gibt, bis
das Ebben und Fluten dieser sonnenhellen See aufhört^
(Old and Young North, Der alte und der junge North.) Was
Christopher von Bums rühmt, das darf man zum großen
Teil auch von ihm selbst sagen: sein Patriotismus war
von der echten poetischen Art — intensiv, exklusiv. Schott-
land und das schottische Klima sind in seinen Augen die
von Natur bevorzugten. Schottland und das schottische Volk
sind die Mutter und die Kinder der Freiheit. {The Character
and Genius ofBums.) Gelegentlich wird Christophers Lob
der Heimat zum feierlichen Panegyrikus auf Schottlands
himmelragende Berge und purpurne Heidemeere, auf seine
Hütten und alten Steindenkmale, seine donnernden Katarakte,
auf den Schrei seiner Adler, das fröhliche Girren seiner
Holztauben, den Flügelschlag seiner Rotkehlchen im sommer-
lichen Gehölz. „Beseele dich, o holde Scotia, stets der
heimische und nie ein fremder Geist", so fleht er. „Schwebe
dir allzeit auf den Lippen die Musik deiner dorischen
Sprache!" {Old and Young North.)
Selbst wo Christophers Patriotismus noch so dick auf-
getragen erscheint, ist er ernst gemeint. Der Heimat gegen-
über kennt er keinen Scherz, geschweige denn eine Satire.
Um Christopher Norths Humor ist es überhaupt nicht
sonderlich bestellt. Er bedeutet den Punkt, in dem uns
seine Schriften heute am meisten veraltet scheinen. Hier
empfindet der moderne Leser am stärksten, daß North einem
Geschlecht angehörte, das über mehr Harmlosigkeit und
unendlich mehr Zeit verfügte. Die Schelmenstücke des
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826 Der literarische Essay.
temperamentvollen, tr&omerischen Pferdes Ciolonsay und die
Verlegenheiten, die sie dem Sonntagsreiter Christopher
bereiten, danken dem heutigen Leser ein allzu dürftiger
Stoff für zwei umfangreiche Essays {Christopher on Cölon8ay\
wenn er auch die mit psychologischem Feingefühl heraus-
gearbeitete Seelenübereinstimmung von BoB und Reiter
als eines exzentrischen Paares nicht verkennen wird.
Ungleich mehr wie auf den Humor ist Christophers
ganzes Sein auf das Pathetische eingestellt Er ist im
Innersten erfüllt von dem Streben nach jener idealen
Schönheit, welche er definiert als „das Eidolon oder im Tode
lebendige Bild eines Wesens, dessen Stimme einst erklang
und dessen Füße unter den Blumen der Erde gewandelt^
{A Day at Windermere.) Die Schönheit, die einst Wirk-
lichkeit war, wiederzugewinnen, h< er für die Aufgabe
der Poesie. Ihr Zweck ist Freude, Entzücken, Belehrung,
Erweiterung (eoppansion), Erhebung, Ehre, Ruhm, Glück
hienieden und dermaleinst (Sacred Poetry.) Der G-eist der
Freude ist die ausschließliche Quelle aller Macht, die der
Dichter über die Natur hat Und dieser Geist ist hin-
wiederum identisch mit dem Schönheitssinne, mit welchem
der Poet vom ersten Dämmern des sittlichen und vernünftigen
Denkens an jede Erscheinung der Natur betrachtet hat Von
Anbeginn hat er für sie gefühlt wie ein Liebhaber oder
wie ein Eind. Sie war allzeit seine Mutter, seine Schwester,
seine Braut, seine Gattin, und alles das in einem wunder-
baren lebendigen Zauber, der über die Gebilde seiner
Phantasie und die Sehnsüchte seines Blutes gebreitet lag.
Was Wunder, daß alle Erscheinungen der Natur auf ewig
und ewig in den Quellen seiner Augen wohnen und alle
ihre Töne in den Quellen seines Ohrs. Denn was sind
diese Quellen als die Tiefen und Abgründe seines eigenen
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Der literarische Essay. 327
giacklichen, doch ttbererregten Herzens? Der Dichter
allein erkennt die Welt {Days D^arted, or Banwell Hül.
Aus vergangenen Tagen). Wir leben, wir atmen in der
Poesie. In ihr ist unser wahres Sein — sie ist unseres
Lebens Leben, das Herz des Mysteriums. Würde es aus-
gerissen und hörte auf zu schlagen, so wäre das Weltall,
das nun über und über mit symbolischen Lichtzeichen
beschrieben ist, plötzlich eine leere dunkle Fläche, mit
toten Buchstaben bekritzelt, oder vielmehr der Band würde
zugeklappt und erschiene als ein großer Foliant mit Metall-
schlössern, in Kalbsleder gebunden und mit Spinngeweben
behangen. (Tennyson's Poems). Sonderbar sticht aus dieser
schwärmerischen Auffassung des Alls ein pedantischer
Einschlag exakten Wissens heraus. Christopher North
definiert Phantasie als Intellekt, der nach bestimmten
Gesetzen des Gefühls und der Leidenschaft arbeite; Wissen-
schaft als die richtige Erkenntnis des Geistes und der
Materie, so weit uns eine solche gegeben sei. Phantasie
ist die höchste Gattung des Intellektes und Poesie die
höchste Gattung der Wissenschaft. Darum kann es eine
Poesie, die dieses Namens würdig ist, nur in einem wissen-
schaftlichen Zeitalter geben. An der Poesie der Gegenwart
hat Christopher North auszusetzen, daß sie sich nicht
genug mit dem Leben und der Wirklichkeit befasse. Dies
liege jedoch nicht an einem Stoffmangel, sondern am Talent
der Dichter. Von jenen, die die Wirklichkeit resolut an-
zupacken versuchten, gebrach es Cowper an Kraft, Words-
worth wandte sich seiner Hauptleidenschaft, der Natur, zu;
Bums allein hat das Leben, für das er geboren ward, fest
im Auge behalten und in Poesie umgesetzt Dies ist der
wahre Prüfstein des Talentes. Denn es ist nicht geschaffen,
in früheren Welten zu leben, sondern in seiner eigenen,
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328 Der literarische Essay.
nm in ihr durch eigene Kraft Poesie zu entdecken. Als
Beispiel führt Christopher Schiller an. Er versetzt zwar
seine Dramen in entlegene Zeiten und L&nder, aber wir
finden in ihnen uns selbst wieder. Dem realen Leben der
Gegenwart entnimmt er den furchtbaren Zauber der
Leidenschaft, mit dem er das Fühlen und Denken in seinen
Grundfesten erschüttert {Ä Few Words on Shakespeare.
Einige Worte über Shakespeare).
In Streams geht Ghristopher North so weit, die poetische
Erfindung mit der Lüge zu identifizieren, das reale Erlebnis
mit der Wahrheit
Die Wahrheit sollte sein wie zu gleichen Teilen ge-
wässerter Branntwein. Zu starke Yerwässemng durch das
MaB der Einbildung macht sie schwach und geschmacklos
und geeignet, Übelkeiten hervorzubringen. Der reine
Spiritus schlagt einen nieder wie ein Hammer. Aber „halb
und halb entfacht eine gegenseitige Neigung zwischen
dir und der Welt". So erkennt North in der Theorie klar,
was er in der Praxis häufig verfehlt In dem Essay
Cottages verspottet er mit heiterer Laune die Verlogenheit
der idyllischen Dorfromantik. Die wunderliebliche poetische
Hütte ist in Wirklichkeit voll übler, widerlicher Gerüche.
Die reizende Schlingpflanze, die sie von außen umrankt,
ist ein Träger von Ungeziefer, das malerische Strohdach
ist immer schadhaft; die lieblichen weißen Lämmchen ver-
derben Rasen und Bäume. Als Erzähler jedoch verirrt North
sich selbst in die Begion des Konstruierten und Irrealen,
des alten Mustern konventionell Nachgebildeten. Da gibt
es Schäferromantik, die mit dem Rokoko wetteifert {The
Lily of Litüsdale^ Lights and Shadotcs of Scottish Life);
Eirchho&romantik, die die düstere Eüstenlandschaft und
das Geschrei der Seevögel zum Bilde eines Friedhofes der
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Der literaxische Essay. 329
Schiffbrachigen benutzt, wo Gespenster ihre schaurigen
Lieder singen, denen der Tod den Takt angibt (Lines wriUm
in a Burialground on Ihe Northern Coast of the Highlands.
Verse, auf einer Begräbnisstätte an der Nordküste des
Hochlands geschrieben); oder das sentimentale Ä Churchyard
Scene. (Friedho£szene). Bührselige Tugendromantik, Romantik
der schönen Seele und des edlen Leides, das sich in Seligkeit
verklärt, ist bei Ohristopher North besonders häufig (Gedichte
The Widow. Die Witwe; The Desolate Village. Das verödete
Dorf).
Auch an zarter Liebesromantik, ohne sinnliche Hinter-
gründe und leidenschaftliche Abgründe, ist kein Mangel.
Der zitternde Arm des Liebenden umfängt die Geliebte
wie Licht, Musik, Duft. Sie sehen in den Glanz der auf-
gehenden oder der sinkenden Sonne und fühlen, daß ihre
Liebe unsterblich sei, daß jede Umarmung sie in die Eegionen
eines künftigen Lebens hinüberleite (Streams). Mitunter
verläßt Christopher den Boden des Bealen völlig und begibt
sich ins Feenreich. Elfenzauber erscheint, eng verschwistert
mit christlicher Gläubigkeit; in Ä Lay ofFairy Land (Legende
aus dem Feenlande) — schon im Titel scheint die Ver-
quickung des Heidnischen und Christlichen bedeutungsvoll
— wird eine Hirtin während des Bibellesens in die Feen-
region entrückt. Am anmutigsten ist Norths Elfenromantik,
wo sie zur Belebung der Landschaft und zum Stimmungs-
ausdruck dient; so, wenn er das Treiben der beseelen-
den Geister des Seendistriktes schildert {The Fairies. Die
Elfen). Das Beste, was ihm in dieser Richtung gelungen
ist, und zugleich durch die Parallele mit Blakes gleichartiger
Vision interessant, ist eine Schilderung eines Elfenbe-
gräbnisses an den haidebestandenen Ufern des Orchy in
einer der langen, taureichen Sommernächte. „Man ver-
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Der literarische Essay.
nahm kleine Pfeifen wie hohles Bohr, das im Nachtwinde
flostert. Die kaum hörbare Totenklage war klftglicher als
jede irdische. . . . Dann kam das Trippeln kleiner Füße und
dann eine Hymne. Die Harmonie war wie das Schmelzen
musikalischer Tautropfen und sang, ohne Worte, von Gram
und Tod. Hunderte von Geschöpfen, nicht größer als der
Eamm eines Kiebitzes, ließen ihre verschleierten Köpfe
hängen. Sie standen im Kreise auf einer grftnen Fl&che
zwischen den Felsen, und in der Mitte stand eine Bahre,
aus Blumen gellochten, die im Hochlande unbekannt sind
und auf der Bahre lag eine Elfe mit unverhülltem Gesicht,
lilienbleich und reglos wie Schnee. Das Totenlied ward leiser
und leiser. Es verklang. Zwei Wesen traten aus dem
Kreise und stellten sich zu Häupten und F&ßen der Bahre.
Sie sangen wechselnde Weisen, nicht lauter als das Ge-
zwitscher der erwachenden Waldlerche, ehe sie sich in
die tauige Luft schwingt, aber schmerzlich, voll Todes-
verzweiflung. Die Blumenbahre regte sich, denn der Platz
auf dem sie stand, sank langsam hinab, und in wenig
Augenblicken war die Rasenscholle so glatt und weich wie
immer — ja Tautropfen glänzten über der begrabenen
Elfe. Eine Wolke ging über den Mond und die Trauer-
schar entfernte sich mit einer choralartigen Klage, die man
noch von fernher vernahm, so still war die mittemächtige
Einsamkeit des Tales.« {The Moor).
Vergleicht man einen derartigen Passus mit Wilsons
Gedichten, so begreift man seine eigene Wertabschätzung
zwischen Poesie und Prosa: „Wir glauben, die Prosa sei
bestimmt, was man Poesie nennt, aus der Welt zu schaffen."
Milton, fährt er fort, habe furchtbar unrecht, von „Prosa
und rhythmischem Vera" zu reden. Die Prosa sei millionen-
male rhythmischer als der Vers. Auch werde die Prosa
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Der literarische Essay. 331
besser, je poetischer sie sei; der Vers aber gehe in dem
Aagenblick, in dem er prosaisch werde, zum Teufel {Stroll
io Orasmere. Spaziergang nach Grasmere).
Die T&ler nnd Seen von Cnmberland sind, was man
anch aber die Alpen nnd Pyrenäen sagen mag — die
Ghristopher, wohlgemerkt, beide nie gesehen — der schönste
Punkt der Welt Von der herrlichen Aussicht vom
Gipfel des Old Man bis zum Prasseln der Forellen in
der Pfanne der vortrefflichen Wirtin wird kein Beiz des
Seenaufenthaltes übergangen. Die drei Aufsätze Christopher
ai ihe Lahes (1832) bilden in breitester Ausführlichkeit eine
Art Fremdenführer für Windermere. In ihren besten
Stellen bieten sie allerdings unendlich mehr. Da arbeitet
Christopher North in durchaus individueller Art sozusagen
den Stimmungsgehalt der Landschaft heraus. Er schildert
weder das Gesehene noch den Eindruck des Gesehenen,
sondern beides nur mittelbar durch die Stimmung, in die
es das impulsive, empfängliche Gemüt versetzt und für die
er in leicht flüssiger, lebendiger Rede stets den treffenden
Ausdruck zur Hand hat Nichts Gemachtes, nichts Ge-
schraubtes ist in diesen Naturstimmungen. Selbst von Natur-
enthusiasmus will Ghristopher nichts wissen. Die anspruchs-
lose Fröhlichkeit, die unbewußt und von selbst in Entzücken
übergeht, ist ihm die rechte Stimmung zum Naturgenuß.
Allgemeine Freude ist das Gesetz der Natur {Lines an
Becovering from a Dangerous Mlness. Zeilen über die Ge-
nesung von einer gefährlichen Krankheit; Ä Day at Winder-
mere, Ein Tag in Windermere; BecreaUor^, Erholung). Die
eigene Seele klingt mit der Naturseele zusammen und un-
ausgesprochene Imponderabilien schwirren zwischen den
Zeilen und bringen eine Wirkung hervor, die sich in ihrer
Subtilitat kaum zergliedern läßt. Schildert Christopher
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832 Der literarische Essay.
den Sonntagsmorgen, so wird in das Landschaftsbild, welches
das Fenster umrahmt, nicht etwa ausschließlich oder auch
nur hauptsächlich der Kirchgang einbezogen, sondern auch
das Feiern von der Arbeit, das behagliche Frühst&ck, ja selbst
das Rasieren, und das Ergebnis ist eine gesättigte Stimmung
der Sabbathfeierlichkeit in der Natur wie im fiause (Chris-
topher at ihe Lakes HQ. Ein Blick in die Landschaft und
einer ins Gemüt, das ist Christophers Art der Naturbetrach-
tung. Selbst wo er ein Naturphänomen exakt beschreibt,
gewinnt er die rechte Anschaulichkeit durch Vergleiche
aus dem Menschenleben. Das heitere Gemurmel der kleinen
Wasserfälle auf der Wiese sekundiert dem klaren, kräftigen
Tenor des Tweed wie Kinderstimmen dem Gtesange eines
Chorfflhrers (ßtreams. Ströme).
Psychische Einflüsse schweben in der Landschaft Die
stille Aprilnacht legt sich weich auf Christophers Seele. Die
müde Arbeit ist dankbar zur Ruhe gegangen. Nichts
wacht als Liebe, Freude, Jugend. Im dunklen Tal betaut
Christopher mit Tränen die Primeln auf dem Grabe seiner
Jugendgeliebten und denkt verflogener Lebensstürme
(Streams). Die Neigung zur Sentimentalität tritt unzwei-
deutig hervor und erhält ein heilsames G^engewicht in dem
Verschmelzen der Naturempflndung mit dem religiösen Ge-
fühle. North ist tiefgläubig im Sinne eines positiven
Christentums, speziell der englischen Kirche, zugleich
aber auch durchdrungen von phantasievoller Religions-
schwärmereL
„Wie geheimnisvoll bist du in deinen Wegen und
Werken, o gnadenvolle Natur!" ruft er aus, „Du, die
du mir ein Name bist, welchen wir dem Wesen geben, in
dem alle Dinge sind und Leben haben I" (The Holy Chüd,
Das heilige Kind, Recreations). Oder: „0 Naturl Natur!
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Der literarische Essay. 333
bist du alles in allem? Und gibt es keinen Gott? Der
erstaunte Geist sinkt aus dem Aberglauben in den Un-
glauben und alle Bekenntnisse werden durch das fiber-
wältigende Brausen (des Wasserfalls) in die Vergessenheit
geschleudert. Aber eine leise, schwache Stimme ist in
meinem Innern yemehmbar — die Stimme des Gewissens.
Seine Stimme wird gehört werden, wenn alle Wasser der
Erde in nichts erstarrt sind und die Erde selbst zu-
sammengeschrumpft ist wie ein Pergament I^ (Strecms).
Den Gehorsam gegen das Gewissen, „Gottes Statthalter",
„Gottes Zeugen", bezeichnet Christopher North als Natur-
religion. Geoffenbarte Religion ist derselbe Gehorsam, in
Gottes Worte selbst geoffenbart (Christopher at the Ldkes).
Die Natur fuhrt uns zu Gott empor. Die Bibel ist nicht
die einzige Offenbarung. Gottes Werke sind wie Gottes
Wort „Auf- oder niedergehend, schreibt die Sonne mit
goldenem Finger den Namen Gottes auf die Wolken, und
den — fälschlich so benannten — Atheisten packt ein
staunendes Entzücken, dem seine Seele, weil sie unsterblich
ist, nicht widerstehen kann, wenn diese Bibel plötzlich vor
seinen Augen am Himmel aufgeschlagen wird. {Sacred
Poetry. Eeligiöse Dichtung, Becreations).
In den Noctes (I, 294) wirft North dem Shepherd vor,
dafi er als Naturforscher mitunter ein wenig ins Wunder-
bare gerate. Der Shepherd erwidert: „Das Wesen der
niedrigeren Geschöpfe, wie wir Vögel und Tiere zu nennen
belieben, ist durch und durch wunderbar und wäre es nicht
minder, verstünden wir ihre verschiedenen Instinkte auch
viel besser als wir es tun. Naturgeschichte ist eben nur
ein anderer Name für Naturtheologie. Der Gesang der
Lerche und das Gefieder des Goldfinken, erinnern sie
nicht beide an Gott?" Christopher gibt zu, dafi er noch
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334 Der literarische Essay.
keinen Naturforscher gekannt habe, der nicht ein guter
Mensch gewesen wäre, und benutzt die Gelegenheit, um
neben Buffon und Cuvier seinem jüngsten Bruder James,
einem hervorragenden Naturgelehrten, ein Denkmal zu
setzen. Gottes Wille regiert die Elemente. Wir schöpfen
Trost aus der Schönheit der Natur, überzeugt, daß
Gottes huldvolles Auge unsere Not sehe und die lieb-
lichen Bilder zu unserer Erquickung schaffe (The Isle of
Palms I). Aber auch die Willenskraft — so mächtig als
geheimnisvoll — hat der Himmel in den Menschen gelegt.
„Nenne sie nicht Freiheit, daß du nicht stolz werdest;
nenne sie nicht Notwendigkeit, daß du nicht verzweifelst
Aber wende dich von den dunklen Menschenorakeln zu
denen Gottes. . . . Verbrenne alle deine Bücher, wenn du
fühlst, daß sich die Nacht des Skeptizismus um dich
legt . . . Öfhe deine Bibel, und die ganze Geisteswelt
wird dir klar sein wie der Tag."
Festes G^ttvertrauen hilft über alles hinweg. So lange
der Mensch in Eintracht mit seinem Gewissen lebt und
sich in Demut auf seinen Gott verläßt, kriegt kein Geschick
ihn unter. Christopher wird von der Überzeugung getragen,
daß, wenn der Traum zu Ende, die Visionen erst recht be-
ginnen, das Leben dann erst Leben sein werde {ÄnglO"
mania II). Warum sollten Sterbliche, denen ihr Gewissen
sagt, daß sie unsterblich seien, ängstlich und beängstigend
über dem Staube brüten? Tu deine Pflicht gegen Gott und
den Menschen und fürchte nicht, der Geist könnte, stirbt
dieser Staub, durch den er atmete, nicht ewig leben.
Empfindet der Geist nicht seine Unsterblichkeit in jedem
heiligen Gedanken? (Solüoquy on (he Seasons. Selbst-
gespräch über die Jahreszeiten, Becreations).
Christophers Religiosität mit ihrem blinden, heiteren
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Der literariBcIie Essay. 8S5
Oottvertrauen hat eine unbedingte Ergebung in die Welt-
ordnung und eine unbedingte Lebensbejahung zur Folge.
Er macht überall und an allem etwas Gutes ausfindig.
Die Jugend vergißt rasch der Abwesenden und Toten.
Tadle sie nicht, sagt Christopher, nenne es nicht Ver-
gessen. Nenne es lieber Versöhnlichkeit dem Schicksal
und der Vorbestimmung gegenüber. Die Jugend gehorcht
dem wohltuenden Naturgesetze, daß gar bald Sonnenschein
fUlt auf die Schatten der Gräber. Anders ließe sich ja der
Weltenlauf nicht fortsetzen. Unsere Hauptbeschäftigung,
unsere Hauptsorgen sollen, müssen bei den Lebenden sein^
(Christopher in his Sporting Jacket. Christopher im Sport-
anzug).
Nach dem Tode eines engelgleichen Kindes fragt er:
Sterben seine Eltern an gebrochenem Herzen? und die
Antwort lautet: Glaubet nicht, daß sie, die in Wahrheit
Christen sind, sich solcher Undankbarkeit schuldig machen
könnten (The Holy Child. Das heilige Eind).
ChriBtophers Lebensweisheit findet ihren treffendsten
Ausdruck in einer Wetterregel: Wie immer das Wetter
sei, liebe es, bewundere es, freue dich seiner und schwöre,
du würdest es nicht gegen eine Idealatmosphäre ein-
tauschen (Stroü to Grasmere. Ausflug nach Grasmere,
Becreatians), Christopher singt dem Alter einen Hymnus,
seiner reifen, milden Gelassenheit, der Matronenschönheit,
der Heiligkeit des weißen Haars. Die glücklichen Jugend-
erinnerungen versüßen ihm das Herannahen der letzten
Jahreszeit im wechselvollen Menschenleben. Hat er nicht
alles Köstliche in seinem Gedächtnis herübergerettet über
die Kluft der Zeit? Er denkt der Jugendtage in Oxford,
in London, an den Seen. „Und so beraubten wir ganz
England seiner Schönheit und Erhabenheit, seiner Größe
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B36 Der literarisdie Essay.
und Herrlichkeit and trugen alles auf und davon in unseres
Herzens Herzen. Darum, Heil den Barden, die das Alter
mit einem Diadem von Blüten und Licht geschmückt!
Schmach den Satirikern, die ihm jeden Impuls der Seele
und der Sinne absprechen!'' (Christopher in London; a
Midstmmer^s Day's Dream. Ein Sommertagstraum).
Impulse, die sich über ethische Motive keine Rechen-
schaft geben und von keiner Moralphilosophie unterkriegen
lassen, kennt Christopher North nicht. Es gibt für ihn
keinen Konflikt, der sich nicht beilegen ließe, keine Disso-
nanz, die nicht mindestens der Tod löste, keine Schuld, die
unsühnbar wäre, kein Herz, das der Beue widerstünde. Und
dennoch entgeht er der für eine solche Lebensanschauung
nahe liegenden Gefahr, sich über tatsächliches Übel in
optimistischer Weise selbst zu belügen. Hingegen verleugnet
er zu keiner Zeit den Professor der Moralphilosophie.
Sein Standpunkt ist niemals unbefangen, sondern immer
der von Gut oder Böse. Er spricht immer nur von Eigen-
schaften, die wir zu unserem Leidwesen Sünde nennen
müssen und von solchen, die wir glücklich sind als
Tugenden zu bezeichnen {The Genius and Character of
Bums). Als er bei der Bumsfeier 1844 die Söhne des
Dichters zu bewillkommnen hat, empfindet er es als heilige
Pflicht, zuerst der menschlichen Fehler des Gefeierten zu
gedenken und ihn moralisch rein zu waschen. In den
Noctes klagt er: „Wir vergöttern den Genius und vernach-
lässigen dadurch die Verehrung der Tugend. Gtenius
bedeutet uns alles, Tugend nichts. . . . Warum hält man
es für Blasphemie, ein Werk Shakespeares als armselig,
schlecht oder frech einzuschätzen? Ist Genius per se
und von der Tugend gesondert, etwas so heiliges? Narretei!
Eine wahrhaft gute Tat wiegt alles auf, was Shakespeare
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Der literarische Erny. 337
je geschrieben.^ — Er erklärt Tugend als den Gehorsam
gegen das Moralgesetz, welches uns das Gewissen offenbart
(Ckristopher at (he Lakes).
Die Moral ist die logische Folgerang, die Christopher
ans dem Weltall zieht (EducaHon of the People. Volks-
erziehnng). Die Natur Iftchelt jedem Guten, doch alle
Schönheit stirbt mit der Unschuld (Gedicht Hermitage). Der
Schöpfer gab der Seele die freie Wahl des Guten und Bösen,
und hat sie das Gute gewählt, so ist sie eine Königin.
Alle ihre Fähigkeiten erhalten dann die ihrer Natur an-
gemessene Nahrung (The Moor. Das Moor).
Jede Ungebundenheit des Geistes widerstrebt Christopher
North. Die Religion leitet zum politischen Gehorsam. Bei
der Erziehung des Volkes hat man alles zu yermeiden,
was zu jener Verstärkung des Selbstgefühls führen könnte,
die eine Auflehnung gegen das Oberhaupt zur Folge hat.
Obgleich ein unbedingter Anwalt der Bildung — sie be-
bedeutet eine Macht, die man nicht fürchten soll — hält sie
Christopher doch für wenig wertvoll, wenn sie ausschließlich
den Geist betrifft und nicht auch den Willen. Das Wisse naber,
das den Willen dauernd und wirksam beeinflußt, liegt in
der Moral und Religion beschlossen. Der Wille heiligt das
Wissen oder macht es schlecht. Weder der Intellekt noch
seine Belehrung sind an sich notwendigerweise moralisch.
Dies lassen die eifrigsten Verfechter der Bildung außer
acht, wenn sie annehmen, Intellekt sei Tugend oder Glück.
Der wichtigste Teil des Unterrichts ist demnach die Religion.
„Geben wir uns nicht der Täuschung hin, das Volk irgend
eines großen Handelsstaates werde jemals fähig sein, sich
durch geistige Bildung selbst zu lenken. Das Christentum
allein ist die Seele des Staates Sobald es dahin kommt^
daß der Arme in der Religion ein Ding von sekundärer
Geschichte der englischen Bomantik n, 1. 22
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338 Der Utenunaehe Essay.
Wichtigkeit erblickt — und es ist nicht leicht abzusehen,
wie dies nicht der Fall sein sollte, wenn sein Qeist sich
in allen Mußestunden ununterbrochen Wissenschaften und
Gefühlen zuwendet, die mit der Beligion nichts zu tun
haben — dann wird die Bildung zum Fluch werden statt
zum Segen und, was die Menschen licht nennen, wird
Finsternis sein. . . . Schon werden die Symptome des Heran-
nahens eines solchen Übels sichtbar. Der einfache Bauer,
der aus seinem heimischen Tal nicht herausgekommen und
außer der Bibel kein Buch gelesen hat, weiß in seinem
schlichten Herzen mehr yon yollkommener Moral als der
größte Geist, der sich allezeit yöllig auf die Erleuchtung
seiner eigenen Vernunft yerlassen hat^ (Educatian of ike
People).
Es liegt auf der Hand, daß Christopher North yon
diesem Gesichtspunkte aus in der französischen Beyolution
nur die Äußerung eines Geistes der Anarchie und des
Atheismus erblicken kann. Thomas Paine ist in seinen
Augen ein zu ewiger Verdammnis Verurteilter, weil er es
unternahm, „die Beligion im Herzen und im Heim der
Armen auszurotten^. Christopher gibt seiner eigenen Emp-
findung Ausdruck, wenn seine sechzehnjfihrige Romanheldin
Margaret Lindsay an Paines Buch, nachdem sie einmal
mit Abscheu und Entsetzen darin gebl&ttert, wie an eine
ekle Kröte, eine stechende Schlange zurückdenkt und es
im Eaminfeuer yerbrennt in dem Bewußtsein, etwas Scheuß-
liches, Hassenswertes aus der Welt geschafft zu haben
(The Tridls of Margaret Lindsay m). Auf die Frage:
wer sind die gefährlichsten Schriftsteller des Tages? ant*
wortet Christopher in den Noctes: „Demagogen und ün-
gl&ubige, Deisten und Atheisten.''
Ghristopher North ist ein Anwalt des Gesetzes^ selbst
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Der literarische Essay. 389
die Todesstrafe in ünfiersten — allerdings sehr schwer zu
bestimmenden — Fällen nicht ausgenommen. Indes möchte er
sie nur am Mörder vollzogen sehen, schon dämm, weil
sie in allen anderen Fällen unwirksam sei. Denn der
Nachdruck des Gesetzes beruhe nicht auf der Strafe,
sondern auf der Schande. Ein zu strenges Qesetz mache
den Menschen schlechter, indem es ihn verhärte und gegen
die Gesellschaft aufbringe. Volle Gewalt käme der Strafe
erst dann zu, wenn menschliches und göttliches Gesetz
und Moralgesetz zusammenfielen. Die höchste Eontrolle
liege nicht im G^etz, sondern in dem System moralischer
Kräfte und Schranken, das die Gesellschaft zusammenhält.
Nicht darum handle es sich in erster Linie, wie man das
Eigentum schütze, sondern wie man mit der sittlichen
Korruption des Volkes verfahre.
Der Kritiker.
Das im Guten wie im Bösen zur Überschwänglichkeit
neigende Temperament des Stimmungsmenschen steht wie
bei Hazlitt so auch bei Wilson dem Kritiker im Wege.
Dafür kommen ihm seine hohen menschlichen Qualitäten,
seine Begeisterungsfähigkeit, seine Großherzigkeit, sein
Edelsinn zu statten. Er besitzt als Mensch die Eigen-
schaften, die er als Schriftsteller proklamiert Beide decken
sich in ihm, und diese Ganzheit seines Wesens macht
auch den E^ritiker Wilson zu einem Manne von echtem
Schrot und Korn, einem Manne von unbedingter Gesinnungs-
tfichtigkeit. Er hat das Bewußtsein der Würde seines
Amtes. Er ist sich der hohen Fähigkeiten bewußt, die der
Beruf voraussetzt Er fühlt, daß, wer an andern Kritik
übe, selbst makellos sein sollte. Dies gilt auch für den
Satiriker. Und so proklamiert Christopher den Satz: die
22*
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340 Der literarische Essay.
höchst gestimmte Satire gehöre der höchsten Gattimg der
Poesie an. Jesaias and Jeremias w&ren Satiriker gewesen.
Zur Satire befähigt sei nur, wer als Dichter wie als
Mensch auf der höchsten Stufe stehe. Seine eigene
satirische Begabung ffihrt Christopher auf seinen Groß-
vater Gamaliel Wilson zurück, der die Knute mit einer
Meisterschaft gebrauchte, daß die Haut des Gez&chtigten
in Streifen abflog. Ghristopher nennt sich selbst mit
grausamem Behagen eine Art Vivisektor. Doch überfalle
er seine Opfer nicht im Schlafe. Im Tollen Tageslicht
werfe er den Gegner nieder — Stirn gegen Stirn {The
Man of Ton. Der Mann Ton Geschmack).
Ein freundlicheres Bild entwirft er yon sich im SUroU
to Grasmere. Den Neid, sagt er, kenne er nur aus der
Beobachtung. Er selbst habe ihn nie empfunden — es
wäre denn der Neid auf die Weisen und Guten, der mehr
ein sehnsüchtiges Verlangen war, ihnen zu gleichen. Diese
Eifersucht auf den Genius sei jedoch yon so edler Art, daß
sie kein höheres Glück kenne als dasjenige, den Lorbeer
auf der Stirn der Musensöhne Tor jedem Mehltau zu
bewahren. »Was für eine liebe gute Seele von einem
Kritiker ist der alte Christopher North!" fährt er fort
„Die Blumen der Poesie bewässern, Unkraut entfernen,
das sie ersticken könnte, das Sonnenlicht zu ihnen einlassen,
sie vor dem Luftzuge schützen, yerkünden, wo der Garten
prange und Mädchen und Knaben durch seine freundlichen
Gänge geleiten, das Auge lehren, daß es die Schönheit
sehe, das Herz, daß es sie liebe, und die Pflanzen des
Paradieses klassifizieren nach den Eigenschaften, die es
der Natur in sie zu legen gefiel, — dies ist unsere Be-
schäftigung. Und sie alle im Lichte der Bewunderung
wachsen sehen, ist unser Lohn."
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Der literarische Essay. 841
Christopher beklagt den Hader, den Mangel freund-
licher Gesinnung unter den zünftigen Kritikern. Er, für
sein Teil, will über die großen Lebenden in demselben
Geiste der Liebe und Ehrerbietung schreiben, der uns
den Toten und Verklärten gegenüber geläufig ist (TTorcfe-
worth). Doch gelingt es ihm hier — im Guten wie im
Bösen — nicht völlig, die Persönlichkeit vom Werke zu
sondern. Er ergreift wie in der Politik, so auch in der
Literatur heftig Partei für oder wider. Entscheidet er
sich für einen Genius, so ist es „ein Bündnis mit Herz und
Hand'',0 wirft er einem andern den Fehdehandschuh hin,
so gilt es einen Kampf bis aufs Messer. Er rechnet es
Ck)leridge hoch an, daß er in allen Augenblicken seines
Lebens ein Dichter und einer der liebenswürdigsten
Menschen war (Coleridge's Poeticcd Works). Andererseits
kommt er bei dem jungen Tenhyson nicht darüber hinweg,
daß er bei dem (üockneykreise in Gunst stand, daß er
durch sie „auf den Thron von Klein-Britannien erhoben
worden''. So entgeht ihm das aufkeimende Talent unter
der Hülle seiner jugendlichen Verpuppung. Er reiht
den jungen Poeten unter die Versemacher, die, von allen
Lebewesen allein, keine Dichter, d. h. Schöpfer sind, denn
sie machen von ihrem Geiste keinen Gebrauch. Die Tiere
modifizieren die Dinge in ihrer Phantasie. Austern sind
Dichter — Versemacher sind die einzigen Geschöpfe, die
nicht zugleich Schöpfer sind. Tennyson vergalt ihm mit
einem witzigen Gedicht, dessen B^ime cn^sty, rusttfy musty,
fusty (mürrischer, verrosteter, verschimmelter, modriger)
Christopher lauteten {Tennyson's Poems),
Wilsons Endurteil über einen Dichter wird weniger
0 Vgl Tackerman, 187.
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342 Der literarische fissay.
durch das künstlerische Moment bestimmt als durch den
Umfang des sittlichen Gehaltes seiner Werke und durch die
Mannigfaltigkeit der menschlichen Interessen, die es in
Schwingung versetzt. Von diesem Standpunkte aus kann er
im ganzen Umkreise der englischen Literatur von den Elisa-
bethanem bis zu den Lakisten nur ein einziges Gedicht als
wirklich groß anerkennen: Das Verlorene Paradies. Unter
den Modernen kommt Scott am besten weg, denn „er hat das
menschliche Leben in einer größeren Mannigfaltigkeit klar
und bestimmt geschauter Formen und Beleuchtungen dar-
gestellt als irgend ein anderer.^ Ja, er steht nicht an, Scott
ffir den größten Genius des Jahrhunderts zu erklären, „Goethe,
den Teufel und Dr. Faust nicht vergessen — unvergleich-
lich größer als Byron" (An Hour's Talk dbout Poetry).
Allein gibt Christopher North auch der Versuchung
zu Paradoxen allzuleicht ifach, so ist er doch selbst in
jenen Fällen, in denen ihn seine temperamentvolle An-
schauungsweise zu persönlichen Urteilen fortreißt^ frei von
jeder subjektiven Gehässigkeit. Er wird scharf, aber niemals
boshaft; er kann hassen, aber er ist nicht unversöhnlich.
Selbst einem prinzipiellen Widersacher wie Leigh Hunt
gegenüber fand er, als sich, nach Lockharts Übernahme
der Londoner Quarterly JReview (1826) der C!ockney- Sturm
gelegt hatte, 1834 das schöne Wort: „Feindseligkeit stirbt,
Menschlichkeit lebt ewig." *)
Ehrlichkeit und Selbständigkeit des Urteils, sowie das
Streben, sich durch keine Konvention beeinflussen zu lassen,
sind Zielpunkte, die der Kritiker Christopher North nie
aus dem Auge verliert. Er scheut sich nicht, zu be-
bekennen, daß ihm die Hexen in Macbeth nur „So — so-
^) Bichard Garnett, BicUonary of NaUonal Bioffraphy.
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Der literaruohe Essay. 343
Schöpfongen'^ sind. Sie seien nicht bodenständig auf den
weiten, schwarzen Mooren des schottischen Hochlandes.
Ihr Geschwätz sei nicht das alte Ersische Idiom. Es
lasse sie nicht als Phantome erscheinen, die verdienten,
von den Kindern des Nebels angestarrt zu werden, bis die
Yeniunft taumle. Gray Malkin und Faddock seien kläg-
liche Namen für Hexen einer Gebirgsgegend. . . . Hier,
wie in Dingen der Feen, schreibe Shakespeare, als ob er
betranken wäre. „Er kann sich yon seinem flachen Herd-
Besenstil- und englischen Stratford-on-Avon-Aberglauben
nicht losmachen. Und heraus mit der Wahrheit, so
schrecklich sie ist: Shakespeare in Schottland war ein
Cockneyl"
Erstaunlich dflnkt es Christopher, daß Banquo und
Macbeth, wie es scheint, nie zuvor eine Hexe gesehen
haben. „Sind die Schicksalschwestem Personifikationen
im nationalen Aberglauben begründeter Ideen, so prüfe
man sie unter diesem Gesichtspunkte. Sind sie anomale
Gebilde der Phantasie Shakespeares, so prüfe man sie
darauf hin. In beiden Fällen werden sie nicht bestehen.
Im ersten erniedrigt sie die Beimengung eines anderen
gemeineren Glaubens; im zweiten erscheint ihr Wesen
widerspruchsvoll und inkonsistent. Ihr Charakter schwankt
zwischen dem von Katzen geleiteten alten Weibern mit
Barten, die etwa englische Tölpel und Bauemlümmel er-
schrecken k&nnten, und demjenigen wahrhaft furchtbarer
geistiger Potenzen, die ihre Macht von dem Fürsten der
Luft herleiten."
Wie sehr an solchen ins Extreme getriebenen An-
sichten die Stimmung des Augenblicks beteiligt ist^ beweist
eine Anmerkung im Manuskript dieses Ansatzes: „Christopher
nimmt sich vor, auf alles, was er hier über Geisterwesen
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344 Der literariBche Essay.
Torgebracht^ eine ebenso beredte Widerlegung zu schreiben"
— eine Absicht, die übrigens unausgeführt blieb {Cruik-
shank on Time. Cruikshank über die Zeit).
Das klassische Altertum findet an Christopher North
einen philologisch geschulten Kenner. Er glaubt an einen
Homer. Die Natur sei nicht so verschwenderisch wie ihre
großen Dichter.
„0 nenne'', ruft er aus, „das Griechische keine tote
Sprache, so du eine Seele hast, die erlöst werden will".
Die Sprache ist keine Scheidewand. „Während die Völker
der Erde in verschiedenen Zungen reden, fühlen sie alle
mit einem Herzen und denken mit einem Hirn" {Homer
and his Translators).
Eines der treffendsten Urteile fällt Ghristopher über
Macphersons Ossian. Alle Widersprüche, alle Unmöglich-
keiten und Plagiate zugegeben, sagt er, aber die Voll-
kommenheit, mit der das Schottenland geschmückt ist,
verleiht ihm den Stempel der Echtheit {The Moors).
Ein bei aller spezifischen Eigenart im großen und
ganzen sicher gehender ästhetischer Geschmack gibt
vielen dieser literarischen Artikel eine dauernd maßgebende
Bedeutung. Wilson definiert Geschmack als „die feine,
zarte und richtige Wahrnehmung aller Gedankenbe-
ziehungen, in denen das Gefühl entweder überwiegt oder
zu deren Existenz es doch notwendig ist. Der Geschmack
paßt sich der Phanthasie und Einbildung wie dem Urteil
an, insofern dieses im Reiche des Geschmackes, in dem die
Empfindungen wohnen, überhaupt Anwendung findet Gre-
schmack ist ein armer, niedriger, sinnfälliger Name für
eine reiche, hohe geistige Macht Er sollte von den un-
sterblichen Musen mit Posaunen verkündet werden" {Chris-
topher at fhe Lakes).
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Der literarische Essay. 345
So hat Christopher North, der Kritiker, den schwierigen
Ausweg gefanden, dem Geschmack seiner Zeit Rechnung
zu tragen, ohne sein Sklave zu werden. Er hat die ge-
klärte und beredte Größe einer gefesteten Überzeugung,
in eine von poetischem Glanz durchleuchteten Prosa ge-
faßt, der Nachwelt übergeben als Dokumente im besten
Sinne menschlicher Urteilsfähigkeit
Werke Ton Christopher North.
1812 The Isle of Palms,
1816 The Oiiy of ihe Plague and other Poems.
1822 Lights and Shadows of Scotiish Life,
1823 The Trials of Margaret Lindsay.
1825 The Foresters.
1842 Becreations.
1855—58 Works, edited hy Professor Ferrier.
1866 Noctes Ärnfn-osianae, revised Edition with Memoirs hy
E. Shelton Mackerusie.
Werke fiber Christopher North.
1831 Henry T. Tnckerman, Characteristics of Literature,
illustrated hy the Qenius of DisUnguished Writers.
The Magazine Writer Wilson.
1854 Samuel Warren, Ä Feto Personal BeoollecUons of
Christopher North (Blackwood's Edinburgh Beview,
Tol. LXX, Dezember 1854).
— George Cnpples, Professor Wilson. A Memorial and
Estimate, hy one of his Students.
1862 Mrs. Gordon, Christopher North. A Memoir of John
Wilson.
1866 R. Shelton Mackenzie, Life of John Wilson.
1897 Sir George Douglas, The Blackwood Group (Famous,
Scots Series).
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Zweites EapiteL
Die satirisoh-
humoristische Oesellsohaftsdiohtung.
James und Horaoe Smith.
1775—1839. 1779-1849.
Die Familie, der die Brüder entstammten, war ein
Master besten, hochstehenden englischen Bürgertnms. Bobert
Smith, ihr Vater (1747—1832), Anwalt des Artillerie-
nnd Waffenamtes (Solicitor of the Board of Ordnance)^
zugleich Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften, genoß
als ein klager, freundlicher, fortschrittlich gesinnter und
literarisch begabter Mann allgemeine Achtung. Sein
Tagebuch, dessen Eintragangen auch die schriftstellerische
Entwicklung der Söhne begleiten, bekundet E^larheit des
Geistes und kritisches Verständnis. Seine in Paris geborene
Gattin Mary (f 1803), eine anmutige, sanfte und fromme
Frau, wirkte auf die Erziehung ihrer Söhne mehr durch
das Beispiel des eigenen Charakters als durch pädagogische
Bemühungen. Die yon Natur aus hochbegabten und
liebenswürdig veranlagten Knaben erhielten die gleiche
vortreffliche Erziehung, lernten das Leben von seiner vor-
nehmsten Seite kennen und wurden kampflos, ohne aus
ihrer Sphäre hervorzutreten, auf den Weg geleitet, der sie
zur Selbständigkeit und einer ihnen angemessenen Tätigkeit
führte. James ward, achtjährig, Johnson vorgestellt^ drei-
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Der HterariBche Essay. 347
zehnjährig vom Vater nach Paris mitgenommen, damit
er Mhzeitig mit eigenen Angen sehen lerne, nnd war
mit fünfundzwanzig Jahren bereits der geschäftliche Ver-
treter des Vaters. 1818 übernahm er dessen Amt, das
in der Anfertigung aller Eontrakte und Urkunden für den
Master General bestand.
Horace kam in ein Handelshaus und wurde ein um-
sichtiger, tüchtiger Kaufmann.
Beide Brüder, in London geboren und erzogen, von
echtestem C!ockneytum durchtränkt — James erklärte
London für den besten Ort im Sommer und den einzigen
im Winter 1) — standen als wohlhabende, gebildete, außer-
gewöhnlich schöne, witzige und geistvolle Jünglinge, denen
alle mannigfaltigen Anregungen der Stadt zugänglich waren,
bald im Mittelpunkt des Londoner Treibens. Sie schienen
den Beweis erbringen zu wollen, daß Qeschäftsemst und
literarisches Interesse Hand in Hand gehen könnten.
Beide Bruder schriftstellerten. Horaces Erstlingswerk
war eine poetische Klage über den Verfall des Geschmackes
an theatralischen Aufführungen. Man begünstige die
Pantomime und vernachlässige gediegene Werke wie
£ichard Cumbeirlands The West Indian und The Jew. Das
Gedicht war dem Verfasser dieser Dramen gewidmet und
wurde ihm zugesandt Eines Tages erschien ein Herr
in gepudertem Haar und altmodisch eleganter Kleidung
im Geschäftskontor, in dem Horace arbeitete, und verlangte,
Mr. Smith, den Dichter, zu sprechen. Ein Beamter antwortete:
„Wir haben hier keine Dichter^. Da sprang Horace, ein
Jüngling mit langen, blonden Locken, von seinem Schreibebock
auf und gab sich zu erkennen. 2) Die Brüder hatten sich seit-
^) Memoira, LeUers etc., edited hy H. SnUth, 42.
*) Bejecled Addreaes, edüed hy Sargent, IX.
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348 Der litenuriflche Essay.
dem der besonderen Protektion des warmherzigen Comber-
land zn erfreuen und gewannen durch ihn Fühlung mit
dem Theater. Sie verfaßten einige der unter Cumberlands
Namen erschienenen kritischen Einleitungen in Cookes
Ausgabe von Beils British Theatre, die Cumberland ein
ansehnliches Honorar eintrugen. Seine Einschätzung Horaces
als Dichter war überschwänglich. Auf die Frage: „Wann
werden die Tage Congreves wiederkehren?" antwortete er
einmal: „Wenn dieser Junge eine Komödie schreibt ^
Auf einen ersten Novallenversuch, Ä Family Story
(Eine Familiengeschichte), 1799, ließ Horace Smith bereits
1800 einen vierbändigen modernen Familienroman folgen,
The Bunaway, or ihe Seat of Benevolence (Der Flüchtling
oder Der Sitz der Gnade), dessen Inhalt auf 780 Seiten die
Schilderung der segensvoUen, alle Wirrnis losenden, alle
üblen Einflüsse brechenden Kraft edler Menschlichkeit ist.
Allein bei dem völligen Umgehen psychologischer Probleme
erhebt der junge Dichter sich in der Charakteristik nicht
über konventionelle Typen, in der Erzählung nicht über
das Romanhafte und Wirklichkeitsfremde.
Künstlerisch auf keiner höheren Stufe steht Travanian,
or Matrimonial Errors (Travanion oder Ehefehler), 1801,
das, ausschließlich eine Darstellung von Herzensangelegen-
heiten, von in sich selbst seliger Sentimentalität trieft
und durch theatralisch -romantische Mätzchen abstößt
Travanion, der Übermenschlich-Menschliche, besiegt durch
Edelmut, Langmut, Großmut seine Gegner wie die Tücke
des gegnerischen Schicksals. Seine Gattin, der er, obzwar
er sich von ihr verraten glaubt, dennoch jahrelang ein
unbekannter Wohltäter geblieben, erweist sich als schuld-
^) Patmore, My Friends and Äequainia/nce, 210.
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Der literarische Essay. 349
los. Im Angfenblicke der Enthflllong wirft Travanion
Perücke und Eock ab und steht in der Werthertracht, in
der er vor einem Menschenalter von ihr schied, Tor der
lebenslang Geliebten, die von einer Ohnmacht überwältigt
wird. Diese Szene ist charakteristisch für das Ganze.
1802 waren James und Horace Smith Mitarbeiter des
Picnie Newspaper und des Cabinet WeeUy^ einer von
William C!ombe herausgegebenen Zeitschrift, die bald ein-
ging. Von 1807 — 1809 lieferten sie Beiträge für den
MonMy Mirror, dessen Herausgeber Thomas Hill in
seinem Landhause in Sydenham eine lustige Eünstler-
gesellschaft versammelte. Dort erfreuten Horace und James
durch Heiterkeit und Begabung.
James besaß ein ausgesprochenes Talent für das
spaßhafte Epigramm und eine Neigung für lustige Mysti-
fikationen. Schon als Knabe hatte er die Leser des
GenüemarCs Magaeine durch erdichtete Mitteilungen wunder-
barer naturhistorischer und archäologischer Entdeckungen
zum besten gehabt. Es war damals ein Hochgenuß für
die Brüder, den Vater bei der Lektüre dieser merkwürdigen
anonymen Zuschriften, deren Herkunft er natürlich nicht
ahnte, zu beobachten.
Im Jahre 1812 fand sich nun die Gelegenheit, ein solches
Talent in größerem Maßstabe zu betätigen. London wurde
in dem Halbjahre 1808 — 1809 von drei großen Feuers-
brünsten heimgesucht. Im September 1808 ging das Covent
Gardentheater in Flammen auf, im Januar ein Teil des
St. James' Palace, im Februar 1809 das Drury Lane
Theater, jener große Neubau, den Sheridan 1794 an die
Stelle von Garricks kleinem Hause — einem Werke Wrens
— gesetzt hatte. Im August 1812 veröffentlichten die
Tagesblätter eine Preisausschi-eibung für den zur Ein-
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350 Der literarische Essay.
weihnng des Nenbans bestimmten Prolog. Es liefen über
hundert unbrauchbare Machwerke ein. Schließlich sprach
EUiston bei der Eröffnungsfeier die etwas schwerfälligen
und konventionellen Gelegenheitsverse Byrons, Address
spoken at (he Opening of Drury Lane Theatre, Saturday,
October 10, 1812 (Ansprache, gehalten bei der Eröffnung
des Drury Lane Theaters). An demselben Tage wurde
ein anonymes Büchlein ausgegeben: Be^ected Äddresses, ar
The New Theatrum Poetarum (Zurückgewiesene Ansprachen
oder das neue Theatrum Poetarum), angeblich eine Samm-
lung der von den Preisrichtern des Theaters abgelehnten
Prologe.
Horace und James Smith hatten sie auf die Anregung
des Theatersekretärs Ward, Sheridans Schwager, innerhalb
der sechs Wochen, die zwischen der Preisausschreibung und
der Wiedereröffnung lagen, verfaßt Da fanden sich nun die
bestbekannten und anerkannten Dichter des Tages unter
den Zurückgewiesenen zusammen. Mitten unter den Lebenden
erschien auch Johnsons Geist und ein völlig Unbekannter,
Momus Meddler, brachte Parodien auf Macbeih, Kotzebues
Fremde und LiUos George Bamwell Die beiden Brüder
hatten sich ihre Aufgabe nicht leicht gemacht und sich
die trefflichsten, populärsten Vorbilder ausgesucht. Jeder-
man konnte die Nachahmung auf ihre Ähnlichkeit hin
prüfen. Und sie war in der Tat in vielen Fällen eine
täuschende. Das Gelingen des Scherzes hing davon ab, ob
die Kopie hinsichtlich der geistigen wie der formellen
Eigenart dem Originale nahe kam. Und er gelang im
höchsten Grade. Die Qualität der Arbeit wie der liebens-
würdige Takt dieser literarischen Satire erheben sie
hoch über die ihr ursprünglich zugedachte Bedeutung.
Ein späterer Herausgeber nennt sie „in jeder Einsicht
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Der liteiaiiiche ÜBsay. 851
einzig und in ihrer Art vollkommen". Die literarische Welt
hatte nie znvor ein so wundervolles Spottvogelwerk
gesehen.^) Richard Gamett ist der Meinung, es sei in
dieser Art in englischer Sprache nichts Besseres geschrieben
worden"«)
Die wenigsten der Re^ected Addresses lassen sich auf
das Niveau der Karikatur herab. Die meisten sind Nach-
dichtungen, in denen ein feines Stilgefühl gerade nur mit
jenem leisen Nachdruck der Übertreibung arbeitet, der
dem guten Geschmack zu parodistischer Wirkung genügt.
Das Charakteristische der betreffenden schriftstellerischen
Individualität wird nur ein wenig auf die Spitze getrieben.
Man hebt eine Schwäche heraus, ohne aus ihr einen Angriff
auf die ganze Persönlichkeit zu machen. Man macht
sich lustig mit allem schuldigen Respekt Die Persiflierten
erkannten sich selbst und empfanden keinen Groll. Denn jede
böswillige Absicht fehlte, selbst jede Plumpheit des Scherzes
war vermieden. Das geniale Spiel bezweckte nichts wie ein
harmloses, heiteres Lachen. Walter Scott sagte über die
ihm in die Feder geschobene und seinen poetischen
Erzählungen nachgebildete lebendige Schilderung der
Theater-Brandkatastrophe {Ä Tale of Drury): „Ich muß
es sicherlich selbst geschrieben haben, wenn ich auch ver-
gessen habe, bei welcher Gelegenheit"^)
Byron, der in den Rejected Addresses mit Stanzen
vertreten war, die die Technik, Melodie und allgemeine
Stimmung des Childe Harold glücklich trafen, schrieb am
19. Oktober 1812 an Murray, er halte die Rejected Addresses
1) Bejeded Addresses, edited hy E. Sargent IV.
*) IHcUonary of National Biography,
^ Beayen, 111.
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352 Der Htemrische Essay.
für das Beste in ihrer Art seit der Boüiade und lasse dem
Verfasser sagen, er vergebe ihm, „und wäre er zwanzigmal
unser Satyriker". Campbell, Horaces lebenslanger Freund,
zeigte sich verletzt, in den Zurückgetoiesenen Prologen fiber-
gangen worden zu sein.
Den Löwenanteil an der Arbeit hatte James Smith.
Von ihm rfihrten die besten Stücke her^): Wordsworth
(The Baby' 8 Debüt. Des Kindes erster Schritt), eine köst-
liche Nachahmung, welche die häufig ins Alberne und Klein-
liche gehende Einfachheit von Wordsworths Themen ins
Lächerliche zog, ohne sich an der edlen Wahrheit, Weisheit
und Harmonie des Dichters zu vergreifen; Crabbe (The
Theatre, Das Schauspiel), mit echtester Bildhaftigkeit eines
an sich völlig unwesentlichen Vorganges. Jeffrey stellte
dieses Stfick wegen seiner exquisiten Nachahmung von Oe-
schmack, Temperament und Stil des Urbildes zuhöchst in der
Sammlung. Femer William Cobbett, den James sich mit
einem von patriotisch demokratischen Ausdrücken durch-
setzten Prosastück einstellen ließ, weü der Reim eine Er-
findung der Mönche sei; Thomas Moore (The Living Lustres.
Lebende Größen) mit einem Gedicht von wohltönendem Reim-
geklingel ohne Gedankengehalt, u. a. Die Mannigfaltigkeit
der Stilarten — auch der Journalismus war durch den Her-
ausgeber der Moming Post vertreten und die volkstümliche
Ballade fehlte nicht — wirkte ebenso anregend und unter-
haltend wie die Leichtigkeit und Grazie erfreute und an-
zog. Auch hatten die Verfasser sich selbst von ihrem
scherzhaften Spott nicht ausgeschlossen. Horace befand
sich tatsächlich unter den zurückgewiesenen Prolog-
bewerbem. Er setzte seine Dichtung (An Address toith-
*) Gamett, Dictionary of NaUondl Biography,
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Der literarische Essay. 853
out a Phenix. Eine Ansprache ohne Phönix) nun einfach
unter die gefälschten. Sie ist unter den Pseudowerken
das einzige echte, anter den Scherzgedichten das einzige
in ernster Absicht geschriebene, allein durchaus keins der
besten. Der Titel knüpft an die infolge des Brandes so
nahe liegende und bei den Prologdichtem immer wieder-
kehrende Verwendung des Vogels Phönix an, doch erhebt
sich die Dichtung selbst auf kein wesentlich höheres Ge-
schmacksniyeau als die verspotteten.
Der Erfolg der Addresses war ein ungeheurer. Die
Bruder, die bisher nur als flotte Lebemänner und litera-
rische Dilettanten in einem bestimmten Kreise eine Bolle
gespielt hatten, wurden fiber Nacht stadtbekannte Persön-
lichkeiten und die Löwen der Gesellschaft. Murray, der
sich geweigert hatte, 20 £ ffir das Verlagsrecht zu geben,
erwarb es fflr die 16. Auflage, 1819, um 131 £.
Noch in demselben Jahre (1812) wurde ein Operetten-
tezt von Horace, der sich unter dem Decknamen Momus
Medlar verbarg, The Highgate Tunnel^ or the Beeret Ärch
(Der Highgate-Tunnel oder der geheime Bogen) mit
Erfolg im Lyceum aufgeführt 1813 folgte First Impres-
siansj or Trade in the West (Der erste Eindruck oder Der
Handel im Westen), eine in possenhaft drastischen üm^
rissen gehaltene Komödie, deren handelnde Personen weniger
individuelle Charaktere als groteske Typen sind: die Mode-
dame, der zimperliche Blaustrumpf, die schmachtende Jung-
frau, die an Listen reiche, töchterversorgende Mutter — ,
kurz die üblichen Gestalten, die ein Menschenkessel wie
London tagtäglich auskocht „0 London, London!^ ruft
der Held des Stückes, Fortescue, aus, „du Myriadenmenge
unsterblicher Tändler. Du mächtiger Wirbel abstoßender
Laster und phantastischer Narreteien!^ Horace Smith tritt
Oeschichte der eDsrlischen Bomantik ü, 1. 23
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854 Der literuucihe ÜBsay.
in diesem Drama öffentlich als Gegner des Duells anl
Fortesene wird folgende Tirade in den Mund gelegt:
^Toren, stets bereit, für das Phantom der Ehre Mörder zu
werden, wflrden ihre Pistole auf die Brost eines solchen
Verräters richten. Auch ich will sein Herz suchen. Aber
die Waffe, mit der ich es angreife, werden Wohltaten sein,
seine einzigen Wunden Eeue!^ Smith erklärt auch an
andrer Stelle den Duellanten fOr einen moralischen Feigling,
der die Kleinlichkeit seines Geistes zu verbergen suche,
indem er physischen Mut vortäusche. 0
Dasselbe Jahr 1813 brachte wieder eine gemeinsame
Publikation der Brüder, Horace in London. Consisting
of ImitaHona of (he First Two Books of (ke Ödes of Horace.
(Horaz in London. Nachbildungen der beiden ersten Bucher
der Oden des Horaz). Die einzelnen Nummern der Samm-
lung waren bereits im MonÜüy Mirror erschienen.
In einem einleitenden Dialoge zwischen Horaz und Smith,
in dem Horaz gern in eignen Zitaten spricht, weigert sich
Smith auf Grund ihres beiderseitigen Unwertes eine neue
Übersetzung der Oden anzufertigen, aber er ist bereit zu
einer Anpassung des Horaz an moderne Londoner Verhält-
nisse. So entsteht eine ümdichtung, die noch weniger als
die B^ected Addresses in das Gebiet der Parodie übergreift,
sondern nur vom Standpunkte des Jetztlebenden, den die
tote Antike nichts mehr angeht, die eigenen Verhält-
nisse und Interessen an die Stelle der römischen setzt
• Aus dem Amphiteater wird Drury Laue, aus dem Palatin
Tower Hill. Ganz von selbst enthüllt sich dabei eine
merkwürdige Continuität der Menschheitsgeschichte in der
eigentlich nur die Szenerie wechselt, der innere Vorgang
sich aber stets wiederholt Horaz, Ode 1 18 {NuUam^ Vare,
>) Beayen, 153.
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Der literarische Essay. 855
Sacra vite prius severis arborem) findet ihre Anwendung
auf Wellington; I 9 (Vides ut älta stet nive candidum
Soraete) auf das in einen Mantel von Schnee gehüllte
Bichmond; I 14 (0 navis, referent in mare te novi) wird
als 0 Kembley again you are lost on the sea (0 Kemble,
znrfickgeschleudert auf hohe See), zu einer Ermahnung des
Mimen, die Eelhe der Priyatsitze aufzulassen; 1 15 (Pastor
cum traheret per freta navifms) lautet Äs Elgin o'er the
violated sea (Wie Elgin über vergewaltigte Wogen) und
enthält einen Fluch der Pallas auf den Eäuber ihres Eigen-
tums; 1 16 (0 matre pulchra filia pulchrior) heißt, auf die
Edinburgh Reviewers bezogen: 0 rigorous sons of a clime
more severe (0 rauhe Söhne des rauheren Landes).
James besaß von den Brüdern zweifellos das inten-
sivere, aber, wie es scheint, kurzlebigere Talent. Vielleicht
auch verhinderte dessen weitere Entfaltung ein bewußter
Dilettantismus. Einige ergötzliche Kleinigkeiten {The
Country Cousins. Die Vettern vom Lande; T?ie Trip to
France. Der Ausflug nach Frankreich; The Trip to America.
Der Ausflug nach Amerika), 1820 — 1822, komische Gedichte
für Zeitschriften und Gelegenheitsepigramme sind alles, was
er noch hervorbrachte. London und die Gegenwart waren die
Orts- un4 Zeitbegriffe, über die er nicht hinausging. Inner-
halb dieser Schranken aber hat er manches poetische Da-
guerrotyp geschaffen, das als solches seinen Wert behauptet.
Seine Stärke ist das gutmütige Hervorkehren der kleinen
Schwächen des ihm trotzdem vor allen teueren Cockney.
Des kleinen Mannes Sucht, die Mode der Weihnachtsausflüge
nach Brighton. mitzumachen {Christmas out of Town), das
Gift des Branntweins {The Upas in Marylebone Lane)^ das
Geklatsch der Nachbarinnen {Door Neighbours), eine
Begegnung in St James' Park — solche typische kleine
23*
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856 Der UtemisGlie Eaaay.
Stadtsilhoaetten werden uns in den London Lyrics in zier-
licher, sauberer Arbeit vorgefahrt In Grimm's Ghost (&rimms
Geist) I&ßt er den berühmten Anfkl&rer fiber Londoner
Yorkonunnisse Briefe an Hermes schreiben, die in kleine
sittenschildemde Novelletten übergehen.
Bei größeren Stücken 0 wird die erstrebte Leichtigkeit
mitunter zur Klippe für den besseren Geschmack. Der
Mangel an dichterischer Persönlichkeit macht sich fühlbar.
Es fehlt diesen Gedichten an Hintergründen und Offen-
barungen und schlichte, gesunde Natürlichkeit vermag da-
für ebensowenig zu entschädigen, wie ihre sorgfältige und
melodiöse, von einer ausgesprochenen rhythmischen Begabung
zeugende Form, die Horace, der Herausgeber von James'
poetischem Nachlaß, ihnen mit Becht nachrühmt
Von James Smiths Epigrammen^) ist manches mit
scharfer Spitze versehene, z. B. das auf Edmund Burke.
Doch kümmerte er sich im allgemeinen wenig um Politik,
sondern richtet die Pfeile seines Spottes auf die moderne
Kritik, das Gerichtsverfahren, öffentliche Gebäude Londons,
den vorgeblichen guten Ton der Gesellschaft und allerhand
soziale Auswüchse.
Im großen und ganzen bevorzugt er das Heitere. Der
Schauspieler Mathews nannte ihn den einzigen Menschen,
der gescheiten Unsinn schreiben könne. Sein Bestes und Ge-
lungenstes aber soll er gesprächsweise als Eingebung des
Augenblicks gegeben habea James Smith, der elegante
Hagestolz, „der Schöngeist in dem altmodischen Sinne des
Zeitalters der Königin Anna'', wie Patmore ihn nennt, blieb
als amüsanter, liebenswürdiger Tischgesellschafter bis in
sein Alter eine gesuchte Londoner Persönlichkeit, die an
^) MisceManeous Pteceg,
*) MartioH in London,
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Der litenriflche Essay. 357
köstlichen Einf UleB, sprühendem Witz und glänzender Ge-
sprächskunst kaum ihres gleichen hatte.
Horace Smiths literarischer Ehrgeiz nahm einen höheren
Flug als der seines Bruders. Er wollte die Poesie nicht
nur als Liebhaberei betreiben, sondern ihr als Zugehöriger
zum Bau, als Mitglied der Zunft dienen. Sein Wunsch
ging immer mehr dahin, aus der Beschäftigung mit der Poesie
einen Beruf zu machen und sich von der Börse zurück-
zuziehen, sobald er ein hinreichendes Vermögen erworben
haben würde. Die Bekanntschaft mit Shelley, die er 1817 in
Marlow machte, mochte wohl auch in dieser Richtung für ihn
von weitragender Bedeutung sein. Horace Smith, wie Shelley
Optimist und Philanthrop, fand in seinem innersten Wesen
mancherlei Berührungspunkte mit dem Dichter, dessen
Werke ihn mit Bewunderung erfüllten und zu dem er sich
schon Yon vornherein durch die unverhältnismäßige Härte
seines Schicksals hingezogen fühlte. „Ich war überzeugt,
daß seine Ziele rein und edel seien^, schreibt er, „daß ihn
lediglich eine leidenschaftliche Menschenliebe beseele, in
deren Dienste er bereitwillig sein Leben opfern würde."
Lange, zu beiderseitigem Gtenuß geführte Gespräche ent-
hüllten ihm Shelley als ein psychologisches Kuriosumi),
während sie in Shelley Freundschaft und Hochachtung für
den „City -Mann'' hervorriefen, dem er als einem Mitgliede
der Gesellschaft, der Kaufmannschaft und der Börse mit
Mißtrauen begegnet war. Leigh Hunt überliefert Shelleys
Ausspruch: „Ist es nicht sonderbar, daß der einzige wirklich
großmütige Mensch, den ich je gekannt habe und der
Geld hatte, um großmütig zu sein, ein Makler ist?'' 2) Er
schrieb später von ihm:
0 Beayen, 136.
•) AutoUo^ajfiiy, 186.
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358 Der literarisdie Essay.
Menschlich Wissen, Tngend, Witz,
Verstand und alles, was die düstere Welt
Zu einem schönen Ding erhebt, erhellt,
Es ist vereint in Horace Smith, i)
Horace hatte seinerseits den Mut, sich öffentlich zu
Shelley zu bekennen. Es sei fürwahr kein Wunder, daß
unter einem Volke von Mammonsanhängem, wie die Eng-
länder, ein so vollkommen selbstloser und weltfremder
Mann für eine Art lusus naturae angesehen werde; kein
Wunder, daß reiche Geizhälse ihn anfeindeten, denn in
seinem Leben gab es eine tägliche Schönheit, die das ihre
häßlich machte. Horace Smith erzählt, wie er, der in der
schmutzigen Schule des kaufmännischen Lebens Erzogene,
kaum seinen Sinnen getraut beim Anblick dieses außer-
gewöhnlichen Wesens, das wie ein Anachoret lebte, sich
jeden seinem Stande angemessenen Luxus versagte, um
seine Ersparnisse Nebenmenschen zuzuwenden, und still-
schweigend, denn er hing seine Wohltätigkeit nicht an die
große Glocke, zeigte, daß er den Beichtum, den er an sich
verachtete, nur schätzte, insofern er durch ihn befähigt ward,
andern beizustehen. „Er verhielt sich gegen seinen Leib
mißtrauisch", fährt Smith fort, „stets bedacht, die Oberhoheit
des Geistes zu wahren, stets bestrebt, das Heiligtum in
reinem und geweihtem Zustande zu erhalten, von keinem
Flecken der Gemeinheit beschmutzt, der die Seele in diesem
Schreine erniedrigen könnte. Inbrünstig und treu war die
Verehrung, die er der Majestät des Geistes widmete." Ein
nichts weniger als weibischer Mann, sei Shelley doch von
einem speziflzisch weiblichen Zartgefühl erfüllt gewesen.
Smith preist die angeborene Reinheit seines Wesens, die
*) Letter to Maria Gtabome,
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Der literarische Essay. 359
durch nichts verdorben werden konnte, und hat selbst
Verständnis for Shelleys Schrullen, wie seinen strengen
Vegetarianismus, der ihn im Jäger „einen Amateur-Mörder^
erblicken ließ.^
In dem Gedichte To P. B. Shelley nimmt Smith den
Dichter, „der seine Jugend glorreichen Hoffnungen und
einer unbeugsamen Wahrheit widmete^, für die Heerschar
der wahrhaft Gläubigen in Anspruch. Smiths 1821 gebome
Tochter wurde Shelleys Ekloge zu Ehren Eosalinde genannt.
Unter dem Einflüsse seiner Freundschaft mit Shelley
schrieb Horace Smith 1821 die Dichtung Amarynthus, fhe
Nymphol^t Fastoral Drama in Three Acts. With other
Poems. Die Vorrede belehrt, daß Plutarchs Nympholepten
{w(ig>6Xf]jtT0Cj bei den Bömern Lymphatici) von Nymphen
besessene oder durch Nymphen zum Wahnsinn getriebene
Männer sind, sei es, daß ihr Anblick, sei es, daß der toll
machende Einfluß ihrer Orakelgrotten sie betört habe.
In den rein pastoralen Teilen seines Dramas bekennt
Smith sich zu Entlehnungen aus Theokrit. In echt Shelley-
schem Sinne wird die Macht Oenonens, der delphischen
Prophetin, die den Amarynthus bezaubert^ nicht auf Hexen-
kunst, sondern auf ein tieferes EJindringen in die geheimen
Kräfte der Natur zuruckgeffthrt und seine Entzauberung
durch die Liebe bewirkt Er wird
Vom Traumgesicht befreit
Durch seiner Träume Wirklichkeit.
Doch macht sich trotz des Bestrebens, das Übematfirliche
in die Sphäre des Menschlichen zu rficken, der Mangel jenes
lyrischen Schwunges fühlbar, mit dem Shelley derlei Vor-
gänge zu Naturhymnen und Geisterrhapsodien zu erheben
^) Ä GreybearcPa Gossip dbout Literary Äcquaintances. (Plau-
dereien eines Graubarts llber literazische BekaontschAften.)
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360 Der HteruiBche Essay.
pflegt Poetisch und phantasievoU ist in guten Blankversen
die Wirknng des vom Panszauber erföllten Waldes auf
Amarynthns' Gemüt (Akt II) geschildert Nor die Geister-
lante und das Elfentreiben fehlen.
Einen Gegensatz zu Amarynthus bildet die auf einem
wirklichen Vorgange beruhende, in Reimpaaren geschriebene
Erzählung Lucy Milford, die die Zerrüttung eines treu-
liebenden M&dchenherzens durch die unbarmherzige Ge-
hässigkeit eines starrsinnigen Vaters zeigt und durch das
abschreckende Beispiel Brüderlichkeit und Nächstenliebe
als die wahre Gläubigkeit einschärfen will. Doch ist
grade diese Wirklichkeitsdichtung durch ihre Verbrämung
mit überspannter Sentimentalität zu einem unangenehmen
Gemisch von Alltäglichkeit und Irrealität geworden.
Unter den Gedichten ist nennenswert On a Siupendous
Leg of Granite, Biscovered standing hy Jtself in ihe Deserts
of Äegypt, with the Inscription inserted helow (Auf ein
ungeheures Granitbein, das man mit der unten ver-
zeichneten Inschrift alleinstehend in den Wüsten Egyptens
fand). Damit beteiligte sich Horace Smith an der Sonetten-
konkurrenz zwischen Eeats, Leigh Hunt und Shelley, indem
er auf charakteristische Weise das gegebene Thema zu
einem Memento mori für London gestaltete.
In einem Gedicht an den Mammon erklärt Smith,
diesem Götzen gehöre wohl sein Leib, nicht aber seine
Seele. Pflichtschuldig bete er an inmitten des Mammons
Schaar; daheim aber halte er heiligen Gottheiten eine
Abendandacht Durch die Mehrzahl seiner Gedichte ^
geht ein ausgesprochen transzendentaler Zug. Er ver-
geistigt die Natur, indem er sich an ihr freut Blumen sind
>) Poetical Works, 1846.
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Der litexarische Essay. 361
Tagessterne, die Freude an ihnen ist ein Naturgottesdienst
unter dem Himmelsdom (Hymn to Flowers). Die Mohn-
blume, der Krösus, der König des Feldes, bedeutet eine
geheimnisvolle Macht: sie ist ein Heilmittel, ist der Tod
(The Poppy). Die untergehende Sonne ist Gottes Auge (To
ihe SetÜng Sun). Die Sonnenfinsternis wird zum symbolischen
Gesicht einer Seelenfinstemis und anarchistischen Welt (The
Sun's Eclipse, 8. Juli 1842). Gegen die Cholera empfiehlt
er eine moralische Medizin. Wie der Begüterte nun mit
dem Armen die Gefahr teilen mfisse, so teile er zur
besseren Stunde brüderlich mit ihm den Segen des Daseins
(The Cholera morbus). Angesichts einer Mumie möchte er
lieber die Seele einbalsamieren und in lebendiger Tugend
rein erhalten (Address to a Mummy). Ein rechtschaffener,
frommer Sinn findet seine Betätigung in der Nächsten-
liebe (Moral Ruins). Er kennt eine moralische Alchimie:
Schmerz in Wohltat, Verlust in Gewinn verwandeln. Der
vollkommenste Gottesdienst ist ihm die Heiterkeit. G^tt
liebt es, wenn der Mensch die Fähigkeit des Lachens übt,
die dem Tiere verweigert ward (Prefatory Stanzas). Smith
sieht kein Dunkel auf Erden (Moral Älchimy). Er kann
nicht umhin, niederzuknien, die schöne Erde anzubeten
und in ihr ihren Schöpfer (Mornmg), Leben, was bist du
für eine große Gabe! ruft er aus; Leben, wie zahllos sind
deine Freuden? (The Charms of Life). So fehlt es Smith
nicht an fröhlichem Humor, der sich in spaßhaften Pointen
und komischen Charakteristiken gefällt (The Englishman
in France. Der Engländer in Frankreich; The Collegian
and ihe Porter. Der Student und der Pförtner; The Parson
at fault. Des Pfarrers Versehen).
Die 1824 veröffentlichte dreibändige Sammlung von
Vers- und Prosastücken Oaieties and Gravities. A Series
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362 Der litenuiache Sssay.
of Essays^ Comic Tales, and Fugüive Vagaries (Heiteres
und Ernstes. Eine Sammlung von Aofisätzen, komischen
Erzählungen und flüchtigen Einfällen), der Mehrzahl nach
noch im MonÜdy Magaeine erschienen und nicht über dem
feuilletonistischen Durchschnitt, behandelt in kunterbunter
Mischung Tagesereignisse, Traumerlebnisse {Pitcaim Island)^
ßeisebilder (Pere-La Chaise), soziale Fragen (Satirist of
Women. Satiriker der Frauen), Novellistisches {The Tanner^s
Widow. Des Gerbers Witwe), Literarisches (An Ättempt to
explain the Causes of the Decline of British Comedy. Versuch,
die Ursachen des Niederganges der britischen Komödie zu
erklären). Ethisches {Moral and Material Beauty. Sittliche
und irdische Schönheit) und gänzlich Nichtiges {The Old
White Hat Der alte weiße Hut) und bekundet in ihrer
Vielseitigkeit die dem Oockney innewohnende journalistische
Begabung.
Ein eigenartiges Buch ist The Tin Truwpet, or Heads
and Tales for ihe Wise and Waggish, edited by Jefferson
Saunders Esq. (Die Blechtrompete oder Überschriften und
Erzählungen für Kluge und Schelme), 1836, ein alphabetisch
geordneter Zettelkasten von Witzen, Anekdoten, Paradoxen,
Maximen, Aussprüchen über Politik, Leben, Kunst, Kirche,
von geistreichen Erklärungen, Weisheits- und Schelmen-
sprüchen, kurz ein Lebensertrag des Nachdenkens und
Empfindens, von Gedankenblitzen, Gefühlssplittem, Narre-
teien, bunte Abschnitzel mannigfaltigsten Wertes und
Inhaltes, in knappster, anspruchslosester Form, allesamt
Produkte eines originellen Kopfes. Es ist vielsagend, daß
das Buch bei seinem Erscheinen Thackeray zugeschrieben
und 1890 bei Soutledge wieder aui^elegt wurde.
Allein Horace Smith gab sich mit solcher Kleinarbeit
nicht zufrieden. Seit 1826 wandte er sich fast ausschliefi-
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Der literarische Essay. 363
lieh und mit außergewöhnlicher Fruchtbarkeit dem Bomane
zu. Als Ziel schwebt ihm auf diesem Gebiete das Kultur-
und Sittenbild großen Stils vor. Er will der Menschheit
den Spiegel vorhalten in der Schilderung ganzer Klassen,
ganzer Epochen. Sein tiefes soziales Interesse drängt das
psychologische in den Hintergrund. Der Schwerpunkt fällt
nicht auf die Erzählung, sondern auf das Milieu. Von
einer eigentlichen Bomankunst^ einer durchdachten Eompo-
sition und Charakteristik ist bei Horace Smith wenig die
Bede. Er haspelt den Hergang einfach ab. Die meisten
seiner Gestalten sind repräsentative Figuren, mehr Typen
als Individualitäten, und das Zeit- und Gesellschaftsbild,
das sie beleben, verdankt sein Entstehen nicht der Freude
an seiner Farbigkeit, nicht der Lust am Fabulieren — ob-
zwar Smith es selten unter drei Bänden im Umfange von
800 — 1200 Seiten tut — sondern dem Wunsche, einen
Beleg für irgend eine hohe sittliche Idee zu erbringen oder
ein Exempel zu statuieren, aus dem sich eine Moral ab-
leiten läßt. Immer schwebt ihm ein sozialer, erziehlicher
oder erbaulicher Zweck vor, den er in den verschiedensten
Arten von Bomanen verfolgt.
Er beginnt 1826 mit dem historischen und tut sogleich
einen guten Wurf mit dem Cromwellromane BrafMetye
HotLse, or Cavaliers and Boundheads (Brambletye-Haus
oder Kavaliere und Bundköpfe.) Der Lord Protektor und
König Karl, Milton, abenteuerliche Bitter, wackre Soldaten,
ein lustiger Hausierer und ein vlämisches Bürgermeister-
töchterlein von zarter Hand und treuem Herzen — diese
und noch viele andere Gestalten gruppieren sich zu einem
lebendigen Zeitbilde. Das Streben des Verfassers geht
dahin, die eigene Subjektivität zu unterdrücken und die
seiner Gestalten desto schärfer zu charakterisieren. Die
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364 Der liteniische Essay.
Handlung will den Leser nicht durch aufreizende Spannung,
sondern durch ein ruhiges, stetes Interesse fesseln. Im
Verein mit Scott, dessen Peverüy 1822, vorausging und
dessen Woodstock unmittelbar nachfolgte, trug Branibletye
House Tomehmlich dazu bei, den Geschmack am historischen
Roman zu entwickeln. „In meinem ersten Romanversuche'',
schrieb Smith später an Scott, „folgte ich nach, wo Sie
vorangegangen waren.^ i) Nach Lockhart hätte Smith ganze
Seiten aus De Foes Fire and Flagw of London ver-
wendet. 0
Ein zweites historisches Eulturbild The Tor Hüly
gleichfalls 1826, ist dem englischen Beformationszeitalter
entnommen. Es wurde von Defaucoupret ins Französische
übersetzt (Tor HiU, Histoire du Temps de Henri VIII).
Heinrich Vm. tritt darin als verkörperter Frauenjäger auf.
Die steten Plänkeleien zwischen Franzosen und Engländern
nehmen einen breiten Baum ein.
Den Mittelpunkt aber bildet Tor-Haus, der alte be-
festigte Baronetsitz bei Glastonbury, wo die verschieden-
artigen, teilweise sehr scharf geprägten Typen sich zu-
sammenfinden. Es ist durchaus charakteristisch ffir diese
Bomane, daß sowohl Branibletye House als Tor Hill ihre
Titel vom Namen ihrer Schauplätze führen.
Die Zeit der englischen Bestauration scheint für
Smith eine besondere Anziehungskraft besessen zu haben.
Gleich sein nächstes Werk, der Börsen- und Cityroman
Beuben Äpsley, 1827, wird wieder in sie verlegt Das
Hauptmoment bildet hier die Gegenüberstellung von Adels-
und Bürgerpartei, welch letztere in dem Helden, dem treff-
lichen, menschenbeglückenden, glaubenseifrigen, edel milden
0 Widmung yon Beuben ÄpsHey, 1827.
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Der literariflche Emnj. 865
Benben einen idealen Vertreter findet. Er greift in Er*
ffillnng seiner Bürgerpflicht fttr den Prinzen von Oranien
zn den Waffen nnd genießt nach ermngenem Frieden in
stiller Zufriedenheit die Früchte seines Mnsterlebens. In
die Gteschichte seines Oheims, des Kaufmanns Goldingham,
spielen die Handelsverh<nisse der Zeit herein.
Noch eingreifendere soziale Kontraste dieser an Gegen-
sätzen reichen Zeit hebt Smith in Walter Colyton, A Tale
of 1688 (1830) heraus. Unverkennbar tritt sein Wunsch
hervor, allen Gestalten in völliger Unparteilichkeit gerecht
zu werden. Der Held, Sohn eines herabgekommenen
Kavaliers und einer puritanischen Mutter, tapfer und
rechtschaffen, ein Kemmensch, Patriot und Protestant
von echtem Schrot und Korn; der katholische König,
schlicht und umgänglich; Aufklärung und Gespenster-
glaube, Hofunterhaltungen und Wirtshaustreiben, mond-
scheinmilde Weiblichkeit und Straßenräuberei — all das
vereinigt sich zu einem lebhaften Zeitbilde. Dasselbe gilt
von Ärihur Ärundd, Ä Tale of the English Bevoluüon
(1844). Der Glaubenskampf spaltet Familien, entzweit
Schulkameraden. Arthur, ein selbständiger Denker und
tapferer Krieger, betätigt sich, wie alle Helden von Smith,
für Wilhelm von Oranien und empfängt dafür seinen Lohn.
Die Bezeichnung der Revolution von 1688 als der glor-
reichen hält Smith für keinen glücklichen Einfall, denn
die großen Tage der Nation seien mit dem umfassenden
Geiste des Usurpators dahin gewesen. Allein die Revolution
habe den Grund zum politischen und moralischen Fort-
schritt gelegt und dadurch England zum mächtigsten Reiche
gemacht „Lange möge es dauern.^
0 Beaven, 258.
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366 Der literarische Essay.
Nach demselben Prinzipe verfaßt Smith einen MasanieUo
(1842). Hier leitet ihn der Wunsch, das Beispiel jener Re-
Yolntion, die der schlichte Fischer von Amalfi ins Leben
rief, möchte den Herrschern eine nützliche Lehre geben.
Selbst wo er auf eine so weit entfernte Periode zurück-
greift wie in dem 37 v. Chr. spielenden Romane Zäla,
Ä Tale of the Holy Oity (Zilla. Eine Erzählung aus der
heiligen Stadt; 1829 von Defaucoupret ins Französische
übersetzt als Zilla, Uistaire Juive, tiree des Annales de
Jerusalem) verfährt er nicht anders. Alles Altertümelnde
im Ausdruck wird absichtlich vermieden, Sitten und
Gewohnheiten aber eingehend betrachtet, und das Kultur-
bild erhält durch stimmungsvolle Naturschilderungen den
richtigen Hintergrund. Mit Zilla, der edlen und hoch-
gebildeten Tochter Jerusalems, die so schön als glaubens-
begeistert, so nachdenklich als entschlossen ist, wird die
Dekadenz der römischen Jugend kontrastiert. Das Ganze
klingt in ein Evangelium der Duldung aus: lafit uns nicht
in dem Wahne leben, daß wir Gott unsere Liebe bezeugen,
indem wir die Menschen hassen, die verschieden von
uns sind. Die Quarterly Review griff Züla als eine Nach-
ahmung von Crolys gleichzeitig entstandenem, aber vorher
erschienenen Saiafhiel an.
Das rein Menschliche und menschlich Interessante ist es,
was Smith als Bomanschreiber in erster Linie beschäftigt.
In seinen historischen Romanen tritt dies ihm eben zufällig
in einem verflossenen Zeitalter entgegen. Liegt der Vor-
gang in der Gegenwart und macht Kostüm und Schau-
stellung überflüssig, so kann er sich seinem Lieblingsthema
desto ungeteilter überlassen.
The New Forest (1829), wieder ein Ortsroman, schildert
in einem weltentrückten Dorfe einen Mikrokosmos. Der Held,
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Der literaruehe Essay. 367
Henry Melcomb, ein strammer, vortrefflicher Charakter, der
sich selbst gebildet, Bekenner einer kriegerischen Politik
nnd malthusianischer Prinzipien, zimmert sich nnd seiner
Liebsten dnrch eigene Tüchtigkeit ein segenerfülltes Heim.
Die Nebenpersonen, mehr breit als tief gezeichnet, sind
nnr vorhanden, damit Melcomb seine Seelengröße an ihnen
erweisen könne. Die Absicht des Dichters ist, zn zeigen,
daS wahre Tagend allen Anfeindungen der Welt überlegen
sei, daß sie sich selbst beglücke nnd schließlich über jedes
widrige Geschick triumphiere. Nicht die Vornehmheit der
Geburt, sondern die des Herzens gebe den Ausschlag.
Ein Roman aus der Londoner eleganten Welt ist Crdle
Middleton, A Story of ike Present Day (Gale Middleton.
Eine Geschichte aus der Gegenwart), 1833. Aus der
protzigen Sphäre, der er entsproßen, hebt Gale Middleton
sich als schlichter, strebsamer, innerlich vornehmer Cha-
rakter empor, ein Feind alles Faulenzens, ein Mensch voll
Berufseifer, ein Gemüt voll Naturgefühl und schwärmerischer
Nächstenliebe, ein Patriot voll glühender Begeisterung für
Reformen, die die Vaterlandsliebe leiten soll, eine Ver-
körperung des liberalen Idealismus. Gale, der in seinem
Kreise der tolle Middleton genannt wird, — vermutlich
wie der Oxforder Student Shelley von seinen Kollegen —
rettet nach dem Bankerott des Hauses seine Angehörigen
und findet, äußerlich verarmt, innerlich noch reicher
geworden, ein seiner würdiges Glück an der Seite einer
gleichgesinnten Frau. Die Verwandtschaft Middletons mit
dem „Shelleytypus^ in Peacocks Romanen ist unverkennbar.
Auf das Gebiet des Volks- und Familienromans begibt
Smith sich mit Jane Lamat, or Ä Mother's Crime (Jane
Lomat oder Das Verbrechen einer Mutter), 1838. Die in
einem Bristoler Hintergäßchen spielende Erzählung will
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Der literarische Essay.
nnromantisclie Darchschnittsware »der menschlichen Gesell-
schaft aus den unteren sozialen Schichten zu literarischen
Ehren bringen und beweisen, daß jene Typen, deren Äußeres
den eleganten Leuten gewöhnlich gemein oder lächer-
lich erscheint, bei wahrhafter Darstellung einen ebenso
erschütternden und interessanten Eindruck machen als hoch-
geborene Helden. Dieser einsichtSTollen Theorie bringt
jedoch Smith, wie es scheint, selbst nicht das n5tige un-
bedingte Vertrauen entgegen. Denn sein Yolksroman ist,
genau betrachtet, nichts anderes als ein in ein Hinter-
treppenmilieu versetzter Macbeth, Die früh verdorbene,
schöne, leidenschaftliche, ihren Mann beherrschende Jane
Lomat wird aus Mutterliebe zur Erbschleicherin. Sie
veranlaßt den redlichen aber schwachen Gatten, das in
Frage kommende Testament zu verbrennen und durch ein
gefälschtes zu ersetzen. Kaum ist die Tat geschehen, so
meldet sich das Gewissen. Jane kann, wie ihr Urbild,
nicht beten. Ja, das Weib aus dem Volke zieht selbst
eine Parallele zwischen ihrer Lage und der Macbeths. Die
Peripetie des Eomans ist allerdings eine andere als die
der Tragödie. Nach Jahren unfmchtbai'er Seelenmarter
empfindet Jane, daß sie ihr Unrecht sühnen mfisse, indem
sie es bekennt Aber nun scheut ihr Gatte Armut und
Schande. Der Sohn, um dessentwillen sie gesündigt, ist
gestorben. Jane ertränkt sich. Aber ihre Tochter Mary
übt in höchster Selbstentäußerung eine stellvertretende
Sühne. In einer Fi*eundin Marys macht Smith den Ver-
such, die moderne Gestalt der selbständig arbeitenden
unverheirateten Frau zu zeichnen und bricht für sie eine
Lanze gegen das verjährte Schreckgespenst der alten Jungfer.
Besonders reich an sozialen Typen ist ein zweiter
Familienroman Adam Brown, The Merchant (Adam Braun,
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Der literariBche Essay. 369
der Kaufmann) 1843. Er hat Aber dem Dienste des Mammon
das reine Familienglück versäumt, dessen Ideal eine Nach-
barfamilie ihm nun neiderweckend vor Augen stellt. Manche
köstliche Gestalt — z. B. der irische Snob Hauptmann
MoUo oder die gebildet tuende, auf Männer jagd ausgehende
Witwe Mrs. Gossip — beleben humorvoll die Erzählung.
Schließlich fehlt unter den von Smith gepflegten
Bomangattungen auch der autobiographische Boman nicht
The Moneyed Man, or The Lesson oflAfe (Der vermögende
Mann oder die Lebenserfahrung), 1841, rollt den Ent-
wicklungsgang eines schlichten Gemütes von der Kindheit
bis zum Alter auf. Von schwachen und prunkliebenden
Eltern dazu erzogen, den Reichtum als Lebens- und Selbst-
zweck zu erstreben, in der Jugend durch die französische
Bevolution von engherzigem Vorui'teil und blindem Haß
beeinflußt, befreit Hawkwood allmählich sein eigenstes
Selbst aus der Knechtschaft fremder Einflüsse und reift zu
edler, freier Menschlichkeit heran. Die politischen, sozialen,
philosophischen Betrachtungen, mit denen seine Selbst-
biographie durchsetzt ist, verleihen diesem Romane ein
besonderes Interesse.
Mit dem den Untergang der venezianischen Republik
behandelnden, trotz des großen Aufgebotes von Lokalkolorit
wenig Überzeugenden und fesselnden Romane Love and
Mesmerism (Liebe und Mesmerismus) verabschiedete Smith
sich 1845 vom Publikum. Sein Talent war nicht stark
genug, um das Ideal, das ihm klar vor der Seele stand, in
entsprechender Weise zu verkörpern. Doch, wenn sein Werk
dem Leser auch nicht alles das Übermittelt, was er selbst
kräftig im Gemüt erfaßte, so spiegelt es doch seine eigene
vielseitige und ttlchtige Persönlichkeit.
„In der Religion wie in der Politik ist er ein Gegner von
Geschichte der eo^rlitehen Bomantik II, 1. 24
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370 Der Uterarische DsBay.
allem Fanatismns, ein Mann ohne Vorarteile, der den Eriegs-
mhm ffir Nationalwahnsinn erklärt und das englische
Gesetz Hokus Fokus schilt, ein Optimist voll Glanben an
die Menschheit und voll Sympathie für den Nächsten, all
sein Lebelang ein guter Mensch, der Praktisches und
Ideales trefflich zu einen versteht. Gleich geschickt,
weltlich zu erwerben und weltfremd zu verbrauchen, ge-
deiht er im Gewühle, macht sich die Wirklichkeit beinahe
dienstbar und f&hrt in ihr ein Leben voU Phantasie und
guter Taten.^ So schildert ihn Leigh Hunt.O So erkennen
wir ihn wieder in seinen Werken, einen Pionier des modernen
sozialen Romans.
Werke von Horace Smith.
1799 A Family Story.
1800 The Bunatoay, or The Seat of Benevolence.
1801 Travanion, or Matrimonial Errors.
1807 Horatio, or Memoirs of the Davenport Family.
1812 The Highgate Tunnel, or The Beeret Axch.
— First ImpressionSf or Trade m the West
1821 Amarynthus the Nympholept. With other Poems.
1825 QaieUes and Oravities. A Series of Essays and Comic
Tales.
1826 The Tor Hill.
— Bramhletye House, or Ca/valiers and Roundheads.
1827 BeUben Apsley.
1828 Zaia. A Tale of the Holy aty.
1829 The New Forest.
1830 Walter Colyton.
1831 Festivals, Games, and Amiisements Andent, and Modem.
1838 Qale Middleton. A Story of the Present Day.
1) Our Cottage.
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Der literarische Essay. 371
1836 The Tm Trun^et, or Heads and Tales for Wise and
Waggish, edited hy Jeffenon Saunders.
1838 Jane Lomax, or A Mother's Orime.
1841 The Moneyed Man, or The Lesson of a Life.
1842 Masaniello, an Historigue Romance.
1843 Adam Brown, The Merchant
1844 Arthur, Arundal. A Tale of the EngUeh EevoluUon.
1845 Love and Mesmerism,
1846 PoeUcal Works.
Werke Ton James Smith.
1841 Memoirs, Letters and Comic Miscellanies in Prose and
Verse, edited 2);^ Horace Smith,
1871 FoeUcal Works, edited ly E. Sargent
Gemeinsame Werke.
1812 B^ected Addresses, or The New Theatrum Poetarum
(Neaansgaben: Morleg's Universal Library [Burlesques,
Plays, and Poems\ 1885; Aldine Edition, 1890).
1813 Horace in London. ConsisUng of Imitations of the First
Two ßooks of The Ödes of Horace. By the Authars of
Re^ected Addresses.
Werke fiber Horace und James Smith.
1899 Arthur Beaven, James änd Horace Smith, A Family
NarraU/oe.
— Richard Oarnett, Artikel Horace and James Smith,
DicUonary of National Biogrqphy.
24*
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Thomas Love Peaoook.
1785—1866.
Dlchtmigeii.
In Weymonth (Dorset), einer kleinen Hafenstadt an
der lieblichen SüdkOste von England, wurde Thomas Love
Peacock am 18. Oktober 1785 geboren. Er war ein auffallend
schöner Knabe. Königin Charlotte ließ einmal ihren Wagen
halten, um ihn zu küssen. Da der Vater Samuel Peacock, ein
Glashändler in St Pauls Churchyard, starb, als Thomas drei
Jahre zählte, fiel die Erziehung des Knaben der Mutter Sarah,
geborenen Love (f 1883), anheim, einer an Geist und Gemüt
hervorragenden Frau voll Naturgefühl und literarischem
Verständnis. Sie zeigte sich der Aufgabe so völlig ge-
wachsen, daß sie die beste Freundin ihres Sohnes blieb,
auch als dieser längst zum Manne gereift war. Er ver-
öffentlichte kein Werk, ohne es ihrem Urteil unterbreitet
zu haben, und nach dem Verluste seiner Gattin wurde sie
die Erzieherin seiner Kinder.
Sie förderte mit feinem Verständnis die poetische Be-
gabung des Knaben, dem der mütterliche Großvater Thomas
Love, ein pensionierter Kapitän, von weiten Keisen und
Schlachten auf hoher See erzählte. Mit zehn Jahren (1795)
schrieb Thomas seine ersten Verse, 9 eine Epistel an die
Mutter. Mit elf Jahren verfaßte er eine Grabschrift für
^) Cole, Biographie Notes.
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Der Uterarische Essay. 878
einen Schulkameraden und eine poetische Epistel an einen
Vetter in Spanien. Der Inhalt ist altklng und nachempfunden,
der Ausdruck konventionell, metrisches Gefühl aber unver-
kennbar. Ein in Prosa abgefaßter Brief an den spanischen
Vetter aus dem Jahre 1796 enthält einen heftigen Tadel
Pitts und einen feurigen Appell an die Vaterlandsliebe:
„Möge jeder, in dessen Adern englisches Blut fließt, dieses
Motto zur Richtschnur wählen: Lieber Tod als Schmach!^
Bei aller Unselbständigkeit des politischen Urteils ist doch
der Schwung und die Reife des Vortrags im Hinblick auf
den elfjährigen Verfasser bemerkenswert
Seine Eindeijahre verlebte Peacock in Chertsey am
Eingange des Windsorwaldes. Hier erwuchs aus seinen
frühesten Eindrücken und Gewohnheiten jene vertraute
Fühlung mit der Natur, jene innige liebe für Wald und
Feld und jene patriotische Begeisterung für die Themse-
landschaft, die niemals in ihm den Wunsch aufkommen ließ,
andre schöne Gegenden zu sehen. Damals schon wurde
der Grund jener poetischen Bodenständigkeit gelegt, die
Peacock zum spezifischen Cockneydichter macht Er ist
mit der Schönheit seines Gaus verwachsen, von ihr durch-
drungen; er kennt keine andre außer ihr. In seinem
langen Leben hat er die Grenzen seiner Heimat nicht
überschritten. Noch 1862 nennt er in einem Erinnerungs-
blatt The Last Day of Windsor Forest (Der letzte Tag
des Windsorwaldes) eine Hirschjagd, die er an einem
sonnigen Tage als Kind mit ansah, den schönsten Anblick,
den er je genossen, und glaubt, daß nun mit der Aus-
treibung der Hirsche der letzte Tag des Windsorwaldes
gekommen sein müßte.
Sarah Peacocks beengte Verhältnisse zwangen sie, die
Schulbildung ihres Knaben mit vierzehn Jahren abzu-
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374 Der Uteniuolie Sssay.
schließen und ihn in einem Londoner Greschäftshaose anter-
zubringen. Aber Peacock behielt einen Überschuß an freier
Zeit, die er im Britischen Museum verbrachte, und seine
Bemühungen förderten ihn bald mehr, als es der Gymnasial-
unterricht vermocht hätte. Die klassische Welt nahm ihn
gänzlich gefangen. Er verband in sinnreicher Weise mit
den philologischen gleichzeitig kunstgeschichtliche Studien,
mit der Lektüre den Anschauungsunterricht, und lernte so
mit der Literatur der Alten in gleichem Umfang ihre
plastischen und architektonischen Meisterwerke kennen,
die das Britische Museum verwahrt. Wenn seiner Gelehr-
samkeit auch zeitlebens ein gewisser Mangel an Exaktheit
anhaftete, der den Autodidakten kennzeichnet, ging ihm doch
der Geist der Antike in Fleisch und Blut über.^) Es dauerte
nicht lange, so gehörte er zu ihren gründlichsten Kennern.
Im Jahre 1800 trat Peacock zum erstenmal in die
Öffentlichkeit. Mit einer Dichtung im heroischen Vers über
das lehrhafte Thema: Is Histary or Biography fke more
improving Study? (Ist Geschichte oder Lebensbeschreibung
das veredelndere Studium?) gewann er den Preis, den der
Herausgeber der Jugendzeitschrift The Monihly Prec^tor
(Der Monatlehrer) für gute Beiträge ausgesetzt hatte. Nach
einem gewissenhaften Abwägen der beiderseitigen Vorteile
erkennt der junge Autor der Geschichte den Preis zu.
Mit der zunehmenden Innigkeit seiner Einfühlung in
die Antike hält Peacocks wachsende Abneigung gegen die
Schauerromantik Schritt In einem mit duftendem Jasmin
bewachsenen Häuschen bei Chertsey, The Abbey House,
das seinen Namen von den nahen Kuinen einer Abtei
aus Heinrichs VIII. Zeit führte, pflegte der Knabe mit
^) VgL T. Boren, 16 und Works, ediied by Cole, Introdnotioii X.
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Der literaräohe Essay. 375
einem gleichaltrigen Kameraden The Mysteries of Udolpho
and andere Scbanergeschichten zu lesen. Man vertiefte
sich in die gruselige Stimmung, bis Peacock eines Abends
ein Gespenst aus dem Gebüsch vor dem Hause treten
und wieder verschwinden sah. Die Jungen schlugen Lärm.
Der Hausherr rflckte an der Spitze des ganzen Gesindes
gegen den unheimlichen Gast. Da entpuppte sich zu all-
gemeiner Enttäuschung das Gespenst als ein Büschel Lilien
an einem langen im Winde schwankenden Stamme. Dieser
Vorfall, den Peacock später in einer anmutigen Plauderei
geschildert hat,i) gab die Veranlassung zu der ziemlich
saft- und kraftlosen poetischen Satire The Manks of 8t
Mark (Die Mönche des heiligen Markus), 1804. Die in
stürmischer Mitteruacht unter Donner und Blitz pokulie-
renden Mönche, die schließlich unter den Tisch und über
die Treppe fallen, bieten ein Bild krasser und banaler
Wirklichkeitsmalerei, an dem die jambischen Achttakter
(a a b b c c) weitaus das beste sind.
1806 veröffentlichte Peacock sein erstes Bändchen Gte-
dichte Palmtfra and oiher Poems. Der Erfolg war zweifel-
haft und das Werk verdiente es nicht anders. Die Anregung
stammte ans Robert Woods Buins of Pdlmt/ra, otherwise
Tadmor in the Desert, 1753/^) Was die Form betrifft»
hielt Peacock sich in Palmyra an die bei den Bomantikem
so beliebte des lyrischen Epyllion mit erklärenden und
belehrenden Anmerkungen. Der reflektierende Inhalt ist
auf Grays sentimentalen Ton frommer Resignation und
schwermütiger Ruinenbetrachtung gestimmt und wird durch
Stilanklänge an Ossian und Wordsworth nicht origineller.
») T. Doren, 28.
*) Tales from Benüey, vol. I. BeeoUeeÜons of CJOdhood.
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376 Der literansohe Essay.
Fdlmyra war tatsächlich bei seinem Erscheinen bereits
veraltet. Nicht ein Kömchen stofflichen Gehaltes ist in
die eintönige Klage Aber die Vergänglichkeit des Irdischen
eingesprengt Durch das dem Untergange bestimmte Pal-
myra erschallt eine prophetische Stimme: „Des Menschen
Lebensfrist ist kurz. Liebe, Eifersucht, Verzweiflung,
Hoffnung, alles ist flüchtig. Keine Machtentfaltung hält
das Schicksal aul Ein Tor, wer auf Beständigkeit rechnet^.
Dieser düsteren Stimme aber antwortet eine helle aus den
Behausungen der Toten. Sie hält dem Menschen vor, wie
gedankenlos seine Trauer sei über die Wolken, die seinen
kurzen Tag beschatten, über die Hand des Todes, die ob
seinen Hoffnungen hinfegt. Gott schwingt seine Geißel in
milder Strenge. Er gleicht die Sorgen der irdischen Lauf-
bahn mit himmlischem Segen aus. Denn er ist gerecht,
er ist groß, er überdauert Himmel und Erde. Den ungleich
geteilten Strophen, die in trochäischen Achttaktem rhyth-
misch dahinfließen, wird man einen gewissen lyrischen
Schwung und manchen Bildern plastische Größe nicht ab-
sprechen. Im übrigen aber fehlt in Palmyra jede Äußerung
eigenartiger poetischer Kraft^ die der Welt etwas neues zu
sagen hat. Wenn Shelley den an eine Nachmittagspredigt
erinnernden Schluß das schönste Stück Poesie nannte, das
er je gelesen, so beweist dies nur seine bis zur Kritik-
losigkeit gehende Überschwänglichkeit gegen Freunde und
seine von jeder Gehässigkeit freie, unbedingte Duldsamkeit
gegen alle den seinen noch so widersprechenden religiösen
Ansichten.
Die mit Palmyra veröffentlichten Gedichte bewegen
sich ungefähr in demselben Gefühls- und Gedankenkreise.
Sie leiden unter demselben Mangel an Urwüchsigkeit. Einige
lehnen sich unmittelbar an Ossian an {Fiolfar, King of
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Der HteraiJBohe Essay. 377
Norway, Fiolfar, König von Norwegen; Foldath in the Cavern
ofMora, Foldath in den Höhlen von Mora); einige variieren
das dftstere Thema der Vergänglichkeit des irdischen {Mvra)
und der Grabessehnsucht {The Old Man's Complaint, Des
Greises Klage). Die eingestreuten Liebesgedichte scheinen
ihr Entstehen nicht sowohl einem inneren Elrlebnis zu ver-
danken als der Erwägang, daß eine Abteilung Erotik in
jede lyrische Sammlung gehöre. Nach Peacocks Auffassung
ist das Weib für den Mann geschaffen. Für das verlorene
Eden gab die mitleidige Natur dem Menschen ein Paradies
der Liebe (The Vision of Love. Gesicht der Liebe). Der
junge Dichter träumt, um das Glfick und den Ehrgeiz
dieser Welt unbekümmert, von einem ländlich stillen Heim,
wo er in ungestörtem Beisammensein mit der Geliebten
die wechselnden Freuden der Jahreszeiten genießen möchte,
bis an das Ende seiner Tage, dem ein seliges Wiederfinden
im Himmel folgt
Ungeachtet des fühlbaren Mangels an impulsivem und
individuellem Empfinden scheint die hier besungene Fanny
tatsächlich der Wirklichkeit angehört zu haben. Ein junges
Mädchen aus Chertsey warf 1807 auf Peacocks Sommertage
den Goldglanz einer ersten innigen Neigung. Es gab
herrliche Stelldicheins in den grün überwucherten Trümmern
der Newark Abbey, Es kam zum Vei-löbnis. Aber die un-
berufene Einmengung einer dritten Person trennte die
Liebenden. Fanny Falkner 0 vermählte sich ein Jahr
später und starb jung. Peacock, mehr für warme Neigung
als für starke Leidenschaft veranlagt, bewahrte ihr lebens-
lang ein wehmütig treues Andenken, das in dem innigen
Remember me (Gedenke mein) (1808 — 1809) und in den
0 VgL v. Doren 84.
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378 Der litenriBche Essay.
Versen Äl mio primo amar (Meinem ersten Lieb), 1813, Ans-
dmck fand. Fannys anmutige Erscheinung wird Peacock
allmählich zum verklärten Symbol seiner Jugend. Noch 1842
gedenkt er in dem Gedichte Newark Äbbey on the Wey.
Written with a Reminiscence of Äugtist 1807 (Die Newark
Abtei am Wey. Geschrieben in Erinnerung des August 1807)
„des lauteren Wunders ihrer Lieblichkeit^, der holden Stimme,
des leuchtenden Auges, die seiner Seele Musik und Licht
bedeuteten, als das Leben noch neu war und die Hoffnung
tr&gerisch, doch die Liebe wahr.
Der Held dieses kurzen Liebesidylls erscheint auf
einem Bilde aus seinem 18. Lebensjahre ^ als ein schmal-
schultriger, blauäugiger Jüngling mit einer Mähne blonden
Haars und offenen, klugen Gesichtszügen, deren Gesamt-
eindruck Lebensfrische und Heiterkeit ist 1808 erhielt
Peacock durch Großvater Loves Vermittlung eine Sekretär-
stelle bei Sir Horace Riggs Popham auf dem Schiffe Vener-
able, das vor Ylissingen kreuzte. Die amtlichen Verpflich-
tungen waren gering, aber das eingefleischte Landkind und
der leidenschaftliche Fußgeher konnte das Unbehagen auf
dem Wasser nicht verwinden. Dichten war in „der
schwimmenden Hölle" eine Unmöglichkeit.») 1809 finden
wir Peacock wieder in seinem Element, nämlich zu Hause
und mit der Abfassung einer schon 1807 geplanten Dichtung
beschäftigt, die, der noch nicht völlig veralteten Mode der
topographischen Gedichte folgend, den Lauf der Themse,
einen Weg von 180 englischen Meilen — „einen ganz
netten Spaziergang" — poetisch verfolgen sollte und 1812
unter dem Titel The Genius of the Thames (Der Genius
der Themse) erschien.
>) Bro9e Works.
') An den Verleger Hookham, 28. November 1808.
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Der literanadie Essay. 379
Peacock machte fflr sie Quellenstndien im buchstäb-
lichen Sinne des Wortes. Er forschte im Juni 1809 dem
Ursprünge der Themse nach und bestimmte unter mehreren
Einnsalen ihren wahren Ursprung: ein Flufichen, das auf
einer Wiese in der Nähe der Dörfer Kemble und Tarlton
in Gloucestershire entspringt. Mit Leib und Seele war er
bei dieser Untersuchung. Seine Natur, die die Gewalt
des Ozeans so wenig wesensverwandt berührte wie eine
erschütternde Leidenschaft, fühlte sich in der stillen Anmut
der englischen Flußlandschaft in mehr als dem wörtlichen
Sinne daheim. Seine poetische Anschauung der Natur, die
von der Majestät des Meeres erdrückt wurde, kam der
anspruchslosen Lieblichkeit der Themseufer in liebevoller
Hingabe entgegen. Vor dem Ozean schrumpft seine Per-
sönlichkeit in nichts zusammen, sie möchte sich verkriechen,
seine Hoffnung steht auf der Heimkehr. {Stamas written
at Sea. Verse, auf dem Meere geschrieben) Dem Flusse
gegenüber gibt es keine Möglichkeit der Betrachtung, die
er dem bescheideneren Thema nicht abgewänne. Kein Gold-
kom bleibt ungehoben. Der geringfügigere Gegenstand er-
weckt im Dichter ungleich höhere Gesichtspunkte. In sicherer
Bemeisterung des Stoffes geht er kraftbewußt über ihn hinaus.
In der Schilderung des Themselaufes wird keine An-
regung zur Reflexion übergangen. Bei Oxford apostrophiert
der Dichter die Wissenschaft Der Hafen von London wird
zum Inbegriff der britischen Macht Historische Erinnerungen
werden lebendig. Er gedenkt WilUam Masons, des Verfassers
der Elfridüf Thomsons, Popes, dessen Einfluß deutlich in
der Anlage und vielen Einzelheiten des Genius of the Thcmes
zu spüren ist Der Lauf des Flusses wird dem Strome der
Zeit verglichen. Der patriotischen Begeisterung des nie
gereisten Peacock zuliebe muß die Muse nach einem Über-
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380 Der literarische Essay.
blick s&mtlicher mit Namen angefahrter Hanptströme der
Welt der Themse den unbedingten Vorrang einräumen.
Kann Mut und Tfichtigkeit den Lauf der Zerstörong hemmen,
so geht Britannien erst mit der Welt zugrunde. Als ein
frühes und charakteristisches Beispiel von Peacocks Eigen-
art, Dinge und Menschen yon zwei Seiten aus zu betrachten,
steht neben The Genius of ihe Thames ein gleichzeitig
(6. Juni 1809) an den ihm befreundeten Verleger Edward
Hookham geschriebener Brief. „Die Themse", heißt es hier,
„ist beinahe ein ebenso geeigneter Gegenstand für eine
Satire als für einen Panegyrikos." Der Satiriker könnte
ausrufen: „Die kommerzielle Baubgier, nicht zufrieden mit
dem ungeheuren Vorteil, den sie aus dem Flusse in einem
Laufe von fast 300 Meilen zieht, errichtet an der St&tte
seiner Geburt eine ungeheure Maschine, um sein noch un-
geborenes Wasser aus dem Schöße der Erde zu saugen und in
in einen schiffbaren Kanal zu pumpen !" Und wie wünschens-
wert w&re es, bedeutete das Väk*brechen des Wasseraus-
saugens das Schlimmste, was sich der Handelsschiffahrt
zur Last legen ließe. Aber wir brauchten nur auf das Be-
nehmen der spanischen Christen in Südamerika, der eng-
lischen Christen in Ostindien und der Christen aller
Nationen an der Küste Afrikas zu verweisen, um die tieferen
• Farbenschichten ihrer blutsaugerischen Scheußlichkeiten
bloßzulegen.
Der frohe Naturgenuß, der die empfängliche Brust
des Jünglings Peacock schwellte, findet in seiner Dichtung
keinen Ausdruck. Im Gegenteil. Seine poetischen Erzeug-
nisse aus dieser Zeit sind nach einer düstem Schablone zu-
geschnitten (Necessity, Notwendigkeit; Youih in Äge. Jugend
im Alter, 1811). Eine vierteilige lehrhafte Dichtung, The
Philosophy of MeUncholy (1812), bedeutet einen vergeblichen
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Der Hteraiische Esmy. 381
Versuch, Toongsche Trübseligkeit zu neuem weltschmerz-
lerischen Dasein zu erwecken. Der Geist der philosophischen
Schwermut» der die Wandelbarkeit des Alls betrachtet, wird
als Hauptquelle der Tugend, des Mutes, des Genius ge-
feiert Ihm entstammen die reinsten und dauerndsten
Freuden. Seine Gegenwart ist in der Erhabenheit der
Natur fühlbar. Ihm entnimmt die Kunst ihren größten
Zauber. Mitleid, Liebe und teuere Erinnerungen wurzeln
in ihm. Das an die Betrachtung der Wechselfälle gewöhnte
Gemüt erhebt sich über Leid und Mißgeschick. Durch die
allm&hliche Erkenntnis der vollkommenen Weisheit des
höchsten Lenkers wird die Resignation schließlich zur
positiven Überwinderin des Schmerzes.
Eine zweite, auf zwölf Gesänge in Spenserschen Stanzen
berechnete reflektierende Dichtung Ährmcmes, von Shelley
im Juni 1813 zitiert, blieb im Anfang stecken. Dem einsam
am Meeresstrand wandelnden Jünglinge Davassah erscheint
ein Genius, der ihm einen Überblick über den traurigen
Wandel der Zustände vom friedlichen Naturleben des primi-
tiven Menschen bis zum Bau der modernen Gesellschaft
gibt Mit dem Beginne der eigentlichen Erzählung — dem
Schicksale des Liebespaares Davassah und Eelasois auf
einer das Leben symbolisierenden Bootfahrt — bricht die
Dichtung ab. Dieses Symbol dürfte nicht ohne Wirkung
auf Shelleys Älastor (1816) geblieben sein, während sich
andrerseits in den von Peacock im Ährimanes zugrunde
gelegten vorgeblich persischen Mythologiebegriffen der Ein-
fluß von Shelleys exzentrischem Freunde, J. F. Newton
ausdrückt, dessen The Betum to Nature (Die Rückkehr
zur Natur), 1810, auch in Laon and Oyfhna in zahlreichen
Einzelheiten nachklingt.^
») A. B. Young, Modem Lcmguage Beview, Vol. IV Nr. 2 (Jan. 1909).
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382 Der literarische Essay.
Auch als Dramatiker yersuchte sich Peacock, nach dem
Ungeschick dreier handschriftlich Unterlassener Komödien
za schließen, schon in sehr früher Zeit. Das Blankyersdrama
The Circle of Loda (Der Kreis yon Loda), dessen Haupt-
inhalt die Konflikte eines zwischen zwei Frauen stehenden
Helden bilden, steht in einer inneren Verwandtschaft
zu den mit Pahnyra veröffentlichten skandinavischen Ge-
dichten. ^ Der Held der armseligen zweiaktigen Posse
The Dilettanii (zwischen 1806—1814 entstanden), Chromatic,
wird von Peacock in seinem ersten Bomane HeacUong Hall
wieder verwendet. Die zweiaktige musikalische Posse The
Three Doctors (Die drei Ärzte) verspottet in der Bivalität
dreier Söhne des Äskulap den ärztlichen Stand.^) Das beste
in diesen Komödien ist die eingestreute Lyrik, die eine
nicht sonderlich tiefgehende Empfindung in leichtflfissig
rhythmischer Form zum Ausdruck bringt und Gedanken-
splitter witzig oder humoristisch zuspitzt.^)
Der Sommer 1812, den Peacock in Wales verlebte,
brachte ihm die ffir beide Dichter bedeutsame Bekannt-
schaft mit Shelley. Der gemeinsame Verleger Hookham,
ein Mann, der sich nicht nur für das literarische Geschäft,
sondern für die Poesie interessierte, vermittelte die persön-
liche Annäherung.^)
Shelley war damals zwanzig Jahre alt. Sein Genius
gährte und wühlte unheimlich, im ganzen noch mehr
eine große Zukunftsversprechung als wirkliche Erscheinung.
0 Vgl. V. Doren, 32.
«) The Flays of Th. L. Peacock, edited hy A, B, Toung, 1910.
^ Die Lieder allein worden von Tonnjf in Notes and Queries 10»
S. X (5. Dezember 1908) nnd 10 S. XI (16. Januar 1900) Teraffentlicht
*) Peacock verlegt sie in seinem SheUey Memoir irrtümlicherweise
erst in den November 1812.
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Der literarische Easay. 883
Am 18. August 1818 faßt er in einem Briefe an Hookham
sein Urteil über The Genius of (he Thames folgender-
maßen zusammen: „Die Gedichte zeigen einen Überfluß
an Genie, ein Wissen, dessen Stärke und Ausdehnung
ich in dem Maße bewundere, als ich den Gegenstand,
fttr den es angewandt wird, beklage. Peacock ist der
Meinung, daß der Handel Eigentum des englischen Volkes,
der Buhm der englischen Flagge sein Gluck sei; daß
Q«org HL weit entfernt ein Krieger und ein Tyrann
zu sein, ein Patriot gewesen. Mir scheint es anders und
ich habe mich mit Strenge daran gewöhnt, mich durch die
lieblichste Beredtsamkeit und die süßesten Melodien nicht
verleiten zu lassen, dasjenige mit intellektualer Duldung
anzusehen, das von jenen, welche die Freiheit, die Wahr-
heit und die Tugend lieben, nicht geduldet werden soll.^i)
Trotz dieser tief greifenden Gegensätzlichkeit ergab
die persönliche Bekanntschaft doch allerlei Berührungs-
punkte: die Liebe und Kenntnis der Antike, die zu eifrigen
gemeinsamen Studien führte, das tiefe, echte Naturgefühl,
in dem man sich auf einer gemeinsamen prächtigen Themse-
fahrt zusammenfand, und manche exzentrische Liebhaberei,
wie das Spiel mit Papierbooten.^) Peacock ermangelte damals
nicht einer fast geflissentlich zur Schau getragenen Ro-
mantik des Gehabens. Seine bürgerliche Stellung war um
nichts gefestigter als die Shelleys. Seine Existenz hatte
etwas Zigeunerhaftes. Auch er verbrachte seine Tage in
kavaliermäßiger Unbekümmertheit um das Morgen, im vor-
nehmen Geistes- und Naturgenuß, der von einem andern
Standpunkt aus auch anders benannt werden konnte. ^
>) Shdley Memorials, edited by Lady Shelley,
*) Peacocks Shdley Memoir, 421.
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S84 Der literarische Esmy.
Shelleys Schwager Charles Clairmont sagte von ihm:
„Er scheint eine Neigung zum Müßiggange zu haben , ja,
im Sommer ist er ein offenkundiger Müßiggeher. Er kann
sich dem Studium nicht hingeben und glaubt, es sei ihm
als einem menschlichen Wesen besser, sich völlig den Schön-
heiten der Jahreszeit zu fiberlassen, so lange sie dauern.
Er war nur glücklich, wenn er von morgens bis abends
außer Hause sein konnte. ^^
Shelley griff Peacock zu wiederholten Malen mit Geld-
spenden unter die Arme, ja eine Zeitlang setzte er ihm
eine regelmäßige Jahresrente von 50 £ aus. Und auch in
dem heikein Punkte des Geldnehmens unterschieden sich
Peacocks Empfindungen nicht wesentlich Ton den unter
Shelleys Freunden üblichen. Er nahm das Geld, das Shelley
ihm anbot, ohne viel Federlesens — aus Geringschätzung
des Mammons.
So bewegten sie sich im großen und ganzen auf gleicher
Bahn. Daß Shelleys Genius tausend Schritt voraus hatte,
machte sich auf seiner damaligen Stufe noch nicht so un-
bedingt fühlbar. Shelley schrieb an Hogg: „Peacock ist
ein sehr sanfter, angenehmer Mensch und ein tüchtiger
Gelehrter. Sein Enthusiasmus ist nicht sehr glühend und
seine Ansichten sind nicht sehr vielumfassend, aber er ist
weder abergläubisch, übellaunig, pedantisch, noch hochmütig.''
Vermißte Shelley mitunter Enthusiasmus an Peacock und
warf ihm Kälte vor, so konnte er doch nicht umhin, Peacocks
durch und durch gesunde und geistig gut equilibrierte
Natur als ein wohltuendes Gegengewicht gegen die eigene
übermäßige Feinfühligkeit zu empfinden.
Peacock begegnete Shelleys Baubmordvisionen mit ent-
1) Bichard Gamet, Dictionary of National Biography.
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Der literarische Essay. 385
schiedenem Zweifel. Er hielt sowohl das Attentat in Tany-
rallt als die Besuche des Dr. Williams aus Tremadoc, der
1813 angeblich Shelley vor Sir Timothy warnte, für Hal-
luzinationen. Die Überspanntheit des Boinvilleschen Kreises
erblickte er im Lichte eines heilsamen Humors. Nichtsdesto-
weniger vertrugen sich die beiden Freunde so gut, daß
Peacock im Herbste 1813 die Shelleys auf einer Reise
nach Cumberland und Edinburgh begleitete. Um diese
Zeit brach in dem an inneren Kämpfen so reichen kurzen
Dichterleben die phantastischste und stürmischste Periode
an. In Shelleys Zerwürfnis mit Harriet stand Peacock
unbedingt auf ihrer Seite. Die Sympathie, mit der ihn
ihr blühendes Wesen, ihr heiterer Sinn erfüllte, beruhte
auf einer Ähnlichkeit der Naturveranlagung. In seinem
Shelley Memoir hat er für ihre Unschuld und ihre Anmut
ein wertvolles und warmes Zeugnis abgelegt.
In praktischen Dingen zog Shelley Peacock gern zu .
Bäte. 1814 bittet er ihn, sich seiner Geldangelegenheiten
anzunehmen, wobei freilich (August 1814) die verstimmten
Worte an Harriet mit unterlaufen: „Er ist verschwenderisch,
unüberlegt und kalt, aber gewiJS nicht ganz falsch und
unfreundlich und unserer Freundlichkeit für ihn eingedenk.
Überdies sichert der Eigennutz seine Aufmerksamkeit auf
diese Dinge.^ 1817 ernennt er ihn zu seinem Testaments-
vollstrecker.
Was die gegenseitige dichterische Beeinflussung betrifft,
so ist es sonderbar, daß sie bei Shelley in höherem Grade
zutage tritt als bei Peacock. Vielleicht, weil Verstandes-
oder Stimmungseinflüsse sich mitteilen lassen, Genie aber
nicht
Peacocks Lines to a Favourite Laurel (Verse an einen
Lieblingslorbeerbaum), 1814, die die schlafbringende Kraft
Geschichte der enfirliBchen Bomaatik II, 1. 25
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386 Der literarische Essay.
des Slrschlorbeers aber jeden anderen Zauber erheben,
mögen ihre Entstehung einer jener furchtbaren Leidenschafts-
szenen yerdanken, nach denen Shelley im Laudannm Er-
leichterung Ton seelischen und körperlichen Qualen zu
suchen pflegte und die Peacock in seinem Memwr so an-
schaulich geschildert hat
Die gemeinsame Reise an die Cumberland-Seen, auf der
Shelley und Peacock Coleridge, Wordsworth und Southey
in ihren Heimst&tten au&uchten, hatte eine tiefe Ent-
tftusehung zur Folge. Vielleicht war es Peacocks scharfer
Sinn fflr menschliche Lftcherlichkeiten und Übertreibungen,
der auch Shelley die Augen öffnete über die vor kurzem
noch so unbedingt Verehrten. Die literarische Frucht^ die
die Reise für Peacock zeitigte, war das unter dem Deck-
namen O'Donovan 1814 veröffentlichte satirische Epos Sir
Proteus. Es erzählt, wie Johnny Raw auf Old Poulter^s
Mare (des alten Federviehhändlers Mähre) nach Hindostan
reitet Old Potdter's Mare ist eine gelehrte boshafte An-
spielung auf poulter^s measure, eine im 16. Jahrhundert so
benannte schwerfällige Verquickung von Alexandriner und
Septenar.i) Johnny Raw ist Southey, als reisender Held aber
zugleich auch Childe Harold. Die Sprache des Sir Proteus
bildet in ihrer Mischung von hochtrabendem Pathos und
banaler Natfirlichkeit keine üble Karikatur von Byrons
StiL Der sehr durchsichtigen poetischen Verkleidung kommt
Peacock noch durch Anmerkungen zu Hilfe. Johnny Raw be-
schwört den Proteus, daß er seinen Dichtergaul inspiriere.
Proteus erscheint in der Gestalt eines dicken Folianten
)) Guest, A Eislory of English Bythma (U, 233), leitet den
Namen poulter's meamtre von dem Umstände ab, beca/uae the pouUerer,
as Gaacoigne teüa ua, giveth twelve for one dozen and fourteen for
anoiher. (Sehipper, Metrik 1, 257.)
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Der litenrische Essay. 387
(des Vokabulars, das in Grasmere und Derwentwater, an
den üf^m des Tweed and Teviot in beredte Verse gebracht
wird), yerwandelt sich dann in die drei Weisen (Words-
worth, Coleridge, Sonthey), in ein fröhliches irisches Jig
(Thomas Moore) und in einen grauen Minstrel mit einer
Geisterharfe (Scott). Als solcher behauptet er das Feld,
während Johnny von Old Poülter's Mare, die durchgeht,
ins Wasser geschleudert wird.
Sir Proteus war Byron zugeeignet mit Worten, welche
als Geifielhiebe auf die English Bards and Seotch Reoiewers
gemfinzt, den Geschmfthten, dem sie durch Samuel Bogers
flbermittelt wurden, nur zu dem ironischen Zitat aus Johnson
yeranlaßten: „Leben wir noch nach aU diesem Tadel ?^i)
Ansprechender als Peacocks Satire ist sein um dieselbe
Zeit entstandenes,^) harmlose und schlichte Heiterkeit
atmendes Kinderepos Sir HornbooTc, or Childe Launcelofs
Expedition. Ä Grammatico-Ällegorical Bailad (Herr Mbel
oder Ritter Lanzelots Ausfahrt Eine grammatisch -alle-
gorische Ballade), „eine grammatikalische Pille in der
Zuckerhülle von Kinderstubeöreimen".=*) Hier greift Peacock
bereits zu den sogenannten sprechenden Namen, die er
später fast ausschließlich verwendet hat. Childe Launcelot,
der, in die Farben der Emulation (des Wetteifers) ge-
kleidet, an Sir Hombooks Schloß pocht, ist der kleine
ABC-Schütz. Sir Hombooks merry men erscheinen, die
26 Buchstaben, mit denen er eine Wanderung nach allen
TeUen der Grammatik antritt Zuletzt gelangen sie zu
Sir Syntax, der mit seinem Liebchen, der schonen Prosody,
») Byron m, 90.
•) Ycrang, 14.
•) Tui Doren, 5a
25*
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Der literarische Essay.
trotz einer zwischen ihnen bestehenden kleinen MUS-
helligkeit — „Herr Syntax war allein für Sinn und
Prosodie fftr Klangt — den ganzen Parnaß in Ansprach
nimmt. Sir Syntax erinnert an William Combe's volks-
tfimliche Tour of the Rev. Dr. Syntax in Search of the
Piduresque (1812)/) mit der Peacocks Dichtung auch im
Versmafi (jambische Viertakter) abereinstimmt Am Tor
der Musen zieht sich Sir Hombook Ton Childe Launcelot
zurück, der nun zu selbständiger Wanderung reif ist
Im März 1818 trennten Shelley und Peacock sich für
immer. Es war ein schwermütiger Abschied. In dichterischer
Hinsicht aber trat die tiefe Bedeutung dieser Freundschaft
nun erst recht zutage, nachdem das Zusammenleben seinen
Abschluß gefunden hatte. Die schönste Blüte, die sie für
Peacock zeitigte, ist Bhododaphne, or The Thessalian Spdl
(Bhododaphne oder der Thessalische Zauber), ein Epyllion
in unregelmäßigen Strophen von jambischen Achttaktem,
die Peacock mit der ihm von früh auf eigenen Leichtig-
keit in der Handhabung des Metrums bemeistert^)
Der Inhalt der Dichtung -ist folgender: Der Venus-
tempel zu Thespia am Fuße des Helikon enthält drei
Statuen, die die Göttin in ihrer dreifachen Bedeutung
darstellen: 1. die schöpferische Liebe, ein uraltes, rohes
Steinbildnis; 2. die himmlische Aphrodite, ein Erzguß des
Lysippos, „Ausfluß heiliger Gedanken^'; S. die irdische Aphro-
dite, ein Marmorwerk des Praxiteles, zu dem seine Geliebte
Modell gestanden. Ein arkadischer Jüngling, Anthemion,
bringt der Göttin an ihrem Feste Wiesenblumen dar, um
ihre Hilfe für seine kranke Geliebte Callirhoe zu erflehen.
0 Vgl GescMefUe der Engl Bomantik 1, 2, S. 22.
') In Edgar Allan Poe's Marginaiia (ed. Ingram UI, 448) findet sich
folgende Notis: Bhododaphne (wer schrieb es?) ist ttbenroU yon Musik.
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Der literariBche Sssay. 389
Da runzelt das Bildwerk des Lysipp die Stirn, während
das nach Rhododaphne gebildete des Praxiteles lächelt
Anthemions Blumen fallen welk zu Boden. Obzwar er eine
Oleanderbliite, die ihm eine Jungfrau mit den Worten
reicht: Bis sie verwelkt, gedenke mein! als Symbol pro-
faner Liebe in den Fluß wirft, gesellt sich Rhododaphne
im nächtlichen Musenhain zu ihm, dem Widerstrebenden. Sie
knfipft an ihren Kuß den Fluch, daß er Gift bedeute für
alle, die nach ihr Anthemions Lippen berühren, i) Er bleibt
ihrer Zaubergewalt verfallen, bis endlich der Pfeil des
Eros Uranas {Uranian Love) Rhododaphne trifft. Nun ist
der Bann gebrochen. Callirhoe, die Anthemions Kuß ge-
tötet hatte, ersteht wieder in blühender Lebensfrische und
die Vereinten weihen in echt romantischem Empfinden der
überwundenen Glückstörerin Rododaphne einen zarten
Totenkultus. Callirhoe beweint die Nebenbuhlerin, deren
Vergehen ja ihrer Liebe zu Anthemion entsprang.^)
Shelley schrieb eine begeisterte, für den Hx^aminer be-
stimmte, aber zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichte
Kritik über Bhododaphne. Er nennt es ein Werk aller-
hervorragendster Bedeutung, antik der Empfindung wie
dem Schauplatze nach, während die Fabel aus einer Kom-
bination moderner Leidenschaften bestehe. Mit dieser
spezifisch romantischen Verquickung des Antiken und Mo-
dernen hat er wohl den springenden Punkt der Dichtung
berührt. Der Mensch, heimgesucht von irdischer und himm-
lischer Liebe, ist ein Spielball des Ideals und der Sinnlichkeit.
Sein Schwanken und die schlieflliche Rettung des immer
>) Man vergleiche den Gedanken des yerderbenbringenden EnBses
bei Goetiie, Wahrheit und Dichtung 1, 9, Schloß.
*) Man Tergleiche dasselbe Empfindmigsmoment in Don Carlos
IV, 19. Königin: „Sie liebten ihn — ich habe schon vergeben^.
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390 Der litenuriacfae Essay.
strebend sich Bemfihenden, des in der innersten Sede s^em
Gotte Treugebliebenen, ist der Gegenstand der Bhododaphney
wie es im großen nnd ganzen der Inlialt der gesammten
romantischen Dichtung ist Ebenso spezifisch romantisch
ist die Klage über Entgöttenmg der Natur, für die der Dichter
in einer indiyidaellen Naturbeseelong Ersatz anstrebt, so-
wie die Verehrung einer mit dem Ewig-Weiblichen ver-
schmelzenden geheimnisvollen Urgewalt unverkennbar
hat Shelleys Geist bei Bododaphne Pate gestanden. Sein
in Maiiow 1817 geschriebener Prince Äihanasey der im
ersten Entwurf Pandemos and Urania hieß, behandelt
das gleiche Thema, aber mit tragischem Ausgang. Bei
Shelley bringt nur der Tod die ersehnte Vereinigung
mit dem Ideal. Das Leben im Diesseits ist ein Wandern
und Irren nach Zielen, die sich in der Nähe als Blend-
werk erweisen. Peacock dagegen hUt auch hienieden ein
befriedigendes edles Gluck nicht für ausgeschlossen. Seine
Bododaphne ist mehr die natärliche Sinnenfreude, der
frische Genuß des Augenblicks als ein böser Dimon.
Anthemions Schilderung der beiden Jungfrauen Bhodo-
daphne und Callirhoe bezeichnet diese als „das Licht seiner
jungen Seele, den Morgenstern des Lebens und der Liebe''.
Jene ist leuchtend wie der Mittagshimmel, wenn fem im
Scheitelpunkt der Sonne grimme Strahlen brennen". Von
Shelleyscher Überzeugung getragen, erscheint die kühn
ausgesprochene Behauptung, daß alle echte Liebe frei nnd
ungebunden sei und sich nicht engherzig auf einen Gegen-
stand beschr&nken könne. 0
^) Man yergleiche die fast wOrtUdie Übereinstimmuiig zwischen
Bhododapkne IV:
Far this is Love^s temstnäl treantre
That m participaUan lives,
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Der literarisefae Essay. 391
Bei mancher Stelle yon lyrischem Schwünge und feiner
Empfindung, bei manch kräftig geschantem Natorbilde ist
es als entzündete sich Peacocks Phantasie, die immer yon
äußeren Einflüsse abhängig ist, an Shelley. Dies erklärt
den auffallenden Abstand zwischen Bhododaphne und seiner
nächsten lyrischen Produktion.
Peacock hatte ein Amt in der East India Company an-
genommen, „dne interessante und anregende Beschäftigung,
die die Möglichkeit bietet, nicht nur der Gesellschaft,
sondern Millionen Menschen zu nützen". Die Schilderung,
die er Shelley von seiner Tätigkeit entwarf, war so
ideal, daß dieser in ihr den für ihn selbst geeignetsten
Beruf zu erkennen glaubte. Allmählich aber gewannen in
Peacock die Bankinteressen die Oberhand über die phil-
anthropischen und der Beamte wurde in ihm stärker als der
Dichter. So wird es möglich, daß er 1887 seinen Unmut über
das Papiergeld in lyrischen Gedichten ausströmt. Die Paper-
money Lyrics (Papiergeldlieder) sind, obzwar Peacocks
Gabe der anmutigen Form sich auch in ihnen nicht ver-
leugnet, schon durch die Wahl des Themas gerichtet
Die Verqnickung mit seiner alten Abneigung gegen die
Lakisten macht es nicht edler. Ein schwindelhaftes Bank-
unternehmen wird zu einer TAa^oto-Verspottung ausgenützt
(Proemion of an JEpic Fly-by-Nighi by R S. Einleitung
zu einem Epos Flieh-bei- Nacht Ton B. S.). Ä tnood of
my own mind occuring during a gale of wind at midnightj
And ewrmore, ihe mare it gwes,
liadf äbawnds in fuüer measure, (IV.)
Und Eppptychidüm, t. 160:
True Love m ikis differs from gold tMd day,
Thai to divide is not to take away etc.
mid T. 180: If you divide pleaswre and love and fhoughtf
Each pari exceedt ihe ivhole etc.
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392 Der literaiuohe Easaj.
while I was writing apaper on tke currency by ihe light oftwo
mould candlea by W. TT., Distributor of Stomps (Eine Grille
meines Geistes während eines Stunnes nm Mitternacht,
während ich beim Licht zweier Talgkerzen einen Aufsatz über
die Währung schrieb, von W. W., Papiergeldausgeber), ver-
spottet Wordsworths EleinlichkeitskrämereL The Wise
Men of Gotham by S. T. C, English Professor ofMystidsm
(Die diei Weisen von Gotham von S. T. C, englischem Pro-
fessor der Mystik), die Erzählung von drei Fischern
(Papieigeldmenschen), welche vergeblich den auf den Wellen
schwimmenden Mond (das in die Gotham-Bank gesteckte
Kapital) zu fangen suchen, verspottet Goleridga Love
and (ke Flimsies by T. M,, Esq. (Amor und die Banknoten
von Herrn T. M.) ist auf Moore gemünzt Cupido ra£t
in der Papiermühle einen Haufen Banknoten zusammen,
die Venus ihn wegwerfen heißt
Durchaus Originelles und unbedingt Wertvolles hat
Peacock, auch als Lyriker, nur in seinen Bomanen ge-
leistet Unter den in ihnen verstreuten geselligen Liedern
ist mehr als eine Perle von bleibendem und unbestrittenem
Wert Zu den gelungensten gehOrt in Nightmare Äbbey:
Why are thy LooJcs so Blank, Orey Friar? (Warum so
hohl dein Blick, Graubruder?) Die Lyrik in Maid Marion
zeichnet sich durch einen heiteren Ton aus; sie ist besonders
melodiös (A Bavnsel came in Midnight Bain (Ein Mägdlein
im Regen um Mittemacht kam; It was a Friar of Orders
Free. Vom freien Orden ein Bruder war). Die Lieder in
Elphins' Misfortunes sind der Mehrzahl nach alte Texte
in ungemein glücklicher modemer Wiedergabe. Düster
schwärmerische Naturpoesie füllt den Wechselgesang
Taliesins und Manghels, drastischer Humor das Eriegslied
des Dinas Vawr. Crotchet Castle, in dem die lyrischen
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Der literarische Esmj. 393
Einlagen bereits minder zahlreich werden, besitzt ein
Meisterwerk seiner Art in der humoristischen Ballade The
Pool of (he Diving Friar (Der Teich des tauchenden Eloster-
bmders). Und selbst das Alterswerk Oryll Orange enthält
noch ein zartes Lied, das dem Andenken l&ngst ent-
schwundener, doch unvergessener Liebe gewidmete Love
and Äge (Liebe und Alter), in dem der zarte Ausdruck stiller
Wehmut aufs Trefflichste gelungen ist Auch sonst glückt
Peacock ein oder das andere kurze Gedicht roll schlichten
Stimmungsausdruckes z. B. Castles of ihe Air, Luftschlösser.
Peacocks außerordentliches Formtalent befähigte ihn
zum Übersetzer, und das jederzeit rege philologische Inter-
esse am klassischen Altertum wirkte in dieser Hinsicht
befruchtend. Er übertrug Stücke aus der Hecuba des
Euripides, den er dem Sophokles vorzog. Nach dem Maß-
stabe modemer Ansprüche gemessen, steht seine Über-
setzung als verwässerte Modernisierung neben dem Original
und Peacocks Ruhm unter den Zeitgenossen, er sei von
dem Wesen der Antike bis in die Fingerspitzen erfüllt ge-
wesen, würde ihm heute vermutlich bestritten.O Buchanan
hebt seine außergewöhnliche Cicero-Kenntnis hervor; Peacock
habe ihn tatsächlich auswendig gewußt.^) Ebenso fest war
er im Homer. Mit Aristophanes hatte er eine gewisse
Geistesverwandtschaft und für Petronius eine besondere
Vorliebe. Auch in einer Lösung des Rätsels Äelia, Laelia,
Orispis versuchte er sich und wollte sie in der scharfen
Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und dem speziellen
1) Man Yergldche die su Belenohtuig der Parallele zwischen
einer Bede Ton Ph&dras Amme und dem Monologe Hamlets (III, 1)
dem Herausgeber des Moming Chronide am 18. April 1814 mitgeteilte
Paraphrase der betreffenden SteUe des Euripides.
*) Skekhbook, 105.
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394 Der üteraruche Essay.
Zustande des menschlichen Leibes and in den Zof äUigkdten
finden, welchen er im Tode and Begräbnis unterworfen ist
Abgesehen von jeder darch das Leben bedingten In-
dividualität, bleibt nur das allen menschlichen Leibern
Gemeinsame übrig, jene Abstraktion: der Mensch, der vom
Weibe geboren, jene Formel, die der Priester mit gleichem
Recht über dem neugeborenen Kinde, wie über Erwachsenen
männlichen oder weiblichen Geschlechts und über dem
ältesten Greise spricht.
1862 trat Peacock noch mit einer neuen Publikation
hervor: GringannaU (The Deceived). Ä Comedjf performed
at Siena, 1531 (Die Betrogenen. Eine Komödie, die 1531
in Siena aulgeführt wurde). Peacock erkennt in dieser
Komödie des Curzio Gonzago die Quelle für Shakespeares
Twelfth Nighty eine Mutmaßung, die von der neuesten
Shakespeareforschung geteilt wird.^
Romane.
Das wahre Gebiet von Peacocks ureigenster Begabung
aber lag auf dem Felde des Romanos. Er hatte sich ihm
schon ziemlich früh genähert. Eine Erzählung Satyrane,
or The Stranger in England (Satyrane oder Der Fremde in
England), von der nur ein kurzes Fragment erhalten ist,
reicht vermutlich in das Jahr 1811 — 1812 zurück. Sie wurde
später in die ebenfalls unvollendete Erzählung Ccdidore
verarbeitet.^) Das eigentümlich romantische Zwielicht
zwischen klassischer und modemer Geistesrichtung, das für
0 Vgl. Arden Shakespeare, Twdfth Night, IniroducUan by Morton
Luee, S. X. Ck>llier hatte in seinen AnnaU of the Stage (1831) die ähn-
liche Umstände behandelnde, aber erst 1547 in Mailand anfgeffthrte Eo-
modle Inganni für Shakespeares Qnelle erklärt
') Nach Garnett etwa 1816.
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Der literftrisoiie Essay. S95
Peacocks Eomane so merkwürdig charakteristisch werden
sollte, erscheint hier schon ziemlich dentlich ausgeprägt. Auf
einem weltentlegenen Eilande wandeln unter urwüchsigem
Heidenvolk die alten Griechengötter in Fleisch und Blut
friedlich Hand in Hand mit König Arthur und Merlin.
Gamett erinnert an Heines Grötter im Exil und an Heyses
Centauer. Peacock aber bietet antike Götter wie mittel-
alterliche Helden nur als Widerspiel des modernen Lebens
auf, welches der in seinem zusammenklappbaren Boote auf
die Insel gelangte Calidore repräsentiert. Unverhttllt
tritt die Ironie gegen „das so viel glücklichere Zeitalter
der Maschinen'' hervor. Eine anmutige Liebesepisode
zwischen Calidore und einem holden Naturkinde, dem
Yikarstöchterlein Ellen, ist eine Bemiuiszenz an Peacocks
„Camaryonshire- Nymphe^ Jane Gryffydh, die ihn im
Sommer 1811 entzückte und die er, nachdem er sie jahre-
lang scheinbar aus dem Auge verloren, 1819, unmittelbar
nach seiner Anstellung bei der East India Company, zur
Frau nahm.
Peacocks erster wirklicher Roman ist Headlong HaU
(etwa: Schloß Ungestüm oder Überstürzungshof), 1816. Er
erlebte drei Auflagen. Der allegorische Titel war eine An-
lehnung an Combes Dr. Syntax, der auf seiner Reise nach
Welcome Hall und Worthy Hall gelangt und mit Squire
Hearty, Lawyer Thrust und Bookseller Vellum verkehrt
Peacocks gutmütiger, beschränkter Squire Headlong ist,
ohne auf irgend einem Gebiete der Kunst oder Wissen-
schaft gediegene Kenntnisse zu besitzen, auf das Stecken-
pferd des Mäzenatentums verfallen. Headlong Hall, das er
in seiner Sucht, den Gönner und Patron zu spielen, zum
Mittelpunkt der intellektualen Welt zu erheben glaubt,
gleicht mitunter einem Narrenturm. Unter den Gästen be-
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396 Der litenuösche Eany.
finden sich vier aufgeweckte Köpfe, die jedoch in der aos-
schließlichen Hingabe an eine Lieblingsidee zu aberspannten
Sonderlingen geworden sind.
Mr. Foster, Ute perfectibüian, d. h. Anh&nger der Ver-
besserungstheorie, ist Optimist Sein Name (ans <pdog und
TT/giaf gebildet, ^cSarriQ) bedeutet Lichthfiter. Er glaubt
an den ewigen und unbedingten Fortschritt der Menschheit,
glaubt, daß die Tugend jedes Einzelnen im Verhältnis zu
seiner Erleuchtung stehe und besitzt eine Phantasie, die
ihn in der dürftigen Kolonie Tremadoc in Gamaryonshire
eine Zukunftsstadt erblicken läfit. Kurz, Shelleys Vorbild
ist bei Foster unverkennbar. Sein Qegenpart ist Mr. Escot
fjqiMsi kg öxoxov** = in tenehras), Üie deterionaUnist, d. h. der
Pessimist, nach dessen Behauptung die Welt sich stets
verschlechtert. Er ist als Gegner des Fortschritts ein An-
h&nger der primitiven Lebensweise und des Vegetarianismus.
Man spürt den ironischen Niederschlag mancher Auseinander-
setzungen mit Shelley. Allein den meisten Argumenten, die
E^cot gegen Fosters Verbesserungstheorie ins Feld führt,
liegen ernste soziale Beobachtungen zugrunde, wie die, daß
stets nur wenige Auserwählte der Vorteile des Fortschrittes
teilhaftig würden; daß der Vision eines industriellen Para-
dieses in Tremadoc eine Schilderung des sozialen Elends
entgegenzuhalten sei: die in der Wiege zum Tode ver-
urteilten Kinder der Armen und ihrer durch die sitzende
Lebensweise kranken Eltern. Steht Foster für Shelley, so
Escot für Peacock.
Der dritte Gast, Mr. Jenkinson {aliv ig locov = setnper
ex aeqtMlibus), ihe Statu-qm-ite, ist der Mann der goldenen
Mitte, der den beiden Vertretern äußerster Standpunkte als
Puffer dient, und der vierte, Pfarrer Gaster (raörriQ =
venter, et praeierea nihil) ist der philosophisch in völliger
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Der literarische Essay. 397
Unbefangenheit dem irdischen Genuß lebende Materialist.
Jeder von ihnen zwängt gewissermaßen das All in seine
ganz persSnliche Anschauungsweise. Ihre Unterhaltungen
und Erörterungen fiber mannigfaltige Probleme und Dinge
bei yerschiedenartigsten Anlässen bilden, oft in dramatischer
Form wiedergegeben, den Inhalt des Buches, das ein eigen-
tümliches Mittelglied zwischen Komödie und Novelle bildet
Ein Ballfest bringt Tor&bergehend eine noch größere Anzahl
von Sonderlingen, will sagen Karikaturen nach Headlong
Hall, Mr. Cranium, den leidenschaftlichen Phrenologen,
dessen reizende Tochter Cephalis Escots Herz gewinnt^
zwei Kritiker Gall (Galle) und Treacle (Syrup), den
Violinspieler Chromatic, u. a. m« Kurz, Peacocks Roman
hat weder eine Handlung noch Charaktere. Wenn ihn
manche seiner unbedingten Anhänger auf dem Gebiete des
satirischen Humors Samuel Butler vergleichen und seine
Gestalten „Humoristen^ im alten Sinne des Wortes nennen,^)
so hat dies nur eine bedingte Bedeutung. Peacocks Gestalten
sind Verstandestypen. Jede von ihnen gehört in eine be-
stimmte Rubrik, welche durch ein Schriftband angegeben
wird, das ihr, wie den Figuren primitiver Gemälde, aus dem
Munde hängt Sie sind insgesammt Personifikationen ge-
wisser Ideen, richtiger gewisser durch Übertreibung zur
fixen Idee gewordener Vorstellungen. Peacock charakteri-
siert sie in treffender Weise: „Die Charaktere sind Ab-
straktionen oder verkörperte Klassifikationen und die in
ihnen begriffenen oder verkörperten Ansichten die Haupt-
sache an dem Werk.''
Peacock war bei Aristoteles, Rabelais, Swift und Vol-
taire in die Schule gegangen, ohne dadurch an Originalität
>) Oliver Elton, 380.
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398 Der liteniriiiclie Ussmy.
einzobüBen. Sein Roman, der eigentlich gar kein Roman
war, gab in witzig hnmorvoUer und satirischer Belenchtong
ein so yieleckig zugeschnittenes Segment des Lebens, dafi
sich von noch so yerschieden gearteten Lesern ein jeder
etwas darin holen konnte, ganz abgesehen davon, daß
Headlong Hall ein Schlüsselroman und jede der darin per-
siflirten Personen deutlich za erkennen war. Er fand denn
auch allgemeinen Beifall Die Oritical Beview beehrte Peacoek
mit dem Titel des lachenden Philosophen, der ihm nnter
den Freunden zeitlebens verblieb.
Er schmiedete das Eäsen, solange es h^ war und
trat bereits 1817 mit einem dreibändigen Romane auf,
MeUncourt, or Sir Oran Hautton. Die Anlage war die-
selbe wie in Headlong Hall, nur daß in dem romantisch
Weltabgelegenen Melincourt eine in Bergesfreiheit selb-
ständig gewordene reiche und viel umworbene Schloß-
herrin Anthelia dem stattlichen Hause vorsteht, dessen
Gäste naturgemäß zu Freiem werden. Etliche von ihnen
sind blassere Kopien der im ersten Romane auftretenden
Gestalten. Selbst in dem Helden, dem mit Drum-
mondscher Metaphysik durchtränkten, ffir Bräderlichkeit
und Gleichheit begeisterten Mr. Forester, erkennt man
unschwer den Mr. Fester von Headlong Hall. Scott,
Southey, Wordsworth, Coleridge treten in durchsichtigen
Karikaturen auf. Mr. Sarcastic wird in unverhttll-
terer Form als Escot der Träger Peacocks eigener
Ansicht. Eine Gestalt aber ist Melincourts spezifisches
Eigentum und sichert diesem Romane trotz aller Weit-
schweifigkeit und allem überwuchernden Tagesinteresse
eine gewisse Anziehungskraft. Es ist die ebenso köstliche
als originelle Figur des Oran Hautton oder Orang ütang,
des Menschenaffen. Forester verpflanzt ihn als den natflr-
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Der literarische Essay. 399
liehen Menschen ans dem Urwalde in die abendländische
Kultur und läßt ihn ihrer Segnungen in einem Grade teil-
haftig werden, daß er in der besten Gesellschaft Auf-
nahme und Anwerth findet Seine eigenartige Häßlichkeit
wird dank seines weltmännischen Äußern und seines treff-
lichen Anstandes völlig übersehen, seine Schweigsamkeit
als Yomehme Zurftckhaltung gedeutet. Forester erwirbt
ihm den Baronettitel und will ihm nun auch das letzte
erwerben, den Sitz im Parlament Damit jedoch über-
schreitet er die Grenzen der Natur. Sir Oran blamiert ihn
bei der mit prächtigem Humor geschilderten Wahlszene
und, da überdies die Natur des Waldmenschen durch eine
melancholische Schwärmerei für die Schloßherrin aus dem
Gleichgewicht gebracht ist, wird die Gesellschaft in pein-
licher Weise aus ihrem Irrtum über den Baronet gerissen.
Diese heitere Episode, eine witzige Verspottung der anthro-
pologischen Theorie Monboddos, überragt bei weitem die
anderen Teile des streitbaren Bomans, in dem lange Exkurse
gegen Malthus, gegen die Käuflichkeit der Wahlstimmen,
gegen das Papiergeld, die deutsche transzendentale Philo-
sophie und zahlreiche Tagesfragen den heutigen Leser
ermüden.
Genau nach dem bisherigen Schema komponierte
Peacock 1818 einen dritten Boman, Night Marc Äbbey. Auf
der Nachtmahr- Abtei in Lincolnshire führt Christof er
Glowry (Düsterer), einer jener armen Beichen, die liebeleer
und genußlos durchs Leben gehen, wie er selbst sagt, ein
Hundedasein. Er besitzt einen Sohn, Scythrop (nach Gamett
aus öxvO-Qcojtog = düstem Antlitzes) und sein Freund Toobad
(Zweschlecht) eine Tochter Celinda. Die Väter verabreden
eine Heirat, die Kinder widersetzen sich. Celinda flieht
zu Scythrop, ahnungslos, daß er der ihr vorbestimmte Gatte
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400 Der literarische Essay.
sei, entsagt dem Geliebten aber zu Gnnsten einer andern
schwärmerischen Dame, Marionetta. Die Fabel, anf die
Peacock hier offenbar mehr Gewicht legt als in den Mheren
Bomanen, artet ins Bnrleske ans. Scythrop fällt zwischen
zwei Bränten durch und trOstet sich mit dem Madeira des
Täterlichen Kellers.
Sind auf Fester (Headlong Hall) nnd Forester (MeUn-
court) wesentliche Zttge von Shelleys Charakter über-
gegangen, so ist in Nightmare Äbbey ein Heranziehen
biographischer Momente fühlbar, die jedoch nicht über
die Einzelheiten einer allgemeinen Milienstimmung hinaus-
gehen. Peacock lebte, während er seine Romane schrieb,
mit seiner Mutter in dem lieblichen Themsestädtchen Great
Marlow, während Shelley in Bishopsgate hauste. Ein
tüchtiger Marsch, wie beide ihn liebten, brachte sie häufig
zueinander. Das festeste Band zwischen ihnen aber war
die gemeinsame Leidenschaft für den Segel- und Rudersport,
dem der Aufenthalt an der Themse so reiche Nahrung bot
Eine Fahrt stromauf bis an die Quellen der Themse verwirk-
lichte — nur in entgegengesetzter Richtung — den Vorwurf
des Genius ofihe Thames und fand einen poetischen Nachhall
im Älastor, dessen Titel von dem Griechenkundigen Peacock
stammt. 0 Allein trotz dieser nahen Beziehungen ist
Scythrop, mit seiner an deutschen Werken gestillten Lese-
wut, seiner Leidenschaft, die Welt zu reformieren, seinem
Schwanken zwischen zwei Frauen, im besten Falle eine
Shelleykarrikatur, der die scherzhafte Absicht so deutlich
an der Stirn steht, daß eben infolge der Übertreibung
1) In Bhododaphne, wo sonst mit erklftrenden Anmerkungen
nicht gespart ist, erscheint der xaxodaLiiwv Alastor, offenbar als ein
gel&nfiger Name, ohne jede Erlänternng. Auch Demogorgon wird,
gleichfalls ohne erklSrende Anmerknngi erwShnt.
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Der literarische Essay. 401
jeder verletzende Eindruck auf das Urbild ausgeschlossen
war. Ja, einige auf komische Wirkung berechnete Züge
stehen sogar in direktem Widerspruch zu Shelleys Charakter,
so Scythrops bis zum Egoismus und bis zur Feigheit ge-
steigerter SelbsterhiQtungstrieb, seine Wertschätzung des
persönlichen Behagens u. a. m. Wie wenig der Dichter sich
selbst getroffen ffthlte, erhellt aus der rflckhaltlosen An-
erkennung, die er im Juni 1819 dem Werke zollte, an dem sich
auch Shelleys Freunde, die Gisbomes, erireuten. Dies hätte
offenbar nicht der Fall sein können, wflrde Peacock, der
Freund Harriet Shelleys, die undenkbare Roheit begangen
haben, so kurz nach ihrem tragischen Ende Shelleys Doppel-
Verhältnis zu ihr und Mary in der burlesken Lage Scythrops
zu verspotten.
Die mit besonderer Wärme gezeichnete Marionetta ent-
spricht Harriet Shelley. Die Szenen zwischen ihr und
Scythrop gehen zweifellos auf Vorgänge im Shelleyschen
Hause zurflck, deren Augenzeuge Peacock war, und ihr
biographischer Wert wird durch Peacocks ausgesprochene
Sympathie fflr Harriet noch erhöht Scythrops Seelen-
freundin Celinda, die er Stella nennt, ist Miss Hitchener.
unter den Schöngeistern, die sich in Nightmare Abbey zu-
sammenfinden, tritt Sqrthrops Schulfreund, der Dichter
Oypress, hervor, eine Verhöhnung Byrons, wie sie freilich
nur derjenige schreiben konnte, dem jede persönliche Be-
rührung mit dem ürbilde fehlte. Cypressens Beden sind in
bombastische Prosa aufgelöste Zitate aus Childe Harald.
Peacock hatte damals eine lebhafte Abneigung gegen Byron.
Eine Figur des Romanes, Mr. Hüary, faßt Peacocks eigene
Ansicht Aber ihn in die Worte, er sehe nicht ein, wozu
„diese Mystifikation und Verkatzenjammerung der Welt"
dienen kOnne. Später berichtigte er Hilarys urteil, in-
OMohiohte der engliseheii Bomantfk n, 1. 26
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402 Der HteTariflclie Essay.
dem er „Cain schön, SardanapoL schöner, Bon Juan am
schönsten^ fand, ein Lob, das noch charakteristischer für
Peacock als ffir Bsrron ist Seine eigene Stärke wie seine
Schw&che berOhrte sich mit denen des Bon Juan. Andi
er war zn Hanse in jener humoristisch geistreichen Satire,
in deren ftberwnchemdem Spiel die stoffliche Konzentration
verloren geht. Damm verstand und schätzte er diese
Dichtung Byrons mehr als jede andre.
Von den äbrigen Personen Nightmare Albeys ist noch
der visionäre, tränenselige und geheimnisvolle Mr. Floshy
{ijpiXooxoxoq = Freund der Schatten) zu nenn^ die Kari-
katur des Kantianers, ein politischer Überläufer, wiederum
auf Goleridge gemünzt Flosky's Erklärung für Gespenst —
„ein Begriff {idea) mit der Kraft einer Empfindung {sm-
saUonY — ist eine der wenigen Stellen in Peacocks Werken,
die es zur Volkstümlichkeit eines Zitates gebracht haben.
Auch die Grestalten Southeys (Mr. Sackbut) und des
wohlleberischen Pfarrers (Larynx) kehren in Nightmare
Äbbey wieder, und dazu kommt noch die des bekannten
Modegecken Sir Lurndy George Sheffington (Mr. Lisäess)^
den Shelley als eine Autorität in Sachen des guten Tones
über die Schicklichkeit seiner unmittelbar nach Harriets
Tod vollzogenen Trauung mit Mary Gk>dwin zu Rate zog.
Ein extravaganter Humor erscheint in diesem Werke
bereits zu Peacocks eigentlicher Spezialität ausgebildet
Durch ihn schimmert die Persönlichkeit des Autors
in gebrochenem Licht Der Leser ist sich über den
eigenen Standpunkt, die eigenen Ansichten des Autors nicht
klar und wird dadurch andauernd in prickelnder Spannung
gehalten. In die deutsche Literatur ist die Melineourt zu
Grunde liegende satirische Idee durch W. Hauffs Der junge
Engländer übergegangen.
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Der literarische Essay. 403
Im August 1818 finden wir Peacock bereits mit dem
Entwurf eines neuen ^erzählenden Werkes beschäftigt,
Maid Marian (1822). Am 29. November bezeichnet er es
Shelley als einen komischen Eoman aus dem 12. Jahr-
hundert, den er „zum Träger manchei* heimlichen Satire
unter der Sonne^ machen wolle. Dennoch behauptet Maid
Marian als Kunstwerk einen höheren Bang als Peacocks
frohere Erzählungswerke, indem es kein zufälliges Konglo-
merat satirischer Erörterungen und humoristischer Einfälle,
sondern die künstlerische Ausgestaltung eines der englischen
Sagengeschichte entnommenen stofflichen Kerns ist: der
Bobin Hoodsage. Von den philologischen und poetischen
Vorarbeiten auf diesem Gebiete benutzt Peacock nur den
äußeren Umriß des in Bitsons Werke Bobin Hood, a
CollecUon of All the Andent Poems, Songs, and Ballads
now extentj relating to {hat celd^ated English OuÜaw,
1795, im Auszug mitgeteilten, von Anthony Munday und
Henry Chettle (1601) verfaßten Trauerspiels The Bea£h
of Böbert Earle of Huntingdon, oiherwise called Botin
Hood of merry Shertcodde; with fhe lamentable Tragedie
of chaste MatUda, his faire maid Marian etc., 1601.
(Der Tod Boberts Grafen von Huntingdon, auch Bobin
Hood aus dem fröhlichen Sh^wodde -Walde genannt, nebst
der kläglichen Tragödie der keuschen Matilda, seiner
schönen Jungfer Marianne, usw.). Im Übrigen steht Peacock
der Sage vollkommen selbständig gegenüber. Er durch-
leuchtet sie mit der grundmodemen, warmen Mittelalter-
romantik, die jene Epoche zum poetischen Inbegriff von
Zorn, Ingrimm, Liebestreue, Mannesmut und lustiger Schlau-
heit, Biederkeit und naiver Frechheit macht, kurz zu einem
bunt bewegten, durchaus poetischen, in der Verklärung des
Längstvergangenen geschauten Lebensgesamtbilde. Bobin
26*
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404 Der literarische Esny.
Hood, der als ein EOnig des Waldes mit seinen wackeren
Enmpanen im Sherwood Walde ein freies Jäger* nnd B&nber-
leben ftthrt, zu dessen Fiedel alles tanzt, wenn er als
Spielmann verkleidet erscheint^ ist niemand anders als der
Graf von Lozley nnd Huntington, den, weil er EGnig
Johanns Hirsche gepfirscht, die Hftscher ergriffen, da er
eben seine Yerm&hlung mit der schGnen Matilda feierte,
nnd der seitdem in Acht und Bann ist. Die schwarzlockige
Matilda, eine unerschrockene Amazone und lustige Maid,
die Eopf und Herz auf dem rechten Flecke hat, gesellt sich
ihm unter dem Namen Marian. Die Rftckkehr des Helden*
königs Richard LGwenherz aus dem Heiligen Lande macht
endlich dem Ausnahmezustand ein glückliches Ende.
Der Hauptreiz von Maid Marian liegt in der aufs
anmutigste zum Ausdruck gebrachten Waldromantik. Nie
hat Peacock ein Milieu mit so feinem Verstftndnis ge-
schildert In ihrer ganzen Mannigfaltigkeit ziehen die
Stimmungen des Waldes an uns voraber: tauige Frische
und würziger Duft, das stille Weben und laute Rauschen
der grfinen Wipfel. Alle Äußerungen der Waldpoesie sind
Peacock vertraut, denn der Wald ist ja seine Heimat. Ifit
Glück und Geschick trifft er den heiter- humorvollen Ton
für die romantische Erz&hlung. Alles Schwerf&llige ist
vermieden, über alle Elippen des unwahrscheinlichen oder
der Schicksalsfügung gleitet sie in l&chelnder Anmut hin-
weg. Maid Marian ist unter Peacocks Romanen der
einzige als Roman anziehende. Unter den Nebengestalten
vertritt Friar Tuck den bei Peacock nie fehlenden,
dem Irdischen nicht abholden Mann Gottes. Der gewalt-
tätige und eigenmächtige Sir Ralph ist der typische Mann
des Faustrechtes. Alle atmen köstliche Frische und sind
durch ihren urwüchsigen Humor über sich selbst empor-
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Der literarische Bssaj. 405
gehoben. Die erquickende F&Ue von gesunder Lebenskraft
und strammem Lebensmut, die in Maid Marian herrscht,
bezwingt den Leser wie das Schicksal.
Kunst um der Kunst willen, ein restloses Aufgehen im
Spiele der Phantasie ist Peacock jedoch nicht gegeben.
Völlig ausgeschaltet erscheint auch in dieser mittelalter-
lichen Dichtung der Spott auf die Gegenwart nicht. Auch in
ihr fehlt die unvermeidliche Satire auf Southey nicht (in
dem Laureatus Harpiton, dessen Name {'Eqjübtov) ein
kriechendes Ding bedeutet. Den Gesetzen der „Wald -Ge-
sellschaft" wird, obgleich sie aus Mundays Robin Hood-
Dichtung The BoumfaU of Bobert Earle of Huntingdon,
1601, entlehnt sind, eine satirische Beziehung auf die in
der Literatur des 18. Jahrhunderts zu Tage tretende Ver-
herrlichung des natürlichen Rechtes im Gegensatze zu dem
durch Gesetzeskraft Rechtsgiltigen untergelegt Robin
Hood ist wohl die älteste literarische Verkörperung des edlen
Rftubers. Er hat dem Staate gegenäber, der ihn aus-
schloß, nicht nur seiner eigenen Empfindung nach, das
Recht auf seiner Seite. Ritterlichkeit, Gewissenhaftigkeit,
Selbstzucht sind ihm tatsächlich in viel höherem Grade
eigen als der Gesellschaft, die ihn yerfehmt und über der
er in scheinbarem Gesetzesbruch eine höhere Gerechtigkeit
handhabt, eine ideale Mission durchfährt Peacock hat
dieser, von der Überlieferung bereits so reich ausgestatteten
Figur nur wenig mehr aus Eigenen^ hinzuzufügen vermocht
Ehe noch Maid Marian veröffentlicht war, im Dezember
1819, erschien Ivanhoe. Der Inhalt beider Romane deckt
sich zum Teil. Auch bei Scott ist Robin Hood Lockesley.
Aber die Übereinstimmung besteht tatsächlich nur für den
oberflächlichen Blick. Während bei Peacock Richard
Löwenherz und sein Bruder Nebenfiguren sind und Robin
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406 Der literariBche Essaj.
Hood im Yordergrnnde steht^ kehrt sich das VarhUtius bei
Scott nm. Andrerseite fehlen dessen Heldinnen Bowena
nnd Bebecca in Maid Marian, die sich neben dem stoff-
lichen Beichtnm des Ivanhoe überhaupt nur wie ein Aus-
schnitt aus dem farbenprächtigen historischen Gemälde
ausnimmt. Scott nannte in der Einleitung seine Quelle,
die mit der Peacocks nichte zu tun hat Dennoch zog
Peacock, wohl kaum mit Unrecht^ vor, die bereite vollendete
Maid Marian zurflckzubehalten, bis sich der Beifalls-
sturm, den Ivanhoe entfesselte, einigermaBen gelegt hätte.
Sie erschien erst 1822, machte dann aber trotz des ge-
fährlichen Nebenbuhlers ihren Weg.
Planche knetete 1822 beide Bomane zu einem Opem-
libretto zusammen. Eine deutsche Übersetzung von Maid
Marian (Der Forstgraf oder Bobin Hood und Marianne)
erschien 1823, eine französische von Mme. Daring {Bobin
Hood OH la forSt de Sherwoode) 1826, eine von Louis Barr6
1855, welche Anastasius Grttn für seinen Bobin Hood (1864)
benutzte 0-
Sieben Jahre vergingen, ehe Peacock mit einem
neuen Werke hervortrat. Die gewissenhafte Erfüllung
seiner Amtepflichten nahm ihn in Anspruch. Leigh Hunt
zog ihn damit auf, daß er sich plötzlich in bürgerlichem
Bang und Beichtum wiege, mußte aber zugeben, daß ihm
das Glück gut stehe, daß er umgänglich und freundlich
geworden sei. 2) Indeß war Peacocks Sprung ins Spieß-
bürgertum kein jäher und unmittelbarer. Er hatte immer
nur mit einem Fuße in der Bomantik gestanden, während
er mit dem andren einen sichern Stützpunkt auf dem Boden
») T. Doren, 169.
*) Brief an Mary Shelley (Young, 16).
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Der literarische Essay. 407
nfichtemer Verstandesgem&ßheit sachte. Er war nie der
blinde Enthusiast gewesen, der mitten im Wirbel der
Strömung von ihr getragen und hingerissen wird, sondern
hatte stets Distanz zu seinen Idealen behalten. Das grade
machte seine Eigenart aus, daß er im Stande war, Dinge, für
die er schwärmerische Begeisterung aufbrachte, gleichzeitig
mit dem ironischen L&cheln des Zweiflers anzusehen. Die
praktische Tätigkeit kam einer natürlichen Veranlagung
entgegen und gab ihm Befriedigung und Behagen.
Als Peacock sein langes literarisches Schweigen 1829
mit dem Bomane The Misfortunes of Elphin (Elphins
Mifigeschicke) brach, zeigte es sich, daß das Dezennium
der Ruhe keine Erschlaffung, sondern eine Sammlung
seines künstlerischen Schaffens bedeutete. Schon der dem
Mabinogion entnommene Stoff war ein glücklicher Griff.
Peacock verquickte die Taliesinerzählungen mit den Arthus-
legenden, wahrte so den Schein dichterischer Freiheit
und natürlicher Ungezwungenheit und übergoß den wali-
sischen Schauplatz der Mythen mit dem Goldglanz pers5n*
lieber Jugenderinnerungen.
Mit einem bisher von ihm unerreichten künstlerischen
Takt verwebt Peacock eigenen Humor und eigene Satire dem
sagenhaften Stoffe, ohne dessen urwüchsigen romantischen
Charakter zu zerstören. Er ist durchweg bestrebt, die
Legende in den Bereich des Natürlichen zu ziehen. Die
im Mabinogion erzählten Wunder von Taliesins Geburt
nnd Kindheit werden verschmäht. Er wächst in natur-
gemäßer Weise bei seinem Ziehvater, dem armen Fischer
Elphin, heran, dem versonnenen Eönigssohne, den eine Geister-
stimme und ein Traumgesicht seiner Gattin eines Nachts
an den Strand trieb, wo er das Boot aus Weidengeflecht
mit dem ausgesetzten Knaben von den Wellen in Empfang
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408 Der literarische Essay.
naluxL Als Elphin EOnig geworden, erscheint an seinem
Hofe ein ungeschlachter Jäger, Maelgon, und schmäht die
Königin dnrch die Behauptung, daß seine eigene Gattin
jede andre Frau an Schönheit und Keuschheit übertreffe.
Man einigt sich dahin, die Tugend der Königin auf die
Probe zu stellen. Allein durch Taliesins List findet Maelgons
Sohn statt der Königin nur ihre Zofe. Die Locke, die er
als Zeichen seines Sieges vorweist, wird fOr falsch erkl&rt,
Taliesin aber in der mit dem flbermütigen Maelgon sich
entspinnenden Fehde gefangen genommen. Endlich befreit
ihn Artus, der König der Könige von Britannien. Taliesin
erhält Elphins Tochter, die frflh geliebte Gespielin seiner
Kindheit, zur Frau und sein Sohn besteigt nach Artus'
Tode den Thron.
Das Qymbeline-Motiy hat Peacock dem Hanes Tälyesin
entlehnt, die Liebe Taliesins zu Hanaghel aber, die in
modemer Weise geschlechtliche Liebe an Stelle der alten
Mannentreue zu der alle Hindemisse bewältigenden Trieb-
feder seines Handelns macht, ist Peacocks eigene Zutat Um
so rühmenswerter scheint es, daß er alle Sentimentalitftt^
die bei der Schilderung alter Helden f&r die Bomantik so
häufig zur Klippe wird, glflcküch vermieden hat
Der mit romantischer Überschwänglichkeit verherr-
lichte Taliesin, der, vollkommen an Geist wie an Körperbau,
als Sänger, als Krieger, als listenreicher Kopf nicht seines-
gleichen findet, dem der Seherblick in die Zukunft eignet
und das Gedächtnis der Dankbarkeit für Vergangenes, be-
herrscht den Mittelpunkt der Erzählung und läßt weder
Elphin noch selbst Artus Baum zur Entfaltung.
In Elphins Vater, dem fi^ohgemuten, friedliebenden, um
die Hochflut und ihre Verheerangen unbekflmmerten König
Gwythnr, schildert Peacock auf seine Art Georg HL Er
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Der literarische Essay. 409
ist nicht ohne Gefühl ffir das Volk, dem die Ehre zufällt^
sein ^Hans zu verpi'oyiantieren, w&hrend er seinen Minister-
präsidenten nnr an jenen Ort wfinscht, den kein wohl-
erzogener Geistlicher vor einer gebildeten Gemeinde nennt^.
Dieser trunksüchtige, leichtfertige Minister ist Canning,
seine Bede gegen die Notwendigkeit eines Wellenbrechers,
eine geistreiche Paraphrase von Cannings Bede gegen die
Beformbill, 1825. Der Hanptstrahl von Peacocks satirischer
Blendlaterne füllt jedoch nicht auf die politischen, sondern
die sozialen Znst&nde, die Ökonomischen VerhUtnisse, das
Bank- und Maschinenwesen, ohne daß auch hier die Satire
zum Selbstzweck würde und für ein anbefangenes Auge
aus dem Bahmen der Erzählung fiele. Auf der Schilderung
von Land und Leuten liegt der romantische Zauber der
Naturschwärmerei und einer glücklichen Liebe, in dem
Peacock die Walisische Flur dauernd erblickt
Mit seinem nächsten Werke Crotchet Castle (Sparren-
schloß), 1831, kehrt er wieder zu der Form seiner Jugend-
romane zurück, in denen das Tischgespräch mit seiner
nnvermeidlichen Zensur bestehender Verhältnisse der
äußern Anlage wie dem Inhalte nach die Hauptsache ist.
Der Name könnte, wie v. Deren richtig bemerkt, für
Peacocks sämtliche Werke gelten, und desgleichen auch
das Motto:
Le monde est plein de faus, et qui n'en veut pas voir
Dait se tenir tout seul, et casser san miroir.
Der Eigentümer des schönen Themse -Landsitzes,
Ebenezer Crotchet, ist ein Kaufmann, dessen Sohn sich in
au&teigender Linie, nämlich zum Schwindler, fortentwickelt,
während seine Tochter Lemma (Gewinn, Einkommen,
Nutzen) mit ihrem aufdringlichen Bildungsflmis und ihrer
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410 Der literariBche Essay.
semitischen Schönheit gleichfalls eine wenig anziehende Er-
scheinung bildet. Als echter Emporktaimling tat Crotchet
sich viel auf die erlesene Gesellschaft zu gute, die er in seinem
Schlosse versammelt. Unter den Gästen ist der Pfarrer
Folliot (foUis optimus, ein Mann mit vorzüglichen Lungen-
blaseb&lgen, d. h. ein unermüdlicher Redner), der abgesagte
Feind jedes geistigen Fortschrittes, dessen Änßenmgen fflr
ihn fiberall mit den anangenehmsten Erfahrangen ver-
banden sind. Seine Köchin studierte; darüber ging das
Haas fast in Flammen anf. Handertfün&ig Mann stark
pochte der Fortschritt an die Tür und zwang den Pfarrer,
anf die Hälfte seiner Sportein za verzichten. Bei Nacht
drang der Fortschritt durch die Fensterladen der Wohn-
stube und entfernte sich wieder auf demselben Wege mit
Mr. Folliots silbemen Löffeln. Gleiche Bildung für alle
taugt eben nicht, denn der Geist aller ist nicht der gleiche;
die Wissenschaft verallgemeinem, popularisieren zu wollen,
ist darum eine Torheit. Der Wohlleber Folliot ist auch
auf geistigem Gebiete ein Feinschmecker. Er schwärmt
für das klassische Altertum, möchte die attische Komödie
wieder beleben und athmet in der Atmosphäre des feinen
Griechengeistes als in seinem eigentlichen Elemente.
Die Hauptspitze von Qrotcket Castle richtet sich gegen
die Nationalökonomie. Folliot wettert gegen sie als eine
PseudoWissenschaft. Sie ist dagegen Crotchets Stecken-
pferd und hat einen speziellem Vertreter unter den Tisch-
genossen, den Schotten Mac Quedy {Mac Q. E, D. = Sohn
einer Beweisführung), den verknöcherten Gelehrtendünkel
in Person. Dieser hölzerne, schwunglose Patron spielt
sich — der Dichter könnte nicht ironischer vorgehen —
als Anwalt der modernen Lebensführung, des Fortschrittes
und der Erziehung aul Sein Widerpart ist der von
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D«r literarische Essaj. 411
romantisch feudalen Ideen erfOUte Chain Maü (Kettenpanzer),
ein unbedingter Verfechter des Mittelalters gegen die
Neuzeit und die Moderne. Die Philippiken, die er gegen
Industrie und Handel schleudert, gegen den herrschenden,
auf Gewinn, Betrug und Erpressung gerichteten kom-
merziellen Geist bilden einen Höhepunkt jener feindseligen
oder doch zum mindesten einseitigen Haltung gegen die
moderne Kultur, in der Peacock sich häufig gefällt
Seine repräsentativen Gestalten sind nicht Anwälte
der Weltanschauung oder Disziplin, die sie vertreten; sie
haben den Autor nicht auf ihrer Seite. Sie scheinen viel«
mehr als Negationen des zu Becht Bestehenden und ihr
eigentlicher Zweck ist, den Leser über ihre Nichtigkeit
aufzuklären. Das Eigenartige von Peacocks verneinendem
Geiste li^ darin, daß er sich dennoch von Pessimismus und
von Verbitterung frei erhält. Aus seiner Miene schwindet
niemals das leise Lächeln der überlegenen Buhe, seine
Haltung verliert niemals ihre elegante Gelassenheit Die
Welt ist ein Narrenspiel. Wer nähme es ernst? Die
Menschen meinen es im Grunde alle nicht schlecht, nur
daß ein jeder das All unter dem engen Gesichtswinkel
seiner eigenen fixen Idee sieht, die er für die allein selig-
machende hält
Peacock strebt nach tunlichster Unterdrückung der
eigenen Subjektivität, nach einem Standpunkte über den
Parteien, der allen Möglichkeiten des Denkens und Lebens
ihr unumschränktes Becht gestattet, sich zu dokumentieren.
So gelangt er, wie kaum ein andrer Bomanschriftsteller,
zu einem ünkenntlichmachen der eignen Persönlichkeit in
seinem Werke. Er verleugnet als Schriftsteller sozusagen
sein Zeitalter, in dessen regem Treiben er als Mensch
mitten inne steht Er greift die Nationalökonomie an und
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412 Der literarische Ebmj.
ist doch ein persönlicher Freund John Staart Mills. Er
identifiziert Handel and Gewerbe mit Betrog, w&hrend er
selbst — seit 1837 als Nachfolger James Mills — in der
maßgebenden Stellang als Chief Examiner of Correspondence
einem großen indostriellen Unternehmen angehört Er be-
kämpft mit der Feder die großen technischen Erfindungen
der Neuzeit und setzt sich im Leben mit aller Kraft ffir die
Förderung der Damp&chiJSfahrt ein. Seine Bemühungen
haben einen wesentlichen Anteil am Ausbau des Suezkanals.
Er beschäftigte sich eingehend mit der technischen Vervoll-
kommnung des Schiffsbaus. Eh* war es, der der Regierung
die Eisenkonstruktion für Indienfahrer empfahl. Diese
Zwiespältigkeit der Lebensanschauung in Theorie und
Praxis käme einem psychologischen Bätsei gleich, ließe
sich nicht annehmen, daß Peacocks scheinbare Angriffe
auf den Fortschritt den Sarkasmus verbergen über jene
Neuerer, die sich stolz in die Brust werfen, während sie in
Wirklichkeit nur Unzulängliches fördern, das hinter den
Wünschen des wahrhaft vorwärts Strebenden kläglich zu-
rückbleibt In der Regel gehören die schwer Befriedigten,
welche sagen: „Wir haben es noch zu gar nichts gebracht;
wir sind nicht weiter als unsere Großeltern, ausgenommen
etwa in unseren Fehlem und den Schattenseiten unserer
Existenz!^ nicht zu jenen, die die Urväterzeiten zurück-
wünschen.
So ist Peacock ein Komplex klaffendster Widersprüche.
Selbst ein Mann von vielseitiger Gelehrsamkeit, ist er ein
heftiger Gegner aller zünftigen Gelehrsamkeit und der
Stätten, wo sie ausgebrütet wird, der Universitäten, denn
jede zum Schema erhobene Meinung ist ihm zuwider.
Niemals hat jemand das Wort „Grau, lieber Freund, ist alle
Theorie" mit vollerer Überzeugung verkündet als Peacock.
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Der literarisehe Essay. 413
Der bei ihm stehende Spaß der Lakisten -Verspottung
fehlt auch in Orotchet Casüe nicht. Der transzendentale
Dichter Skionar {JSxiäg ovag, nmbrae somniam), dessen
Reden ein Gemisch von mystischem Schwulst und idea-
listischer Plattheit sind, ist eine (üoleridgekarikator. Seine
Freunde Wilful Wontsee und Bumblesack Shantsee sind
William Wordsworth und Robert Southey. Überhaupt steht
wohl hinter jeder Gestalt des flgurenreichen Bomanes eine
wirkliche Persönlichkeit. Die romantische Miss Touchandgo,
die als liebenswttrdige Idealistin der geistreichen Materia-
listin Lady Glarinda gegenfibergestellt ist, hat ihr Urbild
in Jane Gryffydh. Die stilistische Yorzflglichkeit, die bei
Peacocks Eonversationsromanen eine so wesentliche Rolle
spielte, war in Crotchet CasÜe womöglich noch gesteigert
Gamett bezeichnet sie als vollkommen.
In Peacocks letztem Romane, GryU Orange, 1859, hat
trotz der unverwfistlichen Jugendfrische des greisen Autors
dennoch das Alter insofern seine mildernde Hand im Spiele,
als die Satire stumpfer wird und die milde Liebenswürdig-
keit zunimmt. Der Schluß von Peacocks Romanproduktion
knüpft sich an den Anfang. Er kehrt zu den geliebten Jugend-
stätten zurfick. Squire Grylls lieblicher stiller Landsitz liegt
in Hampshire am Eingange des New Forest. Gregory GryU
leitet seinen Namen von Gryllos ab, einem Schicksalsgenossen
des Odysseus auf der Insel der Eirke, der auf die Frage
des Laertiaden, ob die Gefährten wieder zu Menschen ent-
zaubert sein möchten, geringschätzig erwidert, sie zögen
ihren jetzigen Zustand bei weitem vor, denn Tiere seien
dem Menschen fiberlegen, i) Gleich diesen Vorfahren hält
auch Gregory einen urwfichsigen Naturzustand dem der
1) Plutarch, Moralia,
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414 Der liteiarisdie Essay.
Enltnr mit al) seinen Emingenscbaften und Verfeinerangen
für weit fiberlegen nnd erblickt in diesen niclits als Schwindel,
der sich unter mancherlei schönen Namen breit mache. Das
Gegenstack des Pessimisten Oryll, den nur das Einspinnen
in seine häusliche Behaglichkeit vor Mysanthropie be-
wahrt) ist der joviale, gebildete Weltgeistliche, Dr. Opimian,
der Mann des heiteren aber keineswegs unedlen Lebens-
genusses, denn Lebensgenuß bedeutet ffir ihn eine gute
Bibliothek, ein gutes Mittagbrot, ein schöner Garten und
ein schöner Spaziergang. Hat er diese vier, so lebt er mit
sich und der Welt in Frieden. Auch er ist ein Kenner
und Liebhaber der Antike und ein ausgesprochener Gegner
der modernen Wissenschaft, die zu nichts gutem ffihre. Im
Gegensatze zu ihm schwärmt der junge Privatgelehrte
Algernon Falconer, ein in sanfteren Farben gehaltener
Vertreter des Shelley-Tjrpus Foster, Forester und Scythrop,
fflr unbedingte Gleichberechtigung. Die sieben jungen
Dienstmädchen, die seinen einsamen Turm bewirtschaften,
werden von ihm wie Schülerinnen und Schwestern gehalten.
Gleichwohl empfindet auch er das moderne Leben als einen
störenden Eingriff in seine romantische Welt der geistigen
Schönheit, deren verklärtes Ideal er in der heiligen Eatherina
anbetet. Wie Gryll Orange die Lieblichkeit der englischen
Durchschnittslandschaft verherrlicht^ so auch die stille Be-
haglichkeit ländlicher Durchschnittsexistenzen, deren an-
spruchslose Alltäglichkeit weder ein außergewöhnliches
Streben noch ein außergewöhnliches Ereignis unterbricht.
Wir haben Menschen ohne innere Entwicklung vor uns.
Sie treten fix und fertig vor uns hin nnd spinnen ihren
Lebensfaden gleichförmig zu Ende. Ein charakteristisches
Moment tritt zwar an ihnen hervor, steigert sich aber
nicht zum Zerrbilde.
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Der litentriflche Essay. 415
Den Mittelpunkt des Bomanes bildet ein Weihnachts-
. spiel, das den Platarchschen Dialog zwischen Circe, Gryllos
und Odysseus in moderne Yerhültnisse überträgt. Drei
Londoner Spiritisten wecken den Gryllus aus seinem drei-
tausendjährigen Schlaf. Er sieht die veränderte Welt und
findet, daß die alte besser war. Auch die alte Gepflogen-
heit des Erzählens von Gespenstergeschichten um die
Weihnachtszeit wird von Peacock wieder belebt Opimian
gibt als einziges ihm bekanntes Beispiel einer griechischen
Gespenstergeschichte jenes Fragment von Phlegon's IleQl
d-a/ivaaUov zum besten, das die gemeinsame Quelle von
Goethes Braut von Korinih und M. G. Lewis' TAe Cray
Gold King (Tales of Wonder) ist.
Zeitschriften, Aufsätze.
Wie alle Cockneydichter war Peacock auch jour-
nalistisch tätig. 1827 wurde er Mitarbeiter der 1824 ge-
gründeten Wesiminster Beview^ 1835 der London Eeview,
dann Musikkritiker des Globe und des Exatniner.^) Seine
rege Anteilnahme an literarhistorischen, kritischen und
ästhetischen Fragen macht ihn zum fruchtbaren und inter-
essanten Essayisten. 1820, als die Freunde besorgten, der
East Lidia C!ompanybeamte würde in ihm den Schriftsteller
erdrücken, erschien in Olliers Miscellanies eine Abhand-
lung The Four Äges of Poetry pie vier Zeitalter der
Poesie). Peacocks poetische Zeitalter stehen im Gegensatze
zu den Weltaltem. Das eiserne ist das erste. Die primi-
tiven Menschen waren Erieger, darum verherrlichten die
Barden den Eriegsruhm. Das zweite oder goldene Zeit-
>) Cole, Biographical Notes 26.
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416 Der literarisdie Essay.
alter bedeutet die Reife der Poesie. Seine Vertreter sind
Homer bei den Alten, Ariost und Shakespeare bei den
Modernen. Milton, in Peacocks Augen der größte englische
Dichter, steht zwischen dem zweiten und dritten.
Das silberne Zeitalter, die Periode der Autorit&t, um-
faßt die Poesie des Kulturlebens, welche von der Vernunft
und Gelehrsamkeit in elegante, glatte, etwas einförmige
Form gekleidet wird. Dun gehören Vergil, Horaz, Aristo-
phanes, Dryden und Pope an.
Das vierte, eherne Zeitalter verwirft die Gl&tte und
Gelehrtheit und strebt durch Erneuerung der barbarischen
Traditionen des eisernen Zeitalters eine Rflckkehr zur
Natur und die Wiederbelebung des goldenen Zeitalters an.
Diese zweite Kindheit der Poesie f&Ut in den Niedeigang
des römischen Reiches.
Die ähnliche Bewegung in der Poesie seiner eigenen
Zeit will Peacock nicht als solche gelten lassen. Ja, er
spricht dem modernen Leben fiberhaupt die Fähigkeit zur
Poesie ab. Vergeblich kreuze Byron an der griechischen
Küste nach Piraten, grabe Scott die Wilddiebe der alten
Grenzlande aus, arbeitet sich Southey durch vergilbte
Chroniken und Beisebficher, gable Wordsworth bei alten
Weibern und Dorftotengräbem Legenden auf, füge Coleridge
solchem Wissen noch die Träume übergeschnappter Theologen
und den Mystizismus deutscher Metaphysiker hinzu — es
sei alles umsonst. Das Poetische läßt sich aus der primi-
tiven Zeit nicht in die moderne verpflanzen. Die Poesie
sei das Kinderspielzeug der Menschheit
Und die Folgerung, die Peacock aus dieser Auffassung
zieht, ist die, daß bei einem ernsten, das Leben praktisch
anpackenden Geschlechte die Poesie keine Stätte und
keinen Beruf mehr habe. Der Ton, den er gegen die
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Der literuüehe Essay. 417
Dichtung und die Dichter anschlftgt, ist von heraus-
fordernder Anmaßung« Es scheint lediglich der East India
Beamte fiber sie abzuurteilen, der sich einst selbst ffir
einen Dichter hielt, nun aber die Einderschuhe aus*
getreten hat
Vermutlich war es in Wirklichkeit anders gemeint, als
es klang. Bevnifit Paradoxa vorbringen, etwas mit dem Ver-
stände zerpflficken, woran er mit allen Fasern seines Herzens
hftngt, ist f&r Peacock nichts Ungewöhnliches. Der Dichter
in ihm hatte weit geringere Anerkennung gefunden als
der Beamte. Vielleicht entsprang seine Herabsetzung der
Poesie dem Trostbedflrfnis, sich und andern einzureden, die
praktische Tätigkeit sei die wichtigere und höhere.
Shelleys Erwiderung auf The Four Ages ofPoetrtf war
die Defence of Foetry, 1821, jener von platonischem Geist
beseelte Dithyrambus auf die Poesie und ihre Jünger, der,
die Phantasie zur intellektualen und sittlichen Wahrheit
erweiternd, die Poesie zum Inbegriff der geistigen Existenz
erhebt Gegen diesen in schwungvollstem Pathos aus-
strömenden Hymnus konnte und wollte Peacock offenbar
nicht in die Schranken treten. Der briefliche Verkehr der
Freunde erlitt durch die literarische Fehde keine Trftbung.
Ein Jahr darauf war Shelley tot Sechsunddreißig
Jahre später veröffentlichte Peacock, vielfachem Drängen
nachgebend, in Fräsers Magasnne {vol. LVII Nr. 342)
Erinnerungen an seinen Freund. Er tat es nicht gem.
Das Leben war nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Er lebte seit einem Menschenalter unter gänzlich ver-
änderten Bedingungen. Trockene Berufsarbeit füllte sein
Dasein aus, das in die Bahnen ereignisloser Philister-
haftigkeit eingelenkt war. Er mochte fühlen, daß er
seiner Jugend und ihren Idealen fremd geworden und be-
G«iebiohte der entrlisclien Bomantik n, 1. 27
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418 Der literarische Essay.
sorgen, ungerecht gegen sie za sein. Auf seinem jetzigen
Standpunkte schrieb ihm die Pietät gegen den berühmten
Freund gewisse Bücksichten vor, die er am besten durch
den Vorbehalt charakterisiert, unter dem er an seine
Aufgabe herantritt: „Kein Mensch ist verpflichtet, die
Lebensgeschichte eines anderen zu schreiben. Keiner, der
es tut, ist verpflichtet, dem Publikum alles zu erzählen,
was er weiß''. Er hatte sich längst daran gewöhnt^ auf die
Stimme der bürgerlichen Konvention zu hören, und sie
flüsterte ihm zu, daß es dem Andenken des früh Geschiedenen,
der seine kurze Bahn im Begeisterungsrausch dahingestürmt
war, nicht zuträglich sei, diesen Lebenslauf der großen Menge
ohne Vorbehalt preiszugeben. So ist das Shelley Memair in
gewissem Sinne auch für Peacock ein autobiographisches
Denkmal, zumal der Schluß, der als eine Art Ehrenrettung
von Shelleys transzendentalem Idealismus der Überzeugung
Ausdruck gibt, er hätte bei längerer Lebensfrist die Reife
erlangt, seine überschwänglichen Jünglingsträume mit weh-
mütigem Lächeln als das einzuschätzen, was sie in den
Augen erfahrener Männer waren. Peacock ahnte offenbar
nicht, daß ihm selbst im Laufe der Jahre der Gradmesser
für Shelleys Begeisterung abhanden gekommen war.
Als literarischer Kritiker erfaßt er seine Aufgabe
in der Regel von dem allgemeinen Standpunkte des ge-
bildeten Theoretikers. So wi^ er in On the Poetry
ofNonnus (Über die Poesie des Nonnus), London Magtmne
vol. VI)0 die Verfeinerung der Dekadenz gegen ihre leicht-
sinnige Entfernung von der Natur ab und weist das Haupt-
verdienst des Nonnus nach, die klassische Mythologie mit
gotischer Phantastik ausgeschmückt zu haben.
*) Nach y. Doren, 155; ist dieser Aufsatz nicht von Peacock.
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Der literarische Essay. 419
In dem An&atze Musical Beminiscences. Contcdning an
Account of the Italian Opera in England from 1773. Con-
tinued to the Present Time & induding fhe Festival in West-
minster Abbey (Musikalische Erinneningen. Mit einem Be-
richt Aber die italienische Oper in England seit 1773.
Fortgesetzt bis anf die Gegenwart einschließlich des Festes
in Westminster), 1834, London Beview, träumt Peaoock
von einem vollkommenen Musikdrama, einer Art Kunst-
werk der Zukunft im Wagnerschen Sinne: Text, Musik,
Darsteller, Kostüme, Dekorationen, Chor, Orchester und
Kapellmeister, alle auf gleicher Stufe der Vorzüglichkeit,
und dazu, noch über Wagner hinaus, ein Publikum, das
seinerseits durch Verständnis und Haltung nicht das letzte
zur Rundung des Kunstwerkes beiträgt. Dieses Vorgreifen
in die Zukunft erscheint umso bedeutungsvoller, wenn man
erwägt, daß Peacock bei der englischen Erstaufführung des
Barbiers von Sevüia das Gefühl gehabt hatte, diese Oper
bedeute eine Revolution in der dramatischen Musik.
Rossini habe alle überflogen bis auf Mozart, dessen Kunst
sich, gleich der Shakespeare's, auf die einfachsten, un-
veränderlichen Prinzipien gründe und darum der Be-
wunderung aller Zeiten ebenso sicher sei, wie die Ge-
wandung der griechischen Statuen ungeachtet aller Wechsel-
fälle der Mode 8ch6n bleibe.
In einem anderen Aufsatze, in dem Peacock Bellinis
klassische Einfachheit des Rythmus anerkennt, nimmt er
zugleich Stellung gegen jeden Regelzwang in der Kunst
und neigt sich einer durchaus modernen Auffassung der
Harmoniegesetze zu. Wie es keine Folge von Lauten gebe,
die der menschlichen Leidenschaft verschlossen bleibe, so gebe
es keine Konsonanz oder Dissonanz, die in der dramatischen
Musik nicht ihren Platz fände {London Beview, vol. H).
27*
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420 Der Uterariflche Esmj.
Derselbe Band enthält einen Aufsatz über Frevuih
Comic Bamances (Französische komische Romane), die
Peacock in zwei Klassen teilt: solche, deren Charaktere
Individuen sind und deren Handlung dem wirklichen Lebai
entnommen ist und solche, deren Charaktere Abstraktionen
oder verkörperte Klassifikationen sind. Dieser Gruppe reiht
er seine Vorbilder Aristophanes, Rabelais, Swift, Voltaire
ein. Auch für seine eigene Art könnte keine bessere
Definition gefunden werden.
In einem The Epider betitelten Au&atz {London Review
vol. n) führt er den Gedanken aus, dafi der Krämer (epider)
das moderne Leben beherrsche und sein Geist sich wie auf
allen Gebieten, so auch in der Literatur spiegle.
1849 finden wir Peacock in der Westmnster and
Foreign Quarterly Beview mit einem weitläufigen Bericht
über zwei Werke vertreten, die von indischer Poesie handeln :
BaXaßaQazrj 7/ övvrofifjrfjg MaxaßaQOxag (lexarfXmxrto Q-evra
ücagä ArjfifjTQlov FaXdvov, Ad-fjvatov. Athens 1847 ^
und JRamagana, testo sanscritto secondo i codici manos-
criUi della Scuola Gandana, per Gaspare Gorresio. Parigi
1843—1845.
In Fraser's Magazine (vol. XLV, Nr. 267) begann
Peacock 1852 mit den Horae DramaHcae eine Art kritisch-
philologischer Altertumsstudien über weniger bekannte
Dramen und Dramenfragmente, die er zu einer Serie zu
erweitern dachte, aber bald abbrach. Seine Belesenheit
auf diesem Gebiete und sein Prinzip unbedingter Exaktheit
und Treue in der Wiedergabe von Originalen bekundet
auch seine Anzeige von Müllers und Donaldsons Uistory
>) Romaische Übersetzung des Mahabharata von Demetrins
Galanns.
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Der literarische Essay. 421
of Greek Literature (Geschichte der griechischen Literatur),
(Fraser^s Magazine, März 1859). Moore's Epicurian gegen-
über stellt er sich völlig auf den Standpunkt des Archäo-
logen und verurteilt das Werk, das wenig vom Geiste des
Altertums weiß, wie den Verfasser, der ihm unsympathisch
ist (Westminster Beview voL VIII).
Er selbst legte Gewicht auf seine Beschlagenheit in
ausländischen Literaturen, unter denen freilich ffir ihn
neben der griechischen und lateinischen nur die französische
and italienische in Betracht kam. Spanisch studierte er
noch in hohem Alter, gegen das Deutsche hat er sich
wie die Mehrzahl seiner Landsleute zeitlebens ablehnend
verhalten. Er erlernte es niemals, was nicht hindert, dafi
seine Werke von Ausfällen auf deutsche Philosophie und
Dichtung wimmeln.
So manchen Artikel widmet Peacock Dingen und Er-
eignissen des praktischen Lebens. Während er in dem
Aufsatze London Bridge (Westminster Beview, Oktober 1830)
dag^en eifert, die aus dem 18. Jahrhundert stammende
Brücke durch eine den Forderungen der modernen Technik
entsprechende zu ersetzen, veröffentlicht er 1888 in der
Edinburgh Beview (vol. IX, Nr. CXXU) einen Beport from
the SeUct Committee of ihe House of Commons on Steam
Navigation to India; toith ihe Minutes of Evidence, Ap-
pendix iSk Indexy 1884. (Bericht des vom Unterhause ge-
wählten Komitees für Dampfschiffahrt nach Indien mit
ZengenprotokoUen, Anhang und Register). Dieser Aufsatz,
ans dem Peacocks eifriges Interesse, sein Mühewalten und
fachmännisches Verständnis für eine gründliche Erneuerung
der modernen Verkehrsmittel erhellt, beweist am besten,
wie wenig ernst ihm seine feindselige Haltung gegen
Heformen ist „Nicht der Fortschritt verdroß ihn", sagt
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422 Der literarische Essay.
Bachanan, „sondern die von jadischen Zeitangsschreibem
nnd politischen Hanswursten heiser gekrächzte Heuchelei
des Fortschritts ödete ihn an. Seine unbesonnene Feind-
seligkeit war lediglich Ironie^. ^
Zu dieser vielseitigen journalistischen Betätigung
Peacocks kommt schließlich noch ein autobiographischer
Versuch in den anmutig erzählten BecoüecHons of Chüd-
hood (Erinnerungen aus der Kindheit) im zweiten Bande
von BenÜey's Miscdlames.
Unvermerkt hatte Peacock seine Frist fiber das Alter
des Propheten hinaus gesponnen. Sein Leben war ohne
große Ereignisse, ohne fühlbare Abschnitte dahingeflossen.
1856 zog er sich von der East-India Company zurQck und
lebte seitdem auf seinem Landsitze bei Shepperton, von
Enkeln umgeben, ein aufrechter, schöner alter Mann, dessen
Zfige ein warmes Wohlwollen erhellte. Es war bei aller
stacheligen Ironie und Grillenfängerei und trotz seines
lebenslangen Heidentums doch der Kern seines Wesens ge-
blieben. In der Regel brauchte man nur sein Vorurteil
einmal ad absurdum zu führen und man hatte ihn für immer
gewonnen. So war er z. B. lange nicht zu bewegen, etwas
von Dickens zu lesen. Doch zur Lektüre der Pickwick Papers
überredet, gab er sich rückhaltslos dem Entzücken hin.
Die Londoner Weltausstellung 1851 war ihm ein Greul.
Doch von dem Tage, als er sich, wochenlang nach ihrer
Erötbiung, endlich zu einer Besichtigung zwingen ließ,
gehörte er zu ihren täglichen Besuchern. >) Sein Egoismus
wurzelte in der Nächstenliebe. Er ertrug den Anblick
des Unglücks schwer und wich ihm darum tunlichst aus.
0 Sketchbook, 102.
>) Cole, Fifty Yeara of Public Life, 1 196.
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Der literarische Essay. 423
Er war entschiedener Anhänger eines feinen Epiknreismns,
liebte eine gate Tafel und ein Glas Wein and haßte
Banch und Tabak. Charakteristisch in dieser Hinsicht
ist der mit seiner Tochter Mary Meredith gemeinsam
gearbeitete Aufsatz Gastronomy and Civüization (Fein-
schmeckerei und Kultur), Fraser's Magazine XLIX, der
die Eüchenkunst als Spiegelbild der Kultur und des
Bildungsgrades eines Volkes behandelt^) Um Politik hatte
er sich nie gekümmert Sein Leben war verschollen, als
eines Tages (23. Januar 1866) 2) der Zeiger an der Uhr
stille stand.
Peacocks von der Alltäglichkeit weitabliegende Eigenart
brachte es mit sich, daß er nicht yolkstOmlich werden konnte.
Seine Werke stellen außergewöhnliche Ansprüche an den
Leser. Er muß, um die Ironie des Verfassers zu durch-
schauen, verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen, er muß
sein eigenes sicheres Urteil über Menschen und Dinge,
Politik, Künste und Wissenschaften mitbringen. Nirgends
ist ihm eine Empfindung mundgerecht gemacht, eine feste
Meinung au^etischt. Alles wird in Frage gezogen, nichts
zur Norm erhoben. Der Leser selbst hat aus diesen
Elementen das positive Resultat herauszuziehen. Wehe
dem Unsicheren, der sich irremachen läßt Dem Plus
an eigener Arbeit, die Peacock seinem Leser zumutet,
gesellt sich ein Minus an dem, was dieser vom Eoman-
schriftsteller zu erwarten gewohnt ist: an stofflichem Reiz,
an künstlerischer Anordnung und Durchbildung. Daraus
erkl&rt es sich, daß eine dichterische Individualität von
unleugbar scharfer und fesselnder Prägung wie die seine
>) y. Doren, 231.
*) NoUs and Queries, 10 S. Xn (17. Ang. 1903).
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424 Der literarische Essay.
für ganze Generationen verloren gehen konnte. Shellej
nannte Peacocks Schriftwerk „eine Gattong, zu gelehrt for
das seichte Zeitalter, zu weise ffir selbstsfichtige Eiferer",
nnd vertröstete ihn anf „die heitere Sphäre künftiger
Jahre". ^) Erst mit dem Wiederanfleben der Bomantik Ende
des 19. Jahrhunderts hat auch Peacock eine Auferstehung
gefeiert Seine poetische Eigenart scheint insbesondere
auf zwei hervorragende Talente befruchtend gewirkt zu
haben. Wir erkennen seinen Überfluß an paradox und
ironisch geistreichen Erörterungen wieder in Oliver WendeU
Holms' Breakfast Table-FlBuiereien und seine fein polierte,
künstlerisch durchgebildete Erzählungstechnik in den Ro-
manen seines Schwiegersohnes George Meredith.
Werke von Peacock.
1800 Is History or Biograph^ <Ae more In^ßrovmg Skufy?
1804 The Monks of 8t Mark.
1806 Palmyrii, and oiher Poems.
1812 The Qemue of (he Thames.
— The PhOoscphy of Melancholif.
1814 Sir Proteus, a Satmeal BaUad.
— Sir Horhbook, or CJUlde LaunceloVs Expedition.
1816 Headkmg HaU.
1817 MeUncourt, or Sir Oran EauUTon.
1818 Rhododaphne, or the Thessalian Speü.
— Nighimare Äbbey.
1820 The Four Ages of Poetry.
1822 Maid Marion (Nenansgabe 1895 von George Samtshury
bei MacmUlm; 1912 von F. A. Cavanagh, Enghsh
Literature for Seeondary Sdiools.)
') Letter io Maria Oisbome.
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Der litenuiacbe Bsmy. 425
1829 The Misfortunes of Elphin. (Nenansgabe 1897 nebst
BhododqpJme, mit Einleitung yon O. Samtsburif).
1831 Orotchet Castle.
1837 Paper Maney Lyrics.
1858—60 Menwirs of Shelley. (Neuausgabe 1909 von H, F. ß.
BreU-Smiih.)
1861 Gfyü Orange.
1862 Gli IngannaU. And Äelia Laelia Orispis.
1875 Warks of Thomas Love Peacock. Wiih a Preface hy Lord
Houghton, Biographical Note hy his GranddcMghter,
Edith Nicolls, edited hy Henry Cole.
1899 The Collected Prose Works of Thomas Love Peacock.
Edited hy Richard Gamett. With EecollecUons hy Sir
Edivard Strachey.
1902 Songs from the Novels of Thomas Love Peacock. Edited
hy R. Bnmley Johnson."
1909 Ährimanes. Edited hy Dr. Arthur B. Totmg. Modem
Language Beview, Januar. CorrecHons hy Brett- Smith
ebenda, JulL
1910 The Plays of Thomas Love Peacock. Published for the
First Time. Edited hy A. B. Toung.
— Thomas Love Peacocks Essay on Fashionahle Literature
. (Notes and Queries S. XII 5—^ und 62—63).
Werke aber Peacock.
Sir Henry Cole, Thomas Love Peacock 1785—1862, Bio-
graphical Notes (Privatdruck in nur zehn Exemplaren).
1839 Kritik über Headlong Hall, MeUncourt und Misfortunes
of Elphin, Edmhurgh Beview, Januar 1839.
1866 James Hannay, Becent Humowists, North British Beview.
— Richard Garnett, Artikel Peacock des BictUmary of
National Biography.
1890 George Saintsbury, Peacock (Essays in EngUsh Lite-
rature 1780—1860).
1894 Arthur B. Young, The Life and Novels of Thomas Love
Peacock. Inauguraldissertation presented to the Philo-
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426 Der litenuruche Bsmy.
sqphical Fticuliy of ihe Universiijf of Freiburg im
Breisgau far the Äcquieition of the Begree of Boctor
of Phüosophif.
1906 Brimley Johnson, The Poems of Thomas Love Peacoh
IntrodMcUon.
1911 Carl van Doren, The Life of Thomas Love Peacock,
— W. H. Helm, IntroducUon to Thomas Love Peacock (The
Regent Library).
— Robert Bnchanan, Sketchhook.
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Thomas Hood.
1799—1845.
Lebenslauf.
Hoods Leben ist die Tragödie des Bajazzo, der nm
des t&glichen Brotes willen das Pablikam durch Schellen-
geklingel, Gesichterschneiden nnd tolle Sprünge zum Lachen
bringt, während in seinem Linem ein ernstes Herz allem
Großen nnd Erhabenen entgegenschl>. Er spielt bemfis-
mäßig den Narren, den Aasgelassenen, weil seine Brot-
herrn es so wollen. Erst bei seinem Abgang erspähen
die Znschaner von ungefähr sein wirkliches Gesicht Und
nun finden sie Gefallen daran. Aber es ist zu spät. Er
ist bereits auf dem Heimwege, von dem es keine Rückkehr
gibt auf die Bretter, welche die Welt bedeuten.
Hood war ein Cockney aus dem Herzen der City, der
Poultry, jener uralten Straße, die Cheapside bis zum Man-
sion House fortsetzt. „Ich bin einer von jenen, in deren
Einderjahre die Bowglocken geklungen haben^. Mit diesen
Worten sträubt er sich in der prächtigen Nachtalb-Dichtung
The Besert Born Per Wüstensohn) „mit schüchternem Er-
röten'' gegen den ihm zugemuteten Ritt auf dem Araber-
Yollblut. Die Prinzessin versetzt mit Hurilächeln, wenn
auch zufällig Bow die Ehre seiner Geburt widerfahren, so
sage doch ein Etwas in seinem Auge und seinen Mienen,
seine wahre Heimat sei der Osten.
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428 Der literariBche Essay.
In Wirklichkeit war es nicht der Osten, sondern der
Norden. Hood hatte vom Vater her schottisches Blnt in den
Adern. Thomas Hood der Ältere (f 1811), ein intelligenter,
begabter Mann mit literarischen Neigangen, stammte ans
einer Familie von Ackerbanem und Handwerkern in der
Gegend von Dundee.*) Er gründete sich nach harten
Kämpfen in London als Teilhaber der Bnchhändlerfirma
Vemor, Hood, & Sharpe^) ein gesichertes Dasein und heiratete
die Tochter eines Kupferstechers Sand. In ihrer Familie
war die Neigung zur Schwindsucht erblich und von Hoods
sechs Kindern fielen drei dem Übel zum Opfer.
Auf Thomas den jungem ging die doppelte Veranlagung
für die Feder und den Zeichenstift über, aber auch die
schwächliche Körperbeschaffenheit. Schwere Krankheits-
anfälle, die ihn als Kind heimsuchten, ließen ihre verhängnis-
volle Spur zurück. In der Londoner Vorstadtschule, in der
er seine Bildung empfing, scheint es dem stillen, schüchternen
Knaben, nach seiner Ode to Clapham Äcademiy (1824) zu
schließen, übel ergangen zu sein. „Hier ward ich ge-
prügdty hier ward ich erzogen'', heißt es in dem Gedichte.
Während die andern Kinder spielten, verschlang er einsam
im Schatten einer Linde Buch auf Buch.
Dennoch gedenkt er seiner Kindheit gem. „In der
Jugend'', sagt er ebenda, „hast du das Beste deines Loses
empfangen, Himmelblau war in deinem Kelch!'' und in
Miss Kümannsegg apostrophiert er die Jugend als Lenz der
Lenze, da der Beiche reicher ist als sein Besitz und der
Arme reich an Gresundheit und Munterkeit und jeglicher
zufrieden mit seinem Lose.
0 Memorials, 1 4; ElHot, 23.
') Bossetti, Miss Kümannsegg,
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Der literarisclie Essay. 429
Hoods eigene Kindheit dauerte freilich nicht lange.
Mit zwölf Jahren verlor er den Vater. Sein Pflichtgefühl
trieb ihn, der unversorgten Mutter und den Geschwistern
beizustehen. Aber er war den vorzeitigen Ansti^engungen —
nach einer Überlieferung in einem Eaufhause, nach einer
andern als Lehrling bei einem Kupferstecher — nicht ge-
wachsen. Die frische und reine Luft des schottischen Hügel-
landes mußte seinem zarten Oi^anismus aufhelfen. Von
1815—1818 lebte er bei den Verwandten seines Vaters in
Dundee, das er in dem Fragment eines geplanten Dundee
Ouide (Führer durch Dundee) als ein schmutziges, schlecht-
gebautes Landstädtchen schildert mit wenig Wasser und
desto mehr üblen Gerüchen, wo man um elf schlafen
gehe und um sieben au&tehe, weder Karten noch Klavier
spiele, und wo alles, selbst die Frauen, dem Trunk ergeben
seien. 1) Ohne berufliche Beschäftigung lebte Hood hier
nur seiner Stärkung, dem Angel- und Segelsport und seinen
schriftsteUerischen Versuchen. Im Dundee Magazine er-
schien im Juni 1815 sein erstes Gedicht, SabhaÜh Moming
(Sonntagsmorgen), das eine kritische Übersicht der Kirch-
geher mit der Mahnung schließt: Richtet nicht, auf daß
ihr nicht gerichtet werdet. An einer epischen Dichtung
The Bandit (Der Räuber),*) in ausgesprochen Byronscher
Manier, fällt trotz aller Unselbständigkeit die Kraft des
Empfindungsausdruckes sowie die ungewöhnliche Gewandt-
heit in der Handhabung des Verses auf.
Hood scheint bereits frühzeitig die Poesie als seine
Heimatsphäre erkannt zu haben und völlig in ihr aufgegangen
zu sein. In seinem Briefe über Copyright and Copywrong
0 EUiot, 67 ff.
*) EUiot, 78 ff.
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430 Der UtenuriBche Essay.
(Schrifteigentumsrecht und -unrecht) bezeichnet er seine
Verpflichtung gegen die Literatur als eine so kolossale
Schuld, daß sie selbst der Tod nicht lösche, wie die
gegen die Natur. ,,Ich danke ihr noch etwas mehr als
meine irdische Wohlfahrt^, sagt er. „In früher Jugend auf
den großen Wassern treibend — lenkerlos wie Words-
worths blinder Knabe in der Schildkrötenmuschel —
scheiterte ich nicht. Statt durch väterliche oder bruder-
liche Leitung wurde ich gleich dem alten Seemann ge-
rettet durch Schutzgeister, ,jeglicher ein holdes Licht',
die meinem Laufe als Leuchtfeuer dienten. Meine schwan-
kende Gesundheit und die angeborene Leselust warfen
mich glücklicherweise statt in schlechte Gesellschaft
unter Dichter, Philosophen und Weise — mir gute Engel
und Diener der Gnade. Von diesen stillen Lehrern, die
oft mehr als Väter und immer mehr als Gevattern
für unser zeitliches und ewiges Wohl tun, von diesen
milden Ermahnem — keine heftigen Erzieher, nörgelnden
Mentoren, moralischen Fronvogte, zudringlichen Batgeber,
harten Zensoren und langweiligen Hilfsprediger, sondern
bezaubernde Gesellen — lernte ich etwas über die
göttliche und mehr über die menschliche Beligion. Sie
waren meine Erklärer im Schönheitshause Gottes und
meine Führer inmitten der lieblichen Berge der Natur.
Sie besserten meine Vorurteile, züchtigten meine Leiden-
schaften, mäßigten mein Herz, läuterten meinen Ge-
schmack, erhoben meinen Geist und lenkten meine Be-
strebungen. Ich hatte mich, inmitten eines Chaos un-
verdauter Probleme, falscher Theorien, roher Phantasien,
dunkler Impulse und beängstigender Zweifel verloren,
als diese lichten Geister meine innere Welt aus dem
Dunkel weckten wie eine neue Schöpfung und ihr zwei
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Der literarische Essay. 431
große Leuchten gaben, die Hoffnung und die Erinnerung
das Vergangene als Mond und das Zukünftige als
Sonne".
Die Eupferstecherei, der Hood, scheinbar gesund nach
London zurückgekehrt, sich 1818 widmete, war nur ein
DuchgangsstadiunL 1821 wirkte er bereits als Unter-
redakteur am London Magaeine.
Seine Verpüichtung bestand in Manuskriptlesen und
Druckkorrektur. Allein aus eigenem Antrieb versah er
den humoristischen Briefkasten der Redaktion {The Lion's
Head. Der Löwenkopf) mit Beiträgen. Er war von
Natur aus fröhlich. Keine Unbill des Lebens vermochte
die Neigung zum Scherz und Schabernack auszutreiben,
die ihm im Blute lag. Witz und Wortspiel sprudelten
in ihm in urwüchsiger Fülle. Seine Briefe sind selbst
in ernstester Zeit von ihnen durchsetzt. So be-
deutete die Witzfabrikation nach dem Dutzend bei ihm
nur die Ablagerung eines vorhandenen Überflusses und
er behielt die Rubrik des spaßhaften Briefkastens auch
späterhin bei (The Whispering Gallery. Flüstergalerie
im New Monikly und das Echo in Hood's Owon).
Die journalistische Tätigkeit brachte Hood mit liter-
arischen Persönlichkeiten in Verbindung. Er trat Eeats
näher und schloß eine besonders herzliche Freundschaft
mit Keats Freund, dem Dichter John Hamilton Reynolds,
dessen Schwester Jane 1824 Hoods Gattin wurde, die liebe-
volle und geliebte Gefährtin seiner guten und bösen Tage,
seine kritische Beraterin und treffliche B[rankenpflegerin,
die Mutter seiner beiden vielgeliebten Kinder und das nie
versagende Objekt seiner unverwüstlichen Neckereien. 1837
nennt er sie in einem Briefe den Stolz seiner Jugend, das
Glück seiner Mannesjahre, die Hoffnung seiner späteren
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432 I>«r literarisdie Sasay.
Tage.0 Und er richtet an sie die Frage, was eigentlidi
das verlorene Paradies des Menschen gewesen sei, da doch
mit dem Gefallenen die Liebe ist? {Sonnet to my Wife\
Bald betätigte Hood sich in Vers und Prosa als Mit-
arbeiter des London Magaeme. Schon 1823 entwirft Thomas
Griffyths Wainewright {The London^ vol. TU) folgende
Charakteristik von ihm : „Junger Theodor! Jung an Jahren,
nicht an Kraft! Unser neuer Ovid — nur phantasie-
voUer! Maler für das äußere und das innere Auge!
Vermischung dessen, was der Oberflächliche fflr nicht zu
einander passende Elemente hält! Lehrreicher, lebender
Beweis, wie nahe sich die Quellen des Gelächters und der
Tränen liegen! Du gährendes Hirn — noch bedrfickt
vom eigenen Eeichtum! Die Melancholie scheint dir ihre
leidvolle (heilsame) Hand aufs Herz gelegt zu haben,
dennoch ist deine Phantasie beweglich, nicht bedrAckt, und
funkelt und knistert mehr bei der Berührung als die
nördlichen Lichter, wenn sie sich dem Eispole nähern.
Wie! Nicht in Stimmung? Noch harret Lycus des Ge-
fährten! Wer kann ihn ihm geben als du selbst? Laß
dich nicht durch schale Gesellen bestimmen, diese deine
Anmut zu verbergen! Was deine Wortsprünge betrifft,
deinen Humor, deine Grillen, deine wunderlichen Vor-
stellungen von Gleichartigem und Ungleichartigem, von
Zusammenhängendem und Unzusammenhängendem — sie
sind gar prächtig angenehm, harmlos erheiternd. Allein
keinen Schritt weiter, wenn dir dein eigener Friede lieb
ist! Lies den Schluß des elften Kapitels und das ganze
zwölfte des Tristram Shandy und glaube ihnen, lieber
Theodor!" 2)
>) Memorials I, 66.
«) Memorials 1, 19, 20.
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Der literarische Bssay. 433
Durchschlagende Anerkennung blieb seinen ernsten
Dichtungen gleichwohl versagt. Um fBr sich und die Seinen
den Lebensunterhalt zu gewinnen, mußte er sich mehr und
mehr darauf verlegen, den literarischen Clown zu spielen.
Er gr&ndete eigene dem Spaß und der Satire gewidmete
Zeitschriften The Gern (Der Edelstein), 1829, The Comic
ÄnniMil (Komisches Jahrbuch), 1830.
1834 untergrub der Bankrott seines Verlegers die
Wurzeln seiner Existenz. In der Meinung, auf dem Kon-
tinent günstigere Lebensbedingungen zu finden, siedelte er
1835 mit seiner Familie nach Koblenz fiber. Zwei Jahre
spftter vertauschte er diesen Aufenthalt mit Ostende, von wo
aus er eine 1838 gegründete Zeitschrift Hood's Own (Hood's
Zeitschrift) redigierte. Aber schon machte ein Herz- und
Lungenleiden verhängnisvolle Fortschritte, die das rauhe
Nordseeklima beschleunigte. Mit fast ttbermenschlicher
Arbeitsenergie kämpfte er gegen Krankheit und Not an.
„Meine Lage^, schreibt er, während eines kurzen Be-
suches in der Heimat, 1839, „ist eine sehr grausame, nach
all meinem Ringen so fast ganz ohne Oeld zu sein und
mit so traben Aussichten, welches zu bekommen, außer
durch die Betätigung meiner Feder. Was mittlerweile ge-
schehen soU, ist eine Frage, auf die ich keine Antwort
finde als das Brflgger Schuld -Gefängnis. In demselben
Augenblick, in dem mich das Kriminalgericht losläßt, bin
ich anderweitig an Händen und Fttßen gebunden und durch
die harte Not gezwungen, mich als Tagelöhner einem Buch-
händler auszuliefern".
Freunde ermöglichten ihm im April 1840 die Bflckkehr
nach England. 1841 erhielt er die Bedakteurstelle des
New MantMy mit einer Jahi*esbesoldung von 300 i?., schrift-
stellerische Beiträge nicht mit einbegriffen. Aber die
Gesehiehle der enffliaoheii Bomantik H, 1. 28
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434 Der Uteranflolie Basar.
Herrlichkeit dauerte nnr zwei Jahre. Hood flberwarf sich
mit dem Eigentümer des Blattes und gab seinen Posten
auf. Von einem Ausflüge nach Schottland (1843) erhoffte
er, wie in den Jugendtagen, eine Wiedergeburt an Lebens-
kraft und Frische — vergeblich. 0 Zwar gelang ihm das
Gedicht, mit dem er seinen großen Wurf tat» The Song of tke
Shirt (Das Lied vom Hemde), das anonym in der Weihnachts-
nummer des Punch 1843 erschien und wie ein Lauffeuer
durch die Lande ging. Hood war und blieb fortan der
S&nger des Liedes vom Hemde. Er entwarf im Scherze seiii
Wappen: Ein Herz von einer Nadel durchbohrt, als
Faden eine silberne Tr&nenschnur, als Helmzier einen
Falken. Mit Bezug auf Shakespeare's: „Wie der Ochs seinen
Bug hat, das Pferd seinen Zaun, der Falke seine Schellen'',^)
fragt Hood: „Warum sollte die Helmkappe (Hood) nicht
ihren Falken haben?''
Aber nun, da sein Genius in seltener Spannkraft sich
auf sein eigenstes Gebiet zu schwingen und sein Bestes zn
geben schien, versagte der Leib den Dienst Der Ein-
ladung zu einem Meeting von 3000 Personen unter dem
Vorsitz Benjamin Disraelis in Manchester, 1844, wo Hoods
Schriften sich besonderer Volkstümlichkeit erfreuten, konnte
er nicht mehr folgen.
Im Februar 1845 brachte Hood's Mcyasine, eine im
Vorjahr gegründete Zeitschrift^ seinen Abschied vom Leben
mit der charakteristischen Zweiteilung:
Leben, fahr wohl! Der Sinn verfSllt,
Trüb verschwimmt das Bild der Welt>
Schatten legen sich ums Licht
1) EUiot, 156.
>) As you like it, lU, 8.
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Der ütenri0die Kssar. 435
Und die Nacht kommty donkel, dicht.
Kalt and kUter, schauerlich
Hebt ein frostiger Nebel sich.
Stärker wird der Erdendoft;
Ob der Böse — Moderlnft
Willkommen Leben! Der Geist strebt auf!
Die Kraft kehrt wieder, die HofEnnng lebt anf !
Verlorne Gestalten, Ängste, Sorgen
Entfliehen wie Schatten vor dem Morgen.
Die Erde prangt in Blfltenpracht
Goldsonniges Licht statt düsterer Nacht;
Statt kalten Nebels linde Lnft^
Und Aber dem Moder — Bosenduft!
In einem Abschiedsbriefe an die Verwandten in Dundee
vom 12. März 1845 sagt Hood: ,,Ich habe sehr viel von
Schwäche gelitten . . . aber nur körperlich; denn meine
Seele war mhig und gefaßt Sei es euch ein Trost zu
wissen, daß ich geliebt nnd geachtet sterbe nnd daß mir
unerwartete Gftte nnd Auszeichnung von sehr vielen Fremden
wie von Freunden geworden ist^ 0
In den ersten Maitagen des Jahres 1845 wurde er auf
dem Friedhofe von Eensal Green begraben. Das durch Öffent-
liche Subskription errichtete Denkmal trägt die Inschrift:
„Er sang das Lied vom Hemde''. Bobert Peel hatte ein
halbes Jahr yor Hoods Tode seiner Gattin eine Jahres-
rente von 100 £ aus der ZiyiUiste bewilligt. Allein Jane
Hood bedurfte ihrer nicht lange. Von der Härte ihres
Daseins aufgerieben, starb sie nach achtzehn Monaten dem
teuren Gatten nach.
t) sUiot» 102.
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436 Der UteruiMhe Bisiiy.
Der Bomaatiken
W. M. Rossetti nennt Hood den zartesten englischen
Dichter zwischen Shelley nnd Tennyson.^ Anch Oswald
gelangt zn der Erkenntnis, daß der jnnge Hood vollständig
in der Romantik wnrzla Sie ist in der Tat der Schlfissel
zu Hoods Wesen. Er geriet als Jüngling in den Kreis der
Romantiker nnd empfing von ihnen maßgebende Einflösse.
Dnrch John Hamilton Reynolds, selbst ein viel versprechendes
poetisches Talent, wirkte der eben (1821) verstorbene Eeats
gewaltig anf Hood ein nnd bestimmt dessen Verhältnis
znr Natnr. Hazlitt und Lamb teilten ihm Verständnis und
Begeistemng fflr die Elisabethaner mit, üoleridge den Sinn für
das Übernatürliche oder die Vergeistignng des Natürlichen.^)
Wo alle drei Einflüsse sich zn einem neu- nnd eigenartigen
Ganzen vereinen, haben wir den echten Hood. Ein Sonnen-
hymnns {Hymn to ihe Sun, 1822) apostrophiert das Tages-
gestim als „Spender des leuchtenden Lichtes, König der
klangreichen Leier, Herr des schrecklichen Bogens, Vater
des rosigen Tages, Gott des delphischen Tempels^ nnd ver-
kündet die trostreiche Erkenntnis, daß noch Könige und
Weise leben und sich freuen in seinem freundlichen Strahl
Hoods Fähigkeit, ohne eigentliche Schilderung eine Natur-
stimmung in bildhafter Deutlichkeit zum Ausdruck und
zur Empfindung zu bringen, verrät den geborenen Lyriker,
so z. B. die beruhigende ausgleichende Harmonie, die der
Mond, die Mutter des Lichtes, im Gemüte auslöst (Ode to
the Moon. An den Mond, 1827); so, wenn er die unergründ-
liche Nacht besingt, die ob der überfluteten Erde hin-
streicht und die mächtige Stadt in ihre vollen Wogen
<) Bossetti, XXXI.
•) Vgl. Oswald, 8, 9.
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Der literariflche Sssay. 437
hüllt {Midnight Mittemacht, 1822); oder wenn er den
alten Herbst im Nebelmorgen stehen sieht, schattenlos,
wie die Stille, die der Stille laoscht, nnd ihn seine glänzen-
den Schmachtlocken schütteln l&ßt, in die der Altweiber-
sommer geflochten ist, der zugleich als Perlenschmuck auf
seiner Erone von goldenem Korn liegt {Autumn. Herbst,
1823).
Von dieser Art der Naturbeseelung ist zur Per-
sonifikation nur ein Schritt. Die Natur belebt sich fflr
Hood mit Geistern, Elfen, allegorischen Gestalten. In
einem seiner frühesten Gedichte erscheint die Hoffnung
als ein junger Seraph, dessen Harfe dem Dichter über
die Mühsal des Lebens forthilft {To Hope. An die Hoff-
nung, 1821).
Einen hohen Grad naiver Objektiyit&t in der Natur-
personiflkation erreicht Hood in der Beimerzählung Lycus
the Centaur, From an Unrolled Manuscript of Äpollonius
Curius. (Lycus der Centaur, aus einer aufgerollten Hand-
schrift des ApoUonius Curius), 1822. Er l&ßt Lycus selbst
sein furchtbares Geschick erzählen. Circe, von einer
Wassernymphe um ein Zaubermittel gebeten, das Lycus
unsterblich machen soll, gibt ihr eine Formel, die ihn zum
Pferde umwandelt Entsetzt über die Wirkung, l&ßt die
Nymphe im Werke inne halten. So entsteht der Roßmensch,
der unter den Menschen keine St&tte mehr hat und in
Thessalien Zuflucht unter seinesgleichen sucht Hartley
Cioleridge schrieb von diesem Gedicht, er halte es für einzig
in seiner Art; Niemand als Hood h&tte es schreiben
können. Tats&chlich ist Lycus, der seine Erz&hlung stark
mit klagenden Reflexionen durchsetzt und einmal sogar
von dem großen Brahma spricht, der die Geister der Sünde
in Leiber einkerkert, eine jener antiken Gestalten der
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438 Der UtenriMke Esny.
Bomantik, die dnrchtrftnkt sind vom Geiste ihres SchSpfers
und seiner ZeitO
Noch mehr gilt dies fftr die Coleridge zugeeignete
Dichtung Hero und Leander^ 1827, verrnntlich nicht m-
beeinfluBt von Christopher Marlowe, in dessen Behandlung
der Sage das Moment hineingetragen ist, daß Neptun in
einer Liebeswallnng zu Leander, den er für Ganymed hUt^
ihn ZQ sich auf den Meeresgrand zieht Die todbringende
Welle wird als eine in Leander verliebte Najade von gött-
licher Schönheit zur dramatischen Person, gegen welche
die Titelhelden fast zurücktreten. Sie lockt den Jflngling
in die Tiefe, weil sie ihn besitzen will, und bringt den
Entseelten wieder an die Oberflftche in der Hoffnung, er
werde im Lichte wieder zu atmen beginnen. Verzweiflungs-
voU ruft sie ihn bei dem Namen, den sterbend seine Lippen
hauchten: Hero, Hero! Ln Wettersturm vernimmt Hero
den Buf. Sie hfilt ihn für die Stimme des Greliebten und
springt^ um sich ihm zu vereinen, in die Tiefe.
So legt Hood in poetischer Weise selbst der zerstörenden
Macht des Todes die Liebe als Beweggrund unter. In
diesem Gedicht der Liebe gibt es tatsächlich kein feindseliges
Element, sondern nur den Naturtrieb, der, gedankenlos»
seinem blinden Walten überlassen, Heil wie Unheil schafft.
Der breite Fluß der Erz&hlung weist manche Sehil-
derung von edler Kraft aul Daneben auch manches ge-
zwungene Bild, das auf Nachahmung Elisabethanischer
Vorbilder, hier wohl speziell Christopher Marlowes, zurück-
geht
Unmittelbar in Shakespeares Welt tritt Hood in dem-
selben Jahre mit dem Charles Lamb gewidmeten Tke Hea
0 Vgl Oiwald, 64.
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Der literarisdie Essay. 439
of the Farnes pie Verteidigung der Elfen), 1827, einer
„All^orie znr Feier jener Unsterblichkeit, die Shakespeares
Si)mnernacht$traum den Elfen verliehen hat*', wie Hood in
seinem Widmnngsschreiben sagt
Die Elfen gehören znr Blftte der Phantasie wie die
Milben znr Pfianme. Sie sind im allgemeinen zu zart und
zu schön, um der derben Faust der Zeit zu widerstehen.
Der Dichter aber hat diesen vergänglichsten Teil in der
Schöpfung des Geistes dem dauerndsten gleich gemacht.
Er hat die Elfen so mit menschlichen Sympathien durch-
woben und durch viele köstliche Assoziationen so mit
den Produkten der Natur verknüpft, daB sie dem Blicke
des Geistes so wirklich wesenhaft sind wie ihre gränen
magischen Kreise dem äußeren Sinne. Es wäre schade,
erlösche eine solche Gattung, gliche sie auch nur den
Schmetterlingen, welche die Blätter und Blüten der sicht-
baren Welt umschwärmen".
Hoods Elfen geht nun freilich gerade der Vorzug ab,
den er bei Shakespeare zuhöchst einschätzt, die menschliche
Sympathie. „Unsere Natur'', läßt er eine Elfe sagen, „ist
durchsetzt mit holden Menschlichkeiten und dem mensch-
lichen Geschlechte eng verknüpft in freundlichem Mitgefühl''.
Allein eben diese Vermenschlichung der Naturwesen gelingt
Hood nicht im vollen Ausmaß und eben darum läßt seine
Dichtung bei mancher Einzelschönheit kalt. ^) Die zu ihrer
Zeit so volkstümliche und bewunderte Dichterin Letitia
Elizabeth Landon (L. E. L. 1802—1888) rügt, bei großer
Bewunderung der poetischen Qualität des Gedichtes, „den
Mangel an menschlichem Interesse, an jenen starken und
leidenschaftlichen Empfindungen, die sich mehr ans Herz
>) Worki I, 417. 421.
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440 Der litenurische Essay.
als an die Phantasie wenden^. Anch die unangenebme
Breite und Überladung mit phantastischem Detail fiUt ihr
auf und die Sucht nach feiner, zierlicher Naivität, die
er mit Lloyd und Lamb teile. Dennoch schrieb sie an
Hood: „Die Elfen müßten in der Tat ihren Zauberstab
zerbrochen haben, wenn Sie nicht eines Morgens erwachen
und sich in einem Sternenpalast befinden, den die Musik
erbaut und den Luftgeister erffillen, Ihres Befehles harrend.
Oder zum mindesten sollten sie eine Sonnenblume in einen
goldenen Wagen verwandeln und Sie im Triumphe dahin-
ffihren".
Hoods Dichtung zeigt uns in monderhellter träume-
rischer Waldesnacht Titania mit ihrer Schar. Das Fort-
leben der Elfen, dem „des holden Barden glftckliche Feder"
bis hierher verholfen, scheint in Frage gerückt, da es
von dem unbeständigen Glauben der Menschen abhängt.
Ihrem Sehkreise entschwunden und vergessen, sterben die
Elfen. Schon gleitet schweigsam, dfister, einen Kränz ver-
dorrter Ähren im Haar, der EOnig der Jahre in die Ver-
sammlung. Die Königin fleht um Erbarmen. Melodisch
schwirrende Elfen schildern ihr wohltätiges mildes Walten
in Garten und Haus, in Wald und Feld, im Quell und in
den LOften. Puck versucht einen Ringkampf mit Saturn.
Alles vergeblich. Der Unerbittliche holt mit seiner Sichel
zum Schnitt aus. Da erscheint, Einhalt gebietend, die
Lichtgestalt des Dichters. Dem unsterblichen Schatten
vermag Saturn nichts anzuhaben und entflieht Die Elfen
huldigen dem Poeten und das Traumbild löst sich in
Nebel auf.
Völlig im Banne der romantischen Behandlung pseudo-
klassischer Motive zeigt sich Hood in der dramatisierten
Dichtung Lamia, die er selbst als Bomanze bezeidinet und
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Der literarische Essay. 441
die erst 1852 als Anhang von William Jerdans' Selbst-
biographie veröffentlicht ward. Die Anregung für sie
empfing Hood natürlich von Eeats' Gedicht (1820), dessen
Stoff ans Bnrton's Änatomy of Melancholy (Teil ni
Seite 2) geschöpft ist, die ihrerseits auf das vierte Buch
der Vita Äpollonii des Philostratus zurückgeht ApoUonins
erzilhlt, daß er auf der Hochzeit des jungen Eorinthers
Menippus Lycius die Entdeckung machte, die schOne Braut
sei eine Lamia und die ganze prunkvolle Einrichtung ihres
Hauses nur Blendwerk. Als er ihr seinen Verdacht mitteilt
und sich weigert^ Verschwiegenheit zu geloben, entschwindet
das Gespenst nebst dem Hause und allem, was darin ist.
Eeats, der die Sage in das Gold seiner edelsten Poesie
getaucht, veränderte den Schluß dahin, daß Lamia, als sie
sich entdeckt f ühlt^ vor Schreck erbleicht und erstarrt und
Lycius gewissermaßen an ihrem Tode stirbt Hood ist
seiner Gewohnheit gem&ß wesentlich ausführlicher und
sucht durch realistische Pinselstriche der Fabel das Interesse
eines Wirklichkeitsvorganges zu geben. In der Demut
ihrer Verliebtheit gesteht Lamia dem Lycius, sie habe den
Staub geleckt, den er trat, eine Wahrheit, die er bildlich
versteht Ebenso hält sie sein Bruder Julius, den sie
gleichfalls berückt, nur figürlich für eine Schlange, während
Apollonius sie tatsächlich als solche erkennt Ein drittes Mal
kehrt bei Hood der Doppelsinn wieder in Lamias Ausrufe:
„0 Lycius, um deinetwillen war ich so Weib als Schlange!''
Allein dieses Streben nach Vermenschlichung des außer-
menschlichen Themas rechtfertigt wohl kaum den kühnen
Versuch, sich seiner nach Eeats zu bemächtigen. An
charakteristischer Eraft wie an lyrischer Schönheit zieht
Hood begreiflicherweise den kürzeren.
Das traumhaft visionäre Element» das einen Grundzug
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442 Der litenritehe Ebmj.
der Romantik bildet^ macht sich bei Hood Mhzeitig geltend.
Das Prosafragment Presentmmt (VorgefOhl), 1822, hat eine
unverkennbare Ähnlichkeit mit Lambs Dream Chädreny
hält sich aber mehr im Beiche der Vision, ist ftrmer an
lebendigem Wirklichkeitsdetail und reicher an empfindsamer
Phantastik, der eine feine psychologische Analyse des
Vaterschmerzes um ein verlorenes Kind zu Omnde liegt
Der Dichter, von der Bitternis des Tages erfällt nnd vom
fieberhaften Kampf des Lebens dem Wahnsinne nahe gebracht,
beobachtet zwei Kinder am Grabe ihres Vaters. Sie spredien
vom Tode, ohne mit dem Worte einen Begriff zu verbinden.
Da wird in dem Lauschenden der Gedanke an den im
Grabe ruhenden Vater der Kleinen wach, die Vorstellung der
Sehnsucht einer entkörperten Liebe, die keine Stimme hat,
so daß es ihm ist, als ginge der Geist des Vaters in
ihn über. Er beschlieflt, den Kindern ein Vater zu sein.
Gott möge es ihm an seinen eigenen Kindern vergelten.
Doch wie er jene nun fest ins Auge faßt, gewahrt er an
ihnen eine Veränderung. Er kennt sie von lange und sie
kennen ihn, aber aus ihren Augen blickt ein älterer Gram,
als noch je in ihnen lag. „Weshalb waren sie an diesem
Orte, in schwarz, so traurig, so stumm, und mit so welken
Blumen? Doch sie schüttelten nur den Kopf und weinten.
Da zitterte ich gewaltig und streckte die Arme aus, sie
zu empfangen. Allein zwischen uns und den Grabsteinen,
wo sie zu stehen schienen, war nichts. Und zwischen den
Steinen blickten sie noch nach mir, femer, immer femer,
wie ich ihnen mit dem Auge folgte, bis sie am Saume des
Kirchhofes standen. Da sah ich im Sonnenschein, daß sie
schattenlos waren. Und wie sie die Hände im Lichte hoben,
sah ich, daß kein Blut in ihnen war, und als ich noch
schärfer hinsah, daß sie langsam in die Bäume und Hügel
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Der literariBche Essay. 443
und den blassen blauen Hiinmel der Ferne zerflossen.
Noch starrte ich hin, wo sie gewesen, und die Lüfte
schienen voll von ihnen, aber es gab nur Wolken nnd
Schatten und das Rascheln war das Bascheln der Schafe.
Ich sah sie nicht mehr. Sie waren von mir gegangen wie
anf immer. Doch ich wuBte, daß dies meine Todesbotschaft
war und weinte, denn sie kam mir zu durch meine eigenen
Kinder in all ihrer Bitternis^.
Von einer Phantasiekraft^ die mit Coleridge und Eeats
wetteifert, ist The Two Swans, A Fairy Tale (Die beiden
Schwäne, ein M&rchen), 1829. Der Dichter ruft für diesen
„M&rchentraum zu Ehren wahrer liebe^ Imogen als Muse an,
die Königin der Reinsten ihres Geschlechtes. In der Gestalt
eines Schwanes befreit die Jungfrau durch ein Lied den
Liebsten aus der Gewalt eines Eiesendrachen und gemeinsam
verlassen beide den Ort des Schreckens. Die Schilderung
des Ungeheuers, der schaurigen Einsamkeit, der stillen
Mondnacht, in der der schneeweiße Schwan, einen strahlenden
Lichtkreis um sich verbreitend, über den See kommt^ dessen
Wellen in seinem keuschen Spiegelbilde zu erstarren scheinen,
das mittemftchtige Sangeswunder und die gefahrvolle
Flucht — all das wird gekrönt durch das Schlußbild der
beiden Schw&ne, die fem und femer segelnd, schließlich
wie zwei schneeige Blüten entschwinden und, am jenseitigen
Ufer angelangt, im Lichte eines neuen strahlenden Tages
sich als Jüngling und Mägdlein in unaussprechlicher Wonne
in die Arme sinken.
In Balladenform gegossen erscheint dieses Traum-
element der Romantik bei Hood in der OU Ballade 1824,
die von Bradermord und Vergebung und einem glücklichen
Fortleben auf dem Grunde des Flusses an der Seite einer
Wassernymphe singt Die seelenerschüttemde Gewalt des
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444 Der literarische Essay.
Traumes und sein beängstigendes Verschweben und Eingreifen
in die Wirklichkeit^ wie es hier, von Coleridge übernommen,
zum Ausdruck kommt, gibt, mit dem Düster- Schauerlichen
des Verbrechens verquickt, die Grundstimmung fOr eines
der berühmtesten und vollendetsten Gedichte Hoods, The
Dream of Eugene Äram (Eugen Arams Traum), 1829 in
der Zeitschrift The Qem (Der Edelstein) erschienen, ins
Deutsche fibersetzt von Rühe und Leutnant v. Franck,
1841.
Mit sicherem Blick greift Hood aus dem ein wirkliches
Geschehnis um die Mitte des 18. Jahrhunderts darstellenden
Stoff 0 den grellen Kontrast zwischen kindlicher Unschuld
und dem zermalmenden Schuldbewußtsein des Mörders als
das für die Ballade geeignetste Moment heraus. Aram,
der von Gewissenspein abgezehrte Schullehrer, schildert
einem Knaben, an dessen Lektüre von Ahds Tod anknüpfend,
die Folterqualen seiner Reue in der Form eines furcht-
baren Mord -Traumes, dessen entsetzlichen Eindruck seine
Seele auch wachend nicht abzuschütteln vermöge. Der
Alpdruck des bösen Gewissens ist in der Poesie selten er-
schütternder zum Ausdruck gebracht worden als in dem
Traume des Mörders Aram, der, den entseelten Leib seines
*) Der ünterlehrer Eugene Aram in Enaresborongh (Yorkshire),
ein tttchtiger Sprachforscher, wurde 1795 einer geringfügigen Snmme
wegen zum Mörder an dem Schuhmacher Daniel Clarke. Vierzehn Jahre
später ward seine Tat ruchbar und er selbst zum Tode verurteilt In
der Zwischenzeit soll er seinen Schttlem beständig vom Tode gesprochen
haben. Arams von ihm selbst verfaßte Verteidigungsrede wurde der
Sonderausgabe von Hoods Ballade vorgesetzt ßulwer machte aus
Eugene Aram (1831) einen Helden, der seine Schuld erst hinweg zu
räsonnieren trachtet und ihr, als dies fehlschlägt, ktthn ins Antlitz
blickt. Gegen diese Auffassung verteidigte Hoods Übersetzer Bühe ihn
im Vorwort und erklärt die Beue für das einzige Moment, durch welches
ein Verbrecher GrOfie erlangen könne. (yiTorks n, 801.) .
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Der literarische Essay*. 445
Vaters aof dem Rftcken, vor der Angabe steht, ihn zu be*
gtaben. Sie bedeutet ihm feierliche Verantwortung und
unsfihnbare Schuld, unaussprechliches Entsagen und un-
erträgliche Qual und er vermag sie nicht zu bewältigen,
wie oft er auch daran geht Immer au&i neue und mit
immer überwältigenderem Gewicht wird ihm die Last auf
die Schultern gewälzt Als knappes Nachwort folgt auf die
ergreifende Schilderung dieses Gemütszustandes die Mit-
teilung des Dichters, daß Aram in selbiger Nacht von
den Gterichtsbütteln geholt ward. Dieser kurz zusammen-
fassende Schluß verstärkt nicht nur die Wirkung, indem
das tatsächliche Geschehnis als die unvermeidliche und
nicht wegzuleugnende Folge dem gewaltigen phantastischen
Stimmungsbilde den Nachdruck des Tatsächlichen gibt Es
verleiht der Ballade zugleich den Schein jener volks-
tümlichen Echtheit, die für sie die poetische Wahrheit be*
deutet
Ist in Eugene Ärams' Dream das Schauerlich-Mystische
auschließlich in den Seelenvorgang verlegt, so erscheint es
in zwei späteren Gedichten als das mit höchster Kunst
herausgearbeitete Ergebnis einer Milieuschilderung, in The
Ulm Tree und TJie Hawnted House.
The Elm Tree. Ä Dream in the Woods (Der Ulm-
baum. Ein Waldestraum), 1842, bringt dem Leser durch
ein mit Meisterhand gezeichnetes Bild aus dem Naturleben
eine allgemeine Wahrheit zum Bewußtsein, ohne sie aus-
zusprechen. In dem Rauschen der prächtigen, im Sommer-
schmuck prangenden Ulme klingt dem feinen Dichter-
ohre melancholisch ein feierlich geheimnisvoller Ton ent-
gegen. Der Herbst kommt. Die knorrigen Fichten krümmen
sich, ineinander verzweigt, wie Waldlaokoone. Die entlaubte
Ulme steht da wie ein sündiger Mensch, der wild die Arme
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446 D« UtnwMie BMay.
in die Luft wirft^ da er den Warm in seinem Innern fBUt
Der Förster naht mit seiner Axt und fUlt die Ulme. Die
Tiere des Waldes werdra aofg^escheacht Ein allgem^er
Schrecken bezeugt die gefOrchtete Nähe des Todes. Nnn
ist der erschienen, der allen ein gemeinsames Los bereitet
Der Mensch, der Zerstörer von Ulmen und Eichen, der sich
ein EOnig des Alls dOnkt, wird seine unfreiwillige Bohe-
statt in der Ulme finden, in der engen eidienen Zelle. Das
Phantom entschwindet und die Tiere kommen wieder her-
bei Das Leben geht fiber Schicksale weg nnd lenkt rasch
in seinen gewohnten Lauf. Der Dichter aber weiß nun,
was der feierlich tranrige Klang des mystischen Baumes
bedeutete. Er hat das yorbestimmte Holz geschaut, aus
dem ihm einst das letzte stille Haus gezimmert wird.
The Haunted Home (Das verwunschene Haus), 1845,
das einen jener Trftume behandelt, die mehr sind als bloße
Einbildung, knftpft an die Schauerromantik an. Die
Schilderung des alten verlassenen Hauses ist von aufler-
ordentlicher poetischer Kraft. Das ofEene, aus den Angeln ge-
hobene Gittertor, die zerbrochenen Fensterladen, die auf dem
begrasten Hofe herumliegen, die von Unkraut überwucherte
Sonnenuhr, der verwilderte Garten und seine von ihren
Sockeln gestürzten Statuen, das alles liegt wie unter einem
Bannfluche. Etwas Geheimnisvolles raunt dem Gefühle zu,
dafi es in dem Hause spuke. Es ist das düstre Haus des
Leides, das Haus des Todes, von Moderduft erfülltes, von
allerlei Getier heimgesuchtes, grabesstilles, feucht ab-
bröckelndes Gem&uer, in dem das Licht bläulich brennt^
eine endlose Flucht von Treppen, Gingen und Gem&chent
Auf den Wandteppichen, verbuchen, von Motten zerfresse
blieb nur ein einziges Bild kenntlich: Kain, der den Abel
erschlägt Die blutige Hand leuchtet wunderbar im vollen
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Der Uterariflolie EsMy. 447
Farbenfener. Rätselhaft bewegt sich der Teppich vor der
Wand, an der die Motte des Totenkopfes h&ngt, in der die
Totenuhr hämmert. Ein vereinzelter Lichtstrahl fällt anf
das modernde Bett. Dort weist der Fußboden in dunkeln
Flecken die Schuldspur. Die Seele ahnt, es ist das Geister-
zimmer. Sie schaut erschfittemd im Geiste die blutige Tat
und einen verzweifelten Todeskampf.
Auch hier ist wie in Eugene Aram das StofQiche in
eine Schlußbemerkung kurz zusammengedrängt, während
der Leser durch die breite — wie fast stets bei Hood nur
allzu breite — Stimmungsmalerei in den Wahn versetzt
wird, die Schilderung eines erschütternden Ereignisses in
allen ihren Phasen mit durchlebt zu haben. The Haunted
Hause wurde sogar ins Lateinische übersetzt ^
Als Komantiker von echtem Schrot und Eom erweist
Hood sich schon äuiBerlich durch sein ungeheures Form-
talent Was Tonmalerei, Klangwirkungen, Leichtigkeit der
Diktion und Pracht des Verses, was jede Art der Reim-
technik vermag, bewältigt er spielend. Er gehört unter die
metrischen Grenies englischer Zunge. Es gibt schlechterdings
keine Versgattung, in der er sich nicht als Meister erwiese.
Stanzen {The Stag-Eyed Lady. Die Dame mit den
Gazellenaugen; The two Peacocks of Bedfont Die zwei
Pfaue von Bedfont) und Spensersche Stanzen (The Plea of
ihe Midsummer Farnes; The Two Swans\ wie die Balladen-
strophe des in zwei Zeilen gebrochenen Septenars mit
Binnenreim in der ersten (The Epping Hunt Die Jagd
von Epping) werden ihm zum natürlichen Ausdruck der
Erzählung. Komplizierte Strophen mannigfaltigster An-
ordnung erfindet er in unerschöpflicher Abwechslung und
») Works VI, 820.
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448 Der Utaririiche Esmy.
paßt sie in geschmackyoll charakteristischer Weise don
Inhalt des (Gedichtes an, z. B. die sechszeilige Strophe des
Eugene Aram mit ihren abwechselnden vier- and drd-
jambigen Versen, deren Reimstellnng a b c b d b einen an-
gewohnlich energischen BaUadenton hervorbrii^^ and nicht
nmsonst von Oscar Wilde in der Bailad of Beading Jaü
nachgeahmt worden ist. Manches dieser Versmaße ist
äußerst kompliziert, ohne daß die Schwierigkeit dem Leser
im geringsten znm Bewußtsein käme, z. B. die vierzehn-
zeilige Strophe des Gedichtes Midnight (Mittemacht) mit der
Beimstellnng abbaabbacdcede. Formschöne Sonette
{To mg Wife. An meine Frau; Deaffi. Tod; SOence. Stille),
sangbare Lieder (To an Äbsentee. Einer Abwesenden; To
mg Wife, 1825; The Forsaken. Die Verlassene), das naive
Eindergedicht {Queen Mab), die schlichte Volksweise (Fair
Ines. Schon Ines; The EoMe. Der Verbannte) — kurz, alle
Spielarten der Lyrik sind bei ihm vertreten. Immer findet er
für eine gradlinige einfache Empfindung den entsprechenden
und überzeugenden Ausdruck (To a False Friend. An einen
falschen Freund; To.a Chüd embracing J^s MoAer. An
ein Eind, das seine Mutter liebkoste). Manche Lieder (The
Stars are with ihe Voyager, Sterne geleiten den Wanderer
oder 0 Lady, leave thy silken Thread. Herrin, laß den
seidnen Faden) reihen sich, was Melodie des Verses und
Tiefe der Empfindung betrifft, dem Besten der Sprache an.
Nicht minder glücklich treffen eine Anzahl von Oden den
feierlich getragenen oder schwungvollen Ton ernster Ge-
fühle und Gedanken. Außer den Oden im ftblichen engeren
Sinne (Äutumn. Herbst; Ode to ihe Moon. Ode an den Mond)
bezeichnet Hood mit diesem Namen auch reflektierende
dachte getragenen Stils (Ode to Melancholg), die an die
Wehseligkeit früherer Bearbeiter dieses Themas erinnern.
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Die satirisch-hiimoristische GesellBchaftsdichtniig. 449
Die Sonne scheint nur, nm Schatten zu werfen, Knospen er-
schließen sich nur, nm zn sterben, nnd im Glfick der Liebe
weckt der Gedanke an den Tod Tränen; es gibt keine Saite
des Frohsinns, die nicht ihre Akkorde der Melancholie h&tte.
In dem Fragment The Sea of Deaih (Das Meer des Todes),
1822, sieht er den Ozean der Vergangenheit mit wachsenden
WeUen die FnBspnr des Lebens verschlingen; die Stille
nnd der schlSfrige Tod hocken wie satte SeevOgel mit
gefalteten Schwingen auf gehäuften Gerippen. Aber auch
Cherubim mit Frflhlingsantlitzen nnd lichtem Haar
schlafen lächelnd gleich Wasserlilien auf der reglosen Tiefe
nnd ihre Lippen lallen in Träumen der Unschuld. Es
sind die noch nicht geborenen Seelen. So hält ein ewiges
Werden dem ewigen Vergehen das Gleichgewicht Hoods
größter Fehler ist seine Ausführlichkeit Sie schädigt fast
alle seine G^edichte. Wo er sie vermeidet, gelingt ihm in
der Begel TrefOiches, z. B. das Gedicht Buth 1827, ein
ganzer Roman in sechs Strophen, aus dem die Gestalt der
Heldin in strammer Jugendkraft mit plastischer Bildhaftig-
keit hervortritt
Nicht so glücklich wie als Lyriker ist Hood als Epiker.
Zwei Bände National Tales (Volksgeschichten), 1828, er-
reichen zwar in einer an den Elisabethanem geschulten
und zu vollem Geschick herangereiften Erzählungstechnik
die angestrebe Objektivierung des Tons so völlig, daß man
immer wieder versucht ist, nach den Originalen bei Spaniern
und Italienern der Früh -Renaissance zu suchen, begeben
sich damit aber auch jedes aktuelleren Interesses für den
modernen Leser, der ihnen fremd und ohne Mitgefühl
g^enübersteht und diese allgemein gehaltenen, nur den
äußeren Kontur des Vorganges ohne psychologische Analyse
wiedergebenden kurzen Erzählungen aus längst vergangenen
GMohichte der enffUsclieii Bomaatik ü, l. 29
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450 Die aafeiriiefa-hanioristiMhe GeseUflchAftodiehtiuig.
Tagten und fernen Landen schon oft und oft gelesen zn
haben glaubt Gleich die erste, The Spanish Tragedy, ein
Schauerroman, auf wenige Seiten zusammengedrängt^
arbeitet mit den abgegriffenen Requisiten dieser Gattung:
Bruderfreundschaft zweier edler Jfinglinge, Ränberspelunke
mit Mord und Totschlag, Humor des Sancho-Pan^aartigen
Dieners, ein aus verirrter Liebe wahnsinniges Mftdchen
aus dem Volke und die nach dem Tode des Geliebten der
Welt entsagende vornehme Dame. Alle diese Puppen holt
Hood aus der romantischen Rumpelkammer, ohne sie neu
zu beleben, obgleich er auch hier in kräftiger, schlichter
Prosa die Fähigkeit, anschaulich zu schildern und Stimmung
zu erregen, bewahrt Die Lust am Fabulieren wird
weder durch meditierende noch moralisierende Glossen
entstellt, obzwar die meisten dieser Erzählungen dem Leser
eine Moral vorhalten {The Tragedy of Sevilla. Die Tragödie
von Sevilla; The Venitian Countess. Die Venezianische Gräfin;
The Fall of the Leaf. Wenn die Blätter fallen). Der
Humor der meisten dieser auf entlegenem Schauplatz
spielenden Erzählungen (The Miracle of the Holy HermiL
Das Wunder des frommen Einsiedlers; The Golden Cup and
the Dish of Silver. Der goldene Kelch und die Silber-
schfissel; The Carrier's Wife. Das Weib des Fuhrmanns;
The ihree Brothers. Die drei Bräder) besteht in jener
heiteren Genugtuung, die auf der unendlichen Freude an
verschmitzter Klugheit beruht, wobei eine höhere ethische
Anschauung die naive Befriedigung in ein ironisches Licht
taucht, wie dies ja auch bei Hoods offenkundigem Vorbilde
Boccaccio der Fall ist
Der dreibändige Roman Tylney Hau, 1839, der 1840
noch eine zweite Auflage erlebte, ist, obzwar er sich als
Milieuroman in der Art der Smithschen und Peacockschen
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Die satirisch-hiimoristische Gesellflchaftsdiditiiiig. 451
gibt, dennoch nichts als ein verspäteter Schauerroman. In
der Einleitung läßt Hood einen Kritiker die Ansicht aus-
sprechen, daß man auf die Schrecken der Schauerromane
nicht mehr hineinfalle. Sie zeigen uns einen Klumpen ge-
stockten Blutes. Wir blinzeln uns zu und sagen: Johannis-
beer- Gelee. Sein eigener Roman ist eher eine Be-
stätigung als eine Widerlegung dieses Urteils. Das in
die erste Linie gerückte stoffliche Interesse bildet mit dem
Mangel an Glaubwürdigkeit der Vorgänge, an Lebens-
wahrheit der Charaktere einen inneren Widerspruch. Der
Held, der Kreolensprößling eines englischen Squire und
einer Tropenprinzessin, ist ein verwässerter aber un-
verhüllter Abklatsch des Edmund im Lear. Empörung
über den Makel seiner Geburt und Eifersucht auf den
edlen, von einer gemeinsam angebeteten Dame bevor-
zugten Vetter hetzt ihn in blinden Haß. Heimtückisch
macht er den arglosen Gegner zum Brudermörder, um
ihn schließlich zur Verzweiflung und aus der Welt zu
treiben und sein Erbe anzutreten. Im kritischen Augen-
blick entlarvt ihn ein aufgefundener Brief. Er fällt im
Duell und der Verfolgte erhält den ungeschmälerten Lohn
seiner Tugend.
Unter den schablonenhaften G^talten tritt nur eine
Nebenfigur durch individuellere Zeichnung hervor, die
des armen Postillons Ive, der, am Freitag geboren,
all sein Lebtag ein Pechvogel bleibt, kein Almosen
kriegt, weil er aussieht wie einer, der arbeiten kann,
und keine Arbeit hat, weil er dafür bekannt ist, kein
Olück zu haben. So wird Ive zum Fatalisten. Er läßt
alles über sich ergehen, denn er hält sich für einen Gezeich-
neten. Die Heldin nennt ihn den Fußball des Geschickes.
Als endlich das Glück auch zu ihm kommt, ist seine
29*
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452 Die aatiriseh-hiimoEifltiflehe GeseUBohtltadiclitiuig.
Zeit abgelaufen. Der Humor dieses Romans ist sp&r-
lich, sein Ernst konventionell nnd sein Pathos geht anf
Stelzen.
Will und Humor.
In dem altertfimlichen Qedichte To a Critic redet Hood
den Kritiker also an: „Grausamer! Wie wenig bist du dir
bewußt, wie viele Dichter du durch zugefflgtes Unglück
erschlagen hast, als sie zu blühen begannen, jungen Knospen
gleich in ihrem ersten Saft". Hood ffthlte wohl die Wahr-
heit dieses Ausspruches fftr seine eigne Person. Er
mochte die Kritiker nicht. In Whkns and Oddities (Grillen
und SchruUen), 1826, einer humoristischen Sammlung, die
drei Auflagen erlebte, stehen folgende Verse:
„Des Dichters Los im Lebenslauf?
Auf Schiefer schreibt er Gedanken auf.
Der Kritiker kommt, bespuckt sein Wort
Und wischt darüber — es ist fort**
In Hood ist ein vollwertiger romantischer Lyriker,
wenn auch nicht erschlagen, so doch in seiner Entwicklung
verkümmert worden durch das absprechende oder gleichgiltige
Verhalten der maßgebenden Stimmen. W. M. Bossetti ver-
gleicht ihn einem von Shakespeares Narren, ins 19. Jahr-
hundert versetzt 0 ^^^ journalistische Laufbahn, die er
als besoldeter Spaßmacher begann, spezialisierte ihn mehr
und mehr für den Witz und Humor und, wofür man einmal
beim Publikum geaicht ist, dabei pflegt es meistens sein
Bewenden zu finden.
Hood besafi eine starke natürliche Begabung für den
Humor, war nicht nur mit der Feder sondern auch im
>)S. XX.
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Die satirisch-hnmoristisohe GssellschaftsdichtnDg. 453
Leben ein Humorist nnd schlug in seinem Scherze eine
individueUe Note an. Allein die zn seinen Lebzeiten ver-
breitete Meinung, dafi die humoristische Begabung seine
einzige sei, erweist der Überblick fiber seine Werke als
irrt&mlich.
Ffir Hoods Eigenart gilt in der Begel der Wortwitz,
der durch das Spiel mit der verschiedenen Bedeutung
gleichlautender aber doppelsinniger Ausdrücke ergötzt.
Er hatte darin bereits in Crabbe einen Vorläufer, der derlei
Worte bis zur Manier hftuft Der Humorist Hood gehOrt
zu den unSbersetzbaren Dichtem. Sein Geist erlangt
im Wortwitz eine taschenspielerartige Gewandtheit und
Leichtigkeit, die ihn mitunter zu verblüffenden, schon
durch das vOllig Unvorbereitete komischen Wirkungen be-
fähigt. Z. B.: Ein Pascha wünscht sich einen Sohn und
wird durch die Geburt von ZwillingstOchtem enttäuscht
Dies drückt Hood so aus: Ben Ali boyed up hia hopes;
doch Miss-fortunea never come ahne (The Stag-eyed Lady).
Bei dem Abgange des Schauspielers Munden sagt er: Sic
transit gloria munden (Ode to Joseph Orimaldi). Bei dem
Lobe des Herausgebers des Genüemen Magazine hebt er
seine A. B. C, D-Merits hervor (To Sylvanus Urban). In
dem programmatischen Vorwort zu Hood's Oum, 1838
heißt es, nichts solle an diesen Blättern niedrig sein, als
ihr Preis. Er wolle die Benthamiten gewinnen, indem er
ergebenst beitrage zur größten Unterhaltung der größten
Menge. Zu diesem Zwecke müsse der Herausgeber das
Prinzip der Verdichtung mittels Hochdruck anwenden und
ihm dadurch sein Musterwerk ermöglichen in der volks-
tümlichen DoppeUorm eines eCOnoMIC^.
Im Gegensatze zu solchen Sprühfeuerwerken von Witz
besteht in anderen FSllen der Spaß in einem plötzlichen
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454 Die satuiseh-hnmoristiache GMeUsehaftsdichtniig.
Abreißen des Fadens, gerade wo die Spannung ihren Höhe-
punkt erreicht hat {A Tale of Terror. Schreckensgeschichte).
Mitunter wird, vermutlich nach Smollets Vorbild im
Humphrey Clinker, der Dialekt zu komischer- Wirkung
ausgebeutet, in der Regel durch den Kontrast zwischen
Banausentum und Bildungssnobbismus (Brief der Mrs.
Winifred Lloyd aus Monmouthshire &ber Londoner Ein-
drQcke, 1822, oder die Briefe der Kammerzofe Martha in
Up ihe Bhine^ 1840; oder die eines irischen M&dchens aus
dem Volke, dessen Herzallerliebster ein Reyolutionftr ist, in
An Irish Rd^ellion, 1844; oder die Beisebriefe eines Kauf-
manns aus Manchester in News from China). Mitunter ist
der Humor das Ergebnis eines unvermittelten Aufeinander-
prallens der realen und idealen Welt, die beide ohne Über-
treibung und ohne Voreingenommenheit geschildert werden,
die Idealwelt mit dichterischem Schwung, das Leben mit
scharfem Wirklichkeitssinn (Parental Ode to my San, aged
three Years and five Months. Väterliche Ode an meinen
drei Jahre und fänf Monate alten Sohn).
Mitunter werden Verskfinste zu komischer Wirkung
benutzt (A Table of Errata. Lrtümer -Verzeichnis; A Flying
Visit Ein fluchtiger Besuch). Hood läßt als der ge-
borene Verskfinstler das Alltäglichste unter dem Prisma
des Beimes poetisch erschillem wie Leigh Hunt unter dem
seiner feingeschlifEenen Prosa. Man vergleiche das von
beiden behandelte Thema in All Round my Hat (Rund um
meinen Hut).
Mitunter auch liegt der Witz ganz oder größtenteils
in den beigegebenen Illustrationen, die, teils von Hood
selbst, teils von Cruikshank, teils von anderen Kfinstlem
hergestellt, den komischen Zeitschriften einen besonderen
Wert verliehen, z. B. der Todesengel in The Qrimsby
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Die satiiuoh-hiimorifltische GeseUscbaftsdichtmig. 455
Ohost (Das Gespenst von Grimsby) der, wenn man scharf
hinsieht, ans einem Kanonenrohr als KOrper nnd zwei
britischen Flaggen als Flfigeln besteht Etliche Stücke sind
geradezu nur gereimte Erläntemngen von Illustrationen
in der Art von Bosch {The Key. Ä Moarish Bomance, Der
SchlflsseL Eine maurische Romanze).
Hoods fabelhafte Leichtigkeit im Witze, der ganze
Bändel von Raketen auf einmal losläßt und immer mehr
und noch mehr im Vorrat hat, bedingt wie jedes Licht seine
Schattenseite. Nicht wenige seiner Stücke sind überladen
mit Wortspielen und Wortverdrehungen, deren Schwall den
Leser wie eine zugefügte Unbill berührt. Auch ist Hood in
dieser Überproduktion wenig wählerisch. Gar viele seiner
puns gehören in jene Kategorie von Witzen, zu denen der
Berliner Aul sagt; z. B.: Bier wird heflg (moihery) und schöne
Damen werden wie das Bier (moiherly. The Stag-Eyed
Lady). Man steht bei dem beständigen Witzeln und Witze-
reißen nicht selten unter dem. Eindruck einer Maschinen-
arbeit des Witzes. Das Mühlrad klappert fort, gleichviel was
für Material in den Speicher fällt. Das Gteschmackskriterion
für das im Spaße Zulässige geht Hood des öfteren verloren.
Er macht Witze über körperliche Verstümmlung {Ndly Gray),
über Erblindung (Tim Turpin), über die Zerstückelung
einer Leiche (Mary's Ghosi), ja über das Anschneiden
einer im Speiseschrank versteckten Leiche {Legend of
Navarre). Das Überwuchern des Witzes erweckt nicht
selten die Vorstellung, als wäre die Dichtung nur den puns
zu Liebe da, von denen sie durchsetzt ist, wie in der
Austemzucht die Bank für die Muschel, nur daß die Witze
für den literarischen Feinschmecker nicht immer den un-
bedingten Wert eines Leckerbissens behaupten. Ja, selbst in
ernste Stücke verirren sie sich. In einer Art von Selbst-
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456 Die satiliBcli-hiimonBtiflclie GeseUflchaftsdiclitiuig.
vernichtimg I&fit Hood seine mutwillige Sacht nach Sp&Sen
auch die ernste Stinmmng zerreißen, z. B. in der Schil-
derung der Schmiede durch die Hinweise auf Schiller,
Goethe, Salvator Rosa {The Forge); ja der Wortwitz schleicht
sich unvermerkt in seine literarische Kritik. In der Be-
sprechung der Shakespeare -Ausgabe von Enight heiBt es,
die vorliegende Ausgabe sei die beste Antwort auf die
Frage, ob der große Dramatiker einen Vorteil davon gehabt
hatte, in den Adelstand erhoben zu werden (being hnighted).
Dennoch verleugnet sich das poetische Ingenium nicht
Auch besitzt Hood einen charakteristischen Zug, der ihn
trotz mancher Geschmacksverirrung hoch aber die Witz-
bolde und Possenreißer gewöhnlichen Schlages erhebt
Es ist das völlige Ausschalten nicht nur des Lasziven,
sondern des Sexuellen Oberhaupt Das Anstößige solcher
Art ist für ihn so gut wie nicht vorhanden. Wo es sich
nicht um satirische Spitzen gegen soziale oder persönliche
Miß- oder Übergriffe handelt, ist sein Scherz von kindlicher
Harmlosigkeit, z. B. die Erzfthlung, wie Hunks den Zahn-
arzt betrog und der sich rächte. (Ä True Story. Eine wahre
Geschichte). Dieses Absehen von jedem frivolen Kitzel ist
ein spezifisch germanisches Merkmal des Humors und Hood
erhebt sich darin zum Kepr&sentanten des National-
charakters. Daher auch seine Volkstümlichkeit
Hoods erste humoristische Produktion waren die mit
Hamilton Keynolds gemeinsam herausgegebenen Ödes and
Äddresses to Great People (Oden und Anreden an Große), 1825,
Das aus dem Citizen ofthe World geholte Motto des Werkchens:
„Alle Absonderlichkeiten, Grillen, Torheiten und die Klein-
lichkeit selbstbewußter Größe unterwegs auffangen" deutete
unverhohlen auf eine satirische Absicht, die jedoch von der
Flut der Witze weggeschwemmt wurde. Die Nachwelt weiß
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Die saturiBeh-hnmoristuche GeseUschaftscIichtaDg. 457
von den TagesgrOßen, an die die Oden gerichtet waren, zn
wenig; nm Interesse fftr sie oder ein urteil aber sie zn haben.
Die Spafihaftigkeit der Äddresses mag znm großen Teil in
ihrem scheinbaren Ernst bestanden haben. Ohne stark auf-
getragene Übertreibung und in wohlgepflegter poetischer
Form wurden die kleinen Leute wie wirkliche bleibende
Großen besungen. Die Komik mochte für den Eingeweihten
in dem Mißverhältnis des Gegenstandes und der für ihn in
Anspruch genommenen Bedeutung liegen. Heut noch fesselnd
ist allein die Ode to the Oreat Unhnown (An den großen
Unbekannten), die in schier unerschöpflicher Mannigfaltig-
keit der Wendungen die Anonymität^ in die Walter Scott sich
hfillte, mit jenem spöttischen Humor geißelt, der immer nur
mit größter Hochschätzung Hand in Hand geht und an
sich eine Huldigung bedeutet.
Die Ödes and Äddresses trugen Hood die Anerkennung
Coleridges ein, der sie fär ein Werk Lambs hielt. In
Whims and OddiHes (erste Serie 1826, zweite 1827) erhält
die Heiterkeit mitunter jenen melancholischen Einschlag,
der zum vollen Humor unerläßlich ist. „0 Liebe", phanta-
siert Hood, „was bist du? Das Herzas, das den EOnigen
und Königinnen Trumpf bietet, ein Puck der Leiden-
schaft^ ein boshaftes Ding, das Backfischen die Schularbeit
verderben und einen melancholischen Mann mit kreuz-
weise gewundenen Eniebändem einher gehen läßt Ein
armes Mädchen macht aus ihrem Strumpfbande ein trauriges
Halsband, ein Dichter endet sein Sonett mit einem hänfenen
Strick. 0 Liebe — doch wohin nun? 0 vergieb — Ich
bin der erste nicht, den Liebe in die Irre trieb". {Love.
Liebe.)
Das Eigenartigste dieser Sammlung sind die im Bänkel-
s&ngerton gehaltenen Balladen {The Bailad of Tally Brown
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458 Die satirueh-hvmoristMche GeseUsolkaftBdiclitiuig.
and Ben ffie Carpenter. Die BaUade vom Geldkrämer
Brown nnd Ben, dem Zimmermann; FcdMess Ndly Gray.
Das treulose Lenchen Gray; 2%n Turpin; Mary*s Ghost
Mariens Geist). Der Zusammenklang von Alltagsvnlgaritftt
und echtem Pathos in der meisterhaft gehandhabten volks-
tfimlichen Balladenstrophe ergibt eine Komik origineller Art,
die drastische Wirkungen eher sucht als vermeidet.
In einer anderen Reihe von Balladen oder Romanzen
bekunden Meeresschilderungen, Seestficke von prächtiger
Durchführung die Efinstlerhand und ernsten Efinstlerfleiß.
Plötzlich spielt auch hier eine unvermutete Schlufiwendnng
das ernste Gedicht auf das Gebiet des Scherzes hinfiber. So
in The Demon-Ship (Das Geisterschiff), 1827, das sich in der
letzten Strophe als Kohlenschiff entpuppt, oder in The Mer-
maid of Margate (Das Meerweib von Margate), die Nixen-
kneipe, in der der Dichter unter den Tisch gefallen ist
Auch das Düster-Groteske, Totentanzartige fehlt nicht
(The Last Man. Der letzte Mensch).
Zu einer Länge von 120 Strophen ausgesponnen und
durch meisterhafte Illustrationen Cruikshanks von wesentlich
gesteigertem Eindruck erscheint Hoods Humor in der Ballade
The Epping Hunt (Die Jagd von Epping), 1831. Als Gegen-
stück zu dem von Cowper geschilderten Sonntagsausflug
John GilpinsO schildert Hood, wie sich der City-SpieBbürger
Huggins an dem altüberlieferten Vergnügen der Osterjagd
beteiligt, das bald der Vergangenheit angehören wird. Um
sein Pferd geprellt^ das mit ihm durchgegangen, kommt der
Held mit zerschlagenen Gliedern und trübseligem Geiste
von der Unterhaltung heim, von der er sich in Wells er-
holen muß.
>) Vgl. Oswald, 81.
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Die Batuifldi-hamoriBtiflche GesellBohaftsdichtnng. 459
Einen nicht nnbeträchtlichen Banm nimmt bei Hood
die hmnoristische Reiseschilderang ein. Einer seiner ersten
Beitrage für das London Magaaine (1821): A Sentimental
Jowmey from IsUngton to Waterloo Bridge (Empfindsame
Beise von Islington nach der Waterloobrücke) fällt in das
Gebiet, anf dem Hood sich das Meisterwerk dieser Art,
Smollets Humphrey Clinker (1771) zum Muster nahm, ohne
es auch nur ann&hemd erreichen zu kOnnen. Eigene Reise-
eindrScke in den Niederlanden und Deutschland verwendet
er in The Schoolmistress abroad (Die SchuUehrerin auf
Reisen, Sammlung WhimsicdUties. Wunderliches) und in der
umfassenden Reisebeschreibung Up theHhine (Rheinauf wärts),
1835. Dort werden Land und Leute durch das Auge der
verknöchert altjflngferlichen, preziOs prftden Schulmeisterin
gesehen, der alles mlBglückt. Hinter den komischen Aben-
teuern verbirgt sich in der Regel eine Moral. Die Lehrerin
bringt die Erkenntnis heim, daß eine Art der Erziehung,
die sie als Tochter so nutzlos und hilflos gemacht, nicht
geeignet sein kann, junge Frauenzimmer heranzubilden.
InUpfhe Bhine schildert eine Reisegesellschaft Land und
Leute. Jeder sieht sie unter seinem persönlichen Gesichts-
winkel. Wille und Vermögen, deutsches Wesen zu verstehen,
gehen Hood nicht in dem Grade ab wie Lamb oder Peacock.
Lnmerhin bleiben seine Anschauungen unter der Herrschaft
gewisser konventionell englischen Vorstellungen. Man ver-
gleiche seine an den Kölner Karneval geknüpfte Betrachtung
aber den deutschen Nationalcharakter. Der italienische
Genius und der teutonische seien weit voneinander ver-
schieden — so weit wie Maccaroni und Würste. „Polichinello"
ist ein ganz anderes Wesen als Hanswurst — er ist wie
Blätterteig im Vergleich zu festem Pudding.
In seinen eigenen Reisebriefen aus Deutschland stellt
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460 Die satiriflch-hamoristiBefae GeoeUBcliaftfidichtang.
Hood sich anf den flberlegenen Standpunkt des Enltnr-
menschen gegenfiber Halbbarbaren. Er schildert die IGnder-
Wertigkeit ihrer LebensverhUtnisse, wie ihrer Intelligenz
und Sittlichkeitsbegriffe im Lichte des Hnmors.
Eine eigentümliche Art hnmoristischer Yortragsstflcke^
ursprünglich für den Schauspieler Mathews bestimmt,
lieferte Hood im Camie Annual, 1830, unter der Bezeichnug
Monopolylogs {The Ship Launck. Der Stapellauf; Valentine's
Day. Sankt Valentinstag; The Lord Mayor's Show, Der
Festzug des Bürgermeisters). Es sind lebhafte Zwie-
gespräche gut charakterisierter Personen ohne äuSerlich
gekennzeichnete Teilung des Dialoges, geschickte Be-
zitations- und Bravourstücke.
Der letzte Ausklang seines dichterischen Schaffens ist
Hoods auf dem Sterbebett diktierter humoristischer Roman
Our Familiy, Ä DramaUc Novel (unsere Familie), eine
Chronik der Nichtigkeiten des Alltags, die ins Unendliche
fortgesponnen werden konnte. Der menschen- und tier-
freundliche Arzt, der bramarbasierende gutmütige Natur-
bursche Rumbold und vor allem die prächtige, Fremd-
wörter verwechselnde, aber urtüchtige und grundehrliche
Magd Eeziah sind vollblütige, den alten Humoristen mit
Glück nachgebildete Gestalten.
Soziale Tendenidlehtiing.
Im Vorwort der WhmsicaUties (1843) charakterisiert
Hood sich selbst mit den Worten: „Mein bescheidener
Zweck war hauptsächlich, zu unterhalten; doch nimmt
vielleicht der liberale Utilitarier gleichzeitig einige Anläufe
zum Bekehren wahr^. 1844 erklärt er dem Leser von
vornherein, er werde, wie stets, in seinen Blättern nach
verblüffenden theologischen Enthüllungen, tiefen politischen
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Die satuiBch-humoristiflGhe GeseUscfaaftsdichtiuig. 461
Ansichten, phflologischen ErOrteningen oder wissenschaft-
lichen Enthttllungen vergeblich suchen. £benso vergeblich
aber auch nach transzendentalen Spekulationen, archäo-
logischem Geklatsch oder statistischem Tischgeschwätz^.
Eine leicht satirische nnd lehrhalEte Tendenz macht
sich frfihzeitig bei Hood geltend. In A Sentimental Jaumey
from Islington to Waterloo Bridge, 1821, erklärt er bereits
die bfirgerlichen nnd religiösen Einrichtungen für die großen
Ursachen, welche den nationalen Charakter hervorbringen.
Was ihm davon auf seiner Beise au&tö£t, enthflllt sich
in drei Bildern: einem betrunkenen Weibe, einem Bettler und
einem streitenden Ehepaar. Die bloße Tatsache w&re Ironie
genug, auch wenn Hood nicht in diesen Personen Steme-
sche Gestalten persiflierte. The Two Peacocks of Bedfont
(Die zwei Pfaue von Bedfont), 1822, die Verwandlung zweier
hochmütiger, herzloser Jungfräulein in Pfaue während einer
eindrucksvollen Bußpredigt, können den didaktischen Kern
nicht verleugnen, obzwar die vorzügliche Erzählung dessen
fühlbares Zutagetreten verhindert.
In Ä Friendly EpisÜe to Mrs. Fry, in Newgate (Ödes
and Addressee to Oreat People)^ 1825, gibt Hood einer Mrs.
Fry, die sich in sozialer Hilfe betätigt, indem sie innerhalb
des Gefängnisses eine Schule hält, zu bedenken, daß es
verdienstvoller wäre, Menschenkinder auf den rechten Weg
zu weisen, bevor sie dem Zuchthause verfallen, sie, so lange
sie noch unverdorben sind, ein moralisches ABC zu lehren.
Das Treffliche an dem Gedichte ist, daß nicht der dürre
soziale Gedanke, sondern vielmehr die Gestalt der An-
geredeten bildhaft hervortritt, die werktätige gute Seele,
die, von spießbürgerlicher, heuchlerischer Gottgefälligkeit
angesteckt, des klaren Tugendbegrifles ermangelt in-
folgedessen kein wahrhaft sittliches Resultat ihrer ge-
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462 Die sattriBch-hiimoiistiflcfae GeseUschaftsdiclitiiiig.
meinnützigen Arbeit erzielt und dadurch die Elaft zwischen
den sozialen Klassen eher vergrößert als überbrfickt
In The Irish Schoolmaster (Der Irische SchollehrerX
1826, weist Hood zehn Jahre vor OKver Twist aof das Elend
der Kleinen hin. Die Schule sei eine Kinder-Marteranstalt,
der Baum der Erkenntnis eine Birke. Das Gedicht, dessen
Ähnlichkeit mit Shenstone's Schoolmistress Oswald nach-
weist, i) ist ein kunstvoll ausgeffihrtes Sittengenrebild. Das
College von Kilreen prftsentiert sich als Lehmhütte auf
nebligem Moor. Durch die blinden, zersprungenen Fenster
streicht der Wind. Die Hflhner und das Schwein des rot-
haarigen, ungekämmten Schulmeisters gehen aus und ein und
ihr Gequieke vermengt sich den Jammerlauten der Kinder.
Ein nicht minder unerfreuliches Schulbild entrollt das
Dramolet York and Lancaster^ or Ä School wühout Scholars.
(York und Lancaster oder Eine Schule ohne Schfller, in
Whimsicalities.)
Auch gewisse Bestrebungen der Wissenschaften oder
PseudoWissenschaften werden spaßhaft gegeißelt, Hydro-
therapie, Antialkoholismus, Bluttransfusionsversuche (Ode
to Dr. Hahnemann, fhe Hamoeopaihist; Drinhing Song hy
a Member of a Temperance Society, sung hy Mr. Spring,
at Waterman's Hall Trinklied eines Mitgliedes des Mäßig-
keitsvereines, gesungen von Herrn Quell in Wassermanns-
hall, 1837; The Friend in Need. Der Freund in der Not).
Gewisse Schwächen und Auswüchse der Gesellschaft werden
lächerlich gemacht, z. B. der Trauerpomp und der eitle
Begräbnis-Luxus {The House of Mouming. Das Trauer-
haus) oder konventionelle Rangvorurteile in dem Possen-
fragment Lost and Found (Verloren und Gefunden), die
») S. 57.
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Die satiriaoh-hiimoristiBefae Gesellflchaftsdichtaiig. 463
Elatschsacht in A Tale of a Trumpet (Die Ohrtrompete),
1840. In diesem Gedichte drängt die konkrete Anschaulich-
keit des Details — Feilbieten des HOrrohrs, das dem Ohre
allen Skandal, jede Gemeinheit übermittelt, durch den als
Hausierer verkleideten Teufel — die Allegorie in den
Hintergrund.
Ein Wort pro domo sind die fünf Briefe aber Copyright
and Copytvrong (Literarisches Eigentumsrecht und -un-
recht) an den Herausgeber des Athenaeumy 1837. Der
Literat, heißt es hier, sei Niemand. Er gehöre zu jenen,
denen nichts gehOrt Er habe keinen Sangcharakter zu
verlieren, kein Eigentum zu schützen. Er stehe außer
dem Gesetz. Das literarische Eigentum konnte fast definiert
werden als etwas, was allen nützlich sei, ausgenommen dem
Eigentümer. Hood fordert die Gesetzgebung in aller Form
auf, die Wichtigkeit und den Wert der Literatur anzuerkennen.
Man schütze das Eigentum des Autors; Sache der Literaten
werde es dann sein, die literarische Würde aufrecht zu
halten. Dann erkennen sie vielleicht, daß ihre höchste
Aufgabe darin bestehe, die Welt weiser und besser zu
machen, ihre niedrigste darin, sie zu unterhalten, ohne daß sie
sich dieser darum eben schlechter entledigen müßten. Man
gebe ihnen ihr Teil an öffentlichen Ehren und Anstellungen;
man gestehe ihnen, wie sie es verdienen, einen hervor-
ragenden Bang in der Gesellschaft zu und sie werden die
Flecken auslöschen, die jetzt ihren Schild entstellen. Der
sicherste Weg, eine Klasse gleichgiltig gegen den Buf zu
machen, ist, ihr einen schlechten Buf machen.
Als Sergeant Talfourd für ein neues literarisches Eigen-
tumsrecht agitiert, verfaßt Hood ein Gesuch an das Parla-
ment, 1840. Er begreife nicht, heißt es darin, wie Hood^s
Own späterhin Everybody's Own (Jedermanns Eigentum)
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464 Dia wtixisoh^iuiioiistische QteeltocfaftftadichtttBg.
werden kSnne. Sowie ein LandeigentAmer das Anrecht auf
sein Gut nicht verliere, wenn er seine G&rten dem Publikum
Offne, 80 sollte dem Autor das Eigentumsrecht an seinem
Werke nicht genommen werden, es wftre denn, dafi alle
GSrten Gemeindegmnd würden. Billiges Brot ist so
wünschenswert und so notwendig wie billige B&cher,
dennoch hat man den Befehl nicht für zweckmäßig er-
achtet, dafi nach einer gewissen Anzahl von Ernten alle
Kornfelder öffentliches ESgentom werden sollten. Da nun
in allen andern FUlen langer Besitz Eigentumsrecht gebe,
sei es inkonsequent, den Autor gleichzeitig des Kapitals
und der Interessen zu berauben. In der Zeitlichkeit be-
stohlen werden, sei eine schlechte Ermutigung, tOr die
Ewigkeit zu schreiben.
Frühzeitig treten bei Hood Gedanken von allgemein
sozialem Interesse in den Vordergrund. B&reitB in TylneyHcM
streift er das Problem des YerhSltnisses zwischen dem ein-
zelnen und der Gesellschaft; „Hitleid mit dem einzelnen^,
sagt der Bichter, „ist Grausamkeit gegen die Gesellschaft^.
„Und HiÜeid mit der Gesellschaft^, versetzt der Gutsherr,
„ist Grausamkeit gegen den einzelnen^.
Eine soziale Wahrheit bildet den Kern des komischen
Epilions Miss Kümannsegg and her Precums Leg, A Golden
Legend (Fr&ulein Kilmannstein mit dem kostbaren Bein.
Eine Goldene Legende), 1840. Miss Kilmansegg ist „mit dem
Silbernen Löffel im Munde" zur Welt gekommen. Wohin sie
blickt, ist Gold. Gold ist der Kehrreim von allem, was sie
vornimmt Eines Tages scheut ihr Pferd vor einem zerlumpten
Bettler. Sie stürzt und ihr gebrochenes Bein mufi durch ein
künstliches ersetzt werden, das aus Gold angefertigt wird.
Miss Kilmansegg prunkt nun mit ihrem vergoldeten G^
brechen. Keiner nimmt daran Anstofi, dafi sie hochgeschürzt
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Die tfttiiisch'lraiiioristiache OeseUschaftsdiehtang. 465
wie eine Diana anf dem Balle erscheint^ da das znr Schau ge-
stellte Bein ein nngeheores Vermögen bedeutet Das Gk)ld
steigt ihr zu Eopt In ihren Trftumen sieht sie sich als
O&tterbild auf eine Plinte gestellt und von aller Welt an-
gebetet Allein gar bald kommt sie zu Fall. Sie wählt den
Unwürdigsten ihrer Bewerber, einen ausl&ndischen Aben-
teurer, zum Manne. Ihre Enttäuschung, ihre Vereinsamung
werden geschildert Als sie ihn schließlich enterbt, er-
schlägt er sie mit ihrem goldenen Beine. Sie hatte fSr
Gtold, fOr hartes gelbes, kaltes Gk)ld gelebt und stirbt
durch Gold. Das Urteil des Totengerichtes lautet: Selbst-
mord, da ihr eigenes Bein sie getötet
Der lachende, heitere Vortrag bringt nur dem tiefer
lauschenden Ohre die doppelte Wahrheit zu Gehör, daß
einerseits dem Reichen alles gestattet, alles möglich und
daß er andrerseits der Macht seines Goldes als einem
verräterischen Dämon ausgeliefert sei
In der Regel wendet Hood seine Sympathie den vom
Reichtum nicht Beschwerten zu. Schon 1887 definiert er
den Ausdruck agricullural distress (landwirtschaftliches
Unglück), der eine vereinzelte zufällige Heimsuchung zu
bezeichnen pflege, schlechtweg als „Landbau der Armen".
Er bedeute an sich Elend, Mangel, Kummer, Sorge, Hunger,
Alter, Krankheit
In dem Gedicht Ä Song for tke Million (Ein Lied für
die Menge), 1842, mit dem Kehrreim More hdla baloo (Mehr
Lärm), bezeichnet Hood die Kunst, für alle Klassen zu
singen, als eine der großen Erfindungen des Zeitalters.
Er selbst strebt im guten Sinne diesem Ziele mehr und
mehr nach. In verständnisvoller Duldung sucht er seinen
Standpunkt über den Parteien zu nehmen, in religiösen wie
in sozialen Dingen. In seinen politischen upd sozialen An-
Getchiohte der enffÜBchen Bomantik II, 1. 30
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466 Die satirisch-hiimoristiflche Qeaeilich>ftodiditnng.
schanongen, sagt Bossetti, war Hood mehr Philanthrop als
Demagog. Sein Kegiemngsideal war, wie er an Peel
schrieb, das Hand in Hand gehen eines Engels vom Himmel
mit dem Despotismus. Er liebte weder Whigs noch Tones;
Krieg nnd EomzOlle waren sein Abscheu. 9
Ein frommes Gemüt, wagt Hood gleichwohl, sich g^en
äuBerliche Formeln nnd Gepflogenheiten der Beligions&bung
aufzulehnen. Warum bleibt der Zoologische Garten am
Sonntag geschlossen? Kann es S&nde sein, einen Löwen
zu betrachten oder einem Kinde die Wonne dieses irdischen
Paradieses zu gOnnen? Die Frage erh< einen gewissen
ironischen Nachdruck durch den angehängten Kehrreim:
Doch was ist ihre Meinung, Frau Welt? {Mrs, Grundy)?
{An Open QuesHon. Offene Frage, in Bhymes for ihe Times
and Beasons for ihe Seasans. Zeitgemäße Verse und Ein-
sichten, erschienen im New Monthly, 1840). Einem Wider-
sacher, Rae Wilson, gegenüber betont Hood, daS er sich an
Parteistreitigkeiten nicht beteilige und nicht den Ehrgeiz
habe, in seinen Werken der Menge das Evangelium als
Pastete aufzutischen. Er mahnt ihn, den Hochmut,
die Pharisäer und den Buchstabengelehrten zu meiden.
Dreimal selig der Mann, den die gfltige Verschwendung der
Natur an den Schöpfer erinnert, dem die ganze Erde ein
Heiligtum, der ganze Himmel ein Dom ist. In friedlichen
holden Naturen lebt wie in Honigzellen die Religion und
fühlt sich eine und dieselbe vor Gottes Auge und für
alle Menschen. Wer sich diesem lauteren geistigen Stand-
punkt heldenmütig entgegenzustellen und ein ungleiches
Gesetz für arm und reich zu bilden vermochte, der könnte
für die HöUe Modell stehen und den Teufel darstellen.
>) Bonetti, XXIX.
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Die satiriBch-hnmorifltiache GeseUfchaftsdichtaiig. 467
Dieses Prinzip der Gleichheit verwandelt sich in Hood,
der Poesie in eine gewisse Vorliebe fOr die yolkstOmlichen
Gestalten, die er lebenswahrer, charakteristischer znr An-
schaong bringt als die der großen Welt. Noch wagt seine
Mose nicht, in die kahle, trostlose Nüchternheit der Arbeiter-
wirklichkeit hinabzusteigen, sondern hebt vielmehr das
Handwerk in die Sphäre der Romantik. In The Forge,
A Bomance of (he Iran Age (Die Schmiede, eine Bomanze ans
dem ehernen Zeitalter), 1843, an sich nur eine Parodie
von Schillers Chmg nach dem Eisenhammer, wird durch die
prächtig naturalistische Schilderung die Cyklopenesse zum
Gemälde einer modernen Werkstatt, wie etwa Adolf von
Menzels Schmiede. So sehr ist Hoods Herz bei den Ar-
beitenden, daß er darob den ungeheuerlich burlesken Cha-
rakter dieser Arbeiter vergißt Dem dfistem Milieu wird
die umgebende Natur angepaßt Die Sonne versinkt in
knpfrige Wolken wie ein toter Mann in sein Leichentuch.
Der Wind pfeift durch die kahlen Äste eine phantastische
Begräbnismelodie. Die Eisenhütte liegt im Harz. Der
Teufel ist unterwegs nach dem Brocken. Dämonen über-
wältigen die Biesen.
Allmählich tritt Hood unverhüllt mit sozialistischen
Tendenzen hervor. Mrs. Oardinery a Horticultural Bomance
(Eine Gartenbauromanze), 1843, die Hoods Sohn für die Perle
seiner humoristischen Erzählungen erklärt, enthält einen
Ausfall auf die Leute, welche, die Hände in der Tasche, anderer
Menschen Pfirsiche e^en, gierig die Früchte des Fleißes
anderer verschlingen, ohne die Arbeit der Produktion zu
teilen. Das Gedicht A Drop of Oin (Ein Tropfen Brannt-
wein), 1843, schildert in düster grellen Farben dieis ungeheure
Elend des armen Teufels, für den in seinen Lumpen, seiner
Verzweiflung, seiner Hoffnungslosigkeit der Tropfen Brannt-
80*
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468 Die itttirisch-humoristiMhe GMellsohaftsdichtiuig.
wein zur unwiderstehlichen Versachong wird. Statt des all-
gemeinen Aergernisses fordert der Dichter für ihn einen
Tropfen Mitleid.
Recht eigentlich zum Volksdichter seiner Ztit, in der
die Verlegung des gesellschaftlichen Schwerpunktes Tom
Ackerbau auf die Industrie, vom Lande in die StSdte ein
ungeheures soziales Mißverhlltnis grell vor Augen rSckte,
wurde Hood durch The Song of fhe Shirt (Das Lied Tom
Hemde. Deutsch von Freiligrath), 1843. Es ist nicht ganz
leicht, sich von der Ursache jener zfindenden Wirkung
Rechenschaft zu geben, die diese schlichten Strophen her-
vorriefen. Sie schildern die arme Näherin in ihrer Eanuner
an ihrer Arbeit — ein Situationsbild, nichts weiter. Kein
reflektierendes, geschweige denn ein aufreizendes Wort Aber
das Los der Enterbten. Ein GenregemUde in dm glanz-
losen, ausdruckskrftftigen Farben modemer Maltechnik ge-
halten, die die Wirklichkeit yortftuscht Das Grau der
Armut, die Trostlosigkeit des ewigen Einerleis. Das Bild
sprach für sich selbst Es bedurfte keines Zusatzes. Der
Vorhang der Conyenienz war zur Seite gerissen. Das warme
unmittelbare Lebensinteresse, das zuckende, blutende
Menschenherz lag entblößt vor dem Beschauer. Es war an
und fOr sich eine laute, schreiende Anklage gegen die
Gesellschaftsordnung, in der die große Mehrheit des Volkes
ph3rsisch dahinsiecht und geistig verhungert, zugunsten einer
kleinen Minorit&t
Demselben Vorstellungskreise entstammt The Ladifs
Dream (Der Traum der Dame. Deutsch von Freiligrath),
1844. Der Reichen auf ihrem warmen, weichen Lager werden
die gespenstigen Gestalten derer vorgeführt^ an denen sie die
Pflicht des Glflcklichen gegen die Unglflcklichen versäumt
hat Wiederum erscheint das junge M&dchen mit den
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Die satixiBch-hiUBoriBtiBche Goielkchaftsdichtiing. 469
bleichen, hohlen Wangen und den wnndgen&hten Fingern.
Eine Stimme ruft: „um des Lnzns der Beichen willen
sinken wir in ein frfthes 6rab!^ Die Dame schant im
Tranme, wie yiele Herzen täglich brechen, wie viele Tränen
stfindUch fallen, wie viele Wnnden sie hätte heilen
können, während sie gedankenlos das Leben der Be-
güterten lebte, und der Tranm wird ihr znm Fegefeuer
bitterster Bene.
The Bridge of Sighs (Die Senfzerbrücke. Deutsch von
Freiligrath), 1844, die Br&cke, von der das verzweifelte
Mädchen ans dem Volke durch einen Sprung ins Wasser
ihrer Not ein Ende macht, ist in den klangvoll gleitenden,
den Schlußchoren des Faust nachgebildeten Versen nicht
ohne weiche Geftlhlsschwelgerel
Den Eindruck des Liedes vom Hemde verstärkte in
derselben Nummer des Punch The Pauper's Christmas Carol
(Weihnachtsgesang des Armen). Die Weihnacht ist für
den Proletarier das einmal im Jahre erscheinende Datum,
an dem er, zum Mahl der Barmherzigkeit geladen, sich
satt essen darf. Auch hier war, wie im Lied vom Hemde
jede direkte Anklage der Besitzenden vermieden und die
Frage: warum nur einmal im Jahre? nicht ausgesprochen,
sondern dem Leser suggeriert
Unmittelbarer äußert sich die Tendenz in The Worh-
hause Clock. ÄnÄUe^ory(Die Uhr des Arbeitshauses. Deutsch
von Freiligrath), 1844. Der Aufseher stellt die Fabriks-
uhr. Ein unabsehbarer Zug trefflich gezeichneter Arbeiter-
typen wallt vorüber und blickt zu der Uhr empor. Der
Dichter bricht in den Wunsch aus: 0 wendete sich doch
die Behörde, die die Arbeitsstunden, das tägliche Maß
menschlicher Mühe und Selbstverleugnung regelt, von der
künstlichen Uhr, die zehn oder elf schlägt, der älteren zu,
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470 Die satiriBcli-hnmoriBtiflche CfMeUBchaftsdiditiiiig.
die im natfirlichen Sonnenlicht steht und ihre Stunde vom
Himmel empfftngt!
Voll herber Bitterkeit ist das ProsastILck TKe Lag of
ihe Labaurer (Arbeiterlied. Deutsch von Freiligrath),
1849. Eines Abends, an dem die Nator flflstert: Es gibt
Sturm! hat der Dichter die Vision einer Arbeitenrer-
sammlung im Ärmlichen Wirtshause Zum Pflug. Ihre Parole
lautet: Etwas muß fOr uns getan werdenl Ihr Lied
singt Ton Arbeit und Not Ärger als das Elend der
mit Arbeit Überbürdeten ist das Elend der Arbeitslosen.
Hood zählt sich selbst zur arbeitenden Klasse. Sein Gewinn
ist bescheiden, aber Oottlob, an seinem geringen Besitze
klebt kein Blut, keine Träne. Sein kurzer Schlaf ist
friedlich, seine Träume sind ungestört Der Schmerzens*
schrei der hungernden Arbeitslosen hat fttr ihn keine
selbst verschuldeten Schrecken. Damm kann er so warm
für sie eintreten. Doch gilt es diesmal nicht sowohl den
Kampf für die Sache als die F&rsprache fttr einen einzelnen.
Ein junger Mann Namens Gifford White hatte auf einen
Gutshof einen Zettel geworfen, des Inhalts: „Wir sind ent-
schlossen, den Hof in Brand zu stecken, wenn ihr mir keine
Antwort gebt, und euch in euren Betten zu verbrennen,
wenn keine Veränderung eintritt So kann es nicht weiter-
gehen Ein Feind.^ Darauf wurde der Achtzehn-
jährige zu lebenslänglicher Deportation verurteilt Hood
malt nun die erschttttemde Lebenstragödie des jungen Mannes
aus, sucht auf das Gemttt der mafigebenden Persönlich-
keiten Eindruck zu machen und appelliert schließlich an
Sir James Graham. Die allgemeine Betrachtung dient
hier dem speziellen Falle. Die Poesie wird zum Handwerk-
zeug einer sozialen Tendenz und neigt sich somit in jene
Sphäre demagogischer und philanthropischer Agitation in
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Die satiTisch-hiimoristLBche Oesellschaftsdichtiuig. 471
Versen, die Ebenezer EUiot beherrscht, ,,der einzige, der
große Dichter seiner Gattung "0 — der Dichter der Stadt-
armen, der alles menschliche Elend anf die Besteuemng der
zum Leben notwendigsten Dinge zurückführt, für den das
materielle Leben nnanflOslich mit der Politik and National-
ökonomie Terknüpft, wo nicht erschöpft ist
Werke TOn Thomas Hood.
1825 Ödes and Addresses to Great Feople.
1826—27 Whims and Oddities.
— National Tales.
1827 The Plea of the Midsummer Faines.
1829 TTie Dream of Eugene Äram.
1884 Timley Hall
1838 Literary Bemmiscencea (Hood's (hon).
1839 Up the Bhme.
1840 Miss Kihnansegg (New Monthly Magcusine).
1843 The Song of the Shirt (Punch).
1844 Whimsicalities.
1852 Lamia.
1863 The Works of Thomas Hood. Edited with Notes hy
his Son (in 7 Bänden; 1869—73 in 10 Bänden,
1882—84 in 11 Bänden).
Werke über Thomas Hood.
1860 Thomas Hood and Frances Freeling Broderip,
Memorials of ThomM Hood. Collected, arranged, and
ecUted hy his Datighter. With a Preface and Notes by
his Son. (NeuauBgabe 1893).
1885 Alexander Elliot, Hood in Scotland.
— W. M. Rossetti, Memoir (The Poetical Works of Thomas
Hood. Populär Poets).
1904 Emil Oswald, Thomas Hood und die soziale Tendenz-
dichtung seiner Zeit (Wiener Beiträge zur Englischen
Philologie, XIX.).
0 Chiigtopher North, The Poetry of Ebenezer EUiot (Essays
Oriticai and Ifnagmative, 11, 232.
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Winthrop Maokwortli Fraed
1802 — 1839.
Winthrop Hackworth Praed wurde 1802 in London
als der dritte Sohn eines Rechtsgelehrten geboren. Praed
war der H&dchenname seiner Großmutter, den der Groß-
vater Humphrey Mackworth bei der Heirat dem seinen
hinzufugte, Winthrop der Mädchenname seiner Matt^, die
der Knabe im ersten Eindesalter verlor. Das zarte, fr&h-
reife Eind wuchs unter der Obhut seiner Schwester heran
und dichtete schon in der Schule von Langley bei London,
die er von 1810—1814 besuchte. In Eton, wo seine eng-
lischen Verse durch Preise ausgezeichnet wurden und seine
Beteiligung an einem Debattierklub und an Theatervor-
stellungen seinem Leben einen höheren Puls verlieh, trat seine
eigenartige, auf die aktuellen Verh<nisse und die Interessen
des Tages gerichtete Begabung bereits deutlich hervor.
Auf seine handschriftlich zirkulirende, zur Hfilfte von ihm
selbst verfaßte Zeitung Apis Matina (Die Matinische Biene)
folgte bald der Etonianj eine der berühmtesten Schul-
zeitungen, für die Praed in der Art des Spectator treffliche
und originelle Aufe&tze über allerlei Temen schrieb. Der
Etorian fand während seines freilich nur zehn Monate
währenden Erscheinens sogar einen Verleger. Dieser be-
zeichnet Praed als einen Knaben, der Herr seines Genius
war, nicht von ihm beherrscht wurde — ein Urteil, das
für Praeds gesamtes Schaffen charakteristisch bleibt 9*
>) Workmg Life I, 284.
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Die MtiriBch-liiunoriBtiBolie OeseUBchaftodichtong. 473
Von 1821—1825 StndioBus der Rechte am Trinity
College in Cambridge, trieb er mit seinem Mitschfller
Macanley eifrig klassische Lektfire nnd gewann Preise f flr
griechische Epigramme, fOr Deklamationen nnd fOr die
Gedichte Äustrdlasia (1823) nnd Athens (1824). Eine
gesellige Nator, geschmackvoll, elegant, liebenswfirdig, von
vielseitigem Wissen, das mehr allgemeine Bildnng als Ge-
lehrsamkeit war, wnrde Praed bald ein führendes Element der
Kreise, in denen er lebte. Sein Cambridger Kamerad Bnlwer
erz&hlt, wie man damals die höchsten Erwartungen von
ihm hegte. Was Byron der Welt, das war er der Univer-
sität Seine Persönlichkeit hatte etwas Faszinierendes. Sein
zarter Leib beherbergte eine hinreißende falle von Tempe-
rament nnd Energie. 9 Er bet&tigte sich in Zeitschriften
{The Quarterly Magaeine, 1822; The Braeen Head, 1826).
1827 erhielt er eine KoUegiatenstelle am Trinity CoUege
nnd 1829 wnrde er nnter die Rechtsanwälte des Middle
Temple berufen. Aber sein Ehrgeiz war anf die parlamen-
tarische Laufbahn gerichtet Einer Whiggistischen Familie
entsprossen nnd in den Überlieferungen dieser Partei wie in der
Verehrung ihrer Lieblingsdichter Ifilton und Cowper erzogen,
zeigt er sich während seiner Studienzeit von bedingungslos
liberalen Grundsätzen erftOlt In den Jahren der Beif e (etwa
um 1830) vollzieht sich in ihm die von so vielen Bomantikem
durchgemachte Wandlung vom Whig zum Tory, ohne daß die
Schwenkung einen fUilbaren Bruch mit seiner Vergangen-
heit bedeutet hätte. Er war zn keiner Zeit mit den Badi-
kalen gegangen, obzwar er sich in der Jugend als zn ihnen
gehörig betrachtete,^) und blieb zeitlebens ein Freund des
0 Life, Letters, and BemmiscenceBf 1, 224.
>) YergL PoUUcdl Poems, Introd^tetion, XEL, JHL
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474 Die sfttiziBcli-liiiaiorifltiaehe GeseUaehalfeididitiiiig.
Fortschrittes innerhalb gewisser Grenzen. Canning war der
Staatsmann, den er zumeist bewunderte. „Sieger in der Kind-
heit Spiele Auf der Jugend heitrer Bahn — Sieger an dem
Ruhmesziele Über Neid und Haß und Wahn'', so apostro-
phiert er den Bewunderten, dessen Vorbild ihn zweifellos
auch dichterisch beeinflußt hat, in dem Oedichte The Deaih
of Canning (Cannings Tod), 1821, das den vorzeitigen Tod
des großen Mannes beklagt
Nachdem Praed im Parlamente hintereinander mehrere
Provinzstädte vertreten hatte, wurde er unter Peel, an dem
er sich einen GOnner erwarb, Sekretär der ostindischen
Eontrollbehörde. Wellington ließ sich von ihm in der
konservativen Moming Post gegen die Angriffe der Times
verteidigen. 1838 widmete er der öffentlichen Unterrichts-
pflege, zumal fflr die Arbeiterklasse, seine Aufmerksamkeit.
Die Schwindsucht machte 1839 seinem Leben ein Ende, ehe
sich, wie Bulwer klagt, die vielen Versprechungen seiner
Jugend erfflllt hatten. 0
Praed ist nicht eigentlich ein satirischer, nicht eigentlich
ein politischer, nicht eigentlich ein humoristischer Dichter.
Zum Satiriker fehlt ihm die Sch&rfe, zum politischen
Pamphletisten die Derbheit, zum Humoristen die Urwfichsig-
keit des Spaßes, jene Ausschließlichkeit oder Universalität
der Heiterkeit, die die Komik als Grundstimmung erfordert
Aber er ist ein Stflck von jedem, und dies macht ihn nach
Hookham Frere und Byron und neben Hood zu einem
der maßgebenden Vertreter des society verse, jener Gedicht-
gattung, die sich, gleich weit entfernt von schwerfälligem
Ernst oder brutaler Wucht wie von frivoler Ungebunden-
heit oder sentimentaler Überfeinerung, allem zuwendet, was
0 Life, Letters, and Beminiscences, 1, 284
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Die satiriseh-hiimoristiflche Gesellschaftsdichtang. 475
in den Rahmen des gesellschaftlichen Lebens fällt Die
großen Erscheinungen am politischen Himmel wie die All-
tagsvorg&nge der Öffentlichkeit, höchste Interessen wie
oberflächliche Beziehungen mengen sich in ihrem Bereiche
zwanglos wie in der Wirklichkeit. Ja, der socieiy verse
lebt zum Teil von dem, was f&r alle Poesie mörderisch ist,
von der Banalität des eleganten Miliens. Er scheut den
Salon und seine nichtigen Oespräche, den Klatsch und die
Mode nicht. Soll er diese überdauern, ttber die Flüchtig-
keit der Tageserscheinung hinaas nicht nur kultur-
historischen sondern dichterischen Wert behalten, so muß
der Verfasser einer zwiefachen Voraussetzung entsprechen:
Er muß als Weltmann die Sphäre beherrschen, die er dar-
stellt, ohne sich von der Parteileidenschaft des sozialen
oder politischen Kämpfers fortreißen zu lassen, und er
muß fiber jene Gabe der zwanglosen Darstellung ver-
ffigen, die den Eindruck des Spontanen, Ungekünstelten,
des geistreichen Spiels macht. Beide Gaben besitzt Praed
in hoher Vollkommenheit Bei der regsten Teilnahme am
öffentlichen Leben bewährt er, sozusagen, seine persönliche
Freiheit Seinen heftigsten Angriffen nimmt der Humor
ihren Stachel Selbst wo er verneint, tut er es nur als
Schalk. Seine temperamentvolle Wärme schwillt nicht zu
leidenschaftlicher Glut; seinen leicht beweglichen Geist ver-
leitet keine noch so feste Überzeugung zur Schwerfälligkeit
Ein heiteres und gütiges Naturell bewahrte ihn vor Ver-
bitterung. Seine Liebenswürdigkeit gibt seiner Gesinnungs-
tüchtigkeit nichts nach. Ja, es ist ihm nicht minder wichtig,
daß er gefalle, als daß er überzeuge. Ist doch nicht selten
die Überzeugung eine Folge des Gefallens.
„Der Vers de SocietS, den er schrieb und den niemand
besser schrieb, sagt Henry Morley, bewahrt seinen Beiz,
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476 Die sttirifleh-kiimoriftiaGhe GMelkckaftidichtiiag.
weil seine Scherzhaftigkeit auf der Oberfliche einer minn-
lich ernsten Natnr ruht, ans deren Tiefe ab nnd zn ein
Ton aufsteigt, der gradeswegs zn nnserem Herzen geht^^)
Das wirklich Bedeutende ist in diesen Gedichten so
selten wie in der Dnrchschnittsexistenz, die sie behandeln.
Aber für jenes Ineinander von Ernst nnd Heiterkeit, Ironie
nnd Rfihmng, welches das Pathos des Lebens ausmacht,
findet Praed nicht nur den vollen Ausdruck, sondern er
findet ihn sowohl im Vers wie in der Prosa, in der Form-
vollendung, die für die GeseUschaftsdichtung fast noch
schwerer ins Gewicht f Ult als fOr andere Gattungen der Poesie.
Charles Enight vergleicht Praeds fiiefienden Vers seiner
Handschrift, die der vollendetsten Kalligraphie gleichkam.
Rhythmen und Reime strSmten ihm zu wie einem Im-
provisator. <) Und seine Prosa steht an funkelnder Glätte, an
Sorgfalt der Sprache hinter seinen Versen kaum zurück.
So werden die kurzen Artikel, die der Minderjährige fOr
den Etonian schrieb, zu Kabinettstücken ihrer Art Es
bedeutet wohl kein zu unterschätzendes Werturteil, daß sie
1887 hervorgesucht und zu einem Bande der als Bildungs-
lekt&re ffir weite Kreise bestimmten Universai LSfrary
zusammengestellt wurden.
Ihr Inhalt ist von feuilletonistischer Mannigfaltigkeit
Hier fesselt eine allgemeine Beobachtung wie die, daß
eine und dieselbe Sache, je nach dem Gesichtspunkte, aus
dem man sie betrachtet, ebenso gut zu befürworten als an-
zufechten sei (Yes andNo. Ja und Nein); oder daß eine nichte-
sagende Geselligkeit im Gemflt nur Leere und Vereinsamung
ausloste {Solitude in a Orowd. Einsamkeit im Gewfihle). Dort
1) Essays, IfUroduction, 6.
^ Workmg Life, n, 291, 824.
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Die satiriflch-hnmoriatiBehe GeseUadiafUdiehtaiig. 477
macht sich der jtfkige Verfasser über konventionelle Lägen
lustig {Lavers Vows. liebesschwüre; Not at Harne. Nicht
zn Hanse), hier tischt er nns Frllchte seiner klassischen
Belesenheit auf, die doch des tieferen Verständnisses der
Antike entbehrt {On the DiviniHes of the Andents. Über
die Gottheiten der Alten; Essay on (he Poems of Homer
and the Age in which he lived. Abhandlung Ober Homers
Gedichte und das Zeitalter, in dem er lebte). Dort trachtet
er, in der dramatischen Form des Dialoges einen Ausschnitt
des antiken Lebens zu geben (Damasippus), hier einer
Laxheit des moralischen Urteils zu begegnen {Mad —
quite MadI Verrückt — ganz verrftcktl) Am häufigsten
ist sein Aui^tz ein geistreiches Spiel, z.B. die Personifikation
zweier kontrastierender Begriffe, um ihre Gegensätzlichkeit
in konkreter Schärfe ins Licht zu stellen (Ehyme and
Beason. Vers und Verstand; Sense and Sensibüify. Emp-
findung und Empfindlichkeit), oder das Herausschleifen aller
Bedeutungen eines Ausdrucks {Thaughts on the Wards
Tum out Gedanken Aber das Wort „hinausbefördern^), oder
das Aufzeigen der in scheinbar gleichbedeutenden Worten
versteckten Antithesen (PoUteness and PoUtesse), oder die
Beziehung einer poetischen Bedefigur auf das reale Leben
(On (he PracUcal Bathas; On {he PtacHcal Asyndeton).
Bemäht Praed sich in einem Essay {My Fürst Folly. Meine
erste Torheit), theoretisch den Wert des Nichtigen, des
tnfle, zu zeigen, so stellt er in einer ganzen Reihe von
Aufsätzen der Theorie den praktischen Beweis an die
Seite. Oft genagt ein Nichts, wie alte Stiefel, zum Aus-
gangspunkt fär weltbewegende Eindräcke und Betrach-
tungen. {Old Boots). Auch an novellistischen Versuchen
fehlt es nicht Da gewinnt ein schlauer Knappe, um seinen
erschlagenen Herrn zu rächen, in dessen Gewände die stolze
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478 Die ifttiriich-liiimoriBtiflQhe CkmaHadiaftodichtong.
Sachsenbraut, die jenem verweigert ward {The Knight and
(he Knave. Der Bitter and der Knappe). Da spielt ein
heiteres Mägdlein ihrem mit Freigeisterei prahlenden Lieb-
sten einen Schabernack {The Bogle of Annesley. Das
Gespenst von Annesley).
Praeds treffliche Kunst der Charakteristik aber kommt
nicht sowohl in diesen Erz&hlungen zur Geltung als in
seinen mit sicherstem Umriß leicht hingeworfenen Skizzen
sozialer Typen: der Landedelmann des 18. Jahrhunderts
{Mr. Lozells Essay an Weaihercocks. Heim Lozells Ab-
handlung über Wetterhähne); der gutmütig wohlleberische,
behaglich beschränkte Landgeistliche {The Cauntry Ourate.
Der Landpfarrer); allerhand Spielarten von Blaustrümpfen
{GolighÜy's Essay on the Blues); allerlei Whigs und Torys
{Beminiseences of my Youih. Jugenderinnerungen). Dazu
kommen künstlerisch parodierte Stilporträts seiner Kameraden
{The Union Gltd!), So zieht eine bunte Galerie an nnsenn
Blick vorbei. Alle diese Aufsätze haben drei Eigenschaften
mit einander gemein: den Geschmack, die scharfe Beobachtung,
die gute Laune. Die Jugend des Autors spricht zumeist nur
aus der Frische des Blickes, dem alles noch neu ist, dem alles
noch etwas sagt, der sich noch an allem freut oder äi^^ert
SeineTechnikistbereitssodurchgebildet,daß sie zwar mitunter
den Routinier verrät, jedoch niemals den Meister verleugnet
Sein Witz ist nur äußerst selten gezwungen. Seine Laune
sprudelt in köstlicher Frische. Praeds Deckname als Heraus-
geber des Etonian war Peregrine Courtenay.i) Als solcher
verfaßte er humoristisch-satirische Briefe an den König, an den
imaginären Redakteur des Blattes, Bookworm, und verab-
schiedet sich in der letzten Nummer des Etonian vom Publikum.
*) Seine heiteren Beiträge im QuarteHy Magazine waren Vyvian
Joyense gezeiclwet (Knight n, 298).
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Die satiiüch-hamoristisehe GeseUflchaftsdichtung. 479
Eingehender besch&ftigt sich Praed in Versen mit der
Politik. Ein prächtiger Mangel an Galle^kennzeichnet die
Abfertigung so mancher ärgerlichen Maßregel, z. B. der
widersinnigen Zensor- und Druckgesetze, die, indem sie das
Verlagsrecht unmoralischer Bücher nicht schützen, ihrer Ver-
breitung durch Baubdrucke in die Hände arbeiten {Chancery
MordU. Gerichtsmoral), 1823. Anfangs ist Praeds Haltung
gegen die Hochgestellten der Gesellschaft unverkennbar
feindlich. Er verhöhnt die kostspielige Dotierung eines
unbeliebten und unbedeutenden Mitgliedes des Königshauses
{Boyal EducaUon. Königliche Erziehung, 1825). Er stellt die
egoistische und grausame Herzlosigkeit der Großen in grelles
Licht {The Caronation of Ouirles X, 1825) und kleidet in
die Form der Totenklage um einen König der Sandwich-
inseln einen Angriff auf Georg IV., der zu den schärfsten
der scharfen Schmähungen zählt, die über diesen Fürsten
ausgegossen wurden {Epitaph on ihe Laie King of the
Sandwich Islands by Oraeee BatÜe Esq^ Eis Majetsty's
Poet Laureate. Grabschrift für den verstorbenen König der
Sandwichinseln von Tollhans Klapper, Seiner Majestät
Hofpoeten, 1825). Die Selbstschilderung des steifnackigen,
unduldsamen Tory in The Retrospect per Bückblick), 1828,
ist noch eine Verspottung vom Standpunkte des Whig aus.
Allein die immer hochgehenderen Wogen der demokratischen
Bewegung machen Praed um diese Zeit mißtrauischer
und zurückhaltender. 1831 gesteht er den Whigs nur
mehr gute Absichten bei offenkundigen Mißgriffen zu
{IntenUons). 1832 erwirbt ihm die Schilderung des Tory-
charakters den Beifall Peels {The Old Tory), und das Gegen-
stück zu diesem Gedichte, The Young Whig, wird zum Bilde
des Emporkömmlings, der eigensüchtigen Zwecken, gleich-
viel auf welchem Wege, nachstrebt Seit 1830 sind durch
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480 Die ffttlriBeh*l»uiiorutuehe QMellflehaftsdiolitiiiig.
den Sturz Peels und die Premierschaft Greys die Whigs
&m Staaterader. Sie liab«i die Rohe und Ordnung^ das
ewige Einerlei satt nnd suchen „ein wenig angenehmen
Streif* {The New Order of Things, Die neue Ordnung
der Dinge). Und nnn entdeckt Praed sein Herz, das
im innersten Kern stets ein Aristokratenherz war. Er
sieht das Volk nor über die trennenden Grenzpfähle jener
zwei scharf gesonderten Reiche der Hohen nnd Niedrigen
hinweg. Das Zauberwort Popularität umscUiefit fBr ihn
nebst Liedern und Dflften, Staatshaushalt und Wahlrecht,
auch Gemeinheit und Verrat (Ode to Papularüyy 1831).
Als er einst, in einer Parlamentssitzung einschlafend, von
einem allgemeinen Wandel der Dinge trftumt, der auch ihn
ergreift und ihn zum radikalen Whig machte wird der Traum
zum Alpdruck, ein Traum der Schuld, ein Traum des
Leides (The Dream of a Beporter, 1882).
Die beiden Angelpunkte der damaligen inneren Politik
Englands, die Eatholikenemanzipation und die Reformbill,
nehmen natuigem&ß auch in Praeds Gedichten einen breiten
Raum ein. Der Emanzipation steht er anfangs nicht unsym-
pathisch gegenfiber. Doch arbeitet er auch angesichts dieser
Lebensfrage der Nation nicht mit schwerem Gtoschütz und
stellt Lächerlichkeiten bloß, gleidiviel auf welcher Seite er
sie findet Der Herzog von Tork, ein starrer Gegner der
Katholiken, erntet Praeds Spott ffir zwei langweilige
Philippiken gegen die Emanzipation (Wiedom of the Oreat
Council Weisheit des Großen Rathes, 1825) und fAr
eine Vertrauenskundgebung, die ihm die ehrenfesten Pro-
testanten von ehester in Form eines 160 Pfund schweren
Käses bereiten (The Lay of the Cheeee. Das Lied vom Käse).
Praeds historischer Sinn, sein philosophisches Dar&ber-
stehen bewirken, daß er sich von den Wirren des Tages
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Die satilisch-homoristiBcIie GeseUscliaftscIichtaiig. 481
niemals unterkriegen l&ßt. Ein Blick auf das Gesamtbild
menschlicher Existenz und den Zusammenhang der Dinge
ist ein treffliches Trost- und Beruhigungsmittel f ftr etwaige
traurige Eindrücke der kleinen Bildausschnitte, die das Leben
des einzelnen oder einzelner Epochen bedeutet Kann Praed
sich den Niedergang der Parteipolitik nicht verhehlen, so
klammert er sich an den Oedanken, daß alles — Gutes
wie BOses — vorübergehe. Es gibt nichts Neues unter der
Sonne. Das Leben und alle seine Beziehungen sind nichtig;
Torys und Whigs taugen alle beide nichts. Der Teufel ist
nicht so schwarz, wie er gemalt wird, die Liebe ein
Apriltag, Tr&nen und Lächeln gemischt. Gutes und
Schlechtes, Elend und Glück wiegen sich auf. Der eine
geht am Durst zugrunde, der andere am Trinken. Ein
Narr ist, wer sich zu viele Gedanken darüber macht
{The Chaunts of tiie Brassen Head. Gesänge des ehernen
Hauptes, 1826). Praeds Optimismus hat einen so stai*ken
Beigeschmack von Galgenhumor, daß er zeitweilig dem
Nihilismus zum verwechseln ähnlich sieht Alles ist eitel,
das Morgen wie das Heut, ein ewiges Einerlei (Twenty
Eight and Twenty Nine. Achtundzwauzig und neunund-
zwanzig, 1829).
Praed empfindet, wie allewelt, daß in der Verfassungsfrage
etwas geschehen müsse, nur scheint ihm dieses Etwas das
Entgegengesetzte von dem zu sein, was die Anhänger des neu
eröffneten Whiggistischen Milleniums erstreben (The Convert
Der Bekehrte, 1831). Infolgedessen erblickt er auch die
ungestüme Sehnsucht der Menge nach der Beform des Wahl-
rechtes als der Erfüllung aller Wünsche, der Panazee für
jedes Lebensweh, im Lichte des Humors und behandelt sie
im Volksballadentone mit dem Kehrreim Derry down!
(Heissal Juchhe!) in The Bill, (he Whole Bill, and Nothing
Qetchiehte der enffUtchen Bomantik n, 1. 81
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482 Die satiriseh-hoinoristiflehe Gesellaohaftsdiehtaiig.
but the Bill (Das Gesetz, das ganze Gesetz und nichts als
das Gesetz), 1831. Besingt er in jenen Tagen der stürmischen
Kämpfe um das allgemeine Wahlrecht die Freiheit, so ge-
schieht es, um ihr eine Klage in den Mund zu legen, daß
sie, deren Dienerinnen zur Zeit eines Brutus und Cato die
Weisheit, die Ordnung, die Mäßigung waren, nunmehr zur
Gemeinschaft mit Verrat und Gezänk herabgezogen werde.
Die Freiheit, die Praed im Auge hat, verachtet ihren gegen-
wärtigen Buhm und ist Überzeugt, daß sie, noch während das
Parlament tagt, sterben werde. (The Complaint of Liberty.
Der Freiheit Klage, 1831). Als endlich die Beformbill
durchgegangen ist, will Praed nichts mehr von der Politik
hören. Er vermag es nicht, von dem alten Ruhme und der
gegenwärtigen Schmach zu sprechen (Plus de PoUtique,
1832). Dennoch dr&ckt ihm die erste praktische Anwendung
der Beform- Bill bei den aUgemeinen Wahlen im Herbst
1832 wieder die spöttische Feder in die Hand {Pledges.
Ein Unterpfand; Staneas, hy a Ten Pounder oljected to.
Stanzen eines beanstandeten Zehnpf&nders; An Episüe from
an Old Electioneerer. Brief eines alten Wählers). Die
Prinzipienlosigkeit der Whigs fordert aufs Neue seinen
lachenden Hohn heraus {Thirty Ttco and Thirty Three. Zwei-
unddreißig und Dreiunddreißig, 1833).
Auch in der Irenfrage behauptet Praed denselben
konservativen Standpunkt, der ihn die Dinge zwar stets
als Zugehörigen der Regierung, doch immer ohne Gehässig-
keit gegen die Opposition ins Auge fassen läßt (The
Beggars Petition. Des Bettlers Gesuch, 1831 und The
Beggars Thanks. Des Bettlers Dank, 1833).
Die Sklavenfrage gibt ihm Gelegenheit zu einem seiner
gelungensten Gedichte: The Waehing of the Blackamoor
(Mohrenwäsche), 1833, veranlaßt durch Lord Stanleys Antrag,
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Die saüriflch-hamoristische Gesellsehaftadichtang. 483
die westindischen Sklavenhalter für die Emanzipation ihrer
Leibeigenen durch ein Darlehen von 15 Millionen zu ent-
schädigen, das aus Abzügen vom Lohne der befreiten Neger
bestritten werden sollte. Es ist bemerkenswert, daß Praed
in einer so weittragenden Angelegenheit nur einen mehr
oder minder nebensächlichen Punkt der Tagesdebatte heraus-
hebt^ ohne das PrinzipieUe des Gegenstandes voll ins Auge
zu fassen. Ähnlich steht er auch der sozialistischen Bewegung
gegenüber. In dem Gedichte King Alfred^s Book, 1831, läßt
er jeden Parteiführer einen charakteristischen Spruch in
E6nig Alfreds Buch, das Buch der Landessatzungen, eintragen.
Das letzte Wort hat der Pöbel einer Baumwollspinnerei,
dem es schließlich gleichgültig ist^ was immer in das Buch ge-
schrieben wird. Der Fortschritt, der angeblich die Freiheit
fördert, enthüllt sich, nach Praeds Meinung allzuhäufig als
ein Gesinnungswandel aus oportunistischen Gründen. Er ver-
mag nur ein ironisches Lob für ihn aufzubringen. (JVhy and
Wherefore. Warum und weshalb, 1831). Auch für die große
auswärtige Politik fehlt auf Praeds Psalter die heroische
Fanfare des Nationalismus (JVaterloo, 1831). Er hat nur
die Friedenssehnsucht des kampfesmüden Landes im Auge.
Die Zeit des Euhmes war eine Zeit bitterer Tränen. Die
kriegerischen Ehren haben einen hohen Preis gekostet
{Mars disarmed by Love. Mars, von der Liebe ent-
wafEnet, 1831).
Unter die charakteristischesten von Praeds politischen
Gedichten gehören diejenigen, die sich im leichten und
eleganten Plauderstil — zumal der Briefform — völlig auf
das Niveau des Gesellschaftsgedichtes stellen. So der köst-
liche Brief des Herzogs von Angouleme an seine Geliebte
während der französischen Invasion in Spanien (Ä Free
Translaiion ofa Letter from Prince Eilt. Freie Übertragung
81*
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484 Die ntirisch-hiiiaorirtische Geeellichaltsdicfatiiiig.
eines Briefes des Prinzen Hilt^ 1823); ferner Episteln an den
Kaiser von BnAland nnd an eine Geliebte Ludwigs XviiL
{Leiters to lUustrious Characters. Briefe an berBhmte
Persönlichkeiten).
Oleichfalls eine Übergangsform vom politischen znm
Gesellschaftsgedicht bilden die gereimten Aufzahlungen
mannigfaltigster Geschehnisse auf den verschiedensten Ge-
bieten des sozialen Interesses, znm Zweck der Exempli-
flzierung ii^end eines (Gedankens. Z. B.: wenn ein Papist
unschuldig und ein Sklave frei ist, wenn einem französischen
Galan das Herz bricht und ein spanischer Grande seine
Fesseln sprengt, wenn ein Wahrsager an seine Kunst
glaubt und ein Radikaler an Menschen, die ihm fiberlegen
seien; wenn die Vernunft gewinnt und der Betrug scheitert;
wenn der Ozean trocken und die Leidenschaft leidenschaftslos
ist und die Wahrheit Lfige; wenn Mrs. Cunningham um
Mrs. Lowes willen verlassen ist — dann werde ich auf-
hören zu lieben (Lov^s Etemity. Ewigkeit der Liebe,
1824). In gleicher Form sind Ä Song of ImpossibiUties
(Ein Lied der Unwahrscheinlichkeiten), Utopia und The
Outs pie draufienl), alle 1827, abgefaßt. Ihr Wert liegt
in dem Zeitbilde, das sie geben. Vor seiner Farben-
frische tritt der Yorwand, unter dem es beschworen wird,
in den Hintergrund.
Praeds Neffe, Sir George Young, bezeichnet diese Ge-
dichte als Klapper- oder Plauderverse {Pattersangs).^)
Eigentlich gebührte der Name den meisten Erzeugnissen
von Praeds Musa Alle, die Derwent Coleridge in der
Bubrik Poems of Life and Manner (Lebens- und Sitten-
Gedichte) zusammenfaßt^), sind nichts anderes. Schildert
0 PoliHecU Poems, IfUroduction X.
*) Foema, 1874, voL IL
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Die satiriBch-hnmoristische Gesellschaftsdichtnng. 485
Praed einen Provinzball, dessen bloße Darstellung bereits
eine Geißelnng der Gesellschaft bedeutet (The Country BdO),
knfipft er an die DarsteUong der Every Day Characters
(AUtagscharaktere) Betrachtungen fiber den Junggesellen-
stand (The Bachelor) oder die Ehe (Marriage) und rührende
Erinnerungen an den Tod einer Gespielin (Beminiscences
of my YouOl Jugenderinnerung) und humoristische an die
glückliche Etoner Schulzeit (Surly Halt), so ergeben sich
bereits aus den Themen dieser Gedichte unvermeidliche
Vorteile und Nachteile. Insofern sie vom Tagesinteresse
leben, müssen sie für die Nachwelt durch die Häufung
kaum mehr yerständlicher Anspielungen auf längstyer-
schoUene Wichtigkeiten ungenießbar sein. Andererseits
verleiht ihnen ihr geistiger und gemütlicher Gehalt wie
die Meisterschaft der Form einen Persönlichkeitswert, den
sie für den literarischen und kunsthistorischen Feinschmecker
stets behalten werden. Praeds Charakterporträts — der
Landpfarrer (TJ^e V%car\ der Landedelmann (Quince), die
schöne herzlose Kokette (Laura), der überspannte Backfisch
(Ä Letter of Ädvice. Mahnbrief), die bunt durcheinander
gewürfelten Typen, die der Krieg unter die gemein-
same Flagge ruft (The Eve of (he Battle. Vorabend der
Schlacht) — halten den Vergleich mit Crabbe aus, vor dem
sie die knappe, leichte DarsteUung im Sonnenschein des
Humors voraus haben.
In formeller Hinsicht überrascht Praed durch Ab-
wechslung wie durch Gewandtheit Humoristisch wirkt
nicht selten die Anwendung bekannter lyrischer Vorbilder
auf die Behandlung politischer oder sozialer Themen; so
die Byronnachahmung in The Bussell Melodies, I; die
Horazkopie in IV und VI; die des Bemi in Whistle (Ruf) und
The Adieus of Westminster (Abschied von Westminster);
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486 Die Mtbiieh^iimoiigtaMlie Geselliohafttdiolitniiflr.
die Moores in £<mjr^jfo(Eiii8t). Oft wirkt Praed durch Wort-
witze (ffrave amen und Grava$Hm in Wisdam of (he Greai
Council I. Weisheit des Großen Bathes) oder dnrch Wortspiele
(mcked = böse und tvieked = mit Docht versehen in Ode to
ihe ChanceUar. Ode an den Kanzler), oft dnrch die knappe, zu-
gespitzte Form, oft dnrch ein kunstvolles, kompliziertes Vers-
maß (The London Univeraüy^ 1815). Der Planderton seiner
gereimten Briefe ist von kaum ftbertroffenem Zauber, von
zarter und schalkhafter Zierlichkeit (Letters from Teign-
mouth. Briefe von Teignmouth] Our Bdllj unser Ball).
Nimmt man noch hinzu, daß Praed den Augenblick
zu packen verstand, daß er auf eine anfechtbare Parlaments-
rede von heut morgen die Persiflage folgen ließ (z. B. Ode to
Faulet TJiomsonj 1832), so wird man sich höchstens darftber
wundem, daß ihre Wirkung keine tiefer greifende war.
Niemand aber wird es erstaunlich finden, daß die unbedingte
Anerkennung, deren sich eine Anzahl dieser Gedichte er-
freuen, die Veranlassung ihres Entstehens lange fiberlebt
hat. So The Riddles of the Sphinx (Die Rätsel der Sphinx),
1827; Sianzas on seeing the Speaker asleep in his Chcdr
during one of the Debates of the First Beformed ParUa$neni
(Verse, als ich während einer Debatte des ersten reformierten
Parlamentes den Vorsitzenden auf seinem Stuhle ein-
geschlafen sah), 1833.
Echte Ljrrik, wie das tief empfundene Liebeslied
Josephine, ist bei Praed trotz seines ausgeprägten Form-
talentes verhältnismäßig selten. Hingegen hat er die Er-
zählung vielfach mit Glfick gepflegt. Oog (1821), auf den
heitern epischen Ton von Hookham Freres Monks and Oiants
gestimmt, erzählt — vielleicht auch inhaltlich nicht un-
beeinflußt durch dieses Vorbild — von einem ungeschlachten
Riesen, der eine Sängerbraut entführt, dann aber im Wett-
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Die Mtiiifloh-hamoriatiiche OesellschaftBdichtimg. 487
trinken wackeren Mönchen nnd im Wettkampfe einem könig-
lichen Bitter unterliegt Das Märchen lAUian (1822) wurde
ttber ein gegebenes, anscheinend sinnloses Thema geschrieben:
,yEin Drachenschwanz, geschalt; daS er erwärme das Herz
einer kopflosen Maid^. In Praeds geschickter Ansdentnng
ist die Jungfrau Ton einer Fee verwünscht, ihren Verstand
erst dann zu finden, wenn sie auf einer schuppigen
Drachenhaut ritt und den Schwanz an ihr Herz gedrückt
hat Als weiblicher „weiser Tor" bezaubert sie durch ihre
Unschuld das Tier, wird erlöst und ihrem Ritter, Sir
Eglamour, vereint Die Märchenstimmung des zierlich
parodistischen Epenstils ist etlichemal in mutwilliger
Weise zerrissen. Kindliche Naivetät geht Praeds Phantasie
ab. Auch in den anfangs prächtigen Yolksliederton der
fragmentarischen Yerserzählung The Troubadour (1823 — ^24)
drängt sich bald ein ironischer Einschlag, eine Übertreibung,
die die Karikatur streift (Vidals Schmerz über den Tod der
Eltern). Der schwermütige junge Troubadour vollbringt eine
Geisterbeschwörung. Er erklimmt die Zelle einer als Nonne
eingekleideten Jugendgespielin und entführt statt ihrer die
Äbtissin des ürsnlinerklosters. So geht Sentimentales und
Komisches, Düsteres und Anmutig-Zartes sprunghaft durch-
einander, während das Ganze sich auf der Höhe guter,
modemer Durchschnittsromantik hält
Wie Hood zieht Praed die Sagen des Bheins in den
Bereich seiner Dichtung. The Bridal of Belmont (Das
Hochzeitsfest von Belmont), 1881, behandelt eine Lurlei-
sage, The Legend of fhe DrachenfelSj 1837, eine auch von
August Kopisch bearbeitete MythaO
Das außerordentliche Geschick der Verstechnik trägt
>) Vgl. Kraupa, 97, 99.
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488 Die satiriflch^biiflioriitisehe OeseUBchiftsdiclitiuig.
es hier über die Innerlichkeit der Empflndmig davon.
Äußerliche Eigenschaften überwiegen die poetische Kraft
An Grillparzers Der Traum ein Leben erinnert die Idee
der Legend of ihe Eaunted Tree (Die L^ende vom ver-
zauberten Baume), 1830 — 37. Ein tatendurstiger Jüngling
wird durch getr&umte Abenteuer zum schlichten Glftck häus-
licher Beschränkung bekehrt Verse von zierlichster Anmut
verhüllen die Oberflächlichkeit des sentimentalen Gemfttstones.
Man kann von diesen Romanzen sagen, daß sie das Beste
einer unbedeutenden Gattung modemer Poesie reprftsentieren.
Ein Zug ins Gruselige kennzeichnet The Legend of Ute
TeufehhauSj 1830, die Erzählung von einer Teufelin Berta,
der ein wackerer Ritter zum Opfer fällt Weitaus am
besten geglückt aber ist der Balladenton in The Bed
Fishennan, or The DevtFs Decoy (Der rote Fischer oder
der Teufelsteich), 1827. Der hagere rotbärtige Fischer
der nächtlicher Weile am schaurigen Orte angelt, ist der
Teufel Er nimmt eine Krone als Köder und fängt
Richard ni., der in selbiger Nacht bei Bosworth fällt
Mit Weibertand verlockt er Mrs. Shore, mit einer Rehkeule
einen feisten geistlichen Schlemmer; mit einer Bischofsmütze
will er den Abt des nahen Klosters, einen scharfen Gegner
der Katholikenemanzipation, fangen. Der aber gewinnt Ein-
blick in den Spuk, mäßigt sich von nun ab in seinem Gebaren
und entkommt dem Satan. Es ist charakteristisch für Praed,
daß gerade dieses Gedieht, das als Ballade durch düster
groteske Phantasie und poetische Kraft des Ausdrucks selb-
ständigen Wert beanspruchen dari^ als eine persönliche Satire
auf das Benehmen einiger Geistlichen, zumal des Bischofs von
Exeter, im Kampfe gegen die Katholiken entstand. 0
^) PoUticäl Foems, InirodwsHon X.
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Die ntiriflch-hiunoristische Gesellschaftsdichtimg. 489
Wo Praed in die historische oder sagenhafte Vorzeit
zurückgreift, erh< seine Poesie in der Eegel ein alt-
modisch konventionelles Gepräge, so das in heroischen
Reimpaaren abgefaßte Preisgedicht Athens, 1824, der
Dialog Alexander and Diogenes, 1826, oder Arminius,
1827, mit der ausgeklfigelt interessanten Situation des
Helden, der seinem im römischen Heere dienenden Brader
gegenübersteht Von der kühlen Beflexion dieser Gedichte
sticht vorteilhaft der schlichte patriotische Ton ab, den Praed
für seine Darstellungen aus der vaterländischen Geschichte
des 17. Jahrhunderts und der Beligionskämpfe findet (Sir
Nicholas at Marston Moor; The Covenanter's Lament for
Bothtoell Brigg. Des Covenanters Klage um Bothwell Brigg).
In etlichen Gedichten verirrt Praed sich auf das Gebiet
der Allegorie {Chüdhood and his Visitors. Die Kindheit und
ihre Besucher; Beauty and her Visitors. Die Schönheit und
ihre Besucher). Hingegen betätigt sich der spielerische
Zug seiner Poesie aufs günstigste im Bereiche des Bätsels.
Liebenswürdige Laune und anmutige Form bringen hier
manches reizende und treffliche Produkt hervor.
Li den letzten Jahren seines Lebens scheint Praeds
Stimmung schärfer geworden zu sein. Dieim Winter 1838— 39
verfaßten drei längeren politischen Gedichte (The Contested
ElecUon. Die angefochtene Wahl; The Politicdl Drawing
Boom. Der politische Salon; The Treasury Bench. Die
Ministerbank) sind ausgesprochene Satiren, von denen jedoch
die letzte in eine schwung- und weihevolle Paraphrase des
God Save the Qtieen ausklingt. Die Politik war nicht seine
Stärke. Aber der „gemischte Stil", der Verein von Pathos
und Witz, Gefühl und Satire ist kaum jemals mit größerer
Freiheit und Sicherheit bemeistert worden.
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490 Die ittlrifeh-hiimoiifltiielie Gasdlichaftsdiditaiig.
Werke toh Winthrop Kackwortli PrseiL
1821 The Etoman.
1823 IMan. Ä Fawy Tale.
1828 Athens. A Poem.
1844 Poems. Edited by W- Chiswold, New Tork.
1864 Poems. With Memoir by Derwent Coleridge.
1885 SeUcUons. By Sir George Totmg. (Moxon's Mimaturt
Library,)
1887 Essays. Collected by Sir George Toung. Introduction hy
Henry Morley (Morley*s Universal Library).
1888 The PoUHcal and Oceasional Poems. Edited with Notes
by Sir George Toung.
Werke über Prsed.
1843 John Monltie, The Dream of Life.
1864 Charles Knight, Passages of a Working Life during
Half a Century.
1883 Edward Bnlwer (Lord Lytton), Life, Lett&rs, and Lite-
rary Bemains. Edited by his Son.
1890 George Saintsbury, Essays in EngUsh Literature.
1910 Mathilde Eranpa, Winthrop Machßorth Praed. Sein
Leben und seine Werke, (Wiener Beiträge zur Englischen
PhUologie XXXU.)
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Drittes Kapitel.
Das beschreibende Gedicht und die
Verserzählung von Pope bis Southey.
Lob von Pope.
Auf dem ffir die Romantik so wichtigen nnd weit-
verzweigten Gebiet des beschreibenden Natnrgedichtes nnd
der reflektierenden Yerserz&hlang wird Pope als klassische
Autorität der Ausgangspunkt fOr das junge Geschlecht
1713, das Jahr, in dem Windsor Forest erschien, ist sozu-
sagen das Geburtsjahr dieser Gattung — ein epochemachendes
Datum in der Literatur. Das maßgebende Moment für die
klassizistische Dichtung aber war nicht der Impuls, sondern
die nach antikem Muster aui^estellte Theorie und ihr
höchstes Ziel nicht die lebendige Wiedergabe des Eindruckes,
sondern Korrektheit der Komposition. Unterdrückung des
Persönlichen, Verallgemeinerung des Individuellen in der
Natur wie in der Geisteswelt bildete ein wesentliches Augen-
merk dieser Theorie. Der Gegenwartsmensch verschwand
hinter römischen oder griechischen Pseudonymen, die Land-
schaft ward zur Dekoration stilisiert, die Handlung, der
spezielle Fall, der sich im Leben immer nur einmal er-
eignet^ in das Tjrpische, Allgemeingiltige gehoben. Der junge
Pope hatte sich mit seinen Pastorais, 1709, und mit The
Bape of the Lodo, 1712, als Meister einer auf diese Grund-
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492 Dm beschreibende Gedieht und die Venenihlimg.
sfttze aufgebauten Technik erwiesen. Das vorherrschende
Überwiegen des beschreibenden Situationsbildes war in
beiden Werken ein charakteristisches MerkmaL In den
Pastorah diente das Gespräch der Hirten nur zur Ausmalung
der ländlichen Stimmung. In The Bape of ihe Lock verlor
sich der dünne Faden der Erzählung in der breiten
Schilderung von Zeit, Ort, äuflerer Lage und innerer Ver-
fassung der Hauptpersonen. Er war nur ein Verwand, um
die aufgespeicherten Perlen des Geistes, des Sentiments und
Witzes an ihm aufeufädeln.
In Windsor Forest wirft der Dichter selbst diesen Vor-
wand über Bord. Schon die Ehrlichkeit im Vermeiden auch
nur einer Scheinhandlung, eines Scheinvorganges berfihrt neu-
artig. Das Gedicht gibt sich fftr nichts anderes, als was es durch
und durch ist: Schilderung — zum Ideal ihrer selbst erhobene
Schilderung. Schon der zusammenfassende Titel drückt aus,
daß alles gegeben werden soll, was sich über Windsor Forest
vorbringen läßt, gewissermaßen der Inbegriff des Dinges
selbst; ein anschauliches Bild der Gegend, der Menschen, die
sie bevölkern, ihres Charakters, ihres Tuns, Erinnerungen
an vergangene Zeiten und Berühmtheiten, Ausblicke in die
Zukunft Beschreibung und Reflexion beherrschen offen-
kundig und ausschließlich das Werk, in das sie sich teilen.
Die Poesie lebt nicht vom Impulse, sondern von der Über-
legung, nicht von der Phantasie, sondern der Beobachtung,
nicht von der Inspiration, sondern der Ehinnerung. Ihr
Quell ist nicht der göttliche Wahnsinn, sondern die Vernunft
Sie will der Menschheit kein holder Traum sein sondern
eine kluge Lehre, kein seliges Selbstvergessen sondern ein
wackeres Sichselbstbesinnen, keine die Brust schwellende
Erhebung sondern eine Mahnung zur Sittlichkeit und Tugend.
Was innerhalb einer solchen Poesie an Vorzüglichkeit und
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Das beschreibende Gedicht und die Venerzählong. 493
Oröße möglich ist, das hat Pope in Windsor Forest sicher-
lich erreicht
Wie jeder starken Begabung wohnte ihm die zwingende
Kraft inne, die die nachgeborenen Talente noch auf lange
hin in seine Spur bannt Sein gewaltiges Vorbild wurde
maßgebend für die Wahl der poetischen Gattung, des Themas
und der Form. Crabbe, (üowper, Bowles, Bogers, Campbell,
Comwall haben sftmtlich, wo nicht als bewußte Schüler,
so doch als unbewußte Deszendenten Popes ihre Laufbahn
begonnen und sind so allmählich in die Bomantik hinein-
gewachsen. Selbst in Southey ist seine Spur noch fUübar.
Unvermerkt schlagt dann, wie in der Begel bei großen Ent-
wicklungen, die Gefolgschaft in Gegnerschaft uul Die jungen
Dichter bilden sich unter der anerkannten Herrschaft des
Klassischen. Sie wurzeln in sein^ Überlieferung mit Stolz
und Überzeugung. Es ist für Crabbe ein erhebender Gedanke
„super vias antiquas stare^A) Cowper wird als Homer-
Übersetzer von Pope angeregt Späterhin, als er, wie
in allem, so auch in der Auffassung der Antike sein
Antagonist geworden, wirft er ihm Tor, die Poesie zu
einer rein mechanischen Sache gemacht zu haben. ^)
Die ganze Gruppe der Erzählungsdichter debütiert in
der Literatur mit dem spezifisch Popeschen Versmaß, dem
heroischen Beimpaar. Crabbe verbleibt lebenslang dabei.
In den anderen erwacht allmählich das Bedürfnis nach Ab-
wechslung, das Streben nach freierem Ausdruck. Cowper,
von dem Southey sagt, er habe die Tür zur Poesie wieder
geöffnet, die, nach Bischof Hurds Ausspruch, Pope hinter sich
zugeschlossen,') gibt seinen Versen von Anfang an durch
0 Kebbel, 106.
<) Table Talk,
•) Works, 1837, H., 192.
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494 Das beftchraibeiide Gedicht lad die Venttvihliiiig.
geringere PoUtor einen urwächsigea Charakter. Erwillspit^
von »Popes Melodie^ nichts wissen, vermutlich weil er selbst,
ohne hervorragendes rhythmisches Talent, kein mnsikalisch@
Ohr hat Allein sobald er sich als Dichter selbst gefnnd^
wandelt er den Mangel zur Tagend. Er wird der Heister des
Blankverses. Bewies bezeichnet den heroischen Vers als
das ihm am wenigsten liegende Versmaß und empfindet
die Eintönigkeit des Metrums bei Pope. Dennoch bldbt
er selbst fast ausschließlich dabei. So m&chtig ist die
Tradition. Bogers glaubt noch 1819 die Verwendung
einer Strophe mit dreifachem Beim in seiner Dichtung
Human Life mit ihrem häufigen Vorkommen bei Diyden
entschuldigen zu müssen. Bjnron stellt ihm als hohes Leb
das Zeugnis aus, daß keiner unter den Lebenden Heraie
Couplets schreibe wie er. „Als Nachahmer Popes^, äußert
er noch am 15. März 1820 an Isaac Disraeli, „sind wir alle auf
dem Holzwege, bis auf Bogers, Crabbe und Campbell'^.
Campbell, der sich zu einem VerskOnstler ersten Bang»
entwickelt, verfaßt, mit Ausnahme der in Stanzen ge-
schriebenen Gertrude of Wyoming^ alle seine beschreiben-
den und erzählenden Gedichte in Heraies. Southey emanzipiert
sich im Versmaße am frühesten und vollständigsten. Der
heroische Vers kommt bei ihm nur in vereinzelten Jugend-
gedichten vor (in drei heroischen Episteln aus seiner Schulzeit
1786-91 und in The Pauper's FunenO, 1795). Er hat keinen
Bespekt vor der Klassizität „Das Epitheton mag klassisch
sein, ist aber sicher lächerlich'^, schreibt er (16. März 1798) an
seinen Freund Bedford. „Die Natur ist mir eine bessere
Führerin als das Altertum." Weit entfernt, wie Pope die
lateinischen Dichter als Bichtschnur anzuerkennen, empfindet
er, Lucrez und Catull ausgenommen, ihre Verschiedenheit
von den griechischen als einen Gegensatz wie den zwischen
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Dm beschreibende GFedicht und die Versensählnng. 495
Franzosen und Engländern. „Man kann'', heißt es in einem
Briefe an Bedford (5. Mai 1807), „ebenso gut in einem Menschen
Yoranssetzen, daß er Shakespeare und Bacine in gleichem
Grade bewundere als Homer und Yergil, vorausgesetzt nämlich,
daß er weiß, warum und weshalb er den einen bewundert.''
Seine Homerkenntnis enthtQlt ihm nicht nur die Mängel der
Popeschen sondern auch die der Cowperschen Auffassung.
„Homer ist der beste Dichter," sagt er, „denn er ist gleich-
zeitig würdevoll und einfach." Pope aber hat ihn in Flitterputz
gekleidet und Gowper ihn nackt ausgezogen.^) Von seinen
Epen sind Joan of Are, 1795, MadoCy 1805, und Roderick,
18U, in Blankversen, Thalaba, 1801, und The Curse of
Kehama, 1808 aber in jenem unregelmäßigen, dem Aus-
druck mannigfaltigster Empfindung sich wunderbar an-
schmiegenden reimlosen Metrum gehalten, das recht eigentlich •
das Versmaß der romantischen Erzählung wurde. Wie sehr
Southey sich dessen bewußt war, etwas von dem herkömm-
lichen Begriff des Epos durchaus Abweichendes geschrieben
zu haben, geht schon daraus hervor, daß er in der Vorrede
Thälaba als Bomance bezeichnet.
An Pope lernen sämtliche Dichter dieser Gruppe die
Bealität und Einfachheit der Schilderung, die bei ihnen nur
sehr allmählich von der stilisierten Steifheit des Klassizismus
zur Natürlichkeit und freien Bewegung des ßomantischen
fortschreitet. Sie übernehmen als Erbe den klaren, scharfen
Blick fOr die Außenwelt und ffigen als Eigenes die Gabe
hinzu, die Seele der Natur herauszufinden. Mit dem Fleiß
und der Sorgsamkeit der Klassiker arbeiten Crabbe und
Cowper Wirklichkeitsbilder aus, die in ihrer akuraton Sauber-
keit der gerade Gegensatz alles Impressionistischen sind.
1) Joan of Are, Pieface, 1795.
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496 Das beschreibende GMicht und die Yenen&hlaug.
Als Ziel aber verfolgen sie eine ginzlidi aofierhalb des
Klassizismus liegende Natortreue, die nach Hogarthschem
Vorbilde eine Absclirift der Wirklichkeit^bezweckt So packen
sie, ohne anf die wundervolle Haltung Popes zu verzichtea,
die Gemfiter durch eine Lebensechtheit der Schilderung, die
damals als Naturalistik und Verismus erschfttterte und
schreckte. Die Grenzen der Poesie werden gewissermafien
nach dem Alltag zu hinausgeschoben und ihr Idiom be-
reichert Diese gesteigerte Geltung der Wirklichkeit tOr die
Dichtung verbindet sich dem tiefeingewurzelten Heimats-
geftthl im engeren und engsten Sinne, der Anhänglichkeit
an die eigene Scholle. „Glücklich der Mensch, dessen Soigen
und Wünsche etliche Hufe heimischen Grundes umschließen,''
hatte Pope gesungen {Ode to Solitude). Das Preisen der
Beschränkung als des höchsten Glückes steigert sich durch
das Poesiefähigwerden des Alltäglichen, Kleinen, ja Minder-
wertigen ins Überschwängliche, bis schUeSlich alle Errungen-
schaften der Kunst und Kultur geringer bewertet werden
als das auf der Stufe des Naturgemäßen Verbliebene.
Campbells Wort: „Ein Herz, das frei den Atem der Natur
einschlürft, wiegt tausend Mammonsknechte auf' {Lines on
Bevisiting a ^coM^AiZtrer) gewinnt repräsentative Bedeutung.
Auch noch bei Southey bleibt^ trotzdem er die Verserzählung
zur epischen Verarbeitung großer weltbewegender Themen
erweitert, die Vorstellung des Ländlichen und Schlichten
als des Beinmenschlichen und Beinpoetischen so maßgebend,
daß die großen Helden- und Königstoffe ganz mit idyllischen
Episoden durchsetzt werden, die schließlich beinahe ebenso
ihren Charakter bestimmen wie das Blumenmuster einen
Teppich.
Die Zunahme des Lokalkolorits verleiht den Gedichten
jene Bodenständigkeit, jene höchste Ausbildung der An-
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Das beschreibende Gedicht und die yersenählnng. 497
schaolichkeit, die als romantischer Bealismus zum Q«gen-
satze eben der in den allgemeinen Farben der Contemplation
gehaltenen klassischen Beschreibung wird, von der sie ur-
sprünglich ausging. Bowles empfindet in Windsar Forest
und Popes Pastoralen einen Mangel an Natur und
Natürlichkeit
Die Frage ttber das Verhältnis von Natur und Kunst
fuhrt zwischen ihm, Campbell und Byron, zu großen theo-
retischen Streitigkeiten, in die sich schließlich auch Freunde
einmengen und deren Eifer in Erbitterung ausartet 0
Bowles fordert als Haupteigenschaft für den beschreibenden
Dichter Naturkenntnis, wenn er auch zugibt, daß der Poet
nicht eben ein Botaniker sein müsse. So fühlen auch noch
die späteren Romantiker sich verpflichtet, für ihre Natur-
schilderungen wissenschaftliche oder vermeintlich wissen-
schaftliche Belege beizubringen. Southey geht so weit, im
Thaktba Darwinsche Theorien zum Nachweise heranzuziehen
über die Wirkungen, welche die Vemichlung des Domdaniel
auf unserem Erdball hervorgebracht haben: Imprimis, der
plötzliche Einsturz des Meeresgrundes erzeugt notwendiger-
weise den Malstrom. Die E<e des Nordens wird durch
das Wasser erklärt, das in die Höhlen stürzte und einen
großen Teil des Zentralfeuers verlöschte. Die plötzliche
Erzeugung von Dampf zersprengte die südlichen und süd-
östlichen Kontinente in Inselmeere. Auch der kochende
Springquell des Geiser hat hier seine Ursache. „Wer weiß,
was er nicht verursachte!" schließt Southey scherzhaft^) Wie
ernst es ihm aber mit dem Prinzip der wissenschaftlichen
Exaktheit poetischer Schilderungen ist, beweisen die An-
») The PampKUteer, voL XV.
•) Brief an Coleridge, 8. Jannar 1800.
Geschichte der englischen Bomsntik n, l.
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498 Dm beschreibende Oedicht nnd die YeisersShlang.
merknngen, die in seinen Erz&hlangen einen breiten Baum
einnehmen. Die Anmerkungen von Thalaba weisen auf
eine ganze Bibliothek gelehrter Werke, die in das
Gedicht verarbeitet wnrden. In Boderick kommen auf
250 Seiten Text 156 Seiten Anmerkungen. Der Unter-
schied zum didaktischen Gedicht liegt in diesem Falle nur
darin, dafi die Belehrung in die Fußnote verwiesen ist
Den Dichter, der die Natur auf Grund einer solchen
vertrauten und gediegenen Kenntnis schildert, erklärte
Bowles an sich dem Darsteller des „ktlnstlichen Lebens^
fiberlegen. Pope habe das ihm Erreichbare — Greschick,
Eleganz, poetische Schönheit des Mechanismus — errungen.
Aber wenn Cowper einen Morgenspaziergang schildere, so
bedeute dies an sich mehr als das Kartenspiel in The Bape
of ihe LockA) Wie sehr indes Bowles trotz aller Gegner-
schaft selbst in Windsor Forest fußt^ bezeugt schlagend seine
Doppelforderung an „das lokale beschreibende Gedicht^: Es
müsse erstens aus der anschaulichen Beschreibung der Land-
schaft und zweitens aus den Reflexionen und Empfindungen
bestehen, welche ihr Anblick voraussichtlich errege.^)
Die Reflexion, ein wesentlicher Bestandteil des be-
schreibenden Gedichts, bleibt bei sämtlichen Romantikem
dieses Kreises ein Moment von höchstem Nachdruck. Sie gibt
der Naturschilderung, deren Hauptstreben Vermeidung alles
Gekünstelten und Affektierten ist, einen nicht völlig in ihr
aufgehenden Beisatz des Gedankenvollen, Lehrhaften und
Preziösen. So schaltet Samuel Rogers noch in sein Reise-
gedicht Italy Erörterungen von Problemen wie nationales
Vorurteil, Mord usw. ein, die, „Hume an Gedanken, Addison
0 The InoariabU PnncipleB of Paetry, 1819.
* Vorrede la BamoeU HOU.
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Das beschieibeiide Gedicht und die YenersäUnng. 499
an Stil gleichkommend^, einem Beurteiler wie Mackintosh
den Hanptwert der Dichtung bedeuten. Eben dieser An-
hänger findet für seine Bewunderung keinen höheren Aus-
druck als den: der Schluß der Pleasures of Hcpe komme
dem Schlüsse der Dunciade gleich. ^
Bei Southey verfeinert sich der lehrhafte Zweck zu der
Absicht» mehr allgemein zu erheben als moralisch zu belehren.
Den Sinn fflr das Gute und Schöne (ro xaXav xai äyad-ov) zu
yerbreiten, liegt ihm mehr am Herzen als die Erläuterung
einer Sittenvorschrift') Dennoch behandeln Thalaba und
The Ourse ofKehama einen spezifisch religiösen Gedanken und
Southeys Jugendplan, systematisch alle Bekenntnisse in je
einem Epos zu behandeln, wurde nur durch den wenig an-
eifernden Erfolg des Thalaba und die Arbeit um das täg-
liche Brot unterbunden. Fär seine ausgeführten Erzählungen,
ja selbst ffir die der klassischen Romantiker, ist die Yer-
quickung der Naturschilderung und der philosophischen
Betrachtungen geradezu charakteristisch.
In Campbells TJie Quem of ihe North finden sich in
einer Schilderung der Artusgedenkstätten bei Roslin die
charakteristischen Verse:
Teuer ist ein ISndlicher Anfenthalt dem, der umwirbt
Freandliche StiUe, die Muse imd die romantisehe Natur.
Die Natur ist diesen Dichtem noch nicht der an sich
köstliche Selbstzweck, sondern die Mittlerin, die dem Geiste
durch wertvolle Anregungen zu seinen ewigen Zielen ver-
hilft Auch das Hervorheben der romantischen Natur in
den obigen Versen ist nicht ohne Belang. Den Männern,
die noch mit einem Fuße im Klassizismus stehen oder eben
0 Edinburgh Seview, Juli 1856.
*) Brief an Key. J. M. Longmire, 4. November 1812.
82*
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500 Dm iMscfareibende Gedicht und die YenenUiliui^.
erst aus ihm heraosgetreten sind, ist die Bomantik keines-
wegs so in Fleisch and Blut ftbergegangen, daß sie sie als
eine selbstverständliche Voranssetznng mit Stillschweigeii
übergingen. Sie ist vielmehr noch das Ziel, das, mehr oder
minder bewnfit, erstrebt wird. Man blickt mit Befriedignng
znrflck anf die Strecke, die man von der Ennst- zur Nator-
poesie znrAckgelegt nnd mit Spannung vorans anf das Stück
Weges, das noch von der großen Bomantik trennt Wie in
jeder Übergangszeit bewegen Erinnemngen an eine antori-
tative Vergangenheit nnd Ausblicke in eine ahnungsvolle
Zukunft das Talent und spornen es zu höchster An-
strengung.
Das klassische Vorbild wurzelt so tief, daß zu eioer
Zeit, da man dem Ziele der Bomantik schon wesentlich
n&her steht als dem klassischen Ausgangspunkte, Campbell
sich gedrungen fühlt, den Fluch, den in seiner Meister-
ballade (yConnor^sChäd die Heldin auf ihre Brüder schleudert,
durch eine Berufung auf die Autoritftt Comeilles zu ent-
schuldigen, dessen Camille beim Anblick des siegreichen
Horace in eine Verwünschung des Vaterlandes ausbreche.
Übrigens ist gerade Campbells Entwicklung als Balladen-
dichter ein ungemein charakteristischer Beleg des Werde-
ganges vom Elassizisten zum Bomantiker. Seine früheste
Ballade, die er selbst als Elegy bezeichnet {Love and
Madness. Liebe und Wahnsinn, 1795), behandelt in dem
völlig reflektierenden Stil seiner Jugend ein Ereignis des
Tages, den Prozeß einer Miß Broderick, welche das Urbild
der allnächtlich den Mord ihres Geliebten bereuenden
Nachtwandlerin in Campbells Gedicht ist Von dieser alt-
modischen Eunstform schreitet Campbell fort bis zur Be-
wältigung des im besten Sinne echt Volkstümlichen und
urwüchsig Stimmungsvollen.
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Das beschreibende Gedicht und die Yersenählnng. 501
Die Loslösimg von den klassischen Regeln geschieht mit
großer Vorsicht. Campbell gesteht, daß er in betreff der freien
poetischen Bewegnng bei Shakespeare nicht mit Schlegel
gehe. Im Wintermärchen verletzt ihn die Außerachtlassung
der dramatischen Einheiten. Er ruft aus: „Wenn alles das
nach romantischen Prinzipien richtig sein soU, so bekenne ich,
daß diese Prinzipien für meine Auffassung zu romantisch
sind."i) Southey abershakespeart zwar den Shakespeare
in seiner Tragödie Wat Tyler, aber er verschließt sie
23 Jahre lang sorglich in seinem Pulte und veröffentlicht
sie erst, als er, allgemein als Konservativer anerkannt,
sicher ist, daß man ihm sein völliges Daräberstehen
glauben werde.
Nicht das letzte, was die Neuerer aus dem klassischen
Bestände herttbemehmen, ist das ethische Pathos. Das
sittliche Normalmaß, das sie an den Menschen legen, ist
ein hohes — bei Crabbe und Cowper von religiösem Ernst
und kleinbärgerlicher Strenge gefärbt, bei Campbell und
Comwall durch den kosmopolitischen Enthusiasmus des
ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Originalität und frische
Natürlichkeit des jungen Dichtergeschlechtes tut schließlich
das ihre, um den Popeschen Moralbegriff jenes überlebten
konventionellen Ideals der Korrektheit zu entäußern und
an seine Stelle das eigene Evangelium des Natfirlich-
Guten und der individuellen Freiheit zu setzen. So ent-
steht auch hier aus dem ursprünglich Gleichartigen im
Wandel der Zeit die Antithesa
Das charakteristische Merkmal dieses Wandels bleibt
indes immer seine Allmählichkeit und das maßgebende
0 An Euay im English Foetry. Wiih Notices of ihe BriHsh
Foets, I. 67.
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502 Das beachmbende Gedicht und dia VerMnlhliingr.
Moment für die sich langsam ergebende Gegensätzlichkeit
die Eontinnitftt Niemals ist ein Maisch anyerdienter als
Abtrflnniger nnd Reaktionär verlästert worden als Southey.
Man kann an Grundsätzen nicht zum Verräter werden, zu
denen man sich im Innersten aus dem Grunde niemals be-
kannt hat, weil sie diesem Innersten widersprechen. Southey
war so wenig ein Kind der ßevolution wie Burke. Beide
wurzeln mit den Lebensf asem ihres Wesens im Konserva-
tismus. Beide hat in ihren empfänglichen Jugendjahren die
Revolution in ihren Bannkreis gezogen, wie es bei geistig
regen und stark empfindenden Naturen damals kaum anders
möglich war. Beide sind nach kurzem Schwanken den
Pfad, den ihre Veranlagung ihnen vorzeichnete, nur desto
sicherer und unentwegter fortgeschritten. Auf Southey hat
die Revolution von allem Anfang an noch weniger ab-
gefärbt als auf Burke.
Stärker ist der Abstand des jungen Geschlechtes vom
alten in der poetischen Diktion. Popes eisnadelglänzende
Kälte, Glätte und Politur ruft zunächst eine Reaktion
hervor. Die rauhe Kraft, die Wärme und Lebhaftigkeit
der ungeschminkten Natur fordert ihr Recht Der Aus-
druck wird weniger geistreich zugespitzt, aber eine Energie
der Seele, die in der klassischen Form nicht Raum fand,
breitet sich in der romantischen Dichtung schwellend aus.
Das Flüstern des Herzens wie sein Schmerzensschrei wagen
sich in die Kunst Die Reflexion weicht der Stimmung und
ein stofflicher Inhalt kommt in der Erzählung mehr und
mehr zur Geltung. In Rogers' Jaqmline, Campbells Gertrude
of Wyoming und Comwalls Marcian Colonna, The Oirl of
Provence, The Flood ofThessaly tritt die lehrhafte Schilderung
in den Hintergrund, das Liebesidyll in den Mittelpunkt Die
Neigung, Stoffe aus dem romantischen Süden zu holen, durch-
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Das beschreibende Gedicht nnd die YenenKhlnng. 503
bricht die Schranken des nationalen Schauplatzes nnd des
häuslichen Idylls, die Grabbe, Cowper nnd Bowles ihren
erzählenden Gedichten geben. Southey hebt durch große
Yölkerhistorische, religiöse und historische Themen seine
Yerserzählung in das Gebiet des romantischen Epos, dem
tragisches Pathos und ein mystischer Schwung nicht fremd
bleiben. Individuelles Menschentum ist in der Romantik
das zentrale Feuer, dessen Ausstrahlungen, Stil nnd Diktion,
naturgemäß von seiner Art sein müssen. Kaum aber hat
die Persönlichkeit ihr entscheidendes Hecht in der Poesie
durchgesetzt, so enthüllen ihre Jünger sich als das, was
sie im Innersten sind, als Abkömmlinge der Elassizisten.
Bereits 1808 spricht Southey wieder für Objektivität der
Darstellung, für das Wirkenlassen des Stoffes an sich. Er
ist „gegen alle Unterbrechungen in der erzählenden Poesie.^
Er sagt: „Wenn der Dichter seine Geschichte schlafen läßt
und in eigener Person spricht^ so macht mir das denselben
unangenehmen Eindruck wie ein Aktabschluß. Man ist auf
das folgende gespannt — da — bumsl fällt der Vorhang
und die Fiedler beginnen mit ihren Scheußlichkeiten.^ ^
So bewegt sich die Welt der Poesie wie der Erdball
im Kreislauf., In das vielbewunderte alte Gefäß kommt
ein köstlicher Trank von neuartiger Mischung — das ist
alles. Die Dichter, die so geschickt verstehen, ihn ein-
zufüllen, genügen den Anhängern des Alten wie den
Neuerem und weiden dadurch rasch die Beherrscher der
Literatur.
>) Brief an Scott, 22. April 180a
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George Orabbe.
1754—1832.
Lebennbriss.
Im Jahre 1780 kam der sechsondzwanzigjährige Wund-
arzt George Crabbe mit einer geliehenen Barschaft von
3 £ und einem Bftndel Hannskript, das sein gesamtes
Besitztum darstellte, nach London. Es war der letzte ver-
zweifelte Versuch, seiner g&nzlich verschatteten Existenz
aufzuhelfen. Er stammte aus dem Fischerstädtchen Aldeburgh
an der Nordsee (Suffolk), einem dürftigen, den Yerheerangen
der Springflut ausgesetzten Nest, offen gegen das Binnen-
land, den unschönen, dfirftigen Sandboden, dessen armselige
Bflsche und spärliche Bäume sich im Sturme bogen.
Crabbes Vater, der Salzsteuereinnehmer, >) war, der rauhen
Heimat rauher Sohn, ein Mann von allgemeiner Ver-
wendbarkeit und infolgedessen das Faktotum des Ortes.
Er hielt eine literarische Zeitung, pflegte Abends im Familien-
kreise aus Milton und Young vorzulesen, aber seine Ge-
mütsart war heftig und gewalttätig und wurde späterhin,
da ihn sein eifriger Whiggismus in politische Parteikämpfe
verwickelte, noch durch eine Neigung zum Trünke im Jäh-
zorn verstärkt. Als er frühzeitig die feste Zuversicht ent-
täuscht sah, aus George, dem ältesten seiner sechs Knaben,
einen tüchtigen Seemann zu machen, verzweifete er schier
0 Nach L68lie Stephen Sattlermeister {DieHonaary of NixtUmal
Biography).
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Das beschreibende Oedicbt und die Venerzüblung. 505
an den geistigen Fähigkeiten des Jnngen, der mit Segel
und Bader nicht nmzngehen verstand, nnd überließ ihn
unwillig seinem Leseeifer. Die Matter, eine sanfte, fromme,
vortreffliche Frau, ertrag in Demut ihr hartes Dasein.
Die beiden Provinzschalen, die George besachte, waren
nicht geeignet, Liebe and Achtang für die Wissenschaft in
ihm zn wecken. Er wurde ein heftiger Gegner der
humanistischen Bildung. „Das verfluchte Griechisch, das
so viel Zeit für Worte fordert, die keiner spricht!" heißt
es in Tales of (he Hall (XVI). „Was ließe sich Schäd-
licheres für den Menschengeist ersinnen als diese Wieder-
belebung einer schweren toten Sprache! Himmel! Ist eine
Sprache erst wirklich einmal tot, so begrabt sie. Laßt sie
nicht pflegen und lesen als Fluch für jeden wohlerzogenen
Jungen! Ist in diesen Büchern Gutes, so übersetzt es gut
und erhaltet es auf diese Weise!"
Mit vierzehn Jahren (1768) hatte George nicht nur seine
Schulzeit, sondern bereits einen vorübergehenden Lehrdienst
im väterlichen Warenmagazin an der Schiffslände hinter
sich und trat als Gehilfe bei dem Wundarzt eines Dorfes
bei Bury St Edmunds in die Lehre. Er mußte sein Lager
mit dem Ackerknecht teilen und selbst Enechtesdienste
verrichten. Als eine Erinnerung aus jener frühen Zeit
seines ärztlichen Lebens mutet die Schilderung des harten,
unwissenden, dünkelhaften Arztes in The Village (I) an,
dessen größte Barmherzigkeit in der Vernachlässigung des
Patienten besteht und dessen mörderische Hand nur dank der
Schläfrigkeit des Gerichtsverfahrens geschont wird.
Nach drei Jahren wechselte Crabbe die Stellung und
sein Leben ließ sich nun in dem Marktstädtchen Wood-
bridge ein wenig freundlicher an. In dem nahen Parham,
einem Dorfe voU lieblicher Anmut, lernte er 1771 Sarah
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506 Das iMscfareiWiiide Oedicht und die Venenihlnng.
Elmy (f 1813) kennen, die „Mira^ seiner Gedichte, m
anregendes^ anmutiges Mftdclien, die bei Oheim und Tante
in einfachen aber behaglichen Familienverhiltnissen lebte.
Crabbe an Jahren nnd sozialem Bang überlegen, brachte
sie ihm ein Herz voll unwandelbarer Anhänglichkeit und
voU unverbrüchlichem Glauben an seinen Dichterbemf ^t-
gegen. Ihre Liebe, die seinem Streben ein hoffnungsvolles
Ziel gab, wurde für ihn zu einem Wendepunkte.
Seine Mutter und Sarah Elmy hatte Crabbe im Sinne,
als er die Worte schrieb, weibliche Tugend mildere alle
Übel und zeitige viele Lichtseiten des Lebens. Dem sanften
weiblichen Geschlecht verdanke man, was hienieden trCste
und beglücke. Es biete der Jugend Hoffnung, der Sorge
Linderung, dem Alter Trost (Warnen. Frauen).
Unter den Auspizien dieses ersten Glückes errang er
den ersten poetischen Lorbeer mit einem Preisgedicht auf
die Hoffnung in Wheble's Ladtf's Magcufine. Seine eig^e
Hoffnung freilich, als Wundarzt oder Apotheker eine
Existenz in Aldeburgh zu finden, erwies sich als trügeriscL
1775 leistete er wieder in den Warenmagazinen Enechts-
arbeit. Der ärztliche Beruf war ihm nun gleichfalls verhaßt
Sein Talent rang nach Betätigung. Die Sehnsucht, seiner
liebevollen aber nicht leichtsinnigen Verlobten endlich ein
gemeinsames Heim zu bieten, quälte sein Herz. 1779
schreibt er in sein Tagebuch: „Tausend Jahre, o angebeteter
Schöpfer, sind vor dir wie ein Tag. So verkürze mein
Ungemach!". An einem der letzten Tage des Jahres starrt
er von dem unwirtlich rauhen Kliff auf einen seichte
Wassertümpel hinab, der dunkel und traurig wie sein
Inneres vor ihm liegt Und plötzlich reift in ihm der
Entschluß, diesem Schauplatz des Hungers und Elends zu
entfliehen und nach London zu gehen.
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Dm beschreibeiide Gedicht and die VenenBählung. 507
Crabbe kannte die Hauptstadt bereits von einem mehr*
monatlichen erfolglosen Aufenthalt, den ihm 1777 sein Vater
ermöglicht hatta Dennoch wagte er den zweiten Versuch.
Es war der letzte Notgriff des Ertrinkenden. Und der
Genius der Weltstadt, der an so manchem Talente zum
Moloch geworden, wurde Crabbe ein Betten
Freilich nicht im Handumdrehen. Auch hier bildeten
anfangs Enttäuschungen und Demütigungen eine eherne
Kette, die ihn in den Abgrund zu ziehen drohte. Schon
hatte er seine Kleider verkauf t> seine Uhr versetzt — noch
vierzehn Tage und er stand vor dem Schuldgef&ngnis.i)
Verzweiflungsvoll sah er nach einem Gönner aus — sonst
war er verloren. Da ließ ihn sein Glück auf Edmund Burke
verfallen, der damals noch als Anwalt der persönlichen
Freiheit und bürgerlichen Gerechtsame an der Spitze der
Liberalen und als Redner und Schriftsteller auf der Höhe
seines Ruhmes stand, „ein guter und großer Mann'', wie
Crabbe ihn in seinem Bittgesuche nennt Einer der Aus-
gestoßenen dieser Welt, freundlos, brotlos, heißt es in dieser
Schrift, nehme er seine Zuflucht zu* Burke, ohne andern
Anspruch auf seine Gunst als den, daß er ein Unglücklicher
sei Es war eine schlichte, natürliche Darlegung der Tat-
sachen. Eben darum wirkte sie pathetisch. Grabbes Selbst-
einschätzung als Dichter hielt sich von Unbescheidenheit
so fem wie von übertriebener Demut Als sprechende Be-
lege waren dem Schreiben The Library und The ViUage
beigegeben.
Der Erfolg mußte für Crabbe ein überwältigender sein.
Wie Chatterton durch Walpoles Abweisung in den Tod ge-
trieben ward, so half Burke mit dem richtigen Blick des
>) Life n, 65.
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508 Das beschreibende Gedicht und die Yenenlhliuig.
Genies, das immer edelmänniscli fBUt, mit einem kräftigen
Back seiner hilfreichen Hand Crabbe ins Leben znrfidL
Die Verzweiflung, der Eamp^ die Not lagen mit einem
Schlage hinter ihm und vor ihm ein klar und bestimmt
Yorgezeichneter ebener Lebenspfad.
Borke gewann Dodsley ffir die Heraasgabe von Crabbes
Gedichten, ans denen ihm zwar h&nfig nnyollkonunrae
Verse aber tüchtige Gedanken, ein unerfahrener Mann aber
ein selbständiger Geist entgegentraten. <) Burke legte bei
dem Bischof von Norwich Fflrsprache ein, daß Crabbe mit
Nachsicht der Uniyersitätsdiplome die Priesterwürde erhielt,
nachdem er sich auf dem Herrensitze seines Gönners, Bea-
consfleld, für den geistlichen Beruf vorbereitet hatte. Burke
yei*schaffte ihm (17S2) die Stelle eines Kaplans des Herzogs
von Rutland auf dessen prächtiger Besitzung Belvoir Castle
in Leicestershire. Achtzehn Monate nachdem Crabbe als
literarischer Abenteurer von Aldeburgh ins Ungewisse hinaus-
gezogen war, kehrte er als Pfarrer in die Heimat zurucL
Wohl war die gute Mutter mittlerweile gestorben. Aber für
Sarah Elmy kam nun (1783) nach einährigem entschlossenem
Harren der Hochzeitstag. Sie wurde Crabbe eine tüchtige
und liebevolle Hausfrau, voll gesundem, praktischem Verstand
und schlichter Herzenseinfalt )) Der Pfarrhof bevölkerte
sich allmählich mit fünf Kindern, und nur eine periodisch
bei Sarah auftretende Gemütskrankheit warf späterhin ihre
tiefen Schatten auf das häusliche Glück.
Obzwar Crabbe an dem Herzog von Rutland einen
feinsinnigen und verständnisvollen Herrn gefunden, machten
sich gegenüber dem jungen, leichtlebigen Aristokraten, der
0 Autobiographicdl Sketch. (Ufe, 95).
*) Vgl. Saintsbory, 9.
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Das beschreibende Gedicht und die Venerstthlnng. 509
ein Parteigänger Pitts war, doch nnfiberwindliche G^egen-
sätze des Temperamentes und der Ueberzengong geltend.
Crabbe war Whig und Badikaler. Inmitten der blanblütigen
Umgebung regte sich der Trotz des Niedriggeborenen. Die
Warnung vor den Gefahren des Mäzenatentums, die er in
der Erzählung TJie Patron den Vater des jungen Dichters
erheben läßt: er solle die Eifersucht des Genius respektieren
und ihn nicht dem Leben in der glanzvollen, bedrAckenden
Sphäre der Hochgeborenen und Beichen aufopfern — diese
Mahnung seines besseren Ichs befolgte Crabbe selbst
Er sah sich in einer schiefen Stellung. Hatte er seinen
Sonntagsgottesdienst abgehalten, so lebte er die übrige Woche
prächtig und im Überfluß. Das war ihm gegen die Natur.
Er ließ sich vom Schlosse auf mehrere kleine Pfarreien des
reichen Flachlandes von Belvoir versetzen. Die Jahre von
1783—87, die er in Stathem verlebte, waren seine glücklichsten.
In Muston, wo er von 1787—89 und von 1805—14 wirkte,
geriet er in Streit mit einer Wesleyschen Gemeinde und
machte sich durch heftige Angriffe von der Kanzel so un-
beliebty daß man bei seiner endgültigen Abreise vor Freude
die Eirchenglocken läutete.')
Dennoch war Crabbe kein religiöser Eiferer und wollte
von Zelotentum so wenig wissen wie von SektierereL^) -
Religiöser Enthusiasmus lag so wenig in seiner Natur wie
irgend eine andere Überschwenglichkeit Aber seine
Frömmigkeit war echt und tief und von jener urwüchsigen,
gesunden Art^ die da glaubt, ohne zu klügeln. Sein Tage-
buch, in das er fremde und eigene Predigten aufzeichnet^
zeugt von dem gottergebenen Verkehr mit seinem Schöpfer
>) Kebbel, 81.
*) Vergl. die Einleitung über religiöse Sekten zn The Barough IK
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510 Dm beschieibende Gedicht und die Veraen&hlong.
als dem Vertrauten seines Herzens in jeder Not In dem
wfirdigen Nachrufe, den er 1788 dem frfihyerstorbeneD
Herzog von KnÜand hielte bezeichnet er Selbstvertrauen als
menschlichen Irrtum, Gottvertrauen als die einzige mensch-
liche Stütze und schließt mit der Überzeugung, was unser
Leben nfltzlich mache, werde uns das Sterben erleichtem
{Ä Discourse read in ihe Chapel at Belvair CasÜe öfter
ihe Funeräl of Eis Orace the Duke of RuÜand. Predigt^
gehalten in der Schloßkapelle von Belyoir nach der Be-
erdigung Seiner Gnaden des Herzogs von Rutland). Eine
Predigt^ die er in Devizes vor dem Bischof von Salisbury hielt)
ist von scholastischer Gelehrsamkeit erfüllt und trftgt das
Gepräge des trockenen Rationalismus {Ä Sermon preacked
before the Bight Severend the Lord Bishop of Sarum on his
Visitation hdd at Deüiges, 15 August 181t). Im allgemeinen
aber soll Crabbe ein volkstOmlicher Prediger und sein
Vortrag natürlich fließend gewesen sein, ohne zur Schau
getragene Amtswfirda Seinen Pfarrkindem stand er nicht
nur als Seelsorger bei, sondern auch als Arzt und half
gar oft aus eigenen Mitteln, wobei er seine milde Handlung
nicht ungern mit strengen Worten gegen da3 Laster und
den Leichtsinn begleitete.
Andauernde Tätigkeit war ihm Bedürfnis, seine spezielle
Liebhaberei die Botanik. Auf StreiEzfigen durch das Land
sammelte er Pflanzen und Insekten und schrieb für Nichols
Leicestershire die Naturkunde des Tales von Belvoir.
Der Radikalismus seiner Jugend ging allm&hlig in
Eonsenratismus über, als ihm Amt und Würden — seit
1814 war er Rektor von Trowbridge — und der Um-
gang mit den Vertretern der höheren Stände zur Ge-
wohnheit wurden. Crabbe war einer der vielen, die sich
mutig zur französischen Revolution bekannt hatten, aber
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Das beschreibende Gedicht nhd die YenenUilaiig. 511
bei ihrer Weiterentwicklung von ihr abwandten. The
Vülage (1783) atmet wohl den vorrevolutionären Groll
zurfickgedämmter Entrüstung. In Wirklichkeit aber wider-
sprach die Pariser Erhebung, in der er „die Befreiung der
Menschheit von jedem politischen und religiösen Aber-
glauben, die Verneinung jeder Autorität und „die Demolie-
rung des Gemeinde -Armenhauses'', d. h. die Ausgleichung
der Standesunterschiede begrOßt hatte (Revolution), seinen
Innersten Lebensprinzipien. Der erste Krieg Englands gegen
Frankreich war in seinen Augen noch ein Kampf gegen
den Geist des Fortschrittes und der ßeformen, ein Kampf,
mit dem ihn nichts versöhnen könne. In Muston brachte
ihn seine Sympathie mit „den französischen Grundsätzen''
in den Ruf eines Jakobiners. Doch als er sah, wie die
französische Freiheit in die Despotie des Anarchismus und
des Kaiserreiches fiberging, änderten sich seine An-
schauungen.1) Die Bilder Ludwigs XVL und der Marie
Antoinette dienen ihm späterhin nur zum Anlaß, dem Eng-
länder die Dankespflicht gegen Gott einzuschärfen f Or sein
glfickliches Heim, in dem er unter Freien der Freiheit
genieße (The Parish Register. Introduction). Crabbes per-
sönliche Auffassung der Freiheit legt er dem Helden der
Tales of the Hall (I) in den Mund. Er liebt die Frei-
heit, findet aber den knabenhaften UngestOm durchaus
tadelnswert, der den Kampfgedanken ffir unzertrenn-
lich von ihr hält und durch sein wildes Gebaren
Zwang und Einschränkung notwendig macht Die gute,
große Sache könne nur durch schätzende Gesetze erhalten
werden. Es mfissten Wachen da sein, daß alle der Freiheit
teilhaftig wflrden. Doch sollten auch die Wachen nicht fiber-
>) Vgl Kebbel, 80.
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512 Das beschreibende Gedieht und die Venenlhlnng.
michtig sein, dafi man die Sicherheit nicht zn teuer er-
kaufe. Die Konstitution ist Crabbe die heilige Arche, die
er mit frommem Eifer schätzt Noch nötiger wie der Ge-
samtheit ist das Oesetz dem Einzelnen. Es ist das Bollwerk,
das den wilden Strom der Natur eind&mmt (The Library).
Crabbes politischer Glaube ist optimistisch. Tories und
Whigs werden sich einander n&hem, wie es zwei leiden-
schaftslose, vemOnftige Menschen, die vieles gesehen, ge-
lesen, beobachtet haben, in ihren Gefühlen tun. Sind beide
von dem Wunsche nach Wahrheit und Belehrung getrieben,
so sinkt die durchgreifende Verschiedenheit auf ein geringes
Maß herab. 0
Eebbel bezeichnet mit vieler Berechtigung Crabbe
als den typischen Geistlichen des mittleren England um
die Jahrhundertwende, wie er in George Eliots Werken
unsterblich lebt, wohlwollend ohne übertriebene Strenge,
gleichzeitig jovial und preziOs, treuherzigen Glaubens, doch
kein Ver&chter weltlicher Genüsse, von hoher geistiger
Kultur und dennoch eingesponnen ins Kleine und All-
tägliche, durch und durch ein Ehrenmann. In seine
sp&teren Lebensjahre brachte die sich von 1816 — 28 in
einem erbaulichen Briefwechsel ausschwelgende Seelen-
freundschaft mit der Qu&ker-Dichterin Mary Leadbeater,
(f 1826), der Tochter von Burkes Lehrer Richard Shackelton
in Ballitore, ein nicht unwesentliches Moment^) Mary hatte
sich um die Verbesserung der Jugendlektüre verdient ge-
macht (Ectracts dt Original Änecdotes far (he Improvement
of Youihy 1794) und schilderte später, wie ihr Freund
Crabbe, mit Glück das Leben der Bauern ihrer irischen
Heimat (Cottage Dialogues of Irish Peasantry, 1811). Ihr
^) Brief, Werke VI, 26.
*) Kebbel 54, 89.
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Das bdschreibendd G^edicht und die Venerafthliuig. 518
tief religiöses, schlichtes und fein empfindendes Wesen tat
Crabbe wohL
Sein Besuch bei Walter Scott in Edinburgh, 1822,
besiegelte ein jahrelanges auf gegenseitige Hochachtung
gegründetes Freundschaftsverhältnis. Alljährliche Reisen
nach London erhielten Crabbe in Fühlung mit dem jüngeren
Kreise der Liberalen, die zu ihm als dem Dichterpatriarchen
emporblickten. Seit er, 1783, zu einer Zeit, die Leslie
Stephen als einen Nadir der englischen Poesie bezeichnet, i)
mit The Vülage (Das Dorf) seinen ersten großen un-
bestrittenen Erfolg errungen, durfte er von sich sagen,
daß er den Besten seiner Zeit genug getan. Die kritischsten
Köpfe erkannten ihn als Meister an. Die poetischen Bahn-
brecher ließen ihn als ihresgleichen gelten. Jeffrey z&hlte
Crabbes Gedichte unter die originellsten und gewaltigsten, die
die Welt jemals gesehen; Wordsworth prophezeite ihnen
Fortdauer, so lange irgend eins der Zeitprodukte dauere ;>)
C!oleridge fand ihren Schöpfer 1816 an Kraft und Gfenie allen
anderen überlegen. Byron, der Crabbe in English Bords and
Scotch Bemewers den düstersten und dennoch besten Maler
der Natur genannt, erklärte ihn 1820 für den ersten unter
den lebenden Dichtem. War ihm die Jugend vieles schuldig
geblieben, so gab ihm das Alter jenes heitere Behagen,
das ohne Bitternis auf ein langes Leben zurückblickt, und
ein rascher schmerzloser Tod schnitt endlich den Faden ab.
Die poetische Erzählnng.
Crabbes ErsÜingswerk, das lehrhafte Gtedicht Inebriety
(Trunkenheit), 1775, war eine steife, ungelenke Nachahmung
Popes in konventioneller Manier. In der Vorrede heißt es,
0 n, 192.
>) Kebbel lOi.
Oeiehielite der enirlischeii Bomantik Ü, 1. 83
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514 Dm besehieibende Gedidit und di« VenersSUiiiig'.
jeder Mensch habe seine eigene Welt ,,0b stark, ob schwach
bevölkert, sie gehOrt ihm und er liebt es, sich ihrer zn
rfihmen.^ Und obgleich der Zwanzigjährige sich in dies^
lehrhaften Studie &ber ein abstoßendes Thema alt und
gesetzt, trocken und nflchtem stellt, weil verknöchertes
Pedantentum die Vorlage ist, der er nacheifert, so hat er
doch in gewissem Sinne seine Welt bereits gefanden: das
poetische Genrebild, das die Gabe anschaulicher Schilderung
und scharfer Zergliederung voraussetzt und die Neigung
des Autors verr&t, sich zum Zensor der Gesellschaft auf-
zuwerfen. Crabbe scheut das Odium des Tugendphilisters nicht,
indem er sich zu den Freuden einer stillen, traulichen Ge-
selligkeit bekennt. Sittliche Entrflstung verleitet ihn zur
Einseitigkeit Obzwar das Thema bis zum Übermaß er-
schöpft scheint in einer Art Wandeldekoration von Tmnken-
heitsbildem aus allen Schichten der Gesellschaft^ fehlt doch
das Lichtbild, das alles Abstoßende aufwOge, die begeisterte
Trunkenheit des Ober das Irdische gehobenen Geistes.
Crabbe besitzt keinen Funken Hellenentum. Er ist nicht
des Gottes voll, ist selbst kein Trunkener, sondern nur ein
Moralist So erscheint diese Jugendarbeit fftr seine VorzSge
wie seine Mängel in seltenem Maße repräsentativ.
Auch The Liberary (Die Bibliothek), 1781, steht noch
ganz auf augusteischem Boden. Die Criücal Beview lobte
den gesunden Verstand, die philosophische Betrachtung, den
korrekten Vers — so ziemlich alles, was daran gelobt
werden konnte. Wer mit modernem Sinne an diese Dichtung
herantritt, glaubt einen Exkurs des Famulus Wagner zuhören.
DerBfichersaal, „die Behausung der Unsterblichen^ wird zum
einzigen trostreichen Zufluchtsort der von Gram und Sorgen
gehetzten Seele in einer Welt, in der alles schlecht, alles
dUster und verkehrt ist Höchst charakteristisch tär den in
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Das beBcbreibende Gedicht und die Verserstthlang. 515
dieser Dichtung herrschenden Bachstabengeist ist die Ordnung
der Bücher nach dem Format. Ihre konkrete Beschreibung
unterbrechen kritische und moralisierende Seitenblicke auf
menschliche Beziehungen. Die verbitterte Stimmung ist
teilweise erkünstelt, und der schulmeisterliche Ton, der
jede höhere Art der Betrachtung ausschließt, hat etwas
Angelerntes. Jeder persönliche Laut wird unterdrückt.
Crabbes poetische Ehrenrettung ist, daß das Gedicht ge-
schrieben ward, ehe er selbst noch eine Bibliothek kennen
mochte.
The Vaiage (Das Dorf), 1783, das von Johnson als
„originell, kräftig und elegant^ begutachtet wurde, war
das Gedicht, mit dem Crabbe recht eigentlich sich selbst fand.
Es ist eine bewußte Absage an die Schäferpoesie, jene kon-
ventionelle Schönfärberei der Natur, der Pope unbedingt
gehuldigt hatte. Er tritt bewußt als Naturalist au£ Das
ist sein erster bedeutsamer Schritt zur literarischen Selb-
ständigkeit. Wer von dem glücklichen jungen Landvolk
singe, das tanzt und flötet und weint, der kenne es nicht.
Der junge Bauer gehe gebückt hinter seinem Pfluge einher
und habe zum Spiel keine Zeit (I. Buch). Crabbe holt seine
Bilder aus dem freudlosen, armseligen Landleben des heimat-
lichen Küstenstriches, der den Fleiß nur spärlich lohnt.
Die Hütte zeigt in Wirklichkeit nichts von dem Idyll, das
Poeten in sie verlegen. Das Dorfleben ist ein Leben des
Leides, zusammengesetzt aus £oheit und Schmutz, aus
Sorge und Not, Trunkenheit, Klatsch und Zank. Die Zeit
der Kraft vergeht im Frondienst; ihr Ertrag für das
Alter ist Siechtum und Mangel. Das betrogene Mädchen
zerhärmt sich. Der sie verließ und der Schande preisgab,
heiratet eine andere. Das Armenhaus gleicht einem
Ameisenhaufen traurig verkrüppelter Leiber, gebrochener
33*
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516 Dm bascfarabende Gedicht und die VenenihliUB^.
Herzen^ yerkommener Oeister. Der quacksalbernde Dorf-
bader versetzt in einer verfallenen H&tte dem elenden
Kranken den Gnadenstoß. Der junge Dorfpfarrer ist ein
Lebemann, der die Tröstung der Armen und Trauernden
möglichst rasch und geschäftsmäßig erledigt Sein Dasein
ist von Jagd, Kartenspiel und geselligen Freuden ans-
geffillt Selbst die spärlichen Lichter, die Crabbe
seinem dfistem Bilde aufsetzt, zerflackem in Dunst und
Rauch. Die Sonntagsfreude endet vor dem Siebter. Feld
und Herde haben ihren Zauber; aber wo bleibt das ge-
priesene schlichte Glfick des Hirt^ die befriedigte ESnfalt
des Landmannes? So löst Crabbe auch hier bei aller
Ausfflhrlichkeit die vorgesetzte Aufgabe, das ländliche Leben
in seiner Gesamtheit zu schildern, nicht allseitig. Zum Teil
mochte wohl seine Vorlage, die Herbigkeit des eigenen
ersten Heims, daran Schuld sein.
Er nennt die Bewohner der Ostkfiste ein verwildertes,
verbittertes, freches und verschlagenes Volk. Baub und
Furcht und Unrecht herrsche unter ihm und die „ländliche
Genügsamkeit^ sei nur jene Schwäche und Müdigkeit, die
sich bei der Schande bescheidet. Zum Teil mochte es
das Streben sein, die vom Pfade der Naturwahrheit ab-
geirrte Poesie wieder in die Bahn der nflchtemen Wirk-
lichkeit zurückzuführen, das Crabbe ins entg^engesetzte
Extrem trieb. Überdies verfolgte er ja auch eine lehrhafte
Absicht, der die grellen Farben zu ihrem Zwecke nicht
unwillkommen waren. Die Großen der Erde sollten eine
Lektion erhalten. Die Hochmütigen sollten im Laster der
Niedrigen ihr demütigendes Spiegelbild erkennen. Arme
wie Reiche sollten als Opfer der Trübsal hingestellt werden,
die einander nicht zu beneiden brauchten.
Was Crabbe anstrebte, war völlig objektive Schilderet
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Das beschreibende Gedicht nnd die VersenShliiDg. 517
Was sich an Subjektivem einschlich^ geschah wider seinen
Willen. In dieser Hinsicht bedeutet The Newspaper (Die
Zeitung), 1785, wieder einen Schritt n&her zum Ziele des Un-
persönlichen. Unter Vermeidung jeder eigenen Stellungnahme
werden hier die zur Zeit bestehenden neunundzwanzig bri-
tischen Zeitungen beschrieben, die in einer politisch erregten
Epoche voll weit auseinanderlaufender Partei-Interessen und
-Gegensätzen für das t&gliche Leben von tief eingreifender
Bedeutung sind. Selbstredend vermag Crabbe seine indivi-
duelle Ansicht nicht so völlig auszuschalten, wie er möchta
Seine Schilderung wird satirisch. Die zahlreichen Abend-
blätter fliegen bei einbrechender Dunkelheit wie Fleder-
mäuse aus ihren Schlupfwinkeln. Das sind unsere Ftthrerl
ruft er aus. Die Tagespresse ist der Poesie abträglich.
Der wundeste Punkt der Zeitung ist die Poetenecke. Er
warnt vor dichterischer Überproduktion. Die Dichterlinge
mögen hinter ihre Pulte und Ladentische zurfickkehren.
Von allen erstrebenswerten Gütern hat die Muse die
wenigsten zu verleihen und gibt sie den wenigsten.
Crabbe selbst schwieg nach dieser eindringlichen Er-
mahnung über zwanzig Jahre. Erst 1807 erschien er wieder
in der Öffentlichkeit mit der Eahmenerzählung The Parish
Register (Das Kirchenregister). Ihre einfache Voraus-
setzung ist, daß der Pfarrer am Jahresschlüsse in den
„schlichten Annalen der Armengemeinde" blättert Die
Einträge von Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen ergeben
zwanglos die drei Rubriken, unter denen Crabbe eine be-
liebige Anzahl von Lebensschicksalen der ihm nahestehenden
und vertrauten Volksschichten aneinanderreihen kann. Die
schöne Tochter des hochmütigen Müllers bringt, verflucht
und verstoßen, ein Kind der Schande — strenge Mütter
sagen: der Sünde — zur Taufe. Ihr Liebster kehrt
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518 Das b«0clireib«nd6 Gedidit und die VersefBahliu^.
nimmer heim yon seiner Seefahrt. Sie fristet als Bettlerin
ein Scheinleben. Sodann naht dankbar ein sparsames und
arbeitsames Iftndliches Mnsterehepaar mit iem erhofften
mftnnlichen Sprossen. Die wackere Schallehrerin bringt d^
nachgeborenen Knaben der jungen Witwe, die bei der Gebart
des I[indes dem Gatten in den Tod gefolgt Schließlich kommt
noch der Findling dran, den ein Landstreicherpaar zorück-
ließ and der anf Gtemeindekosten erzogen d. h. geprügelt
and bis zam Stamp&inn verwahrlost wird, aber aas
eigener Kraft seinen Weg in der Welt macht
In gleicher Weise treten yor den Traualtar übel and
gut Gepaarte, Ernste and Leichtfertige, ünschaldsvoUe, die
ins Leben hinaosblicken, and solche, denen die Heirat den
sfihnenden Abschlafi voreiliger Freuden bedeutet und wie
jede Trauungsgeschichte einen einfachen Lebensroman auf
wenigen Seiten enthält, so auch jede Schilderung der dritten
Abteilung, des Sterbens und Begrabenwerdens. Da ist der
st&mmige, selbstbewußte Bauer, der von keiner Resignation
im Tode, keiner Demütigung vor Gott hören will; der blinde
Wirt, dessen Seele nur Gewinnsucht kennt und niedrigste
Lebensfreuden; die kluge, tfichtige Hausfrau; die engherzige,
verknöcherte alte Jungfer; der in der Heimat fremd ge-
wordene Seefahrer. Da gibt es vornehme Begräbnisse
mit viel äußerlichem Schaugepränge und wenig innerer
Teilnahme, wie das der gütigen Schloßherrin, und ärm-
lichste Bestattungen mit gebrochenen Herzen^ wie das der
trefflichen Mutter, die eine verlassene Kinderschar, ein
verödetes Heim hinterläßt
Auch im Parish Register ist, wie in The ViUage^ das
getreue Wirklichkeitsbild Crabbes Hauptaugenmerk. Er
fragt: Gibt es außer in der Dichtung ein Land der Liebe,
der Freiheit und des Behagens, wo der nie versiegende
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Das besehreibende Gedicht nnd die VeneraiOiliuig. 519
Strom ländlichen Glückes nicht von der Arbeit matt nnd
trüby von Sorgen erstickt würde, wo das stolze SchloB
nicht der niederen Hütte den Sonnenschein abhielte? Und
die Antwort lantet: Dn suchst es vergeblich. Seit dem
Sfindenfall and der Sintflut findet sich kein Aubum und
kein Eden mehr. Seitdem ist Gutes und Böses vermischt
Allein der Mensch besitzt die Kraft, beides zu scheiden,
wenn er nur den Willen dazu hat
So bezeugt schon dieser Nachsatz, daB der ge-
reifte, in das ruhige Fahrwasser eines behaglichen Lebens
getretene Crabbe hier mehr als in den Jugendwerken
gewillt ist, das Dasein von seinen beiden Seiten zu
sehen. Neben das abstoßende Bild der Dorfstraße mit
den Kehrichthaufen vor den Häusern, um deren Abhub
I[inder, Hunde, Schweine streiten, mit ihren verwahrlosten
Gestalten betrunkener Männer, verprügelter Weiber, sich
selbst überlassener Kinder, ihrem Balgen, Zanken, Fluchen,
stellt Crabbe das behagliche, saubere Heim des fleißigen,
braven Arbeiters dar, wo auf fichtenem Brett das Gesang-
buch und Bunyans Pilgrim ruht> wo Sonntagabend die Familie
sich fröhlich vereint und aus dem Fenster auf ein eigenes
Stücklein gut gepflegten Gartengrundes blickt
Crabbe unterbricht die Reihe der unglücklichen Heiraten
mit dem Einwurfe, ob denn Hymen immer finster blicke,
ob jeder Eheschluß nur Reue im Gefolge habe? Und er
antwortet mit dem Ausrufe: Yerhüt' es die liebe! Ja,
selbst den Begräbnissen wird der Stachel genommen durch
den trostreichen Nachsatz: Wir alle gehen, aber das Leben
setzt seinen unerschöpflichen Kreislauf fort
Der Leser spürt die belehrende Absicht Die Er-
zählung von Reu und Leid soll durch das abschreckende Bei-
spiel Schuld und Laster verhüten. Flieht die Versuchung,
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520 Das besdireibende Gedidit nnd die VenenShlting.
0 Jünglinge! Laßt ab! ruft Crabbe. Allein er bohrt tief^.
Er forscht dem Urspronge des Elends nach. Woher kommt
all das Weh? Und er entdeckt die letzte Ursache in dem
Mangel am Willen zur Tugend, in dem Mangel an Scham-
haftigkeit, an Fleiß nnd Geschick. Wo er Spielkarten sieht
statt des Spinnrades, die Branntweinflasche statt der Uhr,
lockere aufreizende Flugblätter statt eines ernsten Buches,
da ist ihm der Sitz des Übels klar. Abhilfe sucht er bei
den Einflußreichen und HOhergestellten, die zur Macht audi
die Einsicht haben sollten, die bOsen Zustände abzustellen.
The Village und The Parish Register umfassen den Um-
kreis des Lebens, so weit Crabbes Auge zu reichen vermag.
Seine späteren Arbeiten erschöpfen die Einzelheiten inner-
halb dieses Gesichtsfeldes, ohne die Linien des Horizontes
weiter hinaus zu schieben.
The Borough (Der Marktfleck), 1810, schildert in
24 Briefen an einen Freund ein vergrößertes Aldeburgk
Die topographische Beschreibung ist steUenweise von
plastischer Bildhaftigkeit Wir sehen den dflrftigen, mit
kargem Gras bestandenen Boden, den hafenartig erweiterten
Strom, die Austembänke, Fischer, die in Kälte und Nässe
an ihrem Schleppnetz hantieren. Die Besprechung ein-
zelner Ortsgebäude bietet den Übergang zu sozialen Ein-
richtungen und Persönlichkeiten, die leidenschaftslos be-
handelt werden in dem fdhlbaren Bestreben, sich der
Idealisierung wie der Verzerrung gleich sehr zu enthalten.
Der Gegenstand manches Kapitels (IV über Sektenwesen,
VI, Vn, Vm über Gewerbe und Berufe) spottet schlechter-
dings poetischer Behandlung. Crabbe selber sagt^ die Muse,
sich überlassen, hütete sich wohl, diese Gegenstände zu
wählen, aber da sie zum Orte gehören, müsse er sie in
seine Schilderung aufnehmen. Innerhalb der gereimten Ab-
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Das beflcbrabende Gedicht nnd die Yersenfthlniig. 521
handlang wird manches Einzelbild mit sicherer Hand in
kr&ftigen Strichen hingeworfen. Der dürftige, von allen
geachtete alte Pfarrer, dessen Gelehrtenehrgeiz die Sorge
fflr eine zahlreiche Familie vernichtet hat, dessen stille
Oelehrtenstnbe aber dennoch andauernd die Zuflucht und
das Glück seiner armseligen Existenz bildet; der Vicar,
der prächtig gelungene Typus des Durchschnittsmenschen,
der gut geblieben, weniger aus Tugend, als weil ihm
zur Sünde der Mut, die Phantasie, die Leidenschaft ge-
brach, und für dessen behaglich trägen Sinn die Gewohnheit
den höchsten Wahrheitsbeweis erbringt
Stadthaus und Gasthöfe leiten über auf politische Zu-
stände und Unterhaltungen. Crabbes Streben nach Billigkeit
und Gerechtigkeit tritt auch hier zutage. Obzwar bei den
Wahlen der wild entfesselte Parteigeist sich eben wieder
in allen seinen häßlichen Leidenschaften ausgetobt, soll
doch die rege politische Teilnahme nicht verurteilt werden.
Sie ist der heilige Stamm, der Kraft und Freiheit hervor-
bringt
Die Zerstreuungen des Ortes bestehen im Naturgenuß.
Das Kapitel verläuft bezeichnender Weise in die Schilderung
des Meeres und eines in Todesnot schwebenden Bootes.
Indeß kommen auch alljährlich Komödianten, „das glücklich-
traurige Geschlecht^, rasch auf der Höhe, rasch am Ab-
grund, in Betrübnis eitel, durch Elend nicht belehrt, durch
Gewinn nicht bereichert, Sklaven, deren Wandern Freiheit
scheint, flüchtig ihr Gram, ihr Glück ein Traum.
Das Armenhaus bietet Anlaß zur Prüfung des Systems
der Armenpflege, das Crabbes Beifall nicht flndet Macht
es doch das Armenhaus zu einem Gefängnis mit milderem
Namen. Der Besitzer eines baufälligen Warenspeichers,
den er als Massenquartier an Unbemittelte vermietet, er-
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522 Das bescfareibeade OtcQcht ud die y«rMKBiUiuicr.
scheint als Vorlftofer von G. B. Shaws Sartorins (Widotcers
Hauses). Einzelne Bewohner des Armenhanses werden als
lehrreiche Exempel yorgefflhrt Zu gleich erbaulichen
Betrachtungen geben die Gefängnisse Anlafi. Crabbes
Phantasie, durch einen Besuch in Newgate (1780) angeregt»
zeichnet den frechen wie den zerknirschten Verbrecher.
Kulturhistorisch interessante Silhouetten entrollen die
Lehranstalten. Den stiUen Schuhneister Abel Eeene haben
neumodische Freigeister zu Grunde gerichtet. Auch ron der
modernen Einrichtung der G^richtsverwaltung will Crabbe
nichts wissen. Unter Georg ü. gab es einen Juristen im
Orte und selbst der war nur der Form wegen da, hatte
einen Schreiber und war biUig und freundlich. Jetzt rennt
alles zu Gericht Die Advokaten bereichem sich und die
angebliche Rechtspfl^e dient nicht mehr dazu, die Menschen
zu schützen, sondern sie zu quUen.
Die allgemeinen Betrachtungen nehmen im Borough
einen oft unerträglich breiten Raum ein. Das Überwuchern
der Reflexion und das Verblassen der Lokalfärbung gehen
Hand inHand. Das so eingehend geschilderte Dorf hat keinen
Namen. Wir erfahren nichts über den Verfasser, nichts
über den Empfänger der 24 Briefe. Keine einzige Persön-
lichkeit tritt in individueller Lebendigkeit hervor, kein
einziger Vorgang ruft persönliches Interesse und Mitgefühl
wach und unsere Phantasie wird nicht in Spannung
versetzt
Eine 1812 erschienene Sammlung von Tales (Er-
zählungen) wurde von der Edinburgh Review sehr richtig
als ergänzendes Kapitel zum Borough oder Parish Begister
erkannt Sie schärfen mehr durch Situations- als durch
Charakterbilder praktische Vorschriften ein oder illu-
strieren Erfahrungssätze, die mitunter gleich an den
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Dm beschreibende Gedicht nnd die Venerzahlimg. 523
AnfaDg gestellt sind. AUe Menschen wären feige, wenn sie
es wagten, nämlich wenn sie den Mnt der Wahrheit hätten,
sich zn geben wie sie sind {The Durnb Orator. Der stamme
Redner). Die Liebe stirbt, der holde Tranm verfliegt nnd
was an seine Stelle tritt — Geringschätzung, Achtung oder
Gleichgültigkeit — deckt sich nicht mit ihm (FrocrastinaHon.
Au&chub). Die Selbstfiberhebung der bewußten persön-
lichen Yorzfiglichkeit kommt zu Fall und lernt Demut
und Nachsicht {Arabella). Die Gier nach weltlichem
Gut fahrt zur Verarmung an den wahren Schätzen des
Lebens {Squire Thomas). Weibliche Härte und zu späte Reue
werden in kleinbürgerlichen Milieus von grauer Nüchtern-
heit mit unbarmherziger Treue wiedergegeben. {Besentment.
Rache; The Frank Courtship. Aufrichtige Werbung; The
Mother. Die Mutter). Nur ausnahmsweise kommt der
Stimmung der Humor zu Hilfe, wie in The Leamed Boy
(Der junge Gelehrte), den der Vater mit einer Tracht
Prügel von seinem Londoner Studium kuriert. Gewöhnlich
ist es allein die Anschaulichkeit der Schilderung, die Kunst
der Glaubwürdigkeit, die bei aller stofflichen Armut den
schlichten Vorgang eindrucksvoll machen {The Brothers. Die
Brüder). So übertrifft The Confident (JDie Vertraute) in
ihrer herben Realistik Lambs aus dieser Erzählung ent-
lehntes Drama, und die das Enoch ^r^^en -Thema behandelnde
Erzählung The Parting Hour pie Scheidestunde) hat in
ihrer schlichten Knappheit und ihrem versöhnlichen Aus-
klingen manches vor Tennysons Behandlung voraus.
1819 erschien Crabbes zweite Rahmenerzählung Tales
of ffie HaU (Erzählungen aus dem Herrenhause). Die zu
Grunde gelegte Fiktion, daß zwei Brüder sich nach langen
Jahren der Trennung wiederfinden und einander ihre eigenen
Erlebnisse und die von Freunden und Nachbarn erzählen,
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524 Du beschreibende Gedicht ud die Venendihliiiig.
ergibt durch die Verschiedenheit der beiden Erz&hler, ihrer
Schicksale und Weltanschauungen die Möglichkeit einer
Steigerung des persönlichen Interesses. George, der altere,
Unverheiratete, Wohllebende, ist Toiy, eine geistig über-
legene, seit seiner unglücklichen Jugendliebe eine in sich
gekehrte, verschlossene Natur. Angeborene Schroffheit hat
sich mit den Jahren zu sarkastischer Strenge ausgebildet
Er sinnt den großen Problemen nach, hat feierliche An-
sichten über Religion und ist in seinem Denken und Handeln
durchaus wahrhaft und korrekt. Wer ihn kennt, d^
achtet ihn, aber es kennen ihn nicht viela
Eichard, der jüngere, hat eine Offizierslaufbahn
hinter sich. Er ist der Offenherzigere, Fröhlichere, Ge-
selligere, ein Anh&nger whiggistischer Beform- und Frei-
heitsideen, von gefälligem Äußeren, sanft und schw&rmerisch,
glücklicher Gatte und Vater. Nur im Elrwerben von
Eeichtümem hat er weniger Erfolg gehabt als der Bruder.
Als er nun nach mehrwöchentlichem Besuche in The Hau
aus Sehnsucht nach den Seinen ans Scheiden denkt^ ent-
hüllt ihm George, der ihn nicht mehr missen kann, eine
sinnige Ueberraschung. Er hat für ihn das Nachbargut
erstanden, auf dem ihn Frau und Kinder bereits erwarten.
Die beiderseitigen Erzählungen finden zwanglos nach
dem Essen beim Glase Wein statt. Die Charakteristik der
Brüder ist bis ins Einzelne fein durchgeffihrt George,
ein wenig steif und förmlich, nicht ganz frei von der
Pedanterie des Junggesellen, Bichard temperamentvoll und
herzlich, so haben wir die Erzähler lebendig vor uns auf
ihrem altehrwürdigen Herrensitze mit seiner prächtigen
Allee gekappter ülmen, die zu dem Schlosse führt.
Wir erfahren ihien Werdegang, hören wie in George
die stolze Anhänglichkeit an den ererbten Boden, die ihn
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Das beschreibende Gedieht and die Venerzfthlnng. 525
zam Landwirt yorbestimmt, den AasscUag gab und wie
er nach einer romantischen Schwärmerei für eine Unbe-
kannte, die er schlieBlich als gefallenen Engel wiederfindet,
yereinsamte, während Richard, mit aller Gewalt vom Meere
angezogen, den Eri^ gegen Spanien mitmachte nnd als
Verwundeter die Liebe eines holden PfarrertOchterleins
gewann. Der Schluß eröffnet in der Wiedervereinigung der
Br&der die Aussicht auf dauerndes trauliches Familienglflck.
Eingeflochten sind die Lebensgeschichten der Nachbarn
und Nachbarinnen, im ganzen zweiundzwanzig. Obzwar
keiner etwas Auß^gewöhnliches erlebte, hat doch jeder sein
Schicksal gehabt. Crabbe greift hinein ins volle Menschen-
leben, und das Dichterwort bewahrheitet sich ihm: wo er es
packt^ da ist es interessant, der Betrachtung wert, Inhalts*
und lehrreich, wenn auch nicht spannend im Sinne ge-
wöhnlicher Somanlektfire. Die Fülle der Gestalten und
Situationen in dem engen dörfischen Milieu nimmt Wunder.
Das stille Idyll der beiden trefflichen Schwestern, die im
Glfickshafen des Lebens eine Niete gezogen und in wunsch-
loser Resignation ihre Tage zu Ende spinnen {The Sisters);
die Dorftragödie der ungltlcklichen Buth, die trotz ihrer
Leichtfertigkeit vor der Sünde zurftckschreckt, einen un-
geliebten Mann zu heiraten; die grausame Bache eines ab-
gewiesenen alten Freiers (Sir Owen DdU); die Musterehe
des Wirtes und der Wirtin vom Goldenen Vliefi, die den
Kampf des Lebens gemeinsam bestanden und in ihren
alten Tagen durch das Schicksal einer Nichte in Mit-
leidenschaft gezogen werden (William Baüey); die keusche
SprOdigkeit eines echt weiblichen Gemütes (Ellen). Hier
und da unterbricht etwas Aufiergewöhnliches das Einerlei der
Durchschnitts-Dorfezistenzen, z. B. die Gespenstergeschichte
The Caihedral W(M (Der Eirchweg) — Crabbe, der in der
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526 Das beschreibende Gedicht und die VeisenShlnng.
Kindheit mit Leidenschaft Balladen nnd Schanerromane ver-
schlangen, hatte zeitlebens etwas flbiig ffir das Spnkhafte
Oder er schafft Abwechslang dnrch eine Abentearergeschichte
wie Smugglers andPoackers (Schmaggler and Wilddiebe), mit
dem trefflich charakterisierten Brfiderpaar James and Robert,
jener im Pnnkte derBerafspflichtanbeogsamandohneHerzens-
konflikte, eine Art Erbförster, dieser impalsiv, von Daseins-
last erfOUt, beide anedel and egoistisch. Das Motiv der
Lebensrettang eines Liebhabers dnrch freiwilliges sich
Preisgeben der Geliebten scheint aas Mafi für Maß ent-
lehnt. E&nstlerisch am höchsten stehen jene Erz&hlongen,
die nar einen Aasschnitt des Alltags wiedergeben and
deren ganzer Reiz in der geschickten Erzfthltechnik and
der sanberen Charakterzeichnang besteht {Delay hos
Danger. Verzögerang bringt Gefahr; TJie Natural Death
of Love. Der Liebe natOrlicher Tod).
Die lehrhafte Tendenz ist in den Tales of the Hall
weniger anfdringlich als in Crabbes frflheren Werken.
Die Neignng, alles im schwärzesten Lichte zn sehen, hat
dem milden Ernst einer gesetzten Lebensanffassang Platz
gemacht Crabbe steht nnn nicht mehr an, jedem Schatten-
bilde aach sein freandliches Gtegenstück za geben. Schildert
er in Sir Owen Dale einen von wilder Eifersacht be-
herrschten Charakter, so setzt er ihn im seinem P&chter
EUis ein Wanderbild langmütiger Dnldang an die Seite
nnd läßt das Gate sich stärker erweisen als das Schlechte.
(ßir Owen Dale),
Wie die Tales eine Zngabe des Boraugh bildeten, so
die zwei Jahre nach Crabbes Tode erschienenen Posthutnaus
Tales, 1834, eine Ergänznng der Tahs of the Hall Bis
zaletzt gelingt es Crabbe, dem Dorfleben neae Seiten ab-
zagewinnen nnd Momente hervorzuziehen, die bisher nn-
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Dm besehreibende Gedicht und die VersenShlnng^. 527
bertthrt gebliebeiL In The Dealer and ffie Clerk (Kauf-
mann nnd Eommis) tritt der Wucherer auf; in Süford
Hall, or The Happy Day (Der glückliche Tag) steht das
Dorfkind Peter Perkin im Mittelpunkt. Moderne Probleme
werden in Erwägung gezogen. In der Nebeneinanderstellung
von Wahlverwandtschaft und Familie fallt diese Entscheidung
zugunsten der ersteren (The Famüy ofLove. Angehörige der
Liebe). Das Hereinbrechen einer neuen Zeit über die feudalen
Landsitze wird wehmütig berührt in The Ancient Manaion
(Das alte Schlofi). Der Blaustrumpf erhalt sein Teil an
Spott und Tadel (The Decan's Lady. Die Frau Dechant),
während The Wife and Widoto (Gattin und Witwe) ein
Beispiel weiblicher Selbständigkeit bringt und sich heftig
gegen die Männer wendet, die in der Frau nur ihre
Schwäche und Unselbständigkeit lieben und großziehen.
Im Allgemeinen stellen sich die Nachgelassenen Erzäh-
lungen komplizierte psychologische Aufgaben, deren Lösung
allerdings nicht vollkommen befriedigt, z. B. die Analyse
des Charakterlosen, der seine Schwäche einsieht, aber nicht
über sie hinaus kann {The Dealer and the Clerk), oder die
auf die Todfeindschaft der Eltern gepfropfte Liebe der
Kinder, (The Boat ofBace. Das Rennboot), eine Art Bomeo
umd Julia auf dem Lande, dessen Wirkung durch die
fehlende Verknüpfung von innerer Ursache und äußerer
Wirkung beeinträchtigt wird, indem der Untergang des
Verlobten zu dem Hasse der Eltern keinen Bezug hat.
Der Diehter der Armen.
Der Überblick über Crabbes poetische Erzählungen
zeigt das Wachstum und die Entwicklung eines echten und
starken Talentes aus der Abhängigkeit von Vorbildern zur
selbständigen Eigenart The Library und The New^aper sind
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528 Dm besoliraibeDde Qedioht und die Venenililiuig.
noch gänzlich akademische Versnche, die sich fast onp^-
sönlich, formell — im Versmaft, in dem festen regehn&fiigen
Schema, in der Holdigong für einen hohen Gönner — genBXk
an das klassische Vorbild halten. Allmählich tritt immer
stärker das Verlangen nach freier Bewegung hervor. Die
Komposition sprengt die Fessel eines Planes, sie yer-
zichtet von vornherein auf Einheit und Znsammenhang und
gestattet sich in Häufungen, Wiederholungen und breiten
Einzelheiten ein Überfluten aller formalen Dämme, das
den modernen Leser als rettungslose Langeweile ab-
schreckt Denn „Crabbes Talent ist kurzatmig,'' sagt
Kebbel, „der kfihne Wurf des Epikers mangelt ihm.^ Wo
er, durch den aufierordentlichen Erfolg seines Erzähler-
talentes getrieben, über das Skizzenhafte hinausstrebt, er-
reicht er nur ein äußerliches Anwachsen von Details, ein
Zerfließen des geringfügigen Inhaltes in die Breite, nicht
das Ausgestalten einer gewaltigen Lebensidee zn einem
großen organischen EunstwerL So drückt sich bei ihm
das Beiferwerden lediglich in der Veryollkommnnng der
Einzelschilderung ans.
Grabbe hat keine Erfindungsgabe. Er verfügt nur
über ein außergewfihnliches Maß von Nachbildungsfähigkeit
Seine Kunst besteht in der Wiedergabe des wirklich Oe-
schauten und Vernommenen, über das seine Dichterphantasie
nicht hinausdringt. Jeffrey nannte ihn den poetischen
Rembrandt^) Vielleicht wäre es richtiger, ihn einem
Denner zu vergleichen. Seine Stärke liegt nicht in der
Perspektive, nicht im Gesamtausdruck, sie ist nicht im-
pressionistisch. Sie beruht auf starker Einzelbeobachtung
und besteht in der peinlich exakten Wiedergabe des Gering-
») Warka Vü, 181.
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Das besdireibende Oedieht nnd die Venerzfthlnng. 529
fügigen. Hazlitt fBhlte sich abgestoBen durch die mikro-
skopische Genauigkeit^ mit der er die trivialsten Dinge zer-
gliedert. Selbst wo es Gewaltigstes darzustellen gibt, ist
sein Bild wie unter der Lupe gemalt. Bei der Schilderung
eines Seesturms geht er liebevoll auf die ihm vertraute
Eigenart der EfistenvSgel ein. Der Sturmvogel Meigt
und sinkt und spielt mit seiner Brut weit draußen auf den
Wogen; die Wildenten ziehen hoch oben in Schw&rmen;
die M5ven tauchen am Ufer oder streichen gegen den
Wind und ihr klagender Schrei gellt durch die Luft
(Boraugh I).
In einer Sommerlandschaft erfreuen „jungfräuliche
Motten^ den Blick. Über der kaiserlichen Eiche thront
ein Kaiser: das Nachtp&uenauge. Der gierige Totenkopf
bedroht die Honigblflten, prflft im Bittersrpombeet jedes
Blfltchen, wo Überfluß an Süßigkeit sei Zustimmend summt
er und saugt, auf emsigen Schwingen ruhend, mit feinem
Geffihl aus jeder Blume und kostet keine zum zweiten-
mal (Baraugh VII). Wo andre Dichter schlechthin von
d^ Vögeln des Meeres oder den Schmetterlingen der Au
reden wflrden, benennt und schildert Crabbe jeden einzehien
in seiner Eigenart
Dennoch hatte er nach dem Zeugnis seines Sohnes fftr
das, was man gemeinhin NaturschSnheit nennt, kein Auge.
Nur bedeutsam und anziehend in ihrer Axt dfinkt ihn jede
Landschaft, wie er jedes Menschenschicksal interessant findet
„Alles, was wachst^'' sagt er, „besitzt Anmut, ist zweck-
mäßig.^ >) ^ ^ ®s c^^ gewisse respektvolle JBescheiden-
heit vor der Natur, die ihn abhält, Aber sie hinausgehen
zu wollen. Die Ehrlichkeit seiner Hingabe an die Natur
1) The Lover's Jowniey.
OMehiehte der enffUieheii Bomantik 11,1. 84
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&30 Dai bMobnÜMnde G^okt vmi die V«fW»Uil«Bfir.
wird der charakteristisdie Vorzug seiner Schildenuig, Er
leistet begreiflicherweifle sein Bestes, wo der Gewissen-
haftigkeit seiner Beobaehtong lebenslange Vertrantlieit mit
dem Gegenstande zu Hilfe kommt: in den Bildern seiner
dürftigen Heimat Seine Anhkngliehkeit an das nnsdiSne
Land ist rithrend. E&ies Sonntsges (1787) packt ihn die
Sehnsucht so heftig, daS er 60 Meilen weit reitet, am in
die Wellen zn tanehen, die Aldebnrgh bespfilcA, worauf et
nnrerweilt den B&ckweg antritt Wenige Diditer haben die
Heide der Kfiste gemalt wie Crabbe. lin Moorland dnftet der
Ginster, glfihen die roten Blüten der Besenheide, dieSdiarlach-
pflnktchen der gr&nbefranzten Becherflechte. In Feldern
heiflen Sandes wichst purpurner Mohn. XTngewartet, ffir
alle blflht am Rain der wilde Boscnstranch, heflkrSftiga'
Wermat und spirlicher Elee. Wer sagt, dafi die Heide dürr
und traurig sei? Gibtesdochanfihrselbstmageres Weideland
Kleine schwarzbeinige Schafe verschlingen gierig das Gras.
Der aufgeschüttete Torf nimmt sich feierlich düster ans.
Das Marschland, hart am Meere, durchschneidet ein Damm.
Rauhe Binsen neigen ihre braunen Kolben hinab in da
trüben, trügen, schlammigen FlnÜ^ in dem ein gesunkenes
Boot liegt Feme rauschen die Wogen. Kein Baum, keine
HedLe stellt sich vor den glühenden Soimenball {The Lovet^s
Journey).
Vor allem ist es der Ozean, „das glorrdchste Blatt im
Buche der Natur ^,^) den Crabbe in Sturm und Ruhe, bei
Mond- und Sonnenschein, in all seinm ewig wechselnden
Wundem gemalt hat Von den Kindheitseindrücken an
bis zur letzten Fahrt, als er 1880 an einem ranhra November*
tage von Hastings auf das wilde Meer hinausfuhr, hat seine
>) The Barough IX.
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Dm beiehztibeiida Gedieht und fie VenersSUiiBg. 531
Sode im Anblick des Elmieates gejauchzt und geschauert,
hat er es mit nie versagender Kraft der Stimmung ge-
zeichnet — erhaben in jeder Erscheinungsform, ob von
Zq^hiren eingelullt oder von St&rmen erregt, von wechsdnder
Farbe, je nachdem die Wolkenschatten dar&ber hinstreichen,
bald bräunlich-grau, bald durchsichtig blau, bald in gran ver-
schwimmeud. Nun tftuscht der Nebel selbst dem erfahrenen
Auge aUerlei (Gestalten vor. Nun hebt und senkt sich am
Sommemachmittag der breite Busen der See wie schlafend,
in regelmifiiger Bewegung. Träge, erschöpfte Wellen
kräuseln sich anf dem gefurchten Sande oder pochen mit
leisem Schlage an das geteerte Boot und rollen zögernd
zQjtiAy langsam und saeht Die Schiffe liegen verankert
Am steinigen Strande wird die Ebbe sichtbar.
Nun naht der WintersturuL Der plumpe Tftmmler hat
sich gezeigt Deir Himmel ist nur eine schwarze Wolke.
Die brediende Welle tberschflttet die steigende mit ihrem
niederstürzenden Schannt Die unendliche Tiefe ist ein
Bild des Wandels, des Kampfes. Sturmgeheul und Dunkel
verschlingen das AlL IHe Wogen sptlen eine Leiche ans
Ufer. Bäuber schUdchm an ihr Handwerk. Draußen ist
ein Schiff in Not Der Mond erscheint auf einen Augen-
blick und in seinem entsetzensvollen Glänze sehen die
am Ufer Versammelten, daß Hilfe unmöglich ist
Doch läßt Grabbe es bei den großen Natncschauspielen
nicht bewenden. Was immer den Strand belebt, von den
ICusehdtieren angefangen, die die ebbende See an jedem
Sommerabend im Sande zurftckläßt, bis zum Handels- und
Bad^ettiebe, den Spaziergdiem nnd Seefahrern, die von
lernen Llndfini und Abenteuern erzählen, findet alles
Baum — und alles hier Erwähnte in einem einzigen
Gedichte, The Baraugk
84*
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582 DMbmbtibeAaeOedkliiuiafieVcntfiiUiikg.
Neben seiner SlMnmalerei ist die Ennst d^ StJnmwng
nieht zn imtenclüUaEm. Er sdbst sagt: „Die Seele isfa,
die sieht'' (Tke Laver^s Jaumeg). In Tales ofikeHaUiTV)
yergleiclit er die reidien Sdiitze des Herbstes einer rcidie&
Schonen, deren erste Jngendblfite vorttber ist nnd die nun
noch prichtigernndttppiger erscheint Das schwere, feuchte
Gras ist yom Schritt des Wanderers flach gelegt, der
Mfihlbach geschwollen vom nichtlichen Begeo. In der
Horgenbriese sammeln sich die Erihen znm Finge nadi
der Kbte; lange gelbe Weidenblitter rings verstrent, er-
sticken den schmalen Blnß nnd seinen schwachen Laut.
Das weUce Laub fUlt von den hohen Bftnmen nnd der Onts-
herr sagt nnwillkflrlich : ,, Jal zweiMlos! wir mfissen sterb^i!''
In Tiden Fillen gibt die Nator die Resonanz für die
CSiaraktersfimmnng d«r auftretenden Personen. Tennyson
bewunderte die Schildemng einer Ohtoberlandschaft) in der
der entmutigte Liebhaber seine Niedergeschlagenheit ge-
spiegelt sieht 0 WieprichtigTerschArftwirdnichtdie düstere
Gestalt des geizigen Wucherers, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, durch die Schilderung seines Hundes Fang
(Packan), der trotz reichlichen Futters kein Fett ansetzt,
der sich das Fleisch Ton den Knochen bellt und knorrt
und heult Er ist ein Gerippe mit einan zottigen roten
FelL Er lahmt auf einem Bein. Aber er ist der Freund seines
Herrn, der unter seinesgleichen keinen Freund hat, nnd der
Herr liebt seine Stimme, welche sagt: Ich belle und beifle,
weil ich hasse und mich fflrchte. In einer jraer dunklen
NAchte, deren StOrme Packan sonst ftberbrttllte, yerstummt
plötzlich diese Stimme. Auf dem stillen Hofe findet ihn der
Meister mit einer tiefen Wunde in der kalten Brust Am
0 E-Fitsgenad, Seadmgs fir<m OrcMe.
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Das bMchmbande Gedicht und die VenerzShlniig. 533
Morgen darauf Hegt auch der Wucherer im Hofe leblos
neben seinem toten Hnnde {The Dealer and the GUrk).
Weniger wirksam ist es, wenn Crabbe in einer Neben-
einanderstellnmg der Natnr nnd des Menschen gewisser-
mafien einen Veif^leich zwischen beiden zieht, wie zwischen
dem rastlosen Ozean nnd seinem eigene Geiste. Dort Welle
anf Welle, hier Gedanke auf Gtedanke; dort eitel Unkraut^
hier eitle Werke; hier und dort dunkle Aussichten, dort
ein freundlicher Mondstrahl, hier der Muse linderndes Licht
(Fragment fvritten at Midnight Fragment, um Mittemacht
geschrieben, 1797).
Wo Crabbe Symbolik oder märchenartige Personifikation
beabsichtigt, gelingt seiner kfihnen Verstandesnatur in der
Begel nur die Allegorie. (So der Genius loci in The Library-^
die Muse in The JVisw&paper, die Schmeichelei, die ursprttng«
lieh gut beanlagte Tochter des Mangels und der List, die ein
Opfer des Neides wird, in The Birth ofFlattery. Die Geburt
der Schmeichelei). Er wählt das klttgere Teil und sagt
der Phantasie, die er nicht besitzt, in aller Form ab. Sie
vennöge nur dem sorglosen Eindergemfite ein Paradies
vorzuspiegeln, das reife Alter fordere statt ihres Zaubers
Weisheit (The Library). Crabbe verhält sich prinzipiell ab-
lehnend gegen „die Bomantik^, mit welchem Namen er bei-
sjäelsweise die Verschrobenheit des jungen Mädchens belegt,
das über seinem eingebildeten Heldenideal den Wert ihres
wackem Freiers aus dem Landmannsstande verkennt (The
Widaw'a Tale. Die Geschichte der Witwe), oder die Aus-
schweifungen eines Jfinglings, der, genial und enthusiastisch
veranlagt, liederlicher Gesellschaft anheimfällt (Edward
Share).
In Wahrheit ist der Einfluß der Romantik gerade in
Crabbes Eleinmalerei fühlbar, die durch die Ausschaltung
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534 Dm bewhreibttda Gedickt und die VemniUug.
der ninsion, durch LebliAfÜgkelt und Sicherlieit der Wieder-
gabe dem Dürftigen nnd AUtiglichen poetuchen Beiz ab-
zugewinnen sucht, indem sie seine innerste Natur auf-
deckt, die stets ihren spesdflschen Wert hat Ißt Becht
verweist Arthur Symons daraof , daß Grabbes Standpunkt
vielfach der Zolas ist: Nichts wirklich Existierendes sei fBr
die Poesie zu niedrig oder zu gering. 0 I>ie Lebenseditheit
wird bei Grabbe zu einem Agens, das ihm die Phantasie
ersetzen solL Aber auch zur Schilderung des Tatsftchlichen
gehört Phantasie. Der Dichter darf kein Invwtar dessen
aufnehmen, was sein leibliches Auge sieht, er mufi es mit
dem Auge des Oeistes in seiner Binbildung schauen,
um es lebenswahr nachbilden zu kOnnen.') Dieser künst-
lerische Prozeß der inneren Umwertung fehlt bd Grabbe.
Jeder gute Erzähler arbeitet im Grunde wie der Zeichner
und ein heutiger bedeutender Maler (Liebermann) sagt
mit Becht: „Zeichnen ist weglassen.^') Grabbe läßt nichts
weg. Er registriert peinlich jede Einzelheit ohne den
künstlerischen Instinkt für das Gharakteristische, das ffir
die Gesamtwirkung des Ganzen wichtiger ist als eine An-
häufung von emander nebengeordneten Einzelheiten. So wird
sein Überfluß zum Mangel Wo ihm die Selbstbeschränkung,
das Einpassen des kräftig geschauten Lebensausschnittes
in den kflnstlerischen Bahmen gelingt, da liefert er Genre-
Inlder von unbestreitbarem Werte: das Armenbegräbnis
{The VtOage)] die irrsinnige Verlassene, die in der kalten
Mondnacht ihr Bad ohne Spindel dreht und, melancholische
Lieder singend, den heimgekehrten Geliebten nicht eikennt
>) Bomoßia^ Matemen^ 60.
*) Karl Strecker, Qerkaitäi HanpimaivM HaM^fikrtim^ ah Epiker
(Literarischea EiAo, 1. Jan. 1918).
■) Sbe&da.
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Das b€idimbende Gedicht und die Venenlthliuig. 535
(BaAel); die traneinde Witwe am Fenster ihres mit
Danerrosen nmrankten H&nschens (To^ of the HaU XU),
und Tide andere.
In der Oiarakteristik waltet gleicUalls das Skizzen-
hafte bei anssehliefilich realistischer Bestrebnng Tor. Crabhe
ist auch als CSiarakteristiker weniger Seelenanalytiker als
Detaümaler der Persönlichkeit In Taks of the Hall (T)
apostrophiert er die Wahrheit: „Laft mich die Oemüter,
die ich zeichne klar schauen, wie sie in dir geschaut
werden! Teile mir ihre Vorzfige und ihre Fehler mit!
Oew&hre mir, daß ich sagen darf: Schwaches Geschfipt, so
bist du! Laß mich das nackte Henschenherz in der N&he
sehen!'*
Je mehr Crabbe in seiner Entwicklung fortschreitet^
desto mehr macht sich bei ihm das Streben geltend, seine
Gestalten aus bloßen Charaktertypen zu Individualitäten
herauszuarbeiten. Sie sind fast alle nach dem Leben ge-
zeichnet, durch Personen seiner Bekanntschaft angeregt
und nur im Laufe der Arbeit einer Veränderung der
ftußeren Verhältnisse oder des Geschlechts unterzogen
worden.^) Es sind die Menschen, unter denen er auf-
gewachsen ist, die er zeitlebens bei ihrer Arbeit, bei ihrem Tun
und Treiben beobachtet hat, mit deren Tugenden und Ge-
brechen, mit deren Freud und Leid er aufs Innigste vertraut
war. Es gibt kaum einen zweiten Dichter, der die Sphäre
seiner eigenen Existenz so gründlich fQr die Literatur
ausschöpft und so wenig fiber sie hinausgeht Aldeburgh
ist ihm die Welt, das Schicksal seiner Dorfkinder das
Geschick der Menschheit Sein Interesse reicht nicht
weiter als die Einfachheit nnd Eintönigkeit ihres Daseins.
0 Works n, 12.
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536 Das beflchnibeiide Gedicht und die YerMniiilniig.
Grabbe, sagt JeflCrey, nnterseheidet sich yon allen
Dichtern durch die Wahl seiner Gegenstände nnd diirdi
seine Art, sie zu behandeln. Alle seine Personen sind den
unteren Stftnden entnommen nnd alle seine Szenerien den
gewfihnlichsten nnd vertrantesten Gegenständen der Nator
oder Ennst Seine Charaktere nnd VorfiUle sind so gewöhn-
lich wie die Elemente bescheiden sind, ans denen sie
sidi zusammensetzen. In seine Darstellnngen spielt nicht
nur nichts Wunderbares oder Erstaunliches hinein, er
hat an seinem yulgftren Material nicht einmal gewöhn-
liche poetische Schönfärberei versucht Er hat keine
moralisierenden Jflnglinge, keine sentimentalen Eaufleute;
er will uns kaum jemals durch die kunstlosen Manieren
und bescheidenen Eigenschaften seiner Gestalten bezaubern.
Im Gegenteile. Er stellt seine Dorfleute und Kleinbürger
so ausschweifend, ja unredlicher und unzufriedener dar
als die Wüstlinge der höheren Kreise, und anstatt uns
durch Blumengi-flnde und Wiesen zu geleiten, fährt er
uns durch schmutzige Gassen, durch das Gedränge der
SchilEswerfte zu Kranken- und Armenhäusern und Brant-
weinbuden. In einigen dieser Schilderungen enthüllt
er sich als Satiriker des Volkslebens, eine peinliche,
mühsame und originelle Betätigung. Kraft seiner Kunst
und der Neuartigkeit seines Stils zwingt er unsere Auf-
merksamkeit, auf Gegenstände einzugehen, die gewöhnlich
vernachlässigt werden, und auf Gefühle, denen wir im All-
gemeinen nur zu gern entfliehen. Was die Wirkung der
Dai^steUung anbelangt^ verläßt er sich auf die Natur. ^)
Ähnlich sagt ein späterer Kritiker, Henry Giles, Crabbe
überlasse die Wirkung einzig der nackten Tatsädüichkeit
») Worka H, 12.
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Das besdureibancle Gedicht und die VenenflUang. 537
seines Stoffes und dieser Stoff sei die Tragödie des ge-
wöhnlichen Lebens. Crabbe sei ;;der metrische Historiograph
der Armen.^0 ^^^ ^^^ ^ irrtfimlich, sich von „Crabbe,
dem Dichter der Armen^, die einseitige Yorstellang eines
Anwaltes nnd Vorkämpfers der Armnt zu machen« Er ist
einfach ihr Darsteller. Er betet die verlogene Bedensart
Tom Zufriedenen Landmanne nicht nach. Sein Los —
in Wirklichkeit ein elendes — wird als solches geschildert
Ebensowenig aber hält Crabbe die andere konventionelle
Lfige aufrecht, daß der Bauer, weil er im Elend sei, not-
wendig tugendhaft, weil er nicht in der Stadt lebe, auch
mit dem Laster unbekannt sein mfisse.
Er unterschlägt wissentlich weder Böses noch Gutes.
„Es ist ein Irrtum anzunehmen, dafi Crabbe nur die dunkeln
Leidenschaften behandelt hat^, sagt Cbristopher North. „Er
war mit Leidenschaften jeder Färbung vertraut Er liebte
zarte und freundliche Erregungen und unter den Tugenden
war er keiner so innig zugetan wie der Treue und Wahrheit
Mit Erfahrung, doch nicht mit Unmenschlichkeit hat er
alle Arten des Elends in geheimnisvoll kräftigen Linien von
Blut und Feuer gezeichnet'' 0 ^ diesem Sinne ist es
zu verstehen, wenn Jeffrey, der unbedingte Bewunderer
Crabbes, von seinem „plebejischen Pathos'' spricht Er
meint damit die Kraft des Ausdrucks für die Leiden und
Freuden der Volksseele.
Eine gewisse dtkstere Einförmigkeit war bei dem
Kleben an der ärmlichen Vorlage nicht zu vermeiden. Die
Bodenständigkeit, der aberzeugende Humusgeruch der
Echtheit bildet die nicht wegzuleugnende Stärke dieser
0 Lectures and Euays, 60.
*) J^Moy« OriHoiü and Imaginative n, 229.
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538 Das beMhnibende Qedioki nad die V«rMaiiiIug.
Gedichte. Aber ihre Wahrhaftigkeit gilt, zum Olftck fir
die MeMchhdty weniger für diese ala für Aldebargh.
„Wir hSren^, sagt der feine Kenner Christopher Noräi
im einer anderen Stelle, „Grabbe sei nidit sehr yolks-
tfimlicL Ist es 80, dann ist das menschliche Leben nicht
volkstfimlidL Denn von all unseren Dichtem hat er am ge-
schicktesten das Qewebe all seiner Werke mit dem Material
des menschlichen Lebens durchwirkt — häusliches Gespinst^
in der Tat, zwar häufig grob, doch immer kräftig;
zwar Ton einfachem Muster, doch nicht selten von un-
gemein feiner alter Webekunst Halte das Produkt seines
Webestuhls zwischen dein Auge und das Lidit und es
glitzert und glänzt wie der Backen eines Pfaus oder
die Wölbung eines Begenbog^is. Manchmal scheint es nur
grobes Tuch aus ungefärbter Wolle. Doch nun fällt ein
Sonnenstrahl oder ein Schatten darauf — und siehe, es
glänzt wie königlicher Purpur. Allein hat der Wahlstimmen-
makler je ein großes Gedicht herrorgebracht? Man könnte
ebenso gut fragen, ob er die Paulskathedrale gebaut
habe?«0
Größe im Sinne einer Erhebung des Gteistes Aber die
traurige Realität der wirklichen Existenz wird man bei
Crabbe vergeblich suchen. Zwar erblickt er selbst in ihr
den eigentlichen Zweck der Poesie. Allein er glaubt ihm durch
die treue Schilderung einer wenn auch peinvoUen Wirklich-
keit beikommen zu können. Ja, er meint, das konkrete
Bild habe vor dem erfundenen, erlogenen etwas voraus.
Es greife nicht nur denen ans Herz, die sich darin ge-
schildert finden, es erwecke möglicherweise auch das Ge-
wissen der Machthaber. Er möchte ein heilsames Gemisch
0 BecreaU<m8 1, 178.
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Das bMehrataide Qtdicht nnd die YenonlhliiBg. 539
Ton Mitleid und Absehen erregen. Das ist die soziale Unter-
strOmnng im Gedankenfahrwasser seiner Dichtung.
„Die erste Absicht des Dichters**, sagt er in der Vor-
rede der Taies of ihe HaU, „mnfi die sein zu gefallen,
denn wenn er belehren will, mufl er die Belehmng, die
er zu yermitteln hofft, genießbar nnd angenehm machen.
Ich will mir nidit den Ton eines Moralisten anmaSen,
noch versprechen, daß meine Erzählungen wohltfttig für
die Menschheit sein werden. Doch habe ich mich — wie
ich hoffe nicht ohne Erfolg — bestrebt, in alles, was
ich erzShlt nnd geschildert, nichts einzufBhren, was ge-
eignet wftre, die Laster der Menschen zu entschuldigen,
indem es sie in Verbindung bringt mit Gfeffihlen, die unsere
Achtung fordern, und mit Talenten, die uns zur Be-
wunderung zwingen. Es findet sich in diesen Seiten nichts,
was die verderbliche Wirkung hätte, Wahrheit und Irrtum
zu verschmelzen oder unsere Begriffe von Recht und Un-
recht zu verwirren.^ Diese Gradlinigkeit, die nach den
heutigen Begriffen Crabbe durch das Ausschließen alles
Problematischen uninteressant macht, trug ihm den Ehren-
titel des moralischsten modernen Dichters ein.^)
Seine Absichtlichkeit steigert sich nicht bis zur Tendenz.
Die Kritik der Tales in der Edinburgh Beview^ 1812, rfihmte
an der eingehenden Schilderung des ganz Alltäglichen die
gerechte Verteilung von freundlichem MitgefOhl, gütiger
Nachsicht und gesunder, sittlicher Strenge. <) Eben diese
gesunde Sittlichkeit läßt ihn ohne Zimpferlichkeit die HOlle
von manchen Schwären der Gesellschaft ziehen. Im Parish
Begister erwidert die Dirne dem Pfarrer, der sie hart an-
0 Works IV, U.
0 Worii IV| 5L
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540 Dm beiehreibMcle Q«dicht und die Yenev^Odiuig.
l&fit: „Leichtlertigkeit mag einst mein Beweggrund gewesen
sein. Nnn ist es die Not Frauen wie ich schwimmen, wie
Enten im Teiche, stromabw&rts. Euer Gesdüecht stellt
ans nach, unser eigenes verachtet ans; Umkehr ist furchtbar,
ein Entkommen unmSglicL ließen die M&nner von uns ab,
trachteten die Frauen, den Gefallenen zu helf ^ dann gibe
es fflr die Tugend eine Möglichkeit^ sich wieder zu erheben''
(BapUsrns), In The HaU of Justice wird das Verbrechen
der Yagabundin verhandelt, die für ihr krankes Kind, das
Brot, das man ihr verweigert, gestohlen hat Dem all-
gewaltigen Naturgebot gegenftber erscheint die menschliche
Satzung bedeutungslos und anmaßend. Von Geschlecht zu
Geschlecht vererbte Greuel der Schuld und Schande h&ufen
sich in dieser Erz&hlung zum Schauerroman, wie ihn so
manche Gefingniszelle aufweisen mag. Der milde Siebter
verkftndet zum Schluß die große Vergebung, von der kein
Beuiger ausgeschlossen wird.
„Seine Bibliothek'', sagt Christopher North, „war dieBibel
und das Buch der Natur." Die tiefe, ungebrochene FrOmmig-
keit vertritt bei Crabbe die Stelle der Philosophie. Er ist im
großen und ganzen ein Gegner der Aufklärung. „Laßt die Ein-
fältigen glücklich sein und beweist ihnen nicht mit Gründen,
die sie elend machen, daß sie in Irrtum befangen sind." So
lehrt er im Borough (XXI). In der Erzählung The GenÜeman
Farmer (Der Gutsbesitzer) schildert er die Bekehrung eines
von revolutionärer Freigeisterei angesteckten Gutsherrn
zur konventionellen Bechtgläubigkeit durch seine über*
legene, kokette, scharf beobachtende, leidenschaftlich emp-
findende Haushälterin und Geliebte, eine lebensvolle
Gestalt, mit der Crabbe, bis auf den Vornamen, Ibsens
Bebekka West gleichsam vorweg nimmt Crabbe ist auch
als Dichter der Seelsorger seiner Gemeinde,, über die ißr in der
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Dm beschreibeiide Gedicht und die Venen&hlnng. 541
Poesie wie im Leben nicht hinansstrebt Aber seine erzieh-
lichen Absichten ftnBern sichwederin der Satire noch imHumor,
sondern in jener lehrhaften Form, die sich dabei bescheidet^
das Laster nm der Moral willen au&ndecken. „Ich liebe die
satirische Muse nicht^, sagt er einmal, „ich mSchte keinen
Menschen anf Erden verletzen. Es verh&rtet den Menschen,
wenn sein Name öffentlich dem Schimpf und Spott ausgesetzt
wird, es erweckt die niedrigen Leidenschaften seiner Brust
Ehrliche Satire kann bei aller Feindseligkeit nicht weiter
gehen, als die schlechte Tat zu verdammen, ohne sich an den
schlechten Menschen zu hängen.'^O ^ Boraugh (XXTTT,
XXIV) sagt er, er bekämpfe der Menschen Laster und Ver-
brechen, wie er könne; den Menschen jedoch fiberlasse er
Gh)tt und seinem Gtowissen. Er greife das Verbrechen an,
doch er schone des Verbrechers.
Crabbes ausschlag^bende Empfindung seinen Mit^
menschen gegenfiber ist warme N&chstenliebe. Er fühlt sich
als Mitschuldiger, nicht als Feind des Tadelnswerten. Er hat
den Donnerkeil selbst zu ffirchten, nicht ihn zu schwingen
(Boraugh XXIV). Ernstes, inniges Wohlwollen gibt den
Omndton fflr seine Sittenschilderung. Es verleugnet sich
auch im Tadel nicht; dessen Intensit&t sich bis zum Pathos
steigert
Der so h&ufig gegen Crabbe erhobene Vorwurf des
schwarzen Pessimismus scheint mithin nur in sehr be-
dingtem Sinne berechtigt Die meisten seiner Erz&hlungen
klingen, wenn auch h&uflg in Resignation, so doch ohne
Dissonanz aus, milde und versöhnlich. Den Beispielen
der Verderbtheit stehen in der Regel auch die von Edel-
menschen gegenfiber. Selbst im Schlechten ist gewöhnlich ein
1) Oeea^ional Pieees, 1834.
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542 Du bMduraibeiide Gedieht ud die VensBik^
edtor Kern, der dem gattti Vorbflde zogtnglich bleibt
Crabbe ftbertreibt das Übel so wenig wie irgend etwas
andres. Das rechte Mafi in allem, dies ist ffir ihn be-
zeichnend. Nichts Ifanschliches ist ihm ganz fremd, aber
er rerliert sich anch an nichts Menschliches. Nichts steigert
sich znm Extrem, zun Übermaß. So wird sein Leser
freilich auch nicht selten daran erinnert, daB die Kehrseite
des U afies die MittelmUigkeit ist nnd daft nnr das Über^
mafi zn jener Vollkommenheit führt, die ftberzengt md
hinreifit
Haziitt klagt fiber die graue Wolke, die blasdiwer
anf Crabbes Dichtung liege. Es ist der Dnnst der AUtKglich-
keii Phantasielosigkeit ist trftbe. Nor was den Erden-
stanb abgeschüttelt hat, schwingt sich in heitere HShcn.
Was Crabbe zmn VoUblntdichter am meisten fdilty ist
die lyrische Begabung. Seine Poesie hat etwas Offizielles,
Bem&mftfiiges. Dir mangdt der nnmittelbare Ausdruck der
Empfindung, das Intime, Subjektire. Sie ist kein Herz^is-
ergufi, kein Ausströmen des eigensten Geistes. Jedes GfdUil
scheint zehnfadi durch das Sieb der Beflezion gegangen,
jeder Impuls längst Terschlumt und abgestanden. Die
religiSsen Gedichte seiner Jugendjahre machten ihn seifest
an seiner Begabung irre. 1778 legt er Goldsmith Worte
in den Mund, die auf ihn sdbst Bezug haben:
Da biit in ^e Mute Terliebt? Bn gelte! Doeh sprioli,
UeiB Lieber, irenn war denn 4ie Mue Teriüebt in dieh?
Der Kritiker des QmÜeman Magcume iufierte ftber
Crabbes poetische Epistel an die YerCssser der MaiMLy
Beview, The Candidate (Der EandidatX 1780: „S^mmt das
Urteil der angerufoien Autoren mit dem meinoi fibenin,
so werden sie diesen Kandidaten nicht sonderlich «mutigen,
sein Examen auf dem Pamafi zu bestehen.^ Dem Mangel
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Dm besohratbende Gedieht und die VenenihlaBg. 548
jedes poetischen Spieltriebes und aller schwärmerischen
Extase entspricht die Oebnndenheit des Ausdrucks. Das
Versmaß Popes, das auch für ihn das maßgebende bleibt,
handhabt er mit scheinbarer Virtuositlt Leicht und
natfirlich in merkwürdiger Gldchm&fiigkeit reiht sich Zehn-
silber an Zehnsilber. Aber die Eleganz, der feine Ge-
schmack seines Vorbildes bleiben ihm unerreichbar. Horace
ghnitli nannte Crabbe in der Parodie der B^ected ÄidresseSy
die sich fast bis zur Identit&t mit dem Original erhebt, den
„Pope in wollenen Strümpfen^. Leslie Stq^hen fOgt hinzu,
die wollenen Strttmpfe seien ungewöhnlich grob gewesen. <)
Die musikalische Note mangelt Crabbes Poesie beinahe
völlig, die Versmelodie, die rhythmische Kadenz, die den Sinn
der Worte unterstützt und steigert, sind ihm nicht gegeben.
E3ar bis zur Nfichtemheit und im Ausdruck ron peinlidi
sauberer Gewissenhaftigkeit, sagt er sdber alles und schaltet
jene suggestive Kraft aus, die den Leser gewissermaßen
zur Mitarbdt anregt Crabbes Dichtung deutet dem
Gemüt keine dunkeln Hintergründe an, erschließt ihm
keine ahnungsvollen Unendlichkeiten. Der zündende Funke
der Poesie springt aus diesen Versen selten in uns über.
„Zum Dichter geworden, aber nicht geboren^, bezeichnet
ihn treffend R Huchon.^ So hat denn Crabbe auch h&ufig
die Goldprobe des echten Talents nicht bestanden: die
instinktive Sicherheit, mit der der gute Geschmack Krasses
und Banales ausscheidet oder in Poesie verwandelt. Seine
Bilder oder Gleichnisse, die der Beobachtung entsprangen
und als nachträgliche Verzierungen in die fertige Erzählung
eingefügt wurden,*) sind oft von trübseliger Prosa (z.B. in
0 Hawrs in a IMtrary II, 20f.
«) 8. 614.
• Wiyrk9 VI, 86.
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544 Dm bMoknibeade Gedicht ind die Venodhluig.
Tales of ihe Soll J, der Vergleich der allgemeiiien Frrihä
mit dem öffentlichen WaaserbehBlter, in iem man den
Vorrat sammelt, nm ihn dem Einzelnen nach Bedarf zn-
zornessen). Seine Motive, im Fener der Phantasie nidit
anageglfiht, berBhren mitunter peinlich (z. B. i&t Bei-
geschmack des Inzestes in Lady Barbara^ er The Okogi).
In der Segel machen negative Eigenschaften den Tob
seines Vortrages yorzfiglick Der schmucklose Stil mit der
bis zur Eftlte gesteigerten Glanzlosigkeit des Kolorits md
Znrfickhaltnng des Empfindens passen wnnderbar zn dem
alltiglichen Inhalt, und diese vollkommene Einheitlichkeit
ist es, die Grabbes Erz&hlungen ein in ihrer Art klassische
Gepräge verleiht
Indes gibt es unter ihnen zwei, in denen Qrabbe
durch phantasievolle Konzeption gewissennafien fiber die
Grenzen seines Talentes hinausgegangen ist: The BaU of
Justice Qm Gerichtssaal) und Eustace Qrey^ 1804 — 5. Beide
Dichtungen heben sidi schon Äußerlich ans der Menge,
indem sie der pedantischen Einförmigkeit des jambische
Beimpaares entsagen durch eine Art dramatisierter Fona
(Euatace Grey überdies in Oktaven). In The Hau of
Justice erz&hlt eine Zigeunerin, des Holzdiebstahls be-
schuldigt, dem Bichter ihre Lebensgeschichte und schildert
die Gräuel des Inzestes, der Eifersucht, des Vatermordes
mit einer Wordsworths wOrdiger markiger Kraft der
Schlichtheit
Sir Eustace Qrey ist eine mit wunderbarer. Eneifgie
und Phantasie dnrchgeffihrte Wahnsinnsstudie. Niigoids
sonst bei Crabbe betätigt sich das dichterische Ingenium
so lebhaft als in der Selbstschilderung dieser gespenstigen
Irrfahrt eines kranken Geistes, der, in lichten Augenblicken
gewissermaßen über seinem Wahnsinn stehend, dennoch
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Dm betchieibende Gedicht und die Vetsenfthlang. 545
durch die Spmngliaitigkeit seiner fixen Vorstellangen von
Schuld und Bene seinen qualvollen Znstand verrät und den
Leser in seinen Bann zieht Wie die Anordnung des
Gedichtes an Shelleys Julian and Maddah (1818) erinnert —
(Grabbes Arzt an Maddalo, Grabbes mitleidsvoller, weich-
herziger Besucher an Julian, Grabbes seine Lebensgeschichte
erzählender Patient an den Lren) — ^ so scheinen einzelne
poetisch geschauteNaturbilder auf ^enEntfesselten Prometheus
gewirkt zu haben, z. B. das Nordlicht, dessen Strahlen in
Eustaces Leib „eisige Wunden bohren^. Schließlich bricht
in die H&llenqual des Kranken die Sonne der Gnade. Der
Glaube verhilft ihm zur Ergebung und Ruhe. Solcher Art
findet Grabbe für die im bittersten Dunkel tappende arme
Seele des Sfinders den Ausweg ins Licht, der einer kflnst-
lerischen Fassung der LebenstragOdie entspricht
Werke von George Cmbbe«
1775 InArieiy.
1780 The Candidaie.
1781 The lAbrary.
1783 The YiOage.
1786 The Newspt^er.
1795 Natural Hietory of fhe VaU of Bel/vek (Nichoü HüUny
of fhe Chmiy of Leicester),
— Poems.
1810 The Borough.
1811 Tales.
1819 Tales of fhe HäU (Neuaiusgabe 1882: Readmgs in OrcMe;
Rrefaee ty Edward Fiiegerald).
1834 PosOiumous Tales.
— Poeticei Works. Wifh Ms Letters and Journals.
1850 PosCkumous Sermons.
18U PoeUcal Works, edited hy H. Milford.
Oeediiehte der aogliflelieii Bomantik H, 1. 85
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546 Dm benhTCibende GMicht and die VeiMitfUiuig.
Werke Aber Cnbbe.
1826 William Haslitt, Campbetl and Orabhe (Spkit of tke A^e).
1834 George Crabbe, Works. With Letters, Journals and his
Life biß his Son.
1860 Henry Giles, Ledmts md Essoj^s.
1867 OkrUtopher North,. Beereaiions I (An Hcur's Tmtk
ab(mt Foskfß).
1868 The Leadbeaitr Po^^ers. A SeleeUon from fhe M, 8. 8. and
Corespondance of Mary Leadbeater.
1876 Friedrich Stehlich, Oeorg^ Oäbbe, ein englischer
Dit^ier.
1890 Qtorgt S9^iji%shnry,0rabbe(EssaysinEngUskLaeraimre).
1899 Hermann Peita, Oearge CMbe, eine WMigmg semer
Werke (Wiener Beitrige sor englisohen Philologie X)l
— T. E. Eebbel, Life and Writings of George Orahbe.
1906 IL Hnehon, Un Fohte rialiste anglaü. George Orabbe.
1907 Leilie Stephen, Hours Ai a LQnwrg.
1908 A. J. n. R. M. Carlyle, The Poetioal Works of Gearge
Orabbe (Oxford EdiUon). Einldtang.
1913 James W. Holme, The Treakneni of Wature m Orabbe
(JMmitiae, Essens in EngUsh LUeratvre bg Students
of the Universiig of Liverpool).
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William Oowper.
1781—1800. .
Die Familie Ciowper ist bereits unter Edward IV. in
Strode (Snssez) nachgewiesen. Ein William Cowper (f 1664),
der nach der Restanration seinen yielbewegten Lebenslanf
geschildert nnd sich anch dichterisch betfttigt hat, wnrde
znm Baronet erhoben, als Boyalist jedodi während der
Bürgemnmhen seiner Gfiter yerlostig erklärt nnd yorftber-
gehend sogar eingekerkert 0
Ein ür-ürenkel dieses William, John Ciowper (f 1756
als Rektor in dem etwa 28 Meilen von London in lieb-
licher Landschaft gelegenen Oreat Berkhamstead, Hert-
fortshire), wnrde der Vater des Dichters. Die Herkunft
der Mutter, Anne Donne, f&hrt dn allerdings nicht ver-
bürgter Stammbanm anf eine Schwester der Anne Boleyn
zurück.') Unter ihren Ahnen befand sich der Dichter
John Donne (1573—1681), der geist- unä phantasievoUe
Erotiker, Metaphysiker und Satiriker, der seine Laufbahn
als Katholik und galanter Lebemann begann und als
anglikanischer Prediger von glutvollem Schwünge schloS.
Genau hundert Jahre nach John Donnes Tode (am
26.November 1731) wurde William Cowper in der malerischen,
gemütlichen Rektorei von Oreat Berkhampstead geboren.
0 Bruee Xu.
«)IbeiidaXy.
86*
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548 Dm basolireibeiide Gedklit und die VenenlUimg.
Der anmutige Ort — einst die Residenz des ersten Plan-
tagenet *— die sch&ne Kirche, ror allem aber das
tranliche Vaterhaus sind dem Dichter in nnanslOschlicher
Erinnerung geblieben. ,,Es gab in der ganzen Gegend
keinen Banm, keinen Zann und keinen Zanntritt, zn d^n
ich nicht eine Beziehung gehabt hfttte^, schreibt er (Oktober
1787) an seinen Freund Rose. „Und das Hans selbst zog
ich jedem Palaste ror.^
William war von sechs Kindern das einzigOi das am
Leben blieb. Die Mutter, eine schSne, sanfte und liebens-
würdige Frau, häufte ihren ganzen Schatz yon Liebe und
Sorgfolt auf diesen ihren einzigen, zarten und sensitren
Knaben. Als William sechs Jahre zählte, kostete die (Geburt
eines Brfiderchens das teure Leben der Mutter. Das war
der erste yerhängnisrolle Schicksalsschlag in dieser den
dunkeln Mächten geweihten Dichterlaufbahn.
Während Cowper zu seinem Vater, der eine zweite
Frau nahm, kein inniges Verhältnis gehabt zu hab^
scheint, hing er zeitlebens mit allen Fasern seines Herzens
an dem verklärten Bilde der fr&h verlorenen Mutter. 1790,
als ihm ihr Porträt in die Hände fällt, gerät er vor Freude
in Extase. Er kOßt es, er hängt es auf, „wo Abends sein
letzter und Morgens sein erster Blick darauf fäUt^; es regt
ihn zu seinem schönsten, tieibtempfundenen Gedicht an. Nach
mehr als fünfzig Jahren erinnert er sich ihres Äufieren und
jedes geringffigigen Anlasses der mfttterlichen Zärtlichkeit,
die ihm ihr Andenken fiber jeden Ausdruck teuer macht Er
glaubt nicht ohne Befriedigung, mehr von dem Blute der
Donnes als der Cowpers in sich zu haben. Man sagte in
seiner Kindheit, daß er seiner Mutter gleiche. Seinem Freunde
Hill schreibt er 1784 anläßlich des Todes von dessen Mutter:
„Du kannst, so lange du lebst, freudig des Segens ged^en,
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Das beschreibende Gedicht und die Versenühliuig. 549
der dir so lange gegönnt war, und ich muß, so lange ich
lebe, ein Glfiek beklagen, dessen ich so frfkh beraubt wurde.
Ich kann wahrhaftig sagen, dafi keine Woche vergeht —
vielleicht könnte ich ebenso wahrheitsgetreu sagen, kein
Tag — ohne daß ich ihrer gedächte. Einen solchen Ein-
druck hat ihre Zärtlichkeit auf mich gemacht, obwohl sie nur
so kurze Zeit Gelegenheit hatte, sie mir zu beweisen. Aber
Gottes Wege sind gerecht, und bedenke icb die Qualen,
die sie gelitten hätte, wäre sie Zeuge all der meinen ge-
wesen, so sehe ich mehr Grund zur Freude als zur Trauer,
daß sie das Grab so frUh geborgen^.
William, im schwersten Sinne des Wortes ein verwaistes
Eind, weil er wie kein anderes der schützenden milden Leitung
der Mutterhand bedurft hätte, kam noch im Todeegahr der
Mutter in ein nahes Pensionat Hier hatte er unter der
Boheit eines älteren Mitschülers viel zu leiden und seine
krankhafte Neigung zur Schüchternheit und Schwermut
wurde dadurch gefördert Die Angst vor seinem Quälgeist
— der schließlich aus der Schule aufgestoßen wurde —
war so groß, daß er den Blick nicht höher als bis zu den
Enieen des Peinigers zu erheben wagte. Einmal, inmitten
seiner Vereinsamung und Betr&bnis, fielen ihm plötzlich die
Worte des Psalms ein: „Auf Gott hoffe ich und fürchte mich
nicht; was können mir die Menschen tun?^ Da ward sein
Geist munter und Heiterkeit bemächtigte sich seiner. Es
war sein frflhecites religiöses Erlebnis.
Wegen eines Aqgenabels, von dem Cowper schließlich
ein Anfall der Schafblattern befreite, verbrachte er zwei
Jahre (1739—41) im Hanse eines der Okulistik beflissenen
Eäepaares Disney« 1741 bezog er die Westminsterschule.
Er selbst bezeichnete seine Schulzeit als eine Periode,
in der er kein wirkliches Glftck, aber auch kein Unglttck
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560 Das betdurdboide Gedicht und die VenenrtUu«.
kennen gelernt habe. Vincent Bonrne, emTorzi^cIier Latdn-
lehrer und geachteter lateiniaeher Poet^ ab Mensch gatmStig,
^ohlwollrad und Aber die IfaCen nnordeaftlidii legU hier
den Gnmd zn (Jewpers gediegenen klaasiBcheii Eenntniaen.
Einen anderen treffUdien Lehrer fand er in Pierson Lloyd,
dem Vater des Dichters Bobert Lloyd, mit dem ihn bald
innige Freundschaft rerbaiid« Anch sonst fehlte es ihm
nicht an Kameraden« CSinrchill, Ciolmaii der Utarey Biehard
GamberUnd, Warren Hastings waren seine Mitschfiler.
Den jongr verstorbenen Sitr WiUiain Bbssdt hat Oowper
in Versen nicht ohne pathetische Kraft des Ansdrnda
beklagt
Ißt 14 Jahren lernte er Milton nnd Hom^ kennen
und yerfaSte die Übersetanng einer Elegie des TibaU, die
IBT als den Anfang seiner litenurisdien Laufbahn bezeichnet
hat Das früheste seiner erhaltene eigenen Gedichte ist
eine Nachahmung von John' PhiUps' Splendid Skittimg:^)
Verses wriUen at Baih, ön Findü^ fke Hed of a Skoe
(Verse, als ich in Bath den Absatz dnes Schuhs fand)
1798. Sie fdlen durch den Yorzflglichen Blankvers, d^
breiten, pastosen Ton des Vortrages und die Beife der
etwas gespreizten an den nichtigen AnlaS geknflpften Be-
trachtung aul
Bereits in der Westminsterschule soll Oowper einen
Anfall von Schwermut gehabt und sich eingebildet haben,
er sei schwindsüchtig, einem frOhen Tode verfallen. Die
Neigung zur Schwermut lag, wie er selbst sagt, in der
FamiUe.2)
1749 trat er seine dreijährige Lehrzeit bei dem Advokaten
Chapman an. „Man h&tte keinmi Beruf wählen können, d^
>) Wright, 42, 60.
>) Wright, 50.
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Dm beeohreibende GMicht und die Ydneratthliing. 551
seiner Eigenart weniger entsprach^, sagt Hayley. „Vielleicht
hat es niemals einen Sterblichen gegeben, der bei einnehmen-
dem Anßeren, sowie von Natnr aus günstigen und zu höchst
ausgebildeten geistigen Ffthigkeiten so völlig ungeeignet war,
dem Kampf und der Unruhe des öffentliehen Lebens entgegen-
zutreUsa'^A) Cowper selbst^ der den Wert des Mensehen damals
nach seinen Kenntnissen in der klassischen Philologie ab-
scUtKte,^) äutert, dafi er die juristische Laufbahn seinem
Vater zu Liebe ergriff. Seinem Neffen John Johnson schrieb
er im Jani 1700: „Ich habe . niemals regehnU^ studiert^
•sondern die kostbarsten Jahre meines Leb^m in einer
Advokatnrskanzlei nnd ijn. Temple yerloren.^ . Und an
. Unwin .(Mai 1781): yflia Farbe unseres ganzen Lebens wird
.{pewiohnlicb dnrchidas bestimmt, was wir in den ersten drei
oder Tier Jahren, in .denen wir unsere eigenen Herren sind,
daraus machoi . . . HUte ich meine Zeit so klug angewandt
wie du, so w&re idh vielleicht niemals ein Dichter geworden,
jaber ich besibBe, jetzt eine angenehmere Stellung in der
,6eselbchaft^
I ; Indeß vergingen die. Jugendjahre, die Cowper in der
verdttsterten und» .pietistisdien Stimmung seiner späteren
JErhgnntnis vergeudet schienen, zum mindesten nicht un-
g]9nos8en. „Ich schlief drei Jahre in Mr. Chapmans Hause^,
sagt Cowper, „lebte und verbrachte meine Tage aber in Sonth-
amptcm Bow.^ In Southampton Bow wohnte sein Oheim
Ashley Cowper, von desaen; anmutigen Töchtern, Harriet,
Theodora und SSizabeth,. die mittlere einen tiefen Eindruck
auf ^Cowp^]:a Herz machte und; unter, dem Namen Delia
(1752—56) Vi^ ziemlich konventionellen, aber metrisch ab-
yei^hselungsvollen Vysen von ihm i besungen waxd. In
0 Life 1, 11.
•) An Newton, 17, 81.
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562 Du iMieMreibe&de Gedieht imd die VeneniUuiff.
SoQthanipton Bow wurde der Jagend ihr Becht Man
lachte und machte die andern lachen. Gowpers Genoase in
der Adrokator wie im IQtton-Enthnsiasmns und bei semea
Unterhaltungen war der nachmalige Kanzler Thnrlow.
1752 UeS Gowper sich ab Jurist im Temple nieder;
2 Jahre q^tmr wnrde er Barrister. Aber bald nach seiBer
Amtsbekleidnng eilitt er einen Anfall jener krankbaften
Schwermut, die ihn von nnn ab in ziemlich regelmäßigen
Zwischenriomen alle zehn Jahre heimsnchta^) »1^^ ^^^
Nacht lag ich anf der Fidter^, heifit es im Lebensabrifi.
„Mit Schändern legte ich mich nieder, in Verzweiflung
stand ich ant.^ Die Klassiker, deren Zauber bish» nie
versagt hatte, verlorai allen Beiz für ihn. Der trostiose
Zustand dauerte fast ein Jahr. Endlich brachte ihm die
Lektflre von George Herberts Gedichten Undening. Sie
weckten sein religiöses Gefühl „Mein hartes Herz'^, sagt
Cowper in der frömmelnden Ausdrucksweise seiner späteren
Jahre, „ward erweicht, mein eigensinniges Knie lernte sidi
beugen. Ich verfaßte eine Beihe von Gebeten, deren ich
mich häufig bediente.^ Plötzlich, wie das Übel der Schwermut
gekommen war, wich es. Als er eines schOnen Moigens in
Southampton von einer AnhOhe das Meer überblickte, ftthlte er
mit einem Male die ganze Wucht seines Elends von sich ge-
nommen. Er genoft den Best des Southamptoner Aufenthaltes
in Gesellschaft der älteren Base Haniet und ihres Verlobten
und kehrte genesen nach London zurück.
Ciowper lebtenun eine Weile fröhlich und guter Dinge, be-
handelte die Jurisprudenz durchaus kavaliennäfiig, machte der
Base Theodora den Hof und wandte sein Hauptinteresse dem
Nonsense Olüb zu, einer heiteren geselligen Vereinigung
>) Soathey, 25.
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Das beschreibende Gedicht nnd die VenenShliiiig. 553
sieben ehemaliger Westminsterschüler, simtlich literarisch
begabte Kdpfe, wie George Cohnan (f 1794), der Verfasser
der EomSdie Tke Jedl&ua Wife (Die eifersüchtige Frau),
1761, der ehrgeizige, zerfahrene Bobert Lloyd; der Heraas-
geber des 8t James's Ckronidey Bonnell Thomton; der
Advokat und literarische Dilettant Joseph Hill, ein gnter
Gesellschafter nnd trefflicher Mann, an dem Ciowper einen
lebraslangen trenen nnd praktischen Frennd gewann. Ffir
den Nonsense Guby in dem ein tüchtiges Qnantnm Witz
nnd Hnmor yerpnfft wurde, steuerte er manches heitere
Stfick bei, so Letter fram an Otcl to a Bird of PairtuUse
(Brief einer Eule an einen Paradiesvogel), eine in gewandter
Prosa abgefaßte harmlos-heitere Verspottung menschlichen
Tuns und Treibens. 0
Durch Thomtons Vermittlung lieferte Ciowpar dem
Connoisseur und dem 8t Jametfs Chronide einige Beitrige.
Hayley meint, sein Talent ffir ZeitschriftenauMtze wftre
hinreichend gewesen, ihn zu einem wfirdigen Gteffthrten
Addisons zu machen. >) Gowper selbst legte auf seine
poetische Produktion keinerlei Gewicht und stellte seine
Übersetznngskunst in uneigenntttzigster Weise anderen zur
Verfflgung. In Duncombes englischer Horazansgabe (1759)
rtthren zwei Satiren von ihm her und desgleichen zwei
Gesinge in der ITenrieMfe-Übersetzung, die sebi Bruder John
1759 in einer Zeitschrift veröffentlichte.') Seine Bescheiden-
heit ging bis zur SelbstquälereL Gott und er wfißten, daß
er weder Genie noch Geist besitze, heifit es in der Epistel
an Bobert Loyd, 1754. Er sollte die Poesie lieber in Frieden
lassen. Cowper möchte Humor und Leichtigkeit zur Schau
0 Private Correspondanee I, XXXI.
^IdfeL
^ Hayley, 1, 29.
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554 Dm beiekrabende Gedicht nA die
tragen, aber eem Ton wird gezwuigeii imd iMoaL Sease
waltfe Stiirtnmiig venrit das traurige GestiadBis, daft er
achreibe, ttm einen grimmigen Ranbgesellea abankskea, der
mit sdnem schwaraen' bSlUschen Gefolge einen fBrdito-
liehen Übergriff in sein Hiin gemaeht nnd tiglidi dr^
seine kleinb Veinnnftgaimiscm daratis an vertreiben. Diese
ftrditerliehe Biübeibande seien die düsteren Gediaatew
„Idä bin niemand and werde immer niemand Ueften',
sagte er einst beim Thee an Thoribw, der bereits gute
Lebenisanshichten hatte. „Dn iritst Kanzler wei^deL
Da müßt für mich soigen» wenn da es biirt!* Thoriov
erwiderte Iftchelnd: nGeWift werde ich tel'O Gowpos
Pix>pheaeiang erfUlte sich. Ab<fr ThnriAw hat sein Wort
nicht gehalten.
Zar Tfttigkeit vermochte Oowper sich nicht anfanraffen,
obzwar seine Lage 1756 dar^ den Tod seitite Vaters ernster
ward. Die ünsidherheit JisA Bammelei seiner Existenz
hab^n wohl aaf sein reiabares Nervensystem ' die sdiU-
lichsteWirkangf gehabt«) Dabei War seimi vorgebliche Heito-
keit erkünstelt „Mein Ehtschloß irt, niteiuJs melaacholisdi
za sein, so lange ich noch 100 Pfand habe, am mich bd
gatetr Lanne an erhalten^, schreibt er im September 1762
an seinen Frennd und Kollegen Boiriey. „Gott weil,
wie lange' dito noch der Fall ist^ kber mittletweiie, lo
«r»tt*fii»»«/«
' Ohdm Ashley verweigerte in der VoraUuicht, dat
Gowper eis vermotllch an keiner gesicherten bOrgeriicha
Stellang bringte wOrde, seine Einwilligong zaf VeflobmiK
mit seiner Tochteir. Theodora ftgte Aik and sah den Vrtter
niemals wieder, dem sie gleichwohl zeitlebens eine mehr
0 wright, sa
t) OsisuaB, zm.
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Dm besehreibende Gedicht und die VenerEihlimg. 555
als yerwandtochaftliche Neigong bewahrt za haben schemt
Sie starb unyermfthlt 1824. Ciowper hingegen verliebte sich
hsM darauf wieder. Diesmal war es ein stilles, bescheidenes
Greenwicher Kind von kaum 16 Jahren. „Weh mir,^
schreibt er 1758 in einer lateinischen Epistel an Bowley,
„daß ein so lichter Stern einer anderen Begion angehört,
da er in Westindien ani^^ing, wohin ei^ non znrftdLkeliren
und mir nnr Benfzer nnd Trftnen lassen wird.^
Das Jahr 1768 schien eine gfinstige Wendung seiner
änBeren Yerhiltnisse zu bringen. Eine ProtokollfBhrer-
stelle (Clerk of ihe Journal) im Oberhanse, die Gowper
lange angestrebt hatte, wnrde frei und ein einflufireidiisr
Verwandter schanzte sie ihm zu. Aber s6hon nach dem
ersten freudigen Zugreifen machte sich eine düstere ünter-
strOmung in seinen Gernftte fiUilbar, die mehr und mehr die
Oberhand gewann. ;,Gleichzeitig schien ich einen Dolchstoft
ins Herz zu bekommen^, schreibt er in seinem autobio-
graphischen Aufeatz. „Die Wunde war «npfangen und jede
Minute steigerte ihre Schmerzhaftigheit^ 0 Cowper yerflel
in ein NervmiBeber. Seine Empfindungen war6n „die eines
VerurteQten, der auf der Bichtstfttte anlangt'' Die Tage
verbrachte er aber dem Protokolle, Nachts trtümte er dayon.
Sein Kopf versagte den Dienst Die tödliche Scheu „vor
der öffentlichen Schaustellung'' marterte ihn. Er hat
sp&terhin in dem jähra Umschlag des Heißersehnten in
bitterste Pein die Strafe Gottes dafOr erblickt; daß er be-
gehrt, was er nicht sollte, was noch eines anderii war.') Ein
Autenthalt in Ifargate brachte yortbergehende Lindening.
AbJBT kaum nach dei*^ Stadt zurückgekehrt, befiel ihn äufs
neue die furchtbare Angst yör dem immer nfther rückenden
0 Wright, 92.
>) Sratfaij, UO.
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556 Dm bwchmbeiide 0«didit und die VenenllilHBg.
Amtsantritt Er yenmchte, die Verpflichtiug zu lösen,
y «rgeblidL Ein WalmsinnsanfaU dtnkte ihm non die einzig
mSgliehe Bettang. „Ich hatte ein starkes OefBhl, ee wfirde
so kommen; ich wünschte es ernstlich und sah dem Ver-
hängnis in nngednldiger Erwartung entgegen." 0
Aber der gefllrchtete Tag kam heran and Cowper war
noch bei Verstand. Da begann er den Selbstmord in Erwifiriuig
zuziehen. Eines Noyemberabends kaufte er eine halbe Unze
Laudanum, um fBr alle FftUe gerfistet zu sein. Jedoch seine
Nerven yersagten den Dienst Er Termochte das Ifittel nicht
zu nehmen. Er yersuchte, sidi in die Themse zu stinen,
sich ein Fedeimesser in die Brust zu stoBen — alles nuß-
glflckto. Er hatte nicht die Kraft, zu sterben. Endlich
griff er zum Letzten — zum Strick. Schon hatte er das Be-
wußtsein verloren, da riA das Strumpfband, das er sidi um
den Hals geschlungen. Er war seiner Seelenpein au& neue
ausgeliefert Batlos, fassungslos eröffnete er sich einem
Freunde, und dieser enthob ihn seiner Amtsverbindlichkeit
Allein nun kamen die Gewissensbisse ttber sein gottloses
Vorhaben. Verzweiflung ftbermannte ihn und eine Todesangst,
die seine frühere Todessehnsucht fiberwog. „Das Leben
erschien mir jetzt wfinschenswerter als der Tod", erzihlt er,
„weil es eine Schranke zwischen mir und dem ewigen
Feuer bedeutete.**
Verrannt in die Vorstellung, dn Verbrechen wider den
heiligen Geist begangen zu haben, blieb er jedem Zuq^ruch
unzug^biglich. Selbst sein trefflicher Bruder John, ein
liebenswürdiger Charakter und tfichtiger Gelehrter, der als
Geistlicher und Fellow des Bennet OoUege in Cambridge
wirkte, vermochte nichts über ihn. Seine Sfindhaftigkeit kam
>) An Lady Hesketh, Angiut 1768.
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Das beedireibende CMicht und die Venentthlmis:. 557
ihmmt zermalmender Wucht zum BewiifitseiiL Er hatte ,,ohne
Gott in der Welt gelebt** und sich, der ewigen Verdammnis
wert gemacht Vor diesen Schrecknissen des Geistes waren
mit Eins alle weltlichen Sorgen weggewischt Jedes Kapitel
der Heiligen Schrift schien ihn yon der Gnade anszoschlieSen,
die Parabel vom nnfmchtbaren Feigenbaum direkt auf ihn
gemünzt 0 Eine um diese Zeit entstandene Ode gibt einen
ersehttttemden Einblick in sein Inneres. Er ist tiefer yer^
dämmt als Judas. Der Mensch verleugnet ihn, Gott yerstSftt
ihn, die Hölle sperrt ihren Bachen nach ihm auf. Er ist
gerichtet noch auf Erden, noch im Flasche ist er be-
graben.)) Er legt die Bibel beiseite, als ein Buch, an
dem Teil zu haben, er nicht würdig ist Nachts peinigen
ihn furchtbare Trftnme. Er hört ^tsetzUche Stimmen.
Eines Tages legt sich plötzlich ein furchtbares Dunkel vor
sein Auge. Er fühlt einen Schlag im Gehirn, daß er yor
Schmerz nach der Stirn greift und laut aufschreit: der
Wahnsinn, den er gerufen, ist da.*)
Er wurde in die Irrenanstalt yon St Albans gebracht
AllmMig erwachte sein armes Gemüt aus dem religiösen
WahncL Im Gesprftch mit dem liebevollen Bruder dlmmerte
ihm die Hoffnung auf: „Und dennoch ist die Gnad&^ Die
Bibd gew&hrte ihm Trost, Erbauung, Genesung. Das
Gefühl des Wiedergesundens war Genufi. „Was habe ich
nicht für Freuden gehabt, seit es Gott gefallen, mir die
Vernunft wiederzugeben!^ schreibt er (Juli 1705) an die
«) Memak, Soathey 182.
*) Sonihey, 141.
0 In den OreviOe Memain woll ridi (OL, 1S4— 85) die Andentang
eines physiBchen Qebfecfaeni finden, das Jemand an Cowper entdeckte
nnd mit dessen EnthflUnng man ihm Tennntlich gedroht hatte. Daher
seine Flacht ans dem Parlamente nnd sein krankhaft gereiater Geistes-
anstand. (Wright, 107).
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558 DwbMohnilmde Gedickt imd die TimnlUiu«.
txwe Base Harriat Cowper, dto mittkrweilA Imäy Hesketh
geworden war. Er rerfaftt (1764) Ä Sang of Memß and of
JiH^emai<(EinLiedd«rO]uide!i]id des GerichteaV) Er ftUt
aieh nim im Olaaben geborgw und wttnsdit nnri da< aDe
seiM Fremde Ghristen wirei. „Als ich 8t Albaas TerlieS^
schreibt er am 2L AprU 1786 an Lady HeskeOi, „yerUeA icb
es dnrehdrangen Ton der RriHtffli Gottes nnd der Waltr-
heit der Sehrift^ wie idiM nie znTor gewesen. leb empfand
eine nnansqKrechliebe Wonne in dieser Entdeckung nnd
war nngednldig, andan ein Gliek miftrateilen, das allem,
was diesen Namen trigt^ flberlegenist^ Ciowper leigte aldi
nnn von einem fSrmlichen Bekehmngseifer erfillt^ dem sein
guter Bruder mit der Geduld nnd dem Takt der liebe
Stand bielt Entscblossen, ein neues Leben in jedem Sinne
SU beginnen, wolUe er nicht mehr nach London zur«A-
kehrM, son4em in Johns Nähe bleiben. Seine Wahl traf
das Stkdtdien Huntingd<m, die Heimat des alten Historikers
Henry. Obzwar Gowpers Einkommen sich so yenuiget hatte,
daS er für seinen Lebensunterhalt zum Teil auf die Spenden
seiner Verwandten angewiesen war, nahm er dmnoch ans
der Anstalt nicht nur seinen treuen Pfleger Sam Roberts
mit, „den die Vorsehung eigens auf seinen Weg gestdlt
zu haben schien^, sondern er unterzog sich auch der Sorge
für einen Knaben, Bidiard Golemen, den Sohn eines trunk-
süchtigen Schusters in St Albans, zu dessen Bettung er sieh
Yom Himmel berufen glaubte. Dies ist ihm freilieh
nicht gelungen und die Opfer, die er lebenslang sowohl
fflr diesen unwürdigen Schätzung als sp&ter zu gleichem
Zweck für, ein M&dchen gebrachti erwiesen sich als yer^
geblidt
0 IhpMMhed Poem, 1900.
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Dti beMhrabttnde GMieht und die VeneniUiUHr. 559
Eine Wdle fOhlto Cowper sieh nun an Leib nnd Seele
ToUkommen gr^nnd nnd befriedigt Allee eischien ihm im
rosigsten lichte. . Sein Diener war das Urbild d^ Treue
nnd Ergebenheit, Hnntingdon, die angenehmste der StädtaO
Eines Tages gesellte sich ihm auf einem Spaziergange, tob
seinem ansprechenden Änfiem gefesselt, ein Cambridger
Student William Hawthome ünwin. Eine , wunderbare
Sjrmpathie zog den einen zum andern« Gleich beim ersten
Zusammenseüi schatteten sie einander das Herz ans. Heim-
gekehrt, betete Oowper zu Gott, er mi^ der Hüter dieser
Frenndschaft sein, wie er ihr Urheber gewesen, er mOge
ihr Innigkeit und Dauer bis in den Tod geben, pies Gebet
hat der Himmel gehört 2)
Bald war Gowper in der Familie des jungen. Hannes
heimisch. Der Vater, Morley Unwin, ein schon b^ahrter
Geistlicher und SchnUehrer im Ruhestande, madit ihm den
Eindruck eines Pfarrer Adams. Aber sowohl er als die
achtzehnjährige Tochter Snsanna, die 177i einen Pfarrer in
Powley (Yorkshire) heiratete, werden in Schatten gestellt
durch Mary, die Frau des Hauses. Sie ist um einige Jahre
älter ala Cowper. Zwischen ihren religiSsen Ansichten
herrscht y&Uige Übereinstimmung. Ihre Gespräche tun
sdner Seele wohL „Diese Frau ist ein Segen ffir midil''
sckffeibt er. Kurze Zeit darauf, im November 1765, als er
dank seiner praktischen WirtschaftsfUirung in Tier Monaten
sein Jahreseinkommen yerbraucht hat, f&hlt Mary Unwin
sich gedrungen, ihn der Beschwerde eigener Haushaltung
zu überheben, und, nachdem ein Wink des Himmels ihm &ber
eine kurze Unschltssigkeit hinweggeholfen, siedelt er zu den
Unwins ftber. „Hier habe ich die Bast gefanden, die Gott
<) Brief an Hill, 24, Juni 1765.
•) Wright, 187-
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MO Du b€Mhnib6ftde Qtdidrt und die TemniUug.
mir bereitet^ Mit diesen Worten sddiefit Gowper aeinea
fttr die Frenndin rerf afiten Lebensabrifi, der hanpteieUidi
eine Qesehickte seiner Endehong zum Gl&nben ist nnd daher
trots des enistesten Dranges nach Wahilidt den Ter-
Ultnissen nnd Personen seiner Wildheit ond Jugend in-
folge der frömmelnden Stimmung, in der er jetit anf sie
sorfickbliekty kaum ganz gerecht wird.
Die Atmo^hire des ünwinschen Hauses war von
metfaodistischem Pietismus durchtrinkt FolgoidemalieD
schUdert Gowper Lady Hesketh (20. Oktober 1766) seine
Tageseinteflung: Zwischen acht und nenn gemeinsames
FrOhstfick; darauf Bibel- oder sonstige religiöse Lektüre
bis 11; dann Gottesdienst. Von 12—3 beschkftigt sich
jeder fOr sich. Nach Tisch religiöse Qespriche» gewöhnlich
bis zum Tee im Garton. Bei schlechtem Wetter geistliche
Musik. Mrs. Unwin spielt Hsrfe. Man singt Hymnen. Dann
ein tüchtiger Spaziergang. Abends geistliche Lektüre und
Gespriche bis zum Abendbrot Zum Tagesschlufi ein Hymnus
oder eine Predigt und das Abendgebet Oowpers Bri^ sind
Ton religiöser Überspanntheit oder theologischer Grübelei er-
füllt Alleirdischen InteressenschmmpfeninniehtszusammeD,
seitdem sein Augenmerk auf das Jenseito gelenkt worden.
Ja» dieser jedes andere Interesse aufsaugende Gedanke frftfie
selbst sdner Freundschaft wie ein Wurm das Herz aus,
wäre sie nicht auf christliche Grundsitze gegründet Solche
Freundschaft aber ist die Liebe, die der heilige Johannes
einschärft; ja sie ist die einzige Liebe, die diesen Namen
yerdientO
Der Plan, Geistlicher zu werden, stand plötzlich wie
eine Pflicht ror ihm; aber die Vorstellung, Olfentlidi zu
0 Brief an Lady Hesketh, 18. Oktober 1765.
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Das besehieibeiide Gedicht und die Venenahlang. 561.
sprechen^ erfüllte Um neuerdings mit krankhaftem Ent-
setzen und zwang ihn zur Entsagung. Vermutlich ist es
keine Übertreibung, wenn sein letzter Biograph, Thomas
Wright^ behauptet, daß eine berufliche Beschäftigung Cowper
dreiviertel seiner Leiden erspart hatte.^ DieuneingeschrSnkte
MuSe, verbunden mit der pietistischen Atmosphäre des Unwin-
schen Hauses steigerte Cowpers Sngstlich grübelnde Selbst-
beobachtung ins Krankhafte. Er kann sich nun in Demut
und Zerknirschung nicht genug tun; immer stöbert er in
einem yerborgenen Winkel seines Gem&tes noch einen Best
Ton strafbarem Hochmut oder von Eitelkeit auf.
Für den Augenblick freilich fehlt ihm nichts zu seinem
Glflck. Seine einzige Soi^e ist, ob er nur das Hafi Dankbar-
keit aufbringe zudem er rerpflichtet sei') Er schafft sich
fOr die Besuche bei seinem Bruder in Cambridge ein Pferd an
und spinnt sich bis zur geistigen Unbeweglichkeit in das
kleinbürgerliche Philistertum seiner Zur&ckgezogenheit ein.
Die Stelle eines Treasurers at Lyon'a Jnn^ die ihm 1765 an-
geboten wird| lehnt er ab. Spftter (1790) schlägt er einmal
die Einladung einer Cousine nach Norfolk mit den Worten
ab, sie kSnnte ebenso gut das Haus einladen, in dem er
wohnte.
Allein schon 1767 nahm das Idyll im Unwinschen Hause
ein jähes Ende durch den plötzlichen Tod des alten Pfarr-
herm, der an den Folgen eines Sturzes vom Pferde starb.
Ein Ortswechsel schien der FamiUe, in deren Mtte Cowper
auch weiterhin zu verbleiben beschloß^ erwttnscht Bei der
Wahl einer neuen Wohnstätte kam hauptsächlich der Seel-
sorger in Betracht^ und so gab die fesselnde Persönlichkeit
des Pfarrers yon Olney, John Newton, dessen Besuch Mrs.
») s. U7.
^ An Major Cowper, la Oktober 1765.
GMehiehte der eoffliiehen Bonuaitik 11,1. 88
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ünwin einige Tage nach der Katastrophe empfing, den
Anaaehlag.
John Newton (f 1807) hfttte seine Lanfbahn als See-
mann im Dienste des SUarenhandels begonnen. I^ter
bekehrte er sich za WUberforce nnd legte in einer Sdirift
Thoughts ifpon ihe Afirican Slave Trade (Qedanken über
den afrikanischen Sklaroihandel) cdne renige Beichte setner
TOTmaligen Termchten T&tigkeit ab, aber deren Schftndlidi-
keit ihm nnn die Algen anl^fegangen. Die Naekfolffe CkrigHy
die ihm znf SUig in die Hand fiel, hatte sein Heiz gewedd
Er sehnte sich nach rein menschlichem Wirken nach dem
YorbUde Wesleys nnd tlbemahm 1764 die Pfarrei von Olney
(Bedfordshire). Mit Mnt nnd Ansdaner, nimmennftde, nie
anf Dank bedacht, lag er seinen Amtspflichten ob. War
sein BUck anch mitunter beschrinkt, so besaß er doch
ein groSes Herz. Seine Oard^phama enthUt Stdlon von
hoher Schönhrit, roll echtestem Streben nach dem Guten
nnd Wahren. 1) Kein unbedeutender Theologe, iroll religiSser
Begeisterung und dabei liberal, an^^ekl&rt, poetisch begabt
und Ton romantischem Literesse verkUrt durch die yet-
Sffentlichte JBrs&hlung sdner Jugenderiebnisse — „einem
für das Zeitalter SmoUetts und Wesleys nicht nunder
charakteristischen Denkmal wie Cellinis Selbstbiographie
ffir die Renaissance^ >) — so war der damals 42]ihiige
Newton sicherlidi keine alltiigliche Erscheinung. <)
Im Herbst 1767 nahmen Gowper und die ünwins ihren
Wohnsitz in Olney, einem unscheinbaren Dorf e in flacher Moor-
landschafi „Beinahe zwölf Jahre lang^, sagt der Dichter,
„waren wir selten Unger als sechs Stunden getrennt ...
1) William Benhun XXXTff.
*) Goldwin Smith, 87.
^ Bmoe LXIIL
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Du bMehrabende Gedicht und die Tenenfthlung. 563
Die ersten sechs Jahre vergingen mir in t&glicher Be-
wunderung Newtons und dem Streben, ihn nachzuahmen;
die anderen sechs wanderte ich sinnend mit ihm im Tale
der Todesschatten.^
Cowper half dem Pfarrer in den Werken der Barm-
herzigkeit^ besuchte die Armen, trOstete die Kranken, betete
mit denBetrabten.0 Auch als Schiedsrichter diente er äet
BeyöIkerQng, obzwar er behauptete, weniger als irgend ein
Landriehteryon der Jurisprudenz zu verstehen.') Es kannfür
den Unparteiischen heute kaum zweifelhaft sein, dafi diese
BeschUtigung Cowper in demselben Maße schadete, als sie
von Newton in bester Absicht angeregt ward. Schon
Southey erkannte den Sbeln Einflufi von Newtons System
der Aufregung und seiner übereifrigen Dienstb^issen-
heit^.*) Ja, Newton selbst scheint mitunter der Verdacht
aufgedimmert zu siBin, daß er in seinem Streben wohl-
zutun und Schaden zu veriiüten^ den rechten Weg ver-
fehle. Er schreibt an Thomton: „Ich glaube, ich bin in der
Umgegend dafür verrufen, dafi ich die Leute toU predige
und es sind ihrer ein Dutzend, deren Kopf nicht recht
beisammen ist ^4) Sdion Leigh Hunt tat (1809) den Aus-
spruch, d^ religiöse Eifer habe unter dem Vorwande, die
Wunden von Cowpera sanftem Herzen auszuglühen, ein
feuriges Band darum gesdmürt^
Im Mftrz 1770 verlor Cowper seinen Bruder John. Ob-
zwar selbst dn lauterer, schwürmerischer Qiarakter und
zeitlebens unter dem Druck einer als Schuljunge empfangenen
0 Hayley 1, 226.
s)Biiflf «liHm, CMailTBO.
•) Hajl^ n, 267.
«) Sonthey 1, 27a
0 Evn% AnAUemptioam>theFoa^andD<mgerofM€Uiodim,l^
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564 Du beMiMibende QMxkt und die VenerdAliuig.
Zigemerwahrsagang, hatte John der pietisÜBcheii Beligioiis-
anschaaimg Williams doch stets passive Besistenz geldstrt.
Erst auf dem Totenbette liefi er sich yon ihm bekehren und
Cowper schrieb die Gfeschichte dieser Seelenrettnng scUidit,
herzlich ond eindradonroU nieder nnter dem Titel: Aädj^kL
A Sisekh of fke Ckaraeter^ and am Accaumt of ihe Ittmess cf
ihe Lote Beif. John Cowper A M^ Fellow of Bennet College,
Cambridge, who finisked Mb Courae wüh Joy, Martha, 1770.
(AdelphL CSiarakterskiflEe nnd Krankenbericht des tbt-
storbenen hochwfirdigen Herni Jdin Gowper, Magister
Artinm, Lehrer am Bennet College, der s^e Bahn in
Freuden am 20. Mirz 1770 beschloß). Die Erzlhlnng, die
sich SU einer psychologischen Studie über das rdigifise
Qemftt yertieft, hat Newton nach C!owper8 Tode (1802)
herausgegeben.
Um seine Gedanken von dem herben Verluste ab-
zulenken, der sein Gemfit verdüsterte, und seine Gedanken
auf einen anderen Gegenstand zu konzentrieren, regte ihn
Newton (1771-*72) zur Abfassung religiöser Hymnen an,i)
die gemeinsam mit des Pf äirers eigenen SeelenergOasen als
The Olney Hymne 1779 erschienen und auSerordenÜich volks-
tümlich wurden. Die 68 von Cowper herrührenden sind der
Mehrzahl nach an ]Kbelstellen geknftpfte erbauliche Be-
trachtungen. In einigen tritt das persönliche Geffild mit
einer Kraft des Impulses und des Ausdruckes hervor, die
Cowper zum Y oUblutlyriker stempelt, so das inbrUistige Gebet
Looldng Uptcard in a Storm (Im Sturme blick ich empor); das
von tief empfundener Überzeugung getragene Peaee öfter
Storm (Friede nach dem Sturm); das von melodiöser, inniger
Zartheit durchklungene Loveet (hon me? (Liebst du mich?).
1) Sonth^ 1, 250.
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Das besehzeUie&de Gedieht und die Venentthlmig. 565
In The Contrife Seart (Das zerknirschte Herz) ringt er
mit seinem stahlharten Herzen, das gegen alles gefflhllos
ist, aoBer gegen das Leid. ,,Herr!^ stöhnt er, «^Herr,
zerbrich dieses Herz oder heUe esP In Wisdom (Weisheit)
strOmt die Fülle glftabiger Begeistening, die hier znr be-
seligenden Erkenntnis wird, in den Orgelklilngen eines
Tollen reichen Verses ans, von dem jede zweite Zeile
wdblich reimt — ein Hymnns, der verdiente, nnter die
Kirchenlieder der protestantischen Gfemeinden anigenommen
zu werden«
Der befreiende nnd gesondende Einflnft, den Newton
von der Poesie ftbr Cowpers GemOt erhofft hatte, blieb
gleichwohl ans. Zn Beginn des Jahres 1778 nahm seine
Schwermut die Form eines verzweifinngsvoUen religiösen
Wahnes an. Die unmittelbare Veranlassung soll ein er-
schütternder Traum gewesen sein, der ihn Ende Februar
1778 mit der furchtbaren Gewißheit erfflllte, dafi seine
Seele verdammt seL^ Die Vorstellung, dafi er von Gott
gerichtet sei, war ja schon bei seiner ersten Erkrankung
die traurige Form seines Leidens gewesen. Cowper hörte
auf zu beten, weil seine Seele sich nicht vor Gottes Antlitz
wagte, von dem sie sich verstoßen glaubte. Wenn vor dem
Mahle die Hausgenossen betend um den Tisch standen,
setzte er sich und nahm Messer und Gabel in die Hand,
um anzudeuten, daß er in dem niederschmetternden Bewußt-
sein seiner Unwfirdigkeit an der frommen Übung nicht
teilhabe.))
Am 27. Oktober 1788 sehreibt er an den Pfarrer William
BuU: „Beweisen Sie mir, daß ich ein Recht habe zu beten
und ich will beten ohne aufzuhören — ja, beten selbst
0 Wright, 206.
^ Bbcnda, 882.
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566 DMlMt^ieib«ndeG^ckiudateV«neniUiii«r.
im ySchoBe dieser WBSie\ vdt der yerglidien die des Jonas eii
Palasty ein Tempel des labendigeii Gottes wir. Aber lasses
Sie mich hinsiifBgeii: es gibt in der hdligen Sduift kdne
so yiebimfassende Errnntigüng, dafi sie meinen Fall mit
emschlSsse, noch einen so wirksamen Trost, dafi er mich
erreichte. Ich enfthle es Ihnen nicht, weil Sie es nicht
glanben können; könnten Sie es, so würden Sie mir be-
stimmen. Und dennoch wttrden Sie die Sftnde, nm derent-
willen ich Ton den Vorrechten ansgeschlossen bin, die ich
sonst genofi, nicht fflr Sflnde halten. Sie würden mir sagen,
dafi es eine Pflicht war. Dies ist sonderbar. Sie werden
mich ftbr rerrBckt halten, aber ich bin nicht verrttckl)
edler FestosI Ich bin nnr in Yerzweiflnng.^
Als Erankheitszentnmi in Oowpers Leidensdasein wird
dieser Traum yermntlich überschätzt, da die krankhafte
Veranlagong schon wesentlich früher nm Ausbrach ge-
kommen war. Allein, wie dem auch sei, für ihn kam es
kaum in Betracht, denn Newton und Mr& Unwin be-
handelten seinen Oeisteszustand als diabolische Heimsachnng
und zogen den Arzt erst nach geraumer Zeit zu Bäte.
Von diesem yerhftngnisyollen Irrtum abgesehen, ist ihr
persönliches Verhaltoi ein Denkmal des unbedingtesten
Opfermutes selbstloser Nächstenliebe. Mag Cowpers Er-
krankung die Absicht eines Ehebündnisses zwisdien ihm
und Mary Unwin yereitelt haben oder nicht — Sonthey
stellt diese Vermutung entschieden in Abrede, — Tatsache
ist^ dafi ihr Herzensbund von puritanischer Hingebung und
höchstem Adel einer lebenslangen idealen Liebe unter die
schönsten Seelenerscheinungen der Literaturgeschichte zihlt
Mary Unwin war bei dem Tode ihres Gatten 43 Jahre alt
(7 Jahre älter als Cowper), von offenen, schlichten Gesichts-
zügen, die sowohl die herbe Strenge ihrer sitüicheii Über-
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Dm bMcliniiieiidd CMidit und die VenenlUimgi 567
zeagnng wie ihr stilles, müdes Franentnm spiegelten. Lady
Hesketh schildert rie (Juni 1786) ihrer Schwester als frfihlich^
stets bereit zu lachen und nicht im entferntesten preziOs. „Sie
scheint ein groSes Kapital ron Heiterkdt zn besitzen. Oroli
mnfi es wahrlich gewesen s^, nm bei der Abgeschlossen*
heit ihres Lebens und den Sorgen nm ein Wesen, das sie
sicheiüeh so liebt^ ala ein Mensch den andern lieben kann,
liicht aufgezehrt zn werden. Ich will nicht sagen, daß sie
Um yergSttert, denn das hielte sie ftbr unrecht, aber sie
scheint gewiß die wahrhafteste Bttdosicht nnd Neigung für
dieses ausgezeichnete Geschöpf zu besitzen und kennt, wie
ich schon sagte, im buchstäblichsten Sinne des Wortes
keinen Willen, keinen Schatten einer Neigung, als die seinen«^
Und ferner: „Wie sie die beständige Pflege Tag nnd Nacht
durch die letzten 18 Jahre ausgehalten hat, ist mir, ich
gestehe es, unverständlich. Und, um ihr gerecht zu
werden, muß ich sagen, daß sie alles mit einer Leichtig*
keit Yollbringt, die jede Idee eines Opfers ausschließt Sie
spricht in den höchsten Ausdr&cken ron ihm nnd, dank ihrem
wunderbaren Vorgehen, wird er in Olney niemals anders
als mit der äußersten Achtung und Verehrung genannt.'^
Mary ünwin und C!owper führten gemeinsame Kasse, ob«
zwar seine Einkünfte kaum die Hälfte der ihren betrugen. Sie
war seine einzige und ausschließliche Pflegerin, denn wenn
er auch in seinem Wahne meinte, wie alle flbrigen hasse selbst
sie ihn, duldete er doch niemand andern um sich. Es gab Zeiten,
in denen er nur sprach, wenn er gefragt war, glaubte, daß sein
Essen vergiftet sei und versuchte, sich das Leben zu nehmen,
„es Gott zu opfern.^ 0 ^^ l^^^^T ^^ ^^^^ mflhsam fiberredete,
den damals ans seiner Nähe verbannten Newton wieder
') Biiü au.Lady Hfid[elh, 16. Jamuur 1786.
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508 Du beicfareibeiide Gedichi lad dk Vcnwrfhlimg.
aufzusuchen, war er nielit mehr zur Heimkehr aa bewogen
und blieb eineinhalb Jahre im Nachbarhansa Wem
auch Freondschaftsopf er in erster Linie den direii, der sie
erwdst» so gebw sie doch andrerseits dnen Matstab fitr die
Wertschätzung dessen, dem man sie bringt Man innfi
Cowper im Hanse Newton sehr geliebt haben, nm den trttb-
seligen Gast aditzehn Monate lang ertragen zu kennen.
Im Mai 1779 besserte sich seinZostand. Er zddmete,
begann, sich mit alleriei Haadwerkerarbeit nnd mit der
Gartenpflege zu beschBftigen. IMe Erfolge seines Qe-
wSchshanses nnd die ZShmnng dreier Hasen, die ^ in
einem Aufsätze fflr das Omäeman's Magarine, Jnni 1784,
beschrieben hat^ erfflUtra ihn mit Interesse nnd Genngtnnng.
In der Segel pflegte er jede neue Beschäftigung mit Feuer-
^er aufzugreifen, der aber bald verpuffte. ^
Newton hatte seine Pfarre in Olney mit ein^ Londoner
vertauscht. Wie grofi auch der Verlust war, den das Auf-
hSren dieses täglichen Verkehrs fOr Cowper bedentete^
der Gesundheit seiner Nerven mag die Trennung zuträglidi
gewesen sein. Die Stelle des geistlichen Freundes und
Beraters fibemahm der Pfarrer des benachbarten Newport
Pagnell, William Bull, dessen phantasievolles Naturell
dem Kranken Sympathie und Vertrauen einflöfite.
Auf Bulls Drftngen griff er 1780 seine Korrespondenz
wiederaui GowpergehSrtunterdieklassischenBriebchreiber
der englischen Literatur — Leigh Hunt bezeichnet ihn
kurzweg als den besten^) — , obzwar oder vielleicht eben
weil ihm jede schOnrednerische Abeidit, jedes Streben nach
Geistreichigkeit oder nach bedeutenden Themen fem li^
Seinen Briefen haftet durchaus der CSiarakter des Zu-
') An Newton, 178a
•) Leigh HmtB London Jotirtial (Nr. 66), 27* Juni 188&
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Dm beschrabende Gedicht und die VenenShlimg. 569
f ftUigen, Snbjdctiyeii an. Sie enthalten so gut wie nichts &ber
Politik ondy Homer- nndMUtonbetrachtnngen ausgeschlossen,
wenig Spekolatives. Sie bescheiden sich mit den Alltagsvor-
fUlen eines kleinen Kreises, ohne inBanalit&tzn verfallen, und
erzählen schlicht nnd scheinbar kunstlos in einem zur
Vollkommenheit ausgebildeten Natürlichkeitstil, dessen Dar-
stdlungen yon suggestiyer Kraft sind, so daft der Leser,
der ge¥riissermafien den Umriß des Bildes erhftlt, ihn aus
Eigenem mit farbenfrischen und lebendigen Tönen fallt
Obwohl Cowpers bescheidene Zurückhaltung das Analy-
sieren von eigenen Gemütszuständen eher vermeidet als
suchte sind seine Briefe doch mit Persönlichkeit durchtr&nkty
and diese Persönlichkeit ist eine lautere, liebenswürdige,
immer darauf bedacht, den Freunden wohlzutun. Daher
kommt es, daß in den Briefen verhältnismäßig liäuflg ein
humoristischer, heiterer Ton angeschlagen wird, daß sie
mit Scherzen durchsetzt sind. Gowper verbirgt rücksichts-
voll seine Verstimmung vor den Treuen, die sie schmerzen
könnte.
Auf BuUs Anregung geht auch Cowpers Übersetzung
der von dem Freunde lebhaft bewunderten Gedichte der
Madame Otiyon zurück (1782), einer pietistischen Dichterin,
deren Bild im Nonnengewande Cowpers Interesse erregte.
Eine Art gottschwtrmerischer Meditation mußte ihn bei
Madame Guyon als ein verwandtes Element berühren.
Freilich war auch die Beschäftigung mit diesen von
religiöser Oberspannung erfüllten Poesien für Cowpers
Gemüt wenig zuträglich. Indes gelang die Übersetzung
und lieferte manches schöne schwungvolle englische Lied
{TAe NaHvüjf. Weihnacht; The St^aUow. Die Schwalbe).
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570 I)ub6iehnib«nd6 06dkktVBd4kV6neRiUiiiiff.
Dm Desenniiiai der litenurlMkeii PMMkttOB.
Hehr und mAr hatte rieh in der ZAt der PrtfoB;
poetiflcheTfttigkeitalsprobaieBOegengifterwieseiL „Geistäge
Depresrioii'', schreibt Oowper am 12. Oktober 1785 an Lady
Hesketh, „die^ wie ich mir denken kann, manchen abgehalten
haty Schriftsteller pol wwden, hat mich dazu gemacht Mir
ist fortwihrende Beschäftigung notwendig. Handarbdt be-
schftftigt den Geist nicht genfigend, aber Dichten, be-
sonders in Versen, nimmt ihn ganz in Ansprach. Danm
schreibe idi gewöhnlich morgens drei Standen, abends
schreibe ich ab.^ Er sdbst war stets geneigt, seine
poetische Produktion im denkbar beschddensten Lichte xb
sehen. j^Von meinem 20. bis znm 83. Jahre**! schreibt er 1972
an einen Frennd, „war ich mit juridischen Stadien bescfaifiagt,
oder hiltte es doch sein sollen. Vom 33. bis znm 60. Jahre
habe ich mefaie Zeit auf dem Lande zugebracht, wo die
Lektfire nur eine Beschönigung meines Mftfiigganges war,
und wo ich, wenn ich gerade kerne Zeitschrift hatte, zu-
weilen tischlerte oder Vogelkftflge machte oder Land«
Schäften zeichnete oder Gartenarbeit versah. Mit 50 Jahren
begann ich meine Laufbahn als Schriftsteller. Es ist die
Grille, die am Iftngsten und besten angehalten hat und die
wahrscheinlich meine letzte sein wird.^
Hit niederschlagendem SelbstmiBtrauen paarte sich
in seiner komplizierten Natur „ein ungeheurer Eäirgeiz''«
So kam es, dafi er, stets von d«n Wunsche erfüllt sich
hervorzutun, sich fast fünfzig Jahre durdis Leben ge-
stohlen, ohne etwas zu unternehmen. S[aum aber hatte
er endlich die Dichterlaufbahn betreten, als auch der Bnt*
scUuS feststand, seinen Weg zum Ruhme emporzukftmpfeiLO
>) An Lady Haskefh, 15. Mai 1780.
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Dm besdimbeiide Gedicht und die Versenihliing. 571
1781 rerOffentlichte er das aaonjone Pamphlet Änü
Thdyiph^ara, eine Entgegnang auf Martin Handans zwei-
blndiges Werk TM^htkara, ar A TreaUse an Femaie
BMn (Abhandlung über das Verderben des Weibes), worin
der Beweis erbradit werden sollte, daß lant der Bibel die
Polygamie von Gott nicht nur gestattet, sondern seines be*
sonderen Segens teilhaftig seL Der Geistliche Mandan war
Cowpers Vetter. Seine Erbannngsschriften hatten ihm in den
Zeiten des Trübsinnes Trost geboten. Dennoch hielt er sich
jetzt berufen, gegen seine Verirmng fifCentlieh Partei za
ergreifen. Er tat es in einer Art romantischer Allegorie.
Der Held, Airy del Gastor, umschwärmt die im Lande der
Trftume geborene und yon der Phantasie erzogene zauber*
kundige und yerbuhlte Dame Hypothese; doch beide er-
liegen dem Bitter yom Silbermonde, Marmedan. Die Frauen
nnd Jungfrauen triumphieren. Faune und Satyre wehklagen
und entfliehen. Hymen entfacht aufs neue seine Fackel,
segnet den Tag und entsühnt die Statte. Cowpers Tadd
ist nicht bissig, nicht schadenfroh. Seine Muse schwingt
keine Geißel, sondern höchstens ein Birkenreis.
1782 yerStfentlichte er seinen Erstlingsband Sdected
Poems (Ausgewählte Dichtungen, Deutsch yon W. Borel, 1870).
In seiner bescheidenen Selbsterkenntnis tauschte er sich
nicht über das, was ihm zum schöpferischen Dichter fehlt
Er schreibt an Unwin: „Ich habe kein größeres Recht auf
den Namen Dichter als ein Verfertiger yon Hausefallen
auf den eines Ingenieurs; aber meine kleinen Versuche
dieser Art haben mich zu Zeiten so unterhalten, daß ich
oft wünsche, ich w&re ein guter Dichter.^ i) War auch
der unmittelbare Zweck seines Dichtens die eigene Zer-
0 South^ yi, 17.
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572 Dm beü^zelbeBdo G^didit ud die VineniUiiiig.
strewuig, die Ablenkiuig von seiiMn mdancsholisclt^ Ge-
danken, 80 meinte er doch inuneiiiin dnige positiye Be-
rechtigiing zn SffentUchem Hervortreten zu haben. „Ich
glanbte anf einige Gegenstinde gestoßen zu sein, die yorber
noch nicht poetisch behandelt worden sind'', sdureibt er
am 19. Oktober 1781 an Mrs. Oowper, „nnd anf einige^
denen ich dnrch die Art der Behandlnng nnsehwer den
Anschein der Nenhelt geben könnte. Mein dnngo-
Zweck ist, nfitzlich zn sein. Doch weift ich, daß ich yer-
geblich anf diesen Pnnkt abzielen wflrde, warn es mir
nicht gelänge^ anch unterhaltend zn sein.^
Die letztere Eigenschaft wird die Nachwelt ihm vielldcht
am entschiedensten bestreiten. Gowpers Weike haben etwas
yomSchnlezerzitinmansidL uns Dentsdie erinnern sie an den
braven Vo& Die Tatsadie, daß er ttnfzigjUiiig als poeüseher
Nenling vor das Publikum tritt, bezeugt bereits, daß der
Gtenins in ihm kein unbezwingbarer Impula ist Die Zeit der
Jugendfrische^ da er dem freien Walten des Temperamwtes
das Wort geredet, 0 war bereits vorfiber; nach seiner nun-
mehrigen Ansicht hatte der Geist dem Willen, die Natur
der Sitte und Zucht einer höheren Einsicht unbedingt zu
gehorchen. Sehr bezeichnend sagt er im Table Talk:
Proplietlieh Feuer htt mich nie duchgllUit,
Jm SUbenfpiel ergdti' ich mich, im Lied.
Die Sorgfalt, die er der äußeren Form zuwendet, kenn-
zeichnet ihn als einen Abkömmling der Augustfter. Der
heroische Vers ist sein ausschließliches Metrum, das in
seiner Hand abwechslungsreich, flflssig, lebendig wird. Seine
poetische Arbeit ist von so peinlicher Sorgfalt, daß v(m
dichterischem Erguß, von dem Zauber eines poetischen Sich-
0 An Bowlqr, September 1768.
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Das bMehrdbende Gedieht und die TenersSlilimg. 573
gdhenlasseiis selten darin etwas zn spüren ist. ,,Feilen und
wieder feilen^ hält er ffkr das Geheimnis fast jeder guten
Schrift; 0 er selbst wird dessen niemals mfide, und weist die
Arbeit endlich etwas Glanz auf, so fahlt er sich köstlich
belohnt')
Die kritische Kontrolle über seine Gedichte ftbte Newton,
der ihnen die Vorrede schrieb. Die Anregung, ja, geradezu
die Themra f&f sie aber gaben ihm oftmals die Frauen,
die ihm nahe standen. Nichts kennzeichnet ihn mehr als
Dichter, denn der tiefe Eindruck, den seine scheue, schlichte,
leidToUe Persönlichkeit auf das weibliche GemAt ausübte.
Von seinen inneren Gaben ist die Tüchtigkeit der Ge-
sinnung wohl die mafigebendste. „Das Leben'', schreibt
er im Juni 1790 an John Cowper, „ist zn kurz, um Zeit
selbst für ernste Spielereien zu bieten.'' Ein didaktische*
Zweck steht ihm immer in erster Linie. Pragress of Error
(Die Entwicklung des Irrtums) hebt mit der Aufforderung
an die Mnse an: „Singe, durch welche verborgenen Künste
die Schlange des Irrtums sich windet ums menschliche
HerzI ... Ihr Sorglosen, Trügen l Lasset euch warnen!"
Das Leben ist eine Prüfung, aber der Wille ist frei zu
wühlen^ Die unbedingte Verwerfung aller Fatalistik kenn-
zeichnet den Stuidpnnkt^ von dem aus Ciowper die mannig-
falt^en Spielarten des Irrtums betrachtet, um schließlich
bei dem großen Tröste zn landen, der selbst dem Irrtum zum
Opfer Gefallene vor dem unwiderruflichen Verderben schützt,
bei der Macht des Kreuzes, zu retten und zn sühnen. Spiel und
Trunk, jede Art der Geckerei, das Übermaß sinnlicher
Genüsse und weltlicher Vergnügungen sowie einzelne Persön-
lichkeiten nmf aßt der Bahmen dieser Betrachtung. Einer der
>) Brief vom Juli 1780.
*) Brief Tom 9. NoTember 1780.
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574 Dm batehniboidtt Gedieht ud die VenenÜdug.
•tirinten AnaflOIe trifft „den Gott unserer Idolatrie^ die
Prene. Sie itt der ewig spiudelnde Quell endloser Lttgea
Als OegenbUd des Lrtiuns werden die wahren Frcudes
gepriiesen: hänsliches Behagen, Frenndschaft^ guter Bnf und
Mildtätigkeit
Das religitee Lehrgedicht Tru^ (Wahrheit), 600 Verse
über die religitae Wahrheit, die flr Cowper die Wahiheit
sehlechtweg ist, bfldet eine Dariegnng der Lehre von der
göttlichen Gnade. Das Erangelinm ist ein Gnadengeschenk,
das jeden Ansprach auf Verdienst im Empfibigar ans-
schlieüt Der Einsiedler, der Kraft seiner FrOmmigkdt
den Himmel za erwerben hofft, ist so hodmttig wie der
Fharisfter. Die Gnade erbarmt sich der Seele. Ergebnng
ist das Heil der GUnbigen. Geist nnd Gelehrsamkdt
bedeuten nur Schlingen anf dem Wege des Gerechten. Bn
fein an9gefilhrtes Genrebild stellt Voltaire einer amen
Spitzenklfipplerin gegentber, einer Vertreterin jenes dlrftigea
Gewerbes, das Ciowper, der sich (8. Jnli 1780) bei seinem
einstigen Schnlkollegen, dem nunmehrigen Kanzler Thnrlow,
für die armen SpitsenklOppler von Olney verwendete, aus per-
sönlicher Anschauung kannte. Die alte bibdf este Frau ist
demglinzendenSchSngeistflberlegen. Sie besitzt einen Sehatz,
wihrend er nur Flitter sein eigen nennt Auch der ^eptiktf
kann sich der Wahrheit auf die Dauer nicht entziehen.
Cowper war sdbst dn Bibdglftubiger und Bibelgelehiier.
Aus seinem unabltssigen Bibelstudium leitet Hayl^ die
Fflile des Gefühls und der Ausdruckskraft her, die ihn
schliefllich zu dem machte, was er am sehnlichsten zu sein
wünschte, „einem Dichter der CSiristenheit, einem Ermahner
der Welt". 0 „Er kommt gradeswegs rom Studium dar alten
') Hajley n, 28a
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Das besehreibende Gedicht ond die Versentidimg. 575
Propheten", sagt Christopher North, ,,imd in einigen seiner
prtchtigen M&rchen glaubt man die Bibel in eine andere
Gktttang von Poesie umgewandelt zn hören.'' 0 Nur die
Frömmigkeit Ahrt seiner innersten Überzeogong nach zum
Olftck; Wd^eit und öfite sind Zwillinge (licpostHlatian).
In jedem Naturvorgange erblickt er das Walten einer
göttlichen Vorsehung. Dem treuen Hill verweist er einmal
die Sorgen, die er sich um seinetwillen gemacht, mit den
schönen Worten: „Ich zweifle nicht, wenn meine Tage ab-
geschlossen sind, wird es ersichtlich werden, daS idi einem
Herrn diente, der es mir an nichts mangeln liefi, was zu
meinem Guten war.**))
Die Echtheit und Inmgkeit seines religiösen Empfindens
schließt alles Zelotentum gegen Andersdenkende aus. Seine
yermeintlichen Satiren sind im Tone eines wohlwollenden
Weisen geschrieben. Schon Christopher North wfinschte
einen andern Namen fflr diese Oedichte, die erfüllt seien
▼on fast allen Arten edelster Poesie, in denen die Prinzipien
des Olaubens, der Freiheit, des Patriotismus großartiger
denn je zuvor dargelegt würden, in denen der Dichter einher-
schrdte wie im heiligen Zorn, wie ein Qottgesandter.*) In
BeHrement (Zurtckgezogenheit) spricht Gowper das goldene,
eine ganze CSmrakteristik aufwiegende Wort: „Wenn ich
tadle, bemitieide ich.«" In Charity (Barmherzigkeit) sagt
er: „Entfacht nicht liebe zur Tugend die Flamme, so ist
die Satire tadelnswerter als jene, die sie brandmarken soll.**
Ein wesentlich dfirreres Lehrgedicht als Truth ist
Comfersatian (Gespräch), eine ebenso ausftthrliche wie trodcene
Anleitung zu dieser Eunst^ die, obzwar hi erster Linie auf
>) Esuiifi CriUeäl ond ImagnuOive 1, 287.
*) Hayl^ n, 288.
>) E$$ayM Oritkai ond Imßgmatioe 1, 287.
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576 Dai bMcfanibend« Gedieht ond Me VenflidUiiBff.
nat&rlicher Begabung benihBiid, nach Cowpen Daftrhalteti
durch Pflege doch wesentlich reryollkommt werden kann.
Er klagt, daß Abschweifangen sehr in Mode, Gedanken
selten seien. Es ist fast wie Selbstkritik seiner Verse.
Dasjenige nnter den Gedichten, von dem Cowper sich
den größten Erfolg yersprach, ist TcMe Talk (Tischgesprüch),
,,ein Mischmasch von yielerlei Dingen'', wie er es in einem
Briefe nennt Die Taf elnnterhaltnng zweier Freunde erhd>t
sich gelegentlich zn einem fast Schillerschen Pathos in der
Betrachtung von Wfirde, Tugend, Ehrgeiz, Auch auf
politisches Gebiet wagt sich Cowper. Er bezeichnet die
Freiheit als Grundlage jedes bflrgerlichen Glfickes und
ginge sie selbst zu weit und verlöre sich in Anardiie —
man erschUgt sein gutes Boß nicht, weil es im Laufe
q^ringt und sich bftumt, sondern man zflgdt es. Disziplin
erweise ihre Kunst an der Freiheit Auch auf aktudle
Zust&nde geht C!owper ein. Hatte er in The Progress of
Error die Begleichung der Nationalschuld erwogen, so be-
trachtet er hier die No Poperff Bhts (1780) und lobt
Chatham. Doch leitet ihn der Standpunkt, daß es die Vor-
sehung sei, die den Patrioten inspiriere. In Chariijf tritt
C!owper mit WArme für die Freiheit ein. Sei frei! ist
das Motto, das die Natur jedwedem Wesen aui^prSgt
Die Tiere sind freiheitsliebend. Der Mensch aber macht
den Mensche zu seiner Beute. Der Brite sollte wissen,
daß vor Gott alle Menschen gleich seien.
In schonen Versen auf Whitefleld (Leitecmomus) und
andere Philanthropen wendet Cowper sich g^gen die wider-
natflrliche Grausamkeit der Sklaverei So l&ßt er auch in
The Moming Dream (Morgentraum) ein herrliches, am
Schiffsteuer stehendes Weib, Britannia, ausrufen: Ich gehe,
Sklaven frei zu machen! Diese Gesinnung bekräftigte
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Das beschreibende Gedicht nnd die Verserzählang. 577
Cowper einige Jahre später noch durch ein Sonett an
Wilberforce. Doch bedeutet ihm die Negerfrage „ein
abscheuliches und wiederliches Thema'', auf das er nur
fremder Anregung folgend eingeht in The Negro's Complaint
(Des Negers Klage), dessen halb revolutionäre, halb senti-
mentale Schwärmerei typisch ist für die Empflndungsweise,
welche der Europäer des 18. Jahrhunderte fälschlicherweise
dem afrikanischen Schwarzen unterlegt. Ea^ostulation
(Ernste Vorstellung), ursprünglich als eine Geschichte
der Juden geplant, i) spielt auf damalige britische Zu-
stände an, auf die gedrückte Stimmung nach dem
amerikanischen Kriege und die Unzufriedenheit über die
Tateakte und andere Maßregeln* der inneren Verwaltung.
Die Muse weint über England wie der Prophet über Israel.
Sie hängt die Harfe an die alte Buche, in der noch feierlich
die Wahrheit rauscht, und wenn der kalte Wind über die
Saiten streicht, seufztderDichter über ein Volk, das, gegeißelt,
dennoch mit der Eeue zögert
Übrigens ist Cowper nach seinem eigenen Ausspruch nichts
weniger als ein Politiker. Hat er die Zeitung aus der Hand
gelegt, 80 interessiert ihn das Gedeihen seiner Frühbeet-
gurken mehr als jede große, wichtige Sache. „Lassen meine
Blumen ein wenig die KOpfe hängen, so vergesse ich, daß wir
seit vielen Jahren Krieg haben, daß wir einen demütigenden
Frieden geschlossen, daß wir tief in Schulden stecken und
zahlungsunfähig sind. Alle diese Erwägungen werden im Nu
durch eine Pflanze verdrängt, deren Frucht ich, wenn ich
sie zur Beife gebracht, nicht essen kann. Was für ein
weises, konsequentes, ehrenvolles Geschöpf ist doch der
Mensch! **0
0 Wright, 296.
s) Brief an Newton, 8. Fehruar 1783.
Ckichiehte der enifUfohen Bomaatik n, 1. 87
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578 Das bescbreibeiide Gedicht und die Venen&hlimg.
Innerhalb dieser engen Schranken seines politischen
Interesses ist Cowper Whig, wfinscht jedoch als wahrer
Freund der Eonstitation, die Macht gleicherweise zwischoi
König, Lords nnd Oemeinen verteilt zu sehen. 0 Er ist
unbedingt loyal Eines seiner frühesten Gedidite, das
lateinische On Loyalty (1754) mahnt, die Könige nidit
anzufeinden, über deren Haupt die Krone gar mannigfaltige
Leiden bringe. >) Er schreibt 1789 Gedichte auf die Genesung
Seiner Majestät und auf den günstigen Erfolg seiner Seebäder,
treibt aber seine Ergebenheit nicht bis zur Fursten-
dienereL Wir lieben den König, heifit es in The Task (V),
aber dessen eingedenk, daß er nur ein Mensch ist,
trauen wir ihm nicht ztt weit ... Er ist unser, um d^
Staat zu verwalten, ihn zu schätzen, um zu sparen, doch
nicht) um ihn zu vermehren, zu yerändem. Wir sind sein,
um ihm zu dienen in gerechter Sache, doch nichts um seine
Sklaven zu sein.
Und femer: Die Könige sind für die Menschen da, nichts
wie sie häufig glauben, die Menschen für sie. Sie teilen
das allgemeine Menschenlos: sie stehen und fallen durch ihr
Benehmen. Welche Gelegenheit wird ihnen, Gutes zu tun
und zu fördern! Aber wie selten begreifen und nützen sie
sie! Von Kind auf beweihräuchert und dennoch mit Miß-
trauen beobachtet) scheinen sie ihm bedauernswert Er möchte
nicht König sein. Das Gedicht Heroism (Heldentum), 1782,
zeigt den Machthabem im Feuer des Ätna ein Symbol
des Unheils, das ehrgeiziger Stolz zeitigt „Ihr heroischen
und lorbeergekrönten Helden seid nichts als die Ätna der
leidenden Menschheit^, ruft er aus.
0 An Lady Hesketh, Mai 1793.
*) ünpvblished Poem, 1900.
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Das beschreibende Gedieht und die Verserzählnng. 579
Die Revolution liegt so außerhalb von Cowpers Gedanken-
und Gefühlssphäre, daß sich in seinen Briefen nnd Gedichten
kaum eine Bemerkung aber sie findet Im März 1793
schreibt ' er an Bagot, die TollkSpfe in Frankreich seien
eine entsetzliche Basse; er habe einen Abscheu vor ihnen
wie vor ihren Prinzipien.
Far die amerikanische Unabhängigkeitsbestrebung
fehlt ihm das Verständnis. Er schreibt am 24. Februar
1783: „Sie haben Leidenschaft und Eigensinn genug ge-
habt, um uns viel Übles zuzufügen, aber ob das Ereignis
für sie selbst zum HeUe sein wird, müssen wir erst ab-
warten."
Der Besitznahme Indiens sieht er als entschiedener
Gegner zu. „Wäre ich Schiedsrichter in dem Streite",
äußert er am 20. Januar 1784 zu Newton, „ich bände
diesem Patronat ein Talent Blei um den Hals und ver-
senkte es in die Tiefen der See. Weniger bUdlich zu
sprechen: Ich wfirde von der Grundeigentumssteuer absehen
in einem Lande, an das wir kein ßecht haben, das wir
nur ohne jede Gewähr für das Glück seiner Bewohner
regieren können und mit der Gefahr, uns selbst entweder
fortwährenden Händeln oder daheim der unerträglichsten
Tyrannei auszusetzen". Er mißtraut dem Hofe, die Patrioten
scheinen ihm verdächtig, die Company hat jedes Vertrauen
verwirkt Es gibt nur ein Heilmittel: völlige Vernichtung
der englischen Autorität in Ostindien.
Eine Reihe von Gedichten widmet Cowper allgemeiner
Betrachtung: Hope (Hoffnung), deren Lächeln alle
Schätze der Welt nicht aufwiegen; Betvrement (Zurück-
gezogenheit). Die Weisheit, Abklärung und Objektivität
dieser Gedichte flößt an vielen Stellen Bewunderung ein.
Das Thema wird von den verschiedensten Seiten beleuchtet
37^
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580 Das beschreibende Gedicbt und die Verserzählnng.
und als Endergebnis ein allgemeines, möglichst wenig sub-
jektiv gef&rbtes Vernanftorteil angestrebt. Der Pessimist,
der auf die Frage: Was ist das Menschenleben? antwortet:
Eine rastlose Flut, ein eitles Verfolgen flüchtiger, falscher
GHitter, eingebildetes Gl&ck, tief empfundene Sorge, die m
Dunkel und Verzweiflung endet; der Optimist, der in der
Natur nur Herrlichkeit und Glanz erblickt und in der
Sprache aller Dinge nur das eine „Freue dich!" yer-
nimmt — sie beide werden gehOrt (Hope). Diejenigen, die
einem hoffnungslosen Schmerz nachhängen, die ein ge-
träumtes Glück suchen, die einer Grille, oder dem Hang
nach Einsamkeit, oder der Mode folgen, die der Überdruß
oder die Armut treibt — sie alle kommen zu Wort
(Betiremeni).
Im großen und ganzen ist es die Beligion, die bei Cowper
immer und überall, in allem und jedem das letzte wie das
erste Wort behUt Im Table Talk bezeichnet er sie als
das einzige noch unersch&pfte Thema der Poesie. Von der
menschlichen Barmherzigkeit geht er zur göttlichen über,
von der irdischen Hoffnung zur himmlischen; die politischen
Angelegenheiten dieser Welt verschwinden neben den Ewig-
keitsfragen. Vor allem aber steht seine Naturbetrachtung
,,8ub specie DivinitaHs^'. Wenn seine Phantasie in groß-
artig schrecklichen Naturschauspielen nicht ohne Wohl-
gefallen bei Grausigem verweilen kann, so geschieht es, weil
es von Gott, nicht von Menschen, hervorgebradit istO
Überall erblickt er das zweck- und absichtsvolle Eingreifen
eines persönlichen Gottes. Der Ozean enthüllt Gottes Macht
und Majestät. Er erregt den Sturm, er beruhigt ihn. Die
Werke der Natur werden übertroffen von dem, der sie
») Brief an Bagot, Juni 1788.
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Das beschreibende Gedicht und die Verserzählnng. 581
schuf (Betirement). In demselben Gedicht läßt Cowper die
Himmelstochter Natnr von der Eeligion auf die Erde
gesandt werden, nm allda zn tanzen nnd jedes Auge zn
entzücken. Er wählt sie znr Mnse als Stellvertreterin
und Mittlerin der Gottheit ,,Breite deine Zanber ans,
wenn ich die Leier berühre!" fleht er; „leite die kunst-
lose Hand, auf daß ich erhasche die selten empfundene Glut".
Wehe dem Menschen, dessen Geist auf seinen Endzweck
verzichtet, der nur glänzt, um zu verführen, der die Natur
mit leichtfertigem Auge studiert, das Werk bewundert, doch
an seiner Lehre vorübergeht.
Dennoch hatte die Muse Cowper die Glut der Natur-
empfindung, das Ansehen der Seele im wesensverwandten
All verwehrt. Für die gewaltigen Naturvorgänge gebricht
ihm der entsprechende Ausdruck. Er hat z. B. kein Ver-
hältnis zum Meere. Auf dem Schiffe überkommt ihn ein
bedrückendes Gefühl der Haft Er ist der Dichter des
englischen Binnenlandes, für das er jene von Über-
schwänglichkeit nicht freie Vaterlandsliebe des Ungereisten
hegt, dem der Vergleich mit andern Ländern und Kulturen
fehlt Doch ist eigentliche LandschaftsschUderung bei
Cowper nicht häufig. Desto besser gelingt ihm mitunter
eine suggestiv bildhafte Wirkung (Die milde Oktober-
stimmung in ÄnU Thelyphüiora). Die Lehre, welche dem
Menschen die Natur erteilt, tritt ihm in den alltäglichsten
Vorgängen und kleinsten Geschöpfen am deutlichsten ent-
gegen. Die Biene, die sich abmüht, durch das Draht-
gitter zur Treibhausfrucht zu gelangen, mahnt an die
menschliche Torheit und Sünde, verbotenen Freuden nach-
zustreben, deren einzige Frucht die Enttäuschung ist {The
Pineapple and ihe Bee. Ananas und Biene). Die Treue
zweier Finken gibt Anlaß zu einer Moral für Weltkinder:
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582 Das beschreibende Gedicht und die VerseTzShlniig.
Errötet, wenn ich each sage, dafi ein Vogel den Kerker
mit dem Freunde der Freiheit ohne Freund vorzog {Tie
FaiihfulBird. Der treue Vogel). Das unfreiwillige Abenteu^
einer philosophisch angehauchten Katze endet mit der Lehre:
H&te dich vor Selbstüberhebung, sonst mußt du in der
Schule der Drangsal die Torheit überspannter Erwartungen
erkennen (The Betired Cat Die einsame Katze). „Alle
Laute, die die Natur äußert, sind reizend, wenigstens in
diesem Lande", schreibt er am 18. September 1789 an
Newton. Es ist ihm ein Beweis für die Güte der Vorsehung,
daß das Ohr der Menschen mit den T5nen, die ihn um-
geben, in Harmonie ist Wald und Feld und Garten haben
jedes sein Konzert Eine ausgeprägte Tierliebe l&ßt Cowper
mit Verständnis auf die Eigena^ untergeordneter Lebewesen
eingehen und verleiht seinen Versen milde Glanzlichter
des Humors, die sie sonst entbehren, z,B. On a Spanid
caUed Bean^ kiUing a Bird. (Auf einen Windhund namens
Bohne, als er einen Vogel tötete), obzwar auch hier ein
sentimentaler Exkurs des Hundes über seine Tugend die
Stimmung unterbricht Naive Naturfreude ohne doktrinäre
Reflexion ist Cowper unbekannt Entgleitet seiner Hand
eine Rose, aus der er den Regentau schütteln wollte,
knüpft er daran die Betrachtung: So erbarmungslos werden
mitunter zarte Seelen und brechen ein Herz, das sich
schon im Grame bescheiden lernte {The Böse). Ja, die
Nachtigall muß in der Erwägung ethischer Motive den
Glühwurm verschonen, den dieselbe göttliche Macht im
Leuchten unterwies, die ihr das Singen eingab. Daraus
mögen streitende Sektierer lernen, daß der Bruder nicht den
Bruder befehden und auffressen, sondern einer im andern
die Gaben der Natur und der Gnade achten solle (The
Nightingale and the Olowworm. Nachtigall und Glühwurm).
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Das beschreibende Gedicht und die Veraerzfthlnng. 583
Der Mensch tritt in diesen abstrakten Gedichten grade
nur als Staffage auf. Doch ist Gowper nicht unerfahren in
der Kunst, mit wenigen Strichen Charakter- und Genrefiguren
von typischem Ausdruck hinzustellen; z. B. die neidische,
geizige, scheinheilige alte Jungfer Bridget (Truth\ der auf
dem Kirchgänge ein in die Livree seines erwachsenen
Vorgängers gekleideter tölpelhafter Bauemjunge das Gebet-
buch nachträgt, auf vertretenen Schuhen dahinschlfirfend,
den Tautropfen an der Nase. In den Schattenrissen des
englischenKeisenden und des fremden Abbte in The Progress
of Error erblickte Hayley den sittlichen Humor Hogarths
nebst jener Feinfühligkeit und Ergebenheit, die den Künstlern
höchsten Kanges eigen sind.
Die kleinen Erlebnisse des stillen Alltags setzen sich bei
Cowper in Verse um. The Colubriad (1782) erzählt, wie er
mit dem Schürhacken eine Schlange erschlägt, die die Katze
neugierig, mit der Pfote streichelnd betastet. The CocJcfighter's
Garland (1789) behandelt eine Zeitungsente über den jähen
Tod eines rohen Hahnenkämpfers. Der Tod von Mrs. Throck-
mortons Dompfaffen, ein eingetrocknetes Tintenfaß, die
Heilbutte, die er am 26. April 1789 zu Mittag afi, werden
Themen für Gedichte. Einige Pappeln, die man auf
einem seiner Lieblingsplätze an der Ouse fällt, ergeben
etliche der schönsten und melodischesten Verse Cowpers;
The Poplar Field (Das Pappelfeld), 1785, wird, ohne
Schwächlichkeit im träumerischen Ausdruck einer allgemein
gültigen Wahrheit — der Vergänglichkeit alles Irdischen —
ein geschlossenes Kunstwerk. Und die Zeitungsnachricht
einer furchtbaren Schiffskatastrophe verewigt das prächtige
Gedicht The Boyal George mit seinem Kehrreim von volks-
liedartiger markiger Schlichtheit.
Alles in allem scheint Leigh Hunts Wort berechtigt:
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584 Das besehreibendo Gedicht ond die VenenShlniig.
„Wir kennen kanm einen echter englischen Autor als
Cowper oder einen, der im wesentlichen geeigneter w&r^
den hochherzigen nationalen Gfeist aufrecht zu halten" ^) —
diesen Geist, fügen wir hinzu, der ein so merkwürdiges
Gemisch von offenem Sinn und Beschränktheit, von Groß-
zügigkeit und Verbohrtheit, der gleichzeitig weltumfassend
und vor der Welt abgeschlossen, spekulativ nnd materiell ist
Für die Liebe findet sich auf Cowpers Psalter kein Ton.
Er warnt vor ihrem verweichlichenden Einfluß. „Nicht dich
in Ketten schlagen zu lassen, hat Gott dich geschaffffl"",
ruft er in BeiireMent dem Liebenden zu, „sondern auf daß
du unterwerfest!''
Dennoch ist Cowper selbst in reifen Jahren von
der Liebe zwischen Mann und Weib nicht unberührt ge-
blieben. Im Sommer 1781 machte eine zufällige Be-
kanntschaft in seinem Leben Epoche. Vom Fenster ans
sah der menschenscheue Dichter eine Dame über den Markt-
platz gehen, deren sympathische Erscheinung ihn so fesselte,
daß er sie durch ihre Schwester, eine Bekannt« Mary Unwins,
zu sich einladen ließ. Es war Lady Austen, eine geborene
Eichardson. Sie hatte im jugendlichen Alter Sir Robert
Austen geheiratet und mit ihm in Frankreich gelebt,
wo er starb. Allem Anschein nach war sie eine Dame
von seltener Lebhaftigkeit des Geistes, nach einem Ge-
mälde von Bomney zu schließen, das sie als Lavinia dar-
stellt, von weichen, zarten Gesichtszügen mit einem
schmachtenden Ausdruck. Ihr Gespräch wirkte auf Cowper
so anregend, erheiternd und fesselnd, daß der Verkehr rascb
ein vertrauter wurde. Man machte gemeinsame Spazier-
gänge und Ausflüge mit Picknicks. Er nennt sie Schwester
1) Leigh Hun^s London Journal, 7. Noveniber 188&.
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Das beschreibende Gedicht und die Verserz&hlang 585
Anne; man bildet bald eine Familie, nnd er hat nun zwei
weibliche Wesen nm sich, die in liebevoller Sorgfalt am
ihn wetteifern, denen er vorliest and am Eamin die langen
Winterabende in traoliche Stunden verwandelt. ^) und, wahr-
lich dieser frische Einschlag in seine Existenz tat not
Obzwar seine Gedichte, wenn auch nicht laute An-
erkennung, so doch ehrende Würdigung fanden — Franklin
druckte ihm am 8. Mai 1781 von Passy ans seinei Be-
wunderung aus; die geschätzte MonÜdy Review erklärte
ihn für einen „Dichter sui generis^^ — ,^) lauerte im Hinter-
gründe seines Oemfites doch beständig der schwarze Dämon.
Am 21. August 1781 schreibt er an Newton: „Meine Ge-
danken kleiden sich in eine dfistere Livree, fast durch-
weg so ernst wie die Bedienten eines Bischofs. Sie drehen
sich ja auch um geistliche Dinge. Der längste und vor-
lauteste der Bursche aber ist derjenige, der mir beständig
aus vollem Halse zuschreit: Actum est de tel Perüsü!^
Eines Oktoberabends 1782, als die Wolken der Schwer-
mut den kranken Dichter wieder bedriickten und sein Geist
in unheimliches Brüten zu versinken drohte, versetzte ihn
Lady Austen durch die ihr aus den Eindertagen vertraute
Geschichte von John Gilpin in krampfhaftes Lachen und
regte seinen Schaffensdrang so an, daß die Erzählung bereits
am andern Morgen in eine Ballade umgewandelt war, welche
einen Monat später im PtAlic Ädvertiser erschien. In
frischem Bänkelsängerton erzählt Cüowper die Abenteuer
John Gilpins, eines Leinenhändlers aus Paternoster Bow, der
mit Frau und Kindern einen Ausflug nach Edmonton unter-
nimmt, als Sonntagsreiter aber ein klägliches Schicksal
erleidet Der Gaul, dem er willenlos ausgeliefert ist, schießt
0 Brief an HOl, Oktober 1788.
«) Wright, 800.
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586 Das beschreibende Gedicht nnd die VerserzShlaiig.
mit ihm zehn Meilen weit über das festgesetzte Ziel hinaus
und im Galopp wieder znrflck nach Hanse. Boß nnd
Reiter langen zn Tode erschöpft an. Cowper hielt sich im
änßeren Umriß an die volkst&mliche Überlieferung, die sich
an einen Leinenweber Beyer in Paternoster Kow knfipfte,*)
doch mochte anch manche persönliche Erinnening mit-
spielen. Schrieb er doch im Mai 1781: „Wozu mich die
Natur eigentlich bestimmt, habe ich nie erraten können.
Aber eins ist gewiß: zum Reiter hat sie mich nicht
ausersehen.^
Der Erfolg des John Güpin war ein ungeheurer.
Cowper selbst, der bei der Abfassung kein anderes Augen-
merk gehabt als zu lachen und nicht einmal an den Druck
gedacht hatte, war überrascht und erfreut. «) Dieser Eb-folg
dauert bis zum heutigen Tage fort Der moderne konti-
nentale Leser wird ihn vielleicht übertrieben finden und
nicht wissen, worauf sich die unverwüstliche komische
Wirkung gründet. Vermutlich ist es die in England stets
ihrem vollen Wert nach gewürdigte gesunde Harmlosigkeit
und unverfälschte Volkstümlichkeit, die der Ballade von
John GUpin ihren Platz unter den klassischen Werken des
britischen Humors verschafft hat. Vielleicht spielte dabei
auch ihre vereinzelte Stellung unter den Gedichten des
schwermütigen Cowper mit^ unter denen sich kaum ein oder
zwei heitere Gegenstücke finden. Die einzigen, die etwa in
Betracht kämen, sind The Distressed Traveüers, or Ldbour
in Vain (Die bedrängten Reisenden oder Vergebliche Mühe)
mit der drolligen Schilderung von Cowpers und Maiys müh-
seliger Wanderung nach Clifton; The Yearly Distresses^ or
Tithing Time at Stockton (Die alljährliche Drangsal, oder
>) Wright, 312.
<) Brief an ünwin, 18. November 1782.
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Das beschreibende Oedicht und die Yerserzählung. 587
Stenerzeit in Stockton) mit einem gutmütig ironischen Ein-
schlag, nnd das anmutige Rätsel ,,Der Euß^.
Indes ist die Literatur Lady Austen für eine noch
wichtigere Anregung verpflichtet als die zu John Qilpin.
Eine Verehrerin Miltons, forderte sie Cowper häufig auf,
Blankverse zu schreiben; und als er ein Thema von ihr
verlangte, meinte sie, über einen Gegenstand wäre man
doch niemals in Verlegenheit „Sie können über alles
schreiben — schreiben Sie über dieses Sofa!'' Der Einfall
war nicht so originell, wie er auf den ersten Blick scheint.
Es existierte bereits die Rhapsodie eines Rev. E. Cooper,
The Elhow Chair (Der Armstuhl), 1765. Diese „rhap-
sodischeste Rhapsodie'', wie der Kritiker der Monthhj
jReview (Oktober 1765) sie nennt, ist in Blankversen ver-
faßt In einem Armstuhl, seine Pfeife rauchend, sinnt der
Verfasser über Liebe, Freiheit, Patriotismus, Ehe, Jagd- und
Angelsport, Friedhöfe und anderes. Die Übereinstimmung
im Namen der Dichter, in der Aufgabe und der Art der Be-
handlung ist ein auffallendes Zusammentreffen, i)
Cowper gehorchte und schrieb über das Sofa. So ent-
stand, vermutlich im Sommer 1783 begonnen und im Herbst
1784 vollendet, «) die Dichtung, die seinen Namen am be-
rühmtesten gemacht hat, The TasJc (Die Aufgabe).
Sein Studierzimmer war ein Gartenhäuschen. In diesem
Lieblingsaufenthalt, kaum größer als eine Sänfte, mit der
offenen Tür in den mit Blumen gefüllten Garten, blieb
er von Besuchen verschont.') Am 8. August 1783 schreibt
er an Bull: „Worum sollten wir jemanden beneiden? Ist
unser Gewächshaus nicht eine Kammer voll Wohlgerüchen?
>) Sonthey U, 43.
^ AJdine Edition U, 7.
•) Brief an HiU, 25. Juni 1785.
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588 Das beschreibende Gedicht nnd die Verserzählmig.
In diesem Augenblick stehen Nelken und Balsaminen davor,
Gänseblümchen nnd Bösen; Jasmin nnd Jelänger nnd nur
Ihre Pfeife fehlt, um es wahrhaft Arabisch zu machen —
eine Wildnis von Lieblichkeit! Das Sofa ist beendet, aber
nicht fertig."
Hayley in seiner Cowperbegeisterung wollte in The
Task „einen Überblick Ober das menschliche Leben ans
der Vogelperspektive" sehen und fand, daß kein alter oder
modemer Autor Cowper in der Erfindung zartester Über-
gänge von einem Gegenstande zum anderen gleichkomme.^
Cowper selbst bezeichnet als die Absicht seiner Dichtung,
die moderne Schwärmerei für das Londoner Leben zu er-
schüttern und die stille Muße und Behaglichkeit des Landes
als die der Tugend und Frömmigkeit fördersame Sphäre
anzuempfehlen.*)
Er bekennt, nach keinem regelrechten Plane vor-
gegangen zu sein. Der Zusammenhang ist in der Tat der
denkbar lockerste. Das eigentliche Thema, die Entwicklung
des Sofas aus der primitiven Sitzgelegenheit zu dem weichen
Pfühl, auf dem es sich so trefflich schläft, der aber auch
die Vorstellung der Gicht weckt, ist bald erschöpft Die
Erwägung, daß die Jugend des Sofas nicht bedürfe, bringt
den Dichter auf seine eigenen Jugenderinnerungen, seine
fröhlichen Wanderungen und somit ist er im rechten Fahr-
wasser, der Gegenüberstellung von Stadt und Land, deren
Standpunkt durch den Satz gekennzeichnet ist: Gott schuf
das Land, der Mensch die Stadt
London, obzwar an Reichtum und Geschmack die
Hauptstadt der Welt, geht auch an Ausschweifung allen
anderen voran, ist ärger als Sodom, ist die große Kloake
») n, 252.
«) Wright, 340.
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Das beschreibende Gedicht und die Verserzählang. 589
für allen Wegwurf, alle Fäulnis der Welt. Mag es auch
eine Pflegestätte der Kunst sein — die Kunst kommt doch
an Lieblichkeit der Natur nicht gleich. Sie ahmt nur
nach. Sie hat keine eigene Seele.
Zum Glflck für Cowpers Dichtung verfolgt er sein Ziel,
yom Stadtleben abzuraten, weniger durch die übertriebene
Schilderung der Scheußlichkeit der großen Menschenzentren
als durch die verlockende Darstellung des Landlebens, das
er durchweg „nach der Natur, nicht aus zweiter Hand^
zeichnet. In dieser Echtheit liegt der unvergängliche
Wert des Gedichtes. Sein Genius begnügt sich mit der
schlichten Hausmannskost, die ihm die Umgegend von
Olney bietet. Er gibt sie in unbedingter Ehrlichkeit
nicht für exotische Leckerbissen aus, aber er möchte sie
auch nie und nimmer gegen solche vertauschen. In Veduten
von plastischer Anschaulichkeit wird ihre schlichte Schön-
heit mit gesundem Naturverständnis zur Geltung gebracht
und eine Apostrophe an die treue Gefährtin seiner Natur-
freuden, Mary Unwin, das würdige Denkmal liebender
Freundschaft, stellt gewissermaßen die urwüchsige, tüchtige
Frau als Muse' in die bescheidene Landschaft. Vom Hügel,
den die Spaziergeher, gegen eine frische Brise ankämpfend,
erklimmen, überblicken sie das Ackerfeld. Langsam zieht
der Pflug seine Furche. Neben dem arbeitenden Gespann,
das nicht aus der Spur weicht, schreitet der kräftige
Jüngling, aus der Feme fast einem Knaben gleich. Das
Flüßchen Ouse, das sich durch breit gedehnte, mit Rinder-
herden besprenkelte Wiesen schlängelt, ist wie ein ge-
schmolzener Glasfluß in das Tal eingelassen. Des Dichters
Lieblingsblumen schmücken die Ufer und halten Wacht vor
des Hirten einsamer Hütte. Am Horizont verschwimmt das
Gelände mit den Wolken. Von fernen Türmen hallt heiterer
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590 Das bcsdueibende Qedieht und die Venen&hlong.
OlockentoiL „Fürwahr'', ruft der entzückte Dichter, „die
Schönheit der Landschaft^ die täglich geschant, täglich er-
freut, kann wohl keine eingebildete seini Wahre Heiterkeit
kennt nur, wer, dem eingeborenen Triebe folgend, ganz mit
der Natur lebt''. Unter Natur aber versteht Cowper, genau
genommen, nur das englische Binnenland. Seine Kultur ist
ihm die Kultur. Nur in seinem Boden gedeiht die Tugend,
die stille Zufriedenheit einfältiger Herzen.
Das ländliche Idyll wird in einzelnen poetisch verklärte
Bildern vorgeführt Z. B. der Winterabend am Kamin. Die
Fenstervorhänge sind zugezogen; der Tee duftet im Kessel
Der Postbote ist der einzige Herold aus einer unruh-
vollen Welt Die Holde stickt Man liest vor. Man macht
Musik; man vertieft sich in die Zeitung und blickt aus
dem Guckloch der Zurückgezogenheit in das Getriebe der
Außenwelt Was bedeuten gegen solche Sammlung der Seele
städtische Unterhaltungen der Theater und Klubs! „In
The Tash^f sagt Christopher North, „ist der Herd das Herz
des Gedichtes, gerade wie er es in einem glücklichen Hause
ist Kein andres Gedicht ist so erfüllt von häuslichem Glück.^ 0
Der Winter ist die Jahreszeit, die Ciowpers Phantasie
am meisten anregt. Er schildert ihn als Herrscher in einer
Anrede voll bildnerischer Phantasiekraft Sein Thron ist
ein Schlitten, den Stürme auf glatter Bahn dahintreiben.
Er hält die Sonne im Osten gefangen. Er ist ein König
traulicher Freuden. Doch verhindern derlei ideale An-
schauungen den Dichter nicht, im Anblick des phantastischai
Christallbaus der Eiszapfen an sonnigen Wintertagen zu-
gleich der Trockenfütterung des Viehs in ausführlicher Be-
trachtung zu gedenken.
^) lUcreatums, 1, 220.
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Das beschreibeiide GFedicht und die Verserzählung. 591
Cowpers Tierliebe kommt in einigen Sätzen von epi-
grammatischer Prägung znm Ausdruck. Das Herz, das sich
lebensfrohen Tieren verschließe, sei auch für die Nächsten-
liebe tot. Des Menschen feindselige und hochmutige Haltung
gegen Tiere stamme vom Sundenfall.
Bei all seinem echt romantischen Streben, die Poesie
der Dürftigkeit, der Einschränkung, der Außerweltlichkeit
zu enthüllen, bei aller Voreingenommenheit für das Land-
leben, schützt ihn doch seine Wahrheitsliebe vor Schön-
färberei. Die Pest der yielen Wirtshäuser, die wüsten
Gesellen auf den Landstraßen werden nicht verschwiegen.
Freilich ist es die Stadt^ die in diesem Falle auf das Land
abgefärbt, deren Laster das unschuldsvolle Naturleben an-
gesteckt hat
In der Betrachtung des Landlebens fehlt natürlich der
Pfarrer nicht C!owper ist der Ansicht, daß, solange die
Welt steht, die Eanzd als wichtigstes und kräftigstes Boll-
werk, als Stütze und Zierde der Tugend anerkannt werden
müsse. Psychologische Spitzfindigkeiten und problematische
Fragen sind seine Sache nicht Seine Neigung gehört der
guten alten Zeit, in der Tugend und Laster noch durch un-
verwischbare Grenzen voneinander gesondert waren. Schlicht
und eindeutig seinem innersten Wesen nach, ist ihm am
Manne wie am Weibe alle Geziertheit in der Seele verhaßt.
Er verachtet sie. Ja, seine unbedingte Gegnerschaft gegen
die Überschätzung der Kulturverfeinerung macht ihn bitter
und ungerecht gegen die Kunst und ihre Vertreter. Den
übertriebenen Shakespeare- und Garrickkultus mißbilligt
er. Daß der Messias bald nur noch um Händeis wiUen ge-
feiert werde, dünkt ihn eine Überschätzung des Menschen
durch den Menschen.
Cowper selbst steht auf dem entgegengesetzten Stand-
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592 Das beschreibende Gedicht and die Tenerzihlnng.
punkte. Er will die Natur um dessentwUlen bewundert sehen,
der sie gemacht Lerne Gott erkennen, willst du sein Werk
verstehen, sagt er. Seine Naturbetrachtung geht unvermerkt
in ein feierliches Olaubensbekenntnis über. Bums bezeich-
nete Mrs. Dunlop die in The Task zum Ausdruck kommende
Religiosität als die Beligion Gottes und der Natur, die den
Menschen erhebe und veredle
Fin freier Mann ist in Ciowpers Augen derjenige, den
die Wahrheit frei macht Die Freiheit des Herzens ist eine
Flucht in die Arme des Erlösers. Märtyrer kämpfen um
einen höheren Preis als Patrioten. Aber auch die bOrger-
liche Freiheit hat ihren Wert. Sie verleiht der Blume des
flüchtigen Lebens Glanz und Duft. Wir sind Unkraut ohne
sie, weil jeder Zwang — derjenige ausgenommen, den die
Weisheit den Schlechten auferlegt — vom Übel ist, indem
er die Fähigkeiten unterbindet und den Fortsdiritt hemmt
Um des Besitzes der Freiheit willen preist Cowper den
heimischen Erdenwinkel.
Der aUer romantischen Lebensphilosophie zu Grunde
liegende Optimismus kennzeichnet auch Cowpers Welt-
betrachtung. Alles in der Natur strebt himmelwärts, denn
alles war einst vollkommen und wird es wieder werden.
Ein Millenium der Freiheit, der Eintracht^ des Wohlgefallens
steht bevor, Gottes Ankunft auf Erden. Um sie, die ver-
heißen ward, betet der Dichter. „Durchweht vom Geiste
des Christentums" nennt Christopher North The Task.
Das Motto der Dichtung Fit surculus arbar (Der Schöß-
ling wird zum Baume) kennzeichnet ihre Entstehung. Sie
erwuchs scheinbar planlos aus geringstem Vorwurf. Cowper
selbst wollte, da er sich bei der Anordnung des Stoffes
redlichen Mühewaltens bewußt war, darin keinen Fehler
erblicken. Der lockere Zusammenhang, meint er, entspreche
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Das beschreibende Gedicht und die yerserzählong. 593
vielmehr einer Fordenrng der Poesie, in der — die
didaktische etwa ausgenommen — logische Exaktheit steif,
pedantisch nnd Iftcherlich sel^) Er hatte niemandem nach*
geahmt, war aber anch niemandem absichtlich ans dem
Wege gegangen.^) So erschien gleich der Anfang Milton
nachgebildet Im übrigen forderte am meisten Thomson znm
Vergleiche heraus. C!owper bewunderte seine Schilderungen,
fand aber seinen Stil nicht frei von Geziertheit und seine
Yerse nicht immer vOllig harmonisch.') Thomson ist
der rhapsodischere, lyrischere von beiden, der überlegene
Schildere* Das Naturphänomen bleibt ausschließlich sein
Thema, seine Betrachtung ist internationaler, klassischer.
Christopher North rühmt den großen, kühnen Zug, mit dem
er, „wie alle gewaltigen Meister des Begenbogens^, das Bild
auf die Leinwand werf & Dafür entzücke er nicht so häufig
wie Cowper durch erlesene Einzelschilderung. Cowper male
Bäume, Thomson Wälder ; C!owper in vielen, nicht eben wunder-
baren Versen das Gemurmel eines Wasserfalles, Thomson
in wenigen wunderbaren Vers^ einen Flußlauf von der
Quelle bis ans Meer. Thomson stelle die Natur vor Augen,
Comper vor die Einbildungskraft^) Immerhin bleibt Cowper
Thomsons unmittelbarer Nachfolger und Fortsetzer. Eine
eigenartige Meisterschaft bekundet er darin, einen äußerlich
geringfügigen Anlaß zum inneren Erlebnis zu gestalten
und in klassischer Einfachheit ergreifend zum Ausdruck zu
bringen (z. B. den Eindruck des Glockengeläutes {Tash VI).
Seine Behandlung des Blankverses, den Cowper größerer
Abwechslung fähig hielt als den gereimten Vers, ist in ihrer
0 An Lady Heaketh, 2a JuU 1788*
«) Hayley n, 252.
*) An Moses Eing, 19. Juni 1788.
«) BeereatUms 1, 220.
Oesehielite der enffliBohen Bomantik ü, 1.
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5d4 Du beMfarabende Q«diidit und die VenenihluB^.
Mannigfaltigkeit and anfiergewOhnlichen Elangf&lle prächtig.
Viele Verse bilden geschlossene Sentenzen und liehen sich
von selbst zn sprichwörtlichen Wendungen. Der moderne
Geschmack wird bei aller Anerkennung innewohnender
Schönheiten nichtsdestoweniger Anstofi nehmen an i&r die
Komposition sprengenden Breite der Meditation^ die sich
nicht selten in platte, kalte UnpersOnlichkeit verliert und
als allzu wesentlicher Einschlag des poetischen Qespinnstes
fühlbar macht Es kommt auch fflr die Beurteilui^: von
The Taah gar wohl in Betracht, daß Ciowper gleichzeitig
(1785) ein Lehrgedicht in aller Form veröffentlichte, das
1782 — 84 entstandene Tirociniumy or Ä Beview of Sdu>als
(Tirocinium oder Übersicht der Schulen). Die gerränte
pSdagogiBche Abhandlung soll der Welt die Augm Offnen
Ober die Öffentlichen Schulen, die zu einer Schmach, zu
einer Pest geworden, zu Menagerien, deren ZOglinge in
der Begel zugrunde gehen.
Aber obwohl dieser allgemeine moralisierende und
dogmatische Ton sich auch in The Taah breit macht, obwohl
das Werk nicht frei ist von veralteten klassizistischen
Pedanterien (wie die Bezeichnung der Freunde mit
lateinischen Namen, z. B. Throckmortons mit Benevolns),
spricht dennoch eine dichterische Individualität darin das
maßgebende Wort Diesem Umstände ist wohl auch der
große Erfolg der Aufgabe zuzuschreiben.
Cowper behauptete, gegen das Off etliche Urteil gleidi-
giiltig zu sein. „Die Welt und ihre Meinung &ber das, was
ich schreibe, ist mir so unwichtig geworden wie das Pfeifoi
eines Vogels im Busch**, schreibt er dem Schulmeister von
Olney, Teedon. Dennoch bewundert er in naiver Weise den
Scharfsinn und Oeschmack dieses Mannes, der ihm die Schön-
halten der Aufgabe einzeln vordemonstriert Teedon, ein
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t>9B besckreiWcle Oedicht Und die VersenShlnnit. ^^5
anner Teufel, dem Cowper mit kleinen Unterstützungen
unter die Arme griff und dessen Gesichtszüge dem Dichter,
einem fiberzeugten Anhänger Lavaters, sympathisch waren, ^)
gewann durch seine religiöse Schwärmerei ungeheuren Einfluß
auf ihn.
Auch Teedon hatte Träume, die zu nächtlichen Gesichten
und einem persönlichen Verkehr mit der Gottheit wurden.
Aber während Cowper sich aus dem Angesicht Gk)ttes ver-
stofien glaubte, ffihlte er sich als einer der Bevorzugten
des Herrn. So wird der von Gott Geliebte ffir den un«
glficklichen Dichter eine Art Mittler und höherer Berater.
Ihm gewährt er die tie&ten Einblicke in sein von Gewissens-
quälen und Ängsten zerrissenes Innere. 1785, in den Tagen
des großen Erfolges, ist es ihm einen Augenblick, als wäre
die zwölfjährige Zeit der Prfifung abgeschlossen. Aber nur
zu bald erkennt er die Täuschung. >) 1786 erschfittert ihn
neuerdings eine entsetzliche Vision. Er vernimmt eine
Stimme, welche spricht: „Ich will dir aUes versprechen — "
und ist sich des unausgesprochenen Nachsatzes bewußt:
„aber dir nichts halten^. Er allein unter allen Menschen ist
der aus Gottes Barmherzigkeit AusgestoBene.') Er selbst
hat über seinen Zustand die vollkommenste Klarheit. In
den Pausen zwischen seinen Depressionsanfällen hielte ihn
niemand ffir krank, schreibt er (15. Mai 1786) an Lady
Hesketh, denn seiner Niedergeschlagenheit entspreche keine
Reaktion fibertriebener Heiterkeit oder Erregung. Wfirde
der Grund behoben, der sie verursacht, so könnte er
dauernd fröhlich sein.
Nur als ein flfichtiger Strahl fiel in diese dunkle
*) Wright, 587.
<) Brief an Teedon, 20. Mai 1786.
>) Brief an Teedon, 16. Mai 1798.
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596 Das besdueibeiide Gedicht und die VenensShliuig.
Existenz die Poesie; die andern freuten sich seines Werkes
mehr als er selbst
Der Niedergang.
Als The Ta$k erschien, weilte diejenige, die das Werk
angeregt, nicht mehr in Cowpers Nähe. Lady Anstens Über-
schwänglichkeit hatte schon 1782 eine vortibergehende Yer-
stimmnng in dem Frenndschaftsdreieck hervoigemfen. Bei
allem Platonismns erwies sich sein Doppelverhältnis zn den
zwei ihn betreuenden Frauen als unhaltbar. Mary Unwin
fühlte sich durch Anne Austens geistige Überlegenheit in
Schatten gestellt und begann eif ersfichüg zu werden. Gowper
sah sich vor die Notwendigkeit einer Wahl gestellt und
die Dankbarkeit lenkte seine Entscheidung. Er schrieb
an Lady Austen einen sehr herzlichen Brief, aber ein^
Abschiedsbrief. Sie verbrannte ihn, obzwar sie in sp&teren
Jahren, als sie sich mit einem französischen Dichter, If . de
Tardif, vermählt hatte,^ zugab, es könnte kein bewundems-
wertherer geschrieben werden. Lady Austen starb auf einer
Beise in Paris 1802.
Cowper selbst gewann bald für sie Ersatz. Sein
dichterischer Erfolg hob ihn in den Augen seiner Ver-
wandten. Die ihm bisher als einem Geisteskranken Almosen
gewährt hatten, erfuhren nun, daß er ein Gfenie seL^) Auch
die seit 1778 verwitwete Lady Hesketh, Cowpers Jugend-
gespielin, die der pietistische Ton seiner Briefe aus Hunting-
don abgestoßen hatte, nahm jetzt die eingeschlafene Korre-
spondenz wieder auf. Vermutlich war es ihre Schwester, die
frühgeliebte, treue Theodora, die sich hinter dem anonymen
Wohltäter verbarg, von dem Cowper seit 1785 ein Jahr-
1) Hayley U, 289.
«) Wright, 400.
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Das beschreibende Gedicht nnd die Venenfthlmig. 597
gehalt nnd allerlei sinnige Geschenke erhielt Im Jnli 1786
schreibt er an Unwin, er beziehe von Lady Hesketh, dem
Earl Ciowper nnd seinem ungenannten Wohltäter zusammen
100 Pfund jfthrUch.O
Die erneute Herzlichkeit des Verkehrs mit Lady Hesketh,
die Wiederbelebung der glücklichen Erinnerungen an die Zeit,
da man gemeinsam Tausend und eine NacfU gelesen hatte,
durch Wälder und Felder gestreift und über Hecken ge-
klettert war,^) bedeutete für Cowper eine Herzensfreude.
Harriet Hesketh bietet ihm neben der wohltuenden Wärme
ihres fein empfindenden Frauengemütes volles poetisches
Verständnis. „Bin ich, indem ich dich zur Cousine habe,
nicht glücklicher als je ein Dichter war!" ruft er aus.')
Er macht ihrem Urteile allerlei künstleriche Zugeständnisse,
mit denen er sonst zurückhält, denn ihre Meinung hat für
ihn „mehr Gewicht als die aller Kritiker der Welt". Er
nennt sie seinen Stolz, seine Freude.^) Bei ihrem Besuche
in Olney verkünden die Eirchenglocken ihren Einzug. Er
aber verstummt vor überschwänglicher Wonne des Wieder-
sehns. Glücklicherweise bringt die humorvolle Dame, deren
geistige Kräfte im gesundesten Gleichgewicht sind, eine
heilsame Gegenströmung in die stagnierende Einförmigkeit
der bleiernen Atmosphäre des Pietismus, die C!owper umgibt.
Durch ihren Einfluß beteiligt er sich wieder am Tischgebet^
ja, er unternimmt mit ihr Ausfahrten. Nach Wartons Tode
(1790) möchte sie für ihn die Würde ies Poet Laureate an-
streben, aber er erklärt, der Kranz würde wie ein bleiernes
Zündhütchen alles Feuer seines Genius verlöschen. Die Klein-
0 Wright, LXXI.
^ Brief an Lady Hesketh, 12. Oktober 1785.
•) An Lady Hesketh, 28. JnH 1788.
*) An Lady Hesketh, 16. Januar 1786.
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S98 Du besehrabendfi Oedicht und die VeneniUiui^.
Städter von Olney haben einen wülkommen» Anlafl zm
Klatsch, gelbst Newton schreibt einen yerletzmden Malm-
brief an Cowper, ans dem hervorgeht, daS er ihn auf ver-
botenen Wegen glaubt Doch gleichviel — die Schatten haben
sich für den Augenblick erhellt Die im Erkalten begriffene
Freundschalt mit Newton ersetzt bald eine neue mit der
katholischen und in Folge dessen ziemlich vereinsamten
Familie Throckmorton im benachbarten Örtchen Westen.
Die Veranlassung zu dieser Bekanntschalt gab das 1783
von Throckmorton unternommene Experiment, einen Ballon
steigen zu lassen. Der Versuch mißlang, aber die Fr^nd-
schaft gedieh. Auf Lady Heskeths Anregung siedeltea
Ck)wper und Mrs. Unwin im Herbst 1786 sogar nach Weston
über. Im Vergleiche zu dem alten Hause auf dem Markt-
platze von Olney, das sie 19 Jahre bewohnt hatten, war
das neue Haus bequem, ja beinahe elegant Oowper erfreute
sich an der häbscheren Umgebung mit dem pr&chtigen Park
und an der gröfieren Oesellij^eit des neuen Aulenthaltes,
sowie an der Aussicht^ Lady Hesketh, seinen Sekretftr, seinen
guten Engel, alljährlich als Gast bei sich zu bewiUkommneiL
Das Behagen gesfinderer und annehmbarerer Lebensvwhllt-
nisse kam aber ihn.
Laut dem Eintrage in seine Glarkesche Hom^ausgabe
hat er 1784 mit seiner Homerflbersetzung begonnen. Er
selbst hielt sie Iftr sein Lebenswerk. Am 9. November
1785 teilt er Harriet Hesketh bereits als großes Geheimnis
die Beendigung des 21. Buches der lUas mit Allein wie
immer stellten sich düstere Perioden ein, die seine Sdiaff^is-
kralt unterbanden. Der plötzliche Tod William Unwins
im November 1786, eines wackeren, liebenswürdigen Mannes
in den besten Jahren, erschütterte ihn heftig und die
namenlose Angst, die er seit seiner ersten schweren
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Das beschreibende Gedicht und die Versenlhlimg. 599
Srkrankimg alljährlich yor dem Februar hatte, zeigte sich
diesmal nur allzu gerechtfertigt Das alte Leiden befiel
ihn mit ungestfim^r Macht und wütete ein halbes Jahr.
£r8t im September 1788 begann er die Odyssee und schloß
sie im September 1790 ab. Ohne festen Plan hatte er die
Arbeit unternommen und sich lediglich zur Ablenkung von
seiner Schwermut^) ein tägliches Pensum von vierzig Versen
gestellt. Aber die Aufgabe — er selbst nennt sie eine
Herkulische — ließ ihn nicht mehr los. Er erklärt die
Ilias und Odyssee fOr die beiden schönsten Dichtungen, die je
ein Mensch geschaffen, verfaßt in der schönsten Sprache,
die je ein Mensch gesprochen, und setzt sich — gegen
BenÜey — mit Entschiedenheit fOr die Echtheit der
Odyssee ein.^)
Seiner Homerbegeisterung tut keine der vorhandenen
Übersetzungen genug. Hobbes dfinkt ihn lächerlich; bei
Chapman wundert ihn nur das eine, daß jemand, der so
wenig Verständnis fOr Homer aufbringe, sich der Mfthe
dieser beschwerlichen Aufgabe unterzogen habe.') Aber
auch Pope befriedigt ihn nicht. Er findet, zwei Dinge
könnten einander kaum unähnlicher sein, als Homers lUas
und die Iliade Popes, dessen ganzes Bestreben dahin gehe,
das Kolorit der Bilder zu verstärken, die Sätze zuzuspitzen,
auf den einfachen Griechen Ovidsche Grazie zu häufen,
kurz Townleys schOner Bflste des ehrwürdigen Sängers eine
Haarbeutelperilcke aufeusetzen.^)
In seinem AUthes gezeichneten Brief an das OenÜemen^s
Magaeme (August 1785) begründet er seine Verurteilung
0 Wright, 874.
>) An S. BoBe, Februar 1790.
•) An Park, 17d3.
«) Haykgr n, 279.
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600 Dm bMcfareibeiide Gedicht und die Venenihlmig.
Popes aasf&hrlieher. Er habe nur, heißt es hier, emen
Homer in der Zwangsjacke gegeben. Diese Zwang^acke sei
der Reim. Der Beim bedinge den Ansdrack nnd dadurch oft
eine Umbildung nnd Entstellung des Sinnes. Häufig seien
ganze Absätze bei Pope nur eine Interpretation, die dem
echten Sinne nicht entspreche. Die angeblichen Ver-
schönerungen, die Popes zierlich gedrechselter Stil hinzu-
gebracht, konnten den Homerkundigen nur abstoßen, denn
Homer sei aus vielen Gründen der beste Dichter, der je
gelebt, aber ans keinem Orunde mehr als durch jene maje-
stätische Einfachheit^ die ihn von allen andern unterscheida
Von der Überzeugung erffillt, der Hauptmangel d^
Popeseben Übersetzung beruhe in ihrer Eigenmächtigkeit,
lag C!owper Echtheit und Treue vor allem am Herzen und
er scheute in dieser Hinsicht keine Anstrengung. In der
Vorrede zur Utas (zweite Auflage) sagt er, die Arbeit sd
ihm wie ein fast perpendikulärer Aufstieg erschienen, den
er um keinen geringeren Preis als die äußerste Anspannung
aller Kräfte bewältigt habe. Die Odyssee dagegen gliche
eher einer offenen, ebenen Gegend, durch die man mit Be-
hagen reise. Immer wieder änderte und besserte Cowper.
Die zweite Auflage weicht wesentiich von der ersten ab.
Southey bevorzugte diese und wählte sie für seine Aus-
gabe von Cowpers Werken. In einem Briefe vom Januar
1790 dankt C!owper einem treuen jungen Freunde, der ihm
seit den letzten Jahren in großer Ergebenheit anhiog,
Samuel Kose, fflr seinen „deutschen Clavis'',i) der ihm zum
richtigen Verständnis der Zubereitung des Mahles verhelfen,
das Achilles den Abgesandten Agamemnons vorsetzt^ dner
Stelle, die außer ihm selbst und Scbaufelberger niemand
0 Johann Schaufdberger, Nova Clavia Homerica, Turid 1761S8,
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Das beschreibende Gedicht nnd die Verserzählong. 601
bemeistert habe, seitdem das Griechische keine lebendige
Sprache mehr sei
Auch dem Maler Fflßli, einem vorzfiglichen Homer-
kenner, dem CSowper das Mannskript znr Durchsicht gab,
bekennt er sich fOr manchen Wink verpflichtet Als den
Hanptvorzng seiner Arbeit betont er immer wieder ihre
unbedingte Texttrene. „Ich habe nichts ausgelassen, nichts
erfunden^, sagt er in der Vorrede. Die Erreichung dieses vor-
gesetzten Zieles glaubt er der Wahl des Blankverses zu danken,
den er unter allen englischen Metren allein w&rdig hält, der
heroische Vers genannt zu werden, i) Er beschäftigt sich
mit der Struktur des Verses, hält an der Elision fest und
vertritt die Ansicht, dafi im Englischen jede Silbe lang
oder kurz seL^) Die Ursache des ganzen Streites Ober die
Elision liege in der Unbekanntschaft modemer Ohren mit
der göttlichen Harmonie von Miltons Versen und mit dem
Prinzip, nach dem sie gebaut sind. Cowper ist der Ansicht,
daß sie ihre Majestät zum großen Teil der Elision danken. ^
Eine gewissenhafte Übersetzung antiker Dichter in Reimen
hält er für ausgeschlossen. Die Möglichkeit einer Über-
tragung in Hexametern kommt bezeichnenderweise gar
nicht in Betracht. So wird der anspruchsvolle deutsche
Leser bei Cowper trotz aller verständnisvollen Worttreue
doch jene letzte Echtheit im Ausdruck vermissen, die nur
durch formelle Übereinstimmung neben der inhaltlichen
erzielt werden kann. Das feierliche Dahinschreiten des
Hexameters ist dem beflügelten Gange des Blankverses zu
unähnlich, um dieselbe Wirkung zu ergeben. Das Pathos,
die poetische Weihe des antiken Epos wird durch die
^) Brief an Bagot, Fehniar 1791.
*) An Bagot, Jannar 1791.
>) An Bagot, Angnst 1786.
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602 Dm betehreibeiide GMicfat und dk YerBenililiuig.
ernste Gediegenheit von Oowpers Wiedergabe nicht Töllig
ersetzt. Da£ er im letzten Oninde fOr die GrOße Homers nicht
den vollwertigen Mafistab besaß, geht schon ans seinem
Entzflcken Aber Flaxmans ülnstrationen hervor. „Die Ge-
stalten^, schreibt er 1793 an Park, „sind höchst klassisch,
antik nnd elegant, besonders die der Penelope, die, gleichviel
ob sie wacht oder schl&ft, alle Beschauer bezanbem mofi.''
So ist vielleicht Southeys negatives Lob der Cowperschen
Übersetzung das gerechteste: sie sei von allen englisdien
Übertragungen diejenige, die das Original am wenigsten
entstelle. 1)
Da die Übersetzertätigkeit eine ungemein gttnstige
Wirkung auf Ciowpers Nervensystem &ufierte, drftngte ihn seine
Umgebung, darin fortzufahren. Gleich nach dem Abschluß der
Odyssee machte er sich an die BtxtrOiAomyamackie und
1791 begann er die Übertragung von Miltons lateinischen
Dichtungen, nachdem Teedon durch langes Beten vom
Himmel die Gtovrißheit erlangt hatte, daß Cowper recht
tue, d^ Antrag des Verlegers Johnson anzunehmen.
Cowper erlebte denn auch bei seiner Arbeit die Genug-
tuung, daß ihm Milton im Traume seine Zufriedenheit
ausdrückte,^) w&hrend Miß Seward sie in einem Briefe an
Southey pedantisdi, unmelodisch und geistlos schalt')
Fflßli lieferte für sie dreißig Kupferstiche.
Eine günstig und nachhaltig in sein Leben eingreifende
Folge der Beschäftigung mit Milton war die Bekanntschaft
William Hayleys (1795—1820), des Dichters der Triumphs
of Temper (1781), der eben an einer Abhandlung über
Milton arbdtete. Hayley, ursprünglich zum Advokaten
<) An Caroline Bowles, 26. Mlis 1881,
>) An Hayley, S4. Februar 1793.
*) Southey, Life and Correipondenoe m, 202.
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Das besehreibeiide Gedicht und die Venensftliliing. 603
ausgebildet, ohne je ernste Absichten in diesem Bernfe
zn haben, genoß damals einen auf den verschiedensten
literarischen Gtebieten unbestritten anerkannten Ruf, dem
die gesellschaftliche Stellung des wohlhabenden Mannes
noch einen gewissen Nachdruck gab. Echter als seine
EunsÜeistongen, die sich kaum Aber das Niveau des ehr-
geizigen und fleißigen Dilettanten erhoben, war Hayleys
liebenswürdige F&higkeit warmer und bewundernder Freund-
schaft Wie er sie später William Blake angedeihen ließ,
so wandte er sie nun Gowper zu, der ihrer gerade in diesem
Augenblicke dringend bedurfte und sie in &berschw&nglicher
Dankbarkeit mit enthusiastischen Gefflhlen erwiderte.
Die Zeit der Heimsuchung durch köiperliche Leiden
war nun auch für Mary ünwin gekommen. Als sie im
Mai 1792 ein Schlaganfall traf, bew&hrte Hayley sich als
hilfbereiter Freund und machte sich so unentbehrlich, daß
Cowper äußerte, er wisse nicht wie er künftig ohne ihn leben
solle. 0 Er nennt ihn Bruder. >) Ja, im August ereignet sich
das seit 25 Jahren für unmöglich Erachtete: Cowper und die
halbwegs wieder hergestellte Mrs. Unwin machen sich zu
einem Besuch auf Hayleys Landsitz Eartham bei Felpham
(Sossex) aut Die für drei Tage berechnete Reise erfüllt ihn
mit Todesangst. Nur im Gebet findet er endlich die nötige
Zuversicht') In Eartham, Hayleys stattlichem Herrensitz,
mit dem Blick auf das Meer und die Insel Wight, der zehn
Jahre später den eben mit einem großen Werke zu
Gowpers Gedächtnis beschäftigten Blake entzückte, fühlen
die beiden Kranken sich „so glücklich als sie durch irdisches
Gut werden können^. Gowper hatte immer gewünscht, einen
0 An Lady Hesketh, 26. SCai 1792.
*) An Hayley, 8. Jnni 1792.
>) An Hayley, 29. Jnli 1792.
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604 Du besdueibende Qedicht und die Yenenihlmig.
Berg zu sehen. Sagt doch Johnson, ein Mensch, der nie
einen Berg gesehen, kSnne kein Dichter seuL^ Hier wurde
diese Sehnsucht erfüllt Er und Maiy glaubten sidi schier im
Paradiese.^) Bomney zeichnete Cowper und hielt dieses
Bildnis für das lebenstreueste, daa ihm je gelungen.
Hayley schildert Gowpers Persönlichkeit Noch war er yon
den Gebrechen des Alters verschont Angeborene Vornehm*
heit, die Anmut des wohlwollenden Geistes nahmen für ihn
ein. Sein Gespr&ch war ein Gedicht In seinem Wesen
mischte sich Ungeschick und Wfirda Sein Temperament
war Ton Haus aus lebhaft, sein feines Empfinden machte
ihn Menschen jeden Banges teuer. Ging es ihm gut, so
liebte er Geselligkeit; Frauen gegenüber war sein Be-
nehmen und seine Konversation im höchsten Grade zart und
fesselnd. Die g^enseitige Aufmerksamkeit und Dankbar-
keit, die seinen Verkehr mit Mary Unwin kennzeichnete,
nennt er über jeden Ausdruck rührend.^)
Der Aufenthalt an der schönen Sfldküste sollte der letzte
Lichtblick in diesem vom Mißgeschick verfolgten Dichter-
leben sein. Er dauerte nur zwei Monate. Die großartige
Landschaft von Süsses begann auf Cowpers Gemüt zu
drücken. Heimweh nach seinem schlichten Flachland er-
wachte und trieb ihn zurück. Nun aber sollte er den
Leidenskelch bis auf die Neige leeren. Mary Unwin wurde
kindisch. Die immer Langmütige, Heitere ward nun reiz-
bar, eigensinnig, boshaft C!owper fügte sich ergeben ihren
noch so unvernünftigen Grillen. Zur Arbeit blieben ihm
nur die Morgenstunden.^) Der Anblick ihres geistigen und
>) An l^ewton, November 1791.
*) An Bey. Greatheed, 6. Angnst 17d2.
•) Hayley H, 92.
*) An Samuel Böse, 21. AugOBt 1798.
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Das beschreibende Gedicht und die VersenBhlang. 605
körperlichen Verfalls ftbte den ongttnstigsten Einfloß anf
seine eigenen kranken Nerven.
Der seit langem gehegte Plan za einem größeren Gedichte
The Four Ages of Man (Die yier Menschenalter) gedieh
nicht über ein kleines (vom Mai 1791 datiertes) Fragment
hinaus. Er hatte das tragische Bewußtsein, dem i^chwarzen
Abgrunde näher und näher getrieben zu werden. „Seit
vielen Jahren^, schreibt er 1793 an Teedon, droht mir eine
schlimmere Zeit als alle früheren, eine Zeit^ die Verhängnis-
voll und abschließend sein wird. ... Im Winter erwartete
ich, vor dem Frfthjahr vernichtet zu werden, und nun er-
warte ich es vor dem Winter. Es wäre besser, nie geboren
zn sein, als ein solches Leben fürchterlicher Erwartung
zu führen. **
Im Januar 1794 kam der letzte Zusammenbruch. Cowper
ward von der fixen Idee befallen, er müsse sich Bußen
auferlegen für seine Sündhaftigkeit. Einmal saß er sechs
Tage lang stumm und reglos auf einem Stuhl und nahm
keine Nahrung bis auf etwas in gewässerten Wein getauchtes
Brot Ein andermal ging er unaufhörlich auf und ab, so
daß er den Tag über kaum eine halbe Stunde saß. Mit
seinem Briefe an Hayley vom 5. Januar 1794 hört seine
Korrespondenz auf. Als der Freund ihn im April aufsuchte,
fand er ihn vöUig stumpfsinnig. Man konnte nichts mehr
für ihn tun, als* ihn vor physischem Mangel schützen.
(üowpers Jugendahnung hatte sich erfüllt, sein alter
Genosse Thurlow war 1778 Kanzler geworden und Freund
Hill sein Sekretär. Cowper feierte das Ereignis in einem
(Gedichte {On (he Ptomoüon of Edward Thurlow Esq, to ihe
Lord High Chance! ership of England. Auf die Beförderung
des Herrn Eduard Thurlow zum Lordkanzler von England),
täuschte sich aber in der Hoffnung, daß der so hoch
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606 Das beMhxttbende GMieht und die VenenlUaiis.
Oestiegene von selbst etwas für den einstigen Kameraden
ton werde. Nnnmehr (Mai 1794) wurde dem Dichter anf Be-
treiben der Freunde ein königlicher Gnadengehalt bewilligt
Ein jnnger Vetter ans Norfolk, John Johnson, bewies
Cowper und Maiy Unwin, den beiden hilflosen Siech^ die
man sich selbst nicht mehr überlassen konnte, anfopfemde
Treue. Er brachte sie im Sommer 1795 nach Norfolk an
die See und dann zu dauerndem Aufenthalt nach Derehant
Aber auch dieser Trost ward Ciowper yergUlt Von jednn
Schiff, das sich der Efiste nahte, erwartete er, daß es einen
Verhaftsbefehl für ihn bringe. Von dem guten Johnson
hegte er die Oberzeugung, dafi er ab und zu einem basen
Geist seine (Gestalt leihen müsse. Jeden Morgen betrachtete
er ihn mit forschendem Mißtrauen, um sicher zu sein, ob
er Johnson sei oder der Teufel
Im Dezember 1796 starb Mary ünwin« In der Abend-
d&mmerung erwiesen Cowper und Johnson ihrer Hülle die
letzten traurigen Dienste. Plötzlich stürzte Cowper mit einem
gellenden Schrei aus dem Zimmer. Aus Schonung für ihn
begrub man sie nachts bei Fackellicht Er erwfthnte ihrer
mit keinem Worte mehr. Die eigene Krankheit ersparte
ihm das Bewußtsein des herbsten Verlustes. Eine lang-
atmige Grabschrift in der Kirche von East Dereham
preist sie als die schwergeprüfte hochherzige Frau, die den
Weg eines Dichters durch das Tal der Leiden behütet,
als Freundin Cowpers —
Bm Titel, der an sich toU Bnlmi und Shien.
Wer seinem liede lausdity wird lie Teiehrea.
Am 25. Mai 1800 erlöste ihn selbst der Tod. Harriet
Hesketh errichtete ihm in der Kirche von Dereham ein
Denkmal, dessen hochtrabende Inschrift Hayley verfaßte.
„Die Tugend war der Zauber seines Liedes^, heißt es darin
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Dm beschreibende Gedicht nnd die Verserzfthlang:. 607
mit einer WenduBg, die für den Verfasser charakteristischer
ist als für denjenigen, dem sie gilt.
In Wirklichkeit ist es nicht das allgemeine lehrhafte,
sondern das subjektive nnd spontane Moment, durch das
Ciowpers Poesie sich als ein fortsetzendes und verbindendes
Glied zwischen einer schon überwundenen und einer erst
kommenden Epoche in den dauernden Bestand der
Dichtung einfügt Wertvoller als seine großen Arbeiten
mit ihrem offiziellen akademischen Ton sind drei kleine
seinen letzten Jahren angehörende Gedichte, die den ganzen
Ausdruck seiner Künstler -Individualität geben: On the
Beceipt ofmyMother^sPMure (Beim Empfange des Bildnisses
meiner Mutter), 1790, das ein unauslöschliches Herzens-
erlebnis der Kindheit mit zarter Innigkeit festhält; To
Mary, 1793, der milde Erguß seiner Gefühle für die unver-
gleichliche Freundin, deren Silberhaar ihm lieblicher leuchtet
als der goldene Strahl der südlichen Sonne; und schließlich
sein letztes, durch eine Anekdote in Ansoms Reiseerzählung
angeregtes Gedicht, The Castaway per Schiffbrüchige),
1799, die von starrer Verzweiflung durchrieselte, wie ein
letztes Selbstbekenntnis ausklingende Schilderung des vom
Schicksal Gezeichneten, der nachts über Bord gleitet, mit
dem Tode ringt, bald zum Sterben bereit, bald um Hilfe
rufend, bis er endlich sinkt Keine göttliche Stimme ge-
bietet dem Sturme Einhalt, kein gnädiges Licht flammt
aul und mit einer erschütternden Wirkung zieht der
Dichter unvermittelt sein eignes Los in das des Er-
trinkenden mit ein: Aller werktätigen Hilfe entrückt
kommen wir beide um, ein jeder allein —
Doch ich in diiam wilderen Meer
Und tiefer hinabgeschlendert als er.
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608 Das bescliieibeiide Qedicht und die TeneisUilaiig.
Werke Ton WilliAm Cowper.
1779 Obiey Hymns.
1781 AnH Theluphfhora.
1789 Poem.
— John Gilpin (PUbUc ÄdverUser).
1785 The Task, a Foem m 9ix Books. To whuik aare added,
ty (he same Äuthar, An Epistle to Joa^h Hill, l^r&-
cmmm, or A Review of SchooU, and The History of
John Qilpin.
1791 Homer.
1792 The Power of Oraee iOusirated. In Six Leiters fnm a
Minister of the Beformed Chitrch (van Lier) to John
Newton, translated iy W. Cowper.
1798 Poems.
1801 Poems translated from the French of Madame de la Motte
Ouifon. To which are added Some Original Poems hy Mr.
Cowper.
1802 Ade^hi.
1808 Latin and Itälian Poems of Müton.
1816 Memoir of the EarJ^ Life of WiUiam Cowper. Written
by Himself. With an Appendix, containing some of
Cowpers Beligeoas Letters and other InteresUng Docuh-
ments, illustrative of the Memoir {The Life of WiUiam
Cowper with Selections from his Correspondence, 1855).
1825 Poems, the Early Productions of WiOiam Cowper. Now
first published from the Originals in the Possession of
Jaimes OrofU
1900 The Uf^published and Uncoüected Poems of WOUam
Cowper. Edited hy Thomas Wright, (Cameo Series).
Werke fiber William Cowper.
1803—6 William Hayley, The Life and Posthumous Writings
of WilUam Cowper, Esq. With an Introductorg Letter to
the Bight Honourahle Earl Cowper.
1823 John Johnson, Private Correspondence of WiUiam Cowper.
1836 Bobert Sonthey, Life and Works of WüUam Cowper.
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Das beschreibende Gfedicbt und die VerserzfiMung« 609
1836 T. S. Grimshawe, Life and Works of William Cowper.
With an Essay on the Geniits and Foeixy of Cotvper
hy the Bev. J. W. OunningJiam.
1854 George Oilfillan, William Cowper*s Poetical Works,
With Life, Oritical Dissertation, and Explanatory Notes.
— G. A. Sainte Benve, Catiseries duLundi. William Cowper
ou de la Poesie domesUque,
1856 Christopher North, The Man of Ton (Essays Oritical
and Imaginative I).
1863 John Bruce, Memoir of Cowper (Aläme Edition).
1870 W. Benham, Memoir of Cowper (Qlobe Edition).
1874 Henry Thomas Griffith, Life of William Cowper.
Clarendon Press Series. (Neue Auflage 1896.)
1887 Neve, Concordance to the Poetical Works of WilUam
Cowper,
1892 Thomas Wright, Life of WüUam Cowper.
1893 Thomas Wright, The Town of Cowper, or The Literary
and Historical Ässociations of Olney and it's Neigh-
hourhood.
— William Michael Rosetti, Prefatory Notice (William
Cowper, Poetical Works, Moxon's).
1907 Leslie Stephen, Hours m a Library (vol IZ7. Cowper
and Bousseau),
1908 Willy Hoffmann, WilUam Cowpers Belesenheit und
Uterarische Sitik.
1909 Goldwin Smith, Cowper (English Men of Letter Series)^
1912. J. G. Frazer, Letters of WilUam Cowper. Chosen and
edited with a Memoir and a feto Notes.
GMchiehte der engliBohen Bomantik n, 1.
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William Lisle Bowles.
1762—1850.
Er wurde in Eing's Sntton (Northampton Shire) bei
Oxford als der Sohn des dortigen Vikars geboren, von dem er
in der Dichtung Banwdl Hüls sagt, er sei aller Menschen
Freund gewesen. Ebenda widmet er auch seiner Mutter
ein liebevolles Gedächtnis als einer milden, frommen,
schlichten Frau, deren Lieblings- und Erbauungsbndi
Youngs Night Thovghts waren. Bei einer Schilderung der
Päonie, der Blume des unfruchtbaren Efistenstrichs, sagt
er: „So bl&ht die Tugend auf dem Fels der Sorge . . . und
wenn mein Lied zu lange bei der Blüte verweilt, die sich
im Verborgnen entfaltet, wird mir ein menschlich Herz
vergeben, denn ihr glich meine Mutter." {Part /.) Er
behauptete vom Vater den Sinn ffir landwirtschaftliche
Schönheit, von der Mutter das musikalische Gefühl zu haben.*)
Es sind die beiden Haupteigenschaften seiner Dichtung.
1776 kam er auf die Schule von Winchester in die
Obhut Joseph Wartons, der seine poetische Begabung heraus-
fand und leitete. Bowles spricht von Versen (Sir TobitJ aus
dem Jahre 1779, die den Stolz des Lehrers gebildet und den
Ehrgeiz des Vaters geweckt hätten. Der Vikar stellte seinem
Sohne nun poetische Angaben. <) In seiner Monodie auf
den Tod Wartons dankt Bowles dem Lehrer, „der zuerst
^) Symons, 66.
*) BanuM Hills II Anmerkung.
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Das beschreibende Oedicht und die Versers&hlung. 611
seine schüchterne Muse begeisterte^. Der wohlwollende
Gelehrte, der ihm die Klassiker, Shakespeare, Ossian, Milton
erschloß, scheint auf das Gemfit des Jfinglings einen be-
freienden Einfloß aasgeübt zn haben. „In meines Geistes
kalte Nacht^, sagt er, „fiel der Strahl der Phantasie nnd
gab mir Wonne nnd Hoffnung über jeden Ausdruck". Noch
18 Jahre später erkl&rt Bowles dem Lehrer zu danken,
was sein Lebenssommer an Blüten und Früchten gezeitigt
Mit Versen, die den Stempel der Altklugheit und er-
künstelten Eeif e tragen, nimmt Bowles von der Winchester
Schule Abschied. Er bezieht das Trinity Ciollege in Oxford,
d. h. er geht von der Aufsicht Joseph Wartons in die seines
Bruders Thomas, des dortigen Professors der Poesie, über.
Als einen Schüler der Wartons weist Christopher North
ihm seinen Platz auf dem englischen Parnaß an — als einem
Akademiker, dessen Werk das exquisit zarte Kolorit der
klassischen Kunst zeige, jedoch bereichert durch die echt
englische Natur des Dichters.^)
1783 trägt Bowles' lateinische Dichtung Calpe Ohsessa, or
The Siege of Gibraltar (Die Belagerung von Gibraltar) einen
Preis davon, aber erst 1792 besteht er sein Magisterexamen.
Die unglückliche Liebe zu einer Nichte Sir Samuel Romillys
(1787) und eine zweite Neigung, die der Tod kreuzte, bilden
einflußreiche Episoden in seinem Leben. Er bereist Nord-
england, Schottland, den Rhein und wendet sich ganz
der Poesie zu. 1782 veröffentlicht er Fourteen SonnetSf
written chiefly on Picturesque Spots during a J<mmey
(Vierzehn Sonette, hauptsächlich auf malerische Punkte
während einer Beise geschrieben). Sie fanden jenen Erfolg,
den Neuheiten zu haben pflegen, die nicht so gewaltig sind,
^) Days BepaiieA*
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612 Du beschrttbende Gedieht und die VenetzShlaDg.
daß sie über den Horizont des Dorchschnittspublikums
hinausgingen. In der Vorrede zu einer späteren Anflage
(1797) steht der fOr Bowles als Neuerer charakteristisdie
Gemeinplatz: „Es ist ein großer unterschied zwischen
natfirlichen und gemachten Empfindungen.^ Dem damaligen
Publikum sagte er damit etwas Originelles, das gleichwohl die
Grenzen des Annehmbaren nicht durchbrach. Bowles' Sonette
gehören in die Kategorie dieser naturlichen Empfindungen.
Selbst C!oleridge ließ sie als solche gelten und sprach seine
Freude Aber das Wiedererstehen einer ungektinstdten
poetischen Schule aus. In seinem Sonnet to Bowles dankt er
ihm für die weichen TOne, „deren Traurigkeit sein Herz be-
sänftigt wie das Summen wilder Bienen in sonnigen Fr uhlings-
schauem^ Er lobt ihre „milde, männliche Melancholie". Ja, er
behauptet, die Sonette hätten seinem Gemüt wohler getan
als irgend ein Buch, aufler der Bibel. Und in der BiogrqpMa
Literaria hat er ihn später neben Cowper als denjenigen
bezeichnet, der „zuerst natfirliche Gedanken in natfirlicher
Diktion geäußert, das Herz mit dem Kopfe versöhnt habe''.
Die Geltung, die Bowles als Sonettendichter erwarb,
geht am besten aus der scharfen Kritik hervor, die ihm
Byron noch 1808 in den English Bards and Scotch Beviewers
zuteil werden ließ. Er apostrophiert ihn als „den weiner-
lichen Forsten trauernder Sonettendichter, über den die Jung-
fräuleins in der Kinderstube Tränen vergössen'^, als „das
erste große Orakel zarter Seelen'^, und gibt ihm den Bat,
bei Sonetten zu bleiben, denn sie wtLrden wenigstens ge-
kauft. Was beim Erscheinen der Sonette als erlesener
Geschmack berührt hatte, erschien der j&ngeren Generation
bereits abgeschmackt Was damals für das feinf&hlige
Sinnieren einer zarten Phantasie gegolten, dfinkte nun bereits
rührselig und süßlich empfindsam. Indes besitzt Bowles
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Das beschieibeiide Qedicht tind die Venerzähloiig. 613
unleugbar die Fähigkeit, innerhalb der knappen Form, die
er mit Gewandtheit und Anmut handhabt^ das Bild einer
Landschaft oder eines Naturphänomens eindrucksvoll wieder-
zugeben, z. B. die Buhe nach dem Sturm in Written at Tyne-
mauüh after a Tempestuous Voyage (Geschrieben in Tynemouth
nach einer stürmischen Beise). Er versteht es, eine ins
Auge gefaßte Stimmung — in der Begel eine tränenreiche,
wehmutsvolle — für den Leser festzuhalten, z. B. das
Klagelied, das der Fluß, zwischen moosbekleideten Felsen
sich hindurchschlängelnd, den dunklen Wäldern singt, in
The Biver Wensbeck. Mitunter verhilft eine plastische Per-
sonifikation einem Gedanken zu bildhafter Darstellung {Ät
Bamboraugh Castle); oder die Naturstimmung weckt im
Geeiste des Dichters ein menschliches Analogen, ohne damit
in unmittelbaren Vergleich gebracht zu werden, z. B,
das Sonett an den Abend ^ wo die prächtig -wehmütige
Dämmerstimmung das Bild des freundlosen Wanderers und
jener Zaubertäler hervorruft, in denen der Müde jenseits
alles weltlichen Getriebes ausruht.
Von jugendfrohem Wandermut, von neugierigem Inter-
esse an fremden Menschen und Ländern wissen diese Beise-
sonette nichts. Ein müder, langsamer, nachdenklicher Mann
läßt seinen Blick schwermutsvoll in die Feme schweifen
und sinnt auf Schritt und Tritt seiner Lebenswanderfahrt
nach. Malt uns doch die Phantasie einen lichten Punkt
vor, bis die Nacht den Pfad verschlingt {On the River
Bhine). Gibt es doch auch auf ihr fruchtlosen immer
wiederkehrenden Abschiedsschmerz von teuren Stätten«
Der Eluge macht die Welt zu seinem Yaterlande, Gott zu
seinem Lenker {Ät Dover Cliff). Der wehselige Eindruck
des Glockengeläutes auf Bewies' Gemüt erregte Byrons Spott
{Ät Ostend, July 22, 1787; Ät Ostend Landing).
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614 Das beschreibende Gedicht und die YenenShliing.
In einer zweiten Sonettenfolge (1792 — 1793), die ron dem
Andenken an die verstorbene Geliebte erfüllt ist, tritt die
Natnr hinter dem Gedanken- nnd Geffihlselement mehr and
mehr znrftck. Ein Seelenkampf zwischen Hoffnung nnd
Granen (Aprils 1793); getäuschte Hoffnung (Jlfai, 1793); die
Vergänglichkeit des Irdischen {Ädley Ahbey) bilden die
Themen, die toU wahrer Empfindung, doch mitunter ge-
spreizt und gesucht in der Form behandelt werden. In
einer an echter Lyrik armen Zeit, machten diese Sonette
Eindruck. Bewies, der mittlerweile Rektor von Bremhill
(Wilts) geworden, galt für einen Dichter. Sobald er sich
an l&ngere Dichtungen wagte, {Elegiac Stanzas tvriUen
during Sidmess at Bath, December 1795. El^ie, ge-
schrieben während einer Krankheit in Bath; Hope, an
Ällegorical SkeUhj on Eecovering slowly from Stchness.
Hoffnung, eine allegorische Skizze anläßlich der langsamen
Genesung von einer Krankheit), trat freilich der Mangel
an Tiefe, Kraft und Originalität des Geistes fflhlbar
hervor.
1797 vermählte sich Bewies mit Magdalene Wake
und sein Leben nahm fortan in dem stillen Fahrwasser
seiner ihn befriedigenden, erfolgreichen Tätigkeit und
seiner behaglichen Häuslichkeit einen ruhigen Verlauf.
1818 wurde er Kaplan des Prinzregenten, 1828 residieren-
der Canouikus in Salisbury. Liebenswfirdig, heiter, anregend
und gutmütig, gleichzeitig geistvoll und lächerlich, genial
und närrisch, liberal und reaktionär, den Freuden des Da-
seins zugekehrt und ein wackerer, bei seinen Pfarrkindem
beliebter Seelsorger, war Bewies einer jener tjrpischen
Landgeistlichen des 18. Jahrhunderts, schöngeistiger Lebens-
kflnstler und bieder treuer Hirt in einer Person, wie sie
noch George Eliot gekannt und geschildert hat.
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Das beschreibende Gedicht und die Verserz&hlang. 615
„Einen solchen Parson Adams hat es seit dem wirk-
lichen nicht gegeben!^ mft Thomas Moore ans, als er
Bowles einst im „Weifien Hirschen^ eben dabei trifft^
einem Kellner, der ihm Amannensisdienste leistet, seine
Ideen über das wahrhaft Erhabene in der Poesie ans-
einanderznsetzen.1) „Wie knapp entgeht er dem Schicksal
ein Narr zn sein, dadurch, daß er ein Genie ist!^ heißt
es ein andermal!^) Mit seinem Talent, seinen Schnitzern nnd
Vergeßlichkeiten, seiner Furchtsamkeit, dankt er Coleridge
der reizendste aller lebenden Pfarrherrn und Dichter.^)
Er steckt voll Grillen und Absonderlichkeiten. So durfte
ihm z. B. kein Schneider je Maß nehmen, sondern mußte
nach einer Besichtigung von Bewies' Gestüt seine Sache
machen, so gut oder so schlecht er konnte. Dennoch ist sein
Besuch niemals ungelegen. Sein Gemisch von Einfalt und
Genie entzückt Das lieblich gelegene Pfarrhaus in BremhUl
ist mit seinen Grotten, Einsiedeleien und Inschriften aus
Shenstones Werken eine Sehenswürdigkeit. Kommt Besuch,
so werden eilig die Springbrunnen aufgedreht und der Ein-
siedelei im Garten durch Kruzifix und Meßbuch die rechte
Stimmung gegeben. Die Glocken seiner Schafe sind in
Terzen und Quinten gestimmt „Aber er ist nichts desto-
weniger ein famoser Kerl", faßt Moore seinen Bericht zu-
sammen, „und sind die Quellen seiner Begeisterung nicht
vom Helikon, so sind sie doch wenigstens sehr süße
Wasser und meinem Geschmack angenehmer als manche
mineralischere". ^)
0 Memoirs, Journal, Correspondence. Edited hy Lord John BmseH
n, 280.
•) Vn, 163.
*) n, 271.
*) n, 153.
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616 Du beachreibaide Gedicht nnd die VeneniUimg.
Als Theologe faßt Bewies in der orthodoxen Kirche, ist
aber tolerant genug, einmal dorch das Geschenk eines
alten schwarzen Anznges einen armen Psalmen&bschreiber
zum dissentistischen Prediger auszustatten.
Er predigte immer aus dem Stegreif & Mitunter w&hlte
er ein weltliches Gedicht, das ihn eben entzfickte, zum
Text. Dennoch waren seine Predigten, die 1839 im Druck
erschienen {Sermons preached at Boscow. Predigten, ge-
halten zu Boscow) durch ihre erbauliche Kraft und Wfirde
allgemein beliebt
Seine milde Weisheit gewann jeder Lebenslage eine
lichte Seite ab. Zahlreiche kleine Gedichte drflcken seine
Freude am heimischen Grunde au& Eine durchaus religiöse
Note beherrscht seine gesamte Dichtung. The Sylph of
Summer (Der Sommersylphe), das langatmige Fragment
einer geplanten Dichtung fiber die Elemente, moralisierend
doch nicht ohne ethisches Pathos, dient der Bekräftigung
seiner Überzeugung: Es gibt einen Gott Desgleichen laufen
die meisten Stücke von The ViUager^s Verse Book (Des
Dörflers Gedichtbuch), an vertrauteste Gegenstände des All-
tags geknfipft und für die Schulkinder bestimmt, denen
Mr. Bewies im Garten Sonntagsunterricht erteilte, auf
fromme Sinnsprüche hinaus (Sun Eise. Sonnenaufgang;
Hen and Chickens. Henne und Küchlein; The Sh^herd
and his Bog. Der Schäfer und sein Hund; Paih of Life.
Lebenspfad).
Auch die Freiheit ist für Bewies die Sache Gottes.
Nimmer mafie sich die Anarchie ihren ehrwürdigen Namen an.
(Verses to the Right Eon. Edmund Burke). Die bequeme
Zuversicht und Ergebung in die göttliche Vorbestimmung
verflacht seine politische Gesinnung. Von modemer
Nationalökonomie will Bewies nichts wissen (Vision, 1825).
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Du beschreibende Gedicht und die Venenfthlang. 617
Hingegen ist seine humanit&re nnd kosmopolitische Schwär-
merei auf der Höhe des 18. Jahrhunderts. Sein Herz schlägt
in warmer mitleidvoller Liebe ffir das unglfickliche ver-
lassene Kind. (Verses inscribed to Eis Orace ihe Duke of
Leeds and oiher Promoters of the Philanfhropic Society. Verse
an Seine Gnaden den Herzog von Leeds nnd andere Förderer
der Philantropischen (Gesellschaft, gegründet 1788); The
lAttU Sfveep. Der kleine Schornsteinfeger, dessen Scheitel
dunkel ist wie sein Geschick, ein Appell an die Engländer,
die ihr Blut f Or die schwarzen Sklaven vergossen, sich der
heimischen anzunehmen). Dem Neger legt Bewies in C!owpers
Art abendländisch sentimentale Gefühlsüberschwänglichkeit
bei (The Äfrican. Der Afrikaner, der sich am Sterbebette
eines leibeigenen Kameraden freut, daß dieser nun in die
Heimat, in die Freiheit zurftckkehre). Die Joseph Warton
gewidmeten phantasie- und schwungvollen Heroics, Verses
on Beading Mr. Howard! s Description ofPrisons (Verse bei
der Lektüre von Howards Schilderung der Gefängnisse)
zeichnet sich durch die packende Kraft der Gefängnis-
beschreibung wie durch die Eindringlichkeit der Apostrophe
an die Barmherzigkeit und ihre Diener aus. Wer nur einen
Augenblick das bittere Leid des armen Bruders linderte,
hat nicht umsonst gelebt.
Poesie als Phantasiespiel und Selbstzweck ist Bewies
so fremd wie Grabbe und C!owper. In The Spirü of Disco-
very at 8ea (Der Entdeckungsgeist auf dem Meere) sagt
er, es sei ihm ein beruhigender Gedanke, dafi er die
Muse nie anders, denn als Sorgentrösterin, umwarb, als
Malerin interessanter Gegenden und als Dienerin des ge-
sunden Verstandes, des unverfälschten Gefühls und der reli-
giösen Hoffnung. Die seltenen Fälle, in denen ihm ein sang-
bares Lied gelingt, erscheinen als zufällige Abschweifungen
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618 Das beschreibeiide Gedieht und diie Venenstiiliuig.
vom gewollten Pfade. So die rein lyrische Strophen
November^ 1791; May^ 1792; die gut« Romanze The Harp
of Hod (Die Harfe von Hod).
Auf dramatischem Gebiete hat sich Bewies nur dnrdi
einige Szenen betätigt in The Sandurary (Das Heiligtiun),
einer DarsteUnng der Flucht Elisabeths, Witwe Edwards IV.,
nach Westminster und ihrer Trennung von dem Knaben
Richard — nach Shakespeare ein durchaus ftberflassiges
Unterfangen.
Vom richtigen Spftrsinn fftr die Neigung der Zeit war
Bewies geleitet» als er sich dem beschreibenden Naturgedidit
und der Verserzählung zuwandte. Coomb EUen, in Blank-
versen, und 8t. Michaels Maunt in heroischen Reimpaaren,
beide 1798, scheinen in grader Linie von FopesWindsor Forest
abzustammen. Der Dichter ruft die Betrachtung an, seine
Schritte zu lenken. Sein Pinsel schildert breit und deutlich,
doch seine Phantasie ist der Walisischen Gebirgslandschaft
nicht gewachsen und er muß zu ihrer Charakteristik seine
Zuflucht zu Shakespeare nehmen. Bald dftnkt sie ihn der
Schauplatz von Macbeths Schicksalsschwestem, bald der
eines Ariel und Prospero. YortrefDiches leistet Bewies in
der Naturschilderung nur da, wo er sich nicht zu viel
zutraut. Prächtige Bilder aus dem englischen Mittellande
sind recht eigentlich sein Bestes — sei es, dafi er die
Gegend im weichen Sommerlicht malt, wenn alles Leben,
Schönheit, Hoffnung atmet (Sketch from Bowden Hiü öfter
Sichneas. Skizze von Bowden Hill nach einer Krankheit),
sei es, daß er die müden Schleier des Herbstes aber sie
breitet
Unter Romantik versteht Bewies noch den mittel-
alterlichen finstem Geist gothischer Barbarei und freut
sich, daß er mit der Verfeinerung modemer Kultur aus
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Das beschreibende Oedicbt und die Verserzählnng. 619
diesen Tälern gewichen sei. Die gleiche Auffassung kehrt
in Hymn to Wodan (Hymne an Wotan) wieder.
Einen kfthnen Aufschwung nimmt Bewies mit dem be-
schreibenden Gedicht in heroischen Versen The Sorrows
of Switgerland (Die Leiden der Schweiz), 1801. In kluger
Abschätzung seiner Fähigkeiten macht er den historischen
Vorwurf, die französische Invasion, mehr zur Voraussetzung
als zum eigentlichen Thema. Auf diese Weise gelingt es
ihm, den Gegenstand wenigstens annähernd zu bewältigen.
Eine Wanderung durch die Schweiz, Bilder der Verwüstung,
des Janmiers und der Vergewaltigung geben Anlaß, „den
Mann der Verzweiflung und des Blutes" zur Bede zu steUen.
Aus tiefetem Mitgefühl quillt die erhabene Einsicht: Wie
dicht sich auch das Dunkel um uns balle, Gott wisse, was
das Beste seL
1802 feierte Bewies in der Ode The BatÜe of the Nile
(Die Schlacht am Nil) den Sieg der Engländer, mit dem
„der kaiserliche Cäsar, dessen Herrschaft die langumstrittene
Welt endlich anerkannt^ übertroften worden**.
Indes fühlte Bewies' in der ländlichen Studierstube
heimische kontemplative Muse sich selbst bei dieser Ein-
schränkung unbehaglich im Qualm blutiger Leidenschaften,
auf dem heißen Boden welthistorischer Ereignisse. Im
Sturmjahr 1804 greift sie als offenbar sympathischere
Anregung in Glarkes umfangreicher Geschichte der Schiffahrt,
die hier auf die Arche Noah zurückgeführt wird, die Idee zu
einer beschreibenden, historischen Dichtung in fünf Büchern
auf, die dem Prinzen von Wales zugeeignet wird: The Spirit
of Discovery hy Sea, Dem auf dem Ararat geretteten Noah ver-
kündet, der Engel der Zerstörung das Mittel seiner Rettung.
Die Arche, werde durch die infolge der Entdeckung Amerikas
aufkommenden Übel — Sklavenhandel, Untergang vieler
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620 Dm beschreibende Gedieht und die Venenfthlimg.
Seefahrer a. a. — die Ursache kfinftiger Vemichtnng
werden. Allein ein guter Qenins offenbart Noah im Lanfe
der kommenden Weltgeschicke, die er ihm zeigt, den schließ-
lichen Triumph der Gnade. Muß auch das Übel sein, wird
doch das Gute ftberwiegen. Die Schiffahrt wird ein IGttel
zur Verbreitung der Erkenntnis Gottes über den Erdball
Ein historischer Überblick ttber das Seewesen f&hrt im
y. Buche in Äußerst gezwungener Weise wieder zur
Arche zurftck, um mit einem Zukunftsbilde von trans-
zendentalem Optimismus zu schließen. Ein YL Buch, das
Yasco da Gama und C!olumbus zugedacht war, gab
Bowles im Hinblick auf Bogers' und Southeys Dichtungen
aul Bescheidenheit war eine seiner liebenswürdigsten
Eigenschaften. Bei allen Mängeln erscheint The Spirit of
Discovery typisch ffir seine Zeit, sowohl in der Weltfl&chtig-
keit des theoretischen Vorwurfs als in der trefflichen
Durchführung der Blankverse, in der amerikafreundlichen
Gesinnung, dem Anlauf zum Großartigen in den schönen
Eingangsversen an den Geist des Ozeans und in dem An-
sätze zu einem Milleniumstraum, den der fromme Dichter
in das Gebet formuliert: Dein Reich komme! Selbst
der Umstand, daß der sorgfUtige, einheitliche Plan,
auf den Bowles pocht, nicht einmal aus der voraus-
geschickten Prosaanalyse erhellt, wird charakteristisch
für den sich im Weiten verlierenden romantischen Geist,
nicht minder das ins IV. Buch eingesprengte Idyll und
die patriotischen Abschweifungen, welche Glanzstellen der
Dichtung bilden.
1815 kehrt Bowles noch einmal zu den so beliebten
transatlantischen Schilderungen zurück in der im heroischen
Versmaß abgefaßten Erz&hlung in acht Büchern The
Missionary of ihe Ändes (Der Missionar der Anden). Die
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Das beschreibende Gedicht nnd die Versenählang. 621
Idee empfing er von Bogers. 0 Und so bildet denn in dieser
Dichtung, wenn anch von Betrachtung überwuchert, ein
stofflicher Gehalt das Hauptinteresse. Der Sevillaner
Anselmo, den die Intrigue eines Priesters in den Kerker
der Inquisition, um die Braut und sein Lebensglflck gebracht»
wird, von der Kulturwelt angewidert, Missionär in Süd-
amerika, um in der Wildnis in Unschuld zu leben, das
Licht der Wahrheit zu verbreiten und die Indianer aus
der Sklaverei zu befreien. Er tauft und erzieht einen ver-
lassenen Indianerknaben, Lantaro, der Page des spanischen
Befehlshabers Valdivia wird. Aber das alte Indianerblut
fließt in unveränderter Heimats- und Stammesliebe in den
Adern des anscheinend dem Abendlande Oewonnenen. Als
die Halle des Feldherm von Siegesjubel dröhnt, trauert er
am Meere. Er findet seine von einem Spanier betörte
Schwester, eine rührende Opheliengestalt, wieder. In der
Schlacht steht er seinem alten Vater gegenüber. Da verrät
er die Spanier und führt die Seinen zum Siege, dessen
Opfer Valdivia wird.
Der Mangel jeglichen inneren Konflikts in dem zwischen
zwei Pflichten gestellten Lantaro macht das Gedicht bis
zur Unerträglichkeit langweilig, oberflächlich und un-
geniefibar. Doch erscheinen auch diese G-ebrechen charakte-
ristisch für die romantische Durchschnittsware der Zeit.
Selbst das Miteinbeziehen der Indianerpoesie und der Geister-
welt) das Bewies in der Vorrede als altmodisch entschuldigen
zu müssen glaubt, gehört zu ihr. Freilich ist die Geister-
stimmung mehr gewollt und ausgeklügelt als in packender
Unabsichtlichkeit erzielt, und für den Tropensommer flndet
Bowles' Phantasie keine Farben auf ihrer Paletta Dennoch
<) Bogers, Table TM, 268.
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622 Dm beidireibende Gedicht und die Yenenihlimg.
rang Der Missionär der Anden selbst dem feindlich ge-
sinnten Byron ein homoristisches liOb ab.
Ich las den MiBtionär;
Hftbsch — sehr!
heißt es in den Versicles von 1817.
In späteren Jahren w&hlte Bowles das bessere Teil:
er wandte sich der Heimatsschildening zn. Die Blankvers-
erzShlnng The Grave of ihe Last Saxon, or The Legend of
ihe Curfew (Das Grab des letzten Sachsen oder Die Legende
von der Abendglocke), 1822, hebt folgendermaßen an:
Kennt ihr du Land, wo die Orange glttht?
Vielmehr: Kennt ihr das Land nicht, das die Freiheit liebt?
Wo eure tapfem Vftter einst geblutet?
Das Land der weißen Klippen, wo die Hütte —
Ihr Ranch steigt in den klaren Morgenhimmel —
Am grflnen Waldesrand so sicher steht
Wie des Nonnannen stols bewimpelt Schloß?
Soll der Poet ein Land yon Sklaven schildern ~
Erglüht' yon Heisterhand die Leinwand auch
In reichster Farbenpracht — nnd darob dein
Vergessen, seines Landes, seiner Heimat?
Mit dem Preise der Heimat beginnt die Dichtung,
mit dem Segenswünsche, daß sie lebe und herrsche, bis
Welt nnd Wogen nicht mehr sind, schliefit sie. Der
Patriotismus ist freilich das Beste an dieser Bearbeitung
yon Harolds Tod. Weder das Aufgebot aller Sturm- und
Schlachtgötter, noch das Wunder eines sich bewegenden
Kruzifixes hilft über die dürre Öde endloser GesSnge hinweg.
Sein Bestes leistet Bowles in der Blankverserzählung
Days Dejparted, or A Lay of (he Sevem Sea (Vergangene
Tage oder Ein Lied von der Sevem See), 1828. An den
ihm auf Schritt und Tritt vertrauten St&tten der Kindheit
geht er Jugendeindrücken nach. Er stellt die Sittlichkeit
jener vergangenen Tage, in denen sein Vater Rektor des
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Das beschreibende Gedicht und die Verserzfthlang. 623
Eirchensprengels war, dem jetzigen Stande der Moral
gegenüber nnd gibt eine ethnographische Studie aber die
pr&historischen Funde einer Höhle am seeartig erweiterten
Sevem. Hierbei verfällt Bowles einesteils dem alle Elassi-
zisten treffenden Fluche eines theoretisch - didaktischen
Themas, andemteils entrichtet er in dem Herausstreichen
der Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart auch der
konventionellen Romantik seinen Tribut Nichtsdestoweniger
ist das ländliche Idyll gar anmutig und freundlich ge-
schildert, zumal der prächtige Pfarrherr, der der Erzieher
seiner Kinder und der Berater und Helfer seiner Gemeinde
ist, die liebevolle Mutter, die zufriedenen wackeren Dorf-
bewohner, verklärt von einer Art Sonntagsglanz des Friedens
und der Wahrheit Als Ursache* für den Wandel zum
Schlechtem mfissen die Fabriken und Maschinen herhalten
und die falschen Beligionsbegriffe, welche die „Pfarrgecken,
halb Jockeys, halb Ladenschwängel", verbreiten. „Voll
Poesie und voll Beligion" nennt Christopher North dies
Buch. „Bei Männern von Genie gehen die beiden gut
zusammen." An anderer Stelle ruft er aus: „Es lebt kein
Mensch mit einem poetischeren Temperament! Bowles' alte
Augen besitzen die Gabe, die Schöpfung zu verschönern,
indem sie den Zauber der Melancholie über sie ausgießen.
Er stimmt keine eitle Klage um die Vergangenheit an.
Die Bilder, die er vorführt, sind nur durch die Zeit ge-
heiligt Seine menschlichen Sinne sind so fein, daß sie an
sich poetisch wirken, und seine poetischen Aspirationen so
zart, daß sie immer als menschlich empfunden werden". <)
Gleichwohl gibt auch North zu, daß Bowles kein großes
Gedicht geschrieben habe.
>) An Hqwi's Talk ahoui Poetry.
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624 Das besdireibeiide Gtdieht und die Venenühlniig.
Eine willkfirlich in Days Departed eingefügte Schaner-
ballade The Tale of ihe Maid of ComwaU, or Spectre and
Prayerhooh (Die Geschichte der Jnngfraa von Comwall oder
Gespenst nnd Gebetbuch) ernüchtert dnrch die moralische
Erläutenmg, Schuldbewußtsein sei der anklagende Schatten.
Darum ^Verlaß kein treues Mägdelein!^
Mit St. John in Faihmos (1883) wagte Bewies sich an
einen Gegenstand, dem er nicht gewachsen war. Die
schöpferische, yision&re Phantasie, deren es zur BewUtignng
einer solchen Au^be bedurfte, besaß er nicht Er verliert
sich in äußerst matten Erörterungen über die Schrift und
manche hübsche Naturschilderung entschädigt nicht für
das verfehlte Ganze. Southeys Gattin, die Dichterin
Caroline Bewies, keine Verwandte William Lisles, nennt
St John of PathmoSf dessen Vorrede bittere Ausf&Ue gegen
ihren Mann enthUt^ „einen zusammenfassenden Auszug von
Bewies' Geisteszustand, voll von Blitzen poetischer Schönheit^
voll Herzensheiligkeit und tiefem Gefühl, aber im Ganzen
verfehlt^ ohne Haltung und Sinn für das Bildhafte.'' 0
Während dieser poetischen Laufbahn hatte Bewies
durch 15 Jahre den Streit auszufechten, den seine Aus-
gabe der Werke Popes (1806) heraufbeschwor. Seine
Anmerkungen, schwächlich und von sentimentalem Wort-
schwall,*) nahmen sich neben Wartons gediegener Gelehr-
samkeit übel genug aus. Lauten Anstoß aber erregte
die Einleitung On fhe PoeUcal Charaeter of Pope (Über
Popes Eigenart als Dichter). Obzwar Bewies als sein Prinzip
bekennt: Ne quid falsi dieere audeaml Ne quid veri non
audeaml ist doch eine wenig wohlwollende Stimmung gegen
0 Brief an Sonthey, 9. Juni 1832.
•) Memoirs 11, 271.
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Das beschreibeiide Gedicht und die VenerzBlilims:. 625
seinen Helden von vornherein ffihlbar. Werden auch die
Schatten y die er in dessem Bilde anftrfi^, hinreichend
motiviert, so fehlt doch die erforderliche Entsprechung an
licht Beim besten Vorsatz, gerecht zu sein, wird er ein-
seitig. Er glaubt, nur von Wahrheitsliebe geleitet zu
werden, aber heimliche Abneigung hat die Hand im Spiele.
So mochte er in aller Bescheidenheit die fibertriebene
Wertschätzung Popes auf ihr rechtes Maß zurftckfOhren.
Gegen seine Absicht wirkt seine Kritik als absichtsvolle
Entthronung einer anerkannten GrOßa
Biyon und Campbell traten als Eftmpen für den Alt-
meister ein. Bewies beantwortete ihre heftigen Angriffe
in der Abhandlung The Invariable Prinäples of Poetry in
a Leiter addressed to Thomas Campbell Esq^ occasioned hy
same GriUcal Observations in hie „Spedmene of fhe British
Poetry'', particulary rdaUng to fhe Poetical Character ofPope
(Die unwandelbaren Prinzipien der Poesie. In einem
Briefe an Herrn Thomas Campbell, hervorgerufen durch
einige kritische Bemerkungen in seinen „Mustern britischer
Dichtung", hauptsächlich in Bezug auf Pope), 1819. Der
Streit über den Einzelfall wurde darin auf die Höhe einer
Erörterung allgemeiner Kunstfragen gehoben. Bewies, der
schon vorher mehrmals die Kunst als Vermittlerin zwischen
der Natur und dem Menschen hingestellt (Rubens* Landscape.
Die Landschaft bei Rubens, 1803) und die Wahrheit höher
einschätzt als die Phantasie (The Visionary, or The Young
Poefs Paradise. Der Seher oder Das Paradies des jungen
Dichters), trat nunmehr mit der Theorie hervor: schöne
und erhabene Werke der Natur überträfen die schönen
und erhabenen Werke der Kunst; die Natur sei folglich
poetischer als die Kunst, will sagen: Leidenschaften seien
poetischer als kfinstUche Manieren. Der Haupteindruck
Owchiehte der eoKlMcheit Bomantik ü, 1. 40
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626 Oif batdmibeiide Oedkht und die YenersShliag.
eines Emuitiirerkes beruhe auf den ihm innewohnenden
höchsten Gefühlen der Natur. Ohne yoUkommene Natur-
kenntnis werde man kein henrorrag^ender beschreibender
Dichter. Cowper schildere jeden Traum, jede Farbe und
Gestalt mit einer Genauigkeit, die den Leser zum Zu-
schauer mache. Darum sei er in der Darstellung Pope
ftberlegen.
Schon der Titel der Abhandlung dfinkte Byron eine
unstatthafte Anmaßung. Er erhob entschiedene Einspradie
gegen die Au&tellung yon unveränderlichen Prinzipien der
Poesie. Sie seien vielmehr niemals festgesetzt worden und
könnten es niemals werden. Denn sie bedeuteten nichts
andres als die jeweilige Vorliebe des Zeitalters, und
diese Vorliebe richte sich weniger nach dem Verdienste
des Dichters als nach dem Wechsel des allgemeinen
Geschmackes. Überhaupt sei der Dichter nicht nach seiner
Kunstgattung, sondern nach seiner Leistung einzuschätzen.
Mit jener echt menschlichen Neigung, gering zu bewerten,
was man selbst im Überflusse besitzt, eifert Byron hier
gegen die herrschende Richtung, auf Phantasie und Er-
findung, „die zwei gewöhnlichsten Eigenschaften^, be-
sonderes Gewicht zu legen. Das, worauf es ankomme, sd
der ethische Gtehalt. „Was machte Sokrates zum größten
Menschen? Seine sittliche Wahrheit, seine Ethik. Was
erwies Jesus — kaum minder denn seine Wunder — als
Gottes Sohn? Seine moralischen Lehren. Wenn nun die
Ethik einen Philosophen zum besten der Menschen gemacht
und von der Gottheit selbst als Attribut ihres Evangeliums
nicht verachtet worden ist, will man uns sagen, daß die
ethische oder didaktische Poesie (oder wie man sie nenneo
mag), deren Zweck es ist^ den Menschen weiser und besser
zu machen, nicht die allererste Gattung der Poesie sei?
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Das beschreibende Gedieht und die Yenerzfthliiiig. 627
Und will gar einer aus der Priesterschaft uns dies sagen?
Möglich, daS Pope sich selbst geschadet durch das Wort:
Der Phantasie yerschlongnen Pfad ging ich nicht lang.
Zur Wahrheit stieg ich ab, moralisch ward mein Sang.
(EpisÜe io Arbuihnot)
Er hätte sagen mflssen: Znr Wahrheit stieg ich auf! Pope
ist der moralischeste Dichter der zivilisierten Welt."»)
Bewies erwiderte in Ti€o Letters to the Right Hon.
Lord Byron in Änswer to His Lordship's Letter to *** on
the Rev. W. L. Bewies^ Strictures on the Life and Writing
of Pope; more particulary on the Question, tohether Poetry
he more immediately indebted to what is Sublime or Beautiful
in (he Works of Natur e, or the Works of Art (Zwei Briefe
an den hochedlen Lord Byron in Beantwortang des Briefes
Seiner Lordschaft an *** über Seiner Hochwärden W. L.
Bewies* Kritische Bemerkungen Ober die Schriften Popes.
Insbesondere über die Frage, ob die Poesie mehr dem
Erhabenen nnd Schönen in den Werken der Natur oder in
den Werken der Kunst schulde), 1821. Bewies' überaus
höflicher Ton machte es Byron unmöglich, den Streit fort-
zuführen. >) Er liefi ihm durch Murray für seine Ehrlich-
keit und Güte danken (14. Mai 1821) und gab Befehl von der
Veröffentlichung seines zweiten Briefes abzusehen Dieser
ist tatsächlich erst 1835 erschienen Ihe Irish Avatar be-
nutzte Byron zu einer Mystifikation Moores, indem er das
Gedicht für ein Werk Bewies' ausgab (17. September 1821).
Aber der langlebige Bewies behielt dennoch das letzte
Wort 1824 widmete er der Bestattung des bei Missolunghi
>) Letter to *** Eb^. on the Bev. W. L. Bowlet^ Strictures on the
Life cmd Writmgs ofPope. (Erschienen im Man 1827. Die drei Sterne
bedeuteten John Mnrray).
*) An Donglas Kinnaird, 21. November 1821.
40*
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628 Das beschreibende GMicht und die VeneniUmig.
Dahingegangenen die Stanzen Oiüde HaroUPs Last Pügrir
fnage, tadeUos in der Fono, wfirdig im Inhalt, ohne nach-
trägerischen Groll oder kleinlichen HaS, freilich auch ohne
den Maßstab für die Bedentang nnd GrGße des YerlnsteSy stets
nnr den menschlich -sittlichen Standpunkt im Auge, yod
dem ans er, der Versöhnliche, sich dem Toten aberlegen
fühlte. Der ganze Bewies liegt in diesem Gedicht — un-
endlich wackerer als genial
Die Pope -Fehde hatte jedoch mit Byrons Hinscheiden
ihr Ende noch nicht erreicht Bewies mnfite noch zwei
anonyme Angriffe eines literarisch angehauchten Krämers
aus Stamford, Octavius Graham Gilchrist parieren. Er tat
es in J. Beply to fhe Charges braught by {he Reviewer of
Spencers „Änecdotes^ in fhe Quarterly Review for October
1820 against the Last Editor of Popels Woris (Erwiderung
auf die von dem Kritiker der Spenceschen „Anekdoten'' in
der Quarterly Review vom Oktober 1820 gegen den letzten
Herausgeber von Popes Werken vorgebrachten Beschul-
digungen) im Pamphleteerj 25. Oktober 1820 und in
Ä Vindication of the Late Editor ofPope's Works from some
Charges brought against him by a Writer in the QtMrterly
Review for October 1820. With furiher Observations on
the Invariable Principles of Poetry and a FuU Exposure
of the Mode of Oriticism adopted by Octavius GUchrisi
(Rechtfertigung des letzten Herausgebers von Popes Werken
&ber die durch einen Schriftsteller der Quarterly Review yom
Oktober 1820 gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen.
Mit weiteren Bemerkungen über die unwandelbaren GFesetze
der Poesie und einer vollständigen Darlegung von Octavius
Gilchrists kritischem Verfahren) im Pamphleteer vom
17. Februr 1821. Es ist nicht uncharakteristisch für den
temperamentvollen Bewies, daß er gegen den edlen Lord
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Das beschreibeBde Gedicht und die Venerstthlung. 629
die ganze Liebenswürdigkeit und gegen den vorlanten
Erftmer ans Stamford die ganze Derbheit seines Naturells
hervorkehrte.
Die letzten Jahre seines langen Lebens waren wissen-
schaftlichen und Verwaltnngsarbeiten gewidmet Bowles
war ein tüchtiger Altertumskenner und trat auch auf diesem
Gebiete schriftstellerisch hervor {Hermes Britannicus, 1828,
Anitals and Äntiquities ofLacock Äbbey, 1835, The Cartoons
of BaphaeljA) Er beschäftigte sich mit der Armenpflege
und mit Oemeindeangelegenheiten (ParochialHistory ofBrem-
hiU. Geschichte des Sprengeis Bremhill, 1718 ; Ä few Words
to Lord Chancellor Broughm on the MisrepresentaHon con-
ceming (he Property and Character of the Cathedral Clergy of
England. Einige Worte an den Lordkanzler Broughm über
die irrtümliche Darstellung des Eigentums und des Charakters
des englischen Domkapitels, 1831). Schließlich ist noch ein
Lihen Kens (1880) zu nennen, jenes unerschütterlichen
GteisÜichen der für die Ezkommunizierung Jakobs stimmte
und später dennoch lieber seinen Bischo&sitz opferte, als
daß er König Wilhelm Treue geschworen hätte.
Bowles starb in Salisbury 1850. In der Ankündigung
von St John in Pathmos hatte er das schöne Bekenntnis
abgelegt, er hätte von der Jugend bis zum Alter keine Zeit
durchlebt, die er ausstreichen möchte, noch sei er einen
Augenblick von der strengen Geschmacksrichtung abge-
wichen, die sein Geist von den einfachsten und reinsten
Vorbildern klassischer Dichtung in sich aui^enommen. Er
war sich bewußt, als literarische Persönlichkeit keinen
großen dauernden Ruhm für sich in Anspruch nehmen zu
können. Sein Wunsch an die Muse ist demüthig: „Laß
0 VergL Byron'8 Frote Works, ediied by Prothero V, 277.
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630 Das beschrabeade Oedieht und die Varseniklmig.
mich nicht yergehen wie das GfewOlk von gestern!'* {Sk^A
fram Boteden HiU.) Innerhalb seiner bescheidenen Grenzea
aber behauptet er seine nicht zn umgehende Bedentung.
Als dienendes Glied im gewaltigen Ganzen der Dichtung
wird man ihn nicht wohl ausschalten könnet
Werke Ton Bewies.
1789 Faurtem Sotmeta, tmUm cMefy an Piduresque Spots
äumng a Jounmey.
— Verses fo John Howard.
1798 Coonibe Ellen.
— St Michaers Mount
1799 The BaUle of the Nile.
1801 The Sorrows of Switeerland.
1803 The Pieüire.
1804 The SIpirit of Discovery at Sea.
1806 Bowden Hill
— The Works of Alexander Pope, Conicmmg ihe Princ^al
Notes of Warburton, and Warton^s Uhtstrations, and
Oritical Explanatory Bemarks bjf Johnson, Wake/ield,
Chaknersrond Others. To whidi are added, now first
pubUshed, some Original Letters, wilh Ädditional Ob-
servations and Memoirs of the Life of ^ Aufhor.
1816 The Missionary of the Andes.
] 819 The Invariable Principles of Poetry. In a Letter addressed
to Thomas Campbell Esq., occasümed by some OriUcal
Observations in his Speamen of the British Poetry^
particularly relating to ihe PoeUcal Character of Pope.
1822 The Grave of the Last Saxon.
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Dm beschreibeiide Gedicht nnd die Verserzählimg. 681
1822 Leiters io Lord Byron on a Qtiestion ofPoeUcäl OriHdsm.
To whick are now fi»'3t added the Letter to Mr.
Can^hell and the Änswer to the Writer in the Quar-
terUf Bemew. Together with an Änswer to some
Oljection$ and further Illustration by the Eev. W. L.
Bowles.
1823 EUm Gray.
1828 Boys Departed, or Banwell HOL
1833 8L John m Pathmos.
1837 Scenes and Shadotos of Boys Be^arted.
— The VUlage Verse Book.
Werke Aber Bewies.
1853 ThomAB Moore, Memoirs, Journals and Correspondence.
1855 George Gilf ilUn, W. L. Bowles, Poeticäl Works, edited
with Memoir^ OriUcal BissertaUon, and Expkmatory
Notes.
1856 Ghristopher North, Bays B^arted, or Banwell Hill
und An Hour's Talk about Poetry. (Essays Oritieal
and Imaginative L)
— Watland Marston, Artikel des Bietionary of National
Biography.
1909 Arthnr Symons, The Bomantic Movement in English
Poetry.
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Samuel Rogen.
1763—1855.
Samuel Bogen bietet in seinem wenig ereignisvollen
Lebensgange und seinem ausgeglichenen Charakter das
seltene Bild einer weder dnrch äußere Widerst&nde noch
durch innere Hemmungen, wie etwa Leidenschaft, irregeleL-
teter Ehrgeiz oder physische Krankheit, gestörten Normal-
entwickelung. Dank diesen außei^wChnlich glScklidien
Umständen gelangte in ihm eine von Haus aus nur mittel-
mäßige Begabung zur höchsten ihr erreichbaren Entfaltung
und Fruchtbarkeit, zu einem erfolgreichen Dasein und einer
dauernden Stellung in der Literatur.
Er stammte aus einer ursprünglich in Worcestershire
ansässigen Familie von gefestigtem bfirgerlichen Ansehen
und Wohlstand. Die Verschmelzung von Torysmus nnd
Anglikanismus väterlicherseits mit dem Whiggismus und
Dissentertum mütterlicherseits ergab eine mittlere Bichtnng
von heilsamer Mäßigung. Im Eltemhause in Stoke Newington
im südöstlichen London verkehrte Dr. Richard Price (f 1791),
der Moralphilosoph und Politiker, der warme Anwalt der
aufständischen amerikanischen Provinzen, dessen Einfluß auf
den jungen Samuel ausschlaggebend wurde. ^)
Der Aesthetiker Payne Enight war ein Verwandter
der Mutter, der Dichter Shenstone ein Freund des Vaters
0 Vei^l. Clayden, EarlylAfe, 35.
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Das beschreibende (Gedicht und die Verserzählnng. 63S
gewesen. So fehlte es im Eltemhaose nicht an einer künst-
lerischen nnd philosophischen Überlieferang. Die politische
Gtesinnnng war liberal. Unvergeßlich blieb dem damals
einährigen Knaben der Augenblick, als nach dem Ansbruch
der Beyolntion in Amerika, 1774, der Vater nach der Bibel-
lektfire das Bach zuklappte und seinen Kindern die Ursache
des Aofstandes erklärte und hinzufügte, daß die Engländer
Unrecht h&tten und daß es schlecht wäre, die Besiegang
der Amerikaner zu wänschenJ) Aach ein Besuch von
Wilkes war unter Bogers' Kindheit3eindrücken. Der ge-
feierte Volksmann hatte ihm die Hand gereicht und er
blieb acht Tage stolz darauf. Mit 13 Jahren verlor er die
Matter, von der er zeitlebens das Bild einer schOnen, liebens-
würdigen Frau bewahrt hat. Ihr verdankt er jenen hohen
ethischen Ton, auf den sein ganzes Leben gestimmt war.
„Meine Mutter lehrte mich von frühester Kindheit an, gegen
das geringste Lebewesen liebevoll zu sein, sagt er im Table
Talk. Wie auch die Leute lachen m6gen, ich setze mit-
unter fein sorgsam eine verirrte Wespe oder ein Insekt
vors Fenster. .... Ich kann kaum umhin, zu glauben,
daß es in einem künftigen Sein für die Leiden der Thiere
in diesem Leben eine Entschädigung geben müsse.^
Bogers Empfindungsvermögen scheint außergewöhnlich
frühzeitig entwickelt gewesen zu sein. „In meiner Kind-
heit pflegte ich mich, wenn ich Unrecht verübt hatte, in
dem Bewußtsein meiner Missetat stets elend zu fühlen,''
erzählt er {Table Talk). „Die Eltern merkten es und
tadelten mich darum selten ob meiner Yergehungen. Sie
überliessen den Tadel mir selber.''
In der Privatschule zu Hackney schloß der Zehn-
jährige eine lebenslange Freundschaft mit William Maltby
1) Samuel Sharpe, XXL
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634 Dm beidirBibende CMicbt und die VeneniUniicr.
(t 1854)^ der, spftter Advokat und Oberbibliothekar d^
London Institution, achtzig Jahre hindurch Bogers' Ge-
sinnungsgenosse in allen Sachen des feinen G^schmaeks
blieb. Samuel selbst wünschte — vermutlich durch die
Bewunderung für Prioe angeregt — Geistlicher zu werden,
ließ sich aber unschwer von seinem Vater bestunmen, in
das Bankhaus der Bogers in Comhill einzutreten. Das
Gesch&ft ließ ihm hinlSngliche Muße, seiner geringen
klassischen Bildung durch Lektfire nachzuhelfen, der auch
lange, durch seine schwankende Gesundheit veranlaBte
Aufenthalte an der See förderlich waren. 1795 überließ er
das Bankhaus völlig seinem Bruder Henry.
Johnson, Goldsmith und Gray waren seine Lieb-
lingsdichter und die leuchtenden Vorbilder seiner er-
wachenden Schriftstellemeigung. In einem Anfall von Be-
geisterung machte er sich einst mit Maltby auf, um dem
greisen Dr. Johnson (f 1785) eine Huldigungsaufwartung
zu machen. Aber vor dem Hause angelangt, entsank den
Knaben der Mut und sie wagten nicht, den TQrklopfer zu
heben.
Rogers' erster schriftstellerischer Versuch, eine Beihe
von Aufe&tzen, die im GenÜemm^s Magasfine unter der
Rubrik The ScribhUr^ gezeichnet S. R., erschienen, wurde
durch JohnsonsiZom&Ies angeregt 0 >3ie behandelten mannig-
faltige Gegenst&nde, liefen indessen alle auf die Erörterung
des Tugendbegriffes, wie Dr. Price ihn faßte, hinaus. „Ein
Mensch,'^ sagt Rogers, „kann sein ganzes Leben der Er-
langung von Kenntnissen widmen, er kann alle Btlcher
lesen, die je geschrieben wurden, alle Systeme studieren,
die man je gebildet, und doch wird seine ganze Lektfire
0 Bell, XX. Samuel Sharpe, XVm.
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Dm besdireibeiide Gedicht und die Venenfthlniig. 635
nnd sein ganzes Stndinm nichts andei*es ergeben als dies:
dafi die Tagend allein wahres Glück hervorzubringen ver-
mag. Das Glttck eines Menschen hängt nicht von seiner
Stellung ab, sondern von ihm selbst. Wer seine Leiden-
schaften dem Gehorsam unterworfen, hat keinen Umschlag
des Geschickes zu fürchten. Erfolg kann Um nicht be-
rauschen, Mißerfolg ihn nicht niederdrücken. Er gleicht
der Eiche, die fest und aufrecht bleibt, gleichviel ob sie
die Sonne bescheint oder der Sturm umrauscht.''
Ihrer künstlerischen Qualität wie ihrer Moral nach
entsprechen diese Au&ätze guten Zeitschriftenartikeln
der Epoche. Vernünftige Ansichten und ein warmer
patriotischer Ton berühren angenehm. In Nr. 4 (0 Tem-
pora j 0 mores) widersetzt Bogers sich den üblichen
Klagen über die Entartung des Zeitalters, behauptet, daß
England, Holland und die Schweiz Anspruch auf größere
Bewunderung hätten als die gefeierten Bepubliken des
Altertums und gipfelt in der Aufforderung: Laßt uns ge-
recht sein gegen unsere Zeitgenossen. 0
Ein Opemlibretto The Vintage of Burgundy (Die Bur-
gunder Weinlese) sah 1782 das Lampenlicht 1786 wagte
Bogers anonym die erste selbständige Veröffentlichung: Ode
to SupersUtiony and other Poems (Ode an den Aberglauben und
andere Gedichte). Er kommt jener Korrektheit des Stils,
die ihm frühzeitig als Ideal vor Augen schwebte, hier
bereits nahe. Seine Jugend, der die Gährungen und Trübungen
des Genies so wenig bekannt sind wie der funkenschlagende
Leichtsinn, gewinnt es über sich, zwei Jahre lang an der
Ode zu feilen.^) Ein dem antiken Strophenbau nachge-
bildetes aber gereimtes Metrum und die nach vornehmer
0 TaUe Taik, 12.
^ SecöOecHons, 17.
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636 Dm beschnibeiide Gedieht und die Yenexsihliuig.
Oelassenheit strebende Diktion verraten das Vorbfld Grays,
dessen Gedichte Bogers sogar anf dem Wege znm Bankhaus
zn lesen pflegte. „ÄnB»*st daraof bedacht^ etwas zu sagen,
ohne daß er etwas zu sagen hätte'', so lautet das Urteil eines
Bezensenten in der Edinlmrgk Beview {Table Talk, 187).
Bogers folgt offenbar schon hier der Uberzengong, dafi for
die Popularität eines Gedichtes zweierlei nötig sei: erstens
eine stark religiöse Tendenz und zweitens ein Thema, das
im Leser keinerlei Kenntnisse voraussetze. ^ Die Ode ist
ein historischer Überblick aber den Aberglauben in allen
seinen Erscheinungsformen. Griechische, ägyptische, in-
dische, nordische Mythologie, Kriegswut und Bflßer-
grausamkeit der Kreuzzttge — nichts wird uns geschenkt
Endlich bricht die Himmelserscheinung des Glaubens den
Triumph des Aberglaubens. Seine Formen innerhalb der
Beligion werden umgangen. Philosophische Kfihle und
poetische Glätte erscheinen durch einen akademischen Ton
grauer Theorie unter Verlust jedes persönlichen Moments
erkauft. Es wäre denn, dafi man als solches die tadellose,
von didaktischer Absicht nicht freie Gesinnungstflchtigkeit
gelten ließe, die aus i.em Ganzen spricht
Die andern mit der Ode veröffentlichten Gedichte sind
durchaus unbedeutend. Das Bändchen fand dennoch dne
ungewöhnlich günstige Aufnahme. Die MonMy Uewew
begrOfite es als ein Werk, das die Hand des kundigen
Meisters verriete und erkannte ihm „edle und klassische
Eleganz^ zu.
Es war dasselbe Jahr, in dem die Kilmamok EdUion
der Gedichte von Bums erschien. Aber der nach litera-
rischem Umgange dürstende Bogers erkannte die Bedeutung
0 Abraham Haywaril, BecoUecUons of the Table Talk of Samud
Bogers, Juli 1856.
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Das beschreibende Gedicht nnd die Venen&hlang. 637
des im Norden aufgegangenen Sterns so wenig, daß er auf
einer Reise nach Schottland, auf der er eine Korrespondenz
mit Henry Mackenzie anknüpfte nnd sich rflhmte, an einem
Sonntag vormittags der Predigt Bobertsons nnd nachmittags
der Blairs beigewohnt, mit den Piozzis Kaffee getrunken und
nüt Adam Smith zu Abend gegessen zu haben, den Bauem-
sohn von Mossgiel nicht aufsuchte, obzwar er später The
CoUer's Saturday Night für eine der schönsten ländlichen
Dichtungen erklärte. 0
1791 reiste Bogers nach Frankreich, wie sein Neffe
Samuel Sharpe sagt, um die ersten freien Begnügen eines
großen Volkes mit Augen zu schauen, mit dessen Bevolution
er als Whig und Dissenter sympathisierte.') Er schrieb
nach Hause, es sei eine Freude, so viele Tausende, wie
beseelt vom Lebensodem der Freiheit ihres Landes
sich auf jedem öffentlichen Platze scharen zu sehen,
um offen fiber jene edlen Empfindungen zu sprechen, die
sie frflher kaum zu denken gewagt Seine Tischgespräche
jedoch bewahren zwar von diesem ersten Besuche in Paris
unmittelbar vor dem Ausbruche der Bevolution eine Tisch-
einladung bei Lafayette und allerlei Lappalien, enthalten
aber kein Wort Aber die sozialen und politischen Zustände.')
1792 trat Bogers mit seinem Vater den Friends of ihe
People bei, einer zur Erlangung von Parlamentsreformen
ins Leben gerufenen Gesellschaft, tiberzeugt, daß die Kon-
stitution nur zu retten sei, indem man ihre Mißstände
abstelle, und daß der Eigensinn der Tones dazu tauge, eine
gewaltsame Bevolution nach der Art der französischen herbei-
zufahren, nicht aber sie zu verhindern. Dennoch und trotz
0 Table TM, 45.
•)XXIV.
•) Tc^le Talk, 47.
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638 Dm bMckreibaide Gedicht mid die Yenenililiiiig.
seiner Freundschaft mit Fox, an dem ihn der whiggistische
Staatsmann wie der literatoryerstftndige und anziehende
Mensch gleich sehr fesselt, scheint Rogers' Interesse för
Politik nur gering gewesen zu sein. Sie spielt in seinen
Dichtungen keine Holle. E^ Glfickwunsch an Lord Grey
anl&ßlich der Durchf fthmng der Reformbill {Written in Jviy,
183i) und ein patriotisches Gedicht Aber die Sklaven-
emanzipation (WriUen in 1834) ist in dieser Richtung
alles Erwähnenswerte. Vielmehr geht der £3irgeiz
seiner Poesie auf ein allgemeines, philosophisch humanes
Ziel Er mOchte Sch&tze erhabener Gedanken ausstreuen,
um die Herzen zur Tugend erwecken. 0 So erh< seine
Dichtung, obgleich er selbst mitten im Leben und in der
Gesellschaft steht, dennoch etwas außer und fiber d^
Wirklichkeit Schwebendes, etwas zugleich Lehrhaftes und
Theoretischea Es scheint gewissermafien vorbedeutend, daß
ihn eine Kindheitserinnerung durch ein persönliches Band
an Pope knfipft Ein sehr alter Themsebootsmann, der
als Knabe seinem Vater geholfen hatte, den Dichter strom-
auf und -ab zu rudern und sich seiner noch gar wohl
erinnerte, hatte Samuel Rogers oft und gern von „Hr.
Alexander Pope" erzählt.^) Obwohl er späterhin Cowpers
Homer dem Popeschen vorzog, blieb doch Rogers' Anerkennung
für den Großen von Twickenham lebenslang ungemindert
Im Table Talk spricht er von dem lieben Menschen Pope
und seiner bewundernswerten Klarheit, die man jetzt häufig
für Oberflächlichkeit ansehe, infolge der Vorliebe fflr das
Dunkle in der Poesie. So knüpft er denn auch an Pope
an mit dem Werke, das ihn 1792 zum Dichter des Tages
machte, The Pleasures of Memory (Die Freuden der Er-
0 Poems, 1793.
») Table Taik, 24.
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Du beBdireibende Gedicht und die Venenlbliing. 689
innenmg). Gamett nennt sie ein Eind von Akensides
Fleaswres of Imagination (1765) nnd die Mutter von Camp-
bells Pleasures ofHope (1799) ; >) doch weist ein noch früherer
Vorläufer, Thomas Wartons Pleasures ofMelancholy (1797),
unmittelbar auf den Popeschen Kreis.
Die Heasures of Memory, eine Frucht sieben- oder gar
neunjährigen Bemühens, sind von einer Sorgsamkeit der
Arbeit, die sie des klassischen Lehrmeisters würdig machte)
Die regelmäßige Struktur des heroischen Reimpaares wie
die glatte, gedrungene Prosa der Anmerkungen sind gleich
Yollkommen. „Ihre Eleganz ist wirklich wunderbar,**
schreibt Byron am 5. September 1813 an Moore. „Es ist
auch nicht eine vulgäre Zeile in dem Buche^. Zu Lady
Blessington rühmte er die Feinheit und reine Ausführung
der Pleasures of Memory^ in denen auch nicht ein einziger
unedler Zierrat sei Bogers habe sich nicht auf den höheren
Oefilden des Parnaß niedergelassen, aber an dessen Fuß
einen allerliebsten Blumengarten angelegt. Späterhin dient
ihm die Dichtung dann allerdings einmal bei der Darlegung
des Unterschiedes zwischen Yersemachen und Inspiration
als Beispiel für die erstere.
In der Anlage ist das Vorbild Akensides unverkennbar.
Hier wie dort sucht eine erste Abteilung den abstrakten
Begriff theoretisch zu erschöpfen. Wie Akenside die ur-
sprünglichen Freuden von der Wahrnehmung des Großen,
Wunderbaren und SchOnen ableitet, die Freuden der Phan-
tasie scharf von denen der Philosophie unterscheidet und
die Sinneufreuden von denen aus der Erkenntnis oder der
Leidenschaft stammenden sondert, so erOrtert Bogers im
ersten Teile das Wesen der Erinnerung und die zwiefache
») Dictionary of National Biography,
«) üecoUections, XVIT, Table Talk, 18.
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640 D«0 beidmibeiide Gedieht und die VeneniUniig
Art ihrer Erreger, äußere Gegenstände und abstrakte
Meditation, durch welch letztere sie zur Hftterin aller
Schätze des Gfeisteslebens wird. Bei fiogers wie bei Akm-
side giebt die Ableitung der intellektuellen Tätigkeit von
äußeren Eindrücken Anlaß zu konkreten Bildern. Bei
Bogers ist es das Idyll der Jugend, das dem in sein
Heünatsdorf Wiederkehrenden mächtig ans Herz greift
Das alte Haus weckt die Erinnerungen der Kindheit, jeder
Hausrat mahnt an einen Freund, der Haselhain erneuert
das Bild der Zigeuner, die Eirchenglocken das des Toten-
gräber& Auch geschichtliche Erinnerungen spielen herein
und stellen den Beiz historischer Stätten ins rechte licht
Gk)ldsmithsche, Youngsche, Graysche Einflüsse machen sich
bei diesen Schilderungen geltend.
Der zweite Teil würdigt die Bedeutung der Erinnerung
für das Innenleben. Stille Einsamkeit ist ihr am zutrig-
lichsten. Sie färbt die Lebensansichten der Menschen, sie
trägt das Material zusaamien, aus dem die Phantasie ihre
kühnsten Luftschlösser baut Gestaltet doch der Geist sich
aus der Vergangenheit, also kraft der Erinnerung, selbst ein
Bild der Zukunft Die Freuden der Erinnerung sind die
einzigen, die wir völlig besitzen.
Wie Akenside ohne alle Phantasie ein Gedicht ftber
die Phantasie schrieb, so ist es das Charakteristische von
Bogers' Dichtung Über die Erinnerung, daß sie jede persön-
liche Erinnerung ausschaltet, daß sie ein abstraktes Thema
mit einer Fälle von Gedanken aber ohne jeden eigenartigen
Gedanken vorträgt In kühler Allgemeing<igkeit geht
die warme individuelle Note verloren. Durch den AusschlnB
alles konkreten Erinnems wird das Gedicht zur Theorie,
zum Schema. Eine wohlthuende Ausnahme bildet die
Apostrophe an Rogers' 1788 verstorbenen Bruder Thomas,
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Das beschreibende 0edicht und die Versenfthliing. 641
tief empfundene Verse, die weitaus zu den schönsten der
Dichtung gehören. Novellistische Ansätze — auch sie sind
auf eine erzählende Episode im 3. Buch der Pleasures of
Imagination zurfick zu fahren — schlagen leicht ins süßlich
Empfindsame und Banale um, wie die Geschichte von Morio
(Teil n), dem der Besitz seiner holden Julia verwehrt
ist, der aber dank dem schönen Grottengenius ihrem An-
denken leben darf. Die Popularität der viel zitierten Grotten-
inschrift geht wohl hauptsächlich auf den umstand zurück,
daß der Gedankeninhalt der melodiösen Verse so wenig aus
dem Wege lag. Verglichen mit Akensides Pleasures, die
nur ein Handbuch über ein abstraktes Phänomen sind,
waren Bogers' Pleasures of Memory eine Dichtung. Sie
gaben der 2^it was ihr gefiel und ernteten darum ihren
BeifalL Die JtfonAJy Beview lobte die Eorrekheit des Ge-
dankens, die Zartheit der Empfindung, Manigfaltigkeit der
Bilder und Harmonie des Versmaßes. 0 Die Verquickung eines
ethischen Gehaltes von tadelloser Lauterkeit mit dem über
die mittlere Sphäre nicht hinausstrebenden Gedankenfluge
des Dichters ergab eine sympathische Mischung und Rogers'
gesellschaftliche Stellung, die seit dem Tode seines Vaters
(1793) die anerkannte eines reichen Mannes war, verlieh
seiner literarischen Bedeutung vollends Nachdruck. Allmälig
kam hierzu noch sein Ruf als maßgebender Kunstkenner.
Durch seinen Schwager Sutton Sharpe zur Beschäftigung mit
den bildenden Künsten angeregt, die er in den Pleasures of
Memory noch vermied, hatte ein dreimonatliches Studium des
Louvre (1802) genügt, Rogers zum erfahrenen Mäzen aus-
zubilden, dessen Haus in St James's Place allmälig zum
Museum ward. Aus seinem Besitze stammt eine Madonna
von Raphael, der hL Georg von Giorgione und die Magdalena^
1) Sunnel Sharpe, XXV.
Gefebiehte der eiiffliioheii Bomaatik n, 1. 41
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642 Dm bMdrabeiide Gedidit ud dlft VeneniUniig.
der der Heiland erscheinti in der Londoner Naüonalgallerie. ^
Die beriUunten FriUirtftcke in Bogers* Hanse y^-sammelten
ohne Unterschied der politischen Parteifarbe alles, was
London an hervorragende nnd interessanten PeraSnlich-
keiten aufwies. In den Beeoüecüons bekennt Bogers sich
za Lord Ciarendons Meinung, niraumd in der Welt erringe
Ansehen, der nicht den Umgang ihm überlegener Lente
suche. An seinem Tische saßen nun neben Yolks-
f&hrem Aristokraten, vor denen ihn einst der Vater
gewarnt hatte: „Geh ihnen nicht in die N&he, Sam!^>)
saßen Künstler und Gelehrte. Charakteristische Ausspräche
dieser illustren Tischgesellschaft — manches prächtige
Wort von Fox, Wellington, Home Tooke — hat Bogers auf-
geschrieben und sein Neffe William Sharpe yerSffenÜicht
Doch halten diese Aufzeichnungen sich gewöhnlich an
der Oberfliche und Peripherie der Persönlichkeit seiner
Freunde und man gewinnt ab und zu den Eindruck, als
hätte der Gastgeber mehr das leichthin Geistreiche als
das innerste Ingenium seiner großen Genossen erfaßt
Bogers' eigene Gespräche nennt Sharpe nicht glänzend
aber vemfinftig und durch ethischen Gehalt ausge-
zeichnet Seine spitze Zunge bildete einen pikanten
Widerspruch zu seiner Herzensgftte. Er sprach fiber die
Leute schlecht und erwies ihnen Gutes. Den sterbenden
Sheridan z. B. unterstfitzte er mit Geld und persönlichen
Dienstleistungen, obzwar er sich immer boshaft fiber ihn
geäußert hatte.') Campbell erwiderte jemandem, der ub^
Bogers' böse Zunge klagte : „Entlehnen Sie yon ihm 500 Pf d,
1) Lady EastUke, Earhf Life of 8am Bogen hy CU^fdon, Quar-
ierly Beview. Oktober 1888 (voL 167).
*) Shaipe, XXXm.
>) Byron, Detached ThoughU, 1821.
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Das besdireibeiide Gedicht und die Venenählxm^. 643
er wird nie mehr ein Wort gegen Sie sprechen, bis Sie ihm
ihre Schuld bezahlen wollen. ^^0 Diese Summe hatte Bogers
ihm selbst vorgestreckt und dabei die Sicherstellung, die
Campbell ihm angeboten, abgelehnt. „Er tut mehr solche
Dinge als die Welt ahnt'', ffigt Moore dieser Erzählung
hinzu.^) So wurde Bogers gleichzeitig geliebt und gefürchtet.
Als Dichter war er vorsichtig und besaß jenen sichern
Geschmack, den er selbst in der nach Horazschem Muster
an den reichen Kaufmann Bichard Sharpe gerichteten
JEpisÜe io a Friend, 1798, als maßgebendste Eigenschaft hin-
stdlt. Der gute Geschmack, heißt es hier, sei ein vorzüg-
licher Ökonom, denn er beschr&nke seine Wahl auf wenige
G^enst&nde und bringe mit geringen Mitteln große Wir-
kungen hervor. Bogers soll angeblich sechs Jahre an dieser
Epistel gearbeitet haben, deren heroische Beimpaare von
eben jener tadellosen Eleganz, jenem gef&Uigen Behagen
sind, die sie als die Blume des Daseins preisen.
Für größere Aufgaben erwies sich seine poetische Be-
gabung als unzureichend. Ein Epos in 12 Ges&ngen The
Voyage of Cohmbus (Die Beise des Columbus), 1812, blieb
unvollendet Das Motto, das er 1793 bescheiden seinen Ge-
dichten beigab, seine Poesie bedeute nur die beste Zuflucht
seiner Muße, wurde hier, wo er in Form und Inhalt
Kühneres anstrebte, zur traurigen Wahrheit Das Gedicht
hat zur Voraussetzung die Fiktion einer in einem Kloster
zu Pathmos gefundenen kastilischen Handschrift, deren
Verfasser, ein vorgeblicher Beisegef&hrte des Columbus,
diesen als einen Mann von außergewöhnlicher Tugend und
Frömmigkeit schildert. Wir sehen seine edle Gestalt,
wie er während einer Mondnacht, in seinen blauen Mantel
>) GametI, DteUo/nary of NaUondl Biography.
*) Memwrs, Journal, and Correipondence, VI, 282.
41*
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644 Dm bMchreibeiide Oedicht und die YeneniUiuiff .
gehfiUt, einem Schatten gleich aof Deck Zwie^rache
hUt mit dem EompaS, dem gehdmnisrollen Lenker seines
Schiffes. Dnrdi gSttliche Eingebung bewSltigt er dne
Menterei seiner Mannschaft Er erblickt Land nnd kommt
mit den Eingeborenen in Berfihmng. Hilfreiche Engel vaA
feindselige Dftmonen streiten nm den kfihnen Entdeck«*,
der sich schließlich anf gSttliches GeheiB nnter der Zn-
sichemng ewigen Nachrohms znr Heimkehr wendet So
treibt Rogers, den Byron als „den letzten Aigonaaten der
klassischen englischen Poesie'' gegen das j&ngere Diditer-
geschlecht ausspielte, *) mit vollen Segeln dem Pnrpnr-
meere der Bomantik zo. Aber die schöpferische Phantasie
versagt ihm den Dienst Der schöne Gedanke findet
keine anschauliche Veikörpenmg. Den abwechselnngs-
vollen Rhythmen fehlt der poetische Impnls, das indianische
Lokalkolorit ist papieren. Der Sflfiwasserkahn seiner Mose
leidet Schiffbmch in den Wogen einer mystisch- roman-
tischen Stimmung nnd der Dichter rettet von der ihm
wertvollen Arbeit, die ihn vierzehn Jahre lang besdi&f-
tigte,^) nnr einzelne Trfimmer.
Die Zeitgenossen wurden sich dieses Sdieitems fibrigens
kaum in vollem Maße bewuBt Mackintosh, der die Wahl des
Themas tadelte, versagte doch weder der Schlnßvision nodi
der Glätte des Stils seine vollste Anerkennung.') In ihrer
Urteilslosigkeit stellten sie den vornehmen Dilettanten, der
die Herausgabe seiner Werke fast durchweg aus eigenen
Mitteln bestritt, neben seinen Freund Byron, und als
die beiden sich 1819 zu einer gemeinsamen anonym^i
Publikation von Byrons Lara und Rogers' Verserzählnng
0 An Moiray, 7. Februar 1821.
^ BeeoBeeUons, XVH
•) Sagend Poems, 1812. Edinburgh Beview, Oktober 1813.
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Das beschreibende Gedicht und die Venenihliing. 645
Jacgiueline YerbtJkäffOj fiel der Bangmiterschied ihres Genius
nicht auf. JaegueUne wurde Sonthey zugeschrieben. Der
Ekfolg war so groß, daß Murray, der eine halbe Guinee
ffir die Zeile zahlte, ein gutes Gesch&ft damit machte.
Byron fand JacgueUne hinreißend in ihrer Einfachheit, so
voll Anmut und Poesie, daß man den stofflichen Mangel
nicht empfinde. 0 Er äußerte (8. Juli 1814) gegen Moore,
die schöne Jacquline sei mit seinem Lara in schlechter
Gesellschaft, aber in diesem Falle würde die Dame nicht
darunter zu leiden haben. Und auf die Kritik der Quar-
terly Seview (VoL VI, No. 428), die Jacqtieline eine zwar
höchst elegante, aber etwas abgeschmackte Iftndliche Er-
zählung nannte, versetzt er: „Der Mann ist ein Narr.
Jaetudine steht so hoch Aber Lara wie Bogers fiber mir.^^)
Die Nachwelt pflichtete dem Urteile des Kritikers (Gteorge
Ellis) bei, nicht dem des edlen Lord.
Inhalt wie Form von Jacquelinej das romantische Liebes-
idyll, die mit äußerster Sorgsamkeit behandelten paarweise
gereimten jambischen Achtsilber zeigen deutlich, wie Bogers
Ton der herrschenden ModestrOmung der poetischen Er-
zählung mitgerissen ward. Schon der Eingang bietet das
ganze Bflstzeug der Bomantik auf: Die Provence in den
satten Farben des Herbstes, Mondnacht, Klosterglocken, ein
schönes Mädchen, das aus dem stillen Vaterhause zu ihrem
Liebsten flieht Aber alles bleibt bei äußerlicher Schilde-
rung. Der pedantisch moralische Unterton, die konven-
tionelle Weltanschauung arbeiten dem Zauber poetischer
Verklärung entgegen. Ein ehrenfester Vater erscheint ge-
brochen durch das eigenwillige Handeln einer liebevollen
Tochter, das er selbst durch tyrannisches Verffigen fiber
0 Shaipe, XTiTTT.
>) TiOk Tdüt, 162.
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646 Dm beMlmiWiide Gedickt uad die YmeuObamg.
ihre Hand herrorgenifen hat Ein wackerer Soldat rettet
mit Lebensgefahr den Alten, der ihm die Hand Jaeqaelines
verweigert nnd bringt doch aeineneits im starren Trotz
kein versöhnendes Wort Aber die stommen Uppen.
SchlieBlich brechen die Trinen nnd Bitten seines Sandes
scheinbar unbezwingbare Widerstände nnd ein allgemeiiies
Tanzfest bildet das glflckliche Ende. Alles das — hcnte
längst verstaubtes nnd in die literarisdie Bnmpelkaminer
zurückgelegtes Eeqnisit — entzückte als klassisch und volks-
tflmlich zugleich. Moore widmete seine LaUa Booth Bogers,
der sie angeregt hatte, und Byron eignete ihm den Qiaur zn
,,in Bewunderung fOr seinen Genius, Hochachtung für seinen
Charakter und Dankbarkeit fttr seine Fr^mdsdiaft,*' —
die sich ftbrigens als verhängnisvoll erwies, da es Bogers
war, der ihm in einer Gesellschaft des Earl Grey Miss
Mübanke zufahrte.0 Im Tagebuch vom November 1813
erklärt Byron Scott für den Herrscher des englischen Par-
nasse& Ihm zunächst komme unter den Lebenden Bogets,
der letzte Barde der besten Schule. Die dritte Stelle ge-
bühre Moore und Campbell, die vierte Wordsworth, Southey
und Coleridge. Dann kämen die Vielen, ol xollol. Diese
Stufenfolge veranschaulicht er in dem triangulären Grades
ad Pamassum.^)
Walter Scott
>) Brief an Augosta, la Jimi 1814.
•) Letiers and JawmaU U, 889.
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Das besehreibende Gedicht und die Verserzählung 647
Bogers* individuellstes Werk ist Human Life (Das
menschliclie Leben), 1819, ein Gedicht von 700 Versen, an
denen er 6—9 Jahre feilte *) nnd das der Form wie
dem reflektierenden Inhalt nach an die Pleasures of Memory
anknüpft Doch sind die heroischen Reimpaare freier, die
Gedanken reifer. In Szenen ans dem Lebenslaufe eines
Engländers von edler Geburt und feiner Erziehung schildert
er, was er als Ideal des Daseins selbst anstrebte. Im Schlosse
Uewellyn wird Eindtaufe gefeiert Die Eirchenglocken
regen die Betrachtung fiber da^ menschliche Leben an.
Das Kind wird bald ein Mann sein; bald werden seine
Hochzeitsglocken den frohen Tag einläuten, der ihn zum
Altare führt; bald wird das Totengeläute ertönen, das ihn
zu seinen Vätern versammelt Das ist das Menschenleben.
Es erglänzt nnd verschwindet wie ein Meteor. Auf eine an-
mutige Schilderung der Kindheit mit ihren großen Epochen
— dem ersten Gebet, der Fibel, dem Schmetterlingsnetz
— folgt die der Jugend mit ihrem hohen Streben und
ihrer ehrfürchtigen Bewunderung. Zwei Gesellen in Narren-
tracht geleiten sie, HofEnung und Furcht Wie ein Pilgrim
dem Heiligenschrein naht der Jüngling der Liebe. Das
Mannesalter bringt häusliches Glück, Sorge, Verlust, Kampf
und Vereinsamung. Aber das Leben behält seinen Wert^
so lange man für andere lebt, nnd wie es auch gehe, der
edle Mensch hat stets Gefährten. Schließlich kommt das
Alter. Von Kindeskindem umspielt, sitzt der Greis unter
uralten von den Vorvätern ererbten Bäumen. Der Lebens-
satte erfreut sich neidlos an dem Glück der kraftvollen
Jugend. Sein Tod gleicht der untergehenden Sonne, gleicht
verklingender Musik.
1) BecoOeeUons, XVIL T<Me Ta», la
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648 Das beschreibende Gedieht und die Venenihlnng.
Das hänsliclie Glfick, das Bogers in Human lAfe yerklftrt^
kannte der Hagestolz nicht ans persSnlicher Erbhmng.
Dennoch weht es nns wie Selbsterlebtes nnd Empfundenes
wann ans dieser Dichtnng an« Es ist der Duft des spezifisch
englischen Hauses, der wie ein zarter Hauch darab^ ge-
breitet ist Human Life besitzt die echte Poesie d^
Heimatkunst
Bogers' letztes, l&ngstes nnd bekanntestes W^k Itais
(1822), die Frucht zweier italienischer Beisen (1814 — 15,
1821—22) und f&nfzehn- bis sechzehnjShrig^ Arbdt^O
wird von vornherein durch die nicht zu umgehende Parallele
mit Childe Harald in Schatten gestellt Bogers sdbst
glaubte anfangs, sie nicht scheuen zu mfissen. Beim Durch-
lesen der Byronschen Korrekturbogen hatte er den An-
druck empfangen, das Publikum werde an dem klags&chtigen
Tone und dem ausschweifenden Charakter des Helden
Anstoß nehmen. Er fand indeß bald, daß er sich get&uscht
hatte. Hingegen blieb der Erfolg bei dem ersten, anonym
erschienenen Teil seiner eigenen Dichtung aus. Er zog ihn
zurück und brachte 1828 zwei Teile mit aitz&ckenden
Blnstrationen von Stothard und Turner heraus, zwa
E&nstlem, die in ihrer extremen Auffassung der Natur
gleichsam die Zwiespältigkeit der zwischen Altes und
Neues gestellten Bogersschen Muse symbolisch darstellten.
Bogers ließ sich die Ausstattung seines Werkes 7000 Pfund
kosten und der nunmehrige Erfolg gab ihm Becht
Italy ist in Blankversen abgefaßt, die der alternde
Bogers über den Beim stellte, einige Kapitel sogar in Prosa,
die er höher als den Blankvers einschätzte. In der Tat
gehören diese, die Erzählungen Marcolini und The Bog of
0 BecoOeciumi, XVU. TabU TiOk, la
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Das beschreibende Gedicht und die Venerzllhliuig. 649
Gold (Der goldene Sack), das Lebensbild Marco Qriffoni
und die An&fttze Caius Cestius nnd Foreign Travels (Reisen
ins Ausland), sowie die durch bewondemswerte Exaktheit
nnd Gedrungenheit ausgezeichneten Anmerkungen zum
Besten, weil die knappe, kernige an sich vorzflgliche Prosa
fBr derartige Beiseskizzen die angemessenste Form ist.
Denn nur als solche scheinen die Kapitel, die ein Beise-
tagebuch in zwangloser Folge darstellen, wertyolL Als
Dichtung betrachtet, wird man stets den Schwung der
Empfindung, den Glanz des Kolorits, die Klangfülle der
Verse ChUde Harolds darin yermissen. Es ist, als
empf&nde der Dichter selbst, daß ihm die Kraft gebreche,
zu sagen, was er fühle. In Venedig wünschte er Grabbes
Griffel: „Dann malte ich Italien. So vermag ich's nicht!^
Seine Empfindungen sind die gewöhnlichen des Durch-
schnitts-Italienreisenden. Er glaubt sich's nicht, daß er da
ist; er muß es sich wiedet und wieder sagen. Gern verweilt
er bei historischen und literarischen Erinnerungen, ohne
Eztase, ohne suggestive Wirkungen auf den Leser. Auf
dem Markusplatz wiederholt er trocken, was sich alles auf
diesem Boden ereignet Selbst des Geistersehers^ der damals
in England eine gewisse Volkstümlichkeit besaß, gedenkt
er. 9 Ganze Geschichtskapitel werden eingeflochten, so die
Geschichte Foscaris,^) oder Lokalsagen wie Colalto, eine
Art Weiße-Damensage. Aber Bogers ist aui^eklärt und
nüchtern. W&hrend Byron an das Gespenstische glaubt,')
fehlt ihm für das Phantastische der Sinn. Er beobachtet
0 YergL Byron an Hnrray, 2. April 1817. 1
*) Byions Foscan erschien in demselben Jahre wie der erste Band
Itaiff, im Desember 1821. Am 11. Noyember sehreibt Bogers an seine
Schwester: „Sein Foicari ist schon gedrackt nnd wird uns, fftrehte ich,
BOTorkonunen.^
•) An Mnrray, 9. Sepi 1810.
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650 Das besdrabende Gedicht ud die YaaeaMhtamg.
scharf; keine EigentHmlichkeit fremder Sitte (The Bfides of
Vmiee, Yenezianische Brftnte), bis zom Moraq>iel berab
(Lmgi), entgeht ihm; sein Ange ist geschalt ffir die grofien
Werke der Knnst nnd der Natnr. Oft gelingt es ihm nichts
das Gesehene für den Leser in ein poetisches Bild nmzi-
wandeln, es bleibt bei Schilderongen; sei es nun, daS
es sich um die Petrarka-Erinnenmg in Arqna, um Knnst-
werke in Florenz oder nm den Sonnenuntergang in Fiesole
handele. Bogers' Beiseweg war der ftbliche: von Genf über
den Bernhard nach Como, dann s&dwftrts bis Neapel
Anf der zweiten Fahrt traf er (November 1821) in Bologna
mitByron zusammen und setzte mit ihm ftber den Apennin.
Byron hatte, ausbracht durch einige ihm hinterbraidite
Äußerungen Rogers' aber seine PrivatverhUtnisse, 1818 ein
derbes Spottgedicht auf ihn geschrieben {Question and
Än8wer)y^) und obgleich er die ausfälligen Verse nicht
drucken ließ, war doch eine Verstimmung zurfickgeblieben.
Byron glaubte Bogers nun ^^aUmälig erkannt zu haben''.
Um so charakteristischer ist es ffir diesen, daß im Table
Talk das Zusammentreffen mit dem Eintrag abgetan
wird: „Man zankte sich jeden Abend und war morgens
wieder gut Freund.*' Einen Abschiedsgruß und ein Wort
der Gerechtigkeit widmet Bogers in dem Abschnitt Bologna
dem damals bereits yerstorbenen Byron, „dem S&nger,
der wie ein Stern fiber das Firmament schoß und ver-
schwand^. Wer von uns allen, fragt Bogers, h&tte — wie
du von Kind auf mit Versuchungen umgeben — nicht
geirrt, und mehr geirrt als du?
Mit Italy war Bogers' poetische Tätigkeit, ein oder
das andere kleine Gedicht etwa ausgenommen, erschöpft
>) Snchienen in Frater^s Magatim^ 1806.
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Das beschreibende Gedicht und die Verserzählimg. 651
Doch bekundet er gerade als Lyriker ein entschiedenes
Hineinwachsen in die Romantik. Sein Vortrag ist natürlich
und herzlich (Ä Wish. Ein Wunsch). Er verfügt über ein
feines Naturgefühl (To an Old Oah An eine alte Eiche),
weiß mit sinnigem Humor auf den Gefuhlszustand des Tieres
einzugehen {The Onat Die Mücke; An Epitaph on a JRöbin
Bedbreast Grabschrift für ein Botkehlchen) und findet für
den Preis des ländlichen Stillebens einen schlichten Gemüts-
ton {An Italian Song. Italienisches Lied, das charakte-
ristischer Weise mit derselben oder größerer Berechtigung
An English Sang überschrieben sein könnte). Nicht zu
Gebote steht ihm dagegen die bildhafte Wiedergabe der
großzügigen Landschaft (Written in ihe Highlands of
ScoÜandy a. September 1812) und der Balladenton {The Boy
of Egremont. Der Knabe von Egremont).
Wie Peacock hat Kogers die Anfänge und die Ausklänge
der Romantik erlebt und ist, wie Ellis Roberts sagt, Zeuge
ihres Triumphzuges vom Klassizismus zum Modemismus
gewesen. 1) 1844 erlebte er die Genugtuung, von Jeffrey in
einer Kritik, die Keats' und Shelleys Melodienreichtum,
Wordsworths Emphase, Crabbes plebejisches Pathos, Scotts,
Byrons und Moores Poesie für überwunden erklärte, neben
Campbell als derjenige bezeichnet zu werden, dessen Lorbeer,
dank seinem ausgezeichneten Geschmack und seiner vollen-
deten Eleganz am längsten dem Verwelken standgehalten. >)
Er gehörte gewissermaßen unter die Dichter- Patriarchen.
1847 besuchte ihn der Großherzog von Weimar und schenkte
ihm ein Autogramm von Goethe. Ja, nach Wordsworths
Tode^ 1850, wurde ihm sogar die Poet jLaureafe -Würde
angeboten. Allein er fühlte, daß sein Tag um war und
*) Bogers and ?m Cerde, 1.
>) Hooie, MemoirSj Journal and Correspondence, Vn, 866.
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652 Dm betdirabende Oedidit und die YenenftUiuig.
rftnmte dernjongen Alfred Tennyson das Feld. Die idcbt
MB dem Gleichgewicht za bringende Überlegenheit des
Urteils, die den Gipfdpnnkt des geUnterten intellektaala
Geschmackes bedeutet, bekundete Bogers in dem Ungemache,
das ihn als Achtzigjährigen heimsachte. In seinem Bank-
hanse ereignete sich ein Banb und ein Beinbruch fesselte
ihn fftr den Best seines Lebens an den LehnstuhL fSnlCaim
ohne Leidenschaften, ohne große Liebe^ ohne Hafi, aber yim
vortreflOicherDurchschnittstemperatar und in seinem Innen-
leben wie in seiner infieren Eliistenz der andachtsyolleii
Pflege der Harmonie als einem Kultus ergeben, konnte er
auch der Kunst nicht mehr dnrftumen, als er zu yergeben
hatte. Sie wird bei ihm die Ausübung und YervoUkommnuBg
eines angenehmen Talentes. Vom gOttlidien Wahnsinn hat
sie keinen Hauch yerspttrt Mit seiner Gestalt reicht das
18. Jahrhundert tief ins neunzehnte hinein.
Werke von Bogers.
1781 The Scnbbler ((^mOemm's Magamne).
1786 Ode to St^entUüm, and otker Poems.
1792 The Pleasures of Memory.
1798 EpisÜe to a Friend.
1812 The Voyage of Columtm.
1813 JtupAeJme.
1819 Humum Life.
1822—28 Italy.
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Das beschreibeiide Gedidit und die Yersersfthliue:. 653
Werke fiber Rogers.
1856 Alexander Dioe, BecollecUons of (he Table Talk of
Samuel Bogers. To fohkh is added Paraaniana. Preface.
1859 William Sharpe, BecollecUons hy Samuel Bogers. NoUce
biß fhe Editor.
1860 Samuel Sharpe, Some Particulars of fhe Life of Samuel
Bogers. By his Ne^hew (Poems hy Samuel Bogers, 1860).
1875 Edward Bell, The Poetical Works of Samuel Bogers.
j£emofr.
1887 P. V. Glaydon, The EarJy Life of Samuel Bogers.
1889 — Bogers and his Contemporaries.
1910 R. EUis Roberts, Samuel Bogers and his Cercle.
— Richard Oarnett, Artikel Samuel Bogers im DicUonary
of NaUonal Biography.
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Thomas Campbell.
1777—1844.
Leben.
In einer Anmerkung zu dem Gedichte Lines on Becd-
ving a Seal wiih Campbell Crest (Verse^ als ich ein Petschaft
mit der Helmzier des Campbell -Wappens erhielt) 0 sagt
Campbell: „Ein normannischer H&aptling im Dienste des
Königs von Schottland heiratete im 12. Jahrhundert die
EIrbin von Lochawe und von ihm stammen die Campbells^.
Sie waren in der schönen Gebirgslandschaft Argyllshire im
westlichen Schottland ansässig.
Ein Alexander Campbell (1710—1801) wanderte jung
nach Yirginien aus, yerband sich dort mit einem nicht ver-
wandten Namensvetter zu einer angesehenen Geschäftsflrma
und kehrte als wohlhabender Mann in die Heimat zurück
1756 heiratete er in Glasgow die Tochter seines Gesch&fte-
teilhabers, Margaret (f 1812). Von seinen elf Kindern war
Thomas, der Dichter, geboren 1777 in Glasgow, das jfingste.
Zwei Jahre vorher hatte Alexander Campbell, dessen Ehr-
geiz sich mehr darauf richtete, ein Ehrenmann und Patriot
als ein reicher Kaufherr^) zu sein, unter den unglücklichen
Verhältnissen während des amerikanisch-englischen Krieges
Bankrott gemacht
^) Theodoric, Ä Domestic Tale, cmd Other Poems, 1821.
>) Beattie 1, 15.
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Das beschreibende Gedicht und die yersersfthlang^ 655
Thomas wuchs in der Zorackgezogenheit gedrückter
YerhUtnisse auf, aber unter dem wachsamen Auge einer
elterlichen Liebe, die jeden Wechsel des Geschickes
parierte. Der Vater, ein unbescholtener Charakter, von
liberaler aber tief religiöser Gesinnung, liebenswürdigen
Umgangsformen und literarischem Enthusiasmus, war ein
Freund Thomas Keids und Adam Smiths, die Mutter, die
Seele des Heims, klug, sparsam, musikalisch, eine Frau von
Geschmack und edler Gesinnung. Von der Wiege an sang
sie dem spätgeborenen Jüngsten, ihrem Liebling, der wie
ein Sonnenstrahl in dem verarmten Hause erschien, die
Balladen der Heimat yor. Thomas, ein schönes, gemüt*
Yolles Kind, war mit der alten volkstümlichen Dichtung
vertraut, lange bevor er ihre Bedeutung ermessen konnte.
Sechsjährig erlebte er bereits einen Eindruck von er-
schütternder Tragik. Sein älterer Bruder James ertrank
beim Baden im Clyde und Thomas sah auf einem
Spaziergange plötzlich den Leichnam zu seinen Füßen
liegen.
Ein Landaufenthalt, der seine infolge geistiger Früh-
reife schwächliche Gesundheit stärken sollte, weckte mit
dem Natursinn des Kindes zugleich dessen poetischen (Genius.
Mit zehn Jahren dichtete Thomas; mit zwölf Jahren begann
er, von enthusiastischer Bewunderung für die Griechen
erfüllt, den Anakreon zu übersetzen. Sein Ehrgeiz ging
damals nicht nur dahin, selbst Dichter, sondern daneben
auch ein gediegener klassischer Gelehrter zu werden. Die
Übersetzungen für die Schule machte er gewöhnlich in
Hexametern. Als Vorzugs- und Lieblingsschüler ging er
durch die Studienjahre, immer aub neue durch Preise aas-
gezeichnet und durch sein liebenswürdiges Wesen dennoch
vor dem Neide der Kameraden bewahrt.
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656 Dm beioliieibende GMickt und die Venenililiiiig.
Nach Erledigung der Grammar School in Glai^w besEOg
er daselbst (1791) mit vierzehn Jahren, der Theologie be-
flissen, dieUniyersitftt Damals schrieb er die tief empfundene
Hymne To ihe Advent of Christ (Anf Christi Anknnft), die
in fast keiner Sammlung geistlicher Lieder fehlt Seine
erste, der Ossianbegeisterong entsprossene Ballade Morven
and FOlan ist bereits eine Version seines Meistergedichtes
Lord UUins Daughter. Als Preisgedicht yerf aBte er ^ D0-
9eription of the Distribution of Priees in the Common HaU
of ihe UniversH^ of Glasgow, on the 1^* of Ma/g 1793 (Eine
Schilderung der Preisverteilung in der Aula der Uniyersitftt
Glasgow am 1. Mai 1793),0 gute heroische Beimpaare, in-
haltlich konventionell und akademisch, im Ausdruck be-
fangen in griechisch-mythologische Terminologie.^
Ein Preisessay On ihe Origin of Evtl (Ober den Ur-
sprung des Übels), 1794, trug ihm den Titel „der Pope von
Glasgow^ ein.
Mittlerweile hatte er die theologische mit der juri-
dischen Fakultät vertauscht, aber auch in ihr sollte er
nicht zu Ende studieren. Sein Vater verlor einen ProzeS.
Thomas war vor die Notwendigkeit des Lebensa^erbs
gestellt Ein Hauslehrerposten bei Mrs. Campbell, einer
Verwandten auf den Hebriden, half über die Sommer-
monate weg. Prftchtige Natureindrilcke und eine erste
Liebe zu der schönen siebzehnjfthrigen Earoline machten
das Exil zu einer Zeit, an die er gern zur&ckdachte. Ein
zweiter Posten bei einem General Napier fährte ihn in sein
Stammland Argyllshire. „Ich war wohl sehr arm**, schreibt
er, „aber fröhlich wie eine Lerche und hart wie Hochlands-
haidekraut^.') Er rettet ein Kind aus dem Wasser und
0 Gedrackt bei Beatüe 1, 69.
>) Beatüe 1, 128.
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Das beeohreibeiide Gedicht und die Venenfililiiiig. 65?
läßt die Kleider anf dem Leibe trocknen, ohne flble Folgen
zu verspären. Man haust in dürftigsten Hütten und nährt
sich von Heringen, Kartoffeln und Whisky, aber die rau-
schenden Ströme, die Primelfelder und mit Haidekraut be-
wachsenen Berge, der mfende Kukuk, die meckernden
Ziegen entzücken immer au& neue. Anf der weiten Welt
gfibt es keine zwei lustigeren Burschen als ihn und seinen
Beisekameraden. „Wir sangen und deklamierten Gedichte
die wilden Hochlandstäler entlang. Ich glaubte noch halb
und halb an Ossian und interessierte mich für das gälische
Volk."
1797 ließ Campbell sich in Edinburgh nieder. Er
gab griechischen und lateinischen Unterricht und leistete
Buchhändlern literarische Handlangerarbeit. Aber für
angestrengte und andauernde Tätigkeit hatte er kein
Talent Periodische Anfälle von Schwermut und Schlaf-
losigkeit, die ihn von da ab lebenslang heimsuchten, ent-
sprangen weniger einer physischen Krankheit als dem
sorgenvollen Qemüt
1799 gelang ihm die erste Publikation und mit ihr
sogleich der erste große Wurf, The Pleasures ofHope (Die
Freuden der Hoffnung). Seine Stellung in der Literatur war
gesichert Von 1800—1801 weilte Campbell in Deutsch-
land, hauptsächlich in Hamburg und Altena. Er studierte
Kant) Schiller, Wieland und lernte Klopstock kennen, „einen
sanften, höflichen alten Mann^, mit dem er ausschließlich
lateinisch verkehrte. In Begensburg empfing er die An-
regung zu seinem Gedichte Hohenünden. Allein er bekam
Wind, daß dunkle Gerüchte ihn als Spion verdächtigt hätten,
und trat aus Angst, als Gefangener zurückgehalten zu
werden, schleunigst die Heimreise an. Nach seiner Rück-
kehr hatte er sich vor dem Sheriff zu rechtfertigen über
GMchiolite der eBgUschen Bomantüc n, i. 42
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658 Dwb«iehniWii4eCMiehtiuiddi«V«rMiiiUug.
die Anklage, in Hambnrg mit den Iren nnd in Östoraeh
mit Morean konspiriert zn haben, nm die Landnng dncs
französischen Heeres in Irland zn vermittdn.
Nach Österreich kam Campbell erst anf einer zweitai
Reise 1820, die er Aber Bonn antrat, wohin ihn sein Inter-
esse fOr A. W. Schlegel zog. Er hatte ihn durch Yer-
mittlnng der Madame de Stafil 1814 wUirend eines zwd-
monatlichen Aufenthaltes in Paris kennen gelernt nnd in
ihm einen jener Menschen gefanden, die bei entschiedenstem
Gegensatz von Naturell und Grundsätzen anziehen. Man
streitet mit Gewinn, mit Genufi. Er schilt Schlegel einen
Yiäonär, einen Platoniker, einen Mystiker. „Niemals rang
ich so hart mit einem Menschen^, schreibt er, „niemals
schied ich von einem in besserer Laune^.^) Bei Iftngerer
Bekanntschaft verliert Schlegel. „Seine Neigung, im Ge-
spr&ch zu dozieren'', hat seit seiner Professur zugenommen.
Er plappert, auch w^m er nichts zu sagen hat — „kurz,
ich hatte keine Ahnung, dafi ein großer Mann so langweilig
werden könnte''. Er ist l&cherlich eitel auf sein Englisch
;;da8 in bezug auf Aussprache und Idiom auf einer Stufe
steht, deren sich ein anst&ndiger englischer Papagei schtanen
würde". In der Vorlesung findet Campbell ihn beredt^ seine
Studenten sind begeistert. Campbell meint» er sollte immer
auf dem Katheder sein.') „Der wfirdige Professor Arndt"
gibt f&r den englischen Gast eine Abendgesellsdiaft
„Arndt ist ganz Herz, ganz Wahrhaftigkeit, beredt und
energisch wie ein Mann und schlicht wie ein Kind".')
Die behagliche Lebensweise der Professoren und ihre Ein-
tracht machen ihm den besten Eindruck,^) und die
0 Beattie n, 262. >) Ebenda 962—63.
>) Ebenda 369. «) Ebenda 881.
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Das beBQhxvibende Gedicht und die Venenihlaiig. 669
Stadenten in ihi^r altdeutschen Kleidung sind, wenn auch
nicht so elegant wie die Oxforder, so doch ein malerischer
Anblick.
Auf einem Ausfluge mit Schlegel schreibt Campbell
am 7. Juli seine Ballade Boland, die in Freiligraths Meister-
übertragung urdeutsch anmutet. Campbells Urteil über die
Deutschen folgt trotz des eigenen Augenscheins der in
England durch eine lange Überlieferung zur Gewohnheit
gewordenen, halb ironischen, halb mitleidigen Gering-
schätzung. Der Deutsche hat keine Begeistemng, ist
phlegmatisch, ein Bücherwurm, ein Kannegießer ohne
Tatkraft
Von Begensburg fährt GampbeU auf der Donau,
deren romantisches Gelände ihn entzückt, bis Wien, wo er
den August und September verbringt In der Stephans-
kirche yergißt er die Sommerhitze. Er befreundet sich
mit Hammer-Purgstall, der die Lines on a Scene in ArgyVr
shire (Verse auf eine Landschaft in Argyllshire) ins Deutsche
überträgt, während Campbell „den barbarischen lateinischen
Text des Laudon-Marsches^, den die Ostereichischen Militär-
kapellen spielen, englisch umdichtet {Laudans Ätta(^)J)
Wie sehr ihm Stadt und GeseUschaft gefallen, mit den
Staatseinrichtungen kann er sich nicht befreunden. Von
der Einladung zum Premierminister macht er keinen Ge-
brauch, weil er sein System verachtet und verabscheut
Die Polizei in Österreich findet er gut, aber die Regierung
sei eben nichts als Polizei Die herrschenden Prinzipien
kämen denen der spanischen Inquisition gleich.^)
Seit 1801 war Sydenham (London) Campbells Heim,
seine „stille Zufluchtstätte in aller Lebensqual^, wo er
0 Beattie 1, 887.
^ Sbesda 882.
42*
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660 Dm iMMhnibeDde Gedicht und die Venenihliuig.
einen literarischen Kreis nm sich sammelte — seit 1803
Hand in Hand mit einer liebevollen nnd geliebten Gattin,
seiner Cousine Mathilda Sinclair, der er eine Seele yoU Fener
nnd Kraft nachrühmt (f 1828). Anfangs war das jnnge
Paar sehr dOrftig daran. Jonmalistische Tagelöhnerei,
manches Geschreibsel, für das ihm sein Name zn gut war,
hielt ihn mit Weib, Kind nnd Mutter oft knapp genug
über Wasser. Infolge der Nahrungssorgen stellte sich
seine alte böse Feindin, die Schlaflosigkeit, ein. Dennoch
▼ersichert er im Juli 1804 einem Freunde, es gäbe keinen
Menschen, der so in das Dasein verliebt sei wie er. Seit
1805 bezog Campbell von der Krone ein Jahrgehalt von
200 Pfund, wozu 1815 noch 4000 Pfund kamen, das letzt-
willige Vermächtnis eines entfernten Verwandten. Seitdem
konnte Campbell ungeteilt seinen idealen Stielen leben.
Eine QueUe der Befriedigung und des Erfolges wurden
1812 und 1813 seine Vorlesungen an der Royal Institution.
Sie sollten, von einem ästhetischen Grundriß über die
Natur des poetischen Genies, des Geschmacks und über die
Ziele der Poesie ausgehend, ein Bild der Weltliteratur
geben, gediehen jedoch nicht über die Anfänge hinaus.
Ein wertvoller Abschnitt dai*aus, On Hebrew and Greek
Verse (Über Hebräische und griechische Dichtung), er-
schien im Monthljf Magasfine^ dessen Redaktion Campbell
von 1831—32 leitete. In das Jahr 1825 fällt die große
Leistung seines Lebens, die zugleich einen Maßstab für dss
Ansehen gibt, dessen er genofi, die Gründung der Londoner
Universität
Dreimal hintereinander (1826 — 29) hat Campbell die
Würde des Lord Rektors an seiner heimischen Universität
Glasgow bekleidet Seine dritte Wahl bedeutete einen Sieg
über Walter Scott Er wurde jetzt zu Hof geladen. Der Weg
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Dm beschreibende Gedicbt und die Venenfthlmig. 661
in die Höhe war erkämpft. Daheim jedoch verarmte sein
Leben. 1828 verlor er die treue Gefährtin. Von seinen
beiden Söhnen starb der hoffnungsvolle jüngere als Kind,
der ältere wnrde geisteskrank. Ihn selbst quälte in seinen
letzten Jahren eine krankhafte Angst vor dem Verlust
seines Lebensunterhalts. Als man ihm einst von einem
blinden irischen Sänger erzählte, der sein Elend in die
Triade zusammengefaßt habe: „Mein Weib ist tot, mein
Sohn ist toU, die Saiten meiner Harfe sind gerissen!''
brach er in Tränen aus. Er erkannte sein eigenes
Schicksal.
Menschliche Anteilnahme an der Besetzung Algiers
durch die Franzosen, von der GampbeU sich eine hohe För-
derung der Zivilisation versprach, veranlaßte ihn 1834 zu
einer Beise nach Nordafrika. Er hat sie in den Letters fr cm
ihe South (Briefe aus dem Sfiden) für das New MoniMy
Magojrine beschrieben. Das Mitgeffihl f&r die Tages-
geschehnisse überwog in ihm das historische Literesse.
„Seine Studien lediglich auf das Längstvergangene be-
schränken, gleicht dem Lesen bei Kerzenlicht^ nachdem die
Sonne aufgegangen'', schreibt er. Er macht Ausflüge unter
die arabischen Stämme und empfängt unvergleichliche Ein-
drücke. Hunderte von Meilen breitet sich vor dem Auge
das blaue Mittelmeer im Frühmorgenlicht aus. Ein Zug
von Flamingos schießt über die Wogen. Die weiße Stadt
glänzt in der aufgehenden Sonne. Die Araber führen von
den Höhen ihre mit Früchten beladenen Kamele herab.
Aus der Landschaft heben sich wie weiße Würfel inmitten
von Gärten die Landhäuser ab und die romantischen Qräber
der Marabous, an denen die hochragenden Federbüschel der
Palmen wie Minai*ets aufragen. Überall genießt er eine
neue, in Schönheit erstrahlende Welt.
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662 Dm fcttdbiMJMJB QMAi — d die VcacniMMg.
So Ibcnmidet sem reger Anteil am AUgranemra p^-
aSftlklie YerlostaL lyMdii Ren^^ sagte er 1840 zu einem
Benchery ^ist jnag wie nnr je, obgleich köiperlidie 6e-
btecken midi daran mahnen, daS anch Dichtia' wie andere
MemKhen altera mtfamen.^
Am 15. September 1844 verschied er in Boologne, wo
er mit einer Nichte zmn Sommeranfanthalt weilte, mit der
Abfaflsog von Leckures an ClaMsieal Geogrofihg (Vorlesongen
•ber klaasiaehe Geographie) besehiftigt Er wmde nnter
grölen Ehren im Poetenwinkel der Westminsterabtd be-
stattet
' Die allgemeine Wertachitznng, deren Campbell sich
sein Leba lang erfrente^ galt in noch htitermn Orade dem
Mdmiswftrdigeny gnten, trenen Menschen als dem Dichter.
Leigh Hnnt schildert ihn in seiner Selbstbiographie als einen
heiteren Geflihrten, tberq^rndelnd yon Hnmor nnd guten
Anekdoten, nichts weniger als zimperiich. „Niemand war
seinen Mitmenschen freondlicher gesinnt and tat sidi
weniger darauf an gote.'* Er spielte gern den Hoffnnngs-
losen. Sarkastischen nnd bemthte sich doch andanemd
nm menschenfreondliche Zwecke^ Die AnU-SUrnry Con-
ffmtHm grindete er als „eine Vereinigung Tcm Philan-
thrc^en der ganzen Welt, zur BeCreinng des Menschen
aas der Knechtschaft, dem edelsten Ziele, anf das der
Menschengeist je verfallen''. Die Poesie der Welt, sagt er
in einer Ansprache an diese Versammling, am immmr anf
Sdten der Freiheit gewesen nnd werde es immer bwU)
In seiner politischen Qesinnnng legte Campbell den
umgekehrten Weg der meisten englische Bomantiker
znrftck. Sie begannen als Anhtnger der Reyotntion nnd
0 Befttüe UI, 422. ^
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Das besehreibeiide Gedieht nnd die Venenlhlmig. 663
endeten als Konseryative. Campbell beklagt als Jfingling in
höchst akademischen Versen, die in der Dichterecke eines
Glasgower Blattes erschienen, den Tod Marie Antoinettens,
vergiefit Tränen Aber das Schicksal Ludwig XYIL und
haSt die Jakobiner. Das Jahr 1794 bringt einen Um-
schwung. Er wird Demokrat Anf einem Ansflnge nach
Edinburgh wohnt er dem Verhöre des Patrioten Joseph
Oerald bei Der kühne, beredte, todesentschlossene Mann
tritt, unter ungeheurer Erregung der Anwesenden zur De-
portation verurteilt, freiheitbegeistert ab wie ein Sieger.
Campbell empfangt einen Eindruck, der zum Wendepunkt
seiner politischen Gesinnung wird. Doch hindert ihn sein
unersch&tterlicher Whiggismus nicht, mit einzelnen Tories
treffliche Freundschaft zu halten. Weitgehendste Duldung
blieb das Wahneichen seines Liberalismus. Einen Republi-
kaner dem Herzen nach, doch mit mancherlei persönlichen
Gewohnheiten und Eigenheiten des Aristokraten nennt ihn
Patmora >)
Er begeistert sich 1808 ffir „das holde romantische
Spanien^. Siegten die spanischen Waffen, schreibt er am
14. Juli, so vei^ehe er vor Freude, siegten sie nicht, aus
Gram. „Was ist der siegreiche Bonaparte im Vergleiche
mit den entseelten Leibern solcher Mftnner, getötet in solcher
Sache! Hier ist meine Hoffnung. Was der französischen
Bevolution mißlang, das wird die spanische vollbringen.
In der Sprache des Cervantes werden wir in im klüf-
tigen Schriften Spaniens alle Gmndsfttze der britischen
Freiheit finden.''
Noch glühender empfindet CampbeU für Polen. Schon in
den Pleamres of Hope (1799) l&ßt er Hoffnung und Wahr-
*) My Friends a'nd jicgwatfitancf, 105.
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664 Das bescfaraboide GMidit und die Venenihliuig.
heit ihr Lächeln veriemen, da Polen anterjocht ward. Die
Holfnimg sag^ der Welt Ade bei Eosdoskos Fall. Wo
bleibt das allmächtige Betterschwert? Wo die Bache? Wo
Gfottes Oeifiel ? So fragt er and ruft die (Geister der Toten
von Marathon, den Geist Teils und Bnices von Bannok-
bnm om Hilfe an. 1804 bewirbt er sich ans Sympathie
mit ihrer Sache nm eine Professor in Wilna, nnd nur die
Erwägung, dafi er der Bedefreiheit dort gar bald beranbt
würde, läCt ihn znrttcktreten. In Wien eihUt sein En-
thnsiasmns durch den Verkehr mit polnischen Herren und
Damen neue Nahmng. 1882 grOndete er die Fhüo-FoUsi^
Association znr FOrdemng polnischer Interessen. Campbell
plant die VerGffentlichang der Greuel russischer an Polen
verfibter Gewalttaten, um das allgemeine Mitgeffthl zu
erregen. Von der Annahme der Beformbill hofft er auch
fttr die polnische Sache Gewinn. Er will Zweigvereine
in der Provinz ins Leben rufen. Dem Hospital in
Warschau spendet er 100 Pfund mit einem Bdgeit-
schreiben, das, vervielfältigt^ in ganz Polen zirkuliert Er
führt eine umfangreiche Korrespondenz fOr die polnisdie
Vereinigung und mflht sich ab für eine Zeitschrift
Polonia. Mit Becht feierte ihn während eines Besuches
in Paris 1884 die ÄssoeiaUan als Dichter der Freiheit
Sein Freund und Arzt, Dr. Madden, bezeichnet Campbeils
Interesse für Polen als eine Lddenschaft, der aUe In-
brunst des Patriotismus, die Lauterkeit der Philanthropie,
und die Treue urwftchsiger Freiheitsliebe innewohne.
„Ich war bei ihm^, schreibt er, „als er die Nachricht
von dem Falle Warschans erhielt Nie im Leben habe
ich einen Mann von so tiefem Kummer betroffen ge-
sehen! Ich fürchtete, daß bei längerer Fortdauer
dieser Erschlaffung aller Körper- und Geisteskräfte, sein
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Das beeehieibende Gedicht nnd die Venerzählniig. 665
Leben oder sein Verstand unter dem Schlage leiden
mtt«te.«0
In Campbells politischem Znkanftsbilde war 1831 ganz
Europa mit russischer Knechtschaft bedroht Österreich und
Frankreich wttrden einander bis zur Erschöpfung nörgeln,
Eufiland sodann mit Millionen und Millionen über den Süden
herfallen und Deutschland wie Frankreich mit der Knute
Gesetze vorschreiben.
Dichtung.
Über Campbell als Dichter besitzen wir Gk)ethes Urteil.
Am 29. Juli 1829 findet sich in seinem Tagebuche der
Vermerk: ,, Abends ein Engländer J. Guillemard. Ein
feiner, unscheinbarer reinlicher Mann in den Sechzigern."
Dieser Herr Guillemard hat nach einem dreistündigen Be-
suche bei Goethe dessen Meinung über Campbell nach Hause
geschrieben. >) Auch einen ÜbersetzungSTersuch machte
Goethe mit dem Homerkapitel der Lectu/rea an Poetry.^)
In jungen Jahren ist Campbells Klassizismus ein be-
wußter, ausgeprägter. 1797 bezeichnet er Horaz als seinen
Lieblingsdichter unter den antiken wie den modernen.
0 Beatüe m, 119.
^ Weim. Ausg. lU., Abt. 12, 104. Das, wie mir Herr Professor
Julius Wähle in Weimar gütigst mitteilt, im Deutschen noch nnveröffent-
liehte Urteil Qoethes lautet in GniUemards Wiedergabe: ^ eontider
Campbeü as more classic al ihan my favotmte Byron, and far above
ony modern EngUsk poet tohose works have fallen in my way, I do
not pretend to he acquatkUed toith many; hwt Chray andMason are not
unknown io me. I admire their vivida vis — H^r ^ihoughts ihat
breathe a^id words ihat burW; htU in CampbeWs poems there is strength,
combined with greai naiwrcd simplieüy of style, and a power ofexciting
high emoUons, independenüy of briMmt epithets or meretricious oma»
ments,*" (Abgedmekt bei Beattie III, 441).
•) Weim. Ausg. I, Abt 42, 452.
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666 Dm bMcbrabende Gedieht lud die VeiMisaiwig.
Erasmns Darwin dfinkt ihm als Philosoph wie als Dichter
ein Materialist) der Systeme des allgemeinen Empfindungs-
vermOgens anf Mos mechanische Prinzipien anfzubanen
snche nnd die Dinge fär das geistige Auge so male, als
gftbe es für die Seele anfier der lebhaften Vorstellnng von
Form, Farbe nnd Bewegung kein Vergnfigen.0
Campbells erste dichterische Leistong, der Poetieal
Essaijf on tke Origin of Evtl (Poetischer Essay ftber den
Ursprung des Übels), 1794, war was der Titel besagt,
eine dreiteilige Abhandlung in Reimpaaren, ein regebrechtes,
nach einem festen Schema gearbeitetes Lehrgedicht Der
erste Teil beleuchtet die Übel als Folge der Unzulänglich-
keit alles Geschaffenen, der zweite behandelt die moralischen,
der dritte die natürlichen ÜbeL Der Untersuchung liegt
eine optimistische Weltauffassung zu Grunde. Anf die Frage
nach dem Ursprung des Übels, antwortet CampbeU: „Der
schwache Mensch erschaffe es selbst und schiebe es dem
Himmel unter, dessen höchste Gaben er nicht verwende,
um Vollkommenheit anzustreben, sondern Macht Der mit
freiem Willen Begabte w&hlt das Laster, ist also daffir
verantwortlich.'' Die Frage, weshalb Gott dem Menschen,
den er ffir das Gute schuf, die Möglichkeit des Lasters
gebe, kann der junge Philosoph nur durch einen Hinweis
auf das Geheimnis beantworten, mit dem sich der ewige
Geist umhfllle. Gegenüber dem nicht wegzuleugnenden Vor-
handensein von Leiden, Krankheit, Tod bescheidet er sich
mit der Notwendigkeit, daS Gutes nnd Übles venn^igt
sein müsse. Er mahnt zur Zufriedenheit und Gewissen-
haftigkeit Das gereimte philosophische Schulexerzitiom
kommt far die Nachwelt nur darum in Betracht, weil es den
0 Specimena, 430.
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Das beschrelbeBde Gedicht und die VeneriiUilang. 667
Boden kennzeichnet, in dem Campbell wnrzelt. Die Zensur
lautete: „Zeigt Begabung für die Poesie.^ 0
Seine PUamres ofHape (1799) fußen in einer didaktisch
abstrakten Sichtung. Der erste Entwurf reicht in Camp-
beils Hebridenzeit (1794—95) zurück. Dort empfing er
von einem Freunde, Hamilton Paul, einen heitern Brief mit
einer poetischen Einlage, The Pleasures of Soliiude (Die
Freuden der Einsamkeit), und der auf Akenside und Bogers
anspielenden Mahnung, die Pleasures of Hope zu hegen.
Dieser Keim schlug in seinem Geiste Wurzel.
Das Muster der beiden hochangesehenen Vorgänger
ist in der Anlage seines Gedichtes deutlich zu spüren.
Campbell äußerte sich noch 1888 mit höchster Bewunderung
Aber die Pleasures of Memory und erklärte sie in seiner
liebenswflrdigen Bescheidenheit für ein weit schöneres
Gedicht als seine Pleasures ofHopeX) In Wirklichkeit ist
der Fortschritt von der verstandesgemäßen Ausarbeitung
eines Gedankenschemas bei Bogers zum phantasievollen
poetischen Aufechwung Campbeils fast ebenso groß wie der
von Akenside zu Bogers. Tatsächlich sind die Pleasures
of Hope eine Shapsodie über HofEnung, liebe, Freiheit,
Wahrheit, in der die Beibehaltung der äußerlichen Zwei-
teilung des Vorbildes als Willkür anmutet Die von den
Vorläufern so ängstlich beobachtete systematische Gliede-
rung des Inhalts fehlt. Abschweifungen und Episoden
sprengen die Form. Aber der freie poetische Erguß, die
bildhafte Phantasie, der Schwung der Gedanken und Gefühle,
der rhythmische Zauber der klangvollen Heroics, das
lyrische Pathos machen den Mangel an Komposition reich-
lich wett
>) Beattie I, 95.
«) Beatüe HI, 268.
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668 Dm beschreibende Gedieht lud die Venenihliuig.
CampbeU besingt die ewige Hoffnung, deren selige
Jugend in die Zeit fiel, da der Donner der Sph&ren den
Beginn dieses Weltalls ankfindigte, die Hoffnung, die das
Weltall ftberdauem und dereinst, wenn die Sterne v^-
loschen, ihre Fackel am Scheiterhaufen der Natur neu ent-
fachen wird. In ihren G&rten spriefien Kr&nze ffir jeglidie
Mflhe, sie hilt fttr jegliches Leid einen Zauber bereit Ohne
sie wfire das Leben nur Angst und die Welt des Sonnenschdnes
bar. Von der HofEnung des Einzelnen, die zugleidi die
Trösterin wie die Treiberin des Geistes zu höchster Eraft-
entfaltung ist, geht Campbell auf die allgemeine Hoflbung
der Menschheit über. Brennende Tagesinteressen werden
berfihrt, die soziale ümwftlzung, die Polen-, die Negerfrage,
die kosmopolitischen Trftume des 18. Jahrhunderts kommoi
zum Ausdruck. Campbells Hoffnung ist blutsverwandt
mit Schillers Freiheits-, Fortschritts-, Weltbfirgertums-
begeisterung und Sehnsucht. Aus der d&stem Gegenwart
findet er Ausblicke in eine Zukunft, in der wilde Volker
zivilisiert und geknechtete Länder von der Wahrheit und
Freiheit erleuchtet sein werden.
Der zweite Teil fUirt als die mftchtigen Verb&ndeten
der Tugend Liebe, Phantasie und (xlauben ein. Von einem
anmutigen Liebesidyll nimmt die Einbildungskraft ihren
Flug aber die Schranken der Wirklichkeit hinaus zu dem
ewigen Sein, das unsre letzte erhabenste Hoffnung bildet
Die Pleasures ofHope gingen im Jahre ihres Ersdieinens
durch vier Auflagen. Madame de Staä schrieb 1813, * das
Gedicht, das sie beständig bei sich habe und immer wieder
lese, um in der Erhebung eine Linderung des Grames zu
finden, seien die Die Freuden der Hoffnung A) Christopher
») Hill, XXXV.
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Das beschreibende Gedicht und die Versersttünng. 669
North vergleicht sie einer aeolischen Harfe, durch deren
Saiten Himmelslfifte streichen. In ihrer Poesie vernehme
man das Bauschen des Meeres von Argyllshire, das Campbeils
musikalisches Ohr gebildet und sich ihm tief ins Herz ge-
senkt Niemals, bis nicht die Welt kindisch würde, könnten
die PUasures of Hope vergessen werden.^) Wordsworth
hingegen blieb dabei, daß hinter vielen dieser schönen Worte
und klingenden Verse kein Sinn stecke.^) Eine deutsche
Übersetzung von Karl Lackmann erschien 1838.
Von dem großen Erfolge getragen, faßte Campbell den
Plan zu einer lyrisch -epischen Nationaldichtung, The Quem
of ihe North (Die Königin des Nordens), einer an die Be-
trachtung Edinburghs und der die Stadt umgebenden Land-
schaft geknüpften Verherrlichung von Schottlands in den
Kämpfen für die Unabhängigkeit gefallenen großen Toten.^)
Allein es blieb bei wenigen Fragmenten, die Campbell
während einer deutschen Heise 1801 zu Papier brachte.
Erst 1809 kehrte er zur lyrisch -epischen Dichtung
zurück mit Gertrude of Wyoming, Mit den Pleasures of
Hope verglichen, bedeutet das Werk den Fortschritt von der
Betrachtung zur romantischen Erzählung, vom heroischen
Beimpaare zur Stanze. Gerirude of Wyoming trug Camp-
beils durch das Erstlingswerk begründeten Buhm auf seinen
Gipfel.
Die Anregung dazu empfing er 1806 aus einem Bomane
August Lafontaines Karl Bameck und Alexander Sal-
dorf (1804), einer jener typischen Freundschaftsgeschichten
des 18. Jahrhunderts, die in taumelnder Extase von un-
verbrüchlicher, ob auch durch höchste Opfer erkaufter
0 An Hour'8 Taik ahout Poetry,
*) Bogen, TMe Talk 251.
•)HiU, XXXVI.
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6?0 Dti beMimIbaidA CMieht und die VawnltdiiBg*
Jftnglingstreae, von fibermenschlidier Selbstzucht und Eni-
sagong und gleich &ber8chwftnglichem Lohne der Tagend
enihlen. Der Anfang von Lafontaines fioman schildert
die deutsche Niederlassung am Hudson und einen ÜberEall
durch die Wilden, bei dem die Eltern des Erz&hlers Ludwig
Bameck umkommen. Des zehnjihrigen verwaisten Knaben
nimmt sich ein Offizier, Karl Bameck, an, der sich schließ-
lich als Verwandter entpuppt An die Stelle des verwaisten
sohnchens tritt bei Campbell eine Tochter Qertrude. Von
einer inneren Übereinstimmung der Grestalten kann nicht die
Rede sein. CampbeU selbst bezeichnet als seine Quelle den
Bericht über die Verheerung Wyomings in Pennsylvanien
durch eine Indianerinvasion (1778). Die meisten Geschichts-
werke des amerikanischen Krieges erw&hnen sie und schildern
die junge Kolonie als ein Eden, so schSn als fruchtbar, so
sittenrein als glücklich. Diesem Berichte entnahm Campbell
dabei den Schauplatz für das zarte Idyll einer zwischen
Jugendgespielen keimenden, reifenden und glücklich befrie-
digten liebe der die hereinbrechenden Oreuel des Freiheits-
kampfes ein tragisches Ende bereiten. Als ethnographische
Quelle gibt Campbell die Anmerkungen der IVavds ^augh
America hy Capts Lewis and Clarhe (1804—1806) an.
Indes woUen Kundige in den Landschaftsschilderungen
Campbeils Argyllshireheimath wiedererkennen. Die ge-
lungenste Gestalt ist die des Indianerhäuptlings Ontalissi,
des wilden aber zuverlässigen, starken und ehrlichen, der
dem weißen Kinde Henry Waldegrave, das er bei einem
Zusammenstoß von Engländern und ItaUenem erbeutet^ ein
Retter wird. Er ist „der unbeugsame Stoiker des Waldes'',
ein Mann, der keine Tränen hat, dennoch aber seinen
Schützling mit einem weich und musikalisch empfundenen
Schlummerliede in Schlaf wiegt, eine mit allem Requisit der
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Dm bMohittibeiide Gedieht und die Venentiüaii«r. 671
Indianerromantik ausgestattete Figar, die Washington
Irving gleichwohl als klassische Schflderong eines einge-
borenen Wilden bezeichnet.
Die Urwfichsigkeit der Landschaft wie der Mensdien
dieses Idylls ist von jener Natürlichkeit) die poetisch über-
zeagt, ohne auf realistische Wahrscheinlichkeit Anspruch
zu machen. Ein zur Süfilichkeit neigendes mildes Pathos
schützt, ohne die Eleganz des Stils zu gefährden, vor
BanalitiLt wie trockner Pedanterie. Hazlitt findet in
Oertrude of Wyoming ^ zumal in der Schilderung ihrer
Kindheit, Stellen von einer Beife und Schönheit, die jedes
Lob überstiegen. Die eztatische Vereinigung von Natur-
Schönheit und poetischer Phantasie gleiche in ihrer spiele-
rischen Erhabenheit dem heiteren, Iftchelnden, himmlischen
Spiegelbilde der azurnen Wölbung in den klaren Wassern.
Campbell verbinde Bogers' klassische Eleganz mit dem
leuchtenden Glanz und romantischen Interesse Byrons.
Doch indem Hazlitt seiner Poesie die vollkommenste Feinheit
der Ausführung zugesteht, nennt er zugleich seinen Pegasus
ein Manegepferd voll Leben und Feuer und dennoch ganz
in seines Herrn Hand. >)
Charakteristisch für Gertrude of Wyoming ist der Stempel
einer utopistischen, kulturflüchtigen Bomantik, die in jenen
Tagen die Menschen der alten Welt durch Auswanderung
in die neue regenerieren zu können meinte.
Campbells nächste Yerserzählung, Theodoric, a DomesUc
Tale (Theodorich. Eine häusliche Geschichte), 1824, im
heroischen Vers, bedeutet formell und inhaltlich ein Bfick-
wenden zu dem klassischen Ausgangspunkte der Pleasures
of Hope. Ein Mädchengrab am gotischen Kirchlein eines
>) Caimpbiü und Crabbe, The Spirit of the Äge.
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672 Dm beidiitibttide Gedieht nnd die VeiBeniUiiiicf.
schweizer Oottesackers gibt den ftoBeren Ankn&pfangspnnkt^
am dem Beisenden die unselige Liebesgeschichte einer Julia
mitzuteilen, die in ihrer übersinnlichen Verschrobenheit das
grade Gegenteil der Namensschwester ans Verona ist Sie
siecht dahin an der Leidenschaft fftr den Feldherm Theo-
doriCy den sie nnr vom Hörensagm nnd ans seinem Bilde
kennt Jnlia, „die freie Schweizerin*', vertritt jenen nn-
natfirlichen T^ns des Natnrkindes, das tapfer nnd voll
urwüchsiger Kraft, zugleich phantasieyoll nnd von hoher
Geistesknltur, feinsinnig bis zur Hypersentimentalit&t ist
Wie diese Heldin hängt auch das kriegerische Ideal Theo-
doric, nach dessen Urbild man sich vergeblidi nmsidit, in
der Luft Die Charaktere sind überspannt, blutlos und
unpersönlich, die Landschaftsschilderungen in gleichem
Grade blaß und unbelebt Die naheliegenden Bilder aus
der Schweiz erscheinen in nebelhafterer Feme als die des
romantischen Utopien der Gertrude of Wyoming.
Campbell, der dieser Arbeit weniger lauten Beifall,
aber dauernde Volkstümlichkeit prophezeihte,^) tauschte
sich darin. Einen noch entschiedeneren Mißerfolg hatte
die gleichfalls in Heroics abgefaßte Dichtung The PUgrim
of Glencoe, 1842, deren Grundidee Campell einer 1703 er-
schienenen Broschüre entnahm, The Massacre of Glencoe;
being a True Natrative of ihe Barbarous MurAer of the
Glencoe-Men, in ihe HigKlands of ScoÜand, by Way
of Müitary Execution, 13. February 1692 (Das Gemetzel
von Glencoa Eine wahrhafte Erzählung des barbarischen
Mordes der M&nner von Glencoe im schottischen Hochlande
durch mililt&risches Strafverfahren).^) Im Gedicht wirft die
Urväterfeindschaft zwischen dem in Glencoe ermordeten
0 HiU, 65.
«) HiU, 340.
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Das beschreibende Gedicht nnd die Veriers&hlmig. 673
Alexander Macdonald und dem am Morde beteili|^n Sir
Colin Campbell ihre Schatten anf das Leben der Nachkommen.
Parteinahme fOr die Hftuser Stnart nnd Hannover trägt
das Ihre bei znr Entzweiung. Echte Menschlichkeit und
Kriegstflchügkeit aber bezwingen schließlich die dunkeln
Gewalten und alles endet, nicht ohne Trivialität, in Frieden
und Freundschaft
Von erstaunlicher Mattigkeit ist die Schilderung der
Hochlandmenschen und -gegenden. Campbeils conventioneile
Wiedergabe verrät wenig von seinem innigen Verwebtsein
mit der Natur der Heimat Und doch hatte er sich in
den Tagen seiner Kraft grade auf diesem Gebiete der
keltischen Romantik seinen besten und dauerhaftesten Lor-
beer geholt Seine Naturschilderungen aus der Heimat,
seine Balladen über Sagen der Heimat, sind noch heute
frisch und lebendig, während seine Verserzählungen kaum
mehr als einen literarischen Besitz bedeuten.
Von dem elegisch -reflektierenden Modeton der Natur-
betrachtung, den Campbell in seiner Elegy writtm in Mull^
1795, anschlug, hat er sich bereits 1797 in den Linea written
an VisHing a Scene in Argyüshire (Verse, geschrieben beim
Besuche einer Gegend in Argyllshire) freigemacht Der
unpersönliche Ton ist einer individuellen Stimmung, der
heroische Vers der Stanze gewichen, in der der innere
Reichtum kraft- und lebensvoll ausströmt Aber noch ist
ihm der Natureindruck als solcher nicht Selbstzweck. Er
vermittelt ein ethisches Moment, hier die Maxime: Das
Schicksal ertragen, heißt es besiegen. In The Bainboto
(Der Regenbogen), 1819, einem der verbreitetsten Gedichte
CampbeUs, ist der farbige Bogen vor allem der Friedens-
bogen, an welchen der Höchste seine Verheißung geknüpft
Überhaupt nimmt die Urwüchsigkeit der Naturstimmung
Geschichte der eni^Hschen Bomantik n, 9. 43
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674 Dm iMfldireibeBde Gedieht und die Venenfiiliiiig.
yerhiltnism&ßig früh ab. Ansitze zu Naturpersoniflkatioii^
{The Beachtree's PeHiion. Der Bache Bittgesadi, das sich
an Borns' Bruar Waters lehnt, oder Ode to Winter, 1801)
bringen es nicht zu naiver Natorbeseelnng; und in die
prachtvollen Blankverse, die den beseligenden Eindmck
des Ozeans wiedergeben, klingt ein k&hler Ton von Be-
flexion ond Sentiment {Lines on ihe View fram SL Leon-
har€Fs. Verse auf den Ausblick von St Leonhard, 1831).
Den höchsten dichterischen Takt bekundet Campbell
in der Behandlung heimischer Sagen. Der knappe, krSftige
Ton der kurzen Reimpaare in Olenara (1797) erhöht die
dfister barbarische Wildheit^ die Schauer des Unbegreif-
lichen und Geheinmisvollen und nähert sich dem Volks-
liede. So auch in der Romanze Adelgiiha und der Song
fiberschriebenen liebestragSdie in vier Strophen {Earl
March looked an Ms dying Chüd). Die rasch flieAende Er-
zählung der kreuzweis gereimten Jamben in Lord UUin's
Daughter (Lord üUins Tochter), 1795, veranschaulichen die
Todesnot der Liebenden auf der Flucht vor dem nach-
setzenden Vater. Der pastose, wuchtige Vortrag von
LochiePs Waming (Lochiels Mahnung), 1802, steigert die
schmerzliche Stimmung des Patrioten am Vorabend von
Cnlloden zu großartiger Wirkung. Der weiche, melodisdie
Jambenfluß von O'Connor's Chüd, or The Flower of Low
lies bleeding (O'Connors Kind oder Die Blume Ameranth),
1809, leiht sich prftchtig der Wahnsinnsliebesstimmung des
klagenden Mädchens. So beherrscht Campbell alle R^ister
der Ballade, gleichviel ob es stramme, unverzärtelte Ob-
jektivität in der Wiedergabe von Tatsachen gilt {The
Ritter Bann, 182S), oder schlichte, von allem Phrasen- und
Stelzenhaften ferne Gefählswärme {Qüderog). Ein Beispid
glänzender Bemeisterung der Balladentechnik sind die
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Das beschrelbeiide Oedicht und die Venersählniig. 675
Sdüaßyerse von The Spectre Boat (Das GeisterschiS), 1809,
die über das Gebiet der Eunstdichtang hinaus zu gehen
scheinen. 1) Das Lokalkolorit dieser Balladen ist oft mit
wenigen Strichen hGchst eindrucksvoll charakterisiert und
gibt ihnen den vollen Zauber bodenständiger Poesie.
Eine geschickte Handhabung der Gespensterromantik
bekundet The Death Boat of Helgoland^ das Totenschiff,
auf dem die Geister ungerechter Machthaber, schlechter
Beamter auf stflrmischer See umhergetrieben werden. Die
Durchdringung eines allegorischen Begriffes mit belebender
Phantasie zeigt A Dream (Ein Traum), 1824, worin der
abgedroschene Vergleich des Lebens mit einer auf wildem
Meer dem Ufer des Todes zutreibenden Barke den Zauber
einer Vision gewinnt.
Schließlich fehlt unter Campbeils Balladen auch die
ausschließliche Selbstschöpfung nicht, die das eben Erlebte,
das große Ereignis des Tages in die bei dem Volk beglaubigte
Form gießt The BaUle of the Baltic (Die Schlacht im Bal-
tischen Meere), 1805, besingt Nelsons Sieg fiber die dänische
Flotte bei Kopenhagen, 1801. Sie reihte sich dem nationalen
Bestände der englischen Poesie ein. The Wounded Hussar
(Der verwundete Husar), eine andere Schlachtfeldballade,
wurde so volkstümlich, daß man sie auf den Straßen sang.
Der Kunstdichtung gehört dagegen Campbeils berühmte
Schlachtenschilderung Hohmlinden (1802) an. Von einem
Schottenkloster in Begensburg aus hatte er selbst auf das
Kriegsgetämmel hinabgeblickt und die verheerende Wirkung
der Geschütze bei einem Angriff der Kavallerie auf die
französischen Grenadiere beobachtet Es war der stärkste
Eindruck, den er je empfing, aber so fürchterlich, daß er
1) And r<nmd they toent and down ^key ioent,
As {he cock crew from ihe land.
43*
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676 Dm befohreibende Gedidit und die VerBenihliuig.
Um aus der Ermnenmg za verbaimen strebte. In Krank-
heits- und Fieberzeiten pfleg^te er vom Albdrack dieser
grftfilichen Bilder zn erwachen, i)
Manches politische Gedicht tr> das Geprftge von
Campbeils kosmopolitischer Begeisterong. In den Versen
To Sir Francis Burdett (1882) sagt er: Wir halten die
Menschenrechte zn hoch, nm im Besitze einer einsamen
Freiheit glücklich zn sein; Britannien nnd die Welt mfissen
gemeinsam frei werden. Im Song ofihe Oreeks, 182^ eifert
er die Griechen znm Kampfe an. In Ode to the Oermans
fleht Britannia ihre Schwester Alemannia an, sich zn er-
heben nnd frei zn werden. Campbeils Polenbegeistemng
tönt ans schwungvollen Versen {The Power ofSussia; Lines
to Polandj 1882) nnd sein Tyrannenhaß reißt ihn gegen
Napoleon, als dessen Anbeter er sich in der Petrarca-
biographie (1841) bekennt)') zn einem Ausdruck hin wie
,,der kaiserliche Dieb" (Li$%es to Poland). In Stansas on
the Threatening Invasion (Strophen auf den drohenden
Überfall) 1818, fordert er Napoleons Blut als Sflhne für den
Himmel
Die Lyrik tritt bei Campbell weniger der Zahl als der
Qualität nach hervor. Ye Mariners of England (Ihr See-
leute von England), 1800, ist mit seinem patriotischen
Schwünge und seinen kurzzeiligen Eunststrophen mit dem
wirksamen Binnen- und Kehrreime zum Nationalliede ge-
worden. Washington Irving bezeichnet Ye Mariners of
England und The BatÜe of (he BcHUc als „zwei der er-
lesensten Kleinodien nationaler Poesie, erfUlt von erhabenen
Bildern und hohen Gefflhlen und vorgetragen in einem edlen
schwellenden Tone, der die Seele ins Heroische erhebt^
') Beattie I, 848.
*)n, 822.
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Daa beadireibende Gedicht und die VenenShlfuig. 677
Ethisches Pathos bildet einen starken Einschlag von
Campbeils Lyrik. Nicht der Friedhof, nicht die Kirche
bedeuten ihm heiligen Boden, sondern Friede und liebe
weihen den Tempel, das Herz heiligt erst die Stfttten der
Seligion {Haüowed Graund. Heiliger örnnd). Sein Un-
sterblichkeitsglaube wächst zu majestätischer Zuversicht in
The Last Man (Der letzte Mensch, 1828, deutsch von
Freiligrath). Campbell hatte sich schon in den Fleasures
of Hape als Gegner „jener skeptischen Philosophen be-
kannt, die, dAstere Anbeter des Zufalls, den Menschen
als Pilger eines Tages grüfien, ffir den diese dunkle Welt
Glflck genug bedeute. Einige Zttge der Gertrud of Wyo-
mingy deren Plan er Byron mitgeteilt, wollte er in dessen
Darhness (1816) wieder erkennen. Tatsächlich aber ist der
leitende Gedanke und ganze Tenor der zwei Gedichte ein
yOllig yerschiedener.
Am spärlichsten ist bei Campbell das Liebesgedicht
vertreten, doch glUckte ihm auch auf diesem Gebiete ein
und das andere herzliche und melodiöse Lied. So Äbsence
(Trennung); Withdratv not yet ihose Lips and Fingers
(Entzieh mir nicht den Mund, die Finger).
Prosa.
Aus der Fälle der Prosa, die Campbell einen beträcht-
lichen Teil seines Lebens im Frohndienst um das tägliche
Brot wahllos für Zeitungen, Zeitschriften undVerlagshändler
geschrieben, hebt nur Weniges sich durch eine eigenartige
Physiognomie heraus. Selbst umfangreiche Werke wie die
anonym erschienenen dreibändigen Annais of Great Britain
(1802), 0 Lif^ »^^ ^^^^ of Frederic the Great (Das Leben
0 Beattie I, 906.
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678 Das bwehraibe&de Gtdicht nnd die Venenihlimg.
and Zeitalter Friedrichs des Großen, 1841—43)0 nnd me
History of Our Own Times (Geschichte unserer Zeit), 1843» >)
sind literarisch wertlos. Die Shakespearebiographie, die er
für eine Ausgabe der Werke Shakespeares 1838 schrieb,
wirft dem Dichter vor, daß er der Nachwelt, deren liebe
nnd Bewunderung er als Menschenkenner voraus sehen
mußte, nichts Ausffihrlicheres Aber seine Persönlichkeit
hinterlassen habe. Campbell hUt sich an Malone und
Bowe, steht aber auch als Kritiker Shakespeares Dichtung
in merkwürdig schaler und begeisterungsbarer Urteilslosig-
keit gegenüber.
Hit der ihm eigenen Gewissenstreue arbeitete er von
1805 bis 1819 an einer siebenbftndigen Auswahl englischer
Originalpoesie,^) für die er biographische Einleitungen
und einen Essay on English Poetry verfaßte, eine Art
Grundriß von den Anfftngen bis zu Pope, ohne Anspruch
auf gelehrte Forschung, ohne hinreißende Subjektiyitftt der
Darstellung, aber freimfltig, elegant und lieb^iswftidig ge-
schrieben. Für den Einfluß der normannischen Eroberung
auf die Sprache findet Campbell den poetischen Vergleich mit
einer gewaltigen Überschwemmung, die die Oberflftche der
Erde begräbt, aber sich verziehend, die Elemente neuer
Schönheit und Fruchtbarkeit zurftckl&ßt Bei den Dichtem,
die sein Gteist überblickt, wie Milton oder Pope, erreicht er,
was er sich als Ziel unbedingter Gerechtigkeit vorgesetzt,
gegen andere wird er aus Unkenntnis oberfl&chlich (Chaucer)
oder ungerecht (Greene, Donne). Peter Cunningham ver-
anstaltete 1841 ein einbändiges Compendium des weit-
läufigen Werkes.
1) Nach Bossetti von Campbell nur heranagogeben.
*) Gamett, Dictionary of NaUonal Bio^apky.
*) Brief Tom 21. Januar 1800. Beattie n, 161.
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Das beschreibende Gedicht und die Venerzählung. 679
CampbeU hat aoBerdem die Biographien Sarah Siddons'
und Petrarcas geschrieben. Sein lAfe ofMrs. Siddons (1834)
ist ein Denkmal der Freundschaft für diese schöne, vor-
treffliche Frau, die gewaltige Ettnstlerin, für deren .Beruf
er die grCSte Wertschätzung hatte. Als ihr Gatte, Henry
Siddons, ihn einmal darauf aufmerksam machte, daA die
Namen Campbell und Kemble ursprünglich dieselben seien,
erwiderte er, er wfinschte dies bewiesen zu sehen, denn ob
sieh seine Familie auch rühme, mit dem Eroberer herüber
gekommen zu sein, wäre er doch stolzer auf die Verwandt-
schaft mit den Eembles als auf die mit den Normannen.^)
So wird denn hier der Biograph gelegentlich zum begeisterten
Bewunderer, die Lebeasgeschichte zum Panegyrikus. Als
Sarah Siddons' Begleiter macht Campbell seinen ersten Besuch
im Louyre (1832). Er ist sich der Ehre bewußt, vor den
(damals dort befindlichen) Apoll vom Belvedere mit einer so
hohen Anbeterin am Arme treten zu dürfen und bemerkt
mit Genugtuung, daß alle Augen sich auf die Unbekannte
richten. Das Antlitz der Neunundfünfzigj&hrigen ist noch
so edel, daß sie ihn, selbst in Gegenwart griechischer
Skulpturen, stolz auf englische Schönheit macht Er tritt
dem allgemeinen Urteil entgegen, das Sarah zwar höchste
Achtung zollte, sie aber für hart und hochmütig erklärte.
Sie sei mehr ab eine Frau von Genie gewesen; ihre
Herzensgüte habe sie zur Zierde ihres Geschlechtes, ja der
menschlichen Natur gemacht Die Künstlerin in Sarah
Siddons wird verhältnismäßig oberflächlich mit Phrasen
allgemeiner Bewunderung abgefertigt Die wichtigen per-
sönlichen Eindrücke und authentischen Nachrichten über
technische Einzelheiten ihres Berufe, die er der Nachwelt
0 Beatüe H, 8,
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680 Dm besehreibeftde Gedkht ud die YeneniUiiBg.
hfttte fiberliefern können, fehlen, nnd nnr die Einfogiing
der eigenen An^idmnngen der Siddons fiber ihre Auf-
fassung der Lady Macbeth geben der Biographie dnea
knnathirtorischen Wert
The Life of Petraeh (1841) ging ans CampbeUs Be-
schifügang mit der ihm zur Heransgabe anvertraut«!
Petrarca-Biographie des Archidiakonns Goxe henror, die
er nnznreidiend fand. Er folgt dem Texte De Sades nnd
sucht, wie in der Siddons-Biographie, in erster Linie der
menschlichen Grftße seines Helden gerecht zu werden.
Petrarcas Patriotismus, der nati<male, nicht provinzielle
Ziele im Auge hat; seine der Zeit weit voraneilende Libe-
ralitftt, seine Durchdringung mit dem Geiste klassischer
Philosophie, die ihn als Vorlftufer Bacons erscheinen lißt,
machen ihn, auch abgesehen von seiner Poesie, fOr Campbell
zu einem grofien Manne. In Laura will er weder eine Ge-
liebte noch eine Allegorie erblick^ sondern eine Freundin,
die Petrarcas Leidenschaft zur&ckwies, sobald sie die
Schranke der Tugend zu ftberschreiten drohte. Dies
gehe aus Petrarcas Gedichten klar hervor. W&re seine
Liebe erfolgreich gewesen, so h&tte er weniger von ihr
gesprochen. Der wanne persönliche Ton und die künst-
lerisch gefeilte Darstellung geben dem Werke eine von
seinem biographischen Wert unabh&ngige Bedeutung.
In fibel verstandenem Eempentum fftr Frauenehre, Re-
ligion und Tugend beging Campbell den Mißgriff, sich in den
Familienskandal der Byrons zu mengen. Im April 1830 ver-
öffentlichte er einen Aufeatz Lady Byron and Thomas Moore.^)
0 Abgedruckt in The True Story of Lord and Lady Byron, as
iold by Lord Macauley, Thomas Moore, Leigh Hunt, Thomas Camp-
beUs Ute CountcHs of Blessington, Lord Lindsay, iJte Countess GtUccioU,
Lady Byron, and by ihe Poet lUmself, in Answer to Mrs, Beedier
Stowe.
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Das beschreibende Gedicht and die Verserzählung 681
Er sollte nichts anderes sein als ein Öffentliches, nach
Campbeils Art flberschwängliches Bekenntnis der Hoch-
achtung für eine Dame, die ihm kraft ihrer Grundsätze
interessanter erschien als ihr Gemahl. Campbell weist
jeden Verdacht zurück, als Ankläger Byrons aufzutreten,
aber sein pedantisch-hochmutiges Präzeptorentum, das dem
Genius vorhält, was und wie er sein sollte und Moores
Philosophie und Moral anzweifelt und ablehnt, bekundet
gleichwohl das, was er vermeiden möchte: persönliche
Voreingenommenheit und Anmaßung. Wie entschieden er
es auch in Abrede stellt, als Lady Byrons Anwalt aufzu-
treten, ist er doch nichts andres, wenn er sagt, weder
Moores noch Byrons Poesie, noch unsere gesamte Dichtung
habe jemals ein fesselnderes Wesen gezeichnet als diese
mit solcher Kälte behandelte Frau. „Campbell, einer der
besten Dichter und Menschen, tut nicht wohl daran, so böse
auf seinen Bruder in Apoll zu sein", sagte Christopher
North (Noctes Ämbrosianaey 11 424).
Was Campbell hier irreführte, war der Nachdruck, den
er auf daa ethische Moment der Dichtung zu legen pflegte.
Er hat niemals aufgehört, in ihr eine Lehrmeisterin der
Menschheit zu verehren. „Die Kunst des Dichters ist nicht
eitel", sagt er in seiner Ode to (he Memory ofBumsi „der
Dichter verfeinert den Urquell des Lebens, die edleren
Leidenschaften der Seele. Die Muse weiht das Banner des
Tapferen." Diese hehre Mission des Poeten hat er selbst
stets im Auge behalten. Die makellose Gesinnung bildet
seinen Hauptvorzug wie seine Grenze als Dichter. Das
Bewußtsein der Verantwortung macht ihn ängstlich. Er
hat seinem zweifellos starken Talent nicht die Zttgel
schießen lassen, sich niemals frei dem Einflüsse des Augen-
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682 Das besdtreibeade Gtdickt und die VenenSliliiiig.
blickes hingegeben. Seine anerkennendsten Kritiker waren
derMeinnng, er habe weniger geleistet als man von seinen
Fähigkeiten erwarten durfte. ^
Werke von Thomas Campbell.
1794 Foetical Essojf on ike Origm of Evtl
1799 The Fleamres of Hcpe.
1802 AwnaU of Great Briiam.
1805 FotmB.
1809 Oerirude of Wyoming.
1819 An Essay on EngUsh Poetrg, With NoUces of the British
Poets. Reedited 1841 hy Peter (hmningham.
18S9 Theodoric Ä DomesHe Poem^ and other Poems.
1834 Life of Urs. Siddons.
1837 LeUers from tke SotUh.
1838 Bemarks on the Life and Writings of WiUi€m Shdke^eart.
(The DramaUc Works of WüUam Shakespeare).
1841 Life of Peirarch.
1842 The Pilgrim of Olencoe, and Other Poems.
1843 History of Our (hon Times.
Werke Ober Thomas Campbell.
1826 William HaElitt, Campbell and Crabbe (Spirit of (he Age).
1842 Ghristopher North, An Hour's Talk about Poeüry
(BecreaUons I).
1846 W. J. Fox, The Genius and Poetry of CampheU (Leciures
addressed to the Working Classes, Vol IIJ).
0 Vergl. Edinburgh Eef^iew 1809 (yoL XIV); Allinsrham , V;
Patmore, 188; Beattie IV, 98.
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Daa beschreibende Qedicht nnd die Versersählong. 683
1891 Washington Irving, The Poetry and History of Wyo-
ming, cantammg CampbelU Gertrude, with a Biographic
Sketch of the Author and the History of Wyoming
from it8 Discovery to the Beginning of the Fresent
Century, by William Stone.
1860 William Beattie, Life and Leiters of Thomas Campbell
1854 P. 0. Patmore, My Friends and Äcguaintance.
1860 Gyrns Redding, Literary BenUniscences and Memoirs of
Thomas Campbell
1861 W. A. Hill, The Poetical Works of Thomas Campbell
Wifh Notes and Memoirs.
1876 William Allingham, Sketch of Ms Life (The Poetical
Works of Thomas Qm^beU, edited by Bev. Alfred Hill).
W. M. Rosetti, Oritical Memoirs. (Thomas Campbeüs
Poetical Works. Moxon's Populär Poets).
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Bryaa Waller Frooter.
(Barry Cornwall).
1787—1874.
Bryan Waller Procter wurde in Leeds geboren. Die
Procters waren in Nordengland heimische Landlente. Der
Vater (f 1816), ein Mann von unbedingter Redlichkeit,
brachte es als Kaufmann in London zu einer behaglichen,
unabh&ngigen Stellung. Die Mutter (f 1857) nennt Biyan
Waller die gütigste und zärtlichste der Welt
Mit vier Jahren fibten Bftcher bereits ihre Anziehung
auf den Knaben, im sechsten und siebenten Jahr erlebte
er seine erste liebe. Das junge, schöne M&dchen, dem sie
galt, nahm sich seiner an. „Meine liebe hatte die Glut der
Leidenschaft ohne die irdischen Schlacken, die sie herab-
ziehen. Sie hatte an der Unschuld meines Alters Teil,
während sie mich zugleich yergeistigte. Ob es die Göttin
der Schönheit war, die mich verwundete oder vielmehr
über das Dunkel und die Unreife der Kindheit erhob —
ich weiß es nicht, aber meine Gefühle waren alles eher
denn kindisch.*'^)
Trotz dieser Frühreife zeichnete Procter sich in
Harrow mehr durch liebenswürdige Bescheidenheit als
durch Begabung aus. Seine Studiengenossen waren Sir
Robert Peel und Byron, damals noch ein lärmender,
plumper Junge mit einer Vorliebe für Bheinwein, Balkpiel
>) The Death of Friends.
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Das beschreibende Gedieht and die Venenfihlang. 685
und gelegentliche Faustkämpfe, ohne ii^end welche An-
zeichen künftiger Größe. 0
Nach vollbrachter juridischer Lehrzeit bei einem
klugen, trefflichen Advokaten in Galne (Wiltshire), kehrte
Procter 1807 nach London zurfick, mehr mit literarischen
Versuchen als mit Berufsarbeit beschäftigt 1815 erschienen
in der lAterary Gaeette seine ersten Gedichte. 1816 eröfibete
er mit einem Geschäftsteilhaber seine Advokaturskanzlei.
1823 vermählte er sich mit Anne Benson Skepper, der
geistreichen Stieftochter des bekannten Juristen und Phi-
lantropen Basil Montague, die ihren Namen (Skepper) in
gerader Linie von dem Drucker Peter SchOffer, Fausts
Genossen, herleitete. >) Durch diese Heirat hob Procter
seine soziale Stellung. Sein Wohlstand nahm 1857 durch
das letztwillige Vermächtnis von 65000 Pfd. eines indischen
Mäzens, John Eenyon, einen Aufschwung. Das Ideal der
Behaglichkeit, das sein Gedicht Wisches (Wfinsche) malt
— ein Häuschen in der Nähe der Großstadt, Bftcher, Bild-
nisse und eine liebevoll waltende Hausfrau — durfte er
selbst erreichen. Und in diesem traulichen Heim erwuchs
der englischen Poesie ein anderes seelenvolles Talent in
Procters Tochter Adelaide Anne (1825—1869).
Ein Mann von seltener Güte und Anmut des Herzens,
von unantastbarer Lauterkeit des Charakters, gehörte
Procter zu den beliebtesten und geachtetsten Gestalten
des Londoner Literatenkreises. Er befand sich unter den
neunzehn englischen Freunden Goethes, die im Juli 1880
dem Dichterfürsten als Zeichen der Verehrung ein kunst-
voll gearbeitetes Petschaft übersandten.^)
1) Autobiographikai Fragment,
*) Becker, 18.
*) Karl Sache, Goethes Bekanntechalt mit der englischen Sprache
und Literatur (Neuphilologisches Zentralblatt, 1905).
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686 Dm beiohrelbeBde Gedicht nnd die Venenfthlun^.
In einem seiner Briefe findet sich die bezeichnende
Stelle : „Ich glaube, der beste Weg zum Kopfe geht dnrch's
Herz.^ 0 Landor sagt in Bezog anf dieses Herz, es habe
niemals ein gesflnderes anf poetischerem Gmnde geroht^)
Procter hat zahllose heimlidie Guttaten yerübt, sich junger
Dichter (Brownings nnd Swinbumes) angemmunra und das
Gl&ck seines Lebens darin gefunden, keinen Anlaß zur
Betfttigung seiner Nächstenliebe ungenAtzt zu lass^.
Sein Dichterpseudonym Bany Coniwall ist ein Ana-
gramm seines Namens. Carlyles Ausspruch, er sei an Leib
und Seele ein hflbscher kleiner Kerl, wird seiner Begabnng
wohl kaum gerecht Sein Erstlingswerk, die nicht für die
Bfihne berechneten DramaUc Scmes (Dramatische Szenen),
1819, dialogisierte Epillen, möchten in 1 bis 8 Scenen den
Inhalt einer Tragödie erschöpfen. Etliche sind dem
Boccaccio entnommen, wie TheFalcon (Der Falke), die ans
Giomata 7, NoveOa IX, geschöpfte Geschichte Federigo
degli Alberighis und seines Falken, die Hazlitt zu den
feinsten Dingen der Welt z&hlte;>) The Two Dreams pie
beiden Trftume), die böse Träume und deren traurige
Erf fillung behandelnde Erz&hlung yon Gubriotto und Andreu-
vola, Gionata IV, NoveUa VI; Love cured hy kindness
(Liebe, geheilt durch Gftte), die M&r, wie König Pietro
die in ihn verliebte Lisa durch Güte von ihrer verirrten
Leidenschaft heilt und sie einem wackem Jüngling ver-
mählt, Giomata X, NoveUa VII; The Broken Heari (Das
gebrochene Herz), die Geschichte von Girolamo, den Für-
sorge fär die Mutter in den Tod treibt, Giomata TV,
Novella VIIL
1) AuiohiograpkicdL Fragment, 9S.
<) To Barry Comwaü.
') On ßnglish Comic Writers, Lecture VUI.
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Dm beschreibende Gedicht und die VersenShliuig. 687
Andere dramatische Scenen sind frei erfanden. Tfie
Way to conquer (Wie man erobert) verherrlicht als wirk-
samstes Mittely An&tände niederzuschlagen, die Milde, Ein-
sicht nnd Gelassenheit des Begenten. Ämelia Wentworth
behandelt die reine Neigung einer edlen Frau und ihres
jungen Freundes. Der rohe, ungeliebte Gatte bereitet der
Liebe ein tragisches Ende; Lysander and Jone ver-
herrlicht die schliefilich erhörte liebe eines Sterblichen zu
einer Nereide. Die Gmndstimmung ist immer eine ideale
und pathetische, mit vorherrschender Neigung zur Senti-
mentalität und TrftumereL Der Vortrag ist zart, liebens-
wfirdig, von anmutigem Fluß und wo diese Form dem
Inhalt des Dramolets entspricht, entsteht ein Ganzes von
erfreulicher Anmut Die Absicht, Bildhaftigkeit mit natür-
lichem Empfinden zu vereinen, scheint hier vollkommen
erreicht nnd Lambs Ausspruch, er würde den Drcmatic
Scenes ihren Platz in einer Auswahl Elisabethanischer
Dichter nicht streitig machen, mag gelten, i) „Barry Com-
walls Dichtung ist voll Phantasie und Schönheit^, sagt
Byron; „von einer Feinheit und Zartheit, die ihr allen
Zauber des weiblichen Geistes verleiht, ohne der Kraft des
männlichen Abbruch zu tun.''
Eine Tragödie m nuce ist Lttdovico Sforsa, eigentlich
die erste und letzte Scene eines Trauerspiels, das der Dichter
in den Zwischenakt verlegt Für den Ausdruck j&her Leiden-
schaft gebricht es Barry ComwaU an Kraft Wo er das
Pathos des Tragischen oder Mystischen anstrebt, wo er in
die dämmernden Tiefen der Seele tauchen will, machen sich
die Schranken seiner Begabung fühlbar. Statt der erstrebten
^) R. Garnett, Artikel Frocter im DicHonary of National Bio-
graphy.
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688 Dts bMchnibeBde G«dielit ud die VmeniUoiig.
Unergrftndlichkeit empftngt der Leser nur den Eindrack
des OberfltchlicheiL So in Werner^ wo er das znr Qnal des
Daseins yemrteQte Übermenschentnm in einer Art St Leon
vorfflhrt; in The Betum ofMare Äntan (Marc Antons Rflck-
kehrX dem mißglftcktenVersnch, die weißglfihende Sehnsucht^
Eifersucht « nnd Liebessacht der Cleopatra zn schildern;
in Julian AeApastaUj das denTranm nnd die letzte Selbst-
einkehr des in äen Tod gehenden lebensheiAen Jfinglings
ohne Extase nnd Weihe erzfthlt; in Tartan$Sf einer deklama-
torischen ünterweltsvision, ohne Schändern nnd Entsetzen,
ohne Dftmonen.
Noch weniger reicht Procters Kraft, wo er sich anf das
Gebiet der wirklichen Tragödie wagt Mirandola (1821)
ging zwar erfolgreich &ber die Bretter von Coventgarden,
doch verhehlte Barry Comwall sich selbst nicht, daß er
dies mehr den Leistungen Macreadys, Eembles nnd Mi£
Footes, als der eigenen flberstfirzten nnd nnvoUkommenen
Arbeit dankte. Der Konflikt — VermUünng eines Vaters
mit der Braut des Sohnes — ist der Don Carlos-StoS.
Daß die Helden der Herzog von Ifirandola und dessen
Sohn sind, ist eine zu augenflllige Übereinstimmung mit
der Erzählung des Marquis Posa (I, 4), um als Zufall auf-
gefaßt zu werden. 9 Indeß hat ComwaU, selbst wenn er
Schiller die Anregung zu seinem Drama dankt, in dessen
weiteren Verlauf doch unbedingte Selbstftndigkeit gewahrt.
Der Herzog von Mirandola ist ein liebevoller Vater nnd
giebt an Lauterkeit des Charakters seinem feurigen Sohne
Guido nichts nach. Er hat die sanfte, liebliche Mdora
geheiratet, ohne zu wissen, daß er damit die Lebens-
hoffnungen des Jfinglings vernichtete. Die Verständigung
1) SchiUers Don Carlos wnrde schon 1796 ins Englische fiherseUt
(yergl. Becker, 66).
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Das beschreibende Gedicht und die Veraerzähliiiig. 689
zwischen Vater und Sohn wäre unvermeidlich, regierten
am Hofe nicht zwei Erzintriganten, die böse Teufelin
Isabella und ihr Beichtiger Gheraldi, ein ungeheuer-
liches Mitglied der Inquisition, auf den Schillers Domingo
vielleicht Einfluß geftbt hat. Übrigens hat auch Guido, wie
Don Garlos, einen treuen Freund und Vertrauten, Casti, und
die Katastrophe hftngt mit gewissen verlorenen und aufge-
fundenen Briefen zusammen. Die Handlung ist auf Unwahr-
scheinlichkeiten und Zuf Ule aufgebaut. Die Gestalten sind
marklose Theaterpuppen, die schemenhaft durch die f&nf
Akte wanken und die Ödigkeit endloser Tiraden nur hin und
wieder durch eine feine Sentenz oder eine lyrische Gefähls-
stelle unterbrechen.
Auch auf dem Gebiete der Verserz&hlung gewinnt
Barry Comwall seinem Talente keiner Steigerung ab.
Die dem Boccaccio (Giamata IV, Novdla V) entnommene
SiciUan Story (Sizilianische Geschichte), 1820, eine Version
der Erzählung vom Basilikum, in heroischen Reimpaaren,
behauptet selbst nach Eeats' Behandlung desselben Gegen-
standes (Isabel, or The Pot of Basü, 1819) ihren Wert
durch eine Lieblichkeit und Leichtigkeit der Darstellung,
wie sie im Deutschen Paul Heyses poetischen Erzählungen
eignet Der gleichfalls 1820 entstandene Marcian Colonna,
in zehnzeiligen Jamben mit verschlungener Beimstellung,
setzt sich in dem schwierigen psychologischen Problem, daß
ein eigenartiges, in den Ruf des Wahnsinns geratenes Gemüt
schließlich in der Tat vom Wahnsinn gestreift wird, eine Auf-
gabe, die ttber Comwalls Kraft geht. Die intensiven Farben
eines solchen Seelengemäldes fehlen auf seiner Palette. Wir
fühlen die elementaren Erschütterungen seines Helden nicht.
Er möchte uns durch das Gewoge der sturmerschütterten
Brust Marcians tief bis auf den Grund blicken lassen.
Geschiehte der enfirUschen Bomantik n, 8. 44
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690 Das beschrdbende Gedickt lud die VenmnMhbBmg.
Statt dessen stellt er gleichsaiii bei glatter See nnd mit
knnstreicheii Instrumenten eine Art Tiefeeeforschnng an.
Ein ähnliches pathologisches Thema wie dem Marekm
liegt der im gleichen Versmaß abgefaßten Erzählung The
Oirl of Provence (Das Mädchen ans der Provence) zngrunde
Hier ist es der sanfte Geist eines lieblichen Mädchens, der,
dnrch Unterdrückung aus der Bahn gelenkt, sich in den
Wahn eines liebesverhältnisses mit Apoll yeiliert Proet^
bekleidete seit 1832 die Stelle eines Kommissärs der Lon-
doner Irrenhäuser.
Die Erzählung in Blankversen The Flood of Thessais
(Die thessalisdie Sintflut), 1823, als deren Quelle Hermann
Jantzen Ovids Metamorphosen (I, 163 S.) angibt,^) vareint
licht wie Schatten der Ciomwallschen Muse. Fttr die
Schilderung von Deucalions und Pyrrhas Idyll im grBnen
Tale Tempe findet er zarte Liebestöne, frische Naturfarben.
Fttr die Ausmalung der Sintflut ist seine Phantasie durchaus
unzureichend. Sie erregt weder Furcht noch Schrecken und
fl&chtet kläglich zur Darlegung verschiedener Evolutions-
theorien.
Nicht glftcklich ist Comwall, wenn et sich im humo-
ristisch-satyrischen Stanzengeplauder in einen Wettstreit
mit Byron einläßt, wie in Biego de MontiUa, A Spornt
TaUj der Geschichte des verhängnisvollen Mißverständnisses
zweier Liebenden, oder in Gyges, einer parodistischen Wieder-
gabe der Herodotschen Erzählung nach der englischen
Version in William Painters Palace, of Reasure (1566).
Comwalls Humor hat etwas Absichtsvolles, wo nicht
Gezwungenes (z. B. The Oeneodogist Der Gesdüediter-
kundige). Die beständigen Abschweifungen vom Thema
machen bei dem völligen Mangel sprühenden Temperar
0 Quellenuntersuchongeiii 814.
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Das besdireibeiide Gedicht nnd die Venerzählang. 691
mentes so wenig den Eindruck einer Überfülle an fröh-
licher Laune, an Geistesblitzen oder tiefen Gedanken als
das flberm&ßige Enjambement der Yerse den Schein genialer
ünbekümmertheit erweckte. Comwall steht in diesen
Yersuchen Hookham Freres Manks and Giants weit näher
als Byrons Don Juan oder ihrem gemeinsamen Vorbilde,
dem Morgante. Comwall ist unter den Yerserzählem
bereits der Eklektiker. Ein Kritiker der Edinburgh
Heview findet in ihm Anklänge an die Elisabethaner, an
Hunt, Col^dge, Wordsworth, Byron; Patmore fühlt Lamb
und Shelley heraus. ^ Nichtsdestoweniger lassen ihn beide
als Dichter gelten, gestehen ihm also zugleich seine indi-
viduelle Note zu.
Am deutlichsten tritt sein Charakter als Übei^ngs-
dichter in der Lyrik heryor. Eine Vorliebe für mytho-
logische Gestalten, die er noch nicht, wie Eeats oder Shelley,
zu göttlichen Natur- oder Seelenkräften, zu elementaren
Persönlichkeiten steigert, sondern im conventionellen Styl
der Überlieferung behandelt^ weisen ihn der alten Zeit zu
(The Death ofÄcis. Der Tod des Ads ; >) The Warship ofDian.
Die Anbetung Dianens; The Marriage of Peleus and Thetis,
Die Vermählung des Peleus und der Thetis). Sein unge-
künstelter Natursinn, sein edles, herzliches Verhältnis zur
großen Allmutter, sein guter Wille, sich ihr rückhaltlos hin-
zugeben, kennzeichnen ihn als modernen Dichter. Patmore
▼ergleicht ihn, was „Eünstlichkeit, Unmittelbarkeit^ Eon-
kretheit und naive Beschränkung des Ausdrucks^ betrifft mit
demMalerStothard.3) Comwall sagte von der Natur, sie habe
0 Äuiohioffrofhicdl Fragment^ 4&— 50.
*) Nach Jantsen eine BearbeitoBg yon Oricte Metamorphosen
(Xm, 760 ff.)
*) My Fnends and Äcquamtance, 90.
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Du beschreibende Gedicht und die Venenihlnng.
ihm ihre Seele enthfillt^ denn er warb um sie in seiner Jugend
und suchte die Wunder ihrer einsamen Pfade auf (StanBos).
Wo er den unmittelbaren Yei^grleich mit Shelley heraus-
fordert (z. B. in 2b mit Ädonais durch die Trauer
der Elemente um eine tote Schöne oder in dem Sonett to a
Shflark An eine Lerche) erscheint auch seine Natnrbehand-
lung mehr Beobachtung als Beseelung. Seine Lerche jubelt
und tiriliert nicht im Morgenlicht als Geist der Lebensfreude
in der Natur, sondern „sie ist dem holden Morgen angetraut
durch einen sfiSeren Hymnus als er je in ElosterdSmme-
rungen erscholl''. Eine Yerquickung yon Natur- und mytho-
logischem Kult im romantischen Sinne ist die Lamb ge-
widmete Vision The Fali of Saturn (Der Sturz des Saturn),
die die Phantome der Luft und Erde im Traume yoruber-
ziehen l&ßt und in das pantheistische Natureyangelium aus-
klingt: Alles vergeht, alles kehrt wieder.
Legt man an Comwalls Gedichte nicht den Mafistab
gewaltiger Inspiration, so erfreuen sie durch echte Empfin-
dung, Klarheit, Kraft und Melodie. Von seinen EngUsh
Sangs and Lgrics (Englische Lieder und lyrische Verse), 1832,
sind viele volkst&mlich geworden. (Touch us genüy, fime.
Leise, o Zeit, faß uns an; Send down (hy mnged Ängd,
Ood. Gott, schicke uns deinen beflügelten Engel; King
DeaOi. König Tod; Beühagjgar is King. KOnig ist Belsazar;
The Sea. Das Meer). Elizabeth Browning erkannte ihnen
„Sflßigkeit, Pathos und alle erlesenen lyrischen Eigen-
schaften*^ zu. Sie seien eine verkörperte Musik, i) Tat-
sächlich ist Comwall ein oft komponierter Dichter. <)
1) Elisabeth Browning, LeUera io Home 1, 232.
*) Etliche seiner schönsten Gedichte setzte der Sakburger Kom-
ponist Sigismnnd Yon Neokomm, ein Haydnschüler, der 1858 in Paris
starb, in Musik (Becker, 81).
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Das beschreibende Gedicht und die Venerxählang. 693
Auch die soziale StrGmung der Zeit ist nicht spurlos
an ihm Torübergegangen. Sein mitleidiges Herz schlng f är
die Stiefkinder Fortanas, ohne ihre Glückskinder anzu-
klagen. Erbarmen ist alles, was er fordert.
„0 Reichtnm, komm und Offne die Hand!
Müdtfttigkeit, komm und knttpfe das Band!''
Dieser menschenfreundliche Wunsch bestimmt seine
Haltung den großen Gesellschaftsfragen gegenüber (The
Weaver's Song. Des Webers Lied; The Last Day ofTippo
Saib (Tippo Saibs letzte Tage; The Poorhouse. Das Armen-
haus; Whitin and without Drinnen und draußen, die
beiden letzten nebst einem anschaulich schilderndem Jugend-
gedicht Comwalls von Freiligrat ins Deutsche übertragen).
Viele seiner Gedichte waren die Produkte momentaner
Eingebung. Miß Martineau erzählt, daß er oft in den
Straßen Londons dichtete und in ein Geschäft stürzte, um
seine Yerse auf ein beliebiges Stück Papier zu werfen,
das nicht selten schon zur Verpackung von Käse oder
Zucker gedient hatte. 0 Er selbst ist, wie Patmore be-
merkt, die lebendige Widerlegung seiner Behauptung, es
existiere kein namhafter englischer Dichter, dessen Lieder
den ausschlaggebenden Teil seiner Produktion bildeten.^)
Als Prosaerzähler und Essayist zeigt Comwall eine
feine Hand und einen klaren, sinnigen Geist. Seine Novellen,
von künstlerischer Ausführung und einer psychologischen
Charakteristik, die mehr Ziselierarbeit als Tiefbohrung ist^
bevorzugen den Beiz des Geheimnisvollen, ohne ihn je bis
zum Peinlichen zu steigern. So The Spanish Student (Der
spanische Student), 1823, dessen sphinzartige Heldin,
Cornelia Minotti, im Bufe steht^ ihre Liebhaber zu tödten;
^) ÄiUobiographicdl Fragment^ 49.
*) Patmore, 66.
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694 Di8 bescfaieibende Q«dicht und die VenezBililniig.
A Short Mystery (Ein Inirzes GtheimiiiBX 1823, eine Spuk-
geschichte ans dem Harz. The Stauntat^f 1827, wo ihm
die Schanerstimmnng noch besser gltckt, ist die Selbst-
enthttllnng eines großherzigen Abenteurers. Comwall be-
sitzt in hohem Grade die Fähigkeit, das Antlitz einer
Seele in klaren, sprechenden Zfigen zu schildern, ohne ihre
Schönheitsfehler und Auswüchse in naturalistischer Weise
abzukonterfeien. Seine reife Erz&hlerkunst bleibt auch
bei der Wiedergabe des Ernsten und Schrecklichen liebens-
würdig, z. B. die Jakobitengeschichte The Portrait of mg
Uncle's Snuffbox (Das Bildnis auf der Tabaksdose meines
Oheims), 1828, die Geschichte einer Verlorenen; The Man
Hunter (Der Menschenjftger), 1833. Eine treffliche Cha-
rakterstudie ist die des armen Unterlehrers, der mit
dreiundzwanzig Jahren seinen zu Tode gequ&Iten Geist
aushaucht (The Teacher. Der Lehrer). Von einer direkten
Moral sieht Comwall in der Novelle ab. Ein sittlicher
Gedanke ist nichtsdestoweniger fast immer der leitende
Faktor. „Haltet das Herz nur offen und tausend
Tugenden werden hineinströmen^, sagt er in The Story of
a Backroom Window (Die Geschichte eines Hinterstuben-
fensters). Fttr das Drama stellt er in einem seiner
theoretischen Essays On English Tragedy (Über das englische
Trauerspiel), 1823, den Satz auf: ein Drama sei eine
große moralische Lektion, die gleichzeitig zwei Sinnen,
dem Auge und dem Ohre, yorgetragen werde. In seiner
Befence of Foetry (Verteidigung der Poesie), 1828, eifert
er gegen die Utilitarier, die die Poesie in Mißkredit bringen,
indem sie übersehen, was die Dichtung durch das Beispiel
nütze. Er nimmt hier, vielfach an Schlegels Geschichte
des Dramas anknüpfend,, entschiedene Stellung g^en den
krassen Naturalismus. Umst&ndliches Eingehen auf realisti-
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Das besehreibende Gedicht und die yeraens&hliuig. 695
sehe Einzelheiten fördere den Zweck der Tragödie nicht.
Die Mnse wolle nicht entsetzen nnd abstoßen dnrch das,
was man anf der Eichtstätte und im Krankenhanse besser
sehe als anf der Bühne, sondern nns erfreuen nnd bewegen,
erheben nnd belehren. In der Abhandlung On English
Poetry tritt er fOr die Poesie als schöpferische Ennst ein.
Ihr Zweck sei nicht die Kopie der Natur oder wirklicher
Vorg&nge, doch andererseits auch nicht die Darstellung des
Unmöglichen, sondern vielmehr des gegenwärtig Unbe-
kannten. Nicht zu verringern und zu erniedrigen, sondern
zu erheben und zu vergrößern sei ihr Ziel, ihr Normalmaß
über, nicht unter der Sterblichkeit
Die geringe Schöpferkraft seines Genius brachte es mit
sich, daß C!omwall frühzeitig verstummte. In seinen späteren
Jahren ist er nur mit Sammlungen und Ausgaben anderer
Dichter hervorgetreten. 1824 erschienen die Effigiae
Foeticae, or The Partraüs of Ühe British Foets, iUustrated hy
Notes Biographical, OriUcdly and Poetical (Bildnisse der
britischen Dichter, erläutert durch biographische, kritische
und poetische Anmerkungen), knappe Charakteristiken, oft
nur vom Umfang einer halben Seite oder weniger, die er
selbst einen Catalogue raisonne der englischen Dichter-
portndts nennt 0 Von Chaucer bis zu Charlotte Smith
werden die Persönlichkeiten des britischen Parnasses „treu
nnd in geziemender Weise^ wiedergegeben, ohne daß Com-
walls Charakteristik Wesentliches an individueller Vertiefung
oder kritischer Bewertung der in Frage stehenden Persön-
lichkeit hinzubrächte.
1838 veranstaltete Comwall eine Ausgabe der Werke
Ben Jensons mit einem Lebensabriß und 1843 eine drei-
1) W. C. HftBlitt, F<mr GenercUiam of a LUerary Famüy I,
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696 Das beschreibende Gedicht und die VenenShliuiir.
b&ndige Luxusausgabe der Werke Shakesfpeares mit Lebens-
abriß und einem Essay on ihe Oenius of Shakespeare^ worin
er jedoch mit der Beweisffihrang, Shakespeares Geist und
Persönlichkeit besitze alle f&r einen großen Dramatiker
erforderlichen Eigenschaften, nnr offene Tfiren einreimt
Glficklicher ist Comwall als Biograph Eeans (1835) nnd
Charles Lambs (1866). Er findet die Quintessenz von
Keans schauspielerischer Bedeutung und den Schlüssel zn
seiner Originalit&t darin, daß er, wie yor ihm Oarrick,
wenig mehr getan, als die Natur auf der Bfihne wieder
herzustellen und seiner Kunst neues Leben einzuhauchen.
Er rezitierte seine Bolle nicht nur, er spielte sie, was
etwas wesentlich anderes ist Allem, was er ergriff,
drückte er einen Charakter auf. Im Vorwort wählt Oomwall
für das Theater den treffenden Vergleich mit einer Schule,
deren Wert hauptsächlich yon denen abh&nge, die sie be-
suchen. Theater und Publikum wirken gegenseitig auf-
einander. Um ein intelligentes Publikum zu b^riedigen,
muß die Bühne sich auf ein höheres Niveau der Intelligenz
heben, und das Publikum schöpft seinerseits immer neues
Licht, neue Gedanken, neue Freuden aus der zunehmenden
Intelligenz der Bühne. The Life of Kean erschien 1836
deutsch unter dem Titel „Leben des berühmten britischen
Mimen Edmund Kean.
Das mit Wärme und Wahrhaftigkeit schlicht und an-
regend geschriebene Memoir of Charles Lamb arbeitet in
unaufdringlicher Weise die Schlußbelehrung heraus, was
ein armes Talent unter dem Druck des Unglücks ver-
möge, wenn es nur mutig und treu verharre bis ans
Ende. Findet Gomwalls liebenswürdige, milde Geistes-
richtung bereits in Lamb den günstigsten Gegenstand,
so tritt sie in ein noch helleres Licht in dem ÄtUobio-
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Das beschreibende Gedicht and die Versen&hlung. 697
graphiedl Fragment, seiner Selbstbiographie, die Patmore
1877 herausgab. In ihr steht der Leser ganz unter
dem Zauber seiner tüchtigen und lauteren Persönlichkeit.
Die Tadellosigkeit des Menschen Procter tritt für die
Schwächen des Dichters Comwall ein und erst wenn jener
sich ihm ganz enthüllt, yersteht der moderne Beurteiler
die Wirkung, die dieser auf die Zeitgenossen übte. Hazlitt
sprach im Sinne der Mitwelt, als er seine English Poets
Barry Ciomwall zueignete, dem „als Mensch Geachteten,
als Dichter Bewunderten".
Werke Ton Barry ComwalL
1819 DramaUc Scenes,
1820 Marcian Colonna, an lialian Tale. With three DramaUc
Scenes, and other Foems,
— Ä Sicilian Story. With Diego de Montilla, and other
Poems.
1821 Mirandola.
1822 PoeUcal Works.
1823 The Flood of ThessaUf, The GHrl of Provence, and other
Poems.
1824 Effigiae Poetkae, or the Portraits of the British Poets.
1832 English Songs and Lyrics.
1835 Life of Edmund Kean.
1838 Edition of Ben Jonson. With Memoirs of his Life and
Writings.
1843 The Complete Works of Shakespeare. With Memoir and
Essay on his Genius. (Nenansgabe 1875).
1868 Essays and Tales in Prose.
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Dw besehreibeiide Gedicht und die Venoilhlimg.
1868 SdeciUms from »e PoeUcal Worka of Boberi Bmtnmg.
1866 Memair of Charles Lamb.
1877 An AuMnographical Dragmmt ÄuMHOgrc^hical Notes^
with Personal Sketches of Conten^oraries, Uf^^Ushed
Lifrics and Letters of Literary Friends. Edited bjf
Coventry Patmore.
Werke fiber Barry ComwalL
1876 James T. Field, Barry Comwaü and some ofhis Friends
(Old Äcquaintance).
— Richard Garnett, Artikel des DicHonary of National
Biograiphy.
1911 Frans Becker, Bryan WaUer Procter (Barry Comwall).
Wiener Beiträge mr Englischen Philologie, Bd. 37.
1912 Hermann Jantzen, Qt^ellenimtersacbungen eu den Dich-
tungen Barry CormoaUs (Archiv für das Studium der
neueren ^rächen und Literaturen Bd. CVm, Heft Sfi).
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NamenverzeiolmiB.
Abercromby, Helen 271.
— , Mn. 271.
Addison, Joseph 10, 18, 496.
Ainger, Alfred 6, 9, 95, 115, 120,
122, 128, 127, 129, 182, 188,
144, 164, 176, 182, 188.
Akenside, Mark 689, 640, 667.
Allingham, William 682, 688.
Allsop, Thomas 95.
Andrews, Alezander 8, 14.
Archer, William 21.
Aiistophanes 883, 420.
Aronstein, Philipp 696.
Aosten, Lady (Anne Bichardson)
584, 585, 587, 596.
— , Sir Bobert 584.
Bacon, Francis 209.
Bftckermann 107.
Bagot, Walter 579, 580, 601.
Balmanno, Mrs. 98.
Barton, Bemafd 106, 109, 184, 142.
Baudelaire, Charles 274.
Beattie, James 668, 650, 662, 665,
667, 676, 677, 779, 682, 683.
Beaomont, Sir John 89, 189.
Beaven, Arthur 351, 854, 857, 365,
871.
Becker, Franc 685, 688, 692, 698.
Bedford 495.
Beeoher Stowe, Harriet 680.
Bell, Edward 684.
Bellini, Jacopo 419.
Benham, Wilüam 562, 609.
Bentham, Jeremy 29, 209, 258.
Bentley, Bichard 599.
Bemi, Francesco 485.
Bettelheim, Anton 111.
Bird, Wiüiam 88, 138.
Birrell, Angastine 29, 268.
Blackwood, William 2, 8, 41, 60,
125, 805, 809, 311, 812, 816.
Blair, WilUam 637.
Blake, William 75, 267, 269, 278,
329, 603.
Blessington, Lady 638, 680.
Boccaccio, Qioyanni 218, 686, 689.
BoinTille, Harriet de 385.
Boleyn, Anne 547.
Bonaparte, Napoleon 111, 240, 241,
247, 250, 253, 255-260, 262, 568.
Bonasone, Ginlio 282.
Borel, William 571.
Bonme, Vincent 148, 550.
Bowles, Magdalene 614.
-, Wiüiam Liste 40, 114, 213, 214,
494, 497, 498, 506, 610-631.
Braham, John 105.
Brett Smith, H. F. B., 425.
Broderip, Frances Freeling 471.
Bronghm, Lordkanzler 629.
Browne, Sir Thomas 139, 140.
Browning, Elisabeth Barett 2, 49,
53, 692.
— , Bobert 686, 697.
Bruce, John 547, 562, 609.
Buchanan, Bobert 893, 422, 426.
Bull, William 565, 567, 569, 587.
Bulwer, Edward Lord Lytton 1, 48,
212,288,254, 262,444,478^74,48a
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700
NameiiTeneicluiis.
BanjAii, Jolm 519.
Bnonarotti, Michel Angelo 199.
Bnrdett, Fnaeis 676.
Borke, Edmund 9, 206, 502, 507,
506,512.
Burney, Charles 265.
Bums, Robert 818, 823—325, 336,
592, 686, 681.
Bnrton, Robert 117, 152, 172, 173,
183, 441.
Bauer, Nathudel a
Byron, George Gordon Noel Lord
80,85,40,41,44,47,58, 6^-72,
83, 85, 142, 143, 212-214, 816,
342, 850, 351, 386, 387, 401, 402,
473, 474, 485, 494, 497, 513, 612,
613, 622, 625-630, 639, 665, 671,
677, 680, 681, 684, 687, 690, 69L
— , Lady 680.
Campbell, HatiiUde 660, 66L
— , Thomas 11, 352, 494, 496, 497,
499, 500-502, 625, 630, 639,
654-683.
Canning, George 9, 165, 409, 474.
Carlyle, A. J. 546.
-, R. M. 546.
— , Thomas 11, 63, 73, 686.
Caiy, Francis 11.
Catnll 494.
Cavanagh, F. A. 424.
Cellini, Benyennto 562.
Cervantes, Mignel de 663.
Chandos, Earl of 15.
Chapman (Advokat) 550, 551.
— , George 134, 138, 599.
Chatterton, Thomas 216, 507.
Chancer, GeofErey 4, 35, 78, 678,
695.
Chettle, Henry 408.
Churchill, Charles 550.
Qairmont, Charles 884.
aarke, Samuel 598, 619.
— , Capt 670.
—I Daniel 444.
Clayden, P. V. 632.
Cobbett, WOHam 106, 352.
Colbnm 70.
Cola, Sir Henry 372, 422, 425.
Coleridge, Derwent 489, 490.
~, Henry Nelson 175.
— , Samuel Taylor 11, 96, 59, 60,
74, 86, 87, 90, 91, 93-95, 106,
107, 115^ 117, 118, 120, 121, 128,
134, 148, 151, 161, 165, 179, 181,
191-194, 205, 234, 235, 309,
341, 386, 387, 392, 436, 438, 443,
456, 497, 513, 612, 615, 691.
Colman, George 550, 55a
Combe, William 388, 395.
Congreve, William 58, 84, 142, 164.
Cooper, Rev. R 587.
Corneille, Pierre 500.
Comwall, Barry (siehe Bryan
Waller Procter).
Correggio, Antonio Allegri 201.
Cotte, William 680.
Cotüe, Joseph 87, 115, 148.
Cowden Clarke, Cäiarles und Mary,
102, 104. 144, 183.
Cowley, Abraham 5a
Cowper, Anne 547, 548.
-, Ashley 551, 554.
— , Elizabeth 551.
— , John 547.
-, John 553, 556-558, 561, 563,
564.
— , William 547.
-, William 114, 327, 458, 473,
493, 494, 498, 501—503, 547,
612, 617, 626.
-, Theodora 551, 552, 554, 596.
Crabbe, George 125, 352, 458,
493-495, 501, 508, 504—546,
617.
(2raddock, Thomas 165, 167, 18a
Crane, Walter 182.
Croft, James 608.
Cromwell, Oliver 20a
Gross» LMmoelot 85.
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Namenyeneichiiis
701
OroikBliank, George 844, 458.
Gumberland, Bichard 347, 348, 550.
Caimingliam, J. W. 609.
-, Peter 678, 683.
Cnpples, George 845.
Daniel, Samuel 127.
Dante AUeghieri 85, 89, 75.
Danven, Charles 121.
Darwin, Charles 497.
— , Erasmns 666.
Dawe, George 145.
Defanooupret 366.
Defoe, Daniel 9, 364.
Dekker, Thomas 137.
D6piet, Louis 111, 183.
De Qnincey, Thomas 98, 101, 106,
183, 240, 263, 267.
Derocqoigny, Jnles 123, 128, 183.
Dickens, Charles 56, 63, 27^ 422.
Disraeli, Benjamin 269, 434.
— , Isaao 494.
Dobell, Bertram 46, 131, 179, 183,
208, 267, 288.
Dobson, Anstin 84.
Dodds, Margaret 318.
Dodsley, Bobert 508.
Donne, John 547, 678.
Doren, Carl yan 374, 375, 377, 382,
387, 406, 409, 418, 423, 426.
Donady, Jnles 263.
Donglas, Sir George 345.
Dmmmond, WUliam 308.
Diyden, John 494.
Dndley, Mr. 119.
Dnncombe, John 553.
Dunlop, I^oes Anne 592.
Dyck, Anton yan 197.
Dyer, George 167.
Elgin, Thomas Bmce Lord 855.
Eliot, George 512, 614.
SllenboroQgh, Lord 28, 83.
EUiot, Alexander 429, 434, 435, 471.
— , Ebenezer 323, 471.
EUiston, Bobert William 154, 177,
350.
Elmy, Sarah 506, 508.
Elton, OUyer 397.
Eoripides 393.
Falkner, Fanny 377.
Fawcett, Miss 22.
Field, Banon 125, 166.
— , James T. 698.
— , Mrs. 115, 128, 149.
Fielding, Henry 140, 243.
Fitzgerald, Edward 532, 545.
— , Percy 101, 103, 107, 108, 182.
Flaxman, John 602.
Fletcher, John 139.
Foote, Maria 688.
Ford, John 138.
Forster, John 101, 108, 275.
Fox, Charles James 688.
— , W. J. 682.
— , Bonme, H. B. 9, 10, 11, 14.
Franck, yon 444.
Franklin, Benjamin 585.
Frazer, F. G. 609.
Freiligrath, Ferdinand 119, 468—
470, 659, 677.
Frere, John Hookham 474, 486, 690.
Füssli, Heinrich 601.
Füller, Thomas 188.
Galanns, Demetrins 420.
Galt, John 71.
Gamett, Bichard 230, 342, 351,
352, 371, 384, 394, 395, 425, 639,
678, 687, 698.
Garrick, Dayid 120, 137, 147, 154,
182.
Gantier, Th^phile 274, 349.
Gerald, Joseph 668.
Gerstenberg, Heinrich Wilhelm 213.
Gifford, William 11, 60, 61, 83,
194, 212, 225, 232, 237, 262.
Güchrist, Ann 89, 99, 100, 135, 188.
— , Octayian Graham 628.
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702
NaaaiTeneichBit.
Gües, Hmirj 588, 546.
QimilAii, George 554» 609, 681.
Oilraj, Jamee 165.
Oiflbone, HarU 856, 401, 424.
Qloyer, Arnold 188, 258, 288.
Oodwin, William 181, 183, 186,
184, 190, 208, 234.
Goethe, Johann WoUgang ton 88,
196, 246, 249, 842,466,665,686.
Goldamith, OUyer 264, 542, 634,
640.
GoUancs, Israel 181.
Gonsago, Canio 894.
Gordon, Mrs. 806, 810, 345.
Gosse, Edmund 59, 60, 198, 200,
QoTresio, Gaspare 420.
Graham, Sir James 470.
Grant, James 14.
Gray, Thomas 4, 684, 640, 665.
Greatheed, Bey. 604.
Greene, Robert 219, 67a
Grey, Lord 480, 68a
Griffith, Henry Thomas 609.
Griffiths, George Edward 270.
-, Dr. Balph 264, 265, 27a
Grillpaner, Frans 48a
Giimshawe, T. S. 609.
Griswold, W., 490.
Gadsby, Henry 47.
Gaest, Edwin 886.
Goicdoli, Grifin Teiesa 67, 68a
Goillenard, J. 665.
Gondolf, Friedrich 213.
Gnyoxi, Madame de la Hotte 569,
60a
Hammer-Pnrgstall, Josef y. 650.
Hannay, James 425.
Harüey, Dayid 194, 261.
Haslett, William 184.
Hasdngs, Warren 550.
HattOB, Joseph 14.
Hauff, Wilhelm 402.
Hauptmann, Qerhart 584.
Hawthone, Nathauei 48, 80, 85.
Hayl^, William 205, SSI, 553,
563, 574, 575, 588, 593, 596,
602-606, 60a
Haywazd, Abraham 686.
HasUtt, Graee 184.
— , John 184, 188, 190, 107.
— , Margaret 185.
-, Sarah 207, 245.
-, Wilüam 184-190.
— , Wilüam 2-4, 6, 7, 11, 12r 34>
25, 86, 44, 48, 59, 60, 82, 72, 83,
85, 101, 105, 121, 124, 188, 188^
141, 146, 176, 177, 179, 183,
184—268, 266, 260, 812, 817,
839, 486, 529, 546, 671, 688.
-, William Gbiew 83| 204^ 228,
268, 265, 267, 270, 274, 388, 695.
Heine, Heinrich 224» 30&
Helm, W. H., iSß.
Helyeüns, dande Adrien 184» 261.
Henley, W. E. 263.
Herbert, George 552.
Hesketh, Lady (Harnet Cowper)
551, 552, 556, 558,560,567,570^
578, 593, 595-596, 608, 60a
Heyse, Paol 895, 689.
Hey wood, Thomas 13a
Hill, Joseph 548, 558, 559, 5(^
585, 587, 605, 60a
-, W. A^ 668, 669, 672, 683.
mtchener, Elisabeth 401.
Hobbes, Thomas 104, 2ia
Hoff mann, Willy 609.
Hogarth, William 140, 141, 18S,
199, 217, 218, 496.
Hogg, James 66, 809, 3ta
— , Thomas Jeffeison 384.
Holcroft, Thomas 227, 258, 261.
Holm, Oliyer WendeU 429.
Holme, James W. 54a
Home, John 87.
Homer 74, 183, 184, 823, 495, 56%
569, 59^ 509, 600^ 608, 606;
665.
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Namenyeneiohms.
703
Hood, Jane 431, 485.
— , Thomas 428.
— , Thomas 11, 116, 427-471, 474,
487.
Hookham, Edward 378, 880, 382,
Horaz 854, 355, 485, 583, 692.
Horae, B. H. 2, 49, 84, 120.
Honghton, Lord 425.
Hachon, R. 548, 546.
Hume, Dayid 498.
Hant, F., Knight 9, la
— , Heniy 48.
— , James Heniy Leigh 2—5, 7,
11, 12, 15-85, 105, 106, 108,
129, 162, 166, 171, 175, 177, 183,
188, 215, 221, 227, 229, 282, 235,
241, 257, 260, 809, 312, 342, 357,
360, 370, 454, 563, 567, 584, 662.
680, 691.
— , John 20-23, 28, 29, 67.
-, Isaac l&-ia
— , Marian 19, 20, 29, 66, 67, 80.
— , Stephen, 20.
— , Thomton 34, 63, 73, 79, 84,
116.
Hnntingdon, Henry of 558.
Hnrd, fiiohaid 493.
Hutchinson, Thomas 182.
Ibsen, Hemrik 54a
Ingpen, Boger 84.
Ingram, John H. 388.
Ireland, Alezander 85, 220, 225,
226,263.
Irving, Washington 671, 676, 682.
Isola, Emma 93, 110.
Jftger, A. 223.
James, Henry 180.
Jantsen, Hermann 690, 691, 698.
Jeffrey, Francis 121, 311, 586, 537.
Johnson, John 551, 606, 60a
— , Beginald Brimley 18, 24, 29,
85, 425,«».
Johnson, Samuel 350, 634.
Jenson, Ben 138, 217, 695, 697.
Kant, Immanuel 657.
Kaufmann, Angelica 18.
Eean, Edmund 223, 695—697.
Eeats, John 3, 11, 36, 48, 47, 60,
61, 63, 65, 74, 216, 248, 277, 431,
436, 441, 443, 689, 691.
Kehbel, T. E. 493, 509, 511-513,
528, 546.
Kellner, Leon 180.
Kelly, Fanny 96, 97, 99.
Kemble, John 120, 355, 688.
Kent, Charles 85, 88, 183.
Kenyon, John 685.
King, Moses 598.
Klopstock, Friedrich Gottlieb 657.
Knight, Charles 456, 476, 490.
— , Payne 632.
Knowles, Sheridan 249.
Kopisch, August 487.
Koseiuszko, Taddäus 664.
Kotsebue, August von 350.
Kraupa, MathUde 487, 490.
Lackmann, Karl 669.
Lafontaine, August 669, 670.
Lake, Bemard 173, 176, 183.
Lamb, Charles 1—3, 7, 11, 12, 30,
44, 48, 59, 62, 86-183, 197,
204, 206, 208, 212, 229, 280, 263,
267, 268, 436, 438, 440, 457, 459,
691, 695-697.
— , Elizabeth 88, 89, 93, 94.
— , John 87, 92, 94.
— , John 89, 94, 147, 159.
— , Maiy 87-89, 91, 93—100, 108,
105, HO, 111—113, 124, 128,
129, 131, 138—136, 172, 182,
188,207.
Landen, Letitia Elisabeth 439.
Landen Walter Savage 86, 110;
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704
NamenveneioliniB.
La Bochefoncanlt, Fnngois Gomte
de 262.
Lavater, Johann Kaspar 595.
Leadbeater, Maiy 512, 546.
Lee, S. Andrews 45.
Leigh, James Heniy 15, 16.
Le Gallienne, Bichard 241, 262.
Le Qrand 43.
Le Boi, Hnon 43.
Lewis, Capt 670.
~, Charles 281.
Lichtenberg, Johann Christian 22.
Liebennann, Max 589.
Lier, ran 606w
Lillo, George 350.
Lindsay, Lord 680.
Listen 172.
Lloyd, Charles 3, 95, 117, 127, 165,
181,44a
— , Pierson 550.
— , Robert, 550, 558.
Locke, John 210.
Lockhart, John Qibson 309, 311,
342,364.
Longndre, J. M. 499.
Loya, Thomas 372, 37a
Lowe, W. 21.
Lucas, E. V. 106, 118, 137, 144,
165, 182, 183.
Lnce, Horton 394.
Lncrei 494.
Macanlay, Thomas Babington 8,
63, 77, 142, 473, 680.
Hacdonald, William 105» 186, 137,
141, 182.
Mackenaie, Henry 127, 637.
~, Bobert Shelton 310, 311, 345.
Mackintosh, James 11, 499.
Hackworth, Homphrey 472.
Hacpherson, James 844.
Maeready, William Charles 272,
688.
Malone, Edmund 678.
Maltby, William 633, 634.
Malthns, Thomas Bob^ 203, 261.
Mandan, Martin 571.
Manning, Thomas 102, 103, 107.
110, 119, 120, 123, 134, 151.
Marlowe, Chiistopher 127, 438.
Maiston, Watland 631.
Martinean, Harnet 693.
Marrel, Andrew 146, 147.
Mason, William 879, 665.
Mathews, Charles 22, 356, 460.
Medwin, Thomas 214.
Meerheimb, E. von 38.
Meredith, George 424.
Middleton, Thomas 138.
Milford, H. 545.
Mill, John Stuart 411.
Miller, Bamette 1, 8, 14, 61, 64,
66,85.
MUton, Jahn 60, 114, 141, 142, 168,
209, 217, 316, 473, 550, 552, 569,
593, 601, 602, 608, 611.
Monkhouse, Cosmo 4, 24, 25, 28,
39, 68, 72, 76, 85.
Montagae, Basil 685.
— , Lady Mary 58.
Montgomery, James 11.
Moore, Thomas 30, 44, 352, 387,
392, ^1, 486, 615, 627, 631, 639,
680,681.
Moreau, Jean Victor 658.
Morley, Henry 475, 49a
Moultie, John 490.
Moxon, Edward 108, 111, 145,
490.
Mozart, Wolgang Amadeus 419,
Munday, Anthony 403, 405.
Munden, Joseph 154, 172, 453.
Murray, John 24, 351, 353, 627.
Neukomm, Sigismund 692.
Neve 609.
Newton, John 551, 561—567, 573,
577, 579, 598, 604, 60a
— , J. F. 381.
Nichols, John 510, 545.
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Namenverzdchiiis.
705
Nioolls, Edith 425.
NonnoB 418.
North, Christopher (John Wilson)
8, 11, 296-345, 471, 587, 538,
540, 546, 575, 590, 593, 609,
611, 623, 631, 669, 681, 682.
Northcothe, James 198, 200, 215,
227, 228, 239, 262.
Novello, Vincent 172.
Ollier, Charles 53, 82.
Orlo, William 183.
Ossian 611.
Oswald, Emü 436, 438, 458, 458,
462, 471.
OTid691.
Paine, Boger 281.
— , Thomas 838.
Painter, William 690.
Paning, F. H. 84.
Park, Thomas 599, 602.
Pater, Walter 139, 169.
Patmore, Peter George 24, 25, 105,
107, 108, 111, 126, 183, 204, 205,
215, 228, 248, 249, 253, 254, 348,
663, 682, 683, 691, 693, 697.
Panl, Hamilton 667,
Peacock, Jane 395.
-, Mary 423.
— , Samuel 372.
-, Sarah 372, 373.
— , Thomas Loye 3, 372—425,
450, 459.
Pebody, Charles 14.
Peel, Robert 435, 474, 479, 480,
684.
Perxin, Pierre 131.
Pesta, Hermann 546.
Petrarca 278, 679, 680.
Petronins 393.
Philips, John 550.
Pioggi, Hesler 637.
Pitaval, Frau^ois Oayot de 78.
Pitt, William Earl of Chatham 9,
208, 378, 509, 576.
Poe, Edgar Allan 388.
Pope, Alezander 4, 10, 58, 59, 78,
79, 134, 210, 211, 213, 260, 879,
491, 493-498, 501, 502, 599,
600, 624-628, 630, 638, 67&
Popham, Sir Horace Biggs 378.
Ponssin, Nicolas 198.
Praed, Winthrop Hackworth 472
-490.
Price, Bichard 632, 634.
Priestley, Joseph 161, 188.
Procter, Adelaide Anne 685.
— , Anne Benton 685.
— , Bryan Waller (Bany Comwall)
3, 85, 86, 101, 104, 113, 116, 126,
144, 161, 176, 183, 205, 206, 210,
218, 229, 238, 241, 245, 261, 267,
501, 502, 684-697.
Prothero, Bowland Edmund 629.
Pumell, Thomas 117, 168, 165,
175, 182.
Babelais, Francis 397, 420.
Badne, Jean de 220, 226, 252.
Bedding, Qyrus 683.
Bembrandt, yan Bhyn 201, 282.
Betzsch, Moritz 276.
Beynolds, John Hamilton 431, 436,
456.
— , Sir Joshna 140, 199, 228, 275.
Bhys, E. 144.
Bichardson, Samuel 243.
Bickmann, John 109, 110, 112, 113,
183,
Bitson, Joseph 123, 403.
Bobinson, Henry Crabb 100, 108,
112, 186.
Bogers, Samuel 387, 494, 498, 502,
621, 632-667, 669, 671.
— , Thomas 640.
Bomney, George 584, 604.
Bosa, Salyator 456.
Böse, Samuel 599, 600, 604.
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706
Na
ttTeraridmi».
Boaietti, Wüluun Miehael 428,
496, 452, 466, 609, 678.
Bosrini, Giaeomo 419.
Bonaiean, Jean JacquM 234, 216,
248, 249.
Bowe, Nicolas 678.
Bowley, aotworthy 554, 555, 572.
--, William 13a
Rabena, Peter Paul 200, 625.
Rohe, A. 444.
RoBsel, Lord John 615.
— , Sir William 550.
Ratland, Henog von 606, 510.
Sachs, Karl 685.
Sainte-Beaye, C. A. 609.
Saint-Foiz, GasUm de 42.
Saintsbnry, George 63, 85, 263,
424, 425, 490, 508, 546.
Salft, George Angnstos 182.
Sales, Francis de 74.
Salt, Emannel 87, 89, 147.
Saniio, Rafael 199.
Sargent, E. 847, 851, 371.
Sayoiy, Bester 96, 119.
Sehanfelberger, Johann 600.
Schiller, Friedrich T<m 41, 42, 181,
196, 328, 456, 657, 688.
Schipper, Jacob 386.
Schirmer, W. F. 85.
Schlegel, Anga8tWilhelm224,601,
658,659.
Scott, John 11, 143, 266.
-, Sir Walter 36, 214, 215, 220,
226, 259, 284, 351, 364, 406,
457, 508, 518.
Shaftesbuiy, A. A. Earl of 177, 197.
Shakelton, Richard 512.
Shakespeare, William 121, 122,
131, 132, 187, 138, 141, 157,
164, 168, 181, 182, 213, 215,
217, 218, 220, 223-226, 236,
262, 328, 343, 394, 419, 434,
438, 439, 452, 501, 611, 618,
678, 682, 695.
ffliaipe, Samuel 633, 634.
Shaw, George Bemard 12, 522.
fiMley, Haniet 385, 401.
— , Mary WoUstoneeraft 68, 401,
402,406.
~, Lady 888.
Shelley, Perey Byahe 3, 30, 83,
86, 43, 60, 63-66, 71, 74, 75,
83, 85, 129, 142, 215, 216, 241,
278, 357, 359, 360, 381—386,
388-391, 396, 400, 401, 418,
425, 436, 545, 691.
— , Sir Percy 39, 77.
— , Sir Timothy 385.
Shenstone, William 462, 632.
Shepherd, R. H. 182.
Sheridan, Robert Brimdey 27, 58,
83, 126.
— , Thomas 126, 349, 860.
Sheyell, Mary 17.
Siddons, Henry 679.
— , Sarah 22, 88, 115, 223, 679,
682.
Sidney, Sir Philip 13a
Simmons, Ann 91, 128, 15a
Skeffington, Sir Lnmely Georg 402.
Smith, Adam 637.
— , Charlotte 78, 695.
-, Goldwin 592, 609.
-, Horaoe 3, 66, 106, 846-371,
450,543.
— , James 3, 108, 346-^1.
— , Mary 346.
— , Bobert 346.
SmoUett, Tobias George 140, 454,
562.
Sophokles 393.
Sonthey, Caroline (Bewies) 602,
624.
-, Bobert 11, 62, 107, 110—118,
120—122, 127, 1^ 162, 165,
179, 212, 214, 386, 887, 408,
493, 494, 496, 497, 499, 501,
502, 503, 552, 555, 557, 568,
564, 571, 567, 602, 608, 684.
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NamenTeneichniB.
707
Spence, Joseph 028.
Spenser, Edmimd 4, bi, 114, 115,
168.
Stft», Madame de 668.
Stanley, Lord 482.
Steele, Sir Biehard 10, 18.
Stehlieh, Friedrich 546.
Stephen, Sir Leslie 212, 248, 253,
504, 548, 546, 609.
Stoddart, John 207.
Stothard, Thomas 691.
Storer, Edward 85.
Strachey, Sir Edward 425.
Strecker, Karl 539.
Stuart, Daniel 11.
Swift, Jonathan 10, 13, 28, 79,
218, 897, 420.
Swinhume, Algemon Cearles 686.
Sym, Rohert 812.
Symons, Arthnr 43, 85, 534, 610,
631.
Talfoord, Thomas Noon 87, 175,
178, 182, 183, 262, 273.
Tardif, Madame de 596.
Tasso Tarquato 46, 47.
Taylor, Jeremy 152.
-, John 144.
Tedder, H. K. 9.
Teedon, Samuel 594, 595, 602.
Temple, Sir William 177.
Tennyson, Alfred 3, 74, 327, 341,
436, 532, 533.
Thackeray, William Makepeace 362.
Thomson, James 58, 74, 379, 593.
Thomton, Bonnell 553, 563.
Throckmorton, George 594, 598.
Thurlow, Lord 552, 554, 574, 605.
TibuU550.
Tickler, Timothy 312.
Ti2iano, Vecellio 198, 228.
Tooke, Home 203, 261.
Toumeur, Cyril 138.
Tucker, Abraham 261.
Tuckerman, Henty T. 341, 845.
Tuer, Andrew W. 181.
Turner, J. M. William 200.
Unwin, Mary 559, 560, 562, 566,
567, 580, 586, 589, 596, 596,
606, 604, 606, 607.
— , Susanna 559.
ünwin, William Hawthome 551,
559, 571, 576, 597, 598.
-, WiUiaffl Morley 559, 561.
Yanbrugh, Sir John 58, 84.
Vergü 495.
Voltaire, Fran^ois Arouet 2
397, 420.
Wagner, Biehard 419.
Wainewright, Frances 270.
— , Thomas 264.
— , Thomas Qriffiths 264-295, 297,
432.
Walker, Sarah 243-247.
WaUer, A. B. 252, 263.
— , Edmund 188.
Walpole, Horace 507.
— , Sir Bobert 208.
Warren, Samuel 345.
Warton, Joseph 597, 609—611.
— , Thomas 639.
Webster, John 138.
Wedgewood 205.
Wellington, Duke of 355.
Wesley, John 562.
West, Benjamin 16.
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-*, William 11, 85, 59, 74, 118,
181, 186, 148, 214, 886, 887,
892, 480, 518, 544, 691.
Wren, Cauistopher 849.
Wright, Thomas 550, 554, 555,
557, 559, 561, 565, 577, 585,
586, 588, 595—597, 589, 608,
609
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Druck Ton Blirhardt Karras Q. m.b.H. in Halle (Saale).
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DruckfeUerrerzelchiils.
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WILL BK ASSnSKO FOR PAILURK TO RCTURN
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